PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Rechte der Natur und Menſchheit,
entweiht durch Menſchen. Szenen aus der heutigen Welt, fuͤr den Menſchen, Buͤrger und Richter,
Berlin,in Kommiſſion bei Friedrich Maurer,1784.

Ewig muͤſſen uns die Rechte der Natur und Menſch - heit heilig, und unverlezt ſein! Denn der, der zum Himmel ſprach: werde, und zu der Erde: gehe aus dem Nichts hervor, der hat ſie gegeben, und wacht uͤber ihre unverlezte Wuͤrde. Feierlich ſei uns jeder kommende Morgen, er iſt der Anfang eines Tages, von dem wir einſt Rechenſchaft geben muͤſſen.

Jnhalt.

  • I. Etwas fuͤr den Menſchen, Buͤrger und Richter. Seite1
  • II. Die Rechte der Natur und Menſchheit, wie ſie durch Menſchen entweiht werden. 2
  • III. Seldau, nicht zur Knechtſchaft ge - boren, nur durch Menſchen unter - jocht, und ein Opfer der Geſezze. 34
  • IV. Karoline einſt froh und gluͤklich, her. nach verfuͤhrt und elend, Moͤrderin ihres Kindes, und ein Opfer der Gerechtigkeit. 47
  • V. Aeltern-Tirannei, die ſchreklichſte in der Natur72
    • A) Julie, als Maͤdchen gluͤklich, als Frau elend. 74
    • B) Charlotte, das ungluͤkliche Landmaͤdchen. 103
    • C) Heinrich und Marie, im Leben getrennt, durch den Tod verbunden. 114
    • D) Woldau und Emilie, auch Liebe fuͤhrt ins Grab. 118
  • VI. Ehrloſigkeit, entweihter Name, ſchlechte Handlungen koͤnnen ehrlos machen, aber nicht Geburt und Handthierungen, die zum Nuzzen der Geſellſchaft da ſind, und da ſein muͤſſen. Seite126
  • VII. Jn Huͤtten wohnt Elend, und ihre Bewoner ſeufzen unter dem Joch der Sklaverei. 149
    • A) Grauſame Handlung in Schwaben. 151
    • B) Empfindungen bei der Urne Aloyſii, Fuͤrſten von Oettingen. 169
  • VIII. Johann Joſeph Puͤre, Juſtizmord in Frankreich. 177
  • IX. Stolz und Liebe, Triebfedern des Wahnſinns. 193
  • X. Traurige Gruppen der Sittenloſigkeit des Zeitalters, enthuͤllt fuͤr teutſche Fuͤrſten, fuͤr teutſche Juͤnglinge, und teutſche Maͤdchens. 205
  • XI. Phanor, fuͤhlendes Herzens war der Juͤngling, und doch ſo ungluͤklich, daß er den Schauplaz verließ, ehe er abgerufen ward. 228
  • XII. Die Unſchuld in Ketten, und in dunkeln Gewoͤlben des Elends. 261
    • A) Angeklagter uͤberwieſener intendirter Moͤrder, dem Scheine nach, und doch am Ende ein tugendhafter Mann, und unſchuldig. 270
    • B) Schoͤne Seele, unterm Gewande des Bettlers. 272
[1]

I. Etwas fuͤr den Menſchen, Buͤrger und Richter.

Auch ich will mein Herz vor meinen Bruͤdern ausſchuͤtten, will als Menſch zu Menſchen re - den, will die Rechte der Natur und Menſch - heit enthuͤllen, und zeigen, wie ſie entweiht und zerriſſen werden.

Seid mir geſegnet, Stunden! wo ich die Rechte der Menſchheit in ihrer Wuͤrde fuͤhlte, wo ich auch den niedrigſten Bruder mit weltbuͤrger - licher Liebe umfing, und mit Wonnetraͤnen aus - rief: Vater! du haſt uns alle gleich ge - macht, haſt durch ein einziges Band uns liebevoll umſchlungen. Heiliges Band! A2das das allmaͤchtige Weſen webte, um die Men - ſchen mit einer allgemeinen Bruderliebe zu ket - ten. Gluͤkliches Band! das den Menſchen zum Menſchen, ja den Menſchen der Gottheit gleich macht und koͤnnteſt du getrennt, koͤnnteſt du entweiht und zerriſſen werden? Trauriger Gedanke! der das Herz erſchuͤttert, und dem Auge Traͤnen der Wehmut entlokket, kann dich mein Geiſt entfalten? Ja, kann es den Gedanken in ſeiner ganzen Schwere fuͤhlen: der Bruder mordet den Bruder der Bruder zerreißt die Bande des Bluts, und uͤberlaͤßt ſei - nen Mitbruder dem Elend und der Verzweif - lung, ja ſtoͤßt ihm den Dolch ins Herz, und hohnlacht, wann er ſegnend ſeine Seele aushaucht?

Und das waͤre das Werk des Menſchen, den die Gottheit aus feinem Stoff bildere, in dem ſie alle die groſſen Eigenſchaften als Keime legte, durch die ſie Aeonen lang war und wuͤrkte? Nein, das iſt nicht das Werk des aͤchten Soh - nes, ſondern eines Baſtards Das ſchoͤpfri - ſche Werde bildete lauter gute Geſchoͤpfe, bei de - ren Anblik ſie an jedem Abend des Werdens aus - rufen konnte: Es iſt alles gut! Aber es waren Geſchoͤpfe, die zerbrachen die gute Form, und3 daher entſtanden Baſtarde der Menſchheit, de - nen nichts, auch die ehrwuͤrdigen Bande des Bluts nicht heilig waren. Auch ſie wan - deln noch auf Gottes lieben Weltrund, aber wo ſie wallen, da verdorren Gras und Kraͤuter; al - les welkt von ihrem verheerenden Hauch dahin, und geht zur Verweſung uͤber; ſie haben Kuͤſſe auf den Lippen und Schwerder im Buſen, ſie ſprechen der Gottheit Hohn, und verlachen weiſe Geſezze die Unſchuld ſinkt unter ihren Strei - chen wehrlos dahin, und die ſanften Bande der Liebe, der Freundſchaft und des Wolwollens werden in einem Nu getrennt und zerriſſen.

O, ſei mir willkommen edler Mann! der du die Rechte der Natur und Menſchheit vor je - nen Buben vertritſt, die ſie ſo ſo ſchaͤndlich ent - weihen und zerſtoͤren wollen, der du auf ihre Stirnen das Brandmal der Schande und Ver - achtung druͤkſt, damit jeder Buͤrger es leſe und zuruͤkſchaudere. Sei mir willkommen, deutſcher Mann! biederer Freund! der du Menſch und Bruder biſt der du ein offenes Herz fuͤr Freude und Leid haſt, der du es fuͤhlſt, wie es im Jnnern krampft und wuͤtet, wann der Menſch unterjocht und bedruͤkt wird, wie dieA 24leidende Menſchheit endlich einen Ausweg ſucht, wann ſie gedraͤnget und von Nichtswuͤrdigen ihrer Rechte beraubet wird, die mit dem Griffel der Gottheit auf ihrer Stirne verzeichnet ſind. Sei mein Begleiter auf dem Pfade meines Er - dewallens, und durchdringe mit mir den Nebel der Vorurteile, der die Handlungen der Men - ſchen dem Auge verbirget; laß mich den guten und edlen Menſchen auch im Miſſethaͤter und Moͤrder finden ihn bedauern und ihm Traͤ - nen ſchenken. Gieb der ohnmaͤchtigen Sprache Worte, wann ſie die Rechte der Menſchheit ent - huͤllen ſoll. Lehre auch jezt meine Feder Zuͤge bil - den, die kalte Seelen erwaͤrmen und fuͤhlloſe harte Herzen weich und biegſam machen koͤnnen.

Ja, zu euch will ich reden, meine Bruͤ - der! wie es mein Herz heiſcht, ich will euch den Menſchen aufdekken in ſeiner Niedrigkeit und Armut, wie er von Menſchen verlaſſen, ein Le - ben aushaucht, das eine Kette namenloſen Jammers war. Jch will euch die Leiden meiner Bruͤder ſchildern, Leiden die die Seele erſchuͤt - tern, und den feſteſten Bau des Koͤrpers ab - ſpannen. Kommt mit mir in jene unterirdiſchen Hoͤlen, wo Menſchen, ausgeſtoſſen aus dem Zir -5 kel der Geſellſchaft, ihr duͤſtres Leben verſeufzen ſchaurig und oͤde iſt dieſer Aufenthalt, nicht immer dem Laſter, auch oft der gekraͤnk - ten Tugend geweiht. Kein Stral des Lichts daͤmmert hier, hier wekt kein Morgen zu neuen Freuden, truͤbe und druͤkkend iſt die Luft, die du einathmeſt; hier gattet ſich das Elend mit der Verzweiflung, Hunger und Bloͤſſe ſind getreue Gefaͤhrten des Jammers, der hier hauſet. Ein dumpfes Geklirre von Ketten hallt dir fuͤrchter - lich entgegen, und ein Geaͤchze und Gewinſel verraͤht dir das Daſein eines Weſens, das mit dir, als Menſch betrachtet, gleiche Beſtimmung hat. Bei dem duͤſtern Schein einer Lampe er - blikſt du ein bleiches abgehaͤrmtes Geſicht, hole Augen, einen kalten, matten Blik, in dem die Freude laͤngſt erſtorben iſt. Modernde Lnmpen ſind ſein Gewand, und faules Stroh ſein Lager; das Fleiſch iſt vom Gram verzehrt, und das klap - pernde Knochengebaͤude haͤngt an duͤnnen Faſern. Schon ſchwelgen die Wuͤrmer an ſeinem Leibe, und in ihm lebt keine Kraft mehr, ſich vor ihnen zu ſchuͤzzen, bei jedem Laut faͤhrt er erſchrokken auf, kruͤmmt ſich am Boden, aͤchzt und winſelt: vernichtet mich! O! ich bitt euch,A 36wendet euer Antliz nicht weg, er iſt auch euer Bruder! ſo elend und verworfen er auch iſt; hoͤrt erſt ſeine Geſchichte, und vielleicht bedauert ihr ihn Er war vielleicht einſt gut und bieder, haͤtte ein brauchbares Glied der Geſellſchaft wer - den koͤnnen, wenn ſeine Bruͤder ihm nicht das Gewand der Menſchheit entriſſen, und ihm die Rechte der Natur entzogen haͤtten.

Kommt mit mir an jene Staͤte, wo die Ge - rechtigkeit ihre Opfer wuͤrgt, dort laßt uns Ge - danken des menſchlichen Elends entfalten; ſeht hier hole Schedel zerſtoſſene Gliedmaſſen flatternde Gewaͤnder! Laßt uns nicht die Achſel zukken, und mit dem liebloſen Gedanken vor die - ſer Staͤte voruͤbereilen: er war ein Boͤſe - wicht! Nein! laßt uns die Geſchichte des Un - gluͤklichen enthuͤllen, laßt uns ihm folgen von dem Tage an, da er ſein Daſein empfing, bis an dem Tage, da er es durch Henkersknechte verlor.

Nicht jeder Gerichtete war, weil er gerichtet ward, ein Boͤſewicht. Ward nicht auch ein Ca - las gewuͤrget? Hatte nicht ein hohes Tribunal den Stab uͤber ihn gebrochen? Hielt ihn nicht der einſtimmige Zuruf des Volks fuͤr ſchuldig? 7Ward nicht eine gute ehrbare Matrone als Hexe zu Buchlor verbrant? Ward nicht man - cher gerichtet, deſſen That Mord vor Menſchen, aber nicht vor Gott hieß? Ward nicht mancher gerichtet, der aus einem Anfall von Wahnſinn, und uͤberſpanntem Affekt, ein Moͤrder ward, deſ - ſen Seele aber, indem er mordete, nicht wuſte, was ſeine Haͤnde thaten? Ja ward nicht mancher gerichtet, indem ein unwiſſender, oder wohl gar beſtochener Richter den Stab Wehe uͤber ihm brach?

Zollt daher immer dem Andenken dieſer Un - gluͤklichen Traͤnen des Gefuͤhls und der Ruͤh - rung, laßt uns ihr Andenken vor dem Hohnge - laͤchter kalter Seelen retten, laßt uns aus ihrem Fall ein lehrreiches Beiſpiel ziehen, wie tief der Menſch fallen, wie tief er hinabſinken kann.

Noch ſind wir zwar gluͤklich noch ſchluͤr - fen wir den reinſten Genuß der Lebensgluͤkſe - ligkeit ein, aber wie bald kann die Sonne wei - chen, und ſchwarze Wolken fuͤrchterlich uͤber unſern Scheiteln haͤngen! Laßt uns daher auch jetzt, in den heitern Tagen unſers Lebens, unſere Knie vor jenes hoͤchſte Weſen beugen, das unſicht - bar um uns wandelt laßt uns ihn mit ge -A 48ruͤhrter Seele anflehen: Vater, leite uns, daß wir nicht ſtraucheln! leite all unſere Ge - danken auf gute Entſchluͤſſe, daß ſie lauter edle Thaten zur Reife bringen, wuͤrdig der Vergel - tung hienieden, und des Lohns hinter den Ci - preſſen. Dieſe Ergieſſung eures Herzens wird euch vor Stolz und Hochmut bewahren, ihr werdet nicht mit kalten Blikken auf eure ungluͤk - liche Bruͤder herabſchauen, ſondern ihr werdet das Elend zu lindern ſuchen, und ſo weit euer Wuͤrkungskreis reicht, Ruhe und Freude verbrei - ten. Fuͤr euch ſchrieb ich dieſe Blaͤtter nieder, mit dem herzlichen Wunſch, daß ſie eine ſanfte Schwermut, welche ſuͤſſer iſt, denn alle Freude der Welt, in euch hervorbringe.

Es ſind koſtbare Traͤnen, die um die Leiden unſerer Bruͤder, um den Fall der Unſchuld von den Wangen herabgleiten, ſie ſind koͤſtlicher, denn jeder Ausbruch der thoͤrichten Freude, das Lachen und Singen der Froͤhlichkeit: dieſe laſſen oft das Herz leer, und erzeugen Ekel und Ueber - druß, aber jene veredeln die Seele, erweitern das Herz, machen es gut und edel, erfuͤllen den Geiſt mit Liebe und Wolwollen, und ſchaffen helle lichte Ausſicht jenſeits den Schranken, wo9 der Staar vom blinden Auge weggenommen wird, und wir die unerforſchlichen Wege der Vorſicht ganz durchſchauen koͤnnen.

Euch, geiſtige, gefuͤhlvolle Seelen! die ihr alles mit Waͤrme umfaſſet, und in euch ſelbſt verſchloſſen, herrliche Traͤume denket, will ich auch dieſe Empfindungen einer geruͤhrten Seele weihen ſchuͤzt ſie wider das Hohu - gelaͤchter der Fuͤhlloſen, die alles fuͤr ſchwaͤrmeri - ſche Schimaͤren halten, was nicht mit ihren Lei - denſchaften beſtehen kann, die dem hellleuchtenden Schimmer der Warheit ausweichen, weil er ihre bloͤden Augen verblendet, die alles, was ehrwuͤr - dig und gut iſt, mit ihrem Wizze vergiften, und toͤden wollen. Das werden ſie aber nie! Die Tugend bleibt Tugend, wenn ſie gleich arm und verachtet, ſich unter Truͤmmern verſchleicht; es kommen immer Stunden der Vergeltung, wo ſie gern die Tage zuruͤk erkaufen moͤgten, die ſie im Wolleben und Ueppigkeit verpraßt haben, wo ſie vergebens nach Ausuͤbung einer guten That ſchmachten, um ihre boͤſen Handlungen einigermaßen aufzuwiegen. Wir nicht alſo, laßt uns auch manchmal unter den Cipreſſen und Wermuthsſtauden verweilen, da -A 510mit wir fruͤh weiſe werden, und nur den frohen Gedanken entfalten, daß noch jenſeits dieſen Gruͤnden eine Staͤte ſei, wo die Tugend be - lohnt, und das Laſter beſtraft werde, wo die, welche hier mit Traͤnen geſaͤet, dort mit Wucher aͤrnten werden.

Du aber ewiges Weſen! wuͤrdig, daß alle Welt dich ehre, du ſchufſt den Menſchen zur Gluͤkſeligkeit; er entſprang aus der ſchoͤpferi - ſchen Meiſterhand vollkommen und gut. Sei gluͤklich! war dein goͤttlicher Ausſpruch, und ſo ſezteſt du ihn in eine Welt, wo alles zur Gluͤkſeligkeit einladet; was kannſt du dafuͤr? wenn ſie es nicht ſind; wenn ſie ſich untereinan - der ihre Tage verbittern, und zu Tagen des Jam - mers machen; wenn ſie ſelbſt den Dolch gegen ſich zukken; wenn ſie alle Bande zerreiſſen, wo - mit du ſie ſo bruͤderlich verbandſt. Sie entwei - hen deine Geſezze, und wandeln einen andern Pfad, als den, welchen du ihnen durch die Na - tur vorgezeichnet haſt. Daher kommts, daß ſie nie den Quell der wahren Gluͤkſeligkeit finden, der nur aus der Erfuͤllung deiner Gebote, aus der Ausuͤbung der Menſchenliebe entſpringt, und ſanft durchs Thal des Lebens hinleitet.

11

Wir wollen dieſen Quell aufſuchen, meine Bruͤder! aus welchem Segen und Ruhe auf uns herabſtroͤmt. Wir wollen den Pfad wallen, den uns der Schoͤpfer durch den Ausfluß ſeiner Gott - heit, die Natur, vorgezeichnet hat, und auf - merken auf ihren lauten Zuruf; denn es iſt die Stimme der Mutter, die ihrem Saͤugling ruft. Sie ruft Uns, und einem Jeden Erdenbuͤr - ger zu:

Nur der iſt weiſe und gluͤklich, der mit unverdroßnem Fleiß die Stelle ausfuͤllt, die der große Baumeiſter, der den Plan des Ganzen denkt, ihm beſtimmt hat.

12

II. Die Rechte der Natur und Menſch - heit, wie ſie durch Menſchen entweiht werden.

Eine jede Verbindung mit dem Staat und den Gliedern deſſelben, ſetzt gewiſſe Rechte voraus, die weſentlich damit verbunden ſind, und die zur Ordnung und Uebereinſtimmung einzelner Theile mit dem Ganzen beitragen. So hat ſelbſt der Fuͤrſt Rechte gegen ſein Volk, ſo hat jeder Menſch, als Untertan, Rechte gegen den Lan - desherrn, als Buͤrger, Rechte gegen die Obrig - keit, als Glied der Geſellſchaft, Rechte gegen die Zunft, in der er aufgenommen iſt. Damit nun dieſe Rechte beobachtet, und in ihrer Wuͤrde ungekraͤnkt erhalten wuͤrden, entwarf man von jeher Geſezze und Verordnungen, die nach der Verfaſſung eines jeden Reichs eingerichtet, und durch Eidesleiſtungen geheiligt wurden. Man be -13 ſtellte in den alten Zeiten Ephoren, Araͤopagi - ten und Cenſoren, die dafuͤr Sorge tragen muſten, daß dieſe Rechte, dieſe Verpflichtungen genau erfuͤllt wuͤrden; der Staat gab ihnen das Recht, Buͤrger zur Verantwortung zu ziehen, ſie zu belehren, und zu ſtrafen.

Unſere Richter ſind zu eben dieſem Zwekke da, ſowohl um die Rechte des Landesherrn auf - recht zu erhalten, als auch die buͤrgerlichen Rechte zu ſchuͤzzen, die hauptſaͤchlich dahin zielen: einem jeden Buͤrger ſein Eigentum zu erhalten, und ihn bei den Vorrechten, die ihm der Staat und die Geſellſchaft verleihen, zu ſchuͤzzen. Wer wird alſo nicht zugeſtehen muͤſſen, daß dieſe Rechte zum Wol des Ganzen da ſein und beobachtet werden muͤſſen? Jndeſſen giebt es noch andere Rechte, die heiliger und ehrwuͤrdiger ſind, hei - liger, indem ſie mit dem Griffel der Gottheit im Herz der Menſchen geſchrieben ſtehn, ehrwuͤr - diger, da ſie zugleich mit der Entwikkelung des Chaos, und Entſtehung des Menſchengeſchlechts ihr Daſein empfingen.

Dies ſind die Rechte der Natur und Menſchheit! Rechte, deren Ausuͤbung, Gluͤk14 und Ruhe zu Begleitern, deren Verlezzung aber Ungluͤk und Elend zu Gefaͤhrten hat.

Wie wir dieſe Rechte beobachten, wie wir ſie ausuͤben ſollen, lehrt uns die Natur. Jhre Stimme iſt es, die uns ſtets zuruft: Menſch! lies im Buch der Schoͤpfung, da findeſt du alle deine Pflichten verzeichnet, da ſchrieb die Gottheit Dir jene Rechte nie - der, die du in Ruͤkſicht deiner ſelbſt, und deiner Mitbruͤder zu befolgen haſt, han - dele darnach, mache es dir zur heiligen Pflicht, ſie auszuuͤben und du wirſt gluͤk - lich ſein! Dies iſt die laute Stimme der Na - tur, die uns taͤglich zuhallt, und unſer Herz be - ſtaͤtigt ihren Ausſpruch. Und dennoch ſeh ich Menſchen, die dieſer Stimme ihr Ohr verſchlieſ - ſen, die alle Gefuͤhle der Menſchheit in ihrem Herzen erſtikken; ich ſeh Verbindungen entweiht und zerriſſen, worauf die Natur das Siegel druͤkte, ich ſeh die Menſchheit unterjocht, und keuchend unter den Ketten der Sklaverei ich ſeh heilige Geſezze freventlich entweiht, und zu Menſchenſazzungen herabgewuͤrdigt ich ſeh den Rechtſchaffenen im Staube, den Boshaften auf dem hoͤchſten Gipfel der Ehre ja ich ſehe15 Blutvergieſſen an Altaͤren der Gerechtigkeit, ſeh die Unſchuld in Ketten, auf dem Rade alles dies ſeh ich in unſerm Jahrhundert, dem Zeit - alter des Geſchmaks und der Aufklaͤrung, ver - huͤlle mein Antliz und weine!

Aber kann man die Urſachen nicht beſtim - men, die den Verfall unſerer moraliſchen Guͤte nach ſich ziehn? Diejenigen Triebfedern die unſer Herz ſo verderbt und boͤſe machen, daß wir mit Vorſaz die Rechte der Natur und Menſchheit entweihn, und Bande zerreiſſen, die das hoͤchſte Weſen um uns ſchlang?

Wenn wir die Geringſchaͤzzung gegen die goͤttlichen Geſezze, die Verachtung der Re - ligion bemerken, die auf alle Staͤnde verbreitet iſt, ſo wird man darin leicht den Grund fin - den, warum auch diejenigen Rechte entweiht wer - den, die durch die Religion alſo geheiligt werden.

Wenn man auf die ſchlechte moraliſch feh - lerhafte Bildung unſerer Jugend ſein Au - genmerk richtet, wenn man gewahr wird, wie fruͤh wir anfangen, uns des beſchwerlichen Man - tels der Sittſamkeit und Tugend zu entledigen, und durch ſtumme und laute Suͤnden ſchon im zwanzigſten Fruͤhling unſers Lebens verbluͤht ſind,16 ſo iſt es wol kein Wunder, daß wir auch die Bande freventlich und gewiſſenlos verlezzen, die uns an die Menſchheit ketten.

Wenn die Gerechtigkeit taub iſt gegen die Stimme der Unterdruͤkten, und die Perſon an - ſieht, die ſie richten ſoll; wenn gewiſſenloſe bos - hafte Richter das Recht verkaufen, und ihre Ausſpruͤche nach dem Masſtab ihrer Leidenſchaf - ten einrichten wenn unbaͤrtige Knaben an den troknen Worten der Geſezze klauben, und die Handlungen Anderer beurteilen wollen, da ſie weder die Welt, ihre Mitbruͤder, noch ſich ſelbſt kennen wenn ſie den Aberglauben be - guͤnſtigen und laͤcherlichen Vorurteilen den Sieg uͤber ſich einraͤumen Wenn dir deutſcher Mann! dieſe Szenen nicht blos in Lion und Toulouſe, ſondern in deinem Vaterlande auf - ſtoſſen, wenn du auch in deinen Grenzen Ge - richtshoͤfe findeſt, die zum Schuzze der menfch - lichen Rechte berufen, ſie ſelbſt entweihen, die Menſchheit unterjochen, die Unſchuld in den Staub legen, ſo nenne unſer Zeitalter nicht das aufgeklaͤrte, das Jahrhundert des Geſchmaks und der Verfeinerung, ſo glaube nicht, daß wir weiſer ſind, als unſere Voraͤltern, die auf dieAuf -17Auftechthaltung natuͤrlicher und menſchlicher Rechte, ihr Gut, ja ihr Leben wagten, und den aus ihrem Zirkel ſtieſſen, der ſie verlezte.

Es iſt wol der traurigſte Zuſtand, in den ein Volk gerathen kann, wenn es ſich fuͤr weiſe und aufgeklaͤrt haͤlt, und doch Handlungen be - geht, die von Barbarei und Unwiſſenheit zeugen; wenn es glaubt, alle Tiefen des menſchlichen Verſtandes erſchoͤpft zu haben, und dennoch Aberglauben und Dummheit den Sieg uͤber ſich einraͤumet. Und ich glaube, dies iſt gerade der Fall unſers jezzigen Zeitalters. Und um dies genauer zu entwikkeln, will ich einige unſerer Kenntniſſe beruͤhren, worauf wir ſo ſtolz ſind, wodurch wir uns den Namen eines aufgeklaͤrten Volks zuge - eignet haben. Unſere Vorfahren kannten Reli - gion, und uͤbten ſie mit groſſer Gewiſſenhaftig - keit aus, dafuͤr waren ſie auch roh und unwiſ - ſend. Wir hingegen, ihre verfeinerte Nachkom - men, ſchlagen ein lautes Hohnlachen uͤber jene aͤltere Religion auf, die ihre erſte Reinigkeit be - halten hatte; wir verwerfen die Offenbarung aus den elenden ſeichten Gruͤnden, weil ſie Saͤzze enthaͤlt, die unſere bloͤde und ſtumpfe Vernunft nicht begreifen kann; wir ſchaffen uns eine eigeneB18Religion, die unſern Leidenſchaften, unſern ſinnlichen Begierden ſchmeichelt, und verſtatten jenen Heuchlern den Zutritt zum Volk, die da ſagen: es iſt kein goͤttlicher Erloͤſer des Menſchengeſchlechts! Da ſtehen ſo viele Afterphiloſophen unter uns auf, die mit ihrer Weisheit prunken, und uns in Sillogismen und falſchen Saͤzzen alles rauben wollen, was zu unſerer Beruhigung vor Jahrhunderten gelehret und befolget worden, da treten ſolche Schriften aus Licht, die Religion fuͤr Schimaͤre, Tu - gend fuͤr ein Fantom halten, und oͤffentlich unter uns geduldet werden*)So erſchien in der Michaelmeſſe 1783 ein Buch, Horus genannt, ſo alle Haupt - und Grundwar - heiten der Religion uͤbern Haufen wirft, und mit allem, was ehrwuͤrdig und heilig iſt, ſein Ge - ſpoͤtte treibt. Was fuͤr ein Herz muß im Bu - ſen des Verfaſſers ſchlagen, da er ein ſolches Gewebe von Aberglauben und Dummheit ent - warf, und ſeinen Namen an die Schandſaͤule des.

Dazu kommen noch die ſeichten Begriffe ſo wir in der Jugend von Gott und Religion er - halten; wir gewoͤhnen uns Toͤne zu plappern, von denen unſer Herz nichts weiß, wir lallen19 unſer Glaubensbekenntnis her, ohne zu wiſſen, was wir bekannt, was wir gelobt haben, was Wunder, wenn bei zunehmenden Jahren ſol - che Schriften Eingang bei uns finden, wenn wir ſie mit heiſſer Begierde verſchlingen, ohne ſie genau zu pruͤfen, und die Trugſchluͤſſe einer dunkeln Metaphyſik von den wahren un - terſcheiden.

Wie nun auf der einen Seite Unglauben und Spoͤtterei uͤber das heiligſte und wichtigſte der Religion uns mit deſpotiſcher Strenge be - herrſchet, ſo bedruͤkt uns auf der andern Seite der Aberglauben mit ſeinen ſklaviſchen Feſſeln, und ſo wie wir auf der einen Seite uns aufge - klaͤrt und weiſe waͤhnen, wann wir mit Frivoli - taͤt uͤber die wichtigſten Warheiten des Glaubens hinweggaukeln, ſo laſſen wir uns auf der andern*)Jahrhunderts und der Nachwelt ſchrieb! War ihm etwa das Huſſageſchrei der Lotterbu - ben theurer, als der Beifall der Edlen ſeines Volks? Und hallte ihm nicht jene warnende Stimme zu: Wehe dem Menſchen, durch welchen Aergernis kommt, es waͤre beſſer, daß er nie geboren worden! B 220Seite von Schwaͤrmern und boshaften Betruͤ - gern verleiten, Jrrwege zu betreten.

Dieſe ſind die gefaͤhrlichſte Brut, die die Erde erzeuget, ſie ſchleichen unter der Mine der De - mut einher, und Betrug und Argliſt lauern im Hinterhalt; ſie beſuchen den Tempel, und mit aͤngſtlicher Befolgung der Gebraͤuche ihrer Kir - che gewoͤhnen ſie ſich zu einer ſchmuzzigen Klei - dung, zu einer heuchleriſchen Mine, um das bloͤde Volk zu betruͤgen, und es durch den Ge - ruch ihrer Heiligkeit an ſich zu ziehn.

Sie misbrauchen den Namen der Gottheit, und uͤben Handlungen in der Huͤlle der Nacht aus, dafuͤr der wilde Kamſchadale erroͤten wuͤrde. Da ſie die Pflichten der Geſellſchaft freventlich verlezzen, und ihre Nebenmenſchen hintergehn, wie wollen ſie die Pflichten gegen Gott erfuͤllen? Denn was ſind ſolche Leute an - ders als faule laͤſſige Geſchoͤpfe, welche die Bande des geſellſchaftlichen Lebens zerreiſſen, Menſchen, die ihre Jugend dem Muͤſſiggange und der Wolluſt geweiht, ihre Guͤter verpraßt, und ſich ſatt geſchwelgt haben auf dem weichen Pflaum der Wolluſt und Ueppigkeit Men - ſchen, die ihre Nebenmenſchen bevortheilt,21 Schulden auf Schulden gehaͤuft, und als Fluͤchtlinge davon geeilet? Menſchen, die anvertraute Schaͤzze des Landes entwendet, ihre Klienten betrogen, Wittwen und Waiſen beraubt haben. Dies iſt jenes Gezuͤcht von Men - ſchen, die ſich, um ein gemaͤchliches Leben zu fuͤhren, den blinden Aberglauben des vornehmen und geringen Poͤbels zn Nuzze machen, der Obrigkeit und ihrer Geſezze ſpotten, nuͤzlichen Anordnungen zur Aufrechthaltung der wahren Religion das Gepraͤge der Unlauterkeit und Kez - zerei geben, Schmaͤhſchriften wider wuͤrdige Glieder der Kirche anzetteln, und mit fanatiſcher Wut den Poͤbel zum Aufruhr entflammen. Wem ſolte die Geſchichte der Wunderfrau Mutſch - ler in Schwaben eines Roſenfelds des Monddoktors der Revolution uͤber das neue Geſangbuch in den preuſſiſchen Staaten und der Sektirer Apiz und Hen - ning*)Ein gewiſſer Henning im Meklenburgiſchen, gab ein Buch unter dem Titel: der reine Kri - ſtallſtrom heraus, und rottete eine groſſe Zahl ſeiner Landsleute an ſich, bis er endlich von der Obrigkeit ins Tollhaus gebracht wurde. unbekannt ſein? Wer waͤre nicht mitB 322mir einverſtanden, wie nachteilig ſolche Schwaͤr - mer und Diener der Finſternis und des Aber - glaubens dem Staat und der Geſellſchaft ſind; nachteilig fuͤr die wahre Religion und Ver - vollkommnung des Menſchen, nachteilig fuͤr den Staat und die buͤrgerliche Ordnung, die eine Kette des Ganzen iſt? Denn wenn der Aberglaube noch mit ſeinen eiſernen Feſſeln klirrt, ſo wird das buͤrgerliche Band der Geſellſchaft zerriſſen, Eintracht und Liebe fliehn, Haß und Verfol - gungsgeiſt wuͤten, und hauchen verderbende Duͤnſte uͤber das Land. Warum ſchweigt aber die Obrigkeit, und geſtattet, daß ſolche Jrrlehrer und falſche Proſelyten in Schaafskleidern einher ſchleichen und die Seelen wuͤrgen; man ſollte ſie ausloͤſchen aus dem Regiſter der Buͤrger, man ſende ſie in die Bergwerke und Gruben, um, da ſie doch einmal das Licht ſcheuen, etwas zum Nuzzen der Geſellſchaft verrichten zu koͤnnen.

Kann man aber bei Erblikkung ſolcher Sze - nen ſagen, daß wir aufgeklaͤrt ſind? Denn es iſt nicht blos der niedrige Poͤbel, der auch in Athen Poͤbel war, ſondern auch derjenige Theil des Volks, der uͤber dem Poͤbel erhaben ſein will,23 der ſich vom Aberglauben unterjochen, und von Heuchlern beherrſchen laͤßt

Doch laßt uns noch eine anderere Szene be - trachten. Unſere biedere Ahnherren waren keuſch und zuͤchtig, und ſezten in Ausuͤbung der Keuſch - heit ihren Ruhm und Groͤſſe; wir aber, mit hel - len aufgeklaͤrten Begriffen, kennen das Wort nicht mehr, und haben die Keuſchheit aus unſern Grenzen verbannt. Eheliche Treue iſt zum Maͤr - chen bei uns herabgeſunken, an das nur noch der Poͤbel in Huͤtten glaubt, wir ſezzen uns uͤber die ſeichten Begriffe der Treue weg, und ſuchen jezt ſogar Polygamien einzufuͤhren, und Ehe - verbindungen zu bloſſen Vertraͤgen her - abzuſezzen, die ohne Mitwuͤrkung der Religion ſancirt werden ſollen.

Unſere Jugend ruͤhmt ſich der unruͤhmlichen Siege, die ſie auf dem Pfade der Wolluſt er - kaͤmpfet, erroͤtet nicht, Toͤne zu ſtammeln, dafuͤr der Tahitiſche Bewoner ſich entſezzen wuͤrde. Ohne Grundſaͤzze in die Welt geſezt, waͤlzt ſie ſich auf dem uͤppigen Lager der Wolluſt und Un - zucht, ſchwelgt am Male der Ueppigkeit und Voͤllerei, bis der entnervte Bau des Koͤrpers ſinkt, und das wankende Skelet ſiech und athem -B 424los herumkeucht, und von jedem Luͤftchen ange - haucht, ein elendes jaͤmmerliches Leben ausduͤn - ſtet. Das vollwangigte deutſche Maͤdchen verrichtete Maͤnnerthaten, liebte nur den mu - thigen Krieger, der beſpruͤzt vom Blut vaterlaͤn - diſcher Feinde in ihre ofne Arme eilte, und ausruhte von errungenen Siegen Ward Frau von unbeſcholtener Treue, von edlen Sitten, der Grosmut und Gaſtfreiheit, ward Mutter, die mannbare Soͤhne zeugte, und ſchoͤnen Toͤchtern das Daſein gab Und wir? o, ich mag den Vorhang nicht zuruͤkſchlagen, und euch das traurige Bild eurer Toͤchter, Frauen und Muͤtter zeigen! es nur zu entwer - fen, wuͤrde mein Herz erſchuͤttern, und ich koͤnnte mit der Vorſicht murren, daß ſie uns ſo verworfen hat. Aber daß wir glauben, wir ſind aufgeklaͤrt und weiſe, wann wir alte biedere Sit - ten verachten, am Narrenſeile des Franzmanns tanzen und jeder neuen laͤcherlichen Mode den Zugang verſtatten, wann wir die zuͤgello - ſen Sitten des Auslands nachahmen und alle heiligen Gebraͤuche der Religion entheiligen, dies iſt gewiß der traurigſte, wehmuͤthigſte Anblik!

25

O, daß die Vorſicht einen Mann ins Sein rief, der Kraft genug haͤtte, die Dekke wegzu - ziehn, die unſer bloͤdes Auge umhuͤllet, der Mut genug haͤtte, die ſklaviſcheu Feſſeln zu zer - brechen, womit ein fremdes Volk uns verwun - det, der den Tempel der Wolluſt und Un - zucht zernichtete, und die Saͤulen zerſtoͤrte, die wir der Mode und dem Luxus errichtet, und der unter dem Schutt und Ruinen einen Tempel der Warheit, der Treue und Gros - mut errichtete! Welch ein gluͤklicher Traum beſchleicht mich, ich ſehe dieſen Tempel aus dem Schutt erſtehen, ſehe den deutſchen Mann ihn mitten unter den Denkmaͤlern eurer Schande gruͤnden, und der Hider den Kopf zer - treten, die ſich ihm entgegen waͤlzt. Jch ſehe die Scharen der Kinder meines Volks wallfahr - ten, und ihre Knie vor den Altaͤren der Tugend und Rechtſchaffenheit beugen; ſie geloben heiſſe Geluͤbde fuͤr die Beobachtung goͤttlicher Geſezze, nicht Opfer und Gaben ſpenden ſie, ſondern Herzen, die rein und flekkenleer ſind, die em - por wallen bei den Leiden der Menſchheit, und ſich in lautre Stroͤme der Liebe und des Wol - wollens ergieſſen, die Doch hoͤre aufB 526allzugeſchaͤftige Fantaſie! es ſind ja nur Traͤume die du ausbildeſt, und wo waͤre die Flur meines Vaterlandes, da dieſer Tempel gegruͤn - det iſt, wo ich ſeine Schwellen betreten, und ausrufen koͤnnte: nun iſt mein Vaterland gluͤklich, gluͤklich durch Religion und Tugend, gluͤklich durch Ausuͤbung der Tugenden ihrer Ahnherren? Dann erſt koͤnnen wir ſagen, daß wir aufgeklaͤrt und weiſe ſind, aufgeklaͤrter, als der Bewoner des Jndus, weiſer als der Jrokeſe und Neger Noch ſind wir’s nicht, ob wir gleich waͤhnen, auch deshalb es zu ſein, weil Friede und Gerechtigkeit ſich ſchweſterlich umarmen, und die Gerechtigkeit durch den Mund weiſer und rechtſchaffener Maͤnner ihre Ausſpruͤche thut.

Es iſt wahr, und Dank ſei es Deutſchlands Genius! auf unſern Richterſtuͤhlen ſizzen Maͤn - ner, die Recht und Gerechtigkeit handhaben, und die Rechte der Natur und Menſchheit in ihrer Wuͤrde erhalten aber giebt es denn auch nicht Richter, (moͤge doch ihre Zahl klein und geringe ſein) die ihren Stand und Namen entweihen, und Handlungen uͤben, dafuͤr die27 Menſchheit erroͤtet? Giebt es nicht Knaben, die zu Richter des Volks beſtellt ſind, die ohne Philoſophie des Lebens, ohne Kenntnis des Menſchen, ſeiner Neigungen und Handlungen, ihre Bruͤder richten, und das Schwerd der Ge - rechtigkeit durch unſchuldiges Blut der Buͤr - ger entheiligen? Die Geſchichte unſers Zeit - alters liefert uns hiervon traurige Szenen, und macht den Staat aufmerkſam, ſeine Richterſtuͤhle mit Maͤnnern zu beſezzen, die wiſſen, was Recht iſt, denen Rechtſchaf - fenheit und Menſchenliebe nicht fremde Na - men ſind, die aber auch ſich Kenntnis der Welt und ihrer Bewoner, Kenntnis der Ge - ſchichte und Litteratur, verſchaft haben, die in das Jnnerſte der menſchlichen Handlungen drin - gen, und darnach Suͤnde und Fehl abmeſſen. Denn was iſt die Rechtsgelartheit ohne dieſe Kenntniſſe? Eine elende Wiſſenſchaft fuͤr das Gedaͤchtnis, die mit Aufopferung des Verſtan - des wuͤrket. So wie der Theologe, der blos ſeine Dogmatik herleiern kann, ein elender Stuͤmper iſt, und zu einem noch elendern Leh - rer des Volks herabſinkt, ſo kann ich mir auch kein armſəligeres, finſteres und fuͤhlloſeres28 Geſchoͤpf denken, als einen Rechtsgelehrten, der nur ſeine Pandekten und Kodex verſteht, im uͤbrigen aber nichts auſſer und neben ſich kennt. Wird er Richter, wehe dann dem Volk, deſſen Rechte er vertheidigen und fuͤhren ſoll! der arg - liſtige Mann wird uͤber ſeinen ſchwachen Kopf ſiegen, und ſeiner ungerechten Sache den Anſtrich der Warheit geben; der andere, der ſeine Sache plan darſtelt, wie ſie iſt, und keine Farben hat, ſie zu erheben, wird das groͤſſeſte Recht durch die Unwiſſenheit des Richters verlieren, und ſich durch eben die Geſezze um ſein Eigentum ge - bracht ſehen, die es ihm ſichern ſollten. Wird er gar ein peinlicher Richter, wehe euch ihr Geſchoͤpfe, die man vor ſeinen Richterſtul, als Verbrecher ſchlept! Er hat nie einen Blik auf den Menſchen gethan, er kennt keine ſeiner Handlungen, ſeiner Triebe, mißt eine jede That nach ihrem aͤuſſern Schein, und ihre Be - ſtrafung nach der dunkeln Halsgerichtsordnung Karls V. ab, und ſo faͤllt er Urteile, die ſo barbariſch als kraͤnkend fuͤr die Menſchheit ſind. Nimmt er uͤberdies Geſchenke, und ſieht die Perſon an die er richten ſoll, ob ſie einen vor - nehmen Stand, Einfluß und Vermoͤgen hat,29 nun ſo weine, verlaſſenes, unterdruͤktes Volk, verbirg dich in deine armſelige Huͤtte, laß Ungerechtigkeit und Bedruͤkkung auf dich los - ſtuͤrmen, und denke: daß ein Gott Vergelter ſei O, wie treffend und wahr iſt die Stelle wo Woldemar einen ſolchen Rechtsge - lehrten ſchildert, der nichts weiß als dies allein ſie iſt zu ſchoͤn, als daß ich der Verſuchung unterliegen koͤnnte, ſie hier meinen Leſern mitzuteilen.

Sieh, ſagt Woldemar zu ſeinem Freund Dorenburg, es iſt nichts, was dem Men - ſchen alles Menſchliche ſo auszieht, Ge - fuͤhl und Verſtand ſo ganz in ihm ertoͤdet als die iſolirte Rechtswiſſenſchaft, und ich ſchwoͤre dir, mehr, als elende, ſinn - loſe, juriſtiſche Schulfuͤchſerei iſt hier nicht in den Leuten; ſie haben dir, Gott weiß! doch nicht die mindeſte Einſicht in Staats - verwaltung: nicht einen Funken wahre Philoſophie, nicht ein Scherflein aͤchten Wizzes, Kenntniß der Welt, der Ge - ſchichte Litteratur! Kein Auge voll nichts, nichts! die bloſſe, platte, leere Juriſterei Und was ſich die30 Schoͤpſe von Pedanten darauf einbilden, daß ſie keinen Menſchenverſtand mehr ha - ben, das iſt entſezlich Sazzungen und Formalitaͤten! da alleine das, nicht ge - ſunde Vernunft, in Foro zur Sache thut, ſo ſind Sazzungen und Formalitaͤten ihnen allein ehrwuͤrdig, und ſie lernen geſunde Vernunft fuͤr nichts achten. Mit dem we - ſentlich Gerechten, mit dem Billigen, geht es ihnen eben ſo: ſie lachen daruͤber lachen dich aus, daß du ſo albern und un - wiſſend biſt, und meinen damit waͤr etwas gethan. Koͤmmſt du ihnen mit hoͤhern Grundſaͤzzen, als Wolfahrt des Staats, Gluͤkſeligkeit der Buͤrger, Jntereſſe der Menſchheit! ſo wuͤrdigen ſie dir nicht, dich anzuhoͤren, das iſt ihnen Wiſchiwa - ſchi fuͤr muͤſſige Leute, armſelige Kin - derei! es wird ihnen uͤbel davon, ſie ſchar - ren und ziſchen. Kurz, ehrlicher Freund, lieber Bruder Dorenburg! du ertraͤgſt es nicht, gingeſt fuͤr Ekel und Abſcheu zu Grund.

Koͤnnt ich doch dieſe Worte an alle Thuͤren der Gerichtsſtuben niederſchreiben, damit ein31 jeder angehende Buͤrger der Themis es leſe koͤnnt ich ſie den Lehrern der Rechte an ihre Hoͤrſaͤle ſchreiben, daß ſie ihren Zuhoͤrern Worte ans Herz redeten, und jedem angehenden Juriſten zuriefen:

Es iſt nicht genug, junger Mann, daß du das roͤmiſche Chaos der Geſezze entwik - kelſt, daß du ſie herplappern, und nach der Leier abſingen kannſt, du mußt auch die Welt, den Menſchen, dich ſelbſt kennen, du mußt nicht blos eine obenhin geſchoͤpfte Kenutniß der Litte - ratur haben, nein du mußt ihr innerſtes Heilig - thum durchdrungen haben; du mußt eine an - ſchauende Kenntniß der alten und neuen Geſchichte beſizzen, wie Voͤlker entſtanden und Reiche gegruͤndet ſind, wie ſich die Menſchen zu Staaten gebildet, und ſich gewiſſe Vorſchriften entworfen, darnach ſie ihre Handlungen einrich - ten koͤnnten, wie der Karakter eines Volks ihr Klima ihre innere Verfaſſung, ein Geſez notwendig gemacht, was bei einem andern Volk unter einem andern Himmelsſtrich, thoͤricht und zweklos geweſen waͤre. Du mußt die Verfaſ - ſung deines Vaterlandes die beſondere Einrichtung der Provinz, deren Bewoner32 du biſt, genau kennen, mußt deine Nebenmen - ſchen und die Triebfedern ihrer Handlungen ge - nau erforſchen ihre Denkungsart und die Richtung ihrer Handlungen auf dieſen und jenen Gegenſtand erwegen, und nach allen dieſen Re - ſultaten dir Vorſchriften bilden, die zur richti - gen Fuͤhrung deines kuͤnftigen Richteramts ab - zwekken. Du mußt dir dann aber auch eine wahre Philoſophie des Lebens eigen machen, die nicht in dunkeln Sillogismen, und abſtrakten Lehrſaͤzzen beſteht, ſondern aus dem Herzen ſpricht, und nach guten und edlen Grundſaͤzzen handelt. Verbinde mit dieſen Kenntniſſen ein edles rechtſchaffenes Herz, das mit wahrer Theilnehmung die Leiden ſeiner Bruͤder zu lin - dern ſucht, weiche nie ab vom Wege der Tugend, und zeige daß du ein deutſcher Mann ſeiſt, und ich will die Stadt, das Land und deren Be - woner gluͤklich preiſen, davon du einſt Richter und Rathgeber ſein wirſt. Wandele mutig auf der Bahn der Rechtſchaffenheit, um ſo mehr, da ſie ſelten betreten wird, achte nicht das Troz - zen der Gewaltigen im Lande und unterlaß keine edle Handlung, weil ſie ein Geſpoͤtte der Welt und ihrer Kinder iſt. Und wenn dich einſt derhaͤmiſche33haͤmiſche Neid anziſcht, und alle deine gute Un - ternehmungen zu vereiteln ſucht, ſo huͤlle dich in deine Tugend, und in den Glauben einer kuͤnf - tigen Vergeltung ein Sei ein Fels mitten im Meere, der nie weicht, wann auch Orkane um ſeinen Scheitel wuͤten, und Gewitter um ihn kreuzen. Gluͤkliches Volk, deren Richter auf dieſer Ban wandeln! gluͤkliche Juͤng - linge! die ſo Aſtraͤens Tempel betreten Aber wie geringe iſt die Zahl dieſer, in dem Lande mei - ner Vaͤter! muß auch hier ein Diogen ſeine La - terne ausloͤſchen? Doch, zur Belehrung zur Zurechtweiſung, auch fuͤr jene, die ſchon auf Richterſtuͤhlen ſizzen, und die erſt zu kuͤnfti - gen Verweſern der Gerechtigkeit eingeweiht wer - den, will ich Zuͤge entwerfen, und euch, die ihr Warheit aufſucht, wo ihr ſie findet, durch wahre Begebenheiten zeigen, wie die Rechte der Natur und Menſchheit, durch Men - ſchen entweiht, und die ſuͤſſen Bande, welche Religion und Tugend knuͤpfen, auf - geloͤſet werden. Jch will euch das traurige Schikſal uugluͤklicher Bruͤder ſchildern, die gluͤklich haͤtten ſein koͤnnen, wenn Menſchen ih - nen nicht das Gewand der Menſchheit ausgezo -C34zogen haͤtten. Weihet auch ihrem Schikſal Traͤ - nen der Ruͤhrung und des Gefuͤhls, und laſſet uns beidem traurigen Ueberreſt ihrer Aſche, den frohen Gedanken denken, daß ſie nun ausge - rungen haben den ſchweren Kampf, und am Ziele ſind

III. Seldau, nicht zur Knechtſchaft geboren nur durch Menſchen unterjocht, und ein Opfer der Geſezze.

Wie oft hat ſich meine Seele empoͤrt, wann ich das tiranniſche, unedle Betragen der Herren ge - gen ihre Dienſtboten ſah, wie oft hat duͤſtre Schwermut meine Stirne umwoͤlkt, wann ich den ſtolzen Junker ſeine Bauern als Sklaven behandeln, wann ich die Fluͤche und Drohungen aus der heiſern Kehle des Martisſohns hoͤrte, und ein Zeuge war, mit welcher unmenſchlichen35 Haͤrte er ſeine Untergebene behandelte. Wenn nun der auf’s aͤuſſerſte gebrachte Menſch auch die Gefuͤhle der Religion bei ſich erſtikket, wenn er den Gedanken entfaltet, auch du biſt ein Menſch, begabt mit all den Vorrechten der Menſchheit, die der Barbar dir entreiſſen will Wenn ſeine Wangen vom heiſſen Gefuͤhl erlitte - nen Unrechts gluͤhen wenn ſeine Stirne dampft, ſein Blut ſich kreiſet und Wellen wirft, und er nun das Meſſer in die Gurgel ſeines Hen - kers ſtoͤßt, oder mit einer Kugel uͤber die Tiran - nei ſeines Herrn ſieget, ſage, wirſt du ihn nicht bedauern? Menſch! wirſt du dein Angeſicht von ihm, als von einem gewiſſenloſen Raͤuber weg - wenden und ihm fluchen?

O moͤchte dies keiner unter uns! denn einige Szenen anders verruͤkt in deinem Leben, und du waͤreſt vielleicht eben das, eben der bedauerns - wuͤrdige Menſch, der einen Unmenſchen erſchlug, weil er ihm die Rechte der Menſchheit entziehen wollte. Nicht zur Knechtſchaft geboren nur durch Menſchen ins Joch der Sklaverei geſchmie - det, wer kann zuͤrnen, wenn man die Ketten von ſich wirft, und nach Freiheit ringet? Auch der zertretene Wurm kruͤmmt ſich unter den FuͤſſenC 236des Wanderers, und kehrt den Stachel wider ſei - nen Verderber. Und der Menſch, der Herr der Schoͤpfung, ſollte dieſes Vorrecht nicht haben?

Jch will euch eine Geſchichte niederſchrei - ben, die eure Stirne roͤthen ſoll, nicht ein Spiel der Fantaſie, nein Warheit, wie man ſie immer noch auf deutſchem Boden findet.

Friedrich Seldau war der Sohn eines be - guͤterten Landmanns in Schwaben, der ihm eine ſolche zwekmaͤſſige Erziehung gab, wie er in dem engen Kreiſe ſeines Lebens bedurfte. Eine un - gluͤkliche Feuersbrunſt legte den Wohnſiz des Grei - ſes in die Aſche, und er ſah ſich mit ſechs zum Teil unerzogenen Kindern in die aͤuſſerſte Armut verſezt, ja was noch mehr, ein harter Glaͤubi - ger lies ihn um funfzig Thaler ins Gefaͤngnis werfen. Friedrich Seldau fuͤhlte die Pflichten eines Sohnes, warf ſich zu den Fuͤſſen des Glaͤubigers, und flehte um Erbarmen fuͤr ſeinen alten kranken Vater; aber das Mitleid wohnte nicht in dem Herzen dieſes Unmenſchen, ſondern er war tuͤkkiſch genug den jungen Menſchen in die Haͤnde der Werber zu uͤberliefern. Sel - dau war wolgewachſen, in der Bluͤte der Ju - gend Zwanzig Fruͤhlinge hatte er erſt in Un -37 ſchuld und Friede verlebt Eine gute Beute fuͤr den Werber. Man ſuchte ihn mit Liſt zu uͤber - reden, und da man ihn ins Garn gelokt, ſo daß er ſich aus den Schlingen nicht mehr heraus - wikkeln konnte, ſo gab man ihm ſechzig Tha - ler Handgeld, um ſeinen Vater zu retten. Er nahm dies Blutgeld befriedigte den Glaͤu - biger, und ſein Vater ward ſeines Gefaͤngniſſes entlaſſen. Aber wie entſezte ſich der Greis, da er ſahe, wie theuer das Loͤſegeld war! Was half ihm die Freiheit, da er die einzige Stuͤzze ſeines Alters verlor da man ihm den Troſt ſeiner Jahre, ſein liebſtes Kind entriß? Noch lag er ſchluchzend an ſeinem Halſe, und fuͤhlte die Weh - mut des Scheidens, wie ſie ein ſolcher Vater fuͤhlen konnte; man riß ihn fort Er jam - merte laut, gebt mir meinen Sohn wieder, man ſtieß ihn zuruͤk und ſchlepte den Juͤngling mehr tod als lebendig weg.

Seinen Geſchwiſtern ein Lebewol zu ſtam - meln den Ort, wo er ſeine Tage in Unſchuld und Freude verlebt, noch einmal zu ſehen, und zu ſegnen, auch dies ward ihm nicht einmal. Man begegnete ihm hart und grauſam, lachte ſei - ner Traͤnen, verſpottete und hoͤhnte ihn, undC 338er ging ſchweigend und duldend zum Ort ſeiner Beſtimmung. Ein Gluͤk war es fuͤr ihn, daß der Hauptmann unter deſſen Kompagnie er kam, ein edler Menſchenfreund war. Er hoͤrte ſeine Geſchichte, begegnete ihm liebreich, bemitleidete ihn, und da er Faͤhigkeiten und Talente bei ihm fand, und ihm ſeinen Stand minder beſchwer - lich machen wollte, ſo nahm er ihn zu ſich ge - wis haͤtte er ihn auch ſeiner Familie wiederge - ſchenkt, wenn nicht der Tod ploͤzlich ſeine Tage verkuͤrzt haͤtte. Seldau folgte troſtlos der Leiche ſeines Wohlthaͤters, und wiſchte groſſe Tropfen vom rotgeweinten Auge.

Nun muſte er den Dienſt ſeiner Kameraden verrichten, und da er mehr auf ſich hielt, als an ihren Mut[w]illen und Thorheiten Teil zu neh - men, ſo ſah er ſich oft ihrem Gelaͤchter und Spott ausgeſezt. Wie ſehr mußte dies ein edles Herz kraͤnken wie ſehr mußte es gebeugt wer - den! Aber es warteten noch haͤrtere Pruͤfungen auf ihn. Er kam als Aufwaͤrter bei einem jun - gen Officier des Regiments, deſſen Karakter meinen Leſern in all ſeiner Abſchenlichkeit aufzudekken, mein Pinſel ermattet. Kurz, kein Fuͤnkchen der Menſchheit loderte bei ihm auf. 39Religion und Menſchenliebe waren ihm fremde Namen, bei denen er ein lautes Hohngelaͤchter aufſchlug. Jn der Jugend hatte er ein Wolge - fallen an der Marter unſchuldiger Thiere gefun - den, hatte ſeine Freude, wenn er ſeine Neben - menſchen beruͤkken, und in Elend und Jammer ſtuͤrzen konnte Er ſah ſich als den Herrn der Schoͤpfung, und die andere Klaſſe von Menſchen als Sklaven an; ſein tiranniſches Betragen ge - gen ſeine Untergebene uͤberſchritt alles, was man von einem Weſen ſich vorſtellen konnte, das den Namen Menſch fuͤhrt. Er ſchaͤndete den Rock ſeines Fuͤrſten, indem er Handlungen ver - uͤbte, die auſſer dem Gebiet der Menſchheit ſind, taͤglich waͤlzte er ſich im Schlamm der Luͤſte und der Voͤllerei, kurz, er verhunzte Gottes ſchoͤnes Bild durch ein ganzes Gewebe von Abſcheulich - keit und Schande. Seldau wurde das taͤgliche Opfer ſeiner Unmenſchheit; die eifrige Beobach - tung ſeiner Pflichten folterte den Unmenſchen, daß er keine Gelegenheit fand, ſeine Wut in ihrer ganzen Staͤrke an ihm auszulaſſen; er nahm daher immer zu Erdichtungen und Luͤgen ſeine Zuflucht Seldau durfte ſich nicht ver -C 440antworten, das war wider die Subordination, und ſo ward er unſchuldigerweiſe immer blutruͤnſtig geſchlagen. Jch will nicht die unzaͤhligen Arten von Bedruͤkkung und Grauſamkeit entziffern, die Seldau ertragen mußte, ſie niederzuſchreiben, wuͤrde meinem Herzen wehe thun. Aber, den - ket euch die innern Kaͤmpfe ſeines geaͤngſteten Geiſtes! das ſchlafloſe hin und herwerfen auf dem harten Lager! die heftigen Schmerzen ſeiner immer friſch aufgeriſſenen eiternden Wunden! das heiſſe Gefuͤhl erlittenen Unrechts, das auch im Herzen des wilden Huronen keimt! denkt euch das alles, und ſprecht, was wuͤrdet ihr ge - than haben? Wuͤrden nicht Stunden gekommen ſein, wo ihr es auch empfunden, daß jeder Menſch gleiche Rechte habe, und ein Gott uͤber den Sternen wandele, bei dem kein Anſe - hen der Perſon iſt der den Stolzen demuͤ - tigt, und den Niedern aus dem Staube erhebt Seldau ertrug alles duldend und ſchwei - gend, blikte gen Himmel flehte rang die Haͤnde und ſchluchzte, Vater, rette mich! Einſt kam ſein Herr um Mitternacht, ſeiner Gewonheit nach, in der groͤßten Trunkenheit zu Hauſe; mit bruͤllender Stimme ſchrie er, Ka -41 naille! ihm entgegen Zitternd trat Seldau zu ihm und erwartete ſeine Befehle.

Beſtie! donnerte der Barbar, ſchaff mir ein Menſch ins Bette, oder dich ſollen Le - gionen Teufel den Nakken brechen. Sel - dau warf ſich vor ihm auf die Knie und flehte, ihn hiemit zu verſchonen wuͤtend ergrif der Un - menſch den Degen den Degen! den ihm ſein Fuͤrſt zur Verteidigung ſeiner Rechte den ihm das Vaterland zur Rettung der Bedruͤk - ten gab, und hieb auf den ohnmaͤchtigen Men - ſchen, der ſich wie ein Wurm im Staube kruͤmmte. Nachdem er ihm verſchiedene Wun - den verſezt, ſo daß das Blut den Boden faͤrbte, ſo ſtieß er ihn unter den ſchreklichſten Verwuͤn - ſchungen zur Stube hinaus, und bedrohte ihn, morgen noch anders behandeln zu laſſen, wenn er nicht ſogleich ſeinen Befehl vollſtrekte.

Seldau lag an der Schwelle blutruͤnſtig und halb ſinnlos; ſeine ſtarke Natur erholte ſich bald wieder, aber mit ihr erwachte auch das ſtarke Gefuͤhl erlittener Kraͤnkung. Mit jedem erneuerten Schmerz ward dies Gefuͤhl hef - tiger mit jeder Verzukkung, ſchlug das Blut in den Adern ſtaͤrker, bis es endlich alleC 542Schranken durchbrach, und in ſtarken Wellen alle Adern durchkreiſte. Volle, gluͤhende Rache ſtand vor ihm, und der Gedanke entſtieg ſchnell ſeiner Seele, den Urheber all ſeiner Lei - den zu vernichten, und dann ſelbſt vernich - tet zu werden. Bange Furcht noch wartenden Elends gattete ſich zur Verzweifelung, die in einer gaͤnzlichen Zerruͤttung ſeines Verſtandes uͤbergieng. Nun kannte das tobende Herz keine Grenzen mehr, es lechzte blos nach Blut Blut ward ſein erſter ſein lezter Gedanke; und ſo mit gluͤhendem Blik mit rollendem Lodern im Auge mit unerſchrokkenem Mut, ſtuͤrzte er ins Gemach ſeines Herrn. Er fand ihn ſinnlos hingeſtrekt aufs Bette, als ein ver - nunftloſes Thier; eilend faßte er den am Boden liegenden Degen, noch blutig von ſeinem Blut, und ſtieß ihn mit der groͤßten Macht, die nur dem Wahnſinn eigen iſt, durch die Bruſt ſeines Barbaren. Schnell entſprudelte das Leben der Wunde, und mit ihm entfloh die Seele zum Ort der Vergeltung der Rache. Seldau entfloh dem lezten dumpfen Roͤcheln, ging mit ſchnellen Schritten zum Richter, und rief mit Freudig - keit: ich hab meinen Herrn erſchlagen,43 gebt auch mir den Tod ich hab ihm ein Leben geraubt, ein Leben voll Abſcheu - lichkeit und Schande; er aber hat mich tauſendmal gefoltert, mir alles geraubt, meinen Gott, meinen Himmel, meine Tu - gend. Seldau ward in ein finſteres Loch geworfen, wo nur ſelten ein matter Lichtſtral durchbrechen konnte Man verzoͤgerte ſeinen Prozes, und er bat mit traͤnendem Ausblik, ihm eines Daſeins zu entlaſten, das ihm zur druͤk - kenden Laſt wurde. Endlich kam das Urtel, von unten auf geraͤdert, ſein Koͤrper aufs Rad geflochten. Mit ſtandhaftem Mut hoͤrte er’s keine Verzukkung, keine Mine enthuͤllte Schmerz und bange Furcht. Oft fand ihn der Kerkermeiſter ringend und ſchluchzend im Gebet und Kampf vor ſeinem Gott Fuͤhllos verlies er ihn, aber der uͤber den Sternen wandelt, ſah ihn und merkte auf ſein Flehn. Er loͤſchte ſeine Schuld, ſandte Ruhe und Troſt in ſeine ermat - tete Seele, und gab ihm Standhaftigkeit und Mut, unerſchrokken dem Tode entgegen zu eilen. Die Stunde kam ſchwarz und finſter ruhte ſie auf den jungen Schwingen des Tages; die Natur huͤllte ſich in Trauer, uͤber den Tod eines44 Menſchen, der ein guter und edler Mann haͤtte ſein koͤnnen, wenn ſeine Bruͤder ihm nicht das menſchliche Gewand ausgezogen haͤtten. Doch Seldau ging heitern Geiſtes zum Richtplaz ſah um ſich her den ſtuͤrzenden Poͤbel blikte einen jeden ruhig an, und beſtieg den Todesort. Vater vergib mir! ſtammelte er leiſe einige Stoͤſſe, und ſeine Seele entfloh entfeſſelt und los von Suͤnden und Fehl, zum Ort der Ent - bundenen, wo keine Traͤne rinnt, wo Wonne der Engel ſtroͤmt. Der Menſch vom Poͤbel weidete ſein Auge an dieſem Schauſpiel, und ſah es mit mordduͤrſtiger Neugierde anfangen und endigen. Auch ſo manche gingen voruͤber, ohne es gefuͤhlt und empfunden zu haben, auch der Gerichtete iſt dein Bruder! Sein Herz ſprach ihn frei vom Mord, es wuſte nichts von einer That, die Verzweiflung und Wahnſinn erzeugte.

Du aber, der du Menſch und Bruder biſt, der du das Jnnere menſchlicher Hand - lungen erforſcheſt, und nicht am Aeuſſern ſtehen bleibeſt, der du im Rauber und Moͤrder, den Geſezzen nach, auch den Mitbruder erkenneſt, und ihm dein Mitleid, deine Traͤnen ſchenkeſt, weih der gekraͤnkten Menſchheit eine Traͤne;45 ſieh, das iſt der Menſch mit dem beſten Herzen mit der vollſten Bruderliebe, kann er ungluͤklich und elend, kann durch Henkerknechte ein Leben enden, das er unter Traͤnen und Seufzern verlebte. Jhr aber Maͤnner und Juͤnglinge! die ihr einſt eure Bruͤder richten, und Bluturteile niederſchreiben ſollt, wendet eure Augen nach jenem Rabenſtein. Ein holer Sche - del blinkt euch entgegen, und zerſtuͤkte Gebeine dienen kraͤchzenden Raben zur Speiſe. Der ſau - ſende Nord pfeift zwiſchen den Speichen, reißt ein Stuͤk nach dem andern vom flatternden Ge - wande los, und wehets in alle vier Winde. Der volle Mond haͤngt aus duͤſtern Wolken melancho - liſch uͤber dieſe Staͤte, und wirft einen matten Schein uͤber den Schedel, auf dem nur noch ein - zelnes Haar ſich kruͤmmt. Der Fremdling wan - delt mit eilfertigen Schritten voruͤber, Schrek - ken rieſelt in ſeinen Haaren, und kalte Furcht macht das Blut eine Zeitlang ſtokkend die er - hizte Fantaſie hoͤrt das Winſeln, und das Geaͤchze des Sterbenden, ſieht Geiſter umherirren, wann die zwoͤlfte Stunde der Nacht ertoͤnt, und wie - der entfliehn, wann ſie Morgenluft wittern.

46

Sollte nicht dieſe entworfene Geſchichte ein Maͤrchen ſein? hoͤre ich manchen hinter der Sze - ne rufen; aber bei dem helleuchtenden Schim - mer der Warheit, ſie iſt es nicht ich habe in dem Hauſe gewohnt, wo ſie ſich in der Mitte dieſes Zeitalters zugetragen, man hat mich ſogar fuͤr den herumwandelnden Schatten des entleib - ten Boͤſewichts, furchtſam machen wollen aber ich habe nie an Geſpenſter und Geiſter geglaubt, habe ſie immer als Bilder der erhizten Fantaſie angeſehen, und wie koͤnnte auch ein Menſch, deſſen ganzes Leben eine Kette von Niedertraͤch - tigkeit und Bosheit war, der ſo vielen im Leben Ruhe und Gluͤk raubte, auch noch im Tode die Ruhe anderer ſtoͤren koͤnnen? Aber oft in der Huͤlle der Mitternacht, wann der Mond me - lancholiſche Schatten uͤber die Vorhaͤnge meines Bettes warf, wann meine Fantaſie in duͤſtern Bildern umher gaukelte, ſtand ein Bild vor mir es war, als pakte es mich mit Rieſenſtaͤrke, und eine klagende Stimme hallte mir zu: Schreib ſie nieder die Geſchichte ſchreib ſie nieder fuͤr Welt und Nachwelt!

47

IV. Caroline, einſt froh und gluͤklich hernach verfuͤhrt und elend Moͤrderin ihres Kindes und ein Opfer der Gerechtigkeit!

Allemal uͤberfaͤlt mich ein kalter Schauer, wenn ich einen Schedel auf dem Rade blinken ſeh, und ich gehe eilfertig vor der Staͤte voruͤber, wo die Gerechtigkeit ihr Strafamt vollſtrekket Nur heute fuͤhrte mich mein Genius vor einer Richtſtaͤte voruͤber ich erblikte einen ſchon modernden Koͤrper aufs Rad geflochten hoͤrte das Gekraͤchze der Raben, und ſah ſie im Schimmerlichte des Mondes umherflattern, und ihren Jungen Nahrung holen. Wie mich das erſchuͤtterte, davon habe ich keine Beſchreibung eine Traͤne wollte ſich aus meinen Augen draͤngen, ich ſuchte ſie zu erſtikken, aber ſie rollte unaufhaltſam die Wange herab, und floß48 dem Andenken des Ungluͤklichen, der auch ein Menſch und mein Bruder war; zugleich aber ward der Wunſch in mir rege, hinzugehn und zu fragen: warum ward dieſer Menſch von Menſchen verlaſſen? Warum ward er ge - opfert? Das war meine erſte Frage, wie ich ins Wirtshaus des naͤchſten Flekkens trat, und man antwortete mir: Ein Maͤdchen von zwanzig Jahren, die ihr junges Kind wuͤrgte. Jch hoͤrte zum Teil liebloſe Urteile zum Teil ſchale Sittenſpruͤche, aus dem Munde harter Matronen hie und da fand ich einiges Mitleid ein Achſelzukken, und nichts weiter nicht wie fiel ſie, wodurch, und durch wen fiel ſie? Und doch ſollte man dieſe Fragen genau beherzigen, ehe man das Verdammungs - urteil mit kaltem hoͤhniſchen Laͤcheln ausſties. Aber da ſtehen die kalten fuͤhlloſen Menſchen, predigen Tugend, und haben die Tugend nie ge - kannt, die aus dem Herzen keimt, die nicht im aͤuſſern Prunk von Worten, ſondern im Han - deln und Wuͤrken, in Ausuͤbung der Menſchen - liebe beſteht. Da hat die ſchaffende Natur ſich in der Stunde der Schoͤpfung wol im Ton ver - griffen, und daher entſtanden Menſchen demKoͤrper,49Koͤrper, und Thiere der Seele nach. Jch mag mich nicht zu ihnen geſellen und Wonung bei ihnen machen, lieber will ich den wilden Huro - nen als Bruder gruͤſſen, und mit dem Kamſcha - dalen unter einer Huͤtte wohnen.

Aber zu euch Maͤnner! die ihr ſchon das Schwerd der Gerechtigkeit fuͤhrt zu euch Juͤnglingen, die ihr Aſtraͤens Schwelle betre - tet, will ich reden, will euch die Geſchichte des ungluͤklichen Maͤdchens entziffern, die im Fruͤh - ling ihrer Tage von der ſchneidenden Sichel ab - gemaͤht wurde, die ſchon fruͤh den ſchweren Ge - danken des Elends ausdenken mußte, und dann erſt aufhoͤrte ihn zu denken, als mit dem erſten Radſtoß die Seele ſich ihrer koͤrperlichen Huͤlle entlaſtete, und der ſchoͤnſte Gliederbau zerſtoſ - ſen und zertruͤmmert da lag. Schlaͤgt menſchli - ches Gefuͤhl in eurer Bruſt, wol dem Lande und der Stadt, wo ihr zu Richtern berufen ſeid, wol euch, wann Freund Hain uͤber eure Schwelle tritt Freudig ohne Zittern koͤnnt ihr ihm die Hand bieten, und mit ihm wallen in jenes Land, wo die Siegespalme rauſchet. Aber ſeid ihr kalt und lieblos, ſind euch Gefuͤhl und Empfin - dung fremde Namen ſind keine TraͤnenD50des Mitleids jemals uͤber eure Wangen gegleitet, nun ſo moͤge die Stunde eures Scheidens nicht einſt mit fuͤrchterlichem Sauſen uͤber eurem Haupte hangen, ſo murmele euch Gottes Don - ner nicht einſt ſchreklich zu, wann ihr den ent - ſcheidenden Spruch des Richters der Welt hoͤrt, ſo moͤge kein Redlicher das Auge von eurem Huͤ - gel wegwenden, und kein Fluch auf eurem Staub laſten. Doch zur Geſchichte ſelbſt!

Caroline war die einzige Tochter eines Kaufmannes in N den Gluͤk und Fleiß in einen ſo beguͤterten Stand geſezt hatte, daß man ihn in der Stadt nur den Reichen zu nennen pflegte. Sie war das einzige Kind, deren Da - ſein der Mutter das Leben koſtete, deſto theurer ward ſie dem Vater deſto inniger war ſein Beſtreben auf dies Kind, das jeden reizenden Zug der Mutter nach und nach entfaltete, all ſeine Sorgfalt zu verwenden. Seine Schweſter war ihm hiezu behuͤlflich, mit mehr als muͤtter - licher Zaͤrtlichkeit pflegte und wartete ſie das Kind, und ſah mit Vergnuͤgen wie ſowol unzaͤhlige Reize des Koͤrpers ſich mit jedem Tage enthuͤll - ten, als auch vortrefliche Seelenkraͤfte ſich ent - wikkelten; denn die Natur ſchien nichts an die -51 ſem Geſchoͤpf verwarloſet, ſondern alles ver - ſchwendet zu haben; es gab ihm, was man ſo ſelten antrift, Schoͤnheit des Koͤrpers, verbun - den mit Schoͤnheit der Seele. Der Vater ſparte keine Koſten, keinen Aufwand, ſeiner Tochter eine ſolche Erziehung zu geben, wie man ſie ſel - ten bei Perſonen der hoͤhern Klaſſe findet; und da ihm hiezu die noͤthigen Kenntniſſe fehlten, ſo trug er dies Geſchaͤft einem Prediger des Orts auf Dieſer rechtſchaffene Mann wandte Tage und Naͤchte auf ihre Bildung, er ſuchte ihr Herz zu verfeinern dies Herz, was dereinſt die Quelle all ihres Gluͤks oder Elends werden ſollte. Er ſuchte ihrem Geiſt eine ſolche Richtung zu geben, wie ſie ihn in dem Kreiſe ihres Lebens bedurfte; er durchlief mit ihr Banen der Ge - ſchichte und Weltweisheit, und Caroline blieb nie zuruͤk Jhr alles umfaſſender Verſtand ſchwung ſich uͤber alle Hinderniſſe hinweg, und geizte mit einem zehrenden Enthuſiasmus nach Warheit. Schon im ſiebzehnten Jahr ihres Er - dewallens kannte ſie die alte und neue Geſchichte kannte alle erhabne Karaktere der Vorwelt kannte auſſer der Sprache ihres Landes auch fremde Sprachen. Mit heiſſer Begierde ver -D 252ſchlang ſie die Schriften der Weiſen unſers Zeit - alters, und lernte Klugheit aus ihren Beiſpielen, und Weisheit fuͤr den Verſtand und das Herz.

So war das Maͤdchen der Seele nach, ſo war ſie die Bewunderung unſers Geſchlechts der Neid ihrer Geſpielinnen Was ſoll ich ſa - gen von der Schoͤnheit ihres Koͤrpers? wo ſoll ich die Farben finden, um dem Gemaͤlde das reizende Kolorit zu geben, das es erheiſcht; die Anmut in jedem Zuge! den Blik voll Sanftmut und ſtillen Adels hinzu zeichnen, daß der Kenner es ſehe, ſtaune, und bekenne: nie fand ich ſo viel Schoͤnheit! Selbſt einem Paracelſus wuͤrde der meiſterhafte Pinſel entſinken Er braucht nicht erſt nach Florenz zur medicei - ſchen Venus zu wallfarten, um ein Jdeal der Schoͤnheit zu entwerfen. Es war hier Ca - roline war’s ſie wandelte unter dem Flor der Tauſendſchoͤn und Roſen, und man achtete der Kinder Florens nicht, denn ſie war die ſchoͤn - ſte Blume in Gottes Garten. Jhr Koͤrper war das hoͤchſte Jdeal griechiſcher Schoͤnheit der feinſte Wettſtreit zwiſchen Natur und Kunſt!! Die ſchaffende Natur mußte alles Groſſe und Schoͤne hervorgeſucht haben, um es in ein53 Jdeal der Vollkommenheit und Schoͤnheit zu - ſammen zu ſchmelzen.

So wie der junge Maitag ſich entfaltet, und uͤber Wald und Flur herablaͤchelt, ſo waren die Zuͤge ihres Geſichts. Unſchuld und Tugend zit - terten im blauen Auge, und namenloſes Ent - zuͤkken der Liebe ſchimmerte unter den Wimpern hervor. So wie Blanduſiens Quell in tauſend Kruͤmmungen ſich durch bunte Wieſen ſchlaͤngelt durch Thal und Huͤgel gaukelt, und mit huͤpfenden Wellen das blumigte Geſtade kuͤßt, ſo ſchlaͤngelten ſich blaue Adern durch die blendend weiſſe Haut, ſo miſchten ſie Rot und Weiß auf den vollen Wangen ſo ſchimmerte der Roſe Purpur durch der Lilie Schnee hindurch ſo gatteten ſich zalloſe Reize neben einander, die nur der Pinſel eines Wielands entwerfen kann der meine entſinkt mir, unwillig werfe ich ihn weg Nimm vorlieb, Leſer! mit dem Schat - ten, ſo ich dir entwarf willſt du Ergaͤnzung willſt du ein Gemaͤlde von der Hand des Meiſters entworfen, ſo lies den Oberon und ſieh Anianda’s Bild ſieh in ihr Caroli - nens Bild. Bei ſo groſſem Reiz bei ſol - cher Anmut des Koͤrpers bei ſo vielen her -D 354vorſtechenden Eigenſchaften der Seele konnte es ihr nicht an Bewunderung fehlen es war ein Zoll, den ihr die Jugend und das Alter entrich - ten mußte, und willig entrichtete. Allenthalben erſcholl ihr Lob der edle Mann ſagte es ſtill und beſcheiden der Stuzzer mit groſſem Ge - raͤuſch und mit der Mine der Wichtigkeit. Und ſie, das Bild der Demut, hoͤrte alles mit der Gleichguͤltigkeit an, ſo wie auch der Weiſe den Tadel und das Lob des Narren ertraͤget und dies iſt wol die glaͤnzendſte Eigenſchaft, die man ſo ſelten bei einem Maͤdchen antrift. Bei dem Vater wuͤrkte dies auf eine entgegengeſezte Art er wurde zu ſtolz auf das Gluͤk, das freilich in unſern Tagen beneidenswert iſt, ein ſolches Maͤdchen Tochter zu nennen, und fand ein Wolgefallen an den Lobſpruͤchen, die auf ihn als den Vater und Erzieher zuruͤkfielen. Auch der beſte Menſch kann dadurch entarten, kann den Stolz einen Sieg uͤber ſich einraͤumen, kann den Weihrauch einathmen, den ihm die Schmei - chelei ſo reichlich ausſpendet.

Einige Uneinigkeiten, die zwiſchen ihm und ſeiner Schweſter vorfielen, brachten ihn auf den Entſchluß zu einer zweiten Ehe zu ſchreiten. 55Schwer wurde es ihm nicht, eine Perſon zu finden. Er fand ſie, aber kein Fuͤnkchen des Edelmuts ſeiner erſten Gattin glimmte in ihrem Herzen, nur Stolz nnd Eitelkeit waren die Thorſteher, die den Eingang zu ihrem Herzen verſchloſſen hiel - ten, wer dieſen reichliche Opfer ſpendete, der ward eingelaſſen. Sparſamkeit und haͤusli - che Ordnung entflohn, ſobald ſie die Schwelle des Hauſes betrat, Schwelgerei und Unord - nung traten an deren Stelle. Caroline hatte den neunzehnten Fruͤhling begruͤßt hatte ſtill und eingezogen ein Leben voll Unſchuld und Tu - gend verlebt, fand kein Wolgefallen an den ſchwelgriſchen Feſten der Welt, ſondern theilte ihre Zeit unter haͤuslichen Geſchaͤften, und den geiſtreichen Schriften der Weiſen unſers Zeit - alters.

Jhre neue Mutter fand dieſe Lebensart zu pe - dantiſch zu romanhaft ſie verſchloß alle Buͤcher, franzoͤſiſche Moden traten an deren Stelle. Nun betrat Caroline die große Welt, nicht mehr das ſtille, ſittſame Maͤdchen im weiſſen Gewande der Unſchuld nicht mehr die Schaͤferin der Flur, die den Aufgang der Son - ne begruͤßte und ihren Niedergang geleitete D 456bei deren Anblik des Juͤnglings Wange entgluͤhte und ſein Blik verſchaͤm[t]zur Erde ſank; nun eine Sklavin der Mode und des Ceremoniels zwar noch rein im ſtralenden Schimmergewande, noch ſchuldlos im rauſchenden Taft, aber wird ſie’s bleiben, wenn ſie an der Hand einer thoͤrich - ten Mutter geleitet, den vergiftenden Hauch der Schmeichelei eintrinkt? der Boden, den ſie be - tritt, iſt ein hellgeſchliffener Stal, wie leicht koͤn - nen ihre Fuͤſſe ausgleiten und fallen wie viele ſind gefallen, hatten ſich berauſcht im Kelch der Thorheit und ſanken taumelnd zu Boden!

Der Ruf von dem reizenden Buͤrgermaͤd - chen drang bis uͤber die Grenzen der Stadt hin - ans, lokte viele herbei, und ſie fanden mehr als das Geruͤcht ſagte. Ein ungluͤkliches Geſchik fuͤhrte auch einen jungen Baron an dieſen Ort einen wuͤſten Wolluͤſtling, der ſchon manche Un - ſchuld entehrt, manchem Landmaͤdchen die Krone entriſſen der von ſeiner Reiſe nach Paris nichts als die feine Kunſt zuruͤkgebracht hatte, junge Maͤdchen zu verfuͤhren, und in unbefange - ne Seelen den Saamen der Unzucht zu ſtreuen. Er kam, wurde mit Freude empfangen, mit Freude in alle Geſellſchaften eingefuͤhrt, (denn57 leider! wollte man in dieſer Stadt auch alle Thorheiten von Paris im kleinen copiren), und nahm den deutſchen Wildfang, der ſein vaͤterli - ches Erbe an Theaternimphen und Bulſchweſtern verſchwendet hatte, mit Affenliebe auf. Jhm zu Ehren ward ein groſſer Ball angeſtellt alles was artig, ſchoͤn und reich war, muſte dabei zugegen ſein, auch Carolinens Mutter erſchien an der Hand ihrer liebenswuͤrdigen Tochter. Man draͤngte ſich von allen Seiten hinzu, den deut - ſchen Baron zu ſehen, aber der feine Wolluͤſt - ling uͤberſah mit ſchnellem Blik die ganze Ver - ſammlung, und ſein Auge blieb an Carolinen haͤngen; ihre ungekuͤnſtelten Reize waren maͤchtig genug, ihn vergeſſen zu lehren, daß noch mehr um ſeinen Beifall bulten. Er ſah mit kaltem Laͤcheln auf die hohe Verſammlung herab nur Caroline war das Ziel ſeiner Wuͤnſche; erfah - ren in allen feinen Kunſtgriffen der Verſtellunng, wodurch man Herzen uͤberliſtet, ward es ihm nicht ſchwer ſich die Gunſt der eitlen Mutter zu erſchleichen; es war ſuͤſſe Nahrung fuͤr ihren Stolz, ſich unter einer ſolchen Menge hervorge - ſucht zu ſehen. Caroline, dies unſchuldige Maͤdchen, in deren Herzen kein Falſch war, warD 558viel zu unerfahren, Warheit von Taͤuſchung zu unterſcheiden, ſie kannte die Welt nur aus Buͤ - chern und ſchuf ſich lauter Graͤndiſons und Lovelaͤce’s Jhr Herz, ſo offen und rein, kannte die Schlingen nicht, mit der die Bosheit die Unſchuld zu beſtrikken pflegt; in ihr ſchlug ein warmes Gefuͤhl fuͤr Tugend und Rechtſchaffen - heit, und der Glaube an lauter gute und edle Menſchen ſtand feſt in ihrer Seele, und ver - bannte Mistrauen und ſteife Zuruͤkhaltung. Der Verraͤther ſah wol ein, daß er den Weg der Schmeichelei bei ihr nicht einſchlagen durfte, er nahm daher zur Verſtellung ſeine Zuflucht, ver - ſtekte das ſcheusliche Geſicht unter der Larve der Tugend, und ſo fand der Bube nach und nach den Zugang in das Herz eines ſchuldloſen Maͤdchens. Aber dennoch blieb Caroline rein, denn gute Grundſaͤzze, wenn ſie einmal Wurzel geſchlagen haben, koͤnnen nicht ſo leicht vertilgt werden, und vielleicht waͤre ſie auch ſchuldlos geblieben, vielleicht haͤtte die Tugend einen glaͤnzenden Sieg erkaͤmpft, wenn nicht eine ungluͤkliche Kataſtro - phe alles untergraben haͤtte.

Durch den uͤbermaͤßigen Aufwand, durch die ſchwelgeriſchen Feſte, war das anſehnliche Ver -59 moͤgen zu Grunde gegangen. Der Erwerber und Vermehrer deſſelben hatte laͤngſt ſeine maͤnnlichen Rechte eingebuͤßt, und ſchwieg Seine Frau wußte ihm die gewiſſe Verbindung ihrer Tochter mit dem Baron auf eine ſo glaͤnzende Art vorzu - malen, daß er alles, was ſie zu Gelangung die - ſes Zweks vornam, billigte! Auf einmal fiel ein anſehnliches Handlungshaus in B .. und Ca - rolinens Aeltern wurden dadurch gaͤnzlich zu Grunde gerichtet.

Die unvermutete Nachricht hievon riß den Vater aus der Welt, entriß ihn dem noch war - tenden Elend ein ploͤzlicher Schlagflus, und er war nicht mehr. Nun hatte der Baron freie Hand, die bisher immer durch die ſtrenge Tugend des Vaters gebunden war, man geſtat - tete ihm Beſuche, und er theilte anſehnliche Ge - ſchenke aus, die er von beſchnittenen und unbe - ſchnittenen Wucherern erſchlichen hatte. Caro - line litte durch den Tod ihres Vaters viel, eine Schwermut bemaͤchtigte ſich ihrer, die aber ihrer Schoͤnheit einen neuen Reiz verlieh, und ſie, anſtatt zu vermindern, nur noch mehr erhoͤhte, und in ein glaͤnzendes Licht ſezte. Sie hatte bis - her den Baron immer in einer gewiſſen ehrer -60 bietigen Entfernung gehalten, hatte ihm auch nicht die geringſte Freiheit geſtattet, aber nun ward ſie durch Bitten und Drohungen einer fuͤhl - loſen Mutter in die Enge getrieben, und ihre Tugend fing an zu wanken. So wie der Feind, der ſchon ein Auſſenwerk der belagerten Stadt er - ſtiegen hat, immer mutigere und ſtaͤrkere Angriffe wagt die Belagerten hingegen immer mutlo - ſer werden, wenn des Feindes Fahne auf den Waͤllen flattert, ſo iſt es auch mit der Unſchuld eines Maͤdchens. Hat ſie erſt dem Verfuͤhrer Eine Freiheit, ſei ſie auch noch ſo geringe, ver - ſtattet, hat ſie ihm Eine ſchwache Seite ihres Herzens entdekket, wehe dann ihrer Unſchuld ſie iſt unwiederbringlich verloren.

Der Boͤſewicht ſuchte ſie unter dem Verſpre - chen der ehelichen Verbindung zu gewinnen, er vermaß, betheuerte ſich, und ſchwur fuͤrchterliche Eide, ſchwur, ſie ſogleich als Gattin oͤffentlich zu bekennen, wenn ſein harter Vater dahin waͤre. Das war die Lokſpeiſe, die den Vogel ſicher ma - chen und in das aufgeſtellte Garn lokken ſollte O, wehe euch! die ihr die Vorzuͤge eurer Geburt durch Handlungen verdunkelt, die euch zu der niedrigſten Klaſſe feiger Buben herabwuͤrdi -61 gen, die ihr umherſchleicht ſchuldloſe Herzen zu beruͤkken, und Gottes Meiſterſtuͤkke zu zerſtoͤren, die ihr mit frecher Stimme auf oͤffentlicher Buͤh - ne ausruft auch die hab ich betrogen!

Caroline ward das Opfer eines Boͤſewichts. Er fuͤhrte ſie auf einen Ball, nuzte den Rauſch am Vergnuͤgen, und wußte durch Girren und Lokken die ſchuͤchterne Scham einzuwiegen, und ſie im ohnmaͤchtigen Schlummer zu feſſeln.

Jhr Blut war in gluͤhender Wallung, es kreißte ſich in den erhizten Adern, zukte in jeder Nerve, ſchlug verdoppelt in jedem Pulſe der Verraͤter lauerte wie der Falke und haſchte den Raub ein ungluͤklicher Augenblik, und Ca - roline ward die Beute der liſtigen Ueberredung. Wenn hoͤhere Geiſter, berufen zu Schuzengeln der Menſchheit, Traͤnen uͤber den Fall guter Menſchen vergieſſen, ſo floſſen ſie gewis uͤber ihren Fall, und der Genius ihrer Unſchuld entfloh zur Kanzelei des Himmels, und ſchrieb mit gluͤhender Schrift den Namen des Verraͤters nieder. Caroline fiel wie viele ſind gefallen, die das nicht ſind, was ſie war! die nicht die Staͤrke des Geiſtes, die Groͤſſe der Seele haben wie viele ſind vom Tanz erhizt, vom Wein62 befeuert, Opfer der Unzucht geworden! Hoͤrts Muͤtter, vernehmts Toͤchter! mei - det die Gelegenheit, wo eure Tugend ſinken kann; erſpart euch die Traͤnen, da es noch Zeit iſt, erkauft euch nicht fuͤr den Rauſch weniger Minu - ten ein elendes jammervolles Leben ein Leben voll Schande und Verachtung, wo euch jedes lebloſe Weſen anzuklagen ſcheint, wo euer Ge - wiſſen euch zuhallt: du biſt Schoͤpferin deines Elends, du koͤnnteſt ein guter Baum im Garten Gottes ſein, dem Wanderer Schatten, dem Gaͤrtner Fruͤchte geben, da du jezt ein ent - laubter kahler Rumpf biſt, den man bald ab - hauen und verbrennen wird. Hoͤrts, wie es ferner mit dem entehrten Maͤdchen ging Der Morgen fand ſie halb ſinnlos auf einſamen La - ger; ſie fuͤhlte ſich grenzenlos elend, und da ſie mit ahndendem Kummer ihren Verluſt uͤber - dachte, ſo entquollen heiſſe Traͤnen dem matten Ange. Mit Sehnſucht erwartete ſie den Stoͤrer ihrer Ruhe ihres Gluͤks! vergebens harrte ſie ihn am Morgen entgegen, der Boͤſewicht fuͤrch - tete ihre Traͤnen und floh, floh zu einer an - dern Huͤtte, wo auch eine Unſchuld zu verfuͤh - ren war.

63

Das ungluͤkliche Maͤdchen vernahm die Flucht ihres treuloſen Verfuͤhrers wie vom Bliz ge - troffen ſank ſie zu Boden, rang mit einer graͤs - lichen Ohnmacht, und wuͤrde untergelegen haben, wenn nicht die ſtarke Natur ſie unterſtuͤtzt haͤtte. Sie erwachte zu noch groͤſſern Leiden, zu Leiden, die in der Seele keimen, die gleich dem ſchwel - genden Wurm an der Knoſpe des Lebens nagen, bis ſie faͤllt. Nicht allein die innere Ueberzeu - gung, du haſt deine Unſchuld verloren, ſondern auch die innere zunehmende Gewisheit, bald wird ein lebender Zeuge auftreten, und den Ver - luſt deiner Ehre allenthalben kund machen dein Name wird gebrandmarket, am Pranger geſtellt werden ehrbare Weiber werden mit Fingern auf dich zeigen deine Geſpielinnen werden bitter und hohnlachend dir nachrufen, und der Fremdling wird ziſcheln und fragen: war das die tugendhafte Pamele? O wie muſten dieſe Gedanken Dolchſtoͤſſe fuͤr ein Maͤd - chen ſein, die ſo gebildet, mit ſolchen Geiſtes - gaben ausgeruͤſtet, und nun durch einen einzigen Fehltritt unwiderbringlich verloren war! Jhre Mutter dies ſchaͤndliche Weib! es ſei nun, daß ſie ſo etwas geahndet, oder daß ſie ihr ſchwel -64 geriſches Leben auf eine andere Art fortſezzen wollte, verlies ſie, unternam eine Reiſe, und kam nie zuruͤk Schuldner bemaͤchtigten ſich des noch uͤbrigen Vermoͤgens, Caroline mußte faſt ganz entbloͤßt von allen Bequemlichkeiten das vaͤterliche Haus verlaſſen, und zu einer Ver - wandtin ihre Zuflucht nehmen. Dies war eine harte, liebloſe Frau, die kein Mitleiden kannte, und ſich faſt gar nicht um das arme verlaſſene Maͤdchen bekuͤmmerte Sie war ganz ausge - ſtoſſen aus dem menſchlichen Zirkel die Roͤte verblich die Wangen welkten dahin, und kaum daß die Fuͤſſe den von Gram ausgemergel - ten Koͤrper fortſchleppen konnten. Die Zeit nahte ſich, wo die Frucht der treuloſen Verfuͤh - rung ans Licht treten ſollte. So oft der Gedanke hieran ſie beſchlich, und das war ſtuͤndlich, ſo giengen ihre Sinne zur gaͤnzlichen Zerruͤttung uͤber. Mutter zu werden! war ein Gedanke, den ihr Geiſt nicht umfaſſen konnte, mit dem ſich alles in ihrer Seele verband, was nur ſchrek - liches kan gedacht werden. Wann eine Flut von Traͤnen ihr Lager uͤberſchwemmt hatte, wann ſie ſich vergebens nach ein Weſen umſah, in deſ - ſen Schoos ſie all ihre Leiden ausſchuͤttenkonnte,65konnte, ſo warf ſie ſich oft in wuͤtender Ver - zweiflung auf die Knie und bat den Urheber ihres Daſeins, ſie wegzuraffen mit einem ſeiner toͤden - den Blizze ſie auszutilgen aus der Zal der Lebenden. Jn einer ſolchen Zerruͤttung ihrer Seelenkraͤfte erſchien nun die gefuͤrchtete Stunde ſie rang zwiſchen Tod und Leben, Huͤlfe ru - fen konnte ſie nicht, denn auch der Gebrauch der Zunge war ihr gehemmt; auf einmal erwachte ſie von einer gaͤnzlichen Erſchlaffung ihrer Kraͤfte, der Saͤugling kruͤmmte ſich zu ihren Fuͤſſen, im Streit mit Tod und Leben. Mit der Mine der Verzweifelung blikte ſie es an, dachte es ſich als ein verworfenes Glied der Geſellſchaft als Baſtard ſah aͤnliche Zuͤge mit ihrem Verfuͤh - rer, und ploͤzlich verlies ihr auch noch die wenige Vernunft und Beſinnungskraft, ſo ihr noch uͤbrig blieb, ſie faßte und zerſchmetterte es im wilden Wahnſinn. Da ſie ſeine zerſchellerten Gebeine ſah, ſtieß ſie einen wuͤtenden Schrei aus, und ſtuͤrzte darnieder; man eilte herzu, fand ſie blaß mit entſtelltem Geſicht, mit aufgeloͤßtem Haar, mit ſtarrem Blik auf die noch zukkenden Glieder gerichtet. Man eilte herzu, ſchlepte ſie mit Muͤhe weg, oͤfnete ihr eine Ader, und ſie kam wiederE66zum Gebrauch ihrer Vernunft, man fragte ſie uͤber ihre begangene That, und ſie wußte nicht das mindeſte davon. Sie ward in ein finſteres Loch geworfen, wo eine ſtinkende faule Luft herrſchte, man machte ihr den Prozes ſie ge - ſtand ihre That, und der Richter beſtimmte ihr das Todesloos.

Wie er’s beſtimmen konnte, mit welchen Gruͤnden er ſie des Todes ſchuldig fand, da ſie im Wahnſinn eine That veruͤbte, davon ihr Herz nichts wußte, will ich nicht unterſuchen Ge - nug ſie ſchmachtete zwei Jahre im Kerker, ſtarb ſchon einen Tod durch die unmenſchliche Be - handlung des Kerkermeiſters durch die kaͤrg - liche Nahrung durch die ungeſunde faule Luft und dann durch die folternden Schmerzen ih - res Gewiſſens Nun ſollte ſie noch den zwei - ten Tod durch Henkersknechte ſterben Sie ſtarb ihn mit der Freudigkeit, mit dem Ergeben in den unveraͤnderlichen Rathſchluß der Vorſicht, das eine Wuͤrkung der Religion war, die ſie nicht blos bekannt, ſondern auch ausgeuͤbt hatte. Jhren Fall bewuͤrkte die Verraͤterei eines ſchlauen Boͤſewichts. Sie hatte lange gekaͤmpft, aber der Taumel der alles hinreiſſenden Leiden -67 ſchaft riß ſie in einer gefahrvollen Stunde hinweg, nud uͤbertaͤubte die Stimme der Religion, und die ohnmaͤchtige Sprache der Vernunft. Jhre That war die Frucht des Wahnſinns, und eine Zerruͤttung all ihrer Sinne. Sie war zu der Stunde, da ſie die muͤtterlichen Gefuͤhle verleugnete, nicht faͤhig zu denken zu empfin - den und zu fuͤhlen Sie hatte alſo alle Attri - bute der Menſchheit verloren, und hatte blos ei - nen thieriſchen Jnſtinkt, und auch der war ge - wiſſermaſſen betaͤubt; konnte ſie daher als Menſch betrachtet werden? Konnten menſch - liche Geſezze auf ſie wuͤrken? Beantworte dieſe Fragen, wer uͤberzeugt iſt, und wer ſollte es nicht ſein? daß der Richter ohne Kenntnis des Menſchen, ſeiner innern Neigungen, und der Entſtehungsart ſeiner Handlungen ohne Philoſophie des Lebens, der gefaͤhr - lichſte Bube iſt, der auf Gottes Erdboden ſchleicht, der unter dem Schirm der Geſezze han - delt, und gefaͤhrlicher iſt wie der Raͤuber, der mir nach meinem Gut, und der Moͤrder, der mir nach dem Leben ſteht.

Jhre oͤffentliche Hinrichtung! was ſollte ſie bewuͤrken? Abſcheu vor Laſter! Ein warnen -E 268des Beiſpiel fuͤr junge Maͤdchen! Und was bewuͤrkte ſie? Ein Schauſpiel fuͤr den Poͤbel, der mit mordduͤrſtigen Blikken ſich daran weidete eine Gelegenheit zur Unzucht zum Dieb - ſtal. Der Raͤuber der Unſchuld hoͤrte dadurch nicht auf, ein Raͤuber zu ſein, und das Maͤdchen, konnte ſie dieſe Beſtrafung als eine Warnung an - ſehen, da ſie gewis nicht daran dachte, ein aͤnli - ches Verbrechen zu begehen, ein Verbrecheu, das auſſer der Natur, auſſer ihrem Wuͤr - kungskreiſe iſt?

Einen Mord kann man begehen, wenn man zum Zorn gereizt wird wenn mancher durch den aͤuſſerſten Mangel dahin gebracht wird, arme Reiſende um einen Zehrpfenning niederzuſtoſſen wenn man auf einer Handlung ertapt wird, deren Bekanntmachung ewig brandmarken wuͤrde. Hier iſt doch immer eine Triebfeder, darnach ich handele, die mich zu einem Verbrechen verleitet, aber der Mord einer Mutter an ihrem Kinde liegt auſſer der Sphaͤre der Menſchheit, es laͤßt ſich gar keine Art der Beleidigung bei einem ohnmaͤchtigen huͤlflofen Saͤugling denken. Schon einem jeden vernunftloſen Thier iſt von der Na - tur der Jnſtinkt eingepflanzt, ſeine Jungen zu69 lieben und zu ſchuͤzzen: wie vielmehr dem Men - ſchen, der nicht nach eingepflanztem Jnſtinkt, ſondern nach der Vernunft handelt? So weit kann aber die menſchliche Natur nicht ausarten, daß eine Mutter, beim voͤlligen Gebrauch ihres Verſtandes, ihr Kind, das ſie ſo lange im Schoos getragen, das ſie mit Schmerzen gebo - ren hat, mutwillig wuͤrgt, und koͤnnte ſie’s, nun dann, ſo werde ſie ausgeloͤſcht aus dem Buche des Lebens! Aber ſelten, hoͤchſt ſelten iſt gewis ein ſolches Beiſpiel, und muß es auch, zur Ehre der Menſchheit ſein, denn der Menſch faͤllt ja dadurch in die unterſte Stufe, und ſinkt unter der Wuͤrde des vernunftloſen Thiers. Es ſind faſt immer unwiderſtehliche Anfaͤlle, die das Herz einer Mutter erſchuͤttern es ſind Leidenſchaf - ten, die die Vernunft uͤbertaͤuben, und die Schranken der Menſchheit uͤberſchreiten, und wenn dieſe erſt das Herz gewinnen, da ſchweigt die Vernunft, da verſtummt das Lallen der Ge - ſezze, da kann eine Mutter im Wahnſinn das winſelnde Kind toͤdten, und ſeine zarten Gebeine zerſplittern. Ja, hat man nicht ſogar Beiſpiele daß dieſe That aus Liebe zur Reife kam? daß der Gedanke, ſieh, dein Kind iſt ein Baſtart, aufE 370den die Welt mit Fingern zeiget, es iſt ein Denk - mal der Verachtung, dereinſt ausgeſchloſſen von ſo vielen Vorrechten der Geſellſchaft Es muß die Gefuͤhle eines Kindes gegen ſeine Aeltern er - ſtikken Es muß erſt die Fahne uͤber ſich ſchwenken laſſen Daß dieſer Gedanke, ſage ich, vermoͤgend war, eine Mutter mit Wut zu wafnen, ihr das Wuͤrgemeſſer in die Hand zu geben, um ihr Kind durch einen ſchnellen Tod dem noch auf ihn wartendem Elende auf einmal zu entruͤkken.

Warum aber deshalb ſterben? warum oͤffent - lich hingerichtet werden? da der Zwek der Strafe dadurch gaͤnzlich verfehlt wird, da ſich auch gar keine Beſtrafung gedenken laͤßt, wo kein Ver - brechen begangen iſt Ein Verbrechen kann ich aber nur begehen, wenn ich den Gebrauch der Seelenkraͤfte habe, die mich zum Menſchen machen, wann ich die unbeſchraͤnkte Freiheit habe, das Boͤſe zu unterlaſſen, weil es boͤſe, und das Gute zu vollbringen, weil es gut iſt. Wenn je - mand den Ochſen erſchluͤge, weil er ſein Kind geſtoſſen hat, daß es ſtarb, wuͤrde man nicht ſagen, der Menſch raſet, er will das unvernuͤnftige Thier lehren, vernuͤnftig zu ſein, er will ſeinen71 Jnſtinkt nach den Maasſtab des Geſezzes richten, du ſollſt nicht toͤdten! Der Thor, raͤumt er allemal der Vernunft den Sieg uͤber ſeine Leiden - ſchaft ein? wuͤrde ein jeder ihm zurufen. Aber was iſt der Richter, der an den troknen Buch - ſtaben des Geſezzes klaubt, und das Todesurtel nach der Carolina faͤllt, weil dieſe auf das Ver - brechen eines Kindermords den Tod ſezt, und die begangene That Kindermord heißt? Sie heißt aber, nach genauer Unterſuchung nicht Kinder - mord, ſondern Frucht des Wahnſinns und der Verzweiflung, die den Gebrauch der Seelen - kraͤfte hemmt. Der Name, Thor, waͤre ein zu ge - linder Name fuͤr einen ſolchen Richter, denn handelt er aus Bosheit und Eigennuz, druͤkt er das Auge bei den Verbrechen des vornehmen Poͤbels zu, und bricht nur den Stab Wehe uͤber arme unterdruͤkte Menſchen, ſo moͤge ein weiſer Joſeph den Stab uͤber ihn brechen; handelt er aber aus Unwiſſenheit, wie dieſer Fall wol am haͤufigſten eintreten moͤgte, nun ſo moͤgen es einſt die verantworten, die ihn zum Richter des Volks beſtellten.

Jhr aber, Geſezgeber einer Nation! ent - kraͤftet das unnatuͤrliche Geſez, das einem armenD 472verfuͤhrten Maͤdchen, die beſtuͤrmt von tauſend Qualen, die euch ein Raͤthſel ſind, im wilden Aufruhr ihres Herzens ihr Kind wuͤrgt, den Tod zuerkennt was gewinnt ihr durch ihren Tod? Warlich nicht gaͤnzliche Vernichtung einer ſolchen That, die auſſer dem Gebiet der Menſch - heit liegt, da die Erfahrung den Saz beſtaͤtigt, daß Verbrechen nicht durch gelinde Stra - fen vermehret, und nicht durch Strenge gemindert werden.

V. Aelterntirannei! die ſchreklichſte in der Natur:

Was fuͤr traurige Beiſpiele hat man von mis - gerathenen ungluͤklichen Verbindungen, die durch Stolz, Eigennuz und Habſucht der Aeltern ge - knuͤpft werden. Wie wenig Ehen werden in un - ſern Tagen blos durch den Beifall des Herzens, durch die Uebereinſtimmung der Seelen geſchloſ -73 ſen? dieſe findet man nur in Romanen und Schauſpielen, und ſelten in der Natur. Sollte dies nicht ein treffendes Bild unſers Zeitalters ſein? gewis, daran wird niemand zweifeln, der einen Blik in die Welt wirft, und haͤusliche Ver - faſſungen beobachtet. Denn um den Menſchen kennen zu lernen, ſeinen Karakter, ſeine Nei - gungen auszuſpaͤhen, muß man nicht blos bei Einer Situation ſeines Lebens ſtehen bleiben, nein, man muß ihn in ſeinem eigenen Hauſe aufſuchen, muß ihn da beobachten wo er gemeiniglich frei, ohne Maske handelt, wo man Tugenden antrift, die man hauſſen vergebens ſuchte, und Laſter veruͤbt ſieht, die man nur bei dem roheſten Wil - den erwarten ſollte.

Beobachtet einmal haͤusliche Verfaſſungen, und wie vieles Elend werdet ihr antreffen Elend, das auſſer dem Bezirk der Menſchheit liegt, und nur durch Menſchen ſelbſt erzeuget wird. So viele Romanen ſchildern uns dieſes Elend mit lebhaften Farben, aber wir eilen daruͤber weg, in dem ſichern Glauben, daß es nur Taͤu - ſchungen und keine wuͤrklichen Handlungen ſind, und gewis es brauchts keiner Theaterſzenen, euch den Spiegel eurer Handlungen darzuſtellen, wirE 574haben der wuͤrklichen Szenen ſo viele, die das Ebenbild der Gottheit tief genug herabſezzen.

Einige Szenen will ich meinen Leſern dar - ſtellen, nicht etwa Erdichtung ein Spiel der feurigen Fantaſie, ſondern Warheit, wie man ſie in Staͤdten und Doͤrfern findet.

a) Julie, als Maͤdchen gluͤklich, als Frau elend.

Julie war die Tochter eines reichen Kaufmanns in S Das Gluͤck hatte ihren Vater aus einem niedrigen Stande zu der Stufe erhoben, darinnen er jezt vor ſeinen Zeitgenoſſen glaͤnzte, und ihm groſſe Reichthuͤmer zugewendet, dazu der amerikaniſche Krieg ſein groſſes Scherflein beigetragen hatte. Man findet gemeiniglich, daß der ſchnelle Uebergang von Armut zum Reichtum Stolz und Hochmut erzeuget, beſonders bei Leu - ten, die das blinde Gluͤk aus den Hefen des Poͤbels in eine glaͤnzende Sphaͤre verſezt, und die ohne Bildung ihres Herzens ohne groſſe hervorſtechende Eigenſchaften der Seele, ſich auf dieſer ſchwindelnden Hoͤhe nicht anders zu erhal -75 ten glauben, als wenn ſie mit einem gewiſſen Stolz uͤber andere Staͤnde hinwegſchauen. Der Erwerb von Schaͤzzen macht bei ihnen die Grenz - linie ihres Verſtandes aus, hoͤher kann er ſich nicht hinaufſchwingen, und daher iſt Reichtum der Goͤzze, dem ſie reichliche Opfer ſpenden. Alles, was Kunſt und Fleiß groſſes hervorbringt, verach - ten ſie, weil ſie es nicht zu ſchaͤzzen wiſſen; der Eifer fuͤr die Wiſſenſchaften, der Durſt nach Warheit, die Verfeinerung des Verſtandes, und das Ringen und Streben nach immer hoͤhern Begriffen, iſt ihnen ein Raͤtſel, und daher ſu - chen ſie ſich immer in einer gewiſſen Entfernung von den Geſellſchaften zu erhalten, wo man nicht blos von Courant und Wechſelcours ſpricht.

Dieſes Gelichters war denn auch Juliens Vater Da ſie das einzige Kind war, ſo war der Gedanke bei ihm der erſte und lezte, der ihm die Ruhe mancher Nacht ſtal, und oft im Traum beſchlich, ſich durch ihre glaͤnzende Verbindung hoͤher hinaufzuſchwingen, und die Verwaltung des Staats durch die nahe Verbindung mit einem ho - hen Hauſe nach ſeiner Willkuͤhr zu lenken. Um deſto eher zu dieſem Zwek zu gelangen, ließ er76 ſeiner Tochter eine vornehme Erziehung geben, und ſparte keine Koſten, ſie in all den Wiſſen - ſchaften unterrichten zu laſſen, die ſowol den weiblichen Geiſt zieren, als auch ſie uͤber die Zal der gewoͤnlichen Frauenzimmer erheben, die wie Geſchoͤpfe ohne Seele ihr Pflanzenle - ben fuͤhren, und in euren Verſammlungen gaͤh - nend einſchlafen, wenn nicht von Puz, und neuen Moden die Rede iſt, ſondern der Verſtand mit - wuͤrken ſoll. Julie beſaß Schoͤnheit des Koͤr - pers verbunden mit Schoͤnheit der Seele, ſo daß man zweifelhaft blieb, welcher von beiden man den Preis zugeſtehen ſollte. Jhr Geiſt entwik - kelte ſich fruͤhzeitig, und ſchwung ſich| mit einer Leichtigkeit uͤber alle die Schwierigkeiten hinweg, welche die Erlernung einer jeden Wiſſenſchaft zu begleiten pflegen, ſo daß ihre Lehrer, von Er - ſtaunen oft hingeriſſen, die Traͤnen der Freude nicht zuruͤkhalten konnten. Sie verſchlang mit heiſſer Begierde die Lehren einer Religion, die den menſchlichen Faͤhigkeiten ſo angemeſſen, und ein ſo fruchtbares Feld von Lebensgluͤk - ſeligkeit dem Erdenbuͤrger entdekket, daß es al - mal Entwuͤrdigung ſeines Verſtandes, Ent - ehrung ſeines Herzens iſt, wenn er dieſe Re -77 ligion (von der ſelbſt ihre Feinde bekennen muͤſ - ſen, daß ſie die vollkommenſte Sittenlehre ent - haͤlt) verachtet und zu elenden Sophiſtereien ſeine Zuflucht nimmt, die wie ein wankendes Rohr ſind, das zerbricht, wenn man ſich daran lehnet. Es gehoͤrt vielleicht mit zur Verfeinerung unſers Zeitalters, daß ſogar das weibliche Ge - ſchlecht an der Modeſeuche ſiech darnieder liegt, und eben mit ſolcher Frivolitaͤt uͤber die wichtigſten Warheiten der Religion ſpottet, wie irgend nur ein Freron vermag. Freilich huͤpfen viele uͤber die Religion, als das unbedeutendſte im menſch - lichen Leben hinweg, aber giebt es auch nicht einige die Anſpruch an Gelehrſamkeit und an Philoſophie machen, und durch Trugſchluͤſſe ſich verleiten laſſen an einer Religion zu zweifeln, uͤber deren Bekanntmachung ſie in der Jugend hinweggeeilet ſind? Und worinnen liegt in allen dieſen, in der Verachtung der Religion, in den moraliſch fehlerhaften Sitten der Grund? Ge - wis in einer zweklofen Erziehung, da Eltern auf die Bildung des Herzens und Verſtandes ihrer Toͤchter nicht achten, ſondern blos ihr Augen - merk auf den Koͤrper richten, der doch einmal im Moder aufwallt und hinſinkt, der Geiſt bleibt78 eine rohe tode Maſſe, die man nicht achtet Wenn nun der Mann von Geiſt ſich nach ein Geſchoͤpf ſehnet, das mit ihm ſimpathiſire, und durch Gaben des Verſtandes ihm Unterhaltung verſchaffe die wenn die Glut der erſten Liebe nach und nach erkaltet, dieſen Verluſt durch vor - trefliche Eigenſchaften erſezzet, und er findet ſeine Gattin bei allem leblos, kalt und tod; wie trau - rig muß die Ehe, wie traurig und oͤde die Tage ihres Lebens ſein. Daher kommts, daß der Mann ſeine Gattin verachtet, und ſich zur Buhlerinn wendet, die ſeine leeren Stunden durch ange - nehme Unterhaltung wuͤrzet, und die feine Kunſt verſteht, ſein Herz durch tauſend gluͤkliche Wen - dungen und Ueberraſchungen an ſich zu ketten.

Denn wenn ihr auch, Epikure meines Zeit - alters! alle geiſtige Liebe hinwegſophiſtiſiren wollt, und ſie als ein Hirngeſpinſt betrachtet, wenn ihr die Liebe bloß als Stillung eines Triebes annehmt, den auch das Thier hat, und ihr den Menſchen alſo alles feine Gefuͤhl abſprechet, ſo werdet ihr mir doch gewiſſe Grade in der Liebe zugeſtehen muͤſſen; ſo wird das Maͤdgen, das euch gegen den hoͤchſten Genus nichts entgegenſezt, und willig eure Begierden befriedigt, in euren79 Augen herabſinken, und ihr werdet die Bulerin hoͤher ſchaͤzzen, die durch verſchiedene Wege euch zu beſtrikken, und hundert Arten von Gunſtbe - zeugungen zu verſchwenden weis, ehe ſie euch die hoͤchſte bewilligt. Geſezt nun, euch feſſelt blos die Schoͤnheit, und die Stillung des thieriſchen Jnſtinkts an ein Geſchoͤpf, und ihr knuͤpfet ehe - liche Bande mit demſelben, wie lange wird die Glut dauern, mit der ihr an ihren Blikken haͤngt? ſobald ihr eure Triebe bis zur Erſchlaffung geſaͤt - tigt, ſo werdet ihr ſie verachten, und zur an - dern eilen.

Dies alſo zugeſtanden, ſo folgt der Schlus, daß blos koͤrperliche Schoͤnheit, ohne Schoͤnheit der Seele, ohne Bildung des Verſtandes eine Blume iſt, die bald von der Hizze verſengt, vom Nord zerknikt wird. Doch ich breche von dieſer Materie ab, von der ich wuͤnſchte, daß ſie El - tern beherzigen moͤchten; und deshalb werde ich ohne Entſchuldigung uͤber dieſe Epiſode, zum Verfolg meiner Geſchichte eilen.

Julie befand ſich in einem Alter von achtzehn Jahren, geziert mit allen Reizen einer bluͤhenden Jugend, geziert mit hervorſtechenden Eigen - ſchaften der Seele; Sie erſchien in dem groſſen80 Zirkel der Welt, mit einer gewiſſen Grazie und Wuͤrde, die Folgen eines aufgeklaͤrten Verſtan - des ſind; ſie verdunkelte alle ihre Geſpielinnen vom hohen bis zum niedern Stande, die dennoch, troz des Neides, es nicht wagten, und auch keine Urſach fanden, Tadel auf ſie herabzuſtroͤmen. Jndeſſen waren die ſchoͤnſten Juͤnglinge um ſie verſammlet, und bulten um ein Zeichen ihrer Achtung, aber ſie begegnete einem jeden nach ſei - nen Verdienſten, und wuͤrdigte auch den gedan - kenloſen Stuzzer und den faden Gekken, die wie Muͤkkenſchwaͤrme um ſie ſchwebten, keines ein - zigen Bliks, darauf ſie ihren vermeintlichen Stolz haͤtten gruͤnden koͤnnen. So wie ſie nun das Muſter aller weiblichen Vollkommenheit war, ſo war ein gewiſſer Ferdinand B. (der ſeit einem Jahr von der hohen Schule zuruͤkge - kehrt, und bei einem Juſtizcollegio angeſtellet war) die Zierde dortiger Juͤnglinge. Sein viel umfaſſender Verſtand hatte ſich alle Kenntniſſe eigen gemacht, die eigentlich erſt bei maͤnnlichen Jahren zur Reife gedeihen Er hatte ſtets einen weiſen Gebrauch ſeiner Zeit gemacht, und hatte die Rechtswiſſenſchaft nicht blos als ein Brod-Studium, ſondern als eine Wiſſenſchaftbetrach -81betrachtet, die uns Wege zeiget, unſre Bruͤder gluͤklich zu machen. Hiernaͤchſt hatte er auch die Tiefen anderer Wiſſenſchaften durchdrungen, verſtand verſchiedene fremde Sprachen, opferte ihnen aber zur Liebe, nicht ſeine Mutterſprache auf; auf ihre Verfeinerung legte er beſondern Fleiß, und da ihm die Natur die Gabe gluͤhender Empfindungen als ein Geſchenk verliehen, welches ſie nur aͤuſſerſt ſparſam austeilt ſo brachte er es darin bald zu einer groſſen Vollkommenheit. So durchlief er auch mit ſchnellen Schritten die Banen der Weltweisheit, Geſchichte und Dichtkunſt, und gelangte ſtets zum Ziel, dem ſo viele hinanſtreben, und ſelten erreichen. Bei dieſen wahren Vorzuͤgen des Geiſtes war er nie ſtolz auf ſeine Kenntniſſe, und wollte niemals mehr ſcheinen als er war, bediente ſich nie eines entſcheidenden, ſondern eines belehrenden Tons, wann er ſeine Meinungen vortrug. Jn ihm ſchlug ein warmes Herz fuͤr Tugend und Recht - ſchaffenheit Er war ein eifriger Anhaͤnger der Religion, deren weiſe Vorſchriften er befolgte: die Rechte der Natur und Menſchheit waren ihm heilig und unverlezt, er vertheidigte ſie mit mu - tigem Eifer in dem Stande, darin er wuͤrkte,F82darin er ſo ſehr vor ſeinen Mitgehuͤlfen her - vorragte, die ihre Rechtsgelehrſamkeit als ein Handwerk betrachteten, das ihnen Narung und Kleidung verſchaffen muͤßte. Sein Vaterland liebte er mit einer Waͤrme, die ihn des Namens eines wuͤrdigen Patrioten, den ſo viele entwei - hen, wuͤrdig machte; ſeine Nebenmenſchen liebte er als Bruͤder, die gerechte Anſpruͤche an ſeine Mithuͤlfe, an ſeinen Beiſtand haben Genug, er war Einer der Edlen, auf den das Auge der Gottheit mit Wolgefallen ruht. Jch mußte ihn euch, ſo gut es mein ſchwacher Pin - ſel vermag, ſchildern, um euch das Bekenntniß zu entlokken, daß ein ſolcher Juͤngling, mit ſol - chen Grundſaͤzzen fuͤr alles Gute und Edle, der Liebe eines ſolchen Maͤdchens, wie Julie, werth war. So wie der Magnet das Eiſen an ſich zieht, ſo wird auch eine ſchoͤne Seele bald auf diejenige ſtoſſen, die mit ihr gleiche Geſinnun - gen, gleiche Eigenſchaften beſizt, und eben die - ſes Zuſammenſtoſſen jener edlen Seelen! dieſer unwiderſtehliche Zug, den wir Sim - pathie nennen, gewaͤhrt jene reine vollkomm - ne Liebe, die ein Hauch des allervollkommen - ſten Geiſtes iſt, die den Menſchen vom Thier83 unterſcheidet, und nur dem Wolluͤſtling ein Raͤtſel, dem Epikurer ein Maͤrchen iſt. So fanden ſich Yorik und Eliſa Petrarch und Laura Abeillard und Heloiſe. Jhre Liebe war nicht der voruͤbergehende Rauſch der Wolluſt, ſie war das feſte unaufloͤsliche Band, was ihre Seelen knuͤpften, und nur durch Trennung hie - nieden konnte aufgeloͤſet werden. So war auch die Liebe Ferdinands und Juliens, ſchuldlos und rein, von keiner ſtrafbaren Luſt entweiht.

Sie ſahen ſich, empfanden fuͤr einander, was noch keine Sprache auszudruͤkken vermocht, und ſehnten ſich nach dem Augenblik, ſich das ſagen zu koͤnnen, was ihnen ſelbſt unerklaͤrbar im Buſen gluͤhte, und hervordringen wollte. Dieſer Augenblik kam wozu ihn zeichnen, da bei ſolchen Gegenſtaͤnden der Pinſel das doch nur immer halb ausdruͤkken kann, was ſelbſt will geſehen und empfunden ſein?

So verborgen auch dieſe Liebe ſchlummerte, ſo ward ſie doch bald durch einen Nebenbuler ge - wekket, der das ganze Gebaͤude von Gluͤk auf Ein - mal zertruͤmmerte, welches ſich unſere Liebenden ſo oft in einer wonnevollen Stunde gegruͤndet hatten. Juliens Vater ſah ſich in dem BeſizzeF 284ſo groſſer Reichthuͤmer, wie man ſie ſelten bei Privatperſonen findet, eben deshalb waren ſeine Wuͤnſche nach mehreren Schaͤzzen nicht geſtillet; und wie waͤre das auch bei einem Reichen zu ver - muten, der oft dem Armen den lezten Thaler nimmt, um ihn zu den aufgehaͤuften Goldſtuͤk - ken beizulegen? Er ging damit um ſich ein Mo - nopolium uͤber einen gewiſſen Zweig der Hand - lung zu verſchaffen, der jezt in den Haͤnden vie - ler war, und der, da das Land denſelben ſo noͤ - tig bedurfte, einen groſſen Erwerb dem verſprach, der ihn ausſchlieſſungsweiſe benuzzen konnte. Da ein ſolches Monopolium nur zum groͤßten Nachteil des Landes konnte einem einzelnen ver - liehen werden, weil dadurch ſo viele auſſer Brod und Narung geſezt wurden, ſo waren alle ſeine Vorſtellungen, Geſchenke ſogar, fruchtlos ge - weſen, es zu erhalten. Dies ſchrekte ihn aber nicht ab, er wandte ſich an einen Staatsmann, der ſich ſeit kurzem in die Gunſt des Fuͤrſten ein - geſchlichen, und einen wahren Patrioten ver - draͤngt hatte er ſuchte ſeine Bekanntſchaft, und da deſſen Umſtaͤnde ſehr zerruͤttet waren, ſo machte er ihm anſehnliche Geſchenke, und wuſte die Karte ſo zu miſchen, daß dieſer fuͤr ſeinen85 Sohn, der ſchon in einer anſehnlichen Bedie - nung ſtand, um ſeine Tochter anhielt. Dieſer beſtimmte Braͤutigam war in einem Alter von ſechs und zwanzig Jahren ſchon Greis, hatte ſeine Jugend in Ueppigkeit und Wolleben ver - praſſet, und ſich im Arm der berauſchenden Wol - luſt entnervet; groſſe Summen hatte er durch Bulerinnen und Spieler verſchwendet, und Schuldner lagerten ſich fruͤh und ſpaͤt vvr ſeiner Thuͤre. Von ſtoͤrriſcher Gemuͤtsart von Stolz und Dummheit aufgeblaſen, ſchritt er in - deſſen einher, ſeine Winke waren Befehle, und durch das Anſehen ſeines Vaters, deſſen einziger Sohn er war, hatte er ſchon viele aus dem Kol - legium, von dem er ein Mitglied war, verleum - det und ungluͤklich gemacht.

Man ſtelle dies unvollendete Bild gegen jenes, ſo ich euch von Ferdinand entworfen, und nun denke man ſich das ungluͤkliche Maͤdchen, das durch die tiranniſche Wut ihres Vaters aufs aͤuſſerſte gebracht ward.

Ferdinand wurde das erſte Opfer. Man verſandte ihn ſchleunig in die entlegenſte Pro - vinz, um ihn dadurch von ſeiner Geliebten auf ewig zu entfernen; und da er ſich deſſen weigerte,F 386ſo wurde es ihm vom Fuͤrſten, bei Vermeidung der hoͤchſten Ungnade anbefohlen. Wer einen Sinn fuͤr das Wort: gekraͤnkte Liebe hat, wer den Gedanken in ſeiner ganzen Schwere ausdenken kann, losgeriſſen, auf immer getrennt zu werden, von dem was man liebt, der denke ſich das traurige Schikſal eines Juͤnglings, wie Ferdinand war! Zwei Jahr kaͤmpfte er mit un - nennbaren Leiden, und ſtarb endlich an einer Aus - zehrung, zum groſſen Verluſt ſeines Vaterlan - des, das ihn nicht ganz nach Verdienſten ſchaͤzte, und aller derer, die ſeine groſſe Seele in gluͤkli - chen Tagen gekannt, und auch im Ungluͤk be - wundert hatten. Julie ward von allen Sei - ten beſtuͤrmt; der ehrgeizige Vater wurde Bar - bar, waͤre Moͤrder geworden, wenn nicht das verlaſſene Maͤdchen, beſtuͤrmt durch die Traͤnen ihrer Mutter, ein zitterndes Ja hergeſtammelt haͤtte. Der Vater bekam zur Belonung den Rathstitel und das geſuchte Monopolium das Land weinte, und der traurende Patriot ſchlich ſeufzend davon. Er ſtattete ſeine Tochter fuͤrſtlich aus, und ſchloß ſeine Kiſten auf, um die ſtuͤrmiſchen Schuldner des Schwiegerſohns zu befriedigen.

87

Julie ward das ungluͤkliche Weib eines Nichtswuͤrdigen Er legte bald die Larve ab, ließ ſie im Elend, belegte ſie mit tauſend Arten von Kraͤnkungen, und ging ſeinen Luͤſten, ſei - nen Begierden nach, und ſie vertrauerte ihr Le - ben, duldete ſchwere Leiden der Seele, die gegen koͤrperliche Schmerzen ein Nichts ſind. Zwei ganze lange Jahre waͤhrten dieſe Leiden, da erhoͤrte die Vorſicht ihre Wuͤnſche, ein ſchlei - chendes Fieber vertroknete ihre Lebensſaͤfte, ſie ſtarb, ſo wie ſie gelebt hatte, ſtarb mit vollem hingehefteten Auge zu ihrem Vater dort oben, und er ſandte ſeiner Diener Einen, ſie durch das lange Thal des Todes in Eliſium einzufuͤhren.

Moͤchte doch ihr Schikſal allen Aeltern eine Lehre ſein, die ſo gewiſſenlos mit dem Schikſal ihrer Kinder umgehen! denn was iſt ſchreklicher in der Natur, als daß diejenigen die mir das Daſein gaben, mich auch zwingen dieſes Daſein zu verfluchen?

Fuͤr euch aber fuͤhlende Seelen! die ich in mein Auge legte, da ich dieſes ſchrieb, will ich noch ein Fragmeut hinzufuͤgen; es ſind Briefe Juliens an ihre Freundin Caroline in B .. Jch theile ſie euch mit, und glaube, ihr werdetsF 488mir danken, geruͤhrt gen Himmel blikken und eine Traͤne des Mitleids auf das Blatt herab - fallen laſſen.

O, meine Caroline! mit Zittern ergreife ich die Feder, um Dir all das traurige und ungluͤkliche meiner jezigen Lage zu ſchildern, aber koͤnnen das Worte? Jch werde ermatten und in langſamen Jammer dahin ſchmachten und ſterben. Aber warum muſten die, welche mir das Daſein gaben, auch mir daſſelbe rauben? Warum muſten ſie mir dieſe Buͤrde aufladen, da ich zu ſchwach bin ſie zu tragen? Vor vier Wochen gab ich meine Hand dem, den nicht mein Herz, ſondern meine harte Aeltern fuͤr mich be - ſtimmt hatten. Wie zitterte ich, da der entſcheidende Augenblik kam! Jch muß blaß wie der Tod ausgeſe - ben haben, und mein Ja am Altar war ein ſtottern - des ohnmaͤchtiges Ja, von dem mein Herz nichts wußte. Nein es wußte nichts davon, da mein Mund den Bund verſiegelte; dieſer Mund log und redete die Unwarheit. Straf mich nicht, Gerechter! wenn ich treulos werde; ich kann den Mann nicht lieben, dem ich Liebe log. Mein Herz empoͤrt ſich, es kann den Gedanken nicht entfalten, mit ihm verbunden zu ſein. Mein Herz kann nicht geteilt werden, und89 hat nicht Raum fuͤr zwei Weſen; das Bild meines Ferdinands erfuͤllt es ganz, und wo iſt der Starke, der es herausreiſſen, und dieſe Luͤkke ausfuͤllen kann? Manchmal beſchleicht mich der Gedanke, dieſes ge - liebte Bild aus meinem Herzen zu reiſſen, in mein Elend zuruͤkzugehn, und meine Liebe dem zu ſchen - ken, deſſen Namen ich trage, ihn wo moͤglich von dem Weg des Laſters abzuziehen, und in die Arme der Tugend zu fuͤhren, aber es ſind Gedanken, die wie der Hauch des Weſts entfliehn, denen mein Herz entgegen ſtrebt, die ſtrafbar ſind; denn gelobte ich ihm nicht ewige Treue, Ausdauern in Gefar, in Noth und Truͤbſal, gelobte ich es ihm nicht vor dem Angeſicht der allſehenden Gottheit? O welch ein Tag war das, unbegreiflicher ſeliger Tag! ein Tag der Freude, der Wonne und des Entzuͤkkens, da wir hingeſunken auf gruͤnenden Raſen, den Bund der Liebe ſchwuren. Die ganze Natur feierte dieſen Bund, Nachtigallen ſchlugen, Lerchen wirbelten, die Taube girrte, und lokte ihren Gatten, der Lenz goß einen Bluͤtenregen auf unſern Schoos hernieder, und kuͤhlende Weſte gaukelten um uns her: das blaue Veilchen duftete uns entgegen, verliebt ſchlan - gen ſich Blum um Blume, Staude um Staude, die ganze Natur war Liebe, wie ſollten wir es nicht ſein? Wie er zu meinen Fuͤſſen lag, mich mit traͤnenden Augen um Liebe bat, wie ſein Herz ſo ganz offen vorF 590mir lag, daß ich es durchſchauen konnte bis in ſeine geheimſten Falten, und nichts als Liebe fand wie meine Glieder zitterten, wie die jungfraͤuliche Scham ſich erhob, und uͤber die Liebe ſiegen wollte! Ohnmaͤchtige Waffen! was ſeid ihr? ſchlecht ver - wahrte Thore, zu denen jeder Dieb den Schluͤſſel hat. Die Liebe ſiegte, der Mund verſtummte, aber die Blikke redeten deſto mehr, ſie ſagten ewig dein! und die ſeinigen erwiderten, ewig mein! Da warf er ſich in meine Arme, druͤkte mich an ſeine Bruſt, an ſein Herz, und ich ihn an meine Bruſt, an mein Herz, unſere Seelen ſchmolzen in Eins zuſammen, und ein ſuͤſſer Schauer ſagte mehr als Worte faſſen koͤnnen. Ach! unſere Seelen hatten ſich lange ae - ſucht auf dieſer Erde, und fanden ſich endlich, fan - den ſich ſchuldlos und rein, welch eine Seligkeit! welch ein Zauber, der alle Sinne feſſelte, und in paradieſiſche Wonnen verſenkte! Und nun das dumpfe Zuruͤkerinnern an all dieſe Freuden foltert mein Herz, laͤßt mich das Bange des Schikſals zwiefach empfinden, das mir noch bevorſteht, das mir die Zukunft mit ihrem Schleier verhuͤllt! Ja, ewige Vorſicht! ich habe die Freuden genoſſen in ihrer Fuͤlle, aber ſoll denn jezt mein Leben eine Quelle des Elends ſein? Soll ich in der Schwuͤle des Tages verſchmachten, und kein Tropfen Waſſers meine durſtige Seele laben? Womit hab ich dieſe91 Strafgerichte verdient? War mein Leben nicht ſchuldlos und rein? war unſere Liebe nicht heilig und unbeflekt? Kein ſtrafbarer Gedanke loderte in uns auf, keine Handlung entehrte uns vor dir, und der Menſchheit.

Jſt Liebe ein Verbrechen, warum ward mir dies Herz, das Liebe fordert, Liebe heiſcht? Du biſt ja der Urquell der Liebe Liebe! war dein erſtes Gebot Liebe gebotſt du der Natur, Liebe pflanzteſt du in jedes Weſen, vom Menſchen bis zum Wurm, die ganze Natur feiert deinen goͤttlichen Ausſpruch, und alles jauchzt mir zu: liebet! Warum ſoll ich mich nicht an ein Weſen ſchmiegen, das mich verſteht, das die Luͤkke ausfuͤllt, die entſezliche Luͤkke meines Herzens? Jch fand’s ſo liebevoll, und gut, ſchlang es in meine Arme, und es ward mir ploͤzlich entruͤkt; mir iſt wie einem Erwachenden, der von einem ſchoͤnen Traum aufdaͤmmert, und fuͤhlt, daß es nur Minuten waren, da ihn die Fantaſie taͤuſchte. Ach, meine Caroline! bete fuͤr mich, bete fuͤr deine ungluͤkliche Freundin! Sie war einſt gluͤklich gluͤklich im Bewuſtſein der Unſchuld, und iſt jezt ſo grenzenlos elend, ſo elend als gewis kein Weſen ſein kann.

Der Elendeſte unter den Menſchen findet viel - leicht doch jemanden, der ſich ſeiner erbarmet, der92 ſeine Traͤnen troknet, und ihm ſeine Leiden weniger fuͤhlbar macht, da er Troſt und Hofnung auf ihn herabſenkt. Aber wen habe ich? wen darf ich zum Vertrauten meines Kummers, meiner Traͤnen ma - chen? Die, welche mir dies elende Daſein gaben, ſind hart nnd grauſam, ſpotten meiner Traͤnen, haben kein Gefuͤhl fuͤr das, was im Jnnern krampft und wuͤtet und der, deſſen Weib ich bin, ſieht mit Blikken der Verachtung und des Spotts auf mich herab. Er hat mich nie geliebt, nur mein Ver - moͤgen war es, wonach er geizte; nun er das be - ſizt, ſo hoͤnet er mich, geht zu feilen Nimfen, und Bulerinnen und lacht uͤber ſein Weib, das im ſtil - len ſich abkuͤmmert. Wir ſehen uns ſelten, und das iſt Wolthat fuͤr mich, denn ſeine Blikke ſind Blikke des Deſpoten, der mich als ſeine Sklavin behandelt, die er aus dem Staube erhub.

Er hat einen nichtswuͤrdigen Buben zu meinem Huͤter geſezt, der all meine Tritte belauſchet, ja der mich mit dem Ton des Mitleids, zur Verraͤterin meines Herzens machen will. Glaubt etwa der Bar - bar, ich werde, ſo wie er, beſchworne Treue brechen? Nein! ſo wahr ein Gott im Himmel lebt, der uns einſt richten wird, das kann Julie nicht. Als ich am Altar das Ja lallte, ſo unterdruͤkte ich jeden Wunſch an das, was mir theurer als mein Leben war, ſo gelobte ich mir, ihn nie wieder zu ſehen 93 ihn nicht mehr zu lieben das konnte ich nicht! Ach, ich hab ihn ſo unausſprechlich geliebt, ſo liebte Eloiſe ihren Abeillard nicht! Unſere Liebe iſt zwar tod fuͤr dieſe Welt, aber fuͤr jene nicht, dort wer - den wir uns nach einer ſo langen Trennung wieder finden, und keine ſklaviſche Vorurteile werden da die Bande der Simpathie, und Liebe zerreiſſen, die wir hier verleugnen mußten.

O! warum muͤſſen wir mit dieſem vollen uͤber - flieſſenden Herzen in eine Welt verſezt werden, wo wir ſo ſelten jemanden finden, vor dem wir es aus - ſchuͤtten, dem wir die gluͤhenden Empfindungen un - ſerer Seele entziffern koͤnnen, und haben wir ihn endlich nach langem Suchen gefunden, ſo ploͤzlich wieder verlieren muͤſſen! und wie unerſezlich iſt die - ſer Verluſt, wie niederdruͤkkend fuͤr die Seele, die nun endlich all ihre Wuͤnſche auf den Gegenſtand beſchraͤnkt, der ihr ſo ploͤzlich entruͤkt wird. Gewis es iſt ein trauriges Los, fuͤhlendes Herzens geweſen zu ſein, ſich dieſes einſtigen Gluͤks erinnern zu koͤn - nen, und es nun auf einmal verloren zu haben, durch die verloren zu haben, die unſer Leben, das ſie uns gaben, heiter und froh machen, und jeden Tag mit neuer Freude, mit neuer Wonne bezeichnen ſollten. Ja, meine Freundin! mein Alles, mein Einziges, das ich noch aus dem Schiffbruch dieſes Lebens geret - tet habe, es iſt aus mit mir, ausgeleert iſt die Fuͤlle94 meines Herzens, verſiegt der Born meines Lebens, meine Wange erbleicht, die Roͤte erliſcht, das Auge ſchwimmt in Traͤnen, der Koͤrper zittert in Paro - xismen einer fiebriſchen Hizze, und ſchwankt zwi - ſchen Fortdauern und Vernichtung Dann pakt mich wieder ein eiskalter Schauder, und ſpannt alle die Faſern ab, die mich noch an dies elende Leben feſſeln.

All meine Nerven, wie las, und ſchlaf ſie ſind, meine Fibern wie fuͤhllos und erſtorben! und es war doch eine Zeit, wo ſie feſt und ſtark waren, und vor Fuͤlle der Geſundheit ſtrozten. Es war eine Zeit, wo man mich gern ſah, wo meine Geſpielinnen ſich um mich draͤngten, und mir Beifall zuwinkten, wo Juͤng - linge um mich bulten, und mir den Weihrauch der Schmeichelei ſtreuten. Aber du weißt es, Schoͤpfer meines Lebens! wie wenig ich nach Lob und Ruhm geizte, wie wenig eitel ich auf die Vorzuͤge war, die ein Geſchenk deiner Milde waren, wie mir das un - gekuͤnſtelte Lob des Greiſes werther war, als des eitlen Stuzzers Es war eine Zeit, wo ich noch jeder Empfaͤngnis der Freude, jeder Ruͤhrung an fremden Schmerz faͤhig war, wo ich nicht ſchlafen konnte, wenn ich nicht den Tag mit einer edlen Handlung bezeichnet haͤtte, oder mir den Gedanken entfalten konnte, du haſt deinen Geiſt vervoll - kommnet. Und jezt der Genuß der Natur! die95 unerſchoͤpfliche Quelle ihrer Freuden bindet mich nicht mehr an dieſe Welt; laͤngſt wurden ſie abgeriſſen, und mit ihnen die Faſern meiner Exiſtenz. Entkraͤftet lieg ich da, und habe keinen Wunſch mehr, als den, der Vernichtung und Aufloͤſung! O, Freundin! moͤgeſt Du nie in den Zuſtand verſenkt werden, worin Deine Freundin vergebens nach Erloͤſung lechzet, moͤgeſt Du nie empfinden, wie wehe es thut, eine Blume gepfluͤkt zu haben, und ſie nun auf einmal entblaͤttert zu ſehen, wie wehe es thut, allein in der weiten Schoͤpfung zu ſein, ohne daß jemand auf uns merkt, ausgeſtoſſen von Menſchen zu ſein, die uns mit unſerm Werden, Elend ſonder Maas, zur Mit - gift gaben, und mit habſuͤchtiger Begier, uns jene ſparſam zugemeſſene Freuden rauben, die aus dem Herzen quillen.

Ja, alles vergeht in der Natur alles geht zum Staube, zur Verweſung uͤber, wenn es ſeine Beſtimmung erfuͤllt, und gewuͤrkt hat, in dieſem un - endlichen All der Schoͤpfung Jch bin ja nur ein kleines unbedeutendes Weſen in dieſem groſſen All, was ſchadets, daß ich vernichtet werde? aber wie, und durch wen, ich vernichtet werde? da liegts, das iſt die groſſe Kluft, die mein ſchwaches Auge nicht durchdringen kann. Warum mußte ich gerade mit dieſer Feſtigkeit, mit dieſem Drang, mit dieſer verzehrenden Glut geboren werden? Warum ſchuf96 die Natur in mir dies Herz, das ſo hoch empor brauſet, das ſo viel fordert und nie befriedigt wird? Warum mußte ich dies Herz, das ſo gluͤklich haͤtte ſein koͤnnen, wenige Stunden ſchon dieſes Gluͤks ge - noß, wegſchleudern, und an einen Mann verkaufen der es von ſich ſtoͤßt? Jn dieſen Gedanken liegt eine Quelle des Truͤbſals, die nie verſiegen wird, die endlich all meine Wuͤnſche meine Erwartun - gen, ja dies elende Leben ſelbſt verſchlingen wird. Ja, Freundin! haͤtte ich den Troſt nicht, daß mir dies Leben bald wird entnommen werden, das mich ſo grenzenlos elend macht, daß dort mir Gefilde ent - gegen laͤcheln, wo dieſe Traͤnen verrinnen, und das matte Auge dann wieder einmal heiter und froh, in Gottes Schoͤpfung daͤmmert, gewiß ich koͤnnte ihn ſelbſt zuͤkken, den Stal, der mich auf einmal dieſer Szenen des Jammers entruͤkt. Meinſt Du etwa ich haͤtte nicht Mut? Jch biu zwar nur ein Weib, ein ſchwaches Weib, meine Kraͤfte ſind verwelkt und ſaftlos, und ich bin nicht mehr, was ich ehemals war, aber gehoͤrt dazu Mut, ſich der druͤkkenden Feſſeln zu entwinden, die uns an ein Leben ketten, das jeden hereinbrechenden Tag mit einer neuen Sze - ne des Elends ſich oͤfnet? Gewiß weniger Mut als ein ſolches Leben ſtandhaft zu dulden, hindurchzu - kaͤmpfen durch das groſſe Thal des Elends, und kaͤm - pfend endlich zu vergehn. Jch fuͤhl’s, bald hab ichausge -97ausgekaͤmpft, ſie ſind mir zu ſtark die Feinde mei - ner Ruhe, und ſie zu beſiegen, dazu hat meine er - ſchoͤpfte Natur keine Kraͤfte mehr zuzuſezzen; in gluͤk - lichen Tagen hat ſie fuͤr das kommende Elend ge - ſpart, aber es waren der frohen Tage zu wenig, als daß ſie die traurigen aufwiegen koͤnnten, die Sonne meines Lebens hatte nur wenig heitre Augenblikke fuͤr mich, um die lange todte groͤnlaͤndiſche Nacht ausdauern zu koͤnnen Ach! daß du meine todten Empfindungen aufwekken koͤnnteſt, daß ich nicht ſo ganz verlaſſen waͤre, zwar lebt das Bild meines Ferdinands noch, denn nur das hungrige Grab wird es verſchlingen. Aber was druͤkt ein Bild aus, wenn man das Original gekannt, und es ſo gekannt hat, wie ich! Wenn ich ausgelitten habe, Freundin! wenn ich nun den langen Todesſchlaf ſchlummere, ſo melde ihm, wenn er noch lebt, daß ſein Name mein lezter Hauch geweſen, mit dem ich vor dem Angeſichte der Gottheit getreten waͤre.

Ach! daß ich mich zuruͤklullen koͤnnte in die Tage meiner frohen Kindheit, da ich von einer Blume zur andern, von einem Bluͤtenſtrauch zum andern huͤpfte, und Roſen um meine Schlaͤfe wand! Da war ich ſo reich, ſo gluͤklich, alles um mich her durch den Geiſt der Liebe verſchwiſtert, alles, von der ſteigenden Ler - che, bis zum ſumſenden Kaͤfer wetteifernd, den HerrnG98der Natur zu preiſen. Von was fuͤr unnennbaren Ge - fuͤhlen ſchwoll da meine Bruſt empor! wie bebte ich oft fuͤr freudigem Erſtaunen uͤber das Groſſe und Edle in der Natur! mein trunknes Auge ſchweifte gierig in Gottes Schoͤpfung umher, und fand alles ſo lieb und gut, alles zu Nuz und Frommen des Er - denbuͤrgers, der es oft nicht fuͤhlt, und kalt und traͤge in Gottes ſchoͤner Welt umherſchlendert. Wie damals die Natur mit ihrer allbelebenden Fuͤlle auf mich wuͤrkte, wie ich an ihr hing, wie ein Saͤug - ling an der Bruſt ſeiner Ernaͤhrerin!

Mit dem erſten Schimmer des Morgens verlies ich oft mein Lager, und durchſchweifte bald ein duftendes Thal, bald einen buſchigten Huͤgel, alles war ſo voll lebendigen Odems, ſich einander anhau - chend mit Wolgeruͤchen, und ausſtroͤmend ſeine beſte Kraft in Schoͤnheit und Wolthun, und meine Seele ward erfuͤllt mit Glaube und Vertrauen zu jenem groſſen Urquell des Lichts und der Warheit, aus dem alles ſtroͤmt, lebt und iſt. Jch trank aus dem vollen Becher, aus dem Lebensfuͤlle auf alle Ge - ſchoͤpfe herabfleußt, ich trank, bis ich nicht mehr duͤrſtete, und die ungeſtuͤmen Forderungen meines Geiſtes geſtillet waren. Da ward kein Genus von mir unempfunden, kein Abend von mir unbegruͤßt, alles, was mir die guͤtige Mutter Natur darbot, verſchlang ich mit heiſſer Begierde; und ſo ſah ich99 den Abend heraufwallen, ſah die ſtille Ruhe der Na - tur, die mit leiſen Fittigen auf die Flur herabſank. Meine Bruſt ſchlug heftiger, mein Athem ward leiſer, meine Seele ſtroͤmte in Gefuͤhle des Danks fuͤr jenes Weſen aus, was ſo viel Freude fuͤr die Menſchenkinder bereitete, und uns ein Herz gab, dieſe Freuden zu genieſſen, bis einſt der Abend un - ſers Lebens hereinbricht. Auch mein Abend daͤm - mert nicht mehr, nein, er rauſcht ſchon mit ſeinen Fittigen hernieder, und ich ſehne mich nach ihm ich erwarte ihn ich freue mich ſeiner Die Menſchen haben mir den Genus der Freude verbit - tert, ſie haben mir Wermut und bittere Salze in den Kelch gethan; ſoll ich ich ihn ganz bis auf die Hefen ausleeren? ſoll ich ſo vernichtet werden, daß die Fugen der Teile auseinander weichen und zer - truͤmmert da liegen? Nein, mein Schoͤpfer! ich bin ein ſchwaches Weib, laß mich nicht ſo tief ſinken, raube mir nicht noch das wenige Vertrauen, was ich zur Bekaͤmpfung ſo vieler Leiden ſo noͤthig bedarf, entreiß mir nicht den heitern Gedanken, dort erſcheint ſie mir wieder die laͤchelnde Freude, und an ihrer Hand durchwalle ich die Amarantenge - ſilde des ewigen Lebens.

Oft habe ich in einſamen Naͤchten meinen Schoͤ - pfer um meine Auſtoͤſung gebeten, und jezt ſcheintG 2100mein Gebet zu ihm hinaufgedrungen zu ſein. Ein ſchleichendes Gift iſt in meine Adern gedrungen, und ein Fieber mattet mich zuſehends ab, ich werde verwelken wie eine Blume, die der nachlaͤſſige Gaͤrt - ner nicht labet, und was ſoll ich auch mehr in dieſer Staͤte des Jammers? Jch habe mein Schiff an ei - nem Felſen ſcheitern ſehen alles habe ich verloren, und nichts als der Himmel bleibt mir zu hoffen uͤbrig. Und in dem Glauben einer kuͤnftigen Fort - dauer, ſtrekke ich meine matten Haͤnde empor, und bitte Gott, daß er mir Kraͤfte verleih, das kleine Maas von Elend noch auszudulden, was mir noch uͤbrig iſt. Nichts bindet mich mehr an dieſe Welt, ſelbſt die boͤſen Nachrichten, die man mir von mei - nem Gemal hinterbringt, kraͤnken mich nicht mehr. Er ſoll mein Vermoͤgen bald mit Unzucht und Spie - len verſchwendet haben; mag er’s doch! er wird einſt zur Erkenntniß kommen; meine Vorwuͤrfe darf er nicht fuͤrchten, indeſſen habe ich ihn lange nicht mehr geſehen. Mein Vater, dieſer harte Mann! ſcheint jezt, aber zu ſpaͤt, mein Elend zu fuͤhlen, und er ſuchte geſtern ſogar eine Traͤne zu unterdruͤkken, die ſich hervordringen wollte, da er mich ſo voͤllig auf meinen Abſchied aus der Welt reſignirt fand. Auch ich will ihm keine Vorwuͤrfe machen, denn es wird eine Zeit kommen, wo er es fuͤhlt, was es heiſſe, ſein Kind ungluͤklich gemacht zu haben. Wie101 gluͤklich waͤre ich mit meinem Ferdinand geworden! braucht man eines hohen Titels um gluͤklich zu ſein? warlich nicht, denn mein Gluͤk war dahin, da ich meinen Namen vertauſchte, und eine glaͤnzende Rolle auf dieſer Buͤhne ſpielte. O wie oft hab ich mich in die Lage eines armen Landmaͤdchens gewuͤnſcht! ſie kann ſich einen Gefaͤhrten ihres Lebens waͤhlen, und an ſeiner Hand einen beſchiedenen Teil von Lebens - gluͤkſeligkeit genieſſen. Unter Arbeit und Erholung flieſſen ihre Tage ſo ſelig dahin, einer dem andern gleich, jeder ein Zeuge ihres Gluͤks; zieht gleich hie und da eine truͤbe duͤſtre Wolke voruͤber, ſo haben ſie Mut, ſie zu verſcheuchen, und Kraͤfte, die Laſten des Lebens gemeinſchaftlich zu tragen. Nein, meine Freundin! ich will nicht murren, daß mein Los hienieden ſo ungluͤklich war; erwartet mich doch dort eine Szene, wo dieſe Traͤnenflut, die mein raſtloſes Lager uͤberſchwemmt, verſieget, bis dahin will ich dulden, und wie lange wird dies noch ſein? vielleicht wenige Tage, und mein Staub geſellet ſich zur Mutter Erde, und dienet ſchwelgenden Wuͤr - mern zur Nahrung. Jch bin mit dieſem Gedanken vertraut, er erſchuͤttert mich nicht, eben ſo wenig als der entſcheidende Augenblik, wo ſich Seele und Leib trennen ſollen. Jch hab ja einen Vater dort oben er wird nicht mehr Laſten auf ſein Ge - ſchoͤpf legen, als es zu tragen vermag, er wirdG 3102mich ſanft hinuͤberwiegen ins Land der Ruhe. Meine Betti, die all meine Leiden mit mit theilet, iſt untroͤſtlich, iſt vermache ſie Dir als das liebſte, was ich nach Dir zuruͤklaſſe, auch meine Buͤcher und Briefe wird ſie Dir einhaͤndigen Sie hat treu - lich bei mir geduldet, gelitten ſogar; o, wie freute ſich das gute Maͤdchen, ein Laͤcheln auf meinem ver - graͤmten Geſicht zu erzwingen! es war ein Sonnen - blik, der unterm duͤſtern Flor der Wolken hindurch - ſchimmert; haͤtte ſie’s vermocht, es waͤre nicht bei Sonnenblikken geblieben. Aber ſo iſt alles dahin auch jezt uͤberfaͤllt mich eine Mattigkeit, Vorboten des Fiebers, die Feder entgleitet der ſchlaffen Hand, und vielleicht werde ich ſie nie wieder ruͤhren, Dir nicht mehr ſagen, wie ſehr ich Dich liebe. Jch habe nur noch wenig Kraͤfte zuzuſezzen, der Arzt hat we - nig Hofnung, und haͤtte er ſie, warlich ich koͤnnte ihm gram werden; aber ich fuͤhle es zu gut, daß ich reif zur Sichel, zur Aernte bin.

Nun das Gluͤk ſchwebe mit ſanften Fittigen auf Dich hernieder, Freundin meiner Jugend! und ſchuͤtte ſein reichliches Maas von Freude und Wonne auf Dich herab! troͤſte Dich uͤber meinen Verluſt, eine Traͤne der Freundſchaft, und das Andenken in Deinem Herzen, iſt genug; denn ſieh! ſobald ich entkoͤrvert bin, bin ich gluͤklich, der Gedanke muß dich erheitern, und deinen Schmerz ſtumm machen.

103

Haͤtte ich es doch nicht gedacht, daß die Tren - nung von Dir mir ſo ſchwer wuͤrde, aber unſere Seelen waren verſchwiſtert, und nur der Tod konnte ſo feſte Bande aufloͤſen. Er kommt, ein kalter Schauder ergießt ſich in meine Adern Lebe wol, Freundin! meine Caroline! lebe gluͤklich. Dort erwarte ich Dich fliege Dir als ein verklaͤrter Engel, im Stralengewande der Ewigkeit eutgegen, ſchlieſſe Dich an meine Bruſt, an mein Herz, und bin wieder

Deine gluͤkliche Julie.

b) Charlotte, das ungluͤkliche Land - maͤdchen.

Da bin ich jezt, ſo allein und verlaſſen in meiner einſamen Wonung; alles ſo ſtumm, ſo kalt, ſo tod um mich her; ſchon ſtoͤßt der Waͤchter ins Horn, und verkuͤndet die Stunde der Mitter - nacht. Wie der Mond ſo melancholiſch durch die dunkeln Wolken bricht, und die Sterne erblaſ - ſen! Jch hoͤre das Aechzen der ſterbenden Natur, den lezten Hauch ihres Scheidens. Der Schlaf hat ſeinen eiſernen Zepter uͤber die ſchlaf -G 4104trunknen Geſchoͤpfe der Nacht ausgeſtrekket, nur mich flieht er; Nacht iſt es in meiner Seele, ein Gemiſch von Traurigkeit, ein dum - pfes Gefuͤhl der Nichtigkeit dieſes Alls, zerreiſſen mein Jnnerſtes und entlokken mir Traͤnen, und ich habe niemanden, an deſſen Buſen ich ſie ausſtroͤmen koͤnnte. So ſoll denn mein Schmerz in Klagen ausbrechen, und hinhallen, wo die Eule flattert, und die magere Diſtel weht! vielleicht wallet unter den verſchuͤtteten Ruinen der Geiſt Colmas, und vernimmt meine Toͤne, die ein gepreßtes Herz mir entlokket. Doch ſie ſchallen mit leiſen Schwingen zu den Ohren meines Phanor, und der vernimmt ſie. Schaudervolle Szene! wie lebhaft fuͤhl ich dich noch, wie haſt du alle Freuden aus meiner Seele verſcheucht, ihr Ruhe und Heiterkeit ge - raubt, und wo ſoll ich einen Quell in einer duͤr - ren Sandwuͤſte finden, mein erſtorbeues Herz zu beleben?

Jch war heute ſo beklemmt und traurig, ein dumpfes Vorgefuͤhl entfernter Leiden wuͤrkte ſo lebhaft auf meine Seele, daß alle Thaͤtigkeit, alle Kraft dahin ſchwand, ich eilte in die Arme der Natur, ſonſt war ſie ja immer die Quelle105 des Troſtes, der Beruhigung nur einen Tropfen aus ihrem Freudenbecher, und ich fuͤhlte neues Leben, geſtaͤlten Mut, Berge zu erſtei - gen, und Felſen zu erklimmen Sie ſoͤhnte mich aus mit dem menſchlichen Geſchlecht, und lehrte mich, ganz Bruder ſein. Jch ging ſo laͤngſt den Fluß hinab, ergoͤzte mich an ſeiner Silberflaͤche, verlor mich dann wleder im An - ſchauen der ſinkenden Natur, die ihre lezte ohnmaͤchtige Kraft aufbot, die Geſchoͤpfe zu be - leben. Schon rieſelte das erſtorbeue Laub unter meinem Fuß, ich ſah es laͤngſt dem Strom hin - abgleiten, da dachte ich ſo bei mir ſelbſt: die Natur entbluͤht, ſo vielleicht auch du in einem Augenblik! Viele ſind ſchon dahin gegangen, mit denen du dich freuteſt, die mit dir die junge Na - tur keimen, wachſen und bluͤhen, ſie dahin wel - ken, und ſterben ſahen. Dieſer Gedanke wuͤrkte ſo lebhaft in mir, daß ich Welt und Alles um mich her vergas. Jch ſchlenderte ſo uͤber Berg und Thal, als auf einmal ein dumpfes Getoͤſe mich aufſchrekte, ein Aechzen, ein Gemiſch von Trauren und Betruͤbnis ſchallte mir entgegen, und ich folgte dem Ton, der die Saiten meiner Seele beruͤhrte. Mein fliehender Fuß ereilteG 5106eine weite Ebene, zur Rechten das Geſtade des Fluſſes, mit Rohr und Schilf umkraͤnzet, zur linken ein ſandigter Huͤgel, auf dem ein entſeel - ter Leichnam ruhte. Ein Haufen Menſchen von verſchiedenem Stufenalter, ſtanden naſſen Blikkes um denſelben, und ein Maͤdchen im Fruͤhling ihres Lebens lag kniend am Huͤgel, und ſchluchzte ſo laut, daß es die Berge widerhallte. Ein Greis, auf deſſen Scheitel nur noch einzelnes Silberhaar ſich kruͤmmte, lehnte ſein wankendes Haupt an eine nahe Ulme, ſeine Augen hatten keine Traͤnen, aber ſein ſtummer, matter, ſee - lenvoller Blik verriet den innerlichen Aufruhr ſeines gepreßten Herzens. Mit wankenden Schritten nahte ich mich ihm, aber Er, er hatte keinen Blik fuͤr den Menſchen mehr, er war ſchon dieſer ſchaudernden Szene entruͤkt, und fuͤhlte den ſrohen Gedanken, daß Gott Vergel - ter ſei. Jch wankte zum Huͤgel, ſah das kniende Maͤdchen mit aufgeloͤßtem Haar ſich uͤber die kalten Gebeine werfen, um den erkalteten Lippen, durch wundenvolle Kuͤſſe neues Leben einzuhauchen.

Ein junger Mann, der ſeine Augen ſchon wund geweint hatte, war es, der mir die trau -107 rige Gruppe mit gedaͤmpfter Stimme ent - zifferte.

Jch bin der Bruder (ſo waren ſeine Worte) des entſeelten Maͤdchens. Lotte war der Stolz unſerer Gemeine, ſie war ſo fromm und gut, und wir weinten oft Traͤnen der Freude und des Danks, daß wir ausrufen konnten: Sie iſt unſer! Ach, Sie haͤtten ſie ſehen ſollen, nicht ihre Schoͤnheit, obgleich die Natur ihr ſolche im vollen Maaſſe verliehen hatte, nein, ihre Tugenden, ihren Geiſt, wie fern vom Neide ſie von ihren Geſpielinnen geliebt wurde, wie ſie ſich aller Herzen eigen machte, wie ihr ganzes Streben nur dahin ging, wohlzuthun, und lau - ter gluͤkliche Menſchen zu ſchaffen. Sie nahte ſich jeder Huͤtte, erquikte den Ermatteten, ſtaͤrkte den ohnmaͤchtigen Greis; der Sterbende laͤchelte bei ihrem Anblik, und die Jugend verſchied ge - troſt in ihren Armen. Sie war der Liebling un - ſers Pfarrers, ſeine Guͤter waren auch die ihri - gen, er bildete ihr Herz, bereicherte ihren Ver - ſtand mit Kenntniſſen; ach! wie ſie ſo oft das ganze Dorf durch die ſuͤſſen Toͤne ihrer Stimme bezauberte, wie Alt und Jung ſich zu ihr drang, und der Saͤugling ſchwieg, wann ſie die108 lebloſen Saiten beruͤhrte, und ihnen Toͤne ent - lokte, die ans Herz redeten.

Ach, Gott! auch Sie weinen ſchon (meine Traͤnen glitten unaufhaltbar die Wangen herab) ſparen Sie ihre Traͤnen, Sie ſollen noch mehr hoͤren, denn haͤtte ſie der wilde Kalmuk geſehen, er haͤtte nicht ehemals unſere Huͤtten gepluͤndert, unſere Saaten verwuͤſtet.

Wir waren ſtolz auf ſie, unſere Nachbarn verehrten, Fremde bewunderten ſie, man nannte ſie uͤberall die ſchoͤne Lilla! Der Tod hat jezt die Zuͤge unkennbar gemacht, alle Reize vernich - tet, ja, und das iſt der Wurm der an unſern Herzen naget, ſie ſelbſt hat den Faden ihres Le - bens gekuͤrzet, ſie ſelbſt wuͤnſchte, gab ſich den Tod Sie fiel, doch nicht wie Schwache und Feige fallen, ſie fiel unter der gewaltigen Hand der Liebe. Ach! wie ſie kaͤmpfte, wie oft wir ſie hingeworfen auf gruͤnenden Raſen in der Stunde der Mitternacht fanden, wie das ſchlummernde Gefuͤhl vergeßner Liebe, von neuem ermuntert, ſich abarbeitete zur Ohnmacht, und das beſte, holdſeligſte Geſchoͤpf ſo ohne Bewuſtſein in die Arme des Todes ſank!

109

Der Beſizzer unſers Dorfs wohnt eine kleine Strekke von uns, um ſeine wuͤrdige Gattin trauert noch unſre Gemeine; ſie war unſre Freundin, fromm und lieb. Wir alle weinten um ſie, und meine Schweſter pflanzte eine Ro - ſenhekke um ihre Urne Aber ihr Gatte weinte nicht, er hat ein hartes Herz, taͤglich fuͤhlen wir’s. Auch dies war ſein Werk. Noch zween Monden, ſo iſt es ein Jahr, da kam ſein Sohn von der hohen Schule zuruͤk, Julius hatte den Geiſt nnd die Eigenſchaften ſeiner Mutter, vom Vater hatte er nichts als den Namen geerbt, er ſah Lotten, ſah ſie oft und viel, liebte ſie, und ſie ihn. Keine Liebe iſt je vollkommener, edler, tugendhafter geweſen, aber ſie ſollte nicht Bluͤ - ten und Fruͤchte treiben. Die Mutter des edlen Juͤnglings liebte Lotten als ihr Kind, denn nicht Rang, Wuͤrde und Reichtum ſondern der Adel der Seele beſtimmte in ihren Augen den wahren Wert.

Sie trennte nicht ein Band, das Natur und harmoniſche Tugend knuͤpfte. Wie es aber immer Menſchen giebt, die Unſchuld und Tugend zu untergraben trachten, ſo gieng’s auch hier. Der alte N hatte kein Herz fuͤr die Tugend,110 Ahnenſtolz und Dummheit bezeichneten jeden ſeiner Tritte, er ſperrte ſeinen Sohn ein, drohte ihn mit Fluch und Enterbung. Lotte, das ſchuldloſe Maͤdchen, wurde von ihm zum niedrigſten Geſchoͤpf herabgewuͤrdigt, er wollte ihr auch die Freiheit nehmen, aber ſeine wuͤrdige Gattin hintertriebs, doch dies gebar auch all die Leiden ihrer Seele, deren Uebermas ſie ſo fruͤh der Menſchheit entzog.

Julius wurde nach C .. zu einem Ver - wandten gebracht, und hier wurden vaͤterliche Gewalt, Einkerkerung, Verleumdung, und Liſt gebraucht, ihn bundbruͤchig zu machen. Fluch und Drohungen zwangen ihn, ſich mit ei - ner andern Perſon zu verbinden, und Lotten zu entſagen. Dies erfuhr ſie, ihr Herz litte viel, denn ſie hielt ihren Julius fuͤr treulos. Doch die Zeit haͤtte vielleicht uͤber ihren Gram geſiegt, wenn nicht ein Brief ihres ungluͤklichen Geliebten ihre Ruhe auf ewig untergraben haͤtte. Hier entwik - kelte ſich ihr der Betrug und die Liſt, die man auf Unkoſten ihrer Ehre und ihres guten Namens, gebraucht hatte, zwei Herzen zu trennen, die ſo veſt verbunden waren. Sie fiel in eine ernſte Me - lancholie, wir waren nicht behutſam genug, uͤber111 ſie zu wachen; und troͤſten! konnten wir’s, da wir ſelbſt des Troſts bedurften?

Der alte N raubte uns durch Raͤnke, und unzaͤliche Arten Bedruͤkkungen alles, was Fleiß und Muͤhe uns erworben hatten. Sein Wille war’s, uns in Armut zu ſtuͤrzen, Freiheit und Ruhe zu rauben. Unſere Leiden, unſere ſtille Traͤnen waren Dolchſtoͤſſe fuͤr meine arme Schweſter; duͤſter und ſchwermuͤtig ſchlich ſie umher; ſeit einigen Tagen entwoͤlkte ſich ihr Geſicht, ſo wie die Sonne zwiſchen dunkel erzeugten Wolken einen matten Schein wirft, aber oft ploͤzlich ſchwaͤrzere Wolken die Erde in Nacht huͤllen. Ach, der Entſchluß uns zu verlaſſen, ihr freu - denleeres Leben zu enden, reifte ſchon lange in ihrer Seele! Sie hat ihn in der Morgenſtunde vollendet, und wir ahndeten es nicht, daß ſie uns geſtern zum leztenmal umarmen, das lezte Le - bewol ſtammeln wuͤrde. Es war eine fuͤrchter - liche Nacht, Regenſtuͤrme durchſchauerten die Luft, der Morgen war dunkel und ſtuͤrmiſch; ich erwachte vom aͤngſtlichen Traum erſchuͤttert, ſuchte meine Schweſter im Hauſe, Garten, in der ganzen Flur, und ſie war nirgends. Wie ich nun ſo aufs Feld hinſchlendere, und mein Blik112 weit umherſchweift, kommt der Hirte unſrer Heerde auf mich zu, reißt mich mit ſich fort, an dieſe Bucht, und zeigt mir den Leichnam, den der Sturm aus Schilf geworfen. Worte ſind zu arm, meinen Schmerz auszudruͤkken, Sie fuͤh - len ihn, und es liegt ein Troſt darin, daß es Bruͤder giebt, die mit uns weinen.

Eine Mutter! eine geliebte Schweſter! und vielleicht bald einen Vater zu verlieren! denn er kaͤmpft mit dem Leben, und ringt mit dem Tode, bald hab ich alles verloren, und das in der Bluͤte meiner Jugend. Das engt das Herz ein, man wird zulezt ſo bekannt mit dem Gram, daß die Traͤnen verſiegen, aber im Jnnern da krampft’s, da wuͤtet’s! Wir wollen ihre entſeelte Gebeine jezt einſenken in die tiefe Gruft, unter jener Pappel an unſrer Kirchhofsmauer, und ich will ein ſchwarzes Kreuz oben auf den Huͤgel ſez - zen, damit der Wanderer es ſehe und frage, wer da ruhe, und die Winde ihm zurauſchen: Ein Taͤubchen vom Geier verfolgt! Wenn auch mein Vater dahin iſt, ſo will ich einem neuen Weltteil zueilen; es gab ſchon vielen Ruhe, vielen ein Grab, vielen Beides, eins wird auch fuͤr mich da ſein!

Hier113

Hier endete der junge Mann, ſein Herz ſchien erleichtert, und gab ihm Traͤnen. Wie konnt ich kalt hineinblikken in ſeinen Schmerz? meine Traͤnen miſchten ſich mit den ſeinigen; ich umarmte ihn feurig, druͤkte ſeine Rechte, und verließ ihn Aber der Gedanke ſtand ſo feſt in meiner Seele, unerſchuͤttert ſtand er da, zu wallfahrten zum Huͤgel der Vollendeten, und ihren Aſchenkrug mit meinen Traͤnen zu nezzen. Jch bin dir das Opfer ſchuldig, theures Maͤd - chen! mag dich der verdammen, der kalt und fuͤhllos ſeinen Weg fortſchlendert; der Garten und das Feld hat keine Blume mehr, ſonſt wollte ich deinen Grabhuͤgel damit beſtreuen: aber wenn die erſten Veilchen bluͤhen, will ich ſie auf deine Gruft ſtreuen, vielleicht ſchwebt dein Geiſt un - ſichtbar einher, und liſpelt im lauen Weſt, Ruhe und Troſt in meine Seele. Und ſollte der Juͤng - ling kommen, der das Maͤdchen liebte, ſollte er den Ueberreſt ſeines ſchwachen Koͤrpers wankend zu ihrem Grabhuͤgel ſchleppen, ſo will ich mich entfernen, denn das Grab gehoͤrt ihm, iſt ein Stuͤk von ſeinem Herzen; ich will den Lauf ſeiner Traͤnen nicht aufhalten, denn ſie machenH114dem gepreßten Herzen Luft, und ſind Thau fuͤr die welkende Pflanze.

c) Heinrich und Marie, im Leben ge - trennt, durch den Tod verbunden.

Zu Leiningen, einem Gute im M .. lebte im lezten Viertel dieſes Jahrhunderts, Wilhelm Meier, der von ſeinem Vater ein Freiſchulzen - gericht ererbt, und ſich durch ſeinen Fleiß ein anſehnliches Vermoͤgen, nach ſeinem Stande er - worben hatte. Marie war die einzige Tochter dieſes Landmanns, ein gutes vollwangigtes Maͤdchen, die fuͤr die Schoͤnſte in der ganzen um - liegenden Gegend gehalten wurde. Sie beſaß dabei einen guten Verſtand, ſpielte die Laute, ſang und las zuweilen, wenn es die haͤuslichen Beſchaͤftigungen zulieſſen, Gellerts Schriften, Vorzuͤge, die etwas ſeltenes in daſiger Gegend waren, daher kams, daß das Maͤdchen uͤberall geſchaͤzt und angeſehen war, ſo daß ſie ihr Gluͤk in der nahen Reſidenzſtadt haͤtte machen koͤnnen. Aber ihr Vater ging damit um, fuͤr ſie einen rei -115 chen Schwiegerſohn zu erkieſen; ſchon viele hat - ten ſich um Marien beworben; aber ſie waren nicht reich, nicht vornehm genug.

Marie lernte auf der Hochzeit eines angren - zenden Nachbars, Heinrich Moͤller kennen, er war der Sohn eines Verwalters, der durch Un - gluͤksfaͤlle um ſein Vermoͤgen gekommen, und jezt ſich von einem Jahr zum andern, ſo durchhel - fen mußte. Heinrich war ein ſchoͤner wohlge - wachſener Juͤngling, beliebt in der ganzen Ge - gend, beſonders wußten die Maͤdchens ihn we - gen ſeiner Artigkeit, und auszeichnenden Sitten nicht genug zu loben.

Sein Vater hatte ihn, bei ſeinen guten Um - ſtaͤnden auf eine Schule geſandt, und er hatte huͤbſche Kenntniſſe zuruͤkgebracht. Er erwarb ſich Mariens Freundſchaft, und da nur ein Schritt zwiſchen der Liebe iſt, ſo war auch dieſer bald gethan; Heinrich erwarb ſich auch die Gunſt des alten Meier, und wußte ihn da - hin zu bringen, ihn zu ſich zu nehmen, um die Landwirtſchaft zu erlernen.

Nun hatten unſre Liebenden gewonnen Spiel Sie wohnten unter einem Dache, ſahen ſich taͤglich, und ſo durch den taͤglichon Umgang undH 2116Uebereinſtimmung der Denkungsart, ſchlang ſich das Liebesband immer veſter um ſie. Doch die Liebe iſt ſelten vorſichtig, und ſo kam es dann auch, daß der alte Meier das Verſtaͤndnis ent - dekte. Das war nun gerade dem Strom ſeiner Denkungsart entgegen gearbeitet. Sich ſo in ſeinen glaͤnzenden Hofnungen betrogen zu ſehen, und das durch einen Menſchen, den er aus Mitleid zu ſich genommen, kraͤnkte ihn zu ſehr, und da gelinde Mittel nichts fruchteten, ſo ſchmiedete ſeine Rachſucht einen Plan, der ſeine ſchwarze Seele entdekte. Er jagte den armen Heinrich ſogleich aus dem Hauſe, ſtach ſich hinter Werber, die ſich in der Gegend aufhielten, und brachte ihn mit Liſt in ihre Haͤnde. Heinrich mußte Soldat werden, und ward mit Schlaͤgen zum Ort ſeiner Beſtimmung abgefuͤhrt. Die ploͤzliche Nachricht von dem traurigen Schikſal ihres geliebten Heinrichs beraubte die un - gluͤkliche Marie ihrer Sinnen, ihre Lebensgei - ſter ſtokten, und arbeiteten unter einer graͤslichen Ohnmacht. Sie erholte ſich zwar wieder, aber ein hizziges Fieber ſchlich in ihren Adern, und riß ſie bald in der ſchoͤnſten Bluͤte ihrer Jahre dahin.

117

Heinrich mußte nun exerciren lernen, mußte den Stok eines verſoffenen Korporals taͤglich empfinden, durfte ſich mit keinem Wort verant - worten, und ſchon eine verdroſſene Mine zog ihm Schlaͤge nach. Er klagte dies ſeinen Kame - raden, dieſe beredten ihn zur Flucht; er dachte an ſeine Marie und nahm den Vorſchlag an. Sie ſtiegen uͤber die Stadtmauer, legten eine halbe Meile in ſteter Furcht zuruͤk, wurden von Bauern umzingelt, und an das Regiment abge - liefert. Heinrich mußte vier und zwanzig mal Gaſſen laufen. Sein Koͤrper war einer ſolchen Behandlung nicht gewohnt, und er ſank unter den Streichen ſeiner Kameraden zu Boden. Tages darauf ſtarb er, und ſein lezter Hauch war Ma - rie. Dort wo kein tiranniſcher Vater, keine barbariſche Krieger ſind, werden ſie ſich wieder finden und gluͤklich ſein.

H 3118

d) Woldau und Emilie. Auch Liebe fuͤhrt ins Grab.

Wilhelm Graf von Woldau, ein junger Officier in Dienſten, ſah Emilien C .. ein Maͤdchen von zwar buͤrgerlichen Herkommen, aber von deſto groͤſſerm Adel des Geiſtes Sie zu ſehen, und in einem Nu Ehrfurcht und Liebe zu empfinden, war Eins. Was ihr das ver - ſchwenderiſche Gluͤk an hoher Geburt und Reich - thuͤmern entzogen, das erſezte die Natur im vol - len Maſſe. Jhre Bildung war |edel und liebens - wuͤrdig, ihr Herz bieder und gut, jedermann ſuchte ihren Umgang, und eine hoͤhere Roͤte faͤrbte die Wange des liebenden Juͤnglings, wann ſie ihm einen belohnenden Blik zuwarf, einen Blik, der ihre ganze Seele aufſchloß. Nur die - ſer einzige Blik der liebevollen Unſchuld, und al - les draͤngte ſich zu ihr; aber ihr Herz war kalt gegen das Lob und die Schmeicheleien ſo vieler, es ſchlug nur fuͤr den Einen, den Einzigen! Jhn hatte ſie ſich erkoren zum Geliebten und Freund. Jhre Seelen, ſo genau mit einander verſchwiſtert, fanden und liebten ſich.

119

Emilie, das ſchuldloſe Maͤdchen, das jezt zum erſtenmal Liebe, grenzenloſe Liebe fuͤhlte, kaͤmpfte lange mit der groͤßten Spannung ihres Geiſtes, mit den ſuͤſſen Empfindungen welche die Natur in ihre Bruſt ſchuf. Sie ſah es ein, es wuͤrde eine nie verſiegende Quelle des Elends fuͤr ſie werden, den zu lieben, dem ihre Bruſt entge - gen klopfte. Bebend zwiſchen Liebe und Schmerz, faßte ſie den Entſchluß, den nur ein Herz faſſen konnte, das ſo edel dachte, den Entſchluß, zu fliehen, alles zu verlaſſen Aeltern, Ge - ſpielen, Vaterland, und den ſo heiß Gelieb - ten, um fern von der Welt und ihren Freuden ihr Leben wegzujammern ſich dem aufzu - opfern, den ſie mit ſolcher Waͤrme liebte; aber die Traͤnen ihres Woldau, ſeine jammernde Stimme, daß ſein Leben ohne ſie Tod ſein wuͤr - de, machte dieſen Eutſchluß wankend.

Woldau war ein Mann, zwar erzogen in der groſſen Welt, aber ohne ſich mit dem Strom der Zuͤgelloſigkeit fortreiſſen zu laſſen; er hatte ſeinen Verſtand mit Kenntniſſen bereichert, ſei - nen Karakter durch die Bemuͤhungen eines Freun - des, noch mehr ausgebildet und verfeinert; ploͤz - lich entriß ihm das Schikſal dieſen Freund undH 4120Lehrer allein in der Schoͤpfung, ſuchte ſeine Seele ein Etwas, an das ſie ſich ſchmiegen koͤnnte, und ſie fand ein Maͤdchen, das nur allein ihm den erlittenen Verluſt erſezzen konnte.

Sein Vater, der weiter keine Vorzuͤge, als die Menge ſeiner Ahnen beſaß, verſagte ihm ſeine Einwilligung zu einer Verbindung, die nach ſeinen Begriffen ihn entehren wuͤrde, ja |er drohte ihn mit Verſtoſſung und Fluch, wenn er noch ferner den Umgang mit ihr fortſezzen wuͤrde.

Nun denke dich, fuͤhlende Seele! all die Bitterkeit ihres Schikſals, ihre Liebe gegen ein - ander aufs hoͤchſte geſpannt ihre Seelen durch das wechſelſeitige Band des ſimpathetiſchen Gefuͤhls ſo verkettet, daß Trennung ohnmoͤg - lich und fuͤr ſie keine frohe Ausſicht, einſt gluͤklich, einſt im Arm der Liebe durch dies Er - denleben zu wallen. Jhm war ſein Stand zur Laſt, gern haͤtte er ihn vertauſcht, gern Reichtum und Ehre dem Thoren uͤberlaſſen; froh wuͤrde er am entfernteſten Geſtade ſich eine Huͤtte gebaut haben, um ſicher und ruhig im Arm ſeiner Emilie ruhen zu koͤnnen. Ein Vaters Bruder unſers Woldau hatte Gelegenheit Emilien zu ſehen; von ihrer Bildung und dem erhabnen121 Karakter ihres Geiſtes bezaubert, eilt er zu ſei - nem Bruder, ſtellt ihm mit den ruͤhrendſten Worten ſeine Haͤrte vor, fleht, die Liebe zwoer ſo wuͤrdigen Perſonen zu billigen aber um - ſonſt, der Vater wird dadurch noch mehr aufge - bracht, und wuͤrkt durch falſche Angaben, einen Verhaftsbefehl gegen Emilien aus. Um alles Aufſehn zu verhindern, will man ſie des Nachts heimlich aus den Armen ihrer Aeltern reiſſen, und in ein Kloſter fuͤhren, Jhr Geliebter wird mit einiger Mannſchaft nach der Grenze auf einen Werbetransport geſandt, um ihn einige Zeit zu entfernen, man verſagt ihm ſogar, ſeiner Geliebten noch ein Lebewol zu ſagen, und er muß eilends fort. Die Nacht bricht herein, Wache umringt das Haus, und Milfort, ein felſenharter Mann von einem Krieger, auf deſ - ſen Wange noch nie eine Traͤne gezittert, tritt in das Gemach des ſchuldloſen Maͤdchens und zeigt den Befehl vor, ſie mit ſich zn fuͤhren.

Ein lauter Jammer erfuͤllt das ganze Haus Emilie faͤllt ohne Bewuſtſein, geruͤhrt vom Schlage zur Erde Jhr Vater zitternd, und bleich, ringt die Haͤnde, die Mutter, die Ge - ſchwiſter, alle draͤngen ſich, die Knie des altenH 5122Milforts zu umfaſſen, um Gnade und Erbar - men zu flehen. Man denke ſich einen im Dienſt des Mars grau gewordenen Krieger, der vierzig Jahr mit allen Gefahren bekannt, der von Ju - gend auf nur an Morden und Blutvergieſſen ge - woͤhnt, gegen alles Gefuͤhl der Menſchheit ſchon abgehaͤrtet iſt; und nun auf einmal eine zitternde Zaͤhre in ſeinem Auge, das harte Felſenherz er - weicht, der ſonſt ſo mutige, ſo unerſchrokne Mann, dem der Donner des Geſchuͤzzes lieblich toͤnte, das Ziſcheln der Kugeln, das Blinken der Schwerder Freude war, und jezt ganz Mitleid, ganz Teilnehmung, wendt alles an, eine Per - ſon zu erhalten, die zu kraͤnken er die unſchuldige Urſach war. Er laͤßt Aerzte herbei holen, aber umſonſt, Emilie kommt nicht ins Leben zuruͤk, ein ſchwacher Seufzer! und ſie iſt nicht mehr Der alte Krieger druͤkt die kalte Hand, troͤſtet den bekuͤmmerten Vater, die troſtloſe Mutter, eilt zu ſeinem Chef, ihm Bericht von einer ſolchen Szene abzuſtatten, die ſein ganzes Weſen um - geſchaffen. Das Geruͤcht von dieſem Auftritt ver - breitet ſich bald in der ganzen Stadt, ja dringt mit ſchnellen Schwingen zu den Ohren des jungen Woldau, der bald den Ort ſeiner Beſtimmung123 erreicht hatte. Jn dem fuͤrchterlichſten Aufruhr ſeines Herzens, verlaͤßt er mitten in einer ſtuͤrmi - ſchen Nacht ſeine Untergebenen, laͤßt alles zu - ruͤk, wechſelt ſeine Kleider, und legt ununterbro - chen einen Weg von zehn Meilen zuruͤk. Noch athemlos ſtuͤrzt er in das Haus ſeiner Theuren, findet ſie tod, erſtarrt und leblos. Traͤnenlos ſtuͤrzt er ſich auf den entſeelten Leichnam, heftet ſeinen Mund auf die erkalteten Lippen man reißt ihn weg, und fuͤhrt ihn mit Gewalt in ein anderes Zimmer. Nach einigen Stunden ſcheint er ſich erholt zu haben, ſagt, er habe ſich dem Willen des unveraͤnderlichen Schikſals unterwor - fen, troͤſtet die bekuͤmmerten Aeltern, die ihre heiſſen Traͤnen mit den ſeinigen vermiſchen, richtet den weinenden Bruder auf, der troſtlos ſeine Arme umſchlungen haͤlt; er legt ſich auf ein Bette, um alsdenn nach ſeinem Kommando zu - ruͤkzukehren. Man taͤuſchte ſich mit der ange - nommenen Ruhe ſeines Gemuͤts. Aber noch nie war ſein Herz in ſolchem fuͤrchterlichen Aufruhr, es draͤngte ſich zu einer That, die zu feſt in ſei - ner Seele beſchloſſen war, als daß ſie ein endli - ches Weſen haͤtte verhindern koͤnnen. Er ſchrieb einige kurze Briefe, ergriff ein Sakpiſtol, ſo er124 geladen bei ſich trug, druͤkte es uͤbers rechte Auge, und ſank tod zur Erde. Man hoͤrte den Schuß, oͤfnete die verſchloſſene Thuͤr, und fand ihn in ſeinem Blute. Alles ſtuͤrzte herzu, den noch zu ſehn, den man im Leben ſo liebenswuͤr - dig fand; Mitleiden und warme Theilnehmung verriet jede Mine, und eine heiſſe Traͤnenflut entſtuͤrzte dem Auge. Jn einem Lande wo der Selbſtmord hart geahndet wurde, ſuchte man die wahre Urſach ſeines Todes zu unterdruͤkken. Der Chef, welcher den jungen Woldau liebte, weihte ihm im ſtillen manche Traͤne der Wehmut, unterdruͤkte das Geruͤcht ſeines Todes, ſchuͤzte ſeinen Leichnam vor geſezlicher Behandlung, und ließ ihn, wie ſeine lezte Bitte war, neben ſeine Emilie begraben, der er getreu geblieben war, bis auf den lezten Hauch ſeines Lebens.

Kalte Seelen giengen vor ſeinem Grabeshuͤ - gel voruͤber, vergaſſen ihre Menſchheit, und verurteilten einen Bruder, der im Kampf erlag. Er endete ein Leben, das er zur Ehre der Tugend und Menſchheit verlebte, er fuͤhlte ſich zu ſchwach mit Leiden der Seele zu kaͤmpfen, verließ daher den Schauplaz eher, als er abgerufen ward. Sollte ihm ſein Schoͤpfer deshalb| von ſich125 ſtoſſen? Er kam ungerufen, aber nicht unbereitet. Der verlorne Sohn ward ja wieder aufgenommen, konnte ja wieder in die Arme ſeines Vaters ei - len, und er der droben thront, ſollte weniger Erbarmen, weniger Mitleiden gegen ein Ge - ſchoͤpf haben, deſſen Gluͤkſeligkeit ihm ſo nahe liegt? Weine alſo immer, fuͤhlende Seele, an ſeiner Urne, pflanze Roſen und Mirten auf den Huͤgel der zwei Liebende dekt, die einander ſo treu, ſo zaͤrtlich geliebt, aber verachte den Vater, der ihr Moͤrder ward. Noch lebt er, aber ein elendes Leben, ſich ſelbſt zur Qual, ein nagen - des Gewiſſen im Jnnern, von jedem Rechtſchaf - fenen verachtet, ſchleicht er einher, und ſieht, wie lachende Erben ſeinen Tod wuͤnſchen, um das zu verſchwenden, was er aufgehaͤufet hat.

Schon wieder ein trauriges Beiſpiel, was Stolz und Ehrgeiz wuͤrken, ſchon wieder ein Opfer von Aeltern geſchlachtet! Fuͤhlt ihn, ich bitte euch, deutſche Vaͤter und Muͤtter, fuͤhlt den herzerſchuͤtternden Gedanken, Moͤrder eurer Kinder zu ſein, und wenn ihr das nicht fuͤhlt, o, ſo durchdonnere euch die Stimme der beleidigten Menſchheit, und rufe Rache wider euch, Rache vom Vergelter des Guten und Boͤſen!

126

VI. Ehrloſigkeit Entweihter Name! Schlechte Handlungen koͤnnen ehrlos machen, aber nicht Ge - burt und Handthierungen, die zum Nuzzen der Geſellſchaft da ſind, und da ſein muͤſſen.

Ehrloſigkeit! wie oft wird dieſer Name ent - weiht, von ſo vielen gemisbraucht, die dieſen Namen nicht kennen und nicht wiſſen, was es heiſſe, ehrlos ſein. Ein Ehrloſer iſt gleich - ſam ausgeſtoſſen aus dem Zirkel der Menſchheit, ihm bleiben blos die groben Beſtandtheile die auch das Thier beſizt, und jene feinern Attribu - te, die ihn der Gottheit naͤhern, ſind ihm ent - riſſen, und koͤnnte er gleich in dem elenden Zu - ſtand, darinnen er lebet, ſich derſelben bedienen wollen, ſo wuͤrde er allein verachtet aus - gehoͤnt ohne Teilname ohne Mitempfin -127 dung ſie nicht genieſſen koͤnnen, und ſich in ſein Elend zuruͤkziehen muͤſſen. Die ſchoͤnſten Guͤ - ter dieſes Lebens, Guͤter, welche die druͤkken - de Laſten unſerer Menſchheit erleichtern, die den ſinkenden Bau unſers ſchwachen Koͤrpers unter - ſtuͤzzen, ſind ihm verborgen. Alle Freuden der Natur Freuden, die Lebensgenuß und Fuͤlle auf uns herabſtroͤmen, ſind fuͤr ihn tod. Er ſieht die Freude in allen Geſchoͤpfen laͤcheln, vom Tag - loͤhner, der ſich vom Aufgang bis zum Nieder - gang der Sonne abmuͤdet, bis zur kleinſten Rau - pe, die ſich zum bunten Schmetterlinge verwan - delt, alles empfindet die Wuͤrde, daß es da iſt, nur er nicht; denn ſein Auge umzieht ein duͤſtrer Flor alles traͤgt die Farbe der Traurigkeit fuͤr ihn, Jammer und Elend begleiten ihn, und wandeln mit ihm in Gefilde, wo die einſame Diſtel ihr mageres Haupt ſenkt, und kein Vogel der Liebe ſchwirret, wo die Eule flattert, und der Uhu heulet. Sein Name iſt gebrandmarket, ein Spott des niedrigen Poͤbels, ausgetilgt aus dem Buch der Rechtſchaffenheit; keiner wagt ſich ihm zu nahen, der Poͤbel fuͤrchtet ſogar durch ſein bloſſes Beruͤhren, einen Teil ſeiner Schande auf ſich zu laden. Eingeſchloſ -128 ſen im Kerker angeſchmiedet an Ketten am Ruder der Galeeren in den unterirdiſchen Minen wo kein Lichtſtral ſich in die tiefe Nacht herabſenkt in den Gewoͤlben der Feſtung, im Umgang mit Moͤrdern und Raͤubern vertrauert er ſein Leben, und haſcht oft nach einem Werkzeug, ſich ſelbſt zu zernichten; ſtirbt er, ſo wartet kein ehrliches Begraͤbniß ſeiner; da wo die Knochen der Thiere aufgethuͤrmt liegen, da liegen auch ſeine Gebeine zerſtreut und dienen kraͤchzenden Raben zur Speiſe. Der Fremdling geht voruͤber vor der Staͤte, wo dieſe Elenden ihre Tage verſeufzen, und hat er ein menſchliches |Gefuͤhl, ſo wird er den Gedanken denken, wieder ein Verworf - ner vom Schikſal! Aber warum ward er verworfen? wodurch hoͤrte er auf ein Glied der Geſellſchaft, ein Buͤrger des Staats zu ſein? waren ſeine Verbrechen ſo groß, ſo wichtig, daß man ihn ausloͤſchen muſte aus der Liſte der Menſchheit? War gar kein Weg uͤbrig, ihn wieder, wenn er geſuͤndigt, zum guten Men - ſchen, zum guten Buͤrger zu machen? O, gewis ihr Richter des Volks! einen boͤſen Menſchen zum guten umzuſchaffen, ihn nicht durch hartezwek -129zwekloſe Strafen, durch inneres Gefuͤhl ſei - ner Schuld, und durch Entlokkung des heiſſen Wunſches wahrer Sinnesaͤnde - rung, auf die Bahn der Tugend zuruͤkzuleiten, dem Staat einen nuͤzlichen Buͤrger, der Menſchheit einen bidern Menſchen, der Religion einen Verehrer, der Tugend einen Freund wieder zu ſchenken, iſt groß und loͤblich, erwirbt euch den Beifall der Gottheit, und das Lob der Edlen eures Volks. Aber, ſagt mir, werden nicht einſt boͤſe Traͤume euch aufſchrekken von eurem Lager? Werden nicht Gewiſſensbiſſe euch foltern? wenn ihr vielleicht aus niedern Ab - ſichten, aus Bosheit, Leidenſchaft und Verblen - dung, oder gar aus Unwiſſenheit, das Loos der Ehrloſigkeit und Verſtoſſung uͤber einen Men - ſchen hinwerft? Das Bewuſtſein, einen Men - ſchen ungluͤklich gemacht zu haben, muß ein ſchreklicher Zuſtand ſein, ſo wie der, das Gluͤk nur Eines Menſchen gemacht zu haben, der ſe - ligſte iſt, auf den das Auge der Gottheit mit Wolgefallen herabſchaut. Wie groß iſt daher eure Verpflichtung, Handhaber der Geſezze! die Verbrechen im wahren Lichte zu durchſchauen; bedenkt, daß wir Menſchen ſind, ohnmaͤchti -J130ge, ſchwache Geſchoͤpfe, geneigt zu Suͤnde und Fehl, wenn aͤuſſere Umſtaͤnde auf uns wuͤr - ken, wenn Leidenſchaften auf uns zuſtuͤrmen und das Herz in die Preſſe nehmen, wenn Ungluͤk und Elend das weiche Herz verhaͤrtet, und es endlich alles wagt, ſich aus dieſem Labirint des Elends herauszuwinden.

Wenn der aus ſeinem vaͤterlichen Erbe durch die Tirannei ſeines Herrn verſtoſſene Menſch, Mann eines ſchuldloſen Weibes, Vater unmuͤndiger Kinder, Armut und Elend mit ſtarken Rieſenſchritten auf ſich zueilen ſieht; wenn er keinen Ort auf dieſer weiten Erde hat, zu dem er ſagen koͤnnte, er iſt mein, und hier will ich mein muͤdes Haupt hinſenken wenn er ſein treues Weib in langſamen Jammer da - hin ſchmachten ſieht, wenn ſeine Kinder zer - lumpt und nakt ſeine Knie umſchlingen, und rufen; Vater, gieb uns Brod! Wenn aller Weg zur Rettung fuͤr ihn verſperret iſt, und er nun in ſtummer Verzweifelung ſich zur Rotte der Raͤuber und Diebe geſellet, um ſeine Familie vom ſchmaͤlichen Hungertode zu retten wenn er in der Kunſt zu rauben zu feig, bald er - tappt, und in ein finſteres Loch geworfen wird. 131 Sagt mir Richter! wie wollt ihr da richten? wollt ihr die Strafe, welche die Geſezze auf Raub und Diebſtal ſezzen, an ihn vollziehen? Wollt ihr ihm zwar das Leben ſchenken, aber zur lebenslaͤnglichen Feſtungs - und Zuchthausar - beit verurteilen, das noch ſchlimmer als der Tod unter dem Beil des Nachrichters iſt das wollt ihr? weil die Geſetze es heiſchen? Nun mit welcher Strafe belegt ihr denn den, der ſich vom Raube der Wittwen und Waiſen ſaͤttigt, der ſich vom Schweis der Armut naͤhrt, und die Huͤtten ſeiner Bewoner beraubt, um an deren Statt ſtolze Pallaͤſte aufzufuͤhren? Fuͤr den habt ihr keine Strafe? gilt das Recht, das den Bauren verurteilt, auch nicht fuͤr ſeinen ſtrengen Herrn, der ihn unterjocht? Wird der Rei - che nach andern Geſezzen gerichtet, als der Ar - me? O! nein, denn waͤre dies moͤglich, ſo wuͤr - de der Staat, der nur durch gleiche Wage des Rechts ſeine Exiſtenz erhalten kann, in einem Nu zu Grunde gehen, ſo wuͤrde die Menſchheit ihrer Vernichtung entgegen ſtuͤrmen, und aufhoͤ - ren uͤber Land und Meer zu gebieten, und uͤber die Thiere auf Erden, im Meere, und in der Luft zu herrſchen. Aber ſo gab es vom AnbeginnJ 2132der Welt bis jezt Geſezze und Rechte, die uͤber Fuͤrſten und Untertanen, Herren und Skla - ven mit gleicher Wage richteten, ſo hat uns die Vorwelt die Namen eines Solon, Likurg, Minos, Hermes Trismegiſtus, Numa, Titus und Marc Aurels als weiſe Geſezgeber aufbehalten, die gleiches Recht dem Groſſen und Niedern, dem Reichen und Armen zuteilten. So nennt auch unſer Zeitalter die Erlauchten Namen Friederichs, Joſephs und Gu - ſtavs, die den Klagen der Bedruͤkten abhelfen, und jeden, auch den Geringſten in ihren Staa - ten, bei ſeinen Rechten ſchuͤzzen. Wenn dies Fuͤrſten thun, wie vielmehr muͤſſen es Jene, die ſie zu Verweſern der Gerechtigkeit be - ſtellten, die an ihrer Staͤtte ſizzen, und in ihren Namen das Recht dem zuerkennen, dem es nach den Geſezzen der Billigkeit ſich zulenkt. Dies aber nicht allein iſt Eure Pflicht! Nein, ihr muͤſſt auch jeden Buͤrger dem Staat zu erhalten ſuchen; ihr muͤſſt ihn nicht gleich ausſtoſſen ans der Zal der Wuͤrkenden; fehlt er, tritt er aus dem Gleiſe, der ihm vorgezeichnet iſt, nun ſo un - terſucht erſt, ehe ihr eine Strafe beſtimmt, die zu ſeiner Beſſerung abzwekken ſoll, warum er’s133 that, und was ihn beſtimmte, ſo, und nicht an - ders zu handeln. Werft nicht ſo geradezu das Loos der Ehrloſigkeit uͤber einen Verbrecher hin; bedenkt, es iſt ein ſchrekliches Loos, der Tod iſt Wolthat dagegen. Und dieſes Loos greift ſchon ſo mancher durch ein Ungefaͤhr der Geburt, ja durch eine Handthieruug, darauf Vor - urteile und eitler Wahn es warfen. Dies iſt eine Sache der Menſchheit, die eine naͤhere Be - leuchtung fordert, und ich will ſie nach meinen wenigen Kraͤften wagen. Moͤge doch der Rechtſchaffene mir Beifall zulispeln der Lehrer ſeine Stimme zum Volk erheben und der Staatsmann ſeinen Fleis verdoppeln, und mit gluͤhendem Eifer der Menſchheit ihre ver - lohrnen Rechte wiederſchenken.

Wenn jemand ſolche Handlungen, dar - auf die Geſezze der Vernunft und Billigkeit, das Brandmal der Schande, und Verachtung gedruͤkt, begeht, ſo verfaͤllt er unter die Zal der Ehrloſen, und hoͤrt dadurch nicht nur auf, ein Buͤrger des Staats zu ſein, ſondern ver - liert auch die groſſen Rechte, die ihm als Menſchen in der Geſellſchaft zukommen. So ſind z. B. die Untreue eines Vormunds ge -J 3134gen ſeine Pupillen ein falſcher Eid, das Gewerbe eines Kupplers ſolche Handlungen, die Jemanden ehrlos und unfaͤhig machen, fer - ner ein Glied der Geſellſchaft zu ſein, deren Simbol Rechtſchaffenheit iſt. Aber koͤnnen Handthierungen, die zum Nuzzen des Staats und der Geſellſchaft errichtet ſind, die notwen - dig da ſein muͤſſen, ehrlos machen? koͤnnen ſie denjenigen, der ſie verrichtet, ausſchlieſſen von dem Rechte des Menſchen, des Buͤrgers? Wer wuͤrde dies nicht mit mir verneinen, wer wuͤr - de nicht zugeben muͤſſen, daß ſolche Gewerbe und Beſchaͤftigungen, die, wenn ſie gleich wi - drige Eindruͤkke und Ekel erzeugen, doch ein - mal zum Nuzzen des Ganzen erforderlich ſind, keinen Makel an der Ehre und guten Namen zu wege bringen, und alſo um ſo weniger Ehr - loſigkeit und Verachtung zu Gefaͤhrten haben koͤnnen? Und dennoch belegen wir Perſonen deshalb mit dem Brandmal der Ehrloſigkeit, weil ſie ſich einer Beſchaͤftigung gewidmet ha - ben, die der gemeine Haufen von jeher als ſchmuzig und ekelhaft betrachtet, und der ſich doch ein jeder ſelbſt unterziehen muͤſſte, wenn niemand da waͤre, der ſie verrichtete.

135

Der Abdekker (Caviller) iſt bei uns ehr - los, ausgeſchloſſen von allen Vorrechten des Buͤrgers, ausgeſchloſſen aus dem Zirkel der Geſellſchaft, man verachtet und flieht ihn, man fuͤrchtet den Hauch der Luft, den er ath - met, ja kann was laͤcherlicher ſein, und mehr die Vernunft beleidigen? man wirft Geld und Geldeswert auf den Boden, damit er es auf - hebe, gleich als wenn man einem Hunde was zuwirft*)Jm Staͤdtchen D g im Luͤneburgiſchen ſtuͤrzte der Abdekker mit dem Pferde auf der Straſſe im Angeſichte vieler Menſchen. Er kruͤmmte ſich jaͤmmerlich auf der Erde; aber un - ter den Zuſchauern, die Menſchen und Chriſten, wie er waren, redete ihn keiner an, noch weni - ger reichte ihm einer ſeine menſchliche oder chriſt - liche Hand. Er kroch erbaͤrmlich nach ſeiner Wonung, und ſtarb an dieſem Falle. Dies ge - ſchah im lezten Viertel des philoſophiſchen Jahrhunderts, in einer aufgeklaͤrten Provinz, und in einer Stadt. . Warum wird er ſo behandelt? iſt er nicht ein Menſch wie wir? kann es ihm an ſeiner Ehre, an ſeinem guten Namen, wenn er ſonſt ein guter Menſch iſt, ſchaden, daß er theils Verbrechern das Leben nimmt, die durchJ 4136ihren Tod aufhoͤren Verbrecher zu ſein, da ſie ihre Schulden mit ihrem Blut getilgt, und ihre Suͤnden durch den Tod abgebuͤßt haben, theils ein todtes Thier begraͤbt, und ſeine Haut zum mannigfaltigen Nuzzen des Men - ſchen abſtreift? Andere Voͤlker verrichteten die - ſes immer ſelbſt, verrichten es noch an vielen Or - ten, und man wird ſie deshalb nicht fuͤr ehrlos halten. Und wie waͤr’s, wenn ſich niemand zu dieſer Beſchaͤftigung faͤnde, wuͤrden wir ſie nicht ſelbſt verrichten muͤſſen? wuͤrden wir nicht auf - hoͤren muͤſſen, ein Vorurteil abzulegen, was viele unſerer Nebenmenſchen ungluͤklich macht? Warum muͤſſen ſclaviſche Vorurteile die Men - ſchen noch immer mit ihrem eiſernen Zepter be - herrſchen? warum muͤſſen uralte Gewonhei - ten, die ihre Entſtehung unter einem andern Himmelsſtrich, bei einer andern Verfaſſung, bei andern Sitten empfingen, noch bei uns geltend ſein? und mit einem Eifer, der weit die Stuffe der Menſchheit uͤberſchreitet, befolget werden? Warum muß die Binde noch immer das Au - ge des Schwachen verhuͤllen, daß es nicht Warheit von Taͤuſchung unterſcheide, daß es ſich andere Begriffe bilde, die nicht in der Be -137 deutung des Namens liegen, daß es Menſchen brandmarke, deren Handthierung zum Nuzzen der Geſellſchaft gereichen?

Daß unſere alten Vorfahren verſchiedene Gattungen von Menſchen fuͤr ehrlos hielten, das berechtigt uns nicht zur Nachahmung. So wenig die damalige Verfaſſung des Landes, auf die heutige ihre Anwendung findet, um ſo viel weniger koͤnnen die damaligen Gewonheiten noch heutiges Tages bei uns geltend ſein, ob wir gleich denſelben Boden bewonen, der Deutſch - land ehemals hieß, aber auch nichts, als den bloſſen Namen beibehalten haben. Wir ver - moͤgen nicht die Urſachen zu durchſchauen, die unſere Vorfahren bei dieſer und jener Einrich - tung gehabt haben; es war vielleicht ein uralter Gebrauch, der ſich nach und nach fortflanzte, und ſo auf Kind und Kindeskind kam, der dann hernach ein Geſez fuͤr die Nachkommen wurde. Warum wollen wir nun bei einer ganz andern Verfaſſung, bei andern Sitten, (denn wir haben ja die guten alten Sitten gaͤnzlich abge - legt), noch ſo eifrig an alte Gewonheiten haͤngen?

Bei den Roͤmern waren auch die Huren - Wirte, ja die Huren ſelbſt ehrlos, und diesJ 5138zeigt gewis von der feinen Empfindung der Ge - ſezgeber dieſes Volks. Wir haben ja auch die roͤmi - ſchen Geſezze angenommen, auf deren Bekant - machung wir ſo viel Jahre verſchwenden, und doch wird niemand einen Kuppler und eine feile Dirne fuͤr ehrlos erklaͤren, und ihre Namen brandmarken; wir ſehen ſie ja als notwendig und unentbehrlich an, haben den harten deut - ſchen Ausdruk einer Hure, mit dem gefaͤlligen einer Tochter der Freude (fille de joie) ver - tauſcht, und ſezzen ſolche moraliſch-elende und verworfene Geſchoͤpfe in den Stand ein gemaͤchliches uͤppiges Leben zu fuͤhren, und ſo viele mit ſich in den Schlamm ihrer Luͤſte hin - abzuziehn. Hat der Staat etwa einen Nuzzen von ſolcher niedrigen Klaſſe von Menſchen, die ein Gewerbe damit treiben, unbefangne Maͤd - gens zu verfuͤhren, und ſie der Mutter zu ent - reiſſen von ſolchen elenden Geſchoͤpfen, die mannbare Juͤnglinge entnerven, und ein ſchlei - chendes Gift in alle Adern gieſſen, das den feſte - ſten Bau des Koͤrpers abſpannt, und in einem Nu der Verweſung in die Arme wirft? Nur der Wolluͤſtige wird mir hierin widerſprechen, der groͤſte Teil meiner Mitbruͤder wird zugeſtehen139 muͤſſen, daß ſie das gefaͤhrlichſte Uebel des Staats ſind. Der Name eines Ehrloſen koͤnnte alſo mit groͤſſerm Rechte bey ihnen ſtatt finden, als bei ſolchen Menſchen, die den Nuzzen der Geſell - ſchaft befoͤrdern. Warum ſoll alſo der Abdekker, der Gerichtsfron, nicht eben ſo gut auf die Rechte eines Buͤrgers Anſpruch machen wie jeder andere? gewis er kann es weit eher, wenn er die Pflichten der Menſchheit erfuͤllt, als viele eurer Nebenmenſchen, die ſtolz einher prunken, und eine glaͤnzzende Rolle unter ihren Zeitge - noſſen ſpielen.

Jener Dimogen, der im goldenen Wagen daher prunkte, dem Menſchen und Thiere zu Ge - bot ſtanden. Er pluͤnderte die Waiſen, und zog der armen Wittwe das lezte Hemde aus, er ſchwur falſche Eide, um das Eigentum des Mitbruders an ſich zu reiſſen, er ſtuͤrzte ſeinen Wolthaͤter, und ſtelte falſche Zeugen wider ſeine Redlichkeit auf, er ſtieß die Armut von ſeiner Schwelle, und behandelte ſeine Untergebene als Sklaven. Er ſtarb, und lauter Pomp beſtat - tete ihn zur Erde, die oͤffentlichen Blaͤtter lobten ſeine Menſchenliebe, ſeinen edelmuͤtigen Karak - ter, und im Tempel erhebt ſich ein marmornes140 Denkmal, und predigt der Nachwelt Luͤgen. Sein Leben war ein dichtes Gewebe von Laſtern, er veruͤbte Handlungen, darauf die Geſezze die Ehrloſigkeit legten, verdiente er alſo ein ehr - liches Begraͤbnis? verdiente er eine Saͤule des Nachruhms? die den Tempel der Wahrheit ent - weiht.

Jener Ariſton, der im Tempel der Aſtraͤa als oberſter Prieſter dient, nimmt Geſchenke, und kraͤnkt die Sache des Armen. Von Bedruͤk - kungen und Ungerechtigkeiten erfuͤllt, ſinkt die Wage der Gerechtigkeit, nur fuͤr den groſſen und reichen Erdenbuͤrger gibt das Zuͤnglein den Ausſchlag, der Arme hat nichts als ein redliches Herz, und eine Sache, dafuͤr die Billigkeit ſpricht. Aber was iſt das in den Augen des Falſchmuͤnzers der Gerechtigkeit? Jndeſſen iſt ſein Name beruͤhmt unter ſeinem Volk, er ſizt oben an im Gericht, und Luͤgen und Truͤgen treten an die Stelle der Warheit; die beſten Fruͤchte des Landes flieſſen ihm zu, fremde Spei - ſen kizzeln ſeinen Gaumen, und koſtbare Weine ſeine Zunge. Er misbraucht den Namen der Rechtſchaffenheit, unter der verkappten Larve des redlichen Mannes, und verbirgt ſein ſchaͤndliches141 Herz unter der Maske der Heuchelei. So lebt er, bis das Maas ſeiner Bosheit voll iſt, voll bis zum uͤberflieſſen, dann ereilt ihn die ſchrekliche Hand des oberſten Richters, und loͤſcht ihn aus der Zahl der Lebenden, und wird ihn einſt rich - ten, wie er hienieden richtete.

Jener Mandarin, |der das Ruder des Staats dem Rechtſchaffenen entriß, und ſich aus der Hefe des Poͤbels zum Guͤnſtling des Fuͤrſten er - hob, der Gerechtigkeit und Friede von den Gren - zen des Reichs verſcheucht, und Krieg und Elend die friedſamen Huͤtten veroͤden laͤſt, der die Wuͤr - den des Reichs fuͤr ſchnoͤden Gewinnſt ausſpen - det, und den taurenden Patrioͤten von ſeiner Schwelle ſtoͤßt, der vom ſauren Schweiß des Buͤrgers zehrt, und ſich ſaͤttigt von der erpreß - ten Armut des Landmanns; er durchzieht im Pomp die Gaſſen, tauſende warten auf ſeine Winke, goldene Schloͤſſer, praͤchtige Gaͤrten ſind ſein; ſchwelgende Feſte, und der laute Ju - bel der Freude verkuͤndigen dem Fremdlinge ſei - nen Pallaſt, aber der Bedruͤkte weint, und das traurende Volk ſchmachtet im Elend. Durchlebt er gleich viele Jahre in Wolleben und Ueberfluß, uͤberſtreut ihn das Gluͤk mit ſeinen Guͤtern, ſo142 entlaſtet doch endlich der Tod das Land von ſel - nem groͤſten Uebel. Sein Tod iſt die Ruͤkkehr der Freude auf den Geſichtern vieler tauſende, und Hofnung beſchleicht wieder die Herzen des Volks. Jhr Verderber lebt nicht mehr, tauſend Fluͤche fallen auf ſein Grab, und ſein Name iſt wie die Namen der Rughieri’s, Mazarini’s und Al - ba’s gebrandmarkt.

Jch habe euch nur drei Arten von Men - ſchen unter den verſchiedenen aufgeſtellt, die es in Ruͤkſicht ihrer Handlungen verdienen, daß man ſie als ehrloſe, verworfene Men - ſchen behandelt. Koͤnnen Geburt, Wuͤrde und Reichthum ſie vor dem Richterſpruch der Warheit ſchuͤzzen? geben dieſe das Recht unge - hindert goͤttliche und menſchliche Geſezze zu ent - weihen, und heilige Bande freventlich aufzu - loͤſen? Wenn das waͤre, ſo waltet kein gerech - tes und weiſes Weſen uͤber uns, ſo waͤre die Re - ligion ein Fantom, und die Tugend eine Schi - maͤre! Aber ſo wandelt uͤber den Sternen ein Gott, der im ſaͤuſelnden Weſt ſich als den Va - ter ſeiner Kinder, und im Sturm und Don - ner ſich als den Richter des Weltkreiſes zei - get, vor deſſen Allmacht die Welten zittern, und143 alle lebende Weſen in den Staub ſinken, deſſen Guͤte der Gerechte im Gebet erflehet, und deſ - ſen Groͤſſe der Verbrecher im lezten dumpfen Roͤcheln bekennet. Jhn blenden nicht aͤuſſere Vorzuͤge, und das, worauf der Menſch Gehalt und Wuͤrde ſezzet, iſt ihm Staub, den ſein Odem weghaucht. Er wird eure Verworfene, die ihr hier mit dem Brandmal der Ehrloſigkeit be - legt, hervor ſuchen unter den Tauſenden, und ihnen den Lohn ihrer im ſtillen veruͤbten Thaten geben. Da wird die Binde von euren Augen fallen, und ihr werdet zu ſpaͤt einſehen, daß nur ſchlechte Handlungen euch vor Gott und der Menſchheit entehren, und nur die Rein - heit eures Herzens euch einen wahren Wert in den Augen deſſen geben koͤnne, der alle eure Gedan - ken, bis auf den, der noch ungeboren iſt, kennt. Daß nie der eitle truͤgeriſche Wahn des Poͤbels euren guten Namen ſchaͤnden koͤnne, und ihr in jeder, auch der geringſten Beſchaͤftigung des Lebens, wenn ihr eure Pflichten redlich erfuͤllt, gewis einen groͤſſern Lohn zu erwarten habt, als der Geachtete im Volk, der das ihm anver - traute Pfund im Schweistuch vergrub.

144

Dieſen Troſt habt ihr ungluͤkliche Ge - ſchoͤpfe, die man ausſtieß aus der menſchlichen Geſellſchaft, und die verworfen troſtlos einher wanken. O! ich wuͤnſchte, ich koͤnnte euch die - ſen Troſt auf der muͤhſamen Wallfart eures Lebens zum Geleitsmann geben, damit ihr uͤber die Muͤhſeligkeiten hinweg ſchluͤpfen, und mutig hindurch kaͤmpfen koͤnnt; aber ich wuͤnſche auch, meine Stimme ſchallte zu den Ohren der Geſez - geber der Erſten im Volk, daß ſie das ungluͤkliche Loos, das Vorurteil und Wahn des Poͤbels uͤber viele Menſchen aus - warf, zu zernichten trachteten. Nehmt doch (bedarf es deshalb noch Bitte und Vorſtellung?) ſolche Menſchen, die zum Nuzzeu der Geſellſchaft da ſein muͤſſen, unter die Zahl eurer Buͤrger auf! Was haben euch die Ungluͤklichen gethan, daß ihr ſie ausſchlieſſet aus der Muſterrolle eurer Buͤr - ger, daß ihr ihnen die Vorrechte der buͤrger - lichen Geſellſchaft, ja ſelbſt die ehrwuͤrdigen Vor - rechte der Menſchheit entzieht, daß ihr ſie ſo tief herabwuͤrdigt? Nehmt doch immer den Gehuͤl - fen der zuͤrnenden Themis, der das Schwerd uͤber Verbrecher zukt, in euren Kreis auf, laßt ihn immer die Rechte der Menſchheit genieſſen,ſchließt145ſchließt ſeine unſchuldige Nachkommen nicht von Zuͤnften und Handthierungen aus, denkt immer daran, daß Ehrloſigkeit nur bei ſchlech - ten Handlungen ſtatt finden kann. Bedenkt, wenn man Muſterung unter euch halten wolte, wie viele eurer Bruͤder wuͤrden nicht das Brand - mal der Schande und Verachtung verdienen?

Und was haben euch denn endlich jene un - ſchuldige Kinder gethan, uͤber deren Erzeugern kein Prieſter den Segen ſprach, die in einer be - rauſchenden Stunde der allgewaltigen Liebe ihr Daſein empfingen warum belegt ihr ſie mit dem Brandmal der Unaͤchtheit? warum wird eine geſezliche Behandlung erfordert, ſie unter die Zal der Buͤrger aufzunehmen. Sind es auch nur einige Thaler. die in den Sekkel der Juſtiz fuͤr die Legitimation fallen, ſo iſt es doch immer ein Schimpf, das erſt durch Geld zu gewinnen, was uns andern Menſchen gleich macht; ſo iſt es im - mer ein Vorurteil der Geburt, mit dem man zu kaͤmpfen hat; ſo iſt es der Name eines Ba - ſtards den man oft laut und ſacht ziſcheln hoͤrt; auch dies ſchmerzt ſchon den Knaben, ſchmerzt tiefer den Juͤngling, in deſſen Bruſt ein edles Herz ſchlaͤgt. Wie viele Jahre werdenK146erfordert, welch eine koͤſtliche Zeit, ſich aus dem Nichts heraus zu windeu, darin man durch das blinde Ohngefaͤr der Geburt verſenkt iſt. Wie viel Thaten muͤſſen erſt verrichtet werden, ehe man dieſen Flekken abwaſchen kan, und hat man ſie gethan, und ſteht als ein angeſehner Mann im Dienſt des Staats und der Kirche, Gluͤk und Segen um ſich verbreitend, ſo ziſcht der haͤmiſche Neid, und bloͤkt ſeine Zaͤhne uͤber den Baſtard; wenn ſeine Verdienſte laut ſprechen, ſo ſtammelt eine ſchwindſuͤchtige Matrone, oder eine ſtolze Dame, die oft ſelbſt ihren Vater nicht beſtimmen kan, das ſo gewoͤnliche Lied her ja, wenn er uur von ehrlicher Abkunft waͤre! Denn dies iſt immer der Lauf der Welt, daß man das bei andern zu tadelu ſucht, was man bei ſich ſelbſt vermißt, daß man alsdann oft mit hoher Herkunft prunkt, wenn man ſich einer niedern Abkunft bewuſt iſt.

Warum hebt man aber uͤberhaupt das Vor - urteil der Geburt nicht auf? kan die Wuͤrkung eines bloſſen Ohngefaͤrs mir Wuͤrde und Anſehen verleihen? Das kan nur der Adel des Herzens, die Groͤſſe des Geiſtes Jch will dadurch nicht die verſchiedenen Staͤnde aufheben, die147 durch eine Einrichtung unſerer Vorfahren be - ſtimmt ſind; ſie ſind einmal da, und ſie jezt gaͤnzlich zerſtoͤren wollen, hieſſe alles zerruͤtten, und den verſchiedenen Stuffen der menſchlichen Geſellſchaft ihre Uebereinſtimmung mit dem Gan - zen, ja ihre Exiſtenz rauben.

Es waͤre immer beſſer, ſie waͤren nicht da, und der Amerikaniſche Staat, wo eine allge - meine Gleichheit der Staͤnde herrſcht, wo Ge - burt nichts, und Verdienſt alles entſcheidet, wird der gluͤklichſte Aufenthalt des Menſchen - geſchlechts, und der Ort werden, wo Gluͤk und Freude auf allen Fluren den Weltbuͤrgern ent - gegen laͤchelt, die ſo oft durch die Vorurteile der Geburt und des Ranges verſcheucht werden. Wir in Staaten eingeſchloſſene Menſchen, koͤnnen aber auch friedſam und vertraͤglich in verſchiede - nen Staͤnden leben, wenn wir das Vorurteil der Geburt unterdruͤkken, in ſo weit es dem erworbenen Verdienſt ſchadet, und darinnen nicht unſern alleinigen Stolz und Ruhm ſezzen, von groſſen Voraͤltern entſproſſen zu ſein. Man kette nicht das Verdienſt an den Eigenſinn des Gluͤks; man glaube nicht, daß auch die Verdienſte ſprechen, wo die Geburt VorzuͤgeK 2148verlieh, denn die Erfahrung lehrt das Ge - genteil.

Hat dir das Gluͤk eine glaͤnzende Geburt ver - liehen, ſo legte es dir mit deinem Werden zu - gleich die Verpflichtung auf, deinen Geiſt deſto mehr zu vervollkommen, um der Welt zu zeigen, daß du des gluͤklichen Loſes werth ſeiſt, das dir aus Fortunens Urne zufiel. Blik alſo nicht ver - achtungsvoll auf den Baſtard herab, der ſein Daſein von einer verſtolnen Liebe empfing ſieh nicht ſo ſcheel auf den Abkoͤmmling des Nach - richters und ſeiner Gehuͤlfen herab Auch ſie ſind Menſchen wie du auch in ihrer Bruſt kan ein warmes Herz fuͤr Tugend und Recht - ſchaffenheit ſchlagen; es ſchlaͤgt ja oft waͤrmer und feuriger im haͤrnen als im ſeidenen Ge - wande, wallt ja oft hoͤher zur Ehre der Menſch - heit unterm Kittel, als unterm Band und Stern empor, und willſt du, Guter, Edler! Zuͤge des Edelmuts, und Geiſtes Groͤſſe aufſuchen, ſo geh zu deinen armen verachteten Bruͤdern; willſt du in unſern aufgeklaͤrten Zeiten nach Re - ligion und Tugend ſuchen, ſo ſuche ſie in Huͤt - ten in jenen ſtillen Wonungen des Friedens, wo jene edle Einfalt der Natur noch wont,149 welche die Herzen nnſerer Vorfahren erwaͤrmte, und zu Tugenden entflammte, die wir noch ſtau - nend bewundern ach! nur bewundern muͤſ - ſen, denn ausuͤben? koͤnnten wir’s!!

VII. Jn Huͤtten wont Elend, und ihre Bewoner ſeufzen unter dem Joch der Sklaverei.

Es muß ein ſeelenvoller Gedanke fuͤr jeden Bidermann ſein, daß es unter uns Deutſchen noch Maͤnner gibt, die Mut haben, ihre Stimme zum Volk zu erheben, die feilen Lohn nicht achten, und nicht kriechen vor den Schwel - len der Reichen, und Maͤchtigen dieſer Erde. Die ſich hinweg ſehen uͤber das Geſchmeis der kriechenden Heuchler und Gleisner, und ſchaͤnd - liche Thaten, die im finſtern veruͤbt werden, ans Licht bringen, die ſchlechte und entehrende Hand - lungen ihrer Zeitgenoſſen ſichtbar machen, und aufdekken die Bloͤſſen ihres Jahrhunderts. JchK 3150verehre ihren Geiſt, der Mut genug hat, Steine vom Felde wegzuwaͤlzen, und ſich durch Wuͤſte - neien glatte und ebene Steige zu banen; ich ſchaͤzze ihre Schriften, die Beweiſe ihres Edel - muts ſind; ja ich meſſe einen jeden Schriftſteller meines Vaterlandes nach ihnen ab, und denke, ſo ſollten ſie alle ſein! koͤnte gleich nicht ein jeder ein ſo groſſes Maas zum allgemeinen Wol bei - tragen, nun ſo leiſte er ſo viel, als ſeine Kraͤfte erlauben, ſtreue wenigſtens einige gute Koͤrner aus, die den vaterlaͤndiſchen Boden befruchten. Ein Jſelin, der uns|ſchon entruͤkt iſt Moſer, Schloͤzer, Moͤſer, Wekhrlin und Salzmann ſind mir verehrungswuͤrdige Namen! Mit heiſſer Begierde verſchlinge ich ihre Schriften, und fuͤhle oft ein Sehnen, ihrem Geiſt in der Naͤhe zu folgen; Dies ward mir nicht, aber die ſtille Bewunderung, die Achtung fuͤr ihre Ver - dienſte bleibt mir, und ich lege gern das Be - kenntnis ab, daß Deutſchland auf ſolche Maͤn - ner ſtolz ſein kan; und wer von meinen Leſern, unterſchriebe dies nicht gern? Unter den vielen Ar - ten von grauſamen und entehrenden Handlungen, ſo in unſerm Zeitalter, und in unſerm Vater - laude begangen ſind, und noch immer begangen151 werden, zeichnet fich eine beſonders aus, die ver - dient bekannter zu werden, und die Wekhrlin in ſeinen Chronologen anfuͤhret. Es ſei mir vergoͤnnet, ſie hier kurz anzufuͤhren, um daraus verſchiedene Folgerungen auf uns herzuleiten.

A) Grauſame Handlung in Schwaben.

Bekkers-Anderle, ſonſt genannt Untertan, und Weinſchenk zu Neuhuͤtten, ein Filial des ge - meinſchaftlichen Baron Gemmingſchen, und Wilerſchen-Amts Meyenfels in Schwaben war als ein ordentlicher und nuzbarer Buͤrger bekannt. Jn der Mitte des Heumonats des 1780ſten Jahres ruft ihn ſein Fleis ins Feld; die Erſchoͤpfung noͤtigt ihn zum Trunk, und die auſſerordentliche Hizze verurſacht, daß er zu viel nimmt. Kurz der ehrliche Sueve kommt tau - melnd zu Hauſe. Hieraus entſteht nun eine Scene, wie ſie beim Poͤbel gewoͤnlich iſt, das Weib mault, brummt, und treibt’s, bis ſie eine Ohr - feige empfaͤngt. Mit dieſer lauft ſie geſtrekten Fuſſes zum hochfreiherrlichen Verwalter Ei - bertsberger zu Meienfels, und verklagt ihrenK 4152Mann. Der Verwalter laͤßt ihn holen, und ohne weiters in den Thurm ſezzen, mit dem Be - fehl, den Mann dreimal vier und zwanzig Stunden einzuſperren, und ihn waͤhrend dieſer Zeit weder Speiſe noch Trank zu reichen. Dieſer unnatuͤrliche und ſinnloſe Befehl ward genau befolgt. Welche Wuͤrkun - gen muſte er haben! Maͤchte des Himmels, wen - det euer Antliz von dieſem Scheuſal weg! Der arme Gefangene, bei dem ſich der Durſt nach den Regeln der Natur um ſo heftiger wieder |ein - fand, je mehr er vom Rauſch erwachte, ſeufzte anfangs erbaͤrmlich um ſeine Loslaſſung; endlich beſchwoͤret er die Zuſchauer bei der Barmherzig - keit Gottes um einen Tropfen Waſſers. Um - ſonſt. Es war bei Frevel verboten, ihm etwas zu geben, und zu mehrerer Sicherheit lagen die Schluͤſſel zum Thurm in der Amts - ſtube ſelbſt. Unermuͤdet ſezt der Gefangene ſein Seufzen fort, und reißt die ſilbernen Knoͤpfe vom Wams, und bietet fuͤr jedes Trinkglas Waſſers einen. Man meldets dem Verwalter, der Barbar iſt verſteinert. Jn der Straf - ſei, wer ihm einen Tropfen reicht! Nun bricht das ungluͤkliche Opfer der Natur zum153 Bruͤllen aus; es lechzt wie ein Thier, und ruft mit Wut und Verzweifelung nach Waſſer. Er will ſich durch ſeinen eigenen Urin laben. Deſto ſchlimmer; ach! der Urin erhizt die Eingeweide noch mehr. Der Durſt wird heftiger, das Blut kommt in Wallung, und der Gefangene erſtikt in Konvulſionen, noch ehe zweimal vier und zwanzig Stunden voruͤber waren. Sein Leich - nam war kohlſchwarz, zum Zeichen des Brands, der ihn ergriffen hatte. Dis iſt das Faktum felbſt. Bekkers-Anderle war immer als ein unbe - ſcholtener und beliebter Mann in den Gemeinen berufen. Sein Weib hingegen hatte einen etwas zweideutigen Ruf, und lebte ſchon ſeit ge - raumer Zeit mit dem Verwalter Eibertsberger in einem Vertrauen, welches die Eiferſucht der Haushaͤlterinn, die die Honneurs ſeiner Tafel und ſeines Bettes machte, mehrmalen erregt hatte. Jn der That, wie lieſſe ſich ſonſt eine ſolche Ge, walttaͤtigkeit ohne zureichenden Grund begreifen. Um der Sache eine andere Wendung zu geben, behauptet der Verwalter, daß ſich der Gefan - gene im Kerker ſelbſt entleibt habe, und um kon - ſequent zu ſein, macht er deshalb dem Leichnam die ehrliche Grabſtaͤtte ſtreitig; Bekkers-AnderleK 5154ſoll, dem amtlichen Befehl zu Folge, unterm Galgen begraben werden, und nur das einſtim - mige inſtaͤndige Anhalten der Gemeine, erwirbt ihm einen Plaz auf dem Gottesakker.

Sollte man ſich ſolche Grauſamkeit noch in unſern Tagen gedenken, wo wir ſo viel von Menſchenliebe ſchwazzen, und uͤber die unmenſch - lichen Handlungen, die uns die Jahrbuͤcher der Zeit liefern, erſtaunen? Ja | Schwaben liegt noch in der Barbarei und Unwiſſenheit, wird mir der Bewoner der Elbe und Oder zu - rufen aber wir! o, ich bitte euch, haltet euch nicht fuͤr beſſer und weiſer als jene; bei ih - nen herrſchen noch uralte deutſche Sitten; Biderſinn und Redlichkeit ſind noch nicht durch Modegefuͤhle des Auslaͤnders verdrungen, wie bei euch der Fall iſt; und was die Handlun - gen der Menſchenliebe anbetrifft, ſo laßt uns nicht, wenn ihr nicht vor Schaam erroͤten wollt, die unzaͤhligen Arten der Bedruͤkkungen entziffern, die auf euren Boden begangen wer - den. Es gibt bei euch auch barbariſche Guts - beſizzer und Amtleute, die ihre Untertanen als Sklaven behandeln, Steuren und Abgaben mit despotiſcher Strenge von ihnen erpreſſen, und155 wegen kleiner Vergehungen blutruͤnſtig ſchlagen. Beſonders zeichnen ſich die Schreiber und Aufſeher der Landwirtſchaft durch ein ſolches tiranniſches Betragen aus. Auf einem adelichen Gute in P lebte auch ein ſolcher ſchlechter Kerl, der durch ſeine unmenſchliche Haͤrte alles in Furcht ſezte, wer nicht vor ihm im Staube kroch, den mishandelte er, und es laͤßt ſich keine Art von morgenlaͤndiſchen Despotismus gedenken, den er nicht in dem kleinen Bezirk ſeiner Herrſchaft ausgeuͤbt haͤtte. Bei der Guts - herrſchaft war es ein Geſez, daß der Bauer niemalen Recht habe, und ſo waren alle an - gebrachte Klagen fruchtlos, und der kleine Ti - rann ſezte alles in Furcht und Schrekken. Lange hatte er gewuͤtet, manchem ſeine geſunde Glied - maſſen verſtuͤmmelt, manchem langwierige Krank - heiten zugezogen, bis endlich ein paar ruͤſtige junge Burſchen, da er im Felde auf ſie losſchlug, uͤber ihn herfielen, und ihn ſo behandelten, daß er mit dem Tode rang, und ein ganzes Jahr unter den Haͤnden des Wundarzts zubrachte. Die Thaͤter entwichen uͤber die Grenze, nahmen Handgeld, und wurden Soldaten des benach - barten Fuͤrſten. So verlor alſo der Staat zween156 Buͤrger, ſo verliert er unzaͤliche, die blos durch die Bedruͤkkungen der kleinen Tirannen, zu dem Entſchluß gebracht werden, ihre vaͤterliche Hei - mat zu verlaſſen, und in ein Land zu fliehen, wo man ſie als Menſchen behandelt.

Der preuſſiſche Monarch hat hierinnen ſeinen Willen ſo deutlich, ja ſo nachdruksvoll kund getan, wie man es ſich von der Menſchen - liebe eines Philoſophen verſprechen kan; aber kan er alle Winkel ſeines Reichs durchſpaͤhen? kann er alle harte Herzen erwaͤrmen, und Lieb - loſigkeit und Haͤrte gaͤnzlich verbannen. Das kann ein Franz wol in dem kleinen Bezirk ſeiner Staaten: ſein alles umfaſſender Blik kann allent - halben, auch durch den dickſten Nebel dringen, und die beleidigte Menſchheit retten und raͤchen; aber ein Fuͤrſt, der an der Nord - und Oſtſee, und am baltiſchen Geſtade Befehle gibt, wie kann er alle Gegenden ſeines Reichs durchſpaͤhen, und zuſehen, ob irgendwo die Rechte der Menſchheit gekraͤnkt werden.

Aber ſo gab es immer, und gibt es noch kleine Despoten in den Laͤndern weiſer Regen - ten, die ſich als Herren der Schoͤpfung, und ihre Untergebene als Sklaven behandeln, die von157 Jugend auf ſich dazu gewoͤnt haben, Thiere zu morden, und uͤber Sklaven zu gebieten, die ſich durch ihre Abkunft berechtigt halten, vom ſauren Schweis des Landmanns zu zehren, und ſich, wenn ihre Untertanen in Armut und Duͤrftigkeit leben, ſatt zu ſchwelgen auf dem weichen Pflaum der Wolluſt und Ueppigkeit und ich glaube, die Anzal dieſer iſt nicht geringe in dem Lande meiner Vaͤter.

Aufgeklaͤrtes Jahrhundert! du haſt Philoſophen und Menſchenfreunde zu Fuͤr - ſten berufen, haſt einen Joſeph, Friedrich, Franz und Karl zu Beherrſchern der Teu - tonen geſezt, haſt einen Addiſon, Loke, Leſ - ſing und Rouſſeau zu Lehrern der Menſch - heit berufen, biſt hindurch gedrungen durch den Nebel der Dummheit und des Aberglaubens, haſt den ſchwaͤrmeriſchen Religionshaß verbannt, haſt ſo viele Menſchen weiſe und gluͤklich ge - macht, und in den finſtern Herzen des rohen Volks einen ſchimmernden Funken der Warheit angezuͤndet, und dieſe, durch die Geburt uͤber andere erhobne Menſchen, kannſt du nicht bilden? kannſt nicht ihre Herzen weich und biegſam fuͤr die Leiden ihrer Bruͤder machen, und ihnen den158 Flammenſpruch ins Herz ſchreiben: Liebe dei - nen Nebenmenſchen als dich ſelbſt. Denn es ſind alles deine Bruͤder, wenn ſie gleich in Strohhuͤtten wohnen, unter der Laſt der Arbeit keuchen, und im leinenen zerriſſenen Gewande dein Mitleid erflehen.

O Weltweisheit! berufen von der Weis - heit des Ewigen zum Gluͤk der Welt und ihrer Bewoner; die du die Herzen der Koͤnige er - waͤrmſt, und Menſchen zu Menſchen bildeſt, die du einſt Rom zur Beherrſcherinn der Welt, und Athen zum Siz der Gelehrſamkeit machteſt: die du ein finſteres Reich aus dem Chaos ent - winkteſt, nnd deſſen wilde Bewoner zu Men - ſchen, und ihre Beſizzungen zu Paradieſen um - ſchufſt. O, ſenke einen Stral des Lichts herab auf jene Fluren meines Vaterlandes, wo Be - druͤkkung und Elend ſchleicht, wo der Greis die Haͤnde ringt, und die Matrone ſchluchzt, wo der Mann unter der Laſt des Kummers keucht, und das Weib heiſſe Zaͤhren weint, wo der Juͤngling fruͤhe ſeinen Nakken unter das eiſerne Joch der Knechtſchaft ſchmieget, und das Maͤd - gen den Luͤſten ihres Despoten froͤhnen muß, wo der Saͤugling ſchon Sklave iſt, wenn er159 das Licht des Tages ſieht weinend an der wel - ken Bruſt ſeiner Mutter haͤngt, weinend als Knabe, nakt und zerlumpt, jeden Anfall der Luft ausgeſezt, Froſt und Hizze duldend, nach Brod ſchreit, und oft von der Hizze ausgedoͤrrt, von Kaͤlte erſtarrt, und von harter Arbeit erſchlafft, ſein freudenleeres elendes Leben endet. Traurige Gruppe der bedruͤkten Menſchheit! Nicht blos in Gallien uud Sarmatien wirſt du ſie flnden, nein, auch auf deutſchem Boden wont Elend in laͤndlichen Huͤtten, klirren Ketten der Leibeigenſchaft*)Pommerns und Meklenburgs Bewoner ſeufzen noch unter dem harten Joch der Knechtſchaft wer wird ihre Ketten loͤſen, und die Menſchheit in ihre verlornen Rechte wieder einſezzen?.

Blikt hernieder von eurer Hoͤhe, auf jene Thaͤler des Elends, da ſeht ihr Alt und Jung unter der Laſt der Arbeit ſtoͤhnen; ein Kerl, in deſſen Seele kein Mitleid wont, ſteht mit der Peitſche gezukt, und ſchlaͤgt wuͤtend auf die Muͤ - den und Matten. Bald ſticht der Sonne Glut auf ihre Scheitel, und troknet die Lebensſaͤfte aus, bald durchnaͤßt der Regen ihr Gewand, und der eiſigte Nord pfeift in ihre Haare, und160 was gewinnen ſie mit alle ihrer Arbeit? Karge Brokken, kaͤrgliche Narung friſtet ihr Leben, mergelt die Saͤfte aus, und oͤfnet ſchleichenden Seuchen Thuͤr und Thor. Da liegt der Hausvater auf dem Krankenbette, kein Arzt ſteht ihm bei, kein Labetrunk erquikket die Le - bensgeiſter. Seine Hausfrau jammert laut, ſeine Kinder winſeln um ſein Bette. Auch die duͤrfen den armen kranken Mann nicht einmal pflegen, der Vogt ruft ſie zum Frondienſt, und reißt ſie wol gar mit Fluͤchen und Schlaͤgen vom Siechbette ihres Mannes und Vaters hinweg. Da liegt er nun allein, keine Seele kuͤmmert ſich um ihn, merkt auf ihn. Seine Haushaltung iſt zerruͤttet, ſein Feld unbeſtellt, ſeine Frau und Kinder im aͤuſſerſten Mangel. Das muß die ſtaͤrkſte Natur erſchuͤttern, das muß den feſte - ſten Bau des Koͤrpers untergraben. Euch duͤrfte das Loos nicht treffen, die ihr da viel von Em - pfindung und Gefuͤhl plaudert, uͤber den gefalle - nen Sperling weint, uͤber das hingeſunkne Veil - chen traurt, und gewiß kalt vor der Huͤtte des Elenden voruͤber eilet.

Euer durch modiſche Erziehung erſchlaffter durch erzwungene Empfindungen entnervter Koͤr -per161per wuͤrde bald bei jedem Stos zertruͤmmert da liegen, anſtatt der durch die Wirkungen des Kli - ma verhaͤrtete Koͤrper des Landmanns lange dem Tode den Sieg ſchwer machen wuͤrde, wenn Entkraͤftung und Mangel der Narungsſaͤfte, nicht das Knochengebaͤude muͤrbe machte, und die Fugen der Teile aus einander loͤſte.

Kommt ans Krankenbette des armen Man - nes, ihr empfindelnde Seelen! ſeht den bittern Kampf der Leiden, das Ringen der ſtar - ken Natur mit dem groͤßten Feind derſelben!

Seht ſeine auf faulem Stroh hingeſtrekte Glieder, die zum Nuzzen der Menſchheit einſt thaͤtig und wirkſam waren; ſeht ſein bleiches ver - graͤmtes Geſicht, einſt friſch und roth, ſeine welke ſchlotternde Haͤnde, die einſt das Vater - land ſchuͤzten, und hernach das Feld bauten; ſeht ſein Weib, einſt die Fuͤlle der Geſundheit, in Lumpen gehuͤllt, hager und entſtellt, die Haͤnde ringen, und ihren Verſorger von der Vorſicht erbetteln. Seht, der Kranke erhebt das matte Haupt zum leztenmal, druͤkt ſeinem treuen Weibe die Haͤnde, blikt gen Himmel, ringet mit dem Leben, haucht es kaͤmpfand aus, und ſinkt der Verweſung in die Arme. Ein ſchlechtes engesL162Haus umſchlieſt ſeine Gebeine, er wird einge - ſenkt in die tiefe Gruft, wo Ruh nach Arbeit auf ihn wartet, und der Gutsherr fragt nicht einmal: wen begrabt ihr da? Oft wird ſein Andenken beſchimpft, ſein Weib, ſeine Kinder aus dem Akkerhofe geſtoſſen, und nun geht ihr armen Wichte in die weite Gottes Welt, erbet - telt euch Allmoſen vor den Thuͤren, und ſterbt elend und verachtet. O! ihr braucht nicht erſt in Schauſpielen uͤber menſchliches Elend zu wei - nen, braucht nicht eure Gemaͤlde von Hogarth und Kranach traͤnenvoll anzublikken; hier iſt nicht nachgeahmtes, von der ſchaffenden Jdee des Kuͤnſtlers hingeworfenes, ſondern wirk - liches Elend! Elend, bei dem auch einem Phi - dias der Pinſel entfallen wuͤrde*)Wir ſprechen ſo viel von Gefuͤl und Empfin - dung, und ſpotten deſſen, der an dieſer Mo - deſeuche nicht ſiech liegt. Da weint die empfindelnde Schoͤne uͤber ein verwelktes Bluͤmchen, uͤber den erfrornen Sperling, be - klagt ſich uͤber die Haͤrte der Maͤnner, ein Reh zu erlegen, und den armen Haſen aufzulauren, und ſpottet in eben dem Moment des Elen - den und Siechen. Jch ſah einſt eine ſolche So - phiſtin in einem Trauerſpiel, wo das menſch - liche Elend geſchildert ward, heftig weinen,.

163

Es wuͤrde mir ſehr wehe thun, wenn ihr glaubtet, meine erhizte Fantaſie haͤtte euch mit einem Bilde getaͤuſcht, das nirgends zu finden iſt; um eurer ſelbſt willen wollt ich, meine Fantaſie haͤtte euch getaͤuſchet, aber warlich das hat ſie nicht, ſie hat euch nur unvollkommen das Elend in Huͤtten, das Elend eurer Untertanen ge - zeichnet. Glaub’s wohl, daß ihr die Achſeln zukken, und mit einem vornehmen Laͤcheln euch in eure goldnen Saͤle zuruͤk ziehen werdet glaub’s wohl, daß ihr in Staͤdten euer Geld verpraſſet, und den Untertan darben laßt daß ihr Pavillons auffuͤhret, und die Haͤuſer eurer Bauren einſtuͤrzen laßt daß ihr der armen Wittwe ihr kleines Feld raubt, um euch einen engliſchen Garten daraus zu bereiten daß ihrL 2*)und ſich uͤber die Unempfindlichkeit einiger Zu - ſchauer entruͤſten und eben dieſe ſah ich her - nach einen aͤuſſerſt elenden Menſchen, der halb - nakt in der ſtrengſten Kaͤlte, auf Stelzen daher hinkend, ſie um ein kleine Gabe anſprach, be - ſchimpfen, ſich an der Seite eines Cizisbeo uͤber ihn luſtig machen, und ſogar ihn thaͤtlich behan - deln. So iſt es mit unſern Modegefuͤhlen, wahres Gaukelſpiel, und Marionettenem - pfindung. Wahre Empfindung plaudert nie, ſondern handelt.164groſſe Gelage und Freudenfeſte anſtellet, die leidende Menſchheit aber von eurer Schwelle ſtoßt, und den flehenden Untertan mit Schlaͤgen be - handelt. Glaub’s wol, daß euch der Bauer eine viel zu unbedeutende Kreatur iſt, ihm eure Huͤlfe angedeihen zu laſſen, daß ihr ihn nicht beſſer, als euren Hund und Jagdklepper haltet. Dieſes alles glaube ich, und kann es, denn meine Augen haben es geſehen, und haben ſich weggewandt von der Staͤtte, wo die Menſchheit entweiht, wo die Rechte der Natur verlezt wer - den, wo das Angſtgeſchrei der Bedruͤkten die Luft erfuͤllt, und hinauf dringt zum Tron des Allvaters. Dort werden ſie alle gezaͤlt, die heiſſen blutigen Traͤnen, und werden euch, Barbaren! anklagen vor dem Richterſtul des Gerechten. Euren Stolz, eure Haͤrte, all eure entehrende Handlungen werdet ihr einſt im Schuldregiſter des Himmels leſen, und was habt ihr in der ſteigenden Schaale des Guten zu legen? Dann iſt es zu ſpaͤt, Gnade zu erflehen ihr hattet ſie nicht mit der leidenden Menſchheit: ſo wird ſie der Gerechte dort oben auch nicht ha - ben, und euch mit dem Maas vergelten, wie ihr vergolten habt.

165

Doch Dank ſel es dem Genius meines Vaterlandes! es gibt auch noch Edle unter dem Volk, die Vaͤter ihrer Untertanen ſind, die ihren Klagen mit vaͤterlicher Milde abhelfen, und darin ihre Ehre, und Vergnuͤgen ſuchen, das Wol ihrer Untertanen zu befoͤrdern. Dafuͤr lohnt ſie auch der ungekuͤnſtelte Dank aus dem Munde ſo vieler, der heiſſe Wunſch fuͤr ihr Leben, da - fuͤr troͤpfeln auch einſt Traͤnen bei ihrem Aſchen - kruge, dafuͤr lebt ihr Andenken in den Herzen des Volks, und kein Fluch ruht auf ihrer Nach - kommenſchaft und dort ihr Lohn!

Jndem ich hier ſtille ſtehe, und einen Blik gen Himmel hefte, wo die Menſchenliebe reich - lich aͤrntet, ſo verweilt mein Blik auf jene Flu - ren meines Vaterlandes, am traubenvollen Rhein; es ſchallt mir ſuͤß entgegen der laute Jubel der Freude, der Greis blikt geruͤhrt gen Himmel, der Mann fuͤhlt neue Kraͤfte, der Juͤngling neuen Mut, denn zerbrochen ſind die Feſſeln der Sklaverei. Karl Friedrich, Ba - dens Beherrſcher, zerbrach ſie; der Men - ſchenfreund ſah ſein Volk elend, ſah ſo viele unter der druͤkkenden Laſt der Leibeigenſchaft keuchen, er nahm ihnen die Ketten, und ſprach:L 3166ſeid frei! ſeid gluͤklich! O, ſie ſind es durch dich, groſſer, edler, wuͤrdiger Enkel Herrmanns! deine Worte*)S. Schloͤzers Staatsanzeigen. Heft 17. Manifeſt des Marggrafen von Baaden, die Auf - hebung der Leibeigenſchaft, und die Befreiung von dem Abzug, Abzugspfandzoll, Manumiſ - ſions - und Expeditionstaxe, Landſchaftsgeld, ferner von dem Leibſchilling, Todfall, und Hauptrecht betreffend. Der menſchenfreundliche Fuͤrſt verliert 60000 Gulden dabei, und doch aberSein Name wird noch blilhn, wenn lange ſchon verweht Die leichte Aſche ſich in Wirbelwinden dreht. ſind auch zu mir gedrungen, Worte, mit dem Stempel deines edlen Herzens, deiner groſſen Seele gezeichnet; ſchreibt ſie nieder in die Annalen des Jahrhun - derts, und der Enkel wird hinweg eilen von den Trophaͤen und Siegen der Eroberer, wo Men - ſchenblut ſtromweiſe floß; aber hier bei dieſen Worten wird er weilen, geruͤhrt gen Himmel blikken, und beten: Gib uns mehr ſolche Fuͤrſten!

Wie ſchoͤn pranget ihr jezt, Gefilde von Baden! wie reizend ſind eure Thaͤler, wie bebluͤmt eure Fluren, wie gluͤklich eure Be -167 wohner! welch ein Abſtand gegen jene Laͤnder, wo noch die Feſſeln der Sklaverei fuͤrchterlich nachklirren, Fleis und Muͤhe unbelohnt bleibt!

Jch wohne nicht in deinen Fluren, gluͤkli - ches Volk! aber mein Geiſt kann ſich die Art von Gluͤkſeligkeit entfalten, die dir dein Fuͤrſt bereitet hat, auch entfernt kann ich Teil daran nehmen, und meinem Herzen die reinſte Wollnſt gewaͤhren, die es bei edlen Thaten empfindet.

Jch liebe mein Vaterland mit der reinſten Liebe, die nicht im leeren Schall der Worte be - ſteht, ſondern aus dem Herzen ſpricht, und dar - nach handelt; ich freue mich, wenn es deſſen Be - wohnern wol geht, ich beſchraͤnke aber nicht blos meine Ausſicht auf das Land, wo ich mein Da - ſein empfing: ſondern ich irre auch gern in Suͤ - den und Norden, und weile gern wo Gottes Sonne milde herablaͤchelt, und die Bewohner an - mutiger Gefilde, den reinſten Genus der Lebens - giuͤkſeligkeit einſchluͤrfen.

Blik ich nach Suͤden, ſo ſehe ich den erſten Fuͤrſten Deutſchlands auf Caͤſars Thron, groß durch ſeine Thaten, groß durch ſeine weiſen Geſezze, aber noch groͤſſer durch ſeine Menſchenliebe. Doch ſein Lob iſt genugL 4168beſungen, und ich bin zu ſchwach, es wuͤrdig zu beſingen. Aber vergoͤnnt mir, da mich doch ein - mal meine Fantaſie in ein ſo fruchtbares Feld gefuͤhret, daß ich mich bei dem Gedaͤchtniß eines deutſchen Fuͤrſten verweile, der ſchon zu einer hoͤhern Beſtimmung entruͤkt iſt. Jch fuͤhle mich von einem unwiderſtehlichen Hange hingeriſſen, ſein Andenken bei Deutſchlands Bewohnern zu erneuern Empfanget dies allzuvergaͤngliche Denkmal von Einem, der ſeine Empfindungen unmoͤglich in ſich verſchlieſſen kann, der ſie jezt ausſchuͤttet, um euch zu zeigen, was ein Fuͤrſt vermag, was ſein Beiſpiel auf die Herzen ſeines Volks wuͤrkt, und wie die Rechte der Natur und Menſchheit durch ihn, in ihrer Wuͤrde erhalten werden.

Aloyſius, der lezte aus dem Oettingſchen Stamm war dieſer Fuͤrſt, zu wenig bei uns bekannt, und doch von allen gekannt zu werden, wuͤrdig. Verſchiedene Skizzen aus ſeinem Leben ſind mir zu Geſichte gekommen, ſein Bio - graph zu werden fuͤhle ich keine Kraͤfte, aber es regen ſich Empfindungen in meiner Seele, die mich bei dieſer Gelegenheit dahinreiſſen, und ich glaube nicht, daß ich noͤtig haben ſollte, mei -169 ne Leſer dieſer Ausſchweifung wegen um Ver - zeihung zu bitten.

B) Empfindungen bei der Urne Aloys. *)Des Barden Stimme an der Waͤſer.

Kommt, Soͤhne der Fremdlinge! tretet hervor aus euren Hallen, und hoͤrt die Stimme des Wehes. Nicht dem Andenken des Schwa - chen, des Weichlings, ertoͤnt die wehmuͤtige Lau - te, denn Groͤſſe und Edelmut bezeichnen den Pfad deſſen, um den die Saͤnger der Nachwelt trauren. Weg mit der Stimme der Froͤhlichkeit, Klagen ſind jezt mein Loos, denn ich muß ſehen, wie die Groſſen und Edlen fallen, und Feige und Sklaven wanken uͤber ihre Gebeine. O Mond! du ſtiller Wanderer der Nacht, und ihr Sterne! die ihr ſo funkelnd an der Veſte des Himmels glaͤnzet, ſeid Zeugen der Wemut, die meine Bruſt hebt! Warum jezt ſo ſtill ihr Winde? Hebt euch empor, und brauſet laͤngſt der Heide, rauſchet ihr Stroͤme, bruͤllet ihr Wogen! Jhr ſchildert nur ſchwach die Empfindungen meinerL 5170Seele, denn finſtere Orkane durchwuͤhlen mein Jnnerſtes, und Wehmut zerreißt meinen Buſen. Ein rauher Nord hat die ſchoͤnſte Lilie gebrochen, kommende Jahre werden nicht mehr ihren Reiz ſehen. So iſt dann alles der Zerſtoͤrung unter - worfen; die Eichen, die Berge, fallen und ver - gehen, Menſchengeſchlechter fallen dahin wie duͤrres Gras, und neue Geſchlechter ſprieſſen hervor, um wieder zu vergehen. Wer kann den Strom der Zeit gebieten, daß er nicht da - her rauſche, und Wald und Flur zerſtoͤre? Noch vor wenig Monden ſah ich die Natur keimen, wachſen und bluͤhen, lagerte mich unterm Schat - ten des Eichbaums, und flocht Kraͤnze fuͤr meine Lieben, aber jezt heulet der Sturm zwiſchen na - hen und fernen Gebirgen; es ſtuͤrzen die bejahr - ten Eichen, die Pracht der Flur duͤrre Blaͤt - ter raſſeln durch die Luft, und des Wanderers Tritt rauſcht durch erſtorbenes Gras. Jch hatte eine Blume in meinen Garten, Fruͤhlingsluͤfte erzogen ſie, die Sonne verlieh ihr Schoͤnheit und Reize; ſie wuchs heran, beſchaͤmte Lilien und Roſen, und ſtreute balſamiſche Duͤfte uͤber die Flur.

171

Meine Lieben freuten ſich mit mir, und der Wanderer pries ihre Schoͤnheit; aber ploͤzlich braußte der Nord daher, zerknikte die liebliche Blume, und ſtrekte ihr ſchoͤnes Haupt zu Boden. So ſinkt auch der Menſch, ſo ſinkt der Held, und Weiſe, das hungrige Grab verſchlingt nn - erbittlich den bluͤhenden Juͤngling das blau - augigte Maͤdchen den ſchwarzgelokten Krie - ger den Edlen, der Gluͤkliche neben ſich ſchuf.

O, Braga! weine mit mir, komm laß uns wallen zur Urne eines Edlen, deren die Welt, das Vaterland wenige zaͤhlt! Ach! um ihn kla - gen der Barden Geſaͤnge, um ihn weint Teu - tonien, denn ſein Stolz iſt dahin, ruht im finſtern Leichenthale. Nenne ihn ſchuͤchterne Muſe! die du dein Haupt traurig zur Erde ſenkſt; laßt ſeinen Namen kund werden, ihr Saͤnger des Nachruhms! daß wir ſein An - denken der Nachwelt uͤberliefern, und ſeine Tha - ten einzeichnen ins Buch der Unvergaͤnglich - keit. Kommt herzu Voͤlker! und ihr Bewohner deutſcher Fluren! vernehmts, tod iſt Aloys ein Fuͤrſt und Vater ſeines Volks, ja noch mehr, auch Vater der Wittwen und Waiſen, Retter der Unſchuld, Helfer der Notlei -172 denden! O Deutſchland, und er war dein! Fuͤhle den Gedanken, fuͤhlt ihn, die ihr in Sklaverei eure Tage verſeufzet, die ihr mit ge - ſenktem Blik euren Weg fortſchlendert, und Traͤnen der Bedruͤkkung weint.

O, kleines gluͤkliches Land! das er be - herrſchte, dem er Geſezze gab, o ſeliges Volk! deſſen Vater er war; du traurſt, und hebſt deine Haͤnde hinan zu den Wolken, willſt ihn zuruͤkerbetteln vom Geſchik, willſt ihn durch Traͤnen, ja durch Blut, loskaufen aus den Armen der Verweſung. Denk ihn noch einmal Seele! denk ihn lebend und wuͤrkend, und dann ſage, ob die Traͤnen ſeines Volks gerecht ſind, gerecht der Schmerz, der die Bruſt des Fremdlings hebt? Aloyſius war Fuͤrſt, durch die Geburt dazu erhoben, und von jenem oberſten Regenten ge - ſezt, Menſchen zu regieren, und das Wol Tau - ſender zu befoͤrdern. Wie finden wir ihn auf die - ſer ſchluͤpfrigen Hoͤhe, wo man ſo leicht vergeſ - ſen kann, ein Menfch zu ſein, wo man von Ehre und Groͤſſe umringt, ſich Gott gleich duͤnkt? Wir ſehen ihn als Vater ſeines Volks, gnaͤ - dig, guͤtig, und mild; wir ſehen ſein Auge weit umher ſchauend, wo die gekraͤnkte Unſchuld lei -173 det; wir ſehen ihn auf dem Richterſtuhl, den Kla - gen der Bedraͤngten abzuhelfen, die Traͤnen der Wittwen zu troknen, und die gektaͤnkte Menſch - heit zu verſoͤhnen. Der Arme, der Verlaſſene, fand bei ihm Schuz und Huͤlfe, und keiner ging jemals ungetroͤſtet von ihm. Er bedurfte keines Schuzzes, konnte ſicher ſich jeder Huͤtte nahen, ſicher in dem Schoos eines jeden Untertanen ru - hen, denn er beſaß aller Herzen, und wurde ge - liebt; und Liebe kennt keine Furcht und Gefahr.

Ja er war noch mehr als Fuͤrſt, als Men - ſchenfreund; er war auch Chriſt, und als Chriſt, uͤbte er Tugenden, die dem Spoͤtter der Reli - gion fremd ſind. Er ſah den Engel des Todes ſich ihm nahen, nicht furchtbar und ſchrecklich, ſondern laͤchelnd, als Freund, und Begleiter nach Eliſium. Er ſegnete ſeine Lieben, ſegnete ſein Volk noch ſein lezter matter Blik war fuͤr ihr Wol und Gluͤk, und ſo hauchte er ein Le - ben aus, das er ſo ſchoͤn verlebte.

O, Deuſchlands Genius! zeichne ſeine Thaten, ſeine erhabnen Tugenden, ſein Ende, ins Buch der Unvergaͤnglichkeit, und grabe mit unausloͤſchlichen Zuͤgen ans Diadem der Zeit: Aloyſius war groß, als Fuͤrſt, Vater,174 Menſchenfreund und Chriſt! Der Eroberer faͤllt, und wird vergeſſen, keine Zaͤhre ſegnet ſein Andenken, aber hier ſeufzt das Land, wimmert der Knabe, weint der Juͤngling, und das Maͤd - chen, ſchluchzet der Greis und die Matrone, alles ruft in Trauer gehuͤllt: Vater, warum nahmſt du uns ihn? Ja, Monumente ver - gehen, Buchſtaben erloͤſchen, Ehrenſaͤulen wer - den zerſchmettert aber ſolche Traͤnen |ſteigen hinan zum Tron der Allmacht. Ach Braga! ſieh den Jammer des verwaiſten Volks; ſein Vater iſt dahin, und wer kann, wer wird ſeinen Verluſt erſezzen? Er iſt hin, und mit ihm ſank ein Stamm, der dem Wanderer Schatten gab, und Jahrhnnderte hindurch bluͤhte; ſein Geſchlecht iſt erloſchen, traurige Erinnerung! ein Geſchlecht, das Helden hervorbrachte, ſchrek - lich im Felde, furchtbar den Feinden des Vater - landes; ein Geſchlecht, aus dem Maͤnner hervor - giengen, die mit ihrer Weisheit Land und Leute regierten, und mit Klugheit das deutſche Staats - ruder lenkten. Alle ſind ſie dahin, ſchon ern - ſtes Moos bedekt ihre Male, und ihre Namen ſind vergeſſen. Aber du wirſt nicht vergeſſen, Groſſer! Edler! dein Andenken lebt in der175 Bruſt deines Volks, und Enkel noch werden es der Nachwelt ſagen, was du ihren Vaͤtern warſt. Dein Andenken wird ſelbſt die Natur im Laub - geliſpel, im wehenden Schatten der ehrwuͤrdi - gen Eiche feiern, und wenn alle Geſchlechter, die du gluͤklich machteſt, erloſchen ſind, ſo wird ein neues Geſchlecht erſtehen, und dem forſchenden Fremdling ſagen: Aloyſius war groß, edel und gut.

Welcher Lorbeer des Ruhms, womit ein gluͤkliches Volk die Urne ſeines Regenten um - windet! er welkt nie, denn Liebe und Wolwol - len flochten ihn. Aber der Lorbeer des Eroberers, des Laͤnderverherers erſtirbt, denn Ehrgeiz und Schmeichelei pflanzten ihn, und die Traͤnen eines gedruͤkten Volks verſengt ſeine Bluͤten.

Jahrhunderte ſind entflohen, und noch lebt Hermanns Ruhm, noch gruͤnet der Lorbeer unſerer Edlen, die fuͤr die Freiheit, fuͤrs Va - terland kaͤmpften, und kaͤmpfend erlagen. Ja, Deutſchland! haͤtteſt du viel ſolcher Fuͤrſten, wie der war, deſſen Andenken wir feiern, ſo koͤnnteſt du deinen Nachbaren Geſezze geben, koͤnnteſt durch dich ſelbſt, durch Nachah - mung vaterlaͤndiſcher Tugenden, ein gluͤkli -176 ches und frohes Volk werden. Doch du haſt noch Fuͤrſten, und Dank ſei es dem Geſchik! die jene wuͤrdige Namen verdienen, die einſt das be - gluͤkte Rom ſeinem Titus und Trajan gab. Ach! wenn auch dieſe uns entriſſen wuͤrden! Denkt den Gedanken, und um ihn euch lebhaft zu denken, ſo hoͤrt die Klagen eines Landes, ſeht die Traͤnen eines verwaiſten Volks, das Aloy - ſius gluͤklich machte.

Er iſt nicht mehr, klagt der zitternde Greis, und wanket zum Grabe. Er iſt nicht mehr, klagt der Juͤngling im Arm ſeiner Geliebten, und Traͤnen der Liebe und des Danks ſtroͤmen um ihn. Er iſt nicht mehr, klagt der Knabe, und vergißt Spiel und Tanz. Er iſt nicht mehr, klagt der Arme der Kranke hoͤrts, vergißt ſeinen Schmerz und weint um ihn.

Aber dort iſt er, dort lebt, empfindet, und athmet er noch, empfaͤngt die Krone der Unver - gaͤnglichkeit und wir trauren um ihn, da er jezt ſo gluͤklich iſt, gluͤklicher als wir, die wir noch im Staube wallen? doch

Solt177
Solt um ſeinen entſchlafnen Fuͤrſten nicht Traͤnen der Wehmut Lange vergieſſen ein Volk, deſſen Wittwe nicht weint? Ach! um einen Fuͤrſten, von dem der Waiſe des Dankes Zaͤhren im Aug, oft kam, lange nicht klagen ſein Volk? Klopſtok.

Hier verweile Muſe! und danke der Vorſicht, daß wir noch Lorbeeren um die Schlaͤfe biderer deutſchen Fuͤrſten winden koͤnnen, die Noth und Elend von ihren Laͤndern entfernen, und Freude und Wonne allenthalben verbreiten.

VIII. Johann Joſeph Puͤre! Juſtizmord in Frankreich. *)Nirgends findet man Juſtizmorde haͤufiger als hei den franzoͤſiſchen Gerichtshoͤfen Ob

Opfer der Unſchuld! O der wunderſelt - ſamen Kombination der Begriffe! rief einM178menſch auf Otaheite aus: es klingt ſo euro - paͤiſch, vielleicht gehoͤrt dies zu euren ſo hochge - prieſenen, mir noch unbekannten Tugenden; ſind ſie alle von dem Schlage, ſo gehab dich wol Eu - ropaͤer! ich beneide dich nicht um deine Tugen - den, und will dann gern mit ihnen unbekannt bleiben.

O, Gluͤk der Menſchheit der uuent - weihten Menſchheit! nicht Sinn und Ver - ſtand zu haben fuͤr den Begrif, Morden der Unſchuld! es iſt ein entſezliches heilloſes Opfer, und wirds ewig bleiben das Opfer der Un - ſchuld! es heiſſe nun Bettler oder Koͤnig, ge - ſchlachtet im Jrrtum und nach der beſten Form*)dis etwa mit zu den Attributen eines weiſen Volks gehoͤrt, ſo ſich anmaßt andern Voͤlkern Vorſchriften zu geben? Wol uns rohen Deut - ſchen! wenn wir keinen Sinn fuͤr das Wort Morden der Unſchuld haben, denn die bluti - gen Schatten eines Langlade, Montbailly, Lawſon, Sirmen und Calas, werden einſt aufſtehen, und wider ihr Volk, und deren Richter zeugen. Jch habe dieſe Geſchichte un - ter vielen ausgehoben, und aus einem franzoͤſi - ſchen Originalwerk entlehnt, und ſie kann auch fuͤr Deutſchlands Richter lehrreich ſein, weil auch deutſche Richter ſo handeln.179 Rechteus oder nicht Doch will ich nicht beim bloſſen Jdeal ſtehen bleiben, ſondern Wuͤrklich - keit erzehlen, will das ungluͤkliche Schikſal eines Menſchen ganz ohne Schminke darſtellen, deſ - ſen groͤßter Fehler gar zu hohes inniges Gefuͤhl fuͤr Tugend und Religion war, der dennoch ein blutiges Opfer der Gerechtigkeit, geraͤdert und den Flammen preis gegeben ward, und deſſen nun entſuͤndigte Aſche jedem Richter ein Denkmal des Entſezzens ſein ſollte. Nicht auf Schulen, nicht in den Spizfuͤndigkeiten der Rechtsgelehr - ſamkeit, werdet ihr das Leben eurer Mitgeſchoͤpfe ſchaͤtzen lernen, leſet vielmehr alle Morgen jene Akten der Maͤrtirer, jene ſchaudervolle, leider authentiſchere Legenden, als die, welche blos mit Sentenzen, Hinrichtungen und Freiſprechungen angefuͤllt ſind anklagende Behaͤlter der Maͤngel unſerer Geſezze, oder der Unwiſ - ſenheit der Richter.

So mancher Maͤrtirer der Warheit war zwar ſo gluͤklich, nach ſo manchen erduldeten Lei - den, ſein Leben zu retten, wenn man ihm Zeit zu ſeiner Rechtfertigung ließ, aber hier! Hier ward die anerkannte Unſchuld ſelbſt gemordet, und wie gemordet? Der Bewoner LibiensM 2180wuͤrde ſich darob entſezzen, und eine Zaͤre des Mitleids weinen.

Wie viel lieſſe ſich noch uͤber jene barbariſche Behandlungen in den Gefaͤngniſſen ſagen, wie viel uͤber manche Verfarungsart in peinlichen Faͤllen, wornach ganz ins Geheim ein Mitbuͤr - ger gemordet, nnd wider frei geſprochen wird, wie viel uͤber jenes Gemiſche von aͤuſſerſt gefaͤr - lichen Foͤrmlichkeiten, und noch grauſamern Stra - fen, das der geſellſchaftlichen Verfaſſung der Ti - ger mehr entſpricht, als dem Siſtem nur etwas menſchlicher und vernuͤnftiger Menſchen.

Doch zur Geſchichte ſelbſt, die, wann ſie ſich gleich in Frankreichs Gegenden zutrug, auch fuͤr Deutſche belehrend ſein kan.

Johann Joſeph Puͤre, ſtand unterm Ka - vallerieregiment Koͤnig; ſeine gute Auffuͤhrung und ſein Mut erwarben ihm die Achtung ſeiner Obern, und die Liebe ſeiner Kameraden.

Jm Jahr 1778 ging er von Strasburg, wo ſein Regiment lag, nach Laon ſeinem Geburts - ort, auf Urlaub, Ludwig Lelye, Plinche, le Blanc und Michel, ebenfalls Soldaten und ſeine Landsleute, waren ebenfalls mit von der Partie, und alle in der Abſicht, die Suͤſſigkeiten181 des Wiederſehens, im Buſen ihrer Familie zu ge - nieſſen. Die Familie des Joſeph, nahm ihn zaͤrt - lich auf, und das Haus ſeines Bruders ward zu ſeinem eigenen. Dieſer, Namens Johann Niklas Puͤre, war ein Gaͤrtner, und lebte gluͤklich, in einer laͤndlichen Gemaͤchlichkeit von der Frucht ſeiner Arbeit, und einem geringen, doch nothduͤrftigen Einkommen.

Zwiſchen den beiden Bruͤdern, und der Frau des Gaͤrtners, Marien Eliſabeth Pilley, herrſchte das genauſte Einverſtaͤndnis, ſo, daß auch dieſe Familie fuͤr eine Wonung der Eintracht und Redlichkeit allgemein anerkannt ward.

Joſeph hatte einen offenen und redlichen, und den des Ludwig Lelye (eines ſeiner Dienſt - und Reiſegefaͤhrten) gerade entgegen geſezten Karakter. Wilde Neigungen, laſterhafte durch verſchiedene Treuloſigkeiten erprobte Gewonhei - ten machten ſeinen Umgang fuͤrchtend, und hat - ten ihn mit Recht verdaͤchtig gemacht.

Am 16ten Auguſt 1778 begegnete dieſes Werkzeug des Ungluͤks einer ganzen Familie, den Joſeph auſſerhalb der Stadt. Dieſer war aus - gegangen, um in einem der Weinberge ſeines Bruders Trauben zu pfluͤkken. Lelye bietet ſichM 3182ihm zur Begleitung an: beide verfolgen ihren Weg nach den Weinberg, der auf der Anhoͤhe vor Laon, und nicht weit von einem Huͤgel, la Valiſe genannt, liegt. Waͤrend daß ſie zwi - ſchen den Weinſtoͤkken gehen, und Trauben ſu - chen, kommen ſie von einander; Lelye laͤßt ſei - nen Kameraden in voller Beſchaͤftigung mit ſei - ner Weinleſe, und wendet ſeine Schritte nach der ihm gerade entgegen geſezten Richtung ihrer Ankunft. Kurz darauf wird der Boͤſewicht den Niklas Puͤre von ferne, auf ſeinem Bruder zugehend, gewar, um nach ſeinen Wein zu ſehen.

Er faͤllt ihn an, ſchleppt ihn fluchend nach eine nah gelegene Hoͤle, ſtoͤßt ihn widerholentlich ein Meſſer in die Bruſt, ſchneidet ihm die Gur - gel ab, und raubt ihm ſeine Schuſchnallen und Kniebaͤnder, Knoͤpfe und ſilberne Schnupftobaks - doſe. Hierauf verlaͤßt der Moͤrder den Leichnam, und nimmt die Flucht. Unterdeſſen kehrt Jo - ſeph, da er ſeinen abſcheulichen Begleiter aus dem Geſichte verloren hat, nach Laon zuruͤck, und bringt ſeiner Schwaͤgerin einige Weintrau - ben mit. Durch einen Zufall hatte er beim Wein abſchneiden ſich mit ſeinem Meſſer die Hand verwundet; mit dieſer Hand, in einem183 Schnupftuche gewikkelt, koͤmmt er zu Hauſe an, man fraͤgt ihn, ob er den Niklas geſehen habe? er antwortet, daß, da er einen andern Ruͤkweg genommen habe, ihm nicht einmal der Lelye, mit dem er im Weinberge geweſen, begegnet ſei. Jnzwiſchen entſtehen Beſorgniſſe uͤber die Ab - weſenheit des Gaͤrtners, um ſie zu ſtillen, durch - laͤuft man den Weinberg, aber vergebens; end - lich am Abend hoͤrt man die traurige Kataſtrophe, der blutige Leichnam war gefunden worden. Dieſer Anblik erwekt ſowol Verdacht, als Mitlei - den; ſie laufen wechſelsweiſe auf die beiden Reu - ter. Die verwundete Hand ſcheint bei einigen die Hand eines Brudermoͤrders, aber eben dieſe Hand, man beſieht ſie, man beruͤhrt, man un - terſucht ſie, und erkennt daran das Zeichen eines ſehr natuͤrlichen Zufalls. Der Karakter des Jo - hann Joſeph, zerſtreuet den Nebel, und nach - dem man ſich mit Mutmaſſungen und Urteilen genug herum geſtritten hat, bleibt der Verdacht auf Ludwig Lelye, und man ſieht ihn fuͤr den gewiſſen Moͤrder an.

Die erſte Unterſuchung beſtaͤtigte dieſes Ur - teil. Verſchiedene Zeugen hatten den Joſeph in einer groſſen Entfernung vom Morde, und aufM 4184dem entgegen geſezten Wege geſehen, ihre Aus - ſagen, die Beſichtigung der Hand des Verwun - deten, woran man keine Spur einer etwanigen, von deſſen ungluͤklichen Bruder geſchehenen Ver - lezzung fand, die Warheit ſeines Schmerzens, und ſein Biederſinn, alles dies brachte den Rich - ter auf die Spur des waren Verbrechers. Man entdekte ihn, ſezte ihn feſt, und fand noch die Beweiſe ſeines Verbrechens, die geraubte Sachen bei ihm. Der Elende alſo einigermaſſen beim Verbrechen ſelbſt befangen, geſtand es bei den erſten Fragen, und ward zum Tode verurteilet. Allein der Poͤbel, vornehmer, oder geringer, iſt ſich immer in der Art gleich, daß er bei den ihm auſſerordentlich ſcheinenden Vorfaͤllen vernuͤnf - telt, daß er aus Vorderſaͤzzen, Folgen zieht, die groͤſtenteils beide hipothetiſch, und zuweilen nonſenſikaliſch ſind. So gings dem ungluͤk - lichen Joſeph Puͤre. Nach Geſez und Vernunft, vom Richter als unſchuldig frei geſprochen, blieb er doch immer in den Augen des Poͤbels zum wenigſten verdaͤchtig.

Das eben ſo weiſe als menſchliche Krimi - nalgericht zu Laon verfuͤgte daher durch einen Befehl vom 22ten Auguſt die perſoͤnliche Erſchei -185 nung des Joſeph. Das Gericht, um ſich auſſer aller Verautwortung zu ſezzen, gab dem Be - leidigten die gehoͤrige Mittel an die Hand, ſich geſezlich zu rechtfertigen, ohne ihn zur Verhaft zu ziehen, und ohne ihn fuͤr ſchwer beſchuldigt zu halten. Wenigſtens war dies der Zweck und Gang des Kriminalrichters, eines eben ſo un - ſtraͤflichen als erleuchteten Mannes, der an der evidenten Unſchuld des Joſeph nicht einen Au - genblik gezweifelt hatte. Waͤre ihm die Un - terſuchung nicht abgenommen worden, wuͤrde man den Gerichtshoͤfen eine neue Muͤhe, der Menſchheit einen Schimpf, und den Erzaͤlern ihrer Ungluͤksfaͤlle einen neuen Beweis ihrer Gefaren erſpart haben.

Bereit, ſeine Auffuͤhrung zu vertheidigen, und ohne Furcht vor dem Wetter, welches ſich uͤber ihn zuſammen zog, kam Joſeph zu ſeinem Regiment zuruͤk. Da fand er die Achtung und das Mitleiden ſeiner Kameraden; weit entfernt, daß ihre Geſinnungen lauer geworden waͤren, hatte vielmehr ſein Ungluͤk, ſie waͤrmer und inni - ger gemacht. Seine Obern wetteiferten ihm die beſten Zeugniſſe zu geben, und ihm die ehrenvoll - ſten Bekundungen daruͤber auszufertigen. Un -M 5186nuͤzze Huͤlfsmittel wider vorgefaßte Meinungen, und gerichtliche Anfaͤlle, deren Opfer er wer - den ſollte.

Ganz unvermutet erſchien am 31ten Mai 1779 auf eine Eingabe des Generalfiskals, ein Befehl des Parlements zu Paris, wornach das Erkenntnis von Laon vom 22ten Auguſt 78 kaſſirt, und befolen wird:

den Joſeph Puͤre, und Ludwig Lelye, in Verhaft zu nehmen, und unter einer guten und ſichern Wache nach Laon auf der Burg abzuliefern, und ſodann vom Hofe die fer - nern zu ergreifenden Maasregeln zu erwarten.

Die Freunde des Joſeph, ſein Hauptmann, ſeine Beſchuͤzzer, uͤber dieſe gewaltſame Begeg - nungen beſtuͤrzt, raten ihm zu fluͤchten, aber ver - gebens. Dieſer Soldat, ſtolz und geſtuͤzt auf ſeine Unſchuld, und ſchon bei den Gedanken er - roͤtend, daß er durch ſeine Flucht einen Ver - dacht wider ſich erregen wuͤrde, ſtellte ſich dem Schwerdte, und dem Tode mutig entgegen. Er glaubte, daß die Geſezze uͤber Rechtſchaffen - heit ſowol, als uͤber Verbrechen wachen, daß ihre Diener die Verteidiger eines Angeklagten, und die Vertreter ſeiner Rechtfertigung waͤren.

187

So vernuͤnftelten Langlade, Calas, Montbailly, ſo wird noch zu oft die Unſchuld, ungeachtet der Erinnerung, und des ſo oft wie - derholten Beiſpiels ihrer Gefar vernuͤnfteln.

Die Unterſuchung ward alſo, ungeachtet man weder Beweiſe, noch einige andere Aufklaͤ - rungen in dieſer Sache hatte, wider den Jo - ſeph fortgeſezt, die drei andern mit beurlaubten Reuter wurden eben ſo wie der Lelye vernom - men, man konfrontirte ſie mit Joſeph, er ward vom Kriminalrichter von neuem inquirirt, wie auch Lelye ebenfalls am ſelbigen Tage, und ſei es nun aus Rache gegen ſeinen Mitbeſchuldigten, oder die Hoffnung, auf deſſen Unkoſten ſich zu entſuͤndigen, dieſer Frevler, bei dem man die Beweiſe ſeines Verbrechens gefunden, der es ſelbſt ſogleich geſtanden hatte, widerrief alles, und klagte den Joſeph des Brudermordes an.

Dis gab wieder zu zwei verſchiedenen An - ſchreiben des Fiskals, an den Kriminalrichter zu Paris, und alſo eben ſo vielen Befehlen des leztern Anlaß, welche dahin gingen, daß Lelye von neuen uͤber ſeine neue Erklaͤrungen befragt, und eben dieſe Foͤrmlichkeiten auch mit dem Jo - ſeph beobachtet, ihnen ihre Ausſagen nachmals188 vorgeleſen, und beide konfrontirt wurden; allein das Reſultat von all dem war eben nicht mehr, als Ausſagen, ohne Beweis des Schuldigen, aus dieſen Verleumdungen hergeholte Vermutungen, und keine weitern Huͤlfsanzeigen, die zur Auf - klaͤrung der Warheit faͤhig geweſen waͤren. Noch nicht genug, dieſes abſcheuliche Verfaren ſchien dem Kriminalgericht zu Paris noch nicht hin - laͤnglich. Auf eine Vorſtellung des General - fiskals Joly de Fleury autoriſirte es durch ein Reſkript vom 6ten Auguſt das Gericht zu Laon, wieder alle diejenigen, bei denen man nur einige Wiſſenſchaft von der Ermordung des Lud - wig Puͤre vermuten koͤnnte, eine Unterſuchung zu verfuͤgen. Was am meiſten zu verwundern iſt, ſchien dieſe Anhaͤufung von auſſerordent - lichen Foͤrmlichkeiten weniger wider den Puͤre, als den Kriminalrichter zu Laon gerichtet zu ſein.

Man warf ihm zwar im Grunde nur ſeine Geiſtes Gegenwart vor, und ſtrafte ſeinen Ein - ſichten Luͤgen, allein es wurde auch der Bewe - guugsgrund, ihn dabei vom Gerichte zu entfer - nen. So fuͤhren Richter einen untadelhaften Mitbuͤrger zum Schaffot, um einen andern Richter zu kraͤnken, der ihn zu retten ſuchte.

189

Dieſes Verfaren zeigte ſich auch thaͤtlich. Den 20ſten Auguſt autoriſirte ein Reſkript des Kriminalgerichts zu Paris, dieſe achtungswerte und herzhafte Magiſtratsperſon, ſich alles fer - nern Verfarens dabei zu enthalten, und ſezte ihm einen andern zur Seite, der an Grund - ſaͤzzen, Meinungen und Karakter, gerade das Gegenteil war. Noch an eben dem Tage ward, dem Reſkripte zu folge, die Wittwe des Niko - las Puͤre zum Verhaft gezogen, faſt zu gleicher Zeit angeklagt, inquirirt, und zum Staupenſchlag, und Brandmark ver - urteilt. Unbegreifliches Erkenntnis! wenn dieſes Weib Mitgehuͤlfinn des Moͤrders ihres Gatten war, ungerecht, wenn ſie es nicht war.

Bis zum 2ten September haͤuften ſich die Uuterſuchungen: man unterſuchte durch Saz - ſchriften, neue Vorleſungen, und Konfron - tationes, endlich, nach dem die Geduld der Richter, des Publikums, und der Angeklagten, er - muͤdet ward, erſchien am 25ſten Oktober ein Urteil, welches, ohne den Joſeph Puͤre zu entbinden, noch ihn zu verurteilen, in Ruͤkſicht ſeines ſchwarzen Anklaͤgers, die erſte Sentenz be - ſtaͤtigte. Man hatte alſo keinen andern Schul -190 digen, als den letztern geſehen. Weil die Un - ſchuld des ungluͤklichen Puͤre, der Probe eines ſo grauſamen und geheimnisvollen Verfarens wie - derſtanden hatte, ſchien der Verblendung die Binde zu entfallen, und die Gefaͤngniſſe ſich zu oͤfnen, um der Geſellſchaft einen Beſchuldig - ten wieder zu geben, den man zu verurteilen fich nicht getraute. Das allgewaltige Schikſal aber hatte es anders beſchloſſen. Gefeſſelt, ward der Unſchuldige mit dem Boͤſewicht, von neuem nach dem Gefaͤngniß gebracht; das Parlament zu Paris zog dieſe Sache, als dahin gehoͤrig, zu ſeiner Unterſuchung. Jn den Augen des Kri - minalgerichts, wird der von ſeinen erſten Richtern frei geſprochene brave Joſeph ein Brudermoͤr - der; durch eine Sentenz vom 4ten December 79 wird Puͤre als ſchuldig und uͤberwieſen geach - tet, in Geſellſchaft des Lelye, den Niklas Puͤre den Hals abgeſchnitten, ihm Meſſer - ſchnitte im Leib uud in die Bruſt gegeben, und ihm ſeine Effekten geraubt zu haben. Jn Ge - folge deſſen wird er verurteilt,

vor der Kirchthuͤre zu Laon, mit einer Ta - fel vorn und hinten, worauf das Wort Brudermoͤrder gegraben, Buſſe zu tun,191 und ſodann auf dem Gerichtsplaz gefuͤhrt, ihm die Hand abgehauen, lebendig geraͤdert, und ſogleich verbrannt zu werden.

Aus Furcht, der Befehl zu dieſer Exekution moͤchte widerrufen werden, ward er beſchleunigt. Der ungluͤkliche Soldat wird nach Laon zuruͤk gebracht, ſeinen Freunden, ſeiner Familie, und allen ſeinen fuͤhlbaren Landsleuten ein Schauſpiel ſeiner Schaͤndung; er traͤgt die luͤgenvolle Schrift, womit er beſchimpft wird; er iſt im Begriff Gott zu luͤgen, und ſeinen Richtern zu gehorchen, und ſich zu ſchaͤnden. Die Schande, und der bittere Schmerz der leidenden Unſchuld, wirken ſo ſtark auf ihn, daß er ein lautes Ge - ſchrei aufſtoͤßt, woruͤber alle Umſtehende ſeufzen und erbeben; er haucht ſeine ſchuldloſe Seele aus, indem er den Himmel zum Zeugen ſeiner Unſchuld anruft, und nachdem er die Schrekken der Hinrichtung, mit der Stirn eines ehrlichen Mannes geduldet hatte.

Durch eine Folge des Unſinns, der in dieſer ganzen Unterſuchung geherrſcht hatte, befolgte man nicht den Gebrauch, nach welchen der weni - ger kriminelle Verbrecher zuerſt hingerichtet wird; als Brudermoͤrder, muſte Joſeph zu -192 lezt ſterben; im Gegenteil, Lelye ward erſt achtzehn Tage nachher verurteilt, und erſt den 3ten Jan: 1780 dem Henker uͤbergeben. Man ſchildere ſich das Entſezzen der Richter, und ſtelle ſich die verſchiedenen Gefuͤhle der Zu - ſchauer vor, als man dieſen Elenden, beim Moment der Hinrichtung, von Gewiſſensbiſſen gemartert, die Gottheit, das Gericht, und ſeinen Freund, um Verzeihung bitten ſah, daß er dieſen letztern durch ſeine falſche Angabe ge - toͤdtet, ſo wie er ſeinen Bruder ermordet haͤtte. Dieſem entſezlichen Geſtaͤndniſſe fuͤgte er alle dem Ungluͤklichen zur Rechtfertigung gereichende Umſtaͤnde hinzu, deſſen Blut noch den Richt - plaz faͤrbt. Mehr erſchrokken als beſchaͤmt, mehr in Beſtuͤrzung, als mit einem gebeſſerten Her - zen, fuͤhren die Richter das Ungeheuer an die Stelle, wo das Verbrechen veruͤbt worden, da zeigt er die Unmoͤglichkeit einen Mitverbrecher gehabt haben zu koͤnnen, ſezt dadurch die Un - ſchuld des Puͤre ans Licht, und noͤtigt das Ge - richt, ſich ſelbſt desjenigen Verbrechens ſchuldig zu erkennen, welches es an ihm eben beſtrafen will.

IX. 193

IX. Stolz und Liebe, Triebfedern des Wahnſinns.

Jch hab eine traurige Gruppe menſchlichen Elends, menſchlicher Leiden geſehen, und die Ruͤkerinnerung erregt noch einen kalten Schau - der durch meine Gebeine. Das Haus, wo Tolle und Unſinnige aufbewahret werden, liefert dergleichen traurige Szenen, ich wagte es zu betreten, und verließ es erſchuͤttert. Da ſah ich Menſchen in Ketten und Banden, im immerwaͤrenden Aufruhr ihrer zerruͤtteten Seele. Jn wuͤtender Verzweifelung, den marterndſten Qualen zum Raube, ſuchten ſie ihre elenden Tage zu kuͤrzen, und vermochtens nicht. Wenn ſie lange gerungen und gekaͤmpft hatten, und ein kalter Schweis ihre Glieder uͤberſtroͤmte, ſo verhuͤll - ten ſie ihr entſtelltes Geſicht, und weinten ſo laut, daß es in dem dunkeln Gemaͤure widerhallte. Bei einigen war der Verſtand nur auf einen gewiſſen Punkt zerruͤttet: ſo lange man dieſen unberuͤhrt ließ, ſo konnte man keine Spur eines WahnſinnsN194bei ihnen entdekken. Jch erkundigte mich bei den Aufſehern, wodurch ſie in dieſe traurige Lage ge - ſunken waren, und erfuhr, daß Stolz und Liebe gemeiniglich die Triebfedern des geſunkenen Verſtandes waͤren, und nur wenige angetroffen wuͤrden, die wegen zerruͤtteter Vermoͤgensum - ſtaͤnde und betroffenen Ungluͤks, in dieſe traurige Situation verſezt worden.

Alſo Stolz und Liebe! zwo ſo entgegen geſezte Eigenſchaften, waͤren die Wirkungen des Wahnſinns, und der gaͤnzlichen Zerruͤttung des Verſtandes. Was fuͤr ein ergiebiges Feld zu Be - merkungen fuͤr den Weltweiſen und Moraliſten!

Daß der Stolze zu ſolch einer Tiefe des menſchlichen Elends herabſinken kann, lehrt uns die Erfarung, und es ſcheint eine Strafe zu ſein, die in der Natur ihren zureichenden Grund hat. Daher findet man auch, daß die mehreſten Wahn - ſinnigen ſich hohe Wuͤrden und Ehrenſtellen bei - legen, und in Wut geraten, wenn man ſie nicht mit der Ehrfurcht begegnet, und ihnen den Na - men beilegt, den ihr erkranktes Gehirn ſich ſchuf. Der Menſch, dem das Gluͤk ſchon in der Wiege gelaͤchelt, der im weichen Pflaum der Ueppigkeit erzogen, von Sklaven bedient, von195 Schmeichlern umringt iſt, dem man ſchon fruͤh den Gedanken einpraͤgt, du biſt weit uͤber deine Nebengeſchoͤpfe erhaben, und alles muß ſich vor deiner Groͤſſe beugen ; dieſer Menſch, wenn ſein Herz ungebildet und roh bleibt, wird mit Verachtung auf niedere Staͤnde herabblikken, wird ſich fuͤr den Fuͤrſten der Schoͤpfung, und die neben ihm fuͤr ſeine Sklaven anſehen. Laßt ihn nun gar die hoͤchſte Stuffe menſchlicher Gluͤkſeligkeit erſteigen, laßt ihn der Guͤnſtling ſeines Fuͤrſten, der Gebieter uͤber Leben und Tod werden und nun ſchleudere ihn auf einmal herab, Verhaͤngnis! zeige ihm anſtatt Roſen - gefilde ein wuͤſtes unbewontes Eiland, zeige ihm den hohnlachenden Blik ſeiner Knechte, laß ihn Verachtung und Elend in ſeiner ganzen Schwere fuͤhlen was wird ſein Loos ſein? Er ſieht rund um ſich her eine fuͤrchterliche Nacht, ſein Kopf ſchwindelt, ſein Verſtand, der ſonſt trunken von Hoheit und Groͤſſe war, denkt ſich Sklavenge - wand, harte Koſt, unbewirtetes Lager, und keine Seele, die auf ihn merkt, ſo viele, die jhn verachten ſtuffenweiſe ſinkt er herab zum Wahnſinn, ſeine Seelenkraͤfte verlaſſen ihn, und rauben ihm den Genuß von Freude und Leid.

N 2196

Die geſunkene Seele haſcht Traͤume fuͤr Wuͤrklichkeit, und in der gaͤnzlichen Zerruͤttung der Vernunft, traͤumt ſie noch den ſuͤſſen Traum ihrer Groͤſſe, und der Stolz bleibt ihr die ſuͤſſeſte Narung fuͤr das kranke Gehirn. Schau her, du Thor! der du dich deiner Ge - burt, deiner Reichtuͤmer erhebeſt, dich Gott gleich ſezzeſt; ſieh, ſo verlaſſen iſt der Menſch, wenn die Vorſicht ihn in den Staub legt! Aber kann Liebe, ſie, die Schoͤpferinn ſo vieler Freuden, uns in ſo grenzenlofes Elend ſtuͤrzen? kann der ſeligſte aller Triebe, der das Herz erweitert, und die Seele fuͤllt, zum Wahnſinn, zur Raſerei aus - arten? trauriger Gedanke! ſie kann’s, ſie liefert uns die traurigſten Szenen, fuͤr deren erſchuͤt - ternden Anblik die Menſchheit keinen Ausdruk, keine Traͤnen findet.

Liebe gluͤht heftig und ſtark, ſie iſt eine Flamme, die hoch empor lodert, und alles zu Aſche brennt, was ihr Widerſtand leiſtet; ſo lange dis reine Feuer unſere Herzen erwaͤrmet, und gemaͤſſigt in unſern Adern lodert, ſo iſt Seligkeit und Freude unſer Loos: aber laß es wuͤtend unſere Nerven durchgluͤhen, ein wallen - des Blut unſere Adern durchkreiſen, wo iſt Waſ -197 ſer? wo iſt Regen? es zu erſtikken, wo Saiten - ſpiel und Geſang, das kochende Blut zur Ruhe zu lullen?

Denke dir einen fuͤhlenden Juͤngling! Er, der bisher blos an kindliche Liebe gewoͤhnt, nur Bruderliebe und Freundesliebe empfunden, fuͤhlt ein ſtilles Sehnen in ſeiner Bruſt aufkeimen, fuͤr das ſeine Fantaſie keinen Namen weiß. Jn ſtiller Einſamkeit erzogen, an der Hand der Na - tur geleitet, fuͤhlt er blos Liebe fuͤr ſie, die ſo viel Freuden fuͤr ihn ſchaft, Blumen auf ſein Lager ſtreut, und ihn im Duft ihrer Wuͤrze huͤllt. Auf einmal erwacht bei ihm der Trieb der Na - tur, ein noch nie gefuͤhlter Trieb nach Teil - nehmung, jezt ſieht er alles um ſich her veraͤndert, er hoͤrt das Lokken der Amſel, das Girren der ſchuͤchternen Taube, die ſich aͤngſtlich nach ihren Gatten ſehnt, er vernimmt die ſchmelzenden Trauertoͤne, womit der kleine Vogel der Liebe um den Verluſt ſeines Gatten klagt, den er ins Garn gelokket; er wird geruͤhrt, und ſo ſehr er den Sproſſer liebt, ſo giebt er ihn doch der Freiheit, und mit ihr ſeiner klagenden Gattin wieder er flattert froh aus ſeiner Hand, und eilt ins dunkle Gebuͤſch; der wehmuͤtige Laut erſtirbt dieN 3198Freude kehrt zuruͤk, und ein ſchmetterndes Lied dankt der woltaͤtigen Seele fuͤr die Befreiung.

Dis alles wuͤrkt auf ſeine Seele, und pakt ihn mit rieſenmaͤſſiger Staͤrke, er fuͤhlt nun Leer - heit und Ueberdruß| fuͤr ſo viel lachende Freuden um ſich her; ſeine Fantaſie zeigt ihm im Traum ein lachendes Bild, er will es haſchen, und er - wacht. Er wird aus dem engen Wirkungskreiſe entruͤkt, betritt eine neue Bahn, ſein Herz zu bilden, und mit Kraft und Staͤrke auszuruͤſten, er iſt nicht laͤſſig und traͤge, aber das Bild, was er im Traume ſah, flattert ſtets um ihn, ſteht ihm zur Seite, wann er erwacht, wann er ſchlummert, wann er geht und denkt. Traurig mit in ſich gekehrtem Blik wandelt er einher, hoͤrt ein dumpfes Rauſchen am fallenden Schmer - lenbach, ſieht erſtarrt wankt bebt es iſt das Bild ſeiner Fantaſie, die ſtille jungfraͤu - liche Seele, ohne alle, auch die kleinſte Anmaſ - ſung, voll Beſcheidenheit und Sittſamkeit, im lachenden Fruͤhling ihres Lebens. Zitternd naht er ſich ihr, will reden, und kann nicht, aber ſein Schweigen ſagt mehr, als Worte faſſen koͤn - nen. Nach und nach enthuͤllt ſich die Liebe, die ihre Seelen beim erſten Anblik band, der erſte199 gruͤnende Raſen iſt ihr Altar, an dem ſie kniend ſich dauernde, ewige Liebe ſchwoͤren. Aeltern willigen in ihren Bund, nur der Tag ihrer gaͤnz - lichen Vereinigung bleibt noch aufgeſchoben. Der Ruf des Schikſals trennet den liebevollen Juͤngling auf eine Zeitlang von ſeiner Verbun - denen, bald kehrt er auf Fluͤgeln der Liebe zu - ruͤk, will in die heiſſe Umarmung ſeiner Lida ſinken, und findet ſie tod, leblos und erſtarrt. Sein Geiſt aufs hoͤchſte geſpannt, nichts anders denkend, als ſie, alle ſeine Fibern bloß auf ſie ge - richtet, die ihm alles war, und alles ſein ſollte, und nun, welch ein Schlag! ſo unerwartet, ſo fuͤrchterlich, er kann den Verſtand erſchuͤttern, ihn gaͤnzlich rauben Wahnſinn, Raſerei erzeu - gen, ja Dolch und Gift, und ein toͤdtendes Rohr in die Hand geben, um ein elendes Leben zu enden.

Seht die Geſchichte ſo manches Ungluͤkli - chen, und jammert uͤber das Elend, ſo uͤber den Menſchen auf Tronen und Huͤtten ausgegoſſen iſt! Sezzet noch hinzu, daß oft hartherzige Ael - tern, aus Stolz und Ehrgeiz geblendet, den Bund der Liebe trennen, oder die Geliebte treu - los wird, oder der Gegenſtand, fuͤr den ich gluͤhe,N 4200nicht meine Liebe erwiedert, und erwiedern kann, ſo habt ihr das beiſammen, was den Wahnſinn erzeugen kann, ſo kann man ſich die innern Lei - den eines in die Enge gepreßten Herzens erklaͤ - ren, und nicht ſtarr und kalt drein blikken, wenn man hoͤrt, es habe jemand den Gebrauch ſeines Verſtandes aus uͤberſpannter Leidenſchaft ver - loren, oder ſich ſelbſt den Faden ſeines Lebens gekuͤrzet.

O ihr kalten Moraliſten und Heuchler! Greiſe und Matronen! die ihr der Menſch - heit Geſezze geben, und ihr Schranken beſtim - men wollt, wie weit ſie gehen ſoll; ihr kennt die Menſchheit nicht, und euer Gewaͤſch iſt Unſinn, ihr wollt bauen und ebnen, und reiſſet ein, macht wuͤſte und unzugangbar, was ſonſt glatt und eben war. Da ſizt ihr hinterm Ofen bei der Weinflaſche, und wollt der Liebe Geſezze geben, und kennt ſie nicht, denn ſie hat niemals in eurem Herzen, dem Sammelplaz der Luͤſte und feindſeligen Begierden, Wonung gemacht. Da ta - delt und brandmarkt ihr den edlen Juͤngling, der in der entſezlichen Angſt ſeines Herzens, die freilich eurem Felſenherzen ein Raͤtſel iſt, zerriſ - ſen und gefoltert von tauſend unnennbaren Qua -201 len den Dolch gegen ſich zukte, und ohne Be - wuſtſein, in die kalten Arme des Todes ſank; da nennt ihr ihn einen Thoren und Unſinni - gen, wollt beſtimmen, wie er anders haͤtte han - deln, wie er ſeine Leidenſchaft unter der Ver - nunft haͤtte gefangen nehmen ſollen. O ihr Wei - ſen! fragt den Steuermann, dem ſeine Barke an einer Klippe ſcheitert, warum er die Klippe nicht vermieden, und ſein Ruder nach einer ſichern Seite gelenket habe.

Nichts muß einen edlen fuͤhlenden Mann ſo aus ſeiner Faſſung bringen, als ſolche kalte ſtumpfe Seelen, die Tugend heucheln, und Tu - gend luͤgen, und die Tugend nicht kennen, die aus dem Herzen quillt, die nicht im leeren Schalle der Worte, ſondern im handeln und wirken be - ſteht. Es muß ſeinem Herzen wehe thun, wann er hoͤrt, daß Menſchen die Handlungen anderer beurteilen wollen, dazu ſie weder Beruf und Aufforderung, noch auch Faͤhigkeiten, ſie zu durchſchauen, haben, die ohne Kenntniß des Menſchen, ohne Kenntniß ſeiner innern Triebe, alles fuͤr Suͤnde und Unrecht halten, was nicht mit ihrem Eigennuz und Stolz beſtehen kann, die mit tuͤkkiſcher Schadenfreude, die Fehler ihrerN 5202Mitbruͤder aufdekken, und ihre eigene nicht fuͤhlen und erkennen wollen. Da keucht die alte Ma - trone am ſchwindſuͤchtigen Huſten, den ihre Ju - gendſuͤnden herbeigelokt, welk und hager, mit ſchlotternden Knien und zitternden Haͤnden, wird ſie im Winter ihres Lebens eine Betſchweſter, keift und flucht wider die Jugend, und predigt ſich heiſer uͤber die Suͤnden ihres Zeitalters; abgeſtumpft fuͤr alles Vergnuͤgen, von der Freude verſcheucht, donnert ſie wider Schauſpiele, Baͤlle und Konzerte verdraͤngt aus dem Zirkel der froͤlichen Geſelligkeit, verſammelt ſie um ſich her ein Heer alter Bule rinnen, die wie ſie, am Quell der Freude darben.

Da ſizt die wuͤrdige Klubbe am Theetiſch, und ſchluͤrfen das heilloſe Geſoͤff ein, was ihre Launen verſtimmt, Mismut, Unzufriedenheit mit der Welt erregt, und ihre ſchmaͤhende Zunge vom naͤchſten Nachbar an, bis zum Bewoner Nova - Zemblas in Bewegung ſezt. Da kritteln ſie uͤber menſchliche Handlungen, und auch uͤber die un - ſchuldigſte wird mit richterlicher Strenge das Verdammungsurteil geſprochen; ſie formeln und modeln an den Menſchen, und wozu ſchaffen ſie ſelbige um? zu lauter Tugendheuchlern, die un -203 term Mantel der Scheinheiligkeit, unter der Larve des Aberglaubens, die lauten Suͤnden ihrer Jugend verhuͤllen wollen. Man unterſuche ihr gefuͤhrtes Leben, und was war es fuͤr ein Leben? ein Gewebe von Stolz und Eitelkeit, von Bulerei und Unzucht. Den Fruͤling ihrer Tage vertaͤndelten ſie an Toiletten, und bulten um Knaben, und Juͤnglinge. Den Sommer beugten ſie ſich unter das Joch der Ehe, um deſto geheimer der Wolluſt reichliche Opfer ſpenden zu koͤnnen, brachen beſchworne Treue, und be - flekten das Bette ihres Gatten. Den Herbſt widmeten ſie dem Stolz und der Eitelkeit, glaͤnz - ten an der Seite ihrer Toͤchter, formten ſie zu Koketten, und bulten mit ihnen wechſelsweiſe um den Weihrauch der Schmeichelei, den Stuz - zer und Gekken ausduften. Und nun den Win - ter ihres Lebens wollen ſie der Religion weihen, die ſie ſo lange als Pfaffenſchimaͤre fuͤr den Poͤbel und Duns betrachtet, wollen dir die Hefen brin - gen, Vater der Menſchen! der du die Erſtlinge forderſt; glauben, daß alle Forderungen deiner Geſezze erfuͤllt ſind, wenn ſie deinen Tempel beſuchen, aͤuſſerliche Zerimonien ihrer Kirche be - folgen, und Toͤne plappern, davon ihr Herz204 nichts weiß. Und du haſſeſt den Heuchler, und willſt nicht, daß man ſich mit der Larve dir nahe, verlangſt ein aufrichtiges Herz voll Liebe gegen dich, gegen deine Bruͤder; du gabſt uns die Freuden, ſie zu genieſſen, und durch ſie ſollen wir dich erkennen, deine Groͤſſe bewundern, und in ſtiller Demut vor dir knien, und danken, daß du deine Geſchoͤpfe ſo gluͤklich machſt, und ihnen ſo namenloſe Freuden zuteileſt.

O! laß daher nie die Unſchuld durch unſere Zunge ſterben, ſtaͤle vielmehr unſern Arm, Raͤ - cher und Retter zu ſein, wann die zertretene Unſchuld im Staube ſich windet; und wann gif - tige Verleumdung unſern guten Namen ver - faͤlſcht, unſere Thaten anluͤgt, unſere Redlich - keit in Zweifel zieht, ſo entſuͤndige uns vor der Menſchheit, und laß uns rein und unbeflekt da ſtehen, zum Triumph der Tugend zur Freude der Rechtſchaffenheit.

205

X. Traurige Gruppen der Sittenloſig - keit unſers Zeitalters, enthuͤllt fuͤr deutſche Fuͤrſten, deutſche Juͤng - linge, und deutſche Maͤdchens.

O gluͤkliche Zeit der erſten Jugend! ihr holden Szenen der Knabenzeit, wer wuͤrde euch nicht ſehnlich zuruͤk rufen? Welcher Juͤngling, welcher Mann ginge nicht gern die Schritte zuruͤk, die er vorwaͤrts gethan, um dieſe ſo ſchnell entflohe - nen Szenen wieder aufdaͤmmern zu ſehen, und um die gaukelnden, vom Fittige der Zeit ver - wiſchten Bilder wieder zu erwekken? Kaum erin - nert man ſich dieſer Zeit, wo uns alles mit Ro - ſenbanden umſchlinget, alles laͤchelnd zur Freude, zum Genuß einladet; ſie rauſchet ſo ſchnell vor - uͤber, daß ſelbſt der Gedanke, ſie einſt ver - lebt zu haben, von der Tafel unſers Gedaͤcht - niſſes wuͤrde verwiſcht werden, wenn nicht un -206 ſere Fantaſie geſchaͤftig waͤre, die erſten Ein - druͤkke nie erloͤſchen zu laſſen.

Sieh, wie heiter er in Gottes ſchoͤner Welt umher ſchweift, der frohe Knabe! wie die im - mer laͤchelnde Freude ihn begleitet, und ſeinen Pfad mit Roſen beſtreut; o der raſchen Jdeen! wie ſie alles umflattern, alles mit ihrem Fittig beruͤhren, und noch nirgends einen Ruhepunkt finden, noch nirgends ſich durch Verhaͤltniſſe und Vorurteile binden und feſſeln laſſen! o der war - men Teilname! mit der er alles umſchlingt, was ſeine Sinne taͤuſcht, und auf ſeine Organe wirkt. Keine Sorge truͤbt ſein Auge kein Kummer verwiſcht die Roͤte der vollen Wangen kein Morgen wekt ihn zu neuen Leiden, kein Gedanke des Abbluͤhens und Verweſens beſchleicht den Gang ſeiner Empfindungen, die ihm alles im roſigten ſchimmernden Lichte zeigt. Mit ſchnellem Fluge wandelt die nimmer raſtloſe Zeit Stunden zu Minuten, Tage zu Stunden, und Jahre zu Tage um, zehn Fruͤhlinge ver - bluͤhen ihm, und ſiehe da, eine neue Epoke ſei - nes Lebens beginnet.

Der lezte dumpfe Nachhall des ſcheidenden Jahres laͤutet all die holden Szenen zu Grabe 207 ſie ſchwinden dahin, und wer kann ſie ereilen? mit ihnen ſchwinden dann auch jene Zauberſze - nen der Kindheit, die alle Sinnen gefeſſelt hiel - ten, und die Huͤtte zum Feienpallaſt, die Fluren zu Gefilden von Amatunt und Gnidus um - ſchufen. Jezt zeigen ſich die Gegenſtaͤnde in ih - rer wahren Geſtalt, aber es bleibt immer eine Leerheit in der Seele zuruͤk, wir bilden uns daͤdaliſche Gaͤrten, arkadiſche Fluren, romantiſche Thaͤler, und doch ſind es oft nur Sandſchellen und wuͤſte Eilande, die unſer Fuß betritt. Der Kuabe tritt nun auf einmal aus dem Kreiſe ſeiner Geſpielen, legt mit dem Fluͤ - gelkleid, Knabengedanken und Knabenſpiele ab, und wird unvermerkt ein Juͤngling. Nun ent - wikkeln ſich ſeine Jdeen, ſie erlangen Feſtigkeit und Spannkraft, ſchluͤpfen nicht mehr uͤber die Gegenſtaͤnde hinweg, ſondern verweilen, ordnen und bilden ſie aus. Dis iſt die Zeit, wo ſich der Embrio von Faͤhigkeit entwikkelt, wo die Keime hervor ſproſſen, wo der Karakter ſich zum Guten oder Boͤſen lenket. Dis iſt die Zeit, die eine gluͤkliche Epoke unſers Lebens ausfuͤllen, ja deren weiſe Anwendung den Stab ſanft, auf all unſere Tage herab ſenkt, deren Ver -208 ſchwendung aber den Stab Wehe durch alle Stuffen des Alters laſten laͤßt. Dis iſt die Zeit, die unſer kuͤnftiges Gluͤk beſtimmt, wenn weiſe rechtſchaffene Maͤnner uns den Pfad vor - zeichnen, den wir wandeln ſollen, wenn ſie all - unſere Triebe auf lauter gute und edle Gegen - ſtaͤnde lenken. Aber wie oft wird ſie die Quelle ſo vieler Leiden, mit denen wir als Mann und Greis zu kaͤmpfen haben, wird die Klippe, an welcher der Nachen unſers Lebens ſcheitert!

Der Boden, auf den der Juͤngling wan - delt, iſt ein hell gefchliffener Stal, wer kann da nicht ausgleiten? haͤtte er gleich feſte Mus - keln, und Staͤrke in allen Saͤften und Gebei - nen. Das Blut in den Adern ſchlaͤgt Wellen, und durchbricht Damm und Mauren, wer kann ſeinen Strom aufhalten, und ihm das Ziel ſez - zen, bis hieher ſollſt du, und nicht weiter? Alles hat den Reiz des Vergnuͤgens, waͤre es auch nur fluͤchtig und voruͤber eilend, fuͤhrte es auch langſames Gift bei ſich, doch immer an - lokkend und reizbar, um es wiederholentlich zu genieſſen, bis das Gift in allen Adern ſpruͤht, und den feſteſten Bau des Koͤrpers abſpannet. Die Natur in uns ſelbſt iſt der ſtaͤrkſte Feind,mit209mit dem wir zu kaͤmpfen haben, ſtark, da er in allen Adern herrſchet, furchtbar, da er, wenn gleich einmal beſiegt, ſeinen Angriff verdoppelt, und dann um ſo gefaͤhrlicher wird, wenn die Kraͤfte ermatten, ihm Widerſtand zu thun.

Du ſtehſt am Scheidewege, Juͤngling! un - entſchloſſen, welchen du betreten ſollſt; der eine iſt mit Dornen und Diſteln umſchattet, und ſparſam bluͤht hier die Roſe, ſparſam duftet hier das Veilchen Berge ſind zu erklimmen, und ſteil iſt der ſchmale Pfad, der zum Tempel der Tugend fuͤhrt, und derer, die ihn betreten, ſind eine kleine Zal, denn ſie haben den Mut nicht, und laſſen ſich durch die Sirenenſtimme ver - leiten, den blumigten Pfad der Wolluſt zu be - treten, wo alles ſo lieblich den Geiſt des Ver - gnuͤgens haucht, und jedes Blatt dem, der es bricht, das genieſſet, zu zu rauſchen ſcheinet.

Schmeichelnd winken dir die Dirnen der Un - zucht, und bulen im leichten ſeidenen Gewande um dich her; der Geruch ihrer Narden erfuͤllt den Dunſtkreis, uud wehe deiner Uuſchuld, wenn du ihn begierigſt einathmeſt, wenn du die Schlin - gen beruͤhreſt, die ſie dir legen. Entzuͤkt fuͤhlſt du den weichen elaſtiſchen Arm der ausgeartetenO210Tochter Evens, den ſie um dich ſchlinget, ent - zuͤkt vom Druk der warmen Hand, berauſcht von ihren Kuͤſſen, umhuͤllt ein Flor deine Augen; du ſiehſt nicht mehr bloß die feile niedere Bule - rinn, die ihre Liebkoſungen jedem verſchwendet, der ſie erkauft, die mit dem einen Auge dir lieb - koſet, und mit dem andern nach deiner Boͤrſe ſchielet; du hoͤrſt nicht mehr den lezten ſchon er - ſtikten Laut der Tugend, hoͤrſt nicht den war - nenden Freund, ſinkeſt taumelnd in die Arme deiner Goͤttin, glaubſt dich von Liebesgoͤttern um - flattert, von Amouretten eingelullt, und ſchwelgſt im Meer der Luſt, bis du ermattet dem Schlaf in die Arme ſinkſt. Du ſchlaͤfſt, und waͤhneſt das Elend nicht, das deiner hart, und dich ge - wis ereilen wird. Nagende Reue, ein wuͤtender Schmerz in deinen Gebeinen, ein verzehrendes Feuer in deinen Adern erwacht mit dir; die viel - koͤpfigte Hider der Verzweiflung ſchleicht dir nach, und nagt unaufhoͤrlich an der Knoſpe deines Le - bens. Nun ſage all deinen Freuden auf ewig Lebewol, denn ſie werden nicht mehr Wonung bei dir machen; an ihrer ſtatt ſtehen die Furien um dein Siechbette, und wuͤten in deinen Ge - beinen; all deine Kraͤfte ſchwinden dahin, aus -211 getroknet ſind deine Saͤfte, erſchlafft deine Fi - bern, du rufeſt dem Tode, und er antwortet dir nicht, umſonſt ringſt du deine matten Haͤnde, umſonſt hallen Fluͤche und Verwuͤnſchungen von deinen Lippen in gichtriſchen Kraͤmpfen waͤlzſt du dich auf dem Lager, das Gift ſprudelt allmaͤ - lig zum Herzen, bis es alle ſeine Faſern nach und nach ergreift, und dir den lezten Stoß gibt. Dein Koͤrper, ein elendes Gerippe ein Scheuſal vor den Menſchen und die Seele! wo irrt ſie hin? in welches ungeſehene Land? zu welcher Beſtimmung?

O meine Freunde! fuͤr euch hab ich dies Bild entworfen, fuͤr euch, die ihr noch in der Fuͤlle der Geſundheit einher wandelt fuͤr euch, die ihr ſchon die Erſtlinge eurer Kraͤfte der Wol - luſt geopfert! wenn es noch nicht zu ſpaͤt iſt und zur Weisheit zuruͤk zu kehren kann nie zu ſpaͤt ſein ſo kehrt zur Tugend zuruͤk, denn ſie nimmt auch den Gefallenen auf. Seht die bleichen Schatten eurer Geſpielen, ſie waren einſt auch geſund und ſtark, und jezt in wenig Monden erblaßt mit ſchlotternden Knien mit holen troknen Augen. Ein ſchleichendes Gift rollt in ihren Adern, troknet die Lebensſaͤfte aus, undO 2212und wirft ſie fruͤh der Verweſung in die Arme, oder was noch ſchreklicher iſt, wenn ſie ihr Ver - moͤgen im Arm der Wolluſt verpraßt, Maugel und Duͤrftigkeit auf ſich zu eilen ſehen, ſo ſchlieſ - ſen ſie Ehebuͤndniſſe, und machen ein ſchuldloſes Maͤdchen ungluͤklich. Mit ihren Umarmuugen ſchleicht ſich das Gift in ihre Adern, floͤßt ſich in alle Theile ihres Koͤrpers ſo welkt ſie zuſe - hends hin, giebt oftmals einem Wurm das Da - ſein, deſſen Glieder von Gift aufgeſchwollen ſind, und ſtirbt an einer unheilbaren Krankheit, das ihr der Gatte in der erſten Brautnacht zum Geſchenk gab O falle nieder Vorhang und doch moͤchte ich dich den Vaͤtern des Lan - des, den Beherrſchern der Nationen ent - huͤllen, und ihnen dieſe traurige Gruppen auf - dekken. Warum hemmt ihr den Strom der Zuͤ - gelloſigkeit nicht, das euer Land uͤberſchwemmt? Wozu gab euch die Vorſicht Macht und Staͤrke? Nicht Laͤnder zu rauben, und freie Voͤlker zu un - terjochen: ſondern in euren Laͤndern Tugend und Weisheit zu verbreiten, und eure Untertha - nen gluͤklich und froh zu machen.

Jhr wollt ja euer Land bevoͤlkert haben, wollt ruͤſtige ſtarke Maͤnner, eure[R]echte zu ſchuͤzzen,213 und doch verſtopft ihr nicht die Quellen der Ent - voͤlkerung der Erſchlaffung eurer Untertanen. Jhr duldet Bordelle und oͤffentliche Haͤuſer der Unzucht, die Tag und Nacht offen ſtehen. Jhr ſchreibt Kuplern und dem feilen Ge - ſindel einen Freibrief, arme Maͤdchen zu ver - fuͤhren und junge Maͤnner zu entnerven. Jhr ſchenkt Moͤrdern und Raͤubern das Leben, und duldet daß die unbefangne ſorgloſe Jugend in ei - nen Abgrund hinabgeſtoſſen wird, gegen den des Nachrichters Beil Gnade iſt; denn dieſes loͤſcht in einem Nu den Tacht des Lebens aus, da hin - gegen jener langſame Tod Glied vor Glied abloͤ - ſet, und nicht blos den Koͤrper, ſondern auch die Seele mordet.

Vielleicht hat noch niemand den Vorhang vor euch aufgezogen, vielleicht hat es gar einige gegeben, vor denen Braga ſein Angeſicht hin - wegwenden wuͤrde, die euch den Grundſaz ent - huͤllten, daß Bordelle in einem cultivirten Staate notwendig waͤren Notwendig? ſchreklicher Grundſaz. Alſo muͤſſen Tau - ſende an unheilbaren Krankheiten in der Bluͤte der Jahre dahin ſterben? alſo muͤſſen tauſend Maͤdchen verfuͤhrt und elend werden, ohne ihreO 3214Beſtimmung zu erfuͤllen, und dem Staat Buͤr - ger zu geben? Alſo muß die Jugend beim gicht - bruͤchigen Alter betteln, Ohnmacht und Er - ſchlaffung an der Stirne der Juͤnglinge geſchrie - ben ſtehn? Alſo muß der Name Tugend ein Fantom, und die Unſchuld ein Maͤrchen ſein, an dem nur der Poͤbel in Huͤtten glaubt? Seht da die Folgen einer Politik, von der Armi - nius nichts wußte, die der alte Skalde und Sueve nicht kannte.

Muß in unſerm Jahrhundert, wo die Fakkel der Aufklaͤrung wilde Gegenden er - leuchtete, wo der Bewohner des Obi auch ſei - ne Kerze anzuͤndete muß in Germaniens Grenzen, wo Mark-Aurele herrſchen, Ari - ſtides das Ruder lenken, und Demoſthene un - ſere Roſtra betreten, muß da ſolches ſchlechtes Geſindel geduldet werden, die der Tugend Hohn ſprechen, ſich vom Gewinn des Laſters naͤhren, wie der Falke die Unſchuld rauben, und Toͤchter der weinenden Mutter entreiſſen*)Wie weit die Verderbnis unſerer Sitten gedie - hen iſt, kann man daraus ſchlieſſen, daß eine Mutter in B .. ihre eigene Tochter (ein ſchoͤ - nes Maͤdchen von ſiebzehn Jahren) an eine Kupp -? Wenn215 man nur einen fluͤchtigen Blik auf jene Haͤuſer wirft, wo jene ungluͤkliche Geſchoͤpfe eingeſperrt werden, ſo muß man uͤber die unmenſchlichen Handlungen ſtaunen, die da veruͤbt werden.

Mit barbariſcher Strenge wird das ungluͤk - liche Schlachtopfer behandelt, wenn ſie ihren be - ſtimmten taͤglichen Gewinnſt nicht entrichtet; um die unerſaͤttliche Habſucht der Kupplerin zu ſtillen, muß ſie ihren Leib den Luͤſten hingeben, und ſich im Schlamm der Unzucht waͤlzen. Die mehreſten dieſer elenden Geſchoͤpfe werden mit Liſt in dieſe Haͤuſer gelokket, werden durch das Aeuſſere des Flitterſtaats verblendet, daß ſie das uͤbertuͤnchte Grab nicht ſehen koͤnnen, und wer kann ſie retten? wenn ſie einmal in den Klauen der Raͤuber ſind; ſie ſind unwiderbringlich verlo - ren, wandern alle Klaſſen des Elends durch, bis ſie nach wenig Jahren ein Raub jener Krankheit ſind, die uns rohen Deutſchen der feine*)lerin fuͤr zwoͤlf Thaler verkaufte, da ihr ſelbige vorſtellte, daß ſie dadurch das Gluͤk ihrer Toch - ter befoͤrderte, und der weitern Sorge fuͤr ſie gaͤnzlich entnommen wuͤrde. Dies iſt eine wahre Thatſache, die euch Marktſchreiern des Jahrhun - derts, eure Hirngeſpinnſte von Aufklaͤrung auf einmal zerſtiebet.O 4216Franzmann zum Geſchenke gab. Die Spitaͤ - ler liefern uns haͤufig dergleichen traurige Schlachtopfer da geh hin, wenn du menſch - liches Elend ſehen willſt da geh hin, wenn die Sirenenſtimme der Wolluſt, dich an ihr toͤdlich Ufer einladet, und gewiß du wirſt zuruͤckbe - ben, wenn du noch Gefuͤhl fuͤr dein eignes Wol haſt.

Jch will nicht bei den Jdeen ſtehen bleiben, die euch meine Fantaſie hier entworfen hat, ob ich gleich fuͤr ihre Warheit Buͤrge bin, nein, ich will euch auch noch eine wahre Thatſache enthuͤl - len, die euch von der Richtigkeit meiner Behaup - tungen uͤberzeugen wird.

Marie, die Tochter eines Landpredigers in N. hatte bereits ihr ſechzehntes Jahr erreicht, da ihre Mutter ſtarb; ſie nahm ſich des Hauswe - ſens getreulich an, und bezeugte ſich in allen Faͤllen als ein gutes, tugendhaftes Maͤdchen: auf Schoͤnheit konnte ſie vielleicht eher Anſpruch machen, da ſie den Gang der Natur nicht ver - ruͤkte, und zu unerfahren war, falſchen Schim -217 mer zu borgen. O ſuͤſſe, reizende Unſchuld! dich hat der Luxus und die Mode aus Staͤdten vertrieben da ſchnizzen ſie ſich Bilder, ver - braͤmen ſie mit Flitterſtaat, und fallen vor ihnen nieder Du wendeſt dein Angeſicht weg, und eutweicheſt zu den Bewonern der Huͤtten da lebſt du, und verbreiteſt Segen die Fuͤlle, und liebliches Weſen immer und ewiglich.

Auch Marie wuchs, von dir geleitet, zu einem liebevollen Weſen, um einſt ein anderes Weſen zu begluͤkken aber ein unbeugſames Fatum hatte es anders beſchloſſen. Jhr Vater ſchritt zur zwoten Ehe, mit einer Perſon, die von ſchlechter Herkunft, und von noch ſchlechtern Sitten war. Was Wunder? daß die folgſame Marie als Magd behandelt, und taͤglich gemis - handelt ward. Der Vater ſah dis, aber er hatte zu wenig Herrſchaft, daß er es hindern konnte: alſo ſah ſich das arme Maͤdchen den haͤrteſten Ar - beiten ausgeſezt, die immer mit Mishandlungen begleitet waren. Lange konte ſie eine ſolche Be - handlung nicht ertragen, und da ſie eine nahe Verwandtinn in B hatte, ſo faßte ſie den Entſchluß, ihr vaͤterliches Haus zu verlaſſen, und ſich ſelbiger in die Arme zu werfen. EinesO 5218Tages, da ihre Aeltern verreiſet waren, pakte ſie ihre Habſeligkeiten zuſammen, und mit einigen Thalern, ſo ſie ſich angeliehen, trat ſie ihre Reiſe an, und legte, mehrenteils zu Fuſſe, eine groſſe Strekke zuruͤk. Als ſie ungefaͤr noch acht Meilen vom Ort ihrer Beſtimmung war, ſo wurde ſie im Poſthauſe mit einer bejahrten Perſon bekannt, die ſich auf alle Weiſe ihr ge - faͤllig zu machen ſuchte; ganz fremde und unbe - kannt nuzte ſie das Zutrauen, ſo ſelbige in ſie zu ſezzen ſchien, entdekte ihr ihre ganze Geſchichte und die Abſicht ihrer Reiſe. Die Frau verſprach, mit dem Ton des Mitleids, fuͤr ſie zu ſorgen, und ſie in das Haus ihrer Verwandtinn zu fuͤh - ren. Das gute Kind waͤhnte keine Argliſt, und vertraute ſich dieſer Perſon gutwillig an. Dieſe war aber eine gedungene Maͤklerinn, die junge unbefangene Maͤdchens mit Liſt fangen, und in die Bordelle einfuͤhren.

Sie brachte dis ſchuldloſe Maͤdchen in ein ſolches elendes Haus, unter dem Vorwand, daß ſie ſich nach der Wonung der Anverwandtin er - kundigen wollte. Einige Tage verfloſſen, und ihre Reiſegefaͤhrtinn kam nicht wieder, ſie ward unruhig, und beklagte ſich deshalb bei ihrer219 Wirtinn. Dieſe nahm nunmehr die Maske ab, ſagte, daß ſelbige ſich ihre Dummheit zu Nuzze gemacht, und mit ihrer Habſeligkeit ſich entfernt habe, indeſſen ſollte ſie ſich deshalb nicht bekuͤmmern, ſie ſollte alles bei ihr im Ueberfluß haben . Das gute Maͤdchen brach in Traͤnen aus, und ahndete noch nichts von ihrer Beſtim - mung, da ſie aber mit ſeidenen Lumpen behan - gen, und zu ihren ausgeſchmuͤkten Geſpielinnen gefuͤhrt ward, ſo ſah ſie den Abgrund, in den ſie geſtuͤrzt war. Jndeſſen halfen keine Traͤnen, ſie ward aufs grauſamſte behandelt, und muſte ihren ſchoͤnen Gliederbau der Zerſtoͤrung Preis geben.

So litte ſie wenige Monden dis elende Le - ben ihre Bildung ward verwolluͤſtigt ihre Saͤfte vergiftet. So wie ſie entſtellt unter den Schmerzen einer Krankheit, deren Gift alle Teile durchdrungen, darnieder ſank, ſo ſchwand auch das Mitleid in dem Tigerherzen; man ſchleppte ſie als ein verworfenes Geſchoͤpf ins Spital, und hier unter den elenden Geſtalten ehemals bluͤhender Maͤdchen, wandt ſie ſich un - ter den folterndſten Schmerzen auf den Boden. Anſtekkend war die Luft, die ſie athmete, dar -220 nieder ſchmetternd das Geheul und Gewinſel der Leidenden, durchſchaudernd der Kampf eines elenden Lebens mit dem Tode, der alle ſeine Qualen verdoppelt ausgoß ausgeſezt der grauſamen Behandlung der Wundaͤrzte der Verachtung und des Hohngelaͤchters der Um - ſtehenden und dann im Jnnern der Gram, der nie ſtirbt ach! nur wenige Wochen kaͤmpfte ſie mit dieſen Schrekniſſen; der Tod fand alles vertroknet, alles entmarkt, nur ein leichter Schwung ſeiner Senſe, und ſie lag leblos da. So durchſchneidet der Pflugſchaar das kaum ge - borne Veilchen, und niemand findet mehr die Staͤte, wo es duftete. So lokket die Wolluſt die bluͤhende Jugend in ihre Nezze, und wuͤrgt ſie an ihren Altaͤren. So ward Marie das un - gluͤkliche Opfer einer feilen Maͤklerinn, der es nicht genug iſt, den Koͤrper zu zerſtoͤren, ſondern die auch die Seele wuͤrgt.

O Gerechter dort oben, der du recht rich - teſt uͤber den Sternen, haſt du keinen Donner fuͤr dieſes elende Geſindel? das dein Meiſterſtuͤk zerſtoͤret, das ſelbſt die Unſchuld in deinen Tem - peln wuͤrget ſchwelgt vom Mahl des Laſters, und ſich berauſchet im Kelch der Suͤnde. Dein221 Donner ſchlaͤft, aber einſt wird er fuͤrchterlich daher brauſen, und das Laſter wird erbleichen, Schuz ſuchen unter den Bergen, und ihn nicht finden.

Aber an euch, die ihr berufen ſeid zu Ver - weſern des Erdbodens, die ihr als Vaͤter fuͤr das Wol des Landes ſorgen ſollt, an euch ergeht der Ruf der Vorſicht ſchuͤzzet auch hier die beleidigten Rechte der Menſchheit entwurzelt das Unkraut, daß es nicht die fruchtbare Saat erſtikke, rottet ſie aus die ſchaͤndliche Brut, die am Mark des Lan - des nagt, die eure Soͤhne entmannet, und eure Toͤchter entehret, die gegen alles Ge - fuͤhl des Guten und Edlen abgeſtumpft, in der Huͤlle der Finſterniß wuͤrgt, und Gottes ſchoͤnes Bild zertruͤmmert, reiſſet ſie nieder die Saͤulen der Wolluſt, zerſtoͤrt die Haͤuſer der Unzucht, wo Ehre und Ruhe auf ewig verloren wird, wo ſchrek - liche Seuchen hauſen, und der Tod ſeine Magazine fuͤllt.

Jhr wollt ja euer Land angebaut und bevoͤl - kert haben, und doch verſtopft ihr die Quellen der Entvoͤlkerung und Markloſigkeit nicht, wozu222 lokt ihr fremdes Geſindel, die andere Laͤnder ausſpeien, in eure Staaten? da die Erfahrung lehrt, daß ſie die Eingebornen verderben, und ſchaͤdliche Sitten unter ſie verbreiten, daß ſie ſich vom Betruge naͤhren, und wenn ſie alles um und neben ſich oͤde gemacht, alle Quellen des Fleiſſes und der Betriebſamkeit verſtopfet, und das Land ausgeſogen haben, in andere Laͤnder fliehen. O gewis, die guͤtige Mutter Natur verlaͤßt kein Land mit ihrem Segen, wenn wir ihn nur benuzzen, wenn wir ihr nur nicht entgegen ar - beiten, und ihre weiſen Plane vereiteln. Durch ihren Einfluß ſind wilde Gegenden angebaut, und bevoͤlkert, wuͤſte Ruinen zu lachenden Auen umgeſchaffen worden. Sie gibt einem jeden Lande ſo viel innere Produkte, ihre Bewohner zu naͤhren, und laͤßt ſo viel Menſchen erſtehen, als koͤnnen ernaͤhrt werden, wenn ſie nur nicht laͤſ - ſig und traͤge ſind, wenn ſie ſich nicht, wie Hi - berniens Bewohner, der Traͤgheit und dem Muͤſſiggange ergeben, wenn ſie ſich nicht auf dem Lager der Wolluſt entnerven, und ihren geſun - den und ſtarken Gliederbau mutwillig zerſtoͤren was hilft das reizende Thal, das bluͤhende Ge - filde? was helfen die einladenden Eliſiumsſzenen223 der Natur, wenn wir fruͤhe den Koͤrper verwol - luͤſtigen, und als traͤge, und an Seel und Leib entkraͤftete Menſchen in Gottes ſchoͤner Welt um - her ſchlendern? Was helfen die rauſchenden Silberbaͤche, wenn ihr euch im Schlamm der Luͤſte waͤlzt was hilft der ſchmetternde Ton Philomelens, der von Thal zu Thal widerhallt, wenn ihr auf den verraͤtheriſchen Geſang einer Phryne lauſchet was kann die Natur dafuͤr, wenn ihr ihren weiſen Planen entgegen arbeitet? wenn ihr ihre Gaben gering ſchaͤzzet, und die Perlen vor die Saͤue werft.

Jhr Freuden der Liebe! die ihr die Her - zen erwaͤrmet, die ihr ſelbſt eine Wildniß zu ei - nem Tempe umbildet jener Rauſch der Seele, ſich anzuſchmiegen an ein edles Geſchoͤpf, ſich mit ihr zu verlieren in den unzaͤhligen Ab - ſtuffungen der idealiſchen und wirklichen Welt, von ihrem Arm umſchlungen, bluͤhende Fluren zu durchirren, und auch unterm Strohdach beim ſchwarzen Brod, uud einer Schaale Waſſer ſich ſo gluͤklich traͤumen, daß man ſelbſt eine Krone fuͤr nichts achten wuͤrde ſagt, Sklaven eurer Luͤſte! habt ihr je das empfunden? werdet ihr es jemals empfinden, kann eure ohnmaͤchtige224 Seele ſich ſo hoch empor ſchwingen, ohne vom Schwindel ergriffen, in gaͤnzlicher Erſchlaf - fung dahin zu ſinken. Jhr kennt die Liebe, jenen Hauch aus Gott nicht, denn ſie hat nie in eurem Herzen, dem Sammelplaz der Luͤſte und Begier - den Wonung machen koͤnnen, daher nennt ihr ſie auch ein Hirngeſpinſte, die Schwaͤrmerei und Dichterglut ſchuf, und dennoch lebt ſie in der Natur, und wirkt durch ſie alles entſteht, lebt, athmet durch ſie. Aber ihr berauſcht euch aus dem Kelch der Wolluſt, ſchwelgt im Arm der Bulerinn, bis alle eure Nerven erſchlafft, und der Koͤrper gaͤnzlich zernichtet, dahin ſinkt. All eure Sinne ſind mit Bildern der Wolluſt er - fuͤllt, und jene feinen Empfindungen, die ein Ausfluß der Gottheit ſind, ſind von euch ge - wichen, und haben den groben Beſtandteilen Plaz gemacht, die euch mit dem Thier in eine Klaſſe ſezzen.

Jhr Freuden des Vaters! den Erſtling ſei - ner Kraft auf ſeinem Schoos zu wiegen, das Pfand der Liebe an der muͤtterlichen Bruſt durch Kuͤſſe zu wekken, und ſich in jene Szenen der Freude, und der berauſchenden Wonne zu ver - ſezzen, da die Stimme erſcholl, dir iſt einSohn225Sohn geboren zuruͤk zu rufen jenen ſeligen Augenblik, da ihr die Mutter unter den Kindern Florens fandet, und ihr, Auge in Auge geheftet, Lippe an Lippe gedruͤkt, das Mein, ewig Mein! ſtammeltet; und nun die Frucht eurer Liebe ein neues Band, das euch doppelt an den geliebten Gegenſtand ſchmieget, das eure Seelen in einander webt, und zu einem We - ſen umbildet. Sagt’s Vaͤter! wie ſchwoll eure Bruſt, da ihr zuerſt den ſuͤſſen Vaternamen lallen hoͤrtet! Jch denke mir dieſen Augenblik als den ſeligſten Genuß, den die Vorſicht hie - nieden uͤber die Menſchenkinder ausgoß. Und nun jene ſuͤßen Stunden, wo eure Kinder ſich um eure Knie ſchlingen, und euch durch tauſend Arten des Biderſinnes entzuͤkken, wer kann ſie beſchreiben? wer kann jene Szene malen, wenn der Greis am Abend ſeines Lebens ſeine Kinder und Enkel um ſich her verſammlet, und ſagen kann, ſie ſind von mir entſproſſen, ich gab einer zahlreichen Nachkommenſchaft das Daſein ich bin der Stammvater einer Familie eines Menſchengeſchlechts, ſo Jahr - hunderte durch bluͤhen wird !

P226

Werdet ihr entnervte ſaftloſe Juͤng - linge! die ihr die ſichtbaren Spuren eures un - keuſchen Wandels auf der Stirne tragt, je dieſe Freuden erleben? dieſe Szenen herein - brechen ſehen? Jhr verpraſſet euer Gut mit feilen Dirnen, und durchſchwelgt Tage und Naͤchte in ihren Armen ihr hemmt den Lauf der Natur, und werdet im achtzehnten Fruͤ - ling eures Lebens ſchon Greiſe eure beſten Saͤfte ſind dahin, und in euren Adern rinnt ein verzehrendes Gift, ſo euch eure Phrynen reichlich ausſchuͤtteten ihr ſchleicht als Schat - ten in der buͤrgerlichen Geſellſchaft einher, ge - nießt die Vorrechte des Buͤrgers, und gebt keinem Buͤrger das Daſein, der euren Na - men fortpflanze.

Schließt ihr auch das Band der Ehe ohne Zuneigung, denn die iſt laͤngſt bei euch erloſchen aus niedern Abſichten, um eure verfallenen Gluͤksumſtaͤnde zu verbeſſern wehe dann dem bluͤhenden Maͤdchen, das in eure Arme ſinkt! man hat ſie mit einem Skelet verbunden, mit der Verweſung vermaͤlt das anſtekkende Gift dringt auch in ihr geſun - des Blut, und macht auch ſie zum Gerippe 227 Sie wird nie den Namen Mutter hoͤren, und als ein unſchuldiges Opfer der Suͤnden ihres ſchaͤndlichen Gatten dahin welken, und ihr klaͤgliches freudenleeres Leben enden. Was hatte ſie verbrochen, daß ſie ſo leiden muſte? Aber wehe dem, der Schoͤpfer dieſer Leiden war ſie werden ihn einſt anklagen, und wider ihn zeugen!

O Juͤnglinge und Maͤdchen meines Zeit - alters! ſeht, das ſind die traurigen Szenen der Wolluſt, die euch allenthalben aufſtoſſen, ſo loͤſcht dieſe Megaͤre, Schoͤnheit, Reiz und Jugend aus, und erzeugt Krankheit, Gram, ja ſelbſt den Tod in der Bluͤte der Jahre. Fuͤr euch hab ich dieſe Szenen entworfen ſie ſtehen euch ja immer vor Augen aufgedekt ſind ſie, und ihr habt immer die Wahl zwi - ſchen Segen und Fluch; o verlaßt den breiten Pfad des Laſters, und betretet die enge Bahn der Tugend. Jhr werdet Muͤhe haben, euch durch die Dornen zu winden, die eure Ferſen verwun - den, aber eure Muͤhe wird auch hienieden, und jenſeits mit Wucher belont werden. Jhr werdet zu kaͤmpfen haben, mit Natur in euch ſelbſt mit jenen Leidenſchaften, ſo in eurem Buſen lodern: aber wie ruͤhmlich iſt es, den Feind be -P 2228ſiegt zu haben, den Schweis von der heiſſen Stirne zu wiſchen, und auszuruhen am Ziel, von da zuruͤk zu blikken auf die rauhen Gebuͤrge und Thaͤler, die man mit Muͤhe erklommen, und nun vor euch, neben euch, uͤber euch Freuden die Fuͤlle bei eurem Aſchenkrug Traͤnen, und den Nachruhm: in dieſer Urne ruht der Staub eines Redlichen, eines Weiſen! und jenſeits den Schranken den ewig gruͤnenden Lorbeer, und die lauten Jubelgeſaͤnge der Vollendeten!

XI. Phanor! fuͤhlendes Herzens war der Juͤngling, und doch ſo ungluͤk - lich, daß er den Schauplaz verließ, ehe er abgerufen ward.

Liebe iſt der ſeligſte Trieb in der Natur, der Trieb, den der Allſchoͤpfer in alle Weſen gelegt, um ſie gluͤklich zu machen. Sie iſt die Quelle namenloſer, nie verſiegender Freuden, fuͤr den, den ſie mit ihren Guͤtern uͤberſtroͤmt. Ja alle229 groſſen und edlen | Handlungen entſpringen aus dieſer Quelle, die ſo ſanft, ſo lauter |durchs Thal des Lebens hinſtroͤmt, uͤber Kieſel hinweg rau - ſchet, und durch tauſend Kruͤmmungen hindurch, zum Ziel des Gluͤks leitet. Aber wie oft verſiegt dieſer Born des Lebens, wird durch Menſchen verſtopfet, durch Menſchen in ſeinem Lauf ge - hemmt! Da ſchleichen der ermatteten Pilger ſo viele am Ufer, ſuchen Blumen, und finden keine, ſuchen Schuz vor der Schwuͤle des Tages, und kein Strauch ladet ſie zur Ruhe ein; ſchmachtend ſehnen ſie ſich nach einem Tropfen aus dem Bach, und er plaͤtſchert nicht, ſehnen ſich nach Ruhe, und ſie entflieht, und laͤßt ſie troſtlos in oͤder Wuͤſte allein. Alles iſt ſtumm und tod um ſie her, kein gefiederter Saͤnger laͤßt ſein Lied durch die Luͤfte erſchallen, nur die heiſere Grille zirpt ihren einfachen Trauerſang. Viele wandeln ohne Mitleid voruͤber, und achten ihrer nicht; ſie wagen es nicht, Huͤlfe von Menſchen zu er - flehen, und wie koͤnnten harte gefuͤhlloſe Men - ſchen ihnen das wieder geben, was ſie verloren, und was nie kann erſezt werden! Traurig ſchlei - chen ihre Tage unter Seufzer und Thraͤnen geteilt dahin, bis der Tod ſich ihrer Leiden erbaͤrmet,P 3230und ſie dieſer Szene entruͤkt. Aber oft iſt auch Verzweiflung ihr Loos Verzweiflung nagt am Herzen, macht finſter und wild Ver - zweiflung verwiſcht alle Zuͤge der Menſchheit Verzweiflung gibt das Werkzeug in ihrer Hand, ſich ſelbſt das Leben zu kuͤrzen ſie fal - len, wie das Gras unter der ſchneidenden Si - chel. So viele wallen voruͤber, entſezzen ſich ob der That des Selbſtmords, und kennen das menſchliche Herz nicht, wie es in die Enge getrie - ben, und von zalloſen Leiden ſo gemartert wer - den kann, daß es dem Tode, als ſeinem einzigen noch uͤbrig gebliebenen Freund und Retter, in die Arme ſinkt. Da ſprechen ſo viele mit rich - terlicher Strenge das Verdammungsurteil, und richten den Bruder, der im kuͤhlen Schoos der Erde, entlaſtet von allem Kummer, ruht, und der keine Appellation gegen den Richtſpruch hienieden mehr einreichen kann.

O, daß ihr blinde Richter! den Schall der Worte des groͤſten Lehrers der Menſchheit, vernehmen moͤchtet richtet nicht, ſo wer - det ihr auch nicht gerichtet. Du aber, weiche Seele! die du Thraͤnen haſt fuͤr menſch - liche Leiden, die du bei dem Fall eines deiner231 Bruͤder geruͤhrt gen Himmel blikkeſt, und dei - nen Schoͤpfer anfleheſt, laß mich nicht ſin - ken, leite mich durch Dornengefilde mei - nes Erdenwallens, und geus einen Tropfen der Ruͤhe und des Troſtes in meine matte Seele, wenn ſie ſich in der duͤrren Sandwuͤſte vergebens nach Huͤlfe ſehnet ! Fuͤr dich, Bruder - oder Schweſterſeele! will ich eine Geſchichte nieder - ſchreiben meine noch troͤpfelnden Thraͤnen ſol - len ſich mit den deinigen vermiſchen, und das welkende Gras auffriſchen, das auf dem Huͤgel des Ungluͤklichen ſproßt.

Jch hatte einſt einen Freund, nicht in dem Sinn, wie die Welt oft dis Wort nimmt, ſon - dern wie die wahre Freundſchaft es heiſchet. Phanor mag er heiſſen, um ſeinen Namen nicht dem Spott der Fuͤhlloſen auszuſezzen. Wir fanden und liebten uns; das ſimpathetiſche Band, jenes ſuͤſſe Einverſtaͤndnis zwoer Seelen, kettete uns ſo innig, ſo feſt, daß menſch - liche Kraͤfte zu ohnmaͤchtig waren, es aufzuloͤſen. Wir hatten alle Empfindungen, alle Wuͤnſche gemein, eben der Hang, der mich zu dieſer und jener Wiſſenſchaft hinzog, eben die Simptomen, die bei mir rege wurden, wann die GeſchichteP 4232der Vorwelt, mir groſſe und edle Thaten entzif - ferte, eben der Durſt nach Warheit das Ringen und Streben nach Licht und Recht alles war bei ihm in einem noch weit groͤſſern und uͤberflieſſendern Maaſſe. Jn ihm ſchlug ein warmes Herz fuͤr Religion ſein ganzes Le - ben war eine Apologie der Tugend ſein ganzes Leben der Ausbrnch edler Triebe edler Leidenſchaften. Seine Empfindun - gen waren gluͤhend und ſtark, ſie ergoſſen ſich gleich dem Strom, der im Fruͤling ſein Bette verlaͤßt, und uͤber gruͤne Wieſen hinweg rau - ſchet er hatte Thraͤnen fuͤr das Elend, das uͤber uns alle ausgegoſſen iſt, er ſuchte es zu mildern, und Freude und Roͤthe auf blaſſe Wangen zuruͤk zu leiten. Die Natur war bei ihm eine nie ver - ſiegende Quelle von Freude und Genus, er trank aus ihr Fuͤlle des Herzens, Freude ſonder Maas; die guͤtige Mutter Natur zeichnete ihm den Pfad ſeines Wallens vor, und er hing an ihr, wie der Saͤugling an der Bruſt ſeiner Ernaͤhrerin. Er ſah das Purpurlicht des Tages im Oſten herauf - daͤmmern, ſah die majeſtaͤtiſche Sonne dem Meer entſteigen, und mit ihr ſtieg ſein Gebet zum Thron des Allvaters er ſah, wie ſie ſich233 neigte, uud den Gegenſtaͤnden um ſich her Schimmer und Glanz lieh wie tauſend ge - fiederte Saͤnger ſich an ihren lezten Stralen lechzten auch er lechzte ſich an ihrer allbeleben - den Fuͤlle, ſein Herz ward zu einem unnennbaren Gefuͤhl hingeriſſen, groſſe Thautropfen entſtuͤrz - ten dem trunknen Auge, fielen aufs zitternde Gras, und geleiteten ihren Niedergang. Dann beſuchte er ſtille Haine, durchirrte Wald und Wieſe, und that heiſſe Geluͤbde fuͤr Tugend und Rechtſchaffenheit. Der Urquell der Natur, aus dem alles ſtroͤmt, lebt und iſt, ſah ihn wan - deln, ſah ihn hingeworfen auf gruͤnenden Ra - ſen, und gos Freuden in ſein Herz, Freuden, die kein Pinſel ſchildern, die keine Sprache aus - druͤkken kann, die dem Alltags-Menſchen ein Raͤtſel, dem Fuͤhlloſen ein Maͤrchen ſind.

So war mein Freund, nur eine ſchwache Kopie ſeines Selbſts nur Schatten, und hin - term Schatten volle lichte Klarheit, die das ſchwache ungewonte Auge blendet.

Wie muſte er mit dieſem offnen Herzen al - les umfaſſen, mit welcher Waͤrme und Drang muſte er ſich an das ſchmiegen, wo ihn ſein Ge - fuͤhl hinzog, worauf alle ſeine Erwartungen,P 5234ſein Sehnen gerichtet war! Dis zu beſchrei - ben, vermag die Feder nicht, das kann ſie nicht. Und nun denke dir, fuͤhlende Seele! ſeine Erwartungen getaͤuſcht, ſeine Hofnungen betro - gen zu ſehen, denke dir, ſein Herz aufs hoͤchſte geſpannt, mit zehrendem Enthuſiasmus nach einem Jdeal zu ringen, und es nicht zu erreichen, nicht liebevoll in ſeine Arme zu ſchließen. Er hatte noch nie geliebt, zwanzig Fruͤlinge waren ihm unter den Haͤnden der Muſen hinweg ge - eilet; ſtaune nicht, Geiſt meines Zeitalters! es war nicht Mangel an Gefuͤhl fuͤr Liebe, nein, es war Mangel des Gegenſtandes der Liebe. Die Freundſchaft hatte die Leere ſeines Her - zens ausgefuͤllt, eine Luͤkke blieb immer, aber wo lebte das Weſen, das dieſe Luͤkke ausfuͤllen konnte. Wie konnte er mit der vollen Bruder - liebe in der liebevollen Natur herum wandeln, und nicht auch Liebe empfinden. Er empfand ſie gewis, ſtaͤrker und gluͤhender als der gewoͤnliche Menſch, der die Stillung eines thieriſchen Trie - bes fuͤr Liebe nimmt. Aber da er nur nach er - habnen Karakteren geizte, nach einem Jdeal weiblicher Vollkommenheit rang, das die Tugend einer Clariſſe, und den Geiſt einer235 Pamele beſaß, wie oft muſte ſein Auge verge - bens herum irren, wie oft muſte er am Abend des Tages, auf einſamen Lager ſich den Gedan - ken entfalten, ich fand ſie nicht! Jn dieſer Stimmung ſeines Herzens, uͤberraſchte ich ihn oͤſters im einſamen Hain, ſah die Thraͤne im Auge zittern, und las in ſeiner Seele,

Jch fand ſie nicht, die mich begluͤkket haͤtte,
Die ich dafuͤr geliebt und angebetet haͤtte,
Jch fand ſie nicht! O Herz! dem meinen gleich,
Wie meines gut, wie meines weich,
Wo lebeſt du?
Jn welchem Hain, in welchen Blumengruͤnden,
Soll dich mein wonnetrunknes Auge finden.

Er fand ſie, die beſte weibliche Seele, das Bild ſeiner Fantaſie, muſte es finden, um elend zu werden. Doch wozu eine todte Be - ſchreibung ſeiner Empfindungen ſeiner Wuͤn - ſche, wozu das? da wir ihn ſelbſt reden laſſen koͤnnen. Jch fand verſchiedene zum Teil unvol - lendete Briefe und Aufſaͤzze unter ſeinem Nach - laß, und ich teile einige Stuͤkke, ſo weit ich ſie ergaͤnzen konnte, mit, um den Zuſtand ſeines gepreßten Herzens kennen zu lernen, und dann236 mit mir, ſeinem Schikſal eine Traͤne des Mit - leids zu weihen.

Jm May 1781. Jch genieſſe, Beſter! die Freuden der Jahreszeit im vollen Maſſe. Da iſt kein Thal, kein Huͤgel, den ich nicht ſchon durchſtrichen. Jch freue mich ſo des Sumſens und Lebens der Geſchoͤpfe unter einander, und weine Dankeszaͤren, daß ich fuͤr dieſes alles Sinn und Gefuͤhl habe. Da hab ich mir dann auch ein Lieblingsplaͤzchen erkoren, ſo ſchaurig und ein - ſam, wo ſelten der Fuß eines Wanderers ſich ver - irrt hohe Eichen und Buͤchen umſchatten es, und verſagen der mittaͤgigen Sonne den Zutritt; ein kleiner Huͤgel im wallenden Graſe, den Tau - ſendſchoͤn, und Vergißmeinnicht umkraͤnzen, iſt mein Lager, und Petrarch und Oſſian ruhen neben mir Ach! koͤnnteſt Du mich da einmal in meinem ſuͤſſen Taumel belauſchen, wie ich Deinen und Cidlis Namen in die harte Rinde der Buͤche ſchneide, und mich wie ein Kind freue, wenn ſie gut geraten! koͤnnteſt Du aber auch die heiſſen Thraͤnen ſehen, die dem Auge entſtroͤmen, wenn mich das Gefuͤhl uͤber - mannet, daß ich einſam bin, daß ich noch nicht fand, was meine Seele ſo eifrig ſucht! Alles in der Natur iſt Liebe, wo mein Auge hinſchaut, fuͤhlt es den Einfluß dieſer allbelebenden Kraft;237 alles haucht den Geiſt der Liebe. Jeder Vogel fiu - det ſeinen Gatten, jedes Thier paart und gattet ſich, und lebt eintraͤchtig in der Luft, auf der Erde, und im Meer nur ich bin ganz verlaſſen, allein in Gottes ſchoͤner Welt. Selbſt das dunkle Epheu ſeh ich den Stamm der mooſigten Eiche liebevoll um - ſchlingen, und da ſteh ich, Armer, blikke es an, und moͤchte mich eben ſo an ein Geſchoͤpf ſchmiegen. Da pocht es dann in meiner Bruſt, als wollt es ſie zerſprengen, bis eine Flut von Thraͤnen dem gepreß - ten Herzen Luft macht, und das Lied des frohen Haͤnflings mich erheitert.

O mein Freund! auch ich moͤchte mit dem ſeli - gen Hoͤlty ausrufen, wuͤrde mein heiſſer Seelen - wunſch Erfuͤllung, fuͤhrte ein guͤnſtiges Geſchik mich der entgegen, deren Bild des Tages vor mir ſchwebt, und des Nachts mir die Seele mit Entzuͤkken fuͤllt Seliger Augenblik! mir fuͤr nichts zu theuer, mit allem Gold von Peru nicht zu erkaufen! O dann wuͤr - de ich den Fruͤling noch ſchoͤner fuͤhlen, beſſer meinen Schoͤpfer in jedem Halm, in jeder Knoſpe ſchauen und lieben . Sollte die Vorſicht dieſes Sehnen mei - nes Herzens nicht einſt ſtillen? ja ſie wird’s, aber ob fruͤhe oder ſpaͤt, iſt mir ein geheimnisvolles Dunkel.

Natur! allguͤtige Mutter! ſei mir alles, be - ruhige, troͤſte mich; wenn meine Sonne erliſcht,238 und unter truͤbe ſchwarze Wolken ſich birgt, wenn alles zuſammen ſtuͤrzt, meine Ruhe zu untergraben, und ich ſchwer aufathmend mich nach Erloͤſung ſehne, wenn giftige Verleumdung meinen guten Namen verfaͤlſcht|, meine Redlichkeit in Zweifel zieht, und die mir ſonſt wol wollten, ſich von mir trennen, ſo verlaß Du mich nicht, ſtrekke Deine Arme aus, und nimm den Verſtoſſenen auf, und gieß in ſeine matte Seele einen Tropfen der Ruhe und des Troſtes, darnach ſie lechzet! Ja Freund! es gibt ein Gefuͤhl, das ſtaͤrker iſt, als alle welt - liche Ehre uud Glanz, ſtaͤrker, als alle eitlen Grund - ſaͤzze und Vorurteile, dadurch ſich Menſchen einan - der ihr Leben verbittern, es verſichert mich, daß man das vollkommenſte Gluͤk, fern von der Welt, und ihren Freuden, fern von jenen ſteilen Klippen des Ruhms, daran ſo viele ſcheitern, nur in der Einfalt der Natur ſuchen und finden kann.

Wenn ich den laͤndlichen Bewoner ſehe, ſo ſor - genlos und frei, ſo zufrieden mit dem, was ihm die Natur mitteilt, ohne Drang nach gluͤklichern Tagen, ohne Sehnen nach Ruhm und Groͤſſe, dann entſteht der Gedanke in mir ſo lebhaft und feurig: moͤchteſt du ihm gleich ſein, moͤchteſt du wie er mit der Natur wandeln, dich herum taumeln in den Wolgeruͤchen der Schoͤpfung, dich am fallenden Bach lagern, und unter ſeinem Rauſchen, und dem239 Wettgeſang der Lerchen, dich gluͤklicher fuͤhlen, als der Beherrſcher zalloſer Voͤlker!

Die Wege der Natur ſind Friede, und wo ſie wandelt, da ſprieſſen Blumen; wol dem, der ſie pfluͤkt, keine auf dem Wege ſeiner kurzen Wallfart zertritt, ſondern alles nimmt, was er abreichen kann! wol dem, der ſie noch fluͤkken kann, dem ſie nicht bloß von jenem Geſtade winken, ohne daß er ſie erreichen kann.

So iſt es denn wahr, was ich nicht wagte, mir ſelbſt zu geſtehen, daß ich liebe? und das ſo warm, ſo gluͤhend, daß Worte zu arm ſind, es zu faſſen. Armes Herz! ſo biſt du nicht mehr mein, wirſt vielleicht eine Klippe, an der Gluͤk und Ruhe ſchei - tert! Jch gehe oder ſtehe, ſchlafe oder| wache, ſo ſteht ihr Bild vor mir, ſo hehr und groß, wie es die Fantaſie ausfuͤllen kann. Jn allen meinen Adern rinnt kein Blutstropfen, der nicht ihr entgegen wallte, in meinem Kopfe ſchwebt keine Empfin - dung, die ſich nicht zu ihr erhuͤbe. Ach! wie iſt mein Herz ſo beklemmt und traurig! meine zitternde Lippe wagts Toͤne zu ſtammeln, aber ſie ſind wie der ſchwache Hauch eines Zephirs, den ein kuͤhler Herbſtmorgen verſcheucht. Wie es tobt in meinem Jnnern mit wuͤtenden Schlaͤgen, als wollt es meine Bruſt zerſprengen, ich ſchmachte und lechze, und240 wo iſt Waſſer, wo iſt Regen, die welkende Pflanze zu erquikken, daß ſie nicht ihr Haupt ſenkt und ſtirbt*Wer ſich jemals in der Lage befunden, warum mein Freund war, der wird dieſe Empfindungen nicht für über - ſpannt halten, und für die unbefugten Richter menſch - licher Gefühle brauchts keiner Zurechtweiſung.? Meine Ruhe, jene ſtolze Ruhe, die mich zu jeder Arbeit ſtaͤhlte, Mut und Staͤrke gab, den Stuͤrmen der Welt zu entgehen, wo iſt ſie? wo die Zufriedenheit? wodurch ich jeden Gram weglaͤcheln, und ſelbſt Wuͤſteneien zu lachenden Thaͤlern umſchaf - fen konnte. Armer Juͤngling! kannſt Du ſo tief fallen, wirft ein einziger Blik Dich ſchon zu Boden, wie dann, wenn du Eine Luft mit ihr athmen, und Dich ſtundenlang an der Blauͤe ihrer Augen weiden koͤnnteſt, wie dann? wenn Du nicht Gegenliebe faͤn - deſt. O ermanne Dich, ruf ſie zuruͤk die goldenen Tage Deiner Jugend, wo Du in Unſchuld und Friede wandelteſt, und nichts Deine Ruhe erſchuͤt - tern konnte. Doch ihr ſeid fuͤr mich dahin, auf ewig dahin, und das bloſſe Ruͤkerinnern an euch er - preßt mir Thraͤnen. Daß ich ſie ſehen muſte! Sah ich nicht ſo manche ihrer Geſpielinnen mit kaltem Blik, und mein Herz fuͤhlte nichts? warum muſte ich nun eben bei ihr verweilen? muſte Bilder mei - ner Seele eindruͤkken, die nie, niemals werden ver - wiſcht werden?

241

Jhr Bild, ſchwebt es nicht immer vor mir, ſo liebevoll, ſo gut, ſo in ſeiner ſtillen Groͤſſe, ſo ganz der Abdruk der beſten weiblichen Seele, das edelſte Geſchoͤpf, daß das allmaͤchtige Werde aus dem Chaos ins Leben rief! wenn bei ihr nicht Tugend und Unſchuld wont, ſo wonen ſie nirgends, und ſind leere Namen. Daß ſie Mein waͤre, daß ich ſie mit offenen Armen umfangen, und Mein nennen koͤnnte! Hier liegts, ich waͤhne, und ſchaffe mir lachende Bil - der der Zukunft, wie ich mit ihr den Fruͤhling feiern, in ihren umſchlungenen Armen lachende Thaͤler durchirren werde und es ſind nur Traͤume, die eine erhizte Fantaſie vor meine Seele ſchuf, die der Morgen mir entfuͤhrt. Gott! Vater! und Herr meines Lebens! du gabſt mir ein fuͤhlendes Herz, gabſt mir ſtille ſanfte Zaͤren fuͤr die Unſchuld, Teilnahme an fremden Schmerz, lehrteſt mich den Pfad der Wolluſt fliehen, und die Tugend auch im Gewande des Bettlers verehren! O! ich hab Sie ge - funden, die mir die Welt zum Paradieſe ſchaffen, und die die Leere meines Herzens ausfuͤllen koͤnnte, fuͤhre ſie zu mir, Urquell der Liebe! und mein gan - zes Leben ſei ein beſtaͤndiger Gehorſam, ein ſtetes Ringen, deine Geſezze zu erfuͤllen.

Stiller Mond! ſei mir gegruͤßt, ſei mir heute am lezten Tage des Wonnemonds gegruͤßt, ſtroͤmeQ242Ruhe und Troſt auf mich herab, und erquikke die ermattete Seele, die ſich vergebens nach Huͤlfe ſeh - net. Wie ſogar anders iſt es jezt mit mir, als es ehedem war, denn da hatte ich noch ein Herz, es war mein, zwiſchen der Natur und dem redlichen Freunde teilte ich es, aber nun iſt es nicht mehr mein Eigentum, es iſt mir entriſſen, und wer ent - riß es mir? O! daß ich es zuruͤk rufen muſte das Bild, das ſich nur zu oft vor meine Seele draͤngt, das wachend und traͤumend meine Einbildungskraft beſchaͤftigt, das mich vergeſſen macht, daß ich ein Menſch bin; und bin ich’s jezt nicht mehr als je - mals, der ſchwache huͤlfloſe Menſch? der bald nichts mehr ſein wird, als ein waudelndes Gerippe, ohne Kraft und Taͤtigkeit, ohne Anhaͤnglichkeit an das, was gut und edel iſt; und doch fuͤhl ich oft einen aufwallenden Mut, den lezten Funken der ſich er - hebenden Mannheit, mir die verlorne Freiheit zu er - ringen aber dann wieder ein Blik von Jhr, und ich bin elender, als zuvor, bin ein ſchwaches Rohr, mit dem der laue Weſt ſein Spiel treibt; immer rufe ich meiner Seele zu Morgen ein Tag, und wieder ein Tag, und es wird anders werden aber es iſt nur ein ſchwacher Laut der truͤgeriſchen Hofnung, die mir zuliſpelt, du wirſt noch gluͤk - lich ſein ! Und wuͤrde ich auch noch ſein, was ich bin, wenn Hofnung nicht meinen Pfad mit Roſen243 beſtreute, und mir von ferne das Ziel zeigte, das ich einſt, oder niemals erreichen, dem ich fruͤh oder ſpaͤt zueilen werde? Schoͤpfer meiner Tage! du allein weiſt es, ob mein Leben eine Quelle der Freude und des Troſtes, oder des Traurens ſein ſoll, du allein haſt den Faden meines Gluͤks, meines Lebens in deiner Hand, zerreiß nie den erſten, ohne den an - dern getrennt zu haben! denn was waͤre das Leben ohne ſie? ein ewiges Abarbeiten der Kraͤfte, die ſich unter einander zerſtoͤren, ein ewiger Krieg der leidenden| Seele mit einem ſchwachen Koͤrper, und wann die Seele leidet, ſo faͤllt der ganze Bau, ſinkt und ſtuͤrzet ein.

Alles Freude um mich her und Wonne, jedes Geſchoͤpf vom Meuſchen bis zum Wurm laͤchelt dem kommenden Fruͤhling entgegen, und fuͤhlt neues Leben und Ruhe. Wenn ich doch auch von mir ſagen koͤnnte; ich freue mich der Schoͤpfung, und hauche das gluͤhende heilige Leben der Natur ein, das un - ſere Erzvaͤter ſo gluͤklich machte.

Da ich noch Knabe war, und unter den Blu - men des Mais unvermerkt zum Juͤngling reifte, da konnte ichs. Aber nun du, Liebe, Stoͤrerinn mei - ner Ruhe, in mein Herz geſchlichen biſt, nun iſtQ 2244alles anders, als es ehedem war ich bin kalt, fuͤhllos gegen die Freuden um mich her, antworte der Mutter nicht, wenn ſie ruft, und ihre Gaben ihren duͤrftigen Kindern mit verſchwenderiſcher Hand ausſpendet; ich gehe voruͤber wie ein Tau - melnder, und achte nicht der einladenden Blumen, der duftenden Viole des rieſelnden Bachs. O Mut - ter Natur! zuͤrne nicht, wenn dein Sohn nicht in deine offne Arme ſinkt, gib ihm ſeine Ruhe wie - der, und er iſt wieder ganz dein Sohn; an deinem vollen Buſen will ich dann ausruhen, und in ſuͤſſen Traͤumen hinuͤber ſchlummern in die lachenden Auen, wo Semide die erſte Roſe bricht, und ihrem Se - lim liebevoll in die Arme ſinkt. O Fantaſie! daß du ſo wirkſam und geſchaͤftig ſein muſt, ihr Bild immer vor meiner Seele zu fuͤhren, daß ich nichts denken kann, als ſie, und darin Troſt ſuche, daß meine Blikke ihr entgegen taumeln, und ſchuͤchtern zur Erde eilen, wenn ſie meiner nicht achtet. Nicht achtet? Gedanke! wer ſchuf dich? weiß ſie die reine Flamme, die in meinem Jnnern lodert, die mein ganzes Weſen durchgluͤht, und alle Saͤfte austroknet? vielleicht ahndet ſie nicht, daß ein Juͤngling ſie nach ſchmachtet waͤhnts nicht, daß ſie ſein Herz geraubt hat ſoll ſie es nie wiſſen? ſoll ſich dis Herz, das ſo warm, ſo gefuͤhlvoll in mir ſchlaͤgt, abkuͤmmern, und im langſamen Jam -245 mer vertroknen? ſollen Verhaͤltniſſe und ſklaviſche Vorurteile mich abhalten, mir meine Ruhe wieder zu erkaufen? Nein, ich bin ein deutſcher Juͤng - ling; wozu Schleifwege! wo man ſich nicht ſcheuen darf, die Heerſtraſſe zu wandeln? warum ſollten mich laͤcherliche Vorurteile, und ein ſklaviſcher Wolſtand, den harte Seelen ſchufen, ſich ihr Le - ben abzukuͤmmern, zuruͤk ſcheuchen, mich ihr zu nahen, und ein Herz zu enthuͤllen, das ſchuldlos und rein iſt? Dank dir, Schoͤpfer meiner Tage! daß ich es ihr anbieten kann, unbeflekt und rein, von keiner ſchnoͤden Luſt entweiht, zwar nicht fehler - frei, aber doch nie gewichen von der Bahn der Un - ſchuld. Oft wallte mein Blut in den Adern, als wollt es ſie zerſprengen, jede Nerve zukte, ich horchte auf den Sirenenton, wankte bebte wollte fliehen, und ſtand wie angewurzelt da aber du warnteſt mich, Genius der Unſchuld! nahmſt die Binde vom bloͤden Auge, und ich ſah Gerippe im rauſchenden Taft gehuͤllt, hole Augen und ſchlei - chende Schatten der geſunkenen Menſchheit: da floh ich den Geruch der Narden und Salben, und jam - merte im Stillen uͤber das menſchliche Elend, that aber ein Geluͤbde vor dem Angeſicht der Gottheit, der Tugend treu zu bleiben bis auf den lezten Hauch meines Lebens! Und ſo habe ich immer mein Herz rein und unbeflekt erhalten, ſo ſchwer derQ 3246Kampf mit mir ſelbſt, ſo ſchwer er mit der anlok - kenden Welt zu kaͤmpfen war*Viel geſagt von einem Jungling in unſern aufgeklärten Zeiten, wo der Knabe eher die Geheimniſſe der Cytherea, als ſeinen Catechismus kennt, und wie ein Ovid von Liebe ſchwazt aber ſollten lauter Cinifer und Epiku - räer unter uns wandeln? Das wäre traurig für die Menſchheit! .

Wenn ich aber dann oft einſam und allein im dunkeln Buͤchengang irrte, beſchlich ein gehei - mer Kummer mein Herz, ich ward eine Traurigkeit im Anziehen gewahr, und fuͤhlte heiſſe Zaͤren die Wangen herab gleiten, die ein gepreßtes Herz ent - lokte. Da warf ich mich auf den erſten Raſen im lezten Schimmer der ſinkenden Sonne nieder, und bat den Schoͤpfer der Natur um Liebe, um eine Cidli. Der gaukelnde Weſt flatterte dnrchs dunkle Laub, und ſaͤuſelte dann Rnhe und Troſt in meine Seele. Jch ſtand dann immer mit dem heitern Ge - danken auf, daß der Urquell der Liebe meine Traͤnen ſehen, und einſt alle mit Wucher vergelten wuͤrde; und nun habe ich ſie gefunden unter der groſſen Zal ihrer Geſpielinnen, habe den Schaz, den ſo wenige finden, und ſoll ihn nun verlaſſen, und einen andern mit der erhaſchten Beute triumphirend davon eilen ſehen? Nein! warum ſoll mein Geiſt den Gedan - ken, den heiſſen Gedanken an ſie nicht ausdenken? warum ſoll er nicht ſeine Empſindungen vor ſie aus -247 ſchuͤtten, und ihr ein Herz darlegen, wie es iſt, mit all ſeinen Fehlern und Maͤngeln, aber auch mit dem heiſſen Wunſch, ſie ſo gluͤklich zu machen, als menſchliche Kraͤfte es erlauben? Jch will’s feſt ſteht er in meiner Seele, der Entſchluß, ihr alles zu entdekken, meine Wuͤnſche, meine Hoff - nungen. Das Gluͤk laͤchelt ja nur dem, der es ſucht, und nicht laͤſſig und traͤge den Schnekkengang zum zum Ziele ſchleicht. So eilt dann hin, Zuͤge von mei - ner Hand gebildet, die Liebe und Sehnſucht mir in die Feder warf, und wenn ihre Bruſt hoͤher ſchlaͤgt, Wolwollen und Teilnahme ihr ſanftes Herz be - ſchleicht, ſo ſei der Augenblik geſegnet, da ich euch entwarf, ſo ſei der geſegnet, der mich zuerſt dieſe Zuͤge bilden lehrte!

Alles ſo ſtill, ſo feierlich ſchweigend um mich her, der Mond ſchimmert truͤbe und bleich unter dun - keln Wolken hervor, und wirft einen matten Schim - mer uͤber die Waͤnde meines einſamen Zimmers. Die heiſere Grille zirpt ihr melancholiſches Lied, dumpf ſchallts aus dem Gemaͤuer mir entgegen, und bringt duͤſtere Bilder der Schwermut vor meine Seele. Ach! was iſt, was ich gelebt habe? und was werde ich noch leben? Die Zeit der froͤlichen Jugend ver - rinnet, | wie der Sand im Stundenglaſe, und derQ 4248Juͤngling ereilt die maͤnnlichen Jahre, und wird nach und nach ſtumpf fuͤr alles Vergnuͤgen um ihn her. Auch ich habe meine beſten Jahre vertraͤumt es war ein ſuͤſſer Traum, er beſchleicht mich noch manchmal, aber die Bilder der gaukelnden Fantaſie ſind nicht mehr Gefilde, wo Roſen duften, und Veilchen bluͤhen, ſondern ſchrofe Berge, unwirt - bare Thaͤler, und wuͤſte Sandſchellen, wo keine Blume bluͤht, kein Vogel ſchwirrt. Und wenn man dann noch Mut und Staͤrke hat, und Frieden im Herzen, und Ruhe in allen Saͤften und Gebeinen, dann huͤpft man uͤber Berge hinweg, und erklimmt nakte Felſen: aber wenn truͤbe duͤſtere Wolken uͤber unſere Scheitel hangen, wenn es ſtuͤrmt in unſern Herzen, und wir keine Staͤtte der Ruhe hienieden finden koͤnnen wenn die Roͤte der Wangen erliſcht, der ſtaͤrkſte Koͤrper znm Gerippe verfaͤllt, und ſelbſt das Bewuſtſein, es war eine Zeit, wo du gluͤk - lich warſt, zum Fantom herab ſinkt, wo nimmt man Staͤrke her, dem hereinbrechenden Uebel Mut und Entſchloſſenheit entgegen zu ſezzen? wo Stand - haftigkeit, wenn alles zuſammen ſtuͤrzt unſere Ruhe, unſer Gluͤk zu untergraben? Dis iſt gewis die traurigſte Epoke des menſchlichen Lebens, und ich naͤhere mich ihr, und werde ihr nicht entfliehen. Wenn jezt ſchon Stunden mich beſchleichen, wo ich die Buͤrde des Lebens fuͤhle, und ſie gern abſchuͤtteln249 moͤchte: wie dann, wenn der raſigte Schimmer ent - flieht, der noch manchmal, ſei es auch nur kurze Minuten, um mich flattert, wenn mein Herz ganz ausgetroknet, und keiner Empfaͤngniß der Freude mehr faͤhig iſt! Dieſe Szene wird bald herein bre - chen, ich waͤhne ſo etwas, und finde mich oft von ei - ner Traurigkeit uͤberraſcht, die mich unbrauchbar fuͤr alles um und neben mich macht. Jch ſuche dann das dikſte unbelaubteſte Gebuͤſche, wo ſelten der Fuß eines Wanderers ſich| verirrt, und denke Gedanken des Seins und Nichtſeins, denke an die Szenen, die verfloſſen ſind, und noch kommen ſollen. So vertiefe ich mich dann im Labirinte, bis die Daͤm - merung alle Gegenſtaͤnde um mich her verdunkelt, und ich ſo nach Hauſe hinſchlendre. Jch beneide den frohen Hirtenknaben, der auf ſeinem Stab ge - lehnet, ein Liedchen trillert, und bei allen Auftrit - ten der Natur gleich froh und munter bleibt, der ſich nichts dabei denkt, wann der Fruͤling herein bricht, nichts fuͤhlt, wann Schloſſen die geſegneten Saaten verwuͤſten, der weiter keine Sorge hat, als ſeinen Bauch zu fuͤllen, und ſeinen matten Gliedern wol zu thun im Arm des Schlafs.

Wer auch ſo leben koͤnnte! Freilich hieſſe dis, das Leben nur halb genieſſen, und wer genoͤſſe es nicht ganz ganz bis auf die Hefen?

Q 5250

Alles ſo dumpf, ſo kalt, ſo tod vor meiner Seele, und ich habe Niemanden, dem ich meine Leiden klagen, meinen Buſen oͤffnen, und ſagen koͤnnte, hier thuts wehe! Alles freut ſich deiner Ankunft, holder Lenz! alles lebt und webt von der guͤtigen Mutter Natur geleitet. Da bluͤhen Veilchen und Roſen, aber fuͤr mich keine, Dornen und Diſteln beſchatten meinen Pfad, und bange Schermut flicht den Kranz von Wermut fuͤr meine matten Schlaͤfe. So ſind ſie dahin geflohn, die Tage der Ruhe und Zufriedenheit, wo alles hin eilt! und welcher Sterbliche kann ſie mir zuruͤkrufen, kann die Sonne meines Gluͤks aus der duͤſtern Wolke hervor rufen, daß ich mich noch einmal an ihren alles erwaͤrmen - den Stral lechzen koͤnne? So ſollte dann der Quell der heitern Freude fuͤr mich verſiegt ſein? und truͤbe duͤſtere Wolken den Tag meines Lebens in ſchwarze Nacht huͤllen? und das ſo fruͤh, da ich noch nicht ausgelaufen bin zum Ziele, da ich erſt Thaten ins Leben rufen wollte, die meine Schulden dereinſt auf - wiegen ſollten! Noch nichts hab ich geleiſtet, was des Nachruhms wehrt waͤre, noch hab ich niemanden gluͤklich gemacht, aber ſei du mein Zeuge, groſſes All der Natur! welches Sehnen, welch heiſſer Drang oft in meiner Bruſt aufwallte, dereinſt zu bauen und zu wirken, zu meinem und anderer Gluͤk! 251Jch gelobte mir oft in einer gluͤklichen| Stunde, wo ich die leiſe Gegenwart eines hoͤhern Geiſtes fuͤhlte, fromm und rechtſchaffen durchs Thal des Lebens zu wallen, Traͤnen von den Wangen der Bedraͤngten zu trokneu, Ruhe und Freude um mich her zu ver - breiten. Gewis es war ein heiſſes Geluͤbde, mein Herz haͤtte es gewis erfuͤllt, wenn eben dis Herz, dis gluͤhende Herz, nicht die Klippe geworden waͤre, an der alle meine guten Entſchluͤſſe, Vorſaͤzze und Wirkungen ſcheitern muͤſſen. Ja mein Herz! es war eine Zeit, wol eine ſelige Zeit! wo du mir alles warſt, wo du mich am plaͤtſchernden Bach, am mur - melnden Quell, beim Geſange der Nachtigall, beim Bloͤken der muntern Heerde, beim Auf - und Nieder - gang der Sonne ſo gluͤklich machteſt, daß, wenn ein Fuͤrſt gekommen waͤre, und haͤtte eine Krone zu mei - nen Fuͤſſen gelegt, ich haͤtte ſie verworfen und fuͤr nichts geachtet. Da war ich reich, die ganze Natur gehoͤrte mir, und ich gehoͤrte der ganzen Natur Sie war mir Vater, Mutter, Bruder, Schweſter, Alles. Und jezt alles ſo kalt, ſo tod, kein Fuͤnkchen der Freude lodert fuͤr mich auf ach! ſie geſellt ſich nur zu den Gluͤklichen, und wallt unter Roſen - gefilden und Veilchenauen. Wann wird ſie mir wie - der erſcheinen in der Fuͤlle der Jugend, und neues Leben in meine Adern ſtroͤmen? Erſcheine bald, gluͤklicher Augenblik! denn ſonſt verſiegt der252 Quell des Lebens, und die Blume welkt, und ſtirbt.

Aus mit dir, kurzes Licht! Das Leben iſt nur ein wandelnder Schatten eine Spazierreiſe des Pilgers durch ungebahnte Wuͤſten. Willſt du ein Bild alles unſers Thuns hienieden haben, ſo nimm eine Seifenblaſe, ſie wird dir in hellen Farben ent - gegen ſpielen, hauche ſie aber an, ſo zerſtiebt ſie in alle Winde. Heute bluͤht das Veilchen auf, du freuſt dich ſeiner, und Morgen ſtirbt es vom ver - heerenden Nord dahin Heute wallſt du froͤlichen Muts uͤber den gruͤnenden Raſen, und morgen liegſt du matt und ſaftlos am Wege, der Wind pfeift durch Deine Lokken, und ein kalter Regen durch - naͤßt dein Gewand. So jammervoll und elend liegſt du auf dem Boden geſtrekt, daß du nicht einmal wagſt Huͤlfe von Menſchen zu erflehen, bis der Tod ſich deiner Leiden erbarmet, und dich austilgt aus dem Buche des Lebens. Ach! er war ſo mancher Leiden - der Freund, nur meiner erbarmt er ſich nicht, lie - ber klopft er an die Schwelle der bluͤhenden Jugend, und reißt das vollwangigte Maͤdchen aus den feſt umſchlungenen Armen der troſtloſen Mutter Nimm mich, Toͤdter des Grams, ſieh! ich bin reif, reif zur Aernte, denn meine Saͤfte ſind ausge - troknet, und ich ſage zur Verweſung, du biſt meine253 Mutter! und zu den Wuͤrmern, ihr ſeid meine Bruͤder! Was ſoll ich auch mehr auf dieſem Er - denrund? vegetiren wie die Pflanzen? denn zum Wir - ken fehlts dieſem Herzen an Kraft und Waͤrme. Jch verachte des Ruhmes Schellentand, und habe ſelbſt in gluͤklichen Tagen dieſem Goͤzzen keinen Weihrauch geſtreut. Die Ehre ruft mir, aber was iſt die Ehre? ein Spielzeug, womit man den Erwachſenen an - gelt. Dort winken mir ſteile Berge, daß ich ſie er - klimme, und nach dem Ziel jenſeits haſche. Aber was will ich Armer nach Hoͤhen ſtreben, da ich in den Thaͤ - lern nicht mehr wallen kann, da mein Blut matt in ſeinen Gaͤngen ſchleicht, und all meine Empfindun - gen bis auf die Empfindung der Vernichtung aus - geloͤſcht ſind. Nur dieſe Empfindung blieb mir, da alle dahin ſtarben, da die verachtete und gekraͤnkte Liebe zu mir ſprach, ſtirb, nie wirſt du meinen Freudenbecher koſten, nnd Blumen an meinem Geſtade pfluͤkken. Mit dieſer Empfindung werf ich mich auf dem raſtloſen Lager umher, und bitte mit Traͤnen den Urheber meines Daſeins, vernichte mich! So ſeh ich immer einen Tag nach dem andern werden und vergehen, und denke, das wird der lezte ſein. Aber auch darin muß ich getaͤuſcht werden, dem elenden Lebens entnommen, und quit zu werden, von all den druͤkkenden Laſten, die meinen Koͤrper zer - malmen.

254

Tod? Wie der Gedanke mich erheitert, wie er mich ausſoͤhnt mit der Welt, und mit den Menſchen, die mir das bischen Licht nicht goͤnnten, ohne das doch alles, was lebt, tod iſt!

Sterben? Wie lieblich das Wort lautet, es iſt ein wolklingender Laut fuͤr den, der nichts mehr zu verlieren, der alles verloren hat, der ſein Fahrzeug hat in den Grund bohren, und all ſein Gluͤk an einer Sandſchelle ſcheitern und ſinken ſehen. Aus alſo mit dir, kurzes Licht des Lebens? Moͤchteſt du doch bald erloͤſchen! Fort mit dir, qualvolles Daſein! moͤchte dich kein neuer Morgen mehr zu neuem Elend wekken!

So weit mein Freund. Genug fuͤr den, der den Gang ſeiner Empfindungen meſſen, und Leiden der Seele fuͤhlen kann, und zu viel fuͤr den, der alles fuͤr ſchwaͤrmeriſche Schimaͤren haͤlt, was nicht gerade zu auf die groben Beſtandteile ſeiner Sinne wirkt.

Was nun die Liebe meines Freundes ſelbſt, den Gegenſtand derſelben, und warum ſie uner - hoͤrt blieb, anbetrifft, ſo will ich meine Hand auf den Mund legen, und ſchweigen.

Seine Liebe war ſchuldlos und rein der Gegenſtand war gewis der heiſſen Liebe eines ſol -255 chen edlen Juͤnglings wehrt. Und warum ſie nicht Bluͤten und Fruͤchte trieb? gibt’s nicht Stuͤrme, die auch der Cedern nicht ſchonen? gibt’s |nicht tauſend laͤcherliche Vorurteile, im Mantel des Altertums gehuͤllt? gibt’s nicht Feſ - ſeln des ſklaviſchen Wolſtandes? und noch ſtand keiner auf, der ſie abgeſchuͤttelt, und auf immer zerbrochen haͤtte. Wol uns, wir waͤren ihrer entlaſtet! ſo wuͤrden der heimlichen Traͤnen we - niger flieſſen, ſo duͤrften ſich Juͤnglinge und Maͤdchen nicht abhaͤrmen, und im langſamen Jammer dahin ſchmachten und ſterben, ſo duͤrf - ten wir nicht ausrufen: Gott! was iſt der Menſch, wenn dein groͤſſeſtes Geſchenk, ein empfindſames Herz ſein Elend aus - macht, und eine Klippe wird, an der ſein Gluͤk, ja ſein Leben ſcheitert. O Juͤng - linge! denen die Natur ein weiches gefuͤhlvolles Herz zum Erbteil gab, die ihr aber auch zu kaͤmpfen habt, mit Natur in euch ſelbſt, wid - met euch fruͤh der Religion! ſie iſt euch eine ſichere Stuͤzze, wenn euer Glaube wankt, ein getreuer Rathgeber in allen zweifelhaften Faͤllen eures Lebens, und wann ihr auf raſtloſem Lager um Traͤnen fleht, ſo traͤufelt ſie Ruhe und Troſt256 in eure matte Seele. O bittet den Schoͤpfer eu - rer Tage um Selbſtvertrauen und Genuͤgſamkeit, bittet ihn um Ausdauren in Gefahr, in Noth und Truͤbſal, bittet ihn um Troſt, wenn die Welt zu arm iſt, euch Troſt zu geben, und alles zuſammen ſtuͤrzt, eure Ruhe, euer Gluͤk zu un - tergraben. Kann die Ceder, deren Gipfel den Himmel begruͤßt, zerſplittert ein Spiel der Ele - mente werden, wie vielmehr die ſchlanke Birke, die erſt Laub gewinnen, und Zweige treiben ſoll?

Mein Freund war auch ein guter Baum im Garten Gottes; der Gaͤrtner freute ſich ſeines Wachsthums, freute ſich ſeiner Bluͤten, und ploͤzlich kam ein Nord, entblaͤttert ihn, und riß ihn aus dem muͤtterlichen Boden.

Was ſoll ich euch ſagen, lieben Leſer! von ſeinen innern Stuͤrmen? was ſoll ich euch ſagen von dem Kampf zwiſchen Vernunft und Leiden - ſchaft? Es war der Kampf eines Ermatteten ge - gen den Staͤrkern, immer ſchwaͤcher und ohn - maͤchtiger, ein kleiner Funke von Hoffnung glimmte noch, auch er verloderte. Sie zu be - ſizzen, war der einzige Wunſch, er ward ihm nicht. Ein Amt zu erhalten, war der Wunſch, den der erſte erzeugte, und der ward257 ihm nicht; ein Nichtswuͤrdiger erhielt das Amt, und da er reich war, auch den Beſiz ſeiner Cidli.

Der bloſſe Gedanke hieran, der ihn nie ver - ließ, ſchmetterte ihn zu Boden, dieſer Gedanke pakte ihn mit Rieſenſtaͤrke, und warf ihn nie - der, und niemand war da, der ihn aufhalf. Jn langſamen Jammer ſchmachtete er in der Schwuͤle des Tages, kein Quell labte ſeine lech - zende Seele, kein Regen troͤpfelte hernieder, die welkende Pflanze zu ſtaͤrken. Die Natur ſchien ihren Freund verlaſſen zu haben, nur in der ſcheidenden Stunde trat ſie ihm zur Seite, ſie gab ihm Freudigkeit, ſie gab ihm helle lichte Ausſicht jenſeits den Schranken.

Es war ein kalter regnigter Maͤrzabend, wo er durchnaͤßt zu Hauſe kam. Es mochte wol noch ſein lezter Abſchied von Wald und Flur ge - weſen ſein, er mochte wol ſeine liebe Laube noch einmal umarmt haben, die ihn jezt nicht in ihr wirtbares Laub einſchloß. Man hatte ihn um die Mitternachtſtunde laut ſprechen gehoͤrt, es war wol der lezte Kampf, vielleicht wol der ſchwerſte, den je ein Erdenſohn zu kaͤmpfen ge -R258habt hat, das lezte Auflakkern der ſcheidenden Vernunft.

Um zwo Uhr hoͤrte man den dumpfen Nach - hall des toͤdtenden Rohrs, man eilte herzu, ent - riegelt die Thuͤr, und fand ihn im weiſſen Frake gegen eine Kommode hingeſunken. Das Zim - mer in Pulverdampf gehuͤllt, alles mit Blut be - ſprizt er hatte ſizzend ſich das Piſtol uͤbers linke Auge gedruͤkt, der Hirnſchaͤdel lag zerſplit - tert rund umher das eine Piſtol geſprungen, das andere bis oben an geladen, lag auf dem Tiſch. Auf dieſem lag aufgeſchlagen Klopſtoks Meſſiade, und Leſſings Schrift, wie die Alten den Tod gebildet eine Dispoſition uͤber ſein Vermoͤgen einige hingeworfene Ge - danken, die mehreſten Papiere verbrannt.

Man hoͤrte ſchiefe Urteile uͤber ſeine That, und wollte ſie ergruͤnden, und doch konnte es kei - ner, da er niemanden ſein Herz aufgeſchloſſen hatte. Warum er’s nicht that? Er war von Menſchen, die ſich ſeine Freunde nannten, hin - tergangen und betrogen worden. Was Wunder, wenn ſein Zutrauen an die Menſchen ſcheiterte, und er befuͤrchtete, da wenig Teilnehmung anzu - treffen, wo unſere Empfindungen ſo oft gemis -259 deutet werden? Da er viele Laͤnder durchreiſet, und zwar in den Tagen, wo er ſo ganz die Fuͤlle des Lebens genoß, ſo kannte er die Menſchen aus Erfahrung, aus Beiſpielen. Seine Jmagina - zion ſchuf ſich ein Jdeal menſchlicher Vollkom - menheit, ſo wie es die Jdee des Groſſen und Edlen ſich bilden konnte. Er durchſtreifte Land und Meer, und fand einſt einen Menſchen, in dem er alles das zu finden glaubte, was er bisher vergebens geſucht hatte. Er nannte ſich einen Ungluͤklichen, der einſt reich und gluͤklich, und durch harte Menſchen ſo arm und elend gewor - den war, daß er das Mitleid ſeiner Bruͤder er - flehen muͤſte. Dis war genug fuͤr einen Pha - nor, deſſen Herz ſich nie gegen das Elend ſeiner Bruͤder verſchloß, der es nicht bloß empfand, ſondern auch die Quelle zu verſtopfen ſuchte, dar - aus es ſeinen Urſprung nahm, Er nahm ſich des Mannes redlich an, kleidete ihn, und gab ihm Narung und Unterhalt. Kein Vergnuͤgen genoß er ohne ihn, und oft uͤberraſchte er ihn mit einer neuen Art von Grosmut, die ſich auch dem Dank entzieht, und nur darin ihr Vergnuͤ - gen ſezt, Zuͤge der heiterſten Freude hervor zu rufen. Wenn ein Edler bei Ausſpendung ſeinerR 2260Wolthaten auch keine eigennuͤzzige Abſicht hegt, ſondern den lautern Trieben ſeines Herzens folgt, andere wolzuthun, und gluͤklich zu machen, ſo kann er doch Anſpruͤche auf die Dankbarkeit deſ - ſen machen, den er aus dem Nichts erhub, dar - in er verſenkt lag. Und wie ſchmerzhaft muß es ihm ſein, wenn er ſich betrogen findet, und ſeine Wolthat an einen Nichtswuͤrdigen verſchwen - det hat, der ſein gutes Herz misbraucht?

Dis war auch der Fall mit meinem Freunde. Er, der auf die Redlichkeit desjenigen, der ihm ſo vieles zu verdanken hatte, ſicher baute, trug ihm auf, da er Umſtaͤnde wegen voraus aus H abreiſen muſte, mit ſeinem Koffer und Effekten nach zu kommen. Er wartete lange vergebens, und ſah ſich betrogen. Er konnte lange dieſem Ge - danken nicht Raum geben, bis er gewiß davon uͤberzeugt wurde, ſein vermeintlicher Freund ſei zum Verraͤter geworden. Von der Zeit an artete ſeine Liebe gegen ſeine Bruͤder in Mistrauen aus, und er trauete ſeinem Herzen, das ſich ein - mal ſchon ſo ſchaͤndlich in ſeiner Wahl betrogen, in keinem Stuͤkke. Das war dann auch die Ur - ſache, daß er ſeine Leiden in ſeinem Buſen ver - ſchloß, deren Uebermaas den Entſchluß bei ihm261 zur Reife brachte, ſein freudenleeres Leben zu enden.

Man begrub ſeinen Leichnam in der Huͤlle der Mitternacht kein Prieſter ſprach ſeinen Segen keine Glokke hallte ihm nach, nur wenige Traͤnen floſſen ihm ein einſamer Grabhuͤgel dekt ihn und ſeine Leiden, und wird ſie ſo lange dekken, bis der Ruf des Richters auch ihn erwekken wird Von ſich ſtoſſen wird ihn ſein Schoͤpfer nicht, das hoffe ich von dem groſſen Weſen, das keines der Glieder von der Kette ſich trennen laͤßt, und das jedem Weſen ſeinen gemeſſenen Standpunkt in der Schoͤp - fung anwies.

XII. Die Unſchuld in Ketten, und in dunklen Gewoͤlben des Elends.

Jn welch trauriger Verfaſſung die mehreſten Gefaͤngniſſe in Deutſchland ſich befinden, dar - uͤber darf man nur einen Howart nachleſen,R 3262und man wird ſtaunen, daß man auch hierin der Stimme der Menſchheit ſo wenig Gehoͤr gibt. Es ſind gemeiniglich unterirdiſche Ge - woͤlbe, dumpf, duͤſter und oͤde, wo nur ſelten ein Stral des Lichts hindurch daͤmmern kann. Feuchte und ungeſunde Duͤnſte erfuͤllen die Luft, alles haucht den Geiſt der Faͤulniß und Ver - weſung. Und dis iſt der Aufenthalt der Men - ſchen, die wider die Geſezze geſuͤndigt, die ſich ei - nes Fehltritts ſchuldig gemacht haben. Hier muͤſſen ſie ihre Schulden abbuͤſſen, Jahre vertrauren, und dann mit dem Verluſt ihrer Geſundheit mit der gaͤnzlichen Zerruͤttung ihres Nervenbaus wie - der in die lebende Welt zuruͤk kehren. Was hat der Richter fuͤr ein Recht auf die Geſundheit des ſchuldigen Buͤrgers? was hat er fuͤr Recht, ſein ganzes Leben ſiech und elend zu machen? Ge - ſezt auch, er ſoll einen Buͤrger zur Strafe zie - hen, der ſich eines Diebſtals ſchuldig gemacht, der, um ſeine Familie vom ſchmaͤlichen Hunger - tode zu retten, eine That beging, die er in gluͤk - lichen Tagen nie wuͤrde begangen haben, geſezt man erkennt ihm einige Jahre Gefaͤngnißſtrafe zu, muß deshalb das Gefaͤngniß eine Behauſung der Schlangen und Skorpionen ſein? iſt das Ver -263 brechen ſo groß, daß der Verluſt der Geſundheit damit verknuͤpft ſein muß? Lieber nehmt ihm das Leben, denn grauſamer iſt es immer, ſeine kuͤnftigen Tage zu Tagen des Elends zu machen Denn ſobald er den traurigen Aufenthalt verlaͤßt, ſchleppt er einen ſiechen ausgemergelten Koͤrper mit ſich, und haucht entweder bald ſein kummer - volles Leben aus, oder wanket ſiech und elend einher, und zaͤlt zu den ſchon verlebten Tagen ſeines Lebens noch eine lange Reihe, deren jeder mit neuem Schmerz bezeichnet iſt. Und wie un - menſchlich geht oft der Kerkermeiſter mit dem Gefangnen um! ſogar die kaͤrgliche Narung ent - zieht er ihm, und gibt auch eine mitleidige Seele etwas zu ſeiner Erquikkung, ſo reißt es ſein Aufſeher an ſich, und reicht ihm etwa eine Waſſerſuppe. Hat er noch etwas Unterſtuͤzzung, ſo wird er etwas gelinder behandelt, aber fehlt es ihm an allem, ſo geht man mit ihm aͤrger als mit einem Hunde um. Da ich noch auf der Univerſitaͤt Halle mich befand, beſuchte ich einſt auf dem daſigen akademiſchen Gefaͤngnis einen Landsmann von mir, der wegen eines Duells gefangen ſaß; ich hoͤrte in dem Nebengemach ein dumpfes Stoͤnen, und erfuhr, daß es ein Un -R 4264gluͤklicher (Namens von Croull) war, der ſchon viele Jahre daſelbſt zugebracht, und nun - mehr ganz den Gebrauch ſeines Verſtandes ein - gebuͤßt hatte. Jch brachte es bei dem Kerkermei - ſter durch die gewoͤnliche Koͤrnung ſolcher harter empfindloſer Geſchoͤpfe dahin, daß ich mit ihm am Gitter ſprechen konnte; aber wie ſehr wurde ich beſtuͤrzt, da ich ſeiner anſichtig ward! Eine lange hagere Figur, in zerriſſenen Lumpen ge - huͤllt, mit holen triefenden Augen, die matt und ſtarr im Kopfe lagen, geſchwollene Fuͤſſe, und ſo abgezehrt, daß die Knochen weit hervor ſtan - den; genug, es war ein Schrekbild fuͤr Erwach - ſene und Kinder, und ſein Anblik erregte Ent - ſezzen, und goß einen kalten Schauder in alle Adern. Jch gewann bald ſein Zutrauen, indem ich ſeinen Zuſtand bemitleidete; er klagte uͤber die unmenſchliche Behandlung des Kerkermeiſters, wie er ihm bei der ſtrengen Kaͤlte niche einmal einheizte, und wie ſeine Narungsmittel ihm ſo kaͤrglich zu - geſchnitten wuͤrden, daß er ſo abgezehrt wie ein Skelet waͤre, und ſchon laͤngſt ſein elendes Leben ge - endet haben wuͤrde, wenn ihm nicht die Studi - renden manchmal etwas gereichet, und das Mit - leid ſeines Aufſehers durch Geld erkaufet haͤtten,265 Er entdekte mir, wie er durch harte Verwandten um ſein Vermoͤgen, und um ſeine Freiheit ge - bracht worden, wie man ihn des Wahnſinns be - ſchuldigt, und deshalb eingeſperrt, uud wie durch dieſe Behandlung, und durch die gekraͤnkte Liebe zu einer Perſon, ſein Verſtand zerruͤttet, und in Wahnſinn ausgeartet ſei. Er erinnerte ſich der Zeit, wie er ganz wuͤtend geweſen, und an Ket - ten gelegen, und nannte dis ſeine ſelige Zeit, wo ihm ſo wol geweſen waͤre, und er nichts von ſeinem Zuſtand empfunden haͤtte.

Jch fand ſeinen Verſtand nicht ſo ganz zer - ruͤttet, daß nicht noch Hoffnung geweſen waͤre, ihn durch einen veraͤnderten Zuſtand wieder her - zuſtellen. Was er ſprach, hatte Sinn, und es ſchimmerten noch hie und da Spuren des gebil - deten Verſtandes durch. Er ſprach das franzoͤſi - ſche rein und gut, und ſchrieb es ohne Fehler, und ſo leſerlich, wie es ſeine zitternden welken Haͤnde erlaubten.

Er ſang verſchiedene alte Lieder im rauhen heiſern Ton, und konnte verſchiedene Maͤrſche vermittelſt zweer duͤnner Staͤbe unterſcheidend ausdruͤkken. Gegen ſeine Verwandten, die ihn in dieſes Elend geſtuͤrzet, ließ er den bitterſtenR 5266Haß aus, und glaubte, es koͤnnte lhnen nie auf Erden wol gehen; uͤber die grauſame Behand - lung des Kerkermeiſters beklagte er ſich mit heu - lender Stimme, und hatte eine ſolche Furcht vor ihm, daß er ſich, ſobald er ſeiner anſichtig ward, unter einen alten Tiſch verbarg*)Il n’y a point de meilleure amie que la Vertu, car elle ne nous abandonne jamais. Dieſe Zeilen gab er mir, da ich ihn verließ, zum Andenken, und man ſieht daraus, daß ſeine Lebensgeiſter noch nicht ganz zerruͤttet waren, und er ſich ſein Ge - faͤngniß erſt ſo zu Gemuͤte gezogen hatte, daß er in dieſen traurigen Zuſtand verfallen war.. Er endete endlich im Jahr 1778 ſein kummervolles Leben, im zwei und ſiebenzigſten Jahre ſeines Alters, nachdem er zwei und zwanzig Jahre in dieſer Behauſung des Elends zugebracht hatte.

Ueber ſeine Geſchichte war ein ſolches Dun - kel verbreitet, daß es mir unmoͤglich blieb, ſie aufzuklaͤren. War er unſchuldig, ſo mag uns der frohe Gedanke troͤſten, die Unſchuld wird an Gottes Morgen nach einem ſanf - ten Schlaf erſtehn ; war er ſchuldig, ſo konnte eine ſolche Strafe nie dem Verbrechen, was er beging, angemeſſen ſein, dann war es immer Wolthat, ihm das Leben zu nehmen,267 anſtatt ihn durch die Beraubung ſeiner Seeien - kraͤfte doppelt zu morden, und Furien in ſeinem Herzen hervor zu lokken, die ihn unaufhoͤrlich zerfleiſchen muſten, bis der ſaftloſe Koͤrper end - lich, da ihm Glied fuͤr Glied abgeloͤßt, Faſer fuͤr Faſer zerriſſen worden, in Klumpen fiel, und die lezten Zukkungen ihn dreimal in die Hoͤhe, und dreimal zuruͤk warfen. Und dis elende Leben im Kerker, unter der Peitſche des Kerkermeiſters unter eiternden Schmer - zen, unter den innern Kraͤmpfen der Seele, muſte er zwei und zwanzig Jahre verleben welch eine lange Zeit! wie viel Monate, Wochen und Stunden! Nur ein Viertel dieſer Zeit, und wer verloͤre nicht den Gebrauch jener Kraͤfte, die uns die Gottheit einbließ? wer verzweifelte nicht an Gott und Vorſehung, und haſchte mit gieri - ger Freude ein Werkzeug, ſich ſelbſt zu zer - nichten?

O Gerechter! dunkel ſind die Wege, die du mit den Menſchenkindern wandelſt, wer ver - mag ſie zu ergruͤnden? wer kann auftreten, und dich fragen, warum thuſt du das? warum laͤſſeſt du die Unſchuld im Staube ſich kruͤmmen? Aber uns ward auch die Verheiſſung, daß du268 einſt ans Licht bringen wirſt, was im Finſtern verborgen lag, da wird die Huͤlle dem bloͤden Auge entfallen, und wir werden kniend an dei - nem Trone ausrufen: Herr! du biſt gerecht, und alle deine Werke ſind rechtſchaffen!

O wie viele Ungluͤkliche ſeufzen in den Ge - woͤlben des Elends, ohne was verbrochen zu ha - ben? wie viele muͤſſen die Schulden anderer buͤſ - ſen, und ein Raub der Bosheit werden? wie viele ſterben als ein Raub der blaſſen Verzweife - lung, des Hungers und der Auszehrung dahin, ohne ſich einer Schuld bewuſt zu ſein? und wenn auch endlich die Unſchuld unter der Huͤlle der Bosheit, rein und unbeflekt ans Licht trit, was iſt der Erſaz fuͤr die Leiden durchkaͤmpfter Tage, fuͤr die Leiden ſchlafloſer Naͤchte? Kann einmal verlorne Ruhe der Seele wieder gewonnen wer - den? kann die zerſtoͤrte Geſundheit des Koͤrpers wieder erſezt, und das einmal erloſchene Feuer auf blaſſe Wangen zuruͤk geleitet werden? welcher Richter kann das? er muͤſte ein Gott ſein Wodurch will er die verlebten truͤben Tage auf - wiegen, wodurch verlorne Ehre, Gluͤk und Wolſtand wieder erkaufen? etwa durch Los - ſprechung von Suͤnde und Fehl, durch eine elende269 Bekundigung der Unſchuld, um dadurch das Mitleid anderer zu bewegen, vor den Schwel - len der Reichen zu kriechen, und zu flehen, gebt der uuterdruͤkten Unſchuld ein mageres Allmoſen? oder gar einen Plaz in den Spitaͤ - len damit zu erkaufen, wo man nur die Stimme des Wehklagens erſchallen hoͤrt, wo man durch die zalloſen Leiden der Menſchheit dahin kann gebracht werden, zu zweifeln, ob ein Gott ſei, wo ſchleichende Krankheiten herrſchen, und aus - troknen das Mark der Gebeine, wo man durch gedungene Mietlinge Flege und Narung erhaͤlt, und erſtikken muß in den faulen Duͤnſten, um ſo ein qualvolles Daſein auszuhauchen.

Doch ich will nicht beim bloſſen Jdeal ſtehen bleiben; ich will euch Wirklichkeit darſtellen, ſo wie ihr ſie immer in den Archiven eurer Ge - richtshoͤfe, und unter den beſtaubten Akten auffinden koͤnnt.

270

A) Angeklagter, uͤberwieſener intendirter Moͤrder, dem Scheine nach, und doch am Ende ein ehrlicher Mann, und unſchuldig.

Dieſes Opfer der Unſchuld war als Subal - ternofficier in Dienſten eines deutſchen Fuͤr - ſten. Sein Wandel war von unbeſcholtnem Ruf, und die eifrige Befolgung ſeiner Pflichten, ſein ſteter Gedanke. Er ward einſt von ſeinem Obern abſichtlich beleidigt, und an ſeiner Ehre gekraͤnkt. Er litte es im Gefuͤhl der Subor - dination, und im Bewuſtſein, ſolche Behand - lung nicht verdient zu haben. Kurz darauf muſte er ebendemſelben einen noͤtigen Rapport abſtat - ten, und hatte nicht die geringſte Abſicht, ſich auf irgend eine Art an ihn zu vergreifen; den - noch, es ſei nun, daß jener ihn gaͤnzlich zu Grunde richten wollte, oder ſich ſo etwas ver - muten war, genug, er ließ ihn ſogleich arretiren, und beſchuldigte ihn, daß er ihm nach dem Le - ben getrachtet habe. Seine Domeſtiken ſagten271 dieſes aus, und bekraͤftigten es durch einen Eid. Er ward alſo nach den Geſezzen zum Tode ver - urteilt, dieſe Strafe aber noch aus beſonderer Gnade in eine Gefaͤngnißſtrafe verwandelt. Lange duldete er in einem ſchlechten Gewoͤlbe des Elends ſchwere Leiden des Koͤrpers und der Seele, bis endlich ſein Verfolger ſtarb. Seine Freunde drangen darauf auf eine nochmalige Un - rerſuchung ſeines Prozeſſes, und da bekundeten eben die Zeugen, die wider ihn gezeugt, ſeine Unſchuld, und ſagten aus, daß ſie von ihrem Herrn zu einer falſchen Angabe waͤren gezwun - gen worden. Er ward alſo freigeſprochen, ſeine Unſchuld durch einen richterlichen Spruch aner - kannt, und das vorige Urteil annullirt Aber das war auch alles wo blieb der Erſaz fuͤr ſo viel erduldete Leiden? Nichts, gar nichts ſiech und elend, mit einem zerruͤtetten Koͤrper, muſte der freigeſprochene unſchuldige Mann Tage des Kummers zubringen, fand wenig Mitleid bei Menſchen, und ſtarb endlich im Spital auf dem Strohlager der Unſchuld.

272

B) Schoͤne Seele, unterm Gewande des Bettlers.

Jch ſtieß einſt bei einer Wallfart auf einen Greis, dem das wahre Bild des Elends auf der Stirne gepraͤgt war. Tiefe Furchen hatte die Zeit der Jahre und der Kummer auf ſein ver - graͤmtes Geſicht gegraben, das Fleiſch hing an duͤnnen Faſern, und das hinſchwankende Ge - rippe zitterte bei jeder Beruͤhrung, die Knie ſchlotterten, und die wunden Fuͤſſe verſagten ihre Huͤlfe. Er ſtrekte ſeine linke Knochenhand aus, und bat um ein Allmoſen mit einer ſo ru - higen edlen Mine, daß er einem das Herz ſtal. Jch unterhalte mich gern mit ſolchen Bruͤdern des Elends, lerne aus ihrer Geſchichte, wie leicht der Menſch fallen, und wie ſehr der, welcher noch ſteht, Urſache habe, vor ſeinem Fall zu zittern.

Jhr habt wohl ſchon viel Elend erduldet, Alter! (war meine erſte Frage).

Greis. O ja Herr! das Elend hat mich von Jugend an aufgeſucht, und wird mich bis insGrab273Grab begleiten; nur noch wenige Schritte, und ich hab vollendet.

Jch. Das Schikſal hat euch wol wenige frohe Tage zugezaͤlet?

Greis. Der frohen Tage wenig, aber der traurigen deſto mehr. Als Knabe fuͤhlte ich, was Leben ſei, aber ſchon als Juͤngling und Mann kettete ſich ein Ungluͤk neben das andere, ſo daß ich ſogar das Bewuſtſein verlor, einſt gluͤklich geweſen zu ſein.

Glauben ſie mir, ich verdiene das bittere Loos nicht, unter dem ſich mein grauer Schedel beugen muß; zwar nur Lumpen bedekken dieſes verfallene Gerippe, aber unter dieſen Lumpen ſchlaͤgt ein Herz, das einſt waͤrmer ſchlug, und hoch empor braußte.

Jch. Jhr werdet ſo beweglich, wuͤrdiger Greis! daß ich euch bitten muß, mir eure Ge - ſchichte zu entraͤthſeln; ſie kann lehrreich fuͤr mich ſein wird es gewis aus eurem Munde werden.

Greis. Wozu das junger Mann? warum ſoll ich Wunden aufreiſſen, die ſich ſchon ver - blutet haben, und die doch niemand heilen kann?

S274

Jch. Kann ich nicht Balſam auf ſie herab - troͤpfeln, ſo kann ich euch doch mein Mitleid, meine Thraͤnen ſchenken.

Greis. Sie greifen mir an das Herz, und mein Herz hat keine Waͤrme mehr; laͤngſt iſt ſie erloſchen, und mit ihr das Zutrauen zu den Menſchen. Nur das Vertrauen zu dem Vater dort oben blieb mir, und ſoll mir bleiben, bis das Herz erkaltet.

Jch. Jch moͤchte ſo gern von euch mit was auf den Weg nehmen euren Segen!

Greis. Meinen Segen? kann der ſchwache Segen eines armen verſtoſſenen Mannes auf die Fuͤlle der Jugend wirken? nun, ſo moͤge das Schikſal keinen Tropfen Wermut in ihren Freu - denbecher miſchen.

Jch. Jch danke euch, guter Bidermann! aber wollt ihr mich ſo leer von euch entlaſſen, daß ich mit der Vorſicht murren koͤnnte, warum ſie euren Pfad ſo dornigt ſchuf?

Greis. Wer kann die unerforſchlichen Wege der Vorſicht ergruͤnden? uns ſchwachen Er - denſoͤhnen ziemts nicht, ſie auszuſpaͤhen, ſondern ſie tief anbetend zu verehren.

275

Hier wandelte dem Alten eine Schwachheit an, die unzertrennlich das Elend zu begleiten pflegt: ich brachte ihn zu einer Huͤtte, ließ ihm Speiſe reichen, und durch einen Labetrunk ſeine erſchoͤpften Lebensgeiſter erquikken.

Sein Geſicht war ſo edel, und eine ſtille Wuͤrde bezeichnete jeden Zug, die ihn auch im Ungluͤk nicht verlaſſen hatte, daß ich ſchlieſſen konnte, er ſei nicht der gewoͤnlichen Bruͤder des Elends einer, die in einer armſeligen Huͤtte ihr Daſein empfangen, und ſo in die weite Welt verſtoſſen werden. Ueberdies waren ſeine Worte von ſolchem Gehalt, daß man an ihnen den aus - gebildeten Mann nicht verkennen konnte. Dis machte mich um ſo mehr auf ſeine Geſchichte auf - merkſam, und ich ſezte ſo lange in ihm, bis er ſie mir folgendermaßen enthuͤllte.

Mein Vater war Prediger zu N. im B. der nach erfuͤllten Pflichten ſeines Berufs, die uͤbrigen Stunden zu meiner Bildung anwandte, und meinem Geiſt eine ſolche Richtung gab, wie er in dem Kreiſe ſeines Lebens einſt bedurfte. Jch ſchluͤpfe uͤber die frohe Zeit meiner Knabenjahre hinweg, die ich in der vaͤterlichen Flur zubrachte, da wuͤrdige Aeltern meine Tritte leiteten, undS 2276die Natur noch mit ihrer allbelebenden Fuͤlle auf mich wirkte, kaum erinnere ich mich noch dieſer gluͤklichen Zeit, und daß ich ſie verlebt habe, iſt mir wie ein ſchoͤner Traum, den der Morgen mir entfuͤhrt. Mein Vater ſtarb, und mit ſei - nem Tode ſchien das Ungluͤk einen Bund mit den Harpyen der Menſchen gemacht zu haben, mich zu verfolgen. Den groͤßten Theil des vaͤter - lichen Nachlaſſes buͤßte ich durch den Bankerut eines Handlungshauſes ein, und das Wenige, was ich noch rettete, reichte kaum zu, mir den notduͤrftigen Unterhalt zu verſchaffen. Jn dem ſichern Vertrauen, daß Gott die Seinen nie ver - laͤßt, und unterſtuͤzt von einigen Freunden mei - nes Vaters, betrat ich die hohe Schule, um mich der Rechtswiſſenſchaft zu widmen. Jch lebte hier ſtill und eingezogen, und widmete mich bloß den Wiſſenſchaften. Da mein Geld nur bloß dazu hinreichend war, mir ein notduͤrftiges Auskommen zu verſchaffen, ſo vermied ich alle ſolche Gelegenheiten, wo Schwelgerei mit ihren Gefaͤhrten ihren Siz aufgeſchlagen hat. Dadurch zog ich mir den Haß einiger meiner Mitſtudiren - den zu, die an ein liederliches Leben gewoͤhnt, es nicht dulden wollten, daß ein anderer ſeine277 Zeit nuͤzlich anwandte, und man legte mir das als Feigheit aus, was doch die Klugheit heiſchte. Einſt bei der Abenddaͤmmerung ritt ich durch ein kleines Gehoͤlze, ſo nahe bei der Stadt lag. Jch hoͤrte von Ferne ein dumpfes Geſchrei und ein Winſeln eines Bedraͤngten. Dies trieb mir das Blut ins Geſichte, und da ich mich auf meine natuͤrliche Staͤrke verlaſſen konnte, ſo lenkte ich ſogleich nach der Seite hin, wo der Schall her - kam, und ward bald eine Szene gewahr, die mein ganzes Blut in Wallung ſezte. Ein un - ſchuldiges Maͤdchen wand ſich unter den Klauen zweier Unmenſchen, die ſie entehren woll - ten. Sie hatte nur noch wenige Kraͤfte zu zuſezzen, und lag fchon im zerriſſenen Gewande, athem - los und erſchoͤpft auf dem Boden. Jch ſprang wuͤtend hinzu, und erkannte ſogleich die beiden fuͤr meine Mitſtudirenden. Jch machte ihnen die bitterſten Vorwuͤrfe, aber ſie waren nicht geneigt, ihre Beute ſogleich fahren zu laſſen, ſondern ſuch - ten mich durch Fluͤche und Behandlungen thaͤtlich abzuſchrekken. Dis ſchrekte mich aber nicht, ich ſah die Thraͤnen ſchwangere Augen des Maͤd - chens zu mir empor gehoben, und ſtraks brauchte ich die Kraͤfte, die mir die Natur nicht umſonſtS 3278verliehen hatte, und ſtrekte den einen ſo zu Bo - den, daß er eine Zeitlang zur Gegenwehr un - tuͤchtig war, der andere nahm die Flucht, und ſo nahm ich das erſchoͤpfte Maͤdchen, und brachte ſie in die nicht weit entfernte vaͤterliche Huͤtte zuruͤk. Sie war die Tochter eines braven Land - manns, die bei einem Beſuch zu ihrer Verwand - tinn im naͤchſten Dorf von dieſen Raͤubern, die ihrer Tugend ſchon lange nachgeſtellt hatte, war uͤberfallen worden. Jch bin zu ſchwach, die Fuͤlle des Danks zu entziffern, die aus dem Munde der Aeltern und Tochter wechſelsweiſe auf mich herab ſtroͤmte, und nie hab ich die Freude, nach einer vollbrachten guten Handlung ſo lebhaft empfunden, als damals. Jch weiß nicht, es war ein Vorſchmak von uͤberirdiſcher Freude, ſo mich berauſchte, und all meine Sinne gefangen nahm, ſo ich mir nie ſelbſt erklaͤren konnte, die mir aber oft wieder gegenwaͤrtig wurde, und mich hernach auch in truͤben Stun - den meines Lebens beſchlich.

Jch. Ja, es muß der wonnevollſte ſeligſte Augenblik ſein, den je ein Menſchenauge er - blikken kann, eine Unſchuld gerettet zu haben!

Greis. O, ſie haͤtten das Auge des Maͤd -279 chens ſehen ſollen, wie es an meinen Blikken hing, wie die reinſten Gefuͤhle der Dankbarkeit in ihrem Buſen aufwallten, und wie ſie vergebens nach Worte haſchte, ſie auszudruͤkken. Sie haͤt - ten die Aeltern ſehen ſollen, wie ſie in ſtummen Entzuͤkken an meinem Halſe hingen, wie ich aus ihren Blikken die reinſte Wolluſt trank, die nur die Tugend einfloͤſſet, wie ſie mich ihren Erret - ter, ihren Freund nannten, und alles hingege - ben haͤtten, mir ein Leben voll Wonne und unge - truͤbter Freude zu erkaufen, wie ſie mit ſeelenvol - len Blikken ſich hinaufwaͤrts ſchwangen zum Thron ihres Gottes, und der zitternde Greis ſeine Haͤnde empor hob, und ſprach: Vater! du haſt mich noch hienieden dieſe Seligkeit em - pfinden, meine wenigen Stunden, die ich noch hienieden wallen kann, ſo ruhig, ſo heiter her - auf daͤmmern laſſen, dafuͤr dankt dir meine Seele ich bin bereit dieſes Kleid der Sterb - lichkeit auszuziehen, aber ſei du der Unſchuld Vater, und laß den, der ſie rettete, gluͤk - lich ſein!

Dieſe ruͤhrende Bitte drang bis in das Jn - nerſte meiner Seele, ich kuͤßte dem frommen Greis die ſich noch hervor draͤngenden Worte vomS 4280Munde weg, und mein Auge hob ſich empor zum Siz der Gottheit, und ſagte laut, laß ſie alle, alle gluͤklich ſein. Er iſt gluͤklich kurz hernach ſah ich ihn entſchlummern, ſah ſein brechendes Auge, die ſtille Wuͤrde, mit der er von dieſer Buͤhne ſchied den lezten Blik! o dieſen Blik, Vater und Herr meines Lebens! geuß ihn in mein brechendes Auge, wann es ſich ewig ſchließen wird. Verzeihen ſie, das Zuruͤkerin - nern an dieſe Szene macht mich ſchwazhaft, denn nie habe ich eine andere Freude wieder empfunden, als die der Erinnerung; und ſie wird mir auch auf dem harten Lager ein ſanftes Ruhekuͤſſen ſein, wann ich von hinnen ſcheide.

Das Geruͤcht von dieſer That verbreitete| ſich bald in der ganzen Stadt, wenige waren es, die ſie billigten, ſo viele gaben ihr das Gepraͤge der Unlauterkeit. Die beiden Raͤuber der Unſchuld rotteten ſich mit andern ihres Gelichters zuſam - men, uͤberfielen mich einſt des Abends, und mishandelten mich dergeſtalt, daß ich halb tod zu Hauſe geſchleppt ward, und lange unter den Haͤn - den des Wundarztes zubringen mußte. Jch ward allenthalben der Gegenſtand des Spottes und der Verfolgung, und wollt ich einigermaßen Ruhe281 haben, ſo mußte ich die abſcheulichen Geſezze der Ehre, die ich ſtets verachtet hatte, erfuͤllen. Jch thats auf vieles Zureden derer, die ſich noch meine Freunde nannten; und da mir das Be - wuſtſein meiner Unſchuld Staͤrke lieh, ſo war ich ſo ungluͤklich (denn ein Gluͤk war es nie), dem einen von jenen Raͤubern eine ſolche Wunde bey - zubringen, die ihm den Gebrauch eines Gliedes benahm. Die That ward den Gerichten hinter - bracht, man ſchleppte mich ins Gefaͤngniß zwei Jahre waͤhrte mein Prozeß, und der Aus - gang war: mein Gegner kaufte ſich mit Geld los, und blieb; ich aber, den die Ver - leumdung auch um die Wolthaten meiner Goͤn - ner gebracht hatte, und alſo ganz entbloͤßt war, wurde aus den Grenzen verwieſen. Frei war ich nun, aber wie?

Abgezehrt und bleich ſchlich ich zum Thor hinaus, meine Effekten waren verkauft, um den Kerkermeiſter zu befriedigen; ich war alſo ganz arm, die ganze Welt war mein, und ich gehoͤrte der ganzen Welt. Man hob mich als einen Land - ſtreicher und liederlichen Menſchen auf, und ſtekte mich, ſo ausgemergelt und ſaftlos ich auch war, unter ein Feldregiment. Alle die Mishandlun -S 5282gen und Bedruͤkkungen zu ſchildern, die ich in dieſem Stande ausſtehen mußte, wuͤrde alte Wunden wieder aufreiſſen, genug, ich ging mit zu Felde, und ward bei einem Ueberfall der Feinde ſchwer verwundet. Man ſchleppte mich ins Lazaret. Beinahe zwei Jahre muſte ich daſelbſt unter den Haͤnden der unbarmherzigen Wund - aͤrzte zubringen, und da ich wieder hergeſtellt war, ſo gab man mir den Laufpaß in die weite Welt. Nun muſte ich mein Brod vor den Thuͤ - ren ſuchen, ward oft zuruͤk geſtoſſen, mit Hun - den weggehezt, manche Scheidemuͤnze mir mit Fluͤchen hingeworfen. Jch mein ſchwarzes Brod mit Thraͤnen, und trank faules Waſſer mit Seufzen. So kam ich auch nach D und die Vorſicht erwekte mir einen Wolthaͤter, ei - nen guten braven Mann, der meinen Vater und mich ſehr gut gekannt hatte. Er nahm ſich mei - ner redlich an, und verſchaffte mir einen kleinen Poſten bei einer Kaſſe, deren Vorſteher er war. So lange dieſer wolthaͤtige Mann, deſſen Aſchenkrug ich noch mit Thraͤnen nezze, lebte, genoß ich wieder das Leben. Jch ward auch wie - der ziemlich geſund, meine ſtarke Natur ſiegte uͤber ſo viel erduldete Uebel, und die verloſchene283 Farbe der Geſundheit kehrte wieder zuruͤk. Aber mit dem Tode meines Wolthaͤters oͤffnete ſich auch wieder eine neue Szene des Elends fuͤr mich. Sein Nachfolger war ein harter Mann, der mir nie guͤnſtig geweſen, und meiner Reſchaffenheit geſchont hatte. Erſt verſuchte er’s, mich um mei - nen Dienſt zu bringen, und mich einer Nachlaͤſſig - keit zu beſchuldigen, aber es fehlte ihm an Be - weiſen, und ich hatte bei allen das Lob eines redlichen und fleiſſigen Mannes. Zulezt gebrauchte er ein anderes Mittel, mich ungluͤklich zu machen, und das gelang ihm. Man vermißte eine anſehn - liche Summe bei der Kaſſe, und da ich ſelbige wegen meiner Geſchaͤfte immer zulezt verlaſſen mußte, ſo fiel der Verdacht auf mich zuruͤk. Die Verbeſſerung meiner Umſtaͤnde machte dis mut - maßlich; mein Vorgeſezter nuzte dieſes, ich ward ſogleich eingezogen, und in ein dumpfes Gewoͤlbe geworfen. Man durchſuchte meine Effekten, und fand einen Beutel mit 200 Stuͤk Dukaten (ſo man in mein Zimmer durch einen erkauften Mietling geworfen hatte). Mein Feind bekannte ſie als ein Drittel von dem, ſo der Kaſſe ent - wandt worden, man machte mir alſo den Pro - zeß. Jch war unſchuldig, konnte alſo nichts ein -284 geſtehen, deſſen ungeachtet ward meine That als uͤberwieſen angenommen, alle meine Effekten fie - len dem Gericht anheim, und ich ward, aus be - ſondern Gnaden, zu lebenswieriger Feſtungs - arbeit verurteilt.

Jch betheurte meine Unſchuld, bat und flehte, rang die Haͤnde und ſchluchzte, alles umſonſt, ich muſte karren und graben. Der Gram vertrok - nete meine Lebensſaͤfte, und die kaͤrgliche Na - rung| entkraͤftete meine Gebeine. Jch lag viele Jahre auf dem Siechbette, und rang mit Tod und Leben. Jch hatte beinahe zehn Jahre in die - ſer Behauſung des Elends zugebracht, als mir meine Befreiung angekuͤndigt ward. Mein Verfolger war ſeit kurzen an einer ſchmerzhaften Krankheit geſtorben, und hatte ſich als den Thaͤ - ter des geraubten, und mich als ein unſchul - diges Opfer angegeben. Man entdekte noch einen anſehnlicheu Defekt bei der Kaſſe, aber ſein Nachlaß reichte nicht zu, ihn zu erſezzen, und alſo konnte ich keinen Erſaz meines Vermoͤgens hof - fen. Man erkannte meine Unſchuld, aber weiter nichts. Mein Vermoͤgen war dahin, zehn Jahre hatte ich leiden und dulden muͤſſen meine Kraͤfte waren erſchoͤpft, ausgetroknet, meineLebens -285Lebensſaͤfte was half mir meine Befreiung, davon ich keinen Gebrauch mehr machen konnte? Was ward mir fuͤr ein elender Erſaz? nichts, als ein kaltes Bedauren, und der Troſt, geht und erbettelt euch Allmoſen, und ſterbt elend und verachtet! Jch bat um ein kleines Amt, das mir ein notduͤrftiges Auskommen verſchaffte, und die Antwort ward mir, es ſei keines offen, und derer waͤren viele, die Anwart - ſchaft darauf haͤtten . Hiemit, und mit einigen Groſchen, die man mir zuwarf, und ein Blatt Papier, das meine Unſchuld bekundigte, ließ man mich laufen, ſo weit mich meine Fuͤſſe tra - gen wollten. Schon ſieben Jahre bin ich ſo von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf herum ge - wandert, habe alle Klaſſen des Elends durchlau - fen, und bin ſo bekannt mit demſelben geworden, daß ich nichts mehr zu fuͤrchten habe. Oſt hab ich unter Gottes freien Himmel mein Bette auf - geſchlagen, und es war doch immer Wolthat, daß ich meine matten Glieder durch einen ſanften Schlaf erquikken konnte; oft ſank ich auch er - ſchoͤpft auf der Heerſtraſſe nieder, und glaubte, nun waͤre das Ende meiner Leiden da, aber da erwekte der Vater dort oben eine mitleidigeT286Seele, die ſich meiner annahm. Nun habe ich wenigſtens eine Staͤte, wo ich mein mattes Haupt hinlegen kann, es iſt die Huͤtte eines ar - men Tageloͤhners, dem ich einſt das Leben rettete, da er halb erſtarrt am Wege lag. Mehr vermag ſeine Armut nicht, als dieſe Freiſtatt, denn er muß eine Frau und ſechs Kinder mit ſei - ner Haͤnde Arbeit ernaͤhren, aber es hat noch im - mer gutgeſinnte Gemuͤter gegeben, die mich mit ihren Wolthaten unterſtuͤzt, und mir dis elende Le - ben gefriſtet haben. Der dort oben wohnt, wird’s ihnen lohnen, dis iſt mein Morgen und Abend - gebet, und mir gebe er bald ein ſanftes Ende, einen heitern Zuruͤkblieb auf die verlebten Tage, und einen frohen Hinblik auf jenes Land, wo wir aller Truͤbſale entbunden, und frei ſind.

Hier erheiterte ſich das matte Auge des Grei - ſes, es daͤmmerte ſo eine helle Klarheit unter dem Flor der Traurigkeit hervor, daß mir ein je - der anderer Beweis fuͤr die Unſterblichkeit, und kuͤnftige Fortdauer uͤberfluͤſſig zu ſein ſchien. Es war ein Blik des ruhigen Pil - gers, der ſeine Laufbahn zuruͤk gelegt hat, und mit Wonnegefuͤhl ausrufen kann, Gottlob, ich287 bin am Ziel! Es war der Blik der aufgehen - den Sonne uͤbers Meer, erſt truͤbe und neb - licht, aber immer lichter und heller, bis er endlich die Nacht verſcheucht, die ſich empor thuͤrmen - den Wolken zerſtreuet, und ſanft und milde in Gottes Schoͤpfung laͤchelt.

Sein Vertrauen auf Gott ſein ſtilles Ergeben in den Willen der Vorſicht, machte mich ſtaunen; ich erkannte darin ſo viele Zuͤge der Geiſtes-Groͤſſe, einen ſolchen herrlichen Abdruk von Gottes Ebenbild, daß ich in dem Glauben beſtaͤrkt ward. Es gibt noch ſchoͤne Seelen unter uns! Aber ſollte ſie eher im groben Kittel der Armut, als im ſeidenen Ge - wande der Pracht wohnen? Sie erſcheint im erſten immer offener und freier, gepruͤft durch Widerwaͤrtigkeit, bewaͤhrt durch Leiden, als im andern, wo der Auſſenſeiten ſo viele ſind, dahinter ſich die wahre Geſtalt verbirget, wo ſelbſt der redliche Mann oft unter der Maske handeln muß, um nicht von Buben belauſcht, von Heuchlern betrogen zu werden.

Der heitre Blik des Greiſes, ein Zeuge des wahren Adels ſeiner Seele, ſo keines Stem -T 2288pels bedarf, und die voͤllige Reſignazion auf alles das, was ihm noch begegnen koͤnnte, war mir ein ſo reizendes Bild, daß ich meinen Augen die reinſte Wolluſt nicht entziehen konnte, es lange anzuſchauen, damit es meine Fantaſie ſich in der Folge als gegenwaͤrtig darſtellen koͤnnte. Bald wurde es meinen Augen und der Welt entruͤkt, aber ich hab ihm einen Plaz in meinem Herzen aufgeſchlagen, da ſtehts, und lebt, und iſt; es ſoll mich wafnen mit Glauben und Ge - duld, wider die Widerwaͤrtigkeiten des Gluͤks, wider die Schlaͤge des Schikſals, es ſoll mir Vertrauen an goͤttliche Fuͤrſorge einfloͤſſen, wann die Welt mir ſelbige rauben will, es ſoll meinen Mut ſtaͤlen, hindurch zu kaͤmpfen durch dornigte und oͤde Thaͤler, zum Ziel der Vollendung, ja es ſoll mir in der lezten bangen Stunde des Scheidens zur Seite ſtehn, und meinen Pfad durch die lange Nacht des Todes erhellen. Da werde ich dich wieder ſehen, vollendeter ſeliger Greis! werde in deine Arme ſinken, und freude - taumelnd ſtammeln, wir ſind gluͤklich!

289

Moͤchten wir es doch auch hienieden ſein! und o meine Bruͤder! wir koͤnnten’s, wenn wir gemeinſchaftlich das Elend truͤgen, was ein - mal unzertrennlich mit unſerm Weſen verbunden iſt. Kurz iſt die Laufbahn unſers Erdenwallens, und oft dornigt, oͤde und wuͤſte, mit karger Hand ſind uns die Freuden zugemeſſen, und das Vergnuͤgen iſt auf dem Wege des Lebens nur ſparſam geſaͤet wenig Tage duftet die Roſe, und das blaue Veilchen, das ein warmer Hauch des Fruͤhlings aufſchloß, haucht ſchon am Abend den Geiſt der Verweſung. Alles unter dem Monde iſt eitel, und der Zerſtoͤrung unterwor - fen. Leid und Freude wechſelt beſtaͤndig, nur folgt uns erſteres immer auf den Ferſen nach, da uns die leztere nur ſelten beſchleicht. Viel ſind oft der Tage des Elends, die der muͤde Pilger zaͤlt, druͤkkend das Joch, das auf ſeine Schul - tern laſtet, und er hats oft nicht verſchuldet Bruͤder legten es ihm auf. Und wir wollten ſo kalt hinein blikken, und zuſehen, wie ſeine morſchen Knie ſinken, wie ſein zitterndes Haupt zur Erde ſinkt, und der Kummer die muͤden Au - gen zudruͤkt! O nein, meine Freunde! laſſet uns ihm die Haͤnde reichen, und ſeine wanken -T 3290den Schritte geleiten, laſſet uns das erkaltete Vertrauen an die Menſchen in ſeiner Seele wie - der erwekken, und ihm vor ſeiner Entkoͤrperung noch die Freude gewaͤhren, die aus dem Bewuſt - ſein entſpringt, daß Gott der Vater unſer aller iſt, der nach einer langen Duͤrre die ver - ſchloſſenen Wolken oͤffnet, und Segen herab - ſtroͤmen laͤßt, der nach verſeufzten truͤben Tagen die Sonne wieder hervor ruft, und die lange groͤnlaͤndiſche Nacht durch einen milden Stral ſeines Lichts erhellet. Laſſet uns daher nie, auch bei den truͤbſten Ausſichten unſers Lebens, an ſeiner Fuͤrſorge verzweifeln, laßt uns alle Anfaͤlle des Schikſals, getaͤuſchte Hoffnungen, betrogene Wuͤnſche, ohne Murren ertragen, und nie mit der Vorſehung rechten wollen, wenn wir den Nichtswuͤrdigen uͤberſchuͤttet mit allen Guͤ - tern dieſes Lebens, und manche ſchoͤne Seele im haͤrnenen Gewande des Bettlers entdekken. Einſt wird uns die Huͤlle entriſſen werden, die hier un - ſere Augen verfinſterte; was uns hier dunkel war, wird uns Licht, und was unerforſchlich, helle und klar werden. Unſer Geiſt, deſſen Wiſſen nur auf einen kleinen Bezirk dieſer Erde be - ſchraͤnkt war, wird hohe Banen, Banen der Ewig -291 keit betreten, und die Weisheit in vollen Stroͤmen trinken, darnach er hienieden duͤrſtete, und jener Koͤrper, hier verweslich und elend, geht verjuͤngt aus ſeinem Grabe zum ewigen Lenz hervor, unverweslich und gluͤklich. Da finden ſich all die Lieben wieder, die einſt der Tod von einander riß, all die ſchoͤnen Seelen, die einſt Land und Meer von einander trennten, finden ſich wieder, und ſind gluͤklich!

Und bei dieſer frohen Ausſicht jenſeits der dunklen Cypreſſe, die auch einſt um unſern Aſchenkrug ſaͤuſelt, will ich ſtille ſtehen, und mich von euch trennen, von euch, meine Freunde! die ich in meine Augen legte, da ich dieſes ſchrieb! Weis Gott! wie ſchwer mir dieſe Trennung wird, aber iſt’s nicht das unveraͤnderliche Loos der Menſchheit? und wer haͤtte es nicht in der kurzen Szene ſeines Lebens erfahren, wie bitter es ſei, losgeriſſen getrennt zu werden, von dem, was man liebt, an das man ſich mit herz - lichem Wolgefallen ſchmiegt. Wie ertruͤgen’s wir auch, wenn nicht die Hoffnung uns belebte, wir werden uns wieder ſehen!

292

Sollen auch wir uns wieder ſehen, ſo wuͤnſche ich, daß wir uns alle gluͤklich und froh wieder ſehen moͤgen. Bis dahin lebt alle rechtſchaffen, fromm und gut, daß wenn auch einſt, fruͤh oder ſpaͤt, der Ruf des all - gemeinen Schikſals an euch ergeht, ihr nicht unbereitet ſeid, und getroſt eure Augen zu - ſchlieſſen koͤnnt, um ſie einſt froh wieder zu oͤffnen.

Stehet auf, und laſſet uns von hinnen gehen.

[293][294][295][296][297]

About this transcription

TextDie Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen
Author Julius Friedrich Knüppeln
Extent305 images; 50822 tokens; 9520 types; 347158 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen Szenen aus der heutigen Welt, für den Menschen, Bürger und Richter Julius Friedrich Knüppeln. . [2] Bl., 292 S. MaurerBerlin1784.

Identification

SUB Göttingen SUB Göttingen, 8 J NAT 3162

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; Gebrauchsliteratur; Gesellschaft; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:32:16Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibrarySUB Göttingen
ShelfmarkSUB Göttingen, 8 J NAT 3162
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.