Der Herausgeber der gegenwaͤrtigen Ge - ſchichte ſiehet ſo wenig Wahrſcheinlichkeit vor ſich, das Publicum uͤberreden zu koͤn - nen, daß ſie in der That aus einem alten Grie - chiſchen Manuſcript gezogen ſey; daß er am be - ſten zu thun glaubt, uͤber dieſen Punct gar nichts zu ſagen, und dem Leſer zu uͤberlaſſen, davon zu denken, was er will.
* 2Geſezt,Vorbericht.Geſezt, daß wirklich einmal ein Agathon ge - weſen, [wie dann in der That, um die Zeit, in welche die gegenwaͤrtige Geſchichte geſezt wor - den iſt, ein comiſcher Dichter dieſes Namens den Freunden der Schriften Platons bekannt ſeyn muß:] geſezt aber auch, daß ſich von dieſem Agathon nichts wichtigers ſagen Lieſſe, als wenn er gebohren worden, wenn er ſich verheyrathet, wie viel Kinder er gezeugt, und wenn, und an was fuͤr einer Krankheit er geſtorben ſey: was wuͤrde uns bewegen koͤnnen, ſeine Geſchichte zu leſen, und wenn es gleich gerichtlich erwieſen waͤre, daß ſie in den Archiven des alten Athens gefunden worden ſey?
Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, ſo wir den Liebhabern hiemit vorlegen, gefodert werden kann und ſoll, beſte - het darinn, daß alles mit dem Lauf der Welt uͤbereinſtimme, daß die Character nicht willkuͤhr - lich, und bloß nach der Phantaſie, oder den Ab - ſichten des Verfaſſers gebildet, ſondern aus dem unerſchoͤpflichen Vorrath der Natur ſelbſt herge -nommen;Vorbericht. nommen; in der Entwiklung derſelben ſo wol die innere als die relative Moͤglichkeit, die Be - ſchaffenheit des menſchlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenſchaft, mit allen den beſondern Farben und Schattierungen, welche ſie durch den Jndividual-Character und die Umſtaͤnde einer jeden Perſon bekommen, aufs genaueſte beybehalten; daneben auch der eigene Character des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geſchichte geſezt wird, niemal aus den Augen geſezt; und alſo alles ſo gedichtet ſey, daß kein hinlaͤnglicher Grund angegeben werden koͤnne, warum es nicht eben ſo wie es erzaͤhlt wird, haͤtte geſchehen koͤnnen, oder noch einmal wirk - lich geſchehen werde. Dieſe Wahrheit allein kann Werke von dieſer Art nuͤzlich machen, und dieſe Wahrheit getrauet ſich der Herausgeber den Leſern der Geſchichte des Agathons zu verſpre - chen.
Seine Hauptabſicht war, ſie mit einem Cha - racter, welcher gekannt zu werden wuͤrdig waͤ - re, in einem manchfaltigen Licht, und von allen* 3ſeinenVorbericht. ſeinen Seiten bekannt zu machen. Ohne Zwei - fel giebt es wichtigere als derjenige, auf den ſeine Wahl gefallen iſt. Allein, da er ſelbſt ge - wiß zu ſeyn wuͤnſchte, daß er der Welt keine Hirngeſpenſter fuͤr Wahrheit verkaufe; ſo waͤhlte er denjenigen, den er am genaueſten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat. Aus dieſem Grunde kann er ganz zuverlaͤßig verſichern, daß Agathon und die meiſten uͤbrigen Perſonen, wel - che in ſeine Geſchichte eingeflochten ſind, wirk - liche Perſonen ſind, dergleichen es von je her vie - le gegeben hat, und in dieſer Stunde noch giebt, und daß (die Neben-Umſtaͤnde, die Folge und beſondere Beſtimmung der zufaͤlligen Begeben - heiten, und was ſonſten nur zur Auszierung, welche willkuͤhrlich iſt, gehoͤrt, ausgenommen) alles, was das Weſentliche dieſer Geſchichte aus - macht, eben ſo hiſtoriſch, und vielleicht noch um manchen Grad gewiſſer ſey, als irgend ein Stuͤk der glaubwuͤrdigſten politiſchen Geſchichtſchreiber, welche wir aufzuweiſen haben.
EsVorbericht.Es iſt etwas bekanntes, daß oͤfters im menſch - lichen Leben weit unwahrſcheinlichere Dinge be - gegnen, als der Chevalier de Mouhy ſelbſt zu erdichten ſich getrauen wuͤrde. Es wuͤrde alſo ſehr uͤbereilt ſeyn, die Wahrheit des Characters unſers Helden deßwegen in Verdacht zu ziehen, weil es oͤfters unwahrſcheinlich iſt, daß jemand ſo gedacht oder gehandelt habe, wie er. Wenn es unmoͤglich ſeyn wird, zu beweiſen, daß ein Menſch, und ein Menſch unter den beſondern Beſtimmungen, unter welchen ſich Agathon von ſeiner Kindheit an befunden, nicht ſo denken oder handeln koͤnne, oder wenigſtens es nicht oh - ne Wunderwerke, Einfluͤſſe unſichtbarer Geiſter, oder uͤbernatuͤrliche Bezauberung haͤtte thun koͤn - nen: So glaubt der Verfaſſer mit Recht er - warten zu koͤnnen, daß man ihm auf ſein Wort glaube, wenn er poſitiv verſichert, daß Agathon wirklich ſo gedacht oder gehandelt habe. Zu gu - tem Gluͤke finden ſich in den beglaubteſten Ge - ſchichtſchreibern, und ſchon allein in den Lebens - beſchreibungen des Plutarch Beyſpiele genug, daß es moͤglich ſey, ſo edel, ſo tugendhaft, ſo ent -* 4haltſam,Vorbericht. haltſam, oder, nach der Sprache des Hippias, und einer anſehnlichen Claſſe von Menſchen zu reden, ſo ſeltſam, ſo eigenſinnig und albern zu ſeyn als es unſer Held in einigen Gelegenhei - ten ſeines Lebens iſt.
Man hat an verſchiedenen Stellen des gegen - waͤrtigen Werks die Urſachen angegeben, wa - rum man aus dem Agathon kein Modell eines vollkommen tugendhaften Mannes gemacht hat. Da die Welt mit ausfuͤhrlichen Lehrbuͤchern der Sittenlehre angefuͤllt iſt, ſo ſteht einem jeden frey, [und es iſt nichts leichters] ſich einen Men - ſchen einzubilden, der von der Wiege an bis ins Grab, in allen Umſtaͤnden und Verhaͤltniſſen des Lebens, allezeit und vollkommen ſo empfindt, denkt und handelt, wie eine Moral. Damit Agathon das Bild eines wirklichen Menſchen waͤre, in welchem viele ihr eigenes erkennen ſoll - ten, konnte er, wir behaupten es zuverſichtlich, nicht tugendhafter vorgeſtellt werden, als er iſt; und wenn jemand hierinn andrer Meynung ſeyn ſollte, ſo wuͤnſchten wir, daß er uns [wenn eswahrVorbericht. wahr iſt, daß derjenige der Beſte iſt, der die beſten Eigenſchaften mit den wenigſten Fehlern hat,] denjenigen nenne, der unter allen nach dem natuͤrlichen Lauf Gebohrnen, in aͤhnlichen Umſtaͤnden, und alles zuſammen genommen / tu - gendhafter geweſen waͤre, als Agathon.
Es iſt moͤglich, daß irgend ein junger Tau - genichts, wenn er ſiehet, daß ein Agathon den reizenden Verfuͤhrungen der Liebe und einer Da - nae endlich unterliegt, eben den Gebrauch davon machen kann, welchen der junge Chaͤrea beym Terenz von einem Gemaͤhlde machte, welches ei - ne von den Schelmereyen des Vater Jupiters vorſtellte, ‒ ‒ und daß er, wenn er mit herzli - cher Freude geleſen haben wird, daß ein ſo vor - treflicher Mann habe fallen koͤnnen, zu ſich ſelbſt ſagen mag: Ego homuncio hoc non facerem? ego vero illud faciam ac lubens.
Es iſt eben ſo moͤglich, daß ein uͤbelgeſinnter oder ruchloſer Menſch, den Diſcurs des Sophi -* 5ſtenVorbericht. ſten Hippias leſen, und ſich einbilden kann, die Rechtfertigung ſeines Unglaubens und ſeines laſterhaften Lebens darinn zu finden: Aber alle rechtſchaffnen Leute werden mit uns uͤberzeugt ſeyn, daß dieſer junge Bube, und dieſer ruchlo - ſe Freygeiſt beydes geweſen und geblieben waͤren, wenn gleich keine Geſchichte des Agathon in der Welt waͤre.
Dieſes leztere Beyſpiel fuͤhrt uns auf eine Erlaͤuterung, wodurch wir der Schwachheit ge - wiſſer gutgeſinnter Leute, deren Wille beſſer iſt, als ihre Einſichten, zu Huͤlfe zu kommen, und ſie vor unzeitig genommenem Aergerniß oder un - gerechten Urtheilen zu verwahren, uns verbun - den glauben. Wir geſtehen gerne, daß wir in das Bewußtſeyn der Redlichkeit unſrer Abſich - ten eingehuͤllt, nicht daran gedacht haͤtten, daß dieſe Sorgfalt noͤthig waͤre, wenn uns nicht die Anmerkung ſtuzen gemacht haͤtte, welche einer unſrer Freunde, ohne unſer Vorwiſſen, auf der Seite pag. 57. unter den Text zu ſezen, gut be - funden.
DieſeVorbericht.Dieſe Erlaͤuterung betrift die Einfuͤhrung des Sophiſten Hippias in unſere Geſchichte, und den Diſcurs, wodurch er den Agathon von ſei - nem liebenswuͤrdigen und tugendhaften Enthu - ſiasmus zu heilen, und zu einer Denkungsart zu bringen hoft, welche er nicht ohne guten Grund fuͤr geſchikter haͤlt, ſein Gluͤk in der Welt zu machen. Leute, die aus geſunden Au - gen gerade vor ſich hin ſehen, wuͤrden ohne un - ſer Erinnern aus dem ganzen Zuſammenhang unſers Werkes, und aus der Art, wie wir bey aller Gelegenheit von dieſem Sophiſten und ſei - nen Grundſaͤzen reden, ganz deutlich eingeſehen haben, wie wenig wir dem Mann und dem Syſtem guͤnſtig ſind; und ob es ſich gleich we - der fuͤr unſere eigene Art zu denken, noch fuͤr den Ton und die Abſicht unſers Buches geſchikt haͤtte, mit dem heftigen Eifer gegen ihn auszu - brechen, welcher einen jungen Magiſter treibt, wenn er, um ſich ſeinem Conſiſtorio zu einer gu - ten Pfruͤnde zu empfehlen, gegen einen Tindal oder Bolingbroke zu Felde zieht: So hof - fen wir doch bey vernuͤnftigen und ehrlichen Le -ſernVorbericht. ſern keinen Zweifel uͤbrig gelaſſen zu haben, daß wir den Hippias fuͤr einen ſchlimmen und ge - faͤhrlichen Mann, und ſein Syſtem, [in ſo fern es den aͤchten Grundſaͤzen der Religion und der Rechtſchaffenheit widerſpricht] fuͤr ein Gewebe von Trugſchluͤſſen anſehen, welche die menſchli - che Geſellſchaft zu grunde richten wuͤrden, wenn es moraliſch moͤglich waͤre, daß der groͤſſere Theil der Menſchen damit angeſtekt werden koͤnnte. Wir glauben alſo vor allem Verdacht uͤber dieſen Artikel ſicher zu ſeyn. Aber da un - ter unſern Leſern ehrliche Leute ſeyn koͤnnen, welche uns wenigſtens eine Unvorſichtigkeit Schuld geben, und davor halten moͤchten, daß wir die - ſen Hippias entweder gar nicht einfuͤhren, oder wenn dieſes der Plan unſers Werkes ja erfodert haͤtte, ſeine Lehrſaͤze ausfuͤhrlich haͤtten widerle - gen ſollen: So ſehen wir fuͤr billig an, ihnen die Urſachen zu ſagen, warum wir das erſte gethan, und das andere unterlaſſen haben.
WeilVorbericht.Weil nach unſerm Plan der Character un - ſers Helden auf verſchiedene Proben geſtellt werden ſollte, durch welche ſeine Denkensart und ſeine Tugend erlaͤutert, und dasjenige, was darinn uͤbertrieben, und unaͤcht war, nach und nach abgeſondert wuͤrde; ſo war es um ſo viel noͤthiger ihn auch dieſer Probe zu unterwerfen, da Hippias, bekannter maſſen, eine hiſtoriſche Perſon iſt, und mit den uͤbrigen Sophiſten derſelben Zeit ſehr vieles zur Ver - derbniß der Sitten unter den Griechen beyge - tragen hat. Ueberdem diente er den Charak - ter und die Grundſaͤze unſers Helden durch den Contraſt, den er mit ſelbigen macht, in ein de - ſto hoͤheres Licht zu ſezen. Und da es mehr als zu gewiß iſt, daß der groͤſſeſte Theil derjenigen, welche die groſſe Welt ausmachen, wie Hippias denkt, oder doch nach ſeinen Grundſaͤzen han - delt; ſo war es auch in dem Plan der morali - ſchen Abſichten, welche wir uns bey dieſem Werke vorgeſezt haben, zu zeigen, was fuͤr ei - nen Effect dieſe Grundſaͤze machen, wenn ſie indenVorbericht. den gehoͤrigen Zuſammenhang gebracht werden. Und dieſes ſind die hauptſaͤchlichſten Urſachen, warum wir dieſen Sophiſten [welchen wir nicht ſchlimmer vorgeſtellt haben, als er wirklich war, und als ſeine Bruͤder noch heutiges Tages ſind] in die Geſchichte des Agathon eingeflochten ha - ben.
Eine ausfuͤhrliche Widerlegung deſſen, was in ſeinen Grundſaͤzen irrig und gefaͤhrlich iſt: [Denn in der That hat er nicht allemal unrecht,] waͤre in Abſicht unſers Plans ein wahres hors d’oeuvre geweſen, und ſchien uns auch in Ab - ſicht der Leſer uͤberfluͤßig; indem nicht nur die Antwort, welche ihm Agathon giebt, das beſte enthaͤlt, was man dagegen ſagen kann; ſondern auch das ganze Werk [wie einem jeden in die Augen fallen wird, ſobald man das Ganze wird uͤberſehen koͤnnen] als eine Widerlegung deſſel - ben anzuſehen iſt. Agathon widerlegt den Hip - pias beynahe auf die nemliche Art wie Dioge - nes den Sophiſten, welcher laͤugnete, daß eineBewe -Vorbericht. Bewegung ſey: Diogenes ließ den Sophiſten ſchwazen, ſo lang er wollte; und da er fertig war, begnuͤgte er ſich vor ſeinen Augen ganz gelaſſen auf und ab zu gehen. Dieſes war unſtreitig die einzige Widerlegung, die er ver - diente.
Wir wuͤrden dem zweyten Theile, deſſen Ausgabe von der Aufnahme des erſten abhan - gen wird, den Vortheil der Neuheit und den Leſern zu gleicher Zeit ein kuͤnftiges Vergnuͤgen rauben, wenn wir den Jnnhalt deſſelben vor der Zeit bekannt machten. Genug, daß man unſern Helden in der Folge in eben ſo ſonder - baren und intereſſanten Umſtaͤnden und Verwik - lungen ſehen wird, als in dem erſten Theil. Alles, was wir vorlaͤufig von der Entwiklung ſagen koͤnnen, iſt dieſes: daß Agathon in der lezten Periode ſeines Lebens, welche den Be - ſchluß unſers Werkes macht, ein eben ſo weiſer als tugendhafter Mann ſeyn wird, und [was uns hiebey das beſte zu ſeyn daͤucht,] daß unſreLeſer[1]Vorbericht. Leſer begreifen werden, wie und warum er es iſt; warum vielleicht viele unter ihnen, weder dieſes noch jenes ſind; und wie es zugehen muͤß - te, wenn ſie es werden ſollten.
Die Sonne neigte ſich bereits zum Untergang, als Agathon, der ſich in einem unwegſamen Walde verirret hatte, von der vergeblichen Bemuͤhung einen Ausgang zu finden abgemattet, an dem Fuß eines Berges an - langte, welchen er noch zu erſteigen wuͤnſchte, in Hof - nung von dem Gipfel deſſelben irgend einen bewohnten Ort zu entdeken, wo er die Nacht zubringen koͤnnte. Er ſchleppte ſich alſo mit Muͤhe durch einen Fuß - weg hinauf, den er zwiſchen den Geſtraͤuchen ge - wahr ward; allein da er ungefehr die Mitte des Ber - ges erreicht hatte, fuͤhlt er ſich ſo entkraͤftet, daß er den Muth verlohr den Gipfel erreichen zu koͤnnen, der ſich immer weiter von ihm zu entfernen ſchien, je mehr er ihm naͤher kam. Er warf ſich alſo ganz Athemlos unter einen Baum hin, der eine kleine Terraſſe um -A 2ſchat -4Agathon,ſchattete, auf welcher er die einbrechende Nacht zuzu - bringen beſchloß.
Wenn ſich jemals ein Menſch in Umſtaͤnden befun - den hatte, die man ungluͤklich nennen kann, ſo war es dieſer Juͤngling in denjenigen, worinn wir ihn das er - ſtemal mit unſern Leſern bekannt machen. Vor weni - gen Tagen noch ein Guͤnſtling des Gluͤks, und der Ge - genſtand des Neides ſeiner Mitbuͤrger, befand er ſich, durch einen ploͤzlichen Wechſel, ſeines Vermoͤgens, ſeiner Freunde, ſeines Vaterlands beraubt, allen Zufaͤllen des widrigen Gluͤks, und ſelbſt der Ungewißheit ausgeſezt, wie er das nakte Leben, das ihm allein uͤbrig gelaſſen war, erhalten moͤchte. Allein ungeachtet ſo vieler Wi - derwaͤrtigkeiten, die ſich vereinigten ſeinen Muth nie - derzuſchlagen, verſichert uns doch die Geſchichte, daß derjenige, der ihn in dieſem Augenblik geſehen haͤtte, weder in ſeiner Mine noch in ſeinen Gebehrden einige Spur von Verzweiflung, Ungeduld oder nur von Miß - vergnuͤgen haͤtte bemerken koͤnnen.
Vielleicht erinnern ſich einige hiebey an den Weiſen der Stoiker von welchem man ehmals verſicherte, daß er in dem gluͤhenden Ochſen des Phalaris zum wenigſten ſo gluͤklich ſey, als ein Morgenlaͤndiſcher Baſſa in den weichen Armen einer jungen Circaſſerin. Da ſich aber in dem Lauf dieſer Geſchichte verſchiedne Pro - ben einer nicht geringen Ungleichheit unſers Helden mitdem5Erſtes Buch, erſtes Capitel. dem Weiſen des Seneca zeigen werden, ſo halten wir fuͤr wahrſcheinlicher, daß ſeine Seele von der Art der - jenigen geweſen ſey, welche dem Vergnuͤgen immer of - fen ſtehen, und bey denen eine einzige angenehme Em - pfindung hinlaͤnglich iſt, ſie alles vergangnen und kuͤnf - tigen Kummers vergeſſen zu machen. Eine Oefnung des Waldes zwiſchen zween Bergen zeigte ihm von fern die untergehende Sonne. Es brauchte nichts mehr als dieſen Anblik, um die Empfindung ſeiner widrigen Um - ſtaͤnde zu unterbrechen. Er uͤberließ ſich der Begeiſte - rung, worinn dieſes majeſtaͤtiſche Schauſpiel empfindli - che Seelen zu ſezen pflegt, ohne eine lange Zeit ſich ſeiner dringendſten Beduͤrfniſſe zu erinnern. Endlich wekte ihn doch das Rauſchen einer Quelle, die nicht weit von ihm aus einem Felſen hervor ſprudelte, aus dem angenehmen Staunen, worinn er etliche Minu - ten ſich ſelbſt vergeſſen hatte; er ſtand auf, und ſchoͤpfte mit der holen Hand von dieſem Waſſer, deſſen flieſſenden Criſtall, ſeiner Einbildung nach, eine wohlthaͤtige Nymphe ſeinen Durſt zu ſtillen, aus ihrem Marmorkrug entgegen goß; und anſtatt die von Cypriſchem Wein ſprudelnde Be - cher der Atheniſchen Gaſtmaͤler zu vermiſſen, daͤuchte ihm, daß er niemals angenehmer getrunken habe. Er legte ſich hierauf wieder nieder, entſchlief unter dem ſanft - betaͤubenden Gemurmel der Quelle, und traͤumte, daß er ſeine geliebte Pſyche wieder gefunden habe, deren Verluſt das einzige war, was ihm von Zeit zu Zeit einige Seuf - zer auspreßte.
Wenn es ſeine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der genaueſten Beziehung auf einander ſtehen, ſo iſt nicht minder gewiß, daß dieſe Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich iſt; und daher ſcheint es zu kommen, daß die Geſchichte zuweilen viel ſeltſamere Begebenheiten erzaͤhlt, als ein Romanen - Schreiber zu dichten wagen duͤrfte. Dasjenige, was unſerm Helden in dieſer Nacht begegnete, giebt mir neue Bekraͤftigung dieſer Beobachtung ab. Er genoß noch der Suͤßigkeit des Schlafs, den Homer fuͤr ein ſo groſſes Gut haͤlt, daß er ihn auch den Unſterblichen zueignet; als er durch ein lermendes Getoͤſe ploͤzlich aufgeſchrekt wurde. Er horchte gegen die Seite, wo - her es zu kommen ſchiene, und glaubte in dem ver - miſchten Getuͤmmel ein ſeltſames Heulen und Jauchzen zu unterſcheiden, welches von den entgegenſtehenden Felſen auf eine fuͤrchterliche Art wiederhallte. Agathon, der nur im Schlaf erſchrekt werden konnte, beſchloß dieſem Getoͤſe mit eben dem Muth entgegen zu gehen, womit in ſpaͤtern Zeiten der unbezwingbare Ritter von Mancha dem naͤchtlichen Klappern der Walkmuͤhlen Troz bot. Er beſtieg alſo den obern Theil des Berges mit ſo vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond, deſſen voller Glanz die ganze Gegend weit umher ausden7Erſtes Buch, zweytes Capitel. den daͤmmernden Schatten hob, beguͤnſtigte ſein Unter - nehmen. Das Getuͤmmel nahm immer zu, je naͤher er dem Ruͤken des Berges kam; er unterſchied izt den Schall von Trummeln und das Fluͤſtern regelloſer Floͤ - ten, und fieng an zu errathen, was dieſer Lerm zu be - deuten haben moͤchte; als ſich ihm ploͤzlich ein Schau - ſpiel darſtellte, welches faͤhig ſcheinen koͤnnte, den Weiſen, deſſen wir oben erwaͤhnet haben, ſelbſt ſeiner eingebildeten Goͤttlichkeit vergeſſen zu machen. Ein ſchwaͤrmender Haufen von jungen Thraciſchen Weibern war es, welche von der Orphiſchen Wuth begeiſtert, ſich in dieſer Nacht verſammelt hatten, die unſinnigen Gebraͤuche zu begehen, die das heidniſche Alterthum zum Andenken des beruͤhmten Zuges des Bacchus aus Jndien eingeſezt hatte. Ohne Zweifel koͤnnte eine aus - ſchweifende Einbildungskraft, oder der Griffel eines la Fage von einer ſolchen Scene ein ziemlich verfuͤhreriſches Gemaͤhlde machen; allein die Eindruͤke die der wuͤrk - liche Anblik auf unſern jungen Helden machte, waren nichts weniger als von der reizenden Art. Das ſtuͤr - miſch fliegende Haar, die rollenden Augen, die be - ſchaͤumten Lippen und die aufgeſchwollnen Muskeln, die wilden Gebehrden und die raſende Froͤhlichkeit, mit der dieſe Unſinnigen in frechen Stellungen, ihre mit zah - men Schlangen umwundnen Thyrſos ſchuͤttelten, ihre Klapperbleche zuſammen ſchlugen, oder abgebrochne Dithyramben mit lallender Zunge ſtammelten; alle dieſe Ausbruͤche einer fanatiſchen Wuth, die ihm nurA 4deſto8Agathon,deſto ſchaͤndlicher vorkam, weil ſie den Aberglauben zur Quelle hatte, machten ſeine Augen unempfindlich, und erwekten ihm einen Ekel vor Reizungen, die mit der Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verlohren hat - ten. Er wollte zuruͤk fliehen, aber es war unmoͤglich, weil er in eben dem Augenblik, da er ſie erblikte, von ihnen bemerkt worden war. Der unerwartete Anblik eines Juͤngling, an einem Ort und bey einem Feſte, wel - ches kein maͤnnliches Aug entweyhen durfte, hemmte ploͤzlich den Lauf ihrer laͤrmenden Froͤhlichkeit, um alle ihre Aufmerkſamkeit auf dieſe Erſcheinung zu wenden.
Hier koͤnnen wir unſern Leſern einen Umſtand nicht laͤnger verhalten, der in dieſe ganze Geſchichte einen groſſen Einfluß hat. Agathon war von einer ſo wun - derbaren Schoͤnheit, daß die Rubens und Girardons ſeiner Zeit, weil ſie die Hofnung aufgaben, eine voll - kommnere Geſtalt zu erfinden, oder aus den zerſtreuten Schoͤnheiten der Natur zuſammen zu ſetzen, die ſeinige zum Muſter nahmen, wenn ſie den Apollo oder Bacchus vorſtellen wollten. Niemals hatte ihn ein weibliches Aug erblikt, ohne die Schuld ihres Geſchlechts zu be - zahlen, welches die Natur fuͤr die Schoͤnheit ſo empfind - lich gemacht zu haben ſcheint, daß dieſe einzige Eigen - ſchaft den meiſten unter ihnen die Abweſenheit aller uͤbrigen verbirgt. Agathon hatte ihr in dieſem Au - genblik noch mehr zu danken; ſie rettete ihn von dem Schikſal des Pentheus. Seine Schoͤnheit ſezte dieſeMaͤna -9Erſtes Buch, zweytes Capitel. Maͤnaden in Erſtaunen. Ein Juͤngling von einer ſol - chen Geſtalt, an einem ſolchen Ort, zu einer ſolchen Zeit! Konnten ſie ihn fuͤr etwas geringers halten, als fuͤr den Bacchus ſelbſt? Jn dem Taumel worinn ſich ihre Sinnen befanden, war nichts natuͤrlichers als dieſer Gedanke; auch gab er ihrer Phantaſie auf einmal einen ſo feurigen Schwung, daß, da ſie die Geſtalt dieſes Gottes vor ſich ſahen, ſie alles uͤbrige hinzudichtete, was ihm zu einem vollſtaͤndigen Dionyſus mangelte. Jhre bezauberten Augen ſtellten ihnen die Silenen und die Ziegenfuͤßigen Faunen vor, die um ihn her ſchwaͤrmten, und Tyger und Leopar - den die mit liebkoſender Zunge ſeine Fuͤſſe lekten; Blu - men, ſo daͤucht es ſie, entſprangen unter ſeinen Fuß - ſolen, und Quellen von Wein und Honig ſprudelten von jedem ſeiner Tritte auf, und rannen in ſchaͤumen - den Baͤchen die Felſen hinab. Auf einmal erſchallte der ganze Berg, der Wald und die benachbarten Felſen von ihrem lauten Evan, Evan! mit einem ſo entſezlichen Getoͤſe der Trummeln und Klapperbleche, daß Agathon, bey dem das, was er in dieſem Augenblik ſah und hoͤrte, alles uͤberſtieg, was er jemals geſehen, gehoͤrt, gedichtet oder getraͤumt hatte, von Entſetzen und Er - ſtaunung gefeſſelt, wie eine Bildſaͤule ſtehen blieb, in - deß, daß die entzuͤkten Bacchantinnen gaukelnde Taͤn - ze um ihn her machten, und durch tauſend unſinnige Gebehrden ihre Freude uͤber die vermeynte Gegenwart ihres Gottes ausdruͤkten.
A 5Allein10Agathon,Allein die unmaͤßigſte Schwaͤrmerey hat ihre Gren - zen, und weicht endlich der Obermacht der Sinnen. Zum Ungluͤk fuͤr den Helden unſrer Geſchichte kamen dieſe Unſinnigen allmaͤhlich aus einer Entzuͤkung zuruͤk, woruͤber ſich vermuthlich ihre Einbildungskraft gaͤnzlich abgemattet hatte, und bemerkten immer mehr menſchliches an demjenigen, den ſeine ungewoͤhnliche Schoͤnheit in ihren trunknen Augen vergoͤtkert hatte. Etliche, die das Bewußtſeyn ihrer eignen ſtolz genug machte, die Ariadnen dieſes neuen Bacchus zu ſeyn, naͤherten ſich ihm, und ſezten ihn durch die Art womit ſie ihre Empfindungen ausdruͤkten in eine deſto groͤſſere Verle - genheit, je weniger er geneigt war, ihre ungeſtuͤmen Lieb - koſungen zu erwiedern. Dem Anſehn nach wuͤrde un - ter ihnen ſelbſt ein grimmiger Streit entſtanden, und Agathon zulezt das tragiſche Schikſal des Orpheus, der ehmals aus aͤhnlichen Urſachen von den thraciſchen Maͤnaden zerriſſen worden war, erfahren haben, wenn nicht die Unſterblichen, die das Gewebe der menſchli - chen Zufaͤlle leiten, in eben dem Augenblik ein Mittel ſeiner Errettung herbeygebracht haͤtten, da weder ſeine Staͤrke, noch ſeine Tugend ihn zu retten hinlaͤnglich war.
Eine Schaar Ciliciſcher Seeraͤuber, welche friſches Waſſer einzunehmen bey naͤchtlicher Weile an dieſer Kuͤ - ſte gelaͤndet, hatten von fern das Getuͤmmel der Bac - chantinnen gehoͤrt, und ſogleich fuͤr einen Aufruf zu einer anſehnlichen Beute aufgenommen. Sie erinnerten ſich, daß die vornehmſten Frauen dieſer Gegend die geheim - nißvollen Orgya um dieſe Zeit zu begehen pflegten; und daß ſie, wenn ſie ſich zu ſolchem Ende verſammel - ten, in ihrem ſchoͤnſten Puz aufzuziehen pflegten, ob ſie gleich vor Beſteigung des Berges ſich deſſen wieder entledigten, und alles biß zu ihrer Wiederkunft von ei - ner Anzahl Sclavinnen bewachen lieſſen. Die Hof - nung, außer dieſen Weibern, von denen ſie die ſchoͤnſten fuͤr die Aſtatiſchen Harems beſtimmten, eine Menge von koſtbaren Kleidern und Juwelen zu erbeuten, ſchien ihnen wohl werth, ſich etwas laͤnger aufzuhalten. Sie theilten ſich alſo in zween Haufen, davon der eine ſich derer bemaͤchtigte, welche die Kleider huͤteten, indeſſen daß die uͤbrigen den Berg beſtiegen, und mit großem Geſchrey unter die Thracierinnen einſtuͤrmend, ſich von ihnen Meiſter machten, ehe ſie Zeit oder Muth hatten, ſich zur Wehr zu ſezen. Die Umſtaͤnde waren aller - dings ſo beſchaffen, daß ſie ſich allein mit den gewoͤhn -lichen12Agathon,lichen und anſtaͤndigſten Waffen ihres Geſchlechts ver - theidigen konnten. Allein dieſe Cilicier waren allzuſehr Seeraͤuber, als daß ſie auf die Thraͤnen und Bitten, noch ſelbſt auf die Reizungen dieſer Schoͤnen einige Ach - tung gemacht haͤtten, welche doch in dieſem Augenblik, da Schrecken und Zagheit ihnen die Weiblichkeit (wenn es erlaubt iſt, dieſes Wort einem großen Dichterabzuborgen) wiedergegeben hatte, ſelbſt dem ſittſamen Agathon ſo verfuͤhreriſch vorkamen, daß er vor gut befand, ſeine nicht gerne gehorchende Augen an den Boden zu heften. Allein die Raͤuber hatten izt andre Sorgen, und waren nur darauf bedacht, wie ſie ihre Beute aufs ſchleunigſte in Sicherheit bringen moͤchten. Und ſo entgieng Agathon, fuͤr etliche nicht allzufeine Scherze uͤber die Geſellſchaft, worinn man ihn gefunden hatte, und fuͤr ſeine Freyheit, einer Gefahr, aus der er ſeinen Ge - danken nach ſich nicht zu theuer loskaufen konnte. Der Verluſt der Freyheit ſchien ihn in den Umſtaͤnden worinn er war, wenig zu bekuͤmmern; und in der That, da er alles uͤbrige verlohren hatte, was die Freyheit ſchaͤzbar macht, ſo hatte er wenig Urſache ſich wegen eines Ver - luſts zu kraͤnken, der ihm wenigſtens eine Veraͤnderung im Ungluͤk verſprach.
Nachdem die Cilicier mit ihrer geſamten Beute wie - der zu Schiffe gegangen, und die Theilung derſelben mit groͤßerer Eintracht, als womit die Vorſteher einer klei - nen Republik ſich in die oͤffentlichen Einkuͤnfte zu theilen pflegen, geendiget hatten; brachten ſie den Reſt der Nacht mit einem Schmauſe zu, bey welchem ſie nicht vergaßen, ſich wegen der mehr als ſtoiſchen Unem - pfindlichkeit, die ſie bey Eroberung der thraciſchen Schoͤnen bewieſen hatten, ſchadlos zu halten. Unter - deſſen aber, daß das ganze Schiff beſchaͤftiget war, das angefangne Bacchusfeſt zu vollenden, hatte ſich Agathon unbemerkt in einen Winkel zuruͤk gezogen, wo er vor Muͤ - digkeit abermals einſchlummerte, und den Traum gerne fortgeſezt haͤtte, aus welchem ihn das Evan Evan der berauſchten Maͤnaden gewekt hatte.
Die aufgehende Sonne, die von der roſenſingrichten Aurora angekuͤndiget, das Joniſche Meer mit ihren er - ſten Stralen vergoldete, faud alle diejeuigen, mit dem Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben, welche die Nacht durch dem Bacchus und ſeiner Goͤttin Schweſter geopfert hatten. Nur Agathon, der ge - wohnt war mit der Morgenroͤthe zu erwachen, wurde von den erſten Stralen gewekt, die in horizontalen Li - nien an ſeiner Stirne hinſchluͤpften. Jndem er die Au - gen aufſchlug, ſah er einen jungen Menſchen in einer Sclaven-Kleidung vor ſich ſtehen, der ihn mit großer Aufmerkſamkeit betrachtete. So ſchoͤn als Agathon war, ſo ſchien er doch von dieſem liebenswuͤrdigen Juͤngling an Feinheit der Geſtalt und Farbe uͤbertrof - fen zu werden; in der That hatte er in ſeiner Geſichts - bildung und in ſeiner ganzen Figur etwas ſo jungfraͤu - liches, daß er, gleich dem ſchoͤnen Liebling des Horaz, in weiblicher Kleidung unter einer Schaar von Maͤdchen gemiſcht, gar leicht das Auge des ſchaͤrfſten Kenners betrogen haben wuͤrde. Agathon erwiederte den An - blik dieſes jungen Sclaven mit einer Aufmerkſamkeit, in welcher ein angenehmes Erſtaunen nach und nach ſich bis zur Entzuͤkung erhob. Eben dieſe Bewegungen enthuͤll - ten ſich auch in dem anmuthigen Geſichte des jungenSclaven;15Erſtes Buch, fuͤnftes Capitel. Sclaven; ihre Seelen erkannten einander in eben dem - ſelben Augenblike, und ſchienen durch ihre Blike ſchon in einander zu flieſſen, eh ihre Arme ſich umfangen, und die von Entzuͤkung bebende Lippen-Pſyche-Aga - thon, ausrufen konnten. Sie ſchwiegen eine lange Zeit; dasjenige, was ſie empfanden, war uͤber allen Ausdruk; und wozu bedurften ſie der Worte? Der Ge - brauch der Sprache hoͤrt auf, wenn ſich die Seelen ein - ander unmittelbar mittheilen, ſich unmittelbar anſchauen und beruͤhren, und in einem Augenblik mehr empfinden, als die Zunge der Muſen ſelbſt in ganzen Jahren aus - zuſprechen vermoͤchte. Die Sonne wuͤrde vielleicht un - bemerkt uͤber ihrem Haupt hinweg, und wieder in den Ocean hinab geſtiegen ſeyn, ohne daß ſie in den fort - daurenden Augenblik der Entzuͤkung den Wechſel der Stunden bemerkt haͤtten; wenn nicht Agathon dem es allerdings zukam hierinn der erſte zu ſeyn, ſich mit ſanfter Gewalt aus den Armen ſeiner Pſyche losgewunden haͤtte, um von ihr zu erfahren, durch was fuͤr einen Zufall ſie in die Gewalt der Seeraͤuber gekommen ſey. Die Zeit iſt koſtbar, liebſte Pſyche ſagte er, wir muͤſſen uns der Au - genblike bemaͤchtigen, da dieſe Barbaren, von der Gewalt ihres Gottes bezwungen, zu Boden liegen. Erzaͤhle mir, durch was fuͤr einen Zufall wurdeſt du von meiner Seite geriſſen, ohne daß es mir moͤglich war zu erfahren, wie oder wohin? Und wie finde ich dich izt in dieſem Scla - venkleid, und in der Gewalt dieſer Seeraͤuber?
Du erinnerſt dich, antwortete ihm Pſyche, jener ungluͤklichen Stunde, da die eiferſuͤchtige Pythia unſre Liebe, ſo geheim wir ſie zu halten vermeynten, ent - dekte. Nichts war ihrer Wuth zu vergleichen, und es fehlte nur noch, daß ihre Rache nicht mein Leben zum Opfer verlangte; denn ſie ließ mich einige Tage alles erfahren, was verſchmaͤhte Liebe erfinden kan, eine gluͤkliche Nebenbuhlerin zu quaͤlen. Ob ſie es nun gleich in ihrer Gewalt hatte, mich deinen Augen gaͤnzlich zu entziehen, ſo hielt ſie ſich doch niemals ſicher, ſo lang ich zu Delphi ſeyn wuͤrde. Sie machte bald ein Mittel ausfuͤndig, ſich meiner zu entledigen, ohne einigen Arg - wohn zu erweken; ſie ſchenkte mich einer Verwandten, die ſie zu Syracus hatte, und weil ſie mich an dieſem Orte weit genug von dir entfernt hielt, ſaͤumte ſie nicht, mich in der groͤſten Stille nach Corinth, und von da nach Sicilien bringen zu laſſen. Die Thoͤrin! kannte ſie die Macht der Liebe nicht, die Agathon einfloͤßt? Wußte ſie nicht, daß keine Scheidung der Liebe durch Laͤnder und Meere meine Seele verhindern koͤnne, aus einer Zone in die andre zu fliegen, und gleich einem lie - benden Schatten um dich her zu ſchweben? Oder hof - te ſie, reizender in deinen Augen zu werden, wenn dumich17Erſtes Buch, ſechſtes Capitel. mich nicht mehr neben ihr ſehen wuͤrdeſt? Wie wenig kannte ſie unſre Liebe! Nein, wahre Liebe kann ſo we - nig eiferſuͤchtig ſeyn, als ſich ſelbſt fuͤhlende Staͤrke zit - tern kann. ‒ ‒ Jch verließ Delphi mit zerrißnem Her - zen. Als ich den lezten Blik auf dieſe bezauberten Hay - ne heftete, wo deine Liebe mir ein neues Weſen gab, eine neue Wuͤrklichkeit, gegen die mein voriges Leben eine ekelhafte Abwechslung von einfoͤrmigen Tagen und Naͤchten, ein ungefuͤhltes Pflanzen-Leben war, als ich dieſe geliebte Gegend endlich ganz aus den Augen ver - lohre. ‒ ‒ Nein, Agathon, ich kan es nicht beſchrei - ben, du kanſt es empfinden, du allein ‒ ‒ Als ich mich ſelbſt wieder fuͤhlte, erleichtert ein Strom von Thraͤ - nen mein gepreßtes Herz. Es war eine Art von Wol - luſt in dieſen Thraͤnen, ich ließ ihnen freyen Lauf, oh - ne mich zu bekuͤmmern, daß ſie geſehen wuͤrden. Die Welt ſchien mir ein leerer Raum, und alle Gegenſtaͤnde um mich her Traͤume und Schatten; du und ich wa - ren allein; ich ſah, ich hoͤrte nur dich, ich lag an dei - ner Bruſt, ich legte meinen Arm um deinen Hals, ich zeigte dir meine Seele in meinen Augen; ich fuͤhrte dich in die heiligen Schatten, wo du mich die Gegenwart der Unſterblichen fuͤhlen lehrteſt; ich lag zu deinen Fuͤſ - ſen, und meine an deinen Lippen hangende Seele glaub - te den Geſang der Muſen zu hoͤren, wenn du ſpracheſt; wir wandelten Hand in Hand beym ſanften Mondſchein durch elyſiſche Gegenden, oder ſezten uns unter die Blumen, ſtillſchweigend, indem unſre Seelen, in ih -[Agath. I. Th.] Brer18Agathon. rer eignen geiſtigen Sprache ſich einander enthuͤllten, und lauter Licht und Wonne um ſich her ſahen, und unſterblich zu ſeyn wuͤnſchten, um ſich ewig lieben zu koͤnnen. Unter dieſen Erinnerungen, deren Lebhaftig - keit alle aͤußre Empfindungen verdunkelte, beruhigte ſich mein Herz allgemach. Jch, die ſich ſelbſt nur fuͤr ei - nen Theil deines Weſens hielt, konnte nicht glauben, daß wir immer getrennt bleiben wuͤrden. Dieſe Hof - nung machte nun mein Leben aus, und bemaͤchtigte ſich meiner ſo ſehr, daß ich wieder heiter wurde. Denn ich zweifelte nicht, ich wußte es, daß du nicht aufhoͤ - ren koͤnnteſt, mich zu lieben. Jch uͤberließ dich der gluͤhenden Leidenſchaft einer maͤchtigen und reizenden Nebenbulerin, ohne ſie einen Augenblik zu fuͤrchten. Jch wußte, daß wenn ſie es auch ſo weit bringen koͤnnte, deine Sinnen zu verfuͤhren, ſie doch unfaͤ - hig ſey, dir eine Liebe einzufloͤßen wie die unſrige, und daß du dich bald wieder nach derjenigen ſehnen wuͤrdeſt, die dich allein gluͤklich machen, weil ſie al - lein dich lieben kann, wie du geliebt zu ſeyn wuͤn - ſcheſt. Unter tauſend ſolchen Gedanken kam ich end - lich zu Syracus an. Die vorſichtige Prieſterin hat - te Anſtalt gemacht, daß ich nirgend Mittel finden konnte, dir von meinem Aufenthalt Nachricht zu geben. Meine neue Gebieterin war von der guten Art von Geſchoͤpfen, die gemacht ſind ſich ſelbſt zu gefallen, und ſich alles gefallen zu laſſen. Jch wurde zu der Ehre beſtimmt, den Aufpuz ihres ſchoͤnen Kopfes zubeſor -19Erſtes Buch, ſiebentes Capitel. beſorgen; und die Art, wie ich dieſes Amt verwal - tete, erwarb mir ihre Gunſt ſo ſehr, daß ſie mich beynahe ſo viel liebte, als ihren Schooßhund. Jn dieſem Zuſtand hielt ich mich fuͤr ſo gluͤklich, als ich es ohne deine Gegenwart in einem jeden andern haͤt - te ſeyn koͤnnen, bis die Ankunft des Sohnes meiner Gebieterin die Scene veraͤnderte.
Narciſſus, ſo hieß dieſer junge Herr, war von ſei - ner Mutter nach Athen geſchikt worden, die Weiſen daſelbſt zu hoͤren, und die feinen Sitten der Athenienſer an ſich zu nehmen. Allein er hatte keine Zeit gefun - den, weder das eine noch das andre zu thun. Einige junge Leute, die er ſeine Freunde nannte, machten je - den Tag eine neue Luſtbarkeit ausfuͤndig, die ihn ver - hinderte, die ſchwermuͤthigen Spaziergaͤnge der Philo - ſophen zu beſuchen. Ueberdas hatten ihm die artig - ſten Straͤuſſermaͤdchen von Athen geſagt, daß er ein ſehr liebenswuͤrdiger junger Herr waͤre; er hatte es ihnen geglaubt, und ſich alſo keine Muͤhe gegeben, erſt zu wer - den, was er nach einem ſo vollguͤltigen Zeugniß, ſchon war. Er hatte ſich alſo mit nichts beſchaͤftiget, als ſei - ne Perſon in das gehoͤrige Licht zu ſetzen; niemand in Athen konnte ſich ruͤhmen laͤcherlicher gepuzt zu ſeyn,B 2weiſſer20Agathon. weiſſere Zaͤhne und ſanftere Haͤnde zu haben als Narciſ - ſus. Er war der erſte in der Kunſt, ſich in einem Au - genblik zweymal auf einem Fuß herum zu drehen, einen Faͤcher aufzuheben, oder ein Blumenſtraͤuschen an die Stirne einer Dame zu ſteken. Bey ſolchen Vorzuͤgen glaubte er einen natuͤrlichen Beruf zu haben, ſich dem weiblichen Geſchlecht anzubieten. Die Leichtigkeit wo - mit ſeine Verdienſte uͤber die zaͤrtlichen Herzen der Straͤuſſermaͤdchen geſiegt hatten, machte ihm Muth ſich an die Kammermaͤdchen zu wagen, und von dieſen Nymphen er hob er ſich endlich zu den Goͤttinnen ſelbſt. Ohne ſich zu bekuͤmmern, wie ſein Herz aufgenommen wurde, hatte er ſich angewoͤhnt zu glauben, daß er un - widerſtehlich ſey; und wenn er nicht allemal Proben davon erhielt, ſo machte er ſich dafuͤr ſchadlos, indem er ſich der Gunſtbezeugungen am meiſten ruͤhmte, die er nicht genoſſen hatte. ‒ ‒ Wunderſt du dich, Agathon, woher ich ſo wol von ihm unterrichtet bin? Von ihm ſelbſt. Was meine Augen nicht an ihm entdekten, das ſagte mir ſein Mund. Denn er ſelbſt war der uner - ſchoͤpfliche Jnnhalt ſeiner Geſpraͤche, ſo wie der einzige Gegenſtand ſeiner Bewunderung. Ein Liebhaber von dieſer Art ſollte dem Anſehen nach wenig zu bedeuten haben. Eine Zeit lang beluſtigte mich ſeine Thorheit; allein er wurde ungeſtuͤm. Er fand es unanſtaͤndig, daß eine Aufwaͤrterin ſeiner Mutter unempfindlich ge - gen ein Herz bleiben ſollte, um welches die Straͤuſſer - Maͤdchen zu Athen einander beneidet hatten. Jch ward endlich genoͤthiget, meine Zuflucht zu ſeiner Mutter zunehmen.21Erſtes Buch, ſiebentes Capitel. nehmen. Allein eben dieſe leutſelige Organiſation, welche ſie guͤtig gegen ſich ſelbſt, gegen ihr Schooßhuͤnd - chen und gegen alle Welt machte, machte ſie auch guͤ - tig gegen die Thorheiten ihres Sohnes. Sie ſchien es ſo gar uͤbel zu nehmen, daß ich von den Vorzuͤgen ei - nes ſo liebreizenden jungen Herrn nicht ſtaͤrker geruͤhrt wuͤrde. Die Ungeduld uͤber die Anfaͤlle, denen ich be - ſtaͤndig ausgeſezt war, gab mir tauſendmal den Gedan - ken ein, mich heimlich hinweg zu ſtehlen. Allein ich hatte keine Nachricht von dir; ein Reiſender von Del - phi hatte uns zwar geſagt, daß du daſelbſt unſichtbar geworden, aber niemand konnte ſagen wo du ſeyeſt. Dieſe Ungewißheit ſtuͤrzte mich in eine Unruhe, die meiner Geſundheit nachtheilig zu werden anfieng; als eben dieſer Narciſſus, deſſen laͤcherliche Liebe zu ſich ſelbſt mich ſo lange gequaͤlt hatte, mir ohne ſeine Ab - ſicht das Leben wieder gab, indem er erzaͤhlte, daß ein gewiſſer Agathon von Athen, nach einem Sieg uͤber die aufruͤhriſchen Einwohner von Euboͤa, dieſe Jnſel ſeiner Republik wieder unterworfen habe. Die Umſtaͤnde die er von dieſem Agathon hinzu fuͤgte, lieſſen mich nicht zweifeln, daß du es ſeyeſt. Eine Sclavin, die mir ge - wogen war, befoͤrderte meine Flucht. Sie hatte ei - nen Liebhaber, der ſie beredet hatte, ſich von ihm ent - fuͤhren zu laſſen. Jch half ihr, dieſes Vorhaben aus - zufuͤhren und begleitete ſie; der junge Sicilianer ver - ſchafte mir zur Dankbarkeit dieſes Sclavenkleid, und brachte mich auf ein Schiff, welches nach Athen be - ſtimmt war. Jch wurde fuͤr einen Sclaven ansgege -B 3ben,22Agathon. ben, der ſeinen Herrn zu Athen ſuchte, und uͤberließ mich zum zweytenmal den Wellen, aber mit ganz an - dern Empfindungen als das erſtemal, da ſie nun anſtatt mich von dir zu entfernen, uns wieder zuſammen bringen ſollten.
Unſre Fahrt war einige Tage gluͤklich, auſſer daß ein Wind der uns weſtwaͤrts trieb, unſre Reiſe ungewoͤhn - lich verlaͤngerte. Allein am Abend des ſechſten Tages erhob ſich ein heftiger Sturm, der uns in wenigen Stunden wieder einen großen Weg zuruͤk machen ließ; unſre Schiffer waren endlich ſo gluͤklich, eine von den unbewohnten Cycladen zu erreichen, wo wir uns vor dem Sturm in Sicherheit ſezten. Wir fanden in eben der Bucht wohin wir uns gefluͤchtet hatten, ein anders Schiff liegen, worinn ſich eben dieſe Cilicier befanden, denen wir izt zugehoͤren. Sie hatten eine griechiſche Flagge aufgeſtekt, ſie gruͤßten uns, ſie kamen zu uns heruͤber, und weil ſie unſre Sprache redeten, ſo hat - ten ſie keine Muͤhe uns ſo viele Maͤhrchen vorzuſchwa - zen, als ſie noͤthig fanden, uns ſicher zu machen. Nach und nach wurde unſer Volk vertraulich mit ihnen; ſie brachten etliche große Kruͤge mit Cypriſchem Weine, wodurch ſie in wenig Stunden alle unſre Leute wehr -los23Erſtes Buch, achtes Capitel. los machten. Sie bemaͤchtigten ſich hierauf unſers gan - zen Schiffes, und begaben ſich, ſo bald ſich der Sturm in etwas gelegt hatte, wieder in die See. Bey der Theilung wurde ich einmuͤthig dem Hauptmann der Raͤuber zuerkannt. Man bewunderte meine Geſtalt oh - ne mein Geſchlecht zu muthmaßen. Allein dieſe Ver - borgenheit half mir nicht ſo viel, als ich gehoft hatte. Der Cilicier, den ich fuͤr meinen Herrn erkennen mußte, verzog nicht lange, mich mit einer ekelhaften Leidenſchaft zu quaͤlen. Er nannte mich Ganymedes, und ſchwur bey allen Tritonen und Nereiden, daß ich ihm ſeyn muͤßte, was dieſer trojaniſche Prinz dem Jupiter gewe - ſen ſey. Wie er ſah, daß ſeine Schmeicheleyen ohne Wuͤrkung waren, noͤthigte er mich zulezt, ihm zu zeigen, daß ich mein Leben gegen meine Ehre fuͤr nichts halte. Dieſes verſchafte mir bisher einige Ruhe, und ich fieng an, auf ein Mittel meiner Befreyung zu denken. Jch gab dem Raͤuber zu verſtehen, daß ich von einem ganz andern Stande ſey, als mein Sclavenmaͤßiger Anzug zu erkennen gaͤbe, und bat ihn aufs inſtaͤndigſte mich nach Athen zu fuͤhren, wo er fuͤr meine Erledigung er - halten wuͤrde, was er nur fodern wollte. Allein uͤber dieſen Punkt war er unerbittlich, und jeder Tag entfern - te uns weiter von dieſem geliebten Athen, welches, wie ich glaubte, meinen Agathon in ſich hielt. Wie wenig dachte ich, daß eben dieſe Entfernung, uͤber die ich ſo untroͤſtbar war, uns wieder zuſammen bringen wuͤrde? Aber, ach! in was fuͤr Umſtaͤnden finden wir uns wieder! Beyde der Freyheit beraubt, ohneB 4Freunde,24Agathon. Freunde, ohne Huͤlfe, ohne Hofnung befreyt zu wer - den; verurtheilt ungeſitteten Barbaren dienſtbar zu ſeyn. Die unſinnige Leidenſchaft meines Herrn wird uns ſo gar des einzigen Vergnuͤgens berauben, das unſern Zu - ſtand erleichtern koͤnnte. Seitdem ihm meine Entſchloſ - ſenheit die Hofnung benommen ſeinen Endzwek zu er - reichen, ſcheint ſich ſeine Liebe in eine wuͤtende Eifer - ſucht verwandelt zu haben, die ſich bemuͤht, dasjenige was man ſelbſt nicht genieſſen kan, wenigſtens keinem andern zu Theil werden zu laſſen. Der Barbar wird dir keinen Umgang mit mir verſtatten, da er mir kaum ſichtbar zu ſeyn erlaubt. Doch die ungewiſſe Zukunft ſoll mir nicht einen Augenblik von der gegenwaͤrtigen Wonne rauben. Jch ſehe dich, Agathon, und bin gluͤklich. Wie begierig haͤtte ich vor wenigen Stunden einen Augenblik wie dieſen mit meinem Leben erkauft! Jndem ſie dieſes ſagte, umarmte ſie den gluͤklichen Agathon mit einer ſo ruͤhrenden Zaͤrtlichkeit, daß die Entzuͤkung, die ihre Herzen einander mittheilten, eine zweyte ſprachloſe Stille hervorbrachte; und wie ſollten wir beſchreiben koͤnnen, was ſie empfanden, da der Mund der Liebe ſelbſt nicht beredt genug war, es aus - zudruken?
Nachdem unſre Liebhaber aus ihrer Entzuͤkung zuruͤk - gekommen waren, verlangte Pſyche von Agathon eben dieſelbe Gefaͤlligkeit, die ſie durch Erzehlung ihrer Bege - benheiten fuͤr ſeine Neugierde gehabt hatte. Er melde - te ihr alſo, wiewol ihm die Zeit nicht erlaubte um - ſtaͤndlich zu ſeyn, auf was Weiſe er von Delphi ent - flohen, wie er mit einem Athenienſer bekannt gewor - den, und wie ſich entdeket habe, daß dieſer Athenienſer ſein Vater ſey; wie er durch einen Zufall in die oͤffent - lichen Angelegenheiten verwikelt und durch ſeine Be - redſamkeit dem Volke angenehm geworden; die Dienſte, die er der Republik geleiſtet; durch was fuͤr Mittel ſeine Neider das Volk wider ihn aufgebracht, und wie er vor wenig Tagen mit Verluſt aller ſeiner vaͤterli - chen Guͤter und Anſpruͤche lebenslaͤnglich aus Athen verbannt worden; wie er den Entſchluß gefaßt, eine Reiſe in die Morgenlaͤnder vorzunehmen, und durch was fuͤr einen Zufall er in die Haͤnde der Cilicier ge - rathen. Sie fiengen nun auch an, ſich uͤber die Mit - tel ihrer Befreyung zu berathſchlagen; allein die Bewe - gungen, welche die allmaͤhlich erwachenden Raͤuber machten, noͤthigten Pſyche ſich aufs eilfertigſte zu verber - gen, um einem Verdacht zuvorzukommen, wovon derB 5Schat -26Agathon. Schatten genug war, ihren Geliebten das Leben zu ko - ſten. Sie beklagten izt bey ſich ſelbſt, daß ſie, nach dem Beyſpiel der Liebhaber in den Romanen, eine ſo guͤnſtige Zeit mit unnoͤthigen Erzaͤhlungen verlohren, da ſie doch voraus ſehen konnten, daß ihnen kuͤnftig wenig Gelegenheit wuͤrde gegeben werden, ſich zu beſprechen. Allein was ſie hieruͤber haͤtte troͤſten koͤnnen, war, daß alle ihre Berathſchlagungen und Erfindungen vergeblich geweſen waͤren. Denn an eben dieſem Morgen erhielt der Hauptmann Nachricht von einem reichbeladnen Schiffe, welches im Begrif ſey, von Lesbos nach Co - rinth abzugehen, und welches, nach den Umſtaͤnden die der Bericht angab, unterwegs aufgefangen werden koͤnnte. Dieſe Zeitung veranlaßte eine geheime Berath - ſchlagung unter den Haͤuptern der Raͤuber, wovon der Ausſchlag war, daß Agathon mit den gefangnen Thra - cierinnen und einigen andern jungen Sclaven unter ei - ner Bedekung in eine Barke geſezt wurde, um unge - ſaͤumt nach Smirna gefuͤhrt und daſelbſt verkauft zu werden; indeß, daß die Galeere mit dem groͤſten Theil der Seeraͤuber ſich fertig machte, der reichen Beute, die ſie ſchon in Gedanken verſchlangen, entgegen zu gehen. Jn dieſem Augenblik verlohr Agathon die Ge - laſſenheit, mit der er bisher alle Stuͤrme des widrigen Gluͤks ausgehalten hatte. Der Gedanke, von ſeiner Pſyche wieder getrennt zu werden, ſezte ihn auſſer ſich ſelbſt. Er warf ſich zu den Fuͤſſen des Ciliciers, er ſchwur ihm, daß der verkleidete Ganymedes ſein Bru - der ſey; er bot ſich ſelbſt zu ſeinem Sclaven an, erflehte,27Erſtes Buch, neuntes Capitel. flehte, er weinte. ‒ ‒ Aber umſonſt. Der Seeraͤuber hatte die Natur des Elements, welches er bewohnte, und die Syrenen ſelbſt haͤtten ihn nicht bereden koͤn - nen, ſeinen Entſchluß zu aͤndern. Agathon erhielt nicht einmal die Erlaubniß, von ſeinem geliebten Bru - der Abſchied zu nehmen; die Lebhaftigkeit, die er bey dieſem Anlaß gezeigt, hatte ihn dem Hauptmann ver - daͤchtig gemacht. Er wurde alſo, von Schmerz und Verzweiflung betaͤubt, in die Barke getragen, und be - fand ſich ſchon eine geraume Zeit auſſer dem Geſichts - kreis ſeiner Pſyche, eh er wieder erwachte, um den gan - zen Umfang ſeines Elends zu fuͤhlen.
Da wir uns zum unverbruͤchlichen Geſeze gemacht haben, in dieſer Geſchichte alles ſorgfaͤltig zu vermeiden, was gegen die hiſtoriſche Wahrheit derſelben einigen ge - rechten Verdacht erweken koͤnnte; ſo wuͤrden wir uns ein Bedenken gemacht haben, das Selbſtgeſpraͤch, wel - ches wir hier in unſerm Manuſcript vor uns finden, mitzutheilen, wenn nicht der ungenannte Verfaſſer die Vorſicht gebraucht haͤtte uns zu melden, daß ſeine Er - zaͤhlung ſich in den meiſten Umſtaͤnden auf eine Art von Tagebuch gruͤnde, welches (ſichern Anzeigen nach) von der eignen Hand des Agathon ſey, und wovon erdurch28Agathon. durch einen Freund zu Crotona eine Abſchrift erhal - ten. Dieſer Umſtand macht begreiflich, wie der Ge - ſchichtſchreiber habe wiſſen koͤnnen, was Agathon bey dieſer und andern Gelegenheiten mit ſich ſelbſt geſpro - chen; und ſchuͤzet uns gegen die Einwuͤrfe, die man gegen die Selbſtgeſpraͤche machen kann, worinn die Geſchichtſchreiber den Poeten ſo gerne nachzuahmen pflegen, ohne ſich, wie ſie, auf die Eingebung der Mu - ſen berufen zu koͤnnen.
Unſre Urkunde meldet alſo, nachdem die erſte Wuth des Schmerze〈…〉〈…〉 s, welche allezeit ſtumm und Gedanken - los zu ſeyn pflegt, ſich geleget, habe Agathon ſich um - geſehen; und da er von allen Seiten nichts als Luft und Waſſer um ſich her erblikt, habe er, ſeiner Gewohn - heit nach, alſo mit ſich ſelbſt zu philoſophiren an - gefangen:
War es ein Traum, was mir begegnet iſt, oder ſah ich ſie wuͤrklich, hoͤrt’ ich wuͤrklich den ruͤhrenden Accent ihrer ſuͤſſen Stimme, und umfiengen meine Ar - me keinen Schatten? Wenn es mehr als ein Traum war, warum iſt mir von einem Gegenſtand, der alle andern aus meiner Seele ausloͤſchte nichts als die Erinnerung uͤbrig? ‒ ‒ Wenn Ordnung und Zuſam - menhang die Kennzeichen der Wahrheit ſind, o! wie aͤhnlich dem ungefehren Spiel der traͤumenden Phanta - ſie ſind die Zufaͤlle meines ganzen Lebens! ‒ ‒ Von Kind - heit an unter den heiligen Lorbeern des DelphiſchenGottes29Erſtes Buch, zehntes Capitel. Gottes erzogen, ſchmeichle ich mir unter ſeinem Schuz, in Beſchauung der Wahrheit und im geheimen Umgang mit den Unſterblichen, ein ſtilles und ſorgenfreyes Leben zuzubringen. Tage voll Unſchuld, einer dem andern gleich, flieſſen in ruhiger Stille, wie Augenblike vor - bey, und ich werde unvermerkt ein Juͤngling. Eine Prieſterin, deren Seele eine Wohnung der Goͤtter ſeyn ſoll, wie ihre Zunge das Werkzeug ihrer Ausſpruͤche, vergißt ihre Geluͤbde, und bemuͤht ſich meine unerfahr - ne Jugend zu Befriedigung ihrer Begierde zu mißbrau - chen. Jhre Leidenſchaft beraubt mich derjenigen, die ich liebe; ihre Nachſtellungen treiben mich endlich aus dem geheiligten Schuzort, wo ich, ſeit dem ich mich ſelbſt empfand, von Bildern der Goͤtter und Helden um - geben, mich einzig beſchaͤftigt hatte, ihnen aͤhnlich zu werden. Jn eine unbekannte Welt ausgeſtoſſen, finde ich unvermuthet einen Vater und ein Vaterland, die ich nicht kannte. Ein ſchneller Wechſel von Umſtaͤnden ſezt mich eben ſo unvermuthet in den Beſtz des groͤſten Anſehens in Athen. Das blinde Zutrauen eines Vol - kes, das in ſeiner Gunſt ſo wenig Maaß haͤlt als in ſeinem Unwillen, noͤthigt mir die Anfuͤhrung ſeines Kriegsheers auf; ein wunderbares Gluͤk koͤmmt allen meinen Unternehmungen entgegen, und fuͤhrt meine An - ſchlaͤge aus; ich kehre ſiegreich zuruͤk. Welch ein Triumph! Welch ein Zujauchzen! Welche Vergoͤtte - rung! Und wofuͤr? Fuͤr Thaten, an denen ich den wenigſten Antheil hatte. Aber kaum ſchimmert mei - ne Bildſaͤule zwiſchen den Bildern des Cecrops undTheſeus,30Agathon. Theſeus, ſo reißt mich eben dieſer Poͤbel, der vor we - nigen Tagen bereit war, mir Altaͤre aufzurichten, mit ungeſtuͤmer Wuth zum Gerichtsplaz hin. Die Mißgunſt derer, die das Uebermaaß meines Gluͤks beleidigte, hat ſchon alle Gemuͤther wider mich eingenommen, und alle Ohren gegen meine Vertheidigung verſtopft; Hand - lungen, woruͤber mein Herz mir Beyfall giebt, werden auf den Lippen meiner Anklaͤger zu Verbrechen, mein Verdammungs-Urtheil wird ausgeſprochen. Von allen verlaſſen, die ſich meine Freunde genannt hatten, und kurz zuvor die eifrigſten geweſen waren, neue Ehren - bezeugungen fuͤr mich zu erfinden, fliehe ich aus Athen, mit leichterm Herzen, als womit ich vor wenigen Wo - chen, unter dem Zujauchzen einer unzaͤhlbaren Menge, durch ihre Thore eingefuͤhrt wurde; und entſchlieſſe mich den Erdboden zu durchwandern, ob ich einen Ort finden moͤchte, wo die Tugend, von auswaͤrtigen Be - leidigungen ſicher, ihrer eigenthuͤmlichen Gluͤkſeligkeit genieſſen koͤnnte, ohne ſich aus der Geſellſchaft der Men - ſchen zu verbannen. Jch nahm den Weg nach Aſien, um an den Ufern des Oxus die Quellen zu beſuchen, aus denen die Geheimniſſe des Orphiſchen Gottesdienſts zu uns gefloſſen ſind. Ein Zufall fuͤhrt mich unter ei - nen Schwarm raſender Bachantinnen, und ich entrin - ne ihrer verliebten Wuth blos dadurch, daß ich in die Haͤnde ſeeraͤuberiſcher Barbaren falle. Jn dieſem Au - genblike, da mir von allem was man verliehren kann nur noch das Leben uͤbrig iſt, finde ich meine Pſyche wieder; aber kaum fange ich an meinen Sinnen zuglauben,31Erſtes Buch, zehntes Capitel. glauben, daß ſie es ſey, die ich in meinen Armen um - ſchloſſen halte, ſo verſchwindet ſie wieder, und ich fin - de mich auf dieſem Schiffe, um zu Smyrna als ein Sclave verkauft zu werden ‒ ‒ Wie aͤhnlich iſt alles die - ſes einem Traum, wo die ſchwaͤrmende Phantaſie, oh - ne Ordnung, ohne Wahrſcheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Betracht zu ziehen, die betaͤubte Seele von einem Abentheur zu dem andern, von der Crone zum Bett - lers-Mantel, von der Wonne zur Verzweiflung, vom Tartarus ins Elyſium fortreißt? ‒ ‒ Und iſt denn das Leben ein Traum, ein bloſſer Traum, ſo eitel, ſo un - weſentlich, ſo unbedeutend als ein Traum? Ein un - beſtaͤndiges Spiel des blinden Zufalls, oder unſichtba - rer Geiſter, die eine grauſame Beluſtigung darinn fin - den, uns zum Scherz bald gluͤklich bald ungluͤklich zu machen? Oder, iſt es eben dieſe allgemeine Seele der Welt, deren Daſeyn die geheimnißvolle Majeſtaͤt der Natur ankuͤndiget; iſt es dieſer allesbelebende Geiſt, der die menſchlichen Sachen anordnet; warum herr - ſchet in der moraliſchen Welt nicht eben dieſe unveraͤn - derliche Ordnung und Zuſammenſtimmung, wodurch die Elemente die Jahres - und Tages-Zeiten, die Ge - ſtirne und die Kreiſe des Himmels in ihrem gleichfoͤr - migen Lauf erhalten werden? Warum leidet der Un - ſchuldige? Warum ſieget der Betruͤger? Warum ver - folgt ein unerbittliches Schikſal die Tugendhaften? Sind unſre Seelen den Unſterblichen verwandt, ſind ſie Kinder des Himmels; warum verkennt der Himmel ſein Geſchlecht, und tritt auf die Seite ſeiner Feinde? Oder32Agathon. Oder hat er uns die Sorge fuͤr uns ſelbſt gaͤnzlich uͤber - laſſen, warum ſind wir keinen Augenblik unſers Zu - ſtandes Meiſter? Warum vernichtet bald Nothwendig - keit, bald Zufall, die weiſeſten Entwuͤrfe? ‒ ‒
Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; ſein in Zweifeln verwikelter Geiſt arbeitete ſich loszuwinden, biß ein neuer Blik auf die majeſtaͤtiſche Natur die ihn umgab, eine andre Reyhe von Vorſtellungen in ihm entwikelte. ‒ ‒ Was ſind, fuhr er mit ſich ſelbſt fort, meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennuͤtzi - gen Leidenſchaft? Wer war dieſen Morgen gluͤklicher als ich? Alles war Wolluſt und Wonne um mich her. Hat ſich die Natur binnen dieſer Zeit veraͤndert, oder iſt ſie minder der Schauplaz einer grenzenloſen Voll - kommenheit, weil Agathon ein Sclave, und von Pſyche getrennet iſt? Schaͤme dich, Kleinmuͤthiger, deiner truͤbſinnigen Zweifel, und deiner unmaͤnnlichen Klagen! Wie kanſt du Verluſt nennen, deſſen Beſiz kein Gut war? Jſt es ein Uebel, deines Anſehens, deines Ver - moͤgens, deines Vaterlandes beraubt zu ſeyn? Alles deſſen beraubt warſt du in Delphi gluͤklich, und vermiſ - keſt es nicht. Und warum nenneſt du Dinge dein, die nicht zu dir ſelbſt gehoͤren, die der Zufall giebt und nimmt, ohne daß es in deiner Willkuͤhr ſteht ſie zu er - langen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und gluͤklich ſloß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die Welt, ihre Geſchaͤfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechſelungen kannte; eh ich genoͤthiget war,mit33Erſtes Buch, zehntes Capitel. mit den Leidenſchaften andrer Menſchen, oder mit mei - nen eigenen zu kaͤmpfen, mich ſelbſt und den Genuß mei - nes Daſeyns einem undankbaren Volke aufzuopfern, und unter der vergeblichen Bemuͤhung, Thoren oder Laſterhafte gluͤklich zu machen, ſelbſt ungluͤklich zu ſeyn! ‒ ‒ Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten Zweifel des Mißvergnuͤgens am beſten. Es waren Augenblike, Tage, lange Reyhen von Tagen, da ich gluͤklich war, gluͤklich in den frohen Stunden, da mei - ne Seele, vom Anblik der Natur begeiſtert, in tiefſinni - gen Betrachtungen und ſuͤſſen Ahnungen, wie in den bezauberten Gaͤrten der Heſperiden irrte; gluͤklich, wenn mein befriedigtes Herz in den Armen der Liebe, aller Beduͤrfniſſe, aller Wuͤnſche vergaß, und nun zu verſtehen glaubte, was die Wonne der Goͤtter ſey; gluͤklicher, wenn in Augenbliken, deren Erinnerung den bitterſten Schmerz zu verſuͤſſen genug iſt, mein Geiſt in der groſſen Betrachtung des Ewigen und Un - begraͤnzten ſich verlor ‒ ‒ Ja du biſt, alles beſeelende, alles regierende Guͤte ‒ ‒ ich ſah, ich fuͤhlte dich! Jch empfand die Schoͤnheit der Tugend, die dir aͤhnlich macht; ich genoß die Gluͤkſeligkeit, welche Tagen die Schnelligkeit der Augenblike, und Augenbliken den Werth von Jahrhunderten giebt. Die Macht der Empfin - dung zerſtreut meine Zweifel; die Erinnerung der ge - noſſenen Gluͤkſeligkeit heilet den gegenwaͤrtigen Schmerz, und verſpricht eine beſſere Zukunft. Alle dieſe allgemei - ne Quellen der Freude, woraus alle Weſen ſchoͤpfen,[Agath. I. Th.] Cflieſſen,34Agathon. flieſſen, wie ehmals, um mich her; meine Seele iſt noch eben dieſelbige, wie die Natur, die mich umgiebt ‒ ‒ O Ruhe meines Delphiſchen Lebens, und du, meine Pſyche! Dich allein, von allem, was auſſer mir iſt, nenne ich mein, weil du die wehrtere Helfte meines Weſens biſt ‒ ‒ Wenn ihr auf ewig verloren waͤret, dann wuͤrde meine untroͤſtbare Seele nichts auf Erde finden, daß ihr die Liebe zum Leben wieder geben koͤnnte. Aber ich beſaß beyde, ohne ſie mir ſelbſt gegeben zu ha - ben, und die wolthaͤtige Macht, die ſie gab, kann ſie wiedergeben. Thenre Hoffnung, du biſt ſchon ein An - fang der Gluͤkſeligkeit, die du verſprichſt! Es waͤre zu - gleich gottlos und thoͤricht, ſich einem Kummer zu uͤberlaſſen, der den Himmel beleidigt, und uns ſelbſt der Kraͤfte beraubt, dem Ungluͤk zu widerſtehen, und der Mittel, wieder gluͤklich zu werden. Komm denn, du ſuͤſſe Hoffnung einer beſſern Zukunft, und feßle mei - ne Seele mit deinen ſchmeichelnden Bezauberungen! Ruhe und Pſyche ‒ ‒ Dieſes allein, ihr Goͤtter, ſo moͤ - get ihr Lorbeer-Kraͤnze und Schaͤze geben, wem ihr wollt!
Das Wetter war unſern Seefahrern ſo guͤnſtig, daß Agathon gute Muſſe hatte, ſeinen Betrachtungen ſo lange nachzuhaͤngen, als er wollte; zumal da ſeine Reiſe von keinem der Umſtaͤnde begleitet war, womit eine poetiſche Seefahrt ausgeſchmuͤkt zu ſeyn pflegt. Denn man ſahe da weder Tritonen, die aus krummen Ammons-Hoͤrnern blieſen, noch Nereiden, die auf Del - phinen, mit Blumen-Kraͤnzen gezaͤumet, uͤber den Wel - len daherritten; noch Syrenen, die mit halbem Leib aus dem Waſſer hervorragend, die Augen durch ihre Schoͤn - heit, und das Ohr durch die Suͤſſigkeit ihrer Stimme bezaubert haͤtten. Die Winde ſelbſt waren etliche Tage lang ſo zahm, als ob ſie es mit einander abgeredet haͤtten, uns keine Gelegenheit zu irgend einer ſchoͤnen Beſchrei - bung eines Sturms oder eines Schifbruchs zu geben; kurz, die Reiſe gieng ſo gluͤklich von ſtatten, daß die Barke am Abend des dritten Tages in den Haven von Smyrna einlief; wo die Raͤuber, nunmehr unter dem Schuz des groſſen Koͤnigs geſichert, ſich nicht ſaͤumten, ihre Gefangenen ans Land zu ſezen, in der Hoffnung, auf dem Sclaven-Markte keinen geringen Vortheil ausC 2ihnen36Agathon. ihnen zu ziehen. Jhre erſte Sorge war, ſie in eines der oͤffentlichen Baͤder zu fuͤhren, wo man nichts ver - gaß, was dazu dienen konnte, ſie den folgenden Tag verkaͤuflicher zu machen. Agathon war noch zu ſehr von allem demjenigen, was mit ihm vorgegangen war, eingenommen, als daß er auf das gegenwaͤrtige auf - merkſam ſeyn konnte. Er wurde gebadet, abgerieben, mit Salben und wolriechenden Waſſern begoſſen, mit einem Sclaven-Kleid von vielfarbichter Seide angethan, mit allem was ſeine Geſtalt erheben konnte, ausge - ſchmuͤkt, und von allen, die ihn ſahen, bewundert; ohne daß ihn etwas aus der vollkommnen Unempfind - lichkeit erweklen konnte, welche in gewiſſen Umſtaͤnden eine Folge der uͤbermaͤſſigen Empfindlichkeit iſt. Jn dasjenige vertieft, was in ſeiner Seele vorgieng, ſchien er, weder zu ſehen, noch zu hoͤren; weil er nichts ſah, oder hoͤrte, was er wuͤnſchte; und nichts als der An - blik, der ſich ihm auf dem Sclaven-Markte darſtellte, war vermoͤgend, ihn aus dieſer wachenden Traͤumerey aufzuruͤtteln. Dieſe Scene hatte zwar das Abſcheuliche nicht, das ein Sclaven-Markt zu Barbados ſo gar fuͤr einen Curopaͤer haben koͤnnte, dem die Vor - urtheile der geſitteten Voͤlker noch einige Ueberbleibſel des angebohrnen menſchlichen Gefuͤhls gelaſſen haͤtten; allein ſie hatte doch genug, um eine Seele zu empoͤ - ren, die ſich gewoͤhnt hatte, in den Menſchen mehr die Schoͤnheit ihrer Natur, als die Erniedrigung ihres Zu - ſtands; mehr das, was ſie nach gewiſſen Vorausſezun -gen37Erſtes Buch, eilftes Capitel. gen ſeyn koͤnnten, als was ſie wuͤrklich waren, zu ſehen. Eine Menge von traurigen Vorſtellungen ſtieg in ge - draͤngter Verwirrung bey dieſem Anblik in ihm auf; und in eben dem Augenblik, da ſein Herz von Mitleiden und Wehmuth zerfloß, brannte es von einem zuͤrnen - den Abſcheu vor den Menſchen, deſſen nur diejenigen fuͤhig, welche die Menſchheit lieben. Er vergaß uͤber dieſen Empfindungen ſeines eignen Ungluͤks, als ein Mann von edelm Anſehen, welcher ſchon bey Jahren zu ſeyn ſchien, im Voruͤbergehn ſeiner gewahr ward, ſtehen blieb, und ihn mit beſondrer Aufmerkſamkeit be - trachtete. Wem gehoͤrt dieſer junge Leibeigene? fragte endlich der Mann einen von den Ciliciern, der neben ihm ſtand. Dem, der ihn von mir kaufen wird, ver - ſezte dieſer. Was verſteht er fuͤr eine Kunſt? fuhr je - ner fort. Das wird er dir ſelbſt am beſten ſagen koͤn - nen, erwiederte der Cilicier. Der Mann wandte ſich alſo an den Agathon ſelbſt, und fragte ihn, ob er nicht ein Grieche ſey? ob er ſich nicht in Athen aufgehalten? und ob er in den Kuͤnſten der Muſen unterrichtet wor - den? Agathon bejahete dieſe Fragen: „ Kannſt du den Homer leſen? „ Jch kann leſen; und ich meyne, daß ich den Homer empfinden koͤnne. „ Kennſt du die Schrif - ten der Philoſophen? „ Nein, denn ich verſtehe ſie nicht. „ Du gefaͤllſt mir, junger Menſch! Wie hoch haltet ihr ihn, mein Freund? Er ſollte, wie die an - dern, durch den Herold ausgerufen werden, antwortete der Cilicier, aber fuͤr zwey Talente iſt er euer. BegleiteC 3mich38Agathon. mich mit ihm in mein Haus, erwiederte der Alte, du ſollſt zwey Talente haben, und der Sclave iſt mein. Dein Geld muß dir ſehr beſchwerlich ſeyn, ſagte Agathon; woher weiſt du, daß ich dir fuͤr zwey Talente nuͤzlich ſeyn werde? Wenn du es nicht waͤreſt, verſezte der Kaͤufer, ſo bin ich unbeſorgt, unter den Damen von Smyrna zwanzig fuͤr eine zu finden, die mir auf deine bloſſe Mine hin wieder zwey Talente fuͤr dich geben. Und mit dieſen Worten befahl er dem Agathon, ihm in ſein Haus zu folgen.
Der Mann, der ſich fuͤr zwey Talente das Recht er - worben hatte, den Agathon als ſeinen Leibeignen zu be - handeln, war einer von den merkwuͤrdigen Leuten, die unter dem Namen der Sophiſten in den griechiſchen Staͤdten umherzogen, ſich der edelſten und reichſten Juͤnglinge bemaͤchtigten, und durch die Annehmlichkei - ten ihres Umgangs und die praͤchtigen Verſprechun - gen, ihre Freunde zu vollkommnen Rednern, Staats - maͤnnern und Feldherren zu machen, das Geheimniß ge - funden hatten, welches die Alchymiſten bis auf den heu - tigen Tag vergeblich geſucht haben. Sie wurden von al - ler Welt mit dem ehrenvollen Namen der Sophiſten oder Weiſen benennt; allein die Weisheit, von der ſie Profeſſion machten, war von der Socratiſchen, dieC 4durch40Agathon,durch einige Verehrer dieſes Athenienſiſchen Buͤrgers ſo beruͤhmt worden iſt, ſo wol in ihrer Beſchaffenheit, als in ihren Wuͤrkungen unendlich unterſchieden; oder beſ - ſer zu ſagen, ſie war die vollkommne Antipode derſelbi - gen. Die Sophiſten lehrten die Kunſt, die Leidenſchaf - ten andrer Menſchen zu erregen; Socrates die Kunſt, ſeine eigene zu daͤmpfen. Jene lehrten, wie man es machen muͤſſe, um weiſe und tugendhaft zu ſcheinen; dieſer lehrte, wie man es ſey. Jene munterten die Juͤnglinge von Athen auf, ſich der Regierung des Staats anzumaſſen; Socrates, daß ſie vorher die Helfte ihres Lebens anwenden ſollten, ſich ſelbſt regieren zu lernen. Jene ſpotteten der Socratiſchen Weisheit, die nur in einem ſchlechten Mantel aufzog, und ſich mit ei - ner Mahlzeit fuͤr ſechs Pfenninge begnuͤgte, da die ih - rige in Purpur ſchimmerte, und offne Tafel hielt. Die Socratiſche Weisheit war ſtolz darauf, den Reichthum entbehren zu koͤnnen; die ihrige wußte, ihn zu erwer - ben. Sie war gefaͤllig, einſchmeichelnd, und wußte alle Geſtalten anzunehmen; ſie vergoͤtterte die Groſſen, kroch vor ihren Dienern, taͤndelte mit den Damen, und ſchmeichelte allen, welche es bezahlten. Sie war allenthalben an ihrem rechten Plaz; beliebt bey Hofe, beliebt an der Toilette, beliebt beym Spiel-Tiſch, be - liebt beym Adel, beliebt bey den Finanz-Pachtern, be - liebt bey den Theater-Goͤttinnen, beliebt ſo gar bey der Prieſterſchaft. Die Socratiſche war weit entfernt, ſo lie - benswuͤrdig zu ſeyn; ſie war troken und langweilig; ſiewußte41Zweytes Buch, erſtes Capitel. wußte nicht zu leben; ſie war unertraͤglich, weil ſie al - les tadelte, und immer Recht hatte; ſie wurde von dem geſchaͤftigen Theil der Welt fuͤr unnuͤzlich, von dem muͤſſigen fuͤr abgeſchmakt, und von dem andaͤchtigen gar fuͤr gefaͤhrlich erklaͤrt. Wir wuͤrden nicht fertig wer - den, wenn wir dieſe Gegenſaͤze ſo weit treiben wollten, als wir koͤnnten. Genug, daß die Weisheit der So - phiſten einen Vorzug hatte, den ihr die Socratiſche nicht ſtreitig machen konnte; ſie verſchafte ihren Beſi - zern Reichthum, Anſehen, Ruhm, und ein Leben, das von allem, was die Welt gluͤklich nennet, uͤberfloß.
Hippias (ſo hieß der neue Herr unſers Agathon) war einer von dieſen Gluͤklichen, dem die Kunſt, ſich die Thorheiten andrer Leute zinsbar zu machen, ein Vermoͤgen erworben hatte; wodurch er ſich im Stande ſah, ſich der Ausuͤbung derſelben zu begeben, und die andre Helfte ſeines Lebens in den Ergoͤzungen eines be - guͤterten Muͤſſigangs zu zubringen; zu deren angenehm - ſten Genuß das zunehmende Alter viel geſchikter ſcheint, als die ungeſtuͤme Jugend. Er hatte ſich zu dieſem Ende Smyrna zu ſeinem Wohn-Ort auserſehen, weil die An - nehmlichkeiten des Joniſchen Clima, die ſchoͤne Lage die - ſer Stadt, der Ueberfluß, der ihr durch die Handlung aus allen Theilen des Erdbodens zuſtroͤmte, und die Verbindung des griechiſchen Geſchmaks mit der wolluͤſti - gen Ueppigkeit der Morgenlaͤnder ihm dieſen Aufent - halt vor allen andern, die er kannte, vorzuͤglich machte. C 5Hippias42Agathon. Hippias hatte den Ruhm, daß ihm in den Talenten ſeiner Profeſſion wenige den Vorzug ſtreitig machen koͤnn - ten. Ob er gleich uͤber fuͤnfzig Jahre hatte, ſo war ihm doch von der Gabe zu gefallen, die ihm in ſeiner Ju - gend ſo nuͤzlich geweſen war, noch genug uͤbrig geblie - ben, daß ſein Umgang von den artigſten Perſonen des einen und andern Geſchlechts geſucht wurde. Er hatte alles, was die Art von Weisheit, die er ausuͤbte, ver - fuͤhriſch machen konnte; eine edle Geſtalt, eine einneh - mende Geſichts-Bildung, einen angenehmen Ton der Stimme, einen behenden und geſchmeidigen Wiz, und eine Beredſamkeit, die deſto mehr gefiel, weil ſie mehr ein Geſchenk der Natur, als eine durch Fleiß erwor - bene Kunſt zu ſeyn ſchien. Dieſe Beredſamkeit, oder vielmehr dieſe Gabe angenehm zu ſchwazen, mit einer Tinctur von allen Wiſſenſchaften, einem feinen Ge - ſchmak in dem Schoͤnen und Angenehmen, und eine vollſtaͤndige Kenntniß der Welt, war mehr als er noͤ - thig hatte, um in den Augen aller derjenigen, mit denen er umgieng, (denn er gieng mit keinen Socraten um) fuͤr einen Genie vom erſten Rang, fuͤr einen Mann zu gelten, welcher alles wiſſe; welchem ſchon zu - gelaͤchelt wurde, eh man wußte, was er ſagen wollte, und wider deſſen Ausſpruͤche nicht erlaubt war, etwas einzuwenden. Jndeſſen war doch dasjenige, dem er ſein Gluͤk vornehmlich zu danken hatte, die beſondere Gabe, die er beſaß, ſich der ſchoͤnern Helfte der Ge - ſellſchaft gefaͤllig zu machen. Er war ſo klug, fruͤhzei -tig43Zweytes Buch, erſtes Capitel. tig zu entdeken, wie viel an der Gunſt dieſer reizenden Geſchoͤpfe gelegen iſt, welche in den policierten Theilen des Erdbodens die Macht wuͤrklich ausuͤben, die in den Maͤhrchen den Feen beygelegt wird; die mit einem ein - zigen Blik, oder durch eine kleine Verſchiebung des Hals - tuchs ſtaͤrker uͤberzeugen, als Demoſthenes und Lyſias durch lange Reden; die mit einer einzigen Thraͤne den Ge - bieter uͤber Legionen entwafnen, und durch den bloſſen Vortheil, den ſie von ihrer Geſtalt und einem gewiſſen Beduͤrfniß des ſtaͤrkern Geſchlechts zu ziehen wiſſen, ſich zu unumſchraͤnkten Beherrſcherinnen derjenigen machen, in deren Haͤnden das Schikſal ganzer Voͤlker ligt. Hip - pias hatte dieſe Entdekung von ſo groſſem Nuzen gefun - den, daß er keine Muͤhe geſparet hatte, es in der An - wendung derſelben zu dem hoͤchſten Grade der Vollkom - menheit zu bringen; und dasjenige, was er in ſeinem Alter noch davon hatte, bewieß, was er in ſeinen ſchoͤ - nen Jahren geweſen ſeyn muͤſſe. Seine Eitelkeit gieng ſo weit, daß er ſich nicht enthalten konnte, die Kunſt, die Zauberinnen zu bezaubern, in die Form eines Lehr - Begrifs zu bringen, und ſeine Erfahrungen und Beob - achtungen hieruͤber der Welt in einer ſehr gelehrten Ab - handlung mitzutheilen, deren Verluſt nicht wenig zu be - dauern iſt, und ſchwerlich von einem heutigen Schrift - ſteller unſrer Nation zu erſezen ſeyn moͤchte.
Nach allem, was wir bereits von dieſem weiſen Manne geſagt haben, waͤr es uͤberfluͤſſig, eine Abſchil -derung44Agathon. derung von ſeinen Sitten zu machen. Sein Lehr-Be - grif, von der Kunſt zu leben, wird uns in kurzem um - ſtaͤndlich vorgelegt werden; und er beſaß eine Tugend, welche nicht die Tugend der Moraliſten zu ſeyn pflegt; er lebte nach ſeinen Grundſaͤzen.
Unter andern Neigungen, in deren Befriedigung man den rechten Gebrauch des Reichthums zu ſezen pflegt, hatte Hippias einen beſondern Geſchmak an allem, was gut in die Augen fiel. Er wollte, daß die Seinigen, in ſeinem Hauſe wenigſtens, ſich nirgends hinwenden ſollten, ohne einem ſchoͤnen Gegenſtande zu begegnen. Die ſchoͤnſten Gemaͤhlde, die ſchoͤnſten Bildſaͤulen und Schnizwerke, die reichſten Tapeten, das ſchoͤnſte Haus - geraͤthe, die ſchoͤnſten Gefaͤſſe befriedigten ſeinen Geſchmak noch nicht; er wollte auch, daß der belebte Theil ſeines Hauſes mit dieſer allgemeinen Schoͤnheit uͤbereinſtim - men ſollte; und ſeine Bediente und Sclavinnen waren die ausgeſuchteſten Geſtalten, die er in einem Lande, wo die Schoͤnheit gewoͤhnlich iſt, hatte finden koͤnnen. Die Geſtalt Agathons moͤchte alſo allein hinreichend ge - weſen ſeyn, ihm ſeine Gunſt zu erwerben; zumal da er eben einen Leſer noͤthig hatte, und aus dem Anblikund45Zweytes Buch, zweytes Capitel. und den erſten Worten deſſelben urtheilte, daß er ſich zu einem Dienſt vollkommen ſchiken wuͤrde, wozu eine gefallende Geſichts-Bildung und eine muſicaliſche Stim - me die noͤthigſten Gaben ſind. Allein Hippias hatte noch eine geheime Abſicht, die er durch dieſen Juͤng - ling zu erreichen hofte. Obgleich die Liebe zu den Wolluͤſten der Sinne ſeine herrſchende Neigung zu ſeyn ſchien, ſo hatte doch die Eitelkeit nicht we - niger Antheil an den meiſten Handlungen ſeines Lebens. Er hatte, bevor er ſich nach Smyrna begab, um die Fruͤchte ſeiner Arbeit zu genieſſen, den ſchoͤnſten Theil ſeines Lebens zugebracht, die edelſte Jugend der griechi - ſchen Staͤdte zu bilden; er hatte Redner gebildet, die durch eine kuͤnſtliche Vermiſchung des Wahren und Fal - ſchen, und den klugen Gebrauch gewiſſer Figuren, einer ſchlimmen Sache den Schein und die Wuͤrkung einer gu - ten zu geben wußten; Staats-Maͤnner, welche die Kunſt beſaſſen, mitten unter den Zujauchzungen eines bethoͤr - ten Volks die Geſeze durch die Freyheit und die Frey - heit durch ſchlimme Sitten zu vernichten; um diejenigen, die ſich der heilſamen Zucht der Geſeze nicht unterwer - fen wollten, der willkuͤrlichen Gewalt ihrer Leidenſchaf - ten zu unterwerfen; kurz, er hatte Leute gebildet, die ſich Ehren-Saͤulen dafuͤr aufrichten lieſſen, daß ſie ihr Vaterland zu Grunde richteten. Allein dieſes befriedigte ſeine Eitelkeit noch nicht: Er wollte auch jemand hin - terlaſſen, der ſeine Kunſt fortzuſezen geſchikt waͤre; eine Kunſt, die in ſeinen Augen allzuſchoͤn war, als daß ſiemit46Agathon. mit ihm ſterben ſollte. Schon lange hatte er einen jungen Menſchen geſucht, bey dem er das natuͤrliche Geſchike, der Nachfolger eines Hippias zu ſeyn, in derjenigen Vollkommenheit finden moͤchte, die dazu er - fodert wurde. Seine Gabe, aus der Geſtalt und Mine das Jnnwendige eines Menſchen zu errathen, beredete ihn, im Agathon zu finden, was er ſuchte; wenigſtens hielt er es der Muͤhe werth, den Verſuch mit ihm zu machen; und da er von ſeiner Tuͤchtigkeit ein ſo gutes Vorurtheil gefaſſet hatte, ſo fiel ihm nur nicht ein, in ſeine Willigkeit zu den groſſen Abſichten, die er mit ihm vorhatte, einigen Zweifel zu ſezen.
Agathon wußte noch nichts, als daß er einem Manne zugehoͤre, deſſen aͤuſſerliches Anſehen ihm gefiel; als er bey dem Eintritt in ſein Haus durch die Schoͤn - heit des Gebaͤudes, die Bequemlichkeiten der Einrich - tung, die Menge und die gute Mine der Bedienten, und durch einen Schimmer von Pracht und Ueppigkeit, der ihm allenthalben entgegen glaͤnzte, in eine Art von Verwunderung geſezt wurde, die ihm ſonſt nicht ge - woͤhnlich war, und die nur deſto mehr zunahm, wie er hoͤrte, daß er die Ehre haben ſollte, ein Haus-Genoſſevon47Zweytes Buch, drittes Capitel. von Hippias, dem Weiſen, zu werden. Er war noch im Nachdenken begriffen, was fuͤr eine Art von Weis - heit dieſes ſeyn moͤchte, als Hippias, der indeß ſeinem Zahlmeiſter befohlen hatte, den Cilicier zu befriedigen, ihn in ſein Cabinet rufen ließ, und ihm ſeine kuͤnftige Beſtimmung in dieſen Worten ankuͤndigte: Die Geſeze, Callias, (denn dieſes ſoll kuͤnftig dein Name ſeyn) ge - ben mir zwar das Recht, dich als meinen Leibeigenen anzuſehen; aber es wird nur von dir abhangen, ſo gluͤklich in meinem Hauſe zu ſeyn, als ich ſelbſt. Alle deine Verrichtungeu werden darin beſtehen, den Homer bey meinem Tiſche, und die Aufſaͤze, mit deren Ausar - beitung ich mir die Zeit vertreibe, in meinem Hoͤr-Saal vorzuleſen. Wenn dieſes Amt leicht zu ſeyn ſcheint, ſo verſichre ich dich, daß ich nicht leicht zu befriedigen bin, und daß du Kenner zu Hoͤrern haben wirſt. Ein Joniſches Ohr will nicht nur ergoͤzt, es will bezaubert ſeyn. Die Annehmlichkeit der Stimme, die Reinigkeit und das Weiche der Ausſprache, die Richtigkeit des Accents, das Muntre, das Ungezwungene, das Muſicaliſche iſt nicht hinlaͤnglich; wir fodern eine vollkommne Nach - ahmung, einen Ausdruk, der jedem Theile des Stuͤks, jeder Periode, jedem Vers das Leben, den Affect, die Seele giebt, die ſie haben ſollen; kurz, die Art, wie geleſen wird, ſoll das Ohr an die Stelle aller uͤbrigen Sinne ſezen. Das Gaſtmal des Alcinous ſoll dieſen Abend dein Probſtuͤk ſeyn. Die Faͤhigkeiten, die ich an dir zu entdeken hoffe, werden meine Abſichten mitdir48Agathon. dir beſtimmen; und vielleicht wirſt du in der Zukunft Urſache finden, den Tag, an dem du dem Hippias ge - fallen haſt, unter deine Gluͤklichen zu zaͤhlen. Mit die - ſen Worten verließ er unſern Juͤngling, und erſparte ſich dadurch die Demuͤthigung zu ſehen, wie wenig der neue Callias durch die Hoffnungen geruͤhrt ſchien, wozu ihn dieſe Erklaͤrung berechtigte. Jn der That hatte die Be - ſtimmung, die Joniſchen Ohren zu bezaubern, in Aga - thons Augen nicht edels genug, daß er ſich deswegen haͤtte gluͤklich ſchaͤzen ſollen; und uͤber dem war etwas in dem Ton dieſer Anrede, welches ihm mißfiel, ohne daß er eigentlich wußte, warum? Jnzwiſchen vermehrte ſich ſeine Verwunderung, je mehr er ſich in dem Hauſe des weiſen Hippias umſah; und er begrif nun ganz deut - lich, daß ſein Herr, was auch ſonſt ſeine Grundſaͤze ſeyn moͤchten, wenigſtens von der Ertoͤdung der Sinn - lichkeit, wovon er ehmals den Plato zu Athen ſehr ſchoͤne Dinge ſagen gehoͤrt hatte, keine Profeſſion ma - che. Allein wie er ſah, was die Weisheit in dieſem Hauſe fuͤr eine Tafel hielt, wie praͤchtig ſie ſich bedie - nen ließ, was fuͤr reizende Gegenſtaͤnde ihre Augen, und was fuͤr wolluͤſtige Harmonien ihre Ohren ergoͤzten, waͤhrend daß der Schenk-Tiſch mit den ausgeſuchteſten Weinen und den angenehm-betaͤubenden Getraͤnken der Aſiaten beladen, den Sinnen zum Genuß ſo vieler Wolluͤſte neue Kraͤfte zu geben ſchien; wie er die Menge von jungen Sclaven ſah, die den Liebes-Goͤttern aͤhnlich ſchienen, die Choͤre von Taͤnzerinnen und Lauten-Spie -lerinnen,49Zweytes Buch, drittes Capitel. lerinnen, die durch die Reizungen ihrer Geſtalt ſo ſehr als durch ihre Geſchiklichkeit bezauberten, und die nachahmenden Taͤnze, in denen ſie die Geſchichte der Le - da oder Danae durch bloſſe Bewegungen mit einer Leb - haftigkeit vorſtellten, die einen Neſtor haͤtte verjuͤngern koͤnnen; wie er die uͤppigen Baͤder, die bezauberten Gaͤrten, kurz, wie er alles ſah, was das Haus des wei - ſen Hippias zu einem Tempel der ausgekuͤnſteltſten Sinn - lichkeit machte, ſo ſtieg ſeine Verwunderung bis zum Erſtaunen; und er konnte nicht begreifen, was dieſer Sybarite gethan haben muͤſſe, um den Namen eines Weiſen zu verdienen, oder wie er ſich einer Benennung nicht ſchaͤme, die ihm, ſeinen Gedanken nach, eben ſo gut anſtund, als dem Alexander von Phera, wenn man ihn den Leutſeligen, oder der Phryne, wenn man ſie die Keuſche haͤtte nennen wollen. Alle Aufloͤſungen, die er ſich ſelbſt hieruͤber machen konnte, befriedigten ihn ſo wenig, daß er ſich vornahm, bey der erſten Gelegen - heit dieſes Problem dem Hippias ſelbſt vorzulegen.
Die Verrichtungen des Agathon lieſſen ihm ſo viel Zeit uͤbrig, daß er in wenigen Tagen in einem Hauſe,[Agath. I. Th.] Dwo50Agathon. wo alles Freude athmete, ſehr lange Weile hatte. Zwar lag die Schuld nur an ihm ſelbſt, wenn es ihm an ei - nem Zeit-Vertreib mangelte, der ſonſt die hauptſaͤch - lichſte Beſchaͤftigung der Leute von ſeinem Alter auszu - machen pflegt. Die Nymfen dieſes Hauſes waren von einer ſo gefaͤlligen Gemuͤths-Art, von einer ſo anzie - henden Figur, und von einem ſo guͤnſtigen Vorurtheil fuͤr den neuen Haus-Genoſſen eingenommen, daß es weder die Furcht abgewieſen zu werden, noch der Feh - ler ihrer Reizungen war, was den ſchoͤnen Callias ſo zuruͤkhaltend oder unempfindlich machte.
Verſchiedene, die aus ſeinem Betragen ſchloſſen, daß er noch ein Neuling ſeyn muͤſſe, lieſſen ſich die Muͤhe nicht dauern, ihm die Schwierigkeiten, die ihm ſeine Schuͤchternheit, ihren Gedanken nach, in den Weg legte, zu erleichtern; und gaben ihm Gelegenheiten, die den Zaghafteſten haͤtten unternehmend machen ſollen. Allein (wir muͤſſen es nur geſtehen, was man auch von unſerm Helden deswegen denken mag) er gab ſich eben ſo viel Muͤhe, dieſe Gelegenheiten auszuweichen, als man ſich geben konnte, ſie ihm zu machen. Wenn dieſes anzuzeigen ſcheint, daß er entweder einiges Miß - trauen in ſich ſelbſt, oder ein allzugroſſes Vertrauen in die Reizungen dieſer ſchoͤnen Verfuͤhrerinnen geſezt ha - be, ſo dienet vielleicht zu ſeiner Entſchuldigung, daß er noch nicht alt genug war, ein Xenocrates zu ſeyn; und daß er, vermuthlich nicht ohne Urſache, ein Vorurtheilwider51Zweytes Buch, viertes Capitel. wider dasjenige gefaßt hatte, was man im Umgang von jungen Perſonen beyderley Geſchlechts unſchuldige Freyheiten zu nennen pflegt. Dem ſey inzwiſchen wie ihm wolle, ſo iſt gewiß, daß Agathon durch dieſes ſelt - ſame Bezeugen einen Argwohn erwekte, der ihm bey allen Gelegenheiten ſehr beiſſende Spoͤttereyen von den uͤbrigen Hausgenoſſen, und ſelbſt von den Schoͤnen zu - zog, die ſich durch ſeine Sproͤdigkeit nicht wenig belei - digt fanden, und ihm auf eine feine Art zu verſtehen gaben, daß ſie ihn fuͤr geſchikter hielten, die Tugend der Damen zu bewachen, als auf die Probe zu ſtellen. Agathon fand nicht rathſam, ſich in einen Wett-Streit einzulaſſen, wo er beſorgen mußte, daß die Begierde, recht zu haben, die ſich in der Hize des Streites auch der Kluͤgſten zu bemeiſtern pflegt, ihn zu gefaͤhrlichen Eroͤrterungen fuͤhren koͤnnte. Er machte daher bey ſol - chen Anlaͤſen eine ſo alberne Figur, daß man von ſei - nem Wiz eine eben ſo verdaͤchtige Meynung bekommen mußte, als man ſchon von ſeiner Perſon gefaßt hatte; und die Verachtung, in die er deswegen bey jeder - mann fiel, trug vielleicht nicht wenig dazu bey, ihm den Aufenthalt in einem Hauſe beſchwerlich zu machen, wo ihm ohnehin, alles, was er ſah und hoͤrte, aͤr - gerlich war. Er liebte diejenigen Kuͤnſte ſehr, uͤber welche, nach dem Glauben der Griechen, die Muſen die Aufſicht hatten. Allein die Gemaͤhlde, womit alle Saͤle und Gaͤnge dieſes Hauſes ausgeziert waren, ſtell - ten ſo ſchluͤpfrige und unſittliche Gegenſtaͤnde vor, daßD 2er52Agathon. er ſeinen Augen um ſo weniger erlauben konnte, ſich darauf zu verweilen, je vollkommner die Natur darin nachgeahmt war, und je mehr ſich d〈…〉〈…〉 Genie bemuͤht hatte, der Natur ſelbſt neue Reizungen zu leihen. Eben ſo weit war die Muſic, die er alle Abende nach der Tafel hoͤren konnte, von derjenigen unterſchieden, die ſeiner Einbildung nach allein der Muſen wuͤrdig war. Er liebte eine Muſic, welche die Leidenſchaften beſaͤnf - tigte, und die Seele in ein angenehmes Staunen wiegte, oder das Lob der Unſterblichen mit einem feurigen Schwung von Begeiſtrung ſang, wodurch das Herz in heiliges Entzuͤken und in ein ſchauervolles Gefuͤhl der gegenwaͤrtigen Gottheit geſezt wurde; und wenn ſie Zaͤrtlichkeit und Freude ausdruͤkte, ſo ſollte es die Zaͤrt - lichkeit der Unſchuld und die ruͤhrende Freude der ein - faͤltigen Natur ſeyn. Allein in dieſem Hauſe hatte man einen ganz andern Geſchmak. Was Agathon hoͤrte, waren Syrenen-Geſaͤnge, die den uͤppigſten Liedern des tejiſchen Dichters einen Reiz gaben, der auch aus un - angenehmen Lippen verfuͤhreriſch geweſen waͤre; Ge - ſaͤnge, die durch den nachahmenden Ausdruk des ver - ſchiednen Tons der ſchmeichelnden, ſeufzenden und ſchmachtenden, oder der triumphierenden und in Entzuͤ - kung aufgeloͤsten Leidenſchaft die Begierde erregten, das - jenige zu erfahren, was in der Nachahmung ſchon ſo reizend war; Lydiſche Floͤten, deren girrendes, verlieb - tes Fluͤſtern die redenden Bewegungen der Taͤnzerinnen ergaͤnzte, und ihrem Spiel eine Deutlichkeit gab, die der Einbildungs-Kraft nichts zu errathen uͤbrig ließ;Sym -53Zweytes Buch, viertes Capitel. Symphonien, welche die Seele in ein bezaubertes Ver - geſſen ihrer ſelbſt verſenkten, und, nachdem ſie alle ihre edlere Kraͤfte entwafnet hatte, die erregte und willige Sinnlichkeit der ganzen Gewalt der von allen Seiten eindringenden Wolluſt auslieferten. Agathon konnte bey dieſen Scenen, wo ſo viele Kuͤnſte, ſo viele Zau - ber-Mittel ſich vereinigten, den Widerſtand der Tugend zu ermuͤden, nicht ſo gleichguͤltig bleiben, als diejenigen zu ſeyn ſchienen, die derſelben gewohnt waren; und die Unruhe, in die er dadurch geſezt wurde, machte ihm, was auch die Stoiker ſagen moͤgen, mehr Ehre, als dem Hippias und ſeinen Freunden ihre Gelaſſenheit. Er befand alſo fuͤr gut, ſich allemal, wenn er ſeine Rolle, als Homeriſt, geendiget hatte, hinweg und an einen Ort zu begeben, wo er in ungeſtoͤrter Einſamkeit ſich von den widrigen Eindruͤken befreyen konnte, die das geſchaͤftige und froͤliche Getuͤmmel des Hauſes, und der Anblik von ſo vielen Gegenſtaͤnden, die ſeine morali - ſchen Sinne beleidigten, den Tag uͤber auf ſein Gemuͤ - the gemacht hatten.
Die Wohnung des Hippias war auf der mittaͤglichen Seite von Gaͤrten umgeben, in deren weitlaͤufigem Be - zirk die Kunſt und der Reichthum alle ihre Kraͤfte auf - gewandt hatten, die einfaͤltige Natur mit ihren eignen und mit fremden Schoͤnheiten zu uͤberladen. Gefilde voll Blumen, die aus allen Vortheilen geſammelt, jeden Monat zum Fruͤh - ling eines andern Clima machten, Lauben von allerley wolriechenden Stauden, Luſt-Gaͤnge von Citronen - Baͤumen, Oel-Baͤumen und Cedern, in deren Laͤnge der ſchaͤrfſte Blik ſich verlor, Haͤyne von allen Arten der fruchtbaren Baͤume, und Jrrgaͤnge von Myrthen und Lorbeer-Heken, mit Roſen von allen Farben durch - wunden, wo tauſend marmorne Najaden, die ſich zu regen und zu athmen ſchienen, kleine murmelnde Baͤche zwiſchen die Blumen hingoſſen, oder mit muthwilligem Plaͤtſchern in ſpiegelhellen Brunnen ſpielten, oder unter uͤberhangenden Schatten von ihren Spielen auszuruhen ſchienen. Alles dieſes machte die Gaͤrten des Hippias den bezauberten Gegenden aͤhnlich, dieſen Spielen ei - ner dichtriſchen und mahleriſchen Phantaſie, die man erſtaunt iſt, auſſerhalb ſeiner Einbildung zu ſehen. Hier war es, wo Agathon ſeine angenehmſten Stunden zu - brachte; hier fand er die Heiterkeit der Seele wieder,die55Zweytes Buch, fuͤnftes Capitel. die er dem angenehmſten Taumel der Sinne unendlich weit vorzog; hier konnt’ er ſich mit ſich ſelbſt beſprechen; hier war er von Gegenſtaͤnden umgeben, die ſich zu ſei - ner Gemuͤths-Beſchaffenheit ſchikten, obgleich die ſelt - ſame Denk-Art, wodurch er die Erwartung des Hip - pias ſo ſehr betrog, auch hier nicht ermangelte, ſein Vergnuͤgen durch den Gedanken zu vermindern, daß alle dieſe Gegenſtaͤnde weit ſchoͤner waͤren, wenn ſich die Kunſt nicht angemaſſet haͤtte, die Natur ihrer Frey - heit und ruͤhrenden Einfaͤltigkeit zu berauben. Oft wenn er beym Mond-Schein, den er mehr als den Tag liebte, ſo einſam im Schatten lag, erinnert’ er ſich der frohen Scenen ſeiner erſten Jugend, der unbeſchreib - lichen Eindruͤke, die jeder ſchoͤne Gegenſtand, jeder ihm neue Auftritt der Natur auf ſeine jugendlichen unver - woͤhnten Sinnen gemacht hatte, der ſuͤſſen Stundẽ, die ihm in den Entzuͤkungen einer erſten und unſchuldigen Liebe zu Augenbliken geworden waren. Dieſe Erinne - rungen, mit der Stille der Nacht und dem Gemurmel ſanfter Baͤche und der ſanft wehenden Sommer-Luͤfte, wiegten ſeine Sinnen in eine Art von leichtem Schlum - mer ein, worinn die innerlichen Kraͤfte der Seele mit verdoppelter Staͤrke wuͤrken; dann bildeten ſich ihm die rei - zenden Ausſichten einer beſſern Zukunft vor; er ſah alle ſeine Wuͤnſch’ erfuͤllt, er fuͤhlte ſich etliche Augenblike gluͤk - lich; und wenn ſie vorbey waren, beredete er ſich, daß dieſe Hoffnungen ihn nicht ſo lebhaft ruͤhren, nicht in eine ſo gelaſſene Zufriedenheit ſenken wuͤrden, wenn esD 4nur56Agathon. nur naͤchtliche Spiele der Phantaſie, und nicht vielmehr innerliche Ahnungen waͤren, Blike, welche der Geiſt in der Stille und Freyheit, die ihm die ſchlummerndeu Sinne laſſen, in die Zukunft und in eine weitere Sphaͤre thut, als diejenige, die von der Schwaͤche ihrer coͤr - perlichen Sinne umſchrieben wird.
Jn einer ſolchen Stunde war es, als Hippias, den die Anmuth einer ſchoͤnen Sommer-Nacht zum Spazier - gang einlud, ihn unter dieſen Beſchauungen uͤberraſchte, denen er, in der Meynung, allein zu ſeyn, ſich zu uͤberlaſſen pflegte. Hippias blieb eine Weile vor ihm ſtehen, ohne daß Agathon ſeiner gewahr wurde; end - lich aber redet’ er ihn an, und ließ ſich in ein Geſpraͤch mit ihm ein; welches ihn nur allzuſehr in dem Arg - wohn beſtaͤrkte, den er von dem Hang unſers Helden zu demjenigen, was er Schwaͤrmerey nannte, bereits gefaßt hatte.
Du ſcheinſt in Gedanken vertieft, Callias?
Jch glaubte allein zu ſeyn.
Ein andrer an deiner Stelle wuͤrde ſich die Frey - heit meines Hauſes beſſer zu Nutze machen. Doch vielleicht gefaͤllſt du mir um dieſer Zuruͤkhaltung wil - len nur deſto beſſer. Aber mit was fuͤr Gedanken vertreibſt du dir die Zeit, wenn man fragen darf?
Die allgemeine Stille, der Mondſchein, die ruͤhren - de Schoͤnheit der ſchlummernden Natur, die mit den Ausduͤnſtungen der Blumen durchwuͤrzte Nachtluft, tauſend angenehme Empfindungen, deren liebliche Ver - wirrung meine Seele trunken machte, ſezte ſie in eine Art von Entzuͤkung, worinnen ein andrer Schau -D 5plaz58Agathon,plaz von unbekannten Schoͤnheiten ſich vor mir auf - that; es war nur ein Augenblik, aber ein Augen - blik, den ich um eines von den Jahren des Koͤnigs von Perſien nicht vertauſchen wollte.
Dieſes brachte mich hernach auf die Gedanken, wie gluͤklich der Zuſtand der Geiſter ſey, die den groben thieriſchen Leib abgelegt haben, und im Anſchauen des weſentlichen Schoͤnen, des Unvergaͤnglichen, Ewi - gen und Goͤttlichen, Jahrtauſende durchleben, die ih - nen nicht laͤnger ſcheinen als mir dieſer Augeublik; und in den Betrachtungen, denen ich hieruͤber nach - hieng, bin ich von dir uͤberraſchet worden.
Du ſchliefſt doch nicht, Callias; du haſt wie ich ſe - he, mehr Talente als du noͤthig haſt; du kanſt auch wachend traͤumen?
Es giebt vielerley Arten von Traͤumen, und bey eini - gen Menſchen ſcheint ihr ganzes Leben Traum zu ſeyn; wenn dieſes Traͤume ſind, ſo ſind ſie wenigſtens an - genehmer als alles, was ich in dieſer Zeit wachend haͤtte erfahren koͤnnen.
Du gedenkeſt alſo vielleicht einer von dieſen Geiſtern zu werden, die du ſo gluͤklich preiſeſt?
Jch hof’ es zu werden, und wuͤrde ohne dieſe Hof - nung mein Daſeyn fuͤr kein Gut achten.
Beſitzeſt du etwan ein Geheimniß, koͤrperliche Weſen in geiſtige zu erhoͤhen, einen Zaubertrank von der Art derjenigen, womit die Medeen und Circen der Dichter ſo wunderbare Verwandlungen zuwege bringen?
Jch verſtehe dich nicht, Hippias.
So will ich deutlicher ſeyn. Wenn ich anders dich verſtanden habe, ſo haͤltſt du dich fuͤr einen Geiſt, der in einen thieriſchen Leib eingekerkert iſt?
Wofuͤr ſollt ich mich ſonſt halten?
Sind die vierfuͤßigen Thiere, die Voͤgel, die Fiſche, die Gewuͤrme, auch Geiſter, die in einen thieriſchen Leib eingeſchloſſen ſind?
Vielleicht.
Und die Pflanzen?
Vielleicht auch dieſe.
Du baueſt alſo deine Hofnung auf ein Vielleicht. Wenn die Thiere vielleicht auch nicht Geiſter ſind, ſo hiſt du vielleicht eben ſo wenig einer; denn das iſt ein -mal60Agathon,mal gewiß, daß du ein Thier biſt. Du entſteheſt wie die Thiere, waͤchſeſt wie ſie, haſt ihre Beduͤrfniſſe, ih - re Sinnen, ihre Leidenſchaften, wirſt erhalten wie ſie, vermehreſt dich wie ſie, ſtirbſt wie ſie, und wirſt wie ſie wieder zu einem bißchen Waſſer und Erde, wie du vorher geweſen warſt. Wenn du einen Vorzug vor ih - nen haſt, ſo iſt es eine ſchoͤnere Geſtalt, ein paar Haͤn - de, mit denen du mehr ausrichten kanſt als ein Thier mit ſeinen Pfoten, eine Bildung gewiſſer Gliedmaßen, die dich der Rede faͤhig macht, und ein lebhafterer Wiz, der von einer ſchwaͤchern und reizbarern Beſchaf - fenheit deiner Fibern herkommt; und der doch alle Kuͤnſte, womit wir uns ſo groß zu machen pflegen, den Thieren abgelernt hat.
Wir haben alſo ſehr verſchiedene Begriffe von der menſchlichen Natur, du und ich.
Vermuthlich, weil ich ſie fuͤr nichts anders halte, als wofuͤr meine Sinnen und eine Beobachtung ohne Vorurtheile ſie mir geben. Doch ich will freygebig ſeyn; ich will dir zugeben, dasjenige was in dir denkt ſey ein Geiſt, und weſentlich von deinem Koͤrper unter - ſchieden. ‒ ‒ Worauf gruͤndeſt du die Hofnung, daß dieſer Geiſt noch denken werde, wenn dein Leib zer - ſtoͤrt ſeyn wird? Was fuͤr eine Erfahrung haſt du, eine Meynung zu beſtaͤtigen, die von ſo vielen Erfah - rungen beſtritten wird? Jch will nicht ſagen, daß erzu61Zweytes Buch, ſechſtes Capitel. zu nichts werde; aber dein Leib verliehrt durch den Tod die Form die ihn zu deinem Leibe machte; wo - her hoffeſt du, daß dein Geiſt die Form nicht verlieh - ren werde, die ihn zu deinem Geiſte macht?
Weil ich mir unmoͤglich vorſtellen kann, daß der Oberſte Geiſt, deſſen Geſchoͤpfe oder Ausfluͤſſe die uͤbri - gen Geiſter ſind, ein Weſen zerſtoͤren werde, das er faͤhig gemacht hat, ſo gluͤklich zu ſeyn, als ich es ſchon geweſen bin.
Ein neues Vielleicht? Woher kennſt du dieſen ober - ſten Geiſt?
Woher kennſt du den Phidias, der dieſen Amor ge - macht hat?
Weil ich ihm zuſah wie er ihn machte; denn viel - leicht koͤnnt eine Bildſaͤule auch entſtehn, ohne daß ſie von einem Kuͤnſtler gemacht wuͤrde.
Wie ſo?
Eine ungefehre Bewegung ihrer kleinſten Elemente koͤnnte dieſe Form endlich hervorbringen.
Eine regelloſe Bewegung ein regelmaͤßiges Werk?
Warum das nicht? Du kanſt im Wuͤrfelſpiel vonunge -62Agathon,ungefehr alle drey werfen. So gut als dieſes moͤglich iſt, koͤnnteſt du auch unter etlichen Billionen von Wuͤr - fen einen werfen, wodurch eine gewiſſe Anzahl Sand - koͤrner in eine cirkelrunde Figur fallen wuͤrde. Die Anwendung iſt leicht zu machen.
Jch verſtehe dich. Aber es bleibt allemal unendlich un - wahrſcheinlich, daß die ungefehre Bewegung der Ele - mente nur eine Muſchel, deren ſo unzaͤhlich viele an jenem Ufer liegen, hervorbringen; und die Ewigkeit ſelbſt ſcheint nicht lange genug zu ſeyn, nur dieſe Erd - kugel, dieſen kleinen Atomen des ganzen Weltalls auf ſolche Weiſe entſtehen zu machen.
Es iſt genug, daß unter unendlich vielen ungefehren Bewegungen, die nichts regelmaͤßiges und dauerhaftes hervorbringen, eine moͤglich iſt, die eine Welt hervor - bringen kann. Dieſes ſezt der Wahrſcheinlichkeit dei - ner Meynung ein Vielleicht entgegen, wodurch ſie auf einmal entkraͤftet wird.
So viel als das Gewicht einer unendlichen Laſt, durch die Hinwegnahme eines einzigen Sandkorns.
Du haſt vergeſſen, daß eine unendliche Zeit in die andere Wagſchale gelegt werden muß. Doch ich will dieſen Einwurf fahren laſſen, ob er gleich weiter ge - trieben werden kann; was gewinnt deine Meynungdadurch?63Zweytes Buch, ſechſtes Capitel. dadurch? Vielleicht iſt die Welt immer in der allge - meinen Verfaſſung geweſen, worinn ſie iſt? ‒ ‒ Vielleicht iſt ſie ſelbſt das einzige Weſen, das durch ſich ſelbſt beſtehet? ‒ ‒ Vielleicht iſt der Geiſt von dem du ſag - teſt, durch die weſentliche Beſchaffenheit ſeiner Natur gezwungen, dieſen allgemeinen Weltkoͤrper nach den Ge - ſezen einer unveraͤnderlichen Nothwendigkeit zu beleben? Und geſezt, die Welt ſey, wie du meyneſt, das Werk eines verſtaͤndigen und freyen Entſchluſſes; vielleicht hat ſie viele Urheber? Mit einem Worte, Callias, du haſt viele moͤgliche Faͤlle. zu vernichten, eh du nur das Da - ſeyn deines oberſten Geiſtes auſſer Zweifel geſezt haſt.
Jch brauche zu meiner eignen Beruhigung keinen ſo weitlaͤufigen Weg. Jch ſehe die Sonne, ſie iſt alſo; ich empfinde mich ſelbſt, ich bin alſo; ich empfinde, ich ſehe dieſen oberſten Geiſt, er iſt alſo.
Ein Traͤumender, ein Kranker, ein Wahnwiziger ſieht; und doch iſt das nicht, was er ſieht.
Weil er in dieſem Zuſtande nicht recht ſehen kann.
Wie kanſt du beweiſen, daß du nicht gerad in die - ſem Punct krank biſt? Frage die Aerzte; man kan in einem einzigen Stuͤk wahnwizig, nnd in allen uͤbrigen klug ſeyn; ſo wie eine Laute bis auf eine einzige fal - ſche Sayte wohl geſtimmt ſeyn kann. Der raſendeAjax64Agathon. Ajax ſieht zwo Sonnen, ein doppeltes Thebe. Was fuͤr ein untruͤgliches Kennzeichen haſt du, das Wahre von dem was nur ſcheint; das was du wuͤrklich em - pfindeſt, von dem was du dir nur einbildeſt; das was du richtig empfindeſt, von dem was eine verſtimmte Nerve dich empfinden macht, zu unterſcheiden? Und wie, wenn alle Empfindung betroͤge, und nichts von allem was iſt, ſo waͤre, wie du es empfindeſt?
Darum bekuͤmmere ich mich wenig. Geſezt, die Sonne ſey nicht ſo, wie ich ſie ſehe und fuͤhle; fuͤr mich iſt ſie darum nicht minder ſo, wie ich ſie ſehe und fuͤhle, und das iſt fuͤr mich genug. Jhr Einfluß in das Syſtem aller meiner uͤbrigen Empfindungen iſt darum nicht weniger wuͤrklich, wenn ſie gleich nicht ſo iſt, wie ſie ſich meinen Sinnen darſtellt, ja wenn ſie gar nicht iſt.
Die Anwendung hievon, wenn dirs beliebt?
Die Empfindung, die ich von dem hoͤchſten Geiſte ha - be, hat in das innerliche Syſtem des meinigen den nehmlichen Einfluß, den die Empfindung die ich von der Sonne habe, auf mein koͤrperliches Syſtem hat.
Wie ſo?
Wenn ſich mein Leib uͤbel befindet, ſo vermehrt dieAbwe -65Zweytes Buch, ſechſtes Capitel. Abweſenheit der Sonne das Unbehagliche dieſes Zu - ſtands. Der wiederkehrende Sonnenſchein belebt, er - muntert, erquiket meinen Koͤrper wieder, und ich be - finde mich wol, oder doch erleichtert. Eben dieſe Wuͤr - kung thut die Empfindung des alles beſeelenden Geiſtes auf meine Seele; ſie erheitert, ſie beruhiget, ſie ermun - tert mich; ſie zerſtreut meinen Unmuth, ſie belebt mei - ne Hofnung; ſie macht, daß ich in einem Zuſtande nicht ungluͤklich bin, der mir ohne ſie unertraͤglich waͤre.
Jch bin alſo gluͤklicher als du, weil ich alles dieſes nicht noͤthig habe. Erfahrung und Nachdenken haben mich von Vorurtheilen frey gemacht; ich genieſſe alles was ich wuͤnſche, und wuͤnſche nichts, deſſen Genuß nicht in meiner Gewalt iſt. Jch weiß alſo wenig von Unmuth und Sorgen. Jch hoffe wenig, weil ich mit dem Genuß des Gegenwaͤrtigen zu frieden bin. Jch genieſſe mit Maͤßigung, damit ich deſto laͤnger genieſ - ſen koͤnne, und wenn ich einen Schmerz fuͤhle, ſo lei - de ich mit Geduld, weil dieſes das beſte Mittel iſt, ſeine Dauer abzukuͤrzen.
Und worauf gruͤndeſt du deine Tugend? Womit naͤhreſt und belebeſt du ſie? Womit uͤberwindeſt du die Hinterniſſe, die ſie aufhalten; die Verſuchungen, die von ihr abloken, das anſtekende der Beyſpiele, die Unordnung der Begierden, und die Traͤgheit, welche die Seele ſo oft erfaͤhrt, wenn ſie ſich erheben will?
O Juͤngling, lange genug hab ich deinen Ausſchweif - fungen zugehoͤrt. Jn was fuͤr ein Gewebe von Hirn - geſpinſten hat dich die Lebhaftigkeit deiner Einbildungs - kraft verwikelt? Deine Seele ſchwebt in einer beſtaͤn - digen Bezauberung, in einer Abwechſelung von quaͤlen - den und entzuͤkenden Traͤumen, und die wahre Be - ſchaffenheit der Dinge bleibt dir ſo verborgen, als die ſichtbare Geſtalt der Welt einem Blindgebornen. Jch bedaure dich, Callias. Deine Geſtalt, deine Gaben berechtigen dich nach allem zu trachten, was das menſch - liche Leben gluͤkliches hat; deine Denkungsart allein wird dich ungluͤklich machen. Angewoͤhnt lauter idea - liſche Weſen um dich her zu ſehen, wirſt du die Kunſt niemals lernen, von den Menſchen Vortheil zu ziehen. Du wirſt in einer Welt, die dich ſo wenig kennen wird als du ſie, wie ein Einwohner des Monds herum ir - ren, und nirgends am rechten Plaze ſeyn, als in einer Einoͤde oder im Faſſe des Diogenes. Was ſoll man mit einem Menſchen anfangen, der Geiſter ſieht? Der von der Tugend fodert, daß ſie mit aller Welt und mit ſich ſelbſt in beſtaͤndigem Kriege leben ſoll? Mit einem Menſchen, der ſich in den Mondſchein hinſezt, und Betrachtungen uͤber das Gluͤk der entkoͤrperten Geiſter anſtellt? Glaube mir, Callias, (ich kenne die Welt und ſehe keine Geiſter) deine Philoſophie mag vielleicht gut genug ſeyn eine Geſellſchaft muͤßiger Koͤpfe ſtatt eines andern Spiels zu beluſtigen; aber es iſt ei - ne Thorheit ſie ausuͤben zu wollen. Doch du biſt jung;die67Zweytes Buch, ſechſtes Capitel. die Einſamkeit deiner erſten Jugend und die morgenlaͤn - diſchen Schwaͤrmereyen, die etliche griechiſche Muͤßiggaͤn - ger von den Egyptern und Chaldaͤern nach Hauſe ge - bracht, haben deiner Phantaſie einen romanhaften Schwung gegeben; die uͤbermaͤßige Empfindlichkeit dei - ner Organiſation hat den angenehmen Betrug befoͤdert; Leuten von dieſer Art iſt nichts ſchoͤn genug, was ſie ſehen, nichts angenehm genug, was ſie fuͤhlen; die Phantaſie muß ihnen andre Welten erſchaffen, die Unerſaͤttlichkeit ihres Herzens zu befriedigen. Allein dieſem Uebel kann noch geholfen werden. Selbſt in den Ausſchweiffungen deiner Einbildungskraft entdekt ſich eine natuͤrliche Richtigkeit des Verſtandes, der nichts fehlt als auf andre Gegenſtaͤnde angewendet zu werden. Ein wenig Gelehrigkeit und eine unpartheyiſche Ueber - legung deſſen, was ich dir ſagen werde, iſt alles was du noͤthig haſt, um von dieſer ſeltſamen Art von Wahnwiz geheilt zu werden, die du fuͤr Weisheit haͤltſt. Ueberlaß es mir, dich aus den unſichtbaren Welten in die wuͤrkliche herabzufuͤhren; ſie wird dich anfangs be - fremden, aber nur weil ſie dir neu iſt, und wenn du ſie einmal gewohnt biſt, wirſt du die aͤtheriſchen ſo we - nig vermiſſen als ein erwachſner die Spiele ſeiner Kind - heit. Dieſe Schwaͤrmereyen ſind Kinder der Einſam - keit und der Muſſe; ein Menſch der nach angenehmen Empfindungen duͤrſtet, und der Mittel beraubt iſt, ſich wuͤrkliche zu verſchaffen, iſt genoͤthiget ſich mit Einbil - dungen zu ſpeiſen, und aus Mangel einer beſſern Ge - ſellſchaft mit den Sylphen umzugehen. Die ErfahrungE 2wird68Agathon. wird dich hievon am beſten uͤberzeugen koͤnnen. Jch will dir die Geheimniſſe einer Weisheit entdeken, die zum Genuß alles deſſen fuͤhrt, was die Natur, die Kunſt, die Geſellſchaft, und ſelbſt die Einbildung (denn der Menſch iſt doch nicht gemacht immer weiſe zu ſeyn) Gutes und Angenehmes zu geben haben; und ich muͤſte mich ganz mit dir betruͤgen, wenn die Stim - me der Vernunft, die du noch niemals gehoͤrt zu ha - ben ſcheinſt, dich nicht von einem Jrrwege zuruͤkrufen koͤnnte, wo du am Ende deiner Reiſe in das Land der Hofnungen dich um nichts reicher befinden wuͤrdeſt, als um die Erfahrung dich betrogen zu haben. Jzo iſt es Zeit ſchlafen zu gehen; aber der naͤchſte ruhige Mor - gen den ich habe, ſoll dein ſeyn. Jch brauche dir nicht zu ſagen, wie zufrieden ich mit der Art bin, wie du bisher dein Amt verſehen haſt; und ich wuͤnſche nichts, als daß eine beſſere Uebereinſtimmung unſrer Denkungsart mich in den Stand ſeze, dir Beweiſe von meiner Freundſchaft zu geben. „
Mit dieſen Worten begab ſich Hippias hinweg, und ließ unſern Agathon in einer Verfaſſung, die der Leſer aus dem folgenden Capitel erſehen wird.
Wir zweifeln nicht, daß verſchiedene Leſer dieſer Ge - ſchichte in der Vermuthung ſtehen werden, Agathon muͤſſe uͤber dieſe nachdruksvolle Apoſtrophe des weiſen Hippias nicht wenig betroffen, oder doch wenigſtens in einige Unruhe geſezt worden ſeyn. Das Alter des Hippias, der Ruf der Weisheit, worinn er ſtand, der zuverſichtliche Ton, womit er ſprach, der Schein von Wahrheit der uͤber ſeine Rede ausgebreitet war; und was nicht das wenigſte ſcheint, das Anſehen, welches ihm ſeine Reichthuͤmer gaben; alle dieſe Umſtaͤnde haͤt - ten nicht fehlen ſollen, einen Menſchen aus der Faſſung zu ſezen, der ihm ſo viele Vorzuͤge eingeſtehen muſte, und uͤberdas noch ſein Sclave war. Allein man kann ſich irren. Agathon hatte dieſe ganze emphatiſche Re - de mit einem Laͤcheln angehoͤrt, welches faͤhig geweſen waͤre, alle Sophiſten der Welt irre zu machen, wenn die Dunkelheit und das Vorurtheil des Redners fuͤr ſich ſelbſt es haͤtten bemerken laſſen; und kaum befand er ſich allein, ſo war die erſte Wuͤrkung derſelben, daß dieſes Laͤcheln ſich in ein Lachen verwandelte, welches er zum Nachtheil ſeines Zwerchfells laͤnger zuruͤkzuhal - ten unnoͤthig hielt, und welches immer wieder anfieng, ſo oft er ſich die Mine, den Ton und die Gebehrden vorſtellte, womit der weiſe Hippias die nachdruͤklichſtenE 3Stellen70Agathon. Stellen ſeiner Rede von ſich gegeben hatte. Allein die - ſe mechaniſche Bewegung machte bald ernſthaftern Ge - danken Plaz, und es fehlte wenig, ſo haͤtte er ſich ſelbſt Vorwuͤrfe daruͤber gemacht, daß er faͤhig geweſen daruͤber zu lachen, daß ein ſo groſſer[Unterſchied] zwi - ſchen Hippias und Agathon war. Ein Menſch, der ſo lebt wie Hippias, dacht’ er, muß ſo denken; und wer ſo denkt wie Hippias wuͤrde ungluͤklich ſeyn, wenn er nicht ſo leben koͤnnte. Jch muß lachen, fuhr er mit ſich ſelbſt fort, wenn ich an den Ton der Unfehlbar - keit denke, womit er ſprach. Dieſer Ton iſt mir nicht ſo neu, als der weiſe Hippias glauben mag. Jch ha - be Gerber und Saktraͤger zu Athen gekannt, die ſich nicht zu wenig daͤuchten, mit dem ganzen Volk in die - ſem Ton zu ſprechen. Du glaubſt mir etwas neues geſagt zu haben, wenn du meine Denkungsart Schwaͤr - merey nennſt, und mir mit der Gewißheit eines Pro - pheten die Schikſale ankuͤndigeſt, die ſie mir zuziehen wird. Wie ſehr betruͤgſt du dich, wenn du mich dadurch erſchrekt zu haben glaubſt! O! Hippias, was iſt das, was du Gluͤkſeligkeit nenneſt? Niemals wirſt du faͤhig ſeyn, zu wiſſen was Gluͤkſeligkeit iſt. Was du ſo nennſt iſt Gluͤkſeligkeit, wie das Liebe iſt, was dir deine Taͤn - zerinnen einfloͤſſen. Du nennſt die meinige Schwaͤrme - rey; laß mich immer ein Schwaͤrmer ſeyn, und ſey du ein Weiſer. Die Natur hat dir dieſe Empfindlich - keit, dieſe innerlichen Sinnen verſagt, die den Unter - ſchied zwiſchen uns beyden machen; du biſt einem Tau - ben aͤhnlich, der die froͤhlichen Bewegungen, welchedie71Zweytes Buch, ſiebentes Capitel. die begeiſternde Floͤte eines Damon in alle Glieder ſei - ner Hoͤrer bringt, dem Wein oder der Unſinnigkeit zu - ſchreibt; er wuͤrde tanzen wie ſie, wenn er hoͤren koͤnnte. Die Weltleute ſind in der That nicht zu ver - denken, wenn ſie uns andre fuͤr ein wenig mondſuͤchtig halten; wer will ihnen zumuthen, daß ſie glauben ſol - len, es fehle ihnen etwas, das zu einem vollſtaͤndigen Menſchen gehoͤrt? Jch kannte zu Athen ein junges Frauenzimmer, welches die Natur wegen der Haͤßlich - keit ihrer uͤbrigen Figur durch ſehr artige Fuͤſſe getroͤ - ſtet hatte. Jch moͤchte doch wiſſen, ſagte ſie zu einer Freundin, was dieſe jungen Geken an der einbildiſchen Timandra ſehen, daß ſie ſonſt fuͤr niemand Augen ha - ben als fuͤr ſie? Es iſt wahr, ſie hat keine unfeine Farbe, ihre Zuͤge ſind ſo ſo, ihre Augen wenigſtens aufmunternd genug, und ſie iſt ſehr beſorgt, ihre Be - wunderer durch Auslegung gewiſſer ſchluͤpfriger Schoͤn - heiten fuͤr die Gleichguͤltigkeit ihres Geſichts ſchadlos zu halten; aber was ſie fuͤr Fuͤſſe hat! Wie kann man einen Anſpruch an Schoͤnheit machen, ohne einen fei - nen Fuß zu haben? Du haſt Recht, verſezte die Freun - din, die der Natur nichts ſchoͤnes zu danken hatte, als ein paar uͤberaus kleine Ohren; man muß einen Fuß haben wie du, um ſchoͤn zu ſeyn; aber was ſagſt du zu ihren Ohren, Hermia? So wahr mir Diana gnaͤ - dig ſey, ſie wuͤrden einem Faunen Ehre machen. So ſind die Menſchen, und es waͤre unbillig ihnen uͤbel zu nehmen, daß ſie ſo ſind. Die Rachtigall ſingt, der Rabe kraͤchzt, und er muͤßte kein Rabe ſeyn, wenn erE 4nicht72Agathon. nicht daͤchte, daß er gut kraͤchze; er hat noch recht, wenn er denkt, die Nachtigall kraͤchze nicht gut; es iſt wahr, dann geht er zu weit, wenn er uͤber die Rach - tigall ſpottet, daß ſie nicht ſo gut kraͤchzt wie er; aber ſie wuͤrde eben ſo Unrecht haben, wenn ſie uͤber ihn lachte, daß er nicht ſinge wie ſie; er ſingt nicht, aber er kraͤchzt doch gut, und das iſt fuͤr ihn genug. Aber Hippias iſt beſorgt fuͤr mich, er bedaurt mich, er will mich ſo gluͤklich machen, wie er iſt. Das iſt groß - muͤthig! Er hat ausfuͤndig gemacht, daß ich das Schoͤne liebe, daß ich gegen den Reiz, des Vergnuͤ - gens nicht unempfindlich bin. Dieſe Entdekung war leicht zu machen; aber in den Schluͤſſen, die er daraus zieht, koͤnnt’ er ſich betrogen haben. Der kluge Ulyſſes zog ſein ſteinichtes kleines Jthaca, wo er frey war, und ſein altes Weib mit der er vor zwanzig Jahren jung geweſen war, der bezauberten Jnſel der ſchoͤnen Ca - lypſo vor, wo er unſterblich und ein Sclave geweſen waͤre; und der Schwaͤrmer Agathon wuͤrde mit allem ſeinem Geſchmak fuͤr das Schoͤne, und mit aller ſeiner Empfindlichkeit fuͤr die Ergoͤzungen, ohne ſich einen Augenblik zu bedenken, lieber in das Faß des Dioge - nes kriechen, als den Palaſt, die Gaͤrten, das Serail und die Reichthuͤmer des weiſen Hippias beſizen, und Hippias ſeyn.
Jmmer Selbſtgeſpraͤche, hoͤren wir den Leſer ſagen. Wenigſtens iſt dieſes eines, und wer kann davor? Agathon hatte ſonſt niemand, mit dem er haͤtte reden koͤnnen als ſich ſelbſt; denn mit den Baͤumen undNymphen73Zweytes Buch, achtes Capitel. Nymphen reden nur die Verliebten. Wir muͤſſen uns ſchon entſchlieſſen, ihm dieſe Unart zu gut zu halten, und wir ſollten es deſto eher thun koͤnnen, da ein ſo feiner Weltmann als Horaz unſtreitig war, ſich nicht geſchaͤmt hat zu geſtehen, daß er oͤfters mit ſich ſelbſt zu reden pflege.
Agathon hatte noch nicht lange genug unter den Men - ſchen gelebt, um die Welt ſo gut zu kennen, als ein Theophraſt ſie zu der Zeit kannte, da er ſie verlaſſen mußte. Allein was ihm an Erfahrung abgieng, erſezte ſeine natuͤrliche Gabe in den Seelen zu leſen, die durch die Aufmerkſamkeit geſchaͤrft worden war, wo - mit er die Menſchen und die Auftritte des Lebens, die er zu ſehen Gelegenheit gehabt, beobachtet hatte. Daher kam es, daß ſeine lezte Unterredung mit dem Hippias, anſtatt ihn etwas zu lehren, nur den Ver - dacht rechtfertigte, den er ſchon einige Zeit gegen den Character und die Denkungsart dieſes Sophiſten gefaßt hatte. Er konnte alſo auch leicht errathen, von was fuͤr einer Art die geheime Philoſophie ſeyn wuͤrde, von welcher er ihm ſo groſſe Vortheile verſprochen hatte. Dem ungeachtet verlangte ihn nach dieſer Zuſammen - kunft, theils weil er neugierig war, die Denkungsart eines Hippias in ein Syſtem gebracht zu ſehen, theilsE 5weil74Agathon,weil er ſich von der Beredſamkeit deſſelben diejenige Art von Ergoͤzung verſprach, die uns ein geſchikter Gaukler macht, der uns einen Augenblik ſehen laͤßt, was wir nicht ſehen, ohne es bey einem klugen Men - ſchen ſo weit zu bringen, daß man in eben demſelben Augenblik nur daran zweifeln ſollte, daß man betrogen wird. Mit einer Gemuͤthsverfaſſung, die ſo wenig von der Gelehrigkeit hatte, welche Hippias foderte, fand ſich Agathon ein, als er nach Verfluß einiger Tage an einem Morgen in das Zimmer des Sophiſten gerufen wurde, welcher auf einem Ruhbette liegend ſeiner er - wartete, und ihm befahl ſich neben ihm niederzuſezen und das Fruͤhſtuͤk mit ihm zu nehmen. Dieſe Hoͤflich - keit war nach der Abſicht des weiſen Hippias eine Vor - bereitung, und er hatte, um die Wuͤrkung derſelben zu befordern, das ſchoͤnſte Maͤdchen in ſeinem Hauſe auserſehen, ſie hiebey zu bedienen. Jn der That die Geſtalt dieſer Nymphe, und die gute Art womit ſie ihr Amt verſah, machten ihre Aufwartung fuͤr einen Wei - ſen von Agathons Alter ein wenig beunruhigend. Das ſchlimmſte war, daß die kleine Hexe, um ſich we - gen der Gleichguͤltigkeit zu raͤchen, womit Agathon ihre zuvorkommende Guͤtigkeit bisher vernachlaͤßiget hatte, keinen von den Kunſtgriffen verabſaͤumte, wodurch ſie den Werth des von ihm verſcherzten Gluͤkes empfind - licher zu machen glaubte. Sie hatte die Bosheit ge - habt, ſich in einem ſo niedlichen, ſo ſittſamen und doch ſo verfuͤhreriſchen Morgen-Anzug darzuſtellen, daß Agathon ſich nicht verhindern konnte zu denken, dieGra -75Zweytes Buch, achtes Capitel. Gratien ſelbſt koͤnnten, wenn ſie gekleidet erſcheinen wollten, keinen Anzug erfinden, der auf eine wohlanſtaͤn - digere Art das Mittel, zwiſchen der eigentlichen Klei - dung und ihrer gewoͤhnlichen Art ſich ſehen zu laſſen, hielte. Die Wahrheit zu ſagen, das roſenfarbe Ge - wand, welches ſie umfloß, war eher demjenigen aͤhn - lich, was Petron einen gewebten Wind oder einen lei - nenen Nebel nennt, als einem Zeug der den Augen etwas entziehen ſoll; und die kleinſte Bewegung entdekte Reizungen, die deſto gefaͤhrlicher waren, da ſie ſich gleich wieder in verraͤtheriſche Schatten verbargen, und der Einbildungskraft noch mehr als den Augen nachzu - ſtellen ſchienen. Dem ungeachtet wuͤrde unſer Held ſich vielleicht ganz wohl aus der Sache gezogen haben, wenn er nicht beym erſten Anblik die Abſichten des Hippias und der ſchoͤnen Cyana (ſo hieß das junge Frauenzim - mer) errathen haͤtte. Dieſe Entdekung ſezte ihn in ei - ne Art von Verlegenheit, die deſto merklicher wurde, je groͤſſere Gewalt er ſich anthat, ſie zu verbergen; er er - roͤthete zu ſeinem groͤſten Verdruß biß an die Ohren, er machte allerley gezwungne Gebehrden, und ſah alle Ge - maͤhlde in dem Zimmer nach einander an, um ſeine Verwirrung unmerklich zu machen; aber alle ſeine Muͤ - he war umſonſt, und die Geſchaͤftigkeit der ſchalkhaften Cyane fand immer neuen Vorwand ſeinen zerſtreuten Blik auf ſich zu ziehen. Doch der Triumph, deſſen ſie in dieſen Augenbliken genoß, waͤhrte nicht lange. So empfindlich die Augen Agathons waren, ſo waren ſie es doch nicht mehr als ſein moraliſcher Sinn; und einGegen -76Agathon. Gegenſtand, der dieſen beleidigte, konnte keinen ſo an - genehmen Eindruk auf jene machen, daß er nicht von der unangenehmen Empfindung des andern waͤre uͤber - wogen worden. Die Forderungen der ſchoͤnen Cyane, das Gekuͤnſtelte, das Schlaue, das Schluͤpfrige, das ihm an ihrer ganzen Perſon anſtoͤßig war, loͤſchte das Reizende ſo ſehr aus, und erkaltete ſeine Sinnen ſo ſehr, daß ein groͤſſerer Grad davon, gleich dem An - blik der Meduſa, faͤhig geweſen waͤre, ihn in einen Stein zu verwandeln. Die Freyheit und Gleichguͤltig - keit, die ihm dieſes gab, blieb Cyanen nicht verbor - gen; und er ſorgte dafuͤr, ſie durch gewiſſe Blike, und ein gewiſſes Laͤcheln, deſſen Bedeutung ihr ganz deut - lich war, zu uͤberzeugen, daß ſie zu fruͤh triumphiert habe. Dieſes Betragen war fuͤr ihre Reizungen allzu beleidigend, als daß ſie es ſo gleich fuͤr ungezwungen haͤtte halten ſollen; der Widerſtand, den ſie fand, for - derte ſie zu einem Wettſtreit heraus, worinn ſie alle ihre Kuͤnſte anwandte, den Sieg zu erhalten; allein die Staͤrke ihres Gegners ermuͤdete endlich ihre Hof - nung, und ſie behielt kaum noch ſo viel Gewalt uͤber ſich ſelbſt, den Verdruß zu verbergen, den ſie uͤber dieſe Demuͤthigung ihrer Eitelkeit empfand. Hippias, der ſich eine zeitlang ſtillſchweigend mit dieſem Spiel beluſtigte, urtheilte bey ſich ſelbſt, daß es nicht leicht ſeyn werde, den Verſtand eines Menſchen zu fangen, deſſen Herz ſelbſt auf der ſchwaͤchſten Seite, ſowohl be - feſtiget ſchien. Allein dieſe Anmerkung bekraͤftigte ihn nur in ſeinen Gedanken von der Methode, die er beyſeinem77Zweytes Buch, achtes Capitel. ſeinem neuen Schuͤler gebrauchen muͤſſe; und da er ſelbſt von ſeinem Syſtem beſſer uͤberzeugt war, als irgend ein Bonze von der Kraft der Amulete, die er ſeinen dank - baren Glauͤbigen austheilt, ſo zweifelte er nicht, daß Agathon durch einen freymuͤthigen Vortrag beſſer zu gewinnen ſeyn wuͤrde, als durch die redneriſchen Kunſt - griffe, deren er ſich bey ſchwaͤchern Seelen mit gutem Erfolg zu bedienen pflegte. Sobald alſo das Fruͤhſtuͤk genommen, und die beſchaͤmte Cyane abgetreten war, fieng er nach einem kleinen Vorbereitungs-Geſpraͤch, den merkwuͤrdigen Diſeurs an, durch deſſen vollſtaͤn - dige Mittheilung wir deſto mehr Dank zu verdienen hof - fen, da wir von Kennern verſichert worden, daß der geheime Verſtand deſſelben den buchſtaͤblichen an Wich - tigkeit noch weit uͤbertreffe, und der wahre und unfehl - bare Proceß, den Stein der Weiſen zu finden, darinn verborgen liege.
Wenn wir auf das Thun und Laſſen der Menſchen acht geben, mein lieber Callias, ſo ſcheint zwar, daß alle ihre Sorgen und Bemuͤhungen kein andres Ziel haben als ſich gluͤklich zu machen; allein die Selten - heit dererjenigen die es wuͤrklich ſind, oder es doch zu ſeyn glauben, beweiſet zugleich, daß die meiſten nicht wiſſen, durch was fuͤr Mittel ſie ſich gluͤklich machen ſollen, wenn ſie es nicht ſind; oder wie ſie ſich ihres guten Gluͤkes bedienen ſollen, um in denjenigen Zuſtand zu kommen den man Gluͤkſeligkeit nennt. Es giebt eben ſo viele die im Schooße des Anſehens, des Gluͤks und der Wolluſt, als ſolche die in einem Zuſtande von Man - gel, Dienſtbarkeit und Unterdruͤkung elend ſind. Ei - nige haben ſich aus dieſem leztern Zuſtand emporge - arbeitet, in der Meynung, daß ſie nur darum un - gluͤkſelig ſeyn, weil es ihnen am Beſiz der Guͤter desGluͤks79Agathon. Drittes Buch, erſtes Capitel. Gluͤks fehle. Allein die Erfahrung hat ſie gelehrt, daß wenn es eine Kunſt giebt, die Mittel zur Gluͤkſelig - keit zu erwerben, es vielleicht eine noch ſchwerere, zum wenigſten eine ſeltnere Kunſt ſey, dieſe Mittel recht zu gebrauchen. Es iſt daher allezeit die Beſchaͤftigung der Verſtaͤndigſten unter den Menſchen geweſen, durch Verbindung dieſer beyden Kuͤnſte diejenige heraus zu bringen, die man die Kunſt gluͤklich zu leben nennen kann, und in deren wuͤrklichen Ausuͤbung, nach mei - nem Begriffe, die Weisheit beſteht, die ſo ſelten ein Antheil der Sterblichen iſt. Jch nenne ſie eine Kunſt, weil ſie von der fertigen Anwendung gewiſſer Regeln abhaͤngt, die nur durch die Uebung erlangt werden kann: Allein ſie ſezt wie alle Kuͤnſte einen gewiſſen Grad von Faͤhigkeit voraus, den nur die Natur giebt, und den ſie nicht allen zu geben pflegt. Einige Men - ſchen ſcheinen kaum einer groͤſſern Gluͤkſeligkeit faͤhig zu ſeyn als die Auſtern, und wenn ſie ja eine Seele haben, ſo iſt es nur ſo viel als ſie brauchen, um ihren Leib eine Zeitlang vor der Faͤulniß zu bewahren. Ein groͤſ - ſerer und vielleicht der groͤſte Theil der Menſchen befin - det ſich nicht in dieſem Fall; aber weil es ihnen an ge - nugſamer Staͤrke des Gemuͤths, und an einer gewiſ - ſen Zaͤrtlichkeit der Empfindung mangelt, ſo iſt ihr Leben gleich dem Leben der uͤbrigen Thiere des Erdbo - dens, zwiſchen Vergnuͤgen, die ſie weder zu waͤhlen noch zu genieſſen, und Schmerzen, denen ſie weder zu widerſtehen noch zu entfliehen wiſſen, getheilt. Wahn und Leidenſchaften ſind die Triebfedern dieſer menſchli -chen80Agathon. chen Maſchinen; beyde ſezen ſie einer unendlichen Men - ge von Uebeln aus, die es nur in einer betrognen Ein - bildung, aber eben darum wo nicht ſchmerzlicher doch anhaltender und unheilbarer ſind, als diejenigen die uns die Natur auferlegt. Dieſe Art von Menſchen iſt kei - nes geſezten und anhaltenden Vergnuͤgens, keines Zu - ſtandes von Gluͤkſeligkeit faͤhig; ihre Freuden ſind Au - genblike, und ihre uͤbrige Dauer iſt entweder ein wuͤrk - liches Leiden, oder ein unaufhoͤrliches Gefuͤhl verworr - ner Wuͤnſche, eine immerwaͤhrende Ebbe - und Fluth von Furcht und Hofnung, von Phantaſien und Ge - luͤſten; kurz eine unruhige Bewegung die weder ein ge - wiſſes Maas noch ein feſtes Ziel hat, und alſo weder ein Mittel zur Erhaltung deſſen was gut iſt ſeyn kann, noch dasjenige genieſſen laͤßt, was man wuͤrklich be - ſizt. Es ſcheint alſo unmoͤglich zu ſeyn, ohne eine ge - wiſſe Zaͤrtlichkeit der Empfindung, die uns in einer weitern Sphaͤre, mit feinern Sinnen und auf eine an - genehmere Art genieſſen laͤßt, und ohne diejenige Staͤr - ke der Seele, die uns faͤhig macht das Joch der Phan - taſie und des Wahns abzuſchuͤtteln, und die Leiden - ſchaften in unſrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ru - higen Zuſtande von Genuß und Zufriedenheit zu kom - men, der die Gluͤkſeligkeit ausmacht. Nur derjenige iſt in der That gluͤklich, der ſich von den Uebeln die nur in der Einbildung beſtehen, gaͤnzlich frey zu ma - chen; diejenigen aber, denen die Natur den Menſchen unterworfen hat, entweder zu vermeiden, oder doch zu vermindern ‒ ‒ und das Gefuͤhl derſelben einzuſchlaͤfern,hin -81Drittes Buch, erſtes Capitel. hingegen ſich in den Beſiz alles des Guten, deſſen uns die Natur faͤhig gemacht hat, zu ſezen, und was er be - ſizt, auf die angenehmſte Art zu genieſſen weiß; und dieſer Gluͤkſelige allein iſt der Weiſe.
Wenn ich dich anders recht kenne, Callias, ſo hat dich die Natur mit den Faͤhigkeiten es zu ſeyn ſo reich - lich begabt, als mit den Vorzuͤgen, deren kluger Ge - brauch uns die Gunſtbezeugungen des Gluͤks zu verſchaf - fen pflegt. Dem ungeachtet biſt du weder gluͤklich, noch haſt du die Mine es jemals zu werden, ſo lange du nicht gelernt haben wirſt, von beyden einen andern Gebrauch zu machen als du bißher gethan haſt. Du wendeſt die Staͤrke deiner Seele an, dein Herz gegen das wahre Vergnuͤgen unempfindlich zu machen, und beſchaͤftigeſt deine Empfindlichkeit mit unweſentlichen Ge - genſtaͤnden, die du nur in der Einbildung ſieheſt, und nur im Traume genieſſeſt; die Vergnuͤgungen, welche die Natur dem Menſchen zugetheilt hat, ſind fuͤr dich Schmerzen, weil du dir Gewalt anthun muſt ſie zu entbehren; und du ſezeſt dich allen Uebeln aus, die ſie uns vermeiden lehrt, indem du anſtatt einer nuͤzlichen Geſchaͤftigkeit dein Leben mit den ſuͤſſen Einbildungen wegtraͤumeſt, womit du dir die Beraubung des wuͤrk - lichen Vergnuͤgens zu erſezen ſuchſt. Dein Uebel, mein lieber Callias, entſpringt von einer Einbildungskraft, die dir ihre Geſchoͤpfe in einem uͤberirdiſchen Glanze zeigt, der dein Herz verblendet, und ein falſches Licht uͤber das was wuͤrklich iſt ausbreitet; einer dichteriſchen Ein -[Agath. I. Th.] Fbildungs -82Agathon. bildungskraft, die fich beſchaͤftiget ſchoͤnere Schoͤnheiten, und angenehmere Vergnuͤgungen zu erfinden als die Na - tur hat; einer Einbildungskraft, ohne welche weder Homere, noch Alcamene, noch Polygnote waͤren; wel - che gemacht iſt unſre Ergoͤzungen zu verſchoͤnern, aber nicht die Fuͤhrerin unſers Lebens zu ſeyn. Um weiſe zu ſeyn, haſt du nichts noͤthig als die geſunde Vernunft an die Stelle dieſer begeiſterten Zauberin, und die kalte Ueberlegung an den Plaz eines ſehr oft betruͤg - lichen Gefuͤhls zu ſezen. Bilde dir auf etliche Augen - blik’ ein, daß du den Weg zur Gluͤkſeligkeit erſt ſuchen muͤſſeſt; frage die Natur, hoͤre ihre Antwort, und fol - ge dem Pfade, den ſie dir vorzeichnen wird.
Und wen anders als die Natur koͤnnen wir fragen, um zu wiſſen wie wir leben ſollen, um wohl zu leben? „ Die Goͤtter? „ Wenn eine Gottheit iſt, ſo iſt ſie ent - weder die Natur ſelbſt, oder die Urheberin der Natur; in beyden Faͤllen iſt die Stimme der Natur die Stim - me der Gottheit. Sie iſt die allgemeine Lehrerin al - ler Weſen; ſie lehrt jedes Thier vom Elephanten bis zum Jnſect, was ſeiner beſondern Verfaſſung gut oder ſchaͤdlich iſt. Um ſo gluͤklich zu ſeyn als es dieſe in - nerliche Einrichtung erlaubt, braucht das Thier nichtsweiter,83Drittes Buch, erſtes Capitel. weiter, als dieſer Stimme der Natur zu folgen, welche bald durch den ſuͤſſen Zug des Vergnuͤgens, bald durch das ungedultige Fodern des Beduͤrfniſſes, bald durch das aͤngſtliche Pochen des Schmerzens es zu demjenigen loket, was ihm zutraͤglich iſt, oder es zur Erhaltung ſeines Lebens und ſeiner Gattung auffordert, oder es vor demjenigen warnet, was ſeinem Weſen die Zerſtoͤ - rung draͤuet. Sollte der Menſch allein von dieſer muͤt - terlichen Vorſorge ausgenommen ſeyn, oder er allein irren koͤnnen, wenn er der Stimme folget, die zu allen Weſen redet? Oder iſt nicht vielmehr die Unachtſam - keit und der Ungehorſam gegen ihre Erinnerungen die einzige wahre Urſache, warum unter einer unendlichen Menge von lebenden Weſen der Menſch das einzige Un - gluͤkſelige iſt?
Die Natur hat allen ihren Werken eine gewiſſe Einfalt eingedruͤkt, die ihre muͤhſamen Anſtalten und eine genaue Regelmaͤßigkeit unter einem Schein von Leichtigkeit und ungezwungner Anmuth verbirgt. Mit dieſem Stempel ſind auch die Geſeze der Gluͤkſeligkeit be - zeichnet, die ſie dem Menſchen vorgeſchrieben hat. Sie ſind einfaͤltig, leicht auszuuͤben, und fuͤhren gerade und ſicher zum Zwek. Die Kunſt gluͤklich zu leben, wuͤrde die gemeinſte unter allen Kuͤnſten ſeyn, wie ſie die leichteſte iſt, wenn die Menſchen nicht gewohnt waͤren ſich einzubilden, daß man große Abſichten nicht anders, als durch große Anſtalten erreichen koͤnne. Es ſcheint ihnen zu einfaͤltig, daß alles was ihnen die Natur durchF 2den84Agathon. den Mund der Weisheit zu ſagen hat, in dieſe drey Erinnerungen zuſammen flieſſen ſoll: Befriedige deine Beduͤrfniſſe, vergnuͤge alle deine Sinnen, und erſpare dir ſo viel du kanſt alle ſchmerzhaften Empfindungen. Und doch wird dich eine kleine Aufmerkſamkeit uͤberfuͤh - ren, daß die vollſtandigſte Gluͤkſeligkeit deren die Sterb - lichen faͤhig ſind, in die Linie eingeſchloſſen iſt, die von dieſen dreyen Formuln bezeichnet wird.
Es hat Narren gegeben, welche die Frage muͤhſam un - terſucht haben, ob das Vergnuͤgen ein Gut, und der Schmerz ein Uebel ſey? Es hat noch groͤßere Narren gegeben, welche wuͤrklich behaupteten, der Schmerz ſey kein Uebel, und das Vergnuͤgen kein Gut; und was das luſtigſte dabey iſt, beyde haben Thoren gefunden, die albern genug waren, dieſe Narren fuͤr weiſe zu hal - ten. Das Vergnuͤgen iſt kein Gut, ſagen ſie, weil es Faͤlle giebt wo der Schmerz ein groͤßeres Gut iſt; und der Schmerz iſt kein Uebel, weil er zuweilen beſſer iſt als das Vergnuͤgen. Sind dieſe Wortſpiele einer Ant - wort werth? Was wuͤrd’ ein Zuſtand ſeyn, der in einem vollſtaͤndigen unaufhoͤrlichen Gefuͤhl des hoͤch - ſten Grades aller moͤglichen Schmerzen beſtuͤnde? Wenn dieſer Zuſtand das hoͤchſte Uebel iſt, ſo iſt der Schmerz ein Uebel. Doch wir wollen die Schwaͤzer mit Wor - ten ſpielen laſſen, die ihnen bedeuten muͤſſen was ſie wollen. Die Natur entſcheidet dieſe Frage, wenn es eine ſeyn kann, auf eine Art, die keinen Zweifel uͤbrig laͤßt. Wer iſt, der nicht lieber vernichtet als unaufhoͤr -lich85Drittes Buch, zweytes Capitel. lich gepeiniget werden wollte? Wer ſieht nicht einen ſchoͤnen Gegenſtand lieber, als einen ekelhaften? Wer hoͤrt nicht lieber den Geſang der Grasmuͤke, als das Ge - heul der Nachteule? Wer zieht nicht einen angeneh - men Geruch oder Geſchmak einem widrigen vor? Und wuͤrde nicht der enthaltſame Callias ſelbſt lieber auf einem Lager von Blumen in den Roſenarmen irgend einer ſchoͤnen Nymphe ruhen, als in den gluͤhenden Ar - men des ehernen Goͤzenbildes, welchem die Andacht ge - wiſſer Syriſcher Voͤlker, wie man ſagt, ihre Kinder opfert? Eben ſo wenig ſcheint es einem Zweifel unter - worfen zu ſeyn, daß der Schmerz und das Vergnuͤgen ſo unvertraͤglich ſind, daß eine einzige gepeinigte Ner - ve genug iſt, uns gegen die vereinigten Reizungen aller Wolluͤſte unempfindlich zu machen. Die Freyheit von allen Arten der Schmerzen iſt alſo unſtreitig eine un - umgaͤugliche Bedingung der Gluͤkſeligkeit; allein da ſie nichts poſitives iſt, ſo iſt ſie nicht ſo wol ein Gut, als der Zuſtand, worinn man des Genuſſes des Guten faͤ - hig iſt. Dieſer Genuß allein iſt es, deſſen Dauer den Stand hervorbringt, den man Gluͤkſeligkeit nennt.
Es iſt unlaͤugbar, daß nicht alle Arten und Gra - de des Vergnuͤgens gut ſind. Die Natur allein hat das Recht uns die Vergnuͤgen anzuzeigen, die ſie uns beſtimmt hat. So unendlich die Menge dieſer angeneh - men Empfindungen zu ſeyn ſcheint, ſo iſt doch leicht zu ſehen, daß ſie alle entweder zu den Vergnuͤgungen der Sinne, oder der Einbildungskraft, oder zu einer drit -F 3ten86Agathon. ten Claſſe, die aus beyden zuſammen geſezt iſt, gehoͤren. Die Vergnuͤgen der Einbildungskraft ſind entweder Er - innerungen an ehmals genoſſene ſinnliche Vergnuͤgen; oder Mittel uns den Genuß derſelben reizender zu ma - chen; oder angenehme Dichtungen und Traͤume, die entweder in einer neuen willkuͤhrlichen Zuſammenſezung der angenehmen Jdeen, die uns die Sinne gegeben, oder in einer dunkel eingebildeten Erhoͤhung der Gra - de jener Vergnuͤgen, die wir erfahren haben, beſte - hen. Es ſind alſo, wenn man genau reden will, alle Vergnuͤgungen im Grunde ſinnlich, indem ſie, es ſey nun unmittelbar oder vermittelſt der Einbildungskraft, von keinen andern als ſinnlichen Vorſtellungen entſtehen koͤnnen.
Die Philoſophen reden von Vergnuͤgen des Geiſtes, von Vergnuͤgen des Herzens, von Vergnuͤgen der Tu - gend. Alle dieſe Vergnuͤgen ſind es fuͤr die Sinnen oder fuͤr die Einbildungskraft, oder ſie ſind nichts. Warum iſt Homer unendlich mal angenehmer zu leſen als He - raclitus? Weil die Gedichte des erſten eine Reyhe von Gemaͤhlden darſtellen, die entweder durch die eigentuͤm - liche Reizungen des Gegenſtandes, oder die Lebhaftig - keit der Farben, oder einen Contraſt, der das Ver - gnuͤgen durch eine kleine Miſchung mit widrigen Em - pfindungen erhoͤhet, oder die Erregung angenehmer Bewegungen, unſre Phantaſie bezaubern. ‒ ‒ Da die troknen Schriften des Philoſophen nichts darſtellen, als eine Reyhe von Woͤrtern, womit man abgezogne Be -griffe87Drittes Buch, zweytes Capitel. griffe bezeichnet, von denen fich die Einbildungskraft nicht anders als mit vieler Anſtrengung und einer be - ſtaͤndigen Bemuͤhung, die gaͤnzliche Verwirrung ſo vie - ler unbeſtimmter Schattenbilder zu verhuͤten, einige Jdeen machen kann; wenn anders dasjenige ſo genennt zu werden verdient, was in Abſicht ſeines wuͤrklichen Gegenſtands in der Natur, kaum ſo viel iſt als ein Schatten gegen den Koͤrper der ihn zu werfen ſcheint. Es iſt wahr, es giebt abgezogene Begriffe, die fuͤr ge - wiſſe enthuſtaſtiſche Seelen entzuͤkend ſind; aber warum ſind ſie es? Jn der That bloß darum, weil ihre Ein - bildungskraft ſie auf eine ſchlaue Art zu verkoͤrpern weiß. Unterſuche alle angenehmen Jdeen von dieſer Art, ſo unkoͤrperlich und geiſtig ſie ſcheinen moͤgen, und du wirſt finden, daß das Vergnuͤgen, ſo ſie deiner Seele machen, von den ſinnlichen Vorſtellungen entſteht, wo - mit ſie begleitet ſind. Bemuͤhe dich ſo ſehr als du willſt, dir Goͤtter ohne Geſtalt, ohne Glanz, ohne etwas das die Sinnen ruͤhrt, vorzuſtellen; es wird die unmoͤglich ſeyn. Der Jupiter des Homer und Phidias, die Jdee eiues Hercules oder Theſeus, wie unſre Einbildungs - kraft ſich dieſe Helden vorzuſtellen pflegt, die Jdeen eines uͤberirrdiſchen Glanzes, einer mehr als menſchli - chen Schoͤnheit, eines ambroſiſchen Geruchs, werden ſich unvermerkt an die Stelle derjenigen ſezen, die du dich vergeblich zu machen beſtrebeſt; und du wirſt noch immer an dem irrdiſchen Boden kleben, wenn du ſchon in den empyreiſchen Gegenden zu ſchweben glaubſt. Sind die Vergnuͤgen des Herzens weniger ſinnlich? SieF 4ſind88Agathon,ſind die Allerſinnlichſten. Ein gewiſſer Grad derſelben verbreitet eine wolluͤſtige Waͤrme durch unſer ganzes Weſen, belebt den Umlauf des Blutes, ermuntert das Spiel der Fibern, und ſezt unſre ganze Maſchine in ei - nen Zuſtand von Behaglichkeit, der ſich der Seele um ſo mehr mittheilet, als ihre eigne natuͤrliche Verrich - tungen auf eine angenehme Art dadurch erleichtert wer - den. Die Bewunderung, die Liebe, das Verlangen, die Hofnung, das Mitleiden, jeder zaͤrtliche Affect bringt dieſe Wuͤrkung in einigem Grad hervor, und iſt deſto angenehmer, je mehr er ſich derjenigen Wolluſt naͤhert, die unſre Alten wuͤrdig gefunden haben, in der Geſtalt der perſoniſicirten Schoͤnheit, aus deren Genuß ſie entſpringt, unter die Goͤtter geſezt zu werden. Derjenige, den ſein Freund niemals in Entzuͤkungen ge - ſezt hat, die den Entzuͤkungen der Liebe aͤhnlich ſind, iſt nicht berechtiget von den Vergnuͤgen der Freundſchaft zu reden. Was iſt das Mitleiden, welches uns zur Gutthaͤtigkeit treibt? Wer anders iſt deſſelben faͤhig als dieſe empfindlichen Seelen, deren Auge durch den An - blik, deren Ohr durch den aͤchzenden Ton des Schmer - zens und Elends gequaͤlet wird, und die in dem Au - genblik, da ſie die Noth eines Ungluͤklichen erleichtern, beynahe daſſelbige Vergnuͤgen fuͤhlen, welches ſie in eben dieſem Augenblik an ſeiner Stelle gefuͤhlt haͤtten? Wenn das Mittleiden nicht ein wolluͤſtiges Gefuͤhl iſt, warum ruͤhrt uns nichts ſo ſehr als die leidende Schoͤn - heit? Warum lokt die klagende Phaͤdra in der Nach - ahmung zaͤrtliche Thraͤnen aus unſern Augen, da diewin -89Drittes Buch, zweytes Capitel. winſelnde Haͤßlichkeit in der Natur nichts als Ekel er - wekt? Und ſind etwann die Vergnuͤgen der Wohlthaͤ - tigkeit und Menſchenliebe weniger ſinnlich? Dasjenige, was in dir vorgehen wird, wenn du dir die contraſtiren - den Gemaͤhlde einer geaͤngſtigten und einer froͤhlichen Stadt vorſtelleſt, die Homer auf den Schild des Achilles ſezt, wird dir dieſe Frage aufloͤſen! Nur diejenigen, die der Genuß des Vergnuͤgens in die lebhafteſte Ent - zuͤkung ſezt, ſind faͤhig, von den lachenden Bildern einer allgemeinen Freude und Wonne ſo ſehr geruͤhrt zu wer - den, daß ſie dieſelbige auſſer ſich zu ſehen wuͤnſchen; das Vergnuͤgen der Gutthaͤtigkeit wird allemal mit demjeni - gen in Verhaͤltniß ſtehen, welches ihnen der Anblik ei - nes vergnuͤgten Geſichts, eines froͤhlichen Tanzes, ei - ner oͤffentlichen Luſtdarkeit macht; und es iſt nur der Vortheil ihres Vergnuͤgens, je allgemeiner dieſe Scene iſt. Je groͤßer die Anzahl der Froͤhlichen und die Man - nigfaltigkeit der Freuden, deſto groͤßer die Wolluſt, wo - von dieſe Art von Menſchen, an denen alles Sinn, al - les Herz und Seele iſt, beym Anblik derſelben uͤber - ſtroͤmet werden. Laß uns alſo geſtehen, Callias, daß alle Vergnuͤgen, die uns die Natur anbeut, ſinnlich ſind; und daß die hochfliegendſte, abgezogenſte und gei - ſtigſte Einbildungskraft uns keine andre verſchaffen kann, als ſolche, die wir auf eine weit vollkommere Art aus dem roſenbekraͤnzten Becher, und von den Lippen der ſchoͤnen Cyane ſaugen koͤnnten.
Es iſt wahr, es giebt noch eine Art von Vergnuͤ - gen, die beym erſten Anblik eine Ausnahme von mei -F 5nem90Agathon. nem Saz zu machen ſcheint. Man koͤnnte ſie kuͤnſtli - che nennen, weil wir ſie nicht aus den Haͤnden der Na - tur empfangen, ſondern nur gewiſſen Uebereinkomniſ - ſen der menſchlichen Geſellſchaft zu danken haben, durch welche dasjenige, was uns dieſes Vergnuͤgen macht, die Bedeutung eines Gutes erhalten hat. Allein die klein - ſte Ueberlegung iſt hinlaͤnglich uns zu uͤberzeugen, daß dieſe Dinge uns keine andre Art von Vergnuͤgen ma - chen, als die wir vom Beſiz des Geldes haben; welches wir mit Gleichguͤltigkeit anſehen wuͤrden, wenn es uns nicht fuͤr alle die wuͤrklichen Vergnuͤgen Gewaͤhr leiſtete, die wir uns dadurch verſchaffen koͤnnen. Von dieſer Art iſt dasjenige, welches der Ehrgeizige empfindet, wenn ihm Bezeugungen einer ſcheinbaren Hochachtung oder Unterwuͤrfigkeit gemacht werden, die ihm als Zei - chen ſeines Anſehens und der Macht, die ihm daſſelbe uͤber andre giebt, angenehm ſind. Ein morgenlaͤndi - ſcher Deſpot bekuͤmmert ſich wenig um die Hochachtung ſeiner Voͤlker; ſclaviſche Unterwuͤrfigkeit iſt fuͤr ihn ge - nug. Ein Menſch hingegen, deſſen Gluͤk in den Haͤn - den ſolcher Leute liegt, die ſeines gleichen ſind, iſt ge - noͤthiget, ſich ihre Hochachtung zu erwerben. Allein dieſe Unterwuͤrfigkeit iſt dem Deſpoten, dieſe Hochach - tung iſt dem Republicaner nur darum angenehm, weil ſie das Vermoͤgen oder die Gelegenheit giebt, die Leiden - ſchaften und die Begierden deſto beſſer zu befriedigen, welche die unmittelbaren Quellen des Vergnuͤgens ſind. Warum iſt Alcibiades ehrgeizig? Alcibiades bewirbt ſich um einen Ruhm, der ſeine Ausſchweiffungen, ſei -nen91Drittes Buch, zweytes Capitel. nen Uebermuth, ſeinen ſchleppenden Purpur, ſeine Schmaͤuſe und Liebeshaͤndel bedekt; der es den Athenien - ſern ertraͤglich macht, den Liebesgott, mit dem Blize Jupiters bewafnet, auf dem Schilde ſeines Feldherrn zu ſehen; der die Gemahlin eines ſpartaniſchen Koͤ - nigs ſo ſehr verblendet, daß ſie ſtolz darauf iſt, fuͤr ſeine Buhlerin gehalten zu werden. Ohne dieſe Vor - theile wuͤrde ihm Anſehn und Ruhm ſo gleichguͤltig ſeyn, als ein Hauffen Rechenpfennige einem corinthiſchen Wucherer. Allein, ſpricht man, wenn es ſeine Rich - tigkeit hat, daß die Vergnuͤgen der Sinne alles ſind, was uns die Natur zuerkannt hat, was iſt leichter und was braucht weniger Kunſt und Anſtalten, als gluͤklich zu ſeyn? „ Wie wenig bedarf die Natur um zu frie - den zu ſeyn? „ Es iſt wahr, die rohe Natur bedarf wenig. Jhre Unwiſſenheit iſt ihr Reichthum. Eine Bewegung, die ſeinen Koͤrper munter erhaͤlt, eine Nah - rung die den Hunger ſtillt, ein Weib, ſchoͤn oder haͤß - lich, wenn ihn die Ungeduld eines gewiſſen Beduͤrfniſ - ſes beunruhiget, ein ſchattichter Raſen, wenn er des Schlafs bedarf, und eine Hoͤle, ſich vor dem Unge - witter zu ſichern, iſt alles was der wilde Menſch noͤ - thig hat, um in dem Lauf von achtzig oder hundert Jahren ſich nur nicht einmal einfallen zu laſſen, daß man mehr brauchen koͤnne. Die Vergnuͤgen der Ein - bildungskraft und des Geſchmaks ſind nicht fuͤr ihn; er genießt nicht mehr als die uͤbrigen Thiere, und genießt wie ſie. Wenn er gluͤklich iſt, weil er ſich nicht fuͤr nngluͤklich haͤlt, ſo iſt er es doch nicht in Vergleichungmit92Agathon. mit demjenigen, fuͤr den die Kuͤnſte des Wizes und des Geſchmaks die angenehmſte Art der Beduͤrfniſſe der Na - tur zu genieſſen, und eine unendliche Menge von Er - goͤzungen der Sinne und der Einbildung erfunden ha - ben, wovon die Natur in dem rohen Zuſtande, wo - rinn wir ſie uns in den aͤlteſten Zeiten vorſtellen, kei - nen Begriff hat. Dieſe Vergleichung, es iſt wahr, fin - det nur in dem Stand einer Geſellſchaft ſtatt, die ſich in einer langen Reyhe von Jahrhunderten endlich zu einem gewiſſen Grade der Vollkommen heit erhoben hat. Jn einem ſolchen aber wird alles das zum Beduͤrfniß, was der Wilde nur darum nicht vermiſſet, weil es ihm unbekannt iſt; und ein Diogenes koͤnnte zu Corinth nicht gluͤklich ſeyn, wenn er nicht ein Narr waͤre. Gewiſſe poetiſche Koͤpfe haben ſich ein goldnes Alter, ein Arcadien, ein angenehmes Hirtenleben getraͤumt, welches zwiſchen der rohen Natur und der Lebensart des beguͤterten Theils eines geſitteten und ſinnreichen Volkes das Mittel halten ſoll. Sie haben die verſchoͤ - nerte Natur von allem demjenigen entkleidet, wodurch ſie verſchoͤnert worden iſt, und dieſes idealiſche Weſen die ſchoͤne Natur genannt. Allein auſſerdem, daß dieſe ſchoͤne Natur, in dieſer nakten Einfalt, welche man ihr giebt, niemals irgendwo vorhanden war; wer ſie - het nicht, daß die Lebensart des goldnen Alters der Dichter, zu derjenigen, welche durch die Kuͤnſte mit allem bereichert und ausgeziert worden, was der Wiz zu erfinden faͤhig iſt, um uns in den Armen einer un - unterbrochnen Wolluſt, vor dem Ueberdruß der Saͤt -tigung93Drittes Buch, drittes Capitel. tigung zu bewahren; daß, ſage ich, jene dichtriſche Le - bensart zu dieſer ſich eben ſo verhaͤlt, wie die Lebens - art des wildeſten Sogdianers zu jener? Wenn es an - genehmer iſt in einer bequemen Huͤtte zu wohnen als in einem holen Baum, ſo iſt es noch angenehmer in ei - nem geraumigen Hauſe zu wohnen, das mit den aus - geſuchteſten und wolluͤſtigſten Bequemlichkeiten verſehen, und, wohin man die Augen wendet, mit Bildern des Vergnuͤgens ausgeziert iſt; und wenn eine mit Baͤndern und Blumen geſchmuͤkte Phyllis reizender iſt als eine ſchmuzige und zottichte Wilde, muß nicht eine von un - ſern Schoͤnen, deren natuͤrliche Reizungen durch einen wohlausgeſonnenen und ſchimmernden Puz erhoben wer - den, um eben ſo viel beſſer gefallen als eine Phyllis?
Wir haben die Natur gefragt, Callias, worinn die Gluͤkſeligkeit beſtehe, die ſie uns zugedacht habe, und wir haben ihre Antwort. Ein ſchmerzenfreyes Leben, die angenehmſte Befriedigung unſrer natuͤrlichen Beduͤrfniſſe, und der abwechslende Genuß aller Arten von Vergnuͤgen, womit die Einbildungskraft, der Wiz und die Kuͤnſte un - ſern Sinnen zu ſchmeicheln faͤhig ſind. ‒ ‒ Dieſes iſt alles was der Menſch fodern kann, nnd wenn es eineerhab -94Agathon. erhabnere Art von Gluͤkſeligkeit giebt, ſo koͤnnen wir wenigſtens gewiß ſeyn, daß ſie nicht fuͤr uns gehoͤrt, da wir nicht einmal faͤhig ſind, uns eine Vorſtellung davon zu machen. Es iſt wahr, der enthuſiaſtiſche Theil unter den Verehrern der Goͤtter ſchmeichelt ſich mit einer zukuͤnftigen Gluͤkſeligkeit, zu welcher die Seele nach der Zerſtoͤrung des Koͤrpers erſt gelangen ſoll. Die Seele, ſagen ſie, war ehmals eine Freundin und Geſpielin der Goͤtter, ſie war unſterblich wie ſie, und begleitete (wie Plato homeriſirt) den gefluͤgelten Wa - gen Jupiters, um mit den uͤbrigen Unſterblichen die unvergaͤngliche Schoͤnheiten zu beſchauen, womit die unermeßlichen Raͤume uͤber den Sphaͤren erfuͤllt ſind. Ein Krieg, der unter den Bewohnern der unſichtbaren Welt entſtand, verwikelte ſie in den Fall der Beſiegten; ſie ward vom Himmel geſtuͤrzt, und in den Kerker ei - nes thieriſchen Leibes eingeſchloſſen, u〈…〉〈…〉 durch den Ver - luſt ihrer ehmaligen Wonne, in einem Zuſtand, der eine Kette von Plagen und Schmerzen iſt, ihre Schuld auszutilgen. Das unendliche Verlangen, der nie ge - ſtillte Durſt nach einer Gluͤkſeligkeit, die ſie in keinem irrdiſchen Gut findet, iſt das einzige, das ihr zu ihrer Qual von ihrem vormaligen Zuſtand uͤbrig geblieben iſt; und es iſt unmoͤglich, daß ſie dieſe vollkommne Se - ligkeit, wodurch ſie allein befriediget werden kann, wieder erlange, eh ſie ſich wieder in ihren urſpruͤngli - chen Stand, in das reine Element der Geiſter empor ge - ſchwungen hat. Sie iſt alſo vor dem Tode keiner an - dern Gluͤkſeligkeit faͤhig als derjenigen, deren ſie durcheine95Drittes Buch, drittes Capitel. eine freywillige Abſonderung von allen irrdiſchen Din - gen, durch Ertoͤdung aller irrdiſchen Leidenſchaften und Entbehrung aller ſinnlichen Vergnuͤgen, faͤhig gemacht wird. Nur durch dieſe Entkoͤrperung wird ſie der Be - ſchauung der weſentlichen und goͤttlichen Dinge faͤhig, worinn die Geiſter ihre einzige Nahrung und dieſe voll - kommne Wonne finden, wovon die ſinnlichen Menſchen ſich keinen Begriff machen koͤnnen. Solchergeſtalt kann ſie nur, nachdem ſie durch verſchiedne Grade der Reinigung, von allem was thieriſch und koͤrperlich iſt, geſaͤubert worden, ſich wieder zu der uͤberirrdiſchen Sphaͤ - re erheben, mit den Goͤttern leben, und im Unverwand - ten Anſchauen des weſentlichen und ewigen Schoͤnen, wovon alles Sichtbare bloß der Schatten iſt, Ewigkei - ten durchleben, die eben ſo grenzenlos ſind, als die Wonne, von der ſie uͤberſtroͤmet werden.
Jch zweifle nicht daran, Callias, daß es Leute ge - ben mag, bey denen die Milzſucht hoch genug geſtie - gen iſt, daß dieſe Begriffe eine Art von Wahrheit fuͤr ſie haben. Es iſt auch nichts leichters, als daß junge Leute von lebhafter Empfindung und feurigen Einbil - dungskraft, durch eine einſame Lebensart und den Man - gel ſolcher Gegenſtaͤnde und Freuden, worinn ſich die - ſes uͤbermaͤßige Feuer verzehren koͤnnte, von dieſen hoch - fliegenden Schimaͤren eingenommen werden, welche ſo geſchikt ſind, ihre nach Vergnuͤgen lechzende Einbildungs - kraft durch eine Art von Wolluſt zu taͤuſchen, die nur deſto lebhafter iſt, je verworrener und dunkler die be -zaubern -96Agathon. zaubernden Phantomen ſind die ſie hervorbringen; allein ob dieſe Traͤume auſſer dem Gehirn ihrer Erſin - der, und derjenigen, deren Einbildungskraft ſo gluͤk - lich iſt ihnen nachfliegen zu koͤnnen, einige Wahrheit oder Wuͤrklichkeit haben, iſt eine Frage, deren Eroͤr - terung nicht zum Vortheil derſelben ausfaͤllt, wenn ſie der geſunden Vernunft aufgetragen wird. Je weni - ger die Menſchen wiſſen, deſto geneigter ſind ſie, zu waͤh - nen und zu glauben. Wenn anders als der Unwiſſen - heit und dem Aberglauben der aͤlteſten Welt haben die Nymphen und Faunen, die Najaden und Tritonen, die Furien und die erſcheinenden Schatten der Verſtorbnen ihre vermeynte Wuͤrklichkeit zu danken? Je beſſer wir die Koͤrperwelt kennen lernen, deſto enger werden die Grenzen des Geiſter-Reichs. Jch will izo nichts da - von ſagen, ob es wahrſcheinlich ſey, daß die Prieſter - ſchaft, die von jeher einen ſo zahlreichen Orden unter den Menſchen ausgemacht, bald genug die Entdekung machen mußte, was fuͤr groſſe Vortheile man durch dieſen Hang der Menſchen zum Wunderbaren von ih - ren beyden heftigſten Leidenſchaften, der Furcht und der Hofnung, ziehen koͤnne. Wir wollen bey der Sache ſelbſt bleiben. Worauf gruͤndet ſich die er - habne Theorie, von der wir reden? Wer hat je - mals dieſe Goͤtter, dieſe Geiſter geſehen, deren Da - ſeyn ſie vorausſezt? Welcher Menſch erinnert ſich deſ - ſen, daß er ehmals ohne Koͤrper in den etheriſchen Ge - genden geſchwebt, den gefluͤgelten Wagen Jupiters be - gleitet, und mit den Goͤttern Nectar getrunken habe? Was97Drittes Buch, drittes Capitel. Was fuͤr einen ſechsten oder ſiebenten Sinn haben wir, um die Wuͤrklichkeit der Gegenſtaͤnde damit zu erkennen, womit man die Geiſterwelt bevoͤlkert? Sind es unſre innerlichen Sinnen? Was ſind dieſe anders als das Vermoͤgen der Einbildungkraft die Wuͤrkungen der aͤuſ - ſern Sinnen nachzuaͤffen? Was ſieht das innwendige Auge eines Blindgebohrnen? Was hoͤrt das innere Ohr eines gebohrnen Tauben? Oder was ſind dieſe Scenen, in welche die erhabenſte Einbildungskraft aus - zuſchweiffen faͤhig iſt, anders als neue Zuſammenſezun - gen, die ſie gerade ſo macht, wie ein Maͤdchen aus den Blumen, die in einem Parterre zerſtreut ſtehen, einen Kranz flicht; oder hoͤhere Grade deſſen was die Sin - nen wuͤrklich empfunden haben, von welchen man je - doch immer unfaͤhig bleibt, ſich einige klare Vorſtellung zu machen; Denn was empfinden wir bey dem ethe - riſchen Schimmer, oder den ambroſiſchen Geruͤchen der homeriſchen Goͤtter? Wir ſehen, wenn ich ſo ſagen kann, den Schatten eines Glanzes in unſrer Einbil - dung; wir glauben einen lieblichen Geruch zu empfin - den; aber wir ſehen keinen etheriſchen Glanz, und em - pfinden keinen ambroſiſchen Geruch. Kurz, man verbie - te den Schoͤpfern der uͤberirrdiſchen Welten ſich keiner irrdiſchen und ſinnlichen Materialien zu bedienen, ſo werden ihre Welten, um mich eines ihrer Ausdruͤke zu bedienen, ploͤzlich wieder in den Schooß des Nichts zuruͤkfallen, woraus ſie gezogen worden. Und brau - chen wir wohl noch einen andern Beweis, um uns dieſe ganze Theorie verdaͤchtig zu machen, als die Methode,[Agath. I. Th.] Gdie98Agathon,die man uns vorſchreibt, um zu der geheimnißvollen Gluͤkſeligkeit zu gelangen, welcher wir diejenige auf - opfern ſollen, die uns die Natur und unſre Sinnen an - bieten? Wir ſollen uns den ſichtbaren Dingen entzie - hen, um die unſichtbaren zu ſehen; wir ſollen aufhoͤren zu empfinden, damit wir deſto lebhafter phantaſiren koͤnnen. Verſtopfet eure Sinnen, ſagen ſie, ſo werdet ihr Dinge ſehen und hoͤren, wovon dieſe thieriſchen Menſchen, die gleich dem Vieh mit den Augen ſehen, und mit den Ohren hoͤren, ſich keinen Begriff machen koͤnnen. Eine vortrefliche Diaͤt, in Wahrheit; die Schuͤler des Hippokrates werden dir beweiſen, daß man keine beſſere erfinden kann, um wahnwizig zu werden. Es ſcheint alſo ſehr wahrſcheinlich, daß alle dieſe Gei - ſter, dieſe Welten, welche ſie bewohnen, und dieſe Gluͤkſeligkeiten, welche man nach dem Tode mit ihnen zu theilen hoft, nicht mehr Wahrheit haben, als die Nymphen, die Liebesgoͤtter und die Grazien der Dichter, als die Gaͤrten der Heſperiden und die Jnſeln der Cir - ce und Calypſo; kurz, als alle dieſe Spiele der Ein - bildungskraft, welche uns beluſtigen, ohne daß wir ſie fuͤr wuͤrklich halten. Die Religion unſrer Vaͤter be - fiehlt uns einen Jupiter, eine Venus zu glauben; ganz gut; aber was fuͤr eine Vorſtellung macht man uns von ihnen? Jupiter ſoll ein GOtt, Venus eine Goͤt - tin ſeyn: Allein der Jupiter des Phidias iſt nichts mehr als ein heroiſcher Mann, noch die Venus des Praxiteles mehr als ein ſchoͤnes Weib; von dem Gott und der Goͤttin hat kein Menſch in Griechenland denminde -99Drittes Buch, drittes Capitel. deſten Begriff. Man verſpricht uns nach dem Tod ein unſterbliches Leben bey den Goͤttern; aber die Begriffe die wir uns davon machen, ſind entweder aus den ſinn - lichen Wolluͤſten, oder den feinern und geiſtigern Freu - den, die wir in dieſem Leben erfahren haben, zuſam - mengeſezt; es iſt alſo klar, daß wir gar keine echte Vorſtellung von dem Leben der Geiſter und von ihren Freude haben. Jch will hiemit nicht laͤugnen, daß es Goͤtter, Geiſter oder vollkommnere Weſen als wir ſind, haben koͤnne oder wuͤrklich habe. Alles was meine Schluͤſſe zu beweiſen ſcheinen, iſt dieſes, „ daß wir unfaͤhig ſind, uns eine richtige Jdee von ihnen zu ma - chen, oder kurz, daß wir nichts von ihnen wiſſen. „ Wiſſen wir aber nichts, weder von ihrem Zuſtande noch von ihrer Natur, ſo iſt es fuͤr uns eben ſo viel, als ob ſie gar nicht waͤren. Anaxagoras bewies mir einſt mit dem ganzen Enthuſiasmus eines Sternſehers, daß der Mond Einwohner habe. Vielleicht ſagte er die Wahr - heit. Allein was ſind dieſe Mondbewohner fuͤr uns? Meyneſt du, der Koͤnig Philippus werde ſich die minde - ſte Sorge machen, die Griechen moͤchten ſie gegen ihn zu Huͤlfe rufen? Es moͤgen Einwohner im Monde ſeyn; fuͤr uns iſt der Mond weder mehr noch weniger als eine leere glaͤnzende Scheibe, die unſre Naͤchte er - heitert, und unſre Zeit abmißt. Hat es aber dieſe Be - wandniß, wie es denn nicht anders ſeyn kann, wie thoͤricht iſt es, den Plan ſeines Lebens nach Schimaͤren einzurichten, und ſich der Gluͤkſeligkeit deren man wuͤrk - lich genieſſen koͤnnte, zu begeben, um ſich mit ungewiſ -G 2ſen100Agathon. ſen Hofnungen zu weiden; die Frucht ſeines Daſeyns zu verliehren, ſo lange man lebt, in Hofnung ſich da - fuͤr ſchadloß zu halten, wenn man nicht mehr ſeyn wird! Denn daß wir izt leben, und daß dieſes Leben aufhoͤren wird, das wiſſen wir gewiß; ob ein andres alsdann anfange, iſt wenigſtens ungewiß, und wenn es auch waͤre, ſo iſt es doch unmoͤglich, das Verhaͤltniß deſſelben gegen das izige zu beſtimmen, da wir kein Mittel haben uns einen aͤchten Begriff davon zu machen. Laß uns alſo den Plan unſers Lebens auf das gruͤnden, was wir kennen und wiſſen; und nachdem wir gefun - den haben, was das gluͤkliche Leben iſt, den gerade - ſten und ſicherſten Weg ſuchen, auf dem wir dazu ge - langen koͤnnen.
Jch habe ſchon bemerkt, daß die Gluͤkſeligkeit, wel - che wir ſuchen, nur in dem Stand einer Geſellſchaft, die ſich ſchon zu einem gewiſſen Grade der Vollkom - menheit erhoben hat, ſtatt finde. Jn einer ſolchen Ge - ſellſchaft entwikeln ſich alle dieſe manichfaltigen Geſchik - lichkeiten, die bey dem wilden Menſchen, der ſo wenig bedarf, ſo einſam lebt, und ſo wenig Leidenſchaften hat, immer muͤßige Faͤhigkeiten bleiben. Die Einfuͤhrung des Eigenthums, die Ungleichheit der Guͤter und Staͤn -de,101Drittes Buch, viertes Capitel. de, die Armuth der einen, der Ueberfluß, die Ueppig - keit und die Traͤgheit der andern, dieſes ſind die wah - ren Goͤtter der Kuͤnſte, die Mercure und die Muſen, denen wir ihre Erfindung oder doch ihre Vollkommenheit zu danken haben. Wie viel Menſchen muͤſſen ihre Be - muͤhungen vereinigen, um einen einzigen Reichen zu befriedigen! Dieſe bauen ſeine Felder und Weinberge, andre pflanzen ſeine Luſtgaͤrten, noch andre bearbeiten den Marmor, woraus ſeine Wohnung aufgefuͤhrt wird; tauſende durchſchiffen den Ocean um ihm die Reichtuͤmer fremder Laͤnder zuzufuͤhren; tauſende beſchaͤftigen ſich, die Seide und den Purpur zu bereiten, die ihn kleiden; die Ta - peten, die ſeine Zimmer ſchmuͤken; die koſtbaren Gefaͤße, woraus er ißt und trinkt; und die weichen Lager, worauf er der wolluͤſtigſten Ruhe genießt. Tauſende muͤſſen in ſchlaſloſen Naͤchten ihren Wiz verzehren, um neue Be - quemlichkeiten, neue Wolluͤſte, eine leichtere und ange - nehmere Art die leichteſten und angenehmſten Verrich - tungen, die uns die Natur auferlegt, zu thun, fuͤr ihn zu erſinden, und durch die Zaubereyen der Kunſt, die den gemeinſten Dingen einen Schein der Neuheit zu ge - ben weiß, ſeinen Ekel zu taͤuſchen, und ſeine vom Genuß ermuͤdeten Sinnen aufzuweken. Fuͤr ihn arbeitet der Mahler, der Tonkuͤnſtler, der Dichter, der Schauſpie - ler, und uͤberwindet unendliche Schwierigkeiten, um Kuͤnſte zur Vollkommenheit zu treiben, welche die An - zahl ſeiner Ergoͤzungen vermehren ſollen. Allein alle dieſe Leute, welche fuͤr den gluͤklichen Menſchen ar - beiten, wuͤrden es nicht thun, wenn ſie nicht ſelbſt gluͤk -G 3lich102Agathon. lich zu ſeyn wuͤnſchten. Sie arbeiten nur fuͤr denjeni - gen, der ihre Bemuͤhung fuͤr ſein Vergnuͤgen belohnen kann. Der Koͤnig von Perſien ſelbſt iſt nicht maͤch - tig genug, den Zeuxes zu zwingen, daß er ihm eine Leda mahle. Nur die Zauberkraft des Goldes, wel - chem eine allgemeine Uebereinkunft der geſitteten Voͤlker den Werth aller nuͤzlichen und angenehmen Dinge bey - gelegt hat, kann den Genie und den Fleiß einem Mi - das dienſtbar machen, der ohne ſeine Schaͤze kaum ſo viel werth waͤre, dem Mahler, der fuͤr ihn arbeitet, die Farben zu reiben. Die Kunſt, ſich die Mittel zur Gluͤkſeligkeit zu verſchaffen, iſt alſo ſchon gefunden, mein lieber Callias, ſobald wir die Kunſt gefunden ha - ben, einen genugſamen Vorrath von dieſem Steine der Weiſen zu bekommen, der uns die ganze Natur unter - wirft, der Millionen von unſers Gleichen zu frey - willigen Sclaven unſrer Ueppigkeit macht, und der uns in jedem ſchlauen Kopf einen dienſtwilligen Mercur, und dnrch den unwiderſtehlichen Glanz eines goldnen Regens, in jeder Schoͤnen eine Dange finden laͤßt. Die Kunſt reich zu werden, Callias, iſt im Grunde nichts an - ders, als die Kunſt, ſich des Eigenthums andrer Leute mit ihrem guten Willen zu bemaͤchtigen. Ein Deſpot hat unter dem Schuz eines Vorurtheils, welches demjeni - gen ſehr aͤhnlich iſt, womit die Egypter den Crocodil vergoͤtterten, in dieſem Stuͤk einen ungemeinen Vor - theil: Da ſich ſeine Rechte ſo weit erſtreken als ſeine Macht, und dieſe Macht durch keine Pflichten einge - ſchraͤnkt iſt, weil ihn niemand zwingen kann, ſie zu er -fuͤllen;103Drittes Buch, viertes Capitel. fuͤllen; ſo kann er ſich das Vermoͤgen ſeiner Unter - thanen zueignen, ohne ſich darum zu bekuͤmmern, ob es mit ihrem guten Willen geſchieht. Es koſtet ihn keine Muͤhe, unermeßliche Reichthuͤmer zu erwerben, und, um mit der unmaͤßigſten Schwaͤlgerey in einem Tag Millionen zu verſchwenden, hat er nichts noͤthig, als denjenigen Theil des Volkes, den ſeine Duͤrftigkeit zu einer immerwehrenden Arbeit verdammt, an dieſem Tage faſten zu laſſen. Allein auſſer dem, daß dieſer Vortheil nur ſehr wenigen Sterblichen zu Theil werden kann, ſo iſt er nicht ſo beſchaffen, daß ein weiſer Mann ihn beneiden koͤnnte. Das Vergnuͤgen hoͤret auf Vergnuͤgen zu ſeyn, ſo bald es uͤber einen gewiſſen Grad getrieben wird. Das Uebermaaß der ſinnlichen Wol - luͤſte zerſtoͤret die Werkzeuge der Empfindung; das Ueber - maaß der Vergnuͤgen der Einbildungskraft, verderbt den Geſchmak des aͤchten Schoͤnen, indem fuͤr unmaͤſ - ſige Begierden nichts reizend ſeyn kann, was in die Verhaͤltniſſe und das Ebenmaaß der Natur eingeſchloſ - ſen iſt. Daher iſt das gewoͤhnliche Schikſal der morgen - laͤndiſchen Fuͤrſten, die in die Mauern ihres Serails eingekerkert ſind, in den Armen der Wolluſt vor Er - ſaͤttigung und Ueberdruß umzukommen; indeſſen, daß die ſuͤſſeſten Geruͤche von Arabien vergeblich fuͤr ſie duͤften, daß die geiſtigen Weine ihnen ungekoſtet aus Criſtallen ent - gegenblinken, daß tauſend Schoͤnheiten, deren jede zu Paphos einen Altar erhielte, alle ihre Reizungen, alle ihre buhleriſche Kuͤnſte umſonſt verſchwenden, ihre ſchlaffen Sinnen zu erweken, und zehen tauſend Scla -G 4ven104Agathon. ven ihrer Ueppigkeit in die Wette eyfern, um uner - hoͤrte und ungeheure Wolluͤſte zu erdenken, welche faͤ - hig ſeyn moͤchten, wenigſtens die gluͤhende Phantaſe dieſer ungluͤkſeligen Gluͤklichen auf etliche Augenblike zu betruͤgen. Wir haben alſo mehr Urſache, als man insgemein glaubt, der Natur zu danken, wenn ſie uns in einen Stand ſezt, wo wir das Vergnuͤgen dnrch Ar - beit erkauffen muͤſſen, und vorher unſre Leidenſchaften maͤßigen lernen, eh wir zu einer Gluͤkſeligkeit gelangen, die wir ohne dieſe Maͤßigung nicht genieſſen koͤnnten.
Da nun die Deſpoten und die Straſſenraͤuber die einzigen ſind, denen es, jedoch auf ihre Gefahr, zuſteht, ſich des Vermoͤgens andrer Leute mit Gewalt zu be - maͤchtigen: So bleibt demjenigen, der ſich aus einem Zuſtand von Mangel und Abhaͤnglichkeit empor ſchwin - gen will, nichts anders uͤbrig, als daß er ſich die Ge - ſchiklichkeit erwerbe, den Vortheil und das Vergnuͤgen der Lieblinge des Gluͤkes zu befoͤrdern. Unter den vie - lerley Arten, wie dieſes geſchehen kann, ſind einige dem Menſchen von Genie, mit Ausſchluß aller uͤbrigen, vorbehalten, und theilen ſich nach ihrem verſchiednen Endzwek in zwo Claſſen ein, wovon die erſte die Vor - theile, und die andre das Vergnuͤgen des betraͤchtlichſten Theils einer Nation zum Gegenſtand hat. Die erſte, welche die Regierungs - und Kriegs-Kuͤnſte in ſich be - greift, ſcheint ordentlicher Weiſe nur in freyen Staaten Plaz zu finden; die andre hat keine Grenzen als denGrad105Drittes Buch, viertes Capitel. Grad des Reichthums und der Ueppigkeit eines jeden Volks, von welcher Art ſeine Staatsverfaſſung ſeyn mag. Jn dem armen Athen wurde ein guter Feld - Herr unendlichmal hoͤher geſchaͤzt, als ein guter Mah - ler; in dem reichen und wolluͤſtigen Athen giebt man ſich keine Muͤhe zu unterſuchen, wer der tuͤchtigſte ſey, ein Kriegsheer anzufuͤhren; man hat wichtigere Dinge zu entſcheiden; die Frage iſt, welche unter etlichen Taͤn - zerinnen die artigſten Fuͤſſe hat, und die ſchoͤnſten Spruͤnge macht? ob die Venus des Praxiteles, oder des Alcamenes die ſchoͤnere iſt? ‒ ‒ Die Kuͤnſte des Genie von der erſten Claſſe fuͤhren fuͤr ſich allein ſelten zum Reichthum. Die groſſen Talente, die großen Ver - dienſte und Tugenden, die dazu erfodert werden, fin - den ſich gemeiniglich nur in armen und emporſtreben - den Republiken, die alles, was man fuͤr ſie thut, nur mit Lorbeerkraͤnzen bezahlen. Jn Staaten aber, wo Reich thum und Ueppigkeit ſchon die Oberhand gewon - nen haben, braucht man alle dieſe Talente und Tugen - den nicht, welche die Regierungskunſt zu erfodern ſcheint. Man kann in ſolchen Staaten Geſeze geben, ohne ein Solon zu ſeyn; man kann ihre Kriegs - heere anfuͤhren, ohne ein Leonidas oder Themiſtokles zu ſeyn. Perikles, Alcibiades, regierten zu Athen den Staat, und fuͤhrten die Voͤlker an; obgleich jener nur ein Redner war, und dieſer keine andre Kunſt kannte, als die Kunſt ſich der Herzen zu bemeiſtern. Jn ſolchen Republiken hat das Volk die Eigenſchaften, die in einem deſpotiſchen Staate der Einzige hat, derG 5kein106Agathon. kein Sclave iſt; man braucht ihm nur zu gefallen, um zu allem tuͤchtig befunden zu werden. Perikles herrſchte, ohne die aͤuſſerlichen Zeichen der koͤniglichen Wuͤrde zu tragen, ſo unumſchraͤnkt in dem freyen Athen, als Artaxerxes in dem unterthaͤnigen Aſten. Seine Talente, und die Kuͤnſte die er von der ſchoͤnen Aſpaſia gelernt hatte, erwarben ihm eine Art von Ober - herrſchaft, die nur deſto unumſchraͤnkter war, da ſie ihm freywillig zugeſtanden wurde; die Kunſt eine groſ - ſe Meynung von ſich zu erweken, die Kunſt zu uͤberre - den, die Kunſt von der Eitelkeit der Athenienſer Vor - theil zu ziehen und ihre Leidenſchaften zu lenken; dieſe machten ſeine ganze Regierungskunſt aus. Er verwi - kelte die Republik in ungerechte und ungluͤkliche Kriege, er erſchoͤpfte die oͤffentliche Schazkammer, er erbitterte die Bundsgenoſſen durch gewaltſame Erpreſſungen; und damit das Volk keine Zeit haͤtte, eine ſo ſchoͤne Staats - Verwaltung genauer zu beobachten, ſo bauete er Schau - ſpielhaͤuſer, gab ihnen ſchoͤne Statuen und Gemaͤhlde zu ſehen, unterhielt ſie mit Taͤnzerinnen und Virtuoſen, und gewoͤhnte ſie ſo ſehr an dieſe abwechſelnden Ergoͤ - zungen, daß die Vorſtellung eines neuen Stuͤks, oder der Wettſtreit unter etlichen Floͤtenſpielern zulezt Staats - Angelegenheiten wurden, uͤber welchen man diejenigen vergaß die es in der That waren. Hundert Jahre fruͤher wuͤrde man einen Perikles fuͤr eine Peſt der Re - publik angeſehen haben; allein damals wuͤrde Perikles ein Ariſtides geweſen ſeyn. Jn der Zeit worinn er leb - te, war Perikles, ſo wie er war, der groͤſte Mannder107Drittes Buch, viertes Capitel. der Republik; der Mann der Athen zu dem hoͤchſten Grade der Macht und des Glanzes erhub, den es zu erreichen faͤhig war; der Mann, deſſen Zeit als das goldne Altar der Muſen in allen kuͤnftigen Jahrhun - derten angezogen werden wird; und, was fuͤr ihn ſelbſt das intereſſanteſte war, der Mann, fuͤr den die Na - tur die Euripiden und Ariſtophane, die Phidias, die Zeuxes, die Damonen, und die Aſpaſien zuſammen brachte, um ſein Privatleben ſo angenehm zu machen, als ſein oͤffentliches Leben glaͤnzend war. Die Kunſt uͤber die Einbildungskraft der Menſchen zu herrſchen, die geheimen, ihnen ſelbſt verborgnen Triebfedern ih - rer Bewegungen nach unſerm Gefallen zu lenken, und ſie zu Werkzeugen unſrer Abſichten zu machen, indem wir ſie in der Meynung erhalten, daß wir es von den ihrigen ſind, iſt alſo, ohne Zweifel, diejenige, die ih - rem Beſizer am nuͤzlichſten iſt, und dieſes iſt die Kunſt welche die Sophiſten lehren und ausuͤben; die Kunſt, welcher ſie das Anſehen, die Unabhaͤnglichkeit und die gluͤklichen Tage, deren ſie genieſſen, zu danken haben. Du kanſt dir leicht vorſtellen, Callias, daß ſie ſich in etlichen Stunden weder lehren noch lernen laͤßt; allein meine Abſicht iſt auch fuͤr izt nur, dir uͤberhaupt einen Begriff davon zu geben. Dasjenige, was man die Weisheit der Sophiſten nennt, iſt die Geſchiklichkeit ſich der Menſchen ſo zu bedienen, daß ſie geneigt ſind, unſer Vergnuͤgen zu befoͤrdern, oder uͤberhaupt die Werkzeuge unſrer Abſichten zu ſeyn. Die Beredſamkeit, welche dieſen Nahmen erſt alsdann verdient, wenn ſieim108Agathon. im Stand iſt, die Zuhoͤrer, wer ſie auch ſeyn moͤgen, von allem zu uͤberreden, was wir wollen, und in jeden Grad einer jeden Leidenſchaft zu ſezen, die zu unſrer Abſicht noͤthig iſt; eine ſolche Beredſamkeit iſt unſtrei - tig ein unentbehrliches Werkzeug, und das vornehmſte wodurch die Sophiſten dieſen Zwek erreichen. Die Grammatici bemuͤhen ſich, junge Leute zu Rednern zu bilden; die Sophiſten thun mehr, ſie lehren ſie Ueber - reder zu werden, wenn mir dieſes Wort erlaubt iſt. Hierinn allein beſteht das Erhabne einer Kunſt, die vielleicht noch niemand in dem Grade beſeſſen hat, wie Alcibiades, der in unſern Zeiten ſo viel Aufſehens ge - macht hat. Der Weiſe bedient ſich dieſer Ueberredungs - Gabe nur als eines Werkzeugs zu hoͤhern Abſichten. Alcibiades uͤberlaͤßt es einem Antiphon, ſich mit Aus - feilung einer kuͤnſtlichgeſezten Rede zu bemuͤhen; er uͤberredet indeſſen ſeine Landsleute, daß ein ſo liebens - wuͤrdiger Mann wie Alcibiades das Recht habe zu thun, was ihm einfalle; er uͤberredet die Spartaner zu ver - geſſen, daß er ihr Feind geweſen, und daß er es bey der erſten Gelegenheit wieder ſeyn wird; er uͤberredet die Koͤnigin Timea, daß ſie ihn bey ſich ſchlafen laſſe, und die Satrapen des großen Koͤnigs, daß er ihnen die Athenienſer zu eben der Zeit verrathen wolle, da er die Athenienſer uͤberredet, daß ſie ihm Unrecht thun, ihn fuͤr einen Verraͤther zu halten. Dieſe Ueberre - dungskraft ſezt die Geſchiklichkeit voraus, jede Geſtalt anzunehmen, wodurch wir demjenigen gefaͤllig werden koͤnnen, auf den wir Abſichten haben; die Geſchiklich -keit,109Drittes Buch, viertes Capitel. keit, ſich der verborgenſten Zugaͤnge ſeines Herzens zu verſichern, ſeine Leidenſchaften, je nachdem wir es noͤ - thig finden, zu erregen, zu liebkoſen, eine durch die andre zu verſtaͤrken, oder zu ſchwaͤchen, oder gar zu un - terdruken; ſie erfodert eine Gefaͤlligkeit, die von den Sittenlehrern Schmeicheley genennt wird, aber dieſen Namen nur alsdann verdient, wenn ſie von den Gua - thonen die um die Tafeln der Reichen ſumſen, nachge - aͤffet wird, ‒ ‒ eine Gefaͤlligkeit, die aus einer tiefen Kenntniß der Menſchen entſpringt, und das Gegentheil von der laͤcherlichen Sproͤdigkeit gewiſſer Phantaſten iſt, die den Menſchen uͤbel nehmen, daß ſie anders ſind, als wie dieſe ungebetenen Geſezgeber es haben wol - len; kurz, diejenige Gefaͤlligkeit ohne welche es vielleicht moͤglich iſt, die Hochachtung, aber niemals die Liebe der Menſchen zu erlangen; weil wir nur diejenigen lieben koͤnnen, die uns aͤhnlich ſind, die unſern Geſchmak haben oder zu haben ſcheinen, und ſo eifrig ſind, un - ſer Vergnuͤgen zu befoͤrdern, daß ſie hierinn die Aſpa - ſia von Milet zum Muſter nehmen, welche ſich bis ans Ende in der Gunſt des Perikles erhielt, indem ſie in demjenigen Alter, worinn man die Seele der Damen zu lieben pflegt, ſich in die Grenzen der Platoniſchen Liebe zuruͤkzog, und die Rolle des Koͤrpers durch andre ſpielen ließ. Jch leſe in deinen Augen Callias, was du gegen dieſe Kuͤnſte einzuwenden haſt, die ſich ſo uͤbel mit den Vorurtheilen vertragen, die du gewohnt biſt fuͤr Grundſaze zu halten. Es iſt wahr, die Kunſt zu leben, welche die Sophiſten lehren, iſt auf ganz andreBe -110Agathon. Begriffe von dem, was in ſittlichem Verſtande ſchoͤn und gut iſt gebaut, als diejenigen hegen, die von dem idealiſchen Schoͤnen, und von einer gewiſſen Tugend, die ihr eigner Lohn ſeyn ſoll, ſo viel ſchoͤne Dinge zu ſa - gen wiſſen. Allein, wenn du noch nicht muͤde biſt mir zuzuhoͤren, als ich es bin zu ſchwazen; ſo denke ich, daß es nicht ſchwer ſeyn werde dich zu uͤberzeu - gen, daß das idealiſche Schoͤne und die idealiſche Tugend mit jenen Geiſtermaͤhrchen, wovon wir erſt geſprochen haben, in die nehmliche Claſſe gehoͤren.
Was iſt das Schoͤne? Was iſt das Gute? Eh wir dieſe Fragen beantworten koͤnnen, muͤſſen wir, daͤucht mich, vorher fragen: Was iſt das, was die Men - ſchen ſchoͤn und gut nennen? Wir wollen vom Schoͤ - nen den Anfang machen. Was fuͤr eine unendliche Ver - ſchiedenheit in den Begriffen, die man ſich bey den ver - ſchiedenen Voͤlkern des Erdbodens von der Schoͤnheit macht! Alle Welt kommt darinn uͤberein, daß ein ſchoͤnes Weib das ſchoͤnſte unter allen Werken der Na - tur ſey. Allein wie muß ſie ſeyn, um fuͤr eine voll - kommne Schoͤnheit in ihrer Art gehalten zu werden? Hier faͤngt der Wiederſpruch an. Stelle dir eine Ver - ſammlung von ſo vielen Liebhabern vor, als es ver -ſchiedne111Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. ſchiedne Nationen unter verſchiednen Himmelsſtrichen giebt; was iſt gewiſſer, als daß ein jeder den Vorzug ſeiner Geliebten vor den uͤbrigen behaupten wird? Der Europaͤer wird die blendende weiſſe, der Mohr die ra - bengleiche Schwaͤrze der ſeinigen vorziehen; der Grie - che wird einen kleinen Mund, eine Bruſt, die mit der holen Hand bedekt werden kann, und das angenehme Ebenmaaß einer feinen Geſtalt; der Africaner wird die eingedruͤkte Naſe, und die aufgeſchwollnen dikrothen Lip - pen; der Perſianer die großen Augen und den ſchlan - ken Wuchs, der Serer, die kleinen Augen, die Kegel - runde dike und winzigen Fuͤſſe an der ſeinigen be - gaubernd finden. Hat es mit dem Schoͤnen in ſittli - chen Verſtande, mit dem was ſich geziemt, eine andre Bewandtniß? Die Spartaniſchen Toͤchter ſcheuen ſich nicht, in einem Aufzug geſehen zu werden, wodurch in Athen die geringſte oͤffentliche Meze ſich entehrt hielte. Jn Perſien wuͤrd’ ein Frauenzimmer, das an einem oͤffentlichen Orte ſein Geſicht entbloͤßte, eben ſo ange - ſehen, als in Smyrna eine die ſich nakend ſehen lieſſe. Bey den morgenlaͤndiſchen Voͤlkern erfodert der Wohl - ſtand eine Menge von Beugungen und unterthaͤnigen Gebehrden, die man gegen diejenigen macht, die man ehren will; bey den Griechen wuͤrde dieſe Hoͤflichkeit fuͤr eben ſo ſchaͤndlich und ſclavenmaͤßig gehalten wer - den, als die attiſche Politeſſe zu Perſepolis grob und baͤuriſch ſcheinen wuͤrde. Bey den Griechen hat eine freygeborne ihre Ehre verlohren, die ſich den jungfraͤu - lichen Guͤrtel von einem andern, als ihrem Manneaufloͤſen112Agathon. aufloͤſen laͤßt; bey gewiſſen Voͤlkern die jenſeits des Gan - ges wohnen, iſt ein Maͤdchen deſto vorzuͤglicher, je mehr es Liebhaber gehabt hat, die ſeine Reizungen aus Erfahrung anzuruͤhmen wiſſen. Dieſe Verſchieden - heit der Begriffe vom ſittlichen Schoͤnen zeigt ſich nicht nur in beſondern Gebraͤuchen und Gewohnheiten ver - ſchiedner Voͤlker, wovon ſich die Beyſpiele ins Unend - liche haͤufen lieſſen; ſondern ſelbſt in dem Begriff, den ſie ſich uͤberhaupt von der Tugend machen. Bey den Roͤmern iſt Tugend und Tapferkeit einerley; bey den Athenienſern ſchließt dieſes Wort alle Arten von nuͤzli - chen und angenehmen Eigenſchaften in ſich. Zu Spar - ta kennt man keine andre Tugend als den Gehorſam gegen die Geſeze; in deſpotiſchen Neichen keine andre, als die ſclaviſche Unterthaͤnigkeit gegen den Monarchen und ſeine Satrapen; am caſpiſchen Meere iſt der tu - genhafteſte der am beſten rauben kann, und die meiſten Feinde erſchlagen hat; und in dem waͤrmſten Striche von Jndien hat nur der die hoͤchſte Tugend erreicht, der ſich durch eine voͤllige Unthaͤtigkeit, ihrer Mey - nung nach, den Goͤttern aͤhnlich macht. Was folget nun aus allen dieſen Beyſpielen? Jſt nichts an ſich ſelbſt ſchoͤn oder recht? Giebt es kein gewiſſes Mo - dell, wornach dasjenige, was ſchoͤn oder ſittlich iſt, beurtheilt werden muß? Wir wollen ſehen. Weun ein ſolches Modell iſt, ſo muß es in der Natur ſeyn. Denn es waͤre Thorheit, ſich einzubilden, daß ein Pygmalion eine Bildſaͤule ſchnizen koͤnne, welche ſchoͤ - ner ſey als Phryne, die kuͤhn genug war, bey denOlym -113Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. Olympiſchen Spielen, in eben dem Aufzug worinn die drey Goͤttinnen um den Preiß der Schoͤnheit ſtritten, das ganze Griechenland zum Richter uͤber die ihrige zu machen. Die Venus eines jeden Volks iſt nichts an - ders als die Abbildung eines Weibes, die bey einer allgemeinen Verſammlung dieſes Volks fuͤr diejenige er - klaͤrt wuͤrde, bey der ſich die National-Schoͤnheit im hoͤchſten Grade befinde. Allein welches unter ſo vieler - ley Modellen iſt denn an ſich ſelbſt das ſchoͤnſte? Der Grieche wird fuͤr ſeine roſenwangichte, der Mohr fuͤr ſeine rabenſchwarze, der Perſer fuͤr ſeine ſchlanke, und der Serer fuͤr ſeine runde Venus mit dem dreyfachen Kinn ſtreiten. Wer ſoll den Ausſchlag geben? Wir wollen es verſuchen. Geſezt, es wuͤrde eine allgemeine Verſammlung angeſtellt, wozu eine jede Nation den ſchoͤnſten Mann und das ſchoͤnſte Weib, nach ihrem National-Modell zu urtheilen, geſchikt haͤtten; und wo die Weiber zu entſcheiden haͤtten, welcher unter allen dieſen Mitwerbern um den Preiß der Schoͤnheit der ſchoͤnſte Mann, und die Maͤnner, welche unter allen das ſchoͤnſte Weib waͤre: Jch ſage alſo, man wuͤrde gar bald diejenigen aus allen uͤbrigen ausſondern, die unter dieſen milden und gemaͤßigten Himmelsſtrichen ge - bohren worden, wo die Natur allen ihren Werken ein feine - res Ebenmaaß der Geſtalt, und eine angenehmere Miſchung der Farben zu geben pflegt. Denn die vorzuͤgliche Schoͤnheit der Natur in den gemaͤßigten Zonen erſtrekt ſich vom Menſchen bis auf die Pflanzen. Unter dieſen Auscrleſnen von beyden Geſchlechtern wuͤrde vielleicht[Agath. I. Th.] Hder114Agathon,der Vorzug lange zweifelhaft ſeyn; allein endlich wuͤr - de doch unter den Maͤnnern derjenige den Preiß erhal - ten, bey deſſen Landesleuten die verſchiednen gymna - ſtiſchen Uebungen am ſtaͤrkſten, und Verhaͤltnißweiſe in dem hoͤchſten Grade der Vollkommenheit getrieben wuͤr - den; und alle Maͤnner wuͤrden mit einer Stimme die - jenige fuͤr die ſchoͤnſte unter den Schoͤnen erklaͤren, die von einem Volke abgeſchikt worden, welches bey der Erziehung der Toͤchter die moͤglichſte Entwiklung und Cultur der natuͤrlichen Schoͤnheit zur Hauptſache machte. Der Spartaner wuͤrde alſo vermuthlich fuͤr den ſchoͤn - ſten Mann, und die Perſerin fuͤr das ſchoͤnſte Weib er - klaͤrt werden. Der Grieche, welcher der Anmuth den Vorzug vor der Schoͤnheit giebt, weil die griechiſchen Weiber mehr reizend als ſchoͤn ſind, wuͤrde nichts de - ſto weniger zu eben der Zeit, da ſein Herz einem Maͤd - chen von Paphos oder Milet den Vorzug gaͤbe, be - kennen muͤſſen, daß die Perſerin ſchoͤner ſey; und eben dieſes wuͤrde der Serer thun, ob er gleich das drey - fache Kinn und den Wanſt ſeiner Landsmaͤnnin reizen - der finden wuͤrde. ‒ ‒ Laß uns zu dem ſittlichen Schoͤ - nen fortgehen. So groß auch hierinn die Verſchieden - heit der Begriffe unter verſchiednen Zonen iſt, ſo wird doch ſchwehrlich gelaͤugnet werden koͤnnen, daß die Sitten derjenigen Nation, welche die geiſtreichſte, die munterſte, die geſelligſte, die angenehmſte iſt, den Vor - zug der Schoͤnheit haben. Die ungezwungne und ein - nehmende Hoͤflichkeit des Athenienſers muß einem jeden Fremden angenehmer ſeyn, als die abgemeſſene, ernſt -hafte115Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. hafte und ceremonienvolle Hoͤflichkeit der Morgenlaͤn - der; das verbindliche Weſen, der Schein von Leutſelig - keit, ſo der erſte ſeinen kleinſten Handlungen zu geben weiß, muß vor dem ſteifen Ernſt des Perſers, oder der rauhen Gutherzigkeit des Scythen eben ſo ſehr den Vorzug erhalten, als der Puz einer Dame von Smyrna, der die Schoͤnheit weder ganz verhuͤllt, noch ganz den Augen preiß giebt, vor der Vermummung der Morgen - laͤnderin oder der thieriſchen Bloͤße einer Wilden. Das Muſter der aufgeklaͤrteſten und geſelligſten Nation ſcheint alſo die wahre Regul des ſittlichen Schoͤnen, oder des Anſtaͤndigen zu ſeyn, und Athen und Smyrna ſind die Schulen, worinn man ſeinen Geſchmak und ſeine Sit - ten bilden muß. Allein nachdem wir eine Regul fuͤr das Schoͤne gefunden haben, was fuͤr eine werden wir fuͤr das, was Recht iſt finden? wovon ſo verſchiedene und widerſprechende Begriffe unter den Menſchen herr - ſchen, daß eben dieſelbe Handlung, die bey dem einen Volke mit Lorbeerkraͤnzen und Statuen belohnt wird, bey der andern eine ſchmaͤliche Todesſtrafe verdient; und daß kaum ein Laſter iſt, welches nicht irgendwo ſeinen Altar und ſeinen Prieſter habe. Es iſt wahr, die Ge - ſeze ſind bey dem Volke, welchem ſie gegeben ſind, die Richtſchnur des Rechts und Unrechts; allein was bey dieſem Volk durch das Geſez befohlen wird, wird bey einem andern durch das Geſez verboten. Die Frage iſt alſo: Giebt es nicht ein allgemeines Geſez, welches beſtimmt, was an ſich ſelbſt Recht iſt? Jch antworte ja, und dieſes allgemeine Geſez kann kein andres ſeyn,H 2als116Agathon. als die Stimme der Natur, die zu einem jeden ſpricht: Suche dein Beſtes; oder mit andern Worten: Befrie - dige deine natuͤrliche Begierden, und genieſſe ſo viel Vergnuͤgen als du kanſt. Dieſes iſt das einzige Geſez, das die Natur dem Menſchen gegeben hat; und ſo lang er ſich im Stande der Natur beſindet, iſt das Recht, das er an alles hat, was ſeine Begierden verlangen, oder was ihm gut iſt, durch nichts anders als das Maaß ſeiner Staͤrke eingeſchraͤnkt; er darf alles, was er kann, und iſt keinem andern nichts ſchuldig. Al - lein der Stand der Geſellſchaft, welcher eine Anzahl von Menſchen zu ihrem gemeinſchaftlichen Beſten ver - einiget, ſezt zu jenem einzigen Geſez der Natur, ſuche dein eignes Beſtes, die Einſchraͤnkung, ohne einem an - dern zu ſchaden. Wie alſo im Stande der Natur ei - nem jeden Menſchen alles recht iſt, was ihm nuͤzlich iſt; ſo erklaͤrt im Stande der Geſellſchaft das Geſez alles fuͤr unrecht und ſtrafwuͤrdig, was der Geſellſchaft ſchaͤdlich iſt, und verbindet hingegen die Vorſtellung ei - nes Vorzugs und belohnungswuͤrdigen Verdienſtes mit allen Handlungen, wodurch der Nuzen oder das Ver - gnuͤgen der Geſellſchaft befoͤrdert wird. Die Begriffe von Tugend und Laſter gruͤnden ſich alſo eines Theils auf den Vertrag den eine gewiſſe Geſellſchaft unter ſich gemacht hat, und in ſo ferne ſind ſie willkuͤrlich; an - dern Theils auf dasjenige, was einem jeden Volke nuͤzlich oder ſchaͤdlich iſt; und daher kommt es, daß ein ſo großer Widerſpruch unter den Geſezen verſchied - ner Nationen herrſchet. Das Clima, die Lage, dieRegie -117Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. Regierungsform, die Religion, das eigne Tempera - ment und der National-Character eines jeden Volks, ſeine Lebensart, ſeine Staͤrke oder Schwaͤche, ſeine Ar - muth oder ſein Reichthum, beſtimmen ſeine Begriffe von dem, was ihm gut oder ſchaͤdlich iſt; daher dieſe unendliche Verſchiedenheit des Rechts oder Unrechts unter den policirteſten Nationen; daher der Contraſt der Moral der gluͤhenden Zonen mit der Moral der kalten Laͤnder, der Moral der freyen Staaten mit der Moral der deſpotiſchen Reiche; der Moral einer armen Republik, welche nur durch den kriegeriſchen Geiſt ge - winnen kann, mit der Moral einer reichen, die ihren Wohlſtand dem Geiſt der Handelſchaft und dem Frie - den zu danken hat; daher endlich die Albernheit der Moraliſten, welche ſich den Kopf zerbrechen, um zu beſtimmen, was fuͤr alle Nationen recht ſey, ehe ſie die Aufloͤſung der Aufgabe gefunden haben, wie man machen koͤnne, daß eben daſſelbe fuͤr alle Nationen gleich nuͤzlich ſey.
Die Sophiſten, deren Sittenlehre ſich nicht auf abſtracte Jdeen, ſondern auf die Natur und wuͤrkliche Beſchaffenheit der Dinge gruͤndet, finden die Menſchen an einem jeden Ort, ſo, wie ſie ſeyn koͤnnen. Sie ſchaͤzen einen Staatsmann zu Athen, an ſich ſelbſt, nicht hoͤher als einen Gaukler zu Perſepolis, und eine ehrbare Matrone von Sparta iſt in ihren Augen kein vortreflicheres Weſen als eine Lais zu Corinth. Es iſt wahr, der Gaukler wuͤrde zu Athen, und die Lais zu Sparta ſchaͤdlich ſeyn; allein ein Ariſtides wuͤrde zuH 3Perſe -118Agathon. Perſepolis, und eine Spartanerin zu Corinth wo nicht eben ſo ſchaͤdlich, doch wenigſtens ganz unnuͤzlich ſeyn. Die Jdealiſten, wie ich dieſe Philoſophen zu nennen pflege, welche die Welt nach ihren Jdeen umſchmelzen wollen, bilden ihre Lehrjuͤnger zu Menſchen, die man nirgends fuͤr einheimiſch erkennen kann, weil ihre Mo - ral eine Geſezgebung vorausſezt, welche nirgends vor - handen iſt. Sie bleiben arm und ungeachtet, weil ein Volk nur demjenigen Hochachtung und Belohnung zuer - kennt, der ſeinen Nuzen befoͤrdert oder doch zu befoͤr - dern ſcheint; ja ſie werden als Verderber der Jugend, und als heimliche Feinde der Geſellſchaft angeſehen, und die Landesverweiſung oder der Giftbecher iſt zu - lezt alles, was ſie fuͤr die undankbare Bemuͤhung da - von tragen, die Menſchen zu entkoͤrpern, um ſie in die Claſſe der idealiſchen Weſen, der mathematiſchen Puncte, Linien und Dreyeke zu erhoͤhen. Kluͤger, als dieſe ein - gebildeten Weiſen, die, wie jener Floͤtenſpieler von Aſpondus, nur fuͤr ſich ſelbſt ſingen, uͤberlaſſen die Sophiſten den Geſezen eines jeden Volks ihre Buͤrger zu lehren, was Recht oder Unrecht ſey. Da ſie ſelbſt zu keinem beſondern Staatskoͤrper gehoͤren, ſo genieſ - ſen ſie die Vorrechte eines Weltbuͤrgers, und indem ſie den Geſezen und der Religion eines jeden Volkes bey dem ſie ſich beſinden, eine aͤuſſerliche Achtung bezeugen, wodurch ſie vor allen Ungelegenheiten mit den Hand - habern derſelben geſichert werden; ſo erkennen und be - folgen ſie doch in der That kein andres als jenes allge - meine Geſez der Natur, welches dem Menſchen ſeineignes119Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. eignes Beſtes zur einzigen Richtſchnur giebt. Alles wo - durch ihre natuͤrliche Freyheit eingeſchraͤnkt wird, iſt die Beobachtung einer nuͤzlichen Klugheit, die ihnen vor - ſchreibt ihren Handlungen die Farbe, den Schnitt und die Auszierung zu geben, wodurch ſie denjenigen, mit welchen ſie zu thun haben, am gefaͤlligſten werden. Das moraliſche Schoͤne iſt fuͤr unſre Handlungen eben das, was der Puz fuͤr unſern Leib; und es iſt eben ſo noͤ - thig, ſeine Auffuͤhrung nach den Vorurtheilen und dem Geſchmak derjenigen zu modeln, mit denen man lebt, als es noͤthig iſt ſich ſo zu kleiden wie ſie. Ein Menſch, der nach einem gewiſſen beſondern Modell gebildet wor - den, ſollte, wie die wandelnden Bildſaͤulen des Daͤda - lus, an ſeinen vaͤterlichen Boden angefeſſelt werden; denn er iſt nirgends an ſeinem Plaz als unter ſeines gleichen. Ein Spartaner wuͤrde ſich nicht beſſer ſchi - ken, die Rolle eines oberſten Sclaven des Artaxerxes zu ſpielen, als ein Sarmater ſich ſchikte Polemarchus zu Athen zu ſeyn. Der Weiſe hingegen iſt der allgemeine Menſch, der Menſch, dem alle Farben, alle Umſtaͤnde, alle Verfaſſungen und Stellungen anſtehen, und er iſt es eben darum, weil er keine beſondre Vorurtheile und Leidenſchaf - ten hat, weil er nichts als ein Menſch iſt. Er gefaͤllt al - lenthalben, weil er, wohin er kommt, ſich die Vor - urtheile und Thorheiten gefallen laͤßt, die er antrift. Wie ſollte er nicht geliebt werden, er, der immer be - reit iſt ſich fuͤr die Vortheile andrer zu beeyfern, ihre Begriffe zu billigen, ihren Leidenſchaften zu ſchmeicheln? Er weiß, daß die Menſchen von nichts uͤberzeugter ſind,H 4als120Agathon. als von ihren Jrrthuͤmern, und nichts zaͤrtlicher lieben als ihre Fehler; und daß es kein gewiſſeres Mittel giebt ſich ihren Abſcheu zuzuziehen, als weun man ihnen ei - ne Wahrheit entdekt, die ſie nicht wiſſen wollen. Weit entfernt alſo, ihnen die Augen wider ihren Willen zu eroͤfnen, oder ihnen einen Spiegel vorzuhalten, der ihnen ihre Haͤßlichkeit vorruͤkte, beſtaͤrkt er die Thoren in dem Gedanken, daß nichts abgeſchmakter ſey als Ver - ſtand haben, den Verſchwender in dem Wahn, daß er großmuͤthig, den Kniker in den Gedanken, daß er ein guter Haushalter, die Haͤßliche in der ſuͤſſen Einbildung, daß ſie deſto geiſtreicher, und den Reichen in der Ueber - redung, daß er ein Staatsmann, ein Gelehrter, ein Held, ein Goͤnner der Muſen und ein Liebling der Da - men ſey. Er bewundert das Syſtem des Philoſophen, die einbildiſche Unwiſſenheit des Hofmanns, und die groſſen Thaten des Generals; er geſtehet dem Tanz - meiſter ohne Widerrede zu, daß Cimon der groͤſte Mann in Griechenland geweſen waͤre, wenn er die Fuͤſſe beſ - ſer zu ſezen gewußt haͤtte; und dem Mahler, daß man mehr Genie braucht, ein Zeuxes als ein Homer zu ſeyn. Dieſe Art mit den Menſchen umzugehen, iſt von un - endlich groͤſſerm Vortheil als man beym erſten Anblik denken moͤchte. Sie erwirbt ihm ihre Liebe, ihr Zu - trauen, und eine deſto groͤſſere Meynung von ſeinen Ver - dienſte, je groͤſſer diejenige iſt, die er von den ihrigen zu haben ſcheint. Sie iſt das gewiſſeſte Mittel, zu den hoͤchſten Stufen des Gluͤks empor zu ſteigen. Meyneſt du, daß es allein die groͤſten Talente, die vorzuͤglich -ſten121Drittes Buch, ſechſtes Capitel. ſten Verdienſte ſeyen, die einen Archonten, einen Heer - fuͤhrer, einen Satrapen, oder den Guͤnſtling eines Fuͤr - ſten machen? Siehe dich in den Republiken um; du wirſt finden, daß dieſer ſein Anſehen der laͤchelnden Mine zu danken hat, womit er die Buͤrger gruͤßt; ein andrer der emphatiſchen Peripherie ſeines Wanſtes; ein dritter der Schoͤnheit ſeiner Gemalin, und ein vier - ter ſeiner bruͤllenden Stimme. Gehe an die Hoͤfe, du wirſt Leute finden, welche das Gluͤk, worinn ſie ſchim - mern, der Empfelung eines Kammerdieners, der Gunſt einer Dame, die ſich fuͤr ihre Talente verbuͤrgt hat, oder der Gabe des Schlafs ſchuldig ſind, womit ſie be - fallen werden, wenn der Vezier mit ihren Weibern ſcherzt. Nichts iſt in dieſem Lande der Bezauberungen gewoͤhnlicher, als einen unbaͤrtigen Knaben in einen Ge - neral, einen Pantomimen in einen Staatsminiſter, ei - nen Kupler in einen Oberprieſter verwandelt zu ſe - hen; ein Menſch ohne alle Verdienſte kann oft durch ein einziges Talent, und wenn es auch nur das Talent eines Eſels waͤre, zu einem Gluͤke gelangen, das ein andrer durch die groͤſten Verdienſte vergeblich zu erhal - ten geſucht hat. Wer koͤnnte demnach zweifeln, daß die Kunſt der Sophiſten nicht faͤhig ſeyn ſollte, ihrem Beſizer auf dieſe oder jene Art die Gunſt des Gluͤkes zu verſchaffen? Vorausgeſezt, daß er die natuͤrlichen Ga - ben beſize, ohne welche der Mann von Verſtand in der Welt allezeit dem Narren Plaz machen muß, der damit verſehen iſt. Allein ſelbſt auf dem Wege der Verdienſte iſt niemand gewiſſer ſein Gluͤk zu machen,H 5als122Agathon. als ein Sophiſt. Wo iſt der Plaz, den er nicht mit Ruhm bekleiden wird? Wer iſt geſchikter die Men - ſchen zu regieren als derjenige, der am beſteu mit ih - nen umzugehen weiß? Wer ſchikt ſich beſſer zu oͤffent - lichen Unterhandlungen? Wer iſt faͤhiger der Rath - geber eines Fuͤrſten zu ſeyn? Ja, wofern er nur das Gluͤk auf ſeiner Seite hat, wer wird mit groͤſſerm Ruhm ein Kriegsheer anfuͤhren als er? Wer wird die Kunſt beſſer verſtehen, ſich fuͤr die Geſchiklich - keit und die Verdienſte ſeiner Subalternen belohnen zu laſſen? Wer wird die Vorſicht, die er nicht gehabt, die klugen Anſtalten, die er nicht gemacht, die Wun - den, die er nicht bekommen hat, beſſer gelten zu ma - chen wiſſen, als er?
Doch es iſt Zeit einen Diſcurs zu enden, der fuͤr beyde ermuͤdend zu werden anfangt. Jch habe dir genug geſagt, um den Zauber zu vernichten, den die Schwaͤr - merey auf deine Seele gelegt hat; und wenn dieſes nicht genug iſt, ſo wuͤrde alles uͤberfluͤßig ſeyn was ich ſagen koͤnnte. Glaube uͤbrigens nicht, Callias, daß der Orden der Sophiſten einen unanſehnlichen Theil der menſchlichen Geſellſchaft ausmache. Die Anzahl derjenigen die unſre Kunſt ausuͤben, iſt in allen Staͤn - den ſehr betraͤchtlich, und du wirſt unter denen die ein groſſes Gluͤk gemacht haben, ſchwehrlich einen einzigen finden, der es nicht einer geſchikten Anwendung un - ſrer Grundſaͤze zu danken habe. Dieſe Grundſaͤze ma - chen die gewoͤhnliche Denkungsart der Hofleute, derLeute123Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. Leute die ſich dem Dienſte der Groſſen gewidmet haben, und uͤberhaupt derjenigen Claſſe von Menſchen aus, die an jedem Orte die edelſten und angeſehenſten ſind, und (die wenigen Faͤlle ausgenommen, wo das ſpielende Gluͤk durch einen blinden Wurf einen Narren an den Plaz eines klugen Menſchen fallen laͤßt) ſind die ge - ſchikten Koͤpfe, die von diefen Maximen den beſten Ge - brauch zu machen wiſſen, allezeit diejenigen, die es auf der Bahn der Ehre und des Gluͤks am weiteſten bringen.
Hippias konnte ſich wohl berechtiget halten, einigen Dank bey ſeinem Lehrjuͤnger verdient zu haben, da er ſich ſo viele Muͤhe gegeben hatte, ihn weiſe zu machen. Allein wir muͤſſen es nur geſtehen, er hatte es mit ei - nem Menſchen zu thun, der nicht faͤhig war, die Wich - tigkeit dieſes Dienſtes einzuſehen, oder die Schoͤnheit eines Syſtems zu empfinden, welches ſeinen vermeyn - ten Empfindungen ſo zuwider war. Seine Erwartung ſah, daß der weiſe Hippias aufgehoͤrt hatte zu reden, wuͤrde alſo nicht wenig betrogen, als Agathon, wie er ihm dieſe kurze Antwort gab: Du haſt eine ſchoͤne Rede gehalten, Hippias; deine Beobachtungen ſind ſehr fein, deine Schluͤſ - ſe ſehr buͤndig, deine Maximen ſehr practiſch, und ich zweiflenicht,124Agathon,nicht, daß der Weg, den du mir vorgezeichnet haſt, zu der Gluͤkſeligkeit wuͤrklich fuͤhre, deren Vorzuͤge vor meiner Art gluͤklich zu ſeyn, du in ein ſo helles Licht geſezt. Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeſte Luſt ſo gluͤklich zu ſeyn, und wenn ich mich anders recht kenne, ſo werde ich ſchwerlich eher ein Sophiſt werden, biß du deine Taͤnzerinnen entlaͤſſeſt, dein Haus zu ei - nem oͤffentlichen Tempel der Diana widmeſt, und nach Jndien ziehſt, ein Bramine zu werden. Hippias lachte uͤber dieſe Antwort, ohne daß ſie ihm deſto beſſer gefiel. Und was haſt du gegen mein Syſtem einzuwenden? fragte er. Daß es mich nicht uͤberzeugt, erwiederte Agathon. „ Und warum nicht? „ Weil meine Erfah - rung und Empfindung deinen Schluͤſſen widerſpricht. „ Jch moͤchte wohl wiſſen, was dieſes fuͤr Erfahrungen und Empfindungen ſind, die demjenigen widerſprechen, was alle Welt erfaͤhrt und empfindt. „ Du wuͤrdeſt be - weiſen, daß es Schimaͤren ſind. „ Und wenn ich es bewieſen haͤtte? „ Du wuͤrdeſt es nur dir beweiſen, Hippias; du wuͤrdeſt nichts beweiſen, als daß du nicht Callias biſt. „ Aber die Frage iſt, ob Hippias oder Cal - lias richtig denkt? „ Wer ſoll Richter ſeyn? „ Das ganze menſchliche Geſchlecht. „ Was wuͤrde das wider mich beweiſen? „ Sehr viel. Wenn zehen Millionen Menſchen urtheilen, daß zween oder drey aus ihrem Mittel Narren ſind, ſo ſind ſie es; das iſt unlaͤugbar. „ Aber wie, wenn die zehen Millionen, deren Ausſpruch dir ſo entſcheidend vorkommt, zehn Millionen Tho - ren waͤren, und die drey waͤren klug? „ Wie muͤſtedas125Drittes Buch, ſechſtes Capitel. das zugehen? „ Koͤnnen nicht zehn Millionen die Peſt haben, und Sokrates allein geſund herum gehen? „ Dieſe Jnſtanz beweißt nichts fuͤr dich. Ein Volk hat nicht immer die Peſt; Allein die zehn Millionen den - ken immer ſo wie ich. Sie ſind alſo in ihrem natuͤrli - chen Zuſtande, wenn ſie ſo denken; und wer anders denkt, gehoͤrt folglich entweder zu einer andern Gattung von Weſen, oder zu den Weſen, die man Thoren nennt. „ So ergeb ich mich in mein Schikſal. „ Es giebt noch eine Alternative, junger Menſch. Du ſchaͤmeſt dich, ent - weder deine Gedanken ſo ſchnell zu veraͤndern, oder du biſt ein Heuchler „ Keines von beyden, Hippias. „ Laͤug - ne mir zum Exempel, wenn du kanſt, daß dir die ſchoͤ - ne Cyane, die uns beym Fruͤhſtuͤk bediente, Begierden eingefloͤßt hat, und daß du verſtohlne Blike ‒ ‒ „ Jch laͤugne nichts. „ So geſtehe, daß das Anſchauen dieſer runden ſchneeweiſſen Arme, dieſes aus der flatternden Seide hervorathmenden Buſens, die Begierde in dir er - regt, ihrer zu genieſſen. „ Jſt das Anſchauen kein Ge - nuß? „ Keine Ausfluͤchte, junger Menſch! „ Du be - truͤgſt dich, Hippias, wenn es erlaubt iſt einem Weiſen das zu ſagen; ich bedarf keiner Ausfluͤchte. Jch ma - che nur einen Unterſchied zwiſchen einem mechaniſchen Jnſtinct, der nicht gaͤnzlich von mir abhaͤngt, und dem Willen meiner Seele. Jch habe den Willen nicht ge - habt, deſſen du mich beſchuldigeſt. „ Jch beſchuldige dich nichts, als daß du meiner ſpotteſt. Jch denke, daß ich die Natur kennen ſollte. Die Schwaͤrmerey kann in deinen Jahren keine ſo unheilbare Krankheit ſeyn,daß126Agathon. daß ſie wider die Reizung des Vergnuͤgens ſollte aushal - ten koͤnnen. „ Deßwegen vermeide ich die Gelegenheiten. „ Du geſteheſt alſo, daß Cyane reizend iſt? „ Sehr rei - zend. „ Und daß ihr Genuß ein Vergnuͤgen waͤre? „ Vermuthlich. „ Warum quaͤleſt du du dich dann, dir ein Vergnuͤgen zu verſagen, das in deiner Gewalt iſt „ Weil ich mich dadurch vieler andern Vergnuͤgen berau - ben wuͤrde, die ich hoͤher ſchaͤze. „ Kann man in dei - nem Alter ſo ſehr ein Neuling ſeyn? Was fuͤr Ver - gnuͤgen, die allen uͤbrigen Menſchen unbekannt ſind, hat die Natur fuͤr dich allein aufbehalten? Wenn du noch groͤſſere kenneſt als dieſes, ‒ ‒ doch ich merke dich. Du wirſt mir wieder von den Vergnuͤgungen der Geiſter, von Nectar und Ambroſia ſprechen; aber wir ſpielen izt keine Comoͤdie, mein Freund. Die Erſcheinung einer Cyane in einem von den Gebuͤſchen meiner Gaͤr - ten wuͤrde faͤhig ſeyn, ſo gar deinen Geiſtern Koͤrper zu geben. „ Hippias, ich rede wie ich denke. Jch ken - ne Vergnuͤgen, die ich hoͤher ſchaͤze als diejenigen, die der Menſch mit den Thieren gemein hat. „ Zum Exem - pel? „ Das Vergnuͤgen eine gute Handlung zu thun. „ Was nenneſt du eine gute Handlung? „ Eine Handlung, wodurch ich, mit einiger Anſtrengung mei - ner Kraͤfte, oder Aufopferung eines Vortheils oder Ver - gnuͤgens, andrer Beſtes befoͤrdere. „ Du biſt alſo thoͤ - richt genug zu glauben, daß du andern mehr ſchuldig ſeyeſt, als dir ſelbſt? „ Das nicht; ſondern ich finde fuͤr gut, ein geringeres Vergnuͤgen dem groͤſſern aufzu - opfern, welches ich alsdann genieſſe, wenn ich dasGluͤk127Drittes Buch, ſechſtes Capitel. Gluͤk meiner Nebengeſchoͤpfe befoͤrdern kann. „ Du biſt ſehr dienſtfertig; geſezt aber es ſey ſo, wie haͤngt die - ſes mit demjenigen zuſammen, wovon izt die Rede iſt? „ Das iſt leicht zu ſehen. Geſezt, ich uͤberlieſſe mich den Eindruͤken, welche die Reizungen der ſchoͤnen Cyane auf mich machen koͤnnten; geſezt, ſie liebte mich, und lieſſe mich alles erfahren, was die Wolluſt berauſchendes hat; eine Verbindung von dieſer Art koͤnnte von keiner lan - gen Dauer ſeyn; aber wuͤrden die Erinnerungen der ge - noßnen Freuden nicht die Begierde erweken, ſie wieder zu genieſſen? „ Eine neue Cyane „ ‒ ‒ wuͤrde mir wieder gleichguͤltig werden, und eben dieſe Begierden zuruͤk laſſen. „ Eine immerwaͤhrende Abwechslung iſt alſo hierinn, wie du ſtehſt, das Geſez der Natur. „ Aber auf dieſe Art wuͤrde ichs gar bald ſo weit bringen, kei - ner Begierde widerſtehen zu koͤnnen. „ Wozu brauchſt du zu widerſtehen, ſo lange deine Begierden in den Schranken der Natur und der Maͤßigung bleiben? „ Wie aber, wenn endlich das Weib meines Freundes, oder welche es ſonſt waͤre, die der ehrwuͤrdige Name einer Mutter gegen den bloſſen Gedanken eines unkeuſchen Anfalls ſicher ſtellen ſoll; oder wie, wenn die unſchuldige Jugend ei - ner Tochter, die vielleicht kein andres Heurathsgut als ihre Unſchuld und Schoͤnheit hat; der Gegenſtand die - ſer Begierden wuͤrde, uͤber die ich durch ſo vieles Nach - geben alle Gewalt verlohren haͤtte? „ So haͤtteſt du dich in Griechenland wenigſtens vor den Geſezen vor - zuſehen. Allein was muͤſte das fuͤr ein Hirn ſeyn, das in ſolchen Umſtaͤnden kein Mittel ausfuͤndig machenkoͤnnte,128Agathon. koͤnnte, ſeine Leidenſchaft zu vergnuͤgen, ohne ſich mit den Geſezen abzuwerfen? Jch ſehe, du kenneſt die Da - men zu Athen und Sparta nicht. „ O! was das be - trift, ich kenne ſo gar die Prieſterinnen zu Delphi. Aber iſts moͤglich, daß du im Ernſte geſprochen haſt? „ Jch habe nach meinen Grundſaͤzen geſprochen. Die Geſeze haben in gewiſſen Staaten, (denn es giebt ei - nige, wo ſie mehr Nachſicht haben) noͤthig gefunden, unſer natuͤrliches Recht an eine jede, die unſre Begier - den erregt, einzuſchraͤnken. Allein da dieſes nur ge - ſchah, um gewiſſe Ungelegenheiten zu verhindern, die aus dem ungeſcheuten Gebrauch jenes Rechts in ſol - chen Staaten zu beſorgen waͤren, ſo ſtehſt du, daß der Geiſt und die Abſicht des Geſezes nicht verlezt wird, wenn man vorſichtig genug iſt zu den Ausnahmen die man davon macht keine Zeugen zu nehmen „, O Hippias! rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin ich dich bringen wollte. Du ſieheſt die Folgen deiner Grundſaͤze. Wenn alles an ſich ſelbſt recht iſt, was meine Begierden wollen; wenn die ausſchweifenden Forderungen der Leidenſchaft unter dem Nahmen des Nuͤzlichen, den ſie nicht verdienen, die einzige Richtſchnur unſrer Handlungen ſind; wenn die Geſeze nur mit einer guten Art ausgewichen werden muͤſſen, und im Dunkeln alles erlaubt iſt; wenn die Tugend, und die Hofnungen der Tugend nur Schimaͤren ſind; was hindert die Kinder, ſich wider ihre Eltern zu ver - ſchwoͤhren? Was hindert die Mutter, ſich ſelbſt und ihre Tochter dem meiſtbietenden Preiß zu geben? Washindert129Drittes Buch, ſechstes Capitel. hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den Dolch in die Bruſt meines Freundes zu ſtoſſen, die Tempel der Goͤtter zu berauben, mein Vaterland zu verrathen, oder mich an die Spize einer Raͤuberbande zu ſtellen; und, wenn ich anders Macht genug habe, ganze Laͤnder zu verwuͤſten, ganze Voͤlker in ihrem Blute zu ertraͤnken? Sieheſt du nicht, daß deine Grundſaͤze, die du ſo unverſchaͤmt Weisheit nenneſt, und durch eine kuͤnſtliche Vermiſchung des Wahren mit dem Falſchen ſcheinbar zu machen ſuchſt, wenn ſie all - gemein wuͤrden, die Menſchen in weit aͤrgere Unge - heuer, als Hyaͤnen, Tyger und Crocodille ſind, ver - wandeln wuͤrden? Du ſpotteſt der Tugend und Reli - gion? Wiſſe, nur den unausloͤſchlichen Zeugen, wo - mit ihr Bild in unſre Seelen eingegraben iſt, nur dem geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahr - heit, Ordnung und Guͤte zieht, und den Geſezen beſſer zu ſtatten kommt, als alle Belohnungen und Strafen, iſt es zuzuſchreiben, daß es noch Menſchen auf dem Erdboden giebt, und daß unter dieſen Men - ſchen noch ein Schatten von Sittlichkeit und Guͤte zu finden iſt. Du erklaͤrſt die Jdeen von Tugend und ſittlicher Vollkommenheit fuͤr Phantaſien. Sie - he mich hier, Hippias, ſo wie ich hier bin, biete ich den Verfuͤhrungen aller deiner Cyanen, den ſcheinbarſten Ueberredungen deiner Weisheit, und al - len Vortheilen, die mir deine Grundſaͤze und dein Beyſpiel verſprechen, troz. Eine einzige von dieſen Phantaſien iſt hinreichend die unweſentliche Zauberey[Agath. I. Th.] Jaller130Agathon. aller dieſer Blendwerke zu zerſtreuen. Laß die Tugend immer eine Schwaͤrmerey ſeyn, dieſe Schwaͤrmerey macht mich gluͤklich, und wuͤrde alle Menſchen gluͤklich, und den ganzen Erdboden zu einem Himmel machen, wenn deine Grundſaͤze, und diejenige, welche ſie aus - uͤben, nicht, ſo weit ihr anſtekendes Gift dringt, Elend und Verderbniß ausbreiteten.
Agathon wurde ganz gluͤhend, indem er dieſes ſagte; und ein Mahler, um den zuͤrnenden Apollo zu mahlen, haͤtte ſein Geſicht in dieſem Augenblik zum Urbild nehmen muͤſſen. Allein der weiſe Hippias er - wiederte dieſen Eifer mit einem Laͤcheln, welches dem Momus ſelbſt Ehre gemacht haͤtte, und ſagte ohne ſeine Stimme zu veraͤndern: Nunmehr glaube ich dich zu kennen, Callias, und du wirſt von meinen Verfuͤhrungen weiter nichts zu beſorgen haben. Die geſunde Vernunft iſt nicht fuͤr ſo warme Koͤpfe ge - macht, wie der deinige. Wie leicht, wenn du mich zu verſtehen faͤhig geweſen waͤreſt, haͤtteſt du dir den Ein - wurf ſelbſt beantworten koͤnuen, daß die Grundſaͤze der Sophiſten und Weltleute verderblich waͤren, wenn ſie allgemein wuͤrden? Die Natur hat ſchon davor geſorgt, daß ſie nicht allgemein werden, ‒ ‒ doch ich wuͤrde mir ſelbſt laͤcherlich ſeyn, wenn ich deine begeiſterte Apo - ſtrophe beantworten, oder dir zeigen wollte, wie ſehr auch der Affect der Tugend das Geſicht verfaͤlſchen kann. Sey tugendhaft, Callias; fahre fort dich um den Beyfall der Geiſter, und die Gunſt der etheriſchenSchoͤ -131Drittes Buch, ſechstes Capitel. Schoͤnen zu bewerben; ruͤſte dich, dem Ungemach, das dein Platonismus dir in dieſer Unterwelt zuziehen wird, großmuͤthig entgegen zu gehen, und troͤſte dich, wenn du Leute ſiehſt, die niedrig genug ſind, fich an irrdiſchen Gluͤkſeligkeiten zu weyden, mit dem frommen Gedanken, daß ſie in dem andern Leben, wo die Rey - he an dich kommt, gluͤklich zu ſeyn, ſich in den Flam - men des Phlegeton waͤlzen werden.
Mit dieſen Worten ſtund Hippias auf, warf einen veraͤchtlichmitleidigen Blik auf den Agathon, und wand - te ihm den Ruͤken zu, um ihm mit einer unter ſeines gleichen gewoͤhnlichen Hoͤflichkeit zu verſtehen zu geben, daß er ſich zuruͤkziehen koͤnne.
Wir vermuthen, daß es einigen Leſern ſcheinen wer - de, Hippias habe in ſeinem Diſcurs bey Agathon ei - nen groͤſſern Mangel von Erfahrung und Kenntniß der Welt vorausgeſezt, als er, nach allem, was bereits mit ihm vorgegangen war, haben konnte. Wir muͤſ - ſen alſo znr Entſchuldigung dieſes Weiſen ſagen, daß Agathon, aus Urſachen die uns unbekannt geblieben, fuͤr gut befunden habe, von dem glaͤnzenden Theil ſei - ner Begebenheiten, und ſogar von ſeinem Namen ein Geheimniß zu machen. Denn ſein Name war durch die Rolle, die er zu Athen geſpielt hatte, in den grie - chiſchen Staͤdten allzubekannt worden, als daß er es nicht auch dem Hippias haͤtte ſeyn ſollen; ob dieſer gleich, ſeit dem er in Smyrna wohnte, ſich wenig um die Staatsangelegenheiten der Griechen bekuͤmmerte, die er in den Haͤnden ſeiner Freunde und Schuͤler ganzwohl133Viertes Buch, erſtes Capitel. wohl verſorgt hielte. Da nun Agathon ſo ſorgfaͤltig geweſen war, ihm alles zu verbergen, was einigen Berdacht haͤtte erweken koͤnnen, daß er jemals etwas mehr als ein Aufwaͤrter in dem Tempel zu Delphi ge - weſen; ſo konnte Hippias mit deſto beſſerm Grunde vorausſezen, daß er noch ein vollkommner Neuling in der Welt ſey, als weder die Denkungsart noch das Betra - gen dieſes jungen Menſchen ſo beſchaffen war, daß ein Kenner auf guͤnftigere Gedanken haͤtte gebracht werden ſollen. Leute von ſeiner Art koͤnnen, in der That ze - hen Jahre hinter einander in der groſſen Welt gelebt haben, ohne daß ſie dieſes fremde und entlehnte Anſe - hen verliehren, welches beym erſten Blik verkuͤndiget, daß ſie hier nicht einheimiſch ſind; geſchweige, daß ſie faͤhig waͤren, ſich jemals zu dieſer edeln Freyheit von den Feſſeln der geſunden Vernunft, zu dieſer weiſen Gleich - guͤltigkeit gegen alles was die ſchwaͤrmeriſchen Seelen Empfindung nennen, und zu dieſer verzaͤrtelten Fein - heit des Geſchmaks zu erheben, wodurch die Weltleute ſich auf eine ſo vortheilhafte Art unterſcheiden. Solche Leute koͤnnen wohl Beobachtungen machen; allein da ih - nen dieſer Jnſtinct, dieſes ſympatetiſche Gefuͤhl man - gelt, mittelſt deſſen jene einander ſo ſchnell und zuver - laͤßig ausfuͤndig machen; oder deutlicher zu reden, da ſie von allem auf eine andre Art geruͤhrt werden, als jene; und ſich, ſo ſehr ſie ſich auch anſtrengten, niemals an ihre Stelle ſezen koͤnnen: ſo bleiben ſie doch immer in einem unbekannten Lande, wo ihre Erkenntniß nur bey Muthmaßungen ſtehen bleibt, und ihre ErwartungJ 3alle134Agathon,alle Augenblike durch unbegreifliche Zufaͤlle und unver - hofte Veraͤnderungen betrogen wird. Mit allen ſeinen Vorzuͤgen war Agathon doch in eben dieſer Claſſe, und und es iſt alſo kein Wunder, daß er, ungeachtet der tiefen Betrachtungen die er uͤber ſeine Unterredung mit dem Hippias bey ſich ſelbſt anſtellte, ſehr weit entfernt war, die Gedanken zu errathen, womit dieſer Sophiſt izt umgieng, deſſen Eitelkeit durch den ſchlechten Fort - gang ſeines Vorhabens, und den Eigenſinn dieſes ſeltſa - men Juͤnglings weit mehr beleidiget war, als er ſich hatte anmerken laſſen. Agathon, wenn er das wuͤrk - lich waͤre, was er zu ſeyn ſchien, waͤre (dachte der weiſe Mann nicht ohne Grund) eine lebendige Wider - legung ſeines Syſtems. Wie? ſagte er zu ſich ſelbſt, (ein Umſtand, der ihm ſelten begegnete) ich habe mehr als vierzig Jahre in der Welt gelebt, und unter einer unendlichen Menge von Menſchen von allen Staͤnden und Claſſen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine Begriffe von der menſchlichen Natur nicht beſtaͤttiget haͤtte, und dieſer junge Menſch ſollte mich noch an die Tugend glauben lehren? Es kann nicht ſeyn; er iſt ein Phantaſt oder ein Heuchler. Was er auch ſeyn mag, ich will es ausfuͤndig machen. ‒ ‒ ‒ ‒ Gut! Das iſt ein vortreflicher Einfall! Jch will ihn auf eine Pro - be ſtellen, wo er unterliegen muß, wenn er ein Schwaͤr - mer, und wo er die Maske ablegen wird, wenn er ein Comoͤdiant iſt. Er hat gegen Cyane ausgehalten, diß hat ihn ſtolz und ſicher gemacht. Aber das beweißt noch nichts. Wir wollen ihn auf eine ſtaͤrkere Probeſezen;135Viertes Buch, zweytes Capitel. ſezen; wenn er in dieſer den Sieg erhaͤlt, ſo muß er ‒ ‒ ja, ſo will ich meine Nymphen entlaſſen, mein Haus den Prieftern der Cybele vermachen, und an den Gan - ges ziehen, und in der Hoͤle eines alten Palmbaums, mit geſchloßnen Augen und den Kopf zwiſchen den Knien, ſo lange in der nehmlichen Poſtur ſizen bleiben, biß ich, allen meinen Sinnen zu troz, mir einbilde, daß ich nicht mehr bin! ‒ ‒ Diß war ein hartes Ge - luͤbde; auch hielt ſich Hippias ſehr uͤberzeugt, daß es ſo weit nicht kommen wuͤrde, und damit er keine Zeit verſaͤumen moͤchte; ſo machte er noch an dem - ſelbigen Tag Anſtalt, ſeinen Anſchlag auszufuͤhren.
Die Damen zu Smyrna hatten damals eine Gewohn - heit, welche ihrer Schoͤnheit mehr Ehre machte als ihrer Sittſamkeit. Sie pflegten ſich in den warmen Monaten gemeiniglich alle Nachmittage eines kuͤhlenden Bades zu bedienen, und, um keine lange Weile zu ha - ben, nahmen ſie um dieſe Zeit die Beſuche derjenigen Mannsperſonen an, die das Recht eines freyen Zu - tritts in ihren Haͤuſern hatten. Dieſe Gewohnheit war in Smyrna eben ſo unſchuldig als es der Gebrauch bey unſern weſtlichen Nachbarinnen iſt, Mannsperſonen bey der Toilette um ſich zu haben; auch kam dieſe Frey -J 4heit136Agathon. heit nur den Freunden zu ſtatten, und, den beſondern Fall ausgenommen, wenn die hartnaͤkige Bloͤdigkeit ei - nes noch unerfahrnen Neulings einiger Aufmunterung noͤthig hatte, waren die Liebhaber gaͤnzlich davon aus - geſchloſſen. Unter einer groſſen Anzahl von Schoͤnen, bey denen der weiſe Hippias dieſes Vorrecht genoß, war auch eine, die unter dem Namen Danae den erſten Rang in derjenigen Claſſe von Frauenzimmern ein - nahm, die man bey den Griechen Freundinnen, oder noch eigentlicher Geſellſchafterinnen zu nennen pflegte. Dieſe Gattung von Damen war damals unter ihrem Geſchlecht, was die Sophiſten unter dem maͤnnlichen; ſie ſtunden in keiner geringern Achtung, und konnten ſich ruͤhmen, daß die vollkommenſten Modelle aller Vor - zuͤge ihres Geſchlechts, wenn man die ſtrenge Tugend ansnimmt, die Aſpaſten, die Leontium und die Phry - nen ſich kein Bedenken machten von ihrem Orden zu ſeyn. Was die Danae betrift, ſo machten die Manns - perſonen zu Smyrna kein Geheimniß daraus, daß ſie, ihrem Urtheil nach, an Schoͤnheit und Artigkeit alle andre Frauenzimmer, galante und ſproͤde, tugendhafte und andaͤchtige, uͤbertreffe. Es iſt wahr, die Geſchich - te meldet nicht, daß die Damen ſich ſehr beeyfert haͤt - ten, das Urtheil der Mannsperſonen durch ihren oͤf - fentlichen Beytritt zu beſtaͤtigen; allein ſoviel iſt gewiß, daß keine unter ihnen war, die ſich ſelbſt nicht geſtan - den haͤtte, daß, eine einzige Perſon ausgenommen, die ſie niemals oͤffentlich nennen wollten, die ſchoͤne Danae alle uͤbrigen eben ſo weit uͤbertreffe, als ſie von dieſer einzi -gen137Viertes Buch, zweytes Capitel. gen Ungenannten uͤbertroffen werde. Jn der That war ihr Ruhm von dieſer Seite ſo feſtgeſezt, daß man das Geruͤcht nicht unwahrſcheinlich fand, welches ver - ſicherte, daß ſie in ihrer erſten Jugend den beruͤhmte - ſten Mahlern zum Modell gedient habe; und daß ſie bey einer ſolchen Gelegenheit den Nahmen erhalten, un - ter welchem ſie in Jonien beruͤhmt war. Jzo hatte ſie zwar das dreißigſte Jahr ſchon zuruͤkgelegt, allein ihre Schoͤnheit hatte dadurch mehr gewonnen als verloh - ren; und der blendende Jugendglanz, der mit dem May des Lebens zu verſchwinden pflegt, wurde durch tauſend andre Reizungen erſezt, welche ihr, nach dem Urtheil der Kenner, eine gewiſſe Anziehungskraft ga - ben, die man, ohne ſich eines ſchwuͤlſtigen Ausdruks ſchuldig zu machen, in gewiſſen Umſtaͤnden fuͤr unwi - derſtehlich halten konnte. Dem ungeachtet ſcheute ſich, unter der Aegide der Gleichguͤltigkeit, worinn ihn damals ordentlicher Weiſe auch die ſchoͤnſten Figuren zulaſſen pflegten, der weiſe Hippias nicht, ſeine Tugend oͤfters dieſer Gefahr auszuſezen. Er war der ſchoͤnen Danae unter dem Titel eines Freundes vorzuͤglich ange - nehm, und die geheime Geſchichte ſagt ſo gar, daß ſie ihn ehmals nicht unwuͤrdig gefunden, ihm eine Zeitlang eine noch intereſſantere Stelle, bey ihrer Perſon anzu - vertrauen; eine Stelle die nur von den liebenswuͤr - digſten ſeines Geſchlechts bekleidet zu werden pflegte. Dieſe Dame war es, deren Beyhuͤlfe Hippias ſich zu Ausfuͤhrung ſeines Anſchlags wider den Agathon bedie - nen wollte, deſſen ſchwaͤrmeriſche Tugend, ſeinen Ge -J 5danken138Agathon. danken nach, eine Beſchimpfung ſeiner Grundſaͤze war, die er viel weniger leiden konnte, als die allerſcharf - ſinnigſte Widerlegung in forma. Er begab ſich alſo zu der gewoͤhnlichen Stunde zu ihr, und war kaum in den Saal getreten, wo ſie ſich befand, und in den Be - duͤrfniſſen des Bades, von zween jungen Knaben, wel - che eher ein paar Liebesgoͤtter zu ſeyn ſchienen, be - dient wurde; als ſie ſchon in ſeinem Geſicht etwas be - merkte, das mit ſeiner gewoͤhnlichen Heiterkeit einen Ab - ſaz machte. Was haſt du, Hippias, ſagte ſie zu ihm, daß du eine ſo tiefſinnige Mine mitbringt? Jch weiß nicht, antwortete er, warum ich tiefſinnig ausſehen ſollte, wenn ich eine Dame im Bade beſuche; aber das weiß ich, daß ich dich noch nie ſo ſchoͤn geſehen habe, als die - ſen Augenblik. Gut, ſagte ſie, das beweißt, daß ich recht gerathen habe. Jch bin gewiß, daß ich heute nicht beſſer ausſehe als das leztemal, da du mich ſaheſt; aber deine Phantaſie iſt hoͤher geſtimmt als gewoͤhnlich, und du ſchreibſt den Einfluß, den ſie auf deine Augen hat, großmuͤthig auf die Rechnung des Gegenſtands, den du vor dir haſt; ich wollte wetten, daß die haͤßlichſte meiner Kammermaͤdchen, dir in dieſem Augenblik eine Grazie ſcheinen wuͤrde. Jch habe, verſezte Hippias, keine Anſpruͤche an eine lebhaftere Einbildungskraft zu ma - chen als Zeuxes und Aglaophon, welche ſich nichts voll - kommners zu erſinden getrauten als Danae. Welche ſchoͤne Gelegenheit zu einer neuen Verwandlung, wenn ich Jupiter waͤre! ‒ ‒ „ Und was fuͤr eine Geſtalt woll - teſt du annehmen, um zu gleicher Zeit meine Sproͤdig -keit139Viertes Buch, zweytes Capitel. keit und deine liebe Gemalin zu hintergehen? Denn ich glaube kaum, daß unter allen gefluͤgelten, vierfuͤßigen und kriechenden Thieren eines iſt, das nicht ſchon einem Unſterblichen haͤtte dienen muͤſſen, irgend ein ehrliches Maͤdchen zu beſchleichen. Jch wuͤrde mich nicht lange beſinnen, ſagte Hippias; was fuͤr eine Geſtalt koͤnnte ich annehmen, die dir angenehmer und mir zu meiner Abſicht bequemer waͤre, als dieſes Sperlings, der dei - ne Liebhaber ſo oft zu einer gerechten Eiferſucht reizt; der, durch die zaͤrtlichſten Namen anfgemuntert, mit ſolcher Freyheit um deinen Naken flattert, oder mit muthwilli - gem Schnabel den ſchoͤnſten Buſen nekt, und die Liebko - ſungen allezeit doppelt wieder empfaͤngt, die er dir ge - macht hat. Es iſt dir leichter wie es ſcheint, verſezte Danae, einen Sperling an deine Stelle, als dich an die Stelle eines Sperlings zu ſezen; bald koͤnnteſt du mir die Schmeicheleyen meines kleinen Lieblings ver - daͤchtig machen. Aber genug von den Wundern, die du meiner Schoͤnheit zutraueſt; wir wollen von was anderm reden. Weiſſeſt du, daß ich meinem Liebhaber den Abſchied gegeben habe? „ Dem ſchoͤnen Hiacin - thus? „ Jhm ſelbſt, und was noch mehr iſt, mit dem feſten Entſchluß, ſeine Stelle nimmer zu erſezen. „ Das iſt eine tragiſche Entſchlieſſung, ſchoͤne Danae „ Nicht ſo ſehr als du denkeſt. Jch verſichre dich, Hip - pias, meine Gedult reicht nicht mehr zu, alle Thorhei - ten dieſer abgeſchmakten Geken auszuſtehen, welche die Sprache der Empfindung reden wollen und nichts fuͤh - len; deren Herz nicht ſo viel als mit einer Nadelrizever -140Agathon. verwundet iſt, ob ſie gleich von Martern und von Flammen reden; die unfaͤhig ſind etwas anders zu lie - ben als ſich, und denen meine Augen nur zum Spiegel dienen ſollen, um darinn den Werth ihrer kleinen un - verſchaͤmten Figur zu bewundern. Kaum glauben ſie ein Recht an unſre Guͤtigkeit zu haben, ſo bilden ſie ſich ein, daß ſie uns viel Ehre erweiſen, wenn ſie un - ſere Liebkoſungen mit einer zerſtreuten Mine dulden. Ein jeder Blik, den ſie auf mich werfen, ſagt mir, daß ich ihnen nur zum Spielzeug diene; und die Helfte meiner Reizungen geht an ihnen vorlohren, weil ſie keine Seele haben, um die Schoͤnheiten einer Seele zu emfinden. Dein Unwille iſt gerecht, verſezte der So - phiſt; es iſt verdrieslich, daß man dieſen Mannsleuten nicht begreiflich machen kann, daß die Seele das lie - benswuͤrdigſte an einem ſchoͤnen Frauenzimmer iſt. Aber beruhige dich; nicht alle Maͤnner denken ſo un - edel, und ich kenne einen, der dir gefallen wuͤrde, wenn du, zur Abwechslung, einmal Luſt haͤtteſt, es mit einem geiſtigen Liebhaber zu verſuchen. „ Und wer kann das ſeyn, wenn man fragen darf? „ Es iſt ein Juͤng - ling, gegen den deine Hyacinthe nur Meerkazengeſich - ter ſind, ſchoͤner als Adonis. ‒ ‒ „ Fi, Hippias, das iſt als wie wenn du ſagteſt, ſuͤſſer als Honigſeim. Du begreifſt nicht, wie ſehr mir vor dieſen ſchoͤnen Herren ekelt. „ O! das hat nichts zu bedeuten; ich ſtehe dir fuͤr dieſen. Er hat keinen von den Fehlern der ſchoͤ - nen Narciſſen, die dir ſo aͤrgerlich ſind. Kaum ſcheint er es zu wiſſen, daß er einen Leib hat. Das iſt einMenſch141Viertes Buch, zweytes Capitel. Menſch wie man nicht viele ſieht, ſchoͤn wie Apollo, aber geiſtig wie ein Zephyr; ein Menſch, der lauter Seele iſt, der dich, wie du hier biſt, fuͤr eine bloſſe Seele anſehen wuͤrde, und der alles auf eine geiſtige Art thut, was wir andere koͤrperlich thun. Du ver - ſtehſt mich ja, ſchoͤne Danae? „ Nicht allzuwol; aber deine Beſchreibung gefaͤllt mir nichts deſto minder. Du ſprichſt doch im Ernſt? „ Jn ganzem Ernſt: Wenn du Luſt haſt die metaphyſiſche Liebe zu koſten, ſo habe ich deinen Mann gefunden. Er iſt platoniſcher als Plato ſelbſt ‒ ‒ denn ich denke, du koͤnnteſt uns ge - heime Nachrichten von dieſem beruͤhmten Weiſen geben. „ Jch erinnere mich, antwortete Danae laͤchelnd, daß er einmal mit einer meiner Freundinnen eine kleine Zerſtreuung gehabt hat, die du ihm nicht uͤbel nehmen mußt. Wo iſt ein Geiſt, dem ein huͤbſches Maͤdchen von achtzehn Jahren nicht einen Koͤrper geben koͤnnte? „ Du kenneſt meinen Mann noch nicht, erwiederte Hip - pias; die Goͤttin von Paphos, ja du ſelbſt wuͤrdeſt es bey ihm ſo weit nicht bringen. Dn kanſt ihn Tag und Nacht um dich haben. Du kanſt ihn auf alle Proben ſtellen, du kanſt ihn ‒ ‒ bey dir ſchlafen laſſen, Danae, ohne daß er dir Gelegenheit geben wird, nur die mindeſte kleine Ausrufung anzubringen; kurz, bey ihm kann deine Tugend ganz ruhig einſchlummern, oh - ne jemals in Gefahr zu kommen, aufgewekt zu werden. „ Ach! nun verſtehe ich dich; es verlohnte ſich der Muͤhe nicht, den Scherz ſo weit zu treiben. Jch verlange kei - nen Liebhaber der ſich nur darum an meine Seele haͤlt,weil142Agathon. weil ihm das uͤbrige zu nichts nuͤze iſt. „ Auch iſt der - jenige, den ich dir anpreiſe, weit entfernt in dieſe Claſſe zu gehoͤren; mache dir daruͤber keinen Kummer. Was du fuͤr die Folge einer phyſiſchen Nothwendigkeit haͤltſt, iſt bey ihm die Wuͤrkung der Tugend, und der erhab - nen Philoſophie, von der er Profeßion macht. „ Du machſt mich ſehr neugierig ihn zu ſehen; aber weiſt du, Hippias, daß meine Eitelkeit nicht zu frieden waͤre, auf eine ſo kaltſinnige Art geliebt zu ſeyn. Es iſt wahr, ich bin dieſer mechaniſchen Liebhaber von Herzen uͤber - druͤßig; aber ich wuͤrde mit einem andern eben ſo uͤbel zu frieden ſeyn, der gegen dasjenige ganz unempfind - lich waͤre, wofuͤr jene allein empfindlich ſind. Ein Frauenzimmer findet allezeit ein Vergnuͤgen darinn, Begierden einzufloͤſſen, auch wann ſie nicht im Sinn hat, ſie zu vergnuͤgen. Die Sproͤden ſelbſt ſind von dieſer Schwachheit nicht ausgenommen. Wozu haben wir noͤthig, daß uns ein Liebhaber ſagt, daß wir reizend ſind? Wir wollen es aus den Wuͤrkungen ſehen, die wir auf ihn machen. Je weiſer er iſt, deſto ſchmei - chelnder iſt es fuͤr unſre Eitelkeit, wenn wir ihn aus ſeiner Faſſung ſezen koͤnnen. Nein, du begreifſt nicht, wie ſehr das Vergnuͤgen, das uns der Anblik aller der Thorheiten macht, wozu wir dieſe Herren der Schoͤp - fung bringen koͤnnen, alle andre uͤbertrift, die ſie uns zu machen faͤhig ſind. Ein Philoſoph, der zu meinen Fuͤſſen wie eine Turteldaube girret, der mir zu Gefallen ſeine Haare und ſeinen Bart kraͤuſeln laͤßt, der ſowol riecht wie ein arabiſcher Salbenhaͤndler, der mir denHof143Viertes Buch, zweytes Capitel. Hof zu machen, mit meinem Schooßhund ſchwazt und Oden auf meinen Sperling macht ‒ ‒ ah! Hippias man muß ein Frauenzimmer ſeyn, um zu begreifen, was das fuͤr ein Vergnuͤgen iſt! ‒ ‒ Jch bedaure dich; erwiederte der ſchalkhafte Sophiſt, daß du dieſem Ver - gnuͤgen bey dem Liebhaber, von dem ich rede, entſa - gen mußt. Er hat ſeine Proben ſchon gemacht. Er iſt zaͤrtlich wie ein junger Seufzer, aber, wie geſagt, er iſt es nur fuͤr die Seele der Schoͤnen; alles uͤbrige macht keinen groͤſſern Eindruk auf ihn, als ein Gemaͤhl - de, oder eine Bildſaͤule. Das wollen wir ſehen, ver - ſezte Danae; ich verlange ſchlechterdings, daß du ihn dieſen Abend zu mir bringeſt; du wirſt nur eine kleine Geſellſchaft finden, die uns nicht hindern ſoll. Aber wer iſt denn dieſer Ungenannte, von dem wir ſchon ſo lange ſchwazen? „ Es iſt ein Sclave, den ich vor etlichen Wochen von einem Cilicier gekauft habe, aber ein Sclave, wie man ſonſt nirgends ſieht. Er iſt zu Delphi im Tempel des Apollo erzogen worden, und, ſo viel ich vermuthe, wird er ſein Daſeyn der antiplato - niſchen Liebe dieſes Gottes zu irgend einer artigen Schaͤferin zu danken haben, die ſich zu weit in ſeinen Lorbeerhayn gewagt haben mag. Er iſt hernach eine geraume Zeit zu Athen geweſen, und die ſchoͤnen Reden des Plato haben die romanhafte Erziehung vollendet, die er in den geheiligten Haynen zu Delphi erhalten. Er gerieth durch einen Zufall in die Haͤnde Ciliciſcher See - raͤuber, und aus dieſen in die meinige. Er nannte ſich Pythokles; aber weil ich dieſe Art von Namen nichtleiden144Agathon. leiden kann, ſo hieß ich ihn Callias, und er verdient ſo zu heiſſen, denu er iſt der ſchoͤnſte Menſch, den ich jemals geſehen habe. Seine uͤbrigen Gaben beſtaͤtigen die gute Meynung, die ſein Anblik von ihm erwekt. Er hat Verſtand, Geſchmak, und Wiſſenſchaft; er iſt ein Liebhaber und ein Guͤnſtling der Muſen; aber mit allen dieſen Vorzuͤgen iſt er doch nichts weiter als ein wun - derlicher Kopf, ein Schwaͤrmer und ein unbrauchbarer Menſch. Er nennt ſeinen Eigenſinn Tugend, weil er ſich ein - bildet, die Tugend muͤſſe die Antipode der Natur ſeyn; er haͤlt die Ausſchweifungen ſeiner Phantaſie fuͤr Vernunft, weil er ſie in einen gewiſſen Zuſammenhang gebracht hat; uud ſich ſelbſt fuͤr weiſe, weil er auf eine methodiſche Art raſet. Er gefiel mir beym erſten Anblik, ich faßte den Entſchluß, etwas ans dieſem jungen Menſchen zu ma - chen; aber alle meine Muͤhe war umſonſt; und wenn es moͤglich iſt, daß er durch jemand zu recht gebracht werden kann, ſo muß es durch ein Frauenzimmer ge - ſchehen; denn ich glaube bemerkt zu haben, daß man nur durch ſein Herz in ſeinen Kopf kommen kann. Die Unternehmung waͤre deiner wuͤrdig, ſchoͤne Danae, und wenn ſie dir nicht gelingt, ſo iſt er unverbeſſerlich, und verdient nichts, als daß man ihn ſeiner Thorheit und ſeinem Schikſal uͤberlaſſe.
Du haſt meinen ganzen Ehrgeiz rege gemacht, Hip - pias, verſezte die ſchoͤne Danae; bringe ihn dieſen Abend mit; ich will ihn ſehen, und wenn er aus eben denſelben Elementen zuſammengeſezt iſt, wie andre Erden -Soͤhne145Viertes Buch, drittes Capitel. Soͤhne, ſo wollen wir eine Probe machen, ob Danae ihrer Lehrmeiſterin wuͤrdig iſt.
Hippias war ſehr erfreut, den Zwek ſeines Beſuchs ſo gluͤklich erreicht zu haben, und verſprach beym Abſchied, zur beſtimmten Zeit dieſen wunderbaren Juͤng - ling aufzufuͤhren, an welchem die ſchoͤne Danae ſo begie - rig war, die Macht ihrer Reizungen zu verſuchen.
Die Dame, mit welcher unſre Leſer im vorigen Ca - pitel Bekanntſchaft gemacht, hat vermuthlich einem gu - ten Theil derſelben nicht ſo uͤbel gefallen, daß ſie nicht eine naͤhere Nachricht von dem Character und der Ge - ſchichte derſelben erwarten ſollten; und wir ſind deſto geneigter, ihrem Verlangen ein Genuͤge zu thun, je noͤthiger der Verfolg unſrer Geſchichten zu machen ſcheint, daß der Leſer in den Stand geſezt werde, der ſchoͤnen Danae Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen.
Die allgemeine Meynung zu Smyrna war, daß ſie eine Tochter der beruͤhmten Aſpafia von Milet ſey, die, nachdem ſie in ihrer Vaterſtadt die Kunſt der Galanterie, wovon ſie Profeßion machte, durch die Verbindung derſel - ben mit der Philoſophie und den Kuͤnſten der Muſen, zu ie - nem Grade der Vollkommenheit erhoben hatte, der ſie zur[Agath. I. Th.] Kwahren146Agathon. wahren Erfinderin derſelben zu machen ſchien, nach Athen gezogen war, wo ſie ſich ihrer ſeltnen Vorzuͤge auf eine ſo kluge Art zu bedienen gewußt, daß ſie ſich endlich zur unumſchraͤnkten Beherrſcherinn des groſſen Perikles, der das ganze Griechenland beherrſchte, oder wie die comi - ſchen Dichter ihrer Zeit ſich ausdruͤkten, zur Juno dieſes athenienſiſchen Jupiters erhoben hatte. Allein die Ver - muthungen, worauf ſich dieſe Meynung von der Abkunft der Danae gruͤndeten, koͤnnen nicht fuͤr hinlaͤnglich an - geſehen werden, das Zeugniß verſchiedner Geſchichtſchrei - ber zu uͤberwaͤgen, welche verſichern, daß ſie aus der Jn - ſel Scios gebuͤrtig geweſen, und nach dem Tod ihrer El - tern, in ihrem vierzehnten Jahr mit einem Bruder nach Athen gekommen, um in dieſer Stadt, worinn alle an - genehmen Talente willkommen waren, durch die ihrigen ihren Unterhalt zu gewinnen. Die Kunſt, welche ſie hier trieb, war eine Art von pantomimiſchen Taͤnzen, wozu gemeiniglich nur eine oder zwo Perſonen erfordert wur - den, und worinn die tanzende Perſon, nach der Mo - dulation einer Floͤte oder Leyer, gewiſſe Stuͤke aus der Goͤtter und Heldengeſchichte der Griechen, durch Ge - behrden und Bewegungen vorſtellte. Allein, da dieſe Kunſt wegen der Menge derer die ſie trieben, nicht zureichte ſie zu unterhalten, ſo ſahe ſich die junge Danae genoͤthiget, den Kuͤnſtlern zu Athen die Dienſte eines Models zu thun; und erhielt dadurch auſſer dem Nuzen, den ſie davon zog, die ſchmeichelnde Ehre, bald als Dana, bald als Venus auf die Altaͤre geſtellt, die Bewunderung der Kenner und die Anbetung des Poͤbels zu erhalten. Bey147Viertes Buch, drittes Capitel. Bey einer ſolchen Gelegenheit trug es ſich zu, daß ſie von dem jungen Alcibiades uͤberraſchet, und in der Stellung der Danae des Acriſius, welche ſie eben vor - ſtellte, allzureizend befunden wurde, als daß einem ge - ringern als Alcibiades auch nur der Anblik ſo vieler Schoͤnheiten erlaubt ſeyn ſollte. Auf der andern Seite wurde die junge Danae von der Figur, den Manie - ren, dem Stand und den Reichtuͤmern dieſes liebens - wuͤrdigen Verfuͤhrers ſo ſehr eingenommen, daß er kei - ne groſſe Muͤhe hatte, ſie zu bereden ſich in ſeinen Schuz zu begeben. Er brachte ſie alſo in das Haus der Aſpaſia, welches zn gleicher Zeit eine Academie der ſchoͤnſten Geiſter von Athen, und eine Frauenzim - mer-Schule war, worinn junge Maͤdchen von den vorzuͤglichſten Gaben, unter der Aufſicht einer ſo voll - kommen Meiſterin, eine Erziehung erhielten, welche ſie zu der Beſtimmung geſchikt machen ſollte, die Groſſen und die Weiſen der Republik in ihren Ruheſtunden zu ergoͤzen. Danae machte ſich dieſe Gelegenheit ſowol zu Nuze, daß ſie die Gunſt, und endlich ſelbſt die Ver - traulichkeit der Aſpaſia erhielt, welche, weit uͤber die Niedertraͤchtigkeit gemeiner Seelen erhaben, ſich mit ſo vielem Vergnuͤgen in dieſer jungen Perſon wieder her - vorgebracht ſah, daß ſie dadurch zu der Vermuthung An - laß gab, deren wir bereits Erwaͤhnung gethan haben. Jn - zwiſchen genoß Alcibiades allein der Fruͤchte einer Er - ziehung, wodurch die natuͤrlichen Gaben ſeiner jun - gen Freundin zu einer Vollkommenheit entwikelt wur - den, die ihr den Nahmen der zweyten Aſpaſia erwarb;K 2und148Agathon,und die ſchoͤne Danae legte ſich ſelbſt die Pflicht auf, eine Treue gegen ihn zu beobachten, die er nicht zu erwiedern noͤthig fand. Da die Liebe zur Veraͤn - derung eine ſtaͤrkere Leidenſchaft bey ihm war, als die Liebe die ihm irgend ein Frauenzimmer einfloͤſſen konnte, ſo mußte auch Danae, nachdem ſie ſich eine geraume Zeit in dem erſten Plaz bey ihm erhalten hat - te, einer andern weichen, die keinen Vorzug vor ihr hatte, als daß ſie ihm neu war. So ſchwach Danae von einer gewiſſen Seite ſeyn mochte, ſo edel war ihr Herz in andern Stuͤken. Sie liebte den Alcibiades, weil ſie von ſeiner Perſon und von ſeinen Eigenſchaften bezaubert war, und dachte wenig daran, von ſeinen Reichthuͤmern Vortheil zu ziehen. Sie wuͤrde alſo nichts von ihm uͤbrig behalten haben, als das Anden - ken von dem liebenswuͤrdigſten Mann ihrer Zeit geliebt worden zu ſeyn; wenn er nicht eben ſo ſtolz und frey - gebig geweſen waͤre, als ſie, wider die Gewohnheit ih - rer Geſpielen, uneigennuͤzig war. Jch verlaſſe dich Danae, ſagte er zu ihr, allein ich werde nicht zugeben, daß diejenige, die einſt dem Alcibiades zugehoͤrte, je - mals genoͤthiget ſeyn ſoll, dem Reichſten zu uͤberlaſſen, was nur dem Liebenswuͤrdigſten gehoͤrt. Mit dieſen Worten drang er ihr eine Summe auf, die mehr als zulaͤnglich war, ſie von dieſer Seite auſſer aller Gefahr zu ſezen. Der Tod der Aſpaſia und die Veraͤn - derungen, die er nach ſich zog, bewogen ſie, wenige Jahre darauf Athen zu verlaſſen, und nach etlichen Begebenheiten, an denen ihr Herz keinen geringen An -theil149Viertes Buch, drittes Capitel. theil hatte, Smyrna zu ihrem beſtaͤndigen Siz zu er - waͤhlen. Hier hatte ſie Gelegenheit dem juͤngern Cyrus bekannt zu werden, deſſen liebenswuͤrdige Eigenſchaften durch die Feder des Xenophon eben ſo bekannt worden ſind, als der ungluͤkliche Ausgang der Unternehmung, wodurch er ſich auf den Thron des erſten Cyrus zu ſchwingen hofte. Jhr erſter Anblik unterwarf ihr das Herz dieſes Prinzen, der ſo empfindlich gegen diejenige Art von Reizungen war, wodurch ſich die Schuͤlerin - nen der Aſpaſia von den lebenden Statuen unterſchie - den, die in den Morgenlaͤndern zum Vergnuͤgen der Groſſen beſtimmt werden, und in der That zu dem ein - zigen Gebrauch den dieſe von ihnen zu machen wiſſen, wenig Seele noͤthig haben. Allein ſo ſchmeichelhaft dieſe Eroberung fuͤr ſie war, ſo konnte ſie doch nichts bewegen, ihn nach Sardes zu begleiten, und ihre Frey - heit der Ehre aufzuopfern, die erſte ſeiner Sclavinnen zu ſeyn. Sie blieb alſo in Smyrna zuruͤk, wo ſie durch die großmuͤthige Freygebigkeit des Cyrus, der ſich hierinn von keinem Athenienſer uͤbertreffen laſſen wollte, in den Stand geſezt war, ihre einzige Sorge ſeyn zu laſſen, wie ſie auf die angenehmſte Art leben wollte. Sie bediente ſich dieſes Gluͤks, wie es der Na - me der zwoten Aſpaſia erfoderte. Jhre Wohnung ſchien ein Tempel der Muſen und Grazien zu ſeyn, und wenn Amor von einer ſo reizenden Geſellſchaft nicht ausgeſchloſſen war, ſo war es jener Amor, den die Muſen beym Anacreon mit Blumenkraͤnzen binden, und der ſich in dieſer Gefangenſchaft ſo wol gefaͤllt, daßK 3Venus150Agathon. Venus ihn vergeblich bereden will, ſich in ſeine vorige Freyheit ſezen zu laſſen. Die Spiele, die Scherze und die Freuden, (wenn es uns erlaubt iſt, die Sprache Homers zu gebrauchen, wo die gewoͤhnliche zu matt ſcheint), ſchloſſen mit den laͤchelnden Stunden einen unaufloͤßlichen Reyhentanz um ſie her, und Schwehr - muth, Ueberdruß, und Langeweile waren mit allen andern Feinden der Ruhe und des Vergnuͤgens aus dieſem Wohnplaz der Freude verbannt.
Wir haben, daͤucht uns, ſchon mehr als genug geſagt, um unſre Leſer in keine mittelmaͤßige Sorge fuͤr die Tugend unſers Helden zu ſezen. Jn der That hatte er ſich noch niemals in Umſtaͤnden befunden, wo wir weniger hoffen duͤrfen, daß ſie ſich werde erhal - ten koͤnnen; die Gefahr worinn ſie bey der uͤppigen Pythia, unter den raſenden Bachantinnen und in dem Hauſe des weiſen Hippias, welches dem Stalle der Circe ſo aͤhn - lich ſah, geſchwebet hatte, verdient nur nicht neben derjenigen genannt zu werden, welcher wir ihn bald ausgeſezt ſehen werden, und deren wir ihn gerne uͤber - hoben haͤtten, wenn uns die Pflichten eines Geſchich - ſchreibers erlaubten, unſrer freundſchaftlichen Parthey - lichkeit fuͤr ihn, auf Unkoſten der Wahrheit nach - zugeben.
Wenn eine lebhafte Einbildungskraft ihrem Beſizer eine unendliche Menge von Vergnuͤgen gewaͤhrt, die den uͤbrigen Sterblichen verſagt ſind; wenn ihre magi - ſche Wuͤrkung alles Schoͤne in ſeinen Augen verſchoͤ - nert, und ihn da in Entzuͤkung ſezt, wo andre kaum empfinden; wenn ſie in gluͤklichen Stunden, ihm dieſe Welt zu einem Paradieſe macht, und in traurigen ſeine Seele von der Scene ſeines Kummers hinwegzieht, und in andre Welten verſezt, die durch die vergroͤſſernden Schatten einer vollkommnen Wonne ſeinen Schmerz bezaubern: So muͤſſen wir auf der andern Seite ge - ſtehen, daß ſie nicht weniger eine Quelle von Jrrtuͤ - mern, von Ausſchweifungen und von Quaalen fuͤr ihn iſt, wovon er, ſelbſt mit Beyhuͤlfe der Weisheit und mit der feurigſten Liebe zur Tugend, ſich nicht eher loßmachen kann, biß er, auf welche Art es nun ſeyn mag, ſo weit gekommen iſt, die allzugroſſe Leb - haftigkeit derſelben zu maͤßigen. Der weiſe Hippias hatte, die Wahrheit zu geſtehen, unſerm Helden ſehr wenig Unrecht gethan, als er ihm eine Einbildungs - kraft von dieſer Art zuſchrieb; ob wir ihm gleich in Abſicht des Mittels nicht voͤllig beyfallen koͤnnen, wo - durch ſelbige, ſeiner Meynung nach, am beſten in dasK 4gehoͤ -152Agathon. gehoͤrige Gleichgewicht mit den uͤbrigen Kraͤften der Seele geſezt werden koͤnne. Die ſchlaue Danae hatte ſich aus der Beſchreibung des Hippias eine ſolche Vor - ſtellung von dem Agathon gemacht, daß ſie alles gewon - nen zu haben glaubte, wenn ſie nur ſeine Einbildungs - kraft auf ihre Seite gebracht haben wuͤrde. Hippias, dachte ſie, hatte nur darinn gefehlt, daß er ihn durch die Sinnen verfuͤhren wollte. Auf dieſe Vorausſezung machte ſie einen Plan, uͤber den ſie nicht wenig ver - gnuͤgt war; und dachte ſo wenig daran, daß die Aus - fuͤhrung ſie ihr eignes Herz koſten koͤnnte, als Agathon ſich von der Gefahr traͤumen ließ, die dem ſeinigen zu - bereitet wurde. Endlich kam die Stunde, die dem Hippias beſtimmt worden war. Agathon begleitete ſeinen Herrn, ohne zu wiſſen wohin. Sie traten in ei - nen Palaſt, der auf einer doppelten Reyhe von joni - ſchen Saͤulen ruhte, und mit vielen vergoldeten Bild - ſaͤulen ausgezieret war. Das Jnnwendige dieſes Hau - ſes ſtimmte vollkommen mit der Pracht des aͤuſſerlichen Anbliks uͤberein. Allenthalben begegnete ihm das geſchaͤf - tige Gewimmel von unzaͤhlichen Sclaven und Sclavin - nen, wovon die erſtern alle unter zwoͤlf Jahren zu ſeyn ſchienen, und ſo wie die leztern von auſſerordentlicher Schoͤnheit waren. Jhre Kleidung ſtellte dem Aug’ eine angenehme Verbindung der Einfoͤrmigkeit mit der Abwechslung vor; einige waren in weiß, andre in himmelblau, andre in roſenfarb, andre in andre Far - ben gekleidet, und jede Farbe ſchien eine beſondere Claſſe zu bezeichnen, welcher ihre eigne Dienſte angewieſenwaren.153Viertes Buch, viertes Capitel. waren. Agathon, auf den alles lebhaftere Eindruͤke machte, als es noͤthig war, um nach dem Maaßſtaab der Moraliſten genug zu ſeyn, wurde durch alles was er ſah, ſo ſehr bezaubert, daß er ſich in eine von ſeinen idealiſchen Welten verſezt glaubte. Allein eh er Zeit hatte zu ſich ſelbſt zu kommen, fuͤhrte ihn Hippias in einen groſſen und hellerleuchteten Saal, worinn die Geſell - ſchaft verſammelt war, welche ſie vermehren ſollten. Er hatte kaum einen Blik auf ſie geworfen, als die ſchoͤ - ne Danae ihm mit einer Anmuth und Leutſeligkeit die ihr eigen war, entgegen kam, und ihm ſagte, daß ein Freund des Hippias das Recht habe, ſich in ihrem Hauſe und in dieſer Geſellſchaft als einheimiſch anzuſe - hen. Ein ſo verbindliches Compliment verdiente wohl eine Antwort in eben dieſem Ton; allein Agathon war in dieſem Augenblik auſſer Stand, hoͤflich zu ſeyn: Ein Blik, womit man den aͤuſſerſten Grad des angenehmſten Erſtaunens mahlen muͤßte, war alles, was er auf dieſe Anred’ erwiedern konnte. Die Geſellſchaft, die er ver - ſammelt fand, war aus lauter ſolchen Perſonen zuſam - mengeſezt, welche die Vorrechte des vertrauteſten Um - gangs in dieſem Hauſe genoſſen, und die attiſche Ur - banitaͤt, die von der ſproͤden, regelmaͤßigen und ma - nierenreichen Politeſſe der heutigen Europaͤer ſo ſehr verſchieden war, in einem ſo hohen Grad als Danae ſelbſt, beſaſſen. Jn einer Geſellſchaft nach der heutigen Art wuͤrde Agathon, in den erſten Augenbliken, da er ſich darſtellte, zu einer unendlichen Menge von boß - haften und ſpoͤttiſchen Anmerkungen Stoff gegeben ha -K 5ben;154Agathon. ben; allein in dieſer war ein fluͤchtiger Blik alles, was er auszuhalten hatte. Die Unterredung wurde fort - geſezt, niemand ziſchelte dem andern ins Ohr, oder ſchien das Erſtaunen zu bemerken, mit der ſeine Au - gen die ſchoͤne Danae zu verſchlingen ſchienen; kurz, man ließ ihm alle Zeit die er brauchte um wieder zu ſich ſelbſt zu kommen, wofern ſich anders dieſer Ausdruk fuͤr die Verfaſſung ſchikt, in der er ſich dieſen ganzen Abend durch befand. Vielleicht erwartet man, daß wir eine naͤhere Erlaͤuterung uͤber dieſen auſſerordentli - chen Eindruk geben ſollen, welchen Danae auf unſern allzureizbaren Helden machte; allein wir ſehen uns noch auſſer Stand, die Neugierde des Leſers uͤber einen Punct zu befriedigen, wovon Agathon ſelbſt noch nicht faͤhig geweſen waͤre, Rechenſchaft zu geben: Soviel koͤnnen wir inzwiſchen ſagen, daß dieſe Dame dem An - ſchein nach niemals weniger erwarten konnte, eine ſol - che Wuͤrkung zu machen; ſo wenig Muͤhe hatte ſie ſich gegeben, durch einen ſchlauen Puz ihre Reizungen in ein guͤnſtiges Licht zu ſezen. Ein Kleid von weiſſem Taft, mit kleinen Streiffen von Purpur, und eine halberoͤf - nete Roſe in ihrem ſchwarzen Haar, machte ihren gan - zen Staat aus; und von der Durchſichtigkeit, wodurch die Kleidung der Cyane den Augen unſers Helden an - ſtoͤßig geweſen, war die ihrige ſo weit entfernt, daß man mit beſſerm Recht an ihr haͤtte ausſezen koͤnnen, daß ſie zu ſehr verhuͤllt ſey. Es iſt wahr, ſie hatte Sorge getragen, daß ein kleiner niedlicher Fuß, der an Weiſſe den Alabaſter uͤbertraf, dem Auge nicht immerentzo -155Viertes Buch, fuͤnftes Capitel. entzogen wuͤrde; und die ganze Schoͤnheit ihres Geſichts war nicht vermoͤgend, den Agathon aufmerkſam zu er - halten, wenn ſich dieſer reizende Fuß ſehen ließ. Al - lein dieſes, und eine ſchneeweiſſe Hand mit dem Anfang eines vollkommen ſchoͤnen Arms war alles, was das neidiſche Gewand den vorwizigen Bliken nicht verſagte; was es alſo auch ſeyn mochte, was in ſeinem Herzen vorgieng, ſo iſt doch dieſes gewiß, daß an der Perſon und dem Betragen der ſchoͤnen Danae nicht das mindeſte zu entdeken war, das einige beſondere Abſicht auf un - ſern Helden haͤtte anzeigen koͤnnen; und daß ſie, es ſey nun aus Unachtſamkeit oder Beſcheidenheit, nicht ein - mal zu bemerken ſchien, daß Agathon fuͤr ſie allein Au - gen, und uͤber ihrem Anſchauen den Gebrauch aller an - dern Sinnen verlohren hatte.
Nach Endigung der Mahlzeit, bey welcher Agathon beynahe einen bloſſen Zuſchauer abgegeben hatte, trat ein Taͤnzer und eine junge Taͤnzerin herein, die nach der Mo - dulation eben ſo vieler Floͤten die Geſchichte des Apollo und der Daphne tanzten. Die Geſchiklichkeit der Tanzen - den befriedigte alle Zuſchauer; alles an ihnen war Seele und Ausdruk, und man glaubte ſie immer zu hoͤren, ob man ſie gleich nur ſah. Wie gefaͤllt dir dieſe Taͤnze -rin,156Agathon. rin, Callias, fragte Danae den Agathon, welcher nur mittelmaͤßig aufmerkſam auf dieſes Spiel zu ſeyn ſchien, und der einzige war, der nicht beobachtete, daß die Taͤnzerin von ungemeiner Schoͤnheit, und eben ſo wie Cyane, kaum mit etwas mehr als gewebter Luft um - huͤllt war. Mich daͤucht, verſezte Agathon, der izt erſt anfieng ſie aufmerkſamer anzuſehen, mich daͤucht, daß ſie, vielleichk aus allzugroſſer Begierde zu gefallen, den Character verlaͤßt den fie vorſtellen ſoll. Warum ſieht ſie ſich im Fliehen um? Und mit einem Blik, der es ihrem Verfolger zu verweiſen ſcheint, daß er nicht ſchneller iſt als ſie? ‒ ‒ Gut, ſehr gut! (fuhr er fort, wie die Stelle kam, wo Daphne den Flußgott um Huͤlfe anruft,) unverbeſſerlich! Wie ſie mitten in ih - rem Gebet ſich verwandelt! Wie ſie erbleicht! Wie ſie ſchauert! Jhre Fuͤſſe wurzeln mitten in einer ſchrek - haften Bewegung ein; umſonſt will ſie ihre ausgebrei - teten Arme zuruͤkziehen. ‒ ‒ Aber warum dieſer zaͤrlich - bange Blik auf ihren Liebhaber? Warum dieſe Thraͤne, die in ihrem Auge zu erſtarren ſcheint? ‒ ‒ Ein allge - meines Laͤcheln beantwortete die Frage Agathons. Du tadelſt gerade, verſezte zulezt einer von den Gaͤſten, was wir am meiſten bewundern. Eine gewoͤhnliche Taͤnzerin wuͤrde nicht faͤhig geweſen ſeyn, deinen Tadel zu verdienen. Es iſt unmoͤglich mehr Geiſt, mehr Fein - heit und einen ſchoͤnern Contraſt in dieſe Rolle zu bringen, als die kleine Pſyche, (ſo hieß die Taͤnzerin) ge - than hat. Daphne ſelbſt war nicht beſtuͤrzter geweſen, da ſie ſich verwandelt fuͤhlte, als Agathon in dem Au -genblik,157Viertes Buch, fuͤnftes Capitel. genblik, als er den Namen Pſyche hoͤrte; er ſtokte mit - ten in einem Worte, das er ſagen wollte; er erroͤthete, und ſeine Verwirrung war ſo merklich, daß Danae, welche ſie der Beſchaͤmung ſeines Tadels zuſchrieb, fuͤr noͤthig hielt, ihm zu Huͤlfe zu kommen. Der Tadel des Callias, ſagte ſie, beweißt, daß er den Geiſt, wo - mit Pſyche ihre Rolle geſpielt, ſo gut empfunden hat, als Phaͤdrias. Aber vielleicht iſt er darum nicht min - der gegruͤndet. Pſyche ſollte die Perſon der Daphne ge - ſpielt haben, und hat ihre eigene geſpielt; iſt es nicht ſo, Pſyche? Du dachteſt, wie wuͤrde mir’s an Daphnens Stelle geweſen ſeyn? ‒ ‒ Und wie haͤtte ichs anders machen koͤnnen, meine Gebieterin? fragte die kleine Taͤnzerin. „ Du haͤtteſt den Character annehmen ſollen, den ihr die Dichter geben, und haſt dich be - gnuͤgt dich ſelbſt in ihre Umſtaͤnde zu ſezen. „ Was fuͤr ein Character iſt denn das, erwiederte Pſyche. Einer Sproͤden, ſagte der weiſe Hippias; das iſt der lieb - lings-Character des Callias. Abermalige Gelegenheit zum Erroͤthen fuͤr den guten Agathon. Du haſt es nicht errathen, ſagte er; der Character, den Daphne nach meiner Jdee haben ſoll, iſt Gleichguͤltigkeit und Unſchuld; ſie kann beydes haben, ohne eine Sproͤde zu ſeyn. Pſyche verdient alſo deſto mehr Lob, erwiederte Phaͤdrias (fuͤr den ſie, wie die Geſchichte meldet, noch etwas mehr als eine Taͤnzerin war) weil ſie den Cha - racter verſchoͤnert hat, den ſie vorſtellen ſollte. Der Streit zwiſchen Liebe und Ehre erfordert mehr Genie um nachgeahmt zu werden, und iſt fuͤr den Zuſchauerruͤhren -158Agathon. ruͤhrender, als die Gleichguͤltigkeit, die ihr Callias ge - ben will. Und zudem, wo iſt die junge Nymphe, die gegen die Liebe eines ſo ſchoͤnen Gottes wie Apollo iſt, gleichguͤltig ſeyn koͤnnte? Jch bin deiner Meynung, ſagte Hippias. Daphne flieht vor dem Apollo, weil ſie ein junges Maͤdchen iſt; und weil ſie ein junges Maͤdchen iſt, ſo wuͤnſcht ſie heimlich, daß er ſie erha - ſchen moͤge. Warum ſieht ſie ſich ſo oft um, als um ihm zu verweiſen, daß er nicht ſchneller ſey? Wie er ihr ſo nahe iſt, daß ſie nicht mehr entfltehen kann, ſo fleht ſie dem Flußgotte, daß er ſie verwandeln ſoll. Grimaſſe! Warum ſtuͤrzte ſie ſich nicht in den Fluß, wenn es ihr Ernſt war? Sie that was eine Nymphe thun ſoll, da ſie den Flußgott anrief; das war in der Ordnung: Aber wer konnte auch fuͤrchten, ſo ſchnell erhoͤrt zu werden? Und in welchem Augenblik konnte ſie es weniger wuͤnſchen, als in eben dieſem, da ſie ſich von den begierigen Armen ihres Liebhabers ſchon umſchlungen fuͤhlte? Hatte ſie ſich denn aus einem andern Grund auſſer Athem ge - loffen, als damit er ſie deſto gewiſſer erhaſchen moͤchte? Was iſt alſo natuͤrlicher als der Unwille, der Schmerz und die Traurigkeit, womit ſie ſein Betragen erwie - dert, da ſie die Arme, womit ſie ihn ‒ ‒ zuruͤkſtoſſen will, zu Lorbeerzweigen erſtarret fuͤhlt? Selbſt der zaͤrtliche Blik iſt natuͤrlich; die Verſtellung hoͤrt auf, wenn man in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. War nicht dieſes das ganze Spiel der Pſyche? Und kann etwas natuͤrlicher ſeyn? Es iſt der Charactereines159Viertes Buch, fuͤnftes Capitel. jungen Maͤdchens; eines von denen jungen Maͤdchen, verſteht ſichs, mein lieber Callias, wie man ſie in die - ſer materiellen Welt findet. Jch ergebe mich, ver - ſezte Agathon; die Taͤnzerin hat alles gethan, was man von ihr fodern konnte, und ich war laͤcherlich zu er - warten, daß ſie die Jdee ausfuͤhren ſollte, die ich von einer Daphne in meiner Phantaſie habe. Agathon hatte dieſes kaum geſprochen, als Danae, ohne ein Wort zu ſagen, aufſtund, der Taͤnzerin einen Wink gab, und mit ihr verſchwand. Jn einer kleinen Weile kam die Taͤnzerin allein wieder zuruͤk, die Floͤten ſiengen wieder an, und Apollo und Daphne wiederholten ihre Pan - tomime. Aber wie erſtaunte Agathon als er ſah, daß es Danae ſelbſt war, die in der Kleidung der Taͤnzerin die Perſon der Daphne ſpielte! Armer Agathon! All - zureizende Danae! Wer haͤtte es glauben ſollen? Jhr ganzes Spiel druͤkte die eigenſte Jdee des Agathon aus, aber mit einer Anmuth, mit einer Zauberey, wovon ihm ſeine Phantaſie keine Jdee gegeben hatte. Die Empfindungen, von denen ſeine Seele in dieſen Augen - bliken uͤberfallen wurde, waren ſo lebhaft, daß er ſich bemuͤhte, ſeine Augen von dieſem zu ſehr bezaubernden Gegenſtand abzuziehen; aber vergeblich! Eine unwi - derſtehliche Gewalt zog ſie zuruͤk. Wie edel, wie ſchoͤn waren ihre Bewegungen! Mit welch einer ruͤh - renden Einfalt druͤkte ſie den Character der Unſchuld aus! Er ſah noch in ſprachloſer Entzuͤkung nach dem Orte, wo ſie zum Lorbeerbaum erſtarrte, als ſie ſchon wieder verſchwunden war, ohne das Lob und das Haͤn -deklat -160Agathon. deklatſchen der Zuſchauer zu erwarten, welche nicht Worte genug finden konnten, das Vergnuͤgen auszu - druͤken, das ihnen Danae durch dieſe unerwartete Pro - be ihres Talents gemacht hatte. Jn wenigen Minu - ten kam ſie ſchon wieder in ihrer eignen Perſon zuruͤk. Wie ſehr iſt Callias dir verbunden, ſchoͤne Danae, ſagte Phaͤdrias indem ſie hereintrat! Du allein konn - teſt ſeinen Tadel rechtfertigen, nur diejenige konnte es, die liebenswuͤrdig genug iſt, um die Sproͤdigkeit ſelbſt reizend zu machen. Wie ſehr waͤre ein Apollo zu be - dauren, fuͤr den du Daphne waͤreſt! „ Es war gluͤk - lich fuͤr den guten Agathon, daß er, indem dieſes mit einem bedeutenden Blik geſagt wurde, in dem Anſchauen der ſchoͤnen Danae ſo verlohren war, daß er nichts hoͤrte; denn ſonſt wuͤrde ein abermaliges Erroͤthen die Auslegung zu dieſem Text gemacht haben. Das Lob dieſer Dame, und ein Geſpraͤch uͤber die Tanzkunſt fuͤllte den Ueberreſt der Zeit aus, welche dieſe Geſell - ſchaft noch beyeinander zubrachte; ein Geſpraͤch, deſſen Mittheilung uns der Leſer gerne nachlaſſen wird, da wir ſeine Begierde nach angelegenern Materien zu befrie - digen haben. Nur dieſen Umſtand koͤnnen wir nicht vorbeygehen, daß Agathon bey dieſem Anlaß auf einmal ſo beredt wurde, als er vorher tiefſinnig und ſtillſchweigend geweſen war; eine laͤchelnde Heiterkeit ſchimmerte um ſein ganzes Geſicht, und noch niemal hatte ſein Wiz ſich mit ſolcher Lebhaftigkeit hervorge - than. Er erhielt den Beyfall der ganzen Geſellſchaft, und die ſchoͤne Danae ſelbſt konnte ſich nicht enthalten,ihn161Viertes Buch, ſechstes Capitel. ihn von Zeit zu Zeit mit einem Ausdruk von Vergnuͤ - gen und Zufriedenheit anzuſehen; indeſſen daß in ſei - nen nur ſelten von ihr abgewandten Augen etwas glaͤnzte, fuͤr welches wir uns umſonſt bemuͤhet haben, in der Sprache der Menſchen einen Nahmen zu finden.
Wir haben von unſerm Freunde Plutarch gelernt, daß ſehr kleine Begebenheiten oͤfters durch groſſe Fol - gen merkwuͤrdig werden, und ſehr kleine Handlun - gen uns nicht ſelten tiefere Blike in das Jnwendige der Menſchen thun laſſen, als die feyerlichen Handlungen, wozu man, weil ſie dem oͤffentlichen Urtheil ausgeſezt ſind, ſich ordentlicher Weiſe in eine gewiſſe mit ſich ſelbſt abgeredete Verfaſſung zu ſezen pflegt. Die Gruͤnd - lichkeit dieſer Beobachtung hat uns bewogen, in der Geſchichte der Pantomime, welche das vorige Capitel ausfuͤllt, ſo umſtaͤndlich zu ſeyn; und wir hoffen uns deßhalb vollkommen zu rechtfertigen, wenn wir dieſe Erzaͤhlung durch dasjenige ergaͤnzen, was die liebens - wuͤrdige Pſyche betrift, mit welcher der Leſer ſchon im erſten Buche, wiewol nur im Vorbeygehen, bekannt zu werden angefangen hat. Dieſe Pſyche, ſo wie ſie war, hatte bißher unter allen Weſen, welche in die Sinne fallen, (wir ſezen dieſe Einſchraͤnkung nicht ohne[Agath. I. Th.] LUr -162Agathon. Urſach hinzu, ſo ſeltſam ſie auch in anti-platoniſchen Ohren klingen mag) den erſten Plaz in ſeinem Herzen eingenommen, und er hatte, ſeitdem ſie von ihm ent - fernt war, kein Frauenzimmer geſehen, die nicht durch die bloſſe Erinnerung an Pſyche alle Macht uͤber ſein Herz und ſelbſt uͤber ſeine Sinnen verlohren haͤtte; deren Bewegungen, wie man weiß, ſonſt nicht im - mer mit den erſtern ſo parallel lauffen, als gewiſſe Ro - manenſchreiber vorauszuſezen ſcheinen. Die Wahrheit zu geſtehen, ſo war dieſes nicht die Wuͤrkung derje - nigen heroiſchen Treue und Standhaftigkeit in der Liebe, welche in beſagten Romanen zu einer Tugend von der erſten Claſſe gemacht wird; Pſyche erhielt ſich im Be - ſiz ſeines Herzens, weil ihm die Erinnerungen, die er von ihr hatte, angenehmer waren, als die Em - findungen, die ihm irgend eine andre Schoͤne einzufloͤſ - ſen vermocht, oder weil er bißher keine andre geſehen hatte, die ſo ſehr nach ſeinem Herzen geweſen waͤre. Eine Erfahrung von etlichen Jahren beredete ihn, daß es allezeit ſo ſeyn wuͤrde, und daher kam vielleicht die Beſtuͤrzung, wovon er befallen wurde, als der erſte Anblik der ſchoͤnen Danae ihm eine Vollkommenheit dar - ſtellte, die ſeiner Einbildung nach allein jenſeits des Mondes anzutreffen ſeyn ſollte. Er muͤſte nicht Aga - thon geweſen ſeyn, - wenn dieſe Erſcheinung ſich nicht ſeiner ganzen Seele ſo ſehr bemeiſtert haͤtte, wie wir ge - ſehen haben. Niemals, daͤuchte ihn, hatte er in einem ſo hohen Grad und in einer ſo ſeltnen Harmonie alle dieſe feinern Schoͤnheiten, von denen gemeine Seelennicht163Viertes Buch, ſechstes Capitel. nicht geuͤhrt zu werden faͤhig ſind, vereiniget geſehen. Jhre Geſtalt, ihre Blike, ihr Laͤcheln, ihre Gebehrden, ihr Gang, alles hatte dieſe Vollkommenheit, welche die Dichter den Goͤttinnen zuzuſchreiben pflegen. Was Wunder alſo, daß er in den erſten Stunden nichts als anſchauen und bewundern konnte, und daß ſeine entzuͤkte Seele noch keine Zeit hatte auf dasjenige acht zu geben, was in ihr vorgieng. Jn der That waren alle ihre uͤbri - gen Kraͤfte ſo gebunden, daß er wieder ſeine Gewohn - heit in dieſer ganzen Zeit ſich ſeiner Pſyche eben ſo we - nig erinnerte, als ob ſie nie geweſen waͤre. Allein als die junge Taͤnzerin zum Vorſchein kam, welche die Perſon der Daphne ſpielte, ſo ſtellte einige Aehnlich - keit, die ſie wuͤrklich in der Geſichtsbildung und Figur mit Pſyche hatte, ihm auf einmal, wiewohl ohne daß er ſich deſſen deutlich bewußt war, das Bild ſeiner ab - weſenden Geliebten vor die Augen; ſeine Einbildungs - kraft ſezte durch eine gewoͤhnliche mechaniſche Wuͤrkung Pſyche an die Stelle dieſer Daphne, und wenn er ſo vieles an der Taͤnzerin auszuſezen fand, ſo war es im Grunde nur darum, weil die Vergleichung den Be - trug des erſten Anbliks entdekte, oder weil ſie nicht Pſyche war. So gewoͤhnlich dergleichen Spiele der Einbildung ſind, ſo ſelten iſt es, daß man den Einfluß deutlich unterſcheidet, den ſie auf unſre Urtheile oder Neigungen zu haben pflegen. Agathon ſelbſt, der ſich von ſeiner erſten Jugend an eine Beſchaͤftigung daraus gemacht hatte, den geheimen Triebfedern ſeiner innerli - chen Vewegungen nachzuſpuͤren, merkte dennoch nichtL 2eher,164Agathon. eher, was bey dieſem Anlaß in ſeiner Phantaſie vor - gieng, bis der Nahme Pſyche, dieſer Nahme, deſſen bloſſer Ton ſonſt Muſik in ſeinen Ohren geweſen war, ihn erſchuͤtterte, und in eine Verwirrung von Empfin - dungen ſezte, die er ſelbſt zu beſchreiben Muͤhe gehabt hat; wenn wir anders hievon nach der beſondern Dun - kelheit, die in unſrer Urkunde uͤber dieſe Stelle liegt, urtheilen duͤrfen. Was auch die Urſache dieſer Be - ſtuͤrzung geweſen ſeyn mag, ſo iſt gewiß, daß er weit davon entfernt war nur zu argwohnen, der Genius ſeiner erſten Liebe ſtuze vielleicht daruͤber, eine Neben - denbuhlerin in einem Herzen zu finden, welches er von Pſyche allein ausgefuͤllt zu ſehen gewohnt war. Sein Selbſtbetrug, wofern es anders einer war, ſcheint deſto mehr Entſchuldigung zu verdienen, weil dieſer ge - liebte Nahme wuͤrklich ein wenig Augenbliken ſeine ganze Zaͤrtlichkeit rege machte. Er bemerkte nun erſt deutlich die Aehnlichkeiten, welche die beyden Pſychen mit einander hatten; er vergliech ſie mit einem Vorur - theile, welches der Abweſenden ſo guͤnſtig war, daß die Gegenwaͤrtige ihr nur zum Schatten dienen mußte; ja wir wiſſen nicht, ob eine ſo lebhafte Erinnerung nicht endlich der ſchoͤnen Danae ſelbſt Abbruch gethan haͤtte, wenn dieſe, gleich als ob ſie durch eine Art von Di - vination errathen haͤtte was in ſeiner Seele vorgieng, auf den gluͤklichen Einfall gekommen waͤre, ſich an den Plaz der kleinen Taͤnzerin zu ſezen, um die Vorſtellung auszufuͤhren, welche ſich Agathon von einer idealiſchen Daphne gemacht, und deren die Geſchmeidigkeit ihresGei -165Viertes Buch, ſechstes Capitel. Geiſtes ſich ſo ſchnell und ſo gluͤklich zu bemaͤchtigen gewußt hatte. Einen ſchlimmern Streich konnte ſie in der That der einen und der andern Pſyche nicht ſpielen. Beyde wurden von ihrem blendenden Glanze, wie be - nachbarte Sterne von dem vollen Mond, ausgeloͤſcht. Und wie haͤtte ihn auch das Bild ſeiner abweſenden Ge - liebten noch laͤnger beſchaͤftigen koͤnnen, da alle An - ſchauungskraͤfte ſeiner Seele, auf dieſen einzigen bezau - bernden Gegenſtand geheftet, ihm kaum zureichend ſchie - nen, deſſen ganze Vollkommenheit zu empfinden; da er dieſe ſittliche Venus mit allen ihren geiſtigen Gra - zien wuͤrklich vor ſich ſah, zu deren bloſſen Schatten - bild ihn Pſyche zu erheben vermocht hatte?
Wir wiſſen nicht, ob man eben ein Hippias ſeyn muͤſte, um zu glauben, daß gewiſſe Schoͤnheiten von einer nicht ſo unkoͤrperlichen, wiewohl in ihrer Art eben ſo vollkommenen Natur, weit mehr als Agathon ſelbſt gewahr wurde, zu dieſer Verzuͤkung in die idealiſchen Welten beygetragen haben koͤnnten, worinn er waͤh - rend dem pantomimiſchen Tanz der Danae ſich befand. Die Nymphen-maͤßige Kleidung, welche dieſer Tanz erforderte, war nur allzugeſchikt dieſe Reizungen in ihrer ganzen Macht und in dem mannigfaltigſten Lichte zu entwikeln; und wir muͤſſen geſtehen, die Goͤttin der Liebe ſelbſt haͤtte ſich nicht zuverſichtlicher als die unta - denliche Danae dem Auge der ſchaͤrfſten Kenner, ja ſelbſt den Augen einer Nebenbuhlerin, in dieſem Auf - zug uͤberlaſſen duͤrfen. Der Charakter der ungeſchmink -L 3ten166Agathon. ten Unſchuld, welchen ſie ſo unverbeſſerlich nachahm - te, ſchien dadurch einen noch lebhaftern Ausdruk zu er - halten; aber einen ſo lebhaften, daß ein jeder andrer als ein Agathon dabey in Gefahr geweſen waͤre, die ſeinige zu verlieren. Freylich hatten die uͤbrigen Zu - ſchauer Muͤhe genug, ſich zu enthalten, die Rolle des Apollo in ganzem Ernſte zu machen; aber von unſern Helden hatte Danae nichts zu beſorgenz und ſie fand, daß Hippias nicht zuviel von ihm verſprochen hatte. Dieſe materiellen Schoͤnheiten, die er nicht einmal deutlich unterſchied, weil ſie in ſeinen Augen mit den geiſtigen in Eins zuſammengefloſſen waren, mochten den Grad der Lebhaftigkeit ſeiner Empfindungen noch ſo ſehr erhoͤhen, ſo konnten ſie doch die Natur der - ſelben nicht veraͤndern; niemals in ſeinem Leben wa - ren ſie reiner, Begierden-freyer, unkoͤrperlicher ge - weſen. Kurz, ſo widerſinniſch es jenen aus groͤberm Stoff gebildeten Erdenſoͤhnen, welche in dem vollkom - menſten Weibe nur ein Weib ſehen, ſcheinen mag, ſo gewiß war es, daß Danae mit einer Geſtalt und in einem Aufzug, welcher (mit dem weiſen Hippias zu reden) einen Geiſt haͤtte verkoͤrpern moͤgen, dieſen ſeltſamen Juͤngling in einen ſo voͤlligen Geiſt verwan - delte, als man jemals diſſeits und vielleicht auch jen - ſeits des Mondes geſehen hat.
Wir haben ſchon ſo viel von der gegenwaͤrtigen Ge - muͤthsverfaſſung unſers Helden geſagt, daß man ſich nicht verwundern wird, wenn wir hinzuſezen, daß er den uͤbrigen Theil der Nacht in ununterbrochenem Anſchauen dieſer idealen Vollkommenheit zubrachte, die ſeine Ein - bildungskraft mit einer ihr gewoͤhnlichen Kunſt, und ohne daß er den Betrug merkte, an die Stelle der ſchoͤnen Danae geſchoben hatte. Dieſes Anſchauen ſezte ſein Gemuͤth in eine ſo angenehme und ruhige Entzuͤkung, daß er, gleich als ob nun alle ſeine Wuͤnſche befriedi - diget waͤren, nicht das geringſte von der Unruhe, den Begierden, der innerlichen Gaͤhrung, der Abwechslung von Froſt und Hize fuͤhlte, womit die Leidenſchaft, mit der man ihn, nicht ohne Wahrſcheinlichkeit, behaftet glauben konnte, ſich ordentlicher Weiſe anzukuͤndigen pflegt.
L 4Was168Agathon.Was die Danae betrift, welche die Ehre hatte, dieſe erhabene Entzuͤkungen in ihm zu erweken, ſo brachte ſie den Reſt der Nacht wo nicht mit eben ſo erhabenen doch in ihrer Art mit eben ſo angenehmen Betrachtungen zu. Agathon hatte ihr gefallen, ſie war mit dem Eindruk, den ſie auf ihn gemacht, zufrieden; und ſie glaubte, nach den Beobachtungen, die ihr dieſer Abend bereits an die Hand gegeben, daß ſie ſich ſelbſt mit gutem Grunde zutrauen koͤnne, ihn, durch die gehoͤrigen Gradationen, zu einem zweyten und vielleicht ſtandhaftern Alcibiades zu machen. Nichts war ihr hiebey angenehmer als die Beſtaͤtigung des Plans, den ſie ſich uͤber die Art und Weiſe, wie man ſeinem Herzen am leichteſten beykommen koͤnne, ge - macht hatte. Es iſt wahr, daß der Einfall, ſich an die Stelle der Taͤnzerinn zu ſezen, ihr erſt in dem Augen - blik gekommen war, da ſie ihn ausfuͤhrte; allein ſie wuͤrde ihn nicht ausgefuͤhrt haben, wenn ſie nicht die gute Wuͤrkung davon mit einer Art von Gewißheit vorausgeſehen haͤtte. Haͤtte ſie in dem erſten Augen - blik, da ſie ſich ihm darſtellte, in ihren Gebehrden, oder in ihrem Anzug das mindeſte gehabt, das ihm an - ſtoͤßig haͤtte ſeyn koͤnnen, ſo wuͤrde es ihr ſchwer ge - weſen ſeyn, den widrigen Eindruk dieſes erſten Augen - bliks jemals wieder gut zu machen. Agathon mußte in den Fall geſezt werden, ſich ſelbſt zu hintergehen, ohne es gewahr zu werden; und wenn er fuͤr ſubalterne Reizungen empfindlich gemacht werden ſollte, ſo mußte es durch Vermittlung der Einbildungskraft und aufeine169Fuͤnftes Buch, erſtes Capitel. eine ſolche Art geſchehen, daß die geiſtigen und die ma - teriellen Schoͤnheiten ſich in ſeinen Augen vermengten, und daß er in den leztern nichts als den Widerſchein der erſten zu ſehen glaubte. Danae wußte ſehr wohl, daß die intelligible Schoͤnheit keine Leidenſchaft erwekt, und daß die Tugend ſelbſt, wenn ſie (wie Plato ſagt) in ſichtbarer Geſtalt unausſprechliche Liebe einfloͤſſen wuͤrde, dieſe Wuͤrkung mehr der blendenden Weiſſe und dem rei - zenden Contour eines ſchoͤnen Buſens, als der Unſchuld, die aus demſelben hervorſchimmerte, zuzuſchreiben ha - ben wuͤrde. Allein das wußte Agathon noch nicht; er mußte alſo betrogen werden, und, ſo wie ſie es angieng, konnte ſie mit der groͤſten Wahrſcheinlichkeit hoffen, daß es ihr gelingen wuͤrde.
Der weiſe Hippias hatte zuviel Urſache, den Aga - thon bey dieſer Gelegenheit zu beobachten, als daß ihm das geringſte entgangen waͤre, was ihn von dem gluͤk - lichen Fortgang ſeines Anſchlags zu verſichern ſchien. Allein er ſchmeichelte ſich zuviel, wenn er hofte, Callias werde, in dem ecſtatiſchen Zuſtande, worinn er zu ſeyn ſchien, ihn zum Vertrauten ſeiner Empfindungen ma - chen. Das Vorurtheil, welches dieſer wider ihn gefaßt hatte, verſchloß ihm den Mund, ſo gern er auch dem Strome ſeiner Begeiſterung den Lauf gelaſſen haͤtte. Eine Danae war in ſeinen Augen ein ſo vortreflicher Gegen - ſtand, und das was er fuͤr ſie empfand, ſo rein, ſo weit uͤber die brutale Denkungsart eines Hippias erha - ben; daß er durch eine unzeitige Vertraulichkeit gegen dieſen Ungeweyhten beydes zu entheiligen geglaubt haͤtte.
Es giebt ſo verſchiedne Gattungen von Liebe, daß es, wie uns ein Kenner derſelben verſichert hat, nicht un - moͤglich waͤre, drey oder vier Perſonen zu gleicher Zeit zu lieben, ohne daß ſich eine derſelben uͤber Un - treue zu beklagen haͤtte. Agathon hatte in einem Al - ter von ſiebzehn Jahren fuͤr die Prieſterin zu Delphi etwas zu empfinden angefangen, das derjenigen Art von Liebe gleich, die, nach dem Ausdruk des Fieldings, ein wolzubereiteter Roſtbeef einem Menſchen einfloͤßt, der guten Appetit hat. Dieſe Liebe hatte, ehe er ſelbſt noch wußte, was daraus werden koͤnnte, der Zaͤrtlichkeit weichen muͤſſen, welche ihm Pſyche ein - floͤßte. Die Zuneigung, die er zu dieſem liebenswuͤr - digen Geſchoͤpfe trug, war eine Liebe der Sympathie, eine Harmonie der Herzen, eine geheime Verwand - ſchaft der Seelen, die ſich denen, ſo ſie nicht aus Er - fahrung kennen, unmoͤglich beſchreiben laͤßt; eine Liebe an der das Herz und der Geiſt mehr Antheil nimmt als die Sinnen, und die vielleicht die einzige Art von Verbindung iſt, welche, (wofern ſie allgemein ſeyn koͤnnte) den Sterblichen einigen Begriff von den Ver - bindungen und Vergnuͤgen himmliſcher Geiſter zu geben faͤhig waͤre. Wir ſehen voraus, daß unſre mei - ſten Leſer bey dieſer Stelle die Naſe ruͤmpfen, undzweifeln171Fuͤnftes Buch, zweytes Capitel. zweifeln werden, ob wir uns ſelbſt verſtehen; allein wir laſſen uns dieſes gar nicht aufechten. Sancho, wenn er (wie es ihm zuweilen begegnete) eine Menge ſchoͤner Sachen vorgebracht hatte, wovon weder ſein Herr noch irgend ein andrer, oder auch er ſelbſt etwas verſtehen konnte, pflegte ſich damit zu troͤſten, daß er ſagte: Gott verſteht mich; und der Geſchichtſchreiber des Agathons kan es ganz wohl leiden, daß dieſe und aͤhnliche Stellen ſeines Werkes von allen andern Leſern fuͤr Galimathias gehalten werden, da er verſichert iſt, daß *** ihn verſteht — Agathon koͤnnte alſo von dieſer gedoppelten Art von Liebe, wovon eine die An - tipode der andern iſt, aus Erfahrung ſprechen; allein diejenige, worinn jene beyden ſich in einander miſchen, die Liebe, welche die Sinnen, den Geiſt und das Herz zugleich bezaubert, die heftigſte, die reizendſte und gefaͤhrlichſte aller Leidenſchaften, war ihm mit allen ihren Symptomen und Wuͤrkungen noch unbekannt; und es iſt alſo kein Wunder, daß ſie ſich ſchon ſeines ganzen Weſens bemeiſtert hatte, eh es ihm nur einge - fallen war, ihr zu widerſtehen. Es iſt wahr, dasje - nige was in ſeinem Gemuͤthe vorgieng, nachdem er in zween oder drey Tagen die ſchoͤne Danae weder geſehen, noch etwas von ihr gehoͤrt hatte, haͤtte den Zuſtand ſei - nes Herzens einem unbefangnen Zuſchauer verdaͤchtig gemacht; aber er ſelbſt war weit entfernt das geringſte Mißtrauen in die Unſchuld ſeiner Geſinnungen zu ſezen. Was iſt natuͤrlicher, als das Verlangen, das voll - kommenſte und liebenswuͤrdigſte unter allen Weſen,nachdem172Agathon. nachdem man es einmal geſehen hat, immer zu ſehen? Solche Schluͤſſe macht die Leidenſchaft. „ Aber was ſagte denn die Vernunft dazu? „ die Vernunft? O, die ſagte gar nichts. Uebrigens muͤſſen wir doch, es mag nun zur Entſchuldigung unſers Helden dienen oder nicht, den Umſtand nicht aus der Acht laſſen, daß er von der ſchoͤnen Danae nichts anders wußte, als was er geſe - hen hatte. Der Charakter, den ihr die Welt beylegte, war ihm gaͤnzlich unbekannt; er hatte noch keinen An - laß, und, die Wahrheit zu ſagen, auch kein Verlan - gen gehabt, ſich darnach zu erkundigeu.
Jnzwiſchen waren ungefehr acht Tage verfloſſen, welche dem ſtillſchweigenden und melancholiſchen Agathon, zu groſſem Vergnuͤgen des boshaften Sophiſten, achthun - dert Jahre daͤuchten, als dieſer an einem Morgen zu ihm kam, und mit einer gleichguͤltigen Art zu ihm ſagte: Danae hat einen Aufſeher uͤber ihre Gaͤrten und Land - guͤter vonnoͤthen; was ſagſt du zu dem Einfall, den ich habe, dich an dieſen Plaz zu ſezen? Mich daͤucht, du wuͤrdeſt dich nicht uͤbel zu einem ſolchen Amte ſchiken; haſt du nicht Luſt in ihre Dienſte zu tretten? Ein Wort, welches Beſtuͤrzung und uͤbermaͤßige Freude, Mißtranenund173Fuͤnftes Buch, zweytes Capitel. und Hofnung, Erblaſſen und Gluͤhen zu gleicher Zeit ausdruͤkte, wuͤrde uns wohl zuſtatten kommen, die Ver - wirrung auszudruͤken, worein dieſe Anrede den guten Agathon ſezte. Sie war zu groß, als daß er ſogleich haͤtte antworten koͤnnen. Allein die Augen des Hip - pias, in denen er einen Theil der Bosheit laſe, die der Sophiſt zu verbergen ſich bemuͤhte, gaben ihm bald die Sprache wieder. Wenn du Luſt haſt, dich auf dieſe Art von mir loß zu machen, verſezte er mit ſo vieler Faſ - ſung als ihm moͤglich war, ſo hab ich nur eine Be - denklichkeit ‒ ‒ „ Und dieſe iſt? „ ‒ ‒ daß ich mich ſehr ſchlecht auf die Landwirthſchaft verſtehe. Das hat nichts zu bedeuten, antwortete der Sophiſt; du wirſt Leute unter dir haben, die ſich deſto beſſer darauf verſtehen, und das iſt genug. Jm uͤbrigen glaube ich, daß du mit Vergnuͤgen in dieſem Hauſe ſeyn wirſt. Du liebeſt das Landleben, und du wirſt Gelegenheit ha - ben alle ſeine Annehmlichkeiten zu ſchmeken. Wenn du es zufrieden biſt, ſo geh ich, um dieſe Sache in Richtigkeit zu bringen. Du haſt dir das Recht er - kauft, mit mir zu machen was du willt, erwiederte Agathon. Die Wahrheit zu ſagen, fuhr Hippias fort, ungeachtet der kleinen Mißhelligkeiten unſrer Koͤpfe, verliehr ich dich ungern: Allein Dana[ch]ſcheint es zu wuͤnſchen, und ich habe Verbindlichkeiten gegen ſie; ſie hat, ich weiß nicht woher, eine groſſe Meynung von deiner Faͤhigkeit gefaßt, und da ich alle Tage Gele - genheit haben werde, dich in ihrem Hauſe zu ſehen, ſo kamich mirs um ſo eher gefallen laſſen, dich aneine174Agathon. eine Freundin abzutreten, von der ich gewiß bin, daß dir ſo begegnet werden wird, wie du es verdieneſt. Agathon beharrte in dem Ton der Gleichguͤltigkeit, den er angenommen hatte, und Hippias, dem es Muͤhe genug koſtete, die Spoͤttereyen zuruͤkzuhalten, die ihm alle Augenblike auf die Lippen kamen, verließ ihn, ohne ſich merken zu laſſen, daß er wuͤßte, was er von dieſer Gleichguͤltigkeit denken ſollte. Das Betragen Agathons bey dieſem Anlaß wird ihn vielleicht in den Verdacht ſezen, daß er ſich bewußt geweſen ſey, daß es nicht richtig in ſeinem Herzen ſtehe, warum haͤtte er ſonſt noͤthig gehabt ſich zu verbergen? Allein man muß ſich der Vorurtheile erinnern, die er wider den Sophiſten gefaßt hatte, um zu ſehen, daß er vollkom - men in ſeinem Charakter blieb, indem er Empfindun - gen vor ihm zu verbergen ſuchte, die einem ſo unver - beſſerlichen Anti-Platon ganz unverſtaͤndlich oder voll - kommen laͤcherlich geweſen waͤren. Die Freude, wel - cher er ſich uͤberließ, ſo bald er ſich allein ſah, laͤßt uns keinen Zweifel uͤbrig, daß er damals noch nicht das geringſte Mißtrauen in ſein Herz geſezt habe. Dieſe Freude war uͤber allen Ausdruk.
Liebhaber von einer gewiſſen Art koͤnnen ſich eine Vorſtellung davon machen, welche der allerbeſten Be - ſchreibung werth iſt; und den uͤbrigen wuͤrde dieſe Be - ſchreibung ohngefehr ſo viel helfen, als eine Seekarte einem Fußgaͤnger. Die unvergleichliche Danae wieder zu ſehen; nicht nur wieder zu ſehen, in ihrem Hauſezu175Fuͤnftes Buch, viertes Capitel. zu ſeyn, unter ihren Augen zu leben, ihres Umgangs zu genieſſen, vielleicht ‒ ‒ ihrer Freundſchaft gewuͤrdi - get zu werden ‒ ‒ hier hielt ſeine entzuͤkte Einbildungs - kraft ſtille. Die Hofnungen eines gewoͤhnlichen Lieb - habers wuͤrden weiter gegangen ſeyn; allein Agathon war kein gewoͤhnlicher Liebhaber. Jch liebe die ſchoͤne Danae, ſagte Hyacinthus, da er nach ihrem Genuß luͤſtern war; eben darum liebt ihr ſie nicht, wuͤrde ihm die Sokratiſche Diotima geantwortet haben. Der - jenige, der in dem Augenblik, da ihm ſeine Geliebte den erſten Kuß auf ihre Hand geſtattet, einen Wunſch nach einer groͤſſern Gluͤkſeligkeit hat, muß nicht ſagen, daß er liebe.
Danae hatte von der Freygebigkeit des Prinzen Cy - rus, auſſer dem Hauſe, welches ſie zu Smyrna be - wohnte, ein Landgut, in der anmuthigſten Gegend auſſerhalb dieſer Stadt, wo ſie von Zeit zu Zeit einige dem Vergnuͤgen geweyhte Tage zuzubringen pflegte. Hieher mußte ſich Agathon begeben, um von ſeinem neuen Amte Beſiz zu nehmen, und dasjenige zu ver - anſtalten, was zum Empfang ſeiner Gebieterin noͤthig war, welche ſich vorgenommen hatte, den Reſt der ſchoͤnen Jahrszeit auf dem Lande zu genieſſen. Wir widerſtehen der Verſuchung, eine Beſchreibung von die -ſem176Agathon. ſem Landgut zu machen, um dem Leſer das Vergnuͤ - gen zu laſſen, ſich daſſelbe ſo wohlangelegt, ſo praͤch - tig und ſo angenehm vorzuſtellen als er ſelbſt will. Alles, was wir davon ſagen wollen, iſt, daß diejeni - gen, deren Einbildungskraft einiger Unterſtuͤzung noͤ - thig hat, den ſechszehnten Geſang des befreyten Je - ruſalems leſen muͤßten, um ſich eine Vorſtellung von dem Orte zu machen, den ſich dieſe griechiſche Armi - de zum Schauplaz der Siege auswaͤhlte, den ſie uͤber unſern Helden zu erhalten hoffte. Sie fand nicht fuͤr gut, oder konnte es nicht uͤber ſich ſelbſt erhalten, ihn lange auf ihre Ankunft warten zu laſſen; und ſie war kaum angelangt, als ſie ihn zu ſich rufen ließ, und ihn durch folgende Anrede in eine angenehme Beſtuͤr - zung ſezte: „ Die Bekanntſchaft, die wir vor einigen Tagen mit einander gemacht haben, waͤre, auch ohne die Nachrichten, die mir Hippias von dir gegeben, ſchon genug geweſen, mich zu uͤberzeugen, daß du fuͤr den Stand nicht gebohren biſt, in den dich ein wi - driger Zufall geſezt hat. Die Gerechtigkeit, die ich Perſonen von Verdienſten widerfahren zu laſſen faͤhig bin, gab mir das Verlangen ein, dich aus einer Ab - haͤnglichkeit von dem Hippias zu ſezen, welche die Verſchiedenheit deiner Denkungsart von der ſeinigen, dir in die Laͤnge beſchwehrlich gemacht haͤtte. Er hatte die Gefaͤlligkeit, dich mir als eine Perſon vor - zuſchlagen, die ſich ſchikte, die Stelle eines Aufſehers in meinem Hauſe zu vertreten. Jch nahm ſein Er - bieten an, um das Vergnuͤgen zu haben, den Ge -brauch177Fuͤnftes Buch, viertes Capitel. brauch davon zu machen, den ich deinen Verdienſten und meiner Denkungsart ſchuldig bin. Du biſt frey, Callias, und vollkommen Meiſter zu thun was du fuͤr gut befindeſt. Kan die Freundſchaft, die ich dir an - biete, dich bewegen bey mir zu bleiben, ſo wird der Nahme eines Amtes, von deſſen Pflichten ich dich voͤl - lig freyſpreche, wenigſtens dazu dienen, der Welt eine begreifliche Urſache zu geben, warum du in meinem Hauſe biſt; wo nicht, ſo ſoll das Vergnuͤgen, womit ich zu Vefoͤrderung der Entwuͤrfe, die du wegen deines kuͤnftigen Lebens machen kannſt, die Hand bieten werde, dich von der Lauterkeit der Bewegungsgruͤnde uͤberzeu - gen, welche mich ſo gegen dich zu handeln angetrieben haben. Die edle und ungezwungene Anmuth, womit dieſes geſprochen wurde, vollendete die Wuͤrkung, die eine ſo großmuͤthige Erklaͤrung auf den Empfindungs - vollen Agathon machen mußte, „ was fuͤr eine Art zu denken! was fuͤr eine Seele! „ Konnt’ er weniger thun, als ſich zu ihren Fuͤſſen werfen, um in Ausdruͤ - ken, deren Verwirrung ihre ganze Beredſamkeit aus - machte, der Bewundrung und der Dankbarkeit Luft zu machen, deren Uebermaß ſeine Bruſt zerſprengen zu wollen ſchien. Keine Dankſagungen, Callias, unter - terbrach ihm die großmuͤthige Dauae, was ich gethan habe, iſt nicht mehr als ich einem jeden andern, der deine Verdienſte haͤtte, eben ſowohl ſchuldig zu ſeyn glaubte ‒ ‒ Jch habe keine Ausdruͤke fuͤr das was ich em - pfinde, anbetungswuͤrdige Danae, rief der entzuͤkte Aga - thon, ich nehme dein Geſchenk an, um das Vergnuͤ -[Agath. I. Th.] Mgen178Agathon. gen zu genieſſen, dein freywilliger Sclave zu ſeyn; eine Ehre, gegen die ich die Crone des Koͤnigs von Perſien verſchmaͤhen wuͤrde. Ja, ſchoͤnſte Danae, ſeitdem ich dich geſehen habe, kenne ich kein groͤſſer es Gluͤk als dich zu ſehen; und wenn alles, was ich in deinem Dienſte thun kan, faͤhig ſeyn kan, dich von der unausſprechli - chen Empfindung, die ich von deinem Werthe habe, zu uͤberzeugen; wuͤrdig ſeyn kan, mit einem zufriednen Blik von dir belohnt zu werden ‒ ‒ o Danae! wer wird denn ſo gluͤklich ſeyn als ich? Laßt uns, ſagte die beſcheidne Nymphe, ein Geſpraͤch enden, das die allzugroſſe Dankbarkeit deines Herzens auf einen zu hohen Ton geſtimmt hat. Jch habe dir geſagt, auf was fuͤr einem Fuß du hier ſeyn wirſt. Jch ſehe dich als einen Freund meines Hauſes an, deſſen Gegenwart mir Ver - gnuͤgen macht, deſſen Werth ich hoch ſchaͤze, und deſſen Dienſte mir in meinen Angelegenheiten deſto nuͤzlicher ſeyn koͤnnen, da ſie freywillig und die Frucht einer uneigennuͤzigen Freundſchaft ſeyn werden. Mit dieſen Worten verließ ſie den dankbahren Agathon, in deſſen Erklaͤrung einige vielleicht Schwulſt und Unſinn, oder wenigſtens zuviel Feuer und Entzuͤkung gefunden haben werden. Allein ſie werden ſich zu erinnern belieben, daß Agathon weder in einer ſo gelaſſenen Gemuͤthsver - faſſung war, wie ſie; noch alles wußte, was ſie durch unſere Jndiſcretion von der ſchoͤnen Danae erfahren ha - ben. Wir wiſſen freylich was wir ungefehr von ihr den - ken ſollen; allein in ſeinen Augen war ſie eine Goͤttin; und zu ihren Fuͤſſen liegend konnte er, zumal bey derVer -179Fuͤnftes Buch, Viertes Capitel. Verbindlichkeit, die er ihr hatte, natuͤrlicher Weiſe, dieſe Danae nicht mit einer ſo philoſophiſchen Gleichguͤltigkeit anſehen, wie wir andern.
Agathon war nun alſo ein Hausgenoße der ſchoͤnen Danae, und entfaltete mit jedem Tage neue Verdienſte, die ihm dieſes Gluͤk wuͤrdig zeigten, und die ſeine ge - ringe Achtung fuͤr den Hiypias ihn verhindert hatte, in deſſen Hauſe ſehen zu laſſen. Da nebſt den beſon - dern Ergoͤzungen des Landlebens dieſe feinere Art von Beluſtigungen, an denen der Wiz und die Muſen den meiſten Antheil haben, die hauptſaͤchlichſte Beſchaͤfti - gung war, wozu man die Zeit in dieſem angenehmen Aufenthalt anwendete; ſo hatte er Gelegenheit genug, ſeine Talente von dieſer Seite ſchimmern zu laſſen; und ſeine bezauberte Phantaſie gab ihm ſo viele Erfindun - gen an die Hand, daß er keine andre Muͤhe hatte, als diejenigen auszuwaͤhlen, die er am geſchikteſten glaubte, ſeine Gebieterin und die kleine Geſellſchaft von vertrauten Freunden, die ſich bey ihr einfanden, zu er - goͤzen. So weit war es ſchon mit demjenigen gekom - men, der vor wenigen Wochen es fuͤr eine geringſchaͤ - zige Beſtimmung hielt, in der Perſon eines unſchuldi - gen Anagnoſten die Joniſchen Ohren zu bezaubern.
Jn der That koͤnnen wir laͤnger nicht verbergen, daß dieſe unbeſchreibliche Empfindung (wie er dasjenige nannte was ihm die ſchoͤne Danae eingefloͤßt hatte) dieſes ich weiß nicht was, welches wir, ſo wenig er es auch ge -M 2ſtanden180Agathon,ſtanden haͤtte, ganz ungeſcheut Liebe nennen wollen, in dem Lauf von wenigen Tagen ſo ſehr zugenommen hatte, daß einem jeden andern als einem Agathon die Augen uͤber den wahren Zuſtand ſeines Herzens aufgegangen waͤren. Wir, wiſſen wol, daß die Umſtaͤndlichkeit unſ - rer Erzaͤhlung bey dieſem Theile ſeiner Geſchichte, den Ernſthaftern unter unſern Leſern, wenn wir anders dergleichen haben werden, ſehr langweilig vorkommen wird. Allein die Achtung, die wir ihnen ſchuldig ſind, kan uns nicht verhindern, uns die Vorſtellung zu machen, daß dieſe Geſchichte vielleicht kuͤnftig, und wenn es auch nur aus einem Gewuͤrzladen waͤre, einem jungen noch nicht ganz ausgebruͤteten Agathon in die Haͤnde fallen koͤnnte, der aus einer genauern Beſchrei - bung der Veraͤnderungen, welche die Goͤttin Danae nach und nach in dem Herzen und der Denkungsart unſers Helden hervorgebracht, ſich gewiſſe Beobachtungen und Cautelen ziehen koͤnnte, von denen er vielleicht einen guten Gebrauch zu machen Gelegenheit bekommen moͤchte. Wir glauben alſo, wenn wir dieſem zu - kuͤnftigen Agathon zu Gefallen uns die Muͤhe nehmen, der Leidenſchaft unſers Helden von der Quelle an in ihrem wiewohl noch geheimen Lauf nachzugehen, deſto eher entſchuldiget zu ſeyn, da es allen uͤbrigen, die mit dieſen Anecdoten nichts zu machen wiſſen, frey ſteht, das folgende Capitel zu uͤberſchlagen.
Die Quelle der Liebe, ſagt Zoroaſter, oder haͤtte es doch ſagen koͤnnen, iſt das Anſchauen eines Gegenſtan - des, der unſre Einbildungskraft bezaubert. Der Wunſch dieſen Gegenſtand immer anzuſchauen, iſt der erſte Grad derſelben. Je bezaubernder dieſes Anſchauen iſt, und je mehr die an dieſes Bild der Vollkommenheit angehef - tete Seele daran zu entdeken und zu bewundern findet, deſto laͤnger bleibt ſie in den Grenzen dieſes erſten Gra - des der Liebe ſtehen. Dasjenige was ſie hiebey er - faͤhrt, kommt anfangs demjenigen auſſerordentlichen Zuſtande ganz nahe, den man Verzuͤkung nennt; alle andere Sinnen, alle wuͤrkſamen Kraͤfte der Seele ſchei - nen ſtille zu ſtehen, und in einen einzigen Blik, worinn man keiner Zeitfolge gewahr wird, verſchlungen zu ſeyn. Dieſer Zuſtand iſt zugewaltſam, als daß er lange dauern koͤnnte; langſamer oder ſchneller macht er der Empfin - dung eines unausſprechlichen Vergnuͤgens Plaz, welches die natuͤrliche Folge jenes ecſtatiſchen Anſchauens iſt, und wovon, wie einige Adepten uns verſichert haben, keine andre Art von Vergnuͤgen oder Wolluſt uns einen beſſern Begriff geben kan, als der unreine und duͤſtre Schein einer Pechfakel von der Klarheit des unkoͤrperlichen Lichts, worinn, nach der Meynung der Morgenlaͤndi - ſchen Weiſen, die Geiſter als in ihrem Elemente leben. M 3Dieſes182Agathon,Dieſes innerliche Vergnuͤgen aͤuſſert ſich bald durch die Veraͤnderungen, die es in dem mechaniſchen Theil un - ſers Weſens hervorbringt; es wallt mit huͤpfender Munterkeit in unſern Adern, es ſchimmert aus unſern Augen, es gießt eine laͤchelnde Heiterkeit uͤber unfer Geſicht, und giebt allen unſern Bewegungen eine neue Lebhaftigkeit und Anmuth: es ſtimmt und erhoͤhet alle Kraͤfte unſrer Seele, belebt das Spiel der Phantaſie und des Wizes, und kleidet, ſo zu ſagen, alle unſre Jdeen in den Schimmer und die Farbe der Liebe. Ein Liebhaber iſt in dieſem Augenblik mehr als ein gewoͤhn - licher Menſch; er iſt (wie Plato ſagt) von einer Gottheit voll, die aus ihm redet und wuͤrket; und es iſt keine Vollkommenheit, keine Tugend, keine Helden - that ſo groß, wozu er in dieſem Stande der Begei - ſtrung und unter den Augen des geliebten Gegenſtands nicht faͤhig waͤre. Dieſer Zuſtand dauert noch fort, wenn er gleich von demſelben entfernt wird, und das Bild deſſelben, das ſeine ganze Seele auszufuͤllen ſcheint, iſt ſo lebhaft, daß es einige Zeit braucht, bis er der Abweſenheit des Urbildes gewahr wird. Aber kaum empfindet die Seele dieſe Abweſenheit, ſo verſchwin - det jenes Vergnuͤgen mit ſeinem ganzen bezauberten Gefolge; man erfaͤhrt in immer zunehmenden Gra - den das Gegentheil von allen Wuͤrkungen jener Be - geiſterung, wovon wir geredet haben; und derjenige der vor kurzem mehr als ein Menſch ſchien, ſcheint nun nichts als der Schatten von ſich ſelbſt, ohne Le - ben, ohne Geiſt, zu nichts geſchikt als in einoͤdenWild -183Fuͤnftes Buch, fuͤnftes Capitel. Wildniſſen wie ein Geſpenſt umherzuirren, den Nah - men ſeiner Goͤttin in Felſen einzugraben, und den tau - ben Baͤumen ſeine Schmerzen vorzuſeuſzen; ein klaͤgli - cher Zuſtand, in Wahrheit, wenn nicht ein einziger Blik des Gegenſtands, von dem dieſe ſeltſame Bezau - berung herruͤhrt, hinlaͤnglich waͤre, in einem Wink dieſem Schatten wieder einen Leib, dem Leib eine Seele, und der Seele dieſe Begeiſterung wieder zu geben, durch welche ſie ohne Beobachtung einiger Gradation von der Verzweiflung zu unermaͤßlicher Wonne uͤbergeht. Wenn Agathon dieſes alles nicht voͤllig in ſo hohem Grad erfuhr, als andre von ſeiner Art, ſo muß dieſes ver - muthlich allein dem Einfluß beygemeſſen werden, die ſeine werthe Pſyche noch in dasjenige hatte, was in ſeinem Herzen vorgieng. Allein wir muͤſſen geſtehen, dieſer Einfluß wurde immer ſchwaͤcher; die lebhaften Farben, wo - mit ihr Bild ſeiner Phantaſte ehemals vorgeſchwebt hatte, wurden immer matter; und auſtatt daß ihn ſonſt ſein Herz an ſie erinnert hatte, mußte es izt von ohngefehr und durch einen Zufall geſchehen. Endlich verſchwand dieſes Bild gaͤnzlich; Pſyche hoͤrte auf fuͤr ihn zu exi - ſtiren, ja kaum erinnerte er ſich alles deſſen, was vor ſeiner Bekanntſchaft mit der ſchoͤnen Danae vorgegan - gen war anders, als ein erwachſener Menſch ſich ſeiner erſten Kindheit erinnert. Es iſt alſo leicht zu begreif - fen, daß ſeine ganze vormalige Art zu empfinden und zu ſeyn, einige Veraͤnderung erlitt, und gleichſam die Farbe und den Ton des Gegenſtands bekam, der mit einer ſo unumſchraͤnkten Macht auf ihn wuͤrkte. SeinM 4ernſt -184Agathon. ernſthaftes Weſen machte nach und nach einer gewiſſen Munterkeit Plaz, die ihm vieles, das er ehmals miß - billiget hatte, in einem guͤnſtigern Lichte zeigte; ſeiue Sittenlehre wurde unvermerkt freyer und gefaͤlliger, und ſeine ehmaligen guten Freunde, die etheriſchen Geiſter, wenn ſie ja noch einigen Zutritt bey ihm hat - ten, mußten ſich gefallen laſſen, die Geſtalt der ſchoͤ - nen Danae anzunehmen, um vorgelaſſen zu werden. Vor Begierde der Beherrſcherin ſeines Herzens zu gefal - len, vergaß er, ſich um den Beyfall unſichtbarer Zu - ſchauer ſeines Lebens zu bekuͤmmern; und der Zuſtand der entkoͤrperten Seelen daͤuchte ihn nicht mehr ſo be - neidenswuͤrdig, ſeitdem er im Anſchauen dieſer irrdiſchen Goͤttin ein Vergnuͤgen genoß, welches alle ſeine Ein - bildungen uͤberſtieg. Der Wunſch immer bey ihr zu ſeyn, war nun erfuͤllt, dem zweyten, der auf dieſen gefolget ſeyn wuͤrde, dem Verlangen ihre Freundſchaft ſchaft zu beſizen war ſie ſelbſt gleich anfangs großmuͤ - thiger Weiſe zuvorgekommen, und die verbindliche und vertraute Art, wie ſie etliche Tage lang mit ihm um - gieng, ließ ihm von dieſer Seite nichts zu wuͤnſchen uͤbrig. Er hatte ihre Freundſchaft, nun wuͤnſchte er auch ihre Zaͤrtlichkeit zu haben ‒ ‒ Jhre Zaͤrtlichkeit! ‒ ‒ Ja, aber eine Zaͤrtlichkeit, wie nur die Einbil - dungskraft eines Agathons faͤhig iſt, ſich vorzuſtellen. Kurz, da er anfieng zu merken, daß er ſie liebe, ſo wuͤnſchte er wieder geliebt zu werden. Allein er liebte ſie mit einer ſo uneigennuͤzigen, ſo geiſtigen, ſo be - gierdenfreyen Liebe, als ob ſie eine Sylphide geweſenwaͤre;185Fuͤnftes Buch, fuͤnftes Capitel. waͤre; und der kuͤhnſte Wunſch, den er zu wagen faͤhig war, war nur, in derjenigen ſympathetiſchen Verbin - dung der Seelen mit ihr zu ſtehen, wovon ihm Pſyche die Erfahrung gegeben hatte. Wie angenehm (dacht er) wie entzuͤk ungsvoll, wie ſehr uͤber alles, was die Sprache der Sterblichen ausdruͤken kan, muͤſte eine ſolche Sympathie mit einer Danae ſeyn, da ſie mit Pſyche ſchon ſo angenehm geweſen war! Zum Ungluͤk fuͤr unſern Platoniker war dieſes ein Plan, wozu Da - nae, welche dieſes mal keine Sylphide ſpielen wollte, ſich nicht ſo gut anließ, als er es gewuͤnſcht hatte. Sie fuhr immer fort ſich in den Grenzen der Freundſchaft zu halten, und, die Wahrheit zu ſagen, ſie war entweder nicht geiſtig genug, ſich von dieſer intellectualiſchen Liebe, von der er ihr ſo viel ſchoͤnes vorſagte, einen rechten Begriff zu machen; oder ſie fand es laͤcherlich, in ih - rem Alter und mit ihrer Figur eine Rolle zu ſpielen, die, nach ihrer Denkungsart, ſich nur fuͤr eine Perſon fchikte, die im Bade keine Beſuche mehr annimmt; wenn ſie gleich allzu beſcheiden war, ihm dieſes mit Worten zu ſagen, ſo fand ſie doch Mittel genug, ihm ihre Gedanken uͤber dieſen Punct auf eine vielleicht eben ſo nachdruͤkliche Art zu erkennen zu geben. Gewiſſe kleine Nachlaͤßigkeiten in ihrem Puz, ein verraͤtheriſcher Zephir, oder ihr Sper - ling, der indem ſie neben Agathon auf einer Ruhe - bank ſaß, mit muthwilligem Schnabel an dem Gewand zerrte, das zu ihren Fuͤſſen herabfloß, ſchienen ſeiner aͤtheriſchen Liebe zu ſpotten, und ihm Aufmunterungen zu geben, die ein minder bezauberter Liebhaber nichtM 5noͤthig186Agathon. noͤthig gehabt haͤtte. Danae hatte Urſache mit der Wuͤrkung dieſer kleinen Kunſtgriffe zufrieden zu ſeyn. Agathon, welcher ſich angewoͤhnt hatte, den Leib und die Seele als zwey verſchiedene Weſen zu betrachten, und in deſſen Augen Danae eine geraume Zeit nichts anders, als (nach dem Ausdruk des Guidi) eine himm - liſche Schoͤnheit in einem irdiſchen Schleyer geweſen war, vermengte dieſe beyden Weſen je laͤnger je mehr in ſeiner Phantaſie mit einander, und er konnte es deſto leichter, da in der That alle koͤrperlichen Schoͤnheiten ſeiner Goͤttin ſo beſeelt, und alle Schoͤnheiten ihrer Seele ſo lebhaft aus dieſem reizenden Schleyer hervor - ſchimmerten, daß es beynahe unmoͤglich war, ſich eine ohne die andre vorzuſtellen. Dieſer Umſtand brachte zwar keine weſentliche Veraͤnderung in ſeiner Art zu lieben hervor; doch iſt gewiß, daß er nicht wenig da - zu beytrug, ihn unvermerkt in eine Verfaſſung zu ſe - zen, welche die Abſichten der ſchlauen Danae mehr zu beguͤnſtigen als abzuſchreken ſchien. O du, fuͤr den wir aus großmuͤthiger Freundſchaft uns die Muͤhe ge - geben haben, dieſes dir allein gewiedmete Capitel zu ſchreiben, halte hier ein und frage dein Herz. Wenn du eine Danae gefunden haſt (armer Juͤngling! welche Molly Seagrim kan es nicht in deinen bezauberten Augen ſeyn?) und du verſteheſt den Schluß dieſes Capitels, ſo koͤmmt unſre Warnung ſchon zu ſpaͤt, und du biſt verlohren, fliehe, von dem Augenblik an, da du ſie geſehen; fliehe und erſteke den Wunſch ſie wieder zu ſehen? Wenn du das nicht kanſt; wenn du, nachdemdu187Fuͤnftes Buch, ſechstes Capitel. du dieſe Warnung geleſen, nicht willſt: ſo biſt du kein Agathon mehr, ſo biſt du was wir andern alle ſind; thue was du willſt, es iſt nichts mehr an dir zu ver - derben.
Die ſchoͤne Danae war ſehr weit entfernt, gleichguͤl - tig gegen die Vorzuͤge des Callias zu ſeyn, und es ko - ſtete ihr wuͤrklich, ſo geſezt ſie auch war, einige Muͤhe, ihm zu verbergen, wie ſehr ſie von ſeiner Liebe ge - ruͤhrt war, und wie gern ſie ſich dieſelbe zu Nuz ge - macht haͤtte. Allein aus einem Agathon einen Alci - biades zu machen, das konnte nicht das Werk von etlichen Tagen ſeyn, und um ſo viel weniger, da er durch unmerkliche Schritte, und ohne, daß ſie ſelbſt etwas dabey zu thun ſchien, zu einer ſo groſſen Ver - aͤnderung gebracht werden mußte, wenn ſie anders dauerhaft ſeyn ſollte. Die groſſe Kunſt war, unter der Masque der Freundſchaft ſeine Vegierden zu eben der Zeit zu reizen, da ſie ſelbige durch eine unaffec - tirte Zuruͤkhaltung abzuſchreken ſchien. Allein auch dieſes war nicht genug; er mußte vorher die Macht zu widerſtehen verliehren; wenn der Augenblik einmal gekommen ſeyn wuͤrde, da ſie die ganze Gewalt ih -rer188Agathon. rer Reizungen an ihm zu pruͤffen entſchloſſen war. Eine zaͤrtliche Weichlichkeit mußte ſich vorher ſeiner ganzen Seele bemeiſtern, und ſeine in Vergnuͤgen ſchwim - mende Sinnen mußten von einer ſuͤſſen Unruhe und wolluͤſtigen Sehnſucht eingenommen werden, ehe ſie es wagen wollte, einen Verſuch zu machen, der, wenn er zu fruͤh gemacht worden waͤre, gar leicht ihren ganzen Plau haͤtte vereiteln koͤnnen. Zum Ungluͤk fuͤr unſern Helden erſparte ihr ſeine magiſche Einbildungs - kraft die Helfte der Muͤhe, welche ſie aus einem Ueber - maß von Freundſchaft anwenden wollte, ihm die Ver - wandlung, die mit ihm vorgehen ſollte, zu verber - gen. Ein Laͤcheln ſeiner Goͤttin war genug, ihn in Vergnuͤgen zu zerſchmelzen; ihre Blike ſchienen einen uͤberirdiſchen Glanz uͤber alles auszugieſſen, und ihr Athem der ganzen Natur den Geiſt der Liebe einzu - hauchen: Was muͤßte denn aus ihm werden, da ſie zu Vollendung ihres Sieges alles anwendete, was auch den unempfindlichſten unter allen Menſchen zu ihren Fuͤſſen haͤtte legen koͤnnen? Agathon wußte noch nicht, daß ſie die Laute ſpielte, und in der Muſik eine eben ſo groſſe Virtuoſin als in der Tanzkunſt war. Die Feſte und Luſtbarkeiten, in deren Erfindung er uner - ſchoͤpflich war, um ihr den laͤndlichen Aufenthalt ange - nehmer zu machen, gaben ihr Anlaß, ihn durch Ent - dekung dieſer neuen Reizungen in Erſtaunung zu ſezen. Es iſt billig, ſagte ſie zu ihm, daß ich deine Bemuͤhun - gen, mir Vergnuͤgen zu machen, durch eine Erfindung von meiner Art erwiedre. Dieſen Abend will ich dirden189Fuͤnftes Buch, ſechstes Capitel. den Wettſtreit der Sirenen und der Muſen geben, ein Stuͤk des beruͤhmten Damons, das ich noch aus Aſpa - ſiens Zeiten uͤbrig habe, und das von den Kennern fuͤr das Meiſterſtuͤk der Tonkunſt erklaͤrt wurde. Die An - ſtalten ſind ſchon dazu gemacht, und du allein ſollſt der Zuhoͤrer und Richter dieſes Wettgeſangs ſeyn. Nie - mals hatte den Agathon eine Zeit laͤnger gedaucht, als die wenigen Stunden, die er in Erwartung dieſes ver - ſprochenen Vergnuͤgens zubrachte. Danae hatte ihn ver - laſſen, um durch ein erfriſchendes Bad ihrer Schoͤnheit einen neuen Glanz zu geben, indeſſen daß er die ver - ſchwindenden Stralen der untergehenden Sonne einen nach dem andern zu zaͤhlen ſchien. Endlich kam die angeſezte Stunde. Der ſchoͤnſte Tag hatte der anmu - thigſten Nacht Plaz gemacht, und eine ſuͤſſe Daͤmme - rung hatte ſchon die ganze ſchlummernde Ratur einge - ſchleyert; als ploͤzlich ein neuer zauberiſcher Tag, den eine unendliche Menge kuͤnſtlich verſtekter Lampen ver - urſachte, den reizenden Schauplaz ſichtbar machte, welchen die Fee dieſes Orts zu dieſem Luſtſpiel hatte zubereiten laſſen. Eine mit Lorberbaͤumen beſchattete Anhoͤhe erhob ſich aus einem ſpiegelhellen See, der mit Marmor gepflaſtert, und ringsum mit Myrten und Roſenheken eingefaßt war. Kleine Quellen ſchlaͤngel - ten den Lorberhayn herab, und rieſelten mit ſanftem Murmeln oder laͤchelndem Klatſchen in den See, an deſſen Ufer hier und da kleine Grotten, mit Corallenmu - ſcheln und andern Seegewaͤchſen ausgeſchmuͤkt hervor - ragten, und die Wohnung der Nymphen dieſes Waſſerszu190Agathon. zu ſeyn ſchienen. Ein kleiner Nachen in Geſtalt einer Perlenmuſchel, der von einem marmornen Triton emporgehalten wurde, ſtuhnd der Anhoͤhe gegen uͤber am Ufer, und war der Siz, auf welchem Agathon als Richter den Wettgeſaug hoͤren ſollte.
Agathon hatte ſeinen Plaz kaum eingenommen, als man in dem Waſſer ein wuͤhlendes Plaͤtſchern, und aus der Ferne, wie es ließ, eine ſanft zerfloſſene Har - monie hoͤrte, ohne jemand zu ſehen, von dem ſie herkaͤme. Unſer Liebhaber, den dieſer Anfang in ein ſtilles Entzuͤken ſezte, wurde, ungeachtet er zu dieſem Spiele vorbereitet war, zu glauben verſucht, daß er die Harmonie der Sphaͤren hoͤre, von deren Wuͤrklich - keit ihn die Pythagoriſchen Weiſen beredet hatten; allein, waͤhrend daß ſie immer naͤher kam und deut - licher wurde, ſah er zu gleicher Zeit die Muſen aus dem kleinen Lorberwaͤldchen und die Sirenen aus ih - ren Grotten hervorkommen. Danae hatte die juͤng - ſten und ſchoͤnſten aus ihren Aufwaͤrterinnen ausgeleſen, dieſe Meernymphen vorzuſtellen, die, nur von einem wallenden Streif von him melblauem Byſſus umflattert, mit Cithern und Floͤten in der Hand ſich uͤber die Wel - len erhuben, und mit jugendlichem Stolz untadeliche Schoͤnheiten vor den Augen ihrer eiferſuͤchtigen Geſpie -len191Fuͤnftes Buch, ſiedentes Capitel. len entdekten. Allein kleine Tritonen, blieſen, um ſie her ſchwimmend, aus krummen Hoͤrnern, und nekten ſie durch muthwillige Spiele; indeß daß Danae mitten un - ter den Muſen, an den Rand der kleinen Halbinſel herabſtieg, und, wie Venus unter den Gratien, oder Diana unter ihren Nymphen hervorglaͤnzend, dem Auge keine Freyheit ließ, auf einem andern Gegen - ſtande zu verweilen. Ein langes ſchneeweiſſes Gewand floß, unter dem halbentbloͤßten Buſen mit einem gold - nen Guͤrtel umfaßt, in kleinen wallenden Falten zu ih - ren Fuͤſſen herab; ein Kranz von Roſen wand ſich um ihre Loken, wovon ein Theil in kunſtloſer Anmuth um ihren Naken ſchwebte; ihr rechter Arm, auf deſſen Weiſſe die Homeriſche Juno eiferſuͤchtig haͤtte ſeyn duͤr - fen, umfaßte eine Laute von Elfenbein. Die uͤbrigen Muſen, mit verſchiednen Sayteninſtrumenten verſehen, lagerten ſich zu ihren Fuͤſſen; ſie allein blieb in einer unnachahmlich reizenden Stellung ſtehen, und hoͤrte laͤchelnd der Aufforderung zu, welche die uͤbermuͤthigen Syrenen ihr entgegenſangen. Man muß ohne Zweifel geſtehen, daß das Gemaͤhlde, welches ſich in dieſem Au - genblik unſerm Helden darſtellte, nicht ſehr geſchikt war, weder ſein Herz noch ſeine Sinnen in Ruhe zu laſſen; allein die Abſicht der Danae war nur, ihn durch die Augen zu den Vergnuͤgungen eines andern Sinnes vorzubereiten, und ihr Stolz verlangte keinen geringern Triumph, als ein ſo reizendes Gemaͤhlde durch die Zaubergewalt ihrer Stimme und ihrer Sayten in ſeiner Seele auszuloͤſchen. Sie ſchmeichelte ſich nicht zu viel. Die192Agathon. Die Sirenen hoͤrten auf zu ſingen, und die Muſen ant - worteten ihrer Ausforderung durch eine Symphonie, welche auszudruken ſchien, wie gewiß ſie ſich des Sieges hielten. Nach und nach verlohr ſich die Munterkeit, die in dieſer Symphonie herrſchte; ein feyerlicher Ernſt nahm ihren Plaz ein, das Getoͤn wurde immer einfoͤr - miger, bis es nach und nach in ein dunkles gedaͤmpf - tes Murmeln und zulezt in eine gaͤnzliche Stille er - ſtarb. Ein allgemeines Erwarten ſchien dem Erfolg dieſer vorbereitenden Stille entgegen zu horchen, als es auf einmal durch eine liebliche Harmonie unterbro - chen wurde, welche die gefluͤgelten und ſeelenvollen Fin - ger der ſchoͤnen Danae aus ihrer Laute lokten. Eine Stimme, welche faͤhig ſchien, die Seelen ihren Leibern zu entfuͤhren, und Todte wieder zu beſeelen (wenn wir einen Ausdruk des Liebhabers der ſchoͤnen Laura entlehnen duͤrfen) eine ſo bezaubernde Stimme beſeelte dieſe reizende Anrede. Der Jnnhalt des Wettgeſangs war uͤber den Vorzug der Liebe, die ſich auf die Em - pfindung, oder derjenigen, die ſich auf die bloſſe Be - gierde gruͤndet. Nichts koͤnnte ruͤhrender ſeyn, als das Gemaͤhlde, welches Danae von der erſten Art der Liebe machte; in ſolchen Toͤnen, dacht Agathon, ganz gewiß in keinen andern, druͤken dle Unſterblichen einander aus, was ſie empfinden; nur eine ſolche Spra - che iſt der Goͤtter wuͤrdig. Die ganze Zeit da dieſer Geſang dauerte, daͤuchte ihn ein Augenblik, und er wurde ganz unwillig, als Danae auf einmal auf - hoͤrte, und eine der Sirenen, von den Floͤten ihrerSchwe -193Fuͤnftes Buch, ſiebentes Capitel. Schweſtern begleitet, kuͤhn genug war, es mit ſeiner Goͤt - tin aufzuuehmen. Allein er wurde bald gezwungen an - ders Sinnes zu werden, als er ſie hoͤrte; alle ſeine Vorurtheile fuͤr die Muſe konnten ihn nicht verhindern, ſich ſelbſt zu geſtehen, daß eine faſt unwiderſtehliche Verfuͤh - rung in ihren Toͤnen athmete. Jhre Stimme, die an Weichheit und Biegſamkeit nicht uͤbertroffen werden konnte, ſchien alle Grade der Entzuͤkungen auszudruͤ - ken, deren die ſinnliche Liebe faͤhig iſt; und das weiche Getoͤn der Floͤten erhoͤhte die Lebhaftigkeit dieſes Aus - druks auf einen Grad, der kaum einen Unterſchied zwi - chen der Nachahmung und der Wahrheit uͤbrig ließ. Wenn die Sirenen, bey denen der kluge Ulyſſes vorbey - fahren mußte, ſo geſungen haben, (dachte Agathon) ſo hatte er wohl Urſache, ſich an Haͤnden und Fuͤſſen an den Maſtbaum binden zu laſſen. Kaum hatten die Si - renen dieſen Geſang geendiget, ſo erhub ſich ein frolo - kendes Klatſchen aus dem Waſſer, und die kleinen Tri - tonen ſtieſſen in ihre Hoͤrner, den Sieg anzudeuten, den ſie uͤber die Muſen erhalten zu haben glaubten. Allein dieſe hatten den Muth nicht verlohren: Sie er - munterten ſich bald wieder, und fiengen eine Sympho - nie an, wovon der Anfang eine ſpottende Nachah - mung des Geſanges der Sirenen zu ſeyn ſchien. Nach einer Weile wechſelten ſie die Tonart und den Rhyt - mus, und ſiengen ein Andante an, welches in weni - gen Tagen nicht die mindeſte Spur von den Eindruͤken uͤbrig ließ, die der Syrenen Geſang auf das Gemuͤthe der Hoͤrenden gemacht haben konnte. Eine ſuͤſſe Schwer -[Agath. I. Th.] Nmuth194Agathon. muth bemaͤchtigte ſich Agathons; er ſank in ein ange - nehmes Staunen, und freywillige Seufzer entflohen ſeiner Bruſt, und wolluͤſtige Thraͤnen rollten uͤber ſeine Wangen herab. Mitten aus dieſer ruͤhrenden Harmonie erhob ſich der Geſang der ſchoͤnen Danae, welche durch die eiferſuͤchtigen Beſtrebungen ihrer Ne - benbuhlerin aufgefordert war, die ganze Vollkommen - heit ihrer Stimme, und alle Zauberkraͤfte der Kunſt anzuwenden, um den Sieg gaͤnzlich auf die Seite der Muſen zu entſcheiden. Jhr Geſang ſchilderte die ruͤh - renden Schmerzen einer wahren Liebe, die in ihrem Schmerzen ſelbſt ein melancholiſches Vergnuͤgen findet; ihre ſtandhafte Treue und die Belohnung, die ſie zu - lezt von der zaͤrtlichſten Gegenliebe erhaͤlt. Die Art wie ſie dieſes ausfuͤhrte, oder vielmehr die Eindruͤke, die ſie dadurch auf ihren Liebhaber machte, uͤbertraf - fen alles was man ſich davon vorſtellen kan. Sein ganzes Weſen war Ohr, und ſeine ganze Seele zer - floß in die Empfindungen, die in ihrem Geſauge herr - ſcheten. Er war nicht ſo weit entfernt, daß Danae nicht bemerkt haͤtte, wie ſehr er auſſer ſich ſelbſt war, und wie viel Muͤhe er hatte, um ſich zu halten, aus ſeinem Siz ſich in das Waſſer herabzuſtuͤrzen, zu ihr hinuͤber zu ſchwimmen, und ſeine in Entzuͤkung und Liebe zerſchmolzene Seele zu ihren Fuͤſſen auszuhau - chen. Sie wurde durch dieſen Anblik ſelbſt ſo geruͤhrt, daß ſie genoͤthiget war, die Augen von ihm abzuwen - den, um ihren Geſang vollenden zu koͤnnen: Allein ſie beſchloß bey ſich ſelbſt, die Belohnung nicht laͤngerauf -195Fuͤnftes Buch, achtes Capitel. aufzuſchieben, welche ſie einer ſo vollkommenen Liebe ſchuldig zu ſeyn glaubte. Endlich endigte ſich ihr Lied; die begleitende Symphonie hoͤrte auf; die beſchaͤmten Sirenen flohen in ihre Grotten; die Muſen verſchwan - den; und der ſtaunende Agathon blieb in trauriger Ent - zuͤkung allein.
Wir koͤnnen die Verlegenheit nicht verbergen, in welche wir uns durch die Umſtaͤnde geſezt ſinden, wo - rinn wir unſern Helden zu Ende des vorigen Capitels verlaſſen haben. Sie drohen dem erhabnen Charakter, den er bißher mit einer ſo ruͤhmlichen Standhaftigkeit behauptet, und wodurch er ſich zweifelsohne in eine nicht gemeine Hochachtung bey unſern Leſern geſezt hat, einen Abfall, der denenjenigen, welche von einem Hel - den eine vollkommene Tugend fordern, eben ſo anſtoͤſ - ſig ſeyn wird, als ob ſie, nach allem was bereits mit ihm vorgegangen, natuͤrlicher Weiſe etwas beſſers haͤt - ten erwarten koͤnnen.
Wie groß iſt in dieſem Stuͤke der Bortheil eines Romanendichters vor demjenigen, welcher ſich anhei - ſchig gemacht hat, ohne Vorurtheil oder Partheylichkeit,N 2mit196Agathon. mit Verlaͤugnung des Ruhms, den er vielleicht durch Verſchoͤnerung ſeiner Charakter, und durch Erhebung des Natuͤrlichen ins Wunderbare ſich haͤtte erwerben koͤnnen, der Natur und Wahrheit in gewiſſenhaſter Aufrichtigkeit durchaus getreu zu bleiben! Wenn jener die ganze grenzenloſe Welt des Moͤglichen zu freyem Ge - brauch vor ſich ausgebreitet ſieht; wenn ſeine Dichtun - gen durch den maͤchtigen Reiz des Erhabnen und Er - ſtaunlichen ſchon ſicher genug ſind, unſre Einbildungs - kraft und unſre Eitelkeit auf ſeine Seite zu bringen; wenn ſchon der kleinſte Schein von Uebereinſtimmung mit der Natur hinlaͤnglich iſt, die Freunde des Wunderbaren, welche immer die groͤſſeſte Zahl ausmachen, von ihrer Moͤglichkeit zu uͤberzeugen; ja, wenn er volle Freyheit hat, die Natur ſelbſt umzuſchaffen, und, als ein an - drer Prometheus, den geſchmeidigen Thon, aus wel - chem er ſeine Halbgoͤtter und Halbgoͤttinnen bildet, zu geſtalten wie es ihm beliebt, oder wie es die Abſicht, die er auf uns haben mag, erheiſchet: So ſieht ſich hingegen der arme Geſchichtſchreiber genoͤthiget, auf einem engen Pfade, Schritt vor Schritt in die Fußſtapfen der vor ihm hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegen - ſtand ſo groß oder ſo klein, ſo ſchoͤn oder ſo haͤßlich, wie er ihn wuͤrklich ſindet, abzumahlen; die Wuͤrkun - gen ſo anzugeben, wie ſie vermoͤge der unveraͤnderli - chen Geſeze der Natur aus ihren Urſachen herflieſſen; und wenn er ſeiner Pflicht ein voͤlliges Genuͤgen gethan hat, ſich gefallen zu laſſen, daß man ſeinen Helden am Ende um wenig oder nichts ſchaͤzbarer ſindet, alsder197Fuͤnftes Buch, achtes Capitel. der ſchlechteſte unter ſeinen Leſern ſich ohngefehr ſelbſt zu ſchaͤzen pflegt.
Vielleicht iſt kein unfehlbarers Mittel mit dem we - nigſten Aufwand von Genie, Wiſſenſchaft und Erfahren - heit ein geprieſener Schriftſteller zu werden, als wenn man ſich damit abgiebt, Menſchen (denn Menſchen ſollen es doch ſeyn) ohne Leidenſchaften, ohne Schwach - heit, ohne allen Mangel und Gebrechen, durch etliche Baͤnde voll wunderreicher Abentheure, in der einfoͤrmig - ſten Gleichheit mit ſich ſelbſt, herumzufuͤhren. Eh ihr es euch verſeht, iſt ein Buch fertig, das durch den er - baulichen Ton eiuer ſtrengen Sittenlehre, durch blen - dende Sentenzen, durch Charaktere und Handlungen, die eben ſo viele Muſter ſind, den Beyfall aller der gutherzigen Leute uͤberraſchet, welche jedes Buch, das die Tugend an〈…〉〈…〉 reif〈…〉〈…〉, vortreflich finden. Und was fuͤr einen Beyfall kan ſich ein ſolches Werk erſt alsdenn verſpre - chen, wenn der Verfaſſer die Kunſt oder die natuͤrliche Gabe beſizt, ſeine Schreibart auf den Ton der Begei - ſterung zu ſtimmen, und, verliebt in die ſchoͤnen Geſchoͤpfe ſeiner erhizten Einbildungskraft, die Meynung von ſich zu erweken, daß ers in die Tugend ſelber ſey. Umſonſt mag dann ein verdaͤchtiger Kunſtrichter ſich heiſer ſchreyen, daß ein ſolches Werk eben ſo wenig fuͤr die Talente ſeines Urhebers beweiſe, als es der Welt Nu - zen ſchaffe; umſonſt mag er vorſtellen, wie leicht es ſey, die Definitionen eines Auszugs der Sittenlehre in Per - ſonen, und die Maximen des Epictets in HandlungenN 3zu198Agathon. zu verwandeln; umſonſt mag er beweiſen, daß die unfruchtbare Bewunderung einer ſchimaͤriſchen Voll - kommenheit, welche man nachzuahmen eben ſo we - nig wahren Vorſaz als Vermoͤgen hat, das aͤuſſerſte ſey, was dieſe wakere Leute von ihren hochfliegenden Bemuͤhungen zum Beſten einer ungelehrigen Welt er - warten koͤnnen: Der weiſere Tadler heißt ihnen ein Zoilus, und hat von Gluͤk zu ſagen, wenn das Urtheil das er von einem ſo moraliſchen Werke des Wizes faͤllt, nicht auf ſeinen eignen ſittlichen Charakter zu - ruͤkprallt, und die geſundere Beſchaffenheit ſeines Ge - hirns nicht zu einem Beweiſe ſeines ſchlimmen Her - zens gemacht wird. Und wie ſollte es auch anders ſeyn koͤnnen? Unſre Eitelkeit iſt zuſehr dabey intereſ - ſtert, als daß wir uns derjenigen nicht annehmen ſoll - ten, welche unſre Natur, wiewohl eignen Ge - walts, zu einer ſo groſſen Hoheit und Wuͤrdigkeit er - halten. Es ſchmeichelt unſerm Stolze, der ſich un - gern durch ſo viele Zeichen von Vorzuͤgen des Stands, des Anſehens, der Macht und des aͤuſſerlichen Glanzes unter andre erniedriget ſieht, die Mittel (wenigſtens ſo lange das angenehme Blendwerk daurt) in ſeiner Gewalt zu ſehen, ſich uͤber die Gegenſtaͤnde ſeines Neides hinauf ſchwingen, und ſie tief im Staube un - ter ſich zuruͤklaſſen zu koͤnnen. Und wenn gleich die unverheelbare Schwaͤche unſrer Natur uns auf der ei - nen Seite, zu groſſem Voriheil unſrer Traͤgheit, von der Ausuͤbung heroiſcher Tugenden loszaͤhlt; ſo ergoͤzt ſich doch inzwiſchen unſre Eigenliebe an dem ſuͤſſenWahne,199Fuͤnftes Buch, achtes Capitel. Wahne, daß wir eben ſo wunderthaͤtige Helden gewe - ſen ſeyn wuͤrden, wenn uns das Schikſal an ihren Plaz geſezt haͤtte.
Wir muͤſſen uns gefallen laſſen, wie dieſe gewag - ten Gedanken, ſo natuͤrlich und wahr ſie uns ſcheinen, von den verſchiednen Claſſen unſrer Leſer aufgenommen werden moͤgen: Und wenn wir auch gleich Gefahr lauffen ſollten, uns unguͤnſtige Vorurtheile zuzuziehen; ſo koͤnnen wir doch nicht umhin, dieſe angefangene Be - trachtung um ſo mehr fortzuſezen, je groͤſſer die Be - ziehung iſt, welche ſie auf den ganzen Jnnhalt der vor - liegenden Geſchichte hat.
Unter allen den uͤbernatuͤrlichen Charaktern, welche die mehrbelobten romanhaften Sittenlehrer in einen ge - wiſſen Schwung von Hochachtung gebracht haben, ſind ſie mit keinem gluͤklicher geweſen, als mit dem Helden - denthum in der Großmuth, in der Tapferkeit und in der verliebten Treue. Daher finden wir die Liebensgeſchich - ten, Ritterbuͤcher und Romanen, von den Zeiten des guten Biſchofs Heliodorus biß zu den unſrigen, ſowol von Freunden, die einander alles, ſogar die Forde - rungen ihrer ſtaͤrkſten Leidenſchaften, und das angele - genſte Jntereſſe ihres Herzens aufopfern; von Rittern, welche immer bereit ſind, der erſten Jnfantin, die ih - nen begegnet, zu gefallen, ſich mit allen Rieſen und Ungeheuern der Welt herumzuhauen; und (biß Cre - billon eine bequemere Mode unter unſre Nachbarn jen -N 4ſeits200Agathon. ſeits des Rheins aufgebracht hat) beynahe von lauter Liebhabern, welche nichts angelegners haben, als in der Welt herumzuziehen, um die Nahmen ihrer Gelieb - ten in die Baͤume zu ſchneiden, ohne daß die reizen - deſten Verſuchungen, denen ſie von Zeit zu Zeit aus - geſezt ſind, vermoͤgend waͤren, ihre Treue nur einen Augenblik zu erſchuͤttern. Man muͤſte wohl ſehr ein - genommen ſeyn, wenn man nicht ſehen ſollte, war - um dieſe vermeynten Heldentugenden in eine ſo groſſe Hochachtung gekommen ſind. Von je her haben die Schoͤnen ſich berechtiget gehalten, eine Liebe, welche ihnen alles aufopfert, und eine Beſtaͤndlgkeit, die ge - gen alle andre Reizungen unempfindlich iſt, zu erwar - ten. Sie gleichen in dieſem Stuͤke den groſſen Herren, welche verlangen, daß unſerm Eifer nichts unmoͤglich ſeyn ſolle, und die ſich ſehr wenig darum bekuͤmmern, ob uns dasjenige, was ſie von uns fordern, gelegen, oder ob es uͤberhaupt recht und billig ſey, oder nicht. Eben ſo iſt es fuͤr unſre Beherrſcherinnen ſchon ge - nug, daß der Vortheil ihrer Eitelkeit und ihrer uͤbri - gen Leidenſchaften ſich bey dieſen vorgeblichen Tugen - den am beſten beſindet, um einen Artabanus oder einen Grafen von Comminges zu einem groͤſſern Mann in ihren Augen zu machen, als alle Helden des Plutarchs zuſammengenommen. Und iſt die unedle Eigennuͤzig - keit oder der feige Kleinmuth, womit wir (zumal bey jenen Voͤlkern, wo der Tod aus ſittlichen Urſachen mehr als natuͤrlich iſt, gefuͤrchtet wird) den groͤßeſten Theil der buͤrgerlichen Geſellſchaft angeſtekt ſehen,viel -201Fuͤnftes Buch, achtes Capitel. vielleicht weniger intereßirt, eine ſich ſelbſt ganz ver - geſſende Großmuth und eine Tapferkeit, die von nichts erzittert, zu vergoͤttern? Je vollkommener andre ſind, deſto weniger haben wir noͤthig es zu ſeyn; und je hoͤ - her ſie ihre Tugend treiben, deſto weniger haben wir bey unſern Laſtern zu beſorgen.
Der Himmel verhuͤte, daß unſre Abſicht jemals ſey, in ſchoͤnen Seelen dieſe liebenswuͤrdige Schwaͤr - merey fuͤr die Tugend abzuſchreken, welche ihnen ſo na - tuͤrlich und oͤfters die Quelle der lobenswuͤrdigſten Hand - lungen iſt. Alles was wir mit dieſen Bemerkungen ab - zielen, iſt allein, daß die romanhaften Helden, von denen die Rede iſt, noch weniger in dem Bezirke der Natur zu ſuchen ſeyen als die gefluͤgelten Loͤwen und die Fiſche mit Maͤdchenleibern; daß es moraliſche Gro - tesken ſeyen, welche eine muͤßige Einbildungskraft aus - bruͤtet, und ein verdorbner moraliſcher Sinn, nach Art gewiſſer Jndianer, deſtomehr vergoͤttert, je weiter ihre verhaͤltnißwuͤrdige Mißgeſtalt von der menſchlichen Na - tur ſich entfernet, welche doch, mit allen ihren Maͤn - geln, das beſte, liebenswuͤrdigſte und vollkommenſte Weſen iſt, das wir wuͤrklich kennen — und daß alſo der Held unſrer Geſchichte, durch die Veraͤnde - rungen und Schwachheiten, denen wir ihn unterworfen ſehen, zwar allerdings, wir geſtehen es, weniger ein Held, aber deſtomehr ein Menſch, und alſo deſto ge - ſchikter ſey, uns durch ſeine Erfahrungen, und ſelbſt durch ſeine Fehler zu belehren.
N 5Wir202Agathon.Wir koͤnnen indeß nicht bergen, daß wir aus ver - ſchiednen Gruͤnden in Verſuchung gerathen ſind, der hiſtoriſchen Wahrheit dieſes einzige mal Gewalt anzu - thun, und unſern Agathon, wenn es auch durch ir - gend einen Deum ex Machina haͤtte geſchehen muͤſſen, ſo unverſehrt aus der Gefahr, worinn er ſich wuͤrk - lich befindet, herauszuwikeln, als es fuͤr die Ehre des Platonismus, die er bisher ſo ſchoͤn behauptet hat, allerdings zu wuͤnſchen geweſen waͤre. Allein da wir in Erwaͤgung zogen, daß dieſe einzige poetiſche Freyheit uns noͤthigen wuͤrde, in der Folge ſeiner Begebenhei - ten ſo viele andre Veraͤndtrungen vorzunehmen, daß die Geſchichte Agathons wuͤrklich die Natur einer Geſchichte verlohren haͤtte, und zur Legende irgend eines morali - ſchen Don Eſplandians geworden waͤre: So haben wir uns aufgemuntert, uͤber alle die ekeln Bedenklich - lichkeiten hinauszugehen, die uns anfaͤnglich ſtuzen ge - macht hatten, und uns zu uͤberreden, daß der Nuzen, den unſre verſtaͤndigen Leſer ſogar von den Schwach - heiten unſers Helden in der Folge zu ziehen Gelegenheit bekommen koͤnnten, ungleich groͤſſer ſeyn duͤrfte, als der zweydeutige Vortheil, den die Tugend dadurch erhalten haͤtte, wenn wir, durch eine unwahrſcheinlichere Dich - tung als man im ganzen Orlando unſers Freunds Arioſt finden wird, die ſchoͤne Danae in die Nothwendigkeit geſezt haͤtten, in der Stille von ihm zu denken, was die beruͤhmte Phryne bey einer gewiſſen Gelegenheit von dem weiſen Xenoerates oͤffentlich geſagt haben ſoll.
So203Fuͤnftes Buch, achtes Capitel.So wiſſet dann, ſchoͤne Leſerinnen, (und huͤtet euch, ſtolz auf dieſen Sieg eurer Zaubermacht zu ſeyn,) daß Agathon, nachdem er eine ziemliche Weile in einem Gemuͤthszuſtand, deſſen Abſchilderung den Pinſel eines Thomſons oder Geßners erfoderte, allein zuruͤk - geblieben war, wir wiſſen nicht ob aus eigner Be - wegung oder durch den geheimen Antrieb irgend eines antiplatoniſchen Genius den Weg gegen einen Pavillion genommen, der auf der Morgenſette des Gartens in einem kleinen Hayn von Citronen-Granaten-und Myr - thenbaͤumen auf joniſchen Saͤulen von Jaſpis ruhte; daß er, weil er ihn erleuchtet gefunden, hinein - gegangen, und nachdem er einen Saal, deſſen herr - liche Auszierung ihn nicht einen Augenblik aufhalten konnte, und zwey oder drey kleinere Zimmer durchgeei - let, in einem Cabinet, welches fuͤr die Ruhe der Lie - besgoͤttin beſtimmt ſchien, die ſchoͤne Danae auf einem Sofa von nelkenfarbem Atlas ſchlafend angetroffen; daß er, nachdem er ſie eine lange Zeit in unbeweglicher Entzuͤ - kung und mit einer Zaͤrtlichkeit, deren innerliches Ge - fuͤhl alle koͤrperliche Wolluſt an Suͤßigkeit uͤbertrift, be - trachtet hatte, endlich
— — von der Gewalt der allmaͤchtigen Lie - be bezwungen,
ſich nicht laͤnger zu enthalten vermocht, zu ihren Fuͤſſen kniend, eine von ihren nachlaͤßig ausgeſtrekten ſchoͤnen Haͤnden mit einer Jnbrunſt, wovon wenige Liebhaberſich204Agathon. ſich eine Vorſtellung zu machen jemals verliebt genug geweſen ſind, zu kuͤſſen, ohne daß ſie daran erwacht waͤre; daß er hierauf noch weniger als zuvor ſich entſchlieſſen koͤnnen, ſo unbemerkt als er gekommen, ſich wieder hinwegzuſchleichen; und kurz, daß die kleine Pſyche, die Taͤnzerin, welche ſeit der Pantomime, man weiß nicht warum, gar nicht ſeine Freundin war, mit ihren Augen geſehen haben wollte, daß er eine zimliche Weile nach Anbruch des Tages, allein, und mit einer Mine, aus welcher ſich ſehr vieles habe ſchlieſ - ſen laſſen, aus dem Pavillion hinter die Myrthenheken ſich weggeſtohlen habe.
Die Tugend (pflegt man dem Horaz nachzuſagen) iſt die Mittelſtraſſe zwiſchen zween Abwegen, welche beyde gleich ſorgfaͤltig zu vermeiden ſind. Es iſt ohne Zwei - fel wol gethan, wenn ein Schriftſteller, der ſich einen wichtigern Zwek als die bloſſe Ergoͤzung ſeiner Leſer vorgeſezt hat, bey gewiſſen Anlaͤſen, anſtatt des zaum - loſen Muthwillens vieler von den neuern Franzoſen, lieber die beſcheidne Zuruͤkhaltung des jungfraͤulichen Virgils nachahmet, welcher bey einer Gelegenheit, wodie205Fuͤnftes Buch, neuntes Capitel. die Angola’s und Verſorand’s alle ihre Mahlerkunſt ver - ſchwendet, und ſonſt nichts beſorget haͤtten, als daß ſie nicht lebhaft und deutlich genug ſeyn moͤchten, ſich begnuͤgt uns zu ſagen:
Allein wenn dieſe Zuruͤkhaltung ſo weit gienge, daß die Dunkelheit, welche man uͤber einen ſchluͤpfrigen Gegenſtand ausbreitete, zu Mißverſtand und Jrrium Anlaß geben koͤnnte: So wuͤrde ſie, daͤucht uns, in eine falſche Schaam ausarten; und in ſolchen Faͤllen ſcheint uns rathſamer zu ſeyn, den Vorhang ein we - nig wegzuziehen, als aus uͤbertriebener Bedenklichkeit Gefahr zu lauffen, vielleicht die Unſchuld ſelbſt unge - gruͤndeten Vermuthungen auszuſezen. So aͤrgerlich alſo gewiſſen Leſerinnen, deren ſtrenge Tugend bey dem bloſſen Nahmen der Liebe Dampf und Flammen ſpeyt, der Anblik eines ſchoͤnen Juͤnglings zu den Fuͤſſen einer ſelbſt im Schlummer lauter Liebe und Wolluſt athmen - den Danae billig ſeyn mag; ſo koͤnnen wir doch nicht vorbeygehen, uns noch etliche Augenblike bey dieſem an - ſtoͤßigen Gegenſtande aufzuhalten. Man iſt ſo geneigt, in ſolchen Faͤllen der Einbildungskraft den Zuͤgel ſchieſ - ſen zu laſſen, daß wir uns laͤcherlich machen wuͤrden, wenn wir behaupten wollten, daß unſer Held die ganze Zeit, die er (nach dem Vorgeben der kleinen Taͤnze - rin) in dem Pavillion zugebracht haben ſoll, ſich im - mer in der ehrfurchtsvollen Stellung gehalten habe, worinn man ihn zu Ende des vorigen Capitels geſehenhat.206Agathon. hat. Wir muͤſſen vielmehr beſorgen, daß Leute, wel - che nichts dafuͤr koͤnnen, daß ſie keine Agathons ſind, vielleicht ſo weit gehen moͤchten, ihn im Verdacht zu haben, daß er ſich den tiefen Schlaf, worinn Danae zu liegen ſchien, auf eine Art zu Nuze gemacht haben koͤnnte, welche ſich ordentlicher Weiſe nur fuͤr einen Faunen ſchikt, und welche unſer Freund Johann Ja - cob Rouſſeau ſelbſt nicht ſchlechterdings gebilliget haͤtte, ſo ſcharfſinnig er auch (in einer Stelle ſeines Schrei - bens an Herrn Dalembert) dasjenige zu rechtferti - gen weißt, was er „ eine ſtillſchweigende Einwilligung abnoͤthigen „ nennet. Um nun unſern Agathon gegen alle ſolche unverſchuldete Muthmaſſungen ſicher zu ſtel - len, muͤſſen wir zur Steuer der Wahrheit melden, daß ſelbſt die reizende Lage der ſchoͤnen Schlaͤferin, und die guͤnſtige Leichtigkeit ihres Anzugs, welche ihn einzula - den ſchien, ſeinen Augen alles zu erlauben, ſeine Be - ſcheidenheit ſchwerlich uͤberraſcht haben wuͤrden, wenn es ihm moͤglich geweſen waͤre, der zauberiſchen Gewalt der Empfindung, in welche alle Kraͤfte ſeines Weſens zerfloſſen ſchienen, Widerſtand zu thun. Wir wagen nicht zuviel, wenn wir einen ſolchen Widerſtand in ſeinen Umſtaͤnden fuͤr unmoͤglich erklaͤren, nachdem er einem Agathon unmoͤglich geweſen iſt. Er uͤberließ alſo endlich ſeine Seele der vollkommenſten Wonne ihres edel - ſten Sinnes, dem Anſchauen einer Schoͤnheit, welche ſelbſt ſeine idealiſche Einbildungskraft weit hinter ſich zuruͤke ließ; und (was nur diejenigen begreiffen wer - den, welche die wahre Liebe kennen,) dieſes Anſchauenerfuͤllte207Fuͤnftes Buch, neuntes Capitel. erfuͤllte ſein Herz mit einer ſo reinen, vollkommnen, unbeſchreiblichen Befriedigung, daß er alle Wuͤnſche, alle Ahnungen einer noch groͤſſern Gluͤkſeligkeit daruͤber vergeſſen zu haben ſchien. Vermuthlich (denn gewiß koͤnnen wir hieruͤber nichts entſcheiden) wuͤrde die Schoͤn - heit des Gegenſtands allein, ſo auſſerordentlich ſie war, dieſe ſonderbare Wuͤrkung nicht gethan haben; allein dieſer Gegenſtand war ſeine Geliebte, und dieſer Um - ſtand verſtaͤrkte die Bewundrung, womit auch die Kalt - ſinnigſten die Schoͤnheit anſehen muͤſſen, mit einer Em - pfindung, welche noch kein Dichter zu beſchreiben faͤ - hig geweſen iſt, ſo ſehr ſich auch vermuthen laͤßt, daß ſie den mehreſten aus Erfahrung bekannt geweſen ſeyn koͤnne. Dieſe nahmenloſe Empfiudung iſt es al - lein, was den wahren Liebhaber von einem Satyren un - terſcheidet, und was eine Art von ſittlichen Grazien ſogar uͤber dasjenige ausbreitet, was bey dieſem nur das Werk des Juſtinkts, oder eines animaliſchen Hun - gers iſt. Welcher Satyr wuͤrde in ſolchen Augenbli - ken faͤhig geweſen ſeyn, wie Agathon zu handeln? — Behutſam und mit der leichten Hand eines Sylphen zog er das ſeidene Gewand, welches Amor verraͤthe - riſch aufgedekt hatte, wieder uͤber die ſchoͤne Schla - fende her, warf ſich wieder zu den Fuͤſſen ihres Ruhe - bettes, und begnuͤgte ſich, ihre nachlaͤßig ausgeſtrekte Hand, aber mit einer Zaͤrtlichkeit, mit einer Entzuͤ - kung und Sehnſucht an ſeinen Mund zu druͤken, daß eine Bildſaͤule davon haͤtte erwekt werden moͤgen. Sie muſte alſo endlich erwachen. Und wie haͤtte ſie auchſich208Agathon,ſich deſſen laͤnger erwehren koͤnnen, da ihr bisheriger Schlummer wuͤrklich nur erdichtet geweſen war? Sie hatte aus einer Neugierigkeit, die in ihrer Verfaſſung natuͤrlich ſcheinen kan, ſehen wollen, wie ein Agathon bey einer ſo ſchluͤpfrigen Gelegenheit ſich betragen wuͤrde; und dieſer lezte Beweis einer vollkommnen Liebe, welche, ungeachtet ihrer Erfahrenheit, alle An - nehmlichkeiten der Neuheit fuͤr ſie hatte, ruͤhrte ſie ſo ſehr, daß ſie, von einer ungewohnten und unwider - ſtehlichen Empfindung uͤberwunden, in einem An - genblik, wo ſie zum erſtenmal zu lieben und geliebt zu werden glaubte, nicht mehr Meiſterin von ihren Be - wegungen war. Sie ſchlug ihre ſchoͤnen Augen auf, Augen die in den wolluͤſtigen Thraͤnen der Liebe ſchwammen, und dem entzuͤkten Agathon ſein ganzes Gluͤk auf eine unendlich vollkommnere Art entdekten, als es das beredteſte Liebesgeſtaͤndnis haͤtte thun koͤn - nen. O Callias! (rief ſie endlich mit einem Ton der Stimme, der alle Sayten ſeines Herzens widerhallen machte, indem ſie, ihre ſchoͤnen Arme um ihn windend, den Gluͤkſeligſten aller Liebhaber an ihren Buſen druͤkte,) — was fuͤr ein neues Weſen giebſt du mir? Ge - nieſſe, o! genieſſe, du Liebenswuͤrdigſter unter den Sterblichen, der ganzen unbegraͤnzten Zaͤrtlichkeit, die du mir einfloͤſſeſt. Und hier, ohne den Leſer unnoͤthi - ger Weiſe damit aufzuhalten, was ſie ferner ſagte, und was er antwortete, uͤberlaſſen wir den Pinſel ei - nem Correggio, und ſchleichen uns davon.
Aber209Fuͤnftes Buch, neuntes Capitel.Aber wir fangen an, zu merken, wiewohl zu ſpaͤte, daß wir unſern Freund Agathon auf Unkoſten ſeiner ſchoͤ - nen Freundin gerechtfertiget haben. Es iſt leicht vor - auszuſehen, wie wenig Gnade ſie vor dem ehrwuͤrdi - gen und gluͤklichen Theil unſrer Leſerinnen finden wer - de, welche ſich bereden (und vermuthlich Urſache da - zu haben) daß ſie in aͤhnlichen Umſtaͤnden ſich ganz anders als Danae betragen haben wuͤrden. Auch find wir weit davon entfernt, dieſe allzuzaͤrtliche Nymphe ent - ſchuldigen zu wollen, ſo ſcheinbar auch immer die Liebe ihre Vergehungen zu bemaͤnteln weiß. Jndeſſen bitten wir doch die vorbelobten Lukretien um Erlaubnis, die - ſes Capitel mit einer kleinen Nuzanwendung, auf die ſie ſich vielleicht nicht gefaßt gemacht haben, ſchlieſſen zu duͤrfen. Dieſe Damen (mit aller Ehrfurcht die wir ihnen ſchuldig ſind, ſey es geſagt) wuͤrden ſich ſehr be - truͤgen, wenn ſie glaubten, daß wir die Schwachheiten einer ſo liebenswuͤrdigen Creatur, als die ſchoͤne Danae iſt, nur darum verrathen haͤtten, damit ſie Gelegenheit bekaͤmen, ihre Eigenliebe daran zu kizeln. Wir ſind in der That nicht ſo ſehr Neulinge in der Welt, daß wir uns uͤberreden laſſen ſollten, daß eine jede, welche ſich uͤber das Betragen unſrer Danae aͤrgern wird, an ihrer Stelle weiſer geweſen waͤre. Wir wiſſen ſehr wohl, daß nicht alles, was das Gepraͤge der Tugend fuͤhrt, wuͤrklich aͤchte und vollhaltige Tugend iſt; und daß ſechs - zig Jahre, oder eine Figur, die einen Sylvanſatyren entwafnen koͤnnte, kein oder ſehr wenig Recht geben, ſich viel auf eine Tugend zu gut zu thun, welche vielleicht[Agath. I. Th.] Onie -210Agathon. niemand jemals verſucht geweſen iſt, auf die Probe zu ſtellen. Wir zweifeln mit gutem Grunde ſehr daran, daß diejenigen, welche von einer Danae am unbarm - herzigſten urtheilen, an ihrem Plaz einem viel weni - ger gefaͤhrlichen Verſucher als Agathon war, die Augen auskrazen wuͤrden: Und wenn ſie es auch thaͤ - ten, ſo wuͤrden wir vielleicht anſtehen, ihrer Tugend beyzumeſſen, was eben ſowohl die mechaniſche Wuͤr - kung unreizbarer Sinnen, und eines unzaͤrtlichen Her - zens, haͤtte geweſen ſeyn koͤnnen. Unſer Augenmerk iſt bloß auf euch gerichtet, ihr liebreizenden Geſchoͤpfe, denen die Natur die ſchoͤnſte ihrer Gaben, die Gabe zu gefallen, geſchenkt — ihr, welche ſie beſtimmt hat, uns gluͤklich zu machen; aber, welche eine ein - zige kleine Unvorſichtigkeit in Erfuͤllung dieſer ſchoͤnen Beſtimmung ſo leicht in Gefahr ſezen kan, durch die ſchaͤzbarſte eurer Eigenſchaften, durch das was die An - lage zu jeder Tugend iſt, durch die Zaͤrtlichkeit eures Herzens ſelbſt, ungluͤklich zu werden: Euch allein wuͤnſchten wir uͤberreden zu koͤnnen, wie gefaͤhrlich jene Einbildung iſt, womit euch das Bewußtſeyn eurer Un - ſchuld ſchmeichelt, daß es allezeit in eurer Macht ſtehe, der Liebe und ihren Forderungen Grenzen zu ſezen. Moͤchten die Unſterblichen (wenn anders, wie wir hoffen, die Unſchuld und die Guͤte des Herzens himm - liſche Beſchuͤzer hat,) moͤchten ſie uͤber die eurige wa - chen! Moͤchten ſie euch zu rechter Zeit warnen, euch einer Zaͤrtlichkeit nicht zu vertrauen, welche, bezaubert von dem großmuͤthigen Vergnuͤgen, den Gegenſtandihrer211Fuͤnftes Buch, zehentes Capitel. ihres Liebe gluͤklich zu machen, ſo leicht ſich ſelbſt ver - geſſen kan! Moͤchten ſie endlich in jenen Augenbliken, wo das Anſchauen der Entzuͤkungen, in die ihr zu ſe - zen faͤhig ſeyd, eure Klugheit uͤberraſchen koͤnnte, euch in die Ohren fluͤſtern: Daß ſelbſt ein Agathon, weder Verdienſt noch Liebe genug hat, um werth zu ſeyn, daß die Befriedigung ſeiner Wuͤnſche euch die Ruhe eures Herzens koſte.
Die ſchoͤne Danae war keine von denen, welche das, was ſie thun, nur zur Haͤlfte thun. Nachdem ſie ein - mal beſchloſſen hatte, ihren Freund gluͤklich zu machen, ſo vollfuͤhrte ſie es auf eine Art, welche alles was er bisher Vergnuͤgen und Wonne genannt hatte, in Schat - ten und Wolkenbilder verwandelte. Man erinnert ſich vermuthlich noch, daß eine Art von Vorwiz oder viel - mehr ein launiſcher Einfall, die Macht ihrer Reizun - gen an unſerm Helden zu probieren, anfangs die einzige Triebfeder der Anſchlaͤge war, welche ſie auf ſein Herz gemacht hatte. Die perſoͤnliche Bekanntſchaft belebteO 2dieſes212Agathon. dieſes Vorhaben durch den Geſchmak, den ſie an ihm fand; und der taͤgliche Umgang, die Vorzuͤge Agathons, und, was in den meiſter Faͤllen die Niderlage der weib - lichen Tugend wo nicht allein verurſacht, doch ſehr be - foͤrdert, die anſtekende Kraft, das Sympathetiſche der verliebten Begeiſterung, welcher der goͤttliche Plato mit Recht die wunderthaͤtigſten Kraͤfte zuſchreibt; alles dieſes zuſammen genommen, verwandelte zulezt dieſen Geſchmak in Liebe, aber in die wahreſte, zaͤrtlichſte und heftigſte, welche jemals geweſen iſt. Unſerm Helden allein war die Ehre aufbehalten (wenn es eine war) ihr eine Art von Liebe einzufloͤſſen, worinn ſie, unge - achtet alles deſſen, was uns von ihrer Geſchichte ſchon entdekt worden iſt, noch ſo ſehr ein Neuling war, als es eine Veſtalin in jeder Art von Liebe ſeyn ſoll. Kurz, er, und er allein, war darzu gemacht, den Wider - willen zu uͤberwinden, den ihr die gemeinen Liebhaber, die ſchoͤnen Hyacinthe, dieſe taͤndelnden Geken, an de - nen (um uns ihres eigenen Ausdruks zu bedienen) die Haͤlfte ihrer Reizungen verlohren gieng; gegen alles was die Mine der Liebe trug, einzufloͤſſen angefangen hatten.
Die meiſten von derjenigen Claſſe der Naturkuͤndi - ger, welche mit dem Herrn von Buͤffon davorhalten, daß das Phyſikaliſche der Liebe das beſte davon ſey, wer - den ohne Bedenken eingeſtehen, daß der Beſiz, oder (um unſern Ausdruk genauer nach ihren Jdeen zu beſtim - men) der Genuß einer ſo ſchoͤnen Frau als Danaewar,213Fuͤnftes Buch, zehentes Capitel. war, an ſich ſelbſt betrachtet die vollkommenſie Art von Vergnuͤgungen in ſich ſchlieſſe, deren unſre Sinnen faͤ - hig ſind; eine Wahrheit, welche, ungeachtet einer Art von ſtillſchweigender Uebereinkunft, daß man ſie nicht laut geſtehen wolle, von allen Voͤlkern und zu allen Zeiten ſo allgemein anerkannt worden iſt, daß Car - neades, Sextus, Cornelius Agrippa, und Bayle ſelbſt ſich nicht getrauet haben, ſie in Zweifel zu ziehen. Ob wir nun gleich nicht Muth genug beſizen, gegen einen ſo ehrwuͤrdigen Beweis als das einhellige Gefuͤhl des ganzen menſchlichen Geſchlechts abgiebt, oͤffentlich zu behaupten, daß diejenigen Vergnuͤgungen der Liebe, welche der Seele eigen ſind, den Vorzug vor jenen ha - ben: So werden doch nicht wenige mit uns einſtimmig ſeyn, daß ein Liebhaber, der ſelbſt eine Seele hat, im Beſiz der ſchoͤnſten Statur von Fleiſch und Blut, die man nur immer finden kan, ſelbſt jene von den neuern Epicuraͤern ſo hoch geprieſene Wolluſt nur in einem ſehr unvollkommnen Grade erfahren wuͤrde; und daß dieſe allein von der Empfindung des Herzens jenen wunder - baren Reiz erhalte, welcher immer fuͤr unausſprech - lich gehalten worden iſt, biß Rouſſeau, der Stoiker, ſich herabgelaſſen, ſie in dem fuͤnf und vierzigſten der Briefe der neuen Heloiſe, in einer Vollkommenheit zu ſchildern, welche ſehr deutlich beweißt, was fuͤr eine begeiſternde Kraft die bloſſe halberloſchene Erinnerung an die Erfahrungen ſeiner gluͤklichen Jugend uͤber die Seele des Helvetiſchen Epictets ausgeuͤbt haben muͤſſe. Ohne Zweifel ſind es Liebhaber von dieſer Art, SaintO 3Preux214Agathon. Preux und Agathons, welchen es zukoͤmmt, uͤber die beruͤhrte Streitfrage einen entſcheidenden Ausſpruch zu thun; ſie, welche durch die Feinheit und Lebhaftigkeit ihres Gefuͤhls eben ſo geſchikt gemacht werden, von den phyſicaliſchen, als durch die Zaͤrtlichkeit ihres Herzens, oder durch ihren innerlichen Sinn fuͤr das ſittliche Schoͤne, von den moraliſchen Vergnuͤgungen der Liebe zu urthei - len. Und wie wahr, wie natuͤrlich werden nicht dieſe jene Stelle finden, die den Verehrern der animaliſchen Liebe unverſtaͤndlicher iſt als eine Hetruſciſche Aufſchrift den Gelehrten, — „ O, entziehe mir immer dieſe be - rauſchenden Entzuͤkungen, fuͤr die ich tauſend Leben gaͤbe! — Gieb mir nur das alles wieder was nicht ſie, aber tauſendmal ſuͤſſer iſt als ſie „ —
Die ſchoͤne Danae war ſo ſinnreich, ſo unerſchoͤpflich in der Kunſt (wenn man anders dasjenige ſo nennen kan, was Natur und Liebe allein, und keine ohne die andre geben kan) ihre Gunſtbezeugungen zu vervielfaͤl - tigen, den innerlichen Werth derſelben durch die An - nehmlichkeiten der Verzierung zu erhoͤhen, ihnen im - mer die friſche Bluͤthe der Neuheit zu erhalten, und alles Eintoͤnige, alles was die Bezauberung haͤtte aufloͤ - ſen, und dem Ueberdruß den Zugang oͤfuen koͤnnen, kluͤglich zu entfernen; daß ſie oder eine andre ihres glei - chen den Herrn von Buͤffon ſelbſt dahin gebracht haͤtte, ſeine Gedanken von der Liebe zu aͤndern, welches viel - leicht alle Marquiſinnen von Paris zuſammengenommen nicht von ihm erhalten wuͤrden. Dieſe gluͤkſeligen Lie -benden215Fuͤnftes Buch, zehentes Capitel. benden, brauchten, um ihrer Empfindung nach, den Goͤttern an Wonne gleich zu ſeyn, nichts als ihre Liebe: Sie verſchmaͤhten izt alle dieſe Luſtbarkeiten, an de - nen ſie vorher ſo viel Geſchmak gefunden hatten; ihre Liebe machte alle ihre Beſchaͤftigungen und alle ihre Er - goͤzungen aus: Sie empfanden nichts anders, ſie dachten an nichts anders, ſie unterhielten ſich mit nichts anderm; und doch ſchienen ſie ſich immer zum erſtenmal zu ſehen, zum erſtenmal zu umarmen, zum erſtenmal einander zu ſagen, daß ſie ſich liebten; und wenn ſie von einer Morgenroͤthe zur andern nichts anders ge - than hatten, ſo beklagten ſie ſich doch uͤber die Karg - heit der Zeit, welche zu einem Leben, das ſie zum Beſten ihrer Liebe unſterblich gewuͤnſcht haͤtten, ihnen Augenblike fuͤr Tage anrechne. Welch ein Zuſtand, wenn er dauern koͤnnte! — ruft hier der griecht - ſche Autor aus.
Ein alter Schriftſteller, den gewiß niemand beſchul - digen wird, daß er die Liebe zu metaphyſiſch behandelt habe, und den wir nur zu nennen brauchen, um al - len Verdacht deſſen, was materielle Seelen fuͤr Plato - niſche Grillen erklaͤren, von ihm zu entfernen; mitO 4einem216Agathon. einem Worte, Petronius, bedient ſich irgendwo eines Ausdruks, welcher ganz deutlich zu erkennen giebt, daß er eine verliebte Vermiſchung der Seelen nicht nur fuͤr moͤglich, ſondern fuͤr einen ſolchen Umſtand gehalten habe, der die Geheimniſſe der Liebesgoͤttin natuͤrlicher Weiſe zu begleiten pflege. Jam alligata mutuo ambitu corpora animarum quoque mixturam fecerant, ſagt dieſer Oberaufſeher der Ergoͤzlichkeiten des Kayſers Nero; um vermuthlich eben daſſelbe zu bezeichnen, was er an einem andern Ort ungleich ſchoͤner alſo aus - druͤkt:
Ob er ſelbſt die ganze Staͤrke dieſes Ausdruks einge - ſehen, oder ihm ſo viel Bedeutung beygelegt habe, als wir; iſt eine Frage, die uns (nach Gewohnheit der meiſten Ausleger) ſehr wenig bekuͤmmert. Genug, daß wir dieſe Stellen einer Hypotheſe guͤnſtig finden, ohne welche ſich, unſrer Meynung nach, verſchiedene Phaͤnomena der Liebe nicht wohl erklaͤren laſſen, und vermoͤge welcher wir annehmen, daß bey wahren Lie - benden, in gewiſſen Umſtaͤnden, nicht (wie einer unſ - rer tugendhafteſten Dichter meynt) ein Tauſch, ſon - dern eine wuͤrkliche Miſchung der Seelen vorgehe. Wie dieſes moͤglich ſey zu unterſuchen, uͤberlaſſen wir billig den weiſen und tiefſinnigen Leuten, welche ſich, in ſtolzer Muſſe und ſeliger Abgeſchiedenheit von dem Getuͤmmel dieſer ſublunariſchen Welt, mit der nuͤzli -chen217Fuͤnftes Buch, eilftes Capitel. chen Speculation beſchaͤftigen, die Art und Weiſe aus - fuͤndig zu machen, wie dasjenige was wuͤrklich iſt, ohne Nachtheil ihrer Meynungen und Lehrgebaͤude, moͤglich ſeyn koͤnne. Fuͤr uns iſt genug, daß eine durch unzaͤh - liche Veyſpiele beſtaͤtigte Erfahrung auſſer allen Zweifel ſezt, daß diejenige Gattung von Liebe, welche Schaf - tesbury mit beſtem Recht zu einer Art des Enthuſias - mus macht, und gegen welche Lucrez aus eben dieſem Grunde ſich mit ſo vielem Eifer erklaͤrt, ſolche Wuͤr - kungen hervorbringe, welche nicht beſſer als durch je - nen Petroniſchen Ausdruk abgemahlt werden koͤnnen.
Agathon und Danae, die uns zu dieſer Anmerkung Anlaß gegeben haben, hatten kaum vierzehn Tage, welche frey - lich nach dem Calender der Liebe nur vierzehn Augen - blike waren, in dieſem gluͤkſeligen Zuſtande, worinn wir ſie im vorigen Capitel verlaſſen haben, zugebracht: als dieſe Seelenmiſchung ſich in einem ſolchen Grade bey ihnen aͤuſſerte, daß ſie nur von einer einzigen gemein - ſchaftlichen Seele belebt und begeiſtert zu werden ſchie - nen. Wuͤrklich war die Veraͤnderung und der Abſaz ihrer gegenwaͤrtigen Art zu ſeyn, mit ihrer vorigen ſo groß, daß weder Alcibiades ſeine Danae, noch die Prieſterin zu Delphi den ſproͤden und unkoͤrperlichen Agathon wieder erkannt haben wuͤrden. Das dieſer aus einem ſpeculativen Platoniker ein practiſcher Ari - ſtipp geworden; daß er eine Philoſophie, welche die reinſte Gluͤkſeligkeit in Veſchauung unſichtbarer Schoͤn - heiten ſezt, gegen eine Philoſophie, welche ſie in ange -O 5nehmen218Agathon. nehmen Empfindungen, und die angenehmen Empfin - dungen in ihren naͤchſten Quellen, in der Natur, in unſern Sinnen und in unſern Herzen ſucht, vertauſchte; daß er von den Goͤttern und Halbgoͤttern, mit denen er vorher umgegangen war, nur die Grazien und Liebesgoͤtter beybehielt; daß dieſer Agathon, der eh - mals von ſeinen Minuten, von ſeinen Augenbliken der Weisheit Rechenſchaft geben konnte, izt faͤhig war, (wir ſchaͤmen uns es zu ſagen) ganze Stunden, ganze Tage in zaͤrtlicher Trunkenheit wegzutaͤndeln — Alles dieſes, ſo ſtark der Abfall auch iſt, wird den - noch den meiſten begreiflich ſcheinen. Aber daß Danae, welche die Schoͤnſten und Edelſten von Aſien, welche Fuͤrſten und Satrapen zu ihren Fuͤſſen geſehen hatte, welche gewohnt war, in den ſchimmerndſten Verſamm - lungen am meiſten zu glaͤnzen, einen Hof von allem, was durch Vorzuͤge der Geburt, des Geiſtes, des Reichthums und der Talente wuͤrdig war, nach ihrem Beyfall zu ſtreben, um ſich her zu ſehen: Daß dieſe Danae izt veraͤchtliche Blike in die groſſe Welt zuruͤk - warf, und nichts angenehmers fand als die laͤndliche Einfalt, nichts ſchoͤners als in Haynen herumzuirren, Blumenkraͤnze fuͤr ihren Schaͤfer zu winden, an einer murmelnden Quelle in ſeinem Arm einzuſchlummern, von der Welt vergeſſen zu ſeyn, und die Welt zu ver - geſſen — daß ſie, fuͤr welche die Liebe der Em - pfindung ſonſt ein unerſchoͤpflicher Gegenſtand von wi - zigen Spoͤttereyen geweſen war, izt von den zaͤrtlichen Klagen der Nachtigall in ſtillheitern Naͤchten biß zuThraͤ -219Fuͤnftes Buch, eilftes Capitel. Thraͤnen geruͤhrt werden — oder wenn ſie ihren Geliebten unter einer ſchattichten Laube ſchlafend fand, ganze Stunden, unbeweglich, in zaͤrtliches Staunen und in den Genuß ihrer Empfindungen verſenkt, neben ihm ſizen konnte, ohne daran zu denken, ihn durch ei - nen eigennuͤzigen Kuß aufzuweken, — daß dieſe Schuͤle - rin des Hippias, welche gewohnt geweſen war, nichts laͤcherlichers zu finden, als die Hofnung der Unſterb - lichkeit, und dieſe ſuͤſſen Traͤume von beſſern Welten, in welche ſich empfindliche Seelen ſo gerne zu wiegen pflegen — daß ſie izt, beym daͤmmernden Schein des Monds, an Agathons Seite auf Blumen hinge - goſſen, ſchon entkoͤrpert zu ſeyn, ſchon in den ſeligen Thaͤlern des Elyſiums zu ſchweben glaubte — mit - ten aus den berauſchenden Freuden der Liebe ſich zu Gedanken von Graͤbern und Urnen verliehren, dann ihren Geliebteu zaͤrtlicher an ihre Bruſt druͤkend den geſtirnten Himmel anſchauen, und ganze Stunden von der Wonne der Unſterblichen, von unvergaͤnglichen Schoͤnheiten und himmliſchen Welten phantaſieren konn - te, und, von den Wuͤnſchen ihrer grenzenloſen Liebe getaͤuſcht, in der Hofnung einer immerwaͤhrenden Dauer izt ſo wenig Ausſchweifendes fand, daß ihr kein Ge - danke natuͤrlicher, keine Hofnung gewiſſer ſchien; die - ſes waren in der That Wunderwerke der Liebe, und Wunderwerke, welche nur die Liebe eines Agathons, nur jene Vermiſchung der Seelen, durch welche ihrer beyder Denkungsart, Jdeen, Geſchmak und Neigun - gen in einander zerfloſſen, zuwege bringen konnte. Welches220Agathon. Welches von beyden bey dieſer Vermiſchung gewon - nen oder verlohren habe, wollen wir unſern Le - ſern zu entſcheiden uͤberlaſſen, von denen der zaͤrtli - chere Theil vielleicht der ſchoͤnen Danae den Vortheil zuerkennen wird: Aber dieſes, daͤucht uns, wird niemand ſo roh oder ſo ſtoiſch ſeyn zu laͤugnen, daß ſie gluͤklich waren — felices errore ſuo — gluͤk - lich in dieſer ſuͤſſen Bethoͤrung, welcher, um dasje - nige zu ſeyn, was die Weiſen ſchon ſo lange geſucht und nie gefunden haben, nichts abgeht, als daß ſie (wie der griechiſche Autor hier abermal mit Bedauern ausruft) nicht immer waͤhren kan.
Zufaͤllige Urſachen hatten es ſo gefuͤget, daß Hippias ſich auf einiche Wochen von Smirna hatte entfer - nen muͤſſen, und daß die Zeit ſeiner Abweſenheit gerade in diejenige Zeit, worinn die Liebe unſers Hel - den und der ſchoͤnen Danae den aͤuſſerſten Punkt ihrer Hoͤhe erreichte. Dieſer Umſtand hatte ſie gaͤnzlich Mei - ſter von einer Zeit gelaſſen, welche ſie zum Vortheil der Liebe und des Vergnuͤgens ſo wohl anzuwenden wußten. Keiner von Danaes ehemaligen Verehrern hatte ſich erkuͤhnt, ihre Einſamkeit zu ſtoͤren; und die Freundinnen, mit denen ſie ehmals in Geſellſchaft geſtan - den war, hatten zu gutem Gluͤk alle mit ihren eignen Angelegenheiten ſo viel zu thun, daß ſie keine Zeit be - hielten, ſich um Fremde zu bekuͤmmern. Zudem war ihr Aufenthalt auf dem Lande nichts ungewoͤhnliches, und der allgemeine Genius der Stadt Smirna war der Freyheit in der Wahl der Vergnuͤgungen allzuguͤn - ſtig, als daß eine Danae (von der man ohnehin keineveſtali -222Agathon. veſtaliſche Tugend foderte) uͤber die ihrigen, wenn ſie auch bekannt geweſen waͤren, ſehr ſtrenge Urtheile zu beſorgen gehabt haͤtte.
Allein Hippias war kaum von ſeiner Reiſe zuruͤkge - kommen, ſo ließ er eine ſeiner erſten Sorgen ſeyn, ſich in eigner Perſon nach dem Fortgang des Entwurfs zu erkundigen, den er mit ihr zu Bekehrung des allzu - platoniſchen Callias gemeinſchaftlich angelegt hatte. Die beſondere Vertraulichkeit, worinn er ſeit mehr als zehn Jahren mit ihr gelebt hatte, gab ihm das vorzuͤgliche Recht, ſie auch alsdann zu uͤberraſchen, wenn ſie ſonſt fuͤr niemand ſichtbar war. Er eilte alſo, ſo bald er nur konnte, nach ihrem Landgute; und hier brauchte es nur einen Blik auf unſre Liebende zu werfen, um zu ſehen, wie viel in ſeiner Abweſenheit mit ihnen vorgegangen war. Ein gewiſſer Zwang, eine gewiſſe Zuruͤkhaltung, eine Art von ſchamhafter Schuͤchtern - heit, welche ihm beſonders an der Pflegtochter Aſpa - ſiens faſt laͤcherlich vorkam, war das erſte, was ihm an beyden in die Augen fiel. Wahre Liebe (wie man laͤngſt beobachtet hat) iſt eben ſo ſorgfaͤltig ihre Gluͤk - ſeligkeit zu verbergen, als jene froſtige Liebe, welche Coquetterie oder Langeweile zur Mutter hat, begierig iſt, ihre Siege auszupoſaunen. Allein dieſes war we - der die einzige noch die vornehmſte Urſache einer Zuruͤk - haltung, welche unſre Liebenden, aller angewandten Muͤhe ungeachtet, einem ſo ſcharfſichtigen Beobachter nicht entziehen konnten. Das Bewußtſeyn der Ver -wandlung223Sechstes Buch, erſtes Capitel. wandlung, welche ſie erlitten hatten; die Furcht vor dem comiſchen Anſehen, welches ſie ihnen in den Augen des Sophiſten geben moͤchte; die Furcht von einem Spott, vor dem ſie die muthwilligen Ergieſſungen bey jedem Blike, bey jedem Laͤcheln erwarteten; dieſes war es, was ſie in Verlegenheit ſezte, und was den artig - ſten Geſichtern in ganz Jonien etwas Verdrießliches gab, welches von einem jeden andern als Hippias fuͤr ein Zeichen, daß ſeine Gegenwart unangenehm ſey, haͤtte aufgenommen werden muͤſſen. Allein dieſer nahm es fuͤr das auf, was es in der That war; und da nie - mand beſſer zu leben wußte, ſo ſchien er ſo wenig zu bemerken, was in ihnen vorgieng, machte den Unacht - ſamen und Sorgloſen ſo natuͤrlich, hatte ſo viel von ſeiner Reiſe und tauſend gleichguͤltigen Dingen zu ſchwa - zen, und wußte dem Geſpraͤch einen ſo freyen Schwung von Munterkeit zu geben, daß ſie alle erforderliche Zeit gewannen, ſich wieder zu erholen, und ſich in eine un - gezwungene Verfaſſung zu ſezen. Wenn Agathon hie - durch ſo ſehr beruhiget wurde, daß er wuͤrklich hofte, ſich in ſeinen erſten Beſorgniſſen betrogen zu haben, ſo war die feinere Danae weit davon entfernt, ſich durch die Kunſtgriffe des Sophiſten ein Blendwerk vormachen zu laſſen. Sie kannte ihn zu guk, um nicht in ſeiner Seele zu leſen; ſie ſah wohl, daß es zu einer Eroͤrte - rung mit ihm kommen muͤſſe, und war nur daruͤber unruhig, wie ſie ſich entſchuldigen wollte, daß ſie, uͤber der Bemuͤhung den Charakter des Agathons umzubilden, ihren eignen oder doch einen guten Theil davon verloh -ren224Agathon. ren hatte. Mit dieſen Gedanken hatte ſie ſich in den Stunden der gewoͤhnlichen Mittagsruhe beſchaͤftiget, und war noch nicht recht mit ſich ſelbſt einig, wie weit ſie ſich dem Sophiſten vertrauen wolle; als er in ihr Zimmer trat, und mit der vertraulichen Freymuͤthig - keit eines alten Freundes ihr entdekte, daß es die Neu - gier uͤber den Fortgang ihres geheimen Anſchlags ſey, was ihn ſo bald nach ſeiner Wiederkunft zu ihr gezogen habe. Die Gluͤkſeligkeit des Callias (ſezte er hinzu) ſchimmert zu lebhaft aus ſeinen Augen und aus ſeinem ganzen Vetragen hervor, ſchoͤne Danae, als daß ich durch uͤberfluͤßige Fragſtuͤke das reizende Jncarnat die - ſer liebenswuͤrdigen Wangen zu erhoͤhen ſuchen ſollte. Und findeſt du ihn alſo der Muͤhe wuͤrdig, die du auf ſeine Bekehrung ohne Zweifel verwenden mußteſt? Der Muͤhe? ſagte Danae laͤchelnd; ich ſchwoͤre dir, daß mir in meinem Leben keine Muͤhe ſo leicht geworden iſt, als mich von dem liebenswuͤrdigſten Sterblichen, den ich jemals gekannt habe, lieben zu laſſen. Denn das war doch alle Muͤhe — Nicht ganz und gar, (unterbrach ſie Hippias) wenn du ſo aufrichtig ſeyn will, als es unſrer Freundſchaft gemaͤß iſt. Jch bin gewiß, daß er an keine Verſtellung dachte, da er noch in meinem Hauſe war; und die Veraͤnderung, die ich an ihm wahrnehme iſt ſo groß, verbreitet ſich ſo ſehr uͤber ſeine ganze Perſon, hat ihn ſo unkenntlich gemacht, daß Danae ſelbſt, auf deren Lippen die Ueberredung wohnt, mich nicht uͤberreden ſoll, daß eine ſolche See - lenwandlung im Schlafe vorgehen koͤnne. Keine Zu -ruͤkhal -225Sechstes Buch, erſtes Capitel. ruͤkhaltungen, ſchoͤne Danae, die Wuͤrkungen zeugen von ihren Urſachen; ein groſſes Werk ſezt groſſe An - ſtalten voraus; wenn ein Callias dahin gebracht wird, daß er wie ein Liebling der Venus herausgepuzt iſt, daß er mit einer Sybaritiſchen Zunge von der Niedlich - keit der Speiſen und dem Geſchmak der Weine urtheilt; daß er die wolluͤſtigſten Laͤuffe eines in Liebe ſchmelzen - den Liedes mit entzuͤktem Haͤndeklatſchen wiederholen heißt, und ſich die Trinkſchale von einer jungen Circaſ - ſerin mit unverhuͤlltem Buſen eben ſo gleichguͤltig rei - chen laͤßt, als er ſich in die weichen Polſter eines Per - ſiſchen Ruhebettes hineinſenkt — wahrhaftig, ſchoͤ - ne Danae, das nenn ich eine Verwandlung, welche in ſo kurzer Zeit zu bewerkſtelligen, ich keiner von allen un - ſterblichen Goͤttinnen zugetraut haͤtte. Jch weiß nicht, was du damit ſagen willſt, erwiederte Danae mit einer angenommenen Zerſtreuung; mich daͤucht nichts natuͤr - lichers, als alles, woruͤber du dich ſo verwundert ſtellſt; und geſezt, daß du dich in deinem Urtheil von Callias betrogen haͤtteſt, iſt es ſeine Schuld? Wenn ich dir die Wahrheit ſagen ſoll, ſo kan nichts unaͤhnlichers ſeyn, als wie du ihn mir abgeſchildert und wie ich ihn ge - funden habe. Du machteſt mich einen Pedantiſchen Tho - ren, den Gegenſtand einer Comoͤdie erwarten, und ich wiederhohle es, du magſt uͤber mich lachen ſo lange du willt, Alcibiades ſelbſt im Fruͤhling ſeiner Jahre und Reizungen war nicht liebenswuͤrdiger als derjenige, den du mir fuͤr ein comiſches Mittelding von einem Phantaſten und von einer Bildſaͤule gegeben haſt. [Agath. I. Th.] PWenn226Agathon. Wenn eine Verſchiedenheit zwiſchen Agathon und den Beſten iſt, fuͤr welche ich ehmals aus Dankbarkeit, Geſchmak oder Laune, Gefaͤlligkeiten gehabt habe, ſo iſt ſie gaͤnzlich zu ſeinem Vortheil; ſo iſt es, daß er ed - ler, aufrichtiger, zaͤrtlicher iſt, daß er mich liebet, da jene nur ſich ſelbſt in mir liebten; daß ihn mein Ver - gnuͤgen gluͤklicher macht als ſein eignes; daß er das großmuͤthigſte und erkenntlichſte Herz mit den glaͤnzen - deſten Vorzuͤgen des Geiſtes, mit allem was den Um - gang reizend macht, vereinigt beſizt. — Welch ein Strom von Beredſamkeit, rief Hippias mit dem Laͤ - cheln eines Fauns aus; du ſprichſt nicht anders als ob du ſeine Apologie gegen mich machen muͤßteſt; und wenn habe ich denn was anders geſagt? Beſchrieb ich ihn nicht als liebenswuͤrdig? Sagt’ ich dir nicht, daß er dir die Hyacinthe, und alle dieſe artigen gau - kelnden Sommervoͤgel unertraͤglich machen wuͤrde? Aber wir wollen uns nicht zanken, ſchoͤne Danae. Jch ſehe, daß Amor hier mehr Arbeit gemacht als ihm auf - getragen war; er ſollte dir nur helfen, den Agathon zu unterwerfen; aber der uͤbermuͤthige kleine Bube hat es fuͤr eine groͤſſere Ehre gehalten, dich ſelbſt zu beſiegen; dieſe Danae, welche bißher mit ſeinen Pfeilen nur ge - ſcherzt hatte. Bekenne, Danae — Ja, (ſiel ſie ihm lebhaft ein) ich bekenne, daß ich liebe wie ich nie geliebt habe; daß alles was ich ſonſt Gluͤkſelig - keit nannte, kaum deu Nahmen des Daſeyns verdient hat; ich bekenne es, Hippias, und bin ſtolz darauf, daß ich faͤhig waͤre, alles was ich beſize, alle Ergoͤz -lich -227Sechstes Buch, erſtes Capitel. lichkeiten von Smirna, alle Anſpruͤche an Beyfall, alle Befriedigungen der Eitelkeit, und eine ganze Welt voll Liebhaber wie eine Nußſchale hinzuwerfen, um mit Callias in einer mit Stroh bedekten Huͤtte zu leben, und mit dieſen Haͤnden, welche nicht zu weiß und zaͤrtlich da - zu ſeyn ſollten, die Milch zuzubereiten, die ihm, vom Felde wiederkommend, weil ich ſie ihm reichte, lieblicher ſchmeken wuͤrde, als Nektar aus den Haͤnden der Lie - besgoͤttin.
O, das iſt was anders, rief Hippias, der ſich nun nicht laͤnger halten konnte, in ein lautes Gelaͤchter aus - zubrechen; wenn Dauae aus dieſem Tone ſpricht, ſo hat Hippias nichts mehr zu ſagen. Aber, fuhr er fort, nach - dem er ſich die Augen gewiſcht und den Mund in Falten gelegt hatte; in der That, ſchoͤne Freundin, ich lache zur Unzeit; die Sache iſt ernſthafter als ich beym erſten Anblik dachte, und ich beſorge nun in ganzem Ernſte, daß Callias, ſo ſehr er dich anzubeten ſcheint, nicht Liebe genug haben moͤchte, die deinige zu erwiedern. Jch erlaſſe dem Hippias dieſe Sorge, ſagte Danae mit einem ſpoͤttiſchen Laͤcheln, welches ihr ſehr reizend ließ; das ſoll meine Sorge ſeyn; und mich daͤucht, Hippias, welcher ein ſo groſſer Meiſter iſt, von den Wuͤrkungen auf die Urſachen zu ſchlieſſen, ſollte ganz ruhig daruͤber ſeyn koͤnuen, daß ſich Danae nicht wie ein vierzehn - jaͤhriges Maͤdchen fangen laͤßt. Die Goͤtter der Liebe und Freude verhuͤten, daß meine Worte einen uͤberweiſ - ſagenden Sinn in ſich faſſen, erwiederte Hippias! DuP 2liebeſt,228Agathon. liebeſt, ſchoͤne Danae; du wirſt geliebt; kein wuͤrdi - gers Paar gluͤklich zu ſeyn, kein geſchikteres ſich gluͤk - lich zu machen, hat Amor nie vereiniget. Erſchoͤpfet alles, was die Liebe reizendes hat! Trinket immer neue Entzuͤkungen aus ihrem nektariſchen Becher; und moͤge die neidenswerthe Bezauberung ſo lang als euer Leben dauern!
Jn einem ſo freundſchaftlichen und ſchwaͤrmeriſchen Ton ſtimmte der gefaͤllige Sophiſt ſeine Sprache um, als Aga - thon hereintrat, und ihnen einen Spaziergang in die Gaͤrten vorſchlug, worinn er ſich das Vergnuͤgen ma - chen wollte, ſie mit einer in geheim veranſtalteten Er - goͤzung zu uͤberraſchen. Man ließ ſich den Vorſchlag geſallen, und nachdem Hippias eine Reihe von neuen Gemaͤhlden, womit die Galerie vermehrt worden war, geſehen hatte, begab man ſich in den Garten, in wel - chem, nach Perſiſchem Geſchmak, groſſe Blumenſtuͤke, Spaziergaͤnge von hohen Baͤumen, kleine Weyher, kuͤnſtliche Wildniſſe, Lauben und Grotten in anmuthi - ger Unordnung unter einander geworfen ſchienen. Das Geſpraͤch ward izt wieder gleichguͤltig, und Hippiaswußte229Sechstes Buch, zweytes Capitel. wußte es ſo zu lenken, daß Agathon unvermerkt veran - laßt wurde, die neue Wendung, welche ſeine Einbil - dungskraft bekommen hatte, auf hundertfaͤltige Art zu verrathen. Jnzwiſchen neigte ſich die Sonne, als ſie beym Eintritt in einen kleinen Wald von Myrthen - und Citronenbaͤumen, an welchen die Kunſt keine Hand ange - legt zu haben ſchien, von einem verſtekten Concert, welches alle Arten von Singvoͤgel nachahmte, empfan - gen wurden. Aus jedem Zweig, aus jedem Blatte ſchien eine beſondere Stimme hervorzugehen; ſo volltoͤnig war dieſe Muſik, in welcher die Nachahmung der kunſtlo - ſen Natur in der ſcheinbaren Unregelmaͤßigkeit phanta - ſierender Toͤne, die lieblichſte Harmonie hervorbrachte, die man jemals gehoͤrt hatte. Die Daͤmmerung des heiterſten Abends, und die eigne Anmuth des Orts ver - einigten ſich damit, um dieſem Luſthayn die Geſtalt der Bezauberung zu geben. Danae, welche ſeit wenigen Wochen eine ganz neue Empfindlichkeit fuͤr das Schoͤne der Natur und die Vergnuͤgungen der Einbildungskraft bekommen hatte, ſahe ihren ſich ganz unwiſſend ſtellen - den Liebling mit Augen an, welche ihm ſagten, daß nur die Gegenwart des Hippias ſie verhindere, ihre ſchoͤnen Arme um ſeinen Hals zu werfen: als unverſe - hens eine Anzahl von kleinen Liebesgoͤttern und Fau - nen aus dem Hayn hervorhuͤpfte; jene von flatterndem Silberflor, der mit nachgeahmten Roſen durchwuͤrkt war, leicht bedekt; dieſe nakend, auſſer daß ein Epheu - kranz, mit gelben Roſen durchflochten, ihre milchweiſſen Huͤften ſchuͤrzten, und um die kleinen verguldeten Hoͤr -P 3ner230Agathon. ner ſich ſchlangen, die ans ihren ſchwarzen kurzlokich - ten Haaren hervorſtachen. Alle dieſe kleine Genii ſtreu - ten aus zierlichen Koͤrbchen von Silberdrat die ſchoͤnſten Blumen vor Danae her, und fuͤhrten ſie tanzend in die Mitte des Waͤldchens, wo Gebuͤſche von Jaſminen, Roſen und Acacia eine Art von halbeirkelndem Am - phitheater machten, unter welchem ein zierlicher Thron von Laubwerk und Blumenkraͤnzen fuͤr die ſchoͤne Danae bereitet ſtand. Nachdem ſie ſich hier geſezt hatte, breiteten die Liebesgoͤtter einen Perſiſchen Teppich vor ihr aus, indem von den kleinen Faunen einige be - ſchaͤftigt waren, den Boden mit goldnen und eriſtallenen Trinkſchalen von allerley niedlichen Formen zu beſe - zen, andre unter der Laſt voller Schlaͤuche mit poſ - ſierlichen Gebehrden herbeygekrochen kamen, und im Vorbeygehen den weiſeu Hippias durch hundert muth - willige Spiele nekten. Auf einmal ſchlupften die Gra - zien hinter einer Myrrthenheke hervor, drey jugendli - che Schweſtern, deren halbaufgebluͤhte Schoͤnheit ein leichtes Gewoͤlk von Gaſe mehr zu entwikeln als zu verhuͤllen eiferſuͤchtig ſchien. Sie umgaben ihre Ge - bieterin, und indem die erſte einen friſchen Blumenkranz um ihre ſchoͤne Stirne wand, reichten ihr die beyden andern kniend in goldnen Schalen die auserleſenſten Fruͤchte und Erfriſchungen dar; indeß die Faunen den Hippias mit Epheu kraͤnzten, und wohlriechende Salben uͤber ſeine Glaze und ſeinen halbgrauen Bart herunter - goſſen. Beyde bezeugten ihr Vergnuͤgen uͤber dieſes kleine Schauſpiel, welches das lachendſte Gemaͤhldevon231Sechstes Buch, zweytes Capitel. von der Welt machte; als eine zaͤrtliche Symphonie von Floͤten aus der Luft, wie es ſchien, herabtoͤnend, die Augen zu einer neuen Erſcheinung aufmerkſam machte. Die Liebesgoͤtter, die Faunen und die Grazien waren indeß verſchwunden, und es oͤfnete ſich der Danae ge - genuͤber die waldichte Scene, um den Liebesgott dar - zuſtellen, auf einem goldnen Gewoͤlke ſizend, welches uͤber den Roſenbuͤſchen von Zephyren emporgehalten wurde. Ein ſchalkhaftes Laͤcheln, das ſein liebliches Geſicht umſcherzte, ſchien die Herzen zu warnen, ſich von der taͤndelnden Unſchuld dieſes ſchoͤnen Goͤtterkna - bens nicht ſorglos machen zu laſſen. Er ſang mit lieb - licher Stimme, und der Jnnhalt ſeines Geſangs druͤkte ſeine Freude aus, daß er endlich eine bequeme Gele - genheit gefunden habe, ſich an der ſchoͤnen Danae zu raͤchen. „ Gleich der Liebesgoͤttin, meiner Mutter (ſang er) „ herrſcht ſie unumſchraͤnkt uͤber die Her - „ zen, und haucht allgemeine Liebe umher: Von ih - „ ren Bliken beſeelt, wendet ihr die Natur, als ihrer „ Goͤttin, ſich zu; verſchoͤnert, wenn ſie laͤchelt, trau - „ rig und welkend, wenn ſie ſich von ihr kehrt: Ver - „ laſſen ſtehn die Altaͤre zu Paphos, die Seufzer der „ Liebenden wallen nur ihr entgegen; und indem ihre „ ſiegreichen Augen ringsum ſie her jedes Herz ver - „ wunden und entzuͤken, lacht ſie, die Stolze, meiner „ Pfeile, und trozt mit unbezwungner Bruſt der Macht, „ vor welcher Goͤtter zittern: Aber nicht laͤnger ſoll ſie „ trozen; hier iſt der ſchaͤrfſte Pfeil, ſcharf genug ei - „ nen Buſen von Marmor zu ſpalten, und die kaͤlteſteP 4„ Seele232Agathon. „ Seele in Liebesflammen hinwegzuſchmelzen. Zittre, „ ungewahrſame Schoͤne! dieſer Augenblik ſoll Amorn „ und ſeine Mutter raͤchen! Tiefſeufzend ſollſt du auffah - „ ren, wie ein junges Reh auffaͤhrt, das unter Ro - „ ſen ſchlummernd den gefluͤgelten Pfeil des Jaͤgers „ fuͤhlt; ſchmerzenvoll und troſtlos ſollſt du in einſa - „ men Haynen irren, und auf oͤden Felſen ſizend den „ ſchleichenden Bach mit deinen Thraͤnen mehren. „
So ſang er und ſpannte boßhaft-laͤchelnd den Bo - gen; ſchon war der Pfeil angelegt, ſchon zielte er nach ihrem leichtbedekten Buſen: als er ploͤzlich mit einem lauten Schrey zuruͤkfuhr, ſeinen Pfeil zerbrach, den Bogen von ſich warf, und mit zaͤrtlich ſchuͤchterner Ge - behrde auf die ſchoͤne Danae zuflatterte. O Goͤttin, vergieb, (ſang er, indem er bittend ihre Knie um - faßte) vergieb, vergieb, ſchoͤne Mutter, dem Jrtum meiner Augen! wie leicht war es zu irren? Jch ſahe dich fuͤr Danae an.
Jn dem nehmlichen Augenblik, da er dieſes ge - ſungen hatte, erſchienen die Grazien, die Liebesgoͤtter und die kleinen Faunen wieder, und endigten dieſe Scene mit Taͤnzen und Geſaͤngen, zum Preis derje - nigen, welche auf eine ſo ſchmeichelhafte Art zur Goͤt - tin der Schoͤnheit und der Liebe erklaͤrt worden war. Dieſes uͤberraſchende Compliment, welches damals noch den Reiz der Neuheit hatte, weil es noch nicht an die Daphnen und Chloen ſo vieler neuern Poeten ver -ſchwendet233Sechstes Buch, zweytes Capitel. ſchwendet worden war, ſchien ihr Vergnuͤgen zu machen; und der doppelt beluſtigte Hippias geſtand, daß ſein junger Freund einen ſehr guten Gebrauch von ſeiner Einbildungskraft zu machen gelernt habe. Dachte ich nicht, Callias, ſagte er leiſe zu ihm, indem er ihn auf die Schultern klopfte, daß ein Monat unter den Augen der ſchoͤnen Danae dich von den Vortheilen hei - len wuͤrde, womit du gegen Grundſaͤze eingenommen wareſt, die du bereits ſo meiſterhaft auszuuͤben gelernt haſt.
Der uͤbrige Theil des Abends wurde auf eine eben ſo angenehme Weiſe zugebracht, biß endlich Hippias, welcher den folgenden Morgen wieder in Smirna ſeyn mußte, in einem Zuſtande, worinn er mehr dem Va - ter Silen als einem Weiſen gliech, von den kleinen Faunen zu Bette gebracht wurde.
Agathon hatte nun nichts dringenders als von Da - nae zu erfahren, was der Gegenſtand ihrer einzelnen Unterredung mit dem Hippias geweſen ſey. Man wird es dieſer Dame zu gut halten koͤnnen, daß ſie die Aufrichtigkeit ihres Berichts nicht ſo weit trieb, ihm das Complot einzugeſtehen, worein ſie ſich von dem Sophiſten anfangs hatte ziehen laſſen; und deſſen Ausgang ſo weit von der Anlage des erſten Plans entfernt geweſen war. Die zaͤrtlichſte und vertrauteſte Liebe verhindert nicht, daß man ſich nicht kleine Ge - heimniſſe vorbehalten ſollte, bey deren Entdekung dieP 5Eigen -234Agathon. Eigenliebe ihre Rechnung nicht ſinden wuͤrde. Sie be - gnuͤgte ſich alſo ihm zu ſagen, daß Hippias viel Gutes von ihm geſprochen, und ſie verſichert habe, daß er ihn weit aufgewekter und artiger finde als er vorher ge - weſen; es haͤtte ſie beduͤnkt, daß er mehr damit ſa - gen wollen, als ſeine Worte an ſich ſelbſt geſagt haͤt - ten; ſie haͤtte aber eben ſo wenig daran gedacht ihn zum Vertrauten ihrer Liebe zu machen, als ſie Urſache haͤtte, eine Achtung zu verbergen, welche man den per - ſoͤnlichen Verdienſten des Callias nicht verſagen koͤnne; im uͤbrigen haͤtte ſie ſeine Munterkeit auf die Rechnung der Zeit, welche das Andenken ſeiner Ungluͤksfaͤlle ſchwaͤche, und der vollkommnern Freyheit geſchrieben, die er in ihrem Hauſe haͤtte. Agathon ließ ſich durch dieſe Erzaͤhlung nicht nur beruhigen; ſondern, wie ſeine Einbildungskraft gewohnt war, ihn immer wei - ter zu fuͤhren, als er im Sinne hatte zu gehen, ſo fuͤhlte er ſich, nachdem ſie eine Zeitlang von dieſer Materie geſprochen hatten, ſo muthig, daß er ſich vornahm den Scherzen des Hippias, wofern es dem - ſelben je einfallen ſollte uͤber ſeine Freundſchaft mit Da - nae zu ſcherzen, in gleichem Ton zu antworten; eine Entſchlieſſung, welche (ob er es gleich nicht gewahr wurde) in der That mehr Unverſchaͤmtheit vorausſezte, als ſelbſt ein langwieriger Fortgang auf den Abwegen, auf die er verirrt war, einem Agathon jemals geben konnte.
Wenige Tage waren ſeit dem Beſuch des Hippias verfloſſen; als ein Feſt, welches er alle Jahre ſeinen Freunden zu geben pflegte, Gelegenheit machte, der ſchoͤnen Danae und ihrem Freunde eine Einladung zu - zuſenden. Weil ſie keinen guten Vorwand zu geben hatten, ihr Ausbleiben zu entſchuldigen, ſo erſchieuen ſie auf den beſtimmten Tag, und Agathon brachte eine Lebhaftigkeit mit, welche ihm ſelbſt Hofnung machte, daß er ſich ſo gut halten wuͤrde, als es die Anfaͤlle, die er von der Schalkhaftigkeit des Sophiſten erwar - tete, nur immer erfordern koͤnnten. Hippias hatte nichts vergeſſen, was die Pracht ſeines Feſts vermehren konn - te; und nach demjenigen, was im zweyten Buch von den Grundſaͤzen, der Lebensart und den Reichthuͤmern dieſes Mannes gemeldet worden, koͤnnen unſre Leſer ſich ſo viel davon einbilden als ſie wollen, ohne zu be - ſorgen, daß wir ſie durch uͤberfluͤßige Beſchreibungen von den wichtigern Gegenſtaͤnden, die wir vor uns ha - ben, aufhalten wuͤrden.
Agathon hatte uͤber der Tafel die Rolle eines wizi - gen Kopfs ſo gut geſpielt; er hatte ſo fein und ſo leb - haft geſcherzt, und bey Gelegenheiten die Jdeen, wo - von ſeine Seele damals beherrſcht wurde, ſo deutlichverrathen;236Agathon. verrathen; daß Hippias ſich nicht enthalten konnte, ihm in einem Augenblik, wo ſie allein waren, ſeine ganze Freude daruͤber auszudruͤken. Jch bin erfreut, Callias (ſagte er zu ihm) daß du, wie ich ſehe, einer von den Unſrigen worden biſt. Du rechtfertigeſt die gute Meynung vollkommen, die ich beym erſten Anblik von dir faßte; ich ſagte immer, daß einer ſo feurigen Seele wie die deinige, nur wuͤrkliche Gegen - ſtaͤnde mangelten, um ohne Muͤhe von den Schimaͤ - ren zuruͤkzukommen, woran du vor einigen Wochen noch ſo ſtark zu haͤngen ſchieneſt. Zum Gluͤk fuͤr den guten Agathon rettete ihn die Darzwiſchenkunft einiger Perſonen von der Geſellſchaft, mitten in der Antwort, die er zu ſtottern angefangen hatte; aber aus der Un - ruhe, welche dieſe wenige Worte des Sophiſten in ſein Gemuͤht geworfen hatten, konnte ihn nichts retten.
Alle Muͤhe, die er anſtrengte, alle Zeitkuͤrzungen, wovon er ſich umgeben ſah, waren zu ſchwach ihn wieder aus einer Verwirrung herauszuziehen, welche ſogar durch den Anblik der ſchoͤnen Danae vermehrt wurde. Er mußte einen Anſtoß von Uebelkeit vorſchuͤ - zen, um ſich eine Zeitlang aus der Geſellſchaft weg - zubegeben, um in einem entlegnen Cabinet den Gedan - ken nachzuhaͤngen, deren auf einmal daherſtuͤrmende Menge ihm eine Weile alles Vermoͤgen benahm, einen von dem andern zu unterſcheiden. Endlich faßte er ſich doch ſo weit, daß er ſeinem beklemmten Herzen durch dieſes oft abgebrochene Selbſtgeſpraͤch Luft machenkonnte:237Sechstes Buch, drittes Capitel. konnte: Wie? — Jch bin erfreut, daß du einer von den Unſrigen geworden? — Jſts moͤglich? Einer von den Seinigen? — Dem Hippias aͤhn - lich? — Jhm, deſſen Grundſaͤze, deſſen Leben, deſſen vermeynte Weisheit mir vor kurzem noch ſo viel Abſcheu einfloͤßten? — Und die Verwandlung iſt ſo groß, daß ſie ihm keinen Zweifel uͤbrig laͤßt? Guͤtige Goͤtter! Wo iſt euer Agathon? — Ach! es iſt mehr als zu gewiß, daß ich nicht mehr ich ſelbſt bin! — Wie? ſind mir nicht alle Gegenſtaͤnde dieſes Hauſes, von denen meine Seele ſich ehmals mit Ekel und Grauen wegwandte, gleichguͤltig oder gar angenehm worden? Dieſe uͤppigen Gemaͤlhde — dieſe ſchluͤpfrigen Nym - phen — dieſe Geſpraͤche, worinn alles, was dem Menſchen groß und ehrwuͤrdig ſeyn ſoll, in ein comi - ſches Licht geſtellt wird — dieſe Verſchwendung der Zeit — dieſe muͤhſam ansgeſonnenen und uͤber die Forderung der Natur getriebenen Ergoͤzungen — Himmel! wo bin ich? An was fuͤr einem jaͤhen Ab - hang find ich mich ſelbſt — welch einen Abgrund unter mir — O Danae, Danae! — hier hielt er inn, um den troſtvollen Einfluͤſſen Raum zu laſſen, welche dieſer Nahme und die zauberiſchen Bilder, ſo er mit ſich brachte, uͤber ſeine ſich ſelbſt quaͤlende Seele ausbreiteten. Mit einem ſchleunigen Uebergang von Schwermuth zu Entzuͤkung, durchflog ſie izt alle dieſe Scenen von Liebe und Gluͤkſeligkeit, welche ihr die leztverfloßnen Tage zu Augenbliken gemacht hat - ten; und von dieſen Erinnerungen mit einer innigenWol -238Agathon. Wolluſt durchſtroͤmt, konnte ſie oder wollte ſie viel - mehr den Gedanken nicht ertragen, daß ſie in einem ſo beneidenswuͤrdigen Zuſtand unter ſich ſelbſt herunterge - ſunken ſeyn koͤnne. Goͤttliche Danae, rief der arme Kranke in einem verdoppelten Anſtoß des wiederkeh - renden Taumels aus; wie? Kan es ein Verbrechen ſeyn, das Vollkommenſte unter allen Geſchoͤpfen zu lieben? Jſt es ein Verbrechen gluͤklich zu ſeyn? — Jn dieſem Ton fuhr Amor, (welchen Plato ſehr rich - tig den groͤſten unter allen Sophiſten nennt) deſto un - gehinderter fort ihm zuzureden, da ihm die Eigenliebe zu Hilfe kam, und ſeine Sache zu der ihrigen machte. Denn was iſt unangenehmers, als ſich ſelbſt zugleich an - klagen und verurtheilen muͤſſen? Und wie gerne hoͤren wir die Stimme der ſich ſelbſt vertheidigenden Leiden - ſchaft? Wie gruͤndlich finden wir jedes Blendwerk, womit ſie die richterliche Vernunft zu einem falſchen Ausſpruch zu verleiten ſucht? Agathon hoͤrte dieſe be - triegliche Apologiſtin ſo gerne, daß es ihr gelang, ſein Gemuͤthe wieder zu beſaͤnftigen. Er ſchmeichelte ſich, daß ungeachtet einer Veraͤnderung ſeiner Denkungs - art, die er ſich ſelbſt fuͤr eine Verbeſſerung zu geben ſuchte, der Unterſcheid zwiſchen ihm und Hippias noch ſo groß, ſo weſentlich ſey als jemals. Er ver - barg ſeine ſchwache Seite hinter die Tugenden, deren er ſich bewußt zu ſeyn glaubte; und beruhigte ſich end. lich voͤllig mit einem idealiſchen Entwurf eines ſeinen eignen Grundſaͤzen gemaͤſſen Lebens, zu welchem er ſeine geliebte Danae ſchon genug vorbereitet glaubte,um239Sechstes Buch, drittes Capitel. um ihr ſelbigen ohne laͤngern Aufſchub vorzulegen. Er kehrte nunmehr, nachdem er ungefehr eine Stunde allein geweſen war, mit einem ſo aufgeheiterten Ge - ſicht zur Geſellſchaft, welche ſich in einem Saale des Gartens verſammelt hatte, zuruͤk, daß Danae und Hip - pias ſelbſt ſich bereden lieſſen, ſeinen vorigen Anſtoß einer voruͤbergehenden Uebelkeit zuzuſchreiben. Ergoͤz - lichkeiten folgten izt auf Ergoͤzlichkeiten ſo dicht anein - ander, und ſo mannigfaltig, daß die uͤberladene Seele keine Zeit behielt ſich Rechenſchaft von ihren Empfin - dungen zu geben; und nach Gewohnheit des Landes wurde die ganze Nacht biß zum Anbruch der Morgen - roͤthe in brauſenden Vergnuͤgungen hingebracht. Die Gegenwart der liebenswuͤrdigen Danae wuͤrkte mit ih - rer ganzen magiſchen Kraft auf unſern Helden, ohne verhindern zu koͤnnen, daß er von Zeit zu Zeit in eine Zerſtreuung fiel, aus welcher ſie ihn, ſobald ſie es ge - wahr wurde, zu ziehen bemuͤht war. Die Gegenſtaͤn - de, welche ſeinen ſittlichen Geſchmak ehmals beleidiget hatten, waren hier zu haͤufig, als daß nicht mitten unter den fluͤchtigen Vergnuͤgungen, womit ſie gleichſam uͤber die Oberflaͤche ſeiner Seele hinglitſcheten, ein geheimes Gefuͤhl ſeiner Erniedrigung ſeine Wangen mit Scham - roͤthe vor ſich ſelbſt, dem Vorboten der wiederkehrenden Tugend, haͤtte uͤberziehen ſollen.
Dieſes begegnete inſonderheit bey einem pantomi - miſchen Tanze, womit Hippias ſeine groͤſtentheils vom Baechus gluͤhenden Gaͤſte noch eine geraume Zeit nachMitter -240Agathon. Milternacht vom Einſchlummern abzuhalten ſuchte. Die Taͤnzerin, ein ſchoͤnes Maͤdchen, welches ungeach - tet ſeiner Jugend, ſchon lange in den Geheimniſſen von Cythere eingeweyht war, tanzte die Fabel der Leda. Dieſes beruͤchtigte Meiſterſtuͤk der eben ſo voll - kommnen als uͤppigen Tanzkunſt der alten, von deſſen Wuͤrkungen Juvenal in einer von ſeinen Satyren ein ſo zuͤgelloſes Gemaͤhlde macht. Hippias und die mei - ſten ſeiner Gaͤſte bezeugten ein unmaͤßiges Vergnuͤgen uͤber die Art, wie ſeine Taͤnzerin dieſe ſchluͤpfrige Geſchichte nach der wolluͤſtigen Modulation zwoer Floͤten, allein durch die ſtumme Sprache der Bewegung, von Scene zu Scene biß zur Entwiklung fortzuwinden wußte. — Zeuxes, und Homer ſelbſt, rieffen ſie, konnte nicht beſſer, nicht deutlicher mit Farben oder Worten, als die Taͤnzerin durch ihre Bewegungen mahlen. Die Damen glaubten genug gethan zu haben, daß ſie auf dieſes Schauſpiel nicht Acht zu geben ſchienen; aber Agathon konnte den widrigen Eindruk, den es auf ihn machte, und den innerlicher Grauen, womit ſein Gemuͤth dabey erfuͤllt wurde, kaum in ſich ſelbſt ver - ſchlieſſen. Er wollte wuͤrklich etwas ſagen, welches allerdings in der Geſellſchaft, worinn er war, uͤbel angebracht geweſen waͤre; als ein beſchaͤmter Blik auf ſich ſelbſt, und vielleicht die Furcht belacht zu werden, und den ausgelaſſenen Hippias zu einer allzuſcharfen Rache zu reizen, ſeine Rede auf ſeinen Lippen erſtikte; und weil doch die erſten Worte nun einmal geſagt waren, den vorgehabten Tadel in einen gezwungenen Beyfallver -241Sechstes Buch, viertes Capitel. verwandelten. Er hatte nun keine Ruhe, bis er die ſchoͤne Danae bewogen hatte, ſich mit einer von ihren Freundinnen aus einer Geſellſchaft wegzuſchleichen, aus welcher die Grazien ſchamroth wegzufliehen anfien - gen; und ſein Unwille ergoß ſich waͤhrend daß ſie nach Hauſe fuhren, in eine ſcharfe Verurtheilung des ver - dorbenen Geſchmaks des Sophiſten, welche ſo lange dauerte, bis ſie bey Anbruche des Tages wieder auf dem Landhauſe der Danae anlangten, um die von Er - goͤzungen abgemattete Natur zu derjenigen Zeit, wel - che zu den Geſchaͤften des Lebens beſtimmt iſt, durch Ruhe und Schlummer wiederherzuſtellen.
Die Stoiker, dieſer ſtrenge moraliſche Orden, deſſen Abgang der vortrefliche Praͤſident von Monteſquieu als einen Verluſt fuͤr das menſchliche Geſchlecht anſieht, hatten unter andern Sonderlichkeiten, eine groſſe Mey - nung von der Natur und Beſtimmung der Traͤume. Sie trieben es ſo weit, daß ſie ſich die Muͤhe gaben, eben ſo groſſe Buͤcher uͤber dieſe Materie zu ſchreiben, als diejenigen, womit die gelehrte Welt noch in unſern Tagen, von einigen weiſen Moͤnchen uͤber die erhabne Kunſt, die Geſpenſter zu pruͤfen und zu bannen, be -[Agath. I. Th.] Qſchenkt242Agathon. ſchenkt worden iſt. Sie theilten die Traͤume in man - cherley Gattungen und Arten ein, wieſen ihnen ihre geheime Bedeutungen an, gaben den Schluͤſſel dazu, und trugen kein Bedenken, einige Arten derſelben ganz zuverſichtlich dem Einfluß derjenigen Geiſter zuzuſchrei - ben, womit ſie alle Theile der Natur reichlich bevoͤl - kert hatten. Jn der That ſcheinen ſie ſich in dieſem Stuͤk lediglich nach einem allgemeinen Glauben, der ſich von je her unter allen Voͤlkern und Zeiten erhalten hat, gerichtet, und dasjenige in die Form einer ſchluß - foͤrmigen Theorie gebracht zu haben, was bey ihren Großmuͤttern ein ſehr unſichers Gemiſche von Tradi - tion, Einbildung und Bloͤdigkeit des Geiſtes geweſen ſeyn moͤchte. Dem ſey nun wie ihm wolle, ſo iſt ge - wiß, daß wir zuweilen Traͤume haben, in denen ſo viel Zuſammenhang, ſo viel Beziehung auf unſre ver - gangne und gegenwaͤrtige Umſtaͤnde, wiewohl allezeit mit einem kleinen Zuſaz von Wunderbarem und Unbegreifli - chem, anzutreffen iſt; daß wir uns um jener Merk - male der Wahrheit willen geneigt ſinden, in dieſem leztern etwas geheimnisvolles und vorbedeutendes zu ſuchen. Traͤume von dieſer Art den Geiſtern auſſer uns, oder, wie die Pythagoraͤer thaten, einer gewiſ - ſen prophetiſchen Kraft und Divination unſrer Seele beyzumeſſen, welche unter dem tieffen Schlummer der Sinne beſſere Freyheit habe, ſich zu entwikeln: So ſinnreiche Aufloͤſungen uͤberlaſſen wir denjenigen, welche zum Beſiz jener von Lucrez ſo enthuſiaſtiſch geprieſenen Gluͤkſeligkeit, die Urſachen der Dinge einzuſehen, ineinem243Sechstes Buch, viertes Capitel. einem vollern Maaſſe gelangt ſind als wir. Jndeſſen haben wir uns doch zum Geſez gemacht, den guten Rath unſrer Amme nicht zu verachten, welche uns, da wir noch das Gluͤk ihrer einſichtsvollen Erziehung genoſſen, unter Aufuͤhrung einer langen Reihe von Familienbey - ſpielen, ernſtlich zu vermahnen pflegte, die Warnun - nungen und Fingerzeige der Traͤume ja nicht fuͤr gleich - guͤltig anzuſehen.
Agathon hatte dieſen Morgen, nachdem er in einer Verwirrung von uneinigen Gedanken und Gemuͤthsbe - wegungen endlich eingeſchlummert war, einen Traum, den wir mit einigem Recht zu den kleinen Urſachen zaͤhlen koͤnnen, durch welche groſſe Begebenheiten her - vorgebracht worden ſind. Wir wollen ihn erzaͤhlen, wie wir ihn in unſrer Urkunde finden, und dem Leſer uͤberlaſſen, was er davon urtheilen will. Jhn daͤuchte alſo, daß er in einer Geſellſchaft von Nymphen und Lie - besgoͤttern auf einer anmuthigen Ebne ſich erluſtige. Danae war unter ihnen. Mit zauberiſchem Laͤcheln reichte ſie ihm, wie Ariadne ihrem Bacchus, eine Schaale voll Nectars, welchen er an ihren Bliken hangend mit wolluͤſtigen Zuͤgen hinunterſchluͤrfte. Auf einmal fieng alles um ihn her zu tanzen an; er tanzte mit; ein Ne - bel von ſuͤſſen Duͤften ſchien rings um ihn her die wahre Geſtalt der Dinge zu verbergen, und tauſend liebliche Geſtalten gaukelten vor ſeiner Stirne, welche wie Seif - fenblaſen eben ſo ſchnell zerfloſſen als eutſtuhnden. Jn dieſem Taumel tanzte und huͤpfte er eine Zeit lang fort,Q 2biß244Agathon. bis auf einmal der Nebel und ſeine ganze froͤliche Ge - ſellſchaft verſchwand: Jhm war als ob er aus einem tiefen Schlaf erwachte; und da er die Augen aufſchlug, ſah er ſich an der Spize eines jaͤhen Felſens, unter welchem ein reiſſender Strom ſeine ſprudelnden Wellen fortwaͤlzte. Gegen ihm uͤber, auf dem andern Ufer des Fluſſes, ſtand Pſyche; ein ſchneeweiſſes Gewand floß zu ihren Fuͤſſen herab; ganz einſam und traurig ſtand ſie, und heftete Blike auf ihn, die ihm das Herz durchbohrten. Ohne ſich einen Augenblik zu be - ſinnen, ſtuͤrzte er ſich in den Fluß hinab, arbeitete ſich ans andre Ufer hinuͤber, und eilte, ſich ſeiner Pſyche zu Fuͤſſen zu werfen. Aber ſie entſchluͤpfte wie ein Schat - ten vor ihm her, ohne daß ſie aufhoͤrte, ſichtbar zu ſeyn; ihr Geſicht war traurig, und ihre rechte Hand wieß in die Ferne, wo er die goldnen Thuͤrme und die heiligen Hayne des delphiſchen Tempels ganz deut - lich zu unterſcheiden glaubte. Thraͤnen lieffen bey die - ſem Anlaß uͤber ſeine Wangen herab; er ſtrekte ſeine Arme, flehend, und von unausſprechlichen Empfindun - gen beklemmt, nach der geliebten Pſyche aus; aber ſie floh eilends von ihm weg, einer Bildſaͤule der Tugend zu, welche unter den Truͤmmern eines verfallnen Tem - pels, einſam und unverſehrt, in majeſtaͤtiſcher Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus ſtand. Pſyche umarmte dieſe Bildſaͤule, warf noch einen tiefſinnigen Blik auf ihn und verſchwand. Verzweifelnd wollte er ihr nach - eilen, als er ſich ploͤzlich in einem tieffen Schlamme verſenket ſah; und die Beſtrebung, die er anwendete,ſich245Sechstes Buch, viertes Capitel. ſich herauszuarbeiten, war ſo heftig, daß er daran er - wachte.
Ein Strom von Thraͤnen, in welchen ſein berſten - des Herz ausbrach, war die erſte Wuͤrkung des tieffen Eindrukes, den dieſer ſonderbare Traum in ſeiner er - wachten aber noch ganz von ihren Geſichten umgebnen Seele zuruͤkließ. Er weinte ſo lange und ſo heftig, daß ſein Hauptkuͤſſen ganz davon durchnezt wurde. Ach Pſyche! Pſyche! rief er von Zeit zu Zeit aus, indem er ſeine gerungenen Arme wie nach ihrem Bilde aus - ſtrekte; und dann brach eine neue Fluth aus ſeinen ſchwellenden Augen. Wo bin ich, rief er wiederum aus, und ſah ſich um, als ob er beſtuͤrzt waͤre, ſich in einem mit Perſiſchen Tapeten behangnen, und von tauſend Koſtbarkeiten ſchimmernden Zimmer auf dem weichſten Ruhbette liegend zu finden — O Pſy - che — was iſt aus deinem Agathon worden? — O ungluͤklicher Tag, an dem mich die verhaßten Raͤu - ber deinem Arm entriſſen! — Unter ſolchen Vor - ſtellungen und Ausruffungen ſtund er auf; gieng in hef - tiger Bewegung auf und nieder, warf ſich abermahl auf das Ruhbette, und blieb eine lange Zeit ſtumm, und mit zu Boden ſtarrenden Bliken unbeweglich, wie in Gedanken verlohren, ſizen. Endlich rafte er ſich wieder auf, kleidete ſich an, und ſtieg in die Gaͤrten herab, um in dem einſamſten Theil des Hayns die Ruhe zu ſuchen, welche er noͤthig hatte, uͤber ſeinen Traum, ſeinen gegenwaͤrtigen Zuſtand und die Entſchlieſſungen,Q 3die246Agathon. die er zu faſſen habe, nachdenken zu koͤnnen. Unter allen Bildern, welche der Traum in ſeinem Gemuͤthe zuruͤkgelaſſen hatte, ruͤhrte ihn keines lebhafter als die Vorſtellung der Pſyche, wie ſie mit ernſtem Geſicht auf den Tempel und die Hayne von Delphi wieß — die geheiligten Oerter, wo ſie einander zuerſt geſehen, wo ſie ſo oft ſich eine ewige Liebe geſchworen, wo ſie ſo rein, ſo tugendhaft ſich geliebt hatten,
wie ſich im hohen Olymp die Unverkoͤrperten lieben.
Dieſe Bilder hatten etwas ſo ruͤhrendes, und der Schmerz, womit ſie ihn durchdrangen, wurde durch die lebhafteſten Erinnerungen ſeiner ehmaligen Gluͤkſe - ligkeit ſo ſanft gemildert, daß er eine Art von Wolluſt darinn empfand, ſich der zaͤrtlichen Wehmuth zu uͤber - laſſen, wovon ſeine Seele dabey eingenommen wurde. Er verglich ſeinen izigen Zuſtand mit jener ſeligen Stille des Herzens, mit jener immer laͤchelnden Hei - terkeit der Seele, mit jenen ſanften und unſchuldsvol - len Freuden, zu welchen, ſeiner Einbildung nach, un - ſterbliche Zuſchauer ihren Beyfall gegeben hatten: Und indem er unvermerkt, anſtatt die Vergleichung unpartheyiſch fortzuſezen, ſich dem ſchleichenden Lauf ſeiner erregten Einbildungskraft uͤberließ; daͤuchte ihn nicht anders, als ob ſeine Seele nach jener elyſiſchen Ruhe, wie nach ihrem angebohrnen Elemente, ſich zuruͤkſehne. Wenn es auch Schwaͤrmereyen waren, rief er ſeufzend aus, wenn es auch bloſſe Traͤume wa - ren, in die mein halbabgeſchiedner, halbvergoͤtterterGeiſt247Sechstes Buch, viertes Capitel. Geiſt ſich wiegte — welch eine ſelige Schwaͤrme - rey! Und wie viel gluͤklicher machten mich dieſe Traͤu - me, als alle die rauſchenden Freuden, welche die Sinnen in einem Wirbel von Wolluſt dahinreiſſen, und wenn ſie voruͤber ſind, nichts als Beſchaͤmung und Reue, und ein ſchwermuͤthiges Leeres im unbefriedig - ten Geiſt zuruͤklaſſen!
Vielleicht werden unſre Leſer aus demjenigen, was damals in dem Gemuͤthe unſers Helden vorgieng, ſich viel Gutes fuͤr ſeine Wiederkehr zur Tugend weiſſagen. Aber mit Bedauern muͤſſen wir geſtehen, daß ſich eine andre Seele in ſeinem Jnnwendigen erhob, welche die Wuͤrkung dieſer guten Regungen in kurzem wieder un - kraͤftig machte; es ſey nun, daß es die Stimme der Natur oder der Leidenſchaft war, oder daß beyde ſich vereinigten, ihn ohne Abbruch ſeiner Eigenliebe wie - der mit ſich ſelbſt und dem Gegenwaͤrtigen auszuſoͤhnen.
Jn der That war es bey der Lebhaftigkeit, welche alle Jdeen und Gemuͤthsbewegungen dieſes ſonderbaren Menſchens charakteriſterte, kaum moͤglich, daß der uͤber - ſpannte Affect, worinn wir ihn geſehen haben, von langer Dauer haͤtte ſeyn koͤnnen. Die Staͤrke ſeiner Empfindungen rieb ſich an ſich ſelbſt ab; ſeine Einbil - dungskraft pflegte in ſolchen Faͤllen ſo lange in gera - dem Lauf fortzuſchieſſen, bis ſie ſich genoͤthiget fand, wieder umzukehren. Er fieng nun an, ſich zu uͤberre - den, daß mehr Schwaͤrmerey als Wahrheit und Ver -Q 4nunft248Agathon. nunft in ſeiner Betruͤbniß ſey; er glanbte bey naͤherer Vergleichung zu finden, daß ſeine Leidenſchaft fuͤr Danae durch die Vollkommenheit des Gegenſtands gaͤnzlich ge - rechtfertiget wuͤrden, und ſo vorzuͤglich ihm kurz zuvor die Gluͤkſeligkeit ſeines delphiſchen Lebens, und die un - ſchuldigen Freuden der erſten noch unerfahrnen Liebe geſchienen hatten; ſo unweſentlich fand er ſie izt in Vergleichung mit demjenigen, was ihn die ſchoͤne Da - nae in ihren Armen hatte erfahren laſſen. Das bloſſe Andenken daran ſezte ſein Blut in Feuer, und ſeine Seele in Entzuͤkung; ſeine angeſirengteſte Einbildung erlag unter der Beſtrebung eine vollkommnere Wonne zu erfinden.
Pſyche ſchien ihm izt, ſo liebenswuͤrdig ſie immer ſeyn mochte, zu nichts anderm beſtimmt geweſen zu ſeyn, als die Empfindlichkeit ſeines Herzens zu entwi - keln, um ihn faͤhig zu machen, die Vorzuͤge der unver - gleichlichen Danae zu empfinden. Er ſchrieb es einem Ruͤkfall in ſeine ehmalige Schwaͤrmerey zu, daß er ſich durch einen Traum, welchen er mit aller ſeiner ſonderbaren Beſchaffenheit, doch fuͤr nichts mehr als ein Spiel der Phantaſie halten konnte, in ſo heftige Bewegungen haͤtte ſezen laſſen. Das einzige, was ihn noch heunruhigte, war der Vorwurf der Untreue ge - gen ſeine einſt ſo zaͤrtlich geliebte und ſo zaͤrtlich wie - der liebende Pſyche. Allein die Unmoͤglichkeit von der unwiderſtehlichen Danae nicht uͤberwunden zu werden; (ein Punct, wovon er ſo vollkommen als von ſeinemeignen249Sechstes Buch, viertes Capitel. eignen Daſeyn uͤberzeugt zu ſeyn glaubte.) Der Ver - luſt aller Hofnung, Pſyche jemals wieder zu finden, (welchen er, ohne genauere Unterſuchung, fuͤr ausge - macht annahm;) beydes ſchien ihm gegeu dieſen Vor - wurf von groſſem Gewicht zu ſeyn; und um ſich deſ - ſelben gaͤnzlich zu entledigen, gerieth er endlich gar auf den Gedanken, daß ſeine Verbindung mit Danae mehr die Liebe eines Bruders zu einer Schweſter, eine bloſſe Liebe der Seelen, als dasjenige geweſen ſey, was im eigentlichen Sinn Liebe genennt werden ſollte; eine Ent - dekung, die ihm bey Vergleichung der Symptomen die - ſer beyden Arten von Liebe, unwiderſprechlich zu ſeyn daͤuchte. Dieſe Vorſtellungen ſtiegen nach und nach, zumal an einem Orte, wo jede ſchattichte Laube, jede Blumenbank, jede Grotte, ein Zeuge genoßner Gluͤk - ſeligkeiten war, zu einer ſolchen Lebhaftigkeit, daß ſie eine Art von Ruhe in ſeinem Gemuͤthe wieder herſtell - ten; wenn anders die Verblendung eines Kranken, der in der Hize ſeines Fiebers geſund zu ſeyn waͤhnt, dieſen Nahmen verdienen kan. Doch verhinderten ſie nicht, daß, dieſen ganzen Tag uͤber, ein Eindruk von Schwer - muth und Traurigkeit in ſeinem Gemuͤthe zuruͤkblieb; die Bilder der Pſyche und der Tugend, welche er ſo lange gewohnt geweſen war zu vermengen, ſtellten ſich immer wieder vor ſeine Augen; umfonſt ſuchte er ſie durch Zerſtreuungen zu entfernen; ſie uͤberraſchten ihn in ſeinen Arbeiten, und beunruhigten ihn in ſeinen Er - goͤzungen; er ſuchte ihnen auszuweichen, der Ungluͤk - liche! und wurde nicht gewahr, daß eben dieſes einQ 5voll -250Agathon. vollſtaͤndiger Beweis ſey, daß es nicht ſo richtig mit ihm ſtehe, als er ſich ſelbſt zu uͤberreden ſuchte.
Danae liebte zu zaͤrtlich, als daß ihr der ſtille Kum - mer, der eine wiewohl anmuthige Duͤſternheit uͤber das ſchoͤne Geſicht unſers Helden ausbreitete, haͤtte un - bemerkt bleiben koͤnnen; aber aus eben dieſem Grunde war ſie zu ſchuͤchtern, ihn voreilig um die Urſache ei - ner ſo unerwarteten Veraͤnderung zu befragen. Es war leicht zu ſehen, daß ſein Herz leiden muͤſſe; aber mit aller Scharfſichtigkeit, welche den Augen der Liebe eigen iſt, konnte ſie doch nicht mit ſich ſelbſt einig werden, was die Urſache davon ſeyn koͤnne. Jhr erſter Gedanke war, daß ihm vielleicht ein zu weit ge - triebner Scherz des boshaften Hippias anſtoͤßig gewe - ſen ſeyn moͤchte. Allein was auch Hippias geſagt ha - ben konnte, ſchien ihr nicht genugſam, eine ſo tieffe Wunde zu machen, als ſie in ſeinem Herzen zu ſehen glaubte. Das Jntereſſe ihres eignen brachte ſie bald auf einen andern Gedanken, deſſen ſie vermuthlich nicht faͤ - hig geweſen waͤre, wenn ihre Liebe nicht die Eitel - keit uͤberwogen haͤtte, welche bey den meiſten Schoͤnen die wahre Quelle deſſen iſt, was ſie uns fuͤr Liebe ge -ben251Sechstes Buch, fuͤnftes Capitel. geben wollen. Wie, wenn ſeine Liebe zu erkalten an - fienge; ſagte ſie zu ſich ſelbſt — erkalten? Him - mel! wenn das moͤglich iſt, ſo werde ich bald gar nicht mehr geliebt ſeyn. — Dieſer Gedanke war zu ent - ſezlich fuͤr ein ſo voͤllig eingenommenes Herz, als daß ſie ihn ſogleich haͤtte verbannen koͤnnen — wie beſcheiden macht die wahre Liebe! — Sie, welche gewohnt geweſen war, in allen Augen die Wuͤr - kungen ihres alles beſiegenden Reizes zu ſehen; ſie, welche unter den Vollkommenſten ihres Geſchlechts nicht Eine kannte, von der ſie jemals in dem ſuͤſſen Bewußt - ſeyn ihrer Vorzuͤglichkeit nur einen Augenblik geſtoͤrt worden waͤre — mit einem Wort — Danae — fieng an mit Zittern ſich ſelbſt zu fragen: ob ſie auch liebenswuͤrdig genug ſey, das Herz eines ſo auſſerordentlichen Mannes in ihren Feſſeln zu behalten? Und wenn gleich die Eigenliebe ſie von Seiten ihres perſoͤnlichen Werthes hieruͤber beruhigte; ſo war ſie doch nicht ohne Sorgen, daß in ihrem Betragen etwas geweſen ſeyn moͤchte, wodurch das Sonderbare in ſei - ner Denkungsart, oder die ekle Zaͤrtlichkeit ſeiner Empfindungen haͤtte beleidiget werden koͤnnen. Hatte ſie ihm nicht zuviel Beweiſe von ihrer Liebe gegeben? Haͤtte ſie ihm ſeinen Sieg nicht ſchwehrer machen ſol - len? War es ſicher, ihn die ganze Staͤrke ihrer Lei - denſchaft ſehen zu laſſen, und ſich wegen der Erhal - tung ſeines Herzens allein auf die gaͤnzliche Dahinge - bung des Jhrigen zu verlaſſen? — Dieſe Fragen waren weder ſpizfuͤndig noch ſo leicht zu beantworten,als252Agathon. als manches gute Ding ſich einbildet, dem man eine ewige Liebe geſchwohren hat, und deſſen geringſter Kummer nun iſt, ob man ihr werde Wort halten koͤn - nen. Die ſchoͤne Danae kannte die Wichtigkeit derſelben in ihrem ganzen Umfange; und alles was ſie ſich ſelbſt daruͤber ſagen konnte, ſtellte ſie doch nicht ſo zufrieden, daß ſie nicht fuͤr noͤthig befunden haͤtte, einen gelegnen Augenblik zu belauſchen, um ſich uͤber alle ihre Zwei - fel ins Klare zu ſezen; im uͤbrigen ſehr uͤberzeugt, daß es ihr nicht an Mitteln fehlen werde, dem entdekten Uebel zu helfen, es moͤchte nun auch beſtehen, worinn es immer wollte. Agathon ermangelte nicht, ihr noch an dem uehmlichen Tag Gelegenheit dazu zu geben.
Schwermuth und Traurigkeit machen die Seele nach und nach ſchlaff, und eroͤfnen ſie allen weichen und zaͤrtlichen Regungen. Dieſer Saz iſt ſo wahr, daß tauſend Liebesverbindungen in der Welt keinen andern Urſprung haben. Ein Liebhaber verliehrt einen Ge - genſtand, den er anbetet; er ergießt ſeine Klagen in den Buſen einer Freundin, fuͤr deren Reizungen er biß - her vollkommen gleichguͤltig geweſen war — Sie bedauert ihn; er findet ſich dadurch erleichtert, daß er ſich frey und ungehindert beklagen kan; und die Schoͤne iſt erfreut, daß ſie Gelegenheit hat, ihr gutes Herz zu zeigen: Jhr Mitleiden ruͤhrt ihn, und erregt ſeine Aufmerkſamkeit: Sobald eine Frauensperſon zu intereßiren anfaͤngt, ſobald entdekt man Reizungen an ihr: Die Regungen, worinn beyde ſich befinden, ſindder253Sechstes Buch, fuͤnftes Capitel. der Liebe guͤnſtig; ſie verſchoͤnern die Freundin, und blenden die Augen des Freundes: Ueberdem ſucht der Schmerz natuͤrlicher Weiſe eine Zerſtreuung, und iſt geneigt ſich an alles zu haͤngen, was ihm Troſt und Linderung verſpricht: Eine dunkle Ahnung neuer Ver - gnuͤgungen; der Anblik eines Gegenſtands, der ſolche geben kan; die guͤnſtige Gemuͤthsſtellung, worinn man denſelben ſieht, auf der Einen — die Eitelkeit, dieſe groſſe Treibfeder des weiblichen Herzens; das Ver - gnuͤgen, ſo zu ſagen, einen Sieg uͤber eine Nebenbuh - lerin davon zu tragen, indem man liebenswuͤrdig ge - nug iſt, ihren Verluſt zu erſezen; die Begierde, ſelbſt ihr Andenken auszuloͤſchen; vielleicht, auch die Guther - zigkeit der menſchlichen Natur, und das Vergnuͤgen gluͤklich zu machen, auf der andern Seite — wie viel Umſtaͤnde, welche ſich vereinigen, unvermerkt den Freund in einen Liebhaber, und die Vertraute in die Haupt - perſon eines neuen Romans zu verwandeln.
Jn einer Gemuͤthsverfaſſung von dieſer Art befand ſich Agathon, als Danae, welche vernommen hatte, daß er den ganzen Abend in der einſamſten Gegend des Gartens zugebracht, ſich nicht mehr zuruͤkhalten konnte ihn aufzuſuchen. Sie fand ihn mit halbem Leib auf einer gruͤnen Bank liegen, das Haupt unter - ſtuͤzt, und ſo zerſtreut, daß ſie eine Weile vor ihm ſtand, ehe er ſie gewahr wurde. Du biſt traurig, Callias, ſagte ſie endlich mit einer geruͤhrten Stimme, indem ſie Augen voll mitleidender Liebe auf ihn heftete. Kan254Agathon. Kan ich traurig ſeyn, wenn ich dich ſehe? erwiederte Agathon, mit einem Seufzer, welcher ſeine Frage zu beantworten ſchien. Auch gab ihm Danae keine Ant - wort auf ein ſo verbindliches Compliment, ſondern fuhr fort, ihn ſtillſchweigend, aber mit einem Geſicht voll Seele, und Augen die voller Waſſer ſtanden, anzu - ſehen. Er richtete ſich auf, und ſahe ſie eine Weile an, als ob er biß in den Grund ihrer Seele ſchauen wollte. Jhre Herzen ſchienen durch ihre Blike in ein - ander zu zerflieſſen. Liebeſt du mich, Danae? fragte endlich Agathon mit einer von Zaͤrtlichkeit und Weh - muth halberſtikten Stimme, indem er einen Arm um ſie ſchlang, und fortfuhr ſie mit waͤßrichten Augen anzuſehen. Sie ſchwieg eine Zeit lang. Ob ich dich liebe? — War alles was ſie ſagen konnte; aber der Ausdruk, der Ton, womit ſie es ſagte, haͤtte durch alle Beredſamkeit des Demoſthenes nicht erſezt werden koͤnnen. Ach Danae! (erwiedert Agathon) ich frage nicht, weil ich zweifle — Kan ich eine Verſichrung, von welcher das ganze Gluͤk meines Le - bens abhaͤngt, zu oft von dieſen geliebten Lippen em - pfangen? Wenn du mich nicht liebteſt — wenn du aufhoͤren koͤnnteſt mich zu lieben — was fuͤr Ge - danken, mein liebſter Callias? unterbrach ſie ihn: Wie elend waͤr ich, wenn du ſie in deinem Herzen faͤndeſt — wenn dieſes dir ſagte, daß eine Liebe wie die unſrige aufhoͤren koͤnne? — Ein uͤbelverheelter Seufzer war alles was er antworten konnte. Du biſt traurig, Cal - lias, fuhr ſie fort; ein geheimer Kummer bricht ausallen255Sechstes Buch, fuͤnftes Capitel. allen deinen Zuͤgen hervor — Du begreifſt nicht, nein, du begreifſt nicht, was ich leide, dich traurig zu ſe - hen, ohne die Urſache davon zu wiſſen. Wenn mein Vermoͤgen, wenn meine Liebe, wenn mein Leben ſelbſt hinlaͤnglich iſt, ſie von dir zu entfernen, mein Gelieb - ter, o! ſo verzoͤgre keinen Augenblik, dein Jnnerſtes mir aufzuſchlieſſen — Der Ausdruk, die Blike, der Ton der Stimme, womit ſie dieſes ſagte, ruͤhrte den gefuͤhlvollen Agathon biß zu ſprachloſer Entzuͤkung. Er wand ſeine Arme um ſie, drukte ſein Geſicht auf ihre klopfende Bruſt, und konnte lange nur durch die Thraͤ - nen reden, womit er ſie benezte.
Nichts iſt anſtekenders als der Affeet einer in Em - pfindung zerflieſſenden Seele. Danae, ohne die Urſach aller dieſer Bewegungen zu wiſſen, wurde ſo ſehr von dem Zuſtand geruͤhrt, worinn ſie ihren Liebhaber ſah, daß ſie eben ſo ſprachloß als er ſelbſt, ſympathetiſche Thraͤnen mit den Seinigen vermiſchte. Dieſe Scene, welche fuͤr den gleichguͤltigen Leſer nicht ſo intereſſant ſeyn kan, als ſie es fuͤr unſre Verliebten war, dauerte eine ziemliche Weile. Endlich faßte ſich Agathon, und ſagte in einer von dieſen zaͤrtlichen Ergieſſungen der Seele, an welchen die Ueberlegung keinen Antheil hat, und worinn man keine andre Abſicht hat als ein volles Herz zu erleichtern: Jch liebe dich zu ſehr, unver - gleichliche Danae, und fuͤhle zu ſehr, daß ich dich nicht genug lieben kan, um dir laͤnger zu verhelen, wer dieſer Callias iſt, den du, ohne ihn zu kennen, deinesHerzens256Agathon. Herzens wuͤrdig geachtet haſt. Jch will dir das Ge - heimnis meines Nahmens und die ganze Geſchichte mei - nes Lebens, ſo weit ich in ſelbiges zuruͤkzuſehen ver - mag, entdeken; und wenn du alles wiſſen wirſt — ich weiß es, daß ich einer ſo groſſen Seele, wie die deinige, alles entdeken darf — Denn wirſt du viel - leicht natuͤrlich finden, daß der fluͤchtigſte Zweifel, ob es moͤglich ſeyn koͤnne deine Liebe zu verliehren, hin - laͤnglich iſt, mich elend zu machen. Danae ſtuzte, wie man ſich vorſtellen kan, bey einer ſo unerwarteten Vorrede; ſie ſah unſern Helden ſo aufmerkſam an, als ob ſie ihn noch nie geſehen haͤtte, und verwunderte ſich izt uͤber ſich ſelbſt, daß ihr nicht laͤngſt in die Au - gen gefallen war, daß weit mehr unter ihrem Lieb - haber verborgen ſey, als die Nachrichten des Hippias, und die Umſtaͤnde, worinn ſich ihre Bekanntſchaft an - gefangen, vermuthen lieſſen. Sie dankte ihm auf die zaͤrtlichſte Art fuͤr die Probe eines vollkommnen Zu - trauens, welche er ihr geben wolle, und nach einigen vorbereitenden Liebkoſungen, womit ſie ihre Dankbar - keit beſtaͤtigte, fieng Agathon die folgende Erzaͤhlung an:
Jch war ſchon achtzehn Jahre alt, eh ich denjenigen kannte, dem ich mein Daſeyn zu danken habe. Von der erſien Kindheit an, in den Hallen des delphiſchen Tempels erzogen, war ich gewoͤhnt, die Prieſter des Apollo mit dieſen kindlichen Empfindungen anzuſehen, welche das erſte Alter uͤber alle, die fuͤr unſre Erhal - tung Sorge tragen, zu ergieſſen pflegt. Jch war noch ein kleiner Knabe, als ich ſchon mit dem geheiligten Gewand, welches die jungen Diener des Gottes von den Sclaven der Prieſter unterſchied, bekleidet, nnd zum Dienſt des Tempels, wozu ich gewiedmet war, zu - bereitet wurde.
Wer Delphi geſehen hat, wird ſich nicht ver - wundern, daß ein Knabe von gefuͤhlvoller Art, der beynahe von der Wiegen an daſelbſt erzogen worden, unvermerkt eine Gemuͤthsbildung bekommen muß, wel -[Agath. I. Th.] Rche258Agathon. che ihn von den gewoͤhnlichen Menſchen unterſcheidet. Auſſer der beſondern Heiligkeit, welche ein uraltes Vor - urtheil und die geglaubte Gegenwart des Pythiſchen Gottes der ganzen delphiſchen Landſchaft beygelegt hat, war in den Bezirken des Tempels ſelbſt kein Plaz, der nicht von irgend einem ehrwuͤrdigen oder glaͤnzenden Ge - genſtand erfuͤllt, oder durch das Andenken irgend ei - nes Wunders verherrlichet war. Wie nun der Anblik ſo vieler wundervoller Dinge das erſte war, woran meine Augen gewoͤhnt wurden: So war die Erzaͤh - lung wunderbarer Begebenheiten die erſte muͤndliche Unterweiſung, die ich von meinen Vorgeſezten erhielt; eine Art von Unterricht, den ich noͤthig hatte, weil es ein Theil meines Berufs ſeyn ſollte, den Fremden, von welchen der Tempel immer angefuͤllt war, die Gemaͤhl - de, die Schnizwerke und Bilder, und den unſaͤglichen Reichtum von Geſchenken, wovon die Hallen und Ge - woͤlbe deſſelben ſchimmerten, zu erklaͤren.
Fuͤr ungewohnte Augen iſt vielleicht nichts blenden - ders als der Anblik eines von ſo vielen Koͤnigen, Staͤdten und reichen Particularen in ganzen Jahrhun - derten zuſammengehaͤuften Schazes von Gold, Silber, Edelſteinen, Perlen, Elfenbein und andern Koſtbar - keiten: Fuͤr mich, der dieſes Anbliks gewohnt war, hatte die beſcheidne Bildſaͤule eines Solon mehr Reiz, als alle dieſe ſchimmernde Tropheen einer aberglaͤubi - ſchen Andacht, welche ich gar bald mit eben der ver - achtenden Gleichguͤltigkeit anſahe, womit ein Knabe diePuppen259Siebentes Buch, erſtes Capitel. Puppen und Spielwerke ſeiner Kindheit anzuſehen pflegt. Noch unfaͤhig, von den Verdienſten und dem wahren Werth der vergoͤtterten Helden mir einen aͤchten Begriff zu machen, ſtand ich oft vor ihren Bildern, und fuͤhl - te, indem ich ſie betrachtete, mein Herz mit geheimen Empfindungen ihrer Groͤſſe und mit einer Bewundrung erfuͤllt, wovon ich keine andre Urſache als mein innres Gefuͤhl haͤtte angeben koͤnnen. Einen noch ſtaͤrkern Ein - druk machte auf mich die groſſe Menge von Bildern der verſchiednen Gottheiten, unter welchen unſre Vor - eltern die erhaltenden Kraͤfte der Natur, die manch - faltigen Vollkommenheiten des menſchlichen Geiſtes und die Tugenden des geſelligen Lebens perſonificiert haben, und wovon ich im Tempel und in den Haynen von Delphi mich allenthalben umgeben fand. Meine dama - lige Erfahrung, ſchoͤne Danae, hat mich ſeitdem oft - mals auf die Betrachtung geleitet, wie groß der Beytrag ſey, welchen die ſchoͤnen Kuͤnſte zu Bildung des ſittli - chen Menſchen thun koͤnnen; und wie weißlich die Prie - ſter der Griechen gehandelt, da ſie die Muſen und Gra - zien, deren Lieblinge ihnen ſo groſſe Dienſte gethan, ſelbſt unter die Zahl der Gottheiten aufgenommen haben. Der wahre Vortheil der Religion, in ſo fern ſie eine beſondere Angelegenheit des prieſterlichen Ordens iſt, ſcheinet von der Staͤrke der Eindruͤke abzuhangen, die wir in denjenigen Jahren empfangen, worinn wir noch unfaͤhig ſind, Unterſuchungen anzuſtellen. Wuͤrden unſre Seelen in Abſicht der Goͤtter und ihres Dienſtes von der Kindheit an leere Tafeln gelaſſen, und an -R 2ſtatt260Agathon. ſtatt der unſichern und verworrenen aber deſto lebhaf - tern Begriffe, welche wir durch Fabeln und Wunder - Geſchichte, und in etwas zunehmendem Alter durch die Muſik und die abbildenden Kuͤnſte von den uͤbernatuͤr - lichen Gegenſtaͤnden bekommen, allein mit den unver - faͤlſchten Eindruͤken der Natur und den Grundſaͤzen der Vernunft uͤberſchrieben; ſo iſt ſehr zu vermuthen, daß der Aberglaube noch groͤſſere Muͤhe haben wuͤrde, die Vernunft — als, in dem Falle, worinn die meiſten ſich befinden, die Vernunft Muͤhe hat, den Aberglauben von der einmal eingenommenen Herrſchaft zu verdraͤn - gen. Der groͤſte Vortheil, den dieſer uͤber jene hat, hanget davon ab, daß er ihr zuvorkoͤmmt. Aber wie leicht wird es ihm alsdenn ſich einer noch unmuͤndigen Seele zu bemeiſtern, wenn alle dieſe zauberiſche Kuͤn - ſte, welche die Natur im Nachahmen ſelbſt zu uͤbertreffen ſcheinen, ihre Kraͤfte vereinigen, die entzuͤkten Sinnen zu uͤberraſchen? Wie natuͤrlich muß es demjenigen wer - den die Gottheit des Apollo zu glauben, ja endlich ſich zu bereden, daß er ihre Gegenwart und Einfluͤſſe fuͤh - le, der in einem Tempel aufgewachſen iſt, deſſen erſter Anblik das Werk und die Wohnung eines Gottes an - kuͤndet? Demjenigen, der gewohnt iſt den Apollo eines Phidias vor ſich zu ſehen, und das mehr als menſchli - che, welches die Kenner ſo ſehr bewundern, der Na - tur des Gegenſtands, nicht dem ſchoͤpferiſchen Geiſte des Kuͤnſtlers zuzuſchreiben?
So261Siebentes Buch, erſtes Capitel.So viel ich die Natur unſrer Seele kenne, daͤucht mich, daß ſich in einer jeden, die zu einem gewiſſen Grade von Entwiklung gelangt, nach und nach ein ge - wiſſes idealiſches Schoͤne bilde, welches (auch ohne daß man ſich’s bewußt iſt) unſern Geſchmak und unſre ſittliche Urtheile beſtimmt, und das Modell abgiebt, wornach unſre Einbildungskraft die beſondern Bilder deſſen was wir groß, ſchoͤn und vortreflich nennen, zu entwerfen ſcheint. Dieſes idealiſche Modell formiert ſich (wie mich izo wenigſtens daͤucht, nachdem neue Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Be - trachtungen geleitet haben) aus der Beſchaffenheit und dem Zuſammenhang der Gegenſtaͤnde, worinn wir zu leben anfangen.
Daher (wie die Erfahrung zu beſtaͤtigen ſcheint) ſo viele beſondere Denk - und Sinnesarten als man ver - ſchiedene Erziehungen und Staͤnde in der menſchli - chen Geſellſchaft antrift. Daher der Spartaniſche Hel - denmuth, die Attiſche Urbanitaͤt, und der aufgedun - ſene Stolz der Aſiaten; daher die Verachtung des Geo - meters fuͤr den Dichter, oder des ſpeculierenden Kauf - manns gegen die Speculationen des Gelehrten, die ihm unfruchtbar ſcheinen, weil ſie ſich in keine Dari - ci verwandeln wie die ſeinigen; daher der grobe Ma - terialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Un - geſtuͤm des Seefahrers, die mechaniſche Unempfindlich - keit des Soldaten, und die einfaͤltige Schlauheit des Landvolks; daher endlich, ſchoͤne Danae, die Schwaͤr -R 3merey,262Agathon. merey, welche der weiſe Hippias deinem Callias vor - wirft; dieſe Schwaͤrmerey, die ich vielleicht in einem minder erhabnen Licht ſehe, ſeitdem ich ihre wahre Quelle entdekt zu haben glaube; aber die ich nichts de - ſto weniger fuͤr diejenige Gemuͤthsbeſchaffenheit halte, welche uns, unter den noͤthigen Einſchraͤnkungen, gluͤk - licher als irgend eine andre machen kan.
Du begreiffeſt leicht, ſchoͤne Danae, daß unter lauter Gegenſtaͤnden, welche uͤber die gewoͤhnliche Na - tur erhaben, und ſelbſt ſchon idealiſch ſind, jenes phan - taſtiſche Modell, deſſen ich vorhin erwaͤhnte, in einem ſo ungewoͤhnlichen Grade abgezogen und uͤberirdiſch werden mußte, daß bey zunehmendem Alter alles was ich wuͤrklich ſah, weit unter demjenigen war, was ſich meine Einbildungskraft zu ſehen wuͤnſchte. Jn dieſer Gemuͤthsverfaſſung war ich, als einer von den Prie - ſtern zu Delphi aus Abſichten, welche ſich erſt in der Folg’ entwikelten, es uͤbernahm, mich in den Geheim - niſſen der Orphiſchen Philoſophie einzuweyhen; der einzigen, die von unſern Prieſtern hochgeachtet wurde, weil ſie die Vernunft ſelbſt auf ihre Partey zu ziehen, und den Glauben von deſſen unbeweglichem Anſehen das ihrige abhieng, einen feſtern Grund als die Tradition und die Fabeln der Dichter, zu geben ſchien.
Nichts, was ich jemals empfunden habe, gleicht der Entzuͤkung, in die ich hingezogen wurde, als ich in den Haͤnden dieſes Egpptiers, der die geheime Goͤt -lerlehre263Siebentes Buch, erſtes Capitel. terlehre ſeiner Nation zu uns gebracht hat, in das Reich der Geiſter eingefuͤhrt, und zu einer Zeit, da die erhabenſten Gemaͤhlde Homers und Pindars ihren Reiz fuͤr mich verlohren hatten, mitten in der materiellen Welt mir eine Neue, mit lauter unſterblichen Schoͤn - heiten erfuͤllt, und von lauter Goͤttern bewohnt, eroͤf - net wurde.
Das Alter, worinn ich damals war, iſt dasjenige, worinn wir, aus dem langen Traum der Kindheit er - wachend, uns ſelbſt zuerſt zu finden glauben, die Welt um uns her mit erſtaunten Augen betrachten, und neu - gierig ſind, unſre eigne Natur und den Schauplaz, worauf wir uns ohn unſer Zuthun verſezt ſehen, ken - nen zu lernen. Wie willkommen iſt uns in dieſem Alter eine Philoſophie, welche den Vortheil unſrer Wiſſens - begierde mit dieſer Neigung zum Wunderbaren und dieſer arbeitſcheuen Fluͤchtigkeit, welche der Jugend ei - gen ſind, vereiniget, welche alle unſre Fragen beant - wortet, alle Raͤthſel erklaͤrt, alle Aufgaben aufloͤſet; eine Philoſophie, welche deſtomehr mit dem warmen und gefuͤhlloſen Herzen der Jugend ſympatiſiert, weil ſie alles Unempfindliche und Todte aus der Natur ver - bannet, und jeden Atom der Schoͤpfung mit lebenden und geiſtigen Weſen bevoͤlkert, jeden Punct der Zeit mit verborgnen Begebenheiten und groſſen Scenen be - fruchtet, welche fuͤr kuͤnftige Ewigkeiten heraureiffen; ein Syſtem, welches die Schoͤpfung ſo unermeßlich macht, als ihr Urheber iſt; welches uns in der anſchei -R 4nenden264Agathon. nenden Verwirrung der Natur eine majeſtaͤtiſche Sym - metrie, in der Regierung der moraliſchen Welt einen unveraͤnderlichen Plan, in der unzaͤhlbaren Menge von Claſſen und Geſchlechtern der Weſen einen einzigen Staat, in den verwikelten Bewegungen aller Dinge einen allgemeinen Richtpunct, in unſrer Seele einen kuͤnftigen Gott, in der Zerſtoͤrung unſers Coͤrpers die Wiedereinſezung in unſre urſpruͤngliche Vollkommen - heit, und in dem nachtvollen Abgrund der Zukunft helle Ausſichten in grenzenloſe Wonne zeigt? Ein ſol - ches Syſtem iſt zu ſchoͤn an ſich ſelbſt, zu ſchmeichelhaft fuͤr unſern Stolz, unſern innerſten Wuͤnſchen und we - ſentlichſten Trieben zu angemeſſen, als daß wir es in einem Alter, wo alles Groſſe und Ruͤhrende ſo viel Macht uͤber uns hat, nicht beym erſten Anblik wahr finden ſollten. Vermuthungen und Wuͤnſche werden hier zu deſto ſtaͤrkern Beweiſen, da wir in dem bloſſen Anſchauen der Natur zuviel Majeſtaͤt, zuviel Geheim - nisreiches und Goͤttliches zu ſehen glauben, um beſor - gen zu koͤnnen, daß wir jemals zugroß von ihr den - ken moͤchten. Und, ſoll ich dirs geſtehen, ſchoͤne Danae? Selbſt izt, da mich gluͤkliche Erfahrungen das Schwaͤrmende und Unzuverlaͤßige dieſer Art von Phi - loſphie gelehrt haben, fuͤhle ich mit einer innerlichen Gewalt, die ſich gegen jeden Zweifel empoͤrt, daß dieſe Uebereinſtimmung mit unſern edelſten Neigungen, wel - che ihr das Wort redet, der rechte Stempel der Wahr - heit iſt, und daß ſelbſt in dieſen Traͤumen, welche dem materialiſchen Menſchen ſo ausſchweiffend ſcheinen, fuͤrunſren265Siebentes Buch, erſtes Capitel. unſern Geiſt mehr Wuͤrklichkeit, mehr Unterhaltung und Aufmunterung, eine reichere Quelle von ruhiger Freude und ein feſterer Grund der Selbſtzufriedenheit liegt, als in allem was die Sinne uns angenehmes und Gutes anzubieten haben. Doch ich erinnere mich, daß es die Geſchichte meiner Seele, und nicht die Rechtfertigung meiner Denkensart iſt, wozu ich mich anheiſchig ge - macht habe. Es ſey alſo genug, wenn ich ſage, daß die Lehrſaͤze des Orpheus und des Pythagoras, von den Goͤttern, von der Natur, von unſrer Seele, von der Tugend, und von dem was das hoͤchſte Gut des Men - ſchen iſt, ſich meines Gemuͤths ſo gaͤnzlich bemeiſterten, daß alle meine Begriffe nach dieſem Urbilde gemodelt, alle meine Reizungen davon beſeelt, und mein ganzes Betragen, ſo wie alle meine Entwuͤrfe fuͤr die Zukunft, mit dem Plan eines nach dieſen Grundſaͤzen abgemeſſe - nen Lebens, deſſen Beurtheilung mich unaufhoͤrlich in mir ſelbſt beſchaͤftigte, uͤbereinſtimmig waren.
Der Prieſter, der ſich zu meinem Mentor aufge - worfen hatte, ſchien uͤber den auſſerordentlichen Ge -R 5ſchmak,266Agathon. ſchmak, den ich an ſeinen erhabnen Unterweiſungen fand, ſehr vergnuͤgt zu ſeyn, und ermangelte nicht, meinen Enthuſiasmus biß auf einen Grad zu erhoͤhen, welcher mich, ſeiner Meynung nach, alles zu glauben und alles zu leiden faͤhig machen muͤßte. Jch war zu jung und zu unſchuldig, um das kleinſte Mißtrauen in ſeine Bemuͤhungen zu ſezen, bey welchen die Aufrichtig - keit meines eignen Herzens die edelſten Abſichten vor - ausſezte. Er hatte die Vorſicht gebraucht, es ſo ein - zuleiten, daß ich endlich aus eigner Bewegung auf die Frage gerathen mußte, ob es nicht moͤglich ſey, ſchon in dieſem Leben mit den hoͤhern Geiſtern in Gemeinſchaft zu kommen? Dieſer Gedanke beſchaͤf - tigte mich lange bey mir ſelbſt; ich fand moͤglich, was ich mit der groͤſſeſten Lebhaftigkeit wuͤnſchte. Die Geſchichte der erſten Zeiten ſchien meine Hofnung zu beſtaͤtigen. Die Goͤtter hatten ſich den Menſchen bald in Traͤumen, bald in Erſcheinungen entdekt; ver - ſchiedene waren ſo gar gluͤklich genug geweſen, Guͤnſt - linge der Goͤtter zu ſeyn. Hier kam mir Ganymed, Endymion und ſo viele andre zu ſtatten, welche von Gottheiten geliebt worden waren. Jch gab demjeni - gen, was die Dichter davon erzaͤhlen, eine Auslegung, welche den erhabenen Begriffen gemaͤß war, die ich von den hoͤhern Weſen gefaſſet hatte; die Schoͤnheit und Reinigkeit der Seele, die Abgezogenheit von den Gegenſtaͤnden der Sinne, die Liebe zu den unſterbli - chen und ewigen Dingen, ſchien mir dasjenige zu ſeyn, was dieſe Perſonen den Goͤttern angenehm, und zuihrem267Siebentes Buch, zweytes Capitel,ihrem Umgang geſchikt gemacht hatte. Jch entdekte endlich dem Theogiton (ſo hieß der Prieſter) meine lange geheim gehaltene Gedanken. Er erklaͤrte ſich auf eine Art daruͤber, welche meine Neubegterde rege machte, ohne ſie zu befriedigen; er ließ mich merken, daß die - ſes Geheimniſſe ſeyen, welche er Bedenken trage, meiner Jugend anzuvertrauen: Doch ſagte er mir, daß die Moͤglichkeit der Sache keinem Zweifel unterworfen ſey, und bezauberte mich ganz mit dem Gemaͤhlde, ſo er mir von der Gluͤkſeligkeit derjenigen machte, welche von den Goͤttern wuͤrdig geachtet wuͤrden, zu ihrem geheimen Umgang zugelaſſen zu werden. Die geheim - nisvolle Mine, die er annahm, ſo bald ich nach den Mitteln hiezu zu gelangen fragte, bewog mich, den Vorſaz zu faſſen, zu warten, biß er ſelbſt fuͤr gut fin - den wuͤrde, ſich deutlicher zu entdeken. Er that es nicht; aber er machte ſo viele Gelegenheiten, meine erregte Neugierigkeit zu entflammen, daß ich mich nicht lange enthalten konnte, neue Fragen zu thun. End - lich fuͤhrte er mich einsmals tief im geheiligten Hayn des Apollo in eine Grotte, welche ein uralter Glaube der Bewohner des Landes von den Nymphen bewohnt glaubte, deren Bilder, aus Cypreſſenholz geſchnizt, in Blinden von Muſchelwerk das Jnnerſte der Hoͤhle zierten.
Hier ließ er mich auf eine bemooste Bank nieder - ſizen, und fieng nach einer viel verſprechenden Vorrede an, mir, wie er ſagte, das geheime Heiligthum der goͤttlichen Philoſophie des Hermes und Orpheus aufzu -ſchlieſſen.268Agathon. ſchlieſſen. Unzaͤhliche religioſe Waſchungen, und eine Menge von Gebeten, Raͤucherungen und andre ge - heimen Anſtalten mußten vorhergehen, einen noch in irdiſche Glieder gefeſſelten Geiſt zum Anſchauen der himmliſchen Naturen vorzubereiten. Und auch alsdenn wuͤrde unſer ſterblicher Theil den Glanz der goͤttlichen Vollkommenheit nicht ertragen, ſondern (wie die Dich - ter unter der Geſchichte der Semele zu erkennen gege - ben) gaͤnzlich davon verzehrt und vernichtet werden, wenn ſie ſich nicht mit einer Art von koͤrperlichem Schleyer umhuͤllen, und durch dieſe Herablaſſung uns nach und nach faͤhig machen wuͤrden, ſie endlich ſelbſt, entkoͤrpert und in ihrer weſentlichen Geſtalt anzuſchauen. Jch war einfaͤltig genug alle dieſe vorgegebene Geheim - niſſe fuͤr aͤcht zu halten; ich hoͤrte dem ernſten Theogi - ton mit einem heiligen Schauer zu, und machte mir ſeine Unterweiſungen ſo wohl zu Nuze, daß ich Tag und Nacht an nichts anders dachte als an die auſſeror - dentliche Dinge, wovon ich in kurzem die Erfahrung bekommen wuͤrde.
Du kanſt dir einbilden, Danae, ob meine Phan - taſie in dieſer Zeit muͤßig war. Jch wuͤrde nicht fertig werden, wenn ich alles beſchreiben wollte, was da - mals in ihr vorgieng, und mit welch einer Zauberey ſie mich in meinen Traͤumen bald in gluͤklichen Jnſeln, welche Pindar ſo praͤchtig ſchildert, bald zum Gaſtmal der Goͤtter, bald in die Elyſiſchen Thaͤler, der Woh - nung ſeliger Schatten, verſezte.
So269Siebentes Buch, zweytes Capitel.So ſeltſam es klingt, ſo gewiß iſt es doch, daß die Kraͤfte der Einbildung dasjenige weit uͤberſteigen, was die Natur unſern Sinnen darſtellt: Sie hat etwas glaͤn - zenders als Sonnenglanz, etwas lieblichers als die ſuͤſſe - ſten Duͤfte des Fruͤhlings zu ihren Dienſten, unſre in - nern Sinnen in Entzuͤkung zu ſezen; ſie hat neue Ge - ſtalten, hoͤhere Farben, vollkommnere Schoͤnheiten, ſchnellere Veranſtaltungen, eine neue Verknuͤpfung der Urſachen und Wuͤrkungen, eine andere Zeit — kurz, ſie verſchaft eine neue Natur, und verſezt uns in der That in fremde Welten, welche nach ganz andern Ge - ſezen als die unſrige regiert werden. Jn unſrer erſten Jugend ſind wir noch zu unbekannt mit den Triebfedern unſers eignen Weſens, um deutlich einzuſehen, wie ſehr dieſe ſcheinbare Magie der Einbildungskraft in der That natuͤrlich iſt. Wenigſtens war ich damals leicht - glaͤubig genug, Traͤume von dieſer Art, uͤbernatuͤrlichen Einfluͤſſen beyzumeſſen, und ſie fuͤr Vorboten der Wun - derdinge zu halten, welche ich bald auch wachend zu erfahren hofte.
Einsmals, als ich nach der Vorſchrift des Theogi - tons acht Tage lang mit geheimen Ceremonien und Weyhungen, und in einer unablaͤßigen Anſtrengung mein Gemuͤth von allen aͤuſſerlichen Gegenſtaͤnden ab - zuziehen, zugebracht hatte, und mich nunmehr berech - tiget hielt, etwas mehr zu erwarten, als was mir bis - her begegnet war, begab ich mich in ſpaͤter Nacht, da alles ſchlief, in die Grotte der Nymphen, und nach -dem270Agathon. dem ich eine Menge von ſchwuͤlſtigen Liedern und An - ruffungsformeln hergeſagt hatte, legte ich mich, mit dem Angeſicht gegen den vollen Mond gekehrt, wel - cher eben damals in die Grotte ſchien, auf die Ruhe - bank zuruͤk, und uͤberließ mich der Vorſtellung, wie mir ſeyn wuͤrde, wenn Luna aus ihrer Silberſphaͤre herabſteigen, und mich zu ihrem Endymion machen wuͤrde. Mitten in dieſen ausſchweiffenden Vorſtellun - gen, unter denen ich allmaͤhlich zu entſchlummern an - ſieng, wekte mich ploͤzlich ein liebliches Getoͤn, welches in einiger Entfernung uͤber mir zu ſchweben ſchien, und wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von Say - tenſpiel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen pflegt. Einem natuͤrlich geſtimmten Menſchen wuͤrde gedaͤucht haben, er hoͤre ein gutes Stuͤk von einer ge - ſchikten Hand ausgefuͤhrt; und ſo haͤtte er ſich nicht betruͤgen koͤnnen. Aber in der Verfaſſung, worinn ich damals war, haͤtte ich vielleicht das Gequaͤke eines Chors von Froͤſchen fuͤr den Geſang der Muſen gehalten. Die Muſik, die ich hoͤrte, ruͤhrte, feſſelte, entzuͤkte mich; ſie uͤbertraf, meiner eingebildeten Empfindung nach (denn die Phantaſie hat auch ihre Empfindungen,) alles was ich jemals gehoͤrt hatte; nur Apollo, der Va - ter der Harmonie, deſſen Laute die Sphaͤren ihre Goͤt - ter-vergnuͤgende Harmonien gelehrt hatte, konnte ſo uͤberirdiſche Toͤne hervorbringen. Meine Seele ſchien davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen zu werden, und, lauter Ohr, uͤber den Wolken zu ſchweben; als dieſe Muſik ploͤzlich aufhoͤrte, und mich in einer Ver -wirrung271Siebentes Buch, zweytes Capitel. wirrung von Gedanken und Gemuͤthsregungen zuruͤk - ließ, die mir dieſe ganze Nacht kein Auge zu ſchlieſſen, geſtattete.
Des folgenden Tages erzaͤhlte ich dem Theo - giton, was mir begegnet war. Er ſchien nichts ſehr beſonders daraus zu machen; doch gab er, nachdem er mich um alle Umſtaͤnde befragt hatte, zu, daß es Apollo, oder eine von den Muſen geweſen ſeyn koͤnne. Du wirſt laͤcheln, Danae, wenn ich dir geſtehe, daß ich, ſo jung ich war, und ohne mir ſelbſt recht bewußt zu ſeyn, warum? doch lieber geſehen haͤtte, wenn es eine Muſe geweſen waͤre. Jch unterließ nun keine Nacht, mich in der Grotte einzufinden, um die vermeyn - te Muſe wieder zu hoͤren: Aber meine Erwartung be - trog mich; es war Apollo ſelbſt. Nach etlichen Naͤch - ten, worinn ich mich mit der ſtummen Gegenwart der Nymphen von Cypreſſenholz hatte begnuͤgen muͤſſen, kuͤn - digte mir ein heller Schein, der auf einmal in die Grotte fiel, und durch die allgemeine Dunkelheit und meinen Wahnwiz zu einem uͤberirrdiſchen Licht erhoben wurde, irgend eine auſſerordentliche Begebenheit an. Urtheile, wie beſtuͤrzt ich war, als ich mitten in der Nacht, den Gott des Tages, auf einer hellglaͤnzenden Wolke ſizend, vor mir ſah, der ſich mir zu lieb den Armen der ſchoͤnen Thetis entriſſen hatte. Goldgelbe Loken floſſen um ſeine weiſſen Schultern; eine Crone von Stralen ſchmuͤkte ſeine Scheitel; das ſilberne Ge - wand, das ihn umfloß, funkelte von tauſend Edelſtei - nen; und eine goldne Leyer lag in ſeinem linken Arm. Meine272Agathon. Meine Einbildung that das uͤbrige hinzu, was zu Vol - lendung einer idealiſchen Schoͤnheit noͤthig war. Al - lein Beſtuͤrzung und Ehrfurcht erlaubte mir nicht, dem Gott genauer ins Geſicht zu ſehen; ich glaubte geblen - det zu ſeyn, und den Glanz von Augen, welche die ganze Welt erleuchteten, nicht ertragen zu koͤnnen. Er redete mich an; er bezeugte mir ſein Wolgefallen an meinem Dienſt, und an der feurigen Begierde, womit ich, mit Verachtung der irdiſchen Dinge mich den himmliſchen widmete. Er munterte mich auf, in die - ſem Wege fortzugehen, und mich den Einfluͤſſen der Unſterblichen leidend zu uͤberlaſſen; mit der Verſiche - rung, daß ich beſtimmt ſey, die Anzahl der Gluͤklichen zu vermehren, welche er ſeiner beſondern Gunſt ge - wuͤrdiget habe. Er verſchwand, indem er dieſe Wor - te ſagte, ſo ploͤzlich, daß ich nichts dabey beobachten konnte; und ſo voreingenommen als mein Gemuͤth war, haͤtte dieſer Apollo ſeine Rolle viel ungeſchikter ſpielen koͤnnen, ohne daß mir ein Zweifel gegen ſeine Gottheit aufgeſtiegen waͤre. Theogiton, dem ich von dieſer Er - ſcheinung Nachricht gab, wuͤnſchte mir Gluͤk dazu, und ſagte mir von den alten Helden unſrer Nation, welche einſt Lieblinge der Goͤtter geweſen, und nun als Halb - goͤtter ſelbſt Altaͤre und Prieſter haͤtten, ſo viel herrli - che Sachen vor, als er noͤthig erachten mochte, meine Bethoͤrung vollkommen zu machen. Am Ende vergaß er nicht, mir Anweiſung zu geben, wie ich mich bey einer zweyten Erſcheinung gegen den Gott zu verhal - ten haͤtte. Jnſonderheit ermahnte er mich, mein Ur -theil273Siebentes Buch, zweytes Capitel. theil uͤber alles zuruͤkzuhalten, mich durch nichts be - fremden zu laſſen, und der Vorſchrift unſrer Philoſo - phie immer eingedenk zu bleiben, welche eine gaͤnzliche Unthaͤtigkeit von uns fodert, wenn die Goͤtter auf uns wuͤrken ſollen. Man mußte ſo unerfahren ſeyn, als ich war, um keine Schlange unter dieſen Blumen zu mer - ken. Nichts als die Entwiklung dieſer heiligen Mumme - rey konnte mir die Augen oͤfnen. Jch konnte unmoͤg - lich aus mir ſelbſt auf den Argwohn gerathen, daß die Zuneigung einer Gottheit eigennuͤzig ſeyn koͤnne. Jch hatte vielmehr gehoft, die groͤſſeſten Vortheile fuͤr meine Wiſſens-Begierde von ihr zu ziehen, und mit mehr als menſchlichen Vorzuͤgen begabt zu werden. Die Erklaͤ - rungen des Apollo befremdeten mich endlich, und ſeine Handlungen noch mehr; zulezt entdekte ich, was du ſchon lange vorher geſehen haben muſt, daß der ver - meynte Gott kein andrer als Theogiton ſelber war; welcher, ſobald er ſein Spiel entdekt ſah, auf einmal die Sprache aͤnderte, und mich bereden wollte, daß er dieſe Comoͤdie nur zu dem Ende angeſtellt habe, um mich von der Eitelkeit der Theoſophie, in die er mich ſo verliebt geſehen haͤtte, deſto beſſer uͤberzeugen zu koͤn - nen. Er zog die Folge daraus: Daß alles, was man von den Goͤttern ſagte, Erfindungen ſchlauer Koͤpfe waͤren, womit ſie Weiber und leichtglaͤubige Knaben in ihr Nez zu ziehen ſuchten; Kurz, er wandte alles an, was eine unſittliche Leidenſchaft einem ſchaamloſen Ver - aͤchter der Goͤtter eingeben kan, um die Muͤhe einer ſo wol ausgeſonnenen und mit ſo vielen Maſchinen aufge -[Agath. I. Th.] Sſtuͤzten274Agathon. ſtuͤzten Verfuͤhrung nicht umſonſt gehabt zu haben. Jch verwieß ihm ſeine Boßheit mit einem Zorne, der mich ſtark genug machte, mich von ihm loszureiſſen. Des folgenden Tags hatte er die Unverſchaͤmtheit, die prie - ſterlichen Verrichtungen mit eben der heuchleriſchen An - dacht fortzuſezen, womit er mich und jeden andern bisher hintergangen hatte. Er ließ nicht die geringſte Veraͤnderung in ſeinem Betragen gegen mich merken, und ſchien ſich des Vergangenen eben ſo wenig zu er - innern, als ob er den ganzen Lethe ausgetrunken haͤtte. Dieſe Auffuͤhrung vermehrte meine Unruhe ſehr; ich konnte noch nicht begreiffen, daß es Leute geben koͤnne, welche, mitten in den Ausſchweiffungen des Laſters, Ruhe und Heiterkeit, die natuͤrlichen Gefaͤhrten der Unſchuld, beyzubehalten wiſſen. Allein in weniger Zeit darauf befreyte mich die Unvorſichtigkeit dieſes Be - truͤgers von den Beſorgniſſen, worinn ich ſeit der Ge - ſchichte in der Grotte geſchwebet hatte. Theogiton verſchwand aus Delphi, ohne daß man die eigentliche Urſache davon erfuhr. Aus dem, was man ſich in die Ohren murmelte, errieth ich, daß Apollo endlich uͤberdruͤſſig geworden ſeyn moͤchte, ſeine Perſon von ei - nem andern ſpielen zu laſſen. Einer von unſern Kna - ben, der ein Verwandter des Ober-Prieſters war, hatte (wie man ſagte) den Anlas dazu gegeben.
Dieſe Begebenheiten fuͤhrten mich natuͤrlicher Weiſe auf viele neue Betrachtungen; aber meine Neigung zum Wunderbaren und meine Lieblings-Jdeen verlorennichts275Siebentes Buch, zweytes Capitel. nichts dabey; ſie gewannen vielmehr, indem ich ſie nun in mich ſelbſt verſchloß, und die Unſterblichen allein zu Zeugen desjenigen machte, was in meiner Seele vor - gieng. Jch fuhr fort, die Verbeſſerung derſelben nach den Grundſaͤzen der Orphiſchen Philoſophie mein vor - nehmſtes Geſchaͤfte ſeyn zu laſſen. Jch fieng nun an zu glauben, daß keine andre als eine idealiſche Gemein - ſchaft zwiſchen den Hoͤhern Weſen und den Menſchen moͤglich ſey; daß nichts als die Reinigkeit und Schoͤn - heit unſrer Seele vermoͤgend ſey, uns zu einem Ge - genſtande des Wolgefallens jenes Unnennbaren, Allge - meinen, Oberſten Geiſtes zu machen, von welchem alle uͤbrige, wie die Planeten von der Sonne, ihr Licht ‒ ‒ und die ganze Natur ihre Schoͤnheit und unwandelbare Ordnung erhalten; und daß endlich in der Uebereinſtim - mung aller unſrer Kraͤfte, Gedanken und geheimſten Neigungen mit den groſſen Abſichten und den allgemei - nen Geſezen dieſes Beherſchers der ſichtbaren und un - ſichtbaren Welt, das wahre Geheimniß liege, zu derje - nigen Vereinigung mit demſelben zu gelangen, welche ich fuͤr die natuͤrliche Beſtimmung und das lezte Ziel aller Wuͤnſche eines unſterblichen Weſens anſah. Bey - des, jene geiſtige Schoͤnheit der Seele und dieſe erha - bene Richtung ihrer Wuͤrkſamkeit nach den Abſichten des Geſezgebers der Weſen, glaubte ich am ſicherſten durch die Betrachtung der Natur zu erhalten; welche ich mir als einen Spiegel vorſtellte, aus welchem das Weſentliche, Unvergaͤngliche und Goͤttliche in unſern Geiſt zuruͤkſtrale, und ihn nach und nach eben ſo durch -S 2dringe276Agathon. dringe und erfuͤlle, wie die Sonne einen angeſtralten Waſſer-Tropfen. Jch uͤberredete mich, daß die unver - ruͤkte Beſchauung der Weisheit und Guͤte, welche ſo wol aus der beſondern Natur eines jeden Theils der Schoͤpfung, als aus dem Plan und der allgemeinen Oeconomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare Mittel ſey, ſelbſt weiſe und gut zu werden. Jch brachte alle dieſe Grundſaͤze in Ausuͤbung. Jeder neue Gedanke, der ſich in mir entwikelte, wurde zu einer Empfindung meines Herzens; und ſo lebte ich in einem ſtillen und lichtvollen Zuſtand des Gemuͤths, deſſen ich mich niemals anders als mit wehmuͤthigem Vergnuͤgen erinnern werde, etliche gluͤkliche Jahre hin; unwiſſend (und gluͤklich durch dieſe Unwiſſenheit) daß dieſer Zu - ſtand nicht dauern koͤnne; weil die Leidenſchaften des reiffenden Alters, und (wenn auch dieſe nicht waͤren) die unvermeidliche Verwiklung in dem Wechſel der menſch - lichen Dinge jene Fortdauer von innerlicher Heiterkeit und Ruhe nicht geſtatten, welche nur ein Antheil ent - coͤrperter Weſen ſeyn kan.
Jnzwiſchen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und fieng nun an, mitten unter den angenehmen Empfin - dungen, von denen meine Denkungs-Art und meine Be -ſchaͤf -277Siebentes Buch, drittes Capitel. ſchaͤftigungen unerſchoͤpfliche Quellen zu ſeyn ſchienen, ein Leeres in mir zu fuͤhlen, welches ſich durch keine Jdeen ausfuͤllen laſſen wollte. Jch ſah die manchfalti - gen Namen der Natur wie mit neuen Augen an; ihre Schoͤnheiten hatten fuͤr mich etwas Herz-ruͤhrendes, welches ich ſonſt nie auf dieſe Art empfunden hatte. Der Geſang der Voͤgel im Hayne ſchien mir was zu ſagen, das er mir nie geſagt hatte, ohne daß ich wußte, was es war; und die neu belaubten Waͤlder ſchienen mich einzuladen, in ihren Schatten einer wol - luͤſtigen Schwermuth nachzuhaͤngen, von welcher ich mitten in den erhabenſten Betrachtungen wider meinen Willen uͤberwaͤltiget wurde. Nach und nach verfiel ich in eine weichliche Unthaͤtigkeit: Mich daͤuchte, ich ſey bisher nur in der Einbildung gluͤklich geweſen; und mein Herz ſehnete ſich nach einem Gegenſtand, in wel - chem ich jene idealiſche Vollkommenheiten wuͤrklich ge - nieſſen moͤchte, an denen ich mich bisher nur wie an ei - nem getraͤumten Gaſtmale geweidet hatte. Damals zuerſt ſtellten ſich mir die Reizungen der Freundſchaft in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit dar: Ein Freund (bildete ich mir ein) ein Freund wuͤrde dieſe geheime Sehnſucht meines Herzens befriedigen. Meine Phantaſie mahlte ſich einen Pylades aus, und mein verlangendes Herz bekraͤnzte dieſes ſchoͤne Bild mit allem, was mir das Liebenswuͤrdigſte ſchien, ſelbſt mit jenen aͤuſſerlichen Annehmlichkeiten, welche in meinem Syſtem den natuͤrlichen Schmuk der Tugend ausmach - ten. Jch ſuchte dieſen Freund unter der bluͤhenden Ju -S 3gend,278Agathon. gend, welche mich umgab. Mehr als einmal betrog mich mein Herz, ihn gefunden zu haben; aber eine kurze Erfahrung machte mich meines Jrrthums bald ge - wahr werden. Unter einer ſo groſſen Anzahl von aus - erleſenen Juͤnglingen, welche die Liverey des Gottes zu Delphi trugen, war nicht ein einziger, den die Na - tur ſo vollkommen mit mir zuſammen geſtimmt hatte, als die Spizfindigkeit meiner Begriffe es erfoderte.
Um dieſe Zeit geſchah es, daß ich das Ungluͤk hatte, der Ober-Prieſterin eine Neignug einzufloͤſſen, welche mit ihrem geheiligten Stande und mit ihrem Alter ei - nen gleich ſtarken Abſaz machte; ſie hatte mich ſchon ſeit geraumer Zeit mit einer vorzuͤglichen Guͤtigkeit an - geſehen, welche ich, ſo lang ich konnte, einer muͤtter - lichen Geſinnung beymaß, und mit aller der Ehrerbie - tung erwiederte, die ich der Vertrauten des Delphiſchen Gottes ſchuldig war. Stelle dir vor, ſchoͤne Danae, was fuͤr ein Modell zu einer Bild-Saͤule des Erſtau - nens ich abgegeben haͤtte, als ſich eine ſo ehrwuͤrdige Perſon herabließ, mir zu entdeken, daß alle Vertrau - lichkeit, die ich zwiſchen ihr und dem Apollo voraus - ſezte, nicht zureiche, ſie uͤber die Schwachheiten der gemeinſten Erden-Toͤchter hinwegzuſezen. Die gute Dame war bereits in demjenigen Alter, worinn es laͤ - cherlich waͤre, das Herz eines Mannes von einiger Er - fahrung einer jungen Nebenbuhlerin ſtreitig machen zu wollen. Allein einem Neuling, wofuͤr ſie mich mit gu - tem Grund anſah, die erſten Unterweiſungen zu geben,dazu279Siebentes Buch, drittes Capitel. dazu konnte ſie ſich ohne uͤbertriebene Eitelkeit fuͤr rei - zend genug halten. Sie war zu den Zeiten des Hei - ligen Kriegs in der Bluͤhte ihrer Schoͤnheit geweſen; hatte ſich aber, wie die meiſten ihres Standes, ſo gut erhalten, daß ſie noch immer Hoffnung haben konnte, in einer Verſammlung herbſtlicher Schoͤnheiten vorzuͤg - lich bemerkt zu werden. Seze zu dieſen ehrwuͤrdigen Ueberbleibſeln einer vormals beruͤhmten Schoͤnheit eine Figur, wie man die blonde Ceres zu bilden pflegt, groſſe ſchwarze Augen, unter deren affectiertem Ernſt eine wolluͤſtige Glut hervorglimmte, und zu allem die - ſem eine ungemeine Sorgfalt fuͤr ihre Perſon, und die ſchlaue Kunſt, die Vortheile ihrer Reizungen mit der ſtrengen Sittſamkeit ihrer prieſterlichen Kleidung zu verbinden: ſo kanſt du dir eine genugſame Vorſtellung von dieſer Pythia machen, um den Grad der Gefahr abnehmen zu koͤnnen, worinn ſich die Einfalt meiner Jugend bey ihren Nachſtellungen befand.
Es iſt leicht zu erachten, wie viel es ſie Muͤhe koſten mußte, die erſten Schwierigkeiten zu uͤberwinden, wel - che ein mehr Ehrfurcht als Liebe einfloͤſſendes Frauenzim - mer, in den hartnaͤkigen Vorurtheilen eines achtzehnjaͤh - rigen Juͤnglings findet. Jhr Stand erlaubte ihr nicht, ſich deutlich zu erklaͤren; und meine Bloͤdigkeit verſtand die Sprache nicht, deren ſie ſich zu bedienen genoͤthigt war. Zwar braucht man ſonſt zu dieſer Sprache keinen andern Lehrmeiſter als ſein Herz; allein ungluͤklicher Weiſe ſagte mir mein Herz nichts. Es bedurfte derS 4lange280Agathon. lange geuͤbten Geduld einer bejahrten Prieſterin, um nicht tauſendmal das Vorhaben aufzugeben, einem Menſchen, der aus lauter Jdeen zuſammengeſezt war, ihre Abſichten begreiflich zu machen. Und dennoch fand ſie ſich endlich genoͤthigt, ſich des einzigen Kunſt - griffs zu bedienen, von dem man in ſolchen Faͤllen eine gewiſſe Wuͤrkung erwarten kan; ſie hatte noch Rei - zungen, welche die ungewohnten Augen eines Neulings blenden konnten. Die Verwirrung, worein ſie mich durch den erſten Verſuch von dieſer Art geſezt ſah, ſchien ihr von guter Vorbedeutung zu ſeyn; und viel - leicht haͤtte ſie ſich weniger in ihrer Erwartung betro - gen, wenn nicht ein Umſtand, von dem ihr nichts be - kannt war, meinem Herzen eine mehr als gewoͤhnliche Staͤrke gegeben haͤtte.
Unſre Tugend, oder diejenigen Wuͤrkungen, welche das Anſehen haben, aus einer ſo edeln Quelle zu flieſ - ſen, haben insgemein geheime Triebfedern, die uns, wenn ſie geſehen wuͤrden, wo nicht alles, doch einen groſſen Theil unſers Verdienſtes dabey entziehen wuͤr - den. Wie leicht iſt es, der Verſuchung einer Leiden - ſchaft zu widerſtehen, wenn ihr von einer ſtaͤrkern die Wage gehalten wird?
Kurz zuvor, eh die ſchoͤne Pythia ihren phyſicaliſchen Verſuch machte, war das Feſt der Diana eingefallen, welches zu Delphi mit aller der Feyerlichkeit begangen wird, die man der Schweſter des Apollo ſchuldig zu ſeynvermeynt.281Siebentes Buch, drittes Capitel. vermeynt. Alle Jungfrauen uͤber vierzehn Jahre erſchie - nen dabey in ſchneeweiſſem Gewand, mit aufgeloͤßten fliegenden Haaren, den Kopf und die Arme mit Blu - men-Kraͤnzen umwunden, und ſangen Hymnen zum Preiß der jungfraͤulichen Goͤttin. Auch alte halb ver - loſchne Augen heiterten ſich beym Anblik einer ſo zahl - reichen Menge junger Schoͤnen auf, deren geringſter Reiz die friſcheſte Blum der Jugend war. Urtheile, ſchoͤne Danae, ob derjenige, den der bunte Schimmer eines bluͤhenden Blumen-Stuͤks ſchon in eine Art von Entzuͤkung ſezte, bey einem ſolchen Auftritt unempfind - lich bleiben konnte? Meine Blike irrten in einer zaͤrtli - chen Verwirrung unter dieſen anmuthsvollen Geſchoͤpfen herum; bis ſie ſich ploͤzlich auf einer einzigen ſammel - ten, deren erſter Anblik meinem Herzen keinen Wunſch uͤbrig ließ, etwas anders zu ſehen. Vielleicht wuͤrde mancher ſie unter ſo vielen Schoͤnen kaum beſonders wahrgenommen haben; denn der ſchoͤnſte Wuchs, die regelmaͤſſigſten Zuͤge, langes Haar, deſſen wallende Lo - ken bis zu den Knien herunterfloſſen, und eine Farbe, welche Lilien und Roſen, wenn ſie ihre eigene Schoͤn - heit fuͤhlen koͤnnten, beſchaͤmt haͤtte, alle dieſe Reizun - gen waren ihr mit ihren Geſpielen gemein; viele uͤber - traffen ſie noch in einem und dem andern Stuͤke der Schoͤnheit, und wenn ein Mahler unter der ganzen Schaar haͤtte entſcheiden ſollen, welche die Schoͤnſte ſey, ſo wuͤrde ſie vielleicht uͤbergangen worden ſeyn; allein mein Herz urtheilte nicht nach den Regeln der Kunſt. Jch empfand, oder glaubte zu empfinden,S 5(und282Agathon. (und dieſes iſt in Abſicht der Wuͤrkung allemal eins) daß nichts liebenswuͤrdigers als dieſes junge Maͤdchen ſeyn koͤnne, ohne daß ich daran gedachte, ſie mit den uͤbrigen zu vergleichen; ſie loͤſchte alles andre aus mei - nen Augen aus. So (dacht ich) muͤßte die Unſchuld ausſehen, wenn ſie, unſichtbar zu werden, die Geſtalt einer Grazie entlehnte; ſo ruͤhrend wuͤrden ihre Geſichts - Zuͤge ſeyn; ſo ſtill-heiter wuͤrden ihre Augen; ſo hold - ſelig ihre Wangen laͤcheln; ſo wuͤrden ihre Blike, ſo ihr Gang, ſo jede ihrer Bewegungen ſeyn. Dieſer Augenblik brachte in meiner Seele eine Veraͤnderung hervor, welche mir, da ich in der Folge faͤhig wurde, uͤber meinen Zuſtand zu denken, dem Uebergang in eine neue und vollkommnere Art des Daſeyns gleich zu ſeyn ſchien. Aber damals war ich zu ſtark geruͤhrt, zu ſehr von Empfindungen verſchlungen, um mir mei - ner ſelbſt recht bewußt zu ſeyn. Meine Entzuͤkung gieng ſo weit, daß ich nichts mehr von dem Pomp des Fe - ſtes bemerkte; und erſt, nachdem alles gaͤnzlich aus mei - nen Augen verſchwunden war, ward ich, wie durch einen ploͤzlichen Schlag, wieder zu mir ſelbſt gebracht. Jzt hatte ich Muͤhe, mich zu uͤberzeugen, daß ich nicht aus einem von den Traͤumen erwacht ſey, worinn meine Phantaſie, in uͤberirrdiſche Sphaͤren verzuͤkt, mir zuweilen aͤhnliche Geſtalten vorgeſtellt hatte. Der Schmerz, eines ſo ſuͤſſen Anbliks beraubt zu ſeyn, konnte das vollkommene Vergnuͤgen nicht ſchwaͤchen, womit das Jnnerſte meines Weſens erfuͤllt war. Sel - bigen ganzen Abend, und den groͤſſeſten Theil der Nacht,hatten283Siebentes Buch, drittes Capitel. hatten alle Kraͤfte meiner Seele keine andere Beſchaͤfti - gung, als ſich dieſes geliebte Bild bis auf die kleinſten Zuͤge mit allen dieſen namenloſen Reizen, — welche vielleicht ich allein an dem Urbilde bemerkt hatte, — und mit einer Lebhaftigkeit vorzumahlen, die ihm im - mer neue Schoͤnheiten lehnte; mein Herz ſchmuͤkte es mit allem, was die Natur Anmuthiges hat, mit allen Vorzuͤgen des Geiſtes, mit jeder ſittlichen Schoͤnheit, mit allem was nach meiner Denkungs-Art das Voll - kommenſte und Beſte war, aus — was fuͤr ein Gemaͤhlde, wozu die Liebe die Farben giebt! — Und doch glaubte ich immer, zu wenig zu thun; und bear - beitete mich in mir ſelbſt, noch etwas ſchoͤners als das Schoͤnſte zu finden, um die Jdee, die ich mir von meiner Unbekannten machte, gaͤnzlich zu vollenden, und gleichſam in das Urbild ſelbſt zu verwandeln. — Dieſe liebenswuͤrdige Perſon hatte mich zu eben der Zeit, da ich ſie erblikte, wahrgenommen; und es war (wie ſie mir in der Folge entdekte) etwas mit den Regungen meines Herzens Uebereinſtimmendes in dem ihrigen vor - gegangen. Jch erinnerte mich, (denn wie haͤtte ich die kleinſte Bewegung, die ſie gemacht hatte, vergeſſen koͤnnen?) daß unſre Blike ſich mehr als ein mal begeg - net waren, und daß ſie ſogleich mit einer Schaam - Roͤthe, welche ihr ganzes liebliches Geſicht mit Roſen uͤberzog, die Augen niedergeſchlagen hatte. Jch war zu unerfahren, und in der That auch zu beſcheiden, aus dieſem Umſtand etwas beſonderes zu meinem Vor - theil zu ſchlieſſen; aber doch erinnerte ich mich deſſelbenmit284Agathon. mit einem ſo innigen Vergnuͤgen, als ob es mir geah - net haͤtte, wie gluͤklich mich die Folge davon machen wuͤrde. Jch hatte die Eitelkeit nicht, welche uns zu ſchmeicheln pflegt, daß wir liebenswuͤrdig ſeyen; ich dachte an nichts weniger, als auf Mittel, wie ich mich lieben machen wollte. Aber die Schoͤnheit der Seele - die ich in ihrem Geſichte ausgedruͤkt geſehen hatte; dieſe ſanfte Heiterkeit, die aus dem natuͤrlichen Ernſt ihrer Zuͤge hervorlaͤchelte, hauchten mir Hoffnung ein, daß ich ge - liebet werden wuͤrde. — Und welch einen Himmel von Wonne eroͤffnete dieſe Hoffnung vor mir! Was fuͤr Ausſichten! Welches Entzuͤken! — Wenn ich mir vorſtellte, daß mein ganzes Leben, daß ſelbſt die Ewig - keiten, in deren grenzenloſen Tiefen, der Gluͤkliche die Dauer ſeiner Wonne ſo gerne ſich verlieren laͤßt, in ihrem Anſchauen und an ihrer Seite dahinflieſſen wuͤr - den!
So lebhafte Hoffnungen ſezten voraus, daß ich ſie wieder finden wuͤrde; und dieſer Wunſch brachte die Begierde mit ſich, zu wiſſen wer ſie ſey. Aber wen konnt’ ich fragen? Jch hatte keinen Freund, dem ich mich entdeken durfte; von einem jeden andern glaubte ich, daß er bey einer ſolchen Frage mein ganzes Ge - heimniß in meinen Augen leſen wuͤrde; und die Liebe, die ein ſehr guter Rathgeber iſt, hatte mich ſchon ein - ſehen gemacht, wie viel daran gelegen ſey, daß der Pythia nicht das Geringſte zu Ohren komme, was ihr den Zuſtand meines Herzens haͤtte verrathen, oder ſiezu285Siebentes Buch, drittes Capitel. zu einer mißtrauiſchen Beobachtung meines Betragens veranlaſſen koͤnnen. Jch verſchloß alſo mein Verlangen in mich ſelbſt, und erwartete mit Ungeduld, bis ir - gend ein meiner Liebe guͤnſtiger Schuz-Geiſt mir zu die - ſer gewuͤnſchten Entdekung verhelfen wuͤrde. Nach ei - nigen Tagen fuͤgte es ſich, daß ich meiner geliebten Un - bekannten in einem der Vorhoͤfe des Tempels begegnete. Die Furcht, von jemand beobachtet zu werden, hielt mich in eben dem Augenblik zuruͤk, da ich auf ſie zu - eilen und meine Entzuͤkung uͤber dieſen unverhoften Anblik in Gebehrden, und vielleicht in Ausruffungen, ausbrechen laſſen wollte. Sie blieb, indem ſie mich er - blikte, einige Augenblike ſtehen, und ſah mich an. Jch glaubte ein ploͤzliches Vergnuͤgen in ihrem ſchoͤnen Ge - ſicht aufgehen zu ſehen; ſie erroͤthete, ſchlug die Augen wieder nieder, und eilte davon. Jch durft’ es nicht wagen, ihr zu folgen; aber meine Augen folgten ihr, ſo lang es moͤglich war; und ich ſahe, daß ſie zu einer Thuͤr eingieng, welche in die Wohnung der Prieſterin fuͤhrte. Jch begab mich in den Hayn, um meinen Ge - danken uͤber dieſe angenehme Erſcheinung ungeſtoͤrter nachzuhaͤngen. Der lezte Umſtand, den ich bemerkt hatte, und ihre Kleidung, brachte mich auf die Ver - muthung, daß ſie vielleicht eine von den Aufwaͤrterin - nen der Pythia ſey, deren dieſe Dame eine groſſe An - zahl hatte, die aber (auſſer bey beſondern Feyerlichkei - ten) ſelten ſichtbar wurden. Dieſe Entdekung beſchaͤf - tigte mich noch nach der ganzen Wichtigkeit, die ſie fuͤr mich hatte, als ich, in der That zur ungelegenſten Zeitvon286Agathon. von der Welt, zu der zaͤrtlichen Prieſterin geruffen wur - de. — Die Begierde und die Hoffnung, meine Ge - liebte bey dieſer Gelegenheit wieder zu ſehen, machte mir anfaͤnglich dieſe Einladung ſehr willkommen; aber meine Freude wurde bald von dem Gedanken vertrieben, wie ſchwer es mir ſeyn wuͤrde, wenn meine Unbekannte zu - gegen waͤre, meine Empfindungen fuͤr ſie den Augen ei - ner Nebenbuhlerin zu verbergen. Die Kuͤnſte der Ver - ſtellung waren mir zu unbekannt, und meine Gemuͤths - Regungen bildeten ſich (auch wider meinen Willen) zu ſchnell und zu deutlich in meinem Aeuſſerlichen ab, als daß ich mich bey allen meinen Beſtrebungen, vorſichtig zu ſeyn, ſicher genug halten konnte. Dieſe Gedanken gaben mir (wie ich glaube) ein ziemlich verwirrtes Ausſehen, als ich vor die Pythia gefuͤhrt wurde. Al - lein, da ich niemand, als eine kleine Sclavin von neun oder zehen Jahren, bey ihr fand, erholte ich mich bald wieder; und ſie ſelbſt ſchien mit ihren eigenen Bewegungen zu ſehr beſchaͤftigt, um auf die meinige genau Acht zu geben, — oder (welches wenigſtens eben ſo wahrſcheinlich iſt) ſie legte die Veraͤnderung, die ſie in meinem Geſichte wahrnehmen mußte, zu Gun - ſten ihrer Reizungen aus, von denen ſie ſich dieſes mal deſto mehr Wuͤrkung verſprechen konnte, je mehr ſie vermuthlich darauf ſtudiert hatte, ſie in dieſes reizende Schatten-Licht zu ſezen, welches die Einbildungs-Kraft ſo lebhaft zum Vortheil der Sinnen ins Spiel zu ziehen pflegt. Sie ſaß oder lag (denn ihre Stellung war ein Mittelding von beyden) auf einem mit Silber undPerlen287Siebentes Buch, drittes Capitel. Perlen reich geſtikten Ruhe-Bette; ihr ganzer Puz hatte dieſes Zierlich-Nachlaͤſſige, hinter welches die Kunſt ſich auf eine ſchlaue Art verſtekt, wenn ſie nicht dafuͤr ange - ſehen ſeyn will, daß ſie der Natur zu Huͤlfe komme; ihr Gewand, deſſen beſcheidene Farbe ihrer eigenen eben ſo ſehr als der Anſtaͤndigkeit ihrer Wuͤrde angemeſſen war, wallte zwar in vielen Falten um ſie her; aber es war ſchon dafuͤr geſorgt, daß hier und da der ſchoͤne Contour deſſen, was damit bedekt war, deutlich genug wurde, um die Augen auf ſich zu ziehen, und die Neu - gier luͤſtern zu machen. Jhre Arme, die ſie ſehr ſchoͤn hatte, waren in weiten und halb aufgeſchuͤrzten Ermeln faſt ganz zu ſehen; und eine Bewegung, welche ſie, waͤhrend unſers Geſpraͤchs, unwiſſender Weiſe gemacht haben wollte, trieb einen Buſen aus ſeiner Verhuͤl - lung hervor, welcher reizend genug war, ihr Geſicht um zwanzig Jahre juͤnger zu machen. Sie bemerkte dieſe kleine Unregelmaͤſſigkeit endlich; aber das Mittel, wodurch ſie die Sachen wieder in Ordnung zu bringen ſuchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, daß dadurch ein Fuß bis zur Haͤlfte ſichtbar wurde, deſſen die ſchoͤnſte Spartanerin ſich haͤtte ruͤhmen duͤrfen. Die tiefe Gleichguͤltigkeit, worinn mich alle dieſe Reizungen lieſſen, machte ohne Zweifel, daß ich Beobachtungen machen konnte, wozu ein geruͤhrter Zuſchauer die Frey - heit nicht gehabt haͤtte. Jndeß gab mir doch eine Art von Schaam, die ich anſtatt der guten Pythia auf mei - nen Wangen gluͤhen fuͤhlte, ein Anſehen von Verwir - rung, womit die Dame, welche in zweifelhaften Faͤl -len288Agathon. len alle mal zu Gunſten ihrer Eigenliebe urtheilte, ziem - lich wol zufrieden ſchien. Sie ſchrieb es vermuthlich einer ſchuͤchternen Unentſchloſſenheit oder einem Streit zwiſchen Ehrfurcht und Liebe bey, daß ich (ungeachtet des ſtarken Eindruks, den ſie auf mich machte) ihr keine Gelegenheit gab, die Delicateſſe ihrer Tugend ſehen zu laſſen. Jch hatte Aufmunterungen noͤthig, zu welchen man bey einem geuͤbtern Liebhaber ſich nicht herablaſſen wuͤrde. Die Geſchiklichkeit, die man mir in der Kunſt, die Dichter zu leſen, beylegte, diente ihr zum Vor - wand, mir einen Zeit-Vertrieb vorzuſchlagen, von dem ſie ſich einige Befoͤderung dieſer Abſicht verſprechen konnte. Sie verſicherte mich, daß Homer ihr Lieblings-Autor ſey, und bat mich, ihr das Vergnuͤgen zu machen, ſie eine Probe meines geprieſenen Talents hoͤren zu laſſen. Sie nahm einen Homer, der neben ihr lag, und ſtellte ſich, nachdem ſie eine Weile geſucht hatte, als ob es ihr gleichguͤltig ſey, welcher Geſang es waͤre; ſie gab mir den erſten den beſten in die Haͤnde; aber zu gutem Gluͤke war es gerade derjenige, worinn Juno, mit dem Guͤrtel der Venus geſchmuͤkt, den Vater der Goͤtter in eine ſo lebhafte Erinnerung der Jugend ihrer ehelichen Liebe ſezt. — Von dem dichteriſchen Feuer, wel - ches in dieſem Gemaͤhlde gluͤhet, und dem ſuͤſſen Wol - klang der Homeriſchen Verſe entzuͤkt, beobachtete ſie nicht, in was fuͤr eine verfuͤhriſche Unordnung ein Theil ihres Puzes durch eine Bewegung der Bewunde - rung, welche ſie machte, gekommen war. Sie nahm von dieſer Stelle Anlas, die unumſchraͤnkte Gewalt desLiebes -289Siebentes Buch, drittes Capitel. Liebes-Gottes zum Gegenſtande der Unterredung zu machen. Sie ſchien der Meynung derjenigen guͤnſtig zu ſeyn, welche behaupten, daß der Gedanke, einer ſo maͤchtigen Gottheit widerſtehen zu wollen, nur in ei - ner vermeſſenen und ruchloſen Seele gebohren werden koͤnne. Jch pflichtete ihr bey, behauptete aber, daß die meiſten in den Begriffen, welche ſie ſich von dieſem Gotte machten, der groſſen Pflicht, von der Gottheit nur das Wuͤrdigſte und Vollkommenſte zu denken, ſehr zu nahe traͤten; und daß die Dichter durch die allzuſinn - liche Ausbildung ihrer allegoriſchen Fabeln in dieſem Stuͤke ſich keines geringen Vergehens ſchuldig gemacht haͤtten. Unvermerkt ſchwazte ich mich in einen Enthu - ſiaſmus hinein, in welchem ich, nach den Grundſaͤzen meiner geheimnißreichen Philoſophie, von der intellec - tualiſchen Liebe, von der Liebe welche der Weg zum Anſchauen des weſentlichen Schoͤnen iſt, von der Liebe welche die geiſtigen Fluͤgel der Seele entwikelt, ſie mit jeder Tugend und Vollkommenheit ſchwellt, und zulezt durch die Vereinigung mit dem Urbild und Urquell des Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe und unveraͤn - derlicher Wonne hineinzieht, worinn ſie gaͤnzlich ver - ſchlungen und zu gleicher Zeit vernichtigt und vergoͤttert wird — ſo erhabne, mir ſelbſt meiner Einbildung nach ſehr deutliche, der ſchoͤnen Prieſterin aber ſo un - verſtaͤndliche Dinge ſagte, daß ſie in eben der Propor - tion, nach welcher ſich meine Einbildungs-Kraft dabey erwaͤrmte, nach und nach davon eingeſchlaͤfert wurde. Jn der That konnte im Proſpect eines ſo ſchoͤnen Bu -[Agath. I. Th.] Tſens290Agathon. ſens, als ich vor mir ſahe, nichts ſeltſamers ſeyn, als eine Lob-Rede auf die intellectualiſche Liebe; auch gab die betrogne Pythia nach einer ſolchen Probe alle Hoff - nung auf, mich, dieſen Abend wenigſtens, zu einer natuͤrlichen Art zu denken und zu lieben herumzuſtimmen. Sie entließ mich alſobald darauf, nachdem ſie mir, wiewol auf eine ziemlich raͤthſelhafte Art, zu vernehmen gegeben hatte, daß ſie beſondere Urſachen habe, ſich meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Koſt - gaͤngers des Apollo. Jch verſtuhnd aus dem, was ſie mir davon ſagte, ſo viel, daß ſie eine nahe Anverwand - tin meines mir ſelbſt noch unbekannten Vaters ſey; daß es ihr vielleicht bald erlaubt ſeyn werde, mir das Ge - heimniß meiner Geburt zu entdeken; und daß ich es allein dieſem naͤhern Verhaͤltniß zu zuſchreiben habe, wenn ſie mich durch eine Freundſchaft unterſcheide, wel - che mich, ohne dieſen Umſtand, vielleicht haͤtte befrem - den koͤnnen. Dieſe Eroͤffnung, an deren Wahrheit mich ihre Mine nicht zweifeln ließ, hatte die gedoppelte Wuͤrkung — mich zu bereden, daß ich mich in meinen Gedanken von ihren Geſinnungen betrogen ha - ben koͤnne — und ſie auf einmal zu einem intereſ - ſanten Gegenſtande fuͤr mein Herz zu machen. Jn der That fieng ich, von dem Augenblik, da ich hoͤrte, daß ſie mit meinem Vater befreundet ſey, an, ſie mit ganz andern Augen anzuſehen; und vielleicht wuͤrde ſie von den Diſpoſitionen, in welche ich dadurch geſezt wurde, in kurzer Zeit mehr Vortheil haben ziehen koͤnnen, als von allen den Kunſtgriffen, womit ſie meine Sinnenhatte291Siebentes Buch, drittes Capitel. hatte uͤberraſchen wollen. Aber die gute Dame wuß - te entweder nicht, wie viel man bey gewiſſen Leu - ten gewonnen, wenn man Mittel findet, ihr Herz auf ſeine Seite zu ziehen; oder ſie war uͤber mein ſeltſames Betragen erbittert, und glaubte, ihre verachteten Rei - zungen nicht beſſer raͤchen zu koͤnnen, als wenn ſie mich in eben dem Augenblik von ſich entfernte, da ſie in meinen Augen las, daß ich gerne laͤnger geblieben waͤre. Alles Bitten, daß ſie ihre Guͤtigkeit durch eine deutli - chere Entdekung des Geheimniſſes meiner Geburt voll - kommen machen moͤchte, war umſonſt; ſie ſchikte mich fort, und hatte Grauſamkeit genug, eine geraume Zeit vorbey gehen zu laſſen, eh ſie mich wieder vor ſich kommen ließ. Zu einer andern Zeit wuͤrde das Ver - langen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu danken haͤtte, mir dieſen Aufſchub zu einer harten Strafe gemacht haben; aber damals brauchte es nur wenige Minuten, wieder allein zu ſeyn, und einen Ge - danken an meine geliebte Unbekannte, um die Prieſterin mit allen ihren Reizen, und mit allem was ſie mir ge - ſagt und nicht geſagt hatte, aus meinem Gemuͤthe wie - der auszuloͤſchen. Es war mir unendlich mal angelege - ner zu wiſſen, wer dieſe Unbekannte ſey, und ob ſie wuͤrklich (wie ich mir ſchmeichelte) fuͤr mich empfinde, was ich fuͤr ſie empfand, als in Abſicht meiner ſelbſt aus einer Unwiſſenheit gezogen zu werden, gegen welche die Gewohnheit mich faſt ganz gleichguͤltig gemacht hatte: So lange ich das nicht wußte, wuͤrde ich die Ent - dekung, der Erbe eines Koͤnigs zu ſeyn, mit KaltſinnT 2angeſehen292Agathon. angeſehen haben. Der Blik, den ſie dieſen Abend auf mich geheftet hatte, ſchien mir etwas zu verſprechen, das fuͤr mein Herz unendlich mehr Reiz hatte, als alle Vortheile der glaͤnzendſten Geburt. Mein ganzes We - ſen ſchien von dieſem Blike, wie von einem uͤberirrdi - ſchen Lichte, durchſtralt und verklaͤrt — ich unter - ſchied zwar nicht deutlich, was in mir vorgieng — aber ſo oft ich ſie mir wieder in dieſer Stellung, mit dieſem Blike, mit dieſem Ausdruk in ihrem lieblichen Geſichte vorſtellte, (und dieſes geſchah allemal ſo leb - haft, als ob ich ſie wuͤrklich mit Augen ſaͤhe) ſo ſchien mir mein Herz vor Liebe und Vergnuͤgen in Empfin - dungen zu zerflieſſen, fuͤr deren durchdringende Suͤſſig - keit keine Worte erfunden ſind. — Hier wurde Agathon (deſſen Einbildungs-Kraft, von den Erin - nerungen ſeiner erſten Liebe erhizt, einen huͤbſchen Schwung, wie man ſieht, zu nehmen anfieng,) durch eine ziemlich merkliche Veraͤnderung in dem Geſichte ſei - ner ſchoͤnen Zuhoͤrerin, mitten in dem Lauf ſeiner un - zeitigen Schwaͤrmerey aufgehalten, und aus ſeinem achtzehnten Jahr, in welches er in dieſer kleinen Ec - ſtaſe zuruͤkverſezt worden war, auf einmal wieder nach Smyrna, zu ſich ſelbſt und der ſchoͤnen Danae gegen - uͤber, gebracht.
Es iſt eine alte Bemerkung, daß man einer ſchoͤ - nen Dame die Zeit nur ſchlecht vertreibt, wenn man ſie von den Eindruͤken, die eine andre auf unſer Herz gemacht hat, unterhaͤlt. Je mehr Feuer, je mehr Wahrheit, je mehr Beredſamkeit wir in einem ſolchen Falle zeigen, je reizender unſre Schilderungen, je ſchoͤ - ner unſre Bilder, je beſeelter unſer Ausdruk iſt, deſto gewiſſer duͤrfen wir uns verſprechen, unſre Zuhoͤrerin einzuſchlaͤfern. Dieſe Beobachtung ſollten ſich beſonders diejenigen empfohlen ſeyn laſſen, welche eine wuͤrklich im Beſiz ſtehende Geliebte mit der Geſchichte ihrer ehe - maligen verliebten Abentheuer unterhalten. Agathon, welcher noch weit davon entfernt war, von ſeiner Einbildungs-Kraft Meiſter zu ſeyn, hatte dieſe Regel gaͤnzlich aus den Augen verlohren, da er einmal auf die Erzaͤhlung ſeiner erſten Liebe gekommen war. Die Lebhaftigkeit ſeiner Wiedererinnerungen ſchien ſie in Empfindungen zu verwandeln; er bedachte nicht, daß es weniger anſtoͤſſig waͤre, eine Geliebte, wie Danae, mit der ganzen Metaphyſik der intellectualiſchen Liebe, als mit ſo enthuſiaſtiſchen Beſchreibungen der Vorzuͤge einer andern, und der Empfindungen, welche ſie ein - gefloͤßt, zu unterhalten. Eine Art von Mittelding zwi -T 3ſchen294Agathon. ſchen Gaͤhnen und Seufzen, welches ihr an der Stelle, wo wir ſeine Erzaͤhlungen abgebrochen haben, entfuhr, und ein gewiſſer Ausdruk von langer Weile, der aus einer erzwungnen Mine von vergnuͤgter Aufmerkſamkeit hervorbrach, machte ihn endlich ſeiner Unbeſonnenheit gewahr werden; er ſtuzte einen Augenblik, er erroͤthete, und es fehlte wenig, daß er den Zuſammenhang ſeiner Geſchichte daruͤber verlohren haͤtte. Doch erholte er ſich noch geſchwinde genug wieder, um ſeiner Verwir - rung irgend einen zufaͤlligen Vorwand zu geben, und ſezte ſeine Erzaͤhlung fort, indem er ſeſt bey ſich be - ſchloß, genauer auf ſich ſelbſt Acht zu geben, und ſeine Beſchreibungen ſo ſehr abzukuͤrzen, als es nur immer moͤglich ſeyn wuͤrde; ein Vorſaz, bey welchem unſre Leſer ſich wenigſtens eben ſo wol befinden werden, als die ſchoͤne Danae, wenn er anders faͤhig ſeyn wird, ſich ſelbſt Wort zu halten.
Die ſuͤſſen Traͤume, (fuhr der Held unſrer Geſchichte fort) worinn mein Herz ſich ſo gerne zu wiegen pflegte, hatten nicht wuͤrkliches genug, dieſen angenehmen Zu - ſtand meines Gemuͤthes lange zu unterhalten. Eine zaͤrtliche Schwermuth, welche jedoch nicht ohne eine Art von Wolluſt war, bemaͤchtigte ſich meiner ſo ſtark, daß ich Muͤhe hatte, ſie vor denjenigen zu verbergen, mit denen ich einen Theil des Tages zubringen mußte. Jch ſuchte die Einſamkeit; und weil ich den Tag uͤber, nur wenige Stunden in meiner Gewalt hatte, ſo fieng ich wieder an, den groͤſten Theil der Zeit, worinnandere295Siebentes Buch, viertes Capitel. andere ſchliefen, in den angenehmen Haynen, die den Tempel umgeben, mit meinen Gedanken und dem Bilde meiner Unbekannten zu durchwachen. Jn einer dieſer Naͤchte begegnete es, daß ich von ungefehr in eine Ge - gend des Hayns verirrte, welche das Anſehen einer Wildniß, aber der anmuthigſten, die man ſich nur ein - bilden kann, hatte. Mitten darinn ließ das Gebuͤſche, welches in labyrinthiſchen Kruͤmmungen mit hohen Cy - preſſen und vielen ſelbſt gewachſenen Lauben abgeſezt, ſich um ſich ſelbſt herumwand, einen offnen Plaz, der mit einem halben Circul von wilden Lorbeer-Baͤumen, von denen ſich immer eine Reihe uͤber die andere erhub, eingefaßt, auf der andern Seite aber nur mit niedri - gem Myrthen-Geſtraͤuch und Roſen-Heken leicht um - kraͤnzt war. Mitten darinn lagen einige Nymphen von weiſſem Marmor, von uͤberhangendem Roſen-Geſtraͤu - che beſchattet, welche auf ihren Urnen zu ſchlafen ſchie - nen, indeß ſich aus jeder Urne eine Quelle in ein ge - raumiges Beken von poliertem ſchwarzem Granit-Mar - mor ergoß, worinn die Frauens-Perſonen, welche un - ter dem Schuz des delphiſchen Apollo ſtuhnden, ſich im Sommer zu baden pflegten. Dieſer Ort war (ei - ner alten Sage nach) der Diana heilig; und kein maͤnnlicher Fuß durfte, bey Strafe, ſich den Zorn dieſer unerbittlichen Goͤttin zu zuziehen, ſich unterſte - ſtehen, ihrem geheiligten Ruhe-Plaz nahe zu kommen. Vermuthlich machte die Goͤttin eine Ausnahme zu Gun - ſten eines unſchuldigen Schwaͤrmers, der (ohne den mindeſten Vorſaz, ihre Ruhe zu ſtoͤren, und ohne ein -T 4mal296Agathon. mal zu wiſſen, wohin er kam,) ſich hieher verirrt hatte. Denn anſtatt mich ihren Zorn empfinden zu laſſen, beguͤnſtigte ſie mich vielmehr mit einer Erſchei - nung, welche mir angenehmer war, als wenn ſie ſelbſt, mich zu ihrem Endymion zu machen, zu mir herab - geſtiegen waͤre. Weil ich in eben dem Augenblik, da ich dieſe Erſcheinung hatte, den Ort, wo ich mich be - fand, fuͤr denjenigen erkannte, der mir oͤfters, um ihn deſto gewiſſer vermeiden zu koͤnnen, beſchrieben worden war; ſo war wuͤrklich mein erſter Gedanke, daß es die Goͤttin ſey, welche, von der Jagd ermuͤdet, un - ter ihren Nymphen ſchlummere. Von einem heiligen Schauer erſchuͤttert, wollte ich ſchon den Fuß zuruͤk - ziehn; als ich beym Glanz des ſeitwerts einfallenden Mond-Lichts gewahr wurde, daß es meine Unbekannte war. Jch will es nicht verſuchen, zu beſchreiben wie mir in dieſem Augenblike zu Muthe war; es war einer von denen, an welche ich mich nur erinnern darf, um zu glauben, daß ein Weſen, welches einer ſolchen Wonne faͤhig iſt, zu nichts geringers als zu der Wonne der Goͤtter beſtimmt ſeyn koͤnne. Jzt konnt’ ich natuͤr - licher Weiſe nicht mehr denken, mich unbemerkt zuruͤk - zuziehen; meine einzige Sorge war, die liebenswuͤrdige Einſame zu einer Zeit und an einem Orte, wo ſie kei - nen Zeugen, am allerwenigſten einen maͤnnlichen ver - muthen konnte, durch keine ploͤzliche Ueberraſchung zu erſchreken. Die Stellung, worinn ſie an eine der mar - mornen Nymphen angelegt lag, gab zu erkennen, daß ſie ſtaunte; ich betrachtete ſie eine geraume Weile, ohnedaß297Siebentes Buch, viertes Capitel. daß ſie mich gewahr wurde. Dieſer Umſtand erlaubte mir meine eigene Stelle zu veraͤndern, und eine ſolche zu nehmen, daß ſie, ſo bald ſie die Augen aufſchluͤge, mich unfehlbar erkennen muͤßte. Dieſe Vorſicht hatte die verlangte Wuͤrkung. Sie erblikte mich; ſie ſtuzte; aber ſie erkannte mich doch zu ſchnell, um mich fuͤr ei - nen Satyren anzuſehen. Meine Erſcheinung ſchien ihr mehr Vergnuͤgen als Unruhe zu machen. Ein jeder an - drer, ſo gar ein Satyr, wuͤrde irgend ein artig ge - drehtes Compliment in Bereitſchaft gehabt haben, um ſeine Freude uͤber eine ſo reizende Erſcheinung auszu - druͤken; die Gelegenheit konnte nicht ſchoͤner ſeyn, ſie fuͤr eine Goͤttin, oder wenigſtens fuͤr eine der Geſpielen Dianens anzuſehen, und dieſem Jrrthum gemaͤß zu be - gruͤſſen. Aber ich, von neuen, nie gefuͤhlten, unbe - ſchreiblichen Empfindungen gedruͤkt, ich konnte gar nichts ſagen. Zu ihren Fuͤſſen haͤtte ich mich werfen moͤgen; aber die Schuͤchternheit, welche (zumal in meinem damaligen Alter) mit der erſten Liebe ſo un - zertrennlich verbunden iſt, hielt mich zuruͤk; ich be - ſorgte, daß ſie ſich einen nachtheiligen Begrif von der tiefen Ehrerbietung, die ich fuͤr ſie empfand, aus einer ſolchen Freyheit machen moͤchte. Meine Unbekannte war nicht ſo ſchuͤchtern; ſie hub ſich, mit dieſer ſittſa - men Anmuth, wodurch ſie ſich das erſte mal, als ich ſie geſehen, in meinen Augen von allen ihren Geſpie - len unterſchieden hatte, vom Boden auf, und gieng ein paar Schritte gegen mich. Wie finde ich den Agathon hier? ſagte ſie mit einer Stimme, die ich noch zu hoͤ -T 5ren298Agathon. ren glaube; ſo lieblich, ſo ruͤhrend ſchien ſie unmittel - bar in meine Seele ſich einzuſchmeicheln. Jn der ſuͤſ - ſen Verwirrung, worinn ich war, fand ich keine beſ - ſere Antwort, als ſie zu verſichern, daß ich nicht ſo verwegen geweſen waͤre, ihre Einſamkeit zu ſtoͤren, wenn ich vermuthet haͤtte, ſie hier zu finden. Das Compliment war nicht ſo artig, als es ein junger Athenienſer bey einer ſolchen Gelegenheit gemacht haͤtte; aber Pſyche (ſo erfuhr ich in der Folge, daß meine Unbekannte genennt werde) war zu unſchuldig, um Complimente zu erwarten. Jch erkenne meine Unvor - ſichtigkeit, wiewol zu ſpaͤt, verſezte ſie: Was wird Aga - thon von mir denken, da er mich an dieſem abgelege - nen Ort in einer ſolchen Stunde allein findet? Und doch (ſezte ſie erroͤthend hinzu) iſt es gluͤklich fuͤr mich, wenn ich ja einen Zeugen meiner Unbeſonnenheit haben mußte, daß es Agathon war. Jch verſicherte ſie, daß mir nichts natuͤrlicher vorkomme, als der Geſchmak, den ſie in der Einſamkeit, in der Stille einer ſo ſchoͤ - nen Nacht, und in einer ſo anmuthigen Gegend zu fin - den ſcheine. Jch ſezte noch vieles von den Annehmlich - keiten des Mondſcheins, von der majeſtaͤtiſchen Pracht des ſternvollen Himmels, von der Begeiſtrung, welche die Seele in dieſem feyerlichen Schweigen der ganzen Natur erfahre, von dem Einſchlummern der Sinne, und dem Erwachen der innern geheimnißvollen Kraͤfte unſers unſterblichen Theils, hinzu — Dinge, welche bey den meiſten Schoͤnen, zumal in einem ſo anmu - thigen Myrthen-Gebuͤſche, und in der einladenden Daͤm -merung299Siebentes Buch, viertes Capitel. merung einer ſo lauen Sommer-Nacht, ſehr uͤbel ange - bracht geweſen waͤren; aber bey der gefuͤhlvollen Pſy - che ruͤhrten ſie die empfindlichſten Sayten ihres Herzens. Das Geſpraͤch, worinn wir uns unvermerkt verwikel - ten, entdekte eine Uebereinſtimmung in unſerm Ge - ſchmak und in unſern Neigungen, welche gar bald ein eben ſo freundſchaftliches und vertrauliches Verſtaͤndniß zwiſchen unſern Seelen hervorbrachte, als ob wir uns ſchon viele Jahre geliebet haͤtten. Mir war, als ob ich alles, was ſie ſagte, durch eine unmittelbare An - ſchauung in ihrer Seele leſe; und hinwieder ſchien das, was ich ſagte, ſo abgezogen, idealiſch und dichteriſch, es immer ſeyn mochte, ein bloſſer Wiederhall oder die Entwiklung ihrer eigenen Empfindungen und ſolcher Jdeen zu ſeyn, welche als Embryonen in ihrer Seele lagen, und nur den erwaͤrmenden Einfluß eines geuͤbtern Gei - ſtes noͤthig hatten, um ſich zu entfalten, und durch ihre naive Schoͤnheit die erhabenſten und ſinnreichſten Gedanken der Weiſen zu beſchaͤmen. Die Zeit wurde uns bey dieſer Unterhaltung ſo kurz, daß wir kaum eine Stunde bey einander geweſen zu ſeyn glaubten, als uns die aufgehende Morgenroͤthe erinnerte, daß wir uns trennen mußten. Jch hatte durch dieſe Unterre - dung erfahren, daß meine Geliebte von ihrer Herkunft eben ſo wenig wiſſe, als ich von der meinigen; daß ſie von ihrer Amme, in der Gegend von Corinth bis ins ſechste Jahr erzogen, hernach aber von Raͤubern ent - fuͤhrt, und an die Prieſterin zu Delphi yerkauft wor - den, welche ſie in allen weiblichen Kuͤnſten, und da ſieeine300Agathon. eine beſondere Neigung zum Leſen an ihr bemerkt, auch in der Kunſt die Dichter recht zu leſen, habe unter - richten laſſen, und ſie in der Folge zu ihrer Leſerin ge - macht habe. Dieſe Umſtaͤnde waren fuͤr meine Liebe zu der jungen Pſyche nicht ſehr ſchmeichelhaft; allein das Vergnuͤgen der gegenwaͤrtigen Augenblike ließ mich gar nicht an das Kuͤnftige denken; unbekuͤmmert, wo - hin die Empfindungen, von denen ich eingenommen war, in ihren Folgen endlich fuͤhren koͤnnten, uͤberließ ich mich ihnen mit aller Gutherzigkeit der jugendlichen Unſchuld; meine kleine Pſyche zu ſehen, zu lieben, es ihr zu ſagen, und aus ihrem ſchoͤnen Munde zu hoͤren, in ihren ſeelenvollen Augen zu ſehen, daß ich wieder geliebt werde. — Das waren izt alle Gluͤkſeligkei - ten, die ich wuͤnſchte, und uͤber welche hinaus ich keine andere kannte. Jch hatte ihr etwas von den Eindruͤken geſagt, die ihr erſter Anblik auf mein Herz gemacht hatte; und ſie hatte dieſe Eroͤffnungen mit dem Ge - ſtaͤndniß der vorzuͤglichen Meynung, welche ihr das all - gemeine Urtheil zu Delphi von mir gegeben haͤtte, er - wiedert; aber meine zaͤrtliche und ehrfurchtsvolle Schuͤch - ternheit erlaubte mir nicht, ihr alles zu ſagen, was mein Herz fuͤr ſie empfand. Meine Ausdruͤke waren lebhaft und feuerig; aber ſie hatten mit der gewoͤhnli - chen Sprache der Liebe ſo wenig aͤhnliches, daß ich weniger zu ſagen glaubte, indem ich in der That unend - lich mal mehr ſagte, als ein gewoͤhnlicher Liebhaber, der mehr von ſeinen Begierden beunruhigt, als von dem Werthe ſeiner Geliebten geruͤhrt iſt. Allein dawir301Siebentes Buch, viertes Capitel. wir uns ſcheiden mußten, wuͤrde mich mein allzuvolles Herz verrathen haben, wenn die unerfahrne Jugend der guten Pſyche ihr erlaubt haͤtte, einiges Mißtrauen in Empfindungen zu ſezen, welche ſie nach der Unſchuld ihrer eigenen beurtheilte. Jch zerfloß in Thraͤnen, und ſezte ihr auf eine ſo zaͤrtliche, ſo bewegliche Art zu, mir zu verſprechen, ſich in der folgenden Nacht wieder in dieſer Gegend finden zu laſſen, daß es ihr unmoͤg - lich war, mich ungetroͤſtet wegzuſchiken. Wir ſezten alſo, da uns alle Gelegenheit, uns bey Tage zu ſpre - chen, abgeſchnitten war, dieſe naͤchtliche Zuſammenkuͤnfte fort; und unſere Liebe wuchß und verſchoͤnerte ſich zu - ſehends, ohne daß wir dachten, daß es Liebe ſey. Wir nannten es Freundſchaft; und genoſſen ihrer reinſten Suͤſſigkeiten, ohne durch einige Beſorgniſſe, Bedenklich - keiten oder andre Symptome der Leidenſchaft, beunru - higt zu werden. Pſyche hatte ſich eine Freundin, wie ich mir einen Freund, gewuͤnſcht; nun glaubten wir beyde gefunden zu haben, was wir wuͤnſchten. Unſere Denkungs-Art, und die Guͤte unſerer Herzen, floͤßte uns ein vollkommenes und unbegrenztes Zutrauen gegen einander ein. — Meine Augen, welche ſchon lange gewoͤhnt waren, anders zu ſehen, als man ſonſt in meinen damaligen Jahren zu ſehen pflegt, ſahen in Pſyche kein reizendes Maͤdchen, ſondern die ſchoͤnſte, die liebenswuͤrdigſte der Seelen, deren geiſtige Reizun - gen aus dem durchſichtigen Flor eines irdiſchen Gewan - des hervorſchimmerten; und die wiſſensbegierige Pſyche, welche nie gluͤklicher war, als wenn ich ihr die erhabe -nen302Agathon. nen Geheimniſſe meiner dichteriſchen Philoſophie entfal - tete, glaubte den goͤttlichen Orpheus oder den Apollo ſelbſt zu hoͤren, wenn ich ſprach. Es iſt in der Natur der Liebe (ſo zaͤrtlich und uncoͤrperlich ſie immer ſeyn mag) ſo lange zuzunehmen, bis ſie das Ziel erreicht hat, wo die Natur ſie zu erwarten ſcheint. Die unſrige nahm auch zu, und gieng nach und nach durch mehr als eine Verwandlung; aber ſie blieb ſich ſelbſt doch immer aͤhnlich. Nachdem uns der Name der Freund - ſchaft nicht mehr bedeutend genug ſchien, dasjenige, was wir fuͤr einander empfanden, auszudruͤken, wur - den wir eins, daß unter allen Zuneigungen, derer uns die Natur faͤhig mache, die Liebe eines Bruders und einer Schweſter zugleich die ſtaͤrkſte und die reineſte ſey. Die Vorſtellung, die wir uns davon machten, ent - zuͤkte uns; und nachdem wir oft bedauert hatten, daß uns die Natur dieſe Gluͤkſeligkeit verſagt habe, wun - derten wir uns zulezt, wie wir nicht baͤlder eingeſehen haͤtten, daß es nur von uns abhange, ihre Kargheit in dieſem Stuͤke zu erſezen. Wir waren alſo Bruder und Schweſter, und blieben es einige Zeit, ohne daß die Vertraulichkeit und die unſchuldigen Liebkoſungen, wozu uns dieſe Namen berechtigten, in unſern Augen wenig - ſtens, der Tugend, welcher wir zugleich mit der Liebe eine ewige Treue geſchworen hatten, den geringſten Ab - bruch thaten. Wir waren enthuſiaſtiſch genug, die Vermuthung oder vielmehr die bloſſe Moͤglichkeit, ein - ander vielleicht ſo nahe verwandt zu ſeyn, als wir wuͤnſchten, in den zaͤrtlichen Ergieſſungen unſerer Her -zen303Siebentes Buch, viertes Capitel. zen zuweilen fuͤr die Stimme der Natur zu halten; zu - mal da eine wuͤrkliche oder eingebildete beſondere Aehn - lichkeit unſerer Geſichts-Zuͤge dieſen Wahn zu rechtferti - gen ſchien. Da wir uns aber die Betruͤglichkeit dieſer vermeynten Sprache des Blutes nicht immer verbergen konnten, ſo fanden wir deſto mehr Vergnuͤgen darinn, die Vorſtellungen von einer natuͤrlichen Verſchwiſterung der Seelen, einem ſympathetiſchen Zug der einen zu der an - dern, einer ſchon in einem vorhergehenden Zuſtand in beſſern Welten angefangenen Bekanntſchaft nachzuhaͤn - gen, und ſie in tauſend angenehme Traͤume auszubilden. Aber auch bey dieſem Grade ließ uns der phantaſtiſche Schwung, den die Liebe unſern Seelen gegeben hatte, nicht ſtille ſtehen. Wir ſtrengten das aͤuſſerſte Vermoͤgen unſerer Einbildungs-Kraft an, um uns einen Begrif von derjenigen Art zu lieben zu machen, womit in den uͤberirdiſchen Sphaͤren die Geiſter einander liebten. Keine andere ſchien uns zu gleicher Zeit der Staͤrke und der Reinigkeit unſerer Empfindungen genug zu thun, noch fuͤr Weſen ſich zu ſchiken, die im Himmel entſprungen, und dahin wiederzukehren beſtimmt waͤ - ren. Jch geſtehe dir, ſchoͤne Danae, daß ich bey der Erinnerung an dieſe gluͤkſelige Schwaͤrmerey meiner er - ſten Jugend mich kaum erwehren kan zu wuͤnſchen, daß die Bezauberung ewig haͤtte dauern koͤnnen. Und deu - noch iſt nichts gewiſſers, als daß ſich dieſe allzugeiſtige Empfindungen endlich verzehrt, und die Natur, welche ihre Rechte nie verliert, uns zulezt unvermerkt auf eine gewoͤhnlichere Art zu lieben gefuͤhrt haben wuͤrde; wennuns304Agathon. uns nur die ſchoͤne Pythia ſo viel Zeit, als dazu er - fodert wurde, gelaſſen haͤtte. Dieſe Dame hatte etli - che Wochen verſtreichen laſſen, ohne (dem Anſehen nach) ſich meiner zu erinnern; und ich hatte ſie in die - ſer Zeit ſo gaͤnzlich vergeſſen, daß ich ganz betroffen war, als ich wieder zu ihr beruffen wurde. Jch fand gar bald, daß die Goͤttin von Paphos, welche ſich vielleicht wegen irgend einer ehemaligen Beleidigung an ihr zu raͤchen beſchloſſen, ſie in dieſer Zwiſchen-Zeit nicht ſo ruhig gelaſſen hatte, als es fuͤr ſie und mich zu wuͤnſchen war. Vermuthlich hatte ſie (wie die tra - giſche Phaͤdra) allen ihren weiblichen und prieſterlichen Stolz zuſammengeraft, um eine Leidenſchaft zu unter - druͤken, deren Uebelſtand ſie ſich ſelbſt unmoͤglich verber - gen konnte; allein eben ſo vermuthlich mochte ſie ſich ſelbſt durch die troͤſtlichen Trug-Schluͤſſe, welche Euri - pides der Amme dieſer ungluͤkſeligen Princeſſin in den Mund legt, wieder beruhigt, und endlich den herzhaf - ten Entſchluß gefaßt haben, ihrem Verhaͤngniß nachzu - geben. Denn, nachdem ſie alle ihre Muͤhe, mich das, was ſie mir zu ſagen hatte, errathen zu laſſen, verloh - ren ſah, brach ſie endlich ein Stillſchweigen, deſſen Bedeutung ich eben ſo wenig verſtehen wollte, und ent - dekte mir mit einer Deutlichkeit und mit einem Feuer, welche mich erroͤthen und erzittern machten, daß ſie liebe und wieder geliebt ſeyn wolle. Der reizende Anzug und die verfuͤhriſche Stellung, worinn ſie dieſes Geſtaͤnd - niß machte, ſchien ausgewaͤhlt zu ſeyn, mich den Werth des mir angebottenen Gluͤkes mehr als jemals empfin -den305Siebentes Buch, viertes Capitel. den zu laſſen. Jch muß noch izt erroͤthen, wenn ich an die Verwirrung denke, worinn ich mit allen mei - nen erhabenen Begriffen in dieſem Augenblik war. — Die menſchliche Natur ſo erniedrigt — den Namen der Liebe ſo entweihet zu ſehen! Jn der That, die Pythia ſelbſt konnte von der Art, wie ich ihre Zumu - thungen abwieß, nicht empfindlicher beſchaͤmt und ge - quaͤlt werden, als ich es durch die Nothwendigkeit war, worein ich mich geſezt ſah, ihr ſo uͤbel zu begegnen. Jch beſtrebte mich, die Haͤrtigkeit meiner Antworten durch die ſanfteſten Ausdruͤke zu mildern, die ich in der Verwirrung finden konnte. Aber ich erfuhr bald, daß hef - tige Leidenſchaften ſich ſo wenig als Sturm-Winde durch Worte beſchwoͤren laſſen. Die ihrer ſelbſt nicht mehr maͤchtige Prieſterin nahm fuͤr beleidigenden Spott auf, was ich aus der wolgemeynten, aber allerdings unzeitigen Abſicht, ihrer verſinkenden Tugend zu Huͤlfe zu kommen, ſagte. Sie gerieth in eine Wuth, welche mich in die aͤuſſerſte Verlegenheit ſezte; ſie brach in Verwuͤnſchungen und Drohungen, und einen Augenblik darauf in einen Strom von Thraͤnen und in ſo beweg - liche Apoſtrophen aus, daß ich beynahe ſchwach genug geweſen waͤre, mit ihr zu weinen, ohne mein Herz ge - neigter zu finden, dem ihrigen zu antworten. Jch er - grif endlich das einzige Mittel, das mir uͤbrig blieb, mich der albernen Rolle, die ich in dieſer Scene ſpielte, zu erledigen; ich entfloh. Jn eben dieſer Nacht ſah ich meine geliebte Pſyche wieder an dem gewoͤhnlichen Orte; mein Gemuͤth war von der Geſchichte dieſes Abends zu ſehr[Agath. I. Th.] Ubeun -306Agathon. beunruhigt, als das ich ihr ein Geheimniß davon haͤtte machen koͤnnen. Wir bedaurten die Prieſterin ſo ſchwer es uns auch war, von der Wuth und den Qua - len einer Liebe, welche mit der unſerigen ſo wenig aͤhnliches hatte, uns eine Vorſtellung zu machen; aber wir bedaurten noch vielmehr uns ſelbſt. Die Raſerey, worinn ich die Pythia verlaſſen hatte, hieß uns das Aergſte beſorgen. Wir zitterten eines fuͤr des andern Sicherheit; und aus Furcht, daß ſie unſere Zuſammen - kuͤnfte entdeken moͤchte, beſchloſſen wir, (ſo hart uns dieſer Entſchluß ankam) ſie eine Zeitlang ſeltner zu machen. Dieſes war das erſte mal, das die reinen Vergnuͤgungen unſerer ſchuldloſen Liebe von Sorgen und Unruhe unterbrochen wurden, und wir mit ſchwe - rem Herzen von einander Abſchied nahmen. Es war, als ob es uns ahnete, daß dieſes das lezte mal ſey, da wir uns zu Delphi ſaͤhen; und wir ſagten uns wol tauſend mal Lebe wol; ohne uns eines aus des andern Armen loswinden zu koͤnnen. Wir redeten mit einan - der ab, uns erſt in der dritten Nacht wieder zu ſehen. Zufaͤlliger Weiſe fuͤgte ſichs, daß ich in der Zwiſchen - Zeit mit der Prieſterin in Geſellſchaft zuſammenkam. Es war natuͤrlich, daß ſie in Gegenwart fremder Leute ihrem Betragen gegen mich den freundſchaftlichen Ton der Anverwandtſchaft gab, welche zwiſchen uns voraus - geſezt wurde, und durch welche ſie noͤthig befunden hatte, ihren Umgang mit mir gegen die Urtheile ſtren - ger Sitten-Richter ſicher zu ſtellen. Allein auſſer die - ſem bemerkte ich, daß ſie etliche mal, da ſie von nie -mand307Siebentes Buch, viertes Capitel. mand beobachtet zu ſeyn glaubte, die zaͤrtlichſten Blike auf mich heftete. Jch war zu gutherzig, Verſtellung unter dieſen Zeichen der wiederkehrenden Liebe zu arg - wohnen; und der Schluß, den ich daraus zog, be - ruhigte mich gaͤnzlich uͤber die Beſorgniß, daß ſie mei - nen Umgang mit Pſyche entdekt haben moͤchte. Jch flog mit ungedultiger Freude zu unſerer abgeredeten Zu - ſammenkunft; ich wartete ſo lange, daß mich der Tag beynahe uͤberraſcht haͤtte; ich durchſuchte den ganzen Hayn: aber da war keine Pſyche. Eben ſo gieng es in der folgenden und dritten Nacht. Mein Schmerz und meine Betrachtungen waren unausſprechlich. Da - mals erfuhr ich zum erſten mal, daß meine Einbildungs - Kraft, welche bisher nur zu meinem Vergnuͤgen geſchaͤf - tig war, in eben dem Maaſſe, wie ſie mich gluͤklich ge - macht hatte, mich elend zu machen faͤhig ſey. Jch zweifelte nun nicht mehr, daß die Prieſterin unſere Liebe entdekt habe; und die Folgen, welche dieſer Um - ſtand fuͤr Pſyche haben konnte, ſtellten ſich mir mit al - len Schrekniſſen einer ſich ſelbſt quaͤlenden Einbildung dar. Jch faßte in der Wuth meines Schmerzens tau - ſend heftige Entſchlieſſungen, von denen immer eine die andere verſchlang; ich wollte zu der Prieſterin gehen, und meine Pſyche von ihr fodern — ich wollte — das Ausſchweiffendſte, was man in der Verzweiflung wollen kan; ich glaube, daß ich faͤhig geweſen waͤre, den Tempel anzuzuͤnden, wenn ich haͤtte hoffen koͤnnen, meine Pſyche dadurch zu retten. Und doch hielt mich ein Schatten von Hoffnung, daß ſie durch zufaͤllige Ur -U 2ſachen308Agathon. ſachen habe verhindert werden koͤnnen, ihr Wort zu halten, noch zuruͤk, einen unbeſonnenen Schritt zu thun, welcher ein bloß eingebildetes Uebel wuͤrklich und unheilbar haͤtte machen koͤnnen. Vielleicht (dachte ich) weiß die Prieſterin noch nichts von unſerm Geheimniß; und wie unſelig waͤr’ ich in dieſem Fall, wenn ich ſelbſt der Verraͤther davon waͤre? Dieſer Gedanke fuͤhrte mich zum vierten mal in den Ruhe-Plaz der Diana. Nachdem ich wol zwoo Stunden vergebens gewartet hatte, warf ich mich, in einer Betaͤubung von Schmerz und Verzweiflung, zu den Fuͤſſen einer von den Nymphen hin. Jch lag eine Weile, ohne meiner ſelbſt maͤchtig zu ſeyn. Als ich mich wieder erholt hatte, ſah ich einen friſchen Blumen-Kranz um den Hals und die Arme einer von den Nymphen gewunden; ich ſprang auf, um genauer zu erkundigen, was dieſes bedeuten moͤchte, und fand ein Briefchen an den Kranz geheftet, worinn mir Pſyche meldete: daß ich ſie in der folgen - den Nacht um eine beſtimmte Stunde unfehlbar an dieſem Plaz antreffen wuͤrde; ſie verſparete es auf dieſe Beſprechung, mir zu ſagen, durch was fuͤr Zufaͤlle ſie dieſe Zeit uͤber verhindert worden, mich zu ſehen, oder mir Nachricht von ihr zu geben; ich duͤrfte aber voll - kommen ruhig und gewiß ſeyn, daß die Prieſterin nichts von unſerer Bekanntſchaft wiſſe. Die heftige Begierde, womit ich wuͤnſchte, daß dieſes Briefchen von Pſyche geſchrieben ſeyn moͤchte, ließ mich nicht daran denken, ein Mißtrauen darein zu ſezen, ungeachtet mir ihre Handſchrift unbekannt war. Jch gieng alſo ploͤzlichvon309Siebentes Buch, viertes Capitel. von dem aͤuſſerſten Grade des Schmerzens zu der aͤuſſer - ſten Freude uͤber. Jch wand den Gluͤk-weiſſagenden Blumen-Kranz um mich herum, nachdem ich die unſicht - baren Spuren der geliebten Finger, die ihn gewunden hatten, auf jeder Blume weggekuͤßt hatte. Den folgen - den Abend wurde mir jeder Augenblik bis zur beſtimm - ten Zeit ein Jahrhundert. Jch gieng eine halbe Stunde fruͤher, den guten Nymphen zu danken, daß ſie unſere Liebe in ihren Schuz genommen hatten. Endlich glaubte ich, Pſyche zwiſchen den Myrthen Heken hervorkommen zu ſehen. Die Nacht war nur durch den Schimmer der Sterne beleuchtet; aber ich erkannte die gewoͤhnli - che Kleidung der Pſyche, und war von dem erſten Rau - ſchen ihrer Annaͤherung ſchon zu ſehr entzuͤkt, um ge - wahr zu werden, daß die Geſtalt, die ſich mir naͤherte, mehr von dem uͤppigen Contour einer Bacchantin als von der jungfraͤulichen Geſchmeidigkeit meiner Freundin hatte. Wir flogen einander mit gleichem Verlangen in die Arme. Die ſprachloſe Trunkenheit des erſten Au - genbliks verſtattet nicht, Bemerkungen zu machen; aber es waͤhrte doch nicht lange, bis ich nothwendig fuͤhlen mußte, daß ich mit einer Heftigkeit, welche mit der unſchuldigen Zaͤrtlichkeit einer Pſyche den ſtaͤrkſten Ab - ſaz machte, an einen kaum verhuͤllten und ungeſtuͤm klo - pfenden Buſen gedruͤkt wurde. — Das konnte nicht Pſyche ſeyn. — Jch wollte mich aus ihren Armen loswinden; aber ſie verdoppelte die Staͤrke, womit ſie mich umſchlang, zugleich mit ihren wolluͤſtigen Lieb - koſungen; und da ich nun auf einmal mit einem Ent -U 3ſezen,310Agathon. ſezen, welches mir alle Sehnen laͤhmte, meinen Jrr - thum erkannte; ſo machte die Gewalt, die ich anwen - den wollte, mich von der raſenden Prieſterin loszureiſſen, daß wir mit einander zu Boden fanken. Jch wuͤnſchte aus Hochſchaͤzung des Geſchlechts, welches in meinen Augen der liebenswuͤrdigſte Theil der Schoͤpfung iſt, daß ich dieſe Scene aus meinem Gedaͤchtniß ausloͤſchen koͤnnte. — Die Beſtrebungen dieſer Ungluͤkſeligen empoͤrten endlich alle meine Geiſter zu einem Grimm, der mich ihrer eigenen Wuth uͤberlegen machte. Jch hatte alle meine Vernunft noͤthig, um nicht alle Ach - tung, die ich wenigſtens ihrem Geſchlecht ſchuldig war, aus den Augen zu ſezen. Aber ich zweifle nicht, daß eine jede Frauens-Perſon, welche noch einen Funken von ſittlichem Gefuͤhl uͤbrig haͤtte, lieber den Tod, als die Vorwuͤrfe und die Verwuͤnſchungen, womit ſie uͤber - ſtroͤmt wurde, ausſtehen wollte. Sie kruͤmmete ſich, in Thraͤnen berſtend zu meinen Fuͤſſen. — Dieſer Anblik war mir unertraͤglich — ich wollte entflie - hen; ſie verfolgte mich, ſie hieng ſich an, und bat mich, ihr den Tod zu geben. Jch verlangte mit Hef - tigkeit, daß ſie mir meine Pſyche wieder geben ſollte. Dieſe Worte ſchienen ſie unſinnig zu machen. Sie er - klaͤrte mir, daß das Leben dieſer Sclavin in ihrer Gewalt ſey, und von dem Entſchluß, den ich nehmen wuͤrde, abhange. Sie ſah die Veraͤnderung, die dieſe Drohung auf einmal in meinem ganzen Weſen machte; wir verſtummten beyde eine Weile. Endlich nahm ſie einen ſanftern, aber nicht weniger entſchloſſenen Tonan,311Siebentes Buch, viertes Capitel. an, um mir ihre vorige Erklaͤrung zu bekraͤftigen. Die Eiferſucht machte ſie ſo vieles ſagen, daß ich Zeit be - kam mich zu faſſen, und eine Drohung weniger fuͤrch - terlich zu finden, zu deren Ausfuͤhrung ich ſie, wenig - ſtens aus Liebe zu ſich ſelbſt, unfaͤhig glaubte. Jch antwortete ihr alſo mit einem kalten Blute, welches ſie ſtuzen machte: daß ſie auf ihre eigene Gefahr uͤber das Leben meiner jungen Freundin diſponieren koͤnne. Doch erſuchte ich ſie, ſich zu erinnern, daß ſie ſelbſt mich zum Meiſter uͤber das Jhrige, und uͤber das, was ihr noch lieber als das Leben ſeyn ſollte, gemacht habe. Das meinige (ſezte ich lebhafter hinzu) hoͤrt mit dem Augenblik auf, da Pſyche fuͤr mich verlohren iſt; denn bey dem Gott, deſſen Gegenwart dieſes heilige Land er - fuͤllt, keine menſchliche Gewalt ſoll mich aufhalten, ih - rem geliebten Geiſt in eine beſſere Welt zu folgen, wo - hin uns das Laſter nicht folgen kan, unſere geheiligte Liebe zu beunruhigen! — Meine Standhaftigkeit ſchien, den Muth der Prieſterin niederzuſchlagen. Sie ſagte mir endlich: Sie merkte ſehr wol, daß ich trozig darauf ſey, daß ich in meiner Gewalt habe, ſie zu Grunde zu richten — ich koͤnnte thun, was ich wollte; nur ſollte ich verſichert ſeyn, daß ihr Pſyche fuͤr jeden Schritt antworten ſollte, den ich machen wuͤrde. Mit dieſen Worten entfernte ſie ſich, und ließ mich in einem Zuſtande, deſſen Abſcheulichkeit, nach der Empfindung die ich davon hatte, abgemeſſen, uͤber allen Ausdruk gieng. Jch wußte nun, daß die Prie - ſterin Mittel gefunden haben muͤſſe, unſer GeheimnißU 4zu312Agathon. zu entdeken, und das der Blumen-Kranz ein Kunſtgrif von ihrer Erfindung geweſen war. Nach dieſer Nie - dertraͤchtigkeit war keine Boßheit ſo ungeheuer, deren ich dieſe Elende nicht faͤhig gehalten haͤtte. Jch beſorgte nichts fuͤr mich ſelbſt, aber alles fuͤr die arme Pſyche, welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin uͤberlaſſen mußte, ohne daß mir alle meine Zaͤrtlichkeit fuͤr ſie das Vermoͤgen geben konnte, ſie davon zu befreyen.
Nachdem ich etliche Tage in der grauſamen Ungewiß - heit, was aus meiner Geliebten geworden ſeyn moͤchte, zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von einer Sclavin der Pythia, welche ihre Freundin geweſen war, daß ſie nicht mehr in Delphi ſey. Dieſes war alle Nach - richt, die ich von ihr ziehen konnte; aber es war ge - nug, mir den Aufenthalt von Delphi unertraͤglich zu machen. Nunmehr bedacht’ ich mich keinen Augenblik, was ich thun wollte. Jch ſtahl mich in der naͤchſten Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines ſo unbeſon - nenen Schrittes bekuͤmmert zu ſeyn; oder richtiger zu ſagen, in einem Gemuͤths-Zuſtande, worinn ich unfaͤ - hig war, einige vernuͤnftige Ueberlegung zu machen. Jch irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo icheine313Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. eine Spur von meiner Freundin zu endeken hofte; thoͤ - richt genug mir einzubilden, daß ſie mich, wo ſie auch ſeyn moͤchte, durch die magiſche Gewalt der Sympa - thle unſrer Seelen nach ſich ziehen werde. Aber meine Hofnung betrog mich; niemand konnte mir die gering - ſte Nachricht von ihr geben. Unempfindlich gegen alles Elend, welches ich auf dieſer unſinnigen Wanderſchaft erfahren mußte, fuͤhlte ich keinen andern Schmerz als die Trennung von meiner Geliebten und die Ungewiß - heit, was ihr Schikſal ſey; ich wuͤrde die Verſicherung, das es ihr wohl gehe, gerne mit meinem Leben bezahlt haben. Endlich fuͤhrte mich der Zufall oder eine mit - leidige Gottheit nach Corinth. Die Sonne war eben untergegangen, als ich von den Beſchwehrlichkeiten der Reiſe, und einer Diaͤt, deren ich nicht gewohnt war, aͤuſſerſt abgemattet, vor dem Hofe eines von den praͤch - tigen Landguͤtern ankam, welche die Kuͤſten des Corin - thiſchen Meeres verſchoͤnern. Jch warf mich unter ei - ne hohe Cypreſſe nieder, und verlohr mich in den Vor - ſtellungen der natuͤrlichen, und dennoch in der Hize der Leidenſchaft nicht vorhergeſehenen Folgen meiner Flucht von Delphi. Jn der That war meine Situation faͤhig, den herzhafteſten Muth niederzuſchlagen. Jn eine Welt ausgeſtoſſen, worinn mir alles fremd war, ohne Freun - de, unwiſſend wie ich ein Leben werde erhalten koͤnnen, deſſen Urheber mir nicht einmal bekannt war — warf ich tranrige Blike um mich her — die ganze Natur ſchien mich verlaſſen zu haben — auf dem weiten Umfang der muͤtterlichen Erde ſah ich nichts,U 5worauf314Agathon. worauf ich einen Anſpruch machen konnte als ein Grab, wenn mich die Laſt des Elends endlich aufgerieben ha - ben wuͤrde; und ſelbſt dieſes konnte ich nur von der Froͤmmigkeit irgend eines mitleidigen Wanderers hoffen. Dieſe melancholiſchen Gedanken wurden durch die Erin - nerung meiner vergangnen Gluͤkſeligkeit, und durch das Bewußtſeyn, daß ich mein Elend durch keine Bosheit des Herzens oder irgend eine entehrende Uebelthat ver - dient haͤtte, noch empfindlicher gemacht. Jch ſah mit thraͤnenvollen Augen um mich her, als ob ich ein We - ſen in der Natur ſuchen wollte, dem mein Zuſtand zu Herzen gienge. Jn dieſem Augenblik erfuhr ich den wohlthaͤtigen Einfluß dieſer gluͤkſeligen Schwaͤrmerey, welche die Natur dem empfindlichſten Theil der Sterb - lichen, zu einem Gegenmittel gegen die Uebel, denen ſie durch die Schwaͤche ihres Herzens ausgeſezt ſind, gegeben zu haben ſcheint. Jch wandte mich an die Un - ſterblichen, mit denen meine Seele ſchon ſo lange in einer Art von unſichtbarer Gemeinſchaft geſtanden war. Der Gedanke daß ſie die Zeugen meines Lebens, mei - ner Gedanken, meiner geheimſten Neigungen geweſen ſeyen, goß lindernden Troſt in mein verwundetes Herz. Jch ſahe meine geliebte Pſyche unter ihre Fluͤgel geſi - chert. Nein, rief ich aus, die Unſchuld kan nicht un - gluͤklich ſeyn, noch das Laſter ſeine Abſichten ganz er - halten! Jn dieſem majeſtaͤtiſchen All, worinn Sphaͤ - ren und Atomen ſich mit gleicher Unterwuͤrfigkeit nach den Winken einer weiſen und wohlthaͤtigen Macht be - wegen, waͤr es Unſinn und Gottloſigkeit, ſich einerent -315Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. entnervenden Kleinmuth zu uͤberlaſſen. — Mein Da - ſeyn iſt der Beweiß, daß ich eine Beſtimmung habe. — Hab’ ich nicht eine Seele welche denken kan, und Glied - maſſen, welche ihr als Sclaven zur Ausrichtung ihrer Gedanken zugegeben ſind? — Bin ich nicht ein Grieche? Und wenn mich mein Vaterland nicht erken - nen will, bin ich nicht ein Menſch? Jſt nicht die Er - de mein Vatterland? Und giebt mir nicht die Natur ein unverliehrbares Recht an Erhaltung und jedes we - ſentliche Stuͤk der Gluͤkſeligkeit, ſobald ich meine Kraͤf - te anwende die Pflichten zu erfuͤllen, die mich mit der Welt verbinden? — Dieſe Gedanken beſchaͤmten meine Thraͤnen, und richteten mein Herz wieder auf. Jch fieng an, die Mittel zu uͤberlegen, die ich in mei - ner Gewalt hatte, mich in beſſere Umſtaͤnde zu ſezen; als ich einen Mann von mittlerm Alter gegen mich her - kommen ſah, deſſen Anſehen und Mine mir beym er - ſten Anblik Zutrauen und Ehrerbietung einfloͤßten. Jch raffte mich ſogleich vom Boden auf, und beſchloß mit mir ſelbſt, ihn anzureden, ihm meine Umſtaͤnde zu ent - deken, und mir ſeinen Rath auszubitten. Er kam mir zuvor. — Du ſcheineſt vom Weg ermuͤdet zu ſeyn, junger Fremdling, ſagte er zu mir, mit einem Ton, der ihm ſogleich mein Herz entgegen wallen machte; und da ich dich unter dem wirthſchaftlichen Schatten meines Baumes gefunden habe, ſo hoffe ich, du wer - deſt mir das Vergnuͤgen nicht verſagen, dich dieſe Nacht in meinem Hauſe zu beherbergen. Dieſer Mann, den ich hieraus fuͤr den Herrn des Hauſes, welches ich vormir316Agathon. mir ſah, erkannte, betrachtete mich mit einer ſonder - baren Aufmerkſamkeit, indem ich ihm fuͤr ſeine Leutſe - ligkeit dankte, und mit einer Offenherzigkeit, welche von meiner wenigen Kenntniß der Welt zeugte, bekann - te; daß ich im Begriff geweſen ſey, ihn um dasjenige zu erſuchen, was er mir auf eine ſo edle Art anbiete; nachdem ich durch einen Zufall in dieſe Gegenden, wo ich niemand kenne, gerathen ſey. Jch weiß nicht, was ihn zu meinem Vortheil einzunehmen ſchien; mein Aufzug wenigſtens konnte es nicht ſeyn; denn ich hatte, aus Sorge endekt zu werden, meine Delphiſche Klei - dung gegen eine ſchlechtere vertauſcht, welche auf mei - ner Wanderſchaft ziemlich abgenuzt worden war. Er wiederholte mir wie angenehm es ihm ſey, daß mich der Zufall vielmehr ihm als einem ſeiner Nachbarn zu - gefuͤhrt habe; und ſo folgte ich ihm in ſein Haus, deſſen Weitlaͤuffigkeit, Bauart und Pracht einen Beſi - zer von groſſem Reichthnm und vielem Geſchmak an - kuͤndigte. Der Saal in dem wir zuerſt abtraten, war mit Gemaͤhlden von den beruͤhmteſten Meiſtern, und mit einigen Bild-Saͤulen und Bruſt-Bildern vom Phi - dias und Alcamenes ausgeziert. Jch liebe wie dir be - kant iſt, die Werke der ſchoͤnen Kuͤnſte biß zur Schwaͤr - merey, und mein langer Aufenthalt in Delphi hatte mir einige Kenntniß davon gegeben. Jch bewunderte einige Stuͤke, ſezte an andern dieſes oder jenes aus, nannte die Kuͤnſtler, deren Hand oder Manier ich er - kannte, und nahm Gelegenheit von andern Meiſter - ſtuͤken zu reden, die mir von ihnen bekannt waren. Jch317Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. Jch bemerkte, daß mein Wirth mich mit Verwunderung von neuem betrachtete, und ſo ausſah, als ob, er be - troffen waͤre, einen jungen Menſchen, den er in einem ſo wenig verſprechenden Aufzug unter einem Baum lie - gend gefunden, mit ſo vieler Kentniß von Kuͤnſten ſpre - chen zu hoͤren, von denen gemeiniglich nur Leute von Stand und Vermoͤgen im Ton der Kenner zu reden pflegen. Nach einer kleinen Weile wurde gemeldet, daß das Abend-Eſſen aufgetragen ſey. Er fuͤhrte mich hierauf in einen kleinen Saal, deſſen Mauern von einem der beſten Schuͤler des Parrhaſius mit Waſſer-Farben niedlich uͤbermahlt waren. Wir ſpeiſeten ganz allein. Die Tafel, das Geraͤthe, die Aufwaͤrter, alles ſtimmte mit dem Begriff uͤberein, den ich mir bereits von dem Geſchmak und dem Stande des Haus-Herrn gemacht hatte. Unter dem Eſſen trat ein junger Menſch von fei - nem Anſehen und zierlich gekleidet, auf, und recitierte ein Stuk aus der Odyſſee mit vieler Geſchiklichkeit. Mein Wirth ſagte mir, daß er bey Tiſche dieſe Art von Gemuͤths-Ergoͤzung den Taͤnzerinnen und Floͤten - ſpielerinnen vorzoͤge, womit man ſonſt bey den Tafeln der Griechen ſich zu unterhalten pflege. Das Lob das ich ſeinem Leſer beylegte, gab zu einem Geſpraͤch uͤber die beſte Art zu recitieren, und uͤber die Griechiſchen Dichter Anlaß, wobey ich meinem Wirthe abermal Ge - legenheit gab, zu ſtuzen, und mich immer aufmerkſamer, und wie mich daͤuchte, mit einer Art von zaͤrtlicher Ge - muͤths-Bewegung anzuſehen. Er ſah daß ich es ge - wahr wurde, und ſagte mir hierauf, daß mich dieVer -318Agathon. Verwunderung womit er mich von Zeit zu Zeit betrach - te, weniger befremden wuͤrde, wenn ich die auſſeror - dentliche Aehnlichkeit meiner Geſichts-Bildung und Mi - ne mit einer Perſon, welche er ehmals gekannt habe, wißte; doch du ſollſt ſelbſt hievon urtheilen, ſezte er hinzu, und hierauf fieng er an von andern Dingen zu reden, biß der Wein und die Fruͤchte aufgeſtellt wurden. Bald darauf ſtunden wir auf, und nachdem wir eine Weile in einer langen Galerie, die auf einer doppelten Reyhe Corintiſcher Saͤulen von buntem Marmor ruhte, und praͤchtig erleuchtet war, auf und abgegangen wa - ren, fuͤhrte er mich in ein Cabinet, worinn ein Schreib - tiſch, ein Buͤchergeſtell, einige Polſter, und ein Ge - maͤhlde in Lebensgroͤſſe auf welches ich nicht gleich acht gab, alle Moͤbeln und Zierrathen ausmachten. Er hieß mich niederſizen, und nachdem er das Bildniß, welches ihm gegenuͤber hieng, eine ziemliche Weile mit Bewegung angeſehen hatte, redete er mich alſo an: Deine Jugend, liebenswuͤrdiger Fremdling, die Art wie ſich unſere Bekanntſchaft angefangen, die Eigen - ſchaften die ich in dieſer kurzen Zeit an dir entdekt, und die Zuneigung die ich in meinem Herzen fuͤr dich finde, rechtfertigen mein Verlangen, von deinem Na - men, und von den Umſtaͤnden benachrichtiget zu ſeyn, welche dich in einem ſolchen Alter von deiner Heymath entfernt und in dieſe fremde Gegenden gefuͤhrt haben koͤnnen. Es iſt ſonſt meine Gewohnheit nicht, mich beym erſten Anblik fuͤr jemand einzunehmen. Aber bey deiner Erblikung hab ich einem geheimen Reiz,der319Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. der mich gegen dich zog nicht wiederſtehen koͤnnen; und du haſt in dieſen wenigen Stunden meine voreilige Nei - gung ſo ſehr gerechfertiget, daß ich mir ſelbſt Gluͤk wuͤnſche, ihr Gehoͤr gegeben zu haben. Befriedige al - ſo mein Verlangen, und ſey verſichert, daß die Hof - nung, dir vielleicht nuͤzlich ſeyn zu koͤnnen, weit mehr Antheil daran hat, als ein unbeſcheidener Vorwiz. Du ſieheſt einen Freund in mir, dem du dich, ungeachtet der kurzen Dauer unſrer Bekanntſchaft, mit allem Zu - trauen eines langwierigen und bewaͤhrten Umgangs ent - deken darfſt. Jch wurde durch dieſe Anrede ſo ſehr ge - ruͤhrt, daß ſich meine Augen mit Traͤhnen fuͤllten — ich glaube, daß er darinn leſen konnte was ihm mein Herz antwortete, ob ich gleich eine Weile keine Worte finden konnte. Endlich ſagte ich ihm, daß ich von Delphi kaͤme; daß ich daſelbſt erzogen worden; daß man mich Agathon genennt haͤtte; daß ich niemalen habe entdeken koͤnnen, wem ich das Leben zu danken habe; und daß alles was ich davon wiſſe, dieſes ſey, daß ich in einem Alter von vier oder fuͤnf Jahren in den Tempel gebracht, mit andern Knaben, welche man dem Dienſt des Gottes zu Delphi gewidmet, er - zogen, und nachdem ich zu mehrern Jahren gekom - men, von den Prieſtern mit einer vorzuͤglichen Achtung angeſehen, und in allem was zur Erziehung eines frey - gebohrnen Griechen erfordert werde, geuͤbet worden ſey. Stratonicus (ſo wurde mein Wirth genannt) hatte waͤhrend daß ich dieſes ſagte, Muͤhe ſich ruhig zu halten; ſein Geſicht veraͤnderte ſich; er wollte anfan -gen320Agathon. gen zu reden, ſchien ſich aber wieder anders zu beden - ken, und erſuchte mich nur, ihm zu ſagen, warum ich Delphi verlaſſen haͤtte. So natuͤrlich die Aufrich - tigkeit ſonſt meinem Herzen war, ſo konnte ich doch dieſes mal unmoͤglich uͤber die Bedenklichkeiten hinaus kom - men, welche mir uͤber meine Liebe zu Pſyche den Mund verſchloſſen. Einem Freunde von meinen Jahren, fuͤr den ich mein Herz eben ſo eingenommen gefunden haͤt - te, als fuͤr den Stratonicus, wuͤrde ich das Jnnerſte meines Herzens ohne Bedenken aufgeſchloſſen haben, ſo bald ich haͤtte vermuthen koͤnnen, daß er meine Empfindungen zu verſtehen faͤhig ſey: Aber hier hielt mich etwas zuruͤk, davon ich mir ſelbſt die Urſache nicht recht angeben konnte. Jch ſchob alſo die ganze Schuld meiner Entweichung von Delphi auf die Py - thia, indem ich ihm ſo ausfuͤhrlich, als es meine ju - gendliche Schaamhaftigkeit geſtatten wollte, von den Verſuchungen, in welche ſie meine Tugend gefuͤhrt hat - te, Nachricht gab. Er ſchien ſehr wohl mit meiner auf - fuͤhrung zufrieden, und nachdem ich meine Erzaͤhlung biß auf den Augenblik, wo ich ihn zuerſt erblikt, und dasjenige was ich ſogleich fuͤr ihn empfunden, fortge - fuͤhrt; ſtund er mit einer lebhaften Bewegung auf, warf ſeine Arme um meinen Hals, und ſagte mit Thraͤnen der Freude und Zaͤrtlichkeit in ſeinen Augen: — Mein liebſter Agathon, ſiehe deinen Vater — hier, ſezte er hinzu, indem er mich ſanft umwendete, und auf das Gemaͤhlde wieß, welchem ich bisher den Ruͤken zugekehrt hatte, — hier, in dieſem Bilde, erken -ne321Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. die Mutter, deren geliebte Zuͤge mich beym erſten An - blik in deiner Geſichts-Bildung geruͤhrt, und dieſe Be - wegung erregt haben, die ich nun fuͤr die Stimme der Natur erkenne. Du kenneſt mich zu gut, liebenswuͤrdige Danae, um dir meine Empfindungen in dieſem Augen - blike nicht lebhafter einznbilden, als ich ſie beſchreiben koͤnnte. Solche Augenblike ſind keiner Beſchreibung faͤ - hig; fuͤr ſolche Freuden hat die Sprache keine Namen, die Natur keine Bilder, und die Phantaſie ſelbſt keine Farben. — Das Beſte iſt, zu ſchweigen, und den Zuhoͤrer ſeinem eigenen Herzen zu uͤberlaſſen. Mein Vater ſchien durch meine Entzuͤkung, welche ſich lange Zeit nur durch Thraͤnen und ſprachloſe Umarmungen und abgebrochene Toͤne der zaͤrtlichſten Regungen, de - ren die Natur faͤhig iſt, ausdruͤken konnte, doppelt gluͤklich zu ſeyn. Das Vergnuͤgen, womit er mich fuͤr ſeinen Sohn erkannte, ſchien ihn ſelbſt wieder in die gluͤklichſten Augenblike ſeiner Jugend zu verſezen, und Erinnerungen wieder aufzuweken, denen mein Anblik ein neues Leben gab. Da er natuͤrlicher Weiſe voraus - ſezen konnte, daß ich begierig ſeyn werde, die Urſa - chen zu wiſſen, welche meinen Vater, der mich mit ſo vie - lem Vergnuͤgen fuͤr ſeinen Sohn erkannte, hatten bewegen koͤnnen, mich ſo viele Jahre von ſich verbannt zu hal - ten; ſo gab er mir hieruͤber alle Erlaͤuterungen, die ich nur wuͤnſchen konnte, durch eine umſtaͤndliche Erzaͤh - lung der Geſchichte ſeiner Liebe zu meiner Mutter. Seine Bekanntſchaft mit ihr hatte ſich zufaͤlliger Weiſe in einem Alter angefangen, worinn er noch gaͤnzlich un -[Agath. I. Th.] Xter322Agathon. ter der vaͤterlichen Gewalt ſtuhnd. Sein Vater war das Haupt eines von den edelſten Geſchlechtern in Athen. Meine Mutter war ſehr jung, ſehr ſchoͤn, und eben ſo tugendhaft als ſchoͤn, unter der Aufſicht einer alten Frau, die ſich ihre Mutter nannte, dahin gekommen. Die ſtrenge Eingezogenheit, worinn ſie ſehr kuͤmmerlich von ihrer Hand-Arbeit lebte, verwahrte die junge Muſarion vor den Augen und vor den Nach - ſtellungen der muͤſſigen reichen Juͤnglinge, welche ge - wohnt ſind, junge Maͤdchen, die keinen andern Schuz als ihre Unſchuld, und keinen andern Reichthum als ihre Reizungen haben, fuͤr ihre natuͤrliche Beute anzu - ſehen. Dem ungeachtet konnte ſie nicht verhintern, durch einen Zufall, den ich uͤbergehen will, meinem Vater bekannt zu werden, welcher ſich durch ſeine ge - ſittete und beſcheidene Lebens-Art von den meiſten jun - gen Athenienſern ſeiner Zeit unterſchied. Sein tugend - hafter Character konnte ihn nicht verwahren, von den Reizungen der jungen Muſarion geruͤhrt zu werden; aber er machte, daß ſeine Liebe die Eigenſchaft ſeines Characters annahm. Sie war tugendhaft, beſchei - den, und eben dadurch ſtaͤrker und dauerhafter. Sein Stand, ſein guter Ruf und ſein zuruͤkhaltendes Betra - gen gegen den unſchuldigen Gegenſtand ſeiner Liebe ga - ben zuſammengenommen einen Beweg-Grund ab, der die Nachſicht entſchuldigen konnte, womit die Alte ſeine geheime Beſuche duldete, ob ſie gleich immer haͤufiger wurden. Nichts kann natuͤrlicher ſeyn, als dasjenige, was man liebt, dem Mangel nicht ausgeſezt ſehen zukoͤnnen;323Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. koͤnnen; aber nichts iſt auch in den Augen der Welt zweydeutiger, als die Freygebigkeit eines jungen Men - ſchen gegen eine junge Perſon, welche das Ungluͤk hat, durch ihre Annehmlichkeiten den Neid, und durch ihre Armuth die Verachtung des groſſen Hauffens zu erre - gen. Man kan ſich nicht bereden, daß in einem ſol - chen Fall derjenige, welcher giebt, nicht eigennuͤzige Abſichten habe; oder diejenige, welche annihmt, ihre Dankbarkeit nicht auf Unkoſten ihrer Unſchuld beweiſe. Stratonicus gebrauchte deswegen die aͤuſſerſte Vorſich - tigkeit, um die Wolthaten, womit er dieſe kleine Familie von Zeit zu Zeit unterſtuͤzte, vor aller Welt und vor ihnen ſelbſt zu verbergen. Allein ſie entdekten doch zulezt ih - ren unbekannten Wolthaͤter; und dieſe neue Proben ſei - ner edelmuͤthigen Sinnes-Art vollendeten den Eindruk, den er ſchon lange auf das unerfahrne Herz der zaͤrtli - chen Muſarion gemacht hatte, und gewannen es ihm gaͤnzlich. Niemals wuͤrde die Liebe von der zaͤrtlich - ſten Gegenliebe erwiedert, zwey Herzen gluͤklicher ge - macht haben, wenn die Umſtaͤnde der jungen Schoͤnen einer geſezmaͤſſigen Vereinigung nicht Schwierigkeiten in den Weg gelegt haͤtten, welche ein jeder anderer als ein Liebhaber fuͤr unuͤberwindlich gehalten haͤtte. End - lich war Stratonicus ſo gluͤklich, zu entdeken, daß ſeine Geliebte wuͤrklich eine Athenienſiſche Buͤrgerin ſey, die Tochter eines zwar armen, aber rechtſchaffenen Man - nes, welcher im Pelopponeſiſchen Kriege ſein Leben auf eine ruͤhmliche Art verlohren hatte. Nunmehr wagte er es, ſeinem Vater das Geheimniß ſeiner Liebe zu entde -X 2ken;324Agathon. ken; er wandte alles an, ſeine Einwilligung zu erhal - ten; aber der Alte, welcher alle Reizungen und alle Tugenden der jungen Muſarion fuͤr keinen genugſamen Erſaz des Reichthums, der ihr fehlte, anſah, blieb unerbittlich. Stratonicus liebte zu inbruͤnſtig, um dem Befehl, nicht weiter an ſeine Geliebte zu denken, gehor - ſam zu ſeyn; er wuͤrde ſich ſelbſt fuͤr den Unwuͤrdigſten unter den Menſchen gehalten haben, wenn er faͤhig geweſen waͤre, ihr nur das Wenigſte von ſeinen Em - pfindungen zu entziehen. Die Widerwaͤrtigkeiten und Hinterniſſe, womit ſeine Liebe kaͤmpfen mußte, thaten vielmehr die Wuͤrkung, welche ſie in einem ſolchen Falle bey edeln und wahrhaftig eingenommenen Gemuͤthern allemal thun werden; ſie concentrierten das Feuer ihrer gegenſeitigen Zuneigung, und blieſen eine Flamme, welche, ſo lange ſie von Hoffnung genaͤhrt wurde, drey Jahre lang ſanft und rein fortgebrannt hatte, zu der heftigſten Leidenſchaft an. Das Herz ermuͤdet endlich durch den langen Kampf mit ſeinen ſuͤſſeſten Regungen; es verliehrt die Kraft zu widerſtehen; und je laͤnger es unter den Quaalen einer zugleich verfolgten und un - befriedigten Liebe geſeufzet hat, je heftiger ſehnet es ſich nach einer Gluͤkſeligkeit, wovon ein einziger Augen - genblik genugſam iſt, das Andenken aller ausgeſtandenen Leiden auszuloͤſchen, das Gefuͤhl der gegenwaͤrtigen zu erſtiken, und die Augen, von der ſuͤſſen Trunkenheit der gluͤklichen Liebe benebelt, gegen alle kuͤnftige Noth blind zu machen. Auſſer dieſem hatte Muſarion noch den Beweg-Grund einer Daukbarkeit, von deren druͤ -kender325Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. kender Laſt ihr Herz ſich zu erleichtern ſuchte. Kurz: Sie ſchwuren einander eine ewige Treue, uͤberlieſſen ſich dem ſympathetiſchen Verlangen ihres Herzens, und bedienten ſich der Gewalt, die ihnen die Liebe gab, ein - ander gluͤklich zu machen. Die Gluͤkſeligkeit, welche eines dem andern zu danken hatte, unterhielt und befe - ſtigte die zaͤrtliche Vereinigung ihrer Herzen, anſtatt ſie zu ſchwaͤchen oder gar aufzuloͤſen; denn noch niemals iſt der Genuß das Grab der wahren Zaͤrtlichkeit geweſen. Jch, ſchoͤne Danae, war die erſte Frucht ihrer Liebe. Gluͤklicher Weiſe fiel meinem Vater eben damals durch den lezten Willen eines Oheims ein kleines Vorwerk auf einer von den Jnſuln zu, welche unter der Bottmaͤſſig - keit der Athenienſer ſtehen. Dieſes mußte meiner Mut - ter zur Zuflucht dienen; ich wurde daſelbſt gebohren, und genoß drey Jahre lang ihrer eigenen Pflege; bis ſie mir durch eine Schweſter entzogen wurde, deren Leben der liebenswuͤrdigen Muſarion das ihrige koſtete. Stra - tonicus hatte inzwiſchen manchen Verſuch gemacht, das Herz ſeines Vaters zu erweichen; aber allemal verge - bens. Es blieb ihm alſo nichts uͤbrig, als ſeine Ver - bindung mit meiner Mutter und die Folgen derſelben geheim zu halten. Jhr fruͤhzeitiger Tod vernichtete die Entwuͤrfe von Gluͤkſeligkeit, die er fuͤr die Zukunft ge - macht hatte, ohne die zaͤrtliche Treue, die er ihrem Andenken wiedmete, zu ſchwaͤchen. Die Sorge fuͤr das, was ihm von ihr uͤbrig geblieben war, hielt ihn zuruͤk, ſich einer Traurigkeit voͤllig zu uͤberlaſſen, welche ihn lange Zeit gegen alle Freuden des Lebens gleichguͤltig,X 3und326Agathon. und zu allen Beſchaͤftigungen deſſelben verdroſſen machte. Der Tempel zu Delphi ſchien ihm der tauglichſte Ort zu ſeyn, mich zu gleicher Zeit zu verbergen, und einer guten Erziehung theilhaft zu machen. Er hatte Freunde daſelbſt, denen ich beſonders empfohlen wurde, mit dem gemeſſenſten Auftrag, mich in einer gaͤnzlichen Un - wiſſenheit uͤber meinen Urſprung zu laſſen. Sein Vor - ſaz war, ſo bald der Tod ſeines Vaters ihn zum Mei - ſter uͤber ſich ſelbſt und ſeine Guͤter gemacht haben wuͤr - de, mich von Delphi abzuholen, und nach Athen zu bringen, wo er ſo dann ſeine Verbindung mit meiner Mutter bekannt machen, und mich oͤffentlich fuͤr ſeinen Sohn und Erben erklaͤren wollte. Aber dieſer Zufall erfolgte erſt wenige Monate vor meiner Flucht, und ſeit demſelben hatten ihn dringendere Geſchaͤfte genoͤ - thigt, meine Abholung aufzuſchieben.
Nachdem mein Vater dieſe Erzaͤhlung geendigt hatte, ließ er einen alten Freygelaſſenen zu ſich ruffen, und fragte ihn: Ob er den kleinen Agathon kenne, den er vor vierzehn Jahren dem Schuz des Delphiſchen Apollo uͤberliefert habe? Der gute Alte, deſſen Zuͤge mir ſelbſt nicht unbekannt waren, erkannte mich deſto leichter, da er binnen dieſer Zeit von meinem Vater etliche male nach Delphi abgeſchikt worden war, ſich meines Wol - befindens zu erkundigen. Nunmehr wurde in wenigen Augenbliken das ganze Haus mit allgemeiner Freude erfuͤllt; die Zufriedenheit meines Vaters uͤber mich, und das Vergnuͤgen, womit alle ſeine Haus-Genoſſen mich,als327Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. als den einzigen Sohn ihres Herrn, bewillkommten, machte die Freude vollkommen, die ich bey einem ſo unverhoften und ploͤzlichen Uebergang von dem Elend eines ſich ſelbſt unbekannten, nakten und allen Zufaͤllen des Schikſals preiß gegebenen Fluͤchtlings zu einem ſo blendenden Gluͤks-Stand nothwendig empfinden mußte. Blendend haͤtte er wenigſtens fuͤr manchen andern ſeyn koͤnnen, der durch die Art ſeiner Erziehung weniger als ich vorbereitet geweſen waͤre, einen ſolchen Wechſel mit Beſcheidenheit zu ertragen. Jnzwiſchen bin ich mir ſelbſt die Gerechtigkeit ſchuldig, zu ſagen, daß die Ver - ſicherung, ein Buͤrger von Athen, und durch meine Geburt und die Tugend meiner Voreltern zu Verdien - ſten und ſchoͤnen Thaten beruffen zu ſeyn, mir ungleich mehr Vergnuͤgen machte, als der Anblik der Reichthuͤ - mer, welche die Guͤtigkeit meines Vaters mit mir zu theilen ſo begierig war, und welche in meinen Augen nur dadurch einen Werth erhielten, weil ſie mir das Vermoͤgen zu geben ſchienen, deſto freyer und vollkom - mener nach den Grund-Saͤzen, die ich eingeſogen hatte, leben zu koͤnnen. Jch unterhielt mich nun mit einer neuen Art von Traͤumen, welche durch ihre Beziehung auf meine neu entdekten Verhaͤltniſſe fuͤr mich ſo wich - tig, als durch ihre Ausfuͤhrung eben ſo viele Woltha - ten fuͤr das menſchliche Geſchlecht zu ſeyn ſchienen. Jch machte Entwuͤrfe, wie die erhabenen Lehr-Saͤze meiner idealiſchen Sitten-Lehre auf die Einrichtung und Ver - waltung eines gemeinen Weſens angewendt werden koͤnnten. Dieſe Betrachtungen, welche einen gutenX 4Theil328Agathon. Theil meiner Naͤchte wegnahmen, erfuͤllten mich mit dem lebhafteſten Eifer fuͤr ein Vaterland, welches ich nur aus Geſchichtſchreibern kannte; ich zeichnete mit ſelbſt, auf den Fußſtapfen der Solons und Ariſtiden, einen Weg aus, bey welchem ich an keine andere Hin - terniſſe dachte, als ſolche, die durch Muth und Tu - gend zu uͤberwinden ſind. Dann ſezte ich mich in mei - nen patriotiſchen Entzuͤkungen an das Ende meiner Lauf - bahn, und ſah in Alhen, nichts geringers als die Hauptſtadt der Welt, die Geſezgeberin der Nationen, die Mutter den Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, die Koͤni - gin des Meers, den Mittelpunct der Vereinigung des ganzen menſchlichen Geſchlechts. ‒ ‒ Kurz, ich mach - te ungefehr eben ſo ſchimaͤriſche, und eben ſo ungeheure Projecte, als Alcibiades; aber mit dem weſentlichen Unterſcheid, daß ein von Guͤte und allgemeiner Wol - thaͤtigkeit beſeeltes Herz die Quelle der meinigen war. Sie hatten noch dieſes Beſondere, daß ihre Ausfuͤh - rung, (die moraliſche Moͤglichkeit derſelben vorausge - ſezt,) keiner Mutter eine Thraͤne, und keinem Menſchen in der Welt mehr, als die Aufopferung ſeiner Vorur - theile, und ſolcher Leidenſchaften, welche die Urſachen alles Privat-Elends ſind, gekoſtet haͤtten. Jhre Aus - fuͤhrung ſchien mir, weil ich mir die Hinterniſſe nur einzeln, und nicht in ihrem Zuſammenhang und verei - nigtem Gewichte vorſtellte, ſo leicht zu ſeyn, daß ich nur allein daruͤber verwundert war, daß ein Perikles unter den kleinfuͤgigen Bemuͤhungen Athen zur Meiſte - rin von Griechenland zu machen, habe uͤberſehen koͤn -nen,329Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. nen, wie viel leichter es ſey, es zum Tempel eines ewigen Friedens und der allgemeinen Gluͤkſeligkeit der Welt zu machen. Dieſe ſchoͤnen Speculationen gaben etliche mal den Stof zu den Unterredungn ab, womit ich meinem Vater des Abends die Zeit zu verkuͤrzen pflegte. Die Lebhaftigkeit meiner Einbildungskraft ſchien ihn eben ſo ſehr zu beluſtigen, als ſein Herz, deſſen Eben - bild er in dem meinigen erkannte, ſich an den tugend - haften Geſinnungen vergnuͤgte, welche er, wie ich ſelbſt, (vielleicht beyde ein wenig zu partheyiſch) fuͤr die Triebfedern meiner politiſchen Traͤume hielt. Alles, was er mir von den Schwierigkeiten ihrer Ausfuͤh - rung, die er mit der Quadratur des Cirkels in eine Claſſe ſezte, ſagen konnte, uͤberzeugte mich ſo wenig, als einen Verliebten die Einwendungen eines Freun - des, der bey kaltem Blut iſt, uͤberzeugen werden. Jch hatte eine Antwort fuͤr alle; und dieſer neue Schwung, den mein Enthuſiaſmus bekommen hatte, wurde bald ſo ſtark, daß ich es kaum erwarten konnte, mich in Athen, und in Umſtaͤnde zu ſezen, wo ich die erſte Hand an dieſes groſſe Werk, wozu ich gewidmet zu ſeyn glaubte, legen koͤnnte.
Mein Vater hielt ſich nur ſo lange zu Corinth auf, als es ſeine Geſchaͤfte erfoderten, und eilte ſelbſt, mich ſo bald es nur moͤglich war, in dieſes Athen zu verſe - zen, welches ſich meiner verſchoͤnernden Einbildung in einem ſo herrlichen Lichte darſtellte. Jch geſtehe dir, Danae, (und hoffe, die fromme Pflicht gegen meine Vaterſtadt nicht dadurch zu beleidigen) daß der erſte Anblik mit dem was ich erwartete einen ſtarken Abſaz machte. Mein Geſchmak war zu ſehr verwoͤhnt, um das Mittelmaͤßige, worinn es auch ſeyn moͤchte, ertraͤg - lich zu finden; er wollte gleichſam alles in dieſe feine Linie eingeſchloſſen ſehen, in welcher das Erhabene mit dem Schoͤnen zuſammenfließt; und wenn er dieſe Voll - kommenheit an einzelnen Theilen gewahr wurde, ſo wollte er, daß alle zuſammenſtimmen, und ein ſich ſelbſt durchaus aͤhnliches, ſymmetriſches Ganzes ausmachen ſollten. Von dieſem Grade der Schoͤnheit war Athen, ſo wie vielleicht eine jede andere Stadt in der Welt, noch weit entfernt; indeſſen hatte ſie doch der gute Geſchmakund331Siebentes Buch, ſechstes Capitel. und die Verſchwendung des Pericles, mit Huͤlfe der Phidias, der Alcamenen, und andrer groſſer Meiſter, in einen ſolchen Stand geſtellt, daß ſie mit den praͤch - tigſten Staͤdten des politeſten Theils der Welt um den Vorzug ſtreiten konnte; und ich hielt mit Recht davor, daß die Ergaͤnzung und Vollendung deſſen, was ihr von dieſer Seite noch abgieng, der leichteſte Theil mei - ner Entwuͤrfe, und eine natuͤrliche Folge derjenigen Veranſtaltungen ſeyn werde, welche ſie, meiner Einbil - dung nach, zum Mittelpunct der Staͤrke, und der Reichtuͤmer des ganzen Erdbodens machen ſollten.
Sobald wir in Athen angekommen waren, ließ mein Vater ſeine erſte Sorge ſeyn, mich auf eine ge - ſezmaͤßige und oͤffentliche Art fuͤr ſeinen Sohn erkennen, und unter die Athenienſiſchen Buͤrger aufnehmen zu laſ - ſen. Dieſes machte mich eine Zeit lang zu einem Ge - genſtand der allgemeinen Aufmerkſamkeit. Die Athe - nienſer ſind, wie dir nicht unbekannt iſt, mehr als ir - gend ein anders Volk in der Welt geneigt, ſich ploͤzlich mit der aͤuſſerſten Lebhaftigkeit fuͤr oder wider etwas einnehmen zu laſſen. Jch hatte das Gluͤk, ihnen beym erſten Anblik zu gefallen; die Begierde mich zu ſehen, und Bekanntſchaft mit mir zu machen, wurde eine Art von epidemiſcher Leidenſchaft unter Jungen und Alten; jene machten in kurzem einen glaͤnzenden Hof um mich, und dieſe faßten Hofnungen von mir, welche mich, oh - ne es an mir ſelbſt gewahr zu werden, mit einem ge - heimen Stolz erfuͤllten, und die allzuhochfliegende Mei -nung,332Agathon. nung, die ich ohnehin geneigt war, von meiner Be - ſtimmung zu faſſen, beſtaͤtigten. Dieſer ſubtile Stolz, der ſich hinter meinen beſten Neigungen und tugendhaf - teſten Geſinnungen verbarg, und dadurch meinem Be - wußtſeyn ſich entzog, benahm mir nichts von einer Beſcheidenheit, wodurch ich vor den meiſten jungen Leuten meiner Gattung mich zu unterſcheiden ſchien; und ich gewann dadurch, nebſt der allgemeinen Ach - tung des geringern Theils des Volkes, den Vortheil, daß die Vornehmſten, die Weiſeſten und Erfahrenſten mich gerne um ſich haben mochten, und mir durch ih - ren Umgang eine Menge beſondere Kenntniſſe mit - theilten, welche mir bey meinem fruͤhzeitigen Auftritt in der Republik ſehr wol zu ſtatten kamen. Die Rei - nigkeit meiner Sitten, der gute Gebrauch, den ich von meiner Zeit machte, der Eifer, womit ich mich zum kuͤnftigen Dienſt meines Vaterlandes vorbereitete, die fleißige Beſuchung der Gymnaſien, und der Preis, den ich in den Uebungen vor den mehreſten meines Alters davon trug: Alles dieſes vereinigte ſich, das guͤnſtige Vorurtheil zu unterhalten, welches man einmal fuͤr mich gefaßt hatte; und da mir noch die Verdienſte meines Vaters, und einer langen Reihe von Voreltern den Weg zur Republik bahnten; ſo iſt es nicht zu verwun - dern, daß ich in - einem Alter, worinn die meiſten Juͤnglinge nur mit ihren Vergnuͤgungen beſchaͤftiget ſind, den Muth hatte, in den oͤffentlichen Verſamm - lungen aufzutreten, und das Gluͤk, mit einem Beyfall aufgenommen zu werden, welcher mich in Gefahr ſezte,eben333Siebentes Buch, ſechstes Capitel. eben ſo ſchnell, als ich empor gehoben wurde, ſo wol durch meine eigene Vermeſſenheit, als durch den Neid meiner Nebenbuhler wieder geſtuͤrzt zu werden.
Die Beredſamkeit iſt in Athen, und in allen Frey - ſtaaten, wo das Volk Antheil an der oͤffentlichen Ver - waltung hat, der naͤchſte Weg zu Ehrenſtellen, und das gewiſſeſte Mittel ſich auch ohne dieſelben Anſehen und Einfluß zu verſchaffen. Jch ließ es mir alſo ſehr angelegen ſeyn, die Geheimniſſe einer Kunſt zu ſtudie - ren, von deren Ausuͤbung und dem Grade der Geſchik - lichkeit, den ich mir darinn erwerben wuͤrde, die gluͤk - liche Ausfuͤhrung aller meiner Entwuͤrfe abzuhangen ſchien. Denn wenn ich bedachte, wozu Perikles und Alcibiades die Athenienſer zu bereden gewußt hatten: So zweifelte ich keinen Augenblik, daß ich ſie mit ei - ner gleichen Geſchiklichkeit zu Maßnehmungen wuͤrde uͤberreden koͤnnen, welche, auſſerdem, daß ſie an ſich ſelbſt edler waren, zu weit glaͤnzendern Vortheilen fuͤhrten, ohne ſo ungewiß und gefaͤhrlich zu ſeyn. Jn dieſer Abſicht beſuchte ich die Schule des Platons, wel - cher damals zu Athen in ſeinem groͤſſeſten Anſehen ſtund, und indem er die Weisheit des Socrates mit der Be - redſamkeit eines Gorgias und Prodicus vereinigte, nach dem Urtheil meiner alten Freunde, weit geſchikter, als dieſe Wortkuͤnſtler, war, einen Redner zu bilden, der vielmehr durch die Staͤrke der Wahrheit, als durch die Blendwerke und Kunſtgriffe einer hinterliſtigen Dialectik ſich die Gemuͤther ſeiner Zuhoͤrer unterwerfenwollte.334Agathon. wollte. Der vertrautere Zutritt, den mir dieſer be - ruͤhmte Weiſe vergoͤnnte, entdekte eine Uebereinſtim - mung meiner Denkungsart mit ſeinen Grundſaͤzen, wel - che die Freundſchaft, die ich fuͤr ihn faßte, in eine faſt ſchwaͤrmeriſche Leidenſchaft verwandelte. Sie wuͤrde mir ſchaͤdlich geweſen ſeyn, wenn man damals ſchon ſo von ihm gedacht haͤtte, wie man dachte, nachdem er, durch die Bekanntmachung ſeiner metaphyſiſchen Dialogen, bey den Staatsleuten, und ſelbſt bey vielen, welche ſeine Bewundrer geweſen waren, den Vorwurf, welchen Ariſtophanes ehemals (wiewol hoͤchſt unbillig) dem weiſen Socrates gemacht, ſich mit beſſerm Grund oder mehr Scheinbarkeit zugezogen hatte. Aber da - mals hatte Plato weder ſeinen Timaͤus noch ſeine Re - publik geſchrieben. Jndeſſen exiſtierte dieſe leztere doch bereits in ſeinem Gehirne; ſie gab ſehr oft den Stoff zu unſern Geſpraͤchen in den Spaziergaͤngen der Aca - demie ab; und er bemuͤhete ſich deſto eifriger, mir ſei - ne Begriffe von der beſten Art, die menſchliche Geſell - ſchaft einzurichten, und zu regieren, eigen zu machen, da er das Vergnuͤgen zu haben hofte, ſie wenigſtens in ſo fern es die Umſtaͤnde zulaſſen wuͤrden, durch mich realiſiert zu ſehen. Sein Eifer in dieſem Stuͤke mag ſo groß geweſen ſeyn, als er will, ſo war er doch ge - wiß nicht groͤſſer, als meine Begierde, dasjenige aus - zuuͤben, was er ſpeculierte. Allein, da meine Vorſtel - lung von der Wichtigkeit der Pflichten, welche derje - nige auf ſich nimmt, der ſich in die oͤffentlichen Ange - legenheiten miſchet, der Lauterkeit und innerlichen Guͤtemeiner335Siebentes Buch, ſechstes Capitel. meiner Abſichten proportioniert war, und ich deſto weiter von Ehrſucht, und andern eigennuͤzigen Leiden - ſchaften entfernt zu ſeyn glaubte, je gewiſſer ich mir bewußt war, daß ich (wenn ich es fuͤr erlaubt gehal - ten haͤtte, mich in der Wahl einer Lebensart bloß mei - ner Privatneigung zu uͤberlaſſen,) eine von dem Staͤd - tiſchen Getuͤmmel entfernte Muſſe, und den Umgang mit den Muſen, die ich alle zugleich liebte, der Ehre, eine ganze Welt zu beherrſchen, vorgezogen haͤtte: So glaubte ich mich nicht genug vorbereiten zu koͤnnen, eh ich auf einem Theater erſchiene, wo der erſte Auf - tritt gemeiniglich das Gluͤk des ganzen Schauſpiels entſcheidet. Jch widerſtund bey etlichen Gelegenheiten, welche mich aufzufodern ſchienen, ſo wol dem Zudringen meiner Freunde, als meiner eigenen Neigung, ob es gleich, ſeit dem Aleibiades mit ſo gutem Erfolg den Anfang gemacht hatte, nicht an jungen Leuten fehlte, welche, ohne ſich durch andre Talente, als die Geſchik - lichkeit ein Gaſtmal anzuordnen, ſich zierlich zu klei - den, zu tanzen, und die Cithar zu ſpielen, bekannt gemacht zu haben, vermeſſen genug waren, nach einer durchgeſchwaͤrmten Nacht aus den Armen einer Buh - lerin in die Verſammlung des Volks zu huͤpfen, und von Salben triefend mit einer taͤndelhaften Geſchwaͤ - zigkeit von den Gebrechen des Staats, und den Feh - lern der oͤffentlichen Verwaltung zu plaudern.
Endlich ereignete ſich ein Fall, wo das Jntereſſe ei - nes Frenndes, den ich vorzuͤglich liebte, alle meine Be -denk -336Agathon. denklichkeiten uͤberwog. Eine maͤchtige Cabale hatte ſei - nen Untergang geſchworen; er war unſchuldig; aber die Anſcheinungen waren gegen ihn; die Gemuͤther wa - ren wider ihn eingenommen; und die Furcht, ſich den Unwillen ſeiner Feinde zu zuziehen, hielt die wenigen, welche beſſer von ihm dachten, zuruͤk, ſich ſeiner oͤffent - lich anzunehmen. Jn dieſen Umſtaͤnden ſtellte ich mich als ſein Vertheidiger dar. Da ich von ſeiner Unſchuld uͤberzeugt war, ſo wuͤrkten alle dieſe Betrachtungen, wodurch ſich ſeine uͤbrigen Freunde abſchreken lieſſen, bey mir gerade das Wiederſpiel. Ganz Athen wurde aufmerkſam, da es bekannt wurde, daß Agathon, des Stratonicus Sohn, auftretten wuͤrde, die Sache des ſchon zum voraus verurtheilten Lyſias zu fuͤhren. Die Zuneigung, welche das Volk zu mir trug, veraͤnderte auf einmal die Meynung, die man von dieſer Sache ge - faßt hatte; die Athenienſer fanden eine Schoͤnheit, von der ſie ganz bezaubert waren, in der Großmuth und Herzhaftigkeit, womit ich (wie ſie ſagten) mich fuͤr einen Freund erklaͤrte, den alle Welt verlaſſen und der Wuth und Uebermacht ſeiner Feinde preiß gegeben hatte. Man that nun die eifrigſten Geluͤbde, daß ich den Sieg davon tragen moͤchte, und der Enthuſiaſmus, womit einer den andern anſtekte, wurde ſo groß, daß die Ge - genpartey ſich genoͤthigt ſah, den Tag der Entſcheidung ſo weit hinauszuſezen, als ſie fuͤr noͤthig hielten, um die erhizten Gemuͤther ſich wieder abkuͤhlen zu laſſen. Sie ſparten inzwiſchen keine Kunſtgriffe, wodurch ſie ſich des Ausgangs zu verſichern glaubten; allein derErfolg337Siebentes Buch, ſechstes Capitel. Erfolg vereitelte alle ihre Maßnehmungen. Die Zu - jauchzungen, womit ich von einem groſſen Theil des Volkes empfangen wurde, munterten mich auf; ich ſprach mit einem geſeztern Muth, als man ſonſt von ei - nem jungen Menſchen erwarten konnte, der zum erſten mal vor einer ſo zahlreichen Verſammlung redete; und vor einer Verſammlung, wo der geringſte Handwerks - mann ſich fuͤr einen Kenner und rechtmaͤſſigen Richter der Beredſamkeit hielt. Die Wahrheit that auch hier die Wuͤrkung, die ſie alle mal thut, wenn ſie in ihrem eigenen Lichte und mit derjenigen Lebhaftigkeit, welche die eigene Ueberzeugung des Redners giebt, vorgetra - gen wird; ſie uͤberwaͤltigte alle Gemuͤther. Lyſias wurde losgeſprochen, und Agathon, der nunmehr der Held der Athenienſer war, im Triumph nach Hauſe be - gleitet. Von dieſer Zeit erſchien ich oͤfters in den oͤf - fentlichen Verſammlungen; die Leidenſchaft, welche das Volk fuͤr mich gefaßt hatte, und der Beyfall, der mir, wenn ich redete, entgegen flog, machten mir Muth, nun auch an den allgemeinen Angelegenheiten Theil zu nehmen; und da das Gluͤk beſchloſſen zu haben ſchien, mich nicht eher zu verlaſſen, bis es mich auf den Gi - pfel der Republicaniſchen Groͤſſe erhoben haben wuͤrde; ſo machte ich auch in dieſer neuen Lauf-Bahn ſo ſchnelle Schritte, daß in kurzem die Gunſt, worinn ich bey dem Volk ſtuhnd, das Anſehen der Maͤchtigſten zu Athen im Gleichgewicht erhielt; und daß meine heimlichen Feinde ſelbſt, um dem Volk angenehm zu ſeyn, genoͤ - thigt waren, oͤffentlich die Zahl meiner Bewunderer zu[Agath. I. Th.] Yver -338Agathon. vermehren. Der Tod meines Vaters, der um dieſe Zeit erfolgte, beraubte mich eines Freundes und Fuͤh - rers, deſſen Klugheit mir in dem gefahrvollen Ocean des politiſchen Lebens unentbehrlich war. Jch wurde dadurch in den Beſiz der groſſen Reichthuͤmer geſezt, mit denen er nur dadurch dem Neid entgangen war, weil er ſie mit groſſer Beſcheidenheit gebrauchte. Jch war nicht ſo vorſichtig. Der Gebrauch, den ich davon machte, war zwar an ſich ſelbſt edel und loͤblich; ich verſchwendete ſie, um Gutes zu thun; ich unterſtuͤzte alle Arten von Buͤrgern, welche ohne ihre Schuld in Ungluͤk gerathen waren; mein Haus war der Sammel - Plaz der Gelehrten, der Kuͤnſtler und der Fremden; mein Vermoͤgen ſtuhnd jedem zu Dienſten, der es benoͤ - thigt war: aber eben dieſes war es, was in der Folge meinen Fall befoͤrderte. Man wuͤrde mir eher zu gut ge - halten haben, wenn ich es mit Gaſtmaͤlern, mit Buh - lerinnen und mit einer immerwaͤhrenden Abwechßlung praͤchtiger und ausſchweiffender Luſtbarkeiten durchge - bracht haͤtte. Jndeß ſtuhnd es eine geraume Zeit an, bis die Eiferſucht, welche ich durch eine ſolche Lebens - Art in den Gemuͤthern der Angeſehenſten unter den Edeln zu Athen erregte, es wagen durfte, in ſichtbare Wuͤrkungen auszubrechen. Das Volk, welches mich vorhin geliebet hatte, fieng nun an, mich zu vergoͤttern. Der Ausdruk, den ich hier gebrauche, iſt nicht zu ſtark; denn da ein gewiſſer Dichter, der ſich meines Tiſches zu bedienen pflegte, ſich einſt einfallen ließ, in einem groſ - ſen und elenden Gedicht mir den Apollo zum Vater zugeben,339Siebentes Buch, ſechstes Capitel. geben, ſo fand dieſe mir ſelbſt laͤcherliche Schmeicheley bey dem Poͤbel (dem ohnehin das Wunderbare allemal beſſer als das Natuͤrliche einleuchtet) ſo groſſen Bey - fall, daß ſich nach und nach eine Art von Sage unter dem Volk befeſtigte, welche meiner Mutter die Ehre bey - legte, den Gott zu Delphi fuͤr ihre Reizungen empfind - lich gemacht zu haben. So ausſchweiffend dieſer Wahn war, ſo wahrſcheinlich ſchien er meinen Goͤnnern aus der unterſten Claſſe; dadurch allein glaubten ſie die mehr als menſchliche Vollkommenheiten, die ſie mir zuſchrie - ben, erklaͤren, und die ungereimten Hoffnungen, wel - che ſie ſich von mir machten, rechtfertigen zu koͤnnen. Denn das Vorurtheil des groſſen Hauffens gieng weit genug, daß viele oͤffentlich ſagten, Athen koͤnne durch mich allein zur Gebieterin des ganzen Erdbodens ge - macht werden, und man koͤnne nicht genug eilen, mir eine einzelne und unumſchraͤnkte Gewalt zu uͤbertragen, von welcher ſie ſich nichts geringers als die Wiederkehr der goͤldenen Zeit, die gaͤnzliche Aufhebung des verhaßten Unterſcheids zwiſchen Armen und Reichen, und einen ſe - ligen Muͤſſiggang mitten unter allen Wolluͤſten und Er - goͤzlichkeiten des Lebens verſprachen. Bey dieſen Ge - ſinnungen, womit in groͤſſerm oder kleinerm Grade der Schwaͤrmerey das ganze Volk zu Athen fuͤr mich einge - nommen war, brauchte es nur eine Gelegenheit, um ſie dahin zu bringen, die Geſeze ſelbſt zu Gunſten ihres Lieblings zu uͤberſpringen. Dieſe zeigte ſich, da Euboͤa und einige andre Jnſuln ſich des ziemlich harten Joches, welches ihnen die Athenienſer aufgelegt hatten, zu ent -Y 2ledigen,340Agathon. ledigen, einen Aufſtand erregtẽ, worinn ſie von den Spartanern heimlich unterſtuͤzt wurden. Man konnte (diejenige Theorie, welche man zu Hauſe erwerben kann, ausgenommen) des Kriegs-Weſens nicht uner - fahrner ſeyn, als ich es war. Jch hatte das Alter noch nicht erreicht, welches die Geſeze zu Bekleidung eines oͤffentlichen Amts erfoderten; wir hatten keinen Mangel an geſchikten und geuͤbten Kriegs-Leuten; ich ſelbſt wandte alles Anſehen, das ich hatte, an, um einen davon, den ich, ſeines moraliſchen Characters wegen, vorzuͤglich hoch ſchaͤzte, zum Feld-Herrn gegen die Em - poͤrten erwaͤhlen zu machen; aber das alles half nichts gegen die warme Einbildungs-Kraft des lebhafteſten und leichtſinnigſten Volks in der Welt. Agathon, welchem man alle Talente zutraute, und von welchem man ſich berechtigt hielt, Wunder zu erwarten, — war allein tauglich, die Ehre des Athenienſiſchen Namens zu behaupten, und die hochfliegenden Traͤume der poli - tiſchen Muͤſſiggaͤnger zu Athen, welche bey dieſem An - las in die Wette eiferten, wer die laͤcherlichſten Pro - jecte machen koͤnne, in die Wuͤrklichkeit zu ſezen. Dieſe Art von Leuten war ſo geſchaͤftig, daß es ihnen ge - lang, den groͤſſeſten Theil ihrer Mitbuͤrger mit ihrer Thorheit anzuſteken. Jede Nachricht, daß ſich wieder eine andere Jnſul aufzulehnen anfange, verurſachte eine allgemeine Freude; man wuͤrde es gerne geſehen haben, wenn das ganze Griechenland an dieſer Sache Antheil genommen haͤtte; auch fehlte es nicht an Zeitungen, welche das Feuer groͤſſer machten, als es war, undendlich341Siebentes Buch, ſechstes Capitel. endlich ſo gar den Koͤnig von Perſten in den Aufſtand von Euboͤa verwikelten, um dem Agathon einen deſto groͤſſern Schau-Plaz zu geben, die Athenienſer durch Heldenthaten zu beluſtigen und durch Eroberungen zu be - reichern. Jch wurde alſo (ſo ſehr ich mich entgegen - ſtraͤubte) mit unumſchraͤnkter Gewalt uͤber die Armee, uͤber die Flotten, und uͤber die Schaz-Kammer, zum Feld-Herrn gegen die abtruͤnnigen Jnſuln ernannt; und da ich nun einmal genoͤthigt war, dem Eigenſinn meiner Mitbuͤrger nachzugeben, ſo entſchloß ich mich, es mit einer guten Art zu thun, und die Sache von derjenigen Seite anzuſehen, welche mir eine erwuͤnſchte Gelegenheit zu geben ſchien, den Anfang zur Ausfuͤh - rung meiner eigenen Entwuͤrfe zu machen. Da ich wußte, daß die Jnſulaner gerechte Klagen gegen Athen zu fuͤhren hatten, und eine Regierung nicht lieben konn - ten, von der ſie unterdruͤkt, ausgeſogen, und mit Fuͤſ - ſen getretten wurden; ſo gruͤndete ich meinen ganzen Plan ihrer Beruhigung und Wiederbringung auf den Weg der Guͤte, auf Abſtellung der Mißbraͤuche, wo - durch ſie erbittert worden waren, auf eine billige Maͤſ - ſigung der Abgaben, welche man gegen ihre Freyheiten und uͤber ihr Vermoͤgen, von ihnen erpreßt hatte; und auf ihre Wiedereinſezung in alle Rechte und Vortheile, deren ſie ſich als Griechen und als Bunds-Genoſſen, vermoͤge vieler beſondern Vertraͤge, zu erfreuen haben ſollten. Allein ehe ich von Athen abreiſen konnte, war es um ſo noͤthiger, die Gemuͤther vorzubereiten und auf einen Ton zu ſtimmen, der mit meinen Grund -Y 3Saͤzen342Agathon. Saͤzen und Abſichten uͤbereinkaͤme, da ich ſahe, wie lebhaft die ausſchweifenden Projecte, womit die Eitelkeit des Alcibiades ſie ehemals bezaubert hatte, bey dieſer Gelegenheit wieder aufgewacht waren. Jch verſam - melte alſo das Volk, und wandte alle Kraͤfte der Rede - Kunſt, welche bey keinem Volk der Welt ſo viel ver - mag, als bey den Athenienſern, dazu an, ſie von der Gruͤndlichkeit meiner Entwuͤrfe zu uͤberzeugen, von welchen ich ſie ſo viel ſehen ließ, als zu Erreichung mei - ner Abſicht noͤthig war. Nachdem ich ihnen die Groͤſſe und den Flor, wozu die Republik, vermoͤge ihrer na - tuͤrlichen Vortheile und innerlichen Staͤrke, gelangen koͤnne, mit den reizendeſten Farben abgemahlt hatte; bemuͤhte ich mich zu beweiſen, daß weitlaͤufige Erobe - rungen, auſſer der Gefahr, womit ſie durch die Unbe - ſtaͤndigkeit des Kriegs-Gluͤks verbunden ſeyen, den Staat endlich nothwendiger Weiſe unter der Laſt ihrer eigenen Groͤſſe erdruͤken muͤßten; daß es einen weit ſicherern und kuͤrzern Weg gebe, Athen zur Koͤnigin des Erdbodens zu machen, indem etwas unlaͤugbares ſey, daß allezeit diejenige Nation den Uebrigen Geſeze vorſchreiben werde, welche zu gleicher Zeit die kluͤgſte und die reichſte ſey; daß der Reichthum allezeit Macht gebe, ſo wie die Klugheit den rechten Gebrauch der Macht lehre; daß Athen in beydem allen andern Voͤl - kern uͤberlegen ſeyn werde, wenn ſie auf der einen Seite fortfahre, die Pfleg-Mutter der Wiſſenſchaften und aller nuͤzlichen und ſchoͤnen Kuͤnſte zu ſeyn; auf der andern aber alle ihre Gedanken darauf richte, ſich in der Herr -ſchaft343Siebentes Buch, ſechstes Capitel. ſchaft uͤber das Meer feſt zu ſezen; nicht in der Abſicht Eroberungen zu machen, ſondern ſich in eine ſolche Ach - tung bey den Auswaͤrtigen zu ſezen, daß jedermann ihre Freundſchaft ſuche, und niemand es wagen duͤrfe, ihren Unwillen zu reizen; daß fuͤr einen am Meer gele - genen Frey-Staat ein gutes Vernehmen mit allen uͤbri - gen Voͤlkern, und eine ſo weit als nur moͤglich ausge - breitete Handlung, der natuͤrliche und unfehlbare Weg ſey, nach und nach zu einer Groͤſſe zu gelangen, deren Ziel nicht abzuſehen ſey; daß aber hiezu die Erhaltung ſeiner eigenen Freyheit, und zu dieſer die Freyheit aller uͤbrigen, ſonderheitlich der benachbarten, oder wenig - ſtens ihre Erhaltung bey ihrer alten und natuͤrlichen Form und Verfaſſung, noͤthig ſey; daß Buͤndniſſe mit ſeinen Nachbarn, und eine ſolche Freundſchaft, wobey der andere eben ſo wol ſeinen Vortheil ſinde, als wir den unſrigen, einem ſolchen Staat weit mehr Macht, Anſehen und Einfluß auf die allgemeine Verfaſſung des politiſchen Syſtems der Welt geben muͤßten, als die Unterwerffung derſelben, weil ein Freund allezeit mehr werth ſey, als ein Sclave; daß die Gerechtigkeit der einzige Grund der Macht und Dauer eines Staats, ſo wie das einzige Band der Geſellſchaft zwiſchen einzelnen Menſchen und ganzen Nationen, ſey; daß dieſe Gerechtig - keit fodre, eine jede politiſche Geſellſchaft (ſie moͤge groß oder klein ſeyn) als unſers gleichen anzuſehen, und ihr eben die Rechte zu zugeſtehen, welche wir fuͤr uns ſelbſt foderten; daß ein nach dieſen Grund-Saͤzen eingerichtetes Betragen das gewiſſeſte Mittel ſey, ſich einY 4allge -344Agathon. allgemeines Zutrauen zu erwerben, und anſtatt einer gewaltſamen, und mit allen Gefahren der Tyrannie verknuͤpften Oberherrſchaft eine freywillig eingeſtande - ne Autoritaͤt zu behaupten, welche in der That von allen Vortheilen der erſtern begleitet ſey, ohne die verhaßte Geſtalt und ſchlimmen Folgen derſelben zu ha - ben. Nachdem ich alle dieſe Wahrheiten in ihrer be - ſondern Anwendung auf Griechenland und Athen, in das ſtaͤrkſte Licht geſezt, und bey dieſer Gelegenheit die Thorheit der Projecte des Alcibiades und andrer ehr - ſuͤchtiger Schwindelkoͤpfe ausfuͤhrlich erwieſen hatte: Bemuͤhte ich mich darzuthun, daß der Aufſtand der Jn - ſeln, welche bisher unter dem Schuz der Athenienſer geſtanden, in neuerlichen Zeiten aber durch Schuld ei - niger boͤſer Rathgeber der Republik, als unterworfene Sclaven behandelt worden ſeyen, die gluͤklichſte Gele - genheit anbiete, auf der einen Seite das ganze Grie - chenland von der gerechten und edelmuͤthigen Denkungs - art der Athenienſer zu uͤberzeugen, auf der andern durch eine anſehnliche Vermehrung der Seemacht, wo - von die Unkoſten durch die groͤſſere Sicherheit und Er - weiterung der Handelſchaft reichlich erſezt wuͤrden, ſich in ein ſolches Anſehen zu ſezen, daß niemand jenes gelinde und großmuͤthige Verfahren, mit dem minde - ſten Schein, einem Mangel an Vermoͤgen ſich Genug - thuung zu verſchaffen, werde beymeſſen koͤnnen. Jch unterſtuͤzte dieſe Vorſchlaͤge mit allen den Gruͤnden, wel - che auf die lebhafte Einbildungskraft meiner Zuhoͤrer den ſtaͤrkſten Eindruk machen konnten, und hatte dasVergnuͤ -345Siebentes Buch, ſechstes Capitel. Vergnuͤgen, daß meine Rede mit einem Beyfall, der meine Erwartung weit uͤbertraf, aufgenommen wurde. Auſſerdem, daß die Athenienſer, ihrer Gemuͤthsart nach, ſich von Wahrheit und geſunden Grundſaͤzen eben ſo leicht einnehmen lieſſen, als von den Blendwerken einer falſchen Staaskunſt, wenn ihnen jene nur in ei - nem eben ſo reizenden Licht, und mit eben ſo lebhaften Farben vorgetragen wurden, als ſie verwoͤhnt worden waren, von einem jeden, der zu den oͤffentlichen An - gelegenheiten redete, zu fodern; ſo waren ſie gleichguͤl - tig, durch was fuͤr Mittel Athen zu derjenigen Groͤſſe gelangen moͤge, welche das Ziel aller ihrer Wuͤnſche war; und ein groſſer Theil der Buͤrger, denen der Friede mehr Vortheile brachte, als der Krieg, lieſſen ſichs vielmehr wolgefallen, daß dieſes Ziel ihrer Eitel - keit auf eine mit ihrem Privatnuzen uͤbereinſtimmigere Art erhalten werde. Meine heimlichen Feinde, wel - che nicht zweifelten, daß dieſe Expedition auf eine oder andere Art Gelegenheit zu meinem Fall geben wuͤrde, waren weit entfernt, meinen Maßnehmungen oͤffent - lich zu widerſtehen; aber (wie ich in der Folge erfuhr) unter der Hand deſto geſchaͤftiger, ihren Erfolg zu hemmen, Schwierigkeiten aus Schwierigkeiten hervor zu ſpinnen, und die mißvergnuͤgten Jnſulaner ſelbſt durch geheime Aufſtiftungen uͤbermuͤthig, und zu billigen Bedingungen abgeneigt zu machen. Die Verachtung, womit man anfangs dieſen Aufſtand zu Athen angeſe - hen hatte; daß anſtekende Beyſpiel, und die Raͤnke andrer Griechiſchen Staͤdte, welche die Obermacht derY 5Athenien -346Agathon. Athenienſer mit eiferſuͤchtigen Augen anſahen, hatten zu wege gebracht, daß indeſſen auch die Attiſchen Co - lonien, und der groͤſſeſte Theil der Bundesgenoſſen kuͤhn genug worden waren, ſich einer Unabhaͤnglichkeit an - zumaſſen, deren ſchaͤdliche Folgen ſie ſich ſelbſt unter dem reizenden Nahmen der Freyheit verbargen; es war die hoͤchſte Zeit, einer allgemeinen Empoͤrung und Zuſammenverſchwoͤrung gegen Athen zuvorzukommen; und meine Landsleute, welche bey Annaͤherung einer Gefahr, die ihnen in der Ferne nur Stoff zu wizigen Einfaͤllen und Gaſſenliedern gegeben hatte, ſehr ſchnell von der leichtſinnigſten Gleichguͤltigkeit zu einer eben ſo uͤbermaͤßigen Kleinmuͤthigkeit uͤbergiengen, vergroͤſſerten ſich ſelbſt das Uebel ſo ſehr, daß ich genoͤthiget wurde unter Segel zu gehen, ehe die Zuruͤſtungen noch zur Helfte fertig waren. Jch hatte die Vorſichtigkeit ge - braucht, meinen Freund, uͤber welchen mir die Gunſt des Volks einen ſo unbilligen Vorzug gegeben hatte, als meinen Unterbefehlshaber mitzunehmen; die Beſcheiden - heit, womit ich mich des Anſehens, welches mir mei - ne Commißion uͤber ihn gab, bediente, kam einer Ei - ferſucht zuvor, die den Erfolg unſrer Unternehmung haͤtte vereiteln koͤnnen; wir handelten aufrichtig, und ohne Nebenabſichten, nach einem gemeinſchaftlich abge - redeten Plan, und das Gluͤk beguͤnſtigte uns ſo ſehr, daß in einer einzigen Expedition alle Jnſeln, Colonien und Schuzverwandte der Athenienſer nicht nur beruhi - get, und wieder in die alte Schranken geſezt, ſondern durch die Abſtellung alles deſſen, wodurch ſie unbilligerWeiſe347Siebentes Buch, ſechstes Capitel. Weiſe beſchwehret worden waren, und durch die Be - ſtaͤtigung ihrer Freyheiten, die ich ihnen bewilligte, mehr als jemals geneigt gemacht wurden, die Freund - ſchaft der Athenienſer allen andern Verbindungen, die ihnen angetragen worden waren, vorzuziehen. Jn allem dieſem folgte ich, ohne beſondere Verhaltungs - befehle einzuholen, meiner eignen Denkungsart mit deſto groͤßrer Zuverſicht, da ich den ehemaligen Miß - vergnuͤgten nichts zugeſtanden hatte, was ſie nicht ſo wol nach dem Naturrecht als in Kraft aͤlterer Vertraͤge zu fodern vollkommen berechtiget waren, hingegen durch dieſe Nachgiebigkeit neue und ſehr betraͤchtliche Vortheile fuͤr die Athenienſer erkaufte; Vortheile, wel - che dem ganzen gemeinen Weſen zufloſſen, da hingegen aller Nuzen der Unterdruͤkung, worunter ſie geſeufzet hatten, lediglich in die Caſſen einiger Privatleute und ehmaligen Guͤnſtlinge des Volks geleitet worden war.
Jch kehrete alſo mit dem Vergnuͤgen, Gutes ge - than zu haben, mit dem Beyfall und der lebhafteſten Zuneigung der ſaͤmtlichen Colonien und Bundesgenoſſen, und mit der vollen Zuverſicht, daß ich die Belohnung, die ich verdient zu haben glaubte, in der Zufriedenheit meiner Mitbuͤrger einerndten wuͤrde, an der Spize einer dreymal ſtaͤrkern Flotte, als womit ich ausgelau - fen war, nach Athen zuruͤk. Jch ſchmeichelte mir, daß ich mir durch eine ſo ſchleunige Beylegung einer Unruhe, welche ſo weitauſſehend und gefaͤhrlich geſchie - nen, einiges Verdienſt um mein Vaterland erworbenhaͤtte.348Agathon. haͤtte. Jch hatte aus unſern Feinden, Freunde, und aus unſichern Unterthanen, zuverlaͤßige Bundesgenoſſen gemacht, deren Treu deſto weniger zweifelhaft ſeyn mußte, da ich ihre Sicherheit und ihren Wolſtand durch unzertrennliche Bande mit dem Jntereſſe von Athen verknuͤpft hatte; ich hatte, des gemeinen Schazes zu ſchonen, mein eignes Vermoͤgen zugeſezt, und durch mehr als hundert ausgeruͤſtete Galeeren, die ich von dem guten Willen der wieder beruhigten Jnſulaner er - halten, unſrer Seemacht eine anſehnliche Verſtaͤrkung gegeben; ich hatte das Anſehen der Athenienſer befeſti - get, ihre Neider abgeſchrekt, und ihrer Handlung ei - nen Ruheſtand verſchaft, deſſen Fortdauer nunmehr, wenigſtens auf lange Zeiten, von ihrem eigenen Betra - gen abhieng. Das Vergnuͤgen, welches ſich uͤber mein Gemuͤth ausbreitete, wenn ich alle dieſe Vortheile mei - ner Verrichtung uͤberdachte, war ſo lebhaft, daß ich uͤber alle andere Belohnungen, auſſer dem Beyfall und Zutrauen meiner Mitbuͤrger, weit hinaus ſah: Aber die Athenienſer waren, in dem erſten Anſtoß ihrer Er - kenntlichkeit, keine Leute, welche Maaß halten konn - ten. Jch wurde im Triumph eingehohlt, und mit al - len Arten der Ehrenbezeugungen in die Wette uͤber - haͤuft; die Bildhauer mußten ſich Tag und Nacht an meinen Statuen muͤde arbeiten; alle Tempel, alle oͤf - fentlichen Plaͤze und Hallen wurden mit Denkmaͤlern meines Ruhms ausgeziert; und diejenige, welche in der Folge mit der groͤſſeſten Heftigkeit an meinem Ver - derben arbeiteten, waren izt die eifrigſten, uͤbermaͤßi -ge349Siebentes Buch, ſechstes Capitel. ge und zuvor nie erhoͤrte Belohnungen vorzuſchlagen, welche das Volk in dem Feuer ſeiner ſchwaͤrmeriſchen Zuneigung gutherziger Weiſe bewilligte, ohne daran zu denken, daß mir dieſe Ausſchweifungen ſeiner Hochach - tung in kurzem von ihm ſelbſt zu eben ſo vielen Verbre - chen gemacht werden wuͤrden.
Da ich ſahe, daß alle meine Beſcheidenheit nicht zureichend war, dem uͤberflieſſenden Strom der popu - laren Dankbarkeit Einhalt zu thun; ſo glaubte ich am beſten zu thun, wenn ich mich eine Zeitlang von Athen entfernte, und bis die Athenienſiſche Lebhaftigkeit durch irgend eine neue Comoͤdie, einen fremden Gaukler, oder eine friſch angekommene Taͤnzerin einen andern Schwung bekommen haben wuͤrde, auf meinem Landgut zu Corinth in Geſellſchaft der Muſen und Grazien ei - ner Muſſe zu genieſſen, welche ich durch die Arbeiten eines ganzen Jahres verdient zu haben glaubte. Jch dachte wenig daran, daß ich in einer Stadt, deren Liebling ich zu ſeyn ſchien, Feinde habe, die indeſſen, daß ich mich mit aller Sorgloſigkeit der Unſchuld den Vergnuͤgungen des Landlebens, und der geſelligen Frey - heit uͤberließ, einen eben ſo boshaften als wolausgeſon - nenen Plan zu meinem Untergang anzulegen beſchaͤfti - get ſeyen.
Alles, womit ich mir bey der ſchaͤrfſten Pruͤfung meines oͤffentlichen und Privatlebens in Athen, bewußt bin, mein Ungluͤk, wo nicht verdient, doch befoͤdertzu350Agathon. zu haben, iſt Unvorſichtigkeit, oder der Mangel an einer gewiſſen Republicaniſchen Klugheit, welche nur die Erfahrung geben kan. Jch lebte nach meinem Ge - ſchmak, und nach meinem Herzen, weil ich gewiß wußte, daß beyde gut waren, ohne daran zu denken, daß man mir andre Abſichten bey meinen Handlungen andichten koͤnne, als ich wirklich hatte. Jch lebte mit einer gewiſſen Pracht, weil ich das Schoͤne liebte, und Vermoͤgen hatte; ich that jedermann gutes, weil ich meinem Herzen dadurch ein Vergnuͤgen verſchafte, wel - ches ich allen andern Freuden vorzog; ich beſchaͤftigte mich mit dem gemeinen Beſten der Republik, weil ich dazu gebohren war, weil ich eine Tuͤchtigkeit da - zu in mir fuͤhlte, und weil ich durch die Zuneigung meiner Mitbuͤrger in den Stand geſezt zu werden hof - te, meinem Vaterland und der Welt nuͤzlich zu ſeyn. Jch hatte keine andere Abſichten, und wuͤrde mir eher haben traͤumen laſſen, daß man mich beſchuldigen wer - de, nach der Crone des Koͤnigs von Perſien, als nach der Unterdruͤkung meines Vaterlands zu ſtreben. Da ich mir bewußt war niemands Haß verdient zu haben, ſo hielt ich einen jeden fuͤr meinen Freund, der ſich dafuͤr ausgab, um ſo mehr, als kaum jemand in Athen war, dem ich nicht Dienſte geleiſtet hatte. Aus eben dieſem Grunde dachte ich gleich wenig da - ran, wie ich mir einen Anhang mache, als wie ich die geheimen Anſchlaͤge von Feinden, welche mir un - ſichtbar waren, vereiteln wolle. Denn ich glaubte nicht, daß die Freymuͤthigkeit, womit ich, ohne Galleoder351Siebentes Buch, ſechstes Capitel. oder Uebermuth, meine Meynung bey jeder Gelegen - heit ſagte, eine Urſache ſeyn koͤnne, mir Feinde zu ma - chen. Mit einem Wort, ich wußte noch nicht, daß Tugend, Verdienſte und Wolthaten gerade dasjenige ſind, wodurch man gewiſſe Leute zu dem toͤdlichſten Haß erbittern kan. Eine traurige Erfahrung konnte mir allein zu dieſer Einſicht verhelfen; und es iſt bil - lig, daß ich ſie werth halte, da ſie mir nicht weniger, als mein Vaterland, die Liebe meiner Mitbuͤrger, meine ſchoͤnſten Hofnungen, und das gluͤkſelige Vermoͤ - gen, vielen Gutes zu thun, und von niemand abzu - hangen, gekoſtet hat.
Der Zeitpunct meines Lebens, auf den ich nunmehr gekommen bin, fuͤhrt allzuunangenehme Erinnerungen mit ſich, als daß ich nicht entſchuldiget ſeyn ſollte, wenn ich ſo ſchnell davon wegeile, als es die Gerechtigkeit zulaſſen wird, die ich mir ſelbſt ſchuldig bin. Es mag ſeyn, daß einige von meinen Feinden aus Beweggruͤn - den eines republicaniſchen Eifers gegen mich aufgeſtan - den ſind, und ſich durch meinen Sturz eben ſo ver - dient um ihr Vaterland zu machen geglaubt haben, als Harmodius und Ariſtogiton durch die Ermordung der Piſiſtratiden. Aber es iſt doch gewiß, daß diejenige,welche352Agathon. welche die Sache mit der groͤſſeſten Wuth betrieben, keinen andern Beweggrund hatten, als die Eiferſucht uͤber das Anſehen, welches mir die allgemeine Gunſt des Volkes gab, und welches ſie, nicht ohne Urſache, fuͤr ein Hinternis ihrer ehrgeizigen und gewinnſuͤch - tigen Abſichten hielten. Die meiſten glaubten auch, daß ſie Privatbeleidigungen zu raͤchen haͤtten. Einige naͤhrten noch den alten Groll, den ſie bey meinem erſten Auftritt in der Republik gegen mich faßten, da ich mei - nen rechtſchaffenen Freund, den Wirkungen ihrer Boßheit entriß; andere ſchmerzte es, daß ich ihnen bey der Wahl eines Befehlshabers gegen die Empoͤrten Jn - ſeln vorgezogen worden war; viele waren durch den Verluſt des Vortheils, welchen ſie von den ungerech - ten Bedruͤkungen derſelben gezogen hatten, beleidiget worden. Bey dieſen allen half mir nichts, daß ich kei - ne Abſicht gehabt hatte ſie zu beleidigen, und daß es nur zufaͤlliger Weiſe dadurch geſchehen war, daß ich ineiner Ueberzeugung und meinen Pflichten gemaͤß ge - handelt hatte. Sie beurtheilten meine Handlungen aus einem ganz andern Geſichtspuncte, und es war bey ihnen ein ausgemachter Grundſaz, daß derjenige kein ehrlicher Mann ſeyn koͤnne, der ihren Privatabſichten Schranken ſezte. Zum Ungluͤk fuͤr mich, machten dieſe Leute einen groſſen Theil von den Edelſten und Reiche - ſten in Athen aus. Hiezu kam noch, daß ich meiner immer fortdauernden Liebe zu Pſyche, die vortheilhaf - teſten Verbindungen, welche mir angeboten worden waren, aufgeopfert, und mich dadurch der Unterſtuͤ -zung353Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. zung und des Schuzes beraubet hatte, den ich mir von der Verſchwaͤgerung mit einem maͤchtigen Geſchlechte haͤtte verſprechen koͤnnen. Jch hatte nichts, was ich den Raͤnken und der vereinigten Gewalt ſo vieler Feinde entgegen ſezen konnte, als meine Unſchuld, einige Ver - dienſte, und die Zuneigung des Volks; ſchwache Bruſt - wehren, welche noch nie gegen die Angriffe des Nei - des, der Argliſt und der Gewaltthaͤtigkeit ausgehalten haben. Die Unſchuld kan verdaͤchtig gemacht, und Verdienſten ſelbſt durch ein falſches Licht das Anſehen von Verbrechen gegeben werden; und was iſt die Gunſt eines enthuſiaſtiſchen Volkes, deſſen Bewegungen immer ſeinen Ueberlegungen zuvorkommen; welches mit glei - chem Uebermaß liebet und haſſet, und wenn es einmal in eine ſiebriſche Hize geſezt iſt, gleich geneigt iſt, die - ſer oder einer entgegengeſezten Direction, je nachdem es geſtoſſen wird, zu folgen? Was konnte ich mir von der Gunſt eines Volkes verſprechen, welches den groſ - ſen Beſchuͤzer der griechiſchen Freyheit im Gefaͤngniß hatte verſchmachten laſſen? Welches den tugendhaften Ariſtides, blos darum, weil er den Beynamen des Gerechten verdiente, verbannet, und in einer von ſei - nen gewoͤhnlichen Launen ſo gar den Socrates zum Gift-Becher verurtheilt hatte, weil er der weiſeſte und tugendhafteſte Mann ſeines Jahrhunderts war. Dieſe Beyſpiele ſagten mir ſogleich bey der erſten Nachricht, die ich von dem uͤber mir ſich zuſammenziehenden Un - gewitter erhielt, zuverlaͤſſig vorher, was ich von den Athenienſern zu erwarten haͤtte; ſie machten, daß ich[Agath. I. Th.] Zihnen354Agathon. ihnen nicht mehr zutraute, als ſie leiſteten; und tru - gen nicht wenig dazu bey, mich ein Ungluͤk mit Stand - haftigkeit ertragen zu machen, in welchem ich ſo vor - trefliche Maͤnner zu Vorgaͤngern gehabt hatte.
Derjenige, den meine Feinde zu meinem Anklaͤger auserkohren hatten, war einer von dieſen wizigen Schwaͤzern, deren feiles Talent gleich fertig iſt, Recht oder Unrecht zu verfechten. Er hatte in der Schule des beruͤchtigten Gorgias gelernt, durch die Zauber - griffe der Rede-Kunſt den Verſtand ſeiner Zuhoͤ - rer zu blenden, und ſie zu bereden, daß ſie ſaͤ - hen, was ſie nicht ſahen. Er bekuͤmmerte ſich we - nig darum, dasjenige zu beweiſen, was er mit der groͤſſeſten Dreiſtigkeit behauptete; aber er wußte ihm einen ſo lebhaften Schein zu geben, und durch eine zwar willkuͤhrliche, aber deſto kuͤnſtlichere Verbindung ſeiner Saͤze die Schwaͤche eines jeden, wenn er an ſich und allein betrachtet wuͤrde, ſo geſchikt zu verbergen, daß man, ſo gar mit einer gruͤndlichen Beurtheilungs - Kraft, auf ſeiner Hut ſeyn mußte, um nicht von ihm uͤberraſcht zu werden. Der hauptſaͤchlichſte Vorwurf ſeiner Anklage ſollte, ſeinem Vorgeben nach, die ſchlim - me Verwaltung ſeyn, deren ich mich als Ober-Befehl - haber in der Angelegenheit der empoͤrten Schuz-Ver - Verwandten ſchuldig gemacht haben ſollte; denn er bewieß mit groſſem Wort-Gepraͤnge, daß ich in dieſer ganzen Expedition nichts gethan haͤtte, das der Rede werth waͤre; daß ich vielmehr, anſtatt die Empoͤrtenzu355Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. zu zuͤchtigen und zum Gehorſam zu bringen, ihren Sachwalter vorgeſtellt; ſie fuͤr ihren Aufruhr belohnt; ihnen noch mehr, als ſie ſelbſt zu fodern die Verwegen - heit gehabt, zugeſtanden; und durch dieſe unbegreif - liche Art zu verfahren, ihnen Muth und Kraͤfte gege - ben haͤtte, bey der erſten Gelegenheit ſich von Athen gaͤnzlich unabhaͤngig zu machen; er bewieß (ſage ich) alles dieſes nach den Grund-Saͤzen einer Politik, wel - che das Widerſpiel von der meinigen war, aber den Leidenſchaften der Athenienſer und eines jeden andern Volks allzuſehr ſchmeichelte, um nicht Eingang zu ſin - den. Er hatte noch die Bosheit, nicht entſcheiden zu wollen, ob ich aus Unverſtand oder gefliſſentlich ſo ge - handelt habe; doch erhub er auf der einen Seite meine Faͤhigkeiten ſo ſehr, und legte ſo viel Wahrſcheinlich - keiten in die andere Waag-Schaale, daß ſich der Aus - ſchlag von ſelbſt geben mußte. Dieſes fuͤhrte ihn zu dem zweyten Theil ſeiner Anklage, welcher in der That (ob er es gleich nicht geſtehen wollte) das Hauptwerk davon ausmachte. Und hier wurden Beſchuldigungen auf Beſchuldigungen gehaͤuft, um mich dem Volk als einen Ehrſuͤchtigen abzumahlen, der ſich einen Plan gemacht habe, ſein Vaterland zu unterdruͤken, und unter dem Schein der Großmuth, der Freygebigkeit und der Popularitaͤt, ſich zum unumſchraͤnkten Herrn deſſelben aufzuwerfen. Eine jede meiner Tugenden war die Maske eines Laſters, welches im Verborgenen am Unter - gang der Freyheit und Gluͤkſeligkeit der Athenienſer arbei - tete. Jn der That hatte die Beredſamkeit meines AnklaͤgersZ 2hier356Agathon. hier ein ſchoͤnes Feld, ſich zu ihrem Vortheil zu zeigen, und ſeinen Zuhoͤrern das republicaniſche Vergnuͤgen zu ma - chen, eine Tugend, welche mir zu groſſe Vorzuͤge vor meinen Mitbuͤrgern zu geben ſchien, heruntergeſezt zu ſehen. Jndeſſen, ob er gleich keinen Theil meines Privat-Lebens (ſo untadelhaft es ehemals meinen Goͤn - nern geſchienen hatte) unbeſchmizt ließ; ſo mochte er doch beſorgen, daß die Kunſtgriffe, deren er ſich dazu bedienen mußte, zu ſtark in die Augen fallen moͤchten. Er raffte alſo alles zuſammen, was nur immer faͤhig ſeyn konnte, mich in ein verhaßtes Licht zu ſtellen; und da es ihm an Verbrechen, die er mir mit einiger Wahrſcheinlichkeit haͤtte aufbuͤrden koͤnnen, mangelte, ſo legte er mir fremde Thorheiten, und ſelbſt die aus - ſchweiffenden Ehren-Bezeugungen zur Laſt, welche mir in der Fluth meines Gluͤkes und meiner Gunſt bey dem Volk aufgedrungen worden waren. Jch mußte izt ſo gar fuͤr die elenden Verſe Rechenſchaft geben, wo - mit einige Dichter, denen ich aus einem vielleicht zu weit getriebenen Mitleiden erlaubte, mir taͤglich um die Eſſens-Zeit ihren Beſuch abzuſtatten, mir die Dank - barkeit ihres Magens, auf Unkoſten ihres Ruhms und des meinigen, zu beweiſen geſucht hatten. Man be - ſchuldigte mich in ganzem Ernſt, daß ich uͤbermuͤthig und gottloß genug geweſen ſey, mich fuͤr einen Sohn des delphiſchen Apollo auszugeben; und mein Anklaͤ - ger ließ dieſe Gelegenheit nicht entgehen, uͤber meine wahre Geburt Zweifel zu erregen, und, unter vielen ſcherzhaften Wendungen, die Meynung derjenigen wahr -ſcheinlich357Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. ſcheinlich zu finden, welche (wie er ſagte) benachrich - tigt zu ſeyn glaubten, daß ich mein Daſeyn den ver - ſtohlenen Liebes-Haͤndeln irgend eines delphiſchen Prie - ſters zu danken haͤtte. Jn dieſer ganzen Rede erſezte ein von Bosheit beſeelter Wiz den Abgang gruͤndlicher Beweiſe; aber die Athenienſer waren ſchon lange ge - wohnt, ſich Wiz fuͤr Wahrheit verkauffen zu laſſen, und ſich einzubilden, daß ſie uͤberzeugt wuͤrden, wenn ihr Geſchmak beluſtigt und ihre Ohren gekizelt wurden. Sie machte alſo allen den Eindruk, und vielleicht noch mehr, als meine Feinde ſich davon verſprochen hatten. Die Eiferſucht, welche ſie in den Gemuͤthern anbließ, verwandelte die uͤbermaͤſſige Zuneigung, de - ren Gegenſtand ich zwey Jahre lang geweſen war, in einer Zeit von zwo Stunden in den bitterſten Haß. Die Athenienſer erſchraken vor dem Abgrund, an deſſen Rand ſie ſich, durch ihre Verblendung fuͤr mich, un - vermerkt hingezogen ſahen. — Sie erſtaunten, daß ſie meine Unfaͤhigkeit zur Staats-Verwaltung, meine Begierde nach einer unumſchraͤnkten Gewalt, meine weit ausſehenden Abſichten, und mein heimliches Verſtaͤndniß mit ihren Feinden nicht eher wahrgenom - men haͤtten; und da es nicht natuͤrlich geweſen waͤre, die Schuld davon auf ſich ſelbſt zu nehmen, ſo ſchrie - ben ſie es lieber einer Bezauberung zu, wodurch ich ihre Augen eine Zeitlang zu verſchlieſſen gewußt haͤtte. Ein jeder glaubte nun, durch die verderblichen An - ſchlaͤge, welche ich gegen die Republik gefaßt habe, von der Dankbarkeit vollkommen losgezaͤhlt zu ſeyn,Z 3die358Agathon. die er mir fuͤr Dienſte oder Wolthaten ſchuldig ſeyn mochte; welche nun als die Lokſpeiſe angeſehen wurden, womit ich die Freyheit, und mit ihr das Eigenthum meiner Mitbuͤrger, wegzuangeln getrachtet. Kurz: Eben dieſes Volk, welches vor wenigen Monaten mehr als menſchliche Vollkommenheiten an mir bewunderte, war izt unbillig genug, mir nicht das geringſte Ver - dienſt uͤbrig zu laſſen; und eben diejenigen, welche auf den erſten Wink bereit geweſen waͤren, mir die Ober - herrſchaft in einem allgemeinen Zuſammenlauf aufzu - dringen, waren izt begierig, mich einen Anſchlag, den ich nie gefaßt, gegen eine Freyheit, deren ſie ſich in dieſem Augenblike ſelbſt begaben, mit meinem Blute buͤſſen zu ſehen. Mein Urtheil war zu eben der Zeit, da mir die gewoͤhnliche Friſt zur Verantwortung ge - geben wurde, durch die Mehrheit der Stimmen ſchon gefaͤllt; und das Vergnuͤgen, womit ich von einer un - zaͤhlbaren Menge Volks ins Gefaͤngniß begleitet wurde, wuͤrde vollkommen geweſen ſeyn, wenn die Geſeze ge - ſtattet haͤtten, mich, anſtatt dahin, ohne weitere Pro - ceß-Foͤrmlichkeiten, zum Richt-Plaz zu fuͤhren.
So gluͤklich meiuen Feinden ihr Anſchlag von ſtat - ten gegangen war, ſo glaubten ſie doch, ſich meines Untergangs noch nicht genugſam verſichert zu haben; ſie fuͤrchteten die Unbeſtaͤndigkeit eines Volks, von welchem ſie allzuwol wußten, wie leicht es in entgegen - geſezte Bewegungen zu ſezen war. Es blieb moͤglich, daß ich mit einer bloſſen Verbannung auf einige Jahredurch -359Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. durchwiſchen konnte; und dieſe ließ eine Veraͤnderung der Scene beſorgen, bey welcher weder ihr Haß ge - gen mich, noch ihre Sicherheit, ihre Rechnung fan - den. Man mußte alſo noch eine andere Mine ſpringen laſſen, durch die mir, wenn ich einmal aus Athen vertrieben waͤre, alle Hoffnung, jemals wieder zuruͤk - zukommen, abgeſchnitten wuͤrde. Man mußte bewei - ſen, daß ich kein Buͤrger von Athen ſey; daß meine Mutter keine Buͤrgerin, und Stratonicus nicht mein Vater geweſen; daß er mich, in Ermanglung eines Erben von ſeinem eigenen Blute, aus Haß gegen den - jenigen, der es, den Geſezen nach, geweſen waͤre, angenommen und unterſchoben habe; und daß alſo die Geſeze mir kein Recht an ſeine Erbſchaft zugeſtuͤhnden. Da es zu Athen an Leuten niemal fehlt, welche gegen eine proportionierte Belohnung alles geſehen und gehoͤrt haben, was man will; und da alle diejenigen geſtor - ben waren, welche der Wahrheit das beſte Zeugniß haͤtten geben koͤnnen: ſo war es meinen Gegnern ein Leich - tes, alles dieſes eben ſo gut zu beweiſen, als ſie meine Staats-Verbrechen bewieſen hatten. Es wurde alſo eine neue Klage angeſtellt. Derjenige, der ſich zum Klaͤger wider mich aufwarf, war ein Neffe von mei - nem Vater, durch nichts als durch die luͤderlichſte Le - bens-Art bekannt, wodurch er ſein Erb-Gut ſchon vor einigen Jahren verpraſſet hatte. Seine Unverbeſſerlich - keit hatte ihu endlich der Freundſchaft meines Vaters, ſo wie der Achtung aller rechtſchaffenen Leute, beraubt; und dieſes Umſtands bediente er ſich nun, mich umZ 4eine360Agathon. eine Erbſchaft zu bringen, die er, als der naͤchſte Erbe, eh mich Stratonicus fuͤr ſeinen Sohn erklaͤrte, in ſeinen Gedanken ſchon verſchlungen hatte. Die Ge - ſchiklichkeit des Redners, deſſen Dienſte er zu Aus - fuͤhrung ſeines Bubenſtuͤks erkaufte, der maͤchtige Bey - ſtand meiner Feinde, die Umſtaͤnde ſelbſt, in denen er mich unvermuthet uͤberſiel, und vornemlich die Ge - faͤlligkeit ſeiner Zeugen, alle die Unwahrheiten zu be - ſchwoͤhren, welche er zu ſeiner Abſicht noͤthig hatte: Alles dieſes zuſammen genommen, verſicherte ihn des gluͤklichen Ausgangs ſeiner Verraͤtherey; und die Reichtuͤmer, die ihm dadurch zufielen, waren in den Augen eines gefuͤhlloſen, Elenden, wie er war, wich - tig genug, um mit Verbrechen, die ihn ſo wenig ko - ſteten, erkauft zu werden.
Dieſer lezte Streich, der vollſtaͤndigſte Beweis, auf was fuͤr einen Grad die Wuth meiner Feinde ge - ſtiegen war, und wie gewiß ſie ſich des Erfolgs hiel - ten, ließ mir keine Hofnung uͤbrig, die ihrige zu Schanden zu machen. Denn alle meine vermeynten Freunde, bis auf wenige, deren guter Wille ohne Ver - moͤgen war, hatten, ſo bald ſie mich vom Gluͤk ver - laſſen ſahen, mich auch verlaſſen; andere, welche zwar von dem Unrecht, das mir angethan wurde, uͤberzeugt waren, hatten den Muth nicht, ſich fuͤr eine Sache, welche ſie nicht unmittelbar angieng, in Gefahr zu ſe - zen; und der einzige, deſſen Character, Anſehen und Freundſchaft mir vielleicht haͤtte zu ſtatten kommenkoͤnnen,361Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. koͤnnen, befand ſich ſeit einiger Zeit am Hofe des jungen Dionyſius zu Syracus. Jch geſtehe, daß ich, ſo lange die erſten Bewegungen dauerten, mein Un - gluͤk in ſeinem ganzen Umfang fuͤhlte. Fuͤr ein redli - ches, und dabey noch wenig erfahrnes Gemuͤth iſt es entſezlich zu empfinden, daß man ſich in ſeiner guten Meynung von den Menſchen betrogen habe, und ſich zu der abſcheulichen Wahl genoͤthiget zu ſehen, entwe - der in einer beſtaͤndigen Unſicherheit vor der Schwach - heit der einen, und vor der Boßheit der andern zu leben, oder ſich gaͤnzlich aus ihrer Geſellſchaft zu ver - bannen. Aber die Kleinmuͤthigkeit, welche eine Folge meiner erſten melancholiſchen Betrachtungen war, dauerte nicht lange. Die Erfahrungen, die ich ſeit meiner Verſezung auf den Schauplaz einer groͤſſern Welt, in ſo kurzer Zeit gemacht hatte, wekten die Erinnerungen meiner gluͤklichen Jugend in Delphi mit einer Lebhaftigkeit wieder auf, worinn ſie ſich mir un - ter dem Getuͤmmel des Staͤdtiſchen und politiſchen Le - bens niemals dargeſtellt hatten. Die Bewegung mei - nes Gemuͤths, die Wehmuth, wovon es durchdrungen war, die Gewißheit, daß ich in wenigen Tagen von allen den Gunſtbezeugungen, womit mich das Gluͤk ſo ſchnell, und mit ſolchem Uebermaß uͤberſchuͤttet hatte, nichts, als die Erinnerung, die uns von einem Traum uͤbrig bleibt, und von allem, was ich mein genannt hatte, nichts als das Bewußtſeyn meiner Redlichkeit, aus Athen mit mir nehmen wuͤrde; ſezten mich auf einmal wieder in dieſen gluͤkſeligen Enthuſiasmus,Z 5worinn362Agathon. worinn wir faͤhig ſind, dem Aeuſſerſten, was die ver - einigte Gewalt des Gluͤks und der menſchlichen Boß - heit gegen uns vermag, ein ſtandhaftes Herz und ein heiters Geſicht entgegen zu ſtellen. Der unmittelbare Troſt, den meine Grundſaͤze uͤber mein Gemuͤth ergoſ - ſen, die Waͤrme und neubeſeelte Staͤrke die ſie meiner Seele gaben, uͤberzeugten mich von neuem von ihrer Wahrheit. Jch verwieß es der Tugend nicht, daß ſie mir den Haß und die Verfolgungen der Boͤſen zu - gezogen hatte; ich fuͤhlte, daß ſie ſich ſelbſt belohnt. Das Ungluͤk ſchien mich nur deſto ſtaͤrker mit ihr zu verbinden; ſo wie uns eine geliebte Perſon deſto theu - rer wird, je mehr wir um ihrentwillen leiden. Die Betrachtungen, auf welche mich dieſe Geſinnungen leite - ten, lehrten mich, wie geringhaltig auf der Waage der Weisheit, alle dieſe ſchimmernden Guͤter ſind, welche ich im Begriff war, dem Gluͤk wieder zuruͤkzugeben, und wie wichtig diejenige ſeyen, welche mir keine republi - caniſche Cabale, kein Decret des Volks zu Athen, kei - ne Macht in der Welt nehmen konnte. Jch verglich meinen Zuſtand in der hoͤchſten Fluth meines Gluͤkes zu Athen mit der ſeligen Ruhe des contemplativen Lebens, worinn ich in einer gluͤklichen Unwiſſenheit des glaͤn - zenden Elends und der wahren Beſchwehrden einer be - neideten Groͤſſe, meine ſchuldloſe Jugend hinwegge - lebt; worinn ich meines Daſeyns, und der innern Reichthuͤmer meines Geiſtes, meiner Gedanken, mei - ner Empfindungen, der eigenthuͤmlichen und von aller aͤuſſerlichen Gewalt unabhaͤngigen Wirkſamkeit meinerSeele363Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. Seele froh geworden war, ‒ ‒ und glaubte bey dieſer Vergleichung, alles gewonnen zu haben, wenn ich mich, mit freywilliger Hingabe der Vortheile, die mir in - deſſen zugefallen waren, wieder in einen Zuſtand zu - ruͤkkaufen koͤnnte, den mir meine Einbildungskraft mit ihren ſchoͤnſten Farben, und in dieſem uͤberirdiſchen Lichte, worinn er dem Zuſtande der himmliſchen We - ſen aͤhnlich ſchien, vormahlte. Der Gedanke, daß dieſe Seligkeit nicht an die Hayne von Delphi gebun - den ſey, daß die Quellen davon in mir ſelbſt laͤgen, und daß eben dieſe vermeyntlichen Guͤter, welche mir mitten in ihrem Genuß ſo viel Unruhe zugezogen, und mich in einem immerwaͤhrenden Wirbel von mir ſelbſt hinweggeriſſen hatten, die einzigen Hinterniſſe meines wahren Gluͤks geweſen ſeyen. ‒ ‒ Dieſer Gedanke ſezte mich in eine Entzuͤkung, die mich, zum Erſtaunen meiner wenigen noch uͤbriggebliebenen Freunde, gegen alle Bitterkeiten meines widrigen Schikſals unempfind - lich machte; und dieſes gieng zulezt ſo weit, daß ich nach dem Tage meiner Verurtheilung ganz ungeduldig wurde.
Allein eben dieſe Denkart, welche mir ſo viel Gleichguͤltigkeit gegen den Verluſt meines Anſehens und Vermoͤgens gab, machte, daß ich das Betragen der Athenienſer in einem moraliſchen Geſichtspunct anſah, aus welchem es mir Abſcheu und Ekel erwekte. Mei - ne Feinde ſchienen mir durch die Leidenſchaften, von denen ſie getrieben wurden, einigermaſſen entſchuldigetzu364Agathon. zu ſeyn: Aber das Volk, welches bey meinem Um - ſturz nichts gewann, welches ſo viele Urſachen hatte, mich zu lieben, welches mich wirklich ſo ſehr geliebt hatte, und izt durch eine bloſſe Folge ſeiner Unbeſtaͤn - digkeit und Schwachheit, ohne ſelbſt recht zu wiſſen, warum, ſich dummer Weiſe zum Werkzeug fremder Leidenſchaften und Abſichten machen ließ; dieſes Volk wurde mir ſo veraͤchtlich, daß ich kein Vergnuͤgen mehr an den Gedanken fand, ihm Gutes gethan zu haben. Dieſe Athenienſer, die auf ihre Vorzuͤge vor allen andern Nationen der Welt ſo eitel waren, ſtell - ten ſich meiner beleidigten Eigenliebe, als ein abſchaͤ - ziger Haufen bloͤder Thoren dar, die ſich von einer kleinen Rotte verſchmizter Spizbuben bereden lieſſen, weiß fuͤr ſchwarz anzuſehen; die bey aller Feinheit ih - res Geſchmaks, wenn es darauf ankam, uͤber die Verſification eines Trinklieds, oder die Fuͤſſe einer Taͤn - zerin zu urtheilen, weder Kenntnis noch Empfindung von Tugend und wahrem Verdienſt hatten; die bey der heftigſten Eiferſucht uͤber ihre Freyheit, niemals groͤſſere Sclaven waren, als wenn ſie ihr ſchimaͤriſches Palladium am tapferſten behauptet haben; die ſich jederzeit der Fuͤhrung ihrer uͤbelgeſinnteſten Schmeich - ler mit dem blindeſten Vertrauen uͤberlaſſen, und nur in ihre tugendhafteſten Mitbuͤrger, in ihre zuverlaͤßig - ſten Freunde, das groͤſſeſte Mißtrauen geſezt hatten. Sie verdienen es, ſagte ich zu mir ſelbſt, daß ſie be - trogen werden; aber dieſen Triumph ſollen ſie nicht haben, zu erleben, daß Agathon ſich vor ihnen de -muͤthige.365Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. muͤthige. Sie ſollen fuͤhlen, was fuͤr ein Unterſchied zwiſchen ihm und ihnen iſt; ſie ſollen fuͤhlen, daß er nur deſto groͤſſer iſt, wenn ſie ihm alle dieſe kindiſchen Zierathen von Flittergold, womit ſie ihn, wie Kin - der, eine auf kurze Zeit geliebte Puppe, umhaͤngt ha - ben wieder abnehmen; und eine zu ſpaͤte Reue ſoll ſie vielleicht in kurzem lehren, daß Agathon ihrer leich - ter, als ſie des Agathons entbehren koͤnnen. Du ſieheſt, ſchoͤne Danae, daß ich mich nicht ſcheue, dir auch meine Schwachheiten zu geſtehen. Dieſer Stolz, der zu einer deſto rieſenmaͤßigern Geſtalt aufſchwoll, je mehr mich die Athenienſer zu Boden druͤken woll - ten, hatte ohne Zweifel einen guten Theil von eben der Eitelkeit in ſich, welche ich ihnen zum Verbrechen machte; aber vielleicht gehoͤrt er auch unter die Trieb - federn, womit die Natur edle Gemuͤther verſehen hat, um dem Druk widerwaͤrtiger Zufaͤlle mit gleich ſtarker Reaction zu widerſtehen, und ſich dadurch in ihrer ei - genen Geſtalt und Groͤſſe zu erhalten. Die Athenien - ſer ruͤhmten ehmals meine Beſcheidenheit und Maͤßi - gung zu einer Zeit, da ſie alles thaten, was mich dieſe Tugenden verliehren machen konnte; dieſe Beſcheiden - heit hatte mit dem Stolz, der ihnen izt ſo anſtoͤßig an mir war, daß er vielleicht mehr, als alle Bemuͤ - hungen meiner Feinde zu meinem Fall beytrug, einer - ley Quelle; ich war mir eben ſo wol bewußt, daß ich ihre Mißhandlungen nicht verdiente, wie ich ehmals fuͤhlte, daß die Achtung uͤbertrieben war, die ſie mir bewieſen; deſto beſcheidener, je mehr ſie mich erhuben;deſto366Agathon. deſto ſtolzer und troziger, je mehr ſie mich herunter ſezen wollten.
Meine Freunde hatten ſich inzwiſchen in der Stille ſo eifrig zu meinem Beſten verwendet, daß ſie mir Hofnung machten, alles koͤnne noch gut gehen, wenn ich mich entſchlieſſen koͤnne, meine Apologie nach dem Geſchmak, und der Erwartung des Volks einzurichten. Jch ſollte mich zwar von Punkt zu Punkt ſo vollſtaͤn - dig rechtfertigen, als es immer moͤglich waͤre; aber am Ende ſollte ich mich doch den Athenienſern auf Gnade oder Ungnade zu Fuͤſſen werfen; meinen Feinden duͤrfte ich nach aller Schaͤrfe des Selbſtver - theidigungs - und Wiedervergeltungsrechts begegnen; aber den Athenienſern ſollte ich ſchmeicheln, und an - ſtatt ihre Eigenliebe durch den mindeſten Vorwurf zu beleidigen, ſollte ich bloß ihr Mitleiden zu erregen ſu - chen. Es iſt zu vermuthen, daß der Erfolg dieſen Rath meiner Freunde, der ſich auf die Kenntnis des Characters eines freyen Volks gruͤndete, gerechtfertiget haͤtte: Wenigſtens iſt gewiß, daß die erſte Bewegun - gen dieſer Unbeſtaͤndigen bereits angefangen hatten, dem Mittleiden und den Regungen ihrer vormaligen Liebe zu weichen. Jch laſe es, da ich das Geruͤſte beſtieg, von welchem ich zu dem Volk redete, in vieler Augen, wie ſie nur darauf warteten, daß ich ihnen einen Weg zeigen moͤchte, mit guter Art, und ohne etwas von ihrer democratiſchen Majeſtaͤt zu vergeben, wieder zuruͤk zu kommen. Aber ſie fanden ſich in ih -rer367Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. rer Erwartung ſehr betrogen. Die Verachtung, wo - mit mein Gemuͤth beym Anblik dieſes Volkes erfuͤllt wurde, welches mich vor wenigen Tagen mit ſo aus - ſchweifender Freude ins Gefaͤngnis begleitet hatte, und das Gefuͤhl meines eigenen Werthes, waren beyde zu lebhaft; die Begierde, ihnen gutes zu thun, welche die Seele aller meiner Handlungen und Entwuͤrfe ge - weſen war, hatte aufgehoͤrt; ich wuͤrdigte ſie nicht, eine Apologie zu machen, die ich fuͤr eine Beſchimpfung meines Characters und Lebens gehalten haͤtte; aber ich wollte ihnen zum leztenmal die Wahrheit ſagen: Ehmals, wenn es darum zu thun geweſen war, ſie von ihren eignen wahren Vortheilen zu uͤberzeugen, hatte ich aller meiner Beredſamkeit aufgebotten; aber izo, da die Rede bloß von mir ſelbſt war, verſchmaͤhte ich den Beyſtand einer Kunſt, worinn der Ruf mir einige Geſchiklichkeit zuſchrieb. Jn dieſem Stuͤke blieb ich meinem gefaßten Vorſaz getreu; aber nicht der Kuͤrze und Gelaſſenheit, die ich mir vorgeſchrieben hatte; der Affect, in den ich unvermerkt gerieth, machte mich weitlaͤufig und etlichemal bitter.
Meine Rede enthielt eine zuſammengezogene Erzaͤh - iung meines ganzen Lebenslaufs in Athen; der Grund - ſaͤze, welchen ich in der Republik gefolgt war; und meiner Gedanken von dem wahren Jntereſſe der Athe - nienſer. Jch gieng bey dieſer Gelegenheit ein wenig ſtrenge mit ihren Urtheilen und Lieblingsprojecten um; und ſagte ihnen, daß ich in der Sache der Schuzver -wandten368Agathon. wandten eine Probe gegeben haͤtte, nach was fuͤr Maxi - men ich jederzeit in Verwaltung des Staats gehandelt haben wuͤrde; und da dieſe Maximen ſo weit von ih - rer Gemuͤthsbeſchaffenheit und Denkart entfernt waͤren: So wuͤrden ſie ſehr weislich handeln, einen Menſchen aus ihrem Mittel zu verbannen, welcher nicht geſon - nen ſey, der Wahrheit und den Pflichten eines allge - meinen Freunds der Menſchen zu entſagen, um ein guter Buͤrger von Athen zu ſeyn.
Der Schluß meiner Rede liegt mir noch ſo lebhaft im Gedaͤchtniß, daß ich ihn, zu einer Probe des Gan - zen, wiederholen will. Die Goͤtter, (ſagte ich) ha - ben mich zu einer Zeit, da ich es am wenigſten hoffte, meinen Vater ſinden laſſen: Sein Anſehen und ſeine Reichthuͤmer gaben mir viel weniger Freude, als die Entdekung, daß ich mein Leben einem rechtſchaffenen Mann zu danken hatte. Athen wurde durch ihn mein Vaterland. Jch ſah es als den Plaz an, den mir die Goͤtter angewieſen, um das Beſte der Menſchen zu befoͤdern. Das Jntereſſe dieſer einzelnen Stadt, war in meinen Augen ein zu kleiner Gegenſtand, um dem allgemeinen Beſten der Menſchheit vorgeſezt zu werden; aber ich ſah beydes ſo genau mit einander verknuͤpft, daß ich nur alsdenn gewiß ſeyn konnte, je - nes wirklich zu erhalten, wenn ich dieſes befoͤderte. Nach dieſen Grundſaͤzen habe ich in meinem oͤffentli - chen Leben gehandelt, und dieſe Handlungen, deren ſich ſelbſt belohnendes Bewußtſeyn mir in eine beſſereWelt,369Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. Welt, den unvergaͤnglichen Wohnplaz der tugendhaften Seelen, folgen wird; dieſe Handlungen haben mir euern Unwillen zugezogen. Die Athenienſer wollen auf Unkoſten des menſchlichen Geſchlechts groß ſeyn; und das werden ſie ſo lange ſeyn wollen, bis ſie in Ketten, welche ſie ſich felbſt ſchmieden, und deren ſie wuͤrdig ſind, ſobald ſie uͤber Sclaven gebieten wollen, allen ihren Ehrgeiz auf den ruͤhmlichen Vorzug einſchraͤnken werden, die beſten Sprachlehrer, und die gelenkigſten Pantomimen in der Welt zu ſeyn. Aber Agathon iſt nicht dazu gemacht, euern Lauf auf dieſem Wege, den die Gefaͤlligkeit eurer Redner mit Blumen beſtreut, beſchleunigen zu helfen. Mein Privatleben hat euch bewieſen, daß die Grundſaͤze, nach welchen ich eure oͤffentlichen Handlungen zu leiten gewuͤnſcht haͤtte, die Maßregeln meines eigenen Verhaltens ſind. Mein Vermoͤgen hat mehr zum Gebrauch eines jeden unter euch, als zu meinem eigenen gedienet. Jch habe mir Undankbare verbindlich gemacht, und dieſe Erfahrung lehrt mich, Guͤter mit Gleichguͤltigkeit zuruͤkzulaſſen, welche ich uͤbel anwendete, da ich ſie am beſten anzu - wenden glaubte. Dieſes, ihr Athenienſer, iſt alles, was ich zu meiner Vertheidigung zu ſagen habe. Jhr ſeyd nun, weil euch die Menge eurer Arme zu mei - nen Herren macht, Meiſter uͤber meine Umſtaͤnde, und wenn ihr wollt, uͤber mein Leben. Verlangt ihr mei - nen Tod, ſo meldet mir nur, was ich in euerm Na - men, dem weiſen und guten Socrates ſagen ſoll, zu dem ihr mich ſchiken werdet. Begnuͤgt ihr euch aber, mich[Agath. I. Th.] A aaus370Agathon. aus euern Augen zu verbannen, ſo werde ich mit dem lezten Blike nach einem einſt geliebten Vaterland, eine Thraͤne auf das Grab eurer Gluͤkſeligkeit fallen laſſen; und, indem ich aufhoͤre ein Athenienſer zu ſeyn, in der Welt, die mir offen ſteht, in einem jeden Win - kel, wo es der Tugend erlaubt iſt, ſich zu verbergen, ein beſſeres Vaterland finden.
Es iſt leicht zu vermuthen, ſchoͤne Danae, daß eine Apologie aus dieſem Ton nicht geſchikt war, mir ein guͤnſtiges Urtheil auszuwirken. Die Erbitterung, die dadurch in den Gemuͤthern der meiſten erregt wur - de, welche das angenehme Schauſpiel, mich vor ih - nen gedemuͤthiget zu ſehen, zu genieſſen erwartet hat - ten, war auf ihren Geſichtern ausgedruͤkt. Dem un - geachtet ſah ich niemal eine groͤſſere Stille unter dem Volk, als da ich aufgehoͤrt hatte zu reden. Sie fuͤhl - ten, wie es ſchien, wider ihren Willen, daß die Tu - gend auch ihren Haͤſſern Ehrfurcht einpraͤget; aber eben dadurch wurde ſie ihnen nur deſto verhaßter, je ſtaͤrker ſie den Vorzug fuͤhlten, den ſie dem beklagten, verlaſſenen und von allen Auszierungen des Gluͤks ent - bloͤßten Agathon uͤber die Herren ſeines Schikſals gab. Jch weiß ſelbſt nicht, wie es zugieng, daß mir mein guter Genius aus dieſer Gefahr heraushalf: Aber, wie die Stimmen geſammelt wurden, ſo fand ſich, daß die Richter, gegen die Hofnung meiner Anklaͤger ſich begnuͤgten, mich auf ewig aus Griechenland zu verbannen, die Haͤlfte meiner Guͤter zum gemeinenWeſen371Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. Weſen zu ziehen, und die andre Haͤlfte meinen Ver - wandten zuzuſprechen. Die Gleichguͤltigkeit, womit ich mich dieſem Urtheil unterwarf, wurde in dieſem fatalen Augenblik, der alle meine Handlungen in ein falſches Licht ſezte, fuͤr einen Troz aufgenommen, wel - cher mich alles Mitleidens unwuͤrdig machre; doch er - laubte man meinen Freunden, ſich um mich zu ver - ſammeln, mir ihre Dienſte anzubieten, und mich aus Athen zu begleiten: welches ich, ungeachtet mir eine laͤngere Friſt gegeben worden war, noch in eben der Stunde, mit ſo leichtem Herzen verließ, als wie ein Gefangener den Kerker verlaͤßt, aus dem er unverhoft in Freyheit geſezt wird. Die Thraͤnen der wenigen, welche mein Fall nicht von mir verſcheucht hatte, und meiner guten Hausgenoſſen, waren das einzige, was bey einem Abſchiede, den wir auf ewig von einander nahmen, mein Herz erweichte; und ihre guten Wuͤn - ſche alles, was ich von den Wirkungen ihrer mitleidi - gen und dankbaren Sorgfalt annahm.
Jch befand mich nun wieder ungefehr in eben den Umſtaͤnden, worinn ich vor einigen Jahren unter dem Cypreſſenbaum im Vorhofe meines noch unbekannten Vaters zu Corinth gelegen war. Die groſſen Veraͤn - derungen, die manchfaltigen Scenen von Reichthum, Anſehen, Gewalt und aͤuſſerlichem Schimmer, durch welche mich das Gluͤk in dieſer kurzen Zwiſchenzeit herumgedreht hatte, waren nun wie ein Traum voruͤ - ber; aber die weſentlichen Vortheile, die von allenA a 2dieſen372Agathon. dieſen Begegniſſen in meinem Geiſt und Herzen zuruͤk - geblieben waren, uͤberzeugten mich, daß ich nicht ge - traͤumt hatte. Jch fand mich um eine Menge nuͤzli - cher und angenehmer Kenntniſſe, um die Entwiklung meiner Faͤhigkeiten, um das Bewußtſeyn vieler guten Handlungen, und um eine Reihe wichtiger Erfahrun - gen, reicher als zuvor. Jch hatte den Geiſt der Re - publiken, den Character des Volks, und die Eigen - ſchaften und Wirkungen vieler mir vorher unbekann - ten Leidenſchaften kennen gelernt, und Gelegenheiten genug gehabt, vieler irrigen Einbildungen loß zuwer - den, welche man ſich von der Welt zu machen pflegt, wenn man ſie nur von Ferne, und ohne ſelbſt in ih - re Geſchaͤfte eingeflochten zu ſeyn, betrachtet. Zu Del - phi hatte man mich (zum Exempel) gelehrt, daß ſich das ganze Gebaͤude der Republicaniſchen Verfaſſung auf die Tugend gruͤnde; die Athenienſer lehrten mich hingegen, daß die Tugend an ſich ſelbſt nirgends we - niger geſchaͤzt wird, als in einer Republik; den Fall ausgenommen, da man ihrer vonnoͤthen hat; und in dieſem Fall wird ſie unter einem jeden Tyrannen eben ſo hoch geſchaͤzt, und oft beſſer belohnt. Ueberhaupt hatte mein Aufenthalt in Athen, die erhabene Theorie von der Vortreflichkeit und Wuͤrde der menſchlichen Natur, wovon ich eingenommen war, ſehr ſchlecht be - ſtaͤtiget; aber ich fand mich nichts deſto geneigter von ihr zuruͤkzukommen. Jch legte alle Schuld auf die Contagion allzugroſſer Geſellſchaften, auf die Maͤngel der Geſezgebung, auf das Privatintereſſe, welches beyallen373Siebentes Buch, ſiebentes Capitel. allen policierten Voͤlkern, durch ein unbegreifliches Ver - ſehen ihrer Geſezgeber, in einem beſtaͤndigen Streit mit dem gemeinen Beſten liegt. Kurz, ich dachte darum nicht ſchlimmer von der Menſchheit, weil ſich die Athenienſer unbeſtaͤndig, ungerecht und undankbar gegen mich bewieſen hatten; aber ich faßte einen deſto ſtaͤrkern Widerwillen gegen eine jede andere Geſell - ſchaft, als eine ſolche, welche ſich auf uͤbereinſtimmende Grundſaͤze, Tugend und Beſtrebung nach moraliſcher Vollkommenheit gruͤndete. Der Verluſt meiner Guͤter, und die Verbannung aus Athen ſchien mir die wolthaͤ - tige Veranſtaltung einer fuͤr mich beſorgten Gottheit zu ſeyn, welche mich dadurch meiner wahren Beſtim - mung habe wiedergeben wollen. Es iſt ſehr vermuth - lich, daß ich durch Anwendung gehoͤriger Mittel, durch das Anſehen meiner auswaͤrtigen Freunde, und ſelbſt durch die Unterſtuͤzung der Feinde der Athenien - ſer, welche mir gleich anfangs meines Proceſſes, heimlich angeboten worden war, vielleicht in kurzem wieder Wege gefunden haben koͤnnte, meine Gegner in dem Genuß der Fruͤchte ihrer Boßheit zu ſtoͤren, und im Triumphe wieder nach Athen zuruͤk zu kehren. Allein ſolche Anſchlaͤge, und ſolche Mittel ſchikten ſich nur fuͤr einen Ehrgeizigen, welcher regieren will, um ſeine Leidenſchaften zu befriedigen. Mir fiel es nicht ein, die Athenienſer zwingen zu wollen, daß ſie ſich von mir gutes thun laſſen ſollten. Jch glaubte durch einen Verſuch, der mir durch ihre eigene Schuld miß - lungen war, meiner Pflicht gegen die buͤrgerliche Ge -A a 3ſellſchaft374Agathon. ſellſchaft ein Genuͤge gethan zu haben, und nun voll - kommen berechtiget zu ſeyn, die natuͤrliche Freyheit, welche mir meine Verbannung wieder gab, zum Vor - theil meiner eigenen Gluͤkſeligkeit anzuwenden. Jch beſchloß alſo den Vorſaz, welchen ich zu Delphi ſchon gefaßt hatte, nunmehr ins Werk zu ſezen, und die Quellen der morgenlaͤndiſchen Weisheit, die Magier, und die Gymnoſophiſten in Jndien zu beſuchen, in deren geheiligten Einoͤden ich die wahren Gottheiten meiner Seele, die Weisheit und die Tugend, von de - nen, wie ich glaubte, nur unweſentliche Phantomen unter den uͤbrigen Menſchen herumſchwaͤrmten, zu fin - den hoffte.
Aber eh ich auf die Zufaͤlle komme, durch welche ich an der Ausfuͤhrung dieſes Vorhabens gehintert, und in Geſtalt eines Sclaven nach Smyrna gebracht wurde; muß ich mich meiner jungen Freundin wieder erinnern, die wir ſeit meiner Verſezung nach Athen aus dem Geſichte verlohren haben.
Die Veraͤnderung, welche mit mir vorgieng, da ich aus den Haynen von Delphi auf den Schauplaz der geſchaͤftigen Welt, in das Getuͤmmel einer volkreichen Stadt, in die unruhige Bewegungen einer zwiſchender375Siebentes Buch, Achtes Capitel. der Democratie und Ariſtocratie hin und her treiben - den Republik, und in das moraliſche Chaos der buͤr - gerlichen Geſellſchaft, worinn Leidenſchaften mit Lei - denſchaften, Abſichten mit Abſichten, in einem allge - meinen und ewigen Streit gegen einander rennen, und unter dem unharmoniſchen Zuſammenſtoß unfoͤrmlicher Mißgeſtalten, nichts beſtaͤndiges, noch gewiſſes iſt, nichts das iſt, was es ſcheint, noch die Geſtalt behaͤlt die es hat. ‒ ‒ Dieſe Veraͤnderung war ſo groß, daß ich ihre Wirkung, auf mein Gemuͤth durch nichts anders zu bezeichnen weiß, als durch die Vergleichung mit der Betaͤubung, worinn nach meinem Freunde, Plato, unſre Seele eine Zeit lang, von ſich ſelbſt entfremdet, liegen bleibt, nachdem ſie aus dem Ocean des reinen urſpruͤnglichen Lichts, der die uͤberhimmliſchen Raͤume erfuͤllet, ploͤzlich in den Schlamm des groben irdiſchen Stoffes heruntergeſtuͤrzt worden iſt. Die Menge der neuen Gegenſtaͤnde, welche von allen Seiten auf mich eindrang, verſchlang die Erinnerung derjenigen, wel - che mich ſo viele Jahre umgeben hatten; und zulezt hatte ich faſt Muͤhe, mich ſelbſt zu uͤberreden, daß ich eben derjenige ſey, der im Tempel zu Delphi den Fremden die Merkwuͤrdigkeiten deſſelben gewieſen und erklaͤrt hatte. So gar das Andenken meiner geliebten Pſyche wurde eine Zeit lang von dieſem Nebel, der meine Seele umzog, verdunkelt; allein dieſes dauerte nur ſo lange, bis ich des neuen Elements, worinn ich izt lebte, gewohnt worden war; denn da vermißte ich ihre Gegenwart deſto lebhafter wieder, je groͤſſerA a 4das376Agathon. das Leere war, welches die Beſchaͤftigungen und ſelbſt die Ergoͤzungen meiner neuen Lebensart in meinem Herzen lieſſen. Die Schauſpiele, die Gaſt - maͤler, die Taͤnze, die Muſikuͤbungen, konnten mir jene ſeligen Naͤchte nicht erſezen, die ich in den Entzuͤkungen einer zauberiſchen Schwaͤrmerey, an ih - rer Seite zugebracht hatte. Aber, ſo groß auch meine Sehnſucht nach dieſen verlohrnen Freuden war, ſo beunruhigte mich doch die Vorſtellung des ungluͤk - lichen Zuſtands noch weit mehr, worein die rachbegie - rige Eiferſucht der Pythia ſie vermuthlich verſezt hatte. Den Ort ihres Aufenthalts ausfuͤndig zu machen, ſchien beynahe eine Unmoͤglichkeit; denn entweder hat - te die Prieſterin ſie (fern genug von Delphi, um uns alle Hofnung des Wiederſehens zu benehmen,) verkau - fen, oder gar an irgend einer entlegnen barbariſchen Kuͤſte ausſezen und dem Zufall Preiß geben laſſen. Allein da der Liebe nichts unmoͤglich iſt, ſo gab ich auch die Hofnung nicht auf, meine Pſyche wieder zu bekommen. Jch belud alle meine Freunde, alle Frem - den, die nach Athen kamen, alle Kaufleute, Reiſende und Seefahrer mit dem Auftrag, ſich allenthalben, wohin ſie kaͤmen, nach ihr zu erkundigen; und damit ſie weniger verfehlt werden koͤnnte, ließ ich eine un - zaͤhlige Menge Copeyen ihres Bildniſſes machen, das ich ſelbſt, oder vielmehr der Gott der Liebe mit meiner Hand, in der oollkommenſten Aehnlichkeit, nach dem gegen - waͤrtigen Original, gezeichnet hatte, da wir noch in Delphi waren; und dieſe Copeyen theilte ich unter alledieje -377Siebentes Buch, achtes Capitel. diejenigen aus, welche ich durch Verheiſſung groſſer Belohnungen, anzureizen ſuchte, ſich fuͤr ihre Entde - kung Muͤhe zu geben. Jch geſtehe dir ſo gar, daß das Verlangen meine Pſyche wieder zu finden, (an - faͤnglich wenigſtens) der hauptſaͤchlichſte Beweg-Grund war, warum ich mich in der Republik hervorzuthun ſuchte. Denn, nachdem mir alle andre Mittel fehl - geſchlagen hatten, ſchien mir kein andres uͤbrig zu bleiben, als meinen Namen ſo bekannt zu machen, daß er ihr zu Ohren kommen muͤßte; ſie moͤchte auch ſeyn, wo ſie wollte. Dieſer Weg war in der That etwas weitlaͤufig; und ich haͤtte zwanzig Jahre in ei - nem fort groͤſſere Thaten thun koͤnnen, als Hercules und Theſeus, ohne daß die Hyrcanier, die Maſſageten, die Hibe〈…〉〈…〉 nier, oder die Laͤſtrigonen, in deren Haͤnde ſie inzwiſchen haͤtte gerathen koͤnnen, mehr von mir ge - wußt haͤtten, als die Einwohner des Mondes. Zu gu - tem Gluͤk fand der Schuz-Geiſt unſrer Liebe einen kuͤr - zern Weg, uns zuſammenzubringen; aber in der That nur, um uns Gelegenheit zu geben, auf ewig von einander Abſcheid zu nehmen. — —
Hier fuhr Agathon fort, der ſchoͤnen Danae die Be - gebenheiten zu erzaͤhlen, die ihm auf ſeiner Wander - ſchaft bis auf die Stunde, da er mit ihr bekannt wur - de, zugeſtoſſen, und wovon wir dem geneigten Leſer bereits im erſten und zweyten Buche dieſer Geſchichte Rechenſchaft gegeben haben; und nachdem er ſich auf Unkoſten des weiſen Hippias ein wenig luſtig gemacht,A a 5entdekte378Agathon. entdekte er ſeiner ſchoͤnen Freundin (welche ſeine ganze Erzaͤhlung nirgends weniger langweilig fand, als an dieſer Stelle,) alles, was von dem erſten Augenblik an, da er ſie geſehen, in ſeinem Herzen vorgegangen war. Er uͤberredete ſie mit eben der Aufrichtigkeit, womit er es zu empfinden glaubte, daß ſie allein dazu gemacht geweſen ſey, ſeine Begriffe von idealiſchen Vollkommenheiten und einem uͤberirdiſchen Grade von Gluͤkſeligkeit zu realiſieren; daß er, ſeit dem er ſie liebe, und von ihr geliebet ſey, ohne ſeiner ehemaligen Den - kungs-Art ungetreu zu werden, von dem, was darinn uͤbertrieben und ſchimaͤriſch geweſen, blos dadurch zu - ruͤkgekommen ſey, weil er bey ihr alles dasjenige ge - funden, wovon er ſich vorher, nur in der hoͤchſten Begeiſterung einer Einbildungs-Kraft einige unvollkom - mene Schatten-Begriffe habe machen koͤnnen; und weil es natuͤrlich ſey, daß die Einbildungs-Kraft, als der Siz der Schwaͤrmery, zu wuͤrken aufhoͤre, ſo bald der Seele nichts zu thun uͤbrig, als anzuſchauen und zu genieſſen. Mit einem Wort: Agathon hatte viel - leicht in ſeinem Leben nie ſo ſehr geſchwaͤrmt, als izt, da er ſich in dem hoͤchſten Grade der verliebten Bethoͤ - rung einbildete, daß er alles das, was er der leicht - glaͤubigen Danae vorſagte, eben ſo gewiß und unmit - telbar ſehe und fuͤhle, als er ihre ſchoͤnen, von dem ganzen Geiſt der Liebe und von aller ſeiner berauſchen - den Wolluſt trunknen Augen auf ihn geheftet ſah, oder das Klopfen ihres Herzens unter ſeinen verirrenden Lippen fuͤhlte. Er endigte damit, daß er ihr aus ſei -ner379Siebentes Buch, achtes Capitel. ner ganzen Erzaͤhlung begreiflich gemacht zu haben glaube, warum es, nachdem er ſchon ſo oft bald von den Menſchen, bald vom Gluͤke, bald von ſeinen eige - nen Einbildungen betrogen worden, entſezlich fuͤr ihn ſeyn wuͤrde, wenn er jemals ſich in der Hoffnung be - trogen faͤnde, ſo vollkommen und beſtaͤndig von ihr ge - liebt zu werden, als es zu ſeiner Gluͤkſeligkeit noͤthig ſey. Er geſtuhnd ihr mit einer Offenherzigkeit, wel - che vielleicht nur eine Danae ertragen konnte, daß eine lebhafte Erinnerung an die Zeiten ſeiner erſten Liebe, zugleich mit der Vorſtellung aller der ſeltſamen Zufaͤlle, Veraͤnderungen und Cataſtrophen, die er in einem Al - ter von fuͤnf und zwanzig Jahren bereits erfahren ha - be, ihn auf eine Reihe melancholiſcher Gedanken ge - bracht, worinn er Muͤhe gehabt habe, ſeine gegenwaͤr - tige Gluͤkſeligkeit fuͤr etwas wuͤrkliches, und nicht fuͤr ein abermaliges Blendwerk ſeiner Phantaſie, zu halten. Eben das Uebermaaß derſelben, ſagte er, eben dieß iſt es, was mich beſorgen machte, jemals aus einem ſo ſchoͤnen Traum aufzuwachen. — Kanſt du mich verdenken, liebenswuͤrdige Danae, o du, die durch die Reizungen deines Geiſtes, auch ohne dieſe Liebe - athmende Geſtalt, ohne dieſe Schoͤnheit, deren An - ſchauen himmliſche Weſen dir gegenuͤber anzufeſſeln ver - moͤgend waͤre, durch die bloſſe Schoͤnheit deiner Seele, und den magiſchen Reiz eines Geiſtes, der alle Vor - zuͤge, alle Gaben, alle Grazien in ſich vereinigt, mei - nen Geiſt aus dem Himmel ſelbſt zu dir herunterziehen wuͤrdeſt. — Koͤnnteſt du mich verdenken, daß ich,vor380Agathon. vor dem Gedanken, deine Liebe jemals verlieren zu koͤnnen, wie vor der Vernichtung meines ganzen We - ſens, erzittre? — Laß mich, laß mich die Gewiß - heit, daß es nie geſchehen werde, daß es unmoͤglich ſey, immer in deinen Augen leſen, immer von deinen Lippen hoͤren, und in deinen Armen fuͤhlen; und wenn dieſe vergoͤtternde Bezauberung jemals aufhoͤren ſoll, ſo nihm, im lezten Augenblik, alle deine Macht zuſam - men, und laß mich vor Entzuͤkung und Liebe zu dei - nen Fuͤſſen ſterben. —
Von der Antwort, womit Danae dieſe Ergieſſungen einer gluͤhenden Zaͤrtlichkeit erwiederte, laͤßt ſich das Wenigſte mit Worten ausdruͤken; und dieſes kan ſich, nach allem, was wir bereits von ihren Geſinnungen fuͤr un - ſern Helden geſagt haben, der kaltſinnigſte von unſern Leſern ſo gut vorſtellen, als wir es ihm ſagen koͤnn - ten — oder ſich’s auch nicht vorſtellen, wenn es ihm beliebt. Daß ſie ihm uͤbrigens ſehr hoͤflich fuͤr die Erzaͤhlung ſeiner Geſchichte gedankt, und eine unge - meine Freude daruͤber empfunden habe, in dieſem Scla - ven, der die Alcibiaden und den liebenswuͤrdigen Cy - rus ſelbſt aus ihrem Herzen ausgeloͤſcht hatte, den ruhmvollen Agathon, den Mann, den das Geruͤchte zum Wunder ſeiner Zeit gemacht hatte, zu finden; und daß ſie ihm hieruͤber viel ſchoͤnes geſagt haben werde — verſtehet ſich von ſelbſt. Dieſes und alles, was eine jede andere, die keine Danae geweſen waͤre, in den vorliegenden Umſtaͤnden auch geſagthaͤtte,381Siebentes Buch, achtes Capitel. haͤtte, wollen wir, nebſt allen den feinen Anmerkungen und Scherzen, wodurch ſie in gewiſſen Stellen ſeine Erzaͤhlung unterbrochen hatte, uͤberhuͤpfen, um zu an - dern Dingen, die in ihrem Gemuͤthe vorgiengen, zu kommen, welche der groͤſſeſte Theil unſerer Leſerinnen (wir beſorgen es, oder hoffen es vielmehr,) nicht aus ſich ſelbſt errathen haͤtte, und welche wichtig genug ſind, ein eigenes Capitel zu verdienen.
Die vertrauliche Erzaͤhlung, welche Agathon ſeiner zaͤrtlichen Freundin von ſeinem ganzen Lebens-Lauf ge - macht; die Offenherzigkeit, womit er ihr die innerſten Triebfedern ſeiner Seele aufgedekt; und die vollſtaͤn - dige Kenntniß, welche ſie dadurch von einem Liebha - ber erhalten hatte, an deſſen Erhaltung ihr ſo viel ge - legen war; lieſſen ſie gar bald einſehen, daß ſie viel - leicht mehr Urſache habe, uͤber die Beſtaͤndigkeit ſeiner Liebe beunruhigt zu ſey, als er uͤber die Dauer der ih - rigen. So ſchmeichelhaft es fuͤr ihre Eitelkeit war, von einem Agathon geliebt zu ſeyn; ſo haͤtte ſie doch fuͤr die Ruhe ihres Herzens lieber gewollt, daß er keine ſo ſchimmernde Rolle in der Welt geſpielt haͤtte. Siebeſorgte382Agathon. beſorgte nicht unbillig, daß es ſchwer ſeyn wuͤrde, ei - nen jungen Helden, der durch ſo ſeltene Talente und Tugenden zu den edelſten Auftritten des geſchaͤftigen Lebens beſtimmt ſchien, immer in den Blumen-Feſſeln der Liebe und eines wolluͤſtigen Muͤſſiggangs gefangen zu halten. Nun ſchien zwar die Art ſeiner Erziehung, der ſonderbare Schwung, den ſeine Einbildungs-Kraft dadurch erhalten, ſeine herrſchende Neigung zur Unab - haͤngigkeit und Ruhe des ſpeculativen Lebens, welche durch die Streiche, die ihm das Gluͤk in einer ſo groſ - ſen Jugend bereits geſpielt, eine neue Staͤrke bekommen hatte; und der Hang zum Vergnuͤgen, welcher, im Gleichmaß mit der auſſerordentlichen Empfindlichkeit ſeines Herzens, die Ruhm-Begierde und die Ambition bey ihm nur zu ſubalternen Leidenſchaften machte — alles dieſes ſchien ihr zwar in dem Vorhaben, ihn der Welt zu rauben, und fuͤr ſich ſelbſt zu behalten, nicht wenig befoͤrderlich zu ſeyn; aber eben dieſe ſchwaͤrmeriſche Einbil - dungs-Kraft, eben dieſe Lebhaftigkeit der Empfindungen ſchienen ihr, auf einer andern Seite betrachtet, mit einer gewiſſen natuͤrlichen Unbeſtaͤndigkeit verbunden zu ſeyn, von welcher ſie alles zu befuͤrchten haͤtte. Konnte ſie, mit al - ler Eitelkeit, wozu ſie das Bewußtſeyn ihrer ſelbſt und der allgemeine Beyfall berechtigte, ſich ſelbſt bereden, daß ſie dieſe idealiſche Vollkommenheit wuͤrklich beſize, welche die bezauberten Augen ihres enthuſtaſtiſchen Liebhabers an ihr ſahen? Und da nicht ſie ſelbſt, ſondern dieſe idealiſche Vollkommenheit der eigentliche Gegenſtand ſeiner Liebe war, auf was fuͤr einen unſichern Grund beruhete alſoeine383Siebentes Buch, neuntes Capitel. eine Hoffnung, welche vorausſezte, daß die Bezaube - rung immer dauern werde?
Dieſe lezte Betrachtung machte ſie zittern; — denn ſie fuͤhlte mit einer immer zunehmenden Staͤrke, daß Agathon zu ihrer Gluͤkſeligkeit unentbehrlich ge - worden war. — Aber (ſo iſt die betruͤgliche Na - tur des menſchlichen Herzens!) eben darum, weil der Verluſt ihres Liebhabers ſie elend gemacht haben wuͤr - de, hatten alle Vorſtellungen, welche ihr mit ſeinem beſtaͤndigen Beſiz ſchmeichelten, doppelte Kraft ein Herz zu uͤberreden, welches nichts anders ſuchte, als ge - taͤuſcht zu ſeyn. Sie bildete ſich alſo ein, daß der Hang zu demjenigen, was man die Wolluſt der Seele nennen kann, den weſentlichſten Zug von der Gemuͤths - Beſchaffenheit unſers Helden ausmache. Seine Philo - ſophie ſelbſt ſchien ihr dieſe Meynung zu beſtaͤtigen, und, bey aller ihrer Erhabenheit uͤber den groben Materia - liſmus des groͤſten Haufens der Sterblichen, in der That mit den Grundſaͤzen des Ariſtippus, welche vormals ihre eigenen geweſen waren, in dem nemlichen Punct zuſammenzu - lauffen. Der ganze Unterſcheid ſchien ihr darinn zu liegen, daß dieſer die Wolluſt, welche er zum lezten Ziel der Weisheit machte, mehr in der angenehmen Bewegung der Sinnen, den Befriedigungen eines ge - laͤuterten Geſchmaks, und den Ergoͤzlichkeiten eines von allen unruhigen Leidenſchaften befreyten geſelligen Le - bens — Agathon hingegen, dieſe feinere Wolluſt, von welcher er in den ſtillen Haynen des DelphiſchenTempels384Agathon. Tempels ſich ein ſo liebenswuͤrdiges Phantom in den Kopf geſezt hatte, mehr in den Vergnuͤgen der Ein - bildungs-Kraft und des Herzens ſuchte; eine Philoſo - phie, bey welcher er (nach der ſcharfſinnigen Beob - achtung unſrer Schoͤnen) ſo gar von Seiten der ſinu - lichen Luſt mehr gewann, als verlohr; indem dieſe von den verſchoͤnernden Einfluͤſſen einer begeiſterten Ein - bildung und den zaͤrtlichen Ruͤhrungen und Ergieſſun - gen eines gefuͤhlvollen Herzens ihren maͤchtigſten Reiz erhaͤlt. Dieſes als gewiß vorausgeſezt, glaubte ſie von der Unbeſtaͤndigkeit, welche ſie, nicht ohne Grund, als eine Eigenſchaft einer allzuwuͤrkſamen und hoch ge - ſpannten Einbildungs-Kraft anſah, nichts zu beſorgen zu haben; ſo lange es ihr nicht an Mitteln fehlen wuͤr - de, ſeinen Geiſt und ſein Herz zugleich und, mit einer ſolchen Abwechslung und Mannigfaltigkeit zu vergnuͤ - gen, daß eine weit laͤngere Zeit, als die Natur dem Menſchen zum Genieſſen angewieſen hat, nicht lange genug waͤre, ihn eines ſo angenehmen Zuſtandes uͤber - druͤſſig zu machen. Sie hatte Urſache, dieſes um ſo mehr zu glauben, da ſie aus Erfahrung wußte, daß die Wuͤrkſamkeit der Einbildungs-Kraft deſto mehr ab - nihmt, je weniger leeres der Genuß wuͤrklicher Ver - gnuͤgungen im Herzen zuruͤklaͤßt, und je weniger ihm Zeit gelaſſen wird, etwas angenehmers als das Gegen - waͤrtige zu wuͤnſchen.
Es iſt dermalen noch nicht Zeit, daß wir uͤber dieſe Grundſaͤze der ſchoͤnen Danae unſere eigenen Gedankenſagen.385Siebentes Buch, neuntes Capitel. ſagen. Sie mochten, von einer Seite betrachtet, rich - tig genug ſeyn; aber wir beſorgen ſehr, daß ſie ſich in dem Gebrauch der Mittel, wodurch ſie ihren Zwek zu erhalten hoffte, von der Liebe betrogen finden werde. Jn der That liebte ſie zu aufrichtig und zu heftig, um gute Schluͤſſe zu machen; und ihr Herz fuͤhrte ſie nach und nach, ohne daß ſie es gewahr wurde, weit uͤber die Grenzen der Maͤſſigung weg, bey welcher ſie ſich anfangs ſo wol befunden hatte. Vielleicht mochte auch eine geheime Eiferſucht uͤber die gute Pſyche (ſo wenig ſie gleich, aller Wahrſcheinlichkeit nach, zu befuͤrchten hatte, daß ſie jemals perſoͤnlich auftretten, und das Herz ihres Liebhabers von ihr zuruͤkfodern werde) ſich mit ins Spiel gemiſcht, und ſie begierig gemacht ha - ben, ſo gar die Erinnerung an die Freuden ſeiner er - ſten Liebe, welche ihr vielleicht noch allzulebhaft zu ſeyn ſchien, aus ſeinem Gedaͤchtniß auszuloͤſchen. So viel iſt gewiß, daß ſie (vor lauter Begierde, unſern Helden mit Gluͤkſeligkeiten zu uͤberſchuͤtten,) ihm eine grenzenloſe Liebe zu zeigen, und ihn einen ſolchen Grad von Wonne, uͤber welchem dem Herzen nichts zu wuͤn - ſchen, und der Phantaſie nichts zu denken uͤbrig bliebe, erfahren zu machen, — einen Weg einſchlug, auf welchen ſie ihres Zweks faſt nothwendig verfehlen mußte. Der vortrefliche Brief des liebenswuͤrdigſten Moraliſten der neuern Zeiten, des Saint Evremond, in den Brie - fen der Ninon Lenclos an den Marquis von Sevigne, uͤberhebt uns der Muͤhe, dem unerfahrnen Theil unſe - rer ſchoͤnen Leſerinnen zu erklaͤren, wie es zugehe, daß[Agath. I. Th.] B bdie386Agathon. die Liebe von allzuvieler Nahrung abzehrt; und daß ein unvorſichtiges Uebermaß von Zaͤrtlichkeit gerade das gewiſſeſte Mittel iſt, einen Ungetreuen zu machen. Wir wollen ſie alſo auf die bemeldete Unterweiſung ei - nes der beſten Kenner des menſchlichen Herzens ver - wieſen haben, und uns begnuͤgen, ihnen zu ſagen, daß Agathon, nachdem er (dem neuen Plan ſeiner mehr zaͤrtlichen als behutſamen Geliebten zufolge) etli - che Wochen lang von allem, was die Liebe ſuͤſſes und entzuͤkendes hat, mehr erfahren hatte, als ſelbſt die gluͤhende Einbildungs-Kraft des Marino faͤhig war, ſeinen Adon in den Armen der Liebes-Goͤttin genieſſen zu laſſen, unvermerkt in eine gewiſſe Mattigkeit der Seele verſiel, welche wir nicht kuͤrzer zu beſchreiben wiſſen, als wenn wir ſagen, daß ſie vollkommen das Widerſpiel von der Begeiſterung war, worinn wir ihn bisher geſehen haben. Man wuͤrde ſich vermuthlich ſehr irren, wenn man dieſe Entgeiſterung einer ſo un - edeln Urſache beymeſſen wollte, als diejenige war, welche den verachtenswuͤrdigen Helden des Petronius noͤthigte, ſeine Zuflucht zu den Beſchwoͤrungen und Brenn-Neſſeln der alten Enothea zu nehmen. Nach allem, was wir von unſerm Helden wiſſen, kan kein Verdacht von dieſer Art auf ihn fallen. Wir finden weit wahrſcheinlicher, daß die wahre Urſache davon in ſeiner Seele lag, und aus einer Ueberfuͤllung mit Vergnuͤgen, auf welche nothwendig eine Art von Be - taͤubung folgen mußte, ihren Urſprung nahm. Unſere Seele (mit Erlaubniß derjenigen Philoſophen, welchevon387Siebentes Buch, neuntes Capitel. von der grenzenloſen Capacitaͤt und Unerſaͤttlichkeit ih - rer Begierden ſo viel ſchoͤnes zu ſagen wiſſen,) iſt doch nur eines gewiſſen Maſſes von Vergnuͤgen faͤhig, und kan einen anhaltenden Zuſtand von Entzuͤkung eben ſo wenig ertragen, als eine lange Dauer des aͤuſſerſten Schmerzens. Beydes ſpannt endlich ihre Nerven ab, und bringt ſie zu einer Art von Ohnmacht, in welcher ſie gar nichts mehr zu empfinden faͤhig iſt. Was in - deſſen auch die Urſache einer fuͤr die Abſichten der Da - nae ſo nachtheiligen Veraͤnderung geweſen ſeyn mag; ſo iſt gewiß, daß die Wuͤrkungen derſelben in kurzer Zeit ſo ſehr uͤberhand nahmen, daß Agathon ſelbſt Muͤhe hatte, ſich in ſich ſelbſt zu erkennen, oder zu begreif - fen, wie es mit dieſer ſeltſamen Verwandlung der Scene zugegangen ſey. Ein magiſcher Nebel ſchien vor ſeinen erſtaunten Augen wegzufallen; die ganze Natur zeigte ſich ihm in einer andern Geſtalt, verlohr dieſen reizenden Firniß, den ihr der Geiſt der Liebe gegeben hatte; dieſe Gaͤrten, vor wenigen Tagen der geliebte Aufenthalt aller Freuden und Liebes-Goͤtter, dieſe elyſiſchen Hayne, dieſe maͤandriſchen Roſen-Ge - buͤſche, worinn die lauſchende Wolluſt ſich ſo gerne ver - borgen hatte, um das Vergnuͤgen zu haben, ſich erha - ſchen zu laſſen — erwekten izt durch ihren Anblik nichts mehr, als jeder andre ſchattichte Plaz, jedes andre Gebuͤſche; die Luft, die er athmete, war nicht mehr dieſer ſuͤſſe Athem der Liebe, von dem jeder Hauch die Flammen ſeines Herzens ſtaͤrker aufzuwehen ſchien; Danae war bereits von der idealiſchen Voll -B b 2kommen -388Agathon. kommenheit zu dem gewoͤhnlichen Werth einer jeden an - dern ſchoͤnen Frau herabgeſunken; und er ſelbſt, der vor kurzem ſich an Wonne den Goͤttern gleich geſchaͤzet hatte, ſieng an, ſehr ſtarke Zweifel zu bekommen: Ob er in dieſer weibiſchen Geſtalt, worein ihn die Liebe verklei - det hatte, den Namen eines Mannes verdiene? Man wird nicht zweifeln, daß in dieſem Zuſtand die Erin - nerungen deſſen, was er ehemals geweſen war — der wundervolle Traum, den er je laͤnger je mehr fuͤr die Wuͤrkung irgend eines wolthaͤtigen Geiſtes, und viel - leicht des abgeſchiedenen Schattens ſeiner geliebten Pſy - che ſelbſt, zu halten bewogen war — die Stimme der Tugend, die er einſt angebettet, und welcher er alles aufgeopfert hatte — und die Vorwuͤrfe, die ſie ihm ſchon vor einiger Zeit uͤber ein in muͤſſiger Wol - luſt unruͤhmlich dahinfchmelzendes Leben zu machen an - gefangen, — gute Gelegenheit hatten, ſein Herz, deſſen beſte Neigungen ſelbſt auf ihrer Seite waren, mit vereinigter Staͤrke wieder anzugreiffen. Sie hat - ten es faſt gaͤnzlich wieder eingenommen, als er erſt deutlich gewahr wurde, wohin ihn die Betrachtungen, denen er ſich uͤberließ, nothwendig fuͤhren mußten. Er erſchrak, da er ſah, daß ihm nichts als die Flucht von dieſer allzureizenden Zauberin ſeine vorige Geſtalt wie - der geben koͤnne. Sich von Danae zu treunen! auf ewig zu trennen! — Dieſer Gedanke benahm ſeiner Seele auf einmal alle die Staͤrke wieder, welche ſie wieder in ſich zu fuͤhlen anfieng, und wekte alle Erin - nerungen, alle Empfindungen ſeiner entſchlummertenLeiden -389Siebentes Buch, neuntes Capitel. Leidenſchaft wieder auf. Sie, die ihn ſo inbruͤnſtig liebte, — ſie, die ihn ſo gluͤklich gemacht hatte — zu verlaſſen — fuͤr alle ihre Liebe, fuͤr alles was ſie fuͤr ihn gethan hatte, und auf eine ſo verbindliche, ſo edle Art gethan hatte, den Quaalen einer mit Undank be - lohnten Liebe prciß zu geben —: Nein, zu einer ſo niedertraͤchtigen, ſo haͤßlichen That, (wie dieſe in ſei - nen Augen war) konnte ſich ſein Herz nicht entſchlieſ - ſen. Die Tugend ſelbſt, welcher er ſeine eigene Be - friedigung aufzuopfern bereit war, konnte ein ſo un - dankbares und grauſames Verfahren nicht gut heiſſen — Wir uͤberlaſſen es der Entſcheidung kalter Sitten-Leh - rer: ob die Tugend das konnte, oder nicht; aber un - ſer Held war von dem leztern ſo lebhaft uͤberzeugt, daß er, anſtatt auf Gruͤnde zu denken, womit er die So - phiſtereyen der Liebe haͤtte vernichten koͤnnen, in vollem Ernſt auf Mittel bedacht war, das Jntereſſe ſeines Her - zens und die Tugend, welche ihm nicht unvertraͤglich zu ſeyn ſchienen, auf immer mit einander zu vereinigen.
Die zaͤrtliche Danae hatte inzwiſchen, wie leicht zu erachten iſt, die Veraͤnderung, welche in der Seele unſers Helden vorgegangen war, im erſten Augenblik, da ſie merklich wurde, wahrgenommen. Allein die gute Dame war weit entfernt, ſeinem Herzen die Schuld davon zu geben; ſie betrog ſich ſelbſt uͤber die wahre Urſache, und glaubte, daß die Veraͤnderung des Orts, und vielleicht eine kleine Entfernung, ihm in kurzem alle die Lebhaftigkeit der Empfindung wiederB b 3geben390Agathon. geben wuͤrde, die er verlohren zu haben ſchien. Die Wiederkehr in die Stadt, wo ſie einander nicht immer ſehen wuͤrden, wo ihre Liebe ſich zu verbergen genoͤ - thigt ſeyn, und dadurch den Reiz eines geheimen Ver - ſtaͤndniſſes erhalten wuͤrde, die Zerſtreuungen des Stadt - Lebens, die Geſellſchaft, die Luſtbarkeiten, wuͤrden ihn (glaubte ſie) bald genug wieder ſo feuerig als je - mals wieder in ihre Arme fuͤhren. Sie uͤberredete ihn alſo, mit ihr nach Smyrna zuruͤkzugehen, obgleich die ſchoͤne Jahrs-Zeit noch nicht ganz zu Ende war. Hier wußte ſie, (ohne daß es ſchien, daß ſie Hand dabey habe,) eine Menge Gelegenheiten zu veranſtal - ten, wodurch ſie einander ſeltner wurden; wenn ſie ſich wieder allein befanden, flog ſie ihm zwar eben ſo zaͤrtlich in die Arme, als ehemals; aber ſie vermied alles, was zu jener allzuwolluͤſtigen Berauſchung (in welche ſie ihn, wenn ſie wollte, durch einen einzigen Blik ſezen konnte) gefuͤhrt haͤtte, und that es mit ei - ner ſo guten Art, daß er keinen beſondern Vorſaz da - bey gewahr werden konnte: Kurz, ſie wußte die feu - rigſte Liebe unvermerkt ſo geſchikt in die zaͤrtlichſte Freundſchaft zu verwandeln, daß Agathon, welcher weder Kunſt noch Abſicht unter ihrem Betragen arg - wohnte, ganz treuherzig in die Schlinge fiel, und in kurzem wieder ſo zaͤrtlich und dringend wurde, als ob er erſt anfangen muͤßte, ſich um ihr Herz zu bewerben. Zwar war es nicht in ihrer Gewalt, ihm dieſe Begei - ſterung mit allem ihrem zauberiſchen Gefolge wieder zu geben, welche, wenn ſie einmal verſchwunden iſt, nichtwieder391Siebentes Buch, neuntes Capitelwieder zu kommen pflegt; aber die Lebhaftigkeit, wo - mit ihre Reizungen auf ſeine Sinnen, und die Em - pfindungen der Dankbarkeit und Freundſchaft auf ſein Herz wuͤrkten, brachten doch ungefehr die nemliche Phaͤnomena hervor; und da man gewohnt iſt, glei - che Wuͤrkungen gleichen Urſachen zu zuſchreiben, ſo iſt es nicht unbegreiflich, wie beyde ſich eine Zeitlang hierinn betruͤgen konnten, ohne nur zu vermuthen, daß ſie betrogen wuͤrden.
Es iſt ſehr zu vermuthen, daß es bey dieſer ſchlauen Maͤſſigung, wodurch die ſchoͤne Danae die Folgen ih - rer vorigen Unvorſichtigkeit wieder gut zu machen wußte, um unſern Helden geſchehen geweſen waͤre; und daß ſeine Tugend unter dieſem zweifelhaften Streit mit ſeiner Leidenſchaft, bey welchem wechſelsweiſe bald die eine, bald die andere die Oberhand behielt, end - lich gefaͤllig genug worden waͤre, ſich mit ihrer ſchoͤ - nen Feindin in einen vielleicht nicht allzuruͤhmlichen Vergleich einzulaſſen, und die Gluͤkſeligkeit der liebens - wuͤrdigen Danae dadurch auf immer ſicher zu ſtellen; wenn nicht der ungluͤklichſte Zufall, der ihr mit einem ſo ſonderbaren Mann, als Agathon war, nur immer begegnen konnte, ſie auf einmal mit ſeiner Hochach - tung alles deſſen beraubt haͤtte, was ſie noch im Beſiz ſeines Herzens erhalten hatte. Eine einſt geliebte Per - ſon behaͤlt (auch wenn das Fieber der Liebe vorbey iſt) noch immer eine groſſe Gewalt uͤber unſer Herz, ſo lange ſie unſere Hochachtung nicht verlohren hat,Agathon392Agathon. Agathon war zu edelmuͤthig, die ſchoͤne Danae fuͤr die Schwachheit, welche ſie gegen ihn gehabt hatte, (das einzige, was die Hochachtung haͤtte vermindern koͤnnen, welche ſie durch ſo viele ſchoͤne Eigenſchaften des Gei - ſtes und des Herzens verdiente,) dadurch zu beſtrafen, daß er ihr deswegen nur das mindeſte von der ſeinigen entzogen haͤtte. Aber ſo bald es dahin gekommen war, daß er ſich in ſeiner Meynung von ihrem Character und moraliſchen Werthe betrogen zu haben glaubte; ſo bald er ſich gezwungen ſah, ſie zu verachten; hoͤrte ſie auf, Danae fuͤr ihn zu ſeyn; und durch eine ganz natuͤrliche Folge wurde er in dem nemlichen Augenblik wieder Agathon.
Ende des erſten Theils.
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