PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Rechte der Natur und Menſchheit,
entweiht durch Menſchen. Szenen aus der heutigen Welt, fuͤr den Menſchen, Buͤrger und Richter,
Berlin,in Kommiſſion bei Friedrich Maurer,1784.

Ewig muͤſſen uns die Rechte der Natur und Menſch - heit heilig, und unverlezt ſein! Denn der, der zum Himmel ſprach: werde, und zu der Erde: gehe aus dem Nichts hervor, der hat ſie gegeben, und wacht uͤber ihre unverlezte Wuͤrde. Feierlich ſei uns jeder kommende Morgen, er iſt der Anfang eines Tages, von dem wir einſt Rechenſchaft geben muͤſſen.

Jnhalt.

  • I. Etwas fuͤr den Menſchen, Buͤrger und Richter. Seite1
  • II. Die Rechte der Natur und Menſchheit, wie ſie durch Menſchen entweiht werden. 2
  • III. Seldau, nicht zur Knechtſchaft ge - boren, nur durch Menſchen unter - jocht, und ein Opfer der Geſezze. 34
  • IV. Karoline einſt froh und gluͤklich, her. nach verfuͤhrt und elend, Moͤrderin ihres Kindes, und ein Opfer der Gerechtigkeit. 47
  • V. Aeltern-Tirannei, die ſchreklichſte in der Natur72
    • A) Julie, als Maͤdchen gluͤklich, als Frau elend. 74
    • B) Charlotte, das ungluͤkliche Landmaͤdchen. 103
    • C) Heinrich und Marie, im Leben getrennt, durch den Tod verbunden. 114
    • D) Woldau und Emilie, auch Liebe fuͤhrt ins Grab. 118
  • VI. Ehrloſigkeit, entweihter Name, ſchlechte Handlungen koͤnnen ehrlos machen, aber nicht Geburt und Handthierungen, die zum Nuzzen der Geſellſchaft da ſind, und da ſein muͤſſen. Seite126
  • VII. Jn Huͤtten wohnt Elend, und ihre Bewoner ſeufzen unter dem Joch der Sklaverei. 149
    • A) Grauſame Handlung in Schwaben. 151
    • B) Empfindungen bei der Urne Aloyſii, Fuͤrſten von Oettingen. 169
  • VIII. Johann Joſeph Puͤre, Juſtizmord in Frankreich. 177
  • IX. Stolz und Liebe, Triebfedern des Wahnſinns. 193
  • X. Traurige Gruppen der Sittenloſigkeit des Zeitalters, enthuͤllt fuͤr teutſche Fuͤrſten, fuͤr teutſche Juͤnglinge, und teutſche Maͤdchens. 205
  • XI. Phanor, fuͤhlendes Herzens war der Juͤngling, und doch ſo ungluͤklich, daß er den Schauplaz verließ, ehe er abgerufen ward. 228
  • XII. Die Unſchuld in Ketten, und in dunkeln Gewoͤlben des Elends. 261
    • A) Angeklagter uͤberwieſener intendirter Moͤrder, dem Scheine nach, und doch am Ende ein tugendhafter Mann, und unſchuldig. 270
    • B) Schoͤne Seele, unterm Gewande des Bettlers. 272
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I. Etwas fuͤr den Menſchen, Buͤrger und Richter.

Auch ich will mein Herz vor meinen Bruͤdern ausſchuͤtten, will als Menſch zu Menſchen re - den, will die Rechte der Natur und Menſch - heit enthuͤllen, und zeigen, wie ſie entweiht und zerriſſen werden.

Seid mir geſegnet, Stunden! wo ich die Rechte der Menſchheit in ihrer Wuͤrde fuͤhlte, wo ich auch den niedrigſten Bruder mit weltbuͤrger - licher Liebe umfing, und mit Wonnetraͤnen aus - rief: Vater! du haſt uns alle gleich ge - macht, haſt durch ein einziges Band uns liebevoll umſchlungen. Heiliges Band! A2das das allmaͤchtige Weſen webte, um die Men - ſchen mit einer allgemeinen Bruderliebe zu ket - ten. Gluͤkliches Band! das den Menſchen zum Menſchen, ja den Menſchen der Gottheit gleich macht und koͤnnteſt du getrennt, koͤnnteſt du entweiht und zerriſſen werden? Trauriger Gedanke! der das Herz erſchuͤttert, und dem Auge Traͤnen der Wehmut entlokket, kann dich mein Geiſt entfalten? Ja, kann es den Gedanken in ſeiner ganzen Schwere fuͤhlen: der Bruder mordet den Bruder der Bruder zerreißt die Bande des Bluts, und uͤberlaͤßt ſei - nen Mitbruder dem Elend und der Verzweif - lung, ja ſtoͤßt ihm den Dolch ins Herz, und hohnlacht, wann er ſegnend ſeine Seele aushaucht?

Und das waͤre das Werk des Menſchen, den die Gottheit aus feinem Stoff bildere, in dem ſie alle die groſſen Eigenſchaften als Keime legte, durch die ſie Aeonen lang war und wuͤrkte? Nein, das iſt nicht das Werk des aͤchten Soh - nes, ſondern eines Baſtards Das ſchoͤpfri - ſche Werde bildete lauter gute Geſchoͤpfe, bei de - ren Anblik ſie an jedem Abend des Werdens aus - rufen konnte: Es iſt alles gut! Aber es waren Geſchoͤpfe, die zerbrachen die gute Form, und3 daher entſtanden Baſtarde der Menſchheit, de - nen nichts, auch die ehrwuͤrdigen Bande des Bluts nicht heilig waren. Auch ſie wan - deln noch auf Gottes lieben Weltrund, aber wo ſie wallen, da verdorren Gras und Kraͤuter; al - les welkt von ihrem verheerenden Hauch dahin, und geht zur Verweſung uͤber; ſie haben Kuͤſſe auf den Lippen und Schwerder im Buſen, ſie ſprechen der Gottheit Hohn, und verlachen weiſe Geſezze die Unſchuld ſinkt unter ihren Strei - chen wehrlos dahin, und die ſanften Bande der Liebe, der Freundſchaft und des Wolwollens werden in einem Nu getrennt und zerriſſen.

O, ſei mir willkommen edler Mann! der du die Rechte der Natur und Menſchheit vor je - nen Buben vertritſt, die ſie ſo ſo ſchaͤndlich ent - weihen und zerſtoͤren wollen, der du auf ihre Stirnen das Brandmal der Schande und Ver - achtung druͤkſt, damit jeder Buͤrger es leſe und zuruͤkſchaudere. Sei mir willkommen, deutſcher Mann! biederer Freund! der du Menſch und Bruder biſt der du ein offenes Herz fuͤr Freude und Leid haſt, der du es fuͤhlſt, wie es im Jnnern krampft und wuͤtet, wann der Menſch unterjocht und bedruͤkt wird, wie dieA 24leidende Menſchheit endlich einen Ausweg ſucht, wann ſie gedraͤnget und von Nichtswuͤrdigen ihrer Rechte beraubet wird, die mit dem Griffel der Gottheit auf ihrer Stirne verzeichnet ſind. Sei mein Begleiter auf dem Pfade meines Er - dewallens, und durchdringe mit mir den Nebel der Vorurteile, der die Handlungen der Men - ſchen dem Auge verbirget; laß mich den guten und edlen Menſchen auch im Miſſethaͤter und Moͤrder finden ihn bedauern und ihm Traͤ - nen ſchenken. Gieb der ohnmaͤchtigen Sprache Worte, wann ſie die Rechte der Menſchheit ent - huͤllen ſoll. Lehre auch jezt meine Feder Zuͤge bil - den, die kalte Seelen erwaͤrmen und fuͤhlloſe harte Herzen weich und biegſam machen koͤnnen.

Ja, zu euch will ich reden, meine Bruͤ - der! wie es mein Herz heiſcht, ich will euch den Menſchen aufdekken in ſeiner Niedrigkeit und Armut, wie er von Menſchen verlaſſen, ein Le - ben aushaucht, das eine Kette namenloſen Jammers war. Jch will euch die Leiden meiner Bruͤder ſchildern, Leiden die die Seele erſchuͤt - tern, und den feſteſten Bau des Koͤrpers ab - ſpannen. Kommt mit mir in jene unterirdiſchen Hoͤlen, wo Menſchen, ausgeſtoſſen aus dem Zir -5 kel der Geſellſchaft, ihr duͤſtres Leben verſeufzen ſchaurig und oͤde iſt dieſer Aufenthalt, nicht immer dem Laſter, auch oft der gekraͤnk - ten Tugend geweiht. Kein Stral des Lichts daͤmmert hier, hier wekt kein Morgen zu neuen Freuden, truͤbe und druͤkkend iſt die Luft, die du einathmeſt; hier gattet ſich das Elend mit der Verzweiflung, Hunger und Bloͤſſe ſind getreue Gefaͤhrten des Jammers, der hier hauſet. Ein dumpfes Geklirre von Ketten hallt dir fuͤrchter - lich entgegen, und ein Geaͤchze und Gewinſel verraͤht dir das Daſein eines Weſens, das mit dir, als Menſch betrachtet, gleiche Beſtimmung hat. Bei dem duͤſtern Schein einer Lampe er - blikſt du ein bleiches abgehaͤrmtes Geſicht, hole Augen, einen kalten, matten Blik, in dem die Freude laͤngſt erſtorben iſt. Modernde Lnmpen ſind ſein Gewand, und faules Stroh ſein Lager; das Fleiſch iſt vom Gram verzehrt, und das klap - pernde Knochengebaͤude haͤngt an duͤnnen Faſern. Schon ſchwelgen die Wuͤrmer an ſeinem Leibe, und in ihm lebt keine Kraft mehr, ſich vor ihnen zu ſchuͤzzen, bei jedem Laut faͤhrt er erſchrokken auf, kruͤmmt ſich am Boden, aͤchzt und winſelt: vernichtet mich! O! ich bitt euch,A 36wendet euer Antliz nicht weg, er iſt auch euer Bruder! ſo elend und verworfen er auch iſt; hoͤrt erſt ſeine Geſchichte, und vielleicht bedauert ihr ihn Er war vielleicht einſt gut und bieder, haͤtte ein brauchbares Glied der Geſellſchaft wer - den koͤnnen, wenn ſeine Bruͤder ihm nicht das Gewand der Menſchheit entriſſen, und ihm die Rechte der Natur entzogen haͤtten.

Kommt mit mir an jene Staͤte, wo die Ge - rechtigkeit ihre Opfer wuͤrgt, dort laßt uns Ge - danken des menſchlichen Elends entfalten; ſeht hier hole Schedel zerſtoſſene Gliedmaſſen flatternde Gewaͤnder! Laßt uns nicht die Achſel zukken, und mit dem liebloſen Gedanken vor die - ſer Staͤte voruͤbereilen: er war ein Boͤſe - wicht! Nein! laßt uns die Geſchichte des Un - gluͤklichen enthuͤllen, laßt uns ihm folgen von dem Tage an, da er ſein Daſein empfing, bis an dem Tage, da er es durch Henkersknechte verlor.

Nicht jeder Gerichtete war, weil er gerichtet ward, ein Boͤſewicht. Ward nicht auch ein Ca - las gewuͤrget? Hatte nicht ein hohes Tribunal den Stab uͤber ihn gebrochen? Hielt ihn nicht der einſtimmige Zuruf des Volks fuͤr ſchuldig? 7Ward nicht eine gute ehrbare Matrone als Hexe zu Buchlor verbrant? Ward nicht man - cher gerichtet, deſſen That Mord vor Menſchen, aber nicht vor Gott hieß? Ward nicht mancher gerichtet, der aus einem Anfall von Wahnſinn, und uͤberſpanntem Affekt, ein Moͤrder ward, deſ - ſen Seele aber, indem er mordete, nicht wuſte, was ſeine Haͤnde thaten? Ja ward nicht mancher gerichtet, indem ein unwiſſender, oder wohl gar beſtochener Richter den Stab Wehe uͤber ihm brach?

Zollt daher immer dem Andenken dieſer Un - gluͤklichen Traͤnen des Gefuͤhls und der Ruͤh - rung, laßt uns ihr Andenken vor dem Hohnge - laͤchter kalter Seelen retten, laßt uns aus ihrem Fall ein lehrreiches Beiſpiel ziehen, wie tief der Menſch fallen, wie tief er hinabſinken kann.

Noch ſind wir zwar gluͤklich noch ſchluͤr - fen wir den reinſten Genuß der Lebensgluͤkſe - ligkeit ein, aber wie bald kann die Sonne wei - chen, und ſchwarze Wolken fuͤrchterlich uͤber unſern Scheiteln haͤngen! Laßt uns daher auch jetzt, in den heitern Tagen unſers Lebens, unſere Knie vor jenes hoͤchſte Weſen beugen, das unſicht - bar um uns wandelt laßt uns ihn mit ge -A 48ruͤhrter Seele anflehen: Vater, leite uns, daß wir nicht ſtraucheln! leite all unſere Ge - danken auf gute Entſchluͤſſe, daß ſie lauter edle Thaten zur Reife bringen, wuͤrdig der Vergel - tung hienieden, und des Lohns hinter den Ci - preſſen. Dieſe Ergieſſung eures Herzens wird euch vor Stolz und Hochmut bewahren, ihr werdet nicht mit kalten Blikken auf eure ungluͤk - liche Bruͤder herabſchauen, ſondern ihr werdet das Elend zu lindern ſuchen, und ſo weit euer Wuͤrkungskreis reicht, Ruhe und Freude verbrei - ten. Fuͤr euch ſchrieb ich dieſe Blaͤtter nieder, mit dem herzlichen Wunſch, daß ſie eine ſanfte Schwermut, welche ſuͤſſer iſt, denn alle Freude der Welt, in euch hervorbringe.

Es ſind koſtbare Traͤnen, die um die Leiden unſerer Bruͤder, um den Fall der Unſchuld von den Wangen herabgleiten, ſie ſind koͤſtlicher, denn jeder Ausbruch der thoͤrichten Freude, das Lachen und Singen der Froͤhlichkeit: dieſe laſſen oft das Herz leer, und erzeugen Ekel und Ueber - druß, aber jene veredeln die Seele, erweitern das Herz, machen es gut und edel, erfuͤllen den Geiſt mit Liebe und Wolwollen, und ſchaffen helle lichte Ausſicht jenſeits den Schranken, wo9 der Staar vom blinden Auge weggenommen wird, und wir die unerforſchlichen Wege der Vorſicht ganz durchſchauen koͤnnen.

Euch, geiſtige, gefuͤhlvolle Seelen! die ihr alles mit Waͤrme umfaſſet, und in euch ſelbſt verſchloſſen, herrliche Traͤume denket, will ich auch dieſe Empfindungen einer geruͤhrten Seele weihen ſchuͤzt ſie wider das Hohu - gelaͤchter der Fuͤhlloſen, die alles fuͤr ſchwaͤrmeri - ſche Schimaͤren halten, was nicht mit ihren Lei - denſchaften beſtehen kann, die dem hellleuchtenden Schimmer der Warheit ausweichen, weil er ihre bloͤden Augen verblendet, die alles, was ehrwuͤr - dig und gut iſt, mit ihrem Wizze vergiften, und toͤden wollen. Das werden ſie aber nie! Die Tugend bleibt Tugend, wenn ſie gleich arm und verachtet, ſich unter Truͤmmern verſchleicht; es kommen immer Stunden der Vergeltung, wo ſie gern die Tage zuruͤk erkaufen moͤgten, die ſie im Wolleben und Ueppigkeit verpraßt haben, wo ſie vergebens nach Ausuͤbung einer guten That ſchmachten, um ihre boͤſen Handlungen einigermaßen aufzuwiegen. Wir nicht alſo, laßt uns auch manchmal unter den Cipreſſen und Wermuthsſtauden verweilen, da -A 510mit wir fruͤh weiſe werden, und nur den frohen Gedanken entfalten, daß noch jenſeits dieſen Gruͤnden eine Staͤte ſei, wo die Tugend be - lohnt, und das Laſter beſtraft werde, wo die, welche hier mit Traͤnen geſaͤet, dort mit Wucher aͤrnten werden.

Du aber ewiges Weſen! wuͤrdig, daß alle Welt dich ehre, du ſchufſt den Menſchen zur Gluͤkſeligkeit; er entſprang aus der ſchoͤpferi - ſchen Meiſterhand vollkommen und gut. Sei gluͤklich! war dein goͤttlicher Ausſpruch, und ſo ſezteſt du ihn in eine Welt, wo alles zur Gluͤkſeligkeit einladet; was kannſt du dafuͤr? wenn ſie es nicht ſind; wenn ſie ſich untereinan - der ihre Tage verbittern, und zu Tagen des Jam - mers machen; wenn ſie ſelbſt den Dolch gegen ſich zukken; wenn ſie alle Bande zerreiſſen, wo - mit du ſie ſo bruͤderlich verbandſt. Sie entwei - hen deine Geſezze, und wandeln einen andern Pfad, als den, welchen du ihnen durch die Na - tur vorgezeichnet haſt. Daher kommts, daß ſie nie den Quell der wahren Gluͤkſeligkeit finden, der nur aus der Erfuͤllung deiner Gebote, aus der Ausuͤbung der Menſchenliebe entſpringt, und ſanft durchs Thal des Lebens hinleitet.

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Wir wollen dieſen Quell aufſuchen, meine Bruͤder! aus welchem Segen und Ruhe auf uns herabſtroͤmt. Wir wollen den Pfad wallen, den uns der Schoͤpfer durch den Ausfluß ſeiner Gott - heit, die Natur, vorgezeichnet hat, und auf - merken auf ihren lauten Zuruf; denn es iſt die Stimme der Mutter, die ihrem Saͤugling ruft. Sie ruft Uns, und einem Jeden Erdenbuͤr - ger zu:

Nur der iſt weiſe und gluͤklich, der mit unverdroßnem Fleiß die Stelle ausfuͤllt, die der große Baumeiſter, der den Plan des Ganzen denkt, ihm beſtimmt hat.

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II. Die Rechte der Natur und Menſch - heit, wie ſie durch Menſchen entweiht werden.

Eine jede Verbindung mit dem Staat und den Gliedern deſſelben, ſetzt gewiſſe Rechte voraus, die weſentlich damit verbunden ſind, und die zur Ordnung und Uebereinſtimmung einzelner Theile mit dem Ganzen beitragen. So hat ſelbſt der Fuͤrſt Rechte gegen ſein Volk, ſo hat jeder Menſch, als Untertan, Rechte gegen den Lan - desherrn, als Buͤrger, Rechte gegen die Obrig - keit, als Glied der Geſellſchaft, Rechte gegen die Zunft, in der er aufgenommen iſt. Damit nun dieſe Rechte beobachtet, und in ihrer Wuͤrde ungekraͤnkt erhalten wuͤrden, entwarf man von jeher Geſezze und Verordnungen, die nach der Verfaſſung eines jeden Reichs eingerichtet, und durch Eidesleiſtungen geheiligt wurden. Man be -13 ſtellte in den alten Zeiten Ephoren, Araͤopagi - ten und Cenſoren, die dafuͤr Sorge tragen muſten, daß dieſe Rechte, dieſe Verpflichtungen genau erfuͤllt wuͤrden; der Staat gab ihnen das Recht, Buͤrger zur Verantwortung zu ziehen, ſie zu belehren, und zu ſtrafen.

Unſere Richter ſind zu eben dieſem Zwekke da, ſowohl um die Rechte des Landesherrn auf - recht zu erhalten, als auch die buͤrgerlichen Rechte zu ſchuͤzzen, die hauptſaͤchlich dahin zielen: einem jeden Buͤrger ſein Eigentum zu erhalten, und ihn bei den Vorrechten, die ihm der Staat und die Geſellſchaft verleihen, zu ſchuͤzzen. Wer wird alſo nicht zugeſtehen muͤſſen, daß dieſe Rechte zum Wol des Ganzen da ſein und beobachtet werden muͤſſen? Jndeſſen giebt es noch andere Rechte, die heiliger und ehrwuͤrdiger ſind, hei - liger, indem ſie mit dem Griffel der Gottheit im Herz der Menſchen geſchrieben ſtehn, ehrwuͤr - diger, da ſie zugleich mit der Entwikkelung des Chaos, und Entſtehung des Menſchengeſchlechts ihr Daſein empfingen.

Dies ſind die Rechte der Natur und Menſchheit! Rechte, deren Ausuͤbung, Gluͤk14 und Ruhe zu Begleitern, deren Verlezzung aber Ungluͤk und Elend zu Gefaͤhrten hat.

Wie wir dieſe Rechte beobachten, wie wir ſie ausuͤben ſollen, lehrt uns die Natur. Jhre Stimme iſt es, die uns ſtets zuruft: Menſch! lies im Buch der Schoͤpfung, da findeſt du alle deine Pflichten verzeichnet, da ſchrieb die Gottheit Dir jene Rechte nie - der, die du in Ruͤkſicht deiner ſelbſt, und deiner Mitbruͤder zu befolgen haſt, han - dele darnach, mache es dir zur heiligen Pflicht, ſie auszuuͤben und du wirſt gluͤk - lich ſein! Dies iſt die laute Stimme der Na - tur, die uns taͤglich zuhallt, und unſer Herz be - ſtaͤtigt ihren Ausſpruch. Und dennoch ſeh ich Menſchen, die dieſer Stimme ihr Ohr verſchlieſ - ſen, die alle Gefuͤhle der Menſchheit in ihrem Herzen erſtikken; ich ſeh Verbindungen entweiht und zerriſſen, worauf die Natur das Siegel druͤkte, ich ſeh die Menſchheit unterjocht, und keuchend unter den Ketten der Sklaverei ich ſeh heilige Geſezze freventlich entweiht, und zu Menſchenſazzungen herabgewuͤrdigt ich ſeh den Rechtſchaffenen im Staube, den Boshaften auf dem hoͤchſten Gipfel der Ehre ja ich ſehe15 Blutvergieſſen an Altaͤren der Gerechtigkeit, ſeh die Unſchuld in Ketten, auf dem Rade alles dies ſeh ich in unſerm Jahrhundert, dem Zeit - alter des Geſchmaks und der Aufklaͤrung, ver - huͤlle mein Antliz und weine!

Aber kann man die Urſachen nicht beſtim - men, die den Verfall unſerer moraliſchen Guͤte nach ſich ziehn? Diejenigen Triebfedern die unſer Herz ſo verderbt und boͤſe machen, daß wir mit Vorſaz die Rechte der Natur und Menſchheit entweihn, und Bande zerreiſſen, die das hoͤchſte Weſen um uns ſchlang?

Wenn wir die Geringſchaͤzzung gegen die goͤttlichen Geſezze, die Verachtung der Re - ligion bemerken, die auf alle Staͤnde verbreitet iſt, ſo wird man darin leicht den Grund fin - den, warum auch diejenigen Rechte entweiht wer - den, die durch die Religion alſo geheiligt werden.

Wenn man auf die ſchlechte moraliſch feh - lerhafte Bildung unſerer Jugend ſein Au - genmerk richtet, wenn man gewahr wird, wie fruͤh wir anfangen, uns des beſchwerlichen Man - tels der Sittſamkeit und Tugend zu entledigen, und durch ſtumme und laute Suͤnden ſchon im zwanzigſten Fruͤhling unſers Lebens verbluͤht ſind,16 ſo iſt es wol kein Wunder, daß wir auch die Bande freventlich und gewiſſenlos verlezzen, die uns an die Menſchheit ketten.

Wenn die Gerechtigkeit taub iſt gegen die Stimme der Unterdruͤkten, und die Perſon an - ſieht, die ſie richten ſoll; wenn gewiſſenloſe bos - hafte Richter das Recht verkaufen, und ihre Ausſpruͤche nach dem Masſtab ihrer Leidenſchaf - ten einrichten wenn unbaͤrtige Knaben an den troknen Worten der Geſezze klauben, und die Handlungen Anderer beurteilen wollen, da ſie weder die Welt, ihre Mitbruͤder, noch ſich ſelbſt kennen wenn ſie den Aberglauben be - guͤnſtigen und laͤcherlichen Vorurteilen den Sieg uͤber ſich einraͤumen Wenn dir deutſcher Mann! dieſe Szenen nicht blos in Lion und Toulouſe, ſondern in deinem Vaterlande auf - ſtoſſen, wenn du auch in deinen Grenzen Ge - richtshoͤfe findeſt, die zum Schuzze der menfch - lichen Rechte berufen, ſie ſelbſt entweihen, die Menſchheit unterjochen, die Unſchuld in den Staub legen, ſo nenne unſer Zeitalter nicht das aufgeklaͤrte, das Jahrhundert des Geſchmaks und der Verfeinerung, ſo glaube nicht, daß wir weiſer ſind, als unſere Voraͤltern, die auf dieAuf -17Auftechthaltung natuͤrlicher und menſchlicher Rechte, ihr Gut, ja ihr Leben wagten, und den aus ihrem Zirkel ſtieſſen, der ſie verlezte.

Es iſt wol der traurigſte Zuſtand, in den ein Volk gerathen kann, wenn es ſich fuͤr weiſe und aufgeklaͤrt haͤlt, und doch Handlungen be - geht, die von Barbarei und Unwiſſenheit zeugen; wenn es glaubt, alle Tiefen des menſchlichen Verſtandes erſchoͤpft zu haben, und dennoch Aberglauben und Dummheit den Sieg uͤber ſich einraͤumet. Und ich glaube, dies iſt gerade der Fall unſers jezzigen Zeitalters. Und um dies genauer zu entwikkeln, will ich einige unſerer Kenntniſſe beruͤhren, worauf wir ſo ſtolz ſind, wodurch wir uns den Namen eines aufgeklaͤrten Volks zuge - eignet haben. Unſere Vorfahren kannten Reli - gion, und uͤbten ſie mit groſſer Gewiſſenhaftig - keit aus, dafuͤr waren ſie auch roh und unwiſ - ſend. Wir hingegen, ihre verfeinerte Nachkom - men, ſchlagen ein lautes Hohnlachen uͤber jene aͤltere Religion auf, die ihre erſte Reinigkeit be - halten hatte; wir verwerfen die Offenbarung aus den elenden ſeichten Gruͤnden, weil ſie Saͤzze enthaͤlt, die unſere bloͤde und ſtumpfe Vernunft nicht begreifen kann; wir ſchaffen uns eine eigeneB18Religion, die unſern Leidenſchaften, unſern ſinnlichen Begierden ſchmeichelt, und verſtatten jenen Heuchlern den Zutritt zum Volk, die da ſagen: es iſt kein goͤttlicher Erloͤſer des Menſchengeſchlechts! Da ſtehen ſo viele Afterphiloſophen unter uns auf, die mit ihrer Weisheit prunken, und uns in Sillogismen und falſchen Saͤzzen alles rauben wollen, was zu unſerer Beruhigung vor Jahrhunderten gelehret und befolget worden, da treten ſolche Schriften aus Licht, die Religion fuͤr Schimaͤre, Tu - gend fuͤr ein Fantom halten, und oͤffentlich unter uns geduldet werden*)So erſchien in der Michaelmeſſe 1783 ein Buch, Horus genannt, ſo alle Haupt - und Grundwar - heiten der Religion uͤbern Haufen wirft, und mit allem, was ehrwuͤrdig und heilig iſt, ſein Ge - ſpoͤtte treibt. Was fuͤr ein Herz muß im Bu - ſen des Verfaſſers ſchlagen, da er ein ſolches Gewebe von Aberglauben und Dummheit ent - warf, und ſeinen Namen an die Schandſaͤule des.

Dazu kommen noch die ſeichten Begriffe ſo wir in der Jugend von Gott und Religion er - halten; wir gewoͤhnen uns Toͤne zu plappern, von denen unſer Herz nichts weiß, wir lallen19 unſer Glaubensbekenntnis her, ohne zu wiſſen, was wir bekannt, was wir gelobt haben, was Wunder, wenn bei zunehmenden Jahren ſol - che Schriften Eingang bei uns finden, wenn wir ſie mit heiſſer Begierde verſchlingen, ohne ſie genau zu pruͤfen, und die Trugſchluͤſſe einer dunkeln Metaphyſik von den wahren un - terſcheiden.

Wie nun auf der einen Seite Unglauben und Spoͤtterei uͤber das heiligſte und wichtigſte der Religion uns mit deſpotiſcher Strenge be - herrſchet, ſo bedruͤkt uns auf der andern Seite der Aberglauben mit ſeinen ſklaviſchen Feſſeln, und ſo wie wir auf der einen Seite uns aufge - klaͤrt und weiſe waͤhnen, wann wir mit Frivoli - taͤt uͤber die wichtigſten Warheiten des Glaubens hinweggaukeln, ſo laſſen wir uns auf der andern*)Jahrhunderts und der Nachwelt ſchrieb! War ihm etwa das Huſſageſchrei der Lotterbu - ben theurer, als der Beifall der Edlen ſeines Volks? Und hallte ihm nicht jene warnende Stimme zu: Wehe dem Menſchen, durch welchen Aergernis kommt, es waͤre beſſer, daß er nie geboren worden! B 220Seite von Schwaͤrmern und boshaften Betruͤ - gern verleiten, Jrrwege zu betreten.

Dieſe ſind die gefaͤhrlichſte Brut, die die Erde erzeuget, ſie ſchleichen unter der Mine der De - mut einher, und Betrug und Argliſt lauern im Hinterhalt; ſie beſuchen den Tempel, und mit aͤngſtlicher Befolgung der Gebraͤuche ihrer Kir - che gewoͤhnen ſie ſich zu einer ſchmuzzigen Klei - dung, zu einer heuchleriſchen Mine, um das bloͤde Volk zu betruͤgen, und es durch den Ge - ruch ihrer Heiligkeit an ſich zu ziehn.

Sie misbrauchen den Namen der Gottheit, und uͤben Handlungen in der Huͤlle der Nacht aus, dafuͤr der wilde Kamſchadale erroͤten wuͤrde. Da ſie die Pflichten der Geſellſchaft freventlich verlezzen, und ihre Nebenmenſchen hintergehn, wie wollen ſie die Pflichten gegen Gott erfuͤllen? Denn was ſind ſolche Leute an - ders als faule laͤſſige Geſchoͤpfe, welche die Bande des geſellſchaftlichen Lebens zerreiſſen, Menſchen, die ihre Jugend dem Muͤſſiggange und der Wolluſt geweiht, ihre Guͤter verpraßt, und ſich ſatt geſchwelgt haben auf dem weichen Pflaum der Wolluſt und Ueppigkeit Men - ſchen, die ihre Nebenmenſchen bevortheilt,21 Schulden auf Schulden gehaͤuft, und als Fluͤchtlinge davon geeilet? Menſchen, die anvertraute Schaͤzze des Landes entwendet, ihre Klienten betrogen, Wittwen und Waiſen beraubt haben. Dies iſt jenes Gezuͤcht von Men - ſchen, die ſich, um ein gemaͤchliches Leben zu fuͤhren, den blinden Aberglauben des vornehmen und geringen Poͤbels zn Nuzze machen, der Obrigkeit und ihrer Geſezze ſpotten, nuͤzlichen Anordnungen zur Aufrechthaltung der wahren Religion das Gepraͤge der Unlauterkeit und Kez - zerei geben, Schmaͤhſchriften wider wuͤrdige Glieder der Kirche anzetteln, und mit fanatiſcher Wut den Poͤbel zum Aufruhr entflammen. Wem ſolte die Geſchichte der Wunderfrau Mutſch - ler in Schwaben eines Roſenfelds des Monddoktors der Revolution uͤber das neue Geſangbuch in den preuſſiſchen Staaten und der Sektirer Apiz und Hen - ning*)Ein gewiſſer Henning im Meklenburgiſchen, gab ein Buch unter dem Titel: der reine Kri - ſtallſtrom heraus, und rottete eine groſſe Zahl ſeiner Landsleute an ſich, bis er endlich von der Obrigkeit ins Tollhaus gebracht wurde. unbekannt ſein? Wer waͤre nicht mitB 322mir einverſtanden, wie nachteilig ſolche Schwaͤr - mer und Diener der Finſternis und des Aber - glaubens dem Staat und der Geſellſchaft ſind; nachteilig fuͤr die wahre Religion und Ver - vollkommnung des Menſchen, nachteilig fuͤr den Staat und die buͤrgerliche Ordnung, die eine Kette des Ganzen iſt? Denn wenn der Aberglaube noch mit ſeinen eiſernen Feſſeln klirrt, ſo wird das buͤrgerliche Band der Geſellſchaft zerriſſen, Eintracht und Liebe fliehn, Haß und Verfol - gungsgeiſt wuͤten, und hauchen verderbende Duͤnſte uͤber das Land. Warum ſchweigt aber die Obrigkeit, und geſtattet, daß ſolche Jrrlehrer und falſche Proſelyten in Schaafskleidern einher ſchleichen und die Seelen wuͤrgen; man ſollte ſie ausloͤſchen aus dem Regiſter der Buͤrger, man ſende ſie in die Bergwerke und Gruben, um, da ſie doch einmal das Licht ſcheuen, etwas zum Nuzzen der Geſellſchaft verrichten zu koͤnnen.

Kann man aber bei Erblikkung ſolcher Sze - nen ſagen, daß wir aufgeklaͤrt ſind? Denn es iſt nicht blos der niedrige Poͤbel, der auch in Athen Poͤbel war, ſondern auch derjenige Theil des Volks, der uͤber dem Poͤbel erhaben ſein will,23 der ſich vom Aberglauben unterjochen, und von Heuchlern beherrſchen laͤßt

Doch laßt uns noch eine anderere Szene be - trachten. Unſere biedere Ahnherren waren keuſch und zuͤchtig, und ſezten in Ausuͤbung der Keuſch - heit ihren Ruhm und Groͤſſe; wir aber, mit hel - len aufgeklaͤrten Begriffen, kennen das Wort nicht mehr, und haben die Keuſchheit aus unſern Grenzen verbannt. Eheliche Treue iſt zum Maͤr - chen bei uns herabgeſunken, an das nur noch der Poͤbel in Huͤtten glaubt, wir ſezzen uns uͤber die ſeichten Begriffe der Treue weg, und ſuchen jezt ſogar Polygamien einzufuͤhren, und Ehe - verbindungen zu bloſſen Vertraͤgen her - abzuſezzen, die ohne Mitwuͤrkung der Religion ſancirt werden ſollen.

Unſere Jugend ruͤhmt ſich der unruͤhmlichen Siege, die ſie auf dem Pfade der Wolluſt er - kaͤmpfet, erroͤtet nicht, Toͤne zu ſtammeln, dafuͤr der Tahitiſche Bewoner ſich entſezzen wuͤrde. Ohne Grundſaͤzze in die Welt geſezt, waͤlzt ſie ſich auf dem uͤppigen Lager der Wolluſt und Un - zucht, ſchwelgt am Male der Ueppigkeit und Voͤllerei, bis der entnervte Bau des Koͤrpers ſinkt, und das wankende Skelet ſiech und athem -B 424los herumkeucht, und von jedem Luͤftchen ange - haucht, ein elendes jaͤmmerliches Leben ausduͤn - ſtet. Das vollwangigte deutſche Maͤdchen verrichtete Maͤnnerthaten, liebte nur den mu - thigen Krieger, der beſpruͤzt vom Blut vaterlaͤn - diſcher Feinde in ihre ofne Arme eilte, und ausruhte von errungenen Siegen Ward Frau von unbeſcholtener Treue, von edlen Sitten, der Grosmut und Gaſtfreiheit, ward Mutter, die mannbare Soͤhne zeugte, und ſchoͤnen Toͤchtern das Daſein gab Und wir? o, ich mag den Vorhang nicht zuruͤkſchlagen, und euch das traurige Bild eurer Toͤchter, Frauen und Muͤtter zeigen! es nur zu entwer - fen, wuͤrde mein Herz erſchuͤttern, und ich koͤnnte mit der Vorſicht murren, daß ſie uns ſo verworfen hat. Aber daß wir glauben, wir ſind aufgeklaͤrt und weiſe, wann wir alte biedere Sit - ten verachten, am Narrenſeile des Franzmanns tanzen und jeder neuen laͤcherlichen Mode den Zugang verſtatten, wann wir die zuͤgello - ſen Sitten des Auslands nachahmen und alle heiligen Gebraͤuche der Religion entheiligen, dies iſt gewiß der traurigſte, wehmuͤthigſte Anblik!

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O, daß die Vorſicht einen Mann ins Sein rief, der Kraft genug haͤtte, die Dekke wegzu - ziehn, die unſer bloͤdes Auge umhuͤllet, der Mut genug haͤtte, die ſklaviſcheu Feſſeln zu zer - brechen, womit ein fremdes Volk uns verwun - det, der den Tempel der Wolluſt und Un - zucht zernichtete, und die Saͤulen zerſtoͤrte, die wir der Mode und dem Luxus errichtet, und der unter dem Schutt und Ruinen einen Tempel der Warheit, der Treue und Gros - mut errichtete! Welch ein gluͤklicher Traum beſchleicht mich, ich ſehe dieſen Tempel aus dem Schutt erſtehen, ſehe den deutſchen Mann ihn mitten unter den Denkmaͤlern eurer Schande gruͤnden, und der Hider den Kopf zer - treten, die ſich ihm entgegen waͤlzt. Jch ſehe die Scharen der Kinder meines Volks wallfahr - ten, und ihre Knie vor den Altaͤren der Tugend und Rechtſchaffenheit beugen; ſie geloben heiſſe Geluͤbde fuͤr die Beobachtung goͤttlicher Geſezze, nicht Opfer und Gaben ſpenden ſie, ſondern Herzen, die rein und flekkenleer ſind, die em - por wallen bei den Leiden der Menſchheit, und ſich in lautre Stroͤme der Liebe und des Wol - wollens ergieſſen, die Doch hoͤre aufB 526allzugeſchaͤftige Fantaſie! es ſind ja nur Traͤume die du ausbildeſt, und wo waͤre die Flur meines Vaterlandes, da dieſer Tempel gegruͤn - det iſt, wo ich ſeine Schwellen betreten, und ausrufen koͤnnte: nun iſt mein Vaterland gluͤklich, gluͤklich durch Religion und Tugend, gluͤklich durch Ausuͤbung der Tugenden ihrer Ahnherren? Dann erſt koͤnnen wir ſagen, daß wir aufgeklaͤrt und weiſe ſind, aufgeklaͤrter, als der Bewoner des Jndus, weiſer als der Jrokeſe und Neger Noch ſind wir’s nicht, ob wir gleich waͤhnen, auch deshalb es zu ſein, weil Friede und Gerechtigkeit ſich ſchweſterlich umarmen, und die Gerechtigkeit durch den Mund weiſer und rechtſchaffener Maͤnner ihre Ausſpruͤche thut.

Es iſt wahr, und Dank ſei es Deutſchlands Genius! auf unſern Richterſtuͤhlen ſizzen Maͤn - ner, die Recht und Gerechtigkeit handhaben, und die Rechte der Natur und Menſchheit in ihrer Wuͤrde erhalten aber giebt es denn auch nicht Richter, (moͤge doch ihre Zahl klein und geringe ſein) die ihren Stand und Namen entweihen, und Handlungen uͤben, dafuͤr die27 Menſchheit erroͤtet? Giebt es nicht Knaben, die zu Richter des Volks beſtellt ſind, die ohne Philoſophie des Lebens, ohne Kenntnis des Menſchen, ſeiner Neigungen und Handlungen, ihre Bruͤder richten, und das Schwerd der Ge - rechtigkeit durch unſchuldiges Blut der Buͤr - ger entheiligen? Die Geſchichte unſers Zeit - alters liefert uns hiervon traurige Szenen, und macht den Staat aufmerkſam, ſeine Richterſtuͤhle mit Maͤnnern zu beſezzen, die wiſſen, was Recht iſt, denen Rechtſchaf - fenheit und Menſchenliebe nicht fremde Na - men ſind, die aber auch ſich Kenntnis der Welt und ihrer Bewoner, Kenntnis der Ge - ſchichte und Litteratur, verſchaft haben, die in das Jnnerſte der menſchlichen Handlungen drin - gen, und darnach Suͤnde und Fehl abmeſſen. Denn was iſt die Rechtsgelartheit ohne dieſe Kenntniſſe? Eine elende Wiſſenſchaft fuͤr das Gedaͤchtnis, die mit Aufopferung des Verſtan - des wuͤrket. So wie der Theologe, der blos ſeine Dogmatik herleiern kann, ein elender Stuͤmper iſt, und zu einem noch elendern Leh - rer des Volks herabſinkt, ſo kann ich mir auch kein armſəligeres, finſteres und fuͤhlloſeres28 Geſchoͤpf denken, als einen Rechtsgelehrten, der nur ſeine Pandekten und Kodex verſteht, im uͤbrigen aber nichts auſſer und neben ſich kennt. Wird er Richter, wehe dann dem Volk, deſſen Rechte er vertheidigen und fuͤhren ſoll! der arg - liſtige Mann wird uͤber ſeinen ſchwachen Kopf ſiegen, und ſeiner ungerechten Sache den Anſtrich der Warheit geben; der andere, der ſeine Sache plan darſtelt, wie ſie iſt, und keine Farben hat, ſie zu erheben, wird das groͤſſeſte Recht durch die Unwiſſenheit des Richters verlieren, und ſich durch eben die Geſezze um ſein Eigentum ge - bracht ſehen, die es ihm ſichern ſollten. Wird er gar ein peinlicher Richter, wehe euch ihr Geſchoͤpfe, die man vor ſeinen Richterſtul, als Verbrecher ſchlept! Er hat nie einen Blik auf den Menſchen gethan, er kennt keine ſeiner Handlungen, ſeiner Triebe, mißt eine jede That nach ihrem aͤuſſern Schein, und ihre Be - ſtrafung nach der dunkeln Halsgerichtsordnung Karls V. ab, und ſo faͤllt er Urteile, die ſo barbariſch als kraͤnkend fuͤr die Menſchheit ſind. Nimmt er uͤberdies Geſchenke, und ſieht die Perſon an die er richten ſoll, ob ſie einen vor - nehmen Stand, Einfluß und Vermoͤgen hat,29 nun ſo weine, verlaſſenes, unterdruͤktes Volk, verbirg dich in deine armſelige Huͤtte, laß Ungerechtigkeit und Bedruͤkkung auf dich los - ſtuͤrmen, und denke: daß ein Gott Vergelter ſei O, wie treffend und wahr iſt die Stelle wo Woldemar einen ſolchen Rechtsge - lehrten ſchildert, der nichts weiß als dies allein ſie iſt zu ſchoͤn, als daß ich der Verſuchung unterliegen koͤnnte, ſie hier meinen Leſern mitzuteilen.

Sieh, ſagt Woldemar zu ſeinem Freund Dorenburg, es iſt nichts, was dem Men - ſchen alles Menſchliche ſo auszieht, Ge - fuͤhl und Verſtand ſo ganz in ihm ertoͤdet als die iſolirte Rechtswiſſenſchaft, und ich ſchwoͤre dir, mehr, als elende, ſinn - loſe, juriſtiſche Schulfuͤchſerei iſt hier nicht in den Leuten; ſie haben dir, Gott weiß! doch nicht die mindeſte Einſicht in Staats - verwaltung: nicht einen Funken wahre Philoſophie, nicht ein Scherflein aͤchten Wizzes, Kenntniß der Welt, der Ge - ſchichte Litteratur! Kein Auge voll nichts, nichts! die bloſſe, platte, leere Juriſterei Und was ſich die30 Schoͤpſe von Pedanten darauf einbilden, daß ſie keinen Menſchenverſtand mehr ha - ben, das iſt entſezlich Sazzungen und Formalitaͤten! da alleine das, nicht ge - ſunde Vernunft, in Foro zur Sache thut, ſo ſind Sazzungen und Formalitaͤten ihnen allein ehrwuͤrdig, und ſie lernen geſunde Vernunft fuͤr nichts achten. Mit dem we - ſentlich Gerechten, mit dem Billigen, geht es ihnen eben ſo: ſie lachen daruͤber lachen dich aus, daß du ſo albern und un - wiſſend biſt, und meinen damit waͤr etwas gethan. Koͤmmſt du ihnen mit hoͤhern Grundſaͤzzen, als Wolfahrt des Staats, Gluͤkſeligkeit der Buͤrger, Jntereſſe der Menſchheit! ſo wuͤrdigen ſie dir nicht, dich anzuhoͤren, das iſt ihnen Wiſchiwa - ſchi fuͤr muͤſſige Leute, armſelige Kin - derei! es wird ihnen uͤbel davon, ſie ſchar - ren und ziſchen. Kurz, ehrlicher Freund, lieber Bruder Dorenburg! du ertraͤgſt es nicht, gingeſt fuͤr Ekel und Abſcheu zu Grund.

Koͤnnt ich doch dieſe Worte an alle Thuͤren der Gerichtsſtuben niederſchreiben, damit ein31 jeder angehende Buͤrger der Themis es leſe koͤnnt ich ſie den Lehrern der Rechte an ihre Hoͤrſaͤle ſchreiben, daß ſie ihren Zuhoͤrern Worte ans Herz redeten, und jedem angehenden Juriſten zuriefen:

Es iſt nicht genug, junger Mann, daß du das roͤmiſche Chaos der Geſezze entwik - kelſt, daß du ſie herplappern, und nach der Leier abſingen kannſt, du mußt auch die Welt, den Menſchen, dich ſelbſt kennen, du mußt nicht blos eine obenhin geſchoͤpfte Kenutniß der Litte - ratur haben, nein du mußt ihr innerſtes Heilig - thum durchdrungen haben; du mußt eine an - ſchauende Kenntniß der alten und neuen Geſchichte beſizzen, wie Voͤlker entſtanden und Reiche gegruͤndet ſind, wie ſich die Menſchen zu Staaten gebildet, und ſich gewiſſe Vorſchriften entworfen, darnach ſie ihre Handlungen einrich - ten koͤnnten, wie der Karakter eines Volks ihr Klima ihre innere Verfaſſung, ein Geſez notwendig gemacht, was bei einem andern Volk unter einem andern Himmelsſtrich, thoͤricht und zweklos geweſen waͤre. Du mußt die Verfaſ - ſung deines Vaterlandes die beſondere Einrichtung der Provinz, deren Bewoner32 du biſt, genau kennen, mußt deine Nebenmen - ſchen und die Triebfedern ihrer Handlungen ge - nau erforſchen ihre Denkungsart und die Richtung ihrer Handlungen auf dieſen und jenen Gegenſtand erwegen, und nach allen dieſen Re - ſultaten dir Vorſchriften bilden, die zur richti - gen Fuͤhrung deines kuͤnftigen Richteramts ab - zwekken. Du mußt dir dann aber auch eine wahre Philoſophie des Lebens eigen machen, die nicht in dunkeln Sillogismen, und abſtrakten Lehrſaͤzzen beſteht, ſondern aus dem Herzen ſpricht, und nach guten und edlen Grundſaͤzzen handelt. Verbinde mit dieſen Kenntniſſen ein edles rechtſchaffenes Herz, das mit wahrer Theilnehmung die Leiden ſeiner Bruͤder zu lin - dern ſucht, weiche nie ab vom Wege der Tugend, und zeige daß du ein deutſcher Mann ſeiſt, und ich will die Stadt, das Land und deren Be - woner gluͤklich preiſen, davon du einſt Richter und Rathgeber ſein wirſt. Wandele mutig auf der Bahn der Rechtſchaffenheit, um ſo mehr, da ſie ſelten betreten wird, achte nicht das Troz - zen der Gewaltigen im Lande und unterlaß keine edle Handlung, weil ſie ein Geſpoͤtte der Welt und ihrer Kinder iſt. Und wenn dich einſt derhaͤmiſche33haͤmiſche Neid anziſcht, und alle deine gute Un - ternehmungen zu vereiteln ſucht, ſo huͤlle dich in deine Tugend, und in den Glauben einer kuͤnf - tigen Vergeltung ein Sei ein Fels mitten im Meere, der nie weicht, wann auch Orkane um ſeinen Scheitel wuͤten, und Gewitter um ihn kreuzen. Gluͤkliches Volk, deren Richter auf dieſer Ban wandeln! gluͤkliche Juͤng - linge! die ſo Aſtraͤens Tempel betreten Aber wie geringe iſt die Zahl dieſer, in dem Lande mei - ner Vaͤter! muß auch hier ein Diogen ſeine La - terne ausloͤſchen? Doch, zur Belehrung zur Zurechtweiſung, auch fuͤr jene, die ſchon auf Richterſtuͤhlen ſizzen, und die erſt zu kuͤnfti - gen Verweſern der Gerechtigkeit eingeweiht wer - den, will ich Zuͤge entwerfen, und euch, die ihr Warheit aufſucht, wo ihr ſie findet, durch wahre Begebenheiten zeigen, wie die Rechte der Natur und Menſchheit, durch Men - ſchen entweiht, und die ſuͤſſen Bande, welche Religion und Tugend knuͤpfen, auf - geloͤſet werden. Jch will euch das traurige Schikſal uugluͤklicher Bruͤder ſchildern, die gluͤklich haͤtten ſein koͤnnen, wenn Menſchen ih - nen nicht das Gewand der Menſchheit ausgezo -C34zogen haͤtten. Weihet auch ihrem Schikſal Traͤ - nen der Ruͤhrung und des Gefuͤhls, und laſſet uns beidem traurigen Ueberreſt ihrer Aſche, den frohen Gedanken denken, daß ſie nun ausge - rungen haben den ſchweren Kampf, und am Ziele ſind

III. Seldau, nicht zur Knechtſchaft geboren nur durch Menſchen unterjocht, und ein Opfer der Geſezze.

Wie oft hat ſich meine Seele empoͤrt, wann ich das tiranniſche, unedle Betragen der Herren ge - gen ihre Dienſtboten ſah, wie oft hat duͤſtre Schwermut meine Stirne umwoͤlkt, wann ich den ſtolzen Junker ſeine Bauern als Sklaven behandeln, wann ich die Fluͤche und Drohungen aus der heiſern Kehle des Martisſohns hoͤrte, und ein Zeuge war, mit welcher unmenſchlichen35 Haͤrte er ſeine Untergebene behandelte. Wenn nun der auf’s aͤuſſerſte gebrachte Menſch auch die Gefuͤhle der Religion bei ſich erſtikket, wenn er den Gedanken entfaltet, auch du biſt ein Menſch, begabt mit all den Vorrechten der Menſchheit, die der Barbar dir entreiſſen will Wenn ſeine Wangen vom heiſſen Gefuͤhl erlitte - nen Unrechts gluͤhen wenn ſeine Stirne dampft, ſein Blut ſich kreiſet und Wellen wirft, und er nun das Meſſer in die Gurgel ſeines Hen - kers ſtoͤßt, oder mit einer Kugel uͤber die Tiran - nei ſeines Herrn ſieget, ſage, wirſt du ihn nicht bedauern? Menſch! wirſt du dein Angeſicht von ihm, als von einem gewiſſenloſen Raͤuber weg - wenden und ihm fluchen?

O moͤchte dies keiner unter uns! denn einige Szenen anders verruͤkt in deinem Leben, und du waͤreſt vielleicht eben das, eben der bedauerns - wuͤrdige Menſch, der einen Unmenſchen erſchlug, weil er ihm die Rechte der Menſchheit entziehen wollte. Nicht zur Knechtſchaft geboren nur durch Menſchen ins Joch der Sklaverei geſchmie - det, wer kann zuͤrnen, wenn man die Ketten von ſich wirft, und nach Freiheit ringet? Auch der zertretene Wurm kruͤmmt ſich unter den FuͤſſenC 236des Wanderers, und kehrt den Stachel wider ſei - nen Verderber. Und der Menſch, der Herr der Schoͤpfung, ſollte dieſes Vorrecht nicht haben?

Jch will euch eine Geſchichte niederſchrei - ben, die eure Stirne roͤthen ſoll, nicht ein Spiel der Fantaſie, nein Warheit, wie man ſie immer noch auf deutſchem Boden findet.

Friedrich Seldau war der Sohn eines be - guͤterten Landmanns in Schwaben, der ihm eine ſolche zwekmaͤſſige Erziehung gab, wie er in dem engen Kreiſe ſeines Lebens bedurfte. Eine un - gluͤkliche Feuersbrunſt legte den Wohnſiz des Grei - ſes in die Aſche, und er ſah ſich mit ſechs zum Teil unerzogenen Kindern in die aͤuſſerſte Armut verſezt, ja was noch mehr, ein harter Glaͤubi - ger lies ihn um funfzig Thaler ins Gefaͤngnis werfen. Friedrich Seldau fuͤhlte die Pflichten eines Sohnes, warf ſich zu den Fuͤſſen des Glaͤubigers, und flehte um Erbarmen fuͤr ſeinen alten kranken Vater; aber das Mitleid wohnte nicht in dem Herzen dieſes Unmenſchen, ſondern er war tuͤkkiſch genug den jungen Menſchen in die Haͤnde der Werber zu uͤberliefern. Sel - dau war wolgewachſen, in der Bluͤte der Ju - gend Zwanzig Fruͤhlinge hatte er erſt in Un -37 ſchuld und Friede verlebt Eine gute Beute fuͤr den Werber. Man ſuchte ihn mit Liſt zu uͤber - reden, und da man ihn ins Garn gelokt, ſo daß er ſich aus den Schlingen nicht mehr heraus - wikkeln konnte, ſo gab man ihm ſechzig Tha - ler Handgeld, um ſeinen Vater zu retten. Er nahm dies Blutgeld befriedigte den Glaͤu - biger, und ſein Vater ward ſeines Gefaͤngniſſes entlaſſen. Aber wie entſezte ſich der Greis, da er ſahe, wie theuer das Loͤſegeld war! Was half ihm die Freiheit, da er die einzige Stuͤzze ſeines Alters verlor da man ihm den Troſt ſeiner Jahre, ſein liebſtes Kind entriß? Noch lag er ſchluchzend an ſeinem Halſe, und fuͤhlte die Weh - mut des Scheidens, wie ſie ein ſolcher Vater fuͤhlen konnte; man riß ihn fort Er jam - merte laut, gebt mir meinen Sohn wieder, man ſtieß ihn zuruͤk und ſchlepte den Juͤngling mehr tod als lebendig weg.

Seinen Geſchwiſtern ein Lebewol zu ſtam - meln den Ort, wo er ſeine Tage in Unſchuld und Freude verlebt, noch einmal zu ſehen, und zu ſegnen, auch dies ward ihm nicht einmal. Man begegnete ihm hart und grauſam, lachte ſei - ner Traͤnen, verſpottete und hoͤhnte ihn, undC 338er ging ſchweigend und duldend zum Ort ſeiner Beſtimmung. Ein Gluͤk war es fuͤr ihn, daß der Hauptmann unter deſſen Kompagnie er kam, ein edler Menſchenfreund war. Er hoͤrte ſeine Geſchichte, begegnete ihm liebreich, bemitleidete ihn, und da er Faͤhigkeiten und Talente bei ihm fand, und ihm ſeinen Stand minder beſchwer - lich machen wollte, ſo nahm er ihn zu ſich ge - wis haͤtte er ihn auch ſeiner Familie wiederge - ſchenkt, wenn nicht der Tod ploͤzlich ſeine Tage verkuͤrzt haͤtte. Seldau folgte troſtlos der Leiche ſeines Wohlthaͤters, und wiſchte groſſe Tropfen vom rotgeweinten Auge.

Nun muſte er den Dienſt ſeiner Kameraden verrichten, und da er mehr auf ſich hielt, als an ihren Mut[w]illen und Thorheiten Teil zu neh - men, ſo ſah er ſich oft ihrem Gelaͤchter und Spott ausgeſezt. Wie ſehr mußte dies ein edles Herz kraͤnken wie ſehr mußte es gebeugt wer - den! Aber es warteten noch haͤrtere Pruͤfungen auf ihn. Er kam als Aufwaͤrter bei einem jun - gen Officier des Regiments, deſſen Karakter meinen Leſern in all ſeiner Abſchenlichkeit aufzudekken, mein Pinſel ermattet. Kurz, kein Fuͤnkchen der Menſchheit loderte bei ihm auf. 39Religion und Menſchenliebe waren ihm fremde Namen, bei denen er ein lautes Hohngelaͤchter aufſchlug. Jn der Jugend hatte er ein Wolge - fallen an der Marter unſchuldiger Thiere gefun - den, hatte ſeine Freude, wenn er ſeine Neben - menſchen beruͤkken, und in Elend und Jammer ſtuͤrzen konnte Er ſah ſich als den Herrn der Schoͤpfung, und die andere Klaſſe von Menſchen als Sklaven an; ſein tiranniſches Betragen ge - gen ſeine Untergebene uͤberſchritt alles, was man von einem Weſen ſich vorſtellen konnte, das den Namen Menſch fuͤhrt. Er ſchaͤndete den Rock ſeines Fuͤrſten, indem er Handlungen ver - uͤbte, die auſſer dem Gebiet der Menſchheit ſind, taͤglich waͤlzte er ſich im Schlamm der Luͤſte und der Voͤllerei, kurz, er verhunzte Gottes ſchoͤnes Bild durch ein ganzes Gewebe von Abſcheulich - keit und Schande. Seldau wurde das taͤgliche Opfer ſeiner Unmenſchheit; die eifrige Beobach - tung ſeiner Pflichten folterte den Unmenſchen, daß er keine Gelegenheit fand, ſeine Wut in ihrer ganzen Staͤrke an ihm auszulaſſen; er nahm daher immer zu Erdichtungen und Luͤgen ſeine Zuflucht Seldau durfte ſich nicht ver -C 440antworten, das war wider die Subordination, und ſo ward er unſchuldigerweiſe immer blutruͤnſtig geſchlagen. Jch will nicht die unzaͤhligen Arten von Bedruͤkkung und Grauſamkeit entziffern, die Seldau ertragen mußte, ſie niederzuſchreiben, wuͤrde meinem Herzen wehe thun. Aber, den - ket euch die innern Kaͤmpfe ſeines geaͤngſteten Geiſtes! das ſchlafloſe hin und herwerfen auf dem harten Lager! die heftigen Schmerzen ſeiner immer friſch aufgeriſſenen eiternden Wunden! das heiſſe Gefuͤhl erlittenen Unrechts, das auch im Herzen des wilden Huronen keimt! denkt euch das alles, und ſprecht, was wuͤrdet ihr ge - than haben? Wuͤrden nicht Stunden gekommen ſein, wo ihr es auch empfunden, daß jeder Menſch gleiche Rechte habe, und ein Gott uͤber den Sternen wandele, bei dem kein Anſe - hen der Perſon iſt der den Stolzen demuͤ - tigt, und den Niedern aus dem Staube erhebt Seldau ertrug alles duldend und ſchwei - gend, blikte gen Himmel flehte rang die Haͤnde und ſchluchzte, Vater, rette mich! Einſt kam ſein Herr um Mitternacht, ſeiner Gewonheit nach, in der groͤßten Trunkenheit zu Hauſe; mit bruͤllender Stimme ſchrie er, Ka -41 naille! ihm entgegen Zitternd trat Seldau zu ihm und erwartete ſeine Befehle.

Beſtie! donnerte der Barbar, ſchaff mir ein Menſch ins Bette, oder dich ſollen Le - gionen Teufel den Nakken brechen. Sel - dau warf ſich vor ihm auf die Knie und flehte, ihn hiemit zu verſchonen wuͤtend ergrif der Un - menſch den Degen den Degen! den ihm ſein Fuͤrſt zur Verteidigung ſeiner Rechte den ihm das Vaterland zur Rettung der Bedruͤk - ten gab, und hieb auf den ohnmaͤchtigen Men - ſchen, der ſich wie ein Wurm im Staube kruͤmmte. Nachdem er ihm verſchiedene Wun - den verſezt, ſo daß das Blut den Boden faͤrbte, ſo ſtieß er ihn unter den ſchreklichſten Verwuͤn - ſchungen zur Stube hinaus, und bedrohte ihn, morgen noch anders behandeln zu laſſen, wenn er nicht ſogleich ſeinen Befehl vollſtrekte.

Seldau lag an der Schwelle blutruͤnſtig und halb ſinnlos; ſeine ſtarke Natur erholte ſich bald wieder, aber mit ihr erwachte auch das ſtarke Gefuͤhl erlittener Kraͤnkung. Mit jedem erneuerten Schmerz ward dies Gefuͤhl hef - tiger mit jeder Verzukkung, ſchlug das Blut in den Adern ſtaͤrker, bis es endlich alleC 542Schranken durchbrach, und in ſtarken Wellen alle Adern durchkreiſte. Volle, gluͤhende Rache ſtand vor ihm, und der Gedanke entſtieg ſchnell ſeiner Seele, den Urheber all ſeiner Lei - den zu vernichten, und dann ſelbſt vernich - tet zu werden. Bange Furcht noch wartenden Elends gattete ſich zur Verzweifelung, die in einer gaͤnzlichen Zerruͤttung ſeines Verſtandes uͤbergieng. Nun kannte das tobende Herz keine Grenzen mehr, es lechzte blos nach Blut Blut ward ſein erſter ſein lezter Gedanke; und ſo mit gluͤhendem Blik mit rollendem Lodern im Auge mit unerſchrokkenem Mut, ſtuͤrzte er ins Gemach ſeines Herrn. Er fand ihn ſinnlos hingeſtrekt aufs Bette, als ein ver - nunftloſes Thier; eilend faßte er den am Boden liegenden Degen, noch blutig von ſeinem Blut, und ſtieß ihn mit der groͤßten Macht, die nur dem Wahnſinn eigen iſt, durch die Bruſt ſeines Barbaren. Schnell entſprudelte das Leben der Wunde, und mit ihm entfloh die Seele zum Ort der Vergeltung der Rache. Seldau entfloh dem lezten dumpfen Roͤcheln, ging mit ſchnellen Schritten zum Richter, und rief mit Freudig - keit: ich hab meinen Herrn erſchlagen,43 gebt auch mir den Tod ich hab ihm ein Leben geraubt, ein Leben voll Abſcheu - lichkeit und Schande; er aber hat mich tauſendmal gefoltert, mir alles geraubt, meinen Gott, meinen Himmel, meine Tu - gend. Seldau ward in ein finſteres Loch geworfen, wo nur ſelten ein matter Lichtſtral durchbrechen konnte Man verzoͤgerte ſeinen Prozes, und er bat mit traͤnendem Ausblik, ihm eines Daſeins zu entlaſten, das ihm zur druͤk - kenden Laſt wurde. Endlich kam das Urtel, von unten auf geraͤdert, ſein Koͤrper aufs Rad geflochten. Mit ſtandhaftem Mut hoͤrte er’s keine Verzukkung, keine Mine enthuͤllte Schmerz und bange Furcht. Oft fand ihn der Kerkermeiſter ringend und ſchluchzend im Gebet und Kampf vor ſeinem Gott Fuͤhllos verlies er ihn, aber der uͤber den Sternen wandelt, ſah ihn und merkte auf ſein Flehn. Er loͤſchte ſeine Schuld, ſandte Ruhe und Troſt in ſeine ermat - tete Seele, und gab ihm Standhaftigkeit und Mut, unerſchrokken dem Tode entgegen zu eilen. Die Stunde kam ſchwarz und finſter ruhte ſie auf den jungen Schwingen des Tages; die Natur huͤllte ſich in Trauer, uͤber den Tod eines44 Menſchen, der ein guter und edler Mann haͤtte ſein koͤnnen, wenn ſeine Bruͤder ihm nicht das menſchliche Gewand ausgezogen haͤtten. Doch Seldau ging heitern Geiſtes zum Richtplaz ſah um ſich her den ſtuͤrzenden Poͤbel blikte einen jeden ruhig an, und beſtieg den Todesort. Vater vergib mir! ſtammelte er leiſe einige Stoͤſſe, und ſeine Seele entfloh entfeſſelt und los von Suͤnden und Fehl, zum Ort der Ent - bundenen, wo keine Traͤne rinnt, wo Wonne der Engel ſtroͤmt. Der Menſch vom Poͤbel weidete ſein Auge an dieſem Schauſpiel, und ſah es mit mordduͤrſtiger Neugierde anfangen und endigen. Auch ſo manche gingen voruͤber, ohne es gefuͤhlt und empfunden zu haben, auch der Gerichtete iſt dein Bruder! Sein Herz ſprach ihn frei vom Mord, es wuſte nichts von einer That, die Verzweiflung und Wahnſinn erzeugte.

Du aber, der du Menſch und Bruder biſt, der du das Jnnere menſchlicher Hand - lungen erforſcheſt, und nicht am Aeuſſern ſtehen bleibeſt, der du im Rauber und Moͤrder, den Geſezzen nach, auch den Mitbruder erkenneſt, und ihm dein Mitleid, deine Traͤnen ſchenkeſt, weih der gekraͤnkten Menſchheit eine Traͤne;45 ſieh, das iſt der Menſch mit dem beſten Herzen mit der vollſten Bruderliebe, kann er ungluͤklich und elend, kann durch Henkerknechte ein Leben enden, das er unter Traͤnen und Seufzern verlebte. Jhr aber Maͤnner und Juͤnglinge! die ihr einſt eure Bruͤder richten, und Bluturteile niederſchreiben ſollt, wendet eure Augen nach jenem Rabenſtein. Ein holer Sche - del blinkt euch entgegen, und zerſtuͤkte Gebeine dienen kraͤchzenden Raben zur Speiſe. Der ſau - ſende Nord pfeift zwiſchen den Speichen, reißt ein Stuͤk nach dem andern vom flatternden Ge - wande los, und wehets in alle vier Winde. Der volle Mond haͤngt aus duͤſtern Wolken melancho - liſch uͤber dieſe Staͤte, und wirft einen matten Schein uͤber den Schedel, auf dem nur noch ein - zelnes Haar ſich kruͤmmt. Der Fremdling wan - delt mit eilfertigen Schritten voruͤber, Schrek - ken rieſelt in ſeinen Haaren, und kalte Furcht macht das Blut eine Zeitlang ſtokkend die er - hizte Fantaſie hoͤrt das Winſeln, und das Geaͤchze des Sterbenden, ſieht Geiſter umherirren, wann die zwoͤlfte Stunde der Nacht ertoͤnt, und wie - der entfliehn, wann ſie Morgenluft wittern.

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Sollte nicht dieſe entworfene Geſchichte ein Maͤrchen ſein? hoͤre ich manchen hinter der Sze - ne rufen; aber bei dem helleuchtenden Schim - mer der Warheit, ſie iſt es nicht ich habe in dem Hauſe gewohnt, wo ſie ſich in der Mitte dieſes Zeitalters zugetragen, man hat mich ſogar fuͤr den herumwandelnden Schatten des entleib - ten Boͤſewichts, furchtſam machen wollen aber ich habe nie an Geſpenſter und Geiſter geglaubt, habe ſie immer als Bilder der erhizten Fantaſie angeſehen, und wie koͤnnte auch ein Menſch, deſſen ganzes Leben eine Kette von Niedertraͤch - tigkeit und Bosheit war, der ſo vielen im Leben Ruhe und Gluͤk raubte, auch noch im Tode die Ruhe anderer ſtoͤren koͤnnen? Aber oft in der Huͤlle der Mitternacht, wann der Mond me - lancholiſche Schatten uͤber die Vorhaͤnge meines Bettes warf, wann meine Fantaſie in duͤſtern Bildern umher gaukelte, ſtand ein Bild vor mir es war, als pakte es mich mit Rieſenſtaͤrke, und eine klagende Stimme hallte mir zu: Schreib ſie nieder die Geſchichte ſchreib ſie nieder fuͤr Welt und Nachwelt!

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IV. Caroline, einſt froh und gluͤklich hernach verfuͤhrt und elend Moͤrderin ihres Kindes und ein Opfer der Gerechtigkeit!

Allemal uͤberfaͤlt mich ein kalter Schauer, wenn ich einen Schedel auf dem Rade blinken ſeh, und ich gehe eilfertig vor der Staͤte voruͤber, wo die Gerechtigkeit ihr Strafamt vollſtrekket Nur heute fuͤhrte mich mein Genius vor einer Richtſtaͤte voruͤber ich erblikte einen ſchon modernden Koͤrper aufs Rad geflochten hoͤrte das Gekraͤchze der Raben, und ſah ſie im Schimmerlichte des Mondes umherflattern, und ihren Jungen Nahrung holen. Wie mich das erſchuͤtterte, davon habe ich keine Beſchreibung eine Traͤne wollte ſich aus meinen Augen draͤngen, ich ſuchte ſie zu erſtikken, aber ſie rollte unaufhaltſam die Wange herab, und floß48 dem Andenken des Ungluͤklichen, der auch ein Menſch und mein Bruder war; zugleich aber ward der Wunſch in mir rege, hinzugehn und zu fragen: warum ward dieſer Menſch von Menſchen verlaſſen? Warum ward er ge - opfert? Das war meine erſte Frage, wie ich ins Wirtshaus des naͤchſten Flekkens trat, und man antwortete mir: Ein Maͤdchen von zwanzig Jahren, die ihr junges Kind wuͤrgte. Jch hoͤrte zum Teil liebloſe Urteile zum Teil ſchale Sittenſpruͤche, aus dem Munde harter Matronen hie und da fand ich einiges Mitleid ein Achſelzukken, und nichts weiter nicht wie fiel ſie, wodurch, und durch wen fiel ſie? Und doch ſollte man dieſe Fragen genau beherzigen, ehe man das Verdammungs - urteil mit kaltem hoͤhniſchen Laͤcheln ausſties. Aber da ſtehen die kalten fuͤhlloſen Menſchen, predigen Tugend, und haben die Tugend nie ge - kannt, die aus dem Herzen keimt, die nicht im aͤuſſern Prunk von Worten, ſondern im Han - deln und Wuͤrken, in Ausuͤbung der Menſchen - liebe beſteht. Da hat die ſchaffende Natur ſich in der Stunde der Schoͤpfung wol im Ton ver - griffen, und daher entſtanden Menſchen demKoͤrper,49Koͤrper, und Thiere der Seele nach. Jch mag mich nicht zu ihnen geſellen und Wonung bei ihnen machen, lieber will ich den wilden Huro - nen als Bruder gruͤſſen, und mit dem Kamſcha - dalen unter einer Huͤtte wohnen.

Aber zu euch Maͤnner! die ihr ſchon das Schwerd der Gerechtigkeit fuͤhrt zu euch Juͤnglingen, die ihr Aſtraͤens Schwelle betre - tet, will ich reden, will euch die Geſchichte des ungluͤklichen Maͤdchens entziffern, die im Fruͤh - ling ihrer Tage von der ſchneidenden Sichel ab - gemaͤht wurde, die ſchon fruͤh den ſchweren Ge - danken des Elends ausdenken mußte, und dann erſt aufhoͤrte ihn zu denken, als mit dem erſten Radſtoß die Seele ſich ihrer koͤrperlichen Huͤlle entlaſtete, und der ſchoͤnſte Gliederbau zerſtoſ - ſen und zertruͤmmert da lag. Schlaͤgt menſchli - ches Gefuͤhl in eurer Bruſt, wol dem Lande und der Stadt, wo ihr zu Richtern berufen ſeid, wol euch, wann Freund Hain uͤber eure Schwelle tritt Freudig ohne Zittern koͤnnt ihr ihm die Hand bieten, und mit ihm wallen in jenes Land, wo die Siegespalme rauſchet. Aber ſeid ihr kalt und lieblos, ſind euch Gefuͤhl und Empfin - dung fremde Namen ſind keine TraͤnenD50des Mitleids jemals uͤber eure Wangen gegleitet, nun ſo moͤge die Stunde eures Scheidens nicht einſt mit fuͤrchterlichem Sauſen uͤber eurem Haupte hangen, ſo murmele euch Gottes Don - ner nicht einſt ſchreklich zu, wann ihr den ent - ſcheidenden Spruch des Richters der Welt hoͤrt, ſo moͤge kein Redlicher das Auge von eurem Huͤ - gel wegwenden, und kein Fluch auf eurem Staub laſten. Doch zur Geſchichte ſelbſt!

Caroline war die einzige Tochter eines Kaufmannes in N den Gluͤk und Fleiß in einen ſo beguͤterten Stand geſezt hatte, daß man ihn in der Stadt nur den Reichen zu nennen pflegte. Sie war das einzige Kind, deren Da - ſein der Mutter das Leben koſtete, deſto theurer ward ſie dem Vater deſto inniger war ſein Beſtreben auf dies Kind, das jeden reizenden Zug der Mutter nach und nach entfaltete, all ſeine Sorgfalt zu verwenden. Seine Schweſter war ihm hiezu behuͤlflich, mit mehr als muͤtter - licher Zaͤrtlichkeit pflegte und wartete ſie das Kind, und ſah mit Vergnuͤgen wie ſowol unzaͤhlige Reize des Koͤrpers ſich mit jedem Tage enthuͤll - ten, als auch vortrefliche Seelenkraͤfte ſich ent - wikkelten; denn die Natur ſchien nichts an die -51 ſem Geſchoͤpf verwarloſet, ſondern alles ver - ſchwendet zu haben; es gab ihm, was man ſo ſelten antrift, Schoͤnheit des Koͤrpers, verbun - den mit Schoͤnheit der Seele. Der Vater ſparte keine Koſten, keinen Aufwand, ſeiner Tochter eine ſolche Erziehung zu geben, wie man ſie ſel - ten bei Perſonen der hoͤhern Klaſſe findet; und da ihm hiezu die noͤthigen Kenntniſſe fehlten, ſo trug er dies Geſchaͤft einem Prediger des Orts auf Dieſer rechtſchaffene Mann wandte Tage und Naͤchte auf ihre Bildung, er ſuchte ihr Herz zu verfeinern dies Herz, was dereinſt die Quelle all ihres Gluͤks oder Elends werden ſollte. Er ſuchte ihrem Geiſt eine ſolche Richtung zu geben, wie ſie ihn in dem Kreiſe ihres Lebens bedurfte; er durchlief mit ihr Banen der Ge - ſchichte und Weltweisheit, und Caroline blieb nie zuruͤk Jhr alles umfaſſender Verſtand ſchwung ſich uͤber alle Hinderniſſe hinweg, und geizte mit einem zehrenden Enthuſiasmus nach Warheit. Schon im ſiebzehnten Jahr ihres Er - dewallens kannte ſie die alte und neue Geſchichte kannte alle erhabne Karaktere der Vorwelt kannte auſſer der Sprache ihres Landes auch fremde Sprachen. Mit heiſſer Begierde ver -D 252ſchlang ſie die Schriften der Weiſen unſers Zeit - alters, und lernte Klugheit aus ihren Beiſpielen, und Weisheit fuͤr den Verſtand und das Herz.

So war das Maͤdchen der Seele nach, ſo war ſie die Bewunderung unſers Geſchlechts der Neid ihrer Geſpielinnen Was ſoll ich ſa - gen von der Schoͤnheit ihres Koͤrpers? wo ſoll ich die Farben finden, um dem Gemaͤlde das reizende Kolorit zu geben, das es erheiſcht; die Anmut in jedem Zuge! den Blik voll Sanftmut und ſtillen Adels hinzu zeichnen, daß der Kenner es ſehe, ſtaune, und bekenne: nie fand ich ſo viel Schoͤnheit! Selbſt einem Paracelſus wuͤrde der meiſterhafte Pinſel entſinken Er braucht nicht erſt nach Florenz zur medicei - ſchen Venus zu wallfarten, um ein Jdeal der Schoͤnheit zu entwerfen. Es war hier Ca - roline war’s ſie wandelte unter dem Flor der Tauſendſchoͤn und Roſen, und man achtete der Kinder Florens nicht, denn ſie war die ſchoͤn - ſte Blume in Gottes Garten. Jhr Koͤrper war das hoͤchſte Jdeal griechiſcher Schoͤnheit der feinſte Wettſtreit zwiſchen Natur und Kunſt!! Die ſchaffende Natur mußte alles Groſſe und Schoͤne hervorgeſucht haben, um es in ein53 Jdeal der Vollkommenheit und Schoͤnheit zu - ſammen zu ſchmelzen.

So wie der junge Maitag ſich entfaltet, und uͤber Wald und Flur herablaͤchelt, ſo waren die Zuͤge ihres Geſichts. Unſchuld und Tugend zit - terten im blauen Auge, und namenloſes Ent - zuͤkken der Liebe ſchimmerte unter den Wimpern hervor. So wie Blanduſiens Quell in tauſend Kruͤmmungen ſich durch bunte Wieſen ſchlaͤngelt durch Thal und Huͤgel gaukelt, und mit huͤpfenden Wellen das blumigte Geſtade kuͤßt, ſo ſchlaͤngelten ſich blaue Adern durch die blendend weiſſe Haut, ſo miſchten ſie Rot und Weiß auf den vollen Wangen ſo ſchimmerte der Roſe Purpur durch der Lilie Schnee hindurch ſo gatteten ſich zalloſe Reize neben einander, die nur der Pinſel eines Wielands entwerfen kann der meine entſinkt mir, unwillig werfe ich ihn weg Nimm vorlieb, Leſer! mit dem Schat - ten, ſo ich dir entwarf willſt du Ergaͤnzung willſt du ein Gemaͤlde von der Hand des Meiſters entworfen, ſo lies den Oberon und ſieh Anianda’s Bild ſieh in ihr Caroli - nens Bild. Bei ſo groſſem Reiz bei ſol - cher Anmut des Koͤrpers bei ſo vielen her -D 354vorſtechenden Eigenſchaften der Seele konnte es ihr nicht an Bewunderung fehlen es war ein Zoll, den ihr die Jugend und das Alter entrich - ten mußte, und willig entrichtete. Allenthalben erſcholl ihr Lob der edle Mann ſagte es ſtill und beſcheiden der Stuzzer mit groſſem Ge - raͤuſch und mit der Mine der Wichtigkeit. Und ſie, das Bild der Demut, hoͤrte alles mit der Gleichguͤltigkeit an, ſo wie auch der Weiſe den Tadel und das Lob des Narren ertraͤget und dies iſt wol die glaͤnzendſte Eigenſchaft, die man ſo ſelten bei einem Maͤdchen antrift. Bei dem Vater wuͤrkte dies auf eine entgegengeſezte Art er wurde zu ſtolz auf das Gluͤk, das freilich in unſern Tagen beneidenswert iſt, ein ſolches Maͤdchen Tochter zu nennen, und fand ein Wolgefallen an den Lobſpruͤchen, die auf ihn als den Vater und Erzieher zuruͤkfielen. Auch der beſte Menſch kann dadurch entarten, kann den Stolz einen Sieg uͤber ſich einraͤumen, kann den Weihrauch einathmen, den ihm die Schmei - chelei ſo reichlich ausſpendet.

Einige Uneinigkeiten, die zwiſchen ihm und ſeiner Schweſter vorfielen, brachten ihn auf den Entſchluß zu einer zweiten Ehe zu ſchreiten. 55Schwer wurde es ihm nicht, eine Perſon zu finden. Er fand ſie, aber kein Fuͤnkchen des Edelmuts ſeiner erſten Gattin glimmte in ihrem Herzen, nur Stolz nnd Eitelkeit waren die Thorſteher, die den Eingang zu ihrem Herzen verſchloſſen hiel - ten, wer dieſen reichliche Opfer ſpendete, der ward eingelaſſen. Sparſamkeit und haͤusli - che Ordnung entflohn, ſobald ſie die Schwelle des Hauſes betrat, Schwelgerei und Unord - nung traten an deren Stelle. Caroline hatte den neunzehnten Fruͤhling begruͤßt hatte ſtill und eingezogen ein Leben voll Unſchuld und Tu - gend verlebt, fand kein Wolgefallen an den ſchwelgriſchen Feſten der Welt, ſondern theilte ihre Zeit unter haͤuslichen Geſchaͤften, und den geiſtreichen Schriften der Weiſen unſers Zeit - alters.

Jhre neue Mutter fand dieſe Lebensart zu pe - dantiſch zu romanhaft ſie verſchloß alle Buͤcher, franzoͤſiſche Moden traten an deren Stelle. Nun betrat Caroline die große Welt, nicht mehr das ſtille, ſittſame Maͤdchen im weiſſen Gewande der Unſchuld nicht mehr die Schaͤferin der Flur, die den Aufgang der Son - ne begruͤßte und ihren Niedergang geleitete D 456bei deren Anblik des Juͤnglings Wange entgluͤhte und ſein Blik verſchaͤm[t]zur Erde ſank; nun eine Sklavin der Mode und des Ceremoniels zwar noch rein im ſtralenden Schimmergewande, noch ſchuldlos im rauſchenden Taft, aber wird ſie’s bleiben, wenn ſie an der Hand einer thoͤrich - ten Mutter geleitet, den vergiftenden Hauch der Schmeichelei eintrinkt? der Boden, den ſie be - tritt, iſt ein hellgeſchliffener Stal, wie leicht koͤn - nen ihre Fuͤſſe ausgleiten und fallen wie viele ſind gefallen, hatten ſich berauſcht im Kelch der Thorheit und ſanken taumelnd zu Boden!

Der Ruf von dem reizenden Buͤrgermaͤd - chen drang bis uͤber die Grenzen der Stadt hin - ans, lokte viele herbei, und ſie fanden mehr als das Geruͤcht ſagte. Ein ungluͤkliches Geſchik fuͤhrte auch einen jungen Baron an dieſen Ort einen wuͤſten Wolluͤſtling, der ſchon manche Un - ſchuld entehrt, manchem Landmaͤdchen die Krone entriſſen der von ſeiner Reiſe nach Paris nichts als die feine Kunſt zuruͤkgebracht hatte, junge Maͤdchen zu verfuͤhren, und in unbefange - ne Seelen den Saamen der Unzucht zu ſtreuen. Er kam, wurde mit Freude empfangen, mit Freude in alle Geſellſchaften eingefuͤhrt, (denn57 leider! wollte man in dieſer Stadt auch alle Thorheiten von Paris im kleinen copiren), und nahm den deutſchen Wildfang, der ſein vaͤterli - ches Erbe an Theaternimphen und Bulſchweſtern verſchwendet hatte, mit Affenliebe auf. Jhm zu Ehren ward ein groſſer Ball angeſtellt alles was artig, ſchoͤn und reich war, muſte dabei zugegen ſein, auch Carolinens Mutter erſchien an der Hand ihrer liebenswuͤrdigen Tochter. Man draͤngte ſich von allen Seiten hinzu, den deut - ſchen Baron zu ſehen, aber der feine Wolluͤſt - ling uͤberſah mit ſchnellem Blik die ganze Ver - ſammlung, und ſein Auge blieb an Carolinen haͤngen; ihre ungekuͤnſtelten Reize waren maͤchtig genug, ihn vergeſſen zu lehren, daß noch mehr um ſeinen Beifall bulten. Er ſah mit kaltem Laͤcheln auf die hohe Verſammlung herab nur Caroline war das Ziel ſeiner Wuͤnſche; erfah - ren in allen feinen Kunſtgriffen der Verſtellunng, wodurch man Herzen uͤberliſtet, ward es ihm nicht ſchwer ſich die Gunſt der eitlen Mutter zu erſchleichen; es war ſuͤſſe Nahrung fuͤr ihren Stolz, ſich unter einer ſolchen Menge hervorge - ſucht zu ſehen. Caroline, dies unſchuldige Maͤdchen, in deren Herzen kein Falſch war, warD 558viel zu unerfahren, Warheit von Taͤuſchung zu unterſcheiden, ſie kannte die Welt nur aus Buͤ - chern und ſchuf ſich lauter Graͤndiſons und Lovelaͤce’s Jhr Herz, ſo offen und rein, kannte die Schlingen nicht, mit der die Bosheit die Unſchuld zu beſtrikken pflegt; in ihr ſchlug ein warmes Gefuͤhl fuͤr Tugend und Rechtſchaffen - heit, und der Glaube an lauter gute und edle Menſchen ſtand feſt in ihrer Seele, und ver - bannte Mistrauen und ſteife Zuruͤkhaltung. Der Verraͤther ſah wol ein, daß er den Weg der Schmeichelei bei ihr nicht einſchlagen durfte, er nahm daher zur Verſtellung ſeine Zuflucht, ver - ſtekte das ſcheusliche Geſicht unter der Larve der Tugend, und ſo fand der Bube nach und nach den Zugang in das Herz eines ſchuldloſen Maͤdchens. Aber dennoch blieb Caroline rein, denn gute Grundſaͤzze, wenn ſie einmal Wurzel geſchlagen haben, koͤnnen nicht ſo leicht vertilgt werden, und vielleicht waͤre ſie auch ſchuldlos geblieben, vielleicht haͤtte die Tugend einen glaͤnzenden Sieg erkaͤmpft, wenn nicht eine ungluͤkliche Kataſtro - phe alles untergraben haͤtte.

Durch den uͤbermaͤßigen Aufwand, durch die ſchwelgeriſchen Feſte, war das anſehnliche Ver -59 moͤgen zu Grunde gegangen. Der Erwerber und Vermehrer deſſelben hatte laͤngſt ſeine maͤnnlichen Rechte eingebuͤßt, und ſchwieg Seine Frau wußte ihm die gewiſſe Verbindung ihrer Tochter mit dem Baron auf eine ſo glaͤnzende Art vorzu - malen, daß er alles, was ſie zu Gelangung die - ſes Zweks vornam, billigte! Auf einmal fiel ein anſehnliches Handlungshaus in B .. und Ca - rolinens Aeltern wurden dadurch gaͤnzlich zu Grunde gerichtet.

Die unvermutete Nachricht hievon riß den Vater aus der Welt, entriß ihn dem noch war - tenden Elend ein ploͤzlicher Schlagflus, und er war nicht mehr. Nun hatte der Baron freie Hand, die bisher immer durch die ſtrenge Tugend des Vaters gebunden war, man geſtat - tete ihm Beſuche, und er theilte anſehnliche Ge - ſchenke aus, die er von beſchnittenen und unbe - ſchnittenen Wucherern erſchlichen hatte. Caro - line litte durch den Tod ihres Vaters viel, eine Schwermut bemaͤchtigte ſich ihrer, die aber ihrer Schoͤnheit einen neuen Reiz verlieh, und ſie, anſtatt zu vermindern, nur noch mehr erhoͤhte, und in ein glaͤnzendes Licht ſezte. Sie hatte bis - her den Baron immer in einer gewiſſen ehrer -60 bietigen Entfernung gehalten, hatte ihm auch nicht die geringſte Freiheit geſtattet, aber nun ward ſie durch Bitten und Drohungen einer fuͤhl - loſen Mutter in die Enge getrieben, und ihre Tugend fing an zu wanken. So wie der Feind, der ſchon ein Auſſenwerk der belagerten Stadt er - ſtiegen hat, immer mutigere und ſtaͤrkere Angriffe wagt die Belagerten hingegen immer mutlo - ſer werden, wenn des Feindes Fahne auf den Waͤllen flattert, ſo iſt es auch mit der Unſchuld eines Maͤdchens. Hat ſie erſt dem Verfuͤhrer Eine Freiheit, ſei ſie auch noch ſo geringe, ver - ſtattet, hat ſie ihm Eine ſchwache Seite ihres Herzens entdekket, wehe dann ihrer Unſchuld ſie iſt unwiederbringlich verloren.

Der Boͤſewicht ſuchte ſie unter dem Verſpre - chen der ehelichen Verbindung zu gewinnen, er vermaß, betheuerte ſich, und ſchwur fuͤrchterliche Eide, ſchwur, ſie ſogleich als Gattin oͤffentlich zu bekennen, wenn ſein harter Vater dahin waͤre. Das war die Lokſpeiſe, die den Vogel ſicher ma - chen und in das aufgeſtellte Garn lokken ſollte O, wehe euch! die ihr die Vorzuͤge eurer Geburt durch Handlungen verdunkelt, die euch zu der niedrigſten Klaſſe feiger Buben herabwuͤrdi -61 gen, die ihr umherſchleicht ſchuldloſe Herzen zu beruͤkken, und Gottes Meiſterſtuͤkke zu zerſtoͤren, die ihr mit frecher Stimme auf oͤffentlicher Buͤh - ne ausruft auch die hab ich betrogen!

Caroline ward das Opfer eines Boͤſewichts. Er fuͤhrte ſie auf einen Ball, nuzte den Rauſch am Vergnuͤgen, und wußte durch Girren und Lokken die ſchuͤchterne Scham einzuwiegen, und ſie im ohnmaͤchtigen Schlummer zu feſſeln.

Jhr Blut war in gluͤhender Wallung, es kreißte ſich in den erhizten Adern, zukte in jeder Nerve, ſchlug verdoppelt in jedem Pulſe der Verraͤter lauerte wie der Falke und haſchte den Raub ein ungluͤklicher Augenblik, und Ca - roline ward die Beute der liſtigen Ueberredung. Wenn hoͤhere Geiſter, berufen zu Schuzengeln der Menſchheit, Traͤnen uͤber den Fall guter Menſchen vergieſſen, ſo floſſen ſie gewis uͤber ihren Fall, und der Genius ihrer Unſchuld entfloh zur Kanzelei des Himmels, und ſchrieb mit gluͤhender Schrift den Namen des Verraͤters nieder. Caroline fiel wie viele ſind gefallen, die das nicht ſind, was ſie war! die nicht die Staͤrke des Geiſtes, die Groͤſſe der Seele haben wie viele ſind vom Tanz erhizt, vom Wein62 befeuert, Opfer der Unzucht geworden! Hoͤrts Muͤtter, vernehmts Toͤchter! mei - det die Gelegenheit, wo eure Tugend ſinken kann; erſpart euch die Traͤnen, da es noch Zeit iſt, erkauft euch nicht fuͤr den Rauſch weniger Minu - ten ein elendes jammervolles Leben ein Leben voll Schande und Verachtung, wo euch jedes lebloſe Weſen anzuklagen ſcheint, wo euer Ge - wiſſen euch zuhallt: du biſt Schoͤpferin deines Elends, du koͤnnteſt ein guter Baum im Garten Gottes ſein, dem Wanderer Schatten, dem Gaͤrtner Fruͤchte geben, da du jezt ein ent - laubter kahler Rumpf biſt, den man bald ab - hauen und verbrennen wird. Hoͤrts, wie es ferner mit dem entehrten Maͤdchen ging Der Morgen fand ſie halb ſinnlos auf einſamen La - ger; ſie fuͤhlte ſich grenzenlos elend, und da ſie mit ahndendem Kummer ihren Verluſt uͤber - dachte, ſo entquollen heiſſe Traͤnen dem matten Ange. Mit Sehnſucht erwartete ſie den Stoͤrer ihrer Ruhe ihres Gluͤks! vergebens harrte ſie ihn am Morgen entgegen, der Boͤſewicht fuͤrch - tete ihre Traͤnen und floh, floh zu einer an - dern Huͤtte, wo auch eine Unſchuld zu verfuͤh - ren war.

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Das ungluͤkliche Maͤdchen vernahm die Flucht ihres treuloſen Verfuͤhrers wie vom Bliz ge - troffen ſank ſie zu Boden, rang mit einer graͤs - lichen Ohnmacht, und wuͤrde untergelegen haben, wenn nicht die ſtarke Natur ſie unterſtuͤtzt haͤtte. Sie erwachte zu noch groͤſſern Leiden, zu Leiden, die in der Seele keimen, die gleich dem ſchwel - genden Wurm an der Knoſpe des Lebens nagen, bis ſie faͤllt. Nicht allein die innere Ueberzeu - gung, du haſt deine Unſchuld verloren, ſondern auch die innere zunehmende Gewisheit, bald wird ein lebender Zeuge auftreten, und den Ver - luſt deiner Ehre allenthalben kund machen dein Name wird gebrandmarket, am Pranger geſtellt werden ehrbare Weiber werden mit Fingern auf dich zeigen deine Geſpielinnen werden bitter und hohnlachend dir nachrufen, und der Fremdling wird ziſcheln und fragen: war das die tugendhafte Pamele? O wie muſten dieſe Gedanken Dolchſtoͤſſe fuͤr ein Maͤd - chen ſein, die ſo gebildet, mit ſolchen Geiſtes - gaben ausgeruͤſtet, und nun durch einen einzigen Fehltritt unwiderbringlich verloren war! Jhre Mutter dies ſchaͤndliche Weib! es ſei nun, daß ſie ſo etwas geahndet, oder daß ſie ihr ſchwel -64 geriſches Leben auf eine andere Art fortſezzen wollte, verlies ſie, unternam eine Reiſe, und kam nie zuruͤk Schuldner bemaͤchtigten ſich des noch uͤbrigen Vermoͤgens, Caroline mußte faſt ganz entbloͤßt von allen Bequemlichkeiten das vaͤterliche Haus verlaſſen, und zu einer Ver - wandtin ihre Zuflucht nehmen. Dies war eine harte, liebloſe Frau, die kein Mitleiden kannte, und ſich faſt gar nicht um das arme verlaſſene Maͤdchen bekuͤmmerte Sie war ganz ausge - ſtoſſen aus dem menſchlichen Zirkel die Roͤte verblich die Wangen welkten dahin, und kaum daß die Fuͤſſe den von Gram ausgemergel - ten Koͤrper fortſchleppen konnten. Die Zeit nahte ſich, wo die Frucht der treuloſen Verfuͤh - rung ans Licht treten ſollte. So oft der Gedanke hieran ſie beſchlich, und das war ſtuͤndlich, ſo giengen ihre Sinne zur gaͤnzlichen Zerruͤttung uͤber. Mutter zu werden! war ein Gedanke, den ihr Geiſt nicht umfaſſen konnte, mit dem ſich alles in ihrer Seele verband, was nur ſchrek - liches kan gedacht werden. Wann eine Flut von Traͤnen ihr Lager uͤberſchwemmt hatte, wann ſie ſich vergebens nach ein Weſen umſah, in deſ - ſen Schoos ſie all ihre Leiden ausſchuͤttenkonnte,65konnte, ſo warf ſie ſich oft in wuͤtender Ver - zweiflung auf die Knie und bat den Urheber ihres Daſeins, ſie wegzuraffen mit einem ſeiner toͤden - den Blizze ſie auszutilgen aus der Zal der Lebenden. Jn einer ſolchen Zerruͤttung ihrer Seelenkraͤfte erſchien nun die gefuͤrchtete Stunde ſie rang zwiſchen Tod und Leben, Huͤlfe ru - fen konnte ſie nicht, denn auch der Gebrauch der Zunge war ihr gehemmt; auf einmal erwachte ſie von einer gaͤnzlichen Erſchlaffung ihrer Kraͤfte, der Saͤugling kruͤmmte ſich zu ihren Fuͤſſen, im Streit mit Tod und Leben. Mit der Mine der Verzweifelung blikte ſie es an, dachte es ſich als ein verworfenes Glied der Geſellſchaft als Baſtard ſah aͤnliche Zuͤge mit ihrem Verfuͤh - rer, und ploͤzlich verlies ihr auch noch die wenige Vernunft und Beſinnungskraft, ſo ihr noch uͤbrig blieb, ſie faßte und zerſchmetterte es im wilden Wahnſinn. Da ſie ſeine zerſchellerten Gebeine ſah, ſtieß ſie einen wuͤtenden Schrei aus, und ſtuͤrzte darnieder; man eilte herzu, fand ſie blaß mit entſtelltem Geſicht, mit aufgeloͤßtem Haar, mit ſtarrem Blik auf die noch zukkenden Glieder gerichtet. Man eilte herzu, ſchlepte ſie mit Muͤhe weg, oͤfnete ihr eine Ader, und ſie kam wiederE66zum Gebrauch ihrer Vernunft, man fragte ſie uͤber ihre begangene That, und ſie wußte nicht das mindeſte davon. Sie ward in ein finſteres Loch geworfen, wo eine ſtinkende faule Luft herrſchte, man machte ihr den Prozes ſie ge - ſtand ihre That, und der Richter beſtimmte ihr das Todesloos.

Wie er’s beſtimmen konnte, mit welchen Gruͤnden er ſie des Todes ſchuldig fand, da ſie im Wahnſinn eine That veruͤbte, davon ihr Herz nichts wußte, will ich nicht unterſuchen Ge - nug ſie ſchmachtete zwei Jahre im Kerker, ſtarb ſchon einen Tod durch die unmenſchliche Be - handlung des Kerkermeiſters durch die kaͤrg - liche Nahrung durch die ungeſunde faule Luft und dann durch die folternden Schmerzen ih - res Gewiſſens Nun ſollte ſie noch den zwei - ten Tod durch Henkersknechte ſterben Sie ſtarb ihn mit der Freudigkeit, mit dem Ergeben in den unveraͤnderlichen Rathſchluß der Vorſicht, das eine Wuͤrkung der Religion war, die ſie nicht blos bekannt, ſondern auch ausgeuͤbt hatte. Jhren Fall bewuͤrkte die Verraͤterei eines ſchlauen Boͤſewichts. Sie hatte lange gekaͤmpft, aber der Taumel der alles hinreiſſenden Leiden -67 ſchaft riß ſie in einer gefahrvollen Stunde hinweg, nud uͤbertaͤubte die Stimme der Religion, und die ohnmaͤchtige Sprache der Vernunft. Jhre That war die Frucht des Wahnſinns, und eine Zerruͤttung all ihrer Sinne. Sie war zu der Stunde, da ſie die muͤtterlichen Gefuͤhle verleugnete, nicht faͤhig zu denken zu empfin - den und zu fuͤhlen Sie hatte alſo alle Attri - bute der Menſchheit verloren, und hatte blos ei - nen thieriſchen Jnſtinkt, und auch der war ge - wiſſermaſſen betaͤubt; konnte ſie daher als Menſch betrachtet werden? Konnten menſch - liche Geſezze auf ſie wuͤrken? Beantworte dieſe Fragen, wer uͤberzeugt iſt, und wer ſollte es nicht ſein? daß der Richter ohne Kenntnis des Menſchen, ſeiner innern Neigungen, und der Entſtehungsart ſeiner Handlungen ohne Philoſophie des Lebens, der gefaͤhr - lichſte Bube iſt, der auf Gottes Erdboden ſchleicht, der unter dem Schirm der Geſezze han - delt, und gefaͤhrlicher iſt wie der Raͤuber, der mir nach meinem Gut, und der Moͤrder, der mir nach dem Leben ſteht.

Jhre oͤffentliche Hinrichtung! was ſollte ſie bewuͤrken? Abſcheu vor Laſter! Ein warnen -E 268des Beiſpiel fuͤr junge Maͤdchen! Und was bewuͤrkte ſie? Ein Schauſpiel fuͤr den Poͤbel, der mit mordduͤrſtigen Blikken ſich daran weidete eine Gelegenheit zur Unzucht zum Dieb - ſtal. Der Raͤuber der Unſchuld hoͤrte dadurch nicht auf, ein Raͤuber zu ſein, und das Maͤdchen, konnte ſie dieſe Beſtrafung als eine Warnung an - ſehen, da ſie gewis nicht daran dachte, ein aͤnli - ches Verbrechen zu begehen, ein Verbrecheu, das auſſer der Natur, auſſer ihrem Wuͤr - kungskreiſe iſt?

Einen Mord kann man begehen, wenn man zum Zorn gereizt wird wenn mancher durch den aͤuſſerſten Mangel dahin gebracht wird, arme Reiſende um einen Zehrpfenning niederzuſtoſſen wenn man auf einer Handlung ertapt wird, deren Bekanntmachung ewig brandmarken wuͤrde. Hier iſt doch immer eine Triebfeder, darnach ich handele, die mich zu einem Verbrechen verleitet, aber der Mord einer Mutter an ihrem Kinde liegt auſſer der Sphaͤre der Menſchheit, es laͤßt ſich gar keine Art der Beleidigung bei einem ohnmaͤchtigen huͤlflofen Saͤugling denken. Schon einem jeden vernunftloſen Thier iſt von der Na - tur der Jnſtinkt eingepflanzt, ſeine Jungen zu69 lieben und zu ſchuͤzzen: wie vielmehr dem Men - ſchen, der nicht nach eingepflanztem Jnſtinkt, ſondern nach der Vernunft handelt? So weit kann aber die menſchliche Natur nicht ausarten, daß eine Mutter, beim voͤlligen Gebrauch ihres Verſtandes, ihr Kind, das ſie ſo lange im Schoos getragen, das ſie mit Schmerzen gebo - ren hat, mutwillig wuͤrgt, und koͤnnte ſie’s, nun dann, ſo werde ſie ausgeloͤſcht aus dem Buche des Lebens! Aber ſelten, hoͤchſt ſelten iſt gewis ein ſolches Beiſpiel, und muß es auch, zur Ehre der Menſchheit ſein, denn der Menſch faͤllt ja dadurch in die unterſte Stufe, und ſinkt unter der Wuͤrde des vernunftloſen Thiers. Es ſind faſt immer unwiderſtehliche Anfaͤlle, die das Herz einer Mutter erſchuͤttern es ſind Leidenſchaf - ten, die die Vernunft uͤbertaͤuben, und die Schranken der Menſchheit uͤberſchreiten, und wenn dieſe erſt das Herz gewinnen, da ſchweigt die Vernunft, da verſtummt das Lallen der Ge - ſezze, da kann eine Mutter im Wahnſinn das winſelnde Kind toͤdten, und ſeine zarten Gebeine zerſplittern. Ja, hat man nicht ſogar Beiſpiele daß dieſe That aus Liebe zur Reife kam? daß der Gedanke, ſieh, dein Kind iſt ein Baſtart, aufE 370den die Welt mit Fingern zeiget, es iſt ein Denk - mal der Verachtung, dereinſt ausgeſchloſſen von ſo vielen Vorrechten der Geſellſchaft Es muß die Gefuͤhle eines Kindes gegen ſeine Aeltern er - ſtikken Es muß erſt die Fahne uͤber ſich ſchwenken laſſen Daß dieſer Gedanke, ſage ich, vermoͤgend war, eine Mutter mit Wut zu wafnen, ihr das Wuͤrgemeſſer in die Hand zu geben, um ihr Kind durch einen ſchnellen Tod dem noch auf ihn wartendem Elende auf einmal zu entruͤkken.

Warum aber deshalb ſterben? warum oͤffent - lich hingerichtet werden? da der Zwek der Strafe dadurch gaͤnzlich verfehlt wird, da ſich auch gar keine Beſtrafung gedenken laͤßt, wo kein Ver - brechen begangen iſt Ein Verbrechen kann ich aber nur begehen, wenn ich den Gebrauch der Seelenkraͤfte habe, die mich zum Menſchen machen, wann ich die unbeſchraͤnkte Freiheit habe, das Boͤſe zu unterlaſſen, weil es boͤſe, und das Gute zu vollbringen, weil es gut iſt. Wenn je - mand den Ochſen erſchluͤge, weil er ſein Kind geſtoſſen hat, daß es ſtarb, wuͤrde man nicht ſagen, der Menſch raſet, er will das unvernuͤnftige Thier lehren, vernuͤnftig zu ſein, er will ſeinen71 Jnſtinkt nach den Maasſtab des Geſezzes richten, du ſollſt nicht toͤdten! Der Thor, raͤumt er allemal der Vernunft den Sieg uͤber ſeine Leiden - ſchaft ein? wuͤrde ein jeder ihm zurufen. Aber was iſt der Richter, der an den troknen Buch - ſtaben des Geſezzes klaubt, und das Todesurtel nach der Carolina faͤllt, weil dieſe auf das Ver - brechen eines Kindermords den Tod ſezt, und die begangene That Kindermord heißt? Sie heißt aber, nach genauer Unterſuchung nicht Kinder - mord, ſondern Frucht des Wahnſinns und der Verzweiflung, die den Gebrauch der Seelen - kraͤfte hemmt. Der Name, Thor, waͤre ein zu ge - linder Name fuͤr einen ſolchen Richter, denn handelt er aus Bosheit und Eigennuz, druͤkt er das Auge bei den Verbrechen des vornehmen Poͤbels zu, und bricht nur den Stab Wehe uͤber arme unterdruͤkte Menſchen, ſo moͤge ein weiſer Joſeph den Stab uͤber ihn brechen; handelt er aber aus Unwiſſenheit, wie dieſer Fall wol am haͤufigſten eintreten moͤgte, nun ſo moͤgen es einſt die verantworten, die ihn zum Richter des Volks beſtellten.

Jhr aber, Geſezgeber einer Nation! ent - kraͤftet das unnatuͤrliche Geſez, das einem armenD 472verfuͤhrten Maͤdchen, die beſtuͤrmt von tauſend Qualen, die euch ein Raͤthſel ſind, im wilden Aufruhr ihres Herzens ihr Kind wuͤrgt, den Tod zuerkennt was gewinnt ihr durch ihren Tod? Warlich nicht gaͤnzliche Vernichtung einer ſolchen That, die auſſer dem Gebiet der Menſch - heit liegt, da die Erfahrung den Saz beſtaͤtigt, daß Verbrechen nicht durch gelinde Stra - fen vermehret, und nicht durch Strenge gemindert werden.

V. Aelterntirannei! die ſchreklichſte in der Natur:

Was fuͤr traurige Beiſpiele hat man von mis - gerathenen ungluͤklichen Verbindungen, die durch Stolz, Eigennuz und Habſucht der Aeltern ge - knuͤpft werden. Wie wenig Ehen werden in un - ſern Tagen blos durch den Beifall des Herzens, durch die Uebereinſtimmung der Seelen geſchloſ -73 ſen? dieſe findet man nur in Romanen und Schauſpielen, und ſelten in der Natur. Sollte dies nicht ein treffendes Bild unſers Zeitalters ſein? gewis, daran wird niemand zweifeln, der einen Blik in die Welt wirft, und haͤusliche Ver - faſſungen beobachtet. Denn um den Menſchen kennen zu lernen, ſeinen Karakter, ſeine Nei - gungen auszuſpaͤhen, muß man nicht blos bei Einer Situation ſeines Lebens ſtehen bleiben, nein, man muß ihn in ſeinem eigenen Hauſe aufſuchen, muß ihn da beobachten wo er gemeiniglich frei, ohne Maske handelt, wo man Tugenden antrift, die man hauſſen vergebens ſuchte, und Laſter veruͤbt ſieht, die man nur bei dem roheſten Wil - den erwarten ſollte.

Beobachtet einmal haͤusliche Verfaſſungen, und wie vieles Elend werdet ihr antreffen Elend, das auſſer dem Bezirk der Menſchheit liegt, und nur durch Menſchen ſelbſt erzeuget wird. So viele Romanen ſchildern uns dieſes Elend mit lebhaften Farben, aber wir eilen daruͤber weg, in dem ſichern Glauben, daß es nur Taͤu - ſchungen und keine wuͤrklichen Handlungen ſind, und gewis es brauchts keiner Theaterſzenen, euch den Spiegel eurer Handlungen darzuſtellen, wirE 574haben der wuͤrklichen Szenen ſo viele, die das Ebenbild der Gottheit tief genug herabſezzen.

Einige Szenen will ich meinen Leſern dar - ſtellen, nicht etwa Erdichtung ein Spiel der feurigen Fantaſie, ſondern Warheit, wie man ſie in Staͤdten und Doͤrfern findet.

a) Julie, als Maͤdchen gluͤklich, als Frau elend.

Julie war die Tochter eines reichen Kaufmanns in S Das Gluͤck hatte ihren Vater aus einem niedrigen Stande zu der Stufe erhoben, darinnen er jezt vor ſeinen Zeitgenoſſen glaͤnzte, und ihm groſſe Reichthuͤmer zugewendet, dazu der amerikaniſche Krieg ſein groſſes Scherflein beigetragen hatte. Man findet gemeiniglich, daß der ſchnelle Uebergang von Armut zum Reichtum Stolz und Hochmut erzeuget, beſonders bei Leu - ten, die das blinde Gluͤk aus den Hefen des Poͤbels in eine glaͤnzende Sphaͤre verſezt, und die ohne Bildung ihres Herzens ohne groſſe hervorſtechende Eigenſchaften der Seele, ſich auf dieſer ſchwindelnden Hoͤhe nicht anders zu erhal -75 ten glauben, als wenn ſie mit einem gewiſſen Stolz uͤber andere Staͤnde hinwegſchauen. Der Erwerb von Schaͤzzen macht bei ihnen die Grenz - linie ihres Verſtandes aus, hoͤher kann er ſich nicht hinaufſchwingen, und daher iſt Reichtum der Goͤzze, dem ſie reichliche Opfer ſpenden. Alles, was Kunſt und Fleiß groſſes hervorbringt, verach - ten ſie, weil ſie es nicht zu ſchaͤzzen wiſſen; der Eifer fuͤr die Wiſſenſchaften, der Durſt nach Warheit, die Verfeinerung des Verſtandes, und das Ringen und Streben nach immer hoͤhern Begriffen, iſt ihnen ein Raͤtſel, und daher ſu - chen ſie ſich immer in einer gewiſſen Entfernung von den Geſellſchaften zu erhalten, wo man nicht blos von Courant und Wechſelcours ſpricht.

Dieſes Gelichters war denn auch Juliens Vater Da ſie das einzige Kind war, ſo war der Gedanke bei ihm der erſte und lezte, der ihm die Ruhe mancher Nacht ſtal, und oft im Traum beſchlich, ſich durch ihre glaͤnzende Verbindung hoͤher hinaufzuſchwingen, und die Verwaltung des Staats durch die nahe Verbindung mit einem ho - hen Hauſe nach ſeiner Willkuͤhr zu lenken. Um deſto eher zu dieſem Zwek zu gelangen, ließ er76 ſeiner Tochter eine vornehme Erziehung geben, und ſparte keine Koſten, ſie in all den Wiſſen - ſchaften unterrichten zu laſſen, die ſowol den weiblichen Geiſt zieren, als auch ſie uͤber die Zal der gewoͤnlichen Frauenzimmer erheben, die wie Geſchoͤpfe ohne Seele ihr Pflanzenle - ben fuͤhren, und in euren Verſammlungen gaͤh - nend einſchlafen, wenn nicht von Puz, und neuen Moden die Rede iſt, ſondern der Verſtand mit - wuͤrken ſoll. Julie beſaß Schoͤnheit des Koͤr - pers verbunden mit Schoͤnheit der Seele, ſo daß man zweifelhaft blieb, welcher von beiden man den Preis zugeſtehen ſollte. Jhr Geiſt entwik - kelte ſich fruͤhzeitig, und ſchwung ſich| mit einer Leichtigkeit uͤber alle die Schwierigkeiten hinweg, welche die Erlernung einer jeden Wiſſenſchaft zu begleiten pflegen, ſo daß ihre Lehrer, von Er - ſtaunen oft hingeriſſen, die Traͤnen der Freude nicht zuruͤkhalten konnten. Sie verſchlang mit heiſſer Begierde die Lehren einer Religion, die den menſchlichen Faͤhigkeiten ſo angemeſſen, und ein ſo fruchtbares Feld von Lebensgluͤk - ſeligkeit dem Erdenbuͤrger entdekket, daß es al - mal Entwuͤrdigung ſeines Verſtandes, Ent - ehrung ſeines Herzens iſt, wenn er dieſe Re -77 ligion (von der ſelbſt ihre Feinde bekennen muͤſ - ſen, daß ſie die vollkommenſte Sittenlehre ent - haͤlt) verachtet und zu elenden Sophiſtereien ſeine Zuflucht nimmt, die wie ein wankendes Rohr ſind, das zerbricht, wenn man ſich daran lehnet. Es gehoͤrt vielleicht mit zur Verfeinerung unſers Zeitalters, daß ſogar das weibliche Ge - ſchlecht an der Modeſeuche ſiech darnieder liegt, und eben mit ſolcher Frivolitaͤt uͤber die wichtigſten Warheiten der Religion ſpottet, wie irgend nur ein Freron vermag. Freilich huͤpfen viele uͤber die Religion, als das unbedeutendſte im menſch - lichen Leben hinweg, aber giebt es auch nicht einige die Anſpruch an Gelehrſamkeit und an Philoſophie machen, und durch Trugſchluͤſſe ſich verleiten laſſen an einer Religion zu zweifeln, uͤber deren Bekanntmachung ſie in der Jugend hinweggeeilet ſind? Und worinnen liegt in allen dieſen, in der Verachtung der Religion, in den moraliſch fehlerhaften Sitten der Grund? Ge - wis in einer zweklofen Erziehung, da Eltern auf die Bildung des Herzens und Verſtandes ihrer Toͤchter nicht achten, ſondern blos ihr Augen - merk auf den Koͤrper richten, der doch einmal im Moder aufwallt und hinſinkt, der Geiſt bleibt78 eine rohe tode Maſſe, die man nicht achtet Wenn nun der Mann von Geiſt ſich nach ein Geſchoͤpf ſehnet, das mit ihm ſimpathiſire, und durch Gaben des Verſtandes ihm Unterhaltung verſchaffe die wenn die Glut der erſten Liebe nach und nach erkaltet, dieſen Verluſt durch vor - trefliche Eigenſchaften erſezzet, und er findet ſeine Gattin bei allem leblos, kalt und tod; wie trau - rig muß die Ehe, wie traurig und oͤde die Tage ihres Lebens ſein. Daher kommts, daß der Mann ſeine Gattin verachtet, und ſich zur Buhlerinn wendet, die ſeine leeren Stunden durch ange - nehme Unterhaltung wuͤrzet, und die feine Kunſt verſteht, ſein Herz durch tauſend gluͤkliche Wen - dungen und Ueberraſchungen an ſich zu ketten.

Denn wenn ihr auch, Epikure meines Zeit - alters! alle geiſtige Liebe hinwegſophiſtiſiren wollt, und ſie als ein Hirngeſpinſt betrachtet, wenn ihr die Liebe bloß als Stillung eines Triebes annehmt, den auch das Thier hat, und ihr den Menſchen alſo alles feine Gefuͤhl abſprechet, ſo werdet ihr mir doch gewiſſe Grade in der Liebe zugeſtehen muͤſſen; ſo wird das Maͤdgen, das euch gegen den hoͤchſten Genus nichts entgegenſezt, und willig eure Begierden befriedigt, in euren79 Augen herabſinken, und ihr werdet die Bulerin hoͤher ſchaͤzzen, die durch verſchiedene Wege euch zu beſtrikken, und hundert Arten von Gunſtbe - zeugungen zu verſchwenden weis, ehe ſie euch die hoͤchſte bewilligt. Geſezt nun, euch feſſelt blos die Schoͤnheit, und die Stillung des thieriſchen Jnſtinkts an ein Geſchoͤpf, und ihr knuͤpfet ehe - liche Bande mit demſelben, wie lange wird die Glut dauern, mit der ihr an ihren Blikken haͤngt? ſobald ihr eure Triebe bis zur Erſchlaffung geſaͤt - tigt, ſo werdet ihr ſie verachten, und zur an - dern eilen.

Dies alſo zugeſtanden, ſo folgt der Schlus, daß blos koͤrperliche Schoͤnheit, ohne Schoͤnheit der Seele, ohne Bildung des Verſtandes eine Blume iſt, die bald von der Hizze verſengt, vom Nord zerknikt wird. Doch ich breche von dieſer Materie ab, von der ich wuͤnſchte, daß ſie El - tern beherzigen moͤchten; und deshalb werde ich ohne Entſchuldigung uͤber dieſe Epiſode, zum Verfolg meiner Geſchichte eilen.

Julie befand ſich in einem Alter von achtzehn Jahren, geziert mit allen Reizen einer bluͤhenden Jugend, geziert mit hervorſtechenden Eigen - ſchaften der Seele; Sie erſchien in dem groſſen80 Zirkel der Welt, mit einer gewiſſen Grazie und Wuͤrde, die Folgen eines aufgeklaͤrten Verſtan - des ſind; ſie verdunkelte alle ihre Geſpielinnen vom hohen bis zum niedern Stande, die dennoch, troz des Neides, es nicht wagten, und auch keine Urſach fanden, Tadel auf ſie herabzuſtroͤmen. Jndeſſen waren die ſchoͤnſten Juͤnglinge um ſie verſammlet, und bulten um ein Zeichen ihrer Achtung, aber ſie begegnete einem jeden nach ſei - nen Verdienſten, und wuͤrdigte auch den gedan - kenloſen Stuzzer und den faden Gekken, die wie Muͤkkenſchwaͤrme um ſie ſchwebten, keines ein - zigen Bliks, darauf ſie ihren vermeintlichen Stolz haͤtten gruͤnden koͤnnen. So wie ſie nun das Muſter aller weiblichen Vollkommenheit war, ſo war ein gewiſſer Ferdinand B. (der ſeit einem Jahr von der hohen Schule zuruͤkge - kehrt, und bei einem Juſtizcollegio angeſtellet war) die Zierde dortiger Juͤnglinge. Sein viel umfaſſender Verſtand hatte ſich alle Kenntniſſe eigen gemacht, die eigentlich erſt bei maͤnnlichen Jahren zur Reife gedeihen Er hatte ſtets einen weiſen Gebrauch ſeiner Zeit gemacht, und hatte die Rechtswiſſenſchaft nicht blos als ein Brod-Studium, ſondern als eine Wiſſenſchaftbetrach -81betrachtet, die uns Wege zeiget, unſre Bruͤder gluͤklich zu machen. Hiernaͤchſt hatte er auch die Tiefen anderer Wiſſenſchaften durchdrungen, verſtand verſchiedene fremde Sprachen, opferte ihnen aber zur Liebe, nicht ſeine Mutterſprache auf; auf ihre Verfeinerung legte er beſondern Fleiß, und da ihm die Natur die Gabe gluͤhender Empfindungen als ein Geſchenk verliehen, welches ſie nur aͤuſſerſt ſparſam austeilt ſo brachte er es darin bald zu einer groſſen Vollkommenheit. So durchlief er auch mit ſchnellen Schritten die Banen der Weltweisheit, Geſchichte und Dichtkunſt, und gelangte ſtets zum Ziel, dem ſo viele hinanſtreben, und ſelten erreichen. Bei dieſen wahren Vorzuͤgen des Geiſtes war er nie ſtolz auf ſeine Kenntniſſe, und wollte niemals mehr ſcheinen als er war, bediente ſich nie eines entſcheidenden, ſondern eines belehrenden Tons, wann er ſeine Meinungen vortrug. Jn ihm ſchlug ein warmes Herz fuͤr Tugend und Recht - ſchaffenheit Er war ein eifriger Anhaͤnger der Religion, deren weiſe Vorſchriften er befolgte: die Rechte der Natur und Menſchheit waren ihm heilig und unverlezt, er vertheidigte ſie mit mu - tigem Eifer in dem Stande, darin er wuͤrkte,F82darin er ſo ſehr vor ſeinen Mitgehuͤlfen her - vorragte, die ihre Rechtsgelehrſamkeit als ein Handwerk betrachteten, das ihnen Narung und Kleidung verſchaffen muͤßte. Sein Vaterland liebte er mit einer Waͤrme, die ihn des Namens eines wuͤrdigen Patrioten, den ſo viele entwei - hen, wuͤrdig machte; ſeine Nebenmenſchen liebte er als Bruͤder, die gerechte Anſpruͤche an ſeine Mithuͤlfe, an ſeinen Beiſtand haben Genug, er war Einer der Edlen, auf den das Auge der Gottheit mit Wolgefallen ruht. Jch mußte ihn euch, ſo gut es mein ſchwacher Pin - ſel vermag, ſchildern, um euch das Bekenntniß zu entlokken, daß ein ſolcher Juͤngling, mit ſol - chen Grundſaͤzzen fuͤr alles Gute und Edle, der Liebe eines ſolchen Maͤdchens, wie Julie, werth war. So wie der Magnet das Eiſen an ſich zieht, ſo wird auch eine ſchoͤne Seele bald auf diejenige ſtoſſen, die mit ihr gleiche Geſinnun - gen, gleiche Eigenſchaften beſizt, und eben die - ſes Zuſammenſtoſſen jener edlen Seelen! dieſer unwiderſtehliche Zug, den wir Sim - pathie nennen, gewaͤhrt jene reine vollkomm - ne Liebe, die ein Hauch des allervollkommen - ſten Geiſtes iſt, die den Menſchen vom Thier83 unterſcheidet, und nur dem Wolluͤſtling ein Raͤtſel, dem Epikurer ein Maͤrchen iſt. So fanden ſich Yorik und Eliſa Petrarch und Laura Abeillard und Heloiſe. Jhre Liebe war nicht der voruͤbergehende Rauſch der Wolluſt, ſie war das feſte unaufloͤsliche Band, was ihre Seelen knuͤpften, und nur durch Trennung hie - nieden konnte aufgeloͤſet werden. So war auch die Liebe Ferdinands und Juliens, ſchuldlos und rein, von keiner ſtrafbaren Luſt entweiht.

Sie ſahen ſich, empfanden fuͤr einander, was noch keine Sprache auszudruͤkken vermocht, und ſehnten ſich nach dem Augenblik, ſich das ſagen zu koͤnnen, was ihnen ſelbſt unerklaͤrbar im Buſen gluͤhte, und hervordringen wollte. Dieſer Augenblik kam wozu ihn zeichnen, da bei ſolchen Gegenſtaͤnden der Pinſel das doch nur immer halb ausdruͤkken kann, was ſelbſt will geſehen und empfunden ſein?

So verborgen auch dieſe Liebe ſchlummerte, ſo ward ſie doch bald durch einen Nebenbuler ge - wekket, der das ganze Gebaͤude von Gluͤk auf Ein - mal zertruͤmmerte, welches ſich unſere Liebenden ſo oft in einer wonnevollen Stunde gegruͤndet hatten. Juliens Vater ſah ſich in dem BeſizzeF 284ſo groſſer Reichthuͤmer, wie man ſie ſelten bei Privatperſonen findet, eben deshalb waren ſeine Wuͤnſche nach mehreren Schaͤzzen nicht geſtillet; und wie waͤre das auch bei einem Reichen zu ver - muten, der oft dem Armen den lezten Thaler nimmt, um ihn zu den aufgehaͤuften Goldſtuͤk - ken beizulegen? Er ging damit um ſich ein Mo - nopolium uͤber einen gewiſſen Zweig der Hand - lung zu verſchaffen, der jezt in den Haͤnden vie - ler war, und der, da das Land denſelben ſo noͤ - tig bedurfte, einen groſſen Erwerb dem verſprach, der ihn ausſchlieſſungsweiſe benuzzen konnte. Da ein ſolches Monopolium nur zum groͤßten Nachteil des Landes konnte einem einzelnen ver - liehen werden, weil dadurch ſo viele auſſer Brod und Narung geſezt wurden, ſo waren alle ſeine Vorſtellungen, Geſchenke ſogar, fruchtlos ge - weſen, es zu erhalten. Dies ſchrekte ihn aber nicht ab, er wandte ſich an einen Staatsmann, der ſich ſeit kurzem in die Gunſt des Fuͤrſten ein - geſchlichen, und einen wahren Patrioten ver - draͤngt hatte er ſuchte ſeine Bekanntſchaft, und da deſſen Umſtaͤnde ſehr zerruͤttet waren, ſo machte er ihm anſehnliche Geſchenke, und wuſte die Karte ſo zu miſchen, daß dieſer fuͤr ſeinen85 Sohn, der ſchon in einer anſehnlichen Bedie - nung ſtand, um ſeine Tochter anhielt. Dieſer beſtimmte Braͤutigam war in einem Alter von ſechs und zwanzig Jahren ſchon Greis, hatte ſeine Jugend in Ueppigkeit und Wolleben ver - praſſet, und ſich im Arm der berauſchenden Wol - luſt entnervet; groſſe Summen hatte er durch Bulerinnen und Spieler verſchwendet, und Schuldner lagerten ſich fruͤh und ſpaͤt vvr ſeiner Thuͤre. Von ſtoͤrriſcher Gemuͤtsart von Stolz und Dummheit aufgeblaſen, ſchritt er in - deſſen einher, ſeine Winke waren Befehle, und durch das Anſehen ſeines Vaters, deſſen einziger Sohn er war, hatte er ſchon viele aus dem Kol - legium, von dem er ein Mitglied war, verleum - det und ungluͤklich gemacht.

Man ſtelle dies unvollendete Bild gegen jenes, ſo ich euch von Ferdinand entworfen, und nun denke man ſich das ungluͤkliche Maͤdchen, das durch die tiranniſche Wut ihres Vaters aufs aͤuſſerſte gebracht ward.

Ferdinand wurde das erſte Opfer. Man verſandte ihn ſchleunig in die entlegenſte Pro - vinz, um ihn dadurch von ſeiner Geliebten auf ewig zu entfernen; und da er ſich deſſen weigerte,F 386ſo wurde es ihm vom Fuͤrſten, bei Vermeidung der hoͤchſten Ungnade anbefohlen. Wer einen Sinn fuͤr das Wort: gekraͤnkte Liebe hat, wer den Gedanken in ſeiner ganzen Schwere ausdenken kann, losgeriſſen, auf immer getrennt zu werden, von dem was man liebt, der denke ſich das traurige Schikſal eines Juͤnglings, wie Ferdinand war! Zwei Jahr kaͤmpfte er mit un - nennbaren Leiden, und ſtarb endlich an einer Aus - zehrung, zum groſſen Verluſt ſeines Vaterlan - des, das ihn nicht ganz nach Verdienſten ſchaͤzte, und aller derer, die ſeine groſſe Seele in gluͤkli - chen Tagen gekannt, und auch im Ungluͤk be - wundert hatten. Julie ward von allen Sei - ten beſtuͤrmt; der ehrgeizige Vater wurde Bar - bar, waͤre Moͤrder geworden, wenn nicht das verlaſſene Maͤdchen, beſtuͤrmt durch die Traͤnen ihrer Mutter, ein zitterndes Ja hergeſtammelt haͤtte. Der Vater bekam zur Belonung den Rathstitel und das geſuchte Monopolium das Land weinte, und der traurende Patriot ſchlich ſeufzend davon. Er ſtattete ſeine Tochter fuͤrſtlich aus, und ſchloß ſeine Kiſten auf, um die ſtuͤrmiſchen Schuldner des Schwiegerſohns zu befriedigen.

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Julie ward das ungluͤkliche Weib eines Nichtswuͤrdigen Er legte bald die Larve ab, ließ ſie im Elend, belegte ſie mit tauſend Arten von Kraͤnkungen, und ging ſeinen Luͤſten, ſei - nen Begierden nach, und ſie vertrauerte ihr Le - ben, duldete ſchwere Leiden der Seele, die gegen koͤrperliche Schmerzen ein Nichts ſind. Zwei ganze lange Jahre waͤhrten dieſe Leiden, da erhoͤrte die Vorſicht ihre Wuͤnſche, ein ſchlei - chendes Fieber vertroknete ihre Lebensſaͤfte, ſie ſtarb, ſo wie ſie gelebt hatte, ſtarb mit vollem hingehefteten Auge zu ihrem Vater dort oben, und er ſandte ſeiner Diener Einen, ſie durch das lange Thal des Todes in Eliſium einzufuͤhren.

Moͤchte doch ihr Schikſal allen Aeltern eine Lehre ſein, die ſo gewiſſenlos mit dem Schikſal ihrer Kinder umgehen! denn was iſt ſchreklicher in der Natur, als daß diejenigen die mir das Daſein gaben, mich auch zwingen dieſes Daſein zu verfluchen?

Fuͤr euch aber fuͤhlende Seelen! die ich in mein Auge legte, da ich dieſes ſchrieb, will ich noch ein Fragmeut hinzufuͤgen; es ſind Briefe Juliens an ihre Freundin Caroline in B .. Jch theile ſie euch mit, und glaube, ihr werdetsF 488mir danken, geruͤhrt gen Himmel blikken und eine Traͤne des Mitleids auf das Blatt herab - fallen laſſen.

O, meine Caroline! mit Zittern ergreife ich die Feder, um Dir all das traurige und ungluͤkliche meiner jezigen Lage zu ſchildern, aber koͤnnen das Worte? Jch werde ermatten und in langſamen Jammer dahin ſchmachten und ſterben. Aber warum muſten die, welche mir das Daſein gaben, auch mir daſſelbe rauben? Warum muſten ſie mir dieſe Buͤrde aufladen, da ich zu ſchwach bin ſie zu tragen? Vor vier Wochen gab ich meine Hand dem, den nicht mein Herz, ſondern meine harte Aeltern fuͤr mich be - ſtimmt hatten. Wie zitterte ich, da der entſcheidende Augenblik kam! Jch muß blaß wie der Tod ausgeſe - ben haben, und mein Ja am Altar war ein ſtottern - des ohnmaͤchtiges Ja, von dem mein Herz nichts wußte. Nein es wußte nichts davon, da mein Mund den Bund verſiegelte; dieſer Mund log und redete die Unwarheit. Straf mich nicht, Gerechter! wenn ich treulos werde; ich kann den Mann nicht lieben, dem ich Liebe log. Mein Herz empoͤrt ſich, es kann