Hier ſitz’ ich nun ſo einſam als einſt Bru - der Claus in ſeiner Hoͤhle. Eine Menge von Jdeen durchkreuzen ſich in meiner Seele; das Aggregat derſelben — koͤnnte es ein anderes ſeyn, als Sie? Jch denke ſo gern den Lehr - reichen herzerwaͤrmenden Geſpraͤchen nach, die mich einſt ſo gluͤcklich, ſo unausſprechlich gluͤcklich machten, die mich meine Exiſtenz ſo ganz em - pfinden ließen. Ach! wie viele frohe Stunden wurden mir zu frohen Augenblicken in dem lie - den Zirkel von Menſchen, der ganz von Jhrem Geiſte, meine Theuerſte — beſeelt war! ich denke dieſer Stunden, dieſer Augenblicke mit Weh - muth. Aber auch dieſe Wehmuth iſt mir in der Erinnerung ſo angenehm, daß ich ſie um keinen Preiß dahin geben moͤchte.
Erinnerung und Hoffnung ſind die beiden Extreme, und Wunſch, der Mittelpunkt, auf welchem wir uns drehen, ungewiß, welches Ex - trem uns am gluͤcklichſten machen koͤnnte, wenn uns die freie Wahl uͤberlaſſen wuͤrde. Wir le -A 24ben ſo gern in der Einbildung, traͤumen uns ſo gern in angenehme, reizende Gefilde; uͤberall erſcheinen uns Roſen — Taͤuſchung ver - birgt die Dornen, die ſie umgeben. Tauſend Bilder ſchweben vor unſern Blicken; die Ein - bildung mahlt die aus der Zukunft entlehnten mit lebhaftern Farben, wir greifen darnach, und — es war ein Traum, der uns wachend dem wirklich Traͤumenden aͤhnlich machte. Das Erwachen iſt unangenehm, es erinnert uns an eine Veraͤnderung, an etwas das nicht mehr iſt.
Was ſind doch Veraͤnderungen! Abſchnitte des menſchlichen Lebens, ohne welche wir nichts, oder doch das nicht waͤren, was wir ſind. Nur allein in ihnen empfinden wir unſer Daſeyn. Aber warum ſind ſie oft bitter dieſe Abſchnitte des Lebens? warum ließ der weiſe Schoͤpfer — Veraͤnderung, das Gelenk in der Kette unſert Le - bens, unſerer Schickſale ſeyn, an welchem die uͤbrigen feſtbangen? Mein Blick iſt zu truͤbe und mein Auge zu kurzſichtig, dieſe große Kette mei - ner Schickſale zu uͤberſehen. Einſt, hoffe ich, wird die Vergangenheit deutlicher vor mir lie - gen, dann wird ſich das Raͤthſel meines Da - ſeyns aufloͤſen.
Mich traf ſchon manche Veraͤnderung, aber keine hat ſo auf mich gewirkt als die Letzte. Sie verſtehen mich. Sie entriß mich einem herz -5 lichen Umgange mit guten Menſchen, verſetzte mich in eine groͤßere Verbindung, wo man die Freuden, wie die Muͤnze, unter dem Gepraͤge des konventionellen Anſtandes, verſpendet, wo ich vergebens ſuche was ich dort zuruͤck ließ — Froͤhlichkeit. Sie mag vielleicht auch hier zu - finden ſeyn, aber unter einem Gewande, das ich nicht kenne. O! eine theilnehmende Seele, die Wahrheit giebt und Wahrheit ſucht, wie viel iſt ſie nicht werth! Aber wie ungluͤcklich iſt ſie auch, wenn ſie Wahrheit giebt, und keine wieder findet! Die natuͤrlichſte Folge iſt eine Dis - harmonie der Empfindungen. Jch muß hier auf einige Augenblicke abbrechen; ich fuͤhle, daß mei - ne Empfindungen ſelbſt ſo disharmoniſch ſind, daß ich erſt eine reine Stimmung hineinhrin - gen muß.
Jch wollte mich heute mit Jhnen uͤber eine ganz andere Materie unterhalten, Sie ſehen aber, daß ich unwilkuͤhrlich in den vorigen Zeilen, auf den Gegenſtand unſerer letzten Unterredung mit der guten M. … gekommen bin, die ſo ſchnell unterbrochen wurde. Ob ich ſie wieder anknuͤpfe die Faͤden dieſer Unterredung? Doch Sie kann nicht mehr Theil daran nehmen, und wir waren ja ſchon einverſtanden. Mein Herz ſpricht die reinſte Hochachtung fuͤr Sie.
6Heute habe ich hier das erſte Konzert be - ſucht. — Erwarten Sie aber daruͤber keine Cri - tik von mir, ich ſpare gern mein Urtheil in ſol - chen Faͤllen, dagegen bitte ich Sie mit einigen Phantaſien Nachſicht zu haben, die ich fuͤr Sie ſo niederſchreibe, wie ſie mir einfielen.
Warum ſetzen doch die Komponiſten ſo ein - fach, oder vielmehr, warum laßen ſie den Spie - lern ſo viel Zeit und Raum ihre burlesken Schnirkel und Triller da anzubringen, wo ſie nicht bingehoͤren? oder iſt es ein Eigenſinn der Spieler, daß ſie es beßer machen wollen, als es der Komponiſt wollte, der ſtatt des feſten Tons, den er verlangte, lauter Schwebungen hoͤ - ren muß? — So dachte ich, und mit einemmale ſiel mir ein, daß wol ein jeder Menſch ſeine eigene Rolle eben ſo mit Verzierungen ſpielen wolle, die gar nicht in den Plan deſſen gehoͤ - ren, der ſie ihm zu getheilt habe. Jch fand die Muſik als ein Gemaͤhlde nicht blos fuͤr jeden einzelnen Menſchen, ſondern fuͤr die große Schoͤ - pfung ſo paſſend, daß ich vergaß im Konzert zu ſeyn. Meine Aufmerkſamkeit war dahin, und ich ſchwaͤrmte in meiner Einbildung aus der wirklichen Welt hinaus. Wo ich mit mei - nen Gedanken ſtehen blieb, haͤtte mir der ſagen koͤnnen, der die Thraͤnen in meinem Auge be - merkt haͤtte. — Wie oft moͤgen wir in unſer7 eigenes Spiel etwas einmiſchen, das daſſelbe ver - dirbt, und doch hoften wir es recht gut zu machen; wir fanden es zu einfach, und bringen lauter Verwirrung hinein, weil wir weder den Ryth - mus noch den Numerus verſtehen.
Die menſchliche Seele iſt ein Jnſtrument, das rein toͤnt, wenn es der Spieler rein erhaͤlt, das harmoniſch toͤnt, wenn eine Harmonie ge - griffen wird. Aber auch Diſſonanzen gehoͤren weſentlich zu der Muſik, ohne ſie finden keine Konſonanzen ſtatt, die leztern find nur Konſo - nanzen in Beziehung auf die erſtern. Wuͤrde der Schoͤpfer weiſe geweſen ſeyn, wenn er lau - ter Wohlklang in dies Jnſtrument gelegt haͤtte? Oder waͤre ihm dies auch nur moͤglich geweſen? Sollte es vollkommen ſeyn: ſo mußte es alle Toͤne angeben koͤnnen, die in der ihm beſtimm - ten Peripherie liegen, auch die Mißtoͤne gehoͤ - ren dahin. Die Aufloͤſung des Mißlautes in den Wohllaut erhoͤhet den Reiz deſſelben. Eine geſpannte Erwartung, ſo unangenehm ſie auch iſt, giebt die ſeeligſte Empfindung in der Aufloͤ - ſung. Gehaͤufte Mißtoͤne, ohne Aufloͤſung, koͤn - nen vielleicht manches Ohr gewoͤhnen, daß es dieſelben ertraͤglich findet, aber angenehm koͤn - nen ſie nie werden. Dies wuͤrde ein großer Feh - ler ſeyn, den ein Meiſter in der Kunſt nicht ma - chen darf. Eben dieſer Tadel wuͤrde eine be -8 ſtaͤndige Harmonie treffen; ſie iſt auch durchaus nicht moͤglich. Harmonie beſteht nur in der Ab - wechſelung mit der Dishakmonie. —
Stehen nicht alle Schickſale der Menſchen in einem ſolchen Einklange? das froͤhlige folgt dem traurigen, das gluͤckliche dem ungluͤcklichen, oder auch umgekehrt. Jedes verdient nur den Namen in Beziehung auf das andere. Die ru - hige und reine Aufloͤſung, oder der Uebergang von den unangenehmen zu den angenehmen Em - pfindungen giebt den Grund der Beurtheilung an. Vorbereitungen muͤſſen nach den Regeln der Kunſt voraufgehen; der Stuͤmper macht ei - nen Sprung, der Meiſter nicht. Beyde kom - men an das Ziel, nur in dem — wie liegt der Unterſchied. Aber wird man Meiſter ohne Uebung? Wer nie einen falſchen Ton griff, wird nie ſchoͤn ſpielen, und wer nie einen Mißlaut kannte, kennt auch keinen Wohllaut. Dein Jn - ſtrument war verſtimmt, ſtimme es rein, trit wieder an, und ſpiele deine Rolle ſo gut du kannſt, freue dich uͤber den Geſchicktern oder beneide ihn, beides kann dir ein Sporn ſeyn ihn zu uͤbertreffen.
Was wir fuͤr Rollen ſpielen, meine Theuer - ſte? Sey ſie welche es will, die uns zu Theil wur - de, nur gut geſpielt, und ſie bleibt nicht ohne9 Beifall. Sie ſelbſt muß gut fuͤr uns ſeyn, denn der große Komponiſt konnte weder etwas ſchlech - tes machen, noch ſeine Rollen ſchlecht austheilen.
Das große Konzert der Schoͤpfung enthaͤlt allerlei Spieler, auch der Stuͤmper fuͤllt ſeine Luͤcke aus, ſchleicht mit durch; er gehoͤrt zum Ganzen, und iſt daher nicht ohne Nutzen. Jn einer andern Region kann er ein Meiſter ſeyn. — Mancher Mißlaut toͤnt, er toͤnt aber nur den Ohren des naͤchſten Nachbars unangenehm, in dem All verliert er ſich; der Meiſter vernimmt ihn; die Saite klingt unrein — er winkt ſie zu ſtimmen. Ein raſches Allegro wechſelt mit dem ſanften Adagio im Moltone, ihr Charakter bringt Empfindungen hervor, die ihm eigenthuͤmlich ſind. Wohl dem, der im Spiel des Trauer - ſtuͤcks Thraͤnen weint und auf das Froͤhlige hin - blickt, der im Genuß des Letztern die Moͤglich - keit des Erſtern nicht uͤberſiehet. Der Unterſchied beſtehet nur in einem Tone, der oft kaum be - merkt wird. Eine Abweichung, die die Ruͤck - kehr nicht vergeſſen macht, verrraͤth einen gu - ten Spieler.
Phantaſien dienen zur Charakteriſtik; aus ihnen gehen neue Erfindungen und Erfahrungen hervor. Wer will ſie verdammen, wenn ſie nur nicht dem Nachbar unangenehm ſind. — Nicht10 alle Menſchen haben einen Freund, eine Freun - din, die auch die Phantaſien des Freundes mit Nachſicht aufnehmen, wenn ſie nur das Ge - praͤge der Aufrichtigkeit tragen.
Daß ich Sie als eine ſolche Freundin ſchaͤtze, darf ich hier nicht erſt verſichern. Jhr edles Herz ſpricht Wahrheit und Aufrichtigkeit. Fuͤr die Reinheit Jhrer Handlungen buͤrgt die Ein - foͤrmigkeit, die Selbſtſtaͤndigkeit derſelben, die meine Bewunderung erregte und mich unwie - derſtehlich anzog. Nur Einklang der Handlun - gen macht eine große Seele. Dieſer Einklang, der ſich durch alle Mißlaute nicht verliehrt, nicht unharmoniſch wird, iſt der edle Charakter, der Abdruck Jhres Herzens, das ich verehre. Jch darf mich zwar nicht unterfangen Jhre Charakteri - ſtik zu entwerfen, oder Jhre Tugenden aufzuzaͤh - len, die ſich alle in jenem Einklange konzentri - ren, aber das kann ich doch nicht verſchweigen, daß ich wenige Frauenzimmer kenne, die ſich ein vollkommeneres Recht auf meine Verehrung und Hochachtung erworben haben, als Sie. —
Sie verſtehen die Kunſt ſehr gut, wie es ſcheint, aus den Briefen Jhrer Freunde ſogleich die Antwort herzunehmen. Das Ding iſt ſehr leicht. Wenn ich es eben ſo machte, und eine Stelle Jhres Briefes woͤrtlich Jhnen zuruͤck ſchickte, wuͤrden Sie mir es verzeihen?
„ Die Harmonie unſerer Seelenkraͤfte klingt „ im Akkorde, wenn eine andere außer uns die - „ ſelben Schwingungen macht. Jn dem groſ - „ ſen Akkorde der Schoͤpfung ſind mehrere un - „ tergeordnete, die aber alle im Einklange zu - „ ſammen ſtimmen ſollen, das heißt, ein jeder „ Ton hat ſeine eigene reine Stimmung fuͤr „ ſich, toͤnt allein in einfacher Konſonanz, er - „ hoͤhet aber den Reiz der Harmonie des Gan - „ zen. Der Menſch gehoͤrt vorzuͤglich zu die - „ ſem Ganzen, der Stolz kennte ihn vielleicht „ den dominirenden Ton nennen. Warum „ iſt denn aber ſeine eigene Stimmung ſo „ ſehr unrein? iſt die Saite ſo, daß ſie keine „ Stimmung aushaͤlt? oder ſind es Stuͤmper „ die daran pfuſchen? — Dies Freund ſagen „ Sie mir. Jch bin geneigt das Letztere zu „ behaupten; mein eigenes Geſchlecht kann „ mir die Beweiſe dazu hergehen. Unſere12 „ weiblichen Empfindungen ſtehen auf der „ Grenze zwiſchen Harmonie und Disharmo - „ nie. Sie ſehen, daß ich noch immer die Ver - „ theidigerin meines Geſchlechts ſeyn moͤchte. „ Das Woͤrtchen Grenze leidet doch eine „ ertraͤgliche Nebenidee. ‟
Sollte Jhr Geſchlecht wol ganz mit dem Letztern zufrieden ſeyn? doch wir wollen daruͤber nicht weiter ſtreiten. Jhre Frage, daͤchte ich, koͤnnte man ſo zuſammen faſſen: Woher kom - men die vielen Verſtimmungen, die vielen Mißlaure, die den Lebensgenuß ſtohren, in die Seelen der Menſchen, und beſonders der Frauenzimmer? — Eine ganz vollſtaͤndige Be - antwortung wuͤrde mich zu weit fuͤhren, uͤber - dem waren wir ja ſchon einſt uͤber die meiſten Urſachen dieſer Verſtimmung einig. Nur eins bleibt mir uͤbrig, naͤmlich mich uͤber den Ein - fluß der Lektuͤre auf die Empfindungen der Men - ſchen zuerklaͤren, ich verſtehe dies aber nicht von der geſammten Lektuͤre, denn daruͤber waren wir meiſtentheils auch einverſtanden, ſondern nur uͤber den Einfluß der ietzigen Modelektuͤre, die mir unter den obigen Pfuſchern keinen ge - ringen Platz zu behaupten ſcheint.
Was ich in dieſen und in den folgenden Briefen ſagen werde, trift Sie gar nicht; ich13 denke mir Sie iſolirt auf einem hoͤhern Stand - punkte als Zuſchauerin, oder vielmehr als Rich - terin des Kampfes; Sie forderten mich auf; ob ich den Dank verdienen werde? wir wollen ſehen:
Jch werde Jhnen zuerſt eine Charakteriſtik der einzelnen Zweige der jetzigen Modelektuͤre entwerfen, und dann in einigen Briefen ein Raͤſonnement uͤber die abentheuerliche Leſeſucht, und uͤber den Einfluß derſelben auf haͤusliches und oͤffentliches Gluͤck liefern.
Jn der letzten Haͤlfte dieſes Jahrhunderts hat unſere Litteratur einen ganz eigenen Gang genommen, wozu man das Gegenſtuͤck in der Litteraͤrgeſchichte aller vorigen Jahrhunderte vergebens ſucht. Nie bluͤheten Wiſſenſchaften und Kuͤnſte ſo ſehr, und nie waren die Drucker - preſſen ſo ſehr beſchaͤftigt als jetzt. Die Vor - theile davon ſind augenſcheinlich, und man muß die Bemuͤhungen, unſerer wahren Gelehrten um die Verbeſſerung, Veredlung und Aufklaͤrung der Menſchen dankbar erkennen. — Wo eine mediceiſche Venus ausgehauen wird, da fallen auch Spaͤne ab, die der Stuͤmper zu Spiel - ſachen fuͤr die Kinder zugebrauchen ſucht. Die - ſe Spielſachen finden oft mehr Beifall als das Meiſterſtuͤck, denn hierzu gehoͤrt Beurtheilungs - kraft und ein reiner Geſchmack.
14So geht es auch in der Schriftſtellerei, wo ſich neben den vortreflichen Arbeitern ſo vie - le Tageloͤhner eingeſchlichen haben, die ſich nie uͤber Kalk und Stroh erheben. Wenn ſie dies zum Behuf der Meiſter lieferten: ſo waͤren ſie allerdings nuͤtzlich, ja unentbehrlich. Da ſie aber fuͤr ſich allein damit beſtehen und das Publi - kum in ihre Huͤtten aufnehmen wollen: ſo ſind ſie ſchaͤdlich. Jhr Gebaͤude faͤllt, und erdruͤckt die darunter hauſen, und ihre Nahrung, die ſie darin gaben, vergiftet die, welche entka - men. — Die Ausſchweifung in der Schrift - ſtellerei wird die Peſt fuͤr die Menſchen. So lange ſie der wahren Gelehrſamkeit, und dem Menſchenwohl nicht ſchadet, ſo lange noch durch dieſe ſchriftſtelleriſchen Taͤndeleien, manches, was ſonſt verlohren gienge, und doch nuͤtzlich iſt, in Umlauf gebracht wird, ſo lange laͤßt ſie ſich der Vernuͤnſtige gefallen. Aber wenn er ſtatt dieſes kleinen Nutzens den groͤßten Scha - den daraus hervorgehen ſiehet, ſoll er dann nicht ſeine Stimme erheben?
Die Zweige der wahren Gelehrſamkeit uͤber - ſchatteten ſonſt das Unkraut, das ſich in ihrem Schatten naͤhrte, jetzt faͤngt es an zu luxuri - ren und will uͤber jene Zweige hinauswachſen. Dies iſt in der That zu befuͤrchten, wenn ihm15 nicht ein neues Winzermeſſer Einhalt thut. Es gab immer bey den guten Schriftſtellern auch ſchlechte, und die Modelektuͤre unterſchied ſich immer von der nuͤtzlichen, aber nie war der Unterſchied ſo groß als jetzt. Der Geſchmack der Leſer ſchweifte immer aus, aber noch nie war er auf einen ſolchen Weg gekommen, als jetzt. Romane machten immer einen Theil der ſchoͤ - nen Litteratur aus, aber nie erweiterte ſich derſelbe zum Nachtheil der andern ſo ſehr, als in unſern Zeiten. Man faͤllt von einem Gegen - ſtande auf den andern, und der Ueberdruß bei - der fuͤhrt den Dritten herbei. Man treibt ſich in der Leſerei herum und findet noch keinen feſten Punkt zum ſtehen, Wo dieſer endlich ſeyn wird? vielleicht im andern Extrem.
Wenn man die Schriften anſiehet, die ohngefaͤhr ſeit zwanzig Jahren unter den Mo - deleſern graßirten, und nun leere Plaͤtze in den Bibliotheken ausfuͤllen: ſo wird man die Perio - de der Genien, der Empfindſamkeit oder Em - pfindelei, die ſo gar auf die Kleidermoden Ein - fluß hatte, nicht verkennen. Jhr ganzes Ver dienſt beſtand darin, daß ſie die Koͤpfe verwirr ten, und die Herzen in Weichlichkeit verſenkten. Es wurde mehr geſeuftzt, geweint, gegirrt, als gedacht und geſprochen. Ein Bluͤmchen am16 Wege zerknickt, ein aͤngſtlich ſchreiendes Voͤgel - chen, waren Gegenſtaͤnde des Schmerzes. Be - traf es einen leidenden Menſchen, oder gar ei - nen ungluͤcklichen Liebhaber, dann gieng nichts uͤber die Thraͤnenſtroͤme. Wo es auf das Hel - fen ankam, da war lauter Unvermoͤgen. Was fuͤr eine erſchreckliche Verzaͤrtelung des menſch - lichen Leibes und Geiſtes! Es giebt jetzt auch noch Menſchen, beſonders Frauenzimmer, die mit Vergnuͤgen von Schlachten leſen und reden, da - bei aber kein Voͤgelchen leiden ſehen wollen; in deß beduͤrfte die Thraͤneuquelle eines neuen Moſes.
Dieſe Periode iſt von einer andern ver - drengt, in welcher Wunderdinge, Abſcheulich - keiten, Rittermaͤhren, die Gegenſtaͤndel der Lek - tuͤre ſind. Wie ſich wol dieſe beiden Extreme reimen moͤgen! daß man doch nie die Mittel - ſtraſſe zu halten ſucht!
Wahrſcheinlich ſollten nun die weichen Herzen aus der großen Weichlichkeit herausge - zogen, und ihnen die Mannheit wiedergegeben werden. Es ſcheint wunderbar, und doch iſt es wahr, daß die Periode der Empfindelei Vor - bereitung auf dieſe war. Ob die Schriftſtelleraus17aus jener Periode etwa ſo viel Menſchenkennt - niß beſaßen, daß ſie darauf den Grund zu ei - nem Gebaͤude legten? ſie haͤtten dann richtig gerechnet. Der hoͤchſte Grad der Weichlichkeit grenzt an das Gegentheil, wie die Erfahrung lehrt. Der Uebertrit mag ſo ſchwer nicht ſeyn wenn man nur den rechten Fuß aufhebt. Weich - lichkeit laͤßt ſeiner Natur nach gern Wunder - dinge zu; ſie beſchaͤftigen vorzuͤglich die Einbil - dungskraft. Rittermaͤhren mit ihrem Troß koͤnnen dem Weichlinge, ſo gar in der Vorſtel - lung der Unmoͤglichkeit das Jdeal zu erreichen, doch angenehme Empfindungen geben. Man hat dies beobachtet.
Wenn die Herrn blos um Aufſehen zu er - regen dieſen Weg einſchlugen, und ihre Wun - derdinge auf den Markt brachten: ſo ſind wir Thoren, daß wir Kenntniß davon nahmen. Daß doch das Abentheuerliche immer ſo angenehm ſcheint! Mancher mag auch wol nur allein Geld zum Zweck ſeiner Spekulation gemacht haben. Wie wir mit uns ſpielen laſſen! wir bezahlen ſo gar die Stoͤße, die wir erhalten.
Dieſe zweite Periode iſt diejenige welche der menſchlichen Vernunft am wenigſten Ehre macht, und fuͤr unſern Geſchmack kein guͤnſtiges Ur - theil erzeugt. Man hat nicht Unrecht, wennB18man ſie mit dem Gaßner und Mesmer anfaͤngt. Die Abſicht dieſer Geſchichte mag ſeyn, welche ſie will: ſo ſcheint ſie doch nicht rein zu ſeyn. Das Publikum wurde durch Wundergeſchichten, Teufelsbannereien, Geiſterſeher und Geiſterge - ſchichten beluſtiget, und vergaß ſich ſelbſt. Ein Theil ſtaunte ob der neuen Maͤhr ein anderer war ſchon luͤſtern nach dem Gebrauch der neuen Kunſt zu einem reellern Zweck, ein dritter lach - te uͤber die Thorheit der Menſchen, und ein vierter ſchrie — Wunder, et fama creſcit cundo, caput inter nubila condit.
Ein frommer Seher druͤckte durch ſeine Autoritaͤt, die er durch einen Erſchleichungs - fehler uͤber viele Gemuͤther erhalten hatte, dem Wunderglauben das Siegel auf. Er ſelbſt glaubte das, was ſo gar der untruͤgliche Stuhl in Rom fuͤr Poſſen und Aberglauben er - klaͤrte. Was doch der Menſch nicht alle glau - ben kann, wenn er will! — Kinder und Wei - ber geben am erſten ſolchen Gaukeleien, wenn ſie nur etwas Wunderbares haben, Beifall, Maͤn - ner aus Jntereſſe und politiſchen Abſichten. —
Man trieb die Teufel depulſive und ex - pulſive aus, klaßifieirte die ungluͤcklichen Eigen - behoͤrigen dieſer Unholde — nach der heiligen19 Zahl, in Umringte, Belagerte, und Beſeſſene; und ſo verfuhr man ordentlich ſyſtematiſch.
Mesmer gieng nach Paris, wo man ſeit 1774 auf dem Grabe des heiligen Paris lau - ter Wunder ſahe, und lauter Wunder erwar - tete. Sein animaliſcher Magnetismus fand natuͤrlicher Weiſe Beyfall und Anhaͤnger. Jede Kunſt muß auch ihre eigene Sprache haben, und dieſe erfand man in Paris. Man organi - ſirte, deforganiſirte und manipulirte nicht we - nig, ſo wie man jetzt daſſelbe Spiel, unter denſelben Woͤrtern, in politiſcher und morali - ſcher Hinſicht treibt. Am hellen Tage gab es Somnambulanten. Die Franzoſen beſitzen eine große Fertigkeit neue Worte zu erfinden und damit zu taͤndeln; andere Voͤlker ahmen nach, weil es etwas neues iſt, und aus Paris kommt.
Auffallend muß es ſeyn, daß ſich ſo viele junge Maͤdchen organiſiren und deſorganiſiren u. ſ. w. ließen. Die franzoͤſiſchen Damen und einige junge Maͤdchen mancher deutſchen Freien - reichsſtadt koͤnnten uns dies erklaͤren. Jch mag nichts vermuthen, aber auch die Frage unſers G… ob dies Unweſen damals mit Fleiß unter - halten wurde um etwas zu verbergen, das ſichB 220wenige Jahre hernach ſo deutlich gezeigt hat? kann ich mit eben ſo weniger Zuverlaͤßigkeit beantworten, als dies, warum das deutſche Publikum Geſchmack an ſolchen Poſſen fand.
Man ſuchte den Menſchen dem Menſchen zu nehmen, und mit Haut und Haar unter die Geiſter zu verſetzen. Die irdiſchen Empfin - dungen ſchliefen von den geiſtigen verdunkelt, und die Entzuͤckten weißagten. Auf Umſtim - mung der Empfindungen kam es alſo dabei an; warum laͤſt ſie ſich aber der Menſch ſo leicht umſtimmen? Mangel an Selbſtaͤndigkeit und Begierde aus ſich heraus in einen andern Zu - ſtand zu treten, den die Einbildungskraft entwirſt, gehoͤren unter die Urſachen dieſer Er - ſcheinung.
Der Zuſammenhang der Wunder mit der hoͤhern Einwirkung der Geiſter iſt ſehr natuͤr - lich. Jedes Wunder gehet uͤber menſchliche Kraͤfte hinaus; Geiſter ſind die erſten, bei wel - chen wir ſtehen bleiben. Je unbegreiflicher et - was iſt, deſto lieber halten wir uns dabei auf, und daraus entſtehet endlich eine gewiße Ver - traulichkeit, die man oft ſelbſt da affektirt wo ſie nicht ſtatt finden kann. Eben ſo leicht iſt21 nun auch der Uebergang von Wundergeſchichten zu der Geiſterſeherei.
Ein verdienſtvoller Gelehrter ſchrieb, viel - leicht in einigen muͤßigen Stunden, ein Buch, und nannte es den Geiſterſeher. Viele die es geleſen haben, meinten es ſey gut und hinreiſ - ſend geſchrieben, glaubten aber doch eine an - dere Grundlage darin zu finden, als die ge - woͤhnliche Leſewelt darin fand. Das Buch fand vielen Beifall und noch mehrere Nachahmer, die nach gleichem Ruhme luͤſtern waren, aber nicht gleiche Faͤhigkeiten und Geſchmack mit zu der Arbeit brachten. Jſt es nicht ſonderbar, daß ein Mann, der fuͤr die Wiſſenſchaften und fuͤr die Aeſthetik ſo vortrefliche Werke geliefert hat, wider ſeinen Willen, Gelegenheit zu ſo vielen ſchaͤdlichen Poſſen geben mußte!
Aus dieſem Geiſterſeher ſind nun ſo viele ab - ſcheuliche Mißgeburten hervorgegangen, lauter ungerathene, ungezogene Kruͤppel, die weiter kein Verdienſt haben, als daß ſie verkruͤppelte Mißgeburten ſind, worin ſich bei großer Trok - kenheit doch lauter Ueberladung findet. Es folgt Geiſt auf Geiſt, und Teufel auf Teufel, und wer weiß ob wir nicht bald einen Geiſter oder Teufelkrieg auf dem Theater ſehen, oder in Buͤchern beſchrieben ſinden.
22Jch habe ſchon darauf gedacht der Welt zu Nutz und Frommen ein neues Theatrum dia - bolorum herauszugeben, als ein Gegenſtuͤck zu dem, das 1587 zu Frankfurt an der Oder heraus kam; ich kann nur noch nicht wegen der Namen einig werden, um auch darin das Gegenſtuͤck zu jenem zu liefern. Ein Konvo - lut von Modeteufeln erfordert wirklich viel Kopfbrechens um eine ſyſtematiſche Claßificazion hinein zu bringen. Dies wuͤrde ein herrliches Geſchenk fuͤr das liebe Publikum ſeyn, das ſich uͤberdem ſo gern, zu allen Jahrszeiten, fuͤr ſein Geld von den Buchhaͤndlern beſchenken laͤſt. Man koͤnnte dann nur nachſchlagen was man fuͤr einen Geiſt oder Teufel haben wollte, und ihn ſich aus Ober oder Niederdeutſchland, oder von einem ſonſt beliebigen Orte ver - ſchreiben.
Jch breche hier ab, weil ich ſehe, daß mein Brief fuͤr Heute ſchon zu lang iſt; naͤch - ſtens will ich Jhnen ſagen was ich von dieſer Art der Modelektuͤre halte.
Jch erfuͤlle Heute mein Verſprechen, das ich in meinem lezten Briefe gethan habe. Die Munterkeit, die unſere muͤndlichen Unterredun - gen wuͤrzte, werden Sie freilich hier vermißen, dafuͤr wird Sie aber der ununterbrochene Fort - gang meiner Gedanken ſchadlos halten. Jhre Bemerkungen koͤnnen Sie am Rande machen, und ſie mir bei Gelegenheit mittheilen. Sie wiſſen daß ich nie meine Behauptungen fuͤr untruͤglich ausgebe, ſondern ſie ſelbſt gern auf - gebe, wenn ich meinen Jrthum einſehe.
Was ich von dieſer Art der Modelektuͤre denke? nicht viel gutes. Jch halte ſolche Gei - ſterbuͤcher und Geiſtergeſchichten fuͤr Satiren auf den geſunden Menſchenverſtand. Sie wer - den dies vielleicht zu hart finden; vergeſſen Sie aber einmal den Ausgang des achtzehnten Jahr - hunderts, und ſetzen Sie ſich in Gedanken hundert Jahre weiter hinaus; leſen Sie dann den Wuſt dieſer Schriften, und ich wette dar - auf, Sie werden Mitleid mit den armen Vor - fahren haben, ſie bedauren daß ihr Verſtand ſo weit zuruͤcke war. Sie wuͤrden naͤmlich nicht wiſſen ob man ſolche Buͤcher im Ernſt oder im Spaße ſchrieb und las. Wuͤrden Sie dann24 aber auch die vielen nuͤtzlichen Schriften leſen, woran wir keinen Mangel haben: ſo wuͤrden Sie gar irre werden und fragen, wie war es moͤglich, daß bei ſo vieler Vernunft doch ſo viel Unvernunft ſeyn konnte?
Siehet man auf den Schaden, den dieſe Schriftſtellerei ſtiftet, den man ohne Brille ſehen kann: ſo wird man genoͤtigt, die Herrn Ver - faſſer nicht nur fuͤr Stuͤmper und unhoͤflich ge - gen das Publikum, ſondern fuͤr wirkliche Feinde des menſchlichen Verſtandes zu halten. Selbſt bei ihren translunariſchen und ſubterraniſchen Helden moͤchten ſie es groͤßtenteils ſchwer zu ver - antworten haben, daß ſie ſich ſo groͤblich an ihnen verſuͤndigen.
Sie erlauben mir, daß ich jetzt einzelne Faͤlle anfuͤhren darf, wo der Schaden, den dieſe Wunderdinge, Geiſtergeſchichten und naͤcht - lichen Erſcheinungen geſtiftet haben, unverkenn - bar iſt.
Zuerſt haben ſie unleugbar den Wunder - glauben befoͤrdert. Alles was nicht wunderbar iſt, worin nicht ein Dutzend Nachtgeiſter, wol gar am hellen Tage erſcheinen, findet ſchon um deswillen weniger Eingang. Jch habe mich nicht gern hiervon uͤberzeugen wollen, aber die25 Erfahrung hat mich dazu gezwungen. Dieſe Sucht nach dem Wunderbaren gehet aus der Geiſterwelt in die wirkliche Welt uͤber. Aus dem natuͤrlichen Triebe der Menſchen nach et - was uͤbernatuͤrlichen, der dadurch eine reiche Nahrungsquelle erhaͤlt, ſoll ſich dies leicht er - klaͤren laſſen. Kinder und Weiber werden zum Beweiſe angefuͤhrt. Das albernſte Zeug, das nur einen Schein des Wunderbaren hat, gilt dem Einfaͤltigen, der gern Wunder hoͤrt und ſiehet, fuͤr ein Wunder, er giebt ſich nicht die Muͤhe zu unterſuchen, entweder aus Man - gel an Kraͤften, oder aus Faulheit, oder um nicht ſeiner Lieblingsneigung ſelbſt in die Quer zu kommen. Ja es kann ſo huͤbſch, ſo ange - nehm ſeyn, ſich lehrreich daruͤber zu unterhal - ten!! man kann damit oft eine große Luͤcke aus - fuͤllen. Jch weiß ſo gar, daß es Jemandem ſehr unangenehm war, als man ihm einige ſeiner eingebildeten Wunder nehmen wollte. Er ver - mochte es nicht uͤber ſich den Wunſch zu un - terdruͤcken, daß ſie doch wahre Wunder ſeyn moͤchten.
Auf der andern Seite aber ſchwaͤchen dieſe erdichteten Wunder den Glauben an wahre Wunder der Religion. Dies ſcheint ganz ſon - derbar, und doch iſt es wahr. Stehet der Menſch ſo oft mit ſich ſelbſt im Widerſpruche,26 warum nicht auch hier? ich beſinne mich, daß Sie bei einer andern Gelegenheit mir dies als Einwurf entgegen ſezten. Denken Sie ſich die Sache mit mir auf folgende Art.
Jedes Uebermaaß muß endlich einen Ekel hervorbringen, bei dem einen fruͤher, bei dem andern ſpaͤter, und die Speiſe, die ſonſt gut und geſund war, verliehrt den Credit. Man vergißt die Quantitaͤt und ſchiebt die Schuld auf die Qualitaͤt. Maͤnner von Rechtſchaffenheit ſahen die Modeſchreiber, und die Modekrankheit der Leſer mit Bedauren an, verſuchten eine Kurart, die aber nicht anſchlagen wollte, denn der Cruditaͤten waren zu viele im Wege, und haͤuſten ſich mit jeder Meſſe. Alles was ange - wand wurde, konnte nur palliativ ſeyn. Ueber - dem waren der herumziehenden Wunderthaͤter und Geiſterbeſchwoͤrer nicht wenige, die von den Herrn Polizeiaufſehern geduldet wurden, um ihre ſeeligen Ahnen aus der Gruft einmal zuruͤck zu rufen, das Weſen ihrer Kinder zu be - antlitzen.
Andere vernuͤnſtige Maͤnner lachten und ſpotteten uͤber die Menge ſolcher Wunderlegen - den und Geiſterregiſter; und weil dies kluge Maͤnner waren: ſo ſchloß ſich ein Troß von andern an, die auch gern fuͤr klug und aufge -27 klaͤrt gehalten ſeyn wollten. Jene ſuchten man - cher Betruͤgerei, auf den Grund zu kommen, und dieſe poſaunten aus — Betrug. Noch andere, die nicht ſo redlich dachten, nuzten dieſe entdeckten Geiſterſehereien und erdichteten Wunder, womit man andere taͤuſchte, um alle Wunder verdaͤchtig zu machen. Was bei dem einen gelang, konnte auch bei dem andern ge - lingen. Konnte der Glaube an Wunder uͤber - haupt wankend gemacht werden, und dies war hier moͤglich, warum nicht auch der Glaube an die Wunder der Bibel?
Das Leſen ſo vieler Geiſtergeſchichten macht gleichguͤltig gegen ſchreckliche Auftritte; die Ein - bildung ſchwebt zu ſehr in grauſenvollen See - nen, und muß endlich ein Wohlbehagen daran finden. Was zur Gewohnheit wird, unterdruͤckt die Empfindung, und was ſonſt Schrecken und Abſcheu erregte, kann die Quelle des Vergnuͤ - gens werden. Beiſpiele darf ich wol nicht anfuͤhren? Der Menſch kann an alles gewoͤhnt werden, warum nicht auch an ſchreckliche Sce - nen, und an einen vertraulichen Umgang mit Geiſtern? zumal wenn ſeine Nerven eine ſchwache Tendenz, wodurch, mag ich nicht un - terſuchen, erhalten haben. — Koͤnnen einmal Geiſter erſcheinen: ſo iſt kein Grund da, warum ſie nicht auch dieſem oder jenem erſcheinen ſoll -28 ten. Ein ſolcher vertrauter Umgang mit hoͤ - hern Weſen gibt dem Jnitiirten in den Augen vieler ein großes Anſehen, und was kann dann nicht alles gewirkt werden! — Die vielen Ro - mane, worin Geiſter auftreten, haben den Sinn fuͤr dieſe Gaukeleien erweitert.
Von einer andern Seite betrachtet, ver - ſchlimmert die Lektuͤre ſolcher Buͤcher die Mo - ralitaͤt der Menſchen, indem ſie den Glauben an eine Einwirkung der Geiſter, und alſo auch des Teufels, der ſo ſchon ſo viele Verbrechen auf ſich nehmen muß, befoͤrdert. Sie bleiben uͤberdem nicht die Lektuͤre der gebildeten Volks - klaſſe allein, auch die Niedrigſte haſcht darnach, die gewohnt iſt, alles fuͤr wahr zu halten, was gedruckt iſt. Zu welchem edeln Zwecke koͤnnte man dieſen Glauben nutzen! Der gute Semler verbannte den Teufel und ſuchte eine vernuͤnf - tige Aufklaͤrung zu befoͤrdern, nun erſcheint er mit tauſend andern wieder, und findet ſein Haus mit Beſemen gekehrt. Das wenige Gute, das die Menſchen verrichten, ſchreiben ſie ſich gar gern allein zu, und wegen des vielen Boͤſen, ſuchen ſie Entſchuldigung im Himmel und in der Hoͤlle, um den lieben Gott zu uͤberreden, daß ſie ſo ſchuldig nicht ſind. Kann die Mora - litaͤt dadurch gewinnen, wenn man ſich mit dem Mephiſtopheles vergnuͤgt? Jch gebe zu,29 daß mancher Schriftſteller dieſer Art nicht die Abſicht hat, die Jmmoralitaͤt zu vermehren; wird aber ſeine Abſicht immer richtig verſtanden?
Wahre Moralitaͤt, Ruhe des Geiſtes, Zu - friedenheit, haͤngt von Wahrheit ab; Jrthum hat, wo nicht immer doch meiſtentheils, das Gegentheil zur Folge, und doch greifen wir ſo gern darnach, und laſſen die Wahrheit zur Seite liegen. Das Vorurtheil der Faulheit ſucht nicht ſelten einen Schlupfwinkel auf. Was bringt man von dem Kampfplatze mit, wo man Helden aus uͤberirdiſchen und unterirdiſchen Re - gionen ſich herumtummeln ſahe, wo man den Menſchen vergaß, und das, was in der wirkli - chen Welt zu ſuchen iſt, und was gluͤcklich macht, wo man ſich nur dabei aufhielt, wo nichts zu begreifen iſt? was bleibt uͤbrig in dem Gedaͤchtniß, wenn man das Buch weggelegt hat? in dem einen Winkel eine Leere, und in dem andern ein Chaos von Chimaͤren, die noch aͤrger ſind, als jenes Vakuum. Man ſollte bei nahe hieraus einen Beweis fuͤr oder gegen den horrorem vacui hernehmen koͤnnen. — Fuͤr den Geiſt und fuͤr das moraliſche Leben iſt nichts gewonnen. Die Einbildungskraft wird fuͤrchterlich beſchaͤftigt, und die Empfindungen verſtimmt. Gehoͤrt nicht ihr richtiges Verhaͤltniß zum Gluͤck des Lebens? Die Harmonie derſelben gehoͤrt wenigſtens zu30 den Gruͤnden der Empfaͤnglichkeit der Wahrheit von auſſen.
Erdichtungen die wir leſen, und wozu wir in der wirklichen Welt keinen Gegenſtand fin - den, auf welchen ſie als Wahrheiten angewand werden koͤnnen, laſſen nur die Wahrheit zu - ruͤck, daß ſie Erdichtungen ſind. Was haben wir denn dadurch gewonnen? Es iſt mir un - begreiflich, wie ſich Menſchen ſo lange in der er - dichteten Welt herumtummeln, woher ſie nichts als Jdeen zuruͤck bringen, die ihren Geburtsort nicht verleugnen koͤnnen. Wo muß denn die Zufriedenheit mit ſich ſelbſt bleiben, die immer von unſerer Vorſtellung des Werthes der Din - ge, unſerer Lage und Verhaͤltniſſe, abhaͤngt?
Jch habe mir alle nur moͤgliche Muͤhe ge - geben, die Geiſtergeſchichten in irgend ein Fach der Litteratur zu ſchieben, um nicht in dem Katalo - gen der Bibliothek eine neue Rubrik einfuͤhren zu muͤſſen, aber es wollte mir nicht gelingen. End - lich verſuchte ich ſie neben Floͤgels Geſchichte des Groteskekomiſchen, und Moͤſers Harlekin zu ſtellen, allein auch dieſe wollten nur bei ihres gleichen, und nicht bei ſolchen unterirdiſchen Mißgeburten ſtehen. Jch weiß alſo nicht was ich damit anfangen ſoll. Der paſſenſte Titel waͤre wol: Schopfeles-Zeug und Poſſen.
31Sie werden mir gewiß einwenden, daß ich dieſer Art der Lektuͤre einen zu großen Einfluß zutraue; ich fuͤrchte dieſen Einwurf nicht, viel - mehr zaͤhle ich dreiſt dieſelbe zu den Urſachen der Verſtimmungen der Empfindungen, beſonders der Empfindungen der Frauen - zimmer. Mehrere Gruͤnde dieſer Behauptung werden Sie in meinen folgenden Briefen fin - den. — Daß Sie ſchon anfangen, mit mir ein - ſtimmig hierin zu denken, darf ich beinahe mit Gewißheit aus Jhrem letzten Briefe ſchließen. Sie haben alſo das Buch: uͤber Geiſternaͤhe und Geiſterwirkung u. ſ. w. geleſen? Jch ver - zeihe Jhnen dieſe Neugier ſehr gern, denn ich habe es ſelbſt, wie Sie wiſſen, geleſen. Sie wagen ſich noch nicht in das Geiſterfach, wo man ſo leicht abglitſchen kann, und wollen alſo meine Meinung daruͤber hoͤren; ich haͤtte die Jhrige lieber zuerſt gehoͤrt, wenn es Jhnen ge - fallen haͤtte, ſie mir mitzutheilen.
Jch kann mir von dieſem Buche noch keine richtige Jdee machen, weil ich nicht auffinden kann, was der Verfaſſer eigentlich darin hat beweiſen wollen, bewieſen hat er nichts, und konnte es auch nicht. Will man beweiſen, daß Hypotheſen, Hypotheſen ſind? ſo lange ſie das ſind, koͤnnen ſie nie als ausgemachte Wahrheit gelten. Es gibt viele Dinge, die den Menſchen32 ſehr nahe angehen, von denen man die Gewiß - heit nicht beweiſen kann, wo man aber doch mit der Moͤglichkeit oder Wahrſcheinlichkeit aus - reicht. Bei dieſer Materie aber fehlt ſogar der Beweis der phyſiſchen und moraliſchen Wahr - ſcheinlichkeit, und hiſtoriſch laͤßt ſich doch wol nichts daruͤber beſtimmen? Und wenn es denn auch wahrſcheinlich gemacht werden koͤnnte, daß Geiſter auf uns wirken koͤnnen, was wol we - der erfahrungsmaͤßig, noch rein vernunftmaͤßig geſchehen kann: ſo entſtehet wieder die Frage, ob es den Menſchen nicht mehr beunruhi - gen als beruhigen moͤchte, wenn er bei ſeinen Handlungen ſeine abgeſchiedenen Lieben ſo nahe wuͤßte, und wuͤrden denn dieſe wol ungeſtoͤhrt in ihrer Seeligkeit ſeyn? Der Verfaſſer ſcheint mir durch ſein Buch eine, nicht unwichtige, Apo - logie der Anrufung der Heiligen, und meh - rerer Saͤtze der katholiſchen Kirche geliefert zu haben. Ob er vorher dies Dogma reif - lich uͤberlegt haben mag? Dieſe Schrift kann hin und wieder den Glauben der alten Weiber an die vierzehn Engel um das Bette wieder auffriſchen. Mag nicht manche Frau Her - zensangſt empfinden, die ſechs Wochen nach dem Tode ihres erſten Mannes den zweiten nahm? —
Wenn33Wenn wir anfangen allgemein an Geiſter - naͤhe und Geiſtereinwirkung zu glauben: ſo muß der Menſch ſeinen eigenen Werth, verliehren. Unter tauſend Faͤllen wird er nicht ent - ſcheiden koͤnnen, welches ſein eigenes Ver - dienſt iſt. Jch daͤchte man ließe dem Men - ſchen ſeine hohe Jdee von der Freiheit ſei - nes Willens, und von dem Adel ſeiner Natur, die ſeinem Weſen und ſeinem Verſtande ſo an - gemeſſen, ſo anſtaͤndig iſt. Wenn Geiſter auf den Menſchen wirken, ſo koͤnnen ſie auch durch ihn handeln, und ſo ſtehen wir an lauter Jn - ſpiration und an lauter Wundern, — denn was ſind dieſe anders, als Handlungen die durch Einwirkung eines hoͤhern Weſens verrichtet wer - den. Wer hindert uns denn in der moraliſchen Welt lauter Wunder anzunehmen, und bei un - ſern Handlungen ſo lange zu warten bis uns der Geiſt ergreift? die Summe des Guten kann dadurch einen großen Zuwachs erhalten!!! Die lieben Seeligen werden ſich ſchon alle Muͤhe um uns geben, denn ſie muͤßen ja nach allen Rechtsgruͤnden einen Theil des Lohns davon tragen, ſo wie der boͤſe Einwirker einen Theil der Strafe, oder ſoll uns allein nach einer neuen Gerechtigkeit beides zufallen? dies kann es doch wol nur, wenn es Folge unſeres freien Willens iſt, denn man muß ja doch aufC34die Motive der Handlungen Ruͤckſicht nehmen. Sind ſie durch ein hoͤheres Weſen determinirt, was aus dem Buche zu folgen ſcheint: ſo koͤn - nen ſie weder in der Abſicht noch in der Folge ein Eigenthum des Menſchen, und nicht aus eigener Vorſtellung des Guten gefloßen ſeyn, wobei das Gegentheil zu uͤberwinden war. Wo bleibt denn hier der Begriff der Tugend? Der wolſelige Vater wird wol immer einen Stoß geben muͤßen, wenn der tugendhafte Sohn handeln ſoll, denn man wird die Wahrſcheinlich - keit dieſer Einwirkung aus einer neuen harmo - nia praeſtabilita — vorherbeſtimmten Harmonie — zu erklaͤren ſuchen. Jch glaube man ſtoͤßt auf allen Seiten an Ungereimtheit. Der ar - me Adam iſt zu bedauren; er wird eine ſchwere Laſt auf ſich haben, weil er ſich um alle ſeine Kinder bekuͤmmern muß. Die Jdee von Unter - gottheiten liegt den Menſchen hier wirklich na - he. — Die determiniſtiſchen Syſteme moͤgen einen Werth haben, welchen ſie wollen: ſo ſind ſie doch ziemlich aus der Mode gekommen. Bei mir iſt meine Vernunft und die davon ab - haͤngende Freiewahl der Determinismus, mit welchem ich auszureichen gedenke, ich mag mir darin nicht einen Geiſt in den Weg kommen laßen. Zu meiner Beruhigung leſe ich lieber den Goldammer.
35Das beſte in dieſem Buche ſind die erſten Aufſaͤtze uͤber die Unſterblichkeit unſerer Seele, und dann die Abhandlung-Ueber unſere Fortdauer nach dem Tode aus Gruͤnden der Aſtronomie ꝛc. wovon hier ein Stuͤck aus der deutſchen Monatsſchrift abgedruckt iſt. Wie ſie hierher kommt, weiß ich nicht, ſie enthaͤlt wahrlich nichts von Geiſternaͤhe und Geiſterein - wirkung, vielmehr kann ſie einen wichtigen Bei - trag zu einer Geſchichte der Lehre von der Un - ſterblichkeit der Seele abgeben; doch dazu war ſie auch wol hier nur aufgeſtellt. Sie erfuͤllt unſern Geiſt mit weit erhabenern Jdeen, als das benannte Buch. Was hierin dem Verfaſſer eigenthuͤmlich iſt, ſind Predigten am Michaels - feſte, und uͤber andere Texte, wobei man fra - gen moͤchte, ob der Verfaſſer durchgehends die Perikopen richtig exegeſirt habe, und ob wol die Zuhorer dadurch belehrt ſind? Bekanntlich bringt man doch ſonſt nur Sachen auf die Kan - zel, woruͤber Syſtem oder Vernunft entſchei - den kann. Es iſt Schade, daß wir keine Chal - daͤiſche Genealogien, oder Gnoſtiſche Daͤmono - logien mehr uͤbrig haben, ſie koͤnnten in man - chen Kram ganz nuͤzlich ſeyn. — Man ſtelle einmal Tellers Religion der Vollkommenern neben dieſes Buch!
C 236Der Titel verkaufte wahrſcheinlich dieſe Geiſtereinwirkungen, aber was beweiſet dies fuͤr den Geſchmack des Publik ums? Jch weiß nicht, ob in der neuen Auflage die Geiſter etwas naͤher geruͤckt ſind. Ein Rezenſent in der Ham - burger Zeitung machte, wie gewoͤhnlich, eine gar herrliche Anzeige davon. — Jndeß iſt dies Buch doch beßer als hundert andere wo Geiſter auf dem Titel ſtehen. Es erſcheinen hier keine Geiſter die Schrecken erregen, ſondern es ſoll vielmehr in einigen Dingen Beruhigung ver - ſchaffen, es enthaͤlt auch manches Gute, und man ſiehet doch dabei eben ſo gut einen Zweck, als vor 93 Jahren bei Huthmanns tauſend - jaͤhriger Bindung des Satans.
Jch ſuſpendire ſonſt gern mein Urtheil, weil Sie es aber forderten: ſo habe ich es nieder - geſchrieben. Ob das Jhrige mit dem Meinigen uͤhereinſtimmt, werde ich erwarten.
Jn meinem heutigen Briefe fahre ich fort Sie mit meinen Grillen uͤber die Mode - lektuͤre zu unterhalten. Jch komme auf eine neue Art derſelben, die zwar nicht den Scha -37 den hervor bringt, den die vorige und folgende unleugbar ſtiften, aber nichts deſtoweniger oh - ne Tadel ausgehen darf. Jch gebe ſonſt auch gern meinen Beifall, da wo ich etwas deſſelben wuͤrdig finde. Gegen meine Ueberzeugung und Gefuͤhl ſpreche und handle ich niemals. Fuͤhren ſie mich irre: ſo hoffe ich auf Jhre Nachſicht mit den Schwaͤchen, die aus einer Ueberzeu - gung ſolgten, ſey dieſe auch, welche ſie wolle.
Die Sache betrift jetzt die dialogiſirten Geſchichten. Dies Unweſen nimmt ſehr die Oberhand. Die Producte oder Edukte ſelbſt ſind hiſtoriſchen Karrikaturen nicht unaͤhnlich, und ihr Nachtheil fuͤr reelle Wiſſenſchaften, Gelehrſamkeit und wahres hiſtoriſches Studium entſchieden. Haben die Berfaſſer derſelben auf viele Langeweile des Publikums gerechnet: ſo koͤnnte man wol gar ihre Menſchenkenntniß be - wundern. Jhre Dialogen haben wenigſtens mit denen in vielen Konverſationen das langweili - ge gemein, auch traͤgt in beiden Taͤuſchung das Gepraͤge der Wahrheit, und Wahrheit das Ge - praͤge der Taͤuſchung. Der konventionelle An - ſtand dient zum Maaßſtabe der Beurtheilung.
Wenn man wuͤßte fuͤr weſſen Unterhaltung eigentlich durch dieſe Lektuͤre geſorgt werden ſoll - te: ſo ließe ſich ein treffenderes Urtheil daruͤber38 faͤllen. Fuͤr Maͤnner kann ſie nicht beſtimmt ſeyn; alſo wol fuͤr Frauenzimmer und Juͤng - linge. Eine Luͤcke kann freilich dadurch ausge - fuͤllt werden, und zwar fuͤr die erſtern unſchaͤd - licher als durch das Leſen der gewoͤhnlichen Ro - mane. Es iſt nur Schade, daß dieſe dialogiſir - ten Geſchichten ſo ein buntſchaͤckiges Anſehen haben, wie einſt Kaiſer Maximilians buntes Statskamiſol; auf der einen Seite haͤngt Ro - man, auf der andern wahre Geſchichte, die durch eine Naht ſo zuſammen haͤngen, daß man die Stiche nicht finden kann. Wie geſagt, ihr Ka - miſol ſollte beinah verrathen, daß ſie aus dem Cleviſchen Orden — van de Geckengeſellſchap — des funfzehnten Jahrhunderts hervorgegangen waͤren.
Nutzen duͤrfen die Leſer nicht von dieſer Lek - tuͤre erwarten; es bleibt ihnen immer der Zweifel uͤbrig-was iſt wahr an dieſer Geſchichte und was iſt Erdichtung. Jch daͤchte wir haͤtten fuͤr Frauenzimmer jetzt ſo viele nuͤtzliche Buͤcher, woraus ſie Vergnuͤgen und Verfeinerung ihrer Empfindungen holen koͤnnten, daß dieſe Art der Lektuͤre wol uͤberſiuͤßig waͤre. Es giebt ja wah - re Geſchichten und gute Reiſebeſchreibungen genug.
Betrachtet man die dialogiſirten Geſchichten als Lektuͤre fuͤr die Juͤnglinge: ſo iſt ihr Scha -39 den gewiß nicht geringe. Wenn es ſchon an und fuͤr ſich ſchwer iſt Wahrheit, von Erdich - tung zu unterſcheiden: ſo muß es fuͤr dieſe noch weit ſchwerer ſeyn, weil ſie nicht Kenntniße und Faͤhigkeiten genug beſitzen zu pruͤfen, was hi - ſtoriſche Wahrheiten durch aus erfordern. Sie nehmen entweder alles fuͤr wahr oder alles fuͤr falſch an. Mich baben wol Juͤnglinge gefragt, die ſolche Dialogen geleſen hatten: was eigent - lich wahr an der Geſchichte ſey? und wenn ſie ſahen, daß von dem Chaos ein kleines Haͤufchen uͤbrig blieb: ſo meinten ſie es ſey doch gewiß beßer, wenn alles ſchoͤn, und ſo erzaͤhlt wuͤrde, wie es vorgefallen ſey, und nicht wie es ſich die Menſchen etwa gedacht haben koͤnnten. An - dere die mehr Egoismus beſitzen, und die Dia - logen und erdichteten Facta fuͤr reine Wahr - heit angenommen haben, nehmen es ſich wol heraus zu wiederſprechen, wenn man ihnen mit hiſtoriſcher Critik daſſelbe Faktum erklaͤrt. Der Lehrer kommt wol gar in Gefahr ſeine hi - ſtoriſche Autoritaͤt zu verliehren.
Wie ſich doch das herrliche Studium der Geſchichte, das eigentlich die Grundlage aller Wiſſenſchaften iſt, herum drehen laſſen muß! Schlaͤgt man eine ſolche dialogiſirte Geſchichte auf: ſo findet man, daß der Verfaſſer die erſte beſte Chronik auffaſte, ein Faktum, ohne Cri -40 tik nahm, Dinge einmiſchte, die ſchon laͤngſt von den beſten Hiſtorikern als Albernheiten verwor - fen wurden. Auf dem Theater moͤgen ſich ſol - che Spektakelſtuͤcke, vermittelſt der Skevopoͤie, und anderer dahin gehoͤrigen Kuͤnſte, gut aus - nehmen, uͤber das uͤbrige werden die Drama - turgien Auskunft geben. Die Stimme des großen Haufens kannuͤber den innern Werth nicht entſcheiden, nur uͤber ſeinen Geſchmack will ich ihm ein Urtheil einraͤumen, deſſen Verantwor - tung er aber ſelbſt uͤbernehmen mag.
Die Charaktere der Helden haben keine Haltung. Wenn es ſchon aͤußerſt ſchwer iſt le - bende Menſchen richtig zu charakteriſiten, wie viel ſchwerer, ja unmoͤglich muß es ſeyn, eine Charakteriſtik der Menſchen jener Zeiten zu ent - werfen! Sie wird immer ſo ausfallen wie der Verfaſſer will. Es iſt mit dem Zeichnen der Charaktere in jeder ſonſt guten Geſchichte ſo ei - ne eigene Sache. Wir beurtheilen in derſelben die Menſchen nach ihren Handlungen, und die - ſe nach Abſichten und Mitteln. Wie ſchwer iſt dies? Unter hundert Faͤllen ſind wol kaum zehn, wo man mit Wahrſcheinlichkeit etwas ſchlieſſen kann. Koͤnnen nicht oft ganz andere Abſichten zum Grunde liegen, als die Mittel und die Handlung ſelbſt verrathen? Dies muß wenig - ſtens zur Toleranz fuͤhren, und dieſe, duͤnkt41 mich, darf die Geſchichte predigen. Die Cha - rakterzeichnungen, die man gewoͤhnlich hinter den Todestagen der Regenten in den hiſtori - ſchen Buͤchern findet, moͤgen recht gut ſeyn, wenn ſich nur alle philoſophiſche Hiſtoriker daruͤber vereinigen koͤnnten. Wie mancher Fehler mag dem Hochſeligen aufgebuͤrdet ſeyn, der eigent - lich ſeiner Maͤtreſſe gehoͤrt, und wie manche Tugend, die ihren Grund in einem guten Rath - geber hat!
Junge Leute verfallen gar zu leicht in den ſo verderblichen Fehler des Egoismus, und dazu giebt denn ihre Lektuͤre Stoff genug her. Sie meinen dadurch im Stande zu ſeyn uͤber Dinge abzuſprechen, wovon ſie kaum den Namen ken - nen. Romane und Abentheuer haben ſchon manchen Kopf verruͤckt. Warum liefert man ihnen ſolche Buͤcher, die mit Erdichtungen angefuͤllt ſind, in die Haͤnde? ſie verdrengen ſo manches andere nuͤtzliche Buch. Was kann ihre Moralitaͤt dabei gewinnen? wozu doch ei - gentlich das Studium der Geſchichte, als letztem Zweck, fuͤhren ſoll, und wirklich fuͤhrt, wenn ſie pragmatiſch behandelt wird. Sie erwaͤrmt das Herz fuͤr das Gute, Edle und Große, und fuͤllt es mit Abſcheu gegen das Boͤſe. Dies ſind, oder ſollen doch die Hauptmotive des Willens ſeyn.
42Jezt will man durch die Geſchichte nur belu - ſtigt und nicht belehrt ſeyn, wodurch denn auch alles ernſthafte Studium derſelben leiden muß. Jch daͤchte die Summe der ſeichten oberflaͤch - lichen Koͤpfe waͤre ſchon groß genug, die alles durch eine beliebige Quinteſſenz verſchlun - gen zu haben glauben, die mit Verachtung auf einen wahren Gelehrten, als auf einen Pe - danten herabſehen; warum ſucht man ſie zu vergroͤßern? das wahre Studium der Geſchich - te erfordert Geduld, Anſtrengung, Vorkennt - niße, Ansdauren, lauter Eigenſchaften wodurch Juͤnglinge fuͤr die Welt gebildet werden muͤſſen. Eigenliebe, Abſcheu an ernſthaften Beſchaͤftigun - gen bringen ſchon Uebereilung und Jrthum genug hervor; warum giebt man ihr ſo viele Nah - tung? Spielereien helfen zu nichts. Sollten die Schriftſteller den ungluͤcklichen Einfall ha - ben in ihren dialogiſiren fortzufahren: ſo wer - den wir nicht wiſſen, wo wir mit den hiſtori - ſchen Viel - und Nichtswiſſern hinaus ſollen.
Bei einem ernſthaften Studium der Ge - ſchichte wird der Geiſt durch eine gewiſ - ſe Kritik: geuͤbt auch Kleinigkeiten mit ei - ner großen Genauigkeit zu behandeln, und dies iſt fuͤr das praktiſche Leben gewiß nicht ohne Nu - tzen. Auf dieſer Bahn liegen ſo viele Bluͤthen, die weißlich geſammlet endlich einen ſchoͤnen43 Strauß geben. Was fuͤr Schaͤtze ſind hier zu finden, wie manchem Aberglauben, wie man - cher Quelle der Jmmoralitaͤt koͤmmt man auf die Spur!
Von dem zwoͤlften Jahrhundert an waren die Romane, in Frankreich, Erzaͤhlungen jeder Geſchichte in der Landesſprache, welche die ro - maniſche hieß. Weil dieſe romaniſche Geſchich - te eigentlich fuͤr den ungelehrten Theil der Na - tion beſtimmt war, der nur Krieg und Waffen kannte, und eben aus dieſer Urſache das Wun - derbare liebte: ſo erforderte ſie auch eine eige - ne Behandlung. Daher es denn kam daß ſie die Geſtalt der Heldengedichte erhielt. Als aber bei den wieder auflebenden Wiſſenſchaften, der griechiſchen und roͤmiſchen Litteratur, die Geſchichte in der Landesſprache nach dem Mu - ſter der Alten, und die epiſchen Gedichte gleich - falls nach dem Muſter iener epiſchen Meiſter - ſtuͤcke geſchrieben wurden: ſo machten die roma - niſchen Heldengedichte eine eigene Gattung aus’ die nach gerade die gegenwaͤrtige Geſtalt er - halten haben. — Kann man unſere jetzigen Leſer und Leſerinnen der dialogiſirten oder ro - maniſchen Geſchichte, die jetzt wieder aufleben will, mit Recht in jene rohen Zeiten zuruͤck ſetzen? das ſey ferne. Jndeß bleibt es doch ein Problem, was die Herrn Autoren fuͤr ei -44 nen Zweck dabei haben, das eben ſo ſchwer zu loͤſen ſeyn moͤchte als die Frage: zu welcher Art von Epopoͤen dieſe dialogiſirten Geſchichten und die folgenden Rittermaͤhren gehoͤren? Von die - ſen letzten werde ich Sie in meinem folgenden Briefe unterhalten.
Meinem letztern Verſprechen gemaͤß kom - me ich Heute auf eine Art von Schriften, wo - mit Deutſchland ſeit einiger Zeit ſo uͤberſchwemmt wird, daß zu wuͤnſchen waͤre, es moͤchte ein Cervantes einen neuen Don Quirot auftreten laſſen, um dem Unweſen die Krone aufzuſetzen. Unſere jetzigen Rittergeſchichten unterſcheiden ſich von jenen Donquixotiſchen darin daß ſie um ein paar Jahrhunderte ſpaͤter gefchrieben ſind. Jn Abſicht des Gehalts und der Menge iſt die Ver - ſchiedenheit groͤßer. Die alten Ritter aus dem Orden der Chevallerie muſten ſchwoͤren die Un - ſchuld und die Geiſtlichen zu vertheidigen, die neuern haben faſt immer die Aebte, Praͤlaten und Moͤnche zu Gegenſtaͤnden ihres Haßes und45 ihrer Tapferkeit. Wenn hierin ein feiner Plan liegen ſollte: ſo moͤchten wol die adelichen Rit - ter mit den Geiſtlichen zugleich, im dem Fall eines zu entſtehenden Prozeſſes, die Unkoſten be - zahlen muͤßen, und die buͤrgerlichen Knappen koͤnnten das Depoſitum gewinnen. Sie duͤrften dann auch ihren Herrn und Lehrern nicht mehr Kutten und Helme aufſetzen, ſondern ſie in puris naturalibus ſtehen laſſen.
Man darf nur die Meßkatalogen anſehen, und man wird erſchrecken uͤber dieſe Ritter - wuth, die uns von allen Seiten her und aus allen Jahrhunderten belagert. Laßen ſie uns von Planen und Abſichten abſehen, die hier nicht zu finden ſind, und dieſe Schriften nach ihrem innern Gehalte beurtheilen.
Man warf ſonſt den deutſchen vor, und mich duͤnkt, nicht ohne Grund, daß ſie in ihren eigenen Werken, wo ſie Originale ſeyn wollten, lauter Biſarrerien und Karrikaturen lieferten. Sollen etwa dieſe Rittermaͤhren jenes Urtheil in unſern Zeiten wieder geltend machen, jetzt wo die Auslaͤnder den deutſchen Geiſt verehren, und den deutſchen Fleiß bewundern, wo deutſche Maͤnner praeceptores Europae heißen? was moͤgen die Auslaͤnder von dieſem Unweſen, von dem Ge - ſchmack unſers Publikums urtheilen? Man muß46 zum voraus proteſtiren daß die Nachwelt nicht dieſe Periode zum Maaßſtabe ihres Urtheils uͤber uns annimmt, ſondern ſie als eine temporelle Verirrung des menſchlichen Verſtandes, als eine gewoͤhnliche Erſcheinung in der Geſchichte der Menſchen, die im großen Luxus und Verzaͤrte - lung des Koͤrpers und des Geiſtes leben, be - trachtet.
Dieſe Geſchichten ſind voll von abentheuer - lichen und albernen Dingen, die ſich gar nicht fuͤr unſere Zeiten paſſen. Was ſollen unſere jungen Herrn und Domen ohne Saft und Kraft, die Poſſen und Abentheuer jener Rieſen leſen, die nicht einmal im Buche das ſind, was ſie waren, an denen die Autoren eine Todſuͤnde begehen? ſollen ſie ſich damit vergnuͤgen was ſie nicht werden koͤnnen? Wenn dies Zweck iſt: ſo kann er erreicht werden, denn man will gern ſeyn, was man nicht iſt, macht gern gewiße Ver - gleichungen, wobei man den Nachtheil auf un - ſerer Seite am liebſten uͤberſiehet.
Die Verfaſſer dieſer Geſchichten verſtehen ſich gar ſchlecht auf das Coſtuͤm jener Zeiten; ſie modeln da einige alte Worte her, deren Sinn ſie ſelbſt oft nur rathen, ſie bramarbaſi - ren, und glauben den Geiſt der Ritterzeiten ge - funden zu haben. Die Ritter aus dem zwoͤlf -47 ten Jahrhundert ſind gewiß ſehr verſchieden von denen des vierzehnten, unſere Autoren aber ſchmeiſſen alles in einen Haufen. Enthielten dieſe Geſchichten treue Sittengemaͤhlde ihrer Zei - ten; ſo wuͤrde eine Sammlung derſelben, aus mehreren Jahrhunderten ſehr viel Jntereſſe ha - ben, ſie wuͤrde eine reiche Quelle des Nutzens und des Vergnuͤgens ſeyn. Aber athmet ein ſolcher Geiſt in denen, die wir jetzt haben? Man kleidet wol gar unſere Sitten in jenes alte Ge - wand, und ſtellt ſie ſo aus.
Jn den Sitten der Ritter herrſcht keine Uebereinſtimmung, ſondern es liegt darin ein Chaos von phyſiſcher und moraliſcher Groͤße, daß man ſich nur mit Muͤhe durch finden kann. Der Charakter des Menſchen iſt die innere Quel - le ſeiner aͤußern freien Handlungen; aus ſeinem Einfluß auf dieſe entſteht eine gewiße Uereinſtim - mung in denſelben, und dies uͤbereinſtimmende nennen wir eben die Sitten; aus ihnen wird er wiederum erkannt. Dies iſt die Norm bei der Beurtheilung ſo wol des politiſchen als privat Charakters einzelner Menſchen, und ganzer Voͤl - ker in jedem Jahrhunderte. Die Zeit und die ſich darin nothwendig vermehrenden Beduͤrfniße, Clima, politiſche Verhaͤltniße, Religionsbegriffe, bringen Veraͤnderungen in den Sitten, Denk - und Handlungsart, der Menſchen hervor. Hier -48 aus folgt, daß der Charakter ſehr von Zeit und Umſtaͤnden abhangen muß, an welche die Hand - lungen gebunden ſind. Wuͤrde er alſo in den Buͤchern worin irgend eine Geſchichte aus einem Jahrhundert erzaͤhlt wird, treu geſchildert; ſo wuͤrde man auch die ſteigende oder ſinkende Kul - tur und Aufklaͤrung, und die davon abhaͤngende Moralitaͤt daraus kennen lernen. Denn auch die ſubjektiven Begriffe von dem was gut, an - ſtaͤndig oder ſchlecht iſt, haͤngen ſehr von der herrſchenden Denkungsart, von dem angenom - menen Etikette ab. Auch dies muß bei der Be - handlung des Charakters einer handelnden Perſon in Anſchlag gebracht werden; dazu aber gehoͤrt eine genaue Kenntniß dieſer Denkungsart, um den Helden immer derſelben gemaͤß handeln zu laſſen. Die Verfaſſer der Rittergeſchichten, ſind gewiß auf einem ſehr unſichern Wege, wenn ſie ihre Helden ohne dieſe Ruͤckſichten auf eine und die - ſelbe Art handeln laſſen. Eine jede Periode in der Geſchichte der Menſchheit hat uͤberdem et - was eigenthuͤmliches, was ſich nur fuͤr ſie paßt, in einer andern aber als etwas albernes verlacht wird. Haͤtte man dies uͤberdacht, und eine Pa - rallele gezogen: ſo waͤre es doch ſonderbar, daß die beiden Endpunkte ſo leicht zuſammenruͤcken, und die Galanterie jener Zeiten, mit ihrem Troß,in49in die unſrigen uͤbergehen ſollte! Wie viel ei - genthuͤmliches wird man uns laſſen wollen? —
Sie werden mir einwenden, daß ich den Rittern, und alſo auch Jhren Ahnhern gar kei - nen Charakter beilege. Allerdings gebe ich ihnen einen Charakter, nur nicht den, unter welchem ſie in dieſen Buͤchern erſcheinen. Hier ſind ſie Karrikaturen und Maſchinen, die der Ver - faſſer ſich drehen laͤßt wie er will, um recht ſein Spiel mit Wahrheit und Kunſt und durch bei - de mit dem menſchlichen Verſtande zu treiben. — Zur Belehrung koͤnnen dieſe Rittermaͤhren einmal nicht dienen: ſind ſie alſo etwa blos ge - macht um die Langeweile zu vertreiben? auch dies koͤnnen ſie nur unvollkommen, weil ſie nicht den geringſten Stoff zur Unterhaltung hergeben. Der oft kalte und ſtolze Ton des Ritters gehet in den Leſer uͤber und wird ein Hauptingredienz der Langenweile. Sie koͤnnen dies als eine vor - laͤufige Antwort auf Jhre Frage annehmen: warum entfernen ſich die Menſchen ſo ſehr von den Menſchen, und warum ſind ſie ſich ſelbſt untereinander ſo langweilig? —
Sollte wol gar der Geſchmack des Publi - kums durch dieſe Lektuͤre gelaͤutert werden? ichD50hoffe nicht daß Jemand die Unverſchaͤmtheit ſo weit treiben wird, dies im Ernſt zu bejahen; dies hieße auf die groͤbſte Art ſpotten und be - leidigen. — Jndeß ſcheint es mir doch immer noch ein Problem zu ſeyn, was dieſe Schriften, und was die Leſer derſelben fuͤr einem Zweck haben. Vergnuͤgt man ſich ſo gern an kon - traſtirenden Vergleichungen? ich denke es mir von einer andern Seite; das Publikum tole - rirt ſie um tolerant zu ſeyn, ſed tolerat tol - lenda, et tollit ſaepe toleranda. *)Es duldet was es wegraͤumen ſollte, und raͤumt oft weg was es dulden ſollte.Zu weit getriebenes Mitleid verdient dieſen Namen nicht mehr; die Herrn Autoren werden noch dreiſter und zudringlicher in ihrer Plaͤſanterie.
Da dieſe Schriften nichts enthalten was den Geiſt intereſſirt, ſondern blos grobe ſinnli - che Vorſtellung, die nur die Einbildungskraft beſchaͤftigt; ſo kann dadurch auch nichts fuͤr die Aufklaͤrung und die Moralitaͤt gewonnen wer - den. Sie verdrengen wirklich manche feinere Empfindung, und ich wundere mich, daß noch nicht in den Koͤpfen unſerer Juͤnglinge und Kna - ben, die Jdee aufgeſtiegen iſt, ſelbſt einmal ein Tournier zu beginnen, oder ein Leben vom51 Steigbuͤgel anzufangen; fanden doch einſt die Raͤuber ihre jungen Nachahmer. Vermuthlich fehlt es an Pferden und Gezeug.
Haͤtten dieſe Rittermaͤhren als Werke der Kunſt einen Werth, dann verdienten ſie nicht ſo getadelt zu werden, dann waͤren ſie aber auch nicht ſo leicht zu fabriziren. Sie ſo wol, als der groͤſte Theil der uͤbrigen Modebuͤcher, haben nicht einmal durchgaͤngig grammatiſche Korrektion, geſchweige das, was man edlen Ausdruck nennt. Die Aeſthetik wird ſie als un - aͤchte Kinder enterben. Das naive im Ausdrucke ſucht man nachzuahmen, und in der That paß - te es zu dieſer Art von Schriften nicht uͤbel; aber wie faͤllt dieſe Naivitaͤt der Ritter aus? der hoͤchſte Grad der Simplicitaͤt im Ausdrucke macht das naive, dagegen aber ſucht man ei - ne gewiße Kraftſprache nachzuahmen, die wei - ter kein Verdienſt hat als daß ſie bombaſtiſch klingt. Manches iſt wiederum kriechend und frei von aller Delikateſſe der Schreibart. Was ruͤhrend ſeyn ſoll, faͤllt nicht ſelten in den ent - gegenſtehenden Fehler und iſt matt. Es herrſcht alſo immer das tenue genus dicendi der Alten darin, das heißt die Schreibart erhebt ſich nicht zu dem Mittelmaͤßigen.
D 252Bei den Roͤmern waren die Dichter von Cordova wegen ihrer rohen Sprache und Pro - vinzialismen gar nicht geachtet, und doch fan - den ſie einen Freund an dem Metellus*)Qui Cordubae natis poëtis, pingue quid - dam ſonantibus atque peregrinum, aures ſuas praebebat. Cic. pr. Arch. Jn der Folge gieng vorzuͤglich die Chevallerie von dort aus, und mit ihr die Hiſtoriographen der - ſelben. Jhre Periode ging voruͤber. Jetzt iſt der Markt in Cordova wieder glaͤuzend, man - cher Ritter holt ſich ſeine Rozinante dorther, und ſetzt ſeinen litterariſchen Schildknappen hin - ten auf, und faͤhrt ſo durch manches Stillager in Deutſchland herein, wo er mehrere Metel - ler findet, deren Ohren nicht fein hoͤren. Die Rheingegenden, Oberdeutſchland, und wo ſonſt große Fluͤße ſind, werden fuͤr ſehr frucht - bar an Rittern gehalten.
Beinahe in jeder Rittermaͤhre kommt ein heimliches Gericht vor. Jch muß immer laͤ - cheln wenn ich dies ſehe, denn ich bin uͤber - zeugt, daß die Herrn nicht wiſſen was es mit dieſen Gerichten fuͤr ein Bewandniß hatte. Die Geſchichte dieſer Gerichte, ihre innere Einrich -53 tung iſt noch ſo dunkel, ſo wenig in ein gehoͤ - riges Licht geſtellt, daß ſie vielmehr einen Mann von Vorkenntniſſen, Zeit und Luſt erwartet, der etwas brauchbares daruͤber lieferte. Vor kurzem kam in Leipzig eine Geſchichte derſelben heraus, aber bei dem Leſen wurde meine Er - wartung getaͤuſcht. Es kam mir vor als wenn ich eine Diſſcrtation des Thomaſius, die er einſt uͤber dieſe Gerichte ſchrieb in der deut - ſchen Ueberſetzung vor mir haͤtte. Der Ver - faſſer kannte nicht einmal die neueſten Schriften uͤber ſeinen Gegenſtand, ſonſt waͤre der Jnhalt an - ders ausgefallen. Wenigſtens haͤtte er doch den Meinders kennen muͤſſen, der den Thomaſius wiederlegt hat, den Moͤlmann und andere, (deren Namen Sie nicht intereſſiren) die durch - aus hier haͤtten gebraucht werden muͤſſen. — Sie wiſſen, daß unſer N… dieſelbe Geſchich - te bearbeitete, ich ſah einſt das Manuſkript und fand ein herrliches philoſophiſches Gemaͤhl - de der Sitten und Gebraͤuche der lieben Ju - ſtizia der vorigen Zeiten; vorzuͤglich war die Pe - riode dieſer Gerichte unter Kaiſer Friedrich 2ten, und Pabſt Jnnozenz 3ten, vortreflich bearbeitet, wovon in jenem Buche nichts ſtehet. Es iſt wirklich Schade daß er ſeine Arbeit in den Pult verſchlieſſen will.
54Das hieß einmal von einer Sache ge - ſchwazt, wovon ich nichts verſtehe! — Haͤtte ich vorher daran gedacht: ſo haͤtte ich dieſe Stelle mit Strichelchen bezeichnet und gebeten ſie zu uͤberſchlagen. Das folgende, worauf mich die Erwaͤhnung der heimlichen Gerichte fuͤhrt - wird Sie mehr intereſſiren.
Herr Brandes in Hannover zaͤhlt in ſeinem bekannten Buche uͤber die franzoͤſiſche Revolu - tion die Spektakelſtuͤcke, die jetzt groͤſtentheils in der Mode ſind, zu den Urſachen, daß die Revolution auch in Deutſchland Eingang findet, und mich duͤnkt mit großem Recht. Gehoͤrt nicht auch das Ritterweſen hieher? Es hat unſtreitig mit vorbereitet. Man leſe mit Aufmerkſamkeit die Handlungen der Ritter, ihr Betragen ge - gen die Geiſtlichen und gegen die untergebenen Bauern, mit was fuͤr Gedanken wird man von der Lektuͤre zuruͤckkommen? Die Fehler und La - ſter der Ritter, von denen unſere neumodigen Ritter ihren Stammbaum, ob in aͤchter Linie, das thut zur Sache nichts, herleiten, liegen bei dem Guten doch auch vor den Augen. Wer hin - dert uns denn ſie in der Vergleichung groͤßer zu finden, und wer ſtehet uns dafuͤr, daß nicht Leidenſchaften den Ausſchlag geben? Mancher Leſer moͤchte vielleicht eine Fehdenzeit, wo man55 thun koͤnne, was man wolle, recht ſchoͤn finden.
Dieſe Seite moͤchte man indeß wol nicht ſo nachtheilig finden als die folgende. Dieſe Rittermaͤhren befoͤrdern die Gleichguͤltigkeit ge - gen grauſame Scenen, und erzeugen wol gar Vergnuͤgen daran. Alles was Waffen heißt und fuͤrchterlich iſt, verliert den Eindruck, man gewoͤhnt ſich an Tod und Blut, und geht dann mit Kaltſinn uͤber Schreckensſcenen weg. Das heimliche Gericht, mit ſeinen bunderttau - ſend Henkern, die Art der Hinrichtung, und das ganze Verfahren deſſelben, hat wirklich viel aͤhnliches mit dem Revolutionstribunal in Frank - reich. Sollten wol die Greuel dieſes Tribunals uͤberall den Eindruck machen, den man erwar - ten darf? Jetzt gewiß, weil es uͤber alle Be - ſchreibung abſcheulich iſt. Es laͤßt ſich zwar nicht behaupten, daß dieſe Rittergeſchichten unmittelbar ſolche Wirkungen hervorbraͤchten, aber doch gewiß ſehr mittelbar, und vielleicht ohne und wider die Abſicht der Verfaſſer. Ein jedes Buch kann nur mittelbar wirken. Das faͤllt oft am meiſten auf was es nicht ſollte, und man ſucht immer gern ein Original zu der Kopie.
56Jch bin weit entfernt den Verfaſſern eine boͤſe Abſicht unter zu legen, ich halte es viel - mehr fuͤr eine falſch geleitete Spielerei. Man muß die Wirkung eines Buchs wohl von der Abſicht nud Perſon des Verfaſſers unterſcheiden. Jene kann zufaͤllig, oder in andern Dingen vor - bereitet ſeyn, den Verfaſſer trift dann nur der Tadel daß er nicht weiſe gehandelt habe. Wer indeß nicht ſo denken wollte wie ich, der koͤnnte auf folgende Art raͤſonniren: Der Phi - loſoph hat immer noch die Bemerkung richtig gefunden, daß die Charaktere der Nation, von dem Stande der Geſellſchaft abhaͤngen, in wel - chem ſie leben, und von den politiſchen An - ſtalten, die ſie unter ſich eingefuͤhrt haben, und daß die menſchliche Seele, ſo oft ſie ſich in einerlei Stellung befindet, in den entfernte - ſten Weltaltern, und abgelegenſten Laͤndern, eben die Bildung annehmen und mit einerlei Sitten bezeichnet ſeyn, und an einerlei Beſchaͤf - tigung des Geiſtes Geſchmack finden wird. Die Schriftſteller die daher fuͤr den Geſchmack oder fuͤr die geiſtige Nahrung durch ihre Ritter - geſchichten ſorgen wollen, muͤſſen entweder glau - ben, daß wir auf jener Stuffe der Ritter ſtehen, und unſer politiſcher Charakter mit jenem eins iſt, oder ſie rechnen darauf einen ſolchen her - vorzubringen, dadurch daß ſie dem vorhandenen jene Richtung zu geben ſuchen. Glauben ſie das57 erſte: ſo ſind ſie eben nicht fuͤr kluge Maͤnner zu halten; glauben ſie es nicht: ſo laͤßt ſich ihr Zweck nicht gut abſehen. Ohne Zweck handelt aber kein vernuͤnftiger Mann, alſo muͤſſen ſie wol das lezte zur Abſicht haben. Jſt aber dies: ſo muͤſſen ſie dazu beitragen die politiſche Lage und Verfaſſung zu aͤndern, und eine ſolche her - vorzubringen, zu welcher ſich der Rittergeiſt paßt.
Was denken Sie hiervon? vermuthlich halten Sie es fuͤr lauter Sophismen. Jch mache mich nicht der Unhoflichkeit ſchuldig Jh - nen zu widerſprechen, ich gebe Jhnen alles zu, aber unter der Bedingung, daß Sie mir das folgende einraͤumen.
Der wahren Gelehrſamkeit, ſo wie der Re - ligion ſchaden die dilettantiſchen Schriften, und beſonders auch die Rittermaͤhren, dadurch, daß ſie die Gleichguͤltigkeit gegen ſie befoͤrdern. Wahre gelehrte Werke finden keine Verleger mehr, denn die Buchhaͤndler betrachten jetzt alles merkantiliſch, das ihnen als Kaufleuten auch nicht zu verdenken iſt. Eine Modewaare gehet immer am Beſten ab, und wenn ein gu - tes Buch herauskoͤmmt: ſo lieſt das Publikum eine Quiteſſenz daraus in irgend einer Zeitſchrift,58 und vergißt das gute Buch ſelbſt. — Ueber - dem erweitert ſich jetzt der politiſche Horlzont ein Bischen uͤber die Graͤnzen hinaus, und umfaßt Myopſe und Presbyten, die gewoͤhnlich beide gleich fremd darin ſind, und denen das — ſich orientiren, aͤußerſt ſchwer wird; ihre Kryſtallinſen ſind von verſchiedener Natur, und doch haben ſie ſich einerlei Gegenſtand zur Beſchauung gewaͤhlt. Mancher ſonſt gelehrte Mann verlaͤſt ſein Fach, worin er Meiſter ſeyn konnte, um in einer fremden Werkſtatt zu ſtuͤm - pern. Es iſt einmal Mode, und uͤber den Geſchmack der Dilettanten laͤßt ſich kein Reichs - geſez geben.
Die Gleichguͤltigkeit gegen die Religion hat mehrere Urſachen, ich rechne aber auch die Modelektuͤre dazu, die alle ernſthaftere Schrif - ten verdrengt und ſie auf den Tiſch der alten Weiber und podagriſtiſchen Maͤnner ſchiebt. Ausnahmen giebt es freilich uͤberall, aber ſie beweiſen ſo wenig etwas als Beiſpiele. Wenn in einem Buche keine religioͤſen, keine feſten Grundſaͤtze herrſchen: ſo koͤnnen ſie auch nicht dadurch erzeugt werden. Die Begriffe der Re - ligion aͤußern ſich immer deutlich in dem politi - ſchen Horizont, deſſen Erweiterung oder Einſchraͤnkung von ihnen vorzuͤglich mit ab - haͤngt. Die Spekulation der Modeſchriftſteller59 weiß alles zu nutzen. — Seit mehrern Jah - ren gehoͤrt es zur Mode und zum guten Ton daß man in die Kirche gehet, und doch veraͤcht - lich von der Religion ſpricht. Man ſucht die Perſon veraͤchtlich zu machen, um dadurch die Sache ſelbſt laͤcherlich zu machen, welche ſie vortraͤgt. Es ſoll dies ein ſicherer Grund - ſatz ſeyn ſeinen Zweck zu erreichen. Der Ueber - gang von der Perſon zur Sache iſt ſehr leicht, zumal wenn, wie es in den Ritterbuͤchern ge - ſchiehet, immer ſchlechte Perſonen aus dem geiſtlichen Stande aufgeſtellt werden. Jn man - chen Buͤchern ſiehet man ſogar die Muͤhe, die ſich die Verfaſſer gegeben haben, um ein geiſtliches Subjekt nach ihrer Abſicht zu formen und dadurch Mißtrauen gegen dieſen reſpekta - beln Stand hervorzubringen. Es kann keine Rittermaͤhre ſeyn worin nicht ein Abt u. ſ. w. auftritt, was aber auf dieſen paßt, trift doch gewiß unſere Geiſtlichen nicht, ſo wenig als die Ritterlaſter auf die jetzigen Ritter paſſen. Be - gehet man nicht eine Ungerechtigkeit gegen ei - ne große Klaſſe von Menſchen, ſie durch die Aufdeckung der Fehler ihrer Amtsbruͤder vor ſechshundert Jahren, woran das Syſtem der Kirche den groͤſten Antheil hatte, herabzuſetzen? Niemand kann etwas dagegen einwenden, wenn man die wirklichen Fehler, und wahre Abſcheu -60 lichkeiten der damaligen Geiſtlichen aufdeckt. Aber verzeihen kann man es doch nicht gut, wenn man die Leſer vorſetzlich darauf hinzuleiten ſucht von jenen einen nachtheiligen Schluß auf den jetzigen Stand zu machen. Sey es Muthwille oder Vorſatz, ſo bleibt es immer ſehr ſchlecht. Bei den Fehlern anderer Menſchen iſt man oft zu tolerant, warum denn nun bei dieſer Klaſſe ſo ſehr intolerant? ſie ſind und bleiben auch Men - ſchen. Daß man von ihnen fordert das zu ſeyn, was ſie lehren, iſt billig und gerecht, aber eben ſo gerecht iſt auch manche Nachſicht. Wie viele vor - trefliche Maͤnner ſind darunter, die Muſter der Rechtſchaffenheit ſind, die mit Herz und Hand das ſind, was ſie andere zu ſeyn lehren! Dies leugnen wollen, waͤre Unſinn. Unter hundert Menſchen giebt es ja wol auch einen der nicht iſt was er ſeyn ſoll, man nehme ihn aus der Zahl heraus, verdamme aber nicht die neun und neunzig mit ihm, oder man dulde ihn um dieſer willen ſo lange er noch Nutzen ſtiften kann.
Es iſt gar keinem Zweifel unterworfen daß die Rittermaͤhren den geiſtlichen Stand herab - ſetzen, die Beweiſe kann man von Jung und Alt hernehmen. Man hoͤrt ſo gar die Ausdruͤcke aus jenen Buͤchern auf die Prediger anwenden. Jch moͤchte den Stand ſehen, der ſich dies ſo61 großmuͤthig gefallen ließe als dieſer! Er bemit - leidet die Modeſchreiber, und findet in dem Gefuͤhl ſeiner eigenen Wuͤrde Beruhigung. Es wird die Zeit kommen, wo dieſe Schriftſteller ih - ren Ton umſtimmen, wo ſie ſich von den beiden Extremen, der zu vieler und zu weniger Ach - tung gegen dieſen Stand, in die goldene Mit - telſtraße zuruͤck ziehen werden.
Sie wundern ſich vielleicht daß ich den Ver - theidiger des geiſtlichen Standes mache, und ſelbſt nicht dazu gehoͤre? — Seine Nothwen - digkeit vertheidigt der politiſche Lauf der Din - ge hinlaͤnglich, und das Beduͤrfniß des menſch - lichen Herzens. Sein Nutzen iſt in jener ent - halten und jeder vernuͤnftige Mann kann ihn an ſich und an ſeinesgleichen abmeſſen. Jch habe das eigenthuͤmliche an mir, daß ich Verdienſte ſchaͤtze, wo ich ſie finde, meine gelbe Brille traͤge ich nicht bei mir. Hochachtung gebuͤhrt dem, der ſie verdient, und in dem Gefuͤhl einer ſolchen Hochachtung fuͤr Sie bin ich u. ſ. w.
Jch hatte dieſen Brief geſchloſſen in der Meinung ihn ſo ſogleich abzuſchicken; weil die Poſt aber erſt Morgen abgehet; ſo habe ich Zeit genug eine Nachſchrift daran zu haͤngen. Sie verzeihen es mir ja wol, daß ich es hier eben ſo mache wie die Frauenzimmer, die, wie man ſagt, keinen Brief ſchreiben koͤnnen ohne ein Poſtſkriptchen. Mir fiel ein daß ich noch einen wichtigen Zweig der Modelektuͤ - re, beſonders der Frauenzimmerlektuͤre vergeſſen hatte; ich muß ihn alſo wol der Vollſtaͤndigkeit wegen noch kuͤrzlich beruͤhren.
Fuͤr unſere Frauenzimmer bringt man jetzt alles was wohllautet in Kalender und Almanachs - formen — neuere ſind von der Meſſe noch nicht verſchrieben. Als unſchuldiger Zeitvertreib ſind ſie ganz gut, obgleich der Nutzen noch nicht dadurch geſtiftet wird, den man ſich verſprechen ſollte. Die Kalender ſind das beſte Vehikel ge - wiſſe Wahrheiten allgemein bekannt zu machen, und koͤnnen ſehr wohlthaͤtig, beſonders fuͤr den Landmann, werden, nur muͤßten ſie immer ganz zweckmaͤßig eingerichtet ſeyn. Einige gute ha - ben wir wirklich, und ihr Nutzen iſt hie und da ſichtbar. Solche Schriftſteller, die ſich hier - durch ein Verdienſt erwerben, verdienen allen Dank und Aufmunterung. Die Sache ſelbſt63 iſt alſo keines Tadels werth, wol aber der Miß - brauch, der das gute in der Wirkung hindern kann. Es erweckt indeß eben kein guͤnſtiges Vorurtheil fuͤr die Frauenzimmer, wenn ſie ſich alles in Kalendern auftiſchen laſſen, und dieſen magern Tiſch mit einigen Schaugerichten beſetzt, noch obendrein theuer bezahlen. Der Geſchmack iſt verſchieden; der jedesmal herrſchende wird Ge - ſetz, und dieſem fuͤgt ſich auch ein weiſer Mann, daher ſich verdienſtvolle Gelehrte darnach beque - men und unter den Schaugerichten etwas nuͤtz - liches auſſetzen. Wenn ich kurz meine Meinung ſagen ſoll: ſo iſt dieſer Theil der Modelektuͤre nicht nur der unſchaͤdlichſte ſondern auch der nuͤz - lichſte, und kann bei immer zweckmaͤßigerer Ein - richtung ſehr nuͤzlich werden. Sollte der fuͤr das neunzehnte Jahrhundert auf dem Reichstage ſchon laͤngſt projektirte neue Kalender mit einem zu wuͤnſchenden Conkluſum von Einfuͤhrung ei - nes allgemeinen deutſchen Maaßes, Gewichts und Muͤnzen zu Stande kommen, und mit ei - nem, jedesmal etwas neues enthaltenden Buͤ - chelchen ins Publikum treten: ſo kaufe ich mir ſelbſt alle Jahre zwei. Auch die Almanachs ſind ganz gut, beſonders die hiſtoriſchen; es muß ja nun einmal alles uͤberzuckert werden, damit es den Frauenzimmer ſchmecke. Ueberdem erſchei -64 nen ſie in den beliebten Taſchenformaten, damit man ſie als Huͤlfsmittel des Gedaͤchtniſſes bei ſich tragen kann, und als Bilderbuͤcher dienen ſie auch zuweilen zum Spielen. Der Mora - litaͤt ſind die jetzigen nicht nachtheilig. Die Muſenalmanachs haben oft in Abſicht ihres in - nern Gehalts ein ſo buntſchaͤckiges Anſehen, daß man ſie fuͤr Troͤdelbuden der Dichterlinge halten ſollte. Wenn ſie indeß die Cenſur durchgehen laͤßt: ſo koͤnnen ſie auch zum Vergnuͤgen dienen.
Die Journale fuͤr Weiber, Muͤtter und Toͤch - ter haͤufen ſich jetzt nicht wenig. Allerdings be - ruhet der groͤſte Theil der menſchlichen Gluͤck - ſeligkeit auf der Bildung des weiblichen Ge - ſchlechts; ſie ſind das Hauptbeduͤrfniß des wah - ren Lebensgenuſſes fuͤr Maͤnner, ihre feinen, ſanf - ten, richtigen Empfindungen ſind die Wuͤrze der edelſten Freuden, und um deſto mehr ſoll - ten ſich vernuͤnftige Maͤnner und Weiber ihre Bildung angelegen ſeyn laſſen. Dazu wuͤrde eine durchaus zweckmaͤßige Lektuͤre gehoͤren, die nicht die Empfindungen verſtimmte ſondern ſie ver - edelte. Jch moͤchte beinahe einen Plan zu ei - ner ſolchen Lektuͤre drucken und in die Welt aus - gehen laſſen, damit er einer Pruͤfung unter - worfen wuͤrde. Eine große Summe des haͤus - lichen und oͤffentlichen Ungluͤcks iſt ſicher die Folgeder65der Leſeſucht, die dadurch vermindert werden koͤnnte.
Die Buͤcher die bis jetzt in der Modelektuͤre laufen — dies Wort bitte ich nur immer zu be - halten und von Campens und andern vortrefli - chen Schriften abzuſehen, die wahre Geſchenke fuͤr unſere Frauenzimmer ſind — entſprechen gar nicht oder doch nur halb dem Zwecke wenn ſie fuͤr Frauenzimmer beſtimmt ſeyn ſollen. Wie viele Herrn ſchreiben nicht fuͤr die Damen, die nie Gelegenheit hatten die Delikateſſe und den Geſchmack derſelben kennen zu lernen. Rechnen ſie etwa darauf, daß die Frauenzimmer in ihrer Lektuͤre eben ſo leicht zu einer neuen Mode um - zuſchaffen ſind, wie in ihren Kleidern? Ein uͤbles Vorurtheil; ich daͤchte die Weiber traͤten einmal auf und uͤberfuͤhrten die Herrn von ihrer Jgnoranz.
Wo zu dienen die Modejournale? ge - wiß dereinſt dem Philoſophen und Hiſtoriker mehr, als jetzt unſern Leſerinnen. Und was ſchreibt denn ein Geißler der Juͤngere? — — —
Manche Schrift fuͤr das ſchoͤne Geſchlecht mag auch wol aus Rache gegen einige unter ihnen entſtehen. Ein Fall dieſer Art iſt mir we - nigſtens bekannt. Sie leſen wol dies Anekdoͤt -E66chen nicht ungern? es iſt nicht bekannt, und kann doch dazu dienen die lieben ſorgloſen Maͤd - chen aufmerkſam auf die Urſachen und Verfaſſer ihrer Buͤcher zu machen.
Als der verſtorbene D. Bahrdt in ſeiner Le - bensgeſchichte ſeine uunmeht auch verſtorbene Frau mit ſo haͤßlichen Farben geſchildert hatte, um die Welt glauben zu machen daß er Recht handele, wenn er ſie verſtoſſe und die Magd an ihre Stelle nehme: ſo fand dieſe ungluͤckliche Frau einen Vertheidiger an ihrem Bruder, der eine kleine Schrift fuͤr ſie drucken ließ. Dieſe Schrift verband Beſcheidenheit und Schonung mit ſo triftiger Wahrheit, daß Bahrdt ſelbſt geſtand: er koͤnne dagegen nichts ſagen; indeß wol - le er ein Journal fuͤr Muͤtter, Gattinnen, und Toͤchter herausgeben, und hierin zeigen was die Weiber thun muͤßten, um ſich ihre Maͤnner beſtaͤndig treu zu erhalten. Vermuth - lich ſollte dann das Reſultat folgen, daß ſeine Frau dieſe Kunſt nicht verſtanden habe. Zu Mit - arbeitern an dieſer Schrift ſuchte er Kandidaten und Studenten auf, von welchen einer ſich ſein Honorar im Eliſium ausbitten kann. Dieſe Stu - denten-Arbeit wird herrliche Lehren fuͤr Deutſch - lands Muͤtter und Toͤchter geben!! Man ſollte doch aus allen Kraͤften gagegen ſtreiten, daß nicht67 jeder Schuͤler meint, es ſey leicht Maͤdchen und Weiber oder ſeine Mutter zu belehren, daß man ſie nicht mit Kindern in eine Klaſſe ſezt, ſondern ihnen die ſchuldige Achtung beweiſt.
So ſteht es mit der weiblichen Lektuͤre; dazu ſchenkt man ihnen noch Blumenkoͤrbchen, praͤſentirt ihnen Einſiedlerinnen, und wer weiß, was ſonſt fuͤr herrliche Sachen; die lieben Toͤch - ter Deutſchlands nehmen alles an.
Das Jntereſſanteſte fuͤr Sie, was ich uͤber die Modelektuͤre zu ſagen habe, werden Sie in meinen folgenden Briefen finden. Jch werde ſie da von einer ganz andern Seite betrachten.
Jch erfuͤlle nun mein Verſprechen und ſchreibe fuͤr Sie meine Gedanken uͤber den Ein - fluß der Modelektuͤre auf die Verminderung des haͤuslichen und oͤffentlichen Gluͤcks nieder; ich gebe ſie nicht fuͤr Evangelien aus, ſondern ich unterwerfe ſie der Pruͤfung meiner Freundin.
E 268Die Leſeſucht iſt ein thoͤrigter, ſchaͤdlicher Mißbrauch einer ſonſt guten Sache, ein wirklich großes Uebel, das ſo anſteckend iſt, wie das gel - be Fieber in Philadelphia; ſie iſt die Quelle des ſittlichen Verderbens fuͤr Kinder und Kindes Kinder. Thorheiten und Fehler werden durch ſie in das geſellige Leben eingefuͤhrt unh darin erhalten, nuͤzliche Wahrheiten entkraͤftet und Jrrthuͤmer und Vorurheile beguͤnſtigt und vermehrt. Verſtand und Herz gewinnt nichts dabei, weil das Leſen mechaniſch wird; der Geiſt verwildert an ſtatt veredelt zu werden. Man lieſt ohne Zweck alles durch einander, man ge - nießt nichts und verſchlingt alles, nichts wird geordnet, alles nur fluͤchtig geleſen und eben ſo fluͤchtig vergeſſen, was freilich bei vielen ſehr nuͤzlich iſt. — Jede gute Sache kann ge - mißbraucht werden, und jeder Mißbrauch iſt ſchaͤdlich, aber der gewiß am meiſten, der die Seelenkraͤfte in Unordnung bringt, deſſen trau - rige Folgen unabſehbar ſind, der das Gluͤck ſo vieler Menſchen untergraͤbt, und phyſiſches und moraliſches Elend allgemein macht. Dies alles trift die verderbliche Leſeſucht. Doch laſſen Sie mich dies in einigen Briefen weiter aus einan - der ſetzen, und hier nur noch vorher beſtimmen was ich unter der Leſeſucht verſtehe: ſie iſt das Be - ſtreben, das Leſen zu der Hauptbeſchaͤftigung zu69 machen und alle nuͤtzliche Beſchaͤftigungen zu ſcheuen; und Modeleſeſucht iſt das Beſtreben alles zu leſen was in der Mode laͤuft. — Wenn je - des Uebermaaß ein Laſter iſt, ſo iſt es auch die Leſeſucht, und wenn jedes Laſter das nuͤzliche un - terdruͤckt, ſo thut dies auch die Leſeſucht. Wer ſie bekaͤmpft und das nuͤzliche Leſen hervorhebt und empfiehlt, erfuͤllt eine Liebespflicht gegen tauſende von Menſchen.
Die Klaſſe der Modeleſer beſtehet aus Frauen - zimmern, aus Juͤnglingen und aus Maͤnnern nach der Mode. Der reelle Mann ſucht Reali - taͤt, und dieſe findet man ja nie in der Mode. Wenn man wollte: ſo koͤnnte man das leſende Publikum unter die beiden alten philoſophiſchen Sekten-Namen der Realiſten und Nominaliſten verſtecken, und dann paßte auch das nicht uͤbel was ſie in ihrem Aushaͤngezeddel ſagten: er lieſt in re, oder nomine. Jch uͤberſetze dies fuͤr Sie ſo: er lieſt der Sache, oder des Namens wegen. Es waͤren alſo zwei Hauptklaſſen von Leſern, die erſte verdient Aufmunterung und Lob, die lezte - re Tadel; mit dieſer habe ich es hier zu thun.
Der erſte Zweck alles Leſens iſt, Wahrheit und eigene Belehrung zu ſuchen, hierin vereini -70 gen ſich die untergeordneten Zwecke, die durch jenen nur allein ſicher erreicht werden koͤnnen, naͤmlich Nutzen und Vergnuͤgen. Wahrheit bringt in uns eine Vollkommenheit hervor, die ihre Folgen haben muß, und dieſe ſind eben der Nutzen. Aus dieſem gehet endlich das Vergnuͤ - gen hervor. Umkehren laͤßt ſich, wie mich duͤnkt, dieſer Satz nicht gut. Wenn durch die Lektuͤre kei - ne Wahrheit, keine Belehrung gewonnen wird; ſo muß der Nutzen und das wahre Vergnuͤgen weg - fallen, und das Gegentheil trit ein. Der ſtren - ge Philoſoph wird Jhnen von dieſem Satze nichts nachlaſſen, was der Aeſthetiker thut iſt Jhnen bekannt.
Wahrheit kann alſo nur allein das edelſte Vergnuͤgen verſchaffen durch die Erweiterung unſerer Erkenntniſſe, durch Veredelung un - ſerer Empfindungen. Wenn ein Buch lauter Erdichtungen enthaͤlt, kann es nur den Schein des Vergnuͤgens geben womit kein vernuͤnftiges Weſen ganz zufrieden ſeyn kann. Wahrheit, treue Darſtellung des Menſchen wie er iſt, und was er in der ſteigenden Veredlung ſeyn kann, giebt ein Vergnuͤgen welches das Herz erwaͤrmt, und dieſe Vergnuͤgen des Herzens ſtehen gleich nach den Vergnuͤgen des Geiſtes, ſie geben Kraft und Leben und treiben zum Guten an. Wo man aber Menſchen geſchildert findet, wie keine71 Menſchen ſind, und auch keine werden koͤnnen oder die man nachzuahmen nicht Luſt hat, da kann auch jenes Vergnuͤgen nicht ſtatt finden, ſon - dern vielmehr ein großes Mißvergnuͤgen.
Das Auffinden der Wahrheit iſt das hoͤch, ſie Vergnuͤgen, aber wo ich ſie finden ſoll da muß ſie auch zu finden ſeyn. Es iſt nicht noͤ - thig, daß dies immer ein ſcientifiſches Buch ſey, dieſe ſind ſelten fuͤr die Frauenzimmer, ſondern irgend ein Buch worin treue Gemaͤhlde des Menſchen und menſchlicher Handlungen ſtehen, wo wir um und neben uns die Oriainale zu den Kopien ſuchen und finden koͤnnen, und wo wir geleitet werden durch Selbſtpruͤfung zu ſeben, ob wir auch ſo ſind und ſo werden koͤnnen, und ob die Mittel in der Anwendung auch fuͤr uns paſſen. Die Modebuͤcher und beſonders die Rit - termaͤhrchen, die jetzt vorzuͤglich geleſen werden, koͤnnen wahrlich hier nicht zum Muſter dienen.
Die Vorſtellung des Nutzens einer Lektuͤre erweckt ſo wol die Begierde darnach, als ſie das Vergnuͤgen waͤhrend derſelben erhoͤhet; das dar - aus geſammelte Nuͤzliche erhaͤlt in der Erinnerung und Anwendung den vorzuͤglichſten Werth, und iſt die Quelle eines immerwaͤhrenden reinen Ver - gnuͤgens.
72Der Zweck des Leſens ſollte uͤberhaupt und vorzuͤglich bei dem Frauenzimmer ſeyn — ſich zu bilden, zu belehren und doch dabei zu - gleich ſich angenehm zu beſchaͤftigen, wenn Mangel an anderer nuͤzlicher Beſchaͤftigung, oder vielmehr eine nothwendige Erholung nach Erfuͤllung ihrer Pflichten, eintrit. Ob dieſer Zweck erreicht wird, oder ob man auch nur die Abſicht hat, ihn erreichen? Vergeſſen Sie, daß Sie ein Frauenzimmer ſind und ſagen Sie — “nein”, oder wollen Sie lieber die beiden Worte — “nicht uͤberall”, waͤhlen: ſo will ich aus Hoͤflichkeit nichts dagegen einwenden, ja ich will Jhnen auch noch gern zugeſtehen, daß unſere Modeleſerinnen und Leſer nicht Wahrheit und ein daraus entſpringendes Vergnuͤgen ſuchen, ſondern daß ſie ganz andere Zwecke haben, wo - von ich Jhnen zum Gefallen einige anfuͤhren will.
Es laͤßt ſich nicht gut begreifen daß man blos lieſt um zu leſen und doch kann es wol der Fall ſeyn. Jndeß wollen wir lieber annehmen, daß es Leſer giebt die ohngefehr ſo leſen, wie die Kinder wenn ſie einige Wochen buchſtabirt haben, und ſich nun freuen daß ſie ſchon einige Worte zuſammen ſetzen koͤnnen. Eine kleine Eitel -73 keit iſt ja dem Menſchen eigen, und Cicero legt ſie ſo gar den Philoſophen bei, die auf den Titel der Buͤcher, die ſie von Geringſchaͤtzung des Ruhms ſchreiben, ihren Namen ſetzen. Man koͤnnte ſie alſo auch allenfals einem galanten Le - ſer und Leſerin verzeihen. Laͤcherlich bleibt es aber immer, wenn man blos lieſt um damit zu prahlen, denn das, womit man in dieſem Falle prahlt, iſt ja kein Eigenthum, ſondern geborgter Glanz. Wenn mein Nachbar meinen Rock borgt um Staat damit zu machen: ſo wird er ausgelacht von denen die es wiſſen mit weſſen Eigenthum er ſtolzirt. Wer nun gar in der Modelektuͤre die Honigzellen ſucht, der wird ſchlecht fuͤr ſeinen Vortheil ſorgen. Der Wind ſauſt uͤberall, und Niemand| weiß wo - her er koͤmmt und wohin er faͤhrt.
Wer daran einen Gefallen findet ſich mit Dingen groß zu machen die keinen Werth haben, und wer ſie ſich gern vorſchwatzen laͤßt, ſie gern anhoͤrt, verdient Mitleid und Bedauren. Laͤßt man im leztern Falle das — gern weg; ſo ſchenke ich ſeiner Geduld meine Vewunderung. Man muß den Schwachen im Glauben ertragen.
Fuͤr Juͤnglinge, die Wiſſenſchaften lernen wollen, iſt dieſe Leſeſucht, oder die Eitelkeit mit der Modelektuͤre zu glaͤnzen, kein geringer74 Schade. Nicht nur die edelſte Zeit geht verlo - ren, ſondern mit ihr noch weit mehr, Tugend und Unſchuld. Die Reue folgt oft zu ſpaͤt, aber um deſto ſchrecklicher iſt ſie auch. Der leere Kopf laͤßt ſich nicht mehr anfuͤllen, wenn auch die Faͤhigkeit dahin iſt, und Unſchuld laͤßt ſich um keinen Preis wieder erkaufen. Sie fliehet alle Anſtrengung der Kraͤfte, alle Thaͤ - tigkeit wird abgeſtumpft, weil ſie keine Nah - rung ſindet, ſie ſinken in eine Lethargie des Koͤrpers und des Geiſtes, werden unbrauchbar fuͤr den Staat, fuͤr ihre Freunde und fuͤr alles wozu eine gewiſſe Staͤrke des Koͤrpers und Groͤße des Geiſtes erfordert wird. Wie mancher gute Kopf iſt verloren, die ſchoͤnen Anlagen ver - ſchroben, die Empfindungen verſtimmt, der Werth des Juͤnglings iſt dahin, die herrliche Blume welkt in verdorbenen Saͤften. — Das Vaterland, Vater und Mutter trauren, und die Nachbaren ſtoßen die unnuͤtze Laſt von ſich. Zu nichts gewoͤhnt was ernſthaftes Nachdenken erfordert gehet auch die Faͤhigkeit dazu verlo - ren, man will nur Spiel haben und keine Schwierigkeit uͤberſteigen. Der junge Menſch wird andern zur Qual, ſich ſelbſt endlich zum Ueberdruß, und dieſer leitet ihn von einer Thor - heit zur andern. Was fuͤr ein Ungluͤck fuͤr den Staat, der auf ſeine jungen Buͤrger als Stuͤtzen rechnete, was fuͤr ein Jammer75 fuͤr eine ungluͤckliche Mutter die Stuͤtze ihres Alters zerbrechen zu ſehen! O das Ungluͤck das die Leſeſucht hier hervorbringt iſt unbeſchreiblich, und der Grund dazu wird auf Schulen und Univerſitaͤten gelegt!
Jch konnte dies hier nicht zuruͤck hal - ten, mein Herz lief mit dem Vorſatz davon, ich wollte erſt unter davon reden, wenn ich auf die, durch die Lektuͤre verſtimmte Einbil - dungskraft kaͤme, wodurch Juͤnglinge und Maͤd - chen zu lebendigen Phanthaſien werden. Jn - deß es ſchadet auch nicht wenn es hier ſtehet, dort werde ich noch Stoff genug finden.
Juͤnglinge aus der galanten Welt und von leeren Koͤpfen leſen um das Vakuum zu ver - mehren und allenfalls an der Toilette, wenn ſie zu gelaſſen werden, oder in Aſſembleen, wenn die Spieltiſche beſetzt ſind, mit einer jungen Kokette daſſelbe wechſelſeitig zu ver - tauſchen. Der vernuͤnftige junge Mann der von Wahrheitsdurſt getrieben einen reellern Trank ſuchte, den jene loſe Speiſe ekelte, ſpielt oft dabei eine erbaͤrmliche Rolle, muß ſich wol gar als Jgnorant, als Mann ohne Ge - ſchmack, als langweilig, und wie die ſchoͤnen Ausdruͤcke alle heißen, behandeln laſſen. Sei - ne Unterhaltung ſuchte Jntereſſe zu erwecken,76 und er fand keinen Sinn dafuͤt, weil jener Modeleſer durch ſein fades Gewaͤſch ein fades Geſchwaͤtz noch fader zu machen ſucht. O die Eitelkeit, o die klugen Leſer! Man gab ſonſt den Neugetauften Salz in den Mund als Symbol der Weisheit, jetzt ſtecken ihnen un - ſere Modeſchreiber Zuckerbrod hinein als Zei - chen der Feinheit und Genießbarkeit. Man ge - nießt ſich und genießt ſich doch nicht.
Es iſt in der That aͤrgerlich wenn man einen jungen Mann dieſer Art, der wol gar eine Stuͤtze des lieben Vaterlandes werden will, nach dieſem oder jenem Buche fragt, das in ſein Fach gehoͤrt, und eine gaͤnzliche Jgnoranz, oft ſo gar der Namen der be - ruͤhmteſten Gelehrten antrift, dagegen aber ein Dutzend Romanen, Rittermaͤhren und ſchofele Gedichte herzaͤhlen hoͤrt. Eben ſo ge - het es den Damen die oft ein Buch bis in den Himmel erheben, und wirklich nichts von dem Jnhalte verſtanden — die Eitelkeit treibt ſie auch wol zu etwas ſpekulativer Philoſophie — ſie vergeſſen daß ſie ihren Verſtand durch ihr Urtheil ſehr kompromittiren. Ein vernuͤnf - tiger Juͤngling macht ſich mit der Modelektuͤre bekannt, und dies iſt oft nothwendig, aber die - ſe Bekanntſchaft iſt von ganz anderer Art und wird ihm nuͤzlich, wenn er vorher mit reellen77 Sachen eine gewiſſe Vertraulichkeit erlangt hat.
Die Modelektuͤre dient wenig dazu der Ei - telkeit zu ſchmeicheln, ſie iſt vielmehr eine Sa - tire auf dieſelbe. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß das nach der Mode leſende Publikum dies ein - mal von der rechten Seite betrachtete, und lieber einen andern Gegenſtand ſeiner Lektuͤre waͤhlte, wodurch es ſeinen Zweck eher erreichen wuͤrde. Bis jetzt verfehlt es ihn ſicher.
Man muß ſich oft in Geſellſchaften uͤber den abſprechenden und zuſprechenden Ton wun - dern, womit unſere Modeleſer, die ſich auch wol Philoſophen und Philoſophinnen nennen laſſen, eine Schrift behandeln, und nicht ſelten hat man Urſach mißvergnuͤgt zu ſeyn, wenn das abſprechende Urtheil ein gutes Buch und einen edlen Verfaſſer trift. Jn keine geringe Verlegenheit wird man verſetzt, wenn man ſelbſt ſein Urtheil ſagen ſoll. — Widerſpruch kann uns, wo nicht das Praͤdikat — unhoͤflich, doch unſerm Verſtande, Geſchmack und Gefuͤhl, das — verdorben, verſchaffen. Wenn doch nicht auf ſo viele Gefuͤhle dies Praͤdikat paſſen moͤchte!
78Eine andere Abſicht des Leſens kann ſeyn, die Langeweile zu vertreiben. Jch verſtehe hier nicht alles Leſen zum Zeitvertreib, denn dies be - weiſt nicht immer daß Langeweile vorhanden iſt, ſondern es beweiſt auch wol, daß man nach nuͤzlichen anſtrengenden Geſchaͤften eine Erholung ſucht. Hier iſt das Leſeu nicht uner - laubt, ſondern vielmehr ſehr nuͤzlich, und ſehr zu empfehlen, wenn es ein Vergnuͤgen gibt das mit keiner unſerer Pflichten ſtreitet. Wenn man oft Erholung bedarf, warum ſollte man ſie nicht auch in einem ſchoͤn geſchriebenen Buche finden? Man waͤhle ſich ein Buch das unſerm Geſchmack angemeſſen iſt; dies iſt beſſer als wenn man ſeinen Umgang dem Zufall, oder wol gar einem Laſter uͤberlaͤßt, und die muͤſſigen Stunden zu irgend einer Leidenſchaft anwen - det. Langeweile in dieſem Sinne kann fuͤr ei - nen nicht ſchlaͤfrigen Kopf unertraͤglich und fuͤr manches ſchwache Herz in der Tugend gefaͤhrlich ſeyn, was alſo dagegen verwahrt, iſt zweckmaͤßig, wenn es ſich mit den Geſetzen der Sittlichkeit vertraͤgt. Durch ein ſolches Leſen zum edlen Zeitvertreib wird auch manche nuͤz - liche Kenntniß allgemeiner gemacht.
Hiervon unterſcheidet ſich aber gar ſehr das Leſen aus lauter Langeweile, wodurch ſo manche Gattin und Hausfrau, die viel wiſſen79 will, und doch das nicht weiß, was ſie zuerſt gebraucht, ſich ſelbſt und ihren Kindern ſo fremd wird. Dieſes Uebel reißt auch in den niedern Staͤnden ein, und wird die Utſach der Armuth, der ſchlechten Kinderzucht, und des |haͤuslichen Elends. —
Eine ſolche Langeweile entſpringt meiner Meinung nach aus drei Quellen und fuͤhrt in das Meer des Ungluͤcks und des Schmerzens. Erſtlich entſtehet ſie aus einem gaͤnzlichen Man - gel an ernſthafter und nuͤzlicher Beſchaͤftigung, oder zweitens aus Mangel des Geſchmacks an derſelben, auch drittens aus Mangel der Faͤhig - keiten dazu.
Dieſe Quellen koͤnnen warlich nicht durch die Modelektuͤre verſtopft werden, und das Mittel dieſe Krankheit zu heilen kann nur Palliativ ſeyn. Das beſte Mittel iſt, daß man reellere Beſchaͤftigungen aufſucht, und dieſe koͤnnen doch wol in einem Hauſe nicht ſchwer zu finden ſeyn, zumal fuͤr Frauenzimmer, die hier vorzuͤglich in ihrer Atmosphaͤre leben. Die haͤusliche Ordnung, die Sorge fuͤr alle Kleinigkeiten geben Beſchaͤftigung genug, und eine Frau handelt gewiß weiſer wenn ſie ihre80 Toͤchter hierzu gewoͤhnt, als wenn ſie ſie andere Dinge — lehrt, die natuͤrlich| das Gegentheil von jenem zur Folge haben muͤſſen. Haͤuslich - keit war ſonſt eine Tugend der Weiber, die den Mann und das ganze Haus gluͤcklich mach - te; man forderte nicht mehr von ihnen als geſunden Menſchenverſtand, und ein reines gutes Gefuͤhl fuͤr Tugend und haͤusliches Gluͤck und dieſe auszubilden durch eine nuͤzliche Lektuͤ - re blieb immer noch Zeit genug von ihren Be - ſchaͤftigungen uͤbrig. Das gelehrt thun der Weiber iſt unausſtehlich, und manche Familie gehet dadurch und durch die Leſeſucht zu Grun - de. Wie viele junge Maͤdchen ſind durch die Lektuͤre ihrer Modebuͤcher zu Gattinnen, die einen Mannigluͤcklich machen koͤnnen, verord - ben! und wie manche hat ſich dadurch ihr ei - genes Ungluͤck zubereitet! Entwoͤhnung von ernſthaften nuͤzlichen Beſchaͤftigungen kann ſi - cher nichts gutes hervorbringen in einer Lage, wo man gerade dieſe Beſchaͤftigung treiben ſoll. Wehe dem Manne der ein ſolches Maͤd - chen zur Gattin nimmt! Ob nicht mancher jun - ge Mann mit mir hier eben ſo denkt, und ob nicht dieſe Gedanken auch Einfluß auf die buͤr - gerlichen Verhaͤltniſſe haben? Sie meine Theuer - ſte, verſtehe mich auf halbem Wege.
Jch81Jch behaupte alſo feſt, daß aus Mangel an nuͤzlichen Beſchaͤftigungen keine Langeweile entſtehen kann, denn ſie koͤnnen nicht fehlen, wenn man ſie nur aufſuchen will. Jn den er - ſten Staͤnden koͤnnte man nothgedrungen das Gegentheil zugeben, wenn man ſie ſatiriſiren wollte, aber warlich nicht in dem Buͤrgerſtande. Wem ſein Geſinde und ſeine Kinder gleichguͤl - tig ſind, der hat ſich gewiß nicht recht um ſei - ne Pfiichten bekuͤmmert, und kann die Nichter - fuͤllung ſeiner haͤuslichen Pflichten haͤusliches Gluͤck hervorbringen? ich daͤchte das hoͤchſte Gluͤck des Lebens ſollte doch nicht langweilig ſeyn zu beſorgen!
Wer in ſeinem Hauſe Langeweile findet, der iſt gewiß im hohen Grade ungluͤcklich; wird er ſie in Geſellſchaft vergeſſen, wohin er ſie mitbringt? vielleicht auf einige Augenblicke, um ſie dann noch druͤckender zu fuͤhlen. Sollte die Lektuͤre das Gegenmittel zu Hauſe ſeyn: ſo muͤßte ſie warlich anders beſchaffen ſeyn, denn das ewige Einerlei der Modebuͤcher und be - ſonders der Rittermaͤhrchen, von Anfang bis zu Ende, dient gewiß mehr dazu die Langeweile zu vermehren als zu vermindern. Aus ihnen gehet Mißmuth, Unzufriedenheit mit ſich ſelbſt, und mit denen die[uns] umgehen hervor, dieF82dann natuͤrlich durch haͤusliche Unordnung noch vermehrt wird. Dies iſt kein geringes Jngre - dienz des haͤuslichen Ungluͤcks. Die Zeit wird verſchwendet, durch Muͤßiggang gewonnen, durch Traͤgheit erkauft, der Erfuͤllung hoͤherer Pflich - ten geſtohlen; eine ſolche Lebensart vertraͤgt ſich mit keinem Amte, mit keinem Stan - de; buͤrgerliches und haͤusliches Ungluͤck iſt ihre Folge. Die Gleichguͤltigkeit gegen ernſthafte Dinge nimmt unter Juͤnglingen und Knaben, unter Weibern und Maͤdchen ſehr zu.
Die zweite Quelle der Langeweile iſt der Mangel an Geſchmack an ernſthaften Beſchaͤfti - gungen. Woher entſtehet er? Von Natur hat der Menſch eine gewiße Sterbſamkeit, er ſucht Arbeit und will thaͤtig ſeyn. Dieſer Trieb er - haͤlt durch Beiſpiel, und Vorſtellung des Nu - tzens feine Hauptſtaͤrke. Uebung gibt Ausbildung und Fertigkeit, und dieſe bringt wiederum die Luſt hervor. Das Vergnuͤgen das aus dem Ge - fuͤhl dieſer Fertigkeit und Leichtigkeit womit man etwas ausrichten kann, entſtehet, macht daß man es gern thut. Dies nenne ich Geſchmack an der Sache finden und dieſer erleichtert auch83 ſchwerere Sachen, die dadurch beſſer gelingen und ein Vergnuͤgen geben, das der dadurch erlang - ten Vollkommenheit und dem aufgewandten Maaß von Kraͤften entſpricht. Wo keine Uebung iſt, kann keine Fertigkeit entſtehen, und wo dieſe nicht iſt, da gehet das Vergnuͤ - gen ganz oder halb verlohren; Mißmuth und Ekel trit ein, man ſcheuet die Beſchaͤftigung aus Ueberdruß oder Faulheit, und ſinkt immer tie - fer in Unthaͤtigkeit des Koͤrpers und des Gei - ſtes. Nichts was Anſtrengung erfordert will man gern thun, dies heißt, man hat keinen Geſchmack daran. Entwoͤhnung von ernſthaften Beſchaͤftigungen, die dadurch verminderte Thaͤtigkeit und Kraft, erzeugen eine Unfaͤhig - keit die uns in unſern und anderer Augen ver - aͤchtlich macht, und Unzufriedenheit zu jenem Mangel des Geſchmacks an ernſter Anſtrengung hinzu thut. Mich duͤnkt dies ſey die natuͤrlich - ſte Quelle deſſelben. Der Mangel dieſes ern - ſten Geſchmack iſt daher immer ſubjektiviſch, und alſo auch der Mißmuth der damit verbun - den iſt. Allgemein iſt die Begierde den letzteren zu vertreiben, aber verſchieden ſind wieder die Mittel. Man will den Strom verſtopfen und vergißt die Quelle woraus er fließt.
F 284Ganz ohne Beſchaͤftigung kann und will der Menſch nicht ſeyn, er ſucht ſie, aber auf was fuͤr Wege geraͤth er oft? fließen nicht tau - ſend Laſter aus einem geſchaͤftigen Muͤßiggange die eben ſo vielmal modiſizirt werden? Die Le - ſeſucht iſt ſo weit entfernt dieſem Uebel abzuhel - fen, daß es vielmehr dadurch ſeine Hauptnah - rung erhaͤlt. Sie vermehrt die Unordnung der Gedanken, verſtimmt dadurch die Empfindun - gen, und unterdruͤckt auch den lezten Fun - ken von Thaͤtigkeit, bringt die Leidenſchaften, die dem Menſchen zur Vollendung ſeiner Voll - kommenheit gegeben ſind, in die hoͤchſte Ver - wirrung.
Alle Anſtrengung des Geiſtes gehet durch die Verzaͤrtelung des Verſtandes, durch die Ver - woͤhnung des Geſchmacks verlohren, aller Sinn fuͤr das ernſthafte und nuͤzliche wird abgeſtumpft, denn man will ja nicht mit Anſtrengung leſen, ſondern man miſcht alles durch einander, lieſt al - les durch einander, lieſt alles was geſchrieben iſt, und iſt zufrieden mit dem was die Phan - taſie beſchaͤftigt. O! die Wuͤrde des Menſchen! ſinkt er nicht ſo gar in Abſicht ſeines Vergnuͤ - gens zum Kinde herab? vergißt er nicht ſeine Wuͤrde durch die Unterdruͤckung ſeiner edelſten Empfindungen?
85Wenn die Langeweile durch das Leſen der Modebuͤcher gehoben werden ſoll: ſo trauet man dieſen zu viel und jener zu wenig Kraft zu; das Uebel wird aͤrger durch den Gebrauch falſcher Gegenmittel und zwei Uebel geben in der Summe das Doppelte.
Wer blos lieſt um ſich ſeinen Nichtge - ſchmack an ernſthaften Dingen zu verhehlen, der verraͤth einen hohen Grad von Verdorben - heit, und entbehrt dabei ein Vergnuͤgen, das der Schoͤpfer in die Abwechſelung der Thaͤtig - keit mit der Ruhe legte, und das zu den edel - ſten gezaͤhlt werden muß; ein Vergnuͤgen das durch den Genuß und durch die Erinnerung ei - nen doͤppelten Werth erhaͤlt. Man kann ſich dies Vergnuͤgen auch an der unangenehmſten Beſchaͤftigung, durch Ausdauren, und durch die Vorſtellung des Nutzens derſelben, verſchaf - fen. Kommt noch dazu daß man einer gelieb - ten Perſon einen Vortheil dadurch verſchaffen, oder einen Gefallen erzeigen kann: ſo muß auch das Unangenehmſte ein Vergnuͤgen geben. Ein Weib liebt gewiß den Mann nicht, wenn ſie nicht durch haͤusliche Thaͤtigkeit und Ord - nung ihm das Leben froh macht. Gibt es aber nicht hundert Familien wo die Buͤcher die Koͤ - pfe der Mutter und der Toͤchter verwirren und86 den Mann in ein Labyrinth von Elend ſtuͤrzen? Romane und Komoͤdie fanden nicht ſelten das Ende in Tragoͤdien. — Gewiß, meine theuer - ſte W. ich ſage nicht zu viel, wenn ich behaup - te, daß die Langeweile die aus Mangel des Ge - ſchmacks an ernſthaften Beſchaͤftigungen ent - ſtehet nicht durch die jetzige Modelektuͤre ge - hoben, ſondern daß ſie ſelbſt dadurch her - vorgebracht und ernaͤhrt wird. Die Erfah - rung kann einen jeden, wer Luſt hat ſich um - zuſehen, davon uͤberzeugen. —
Aus Mangel an natuͤrlichen Faͤhigkeiten ſollte billig keine Langeweile entſtehen, wol aber aus Mangel an Faͤhigkeiten, wo wir ſelbſt der ſchuldige Theil ſind. Wer das erſte behaupten, und das lezte leugnen wollte, den wuͤrde ich, wie jener griechiſche Geometer zu thun pflegte, durch die Ungereimtheit widerlegen. Die guͤti - ge Natur hat Jedem ein Maaß von Kraͤften zugetheilt, durch deren treuen Gebrauch ihm die Summe des Gluͤcks erwaͤchſt, deren er faͤ - hig iſt. Eine immer ſchlafende Kraft iſt keine Kraft; der Gebrauch giebt ihr den Namen. Wer eine Kraft die ſich zu entwickeln anfaͤngt, von dem rechten Gegenſtande abwendet, oder ſie in den Schlaf lullt, iſt Hervorbringer mehrerer Unvollkommenheiten und alſo Vermehrer des Ungluͤcks. Wie? wenn man dies nun mit Recht87 von der Leſeſucht und der gangen Modelektuͤre behaupten koͤnnte? Wenn man zeigen koͤnnte, daß ſie ſo viele Kraͤfte unterdruͤckt, oder falſch richtet, waͤre ſie nicht eine Peſt fuͤr das Men - ſchengeſchlecht? Dies glaube ich, erhaͤlt ſchon aus meinen vorigen Briefen, und wird es noch mehr aus den folgenden. Oft ſoll die Urſach des Uebels auch wieder das Heilungsmittel ſeyn wie der Luxus, der in der hoͤchſten Verfeine - rung und Allgemeinheit ſich ſelbſt zum Heilmit - tel dient, allein dies paßt nicht auf dieſe Lektuͤre, denn unſere Geiſterſeher, Rittergeſchichten und der ganze Modekram, koͤnnen das Uebel nicht aufheben das ſie hervorbringen, ſie ſtumpfen die Thaͤtigkeit ab die der Luxus im beſtaͤndigen Steigen erhaͤlt.
Jhre Frage: ob nicht bei der Lektuͤre ein iſolirtes Vergnuͤgen, oder auch eine Gleichguͤl - tigkeit ſtatt finden koͤnne? hindert mich in mei - nem Plan weiter zu gehen, ich muß ſie erſt beantworten. Sie ſcheint mir nicht gleichguͤl - tig zu ſeyn, ob Sie gleich ſelbſt daruͤber ſpot -88 ten. Halten Sie meine Schluͤſſe nicht fuͤr Sophismen, ſondern pruͤfen Sie dieſelben.
Ein iſolirtes Vergnuͤgen ſoll wol ein ſolches ſeyn, das unabhaͤngig von Wahrheit, Belehrung, Vollkommenheit und Zeitvertreib waͤre. Ein ſolches Vergnuͤgen kenne ich nicht, und es kann auch keins der Art geben. Folgende Erklaͤrung wird Sie uͤberfuͤhren. Das Vergnuͤgen iſt das Ge - fuͤhl, oder die ſinnliche Vorſtellung einer Voll - kommenheit. Hieraus ergibt ſich, daß da, wo keine Vollkommenheit zu finden, wo keine Vor - ſtellung derſelben moͤglich iſt, auch kein Ver - gnuͤgen ſeyn kann. Nach dem Gefuͤhl oder der Vorſtellung dieſer Vollkommenheit richtet ſich der Grad des Vergnuͤgens, und die Lebhaftig - keit deſſelben. Bei dem Leſen muß alſo immer, wenn es Vergnuͤgen geben ſoll, ein Gefuͤhl von Vollkommenheit ſeyn, entweder ſubjekti - viſch, in dem Leſer, oder objektiviſch in dem Buche, wenigſtens iſt im letztern Falle die Erwartung derſelben der Grund warum man lieſt. Das Kind findet in ſeiner Lektuͤre auch ein Vergnuͤgen, denn es hat das Gefuͤhl der Vollkommenheit daß es leſen kann. Sollte man das Vergnuͤgen des Leſens blos darin ſetzen daß man leſen koͤnnte? Ein neuer Nominaliſt wuͤrde allenfalls behaupten daß das Vergnuͤgen nichts reelles, ſondern blos ein Namen waͤre,89 und den Renliſten den Krieg anzukuͤndigen. Er wuͤrde aber bald die Waſſen niederlegen muͤſſen. — Man ſucht durch die Lektuͤre irgend etwas zu erlangen, und waͤren es auch blos angeneh - me Empfindungen, Phantaſien und Traͤume, die fuͤr den auch einen Werth haben koͤnnen, der ſie ſucht. Kurz, unabhaͤngig von dem oben - genannten vier Stuͤcken gibt es kein Vergnuͤ - gen in der Lektuͤre, ſie erzeugen das Jntereſſe und erhalten es.
Verſteht man iſolirtes Vergnuͤgen der Lek - tuͤre ſo, daß man es andern Vergnuͤgen z. E. der Muſik, der Mahlerei entgegen ſetzt ſo ha - be ich weiter nichts dagegen, als daß man rich - tiger ſagte, das Leſen gibt ein eigenthuͤmliches Vergnuͤgen, daß von dem eigenthuͤmlichen Vergnuͤgen der Muſik u. ſ. w. verſchieden iſt, nicht dem Urſprunge nach, denn dieſer bleibt immer eine Vollkommenheit, ſondern der Wir - kung nach. Alſo dagegen habe ich nichts einzu - wenden, wenn Sie iſolirt fuͤr ſubjektiviſch neh - men, denn Vergnuͤgen gehoͤrt zu den ſubjektiviſchen oder relativen Begriffen. Jeder Menſch hat ſeine eigene Vorſtellung davon. Man kann dem Aus - drucke nach unter iſolirtem Vergnuͤgen auch ein Vergnuͤgen verſtehen das immer bei uns bleibt, wenn es nicht, wie der Funken der Elektrizitaͤt herausgelockt wird, aber dann muß doch90 auch nach meiner obigen Difinizion, ein ſtetes Gefuͤhl von Vollkommenheit vorhanden ſeyn, ohne welches kein Vergnuͤgen ſtatt findet. — Wenn ich dies auf die Modelektuͤre anwendete, ſollte hier wol ein ſtetes Vergnuͤgen zuruͤckblei - ben? —
Wenn wir ein ſtetes Vergnuͤgen nach mei - ner vorigen Erklaͤrung, als das hoͤchſte Ziel der menſchlichen Sterbſamkeit annehmen: ſo gehoͤ - ren zur Erreichung deſſelben richtige Mittel, die fuͤr ſich wiederum untergeordnete Zwecke ſeyn koͤnnen. Ein jedes dieſer Mittel iſt angenehm. Wenn alſo die Lektuͤre zum Vergnuͤgen beitraͤgt: ſo iſt ſie angenehm; und wenn ſie eine deutliche Erkenntniß hervorbringt: ſo iſt ſie unterrichtend. Dies lezte muß die Hauptſache ſeyn. Bei der Leſeſucht wird das Mittel zum Zweck gemacht, und daraus kann nie etwas gutes kommen. — Jeder Unterricht, ſo wol der muͤndliche als ſchriftliche, muß Wahrheit geben, wenn er gut ſeyn ſoll, und jede Wahrheit iſt angenehm und vergnuͤgend, weil ſie einen Jrrthum wegraͤumt. Das Streben nach Wahrheit iſt Zweck fuͤr ſich und Mittel zu jenem hoͤchſten Ziel. Jhr Nutzen fuͤr das praktiſche Leben beſtimmt ihren Werth.
Laſſen Sie uns den erſten Satz den ich oben als Hauptzweck des Leſens angab hier ſo91 ſetzen: Wir leſen um Wahrheit zu ſuchen, unſere Kenntniſſe zu vermehren, und dadurch uns einen reellern Lebensgenuß zu verſchaf - fen, und froh und gluͤcklich zu ſeyn. Wenn unſere Lektuͤre dahin fuͤhrt: ſo iſt ſie gut, iſt Pflicht fuͤr uns; fuͤhrt ſie davon weg: ſo iſt ſie vewerflich. Man nehme jeden Zweig der jetzi - gen Modelektuͤre und pruͤfe ihn, wird eine reelle Kenntniß etwas dadurch gewinnen, wird Unſchuld, Tugend und froher Lebensgenuß dadurch erhal - ten und befoͤrdert? die Schriftſteller ſuchen nur zu beluſtigen ohne zu unterrichten, und die Leſer wollen nur beluſtigt werden, ohne unterrichtet zu ſeyn, jene ſuchen zu unterhalten ohne zu beſ - ſern, und dieſe wollen unterhalten ſeyn, und greifen alſo nach ſolchen Buͤchern. Das nuͤtzli - che Buch bleibt unbemerkt. Der Trieb zum Leſen wird durch die Schriftſteller jener Art uͤber - fluͤſſig befriedigt, und der Hang immer ſtaͤrker, und die Zahl der Leſer immer groͤßer.
Da der Geſchmack der Leſer und Leſerinnen ſo leicht umzuſchaffen iſt: ſo muß man hoffen, daß er bald eine andere Richtung erhaͤlt. Wenn Herder ſein Buch: Ueber den geſunkenen Ge - ſchmack u. ſ. w. wieder auffriſchen wollte: ſo koͤnn - te er auch auf unſere jetzige Periode Ruͤckſicht nehmen. — Bis jetzt haͤngen die Damen, nicht nur im Hauſe von dem Manne, ſondern auch92 in ihrer Lektuͤre von den Schriftſtellern ab; wie waͤre es denn, wenn ſie nicht das erſte, ſondern das leztere aͤnderten, und die Modeſchreiber von ſich und ihrem Geſchmacke abhaͤngen ließen? Man koͤnnte dann doch ſagen, daß ſie auch ihren eigenen Geſchmack haͤtten. Es waͤre dies ſehr leicht, wenn ſie nur der Mode, die in Leipzig in Ma - kulatur debitirt wird, eben ſo entſagen wollten, wie ſie jetzt anfangen den Taͤndeleien aus Paris zu entſagen.
Auſſer den Vergnuͤgen des Geiſtes gibt es noch Vernuͤgen des Herzens, die aus der Vor - ſtellung der ſittlichen Vollkommenheit in uns oder andern entſtehen Dieſe ſtehen unter den vier Arten des Vergnuͤgens oben an, ſind aber genau mit Belehrung, Bildung unſers mora - liſchen Gefuͤhls verbunden. Wenn die Lektuͤre dies bewirkt; ſo iſt ſie zweckmaͤßig, und befoͤr - dert das Gluͤck der Menſchen. Sollten wol die hundert Geiſtergeſchichten und tauſend Ritter - maͤhrchen, und der groͤſte Theil des Modekrams, hierauf die geringſte Wirkung haben? Die Er - fahrung lehrt, daß ſie grade das Gegentheil her - vorbringen. — Die Vergnuͤgen des Herzens beſtehen nicht im tiefen Spekulationen des Gei - ſtes; ſondern in moraliſchen Empfindungen, wor - auf man, wie mich duͤnkt, vorzuͤglich in der Lek - tuͤre der Frauenzimmer wirken muͤßte. Dies iſt93 alſo der Unterſatz in dem Hauptzweck des Leſens den ich oben angab. — Die weiblichliche Lek - tuͤre muß
“das Herz der Leſerin fuͤr das Gute erwaͤr - „ men, ihre Gefuͤhle und Empfindungen ſanft „ ruͤhren, aber nicht ſo erſchuͤttern daß ſie in „ Unordnug kommen, und durch den Reiz die - „ ſer angenehmen Empfindungen, die richtig ge - „ leitet werden, zum Streben nach hoͤherer ſitt - „ lichen Vollkommenheit hinziehon. Sie muß „ durch den Einklang ihrer Gefuͤhle und Em - „ pfindungen das Einſtimmige in ihren Hand - „ lungen befoͤrdern, und ſo den ſanften „ liebenswuͤrdigen Charakter bilden, der un - „ widerſtehlich anziehet, und alles, was ſich „ ihm naͤhert, froͤhlich macht. Die Bildung des „ weiblichen Charakters, die Richtung ihrer „ Seelenkraͤfte iſt ſo wichtig, und der Einfluß „ derſelben auf das ganze menſchliche Leben ſo „ entſchieden, daß Erzieher und Erziehe - „ rinnen unverantwortlich fehlen, wenn ſie ihn „ vernachlaͤſſigen. Eben dies trift die Schrift - „ ſteller die das weibliche Geſchlecht ſo klein „ behandeln. Das Vergnuͤgen, welches Frauen - „ zimm̃er durch die Lektuͤre genieſſen, muß, „ weil ſie durch ihr Geſchlecht und Erziehung „ zum abſtrakten denken nicht beſtimmt zu „ ſeyn ſcheinen, in einer leichten Beſchaͤftigung94 „ ihrer Seelenkraͤfte beſtehen, wobei ſie gewiſ - „ Maͤngel und Unvollkommenheiten am wenig - „ ſten empfinden. Sittliche Gegenſtaͤnde ſitt - „ lich und mit aller Delikateſſe der Schreibart „ vorgeſtellt wuͤrden beide Zwecke erfuͤllen, auf „ das Herz und Empfindungen wirken, und „ dadurch das edelſte Vergnuͤgen hervorbringen, „ — Jſt es ein ſchoͤnes Werk im aͤſthetiſchen Sin - „ ne: ſo gibt es den Leſerinnen eine groͤßere „ Summe von Vergnuͤgen, wenn es ihnen das „ Gefuͤhl gewiſſer eigenen Vollkommenheit gibt. „ Eine unuͤberſehbare Reihe von Gegenſtaͤnden „ verwirrt und ermuͤdet. Sollen ſie Vergnuͤ - „ gen geben: ſo muß eine ſymmetriſche Ordnung „ die Ueberſicht erleichtern.”
Das Verdienſt unſerer Schriftſteller iſt da - her nicht geringe, die ein Chaos von Materialien ſo verarbeiten daß es genießbar wird, die Nutzen und Vergnuͤgen ſo zu verbinden wiſſen, daß ſie unzertrennlich ſind, das Herz erwaͤrmen und den Verſtand intereſſiren. Wer abſtrakte philoſophi - ſche Saͤtze in einen Roman braͤchte, ſie in Re - den und Handlungen ſchoͤn und wahr ausdruͤckte, und ſie ſo fuͤr das praktiſche Leben anwendbar machte, verdiente den Namen eines belehrenden und vergnuͤgenden Schriftſtellers. Auch der ab - ſtrakteſte Denker nimmt gern einmal ein ſolches Buch zur Hand, vergißt ſeine Reihen von95 Saͤtzen ſcientifiſcher Ordnung, und laͤßt ſich an - genehm und nuͤzlich unterhalten. Aber wie viele ſolcher Buͤcher, die in unſern Leſegeſellſchaf - ten zirkuliren, moͤgen dies Verdienſt haben? — Die ſchaalſten Romane, das albernſte Zeug, wo wol gar noch am Rande einige Stellen als vorzuͤglich ſchoͤn angeſtrichen ſind, wo die Stri - che aber weiter nichts als eine Note auf den Verſtand des Anſtreichers ſind, fiehet man ſo be - ſchmutzt, daß man ſie aus Ekel nicht in die Hand nehmen mag. Gute, nuͤtzliche Buͤcher, ſind nicht einmal aufgeſchnitten!
Jch muß mich jezt noch uͤber die Gleichguͤl - tigkeit bei der Lektuͤre erklaͤren. Man hoͤrt nicht ſelten ſelbſt von Modeleſern die Worte” dies Buch iſt mir gleichguͤltig, es intereſſirt mich nicht, ich will es aber doch leſen. Das hieſſe alſo beſſer ſo: “ich leſe ohne Zweck, ich erwarte weder Ver - gnuͤgen noch Mißvergnuͤgen von dieſem Buche, ich begehre nichts und verabſcheue nichts daraus.” Wenn dies iſt: ſo moͤchte ich wiſſen warum man lieſt, und nicht lieber eine andere Beſchaͤftigung waͤhlt. Eine voͤllig gleichguͤltige Lektuͤre iſt ein Unding, und eine ſolche Beſchaͤftigung wuͤrde einen wirklich elenden Zuſtand verrathen. — Man war in irgend einer Lage die mißbehagte, man wollte ſich daraus verſetzen und nahm ein96 Buch in die Hand. Das Begehren entſtand alſo aus dem Verabſcheuen eines Uebels. Wer oft ſolche gleichguͤltige Lektuͤre ſucht, beweiſt da - durch daß er ſich auf eine feinere nuͤzlichere Art nicht zu beſchaͤftigen weiß. Selbſt die Leſer aus Eitelkeit gebrauchen das Leſen als Mittel zu ih - rem Zwecke, und kann irgend ein Mittel wo - durch ich einen Zweck erreiche gleichguͤltig ſeyn? Jch behaupte nicht daß man ein jedes Buch mit gleichem Jntereſſe lieſt; ſondern ich wollte Sie nur darauf aufmerkſam machen, daß auch die ſchofelſte Lektuͤre ein gewiſſes Jntereſſe erfordert. Dies kann ſehr gut zum Maaßſtabe dienen, nach welchem man den Geſchmack der Leſer, ihre Faͤ - higkeit und Denkungsart beurtheilen kann. Jch muß ſie aber bitten dieſen Maaßſtab bei unſerer Mode - oder abentheurlichen Lektuͤre nicht zu ver - juͤngen, Jhr Urtheil uͤber die Leſer koͤnnte et - was bitter ausfallen, und Wahrheit findet nicht ſelten ungeneigte Ohren. Ueberdem muß man auch geſtehen, daß mancher Leſer ſolcher Schrif - ten mit Mißvergnuͤgen davon zuruͤck kommt, wenn er ſie ganz leer von allem Jntereſſe fand.
Es giebt einige Leſer, die, nach ihrer Ver - ſicherung, ſolche Buͤcher blos leſen, um ihren Stiel darnach zu bilden. Dieſer kleine Vortheil,wenn97wenn er aus dieſen Schriften zu erlangen moͤg - lich waͤre — man kann dies nur von einem kleinen Theile derſelben zugeſtehen — koͤmmt ſehr theuer zu ſtehen, und wird mit Zeitver - luſt und Gefahr der Moralitaͤt gewonnen. Es gibt der ſchoͤn ſtiliſirten Romanenhelden und Heldinnen ſchon genug; ich daͤchte man ſuchte eher ihre Anzahl zu vermindern als zu ver - mehren.
Dies waͤren alſo alle Hauptbewegungsgruͤn - de des Leſens, naͤmlich um Wahrheit, Beleh - rung und Vergnuͤgen zu ſuchen, die Langewei - zu vertreiben, der Eitelkeit zu froͤhnen, den Stil zu bilden. Keiner dieſer Zwecke kann durch die jetzige Lektuͤre der abenthenerlichen Albern - heiten erreicht werden. Gibt es etwa noch ei - nen ganz eigenen Zweck? der Wohlſtand er - laubt nicht, daß ich ihn nenne; ich kann aber verſichern, daß er am erſten erreicht wird. Viel - leicht tritt bald ein Erasmus mit einem neuen Encomio Moriae auf.
Sie ſehen alſo, daß in der jetzigen Mode - leſerei kein Zweck und kein Plan iſt, der auf die Vermehrung des Gluͤcks der Menſchen an -G98gelegt waͤre. Das Gegentheil, duͤnkt mich, laͤßt ſich evident darthun. Jch glaube dies er - hellt auch ſchon aus meinen vorigen Briefen - und wird es noch mehr aus den folgenden. Wenn ſich jeder Leſer genau kennte: ſo wuͤrde er nicht ſo leſen, wie er lieſt; und wenn er mehr aufmerkſam auf ſich ſelbſt waͤre: ſo wuͤr - de er auch den Schaden nicht uͤberſehen, der daraus entſtehet. Da nur geleſen wird um zu leſen: ſo wird auch nur geſchrieben um zu ſchreiben. Die Leſegeſellſchaften, ſo ſehr ſie auch zu empfehlen ſind, ſtiften bis jezt im all - gemeinen mehr Schaden als Nutzen, und beduͤrf - ten wol eines guten Cenſors. Durch ſie kommt ſo manches im Umlauf was den Sitten, dem oͤffentlichen und haͤuslichen Gluͤck, hoͤchſt nach - theilig iſt. Die Leſer muͤſſen auf Koſten ihres Beutels und nicht ſelten ihrer Moralitaͤt, ihren Zeitvertreib oder ihre Neugierde, theuer be - zahlen.
Da die Lektuͤre ein Haupttheil des Un - terrichts und eigener Belehrung und Bildung iſt: ſo gebuͤhrt ihr auch ein großer Einfluß auf die Moralitaͤt und das Gluͤck der Menſchen. Wenn man ihr dieſen einraͤumt: ſo hebt man aber dadurch nicht ihren Einfluß auf die Jm - moralitaͤt auf. Die Beſchaffenheit der Wir - kung haͤngt von der Beſchaffenheit der Urſach ab. Die letztere wird aus der erſtern erkannt, und dieſe erhaͤlt durch jene ihre Staͤrke und ihren Werth. Dem Jnhalte des Buchs wird auch die Wirkung deſſelben entſprechen; eigene Feſtig - keit des Charakters und zufaͤllige Dinge koͤnnen ſie abaͤndern oder unterdruͤcken. Vorbereitun - gen und ſubjektiviſche Verhaͤltniſſe geben ihr das angenehme und unangenehme. Gute Grundſaͤtze koͤnnen in dem Leſer eine hoͤhere Theilnahme, ſo wie ſchlechte einen Abſcheu her - vorbringen; daß es nicht immer geſchiehet be - weiſt die Erfahrung. Sittliche Vorſtellungen koͤnnen ſittliche Empfindungen und Entſchließun - gen hervorbringen, ſo wie unſittliche, das Ge - gentheil von jenen. Aber auch dieſe leztern brin - gen nicht ſelten angenehme Empfindungen her - vor; es beruhet dies, wie ſchon geſagt, auf Vorbereitungen und eigenen Verhaͤltniſſe undG 2100Stimmung des Leſers. Die Schilderung der Wolluſt, laͤßt Bilder zuruͤck, deren Lebhaftig - keit ſich nach der Staͤrke der Ausdruͤcke richtet; die Einbildungskraft ergaͤnzt was der Spra - che abgeht, ihre ſchoͤpferiſche Kraft ſpekulirt in dem Reiche der Moͤglichkeit, und bleibt bei dem ſte - hen, was den groͤſten Reiz hat, und die Nerven am angenehmſten ruͤhrt. Die Schilde - rung der Tugend laͤßt gleichfalls Bilder zuruͤck, deren Lebhaftigkeit und Staͤrke aber nicht ſo wohl von der Einbildungskraft, als vielmehr von einer hoͤhern Tendenz der Seelenkraͤft abhaͤn - gen, und daher immer ſchwaͤcher werden muͤſ - ſen je mehr ſie mit einer Leidenſchaft in Colli - ſion kommen, die eine gewiſſe Herrſchaft uͤber das Jdeenreich ausuͤbt.
Daß dieſe Bilder nach der Denkungsart, Organiſation und der davon abhaͤngenden Staͤr - ke oder Schwaͤche der Leidenſchaften Eindruck machen, ergibt ſich von ſelbſt. Die Bilder der Tugend ſind gewoͤhnlich in der Vergleichung mit denen des Laſters die ſchwaͤchſten, weil ſie der Einbildungskraft nicht ſo ſchmeicheln, als dieſe, die in der Vermiſchung der Jdeen lauter ſinnliche Gefuͤhle geben, die keine Aufopferung fordern, jene hingegen ſind an Widerſtand gebunden und mit Einſchraͤnkung umgeben. 101Ja die Schilderung der Tugend kann den leb - haften Kopf grade auf das Laſter hinfuͤhren. Was Tugend ſey, erkennt man aus dem ihr entgegenſtehenden Laſter, die Grenzlinien ſind aber ſo ſein, daß ſie nicht ein jeder bemerkt; und wie viel ſchadet nicht die Neugierde? dies iſt der boͤſe Daͤmon, der ſich zum Fuͤhrer in das Labyrinth des Laſters anbietet. Ach! und das Gift ſchleicht ſo unbemerkt in den ſorgloſen Wanderer, durchgluͤhet ſeine Adern ehe er es merkt. Schrecklich wird er geweckt, wenn er am Abgrunde ſtehet, wenn das Feuer in ihm wuͤthet und den lezten Keim ſeiner Ruhe auf - zehrt — dann jammert er, verwuͤnſcht das Buch worin er den Funken fand, der ſeine Leiden - ſchaft entzuͤndete. Was fuͤr verfuͤhreriſche ſchluͤpf - rige Buͤcher ſind im Umlauf die fuͤr die Ein - bildung ein wahres Gift ſind, und ſo gar Kin - der und niedere Leute leſen ſie. Wahrlich wer die Seinigen lieb hat, wem Tugend und Un - ſchuld der Menſchen etwas werth iſt, der wi - derſetze ſich der Leſeſucht. Aeltern, Lehrer und Obrigkeit ſollten ſich es zur Pflicht machen ein wachſames Auge auf die ihnen Anvertraueten zu haben, und ihre Lektuͤre zweckmaͤßig einzurichten. Mir ſind Beiſpiele bekannt, daß ein Buch das Gluͤck vieler jungen Leute auf immer zerruͤttet hat.
102O meine Theuerſte! die Wirkung der Lek - tuͤre, des Romanengeiſtes auf die Einbildungs - kraft iſt entſetzlich groß, und ihr Schaden uͤber alle Beſchreidung. Hier moͤchte ich ganz meine Empfindungen ausſchuͤtten koͤnnen! Auch das Gift aus der Blume geſammlet, iſt Gift und wirkt um deſto ſchrecklicher, je unbemerkbarer es wirkt. Die Buͤcher die am meiſten gefallen ſind oft die gefaͤhrlichſten, ſie nehmen den un - kundigen Leſer durch eine ſchoͤne Schreibart ein, bezaubern ihn mit dem feinern Gewande, wo - rin die Gedanken gehuͤllt ſind, wiſſen fein den Leidenſchaften zu ſchmeicheln, und vergiften ſo auf die toͤdtlichſte Weiſe. Selbſt ein großer Dich - ter den ich nicht nennen will, iſt nicht von die - ſem Vorwurfe ſrei. Sollte die Kunſt nicht auch mit den ſittlichen Geſetzen beſtehen koͤnnen? Ja es gibt Buͤcher die offenbar die Abſicht ha - ben das Laſter reizend zu machen, hie haͤßlichen Seiten und ſchlimmen Folgen zu verbergen, und ihm dadurch Eingang zu verſchaffen. O der Schande — daß wir ſolche Buͤcher dulden. Was fuͤr abſcheuliche hirnloſe Schriften gehen nicht oft herum, die man fuͤr Satiren auf den geſunden Menſchenverſtand halten moͤchte, we - gen des Unverſtandes womit ſie geſchrieben und geleſen werden. —
103Die Einbildungſkraft iſt wie ein reißender Strom der ſeine Ufer durchbrochen hat und alles mit ſich fortreißt. Was fuͤr Nahrung findet die Phan - taſie in den Buͤchern des jetzigen Geſchmacks? Romane aller Arten, aus dem Himmel und aus der Hoͤlle werden reichlich aufgetiſcht. Was fuͤr Quellen des Laſters werden dadurch eroͤfnet, die vielleicht bei reifern Jahren und Kraͤften nicht, oder doch nicht ſo geſchadet haͤtten, die wol auf immer verborgen geblieben waͤren. Dieſe verfuͤhriſchen Bilder, wie vergiften ſie das Herz und wie beruͤcken ſie den Verſtand. Unſchuld und Tugend werden bekaͤmpft, man traͤgt ſie zu Grabe, und mit ihnen Ruhe und Gluͤck des Le - bens. Die uͤppigen Schilderungen, die Zauberbil - der der Wolluſt, der verraͤtheriſche Schleyer, der ſie dekt, was ſtiften ſie? Die zuͤgelloſe Phantaſie in den Jahren, wo weder feſte Grundſaͤtze noch Erfahrung ihr widerſtehen, wohin fuͤhren ſie? O fragt die Aerzte ſie werden euch die Ungluͤckli - chen, ihre Leiden und Qualen ſchildern, euch mit der Summe des geheimen Elends bekannt machen. Tauſend Krankheiten des Koͤrpers und des Geiſtes nahmen ihren Anfang in Buͤchern; die ungluͤcklichen Opfer ihrer Phantaſie und Neu - gierde ſchleichen wie ein Schatten daher mit blei - chen Lippen, und Augen ohne Feuer, al - le Kraft des Lebens iſt verſchwunden zur104 Zeit der volleſten Bluͤthe. Neue, qualvolle Reue foltert ſchrecklich ihre Bruſt, Schaam verſchließt den Mund ſelbſt vor dem Helfer — Wie man - che Blume ſtarb nicht in der Knospe ehe ſie ſich entfaltete! wie manche Mutter pfluͤckt eine Ro - ſe in den Sarg ihres Sohns, ihrer Tochter die einſt ſelbſt wie Roſen bluͤheten. Elend, namen - loſes Elend gehet aus Buͤchern hervor; die Blu - men verbergen Schlangen, ſie ſtechen fuͤrchter - lich, ihr Gift verlieret auch im Tode nicht die ſchreckliche Wirkung.
So wird eine Kraft die uns der Schoͤpfer zur Freude zum Vergnuͤgen gab, durch uns ſelbſt die Quelle des Elendes, und wenn ſchon alle Faͤ - higkeiten alle Kraͤfte dahin ſind: ſo weiden ſich doch die Ungluͤcklichen noch an den Bildern ihrer Phan - taſie, die ſie allein geuͤbt, und uͤber welche ſie alle Herrſchaft verlohren haben. Wie ſchlecht iſt fuͤr die geiſtige Ausbildung geſorgt! er traͤgt Feſſeln die ihm ſchimpflich ſind. Seine ganze Thaͤtigkeit iſt dahin, das Ziel ſeiner hohen Be - ſtimmung verruͤckt, nur ſo viel iſt noch uͤbrig, daß er ſein Elend fuͤhlen kann. Schrecklicher Zuſtand, ſchreckliche Wirkung der zuͤgelloſen Phan - taſie und der vergiftenden Romanen. Sie mor - den die Menſchheit und mit ihr alles was ihr theuer iſt — Tugend und Unſchuld, hoͤren nicht105 das Seufzen, ſehen nicht die Thraͤnen, die dieſem koſtbarſten aller Kleinode geweint werden.
Mich ergreift ein Schauder wenn ich mir ſolche Scenen denke, und wie muß einem Roma - nenſchreiber das Herz dabei ſchlagen, wenn er ſich als Urheber derſelben anklagen muß! Eine verfuͤhrte Unſchuld auf ſeiner Seele tragen, iſt wahrlich nichts kleines.
Wenn die durch die Leſeſucht genaͤhrte Ein - bildungskraft, auch nicht eine dieſer Wirkungen hervorbringt, ſo aͤußert ſie ſich doch auf eine an - dere Art. Nachtheil fuͤr Gluͤck und Freude liegt immer darin: ſie gibt nie etwas reelles fuͤr das praktiſche Leben.
Was iſt mit den Menſchen anzufangen, die blos oder doch vorzuͤglich in der Einbildungs - kraft leben, die ſich fuͤr das wirkliche Leben ver - dorben haben? die Einbildung ſpiegelt lauter Bil - der vor, die, wenn gleich die Jdee aus der Welt genommen, doch die Ausfuͤhrung unmoͤglich ma - chen, oder ſie ſtellt Jdeale auf, die nur allein in dem Jdeenreiche moͤglich ſind. Wird man aus dieſer Sphaͤre in diejenige verſetzt, worin wir wirklich ſind; ſo befinden wir uns auf einem106 fremden Boden, wo uns nichts mehr behagen will. Unſere Jdeale von Freundſchaft und Gluͤck ſuchen wir vergebens und Mißmuth und Unzu - friedenheit begegnet uns uͤberall. Die Empfindun - gen fuͤr das was uns umgiebt ſind abgeſtumpft, unſere Gefuͤhle verſtimmt. Wir verſtimmen an - dere mit uns, und begehen dadurch große Ungerech - tigkeit und Uebereilung im urtheilen und handeln, werden intolerant und inſolent. Verſtimmte Einbildungskraft ſetzt den Menſchen außer ſich, und macht ihn vergeſſen was in ihm iſt. Die Wahrheit, die in ſeinem Charakter, in ſeinen Empfindungen war, gehet in Taͤuſchung uͤber.
Mit Bildern aus der Einbildungkraft ge - ſammelt durch ſie ſelbſt verfeinert und durch die Lektuͤre falſch gerichtet, trit das junge Maͤdchen, der junge Mann in die große Welt, wo er nichts ſeinen Bildern entſprechendes findet. Man traͤumte ſich Jdeale von haͤuslicher Gluͤckſeeligkeit; uͤberſpannte Begriffe aus der Romanenwelt wol - len ſich mit denen aus der wirklichen Welt nicht homogeniſiren, und das junge Maͤdchen |als Gat - tin getaͤuſcht, betrogen und ungluͤcklich, macht ſelbſt wieder ungluͤcklich. — Beiſpiele erlaͤutern, aber anfuͤhren darf ich ſie nicht. Haͤngt nicht oft die Wahl eines Gatten oder Gattin blos von einem Jdeale der Phantaſie, von der107 Aehnlichkeit eines Romanenhelden oder Heldin ab? O die getaͤuſchten Maͤdchen und betrogenen Maͤnner!
Der Wirkungskreis, die Thaͤtigkeitsbahn des jungen Mannes iſt anders bezeichnet als er ſich einbildete; er wandert als Fremdling darauf, der ſich immer verliehrt, und nicht wieder zu finden weiß. Der Sinn fuͤr dieſe Laufbahn iſt verlohren, ſeine ſchoͤne Jdeale in nichts verwan - delt, er klagt und ſeufzt uͤber ſein Mißgeſchick. Die Menſchen ſcheinen ihm ungluͤcklich — Zu ſeiner Ehre kann man es geſtehen, daß ſein Syſtem ein Gluͤckſeligkeitsſyſtem ſeyn ſoll — er wollte helfen und kannte nicht die Mittel, fand auch wol, daß andere gar ſo ungluͤcklich nicht ſeyn wollten wie er ſie glaubte, ihr Widerſtand vermehrt ſeinen Mißmuth, er nennt ſie undank - bar, waͤhnt ſich in ſeiner Klugheit verachtet; das Laͤcheln anderer uͤber ſeine Thorheit ſcheint ihm Ungrechtigkeit, er ſiehet ſich als Maͤrtyrer der guten Sache an; die Welt wird ihm zu en - ge, er findet ſie nicht gut genug, und Unzufrie - denheit mit ſich ſelbſt und mit dem Urheber des Univerſums verſcheucht alle Heiterkeit und raubt ihm den wahren Lebensgenuß. Es gehet ihm, wie manchem Reiſenden der nirgend etwas gutes findet, als allein in ſeinem Vaterlande. —
108Was werden Sie antworten, wenn ich ihre Aufrichtigkeit in Anſpruch nehme, und Sie bit - te mir zu ſagen: warum lieſt das weibliche Ge - ſchlecht ſo gern ſchauderhafte Scenen? Jſt es blos der Trieb nach dem Wunderbaren: ſo ſchwei - ge ich. Jſt es blos zum Zeitvertreib: ſo laͤßt ſich nicht gut denken, wie dieſe Scenen ein an - genehmer Zeitvertreib ſeyn koͤnnen, und die Ein - bildungskraft wird ſie dafuͤr beſtrafen. Doch vielleicht iſt ſie es grade, warum ſie leſen, ſie wollen nicht allein in der Nacht traͤumen, ſon - dern auch bei Tage, aber der Tagestraum ver - dirbt nicht ſelten den naͤchtlichen, der ſonſt viel - leicht angenehm ſeyn koͤnnte. Wie manches Maͤd - chen mag ſich nicht die Nacht mit ſchwarzen Gei - ſtern oder der Prinzeßin Eboli beſchaͤftigen, und mit Kopfſchmerzen und uͤbeler Laune das Tages - licht erblicken. Die Einbildungskraft ſchweift ſchon genug aus, warum gibt man ihr ſo viele Gegenſtaͤnde? Bei dem Frauenzimmer iſt ihr Be - zirk zwar enge, aber deſto ſtaͤrker iſt auch ihre Kraft. Sie fuͤhrt Bilder herbei, die ſie ſich ſelbſt gern verſchweigen. Manche mag wol mit ihrer Zofe ein Buch leſen, und mit ihr wett - eifern, welche die ſtaͤrkſte Empfindung, die leb - hafteſte Vorſtellung dabei hat. — Das Ganze wird vergeſſen, aber die fuͤrchterlichen Vorſtel - lungen bleiben und dienen bei der viermaligen Toi - lette zu intereſſanter Unterhaltung. — Da die109 Einbildungskraft nie gleich ſtark bei allen Men - ſchen iſt: ſondern ſich auch nach dem Nervenbau richtet: ſo koͤnnte ſich wol hie und da Eine ein - fallen laſſen ihre Nerven zu ſchwaͤchen (wie ſie oft die Farbe ihres Geſichts nach der Mode, voll und ſchmachtend, zu waͤhlen weiß) um nicht fuͤr we - niger delikat als ihre Schweſtern gehalten zu werden. Leider geſchiehet dies nicht blos durch die Lektuͤre allein, ſondern auch durch Phanta - ſien aus der wirklichen Welt, die fuͤr Kopf und Herz und fuͤr die ganze Moralitaͤt ſo traurige Zerruͤttungen hervorbringen. Wenn doch die Ewaldiſche Urania hierauf achten, und die Poli - tik weglaſſen wollte!
Wenn das Leſen der Geiſterſeher, Ritter - geſchichten u. ſ. w. unleugbar auf die Phantaſie beſonders der Frauenzimmer wirkt, ſo daß ſie oft ſelbſt nur als Erſcheinungen in verſchiedenen Geſtalten auftreten; wenn dadurch eine Vertrau - lichkeit mit jenen Helden entſtehet, und wenn Geiſtercharaktere — wer hat je einen wahren ge - ſchildert — aufgefuͤhrt werden, die alle das Herz kalt laſſen, und kein Jntereſſe fuͤr Sympathie und fuͤr den Geiſt darbieten, ſondern den Men - ſchen entwoͤhnen: ſo muß Heiterkeit abnehmen. Die Leſer ſchweben in einer Mittelregion, und gehoͤren zu keiner Klaſſe. Man koͤnnte fuͤr ſie den Kinder Limbus der alten Kirchenvaͤter wie110 der hervorſuchen. — Der Umgang unter den Frauenzimmern, wie Sie ſelbſt einſt klagten, faͤngt ſchon an ſo kalt zu werden, wie er zwiſchen Gei - ſtern und Menſchen ſeyn mag; eine Beruͤhrung und Annaͤherung wird nicht verſtattet, man muͤſte denn die Meinung des obenangefuͤhrten Buͤchleins annehmen. Endlich wird man ſich noch gewoͤhnen muͤſſen mit offenem Munde ſtau - nend zu betrachten, wenn man ein Frauenzim - mer und einen jungen Herrn aus dem Lande der Einbildungen zuſammen fiehet, zumal wenn der dumpfe abgebrochene Geiſter - oder Ritter-Ton oder von der andern Seite, die uͤber die Menſch - heit, die nicht ſo iſt, wie in der Einbildung, ſeufzende Klagenſtimme dazu kommt. Alles was ſo kontraſtirt erregt Lachen, und ſo ging es mir einmal bei einer kleinen muthwilligen Per - fiflage, als ich ſo ein Paar Einbildungsſchwe - ſtern beiſammen ſahe, die ſich ihre Traͤume mit - theilten, und ſelbſt nicht wuſten, was ſie woll - ten, die nie zuſammen treffen konnten.
Sonſt war es Mode, daß gute Freundin - nen nach vollbrachten haͤuslichen Arbeiten zu - ſammen kamen, um ihrem Beduͤrfniß — ſich recht ſatt zu plaudern, abzuhelfen; man war ohne Zwang, herzlich, aufrichtig, mittheilend, koſte vertraulich und ließ die Maͤnner unſchaͤd - lich kannengießern. Jetzt hat man den ſehr111 paſſenden Ausdruck gewaͤhlt “man ſiehet ſich, oder man ſiehet ſich viel” ich denke er ſagt ſchon alles; was man daruͤber ſagen kann: es bleibt auch gewoͤhnlich bei dem Sehen, und wenn es hoch kommt und koͤſtlich geweſen iſt: ſo hat man ſich nach dem Wohlbefinden erkundigt. Warum ſind ſich doch die Menſchen ſo langweilig! Sollte nicht die jetzige Mode - lektuͤre auch hierzu etwas beitragen? Die Ur - theile koͤnnten verſchieden ſeyn, und doch des - wegen die Wahrheit nicht umſtoßen.
Die Einbildungskraft iſt die Fertigkeit, die mannigfaltigſten, groͤſten, ruͤhrendſten u. ſ. w. Vorſtellungen hervorzubringen. Wo kann ſie daher mehr Nahrung finden, als in der Lektuͤ - re, wo man gewoͤhnlich allein iſt; und nichts außer uns dieſelbe ſtoͤhren, oder ihr eine an - dere Richtung geben kann! Wenn die Einbil - dungen den hoͤhern Grad der Lebhaftigkeit ha - ben: ſo iſt dies Begeiſterung. Man frage alſo nicht mehr woher die vielen Geiſter und Begei - ſterte kommen.
Das Gebiet der Phantaſie bringt auch ei - ne Menge dunkeler, vergeſellſchafteter Partial -112 vorſtellungen hervor, und wenn dieſe die Menge der klaren uͤbertreffen und herrſchend werden, ſo entſtehet die Schwaͤrmerei. Daß dies ein großes Uebel, nicht blos fuͤr haͤusliches ſondern auch fuͤr oͤffentliches Wohl ſey, begreift man leicht, und wirklich giebt es jetzt ſehr viele Schwaͤrmer und Schwaͤrmerinnen aller Arten, daneben auch ein Theil entzuͤckte, die ganz das Spiel ihrer innern Empfindungen und Einbildun - gen ſind und nichts von außen an ſich kommen laſ - ſen wollen. Duͤrfte ich Sie wol an die Freiheits und Gleichheits-Schwaͤrmer erinnern, die nicht nur in ihren Haͤuſern, ſondern auch oͤffentlich Ungluͤck verbreiten, und duͤrfte ich Sie wol da - hin zuruͤckfuͤhren, daß hier die Einbildungskraft Jdeale mahlt, die nicht ſo exiſtiren koͤnnen, die aber ſchon deswegen gefallen, weil ſie Jdeale ſind? Zu ihrer Entwerfung iſt durch die Lektuͤ - re vorbereitet. Es iſt gut, daß gewiſſe Dinge zur Sprache kommen, wenn ſie nur an den ge - hoͤrigen Ort kaͤmen. Ein jeder Menſch hat ſein ſubjektiviſches Vorſtellungsvermoͤgen, und alſo auch ſeine eigenen Begriffe, aber unter Hun - derten mag wol kaum einer ſeyn, der das da - von abſonderte was die Phantaſie daran hat, der das Objekt durch das gehoͤrige Glas be - trachtete.
Die113Die Jdee von Menſchengluͤck, und dem Verdienſt es zu befoͤrdern hat ſich aller Herzen bemaͤchtigt. Dies iſt recht gut und iſt Pflicht, indeß waͤre doch zu wuͤnſchen, daß man ſich erſt uͤber den Ausdruck Gluͤck, und uͤber die be - ſten Mittel es zu befoͤrdern, vereinigte, und daß nicht jeder etwas von ſeiner Empfindung und Einbildung einmiſchte, die nie den richti - gen Maaßſtab zur Beurtheilung abgeben koͤn - nen. Es muͤſſen hier durchaus Leidenſchaften ins Spiel kommen; und aus einer Menge lei - denſchaftlicher Urtheile geht nie die Wahrheit heraus; ſie liegt gewoͤhnlich in der Mitte.
Die Modelektuͤre begreift auch ein Bischen Politik in ſich, denn wie koͤnnte ſie ſonſt Mo - delektuͤre ſeyn. Man ſiehet freilich nicht ein, was ſie hier ſoll, oder wozu ſie den Frauenzim - mern dient. Jndeß ſie iſt nun einmal darin. Mancher moͤchte die voͤllige Gleichheit in ih - rer Wohnſtube nicht uͤbel gefallen, wenn ſie hier den Royalismus abſchaffen koͤnnte, aber der Mann und die Natur, ihr aͤrgſter Tyrann, wollen es nicht. Ob nicht der Kenner des weib - lichen Herzens auch hier bisweilen ein Bischen Mißmuth finden koͤnnte? —
H114Jch glaube man hat ſo ſehr Unrecht eben nicht, wenn man es der jetzigen Modelektuͤre zwar nicht grade zu, doch aber unter andern Urſa - chen mit zuſchreibt, daß die Frauenzimmer, deren Herzen ſonſt ſanft, milde, und fuͤr ſtille Em - pfindungen und haͤusliche Freuden geſchaffen ſind, jetzt mit ſo vieler Gleichguͤltigkeit uͤber den Mord vieler Tauſende, uͤber grauſende Schlachten ſprechen, ſich freuen, wenn die, welche ſie nicht in Schutz nehmen, erwuͤrgt werden, Ausdruͤcke gebrauchen die ihre Wuth verrathen, und zeigen wozu ſie faͤhig waͤren, wenn die Natur ihrem Koͤrper eine andere Or - ganiſation gegeben haͤtte. Sie gehen aus der empfindelnden Periode in die rohe uͤber, und man ſollte beinahe Grauſamkeit zur Grundlage des weiblichen Charakters machen. Hat man ſonſt etwa aus Schmeichelei daruͤber hingeſehen, oder ſind alle ihre Tugenden Folgen der Erzie - hung die mit dieſer ſtehen oder fallen? — Wer wollte ſo ungerecht ſeyn dies zu behaup - ten und nicht die gehoͤrigen Einſchraͤnkungen machen?
Alles was den Schein von Menſchen traͤgt gefaͤllt ſehr einer ſchwachen oder uͤberſpannten Phantaſie, ſie hat aber nicht die Kraft dieſen Schein von der Wahrheit zu unterſcheiden. 115Eine empfindſame Seele wird das Unrecht, das einem andern, nach ihrer Vorſtellung, zugefuͤgt wird, doppelt empfinden, eben ſo auch alles was lieblich klingt. Ob ſie die Mittelſtraße hal - ten kann? eben ſo wenig als die rohe Seele. Das ewige Schwatzen von Rechten der Menſch - heit die jeder kennt und ehrt, mit Grunde ver - theidigt wenn ſie angegriffen werden, hat ſo viele Frauenzimmer gewonnen, ſie zu ſchwaͤr - eneriſchen Demokratinnen gemacht, daß es bei - nahe ungewiß wird, ob es mehr maͤnnliche oder weibliche Genoſſen dieſes Namens giebt. Zu ihrer Entſchuldigung laͤßt ſich indeß anfuͤhren, daß man ſchon die kleinſte Abweichung von dem alten Schlendrian mit dem Namen Demokra - tismus beehrt. Jntereſſe, Geburt und andere Verhaͤltniſſe wirken von dieſer und der entge - gengeſetzten Seite. Das Mißtrauen unter den Menſchen in großen und kleinen Geſellſchaften hat ſo zugenommen, daß man Vertraulichkeit und Heiterkeit vergebens ſucht, zumal wenn die hoͤhere Kaſte mit der etwas niedriger ſeyn ſollenden gemeinſchaftlich an einem Vergnuͤgen Theil nimmt. — Dies war gewiß des Schoͤ - pfers Abſicht nicht bei der Anlage ſeiner Men - ſchen aus Erde daß ſie mistrauiſch oder neidiſch auf einander ſeyn ſollten.
H 2116Waͤre dies auch eine Wirkung der Lektuͤre? ſo grade zu nicht wie ſchon geſagt, der Grund liegt tiefer. Wir finden zwar hin und wieder in Komoͤdien und Romanen die Perſonen des erſten Standes ziemlich empoͤrend fuͤr den zwei - ten geſchildert, nicht ſelten als Verfuͤhrer der Un - ſchuld, die ſie ihren Vorurtheilen aufopfern dar - geſtellt, ich ſehe aber auch nicht ein, warum man ſie nicht zur Schau aufſtellen ſollte, ſo gut wie andere. Laſter erwecken Abſcheu wo man ſie findet, wo die mehrſten ſind, entſtehet Ver - achtung; Tugend wird geſchaͤzt wo ſie ſich zeigt, ihr hoͤchſter Grad wird bewundert. Die Ver - nuͤnftigen aus allen Klaſſen haben ihren Vor - urtheilen ſchon laͤngſt entſagt, und Vertraulich - keit wird aufs neue aufleben. Ehre dem Eh - re gebuͤhrt, und ſie gebuͤhrt der Tugend und eigenen Vollkommenheiten. Gerechtigkeit iſt ei - ne Tochter des Himmels. Jn einer Jhren be - liebteſten Monatsſchriften haben Sie ſchon mei - ne Gedanken hieruͤber geleſen.
Heute unterhalte ich mich mit Jhnen uͤber den Einfluß der Leſeſucht auf die Launen der Leſer. Sie haͤngen genau mit der Einbildungs - kraft zuſammen. Vielleicht leſen Sie manches deſſen weitere Bekanntmachung Sie wol nicht unnuͤtz ſinden duͤrften. Jch hole etwas weit aus.
Alles Streben des Menſchen konzentrirt ſich in dem Wunſche — gluͤcklich zu ſeyn. Miß - griffe laufen mit unter; ſie dienen zur Beleh - rung. Sie muͤſſen mit unterlaufen, weil das, was wir Gluͤck nennen, vorzuͤglich in der Ein - bildung und Vorſtellung beſtehet. Es ſteigt und faͤllt mit dieſen. Relative Begriffe exiſtiren in einem jeden Kopfe anders. Sie erzeugen die Wuͤnſche; die Erfuͤllung aber haͤngt von Um - ſtaͤnden ab. Unſere Vorſtellungen und Begrif - fe werden durch die Lektuͤre, ſo wie durch je - den Unterricht umgeformt und berichtigt. Das Gegentheil iſt auch moͤglich. — Die Objekte koͤnnen dieſelben bleiben und wir begehren ſie doch nicht mehr oder wenigſtens nicht mehr in dem Maaße als vorher. — Was in der Phan - taſie erzeugt wird, kann in der Vorſtellung der Moͤglichkeit deſſelben ſich endlich zum Beduͤrf - niß qualifiziren, deſſen Nichthefriedigung unzu -118 frieden, alſo auch ungluͤcklich macht. Wenn unſere Modelektuͤre, wie erwieſen iſt, auf die Phantaſie wirkt, wer wird ihr dann dieſe letzte Wirkung abſprechen? ein leidenſchaftli - cher Zuſtand iſt hier wenigſtens unverkennbar und zwar mehr oder minder wirkſam.
Wenn unſere Zufriedenheit, unſer Gluͤck in der wirklichen Welt an die Begriffe gebun - den iſt, die wir uns von den Dingen in dem - ſelben machen: ſo muß der, den ſeine Phanta - ſie zu haͤufig aus ihr hinausfuͤhrt, das lebhafte Jntereſſe daran verliehren. Von der Einbil - dungskraft haͤngen unſere Empfindungen, und von dieſen wiederum die Vorſtellungen mit ab. Reizende Gegenſtaͤnde der Phantaſie, reizen durch ihr Gewand das Beſtreben darnach; in ihrem Reiche gibt es aber noch keine Wirklichkeiten, alſo auch keine angenehme dauerhafte Empfin - dungen, ſondern nur augenblickliche. Hieraus folgt, das hier auch kein eigenthuͤmliches Gluͤck zu finden iſt, das in einem ungehinderten Fort - gange zu groͤßerer Vollkommenheit beſtehet. Jenes kann uns zwar Stundenlang vergnuͤgen, aber Luſtſchloͤſſer ſtuͤrzen ſo bald ein, wie die Kartenhaͤuſer der Kinder. Ein unangenehmer leidenſchaftlicher Gemuͤthszuſtand iſt die Folge. Ob nicht die uͤberſpannten Jdeen aus der Lek -119 tuͤre geſammlet dieſe Wirkung hervorbringen? ich zweifele keinen Augenblick daran.
Jch fordere nicht, daß man die Einbil - dungskraft uuterdruͤcken ſoll, dies iſt unmoͤglich, ſondern man ſuche ſie nur in einem gehoͤrigen Wirkungskreiſe zu erhalten, wo intereſſanter Stoff zu finden iſt, und ſie wird unſer Gluͤck vermehren. Jn ihrem Luxuriren wird ſie ſelten oder gar nicht die Quelle der Tugend; wol daher, weil ſie nicht ſtrenge an das Geſetz der Vernunft, ſonderu an die Geſetze des Gefuͤhls gebunden iſt. Tug end haͤngt von der Vernunft ab; ſie ſoll wenigſten | nie eine Sache des Gefuͤhls oder Temperaments ſeyn, ob ſie gleich dadurch hin und wieder verſtaͤrkt werden kann. — Durch die Lektuͤre erhaͤlt die Einbildungskraft das weiteſte Feld, zumal durch Schilderung ſinnlicher Gegenſtaͤnde, hier kann ſie vermoͤge der Aſſoziation der Jdeen, leicht aus einer hun - dert andere zuſammen ſetzen, Jdeale entwerfen, die ſie entzuͤcken oder mit Abſcheu erfuͤllen. Bei - des ſetzt einen leidenſchaftlichen Gemuͤthszuſtand voraus, der in einer gewiſſen Zeit wirkſam iſt, und dies iſt die Laune, die man zufaͤllig nennt, wenn keine bemerklichen objektiven Gruͤnde vor - handen ſind. — Jn ſo fern die ſubjektiven Gruͤnde der Handlungen und Urtheile in dem120 Genie und Charakter enthalten ſind, beſtimmen ſie die eigene beſtaͤndige Laune des Menſchen.
Alſo gewinnt vielleicht die Laune der Leſer durch die Lektuͤre? es waͤre zu wuͤnſchen, daß es immer wahr waͤre, indem vorzuͤglich der Schoͤpfer einen großen Theil unſers Gluͤcks an unſere Gemuͤthsſtimmungen gebunden hat. Wie viele frohe Stunden entſchwunden uns als frohe Augenblicke, und wie viele traurige Augenblicke als traurige Stunden, durch die Launen derer die uns umgaben. Wie oft wird nicht die trau - rige Stimmung der Seele in Geſellſchaft, in eine Heiterkeit und wie oft nicht die Heiterkeit in Traurigkeit, durch Launen ungeſtimmt! Eigenthuͤmliche Launen ertraͤgt man noch wol bei andern ſie koͤnnen zur Ge - wohnheit werden, aber die ſchnelle Abwechſe - lung iſt unertraͤglich. Wer ſich durch ſubiekti - viſches Mißvergnuͤgen in ſeinen Urtheilen und Handlungen leiten laͤßt, wird eine Pein fuͤr die Geſellſchaft und eine Hoͤllenqual im Hauſe. Eine froͤhlige Laune iſt die Wuͤrze des Lebens, ihren Beſitzer preiſen wir gluͤcklich. Sie pflegt gewoͤhnlich mit einer Portion Witz und Naivi - taͤt verbunden zu ſeyn, und wie ſehr dieſe die Freude und Unterhaltung wuͤrzen darf ich Jhnen wol nicht beweiſen.
121Was haben wir gewonnen, wenn wir von der Lektuͤre eines Abentheuers zuruͤck kommen? Es iſt uns wie dem Traͤumenden, der lauter ſchoͤne, liebliche Scenen ſahe und beim Erwa - chen alles verſchwunden ſiehet, und mißmuͤthig und muͤrriſch ſich vom Lager erhebt. Jeder tem - porelle leidenſchaſtliche Gemuͤthszuſtand des Menſchen oder ſeine Lanne muß ſchon als Lei - denſchaft veraͤnderlich ſeyn, ſie wird es aber im hoͤchſten Grade, wenn ihr ſtets neue Nah - rung geboten wird. Der Menſch kann ganz das Spiel derſelben werden. Welch ein elender Zu - ſtand immer von ſeinen zufaͤlligen Launen ab - haͤngen zu muͤſſen! Durch die abentheurliche Le - ſeſucht muß nothwendig neue ſonderbare Mi - ſchung der Empfindungen entſtehen, die wider - natuͤrlich in dem Leſer wirken; und was kann die Folge davon ſeyn? Haͤrte in den Urtheilen uͤber uns ſelbſt und uͤber andere. Ueberſpannte Jdeen, entworfene Jdeale, deren Wirklichkeit nirgend zu finden iſt, haben nicht ſelten Unmuth, Mißvergnuͤgen hervorgebracht zwiſchen Eheleuten, Kindern und in weitern Verhaͤltniſſen. Der Wahn, ein beſſeres Loos verdient zu haben, als fuͤr uns geworfen wurde, hat oft das Maaß haͤuslichen Mißmuths uͤberlaufen laſſen.
Da wir nach dem Geſetz der Einbildungs - kraft das Vergnuͤgen oder Mißvergnuͤgen auf die122 Gegenſtaͤnde uͤbertragen, die wir uns in jeder Laune vorſtellen; ſo muͤſſen wir auch dieſelben darnach beurtheilen. Was fuͤr Unbilligkeiten und Ungerechtigkeiten koͤnnen hier von einer uͤbelen Laune abhaͤngen! die um deſto groͤßer ſind je we - niger objektive Gruͤnde vorhanden waren. War - lich traurig macht mich nicht ſelten dieſe Art des Betragens unter den Menſchen wobei man die Leſeſucht und das Phantaſienſpiel als den Grund deſſelben betrachteu kann, und oft wirk - lich betrachten muß.
Nicht blos unſer Vergnuͤgen und Mißver - gnuͤgen tragen wir auf andere uͤber, ſondern wir halten ſie auch ſelbſt fuͤr die Urſachen derſelben. Hier entſtehet dann in der mißvergnuͤgten Stim - mung, Haß und Unwille gegen den, welchen wir als die Urſache betrachten, ſo wie auf der andern Seite, Liebe, Vertrauen, Wohlwollen, Freundſchaft, die eben ſo gluͤcklich wie jene un - gluͤcklich machen. Wie ſehr bindet eine gute Laune Menſchen an Menſchen, wie liebenswuͤr - dig macht ſie! Selbſt der Uebellaunige kann in dem Umgange ſolcher liebenswuͤrdigen muntern Geſellſchafter ſeine verſchrobenen Empfindungen in angenehmen Einklang bringen.
Die Leſeſucht der Frauenzimmer ſtimmt ih - ren Fleiß und Thaͤtigkeit herab, und fuͤhrt zu123 einer falſchen laͤcherlichen Empfindſamkeit. Das alltaͤgliche und gewoͤhnliche will nicht mehr ge - fallen, alſo auch die Berufsgeſchaͤfte nicht; uͤber - ſpannte Phantaſien wirken auf die Nerven und erzeugen Kraͤnklichkeit, und haͤusliche Unordnung macht das Elend vollkommen. Wenn ich mir eine Frau denke, die den Kopf voll von romanhafter Einbildungen hat, und durch ihre Launen dem Manne das Leben verbittert: ſo muß ich ihn bewundern, wenn er nichts als gleichguͤltig ge - gen ſie wird, wenn er ſie nicht haßt, ſich nicht von ihr entfernt und an einem andern Orte Erhei - terungen ſucht die er im Hauſe finden ſollte. Hier gibts Wege zu Ausſchweifungen, die in ei - nem andern Verhaͤltniß nimmer begangen waͤren. Kurz die Wirkungen der Laune ſind groͤßer als ſie ſich wol manche denken mag; die Hoͤflichkeit unſerer Sprache hat ſie mit allen ihr zukom - menden Adjektiven zu einem femininum gemacht. Ob dies einen Beweis fuͤr die Richtigkeit der Pſychologie der Vaͤter abgeben kann?
Nach dem Geſetze der Einbildungskraft, oder auch nach der Beſchaffenheit der herrſchen - den Leidenſchaft und Laune habe ich dies ſchon genannt, richten wir unſere Aufmerkſamkeit ent - weder auf die guten oder boͤſen Eigenſchaften der Gegenſtaͤnde. Der Einfluß derſelben auf124 die Beurtheilung anderer iſt daher unverkenn - bar. Launiſche Urtheile haben keine, oder nur geringe objektive Gruͤnde, ſondern nur ſub - jektive in der jedesmaligen Laune. Der eine ſiehet ſchwarz, was der andere weiß ſiehet, weil ſeine Leidenſchaft grade in ſolcher Stimmung iſt, findet Fehler wo keine ſind, verdammt wo er entſchuldigen ſollte. Was in ihm vorgehet ſucht er außer ſich und ſtoͤßt uͤberall an Ungerechtigkeit. Der Gutgelaunte entſchuldigt vielleicht zu viel: beleidigt auch durch den freien Lauf ſeines Witzes; dies iſt nicht recht, aber er wird doch nicht ſo unausſtehlich als der Uebelgelaunte. Die gehoͤri - ge Temperatur, die goldene Mittelſtraße iſt in allen Dingen das ſchaͤtzbarſte, das was am mei - ſten gluͤcklich macht. Wie viel, wie unendlich viel kann durch eine frohe Laune zu einem fro - hen Leben gewonnen werden! der kalte Philo - ſoph moͤchte wol nur an die Mittelſtraße ſteigen wollen, aber gibt es einen kalten Philoſophen bei ſeiner Gattin und Kindern? — —
Gewiß, meine ſchaͤtzbare Freundin! die Wei - ber ſind dazu beſtimmt die ernſte Stirne und die truͤben zufaͤlligen Launen des Mannes, und wenn es gehet auch die eigenthuͤmliche, durch einen frohen Sinn, durch eine muntere Laune zu erheitern. Auf ſie kommt es wo nich ganz allein, doch vorzuͤglich an. Die haͤuslichen Freu -125 den zu beſtimmen, ihnen einen Werth zu geben, und dem Gatten oder Vater den Kummer und Sorgen, die aus ſeinen Geſchaͤften fließen, von der Stirne zu wiſchen, damit er ſtets heiter zu ihnen kehrt, und nicht muͤde wird fuͤr das Wohl feiner Lieben, fuͤr das Gluͤck anderer und des Vaterlandes zu arbeiten, damit er in dem Schooße der Seinigen alles unangenehme ver - gißt, alle uͤble Launen auf ſeiner Studierſtube oder im Collegium zuruͤck laͤßt. — Wie ſchoͤn waͤren aber auch auf der andern Seite, wenn die Maͤnner dahin trachteten ihre Laune niemals ihre Weiber und Kinder empfinden zu laſſen. Wie ungluͤcklich machen ſie nicht oft ein armes gutes ſanftes Weib, das den Kummer und die Laune des Mannes doppelt fuͤhlt, und ihre Thraͤnen ihm zu verbergen ſucht um ihn zu ſchonen und ihn ſein Unrecht nicht fuͤhlen zu laſſen. Es wuͤrde mich zu weit fuͤhren, wenn ich hier mein Gefuͤhl erſchoͤpfen wollte, Sie werden ſich das Uebrige hinzudenken. Nur wuͤnſche ich, daß Sie nicht uͤberſehen, daß unter hundert Faͤllen we - nigſtens funfzig mal das haͤusliche Leiden von den Launen abhaͤngt, und daß hiervon wiederum die groͤſte Zahl auf die Laune des Weibes be - rechnet wird. —
126Der Menſch kann groͤßtentheils der Schoͤ - pfer ſeines Gluͤcks, aber auch der Schoͤpfer ſei - nes Ungluͤcks werden. Daß er das Letztere eben ſo oft als das erſtere wird bedarf keines Be - weiſes. Der Fehler liegt in den Mitteln die er anwendet. Gehoͤret dazu nicht auch die Lek - tuͤre, wodurch er ſich bilden, ſeinen Verſtand aufklaͤren will, aber dadurch oft ſo falſch gelei - tet wird? Ueberſpannte Einbildungen, verdor - bene Launen tragen zum Wohl oder Wehe des Menſchen ſehr viel bei. Wenn das von den menſchlichen Handlungen abgeſondert wird, was Launen und Leidenſchaften davon haben was bleibt uͤbrig? Viele ſo genannte geſellſchaftliche Tugenden, und noch mehr Laſter, haͤngen da - von ab. Es waͤre in der That hoͤchſte Pflicht ſich bey der Erziehung mehr um eine reine Stimmung der Empfindungen, und Leitung der Launen der Kinder zu bekuͤmmern, als es bis jetzt wol hin und wieder geſchehen mag. Man wuͤrde dadurch die Summe des Menſchen - gluͤcks ſehr vermehren. Unverzeihlich iſt es wenn Aeltern, und Lehrer in Ruͤckſicht jener, den Launen der Kinder zu viel nachſehen, ſie legen dadurch einen ſichern Grundſtein zu ihrem kuͤnf - tigen Ungluͤck.
Von der Laune haͤngt auch vorzuͤglich das herzliche, das trauliche im Umgange ab. Es127 kommt mir vor als wenn man hier die wech - ſelſeitige Vertauſchung des Magnetismus, nach des Carteſius Hypotheſe, als Beiſpiel an - fuͤhren, und als wenn man ſowohl die froͤhlige als muͤrriſche Laune mit dem anomaliſchen Magnet vergleichen koͤnnte, wo mehrere Pole des Ausſtroͤmens und Einnehmens angenommen werden. Auch das paßte nicht uͤbel daß ſich un - gleichnamnige Launen, wie die ungleichnamnigen Pole der Magnete anziehen wenn nur das andere paßte daß ſich naͤmlich gleichnamige ab - ſtoßen Dies iſt nicht der Fall bei froͤhligen, ob es gleich bey den traurigen Launen ſeyn kann. Doch laſſen Sie uns von Beyſpielen und Gleich - niſſen abſehen, und die Sache nach der Erfah - rung betrachten. Die froͤhlige Laune kann in eine muͤrriſche uͤbergehen und ſo umgekehrt; in wieweit? dies haͤngt von der Organiſation von hoͤherer oder minderer Theilnahme ab. Es kann dadurch eine Erleichterung in der Ex - tenſion und Jntenſion entſtehen; das Gegentheil iſt aber auch eben ſo gut moͤglich. — Zu einem frohen Lebensgenuß gehoͤrt eine Offenheit, Wahr - heit und Herzlichkeit, und nur da wo wir ſie finden freuen wir uns; braͤchten wir auch eine uͤble Laune dahin: ſo wird ſie ſich bald ver - lieren, ſo wie ſich die gute Laune verliehren muß, da wo wir ſie nicht finden. Das Herz,128 das Frohſinn verbreiten will, wird unzufrieden durch das Mißlingen ſeiner Abſicht. Ein Zuſam - menſchmelzen reiner wahrer Empfindungen; ein gaͤnzliches Hingeben an den Freund, an die Freun - din, gibt eine unausſprechliche Wonne, ſie uͤber - trift beinahe die Liebe, oder vielmehr ſie iſt der hoͤchſte Grad derſelben. Hierin beſtehet das Gluͤck der Ehen, das Gluͤck des gefellſchaftlichen Lebens. Vertrauen macht gluͤcklich und Miß - trauen ungluͤcklich, und wie ſehr haͤngt dieß von der Laune ab? —
„ Man ſuche die Menſchen zu durchſchauen, „ ihre guten und ſchlimmen Seiten auszuſpaͤhen „ man freue ſich uͤber die erſtern und laſſe ſich „ durch die letztern die Laune nicht verſtimmen. „ Kurz man laſſe es die Menſchen nicht empfin - „ den, daß man ſie durchſchauet hat. Ein „ hiernach eingerichtetes kluges und ſanftes Be - „ tragen wird uns und andere gluͤcklich machen. ‟
Nicht wahr meine Theuerſte W … Sie denken hierin eben ſo wie ich? —
Jch kann mich noch nicht von dem Einfluß der Modelektuͤre, oder vielmehr der jetzigen Le - ſeſucht, auf das Gluͤck der Menſchen trennen. Jch bitte Sie in Jhrer Geduld nicht zu ermuͤden. Laſſen Sie uns noch einmahl auf die Charaktere der Perſonen in den Romanen, und beſon - ders der Rittergeſchichten zuruͤckkommen.
Eigenſchaften, Veraͤnderungen der Men - ſchen ſind natuͤrliche und weſentliche Zeichen ihrer Empfindung und ihrer Denkungsart, und koͤnnen alſo auch eben ſolche in der See - le des andern hervorbringen. Es muͤſſen alſo auch die Eigenſchaften und Veraͤnderungen der in den Romanen und Rittermaͤhren geſchilder - ten Perſonen, als natuͤrliche und weſentliche Zeichen ihrer Empfindung und Denkungsart in dem Leſer aͤhnliche Empfindungen u. ſ. w. her - vorbringen koͤnnen. Dieſer Satz iſt ſehr wich - tig und fruchtbar, und ſollte allein ſchon beſtim - men, daß man bei der Wahl eigener Lektuͤre vorſichtig ſey. —
Je liebenswuͤrdiger die Eigenſchaften der geſchilderten Perſonen ſind, deſto ſtaͤrker muß ihr Eindruck ſeyn, und deſto angenehmer die Empfindung, die dadurch in dem Leſer entſte -J130het. Keine Empfindungen aber koͤnnen ange - nehmer ſeyn als die „ der Bewunderung, der Verehrung, Andacht und Liebe, des Mitleids, der Beſaͤnftigung und der Gemuͤthsruhe ‟ in deren Genuß das hoͤchſte Vergnuͤgen beſtehet, die uns die Gegenſtaͤnde, denen wir ſie ſchen - ken, oder die ſie in uns hervorbringen, ſo ſehr intereſſant machen, Nachahmung erwecken, und unſer Herz und unſere Denkungsart veredeln. Sind dies aber Empfindungen die aus Aben - theuern hervorgehen koͤnnen? dieſe haben viel - mehr Erſtaunen, Schrecken, Grauſen, Gemuͤths - unruhe zur Folge. Solche abeutheuerliche Buͤ - cher ſollten ſchon aus dieſer Urſache keinen Ein - gang finden, aber leider finden ſie ihn nur zu ſehr. Ein Unbeſcheidener koͤnnte vielleicht den Leſern die Faͤhigkeit fuͤr jene ſchoͤnen Empfin - dungen abſprechen, ich mag aber nicht ſo hart daruͤber urtheilen. Jndeß ſcheint es mir doch, als koͤnnte ich mir keine befriedigenden Ant - worten auf die Fragen geben: Warum gibt man manchem Charakter Beifall der ihn nicht verdient? warum vergnuͤgt man ſich an cha - rakteriſtiſchen Karrikaturen? Sollte es den Er - wachſenen wie den Kindern gehen, daß das Rohe, Abſcheuliche die Aufmerkſamkeit am meiſten feſſelt, am meiſten gefaͤllt? —
131Man ſchiebt freylich wol einen guten, oder vielmehr einen ertraͤglichen Charakter neben ei - uem boͤſen ein, um Abſcheu gegen dieſen zu er - wecken; ich traue wenigſtens den Verfaſſern die - ſe Abſicht zu, aber der gute faͤllt meiſtentheils ſo aus, daß man ſiehet, es wird den Herrn leichter einen Boͤſen als einen guten zu copi - ren. Jch moͤchte das Buch ſehen das jetzt in der Modelektuͤre laͤuft, worin ein vollkommen guter Charakter waͤre, das heiſt ein ſolcher, den Menſchen erreichen koͤnnen, und dies ſollte doch ſeyn, wenn man etwas zur Nachahmung aufſtellen will. Das liebe leſende Publikum iſt mit dem mittelmaͤßigen zufrieden, woruͤber ſich irgend ein Grieche ſehr naiv. ausdruͤckt: „ # ‟ ich uͤber - ſetze dies ſo: man nimmt es weil man nichts beſſers haben kann. — —
Nach meinem obigen Grundſatze muͤſſen Leidenſchaften wieder Leidenſchaften erzeugen, die um deſto groͤßer ſind, je ſinnlicher ſie vor - geſtellet werden. Siehet man nun gar in dem Buche daß Menſchen mit boͤſen Leidenſchaften und Charakter immer noch gut durchkommen, daß ſie entſchuldigt wo nicht gar gelobt werden, was kann hier die Wurkung auf das Herz desJ 2132Leſers ſeyn? es moͤchte ſich wol immer ſo et - was in ſein Herz ſtehlen, das ſeiner Moralitaͤt eben nicht erſprießlich ſeyn duͤrfte. Oder ſol - len boͤſe Leidenſchaften und Charaktere das Ge - gentheil bei dem Leſer hervorbringen? Jch ver - neine nicht daß es bei vielen Leſern der Fall ſeyn kann, aber ich verneine die Allgemeinheit dieſer Wirkung.
Unangenehme Leidenſchaften entſtehen aus der ſinnlichen Vorſtellung des Boͤſen. Was laͤßt ſich von dem denken, der ſich in ſolchen Vorſtellungen verliert, ſie gern lieſt? koͤnnen ſie ihm noch unangenehm ſeyn? Jch ſpare mein Urtheil, es moͤchte zu bitter ausfallen, zumal wenn ich die Sprache des Herzens reden wollte, gegen welche die Sprache der Galan - terie ſo kalt iſt.
Ein Buch kann Dichtung enthalten und doch die Moralitaͤt verbeſſern, auch der haͤß - lichſte Charakter in ein gehoͤriges Licht geſtellt, ſo, daß er Abſchen und Widerwillen erregt, kann eben ſo geſchickt ſeyn Gutes zu ſtiften, als ein edler Charakter, nur muß er, wie alles was geſchildert wird, Wahrheit enthalten, das heiſt ſich in der wirklichen Welt finden, und auf Menſchen und menſchliche Handlungen an -133 wendbar ſeyn. Uebertreibungen ſtiften in kei - ner Sache etwas gutes.
Jn den Romanen gehet alles ganz anders als in der wirklichen Welt, und wer alſo in irgend einer ſeiner Lagen eine Aehnlichkeit mit einer Romanenlage findet, und glaubt daß die Aufloͤſung ſich eben ſo fuͤgen ſoll, der wird einen gewaltigen Trugſchluß machen.
Es laͤßt ſich uͤberhaupt ſchwer begreifen, warum man in vielen Moderomanen laſterhaf - te Perſonen als Haupthelden auftreten, und ſie immer ſo durchlaufen laͤßt. Will man et - wa ſein Geſpoͤtte mit den Publikum treiben? es waͤre eben ſo indezent als wenn die gelehr - ten Fechter oder neidiſchen Buchhaͤndler das Publikum zu Zuſchauern und Richtern ihrer Balgereien einladen. Sie thaͤten immer beſſer wenn ſie ihre Sache im ſtillen und in ihren Haͤuſern abmachten, als daß ſie ihre Privathaͤn - del auf dem Markte ausſtellen. —
Die laſterhaften Charaktere jener Roma - nenhelden haben felbſt nicht einmal in ihrer Art ein Ebenmaß, ſondern ſie ſind hierin groͤß - tentheils Mißgeburten, wovon vielleicht Luther den Rath geben wuͤrde, den er einſt uͤber die Wechſelbaͤlge gab „ verbrennet ſie. —
134Niemand wird mit einenmahle ganz ſchlecht, er wuͤrde denn auch nicht den Abſcheu gegen ſich erregen, den er durch das ſucceſſive Zuneh - men in ſeinen Laſtern erregt; Abſichten und Mittel muͤſſen ihn kenntlich machen, und ſeine Fertigkeit im Boͤſen, durch Uebung erlangt, Ab - ſcheu hervorbringen. Wird er es auf einmal: ſo leuchtet auch dem ungeuͤbteſten Verſtande die Unmoͤglichkeit ein, und immer wird der Gedanke “ſo ſchlecht biſt du nicht” in einem verborge - nen Winkel der Seele liegen. Auch Niemand wird auf einmal gut; wir wuͤrden uns gewiß auch nicht ſo fuͤr ihn intereſſiren, als wenn wir den Kampf mit ſeinen Leidenſchaften, das ſucceſſive Gelingen und Fortſcheiten im Guten ſehen. Hierdurch wird das Jntereſſe geſpannt, das Vergnuͤgen erhoͤhet, das Herz erwaͤrmt, und man faͤngt an den Gegenſtand zu lieben. Endlich gibt der Triumpf uͤber Leidenſchaften dem Leſer eine beſeligende Ruhe, und kann ihn geneigt machen einen aͤhnlichen Kampf zu beſtehen. Jch aͤrgere mich immer wenn ich einen Roman oder eine Komoͤdie, die ſonſt ge - wiß meine Lektuͤre nicht ſind, aus der Fabrik der Gebruͤder Liſkovs ſinde, worin der Laſter - hafte ohne alle Schwuͤrigkeit in ein paar Mi - nuten zu einem vortreflichen Menſchen umgear - beiter wird, wo man auf die Aechtheit der135 neuen Waare nicht Ruͤckſicht nimmt, keine Ordalien zulaͤßt, ſondern ſie nun ſo in die Welt ſchickt um zu verſuchen was Zuſchauer und Leſer davon urtheilen, ob ſie es rathſam finden den natuͤrlichen Lauf der Dinge zu gehen, oder ob ſie, wenn ſie ſich in aͤhnlichen Lagen befinden ſollten, warten wollen bis auch ein Deus ex Machina kommt, und ſie mit ſeiner Gnade ergreift.
Gemiſchte Empfindungen von Vollkommen - heit ſind angenehm, wenn wir uns in der Vollkommenheit befinden. Eine feine Selbſtlie - be mag dabei zum Grunde liegen; welche Tu - gend waͤre wol ganz frei davon? Sollte man etwa jene Empfindungen eigener Vollkommen - heit und das Streben darnach durch die Dar - ſtellung der mittelmaͤßigen oder ſchlechten Cha - raktere hervorbringen, oder das Mitleid reger machen wollen, das ſo wohlthaͤtig in die Na - tur des Menſchen gewebt iſt? dies hieſſe von Seiten des Schreibers ſolcher neuen Maͤhren viel und nach mehr von Seiten des Leſers vor - ausſetzen. Die Empfindung uͤber die| Unvollkom - menheit eines Weſens oder die zu unſerm Vortheil ausgefallene Vergleichung mit demſel - ben, kann nur ihre Staͤrke in der Vorſtellung der Unſchuld deſſelben haben, faͤllt dieſe weg136 ſo faͤllt auch dadurch das Hauptintereſſe des Mittleids weg. Es verwandelt ſich in Gleich - guͤltigkeit. Dieſe muß aus der Charakteriſtik der meiſten Spektakelſtuͤcke und Rittermaͤhren u. ſ. w. entſtehen, denn die Perſonen erſchei - nen darin | ſelten ſo unſchuldig, daß ihre Un - ſchuld ein lebhaftes Jntereſſe hervorbringen koͤnnte. So verliert denn auch der edle Trieb des Mitleids, das gewoͤhnlich nur Folge der Organiſation, und ſelten der Vernunft iſt, wie Roußeau richtig ſagt, ſeine Kraft. Predigt immer Menſchenliebe |ſo viel ihr wollt ihr werdet nichts ausrichten, ſie gruͤndet ſich auf Mitleid und nicht auf Raͤſonnemennt, dies kann allenfalls den natuͤrlichen Trieb verſtaͤr - ken, dem Gebrauch deſſelben den Namen |der Pflicht geben, aber weiter nichts; denn es ver - mag nicht eine verſtimmte Organiſation wieder rein zu ſtimmen. Verſtimmt nicht die Einbil - dungskraft, lenkt uicht den natuͤrlichen Trieb auf fremde Gegenſtaͤnde und ihr werdet die Menſchen gluͤcklicher machen. Wir ſchenken ſchon hinlaͤnglich unſer Mitleid dem, der es nicht verdient, und entziehen es dem der es verdient, der aber nicht das Gluͤck hat unſerm Jdeale zu entſprechen. Tugend kann nur rechte Tugend ſeyn, wenn ſie frei von Eigeunutz auf den rechten Gegenſtand gerichtet iſt. —
137Was nun die Liebe betrift: ſo erzeugen dieſe Buͤcher groͤſtentheils Hirngeſpinſte, wo - von der Faden in der ſublunariſchen Welt nicht mehr zu finden iſt, auch nie ſo ganz darin war. Hier girrt ein Fraͤuen im Thurm ein Don Quixotte leiert ſeine Guittara dazu, oder klirrt mit dem Sporn; dort raubt ein Abt ein Schaͤfchen und betet Paternoſters. Die Dinge moͤgen alle wahr, und recht artig zu leſen ſeyn, aber warum werden ſie jetzt in ganz andern Zeiten und Umſtaͤnden wieder aufgetiſcht? zum Vergnuͤgen? oder um die Fehler der Vor - zeit aufzudecken und ſie auf die jetzigen zu paſſen oder dieſe dadurch zu vermehren? was wird dadurch gutes oder nuͤtzliches geſtiftet? Die Herrn ſind ſchlechte Mathematiker, ſie haben vergeſſen daß ſich ungleiche Triangel nicht decken und nicht auf einander paſſen. Es wird die Zeit wieder kommen: wo die verliebten Poſſen, die uns jetzt auf ſpaniſcher Guittara vorgeleiert werden, ihr Gluͤck verliehren wer - den.
Die Natur lehrt die Liebe; Verhaͤltniſſe, Jntereſſe, Eigenſinn leiten ſie, ob zum Gluͤck oder Ungluͤck der jetzigen und zukuͤnftigen Men - ſchen? Die Entſcheidung moͤchte ſehr leicht ſeyn. Aber auch die Lektuͤre unſerer Frauen - zimmer unterdruͤckt nicht ſelten die Natur, und138 Jdeale, die ſchon des Namens wegen nicht eriſtiren koͤnnen, treten an ihre Stelle. Der Mann im Buche iſt nie das, was er in der Welt iſt, und getraͤumte Jdeale muß man da ſuchen, wo man ſie traͤumte. Sicher kann man dieſe Jdealtraͤumerei, wobei das junge Maͤdchen vergißt wie wenig es ſich ſelbſt zum Jdeal qualificirt — zu den Urſachen ſo vieler ungluͤcklichen Ehen zaͤhlen, ſo wie zu denen, wa - rum ſo viele junge Maͤnner unverheirathet bleiben. Wie manches Maͤdchen mag in dem Suchen des Jdeals ihre Jahre vergeſſen, und wie manches mag ſelbſt die Wahl ihres Jdeals zu ſpaͤt beſeufzen! Ritter der grauen Vorzeit gibt es jetzt eben ſo wenig als ſeufzeude, em - pfindelnde Siegwarte oder ſeelenkranke Wer - ther. Dieſe buntſchaͤckige Uniform hat ſich in eine anſtaͤndigere, den Zeiten angemeſſenere verwandelt. Man ſchaͤtze uns nach wahrem Verdienſt, nach Kopf und Herz, und nicht nach dem ſchoͤnen Bluͤthenduft der Schmeiche - lei, den der Nordwind in kurzer Zeit vertreibt und Eis und Froſt zuruͤck laͤßt. —
Nicht blos die Damen vom erſten Stande und Erziehung, ſondern auch ihre Kammerjung - fern, und bis zu dem niedrigern Staͤnden her - unter kann man dieſes Fehlers anklagen. Sie leſen alles und verdauen nichts. Wie ſehr durch die Leſerei der Trieb, aus ſeiner Sphaͤre beraus139 in eine andere zu ruͤcken, was man man| den Deutſchen immer, und mich duͤnkt mit Recht, vorgeworfrn hat, genaͤhrt wird, beſtaͤtigt die Erfahrung. Die Weiber werden nicht weniger von der Titelſucht gequaͤlt als die Maͤnner, und wie ſehr dadurch die Moralitaͤt verliehrt, bedarf wieder keines Beweiſes. Gewoͤhnlich nimmt man die Fehler der hoͤhern Staͤnde an, modifizirt ſie nach dem ſeinigen, ſo gut es gehen will, denn es gehoͤrt mit zum Vornehm thun, das Gu - te hingegen wird nicht geachtet; oder man ent - ſchuldigt ſich mit dem Unvermoͤgen. Wie ſteigt nicht dadurch die Summe des Ungluͤcks! Wann werden doch die Menſchen anfangen zufrieden zu ſeyn mit der Lage worin ſie geſetzt wurden! wahrſcheinlich niemals, denn Horazens nemo for - te ſua contentus behauptet noch immer ſeinen Platz. Jetzt fuͤllt nun die Leſeſucht die Koͤpfe mit Chimaͤren an, die ſtets die ſubjektiviſche La - ge verhaßt machen, Mißmuth und Unzufrieden - heit erzeugen, und dadurch das Wohl der Men - ſchen und des States vermindern, das in der Thaͤtigkeit und Ordnung in allen Staͤnden be - ſtehet. Wie ſehr waͤre zu wuͤnſchen, daß die Politik ſich auch einmal dieſen Gegenſtand mit gehoͤrigen Einſchraͤnkungen zur Beherzigung waͤhl - te. Das Problem “ob die Menſchen durch die ſo genannte Aufklaͤrung, die noch ſo wenige Motive fuͤr den Willen hergibt, beſſer oder ſchlech -140 ter werden” moͤchte in der Entſcheidung bald auf dem gehoͤrigen Punkte ſeyn ſeyn.
Erlauben Sie mir noch etwas am Schluſſe dieſes Briefes hinzuzufuͤgen, das vielleicht mit mehrerem Rechte in einen der vorigen gehoͤrte, es faͤllt mir aber jetzt ein, und ſo ſchreibe ich es nieder. Sie werden uͤberhaupt in Briefen kei - ne ſtrenge ſyſtematiſche Ordnung ſuchen.
Es giebt in den Eigenſchaften, Handlungen und Geſinnungen der verſtaͤndigen Weſen, eine gewiſſe phyſiſche Groͤße, die ohne die moraliſche ſeyn kann. Dieſe letztere, die man auch die Wuͤrde der Handlung nennt, haͤngt von dem Bewegungsgrunde ab, wodurch der |freie Wille beſtimmt wird. Sie beſchaͤftigt die Seele mehr als jene, erfordert mehr Anſtrengung und Aus - dehnung und bringt eine eigene Empfindung hervor, die man Bewunderung und Verehrung nennt. Hieraus entſtehet eine ſtille Znfriedenheit, die Quelle einer vernuͤnftigen Liebe. Wenn man doch dies durch die Charakteriſtik jener Helden er - reichen koͤnnte! die moraliſche Groͤße hat es mehr mit den intenſiven Bewegungsgruͤnden der Hand - lungen, die phyſiſchen mehr mit den extenſiven141 zu thun. Wer nach den erſten handelt, kann eine ſtarke Seele, und wer nach den letzten han - delt, ein großer Geiſt genant werden.
Es iſt moͤglich eine große, wichtige Hand - lung zu uͤberdenken ohne die beſten Abſichten und Mittel, dann fehlt ihr aber die Moralitaͤt. Der abſcheulichſte Raͤuber, die Greuelſcenen der Vehm - gerichte u. ſ. w. koͤnnen auch eine gewiſſe phyſiſche Groͤße haben, verdienen ſie aber des - wegen Bewunderung und Verehrung? Manche Handlungen koͤnnen zwar bei ihrer phyſiſchen Groͤße ſo gut wie gewiſſe Geſinnungen, etwas morali - ſches haben, aber es fehlt ihnen die Wuͤrde, in - dem man entweder nicht alle Beſtimmnngsgruͤn - de des Willens ſiehet, oder ſie nicht alle billigen kann. Man kann ſie nur in den Handlungen und Geſinnungen erkennen, die der Handelnde ausdruͤckt. Je mehr Hinderniſſe im Wege ſte - hen deſto groͤßer erſcheinen ſie.
Suchen Sie einmal in den Rittergeſchichten oder in den uͤbrigen Modebuͤchern einen Charakter, der ganz nach moraliſcher Groͤße handelte, oder auf den auch nur die phyſiſche ganz anwendbar waͤre, und von dem man wiederum einen ſolchen Einfluß auf die Leſer erwarten koͤnnte. Verdient die moraliſche, oder phyſiſche Groͤße mehr Be - wunderung? Es iſt nicht einmal gut moͤglich142 einen phyſiſchen Ritterhelden intereſſant zu fin - den, oder ihn lieb zu gewinnen.
Die phyſiſche Groͤße kann man allenfalls die - ſen Helden zugeſtehen; aber wie ſtehet es mit der moraliſchen? Jſt nicht das Erhabene, das Edele auch in der kleinſten Handlung mehr werth als das Barbariſche, das Unedle bei aller phyſi - ſchen Groͤße? Sicher iſt es das fuͤr ein Herz, das fuͤr das Gute im ganzen Umfange empfaͤng - lich iſt! Jch glaube, daß der, welchem eine Hand - lung ohne die Wuͤrde gefaͤllt, in demſelben Falle eben ſo handeln wird. — Was hilft alles mo - raliſiren uͤber die Bewegungsgruͤnde, Mittel und Zwecke der menſchlichen Handlungen, wenn man die Menſchen nicht gewoͤhnt grade dieſe Seite auf zuſuchen, und das Edele hervorzuziehen. Dies geſchiehet in den Rittergeſchichten und Spektakel - ſtuͤcken nicht, ſondern man findet das Gegentheil. Das Bischen moraliſche der Handlungen, wird durch ein Chaos von phyſiſcher Groͤße ſo verdun - kelt, daß man es ganz verliehrt.
Die Begriffe von dem Anſtaͤndigen haͤngen immer von Zeit und Konvention ab; kann es nicht auch der Begriff von einem guten Menſchen? mich duͤnkt er hing ſchon immer davon ab. — Auch in der Wahrheit koͤnnte man ja wol ei - nen Pyrrhonismus einfuͤhren, denn was iſt nicht143 alles moͤglich zu machen, wenn man will. Es ſind ſchon ſo viele Masken ausgehangen, daß man die rechte leicht verfehlt. Wie viele Menſchen gibt es die keine Haltung in dem Cha - rakter haben, die ein Spiel ihrer Leidenſchaft ſind, und hierin ihrer Groͤße ſuchen! Das Gute iſt das, was der Leidenſchaft gewoͤhnlich das klei - nere Jntereſſe gibt, und leicht verwiſcht wird. — Dies findet man denn auch bei den Helden in den Modebuͤchern. Man erwartet gewoͤhnlich nur Vergnuͤgen von den ſchauderhaften Vor - ſtellungen, wo eine Leidenſchaft den hoͤchſten Punkt erreicht. Dies intereſſirt am meiſten, und der Autor der es weiß laͤßt daher immer das Schau - derhafteſte auf das Schwaͤchere folgen, und die ſtaͤrkſte Vorſtellung ſeyn, weil das ſtaͤrkſte Jn - tereſſe das kleine aufhebt, wodurch dann die Lei - denſchaften, die, in ſo fern ſie zum Weſen des Menſchen gehoͤren dieſelben bleiben, aber eine unendliche Modiſikation erhalten.
Jch hoffe, meine ſchaͤtzbare Freundin! daß Sie mit meiner Beantwortung Jhrer Frage woher die vielen Mißſtimmungen in den menſch - lichen Empfindungen kommen? nicht ganz unzu - frieden ſind. Jch habe nach meiner Einſicht und und nach meinem Gefuͤhl daruͤber geurtheilt. 144Jch kenne Jhr vortrefliches Herz, Jhre Theil - nahme an allem was gut und edel iſt, und dies giebt mir den Muth am Schluſſe dieſer ganzen Mate - rie noch eine Bitte zu wagen. Erlauben Sie wol, daß ich dieſe Briefe, die blos fuͤr Sie allein beſtimmt waren, drucken laſſe? Sie koͤnnten viel - leicht mehrere Leſer intereſſireu. Unſere Namen thun zur Sache nichts, ſie koͤnnen ſie weder gut noch ſchlecht machen, und ſollen wegbleiben. Jch erwarte Jhre Antwort, und bin mit der reinſten Hochachtung u. ſ. w.
Der Verfaſſer dieſer Briefe wuͤnſcht weiter nichts als irgend einen Gelehrten aufmerkſam auf dieſe Materie ge - macht zu haben.
Gedruckt bei J. T. Lamminger.
Da ich von meiner Freundin die Er - laubniß erhalten habe, einen Theil un - ſers Briefwechſels dem Publikum mitzu theilen: ſo wuͤnſche ich nichts mehr, als daß die Leſer und Leſerinnen dieſe Briefe eben ſo ſanft und liebreich beurtheilen moͤ - gen, als meine Freundin that. Vielleicht verdiene ich wol gar von Manchem ei - nen kleinen Dank, und ich geſtehe, daß mir dies nicht wenig ſchmeichelhaft ſeyn wuͤrde. Jndeß thue ich auch darauf Ver - zicht, wenn ich nur uͤberzeugt ſeyn darf einigen Nutzen geſtiftet zu haben.
Da die Leſeſucht eine Sache iſt, worin ſich der Stat oder die ObrigkeitK146nicht gut miſchen kann, es doch aber Pflicht iſt dies Uebel, wo nicht zu ver - bannen, doch einzuſchraͤnken: ſo wuͤrde ein Vorſchlag, alle Leſegeſellſchaften um - zuſchaffen, hier wol nicht am unrechten Orte ſtehen. Es gibt ja |wol in |jeder Stadt einige Maͤnner denen das Wohl ihrer Mitbuͤrger, und das Wohl des Va - terlandes am Herzen liegt, die mit Ein ſicht und Geſchmack die Lektuͤre anordnen koͤnnen, damit ſie nicht einer Troͤdelbude gleicht, wo alles durch einander haͤngt. Wie waͤre es, wenn ſolche Maͤnner die Aufſicht uͤber die Leſegeſellſchaften uͤber - naͤhmen? Wie viel Gutes koͤnnte daraus entſtehen, wie viel fuͤr die Moralitaͤt ge - wonnen, wie ſehr ſelbſt die geſelligen Freuden erhoͤhet werden, wenn die Leſer nicht mehr ſo ſehr dem Zufall uͤberlaſſen147 waͤren! Man koͤnnte auch der Litteratur - zeitung eine Warnungstafel anhaͤngen, worauf geſchrieben ſtaͤnde, was nicht fuͤr Frauenzimmer, nicht fuͤr Juͤnglinge u. ſ. w. gehoͤre, was der Moralitaͤt derſelben ſcha - de. Die Herrn ſchreiben ja zum beſten des Publikums, und hierdurch wuͤrden ſie ſich um den Verſtand, das Herz und den Beutel deſſelben kein geringes Verdienſt erwerben.
Jch kann mich nicht von meinen Pulte trennen ohne noch eine Bitte an meine jungen deutſchen Mitbuͤrgerinnen niederſchreiben. Jch bin ein Deutſcher, mein Herz ſchlaͤgt warm bei dieſem Namen, „ deutſche Maͤdchen, deren Gluͤck mir nicht gleichguͤltig iſt. Sie wiſſen meinen Namen nicht, laſſen ſie ſich dies nicht be - fremden, wenn ich weniger Achtnng fuͤr148 Sie haͤtte: ſo haͤtte ich mich genannt. Jch bitte ſie ‟
Leſen ſie nur um weiſer und tugendhaf - ter zu werden, oder auch um ſich ein un - ſchuldiges Vergnuͤgen zu machen, nur nicht auf Unkoſten ihrer Tugend, ih - rer Ruhe und Geſundheit. Leſen ſie nicht jeden Roman, nicht jede Ritter - geſchichte, die Zeiten ſind zorbei; leſen ſie nichts wodurch ſie gegen irgend eine ihrer Pflichten gleichguͤltig werden koͤnn - ten. Auf ihnen beruhet die Hoffnung alles haͤuslichen und oͤffentlichen Gluͤcks. Beherzigen ſie dieſe hohe Beſtimmung, und dann haben ſie auf die Achtung und Liebe eines jeden rechtſchaffnen Mannes ein gegruͤndetes Recht.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
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