PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Der fliegende Menſch.
ein Halbroman,
Dresden und Leipzig, in derBreitkopfiſchen Buchhandlung. 1785.

Der fliegende Menſch.

Es war im November 1776, als ich mit der Diligence von Lion nach Paris zu - ruͤck kehrte. Wir waren ihrer achte in dem Wagen: ein Benediktiner, ein Schauſpieler, zwey Schauſpielerinnen, ein Advokat, ein Kaufmann, ein, ich weiß nicht wer, und ich; ungerechnet einen Affen, ſechs Hunde, drey Pappo - geyen, zwey Perruͤchen, ein Angala, und die menſch - lichen Weſen, die oben auf ſaſſen.

Der Benediktiner war der groͤßte Spaniolſchnu - pfer in ganz Europa, der groͤßte Weinverſtaͤndige und der feinſte Kenner guter Biſſen. Diejenige von den beyden Schauſpielerinnen, welche die Koͤniginn vorzuſtellen pflegte, war ſo ausgelaſſen, wie die R**, der ſie in der Bildung ſo gleich ſahe, daß ich ſie an - faͤnglich dafuͤr hielt, und ſo nichtswuͤrdig, wie died. fl. Menſch. AS**.2S**. Das Kammermaͤdchen war ernſthaft, tief - ſinnig, anſtaͤndig in ihren Geſpraͤchen, und beynahe ſo liebenswuͤrdig, als die zaͤrtliche Fannier. Der tragiſche Schauſpieler glich an Schoͤnheit dem P*il und ſpielte eben ſo ſchlecht: er hatte eine Unver - ſchaͤmtheit und einen ſtinkenden Stolz, der aber doch mit des *** ſeinem nicht in Vergleichung kommt. Der Advokat, den ich ſeiner Verkleidung ungeachtet erkannte, war ein beruͤhmter Mann, den ich wenig ſchaͤtze, und noch weniger liebe, gehaßt, verfolgt, ſelbſt ein Verfolger und ſogar ein Verlaͤumder. Der Kaufmann, ein ehrlicher, ſehr reicher und ſehr ein - faͤltiger Mann, viel, trank viel, ſchlief noch beſ - ſer, ſchnarchte fuͤr vier Mann, und nahm beynahe eben ſo viel Taback, als der Benediktiner, mit dem er ſich von irdiſchen Dingen unterhielt. Der, ich weiß nicht wer, war ein Mann weder alt noch jung, weder ſchoͤn noch haͤßlich, weder dick noch ma - ger, weder groß noch klein; ſchien weder reich noch arm, weder witzig noch dumm; ſprach weder zu viel noch zu wenig, von allem, war mit allem zu - frieden, und ſein ganzes Betragen zeigte, daß er nichts auf der Welt weder haßte noch liebte. Was mich endlich betrifft, ſo bin ich ein zu außerordent - liches Original, als nicht auch ein Wort von mir ſelbſt zu ſagen.

Man ſtelle ſich einen kleinen Menſchen vor, der ſich ſo ungeſchickt traͤgt, daß er ganz verunſtaltet ſcheint; deſſen traurige und tiefſinnige Miene, ſein zwiſchen zwey hohen Schultern verſteckter Kopf, ſein unordentlicher und unentſchloſſener Gang ziemlichnatuͤr -3natuͤrlich einen Acephal aus Guiane*)Eine Art Menſchen in Amerika, deren Cortal in ſeinen Reiſen S. 58 erwaͤhnt, und welche den Kopf auf der Bruſt haben. vorſtellen; der allein, und in Geſellſchaft mit ſeinen Gedanken ſich ſo beſchaͤftigt, daß er laut lacht, ſchreyt und weint, ohne daß ſeine Geſellſchafter wiſſen warum; furchtſam und unbaͤndig ohne Maaß, der zwar die Vergnuͤgungen liebt, aber aus Stolz die Gegenſtaͤn - de, die ſie ihm verſchaffen koͤnnen, verabſcheuet; der Duldung predigt, und nicht den geringſten Wi - derſpruch leiden kann Dies iſt mein ungeſchmei - cheltes Bildniß, unter dem vielleicht jemand L-g-t ſetzen koͤnnte, aber ich erklaͤre, daß ich es nicht bin.

Die uͤbrigen Weſen, die in den Wagen gehoͤr - ten, waren um ein wenig mehr werth, als wir. Dasjenige unter ihnen, welches den geringſten Werth hatte, war juſt das Geſchoͤpſ, welches uns am mei - ſten gleicht, ich meyne der Affe: indeß war er ein Philoſoph, (den Beweis davon findet man in einem Briefe von ſeiner Art, welcher dieſem Werke beyge - fuͤgt werden ſoll). Jch war bald den Moͤnch, den Schauſpieler und auch den Kaufmann uͤberdruͤßig; die beyden Schauſpielerinnen hatten mich hingegen bald ſatt, ſo daß nach Verlauf zweyer Tage niemand als der, ich weiß nicht wer, zu meiner Unterhal - tung uͤbrig blieb. Dank ſey es ſeinem Charakter, er duldete mich ſo lange, als ich es verlangte. Un - vermerkt lernten wir einander naͤher kennen; und daA 2ich4ich noch einige gute Eigenſchaften beſitze, deren ich nicht erwaͤhnt habe, ſo ſchenkt er mir ſeine Freund - ſchaft. Dies geſchah ohngefaͤhr am Abend des vier - ten Tages.

Wer ſind ſie? fragt er endlich.

Jch beantroortete ſeine Frage mit der Beſchrei - bung, die ich eben gemacht habe.

Das eben, nicht ihren Stand und ihre Lage, war es, was ich wiſſen wollte, erwiderte er.

Mein Name iſt, fuhr ich fort, Gevatter Niklas. Jch bin Schaͤfer, Winzer, Gaͤrtner, Bauer, Moͤnch auf der Probe, Handwerksmann in einer Stadt, ver - heirathet, Hanrey, Schwelger, ehrbarer Mann, Thor, Witzling, Unwiſſender und Philoſoph geweſen; kurz ich bin Schriftſteller. Jch habe eine Menge Werke geſchrieben; die mehreſten ziemlich ſchlecht, aber ich habs gewußt; ich war ſo klug mich deshalb zu ſchaͤmen, und mir ſelbſt nachzuſagen, daß ich ſie blos herausgegeben um zu leben, und meine und mei - ner Frauen Kinder zu ernaͤhren; denn freylich alles das, wofuͤr ich mich angegeben, kann man leicht ſeyn; aber die Kinder haben ſich nicht ſelbſt gemacht, und jemand muß ſie doch ernaͤhren.

Das wichtigſte von meinen Werken iſt der Ge - vatter Niklas, naͤmlich meine eigene Lebensbeſchrei - bung. Jch zergliedere darinn das menſchliche Herz, und ich hoffe, daß dieß auf meine K[oſten]geſchriebe - ne Buch, auch das nuͤtzlichſte unter allen Buͤchern ſeyn ſoll, weil ich mich darinne ganz ohne Ruͤckſicht zerlege, und wie ein neuer Kurtius zum Beſten mei -ner5ner Mitmenſchen aufopfere. Auch arbeite ich noch an einem andern, unter dem Titel: die Eule; an einem andern

Halblaͤchelnd unterbrach mich der Jch weiß nicht wer. Sie ſind mein Mann, und ſollen mein Geſchichtſchreiber werden. Jch habe ihnen ganz ſonderbare Dinge zu entdecken. Es kommt nicht darauf an, daß ſie ſolche wahrſcheinlich machen; denn ſie ſinds nicht. Jch ſpreche franzoͤſiſch, wie ſie, habe eben ſo wenig einen Provinzialton, als ſie, bin nicht weißer noch ſchwaͤrzer, und doch ſcheidet ein ganzer Erddurchmeſſer mein Vaterland von dem ihrigen. Jch bin auf der ſuͤdlichen Halbkugel im 00 Grade des Aequators und im 00 der Laͤnge auf ei - ner Jnſel die Chriſtininſel genannt, gebohren.

Er ſchwieg. Jch betrachtete ihn mit Staunen. Da aber ſein Stillſchweigen anhielt, nahm ich voll von mancherley Gedanken das Wort Wie! ſagt ich zu ihm ſo waͤr es denn moͤglich, daß die Natur auf beyden Halbkugeln ſich verdoppelte, und daß man auf der naͤmlichen Breite nicht nur eben dieſelben Pflanzen, eben dieſelben Thiere, ſon - dern auch die naͤmlichen Menſchen, die naͤmlichen Reiche und Voͤlkerſchaften von einerley Mundart faͤn - de! Ah welch eine herrliche Entdeckung waͤre das! Sicher wuͤrde ihre Geſchichte denn bewundernswuͤr - dig und wichtig genug ſeyn, um mein Gluͤck zu ma - chen, und mich aus der Duͤrftigkeit zu reiſſen, in welcher ich ſeit dem Fluche meines Vaters ſeufze: denn ſie muͤſſen wiſſen, daß ich verflucht wordenA 3bin,6bin, und daß dies die Urſach meiner Armuth und Hanreyſchaft iſt.

Der Suͤdmann ſchuͤttelte den Kopf, und fragte, warum man mir den Fluch gegeben habe? Jch er - zaͤhlt ihm meine ganze Geſchichte, ſo wie man ſie in gewiſſen Briefen antrifft, die aber erſt nach meinem Tode bekannt gemacht werden ſollen. Noch immer ſchuͤttelt er den Kopf; doch antwortete er nichts auf meine Erzaͤhlung.

Wir nahten uns der Hauptſtadt. Da unſer Geſpraͤch ſehr einſeitig geweſen war, ſo wollten wir, des Anſtands wegen, beym Auseinanderſcheiden un - ſern Reiſegefehrten keine uͤble Meynung von uns beybringen; machten ihnen daher viel Komplimente und Lobeserhebungen, und erhielten ſie gleichmaͤßig von allen, die nichtswuͤrdige Schauſpielerinn aus - genommen, die den Weihrauch zwar einnahm, aber niemanden opferte, alles zu verdienen, aber nichts ſchuldig zu ſeyn glaubte. Endlich langten wir an.

Der Benediktiner erhob ſich zuerſt um abzuſtei - gen; er ſchuͤttelte ſein Kleid ab, und machte uns alle, den Kaufmann ausgenommen, ſechsmal nieſen. Wir trennten mit einer ſolchen Gleichguͤltigkeit, als haͤtten wir uns nie geſehen. Die Schauſpieler und Schau - ſpielerinnen nahmen ihre Wohnung im Carruſſel; der Benediktiner zu Saintgermain-des-pres; der Advokat in der Straße de-la-Calendre; der Kaufmann in der Straße des-Bourdonnais. Die Hunde, Pappogeyen, der Angala folgten wahr - ſcheinlich ihren Gebieterinnen. Jch, meines Theilsnahm7nahm den, ich weiß nicht wer, mit in meine Be - hauſung, ohne doch den Affen zu vergeſſen, der mir ein beſonderes Geſchoͤpf zu ſeyn ſchien.

Nachdem wir unſere Sachen in Ordnung ge - bracht und ausgeruht hatten, erneuerten wir unſer Geſprach mit mehrer Freyheit, als in der Lioner Diligence.

Jch will ihnen nicht laͤnger ihren Jrrthum laſ - ſen, ſprach der Suͤdmann; die Einwohner der ſuͤd - lichen Halbkugel, ſind gaͤnzlich von den Menſchen dieſer hier unterſchieden; dieſe einſamen Weltſtriche ſind von allen abgeſondert, und alles iſt da ſo geblie - ben, wie es aus den Haͤnden der Natur kam; in Europa, Aſien, ja ſelbſt in Afrika hingegen ſind die Weſen ſo zu ſagen amalgamirt und vervollkommt, oder wenigſtens haben die vollkommenſten, diejeni - gen von der naͤmlichen Gattung, die ihnen im Wege waren, oder verunſtaltet ſchienen, zernichtet.

Auf der ſuͤdlichen Haͤlfte ſieht man juſt das Ge - gentheil; nichts hat ſich vermiſcht; die halb voll - kommenen Weſen ſind bis auf den heutigen Tag ſo geblieben; ihr Anſehen iſt daher fuͤrchterlich, und die Europaͤer wuͤrden ſie gewiß zu Grunde richten. Dies iſt die Urſach, warum wir es fuͤr gut gefunden haben, unſer Land verborgen zu halten. Wir ha - ben ein Geſetz, welches alle Fremden, die dem Lande ſich naͤhern, es ſey mit einem ordentlichen Schiffe oder durch Schiffbruch, da zu behalten und ihnen die Ruͤckkehr in ihr Vaterland zu verwehren gebietet.

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Doch behandelt man ſie ſo, daß ſie ihren Ver - luſt zu bedauern keine Urſach haben. Sie genuͤßen alle buͤrgerliche Vortheile, ohne deren Muͤhſeligkei - ten tragen zu duͤrfen: erſt ihre Kinder treten in die allgemeine Ordnung ein.

Ferner haben wir nicht mehr als ein Fahrzeug, welches ſtets auf Koſten des Staats, und nie von Privatperſonen unterhalten wird; es ſteht jederzeit unter den Befehlen der Prinzen von Gebluͤte, die, aus Urſachen, die du bald erfahren ſollſt, nicht zu hintergehen ſind. Denn ich ſteh im Begriff dir eine Erzaͤhlung zu thun, die dich ſtaunen machen wird.

So weit kamen wir den erſten Tag. Meine Neugierde war auf eine unbeſchreibliche Art erregt worden, daß ich den folgenden Morgen mit der groͤß - ten Ungeduld erwartete. Endlich erſchien dieſer ſo erwuͤnſchte Morgen. Wir nahmen unſere Chocolate ein, und nach dem Fruͤhſtuͤck fuhr mein Freund alſo fort.

Jch bin ein gebohrner Franzoſe, wie faſt alle meine Landsleute. Wir wohnen auf einer ſehr ſchoͤ - nen Jnſel, jenſeit des ſuͤdlichen Wendekreiſes, von uns mit dem Namen unſerer erſten noch lebenden Koͤniginn belegt. Sie liegt mit Frankreich unter einer Mittagslinie. Tag und Nacht treten da zu den naͤmlichen Stunden wie hier ein.

Jch habe ihnen bereits geſagt, daß ein Geſetz den Einwohnern weite Reiſen unmoͤglich macht. Daher koͤnnen ſie leicht glauben, daß ich mit Ge - nehmhaltung der Oberſten meiner Nation reiſe.

Unter9

Unter allen Menſchen, den ich bisher auf meiner ſechs monatlichen Wanderung durch die mittaͤgigen Gegenden Frankreichs begegnet habe, ſind ſie der ein - zige, dem ich mich entdecken zu koͤnnen glaube, und von dem ich hoffe, daß ſie mir in meinen Unterſu - chungen behuͤlflich ſeyn werden. Weder Schaͤtze noch Reichthuͤmer ſind die Abſicht meiner Reiſe, ſon - dern ein weit wichtigerer Gegenſtand. Jch ſuche die Freundſchaft eines Weiſen vom erſten Range, eines Weltweiſen, der uͤber den gemeinen Haufen er - haben iſt, wie Rouſſeau, Voltaͤre oder Buͤffon, und der einwilligte, ſich mit mir durch diejenigen unſerer Prinzen von Gebluͤt wegfuͤhren zu laſſen, in deren Gewalt es ſteht, ſich kuͤnſtlicher Fluͤgel zu bedienen, und damit die ganze Welt zu durchreiſen. Noch heut will ich ihnen die Geſchichte des weiſen Sterblichen erzaͤhlen, dem wir den Urſprung der vortrefflichſten aller Regierungen zu verdanken haben. Aber vor - her wuͤnſcht ich von ihnen Belehrung wegen gewiſſer mir unbekannten Dinge zu erhalten.

Welche von ihren großen Maͤnnern moͤchten zum Beyſpiel wohl Luſt haben, ſich in die Suͤdlaͤnder bringen zu laſſen.

Keine leichte Frage! war meine Antwort. Un - ſere groͤßten Maͤnner ſind Voltaͤre, Rouſſeau und Buͤffon: Es iſt noch ein gewiſſer Franklin, Geſand - ter der vereinigten Staaten in Amerika hier, der viel - leicht ein Mann fuͤr ſie waͤre; aber es iſt nicht wahr - ſcheinlich, daß er das Jntereſſe ſeines Landes preis ge - ben werde, um das Gluͤck eines andern zu befoͤrdern.

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Der Herr von Voltaͤre iſt zu alt; in juͤngern Jahren wuͤrden ſie ihn leicht bekommen haben; aber. er hat zu viel Geiſt. Kaum iſt dieſer ſchoͤne Fehler hier bey uns ertraͤglich, wo man doch ohne Gefahr allen moͤglichen Verſtand haben kann, bey ihnen, glaub ich, wuͤrd er nicht damit fort - kommen.

Der Herr von Buͤffon ſchickte ſich wohl beſſer dazu, aber er befindet ſich hier allzuwohl, als daß er Luſt uns zu verlaſſen haben ſollte.

Es iſt alſo blos noch Rouſſeau uͤbrig; Jhn, glaub ich, werden wir leicht bekommen koͤnnen; Er hat Grund mit uns unzufrieden zu ſeyn, und wird uns daher gerne verlaſſen. Damit aber ſein Ver - ſchwinden nicht allzuviel Lermen mache, muͤſſen wir mit ihm ſelbſt Abrede treffen. Er mag ſich ſtellen, als ſey er geſtorben.

Der Marquis von Girardin, zu dem er ſeine Zuflucht genommen, errichte ihm zum Schein ein Grabmaal, und an dem naͤmlichen Tage, als ſein ploͤtzlicher Tod ganz Europa, des Verluſtes wegen in Trauren ſetzen wird der wirklich wichtig fuͤr uns iſt moͤgen eure Prinzen von Gebluͤte ihn wegfuͤhren.

Der Suͤdmann umarmte mich vor Freuden, und um meine Leſer nicht in Ungewißheit zu laſſen, will ich ihnen mit zwey Worten ſagen, daß dieſer Raub auf die gluͤcklichſte Art von der Welt ausge - fuͤhrt worden iſt. Niemand als zwey Freunde vonRouſſeau11Rouſſeau und ich hatte Wiſſenſchaft davon. Jch werde lebenslang ein Stillſchweigen daruͤber beob - achten, und dieſe Begebenheit ſoll nicht eher, als nach meinem Tode bekannt werden. Erſt die Nach - welt mag es erfahren, daß in dem Grabmaal zu Er - menonville nichts befindlich iſt.

Jetzt nahm der Suͤdman das Wort und erzaͤhlte mir folgende außerordentliche Begebenheiten.

Vor ungefaͤhr ſiebzig Jahren erfand ein junger Mann aus der Dauphine das Geheimniß zu flie - gen zu fliegen wie die Voͤgel, wenn ich mich deutlich erklaͤren muß. Liebe war der Beweg - grund, welche ihn die Sehnſucht zum Fliegen einfloͤßte.

Victorin ſo hieß dieſer Dauphineſe der Sohn eines bloßen Fiſcalprocurators, verliebte ſich ſterblich in die ſchoͤne Chriſtine, die Tochter ſeines Edelmanns.

Chriſtine war die Schoͤnheit ſelbſt, wenigſtens die Schoͤnſte, welche Victorin je geſehen hatte: Er dachte nur an ſie; die Liebe verzehrte ihn; und da keine Hoffnung ſeine Leidenſchaft unterſtuͤtzte, ward ſie fuͤr ihn die heftigſte Folter. Jmmer ſuchte der Juͤngling nichts als Einſamkeit, und wenn er ſich in einer angenehmen laͤndlichen Gegend, zwiſchen Huͤ - geln mit Baͤumen umkraͤnzt befand, glaubt er die Luft der Freyheit und jener ehemaligen ſanften Gleich -heit12heit der Menſchen einzuathmen: denn nichts auf der Welt verſetzt den Menſchen ſtaͤrker in ſeinen natuͤrli - chen Zuſtand, als ein freyes angebautes Feld, das von Wald oder wuͤſten Aeckern umgeben iſt; ſteigt man zumal einen Huͤgel hinan; o dann bemaͤchtigt ſich unſer eine ſanfte Empfindung unbekannt in be - wohnten Gegenden, und zumal hier, wo man nur kuͤnſtliche Waͤlder ſieht, und wo alles das Gepraͤge der Vertheidigung und der Einſchraͤnkung traͤgt.

Es befand ſich in dem Hauſe des Fiſcalprocura - tors ein Bedienter, der ein ziemlicher Taugenichts, aber dabey ein großer Leſer war, Johann Vezinier mit Namen. Dieſer Burſche hatte die ſchoͤnen und wah - ren Begebenheiten des Fortunatus geleſen, der durch Huͤlfe ſeines Wuͤnſchhuͤtleins ſich nebſt ſeiner Schoͤnen, wohin er wollte, begab, den Michel Morin die Ehe des Todes mit dem Todten - graͤber; das Buͤchlein von der Geburt der kleinen Morats und ihrer Kinder, die Erde anſtatt des Brods aßen ꝛc. dieſem Burſchen, deſſen Verſtand mit ſo viel ſchoͤnen Kenntniſſen ausgeziert war, ent - deckte Victorin ſein ganzes Verlangen Fluͤgel zu ha - ben, um zu fliegen.

Johann Vezinier hoͤrt ihn mit ernſter Mine an, und nachdem er laͤnger als drey Viertel Stunden nachgedacht hatte, antwortet er: das iſt nicht unmoͤglich.

Victorin ganz außer ſich, huͤpfte fuͤr Freuden, und bat den Vezinier, der viel Anlage zu ſolchen klei - nen Erfindungen hatte, Hand ans Werk zu legen, undmit13mit einander zu verſuchen, was ſie zuwege bringen koͤnnten.

Dem zu Folge verbargen ſie ſich, und ſuchten ſo viel Zeit als moͤglich auf dieſe nuͤtzliche Beſchaͤfti - gung zu wenden. Sie ſetzten verſchiedene Raͤder zu - ſammen, die eine Bewegung verurſachten und brach - ten ein Raͤderwerk von Holze zu Stande, welches zwey leinene Fluͤgel bewegte. Dieſe ſchwere Ma - ſchine konnte einen Menſchen von der Erde empor heben; aber nur eine ſehr ermuͤdende Anftrengung vermochte die Raͤder in Gang zu bringen. Jndeß entſchloß ſich der erfinderiſche Vezinier doch es zu ver - ſuchen, weil er den Sohn ſeines Herrn nicht der Ge - fahr ausſetzen wollte.

Sie giengen hinaus auf einen Berg, ſtiegen auf einen Felſen, und von da uͤberließ ſich Vezinier dem Winde. Er hatte ſeinen Fluͤgeln eine gewiſſe Bie - gung, wie der Voͤgel ihre gegeben, im ganzen aber glichen die ſeinen faſt durchgaͤngig denen einer gro - ßen Fledermauß. Es fand ſich dabey ein unvorher - geſehenes Hinderniß, man mußte ſich blos dem Win - de uͤberlaſſen, weil die Fluͤgel keine fortſchreitende Bewegung hatten. Dem ungeachtet flog er ziemlich weit. Der junge Victorin, als er dies ſahe, war fuͤr Freuden außer ſich, denn er ſchloß, daß durch einen neuen Zuſatz, und mit etwas leichtern Fluͤgeln es moͤglich ſeyn wuͤrde, ſich außer der fortſchreiten - den Bewegung auch eine erhebende zu geben, um hoͤher, und eine erniedrigende, um herab zur Erde zu ſteigen.

Johann14

Johann flog ſo weit, als ſeine Kraͤfte erlaub - ten; aber in weniger als einer Viertelſtunde waren dieſe erſchoͤpft; er ſuchte durch eine mindere Bewe - gung auf die Erde zu kommen. Und Victorin lief hinzu, um zu verhindern, daß er im Niederlaſſen kei - nen Schaden naͤhme; denn er fiel gerade auf den Leib und das Geſicht.

Nach dieſem Verſuch unterhielten ſich Victorin und Johann von nichts, als von ihren Fluͤgeln, und was ſie machen wollten, wenn ſie weiter fliegen koͤnnten.

Victorin dachte nur auf Chriſtinen; dieſe wollte er weg und auf einen unbeſteigbaren Berg fuͤhren, um da allein mit ihr zu leben.

Johann Vezinier aber hatte ganz andere Plaͤne. Er wollte ſich an ſeinen Feinden raͤchen und ſie von oben aus der Luft toͤdten. Er wollte die Maͤdchen aus dem Orte wegholen, die ſeine Hand wegen ſeiner Nichtswuͤrdigkeit verſchmaͤht hatten, ſich nach Ge - fallen mit ihnen vergnuͤgen und denn entehrt ihren Eltern wiederbringen. Vorzuͤglich hatte er ſein Ab - ſehen auf eine gewiſſe Ednier Boiſſard, die Toch - ter eines Schulmeiſters, das ſchoͤnſte mannbare Maͤdchen, die aber den Sohn des Marſchalls ihm vorzog.

Victorin war mit dieſen Entwuͤrfen des Vezi - nier eben nicht zufrieden; und macht ihn oft Vor - ſtellungen deshalb; da er ihn aber noͤthig hatte, wagt er nicht ganz mit ihm zu brechen.

Endlich15

Endlich brachten ſie ihre Fluͤgel zur Vollkommen - heit: durch einige Zuſaͤtze und durch den Gebrauch des Taffets anſtatt der Leinewand, gelangten ſie da - hin, ſich eine gerade fortſchreitende Bewegung zu geben, ſich nach Belieben umzuwenden, in gerader Linie zu erheben und niederzulaſſen. Jhre Uebungen ſtellten ſie aufm Felde an einſamen Oertern an. Beyde flogen zuſammen; aber ungluͤcklicher Weiſe ſprang eine Feder des Vezinier, und er fiel von einer gewaltigen Hoͤhe in einen Teich hinab und ertrank.

Victorin war nicht ſtark genug ihm zu helfen. Er kehrte nach Hauſe und erzaͤhlte das Ungluͤck des Bedienten, ohne die Urſache davon anzugeben. Man eilte zum Teich und zog Vezinier heraus; was die beſchmutzte Maſchine, mit der er geharniſcht war, bedeuten ſollte, wußte niemand. Victorin zerſchnitt ſie mit Bedacht in Stuͤcken, um ihn davon los zu machen, und zerbrach die Raͤder, damit man da - von nichts merken ſollte.

Johann ward voͤllig todt nach Hauſe geſchafft. Vielleicht waͤr er wieder zum Leben zu bringen ge - weſen, wenn man die neuerlich in Frankreich ge - machten Endeckungen gekannt haͤtte; aber die Mit - tel, welche man damals anwandte, dienten nur ſei - nen Tod zu beſchleunigen.

Nun war Victorin allein, und ſeinem eigenen Genie uͤberlaſſen. Oft kehrt er in jene Einſamkeit zuruͤck, um da uͤber ſeinen Entwurf nachzudenken, ſich mit Chriſtinen zu beſchaͤftigen, und zugleich ſeine junge Seele mit dem Ambroſia der Freyheit zu erquicken.

Einſt16

Einſt als er in einer abgeſonderten Gegend ſich befand, ſah er zwey große Voͤgel, vermuthlich wa - ren es Stoͤrche hernieder fliegen; durch irgend einen Zufall hatten ſie ſich von ihrem Haufen ge - trennt, und ſtiegen neben einander herab, um ihre Nahrung zu ſuchen. Victorin ſah ſie mit Bewun - derung an.

Ach! koͤnnt ich fliegen wie ihr, ruft er aus, dies wuͤrd in den Augen der Chriſtine mehr als ade - liche Abkunft gelten! Jch wollte ſie entfuͤhren, ſie anbeten, und ihr alles, was ſie verlangte, geben, ich wollt ihr ein artiges und bequemes Neſt auf ei - nem ſteilen Felſen, geſichert gegen alle menſchliche Anfaͤlle bauen; wie gluͤcklich wollten wir ſeyn! ich wuͤrde ſie eben ſo ſtark, als ſie mich lieben, und wenn wir nach zehn Jahren artige Kinder, ſo ſchoͤn wie ſie, haͤtten, wollt ich zu dem Herrn von *** ihrem Vater gehen, und ihm eine von meinen Toͤchtern aͤhn - lich ihrer Mutter bringen, und ſagen: hier mein Herr, geb ich ihnen ihre verjuͤngte Tochter wieder. Wie geht das zu, Victorin, wuͤrd er erwiedern, wo diſt du ſeit zehn Jahren geweſen? Aber ohne Ant - wort wuͤrd ich meine Fluͤgel ausbreiten, die bishet ein großer Mantel vor ihm verdeckt hatte und davon fliehen; da ſollt er ſchoͤn ſich wundern! und er wuͤr - de meine Tochter, die wir genau zuvor unterrichtet haͤtten, fragen:

Wer ſind ſie, mein ſchoͤnes Kind, und wo kommen ſie her?

Von17

Von meinem Vater und Mutter, gnaͤdiger Herr, waͤre ihre Antwort, die ſich recht zaͤrtlich lie - ben, und die in einem ſchoͤnen aus lautern Gold, Silber und Seide zuſammengeſetzten Neſte erbaut auf einem ſehr hohen Felſen wohnen.

Und wer iſt ihr Vater?

Sie haben ihn gleich geſehn, gnaͤdiger Herr!

Aber ihre Mutter?

Jhr Name iſt Chriſtine von *** Jhr Gnaden.

Sogleich wuͤrde der Herr von *** mit thraͤnen - den Augen ſie umarmen und ausrufen: das iſt mei - ne Tochter! Aber uͤber mich wuͤrde er aufgebracht ſeyn, weil ich ſie entfuͤhrt habe, ohne ein Edelmann zu ſeyn.

Wo iſt das Neſt, wo iſt das Neſt? fragt er denn.

Das weiß ich nicht, gnaͤdiger Herr, wuͤrde die Kleine darauf antworten, denn mein Papa iſt ein gefluͤgelter Mann, und der hat mich durch die Luͤfte hieher gebracht; aber ſeyn ſie nicht boͤſe, Jhr Gna - den, haben ſie Mitleid mit mir.

Der Herr von *** wuͤrde meine Tochter, die Mamſell Chriſtinen ſo aͤhnlich ſaͤhe, recht betrach - ten, ſie umarmen und ſeine Tochter nennen. End - lich wuͤrd er ſie fragen, wie ſeine Tochter mit mir ſtuͤnde?

Denn muͤßt ihm meine Tochter erzaͤhlen, wie ich ihre Mutter liebte, wie ich ihr in allem, was ſied. fl. Menſch. Bwuͤnſcht,18wuͤnſcht, zuvor zu kommen ſuchte, wie ich ſie bedie - ne; wie ich ihr es an nichts fehlen laſſe; wie ich ihr die beſten Voͤgel und das ſchoͤnſte Weißbrod aus der Stadt zum Unterhalt verſchaffte; wie ich alle Tage ihrentwegen jagte und arbeitete, ſo daß auch ſie mich von ganzem Herzen liebte.

Ach koͤnnt ich doch meine arme Tochter nur einmal ſehen, wuͤrd er, wenn er alles dies gehoͤrt, ausrufen.

Mit folchen bezaubernden Traͤumen verſuͤßte der junge Victorin manche Stunde ſeiner Leiden; aber bald kamen ſie mit verſtaͤrkter Heftigkeit wieder; denn mitten in ſeinen angenehmen Hirngeſpinſten, erwachte ploͤtzlich ſein Geiſt, und mit Thraͤnen ſprach er bey ſich: Ach! alles dies iſt doch nur Taͤuſchung!

Jn dieſer tiefen Schwermuth ſucht er dann die Einſamkeit noch weit mehr, und haͤtte ihm das Ver - langen Chriſtinen zu ſehen, nicht zuweilen aufs Schloß gebracht, wuͤrde man ihn vielleicht nie ge - ſehen haben.

Als er eines Tages im Garten war, erſchien Chriſtine mit ihrer Kammerfrau. Victorin war vor Vergnuͤgen ſie zu ſehen taumelnd. Chriſtine ver - langte einen weißen etwas hochhangenden Roſen - zweig; die Kaminerfrau wollt ihn pfluͤcken, ſtach ſich aber bis aufs Blut, ward Victorin gewahr und ruft ihn zu ſich:

Victorin, ſie ſind geſchickter als ich, pfluͤcken ſie doch dieſe ſchoͤne Roſen fuͤr meine junge Herr - ſchaft

Victorin19

Victorin ſtellte ſich in den Roſenſtrauch, zerriß ſeine Manſchetten, Buſenſtreif und Haͤnde, ſein Blut floß, doch brach er die Roſen, und reichte ſie, fuͤr Wolluſt zitternd, Chriſtinen dar.

Mein Gott, Herr Victorin, ſprach dieſe Schoͤ - ne, ſie haben ſich verwundet! Sie nahm ihr Schnupf - tuch, um ihm das Blut abzutrocknen, und zog ihm ſelbſt mit ihrer weißen Hand, einen kleinen Dorn, der im Fleiſche ſtecken geblieben war, heraus.

Victorin fiel fuͤr Freuden in Ohnmacht. Man hielt es fuͤr eine Folge ſeines Schmerzes, und die ſchoͤne Chriſtine ließ einige Thraͤnen auf ihn fallen, die ihn ins Leben ruften. Er laͤchelte, als er zu ſich kam. Chriſtine dadurch beruhigt, nahm nun ſtatt ihres natuͤrlichen und mitleidsvollen Tons, jene Mine der Erhabenheit an, deren freylich die Tochter eines Landjunkers gegen ihre Untergebene ſich kaum erwehren kann.

Aber auch dieſe Mine fachte die Flammen der Liebe in Victorins Herzen nur noch mehr an; zumal da er bemerkte, daß die ſchoͤne Chriſtine an ihren Buſen eine Roſe geſteckt habe, deren Mitte, gefaͤrbt mit dem Blute war. Seine Augen folgten ihr, als ſie ſich entfernte; ſo ſchlupft eine ſchlankgewachſene Nimphe, mit niedlichen Fuͤßen, uͤber den zarten Ra - ſen ins Gebuͤſche.

Kaum hatte Chriſtine den Victorin verlaſſen, als dieſer junge Mann einen von den bundfleckigten Som - mervoͤgeln fand, die mit kleinen Ruͤſſeln die BlumenB 2ohne20ohne ſich niederzulaſſen, ausſaugen, und im beſtaͤndi - gen Fluge zu ſeyn ſcheinen. Er bemuͤhte ſich dies Thierchen lebend zu fangen, und als er es hatte, ſucht er den Mechanismum ſeines Fluges zu erfor - ſchen, indem er die Bewegungen ſeiner Fluͤgel unter - ſuchte. Lange brachte er damit zu, und als er das Geheimniß der Natur wegzuhaben glaubte, macht er neue Verſuche.

Zwey ganzer Jahre Arbeit und Anſtrengung, die Johann Vezinier ohne Zweifel kuͤrzer gefaßt haben wuͤrde, brachten nichts als Dinge hervor, die un - geſtalt und unwirkſam, in Ruͤckſicht des Plans wa - ren, den er ausfuͤhren und durch ihn die Natur ver - vollkommen wollte.

Mittlerweile wuchs Chriſtine an Jahren und Schoͤnheit. Man ſprach von ihrer Vermaͤhlung. Victorin daruͤber außer ſich, verdoppelte ſeinen Fleiß. Er unterſuchte mit Sorgfalt den Flug jeden Jnſects ſowohl als jeden Vogels. Der Papillon ſchien ihm leicht nachzuahmen; aber nur gehoͤrte eine zu ſtarke Feder und zu große Fluͤgel darzu. Er kam wieder auf die Rebhuͤhner, die der Flugart ſeines bunten Papillons nahe kommen. Auch ihren Bau zer - gliederte er mit Aufmerkſamkeit. Der Flug der Gaͤnſe und der groͤßern Voͤgel ſcheint leicht, aber er iſt ſchwerfaͤllig, und verlangt eine dichtere durch Kaͤlte mehr zuſammengepreßte Luft, wie man ſie in der groͤßten Hoͤhe findet.

Betrachtungen dieſer Art macht er, ob er gleich ein bloßer Landmann, jung und ohne Anwei -ſung21ſung war. Aber was vermag nicht die Liebe! Nur ſie allein iſt die Erfinderinn aller Kuͤnſte.

Endlich brachte Victorin die Erfindung des Jo - hann Vezinier zu einiger Vollkommenheit; Seine Maſchine verſchaft ihm, mittelſt ſchneller Bewegung der Raͤder, den Flug einer Rebhenne, um ſich von der Erde zu erheben, und durch eine noch gelindere Bewegung erhielt er den Flug der groͤßern Zugvoͤ - gel, welche die Luft blos zu gewiſſen abgeſetzten Zei - ten ſchlagen. Er machte ſich Fluͤgel aus dem leich - teſten ſeidenen Zeuge, und zog ihn uͤber Fiſchbein - ſtabe, welche oben ſtark, und nach und nach ſchwaͤcher zuliefen, ziemlich wie die Seiten der Vogelfedern.

Mit dieſen ſeinen verbeſſerten Fluͤgeln begab er ſich auf ein einſames Feld, um einen neuen Verſuch im Großen anzuſtellen; ſchon vorher hatte er ſie in ſeines Vaters Hofe, Sonntags waͤhrend des Got - tesdienſtes, wenn alle Leute in der Kirche waren, verſucht. Er hatte ſich aber nicht in die Hoͤhe ge - wagt; entweder um nicht von den Kindern geſehen zu werden, oder aus Furcht fuͤr einen Zufall, wo er Huͤlfe beduͤrfen und ſein Geheimniß verrathen mußte. Gleich des Morgens gieng er an dieſen ein - ſamen Ort. Entſchloſſen alles zu wagen, und ſich ſo hoch als moͤglich zu erheben, ſollt ihm auch die - ſer Verſuch ſein Leben koſten. Chriſtinen zu ver - lieren war freylich ein groͤßeres Ungluͤck!

Als er auf einen entlegenen Huͤgel kam, legt er ſeine Fluͤgel an. Mit einem breiten und ſtarken vom Taͤſchner verfertigten Riemen umguͤrtete er ſeine Len -B 3den,22den, zwey kleinere an den Halbſtiefeln befeſtigt, lie - fen an beyden Seiten des Fußes und der Schenkel hinauf, und vereinigten ſich in eine lederne Kugel, die er am Lendenguͤrtel trug; zwey ſehr breite Strei - fen giengen ferner an den Seiten hin, und ſchloſſen ſich an eine Kappe, welche die Schultern mittelſt vier Streifen, wodurch die Arme giengen, bedeckte. Zwey ſtarke bewegliche Fiſchbeinſtaͤbe, davon das Ende auf den Halbſtiefeln aufſtand, um durch die Fuͤße in Bewegung geſetzt zu werden, befanden ſich auf beyden Seiten; waren mit kleinen Ringen von geoͤlten Buchsbaum befeſtigt, und erſtreckten ſich bis uͤber den Kopf hinaus, damit der Taffet von den Fluͤgeln bis dahin reichen moͤchte. Dieſe Fluͤgel waren an den beyden aͤußern Seitenbaͤndern befeſtigt, und ſo angebracht, daß ſie einen Menſchen der Laͤnge nach trugen, den Kopf und die Haͤlfte der Fuͤße ein - geſchloſſen. Eine Art von ſehr ſpitzigem Sonnen - ſchirm, der, wenn er ausgeſpannt war, von ſechs ſeidenen Leinen gehalten ward, diente darzu, weiter zu kommen, den Kopf zu erheben, oder eine voͤllig ſenkrechte Lage anzunehmen. Weil der fliegende Menſch von ſeinen beyden Haͤnden Gebrauch machen mußte; ſo ward die Feder, welche die Fluͤgel in Bewegung ſetzte, durch zwey Riemen, welche unter jeder Fußſohle weggiengen, getrieben, ſo daß man, um zu fliegen, nur die Fuͤße auf gewoͤhnliche Art fortſetzen durſte eine Bewegung, die man folg - lich, nach Belieben, geſchwinder oder langſamer machen konnte. Die beyden Fuͤße ſetzten jeder die beyden Fluͤgel hinlaͤnglich in Bewegung: ſie ſpann -ten23ten ſie aus und ſchlugen ſie auch wieder zuſam - men; aber durch Huͤlfe eines kleinen Raͤderwerks befoͤrderte der rechte Fuß mehr die Verlaͤngerung des zuſammengelegten Paraſols und der linke Fuß zog es wieder zuruͤck, indem er ihn aufmachte. Dies Triebwerk ward durch die beyden Fiſchbeinſtaͤbe an der Seite in Gang gebracht, die durch ein Rad mit zwey Kerben, das unter den Fuͤßen war, und das, wenn man es nach dieſer Seite drehte, den linken Fiſchbeinſtab anzog, und wenn man fortfuhr, an einen Knopf des rechten Fiſchbeins traf und fort - ſchob. Dieſe Federn konnte man auch mit den Haͤn - den bewegen. Man machte den Flug ſtehend oder ſenkrecht, durch eine gewiſſe Zuſammendruͤckung der Fluͤgel, die durch zwey Schnuren, welche unter den Armen vorkamen und durch eine Halsbinde, die vom Kopfe in Bewegung geſetzt ward / geſchah. Durch Huͤlfe dieſer beyden Schnuͤre konnte man die Spitze des Paraſols niederlaſſen, und ihn nach allen moͤg - lichen Seiten richten. Die Raͤder dieſer Flugmaſchi - ne beſtanden aus bloßen Buchsbaum; ſie wurden wenig abgenutzt, ausgenommen die beyden Zaͤhne und der Grund worauf ſie ruhten, die von Stahl und mit einer oͤlichten Materie beſtrichen waren. Das einzige Stuͤck, welches durchs Reiben Scha - den leiden konnte, war der Gurt, welcher die Feder an den Fluͤgeln in Bewegung ſetzte: Er war von Seide und außerordentlich dick. Zur Vorſorge hat - te der fliegende Mann immer einige bey ſich in der Taſche: So oft er fliegen wollte, unterſucht er ihn vorher genau, und er wartete nicht ſo lange, bisB 4er24er voͤllig abgenutzt war, um einen neuen anzule - gen. Das beſte war, daß wenn man einmal in der Luft war, der Gurt ſo wenig abgenutzt ward, daß er eine lange Reiſe aushielt.

Nachdem Victorin ſeine Verſuche etliche Wochen fortgeſetzt hatte, fiel er darauf, bey ſeiner Maſchine noch eine Feder anzubringen, die der vorigen aͤhn - lich, aber etwas ſchwaͤcher, jedoch im Stande war, ihm im Fall der Noth ſo lange in der Luft zu erhal - ten, daß er einen neuen Gurt an die Hauptfeder machen konnte.

Victorin gieng auf eine Anhoͤhe, ſtieg auf einen kleinen Felſen, und ſetzte ſeine Fluͤgel ſogleich in die ſchnelle Bewegung eines Rebhuͤhner-Fluges. Auf ſolche Art erhob er ſich ziemlich hoch von der Erde. Aber ſeine wenige Uebung in der Luft zu verweilen, machte ihm Schwindel; und er mußte daher, wenn er ſich erhob, allemal die Augen zumachen.

Er ſpuͤrte bald einen ziemlich betraͤchtlichen Grad von Kaͤlte, er merkte aber auch, daß er mit vieler Gemaͤchlichkeit in der Luft ſchwebte, ſo, daß die geringſte Bewegung der Fuͤße den Fluͤgeln Kraft genug gab, ihn zu erhalten. Er ſchlug einen Au - genblick die Augen auf, und ſahe, daß er in einer erſtaunenswuͤrdigen Hoͤhe ſich befand. Er zog alſo die beyden Schnuͤre, die dazu dienten den ſpitzigen Paraſol nach allen Seiten zu bewegen, und richtete die Spitze unterwaͤrts, und kam dadurch gar bald zur Erden. Als er ſich derſelben nahe ſah, hielt er ſie horizontal, um die Anhoͤhe und den Felſenwieder25wieder zu erreichen, von dem er ſich uͤber zwey Meilen entfernt hatte, ob er gleich nur etwa funf - zehen Minuten geflogen war ſo ſchnell war ſein Flug. Er ſenkte ſich auf ihn zu, indem er den Taffet an den Fuͤßen zuſammen legte und die erhe - bende Bewegung verdoppelte.

Solchergeſtalt wußte Victorin ſeinen Fluͤgeln durch die verſchiedene Richtung des Paraſols dreyer - ley Flug zu geben, den erhebenden, der ihn von der Erde wegfuͤhrte, den herablaſſenden, der ihn dahin zuruͤck brachte, und den horizontalen, durch den man vor ſich hingieng. Durch Uebung konnte der fliegende Mann dieſe drey Richtungen durch faſt gleichzeitige Abaͤnderungen vereinigen.

Nach wiederholten gluͤcklichen Verſuchen legte Victorin ſeine nachgemachten Fluͤgel zuſammen, kehr - te voller Zufriedenheit nach Hauſe, und verbeſſerte verſchiedene daran bemerkte Fehler. Voll Vertrauen wagt er einſt in der Nacht eine betraͤchtliche Reiſe.

Es war der ſchoͤnſte Mondenſchein. Victorin ſchlich ſich aus ſeiner Schlafkammer von niemanden bemerkt, und erhob ſich, gleich auf dem Hofe des vaͤterlichen Hauſes, mittelſt ſeines Paraſols uͤber die Gebaͤude hinauf. Die Daͤmmerung macht ihm die Hoͤhe, in welcher er ſich befand, minder furcht - bar. Er entſchloß ſich daher, ſeinen Weg nach dem Schloſſe des Vaters von Chriſtinen zu nehmen. Sein Flug nahm einen Landweg, den er nicht aus den Augen ließ, und er kam gluͤcklich an den Ort ſeines angebeteten Gegenſtandes. Er ſahe noch LichtB 5und26und wollte ſich dem Fenſter naͤhern. Aber das Ge - raͤuſch ſeiner Fluͤgel und ſeiner Raͤder war bey naͤcht - licher Stille ſo ſtark, daß er die Hunde des Schloſ - ſes aufweckte, und ſie mit einem fuͤrchterlichen Ge - lerme anfiengen zu bellen.

Jedermann ſteckte den Kopf zum Fenſter hin - aus, und Victorin hatte das Vergnuͤgen ſeine Chri - ſtine zu ſehen. Auch der alte Herr ſah auf und war ſehr verwundert einen ſo großen Vogel zu entdecken, von deſſen Gattung er noch nie etwas gehoͤrt hatte. Aus Furcht ihn aus dem Geſichte zu verlie - ren, rief er, man ſollte ihm ſeine Flinte mit zwey Laͤuften bringen. Man hohlte ſie, und Victorin ward zu ſeinem groͤßten Leidweſen genoͤthigt, ſich zu entfernen.

Als er in einer ziemlichen Hoͤhe war, fiel es ihm ein folgenden Geſang anzuſtimmen, welcher in der harmoniſchen Luft der obern Regionen ſehr ver - ſtaͤndlich war:

Holde reizende Chriſtine,
Die ich anzubeten mich erkuͤhne,
Muß ich fort ach fort von dir?
Bis zur Morgenroͤthe wollt ich hier
Trunken von Entzuͤcken ſtehen
Und dich ſchoͤnere Aurore ſehen.
Ach man droht mir, ich muß fliehn,
Doch ſoll ewig meine Hoffnung gluͤhn.

Das ganze Schloß hoͤrte voll Erſtaunen dieſe Strophen; aber niemand wußte, wo die Stim -me,27me, welche ſang, herkam. Man ließ zwar uͤberall, aber vergeblich nachſuchen.

Endlich begab ſich die ſchoͤne Chriſtine in ihr Zimmer, und Victorin, der keine Hoffnung weiter hatte, die Beherrſcherinn ſeiner Gedanken zu ſehen, richtete ſeinen Flug nach der naͤchſten ohngefaͤhr ſie - ben Meilen entlegenen Stadt. Jn weniger als er - ner Stunde war er da, und entriß ein junges Maͤd - chen aus den Haͤnden einiger Schwelger, die ſie an - gefallen hatten. Er brachte ſie durch ein Fenſier, das ſie ihm angab; obgleich freylich halb ohnmaͤch - tig, fuͤr Schrecken nach Hauſe; weil ſie ihm bald fuͤr einen Teufel, bald fuͤr einen Engel hielt. Dies machte den andern Morgen viel Gerede. Vergnuͤgt uͤber dieſen Verſuch kehrt er wieder zu ſeinem Va - ter, gieng in ſeine Kammer und legte ſich ins Bette.

Den andern Morgen unterſucht er ſeinen klei - nen ſeidenen Gurt, welcher die Feder in Bewegung ſetzte, und fand, daß er beynahe entzwey war: Er erſchrack daruͤber, und brachte den ganzen Tag da - mit zu, die erwaͤhnte Huͤlfsfeder zu finden, die ver - hindern ſollte, daß er nicht, wie Johann Vezinier, herunter fiele und den Hals braͤche, im Fall dieſer unentbehrliche Gurt ihm fehlte.

Jndeß machte der Vorfall in der Nacht ein gro - ßes Lermen auf dem Schloſſe, in der Stadt und in der ganzen Nachbarſchaft. Hundert Perſonen, die nichts geſehen noch gehoͤrt hatten, verſicherten gleich - wohl, den Großvogel ſehr genau bemerkt zu haben. Das Gedicht, welches er geſungen hatte, ward wie -derholt,28derholt, auf alle moͤgliche Arten abgeſchrieben und verunſtaltet. Victorin mußte in geheim herzlich daruͤber lachen, und ſchloß daraus, wie viel man ſich auf das Geruͤchte des Poͤbels verlaſſen koͤnnte. Er gieng den naͤmlichen Tag aufs Schloß, begab ſich, als er hoͤrte, daß Mamſell Chriſtine im Gar - ten ſey, dahin, und ſuchte ohne Verzug eine beque - me Gelegenheit von ihr geſehen zu werden.

Sobald ſie ihn erblickte, winkte ſie ihn zu ſich Haben ſie auch den Großvogel geſehen?

Ja Mamſell, und ich verſichere ſie, beſſer als ihn jemand geſehen hat.

Doch nicht beſſer als mein Papa und ich? denn wir haben ihn geſehen, wie ich ſie da ſehe.

Jch will ihnen nicht widerſprechen, Mamſell, aber ich hab ihn ſehr gut geſehen, und ſeinen Ge - ſang ſehr gut verſtanden; ich habe mir ihn gemerkt, und eine Abſchrift davon gemacht.

Zeigen ſie einmal, ſprach Chriſtine, ich will daraus ſehen, ob ſie ihn recht gemerkt haben; denn unter dreyßig Perſonen, die mir ihn dieſen Morgen haben vorſagen wollen, iſt nicht eine, die ihn recht trifft.

Chriſtine nahm den Geſang aus den Haͤnden das Victorin, und las ihn mit Staunen.

Dies hat ſeine Richtigkeit, ſagte ſie, und ver - faͤrbte ſich ein wenig, aber wo waren ſie denn?

Jch29

Jch verſichere ſie, Mamſell, ich bin mit keinem Fuß aus meines Vaters Hauſe gekommen: aber weil der Vogel, der ihn ſang, ſehr hoch war, konnte man’s von weiten verſtehen.

Sind ſie bey Verſtande? entgegnete Chriſtine. Sie wollen mir wohl weiß machen, daß der Groß - vogel dies geſungen habe! Sie werden mir’s eben ſo wenig uͤberreden, als daß ſie nicht in der Nachbarſchaft des Schloſſes geweſen ſind ich habe nicht gern, daß man mich beluͤgt.

Es iſt nichts als die reine Wahrheit, Mamſell, wenn ich ſie verſichert habe, daß ich keinen Schritt aus meines Vaters Hauſe gethan habe; ich habe zu viel Achtung fuͤr ſie, als ihnen Unwahrheiten zu ſagen.

Das iſt ſonderbar! wandte ſich Chriſtine zu ih - rer Kammerfrau, ich glaub’s; Victorin iſt kein Luͤgner Jch behalte ihre Abſchrift, indem ſie den Sohn des Fiſcalprocurators wieder anſah, erlau - ben ſie es?

Ein groͤßeres Gluͤck fuͤr mich, Mamſell, als ich je hoffen konnte!

Sehen ſie doch die ſchoͤnen Roſen dort: aber ich ſag ihnen, wenn ſie ſich nur im geringſten ritzen, ſo nehme ich ſie nicht.

Victorin flog zum weißen Roſenſtrauch, pflickte die ſchoͤnſten, ohne ſich zu ſtechen, wenigſtens nicht ſo, daß man es ſahe, und brachte ſie Chriſtinen, die ſie an ihren Buſen ſteckte. Kaum hatte ſie diesgethan,30gethan, als die ſchoͤnſte davon den Stiel verlohr und abfiel. Victorin buͤckte ſich um ſie aufzuheben: da er ſie aber ihr nicht zuruͤck geben konnte, druͤckt er ſie zweymal mit Waͤrme an ſeine Lippe und eilte eine andre zu brechen.

Chriſtine ward dies gewahr, und erroͤthete; aber Victorin war ein zu ſchoͤner Juͤngling, als daß ſie daruͤber haͤtte zuͤrnen koͤnnen. Er brachte ihr eine andre ſchoͤne Roſe, die ſie mit Verwirrung annahm. Sie ſetzte ihren Spaziergang fort, und ließ ſich von Victorin die laͤndlichen Namen der ver - ſchiedenen Pflanzen, welche den Garten zierten, ſa - gen Welche gluͤckliche Augenblicke! Victorin glaubte im Himmel zu ſeyn. Endlich kehrte Chri - ſtine zuruͤck, und der verliebte Juͤngling mußte wie - der zum Fiſcalprocurator, ſeinem Vater.

Die reizendſten Hirngeſpinſte beſchaͤftigten ihn unterwegens; Schon traͤumt ihn, Chriſtinen ent - fuͤhrt zu haben, ſich ſie in eine reizende unerſteig - liche Gegend verſetzt, ſich ſelbſt von ihr geliebt und ein gluͤckliches Leben in einer uneingeſchraͤnkten Frey - heit. Er huͤpfte fuͤr Freuden uͤber dieſe Vorſtellun - gen und faßte den Entſchluß, ſie zur Wirklichkeit zu bringen.

Um es mit leichterer Muͤhe thun zu koͤnnen, bat er ſeinen Vater, der Vermoͤgen hatte, ihn in der Stadt bey einem Sachwalter anzubringen, um ein wenig den Gerichtsbrauch zu lernen eine unent - behrliche Kenntniß fuͤr jeden auf dem Lande, der ſich nicht vor der Niedern Gerichtsbarkeit weit druͤcken -der,31der, als die Obere, will zu Grunde richten laſſen, dies war eben die Abſicht des Fiſcalprocurators; und da ſein Sohn durch dieſe Bitte mit ſeinen Wuͤnſchen uͤbereinſtimmte, ſo lobt er ihn ſehr deshalb.

Victorin ward neu und nach der Mode ausge - ſtattet; man gab ihm eine kleine Summe Geldes, und da alles bereit war, beſtimmte man den Tag zur Abreiſe. Schon war der letzte Abend erſchienen: aͤber Victorin konnte nicht einſchlafen.

Da er aus der Provinz Dauphine und die Burg *** ſeine Vaterſtadt war, ſo befand er ſich nicht uͤber fuͤnf bis ſechs Meilen von dem unbe - ſteiglichen Berge entfernt der deswegen ſo heißt, weil er die Geſtalt eines umgekehrten Zucker - huts hat. Victorin machte ſich einen Morgen, un - ter dem Vorwand, auf die Jagd zu gehen, mit ſei - nen Fluͤgeln, und ſo viel Lebensmitteln, als er fuͤr den Tag noͤthig hatte, auf den Weg.

Sobald er ins freye Feld kam, erhob er ſich nach dem unbeſteiglichen Berge, und langte daſelbſt beym Anbruch der Morgenroͤthe an.

Auf dieſem Berg fand er die angenehmſte Ebe - ne, ein kleines Springwaſſer, das durch die Felſen drang, und beynah eben ſo geſchwind, als es her - aus gekommen war, ſich in die Erde verlohr. Dieſe reizende Gegend war mit einem weichen Raſen be - kleidet. Auf der noͤrdlichen Seite ſah man eine ziemlich tiefe Hoͤhle, Baͤume zierten auf der mittaͤ - gigen Seite die ſteilen Enden des Berges, und wa -ren32ren faſt alle mit Neſtern von tauſenderley Voͤgeln bedeckt. Auch wilde Baͤume befanden ſich hier und unter andern ein Kaſtanienbaum. Ein Bienen - ſchwarm ſumſte um einen gegen Mittag liegenden Felſen, der eine hinlaͤngliche Oeffnung hatte, um dieſe nuͤtzlichen Thierchen zu beherbergen.

Jn dieſer anmuthigen Gegend brachte Victorin den Tag zu, und hatte das Vergnuͤgen einige wilde Ziegen zu entdecken. Als die Tageshitze im hoͤchſten Grade ſtand, durchwandert er ſein neues Guth, um zu ſehen, ob es nicht vielleicht auch giftige Thiere enthielte: Er fand wirklich zwey oder drey Schlan - gen, die er toͤdtete. Hierauf flog er auf die Felſen, welche die Hoͤhle bedeckten, wo er eine zweyte Ebene fand, die ihm wegen ihrer Kuͤhle, und wegen des ſchattichten Felſen ein ſehr angenehmer Sommer - aufenthalt zu ſeyn ſchien. Hier ließ er ſich nieder, unterſuchte alles, und fand kein giftiges Gewuͤrm, ſondern Turtel - und Holztauben. Hier rieſelten fuͤnf bis ſechs kleine Waſſerquellen erzeugt, wie es ſchien aus der Oeffnung eines alten Vulkans der ganz mit Eis bedeckt war, welches kaum an der groͤßten Hitze ſchmolz, weil die Strahlen der Sonne bis dahin nicht dringen konnten. Dieſe Oeffnung ſtellte daher eine natuͤrliche Eisgrube vor. Er koſtete das Waſ - ſer und fand es herrlich. Dies ſagt er bey ſich ſelbſt, ſoll mein Sommerpallaſt werden, hier ſoll Chriſtine die Lilien ihrer Wangen erhalten: die an - dere Ebene, ſey mein Aufenthalt im Winter, Fruͤh - ling und Herbſt.

Nachdem33

Nachdem er alles unterſucht hatte, hielt er eine Mahlzeit, die er gern mit Chriſtinen getheilt haben wuͤrde: und als ſeine Kraͤfte wieder erſetzt waren, erhob er ſich zu einer erſtaunenden Hoͤhe in die Luft, und verſuchte dreiſter als jemals zu fliegen; ploͤtzlich neigt er ſich niederwaͤrts, und uͤbte ſich die Richtung des ſpitzigen Paraſols auf verſchiedene Art abzuaͤn - dern, erhob ſich wieder, und ergriff mit beyden Haͤn - den große Stuͤcken Felſen, indem er mit den Fuͤßen ſehr lebhaft die erhebende Feder in Bewegung ſetzte: Er richtete durch Huͤlfe der Halsbinde, ſeinen Flug gerade vor ſich hin, ohne ſeine Buͤrde fahren zu laſ - ſen, und kam damit auf eine ziemliche Erhoͤhung, ſo daß es den Leuten auf der Erde unmoͤglich war, ſei - nen Flug zu uͤberſehen.

Alle ſeine Verſuche gluͤckten ihm ziemlich, doch mußte er ſie etlichemal wiederhohlen. Mit Anbruch der Nacht, kehrt er dann in ſeines Vaters Haus zu - ruͤck, wozu er aufs laͤngſte eine Stunde oder andert - halbe brauchte.

Hingeriſſen vor Freuden uͤber ſeine Entdeckung entſchloß er ſich, alle Naͤchte, die ihm vor der Ab - reiſe in die Stadt noch uͤbrig waren, dazu anzuwen - den, um verſchiedenes auf den unbeſteiglichen Berg zu ſchaffen, wie zum Beyſpiel Ackergeraͤthe, Klei - dung und Waͤſche, die er zu bekommen wußte; auch Huͤhner, Caninchen und ſogar Schafe maͤnnlichen und weiblichen Geſchlechts bracht er hin. Er gieng noch weiter: als er eines Abends im Hofe viel Weiß - zeug, welches Chriſtinen und ihrer Kammerfrau ge -d. fl. Menſch. Choͤrte,34hoͤrte, als weiße Nachtkleider, Struͤmpfe ꝛc. die man nach der Waͤſche die nur einmal im Jahre geſchah trocknete; flog er in der Nacht hin, machte ſie in etliche Packte zuſammen, und trug auf dreymal faſt alles was der Tochter des gnaͤdigen Herrn gehoͤrte, auf den unbeſteiglichen Berg.

Den andern Morgen entſtand ein nicht geringer Lermen im Schloſſe: man hielt Nachſuchung, und beſchuldigte verſchiedene Perſonen: da es aber un - moͤglich war, nur einen Beweis gegen ſie aufzubrin - gen, weil die Waͤſche weder bey den Kaufleuten der nahgelegenen Oerter, noch auf den Meſſen anzutref - fen waren, ſo konnte man mit Schaͤrfe wider nie - manden verfahren.

Nach dieſem wichtigen Unternehmen, gefiel es ihm noch einen Tag auf ſeinem Berge zuzubringen, den er fuͤr ſein kleines Reich wuͤrde haben halten koͤnnen, haͤtt er nur nicht ſelbſt eine Beherrſcherinn gehabt, die ihm nicht einmal Herr uͤber ſich ſeyn ließ.

Er uͤbte ſich von neuem im Fliegen und Tragen ſchwerer Laſten, baute bequeme Staͤlle fuͤr ſeine Huͤh - ner und Schafe, die ihm wenig Muͤhe koſteten, weil er unter den Felſen ſchon viel Anlage dazu traf. Am Ende fieng er auch an ein klein Stuͤck Feld zu bebauen, und es zur Pflanzung von Weinſtoͤcken vorzubereiten, die er aus dem vaͤterlichen Garten nehmen wollte. Schon in naͤchſter Nacht fuͤhrt ers aus: und da die Gruben ſchon gemacht waren, durft er ſie nur in einem Handkorb fortſchaffen, woreiner35er ſie mit ſammt der Erde legte, damit ſie deſto leichter fortkommen ſollten.

Drauf hielt er es fuͤr rathſam, jemanden hinzu - ſetzen, der auf ſeine Schafe, Huͤhner ꝛc. Achtung gaͤbe, die ſich ſonſt verlaufen, oder wenigſtens ver - wildern konnten.

Es befand ſich in dem Orte eine Schwaͤgerinn des Johann Vezinier, die in ihren jungen Jahren zur kindloſen Wittwe geworden war. Dieſe Frau hatte nach dem Tode ihres Mannes nicht ſehr ein - gezogen gelebt, und man glaubt, daß Johann ihr Schwager ſie zuerſt verfuͤhrt habe. Aber es ſey wie ihm wolle, genug ſie hatte eine uneheliche Tochter, die ſie ſelbſt ernaͤhrte und aufzog. Aber dieſe kleine Ungluͤckliche war das Ziel von der Verachtung und dem Spoͤtte der uͤbrigen Kinder, welches ihre Mut - ter bitter kraͤnkte.

Victorin glaubte dieſen beyden Geſchoͤpfen einen Dienſt zu erweiſen, wenn er ſie auf den unbeſteig - lichen Berg braͤchte, ſie da ernaͤhrte und ihnen auf - gaͤbe, nicht nur die Viehzucht zu beſorgen, ſondern auch einen Garten anzulegen und ein Stuͤck Feld mit Getreide zu beſaͤen. Kaum war dieſer Entſchluß ge - ſaßt, als er auch ſchon auf ſeine Ausfuͤhrung dachte.

Einen Abend gieng er in der Burg ſpazieren und ſah die Vezinier allein mit ihrer Tochter, die fri - ſche Luft zu ſchoͤpfen ſich an die Thuͤre geſetzt hatten, und ſich nicht mit ihren Nachbarsleuten zu ſprechen trauten. Er gieng hin, und ſagte, daß er etwasC 2mit36mit ihnen zu reden habe; um aber nicht bemerkt zu werden, moͤchten ſie an einen entfernten Ort, den er angab, ſich einfinden.

Waͤhrend, daß ſie dahin giengen, legte Victorin ſeine Fluͤgel an, und erhob ſich in die Luft; da er der Mutter und der Tochter geſagt hatte, ſie moͤch - ten auf einen Stein treten, damit er ſie von weiten ſaͤhe, und nicht noͤthig haͤtte ſie zu rufen; ſo ſtieß er gerade auf ſie nieder, und fuͤhrte alle beyde mit - telſt zwey breiten Gurten, die er unter den Achſeln um ſie ſchlug, weg.

Vor Schrecken verlohren ſie ihr Bewußtſeyn, und Victorin langte durch verdoppelte Geſchwindigkeit mit ſeiner Laſt in weniger als einer Stunde auf dem unbeſteiglichen Berge an. Er ſetzte ſie bey den vor - her hingeſchaften Vorraͤthen nieder, ſpritzte ihnen Waſſer ins Geſicht, und als ſie wieder zu ſich kamen, machte er ſich unbemerkt davon. Da die Mutter ſehr gut leſen konnte, ſchrieb er ihr auf ein Blatt Pap - pier das hin, was ſie thun ſollte. Sie las es, als ſie zu ſich ſelbſt gekommen, und fand das Verſpre - chen, daß man ſie keinen Mangel an Lebensmitteln leiden laſſen, und ihr bald Geſellſchaft bringen wuͤrde. Dies war zwar einiger Troſt, dem ohnge - achtet hatte ſie eine ſeltſame Vorſtellung von ihrer Entfuͤhrung, und glaubte, weil ſie ein Land ohne Einrichtung ſahe, vom Teufel zur Beſtrafung ihres vorigen Lebenswandels, dahin gebracht zu ſeyn. Jndeß folgte ſie doch dem Befehl, fieng mit ihrer Tochter an zu arbeiten, und Victorin bracht ihrvon37von Zeit zu Zeit Unterhalt, jedoch in der Nacht, um nicht bemerkt zu werden.

Nach dieſem Unternehmen kehrt er zu ſeinem Vater zuruͤck, legte ſich ins Bette, und ſchlief ziem - lich lange. Jn einer kleinen Burg macht alles gleich Aufſehen? Als er den andern Morgen aufſtand, hoͤrt er keinen Menſchen von etwas an - ders als von der Entweichung der Vezinier und ih - rer Tochter reden. Man gab vor, daß ſie aus Mis - vergnuͤgen fortgegangen waͤren, aber doch kam es ihnen wunderbar vor, daß ſie ihre Habſeligkeiten und nicht einmal ihren Hausrath verkauft hatten. Man ſuchte in allen Brunnen, aus Furcht, daß ſie ſich hinein geſtuͤrzt haͤtten, man zog in den benach - barten Orten, und auf den Straßen Erkundigung ein; aber man konnte nichts entdecken. Endlich ga - ben die alten Grosmuͤtterchen vor, der Teufel habe ſie gehohlt; und bald glaubte man es in allen Or - ten der Provinz.

Nach allen dieſen Vorbereitungen, blieb Victo - rin feſt und entſchloſſen in ſeinem Plan. Er unter - ließ nicht, ſich beynah taͤglich in dem Garten des Schloſſes einzufinden, und ſich Chriſtinen durch zu - vorkommende Gefaͤlligkeiten beliebt zu machen. Dies gelang ihm. Den Tag vor ſeiner Abreiſe nach der Stadt ſah er die Tochter des Herrn, und im Vor - beygehen lachte ſie ihn auf eine ſehr hoͤfliche Art an. Er folgt ihr, als ob ihn ſein Weg dahin fuͤhrte. Die ſchoͤne Chriſtine ließ, mit Vorſatz, oder aus Verſehn, den Faͤcher fallen und gieng immer wei -C 3ter.38ter. Victorin hob ihn auf, und eilte ihr ihn nach - zubringen, kuͤßte ihn unterwegens aber wohl fuͤnf bis ſechsmal, daß es Chriſtine ſehen konnte. Sie nahm ihn mit einer gnaͤdigen Miene an: Da ſie in dem Augenblicke allein war, that ſie allerhand Fra - gen an ihn. Haben ſie eine Liebſte? ſagte ſie.

Ja Mamſell.

Jſt ſie ſchoͤn?

Wie die Roſe, welche am Morgen ſich auf - ſchluͤßt.

Sie liebt ſie doch? Oh! ganz gewiß, ſetzte ſie ſogleich hinzu.

Ach nein! erwiderte Victorin mit einem Seufzer.

So muß ſie keine Kennerinn, oder ſehr ſtolz ſeyn.

Ja, Mamſell, ſtolz iſt ſie: aber ſie hat auch Urſach dazu: denn in Vergleichung ihrer bin ich Richts.

Es iſt alſo wohl eine vornehme Dame?

Sie iſt mehr als das, Mamſell, ſie iſt die Schoͤnheit ſelbſt, kein Koͤnig wuͤrde zu groß fuͤr ſie ſeyn.

Sie reizen meine Neugierde; wo ſteckt denn dieſe Schoͤne?

Zwiſchen Lilien und Roſen; ſie wohnt an ei - nem reizenden Ort, der durch ihre Gegenwart noch reizender wird.

Sie39

Sie haben vermuthlich Romane geleſen, Herr Victorin?

Ja, Mamſell, ich habe den Cyrus geleſen, den Palexander, die Clelie, die Aſtree und die Prin - zeßinn von Cleve, die mir am meiſten gefallen hat.

Das dacht ich mir bald aus ihren Reden.

Ach! Mamſell, das iſt viel Ehre fuͤr mich.

Man muß die engliſchen Romane, die Pamela, die Clariſſe, den Grandiſon leſen.

Die hab ich nicht.

Jch wills meiner Juliane ſagen, daß ſie ſie ihnen borgen ſoll. Aber daß ſie nicht etwa ein Love - lace werden!

Sobald als ſie mir es verbieten, Mamſell, ver - ſichere ich, daß ichs nicht werden will.

Chriſtine laͤchelte uͤber die unſchuldige Miene, mit welcher Victorin antwortete. Als ſie am Ende eines Ganges kamen, ward ſie ihren Vater, ihre Mutter und einige Freunde, nahe bey ihnen gewahr. Chriſtine, erroͤthete uͤber ihre Vertraulichkeit mit des Fiſcalprocurators Sohne; Sie nahm ihren kleinen Gnadenblick an, der ihre Reize nicht verminderte, und ſagte, ob gleich mit einigem Widerwillen: Lebe wohl, Victorin.

Der junge Mann gruͤßte die Geſellſchaft, und zog ſich ſo gut als ihm moͤglich war, zuruͤck, aber er merkte wohl, daß ein baͤueriſches Ungeſchicke ſeine Verbeugung verſtellt haben mochte. Er verließ das Schloß mit dem feſten Vorſatz, in der Stadt keineC 4Gele -40Gelegenheit vorbey zu laſſen, um eine geſittete Auf - fuͤhrung zu erlernen, ehe er ſeine Entwuͤrfe auf Mamſell Chriſtinen ausfuͤhrte.

Den andern Morgen reiſt er zu Pferde in Be - gleitung eines Bedienten von ſeinem Vater ab, und traf am Abend in *** bey dem Herrn Troismots - parligne, Sachwalter im Oberamte ein.

Victorin war ein ſchoͤner Burſche, eine friſche Farbe belebte ſeine Wangen; ein maͤnnliches und kraftvolles Anſehen, ohne Haͤrte vereinigte ſich mit ſeiner natuͤrlichen Schoͤnheit. Seine Hauptabſicht war ſich nach den anſtaͤndigen Sitten zu bilden, um ſich bey Chriſtinen, wenn er ſie entfuͤhrt haͤtte, be - liebt zu machen, er legte ſich alſo darauf zuerſt. Wer den Vorſatz zu gefallen hat, gefaͤllt auch.

Madam Troismotsparligne war ein wohlge - wachſenes Frauenzimmer von ohngefaͤhr fuͤnf und zwanzig Jahren, ob ihr Mann gleich reichliche funf - zig zaͤhlte. Jn einer Entfernung von zwanzig auch wohl zehn Schritten konnte ſie fuͤr eine ſchoͤne Frau gelten: Die Bildung ihres Geſichts war angenehm, und ihre Farbe glich beynah Victorins ſeiner; in der Naͤhe hingegen fand man ſie ſehr von den Pocken gezeichnet: ihr Gang war wolluͤſtig und beynah un - ehrbar, wunderſchoͤn ihr Wuchs, ihre Huͤften ſchoͤn und ihr Fuß reitzend: Auch fuͤr ihren Putz ſorgte ſie außerordentlich.

Dieſe Frau warf ihr Netz auf Victorin aus, auf Victorin, deſſen friſche und ſtarke Empfindun -gen41gen nur einen Funken brauchten um aufzulodern. Aber was vermag eine wahre Liebe nicht? Victorin widerſtand den Reizen der Verſuchungen, Bezau - berungen und Lockungen der Frau Procuratorinn; oder wenn er ſie ja aus Hoͤflichkeit erwiderte, ge - ſchah es blos, um ſeine Sitten auszubilden; denn er wußte wohl, daß nichts wirkſamer einen jungen Menſchen bilde, als die Lehren einer Frau.

Uebrigens warf er ſeinen Blick beſonders auf die jungen vornehmen Staͤdter, und ſuchte ſeine Muſter unter denen die Chriſtinen aͤhnelten, in der feſten Ueberzeugung, daß das lateiniſche Spruͤchwort denn er hatte den Donat gelernt Similis ſimili gaudet (gleich und gleich geſollt ſich gern) das wahrſte von allen Spruͤchwoͤrtern ſey.

Es war damals in dieſer Stadt der Dauphi - ne der Name thut nichts zur Sache ein junger Kavalier, der fuͤr den vornehmſten der Pro - vinz gehalten ward. Ein ſchoͤner junger Mann, der Sohn einer zu nachſichtsvollen Mutter, reich, eitel, der ſein ganzes Verdienſt in Kleidern, Stickereyen, Manchetten, Juwelen und einer artigen Equipage ſetzte, in welcher er, ohne Abſicht, alle Nachmittage zwey oder drey Stunden herumzufahren beliebte. Um dieſes zierlichen Herrchens Bekanntſchaft, ja ſogar Freundſchaft, bewarb ſich Victorin. Zwar haͤtte er ein ſicheres Mittel gehabt, alles dies durch Mit - theilung ſeiner Erfindung in einem Augenblick zu er - langen. Aber der junge Lehrling huͤtete ſich; doch hatt er das ſeltne Geheimniß in der Luft zu fliegenC 5entdecken42entdecken koͤnnen, ſo war es ihm wohl leichter auf der Erde es zu bewerkſtelligen.

Einſt begegnete Victorin dieſem Petitmaitre al - lein auf dem Walle, da er ſeinen Wagen, mit dem er wieder in die ſchoͤnen Straßen der Stadt zuruͤck kehren ſollte, von allen Seiten beſah.

Mein Herr, ſagt er, indem er ſich ihm auf eine gute Art naͤherte, ich beſitze ein Geheimniß, das ihnen vielleicht angenehm ſeyn wuͤrde; ich will ihren Wagen ohne Pferde in Gang bringen*)1779 geſchah eine Ankuͤndigung von einem Manne, der das zweyte Geheimniß des Victorin beſitzt. Man wird meinen Freund nicht beſchuldigen, es ſeinem Helden als eine Nachahmung dieſes Machini - ſten, beygelegt zu haben; weil die Handſchrift von dem ſeligen Herrn von Mourubert, der vor der An - kuͤndigung geſtorben, unterzeichnet iſt, Joly. .

Dieſe Worte erregten die Aufmerkſamkeit des Petitmaiters; er blieb ſtehn, und da er den ganz gut gekleideten jungen Menſchen ſah, fragt er ihn, wer er waͤre?

Noch bin ich blos Schreiber bey einem Sach - walter, antwortete Victorin; aber ich habe glaͤn - zende Ausſichten.

Jndeß dachte der Petitmaitre zum erſtenmale nach, und warf einen Blick auf ſeine Pferde Ein ſchoͤnes Geheimniß, rief er, wodurch mein Wa - gen ohne ſeine groͤßte Zierde fortgehn ſoll!

Auch43

Auch war dies ja meine Abſicht nicht, mein Herr, erwiderte Victorin: ihre Pferde ſollen vor dem Wagen bleiben, aber ſie ſollen blos mit den Zuͤgeln daran befeſtigt ſeyn; und dies ſoll die Be - wunderung der ganzen Stadt auf ſich ziehn.

Bey dieſen Worten warf der Petitmaitre ganz entzuͤckt vor Freuden, ſo eingebildet, eitel und ſtolz er war, ſich dem Schreiber eines Sachwalters um den Hals, kuͤßt ihn zweymal und nannt ihn ſeinen Freund. Wenn koͤnnen ſie dies Wunder aus - fuͤhren? fragt er ihn.

Sie muͤſſen wiſſen, erwiderte Victorin, daß ich mich hierzu keiner ſchwarzen Kunſt bediene

Wenn auch! unterbrach der Petitmaitre mit Waͤrme .

Und doch geſchieht es nicht; Jch darf blos gewiſſe Federn in ihrem Wagen anbringen: morgen des Tages will ich Hand daran legen, und in acht Tagen laͤngſtens ſollen ſie das Vergnuͤgen haben die Stadt in Staunen zu ſetzen, und in der ganzen Pro - vinz, im ganzen Koͤnigreiche, in ganz Europa und vielleicht in der ganzen Welt, denn ich will ihnen die Ehre der Erfindung uͤberlaſſen

Ach! die muß man keinem Menſchen entdecken, rufte der Petitmaitre aus, und drehte ſich fuͤr Freu - den einmal herum.

Von dieſem Augenblick an, ward Victorin der Vertraute dieſes reichen jungen Mannes; uͤberallwar44war er bey ihm, und er fuͤhrt ihn in die beſten Ge - ſellſchaften der Stadt ein, als einen jungen Mann von glaͤnzenden Ausſichten, und den man daher auf - nehmen mußte.

Dies war es eben was Victorin wuͤnſchte. Er nahm den Ton der großen Welt an, und bildete ſich in weniger denn nichts zum vollkommenſten Kavalier.

Jndeß arbeitet er immer an dem Wagen ſeines Freundes fort. Ein Schloͤſſer mußte das Raͤder - werk, ohne daß er erfuhr wozu, machen, und nach Verlauf der verſprochenen acht Tage war die Ma - ſchine zu Stande. Der Petitmaitre huͤpfte vor Freuden.

Einen Sonntag Nachmittags um vier Uhr beym ſchoͤnſten Wetter ſtieg er in ſeinen Wagen: der Kut - ſcher ſpannte an; und als man die Straͤnge wieder ablegte, ſtutzt er, und hielt ſeinen Herrn fuͤr wahn - ſinnig. Aber Victorin hatte die Maſchine ſchon ver - ſucht. Mittelſt zweyer Auftritte, von dem Fuße des Herrn im Wagen in Bewegung geſetzt, gab man den Raͤdern den Gang eines ziemlichen Pferdetrabs. Eine Spindel, nahe bey der Hand, diente den Wa - gen zu lenken; durch Verdoppelung der Bewegung fuhr man ohne Gefahr Berg auf, und durch Ver - minderung hinunter. Der Kutſcher ſah dies an - fangs voll Verwunderung, machte bald das Kreuz und ſchrie, es ſey der Teufel. Sein Herr droht ihm, aber der Schlingel wollte nicht aufſteigen, bis ihn etliche Stockſchlaͤge darzu brachten.

Anfangs45

Anfangs gab niemand auf das Wunderwerk die - ſes Wagens Achtung, aber Victorin mit einigen gu - ten Freunden erwartete ihn an den lebhafteſten Orte der Stadt, und machte ſie auf dieſe Erſcheinung aufmerkſam. Sie naͤhern ſich und folgen dem Wa - gen, um ihn zu ſehen.

Der Poͤbel laͤuft zuſammen, alles draͤngt ſich, mit allem ſeinen Schwoͤren kann der Petitmaitre den Haufen nicht zertrennen: endlich findet er einen Aus - gang und faͤhrt durch zwey Reihen Bewunderer im Genuſſe ſeines voͤlligen Ruhms. Welcher Augen - blick fuͤr einen Thoren! Seiner ſelbſt nicht maͤchtig ſchwaͤrmt er fuͤr Freuden, Ruhm, Narrheit und Vergnuͤgen.

Als er lange genug herum ſpazirt war, kehrt er nach Hauſe abgemattet vor Muͤdigkeit, die er der Bewegung der Fuͤße, wodurch er den Wagen in Gang bringen mußte, zu danken hatte. Jch ver - gaß noch zu erinnern, daß er die Pferde abnehmen ließ, eh er in ſeinen Hof fuhr, und dadurch, daß die Bewegung, ungeachtet ihrer Abweſenheit, immer fortdauerte, die Unglaͤubigen vollends uͤberzeugte.

Ein Theil der Zuſchauer gieng mit der groͤßten Verwunderung nach Hauſe; und der andere dies war der unwiſſende Poͤbel mit der voͤlligen Ueberzeugung, daß der Petitmaitre einen Bund mit dem Teufel gemacht habe.

Man kann leicht urtheilen, welche Fragen der Beſitzer eines ſo ſchoͤnen Geheimniſſes in den geſell -ſchaft -46ſchaftlichen Zirkeln, wo er ſich den uͤbrigen Abend noch zeigte, uͤberhaͤuften. Seine Verdienſte waren dadurch noch hundertmal glaͤnzender geworden, und viele Damen, die bisher tugendhaft genug ſeine Narrheit verachtet hatten, wurden bewogen ihre Waffen zu ſtrecken. Ob er davon Gebrauch machte? dies gehoͤrt nicht in meine Erzaͤhlung.

Wer ſollte glauben, ſagten einige alte Naͤrrin - nen, daß ein dem Anſehen nach ſo leichter und muth - williger Menſch ſich mit Erfindungen, die ihm einen unſterblichen Namen geben, beſchaͤftigen koͤnnte! Wie oft man ſich doch in ſeinen Urtheilen betruͤgt! Selbſt Leute von Kopf waren druͤber ſehr verwun - dert; denn niemand dachte an Victorin, der blos das Anſehen eines huͤbſchen jungen Menſchen von einigem natuͤrlichen Witz und eines Neulings hat - te Doch es iſt Zeit zu unſerm Helden zuruͤck zu kehren.

Alle Sonnabend begab er ſich auf den unbe - ſteiglichen Berg, um der Vezinier und ihrer Tochter Lebensmittel zu bringen. Dieſe Reiſen geſchahen des Abends; doch kam Victorin zuruͤck, daß er den Sonntag Nachmittags in der Stadt zubringen konn - te: er ließ ſich in ein kleines Gehoͤlze nieder, und gieng zu Fuße hinein.

Nun bemuͤhte er ſich die Grotte in Stand zu ſetzen, welche Chriſtine bewohnen ſollte. Er trug verſchiedene Sachen dahin, die er von den Geſchen - ken anſchafte, die ihm ſein Freund der Petitmaitre in der erſten Hitze zur Erkenntlichkeit machte, naͤm -lich47lich ein ſchoͤnes Bette, Stuͤhle, Tiſche, eine Kom - mode und ſogar ein Sopha, auch Silberzeug, rei - che und leichte Zeuge ꝛc.

Als die Grotte mit allen dieſem ausgeziert war, dacht er auch an die Hauptſache: die mittaͤgige Ebene konnte ganz bebaut werden, und wohl ein dreyßig bis vierzig Perſonen Unterhalt verſchaffen. Dieſer Bau gieng unter den Haͤnden der Vezinier und ihrer Tochter ſehr langſam; ſie hatten einen Ge - huͤlfen, beſonders aber Pferde oder Ochſen noͤthig.

Victorin kannte in ſeinem Orte einen armen jungen Menſchen, der in die Tochter eines reichen Bauers bey dem er als Schirmeiſter und Winzer diente, verliebt war. Dieſen nahm er und fuͤhrt ihn an einen ſchoͤnen Abend auf den unbeſteiglichen Berg, nachdem er vorher drey Pferde, einen Pflug und auch Getreide zur Ausſaat ꝛc. dahin geſchafft hatte. Er verſprach dieſem armen Menſchen, der ihn nicht erkannte, und, wie die Frau mit ihrem unehelichen Kinde, fuͤr den Teufel hielt, ſein Maͤd - chen auch zu bringen, mit der Bedingung, ſie gut zu behandeln. Er zeigt ihm ſeine Vorraͤthe, gab ihm auf, mit den beyden Frauenzimmern das Feld zu bebauen, und verſicherte ihm, alle acht Tage zu beſuchen.

Victorin huͤtete ſich die Bauertochter zu entfuͤh - ren, bis er ſicher war, daß niemand von dem Schick - ſale des Schirmeiſters etwas argwohnte: er paßte auf eine ſchickliche Gelegenheit, bey der Nacht ſich ihrer zu bemaͤchtigen, damit er von niemand bemerktwuͤrde;48wuͤrde; aber dieſe Gelegenheit war ſelten, weil er wenigſtens eine Stunde brauchte von der Stadt nach ſeinem Ort zu kommen, und uͤberdies die Reiſe nicht oft machen konnte.

Doch ein Ungefaͤhr beguͤnſtigte wider Vermuthen ſein Unternehmen. Das junge Maͤdchen ließ einen Abend alle Anziehwaͤſche ihrer Mutter und ihre eige - ne im Garten haͤngen. Als Victorin kam, ſah dies und trug ſie mit ſammt den Corſetten, Roͤcken ꝛc. weg. Den andern Tag kam er wieder, und da er den Bauer in einem Winkel des Gartens mit einer Flinte, die Frau im andern und ſeine Leute uͤber - all herum verſteckt fand, ſucht er die Tochter zu entdecken.

Sie ſtand an der Hausthuͤr mit einem Lichte in der Hand. Er ſtieß auf dieſelbe durch einen ver - kehrten Bogen nieder, und ſie fiel mit einem ſchwa - chen Schrey in Ohnmacht. Victorin brachte ſie auf den unbeſteiglichen Berg, und uͤbergab ſie da der Vezinier und ihrem jungen Liebhaber, dem er bey Lebensſtrafe auflegte, alle Achtung fuͤr ſie zu haben, bis er ein Mittel zu ihrer Vereheligung faͤnde. Der arme Juͤngling freute ſich daruͤber ungemein, und ſah wohl daraus, daß ſein Entfuͤhrer nicht der Teufel ſey, weil uns dieſer nur zum Boͤſen verleitet. Dies waren ſeine und der Vezinier Betrachtungen.

Die arme Kaͤthe erſtaunte ziemlich, als ſie beym Erwachen ſich in den Armen ihres Joachim befand! Er mocht ihr verſichern, ſo viel er wollte, daß er ſie nicht weggeholt, ſie konnt es nicht glauben undverlangte49verlangte nur nach ihrem Vater zuruͤck, bis er ihr endlich die Unmoͤglichkeit von ihrem Wunſche von Verlaſſung ihres Aufenthalts zeigte.

Es war eben im Herbſt. Kaͤthe ſtutzte ziemlich, die beyden Frauenzimmer, die man in einem Brun - nen ertrunken geglaubt hatte, hier zu finden: Sie halfen alſo alle drey dem Joachim ſeine Arbeit er - leichtern, und beſaͤten ein Stuͤck Feld, das hinlaͤng - lich war zehn bis zwoͤlf Perſonen zu ernaͤhren.

Victorin kam oft zu ihnen, theils Lebensmittel zu bringen, theils ſie zum Fleiß aufzumuntern. Uebrigens war er entſchloſſen die Ruͤckkehr des folgen - den Sommers zu erwarten, um Chriſtinen zu ent - fuͤhren; wofern nicht etwa jemand ſie bis dahin zur Gemahlinn begehre. Doch es erſchien niemand, der angenommen worden waͤre. Victorin gewann alſo Zeit den Aufenthalt zu verſchoͤnern, den er fuͤr die Beherrſcherinn ſeiner Gedanken beſtimmt hatte, und gleichſam einen kleinen Staat zu errichten, den ſie als Koͤniginn regieren ſollte.

Er trug ferner auf den unbeſteiglichen Berg einen Schuhmacher, eine Putzmacherinn, welche zur Kammerfrau beſtimmt war, eine Naͤtherinn, einen Schneider und eine Koͤchinn. Da ihm in der Folge beyfiel, daß vielleicht alle dieſe Leute einige Neigung gegen einander haben koͤnnten, ſo bracht er ihnen an einem ſchoͤnen Abend, auch einen Prieſter, den er unterwegens von den Abſichten ſeiner Reiſe unter - richtete. Dieſer Geiſtliche ſtellte daher den neuen Bewohnern des unbeſteiglichen Berges vor, eined. fl. Menſch. DWahl50Wahl zu treffen, und daß er ſie trauen wolle. Der Schirrmeiſter heurathete alſo ſeine Kaͤthe, der Schuh - macher die Koͤchinn, und der Schneider die Naͤthe - rinn; der noch uͤbrigen Putzmacherinn verſprach Vi - ctorin bald einen lieben Mann zu bringen.

Victorin war mit ſeinen eigenen Angelegenheiten ſo beſchaͤftigt, daß er den Auftraͤgen des Procura - tors ſchlecht vorſtand. Er bekam daher manchen Verweis, wobey die Frau Sachwalterinn allemal ſeine Sache mit Waͤrme vertheidigte; Unzufrieden daruͤber entſchloß ſich Herr Troismotsparligne den jungen Menſchen, der mit ſeiner Frau ſo gut ſtand, fortzuſchicken. Er ſchrieb daher einen Brief voll bit - trer Klagen an Victorins Vater, und bat ihn, ſei - nen Sohn abzuholen.

Die Frau Sachwalterinn ſahe die Aufſchrift des Briefes, argwohnte den Jnhalt deſſelben; wußt ihn, als er durch die Magd auf die Poſt geſchickt ward, unterzuſchlagen, und ließ einen andern, der juſt das Gegentheil enthielt, ſchreiben. Der gute Fiſcalprocurator antwortete in Gemaͤsheit des letz - tern, und machte dem Sachwalter Geſchenke von Wildpret der gar nicht wußte, wie dies zugieng: Weil aber ſein Schreiber ſich ein wenig beſſerte, ſo war er ruhig.

Als Victorin ſeiner Seits, die zu Chriſtinens Raube feſtgeſetzte Zeit annahen, die Freundſchaft des Petitmaiters erkalten und ſeine Geſchenke bereits ab - nehmen ſah, beſchleunigt er alle Anſtalten zur Aus - fuͤhrung eines ſo wichtigen Unternehmens. Manſagt51ſagt ich will es aber nicht fuͤr gewiß ausge - ben daß er geruͤhrt von dem letzten guten Be - nehmen der Frau Sachwalterinn auch ſeine Erkennt - lichkeit bezeigt doch blos in der Abſicht, ſich fuͤr Chriſtinen deſtomehr zu bilden und ſie ihm ver - ſchiedene kleine Geſchenke gemacht habe, die nicht wenig beytrugen, die Grotte des unbeſteiglichen Berges zu zieren.

Endlich bekam er Luſt, eine Reiſe zu ſeinen El - tern zu machen. Dem Sachwalter war dies eben recht. Victorin reiſte zu Pferde ab, hatte aber wohl - bedaͤchtig die vorhergehenden Naͤchte alle ſeine Sa - chen, die Fluͤgel ausgenommen, in die Grotte getragen. Es iſt unnoͤthig hier die gute Aufnahme zu be - ſchreiben, die er Dank ſey es dem Schrei - ben der dienſtfertigen Frau Procuratorinn von ſeinen Eltern erhielt. Victorin erwiderte ſie auf eben die Art; brannte aber uͤbrigens vor Begierde, ſich auf dem Schloſſe zu zeigen.

Noch den naͤmlichen Abend fand er hierzu Ge - legenheit, da der Fiſcalprocurator ſeinen Herrn Nachricht von etwas geben wollte. Er ſchickte al - ſo ſeinen Sohn, der ſich mit dem Reden am beſten behelfen konnte und die Sache inne hatte.

Eh Victorin ſich zeigte, kleidete er ſich vorher aufs beſte, und mit demjenigen ausgeſuchten Ge - ſchmacke an, wodurch die Thoren ob er es gleich nicht war ſich ſo kenntlich machen, und der den Petitmaitre allein in Anſehen gebracht hatte. Er erſchien aufs glaͤnzendſte und ward gemeldet.

D 2Der52

Der gnaͤdige Herr war aber mit einer zahlrei - chen Geſellſchaft bey Tiſche. Es iſt Victorin! der Sohn meines Fiſcalprocurators, meine Da - men Er ſoll herein kommen!

Chriſtinens Herz huͤpfte fuͤr Freuden beym An - blick eines ſo ſchoͤnen Kavalters. Ein gefaͤlliges Laͤ - cheln entrunzelte das Geſicht der ſechs Damen, die ihre Mienen ſchon auf einen Gnadenblick geordnet hatten. Der gnaͤdige Herr ſelbſt, der den Bur - ſchen eines Landmanns ſo ſchoͤn gekleidet und mit einer ſo anſtaͤndigen Verbeugung hereintreten ſah, konnte die Empfindungen der Achtung nicht unter - druͤcken, und nannte Victorin, ob er ihn gleich kannte: Monſieur. Der junge Menſch richtete ſeinen Auftrag gut eingekleidet und deutlich aus.

Jch bin vollkommen mit ihnen zufrieden, ſagte Chriſtinens Vater, ſie haben ihre Zeit in der Stadt nicht verlohren, und ich ſehe, daß es wahr iſt, was man mir von den guten Kenntniſſen, die ſie da er - langt haben, geſagt hat. Zum Teufel! wiſ - ſen ſie meine Damen, daß dies der Vertraute des zierlichſten jungen Kavaliers in *** geweſen iſt?

Von wem? fragte eine Dame aus der Stadt, vom Herrn von Bourbonne? Richtig, ich erkenne Monſieur! Jedermann ſchreibt ihm eine bewundernswuͤrdige Erfindung zu, vermoͤge welcher der Herr von B*** etlichemal in der ganzen Stadt mit einem Wagen, der allein gieng, her - um gefahren iſt.

Der53

Der allein gieng! riefen die uͤbrigen Damen aus, ach Monſieur, das muͤſſen ſie uns erzaͤhlen!

Setzen ſie ſich nieder! ſprach der gnaͤdige Herr Sie erlauben es doch, meine Damen?

O Gott! ja. Der Herr von B*** iſt ſo viel werth, als wir alle, und er hat mit ihm, ſagte die Dame aus der Stadt, ſehr freundſchaftlich geſpeiſt.

Ein Couvert! ſchrie der gnaͤdige Herr.

Victorin, als Monſieur behandelt, mußte ſich neben Chriſtinen ſetzen, die er durch einen ſehr ehr - furchtsvollen Blick deshalb um Verzeihung zu bit - ten ſchien.

Wohlan, fuhr der gnaͤdige Herr fort, erzaͤh - len ſie uns alſo etwas von dieſer Erfindung.

Sie iſt wirklich von Herrn von B***, erwi - derte der junge Menſch beſcheiden.

Ach ſie wollen es ſeinetwegen nur nicht ſagen, entgegnete die Dame aus der Stadt. Ganz *** weiß, daß ſie von ihnen iſt, und der Herr von B*** hat es ſeiner Mutter geſtanden.

Es iſt moͤglich, daß ich daran geholfen.

Zum Henker, mein lieber Vietorin, ſagte der gnaͤdige Herr, außer ſich fuͤr Freuden, ſie muͤſſen mir auch einen machen.

Jch will ihnen noch mehr machen, mein Herr; oft koͤnnen ſechs Pferde einen Miſtwagen, von der Grube, wo man ihn aufgeladen, nicht wegziehen;D 3ich54ich will ihnen eine Maſchine zeigen, mit welcher es ein Pferd thun ſoll.

O ſo ſchenk ich dir das erſtere, ſprach der gute Herr fuͤr Freuden, denn dies iſt nuͤtzlicher! Aber mein Kind, weißt du auch, daß dein Gluͤck ge - macht iſt, ſo bald du willſt.

Jch fuͤhle keinen Ehrgeiz, erwiderte Victorin, und wenn das menſchliche Herz keiner ſanftern Lei - denſchaften faͤhig waͤre, wuͤrd ich in meinem gegen - waͤrtigen Zuſtande gluͤcklich genug ſeyn. ſeine Augen wandten ſich hier wider ſeinen Willen auf Chriſtinen, mit einem ſolchen Ausdruck der Achtung und der Zaͤrtlichkeit, daß es die junge Dame wahr - ſcheinlich verſtand, denn ſie ward einer an einem ſchoͤnen Tage aufbluͤhenden Roſe aͤhnlich.

Du ſollſt nur eine kleine Verbeſſerung an Chriſtinens Wagen machen.

Morgen des Tages antwortete der junge Menſch mit Waͤrme.

Alle Damen machten bey Victorin Beſtellungen und die Maͤnner kamen mit unterthaͤnigen Bittſchrei - ben bey ihm ein: er verſprach zu thun, was ihm moͤglich waͤre.

Gleich den folgenden Morgen legt er fuͤr ſeinen gnaͤdigen Herrn die Hand ans Werk, und durch Huͤlfe des Schloſſers und des Rademachers bracht er die Maſchine in drey Tagen zu Stande. Er kam ſie zu verſuchen, als Chriſtinens Vater nicht zu Hauſe war; aber die Schoͤne fand ſich dabey ein, undſahe55ſahe zu, wie zwey Knechte einzig und allein mit dieſer Maſchine einen Wagen aus der Miſtgrube zo - gen, den ſechs ſtarke Pferde auf ebenem Wege nicht erziehen konnten.

Der junge Victorin hatte eine ganz beſondere Anlage zur Mechanik, welches beſonders durch Jo - hann Vezinier, der ihn gewiß noch uͤbertroffen ha - ben wuͤrde, ausgebildet war; denn ihr Fluͤgelverſuch war ganz ein ander Meiſterſtuͤck. Victorin gieng noch vor Ankunft des gnaͤdigen Herrn wieder nach Hauſe, um der ſchoͤnen Chriſtine das Vergnuͤgen zu laſſen, ihm, wie es abgelaufen, zu erzaͤhlen, vorher wies er ihr, wie ſie den Verſuch mit der Maſchine wie - derholen koͤnne, um ihrem Vater dadurch eine Freu - de zu machen, und die junge Schoͤne war gegen dieſe Achtſamkeit nicht unempfindlich.

Der gute Herr war bey ſeiner Zuruͤckkunft un - endlich zufrieden. Aber Victorin beſchaͤftigte ſich indeß mit ſeinem Lieblingsplan. Er fuhr alle Naͤchte fort verſchiedene nuͤtzliche oder zur Bequemlichkeit ge - hoͤrige Dinge auf den unbeſteiglichen Berg zu ſchaf - fen. Er hatte die Freude ſeinen Ackersmann in Be - reitſchaft einer reichlichen Erndte zu finden. Jm vorigen Fruͤhjahr hatte er zwar einen kleinen Wein - berg angelegt, bis er aber Fruͤchte truͤge, nahm er ſeine Kraͤfte zuſammen ſo gut war die Feder ſeiner Maſchine einige kleine Faͤſſer Burgunder und Arboiswein hinzuſchaffen. Um ſolche Auswan - derungen anzuſtellen, ſchuͤtzt er verſchiedene Reiſen in die umliegenden Gegenden vor: in der Nacht flogD 4er56er aus, kam vor Tages Anbruch an, kaufte ein, und brachte die Sachen die folgende Nacht fort, nachdem er die Vorſicht gebraucht hatte, ſie gegen Abend an einen ihm bequemen Ort zu bringen.

Endlich war alles zu Chriſtinens Aufnahme vor - bereitet. Nach geendigter Erndte, ließ er eine Windmuͤhle bauen, um das Getreide darauf zu mahlen; Alles zur Nothdurft gehoͤrige war beſorgt, und er beſchloß nunmehr die Entfuͤhrung ſeiner Ge - liebten. Ein gluͤckliches Ohngefaͤhr verſchafte ihm ſogar die Gelegenheit einen Koffer, worinn ihre ſchoͤnſten Koſtbarkeiten ſich befanden, habhaft zu werden.

Chriſtine ſollte in die Stadt reiſen; weil ſich Victorin ſo gut da gebildet hatte, hielt der gnaͤdige Herr dieſen Aufenthalt auch fuͤr ſeine Tochter ſehr nothwendig. Der Tag vor der Abreiſe erſchien und der Wagen war ſchon aufgepackt. Victorin unter - ſuchte am Abend alles genau: Er trug in der Nacht faſt alles, was ſeiner Gebieterinn gehoͤrte, weg, und machte in dieſer Nacht zwey Reiſen nach dem unbe - ſteiglichen Berge. Jn der erſtern trug er den Kof - fer weg, und in der zweyten lauert er auf den Au - genblick, wenn Chriſtine zur Abreiſe erſcheinen wuͤr - de. Dies ſollte ſehr fruͤh geſchehen, weil man zum Mittagseſſen in der Stadt ſeyn wollte.

Seine Erwartung betrog ſich nicht. Mit An - bruch der Morgenroͤthe war auf dem Schloſſe zu B-m-t alles munter. Es ſchien kein Mond, ſon - dern es herrſchte eine voͤllige Dunkelheit. Victorin,der57der ſchon manchen Verſuch gemacht, und alle die - jenigen Perſonen weggefuͤhrt hatte, die ihm noͤthig ſchienen, um die Beherrſcherinn ſeiner Wuͤnſche anſtaͤndig zu bedienen; ſtellte ſich unbeweglich am Schloſſe hin, gleich einem Adler der mit ſeinen krum - men Klauen einem Lamme, das in blumichter Weide zu huͤpfen anfaͤngt, auflauert.

Endlich erſchien Chriſtine, vor welche die Kam - merfrau mit dem Lichte hergieng; ihr Vater, auf die langſamen Bedienten fluchend, begleitete ſie. Mittlerweile jene beyde im Hofe herunter giengen, blieb ſie auf der Schwelle ſtehen. Dieſer Augenblick war Victorin zu koſtbar, als ihn nicht zu benutzen. Er richtete ſeinen erhebenden Paraſol nach unten zu, ſtieß aus der Hoͤhe der Luft auf die ſchoͤne Chriſtine und fuͤhrte ſie fort. Fuͤrchten ſie nichts, Goͤttinn meiner Seele, ſagt er ihr, ich bete ſie an, fuͤrchten ſie nichts. Aber der Schrecken behielt die Oberhand. Als Chriſtine ſich von einer Art von Ungeheuer weg - fuͤhren ſah, ſtieß ſie einen durchdringenden Schrey aus und fiel in Ohnmacht.

Der Vater hoͤrte dieſen Schrey und den Lerm vom Fluge des Victorins, und glaubte nicht anders als ein Theil ſeines Schloßes ſey eingefallen Ach! meine Tochter iſt erſchlagen, ſchrie er, und flog nach der Gegend, wo das Geſchrey her kam; ſein Licht verloſch im Laufen. Er fand alles feſt ſtehend und nichts eingefallen. Er rufte Chriſtinen, aber Chriſtine antwortete nicht auf ſein wiederholtes Schreyen. Die Bedienten kamen herzu gelaufen,D 5man58man ſuchte, man dachte herum, aber Chriſtine fand ſich nicht wieder!

Waͤhrend dieſes Lermens brach der Tag an; man glaubte alle Augenblick den ſchaudervollen Auf - tritt, Chriſtinen zerſchmettert zu ſehen; aber man fand nicht das geringſte Merkmal! Die Tochter des gnaͤdigen Herrn war verſchwunden! Welche Kraͤn - kung fuͤr einen Vater der ſeine verdienſtvolle und ſchoͤne Tochter ſo anbetete!

Jndeß ſchwang ſich Victorin mit ſeiner koſtba - ren Beute durch die Luft. Chriſtine war noch immer ohnmaͤchtig, und ihr Liebhaber ſuchte ſeine Ankunft zu beſchleunigen, weil er fuͤrchtete, ſie moͤchte, wenn ſie ſich erholte und in einer ſolchen Hoͤhe ſaͤhe, allzu - ſehr ſich entſetzen. Jn eben dem Augenblick als ihre ſchoͤne Augen ſich wieder oͤfneten, langt er auf dem unbeſteiglichen Berge an. Kaum hatte er Zeit ge - nug, ſeine Fluͤgel und ſein Schiffergewand ablegen zu koͤnnen, um ihr zuzueilen und ſie zu troͤſten.

Wo bin ich Victorin? fragte ſie ihn, o! wie froh bin ich ſie zu ſehen! Sie haben mich alſo aus den Klauen dieſes Großvogels gerettet, der mich forttrug? Wo iſt mein Vater? Victorin! wo iſt er! Wie haben ſie mich losgemacht?

Anbetenswuͤrdige Chriſtine, ſie ſind leider im Neſte des großen Vogels! Aber fuͤrchten ſie nichts, ſo lange ich bey ihnen bin. Jch wachte fuͤr ihr Wohl ſeit der erſten Erſcheinung dieſes Unge - heuers, und es war mir bekannt, wo er die verſchie -denen59denen geraubten Perſonen hinbrachte. Jch las einſt in der Stadt, daß ein gewiſſer Dedalus, um von der Jnſel Creta zu fliehen, ſich Fluͤgel gemacht habe, und da ich viel Erfindungskraft beſitze, ſtrengt ich ſogleich meinen Kopf an, und da es einmal moͤglich war, mir auch dergleichen zu machen und gleich den Voͤgeln zu fliegen, um fuͤr ihre Sicherheit zu wachen. Nach verſchiedenen Verſuchen war ich ſo gluͤcklich, meinen Wunſch auszufuͤhren.

Als ich dieſen Morgen meinen Vater verließ, um ihnen vor ihrer Abreiſe meine Ehrfurcht zu bezei - gen, merkt ich den Großvogel, und argwohnte, daß er ihnen einen ſchlechten Streich ſpielen wollte; ich hielt daher meine Fluͤgel in Bereitſchaft und ver - barg mich. Sobald ſie erſchienen, ward meine Furcht nur zu gewiß beſtaͤtigt; der Großvogel ſtieß auf ſie her und entfuͤhrte ſie; aber ich verfolgt ihn bis hieher, um ihm ſeinen Raub abzujagen. Wir befinden uns auf einem unbeſteiglichen Berge, wo er ſie niedergeſetzt und vermuthlich nur auf eine kurze Zeit uns verlaſſen hat: aber ich beſitze ein Geheim - niß uͤber ihn zu ſiegen, und ſobald er wieder erſcheint, will ich mich uͤber ihn hermachen. Das groͤßte Un - gluͤck iſt, daß zwar ich von hier wegzukommen, aber nie ſie mitzunehmen vermag; daher mach ich mich anheiſchig, ſo lange hier zu leben, als ſie da bleiben werden, und nie als auf ihren Befehl und auf die von ihnen beſtimmte Zeit mich zu entfernen. Es ſoll ih - nen an nichts fehlen, ſchoͤne Chriſtine, ich mache mir es zum Geſetz, alle ihre Wuͤnſche zu erfuͤllen.

Chriſtine60

Chriſtine war bey dieſer Rede, die ſie nicht zu unterbrechen vermochte, halb todt. Victorin bat ſie aufs angelegentlichſte, ſich in die Grotte zu begeben, um vor dem Grosvogel, wenn er zuruͤck kommen ſollte, deſto ſicherer zu ſeyn. Aus Furcht willigte ſie ein, und ward auf eine angenehme Art uͤberraſcht, als ſie eine ſo angenehme und eine ſo bequeme Woh - nung allda antraf.

Hier ließ ſie Victorin, unter dem Vorwande nachzuſehn, ob der Großvogel wieder kaͤme, um ihn anzugreifen, allein; aber ſeine eigentliche Abſicht war, ſeinen Leuten Anweiſung zu geben, und ihnen Verſchwiegenheit bey Lebensſtrafe anzubefehlen. Er hatte ſich das Gluͤck nicht vermuthet, welche ſeine Entfuͤhrung beguͤnſtigte; allein die Vorſtellungen, welche Chriſtine davon machte, aͤnderten ſeine ge - nommenen Maasregeln. Anſtatt ihr ſeine Leiden - ſchaft zu geſtehen, und die Heftigkeit derſelben zur Entſchuldigung anzufuͤhren, nahm er die Rolle ih - res Beſchuͤtzers an, ſuchte ihr Herz nach und nach zu gewinnen, und theils durch ihre eigne Wahl, theils aus Nothwendigkeit ihr Gemahl zu werden. Beſonders praͤgt er es der Putzmacherinn, welche die Rolle der Kammerfrau bey Chriſtinen vertreten ſollte, recht ein; ſie verſtand ſich darauf; er ver - ſprach ihr einen liebenswuͤrdigen Mann, wenn ſie ihm treu waͤre, und zeigt ihr auf der andern Seite, wie ſie ſeiner Rache nicht entgehen koͤnnte, wenn ſie zur Verraͤtherinn wuͤrde.

Nach61

Nach allen dieſen Vorkehrungen, beſudelt er ſich mit dem Blute von wilden Tauben, die er zu einem artigen Mittagsmahl erlegt hatte, und kehrte ganz erſchrocken zu Chriſtinen zuruͤck, verſichert ihr, daß er den Großvogel verwundet und fortgejagt habe; doch ſteh er nicht dafuͤr, daß er nicht wieder komme, weil er nicht wuͤßte, ob ſeine Wunden toͤdtlich oder nicht geweſen waͤren. Chriſtine, die wieder ein we - nig Muth gefaßt hatte, bezeigte Victorin ihre Er - kenntlichkeit, und ließ ſich von ihm bereden, eini - ge Erfriſchungen vor dem Mittagsmahl zu ſich zu nehmen.

Drauf erſchien die Kammerfrau und die Koͤ - chinn, und boten Chriſtinen ihre Dienſte an, weil ſie von niedrigem Stande und ohne Zweifel von dem Großvogel, der ſie wohlbedaͤchtig zuerſt hieher ge - ſchafft, zu ihrer Bedienung beſtimmt waͤren. Kaͤ - the und Vezinier mit ihrer Tochter erſchienen eben - falls, und wurden alle drey gar bald von Chriſtinen erkannt, die ſich von jeder die kleinſten Umſtaͤnde ih - rer Entfuͤhrung erzaͤhlen ließ: bey allen waren ſie die naͤmlichen.

Victorin behorchte heimlich alles, was geredet ward, um ſich bey der geringſten Unbehutſamkeit ſo - gleich zu zeigen. Aber er hatte Urſache mit ihnen zufrieden zu ſeyn, und gab es auch nachher den drey Frauenzimmern, als er ſie wieder ſah, zu erkennen.

Als Chriſtine nunmehr das Fruͤhſtuͤck eingenom - men, bat ſie Victorin, mit ihm auf ſeinem neuen Gute ein wenig herum zu gehn und Beſitz davon zunehmen,62nehmen, weil, wie er vorgab, es nicht wahrſchein - lich ſey, daß der nur eben verwundete Großvogel ſobald zuruͤck zu kehren es wagen ſollte. Die ſchoͤne Chriſtine war es zufrieden, und hielt ſich feſt an den gluͤcklichen Victorin, in deſſen Arme ſie, wie in eine ſichre Freyſtaͤtte, bey jedem geringen Geraͤuſche ſich warf. Sie beſah alſo die mittaͤgige angebaute Ebene. Da es zur Herbſtzeit war, fanden ſie außer dem an - gepflanzten Weinberge, auch noch am Fuße eines Felſen zwey oder drey große Reben die urſpruͤnglich auf dem unbeſteiglichen Berge gewachſen waren, und, da Victorin ſie vorm Jahre beſchnitten und gewartet hatte, die ſchoͤnſten Trauben trugen. Er ſelbſt trug Chriſtinen in ſeinen liebreichen Armen dahin, um ſelbſt die ihr gefaͤlligen Trauben abzuſchneiden. Hierauf zeigt er ihr den Bach und einige wilde Zie - gen, die zahm gemacht waren, und da ſie von lau - ter aromatiſchen Kraͤutern ſich naͤhrten, die ſchoͤnſte Milch gaben.

Er fuͤhrte ſie ferner zu vier Laͤmmern, welche von zweyen, die, wie er ſagte, der Grosvogel oh - ne Zweifel traͤchtig hergebracht, geworfen worden waͤren. Auch waren daſelbſt zwey Kuͤhe und ein junger Stier, ingleichen ein Pferd und ein Laſtthier zum Feldbau. Er wies ihr denn auch die natuͤrli - chen Bienenſtoͤcke, welche die Bienen in einem mit Moos bedeckten Felſen, der gegen den Nordwind voͤllig geſichert war, gebaut hatten.

Bey allem nahm er die Miene einer Entdeckung an, und that, als ob er, wie ſie, es zum erſtenmaleſaͤhe.63ſaͤhe. Dies verſtaͤrkte das Vergnuͤgen. Als das Verlangen zum Eſſen ſich einſtellte, kehrte man zum Mittagmahl nach der Grotte zuruͤck. Fuͤr Victorin war dieß das reizendſte Mahl. Doch glaube man nicht, daß Chriſtine beruhigt war; alle Augenblicke entfielen ihr Thraͤnen; ungeachtet der Aufmerkſam - keit des jungen Mannes, der innigſten Sorgfalt der Kammerfrau, die vom erſten Tage an ihr aufs zaͤrt - lichſte zugethan war, konnte ſie ſich nicht troͤſten, und die Herannahung des Abends, ſetzte ſie am mei - ſten in Schrecken; aber endlich, als man einleuchtend genug bewies, wie ſicher ſie ſich einſchließen koͤnne, verſprach ſie, ſich nieder zu legen.

Victorin verband ſich vom Kopfe bis auf die Fuͤſſe, gewafnet an der Thuͤre Wache zu halten; die Kammerfrau mußte bey ihr ſchlafen, und die uͤbri - gen Bewohner des unbeſteiglichen Berges beſetzten die Zugaͤnge der Grotte, die ſchon laͤngſt fuͤr ſie aufs bequemſte eingerichtet war. Alle dieſe Anſtalten be - ruhigten die furchtſame Chriſtine. Sie ließ Victo - rin ſagen, daß ſie ihm nicht erlauben wuͤrde, ſein Le - ben oder ſeine Geſundheit in der Nacht Preis zu ge - ben, und daß ſie ihn baͤte, er moͤchte ſich ihrentwe - gen ſchonen ꝛc.

Den folgenden Tag dachte Victorin darauf ihr ein Vergnuͤgen zu machen. Die Arbeit ſeiner Leute wollte nicht viel ſagen, und wenn einer uͤberhaupt recht zu Werke geht, bleibt ihm immer Zeit genug zum Vergnuͤgen. Chriſtine hatte zum Gluͤck die Stadt noch nicht geſehen, und kannte, ob ſie gleichein64ein Fraͤulein war, nur die laͤndlichen Freuden. Es wurden daher gewiſſe Stunden zum Spiel und Tanz ausgeſetzt. Und Victorin, der die Violine ſpie - len gelernt hatte, war bey dieſem Zeitvertreibe die Hauptperſon.

Unbemerkt wurden Chriſtinens Thraͤnen minder bitter. Jhr Schmerz hatte blos das Gepraͤge der Zaͤrtlichkeit, und entſtand mehr aus Unruhe wegen der Geſundheit ihres geliebten Vaters, und von der gewiſſen Vermuthung, daß er ihres Verluſts halber in Verzweifelung ſey, als ihres eignen Schickſals wegen. Angebetet von allem was ſie umgab; be - dient von einem ſchoͤnen jungen Manne, der ihr nichts weniger als gleichguͤltig war, und dem ſie ihr Leben zu verdanken glaubte, wo konnte ſie gluͤckli - cher ſeyn?

Oft hatte ſie Victorin bereits gebeten, ſich Muͤ - he zu geben, bis zum Hauſe ihres Vaters zu fliegen; aber ſtets verſchob er es aus vorgeblicher Furcht vor dem Großvogel, der vielleicht bloß den Augenblick ſeiner Abweſenheit erwartete, um auf den unbeſteigli - chen Berg zu kommen und ſie in unbekannte Gegenden fort zu fuͤhren. Dieſe Urſachen ſchienen ihr hin - laͤnglich. Jndeß konnte die zaͤrtliche Chriſtine, nach ſechs Monden, die Unruhe in der ſie ihres Vaters wegen war, nicht laͤnger aushalten, und ward zu - fehends elender. Victorin, der faſt alle Naͤchte den unbeſteiglichen Berg verließ, um die ihm nothwendi - gen Sachen zu holen, hatte zwar Nachrichten von dem guten Herrn, aber er durfte ſie ihr nicht ſagen.

Einen

Einen Abend wurden Chriſtine und er zuſam - men einig, daß er in der Dunkelheit, ohne jemands Wiſſen, ſelbſt ohne der Kammerfrau ihres, ausflie - gen, und ſich aufs Schloß B-m-t begeben, ſie aber nicht vor ſeiner Wiederkunft, aus ihrer Grotte gehen ſolle. Dieß war bloß eine Probe, die Victo - rin anzuſtellen gedachte; anſtatt wegzugehn, verbarg er ſich im Hintergrunde der Grotte und lauſchte, ob er ſich auf die Behutſamkeit ſeiner Gebieterinn, und auf ſeine Leute im Fall eines Geſpraͤchs verlaſſen koͤnnte. Er hatte Urſache damit zufrieden zu ſeyn. Niemand zweifelte an ſeiner Abreiſe, denn man konnte jederzeit das große Geraͤuſch ſeiner Fluͤgel hoͤren, wenn er ſich im Flug ſetzte, außer wenn er von einem hohen und entfernten Felſen herab flog, wel - chen Umſtand aber niemand wußte. Den andern Morgen ſtellt er ſich zu großem Erſtaunen ſeiner Leute bey Chriſtinen ein, als kaͤm er ſo eben vom Schloſ - ſe zu B-m-t, und erzaͤhlt ihr alles, was ſich ſeit ihrer Entfuͤhrung daſelbſt zugetragen hatte.

Kaum waren ſie weggefuͤhrt, Mamſell, als ihr Herr Vater, der einen ſolchen Vorfall gar nicht vermuthen konnte, ſie uͤberall ſuchte und ſuchen ließ: aber ſtellen ſie ſich ſein Entſetzen und ſeinen Schmerz vor, als man ſie bey vollem Tage weder todt noch lebend fand! Sein Staunen ward dadurch noch groͤßer, daß auch ihr Koffer mit ihren koſtbarſten Sachen, vom Wagen verſchwunden war. Die ſonderbarſten Vermuthungen kamen ihrem Vater in den Sinn, und ſeine Verzweifelungen verkehrten ſichd. fl. Menſch. Ein66in Wuth. Aber zum Gluͤck hat eben dieſe ihn geret - tet. Man dachte bald darauf auch auf mich. Und da ich nicht hier und bey meinem Vater zugleich ſeyn kann, ſo hielt man mich meiner Abweſenheit wegen fuͤr ihren Entfuͤhrer. Der Herr von B-m-t ließ mir daher den Prozeß machen und ich haͤnge jetzt im Bildniße auf dem Markte zu Grenobel am Galgen. Dieß hinderte mich, vor ihrem Vater zu erſcheinen, und ihn von ihrem Schickſal zu unterrichten. Jch habe die noͤthigen Schreibematerialien mitgebracht; ſchreiben ſie alſo dieſer Tage einen Brief, den ich ihm bey der erſten ſchicklichen Gelegenheit bringen, und auf dem großen Balcon des Schloßes legen will, daß er ihn, wenn er nach gewoͤhnlicher Art ſeine Morgenpfeife Taback allda rauchen will, finde. Doch darf ich nicht ſo zeitig von hier weggehn, denn ich habe ſichre Spuren, daß der Großvogel ſich noch hierum aufhaͤlt, denn als ich mich auf unſern Berg niederließ, ward ich einen neuen Einwohner gewahr, der durch niemand anders als durch ihn hieher ge - bracht worden ſeyn kann; es iſt ein artiger Pur - ſche, hier warf Victorin einen Blick auf die Kam - merfrau der wie ich glaube, ſich fuͤr die Kokete gut ſchicken wuͤrde, wenn es der Herr Großvo - gel auch fuͤr gut faͤnde einen Prieſter her zu bringen, der ſie mit dieſem neuen Ankoͤmmling traute. Aber ich entferne mich von dem was Mamſell mit ſo heftigem Verlangen wiſſen wollen. Jhr Herr Va - ter befindet ſich wohl; es wird hinlaͤnglich ſeyn ihm einen Brief zu ſchreiben, um allen ſeinen Argwohn zu zernichten, und ihm die voͤllige Wahrheit um -ſtaͤndlich67ſtaͤndlich zu melden, damit man mich vom Galgen abnehme. Die ſchon vorher von dem Großvogel entfuͤhrten Perſonen, werden ihn uͤberzeugen.

O mein lieber Victorin, ſprach Chriſtine, mein Vater hat es nie glauben wollen; er ſagt, es waͤren Erdichtungen.

Sie ſehen’s aber, ſchoͤnſte Chriſtine!

Ja, erwiederte ſie mit Thraͤnen, ich ſeh es.

Stillen ſie dieſen fuͤr mich toͤdtenden Schmerz, anbetenswuͤrdige Beherrſcherinn, alles deſſen was ſie um ſich ſehen, oder ich bin ihnen fuͤr mein Leben nicht gut.

Jch will mich beruhigen, ſagte ſie, aber ſie muͤſſen ſich gegen einen ſo geliebten Vater recht - fertigen.

Das wird nicht ſo ſchwer ſeyn, als ſie glau - ben, der Großvogel muß doch endlich bemerkt wer - den; wenn ihn ſo viel Perſonen ſehen, wird man nicht weiter dran zweifeln koͤnnen, und auch ihr Brief wird gewiß Eindruck bey ihrem Herrn Papa machen.

Wie troͤſtend iſt das fuͤr mich, Victorin! Ach wie viel Dank bin ich ihnen ſchuldig.

Jch bin ganz der ihrige, ſchoͤnſte Chriſtine, gebieten ſie uͤber mein Leben.

Ja ich wuͤrde, wenn es moͤglich waͤre, daruͤber gebieten, aber nur um es gluͤcklich zu machen.

E 2Bey68

Bey dieſen unvermutheten Worten warf Victo - rin ſich zu ihren Fuͤſſen, ergriff eine von ihren Haͤn - den, die ſie ihm uͤberließ und uͤberdeckte ſie mit feu - rigen Kuͤßen.

Stehn ſie auf, rief ſie endlich aus, ſie ſind hier mein einziger Troſt: Ach! was wuͤrde ohne meinen lieben Victorin aus mir geworden ſeyn?

O Madam, wie durchdringt mich ſo viel Guͤ - te!. und warum kann ich nicht Aber es iſt unmoͤglich von dieſem Berge zu entkommen. Alle Macht des Koͤnigs in Frankreich und eine Muͤhe von vierzig Jahren wuͤrden uns nicht davon helfen: wollt ich ſie gleich durch Huͤlfe einer ſo zerbrechlichen Maſchine, als meine Fluͤgel ſind, wegfuͤhren, ſo wuͤrden wir Gefahr laufen, beyde wider einen Fel - ſen zu zerſchmettern Ach Madam! wie werden unſre ſchoͤnen Tage verfließen!

Jch bedaure nur die ihrigen.

Und ich Madam, blos ſie Bey dieſen Worten verſchlang Victorin beynah Chriſtinens Haͤn - de, die auch nicht die mindeſte Bewegung ſie zuruͤck zu ziehn machte. Sie war zwar die Tochter eines Edelmanns und Victorin blos der Sohn eines Fiſcal - procurators; aber er war Koͤnig des unbeſteiglichen Berges, und Chriſtine ſahe wohl, daß, ob man gleich nur ihren Befehlen gehorchte, doch alles durch ihn gieng. Endlich wichen Hochmuth und Vorurtheile der Geburt nach und nach, weil niemand hier ſie un - terſtuͤtzte, dem zarten Gefuͤhl, welches Victorin ihrtaͤg -69taͤglich eingefloͤßt hatte. Der junge Mann merkte ſeinen Sieg, aber er verbarg ſeine Freude unter ſchmeichelhaften Verſicherungen einer uneingeſchraͤnk - ten Verehrung. Er ließ nicht den geringſten An - ſpruch blicken, und ſeine feurigen Lippen, druͤckten ſeine Liebe blos auf Chriſtinens weiſſen Haͤnden aus, Endlich fiel es ihr ein ſie zuruͤck zu ziehen, aber es geſchah ohne Unwillen, ſie ſchien den uͤbrigen Tag hindurch ziemlich beruhigt zu ſeyn, und gieng mit Victorin und ihrer Kammerfrau ſpazieren.

Seit einigen Tagen hatte der junge Liebhaber ei - nen Gang entdeckt, wodurch man zu der kleinen Sommerwieſe kommen konnte: er war ſehr enge zwiſchen zweyen abhaͤngigen Felſen gelegen, und Vic - torin hatte ſorgfaͤltig die Geſtraͤuche, welche er errei - chen koͤnnen, zuſammen geflochten, damit ſie die Durchſicht nicht verhindern moͤchten. Hieher fuͤhrt er Chriſtinen, leitete ſie jeden Schritt und ſtellte ſich als entdeckt er jetzt erſt dieſen reizenden Ort, der ei - nen ganz andern Himmelsſtrich darſtellte. Die Blu - men und der Raſen waren, ob es ſchon im Juli war, ſo friſch wie im Fruͤhling. Chriſtine ward uͤber die Entdeckung dieſes neuen Grundſtuͤcks entzuͤckt, und den Morgen drauf trieb man ſogleich die kleine Heerde Schaafe und die Milchkuͤhe dahin zur Weide.

Dies ſoll unſer Sommeraufenthalt ſeyn, ſprach Victorin, ſo lange es den Himmel gefallen wird uns hier zu laſſen.

E 3Jndeß70

Jndeß vergaß Chriſtine nicht an ihren Vater zu ſchreiben; und der Jnhalt des Briefs war folgender:

Mein Herr und vielgeliebter Vater,

Die groͤßte Marter bey dem mir zugeſtoßnen Ungluͤck iſt der Schmerz, den ſie daruͤber em - pfinden. Dies iſt das einzige was mich mehr niederſchlaͤgt, mehr untroͤſtlich macht, als alles uͤbrige, was mir ſeit der Entfuͤhrung von dem Großvogel, den ſie einſt Abends bemerkten, be - gegnet iſt; Es iſt der naͤmliche, welcher zu - vor die beyden Frauenzimmer die man fuͤr er - trunken hielt, auch Denevers Kaͤthe, und den Schirrmeiſter ihres Vaters nebſt einigen andern Perſonen, von denen wir haben ſprechen hoͤren, weggefuͤhrt hat; ich habe ſie, vielgeliebter Va - ter, alle hier angetroffen: Der Großvogel hat ihnen kein Leids gethan. Wer weiß was er ih - rer Tochter zugedacht hatte, fuͤr die er alle dieſe Per - ſonen beſtimmt zu haben ſcheint, wenn nicht durch ein Gluͤck, wofuͤr ich den Himmel nicht genug danken kann, der Schutz des jungen Vic - torins mich gegen ihn beſchuͤtzt haͤtte. Dieſer fuͤrtrefliche junge Mann, dem wir zweifels ohne die Erhaltung meiner Tage ſchuldig ſind, hatte dieſen Großvogel ſeit der erſten wenig geachteten Erzaͤhlung, mit der man ſich von ihm trug, aus -ge -71geſpaͤht. Durch Huͤlfe ſeiner vom Himmel ihm verliehenen großen Einſichten in der Mechanik erfand er das Geheimniß, ſich Fluͤgel zu ma - chen, um dem Großvogel zu folgen und ſeinen Aufenthalt zu entdecken. Er langte daher den Tag meiner Entfuͤhrung, faſt eben ſo geſchwind, als ich, hier an, und er hat mit ſolchem Muth gegen den Großvogel geſtritten, daß es ihm ge - gluͤckt denſelben von dem unbeſteiglichen Berge, wo er uns alle hingebracht hat und wo wir in Anſehung des Lebensunterhalts ganz gut einge - richtet ſind, zu verjagen. Jch fuͤr mein Theil bin von allen wie eine Koͤniginn verehrt; Vic - torin iſt mein erſter Unterthan, und ich bin uͤberzeugt, daß ich bloß ihn mein Anſehn zu verdanken habe. Uebrigens duͤrfen ſie, vereh - rungswuͤrdiger und geliebter Vater, ſich keine Sorgen machen; Victorin behauptet ſeinen Platz, und ihre Tochter weiß was ſie ſich ſelbſt ſchuldig iſt. Dieſer liebenswuͤrdige Juͤngling beſitzt allein das Vermoͤgen von dem unbeſteigli - chen Berge herunter zu kommen, und thut es bloß zu meinen Dienſten. Auch er wird ihnen dieſen Brief uͤberbringen. Jch bitte ſie in ſtaͤn - digſt, vielgeliebter Vater, die Antwort an eben denſelben Ort hinzulegen, damit Victorin ſie abholen kann; denn er wagt es nicht mit ihnenE 4zu72zu ſprechen, noch ſich ihnen zu zeigen, weil er weiß, daß man ihn unrechtmaͤßig im Bildniſſe aufgehangen habe, und daß ihm der Prozeß ge - macht worden ſey. Sie werden alſo, vielge - liebter Vater, die Guͤte haben, ihre Fenſter zu - zuhalten, und ſich nicht auf die Ausſicht zu be - geben, wo ſie ſo gern das, was auf dem Felde vorgeht, mit ihrem Fernglaſe entdecken; denn ſonſt duͤrfte es Victorin wohl nie wagen ſich der Gefahr auszuſetzen und ihre mir ſo theure Ant - wort abzuholen. Jch verharre mit der tiefſten Verehrung

Jhre zaͤrtliche und unterthaͤnige Tochter Chriſtine von B-m-t.

Als die ſchoͤne Chriſtine dieſen Brief an ihren Vater geſchrieben hatte, las ſie ihn Victorin vor, der uͤber den Beweiß ihres Zutrauens ſehr erfreut war: ſie verſiegelt und uͤbergab ihm denſelben, um ihn nach ſeiner Bequemlichkeit zu uͤberbringen, und der junge Mann, welcher wußte, daß die Schoͤnen in ihren Wuͤnſchen ſehr lebhaft ſind, machte ſich die folgende Nacht nach dem Schloſſe B-m-t auf.

Es iſt unnoͤthig zu erwaͤhnen, daß die Furcht da behalten oder erkannt zu werden ihn abhielt, ſich ſeinem Vater zu zeigen: Aber bey Gelegenheit des Briefes von Chriſtinen, ſchrieb er auch einen auſeine73ſeine Eltern, worinn er mit ſo viel Offenherzigkeit, als ihm moͤglich war, beynahe das nehmliche ſagte. Den Brief an den Vater ſeiner Gebieterinn legt er auf den Balcon des guten Herrn, und den andern an ſeinen Vater, auf den Rand des Fenſters, an wel - chem der Fiſcalprocurator alle Morgen friſche Luft ſchoͤpfte, um ſeinen Magen zum Fruͤhſtuͤck vorzube - reiten. Nach Vollendung dieſer beyden Geſchaͤfte, verfuͤgt er ſich in die Stadt ***, wo der Prieſter, der ehedem ſeine Leute getraut hatte, wohnte, und fuͤhrte ihn wieder mit ſich auf den unbeſteiglichen Berg.

Beym Erwachen ſah Chriſtine Victorin herein - treten.

Jhre Befehle ſind vollzogen, Madam, und in dieſem Augenblick lieſt ihr Herr Vater vermuthlich den Brief.

Ach mein lieber Victorin, wie ſehr bin ich ih - nen fuͤr ihre Eilfertigkeit verbunden.

Das iſt nicht alles, Madam, ſo eben als ich dieſen Berg verließ, kam der Großvogel an, uud hat etwas neues in unſern Wohnſitz gebracht.

Und was denn?

Einen Prediger, Madam, nun kann ihre Kam - merfrau, die Zeit gehabt hat, ihren Liebhaber kennen zu lernen, der ſie zu lieben ſcheint, ehelichen, wenn es ihre ſchoͤne Gebieterinn anders erlaubt Je - dermann ſoll hier gluͤcklich ſeyn Madam

E 5 Ach,74

Ach, Victorin! Aber laſſen ſie uns den Prieſter hier behalten, wir haben lange keinem Got - tesdienſt beygewohnt

Ein gluͤcklicher Einfall! aber wenn der Groß - vogel uns ihn wegholt, ſogar am hellen Tage, wie er es ſchon gethan hat?

Sie haben Recht, Victorin!

Ach Madam! daß ich ihrer wuͤrdig waͤre!

Hoͤren ſie, Victorin, im Ernſt, ſind wir auf unſre ganze Lebenszeit hier? Hintergehn ſie mich nicht!

O mein Gott, freylich Madam, zum Ungluͤck fuͤr ſie! denn fuͤr meinen Theil, ich bin uͤberall gluͤcklich, wo ſie ſich befinden.

Auf den Fall, Victorin

Reden ſie, Madam! Ach waͤr ich ihres gleichen, dann wollt ich ſie nicht in die Verlegenheit ſetzen, die erſte Erklaͤrung zu thun! Aber die Ehr - furcht wird in Ewigkeit meine Lippen verſchließen Rechnen ſie uͤbrigens drauf, Madam, in mir einen eben ſo untergebenen als zaͤrtlichen Liebhaber zu fin - den Befoͤrdern ſie mein Gluͤck, und ich wollte ihnen beynah fuͤr das ihrige Buͤrge ſeyn.

Aber Victorin! was wuͤrde mein Vater ſa - gen!

Wir wollen ihn ſchon auf andre Gedanken brin - gen, Madam: ich werde mich nicht eher vor ihmſehn75ſehn laſſen, als ich auszeichnende Handlungen ge - than, und dem Staate vermittelſt meines Vermoͤ - gens zu fliegen nuͤtzliche Dienſte geleiſtet habe. Und wer weiß, ob ich vielleicht alsdann nicht ein Mittel finde, durch Beyſtand eines maͤchtigen Koͤnigs ſie aus dieſem Aufenthalt zu erloͤſen? Entſcheiden ſie alſo, anbetenswuͤrdige Chriſtine, uͤber mein Geſchick.

Mein Herr, erwiederte die Schoͤne, als ſie ihn zu ihren Fuͤſſen ſah, ich zweifle nicht an ihrer Auf - richtigkeit: denn ich weiß im uͤbrigen wohl, daß ich ihnen alles zu verdanken habe, daß ich uͤberdies hier ganz von ihrem Willen abhange, und daß ich blos durch ihre Grosmuth hier zu befehlen habe: Sie ſind der Koͤnig dieſer kleinen Geſellſchaft, und folglich der Herr daruͤber, entſcheiden ſie ſelbſt mein Schickſal.

Jch Madam! ach! tauſendmal lieber wollt ich ewig ungluͤcklich ſeyn. Jch ſollte uͤber meine Beherr - ſcherinn gebieten! ich der ich mein ganzes Leben, meine Ehre und mein Gluͤck darinn ſuche von ihnen allein abzuhangen! Wir wollen es abwarten, Madam! und ſollte der Großvogel ungluͤcklicher Weiſe den Prieſter wegholen, ſo will ich ohne Klagen mein Lei - den, waͤhrt es gleich mein Leben hindurch, gedultig ertragen.

Wie entgegnete Chriſtine geruͤhrt, ſie verſte - hen nicht, was die Sprache eines Maͤdchens zu bedeu - ten hat, die ihr Schickſal ihnen gaͤnzlich uͤberlaͤßt! Ey nun, ich ſelbſt uͤberlaſſe mich meinem Wohlthaͤ - ter, meinem Freunde. Sie koͤnnen dem Prieſter ſagen

Vic -76

Victorin lag auf ſeinen Knien, Thraͤnen der Zaͤrtlichkeit uͤberſchwemmeten ſeine Wangen; voll Entzuͤcken kuͤßt er Chriſtinens Hand. Dann ſtand er, ihren Befehlen zu Folge auf, und wagt einen Kuß. Nachdem er dieſes erſte Unterpfand ſeines Gluͤcks halb bekommen, halb geraubt hatte, eilt er zum Prieſter, und man bereitete alles noͤthige zur Vermaͤhlung der Beherrſcherin. Ein mit Blumen beſtreuter Fels diente ſtatt des Altars. Der Geiſtli - che machte aus dem, was man ihm gab, ſo gut als er konnte, eine prieſterliche Kleidung zu rechte, brach - te das Opfer dar, das er ſelbſt beſorgt hatte, und Vic - torin ward endlich mit der ſchoͤnen Chriſtine, der Toch - ter ſeines Herrn, die er ſo lange, und mit ſolcher Ver - ehrung und Zaͤrtlichkeit geliebt hatte, vermaͤhlt.

Alles ward mit ſolcher Eil ins Werk gerichtet, daß Chriſtinen erſt nachher der ſehr natuͤrliche Gedan - ke einfiel, daß es noͤthig geweſen ſey, ihrem Vater Nachricht davon zu geben, und ſeine Einwilligung zu erwarten; aber ihr Gemahl ſuchte dieſe Beſorg - niß durch das Feuer ſeiner Zaͤrtlichkeiten zu unterdruͤ - cken; und um ihr einen Beweis zu geben, daß die Ehe ſeine Aufmerſamkeit gegen ſeine Gemahlinn nicht vermindert habe, holt er die zweyte Nacht drauf die Antwort von Chriſtinens Vater.

Er naͤherte ſich mit vieler Vorſicht und that Recht dran. Denn braucht er deren weniger; ſo war es um ihn und ſein ſchoͤne Chriſtine mit ihm ge - ſchehn; denn niemals wuͤrde ſie von dem unbeſteigli - chen Berge hinunter gekommen ſeyn, und deſſen Be -woh -77wohner, befreyt von der Furcht vor Victorin, den ſie fuͤr einen Zauberer hielten, haͤtten gewiß nicht geſaͤumt, das Joch der Unterwuͤrfigkeit abzuſchuͤtteln, und Gott weiß, wie die Sachen in dieſer kleinen Co - lonie ergangen waͤren.

Victorin hielt ſich daher einen großen Theil der Nacht ziemlich in der Hoͤhe, unterſuchte alles ſorg - faͤltig, und naͤherte ſich ohne Geraͤuſch durch eine ſanfte und langſame Bewegung ſeiner Fluͤgel. Er entdeckte den guten gnaͤdigen Herrn mit ſeinen Leuten, die ſich, ohngefehr einen Buͤchſenſchuß von dem Bal - con im Dunkeln verſteckt hatten. Vermuthlich ſoll - ten ſie alle auf einmal losdruͤcken, um Victorin ia nicht zu fehlen. Erſt mit Anbruch des Tages brach - ten ſie den Hahn in Ruhe und jeder begab ſich zuruͤck. Dieſen Augenblick nuͤtzte Victorin um den Brief, der auf dem Balcon angemacht war zu holen. Das Ge - raͤuſch ward von dem Herrn bemerkt, der faſt eben ſo geſchwind ans Fenſter lief; aber der gefluͤgelte Mann entfernte ſich. Der Herr ſchoß ſeine Doppel - flinte aufs Geratewohl ab, und kam dem Ziele ſo na - he, daß Victorin die Kugeln vorbeypfeifen hoͤrte. Er beſchloß ſich eines Briefs halber nicht wieder ſol - cher Lebensgefahr auszuſetzen, und hofte ſeine Urſa - chen Chriſtinen einleuchtend zu machen, der er als Gemahl weit werther als jemals war.

Er langte erſt bey Tage auf dem unbeſteiglichen Berge an, ſo daß er von vielen Perſonen, die im Felde oder auf der Reiſe waren, bemerkt ward. Man ſprach nun in der ganzen Dauphine faſt von nichts als vondem78dem Großvogel, der die Maͤdchen entfuͤhrte, und er ward eben ſo beruͤhmt, als nachher das Thier von Gevaudan. Es gab ſogar Leute, die ihn ſo nahe wollten geſehn haben, daß ſie ſeine Groͤße angaben, naͤmlich hundert Fuß breit von einem Ende des Fluͤ - gels bis zum andern. Er ſollte einen krummen Schnabel groß und lang, wie ein Elephantenruͤſſel, haben, und was dergleichen mehr war.

Alle Einwohner des unbeſteiglichen Berges durch - ſchauderte Ehrfurcht, als ſie ihren Beherrſcher in der Luft gewahr wurden. Jndeß hielt er es nicht fuͤr rathſam in ihrer Mitte ſich niederzulaſſen; denn da er auf Chriſtinens Anregung den Geiſtlichen da zu behalten beſchloſſen hatte, bracht er ihm auch ei - ne Haushaͤlterin mit. Als er bey Tage ſeinen Ruͤck - weg antrat, bemerkt er auf der Lioner Landſtraſſe ein Maͤdchen allein, die als Naͤtherinn von einer Stadt zur andern auf Tagearbeit ging. Weil er kei - ne Gefahr ſah, ſie zu nehmen, und vermuthete, daß zwey Haufen Bauern und Reiſende, die voran gin - gen und nachfolgten, Augenzeugen dieſes Wunders ſeyn wuͤrden, ſtieß er mit einem umgekehrten Bogen, geſchwind wie der Blitz auf ſie nieder und fuͤhrte ſie davon. Das Schreyen, welches die Bauern erhoben, um ihn, wie einem wuͤrklichen Thiere ſeine Beute abzujagen, beluſtigte ihn.

Er ſetzte das Maͤdchen halb todt auf der Som - merwieſe nieder und als er ſeine Fluͤgel abgelegt hat - te, eilt er, ihr beyzuſtehen, und ſie wieder zum Le - ben zu bringen. Er troͤſtete ſie mit der Verſicherung,daß79daß er den Großvogel verjagt habe; drauf fuͤhrt er ſie auf die andere Seite des Felſen, und ſtellte ſie ſei - ner Gemahlin vor. Es war, wie bekannt, eine Sache von aͤußerſter Wichtigkeit, daß Chriſtine nicht merkte, daß ihr Gemahl eine ſolche Laſt fortbringen koͤnnte; ſonſt wuͤrde ſie gewis einen Verdacht auf ihn geworfen, oder wenigſtens ihren Vater haben beſu - chen wollen, wodurch alles Gluͤck des Victorin zer - nichtet geweſen waͤre. Der Prieſter, und einige an - dere Bewohner des unbeſteiglichen Berges, die davon vollkommen unterrichtet waren, huͤteten ſich davon zu reden; weil ſie Victorin fuͤr einen gewaltigen Schwarzkuͤnſtler, dem nichts verborgen ſey, hielten.

Als jedermann ruhig war, und die Haushaͤlterin dem Prieſter uͤbergeben und von ihm in ſeine Grotte ge - fuͤhrt war, erzaͤhlte Victorin Chriſtinen, da ſie allein waren, die Gefahr, der er ausgeſetzt geweſen, und uͤber - gab ihr die Antwort ihres Vaters, welche alſo lautete:

Glaubte ich nicht, meine liebe Tochter, daß du gezwungen worden waͤreſt, dieſen Brief an mich zu ſchreiben, ſo wuͤrd ich mir vorſtellen, deine Schwaͤrmereyen und unwahrſcheinlichen Erdich - tungen ſuchten mich zu taͤuſchen. Jedermann weiß, daß der unbeſteigliche Berg unbewohnt und un - bewohnbar iſt. Zwar wollen einige Jaͤger wil - de Ziegen darauf bemerkt haben; aber andere widerlegen es. Jch glaube daher, daß dein Entfuͤhrer, der treuloſe Victorin, dich in einewuͤſte80wuͤſte Gegend, oder in eine Diebshoͤle einge - ſperrt haͤlt, wo du mit einem Elenden dieſer Art zu beklagen biſt. Dies zerreißt mir mein Herz, und ich wuͤnſche ſehr, daß du dieſen Brief nicht erhalten moͤgeſt, denn mein Vorſatz iſt, dem Boͤſewicht aufzulauern und mich ſeiner todt oder lebendig zu bemaͤchtigen. Bleibt ihm nur ein Lebenshauch noch uͤbrig, wenn ich oder meine Leute ihn treffen, ſo ſoll er uns gewis geſtehn, wo du biſt, und ich will dich befreyen. O mein liebes Kind; hatt ich dich fuͤr einen ſo nichts - wuͤrdigen Bauer erzogen, der vielleicht. Dieſer Gedanke bringt mich zur Verzweifelung. Unſre einfaͤltigen Leute hier halten ihn fuͤr einen Zauberer; aber ich glaube, daß er ein boshaf - ter und raͤnkevoller Menſch iſt.

Lebe wohl meine arme Chriſtine! Bekoͤmſt du dieſen Brief was ich kaum glaube ſo ſuche das Anſehen unſers Bluts, ſolt’s auch auf Koſten deiner Tage geſchehen, zu erhalten Jch umarme dich, meine liebe Tochter und erlie - ge unter der Laſt meines Grams.

Dein ungluͤcklicher Vater Hannibal vou B-m-t.

N. S. Was dich anlanget, niedriger Boͤſewicht Victorin, wenn du mir auch dieſe Nacht ent -kommſt,81kommſt, ſo wird dich doch die Gerechtigkeit des Himmels eher oder ſpaͤter in meine Haͤn - de liefern, alsdann verſprech ich dir, die ge - hoͤrige und ſchnellſte Strafe wofern du nicht bald in dich gehſt und mir ſogleich mei - ne Tochter wieder giebſt.

Chriſtine war uͤber dieſen Brief aͤußerſt geruͤhrt, doch faßte ſie ſich bald wieder, indem ſie bedachte, wie ſehr ſich ihr Vaͤter, in Anſehung Victorins und der uͤbrigen irrte, und nach einigen vergoſſenen Thraͤ - nen ſuchte ſie Troſt in den Armen ihres Gemahls.

Es waͤre unnoͤthig noch viel von dem Leben zu ſagen, welches ſie einige Jahr hindurch in dieſem rei - zenden Aufenthalte fuͤhrte. Jedermann betete ſie an, ſo wohl ihrer Guͤte wegen denn nichts macht guͤtiger als das Ungluͤck als auch des Anſehns halber, das ihr Gemal ihr mittheilte. Sie bekam drey Kinder, zwey Knaben und eine Tochter; ſie ſtillte ſolche ſelbſt, erzog ſie, und fand in ihren Lieb - koſungen ein neues Gluͤck. Sie waren alle ſehr ar - tig. Und dann gab es keine zaͤrtlichere Mutter ge - gen ihre Kinder, und keine durch ſie gluͤcklichere, als eine Frau, die von ihrem Manne angebetet wird. Victorin aͤnderte ſeine Geſinungen nicht, ſondern ſchien von Tag zu Tag mehr Zaͤrtlichkeit anzunehmen.

Jetzt, meine reizende Freundin, ſagt er zuwei - len zu ſeiner Gemahlin, jetzt vermag ich mich ihnen mehr zu enthuͤllen, weil ich weiß, daß ſie meine Lieb - koſungen itzt mehr als Anfangs einer wahren und vereh -d. fl. Menſch. Frungs -82rungsvollen Zaͤrtlichkeit zuſchreiben; ich erwartete von der Zeit, daß ſie ihnen den ganzen Umfang der ewigen Liebe, die mich an ſie feſſele, entſchleiert haͤtte. Und ſtatt, daß das Gluͤck anderer Eheleute immer abnimmt, vergroͤſſert ſich das meinige unablaͤßig.

Chriſtine umarmte voll Zaͤrtlichkeit ihren Mann und zeigt ihm aufs zaͤrtlichſte, wie gluͤcklich er ſie mache. Ach mein lieber Gemahl, ſprach ſie, wie thoͤ - richt iſt der vermeinte Unterſchied der Staͤnde. Jn deiner Geſellſchaft wartete das Gluͤck auf mich. We - der ich noch mein Vater, ſo ſehr er dieſes Gluͤck mir wuͤnſchte, wuͤrden, um es zu finden, dieſen Weg ein - geſchlagen haben. Es bedurfte ganz außerordentli - cher Dinge, um uns dahin, wo wir uns befinden, zu fuͤhren. Jetzt biſt du mir ſo werth, daß, ſo ſehn - lich ich auch Nachricht von meinem Vater zu haben wuͤnſchte, ich dich um alles in der Welt der Gefahr nicht ausſetzen wollte! Was wuͤrde ohne dich, aus mir werden. Ja lieber Mann! geſegnet ſey mein Schickſal, aber ich wiederhol es, daß es vieler Umſtaͤnde bedurfte, um mir es alſo zu verſchaffen!

Nichts als Liebe bedurft es! reizende Gemah - lin, erwiderte Victorin: meine Geſellſchafterin, mei - ne Freundinn, wie koͤnnt ich noch ein Geheimniß fuͤr dich haben? Ach ſchon lange haͤtt ichs entdeckt, haͤtt ich nicht gefuͤrchtet, dein Gluͤck zu vermindern! Jch wartete, bis dieſe theuren Pfaͤnder unſrer gegenſeitigen Zaͤrtlichkeit im Stande waͤren fuͤr die Sache ihres Va - ters zu ſprechen, eh ich ihnen alle meine Geheim - niße entdeckte.

Was83

Was haſt du mir denn zu ſagen, mein Freund?

Daß meine Liebe an allem Schuld iſt, daß ſie allein mich die Fluͤgel, mit denen ich fliege, erfinden lehrte, daß das Verlangen nach deinem Beſitze, der einzige Beweggrund waren; daß es keinen Großvogel giebt; daß ich es war, der dich entfuͤhrte Jetzt wiſſen ſie alles, anbetungswuͤrdige Chriſtine, haſſen ſie in mir, wenn ſie koͤnnen, den Vater dieſer werthen Kinder! Er ſprachs und warf ſich zu ihren Fuͤßen.

Nein lieber Gemahl! nein, ich werde ihn nie haſſen! aber wohl noch heftiger lieben Ach! wie viel entdeck ich in dieſem Augenblick! . Du al - ſo brachteſt alle die Perſonen, die ich hier ſehe, hie - her, um mir ein kleines Reich zu errichten, um mich zu ihrer Beherrſcherin zu machen . Welche Liebe glich je der deinigen! Aber beſter Gemahl, thateſt du wohl daran mit deinem jetzigen Geſtaͤnd - niß die Zeit zu erwarten, wo Beſtaͤndigkeit und Lau - terkeit mir deine Geſinnungen bewaͤhrt hatten, o! wie ſchmeichelhaft iſt es, nicht zweifeln zu duͤrfen, daß man um ſein ſelbſtwillen geliebt wird, und daß man nicht blos eine leichtſinnige und fluͤchtige Begier - de entzuͤndet habe! Kommt, meine lieben Kinder! euer Vater war mir theuer bereits, aber heut iſt er mir es mehr als jemals geworden; um ſeinetwillen lieb ich euch weit ſtaͤrker, und ihr ſeyd die Urſach meiner verdoppelten Liebe gegen ihn.

Nach dieſem zaͤrtlichen Erguß ihres Herzens ließ ſich die nunmehr beruhigte Chriſtine von ihrem Ge - mahl alle Umſtaͤnde ſeines Benehmens erzaͤhlen. ErF 2war84war aufrichtig, nur erwaͤhnt er kein Wort von der Frau des Procurator Troimotsparligne. Er vergaß nicht ſeine wiederholten naͤchtlichen Reiſen, um alles, woran es auf dem unbeſteiglichen Berge gebrach, an - zuſchaffen. Dieſe ſo große ihr noch ganz unbekann - te Muͤhe ruͤhrte Chriſtinen. Als er aber die Gefahr ihr erzaͤhlte, in welcher er bey Abholung der Antwort von ihrem Vater ſich befunden, entſetzte ſie ſich und erneuerte ihr Verſprechen, ihn niemals zur Ruͤckkehr aufzufodern.

Jetzt, mein Weibgen, ſetzt er hinzu, hab ich ei - nen andern Plan, den ich dir entdecken will und den ich, ſobald du drein willigſt, auszufuͤhren denke; Es iſt das einzige Mittel; uns mit Ehren und mit Einwilligung deines Vaters von hier wegzubegeben. Unſer Konig iſt im Kriege mit den Englaͤndern; ich will gehn und ihm meine Dienſte anbieten, die ihm aͤuſſerſt wichtig werden koͤnnen; bin ich denn ſo gluͤcklich ihm ei - nen wahren Dienſt zu leiſten, ſo werd ich dich mir zur Belohnung ausbitten. Und dann mit der Empfehlung des Koͤnigs ſelbſt, wird es dein Vater ſich zur Ehre rechnen, mich als ſeinen Eidam anzunehmen; mein Adel wird vom erſten Range ſeyn, weil Dienſte ge - gen den Staat deſſen Grundlage ſind; und urthei - le ſelbſt, wie gluͤcklich wir dann ſeyn werden! Jch wer - de vom Koͤnig die Herrſchaft uͤber dieſen Berg bekom - men, und er ſoll dein Landguth werden. Wir wol - len ihn verſchoͤnern .

Chriſtine unterbrach ihren Gemahl durch Liebko - ſungen, warf ſich in ſeine Arme und ſagt ihm tau -ſend85ſend und abertauſend zaͤrtliche Sachen vor. Jndeß wenn ſie an ihre Trennung, und an die Gefahren, in die ihr Gemahl gerathen koͤnnte, dachte, ließ ſie ihn ſein Verſprechen erneuern, nicht eher abzureiſen, bis ſie es ſelbſt zu wuͤnſchen ſchiene. Nach dieſen Verab - redungen verlieſſen die beyden Eheleute mit ihren Kin - dern die Grotte und machten einen kleinen Spazier - gang, angenehmer, als ſie ihn noch je mit einander gemacht hatten. Vor ihren Leuten beſchloſſen ſie al - les geheim zu halten, und da ſie gluͤcklich waren, ſie in ihrer Verfaſſung zu laſſen.

Wuͤrklich waren dieſe guten Leute, naͤmlich der Bauer und ſeine Kaͤthe, der Schuſter und die Koͤchin; der Schneider und die Naͤtherin; der Sekretaͤr-Bar - bier und die Kammerfrau, die Vezinier und ihre Tochter mit dem Manne, welchen Victorin dieſer letz - tern gegeben hatte, der ein dicker Mauerſetzer und gu - ter Maͤurer war der Geiſtliche mit ſeiner Haus - haͤlterinn, alle dieſe befanden ſich in einer angeneh - men Lage: ſie lebten in Ueberfluß und Vergnuͤgungen, hatten wenig Arbeit und ohne Aufhoͤren neuen Zeit - vertreib, einen artigen Aufenthalt, fuͤrtrefliche Luft und gute Nahrung. Zum Vergnuͤgen beſchaͤftigten ſie ſich mit dem Gartenbau, und um den Vorwuͤrfen des Feldarbeiters zu entgehn, auch mit der Abwartung des Weinbergs. Dieſer hatte fuͤr ſeinen Theil zwar die meiſte Arbeit, er ward aber auch dafuͤr von allen den uͤbrigen gepflegt; man brachte ihn Milch, Fruͤchte, Sallat, den er ſehr gerne , Eyer und beſonders Wein, ſo bald der Weinberg welchen zu tragen an -F 3fing.86fing. Jedes Paar hatte eine ziemliche Menge artiger Kinder, und dieſe Jugend zuſammen beluſtigte die Eltern, welche ſie mit Entzuͤcken herum ſpringen ſa - hen. Auch der gute Geiſtliche war mit ſeiner Haus - haͤlterinn ſehr zufrieden; Beyde lebten in der innigſten Freundſchaft; Neider gab es auf dem unbeſteiglichen Berge keine, alſo hielt ſich auch niemand daruͤber auf. Alle bis auf die Bezinier, welche Victorin zur Unter - haushaͤlterinn des Predigers gemacht, und ihn da - durch eine Art von Anſehn gegeben hatte, waren gluͤcklich.

Welche reizende Republik! koͤnnen denn die Men - ſchen nur in einer kleinen Geſellſchaft gluͤcklich ſeyn! *)Eine ſchoͤne und wichtige Wahrheit! nie wird eine zu zahlreiche Geſellſchaft, in einem zu weitlaͤufigen Staat gluͤcklich ſeyn koͤnnen. Joly. Auf dieſem unbeſteiglichen Berge ſahe man kein Laſter, ſondern alle Tugenden herrſchten daſelbſt; Bruderlie - be, gegenſeitige Unterſtuͤtzung, Eifer, Liebe und Ge - faͤlligkeit. Jedes Weſen lebte eben ſo in andren, wie in ſich ſelbſt: die geringſte Unpaͤßlichkeit, beunru - higte gleich die gantze Geſellſchaft: die Kinder waren nicht weniger geſchaͤtzt; ſie gehoͤrten allen an, und doch liebte man ſie wie ſein einziges Kind. Man ſieht wohl ein, daß hier kein Eigennutz oder anderes Laſter ſtatt fand. Laſter wuͤrden daſelbſt eine Thorheit geweſen ſeyn, denn nie iſt der Menſch laſterhaft, wenn nicht das geſellſchaftliche Band, in welchem er lebt, ſo ſchlecht iſt, daß die Laſter in demſelben Vortheile verſchaf - fen . O Geſetzgeber! Jhr Thoren die ihr dieuͤbri -87uͤbrigen tugendhaft machen wollt, wie oft verdientet ihr unſre ganze Verachtung!

Uebrigens iſt die Tugend auf dem unbeſteiglichen Berge ſehr natuͤrlich; denn ich wiederhole es, eine jede kleine Geſellſchaft, in welcher die einzelnen Glieder einander alle gleich ſind, alle einander kennen, und einer den andern noͤthig hat, muß nothwendig gluͤcklich und tugendhaft ſeyn. Dies iſt der Knoten, von dem ich nicht weiß, ob ihn ein Sittenlehrer ge - funden hat.

Victorins Abreiſe hieng ganz von Chriſtinen ab: ſie brannte vor Begierde ihren lieben Gemahl beruͤhmt zu ſehn, aber ſie zitterte vor dem bloßen Gedanken ſich von ihm zu trennen. Tauſend ſchaudervolle Gefah - ren ſtellten ſich ihrer furchtſamen Einbildung dar; da - her hielt ſie ihn noch immer zuruͤck. Auf der andern Seit eilte der zaͤrtliche Victorin gar nicht ſo ſehr mit einer Trennung von einer angebeteten Gemahlin; er ſuchte daher ihre Beſorgniße nur oben hin zu widerle - gen und begnuͤgte ſich damit, ihr ſtets ſeine Bereitwil - ligkeit zu Befolgung ihrer Wuͤnſche bemerklicher zu machen; verſchafte aber indeſſen ſeinem kleinen Staate immer neue Wonne und neue Gluͤckſeligkeit.

Hierzu hatt er Zeit genug; denn es vergiengen zehn Jahr nach dieſer vertraulichen Eroͤfnung, und alſo ſechszehn Jahr nach der Vermaͤhlung und wenig - ſtens ſiebzehn ſeit dem Aufenthalt auf dem unbeſteigli - chen Berge und noch hatt er keinen Schritt zu ſeinem Beruͤhmtwerden gethan. Man ſahe nunmehr die reizende Jugend beyderley Geſchlechts auf dieſem gluͤck -F 4lichen88lichen Gebuͤrge. Victorin legte einen neuen Platz dem mittaͤgigen aͤhnlich an, der eben ſo groß, aber um ei - ne Staffel tiefer war, und in der Mitte eine Art von kleinem Teich enthielt. Dieſen ließ er umarbeiten; da er ſelbſt Hand anlegte, folgte jedermann ſeinem Beyſpiel. Das Jahr drauf ſetzt er zehn neue Ehe - paare dahin, die alle Land genug bekamen, um im Ueberfluß zu leben. Er ließ einen Felſen mit Schieß - pulver ſprengen*)Der Laͤrmen, welchen das aufflammende Pulver bey dieſer Gelegenheit verurſachte, machte den Phiſikern viel zu ſchaffen, die damals in allen Zeitungen mel - deten, daß ſich in der Dauphine ein ſchrecklicher Don - nerknall bey heiterm Himmel habe hoͤren laſſen, Joly. , und oͤfnete dadurch einen beque - men Weg zwiſchen dieſen beyden Pflanzſtaͤdten. Sei - ne ganze Familie und alle Einwohner wohnten dieſem Unternehmen bey, ſie hatten ſich aber an dem Ein - gange einer Hoͤle geſichert. Bloß Victorin, die Lun - te in der Hand, hielt ſich mit ausgebreiteten Fluͤgeln in der Luft, und wußte ſich gegen die Gefahr zu ſchuͤt - zen. Den kleinen Teich beſetzt er mit Fiſchen und verſchafte ſeiner Kolonie dadurch eine anſehnliche Huͤl - fe, indem ſie ſich einen groſſen Theil des Jahres da - von ernaͤhren konnten.

Wenn er etwas einkaufen wollte, flog er in der Nacht vor Tages Anbruch von dem unbeſteiglichen Berge weg, und ließ ſich in einem nahe bey einer groſ - ſen Stadt gelegenen Hoͤhe nieder. Er hatte daſebſt zwiſchen zwey Felſen einen ſichern Ort gefunden, wo er ſeine Fluͤgel ließ: dann gieng er in die Stadt undkaufte89kaufte in Bauerkleidung die ihm noͤthigen Sachen ein. Den Tag bracht er darinnen zu, und Abends ging er hinaus in ſein Holz, von dannen er ſich mit ſeiner Ladung wieder auf den Weg machte. Selbſt wenn man ſeine Fluͤgel gefunden haͤtte, waͤren ſie niemand zu etwas nuͤtze geweſen, weil er jederzeit die Feder zu ſich in die Taſche ſteckte. Und auf allen Fall wuͤrd er ſich in weniger als einer Nacht leicht andere haben machen koͤnnen.

Aber es iſt noch ein Zweifel uͤbrig: wo nahm er denn das Geld her? Jch habe vergeſſen zu ſagen, daß man auf dem unbeſteiglichen Berge auch arbeitete. Der Schumacher, der Schneider, die jungen Leute, jedermann war beſchaͤftigt, und den Ueberfluß der Ar - beit gab man Victorin, um dafuͤr alle kleine ihnen man - gelnde Bequemlichkeiten einzukaufen. Sogar der gute Geiſtliche unterließ nicht geiſtreiche Geſaͤnge und andaͤch - tige Namen zu ſchreiben, wie zum Beyſpiel den vom Va - ter Maria, die Victorin den Buchhaͤndlern zu Lyon, die ihn fuͤr den andern Magiſter Adam aus Nevers hiel - ten, verhandelte. Die Putzmacherinn erfand die nied - lichſten Hauben und die aufs beſte kleidenden Aufſaͤtze, ziemlich im Geſchmack derer, en Chignon doub - le au couillonné, der coifures en fichu, der pouf à tuyaux, Chignons en Chainette, der coques à crochet renversé, etc. Die beyden Naͤtherinnen dachten die Polonaiſen, Circaſſiennen, Leviten, Reif - chen und andere nicht weniger zierliche Moden aus: Victorin brachte dieſe Sachen im ganzen Reiche herum, und der gute Geſchmack iſt daſelbſt ſo gut fortgekom -F 5men,90men, daß er ſeit kurzem in Paris ſich wieder erneuert und ſein Gluͤck gemacht hat. Die Luft iſt auf dem unbeſteiglichen Berge ſo rein, das es dort auſſeror - dentlich erfinderiſche Koͤpfe giebt.

Victorin ſelbſt verfertigte fuͤr ſeine Perſon ver - ſchiedene ſehr ſonderbare und nuͤtzliche Maſchinen, und ward, nachdem er ſich das noͤthige Handwerkszeug an - geſchaft, ohne Anweiſung, einer der geſchickteſten Uhrmacher in Europa. Er machte eine der ſchoͤnſten wichtigſten Schiffsuhren, die man je geſehn hatte, und flog damit bis nach London, um ſie zu verkaufen, Eine Sache, die er nachher oft bereute, denn der Kaͤufer bediente ſich dieſer herrlichen Erfindung um auf Unkoſten eurer Kuͤnſtler, ſich einen Namen zu ma - chen; aber ich rette hiermit wieder die Ehre der fran - zoͤſiſchen Nation. Aus allen dem ſehn ſie, daß es ihm nicht am Gelde fehlen konnte; und nach dieſem Beyſpiel moͤcht ich beynahe glauben, daß die erſten Monarchen ebenfals Kaufleute, Kuͤnſtler und geſchick - te Maͤnner waren, die ſich durch ihren Reichthum und Nutzbarkeit Achtung erwarben.

Allein die Kinder der Beherrſcher des unbeſteigli - chen Berges wuchſen heran. Sie waren zwey Jahr juͤnger als die jungen Eheleute, die man eben ver - heyrathet hatte, naͤmlich dreyzehn bis funfzehn Jahr. Der aͤlteſte war ein ſchoͤner Juͤngling, das lebende Bildniß ſeines Großvaters, von dem ſeine Mutter ihm oft vorgeredet hatte. Der juͤngſte der die treflich - ſte Anlage zu den erfindenden Kuͤnſten verrieth, ſah Victorin, und ein wenig ſeiner Mutter aͤhnlich, wes -halb91halb er um ſo mehr geliebt ward. Was die Tochter betrift, ſo war ſie die ganze Chriſtine, ſo wie ſie da - mals war, als ihr Gemahl ſie entfuͤhrte. Tauſend Vollkommenheiten ſchmuͤckten dieſe drey liebenswuͤrdi - ge Geſchoͤpfe, welche das Gluͤck ihrer Eltern machten.

Einſt ſagte B-m-t der aͤlteſte, welchem Victorin den Namen des guten gnaͤdigen Herrn ſeines Schwie - gervaters beygelegt hatte zu Chriſtinen: Jch daͤch - te, liebe Mama, wenn ich meinen Großvater ſaͤhe, ich wollt ihn doch bewegen, daß er meinem Papa ei - nen Fehler verziehe, der eigentlich keiner iſt, weil er ihr Gluͤck, der einzige Wunſch meines Großvaters befoͤrdert hat.

Du haſt Recht, mein Sohn, aber wie willſt du zu ihm kommen?

Jch will’s dem Papa ſagen, der mag mich flie - gen lehren, wie er.

Ach Gott! erwiederte Chriſtine zitternd, laß dir das nicht einfallen, mein Sohn, kein Menſch auf der Welt hat ſo viel Kraft und Geſchick dazu, als dein Vater.

Hier kam die kleine Sophie zu ihrer Mama O mein Bruder, du koͤnnteſt fallen.

Aber der kleine Alexander, der zweyte Sohn, ent - gegnete laͤchelnd: ich, ich wollte nicht fallen, und wenn mir’s mein Papa lernte . du ſollteſt ſehn Schweſter! Und ſogar aber ich will nichts ſagen.

Rede92

Rede mein Sohn, ſagte Chriſtine, was haſt du gemacht?

Liebes Mamachen, ich will dir nichts verſchwei - gen, ich hab dich zu lieb! Als ich einmal die Fluͤ - gel des Papa ſahe, hab ich mir auch welche aus ſei - nen alten gemacht. Wollen ſie mich fliegen ſehn? das iſt allezeit mein Zeitvertreib, wenn ich allein bin.

Ach mein Sohn! das ſollſt du nicht thun!

Still Still! Mamachen, ich will ganz niedrig, ganz niedrig fliegen, und ſie ſollen mich ſehn.

Chriſtine ließ es geſchehen, feſt entſchloſſen ihm es zu verwehren, wenn ſie die geringſte Gefahr merkte.

Das kleine Menſchgen er war dreyzehn Jahr alt legte ſeine Fluͤgel an, ſetzte den erhebenden Paraſol in Bewegung, und ſchwang ſich durch einen zwiefachen Ruck in die Hoͤhe der Baͤume. Seine Mutter ſtieß einen lauten Schrey aus, aber der klei - ne Schelm richtete ſeinen Flug gerade vor ſich hin, und fing eine wilde Taube, die er ihr brachte. Chri - ſtine halb voll Schreck, halb voll Freuden druͤckte ihn mit dieſen Worten an ihre muͤtterliche Bruſt: Jch unterſage dir den fernern Gebrauch deiner Fluͤgel, ehe es dir dein Vater gelehrt hat. Aber die kleine So - phie war voller Freuden, und waͤre die Mutter nicht zugegen geweſen, ſo haͤtte ſie ihn gern gebeten, es noch einmal zu thun.

Sobald93

Sobald als Victorin zuruͤck kam, erzaͤhlte man ihm dieſen Vorfall. Er erblaßte, denn er betete ſei - ne Gemahlin noch in ihren Kindern an. Zeige mir deine Fluͤgel, mein Sohn!

Mit Frohlocken brachte Alexander ſie ihm. Als aber der Vater die Sicherheitsfeder daran nicht fand, die er ſelbſt erſt nach einer Gefahr hinzugefuͤgt hatte, zeigt er ihm die ſeinigen. Siehſt du kleiner Wagehals, ſprach er, woran dein ganzes Leben hieng? wenn dein Riemen riß, wer hielt dich dann? Es mag gut ſeyn, fuhr er fort, als er ſah, daß Chriſtine ſich daruͤber entſetzte; im Grunde aber ſind ſie nicht weni - ger ſtraffaͤllig, daß ſie unſern Sohn, den wir mehr lieben als uns ſelbſt, der Gefahr ausgeſetzt haben

Das Kind bat ſeinen Vater, beſonders aber ſei - ne zaͤrtliche Mutter um Verzeihung und verſprach, niemals wieder ſo unuͤberlegt zu handeln. Victorin ließ ihm ſogleich eine Sicherheitsfeder ſich machen, gab ihm verſchiedene Gurte und Riemen, und er - laubt ihm, als die Feder den andern Tag fertig war, nunmehr ſich in die Luft zu ſchwingen. Dies ſetzte der Knabe mit ſolcher Dreiſtigkeit ins Werk, als wenn er wuͤrklich ein Vogel geweſen waͤre.

Victorin hatte noch nicht daran gedacht, ſeinen Kindern die Kunſt ſich aͤhnlicher Fluͤgel zu bedienen zu lehren. Vielmehr hatt er es mit der groͤſten Sorgfalt jederzeit zu verbergen geſucht. Als er ſich aber verrathen ſah, hielt er es fuͤr das einzige Mittel, ſeiner Familie einen Vorzug fuͤr den uͤbrigen Bewoh - nern des Berges zu geben, wenn er ihnen ausſchlus -wei -94weiſe die Kunſt zu fliegen mittheilte. Er unterrich - tete ſie daher von ſeinen Geſinnungen und machte ih - nen begreiflich, wie wichtig die Heimlichhaltung ei - nes ſo koſtbaren Geheimnißes fuͤr ſie ſey. Gleich den folgenden Tag gab er ſogar ſeiner Gemahlin und ſei - ner Tochter Unterricht im Fliegen: denn bey Alexan - dern fand er ſo viel natuͤrliche Anlage dazu, daß er ihm die Unterweiſung ſeines Bruders auftrug, und nur aus Furcht vor einem Ungluͤck ſich vorbehielt, bey den erſten Verſuchen gegenwaͤrtig zu ſeyn.

Jn einem Monat verſtand die ganze Familie des Beherrſchers des unbeſteiglichen Berges den Ge - brauch der kuͤnſtlichen Fluͤgel. Sophie war beynah eben ſo beherzt, als ihr juͤngerer Bruder, und mach - te oft ihre Mutter zittern, die ungeachtet ihrer Kennt - niß ſich nie anders in die Luft wagte, als an der Sel - te ihres Gemahls.

Nunmehr brachte der aͤlteſte Sohn den Antrag, ſich zu ſeinem Großvater zu begeben, von neuen in Vorſchlag. Alexander und Sophie erboten ſich ihn zu begleiten; aber Victorin und Chriſtine ſtellten ih - nen vor, daß man vorher von den Geſinnungen ihres Großvaters geſichert ſeyn muͤſſe und daß es auf allen Fall leichter ſey, einen wieder loß zu machen, wenn man ihn etwa als einen Betruͤger da behielte, als al - le drey.

Der junge B-m-t machte ſich daher vor Tages - anbruch, bey einem ſchoͤnen hellen Mondenſcheine un - ter Anfuͤhrung ſeines Vaters, und Begleitung ſeines Bruders und ſeiner Schweſter auf den Weg. Alleviere95viere lieſſen ſich in einer Victorin bekannten Gegend nieder, wo er in derſelben Nacht ein reichbeziertes Pferd hingeſchaft hatte; es war in einem Buͤſchgen nahe am Schloſſe. Victorin nahm ſeinem aͤltern Sohne, der als ein junger Kavalier gekleidet war, die Fluͤgel ab, gab ihm einigen Unterricht, und kehr - te mit ſeinen beyden andern Kindern, nicht mit ge - ringer Unruhe auf den unbeſteiglichen Berg zuruͤck. Sie fanden Chriſtinen in Thraͤnen, und hatten alle Muͤhe ſie zu troͤſten Ach! kein Gluͤck iſt voll - kommen! dem Anſchein nach haͤtte kein Leid dieſe gluͤckliche Gattin, wenn ſie ruhig auf ihrem Berge ge - blieben waͤre, treffen koͤnnen; aber ſie hatte einen Va - ter, ſie wollte ihrem bisher genoſſenen Gluͤcke einen noch hoͤhern Grad geben, und dieſer ſchmeichelhaften Hofnung brachte ſie ſchmerzliches Opfer.

Jndeß machte ſich der im Waͤldchen zuruͤckgelaſ - ſene junge B-m-t mit Tagesanbruch aufn Weg, beſtieg ſein ſchoͤnes Pferd, und ritt gerade auf das Schloß ſeines Großvaters. Als er ans Thor kam, oͤfnete Chriſtinens Vater eben das Fenſter ſeines Bal - cons um eine Pfeife Taback zu rauchen, ſah den lie - benswuͤrdigen Kavalier, und ging ihm ſogleich entge - gen. Seine Schoͤnheit, Jugend, Geſichtszuͤge, ſei - ne reichen Kleider, und das reiche Geſchirr ſeines Pferdes machten den Alten ſtaunen, und ruͤhrten ihn auf eine ganz beſondere Art.

Seyn ſie willkommen mein Herr, redt er ihn an, denn ſie koͤnnen keine andere als gute Neuigkeiten bringen.

Wenig -96

Wenigſtens, mein Herr, erwiederte der junge Mann, wuͤnſch ich ihnen gewiß alles gute auf einmal.

Der Alte bot ihm, ohne zu antworten, ſeine Hand, fuͤhrte ihn in das ſchoͤnſte Zimmer ſeines Schloſſes, ließ ihn niederſetzen, und fragte, was er zum Fruͤhſtuͤck verlange. Der junge Mann war von ſeiner Mutter bereits unterrichtet, daß in dem Geſellſchaftsſaal des Großvaters, die Familienpor - traits aufgeſtellt waͤren, und unter andern das ihri - ge zwiſchen ihrem Vater und Mutter haͤngen wuͤrde. Seine Augen ſuchten daher, als er dem alten Herrn antwortete, daß er zwar zu fruͤhſtuͤcken wuͤnſchte, es ihm aber einerley ſey was, im Zimmer auch dieſe Ge - maͤhlde: Er hatte Zeit genug ſie genau zu betrachten, waͤhrend daß ſein Großvater die noͤthigen Befehle gab; und der Alte fand ihn noch bei ſeiner Ruͤckkehr, wie ihm bey Betrachtung von Chriſtinens Bildniſſe eine Thraͤne ins Auge ſtieg.

Was fehlt Jhnen, junger Kavalier, fragte der Herr.

Ach! mein Herr, ich betrachte dies Bildniß ei - ner mir ſehr theuren Perſon!

Seyv theuern! ſagte der Alte, der nun ſeinen jungen Gaſt voll Freuden betrachtete. Dies iſt meine Tochter!

Meine Mutter.

Jhre, mein Herr?

Er -97

Erkennen ſie ihr Blut, mein Herr! Jch bin der aͤlteſte Sohn Chriſtinens von B-m-t, und man will mich verſichern, daß ich meinem Großvater aͤhn - lich ſehe.

Ach, mein lieber Sohn! Aber wo iſt meine Tochter? Wer iſt ihr Gemahl?

Sie duͤrfen ſich ſeiner nicht ſchaͤmen, mein Herr; ſie iſt die Gemahlin eines Regenten; ſind gleich ſeine Staaten nicht weitlaͤuftig, ſo iſt er doch ihr uneingeſchraͤnkter Beherrſcher, und die Liebe und der Vater ſeiner Unterthanen zugleich.

Regent!

Ja geliebter Vater verzeihen ſie, daß ich ihnen einen ſo ſanften Namen beylege

O mein Sohn! Ja ich erkenne dich; du biſt mein Blut, mein Ebenbild; ich wuͤrde dich er - kennen und wenn du Victorins Sohn waͤrſt.

Dies bin ich auch, lieber Herr und Vater; aber das, was ich ihnen geſagt, iſt nicht minder wahr, und wenn es ihnen gefaͤllig iſt, die Staaten meines Vaters zu beſehen, will ich ſie hinfuͤhren. Sie werden da eine Tochter finden, die blos fuͤr ſie lebt, und die, ſo vollkommen gluͤcklich ſie auch in ih - rem Gemahl und in ihren Kindern iſt, dennoch den Verluſt ihres Vaters bedauert.

Haſt du Bruͤder und Schweſtern?

Jch habe einen Bruder und eine Schweſter: Sophie von B-m-t, denn wir fuͤhren auf Verlangend. fl. Menſch. Gmei -98meines Vaters bloß ihren Namen. Sophie iſt ein reizendes Maͤdchen, wenn ſie ſie ſehen ſollten, wuͤr - den ſie ſie fuͤr meine Mutter halten, als ſie noch bey ihnen war. Mein Vater und meine Mutter haben ſogar geſagt, daß, wenn ſie minder ſie hochſchaͤtzten, man ſie in einen tiefen Schlaf verſenken, hernach wegfuͤhren, und beym Erwachen uͤberreden koͤnnen, daß alles vorgefallene nur ein Traum geweſen, indem man ihnen Sophien an Chriſtinens ſtatt, eben ſo gekleidet, als wie ſie am Tage ihrer Entfuͤhrung war, vorſtellte.

O mein Sohn! wie begierig machſt du mich, ſie alle zu ſehn. Denn da Victorin Regent iſt, waͤr es auch nur von dem geringſten Neſte, ſo kann ich weiter nichts wider ihn haben, und ſeine Verbindung ge - reicht mir zur Ehre. Wohlan wir wollen fruͤhſtuͤ - cken und noch heute abreifen.

Dies kann erſt in der Nacht geſchehn, mein lieber Großpapa; mein Vater, der mich bis in das naͤchſte Gebuͤſche gebracht hat, wird dann kommen Nachricht von mir einzuholen, und ich will ihm vor - laͤufige Eroͤfnung von ihren guten Geſinnungen gegen uns thun.

Der Tag verſtrich in lauter Freuden, und der alte Herr konnte nicht ſatt werden ſeinen Enkel zu be - wundern. Von der Natur uͤberwaͤltigt wich alles Vorurtheil, ehmaliger Haß und Entwuͤrfe der Rache, der ſuͤſſen vaͤterlichen Empfindung. Er ſtellte den jungen B-m-t unter dieſem Namen, allen ſeinen Vaſ - ſallen vor, und wuͤnſchte ihn der ganzen Welt zeigenzu99zu koͤnnen. Erſt gegen Abend fiel ihm jedoch noch eine Betrachtung bey: Wie haben dein Vater und deine Mutter ſich geehlicht?

Durch Einſegnung eines Prieſters, mein lieber Papa, der noch bey ihnen iſt.

Ah das laß ich mir gefallen. Jch will meine Einwilligung gern drein geben, ſobald ich ſie ſehe, und denn iſt alles gut.

Endlich brach die Nacht an. Victorins und Chriſtinens Beſorgniß fuͤr ihren aͤlteſten Sohn bewog ſie alle unter dem Schleyer der Dunkelheit ſich nach dem Schloſſe B-m-t zu begeben. Selbſt Chriſtine mach - te, an der Seite ihres Gemahls die Reiſe mit. Sie langten um Mitternacht an. Jhr aͤlteſter Sohn er - wartete ſie allein in dem Gebuͤſche. Sobald er das Geraͤuſch ihrer Fluͤgel hoͤrte, huͤpft er fuͤr Freuden, ſchwang ſich in die Luft und ſchrie: Gluͤcklicher Aus - gang dies war das verabredete Wort Laſſen Sie uns gleich nach dem Schloſſe fliegen. Sie tha - ten es ſofort und lieſſen ſich alle fuͤnfe auf dem groſſen Balcon nieder. Dann, nachdem ſie ihre Fluͤgel hur - tig abgelegt, gieng der aͤlteſte Sohn hinein ſie bey ſeinem Großvater anzumelden.

Unmoͤglich laͤßt ſich die Freude beſchreiben, wel - che der alte Herr beym Anblick ſeiner Tochter em - pfand, die er faſt eben ſo munter wieder erhalten, als er ſie verlohren hatte. Er vermochte kein Wort, ſondern druͤckte ſie an ſeine vaͤterliche Bruſt. Als - dann kamen Sophie und der kleine Alexander an dieG 2Reihe.100Reihe. Bey Sophien weint er, denn ſie glich Zug fuͤr Zug, Chriſtinen D-l-b d A. ſeiner Gemahlin, als er ſie heyrathete. So vorbereitet oͤfnete ſich ſein Herz ohne Muͤhe, als er Victorin mit niedergeſchla - genen Augen und in der Stellung eines Verbrechers zu ſeinen Fuͤſſen ſah. Er warf ſich ihm um den Hals und nannt ihn ſeinen Schwiegerſohn. Dann hoͤrt er mit Vergnuͤgen alles das an, was Chriſtine ihm von dem Gluͤcke erzaͤhlte, deſſen Genuß ihr ge - liebter Gemahl ihr verſchaft hatte. Sein erſtes Wort nach dieſer wichtigen Erzaͤhlung war: Man rufe mir einen Notarius. Er beſtaͤtigte die Heyrath und erklaͤrte zugleich den jungen B-m-t ſeinen aͤlte - ſten Enkel zu ſeinem Univerſalerben, weil ihm ſein Schwiegerſohn und ſeine Tochter verſicherten, daß ſie keinen Mangel an Gluͤcksguͤtern haͤtten.

Nachdem alle dieſe Dinge gehoͤrig beſorgt waren, ſchlug Victorin ſeinen Schwiegervater vor, die Dun - kelheit zur Reiſe in ſeine Staaten zu nutzen.

Sehr gern, mein Sohn, ſagte der Alte, aber auf was fuͤr einem Fahrzeug?

Auf dem, Papa, antwortete Chriſtine, wor - auf wir hergekommen ſind.

So kommt denn, meine Kinder!

Die fuͤnf Fliegenden machten alſo ihre Fluͤgel zu - rechte, gingen auf den Balcon, und der Alte ward, nachdem er die noͤthigen Befehle im Hauſe hinterlaſ - ſen, und ſich in die Arme ſeines Schwiegerſohns ge - worfen, von ihm wie eine Feder weggefuͤhrt. Chri -ſtine101ſtine mit ihren drey Kindern flogen ihnen zur Seite, und in weniger als einer Stunde langte man auf dem unbeſteiglichen Berge an.

Dieſer Monarch wohnte in keiner Grotte mehr, der Maurer, welchen er entfuͤhrt, und der Tochter der Vezinier zum Manne gegeben, hatte ſeine Wiſſenſchaft allen jungen Leuten gelehrt. Sie hatten daher an der Seite des Bachs, auf dem Felſen einen nach Co - rinthiſcher Bauart ſehr ſchoͤn geordneten Pallaſt auf - gefuͤhrt. Auf dem geebneten Gipfel des Felſen hatte man durch hingeſchafte Erde, einen artigen Garten angelegt: und hier ließ Victorin mit ſeinem Schwie - gervater und ſeiner Familie ſich nieder. Nach der Ankunft legte man ſich zu Ruhe, und verſchob die Beſichtigung des Berges, ſo wie der uͤbrigen Einrich - tungen bis zum Aufſtehn des alten Herrn.

Er ſchlief wenig: die Neugierde, das Vergnuͤgen und die Freude erlaubten ihm kaum einige Ruheſtun - den. Er bewunderte gleich anfangs den Garten, in welchem das Waſſer durch Huͤlfe eines Drukwerks ſprang. Alsdann gieng er in den reichgezierten Pal - laſt, um die Zimmer zu beſehn. Staunend fand er da eine ſehr wohl eingerichtete und mit allem Noth - wendigen verſehene Kapelle. Vorzuͤglich bewundert er die Schoͤnheit der jungen Einwohner, die ohne Zweifel die Reinigkeit der Luft, und noch mehr die Befreyung unangenehmer Leidenſchaften zur Urſach hatte; denn die Schoͤnheit iſt dem Menſchen ſo wie die Guͤte natuͤrlich. Man zeigte ihm hierauf die Som - merplaͤne, worauf nur ein einziges Gebaͤude, aberG 3weit -102weitlaͤuftig gnug um alle Einwohner in ſich zu faſſen ſtand. Dieſer Ort war dem Vergnuͤgen gewidmet, und man brachte daſelbſt Sommerszeit, geſchuͤtzt ge - gen die Hitze, die zum Spiel beſtimmte Zeit hin.

Nach der Tafel ſahe der Alte diejenigen Spiele mit an, die alle Tage nach vollendeten Geſchaͤften ſtatt fanden; wenn anders die Republik nicht ge - meinſchaftliche oder dringende Arbeiten, wie zum Beyſpiel der Bau des Pallaſts und der Kapelle war, vorhatte, oder man Wohnungen fuͤr neue Wirthſchaf - ten bauen mußte, weil man alsdann mit Eifer und ohn Unterlaß arbeitete. Jn dem Fall war die Ar - beit fuͤr ſo vernuͤnftige und gegen einander gefaͤllige Leute ein Vergnuͤgen.

Der gute Herr durchwanderte den ganzen Tag die Staaten ſeines Schwiegerſohns und war entzuͤckt davon. Durch Huͤlfe eines fuͤrtreflichen Glaſes be - merkt er leicht im Verhaͤltniß der ihm ſehr bekannten herumliegenden Gegenden, die Lage des unbeſteigli - chen Berges: er entdeckte ſogar ſein Schloß von der Spitze eines ſteilen Felſens, wohin ihn ſein Schwie - gerſohn, umgeben von der ganzen Familie aus Be - ſorgniß eines ihm etwa anwandelnden Schwindels, brachte.

Dies iſt der Ort, beſter Vater, ſagte Victo - rin, wo ich meiner geliebten Gattin und meinen Kin - dern euren Wohnſitz zeigete, und wo ſie, beſonders eure zaͤrtliche Tochter, euch einen Zoll von Zaͤrtlich - keit und Thraͤnen bringen.

Alles103

Alles was du mir ſagſt, bezaubert mich, mein Sohn; waͤrſt du auch kein Regent, ich wuͤrde dir doch meine Tochter geben. He! du erſetzeſt mir ſie in dieſer jungen und reizenden Perſon in deiner So - phie, die auch die meinige iſt.

Sie verlieſſen den Fels und gingen zum Abend - eſſen.

Den andern Morgen theilte Victorin ſeinem Schwiegervater die Geſetze mit, die er in ſeinem klei - nen Staate errichtet hatte. Sie waren ſo ſchoͤn, und ſo gerecht, daß man nicht genug ſich wundern kann, wie der bloſſe Sohn eines Fiſcalprocurators ſo viel Einſicht erlangt habe. Aber der Adel giebt uns weder Verdienſt noch Verſtand; Verdienſt und Verſtand hingegen koͤnnen uns den Adel erwerben: dies iſt eine Wahrheit von der man ſich gehoͤrig uͤber - zeugen ſollte. Wenn die Groſſen bedaͤchten, daß ſie im Grunde keine Rechte haben, uud daß es bloß die Grundſaͤtze des gemeinſchaftlichen Nutzens ſind, die ſie in ihrem Genuſſe erhalten, ſo wuͤrden ſie weniger eitel, weniger hart und weniger eigenwillig ſeyn. Wenn obrigkeitliche Perſonen bedaͤchten, daß ſie bloß des Volks wegen da ſind und das Volk nicht ihrent - wegen, ſo wuͤrden ſie ohne Zweifel weit rechtſchaf - fener, oft weniger grauſam gegen die Schuldigen ꝛc. verfahren.

Victorins Geſetze waren aͤuſſerſt einfach. Jeder Fall war bloß mit einem Worte bezeichnet.

Mord: vom Berge hinuntergeſtuͤrzt.

G 4 Raub:104

Raub: unmoͤglich.

Verleumdung oder uͤble Nachrede: Be - raubung der oͤffentlichen Vergnuͤgen.

Gluͤcksguͤter: in Gemeinſchaft.

Ehebruch: Sklave des Gatten zwey Jahr lang.

Nothzucht: Sklave des Maͤdchens, ſo lange ſie es verlangt.

Schlaͤge: die Wiedervergeltung von dem Vorgeſetzten.

Ungehorſame Kinder: Sollen zur Strafe von ihren Geſpielen entfernt leben.

Ungerathner Sohn oder ungerathene Tochter: werden entfernt, und ſo lange zum un - ehelichen Stande verurtheilt, bis man von ihrer Beſ - ſerung uͤberzeugt iſt.

Unverbeſſerliche: werden heruntergeſtuͤrzt.

Edle Handlungen, Dienſtleiſtungen: werden durch Unterſcheidungszeichen beehrt und be - lohnt.

Die Faͤhigſten: zum Lohn ihrer Arbeit ſol - len die Wahl der ſchoͤnſten Maͤdchen zu Weibern haben.

Wenn Mann und Frau ſich nicht ver - tragen. Die ganze Republik verſammlet ſich dann mit ihrem Oberhaupt, und ſcheidet nach Befinden die Ehe, wenn die angewandten Veſoͤhnungsmittelnichts105 nichts fruchten, und die Schwierigkeiten nicht zu groß ſind: doch haben die Geſchiedenen ein Jahr Freyheit einander wieder zu nehmen, bevor ſie zur zweyten Ehe ſchreiten koͤnnen.

Jch bin ſehr mit dieſen Geſetzen zufrieden, ſprach Chriſtinens Vater zu ſeinem Schwiegerſohne; aber bey uns, wo der Privatnutzen und der Werth der Reichthuͤmer alles umkehren, wuͤrden ſie nicht hinlaͤnglich ſeyn. Nun mein Sohn, es fehlt dir zu einem groſſen Regenten nichts, als groſſe Staaten. Jndeß gefaͤllt mir, daß du hier mehr in Sicherheit biſt, als viele Fuͤrſten in Deutſchland oder in Jtali - en, deren Staaten tauſendmal weitlaͤuftiger als die Deinigen ſind. Sie haben nur ein geborgtes An - ſehn, aber uͤber das Deinige biſt du unbeſchraͤnkter Herr.

Jch ſchraͤnke mich nicht auf dieſen Punkt des Erdballs ein, mein Vater, erwiederte Victorin, jetzt, da ich mit ihnen ausgeſoͤhnet bin, und das Gluͤck meiner Gattin und das meinige vollkommen iſt, geh ich mit noch groͤſſern Gedanken ſchwanger. Jn einiger Zeit bin ich Willens mit meinem juͤngern Sohne einen Ausflug nach den Suͤdlaͤndern zu ma - chen, die von dem durch die ehrgeizigen Europaͤer entdeckten Lande weit entfernt ſind; und ſind ich denn da eine Jnſel wie Tinian oder Juan-Fernandez; ſo ſchaff ich meine Kolonie dahin. Da ich nach mei - ner Entdeckung den kuͤrzeſten Weg nehmen wuͤrde und keiner Umwege noͤthig haͤtte, ſo wuͤrd ich wenig Zeit zu dieſer Reiſe brauchen. Doch muͤßten die er -G 5ſten106ſten beyden Einwohner, die ich und mein Sohn da - hin bringen, einen leichten Unterhalt dort finden, weil wir nicht Lebensmittel genug wuͤrden hinſchaffen koͤn - nen: Aber waͤre dieſer Punkt einmal feſtgeſetzt; ſo verſprech ich ihnen, daß Chriſtine von B-m-t die erſte Beherrſcherin eines groſſen Koͤnigreichs ſeyn ſoll; denn ſo groß iſt meine Achtung und meine Zaͤrtlichkeit gegen ſie, daß ich ſie zur Koͤnigin ausrufen laſſen wuͤrde. Sehn ſie, mein Herr, die Plaͤne ihres Schwiegerſohns!

Mit Freudenthraͤnen umarmte der Alte den Vic - torin: Erfuͤlle deine hohe Beſtimmung, mein Sohn, ſagt er. Ach! ich ſehe wohl, daß derjenige, der ſich Fluͤgel, und einen kleinen Staat auf dem unbe - ſteiglichen Berge zu ſchaffen wußte, auch im Stande ſey ein groſſes Koͤnigreich zu errichten. Es iſt auf alle Faͤlle nicht weniger Wohlan, wohlan ich bin gluͤcklich auf immer.

Jch koͤnnte auch noch andere ſchoͤne Sachen ma - chen, mein Herr und Vater, erwiederte Victorin, ich koͤnnte dem Koͤnige in dem jetzigen Kriege meine Dienſte anbieten, koͤnnte Befehle und Nachrichten unſern Flotten bringen, wie viel Gutes wuͤrd ich nicht ſtiften, wenn ich unſere Eskadern von allen Bewegungen der Feinde benachrichtigte. Endlich koͤnn - te ich mich auch zum Schiedsrichter der Zwiſtigkeiten zwiſchen Regenten und Nationen aufwerfen, und ih - nen den Krieg verbieten, entweder indem ich dem er - ſten Friedens-Stoͤhrer mit groſſem Unheil bedrohte, oder den Urheber ſolcher weitlaͤuftigen ganze Natio -nen107nen in Trauer verſetzenden Zwiſte wegfuͤhrte: nur ein fuͤnf bis ſechs von dieſen Herrn, Englaͤndern, Teutſchen, Portugieſen und Moskowitern ꝛc. duͤrft ich auf den unbeſteiglichen Berg verſetzen; ſo wuͤrden die uͤbrigen nichts gegen das Verbot des fliegenden Mannes zu unternehmen wagen.

Du haſt Recht mein Sohn! dieſer Vorſchlag iſt beſſer als des Abt Saintpierre und ſelbſt des J. J. Rouſſeau ſeiner; dies iſt das wahre Mittel einen allge - meinen Frieden zu Wege zu bringen.

Vor einigen Tagen ſetzt ich zum Zeitvertreib eine Anrede auf, die ich an die beyden Armeen, be - reit zum Gefechte, halten wolte: Jch glaube, daß ſie unterſtuͤtzt von einer glaͤnzenden That auf vorhin er - waͤhnte Art groſſen Eindruck machen wuͤrde.

Sind dies Menſchen die ich in Bereitſchaft ſe - he einander zu zernichten? Nein! nein! das koͤnnen keine Menſchen ſeyn. Er, dies mit Vernunft begab - te Weſen betruͤgt, vertheidigt und erklaͤrt ſich durch dieſelbe. Der Loͤwe, der Tieger allein, deren Blut von ſtetem Gallenfieb[er]aufwallt, koͤnnen nur dann ihre Rechte vertheidigen, wenn einer den andern zer - fleiſcht; aber der Menſch, das Bild der Gottheit be - dient ſich anderer Mittel Nein, was ich ſehe, ſind keine Menſchen, Unſinnige ſind es. O ihr Tho - ren, hoͤrt mich, hoͤrt den fliegenden Mann, der euch mit einem Hagel von Steinen vertilgen und eure un - ſinnigen Anfuͤhrer vernichten kann; hoͤrt mich ihr Thoren! zwanzig, dreyſſigtauſend von euch werden fallen im Gefechte, und wenn der Tod ſie hingeriſ -ſen,108ſen, welche von beyden Parteyen hat denn Recht? die Staͤrkſte ohnſtreitig: Einer blinden Gewalt wollt ihr Elende alſo die Entſcheidung eurer Vortheile uͤberlaſſen! Mit Verlaͤugnung eurer Vernunft, die den Menſchen der Gottheit naͤhert, wollt ihr euch als Gotteslaͤugner oder vielmehr als das Vieh betra - gen? O ihr Thoren! und ihr habt Geſetze, welche die Moͤrder und Raͤuber zum Tode verurtheilen! Die erſten, die grauſamſten Meuchelmoͤrder, tauſend Raͤder und tauſend Scheiterhaufen wuͤrdig, ſind eure Feldherrn, im Begriff durch ihren Befehl zum Mor - de, die Natur zu ſchaͤnden, die Gottheit zu laͤſtern, indem ſie der Ungerechtigkeit opfern; den Menſchen zu erniedrigen, indem ſie ihn mit Vernunft und mit Wuͤrde im Ausdruck begabt, handeln machen, wie das Thier handelt. Aber o ihr verabſcheuungswuͤr - digen Elenden, ihr fuͤrchtet die Vernunft; thaͤtet ihr dies nicht, ihr wuͤrdet ſie gebrauchen, auf ihren Aus - ſpruch hoͤren, oder wenn ihr zu ſehr eingenommen, zu ſehr verblendet waͤret, wenigſtens unpartheyiſchen Schiedsrichtern euch uͤberlaſſen. Doch ihr ver - ſchmaͤht Vernunft und Gerechtigkeit. Gleichwohl iſt Gott die Gerechtigkeit ſelbſt. Von ihm fallt ihr daher ab! Elende! und ihr habt Geſetze wider die Gottesverlaͤugner, wider die Moͤrder! ihr habt Got - tesdienſt, Prieſter und Altaͤre! Jſt es ein Spott? haltet ihr euch uͤber die Gottheit auf? Jhr ſeyd keine Menſchen, ich verkenne euch! nein, ihr ſeyd keine Menſchen! Kaͤmpft, und den Augenblick richt ich meinen Angrif wider die Vornehmſten der beyden Armeen; ihr ſtrafbares Leben bezahle denSchimpf,109Schimpf, den ſie der Natur anthun. Wagt es nur anzufangen! Jch der fliegende Mann, befehle euch, euch gegen einander zu erklaͤren, eure Beſchwerden einander vorzulegen, und Genugthuung zu fodern, wie es vernuͤnftige Weſen thun muͤſſen. Diejenige Nation, welche ſich nicht was Recht iſt gefallen laͤßt, ſoll ſogleich durch die Verachtung der ganzen Welt ge - brandmarkt werden: ergreift ſie zuerſt die Waffen; ſo ſollen alle uͤbrige Voͤlker, ſie, als ein wildes Thier zuruͤck treiben, bis ſie ihre Vernunft wieder erlangt.

Gut! mein Sohn, bleiben ſie dabey! ſchrie der alte Herr auſſer ſich vor Freuden, den Gemahl ſeiner Tochter als Schiedsrichter der Nationen, ia ſogar der Kriegsheere zu ſehn.

Jch der fliegende Mann, fuhr Victorin fort, will fuͤr diesmal das Amt eines Schiedsrichters zwi - ſchen euch uͤbernehmen, fertigt zweckmaͤſſige kurze und deutliche ganz der Wahrheit angemeßne Aufſaͤtze ab; legt ſie auf dieſen Felſen hier; ich will ſie abho - len, und euch meine Entſcheidung daruͤber ſagen.

Sehn ſie, mein Herr und Vater, dies iſt die Anrede, welche ich in voraus gefertigt, und die ich vielleicht einmal halten werde.

Sie iſt ſehr ſchoͤn, mein Sohn! und ich wuͤrde mich beſonders freuen, wenn du dem Vaterlande ge - gen die verdammten Englaͤnder dienteſt: aber das wichtigſte und das nothwendigſte iſt die Errichtung deines Koͤnigreichs in den Suͤdlaͤndern. Der Haupt -mann110mann Halley koͤmmt zwar daher (1700:) und hat nichts der Rede werth alda gefunden; aber er kann ſich geirret haben, und du wirſt es hundertmal beſ - ſer als er ſehn. Alsdann wird meine Tochter eine wirkliche Koͤnigin ſeyn. Vor Freuden ſtand der Al - te auf, um ſeinen Schwiegerſohn zu umarmen

Mit ſolchen Dingen unterhielt Victorin ſeinen Schwiegervater waͤhrend ſeines Aufenthalts auf dem unbeſteiglichen Berge. Endlich nach acht Tagen trug er den guten Herrn gegen zehn Uhr des Abends wieder nach ſeinem Wohnſitz hin. Seine ganze Fa - milie begleitete ihn; im Schloſſe merkte niemand was davon: Seine Tochter und Enkel brachten ihn ins Bette; umarmten ihn und kehrten auf ihren Berg zuruͤck.

Wie ſtaunten die Bedienten des Herrn von B-m-t nicht, als ſie den andern Morgen ihren Herrn ſeine Pfeife Taback auf dem Balcon rauchen ſahen: kaum trauten ſie ihren Augen, und hielten ihn fuͤr eine Erſcheinung. Aber bald uͤberzeugte ſie ſein lermender Ton, mit dem er alle zum Empfang ſeiner Befehle rufte, von der Wirklichkeit ſeiner Ruͤckkunft. Doch wagt es kein Menſch ihn deshalb zu fragen, denn der gute Herr war ein wenig ſtolz, auſſer eine alte Ausgeberin, die noch um einige Jahr laͤnger im Hauſe war als ihr Herr.

J gnaͤdiger Herr! wenn ſind ſie denn zuruͤck - gekommen?

Geſtern Abend meine beſte.

Es hat ſie ja kein Menſch geſehn?

Zum111

Zum Henker, warum ſchlaft ihr alle ſo feſt, daß man mein ganzes Schloß mit euch forttragen koͤnnte.

Jſt ihre Reiſe gluͤcklich geweſen, gnaͤd’ger Herr?

Recht gluͤcklich, meine Beſte; ich habe meine Tochter, meine Enkel, meinen Schwiegerſohn ge - ſehn: ach! einen Schwiegerſohn. kurz er ge - faͤllt mir auſſerordentlich und im ganzen Koͤnigreiche haͤtt ich keine ſo vortheilhafte Heyrath finden koͤn - nen.

So, gnaͤdger Herr! deſto beſſer, deſto beſſer, mein theurer Gebieter! man darf zwar dem Gerede nicht trauen, aber jedermann haͤlt Victorin dafuͤr!

Nach Belieben! Gnug, ein Fuͤrſt hat meine Tochter geheurathet, und im kurzen wird ſie noch mehr als Prinzeſſin ſeyn.

Gottlob mein Herr!

So iſts meine Beſte, aber geht an eure Ar - beit, und laßt mich mit wichtigern Dingen beſchaͤf - tigen.

Jch glaube, daß der gute Herr an dem Geſetzbuche fuͤr das kuͤnftige Koͤnigreich der Koͤnigin ſeiner Toch - ter arbeiten wollte; aber ſeine Gedanken, die ohne Zweifel ſehr ſchoͤn waren, ſind nicht bekannt worden. Wir kehren zum unbeſteiglichen Berge zuruͤck.

Chriſtine hatte zuweilen dem Geſpraͤche ihres Va - ters mit ihrem Gemahl, uͤber die kuͤnftige koͤniglicheWuͤr -112Wuͤrde zugehoͤrt. Nach der Abreiſe des guten Herrn fragte ſie beym erſten ruhigen Augenblicke Victorin mit Laͤcheln: Ob denn alles das, was er von den Suͤdlaͤndern und von einer Jnſel Tinian, Fernandez geſagt, ihm ein Ernſt ſey?

Wie Ernſt! meine beſte Gattin, mein voͤlliger! ich wuͤrde doch deinen Vater nicht beluͤgen.

Auch du glaubſt, daß wir dort gluͤcklicher als hier ſeyn werden?

Es iſt nicht die Rede vom Gluͤck, mein liebes Weib, das find ich uͤberall wo du biſt; ſondern der Ehre und des Nutzens wegen; wir werden ein neues Volk gruͤnden, das vielleicht einmal beruͤhmt ſeyn wird; und wollen ihm Kuͤnſte und Wiſſenſchaf - ten gleich ſo beybringen, daß es ſie nicht wieder verliere.

Und doch, mein Lieber, fuͤrcht ich ſehr, daß dieſer groſſe Plan nicht ganz ausfuͤhrbar ſey, denn vors erſte ſagt mir die geſunde Vernunft, daß bey Errichtung einer groſſen Geſellſchaft, du auch alle in der Welt zerſtreuten Laſter, mit dahin verſetzen mußt, ſonſt werden deine Buͤrger bey ihren beſchraͤnk - ten Ausſichten und Tugenden der Raub der erſten eu - ropaͤiſchen Nationen, die ſie entdecken werden, du muͤßteſt ſie zu Kriegern, das heißt zu Laſterhaften ma - chen, damit ſie nicht Sklaven wuͤrden; es wuͤrde der Schiffe zu ihrer Handlung beduͤrfen; begnuͤgten ſie ſich mit den Fruͤchten und den Grenzen ihres Lan - des, ſo glaub ich wuͤrden ſie nach und nach verwil -dern.113dern. Jch bemerke ſogar, daß auch hier zwar Un - ſchuld und Befreyung von Laſtern herrſcht, aber daß auch wenig Betriebſamkeit da ſey, und ohne dei - ne Geſetze, und angeordnete Geſchaͤfte, kurz, oh - ne dich, die Seele der Bewohner des unbeſteiglichen Berges, wuͤrden ſie bald einſchlaͤfern.

Du urtheilſt ſehr richtig, liebſte Gattin, und ich kenne deinen Verſtand; aber wenn ruͤhmliche Un - ternehmungen ohne Wagnis, Gefahr und Muͤhe waͤ - ren, wo waͤre denn das Verdienſt? Jn Ueberſtei - gung derſelben beſteht eben der Ruhm und auf ihn hoff ich: uͤbrigens haben wir Kinder, fuͤr welche die - ſe Einrichtung hier zu enge wird. Jch will ſogleich auf die Endeckung meiner Jnſel, oder Halbinſel, dies macht nichts aus, denken; nur muß ſie unbe - voͤlkert oder wenigſtens von keinen maͤchtigen Natio - nen, denen unſere Nachbarſchaft beſchwerlich ſeyn moͤchte, bewohnt ſeyn. Find ich keine von der lez - tern Art, ſo werde ich mich wohl huͤten, ſie den Eu - ropaͤern zu entdecken. Jch werde mir Muͤhe um ein fruchtbares Land zwiſchen dem vierzigſten oder fuͤnf und vierzigſten Grade geben, welche nach den Reiſe - beſchreibern, die ich geleſen, ohngefaͤhr dem funfzig - ſten auf unſerer nordlichen Halbkugel gleich kommen ſollen; denn auf dieſer Breite ſind die Menſchen mehr Menſchen. Haben wir uns denn recht eingerichtet, dann will ich zu dieſen Voͤlkern Kuͤnſt und Wiſſen - ſchaften bringen; aber mit groͤßter Sorgfalt werd ich verbitten allzu weite Schiffahrt vorzunehmen, ih - re Kuͤſten zu verlaſſen und nur ſehr wenig uͤber died. fl. Menſch. HMittags -114Mittagslinie hinaus zu gehen. Die groͤßte Beſchwer - lichkeit auf dieſer Reiſe wird mir die Trennung von dir, geliebte Gattin, ſeyn: aber ich laſſe dir unſern aͤlteſten Sohn und unſre Tochter zuruͤck. B-m-t ſoll hier meine Stelle vertreten, er mag oͤfters ihren und meinen Vater holen, den ich mit Bedacht nicht noch vorher ſehen will; ſie fuͤhlen es ſelbſt, ich wollte die Zaͤrtlichkeit ihres Vaters erſparen, und ihm die Freyheit laſſen, von ſeinem Schwiegerſohn in den ihm beliebigen Ausdruͤcken zu ſprechen.

Aber willſt du denn ſo bald fort?

Jch mache ſchon Anſtalt: Wir muͤſſen dazu weit ſtaͤrkere Fluͤgel haben, und die laͤnger aushalten, um unſre Lebensmittel mit fortzubringen: ein paar leichtere nehmen wir mit zum Gebrauch im Lande, und bey der Jagd.

Chriſtine war uͤber dieſe ſchleunige Abreiſe ſehr betruͤbt: aber ihrem Vater machte ſie ſo viel Freude, daß Victorin ſich Muͤhe gab, von ihr zu erlangen, daß er gegen die Mitte des Septembers mit ſeinem juͤngſten Sohne, benetzt mit Chriſtinens, des aͤlte - ſten Sohnes und der liebenswuͤrdigen Sophie Thraͤ - nen abreiſte. Freudig gab ihnen der Schwiegervater ſeinen Segen mit.

Die beyden fliegenden Maͤnner, mit ihren ſtar - ken Fluͤgeln verſehn, erhoben ſich von der ſteilſten Spitze des unbeſteiglichen Berges um zehn Uhr Abends, in die Luft. Jeder trug einen Korb mit Le - bensmitteln an dem ledernen Gurte, um ſeine Len - den, welches ihnen von unten das Anſehn zweyunbe -115unbeſchreiblich groſſer Voͤgel gab. Sie giengen gerade nach Suͤden, und nahmen ihre Richtung nach dem Mittagspunct, der durch die Sterne im Schwanze des Steinbocks ſich auszeichnet. Jn acht Naͤchten erreichten ſie die Mittagslinie, und da ſie ſich nach Maaſſe der Hitze immer hoͤher ſchwangen, fiel ihnen dieſe nicht beſchwerlich. Jm Gegentheil hatten ſie in der Nacht oft Muͤhe ſich vor der Kuͤhle zu ſchuͤtzen; denn am Tage ruhten ſie auf ſteilen Fel - ſen aus, und ſchliefen mit dem Kopf auf ihren Korb gelegt.

Wenig Perſonen konnten ſie auf dieſer Reiſe be - merken: Dunkelheit bey ihrer Abreiſe und die groſſe Hoͤhe, in welcher ſie ſich alsdann hielten, fuͤhrte ſie den Augen der Landleute wie eine kleine Wolke vor - bey. Die Stadtlente ſahen davon gar nichts, ausge - nommen zu Cairo in Aegypten, wo die fliegenden Maͤnner ſich niederſenkten, um ein groſſes Krokodil, das auf dem Nil ſchlief, zu betrachten. Jhre Er - ſcheinung ſetzte die ganze Stadt, Muſelmaͤnner, Copten und Juden in ein allgemeines Schrecken. Die erſten glaubten, daß Mahomet ſelbſt kaͤme, um ſie wegen ihres oͤftern Aufruhrs zu beſtrafen; die zweyten dachten das Ende der Welt ſey vorhanden; die Juden aber oͤfneten alle Fenſter und fingen an zu ſchreyen, Meſſias! Meſſias! Adanai! doch die einen ſowohl als die andern ſtauneten ſehr, als ſie die beyden fliegenden Maͤnner ohne Aufenthalt vor - beyziehn, und auf die hoͤchſte Pyramide ſich nie - derſetzen ſahen.

H 2Vic -116

Victorin und ſein Sohn gelangten in der zwoͤlf - ten Nacht gegen Anbruch der Morgenroͤthe an den Wendekreis des Steinbocks, deſſen Geſtirn gera - de uͤber ihrem Zenith ſtand. Die folgenden Tage durchwanderten ſie ungefehr zwanzig bis fuͤnf und zwanzig Grad, und ſuchten unter der naͤmlichen Li - nie, wo Frankreich liegt, ein ihnen zutraͤgliches Land. Sie wurden bald eine ſo betraͤchtliche Jnſel gewahr, daß ſie ſolche auf dieſer erſten Reiſe fuͤr eine Halbinſel hielten; weil ſie aber bewohnt war, lieſſen ſie dieſelbe liegen, und entdeckten ein zwanzig Meilen davon unter dem 00 Grade ſuͤdlicher Breite und 00 der Laͤnge, eine andere, ſo groß als England, Schottland und Jrrland zuſammen. Sie lag mit Frankreich unter einer Mittagslinie, folglich ſind die Tagesſtunden daſelbſt die naͤmlichen, und blos die Jahreszeiten einander ganz entgegengeſezt.

Erſte Jnſel. Die Chriſtinen - oder naͤchtliche Jnſel.

Victorin und ſein Sohn durchflogen dieſe Jnſel etliche Tage lang: ſie war mit Holz bedeckt; doch fand ſich eine Art von Wieſen und eine unzaͤhliche Menge friedlicher Thiere, als Auer - und Buͤffeloch - ſen, Ochſen, eine Art von Hirſchen und Tannenhir - ſchen, wilde Ziegen, ein Thier das dem Zebra oder Eſel ſehr glich; ein anderes, dem Pferde aͤhnlich; von fleiſchfreſſenden Thieren merkten ſie nur den Tieger oder Jagals von der allerkleinſten Gattung, die troz ihrer ſtarken Anzahl die groſſen Thiere nur dann an -fielen,117fielen, wenn ſie vor Alter nicht mehr fortkonnten. Menſchen ſahen ſie nicht: Erſt am dritten Tage ge - gen die Abenddaͤmmerung entdeckte der junge Alexan - der ein dem Menſchen nahekommendes Geſchoͤpf. Es war eine Art von nackendem Manne der ſie beim Ein - gange einer Hoͤle betrachtete. Er zeigte ihn ſeinem Vater, der durch Huͤlfe eines Nachtglaſes*)Dies iſt eine Art von Fernglas, welches man in England erfunden hat, um des Nachts die Schiffe zu entdecken. Dulis. , und indem er von der Feder, die ſich unbeweglich zu er - halten diente, Gebrauch machte, noch mehr nacken - de Maͤnner und Weiber**)Sie waren nackend, mit einer ganz beſondern Art von Haaren bedeckt, und hatten ſehr lange Augen - braunen; da ſie die Augen wegen des anbrechenden Tages zumachten, ſchienen ſie um ſich zu tappen., die auf dem Bauche la - gen, entdeckte.

Es ſind auf dieſer Jnſel blos Wilde, ſagte Vic - torin zu ſeinem Sohn; und ihre Anzahl ſcheint mir geringe zu ſeyn, hier koͤnnen wir uns feſte ſetzen. Wir wollen einen bedeckten und feſten Ort ausſuchen, wo wir unſre erſten Einwohner niederlaſſen koͤnnen.

Sie machten ſich daher auf den Weg, die Anhoͤ - hen der Jnſel zu unterſuchen, flogen mit ihren leichtern Fluͤgeln ſehr niedrig, doch nicht ohne Vor - ſicht; und fanden einen Berg, den ſie fuͤr gaͤnzlich wuͤſte hielten, und auf welchem eine Ebene und ein Teich war. Hier lieſſen ſie ſich nieder und verwahr -H 3ten118ten ihre Koͤrbe in einer unzugaͤnglichen Grotte, die ſie von einigen kleinen Jagaln reinigten, und wo ſie die Nacht hinbrachten.

Den andern Morgen gingen ſie mit tuͤchtigen Saͤbeln und Piſtolen verſehn auf die Jagd. Sie er - legten etliche Voͤgel, kochten ſie in einem mitgebrach - ten Gefaͤße, und tranken die Bruͤhe davon, welche ſie ſehr ſtaͤrkte, und wodurch ſie ihren Zwieback zu erſparen ſuchten. Auch fanden ſie eine Art von Brodfrucht, der Kaſtanie aͤhnlich im Geſchmacke: dieſe ſammleten ſie, nachdem ſie von der Unſchaͤdlich - keit derſelben, dadurch, daß ſie den Thieren ſolche zu freſſen gegeben, ſich uͤberzeugt hatten.

Mit jedem Tag wagten ſie mehr, und gingen immer etwas tiefer hinein, indem ſie ſorgfaͤltig Zei - chen an die Baͤume machten, ihre Grotte wieder zu finden. Die Jagals ſchonten ſie nicht, ſondern toͤd - teten ſie mit ihren Saͤbeln, von den uͤbrigen Thie - ren, erlaſen ſie ſich nur die nothwendigſten. End - lich am achten oder zehnten Tage ihres Aufenthalts auf dieſer Jnſel fanden ſie einen gebahnten Weg. Sie verfolgten ihn, horchten aber bey jedem Schrit - te. Er fuͤhrte ſie zu einem Springwaſſer, umlagert von einer unzaͤhligen Menge unbekannter Thiere, die bey ihrem Anblick eine ſtaunenvolle Bewegung mach - ten, doch ohne zu fliehen. Sie verfolgten dieſen Weg, uͤberzeugt daß menſchliche Wohnungen nicht weit ſeyn koͤnnten, und bald kamen ſie an deſſen Ende. Es war eine Grotte, mit Zweigen von Baͤumen und mit groben behauenen Steinen verſchloſſen. Sieblick -119blickten hinein, aber die Dunkelheit in ihr war ſo dicht, daß ſie nichts entdecken konnten. Doch das Geraͤuſch einiger Bewegung ſetzte ſie in Furcht; ſie ſchwangen ihre leichten Fluͤgel und entfernten ſich ge - ſchwind. Bald erreichten ſie wieder ihren Berg, oh - ne etwas entdeckt zu haben.

Aber mein Vater, ſagte Alexander, mich duͤnkt, daß die Leute hier den Fledermaͤuſen gleichen; am Tage ſehn wir nichts und uͤberall herrſcht die tiefſte Stille; und doch verſichre ich, alle Naͤchte Stim - men und Menſchengeſchrey bemerkt zu haben; laſſen Sie uns die kommende Nacht wachen, und uns ietzt niederlegen, um gegen Mitternacht aufzuwecken.

Auch Victorin war ſchon darauf gefallen: aber konnt er wohl errathen von was fuͤr einer Art die Menſchen auf der Chriſtineninſel dieſen Namen hatte er ihr gegeben waren? Der Einfall ſeines Sohnes gefiel ihm, und um Mitternacht ſtellten ſie ſich beyde an einen ſichern Ort, wo ſie alles beobach - ten konnten.

Kaum war dies geſchehen, als ſie fuͤnf bis ſechs Jnſulaner mit Weib und Kindern nach ihnen zukom - men ſahen. Dieſe Wilden betrachteten die Grotte und ſprachen etliche Worte mit einer kirrenden Stimme ungefaͤhr wie die Maͤuſe, aber viel ſtaͤrker. Aus ih - ren Unterredungen und Geberden konnte Victorin ab - nehmen, daß ſein Aufenthalt den Einwohnern kein Geheimniß ſey; aber woruͤber er am meiſten ſtaunte, war, daß ſie eben mit der Lebhaftigkeit liefen, und die Fruͤchte eben ſo ſammleten, als wenn ſie hell ge -H 4ſehn120ſehn haͤtten. Sie hatten hoͤlzerne Haaken, um die Aeſte an ſich zu ziehn. Jhnen folgte eine Menge andrer, die ſehr freundſchaftlich mit einander ſpra - chen. Endlich ſtellten ſie ein Mahl von Brodfrucht an, und als die Morgenroͤthe die Ruͤckkehr des Ta - ges verkuͤndigte, bagaben ſie ſich wieder weg.

Die beyden Europaͤer folgten ihnen von ferne und ſahen ſie in ihre Hoͤle gehen. Jndeß ſie dieſem ſonderbaren Betragen zuſahen, ſtieſſen zwey Wilde auf ſie, Mann und Frau, die herum tappten, ob es gleich ſchon hell zu tagen anfing; ſie erſchraken daruͤ - ber nicht wenig, doch faßten ſie ſich bald, und da ſie dieſe allein ſahen, ergriffen ſie den Mann, unge - achtet ſeines kleinen Maͤuſegeſchreys und fuͤhrten ihn auf ihren Felſen. Unterwegens begegneten ſie einem andern Wilden, den ihr Gefangener nicht ſah, ob er ſchon ziemlich nahe war, aber ſie lieſſen ihn gehn, und bemerkten, daß er auch den Weg tappend und mit geſchloſſenen Augen aufſuchte.

Sobald ſie auf dem Felſen angekommen waren, forſchten ſie ihren Wilden aus. Es war ein junger etwa zwanzigjaͤhriger Menſch, roth und weiß und mit ſehr langen Augenbraunen. Er ſahe ein wenig, als er in die Felſengrotte kam, und ließ viel Schrecken ſpuͤren. Victorin und ſein Sohn ſuchten ihm Muth einzuſprechen, indem ſie ihm Zeichen der Freund - ſchaft machten und ihm von ihrem Fruͤhſtuͤck anbo - ten; aber er ſchien unempfindlich gegen alles und ſehn - te ſich nach Schlaf. Man legte ihn auf ein Lager von Moos, wo er ohne Verzug einſchlief, ohne Re -gung121gung bis zur Abenddaͤmmerung blieb, und dann ſehr munter erwachte. Victorin und ſein Sohn kamen zu ihm, aber er bezeigte noch viel Furcht; und ſuch - te nur einen Ausgang, um zu entkommen. Sie boten ihm gekochtes Fleiſch und Brodfrucht zu eſſen dar, aber auch dies ruͤhrt er nicht an, und ſchien zu zittern.

Jch merke wohl, mein Sohn, ſprach Victorin, was die Wilden dieſer Jnſel ſind. Nachtmenſchen, die, wie man glaubt, nur hie und da einzeln zufaͤlli - gerweiſe angetroffen werden: aber doch ſcheint mir dies wuͤrklich eine eigene Gattung, welche durch die uͤbri - gen Menſchen uͤberall, wo ſie ſolche angetroffen, vertil - get worden, und blos noch in denen Gegenden ſich auf - haͤlt, wo ſie ſich allein befunden hat. Wohlan, wir wollen durch ein ausdruͤckliches Geſetz verbieten, ih - nen irgend einen Schaden zuzufuͤgen. Sie ſcheinen nicht boshaft: wir wollen dieſem ſeine Freyheit wie - dergeben, dann auf unſrer Hut ſeyn, und ſehn was daraus erfolgen wird.

Victorin oͤfnete augenblicklich den Ausgang der Grotte und der Nachtmenſch floh pfeilſchnell davon. Die beyden Europaͤer, angethan mit ihren Fluͤgeln folgten, nachdem ſie ihre Koͤrbe auf einen unbeſteigba - ren Felſen gebracht hatten, ihrem Gefangenen, der bald einen Haufen ſeiner Landsleute antraf. Er blieb ſtehen, und ward von den andern, die alle mit einer auſſerordentlichen Heftigkeit anfingen zu kirren, umringt. So oft der Gefangene kirrte, antworte - ten die uͤbrigen mit einem ſehr durchdringenden Schrey. Endlich kirrte der Gefangene wohl zehnH 5Minu -122Minuten lang ganz allein, worauf alle die uͤbrigen auf einmal kirrten und zuſammen, feſt an einander geſchloſſen, auf die Grotte zukamen. Aber keiner dachte drauf Gewalt zu brauchen; ſie ruͤhrten nichts an, und bezeigten keine Luſt zu Oefnung der Hoͤle mit Gewalt. Sie guckten blos durch einige Spal - ten und zeigten an, daß ſie die beyden Fremden nicht ſaͤhen.

Victorin und ſein Sohn ſchloſſen daraus, daß dieſe Menſchen ſehr ſanft, und leicht mit ihnen zu le - ben waͤre, doch hielten ſie auch ihre Zaͤhmung fuͤr ſehr ſchwer. Sie huſteten hierauf beyde, und zeigten ſich um bemerkt zu werden. Der Haufen gerieth nun in eine ſonderbare Bewegung, erſtaunt ſahen ſie auf, bereitet zur Flucht; aber der junge Menſch, ihr vo - riger Gefangener, ſchien ſie zu beruhigen; er gieng ſo gar etliche Schritte voran, und lud den ganzen Haufen ihm zu folgen ein, aber niemand hatte das Herz. Victorin zeigte ihnen daher von ferne gekoch - tes Fleiſch und Brodfrucht. Sie ſchienen auch Ver - langen darnach zu haben, und einer den andern auf - zumuntern, es zu nehmen, aber keiner wagte den Anfang. Selbſt der Gefangene, der ſchon ein zwan - zig Schritte gemacht hatte, ward von den uͤbrigen zuruͤck gerufen, und kehrte um. Victorin und ſein Sohn ſchwangen endlich, um ſie noch mehr in Stau - nen zu ſetzen, ihre Fluͤgel, und erhoben ſich in die Luft. Sogleich ſtieſſen die Nachtmenſchen ein ſchre - ckenvolles Kirren aus und entflohen ſaͤmtlich. Rund herum, ſo wie ſie weiter kamen, hoͤrte man ein ſehrdurch -123durchdringendes Gekirre, und beyde Europaͤer bega - ben ſich nach dieſem Verſuch bis zum Tage zuruͤck in ihre Grotte.

Verſichert, daß ſie, ſo lange die Sonne am Ho - rizont ſtuͤnde, von den Einwohnern der Jnſel nichts zu fuͤrchten haͤtten, unterſuchten ſie ſolche mit mehrerm Zutrauen, bald fliegend, bald gehend, und fanden ſie fruchtbar.

Jndem ſie in der Luft waren, erblickten ſie ein vom Sturm verſchlagenes Schiff. Sie faßten den Entſchluß, dieſen Ungluͤcklichen, die dem Untergan - ge in Meereswogen nahe waren, einigen Beyſtand zu leiſten, und flogen auf der Oberflaͤche hin. Kaum waren ſie angelangt, als das Schiff wider einen Fel - ſen lief und ſcheiterte. Sofort lieſſen die beyden flie - genden Maͤnner ſich auf den Felſen nieder und ſchrien den Schiffsleuten auf franzoͤſiſch zu, nicht zu er - ſchrecken, auf den Boden zu ſteigen, um ſich an den Seilen anzuhalten. Dann befeſtigten ſie an des Maſtbaums Spitze ein Seil und zogen mit der heftig - ſten Anſtrengung ihrer groſſen Fluͤgel das Schiff nah an einen trocknen Ort des Felſen: hier befeſtigten ſie es am Maſt, und riethen den Schiffsleuten, durch Huͤlfe der Seile darauf zu klettern, welches ſehr be - quem geſchehen konnte.

Zum Gluͤck war dies ein franzoͤſiſch Schiff. Jn der erſten Minute hatte der Anblick eines unver - meidlichen Todes gemacht, daß man die Befehle der fliegenden Maͤnner ohne groſſe Aufmerkſamkeit be - folgte: man floh vor dem Tode, und ſah nur ihn:aber124aber als man auf dem Felſen ein wenig ruhiger ward, da geriethen Schiffsvolk und Matroſen ins aͤuſſerſte Erſtaunen, viertauſend Meilen von ihrem Lande Leute zu ſehn, die franzoͤſiſch ſprachen, fliegen konnten und ihnen Huͤlfe leiſteten! Doch verſchob man jede Unterſuchung, denn noch war die Gefahr nicht ganz voruͤber.

Die beyden fliegenden Maͤnner brachten alle Per - ſonen, zwey und zwey, alſo vier auf jedem Fluge, auf die Chriſtineninſel ans Land. Als jedermann in Sicherheit war, ward das Meer ſtille; und als das Schiffsvolk ausgeruht hatte, wurden vier davon wieder auf das Schiff getragen, um die Chaloupe ins Meer zu laſſen, um von den Lebensmitteln, was moͤglich waͤre, zu retten. Man fand verſchiedene Kuͤſten mit noch unverſehrtem Zwieback, Wein, Ge - treide, Brandwein und allerhand Geraͤthe. Blos das Pulver war gaͤnzlich verdorben. Auch rettete man viele Waaren, die zwar naß geworden, aber noch brauchbar waren. Erſt als man alles was man konnte vom Schiffe geholt hatte, zerbrach das Meer es vollends und die Schifbruͤchigen fingen an die fliegenden Menſchen zu betrachten.

Dieſe entdeckten ihnen, wer ſie waͤren, und um mehrere Achtung ſich zu erwerben, redeten ſie mit Bedacht immer vom Herrn von B-m-t, fuͤr deſſen Sohn und Enkel ſie ſich ausgaben.

Auf dem ganzen Schiffe waren nur zwey Fran - enzimmer. Man ließ die juͤngſten und liebenswuͤr - digſten von den Offizieren, welche die fliegenden Maͤn -ner125ner ausſuchten, um ſie loſen, und alle uͤbrigen muß - ten ſchwoͤren, ihnen ihre Gattinnen im ruhigen Be - ſitz zu laſſen. Hierauf machten die fliegenden Maͤn - ner ihnen eine Beſchreibung von den Einwohnern die - ſer Jnſel, und ſchlugen dem Schifsvolke vor, ſich der Maͤdchen der Nachtwilden zu bedienen, weil dar - aus gewiß eine vermiſchte Gattung entſtehen wuͤrde, die man zahm machen koͤnnte. Alles dieſes wurde in der Folge ins Werk gerichtet, denn die erſtern Naͤchte dachte man blos auf den Genuß der Ruhe, ſo wie am Tag auf die Verſchaffung einiger Be - quemlichkeit.

Mit der Zeit bearbeitete man auch mit den Haͤn - den das Feld, nach der neuen Feldbaukunſt, und ſaͤete einen Theil von dem aufm Schiffe befindlich ge - weſenen Gedreide hinein. Bis zur Erndte beſchloß man ſparſam mit dem Zwieback umzugehn, und von Brodfrucht, Wildpret und Milchſpeiſen zu leben; denn man merkte bald, daß die wilden Ziegen und Kuͤhe ſich zahm machen lieſſen. Man fand auch ei - ne Art Voͤgel den Perlenhuͤhnern aͤhnlich, welche ih - nen Eyer verſchaften: man legte einen Garten an und ſaͤete einiges vorraͤthige Geſaͤme hinein, und die fliegenden Maͤnner beſchloſſen alle Arten derſelben da - hin zu ſchaffen.

Als dieſe neue Kolonie im Gange war, begaben die Schifsleute ſich zur groſſen Hoͤle der Nachtmen - ſchen und ſuchten ſich da die ſchoͤnſten Maͤdchen aus, die ſie am hellen Tage wegfuͤhrten, damit ſie im Dunkeln deſto folgſamer waͤren. Das Vergnuͤgenmachte126machte dieſe ſonderbaren Weiber bald zahm die Mannsperſonen hingegen ſchienen unverbeſſerlich, zitter - ten ſogar beym Anblick der Tagmenſchen und ſchienen blos auf die beiden iungen Europaͤerinnen mit Vergnuͤ - gen zu ſehn. Nachdem die Schifbruͤchigen ſich wieder in einem ertraͤglichen Zuſtande befanden, meldeten ih - nen Victorin und ſein Sohn, daß ſie nach Europa zu - ruͤckkehren, und das, was ſie zu dieſer Reiſe bewogen, in Erfuͤllung bringen wollten. Jeder trug ihnen das, was er am meiſten wuͤnſchte, auf, und ſie reiſten mit einer Menge Beſtellungen ab.

Aufm Ruͤckwege gingen ſie uͤber die Diamant - bruͤche des Koͤnigreichs Golconda, und ſuchten, nach - dem ſie Wache und Kaufleute in Furcht gejagt hat - ten, ſich da einige von den groͤßten Steinen aus. Dann ſchwangen ſie ſich wieder in die Luͤfte, erreichten England, verkauften ihre Juwelen und ſchaften ſich da - fuͤr ein praͤchtiges Schiff an, welches ſie in den Ha - fen nach Breſt fuͤhrten und daſelbſt vor Anker liegen lieſſen.

Endlich kehrten ſie auf den unbeſteiglichen Berg, ungefaͤhr den 25. Maͤrz zuruͤck, nachdem ſie ſechs Monat abweſend geweſen waren. Sie fanden da - ſelbſt den guten Herrn von B-m-t, der gar nicht weg kam, um die Unruhe ſeiner lieben Tochter zu ſtil - len. Es iſt unnoͤthig etwas von ihrer Aufnahme zu ſagen. Aber der gluͤckliche Erfolg ihrer Reiſe ver - urſachte beſonders dem alten Herrn eine unausſprech - liche Freude. Und als er den vortheilhaften Ge - brauch, den ſein Schwiegerſohn von dem Schiffbruchedes127des franzoͤſiſchen Schiffes gemacht hatte, und die von den Schifsleuten mit den Nachtweibern bereits voll - zogene Heyrathen erfuhr, konnt er ſich nicht laͤnger maͤßigen, ſondern war der erſte, der vor ſeiner Toch - ter die Knie zur Erde beugte, ſie als Koͤniginn und mit dem Titel Majeſtaͤt begruͤßte. Um ſeine Wonne zu vollenden, ſagte man ihm von den golcondiſchen Diamanten, und von dem gekauften Schiffe, auf welchem man mit einmal alle Einwohner des unbe - ſteiglichen Berges und noch mehr andere Perſonen, Handwerksleute und Kuͤnſtler, denen man jedoch ih - re Beſtimmung nicht ſagen wuͤrde, wegfuͤhren koͤnnte.

Der gute Herr wollte nicht zehn Minuten mehr auf dem unbeſteiglichen Berge bleiben; und bat ſei - nen aͤlteſten Enkel ihn auf ſein Schloß zu bringen, um ſolches nebſt allen ſeinen Guͤtern zu verkaufen, und einige Waaren dafuͤr anzuſchaffen.

Alles dieſes geſchah auf eine leichte Art, und um Sie nicht mit Kleinigkeiten, die ſich leicht denken laſ - ſen aufzuhalten, will ich Jhnen ganz kurz ſagen, daß alle, ſobald als moͤglich in einer ſchoͤnen Nacht den unbeſteiglichen Berg verlieſſen; daß zum Empfang der Auswanderer Wagen beſtellt waren; daß Victo - rin den guten Fiſcalprocurator ſeinen Varer, ſeine Bruͤder, Schweſtern, Muhmen und Befreundten, ſo viel er deren hatte, mitnahm; daß alle im Hafen zu Breſt, wo ihr ſchoͤnes Schiff ihrer wartete, an - langten; daß man allda Kuͤnſtler und Handwerker aller Art mit ihren Weibern und Kindern, unter dem Vorwande nach Cayenne zu gehn, einſchifte;daß128daß man bey ſchoͤnem Wetter und gutem Winde abſe - gelte, und als ſie auf die offene See kamen, Victo - rin und ſein Sohn ſich in die Luft erhoben und durch ein an dem Maſtbaum befeſtigtes Seil, das Schiff regierten, wie bey den Alten Caſtor und Pollux; daß ſie durch dieſes Mittel die kuͤrzeſten und bisher unbe - kannten Wege fanden; daß, da ſie ſich keines Com - paſſes bedienten, die Schiffsleute niemals wußten, welchen Weg ſie naͤhmen; daß einer von den drey jungen Victorins, zuweilen auch Sophie nahe am Waſſer mit dem Senkbley in der Hand hinflogen, um die Sandbaͤnke und Felſen zu vermeiden, daß ſie nach einer dreymonatlichen Reiſe gluͤcklich, das heißt ohne Verluſt obgleich nicht ohne Gefahr, auf der Chriſtineninſel anlangten, und davon den uͤbrigen An - bauern, die eben die erſte Erndte gehalten, und die erſten Kinder bekommen hatten, mit unbeſchreiblichem Entzuͤcken empfangen wurden; daß ſie beym Ausſtei - gen ans Land Chriſtinen zur Koͤnigin ausriefen; daß man einen Pallaſt und bequeme Haͤuſer baute; daß jedermann Hand aus Werk legte, das Feld bauete, pfluͤgte, jagte, Brodfruͤchte ſammlete und ſo weiter; daß man auf dieſer Jnſel die Geſetze des unbeſteigli - chen Berges einfuͤhrte, die ſehr gut allda ſich er - hielten, weil Victorin eine Art von Gleichheit be - hauptete, troz ſeines Schwiegervaters, der anfangs Adel, Barone, Grafen, Marquis und ſogar Herzo - ge und Ordensbaͤnder eingefuͤhrt haben wollte, aber bald ſich zurechte weiſen ließ; daß der Fiſcalprocura - tor auch auf Gerichtsbeamte drang; daß man zwar etwas dem aͤhnliches, aber doch in vielen Stuͤcken ab -weichen -129weichendes einfuͤhrte; und endlich, daß die Nacht - weiber eine ganz beſondere Art von Baſtarden zur Welt brachten, die bald mehr bald weniger von den Tagemenſchen hatten; daß man aber dieſe neue Gat - tung durch neue Heyrathen zu vervollkommen hofte, und zu gleicher Zeit das ſaͤmtliche Geſchlecht der Nachtmenſchen ſich ſelber uͤberließ, und den Tagemen - ſchen nur im hoͤchſten Nothfall von ihnen Weiber zu nehmen erlaubte.

So ſtanden die Sachen die ſechs erſten Monate hindurch, nachdem Victorin mit ſeiner Familie ange - langt war; naͤmlich bis zur erſten Erndte, nach wel - cher jeder, der vorher im Felde mit gearbeitet, wie - der zu ſeiner Handthierung, es ſey Kuͤnſten oder Wiſſenſchaften, zuruͤck kehrte.

Die erſte Stadt, oder die erſte Burg der Chri - ſtineninſel enthielt dreyhundert Einwohner, mitgerech - net die auf dem erſten geſcheiterten Schiffe befind - lich geweſenen Perſonen, die vom unbeſteiglichen Ber - ge, welche durch Reinigkeit ihrer Sitten, und Liebe gegen ihre Oberhaͤupter und deren Kinder einen wirk - lichen Adel ausmachten, und endlich die eingeſchiſten Kuͤnſtler und Handwerksleute: das Schiff, welches die eigentlichen Unterthanen Chriſtinens hingebracht hatte, ward der Aufſicht der jungen Leute vom un - beſteiglichen Berge anvertraut mit dem durch Gruͤn - den unterſtuͤtzten Verbot, keinen von den uͤbrigen Einwohnern es beſteigen zu laſſen; auch nahmen zu mehrerer Sicherheit Victorin und ſein Sohn die Se - gel davon ab. Dies Schiff war zur Handlung mitd, fl. Menſch. Jden130den Einwohnern der benachbarten groſſen Jnſel be - ſtimmt, welche Victorin und Alexander entdeckt hat - ten, ehe ſie ſich auf der Jnſel der Nachtmenſchen nie - derlieſſen.

Nach einigen Jahren, als die Kuͤnſtler und Handwerker der Chriſtineninſel ſo viel Geraͤthe ver - fertigt hatten, daß die Einwohner ſie nicht alle ver - brauchen konnten, ſchickten ſie eine Ladung nach der groſſen Jnſel ab. Victorin und ſein Sohn hatten ei - nige Reiſen unternommen, um dieſe ihre naͤchſten Nachbarn kennen zu lernen, zu Folge ihrer Beobach - tungen ward das Schiff mit verſchiedenen Producten und Werken der Kunſt von der groͤßten Vollkommen - heit beladen, kurz mit allem verſehn, was einen Ge - genſtand der Handlung ausmachen konnte; und hier iſt die Kenntniß, welche ſie von dieſer Jnſel erlangten.

Zweite Jnſel. Victorique oder Patagonien.

Die Bewohner von Victorique dies iſt der Name, welchen ſie dieſer groſſen Jnſel beilegten, welche kuͤnftig das Hauptland des fuͤnften Welttheils werden wird ſind alle von der Patagoner Art un - gefehr zwoͤlf bis funfzehn Fuß hoch. Sie ſind ſo ſanft, daß man unter ihnen nicht den geringſten Streit ſieht. Lange betrachtete ſie Victorin und ſein Sohn Alex - ander, eh ſie ſich irgend wo niederzulaſſen wagten: aber als ſie aufs Land kamen, merkten ſie kaum, daß man auf ſie ſaͤhe. Sie entdeckten bald die Ur -ſach131ſach davon, indem ſie neben ſich groſſe Voͤgel von der Art der Landhan fliegen ſahen. Endlich nachdem Vater und Sohn ſich auf einer Anhoͤhe niedergelaſſen hatten, machten ſie Anſtalten, um von da aus eini - ge Wanderungen ins Land hinein vorzunehmen.

Waͤhrend daß ſie dieſe neue Himmelsgegend und ihre Einwohner bewunderten, erblickten ſie ein jun - ges Maͤdchen von etwa zehn Fuß, und zwoͤlf Jah - ren, welche zwey Baͤume umbiegte, und eine Hand ſie zu erreichen ausſtreckte. Sie entfernten ſich ein wenig, und nach Anlegung ihrer leichten Fluͤgel, ſchwangen ſie ſich einige Fuß hoch empor: das jun - ge Maͤdchen nahm einen Stein, um ihn nach ihnen zu werfen; aber eine Frau von zwoͤlf Fuß, wahrſchein - lich ihre Mutter verhinderte ſie, und fing an, die beyden fliegenden Maͤnner anzurufen, wie hier die Landleute die Voͤgel rufen, auf eine Art, die von der franzoͤſiſchen nur durch einen ſtaͤrkern Ton unterſchie - den war.

Victorin und Alexander glaubten zu ihr ſich wa - gen zu duͤrfen, und naͤherten ſich mit Zeichen der Un - terwerfung und Freude. Die Frau ſowohl als das Maͤdchen empfanden daruͤber ein unbeſchreibliches Vergnuͤgen. Victorin ſetzte ſich auf die Schulter der Mutter und Alexander auf der Tochter ihre, die fuͤr Freuden zu huͤpfen ſchien, ohne daß ſie ihn anzuruͤh - ren wagte. Drauf flogen ſie zu verſchiedenenmalen weg, und kamen wieder, folgten den beyden Frauen - zimmern, als ſie fortgingen, und langten bey einem groſſen ganz aus Holz gebauten Hauſe an: hier ſahenJ 2ſie132ſie Maͤnner noch groͤſſer als die Weiber, die viel mit ihnen redten und auf die Europaͤer zeigten. Aber die Maͤnner ſchienen wenig Aufmorkſamkeit auf ſie zu ha - ben. Man ſetzte ſich auf die hier zu Lande gewoͤhn - liche Art zu Tiſche, das heißt jeder nahm ſeinen Platz auf den Balken, die ſtatt der Seſſel dienten, und die Mutter des jungen Maͤdchen theilte Brodfrucht, Wurzeln und uͤberdies eine Art von Teig aus, wovon jeder ein groſſes hoͤlzernes Geſchirr voll bekam. Als dies aufgegeſſen, legte ſich jeder auf Blaͤtter, Moos und auf eben denjenigen Platz hin, den er beym Eſſen eingenommen hatte. Nur das junge Maͤdchen dachte drauf, den beyden fliegenden Maͤnnern etwas Futter zu geben; ſie nahmen es aus ihrer Hand und verur - ſachten dem guten Kinde dadurch eine ſehr lebhafte Freude.

Des andern Morgens machten ſie ſich wieder auf den Weg, denn der Aufenthalt ſchien ihnen da - ſelbſt beſchwerlich. Ein Menſch gewohnt der Koͤnig der Natur zu ſeyn, gefaͤllt ſich nicht bey Weſen, die ihn mit Verachtung einer phiſiſchen Ueberlegenheit, wogegen nichts ihn troͤſtet, zu betrachten ſcheinen: der buͤrgerliche Vorzug eurer Fuͤrſten, ja ſelbſt eu - rer Koͤnige, hingegen macht nur einen ziemlich gerin - gen Eindruck; denn ſobald man die Sachen aus ih - rem wahren Geſichtspuncte betrachtet, troͤſtet man ſich damit, daß man eben ſo viel Kraͤfte beſitze, die naͤmlichen Vergnuͤgungen haben koͤnne, eben ſo viel ſey; und daß ſie ohne den Beyſtand anderer alle un - ſers gleichen ſeyn wuͤrden. Aber ein Weſen, wel -ches133ches zwey bis drey Menſchen in die Hand nehmen, und ſie wie Voͤgel halten kann, ſetzt uns einigermaaſ - ſen herunter. Kein Wunder daher, daß die ehemali - gen Rieſen der alten Welt nach und nach von den klei - nern Menſchen vertilgt worden ſind! Waͤre die Jnſel Victorique mit Europaͤern bepflanzt, die Patagonen, ihre heutigen Bewohner wuͤrden vielleicht nicht uͤber ein drey Jahrhunderte ſich darauf erhalten.

Victorin und ſein Sohn machten bey ihrer Ruͤck - kunſt ihre Entdeckungen bekannt, aber darauf konn - ten ſie noch keine Ausſicht der Handlung gruͤnden. Erſt nachdem drey oder vier Reiſen ſie mit den Pata - gonen und dieſe mit ihnen bekannter gemacht hatten, faßten ſie den Entſchluß ihnen verſchiedene Arbeiteu, wovon ſie ihnen Proben gezeigt und Beyfall erhalten hatten, zu liefern. Vorzuͤglich ſahen ſie darauf, daß ihre Sachen mit der Groͤſſe des Volks, mit wel - chem ſie handeln wollten, uͤbereinſtimmten.

Das mit Waaren beladene Schiff langte alſo bey den Suͤd-Patagoniern an. Sie ſtaunten bey deſſen Anblick, und machten nun von den kleinen Menſchen ſich einen groſſen Begriff, beſonders ſchie - nen ſie daruͤber viel Freude zu haben, daß das ganze Schiffsvolk aus Zwergen beſtuͤnde, die eben ſo wie ſie doch ohne Fluͤgel gebaut waͤren. Man verſtaͤn - digte ſich durch Zeichen; und binnen Monatsfriſt brachte man es zu einem ziemlich wechſelſeitigen Ver - ſtaͤndniß. Nunmehr erwarb der Verſtand, der Fleiß, und die Kenntniſſe der kleinen Menſchen ihnen eine hohe Achtung bey den Patagoniern. Sie be -J 3wun -134wunderten alle unſere Kuͤnſte, alle unſere Erfindun - gen. Und wenn auch einige, ſie als eine Frucht unſrer Schwachheit anſahen, ſo waren doch die uͤbri - gen der groͤßte, obgleich nicht der kluͤgſte Haufe daruͤber entzuͤckt. Beſonders ſchien das Ge - heimniß ſich kuͤnſtlicher Fluͤgel zu bedienen ihnen bewundernswuͤrdig; aber Victorin huͤtete ſich ſehr, ihnen ſolches zu erklaͤren. Jn Anſehung des Schiffs ſchienen ſie kein Verlangen zu haben, dergleichen zu bauen; ſie behaupteten, daß ihr Land fuͤr ſie hin - reichend ſey, und hielten es fuͤr Thorheit ſich Mittel zu bedienen, welche die Natur bloß zu Aufſuchung anderer Wohnungen gelehrt hat, und behaupteten, daß der Menſch, ſo wie die Pflanze auf ihrem Bo - den bleiben muͤſſe und ausarte, wenn er ihn ver - lieſſe.

Dieſe Gruͤnde uͤberzeugten Victorin nicht, der ſich beſſer dabey befand Beherrſcher der Chriſtinenin - ſel, als Fiſcalprocurator in der Dauphine, oder auch Koͤnig des unbeſteiglichen Berges zu ſeyn, wo man ſich nicht ausbreiten konnte, der bald ſeine Be - wohner nicht zu ernaͤhren vermocht haͤtte, und durch ſeine Ausgeſtoßnen entdeckt worden waͤre. Er hatte aber auch niemanden dagelaſſen, und ſeit ſeiner Ab - reiſe iſt dieſer Berg wieder voͤllig ſo unbewohnt, wie vorher.

Man ertauſchte in dem Lande der Patagonen oder Victorique Metalle die der Chriſtineninſel fehl - ten, beſonders Platina, welche dort in Menge und faſt der Erde gleich anzutreffen iſt. Dies Metalliſt135iſt auf der Jnſel Victorique weit leichter zu ſchmelzen und zu ſchlagen, als das amerikaniſche, und es ſteht auf der Chriſtineninſel jetzt in eben dem Werthe als das Gold in Europa. Man macht die ſchoͤnſten Ar - beiten und alle Landmuͤnze daraus. Ferner brachte man Elephantenzaͤhne von ungeheurer Groͤſſe mit, woraus man wunderſchoͤne Sachen, ſogar Bettpfo - ſten verfertigte. Man entdeckte auch ein dem Ku - pfer aͤhnlichkommendes Metall, doch nicht dem Gruͤn - ſpan, ſo wie das unſrige unterworfen: Silber oder Zinn fand man nicht, wohl aber ein wenig Eiſen und eine Art Bley. Man verſuchte aus dieſem Eiſen ſchneidende Jnſtrumente zu machen und es gluͤckte ziemlich; doch ſind ſie nicht ſo gut wie bey Jhnen: daher nahm Victorin ſich vor, von Zeit zu Zeit in die Nordlaͤnder zu reiſen, und Stahl gegen die Pro - ducte der Chriſtineninſel und Victorique einzutau - ſchen; aber nachher aͤnderte er ſeinen Entſchluß, weil er die Bergwerke ſeiner Halbkugel nicht wollte be - kannt werden laſſen, und ſuchte Eiſen und Stahl von den Patagonen zu bekommen, welche ihre Berg - werke ſelbſt bauen. Deswegen trift man daher auch in Europa kein ſuͤdliches Platina und kein neues Ku - pfer an. Denn er beſorgte, dieſe Metalle moͤchten die Habſucht der Europaͤer reizen, und erſparte die - ſen Handlungszweig bis auf die Zeiten, wo die Chri - ſtineninſel der neuen Welt zum Ruͤckhalt dienen wird. Dieſen Begriff, glaubt ich muͤßt ich Jhnen von der neuen Bevoͤlkerung geben, ehe ich zu den einzelnen Umſtaͤnden ihres Fortganges und ihrer innern Regie - rung ſchreite.

J 4Einige136

Einige Zeit nach der erſten Schiffahrt gen Vie - torique gedachte die Koͤniginn Chriſtine und ihr Ge - mahl auf eine Heyrath ihres aͤlteſten Sohnes. Sie thaten ihm davon Eroͤffnung, und ſagten ihm mit aller Zaͤrtlichkeit, daß er als der erſte im Koͤnigreiche ſich unter allen jungen Maͤdchen diejenige ausſuchen koͤnnte, welche er fuͤr die ſchoͤnſte und verdienſtvoll - ſte hielte. Aber der junge Mann ſchwieg bey dieſem Antrage ſtill, ſchien ſogar betruͤbt daruͤber; und ein Monat verlief ohne Antwort. Dieſe Zuruͤckhaltung bey einem feurigen jungen Manne verurſachte einige Unruhe: Chriſtine ſprach hieruͤber mit dem guten Herrn ihrem Vater, der ihr aber ſeinen Vorurtheilen zu Folge antwortete: Zum Henker! das iſt ſonder - bar! wen ſoll denn ihr Sohn heyrathen? die Toch - ter ihrer Kammerfrau, oder etwa ihres Schuma - chers? denn dieſe ſind die beyden vorzuͤglichſten im ganzen Koͤnigreich! Aber denken ſie, daß mein Blut, ein Burſche der mir aͤhnlich ſieht, und ohne Zweifel auch meine Neigungen hat, ſich ſo wegwerfen koͤnne?

Aber mein beſter Herr und Vater, antwortete Chriſtine, wie wollen ſie, daß wir’s machen ſollen? Es iſt kein ander Mittel ihn zu verheyrathen; auch wird es noͤthig ſeyn, daß wir Sophien einen unſ - rer Unterthanen geben, daß Alexander eine Frau nehme

Warum denn? zum Henker! fuͤr eine Koͤniginn hat eure Majeſtaͤt ein ziemlich kurzes Geſicht. Mag doch der Vater mit ſeinen beiden Soͤhnen nach Eu - ropa reiſen; Um hin zu kommen beduͤrfen ſie etwa einzehn137zehn bis zwoͤlf Tage, da koͤnnen ſie zwey der beruͤhm - teſten Prinzeſſinnen ſich ausleſen, und ſie hieher fuͤh - ren, wo ſie ihre Soͤhne alsdenn heyrathen. Auch fuͤr Sophien denk ich wird es nicht viel ſchwerer ſeyn, ihr einen Koͤnigsſohn zum Gemahl auszuſuchen: eben keinen Erſtgebohrnen, welche man der Nation laſſen muß, aber doch einen juͤngern.

Wuͤrde die Kolonie daruͤber nicht mißvergnuͤgt ſeyn, mein Vater?

Vielmehr, Madam, koͤnnen Eure Majeſtaͤt verſichert ſeyn, daß dies die Achtung eben ſo vermeh - ren, als im Gegentheil jene Vertraulichkeit ſie ver - ringern wuͤrde.

Laſſen Sie uns davon mit meinem Gemahl reden.

Ja Madam; und ich nehme es uͤber mich, die Abſichten Eurer Majeſtaͤt ihrem erhabenen Koͤniglichen Gemahl zu eroͤfnen. Chriſtinens Vater ſagte dies al - les mit vielem Anſtand aber auch ſehr ernſtlich.

Auch Victorin hatte das Nachdenken ſeines Soh - nes bemerkt, und mehr Unruhe, als irgend jemand daruͤber empfunden. Er wußte, daß dieſer Tiefſinn ſeit der Schiffahrt nach Victorique ſich angefangen und fuͤgte hierzu noch eine andere Bemerkung, denn da man nur ohngefehr drey Stunden von der Chri - ſtineninſel nach Victorique zu fliegen brauchte, ſo be - gab ſein Sohn ſich oft im Geheim dahin; Und doch konnt er nicht begreifen, was ihn zu dieſen Rieſen zoͤge. Ohne etwas von ſeiner Unruhe merken zu laſ -J 5ſen,138ſen, antwortete er bloß der Koͤnigin ſeiner Gemah - lin, als ſie mit ihm von Entfuͤhrung einer Prinzeſſinn ſprach, das man den Einwohnern der Chriſtinenin - ſel durch ein Beyſpiel zeigen muͤßte, wie man, gleich ihnen, die Grundſaͤtze der Gleichheit befolgte. Die - ſer Grund ſchien der Koͤniginn, die uͤberhaupt im - mer ganz wie ihr Gemahl dachte, zureichend, und ſie ſchmeichelte ſich, ihn auch dem guten Herrn, ih - rem Vater annehmlich zu machen.

Aber Victorin ſeiner Seits trug Alexandern auf die Abſichten ſeines aͤltern Bruders auszuforſchen. Der junge Mann bemuͤhte ſich, aber vergeblich; doch da er alle Gelegenheit ſuchte, ſich mit ſeinem Bruder allein zu unterhalten, ſo merkte er ſeine Reiſen nach Victorique; und folgte ihm mit vieler Vorſicht, nicht bemerkt zu werden. Der aͤltere flog gerade zur Wohnung des jungen Patagoniſcheu Maͤdchens, wel - che den Vater und den juͤngſten Sohn bey ihrem er - ſten Aufenthalte auf dieſer Jnſel zuerſt entdeckt hatte. Alexander ward gewahr, daß das Maͤdchen ſeinen Bruder erwartete; daß ſie ihn in ihre Arme empfing und ihn mit vielen Liebkoſungen wegtrug. Er be - merkte, daß ſein Bruder die Liebkoſungen erwiederte, kurz er zweifelte nicht, daß ſie einander liebten. Die - ſe Entdeckung ſchien ihm aͤuſſerſt ſonderbar. Er reiſte augenblicklich nach der Chriſtineninſel zuruͤck und hinterbrachte ſeinem Vater alles, was er geſehn hatte.

Victorin verſammlete alsbald die ganze koͤnigliche Familie, die Koͤnigin, die Prinzeſſinn Sophie, ſei -nen139nen Schwiegervater, ſeinen Vater, ſeine Mutter, ſeine Bruͤder, Schweſtern, und noch dazu den Geiſt - lichen, und eroͤfnete ihnen dieſen Vorgang.

Der gute Herr hielt dafuͤr, daß dieſe Neigung etwas Groſſes verriethe, und der Verbindung mit einer Unterthanin vorzuziehn ſey, auch daß durch ei - ne ſolche Vermaͤhlung die koͤnigliche Familie eine Groͤſſe, die ſie uͤber den Poͤbel erhoͤbe, bekommen wuͤrde.

Der Geiſtliche, der wenigſtens Erzbiſchof wo nicht mehr war, ſetzte hochtrabend hinzu, daß wenn man die Schriften des Homer, und ſelbſt der lateini - ſchen Poeten mit Aufmerkſamkeit laͤſe, man nicht zweifeln koͤnne, daß die alten Koͤnige der Griechen, ih - re Helden und Goͤtter, Rieſen geweſen; daß die Lie - beshaͤndel des Jupiters nichts anders als eine vor - uͤbergehende Neigung dieſes Rieſen gegen Weiber von gemeiner Groͤſſe geweſen waͤren; daß die Helden, welche aus dieſer Vermiſchung gebohren worden, eine Mittelgattung von Menſchen ausmachten, welche et - was von dem Rieſen ihrem Vater und etwas von dem kleinen Geſchlecht ihrer Mutter gehabt haͤtten; auch die heilige Schrift beſtaͤtige dies, wenn ſie von den unruhigen Menſchen ſpricht, daß ſie von den Kin - dern Gottes und den Toͤchtern der Menſchen gezeugt worden: dergleichen war bey den Griechen Herkules, der vor ſeinem Bruder Euriſtheus unendliche Vorzuͤge hatte, weil ſie zwar von einer Mutter aber nicht von einem Vater waren; des Herkules Vater war ein Rie - ſe und ſeine Mutter hatte viel Muͤhe, ihn zur Weltzu140zu bringen, wie Ovid erzaͤhlt; Euriſtheus Vater im Gegentheil war ein gemeiner Menſch, Amphitrion genannt; dahin gehoͤrt auch Bacchus; aber Semele ſeine Mutter war nicht ſo gluͤcklich als Alcmene; ihr zu groſſes Kind noͤthigte ſie, im ſiebenden Monden ſich ſeiner zu entledigen, und ſie ſtarb daran; daher ſagt man, daß ſie den Jupiter in ſeiner ganzen Herr - lichkeit habe ſehen wollen, und dieſe Fabel hat eine ganz andre Bedeutung, als mein Karakter ihnen zu erklaͤren erlaubt.

Der gute Herr fand dieſe gelehrte Rede bewun - dernswuͤrdig. Auf Chriſtinen machte ſie aber nicht den geringſten Eindruck. Victorin dachte dar - uͤber nach, und beſchloß zu ſehn, ob eine ſolche Ver - bindung moͤglich ſey; Er erwartete die Zuruͤckkunft ſeines aͤlteſten Sohnes, der nicht lange verzog, und deſſen ganzes Anſehn zeigte, daß ſeine Liebe keinen un - gluͤcklichen Fortgang habe.

Victorin redete ihn mit einer guͤtigen Miene an, gab ihm zu verſtehen, daß er die Empfindungen ſei - nes Herzens wuͤßte, und beſchwor ihn bey ſeiner vaͤ - terlichen Zaͤrtlichkeit ihn, durch ein uneingeſchraͤnk - tes Vertrauen in den Stand zu ſetzen, in dieſem Fal - le etwas zu ſeinem Gluͤcke, es moͤchte auch beſtehn, worinn es wollte, beyzutragen. Ein ſo theilnehmen - des Geſpraͤch hatte ſeine Wuͤrkung. Der junge Mann antwortete, obwohl mit verfaͤrbten Wangen ſeinem Vater alſo:

Jch wuͤrde ſo vieler Guͤte unwuͤrdig ſeyn, mein Herr, wenn ich Jhnen nicht mein ganzes Herz offen -barte.141barte. Sie wiſſen, daß ich bey unſrer Handelsrei - ſe von den Patagonen ſehr gut anfgenommen worden bin. Das junge Maͤdchen, welches ſie und meinen Bruder zuerſt erblickte, bezeigte mir vorzuͤglich viel Neigung, und ſobald eins von des andern Sprache etliche Worte verſtehen konnte, verſicherte ſie mich, daß wenn ich der ihrige ſeyn wollte, ſie keinen Pata - gon iemals achten wuͤrde. Sie wiſſen wie artig ſie iſt und wie ſchoͤn ſie gewachſen! Mein Herz konnte ihr nicht widerſtehen. Jch ſagte ihr, daß ich der aͤlteſte Sohn des Oberhaupts der kleinen Menſchen ſey, und ſie antwortete mir, daß bey ihnen alle ein - ander gleich waͤren; daß aber ihr Vater beym Volke ſehr geachtet ſey, und wenn ich mehr als die uͤbrigen kleinen Menſchen waͤre, auch dadurch wir einander gleich kaͤmen. Wir verabredeten einander oft zu ſehn. Bey unſrer Abreiſe ſchien ſie ſehr betruͤbt; ich ſagt ihr, daß ich durch Huͤlfe meiner Fluͤgel, den einzigen Vorzug unſrer Familie, ſie faſt alle Tage ſe - hen koͤnnte. Jch habs auch nicht unterlaſſen, mein Vater: ich kann Jhnen nicht beſchreiben, wie ſehr ich ſie liebe und geliebt werde: aber ich verkenne die Schwierigkeiten nicht: werden Sie, wird meine Mut - ter einwilligen, daß ich eine ſolche Gemahlin nehme? Wird die Nation ſich nicht an dieſen Anblick ſtoſſen? Und wenn auch ihre Guͤte mir alle dieſe Schwierig - keiten uͤberwinden huͤlfe, wuͤrden die Patagonen, die uns kaum fuͤr Menſchen halten, es gern ſehen, daß eine von ihren Toͤchtern einem Zwerg in Vergleichung ihrer, zu Theil werde? Sehn ſie, mein lieber Herr und Vater, alles was ich mir vorgeſtellt habe, ohneje -142jedoch die Leidenſchaft, welche die ſchoͤne Jſhmich - triß mir einfloͤßt, unterdruͤcken zu koͤnnen. Jch fin - de eine gewiſſe Groͤſſe in der Liebe eines ſolchen Maͤd - chen; alle Prinzeſſinnen und alle Schoͤnheiten der Welt ſcheinen mir nichts gegen. Aber mein Vater, ich habe ein ſolches Zutrauen zu Jhrer Guͤte, daß ich es wage, auf Jhren beſondern guten Rath und ſogar auf Ergreifung der Maaßregeln bey den Patagonen zu rechnen.

Victorin, ob er ſchon dies erwartet hatte, ſtaunte doch nicht wenig uͤber die Rede ſeines Soh - nes: er gieng weg, um nach ſeiner Bequemlichkeit daruͤber nachzudenken. Nach einigen in der Ge - ſchwindigkeit angeſtellten Betrachtungen ruft er B - m-t wieder: Sage niemanden ein Wort von dem, mir eben entdeckten, ſprach er, ſonſt moͤchten, wenn nichts draus wuͤrde, wir das Gerede unſrer Lands - leute werden. Jch muß geſtehn, mein Sohn, daß die Erhabenheit deiner Abſichten mir ſchmeichelt, und ich ſchmeichle mir aus beſondern Gruͤnden auch dir mit der Einwilligung deines muͤtterlichen Großvaters: aber ich ſehe weiter: und es ſcheint mir, daß wenn wir beyde Nationen durch Verheyrathungen mit einander verbinden koͤnnten, unſre Gattung vergroͤſſert werden wuͤrde. Dem allen will ich noch nachdenken. Aber gegenwaͤrtig iſt bloß die Rede von dir. Jn kurzen wollen wir mit einander nach der Patagoneninſel gehn, und ich will die Vornehmſten der Nation aus - zuforſchen ſuchen.

Der143

Der junge B-m-t auſſer ſich vor Freuden bey ſeinem Vater den ſeinigen ſo gleiche Geſinnungen zu finden, machte ſich ſtatt zu warten ſogleich nach Vic - torique auf, um ſeiner Geliebten vorlaͤufige Nach - richten von den Maasregeln ſeines Vaters zu geben. Jſhmichtriß war daruͤber entzuͤckt; ſie fuͤhrte ihren Liebhaber zu ihrer Mutter, der ſie ihre Leidenſchaft ſchon geſtanden hatte; und bat ſie, ſich fuͤr ſie bey ihrem Vater und den uͤbrigen Hausvaͤtern der Nation zu verwenden.

Ouſlichſlo hoͤrte ihre Tochter mit Guͤte an, und liebkoste den kleinen B-m-t, den ſie wie einen Raubvogel auf dem Daumen trug; ſie gingen alle drey zum groſſen Horkhoumhannloch den Vater der Jſhmichtriß. Ouſlichſlo that ihm ohne Um - ſtaͤnde Heyrathsvorſchlaͤge. Als er ſie angehoͤrt hat - te, merkte man, daß er lachen wollte, da aber die Lebensgeiſter in ſolchen groſſen Koͤrpern nicht ſo ge - ſchwind umlaufen als in unſern, ſah man ſeine Miene ſich erſt nach und nach dazu anſchicken, ſeine Augen ſich beleben, ſo daß er erſt ungefaͤhr ein fuͤnf Minu - ten nach der Rede ſeiner Frau laut ward.

Dies iſt ungefaͤhr die Ueberſetzung ſeiner Ant - wort: Man wird unſre Tochter, meine liebe Jtimik - hili (Liebſte) nicht beſchuldigen, daß ſie Rham - ka (der Geilheit ergeben) ſey; vielmehr wird ſie die ganze edle und maͤchtige Nation der Ppotkhag - hans (Patagonen) loben, daß ſie ſehr mitimhi - pipi (maͤſſig in der Liebe) ſey; aber fuͤr mich er - fordert es eine wichtig Betrachtung, daß ich anſtattder144der Enkel Ouaumljih (Bienen) haben wuͤrde, welches poſſirlich waͤre. Es fehlte nichts, als daß wir noch die Schweſter dieſes Mijhi-titi-Mhan (zierlichen kleinen Menſchen) unſerm Sohne dem groſſen Skhapopartigho gaͤben: aber dies waͤre nicht moͤglich: denn es wuͤrde dieſem Mijhi-titi - Moſti (zierlichen kleinen Maͤdchen) eben ſo gehn, wie der Nhiti-Moſti (Nachtfrau) von Sun - hichdhombah (der naͤchtlichen Jnſel dies iſt der patagoniſche Name der Chriſtineninſel ) wel - che oh-mhan-zalopipi (ſchwanger) ſtarb von einem Ppotkhaghan, der ſie entfuͤhrt hatte.

Mein lieber Khratakhahboul (Mann) ant - wortete die gute Ouſlichſlo, ich liebe dies Litim - hi (Kleinod) wir wollen ihm unſre Bikhiphi (Tochter) geben, er wird ſie gluͤcklich machen, es thut zur Sache nichts, wie?

Ha-Limiſequi (Meine Frau) ich kann uͤber eine ſolche Angelegenheit nicht entſcheiden, ohne den Rath unſrer Oh-Mahn-oh (Vornehmſten der Familie) ich brauche nur ein zehn Orhovehodho (Zirkel oder Jahre) um ſie alle zu ſehn, und ich will dir alsbald Antwort ſagen.

Die Weiber ſind uͤberall lebhaft, auch ſogar bey den Patagonen: die gute Ouſlichſlo ward unruhig. Jch wuͤnſchte ſogleich eine Antwort, erwiederte ſie, oder du wirſt ſehn, daß ich mich graͤme, weine und keinen Biſſen mehr eſſe.

Geh geh, meine liebe Limiſequi, ich will nur mit unſern Nachbarn reden, und in zehn Vhicilli(Monden145(Monden oder Monaten) kann ich dir Antwort bringen.

Zehn Vhicilli! So werd ich dann in dei - nen zehn Vhicilli von iezt an nicht trinken, nicht eſſen, noch ſchlafen.

Ha-Oh! (Mein Gott) wie du doch puͤnkt - lich biſt, meine Limiſequi! Wohlan, ich verlan - ge nicht mehr als zehn Jkirkoh (Sonnen oder Tage), um unſre Nachbarn zu ſehn: hurtiger kann man nicht gehn!

Jch gebe dir nicht zehn Tabalah (Stun - den) nicht einmal zehn Thathatha (Minuten oder Pulsſchlaͤge); du mußt auf der Stelle zwei oder drei Oh-Mhan-oh rufen, und dies ent - ſcheiden laſſen.

Nun gut, ich will es! ſagte gutherzig der groſſe Horkhoumhannloch.

Man rufte alsbald zwei oder drei Familien - Haͤupter und legte ihnen in Gegenwart ihrer Frauen den Fall zur Entſcheidung vor. Dieſe wichtigen Perſonen hoͤrten aufmerkſam zu, ſahen hierauf einander an, und in vier Minuten mach - te einer ein Zeichen, daß er reden wolle: wor - auf die uͤbrigen in drei Minuten ſich halb auf ſeine Seite kehrten. Jhre Weiber kochten vor Ungeduld. Endlich fing der groſſe Ombombo - boukikah, der aͤlteſte von ihnen, an: Es iſt ein wichtiger Fall, es kommt auf eine Verbin - dung mit einer niedrigen Gattung an, die, unge - achtet ſie mit Vernunft begabt iſt, uns dochd. fl. Menſch. Kihrer146ihrer Lebhaftigkeit, Fluͤchtigkeit und Schoͤnheit wegen den Weibern naͤher zu kommen geſchienen hat. Wir muͤſſen daher die Nation verſamm - len und zwanzig Orhomhodho zur Berathſchla - gung ziehen. Die uͤbrigen traten alle, ein einzi - ger ausgenommen, deſſen Ausſpruch auf dreiſ - ſig Zirkel ging, dieſer Meinung bei. Zum Gluͤck verlohren die Weiber ihre Geduld und ſezten die - ſe wichtigen Perſonen in ſolche Furcht, daß ſie entſchieden, die Heirath ſollte laͤngſtens in zehn Sonnen vor ſich gehn. Alle nahmen den jun - gen B-m-t in ihre Arme, und erdruͤckten ihn bald mit Liebkoſungen.

Eine ganz beſondere Urſach, welche die Wei - ber zu Beguͤnſtigung der Leidenſchaft der ſchoͤnen Jſhmichtriß veranlaßte, war, daß in Patagonien weit weniger Maͤnner als Weiber gefunden wer - den, weshalb ein Mann deren wenigſtens drei hatte. Dies war aller Wahrſcheinlichkeit nach auch der Grund, welcher bei der jungen Pata - gonerin entſchieden hatte: ſie rechnete, daß der liebenswuͤrdige kleine Menſch ungefaͤhr das Drit - theil eines Patagonen vermoͤchte, und daß es alſo, wenn ſie ihn allein haͤtte, auf eins hin - aus laufen wuͤrde.

Der junge B-m-t machte ſich, ſo geſchwind er fliegen konnte, mit Liebkoſungen uͤberhaͤuft, nach Sunhichdhombah, oder der Chriſtineninſel zuruͤck. Er fand ſeinen Vater zur Abreiſe auf ihn warten. Der junge Mann gab ihm Nach -richt147richt von ſeiner vorlaͤufigen Reiſe, welche Vic - torin viel Freude machte, und der Entſchluß ward geaͤndert. Er verſchob ſeine Abreiſe auf den andern Tag, und Abends ließ er die Vor - nehmſten ſeiner Kolonie verſammlen, und hielt ih - nen folgende Anrede:

Geliebten Landsleute, ich habe die Ehre euer Oberhaupt zu ſeyn, und ob wir ſchon al - le in dieſer gluͤcklichen Kolonie einander gleich ſind, weil wir alle Menſchen ſind, ſo betrach - tet ihr mich doch als euren Stifter. Aber ich verlange die Vorzuͤge meiner Stelle nicht an - ders, als mit der dabei verbundenen Muͤhe, Beſchwerlichkeit und Aufopferung; ihr ſeid alle durch ein anſtaͤndiges und freundſchaftliches Be - tragen gluͤcklich. Nothwendig muß meine Fa - milie und ich uͤber dieſe Grenzen hinaus gehen, um die Achtung, womit ihr uns beehrt, zu ver - dienen; wir muͤſſen eure Ruhe, eure Sicherheit und eure Handlung mit den benachbarten Nationen zu ſchuͤtzen ſuchen. Meine Mitbuͤrger, ſeit dem mein Sohn mannbar worden, denk ich auf ei - nen groſſen Plan, einen Plan, der euch in Er - ſtaunen ſetzen wird. Der Erfolg deſſelben ſcheint mir noch ungewis, aber ſeine Vortheile waͤren unermeßlich. Er iſt folgender: ihr habt reizende Toͤch - ter, mein aͤlteſter Sohn iſt liebenswuͤrdig: ganz ge - wiß muß er dereinſt fuͤr eine derſelben Zaͤrtlichkeit fuͤhlen, aber noch, das bin ich verſichert, hat ſein Herz ſich keiner geweiht. Meine Abſicht iſt,K 2daß148daß er ſich ſelbſt aufopfere, und zum Wohl des Staats ſich eine Gemahlin aus unſerm nachbarli - chen Rieſengeſchlechte erwaͤhle. Dieſe Verbin - dung wird uns das groͤſte Gluͤck, den Frieden und die Freundſchaft ſo maͤchtiger Menſchen ver - ſchaffen. Seht, liebſten Mitbuͤrger, was ich, und mein aͤlteſter Sohn fuͤr das allgemeine Wohl zu thun bereit ſind. Redet, und ſagt, als die Haͤupter der Kolonie, frei heraus, was ihr da - von denkt.

Sogleich erhob ſich ein beifaͤlliges Gemur - mel: die Vornehmſten umringten den guten Herrn, den Vater der Koͤnigin, und trugen ihm auf, den Dank der Nation dem Vater und dem Sohne abzuſtatten.

Mit Entzuͤcken, rief der Alte aus, uͤber - nehm ich von wuͤrklich franzoͤſiſch geſinntem Her - zen den Auftrag, dem Koͤnige meinem Schwie - gerſohne, und ſeinem Erbprinzen dem Dauphin, meinem Enkel, die hohe Achtung zu bezeugen, welche ihr edler und gnaͤdiger Entſchlus, den Haͤuptern der Kolonie eingefloͤßt hat! Geht, un - ſterbliche Helden, geht euer Werk zu vollenden, dies iſt der Wunſch aller Einwohner der Chri - ſtineninſel, und beſonders der meinige!

Die Koͤnigin war zugegen: ſie umarmte mit thraͤnenden Augen ihren Sohn, und ſagte: Gehorche deinem Vater und deinem Großvater.

Victorin nahm alſo das Wort: Was mei - ne beiden andern Kinder betrift, ſo beſtimm ich149ich meine Tochter zur Belohnung fuͤr den ver - dienſtvollſten Juͤngling in der Kolonie, der ſich durch Vorzuͤge des Herzens und des Verſtandes verbunden mit einer liebenswuͤrdigen Geſtalt, auszeichnen wird. Alle junge Leute der Kolonie, die tugendhaft, wohlgeſtaltet, und wenigſtens zwei Jahr aͤlter als meine Sophie ſind, koͤn - nen Anſpruch auf ihre Hand machen, und der - jenige, welcher zu gleicher Zeit ihr Herz ge - winnen und die Achtung ihrer Mutter, die mei - nige, und den Beifall der Nation erwerben wird, wer er auch ſei, werd ihr Gemal! Mein juͤngſter Sohn iſt dem oͤffentlichen Wohl eben ſo zugethan als ſein Bruder, und nach der Hochzeit des aͤltern, wollen wir auch auf ihn bedacht ſeyn.

Den andern Morgen flogen Victorin und ſei - ne beiden Soͤhne nach Patagonien und lieſſen ſich bei den Aeltern der ſchoͤnen Jſhmichtriß nie - der: die gute Ouſlichſlo nahm ſie mit der zaͤrtlichſten Empfindung auf. Und da man in dieſem Lande die Toͤchter blos von den Muͤt - tern zur Ehe begehrt, die nach ihrem Gefallen mit ihnen ſchalten, ſo ward Victorins Geſuch auf der Stelle angenommen. Der Punkt, wel - cher am meiſten aufhielt, war der Aufenthalt der Neuverehlichten auf der Sunhichdhombah (Chriſtineninſel); man wollte darein nicht willigen, unter dem Vorwande, daß dies das Land der Tlitilhiti-Mhan (menſchlichen Fledermaͤuſe) waͤre. K 3Als150Als aber der Koͤnig der Chriſtineninſel ſeine groſ - ſen Ausſichten ihnen entwickelt und gezeigt hat - te, was er von einer patagoniſchen Verbindung zur Vergroͤſſerung ſeines Geſchlechts hoffe, auch uͤberdies von den Maͤdchen aufs lebhafteſte un - terſtuͤzt ward, ſo gaben die patagoniſchen Da - men endlich nach, und lieſſen die Heirath durch die Maͤnner entſcheiden denn in dieſem Lan - de ſcheinen die Maͤnner alles zu entſcheiden und entſcheiden nichts, da im Gegentheil die Weiber nichts zu thun ſcheinen, und doch alles thun, wie bei uns. Der Tag zur Hochzeit ward nun beſtimmt und feſtgeſezt, daß ſie nach den Gebraͤuchen beider Nationen ausgerichtet werden ſollte, daß die ganze Familie des Braͤutigams dabei ſeyn, und mit der Patagoniſchen Na - tion vereinigt werden, und von nun an in Ruͤckſicht dieſer Verbindung als ein Glied derſel - ben betrachtet werden ſollte.

Victorin und ſein Sohn kehrten ſehr zufrie - den nach Hauſe, um an den Zubereitungen zu arbeiten. Man wuͤrkte ſchoͤne Zeuge von Roſe, Gruͤn und Gold, zu einigen Polonoiſen fuͤr die Braut, denn es war ausgemacht, daß ſie fran - zoͤſiſche Kleidung tragen ſollte. Als die neuen Zeuge fertig waren, brachte man ihr die Pro - ben davon und nahm von der Chriſtineninſel ge - ſchickte Naͤtherinnen, die beruͤhmteſten Modenhaͤnd - ler, wie auch den Schuhmacher mit nach Pa - tagonien, um der ſchoͤnen Jſhmichtriß Maaszu151zu nehmen, und ihren Geſchmack zu erfahren, oder ihr welchen beizubringen.

Die Arbeitsleute wurden ſehr gut aufgenom - men. Mit Huͤlfe kleiner Leitern, wie man ſie in Bibliotheken hat, nahmen ſie das Maas an dem weitumfangenden Koͤrper der Schoͤnen, wel - che in ihrem Alter von funfzehn Jahren bereits Dreiviertheil ihrer Groͤſſe erlangt hatte, denn die Patagonen wachſen bis ins fuͤnf und zwanzigſte Jahr. Man fertigte ihr eine Haube in Geſtalt einer Fregatte mit Thauwerken, Seilen, Kano - nen, Maſtbaͤumen und Seegeln*)Vor kurzem hat man dieſe Art wieder erneuert unter dem Namen der Hauben à la belle poule. ꝛc. die ihr un - gemein gut ſtand; denn da die Haube groß war, konnten die Gegenſtaͤnde mit Anſtand beſ - ſer auseinander geſezt werden. Man probirte ihr ein Kleid an, welches den jezigen Polonoiſen vollkommen gleich kam, ohne etwas von der uͤblen Geſtalt zu haben, welche ungeſchickte Ar - beiter ihnen zu geben anfangen; und durch Huͤlfe der Buͤgungen und des falſchen Ruͤckens den man anbrachte, haͤtte die ſchoͤne Patagone - rin unter ihre Roͤcke ein ganz Regiment Solda - ten, preuſſiſch gekleidet, verbergen koͤnnen. Die groͤßte Verlegenheit war um hinlaͤnglich groſ - ſe Federn, und die Modehaͤndler gaben dies der Mutter der Verlobten zu erkennen.

K 4Wenn152

Wenn ihnen weiter nichts fehlt, als das, antwortete ſie, warum haben ſie es denn nicht geſagt?

Man ſchickte den Bruder der Jſhmichtriß, den groſſen Skhapopantighoh auf die Jagd, welcher eine Art von Strauß erlegte, deſſen Fluͤgelfedern ſo lang waren als die Meerbmſen: man bereitete ſie ſo gut man konnte, und faͤrbte ſie mit verſchiedenen Farben, und brachte einen Federbuſch daraus zu Stande, den man auf dem Kopf der Jſhmichtriß mit Blechfaden und kleinen Hebebaͤumen gleich Nadeln befeſtigte. Der Haarpuz ſezte ſie auch in groſſe Verlegenheit, die Haare der ſchoͤnen Patagonerin waren ſo lang und ſo ſteif, daß die beiden erfahrenſten Coifeurs der Chriſtineninſel, die vorher ſchon in Paris beruͤhmt geweſen waren, mit Muͤhe es dahin bringen konnten, ihnen eine Geſtalt zu ge - ben. Doch endlich ſiegte ihre Geſchicklichkeit, der eine ſteckte den ganzen Arm in die Locke, um welchen ſein Kammerad ſie wickelte, ſo, daß jede Locke ziemlich denen Cylindern gleich kam, womit man in euern unfruchtbaren Gaͤrten den Raſen niederrollt. Jn Anſehung der Fuͤſſe beſaß der Pariſer Schuhmacher die Kunſt, den groſſen Schu - hen der Schoͤnen dennoch Reiz zu geben: er beobachtete alle Verhaͤltniſſe ſo gut, machte die Spitze ſo fein und den Abſaz ſo duͤnne und ſtellte das Fußblatt ſo hoch, daß, als Jſhmichtriß mit ſeidnen Struͤmpfen und weiß droguetenenSchu -153Schuhen bekleidet war, die Franzoſen ſelbſt ge - ſtanden, daß ihr Fuß ſo klein ſei, als ihn ein Frauenzimmer von ihrer Groͤſſe immer haben koͤnnte.

Den Tag, als beider Anputz vollendet war, dies geſchah den zweiten Tag vor der Hoch - zeit verſammlete man die Nachbarſchaft, um die ſchoͤne Jſhmichtriß zu ſehen. Sie kam aus einer ſchoͤnen Hecke, die aus den Zweigen der herumſtehenden Baͤume zuſammengeſezt und mit Fleiß zubereitet war. Alle Patagoner waren vor der Thuͤre derſelben verſammlet, die Weiber auf einer und die Maͤnner auf der andern Sei - te. Jſhmichtriß Vater allein war neugierig geweſen da zu bleiben, wo man ſeine Tochter an - putzte. Die Arbeiterinnen, an der Zahl zehen, die ſo hoch als moͤglich mit Straußfedern auf - geſezt waren, und Schuhe anhatten, deren Ab - ſaͤtze einen halben Fuß hoch waren, mit falſchen Huͤften und Ruͤcken ꝛc. gingen voran. Als die Patagoner ſie ſahen, ruften ſie einander zu, daß die Zwerginnen der Sunhichdhombah-Jnſel doch nicht ſo gar klein waͤren!

Drauf erſchien die ſchoͤne Jſhmichtriß. Bei ihrem Anblick verſtummten alle Anweſenden vor Verwunderung: die Patagonerinnen ſelbſt blieben mit offenem Munde ſtehen. Sie ſchritt maje - ſtaͤtiſch zwiſchen zwei Reihen ihrer Anverwandten und Mitbuͤrger einher, und machte jedem einen gnaͤdigen Gruß, wie ihn ihr Marcel derK 5unter154unter den Kuͤnſtlern, als man den unbeſteiglichen Berg verließ, mit weggefuͤhrt ward, und den man in Paris ohne Zweifel fuͤr todt gehalten hat zu machen gelehrt hatte. Jſhmichtriß ging, ſag ich, mit majeſtaͤtiſchen Schritten naͤ - her, und machte jedem eine gnaͤdige Verbeu - gung. Alle Patagoner waren durch ihre Reize bezaubert; aber ein wenigheruntergeſezt durch ih - re Hoheit (man muß dies Wort nach der Phyſik nehmen); ſie uͤbertraf unendlichemal alles was von Groſſen unter den groͤſten Patagonen war.

Der junge B-m-t war nicht ſo einfaͤltig ſeiner Gebieterin zu folgen, er ſtellte zwiſchen ihr und ihm die Kuͤnſtler, maͤnnlichen und weib - lichen Geſchlechts, die an ihrem Putze gearbei - tet hatten, und da er mit ſeinen Fluͤgeln und Stelzen ſie an Groͤſſe uͤbertraf, ſo bemerkte man ſeinen Abſtand weniger.

Wie, ſagten die Weiber zu ihm, iſt ihre kuͤnftige Gemalin nicht ſchon groß genug, daß ſie ſolche noch groͤſſer machen!

Sie kann es nicht zuviel ſeyn, meine Da - men, antwortete der junge Mann. Meine Em - pfindungen fuͤr ſie ſind ſo voll Ehrfurcht und Zaͤrtlichkeit, daß ich ein Vergnuͤgen finde, ſie glaͤnzen, bewundern und alles verdunkeln zu ſehn.

Ach wie zaͤrtlich die Friſchmiſch-Mhan (franzoͤſiſchen Maͤnner) ſind, ruften alle Patago -nerin -155nerinnen aus, unſre Verwandte hat nicht Un - recht gehabt, ſich einen zu nehmen, noch ihre Aeltern, darein zu willigen!

Ach! ſie ſind Narren! murmelte ein Patagoner zwiſchen den Zaͤhnen

Weniger als ihr, antwortete eine von den Frauenzimmern, die es hoͤrte; ſie tragen ihr Joch mit Anſtand, und ſehn nicht wie angekettete Sklaven aus. He! wie wuͤrde es ſtehn, wenn ihr nur eine Frau haͤttet. Wir wuͤrden euch zu unſern Fuͤſſen kriechen ſehn.

Nach dieſer Ausſtellung begab die ſchoͤne Jſhmichtriß ſich nach Hauſe, und blieb den Tag uͤber angekleidet wie ſie war, theils um der Neugier - de ihrer Freundinnen ein Gnuͤge zu thun, theils um ſich daran zu gewoͤhnen.

Endlich erſchien der wichtige Tag. Victorin, ſeine Gemahlinn, ſein Schwiegervater, ſein Vater, ſeine Familie, die Vornehmſten aller Zuͤnfte der Chriſtineninſel, begaben ſich nach Victorique, um dieſem herrlichen Beilager beyzuwohnen.

Damit ſein Zug in den Augen der Patagonen weniger laͤcherlich ſeyn moͤchte, hatt er einen Coco - ſaten (Einwohner der Gaſconiſchen Heiden) aufge - tragen, Stelzen zu machen, die jeden an vier Fuß vergroͤßern ſollten; ſie wurden bald fertig, und man uͤbte ſich alle Tage, um eben ſo geſchwind mit dieſen Maſchinen gehen zu lernen, als die Bauern dieſer ſandigten Einoͤden, die man in Bordeaux auf denLuft -156Luftloͤchern der Kaufmannslaͤden, oder auf dem Fen - ſterrande des erſten Stocks ſitzen und ausruhen ſieht. Dies war ein ſehr gluͤcklicher Einfall, und machte auf die Patagoner einen vortheilhaften Eindruck, auſſerdem erleichterte es die Unterredung, man konn - te mit einander ſprechen, ohne daß die Rieſen noͤthig hatten den ganzen Leib zu biegen, um zu verſtehen, was die Chriſtinier ſagten.

Man hatte ſich zu dieſer Reiſe des ſchoͤnen Schiffs bedient, welches Victorin im guten Stand hielt. Auch den Geiſtlichen nahm man mit. Was die Pa - tagonen anbetrift; ſo haben ſie keine eigentlichen Prieſter. Die vornehmſten unter den Alten bringen der Sonne und der Erde das einfoͤrmige und natuͤrli - che Opfer der Nation, welches nur einmal im Jahre fuͤr die Sonne, bei der Sommerſonnenwende, und einmal fuͤr die Erde, bei der Winterſonnenwende geſchieht.

Zwar haͤlt dieß große Menſchengeſchlecht Sonne und Erde nicht fuͤr die wuͤrkenden Gottheiten; doch be - trachtet es ſolche als die beiden vorzuͤglichſten Weſen in Beziehung auf uns. Die Sonne iſt der Vater; die Erde die Mutter, der Mond eine Muhme u. ſ. w. Jhrem Vorgeben nach muͤſſen wir unſere Anbetung unmittelbar an Sonne und Erde richten, als die allein wuͤrdig ſind ſie der alles umfaſſenden Gott - heit vorzutragen, die ihnen, aber nicht uns bekannt iſt. Doch ich kehre wieder zur Verbindung des aͤlteſten Sohns des Victorin und der Chriſtine von B-m-t, der eine Rieſin heirathet.

Die157

Die Hochzeitfeier war praͤchtig, iedoch ungekuͤn - ſtelt. Der Alte im eigentlichſten Verſtande, ein Mann von hundert und ſechzig Jahren denn die - ſe Rieſen leben laͤnger als unſer Geſchlecht gab die beiden Verlobten zuſammen und that folgende Fragen an ſie, auf deren Beantwortung ſie ſchon vorbereitet waren.

Der alte Patagonier. Weshalb erſcheint ihr vor mir?

Antwort. Um uns durch das Band der Ehe zu verknuͤpfen.

Warum ehelicht ihr einander?

Weil Liebe in unſere Herzen geſprochen hat.

Was ſagte ſie?

Verbindet euch um Wonne kennen zu lernen.

Jhr habt alſo ein Verlangen darnach?

Ja, ehrwuͤrdiger Alter; das Vergnuͤgen iſt die vollkommenſte Entwickelung von dem Daſein ie - des lebenden Weſens.

Wuͤnſcht ihr, ein unfruchtbares oder fruchtbares Vergnuͤgen?

Ein fruchtbares, denn das unfruchtbare iſt kein wahres Vergnuͤgen.

Was ſoll euer Vergnuͤgen hervorbringen?

Das Meiſterſtuͤck der Natur, den Menſchen.

Bedenkts wohl, meine Kinder: Nichts iſt heili - ger als das Vergnuͤgen der Ehe, der Keim der Men -ſchen.158ſchen. Entheiligt es nicht durch Zank und Uneinig - keit! Wer von beiden iſt das Haupt?

Der Mann; gleich wie die goͤttliche Sonne der Gatte und der Herr der Erde, des Mondes, und der uͤbrigen Fixſterne, ſeiner Gemalinnen iſt.

Zur Frau: Erinnert euch, meine Tochter, eu - rem Manne unterwuͤrfig zu ſeyn; denn der Mann iſt das hervorbringende, die Frau aber nur das entwi - ckelnde Weſen. Sie giebt blos den Koͤrper, der Mann aber Seele und Leben. Nun die almaͤch - tige Sonne erwaͤrme, erleuchte und erfreue euch! die wohlthaͤtige Erde verſchaffe euch angenehme Gefilde, und kuͤhle Schatten, ſchenke euch wohlſchmeckende Fruͤchte, klare Quellen, und blumichte Ruheplaͤtze zum Genuß eurer Wonne. Sonne und Erde muͤſſen euch ſegnen und lieben, wie ich euch liebe und ſegne! Die Sonne erwaͤrme mit ihrem goͤttlichen Feuer den Mann; die Erde bereite der Gattin ein Bette von Moos, worauf ſie die erſte Frucht eurer Ehe in Ru - he erndte! O Sonne! o Erde! verbindet eure Kin - der. Sind eure Herzen vereinigt?

Ja, frommer Alter.

So ſei es auch euer Koͤrper, vermoͤge der mir iezt uͤbertragenen unverletzlichen Gewalt der ganzen Nation.

Dies iſt die patagoniſche Formel; bei den dama - ligen Umſtaͤnden fuͤgte man noch zwei Haͤlbkugeln hin - zu, die der ehrwuͤrdige Alte mit den Worten vereinig -te:159te: ſo muͤſſen die Nationen der beiden Verlobten auf immer verbunden ſeyn!

Hierauf folgte die Hochzeitfeierlichkeit nach euro - paͤiſchem Gebrauch; und erhielt den vollkomnen Bei - fal ſelbſt der Patagonen, welche anfangs die Hochzeit nach beiderlei Ceremoniel vollzogen haben wollten. Nunmehr verlieſſen die Neuverehlichten, mit der ganzen zahlreichen Verſammlung, den erhabenen Fel - ſen, worauf dieſe feierliche Handlung vollzogen wor - den war, und begaben ſich zum Eſſen und Vergnuͤ - gen auf eine groſſe Wieſe, wo man die Tafeln zube - reitet hatte.

Zuerſt ward eine patagoniſche Suppe in Keſſeln von Platina aufgetragen, denen Salpeterkeſſeln gleich, die man im hieſigen Arſenale ſieht. Sie waren mit eingegrabener Arbeit, welche die eben gefeierte Ver - bindung vorſtellte, nach der Zeichnung eines Mega - Patagoniſchen Kuͤnſtlers ein unvergleichliches Volk von dem ich bald reden werde geziert; Sorgfaͤltig hatt er ſich bemuͤht, den jungen Prinzen der Chriſtineninſel in eben der Groͤſſe, welche ihm ſeine unter den Fluͤgeln verborgenen Stelzen verſchaf - ten, vorzuſtellen. Dann ſahe man verſchiedene Luſt - barkeiten, die ich ihnen bald beſchreiben will. Hier - auf folgte das Rindfleiſch mit einer Art von Peterſil - ge und Kreſſe beſtreut; wobei auch mancherlei Voͤ - gel, welche der Suppe einen fuͤrtreflichen Geſchmack gegeben hatten, ſich befanden.

Die Chriſtinier wurden auf flachem gewoͤhnli - chen Silbergeſchirr bedient.

Nach160

Nach dieſem ſetzte man jedem Patagoner, ein ge - bratenes junges Meerpferd vor, deren eins fuͤr alle Chriſtinier hinreichte. Dann bekam jeder einen Condhor, davon ein Schenkel zwanzig Pfund wog - Drauf kam eine Rieſenſchlange hundert Fuß lang, blau geſotten, die man ungemein wohlſchmeckend fand. Endlich gab man ihnen, um ſie voͤllig zu ſaͤttigen, wohl geſpickte Lebern von jungen Elephanten. Jeder Patagoner erhielt ungefaͤhr zwei Eimer Bur - gunder.

Von den Chriſtiniern bekam jeder ſeine zwei Fla - ſchen, die etwa das Viertel eines Schlucks der Herrn Patagoner in ſich hielten. Sie aſſen lauter Kleinig - keiten von der Chriſtineninſel und ſolche unbedeutende Sachen, welche die Patagoner veraͤchtlich anſahen und mit den Fliegen verglichen.

Zum Nachtiſch hatte man Fruͤchte aus beiden Laͤndern, die Patagoniſchen waren vorzuͤglich gut und man vertheilte eine davon unter die Chriſtinier. An der Tafel der Patagonen hingegen verſchlang man die groͤſten Fruͤchte der Chriſtineninſel, die aus Eu - ropa dahingekommen waren, als Abricoſen, Pfirſchen, Pflaumen u. ſ. w. zu Dutzenden auf einmal. Einen Pfirſichkern ſahen ſie wie einen kleinen Aepfelkern an.

Nach aufgehobner Tafel machte man Anſtalt zu Ergoͤtzungen. Die Eroͤffnung geſchah mit einem pata - goniſchen Jnſtrument, das einer langen Trompete Marine glich, die aus einem hohlen Weidenſtamme gemacht war, hundert und fuͤnf und zwanzig Fuß in der Laͤnge und ſechſe im Umfange hatte: eine derſchoͤn -161ſchoͤnſten Trompeten die man je geſehn hat. Sobald dies Jnſtrument erſcholl, ſah man die Herrn Patago - nen mit ihren zwei Eimern Wein im Leibe, das Meerfuͤllen, die Schlange und Elephantenleber un - gerechnet, ſich in Bewegung ſetzen; und nach einer Stunde ungefaͤhr befanden ſie ſich in einem huͤpfenden Zuſtande. Welcher Tanz! man haͤtte gemeint, es waͤren Glockenthuͤrme die ſich erhoͤhten und erniedrig - ten. Die um ein vieles bethulichere Jugend tanzte nach andern ſanftern Jnſtrumenten; denn die ſchoͤne Trompete Marine war als das ſtaͤrkſte und edelſte Jnſtrument blos ein Vorzug der Erwachſenen. Aber die Chriſtinier, betaͤubt durch die Trompete und uͤbri - gen patagoniſchen Jnſtrumente, entfernten ſich ſoweit als moͤglich und tanzten nach der Violine und andern europaͤiſchen Jnſtrumenten. Einige Patagonen bei - derlei Geſchlechts folgten ihnen aus Neugierde und legten ſich nieder, um unſre Muſik zu hoͤren. Sie lob - ten ſolche als ungemein wohlklingend, vernahmen aber nicht mehr davon, als wir von dem Geſumſe der Muͤcken am Abend.

Braͤutigam und Braut tanzten wechſelsweiſe in beyden Verſammlungen. Der arme Prinz muſte von der Trompete Marine freilich viel ausſtehn; doch ſtellt er ſich ſie zu bewundern, und unterließ nicht mittelſt eines Sprachrohrs, das ihm ſein juͤn - gerer Bruder, der geſchickteſte Mechaniker, gefertigt hatte, den Patagonen viel ſchoͤnes daruͤber zu ſa - gen. Du biſt ſehr liebenswuͤrdig, ſagte Jſhmichtriß leiſe zu ihm; aber du handelſt weis -d. fl. Menſch. Llich,162lich, ihnen zu ſchmeicheln: dieſe groſſen Menſchen haben durchgaͤngig einen Hang zum Stolz, vermoͤge welchem ſie alles, was kleiner als ſie iſt, verachten: weil du ihr abgeſchmacktes Jnſtrument lobſt, halten ſie dich fuͤr einſichtsvoll; fahre fort ihren Vorurthei - len Weirauch zu ſtreuen. Theuerſte Gattin, er - wiederte der iunge Prinz, ich bewundere euren Ver - ſtand taͤglich mehr: Was ihr eben geſagt habt, iſt bei den Europaͤern ein angenommener Grundſatz, der taͤglich angewandt wird. Leute die etwa einen Fuß groͤſſer ſind als ihres gleichen (und das will doch faſt gar nichts ſagen) haben einen natuͤrlichen Hang, andere zu verachten, ſelbſt ohne es zu wollen; und laſſen kaum ihnen Gerechtigkeit wiederfahren.

Haben ſie vollends groͤſſern Verſtand, ſo ver - achten ſie ihre Mitmenſchen noch mehr. Koͤnntet ihr ſehn, wie ſie dieſelben behandeln, ihr wuͤrdet Mit - leid haben!

.... Weiter will ich dieſe philoſophiſche Un - terhaltung der beiden jungen Eheleute nicht verfol - gen. Sie ſagten noch viele andre herrliche Sa - chen, aber ihr moͤchtet ſie hier am unrechten Or - te finden.

Nachdem jedermann ſich hinlaͤnglich erluſtigt hatte und der Abend herein brach, begaben die Chriſtinier ſich zum Eſſen. Die Patagoner hinge - gen, die in vier und zwanzig Stunden nur einmal Speiſe zu ſich nehmen, legten ſich nieder, um die Verdauung ruhig abzuwarten.

Die163

Die junge Ehefrau ſezte ſich, wenigſtens mit zu Tiſche. Alsdann ward ſie durch ihre Mutter und die aͤlteſte der Weiber des Mahn-mouhh (der Kolonie) zum Ehebette begleitet. Jch halte es der Muͤhe werth, die in Patagonien uͤbliche Fei - erlichkeit beim Schlafengehn einer Neuverehlichten zu erzaͤhlen. Die Mutter und die Aelteſte der Na - tion fuͤhren ſie, iede unter einem Arm mit folgen - den Worten zum Mann: Wohlthaͤtige Sonne, hier ſtellen wir dir eine Erde dar, die du mit dei - nen Strahlen erwaͤrmen, und mit dem in dir ver - borgenen Lebensgeiſte befruchten ſollſt. Schuͤtze und liebe ſie, ſo wie ſie dich ſchaͤtzt, liebt und verehrt: ſchone ihrer Zaͤrtlichkeit, denn ein Frauenzimmer iſt kein Mann. ( Hierbei ſahe die Mutter der Jſhmichtriß mit Laͤcheln auf den Wuchs ihres Schwiegerſohns, ungeachtet er noch auf ſeinen Stel - zen ſtand.) Wir haben ſie dir gegeben, weil du der angenehmſte Beherrſcher biſt: behandle ſie als dei - ne liebſte und getreuſte Dienerin, die ihr Blut und Leben fuͤr dich aufopfern wuͤrde Meine Tochter, ſchwoͤre deinem Gatten Rechtſchaffenheit, Treue und Gehorſam Theureſter Khrahakha - boul (Gemal) ich ſchwoͤre euch eine ewige Zunei - gung; und da ihr den Geſetzen eurer Nation gemaͤs, blos mich zur Gattin haben werdet, ſo will ich euch dreimal ſo ſtark lieben, als ich einen Ppot - khoghaniſchen (Patagoniſchen) Mann geliebt haben wuͤrde. Nach dieſer nicht eingegebenen Antwort umarmten die beiden patagoniſchen Damen die jun - ge Gattin, und ihr Gemal ſchwang ſich auf ihrenL 2her -164hervorkeimenden Buſen, und umarmte ſie nach ſei - ner Bequemlichkeit. Drauf verrichteten die beiden Damen dies gewoͤhnliche Gebet:

Die Sonne, der Vater des Tages; und die Erde, die Mutter der Nacht, in welcher man Ruhe und die Suͤſſigkeiten der Gnignimhitlhi (der Lie - be) genuͤßt, muͤſſe euch beide lieben und beguͤnſtigen; nie muͤßt ihr laͤnger anhaltende Zwiſtigkeiten mit einan - der haben, als zuweilen die Sonne mit der Erde, oder die Erde mit ihrer iuͤngern Schweſter dem Mon - de, wenn eine oder die beiden andern ſemimiſiſibin (verfinſtert werden.)

Nunmehr begaben ſich die gute Ouſlichſlo und die alte Manimhilititi, nachdem ſie die bei - den Eheleute gekuͤßt hatten, ruͤckwarts hinweg, und verſchloſſen die Thuͤr hinter ſich mit den Wor - ten: Morgen mit der Arikikikoh (Morgenroͤ - the) wollen wir unſere Gluͤckwuͤnſche bei euch ablegen.

Sobald ſie weg waren, ließ der iunge Prinz die chriſtiniſchen Putzmacherinnen kommen, um ſei - ne Gattin auszukleiden, und alles in Ordnung zu bringen: das dauerte nicht laͤnger als eine Stunde, die ihm ein Jahrhundert duͤnkte. Endlich befand er ſich allein mit ſeiner ſchoͤnen Jſhmichtriß, de - ren Jugend und Unſchuld ihm die ſuͤſſeſten Ver - gnuͤgungen verſprachen. Er genoß ſie, dieſe un - ausſprechliche Wonne und ließ auch trotz der Spoͤt - tereien der iungen Patagonen ſeine Gehuͤlfin daranTheil165Theil nehmen. Sehr zufrieden maͤſſigte die Schoͤ - ne, in Betracht der Zaͤrtlichkeit ihres lieben klei - nen Mannes, ihr wiederaufloderndes Feuer und be - wog ihn, auf ihrem Buſen einzuſchlafen.

Die beiden Damen unterlieſſen nicht, in Be - gleitung der Koͤnigin Chriſtine, den andern Mor - gen wieder zu erſcheinen. Man fand die Ehrenzeichen von dem Siege des iungen Prinzen: und da bey den Patagonen eben die Gewohnheit der Tuͤrken herrſcht, ſie im Triumph herumzutragen, ſo legte man ſie auf die Spitze eines Steckens von funfzig Fuß und die naͤchſte Anverwandtin der Jſhmichtriß, ſechs Jahr alt, ſetzte ſich auf eine Girafe*)Ein Thier, das ziemlich die Farbe des Leoparden und viel von der Geſtalt des Kamels hat. Ueberſ. und trug ſie, in Begleitung eines Chors iunger Maͤdchen, auf der ganzen Kolonie herum. Dies brachte manche patagoniſche Zunge zum Schweigen!

Die Feierlichkeiten dauerten drei ganzer Tage, nach deren Verſluß Victorin um die Erlaubnis bat, ſeine Abreiſe zu nehmen. Man geſtattete ihm ſolche ungern; denn die kleinen Leute hatten durch ihren Geiſt und durch ihre Artigkeit ſich die Liebe der Groſſen zu erwerben angefangen. Waͤre der Ab - ſtand nicht zu gros geweſen, ſo wuͤrde der Bruder der Jſhmichtriß, der groſſe Skhapopantighô, mit der Sophie ſehr wohl zu rechte gekommen ſein: aber hiezu war ſchlechterdings kein Mittel. AufL 3der166der andern Seite wolten verſchiedene iungo Patago - ninnen dem Beiſpiel der Jſhmichtriß folgen; aber ihre erfahrnern Muͤtter riethen ihnen davon ab: Ueberdies wollte Victorin die Vortheile der pata - goniſchen Verbindung blos ſeiner Familie vorbehal - ten. Man hatte alſo unter allen iungen Rieſin - nen, welche fuͤr die Chriſtinier einige Neigung be - zeigten, lediglich mit der artigen Mikitikipi der Muhme der Jſhmichtriß, Nachſicht, die man dem zweiten Sohn des Victorin, dem erfinderi - ſchen Alexander beſtimmte. Jn der Nacht des vierten Tages reiſte man mit der iungen Ehefrau, die bei dem Abſchiede von ihren Eltern einige Thraͤ - nen vergoß, zu Schiffe ab, und langte den naͤm - lichen Abend auf der Chriſtineninſel an, wo man der iungen Prinzeſſin einen ihrer Groͤſſe angemeſ - ſenen Pallaſt zur Wohnung anwies.

Jch muß ſogleich erinnern, daß Jſhmichtriß neun Monat nach der Hochzeit von einem ſchoͤ - nen Knaben entbunden ward, der zwei und einen halben Schuh groß war, welches ungefaͤhr die Haͤlfte von dem Wuchſe eines Patagoniſchen Kin - des betrug. Alexander uͤberbrachte die Nachricht davon, nebſt dem genauen Maaſſe des Kindes, ſo - gleich nach Patagonien. Die patagoniſchen Da - men hatten viel Freude daruͤber, weil ſie ſahen, daß aus den beiden Gattungen eine Mittelgattung entſtuͤnde, welche der ihrigen am naͤchſten kaͤme. Man ſtellte ſowohl auf der Jnſel Victorique als auf der Ehriſ ineninſel groſſe Freudenfeierlichkeiten des -halb167halb an. Jn der Folge gebahr die Fuͤrſtin noch fuͤnf andere Kinder; und alſo zwei mehr als die pata - goniſchen Weiber gewoͤhnlich zu bekommen pflegen. Kurz, um alles auf einmal zu ſagen, Alexander verheirathete ſich, wie ſein Bruder, mit der ſchoͤ - nen Mikitikipi und zeugte neun Kinder. Sophie ehelichte den verdrußvollſten Chriſtinier, ihren Vetter vaͤterlicher Seite. Die beiden Rieſinnen wurden gu - te Gattinnen; und mit der Zeit nahm man darauf Be - dacht, die Kinder der beiden Bruͤder mit einander zu verheirathen, ohne ihnen Patagoninnen oder Chriſti - nierinnen zu geben, um die Mittelgattung in einem gehoͤrigen Ebenmaaſſe zu erhalten, welches in den Augen beider Nationen, eben ihre Schoͤnheit war; denn die Patagonen fanden ſie niedlich, ohne zwerg - maͤſſig zu ſein, und die Chriſtinier maieſtaͤtiſch ohne coloſſaliſche Groͤße. Nun, da ſie in allen dieſen Stuͤcken befriedigt ſeyn werden, gehe ich zu andern Gegenſtaͤnden.

Victorin lebte nach der Verheirathung ſeiner Kinder gluͤcklich auf der Chriſtineninſel. Noch hatte der Tod ihm nichts entriſſen und er genoß das unausſprechliche Vergnuͤgen ſeinen Va - ter, ſeine Mutter, und den guten Herrn den Va - ter ſeiner Gattin, zu Zeugen ſeines Ruhms zu ha - ben. Er genoß, ſag ich, auch das Gluͤck der Chriſtine, und dies machte ihm weit mehr Ver - gnuͤgen, als das ſeinige. Seit zwanzig Jahren lebt er auf ſeiner Jnſel und ſahe alle ſeine Unter - nehmungen gedeihen. Welcher Sterbliche warL 4ie168ie gluͤcklich r! Ach das erhabenſte Gluͤck, unbekannt in den ver erbten Staͤdten, das ich aber empfinde, iſt, ſein Gluͤck gemacht und die Urheber ſeiner Ta - ge zu Zeugen eines erwuͤnſchten Erfolgs zu haben! zu ſehn ihre Freude, und die ſuͤſſen Empfindun - gen, womit wir ſie beleben; ſehn, welch ein ge - ſchmackvoller veriuͤngender Nektar es ihnen iſt, wenn ſie mit einem ſrommen Stolz von uns ſagen: Mein Sohn! (Denn der Ruhm des Sohns er - ſtreckt ſich weit mehr auf den Vater, als des Vaters auf den Sohn.)

Die Nachtmenſchen lebten ruhig in ihrer Ein - gezogenheit, worin niemand ſie ſtoͤrte: man brachte ihnen vielmehr Vorraͤthe und legte ſie vor den Ein - gang ihrer Hoͤle. Dies war eine Art von Zoll, wel - chen Victorin den wahren Eigenthuͤmern der Jnſel be - zahlt wiſſen wollte. Willſt du als Geſetzgeber dei - nem Volke Sittſamkeit und Gerechtigkeit beibringen, ſo mache es nicht wie der Europaͤer; ſei ſelbſt gerecht gegen ſchwache und wehrloſe Nationen: denn nichts war leichter, als alle Nachtmenſchen in einem Tage zu erwuͤrgen; aber Victorin machte ein Grundge - ſetz, ſie zu chren.

Er bekam bald Gelegenheit ſich ſeines Betra - gens zu freuen, und er muſte eine der ſanfteſten Regungen empfinden, als er Zeuge deſſen war, was ich ſogleich erzaͤhlen will. Nachdem man den Nachtmenſchen einige Jahrlang ununterbrochen die - ſe Geſchenke gemacht hatte, wurden ſie, die ſolchean -169anfangs ohne Aufmerkſamkeit anzunehmen oder ſie vielleicht fuͤr Schlingen anzuſehen geſchienen hatten, endlich von Dankbegierde geruͤhrt. Sie ſahen wohl ein, daß ſie den Tagemenſchen nicht Fruͤchte ei - nes Landes verehren konnten, das dieſe inne haͤtten und bebauten. Sie gingen daher und holten ihnen von weitenher einheimiſche Producte. Sie nahmen Ziegen und wilde Kuͤhe, banden ſolche und fuͤhr - ten ſie vor das Thor der Hauptſtadt Chriſtine - ville. Man gerieth, als man das erſtemal am Mor - gen dies fand, daruͤber in aͤußerſte Verwundrung. Victorin, der des Nachts herumflog und mit ſei - nen beiden Soͤhnen die muͤhſame Sorgfalt, fuͤr die Sicherheit ſeines Volks zu wachen, theilte, wuſte ſehr wohl, daß es Geſchenke der Nachtmenſchen waren. Jhres geringen Werths ungeachtet, war er von Freude durchdrungen; doch wollt er nichts davon ſagen. Er ließ ſie nehmen und im Tri - umph auffuͤhren. Am Abend muſte das fuͤr die Nachtmenſchen beſtimmte vermehrt werden und er befahl den Vornehmſten der Nation, aufzulauren, um die Urheber dieſer Freundſchaftsbezeigung zu entdecken. Gegen zwei Uhr nach Mitternacht ſah man die Nachtmenſchen mit einem Freudengeſchrei neue Geſchenke bringen. Alle Nachtweiber, wel - che vormals die Perſonen des geſcheiterten Schifs gechlicht hatten, begleiteten die Aelteſten, worunter auch der gute Herr und der Vater des Victorin, ihrer hohen Jahre ungeachtet ſich befanden. Man fragte die Weiber, was dies Geſchrei bedeute? Die - ſe liefen ihren Landsleuten entgegen, miſchten ſichL 5un -170unter ſie, und kamen, nachdem ſie mit ihnen ge - ſprochen, tanzend und mit den beſten Brodfruͤch - ten der Jnſel wieder zuruͤck. Sie erzaͤhlten, daß ihre Nation endlich das Wohlwollen der Tagemen - ſchen gegen ſie eingeſehn haͤtte, und zu Unterhal - tung der Freundſchaft, Geſchenke fuͤr Geſchenke braͤchten, daß ſie einen Geſang verfertigt haͤtten, der alſo lautete:

Nacht-Sprache.
Mhi-rhi lhi, lhi, lhi, lhi, lhi;
Woͤrtliche Ueberſetzung.
Tagemenſch gut, gut, gut, gut, gut;
Mhi-rhi pih bblhi khui appi;
Tagemenſch der ſein Gut uns giebt;
Mhi-rhi nhi-klhi rhappih;
Tagemenſchen ihr ſeid nicht boͤſe;
Mhi-rhi nhi khrrih ppih;
Tagemenſchen ihr bringt uns nicht um;
Mhi-rhi khni-fhîh Mhi-ghrrih;
Tagemenſchen die ihr den Nachtmenſch liebt;
Mhi-rhi ppih khui-fhîh-brhi!
Tagemenſchen wir lieben auch euch!

Seht ihr lieben Mitbuͤrger, ſprach hier - auf die Koͤnigin Chriſtine, ob mein Mann bei ſeinem menſchenfreundlichen Betragen nicht rechtge -171gehandelt hat. Wir haben Freunde die uns nuͤtzlich ſein koͤnnen: laßt ſie uns durch gegenſeitige innige Bruderliebe zu erhalten ſuchen. Drauf antworte - te ihnen Victorin, welcher die kirrende Sprache der Nachtmenſchen gelernt hatte, durch folgende Verſe, die er den Nachtweibern auswendig lernen, und ih - ren Landsleuten vorſingen ließ:

Wir als Tagmenſchen eute Bruͤder
Wir wollen eure Freunde ſeyn
Nehmt dies Verſprechen, daß wir willig
Uns wechſelſeitig Dienſte weihn.
Nachtmenſchen, lebet ohne Sorgen!
Am Tage wachen wir fuͤr euch;
Des Nachts beſchuͤzzet unſre Grenzen;
Denn Menſchen bleiben ſtets ſich gleich.

Er gab ſich alle Muͤhe, denen Nachtweibern die Erklaͤrung dieſer Verſe zu geben, und ihnen den wahren Sinn derſelben einleuchtend zu machen, damit ſie dieſe Kenntniſſe ihren Landsleuten mit - theilen moͤchten; und er hatte nach einer Stunde das Vergnuͤgen ſie mit ſechs Alten und eben ſo - viel jungen Leuten beiderlei Geſchlechts zuruͤckkom - men zu ſehn. Die an Tagemaͤnner verheirathe - ten Nachtweiber dienten zu Dolmetſchern beider Nationen. Ungeachtet die Nachtmenſchen einen auſſerordentlich eingeſchraͤnkten Verſtand haben, hielt man doch folgende Unterredung mit ihnen.

Alter Nachtmenſch. Jch ſehn euch: ihr ſehn mich: ich ſehr froh: ihr es ſein auch?

Victo -172

Victorin. Wir ſind ſehr erfreut euch zu ſehn; und zu ſprechen und wir ſegnen den gluͤcklichen Au - genblick, der uns vereinigte: wir ſegnen die braven Wei - ber eurer Nation, die wir aus Noth nahmen, die aber das Band unſrer Vereinigung ſein werden. (Die Weiber brachten lange zu, dem alten Nachtmenſchen dieſe letzten Worte begreiflich zu machen.)

Der Alte. Jhr gut, gut, gut. Vic - torin gab ihm die Hand. Die Weiber erklaͤr - ten ihm ſein Verlangen; und der Alte reichte mit Zittern eine rauche krumme Pfote hin. So hiel - ten Victorin und er ſich eine Weile. Endlich rief der Tagemenſch mit weinenden Augen:

O Sonne, Vater der Welt, nie haſt du zu einer bewundernswuͤrdigern Verbindung geleuch - tet! O Erde, gemeinſame Mutter, huͤpfe vor Freuden bei Erblickung der Vereinigung deiner Kinder, welche unuͤberſteigliche Schranken zu trennen ſchienen. (Auch dieß erklaͤrten die Weiber, ungeachtet Victorin es in beiden Sprachen, der franzoͤſiſchen und kirrenden geſprochen hatte. Aber, ich wiederhole es, der Verſtand der Nachtmenſchen iſt ſo eingeſchraͤnkt, das die aus ihnen herſtam - menden, durch den Umgang mit ihren Maͤnnern ein wenig aufgeklaͤrtern Weiber, alle Muͤhe hat - ten, es ihnen vollkommen deutlich zu machen, Noch nie hatten dieſe Leute die Sonne ſehn koͤn - nen; ſchon die Morgenroͤthe war hinlaͤnglich ſie in ihre Hoͤlen zu treiben.

Nach173

Nach dieſem feierlichen Vertrage begaben ſich die Nachtmenſchen wieder nach Hauſe, begleitet von einigen der dolmetſchenden Weiber, um der Na - tion eine Beſchreibung von dieſem Vorgange zu machen: denn man beſorgte etwa ein Misverſtaͤnd - niß von Seiten der Abgeordneten. Die Maͤnner dieſer Weiber gingen mit, um ſie wieder nach Hau - ſe zu begleiten; doch begaben ſie ſich nicht mit in die Hoͤhle. Nach volzognem Auftrage kehrten ſie bey hellem Tage, gefuͤhrt von ihren Maͤnnern, weil ſie nicht mehr ſehn konten, wieder zuruͤck.

Es war eine gar ſonderbare Sache um dieſe Haushaltungen. Des Morgens ſtand der Mann auf und die Frau legte ſich nieder: des Abends erhob ſich die Frau und verrichtete alle ihr oblie - gende und angemeſſene Geſchaͤfte, waͤhrend der Mann ruhte. Uebrigens wollten die Arbeiten die - ſer Weiber wenig ſagen: ſie waren unfaͤhig zum Fleiſſe: ſie reinigten blos das Haus und begoſſen die Gartenfruͤchte. Dies war der Hauptgrund, war - um man beſchloß, in Zukunft dieſelben nicht weiter zu ehelichen. Aber Victorin freute ſich, daß die Noth ihn anfangs dazu gezwungen hatte. Jn - deß nahmen die Kinder aus dieſen Ehen leicht eine Erziehung an, die man ihnen aufs beſte und ſorg - faͤltigſte gab. Sie hatten keinen andern Fehler, als daß ſie am Tage mit den Augen blinzten, mit ei - ner unaufhoͤrlichen, heftigen Bewegung der Augen - lieder, die ſie iedoch nicht am Sehen hinderte. Sie ſahen auch in der Nacht, und man beſchloß in derFol -174ge aus dieſer vermiſchten Gattung einigen Nutzen zu ziehn, weil ſie dieſe Kraft mit den Weibern ge - mein hatten, von dene[n]ſie waren geboren worden. Aber man gewoͤhnte dieſe Kinder, eines gewiſſens Hanges zum Gegentheil ungeachtet, der bei einigen auffallender als bei den andern war, des Nachts zu ſchlafen, und wie andre Menſchen am Tage zu arbeiten; und dieſe Gewohnheit ward bei ihnen zur andern Natur.

Dies iſt was ich ihnen von der Vermiſchung der Tage - und Nachtmenſchen gern ſagen wollte. Jch ſetze noch hinzu, daß das gute Vernehmen ſich zwiſchen beiden Nationen erhaͤlt. Wenn ein Tage - menſch des Nachts ſich verirrt hat, fuͤhren die Nachtmenſchen ihn aufs liebreichſte wieder zuruͤck bis an ſein Haus. So bringt man auch die Nacht - menſchen, welche vom Tage uͤberraſcht werden, gleich freundſchaftlich wieder an ihre Hoͤhle. Was noch mehr iſt, da die Nachtmenſchen gewahr wurden, daß die Feldarbeiter, ihre Ochſen des Nachts wei - den und durch ihre Kinder huͤten lieſſen, um ſie des Morgens nach Hauſe zu treiben; ſo erboten ſie ſich zu dieſem Geſchaͤft. Sie huͤten demnach des Nachts die ganze Heerde und bringen ſie ge - treulich gegen die Morgenroͤthe vor die Thore von Chriſtineville und den uͤbrigen Landguͤtern: nunmehr fuͤhren ſie ſolche ſogar in die Staͤlle. Solche Dienſt - leiſtungen machen einen auſehnlichen Vortheil aus. Das Vieh wird durch die Hitze und Fliegen nicht abgemattet, und es arbeitet oder ruhet am Tage,ohne175ohne ſeinen Herrn durch die erforderliche Sorgfalt beſchwerlich zu fallen.

Hier unterbrach Salocin-emde-fitér den Suͤdlaͤnder: Ungluͤckliche Peruvianer! warum war euer Eroberer kein Victorin, ſtatt eines Pi - zarro oder eines Cortez! Wir wuͤrden jetzt eure gluͤckliche und bluͤhende Nation das verlaſſene Ame - rika bevoͤlkern und uns Beiſtand einer aufrichtigen Freundſchaft in dieſen unbekannten Gegenden lei - ſten ſehn! Ueber eure Tirannen muͤſſe all das boͤ - ſe kommen, das ſie euch angethan haben! Ach ohne das Ereignis beim Anfange dieſes Jahrhun - derts wuͤrde mein Abſcheu erſt vollkommen ſein! und dieſe erniedrigte und aberglaͤubiſche Nation wuͤr - de faſt eben ſo zu bedauern ſein, als ihr!

Der Suͤdlaͤnder lachte uͤber dieſen lebhaften Ausfall und fuhr fort:

Dritte Jnſel.

Da Victorin im Schooße der Gluͤckſeligkeit ſein Volk auſſerordentlich vermehrte, ſeine Familie gluͤcklich, ſeine Schwiegertoͤchter ſowohl, als die liebenswuͤrdige Sophie, die den Antonin, den Sohn einer ſeiner Muhmen vaͤterlicher Seite zur Ehe hat - te, fruchtbar, das heißt, ſchwanger ſah, ſo zoͤgert er nicht, auf neue Entdeckungen auszugehn. Sei - ne beiden Soͤhne, beſonders den iuͤngern, Alexander, einen aͤuſſerſt lebhaften und erfinderiſchen Juͤngling, der die Fluͤgel ſeines Vaters ungemein vervollkommthat -176hatte, nahm er hierin zu Gehuͤlfen. Nachdem er die Verwaltung der Geſchaͤfte ſeinem aͤlteſten Soh - ne, unter Aufſicht der Mutter, uͤbergeben hatte, machten ſie ſich an einem ſchoͤnen Morgen beide auf, und richteten ihren Weg in der laͤngern Linie der Chriſtininſel nach dem Aufgange zu. Sie zo - gen uͤber ein groſſes Meer hin, wo ſie die Grenzen von Victorique ſehen konnten: aber kaum waren ſie zwei Grad, oder funfzig Meilen, druͤber hinaus, als ſie eine weitlaͤuftige Jnſel entdeckten, die iedoch der Chriſtineninſel an Groͤße nicht beikam. Jhrer Gewohnheit nach ſchwebten ſie etliche Tage lang uͤber dieſe Jnſel hin, um deren Bewohner zu ent - decken; aber ſie wurden nichts als Geſchoͤpfe ge - wahr, die auf vier Fuͤſſen gingen, und deren ver - ſchiedene ihnen voͤllig unbekannt waren. Endlich lieſſen ſie ſich mit der Vermuthung, daß dieſe Jn - ſel auch noch von bloſſen Nachtmenſchen bevoͤlkert ſey, auf einem Berge nieder.

Nach einigen zu ihrer Sicherheit genommenen Maasregeln, legten ſie ihre leichten Fluͤgel an, und wagten einen von ihrem Aufenthalte etwas entfernten Spaziergang. Sie fanden gebahnte We - ge, welches ſie in ihrer erſten Meinung beſtaͤtigte; aber dieſe Wege waren mit Baͤumen bedeckt und ſo niedrig, daß man nicht anders als auf vier Fuͤ - ßen drauf hingehen konnte. Sie wagten es daher nicht, denſelben zu folgen, weil es unmoͤglich gewe - ſen waͤre, ſich daſelbſt in Flug zu ſetzen.

Waͤh -177

Waͤhrend ſie ſich in dieſer Ungewisheit befan - den, ſahe Alexander, aufmerkſamer als Victorin, ein haarichtes Thier auf vier Fuͤßen, einem Affen ſehr aͤhnlich, eine krumme Hand nach ſeinem Vater ausſtrecken.

Er that einen Schrei, und da ihre leichten Fluͤ - gel allezeit in Bereitſchaft waren, ſo erhoben ſie ſich mit einem einzigen Schwunge des Paraſols ein zwanzig Fuß in die Luft. Jndem ſie ſo ſchwebten, ſahen ſie zwiſchen den Baͤumen ein Hundert dem erſtern aͤhnliche Thiere hervorkommen, wel - che ihren Flug betrachteten und deren verſchiedene ſich auf die Hinterfuͤſſe ſtellten. Sie bemerkten zu - gleich, daß dieſe Thiere, ungeachtet ſie mit Haaren bedeckt, doch eine Mittelgeſtalt zwiſchen Affen und Menſchen hatten. Ja ſie hoͤrten ſolche ſogar ſprechen, indem ſie einander anſahen, voͤllig wie die Affen, wenn ſie ſchreien. Doch war dies Ge - ſchrei zuſammenhaͤngend; welches eine Verbindung der Begriffe, mit einem Worte, eine Sprache ver - rieth. Dies ſind die Bewohner dieſer Jnſel, ſprach Victorin zu ſeinem Sohn: der Menſch kann in der Geſtalt, Haut, Bewegung des Koͤrpers ver - ſchieden ſeyn, zu dem Tage - oder Nachtgeſchlecht gehoͤren: aber die Vernunft, dieſer goͤttliche Strahl zeichnet ihn uͤberall aus. Dieſe Weſen da reden mit einander und verſtehen ſich: ſieh nur, mein Sohn, ſie berathſchlagen und uͤberlegen zuſammen; ſie blicken auf uns; dort gehen einige aufrecht und haben das Anſehn, uns nachzuahmen, indem ſied. fl. Menſch. Mauf178auf uns weiſen. Unſere kuͤnſtlichen Fluͤgel muͤſſen alle ihre Begriffe verwirren. Wuͤrden ſie doch wohl bei Europaͤern, wenn dieſe ſie nicht unterſu - chen koͤnnten, das nehmliche thun! Wir wollen ih - nen Zeichen der Freundſchaft geben und doch ſehen, ob ſie ſolche verſtehn werden.

Sogleich lieſſen ſich die beiden fliegenden Maͤn - ner auf einen freien Platz nieder, und gaben den Affenmenſchen daſelbſt verſchiedene Zeichen der Freundſchaft, welche ſie anfangs mit Erſtaunen anſahen. Drauf gingen Victorin und ſein Sohn einige Schritte vorwaͤrts und ſprachen mit ſanften Worten und einem liebkoſenden Tone: Kommt, kommt, meine Freunde. Die Affenmenſchen ſchienen mit einander zu berathſchlagen; und nach einer ſtummen Ueberlegung, begleitet von dem ein - zigen Worte Rrrhi, trat ein einziger Alter hervor. Victorin und ſein Sohn hielten es fuͤr ihre Schul - digkeit, ihnen auf dem halben Wege entgegen zu gehn; dach waren ſie ſorgfaͤltig auf ihrer Hut.

Jn der Entfernung von einigen Schritten ſuch - ten ſie in den Augen der Affenmenſchen zu leſen. Sie fanden ſolche falſch und verdoppelten daher ih - re Vorſicht, gingen jedoch weiter vor: als ſie ein - ander beinah beruͤhren konnten, merkten ſie, daß alle uͤbrigen Wilden ſich in Bewegung ſetzten, um auf ſie loszukommen. Sie winkten ihnen daher mit der Hand zuruͤckzubleiben, und man verſtand dies Zeichen. Aber Alexander gab ſeinem Vaterzu179zu erkennen, daß ſie umringt wuͤrden und daß die hintern den Kreis ſchloͤſſen: doch hielt ein Zeichen auch dieſe zuruͤck. Endlich kamen die beiden Fliegenden und der alte Wilde bis auf vier Schritt zuſammen. Victorin machte mit Freundſchaftsbezei - gungen den Anfang und uͤberreichte ihm ein Ge - ſchenk von Fruͤchten der Chriſtineninſel, welche der Alte begierig ergriff, betrachtete und verzehrte. Dem Anſchein nach fand er ſie gut. Jndeß naͤherte ſich der Haufe der Wilden, ſobald man nur im ge - ringſten die Augen von ihnen verwandte, unver - merkt, weil ſie glaubten, daß die fliegenden Maͤn - ner nicht darauf achteten; aber dieſe wehrten ſie beſtaͤndig durch Geberden und mit der Hand ab; endlich noͤthigten ſie dieſelben gar ſich wieder zuruͤck zu begeben, indem ſie Anſtalt fortzufliegen machten. Sie fuhren fort ſich durch Zeichen mit dem Alten zu unterhalten, der begieriger aufs Eſſen als aufs Antworten war. Sie verſuchten mancherlei Fra - gen uͤber ſeine Nation, um zu wiſſen, ob ſie Waf - fen und Wohnungen haͤtten? welches ihre Nahrung waͤre? Aber der Alte ſchien ſie nicht zu verſtehn. Endlich thaten die uͤbrigen eine Art von Schrei; ſogleich kehrte der Alte wieder zum Haufen, ohne daß er ihm etwas zu ſagen ſchien. Hingegen trat ein andrer Affenmenſch ganz allein hervor, der viel iuͤnger und dem Anſehn nach kraftvoller war. Er naͤherte ſich behutſam; ſtand ſtille und ſahe ſich um, als ob er die Bewegungen der beiden Men - ſchen haͤtte ausforſchen wollen. Jm Augenblick, als ſie ihm am wenigſten auf ihrer Hut zu ſeynM 2duͤnk -180duͤnkten, ſprang er herzu, und wollte ſich auf ei - nen von ihnen werfen; aber ſie wichen ihm aus. Zu gleicher Zeit drang der Haufe der Affenmenſchen, die ihr Augenmerk auf den Abgeordneten gerichtet hatten, wie ein Pfeil auf ſie los, um ihn zu unterſtuͤtzen.

Victorin und ſein Sohn lernten daraus die boshafte Natur der Affenmenſchen kennen. Sie ſahen kein ander Mittel, einige Verbindung mit ihnen zu erlangen und ſie kennen zu lernen, als ein paar Junge von ihnen zu entfuͤhren, ſolche auf die Chriſtineninſel zu ſchaffen, ſie da gut zu erhalten, ſie zahm zu machen ſuchen, ihre Sprache zu ler - nen und ihnen ein wenig franzoͤſiſch zu lehren. Dieſen Plan fuͤhrten ſie mit leichter Muͤhe aus. Sie flogen uͤber die Affeninſel (ſo nannten ſie die - ſelbe, ſo wie ſie anfangs die Chriſtineninſel die Nacht - inſel genannt hatten) und lieſſen ſich, als ſie auf einem freyen Platze die Affeniugend ſpielen ſahen, mitten unter ihnen nieder und erſchreckten ſie, er - griffen hierauf einen Knaben von ungefaͤhr funf - zehn bis ſechszehn Jahren und ein Maͤdchen von gleichem Alter und fuͤhrten ſie nicht ohne Muͤhe fort, denn ſie waͤren beinah von ihnen zerfezt wor - den. Doch kamen ſie endlich bis zur Chriſtinen - inſel und uͤbergaben ſolche in die Haͤnde des iungen von B-m-t und ſeiner Gemalin Jſhmichtriß, mit Bitte, alles anzuwenden und ſie zu beſaͤnfti - gen und zahm zu machen. Nachdem ſie ihre Fa - milie umarmt und ihre Vorraͤthe wieder erſetzt hat -ten,181ten, zogen ſie weiter uͤber die Affeninſel hin ohne ſich aufzuhalten und kamen noch denſelben Abend an eine andere Jnſel, die von einer groͤſſern blos durch eine Meer-Enge von einer halben Viertel - meile in der Breite getrennt war.

Vierte Jnſel.

Jhrer Gewohnheit nach ſuchten ſie ſich auf ei - nem Felſen niederzulaſſen, um die Nacht daſelbſt in Ruhe zuzubringen. Mit dem Tage flogen ſie in der Abſicht die Bewohner zu entdecken uͤber die Jnſel hin. Sie bemerkten deren keinen; welches ſie aber auch nicht wunderte. Sie lieſſen ſich daher an einem offenen Orte nieder und gingen mit beſtaͤndigem Umſehn vor ſich hin. Hier fan - den ſie Wege wie auf der Affeninſel und eben ſo niedrig. Jndem ſie nun den Eindruck der Fußtapfen auf denſelben unterſuchten, hoͤrten ſie ein klagendes Geheul. Bei Aufhebung der Augen ſahen ſie auf den Baͤumen, verborgen unter den Blaͤttern, eine Art von Baͤren, die ihre Aufinerk - ſamkeit auf ſie gerichtet hatten; zwei Schritte davon einen Mann und eine Frau von eben der Gattung, die anfingen zu klettern. Sogleich er - hob Alexander ſich in die Hoͤhe der Baͤume und naͤherte ſich ſo viel moͤglich dieſer neuen Gattung von Weſen, die ihm voͤllig unbekannt waren: denn dieſe Baͤre hatten keine lange Schnautze wie ge - woͤhnlich, ſondern ein rundes Geſicht wie die klei - nen engliſchen Doggen. Victorin blieb auf derM 3Erde182Erde und beobachtete ſie beſtens, waͤhrend ſein Sohn einem iungen Baͤrkinde ſo nahe flog, daß es erſchrak und fiel. Alexander warf ſich ſogleich nach, um es in der Luft zu erhaſchen und fuͤhrt es davon. Alsbald flog auch der Vater davon. Die Baͤren ſtieſſen uͤber die Entfuͤhrung des Kin - des ein fuͤrchterliches Geſchrei aus und ſtiegen ſchnell von ihren Baͤumen, um ſich zu verbergen.

Als die beiden Fliegenden auf ihren Felſen ka - men, legten ſie das Baͤrkind auf die Erde, gaben ihm Zeichen der Freundſchaft und boten ihm ver - ſchiedene Eßwaaren an: aber es war ſo erſchrocken, daß es ſich todt ſtellte und die Augen verſchloß. Sie konnten es daher leicht betrachten und fanden, daß ſei - ne ganze aͤuſſerliche Bildung einem Menſchen und blos die Haut einem Baͤr aͤhnlich war, doch wa - ren ſeine Finger mit einer Art von Krallen verſehn, und ſeine Naſe, die zwar in einiger Vertiefung zwiſchen den beiden Wangen ſtand, glich viel der Naſe eines Baͤren. Man behielt es ſo lange, bis es dieſer Verſtellung uͤberdruͤſſig ward, als es einige Bewegungen wagte, trug man es herunter vom Felſen, gab ihm verſchiedene Sachen in die Haͤnde und ließ es in Freiheit. Sogleich floh es mit einer auſſerordentlichen Schnelligkeit auf ſeinen zwei Fuͤſſen mit einem Klaggeſchrei den Baͤren aͤhn - lich davon. Auf dies Geſchrey kamen eine Men - ge ſeines gleichen auf ihn zugelaufen, die es, weil es allein war, zu fragen ſchienen, was ihm fehle? Es zeigte ihnen den Felſen und beredte ſie ihm zufolgen.183folgen. Bei dieſer uͤberlegten Handlung zweifelten Victorin und Alexander keinesweges mehr, daß dies Menſchen waͤren. Sie flogen mit dem Ent - ſchluſſe davon, wo moͤglich ein Maͤnnlein und ein Weiblein davon mit auf die Chriſtineninſel zu neh - men. Die Ausfuͤhrung dieſes Vorhabens ward ih - nen aber ſchwer. Das Baͤrkind, welches ſie weg - genommen hatten, war ſo erſchrocken, daß es auf dem ganzen unbedeckten Theile der Jnſel Lerm mach - te. Aber die beiden Fliegenden verſteckten ſich etliche Tage und bekamen dadurch Gelegenheit ein paar iunge Leute aufzufinden, die ſie wegnahmen, und auf die Chriſtineninſel trugen.

Hier fanden ſie, daß der Knabe und das Maͤd - chen von dem Affengeſchlecht ſchon ziemlich gluͤckli - che Fortſchritte gemacht hatten. Sie wurden von ihnen erkannt und erhielten ſogar einige Freund - ſchaftsbezeigungen; welches ſie fuͤr eine gute Be - deutung hielten. Jndeß hatte ſich ein Zufall er - eignet, der beinah ein Misverſtaͤndnis zwiſchen den Tage - und Nachtmenſchen veranlaßt haͤtte: der iunge Affenmenſch ging einen Abend mit ſeinem Fuͤhrer ſpazieren, und ſahe einen Nachtmenſchen ſorglos vor ſich hingehn. Den Augenblick fuhr er ihn auf den Hals und wollte ihn mit abſcheu - lichem Geſchrei erwuͤrgen, wenn verſchiedene Chri - ſtinier ihm denſelben nicht aus den Haͤnden gerun - gen haͤtten. Dieſer erſchreckte und verwundete Menſch machte Lerm bei ſeinen Landsleuten, wel -M 4che184che dieſe Nacht nicht aus ihren Hoͤlen gingen. So - bald man dies merkte, ſchickte man die an Tage - menſchen verheiratheten Nachtweiber, deren ich be - reits erwaͤhnt habe, und ließ ihnen die Veranlaſſung dieſer Begebenheit erklaͤren, mit der Verſichrung, daß es nicht wieder geſchehn ſollte. Was den iun - gen Affenmenſchen anlanget, ſo ſchien er den groͤ - ſten Abſcheu gegen die Nachtmenſchen zu haben, und wunderte ſich ſehr, als man ihn ein wenig beſaͤnf - tigt hatte, daß man dergleichen Misgeburten dul - dete. Er verſicherte, daß ſie alle Affenmenſchen, ſo - viel ſie deren faͤnden, umbraͤchten. Man gab ſich daher Muͤhe, ihm menſchlichere Geſinnungen beizu - bringen; aber dieſe Affenmenſchen ſind ſo dumm, daß er wenig Hoffnung blicken ließ, ein gewiſſes feines Gefuͤhl anzunehmen. Die ungeſchliffenſten Negern ſind Genies in Vergleichung dieſer Affen - menſchen. Victorin befahl die beiden iungen Leute ferner zu unterrichten, und rieth hoͤchlich an, ih - nen die iungen Baͤrmenſchen nur mit der groͤſten Behutſamkeit ſehn zu laſſen, aus Furcht ſie moͤch - ten in Feindſchaft gerathen und einander Schaden zufuͤgen.

Nach einem Aufenthalte von einiger Zeit flog Victorin mit ſeinem Sohne wieder aus, um ihre Entdeckungen fortzuſetzen. Sie nahmen den nem - lichen Weg, flogen uͤber die Affen - und Baͤrinſel hinaus und wandten ſich, nach Zuruͤcklegung einer groſſen Strecke Meeres, gegen die Polſeite. Um den funfzigſten Grad ſuͤdlicher Breite entdeckten ſieein185ein Schif, zu deſſen naͤherer Betrachtung erwarte - ten ſie die Nacht. Sie wurden gewahr, daß es der Capitain Bouvet war; und da Alexander ge - hoͤrt hatte, daß die Englaͤnder unlaͤngſt ein See - glas erfunden haͤtten, um die Schiffe in einer dun - keln Nacht zu entdecken, ſo zweifelt er nicht, daß ein Vorrath davon ſich auf dem Schiffe des Capi - tains befinden wuͤrde: er that ſeinem Vater daher den Vorſchlag ſich Muͤhe zu geben eins davon zu erlangen. Zu dem Ende paßten ſie den Angenblick ab, wenn der Steuermann ſich deſſen bedienen wuͤr - de. Sie durſten nicht lange warten. Der Capi - tain kam ſelbſt heraus und richtete ſein Seeglas. Jn dem Augenblick fuhr Alexander, deſſen neu er - fundene Fluͤgel wenig Geraͤuſch machten, mit der groͤſten Geſchwindigkeit bey dem obern Boden vor - bei und ergrif das Glas. Parblen, ſprach der Capitain, mein Glas war ins Waſſer! weiß ich doch nicht wo der Windſtoß herkommt! Die Luft iſt ruhig! Man muß ſich auf dieſer Mcereshoͤhe vor ploͤtzlichen Windſtoͤſſen in Acht nehmen. Drauf ging er wieder hinein um ein ander Glas zu hoh - len. Waͤhrend er es zurechte machte, entfernten ſich Victorin und Alexander, weil ſie nicht erkannt ſein wollten. Dies Glas iſt ihnen nun ſehr nuͤtzlich nicht nur des Nachts ſondern auch am Tage, um in die Waͤlder hineinzuſehn.

Der Augenblick zu Entdeckungen am Suͤdpol war noch nicht erſchienen: die beiden fliegenden Menſchen ſahen nichts als ein mit Eis beladnesM 5Meer:186Meer: ſie naͤherten ſich daher dem Aequator und lieſſen ſich auf der Jnſel neben den Baͤrmenſchen nieder.

Fuͤnfte Jnſel.

Ungeachtet dieſe Jnſel beinah an die vorige ſtieß, ſo waren die Bewohner doch ein wenig ver - ſchieden, naͤmlich in Ruͤckſicht des Menſchenge - ſchlechts, denn die Thiere waren daſelbſt die naͤm - lichen. Vermuthlich ruͤhrt der Grund dieſes Un - terſchieds daher, daß die Thiere uͤber die Meerenge ſchwammen und ſich vermiſchten, da die Menſchen im Gegentheil wahrſcheinlich allen Umgang mit einander vermieden und keine Vermiſchung unter - nommen hatten. Victorin und ſein Sohn hat - ten ſich kaum auf einer Anhoͤhe niedergelaſſen, als ſie um ſich her ungefaͤhr ein zwei bis dreitauſend Hunde bellen hoͤrten. Sie erſchraken und waren auf ihrer Hut. Drauf ſahen ſie aus einem dich - ten Walde dieienigen Geſchoͤpfe hervorkommen, wel - che das uͤberraſchende Gebelle machten; einige gin - gen mit heftigem Bellen auf ihren Hinterfuͤſſen, andere aber liefen auf vieren. Die fliegenden Men - ſchen erhoben ſich ſogleich ein zwanzig Schritt und warfen dieſem den Hunden aͤhnlichen Menſchenge - ſchlecht einige Lebensmittel hinunter, welche ſie au - genblicklich verzehrten, die fliegenden Menſchen ſo - dann wieder anſahen, und bellten, als ob ſie noch mehr verlangten. Dieſe warfen daher noch etwas hin, und machten verſchiedene Zeichen der Freund -ſchaft187ſchaft die man ſehr gut verſtand. Alle dieſe Ge - ſchoͤpfe hatten Schweife: das Maͤnnliche Geſchlecht war mit einem Haar ungefaͤhr wie die Pudel, aber etwas kuͤrzer und duͤnner bedeckt, das weibliche aber hatte in Anſehung ſeines duͤnnen Haarwuch - ſes, viel Aehnliches mit den Windſpielen unſrer Damen. Victorin und ſein Sohn hielten es fuͤr unmoͤglich, das Herablaſſen unter dieſen Haufen zu wagen, aber ſie nahmen ſich vor zwei davon nemlich ein Maͤnnlein und ein Weiblein, ihrer Ge - wohnheit nach, zu entfuͤhren und ſie auf die Chriſtinen - inſel zu tragen und daſelbſt in die Unterweiſung zu geben. Vorher nahmen ſie iedoch einen von dieſen Hundmenſchen auf einige Stunden mit ſich, lieſſen ihn aber, nachdem ſie ihn aufs beſte begegnet hat - ten, wieder gehn. Dieſer ergrif nicht wie die uͤbri - gen Thiermenſchen die Flucht, ſondern folgt ihnen, mit Wedeln des Schwanzes und mit Liebkoſen nach. Sie verlieſſen ihn aber, mit allen erſinnlichen Merk - malen der Freundſchaft, damit er ſeinen Landsleuten eine gute Meinung von ihnen beibringen moͤchte. Noch denſelben Tag wurden ſie eines Knaben, und eines Maͤdchens von dem Hundegeſchlecht durch Dar - reichung einiger Lebensmittel habhaft, und brachten ſie auf die Chriſtineninſel. Von da zogen die bei - den fliegenden Menſchen wieder aus, und ſetzten ih - ren Flug uͤber die Jnſel der Hundmenſchen, wel - che ſie die Cyniſche Jnſel nennten, hinaus.

Sechſte188

Sechſte Jnſel.

Sobald ſie an die neue Jnſel kamen, entdeck - te Alexander deren Bewohner Parbleu! ſagt er zu ſeinem Vater, das ſind haͤßliche Menſchen. Aber laſſen ſie uns ſolche doch ſehn! Wir wollen uns auf der Ebene dort, bedeckt mit umgeworfe - nen und vermoderten Baͤumen, niederlaſſen und die - ſe Herrn betrachten! Dies geſchah. Der erſte Gegenſtand, den ſie unter den umgeworfenen Baͤumen entdeckten, war ein an dem Stamme eines ſolchen Bau - mes ſitzendes Frauenzimmer, welches ſechs Bruͤſte und an ieder ein Kind hatte, die nicht uͤbel den kleinen Ferkeln glichen; weiter hin einen Schweinmann mit ſehr muͤrriſchen Geſichte. Alexander fing an zu lachen. Victorin betrachtete ſie mit Verwun - derung und hoͤrte die Frau ungefaͤhr wie eine grun - zende Sau ihre ſaͤugenden Kinder liebkoſen. Das ſind hier ſicher Schweinmenſchen, ſprach er zu ſeinem Sohn: ſie muͤſſen wild aber wenig boͤsar - tig ſeyn. Hiermit naͤherten ſie ſich dem Sauwei - be, welches bei Vernehmung ihrer Ankunft den Kopf, der etwas von dem Geſichte einer Frau und von dem Ruͤſſel eines Schweins hatte, in die Hoͤ - he hob, einen Schrei that, und weil ſie ihre ſie - ben Kinder mitnahm, ziemlich langſam davon lief. Die Flucht des Mannes war weit geſchwinder. Alexander verrannte ihr den Weg, ſtellte ſich vor ihr, und bot ihr mit einer freundſchaftlichen Mie - ne Lebensmittel an. Die Frau machte eine demuͤ - thige Bewegung und ſchien ihr Leben fuͤr die Er -haltung189haltung ihrer Jungen darzubieten. Aber Alexan - der macht ihr durch Ueberreichung einer Brod - frucht, die ſie beſchnoperte und , wieder Muth. Drauf ließ er ihr freien Weg und entfernte ſich. Sie ſchien daruͤber ſehr zufrieden und ging ganz gelaſſen fort, ſahe ſich iedoch oͤfter um. Sobald ſie einen Wald mit noch ſtehenden Baͤumen, die eine Art von Eichen zu ſeyn ſchienen, erreichte, grunz - te ſie heftig. Die Mannsperſon, welche ſie verlaſ - ſen hatte, kam wieder zu ihr und nun hoͤrte man ein entſetzliches Gegrunze. An die ſechshundert Schweinmenſchen kamen aus dem Holze nach den zwei fliegenden Maͤnnern zu. Sie gingen auf vier Fuͤſſen, traten aber ſehr oft auf zweien in die Hoͤhe, nm ſich umzuſehn und zu ſchnopern. Vic - torin und ſein Sohn flohen auf einen Baum und ſetzten ſich. Die Schweinmenſchen kamen bis zum Fuß deſſelben und fingen ſogleich an die Erde mit ihrer Naſe, die wie ein Hauer geformt war, zu untergraben, in der Abſicht dieſen Zufluchtsort der beiden unbekannten Weſen niederzuſtuͤrzen. Um ih - nen aber dieſe Muͤhe zu erſparen; erhoben ſich die fliegenden Menſchen und ſchwebten uͤber dem Hau - fen, der ſeine Arbeit unterließ, ſich aufrichtete und ſtillſchweigend ſie betrachtete. Drauf fingen ſie an gegen einander zu grunzen. Jhre ſehr langen ziemlich weißen aber ein wenig duͤnnſtehenden Bor - ſten traten hervor und zeigten, daß ſie nicht ganz kaltbluͤtig waͤren. Endlich machte einer von ihnen mit einem Schwanzdrehen einen Sprung, grunz - te auf eine fuͤrchterliche Art und flohe davon. Alleuͤbri -190uͤbrigen folgten ihm mit Laufen und Springen. Alex - ander mußte daruͤber lachen, daß ihm die Thraͤnen in den Augen ſtanden. Jhrer Gewohnheit nach nahmen die fliegenden Menſchen einen von den Hinterſten, gaben ihm Brodfrucht zu eſſen und machten ihn in einem halben Tage zahm, ſo daß er ſie beſchnoperte und ihnen den Ruͤſſel hin - reckte. Gegen Adend lieſſen ſie ihn wieder los, da er ſich denn ſehr gemaͤchlich zu ſeinen Landsleu - ten begab. Den andern Morgen fuͤhrten die Chri - ſtinier zwei iunge Perſonen beiderlei Geſchlechts von dieſem Schwein-Menſchengeſchlecht weg und tru - gen ſie auf die Chriſtineninſel, um ihnen eine Bil - dung zu geben und ſie in den Stand zu ſetzen, einſt die Vervollkomner ihrer Nation zu ſeyn.

Bei dieſer Reiſe hatte Alexander das Vergnuͤ - gen zu ſehn, daß die ſchoͤne Mikitikipi ſeine erha - bene liebe Gattin ihm einen Sohn gebar, welcher den Nahmen Skhapopantighô-Hermantin be - kam. Doch fuͤhrt er in der Geſellſchaft blos die - ſen letztern Namen, weil der erſtere zu hart und dem Kinde blos aus Gefaͤlligkeit gegen die patago - niſche Nation beigelegt war.

Nach den Feierlichkeiten welche dieſe Nieder - kunft auf der ganzen Chriſtineninſel und in Patago - nien veranlaßte, machten Vater und Sohn ſich wie - der auf den Weg. Alexanders aͤlteſter Bruder be - gleitete ſie, da ſeine Gattin ſich die Trennung auf einige Tage gefallen ließ; denn ſie betet ihn an,und191und kannte kein ander Vergnuͤgen, als ihre Zeit bei ihm zuzubringen und ihre Kinder zu erziehn.

Jch muß ihnen noch ſagen, daß die entfuͤhrte Jugend ſowohl von den Affen-als Baͤr - und Hunde - Menſchen, ſolche Fortſchritte machte; daß man bei Weſen dieſer Gattung ſehr zufrieden war. Wa - ren ſie gleich unfaͤhig zur Feinheit unſrer Ver - nunftſchluͤſſe, ſo waren ſie es doch nicht zum Leſen und Schreiben lernen und um deſtomehr zu Beurtheilung und Andeutung gemeiner Begriffe; beſonders mach - ten die iungen Leute von dem Hundegeſchlecht in wenig Tagen ſo ſchnelle Fortſchritte, daß man ſich Wunder davon verſprach und ſogar glaubte, daß ſie dem Verſtande der vollkommnen Menſchen ſehr nahe kommen wuͤrden: ſie waren einſchmeichelnd, zuthulich, kurz auſſerordentlich liebenswuͤrdig; aber ſie konnten nie eine von dem Bellen unterſchiedene Ausſprache annehmen, und ſie blieben weit hinter den Affenmenſchen, deren Ausbildung anfangs meh - rere Schwierigkeiten zu erfodern ſchien. Aber wir wollen wieder auf den Victorin zuruͤck gehn, der mit ſeinen beiden Soͤhnen in den Wogen der Luft herum zog.

Siebende Jnſel.

Sie flogen in einem Tage uͤber die Affen-Baͤr - Cyniſche - und Grunzinſel hinaus, und kamen, nach einem ſechzehnſtuͤndigen ſchnellen Flug, am Abend an eine noch unbekannte Jnſel zwiſchendem192dem 48 und 49 Grad der Breite, die folglich weit kaͤlter, als die vorigen war: aber ſie merkten es nicht; Es war damals Jaͤnner, in welchem die Witterung dort wie im Julius iſt. Sie lieſſen ſich nieder, genoſſen ihre Mahlzeit, und legten ſich ſchlafen. Aber mit der Morgenroͤthe erweckte ſie ein entſetzliches blaͤkendes Geſchrei und ſie wurden, als ſie ſich umſahen, einer Gattung Menſchen ge - wahr, welche im Graſe weideten und einander zu - riefen. Sie waren mit einem falben Haar bedeckt, hatten einen langen Schweif und beſonders war ihre Stirn mit ſchoͤnen und ſtarken Hoͤrnern ge - ziert, die ſehr lang, gerade, glatt und glaͤnzend waren. *)Auch in unſrer Gegend hat es Menſchen von dieſer Gattung gegeben: ſie hieſſen Ceraſtes und wurden ei - nige Zeit vor dem troianiſchen Kriege vertilgt, in dem nemlichen Jahrhundert, in welchem Adonis auf der Jnſel Cypern lebte, nach der beruͤhmten Schlacht, wel - che die Zernichtung der Centauren bewuͤrkte. Ovidius Met. X. Fab. V. ſagt von den gehoͤrnten Menſchen: An genuiße velit Amathunta Illos gemino quondam quibus aſpera cornu Frons erat, unde etiam nomen traxere Ceraſtae? Wieder eine andere Gattung! ſagte Alexander zu ſeinem Vater und Bruder; auf die - ſer Jnſel giebts gehoͤrnte Menſchen! Warlich mein Bruder iſt nicht ungluͤcklich; bei ſeinem erſten Aus - fluge iſt die Entdeckung ſehr ſonderbar! Von B-m-t fing an zu lachen zum Gluͤck, ſprach er, iſt das keine uͤble Vorbedeutung Wollenſehn,193ſehn, wollen ſehn, meine Soͤhne, ſagte Victorin: wie die gehoͤrnten Menſchen uns betrachten! wir wollen doch verſuchen, was fuͤr Eindruck unſer erſter Anblick bei ihnen machen wird! So eben er - blickten die Ochſenmenſchen die drei Reiſenden und betrachteten ſie mit Erſtaunen, aber ohne Entſetzen: Sie ſchienen darauf mit einander zu berathſchlagen, aber, ohne zu reden oder zu bruͤllen, blos durch Blicke. Nach einem Augenblick dieſer ſtummen Be - rathſchlagung ſtellten ſich in die erſte Reihe die beſt - gehoͤrnten und ſtaͤrkſten Mannsperſonen; hinter ih - nen entſtand eine zweite Reihe, dann noch eine; die vierte und die beiden folgenden endlich beſtanden aus Weibern und Foͤrſen*)Foͤrſe, auch an manchen Orten Kalben genannt., die man leichtlich an der Zartheit ihrer Hoͤrner erkannte, die von einer ſehr angenehmen Fleiſchfarbe waren; da hingegen der Maͤnner ihre eine Kaſtanienfarbe, am Ende ein wenig ſchwarz hatten. Der ganze Haufe machte nunmehr einen Kreis, um die drei fliegenden Men - ſchen einzuſchlieſſen, und drang hervor, indem er den Kreis immer verengerte, und ieder Stiermenſch ſich naͤher an den andern draͤngte. Ungefaͤhr zwan - zig Schritte in der Entfernung ſahe man nichts, als einen Wald von Hoͤrnern dicht an einander. Endlich trat einer von den beſtgehoͤrnten Stiermen - ſchen mit einem ſehr gravitaͤtiſchen Anſehn, ganz allein aus dem Zirkel hervor und kam auf die drei Fremden zu, die ſich in Bereitſchaft hieltenda -d. fl. Menſch. N194davon zu fliehn. Zehn Schritt von ihnen hielt er und blaͤkte ſehr gelinde die Worte: Meumah! Moumh! Houmhouah! Moumh! Houih, Houaih, Honhoumh! wovon weder Victorin, noch ſein aͤlteſter Sohn, noch auch Alexander das geringſte verſtanden. Ganz zufaͤlliger weiſe hatte der letzte den Einfall, daß es doch noͤthig waͤre ihnen etwas zu antworten; und er ſchrie daher: Mouh! Mouhauh! Meuh! Dies mochten nun wuͤrklich Worte der Hornſprache ſein oder der Stier - menſch ſie fuͤr eine ihrer Sprache nahkommende Mundart halten, er hob den Schweif auf, ſprang dreimal in die Hoͤhe und wandte ſich wieder zu ſeiner Nation, der er die naͤmlichen Worte vorblaͤk - te, die Alexander eben gebrummt hatte. Der gan - ze Haufe antwortete durch ein algemeines Blaͤken, worauf der Stiermenſch wieder zu ſeinen Leuten ging. Eine von den artigſten iungen Foͤrſen ihres Geſchlechts naͤherte ſich mit drei Buͤndlein friſchen Graſes in den Haͤnden, die ſie geſammlet hatte; und gab ſie dem Stiermanne, der ſie den drei Rei - ſenden uͤberbrachte und mit einer Freundſchaftsbe - zeigung darbot. Sie nahmen ſolche mit Zeichen des lebhaften Dankes an und gaben dem Stier - menſchen dafuͤr Brod von Getreide, das er koſtete und darauf den Vornehmſten der Nation uͤberliefer - te, die alle davon aßen und es fuͤrtreflich zu fin - den ſchienen. Dagegen ſtellten ſich auch Alexan - der ſowohl als ſein Vater und Bruder von dem ihnen verehrten Graſe zu eſſen, und erwarben ſich dadurch die Freundſchaft der Wilden, weil ſie dar -aus195aus ſchloſſen, daß ſie keine fleiſchfreſſende Thiere waͤren. Doch wagten die fliegenden Menſchen es nicht, ſich umringen zu laſſen, beſonders war der Gemal der Jſhmichtriß in der groͤſten Furcht. Alexander erbot ſich gegen ſeinen Vater den Stier - menſchen ſich zu naͤhern; indem er ihm vorſtellte, daß ſie, wenn ihm etwas begegnen ſollte, ia Mit - tel haͤtten, dieſe Wilden zu erſchrecken und ihn zu be - freien. Victorin wollte darein nicht willigen; aber die anhaltenden Bitten ſeines Sohnes brachten ihn end - lich zum Nachgeben. Alexander trat daher mit Brod von Getreide und einigen ſchoͤnen Fruͤchten in der Hand hervor. Die gehoͤrnten Menſchen er - warteten ſeine Ankunft. Beſonders draͤngten ſich die Frauenzimmer, traten, als ſie ihn annaͤhern ſahen, in die erſte Reihe und betrachteten ihn mit unverwandten Augen. Er ward ſehr wohl aufge - nommen, und uͤberreichte den Vornehmſten der Na - tion ſeine Geſchenke; ein Stuͤck Brod und eine ſchoͤne Panate (dies iſt der Name des Fruchtbrods) aber hob er fuͤr die artigſte und auffallendſte von den Foͤrſen auf, die ſehr nahe auf ihn zugekom - men waren. Er uͤberreichte ihr dieſe Geſchenke mit vielem Anſtande. Das Maͤdchen erroͤthete bis an die Hoͤrner und ſchien erſchrocken; aber das freund - ſchaftliche Benehmen des ungehoͤrnten Menſchen be - wog ſie, ſeine Geſchenke anzunehmen, die ſie als - bald koſtete und den Reſt davon mit ihren Geſpie - linnen theilte. Alle Stiermenſchen blaͤkten, als Alexander dies Geſchenk machte, zum Zeichen des Beifalls. Ein Alter, deſſen Hoͤrner fuͤnf FußN 2hoch196hoch waren, und welcher der Vater des iungen Foͤrsmaͤdchen zu ſeyn ſchien, trat aus dem Hau - fen hervor, kam und bot dem iungen fliegenden Man - ne ſeine Hand. Nach einigen Freundſchaftsbezeigun - gen begruͤßte Alexander, weil er wuſte, in welcher Unruhe ſein Vater und ſein Bruder waren, die Stiermaͤnner und Weiber, indem er die Hand aufs Herz und auf den Mund legte, und entfernte ſich, waͤhrend alle die armen Wilden das naͤmliche Zei - chen wiederholten. So wie er ſeine Gefaͤhrten er - reichte, lieſſen ſie ein ſtarkes Blaͤken hoͤren, welches die drei Maͤnner mit einem dreimaligen Mouh - Mouhhh! beantworteten.

Jndem ſie mit einander uͤberlegten, wie ſie es anfangen wollten, um, ohne die Nation aufzubrin - gen, zwei von den Wilden zu entfuͤhren, verſpuͤr - ten ſie in dem Haufen der Gehoͤrnten eine Bewe - gung. Einen Augenblick drauf ſahen ſie zwei Maͤn - ner, naͤmlich den Alten, der ſich ihnen genaͤhert, und den, welcher ihnen die Merkmale des Vertrau - ens gegeben hatte, hervortreten, das Foͤrſemaͤdchen bei der Hand fuͤhrend. Sie uͤberbrachten ſol - che dem Alexander mit deutlichen Anzeichen, daß ſie ihm dieſelbe zu ſeinem Vergnuͤgen uͤberlaſſen wollten. Er dankte, und ließ ihnen ſeine Achtung gegen dies Geſchenke merken; zugleich verlangt er aber auch durch Zeichen und ein wenig Blaͤken, daß man ihm noch eine iunge Mannsperſon uͤber - laſſen moͤchte. Man verſtand ihn, und die beiden Alten fuͤhrten eine der ſchoͤnſten herbei, weshalb diefliegen -197fliegenden Maͤnner ihm viel Liebkoſungen machten. Endlich machten ſie Anſtalt zum fortfliegen. Der iunge Menſch und das Maͤdchen geriethen daruͤber in ziemliche Furcht; doch wagten ſie es nicht zu entfliehen, ſondern lieſſen ſich, wiewohl mit Zit - tern von dem Gurt umſchlingen und durch die Luft fuͤhren. Bei ihrem Abſchiede ſtieſſen ihre Landsleu - te ein entſetzliches Bruͤllen aus, wahrſcheinlich um ihnen Lebewohl zu ſagen.

Den andern Tag gegen Mittag langten Vic - torin und ſeine Soͤhne mit den beiden Wilden auf der Chriſtineninſel an, wo iedermann uͤber den An - blick dieſer beiden Kreaturen noch mehr, als uͤber die vorigen erſtaunte. Man uͤbergab ſie in die Haͤnde eines ſehr geſchickten Mannes, der die uͤbrigen er - zog und der ſelbſt von dem Herrn Abt Lepée, der ſeine Talente dazu gewidmet hat, aus taub und ſtum - men vernuͤnftige Menſchen zu machen, gebildet worden war. Der gute Herr, Victorins Schwie - gervater, konnte ſich uͤber die beiden Zoͤglinge nicht genug verwundern. Nun, Fiſcalprokurator, ſprach er zum Vater ſeines Schwiegerſohns, haͤt - tet ihr wohl geglaubt, daß wir auf unſere alten Tage noch ſo was ſehn ſollten? Es iſt doch der Schoͤnheit meiner Tochter zu danken, daß euer Sohn ſich Fluͤgel gemacht hat, um ſie zu entfuͤhren, und daß er itzt Wunder auf Wunder haͤuft? Ach ia wohl! entgegnete der Fiſcalprokurator (zu merken, daß man dies Amt zur vornehmſten Stelle im Koͤnigreich gemacht hatte, ohne den Namen zuN 3aͤndern,198aͤndern, und zwar blos zum Vortheil des Volks und der Gleichheit) haͤtte mein Sohn aber nicht eine Anlage zum Verdienſt und Verſtande gehabt, wuͤrde die Liebe ihn nie auf die Erfindung ſolcher Dinge gebracht haben. Sie haben recht; aber geſtehen ſie auch, daß ohne Chriſtinen von Jch gebe alles zu, mein werther Herr, und es ſei ferne von mir, daß ich das Gluͤck und die Ehre in Zweifel ziehen wollte, welche wir einer Schwie - gertochter zu verdanken haben, die ich mehr als mich ſelbſt liebe: alſo bin ich einverſtanden. Aber ſie werden ſelbſt einſehn, daß mein Sohn Natuͤrlich! wenn ihr Sohn nicht ſeine Verdienſte gehabt haͤtte, wuͤrd er wohl meine Tochter geliebt haben? Vermoͤge ſeiner Vorzuͤge hat er den ganzen Werth meiner Chriſtine eingeſehn und alle Kraͤfte der Natur aufgeboten, um ſie zu beſitzen: Auch hat er durch ſeine Verdienſte meinem Adel Ehre ge - macht. Jch habe eben ſo wenig Luſt uͤber die Verdienſte dieſes wuͤrdigen Schwiegerſohns zu ſtrei - ten; aber er brauchte eine Chriſtine von B-m-t ſeinen Geiſt zu dieſer Stufe zu erheben.

Der Fiſcalprocurator ließ dem guten Herrn das letzte Wort und damit war ein Ende.

Victorin und ſein Sohn blieben nun einen gan - zen Monat lang der Staatsgeſchaͤfte wegen auf der Chriſtineninſel, und waren Zeugen von den Fort - ſchritten der verſchiedenen Wilden, die ſie wegge - fuͤhrt hatten. Alle, die leztern ausgenommen, fin -gen199gen an zu reden. Beſonders bezeigte das iunge Hundevolk ſoviel Aufmerkſamkeit und Gelehrigkeit gegen ihre Anfuͤhrer, daß ſie von ihnen ungemein geliebt wurden. Jhr Beiſpiel war den uͤbrigen Wilden nicht zum Schaden, die nach einiger Bil - dung, ſie nachzuahmen ſuchten. Aber alle dieſe verſchiedene Gattungen von Menſchen hatten einen unuͤberwindlichen Haß gegen die Nachtmenſchen. Man muſte ſie des Nachts einſperren und ſie ſogar am Tage ſorgfaͤltig bewachen, weil ſie in die Hoͤ - len dieſer ungluͤcklichen zu ſchluͤpfen ſuchten. Doch muß man die iungen Stiermenſchen ausnehmen, bei denen man nie irgend ein Zeichen von Haß ge - gen die Nachtmenſchen bemerkte.

Endlich brachen die drei Reiſenden wieder auf und nahmen die beiden iungen Hundemenſchen mit, in der Abſicht, ſie bei ihrer Ruͤckreiſe wieder in ihr Vaterland zu bringen.

Achte Jnſel.

Sie ruͤckten unter der naͤmlichen Parallellinie immer weiter uͤber ihre vorigen Entdeckungen hin - aus. Den dritten Tag kamen ſie an eine neue Jnſel, die anderthalb Tagereiſen weiter Nordwaͤrts war, als die gehoͤrnte Jnſel, und lieſſen ſich da - ſelbſt nieder. Hier ſahen ſie ganz unbekannte Voͤ - gel, die ſo geſellig waren, daß ſie ſich auf ſie nie - derſetzten und ſchnaͤbelten. Es ſcheint, ſprach Alexander, daß in dieſem Lande gar keine oder ſehrN 4ſtille200ſtille Menſchen ſind! Er hatte dieſe Worte kaum geſprochen, als er ſich umwandte und eine Art von Haaſen, Rehe, Hirſche u. d. g. ſahe, welche herum ſprangen. Er macht ihnen Zeichen, die ſie mit einer einfaͤltigen Miene anſahen, und ſich ſaͤmmt - lich entfernten, ohne daß ſie einander etwas zu ſa - gen ſchienen. Das ſind nichts als Thiere, ſag - te Alexander. Sollte die Natur hier unvollkomm - ner als an andern Orten ſeyn? ſollte ſie nicht, bis auf die Viehmenſchen, hier wie auf den an - dern Jnſeln handeln?

Er blieb nicht lange auf dieſen Gedanken, denn ſein aͤlteſter Bruder wandte den Kopf um und ſahe nach dem Meere hin eine Heerde weiden. Von B-m-t zeigte ſie ſeinem Vater. Sogleich mach - ten ſich die drei fliegenden Maͤnner zu Fuße dahin, und ſahen, als ſie naͤher kamen, drei oder vier - hundert Stuͤck Vieh bekleidet mit Wolle wie die Schafe, welche von Weſen gleicher Gattung, die ſchoͤne krumme und gebogne Hoͤrner wie die Boͤcke hatten, gefuͤhrt wurden. Doch fraſſen dieſe Thie - re nicht wie das Vieh, ſondern ſuchten mit ihren Vorderfuͤſſen zarte Kraͤuter, aſſen davon und mach - ten ſich von dem Reſte Guͤrtel, zwiſchen denen und der Haut ſie dann kleine Buͤndchen Kraͤuter ſteck - ten. Jn der Entfernung ſahen ſie auch ganz deut - lich einen Jungen, welcher ein artiges Schaͤfchen auf die zaͤrtlichſte Art liebkoste. Man verließ dies gluͤckliche Paar und begab ſich wieder zum Haufen. Alexander hatte den Einfall zu blaͤken; alsbald ver -ſam -201ſammelten ſich alle und traten dicht neben einander. Alexander entdeckte an dieſen Schaafmenſchen nichts was ihm eine Furcht haͤtte einiagen koͤnnen; Er pfluͤckte ein paar Haͤnde voll Gras, nahm ſie an den Mund und bot ihnen das uͤbrige dar. Aber bald haͤtt er ſeine Unbeſonnenheit theuer bezahlen muͤſſen. Einer von den ſtaͤrkſten Bockmenſchen, der ihn an - nahen ſah, fuhr ihn auf Bretanniſche Art auf den Hals, ſo daß Alexander kaum durch einen Paraſol - ſchwung ſich ein ſechs Fuß erheben konnte. Der Bockmenſch, welcher ſeine Abſicht alſo verfehlte, ſtieß daher wider einen Baum, zehn Schritte davon, mit ſolcher Gewalt, daß er ſich den Kopf einſtieß und ſogleich todt zur Erde fiel. Alexander ließ ſich dadurch nicht abſchrecken, ſondern ſchwebte uͤber dem Haufen hin, und ließ etwas von ſeinen Kraͤutern und einige Biſſen Getreidebrod fallen, welches die Ju - gend verzehrte. Die Bockmaͤnner hingegen zogen an der Spitze des Haufens ſtolz einher und ſtampften mit den Fuͤſſen bereit wie ihr Kammerad loszufah - ren. Victorin der mit ſeinen zuſammengekuppelten bei - den iungen Hundemenſchen alles beobachtete, hatte den Einfall ſie abzuſchicken um dieſe Bockmenſchen zu Paaren zu treiben. Dieſe liefen ſogleich nach ihnen zu; aber kaum hatten die Bockmenſchen ſie geſehn, ſo ſchloſſen ſie ſich an den Haufen der uͤbrigen. Alexander ließ ſich daher herab, naͤherte ſich, beruͤhr - te die Schafweiber, die ohne Hoͤrner waren, ſtrei - chelte ſie und gab ihnen zarte Kraͤuter und Brod, ſo daß er ein wenig mit ihnen bekannt ward. Auch den Maͤnnern gab er Brod, beſonders wandt er ſich zuN 5dem202dem Anſehnlichſten des Haufens und bracht es durch ſeine Liebkoſungen und das Brod das er ihm zu eſſen gab dahin, daß er ihn bewog, ſich ſeinem Vater und Bruder zu naͤhern. Eine wichtige Bemerkung, welche Alexander auf dieſer Jnſel machte, beſtand dar - in, daß die Natur hier in einem wuͤrklich ruͤhrenden Zuſtande ſich befinde. Hier war keine Gattung Fleiſch - freſſender Thiere, ſogar nicht einmal kleine Tieger oder Raubvoͤgel, der Schafmenſch lebte mit den uͤbrigen mancherlei Thieren ganz bruͤderlich. Man ſahe ihn oft mitten unter ihnen ſpielen und ſich waͤlzen, ohne das geringſte Mistrauen von der einen oder der an - dern Seite, beſonders mit dem Geſchlechte der Boͤcke und Ziegen. Ueberall wo die fliegenden Maͤnner den Fuß hinſetzten, ſahen ſie, ihres ſonderbaren Auf - zugs ungeachtet, die Thiere nicht nur von den zah - men Gattungen, ſondern auch Hirſche, Rehe ꝛc. eher zu ihnen kommen als ſie fliehen. Jch danke Gott, ſprach daher Victorin geruͤhrt zu ſeinen Soͤh - nen, daß ich dieſen Tag erlebet habe und bis in dieſe von meinem Geburtsorte ſo entfernte Gegenden gekommen bin, um die Natur in ihrer urſpruͤnglichen Guͤte zu ſehn! Ach meine Kinder! ihr habt nicht, wie ich, die Welt der Boshaften geſehn, gegen wel - che die wilden Thiere im Walde nur ein Schatten ſind! ihr habt nicht geſehn, wie ſie einander zer - fleiſchen, aufreiben und dann ſich gegenſeitig uͤber die Nothwendigkeit des Guten und Boͤſen recht - fertigen, die Moral mit der Phiſik vergleichen und von dem einen die Gruͤnde hernehmen, um das an - dere zu entſchuldigen. So noͤthig uns neuer Vor -rath203rath iſt, ſo wollen wir dies Land doch nicht durch den Mord eines ſeiner Bewohner beſudeln, wir wol - len nicht die erſten ſeyn, die eine Gewaltthaͤtigkeit ausuͤben. Dieſe Anrede des Victorin machte einen lebhaften Eindruck auf ſeine beiden Soͤhne: ſie ſa - hen dieſe neue Jnſel als den aͤuſſerſten und geheilig - ten Zufluchtsort der urſpruͤnglichen Unſchuld an. Alexander, der ein groſſes Genie war, machte eine an - dere Bemerkung und ſagte, er hielte dafuͤr, daß wir auf der Erde nichts als ſchmarozende Weſen waͤren wie der Kinſter an den Baͤumen, oder wie die Thier - chen auf den Thieren, folglich ihr zur Laſt, daß ſie alſo unſere Zernichtung fuͤr eine Wohlthat anſaͤhe. Victorin ſchuͤttelte den Kopf und ſein Sohn ſchwieg.

Die fliegenden Maͤnner machten keinen langen Aufenthalt auf der Schafinſel, die ihnen ſehr frucht - bar ſchien: ſie nahmen zwei iunge Leute von dieſer Gattung, die Victorin und ſein aͤlteſter Sohn tru - gen. Alexander hingegen brachte ganz allein die beiden iungen Hundemenſchen auf die Cyniſche Jnſel. Er blieb einige Zeit daſelbſt, um die Wuͤrkungen zu beobachten, welche die Ausbildung dieſer beiden Perſonen auf ihre Landsleute haben wuͤrde. Sie ſchie - nen ihnen ſehr vortheilhaft, aber der iunge Fliegende machte die Bemerkung, daß iene bald wieder ver - wildern wuͤrden, wenn man nicht eine Familie von Menſchen auf die Jnſel verſetzte, mit welcher ſie ſich in der Sprache nach ihrer Art und in der Bildung unterhalten koͤnnten. Es iſt zu merken, daß die verſchiedenen Gattungen der Viehmenſchenzwar204zwar alle die Chriſtiniſche Sprache redten, um ih - re neu erlangten Begriffe auszudruͤcken, daß ſie aber bei allen denen, wozu ein Wort in ihrer Sprache war, ſich nicht enthalten konnten, es zu gebrauchen; welches fuͤr iede Nation ſchon einen verſchiednen Dialect ausmachte: uͤbrigens hat iede die Ausſprache ihrer Gattung, entweder kirrend, affenmaͤſſig, klaffend, bruͤllend oder blaͤkend u. ſ. w.

Mit dieſen Gedanken kehrte Alexander auf die Chriſtineninſel zuruͤck, und theilte ſeinem Vater ſei - ne Beobachtungen mit. Man fand ſie ſehr weislich, und ließ daher unter Trompetenſchall auf der gan - zen Chriſtineninſel die Abſicht bekannt machen, Leu - te auf die Cyniſche Jnſel zu verſetzen, und zwar mit einer gewiſſen Lehnsverbindung, naͤmlich mit der Herrſchaft uͤber den Boden und alle Weſen von einer niedrigern Gattung als die Europaͤer, blos mit der Verbindlichkeit die Hoheit der Chriſtinen - inſel zu erkennen und in Zeit und Umſtaͤnden zu den Beduͤrfniſſen des Staats beizutragen. Es fanden ſich verſchiedene ehrbegierige Familien die ſich dazu erboten: naͤmlich die Laͤrmendſten der Jnſel, die man looſen ließ. Dieienigen die das Loos nicht traf, wurden auf andere Jnſeln, ſobald man die beiden geraubten iungen Leute ihrer Gattung de - nen Einwohnern wieder zuſchicken wuͤrde, vertroͤſtet. Das Schif ward alſo ausgeruͤſtet, mit Vorrath und allen zur Auswanderung noͤthigen Erfoderniſ - ſen verſehen und die Abreiſe erfolgte. Victorin und Alexander beſorgten die Fahrt des Schiffs durchden205den kuͤrzeſten nnd leichteſten Weg. Der Gemal der Jſhmichtriß aber und ſein Schwager, der Gat - te der Sophie, flogen mit der Sonde in der Hand uͤber dem Waſſer hin. Jn acht Tagen langte man auf der Cyniſchen Jnſel an, wo man die beiden dort gelaſſenen iungen Leute ſehr traurig fand. Auſſer ſich vor Freuden, wieder wahre Menſchen zu ſehn, ſchlugen ſie ihren Sitz neben der Wohnung auf, die in der Geſchwindigkeit fuͤr den Gouver - neur und ſeine Familie die aus mehr als ſechzig Per - ſonen beſtand, eingerichtet ward. Dieſen empfohl man beſonders das gute Vernehmen mit den bei - den iungen Perſonen, weil ſie ihnen unumgaͤnglich noͤthig waͤren, um mit dem Eingebohrnen in gutem Vernehmen zu leben, ihre Sprache zu verſtehen, und die Kraͤfte und den Umfang ihres Verſtandes, ihre Anlagen kennen zu lernen; mit einem Worte was man vor Nutzen aus ihnen ziehen koͤnnte. Der Gouverneur verſprach alles, und weil ſein eigner Nutzen damit verbunden war, ſo hielt er Wort.

Auf dieſer Reiſe verſuchten Victorin und ſein Sohn keine Entdeckung. Sie kehrten mit dem Schiffe wieder zuruͤck und beſuchten die Baͤr-und Affeninſel, deren Wilde ſie furchtſamer als bei ihrer erſten Ankunft fanden. Nach ihrer Ruͤckkehr auf die Chriſtineninſel ward um die Statthalter - ſchaft der Affeninſel geloost. Man verſorgte das Schif ebenfalls mit allen Nothwendigkeiten, und brachte den Statthalter nebſt den beiden iungen Ein - gebohrnen, die ihm zur Verbindung mit den Lands - leuten dienen ſollten, dahin.

So206

So fuͤhrte man nach und nach alle die wilden Zoͤglinge wieder in ihr Vaterland. Wir wollen ſie und die Statthalter auf einige Zeit verlaſſen, um die Folgen der weiſen Maasregeln des Victorin zu betrachten. Jch ſetze daher meinen Bericht von den Entdeckungen dieſes unermuͤdeten Mannes fort.

Einen Monat drauf, als ſie den iungen Bock - menſchen und das iunge Schafmaͤdchen wieder in ihr Vaterland gebracht hatten (die ſehr bloͤdſinnig und ſo unverſtaͤndig ſchienen, daß man ſie ſechs Monat laͤnger, als die uͤbrigen behalten mußte, um ihnen die leichteſten Sachen beizubringen) flo - gen die drei Victorins wieder aus uͤber die Schaf - inſel hin, wo ſie nichts als Meer fanden.

Neunte Jnſel.

Ein wenig weiter nordwaͤrts, wurden ſie gegen den fuͤnf und funfzigſten Grad ſuͤdlicher Breite eine ziemlich große Jnſel gewahr. Das Land ſchien ſo unfruchtbar, daß man kaum einige Straͤucher be - merkte. Die Spitzen der Berge waren mit Eis be - deckt, auch auf den Flaͤchen fand man deſſen. Auf dieſes todte Land ließen die fliegenden Menſchen ſich nieder, um deſſen Einwohner aufzuſuchen. Sie ſahen einige Rennthiere, die jedoch von den noͤrdli - chen ein wenig unterſchieden waren. Um ſich zu erwaͤrmen, giengen ſie zu Fuße, ob man ſchon auf dem Suͤdpol noch Sommer hatte. Endlich kamen ſie an eine in Felſen gegrabene Hoͤhle am Ufer einesgroßen207großen Fluſſes, des einzigen auf der ganzen Jnſel. Ein Geraͤuſch machte die fliegenden Menſchen vorſich - tig, weil ſie nicht wußten, was fuͤr eine Gattung von Geſchoͤpfen ſie antreffen wuͤrden. Jndem ſie, bei dieſer Ungewißheit, ihre Fluͤgel immer in Bereit - ſchaft hielten, bemerkte Alexander am Eingange der Hoͤhle, kleine Thierchen, beinah großen Ratten aͤhn - lich, welche die fliegenden Menſchen anſahen, dann zuruͤck trabten, in ſtaͤrkerer Anzahl wieder kamen, abermals gleich umkehrten, und ſo unaufhoͤrlich fort - fuhren. Als er, bei ihrer einſtmaligen Entfernung naͤher trat, glaubt er in ihnen Biber zu entdecken, die dort eine herrliche Republik errichtet hatten. Jhr Pelz und Schweif war denſelben voͤllig aͤhnlich. Er theilte ſeinem Vater und ſeinem aͤlteſten Bruder dieſe Entdeckung mit, und ſie verſteckten ſich alle drei am Ufer des Fluſſes, indem ſie ſich auf den Bauch leg - ten. So erhaſchte Alexander einen von dieſen Bi - bern, als ſie aus der Hoͤhle nach dem Waſſer gehen wollten. Aber wie groß war ſein Erſtaunen an die - ſem Thiere eine der menſchlichen ſo nahkommende Bildung und in ſeiner Bewegung alle Merkmale eines vernuͤnftigen Weſens zu finden! Es war ein Weib - chen, das ſich nicht nur alsbald todt ſtellte, ſondern, weil es ſahe, daß ihm dies nichts huͤlfe, auch mit demuͤthig zuſammengefalteten Haͤnden und einem ge - linden anhaltenden, aber vieltoͤnichten Geſchrei, das vermuthlich die Sprache der Nation war, gleichſam Mitleid zu erwecken ſuchte. Alexander gab ihr, um ſie nicht laͤnger leiden zu laſſen, Brodfrucht zu eſſen, und trug ſie an den Eingang der Hoͤhle, worin erWaſſer208Waſſer bemerkte. Das kleine Biberweibchen trug ihre Brodfrucht weg und blieb ungefehr zehn Minu - ten auſſen, dann ließ ſie ſich am Eingange der Hoͤhle in Geſellſchaft von etwa hundert ihrer Landsmaͤn - ner ſehn, denen ſie die drei fliegenden Menſchen zeig - te. Victorin und ſeine Soͤhne mußten uͤber die große Lebhaftigkeit, mit der ſie ſprach, nicht wenig la - chen. Alexander trat ziemlich nahe hinzu und warf ihnen kleine Biſſen Brod vor, die ſie ins Waſſer trugen und ſich wohl ſchmecken ließen. Die Kinder draͤngten ſich von ihren Muͤttern gefuͤhrt, aus dem Grunde der Hoͤhle hervor. Man theilte gebratene Kaſtanien und Brodfruͤchte unter ſie aus, uͤber die ſie mit einer Art von Gierigkeit fielen. Jn Kurzem waren die drei fliegenden Menſchen von dieſer ganzen kleinen Nation umringt, deren einige ſie ſogar beruͤhr - ten. Alexander wagte ſich in ihre Hoͤhle und fand einen Zuſammenhang derſelben mit dem Fluſſe. Das aͤußere Waſſer war durch eine Oeffnung unter dem Felſen mit einem Bache verbunden, der aus dem Grunde der Grotte entſprang. Laͤngſt demſelben hin, ſah man die Wohnungen der Bibermenſchen ſo ge - baut, daß dieſe Zwerge den Schweif ſtets im Waſſer hielten, ſie mochten ruhen, eſſen oder ſchlafen. Dieſe Entdeckung theilte er ſeinem Vater und Bruder mit, und ließ nicht nach, bis ſie ihm in die Grotte folgten. Die kleinen Bibermenſchen ſchien[en]dar - uͤber gar nicht betreten und giengen nicht von der Stelle. Mit Verwunderung betrachteten die Fliegen - den den Bau der Zellen fuͤr jede Familie. Auf jeder Seite war eine Thuͤr, wodurch man aus einer indie209die andre gehn konte, dem Anſcheine nach blos zu wechſelſeitigen Beſuchen. Man auſſerhalb aus Baumrinden, die ins Waſſer tauchten.

Nachdem der Chriſtiniſche Koͤnig und ſeine Soͤhne dieſe neue Gattung von Weſen unterſucht genug hatten, begaben ſie ſich wieder weg. Vic - torin wolte die Biberinſel ſogleich verlaſſen, ohne irgend einen Bewohner zu entfuͤhren, weil er, in Ruͤckſicht der Rauhigkeit des Himmelsſtrichs, der Armuth und Hinfaͤlligkeit dieſer kleinen Menſchen an der Moͤglichkeit eine Gemeinſchaft mit ihnen zu unterhalten zweifelte; er befuͤrchtete ſogar, daß die Weggefuͤhrten unterwegens ſterben moͤchten. Aber Alexander ſtelte dagegen vor, daß man doch ſehn ſolte, ob die eines natuͤrlichen Todes geſtorbenen Bibermenſchen nicht Haͤute hinterlieſſen, die einen Gegenſtand des Handels abgeben koͤnten; da dieſe Zwerge keine Kriege fuͤhrten? ꝛc. Er wuſte ſeine Sache ſo gut vorzutragen, daß ſein Vater ihm die Erlaubnis gab, vier der iuͤngſten zu nehmen und ſie in einem Fluge auf die Chriſtininſel zu ſchaffen: er wolte mit dem aͤlteſten Sohne indeß einige andere Jnſeln beſehn, die ſie von ferne be - merkt hatten. Jn zwei Tagen erreichte Alexan - der die Chriſtiueninſel und anderthalb Tag wandt er zur Ruͤckreiſe an. Dort ſetzt er ſeine Biber - menſchen ab, empfahl ſie mit zwei Worten dem gewoͤhnlichen Lehrer der Thier-Menſchen, umarmte ſeine Gattin und Kinder, beſuchte ſeine Mutter und kehrte nach dem beſtimmten Sammelplatze zuruͤck.

d. fl. Menſch. OZehn -210

Zehnte Jnſel.

Victorin und ſein aͤlteſter Sohn hatten ſich indes auf einer groſſen, mit Schnee und Eis - Bergen bedeckten Jnſel, wo ſie nichts als weiſſe Baͤre, aber kein menſchliches Geſchoͤpf fanden, umgeſehn, hier ſtieß Alexander zu ihnen. Er konte ſich nicht vorſtellen, daß keine Bewohner auf dieſer Jnſel anzutreffen ſeyn ſolten; um ſo mehr, da ſie den Gegenden von Amerika und Neuholland ziemlich nah lag. Er durchſuchte, der aͤuſſer - ſten Kaͤlte ungeachtet, alles und fand endlich eini - ge Knochen, die er vor Menſchengebeine hielt: aber ſie waren von Europaͤern, die an dieſem rau - hen Orte vor Hunger ohne Zweifel geſtorben, oder von den dort befindlichen weiſſen Baͤren (die man beſſer Meerwieſel nennt) gefreſſen worden wa - ren. Jm Begrif fortzureiſen, hoͤrten die drei Fliegenden einen Flintenſchuß, woruͤber ſie erſchra - ken. Sie richteten ihren Flug daher nach der Gegend des Schalls, iedoch in einer gewiſſen Hoͤhe, und wurden an dem Eingange einer Hoͤh - le einen Menſchen mit Fellen bekleidet gewahr, der nach ihnen ſahe. Nachdem ſie in einiger Entfer - nung ſich niedergelaſſen hatten, nahm Alexander ſeine Fluͤgel ab, um zu zeigen, daß er ein gewoͤhn - licher Menſch ſei und fing an, ihm einige Zeichen zu geben. Auſſer ſich vor Freuden, Weſen ſei - ner Art zu ſehn, ob er gleich ihren Flug nicht begreifen konte, erwiederte iener dieſe Zeichen und ging gerade auf ſie zu. Wer ſeid ihr? rief erihnen211ihnen, als ſie einander verſtehen konten, auf fran - zoͤſiſch zu. Franzoſen und Menſchenfreunde antwortete Alexander. Den Augenblick fiel der Alte auf ſeine Knie und ſtreckte die Haͤnde mit ei - ner Entzuͤckensvollen Miene gen Himmel. Da er Alexandern nebſt ſeinen Gefaͤhrten, mit abgelegten Fluͤgeln, naͤher kommen ſah, blieb er ſtehn, und blickte, als ſie heran kamen, dem Victorin ins Ge - ſicht, warf ſich ihm um den Hals und rief: Ja ich fuͤhl es, daß es ein Franzoſe iſt, den ich um - arme! Groſſer Gott! ſei gebenedeiet! Vic - torin erwiederte die Hoͤflichkeiten des Alten und er - klaͤrt ihm in wenig Worten das Geheimniß ihres Fluges. Aber welcher Unſtern hat euch auf die - ſe wuͤfte Jnſel gefuͤhrt? ſetzt er hinzu.

Ach entgegnete der Alte, ihr ſeht aus meiner Kleidung, daß wir ſchon lange hier ſchmachten, denn ich bin nicht allein. Jch war Kapitain des Schifs genant der . Meine Manſchaft em - poͤrte ſich und verließ mich mit meiner Frau und zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter, die damals fuͤnf und ſechs Jahr alt waren, auf die - ſer Jnſel. Die Treuloſen begingen die Grauſam - keit, mich faſt aller Lebensmittel zu berauben. Gluͤcklicherweiſe fand ein kleiner Schifferknabe, aus Mitleid bewogen, Gelegenheit, ein Faͤschen Pulver ins Meer zu werfen, das auf eine Eis - ſcholle fiel, die ich an mich zog. Hierzu fuͤgte er dieſe Flinte und einen ganz guten Degen. Die Manſchaft, welche fuͤr dieſes Verbrechen keineO 2Scho -212Schonung hoffen und ihrer Menge wegen, nicht auf Verſchwiegenheit rechnen konte, legte ſich auf die Seeraͤuberei; welches ich durch den kleinen Schifferknaben erfuhr, den ſie, unzufrieden mit ihm, vorigen Sommer auf dieſe Jnſel ausſetzten, weil ſie uns fuͤr ausgemacht todt hielten. Da ich aber gluͤcklicherweiſe ein Fernglas bei mir hatte, ward ich ſie gewahr, und verſteckte mich, um ſie zu beobachten. Waͤr ich dem Knaben nicht ſo - gleich zu Huͤlfe geeilt, ſo wuͤrden die Meerwieſel, ſobald iene Unmenſchen abgeſegelt geweſen waren, ihn gewis verzehrt haben. Welchen Troſt er in mir fand, koͤnt ihr euch leicht vorſtellen.

Nun muß ich euch noch die Art, wie ich mich mit meiner Familie zwanzig Jahr hindurch, ſeit meiner Verlaſſung bis ietzt, erhalten habe, er - zaͤhlen. Aber dies ſoll in meiner Grotte mit meh - rerer Bequemlichkeit als hier geſchehn.

Die drei fliegenden Menſchen folgten ihrem Wirthe. Auf ein gegebenes Zeichen erſchien ſo - gleich ſeine Gattin, die noch einige Ueberbleibſel europaͤiſcher Kleidungsſtuͤcke an ſich hatte; eine iunge ſchwangere Frau; ein ander Frauenzimmer von einer unbekanten Gattung, denn ſie hatte ei - nen Schweif, Ziegenhoͤrner und lange Haare, da - bei iedoch viel Sanftmuth und eine ganz artige Bildung; zwei iunge Maͤnner mit Fellen beklei - det, deren Anblick einige Wildheit verrieth, der eine mit einem Degen, der andre mit einer Hackebewaf -213bewafnet: dieſer hatte eine Ziegen-Frau, iener eine iunge auf franzoͤſiſch gekleidete Perſon neben ſich, die Gattin des Kapitains waͤre fuͤr Freude beinah geſtorben, als ſie Menſchen die den Augenblick auf der Jnſel gelandet waren, ihre Mutterſprache re - den hoͤrte. Als ſie in die Grotte kamen, noͤthig - te man die Fremden, ſich bei einem Feuer von Fiſchgraͤten niederzulaſſen, und ſetzte ihnen Erfri - ſchungen vor, ſo gut man ſie hatte, naͤmlich getrockneten Fiſch, der ſtatt des Brodtes diente, friſchen Fiſch in Oel von Wall - oder andern fet - ten Fiſchen gebacken, und gedoͤrrtes Meerwieſel - fleiſch. Auch Victorin und ſeine Soͤhne brachten ihren Vorrath hervor und reichten ihren Bewir - thern Brod dar, das ſie mit Thraͤnen der Freu - de genoſſen. Nach der Mahlzeit fing der Kapi - tain ſeine verſprochene Erzaͤhlung an.

Verlaſſen, wie ich euch geſagt habe, mit wenig Vorrath und drei Perſonen, die ihre einzi - ge Huͤlfe von mir zu erwarten hatten, ſiegte ich uͤber mein Elend und wafnete mich mit Muth. Sobald ich dieſe Grotte fand, brachte ich meine Frau und Kinder in Sicherheit und ſah mich dann nach Mitteln zum Unterhalt um. Jch ging auf der Jnſel herum, fand aber kein fleiſchfreſſendes Thier, wohl aber, da es im Sommer war, ei - niges Gefluͤgel als eine Gattung von Enten, wil - der Gaͤnſe, Pingouins ꝛc. Um ſie durch Schieſſen nicht zu erſchrecken, nahm ich blos ihre Eier ie - doch mit der Vorſicht, daß ich ihre Neſter nichtO 3ganz214ganz zernichtete. Da ich an der Kuͤſte eine Men - ge Fiſche ben erkte, ſo macht ich mir eine Angel und fing die folgenden Tage deren ſoviel, als wir brauchten. Aber ich ſpuͤrte bald, daß die Jnſel andere Bewohner, als ienes Gevoͤgel haͤtte, ich ſah einige kleine Thierchen, von der Groͤſſe eines Haaſen oder Kaninichen, die ſehr ſchoͤne Felle hat - ten. Eine Gattung von Ziegen entdeckte ich an ihrem Geruch. Jch ſuchte eine davon zu erha - ſchen, weil ich die Milch derſelben, wenn ich der - gleichen haͤtte erlangen koͤnnen, als eine groſſe Er - leichterung fuͤr uns anſah. Jch lauerte daher auf, iedoch anfangs mit ſehr ſchlechtem Erfolge. Als ich aber an einem ſchoͤnen Tage denn hier war es damals Sommer nach der mittaͤgigen Kuͤ - ſte zuging, ſah ich mit Erſtaunen Boͤcke oder Sa - tyrn entweder mit der Angel oder mit einer Art von Reiſen, die an einem Staͤngelchen hingen, fiſchen. Sie gingen oft auf zwei Fuͤſſen, und ſchienen zuweilen einander zu ſagen, was ſie ma - chen ſollten. Jch betrachtete ſie laͤnger als eine Stunde mit meinem Glaſe; da ich bereits ein Kleid von Fellen hatte, ſo wagt ich mich endlich ziemlich nah zu ihnen. Sie machten eine Stau - nenvolle Bewegung als ſie mich erblickten, traten zuſammen und betrachteten mich. Jch gab ihnen Zeichen der Freundſchaft, hielt iedoch mein Gewehr immer fertig und meinem Degen in Bereitſchaft. Jch ſprach ſie durch Geberden um Fiſche an, die ſie nach oͤfterer Wiederholung endlich verſtanden; worauf einer von ihnen mir einen Korb voll brach -te,215te, die ich nahm und fortging. Sie ſahen mir nach, aber ich that, als ob ich darauf nicht ach - tete. Als ich eine Strecke weg war, verlieſſen einige den Haufen und liefen mir nach, bis etli - che funfzig Schritte von meiner Hoͤhle, wo ſie mich hineingehn ſahen. Jch beobachtete ſie ebenfals mit meinem Glaſe. Nachdem ſie die Baͤume be - zeichnet hatten, liefen ſie geſchwind wieder zuruͤck. Aus Furcht vor einem Ueberfall ſetzt ich mich in Vertheidigungsſtand, unwillig uͤber mich ſelbſt, daß ich mich dieſen Bockmenſchen gezeigt hatte. Doch wollt ich meine Gattin nicht erſchrecken. Den andern Morgen ſah ich einige um meine Woh - nung herumſtreichen; gleichwohl ging ich wohlbe - wafnet auf den Fiſchfang. Sie ſahen zu und ſchienen mit meinem Betragen ſehr zufrieden, weil ſie glaubten, ich ahmte ſie nach. Um die Art mei - nes Fiſchfanges und meine Angel zu ſehn, traten ſie naͤher und bezeigten viel Verwunderung. Es war naͤmlich eine Schiffsangel, ganz verſchieden von der ihrigen und weit bequemer. Als ich nach Hauſe ging, begaben ſie ſich ebenfals weg: ka - men aber, ob ich ihnen gleich Fiſche anbot, nicht heran.

Um die naͤmliche Zeit langte mein kleiner Schifferknabe an. So ſehr ich auch ſein Un - gluͤck bedauerte, ſo war es doch ein groſſer Troſt fuͤr mich ihn zu beſitzen. Jch bildete ſeinen Ver - ſtand, ſo viel es mir moͤglich war, aus; und es gluͤckte mir einen fuͤrtreflichen Mann aus ihm zu ziehn. Er begleitete mich auf meinen Fiſche -O 4reien216reien und Jagden. Auch mein Sohn folgte uns, ob er gleich nur ſieben Jahr alt war, um ſich bei guter Zeit an dieſe Beſchwerlichkeiten zu gewoͤhnen. So haben wir zehn Jahr hin ge - bracht. Waͤhrend der Zeit aber, muß ich euch ſagen, machten wir einige Bockmenſchen zahm die uns beſuchten. Einer davon hatte eine Tochter weniger ungeſtaltet als ihre Geſpielinnen, die mein iunger Schiffer liebgewann und heirathete. Jch hatte ihm meine Tochter beſtimmt; aber dieſer treue Juͤngling ſprach eines Tages zu mir. Ka - pitain, es iſt ſchicklicher daß ich verſuche, was eine Vermiſchung mit den Weibern dieſes Landes hervorbringen kan, und daß eure Familie, welche die Herrſchaft daruͤber haben wird und haben muß, alle Volkommenheiten der menſchlichen Geſtalt be - halte: verheirathet daher eure beiden Kinder zu - ſammen: die Nothwendigkeit erfordert es. Jch muß geſtehn, dieſer Beweggrund machte einen tie - fen Eindruck auf mich; denn ich hatte eine auſſer - ordentliche Abneigung, meinen Sohn an ein Zie - genmaͤdchen verheirathet zu ſehn. Jch unterwarf mich alſo den Geſetzen der Nothwendigkeit: und dies ſind die Fruͤchte davon. Jch habe ſechs Enkel, Moriz, mein Schiffer aber hat deren bereits zwoͤlfe, weil ſeine Frau faſt immer Zwillinge bringt. Zu meiner Freude finde ich, daß dieſe Kinder mehr nach dem Vater als der Mutter arten, und koͤnten ſie ſo gluͤcklich ſeyn ſich mit volkommern Weſen zu verbinden, ſo wuͤrde ihre urſpruͤngliche Ungeſtalt ſich bald verlieren.

Noch217

Noch muß ich euch ein ſchreckliches Ereignis er - zaͤhlen, das ſich vor ungefaͤhr fuͤnf Jahren auf dieſer Jnſel zutrug, denn ich zaͤhle die Jahre ge - nau nach einem Winter und einem Sommer. Der Winter iſt hier zu Lande ſehr heftig. Darum ſamlen wir ietzt unſere Lebensmittel ein; denn auſ - ſer der Frau des Moritz kan ungefaͤhr ein acht Mo - nat lang kein Menſch einen Fuß aus der Hoͤhle ſe - tzen. Nur etwa ein vier bis fuͤnf Monden haben wir frei und genuͤſſen ſo einer halben Waͤrme wie die gegenwaͤrtige. Vor etlichen Jahren hatten wir einen auſſerordentlich kalten Winter. Zu dieſer fuͤrchterlichen Zeit, fanden ſich die Meerwieſel zum erſtenmale hier ein; vermuthlich weil von ih - rem eigentlichen Aufenthalte an, bis hieher alles gefroren war. Dieſe grauſamen Thiere verwuͤſte - ten alles und fraſſen die Bockmenſchen. Oft ver - nahmen wir vor der Thuͤr unſrer Hoͤhle ein durch - dringendes Geſchrei; aber niemand von uns konte gehn und ſie oͤfnen. Um nicht zu erfrieren, kon - ten wir nicht anders Waͤrme genug erhalten, als wenn wir dicht an einander auf Fellen lagen. Die Ziegen-Frau allein konte aufſtehn, thaute nur Waſ - ſer auf, und bereitete unſere Nahrung.

Endlich erſchien der Sommer wieder: aber wie groß war unſer Erſtaunen, als wir keine Bockmenſchen mehr ſahen, noch irgend eins von den kleinen Thieren! Alles war verſchwunden, auch ſogar das Gevoͤgel: dafuͤr ſahen wir eine Menge Meerwieſel, die uns anfielen. Da wirO 5mit218mit unſerm Pulver ſparſam und vorſichtig umge - gangen waren, ladete ich mein Gewehr: mein Sohn nahm den Degen und Moritz eine Zimmer - hacke. So erwarteten wir, mit dem Ruͤcken gegen einen Felſen gekehrt den Feind. Als ich ihn erreichen konte, druͤckt ich meine Doppelflin - te los, und toͤdtete deren ſieben. Die uͤbrigen, die friſch auf uns losgingen, wurden mit der Ha - cke, dem Degen und dem Bajonnet, das ich auf mein Gewehr ſteckte, empfangen. Wir erlegten alles was uns nahe kam und toͤdteten auch die uͤbrigen blos Verwundeten. Drauf zogen wir ih - nen das Fell ab, und lieſſen das Fleiſch doͤrren, welches ganz eßbar iſt, wenn man Hunger hat. Die folgenden Tage, fanden wir auf unſrer Jagd nur hier und da ein Meerwieſel, die wir den Sommer uͤber gaͤnzlich ausrotteten. Endlich fan - den wir noch zwei iunge Bockmenſchen, einen Juͤng - ling und ein Maͤdchen in einer Hoͤhle, die vor Hun - ger dem Tode nahe waren, weil ſie nicht das Herz hatten hervorzukommen. Dieſe nahmen wir zu uns, und ſie leiſten uns nuͤtzliche Dienſte. Sie haben hier in der Naͤhe eine Sommerwohnung, im Winter aber leben ſie bei uns und beſorgen un - ſre Aufwartung.

Der folgende Winter fuͤhrte wieder andere Meer - wieſel auf dieſe Jnſel, welche aus Mangel an an - derm Unterhalt uͤber die Fiſche herfielen. Den Som - mer hindurch haben wir ſie gaͤnzlich weggeſchaft, und mit den uͤbrigen wollten wir es dies Jahr ebenſo219ſo machen; aber jetzt, edeldenkende Landsleu - te, duͤrfen wir uns wohl mit beſſern Hofnungen ſchmeicheln.

Auf dieſe Erzaͤhlung des Kapitaͤns erwiederte Victorin, daß ſie ihn und ſeine Kinder ſo, wie die Familie des iungen Schiffers auf die Chriſtininſel ſchaffen wolten, die mit lauter Franzoſen bevoͤlkert waͤre, unter einem gelinden Himmelsſtrich laͤge und einen ſehr fruchtbaren Boden haͤtte. Der Ueberreſt von dem Bocksgeſchlechte aber ſolte auf die Schaf - inſel gebracht werden. Er fuͤgte hinzu, daß ſie noch den naͤmlichen Tage drei Perſonen, die er be - ſtimmen moͤchte, fortzutragen erboͤtig waͤren. Der Kapitain ernante daher ſeine Gattin, ſeinen Sohn und einen von ſeinen Enkeln.

Uebrigens will ich nur noch ſoviel ſagen, daß dieſe Ungluͤcklichen ſolchergeſtalt zu vieren in wenig Tagen, weil der Eidam des Victorin nachher auch mitreiſte, verſetzt wurden, und daß ſie ge - genwaͤrtig auf der Chriſtininſel ſehr gluͤcklich leben. Das Bocks-Paar erhielt einen Platz auf der Schaf - inſel und man bemerkte, daß dieſe beiden Gattun - gen viel Anlage zu wechſelſeitiger Freundſchaft hat - ten. Victorin verabſaͤumte keine Gelegenheit, die Natur zu ergruͤnden; aber ſein Sohn Alexander uͤbertraf ihn noch. Man kan behaupten, daß dieſer Fuͤrſt der thaͤtigſte und einſichtsvollſte unter den Sterblichen geweſen ſein wuͤrde, lebte nicht heutzutage Prinz Hermantin ſein Sohn; dieſerHeld220Held des Suͤdlandes verdunkelt alle ſeine Vor - gaͤnger.

Es waren nur noch wenige Grade zu Vollen - dung der Reiſe, um die Erdkugel unter der Linie der Chriſtininſel uͤbrig. Aber Victorin empfand be - reits das Druͤckende des Alters. Ueberdies hatt er vor kurzen ſeinen Schwiegervater und ſeinen Va - ter verloren, die beide im hoͤchſten Alter (Chri - ſtinens Vater war hundert und drei, der Fiſcal - procurator aber hundert und zehn Jahr alt gewor - den) verloſchen waren. Er war daher nur blos auf ſeine Ruhe bedacht, verwandte ſeine Sorgfalt nicht nur auf eine gute Regierung der Chriſtinin - ſel, ſondern auch auf Beobachtung der Vicekoͤnige, von den Affen-Baͤr-Cyniſchen, Gehoͤrnten, Schaf - inſeln ꝛc. Er beſuchte ſie und fand zu ſeiner Be - ruhigung Wohlſtand bei den europaͤiſchen Familien die ſie beherrſchten und ein gutes Einverſtaͤndniß, zwiſchen ihnen und den Eingebohrnen. Victorin munterte ſie immer mehr auf, liebkoßte die Obern der Wilden und brachte es dahin, daß er von ih - nen fuͤr einen Vater, fuͤr ihren erſten Ausbilder, ihren Freund, ihren Wohlthaͤter und oberſten Be - herrſcher angeſehn ward. Als er nebſt Alexandern wieder auf die Chriſtininſel kam, macht er ihn zum Fiſcalprocurator des Reichs, das iſt zur vor - nehmſten Perſon des Staats nach dem Koͤnig, und uͤbertrug dieſem verdienſtvollen Sohne den Schutz uͤber die halbwilden Kolonien und die Emporbrin - gung der Kuͤnſte. Er ſolte unterſuchen, welchenoch221noch fehlten und ſogar nach Europa gehn, um die zu Unterweiſung der Chriſtinier noͤthigen Per - ſonen aufzuſuchen.

Alexander fand alle Kuͤnſte der Nothdurft, ſo - gar die Buchdruckerkunſt, auf der Jnſel ſehr wohl beſtellt. Er bemerkte ferner, daß Bequemlichkeit und Gleichheit eine ungeheure Bevoͤlkerung hervor - bringen wuͤrden, denn ieder Hausvater hatte zehn bis zwoͤlf Kinder. Dies ruͤhrte von einer ſonder - baren Gewohnheit her, die ich noch nicht erwaͤhnt habe. Die Chriſtinier auf allen Jnſeln verheira - teten ſich naͤmlich zweimal in ihrem Leben. Zum erſtenmale ehlichte eine Mannsperſon von ſechszehn Jahren, eine Frau von zwei und dreiſſig, die er ſechszehn Jahr behielt. Dann blieb dieſe acht und vierzig Jaͤhrige Frau im Hauſe und fuͤhrte die iunge Gattin an, bis daß dieſe ihren Mann ver - ließ. Die Alte ſorgte fuͤr die Kinder, die alle ihr gehoͤrten und befahl als Gebieterin, dem gan - zen Hauſe, die iunge Gattin ausgenommen, uͤber deren Perſon ſie keine Gewalt hatte. Wenn dieſe ihr ein und dreiſſigſtes Jahr erreicht hatte, ging ſie in ein oͤffentliches dazu beſtimmtes Haus, wo ſie ein Jahr lang blieb, niemand als Frauenzim - mer ſah und ein arbeitſames Leben fuͤhrte. Jm zwei und dreiſſigſten Jahre gab man ihr einen iun - gen Mann, welches ihr letzter war und deſſen Hausweſen ſie bis ans Ende ihres Lebens mit al - len Gerechtſamen einer Gattin beſorgen muſte. Doch blieben die Maͤnner von zwei und vierzig Jahrennicht222nicht unverſorgt, ſie konten wiederum ein iunges Maͤdchen heirathen; aber ſie waren zu dieſer drit - ten Heirath nicht ſo wie zu den erſtern beiden ge - noͤthigt, indes ſtanden die, welche eine dritte Verbindung eingingen, in groͤſſerer Achtung. Auch konten ſie ſich eine bloſſe Beiſchlaͤferin aus den Frauenzimmern der niedern Gattungen als aus den Rachtweibern oder andern vorerwaͤhnten, waͤhlen. Man ſahe dieſe Verbindungen nicht fuͤr tadelhaft an, weil ſie beſonders zu Unterhaltung dienten. Aber die Regierung hatte auf die Soͤhne dieſer ver - miſchten Gattungen ein wachſames Auge und ſuch - te ſolche zu vervollkommen, ſie durften nur ver - wittwete Frauenzimmer heirathen, die wenigſtens zwei und dreiſſig und nicht uͤber vierzig Jahr alt waren, folglich Kraͤfte genug hatten, denen Kin - dern am meiſten von ihrer Natur mitzutheilen. Die Maͤdchen konten Maͤnner von einer ebenfals gemiſch - ten Gattung, oder als Beiſchlaͤferinnen auch Alte nehmen. Nach der dritten Vereinigung aber mu - ſten ſie blos rechtmaͤſſige Weiber werden.

Die koͤnigliche Familie konte iedoch dieſe Ge - wohnheit nicht beobachten, weil ſie in Ermange - lung der Prinzeſſinnen von Gebluͤte patagoniſche Gemalinnen nehmen muſten, theils um ihre Ho - heit zu behaupten, theils um die Freundſchaft mit den maͤchtigen Nationen von Victorique oder Pa - tagonien zu unterhalten. Man wendete auſſeror - dentliche Sorgfalt auf die iungen Prinzen und uͤbt ihren Verſtand, der ſehr groß iſt, ungemein. Be -ſonders223ſonders ſind Alexanders Soͤhne fuͤrtrefliche Mecha - niker geworden und haben ihre Fluͤgel zu einer noch groͤſſern Volkommenheit gebracht als ihr Vater.

Dieſer Alexander machte mit ſeinen Kindern und Vettern eine Reiſe nach Frankreich, um Mah - ler, Bildhauer, ia ſogar Gelehrte, Tonkuͤnſtler und Schauſpieler daher zu hohlen. Sie erſchie - nen blos in der Nacht und fuͤhrten ihr Vorhaben unbemerkt aus. Man wird ſich erinnern, daß vor ein zwanzig Jahren zwei groſſe Maler, zwei Bildhauer, zwei beruͤhmte Schriftſteller, ein fuͤr - treflicher Tonkuͤnſtler, zwei Schauſpieler einer in tragiſchen der andere in komiſchen Rollen und ein vorzuͤglicher Taͤnzer verſchwanden. Jedermann hielt ſie fuͤr todt; aber ſie ſind es nicht. Alexan - der mit ſeinen zwei Vettern und beiden Soͤhnen haben ſie entfuͤhrt und auf die Chriſtininſel getra - gen, wo ſie Zoͤglinge unterrichten, und zum Ver - gnuͤgen einer Nation beitragen, welche im Ueber - fluſſe lebt und das koͤſtlichſte Gut, Unſchuld und Freiheit genuͤßt.

Ehe ich ihnen aber den ietzigen Zuſtand der Chri - ſtininſel erklaͤre, muß ich die Materie von den Entde - ckungen Alexanders und ſeiner neuen Gefaͤhrten, ſei - ner Soͤhne und Vettern vollenden: denn ſein Vater, ſein Bruder und Sophiens Gemal machen ſolche weite Reiſen nicht mehr mit. Sie beſuchen blos die bereits entdeckten Jnſeln und bemuͤhen ſich da -ſelbſt224ſelbſt Eintracht und Gluͤck zu erhalten. Sie ha - ben ſich unſaͤgliche Muͤhe zu Vervolkommung der Affen-Baͤr-Hunde-und Horn-Nation gegeben, und haben nach und nach ihren Zweck erreicht. Ach! haͤtten ſie wie Spanier ein Mexico und ein Peru entdeckt, welche Vortheile wuͤrden ſie daraus gezogen haben, welch Gluͤck wuͤrde es fuͤr ihre ungluͤckliche Bewohner geweſen ſein! . Welch Ungluͤck im Gegentheil fuͤr die thieriſchen Men - ſchen des Suͤdpols, wenn der grauſame Eroberer von Mexico die Affen-Baͤr ꝛc. - inſel oder das Land der Patagonen entdeckt haͤtte! Gedemuͤthigt durch den erhabenen Wuchs dieſer letztern, wuͤrd er ſie alle haben hinrichten wollen, und wuͤrde vielleicht den gerechten Lohn ſeiner Grauſamkeit bei ihren Nachbarn, von denen ich Jhnen bald erzaͤhlen will, gefunden haben. Aus Verachtung und Abſcheu ge - gen die Unvolkommenheiten dieſer Halbthiere, haͤtt er ſie gleich dem Viehe der Zernichtung Preis gegeben, oder wenn er ia einige Spuren der Menſchheit in ih - nen entdeckte, noch grauſamer aus Schwaͤrmerei ſie zum Feuer verurtheilt haben, als ob ſie vom Boͤ - ſen erzeugt oder aus einer viehiſchen Luſt entſproſ - ſen waͤren; da dieſe Weſen gleichwohl Menſchen ſind, die den hoͤchſten Grad der Volkommenheit nicht erreicht haben und bei denen die Natur auf - gehoͤrt hat zu wirken, ſobald ſie ſolche aus dem Meere, dem Urſprunge aller lebenden Geſchoͤpfe ſo - wohl als der Pflanzen, an die freye und trockne Luft gebracht hatte; wahrſcheinlich aus dem Grun - de, weil die Erde an dem Suͤdpole in Jnſeln zer -ſtuͤckt225ſtuͤckt worden iſt und ihre Bewohner folglich von allen andern Gattungen dergeſtalt abgeſchnitten wor - den ſind, daß ſie ſich durch Vermiſchung nicht haben vervolkomnen koͤnnen*)Man koͤnte dawider einwenden, daß wenn der Suͤdpol eher als der Nordpol bevoͤlkert geweſen waͤre, dieſe Menſchen haͤtten ausarten koͤnnen, um Stufenweiſe zu den unvernuͤnftigen Weſen zu - ruͤck zu kehren; welches vor der zernichtenden Re - volution vorher gehen muſte, weil die weiſe Na - tur das vernuͤnftige Geſchoͤpf nicht zum Zeugen die - ſer ſchrecklichen Verwirrung machen wolte, die dem Ende des Lebens auf dem Planeten vorausgehen ſoll.

Die Vermiſchung dieſer Gattungen iſt das Mittel, deſſen Victorin ſich bedient. Er ſucht Verbindungen zwiſchen den Affenweibern und Baͤr - maͤnnern, und wiederum zwiſchen den Hundmaͤn - nern und Affen - und Baͤrweibern ꝛc. zwiſchen den Stiermaͤnnern und Schafweibern, zwiſchen dieſen beiden letztern Gattungen und den Nachtmaͤnnern und Weibern zu ſtiften. Endlich hat er den Fran - zoſen erlaubt, Beiſchlaͤferinnen zu halten, von wel - cher Gattung der niedern Nationen es ihnen be - liebt, mit dem Beding, daß die von ihnen gezeug - ten Kinder ſich blos mit einander verehlichten und zu Bevoͤlkerung einer kleinen Jnſel beſtimt wuͤrden, die ungefaͤhr ein zwanzig Meilen von der Chriſtin - inſel, derienigen gegenuͤber, wo man die Entdeckun - gen gemacht hatte, lag. Davon werde ich bald reden.

d. fl. Menſch. PBei226

Bei dieſer Einrichtung befand ſich der groſſe Victorin, der erſte Koͤnig der Chriſtininſel, nach dem Geſtaͤndniß ſeiner Gattin, die er bei ſeiner Ankunft zur Souverainin gemacht hatte, in der gluͤcklichſten Lage. Er fand hier eine fuͤrtrefliche Gelegenheit, dieienigen Maasregeln zu befolgen, welche ohne Zweifel die erſten morgenlaͤndiſchen Voͤlker in gleichen Verhaͤltniſſen nahmen, als al - le Gattungen noch nicht mit einander vereinigt wa - ren, wie es die egyptiſchen Weiſen lange Zeit ge - lehrt haben; naͤmlich das Volk nach dem Grade der Volkommenheiten in gewiſſe Staͤmme zu thei - len. Er konte naͤmlich die Franzoſen zum Bei - ſpiel vorziehen, ſie vor den andern verehren, be - dienen und ernaͤhren laſſen; Aber er huͤtete ſich! Er wuſte, mehr aus Erfahrung, als aus der Geſchichte, daß die Klaſſe der Taugenichtſe, eher oder ſpaͤter in Verachtung faͤllt und damit ihr En - de nimmt, daß ſie ein Spiel der arbeitſamen und kriegeriſchen Klaſſe wird. Arbeit, Handel, Krieg im Nothfall, Verwaltung der Geſchaͤfte, alles dies war das Loos der Franzoſen. Das Geſetz der Arbeitſamkeit war algemein, von dem man durch nichts befreit werden konte. Nuͤtzliche Be - ſchaͤftigungen allein waren geehrt. Muͤſſiggang aber beſchimpfte und war das ſicherſte Zeichen der Ehrloſigkeit und Erniedrigung. Ein Geſetz un - endlich weiſer als des Lycurgus, weil in Sparta alle Arbeiten von vorzuͤglichem Nutzen durch die Eloten verrichtet wurden; wodurch dieſe Beſchaͤf - tigungen, Kuͤnſte, Handwerker, ia ſogar Wiſ -ſen -227ſchaften und feinere Lebensart herabgeſetzt werden muſten, wie es auch wirklich geſchah. Leuten von einer niedern, noch nicht ſo volkomnen Gat - tung, wurden Arbeiten, die ihrem Verſtande an - gemeſſen waren, aufgegeben, deren Grenzen nicht uͤberſchritten werden konten. Man durfte ſie zu alzu harten Arbeiten, wodurch ſie wohl gar noch duͤmmer werden moͤchten, unter dem Vorwande des Nutzens nicht gebrauchen. Die Kinder aus einer gemiſchten Ehe hingegen waren wie die Franzoſen beinah zu allen, die Regierungsgeſchaͤf - te ausgenommen, faͤhig. Beſonders aber blieben die Kuͤnſte des Vergnuͤgens als Schauſpielerei, Muſik, Malerei, Bildhauerei ꝛc. denen franzoͤſi - ſchen Familien von vaͤterlicher und muͤtterlicher Seite, und denen welche auf dem geſcheiterten Schiffe ſich befunden, und an die beiden Weiber unſerer Gattung verheiratet hatten, vorbehalten. Da aber in einer Erzaͤhlung, wie ich ſie Jhnen ver - ſprochen habe, die Erwaͤhnung der einzelnen Um - ſtaͤnde kurz ſein muß, ſo hoͤre ich auf, und fahre in den Entdeckungen des Alexander fort.

Lange ſchon hatt er die Abſicht die Welt un - ter der Linie der Chriſtininſel und allen uͤbrigen Li - nien zu umreiſen. Den erſten Punkt ſeines Vor - habens erfuͤlt er im dreiſſigſten Jahre der Regie - rung ſeines Vaters und ſeiner Mutter uͤber die Chriſtininſel.

P 2Eilfte228

Eilfte Jnſel.

Er reiſte im Fruͤhiahr ab und verfolgte den Weg den ſein Vater und ſein aͤlteſter Bruder ge - nommen hatten. Suͤd-Weſt von der Schafinſel fand er eine ſchoͤne Jnſel, auf welcher gruͤnende Thaͤler und Huͤgel untereinander abwechſelten, das Land war fett und fruchtbar, und die Weiden ſchienen auf derſelben fuͤrtreflich zu ſein. Jn Alex - anders Geſelſchaft befanden ſich Hermantin, ſein aͤlteſter Sohn und der iunge Dagobert, der aͤlte - ſte von ſeinen Vettern, beide von patagoniſchen Muͤttern gebohren, und folglich ſtaͤrker als andere Europaͤer. Jch will die verdiente Lobeserhebungen des Hermantin hier nicht vorausſchicken; aber er wird bei der Nachkommenſchaft unſtreitig die Stel - le eines Helden des Suͤdlandes einnehmen, und unter den Nachkommen der gegenwaͤrtigen Genera - tion die naͤmliche Achtung und den naͤmlichen Ruhm verdienen, als die Hercules, die Bacchus und die Odin bei den alten Voͤlkern des Nordpols. Die drei Prinzen unterſuchten, ihrer Gewohnheit nach, die Jnſel. Sie bemerkten kein fleiſchfreſſendes Thier, ſondern fanden blos groſſe Ameiſen, de - nen auf den Antillen und in Cayenne ziemlich aͤhn - lich. Jhre Haufen waren wie das ſpitzige Dach an einem Glockenthurme. Wenn ſie ein Thier ſchlafend finden, fallen ſie uͤber daſſelbe her, toͤd - ten es, eh ſichs frei machen kan, und verzehren es. Beſonders freſſen ſie die Koͤrper von todten Thieren, die ſie finden, ganz bewunderswuͤrdigab:229ab: und man ſieht um den Ameiſenhaufen herum verſchiedene Gerippe die ſo reinlich ſehen, daß man glauben ſolte, ſie waͤren von Elfenbein kuͤnſtlich nachgemacht. Am meiſten aber ſtutzte Alexander uͤber ein Gerippe, das von einem Centaur zu ſein ſchien. Er unterſucht es mit ſeinen beiden Ge - faͤhrten ſehr aufmerkſam, als ſie um ſich ein Getoͤ - ſe wie von einem Kriegsheere vernahmen. So - gleich waren ſie auf ihrer Hut. Hermantin erhob ſich ſogar einige zwanzig Schritte, um zu ſehn, wo dieſer Laͤrm herkaͤme? Er ward einen anſehn - lichen Haufen Reuter gewahr die herumzuiagen ſchienen, und deren Pferde auf eine auſſerordentli - che aber ganz angenehme Art wieherten. Stau - nend uͤber dieſen Anblick gab er ſeinem Vater und ſeinem Vetter Nachricht davon. Sie ſchwangen ſich alle drei in die Luft und flogen nach den Reu - tern zu, die etwa noch eine Viertelſtunde ent - fernt waren. Als ſie ſich ihnen naͤherten, wur - den ſie gewahr, daß dasienige, was ſie fuͤr Reu - ter auf Pferden angeſehn hatten, nichts anders als eine Art von Thier ſei, das zuweilen auf zwei, zuweilen auf vier Fuͤſſen ginge, am Halfe hatt es eine Art von Maͤhnen, und einen laͤnglichen Kopf mehr der menſchlichen als der Pferde Geſtalt aͤhn - lich, am Ende der Fuͤſſe aber einen Pferdehuf, die Haͤnde glichen ziemlich den Pfoten eines Baͤr. Alle dieſe Weſen ergoͤtzten ſich gegen Untergang der Sonne auf dem Graſe, aber ihre Liebkoſungen be - ſonders geſchahen mehr auf Pferde, als Menſchen Art. Man fand weder Scham noch Beſchei -P 3den -230denheit dabei. Dies Pferde-Volk ſchien um ſo gluͤcklicher, ie naͤher es der Dumheit und Thierheit kam. Kein Bekuͤmmernis fand bei ihnen Statt: ihr abgeſetztes Wiehern, das eine Art von Sprache zu ſeyn ſchien, athmete blos Vergnuͤgen; die Stutmaͤdcheu flohen, die Pferdmaͤnner verfolgten ſie und fielen uͤber ſie her, iedes Paar ließ ein unregelmaͤſſiges Wiehern der Wolluſt hoͤren und der ganze Haufe beantwortet es ſogleich. Dieſe oͤf - fentliche Freude ward durch die fliegenden Menſchen geſtoͤrt, die ſich mit einemmale uͤber ihnen zeigten. Sobald man ſie erblickte, ſtieß ein alter Pferd - mann ein Wiehern des Schreckens aus. Sogleich flohen alle Weiber in das nahe Gehoͤlze; blos das maͤnnliche Geſchlecht blieb zuruͤck und blickte die Fliegenden trotzig an. Alexander ſtutzte uͤber ihre beſondere Standhaftigkeit, ließ ſich bald bis auf die Erde nieder und gab ihnen Zeichen der Freund - ſchaft, die ſie ohne Furcht anſahen. Ungeduldig ſie in der Naͤhe zu ſehn, ließ der iunge Herman - tin, ſich dicht neben einem iungen Pferdemann nieder und reichte ihm Brod von Getreide dar. Der iunge Centaur beſchnoperte und koſtete es, wieherte dann und lockte eine Menge iunger Leute ſeiner Nation herbei. Hermantin machte ihnen eben dergleichen Geſchenke, und ſtreichelte ſie mit der Hand. Alexander und ſein Vetter machten es bei den Pferdmaͤnnern eben ſo, die aber ſchwerer zu gewinnen waren; aber bald folgte eine ſol - che Veriraulichkeit, daß auf ein algemeines Wie - hern alle Stutweiber herbei kamen. Doch naͤher -ten231ten ſie ſich mit Furchtſamkeit. Die Fliegenden bemerkten unter ihnen einige, deren menſchliche Pferdegeſtalt volkommen und ſehr angenehm war. Kurz in Zeit von einigen Tagen, hatte Herman - tin mit einem iungen Centaur und mit einem iungen Stutmaͤdchen Freundſchaft gemacht, und bewog ſie, ſich auf die Chriſtininſel ſchaffen zu laſſen. Dies geſchah, die Erziehung des iungen Pferde - volks war ſehr leicht; aber ihr Verſtand kam den iungen Hundmenſchen, noch weniger aber den iun - gen Affenmenſchen nicht bei. Doch beſtand der Vortheil bei dieſer ſchoͤnen Gattung darin, daß ſie, vermoͤge der groſſen Staͤrke, zu gewiſſen groben Arbeiten ſehr geſchikt war.

Zwoͤlfte Jnſel.

Nach Ueberlieferung dieſer beiden neuen Zoͤg - linge, reiſten Alexander, Hermantin und Dago - bert von neuen aus, um ihre Entdeckungen fortzu - ſetzen. Sie fanden bald eine Jnſel, die unter der naͤmlichen Breite, als die Pferdeinſel lag, aber von der Natur viel weniger beguͤnſtigt war. Es wuchſen auf einem duͤrren Boden Diſteln, auch fand man eine Art von Weinberg mit ſehr kleinen Trauben, durch den man kaum gehn konte, weil die traubigten Reben die duͤrren Gegenden alle verſperrten. Waͤhrend die drei Fliegenden dieſes neue Land unterſuchten, hoͤrten ſie einige Schritte von ihnen, eine ganz eigene Unterhaltung. Jch will Jhnen blos den Anfang davon mittheilen,P 4die232die Striche ſollen die Abwechſelung des Zwi - ſchenredens bezeichnen. Hhi hhhouh; hhanh, hhanhh! Hhinnh! Hhouih! hhanh - hhih. Hrrhh! hhih hhouh hhih hhonih hhonhims hhoimhh! Hhi! Hihinnhinh - hhih! ꝛc. Hermantin war neugierig die Perſonen zu ſehen, welche eine ſo baͤuriſche und ungebildete Sprache redeten. Er erhob ſich daher mit einem Schwunge des Paraſols ein zehn Fuß, ſchwebte uͤber das Gebuͤſche hin und entdeckte hinter einer Hecke von Weinreben und Brombeerſtraͤuchen, zwei Weſen, die ſich in einer noch beredtern Sprache mit einander unterhielten. Ein iunges Maͤdchen, deren Geſtalt etwas von einer Eſelin und einem Frauenzimmer hatte, pfluͤckte ſehr zarte Diſteln und band ſie mit iungen Sproſſen von wilden Wei - ne zuſammen, indem der iunge Eſelmann, ihr Liebhaber die vorerwaͤhnte doppelte Sprache an - wandte um ſie zu ſeinem Willen zu bereden. Die iunge Geliebte hoͤrte ihn, ohne ſich in ihrer Ar - beit ſtoͤren zu laſſen, an, und in dem ſie laͤchelnd auf ihn blickte. Jch bin im Stande Jhnen die Rede des Sir Aliboran in der Ueberſetzung mit - zutheilen. Hhih hhouh; hhanh hhanh! Jch ſchmachte nach dir; laß doch laß doch! Hhhinnh! Hhouih! Hhanh-hih (Ach nein! hoͤr auf! laß mich gehn) Hhrrhh! hhih hhouh hhih hhonih hhonhimh hhoimhh! hhi! hihinnhinh-hhih! (Ach! ich will dir ſchon Gehoͤr machen! Mach hurtig! Halt mir!) Dies iſt die feine Liebhaberei auf der Eſelsinſelund233und ich finde nicht, daß ſie ſchlechter als anders - wo iſt.

Von den Worten, kam dieſer zudringliche Liebhaber ohne Zweifel zur That; denn er war ſehr hitzig und ſeine Geliebte laͤchelte, indem ſie ſich, wie alle Weiber im aͤhnlichen Falle, um - ſah, ob ſie ſicher ſei, von iemanden bemerkt zu werden. Jndem erblickte ſie den iungen Herman - tin, der durch die Geſtraͤuche guckte. Erſchro - cken that ſie einen Sprung, farzte und ergrif die Flucht. Der iunge Eſelmann, der mehr Muth hatte, blieb ſtehn und ſahe dieſe groſſen Voͤgel ſteif an. Hermantin machte ihm Zeichen, und fing ſo gut er konte an, wie ein Eſel zu ſchreien. Der Eſelmann muſte daruͤber lachen, vermuthlich weil Hermantin ſeine Sprache mehr radebrechte als redete. Zu gleicher Zeit erſchie - nen Alexander und ſein Vetter Dagobert, und er - griffen den iungen Eſelmann, als er ſich mit Her - mantin beſchaͤftigte. Doch behielten ſie ihn nur deswegen, um ihn auf eine gute Art zu behan - deln. Jndem ſie ihn hielten, kam ſeine Geliebte ſchuͤchtern zuruͤck und guckte durch die Zweige des Gebuͤſches. Hermantin der ſie gewahr ward, uͤber - raſchte, und fuͤhrte ſie, ob ſie ſich gleich alle Muͤ - he zu entwiſchen gab, zu ihrem Liebhaber. Man ſtreichelte ſie beide, gab ihnen Brod von Getrei - de und Kaſtanien, die ſie auſſerordentlich zu lie - ben ſchienen: denn das Maͤdchen wollte das Brod anfangs nicht beruͤhren, uͤber die Kaſtanien aberP 5fiel234fiel es, ſobald es ſolche nur roch, her und ſoviel davon, als man ihm geben wolte, blieb auch gern da. Alexander glaubte, dieſe neue Gattung auf die Chriſtininſel verſetzen zu muͤſſen. Er ſchickte ſie daher mit ſeinem Sohn und Vetter dahin, er ſelbſt aber blieb noch auf der Jnſel, um dieſe ſonderbaren Bewohner genauer zu beob - achten. Er durfte ſie nicht mit vieler Muͤhe auf - ſuchen. Die beiden iungen Leute erhoben, als ſie weggefuͤhrt wurden, ein ſo heftiges Geſchrei, daß die ganze Jnſel davon erſchallte. Alsbald lie - fen die Eſelsmenſchen von allen Seiten herbei, um zu ſehn was es gaͤbe. Sie ſahen nichts mehr von ihren beiden Landsleuten, wurden aber mit Erſtaunen den Alexander gewahr, der ihnen Zei - chen der Freundſchaft gab. Sie naͤherten ſich ihm auf eine ſehr einfaͤltige Art, da er aber we - nig Vorrath bei ſich hatte, ſo behalf er ſich da - mit, ihnen zum Beweis ſeiner guten Geſinnungen, die Spitzen von iungen Weinreben und Herzen von Diſteln darzubieten, die ſie verzehrten. Mehr bedurft es nicht, um ihre Freundſchaft zu erwer - ben. Uebrigens waren ſie langſam, ſtarrig: und waͤhrend der zwei Tage, die er, um ſeine beiden Geſelſchafter zu erwarten, bei ihnen zubrachte, er - warb ſich ſeine Zufriedenheit blos die Jugend, die ziemlich lebhaft zu ſein ſchien. Die Eſelmaͤnner und Weiber, lebten aͤuſſerſt maͤſſig, ſie vertrieben ſich die Zeit nicht mit Spielen, wie die Pferde - menſchen. Beide Geſchlechter, kanten nur eine Leidenſchaft und zwar die der Liebe, aber dieſe warbei235bei ihnen auch ſo maͤchtig, daß ſie ſtatt aller uͤbri - gen diente. Maͤnner, Weiber und Jugend, al - les athmete nur Wolluſt. Jedermann ſuchte ſie, mit dem eifrigſten Beſtreben, und uͤberließ ſich ihr, nachdem er ſie gefunden, ohne Maaſſe. Dieſe ganze Gattung, ſchien in Gemeinſchaft zu leben, und das weibliche Geſchlecht alle Kinder ohn Un - terſchied zu liebkoſen. Alexander ſah ihnen zuwei - len Stunden lang zu, und konte nicht umhin bei ſich ſelbſt zu ſagen: Aber dieſe Eſelmenſchen ſind doch gluͤcklich in ihrem Thieriſchen Stande! ſie empfinden lebhaft, und genuͤſſen mit Entzuͤcken: ohne Muͤhe finden ſie den Gegenſtand ihrer Wuͤn - ſche, was bedarf es mehr um gluͤcklich zu ſein! Ach! wuͤrden wir ihnen wohl einen Dienſt erweiſen, wenn wir es dahin braͤchten, ſie zu unſerm Gra - de von Einſicht und Vernunft zu erheben! Waͤr es nicht ein weſentlicher Verluſt fuͤr ſie, wenn ſie zugleich auch unſre Sorgen, unſre eigennuͤtzigen und niedrigen Leidenſchaften, unſere traurige Kenntnis von Gut und Boͤſe und unſere Begriffe vom Tode erwuͤrben? Ach! was unternehmen wir! Dies ſind die Betrachtungen des klugen und empfindſa - men Alexanders waͤhrend ſeiner zweitaͤgigen Ein - ſamkeit auf der Jnſel. Nach einer reichlichen Ue - berlegung fand er iedoch, daß dieſe Eſelmenſchen nuͤtzlich ſein koͤnten, zwar nicht zum akademiſchen Unterricht, doch zu tuͤchtigen Laſttraͤgern, aber dieſer Gedanke kam nicht zur Wuͤrklichkeit, weil er dieſe Ungluͤcklichen fruͤher oder ſpaͤter in eine Skla - verei geſtuͤrzt haben wuͤrde. Am Abend des zwei -ten236ten Tages langten die beiden iungen Fliegenden, ſei - ne Gefaͤhrten wieder an, und es zeigte ſich, daß die Unterredungen des Hermantin mit ſeinem Vetter Dagobert unterwegens denen Betrachtungen ſeines Vaters gleich geweſen waren. Bald werden ſie ſehn, daß dies auch die Empfindungen eines wei - ſen Volks waren, welches die iungen Prinzen ſo eben zu beſuchen vorhatten.

Dreizehnte Jnſel.

Von der Eſelinſel begaben die drei Fliegenden ſich zur Entdeckung eines andern Landes, deſſen Einwohner die Sonderbarſten unter denen ſind, von welchen bisher die Rede geweſen iſt. Alexan - der und ſeine Gefaͤhrten ſuchten, ihrer Gewohn - heit nach, dasienige Weſen auf, dem ſie vorzuͤg - lich ihre Aufmerkſamkeit widmeten. Aber alle Muͤ - he war lange Zeit ohne Erfolg. Zwar hatten ſie, als ſie ſich dieſer neuen Jnſel naͤherten, ein Geſchrei groſſen quakenden Froͤſchen gleich gehoͤrt, auch hatte es ihnen beim Niederlaſſen geſchienen, als ob man dicke Balken in einen See wuͤrfe, der beinah die ganze Jnſel einnahm, denn es war wei - ter kein Land daſelbſt, als ein Wald von zwanzig bis dreiſſig Klaftern, der mit Waſſerbaͤumen und Pflanzen beſetzt war. Wahrſcheinlich iſt dieſer See die Oefnung eines alten ungeheuren Volcans, die nun mit Waſſer angefuͤllt iſt. Die Fliegenden hatten ſich auf einen Ausfluß von Lava, der einen na - tuͤrlichen Gang in den See machte, niedergelaſſen. Hier237Hier legten ſie ihre Vorraͤthe ab, und da ſie ſo lebhaft darauf beſtanden, ſo erlaubt ihnen Alexan - der in das Jnnere einzudringen, er aber blieb bei den Vorrathskoͤrben.

Als Hermantin und Dagobert ans Ufer des Sees kamen, wurden ſie einige Amphibien gewahr, die ins Waſſer ſprangen, noch mehrere aber die darin herumſchwammen. Hermantin lief hinzu, und wolte eins von dieſen Thieren zu erhaſchen ſu - chen, aber das Geraͤuſch ſeines Ganges, ſo leiſe er auch war, hatte ſie erſchreckt. Sie tauchten ſogleich unter, daß man keine weiter, als weit entfernt gegen die Mitte des Sees ſah. Weil die iungen Fliegenden ihnen aber nicht beikommen kon - ten, ſo flogen ſie nach dem andern Ufer. Kaum hatten ſie ſich einige hundert Schritte erhoben, als ein tauſend Koͤpfe aus dem Waſſer hervor guck - ten und ſie betrachteten. Sie fanden Jenſeits des Sees eben ſo wenig, und entſchloſſen ſich daher, die ganze Einfaſſung des Sees, welche das Land der Jnſel ausmacht, zu umgehn. Sie liefen zwei Tage ohn ein ander lebendes Weſen als Voͤ - gel zu entdecken. Von Zeit zu Zeit hoͤrten ſie blos, daß Amphibien mit einem ſehr groſſen Ge - raͤuſch in den See ſtuͤrzten. Dieſe wiederhohlte Erſcheinung machte ſie ſtutzig, ſie wurden eins, ſich eine Nacht uͤber zu verſtecken, und mit Huͤlfe ihres engliſchen Sehglaſes, womit man die Ge - genſtaͤnde im Dunkeln erkennen kan, zu verſuchen, ob ſie die Einwohner dieſer Jnſel, oder wenig -ſtens238ſtens die Beſchaffenheit der Amphibien die ſie hoͤr - ten, entdecken koͤnten. Gleich die erſte Nacht klaͤr - te ihnen ihre Zweifel auf. Sie ſahen deutlich menſchliche Amphibien aus dem See kommen, und Fruͤchte, Kraͤuter und Wurzeln auf der Erde ſu - chen. Sie bemerkten, daß ſie einander verſtaͤnd - liche Zeichen gaben, ob ſie gleich keine Sprache zu haben ſchienen. Dieſe Amphibien hatten, ſtatt der Haare, kleine Schuppen auf dem Kopfe und ihre Finger an Haͤnden und Fuͤſſen hingen, mittelſt einer dichten Haut zuſammen. Sie nahmen ihre Speiſe auf dem Lande zu ſich, waͤhrend einige von ihnen Wache ſtanden, (ohne Zweifel wegen Erſcheinung der fliegenden Menſchen). Auf das ge - ringſte Geraͤuſch, welches die Poſten hoͤrten, trieb ein Brrrr-rrr-ke-ke-krax kraxe die ganze Verſammlung ins Waſſer. Alexander gab alle Hofnung auf, eins von dieſen mistrauiſchen Ge - ſchoͤpfen zu erlangen, die, wie alle andere Amphi - bien ſich uͤberhaupt nicht behandeln laſſen wuͤrden. Er hatte daher beſchloſſen, ſie zu verlaſſen, dieſe gewiſſermaaſſen veranſtaltete Jnſel, als wuͤſte an - zuſehn und folglich ſie denen Abkoͤmlingen, welche die Chriſtinier mit Beiſchlaͤferinnen aus niedern Gat - tungen zeugen wuͤrden, anzuweiſen. Aber ſein aͤltſter Sohn war durch Huͤlfe ſeines Vetters Dago - bert, ſo gluͤcklich einen Juͤngling und ein Maͤdchen von dem Froſchgeſchlecht, in dem Augenblick, als ſie ſich den Vergnuͤgungen der Liebe uͤberlieſſen, zu erhaſchen. Sie wickelten ſie in eine Art von Netz und trugen ſie ohne Schaden nach der Chriſtininſel,indem239indem ſie den Erdball vollends umflogen, ſtatt den vorigen Weg wieder zuruͤck zu nehmen.

Alexander wandte ſeine Einſamkeit auf dieſer Jnſel dazu an, um die Einwohner vollends ken - nen zu lernen, die ſich an ſeinen Anblick nach und nach gewoͤhnten. Aber dieſe ſtumme Geſelſchaft war nicht ſehr unterhaltend, er beſchaͤftigte ſich daher, bis zur Wiederkunft ſeiner Gefaͤhrten, mit philoſophiſchen Betrachtungen. Allem Anſchein nach, dacht er, hat das menſchliche Geſchlecht bei den Fiſchen ſeinen Anfang genommen und muß vielleicht unmerklich dahin wiederkehren und dort aufhoͤren, wenn des Herrn von Buͤffon Syſtem von der almaͤhlichen Erkaͤltung des Erdballs wah - rer iſt als des Telliamed. Denn ſolte der letz - tere den Vorzug behaupten, ſo muͤſte die Welt in der Duͤrre ſich endigen, weil ſie mit der Feuch - tigkeit ihren Anfang genommen hat. Nach dem erſtern hat die Welt vom Trocknen ihren Urſprung genommen, um ſich im Zuſammenfrieren zu endi - gen. Ohne zwiſchen dieſen beiden groſſen Philoſo - phen entſcheiden zu wollen, finde ich, daß der Suͤdpol viel waſſerreicher als der Nordpol iſt. Hat Telliamed, wie ich wuͤnſche, recht, ſo faͤngt ſich das Leben bei ienem an. Er wird al - maͤhlig trocken werden, ſich bevoͤlkern und wir werden die Ehre haben, die Stifter und Beherr - ſcher der erſten und maͤchtigſten ausgebildeten Na - tionen auf dieſer Halbkugel zu ſein. Wir ſind Schoͤpfer der andern: haben ſie, wie ich hoffe,einen240einen gluͤcklichen Fortgang, ſo werden ihre Nach - kommen uns fuͤr halbe Goͤtter anſehen. Be - trachtet man die Natur in ihrer dortigen Geſtalt, ſo ſcheint mir Telliamed Recht zu haben. Haͤtt es aber der franzoͤſiſche Naturkundige, ſo wuͤrde das Leben auf der ſuͤdlichen Halbkugel ſich zum Untergange neigen, und wir haͤtten nur eine kurze Dauer zu hoffen Aber zeigen dieſe Pa - tagonen, volkomner als wir, wohl eine ſchwaͤch - liche Natur? Jch will dieſe Betrachtungen nicht weiter fortſetzen. Hermantin, ſein erlauch - ter Sohn, wird uns bald eine zuverlaͤſſigere Na - turlehre liefern.

Alexanders Sohn und Vetter kamen bald wie - der zu ihm, mit der Nachricht, daß man dieſe neue Gattung in einen ſchoͤnen Teich geſetzt haͤtte, deſſen Rand mit Lebensmitteln belegt waͤre, davon man ihnen taͤglich ein paarmal mit der Hand et - was reichte, das ſie auch zu nehmen anfingen. Das groͤſte Vergnuͤgen aber machte ihm die Be - merkung des Hermantin, daß die Chriſtininſel nicht weiter als funfzig Meilen entfernt und bis dahin, um den Erdball, unter dieſer Linie, weiter keine Jnſel anzutreffen waͤre.

Vierzehnte Jnſel.

Die drei Fliegenden gingen alſo weiter und richteten ihren Flug nach einer Jnſel, die weiter nach Norden lag. Sie trafen dieſelbe ſchoͤn undgruͤ -241gruͤnend an. Bei ihren Bemuͤhungen dieienigen Weſen, welche dieſes fruchtbare Land bewohnten, auszuſpaͤhen, ſahen ſie nichts als Voͤgel, und an den Kuͤſten ganz gewoͤhnliche Fiſche. Jhre Nachfor - ſchungen bei Tag und Nacht und zu allen Stunden, gewaͤhrten ihnen nichts, nicht einmal Landthiere. Sie ſahen ſich daher genoͤthigt, ohne etwas geſehn zu haben, nach der Chriſtininſel zuruͤck zukehren, und ſie erklaͤrten iene Jnſel fuͤr voͤllig wuͤſte, be - ſonders in Abſicht auf das Menſchengeſchlecht. Folg - lich beſtimmte man ſie den Kindern, aus zweien Gattungen entſproſſen. Doch iſt noch zu bemer - ken, daß man damals im Monat Junius, wel - ches unſer December iſt, lebte.

Als man aber nach drei Monden, eine zweite Reiſe dahin unternahm, um das Land ein wenig zu bebauen, machte man, nachdem man bereits an - gefangen hatte zu ackern, eine auſſerordentliche Entdeckung. Alexander befand ſich mit ſeinen Soͤhnen und Vettern an der Spitze der Arbeiter. An einem ſehr heiſſen Tage, wolten ſie ſich ein we - nig in den Schatten legen. Jndem Hermantin mit Vorſicht nach einem Walde ging, entdeckt er Schlangen, von einer aͤuſſerſt unfoͤrmlichen dicken Geſtalt, die aber nicht viel uͤber zehn bis zwoͤlf Fuß lang waren. Er zeigte ſie ſeinem Vater und ſeinen Gefaͤhrten, die ſie mit Schaudern betrach - teten. Alle dieſe Ungeheuer hatten einen, dem menſchlichen aͤhnlichen Kopf, und krochen, als ſie erwachten, mit einer bewundernswuͤrdigen Ge -d. fl. Menſch. Qſchwin -242ſchwindigkeit. Zuweilen erhoben ſie ſich halb und ziſchten auf eine ſchreckliche Art, indem ſie ihre geſpaltenen Zungen ſpitzten. Alexander erhob ſich mit ſeinem fliegenden Gefolge in die Luft, um dieſe Schlangenmenſchen zu erſchrecken, und in ihre Hoͤ - len zuruͤck zu treiben. Zugleich opfert er einen bei ſich habenden Hund auf, um zu ſehn, ob dieſe Thiere giftig waͤren. Er warf ihn unter ei - nen Haufen von ungefaͤhr dreiſſig, die, beherzter als die andern, nicht gefloyen waren, und ziſchend ſie anſahen, aber der Hund ward von einem die - ſer ſonderbaren Weſen verſchlungen. Dies bewog Alexandern, den Hermantin nach einem Eſel zu ſchicken, und ihn unter dieſe Schlangenmenſchen zu werfen. Dieſe Ungeheuer fielen uͤber ihn her und biſſen ihn, ſuchten ihn endlich auch zu erdroſ - ſeln, indem zwei ſich um ſeinen Leib ſchlangen. Aber ſie flohen wuͤthend in ihr Loch, als Alexan - der und ſeine Gefaͤhrten Erde auf ſie warfen, ei - nen einzigen ausgenommen, der das Herz hatte ſogar nach ihnen in die Luft zu ſpringen. Man warf immerfort Erde auf ihn, aber an ſtatt ſich in ſein Loch zu verſtecken, lief er nach den Arbei - tern zu. Alexander und ſeine Gefaͤhrten, folgten ihm, warfen eine Art von Netz uͤber ihn, und wickelten ihn feſt darinnen ein, damit ſie ihn ge - maͤchlich betrachten konten. Jndem ſie ihn ſo um - ringten, hoͤrte man ein fuͤrchterliches Geziſche, von der Seite des Waldes. Ein Schlangenweib kam mit einem Gefolge von ein Dutzend andern, theils erwachsnen, theils noch ſehr iungen, undwol -243wolten denen, welche den in dem Netze gefangenen Schlangenmann umgaben, auf den Hals fahren. Dieſe entfernten ſich aber, weil ſie zum Wider - ſtande zu ſchwach waren, iene zerriſſen daher das Netz mit den Zaͤhnen, befreiten den Gefangenen, und fuͤhrten ihn in ſein Loch.

Drauf unterſuchte man den gebiſſenen Eſel und fand keine Geſchwulſt an ihm, ob er gleich verſchiedene Wunden hatte, die iedoch in einigen Tagen heilten. Weil man dadurch verſichert ward, daß die Schlangenmenſchen nicht giftig waͤren, ſo fuͤrchtete man ſie nun weit weniger, und beſchloß ein Treffen mit ihnen zu wagen, wenn ſie zu bos - haft handelten; auch ſie ſogar von der Jnſel ganz zu vertreiben, indem man ſie noͤthigte, ſich auf eine andere, minder groſſe benachbarte Jnſel zu begeben, die ihnen zum voͤlligen Eigenthum einge - raͤumt werden, und niemand ſie daſelbſt ſtoͤren ſolte.

Alexanders aͤlteſter Sohn, welcher in Anſe - hung der natuͤrlichen Anlagen, ſeinen Vater noch uͤbertraf, und alle von ihm erhaltenen Kentniſſe bereits durch Erfahrungen vervolkomnet hatte, brante vor Verlangen einen von dieſen Schlangen - menſchen oder gar zwei, von beiderlei Geſchlecht, zu fangen. Er gab ſich ſo lange Muͤhe, bis es ihm gluͤckte. Eines Tages uͤberraſcht er deren zwei, als ſie ein Lamm, das er ihnen zur Lock - ſpeiſe vorgeworfen hatte, verzehrten. Er wickel -Q 2te244te ſie in ein Netz, und ſchafte ſie auf die Chri - ſtininſel, wo er ſie in ein gemauretes Behaͤltnis einſchlos, welches mit einem am Boden wohl ver - mauerten Loche verſehen war. Jn der Laͤnge ge - woͤhnten ſich dieſe ſonderbaren Weſen an die Men - ſchen. Sie zeugten auch Junge; aber es war unmoͤglich, ſie, wie die uͤbrigen Thiermenſchen, unſerm Verſtande nahe zu bringen. Fand man ſie auch am Ende eines Sommers ein wenig gelehri - ger und verſtaͤndiger, ſo gingen beinah alle die - ſe eworbenen Kentniſſe durch die Kaͤlte des Win - ters wieder verlohren, und ſie ſchienen das fol - gende Fruͤhiahr, noch furchtſamer und mistraui - ſcher als den vorigen Herbſt. Dieienigen, welche auf der Schlangeninſel geblieben waren, nahmen nicht den geringſten Grad von Bildung an, ſie verfielen ſogar immer mehr, und man fand oft Todte unter ihnen. Alle dieſe Umſtaͤnde erregten das Mitleid des Hermantin, und der andern Prinzen von Gebluͤte. Sie nahmen ſich da - her vor, in der Gegend des Aequators eine Jn - ſel ohne menſchliche Bewohner zu ſuchen, wo die - ſe Schlangenmenſchen ruhig, und ſogar geſichert gegen die iaͤhrliche Kaͤlte, leben koͤnten. Sie fan - den was ſie ſuchten, zwiſchen dem funfzehnten und vierzehnten Grade. Gegen die Mitte des Herbſts, vor Anfang der Kaͤlte, brachte man den Schlan - genmenſchen ihre beiden Kameraden wieder, um ihnen etwas ſanftere Geſinnungen einzufloͤſſen, wel - ches auch geſchah. Sie hatten ſolche fuͤr todt ge - halten und freuten ſich daher, ſie wieder zu ſehn. Wenig245Wenig Tage drauf, merkte man eine gaͤnzliche Aenderung an ihnen, ſie flohen nicht mehr bei dem Anblick der Menſchen. Dieſe Stimmung nuͤtzte man, um ſie zu bereden, ſich in einem Schiffe fortſchaffen zu laſſen, und dazu bewogen ſie groͤ - ſtentheils die beiden Zoͤglinge. Man nuͤtzte dieſe Schwaͤche, und dieſe Art von Mangel an Bewußt - ſein, welches dem Erſtarren voranging, um ſie einzuſchiffen. Jn der Maaſſe, als man ſich dem Aequator naͤherte, ſpuͤrte man; daß ſie von neu - en auflebten. Man ſetzte ſie ſehr munter ab, und war ſo gluͤcklich, ihnen ihr kuͤnftiges Gluͤck be - greiflich zu machen. Sie wurden in ihrer Er - wartung nicht betrogen. Zwar ſchienen ſie anfangs ſehr boshaft, aber ſie nahmen unter der Herr - ſchaft der Abkoͤmlinge, aus vermiſchten Gattungen der Bewohner der Chriſtininſel, die man dorthin ſchickte, nach und nach ſanftere Geſinnungen an.

Haͤtte man irgend eine Gattung zernichten wollen, ſo wuͤrden es ohne Zweifel die Schlan - genmenſchen geweſen ſein, ſprach einſt Victorin zu ſeinen Soͤhnen, aber wir haben ganz anders ge - dacht: Welche Schande fuͤr die Europaͤer, die von einer Gattung entſproſſen, und beinah alle verwandt ſich verabſcheuen, ſich herabſetzen, und auf eine unmenſchliche Art Nothwendigkeiten einander ver - ſagen, und bis zur Ermordung gehn! Die Ungluͤck - lichen! die nichts als ihr Selbſt, ihr Unge - mach und alle ihre Fehler empfinden, andern ſich mittheilen, und dann auf ſich ſelbſt wuͤrken! Q 3Die246Die Geſtalten, ſetzt er hinzu, ſind auf der naͤm - lichen Halbkugel ehemals eben ſo verſchieden gewe - ſen, als auf dieſer. Jch habe in meiner Jugend geleſen, daß es Menſchen mit Ochſen-Pferde - Affen - und Hunde-Koͤpfen, mit Bockfuͤſſen ꝛc. gegeben hat. Dies ſchien mir unglaublich. Was ich hier ſehe, giebt mir den Aufſchlus der alten Geſchichte, welche die europaͤiſchen ſuperficiellen Entſcheider fuͤr laͤcherliche Fabeln ausgeben.

Sobald die Schlangeninſel leer war, ſchickte man mehr als ſechshundert von vermiſchter Ab - kunft aller Gattungen hin, und gab ihnen einen aus der Dauphine, einen Verwandten des Victorin, zum Statthalter. Dieſe Bevoͤlkerung gerieth auf eine bewundernswuͤrdige Art, und hat ſich ſeit vierzig Jahren, durch fortgeſetzte Vermiſchung der Gat - tungen nach und nach vervolkomnet.

Noch waren eine Menge Linien, ſowohl nach Norden, als nach Suͤden, von der Chriſtininſel aus zu durchreiſen. Hermantin, der aͤlteſte Sohn Alexanders, ein viel umfaſſendes maͤchtiges Genie, ausgeruͤſtet mit aller Feinheit und Vervolkomnungs - gabe eines Franzoſen, verbunden mit der Kraft und Feſtigkeit der Patagonen, entwarf nach ſeiner Reiſe auf die neue Schlangeninſel, die weitlaͤuftigſten Plaͤne, er nahm ſich vor alle ſuͤdliche Linien, zwi - ſchen dem Aequator und dem Wendekreiſe des Stein - bocks zu beſuchen. Ein ungeheures Meer, beſaͤt mit Jnſeln ſcheidet die durch die Chriſtiniſche Heldenent -247entdeckten Laͤnder von Amerika und Africa; aber Victorique iſt ſo gros, obgleich wenig breit und haͤufig durch kleine Meerengen zerſchnitten (oft ſind nur etwa zwei Meilen zwiſchen beiden Meeren) daß es bis zum zehnten Grade reicht. Ein koͤſt - liches Land, wo das anſtoſſende Meer die heftige Hitze mildert, und ein beſtaͤndiger Fruͤhling herrſcht*)Eine Urſach von der groſſen Kaͤlte der ſuͤdlichen Halbkugel, die ich ſchon angegeben habe, und oh - ne Zweifel die einzige wahrſcheinliche iſt, iſt die - ſe, daß ſie vom Meere faſt ganz bedeckt iſt, und man nur Jnſeln auf derſelben findet. Nach bei - den Syſtemen, ſowohl von der alleinigen Wirkung des Central-als des Sonnenfeuers iſt der Grund dieſer Erſcheinung eben derſelbe. Das Waſſer verhindert ſowohl den Ausflus des Centralfeuers, als das Brechen der Sonnenſtrahlen. Die Ur - ſach von der groͤſſern Menge Waſſers auf der ſuͤd - lichen Halbkugel iſt blos in der aͤuſſern Form der Erdkugel zu ſuchen. Es giebt noch ein drittes Syſtem, naͤmlich der Megapatagonen, nach wel - chem ſich alles noch beſſer erklaͤren laͤßt. (Dulis.). Auf eine von den anſtoſſenden Jnſeln, zwiſchen dem 00 und dem 00 Grade gelegen, wohnt ein Volk, von dem ich bei dem Schluſſe der Materie von Entdeckungen noch reden muß, das groͤſte, maͤchtigſte und kluͤgſte Volk auf dem gan - zen Erdboden**)Die Megapatagonen.!

Jm Monat Maͤrz, brachen die Prinzen wie - der auf, um unter dem Wendekreiſe eine ReiſeQ 4um248um die Welt zu machen. Auſſer dem Alexander, waren ihrer ſechs: Hermantin und Chlodewig, ſeine Soͤhne, Dagobert und Dietrich, ſeine Vettern, nebſt den beiden Soͤhnen ſeiner Schweſter Sophia, Roland und Renatus. Sie nahmen die guten und feſten von Hermantin verbeſſerten Fluͤgel, und um die Lebensmittel bei der Hand zu haben, lieſſen ſie das Schif damit verſehen, welches ihnen an ge - wiſſe beſtimte Plaͤtze von der und der Hoͤhe, das iſt auf dem und dem Grade, der Breite und Laͤn - ge ꝛc. folgen muſte, denn die fliegenden Maͤnner fanden die Laͤnge auf eine bewundernswuͤrdige Art, und wuſten auf den Punct den Raum, den ſie in einer Stunde durchreiſen konten: ſie hinterlieſ - ſen ſolche daher angeſchrieben, an den Kuͤſten ei - ner ieden Jnſel, oder blos auf einem Felſen zuruͤck.

Funfzehnte Jnſel.

Auf dem 22 Grade, ſuͤdlicher Breite, ein wenig diesſeits des Wendeckreiſes, des Steinbocks, fanden die fliegenden Menſchen eine ſehr ſchoͤne Jn - ſel, worauf ſie ſich niederlieſſen; iedoch immer mit der bisherigen Vorſicht, ungeachtet ſie weni - ger noͤthig war denn Hermantin und ſeine iungen Gefaͤhrten, waren ganz andre Leute als Victorin und feine beiden Soͤhne. Es war eben Mittag, als ſie das Land erreichten. Die auſſerordentliche Hitze noͤthigte ſie einen Schatten zu ſuchen, denſie249ſie in einem mit den ſchoͤnſten Baͤumen bedeckten Lan - de leicht fanden.

Sie lieſſen ſich in einiger Entfernung von ei - nem See nieder, den ein durchlaufender Fluß bil - dete, ſo wie zum Beiſpiel die Rhone durch den Genfer See laͤuft. Kaum waren ſie eine Stunde ruhig, als ſie einen ſchwerfaͤlligen Gang, wie von mehrern Perſonen, die nach dem See zukamen, hoͤrten: ſie verſteckten ſich daher, um unbemerkt zu beobachten. Mit Erſtaunen ſahen ſie dicke beweg - liche Koͤrper, deren einige auf zwei, andere auf vier Fuͤſſen gingen, mit einem unfoͤrmlichen Menſchen - kopf, an welchem, ſtatt der Naſe, ein Elephan - ten Ruͤſſel ſich befand. Haͤnde und Fuͤſſe glichen ziemlich den menſchlichen, waren aber mit einer harten zerſprungenen Haut, wie bei den Elephan - ten bedeckt. Dieſe dicken Weſen ſtiegen in den See, und tauchten bis ans Maul unter. Sie zeigten dabei viel Freude, da ſie zuvor ein ſehr trauriges, und halb entkraͤftetes Anſehn hatten. Nach dem Baden, begaben ſie ſich an ein ſchat - tigtes Ufer des Sees, und ſchliefen paarweiſe ein. Jedes von dieſen dicken Weſen, hatte ein anderes minder dickes, und minder haͤßliches Thier, ohne Waffen am Maule, wie dieienigen, welche maͤn - lichen Geſchlechts zu ſein ſchienen, zur Seite, in - gleichen kleinere Geſchoͤpfe von der naͤmlichen Gat - tung, die ohne Zweifel ihre Kinder waren.

Als alles ſchlief, traten Hermantin und ſeine Gefaͤhrten naͤher, und fanden, daß es ein Ge -Q 5miſche250miſche von Menſch und Elephant war. Sie ſtaun - ten daruͤber weniger, als wenn die erſten Weſen, die ſie ſahen, alſo zuſammengeſetzt geweſen waͤren. Sie konten ſich nicht ſatt an ihnen ſehen, und nah - men ſogar das Glas zu Huͤlfe, als ein kleiner Elephantenmenſch, um zu ſaugen, ſeine Mutter aufweckte. Jndem dieſe die Augen oͤfnete, ward ſie den Hermantin neben ſich gewahr. Vermoͤge der groſſen Schamhaftigkeit der Elephanten-Frau - enzimmer, erroͤthete ſie vor Scham und Zorn, ſich ſo nah betrachtet zu ſehn, ſie ſog Waſſer mit ihrem Ruͤſſel, und ſpie es auf den Neugierigen mit einem Schrei, der den ganzen Haufen auf - weckte. Durchaus naß wolte der arme Herman - tin, zwar ſeine Fluͤgel aufſchwingen; aber das Waſ - ſer hatte ſie ſo ſchwer und unbeweglich gemacht, daß er nicht davon fliegen konte. Jndes kam einer von den ſtaͤrkſten Elephantenmenſchen auf ihn los, und wolte ihn ergreifen: doch ſetzte das Triebwerk die Fluͤgel endlich in eine ſo ſtarke Bewegung, daß der Fliegende ſich ein funfzig Fuß erheben konte. Der Elephantenmenſch, ſowohl als alle ſeine Ge - faͤhrten, ſogen daher Waſſer ein, und ſpritzten es nach ihm in die Luft, konten ihn aber nicht er - reichen. Die uͤbrigen Fliegenden ſchwangen ſich, nach dem Beiſpiel des Hermantin ebenfals in die Hoͤhe, woruͤber die dicken Bewohner der Elefan - dite (dieſen Namen gaben die iungen Fliegenden der Jnſel) nicht wenig erſtaunten. Uebrigens lieſ - ſen ſie dieſe Coloſſen Waſſer ſpeien, wie ſie wol - ten, durchgingen das Land, und fanden es anden251den Ufern der Fluͤſſe und Seen, ziemlich bevoͤlkert, in allen trocknen, obgleich fruchtbaren Gegenden aber wuͤſte. Von Thieren waren blos ſolche anzu - treffen, die denen in China und Jndien glichen.

Man ſahe kein ſchickliches Mittel hier, wie auf den andern von Halbthieren oder Thiermen - ſchen bewohnten Jnſeln, einen Statthalter und ei - nen Lehrer zur Erziehung anzuſtellen. Dies Ele - phantenvolk ſchien ſehr ſtolz zu ſein. Da aber der Verſtand unendlich uͤber die Staͤrke erhaben iſt, ſo kam es nur darauf an, ihre natuͤrlichen An - lagen hinlaͤnglich zu ergruͤnden, um zu wiſſen, wel - chen Vortheil man von ihnen ziehn koͤnte. Sie wa - ren deshalb in keiner geringen Verlegenheit. Wie ſolten ſie zwei von dieſen ungeheuren Klumpen weg - fuͤhren, und nicht etwa auf die Chriſtininſel ſon - dern nur auf das Schif, das eben die Jnſel er - reicht hatte, bringen! Nachdem Hermantin und ſeine Gefaͤhrten lange daruͤber nachgedacht hatten, erfunden ſie endlich eine Maſchine, welche ihrer drei tragen konnten, und die zugleich zur Schlin - ge dienen ſolte, einen iungen Elephantenmenſchen zu fangen und fortzuſchaffen. Als ſie fertig war, verſuchten ſie ſolche an ſich ſelbſt, und an groſſen Thieren. Nach einigen Verbeſſerungen, fand ſich dieſelbe zur Entfuͤhrung eines iungen Elephanten - menſchen tauglich. Jm Kurzen verfertigten ſie ei - ne zweite, um auch ein iunges Elephantenmaͤdchen zu fangen, damit das Maͤnnchen vor Gram uͤber die Entfernung von ſeinem Vaterlande nicht ſterbenmoͤchte.252moͤchte. Nach dieſen Zubereitungen, lauerten ſie auf einen guͤnſtigen Augenblick, der ſich bald dar - ſtelte.

Als eines Abends die Elephantenmaͤnner mit ihren Weibern und Kindern nach dem See gingen, wurden die Fliegenden, die ſich in dem Gebuͤſche verſteckt hatten, ein paar Liebsleute gewahr, die ſich zu entfernen ſuchten. Sie richteten daher ihr Augenmerk auf dieſe beiden iungen Leute, die ſich in ein ſehr dichtes Holz verſteckten, und ſich ihrer Zaͤrtlichkeit uͤberlieſſen. Man ſtoͤrte ſie nicht: als ſie ſich aber in dem entzuͤckenden Taumel, der auf den Genuß folgt, befanden, warf Hermantin mit ſeinen Gefaͤhrten uͤber ein iedes, ihre Art von Netz, worinn ſie eingewickelt, und ihnen die freie Bewegung ihrer Glieder genommen wurden. Als ſie ſo gefeſſelt waren, hoben die ſechs Fliegenden zuſammen, die Maſchine in die Hoͤhe, und flogen davon. Freilich haͤtten die beiden Liebesleute bald das Netz zerriſſen, und waͤren losgekommen, wenn das Schrecken ſich in der Luft zu ſehn, ſie nicht an dem fernen Gebrauch ihrer Staͤrke gehindert haͤtte, den Anfang dazu hatten ſie bereits gemacht. Sie hielten ſich daher ſtill, ſtieſſen iedoch zuwei - len ein Klaggeſchrei aus, ſowohl in Ruͤckſicht der Kaͤlte, welche ſie bei der Hoͤhe, in welche ihre Ent - fuͤhrer flogen, empfunden, als aus beſtaͤndiger Furcht zu fallen. So wurden ſie nicht ohne Muͤhe bis zum Schiffe gebracht. Es war eben Zeit, daß ſie anlangten, denn die beiden Lieben -den253den waren dem Tode nahe. Man ſchafte ſie hin - unter auf dem Boden, und ſeegelte nach der Chri - ſtininſel. Sobald man angelangt war, ſetzte man ſie in ein durch die Sonnenſtrahlen recht erhitztes Thal, wo ſie ſich ein wenig wieder erhohlten. Man gab ihnen viel Zeichen der Freundſchaft, ohne ſie iedoch ganz frei zu laſſen. Dies geſchah erſt dann, als ſie angefangen hatten, ſich auf franzoͤſiſch verſtaͤndlich zu machen, und nachdem man ihnen das Verſprechen gegeben hatte, ſie wieder in ihr Vaterland zu bringen. Auf dieſe Verſicherung wurden ſie, da ſie einander liebten, ganz munter, und lebten gluͤcklich. Sie lieſſen viel Verſtand blicken; beinah ſoviel als die Europaͤer: daher ihre Erziehung auch ſehr leicht und ſchnell von Statten ging. Jhre Fuͤſſe waren beinah rund, nach Art der Elephanten, worinnen ſie viel Aehnlichkeit mit den Bewohnern des Berges Jmaus in Aſien hatten: der Schenkel war ſtark und der Kopf ſehr dick: die Haͤnde waren wie die Fuͤſſe mit ganz kleinen Fingern verſehen. Die Naſen glichen volkommen, einem Elephantenruͤſſel. Dies Glied hatten ſie mehr als wir, und machte ſie zu den ſchwerſten Dingen geſchickt. Der Mann hatte Hauerwaf - fen, die Frau aber nicht, auch hatte letzte - re eine minder grobe Haut mit weniger Haaren bewachſen, ihr Geſicht war ganz angenehm, bis auf den Ruͤſſel, der ſie in unſern Augen, allerdings ungeſtalt machen muſte. Uebrigens hatten beide Ge - ſchlechte, ſehr ebenmaͤſſige Glieder und ſie gingen lieber auf zwei als auf vier Fuͤſſen. Sie gabenzu254zu verſtehn, daß es ehedem auf ihrer Jnſel, ſo - wohl wuͤrkliche Elephanten, als kleine Menſchen, welche den Affen geglichen, gegeben haͤtte. Zu deutlicher Erklaͤrung ihrer Begriffe, zeigten ſie auf die Einwohner der Affeninſel, welche Geſchaͤfte halber damals ſich auf der Chriſtininſel befanden. Doch fuͤgten ſie auch hinzu, daß dergleichen ietzt nicht mehr daſelbſt anzutreffen waͤren. Man be - hielt ſie nicht laͤnger, als einen Sommer; gegen den Herbſt zur Zeit, wenn Tag und Nacht gleich ſind, fuͤhrte Hermantin mit ſeinen Gefaͤhrten ſie wieder nach Hauſe.

Als ſie auf der Elefantide anlangten, ſetzten ſie ihre Zoͤglinge ab, und verbargen ſich, um zu ſehn, welche Wuͤrkung die Unterhaltung dieſer beiden iungen Leute auf ihre Mitbuͤrger hervorbrin - gen wuͤrde. Nach drei Tagen, ſahen ſie den iun - gen Menſchen allein in ihren Hinterhalt kommen, mit der Verſicherung, daß die Elephantennation mit ihrem Betragen voͤllig zufrieden ſei, und ſie erſuch - te in ihrer Mitte zu erſcheinen, ihr das Vergnuͤ - gen zu machen, ſie zu ſehn und ſich mit ihnen zu unterhalten. Drei von den fliegenden Maͤnnern, machten ſich daher auf, und folgten dem iungen Elephantenmenſchen; die uͤbrigen drei aber blieben aus Vorſorge zuruͤck, damit ſie im Nothfall ihren Gefaͤhrten mit dem Schifsvolke zu Huͤlfe eilen kon - ten. Die drei Fliegenden wurden von der Ele - phantenverſamlung ſehr wohl aufgenommen. Da ſie die ſehr ungekuͤnſtelte Sprache dieſes Volks einwenig255wenig verſtanden, ſo unterhielten ſie ſich mit ihm von den gemeinſten Dingen, als von der Nahrung, von den Gebraͤuchen der Elephantenmenſchen und der Chriſtinier, welche die Fliegenden mit einander verglichen. Dies machte den guten Leuten ein auſſerordentliches Vergnuͤgen. Drauf ſuchte man ein Mittel ausfuͤndig zu machen, um mit dieſer Nation eine Verbindung zu errichten. Doch war ſie, bei aller ihrer Anlage zur Geſchicklichkeit, faul und ſorgte blos fuͤr die Beduͤrfniſſe der aͤuſſerſten Nothwendigkeit. Aus dieſem Grunde beſtund Her - mantin, als ſeine Gefaͤhrten wieder zuruͤck kamen, auf dem Vorſchlag, mit Erlaubnis der Elephan - tennation, Bewohner auf die trocknen Striche zu ſe - tzen. Er ging daher mit den beiden uͤbrigen, zu - ruͤckgebliebenen Beobachtern hin, um dieſe Sache in Vorſchlag zu bringen, indem er die Vortheile daraus fuͤr die Elephanten Nation ungemein erhoͤh - te. Dieſe einfaͤltigen Leute, hatten ſo viel Freu - de daruͤber, daß ſie die aͤuſſerſte Ungeduld, nach der Ankunft der neuen Einwohner bezeigten; zumal da man ihnen verſicherte, daß ſie keine Fluͤgel haͤt - ten; eine Art Gliedmaſſen ihrer Meinung nach die ihnen mehr Furcht, als den Chri - ſtiniern die Ruͤſſel einiagten. Um ſie davon zu uͤberzeugen, fuͤhrte man ſie an das Schif, und zeigte ihnen alles Schifsvolk. Man machte ihnen verſchiedene Geſchenke, deren Gebrauch die beiden Zoͤglinge ſie lehrten. Nach wiederhohlten Freund - ſchaftsverſicherungen, gingen ſie auseinander.

Bei256

Bei der Zuruͤckkunft ward das Schif zur Ueber - fahrt einer Kolonie auf die Elephanteninſel ausge - ruͤſtet und man ſchifte eine ziemliche Anzahl Chri - ſtinier dahin, um ſich, wenn ſie ia angefallen werden ſollten, vertheidigen zu koͤnnen. Dieſe bauten eine Stadt, und ſuchten nach denen Grund - ſaͤtzen, welche Victorin ihnen eingepraͤgt hatte, die Liebe der Eingebohrnen zu erhalten. Aber ich laſſe ſie bei ihrem Anbau, und Gedeihen unter die - ſem warmen Himmelsſtrich, den Waſſer und Waͤl - der maͤſſigen, und fahre in Erzaͤhlung der Entde - ckungen des Hermantin, und ſeiner Gefaͤhrten fort.

Nach der Reiſe auf die Elephanteninſel, un - ternahmen ſie eine andere, von dem Aequator et - was weiter entfernt, weil ſie bemerkten, daß der ganze Strich der ſuͤdlichen Halbkugel, von der Mittagslinie an, bis zu einigen Graden ſuͤdlicher Breite, von Negern und groſſen Affen, die man in Europa bereits kent, bewohnt war. Sie ver - folgten daher die Parallellinie des Wendekreiſes des Steinbocks, zwiſchen dem 24 und 30ſten Grade, ſuͤdlicher Breite, und nahmen ſich vor, bis wie - der an das Ende des patagoniſchen Gebiets zu rei - ſen, und die von Victorin entdeckten, und von ihm mit dem Namen Victorique belegten Jnſeln, zu durchſtreifen.

Sechszehnte und Siebzehnte Jnſel.

Sie flogen uͤber ein ziemlich groſſes Meer, und kamen endlich auf eine groſſe Jnſel, von un -gefaͤhr257gefaͤhr hundert Meilen lang, und dreiſſig breit, die ſie anfangs fuͤr eine Erdzunge hielten. Als ſie aber auf deren Mitte kamen, entdeckten ſie von allen Seiten das Meer. Sie lieſſen ſich in einer ſichren Gegend nieder, und machten Anſtalt ſich ſo - wohl gegen die Hitze des Tages, und gegen den Thau der Nacht, der in dieſer Gegend ſehr haͤufig war, zu ſchuͤtzen. Den andern Morgen begaben ſie ſich in die Plaͤne, und fingen ihre Unterſuchungen an. Sie ſahen verſchiedne Thiere, die alle furchtſam die Flucht ergriffen, wenn man ihnen nahe kommen wolte. Auch bemerkte man ſehr groſſe Schlangen, die bei ihrem Anblick ſogleich anſingen zu ziſchen und zum Streit ſich zu ruͤſten ſchienen. Die ſchwatzhaften Voͤgel machten ein entſetzliches Geraͤuſch auf den Baͤumen, worunter man ging. Dem Anſchein nach, ſprach Hermantin, ſind die Hauptbewoh - ner dieſer Jnſel ſehr boͤsartig, denn die ganze Natur ſcheint hier in Furcht und Waffen zu leben. Wir muͤſſen vorſichtig ſein, damit iedermann ſich im Stande befinde, zu entkommen oder ſich zu vertheidigen. Er hatte dies kaum ausgeredet, als ſie einen Haufen Hirſche fliehen ſahen, die bei ih - rer Erblickung ſich in das nahe Meer ſtuͤrzen wol - ten. Als aber die Menſchen von ihnen ſich weg - wendeten, ſchwammen ſie uͤber einen Fluß und ſchienen ienſeits viel ruhiger zu ſein. Die Chri - ſtinier ſetzten ihren Weg fort, und fanden einen gebahnten Weg, den ſie verfolgten. Dieſer fuͤhr - te nach einem voͤllig freien Ort, am Fuß eines Berges, der voller Hoͤhlen, theils von der Natur,d. fl. Menſch. Rtheils258theils von der Hand eines verſtaͤndigen Weſens ge - bildet zu ſein ſchien. Sie fanden auch die Wege, welche nach ieder Hoͤhle fuͤhrten, mit Blut beſudelt. Aus denen auf den Steinen und an einigen Straͤuchern, uͤbrig gebliebenen Haaren ſchloß man, daß Thiere von der Gattung derer, welche flohen und uͤber den Fluß ſetzten, hineingeſchleppt worden waren. Alle dieſe Dinge erregten dem Hermantin, und ſeinen Gefaͤhrten groſſe Bedenklichkeit, doch gingen ſie den Oefnungen der Hoͤhlen immer naͤher und ent - deckten ungefaͤhr hundert Schritte von ieder, einen anſehnlichen Haufen Hoͤrner von Hirſchen, Gem - ſen, Auer - und Buͤffelochſen, und andrer gehoͤrn - ten Thiere, doch ſahen ſie keine Gebeine. Dies brachte ſie auf die Vermuthung, daß die Einwoh - ner dieſer Hoͤhlen gute Zaͤhne haben muͤſten, da ſie ſogar die Gebeine zermalmten.

Bei der Betrachtung dieſer Hoͤrner waͤren ſie beinah uͤberfallen worden. Zwei Bewohner der Jnſel kamen aus einer dicht am Fuſſe des Berges, gelegnen Hoͤhle, die ſie nicht bemerkt hatten, auf dem Bauche auf ſie los. Zum Gluͤck warf Her - mantin ſeine Augen dahin: gab ein Zeichen und er - hob ſich mit einem einzigen Parafolſchwung ein funf - zehn Fuß hoch. Die andern folgten ihm und die niedrigſten befanden ſich ein fuͤnf und zwanzig Fuß hoch, als die beiden Wilden, die gefahren kamen, auf der Stelle ſich befanden, welche die Chriſti - nier ſo eben verlaſſen hatten. Nichts war fuͤrch - terlicher, als dieſe beiden Weſen. Man ſtelle ſichdas259das ſchreckliche Geſicht eines wuͤthenden Loͤwen, auf einem haarichten Menſchenkoͤrper vor, einen Mund, von einem Ohr bis zum andern geſpal - ten, ſpitzige Zaͤhne, Haͤnde und Fuͤſſe mit Klauen verſehen, eine dichte Loͤwenmaͤhne, ſtatt der Haare, funkelnde Augen, deren Blick Blutdurſt und Zerfleiſchung ankuͤndigten. Her - mantin gab dieſen Ungeheuern einige Zeichen der Freundſchaft, welche ſie in Wuth brachten. Sie ſtieſſen ein abgeſetztes Bruͤllen aus, worauf alle Loͤwenmenſchen aus den Hoͤlen des Berges auf ſie zu gelaufen kamen. Einige erſchienen mit Blut beſudelt, andre hatten noch ein Viertel vom Thie - re in den Klauen, und verzehrten es. Alle fin - gen an zu bruͤllen, als ſie die fliegenden Menſchen uͤber ihrem Haupte erblickten. Dieſe warfen ih - nen einigen Vorrath von Brod, Kuchen und ſo - gar Fleiſch vor, welches ihnen ſehr angenehm zu ſein ſchien. Nachdem ſie es beſchnopert und ge - koſtet hatten, ſahen ſie einander an, und wurden ſogar etwas ſanfter. Sie aſſen auch das Brod, und beſonders den Kuchen. Nun wiederhohlte Hermantin die Zeichen der Freundſchaft, welche erwiedert wurden. Drauf lieſſen die ſechs Fliegen - den ſich auf einer Felſenſpitze nieder, die einſam genug war, daß ſie nicht uͤberfallen werden kon - ten. Von da gaben ſie den Loͤwenmenſchen, durch Zeichen zu erkennen, ſie moͤchten einen von ihnen an ſie abſchicken. Sie wurden aber entwe - der ſchwer verſtanden, oder die Eingeladenen wa - ren ſchwer zu bereden. Erſt nach laͤnger als einerR 2Stunde,260Stunde, ſahe man den ſtaͤrkſten aus ihrer Mitte hervortreten, und mit den Merkmahlen aller moͤg - lichen Gelaſſenheit auf ſie zukommen; aber in ſei - nen Augen, las man Treuloſigkeit und Grauſam - keit. Hermantin war daher auf ſeiner Hut, als er ſich naͤherte, um ihm die Hand zu reichen, und alle ſeine Gefaͤhrten, der iuͤngſte ausgenommen, ſchwebten wohlgewafnet uͤber ihm. Der Loͤwen - menſch bot ſeine Klaue dar und Hermantin wolte ſie zum Zeichen der Freundſchaft eben ergreifen, als er ein Loͤwenweib, ziemlich artig fuͤr ihre Gattung ankommen ſah. Sie lehnte ſich auf die Schulter des Loͤwenmannes und blickte den Her - mantin mit einer zaͤrtlichen wilden Miene an. Neu - gierig betrachtete ſie ſeine Fluͤgel uud ſchien ſie zu bewundern. Als man ſichs aber am wenigſten verſah, faßte ſie den iungen Kameraden des Her - mantin und wolte ihn wegtragen. Allein die fuͤnf Fliegenden hielten ſie an, und wurden, da der Loͤwenmann mit ſeinen Krallen ihr zu Huͤlfe kommen wolte, genoͤthiget, ihm mit ihren Dol - chen einige leichte Stiche zu verſetzen. Die Wun - den von dieſen unbekanten Waffen, ſetzten den Loͤ - wenmann in Erſtaunen und durchdrangen ihn mit Schrecken. Er ſahe ſie an und beruͤhrte eine Spitze, die ihn verwundete; woruͤber er einen Schrei that, daß alle ſeine Landsleute ihm zu Huͤlfe eilten. Hermantin winkte ihnen zuruͤck zu bleiben, als ſie aber nicht drauf achteten, ließ er durch einen der oben Fliegenden mit einem Kara - biener Feuer geben; wodurch dreien der naͤchſtender261der Arm zerſchoſſen, verſchiedene andere aber ver - wundet wurden. Auf dieſen unvermutheten Schuß zeigte die Loͤwenfrau dem Manne die Verwundeten, vermuthlich um ihn zur Ruͤckkehr zu bewegen. Der ganze Haufe blieb hierauf ſtehn, und die Loͤwen - weiber eilten denen Verwundeten zu Huͤlfe, und leckten ihnen die Wunden. Der Mann und die Frau, welche bei den fliegenden Menſchen waren, baten demuͤthig um Erlaubnis zuruͤck zu kehren und erhielten ſie. Die uͤbrigen alle ergriffen die Flucht, und lieſſen die drei Verwundeten in Stich, welches auch die Loͤwenweiber thaten. Aber die fliegenden Menſchen ſtiegen zu ihnen herab. Her - mantin verſtand volkommen die Wundarzneikunſt dieſe ſchoͤne Kunſt, war ſo wie die Arzneikunde ein beſonderes Vorrecht der Prinzen vom Gebluͤte, die ſie unentgeltlich ausuͤbten. Sie ſuchten ihren groͤſten Ruhm in Ausuͤbung dieſer beiden Beſchaͤf - tigungen, ſo wie andere ihn in der verwuͤſtenden Kriegskunſt, in ſchoͤnen Equipagen, in Prahlerei und Thorheiten aller Art ſuchen. Hermautin, ſag ich, verband die zerſchmetterten Arme, legte die Verwundeten auf Moos, und befahl ihnen durch Zeichen ſich ruhig zu halten. Jhre Kame - raden gaben von weitem Achtung, kamen, als die fliegenden Menſchen weg waren zuruͤck, und ſorgten bis zur voͤlligen Geneſung fuͤr ihren Unter - halt. Von dem Augenblicke an, wurden Her - mantin und ſeine Gefaͤhrten von den Loͤwenmen - ſchen gefuͤrchtet, die ſich allemal entfernten, wenn der iunge Prinzen ſie zu verbinden kam. EndlichR 3aber262aber blieben ſie, wiewohl in einiger Entfernung ſtehn und ſahen ihm zu.

Die Loͤwenmenſchen ſtellten, als die Verwunde - ten wieder geheilt waren, ein groſſes Freuden - Feſt an, und brachten den Fliegenden Geſchenke, von Wildpret. Hierbei muß ich erinnern, daß Hermantin und ſeine Gefaͤhrten waͤhrend der Hei - lung es dahin brachten, daß ſie den Verwundeten ein wenig franzoͤſiſch lehrten und einige von ihren Ausdruͤcken ſich bekant machten. Dieſe waren ſehr plump, und ihre Sprache beſtand in nicht mehr als etwa zwanzig oder dreiſſig Worten, ohne Par - tikeln und Verbindung. M’r’ho-on-Hhon bedeutet Wildpret; r’hhhomb, laufen; Hhouh - hamp; ergreifen; hhihhoumhp, lieben, ver - langen, wollen; Ehlloufhlloup, Blut. Die Namen haben blos die ausrufende Beugung und die Zeitwoͤrter blos den Jnfinitif. Eine Bewe - gung vorwaͤrts bedeutet das Kuͤnſtige, eine nach hinten, das Vergangene; die Klaue auf dem Kopf zeigt das Gegenwaͤrtige an. Das ſind die einzigen Zeitabaͤnderungen. Keine andern Beiwoͤr - ter als gut und boͤſe, lang und kurz. Zudem ſind dies nicht ſowohl Woͤrter als Zeichen. Bey dem erſten wird die flache Hand auf die Bruſt ge - legt, beim zweiten aber ausgeſtreckt. Das dritte zeigt man auf der Hand, von der Fauſt bis an die Fingerſpitzen, bei dem vierten endlich legt man einen Finger auf die Spitze der Kralle. Dies be - deutet auch bald ſogleich, heut, ꝛc. ſo wielang263lang das Gegentheil anzeigt. Die Empfindung des Haſſes und des Abſcheus, beſteht aus einer einzigen Bewegung mit einem Schrei mm’honmp!, welches ohne Bewegung ſoviel als abſchlagen, nicht wollen, fliehen ꝛc. heiſt. Dieſe Spra - che iſt daher eben ſo leicht zu lernen, als unvoll - kommen und undeutlich; aber die Bewegungen ma - chen ſie demungeachtet faͤhig Sachen genug auszu - druͤcken, ſo daß verſtaͤndige Weſen dadurch alle Begriffe des gemeinen Lebens deutlich machen koͤnnen.

Am Tage der Wiedergeneſungsfeier der Ver - wundeten, redeten Hermantin und ſeine Gefaͤhrten mit den Loͤwenmenſchen in ihrer Sprache. Her - mantin hielt ihnen mehr durch Geberden, als Wor - te folgende Rede:

Loͤwenmenſchen (Hhoump. Houomp) vr’rhoms (brav) ꝛc. nicht-furchtſam, ſtark, nichts-leidend-Jch Wort geben, lieben euch. Jch, meine Andern. Jch wohl wollen euch, Loͤwenmenſchen; wollen Friede, Freundſchaft. Jch Menſch-menſch; ihr muthige Loͤwenmenſchen. Jch im Wiſſen; Jhr entfernt vom Wiſſen. Jch wollen geben Wiſſen euch; Jch wollen ihr ſein beſſer eſſend, beſſer ſchlafend, beſſer Wilpret ia - gend (Man merke, daß das Zeichen lang beſſer und kurz weniger anzeigt.) Zwei von euch kommen Land mein. Andre-ich klug lang lang! ma - chen klug ſie lang euch; werden machen ZweiR 4von264von euch klug alle euch wie ich, wie an - dre ich.

Dieſe grobe Sprache geſchah noch dazu halb durch Zeichen. Die Woͤrter, welche die Loͤwen - menſch-Sprache nicht hat, ſind mit andrer Schrift gedruckt. Die Ueberſetzung lautet alſo:

Brave, tapfere aber undultſame Loͤwenmen - ſchen, Jch bringe euch Verſicherungen der Freund - ſchaft. Jch und meine Gefaͤhrten ſind euch Loͤ - wenmenſchen gewogen, wir wuͤnſchen euch beſtaͤn - digen Frieden und Eintracht. Jch bin ein vol - komner Menſch, ihr im Gegentheil ſeid halb Men - ſchen, halb Loͤwen. Jch beſitze eine unendliche Menge von Kentniſſen, davon ihr gar keinen Be - grif habt. Dieſe wuͤnſcht ich euch mitzutheilen, und mit und durch ſie alle Annehmlichkeiten, ſo - wohl in Anſehung der Lebensmittel, als der uͤbri - gen Bequemlichkeiten. Wollt ihr uns zwei von euren Mitbruͤdern anvertrauen; ſo will ich ſie mit in mein Land nehmen, wo geſchickte Maͤnner, meine Landsleute, ſie unterrichten ſollen. Nach ihrer Ausbildung, wollen wir ſie euch wiederbrin - gen, damit ſie euch nun wieder unterweiſen, und euch, durch den Umfang nuͤtzlicher Kentniſſe, mir und meinen Gefaͤhrten aͤhnlich machen.

Dieſe Rede ward von den Loͤwenmenſchen mit vieler Freude aufgenommen, ſie ſchrien, daß der Menſch-Menſch ihre Sprache beſſer, als irgend ein Loͤwenmenſch geſprochen haͤtte. Von dieſemAugen -265Augenblick an, ward die Freundſchaft befeſtigt. Man willigte ihnen zwei iunge Leute beiderlei Ge - ſchlechts, mit auf die Chriſtininſel zu geben, um ſo lang als noͤthig, daſelbſt Unterricht zu erhalten. Dies ward den andern Tag ſogleich bewerkſtelligt, und die Loͤwenmenſchen riefen, als ſie die Flie - genden ihre Zoͤglinge durch die Luft nach dem Schif - fe tragen ſahen, durch ein Freudengebruͤlle ihnen Gluͤck zu.

Die Loͤwenmenſchen erregten bei der Ankunft auf der Chriſtininſel nicht wenig Erſtaunen. Man verſaͤumte nichts in ihrer Unterweiſung: Aber man gab ihrer fleiſchfreſſenden Neigung wegen, ſorgfaͤl - tig auf ſie Achtung.

Nun genoſſen Hermantin und ſeine Gefaͤhrten, im Schooſſe ihrer Familien beinah ein Jahr lang Ruhe, ohn eine neue Reiſe zu unternehmen. Vic - torin und Chriſtine waren ſehr alt, aber voller Verſtand und beſonders gluͤcklich. Sie ſahen ihre Kolonie mehr durch Tugend als Reichthum, der dort ganz unnuͤtz war, gedeihen. Ein Beweis von der Thorheit der Europaͤer, die um gluͤcklich zu ſein die Tugend verlaſſen, und den Reichthuͤ - mern nachhaͤngen. Bei den Chriſtiniern im Gegen - theil hatte man den beſtaͤndigen und nie truͤgenden Beweis, daß das ganze Geheimnis des oͤffentlichen und Privatgluͤcks in der Gerechtigkeit gegen alle Weſen, ia ſogar gegen die Thiere beſtehe. Denn wenn ihr grauſam gegen dieſe minder volkom - nen Bruͤder ſeid, ſo werdet ihr es auch baldR 5gegen266gegen die Menſchen ſein*)Es ſolte mir leid thun, wenn man mich in den Verdacht zoͤge, als ob ich den Misbrauch, welcher in Paris und, wie ich glaube, beinah in der gan - zen Welt herrſcht, billigte, eben ſo viel Hunde als Menſchen, eine Menge unnuͤtzer Voͤgel und dergleichen zu unterhalten. Jch bin vielmehr der Meinung, daß man die Freiheit Hunde und Voͤ - gel zu halten, beſonders in groſſen Staͤdten aͤuſ - ſerſt einſchraͤnken ſolte. Erſtlich weil dieſe Thie - re mit dem Menſchen gleiche Nahrung genuͤſſen, und viele Menſchen dagegen Mangel an dem Noth - duͤrftigen leiden. Zweitens weil bei der Menge Hunde ſich, wie alle Welt weiß, oft ſchreckliche Faͤlle ereignen. Dritt[e]ns weil dieſe Thiere der Geſundheit ſchaden, ich kenne viel Haͤuſer, wo die Treppen und ſogar die Zimmer von den Hun - den einen hoͤchſt ungeſundeu Geruch verbreiten. Viertens ſind ſie unnuͤtz, und durch ihr Gelaͤr - me beſchwerlich, auch oft nachtheilig in Anſehung der Zaͤnkereien, welche ſie verurſachen, wenn man ihnen aus Unbedachtſamkeit, aus Verſehen, oder aus Ungedult einen Schlag giebt. Fuͤnſtens: Weil ſie dem Volke nicht nur einen Theil ihrer Lebensmittel entziehen, ſondern auch das Herz der bruͤderlichen Liebe verſchlieſſen. Oft hab ich zaͤrt - liche weibliche Herzen gefunden, ganz offen die - ſen Thieren, aber verſchloſſen dem Manne, den Kindern, Anverwandten und Bedienten. Jn mei - nem Unwillen haͤtt ich dann das ganze Geſchlecht, das ein ſo groſſes Unheil verurſacht, zernichten moͤgen! Man muß die Thiere, welche man hat, nie leiden laſſen: das iſt alles, was ich habe ſa -gen. Der Grund ihres Gluͤcks beſtand daher in einer volkommen Gleich -heit267heit der Guͤter, der Mittel, der Vorzuͤge; in ei - nem genauen Verhaͤltnis der Beſchaͤftigungen zu dem Anſehn, in einer gehoͤrigen Erwiederung der Pflich - ten zwiſchen den Vorgeſetzten und den Gliedern ꝛc. Aber alles dieſes will ich bald weitlaͤuftiger erklaͤ - ren. Wir wollen wieder zu unſern Loͤwenmen - ſchen kehren.

Man brachte ein Jahr mit ihrer Ausbildung zu. Nach Verlauf dieſer Zeit fand man, daß ſie alle Kenntiſſe, deren ſie faͤhig waren, erwor - ben hatten. Sie wuſten das Gute von dem mo - raliſchen Boͤſen zu unterſcheiden, konten, mittelſt Kerben auf ein Stuͤck Holz, deſſen ſie ſich ſtatt eines Kalenders fuͤr ihre Nation bedienten, die Tage im Jahre zaͤhlen; konten Feuer machen, Waſſer kochen, ſaͤen und ſogar Brod backen, wel - ches, Herr Linguet*)Dieſer Schriftſteller hat, um ſich beruͤhmt zu machen, den Weg des Paradoren gewaͤhlet; ob er gleich Verdienſte genug beſitzt, einen beſſern einzu - ſchlagen. So eingenommen man aber auch gegen ihn ſein mag, ſo kan man doch nicht umhin, einigen Stuͤcken ſeiner Annalen Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen. Eines Tages las ich eins derſel - ben, wo er alle ſeine Geſchicklichkeit anwendet, um uns zu uͤberreden, kein Brod mehr zu eſſen:ein wird mir’s nicht uͤbelneh - men, fuͤr die Loͤwenmenſchen, das vorzuͤglichſteMittel*)gen wollen. Aber es waͤre zu wuͤnſchen, daß man nur die noͤthigen Hunde und Voͤgel unter - hielte. Dulis. 268Mittel der Bildung war. Alles was eine ſtaͤrke - re Verbindung der Begriffe erforderte, uͤberſtieg ihren Verſtand. Aber dieſe Kentniſſe waren hin -laͤnglich*)ein anderes, wo er auszufuͤhren ſucht, daß man, ſtatt aller Abgaben, den Zehnten in Natur geben ſolte. Ein Plan wuͤrdig der Wiedereinfuͤhrung der Sklaverei, die er gepredigt hat, an der Seite geſetzt zu werden: ein anderes wo er das laͤcherli - che Syſtem auskramt, daß alle Geſchichte auf die iuͤdiſchen Jahrbuͤcher einen Bezug haͤtten. Er greift den Herrn Court de Gebelin an, in - dem er ihn lobt, ſo wie die Teufel ohne Zwei - fel Gott loben; er haͤuft ſcheinbare Gruͤnde: aber alles dies erregt beim Leſer nichts als Bedauren, den Verſtand ſo vergeblich angewandt zu ſehn, und vielleicht Unwillen zu bewirken, daß der Verfaſ - ſer nicht uͤberdenkt was er ſagt. Bei aller ſeiner Kunſt merkt man doch, daß aͤuſſere Beweggruͤnde ihn zum Schreiben bringen, er mag ſich noch ſo verſtecken, die geheimen Triebfedern ſeines Betra - gens, ſind dem niedrigſten Schreiber und Laden - burſchen nicht unbekant. Er hat den Philoſophen Krieg geſchworen, aber ſeine Beweggruͤnde ſind nichts weniger als philoſophiſch. Sieht man aber auch wieder ſeinen Artikel von der Oper, ſo be - wundert man den flieſſenden, leichten, ia wenn er will ſogar angenehmen Stil; ſeiner angewoͤhnten beiſſenden Schreibart ungeachtet, die ihm in dem folgenden Artikel, wo er ſeine Feder in die bit - terſte Galle taucht, wohl zu ſtatten komt. . Jch laſſe ihm gern Gerechtigkeit wiederfahren, aber ich muß ihm auch ſagen, daß, wenn er nach Groͤſ - ſe haſcht, er einem Hirngeſpinſte nachiagt. Nie wird er den Titel eines groſſen Mannes erlangen: es gehn ihm zuviel Stuͤcke davon ab. (Dulis.)269laͤnglich fuͤr ſie. Die iungen ausgebildeten Loͤwen - menſchen brachten es mit der Zeit, durch Huͤlfe einiger Chriſtiniſcher Familien, die man in ihr Land ſetzte, mit guten Waffen verſah, und ihnen eine Schanze baute, dahin, daß ſie den Loͤwenmen - ſchen den moͤglichſten Grad ihrer Bildung verſchaf - ten. Nie aber waren ſie ſanft oder gemaͤſ - ſigt. Wenige Chriſtinier konten Beiſchlaͤferinnen aus dem Loͤwenfrauenzimmer waͤhlen, denn bei der geringſten Unzufriedenheit brauchten ſie Zaͤhne und Klauen und ſie mußten blos durch Furcht in Zaum gehalten werden. Die aus einer ſolchen Verbindung gezeugten Kinder, waren in der Ju - gend ſehr grauſam und beinah unbezaͤhmbar, ſo daß man ſie durch nichts, als die haͤrteſten Zuͤch - tigungen baͤndigen konte.

Aber dieſe Wildheit der Loͤwenmenſchen kommt in gar keine Vergleichung mit dem letzten Volke, das man auf den ſuͤdlichen Jnſeln entdeckte. Die - ſe Entdeckung will ich nunmehr erzaͤhlen.

Achtzehnte bis vier und zwanzigſte Jnſel.

Man hatte das Schif nach der gewoͤhnlichen Art ausgeruͤſtet, um nach der Loͤweninſel zuruͤck zu kehren, und die von den dortigen Einwohnern mitgenommenen Zoͤglinge, nebſt den Chriſtiniſchen Familien, welche die Herrſchaft daſelbſt haben ſol - ten, hinzuſchaffen. Da die fliegenden Menſchenweit270weit geſchwinder gingen, ſo beſuchten ſie allezeit das Meer in der Breite und kehrten alsdann wie - der zum Schiffe. Auf einer ihrer Auswanderun - gen, fanden ſie eine Jnſel, welches die beſte und betraͤchtlichſte auf dieſer Halbkugel war. Es gab zwar auch noch andere kleinere daſelbſt, von denen ich aber nichts erwaͤhnt habe. Alle hatten ihre Einwohner; aber ſie waren ſo klein oder unvernuͤnftig, daß man ſie zu nichts gebrauchen konte. Dahin gehoͤren die Hirſche, Haaſen, Kaninchen, Ratten, Jgel, Maulwurf ꝛc. Jnſeln, wo ſich kleine Menſchen von allen dieſen Miſchungen befanden. Jch will ihnen nichts da - von ſagen. Man hat die Abſicht in der Folge, wenn es fuͤr zutraͤglich geachtet wird, Anbauer dahin zu ſchicken; doch ſtets mit der Vorſicht, die Eingebohrnen nicht zu unterdruͤcken, und ih - nen ihre Freyheit zu laſſen. Was ſoll ich ihnen von der Auſterinſel ſagen, die man nur noch neulich entdeckt hat, und wo man Auſtern ſieht, die halb denen gleichen die wir eſſen, halb lebend ſind? Es ſcheint, daß auf dieſer Jnſel, (die auf einer hohen ſuͤdlichen Breite liegt, aber von einem Vulkan, der ſie ganz einnimmt, erhitzt wird) die lebende Kraft iſt erſtickt, und in ihrem erſten Grade der Vervolkomnung eingeſchraͤnkt worden, als ſie aus dem Meere aufs trockne Land uͤbergehen wolte. Was dieſe Muthmaſſung beſtaͤtigt, iſt, daß man hier Meerpflanzen ſieht, welche ein thie - riſches Leben begannen und ebenfals in dem erſten Grade der Thierheit ſtecken blieben. Aber wirwollen271wollen auf dieienige Jnſel wieder zuruͤck kehren, welche Hermantin und ſeine Gefaͤhrten auf der Ruͤckreiſe nach der Loͤweninſel entdeckten. Es iſt die letzte Entdeckung dieſer Art, von der ich Sie zu unterhalten habe. Weit wichtigere und be - friedigendere erwarten uns bei Victorique, dieſer ſo anſehnlichen Jnſel, die man als den fuͤnften Welttheil anſehen koͤnte, wenn ſie nicht durch be - ſtaͤndige Meerwogen durchſchnitten und kleiner als Europa waͤre.

Fuͤnf und zwanzigſte Jnſel.

Dietrich war es, der ſie zuerſt entdeckte. Ein neues Land, ſchrie er, und ſogleich ſchoſſen al - le ſechs Fliegenden nach dieſer Seite. Man be - fand ſich damals auf denn 180 Grade der Laͤnge, wenn man die Chriſtininſel fuͤr einen rechnet, folg - lich hatten ſie die Erdkugel halb umreiſt, und es war auf dieſer Jnſel Mitternacht, als die Chriſti - ner Mittag hatten. Eine Sonderbarkeit, die wohl zu bemerken iſt. Die Chriſtiniſchen Prinzen wandten ſich daher nach dieſer Jnſel. Sie lag ſehr abwaͤrts von der Parallellinie der Loͤweninſel, und ungefaͤhr ſechs Grade weiter nordwaͤrts, in der Mitte eines weitlaͤuftigen Meeres, mehr als fuͤnfhundert Meilen nach der Seite des Aequators von andern Landen entfernt, uͤber tauſend Meilen lang in allem Verſtande. Nach dem Suͤdpole zu fand man weiter kein Land, ſondern alles war Meer unter der naͤmlichen Mittagslinie, und ingera -272gerader Linie unter dem Pole. Weiter hin fand man blos das ſuͤdliche Ende von Victorique. Dies hat ſich ſeitdem noch mehr beſtaͤtigt, denn die Chriſtiniſchen Prinzen haben, nach vielen Verſu - chen, das Mittel erfunden, durch Huͤlfe gewiſſer Vorkehrungen und durch die aͤuſſerſte Guͤte ihrer Fluͤgel unter dem Pol zu reiſen, ohne von der Kaͤlte zu ſehr angegriffen zu werden. Den 21. December 1774. am laͤngſten Tage des ſuͤdli - chen Jahres haben ſie dieſe Reiſe gemacht, und daſelbſt das Schauſpiel mit angeſehn, wie die Sonne ohne merkliche Abnahme in vier und zwan - zig Stunden um die Erdkugel ſich bewegt. Da - bei machten ſie die Bemerkung, daß die Luft, wi - der die Gewohnheit, weit kaͤlter dicht uͤber dem Meere, als ein fuͤnf und zwanzig Fuß in der Hoͤhe war: aber weiter hinauf ſpuͤrte man bald eine un - ertraͤgliche Kaͤlte. Jm kurzen werden ſie auch die naͤmliche Reiſe um den Nordpol anſtellen, und die Abweichung von dem Suͤdpol bemerken.

Als die fliegenden Prinzen ungefaͤhr noch zwei Meilen von der neuen Jnſel entfernt waren, lieſ - ſen ſich auf einen freien, ungefaͤhr funfzig Fuß uͤber dem Waſſer erhabenen Felſen nieder. Hier Hier nahm Hermantin ſein fuͤrtrefliches Sehglas hervor, um die Kuͤſte zu unterſuchen. Er be - merkte, daß ſie ſehr ſteil und ſenkrecht abgeſchnit - ten war; welches ihn auf die Gedanken brachte, daß es vielleicht blos ein groſſer, unfruchtbarer und unbewohnter Felſen ſei. Der Tag ging zuEnde273Ende: die ſechs Fliegenden hielten daher ein klei - nes Mahl, beſſerten ihre Federn aus, und leg - ten neue Gurte an, ihre ihnen bevorſtehende Gefahr gleichſam waͤhnend, und reiſten weiter. Jn der Ent - fernung einer halben Meile von der Jnſel, ſahen ſie deutlich, daß ſie von allen Seiten, die ſie entdecken konten, ſehr hoch hervorrage. Nach einer Viertel - meile wurden ſie eine Menge groſſer Voͤgel auf derſelben gewahr, deren Flug den Fledermaͤuſen glich. Endlich kamen ſie nahe genug, um mit ihren Sehglaſe unterſcheiden zu koͤnnen, daß dieſe Voͤgel fliegende Menſchen waren. Sogleich hiel - ten ſie inne, und ſtelten eine Berathſchlagung an, deren Reſultat darin beſtand, daß man um die Jnſel zu beſuchen die Nacht erwarten, indes aber wieder auf den Felſen zuruͤckkehren wolte, weil man von dieſen fliegenden Wilden umringt, und durch die Menge uͤberwunden zu werden, fuͤrchte - te. Die fuͤnf Prinzen kehrten alſo um, nahten ſich, als es finſter genug war, der fliegenden Jnſel, und beobachteten alles mit dem ſchon er - waͤhnten Nacht-Sehglaſe.

Sie ruͤckten in einer ziemlichen Sicherheit vor, weil ſie nicht zweifelten, die Einwohner der Jnſel wuͤrden ſchlafen, aber auf einmal hoͤrten ſie ein Geſchrei, das dem, der Nachtmenſchen auf der Chriſtininſel glich. Zu gleicher Zeit ſahen ſie ſich von einer Gattung von Menſchen umringt, die ein bloſſes Bruſtſtuͤck zu ſein ſchienen, und ganz mit einer zarten Haut umgeben waren, die ihnend. fl. Menſch. Sſtatt274ſtatt der Fluͤgel diente, mit denen ſie in der groͤſten Schnelligkeit flogen. Aber ſie zerſtreuten dieſelben mit leichter Muͤhe durch eine Art von Spieß, womit ſie ſich zum erſtenmale verſehen hatten; denn dieſe Fleder - mausmenſchen konten ſich keines andern Gliedes, als ihres Schnabels bedienen, womit ſie groſſe Schroͤter und Maikaͤfer, ihre gewoͤhnliche Nahrung, verſchlangen. Verſichert von der Furchtſamkeit ihrer Feinde begaben die drei Prinzen ſich in das innerſte der Jnſel, ohne iedoch den Fuß aufs Land zu ſetzen. Sie kamen an einen Berg, in deſſen Hoͤhlen ſie ein ſehr unangenehmes Geſchrei bemerk - ten, welches dem Geſchrei des Kaͤutzleins ſehr aͤhnlich, aber viel ſtaͤrker war. Jn dem Augen - blick, als ſie ſich auf dem Berge niederlieſſen, ſa - hen ſie groſſe befiederte Voͤgel mit einem Men - ſchenkopf, einer Katzennaſe, und einer Art von kur - zen Schnabel, zum Angriffe breit, ſich aufſchwin - gen; aber die Prinzen erſchreckten ſie durch einige Piſtolenſchuͤſſe, wodurch einige herab geſtuͤrzt, und alle dieſe Kaͤutzleinmenſchen in die Flucht geiagt wurden. Hermantin und ſeine Gefaͤhrten lieſſen ſich, nachdem ſie ſich dieſe Feinde vom Halſe ge - ſchaft hatten, auf einer Plaͤne nieder, und ſuch - ten deren Wohnungen ausfuͤndig zu machen. Sie ſahen anfangs keine; als ſie ſich aber uͤber ein Gehoͤlze hinaufſchwangen, das aus lauter ſtarken Baͤumen beſtand, und durch Kunſt ausgehauen und erleuchtet zu ſein ſchien, fanden ſie auf iedem Baume eine Art von Neſt, das aus ziemlich ſtar - ken Aeſten zuſammengeſetzt, und mit einem Dachevon275von genetzter Erde und Moos, beinah wie die Aelſter - und Rabenneſter verſehen war. Dieſe neue Art von Stadt, zog ihre Aufmerkſamkeit auf ſich. Alle Haͤuſer waren aufs feſteſte verſchloſſen und hatten blos oben eine Oefnung, wodurch die Luft hinein konte. Jedes mochte ungefaͤhr zehn Fuß freien Platz, in allem Verſtande, in ſich faſſen, und ſchien Raum fuͤr zwei Paar zu enthal - ten. Sie waren an der Spitze des Stammes, und ihre Stuͤtzen mit vieler Geſchicklichkeit an den ſtaͤrkſten Aeſten befeſtigt. Es waren lauter Frucht - baͤume, welche eine Art von Kaſtanien trugen, die damals eben reiſten. Ein Beweis von dem Verſtande der Einwohner, ſie mochten auch ſein wer ſie wolten. Die Chriſtiniſchen Prinzen, kon - ten dieſe Neſter nicht genug betrachten, und bran - ten vor Verlangen, eins von den inwohnenden Weſen zu ſehn. Jhre Neugier ward befriedigt, aber nicht ohne Gefahr.

Dies Volk ging wie alles was zur fliegenden Gattung gehoͤrt, zeitig ſchlafen, ſtand aber ſehr fruͤh wieder auf. Kaum kuͤndigte die Morgenroͤ - the die Ruͤckkehr des Tages an, als die gefluͤgel - ten Wilden die Thuͤre ihrer Neſter eroͤfneten, und mit ſehr durchdringendem Geſchrei haufenweis her - vorkamen. Die Chriſtiniſchen Prinzen hatten nur einen Augenblick um ſich zu beſinnen und in Ver - theidigungsſtand zu ſetzen. Zum Gluͤck hielt man ſie anfangs fuͤr Voͤgelmenſchen, und ſie ſchwangen ſich in eine anſehnliche Hoͤhe. Endlich aber wur -S 2den276den ſie bemerkt, und bei zunehmendem Tage voͤllig erkant. Die Vogelmenſchen wolten ſie umringen. Da ſie keine Moͤglichkeit zu entkommen ſahen, weil die Feinde von allen Seiten ſie anfielen, ſo blieb ihnen kein andrer Weg, als die obern kalten Re - gionen uͤbrig. Die ſechs Prinzen erhoben ſich ſo - weit, als ſie den Mangel an Waͤrme ertragen konten, und vertheidigten ſich von dort aus mit ihren langen Pieken wieder die Vogelmenſchen, die ſich mit Schwenken bis zu ihnen erhoben. Doch flogen ſie gleich wieder hinunter, nachdem ſie mit ihrer beinernen krummen Naſe, oder mit ei - nem ziemlich langen Dorn, den ſie in der Hand hielten, einen Streich zu verſetzen geſucht hatten. Die Chriſtinier verwundeten deren verſchiedene, beſonders eine Manns - und eine Weibsperſon, die am hitzigſten waren. Einige aber nahmen auch an dieſem Streite gar kein Theil, die Eulen - und Fledermausmenſchen geriethen daruͤber in ein ſolches Schrecken, daß ſie aus ihren Loͤchern hervorzu - kommen bewogen wurden. Jndes entfernten die Prinzen ſich mit beſtaͤndigem Streite von der Jnſel, ſie wurden mit ſolcher Wuth verfolgt, daß ver - ſchiedene von den verwundeten Feinden ins Meer fielen, wo ſie von den groſſen fliegenden Fiſchen ſogleich verzehrt wurden. Die Verfolgung dauerte bis zu dem vorgenanten Felſen, da die Chriſtinier Gebrauch von ihren Piſtolen machten, und damit ein zwan - zig Feinde ins Meer ſtuͤrzten. Nun kehrten alle mit einem ſo durchdringenden und ſcharfen Geſchrei um, daß die Prinzen das Gehoͤr dadurch zu verlieren glaubten.

Dieſer277

Dieſer gefaͤhrliche Verſuch brachte ſie zu dem Entſchlus, ſich auf das Schif zu begeben, und mit Gewalt auf die Jnſel einzudringen. Zwar wich dies ein wenig von ihrem Plan der Gerechtig - keit und Ruhe ab; aber iedermann hat ſeine Lei - denſchaft. Sie waren wider die Vogelmenſchen ein - mal aufgebracht, ohne zu erwegen, daß ihr erſter Anblick ſie nur in Staunen geſetzt haben, und ſie vielleicht anfangs blos aus Neugier verfolgt geworden ſein koͤnten. Sie erreichten das Schif, und lieſſen es an der fliegenden Jnſel landen. Beim Anblick deſ - ſelben, verſamlete eine Wolke von Vogelmenſchen ſich herum, die hin und herflogen, und ein uner - traͤgliches Geſchrei machten. Aber die Hitze der Prinzen hatte ſich indes etwas gelegt, und ſie nah - men ſich daher wohl in Acht unter ſie zu ſchieſſen. Sie lieſſen es bei Abfeuerung der Kanonen bewen - den, wodurch die Luft im Augenblick von die - ſen fliegenden Weſen gereinigt ward. Drauf lan - dete man in Ruhe, und begab ſich weiter hinein in die Jnſel, die man mit Fruchtbaͤumen von ver - ſchiedener Gattung, beſonders mit Eichen, die mehrerer Fruchtbarkeit wegen in trocknen Gegenden gepflanzt waren, beſetzt fand. Der zwar unge - baute Boden zeigte doch uͤberall Spuren einer ar - beitſamen Hand. Man gelangte bald zu einer von den gedachten auf Baͤumen gelegnen Stadt, und ſah die Vogelmenſchen mit dem Kopf aus den Neſtern gucken, aber ſie antworteten auf die ihnen gegebenen Freundſchaftszeichen nicht. Die gefluͤ - gelten Prinzen erhoben ſich daher bis zu den Ne -S 3ſtern,278ſtern, und wiederhohlten die Zeichen der Freund - ſchaft, indem ſie den Voͤgelmenſchen Brod und Fruͤchte darboten: doch nahmen ſie niemand an, ſondern alle verkrochen ſich in ihre Neſter und ver - ſchloſſen die Oefnung, wenn einer von den Prin - zen ſich naͤherte. Endlich nahm iedoch ein Vo - gelkind, minder furchtſam als die uͤbrigen, ein Stuͤck Brod, und ließ ſich beruͤhren. Es kam ſogar ans dem Neſte und flog mit den Prinzen, die ihm in Anblick aller ſeiner Landsleute tauſender - lei Liebkoſungen erwieſen. Nun konten ſie den ſonderbaren Bau dieſer Menſchen betrachten. Sie haben beinah einen Menſchenkopf, aber ihre Naſe iſt eine Art von beinernen Schnabel, durch wel - chen die Naſenloͤcher wie bei dem Vogelſchnaͤbeln gehen. Statt der Haare haben ſie einen Feder - buſch: die Fluͤgel ſind an den Armen befeſtigt, ſo daß blos die Fauſt frei bleibt, und die ſtaͤrkſten Federn aus den Elbogen hervorgehen. Der Schwanz iſt ſo lang wie bei den Pfauen. Jhre duͤrren duͤnnen Beine endigen ſich in der Geſtalt eines Vogelfußes. Der Koͤrper iſt mit kleinen Federn, den Haaren aͤhnlich, deren Farben wie ein Entenkopf ſpielen, bekleidet. Jn der fliegen - den Bewegung ſahen ſie einem Menſchen aͤhnlich, der ſpringend lauft, und die Arme beſtaͤndig da - zu bewegt. Daraus folgt, daß dieſe Vogelmen - ſchen mit ihren Haͤnden nichts als leichte Sachen als zum Beiſpiel ihre Lebensmittel tragen koͤnnen. Sie machen noch darzu eine halbe Kruͤmmung, wenn ſie dieſelben an den Mund nehmen. Sieleben279leben hauptſaͤchlich von Fruͤchten und fliegenden Fi - ſchen. Die erſtern pflicken ſie von den Baͤumen, die letztern aber ſaugen ſie, indem ſie dicht uͤbers Meer hinfliegen. Anfangs eſſen ſie ſich ſatt, dann nehmen ſie ihre beiden Haͤnde und Fuͤſſe voll, und fliegen damit in ihr Neſt. Zuweilen bedienen ſie ſich gegen ihre Feinde, die groſſen fliegenden Fi - ſche, der Waffen. Dieſe beſtehen aus langen har - ten und ſpitzigen Dornen, womit ſie dieſelben in der Luft ſtechen. Jhre Hauptvertheidigung aber iſt die beinerne Naſe; dann kommen die Fuͤſſe, welche mit krummen Haaken wie bei den Raubvoͤ - geln verſehen ſind. Alle Geſchoͤpfe dieſer Jnſel ſind gefluͤgelt, Schoͤpſe, Ziegen, Eſel, Pferde, Hirſche, Haſen, bis auf die Schweine. Alles fliegt mit mehrerer oder minderer Leichtigkeit. Man findet bis auf die Schlangen und Froͤſche nichts, das nicht wenigſtens durch Springen und Huͤpfen floͤge. Aber alle ſtehen dem Menſchen ſowohl in der Staͤrke als Hoͤhe des Fluges nach.

Nachdem die Chriſtiniſchen Prinzen durch Ver - mittelung des Kindes das ſie liebkoßten, einige Freundſchaft mit den Einwohnern geknuͤpft, und durch die geringe Gewalt dieſer Vogelmenſchen Muth geſchoͤpft hatten, beſahen ſie die ganze Jnſel, und fanden in einem groſſen Fluſſe ſogar fliegende Krokodile und Meerkaͤlber, aber dieſe bedienten ſich ihrer Fluͤgel nur zu geſchwindern Fortkommen, in - dem ſie ſolche ausſtreckten, wenn ſie ſich verfolgt ſa - hen. Es ſcheint, daß das Meer auf dieſem Erd -S 4ſtrich280ſtrich urſpruͤnglich blos mit fliegenden Fiſchen aller Art bevoͤlkert geweſen iſt, die bei dem Uebergange aufs trockne Land alle ihre Fluͤgel behalten haben. Es koſtete wenig Muͤhe, das Vogelkind zahm zu machen, ſo wie fuͤnf ſeiner Kameraden beiderlet Geſchlechts, die man alle ſechs aufs Schif brach - te. Zwei unter ihnen, die bereits erwachſen wa - ren, gaben zu einem Ereignis Anlaß, welches ein auſſerordentliches Erſtaunen erregte. Eine von denen am meiſten gebildeten Vogelmaͤdchen, legte zwei Eier und bruͤtete ſolche. Man wandte waͤh - rend ihrem Aufenthalte auf der Jnſel, auf ihre Fortpflanzung weiter keine Aufmerkſamkeit, ob man ſie ſchon hatte ſich paaren geſehn; wel - ches am hellen Tage, oft in der Luft vor ieder - manns Augen geſchicht, aber man war unbekuͤm - mert um deſſen Erfolg geweſen. Das iunge Vo - gelmaͤdchen bruͤtete nenn Wochen, theils auf dem Schiffe, theils auf der Loͤweninſel und brachte aus iedem Ei ein Junges*)Die Geburt des Pollur und der Helene, des Ka - ſtor und Clytemneſtre, die aus zweien von der Le - de gelegten Eiern entſproſſen ſein ſollen, ſcheint ein Ueberbleibſel einer alten Ueberlieferung, in Be - ziehung auf dieſe Vogelmenſchen, zu ſeln, deren Ovid in ſeinen Verwandlungen erwaͤhnt. (Dulis.), einen Knaben und ein Maͤdchen. Auch bemerkt man, daß alle dieſe Voͤgelmenſchen ſich paaren, und daß nie ein Hahn - mann, zwei Sieen auf einmal hat; aber ſie paa - ren ſich alle Jahr von neuem, wie die Rebhuͤh -ner281ner und Turteltauben. Jch habe einige Begeben - heiten der Zeitordnung nach fruͤher erzaͤhlt, um die Geſchichte der Vogelmenſchen zu vollenden, nun muß ich die Reiſe der fliegenden Prinzen und ihres Schifs weiter verfolgen.

Sie kamen an die Loͤweninſel gegen uͤber der Seite wo ſie, wenn ſie von der Chriſtininſel ge - kommen waͤren, haͤtten landen muͤſſen, und fan - den einen natuͤrlichen ſehr bequem gelegenen Hafen, wo ſie einliefen und Anker warfen. Waͤhrend der Zeit ſchwungen die ſechs Prinzen ſich in die Luft, um das Land zu erforſchen, und einen Weg fuͤr die dieſer Jnſel beſtimten Familien zu bahnen. Sie ſtaun - ten aber nicht wenig, als ſie die Einwohner ganz von denen verſchieden fanden, die ſie bey ihrer erſten Reiſe geſehen hatten. Es waren keine Loͤwen, ſondern Tiger, Leoparden, Katzen ꝛc. Menſchen. Sie beſahen daher den ganzen von auſſerordentlich wil - den Weſen bewohnten Strich und bemerkten end - lich, daß die Loͤweninſel durch zwei Arme des Meeres in drei Theile getheilt war, wie zum Bei - ſpiel Jrrland von England abgeſondert iſt; nur durch einen viel breitern Kanal. Auf der Hauptin - ſel fanden ſie die Loͤwenmenſchen wieder. Sie lieſ - ſen daher das Schif herumſegeln, um den gegen Morgen gelegenen Hafen zu gewinnen, wo man landete. Die Loͤwen Zoͤglinge wurden von ihren Landsleuten mit unausſprechlicher Freude empfan - gen. Jhre gluͤckliche Wiederkunft ſowohl, als die mit ihrer Nation gepflogene Unterredungen be -S 5feſtig -282feſtigten vollends das gute Verſtaͤndnis der Menſch - Menſchen und der Loͤwenmenſchen. Die Chriſti - nier ſchlugen daher ihre Wohnungen auf, und er - hielten in Herbeiſchaffung der Materialien von den Loͤwenmenſchen, manche Unterſtuͤtzung, wofuͤr ſie nicht nur keine Vergeltung verlangten, ſondern ih - nen auch noch Wildpret und Fruͤchte brachten.

Nachdem die Chriſtiniſchen Familien ſich nie - dergelaſſen, geſaͤt ꝛc. hatten, bekamen Hermantin und ſeine Gefaͤhrten Luſt, die Tigerinſel zu beſe - hen. Sie ſprachen daruͤber mit ihren Loͤwenzoͤg - lingen, welche ihnen zu erkennen gaben, das es noͤthig ſein wuͤrde, ſich von den ſtaͤrkſten und mu - thigſten der Loͤwenmenſchen begleiten zu laſſen. Die Prinzen fanden dieſen Rath ſehr vernuͤnftig, und gaben ihn mit Vergnuͤgen und entzuͤckt uͤber die Einſicht und den guten Willen ihrer Zoͤglinge Gehoͤr. Auch die Nation fand ſich, als ſie da - von Nachricht erhielt, durch dieſes Merkmaal von Zutrauen ſehr geſchmeichelt, ſie waͤhlte zwoͤlf der Kraͤftigſten, welche von den Zoͤglingen unterrich - tet wurden. Nach acht Tagen ging die Reiſe vor ſich, und man ſetzte, unter Anfuͤhrung der bei - den Zoͤglinge, und in der Chalouppe des Schifs uͤber den Arm des Meeres. Sobald die Tieger - menſchen an der Kuͤſte die Ankunft der Fremden gewahr wurden, liefen ſie herbei; wagten es aber bei Erblickung der Loͤwenmenſchen nicht ſie anzu - fallen, ſo gern ſie es auch gethan haͤtten, ſie be - gnuͤgten ſich damit, ihnen Haufenweis Seitwaͤrtszu283zu folgen. Hermantin und die beiden Zoͤglinge gaben ihnen Zeichen der Freundſchaft, aber dieſe rauhen achteten darauf nicht. Man ſchickte ihnen durch zwei Loͤwenmenſchen Wildpret. Dieſe um - ringten ſie, als ſie herankamen und wolten ſie anfallen, aber die Loͤwenmenſchen hieben ſogleich ein, und ihre Kameraden die ſie angegriffen ſahen, eilten unaufhaltſam ihnen zu Huͤlfe, zerriſſen alles, was ſie von Tiegermenſchen habhaft werden konten, in Stuͤcken, und tranken deren Blut, die beiden Zoͤglinge nahmen an dieſem Auftritte keinen Theil, ſondern ſuchten vielmehr ihre Landsleute zu beſaͤnf - tigen und zuruͤck zu bringen. Aber ſie erreichten nicht eher ihre Abſicht, als bis kein einziger von den Tiegermenſchen mehr auf dem Kampfplatze war. Dieſer Vorfall erfuͤlte die ganze Tieger - und benach - barte Leopardeninſel mit Schrecken. Sobald der Loͤwenhaufen ſich ſehen ließ, ergrif alles die Flucht. Endlich gelang es den Prinzen und Zoͤglingen, de - nen Loͤwenmenſchen begreiflich zu machen, daß man mit Sanftmuth zu Werke gehn und einige iunge Leute zum Unterricht zu erlangen ſuchen muͤ - ſte. Die Loͤwenmenſchen ſaͤumten, als ſie es er - fuhren, nicht dies Verlangen zu erfuͤllen. Sie fingen verſchiedene iunge Tigermenſchen und brach - ten ſie halb todt fuͤr Furcht zum Hermantin und ſeinen Gefaͤhrten. Man machte einen Verſuch, ſie durch freundſchaftliches Betragen ein wenig zu be - ſaͤnftigen, ſobald ſie aber die Loͤwenmenſchen nicht mehr ſahen, ſuchten ſie alles zu zerreiſſen, und ſtelten ſich wenn dieſe wieder erſchienen wie todt. Doch284Doch trieb der Hunger ſie ein wenig zu Paaren und am dritten Tage nahmen ſie willig Nahrung an. Nach - her uͤbergab man ſie, ſo wie die beiden iungen Leopardmenſchen, dem mit den Chriſtiniſchen Fa - milien auf die Loͤweninſel gekommenen Lehrer zur Erziehung, denn es lag ihnen daran dieſe wilden Voͤlker ſanfter zu ſehen.

Dies war nun der Chriſtiniſchen Prinzen von Ge - bluͤt letzte Reiſe, nach den unbekannten ſuͤdlichen Jnſeln: und ſie nahmen, als ſie auf der Loͤwen - inſel alle noͤthigen Anſtalten getroffen und die menſchlichen Familien ſich auf einen feſten und eh - renvollen Fuß eingerichtet hatten, mit dem Schif - fe wieder ihren Ruͤckweg: Hermantin aber ver - ſprach ihnen, ſie alle Jahr mit ſeinen Gefaͤhr - ten einmal zu beſuchen und er bleibt niemals aus.

Nach der Ruͤckkehr auf die Chriſtininſel legten die Prinzen, zur Erholung von ihren Arbeiten, ſich auf die Arzneiwiſſenſchaft, Chymie, Phiſik, Matematik und auf die ganze Philoſophie uͤber - haupt. Zuweilen reiſen ſie nach den Jnſeln, und beſuchen oft die Patagonen, denen ſie ihre Entde - ckungen mitgetheilt haben. Dieſen Koloſſen war dies gar nichts ſonderbares; denn nichts ſetzt ſie in Staunen, und Bewunderung iſt eine Bewegung der Seele die ſie kaum kennen. Jedoch geſtehenſie285ſie ſelbſt, daß es ihnen gegen Mittag noch ande - re Patagonen giebt, die viel groͤſſer, ſtaͤrker und gleichwohl viel lebhafter und aufgeklaͤrter ſind. Die - ſe oft wiederhohlte Erwaͤhnung erregte beim Her - mantin und ſeinen Gefaͤhrten die groͤſte Luſt, ganz Victorique zu durchreiſen, aber ſie wurden davon durch die ungeheuern Sorgen fuͤr die Beduͤrfniſſe der neuen Kolonien von einem Tag zum andern ab - gehalten. Denn die Chriſtiniſchen Prinzen von Gebluͤt, ſind zugleich die arbeitſamſten und nuͤtzlich - ſten Buͤrger, bereit zum Dienſt fuͤr iedermann, und beſchwert mit den wichtigſten und haͤufigſten Geſchaͤften, welches ihnen eine gruͤndliche und dau - erhafte Achtung erwirbt. Endlich aber gewannen ſie Zeit, Victorique zu beſehen.

Nachdem ſie alle ihre Geſchaͤfte beſorgt und verſtaͤndige Stellvertreter fuͤr ihre Verrichtungen, waͤhrend ihrer Abweſenheit, angeſtelt hatten, nah - men ſie Abſchied von ihrem verehrungswuͤrdigſten Grosvater Victorin, von der Koͤnigin Chriſtine ihrer Grosmutter, von dem Erbprinzen ihrem Va - ter und Onkle und von ſeiner Gemalin der groſſen Jſmichtriß; vom Prinz Alexander und ſeiner Ge - malin der groſſen Mikitikipi, von der Prinzeſſin Sophie und ihrem Gemal, und machten ſich nach Patagonien auf. Das Schif muſte ihnen ſeitwaͤrts nachfolgen, weil die Prinzen uͤber Laͤnder und Ber - ge wegflogen.

Zuvor aber lieſſen ſie ſich von den Patagonen, deren Sprache ſie volkommen inne hatten, unter -richten.286richten. Man gab ihnen zu erkennen, daß ie naͤher man nach der Morgenſeite bis zum 00ſten Grade gegen den Aequator kaͤme, deſto ſtaͤrkere, lebhaftere, geiſtvollere, nuͤtzlicher Wiſſenſchaften ſich befleiſſende und tugendhaftere Menſchen gaͤbe es.

Megapatagonien.

Die Prinzen verlieſſen daher Micropatago - nien (ſo nenne ich die gegen die Chriſtininſel geleg - ne Kuͤſte) und flogen ungefaͤhr anderthalb Tag lang nach Aufgang der Sonnen gegen den Aequator zu, welches an ſechshundert und funfzig Meilen betrug. Sie lieſſen ſich ein fuͤnf bis ſechsmal, um auszu - ruhen, auf dem Lande nieder, und merkten da - bei deutlich eine ſtaͤrkere Erleuchtung. Aber ſie fanden den Unterſchied doch nicht ſo gros, daß er ihren Aufenthalt haͤtte bewuͤrken koͤnnen. Endlich kamen ſie bis zur aͤuſſerſten Morgenſeite, der auf - einander folgenden und beinah zuſammenhaͤngenden Jnſeln, woraus[da]s ſogenante Victorique oder Patagonien beſteht. Die Kuͤſten ſind von den Schiffern zwar bemerkt aber nie erkant worden. Dieſe ſchoͤne Jnſel liegt unter dem 00ſten Grade ſuͤdlicher Breite. Hermantin, der mit ſeinem Vater bis nach Europa gekommen war, konte dies Land nicht ohne Bewunderung betrachten. Es ſtelte in ſei - nen Kuͤſten, Bergen, Fluͤſſen, Waͤldern und ſo - gar in ſeinen Staͤdten Frankreich vor. Das ſuͤd - liche Theil glich in vielen Stuͤcken der Nordſeite eu -res287res Landes; weiter hin lagen zwei groſſe Jnſeln, die Großbrittanien*)Dies waren die Loͤwen, Tiger - und Leopardenin - ſeln, von welchen ich vorher geredet habe. ganz aͤhnlich waren, auſ - ſer einigen andern kleinen die darzwiſchen ſich be - fanden. Es gab dort Alpen, welche dies Land von einer Gegend trennten, die Jtalien nahe kam, auch Pyreneen, hinter welchen ein Kanton wie Spanien lag. Dieſe Aehnlichkeiten waren ſo auf - fallend, daß Hermantin anfangs nicht wuſte was er denken ſolte; aber er kante die Landcharte zu gut, als daß er haͤtte glauben ſollen, er waͤre nach Europa gekommen. Doch bemerkte er, bei allen einen kleinern Umfang; denn dieſe Art von ſuͤdlichen feſtem Lande war kaum ſo gros als Frank - reich. Die ganze Stelle des weiten Aſien und Afrika nimmt der ganze Ocean ein, einige Jnſeln ausgenommen, welche der Kapitain Cook neuer - lich entdeckt und beſchrieben hat. Nachdem ſie die Aehnlichkeit dieſes ſchoͤnen Landes mit dem Ge - burtslande ihres Grosvaters bewundert und es mit ſchnellem Fluge durchwandert hatten, kehrten Her - mantin und ſeine Gefaͤhrten wieder zuruͤck und lieſſen ſich in der Hauptſtadt des Landes, der in Frank - reich aͤhnlich, nieder. Sie lag unter dem 00ten Grade 30 Minuten ſuͤdlicher Breite und durch den 180ſten der Laͤnge, den erſten von dem Obſervato - rium in Chriſtinville, angerechnet, alſo gerade unter der Chriſtininſel und bei Gegenfuͤßlern von Paris, das mit Chriſtinville die naͤmliche Mittags -linie288linie hat, bis auf 00 Grade der Breite; aber dieſe 00 Grade machen auch beinah keinen Unterſchied, weil ſie durch die mindere Erhoͤhung der Erde auf der Suͤdpolſeite erſetzt werden. Folglich kan man be - haupten, daß die Stadt Sirap im Lande der Megapatagonen beinah puͤnktlich unter der Stadt Paris liegt. Die Witterung in dieſem Lande iſt uͤberaus gemaͤſſigt, indem die Jahreszeiten einander volkommen gleich ſind, und der Boden ſehr frucht - bar. Dies ruͤhrt aus verſchiedenen Urſachen her, unter denen die Erloͤſchung einiger Volkane die vor - nehmſte iſt.

Als Hermantin und ſeine Gefaͤhrten auf einen Platz, dem von Vendome ſehr aͤhnlich, ſich nie - dergelaſſen hatten, wurden ſie von den Megapata - gonen, welche in den benachbarten Pallaͤſten wohn - ten, ſogleich umringt. Doch geſchah dis weni - ger aus Neugier, des ordentlichen Unterſchieds an Groͤſſe ungeachtet, als aus Eifer, ihre Wohnung und alle uͤbrige Bequemlichkeit anzubieten, und ſie thaten es ohne ſonderliches Gepraͤnge; denn ſie hatten das Herz auf den Lippen. Doch bewun - derten dieſe groſſe Menſchen die Fluͤgel der Frem - den und ſprachen zu einander: Ei y a pauuaeb tirpſe ’d ſand eltec noitnevni! te elle ennod enu etuah noinipo ed ſel Svegnarté; das heißt in der Ueberſetzung: dieſe Erfindung verraͤth viel Verſtand und giebt eine hohe Meinung von den Fremden.

Herman -289

Hermantin wolte dieſer ehrwuͤrdigen Nation eine Anrede halten; aber er war ungewis, in welcher Sprache. Ganz von ungefaͤhr waͤhlt er die pata - goniſche, aber er merkte bald, daß ſie nicht die Landesſprache war, ob man ſie gleich ver - ſtand; denn man antwortete ihm zwar in dieſer Sprache, aber die Einwohner unter ſich redeten dieienige, von welcher ich bereits einige Worte angefuͤhrt habe. Hier iſt die patagoniſche Rede, welche Hermantin hielt, als er ſich von einer zahl - reichen Verſamlung beiderlei Geſchlechts umringt ſah. Die Weiber ſtanden auf der einen, die Maͤn - ner auf der andern Seite, in einer ziemlich ſonder - baren Kleidung, denn ihr Kopfputz war unſern Schuhen aͤhnlich, ihre Schuhe hingegen hatten bei den Mannsperſonen die Geſtalt eines Huthes, und bei den Frauenzimmern die Form einer Haube.

Jhr, die ihr uns ſo guͤtig aufnehmt, er - lauchte Einwohner des ſchoͤnſten Landes auf der Welt, ihr Groͤſten und Weiſeſten unter den Men - ſchen; wir kommen aus einem ſehr entfernten Lan - de, meine Bruͤder und ich, um eure nuͤtzliche Un - terhaltungen und eure erhabenen Kentniſſe zu ge - nuͤſſen. Ganz Patagonien iſt eures Lobes voll: ſind wir, wie ihr aus unſerm Wuchſe ſehen wer - det, gleich keine Patagonen, ſo ſind wir doch mit dieſer ehrwuͤrdigen Nation von muͤtterlicher Seite verwand. Jhr fuͤrtreflichen Maͤnner werdet wiſſen, daß Patagonien, wo wir herkommen, an eine Jnſel ſtoͤßt, welche ehmals die Nachtinſeld. fl. Menſch. Thieß,290hieß, ietzt aber von unſerer muͤtterlichen Grosmut - ter den Namen Chriſtininſel fuͤhrt. Sie liegt unter dem 180 Grade der Breite eures Landes, naͤmlich auf der Haͤlfte des Umfangs von der Weltkugel, welches ungefaͤhr 4500 Meilen macht, und durch den 00 Grad der Laͤnge. Aber unſer Stamland iſt unendlich weiter entfernt, liegt nach dem andern Pole, und man muß, um dahin zukommen, uͤber den hitzigen Erdguͤrtel reiſen. Dies that unſer Vater, der erfinderiſche Victorin, als er nach dem Suͤdpol ging, wo er ein Reich von Franzo - ſen, das iſt, von der ausgebildeteſten Ration in Eu - ropa, Aſien, Afrika und Amerika, geſtiftet hat. Sein ausnehmender Verſtand war die Quelle ſeines Gluͤcks: er iſt der erſte Erfinder dieſer kuͤnſtlichen Fluͤgel, deren wir uns bedienen und die ſeine Soͤhne vervolkomnet haben. Er betrug ſich in ſeinem Reiche als ein weiſer und gerechter Fuͤrſt: unter - druͤckte nie die Eingebohrnen weder ſeiner, noch der uͤbrigen Jnſeln, ob ihre Gattung gleich der unſrigen nachſteht, und folglich mit euch, erlauch - te Megapatagonen, in gar keine Vergleichung komt. Weit entfernt, ſie zu unterdruͤcken hat er ihnen vielmehr die vortheilhafteſten Geſetze gegeben, welche ihr Schickſal nothwendig verbeſſern muͤſſen. Er hat ihnen dieienige Aufklaͤrung verſchaft, de - ren ſie faͤhig waren, und ſorgt entweder ſelbſt oder durch Perſonen von ſeinem Gebluͤte, aufs vaͤterlichſte fuͤr ſie. Wir kommen erlauchte Mega - patagonen, auf ſeinen Befehl hieher, um uns zu unterrichten, uns nach eurem Muſter zu bilden,eure291eure weiſen Einrichtungen zu nutzen, und die er - habenen Lehren, welche ihr uns zu geben im Stan - de ſeid, zu unſerm Vortheil anzuwenden.

Ein ehrwuͤrdiger Alter antwortete alſo: Flie - gende Reiſende, wir freuen uns euch zu ſehn; da wir nicht Urſach haben, weder uͤber unſere Einrichtungen, noch uͤber unſre Lebensarten, noch uͤber unſere Arbeiten, noch uͤber unſere Vergnuͤ - gungen, noch uͤber unſere Gebraͤuche, noch folglich uͤber unſere ganze Verfaſſung zu erroͤthen, ſo kan uns der Beſuch von Fremden nicht anders, als angenehm ſein. Jedermann iſt in dieſem Lande gern geſehn, aber vorzuͤglich lieben wir Leute, die ſich durch ein beſonderes Verdienſt auszeichnen. Wir wollen euch bald in den Stand ſetzen, uns das eurige zu zeigen. Dann wollen wir euch in unſern Kuͤnſten, unſern Wiſſenſchaften, unſeren Gebraͤuchen und allem was ihr wiſſen wolt, un - terrichten. Zuvor muͤſſen wir euch aber hin - laͤnglich kennen lernen; Sagt uns daher eure Mei - nungen, eure Geſetze, und macht uns ſowohl muͤndlich, als aus denen bei euch habenden Buͤ - chern, mit den Gebraͤuchen eurer Nation bekant. Jhr muͤßt uns einen umſtaͤndlichen Bericht von eu - ren Kentniſſen aller Art, mit einem Worte einen vollſtaͤndigen Begrif von der Verfaſſung eures Lan - des geben.

Der Alte ſagte dies in einer ſehr ſchoͤnen pa - tagoniſchen Sprache, die unendlich zierlicher undT 2weicher292weicher klang, als dieienige, welche man in dem neben der Chriſtininſel gelegnen Patagonien redete, und, des natuͤrlichen wegen, ſelbſt dem Herman - tin und ſeinen Gefaͤhrten weit verſtaͤndlicher war. Endlich redete ein Megapatagoner, von mittlen Jahren, wahrſcheinlich der Sohn des Alten, et - was in der vorerwaͤhnten beſondern Sprache zu ihm. Jch will blos die Worte herſetzen, weil ich verſichert bin, daß man ſie alsbald verſtehn wird, weil ich ſie auch ohne Ueberſetzung verſtan - den habe.

*)Beſondere Sprache der Megapatagonen: Seo Svegnarté em tneſſiarap viova poucuarb tirpſ’d ſvuel rney tercaonna’l: Li tiarap a ſvuel ſtibah, á noitneviu’l ed ces ſelia, ꝛc. Dieſe Fremden ſcheinen viel Verſtand zu haben, ihre Augen verkuͤndigen mir es: aus ihren Kleidern, aus der Erfindung dieſer Fluͤgel, womit ſie fliegen, aus ihren an ſich habenden Koſtbarkeiten ſieht man, daß die Kuͤnſte bei ih - nen bluͤhen. Jch wuͤnſchte mir den Auftrag, mein Vater, ſie in unſern Gebraͤuchen zu unter - richten, ſie zu begleiten und auszuforſchen, ob ſie nicht dieienigen ſchaͤdlichen Kuͤnſte treiben, wel - che den noͤrdlichen Voͤlkern ſo viel Ungluͤck zuge - fuͤgt haben, daß das Geruͤcht davon auch bis zu uns durchgedrungen iſt, ob ſie keine uͤblen Gewohn - heiten haben, und ob die Fehler des Herzens bei ihnen den Aufklaͤrungen des Verſtandes nicht dasGe -293 Gewicht halten. Jch bemerke, daß ihre Zuͤge den unſern volkommen entgegen ſind, vielleicht ſind ſie unſere phiſiſchen und moraliſchen Gegenfuͤß - ler: Vielleicht waͤre es gefaͤhrlich ihnen voͤllige Freiheit zu laſſen, unſere Jugend zu ſehn und mit ihr ſich zu unterhalten. Aber ich unterwer - fe dieſe Betrachtung eurer erhabnen Klugheit. Sie iſt gegruͤndet, mein Sohn, aber fuͤrchte nichts, die Tugend iſt hier zu ſehr geliebt und liebenswuͤr - dig, als daß man ſie verlaſſen ſolte. Unſere Ju - gend laͤuft nicht nach fremden Moden und Gebraͤu - chen; ohne ſclaviſchen Nachahmungsgeiſt beſitzt ſie den edlen Stolz, ſich iederzeit ſelbſt bilden zu wollen, und nie zu aͤndern, wenn ſie nichts beſſeres findet.

Dieſe Sprache wird beim erſten Ueberleſen ein wenig rauh ſcheinen*)Um das, was der Suͤdmann hier ſagt, beſſer zu ver - ſtehen, erinnere man ſich, das alles ſo ausgeſpro - chen ward und in meiner Handſchrift geſchrieben ſteht, wie die Anfangszeilen in der vorhergehenden Note lauten. (Dulis.) aber ich bin verſichert, daß man ſie bald eben ſo weich, deutlich und verſtaͤnd - lich finden wird, als das franzoͤſiſche. Jch fuͤrch - te nicht zu viel geſagt zu haben, denn ich bin meiner Sache gewiß. Hermantin verſtand dieſe Rede vol - kommen und ſagte mit einer edlen Freimuͤthigkeit in dieſer Gegenfuͤßler Sprache zum Alten:

T 3 *) Daß294

*)Euq el ſruocſid ſed xurd ſertſulli, ꝛc. Daß die Reden der beiden erlauchten Me - gapatagonen voll Verſtand und Billigkeit waͤren.

Dies gab eine vortheilhafte Meinung von ſei - ner Einſicht, ohne iedoch bei dieſem geiſtigen Vol - ke ein ſonderliches Staunen zu erregen.

Man ernante zum Unterricht und Begleitung der fliegenden Reiſenden den Alten und den Mann von mittlen Jahren, die ich oben erwaͤhnt habe. Der Alte hieß Noffub**)Durch ein ausſchlieſſendes Recht iſt der Mann, den dieſe Buchſtaben bezeichnen, auf beiden Halbkugeln und ſogar bei den Gegenfuͤßlern fuͤr gleich weiſe geachtet. Dies war anzumerken noͤthig. (Dulis.) und der Mann Teug - nil: Erſterer war ein Weiſer von einer tiefen Ge - lehrſamkeit, einem gruͤndlichen Geiſte, ernſthaft ohne Menſchenfeind zu ſein: der andere ein bei dieſer tugendhaften Nation, durch die Geſchmei - digkeit ſeiner Sitten und durch die Guͤte ſeines Ka - rakters beruͤhmter Mann. Noffub ſolte die Rei - ſenden in der Phiſik und Metaphiſik der Megapa - tagonen unterrichten, da andere ihnen die Gebraͤu - che, Gewohnheiten und Sitten erklaͤrten. Der Alte machte den Anfang.

Hermantin und ſeine Kameraden wurden in ein ungekuͤnſteltes aber angenehmes Haus gefuͤhrt, wo uͤberall, Nutzbarkeit und Bequemlichkeit, ohne Ue - berfluß herrſchte. Hier ſetzte man ſie in eine Ver -faſſung,295faſſung, daß ſie alles noͤthige haben konten, und es wurde allen Buͤrgern angedeutet, ſich gefaͤllig gegen ſie zu betragen, welches iedermann mit ei - nem dieſer gaſtfreien und weiſen Nation wuͤrdigen Eifer befolgte. Den andern Morgen fruͤh kam der alte Noffub nebſt ſeinem Sohn Teugnil, welche ſie am Abend nicht eher, als bis ſie ins Bett ge - gangen waren, verlaſſen hatten, wieder, und brach - ten verſchiedene Geſchenke an Lebensmitteln und Merkwuͤrdigkeiten mit.

Nach dem Fruͤhſtuͤck that der Alte einige Fra - gen an die fliegenden Reiſenden, uͤber Gebraͤuche, Religion, Wiſſenſchaften und Weltſiſtem der Euro - paͤer, und ſuchte ihre phiſiſchen Kentniſſe zu erfor - ſchen. Hermantin antwortete nach dem ſinnreichen Siſtem, welches der franzoͤſiſche Plinius bekannt gemacht hat, denn man beſaß auch auf der Chri - ſtininſel die Werke dieſes Naturaliſten. Die Prin - zen von Gebluͤte waren nach Paris gereiſt und hat - ten zwei Exemplarien gekauft; ſie wurden nachge - druckt und befanden ſich in iedermans Haͤnden. Er ſprach von den Epochen der Natur, und von dem Alter der Welt, ein ſo einfaches Siſtem, daß man nicht noͤthig hat es jemanden abzuſtehlen, Herr Teboy mag auch ſagen was er will, auch er - klaͤrt er ihm das Centralfeuer, nach dem Herrn von Buͤffon.

Bei dieſer Stelle ſeiner Rede fing der Alte an zu lachen, indem er ſeinen Sohn anſah. Her - mantin merkte es, hielt inne und fragte den ehr -T 4wuͤrdi -296wuͤrdigen Noffub, ob er dies nicht wahrſcheinlich faͤnde?

Um euch zu antworten, entgegnete der Alte, muß ich die Buͤcher leſen, welche dieſe eure Lehre erklaͤren. Hermantin hatte einen Buͤffon / und andre Buͤcher bei ſich, die er dem weiſen Mega - patagoner uͤberreichte. Der Alte behielt ſie etli - che Tage und kam alsdann wieder. Nun will ich euch unſre Lehre vorlegen, die auf weniger Muth - maſſungen beruht, wahrſcheinlicher als die eurige, dem gewoͤhnlichen Laufe der Natur angemeſſener, mit einem Worte dem belebenden Anfange weit wuͤrdiger iſt.

Euer groſſer franzoͤſiſcher Philoſoph ſcheint der Meinung zu ſein, die Geſtirne, Sonnen und Planeten, waͤren Klumpen todter Materie, einige entbrant, andere erloſchen, und dieſe weitlaͤufti - gen Koͤrper blieben, wenn ſie einmal erkalteten, wahrſcheinlich unbeſeelte Klumpen, unfaͤhig irgend ein lebendes Geſchoͤpf zu erhalten. Jn dieſem Falle befanden ſich, nach ihm, unſer Mond be - reits ſeit zwei tauſend drei hundert und achtzehn Jahren; der fuͤnfte Trabant des Saturn, ſeit ungefaͤhr ſechs und zwanzig tauſend Jahren; Mars ſeit achtzehn tauſend fuͤnf hundert und ſechs Jahren: und der fuͤnfte Trabant des Saturns wuͤrde ſeine lebende Kraft in tauſend ſechs hundert und drei und neunzig Jahren verliehren; welches nichts iſt ꝛc. Euer Weltweiſer hat nach ſeinen Grundſatzen und Hipotheſen ſogar berechnet, wie lange die Dauerder297der auf denen heut zu Tage mit lebenden Weſen bevoͤlkerten Planeten noch waͤhren ſoll, fuͤr die Erde z. B. haben wir ungefaͤhr noch acht und vierzig tau - ſend und drei und neunzig Jahr. Dieſe Hipothe - ſe kan ſolche ſuperficielle Geiſter, wie die Euro - paͤer ſind, allenfals befriedigen, denn ſie ſcheinen ſich nicht gern anzugreifen und uͤberhaupt meiſtens auf ihre Lehrer ſich zu verlaſſen, aber wir mit beſſern Jnſtrumenten, beſonders mit weit ſtaͤrkern Organen, folglich mit einem deſto geſundern Ko - pfe verſehn, halten dies vermeintlich wunderſchoͤne Siſtem fuͤr eine Abgeſchmacktheit, die zwar Kin - dern aufgeheftet werden, aber reife Maͤnner nicht befriedigen kann. Wirklich weiß ich nicht, wie euer Weltweiſer, der uͤbrigens ſehr ausgebreitete Begriffe zu haben ſcheint, nicht eingeſehn hat, daß er ein unwahrſcheinliches und unanalogiſches Si - ſtem aufſtelte. Wie hat er nicht wahrgenommen, daß er mit ſeiner ohne Erwaͤrmung todten Materie, ſeinem glaͤſernen Kern, ſeinen wie eine Kugel er - hitzten Planeten, die nach und nach erkalten, den hoͤchſten Urheber zu einem Arbeiter nach menſchli - cher Weiſe macht! Wie? die Natur hat eine Muͤ - cke organiſirt und er ſolte die Erde und Sonne zu einer ungeſtalten Maſſe gebildet haben? Wie? das Waſſer im Meere, der Regen, die Ausbruͤ - che der Volkane, die Luftzeichen, alles ſolte die Erde als ein lebendes Weſen ankuͤndigen, welches athmet und von dem alle dieſe Dinge nothwendige Ausfluͤſſe ſind; auf der Oberflaͤche ſolte alles lebend ſein; die Natur ſolte uns zu einem GegenſtandT 5der298der Vergleichung, ein ſichtbar lebendes Geſchoͤpf uͤber das andre, ſolte uns andere beinah unſichtbare, dem Thiere das ſie naͤhrt unbemerkbare Weſen vor Augen gelegt haben, ſie ſolte uns auf dieſem We - ge hingeſetzt, die Vernunft dieſes Ziel der Natur eingeſehn haben; und wir wolten daraus nicht fol - gern, daß wir, lebende Geſchoͤpfe gleichſam die Hautwuͤrmer desienigen beſeelten Weſens ſind, das uns traͤgt und fuͤr ſich ſelbſt beſtand, eh es un - ſertwegen da war? ia auf dem wir nichts, als laͤſtige Thierchen ſein koͤnnen, von denen es von Zeit zu Zeit ſich gaͤnzlich reinigt, ohne den Keim ganz zu vernichten, weil es ihn in ſich hat, und wir wuͤrklich ein Stuͤck von ſeinem Daſein ausma - chen. Zu welcher ſchrecklichen Wuͤſte macht euer Weltweiſer das Weltall, und wie klein wird in euern Augen das Weſen aller Weſen, der hoͤchſte Urheber von allen! Glaubt mir, Freunde, alles in der Natur iſt lebend. Das hoͤchſte Weſen hat keine andern Diener als ſolche, die der unendli - chen Volkommenheit ſich naͤhern. Die Erde lebt*)Die noͤrdlichen Menſchen haben ſelbſt die Bele - bung der Erde geglaubt. Ovid laͤßt den Pytha - goras alſo reden: Nam ſive eſt animal tellus, et vivit habetquo Spiramenta locis flammam exhalantia multis; Spirandi mutare vias quotiesque movetur. Has finire poteſt, illas aperire cavernas: Sive leves, etc. Met. l. 15. f. 8. ; ſie iſt organiſirt, hat ihr eigenes inneres Feuer,das299das iedoch eine Wuͤrkung ihres Lebens, und nicht etwa eine zeitlange Annaͤherung der Sonne, oder ein Ausflus von ihr iſt. Jndes kan ſie mit dieſer vereinigt geweſen ſein, wie die andern Pla - neten und Kometen; nichts deſto weniger aber macht ſie ein beſonderes Weſen aus, unterſchieden von der Sonne, wie der Sohn von ſeinem Vater. Jhre Hitze iſt alſo keine gemachte, ſondern eine lebende. Denn es iſt gewiß, daß die Sonne ſelbſt verhaͤltnismaͤſſig nicht waͤrmer, als ein andrer be - lebter Koͤrper iſt. Vermoͤge einer beſonderen Ei - genſchaft und zeugenden Kraft, bringen die Son - nenausfluͤſſe auf den Planeten Licht und eine be - fruchtende Gaͤhrung hervor, die wir Waͤrme nen - nen. Zwar iſt die Sonne viel waͤrmer als die Erde, aber dies ruͤhrt daher, weil die letztere, welche weiblichen Geſchlechts iſt, den gaͤhrenden und zeugenden Saamen nicht bei ſich hat, der ausſchließungsweiſe den Maͤnnern zu Theil wird, und ſie uͤber die Weiber ungemein erhebt. Auch haben die von der Sonne ausgehenden Strahlen keine merkliche Hitze. Es iſt eine Vermiſchung mit den planetiſchen Ausfluͤſſen noͤthig, um Licht und Waͤrme hervorzubringen; eine Wirkung, die nur bis zu einer ſehr kleinen Entfernung hinauf ſteigt. Die Finſterniß in Ruͤckſicht unſer herrſcht nicht nur auf den Zwiſchenſonnen, ſondern auf den Zwi - ſchenplaneten, und bringt dasienige hervor, was wir das Blaue am Himmel nennen, welches aus nichts andern als aus einem ſchwarzen Grunde be - ſteht, der durch die Maſſe unſres Dunſtkreiſeseine300eine blaue Farbe erhaͤlt: der Himmel iſt ein Wort ohne Sinn, und druͤckt blos einen optiſchen Jrr - thum aus.

Daraus folgt, daß die Erde von der Sonne ihrem Vater und Manne keine andere als thieriſche Waͤrme empfaͤngt, welche ſie ganz durchdringt; ſie bekomt unaufhoͤrlich ihre Ausfluͤſſe, und ſchickt ihr, wie die uͤbrigen Planeten andere dafuͤr zu. Dieſer Umlauf eben erhaͤlt, ohne Abnahme, die Bewegung, die Waͤrme und das Leben der Sonne ſelbſt.

Hermantin, der dies Syſtem ſo wahrſcheinlich und genugthuend fand, verdoppelte ſeine Aufmerk - ſamkeit.

Glaubt daher nicht, fuhr der Alte fort, daß dieſe weitlaͤuftigen Koͤrper todte Maſſen ſind; ſie leben und werden ſterben. Aber dieienigen We - ſen, welche auf ihrer aͤuſſern Haut ſich befinden, ſind vielleicht ſchon und werden noch oͤfter, waͤh - rend dem Leben der Planeten, vernichtet, entwe - der durch einen gewiſſen Grad zufaͤlliger Kaͤlte, oder Waͤrme. Vielleicht werden ſich dieſe Weſen aber auch ſo lange erhalten, als der Planet oder Komet ſelbſt: aber gewiß iſt es, daß weder die Planeten noch Kometen ewig dauern. Nichts als die Natur und ihr goͤttlicher Beſeeler iſt ewig. Aber wie werden dieſe Planeten und Kometen ſterben? Dies kan kein Menſch zuverlaͤſſig wiſſen; aber aus der Annalogie laͤßt ſichs vermuthen. Die Plane -ten301ten werden austrocknen, indem ſie, wie die Grei - ſe erkalten. Wenn die Bewegung und das Leben aufhoͤrt, ſo werden ſie in ihre Sonnen zuruͤckfal - len, die ſie, vermoͤge ihrer zeugenden Kraft, aus ih - rem Schoos hervorgebracht hatten, der ſie, bei ihrem Tode, auch wieder aufnehmen muß, ſo wie die Erde uns, nur mit einigem Unterſchied.

Aber, verſetzte Hermantin, ſind denn die Sonnen auch lebende Weſen?

Sie ſind die zweiten Quellen des Lebens, die Mittler wodurch der große Beſeeler den dritten Weſen, den Planeten und Kometen es mittheilt. Man muß nicht glauben, daß durch Beruͤhrung der letztern die Planeten von der Sonne waͤren ab - geſondert worden: denn wer haͤtte die Kometen von ihr abgeſondert? Beide ſind, wie ich euch eben ſagte, aus dem Mittelpunkte ihrer Sonne durch eine zeugende Kraft, eine Art von Saamen - auswurf, welcher den Saamen eigen iſt, her - vorgegangen. Dieſe aber ſind wahrſcheinlich ein unmittelbarer Ausflus des groſſen Beſeelers, des einzigen und almaͤchtigen Anfangs. Jch ſchloß aus eurer an mich gethanen Frage: ob die Son - nen auch lebende Weſen waͤren? daß ihr euch wundertet, wie ſolche heiſſe Koͤrper, wofuͤr man ſie in Europa haͤlt, leben koͤnnen. Aber eben in dieſer Hitze beſteht das Leben der Sonne. Sie muß dieſen Grad von Kraft haben, um einen ſo groſſen Koͤrper zu beſeelen, und ihn in Stand zu ſe - tzen, daß er ſeinen Einflus auf die Planeten undKome -302Kometen erſtrecke. Daraus koͤnt ihr ſchlieſſen, daß dieſe Hitze uͤber den Begrif der Organe ſei, bei ſo begraͤnzten Weſen wie wir, in deren Ruͤck - ſicht nur einige Grade derſelben ſchon die aͤuſſer - ſten ſind; daß die Sonne, bei aller ihrer Hitze, nicht mehr als denienigen Grad habe, der ihr zur Erhaltung und Mittheilungen an uns noͤthig iſt, daß ſie wie die Erde organiſirt ſei; daß die Erde es eben ſo wie wir ſei, daß es aber die Sonne weit ſtaͤrker als die Erde, und die Kome - ten ſtaͤrker, als die Planeten ſind (denn wir nehmen an, daß iene ſpaͤter abgeſondert worden, und glauben, daß ihre Bahn ſich unmerklich ver - kuͤrzt, um einmal der Planeten ihre anzunehmen, an deren Stelle ſie, nach dem Maaſſe als iene vor Alter ſterben und ſich in ihrer Sonne begra - ben, treten). O! wie maͤchtig muß der groſſe und hoͤchſte Beſeeler, gegen den die Sonnen kalt ſind, ſein! Welche Kraft von Waͤrme und Leben muß die ſeinige ſein, gegen welche der Sonnen ihre nicht mehr als unſere Waͤrme und unſer Leben in Vergleichung dieſer brennenden Geſtirne mit uns iſt. Merkt dieſe Wahrheit wohl: die Waͤrme iſt das Leben, ie ſtaͤrker die natuͤrliche Hitze eines leben - den Weſens iſt, deſto mehr hat es Leben und zeu - gende Kraft. Man muß nicht wie euer europaͤi - ſcher Philoſoph von dem uns behaglichen Grade der Waͤrme auf die zum Leben noͤthige ſchlieſſen. Selbſt auf der Erde giebt es Pflanzen und Thiere, fuͤr welche ein Klima zu heiß, oder zu kalt iſt. Euer Weltweiſer erinnert zwar ſorgfaͤltig, daß ſei -ne303ſeine Berechnungen nach dem gegenwaͤrtigen Zuſtan - de der auf der Erde befindlichen Weſen gemacht waͤren, und daß es, eines weit groͤſſern Grades von Waͤrme faͤhige Weſen geben koͤnne. Denn ich habe ſein Buch von der Weltweisheit aufmerkſam geleſen. Kehrt daher von euren Jrrthuͤmern zu - ruͤck! Betrachtet die Natur als ein lebendes All, mit Verſtande begabt, merkt auf die Stufenfolge der Weſen, ſchließt von dem was auf der Erde iſt, daß ein Weſen deſto verſtaͤndiger und lebhaf - ter ſei, ie waͤrmer es iſt. Faſſet von dem groſ - ſen Beſeeler einen ſo weitlaͤuftigen Begrif, als eu - re Einbildungskraft faͤhig iſt, und geſteht alsdann: Er iſt weit uͤber dieſelbe! . Durch dieſes Mittel werdet ihr alles im Groſſen ſehn und nicht in den engen Schranken bleiben, worin die uͤbri - gen Thiere ihr Leben hinbringen.

Jch danke euch, mein Vater, ſprach Herman - tin zu dem alten Megapatagonen. Eure Lehren ſind uͤberzeugend fuͤr mich. Aber ich habe noch verſchiedene Fragen an euch zu thun. Da ihr an Verſtande andere Menſchen weit uͤbertreft, ſo hof - fe ich dieienigen Aufklaͤrungen von euch, welche mir iene nicht haben geben koͤnnen. Die Fragen, welche ich wagen will, haben auf die Bildung der erſten Weſen eine Beziehung, welche die Oberflaͤ - che der Erde bedeckt haben. Was denkt eure ed - le Nation von der Entſtehung der Planeten und Thiere?

Aus304

Aus euren Buͤchern habe ich geſehn, daß ihr Europaͤer, wahre Kinder in der Naturlehre, eine kindiſche Vorſtellung von Bildung der Dinge habt, und euch die Erde, die Sonne und die Geſtirne nach menſchlicher Weiſe vorgeſtelt. Alles iſt gezeugt; nichts geſchaffen. Alles ſtirbt, nichts wird vernichtet. Alles geht aus ſeinen eignen Ruinen hervor; nichts wird von neuem hervorge - bracht; denn alles was da iſt, war beſtaͤndig und der groſſe Beſeeler war nie entbloͤßt. Wenn Thie - re und Pflanzen bei dem Tode eines Planeten un - tergehn, ſo werden ſie zwar dem Scheine nach zer - nichtet; aber ſie werden blos aufgeloͤſt und in ih - re Anfaͤnge zuruͤckgeſetzt: ihre Keime, des Lebens faͤhig, und ihre Seele ſind unzernichtbar und erwar - ten zur Beſeelung und Wiederbelebung der Materie blos eine ſchickliche Miſchung. Wenn alſo die ſchoͤpferiſche Sonne einen Planeten aus ſeinem Schooſſe wirft, ſo wird, vermoͤge der Kraft ſei - ner Bewegung ein Komet daraus, der in einigen Tauſend Jahren ſich nach und nach der beinah zir - kelfoͤrmigen Bewegung der Planeten naͤhert*)Ein Beweis, daß der Zirkel der Planeten ſich ver - kuͤrzt und ſie der Sonne ſich naͤhern, iſt, daß in hundert Jahren das Jahr um 3 Sekunden kuͤrzer wird. Man kan daher aufs genauſte ausrechnen, wie lange unſre Erdkugel bis zur Verzehrung von der Sonne noch zu leben hat. und die zu Hervorbringung neuer Vegetabilien, Jnſek - ten und Thiere, noͤthige Maͤſſigung wieder an -nimmt.305nimmt. Sogleich leben die Keime der Pflanzen wieder auf und gehen von Stufe zu Stufe, vom Mooſe bis zu den Baͤumen, vom Schwamme bis zur Thierheit, dieſe ſcheint von dem Wachsthume der Pflanzen auszugehen und von einer Stufe zur andern, von den pflanzenartigen Thieren, als Seeneſſeln, Anemonen ꝛc. welche die erſte Stufe ausmachen, bis zum Menſchen, welcher am ſpaͤte - ſten unter allen zur Wuͤrklichkeit komt, und die bekan - te Vollendung der Thierheit iſt, durch alle Stufen hinauf zu ſteigen. Die Natur hat tauſend Ver - ſuche, tauſend Mittel angewand (um mich unſerer unvolkomnen Ausdruͤcke zu bedienen) ehe ſie einen Menſchen hervorbrachte. Verſchiedene von dieſen Verſuchen ſind in einigen Gattungen noch vorhan - den; dahin die mancherlei Arten von Affen gehoͤ - ren; andere haben ſich vermiſcht, als die verſchie - denen Thiermenſchen, die ihr auf den Jnſeln dieſer Halbkugel werdet geſehn haben. Es gab deren auch auf den andern Theilen der Erdkugel; aber ich vermuthe, daß die kleinen unruhigen, alles wiſſen wollende Menſchen des Nordpols, die in der Naturlehre ſo wie in der Moral nichts anneh - men wollen, als was ihnen aͤhnlich iſt, alles vertilgt haben, was mit ihren Begriffen von Vol - kommenheit nicht uͤbereinſtimte, wenn es gleich volkomner, als ſie ſelbſt war, und ich bin verſi - chert, daß wenn es groſſe Menſchen von unſrer Gat - tung unter den Europaͤern gegeben hat, deren nur noch wenige vorhanden oder ſie gaͤnzlich vernichtet worden ſind. Sie verlangen, in der Natur al -d. fl. Menſch. Ules306les nach einem Maasſtabe, haben aber in mora - liſchen und politiſchen Dingen die abſcheulichſten Jrrthuͤmer, ohne etwas widriges darinnen zu fin - den*)Dieſe Vermuthung des Megapatagonen iſt ge - gruͤndet; man fand in dem alten Tempel des Ve - lus oder indiſchen Jupiters, ein Bild von ieder Gat - tung Thiermenſchen, welche Aſien bewohnt hatten, Hund, Ochſen, Affen, Menſchen ꝛc. Dies war auch die Lehre der Egiptiſchen Prieſter. (Dulis.). Wir ehrwuͤrdige Kinder der Natur, ha - ben allen ſeinen Werken die gebuͤhrende Ehre erwie - ſen, und den Affen, Elephanten, Loͤwen, Stier ꝛc. Menſchen die Jnſeln wo ſie gebohren ſind, nach ihren Gefallen zu leben gelaſſen, uͤberzeugt, daß wir nicht weiſer als die Natur ſind, wir haben unſere Gerechtigkeit bis auf die Schlangenmenſchen erſtreckt. Nichts in der That iſt ſo faͤhig den Menſchen Anleitung zur Naturkentnis zu geben, als dieſe verſchiedenen Weſen, welche gleichſam die Stufen ſind, die uns bis zur Erhabenheit des ver - nuͤnftigen Menſchen, dem Koͤnig der Thierheit fuͤh - ren, der ſich durch ſeinen Verſtand den groͤſten Weſen und der Gottheit ſelbſt naͤhert. Unterſucht alle Thiere, ſo werdet ihr dieſe Stufenfolge, von den Fiſchen, Wallfiſchen, Amphibien und bloſſen Waſſerthieren an, finden und ſehn, daß immer eins vom andern durch unmerkliche Zwiſchenraͤume abſtamt. Nimt man die Erdauswuͤchſe in glei - cher Abſicht vor, ſo zeigt ſich, daß die Gattun - gen da, wo iedes einzelne in ienem Augenblicke ſicheben307eben befand, ſtehen geblieben, und alſo volkom - men oder unvolkommen geworden ſind. Jhr Eu - ropaͤer habt euch durch die vor langen Jahren un - ternommene Zernichtung alles deſſen, was ihr Un - geſtalten nent, der Mittel, dieſe ſchoͤnen Wahr - heiten zu erkennen, beraubt, aber auch da - fuͤr in der Naturlehre bei allem was die Bildung der Thiere und des Menſchen betrift, blos im Dunkeln herumgetappt. Einige von euch haben geglaubt, daß Thier und Menſch, gleich gebildet als die Erde noch neu war, aus einem Erdenklos wie die Pilze hervorgekommen waͤren, und ihr habt alles das fuͤr Fabeln und veriaͤhrten Aberglauben angeſehn, was die Alten euch von den Spuren der Lehre der erſten Menſchen, welche halbe gemiſchte Weſen, als Centauren, Satyrn, Faunen, Sil - vanen oder groſſe Affen, den Anubis, Minotaurus, die Ceraſten, gefluͤgelten Menſchen ꝛc. geſehn hat - ten, hinterlaſſen haben. Eure Maler und Poe - ten verunſtalteten alles dieſes noch mehr, ſo wie alle Unwiſſende, die wenn ſie ſich von der Natur entfernen, und blos ihrer Einbildung folgen, ſon - derbare Weſen ohne Aehnlichkeit zuſammenſetzen. Jhr, die ihr durch den Aufenthalt in dieſen Ge - genden eines beſſern belehrt worden ſeid, muͤſt von dieſen Jrrthuͤmern zuruͤckkommen; bewundert de[n]Gang der Natur, und vernichtet, unter dem Vorwande ſie zu verbeſſern, ia nicht die Stufen, wel - che ſie dem vernuͤnftigen Menſchen gelaſſen hat, um entweder in ihre Abgruͤnde zu ſteigen, oder bis zu ihren Volkommenheiten ſich zu erheben.

U 2 Jch308

Jch finde dies alles ſehr deutlich und ver - ſtaͤndlicher als alle unſere Vermuthungen! (unter - brach Hermantin mit Bewunderung) aber erlaubt mir wieder auf eine Frage zu kommen. Jhr habt uns zwar geſagt, wie die Planeten ſterben: ſind denn aber die Sonnen ewig?

Jhr Leben muß viel laͤnger dauern, als der Planeten ihres, weil ſie dieſelben aufreiben; aber es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß iede Sonne nicht mehr als einmal ihre Kometen und Planeten her - vorbringt, iedoch zu verſchiedenen Zeiten, und nicht alle auf einmal; beinah wie die Thiere ihre Jungen nur nach und nach zur Welt bringen.

Hier iſt ein Fehler in der Richtigkeit der Vergleichung: die Thiere bringen ihres Gleichen hervor; aber die Sonnen blos geringere als ſie.

Eure Bemerkung iſt in einem Verſtande richtig; aber der groſſe Beſeeler bringt auch nichts ihm aͤhnliches hervor. Dies iſt einige Aehnlich - keit, welche die Sonnen mit ihm haben; denn da ſie unmittelbar durch ſeine hervorbringende Kraft gebildet worden ſind, ſo haben ſie nicht noͤthig wieder ihres Gleichen hervorzubringen, ſondern blos Geringere. Mit den Planeten und Kometen hat es gleiche Bewandnis, ſie bringen ebenfalls nicht ihres Gleichen hervor, weil die Sonnen ſie nothwendig hervorbringen. Die Natur befolgt hier - inn ſtets eben dieſelbe maieſtaͤtiſche Regel, ob ſie gleich iederzeit in der Form verſchieden iſt, nichtszu309zu thun als was nothwendig iſt. Jch kehre wieder auf eure Frage zuruͤck. Wenn eine Son - ne alle ihre Kometen und Planeten hervorgebracht hat, ſo veralten dieſe und iene mit ihnen. Nach und nach fallen ſie dann gegen ihren Mittelpunkt, erfuͤllen ſie mit Ruinen und erſticken vollends ſeine Lebenswaͤrme, dann faͤllt ſie ſelbſt in ihren Anfang, Gott, die vorzugsweiſe Subſtanz und Leben, wieder zuruͤck. Dieſer bildet ſie neu, borgt ihr neues Leben und bringt ſie von neuem ſo ſchoͤn und kraftvoll wieder hervor, als ſie beim Anfange ih - rer zuletzt geendigten Laufbahn war. Folglich kan der hoͤchſte wuͤrkende Anfang, welcher alles um - faßt, der ſtets hervorbringt und annimt, nie we - der veralten noch ſterben, eben darum, weil er alles umfaßt und ſein Leben und ſeine Waͤrme nie die geringſte Verminderung leiden kan. Dies iſt wenigſtens alles, was unſre Vernunft von dieſem groſſen Weſen, in welchem wir alle leben, ſich vorzuſtellen vermag. Wir koͤnnen es daher weder begreifen noch ſehn, ob wir ſchon die endlichen Weſen ſahen, ſo gros ſie auch ſein moͤgen, die wir iedoch bei ihrer Entfernung, mit unſern Au - gen fuͤr die kleinſten Koͤrper halten, ſelbſt die Son - ne, die Planeten und die Sterne; aber Gott der alles umfaßt, kan unmoͤglich irgendwo geſehn werden.

So iſt denn alles lebend?

Alles: Eure europaͤiſchen Materialiſten haben die einfaͤltigſte Abgeſchmacktheit gelehrt, wenn ſieU 3behaup -310behaupten, daß das ganze blind und todt ſei. Sie urtheilten wie die Kinder und wie Blinde ſelbſt, wenn ſie alles ich weiß nicht was fuͤr Geſetzen der Schwere unterwarfen: zwar giebt es dergleichen Geſetze; aber dies ſind weſentliche Wuͤrkungen der Dinge, und Mittel des hoͤchſten Verſtandes, noth - wendige Folgen ſeiner Allmacht und Allweisheit. Dieſe Nothwendigkeit macht bei euch den Begrif von der beſten Welt aus. Alles geſchieht auf die leichteſte Art, nach den Urſachen die ſie hervor - bringen. Es giebt nur eine Materie. Jederzeit mit einem lebendigen Weſen vereinigt iſt ſie entwe - der der Koͤrper, als die grobe Materie, oder der Ausflus, als die feinere Materie. Die Luft iſt der Ausflus des Erdballs, Erde und Waſſer ſind die Koͤrper, der Aether, die Materie des Lichts, iſt der Ausflus der Sonne, deren voͤllig lebende und wuͤrkende Materie der Koͤrper iſt. Aber von welcher Art iſt dieſe Materie? Euer franzoͤſiſcher Philoſoph behauptet, ſie ſei mit der Planeten ihrer einerlei, weil dieſe daraus entſproſſen ſind. Die - ſer Schlus gruͤndet ſich zwar auf eine ſehr wahr - ſcheinliche Vorausſetzung; wir haben aber doch keine ausgemachte Gewisheit davon. Jſt die Son - ne ein lebendes Weſen, wie unſere Megapatagoni - ſchen Weltweiſen nie gezweifelt haben, waͤre es nicht wahrſcheinlicher zu ſagen, daß die Planeten Aus - wuͤrfe der Unſauberkeiten von der Sonne ſind, ſo wie die Pflanzen und Thiere von den Planeten. Die auſſerordentliche Lebenswaͤrme der Sonne wirft ihre Abſonderungen weit von ſich, da ſie bei denPlane -311Planeten hingegen uͤber der Oberflaͤche bleiben. Haͤt - ten ſie aber nur den Grad von Waͤrme und Kraft, die euer Philoſoph ihnen beim Ausgang von der Sonne zuſchreibt, ſo koͤnten dieſe Ausfluͤſſe nicht daſelbſt bleiben; ſie wuͤrden ſehr weit davon entfernt, obgleich in ihrem Dunſtkreiſe ſich befinden: denn euer Philoſoph geſteht ein, daß die Ausfluͤſſe von der Oberflaͤche eines Geſtirns, nach Verhaͤltnis ſeines Grades von Waͤrme, ent - fernt ſind. Mir ſcheint dieſe Meinung handgreif - lich und man kan dadurch die Entfernung der Ko - meten und Planeten erklaͤren, ohne ſeine Zuflucht zu einem ungefaͤhren Stoß zu nehmen, ein der Natur unwuͤrdiger Grund, die uͤberall durch lang - ſame und ſichere Mittel handelt. So ſind die Kometen, als die erſten von der zeugenden und brennenden Kraft der Sonne ausgegangene Weſen, in einer der geraden Linie nahkommenden Ellipſe ge - worfen worden: ſie entfernen ſich ſo lange, als die Kraft der Waͤrme und des Schwungs dauert, und kehren, ſobald dieſe Urſachen aufhoͤren zu wuͤr - ken, wieder bis zu ihrer Sonne zuruͤck, die ihnen den naͤmlichen Schwung mittheilt, doch wie ich euch geſagt habe, ſtets mit einiger Verminderung der elliptiſchen Richtung, ſo daß ſie endlich den zirkelfoͤrmigen natuͤrlichern annimt; welches von der Bewegung der Sonne um ſich ſelbſt herruͤhrt. Was die Planeten betrift, ſo iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß ſie die erſten ausgeworfenen Kometen geweſen ſind, die unmerklich eine zirkelfoͤrmige natuͤrliche Bewegung um ihren Mittelpunkt angenommen ha -U 4ben.312ben. Folglich iſt die Bewegung der Kometen ei - ne gewaltſame, der Planeten ihre aber eine na - tuͤrliche.

Wenn ich behaupte, daß die Kometen ausgewor - fen worden, ſo will das nicht ſo viel ſagen, als ob die - ſe groſſen Klumpen von dem Koͤrper der Sonne ſelbſt abgeſondert waͤren. Es ſind, wie gedacht, unreine Ausfluͤſſe, wie die Flecken, welche man noch heut zu Tage auf der Oberflaͤche dieſes Vaters der Na - tur, in Beziehung auf uns, ſieht. Sie haben ſich durch die Ausleerungen nach und nach ver - groͤſſert, ſind aber nicht eher abgeworfen worden, als bis ſie ſich ſelbſt abſonderten, wie die Geburt nach der Belebung. Jhr werdet fragen: wie dieſe Maſſen ſich beleben koͤnnen? Jch antworte: auf eben die Art ohne Zweifel, wie die Thiere in dem Leibe der Mutter. So theilt die Sonne, der Quell des Lebens, ſeinen Ausfluͤſſen von demieni - gen Leben mit, wovon ſie ganz beſchwaͤngert iſt. So laͤßt die mit Leben geſchwaͤngerte Erde etwas davon aus, um die auf ſeiner obern Haut befind - lichen Geſchoͤpfe zu beſeelen. Dieſe lebenden Theil - chen haben Planeten, Thiere und ſelbſt den Men - ſchen hervorgebracht. Das hoͤchſte Weſen, Fuͤl - le des Lebens, von dem die Sonnen unmittelbare Ausfluͤſſe ſind, beſchwaͤngert ſie ebenfals mit Le - ben und Verſtand, damit ſie ihr Daſein empfin - den, deſſelben genuͤſſen, und von der reinen Em - pfindung des Gluͤcks ieden Augenblick erfuͤllet wer - den, wenn ſie wie die Menſchen die Ordnung nichtuͤber -313uͤberſchreiten und ſich ungluͤcklich machen. Dies haben alle alte Goͤtterlehren und ſelbſt eure europaͤiſche Religion in der Materie von guten und boͤſen En - geln angenommen. Dies ſind Wahrheiten, die dem Chaos der Zeiten entſchluͤpft ſind, und welche die erſten Menſchen ſo zu ſagen geſehn und empfun - den haben, die aber bei den unruhigen und her - umſchweifenden nordiſchen Nationen verlohren ge - gangen ſind. Auch die Planeten empfinden ihr Daſein, genieſſen es, aber in einem minder vol - kommen Grade, als die Sonnen. Die Kometen, deren Daſein noch mit einem gewiſſen Taumel ver - knuͤpft iſt, wie unſre Jugend, empfinden es am leb - hafteſten. Dann, naͤmlich nach den kleinſten moͤg - lichen Trabanten folgen wir, und empfinden unſer Daſein minder volkommen als alle Weſen, die uns an Wichtigkeit auf der Welt uͤbertreffen. Die Thiere empfinden ſie weniger als wir; und ſo von Stufe zu Stufe unmerklicher, bis auf die Pflan - zen, und von dieſen bis zu den Mineralien. Dieſe haben weniger beſonders und eigenes Leben: aber ſie haben mehr von der Erde und ſind von derſel - ben weniger als die Pflanzen abgeſondert, dieſe we - niger als die Auſtern, dieſe weniger, als die vier - fuͤſſigen Thiere, dieſe weniger als der zweifuͤſſige den Kopf hervortragende Menſch. Die Minerali - en nehmen dafuͤr mehr Theil an dem gemeinſchaft - lichen Leben der Erdkugel, wie die Naͤgel und Haa - re von unſerm Koͤrper, da die Thiere im Gegen - theil beſondere Geſchoͤpfe ſind, wie bei uns die Hautwuͤrmer. Doch iſt dieſe Vergleichung un -U 5vol -314volkommen, weil alle Weſen ihr Leben und ihre Erhaltung aus der Erde als der gemeinſchaftlichen Mutter nehmen. Jch glaube, ihr werdet dieſe Leh - re leicht verſtehen.

Ja, entgegnete Hermantin: ihr erweitert meine Begriffe, und zeigt mir eines Theils, daß ich nichts als ein Punkt, ein Jnſekt bin, andern Theils erhebt ihr mich durch meinen Verſtand, und ſetzt mich in Vergleichung mit allen dieſen maͤchti - gen und volkomnern Weſen. Durch ſie laßt ihr mich bis zur Gottheit ſelbſt hinauf ſteigen.

Dies iſt meine Abſicht geweſen. Das hoͤchſte Weſen allein empfindet ſein Leben, ſein Da - ſein aufs volkommenſte und genießt ein unveraͤnder - liches Gluͤck, weil es keiner ſchmerzhaften Aufloͤ - ſung in ſeiner einzelnen Eigenheit unterworfen iſt. Es iſt die Quelle von allem, ohne alles zu ſein, ſo wie die von der Sonne ausgefloſſene Erde nicht die Sonne, der aus Erde entſproſſene Menſch nicht die Erde ſind ꝛc. Alles Ungemach, welches die Er - de erdulden kan, wuͤrde fuͤr die Sonne kein phi - ſiſches Uebel ſein: wie unſere Hautwuͤrmer zu hun - derten und ſogar, unſere Kinder ſterben koͤnnen, ohne daß wir phiſiſch und an unſrer Subſtanz lei - den. Gott iſt der erſte Anfang: aber die Weſen der niedrigſten Klaſſe, als die todte Haut der Pla - neten, die Steine ꝛc. ſind von ſeiner goͤttlichen Subſtanz unendlich entfernt, ob dieſe gleich ihnen den erſten Urſprung gegeben hat.

Jch315

Jch hoͤre mit Verwunderung zu: dieſe Materie, welche wir beruͤhren, iſt denn nicht der Koͤrper der Gottheit, wie in Europa ein gewiſ - ſer Spinoza behauptet hat.

Jhr habt recht, mein Sohn. Jndes ſind alle unſere Kentniſſe nicht ſo zuverlaͤſſig, als die bisher erwaͤhnten; wir haben auch ſolche, die auf bloſſe Vermuthungen beruhen und auf den uͤbrigens zuverlaͤſſigen Satz ſich gruͤnden, daß es in der Natur kei - nen leeren und oͤden Raum giebt, ſondern daß alles in derſelben mit lebenden Weſen angefuͤllt iſt, die aber in Anſehung ihrer Form, Subſtanz und Handlungsart ganz verſchieden ſind. Wir vermuthen daher, daß die Luft mit lebenden fuͤr unſere Sinne aber un - faßlichen Weſen erfuͤlt ſei, iedoch in einer gewiſ - ſen Hoͤhe und uͤber den Flug der Voͤgel hinaus. Nach dem, was ich in euren Buͤchern geleſen habe und ihr mir von den europaͤiſchen Grundſaͤtzen erklaͤrt habt, ſcheint es, daß man in dieſem Weltheile einige aͤhnliche Begriffe gehabt habe; und daß eure Fe - en, Genien, Geiſter und Geſpenſter ꝛc. eine Folge von dieſer alten Meinung ſei, die ſich durch die Laͤnge verdunkelt und verlohren hat. Wir glau - ben hier aber auch, daß dieſe uͤber unſere Sinne erhabenen Weſen, eben deshalb voͤllig unfaͤhig ſind, uns wohl oder uͤbel zu thun; daß ſie uns weder ſehn noch beruͤhren koͤnnen, weil ſie in unſerer Luft erſticken wuͤrden. Wir halten ſie fuͤr ver - ſtaͤndiger als uns, weil ihre Organen weit zaͤrter ſind. Unſerer Meinung nach giebt es deren zwei -erlei316erlei Gattungen, die einen ſind Ausfluͤſſe der Erde und bewohnen alle Luftregionen, ſie ſind volkom - ner als der Menſch; doch nehmen ſie an unſern Schwachheiten und an unſrer Sterblichkeit Theil. Die andern ſind Ausfluͤſſe der Sonne und woh - nen blos im Aether oder in dem Raume der uͤber den Dunſtkreis unſrer Planeten ſich befindet, und ſind weit volkomner als die Sehplis oder die ir - diſchen unſichtbaren Weſen. Die aus der Sonne entſpringen, nennen wir Snizniz*)Man leſe die mit andern Lettern gedruckten Woͤrter iederzeit ruͤckwaͤrts, ſo komt Zinzins, oben Sylphes, weiter unten Gnomes und On - dins heraus. (Dulis.). Wir glau - ben, daß der ganze Aether, das iſt die Raͤume zwiſchen den Planeten und Kometen von dieſen Sniz - niz bewohnt ſind, welche einen weit hoͤhern Grad von Verſtande beſitzen, als die Sehplis, und dieſe einen vorzuͤglichern, als die Menſchen. Es ſcheint daß eure Alten einigen Begrif von die - ſen unſichtbaren Weſen gehabt haben, die Sniz - niz Engel des Lichts oder Kinder der Sonne, die Sehplis aber, Engel der Finſternis oder Kinder der Erde, als eines dunkeln Planeten, genant haben.

Dabei bleiben wir aber noch nicht ſtehn, ſon - dern von der Aehnlichkeit und dem bekanten Zwecke der Natur, alles zu lieben, geleitet, ſtellen wir uns vor, daß auf die naͤmliche Art, wie in den Koͤr -pern317pern der Thiere andre ſchmarozende Thierchen ſich be - finden, es auch in den Eingeweiden der Erde groſſe Geſchoͤpfe gebe, die in einer tiefen Verborgenheit vergraben liegen, wie die Wuͤrmer im menſchli - chen Koͤrper: wir nennen ſie hier Semong und halten ſie fuͤr ſehr eingeſchraͤnkt. Der Wahr - ſcheinlichkeit nach hat die Erde einigemal ſie von ſich zu ſchaffen geſucht; und daher iſt eure Fabel von den Titanen, die unter den Bergen begraben liegen, entſtanden. Endlich ſind wir noch der Meinung, daß es auch in dem Waſſer unſichtbare Weſen ge - ben koͤnne, die wir Snidno nennen. Dieſe ver - ſchiedenen Weſen haben euren Alten ohne Zweifel zu der Behauptung Anlas gegeben, daß alles mit Geiſtern bevoͤlkert, und die unſichtbare Welt un - endlich zahlreicher als die ſichtbare ſei.

Dieſe Erklaͤrungen werden uͤber alle dieſe Mate - rien, die uns hier iedoch gelaͤufig ſind, hinlaͤnglich ſein, damit wird unſere Erziehung angefangen und geendigt. Die Zwiſchenzeit wird von der Moral eingenommen, welche auf die geſunden Be - griffe, die man uns von der Natur der Dinge ge - geben hat, ſich gruͤndet.

Der Grund unſrer ganzen Moral iſt Ordnung. Die moraliſche Ordnung, ſagen wir, muß der phiſiſchen aͤhnlich ſein. Niemand unter uns ent - fernt ſich davon, oder kan ſich davon entfernen. Wir ſind einander alle gleich. Es giebt ein ein - faches, kurzes, deutliches und ſelbſtſprechendesGeſetz,318Geſetz, das auf keinen Menſchen Ruͤckſicht nimt. Dies Geſetz iſt in wenig Worten enthalten:

  • 1. Sei gerecht gegen deinen Bruder; das heißt: fodre nichts von ihm und thue ihm nichts, was du ſelbſt nicht geben oder dir thun laſſen wolteſt.
  • 2. Sei gerecht gegen die Thiere, und betra - ge dich ſo gegen ſie, wie du wuͤnſcheſt, daß ein hoͤheres Geſchoͤpf, als der Menſch, dich behandeln moͤchte.
  • 3. Unter Gleichen ſei alles Gemein.
  • 4. Jedermann arbeite an dem gemeinſchaft - lichen Wohl.
  • 5. Jederman nehme gleichen Antheil daran.

Jn dieſem einzigen Geſetze ſind alle Vorſchrif - ten enthalten. Wir glauben nicht, daß es ein Volk giebt, welches mehrerer beduͤrfte, es muͤſte denn ein tiranniſches oder ſclaviſches Volk ſein: dann ſehe ich im voraus, ungeachtet ich nie ein ſolches Volk geſehn habe, daß es eine Menge Ge - ſetze und Bindemittel haben muß, um der Unge - rechtigkeit, der Ungleichheit und der Tirannei eini - ger Glieder gegen den ganzen Koͤrper einen Schein von Rechtmaͤſſigkeit zu geben. Dieſe ungluͤcklichen Voͤlker glauben dadurch wenigſtens das Gluͤck de - rer unter ihnen zu befoͤrdern, welche die Oberhandbehaup -319behaupten. Sie betruͤgen ſich. Es giebt kein Gluͤck, als in den bruͤderlichen Banden und in den ſuͤßen Gedanken: Niemand beneidet mich: mein Gluͤck koſtet keinen Menſchen etwas, alle mei - ne Bruͤder genieſſen deſſelben in gleicher Maaſſe. Ach wie koͤnnen die vermeinten Gluͤcklichen einer ungleichen Nation, wenn ſie Menſchen ſind, ſich vollfreſſen, indem andern Menſchen das Nothduͤrf - tige fehlt! ſich vergnuͤgen, indem andere leiden! ſich Zeitvertreib machen, indem andere unter der Arbeit erliegen. Wenn ſie gegen dieſes alles un - empfindlich ſein koͤnnen, ſo muͤſſen ſie ein zu har - tes Herz fuͤr den Genus des Vergnuͤgens haben; ſie kennen es nicht, und muͤſſen gar keine Men - ſchenliebe beſitzen; die Empfindung des Mitleids iſt bei ihnen erloſchen. Wir haben in unſrer Nachbarſchaft ſolche ungleiche Voͤlker, naͤmlich die kleinen Menſchen, welche auf der Jnſel O-Taiti und andern kleinen benachbarten Jnſeln wohnen. Seit dieſer ungluͤcklichen Ungleichheit haben dieſe Voͤlker gar keine Sitten mehr; ſie beſchimpfen ihre Weiber, haben elende Geſelſchaften, wo man die Natur mishandelt Aber es wird mir ſchwer euch von ſolchen Abſcheulichkeiten, die ihr eben ſo gut als wir kent, zu unterhalten.

Nein, erwiederte Hermantin; aber wir ſind Willens dieſe Jnſeln zu beſuchen, um uns von allen euren Nachbarn zu unterrichten und ſie ken - nen zu lernen. Jch muß euch noch eine Frage vorlegen. Hier iſt einander alles gleich; es giebtalſo320alſo auch keine Ehrenaͤmter? O ia; unſre Alter: Alle Ehrenſtellen beruhen aufs Alter und ſteigen bis zum letzten Augenblick des Lebens: Sie fangen mit dem Menſchwerden an. Anfangs wollen ſie wenig ſagen, weil der Menſch, deſto weniger Untergebene hat, die ihm Achtung ſchul - dig waͤren; ie iuͤnger er an Jahren iſt. Dieſe Achtung faͤlt niemanden beſchwerlich, er ſei wer er wolle. Mit Freuden erweiſt unſere Jugend viel - mehr den aͤlteſten an Jahren dieienigen Dienſte, deren ſie etwa noͤthig haben, weil ihnen der Grund - ſatz einmal eingepraͤgt iſt: Jhr empfangt als Kinder eures Unvermoͤgens wegen Wartung; euer ruͤhmlichſtes Geſchaͤft ſei es, ſobald ihr erwachſen ſeid, ſie zu erwiedern: oder ihr wuͤrdet aufhoͤren eine Gleichheit mit denen zu behaupten, die euch ſolche erwieſen haben, ſie wuͤrden ein unſrer hei - ligen und koſtbaren Gleichheit widriges Recht uͤber euch erlangen. Man ſieht aber auch bei uns die Kinder nach nichts ſehnlicher trachten, als ſich durch nuͤtzliche Dienſtleiſtungen auszuzeichnen. Nachdem ſie eben ſo lange, als die erſten Jahre ihres Unvermoͤgens dauern, naͤmlich zehn Jahr, alſo gearbeitet haben, ſo zeigt man ihnen das Loos der Alten, die als Beobachter aller Pflichten des Buͤrgers von iederman geehrt, bedient und geachtet werden. Juͤnglinge, ſpricht man zu ihnen, nun muͤßt ihr euch das Verdienſt erwerben, in eurem Alter ſo geehrt und bedient zu werden: man hat euch in eurer Jugend die erſten Dienſtleiſtungen gereicht, nun liegt es euch, in euren reifern Jahren, ob,die321die dem Alter zugeſtandene Ehre darzubringen: denn wenn ihr euch deren Genuß verſprecht, ohne ſie zu verdienen, wenn wollt ihr eure Schuldigkeiten erfuͤllen? Unſre Jugend hat eine richtige Urtheils - kraft, ſicht das vernuͤnftige in dieſen Anordnungen aufs kraͤftigſte ein, und bildet ſein Betragen aufs puͤnktlichſte darnach. Daher entſpringt die Ueber - einſtimmung die ihr bei uns herrſchen ſeht. Alles was iung iſt, arbeitet, beſchaͤftigt ſich und fuͤhrt ohne Befehlshaber ein arbeitſames und nuͤtzliches Leben. Es muß alſo ſein; dies weiß man, und daß am Ziele der Laufbahn Ruhe zu erwarten ſei. Alles gehoͤrt allen: Niemand kan ſich ausſchlus - weiſe etwas zueignen, denn was ſolte er damit machen? Niemand kan muͤſſig und unnuͤtz leben. Weit davon entfernt, wuͤrde es eine grauſame Strafe ſein, iemanden zur Unbrauchbarkeit zu ver - urtheilen. Und wenn ihr noch dazu wiſſen ſoltet, wie dieienigen unter uns, welche bei der Lebhaf - tigkeit ihres Alters, ſchwere Arbeiten verrichten, geachtet und geliebt ſind, beſonders aber von Frau - enzimmern*)Die Stadtlente koͤnnen von dieſer Wahrheit keine Empfindung haben, mit denen die Landleute ſo bekant ſind. Jn meiner Jugend, wo ich unter lauter Leuten gleiches Standes, die alle Arbeits - leute waren, erzogen ward, habe ich das erfah - ren, was der gute Megapatagone hier behauptet. Jch beſtrebte mich nach nichts, als nach Kraͤften zum Arbeiten, weil die Arbeit Ehre bringt, weilman zuvorkommende Gunſtbezeugungen und Gefaͤlligkeiten genieſſen. Sie ſind es die,theilsd. fl. Menſch. X322theils durch die Hofnung des Vergnuͤgens, theils durch den Reiz ihrer Schoͤnheit, uns zum Guten ermuntern.

Aber habt ihr denn auch die Frauenzim - mer bei euch gemeinſchaftlich, weiſer Megapa - tagoner.

Wenn ihr unter dem Worte: gemeinſchaftlich, dieſes verſteht, daß die Vaterſchaft ungewis iſt, und die Weiber ſich auf eine der Fortpflanzung wdrige Art vermiſchen, ſo habt ihr Unrecht. Das menſchliche Geſchoͤpf, welches keine gewiſſe Zeiten zur Brunſt und Begattung wie die Thiere hat, muß ſeine Luſt durch Vernunft maͤſſigen. Wolt ihr aber ſo viel damit ſagen, daß die Wei - ber nicht einem Manne allein auf immer zugehoͤren, ſo ſind die Weiber bei uns allerdings gemeinſchaft - lich; und die Triebfedern, welche ſie der Tugend ſpannen, ſind weit maͤchtiger und minder ge - faͤhrlicher, als alle die niedrigen Leidenſchaften, denen man, wie ich von euch ſelbſt gehoͤrt, und aus euren Buͤchern erſehn habe, bei den Euro - paͤern den Lauf laͤßt, um ſie zur Arbeit zu brin - gen und zu Bearbeitung der Kuͤnſte aufzumuntern. Die*)man denen Gefaͤlligkeiten und Liebkoſungen erweißt, welche die ſchwerſten Arbeiten verrichten: beſonders werden ſie von den iungen Maͤdchen gut aufgenom - men Man darf nicht nach dem Suͤdpol gehn, um dieſe Wahrheit zu ſuchen; ſie iſt auch in Frankreich zu finden, (Dulis.)323Die Wahl der Weiber geht bei uns alle Jahr vor ſich, welches nicht ſo viel ſagen will, daß die Weiber ſich alle Jahr verheiratheten; dies geſchieht nur alle zwei Jahr, weil ſie ſelbſt ſtillen. Zu dieſer Wahl bereitet man ſich einen Monat lang durch gaͤnzliche Enthaltſamkeit vor, theils um die Kraͤfte wieder zu erſetzen, theils um den Geſchmack an Vergnuͤgen von neuem zu bele - ben. Ueberdies traͤgt dieſe Enthaltſamkeit viel zur Zeugung kraftvoller Kinder bei. Wenn der Tag der Wahl erſcheint, ſtellen ſich alle Maͤnner und Weiber, ſchwangere und ſtillende, einer ie - den Kolonie in zwei gleiche Reihen einander gegen uͤber. Jſt man mit der gegenuͤberſtehenden Perſon nicht zufrieden, ſo wechſelt man und durchlaͤuft die Reihe von einem Ende bis zum andern, ſo lange bis man etwas anſtaͤndiges findet, und ſich alles gepaart hat. Drauf feuert man ein algemeines Feſt, das ſchon vorher veranſtaltet worden iſt, und ungefaͤhr einen Monat lang dauert. Es iſt etwas ſeltnes, wenn dieienigen Weiber, die noch ſchwanger werden ſollen, es nicht alle in dieſem erſten Monate des Vergnuͤgens werden: auch ha - ben wir zur Zeit der Wahl ſehr wenig ſchwangere Weiber und zwar unter fuͤnf hundert kaum eine. Alle kommen in der Zeit gewoͤhnlich aus dem Wo - chenbette. Es iſt den Gatten erlaubt einander wieder zu waͤhlen. Am Ende der Reihe ſtelt man iaͤhrlich dieienigen Junglinge und Maͤdchen, welche ſich zum erſtenmale verbinden, aber ſie ha - ben nicht die Wahlfreiheit, wie die ſchon verhei -X 2rathe -324ratheten Perſonen. Das Verdienſt giebt das Recht, das ſchoͤnſte Maͤdchen zu heirathen. Man iſt eben nicht darum beſorgt, der Neigung zu fol - gen, weil dieſe Ehen zu kurz ſind, als daß ſie die Verheiratheten ungluͤcklich machen koͤnten. Wann indes vor der Volziehung, oder an dem Tage ſelbſt der iunge Mann und das iunge Maͤdchen die Schei - dung verlangen, ſo giebt man ihnen dieſe Erlaub - niß iedoch mit der Einſchraͤnkung, daß ſie bis aufs kuͤnftige Jahr warten muͤſſen, ehe ſie ſich wieder verheirathen. Dieſe Eheſcheidung faͤlt faſt nie vor; weil allen nach dem Genus luͤſtet, und die dadurch erworbene Freiheit kuͤnftig nach Geſchmack zu waͤhlen, ihnen eine hinlaͤng - liche Entſchaͤdigung ſcheint. Ein Ehebruch waͤhrend der iaͤhrlichen Verbindung iſt bei uns gaͤnzlich unbekant und kein Beiſpiel davon vor - handen. Unſere Vorfahren hatten die Veranſtal - tung getroffen, daß die Weiber ausdruͤcklich ge - meinſchaftlich ſein, und die Kinder keinem andern bekanten Vater als den Staat, und keine andre Mutter als das Vaterland haben ſolten; man hat aber gefunden, daß die Empfindung der Vater - ſchaft zu ſuͤß iſt, als ſich ſolcher zu berauben. Uebrigens iſt das Betragen der Vaͤter gegen die Kinder und dieſer gegen die Eltern beinah eben ſo, als wenn ſie einander unbekant waren. Alle Kin - der gehoͤren der Nation: Vater und Mutter er - halten nur einige beſondere Zaͤrtlichkeiten mehr: die iungen Leute bedienen alles ohn Unterſchied, was aͤlter, als ſie iſt, bis auf funfzig Jahr: indie -325dieſem Alter faͤngt der Mann an; und man wird ſo bedient, wie man andern aufgewartet hat. Mit hundert Jahren gehoͤrt man unter die Alten; es giebt aber hier Alte von 150 Jahren, die noch munter und aufgereimt ſind. Jezt haben wir ſogar drei von 200 Jahren. Man kan ſich in iedem Alter des Lebens verheirathen. Da wir weniger Juͤnglinge als Maͤdchen haben, ſo giebt man die uͤbrigen Maͤdchen denen Maͤnnern, deren Weiber ſtillen. Aus der Urſach habe ich geſagt, daß die Maͤnner ſich alle Jahr verheiratheten, die Weiber aber nur alle zwei Jahr; welches ohne unſere uͤberzaͤhligen Maͤdchen unmoͤglich waͤre.

Alle nicht verheirathete Weiber, ſie moͤgen ſchwan - ger ſein oder ſtillen, leben waͤhrend der ganzen Zeit des Stillens bis zum Entwoͤhnen in einer beque - men Wohnung von den uͤbrigen Buͤrgern abgeſon - dert. Dann werden die Kindern denen Erziehern uͤbergeben, welche man aus den ſanfteſten, arbeit - ſamſten, verdienſtvolſten, mit einem Worte aus den zu dieſer erhabenen Beſtimmung geſchickteſten Perſonen beiderlei Geſchlechts waͤhlt, weil es un - ter allen Ehrenſtellen unſrer Republik, die geehr - teſte iſt. Man muß ſeine Schuldigkeit iederzeit aufs genauſte erfuͤlt haben, um dazu zu gelangen. Die - ſe Erzieher der Jugend ſind in ſolchem Anſehn und Achtung wie unſere Prieſter ſelbſt; ihre Perſon iſt naͤmlich gaͤnzlich heilig. Zwar iſt ieder einzelne Menſch bei uns heilig; aber die Erzieher ſind es auf eine beſondere und vorzuͤgliche Art. Sie ge -X 3nieſſen326nieſſen eben ſo viel Ehrerbietung als ein Alter von zweihundert Jahren, und haben neben dieſen bei Feierlichkeiten den erſten Platz. Jederman iſt ver - bunden, ihnen zu gehorchen und zu dienen. Doch iſt dies Geſetz nicht beſchwerlich. Das heilige Geſchaͤft, welches ihnen obliegt, macht ſie werth, und iedermann draͤngt ſich, ihnen mit Gefaͤllig - keiten zuvorzukommen; denn dieienigen Dienſte, welche man ihnen leiſtet, werden in ihnen den Kindern, dieſer theuren Hofnung der Nation, er - wieſen.

Zaͤhlt man die iungen Leute gleich nicht eher als mit funfzig Jahren unter die Maͤnner, ſo zeichnet man ſie doch, ſobald die Manbarkeit durch Bart und Stimme ſich zeigt, in das Regiſter de - rer bei der naͤchſten Wahl zu verheirathenden auf. Die Maͤdchen ſind im fuͤnf und zwanzigſten Jahre manbar. Da ſie alſo gedoppelt zu den Juͤnglingen ſich verhalten, ſo iſt dies eine Urſach mit, daß wir deren fuͤr Maͤnner uͤbrig haben, deren Wei - ber, durch beſondere Umſtaͤnde zur Liebe untaug - lich ſind.

Nach unſern Grundſaͤtzen betrachten wir die Weiber als das andre Geſchlecht, ſie ſind folglich untergeordnet, aber nicht wie bei den benachbar - ten Voͤlkern auf den Jnſeln von O-Taiti, des Marquiſes, des Hebrides, des Amis, de la Societé, d Amſterdam u. ſ. w. wo ſie als nie - drige Sklavinnen behandelt und die Muͤtter vonihren327ihren Kindern oft gepruͤgelt werden, ſondern nur in ſo ferne, daß ſie den zweiten Rang behaupten. Jede Frau iſt daher dem Manne, er ſei wer er wolle, Achtung ſchuldig*)Was wuͤrde hier der galante Abt *** ſagen, der den fuͤrtreflichen Vorſchlag der Gynographen ſo hart herum genommen hat? Doch hat er vielleicht auch ſeine Gruͤnde gehabt. (Joly.). Jeder Mann, er ſei wer er wolle, muß aber auch fuͤr den Schutz und Beiſtand der Frau ſorgen. Wenn man das Be - tragen unſrer Maͤnner ſieht, ſo ſolte man unſre Nation fuͤr die artigſte auf dem ganzen Erdboden halten, aber ſie iſt nicht galant, ſondern nur ver - nuͤnftig, iederman bedient hier die Weiber, die Kinder und die Alten.

Noch habt ihr mir nichts von eurer Reli - gion geſagt, mein Herr.

Um Verzeihung, aus dem Begriffe, den ich euch von dem erſten Urheber gegeben habe, habt ihr abnehmen koͤnnen, wie unſre Religion be - ſchaffen ſein muͤſſe.

Aber worin beſteht euer Gottesdienſt?

Jn einem einzigen Stuͤcke; Jm Gebrauch unſrer Organe, auf eine den Winken der Natur angemeſſene Art: nichts zu uͤbertreiben, nichts zu vernachlaͤſſigen.

Jhr habt alſo keine Tempel?

X 4 Wohl328

Wohl (auf die Erde zeigend) hier iſt er: Viermal im Jahre, bei den Sonnenſtillſtaͤnden und Tag - und Nachtgleichen verſamlen vier alge - meine Feſte die Nation; und der beiahrteſte unter den Alten bringt unſere Ehrfurcht erſt der Mutter - erde alsdann dem Vaterſonne dar. Drauf rich - tet man ein gemeinſchaftliches Gebet an beide, um unſre fromme Ehrfurcht dem hoͤchſten Weſen dar - zubringen. Dieſe drei Formeln lauten alſo:

  • 1. O Erde, gemeinſchaftliche Mutter, maͤch - tige Tochter der praͤchtigen Sonne, wir, deine Kinder, haben uns verſamlet, um dir unſre kindliche Ehrfurcht darzubringen. O heilige Erde, gemeinſchaftliche Mutter, ernaͤhre uns!
  • 2. Praͤchtige Sonne, Vater des Verſtandes, des Lichts und der Waͤrme, der Bewegung und des Lebens, Sohn Gottes, Vater und Gatte der Erde, unſrer Mutter, wie die Kinder deiner erhabnen und ehrwuͤrdi - gen Tochter, Gattin der Erde, wir ſind verſamlet, um dir unſre kindliche und ehr - furchtsvolle Gehorſamsbezeigung zu bringen. O heilige Sonne belebe uns!
  • 3. Fruchtbare Erde! Zeugende Sonne, Kin - der des groſſen Gottes, der euch Daſein, Verſtand und Zeugungskraft gegeben hat, um den Ueberflus eures Lebens den Menſchen, Thieren und Pflanzen mittzutheilen, erhabeneund329und maͤchtige Gottheiten, bringt unſere Ehrfurcht mit der eurigen vereinigt eurem goͤttlichen Vater dar, damit er uns in und durch euch ſegne. Eh - re ſei der Muttererde! Ehre dem Vaterſonne! Tiefe Anbetung dem hoͤchſten Weſen, dem allmaͤch - tigen allumfaſſenden Vater des Ganzen.

Die Ration wiederhohlt die letzten Worte: Ehre der Muttererde ꝛc. Welch zaͤrtliches Gefuͤhl haben nicht dieſe heiligen Worte in dem Munde unſers zweihundert und zwanzigiaͤhrigen Alten un - terſtuͤtzt von zwei andern, einem von zweihundert und neunzehn, dem andern von zweihundert und zehn Jahren; hervorgebracht! Drauf folgen Feierlichkeiten, Spiele, Taͤnze und Vergnuͤgungen aller Art; denn wir nehmen den Grundſatz an, daß Freudigkeit die wuͤrkſamſte Art ſei, die Gott - heit, die Sonne, unſern Vater, und die Erde, unſre gemeinſchaftliche Mutter, zu ehren.

Dies gaͤbe mir eine Gelegenheit von unſrer taͤglichen Lebensart zu reden, bei welcher die Ver - gnuͤgungen einen weſentlichen Theil ausmachen; aber gewiſſe Pflichten, von denen ich mich nicht los machen kan, rufen mich ab. Ueberhaupt ge - hoͤrt es fuͤr meinen Sohn in Erklaͤrung unſrer Ge - braͤuche meine Stelle zu uͤbernehmen.

Drauf nahm der weiſe Teugnil, ſtatt ſeines Vaters das Wort:

Wenn iedermann arbeitet, ſprach er, iſt es keine Beſchwerlichkeit, ſondern die Arbeit wirdX 5ein330ein bloſſes Vergnuͤgen; weil dasienige, was iedem zu thun obliegt, nicht bis zur Anſtrengung geht, es er - haͤlt blos die Glieder in Bewegung und Biegſamkeit, und traͤgt mehr zur Entwickelung des Verſtandes bei, als es ihm ſchadet. Bei euch Europaͤern im Gegentheil, wo die Ungleichheit herrſcht, muß iedermann ungluͤcklich ſein; einige wegen uͤberhaͤufter Arbeit, andere aus Mangel an Beſchaͤftigung. Jedermann muß aͤuſſerſt unvernuͤnftig ſein; die Ar - beiter machen ihren Verſtand durch Arbeit ſtumpf; bei den Muͤſſiggaͤngern wird er durch naͤrriſche Lei - denſchaften betaͤubt oder uͤberſpant: ſie koͤnnen an nichts als Abgeſchmacktheiten und Ausſchweifungen denken. Wenn man ia noch Leute von gemeinem Verſtande unter ihnen findet, ſo iſt es unter dem Mittelſtande. Aber auch da ſind ſie ſelten, ent - weder der boͤſen Beiſpiele wegen, oder weil ſie auf eine zu heftige Arbeitſamkeit oder auf den Muͤſſigang verfallen. Habe ich recht geurtheilt?

Sehr richtig, erlauchter Megapatagone, antwortete Hermantin.

Hier entwickeln ſich die Faͤhigkeiten eines ieden in gehoͤrigem Verhaͤltnis: bei uns werdet ihr keine ſolchen Weſen finden, die das nicht verſtehn, was andere mit leichter Muͤhe begreifen: Giebt es gleich auch maͤchtige Genies unter uns, die weiter ſehen, als andere: ſo beſteht ihr Vorzug doch blos in der Erfindungskraft, auch werden ſie, ſelbſt in den abgezogenſten Gegenſtaͤnden, leicht ver - ſtanden.

Die331

Die Anwendung unſrer Tage habt ihr geſehn. Sie gleichen alle dem bei eurer hieſigen Ankunft. Der Tag wird naͤmlich in zwei gleiche Theile ge - theilt: in zwoͤlf Stunden Schlaf oder gaͤnzliche Ruhe, und in zwoͤlf Stunden Beſchaͤftigung. Un - ter den zwoͤlf Ruheſtunden begreift man auch die - ienige Zeit, welche die Mansperſonen der Liebe, den Schoͤnen und den haͤußlichen Geſchaͤften im Schooſſe ihrer Familie widmen. Die uͤbrigen zwoͤlf Stunden gehoͤren dem gemeinen Weſen: ſie fangen um ſechs Uhr des Morgens mit dem Tage an, und hoͤren mit ihm um ſechs Uhr des Abends auf. Die Geſchaͤfte werden durch den Alt-Syn - dikus eines ieden Viertels der Kolonie nach dem Maas der Kraͤfte und Faͤhigkeiten unter alle Buͤr - ger gleich vertheilt. Jede Kolonie enthaͤlt hun - dert Familien und iedes Viertel fuͤnf und zwanzig; an deren Spitze der beiahrteſte unter den Alten ſteht, den man den Viertelsmeiſter nent. Wenn derſelbe fehlt, vertritt der folgende ſeine Stelle. Dieienigen Alten, welche das hundert und funfzig - ſte Jahr erreicht haben, arbeiten nicht mehr, ſon - dern befehlen: Kinder unter zwanzig Jahren, ar - beiten noch gar nicht. Ein Alter uͤbt ſie in den Erhohlungsſtunden ſpielweiſe in verſchiedenen Din - gen. Jn den Arbeitsſtunden lernen ſie leſen, ſchreiben, die benachbarten Sprachen, die wah - ren Grundſaͤtze der Mutterſprache; dann die Mo - ral, Geſchichte und Naturlehre.

Wenn332

Wenn iederman ſeine Arbeit von dem Alt-Syn - dikus erhalten hat, ſo wird dieſelbe ſorgfaͤltig, ohne Uebereilung, und mit aller moͤglichen Ge - ſchicklichkeit verrichtet. Dieſe Arbeit dauert vier Stunden, worauf man ſich in einen gemeinſchaft - lichen der ganzen Kolonie gehoͤrigen Saal verſam - let, um die Mahlzeit zu ſich zu nehmen, welche von einigen Mitbuͤrgern, waͤhrend der vierſtuͤndi - gen Arbeit, iſt zubereitet worden. Nach dem Eſ - ſen genuͤßt man die in dieſen heiſſen Laͤndern noͤthi - ge Ruhe, der Schlaf dauert anderthalb Stunden. dann uͤberlaͤßt man ſich verſchiedenen Arten von Zeit - vertreiben bis zum Abendeſſen, nach deſſen Endi - gung ſich ein ieder mit ſeiner Frau und Kindern nach Hauſe begiebt.

Man iſt nicht gebunden, immer die naͤmliche Arbeit vorzunehmen. Dieienigen, welche wechſeln wollen, finden bei dem Alt-Syndikus nicht das mindeſte Hindernis. Man ermahnt ſogar die Buͤrger dazu: und nur die, welche es ausdruͤck - lich verlangen, arbeiten immer einerlei.

Die Mannsperſonen bekommen alle auswaͤrtigen harten Arbeiten, die Weiber aber die innern haͤußlichen, wenn es keine Verrichtungen ſind, die Kraͤfte verlan - gen, und wobei es auf die Bearbeitung der Me - talle, des Kupfers, der Platina, der Steine und des Holzes ankoͤmt. Alle Handwerker, die mit der Nadel arbeiten, werden blos von Frauen - zimmern getrieben, das Schumacherhandwerk aus -genom -333genommen; weil wir ſehr dafuͤr ſorgen, daß ſie nichts, was ihrer Reinlichkeit ſchaden und ihnen etwas widriges mittheilen koͤnte, vornehmen: die Weiber ſind folgſam und ehrerbietig gegen die Maͤn - ner, und ſtehen als die Bewahrer der kuͤnftigen Geſchlechter bei dieſen in Achtung und Anſehn: und warum ſolte auch iemand eine Frau ſchlecht be - handlen oder verfuͤhren wollen, die einſt die ſeini - ge werden kan.

Unſere Vergnuͤgungen beſtehen in Spielen, wel - che den Koͤrper in Bewegung erhalten, ohne zu ermuͤden, und mehr Geſchicklichkeit, als Kraͤfte verlangen. Blos der Ruhm kan in einem Lande wie das unſrige die Belohnung des Siegers ſein. Die Frauenzimmer machen ſich mit Tanzen einen Zeitvertreib, das ihnen einen beſſern Anſtand giebt, oder mit kuͤnſtlichen Spielen, die ebenfals den Entzweck haben, ihre Bewegungen leichter und angenehmer zu machen. Auch beſchaͤftigen ſie ſich mit Erfindungen und Verſuchen verſchjedener Arten von Putz und ſuchen ihre ſanften und biegſamen Stimmen dem maͤnlichen Geſange der Mannsper - ſonen, oder denen Jnſtrumenten, welche die letztern ſpielen, anzupaſſen. Ueber dies haben ſie eine Art von Spiel, das ihnen vorzuͤglich gefaͤlt; ſie uͤben ſich naͤmlich unter einander darin, welche die ar - tigſten Mienen, das verfuͤhreriſchſte Laͤcheln anneh - men, oder die wuͤrkſamſten Mittel ausfuͤndig ma - chen kan, den Maͤnnern in allen moͤglichen Um - ſtaͤnden zu gefallen. Man praͤgt ihnen von Kind -heit334heit an ein, daß ſie fuͤr die Maͤnner, ſo wie die - ſe fuͤrs Vaterland geſchaffen ſind. Die Arbeit iſt bei uns daher faſt nur ein Spiel, und die Spie - le dienen zum Unterricht. Alle Tage giebt es Gaſtmaͤler, aber nicht wie bei den Europaͤern, wenn ſie unſere Gewohnheiten annehmen; denn da wuͤrde gewis ein Theil des menſchlichen Geſchlechts mit Muͤſſiggehn ſich vergnuͤgen, waͤhrend der an - dere arbeitete ohne ſich zu erluſtigen*)Wie in Sparta, das Plutarch und Rouſſeau ſo unverdienterweiſe loben. (Dulis.).

Habt ihr Schauſpiele und dramatiſche Vorſtellungen, erlauchter Megapatagoner, fragte Hermantin?

Dieſe Arten von Vergnuͤgungen ſind bloſ - ſe Kleinigkeiten einer Nation von Kindern oder der Kindheit wuͤrdig, antwortete der weiſe Teugnil. Wir verlangen lauter gruͤndliche Sachen und haben nicht mehr Zeit uͤbrig als der Genuß wahrer Vergnuͤgen erfodert, ohne noch gekuͤnſtelte zu ſchmieden.

Habt ihr alſo auch keine ſchoͤnen Kuͤnſte als: Mahlerei, Bildhauerei, Muſik, Dichtkunſt?

Wir verachten die Mahlerei. Unſere Gemaͤlde ſind unſere ſchoͤnen Maͤnner, unſere ſchoͤnen Weiber, die wir alle Tage ſehn. Wenn das ganze Menſchengeſchlecht vernichtet und nur noch ein Einziger uͤbrig, unddazu335dazu verdamt waͤre, beſtaͤndig allein auf der Er - de zu leben, dann wuͤrden wir ihn fuͤr entſchul - digt halten, wenn er ſich auf die Kuͤnſte der Mah - lerei und Bildhauerei legte, um in ſeiner Ein - ſamkeit ſich durch ein truͤgendes Bild zu taͤuſchen. Vielleicht koͤnten wir auch alsdann, wenn wir eu - re Lebensart fuͤhrten, und Jahre lang unſer Va - terland verlieſſen und herumreiſten, wuͤnſchen, un - ſere geliebten Gegenſtaͤnde gemahlt zu ſehn. Aber bei unſrer Einrichtung wuͤrde die Mahlerei und Bild - hauerei ein bloſſes Kinderſpiel ſein. Wir ſchaͤtzen die noͤthigen Handwerker weit hoͤher, als dieſe unnuͤtzen Kuͤnſte. Doch haben wir etliche Maler, deren geringe Anzahl darzu gebraucht wird, die ſchoͤnen Handlungen unſrer tugendhafteſten Buͤrger aufzuzeichnen: und dieſe Gemaͤlde ſind dazu beſtimt, die Wohnungen der Alten, welche ſie verrichtet haben, zu zieren. Was die Muſik betrift, ſo ha - be ich euch geſagt, daß wir ſolche haben. Es iſt einer von den Reitzen des Lebens die vervolkom - ten Toͤne der menſchlichen Stimme zu hoͤren, auch um die groſſen Maͤnner, ihre Vergnuͤgungen und Liebesgeſchichten zu beſingen. Die Dicht - kunſt iſt die Schweſter der Muſik, und beſteht in einer weit beſeeltern und harmoniſchern Art, die Dinge zu ſagen: wir brauchen ſie aber nur bei luſtigen Gegenſtaͤnden: bei traurigen Dingen iſt ſie laͤcherlich, ſchaͤdlich in unterrichtenden Vorwuͤrfen: mit einem Worte, wir haben nicht mehr, als drei Arten von poetiſchen Stuͤcken, dieienigen, wor - inn die Handlungen der ausgezeichneteſten Maͤnnerals336als Wohlthaͤter der Menſchheit, von denen man nicht anders als mit Begeiſterung ſprechen kan, beſungen werden; die welche wir Oden nen - nen, und die Geſaͤnge: Es iſt verboten, an - dere Werke des Geiſtes in Verſen zu verfaſſen.

Jhr habt Tanz?

Wie geſagt, wir treiben ihn ſo wie die Muſik, deren Schweſter er auch iſt; unſere Taͤn - ze haben ſogar etwas dramatiſches, aber nicht ſo - wohl in der Abſicht, um Handlungen nachzuah - men, als um Anſtand zu geben, weil dieſer ei - nen weſentlichen Theil unſrer Erziehung, beſonders beim Frauenzimmer ausmacht: darin beſteht unſer Luxus, wie es ſich fuͤr eine gluͤckliche und freie Nation ſchickt.

Jhr erfuͤlt mich mit Bewunderung, er - lauchter Sterblicher, und iedes eurer Worte, iſt fuͤr mich ein Strahl des Lichts. Die Patagonen, deren Verwandte wir von muͤtterlicher Seite zu ſein die Ehre haben, hatten Recht, uns eure Klug - heit zu ruͤhmen. Jch verſichere euch, daß wir, bei der Zuruͤckkunft in unſer Vaterland, alle eure Gebraͤuche einfuͤhren wollen. Alſo habt ihr und koͤnt ihr keine andre als angenehme und zum Wohl der Menſchen abzielende Kuͤnſte haben: ſind bei euch weder Prozeſſe, noch Richter, noch Straf - geſetze, noch Verbrechen.

Alle dieſe Vorzuͤge ſind wir der Gleichheit ſchuldig: nehmt dies himmliche Geſchenk, welchesdie337die Natur bereitet, die Menſchen der noͤrdlichen Gegenden aber verſtoſſen haben, weg, ſo werden bald alle Laſter bei uns, ſo wie auf der andern Halbkugel, einreiſſen.

Habt ihr Aerzte?

Nein! ihre gefaͤhrliche, auf bloſſe Ver - muthungen gegruͤndete Miſſenſchaft iſt, wie Ma - gie und Aberglaube, bei uns verbant. Aerzte koͤn - nen nur bei laſterhaften Nationen Statt finden, welche noͤthig haben, in ihren Ausſchweifungen eingeſchlaͤfert zu werden; Aber der Wundarzt iſt geehrt und wir haben ihm einen Namen gegeben, welcher alle die Achtung ausdruͤckt, die wir die - ſer goͤttlichen Wiſſenſchaft erzeigen; wir nennen ihn Ruesefer-Taâna, Ausbeſſerer der Menſchen, Moé-Eſſahr*)Dieſe Woͤrter ſind aus denen beiden unter den Megapatagonen uͤblichen Sprachen zuſammenge - ſetzt., Tod-Veriager. Nichts iſt bei uns geehrt, was ſich nicht durch Zuverlaͤſſig - keit und Nutzen empfiehlt.

Unterrichtet mich doch, Sohn des weiſeſten und ehrwuͤrdigſten Alten, von euren Begriffen von den Grundſaͤtzen der Moral? Dieſe ſind ſehr ein - fach: alle unangenehmen Empfindungen zu ver - meiden; alles was rechtmaͤſſig gefaͤlt zu vereini - gen, ohne die Organe zu erſchlaffen und kraftlosd. fl. Menſch. Yzu338zu machen*)Dies iſt auch die Moral des J. J. Rouſſeau. Aber ſie findet, wie mein Freund, im zweiten Theile der Zeitgenoſſinnen in einer Note erinnert hat, nur bei Voͤlkern wo die Gleichheit eingefuͤhrt iſt, ſtatt. (Joly.). Unſern Grundſaͤtzen nach, beſteht der einzige Entzweck der Geſellſchaft darin, denen Menſchen ein angenehmeres Leben unter einander zu verſchaffen. Haltet uns mit dieſen Grundſaͤtzen aber nicht fuͤr weibiſch. Die Arbeit, der wir alle unterworfen ſind, macht unſern Verſtand nicht ſtumpf, ſon - dern ſtaͤrkt uns: Unſre Spiele zielen dahin ab, unſre Glieder gefuͤgig zu machen, und der Unem - pfindſamkeit der Wilden vorzubeugen. Wir ſtellen ſogar Kriegsuͤbungen an, weil wir angegriffen werden koͤnnen; beſonders ſuchen wir die Seelen unſrer iungen Leute uͤber die Furcht vor dem Tod zu erheben. Aus der Urſach haben wir ihnen feſt eingepraͤgt, daß alle Weſen bei ihrem Ausgange aus der Sonne oder der Erde, um dem Anſchein nach beſondere vor ſich beſtehende Einheiten zu bilden, doch nicht abgeſondert ſind, ſondern beſtaͤndig mit ihnen in Verbindung bleiben, und daß der Tod blos ihren Platz veraͤndert, um ihnen anderswo ein Daſein zu verſchaffen. Zwar behalten wir nicht das Andenken der vorigen Veraͤnderungen: Dies iſt unmoͤglich, weil die Organen unſres Ge - daͤchtniſſes aufgeloͤßt worden ſind, aber was thut das? Genug, daß wir unſer ietziges Daſein em - pfinden, und den Zuſammenhang deſſelben durchdas339das Gedaͤchtnis und die Vorherſehungskraft uͤber - ſchauen koͤnnen. Dies iſt hinlaͤnglich, uns ange - nehm zu beſchaͤftigen. Das Andenken von beinah un - zaͤhlichen Vergangenheiten wuͤrde unſer Gehirn nur verwirren: es wuͤrde daſſelbe zu ſehr anhaͤufen, und unſere Aufmerkſamkeit auf die gegenwaͤrtigen Dinge ſchwaͤchen. Dies Andenken wuͤrde die Kin - der toͤdten, indem es ſie zu klug machte: es wuͤrde den Haß und die Zwiſtigkeiten bei laſterhaften Voͤl - kern ins unendliche fortſetzen ꝛc. Die weiſe Na - tur hat es nicht haben wollen. Aber die Aehn - lichkeit zeigt, daß wir nichts, als eine Aufloͤſung leiden, und dieſe iſt noͤthig; die Pflanzen loͤſen ſich auf und kommen wieder hervor. Jedes Thier ſchoͤpft ſein Leben aus den naͤmlichen Quellen. Es iſt der naͤmliche Verſtand und die naͤmliche Mate - rie, woraus ſie beſtehen. Es iſt daher ewig, wie ſein Anfang. Er iſt es, trotz des Todes der Planeten und der Sonnen; weil der Tod dieſer groſſen Weſen eben ſo wenig eine Vernichtung iſt, als der unſrige und der Planeten. Dies ſind die Grundſaͤtze, die wir unſrer Jugend einpraͤgen. Sie iſt ſo fuͤr das gemeine Wohl eingenommen, daß ſie freudig ihr Leben in der Zuverſicht hinge - ben wuͤrde, bald nach Aufloͤſung des Koͤrpers ihr Daſein wieder zu erlangen, und ſolchergeſtalt ewig dies ſchoͤne Land zu bewohnen. Mit der groͤſten Aufmerkſamkeit ſuchen wir die baldige Auf - loͤſung der todten Koͤrper zu befoͤrdern, und wir ſehen die geſchwindeſte auch fuͤr die gottesfuͤrchtigſte an, wir verbrennen ſie. Die Beerdigung iſt dieY 2zweite340zweite Art, ſie verzoͤgert aber die Aufloͤſung laͤn - ger: ſie zur Erhaltung einbalſamiren, iſt eine Gottloſigkeit. Wenn wir Verbrecher haͤtten, ſo wuͤrde das Einbalſamiren der groͤſte Schandflerk ſein, den man ihnen anthun koͤnte.

Dieſe Denkungsart iſt der Europaͤiſchen ganz entgegen ſprach Hermantin: aber ſie ſcheint mir weit kluͤger.

Unſere Jugend fuͤrchtet den Tod daher nicht im geringſten und wuͤrde fuͤrtrefliche Solda - ten abgeben, wenn wir von den ehrfuͤchtigen Eu - nopaͤern ie ſolten angegriffen werden. Endlich er - weiſen wir den Verſtorbenen groſſe Ehre und ihre Namen werden lange aufbehalten, man wiederholt ſie von Alter zu Alter in ieder Familie nebſt einer oder zwei ihrer ſchoͤnſten und merkwuͤrdigſten Handlungen. Aber ich kehr wieder auf eure Frage wegen unſrer Moral zuruͤck; ſie beſteht blos in der Wahl der Mittel, auf dem kuͤrzeſten und den wenigſten Hin - derniſſen ausgeſetzten Wege zur Gluͤckſeligkeit zu ge - langen: und da eine ungezaͤhmte Wolluſt groſſe Unbequemlichkeiten haben wuͤrde, ſo koͤnt ihr leicht erachten, daß wir dieſen Weg nicht einſchlagen. Wir wiſſen, daß die Entbehrung das Vergnuͤgen ſchmackhafter macht, und ſo zu ſagen einen Hun - ger darnach erweckt; daher haben wir Zeiten, wo wir derſelben entbehren. Auch iſt bei unſerm Ge - nuß Maas und Ziel geſetzt: wir treiben ſie nie biszur341zur gaͤnzlichen Saͤttigung. Was unſrer guten Mo - ral noch mehr Staͤrke giebt, macht, daß ſie nicht, wie, eurer Verſicherung nach, bei den Europaͤ - ern, der Wilkuͤhr einzelner Perſonen uͤberlaſſen iſt. Bei unſrer Gleichheit, unſrer Gemeinſchaft iſt der Gang unſrer Sittenlehre einfoͤrmig und oͤffentlich: wir uͤben die Tugend alle zuſammen aus: wir weiſen das Laſter gemeinſchaftlich ab; der Muͤſſig - gang, die Unbrauchbarkeit, die Ausſchweifungen in Lebensmitteln oder die Unmaͤſſigkeit, alles dies wird bei uns unmoͤglich. Niemand kann ſich in einer oͤffentlichen Verſamlung ſeiner Mitbuͤrger uͤber - freſſen: man genuͤßt blos das Nothduͤrftige. Dieſe gluͤckliche Gewohnheit hat unter uns faſt alle Freſſer und Leckermaͤuler ausgerottet, die man auf den Jnſeln dieſer Halbkugel an ihrem ſchwarzbraunen Munde und Geſichtsfarbe erkent. Niemand wird Aus - ſchweifungen mit ſeiner Frau begehn: ein Bruder in der Mitte ſeiner Bruͤder, die ihre aufhabenden Geſchaͤfte verrichten, wird die ſeinigen nicht hin - tenanſetzen; er wird in einem Lande nicht muͤſſig herumſtreichen, wo ieder Menſch zu einer Zeit be - ſchaͤftigt iſt: folglich ſind unſere Sitten auf im - mer geſichert; daher haben ſie auch ſanfter einge - richtet werden muͤſſen. Aus unſern Geſchaͤften und unſern Vergnuͤgungen ſeht ihr, daß ſie nicht anders eingerichtet werden koͤnnen. Jch wie - derhole es noch einmal, Gleichheit ſchneidet allen Laſtern die Wurzel ab: keine Raͤuber, keine Moͤr - der, keine Tagediebe, keine Verfuͤhrer. Da bei einem gleichen Volke die Spoͤtterei leicht Misbraͤu -Y 3che342che veranlaſſen koͤnte, ſo iſt ſie verboten*)Das Ridiculum acri des Horaz iſt eine Narrheit: aber unſere ietzige Perſiflage, der Ton in unſern Geſelſchaften, unſrer Kritiken, das Anſehn welches unſre Portraitmaler den Koͤpfen geben, iſt noch ſchlimmer als Narrheit. (Dulis.). Al - le Megapatagonen muͤſſen dies elende Mittel ihren Geiſt zu zeigen ablegen. Unter uns herrſcht ein Ton von Guͤte und Ehrlichkeit. Beſonders iſt die Wahrheit ſo heilig bei uns, daß man ſich nicht den geringſten Scherz zum Nachtheil derſelben er - laubt, wenn man ſchon die Abſicht dabei haͤtte, iemanden nachher angenehm zu uͤberraſchen: So wie die Sache iſt, geht ſie aus unſerm Munde, wenn etwas nicht iſt, ſo halten wir die laͤcherliche Mas - ke der Fabel und der Allegorie unwuͤrdig fuͤr den aͤlteſten Sohn der Natur: wir uͤberlaſſen ſie denen einer ſolchen Beurtheilung faͤhigen Affen, der - gleichen ihr bemerkt habt. Dies iſt eine von den Gruͤnden, warum die Luſtſpiele und alle Dramen bei uns verbant ſind. Dieſe Dinge ſchicken ſich wohl fuͤr die Bewohner der Affeninſel, und fuͤr die unbeſtaͤndigen Europaͤer.

Habt ihr Leute, die von der Schriftſtel - lerei Profeſſion machen?

Wir haben gelehrte Leute, Weltweiſe, die ihre Nebenſtunden dazu anwenden, beluſtigende und lehrreiche Geſchichten zu ſchreiben, die unteruns343uns oder den benachbarten Nationen ſich zugetra - gen haben. Das Leſen dieſer Werke macht einen Theil der oͤffentlichen Vergnuͤgungen aus. Die Verfertiger derſelben ſind als die Ruesefer-Taâna des Geiſtes geehrt, das iſt, ſie ſtehn in auſſer - ordentlichem Anſehn; aber ſie verrichten wie alle andere vier Stunden des Tages ihre Arbeit, und noch keiner hat ſich davon loszumachen geſucht; ſie ſind vielmehr die eifrigſten und beſten Buͤrger. Da man die Namen brauchbarer Maͤnner erwaͤhnen muß, um ihnen dadurch die verdiente Ehrerbietung zu be - zeigen, ſo will ich euch einen kurzen Begrif von unſern vorzuͤglichſten Schriftſtellern geben. Der erſte und einer der fleiſſigſten iſt der groſſe Se - liof-Taâna, der Verfaſſer eines epiſchen Ge - dichts, wo das Erhabene der groſſen Dichtkunſt mit der Schoͤnheit der Gedanken und der Wich - tigkeit der Grundſaͤtze verbunden iſt. Die in die - ſem Meiſterſtuͤck zerſtreuten Kentniſſe ſind unermeß - lich; Seliof-Taâna zeigt ſich darinn als ei - nen vortreflichen Sittenlehrer, einen tiefen Na - turkundiger, einen erhabnen Metaphiſiker: es leuchten darinn aſtronomiſche, chimiſche, geogra - phiſche und muſikaliſche Kentniſſe hervor: man ſieht, daß er den Grund aller Kuͤnſte und Hand - werker inne hat; daß er in einer unglaublichen Menge von alten und neuen Sprachen bewandert iſt; daß er die Sitten und Gebraͤuche aller Voͤl - ker des Erdbodens ſo genau kent, als ob er ſein Leben in der Mitte eines ieden zugebracht haͤtte; aber er verdankt ſolche den Ausforſchungen einigerY 4Schif -344Schifbruͤchigen, deren Schiffe an unſern Kuͤſten ſcheiterten, kurz, ſein Gedicht iſt ein Weltmeer von Wiſſenſchaft und Einſicht: man kan es nicht wieder weglegen, wenn man es einmal in die Haͤnde nimt. Der Gegenſtand dieſes bewun - dernswuͤrdigen Gedichts iſt die Patagoniade oder die erſte Errichtung unſrer gegenwaͤrtigen Regie - rung: ein Werk voller Einbildungskraft, deſ - ſen goͤttlicher Verfaſſer die Gruͤnde und Mittel nebſt den Schwierigkeiten und der Art ſie zu uͤberſteigen, in eine hinreiſſende Erzaͤhlung einzukleiden gewußt hat. Beſonders laͤßt er dem groſſen Yrneh, un - ſerm erſten Geſetzgeber und ſeinen achtungswuͤrdi - gen Mitbuͤrgern, die ihm beiſtanden, Ehrerbie - tung wiederfahren. Dahin gehoͤren Nollitâhc der unſterbliche Yllus, der weiſe Yanrom, der muthige Norib, die Caſſrib, die Ycneromnom, die Ednoc und eine Menge anderer erlauchter Buͤr - ger, die ſich damals des oͤffentlichen Wohls an - nahmen ꝛc.

Ein andrer beruͤhmter Schriftſteller iſt der be - ſcheidene und naife Effluo ſruob-Taâna, wel - cher erhabene Oden und Geſaͤnge geſchrieben hat, deren Naivetaͤt, und ruͤhrende Einfalt gerade zur Seele gehn, und ſie in eine ſuͤſſe Selbſtuͤberlaſſen - heit verſetzen.

Der zierliche und zaͤrtliche Epprig-Taâna hat unſrer Sprache eine Annehmlichkeit und einen Wohllaut gegeben, davon unſere leichten Gedichte noch kein Beiſpiel aufzuweiſen hatten. Dabei hatihn,345ihn in Anſehung der Verſe, noch mehr aber der Proſa, der feinſte und reinſte unſrer Schriftſteller, der unnachahmliche Etteſion-Taâna eine bewun - dernswuͤrdige Erleichterung verſchaft.

Der vernuͤnftige Zoh’cub iſt unſer Plinius ꝛc.

Von denen To-Taâna, denen Mar - Taâna, denen Har-Taâna, denen Al - Taâna, denen Did-Taâna, denen Cré - Taâna will ich nichts ſagen, ſo wenig als von den beiden unbekanten Schriftſtellern, die wir kuͤrz - lich verlohren haben, den Vol-Taâna und No - us-Taâna. Alle dieſe Schriftſteller ſind zwar nicht ohne Verdienſte, ſtehen den Erſtgenanten aber weit nach.

Wir haben auch fuͤrtrefliche Kritiker, deren geſchmackvolle und unpartheiiſche Werke die Er - goͤtzlichkeiten einer geiſtreichen Nation ausmachen, die das vorzuͤglichſte Talent gern gehoͤrig ſchaͤtzt, welches den Menſchen ſeinem goͤttlichen Urheber der Sonne und ſogar dem Vater der Sonne naͤher bringt. Dazu gehoͤren Ron-Taâna, Er - Taâna, Ter-Taâna (der uns uͤber die Erzie - hung des weiblichen Geſchlechts dieienigen weiſen Ausſichten eroͤfnet hat, die wir befolgt haben,) Ux-Taâna, Eiſſ-Taâna. Hierzu will ich noch zwei minder beruͤhmte hinzuſetzen, weil ſie weniger Unpartheilichkeit, Aufklaͤrung und Ge - ſchmack zeigen. Sie heiſſen Va-Taâna und Nai-Taâna. Aber bei einem Manne von Ver -Y 5dienſt346dienſt muß ich mich ein wenig aufhalten, der mit einer Gelehrſamkeit, Richtigkeit und Unpartheilich - keit, welche alle rechtſchaffen denkende Herzen mit Verwunderung erfuͤlt, den Werth unſrer Schrift - ſteller beſtimt. Dieſer Mann iſt ein verehrungs - wuͤrdiger Alter, der Neſtor der Litteratur, ſelbſt das fuͤrtreflichſte Muſter, deſſen zahlreiche Werke aller Art, eben ſo viel Meiſterſtuͤcke ſind; ein auch durch ſeine Wahrhaftigkeit und Reinigkeit der Sit - ten und Abſichten, bei uns beruͤhmter Mann, kurz ein Mann, der ſeine Empfindungen nie verheelt, ſondern ſie mit Verehrung gegen die Sonne und den Vater der Sonne, iederzeit uͤbereinſtimmend mit den Lehren der weiſen Alten von ſich gegeben hat, dieſer goͤttliche Mann, deſſen Namen ich ohn ein zaͤrtliches Gefuͤhl von Verehrung nicht ausſpre - chen kan, heiſt Hier-Taâna. Sein Buch iſt bei uns eins der erſten Lehrbuͤcher. Er lobt dar - inn die erhabenen Kentniſſe unſrer Weiſen. Groſ - ſe Maͤnner werden mit der ihnen gebuͤhrenden Ach - tung und einer Art von Anbetung erwaͤhnt. Er ſpricht auch von einigen geringern Schriftſtellern, aber in wenig Worten, blos um ihnen den Weg zur Unſterblichkeit zu erleichtern und mehr ihren Eifer, als ihre Verdienſte zu belohnen. Er hat keinen von denen vergeſſen, welche eine Stelle in ſeinem Buche verdienen. Dieienigen Perſonen, welche keine Schriftſteller ſind, hat er nicht wilkuͤhrlich geordnet, blos weil ſie zu ſeiner Bekantſchaft ge - hoͤrten. Da es keine Vornehmen unter uns giebt, ſo iſt ſein Buch durch niedrige Schmeicheleien nichtent -347entehrt, da keine Secten unter uns herrſchen, ſo ſind die Talente ſeiner Feinde nie mit Vorſatz her - abgewuͤrdigt. Er hat nicht die Abſicht ge - habt, Worten, welchen der Gebrauch die Bedeu - tung der Liebe und Liebhaber der Weisheit gegeben hat, eine gehaͤſſige Bedeutung beizulegen. Kurz er hat aus einem Buche, deſſen Erfindung auf den erſten Anblick ſehr veraͤchtlich ſcheint, einen heiligen Tempel gemacht, wo die Nation in den kuͤnftigen Jahrhunderten das wahre Verdienſt an - beten muß.

Gluͤckliche Megapatagonen! rief Hermantin aus: Ach welch Vergnuͤgen wuͤrde mein ehrwuͤr - diger Grosvater empfinden, wenn er euch ſehn und ſprechen koͤnte! Er wuͤrde ſeine Bewunderung beſonders daruͤber aͤuſſern, daß ihr noch mehr die moraliſchen Gegenfuͤßler ſeines Landes, als der La - ge nach auf der Erdkugel ſeid! . Aber wir wollen ſein Alter bald durch die Nachricht beleben, die wir ihm von allen dem, was wir bei euch ler - nen, geben werden, nicht als ob unſer ehrwuͤrdiger Grosvater nicht eben ſo fuͤrtrefliche Grundſaͤtze als die eurigen kente. Er hat auf eure Halbkugel, die gegenwaͤrtig die unſrige iſt, eine Religion ge - bracht, welche die Gleichheit und Bruderliebe lehrt und zum Geſetz macht; welche den Grundſatz an - nimt, daß wir ohne Mitleid, das iſt ohne die - ienige Tugend, welche uns Liebe und Achtung gegen unſre Bruͤder einfloͤßt, nichts als niedrige und ungluͤckliche Weſen ſind. Alle Geſetze dieſer Reli -gion348gion zwecken auf Uneigennuͤtzigkeit, auf Reinigkeit der Sitten, auf Wohlthun, auf Beſcheidenheit ab: Alle durch Beſitzungen Groſſe, ſind darin verflucht; ſie verbietet, irgend iemand ſeinen Herrn zu nennen, weil alle gleiche Soͤhne eines Gottes ſind: ſie befiehlt ſein Brod, ſeine Kleider, ohn Anſehn der Perſon, der Nation, der Religion und der Geſinnungen mit ſeinen Bruͤdern zu thei - len.

Und gleichwohl bekennen ſie nicht alle Voͤlker Europens?

Um Verzeihung, erlauchter Sohn des weiſeſten Alten.

Aber wer ſind denn dieienigen, deren Thaten wir in den Geſchichtsbuͤchern, die ihr mir in verkehrter Sprache gegeben habt, leſen?

Es ſind die naͤmlichen Voͤlker.

Nun, erlauchte Chriſtinier, ſo ſpottet ihr entweder meiner; oder dieſe Voͤlker ſpotten uͤber ihren Geſetzgeber und uͤber den groſſen Gott, den ſie, eurer Sage nach, anbeten!

Sie ſpotten deren nicht, weiſer Teugnil: aber hingeriſſen von ihren Leidenſchaften befolgen ſie faſt in keinem Stuͤcke ihre Religion. Sogar manche von denen, die vermoͤge ihres Standes auf die Beobachtung derſelben ſehn ſolten, ſind nicht ſtrenger darin, ſind die erſten, welche die Haupt - gruͤnde derſelben untergraben, ob ſie gleich diegroͤ -349groͤſte Aufmerkſamkeit zeigen, wenn es auf die Behauptung der Vorrechte ankomt, die ſie ihnen in den Augen des Poͤbels vor andern giebt.

Jch verſteh euch nicht, edler Chriſtinier, bekennen ſie ihre Religion, oder bekennen ſie ſolche nicht?

Sie bekennen dieſelbe.

Ohne ihr zu folgen?

Leider!

Jhr gebt mir einen unbegreiflichen Ab - ſcheu fuͤr die Enropaͤer! eine ſo ſchoͤne Religion, die wie ich aus ihren Geſetzen ſehe, von dem groſſen Gott ſelbſt angeordnet iſt, zu bekennen, ohne ſie zu befolgen! Eure Europaͤer ſind Unge - heuer! Und bei euch auf der Chriſtin - inſel?

Wir haben alle Geſetze der Gleichheit, der Bruderliebe, der Gemeinſchaft, des Wohlwollens in Ausuͤbung gebracht, und wir ſind in buch - ſtaͤblicher Befolgung derſelben gluͤcklich.

Euer Betragen beweißt die Thorheit der Europaͤer noch mehr: das iſt ein abſcheuliches Volk! Es hat gute Geſetze und befolgt ſie nicht. Es iſt bis aufs Herz verdorben.

(Dies iſts was ein rechtſchafner Mann, der die Stimme der Natur und der Vernunft nie er - ſtickt hat, von euch urtheilt!)

Die350

Die folgenden Tage ſahen die Chriſtiniſchen Prinzen die Beſtaͤtigung alles deſſen was der alte Noffub und ſein Sohn Teugnil ihnen geſagt hatten, mit ihren Augen. Sie beſahen in Begleitung des guten und rechtſchafnen Teugnil den ganzen Kan - ton von Megapatagonien, und man gab ihnen als man ſie genau genug kante (welches eine Sache von etlichen Tagen war) die Erlaubnis, ſich ohn Unterſchied mit den Bewohnern dieſer gluͤcklichen Gegend zu unterhalten. Die weiſen Geſpraͤche der Megapatagonen heilten die Chriſtiniſchen Prinzen von Gebluͤte von der Entdeckungsſucht; ſie be - ſchloſſen keine Jnſeln und kein neues Land weiter aufzuſuchen, ſondern auf dem kuͤrzeſten Wege nach Hauſe zu kehren, ſobald ſie hinlaͤnglich unterrich - tet ſein wuͤrden.

Waͤhrend ihres Aufenthalts ſahen ſie das merk - wuͤrdige Schauſpiel einer Verheirathungs-Feierlich - keit mit an. Ohne Zweifel wird eine Beſchrei - bung davon angenehm ſein.

Dieſer groſſe Tag ward dreiſſig Tage lang zu - vor angekuͤndigt, waͤhrend denen alle Maͤnner ihre Weiber, und alle Weiber ihre Maͤnner verlieſſen. So waren beide Geſchlechter in zwei Nationen ge - theilt, die in keiner Verbindung weiter ſtanden, als daß ſie ſich ſahen, iedoch ohne ſich zu ſpre - chen. Alle Weiber wurden in dieſen dreiſſig Ta - gen wieder reizende und verfuͤhreriſche Maͤdchen. Man konte keinen ſchoͤnern Anblick ſehn, als ihregalan -351galanten Schaaren darboten. Auf der andern Seite beſtrebten die Maͤnner ſich nicht minder zu gefallen: ſie theilten ſich in Legionen und ſtelten allerhand Uebungen vor den Frauenzimmern an, von denen ſie durch Schranken abgeſondert waren. Waͤhrend der Zeit daß ſie ausruhten, tanzten die Frauenzimmer. (Was wollen eure Opern in Ver - gleichung dieſes Tanzes ſagen, deſſen Bewegungen von dem Verlangen einem Manne, den das Herz erkohren hat, zu gefallen, und durch den An - blick ſo vieler von neuem Feuer bereits entbranten Liebhaber beſeelt werden!) Die Frauenzimmer, ſag ich, unternahmen wolluͤſtige Taͤnze. Waͤhrend der Liebeszeit wurden alle Arbeiten eingeſtelt; doch litt die Geſelſchaft darunter keinen Schaden, weil man dieſe Ruhe vorausgeſehn und alles noͤthige in Menge vorbereitet hatte. Es iſt unbeſchreiblich, in wel - chem Taumel von Freude und Trunkenheit ganz Megapatagonien ſich zu dieſer Zeit befand. Die Faſtnachtsluſtbarkeiten in Europa, die von Vene - dig nicht ausgeſchloſſen, ſind dagegen traurige Bilder. Hermantin huͤpfte vor Freuden. Die ganze Nation ſchien veriuͤngt. Das Alter war bei beiden Geſchlechtern verſchwunden: Geputzt, liebenswuͤrdig, heiter und geſund ſchmachteten ſie alle, eins wie das andere nach dem Vergnuͤgen, das eine neue Wahl ihnen verſprach. Doch ſahe man einige ruhiger, als die andern; eine gewiſſe Zufriedenheit, die ſich uͤber ihr Geſicht verbreitete, kuͤndigte ihre Verfaſſung an; das waren dieienigen, die ihre Wahl von neuem beſtaͤtigten. Die Wei -ber352ber der letzten Gattung trugen keine Blumen an ihrem Buſen, wohl aber auf dem Kopfe wie die andern, auch miſchten ſie ſich nicht unter die ge - meinſchaftlichen Taͤnze, ſondern ſtelten ſich zuſam - men an die Schranken und ſchwatzten mit ihren Maͤnnern (ein zu der Zeit ausſchlieſſendes Vorrecht) waͤhrend alle ihre Mitbuͤrger ſich erluſtigten. Man zeigte dem Hermantin verſchiedene Paare von ziem - lich hohen Jahren mit liebenswuͤrdigen Kindern umringt, die ſich noch nie von einander getrent hatten, man lobte ſie zwar, doch erwies man denen, die es thaten, keine auszeichnende Ehre weiter. Denn, ſprachen die Alten zu den iungen Leuten der Chriſtininſel, dieſe beſtaͤndigen Gatten ha - ben ihr Gluͤck eben der Freiheit zu aͤndern, zu dan - ken. Aber das entzuͤckendſte Schauſpiel gab die zur erſten Eheverbindung beſtimte Jugend beiderlei Geſchlechts. Sie veranſtalteten verſchiedene Quadril - len, ein Theil in Gegenwart des andern, und bemuͤh - ten ſich einander zu uͤbertreffen, die Juͤnglinge in Geſchicklichkeit, und die Maͤdchen in der Anmuth ihrer Taͤnze. Eine Sache die dem Hermantin und ſeinen Gefaͤhrten ſehr auffallend ſchien, war, daß den 29 Tag, den Tag vor der Wahl, blos die iungen Maͤnner und iungen Maͤdchen nackend vor einander erſchienen, und ſo die naͤmlichen Leibes - uͤbungen und Taͤnze vornahmen. Nie ſahe man ebenmaͤſſigere Koͤrper! Unter dieſer groſſen Anzahl, fanden ſich kaum zwei von iedem Geſchlecht, an de - nen man einen leichten Fehler bemerkte. Damit endigten ſich die Vorbereitungen.

Den353

Den andern Morgen am Tage der Wahl, ſtel - te ſich die ganze Nation zierlich geputzt in verſchiedene Reihen, nah an den Schranken: die erſte Reihe beſtand aus Alten, vor welchen alle Frauenzim - mer voruͤber gingen. Sie waͤhlten ihre Gattinnen zuerſt: aber es war eine nuͤtzliche Einſchraͤnkung dabei, daß naͤmlich eine iunge Frau nicht zwei Jahr hinter einander von einem Alten gewaͤhlt werden konte: ſie ging das folgende Jahr blos bei den iungen Mannsperſonen voruͤber, und alle dieſe von Alten getrente machten die letzte Reihe aus, die ſo lange unbeweglich blieb, bis die be - iahrten Leute ihre Wahl vollendet hatten. Jhr werdet euch erinnern, daß man erſt mit 150 Jah - ren zu den Alten gehoͤrt. Nach den Alten kamen die Maͤnner reifen Alters von hundert bis hundert neun und vierzig Jahren; dann die Maͤnner in ih - ren beſten Jahren von funfzig bis zu neun und neun - zig; endlich die noch unverheiratheten Juͤnglinge, welche das erſtemal waͤhlten, und die ſchoͤnſten manbaren Maͤdchen erhielten. Die minder ſchoͤ - nen wurden unter die bereits verheiratheten Wei - ber geſtelt, und konten von Maͤnnern von 50 bis 99 Jahren gewaͤhlt werden.

Sobald die Wahl geendigt war und die Gat - ten, welche einander behielten, ſich wieder verei - nigt hatten, hoͤrte man eine herrliche Muſik, von Jnſtrumenten und ſilbernen Stimmen. Dieſe ward von Juͤnglingen und iungen Maͤdchen aufgefuͤhrt, welche die beiden folgenden Jahre verheirathet wer -d. fl. Menſch. Zden354den ſolten. Die Juͤnglinge ſpielten auf Jnſtru - menten, und die Maͤdchen ſangen dazu. Von Zeit zu Zeit, vereinigten beide Geſchlechter ihre Stimmen. Waͤhrend des Konzerts, deſſen wol - luͤſtige und ſanfte Muſik nur dieſen Tag ſtatt fand, ſaſſen die neu verbundenen Paare mit umſchlung - nen Armen, und bezeugten einander die Erſtlinge ihrer leidenſchaftlichen Empfindungen in den zaͤrt - lichſten, einer ſo gefuͤhlvollen Nation angemeſſenen Geſpraͤchen. Ein praͤchtiges Feſt beſchloß die Feierlichkeit. Den andern Morgen wurden lauter kraftvolle Speiſen aufgetragen. Am zwei und dreiſſigſten Tage der Verheirathung, fingen die Arbeiten wie gewoͤhnlich nach einem Gebete an die gemeinſchaftliche Mutter Erde, an den Beſeeler der Sonne und an den groſſen Gott, den erſten An - fang der Weltalls, wieder an.

Hermantin und ſeine Gefaͤhrten waren von die - ſer Erneurung Zeugen. Die Munterkeit und Zufrie - denheit der Maͤnner von iedem Alter, waren auſ - ſerordentlich; alles ſchien ſich anzubeten. Wa - ren auch einige in ihrer Wahl uͤbel angekommen, ſo beunruhigten ſie ſich daruͤber nicht ſehr, und lebten wenigſtens friedfertig. Ueberdies verſchafte die Lebensart der Megapatagonen zu viel Zerſtreu - ung, als daß die Gegenwart der Gatten, die ein - ander nicht liebten, haͤtte laͤſtig werden koͤnnen.

Nachdem die Chriſtiniſchen Prinzen von Gebluͤt alles unterſucht hatten, verlangten ſie wieder nachihrer355ihrer Heimat zuruͤck. Der Alte Noffub und ſein Sohn Teugnil gaben daher der Nation davon Nach - richt, welche ſich verſamlete, um von dieſen auſ - ſerordentlichen Gaͤſten Abſchied zu nehmen. Man mach - te ihnen koſtbare Geſchenke, die ſie auf das Schif trugen: man erſuͤlte ſie mit Seegens - und Gluͤckwuͤn - ſchen, und als ſie abzureiſen im Begrif waren, fing der Alte Noffub in umgekehrter Sprache alſo an:

Meine lieben Kinder, ich kenne euer Betragen gegen die verſchiedenen Gattungen von Menſchen die ihr entdeckt habt. Es verdient Lob: aber glaubt mir, miſcht euch nicht zu ſehr in die Haͤn - del dieſer Voͤlker. Unmerklich wuͤrdet ihr euch zum groͤſten Ungluͤck fuͤr Herrn und Eigen - thuͤmer derſelben anſehn. Erhaltet die Gleichheit unter euch. Jch will nicht verlangen, daß ihr alle unſere Gebraͤuche annehmen ſolt: be - haltet aber die eurigen, die ich fuͤr gut genug halte. Wir ſind gluͤcklich wie ihr ſeht, macht nun Gebrauch von eurer Vernunft und zieht Fol - gen daraus. Schreibt mit goldnen Buchſtaben, und in allen bekanten Sprachen an das Haupt - thor eurer Stadt: ohne volkomne Gleichheit, findet keine Tugend, kein Gluͤck ſtatt. Lebt wohl!

Nach genommenem Abſchied von den Megapa - tagonen, kehrten die ſechs Prinzen auf dem kuͤrze - ſten Wege mit dem Schiffe nach der Chriſtininſel zuruͤck. Unterwegens begegneten ſie dem Schif desZ 2Kapi -356Kapitaͤn Cook unter den 29 und 30 Graden ſuͤdli - cher Breite. Der reiſende Englaͤnder kam von den Hebriden und Neu Caledonien*)Es war 1774.. Sie ver - lieſſen ihn, und entfernten ſich von ſeinem Wege, verſichert von ihm nicht geſehn worden zu ſein, weil er ſelbſt nicht von dem Schiffe, ſondern nur von den fliegenden Prinzen bemerkt werden konte. Doch be - obachteten dieſe, nachdem ſie den Schiffern den Weg vorgeſchrieben hatten, den engliſchen Kapitaͤn und ſa - hen ihn nach Neu Seeland ſich wenden. Sie folg - ten ihm bis uͤber dies Land hinaus, um ſich zu ver - ſichern, daß er keine von ihren Jnſeln kenne, weil ſie ſonſt ihre Maasregeln darnach ergriffen haben wuͤrden. Endlich langten ſie in ihrer Heimat an, und erzaͤhl - ten die wunderſchoͤnen Sachen, die ſie geſehn und ge - hoͤrt hatten.

Sie gaben dem guten Alten Victorin und der Koͤnigin Chriſtine von der Weisheit und Lebensart der Megapatagonen Nachricht und ſorgten dafuͤr, nichts weſentliches zu vergeſſen. Der gute Koͤnig und die gute Koͤnigin geriethen daruͤber in Verwunderung. Aber Victorin bemerkte, daß dergleichen Gebraͤuche bei den Europaͤern nicht eingefuͤhrt werden koͤnten, weil deren Grundſaͤtze denſelben noch zu ſehr entge - gen geſetzt waͤren: Er gab ſeinen Enkeln daher auf, die alten Geſetze nach und nach zu verbeſſern, ſich aber nicht zu uͤbereilen, ſondern alles von der Zeitzu357zu hoffen, und mit dieſem weiſen und maͤchtigen Volke wechſelsſeitige Freundſchaftsverbindungen zu unterhalten. Die Prinzen empfingen die Befehle ih - res Grosvaters mit einer tiefen Verehrung, die als ein Anfang zur Einfuͤhrung der megapatagoniſchen Ge - ſetze anzuſehen war.

Sie erwaͤhnten auch des europaͤiſchen Schiffes, das ſie in der See bemerkt hatten. Der Alte ward daruͤber beſtuͤrzt, und befahl ſeinen Enkeln, ſobald ſie ausgeruht haͤtten, auf die Beobachtung des Schifs wieder zuruͤck zu kehren, um deſſen Abſicht zu erfor - ſchen, und die unter der chriſtiniſchen Regierung ſte - henden Anbauungen zu vertheidigen, wenn der euro - paͤiſche Schiffer daſelbſt landen wolte. Hermantin, nahm ſich, um den Befehlen ſeines Grosvaters zu ge - horchen, vor, den Kapitain in der Nacht zu erſchre - cken, ihn zu zwingen, die ſuͤdliche Halbkugel zu ver - laſſen, indem er ihm durch einleuchtende Zeichen zu erkennen gaͤbe, daß man das Schif zu verbrennen be - reit waͤre, wenn er ſich nicht entfernte.

Die Prinzen reiſten alſo mit Lunten, Grenaden und kuͤnſtlichen Feuer verſehen ab, um das Entde - ckungsſchif auf der Polſeite zu erreichen. Sie trafen es uͤber den Polarcirkel hinaus auf dem 71 Grade der Breite an. Bei der Ueberlegung, was ſie machen ſolten, ward einmuͤthig beſchloſſen, es in dem Eiſe herumſtoͤren zu laſſen, weil da nichts zu finden waͤre, ihm beſtaͤndig zu folgen, indem ſie, eingewickelt in Haͤute von Meerwieſeln, die ſie ganz bedeckten, aufZ 3den358den Eisinſeln ausruhten, und dem Kapitain weder Gutes noch Boͤſes zu thun, ſo lange er ſich keiner von den beſchuͤtzten Jnſeln naͤherte. Sie machten auch mit einander aus, wenn das Schif etwa untergehn ſolte, die Equipage zu retten und auf die Chriſtinſel zu ſchaffen. Doch dies alles war nicht noͤthig; der Kapitain kehrte wieder zuruͤck auf dem Wege der Aſter-Marquiſen ꝛc. inſeln, ohne daß er eine von de - nen geſehn hatte, die man ihm nicht wolte bekant werden laſſen.

Nun bleibt mir nichts weiter zu erzaͤhlen uͤbrig, als die neuen von Hermantin fuͤr die ganze chriſtini - ſche Republik gegebenen Geſetze. Dann will ich ih - nen ſagen, wie und mit welcher Gelegenheit ich nach Europa gekommen bin, naͤmlich uͤber das Vorgebuͤr - ge der guten Hofnung, wo unſere Prinzen ſelbſt mich hintrugen, und ich mich abſichtlich als Reiſender auf dem Schiffe des Kapitain Cook einſchifte, um ſein kuͤnftiges Vorhaben deſto beſſer auszuforſchen.

Prinz Hermantin, der das ganze Vertrauen ſei - nes Grosvaters Victorin, ſeines Oheims des Erbprin - zen, und die vorzuͤgliche Liebe ſeines Vater Alexander genoß, dachte ſeit ſeiner Reiſe an nichts, als an die ſchoͤnen Geſetze und weiſen Gebraͤuche der Megapata - gonen. Brennend vor Verlangen ſie in unſerm Va - terlande einzufuͤhren, begab er ſich zu den Patagonen von Victorique, und fragte ſie um Rath. Sie waren voͤllig mit dem Victorin einverſtanden, riethen dem inngen Prinzen aber eine gute Sache nicht zu uͤber -eilen.359eilen. Dem zu Folge ließ Hermantin es dabei bewen - den, dem Staatsrathe folgendes Geſetz vorzulegen, um es dem Volke vorzuſchlagen und deſſen algemei - ne Annahme zu betreiben, bis man ein volkomnes wuͤrde bekant machen koͤnnen. Doch vergaß er nicht, dabei zu bemerken, daß dies blos ein Einleitungsge - ſetz ſei. Es war in folgenden Ausdruͤcken abgefaßt.

Z 4Reſcript360

Reſcript des Koͤnigs und der Koͤnigin an die Verſamlung der Franko-Chriſtinier. Victorin und Chriſtine.

Von Gottes Gnaden, Regent und Koͤnigin der Chriſtininſel, Affeninſel, Baͤrinſel ꝛc. entbieten allen unſern Bruͤdern, den Bewohnern der dreiſſig ſuͤdli - chen unter einerlei Verfaſſung vereinigten Jnſeln*)Auſſer den genanten gab es noch folgende fuͤnf Jn - ſeln, die Kamel, Khinoceros, Meerkalb, Krokodill und Jnſecteninſel, welche durch die Statthalter der uͤbrigen Jnſeln waren entdeckt worden. unſern Gruß, Friede, Ruhe und Freiheit. Als un - ſer ſehr werther und geliebter Sohn, der Erbprinz unſers Reichs, unſer lieber Sohn, der Prinz Alexan - der, die wuͤrdige Stuͤtze unſrer Macht, ſo wie unſe - re lieben Eukel, ihre Soͤhne, und beſonders Prinz Hermantin, das Licht unſrer Regierung und der Glanz unſrer Staaten, zu Erweiterung der alge - meinen Gluͤckſeligkeit der Nation, wie iedermann ge - ſehn und gehoͤrt hat, verſchiedene Reiſen unternah - men; ſo endeckten ſie auf der erſten Reiſe verſchiede - ne Gattungen von Menſchen, die ſie auf eine vernuͤnf - tigen, gottesfuͤrchtigen und menſchenfreundlichen Weſen wuͤrdige Art behandelten, indem ſie blos den Nutzen dieſer verſchiedenen Nationen zu befoͤrdern ſuch - ten, denen die gemeinſchaftliche Mutter Natur nicht ſo viel Verſtand als uns zugetheilt hat. Aber ſo wieſie361ſie auf den obengedachten Jnſeln geringere Gattungen fanden, ſo ſind ihnen auch Weſen vorgekommen, die uns an Guͤte, weiſen Geſetzen und fuͤrtreflichen Ein - richtungen uͤbertreffen; und zwar auf der groſſen Fol - ge von Jnſeln, die wir in unſrer Sprache Victorique nennen, aber richtiger Patagonien heiſſen ſolte. Hier haben unſere genanten Enkel das Gluͤck gehabt, mit einem Volke, die Megapatagonen genant, ſich zu unterhalten. Es iſt von uns um einen halben Erd - kreis getrent und macht beinah die Gegenfuͤßler von Frankreich unſerm alten Vaterlande aus. Bei die - ſem fanden ſie Schaͤtze von Weisheit, Aufklaͤrung und oͤffentlichem Gluͤck, davon wir euch eine volkom - mene Kentnis mittheilen wollen. Vorausgeſetzt, daß die Gleichheit unter den Menſchen die einzige Quelle des Gluͤcks, folglich aller Tugend iſt, haben wir be - ſchloſſen, ein neues Geſetzbuch bekant zu machen, das zwar nicht ganz nach den Gewohnheiten und Gebraͤu - chen der erlauchten und weiſen Megapatagonen einge - richtet iſt, ſondern die unſrigen nur vervolkomnet und wuͤrkſamer verbeſſert. Durch das Beſtreben nach dem Gluͤck und Wohlſtand unſrer Mitbuͤrger ſind wir daher bewogen worden, Kraft unſrer volkomnen Macht und koͤniglichen Gewalt, die wir ohne Wi - derſpruch genieſſen, weil wir ſie durch die der gegen - waͤrtigen von uns geſtifteten Geſellſchaft erwieſenen Dienſtleiſtungen, und deren hoffentlich kuͤnftig immer mehr und mehr zu verſchaffenden Wohls, und durch die Erhaltung der geheiligten Freiheit verdient haben, feſt - zuſetzen, ordnen, ſetzen und verlangen wie folget:

Z 5Erſter362

Erſter Artikel.

Von Bekantmachung gegenwaͤrti - gen Reſcripts an, ſollen alle Guͤter unſrer Bruͤ - der und Mitbuͤrger gemeinſchaftlich ſein, und die Arbeit gleich ausgetheilt werden, iedoch ein ieder von der ietzigen Generation ſeine gewoͤhnlichen Be - ſchaͤftigungen fortſetzen. Wir verlangen blos, daß ſie, welcher Art ſie auch ſein moͤgen, gleich anſtaͤndig und ehrwuͤrdig geachtet werden ſollen; und wollen, daß ſie von allen unſern Mitbuͤrgern, als von Soͤhnen eines und deſſelben Vaters bruͤ - derlich ansgeuͤbt werden.

Zweiter Artikel.

Unſere Abſicht iſt, daß die Wei - ber der verſchiedenen Buͤrger unter ſich voͤllig gleich geachtet werden, ohn Unterſchied der Staͤnde, die ſich noch unter den Maͤnnern befinden.

Dritter Artikel.

Die Kinder, welche kuͤnftig ge - bohren werden, oder dieienigen, welche ihrer zar - ten Jugend wegen noch keine Erziehung und Un - terricht genoſſen haben, ſollen zu denen Kuͤnſten und Handthierungen angehalten werden, die ſich fuͤr ihre Faͤhigkeiten am Beſten ſchicken, ohn eini - ge Ruͤckſicht auf die Geburt oder den Stand ihrer Eltern.

Vierter Artikel.

Um die Gemeinſchaft der Guͤter und die Gleichheit der Gluͤcksguͤter deſto leichter zu erhalten, wollen wir, daß der Einkauf alles deſſen, was Privatperſonen brauchen, auf Koſten der Gemeinheit, die wir durch gegenwaͤrtiges Re -ſcript363ſcript einſetzen, geſchehe, und die Bezahlung nach Verhaͤltnis der wuͤrklichen Beduͤrfniſſe des Hand - werkers und des Kuͤnſtlers, nicht aber nach dem Werth der Arbeit eingerichtet werde. Einem Ar - beitsmanne zum Beiſpiel, er ſei wer er wolle, der ſechs Kinder hat, ſoll ſeine Arbeit doppelt ſo hoch bezahlt werden, als demienigen, der nur drei Kinder hat. Dieſer ein Drittheil mehr als dem, der nur zwei hat, und ſo weiter nach Verhaͤltnis der Anzahl Kinder und der Laſten; da - mit der mit Kindern belaſtete Buͤrger nicht ſchlim - mer dran ſei, als der, welcher keine Laſt hat, und damit ſolchergeſtalt alles in Verhaͤltnis ſtehe, bis wir das Megapatagoniſche Geſetz in allen ſei - nen Theilen annehmen und gemeinſchaftliche Mahl - zeiten einfuͤhren koͤnnen.

Fuͤnfter Artikel.

Der Muͤſſiggang und die Un - brauchbarkeit ſind brandmarkende Laſter, welche die Unverbeſſerlichen von der Hauptinſel vertrei - ben koͤnnen.

Sechster Artikel.

Die Arbeit ſoll weder anhaltend noch zu hart ſein: es ſollen taͤglich ſechs Stunden dazu feſtgeſetzt werden, die gut anzuwenden ſind. Drauf kan ieder eine anſtaͤndige Erhohlung genieſ - ſen, indem man, ohn Unterſchied, als Bruͤder, die gleich und in einer Republik mit einander leben, zuſammen komt.

Sie -364

Siebenter Artikel.

Von dieſem Augenblick hoͤren alle Schulden, Geldverſchreibungen und beſondere Eigenthumsrechte gaͤnzlich auf: doch behaͤlt ieder ſein Haus, um mit ſeiner Frau und Kindern darin von dem Ertrag ſeiner Arbeiten, nach dem vierten Artikel, beſonders zu leben.

Achter Artikel.

Niemanden ſollen im Eſſen meh - rere Leckerbiſſen, oder in der Kleidung mehrere Pracht erlaubt ſein, als dem andern. Die ange - nehmſte und bequemſte Mode, die einmal ange - nommen worden, ſoll ein ieder zu beobachten ver - bunden ſein. Aber das Staatskleid ſoll auch kuͤnf - tig von dem Arbeitskleide, nach dem Verhaͤltnis der Geſchaͤfte verſchieden bleiben, bis aller Unter - ſchied, ſo wie bei den Megapatagonen, gaͤnzlich aufgehoben ſein wird. Jn den Erhohlungsſtun - den aber ſollen alle gleich gekleidet ſein: dieienigen, welche ein unreinliches Gewerbe treiben, werden ſich vorher ſorgfaͤltig reinigen, ehe ſie zu ihren Bruͤdern kommen.

Neunter Artikel.

Was die Frauenzimmer anbe - trift, ſo ſollen ſie alle ſtets voͤllig einerlei Kleidung tragen, doch unbeſchadet desienigen, was ihr Ge - ſchmack in Anſehung der Artigkeit erfindet, zu deſ - ſen Gebrauch ſie iederzeit leicht die Erlaubnis er - halten ſollen.

Zehnter Artikel.

Mit der Jugend ſoll es die naͤmli - che Bewandniß haben, wenn ſie noch keinen Standhaben,365haben, es moͤgen Juͤnglinge oder Maͤdchen ſein. Sie ſollen alle gleich gekleidet werden, ſowohl in Ruͤckſicht des Zeuges, als der Form.

Eilfter Artikel.

Der Magiſtrat ſoll blos der Mund des Geſetzes ſein, ſowohl in buͤrgerlichen als pein - lichen Faͤllen; aber die buͤrgerlichen Faͤlle werden durch gegenwaͤrtiges Geſetz groͤſtentheils vernich - tet, die peinlichen aber ſehr verringert werden, weil Habſucht die Quelle aller menſchlichen Ver - brechen iſt.

Zwoͤlfter Artikel.

Der Meuchelmoͤrder ſoll auf ei - nen oͤden Felſen geſchaft werden, ohn ihm mehre - re Lebensmittel als auf einen Tag zu laſſen. §§. Derienige welcher im Zorn iemanden zu Tode, oder uͤber die Maaſſe pruͤgelt, ſoll mit Staupen - ſchlaͤgen auf eine von den beſchwerlichſten Jnſeln verwieſen werden; die oͤftere Wiederhohlung waͤ - re dem Meuchelmorde gleich zu beſtrafen. §§. Wer Feuer anlegt, ſoll mit Staupenſchlaͤgen und Ver - weiſung auf eine kleine wuͤſte Jnſel dergleichen es in dieſen Meeren giebt beſtraft werden; man ſoll ihn allein laſſen, iedoch mit Mitteln zur Unterhaltung verſehn. §§. Nothzucht wird blos durch Staupenſchlaͤge beſtraft, und durch Erfuͤl - lung alles deſſen, was das Madchen oder die Frau verlangt: ſolten dieſe nichts verlangen, ſo iſt ſie gleich dem Mordbrennen zu beſtrafen. §§. Ei - ne dem andern Geſchlecht zugefuͤgte viehiſche Be - leidigung (wenn deſſen iemand faͤhig waͤre,) ſoll,wenn366wenn das Zeugungsgeſchaͤft dabei verunehrt wor - den, wie die Nothzucht beſtraft werden. §§. Har - te Beleidigungen werden durch einen ſchimpflichen Verweis in voller Verſamlung von dem und in Ge - genwart des beleidigten Theils beſtraft, wenn die - ſer nichts darauf erwiedert hat. Jm letztern Falle aber muͤſſen beide vor der Nation eine Abbitte thun uud werden ein Jahrlang ihrer Stimme bei Be - rathſchlagungen, ſo wie aller uͤbrigen Handlun - gen eines Buͤrgers verluſtig. §§. Verſchwoͤrung wider den Staat im erſten Grade, wenn naͤmlich Verraͤtherei dabei eintritt, und der Feind einge - fuͤhrt worden iſt, oder hat eingefuͤhrt werden wol - len, ſoll von der Hand eines Tiegermenſchen mit dem Tode beſtraft werden. Jſt aber kein Feind dabei im Spiele, ſonder bloſſe perſoͤnliche Ehr - ſucht, ſo ſoll der Schuldige, unwuͤrdig in der Geſelſchaft laͤnger zu leben, auf eine von unſern kleinen wuͤſten Jnſeln verwieſen werden.

Dreizehnter Artikel.

Bei ieder Verbannung ſoll der Verbante eine Frau, aus der veraͤchtlichſten und ungeſtalteſten unter den niedern Gattungen erhal - ten, mit Bedeutung der Todesſtrafe, wenn er ſie uͤbel behandeln ſolte. Bei dieſer Strafe ſoll die Zuͤchtigung in dem Gutbefinden dieſer Weiber ſte - hen. Der viehiſche Beleidiger ſoll die minder Haͤßlichſte bekommen; der Mordbrenner eine unge - ſtaltere, der Moͤrder eine noch ſchlechtere; der Ver - raͤther die abſcheulichſte, deſſen Strafe auch weni - ger zu mildern iſt, wenn er ſchlecht mit ihr lebenſolte.367ſolte. Die Kinder ſollen dieſen Laſterhaften gleich nach dem Gewoͤhnen genommen, und denen oͤffent - lichen Erziehern den Thiermenſchen anvertraut werden, die ihre Geburt gegen iederman verſchwei - gen muͤſſen.

Vierzehnter Artikel.

Jeder gute Buͤrger ſoll nach Verhaͤltnis der auszeichnenden Handlungen geehrt werden, die er entweder fuͤr das algemeine oder fuͤr das Wohl einzelner Perſonen gethan hat. §§. Wer einem das Leben erhaͤlt, darf eine buͤrgerliche Krone von Eichlaub tragen, und erhaͤlt die Vorzuͤ - ge des Alters eher, ſo daß er mit vierzig Jahren die Rechte und Freiheiten der Maͤnner von funfzig Jah - ren genießt. §§. Wer mit Sanftmuth einen Streit beilegt, und den Folgen deſſelben vorbeugt, erbaͤlt eine oͤffentliche Dankſagung und zweiiaͤhrige Vor - rechte des Alters. §§. Wer eine Feuersbrunſt loͤſcht oder wuͤrkſame Huͤlfe dabei leiſtet, genießt fuͤnfiaͤhri - ge Rechte der Alten und bekomt eine Krone von Ole - ander, die ihm alle Jahr erneuert wird. §§. Wer die Unſchuld eines Maͤdchens oder eines Weibes, die man nothzuͤchtigen will, beſchuͤtzt, hat ebenfals fuͤnfiaͤhrige Freiheit und eine Krone von Mauerkraut zu gewarten, die ihm alle Jahr erneuert und in oͤffentlicher Verſamlung von einem zwoͤlfiaͤhrigen Maͤdchen, dem ſchoͤnſten des ganzen Landes, auf - geſetzt werden ſoll. §§. Wer eine Zuſammenver - ſchwoͤrung entdeckt, und den Staat von einer Rotte befreit, ſoll einen Lorbeerkranz erhalten, den der beiahrteſte unter den Alten ihm alle Jahrneu368neu aufſetzen ſoll: worauf die ganze Jugend beider - lei Geſchlechts mit den Worten: Ehre dem gu - ten Buͤrger vor ihm voruͤber geht. Er genießt zwanzig Jahr Vorrechte, naͤmlich er hat waͤhrend der ganzen Folge ſeines Lebens, wenn er dreiſſig Jahr alt iſt, das naͤmliche Anſehn, die naͤmlichen Grade, als ob er funfzig Jahr alt waͤre ꝛc. §§. Der Urheber einer nuͤtzlichen Erfindung zur Nothdurft und Bequemlichkeit des Lebens, oder in der Mo - ral und zu Einfuͤhrung beſſerer durch den Erfolg beſtaͤtigter Gebraͤuche, bekomt im erſtern Falle, nach Verhaͤltnis der Wichtigkeit, fuͤnf oder zehn - iaͤhrige Vorrechte, nebſt einer Krone von Fichten, die der beiahrteſte Alte ihm aufſetzt; im andern Falle aber, eine Krone von Lorbeeren und Fichten nebſt zehn oder zwanzigiaͤhrigen Vorrechten nach der Wichtigkeit der Entdeckung und des dem Va - terlande geleiſteten Dienſtes.

Funfzehnter Artikel.

Durch gegenwaͤrtiges Reſcript ſetzen wir auch, ſtatt der bisherigen, eine neue Ordnung des Ranges und der Wuͤrde unter unſern Mitbuͤrgern feſt. Dieſem nach wollen wir, daß die Wuͤrden und der Vorſitz, nach dem Alter; nach den Verdienſten aller Art, und nach groſſen und ſchoͤnen Handlungen ertheilt werden ſollen, ie - doch (wie im vorhergehenden Artikel enthalten) der - geſtalt, daß die Belohnung der guten und ſchoͤnen Handlungen in dem Werth der Jahre des Alters beſtehe, damit dieſes auf die Natur, ſogar in den Ausnahmen, gegruͤndete Geſetz deſto geſicherter ſei. Das369Das noch unverſtaͤndige Kind und der Alte, ſolten daher von iederman bedient werden: Ein Kind von mehrern Jahren hingegen ſoll iederman gehorchen. Mit Erreichung des ſechszehnten Jahres, bekomt es alle dieienigen Kinder von dieſem Alter bis zum ſiebenten Jahre unter ſich, die ihm Ehre und Ach - tung ſchuldig ſind: Jm zwanzigſten Jahre werden ihm zwei Klaſſen untergeordnet, die ihm Ehre und Gehorſam erzeigen muͤſſen: Mit dem fuͤnf und zwanzigſten, drei: mit dreiſſig Jahren, vier: mit fuͤnf und dreiſſig Jahren, fuͤnfe: Jm vierzigſten Jahre wird er endlich voͤllig Mann und der Ehren - ſtellen faͤhig. Der Unterſchied zwiſchen einem Manne von vierzig Jahren und allen ſeinen Unter - gebenen beſteht darin, daß iener an den Geſchaͤf - ten, und an der Regierung Theil nimt, da die uͤbrigen im Gegentheil noch unter der Vormund - ſchaft des Staats ſtehen, und bei ihnen mehr auf die Hofnung als auf die Wuͤrklichkeit geſehn wird. §§. Von vierzig bis ſiebenzig Jahren trachtet man immer nach mehrerer Faͤhigkeit, Ehrenſtellen zu beſitzen. §§. Mit ſiebenzig Jahren werden die Al - ten zu Prieſtern der Nation gemacht, und dazu gebraucht, ihre Ehrerbietung dem hoͤchſten Weſen, der Quelle von allem, darzubringen. §§. Der beiahrteſte unter den Alten, er ſei wer er wolle, wird zum Oberſten Prieſter gemacht. Darum wird ein vorzuͤgliches Alter Neid erwecken, und den Familien Glanz geben: die uͤbrigen Alten ruͤ - cken immer Stufenweiſe hinauf; aber der niedrig - ſte Grad der Prieſterſchaft ſoll ihnen dennoch dend. fl. Menſch. A aVor -370Vortritt vor alle buͤrgerliche Ehrenaͤmter und Be - dienungen gewaͤhren, und dieſe ihnen Ehre und Achtung ſchuldig ſein, auch ihre Anordnungen mit entbloͤßtem Haupte und niedergeſchlagenen Augen annehmen. Auf dieſe Art wollen wir die Alten an den Ehrenbezeigungen und Verſicherungen des Gehorſams, die man der Gottheit ſelbſt bringt, Theil nehmen laſſen, weil ſie deren Diener ſind. §§. Jeder Prieſter wird von ſeiner Familie bedient. §§. Alle Morgen ſoll der erſte Staatsbediente der Republik, eh er ſeine Verrichtungen anfaͤngt, zum Hohenprieſter eine Geſandſchaft von zweien ſeiner Soͤhne, oder, wenn er keine hat, von zweien ſeiner Anverwandten ſchicken, die zu ihm ſagen: Weiſer und ehrwuͤrdiger Alter! das Haupt der Republik und die ganze Republik in ihm, ſenden euch, durch uns die Verſicherung ihrer Ehrerbietung, weiſer und ehrwuͤrdiger Al - ter, der du unſer aller Geburt erlebt haſt. Bringt ihr ſelbſt unſere Verehrung dem hoͤch - ſten Urheber dar, ſo wie ein Vater es vor ſei - ne Kinder bei ſeinem Vater thut der alte oberſte Prieſter antwortet darauf, was er fuͤr ſchicklich haͤlt, weil wir demienigen nichts vor - ſchreiben wollen, den wir durch gegenwaͤrtiges Geſetz uͤber alle andere Menſchen erheben. Aber dieſe Diener ſollen ſich in keine zeitlichen Ange - legenheiten weiter miſchen, ſie muͤſten denn einen guten Rath geben: und dann ſoll man ſie mit Hochachtung und Stillſchweigen anhoͤren, ohn ihnen Beifal oder Misfallen zu erkennen zu ge -ben,371ben, unter welchem Vorwand es auch ſeyn moͤchte. Selbſt in dem Falle, wenn ihr Rath befolgt wird, ſoll der Magiſtrat und ſeine Bei - ſizzer in ihrem Reſcript ſich keineswegen dar - auf gruͤnden.

Sechzehnter Artikel.

Es ſoll kein einzelnes Ober - haupt des Staats mehr ſeyn: Wir entſagen durch gegenwaͤrtiges Reſcript der oberſten Gewalt, uͤber - geben ſie der Geſelſchaft, und wollen, daß dieſe kuͤnftig durch erwaͤhlte Magiſtratsperſonen regiert werde. Jedoch bedingen wir uns als ein von der ganzen Nation gebilligtes Grundgeſetz aus, daß die Prinzen von unſerm Gebluͤte bei dem ausſchließen - den und eigenthuͤmlichen Rechte geſchuͤtzt werden, Fluͤgel zu tragen, ohne auf irgend eine Art in dem Gebrauche dieſes Rechts eingeſchraͤnkt werden zu koͤnnen; wir befehlen ihnen aber, dieſes eigen - thuͤmliche Vorrecht zum Dienſt des Staats zu ge - brauchen. Derienige von ihnen, welcher ſie zur Verraͤtherei des gedachten Staats anwenden wuͤr - de, ſoll mit dem Tode geſtraft werden, fein Ver - brechen iedoch unſern uͤbrigen Nachkommen und ſo - gar den Seinigen, keinen Nachtheil bringen. Dieß iſt der einzige Vorzug, den ſie ſich von allen ge - genwaͤrtigen vorbehalten, und deſſen algemeine Beſtaͤtigung der ganzen Nation ſie von Seiten al - ler ihrer Mitbuͤrger verlangen.

Siebzehnter Artikel.

Keine Ehrenbezeugung ſoll erblich ſeyn. Jedermann muß ſich ſelbſt ſuchenA a 2bekant372bekant zu machen und eignen Ruhm zu erwerben. Eben ſo ſoll niemanden die Schande ſeiner Eltern nachtheilig ſeyn. Beides iſt ungerecht.

Achtzehnter Artikel.

Die Weiber ſollen, ſo wie die Maͤnner, nach dem Maas des Alters geehrt werden, ſie folgen aber mehr der Wuͤrde des Man - nes als ihrer eignen Befoͤrderung. Wenn dieſer das vierzigſte Jahr erreicht hat, ſo bekommen ſie den Titel Matrone, mit ſiebenzig Jahren werden ſie Prieſterinnen, das heißt, ſie verrichten, in Verbindung mit den Prieſtern, und unter ihren Befehlen, verſchiedene gottesdienſtliche Handlun - gen, davon die hauptſaͤchlichſte in Reinigung des Tempels, in Aufputzung und Ordnung deſſelben ꝛc. beſteht. Die Prieſterinnen leben mit ihren Maͤn - nern, die Witwen aber wohnen neben dem Tem - pel bei einander: Sie werden alle, wie die Prie - ſter ſelbſt geehrt, und die aͤlteſte bekommt von der Gattin des Staatsbcamten die Geſandſchaft der taͤglichen Ehrerbietung.

Geſchehen und gegeben iſt gegenwaͤrtiges Re - ſcript in unſerm Hauſe, dem vormaligen Pallaſt, mit Rath und Einwilligung unſrer koͤniglichen Familie, ohn einige Ausnahme, um es in dem ganzen Um - fange unſers Reichs bekant und geltend zu machen. Den 15ten April im 1776ſten Jahre der chriſtlichen Zeitrechnung. Unterzeichnet, Victorin, Stifter und Geſetzgeber. Chriſtine, Koͤnigin; und weiter unten: der Erbprinz, der Prinz Alexander; diePrinzen373Prinzen Dagobert, Dietrich, Hermantin, Clo - vis, u. ſ. w.

Als dies Geſetz auf der Chriſtininfel und allen uͤbrigen Jnſeln bekant gemacht worden war, fanden ſich von allen Seiten Abgeordnete ſowohl von Fran - zoſen, als Nacht-Affen-Baͤr-Hunde-Stier-Ele - phanten-Menſchen ꝛc. ein, welche alle Victorin und die Koͤnigin baten, die Regierung zu behalten.

Bleibt ſtets unſer Vater und unſre Mut - ter, ſprachen ſie, unſre Wohlthaͤter, eure Kinder muͤſſen auf immer uͤber uns herrſchen: Was die uͤbrigen Artikel eures Reſcripts betrift, ſo wollen wir auf deren Beobachtung ſchwoͤren.

Aber Victorin blieb ſtandhaft bei dem Plan, den Hermantin ſein Enkel ihm unter den Fuß gegeben hat - te. Das Vertrauen, welches ſein Grosvater, ſein Oheim der Erbprinz und ſein Vater Alexander auf dieſen iungen Menſchen von einer ſo fruͤhzeitigen Weisheit ſetzten, war ſo groß, daß ſie ihn zum un - eingeſchraͤnkten Herrn aller in der Regierung vorzu - nehmenden Veraͤnderungen machten. Er brachte ſie gluͤcklich zu Stande. Victorin und die Koͤnigin blie - ben die erſten im Staate: beide wurden Oberprieſter und Oberprieſterin von rechtswegen, weil ſie die aͤl - teſten unter ihren Mitbuͤrgern waren. Das zaͤrtliche Gefuͤhl iſt nicht zu beſchreiben, das man empfindet, wenn man den Helden, den Stifter als einen Diener des Staats ſieht. Als der Prieſter, welcher bisherA a 3lange374lange Zeit allein hinlaͤnglich geweſen war, im hohen Alter ſtarb, ſo reiſten die Prinzen Hermantin, Da - gobert ꝛc. um die Einfoͤrmigkeit der Religion und des Gottesdienſtes zu erhalten, mit dem Schiffe ſogleich nach Europa, und entfuͤhrten den Biſchof von *** von dem man vor einigen Jahren glaubte, er ſei ge - ſtorben, weil er wuͤrklich krank war; legten aber ei - nen Leichnam an die Stelle dieſes Praͤlaten. Er iſt es, der unſre gegenwaͤrtigen Geiſtlichen, dem Geſe - tze gemaͤs, naͤmlich lauter Alte eingeſetzt hat.

Auf der Ruͤckkehr von dieſer Reiſe waren die Prinzen, als ſie ziemlich uͤber Jndien kamen, Zeugen von einem Avto-da-fe, das die andaͤchtigen Portu - gieſen in Goa feiern wolten. Es beſtand aus einer gan - zen Familie elender Mauren, dem Vater, der Mut - ter, zwei Knaben und drey Maͤdchen die den Maho - metiſmum aus Furcht abgeſchworen aber aus Ueber - zeugung wieder angenommen hatten; aus zwei iuͤdi - ſchen Familien, die aus Eigennutz uͤbergetreten wa - ren, zur vermeintlichen Beruhigung ihres Gewiſſens aber das Judenthum im Stillen trieben; endlich aus einigen noch unſchuldigen Proteſtanten, die aber von den eifrigen Katholiken deſtomehr gehaßt wurden. Die heilige Feierlichkeit naͤherte ſich ihrem Ende, die Scheiterhaufen waren gelegt: man hatte die Ungluͤck - lichen mit ihren Muͤtzen, und Sanbenitas mit Flam - men, Teufeln und allen abſcheulichen Schreckniſſen des Aberglaubens beſaͤt, bereits angebunden. Her - mantin wuͤrde ohne dem Geſchrei der mauriſchen und iuͤdiſchen Maͤdchen das auch nicht einmal geachtet ha -ben.375ben. Er ließ ſich von ſeiner außerordentlichen Hoͤ - he ein wenig nieder, doch ſo, daß er von den Menſchen nicht erkant werden konte, und ſahe, daß man dieſe armen Leute verbrennen wollte. Ob er ſie ſchon fuͤr Verbrecher hielt, ſo nahm er ſich demun - geachtet vor, ſie zu befreien, und ſie auf eine von den wuͤſten Jnſeln der chriſtiniſchen Republik zu verſezzen: aber in kurzem ward er von dieſem abſcheulichen Opfer unterrichtet. Hermantin wuͤthete. Er hielt einen Augenblick auf dem Pallaſt des Jnquiſitors und ſeiner Gefaͤhrten und naͤherte ſich dann allein dem Scheiter - haufen. Man muß wiſſen, daß die chriſtiniſchen Prin - zen auf langen Reiſen unter policirten Voͤlkern einen Panzer von Platina gegen die Kugeln tragen. Alle Portugieſen hielten ihn bei ſeiner Ankunft fuͤr einen Engel, machten das Kreuz und fielen auf die Knie. Der Prinz konte die vornehmſten europaͤiſchen Spra - chen: er band die Ungluͤcklichen ohne Widerſtand ab, befahl ihnen den angewieſenen Weg zu folgen und ließ ſie nach dem Thore gehn, wo die andern Prinzen ſie aufs Schiff bringen ſolten: Alles dieſes geſchah in der groͤſten Geſchwindigkeit. Als ſie in Sicherheit waren, ſtieg Hermantin auf einen Scheiterhaufen und hielt ihnen in portugieſiſcher Sprache eine Rede ange - fuͤlt mit den heftigſten Vorwuͤrfen.

Ungluͤckliche! die ihr eine ſanfte und freiwillige Religion bekent, welche Raſerei treibt euch an, der Gottheit ſolche abſcheuliche Opfer zu bringen? Wel - ches Ungeheur hat euch eingegeben den gemeinſchaftli - chen Vater der Weſen durch menſchliche Opfer zu eh -A a 4ren?376ren? Gottloſe, in die groͤſte Unwiſſenheit verſunkene Menſchen, die mit einer erſchrecklichen Gotteslaͤſte - rung das hoͤchſte Weſen nach ihrem blutduͤrſtigen Her - zen beurtheilt haben! Ach, meine Bruͤder! ihr ſeid ia Menſchen; kehrt zu Geſinnungen, die der Vernunft angemeſſen ſind, zuruͤck; Jagt die ehrloſen Jnquiſi - tors fort, die den Geiſt der Religion zernichten, an - ſtatt, daß ſie vorgeben ihn zu erhalten. Einem ieden von euch ſei es erlaubt, ſeinen Einſichten und ſeiner Ueberzeugung gemaͤs zu denken, das heißt die Men - ſchen erniedrigen und ſie unter das Vieh herabwuͤrdi - gen, wenn man ſie verhindert, zu reden und zu han - deln wie ſie denken. Ja es heißt die ewige Vernunft laͤſtern, davon die Gottheit uns allen einen Funken zu unſrer Leitung mitgetheilt hat: das heißt ſie der Un - gerechtigkeit beſchuldigen oder ſich uͤber ihre Unbeſon - nenheit aufhalten: dies iſt die ſchrecklichſte Entheili - gung; Derienige, welcher andre verfolgt, damit ſie ſo denken ſollen, wie er, muͤſſe gleich einem giftigen Thiere auf eine wuͤſte Jnſel verſetzt werden; Nein Portugieſen, nur eine allgemeine Toleranz und eine gaͤnzliche Gleichguͤltigkeit gegen alle Meinungen, kann den Frieden erhalten. Niemand hat ein meh - reres Recht, als uͤber ſeine eigne Meinung. Derie - nige, welcher unter dem Vorwande des Eifers gegen Gott, fuͤr ſeine Religion eingenommen iſt, giebt zu erkennen, daß er weder die Macht Gottes kent, weil er ihn beſchuͤtzen will, noch ſeine Guͤte, weil er ihm durch Unrechtthun einen Dienſt zu erweiſen glaubt. Jrriger boͤſer Menſch, Gott iſt maͤchtiger als du, und bedarf deiner Huͤlfe nicht. Es iſt als wenn derunbe -377unbemerkbare Hautwurm dem Elephanten helfen wol - te; Portugieſen, die Menſchen von allen Religionen ſind Bruͤder: der Stifter des Chriſtenthums verſi - chert den Juden ausdruͤcklich, daß der wohlthaͤtige Samaritaner ihnen naͤher ſei, als einer von ihren harten unbarmherzigen Bruͤdern. Betrachtet daher den Juden, den Tuͤrken, den Mauren, den Prote - ſtanten als euren Naͤchſten; denn ſie ſind es; Jeſus hats geſagt: der erſte unter euch, welcher es wagt in Eifer zu gerathen, muͤſſe als ein Stifter oͤffentlicher Unruhen behandelt werden. Die Kezzermacherei iſt das abſcheulichſte unter allen Laſtern, das ſich mit der Vernunft und dem geſunden Verſtande am wenig - ſten vertraͤgt. Sie iſt ein Gift, welches weit gefaͤhr - licher als Ottern und Schlangen iſt. Jhr Portugieſen von Goa, gebt auf dieſe Worte recht Achtung: Jch fliegender Menſch, der ich eure Schlachtopfer ſo eben dem Tode entriſſen habe, ich werde die Menſchlichkeit raͤchen, wenn ihr ſie noch laͤnger beleidigt; Lebt wohl!

Damit floh er fort, und verſetzte das ganze Volk in Goa in ein ſo tiefes Staunen, daß der groͤßte Theil der Einwohner den andern Morgen es fuͤr eine Taͤu - ſchung hielt und glaubte, es waͤre kein fliegender Menſch geſehn worden, ſondern eine Zuſammenrot - tung haͤtte die Leidenden von dem Avto-da-fe befreit. Deshalb hat der Vicekoͤnig, der dieſer Meinung war, dieſen Vorfall niemals an ſeinen Hof berichtet, ſon - dern ſich begnuͤgt, ſorgfaͤltige Unterſuchungen anzu - ſtellen. Er hat aber, wie man ſich leicht vorſtellen kan, nichts entdeckt. Demungeachtet iſt er der feſtenA a 5Meinung,378Meinung, daß es keine fliegenden Menſchen geben koͤnne. Als Hermantin bei ſeinen Gefaͤhrten im Schif - fe, wo ſie die den Flammen entriſſenen Ungluͤcklichen abgeſetzt hatten, anlangte, verließ man das Ufer und ſchifte nach der Chriſtininſel. Die Mauriſche Fami - lie ward auf eine kleine Jnſel von zwei Meilen im Um - fange und ziemlicher Fruchtbarkeit geſchaft. Die Ju - den waren zahlreicher und bekamen eine von ſechs Meilen, wo man ihnen voͤllige Freiheit ließ. Die Pro - teſtanten behielt man auf der Chriſtininſel. Endlich erfuͤlte der Biſchof die weiſen Geſetze des Landes, und waͤhlte, nachdem er dem Victorin den chriſtlichen Gottesdienſt voͤllig mitgetheilt hatte, die Schaafinſel zu ſeiner Dioͤces, wo er ſeine Tage im Schooſe der Unſchuld ruhig zubringt.

Das iſt alles, was ich ihnen zu erzaͤhlen mich anheiſchig gemacht habe. Jch will nur noch ein Wort hinzuſetzen.

Der weiſe Prinz Hermantin genießt die Beruhi - gung, zu ſehn, daß die Thier-Menſchen ſich nach und nach vervolkommen. Bei der Fortdauer ſeiner vaͤter - lichen Sorgfalt wendet er die wuͤrkſamſten Mittel an, damit ſie nicht unteriocht werden. Kurz die neue Re - publik gedeiht unter unſern weiſen Geſetzen. Was mich betrift, ſo habe ich mich auf Verlangen des Prinzen Hermantin, als er auf die Beobachtung des Kapi - tain Cook ausging, mit auf das Schiff der Jnſel ein - geſchift. Jn einiger Entfernung von dem Vorgebuͤrge der guten Hofnung brachte der Prinz ſelbſt mich mitkoſtba -379koſtbaren Waaren ans Land, die ich nach und nach verkauft habe. Die Vorſchrift, die er mir meines Be - tragens halber gab, beſtand darin, hier auf alles Achtung zu geben, was in Beziehung auf unſer Land geſprochen wuͤrde, davon ich ihnen das Geheimnis in der feſten Ueberzeugung mittheile, daß ſie ſich entſchlie - ßen werden mitzugehn, wenn ich zuruͤckkehre, oder daß Prinz Hermantin ſie wenigſtens zu unſerm hieſi - gen Reſidenten und Vertrauten machen koͤnne, bei dem er ſich alle Jahr von den neuen Entdek - kungen unterrichte, welche die Englaͤnder etwa machen moͤchten.

Beſchluß des Salocin-Emde-Fiter.

Mehr will ich nicht ſagen, geehrte Leſer: ein Wort mehr moͤchte dasienige entdekken, was auf im - mer verſchwiegen bleiben muß und dies Wort ſoll mir in meinem ganzen Leben nicht entwiſchen. Jch habe euch blos ein neues Gemaͤlde vor Augen legen wollen. Jch habe den Prinzen Hermantin ſchon zweimal ge - ſehn. Lebt wohl!

Derienige, welcher mir dieſe Erzaͤhlung mittheil - te, iſt wieder abgereiſt, und ich bin der Geſchaͤfts - traͤger der Kolonie.

Die380

Die Abſicht bei der Herausgabe dieſes Werks war, wo moͤglich, ein allgemeines Wohlwollen un - ter den Menſchen von allen Farben und allen Geſtal - ten zu erwekken. Dies iſt ohne Zweifel der Endzweck dieſer Erdichtung geweſen, vorausgeſetzt, daß die Thatſachen erfunden ſind. Es iſt gewiß, daß man in einer ieden guten Regierung das oͤffentliche Wohl der Gluͤckſeligkeit einzelner Perſonen vorzieht: die Vor - theile einer algemeinen Verbruͤderung flieſſen aus dem naͤmlichen Grundſatze. Wenn man den Egoiſten ver - damt, der ſich ganz aufopfert und alles in Beziehung auf ſich anſieht, ſo geſchieht es darum, weil durch die Vernichtung des algemeinen Wohls in dieſem ge - faͤhrlichen Siſtem, bald die Zerſtoͤrung des Privat Vortheils, den der einfaͤltige Egoiſte ausſchlusweiſe bewuͤrken wolte, erfolgen wuͤrde. Wir koͤnnen die Staaten als große Koͤrper und weitlaͤuftige Einhei - ten betrachten. Aus dieſem Geſichtspunkt iſt es er - laubt, ihren Egoiſmum anzugreifen, wenn man ih - nen zeigt, daß er nichts als Uebel hervorbringen kan, und daß, wenn die geſunde Vernunft zum Beiſpiel die europaͤiſchen Nation vereinigen koͤnte, ein alge - meines Gluͤck daraus entſtehen, und ſich uͤber alle Einzelne verbreiten wuͤrde. Aber denen eigenſinnigen Strohiunkern unſrer Provinzen aͤhnlich, wuͤrden die Staaten vielleicht ſich zu erniedrigen und ihre Wuͤrde zu vermindern glauben, wenn ſie nur etwas weniges aufopfern ſolten. J. J. R. hat dies Hinderniß fuͤr un - uͤberwindlich angeſehn; und ich wuͤrde, ohne dasBuͤnd -385Buͤndniß, welches Rußland vor kurzem denen uͤbri - gen nordiſchen Maͤchten vorgeſchlagen hat und dieſe angenommen haben, eben der Meinung ſein: Keine hat dafuͤr gehalten, daß ihrer Wuͤrde durch den Bei - tritt etwas abginge und ſie ſind alle nicht minder frei und ſouverain geblieben. Man ſuche dieſen ſchoͤnen und großen Gedanken zu vervolkomnen! Dies ſcheint ein wuͤrdiges Geſchaͤft fuͤr die Franzoſen zu ſeyn, die in allen Stuͤcken von der Natur dazu erkohren zu ſein ſcheinen, denen Geſezzen, Wiſſenſchaften und Kuͤn - ſten die letzte Politur zu geben. Solte man nicht eine gewiſſe Art von Amphyctionen fuͤr ganz Europa er - richten koͤnnen, wozu auch der Tuͤrke in Ruͤkſicht ſei - ner Beſizzungen in dieſem Welttheil gehoͤrte? Vor die - ſem hoͤchſten Richterſtuhl muͤſten alle Jrrungen der Nationen unter einander entſchieden werden. Jede europaͤiſche Macht fuͤhrte ein Jahr lang den Vorſitz, nicht nach der Wahl, ſondern nach der Folge in einer feſtgeſetzten Ordnung z. B.

  • 1) Der Kaiſer mit denen Reichsfuͤrſten, die nicht Koͤnige ſind, deren alleiniges Werk - zeug er ſeyn muͤſte.
  • 2) Der Koͤnig von Frankreich.
  • 3) Der Koͤnig von Spanien nebſt ſeinen amerikaniſchen Staaten.
  • 4) Rußland mit ſeinen weitlaͤuftigen Herr - ſchaften.
d. fl. Menſch. B b5) Gros -386
  • 5) Grosbritannien und Jrland.
  • 6) Der Koͤnig von Preußen.
  • 7) Der Koͤnig von Sardinien.
  • 8) Neapel, Sicilien und der Maltheſer Orden.
  • 9) Rom, Venedig, Toſkana: Seine Hei - ligkeit fuͤhrte im Namen aller italiaͤni - ſchen Prinzen zuſammen die Stimme ab - wechſelnd mit Venedig und Toſkana.
  • 10) Schweden.
  • 11) Daͤnnemark.
  • 12) Alle Republiken von Europa, die drei Repraͤſentanten bekaͤmen, von wegen Hol - land, der Schweiz und Pohlen. Die - ſe haͤtten wechſelsweiſe den Vorſitz, naͤm - lich iede in drei und dreißig Jahren einmal.
  • 13) Endlich der Sultan blos als europaͤi - ſche Macht.

Doch duͤrfte der Vorſizzende blos eine ausſchla - gende Stimme in dem Falle haben, wenn bei Ein - ſamlung der Stimmen ſeiner vornehmen Pairs, derzwoͤlf387zwoͤlf uͤbrigen Souverains, welche zu ſeinem Amte ge - hoͤrten, ſich zwei gleiche Theile faͤnden. Die amphyc - tioniſchen Entſcheidungen muͤſten ſowohl die hohen be - rathſchlagenden Maͤchte, als die niedern Fuͤrſten ver - binden. Doch waͤren dieſe ihres Berathſchlagungs - rechts nicht gaͤnzlich zu berauben, ſie vertraͤten die Stellen der Raͤthe, und koͤnten ihr Votum durch die Kanzley, demienigen Praͤſidenten zu dem ſie gehoͤrten uͤberreichen: die Reichsfuͤrſten, dem Kaiſer, die Jta - lieniſchen, dem Pabſte ꝛc. aber die zwoͤlf gekroͤnten Praͤſidenten berathſchlagten allein mit ihren erſten Vorſitzenden. Die Haltung des Amphyctionengerichts koͤnte in zwei republikaniſchen Staͤdten, wechſelswei - ſe, einmal in der Schweiz, einmal in Warſchau geſchehen.

Jch habe nicht den Duͤnkel dies als eine ausfuͤhr - bare Sache auszugeben, ſondern blos als einen Ge - danken, der zu einem nuͤtzlichen Plane Anlas geben koͤnte. *)Dergleichen Plans ſind von Heinrich dem vier - ten, Koͤnig in Frankreich, vom Abt St. Pierre, vom Hrn. von Loen bekantlich ſchon oͤfters ent - worfen worden, aber wie dieſer, wahrſcheinlich im - mer unausgefuͤhrt geblieben. A. d. U.

Von dieſer algemeinen Verbruͤderung haͤtte man ſich die naͤmlichen Vortheile zu verſprechen, welche gute Geſetze in einem policirten Staate gewaͤhren: ſie wuͤrde einer unendlichen Menge Ungluͤck vorbeugen;und388und Europa, das gleichſam eine große Familie ausmachte, wuͤrde ein zweites goldnes Alter ent - ſtehen ſehn.

Die Abſicht des Geſchichtſchreibers von der Chri - ſtininſel in denen vorherſtehenden Erzaͤhlungen, iſt keine andere geweſen, als dieſe wichtige Wahrheit feſt - zuſezzen: Alle Menſchen mit Vernunft begabt, ſind nicht minder Bruͤder, ſie moͤgen auch Affen-Baͤr - Hunde-Schlangen-Elephanten - oder Voͤgel-Men - ſchen ꝛc. ſein. Er greift daher, wie man ſieht, keine von denen durch die Religion geheiligten Wahrheiten an.

About this transcription

TextDer fliegende Mensch
Author Nicolas-Edme Rétif de La Bretonne
Extent397 images; 80638 tokens; 11620 types; 568271 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDer fliegende Mensch ein Halbroman Nicolas-Edme Rétif de La Bretonne. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius (ed.) 2. Auflage. [2] Bl., 388 [i.e. 384] S. : Frontisp. (Kupferst.). BreitkopfDresdenLeipzig1785.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Berlin SBB-PK, 215149

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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