PRIMS Full-text transcription (HTML)
Florentin
Erſter Band.
Luͤbeck und Leipzig, beyFriedrich Bohn,1801.

Vom Herausgeber.

Gern flieht der Geiſt vom kleinlichen Gewühle
Der Welt, wo Albernheiten ernſthaft thronen,
Auf zu des Scherzes heitern Regionen,
Verhüllt in ſich die heiligſten Gefühle:
Umweht ihn einmal Aether leicht und kühle,
So kann er nimmer wieder unten wohnen;
Und ſchnell wird jenen Scherz der Ernſt belohnen,
Daß er ſich neu im eignen Bilde fühle.
Die Wünſche die Dich hin zur Dichtung ziehen,
Der frohe Ernſt in den Du da verſankeſt,
Das ſey dein eigen ſtill verborgnes Leben;
Was Du gedichtet, um ihr zu entfliehen,
Das mußt Du, weil Du ihr allein es dankeſt,
Der Welt zum Scheine ſcherzend wiedergeben.
Laß edlen Muth den weißen Altar gründen,
Hoch Fantaſte in Purpurflammen wehen,
Und Liebe wirſt du bald im Centrum ſehen,
Wo grün die Feuerſäulen ſich entzünden:
Durch braune Locken wird ſich Myrthe winden,
Der Freund mit goldnen Früchten vor Dir ſtehen,
Die Kinder dann in Blumen zu Dir gehen,
Mit Roſ und Lorbeer Dich die Schweſter binden.
Es war der alten Mahler gute Sitte,
Des Bildes Sinn mit einem Strich zu ſagen,
Der den Accord der Farben drunter ſchriebe;
So mag auch dieſes Lied es kühnlich wagen,
Zu deuten auf der Dichtung innre Mitte,
Jn Farben ſpielend um die ſüſte Liebe.

Florentin.

1

Erſtes Kapitel.

Es war an einem der erſten ſchoͤnen Fruͤh - lingsmorgen. Allenthalben, auf Feldern, auf Wieſen und im Wald, waren noch Spuren des vergangnen Winters ſichtbar, und der Haͤrte, womit er lange gewuͤtet: noch einmal hatte er maͤchtig im Sturm ſei - ne Schwingen geſchuͤttelt, aber es war zum letztenmal. Die Wolken waren vertrieben vom Sturm, die Sonne durchgebrochen, und eine laue milde Waͤrme durchſtroͤmte die Luft. Junge Grasſpitzen draͤngten ſich hervor, Veil - chen und ſuͤße Schluͤſſelblumen erhoben furcht - ſam ihre Koͤpfchen, die Erde war der Feſ - ſeln entledigt, und feyerte ihren Vermaͤh - lungstag.

(1) 24

Muthig trabte ein Reiſender den Huͤ - gel herauf. Vertieft im Genuß der ihn um - gebenden Herrlichkeit und in Fantaſieen, die ihn bald vor - bald ruͤckwaͤrts riſſen, hatte er den rechten Weg verfehlt, und nun ſah er ſich auf einmal vor einem Walde, den er durchreiten mußte, wenn er nicht gerade wieder umkehren und zuruͤckreiten woll - te; ein andrer Weg war nicht zu finden. Er war lange zweifelhaft.

Jetzt wieder umkehren waͤre ein unnuͤ - tzes Stuͤck Arbeit. Waͤre ich etwa umſonſt hieher gerathen? Jn dieſen Wald kam ich ungefaͤhr auf eben die Weiſe wie ins Leben wahrſcheinlich habe ich im Ganzen auch des Weges verfehlt. Und wie? wenn mir auch hier wie dort die Ruͤckkehr unmoͤglich waͤre? Sey meine Reiſe wie mein Leben, und wie die ganze Natur, unaufhaltſam vorwaͤrts! Was mir nur begegnen wird auf dieſer Le - bensreiſe, oder dieſem Reiſeleben? Jch ruͤhme mich ein freyer Menſch zu ſeyn, und dieſer Sonnenſchein, dieſes laue Umfangen,5 die jungen Knospen, das Erwarten der Dinge, die mich umgeben, iſt Schuld, daß auch ich erwarte und was? War mir doch mit allem bunten Spielzeug ſchon laͤngſt Hoffnung und Erwartung entflohen! Naͤr - riſch genug waͤre es, wenn mich dieſer Weg auch endlich an den rechten Ort fuͤhrte, wie alles Leben zum unvermeidlichen Ziel.

Unter dieſen Betrachtungen, und Spott uͤber ſich ſelbſt, ritt er raſch weiter, fuͤhl - te aber endlich ſein Pferd ermuͤden, auch war er ſelbſt durchnaͤßt vom naͤchtlichen Re - gen. Er wuͤnſchte jetzt, bald irgend ein Obdach zu finden, um einige Zeit ausruhen zu koͤnnen. Hab guten Muth, Schimmel! wir muͤſſen beyde weiter; billig iſt es aber, daß du es jetzt nicht ſchlimmer habeſt als ich. Hiemit ſprang er ab, machte Rie - men und Schnallen am Sattelzeuge weiter, und fuͤhrte das Pferd hinter ſich am Zaum. Der Schimmel wieherte und ſtampfte, als wollte er Zeichen ſeiner Zufriedenheit geben. Sein Fuͤhrer drehte ſich zu ihm herum,6 ſtand ſtill, legte ſeine beyden Haͤnde an den Kopf des Pferdes und blickte es ernſthaft an. Laß dich umarmen Schimmel, ſag - te er, du biſt ein koͤnigliches Thier! ein Thier fuͤr Koͤnige! Was fehlt uns beyden, um in der Geſchichte verewigt zu werden, du als ein Muſter der Treue und Unterwuͤr - figkeit, ich als ein Beyſpiel von menſcheu - freundlicher Herablaſſung, als daß ich einen Thron beſaͤße, und du waͤreſt mein Unter - than? Gewiß biſt du ganz verwundert und froh, und ohne Zweifel fuͤhlſt du dich uͤber - aus gluͤcklich, gerade von mir und von nie - mand anders bis aus Ende deines treuen Le - bens geritten zu werden! Ahndeſt du etwa, daß ich deine Laſt bloß deswegen etwas leich - ter machte, damit du mir nicht voͤllig un - terlaͤgſt, und daruͤber zu Grunde gingeſt, ehe ich dich miſſen kann? Jch weiß es frey - lich, aber du ſollſt es nie erfahren, denn du ſollſt gluͤcklich ſeyn; du ſollſt, verlaß dich auf meine Wachſamkeit, gewiß nie in dem klugen Glauben geſtoͤrt werden, daß7 du in deiner Unvernunft und demuͤthigen Ge - nuͤgſamkeit ein gluͤckliches Thier biſt.

Er ließ den Kopf des Schimmels, und ſtand gedankenvoll eine Weile an ihn gelehnt. Sein Auge ſchweifte umher, bald beſchaute es die ihn noch umgebenden Gegenſtaͤnde mit dem innigſten Vergnuͤgen, bald drang es mit Sehnſucht in die Ferne. Es gab fuͤr ihn Momente, wo er ſich keines druͤ - ckenden und keines vergangnen Verhaͤltniſ - ſes bewußt war. Jhm war, beſonders in der Einſamkeit und im Freyen, als haͤtte er alles, was ihm jemals weh gethan, zu - ruͤckgelaſſen, und ginge nun einer heitern Ausſicht entgegen. Er konnte ſich einbilden, vor einem Augenblicke geſtorben, und mit dieſer beſſern Empfindung in ein ſchoͤneres. Daſeyn uͤbergegangen zu ſeyn.

Welche ſehnende, ahndende Hoffnung treibt mich wieder zu euch Menſchen? war - um ergebe ich mich denn aufs neue euren unſinnigen Anſtalten? Jſt es mir denn nicht bekannt, daß ich deſſen, was ich bey euch8 ſache, ſchon laͤngſt uͤberdruͤſſig bin? Schoͤn iſts hier im Wald! hier moͤchte ich bleiben, O hier, hier ſollte ich bleiben! allein? ach, nicht allein! mit ihr! noch hat mein Auge ſie nicht geſehn, aber ich kenne ſie, o ſie wird alles verlaſſen, was ſie halten will, und hat ſie mich ge - funden, mir hieher folgen, und hier mit mir der Liebe leben. Laß dich in meine Ar - me faſſen! komm, ruhe hier aus an die - ſem Herzen, das harte Schlaͤge des Schick - fals erlitten hat wie deines; laß mich deine Thraͤnen trocknen, blick um dich! Was du verließeſt, war nicht die Welt: Feſſeln, en - ge Mauern, nannteſt du das die freye ſchoͤne Welt? Schwer haſt du getraͤumt, o erwache, erkenne hier was du ſuchteſt!

Nicht weit von ihm fiel ein Schuß, und bald darauf hoͤrte man ein Rufen nach Huͤlfe. Jm Augenblicke hatte er Sattel und Buͤgel wieder in Ordnung gebracht, ſeine Traͤume, des Schimmels Muͤdigkeit, ſo wie ſeine eigne vergeſſen, ſich aufs Pferd ge -9 ſchwungen und nach der Gegend hingeſpornt, von wo er die Stimme vernahm; er kam auf einen kleinen runden dicht umſchloßnen Platz im dickſten Theil des Waldes; hier ſprengte ihm haſtig ein reichgekleideter Jo - ckey entgegen, der ein geſatteltes Hand - pferd fuͤhrte. Retten Sie meinen gnaͤdigen Herrn! rief der Knabe. Unſer Reiſender ſah nach der Gegend hin, wo der Knabe mit aͤngſtlicher Gebehrde hinzeigte, und er - blickte einen aͤltlichen Mann, der eben im Begriff war, ein wildes Schwein abzufan - gen; er fah eben, wie der Mann noch einen Schritt zuruͤcktrat, um ſich mit dem Ruͤcken an einen Baum lehnen zu koͤnnen, ſah ihn an eine Baumwurzel ſtoßen, ruͤcklings nie - derfallen, und in der groͤßten Gefahr, von der gereizten Sau zerfleiſcht zu werden. Jm Moment ſprang er vom Pferde und feuerte ſein Piſtol auf das Thier, wodurch er, oh - ne es zu treffen, ſeine ganze Wuth auf |ſich zog: das war ſeine Abſicht. Das erboßte Thier kehrte um und rannte auf ihn los, er10 zog ſein Jagdmeſſer und fing es mit Beſon - nenheit und Geiſtesgegenwart auf. Waͤhrend deſſen war der alte Herr aufgeſtanden, naͤ - herte ſich dem Reiſenden, und ergoß ſich in Dankſagungen und Lob wegen ſeines Muthes und ſeiner Geſchicklichkeit. Dieſer lehnte mit Anſtand beydes von ſich ab, erkundigte ſich freundlich, ob der Gefallne keinen Schaden ge - nommen, und da dieſer mit Nein antwor - tete, wandte er ſich nach ſeinem Schimmel, der noch ruhig da ſtand, wo er ihn gelaſ - ſen. Der Mann wunderte ſich uͤber die De - muth eines ſonſt ſo muthig ausſehenden Pfer - des. So eiferfuͤchtig ich ſonſt auch bin, nichts von meinem Gefaͤhrten ſagen zu laſſen, als was zu ſeinem Lobe gereicht, erwiederte der Reiſende, ſo muß ich dennoch geſtehen, daß er dieſesmal gezwungen iſt, tugendhaft zu ſeyn; das gute Thier iſt erſchoͤpft von Muͤdigkeit. Fuͤhrt der Weg, auf dem ich hier vorbey kam, ganz durch den Wald, und wo fuͤhrt er hin? Er hatte ſich waͤhrend11 dem wieder aufgeſetzt, begruͤßte den alten Herrn, und wollte zuruͤckreiten.

Jch hoffte, Sie wuͤrden mich nicht ſo ſchnell wieder verlaſſen, ſagte der alte Herr. Sie haben ſich das groͤßte Recht auf meine Dankbarkeit erworben, es wuͤrde mich ſchmer - zen, wenn Sie mir alle Gelegenheit rauben wollten, ſie Jhnen zu bezeigen. Fuͤgen Sie zu dem großen Dienſt, den Sie mir leiſte - ten, auch noch den hinzu, ſich meiner Fa - milie vorſtellen zu laſſen. Meine Gemahlinn, meine Kinder wuͤrden untroͤſtlich ſeyn, dem Retter meines Lebens nicht ihre Freude bezeu - gen zu koͤnnen. Komm, mein Sohn! rief er einem jungen Manne zu, der auf einem Seitenwege zu ihnen heranſprengte, vom Pfer - de ſprang, und mit beſorglicher Freude auf ihn zueilte; hilf mir dieſen Herrn erbitten, daß er ſich nicht in ſo großer Eile von uns trennt, du verdankſt ihm nichts weniger als das Leben deines Vaters. O mein Va - ter, rief der junge Mann, daß ich mich ge - rade in dieſem Moment entfernen mußte!12 mein Gott, Sie waren ſo nahe mein Herr, indem er ſich zu dem Reiſenden wand - te, Sie haben ein koſtbares Leben gerettet, verſchmaͤhen Sie nicht den Dank einer lie - benden Familie anzunehmen, die durch Jhre Huͤlfe einem ſchrecklichen Unfall entging. Es wuͤrde unbeſcheiden von mir ſeyn, ant - wortete er, wenn ich mich laͤnger widerſetz - te. Der alte Herr bezeigte ſeine Freude uͤber dieſen Entſchluß in vielen hoͤflichen und verbindlichen Worten, der junge Mann reichte ihm die Hand heruͤber, und ſprach einiges, das den Ausdruck der hoͤchſten Empfindung bezeichnete. Der Reiſende brachte vollends alles an ſeinem Zeuge in Ordnung.

Jetzt eilten alle auf demſelben Wege fort, auf dem er zuerſt gekommen war. Aber wie ging es eigentlich zu? fragte der junge Mann, wie kommen Sie zu dem ge - faͤhrlichen Abentheuer, mein Vater? Ganz zufaͤllig! antwortete dieſer. Du weißt, daß der Jaͤger ſchon ſeit einigen Tagen angewie - ſen ward, das Lager aufzuſuchen, weil die13 Klagen uͤber Verwuͤſtungen ſich taͤglich meh - ren; es war aber bis jetzt noch immer nicht geſchehen. Zufaͤllig entdeckte ich es, da ich eben einen Vogel aufnehmen wollte, den ich heruntergeſchoſſen. Jch bezeichnete den Ort, um ihn dem Jaͤger anzuzeigen, und ging etwas naͤher hin zum Lager, weil die Alte nicht dabey war; in dem Augenblick kam ſie aber aus dem Dickicht, wo der Schuß ſie aufgeſchreckt hatte, und gerade auf mich los. Und nun erzaͤhlte er ferner in praͤch - tigen Ausdruͤcken den ganzen Hergang, und was der Fremde ſo gluͤcklich ausgefuͤhrt hatte. Der junge Mann ſuchte ſich zu entſchuldigen, daß er ſich ſo weit von ihm entfernt; und nun erzaͤhlte auch der Jockey ſeinen Schrecken, als er Jhre Gnaden haͤtte fehlſchießen ſehen; wie er gleich nach Huͤlfe gerufen habe, und dem fremden Herrn begegnet ſey, und wie auch dieſer fehlgeſchoſſen; wie er dann in großer Angſt umhergeritten, um den jungen gnaͤdigen Herrn zu ſuchen, den er endlich auf dem Berge am Ende des Waldes gefun -14 den, wo die Ausſicht nach dem Schloßgat - ten frey ſey.

Waͤhrend dieſer weitlaͤuftigen Erzaͤhlun - gen, die alle nach einander gehoͤrt wurden, die niemanden etwas neues lehrten, und wo - von doch keiner ein Wort verlteren wollte, und die alle mit den groͤßten Lobeserhebun - gen fuͤr den Fremden anfingen und endigten, war dieſer ſtill und nahm auf keine Weiſe Antheil daran.

Man kann doch, dachte er, in der Welt nicht einmal mehr zu ſeiner Luſt, oder weil es einem gerade in den Weg kommt, ein Thier erlegen, oder man muß dann viel Langeweile dafuͤr erleben! Zu ſeinem Gluͤcke iſt der gute Maun gerettet worden: iſt es meine Schuld, daß ſein Leben an meinem Spiele hing? Den weitlaͤuftigen Dank koͤnn - ten ſie einem groͤßeren Verdienſt aufſparen. Jch haͤtte die groͤßte Luſt von der Welt, ih - nen das mit eben dem Pathos vorzutragen, wie ſie einander die wundervolle Begeben - heit. Bey Gott! mich machen dieſe Leute15 ſehr |ungeduldig. Der feyerliche, umſtaͤndli - che, hoͤfliche Alte! der empfindſame exaltirte Knabe! Repraͤſentanten ihrer Zeit und ihres Standes, wenn ich ihre Portraͤte zu ei - ner Ahnengallerie zu machen haͤtte, ſo mahlte ich den erſten, wie er mit großer Devotion ein von Pfeilen durchbohrtes Herz darbringt, und den andern in erhabenen und ruͤhrenden Betrachtungen vertieft uͤber ein Buͤſchel Ver - gißmeinnicht. Es iſt das Laͤcherlichſte von der Welt, außer ich ſelbſt, der ich mich verleiten laſſe, ihnen zu folgen, und mich in Prozeſſion aufzufuͤhren. Was will ich dort? Was ich nun ſchon hier bis zum Ueberdruß an - hoͤren mußte, etwa mir von der ganzen Fa - milie wiederholen laſſen? Oder bilde ich mir nicht ſchon wieder ein, ein geheimer Zug im Jnnern meines Herzens ziehe mich hin? Jch war mein eigner Narr von jeher.

Der alte Herr unterbrach ſein Selbſtge - ſpraͤch. Der Name eines Mannes, fing er an, kann uns zwar wenig mehr lehren, als wo -16 von uns der erſte Anblick und ſein ganzes Benehmen unterrichtet: indeſſen, haben Sie keine Gruͤnde den Jhrigen verſchwiegen zu halten, ſo moͤchte ich Sie erſuchen, uns da - mit bekannt zu machen. Mir ſind die be - ſten Familien unſers Landes auf eine oder die andre Weiſe bekannt ..... ſo wie ich ſelbſt den meiſten nicht unbekannt ſeyn werde; ſetzte er mit einer Art von Selbſtbewußtſeyn hinzu. Mein Name iſt Graf Schwarzen - berg, ich bin General in Dienſten des Kai - ſers. Dieſer junge Mann Eduard von Uſin - gen, ein Sohn meines verſtorbenen Freun - des, und bald mein geliebter Sohn, Gemahl meiner Tochter. Jch heiße Florentin. Der Name war mir bis jetzt nicht bekannt. Jch bin ein Fremder. Jhre Bekannt - ſchaft iſt mir uͤberaus werth, ich darf vor - ausſetzen, daß Sie mein Haus als das Jh - rige anſehen werden; als Auslaͤnder duͤrften Sie einmal ſich in dem Fall befinden, Ge - brauch davon zu machen. Jhr Aner - bieten, erwiederte Florentin verbindlich,17 fodert meine ganze Dankbarkeit; ich wuͤnſch - te nur dieſesmal ſchon Gebrauch davon ma - chen zu koͤnnen. Wie ſo? Jch will meine Reiſe durch Deutſchland abkuͤrzen, und auf dem kuͤrzeſten Wege zum naͤchſten Hafen, wo ich mich nach Amerika einſchiffen will, um den engliſchen Kolonien dort mei - ne Dienſte anzubieten. Nach Amerika? rief Eduard. Jhr Vaterland haͤlt Sie nicht? fragte der Graf. Wo iſt mein Vaterland? rief jener in wehmuͤthig bitterm Ton; gleich darauf halb ſcherzhaft: So weit mich mein Gedaͤchtniß zuruͤcktraͤgt, war ich eine Waiſe und ein Fremdling auf Er - den, und ſo denke ich das Land mein Va - terland zu benennen, wo ich zuerſt mich wer - de Vater nennen hoͤren. Er ſchwieg, und ſein Blick ſenkte ſich truͤbe und ernſt.

Beſcheiden drang der andre nicht weiter in ihn, und unter Geſpraͤchen verſchiednen Jnhalts, die bedeutend genug waren, gegen - ſeitig ihre Begierde zu naͤherer Bekanntſchaft zu reizen, langten ſie im Park an, der durchFlorentin. I. 218eine bloße Weißdornhecke vom Walde getrennt war; ſie uͤberließen hier ihre Pferde dem Knaben. Meine Gemahlin, ſagte der Graf, hat durch dieſe Hecke einen Theil des Wal - des als Park erklaͤrt, oder zur Freyſtatt fuͤr die Hirſche und Rehe, die, vom Jaͤger verfolgt, ſich hieher retten; denn hier darf weder der Huf eines Pferdes, noch das An - ſchlagen der Hunde oder ein Schuß gehoͤrt werden. Allenfalls laͤßt ſie ſich ein froͤhliches Jaͤgerſtuͤckchen gefallen, damit ſie mich bey meiner Zuruͤckkunft von fern hoͤre.

Sie gingen den Weg gerade durch den Park auf das große hohe Schloß zu, das in den Zeiten der alten Ritter erbaut zu ſeyn ſchien, uͤber eine Zugbruͤcke durch einen groſ - ſen Vorhof, wo ihnen am Gitter zwey Frau - en entgegen kamen: ein Maͤdchen von auſ - ſerordentlicher Schoͤnheit zwiſchen funfzehn und ſechzehn Jahren, und die andre eine ebenfalls ſehr ſchoͤne Frau, die ihre Mutter zu ſeyn ſchien. Florentin gewann Froͤhlich - keit und Zutrauen beym Anblick der beyden19 Schoͤnheiten, die ihm der Graf als ſeine Gemahlin |und ſeine aͤlteſte Tochter vorſtellte.

Du laͤſſeſt uns lange warten heute! rief die Graͤfinn ihnen entgegen. Dafuͤr meine Liebe, wird dir ein werther Gaſt zu - gefuͤhrt. Heiße Herrn Florentin bey dir willkommen. Und unſre Kleinen? ſie wer - den ja wohl nicht weit ſeyn? Sie er - warten noch immer im Garten des Vaters Ankunft. Thereſe war mit einer langen Kette von Blumenſtengeln beſchaͤftigt, mit der ſie dich feſt machen will, damit du nicht immer von ihr geheſt. Du ſiehſt mich nun wieder, meine Liebe, unverletzt und am Leben, (es haͤtte leicht anders ſeyn koͤnnen,) und du ahndeſt nicht, wem du es verdan - keſt? Naͤchſt der Guͤte Gottes, meinem Gebete und deiner Tapferkeit wuͤßte ich nicht Verdankſt du es dem jungen Hel - den hier: komm, ich erzaͤhte dir hernach al - les umſtaͤndlich. Seyn Sie mir noch einmal und herzlich willkommen! ſagte die Graͤfinn, und reichte dem Fremden freudig die(2) 220Hand, die er kuͤßte. Waͤhrend dem war auch Juliane wieder naͤher gekommen, die ſich nach der erſten Begruͤßung einige Schritte mit Eduard entfernt hatte, der ihr lebhaft etwas erzaͤhlte, und dem ſie, ſo viel Florentin wahr - nehmen konnte, mit Theilnahme zuhoͤrte. Jetzt ging ſie auf ihn zu: Unſer guter Engel fuͤhrte Sie auf dieſen Weg! fluͤſterte ſie leiſe und ſchuͤch - tern erroͤthend.

Eben kamen die Kinder aus dem Garten herzu geſprungen, zwey Knaben und ein Maͤd - chen; der Laͤrm, das Getuͤmmel und Schaͤkern ward allgemein. Die Kleinen umwanden den Vater mit ihren Ketten und zogen ihn mit ih - ren Haͤndchen zur Treppe. Der Alte gab ſich dem Muthwillen der Kinder ganz hin, und die andern folgten. Es kamen noch einige Hausgenoſſen hinzu, und man ging zur Tafel.

Florentin fuͤhlte ſich leicht und wohl bey der allgemeinen Heiterkeit und der gutmuͤthigen Laune, die durch nichts unterbrochen ward. Man begegnete ihm wie einem laͤngſt Bekann - ten, wie einem Hausgenoſſen. Die Unbefan -21 genheit der Frauen bey ſeinem Einpfang, die wenigen bedeutenden Worte, der herzliche Ton, der Blick von dem ſie begleitet waren, hatten ihn leichter zu bleiben bewogen, als die dank - baren Einladungen der Maͤnner. Auch mußte das offne, zutrauliche, argloſe Benehmen der Eltern, Kinder, Geſchwiſter, Hausgenoſſen, Domeſtiken gegen einander wohl jeden Zwang und jedes Mistrauen verſcheuchen. Nicht leicht konnte man eine Familie finden, in der ſo wie in dieſer jedes Verhaͤltniß zugleich ſo rein und ſo gebildet ſich erhielt, die ganz durch Einen gemeinſchaftlichen Geiſt belebt zu ſeyn ſchien, indem jeder Einzelne zugleich ſeinem eignen Werthe treu blieb. Hier zum erſtenmal be - merkte Florentin die wahre innige Liebe der Kinder zu den Eltern, und die Achtung der El - tern fuͤr die Rechte ihrer Kinder. Keiner ver - laͤugnete ſich ſelbſt, um dem andern zu gefallen, es beſtand alles vollkommen gut neben einan - der. Eben ſo ſtimmte alles Aeuſſere zuſam - men. Allenthalben blickte durch die glaͤnzende etwas antike Pracht die Bequemlichkeit und22 Eieganz anmuthig durch: gleichſam der ernſte Wille des Herrn, durch die gefaͤlligere Neigung der Hausfrau gemildert. Ein allgemeines Wohlſeyn war ringsum verbreitet, eine gewiſſe Reichlichkeit und unbeſorgte Ordnung. Nichts von dem Spaͤrlichen neben der ſinnloſen Ver - ſchwendung, was man ſo oft wahrnimmt, wo einſeitiges Beſtreben nach einem erzwungenen Glanze das uͤbrige armſelig erſcheinen macht.

Jetzt betrachtete Florentin auch die Schoͤn - heit der beyden Frauen mit großer Bewunde - rung. Julianeus Geſicht gehoͤrte nicht zu den regelmaͤßigen Schoͤnheiten, die man anſtaunt, aber deren Mangel an Lebhaftigkeit kalt laͤßt: das feine Spiel der ſprechenden Zuͤge, die ſo ſichtbar alles abſpiegelten, was in ihrer Seele vorging, war unwiderſtehlich anziehend und lie - benswuͤrdig. Sie war im vollkommenſten Ebenmaß gebaut, obgleich nicht ſehr groß; ein wahrer Reichthum an lichtbraunen Haaren um - floß in vielen Locken und Flechten das ſchoͤn ge - formte Koͤpfchen und den weißen Nacken; an den aufbluͤhenden Buſen ſchloß ſich in weichen23 Umriſſen der ſchlanke Hals, der oft mit anmu - thiger Schalkhaftigkeit ſich ſeitwaͤrts neigte, und dann ſich wieder frey und ſtolz erhob. Eine bluͤhende Farbe, ein ſchoͤn geformter Arm, eine laͤnglichte Hand, durch deren Weiße die Adern blaͤulich hindurch ſpielten, zarte Finger, die ſich in ein fein getuſchtes Roth endigten; der helle und doch biegſame Ton ihrer Stimme; der kleine Eigenſinn in den nah zuſammen ſte - henden Augenbrauen und in dem etwas aufge - worfnen Munde; die Anmuth im Spiel der leicht entſtehenden und verſchwindenden Gruͤb - chen in Wange und Kinn; große dunkelblaue Augen, die bald voll Seele und frohem Leben blitzten, bald thraͤnenſchwer, wie thaubenetzte Veilchen ſich unter die langen ſeidnen Wimpern ſenkten, bald mit kindlicher Unbefangenheit ver - trauend in ein andres Auge ſchauten, bald mit großer, beynah zuruͤckſchreckender Hoheit um ſich her ſchauen konnten; beſonders das feine, zarte und doch entſchiedne und muthwillige, gleichſam durchſichtige, woraus ihr ganzes We - ſen geformt zu ſeyn ſchien: alles das waren24 eben ſo viele Bezauberungen, von deren verei - nigter Macht Florentin nicht ungeruͤhrt bleiben konnte. Anffallend war es ihm, wie ihr Bau und ihre Reize bey der beynah noch kindlichen Jugend doch ſchon ſo vollkommen aufgebluͤht prangten; dieſes Wunder glich einem Werk der Liebe, an deren Hauch ſich dieſe junge Knoſpe eben zu entfalten ſchien.

Auch Eleonore war eine ſehr ſchoͤne Frau. Jhn duͤnkte, wie er ihre hohe, etwas reichli - che Geſtalt erblickte, uͤber die der Ausdruck der Milde, der innern froͤhlichen Ruhe, der muͤtterlichen Liebe und des Segens verbreitet war, als ſaͤhe er ein Bild der wohlthaͤtigen Ceres: alles an ihr, ſogar die runden Haͤnde trugen das Gepraͤge dieſes Charakters. Jn ih - re ſchoͤnen blauen Augen ſah man wie in einen wolkenloſen Himmel, die blendend weiße Stirn umgaben freundlich blonde Haare in kleinen Ringeln; man konnte ſie nicht anſehen, ohne vergnuͤgt zu werden, und jedes Leiden laͤchelte ſie troͤſtend aus der Menſchen Bruſt.

Wer ſich nach dieſer vielleicht etwas zu aus -25 fuͤhrlichen Beſchreibung ein deutliches| Bild der beyden ſchoͤnen Frauen machen kann, wird es nicht unnatuͤrlich von Florentin finden, daß er ſeine Reiſe und ſeinen Plan etwas weiter hin - aus ſchob, und recht gern die Einladung des Grafen annahm, noch einige Zeit bis nach dem Hochzeitfeſte bey ihnen zu verweilen. Es war ihm jetzt ſchauderhaft, an ſeine Einſamkeit zu denken, die ihm vor wenig Stunden noch ſo lieb war. Haͤtte er auch ſeinen erſten Vorſatz treu bleiben wollen, der Einladung der wohl - wollenden Eleonore, und dem ſchmeichelnden Blick Julianens war nicht zu widerſtehen, und ſo verſprach er zu bleiben.

Nach der Tafel wurden einige ſchoͤne Pfer - de vorgeritten, Florentin lobte ſie, und der Graf freute ſich, einen Kenner in ihm zu fin - den. Die Graͤfin fuͤhrte ſie nun nach dem Park, wo ſie ihnen einige neue Anlagen zeigte, die unter ihrer Aufſicht gemacht wurden. Man ging auf dem Ruͤckwege durch das große ſchoͤne Dorf am Fuße des Huͤgels, worauf das Schloß lag. Auch hier verbreitete Wohlhabenheit und26 Reichthum ſich wie Segen vom Himmel herab. Voll Ehrerbietung, ohne Furcht und ohne knech - tiſche Erniedrigung wurden ſie von den Landleu - ten, die ihnen begegneten, begruͤßt. Geſund - heit und Vergnuͤglichkeit leuchtete auf jedem Ge - ſicht, Ordnung und Reinlichkeit glaͤnzte ihnen aus jedem Hauſe entgegen. Schoͤne ſroͤhliche Kinder tanzten auf dem Raſenplatze im Schein der un - tergehenden Sonne; dem Fremdlinge ward das Herz groß, ihm war, als faͤnde er hier die gold - ne Zeit, die er auf ewig entflohen geglaubt.

Man kam aufs Schloß zuruͤck, nachdem ſie im Vorbeygehen die ſchoͤnen weitlaͤuftigen Wirthſchaftsgebaͤude und einige innere Einrich - tungen befehen hatten. Florentin freute ſich kindiſch an allem, was er ſah, und beſonders an der freundlichen und leichten Ordnung, mit der alles geleitet wurde. Er hatte, was dahin ge - hoͤrt, immer in ſo trauriger und widerwaͤrtiger Geſtalt geſehen, daß er es fuͤr erdruͤckend und Geiſt ertoͤdtend halten mußte: aber wie ganz anders fand er es hier! Jetzt erkundigte er ſich mit Theilnahme beym Grafen nach man -27 cherley, was ihm fremd war. Wollen ſie ſich nicht gleich, ſagte dieſer, an den großen Meiſter ſelbſt wenden, deſſen Schuͤler auch ich bin? Alles was Sie geſehen haben, was Sie hier freut, iſt das Werk meiner Eleonore, mich hat ſie erſt zu dem Geſchaͤft einigermaßen ge - bildet. Eigentlich leben wir wie unſre deutſchen Vaͤter: den Mann beſchaͤftigt der Krieg, und in Friedenszeiten die Jagd, der Frau gehoͤrt das Haus und die innere Oekonomie. Glau - ben Sie nur, ſagte Eleonore, der Mann, der jetzt eben ſo kriegeriſch und wild ſpricht, muß manche haͤusliche Sorge uͤbernehmen. Es geziemt dem Manne allerdings, erwiederte der Graf, der Gehuͤlfe einer Frau zu ſeyn, die im Felde die Gefaͤhrtin ihres Mannes zu ſeyn wagt. Wie das? darf ich erfahren? fragte Florentin. Nichts, nichts, rief die Graͤ - fin, hoͤren Sie nicht auf ihn! Er wird Jh - nen bald eine praͤchtige Beſchreibung meiner Thaten und Werke zu machen wiſſen, die dar - auf hinaus laufen, daß ich ihn zu ſehr liebte, um mich von ihm zu trennen. Wollen Sie28 mein Schuͤler in der Oekonomie werden, Flo - rentin? dann ſetze ich mich zur Ruhe und uͤber - gebe Jhnen das Hausweſen. Es ſoll ja den Frauen angehoͤren. Nun gut, ſo waͤh - len Sie unter den Toͤchtern des Landes und le - ben hier in Frieden. Das Recht zu bey - dem werde ich erſt muͤhevoll erringen muͤſſen, Graͤfin Eleonore, jetzt ſuche ich die Ferne und den Krieg. Bravo! rief der Graf; auch bekoͤmmt die Ruhe nicht eher, bis man ihrer bedarf. Eduard ſchien hier in einiger Ver - legenheit, Juliane blickte liebevoll zu ihm hin. Das Geſpraͤch nahm eine andere Wendung, und man ging in einen Gartenſaal, wo ſich bald alles wieder verſammelte, was ſich von der Geſellſchaft nach der Tafel zerſtreut hatte.

Juliane ſetzte ſich zum Fortepiano, Eduard und einige andre griffen nach andern Jnſtru - menten: ein recht gut beſetztes Konzert war bald zu Stande gebracht. Juliane ſpielte vor - trefflich, und Eduard war Meiſter auf dem Violoncell. Eleonore fragte Florentin, ob er nicht muſikaliſch ſey? Jch liebe die Mu -29 ſik als die groͤßte Wohlthaͤterin meines Lebens, erwiederte er; wie oft hat die Himmliſche die boͤſen Geiſter zur Ruhe eingeſungen, die mich drohend umgaben! Und ſo bin ich, wenn Sie es ſo nennen wollen, muſikaliſch, ſoviel die Natur mich lehrte, bis zur Kunſt habe ich es noch nicht gebracht.

Mit dieſen Worten nahm er eine Guitarre, ſtimmte ſie, machte einige Gaͤnge, und ſang Verſe, die er aus dem Stegereif dazu erfand. Er befang den Strom, der dicht unter den Fen - ſtern des Gartenſaals vorbeyfloß, das Thal, den Wald, das hohe entfernte Gebirge, von dem die Gipfel noch von den Strahlen der un - tergehenden Sonne beleuchtet waren, da ſie ſelbſt ſchon lange aufgehoͤrt hatte, ſichtbar zu ſeyn. Dann ſang er von ſeiner Sehnfucht, die ihn in die Ferne zog, von dem Unmuth, der ihn raſtlos umhertrieb, und endigte ſein Lied mit dem Lobe der Schoͤnheit, unter deren Schutz ihm die Morgenroͤthe des Gluͤcks ſchim - mere, und bey deren Anblick jedes Leiden in30 ſeiner Bruſt in die Nacht der Vegeſſenheit zu - ruͤckſinke.

Hier hoͤrte er auf und legte die Guitarre nieder. Seine Worte, die frey und ungebun - den und doch ſinnvoll und auserwaͤhlt, bald groß und ruhig wie der Strom, den ſie be - ſangen, dahin floſſen, bald kuͤhn mit dem Gebirge ſich uͤber die Wolken erhoben, bald wie Abendſchein lieblich flimmerten, dann die Schmerzen und Freuden ſeiner Seele ſo wunderſuͤß darſtellten; ſeine ſchoͤne, reine, accentvolle Tenorſtimine, deren Toͤne bald von ihm gelenkt zu werden, bald ihn zu uͤbermei - ſtern ſchienen; die ganz kunſtloſe Begleitung die immer mit ſeinen Worten genau uͤberein - ſtimmte, und ſeine tiefſten Gefuͤhle, das, was keine Worte auszuſprechen vermoͤgen, in die Bruſt der Zuhoͤrer hinuͤberſtroͤmte: mit ſeinem kuͤhnen, halb nachlaͤſſigen Anſtande, mit der Begeiſterung auf dem edlen Ge - ſicht, es war ſo wunderbar und ergriff die Zuhoͤrer ſo ſeltſam, daß ſie ganz hinge - riſſen von der Erſcheinung, noch immer in31 Staunen und Horchen verloren waren, wie er ſchon eine Weile die Guitarre niedergelegt hatte.

Juliane unterbrach die augenblickliche Stil - le. Jetzt iſt es an uns, Eduard, rief ſie; Sie haben es vortrefflich gemacht, Florentin, aber nun ſollen Sie auch uns loben muͤſſen. Sie ſuchte unter den Muſikalien, die Graͤfin ſetzte ſich zum Fortepiano, und begleitete Ju - lianen und Eduard. Sie ſangen ein komi - ſches Duett mit vieler Laune und in aͤcht Jta - liaͤniſcher Manier. Julianens Stimme war uͤberaus ſuͤß und ſchmeichelnd, und ſie wußte ſie wie eine geuͤbte Kuͤnſtlerin zu gebrauchen; auch Eduard hatte eine ſchoͤne ſonore Baßſtimme und ſang ſehr angenehm. Bey der Wiederholung des Duetts begleitete Florentin den Geſang, abwechſelnd bald wie eine Floͤte bald wie ein Waldhorn ſingend, es gefiel allen, und die Froͤhlichkeit und das Lachen nahm kein Ende. Es wurden nun Erfriſchungen gereicht, man ſcherzte und vergnuͤgte ſich bis tief in die Nacht.

32

Gute Nacht, ſagte die Graͤfin; ich hoffe, Jhr Entſchluß, einige Zeit bey uns zu ver - weilen, wird Sie nicht gereuen, wenn Sie erfahren, daß Sie es alle Tage ungefaͤhr wie heute bey uns finden. Laſſen Sie ſich Jhr Schlafzimmer anweiſen, und ſeyn Sie mor - gen fruͤh nicht der ſpaͤteſte.

[33]

Zweytes Kapitel.

Florentin war allein; er lehnte ſich in ein Fenſter ſeines Schlafzimmers, aus dem er die Ausſicht uͤber das Dorf nach dem weit ſich hindehnenden fruchtbaren Thale hatte, wo - durch der Strom ſich majeſtaͤtiſch und ruhig in großen Schwingungen hinwand. Jn grauer Ferne beſchloß das hohe Gebirge den Hori - zont; das Thal war vom Monde hell erleuch - tet. Er ſah nach den Schatten, die das Mondlicht bildete, und die in wunderlichen Geſtalten bald hervortraten, dann verſchwanden.

So ſtand er lange wie gedankenvoll, und dachte doch nichts. Er hatte an dieſem Tage ſo viel neue Eindruͤcke empfangen, daß er, wie berauſcht, ſich ſelbſt aus den Augen verlohrenFlorentin. I. 334hatte. Allmaͤhlich verhallte es in ſeiner Seele, wie Toͤne in den Wellen der Luft immer in weiteren Kreiſen verklingen, bis die Bebungen ſchwaͤcher werden, und endlich alles ruhig iſt. So ward es auch ſtill in ihm, und das bekann - te Bild ſeiner ſelbſt trat wieder deutlich vor ihn. Doch konnte er lange keinen froͤhlichen Gedan - ken faſſen. Er war ſchwermuͤthig, es war ihm traurig, daß er allein hier ein Fremdling ſey, wo es ein Geſetz ſchien, einander anzugehoͤren, daß er allein ſtehe, daß in der weiten Welt kein Weſen mit ihm verwandt, keines Men - ſchen Exiſtenz an die ſeinige geknuͤpft ſey. Sei - ne Traurigkeit fuͤhrte ihn auf jede unangenehme Situation ſeines Lebens zuruͤck; der Geſang einer Nachtigall, der aus der Ferne zu ihm heruͤber klang, loͤſte vollends ſeine Seele in Wehmuth auf, er gab ſich ihr hin und bald fuͤhlte er ſeine Thraͤnen fließen.

Es iſt ſonderbar! hoͤchſt ſonderbar! ſagte er, als er ruhiger ward; wie ich noch die Ge - ſellſchaft ſuchte, lernte ich ſie verachten, und nun ich ſie floh, nun ich ſie haßte, nun muß35 ſie mir wieder liebenswuͤrdig erſcheinen! Und hier in einem vornehmen Haufe, wo ich ſonſt immer den Mittelpunkt aller Albernhen der menſchlichen Einrichtungen fah: gerade hier muß ich mich wieder mit der Geſellſchaft ausſoͤhnen! .... Es iſt doch gut, daß mir noch dieſe ſchoͤne Erinnerung ward auf meine lange Wallfahrt! So liegt doch die Zukunft nicht mehr ſo bodenlos vor mir, ſo zeigt ſich mir doch in weiter Ent - fernung ein Punkt, an dem die Hoffnung ſich erhaͤlt! Und damit ſey zufrieden, Floren - tin! Suche nicht feſt zu halten, was beſtimmt iſt, dir voruͤberzugehen. Jn der Entfernung, als Hintergrund, als endliches Ziel alles menſch - lichen Sehnens und Strebens, laͤchelt mir die Ruhe ſuͤß entgegen: ſo will ich dich feſt im Au - ge behalten, wenn der Strudel des Lebens mich wild ergreift, und ich in Noth zu verſin - ken drohe. Recht, guter Alter! jetzt wuͤrde ſie mir ſchlecht bekommen; ſie iſt das goldne Bließ, das mit Gefahren erkaͤmpft werden muß.

Er dachte nun an Alle insbeſondre, die er(3) 236an dem Tage ſo zufaͤllig gefunden, und ſuchte ins klare zu kommen, welchen Eindruck ſie auf ihn gemacht haͤtten. Eduard war ihm in den wenigen Worten, die er ihn hatte ſprechen hoͤ - ren, doch lieber geworden; das erkannte er beſon - ders daran, weil er nicht mit dem Leichtſinn an Julianen denken konnte, der ihm ſonſt beym Anblick einer Schoͤnen gewoͤhnlich war. Die Verhaͤltniſſe, in denen eine Frau ſtand, hielten ihn ſonſt nicht leicht von Entwuͤrfen ab, wenn er nicht einen Freund dabey zu ſchonen hatte. Wie ein Fruͤhlingsmorgen erſchienſt du mir, reizendes Geſchoͤpf, und dein Anblick erfuͤllte meine Bruſt mit Ahndung und Freude. Nur Barbaren koͤnnen gefuͤhllos bleiben bey ſolcher Schoͤnheit! Eure Verabredungen ſollten mich nicht hindern, auch nicht der unſchul - dige Braͤutigam, und am Ende? Betruͤge dich nicht Florentin!

Wuͤnſche und Erinnerungen an den ſchoͤnen Leichtſinn von ehemals erwachten in ihm, und dann erſchien ihm wieder die Geliebte ſeines kuͤnftigen Freundes, und alle ihre Verhaͤltniſſe37 in einer Wuͤrde, die ihn zuruͤckſchreckte. Er hatte die Guitarre mit auf ſein Zimmer genom - men, und waͤhrend ſeiner Betrachtungen und kleinen Monologen einige Griffe darauf ge - than; jetzt ſang er folgende Worte dazu:

Unter Myrtenzweigen
Beym Rieſeln der Quelle
Und der Nachtigall Lied,
Auf ſanftem Raſen
Durchwirkt mit Blumen,
Jm duftenden Hain,
Gebogen die Aeſte
Von goldener Frucht
Und ſilberner Bluͤthe,
Wo ewig blau der Himmel,
Ewig lau die Luͤfte
Dich umwehen
Das Maͤdchen im leichten Gewand
Tanzet den bunten Reihen,
Bricht die labende Frucht,
Schoͤpfet vom Quell.
38
Am Felſen ein Huͤttchen
Mit weniger Habe,
Dort ruht es die Glieder
Auf reinlichem Lager.
Du blickſt dein Verlangen
Jhr tief in das Herz,
Sie hat dich verſtanden,
Und theilet die Gluth.
Nichts wehrt dir die Kuͤſſe
Auf Lippen und Wangen;
Lilien und Roſen,
Bluͤthen und Knospen,
Alles iſt dein.
Leicht wie der Weſtwind,
Scherzend wie er,
Beruͤhrſt du die Blumen,
Und flieheſt voruͤber,
Schonend der zarten.
Wer fuͤrchtet da Neid?
Wen lockt der Ruhm?
39
Zuͤrnet die Mutter?
Das Laͤcheln kann ſie
Doch nicht verbergen;
Denn eigne ſuͤße Schuld
Ruft die Tochter
Zuruͤck ihr ins Herz.
Sey ſtill, mein Sinn! ein andres Land em -
pfaͤngt Dich;
Es hebt ſich das Gebirge zwiſchen Dir
Und jenen Spielen.
Ernſt umgeben dieſe Mauern dich,
Geſetze ernſt und ernſte Sitten;
Geluͤbde, Prieſter, Zeugen,
Verein der Wappen.
Zahlloſe Dinge,
Auf ewig fremd dem Scherz,
Fremd auf ewig dir,
Gehn der Liebe voran,
Legen die Freye
Jn eruſte Bande.
40
So gefeſſelt geht ſie dir voruͤber.
Troͤſtend reicht ſie dir die Hand,
Blickt mit Sehnſucht in die Ferne.
Hier kann ich niemals dein Gefaͤhrte ſeyn,
Ruft ſie dir zu;
Unter jenen Blumen
Haſt du geſpielt mit mir,
Auf und ab
Wandert ich im Scherz mit Dir.
Du ſollſt auch ernſt
Mich wieder finden,
Ernſt und treu;
Und wieder mein ſeyn:
Nur laß mich frey!
[41]

Drittes Kapitel.

Die Sonne ſchien hell und warm herein, als Florentin erwachte. Er ſchickte ſich ſo - gleich an, zur Geſellſchaft zu gehen, die er im Garten vermuthete. Vorher ging er durch einige Prachtzimmer des alten Schloſſes, das ihn mit ſeinen Thuͤrmen, Gaͤngen und ho - hen gewoͤlbten Saͤlen lebhaft in die Zeiten des Ritterthums verſetzte, von denen er ſchon als Kind am liebſten erzaͤhlen hoͤrte, und die noch jetzt ſeine Fantaſie hinreiſſen konnten. Hier in dieſen Saͤlen mahlte er ſich nun die mannichfachen Scenen aus, die darin geſpielt wurden; wie ſich alle die Mitſpielenden fuͤr ihre Rolle intereſſirten, als ſollte ſie niemals endigen. Und nun, ſagte er, wo ſind ſie42 hin? Hier beweinte vielleicht eine Schoͤ - ne ihren Geliebten, oder ſeine Untreue, oder ein hartes Schickſal, das ſich ihrem Gluͤck entgegen ſtellte; thraͤnenvoll ſchlug ſie das fromme Auge aufwaͤrts, und die Engelchen, die Heiligen, die ſo kuͤnſtlich in der Stuckatur an der Decke geformt ſind, waren Zeugen ihrer Leiden. Hier, an dieſes hohe Fen - ſter gelehut, druͤckte der Juͤngling, zaͤrtlich und ſchuͤchtern, die erroͤthende Jungfrau an ſein Herz, und vernahm mit Entzuͤcken das Geſtaͤndniß ihrer Gegenliebe. Um die - ſen geraͤumigen Lehnſtuhl hingen Kinder und Enkel, und horchten auf die ſchauerli - chen Geſpenſtergeſchichten, die der Großvater erzaͤhlte, und auf die weiſe Lehre. Mit dem beguͤnſtigten Jagdhund au dem Boden wur - de dann die Belohnung fuͤr ihre Aufmerk - ſamkeit friedfertig getheilt. An dieſem kuͤnſtlich verzierten Tiſch ſaßen Eltern, ge - dachten mit freudiger Ruͤhrung der erſten Tage ihrer Liebe und der nie verletzten Treue; hatten auch wohl manchen Kummer, manche43 ſorgenvolle Stunden um den entfernten Sohn, der ausgezogen war, voll Kraft und muthi - ger Ehrbegierde ſich zu verſuchen, und die Fehde fuͤr ſeinen Vater zu fechten. Ob er ſich gut halten wird? ob die Knechte wacker ſind? ob kein feindliches Geſchoß ihn getrof - fen? Er waͤhlte ſich das groͤßte Schwerdt; war es ſeinem Arm nur nicht zu ſchwer? Zwar iſt er ſtark und ruͤſtig, und Gott wird den Edlen ſchuͤtzen! Und eh ſie es aus - denken, oͤffnet ſich jene Thuͤr, der Juͤngling tritt ein! Er war allein voran geeilt, um den Eltern dieſe Ueberraſchung zu bereiten; ſegnend empfangen ſie ihn, er hat geſiegt, vertilgt iſt der Feind, und neuer Ruhm und Glanz kommt von ihm uͤber das Haus! .... Sonne, Sterne, Luft und Erde, Alles was ſie umgab, ſchien ihnen mit ihrem Leben ſo innig verwebt; aber Sonne und Sterne gehen auf, gehen unter, die Jahreszeiten wechſeln; doch ihr Gluͤck und ihre Leiden, Schmerz und Froͤhlichkeit ſind vorbey gezo - gen, wie Schatten der Wolken, die vor der44 Sonne voruͤberfliehen, keine Spur mehr auf der Erde davon. Was ihnen im Leben hei - lig war, hat mit dem Leben geendet; der Ehre allein, unter allem dieſer allein, ver - danken die Helden das Andenken ihrer Nach - kommen; ſie leben in den kuͤnftigen Zeital - tern fort, da Millionen neben ihnen unter - gehen Nun ſo iſt es auch billig, daß ſie dem ſelbſtgeſchaffenen Goͤtzen vor allen Goͤttern Opfer bringen; dieſer macht ſie unſterblich, da alles, was die Natur in ihre Bruſt gepflanzt, mit ihnen untergeht!

Eduard trat zu ihm. Sie ſind ſchon auf, Florentin! ich wollte Sie eben abholen, die an - dern ſind wahrſcheinlich ſchon im Gartenſaal. Jch habe mich etwas zu lange in den Zimmern und Gaͤngen verweilt, um ſie zu betrachten. Die - ſes Schloß iſt ein vortreffliches Monument ſei - nes Jahrhunderts; mich freut es, daß es ſo wohl erhalten iſt, und ſo ganz ohne modernen Zuſatz. Es wundert mich um ſo mehr, da die uͤbrige Einrichtung im Ganzen nach dem jetzigen Ge - ſchmack mehr elegant und zierlich, als nach je -45 nem reich und koſtbar iſt! Weil dieſe mehr der Graͤfin uͤberlaſſen bleibt; und da ſie die Eigenheit des Grafen ſchont, der gerne, was das Alterthum ſeiner Familie bezeugt, in der urſpruͤnglichen Geſtalt zu erhalten wuͤnſcht, auch nichts von der Stelle geruͤckt, und keiner Sache eine andere Geſtalt giebt, die noch als Ueberreſt der alten Zeit ſich erhalten hat, ſo laͤßt ſich der Graf mit eben der Gefaͤlligkeit ihre uͤbrigen Einrichtungen gefallen. Sie ſehen ſelbſt, wie klug und gewandt ſie beydes zu ver - einigen weiß. Sie erhaͤlt das Alte mit Ach - tung, und fuͤgt hinzu, was die neuern Erfin - dungen Angenehmes verſchaffen.

Die das Jnnere hier nicht zu kennen Gele - genheit haben, finden es ſonderbar, und erlau - ben ſich manchen Spott uͤber das Gemiſch von veraltetem und modernen Geſchmack. Auch ſieht es befremdend genug aus, wenn an den alten gewirkten Tapeten eine neue Floͤten-Uhr, große Spiegel mit ſchweren kuͤnſtlichen Verzie - rungen und neue kryſtallne Kronleuchter, ſchwer - faͤllige Seſſel und einladende Sopha’s friedlich46 neben einander beſiehen; eben ſo werden Sie es im Garten, im Park, kurz uͤberall finden. Wer aber die Menſchen kennt, die hier woh - nen, der wird bald das Uebereinſtimmende in dieſen anſcheinenden Ungleichheiten finden. Die Grafin iſt eine vortreffliche Frau; mit wahrer Religioſitaͤt ehrt ſie das Gemuͤth ihres Gemahls und alles, was ihm heilig iſt. Darf man ihr wohl keinen Sum fuͤr das Schoͤne zutrauen, weil ſie nicht wie die Kinder alles gewohnte Spielzeug zerſtoͤrt, immer nach neuem greift, und das letzte jedesmahl fuͤr das Schoͤnſte haͤlt? Was ich ſie uͤber Werke der Kunſt habe ſprechen hoͤren, verrieth gewiß keinen ge - meinen Sinn, fagte Florentin. Sie hat große Reiſen gemacht und viele der vorzuͤglich - ſten Kunſtwerke ſelbſt zu ſehen Gelegenheit ge - habt. Doch kommen Sie jetzt, man wird uns erwarten; ich will vorher zuſehen, ob der Graf nicht in ſeiner Bibliothek iſt, ich habe ihn heute noch nicht geſehen, vielleicht geht er dann mit uns hinunter. Jch begleite Sie.

Sie traten in das Cabinett des Grafen, er47 war nicht mehr darinn. Ein großes Gemaͤhlde zog Florentins Aufmerkſamkeit auf ſich. Ei - nen Augenblick noch, Eduard! Die heilige Anna, die das Kind Maria unterrichtet. Wie finden Sie das Gemaͤhlde? Es ſchei - nen Portraͤte zu ſeyn; in dem Kinde erkenne ich Julianen wieder. Sie iſt es auch in der That. Es iſt nicht uͤbel gemahlt; ganz vorzuͤglich iſt aber das Charakteriſtiſche in den Koͤpfen ſo wohl, wie in der ganzen Anordnung des Gemaͤhldes. Die horchende Aufmerkſam - keit, die Begierde nach dem Unterricht, und der Glaube in dem Kinde, wie der Hals, der Kopf, mit dem Blick zugleich, ſich vorwarts und in die Hohe richtet, der halbge - oͤffnete Mund, als fuͤrchtete ſie etwas zu verhoͤ - ren, und als wollte ſie die Lehren durch alle Sinne in ſich auffaſſen. Dabey die Hingebung, das Vergeſſen ihrer ſelbſt in der kleinen Figur, die halb liegend ſich dem Schooß der Anna an - ſchmiegt; es iſt ſchoͤn, und zart gefuͤhlt. Und dieſe Anna, gewiß eine Heilige! Dieſe Ho - heit, dieſer milde Ernſt in den verklarten Au -48 gen! mit welcher Liebe ſich ihr Haupt zu dem Liebling hinneigt, ſich ihre Tugend lehrenden Lippen oͤffnen! Ruhe und Wuͤrde in |der gan - zen Geſtalt, und wie erhaben dieſe Hand, die gegen den Himmel zeigt! Jſt auch dieſe Anna ein Portraͤt? Es iſt eine Schweſter des Grafen, die er vorzuͤglich liebt; Graͤfin Cle - mentina; Sie haben uns ſchon von ihr ſpre - chen hoͤren, ſie wird von uns gewoͤhnlich die Tante genannt. Juliane hat ihre erſte Erzie - hung bey dieſer Tante erhalten; die Mutter hatte ſie ihr, da ſie ihre Jugendfreundin iſt, und ihres ganzen Zutrauens genießt, bald nach ihrer Geburt uͤberlaſſen, weil ſie damals ih - rem Gemahl nachreiſen mußte, der gefaͤhrlich verwundet war, und den ſie keiner fremden Pflege uͤberlaſſen wollte. Sie verließ ihn nun nicht wieder, begleitete ihn ſo wohl auf ſeinen Feldzuͤgen, als auf ſeinen Reiſen, da er an verſchiedenen Hoͤfen als Geſandter ſtand. Un - terdeſſen erreichte Juliane beynahe ihr vierzehn - tes Jahr bey der Tante, und verehrt ſie als Mutter. Doch muß die Graͤfin Clementina49 dem Bilde nach noch ſehr jung ſeyn, obgleich der Jdee und dem Koſtume zufolge, ſie aͤlter ſeyn muͤßte. Sie haben recht, doch iſt ſie in der That nicht mehr jung, ſie iſt aͤlter als die Graͤfin Eleonora, dieſes Bild aber iſt eigent - lich die Kopie eines Gemaͤhldes, das in ihrer Jugend iſt gemacht worden. Sie ward da - mals als heilige Caͤcilia gemahlt; ſo wohl dieſes Bild, das ſie dem Grafen auf ſein Bitten mahlen zu laſſen erlaubte, um ein Denkmahl der Zeit zu ſtiften, in der ſie Ju - lianens Lehrerin war, als das, welches un - ter den andern Familiengemaͤhlden in der Gallerie haͤngt, und auch das Miniatur-Bild, das Juliane an ihrer Bruſt traͤgt, ſind Ko - pien nach dieſer Caͤcilia, welche von einem ſchon verſtorbenen fremden Kuͤnſtler gemahlt ward; ſeinen Namen weiß ich nicht. Die Tante war uie dazu zu bewegen noch einmal einem Mahler zu ſitzen. Merkwuͤrdig iſt es, wie dieſe Bilder alle noch der Graͤfin Clementina aͤhnlich ſind, obgleich es ſchon vielleicht drey - ßig Jahre her ſeyn mag, daß ſie gemahltFlorentin. I. 450ward, und ein tiefer Gram in ihren Ge - ſichtszuͤgen gewuͤthet hat. Gut, daß mich Jhre guͤtige Ausfuͤhrlichkeit warnte, rief Flo - rentin lachend; war ich doch in Gefahr mich in dieſe heilige Anna, und das in meinem Leben zum erſten Male ernſtlich zu verlieben. Bald waͤre ich ausgezogen, nach aͤchter Rit - terſitte, das Original zu meinem Gemaͤhlde zu finden, und haͤtte es dann auch wirklich gefunden. in einer ehrwuͤrdigen Matrone. Haben Sie wirklich noch nie ernſtlich geliebt, ſo verdienen Sie ein ſolches Schickſal. Jch werde Sie bey den Frauen fuͤr dieſen Fre - vel hart anklagen. Wagen Sie es nicht, Sie koͤnnten ſich ſelbſt eine Strafe fuͤr Jhre Verraͤtherey zuziehen. Jch wage nichts, man wird es Jhnen nie verzeihen, ſich von einem Gemaͤhlde haben hinreiſſen zu laſſen, da Sie die Gegenwart der ſchoͤnen Frauen ſelbſt ſo ruhig laͤßt. Nun auch dafuͤr muͤſſen Sie nicht gut ſagen; doch im Ernſt, das Gemaͤhlde hat mich bewegt, und ich ſte - he mit wahrer Audacht davor. Guter Edu -51 ard! ich hoffe Sie fuͤhlen es, wie gluͤcklich Sie ſind, und wie wenigen es vergoͤnnt wird, eine ſolche Jugend zu haben! Eduard ſchien bewegt, und ſie gingen beyde ſchweigend hinunter zur Geſellſchaft.

(4) 2[52]

Viertes Kapitel.

So verſtrich ein Tag nach dem andern. Man kann ſich keine angenehmere Lebens - weiſe denken, als die auf dem Schloſſe ge - fuͤhrt ward. Ein Vergnuͤgen reihte ſich an das andere; Tanz, Muſik, Jagd und Spiel wechſelte luſtig ab, und in der Einfamkeit ſuchte jeder nur die Ruhe, um ſich zu neuen Ergoͤtzlichkeiten zu bereiten.

Die Liebenden erwarteten beyde den Tag ihrer Vermaͤhlung ſorglos und froͤhlich, es ſtellte ſich ja nichts ihren Wuͤnſchen entgegen; doch mit ganz verſchiedenen Empfindungen. Eduard hatte eine peinigende Ungeduld Ju - lianen ganz die ſeinige zu nennen; er liebte53 ſie mit der ungeſtuͤmen Heftigkeit des Juͤng - lings; er dachte, er traͤumte nichts als den Augenblick, ſich im ungetheilten ungeſtoͤrten Beſitz der ſchoͤnen Geliebten zu ſehen; ſeine Fantaſie lebte nur in jenem ſo heiß erſehnten Moment, alles Leben bis dahin wuͤrdigte er nur als Annaͤherung zu jener Zeit, wie der Gefangne, der der beſtimmten Befreyung entgegen ſieht. Von dieſer Ungeduld begriff Jultane nichts. Mit aller Jnnigkeit ihres reinen Herzens liebte ſie ihn; niemand war ihr jemals liebenswuͤrdiger erſchienen; ſie gab ſich ihm gern, ſie war von jeher ſchon mit der Jdee vertraut, und hatte es als ihr Schickſal anſehen gelernt ihm anzugehoͤren. Aber den Tag erwartete ſie mit großer Ruhe; klopfte auch ihr Herz ſtaͤrker bey dem Gedanken, ſo war es mehr eine baͤngliche Ahndung, die furchtſame Scheu des ſittſamen Maͤdchens, als die Er - wartung eines groͤßern Gluͤcks; ſie ahndete kein groͤßeres Gluͤck, als daß es immer ſo blie - be, wie es war, es ſehlte ihr ſo gar nichts. Sie nahm an allem den gewoͤhnlichen Antheil,54 hatte die immer gleiche, beſonnene Aufmerk - ſamkeit auf die Geſellſchaft, Eduard mochte zu - gegen ſeyn, oder nicht.

Sie war alſo nicht ſo beſchaͤftigt, daß ſie nicht haͤtte wahrnehmen ſollen, welchen Ein - druck ihre Schoͤnheit auf Florentin gemacht hatte. Er hatte die allgemeine Aufmerkſamkeit erregt. Es ſchmeichelte der Eitelkeit des Maͤdchens, die ſeinige auf ſich zu ziehen; es intereſſirte ſie kindiſch, den ſtolzen Mann zu be - herrſchen. Ohne es ſich bewußt zu ſeyn, und ſich ganz der froͤhlichen Stimmung hingebend, zog ſie ihn mit einer feinen, ihr natuͤrlichen Koketterie an.

Florentin fand ſie immer ſchoͤn, reizend, lie - benswuͤrdig, es ergoͤtzte ihn, ſie ſo eifrig be - muͤht und beſchaͤftigt um ihn zu ſehen, und die kleinen Schelmereyen des jungen Herzens zu belauſchen! Daß er aber gleich am erſten Abend ſo mit ſich zu Rathe gegangen war, ſchuͤtzte ihn gegen jeden tiefern Eindruck. Auch war es ihm nicht entgangen, daß ſie Willens war, ihn zum Spiel ihrer Eitelkeit zu machen, und55 nichts konnte ſo ſeine Fantaſie zuͤgeln, als wenn er irgend eine Abſicht merkte. Er war leicht kindlich vertrauend: dann konnte er aber auch bis zur Ungerechtigkeit argwoͤhnend ſeyn. Doch intereſſirte ihn Juliane ſehr, die Tiefe ihres Gemuͤths war ihm nicht entgangen, trotz der Anlage zur Koketterie, und dem etwas kuͤnſtli - chen Weſen, welches ihre Erziehung und ihr Stand ihr gegeben hatte, und das ihn immer et - was entfernte, obgleich er es hier in ſo ſchoͤner Ge - ſtalt erblickte. Lange konnte er es doch nicht aushalten, ſie unzufrieden zu ſehen; ſo oft er ſie durch ein zu kuͤhnes Wort, oder eine An - ſpielung, die ihre Eitelkeit ſtrafte, erzuͤrnt hatte, ſo wußte er ſie gleich wieder durch ir - gend eine Ueberraſchung oder eine kleine ſchmei - chelhafte Aufmerkſamkeit zu verſoͤhnen. Er ſtimmte nie mit ein, wenn ſie in Geſellſchaft von den um ſie her flatternden Herrn wegen ihres Geſangs oder Tanzes, oder ihrer Schoͤn - heit erhoben ward; vielmehr ſuchte er ſie dann durch einen kleinen Trotz, eine Art von Ver - nachlaͤſſigung zu demuͤthigen. Wenn ſie ſich56 aber irgend einer Regung ihres guten empfind - lichen Herzens uͤberließ, oder in ihrer natuͤr - lichen Anmuth, kunſtlos, ohne Anmaßung und ohne Abſicht ſich gar nicht bemerkt glaub - te; dann wußte er ihr etwas angenehmes zu ſagen, oder ſie durch einen Blick ſeiner Theilnahme zu verſichern. Dann ließ er ſich auch gern ihre kleine Siegermine gefallen, und ertrug gutmuͤthig ihre muthwilligen Neckereyen. Nach und nach war die Zufriedenheit ihres lau - nenhaften Lehrers allein bedeutend fuͤr Julianen; der laute Beyfall der Menge ward ihr gleich - guͤltiger, zuletzt beinah verhaßt.

Eduard bemerkte mit Freude dieſe Veraͤnde - rung. Er ſcherzte eines Tages daruͤber, daß Florentin mehr Einfluß auf ihre Bildung habe als er. Sie haben mir es niemals merken laſſen, ſagte Juliane, daß ich zu eitel ſey. Jch liebte Sie Juliane, ſo wie Sie ſind. Und jetzt merken Sie erſt, daß ich beſſer ſeyn koͤnnte! ich kann mich wenig auf Jhre Erzie - hungskunſt verlaſſen. Die Liebe weiß nur zu lieben; wie ſollte ſie erziehen? Sie er -57 zieht freylich, ſagte Florentin, aber nicht den andern. Machen Sie meiner Liebe einen Vorwurf, unartiger Florentin? erwiederte Ju - liane. Nein, vielmehr ſpreche ich ſie da - durch rein von einem Vorwurf, den man ihr allerdings machen koͤnnte. Nun? Nun, daß Sie Eduard nicht beſſer erzogen haben. Denn er wird es doch nicht laͤugnen, daß er die Huldigungen Jhrer Eitelkeit mit noch weit groͤßerer und ſtraͤflicherer Eitelkeit ſich hat gefal - len laſſen. Es iſt in der That eine ſchwierige Unterſuchung, wer von Jhnen beyden mehr Erziehung oder weniger Liebe hat. Trauen Sie ſich zu, uns in beyden zu uͤbertreffen? Jch, Jhr Guten, kann weder mein Leben, noch meine Liebe mit dem Kunſtwerk der Erziehung vergleichen!

Man kann nicht anders als ſich fuͤr ihn in - tereſſiren, ſagte Juliane, aber er iſt doch zu ſehr verſchloſſen gegen ſeine Freunde, es iſt ihm auf keine Weiſe beyzukommen. Doch hat vielleicht niemand mehr als er die Faͤhig - keit, Freund zu ſeyn, ſagte Eduard. Wiſſen58 wir doch nicht, wie oft er ſchon iſt hintergan - gen worden; reizbar wie er iſt, muß jede uͤble Behandlung ihn wohl auf lange verſtimmen.

Florentin vermied anfangs Eduards An - naͤherung mit eigenſinnigem Stolz, ob er ihn gleich im Herzen wohl leiden mochte. Edu - ard ließ ſich aber nicht dadurch abſchrecken, er gewann immer mehr Anhaͤnglichkeit fuͤr ihn, naͤherte ſich ihm mit freundlicher, be - ſcheidener Aufmerkſamkeit, und ſuchte ſeinem etwas wilden, nach Freyheit ſtrebenden Sinn mit dem feinen, gebildeten Geiſt, der ihm eigen war, zu begegnen; es mußte ihm ge - lingen. Florentin fuͤhlte endlich, daß er am unrechten Ort mißtrauend geweſen war. Mit der Ueberzeugung ſeines Unrechts erweichte ſich auch ſein abſichtlich verhaͤrtetes Gemuͤth ge - gen Eduard, er wurde bald offner und ge - ſelliger gegen ihn. Auf einem Morgenſpa - tziergang oͤffneten ſich ihre Seelen gegen einan - der; ſie nennten ſich ſeitdem Freunde. Flo - rentin gewann Eduard ſo lieb, daß er ohne Wehmuth bald nicht daran denken konnte ihn59 zu verlaſſen; doch mußte und ſollte es ge - ſchehen!

So waren Wochen verfloſſen; mit einer jeden nahm er ſich’s feſt vor, in der naͤchſten zu reiſen; immer hielt ihn aber das Bitten ſeiner neuen Freunde und ſeine eig - ne Neigung feſt. Zum erſtenmal empfand er die Bitterkeit der Trennung; bis dahin hatte er alles, was er jemals verließ, gleich - guͤltig verlaſſen.

[60]

Fuͤnftes Kapitel.

Graͤfin Clementine hatte eine junge Anver - wandte bey ſich. Dieſe kam, und machte Julianen einen Beſuch, indem ſie zugleich einen muͤndlichen Auftrag der Graͤfin Clemen - tina an Julianens Eltern ausrichtete mit der Bitte, die Vermaͤhlung noch einige Wochen aufzuſchieben, weil ſie in dieſen naͤchſten Ta - gen abgehalten wuͤrde, zugegen zu ſeyn, wie ſie es doch ſehr wuͤnſchte. Sollte der Tag aber ſchon unwiederruflich feſtgeſetzt ſeyn, und es bey der erſten Verabredung bleiben muͤſſen, ſo waͤre ſie genoͤthigt dieſen Wunſch aufzugeben. Doch erſuchte ſie ihren Bruder und Eleono - ren, wenigſtens noch einen Brief von ihr -61 abzuwarten; ſie haͤtte ihnen noch einiges zu ſagen, waͤre aber durchaus in dieſem Augen - blick nicht im Stande zu ſchreiben; doch ſollte es in den naͤchſten Tagen geſchehen.

Eduard war nicht leicht zum Aufſchub zu bewegen, ſeine Ungeduld, die ſchoͤne Ju - liane ganz die ſeinige zu nennen, wuchs mit jedem Tage, und ſeitdem er Florentin kann - te, ſchien ſie den hoͤchſten Punkt erreicht zu haben. Doch mußte er es ſich aus Achtung fuͤr die Graͤfin Clementina gefallen laſſen. Betty eilte zuruͤck, ſo bald ſie ſich ihres Auf - trags entledigt hatte.

Ein Brief, den Juliane folgenden Tag an ihre Tante ſchrieb, iſt ein Beweis, wie intereſſant Florentin der ganzen Familie ſchon geworden war.

Juliane an Clementina.

Jetzt verdient Betty nicht mehr von Jh - nen beſtraft zu werden, wegen ihrer zu gro - ßen Leidenſchaft fuͤr das Tanzen; ſie iſt viel -62 mehr zu unſer aller Verwunderung bis zum Kaltſinn maͤßig darin geworden. Alles un - ſers Bittens und Zuredens ungeachtet, woll - te ſie durchaus nicht laͤnger bey uns verwei - len, als ſie es Jhnen zugeſagt hatte, ob wir gleich noch denſelben Abend einen recht bril - lanten Ball hatten. Der Vater erbot ſich, Jhnen einen Boten zu Pferde zu ſchicken, um Sie nicht in Unruhe ihrentwegen zu laſ - ſen; aber ſie war nicht zuruͤck zu halten. Alle Jhre Auftraͤge waren ausgerichtet, ſie ſah mit großer Gemuͤthsruhe die glaͤnzende Geſellſchaft ſich verſammeln, ja, ſie wagte es ſogar den Anfang des Balls abzuwarten; und indem ſie mit Eduard den Saal einmal auf und nieder walzt, winkt ſie uns allen im Vorbeyfliegen zu, und ſo fort aus der Thuͤr in den Wagen, ſo haſtig, daß Eduard mit noch einigen Herrn ihr kaum folgen konnten. Kaum daß wir ihr noch einen Gruß fuͤr die Tante nachriefen.

So geht es uns allen, theure Clemen - tina! wenn wir zu Jhnen ſollen, was63 koͤnnte uns zuruͤckhalten? Keiner fuͤhlt das wohl mehr als Jhre Juliane, ich habe Betty mehr beneidet als bewundert. Das war nun alles recht huͤbſch von dem Maͤd - chen; aber die Arge, was hat ſie Jhnen fuͤr loſes Zeug erzaͤhlt! was meynte ſie mit ihren Eroberungen? und dem ſonderbaren Fremden, der den Meiſter uͤber uns macht, dem wir alle auf eine ſo laͤcherliche Weiſe er - geben ſind, weil wir uns einbilden ihm Dankbarkeit ſchuldig zu ſeyn! Und ich, die ich dieſen Vorwand ſo gern nehmen ſoll, um ihm ganz unbefangen mit Auszeichnung be - gegnen zu duͤrfen! Alles dieſes hat ſie Jhnen wirklich erzaͤhlt? Gut, daß Sie ihren boshaften Erzaͤhlungen nicht ſo unbe - dingt Glauben beymeſſen, daß Sie Sich ſelbſt an Jhr Kind wenden, um die Wahrheit zu erfahren. Liebe Tante, ſehen Sie doch einmal dem boͤſen leichtfertigen Maͤdchen ſcharf in die Augen, wenn ſie wieder der - gleichen vorbringt. Allerdings ſind wir dem Fremden Dank ſchuldig! Jſt meine Clemen -64 tina nicht auch der Meynung? Wenn es ihm ſelbſt wohl geziemt, den wichtigen Dienſt, den er uns geleiſtet, dem Zufall zuzuſchrei - ben, ſo wuͤrde es ſich von uns nicht ziemen, es eben ſo anzuſehen, und ſeinen Muth, mit dem er das Leben unſers Vaters gerettet hat, zu vergeſſen.

Und warum geſteht Jhnen denn Betty nicht, daß der Fremde ſich recht geſchaͤftig um ſie gezeigt, und daß ſie ſeine Aufmerk - ſamkeiten recht wohlgefaͤllig und artig an - nahm? Jch hielt ſogar die Feſtigkeit, mit der ſie ſich losriß und fort eilte, fuͤr ein Opfer, das ſie ihrem eiferſuͤchtigen brauſe - koͤpfigen Walter braͤchte, und habe ihr im Herzen deswegen wohlgewollt. Belohnt ſie ſo meine gute Meynung? boͤſe Betty! Wenn ſie Jhnen nicht abbittet, liebe Tante, und Jhnen geſteht, daß ſie ihre Freude da - ran hat, Unfug zu treiben, ſo werde ich ſie bey Herrn von Walter verklagen; er traut mir!

Von dem Fremden, von dieſem Floren -65 tin ſollte ich Jhnen alſo erzaͤhlen? Es iſt wahr liebe Tante, daß er uns allen werth geworden iſt. Er macht jetzt das Le - ben und die Seele der Geſellſchaft aus. Mit dem ſonderbarſten, oft zuruͤckſtoßenden We - ſen weiß er es doch jedem recht zu machen, und zieht jedes Herz an ſich, ohne ſich viel darum zu bekuͤmmern. Es hilft nichts, wenn man auch ſeinen ganzen Stolz dagegen ſetzt, man wird auf irgend eine Weiſe doch ſein ei - gen. Oft iſt es recht aͤrgerlich, daß man nicht widerſtehen kann, da er ſelber nicht feſtzuhalten iſt. Einmal ſcheint es, als ver - baͤnde er mit den Worten noch einen andern Sinn, als den ſie haben ſollen; ein an - dermal macht er zu den ſchmeichelhafteſten Dingen, die ihm geſagt werden, ein gleich - guͤltiges Geſicht, als muͤßte es eben nicht anders ſeyn; dann freut | ihn ganz wider Vermuthen einmal ein abſichtsloſes Wort, das von ungefaͤhr geſprochen wird; da weiß er immer einen ganz eignen Sinn, ich weiß nicht, ob hinein zu legen, oder heraus zuFlorentin. I. 566bringen. Uns iſt dieſes ſonderbare Spiel ſehr erfreulich, da wir ihn naͤher kennen, und beſſer verſtehen. Sie koͤnnen aber denken, wie er oft in Geſellſchaft Anſtoß damit giebt; doch verſteht er ſich recht gut darauf, ein ſolches Aergerniß nicht zu groß werden zu laſſen; er macht bald alles wieder gut. Wir begreifen eigentlich nicht, wie es ihm moͤglich iſt, dieſe Froͤhlichkeit und gute Laune immer um uns zu erhalten, da er ſelbſt doch nicht froh iſt. Jch und Eduard, wir ſind oft allein mit ihm, und da haben wir es deutlich genug merken koͤnnen, daß ihn irgend ein Kummer druͤckt. Der Vater machte ihm neulich den Vorwurf er waͤre zu wenig ernſt, und naͤhme oft die Dinge zu ſcherzhaft. Floren - tin ließ es uͤber ſich hingehn. Eduard meyn - te aber, und ſagte es mir allein: der Ernſt in ihm waͤre vielmehr zu ernſt und zu tief, als daß er ihn in der Geſellſchaft anwenden koͤnnte; und da er nie ſich ſo gegen den Scherz verſuͤndigte, daß er ihn ernſthaft naͤh - me, ſo kaͤme es ihm zu, auch wohl ein -67 mal den Ernſt ſcherzhaft zu finden. Am be - ſten findet ſich Eduard in ihn, ſie ſind Freun - de geworden, und man ſieht jetzt einen nicht ohne den andern. So intereſſant er auch iſt, ſo glauben Sie mir nur, liebe Tante, Edu - ard verliert gar nicht gegen ihn, er koͤmmt mir vielmehr neben ſeinem Freunde noch lie - benswuͤrdiger vor. Jch weiß gewiß, ich koͤnnte dieſen nicht ſo lieben, wie ich Eduard liebe. Er gefaͤllt auch dem Vater ſehr wohl, der ihn ſo viel als moͤglich um ſich zu haben ſucht. Er mag ſeine Einfaͤlle und ſeine ſelt - ſamen Wendungen gern, ſo ſehr er auch ſonſt gegen jedes auffallende, neue oder ſon - derbare ſpricht. An Florentin liebt er es, und vertheidigt ihn gegen jede Anklage. So - gar das Geheimnißvolle, das uͤber ſeinem Na - men und ſeiner Herkunft ſchwebt, achtet er, zu unſerm Erſtaunen. Noch heute war die Rede davon, ihn einem Manne vorzuſtel - len, den er zu ſprechen wuͤnſchte. Von Florentin? fragte der Vater. Wir erwarte - ten alle ſeine Antwort. Wenn es durchaus(5) 268mit meinem Namen allein nicht genug iſt, ſagte er, ſo ſetzen Sie Baron hinzu, das bezeichnet wenigſtens urſpruͤnglich, was ich zu ſeyn wuͤnſchte, nehmlich ein Mann. Der Vater ließ es ſich wirklich ſo gefallen.

Sogar Thereschen hat er ganz fuͤr ſich gewonnen. Sie weiß nichts beſſers, als ſich von Florentin etwas vorſingen zu laſſen, oder ihn zeichnen zu ſehen, ſie vergißt Spiel und Alles, wenn ſie nur bey ihm ſeyn darf. Sie kennen ihre heftige Art ſich an etwas zu haͤngen. Mit den Knaben reitet er viel, und kann ſich mit ihnen balgen und lermen und Feſtungen erobern, die ſie zuſammen bauen, bis ſie ganz auſſer ſich gerathen, und er mit ihnen. Dem Muͤtterchen bleibt aber der Kopf ruhig, wenn er uns auch al - len verdreht wird; nicht ein einziges Mal iſt es ihm doch gelungen ſie irre zu machen, wiewohl er es oft darauf anlegte; ſie laͤchelt, und iſt freundlich und liebreich gegen ihn, aber Gewalt hat er gar nicht uͤber ſie, er fuͤhlt es: Mutter iſt auch die einzige, vor69 der er gehoͤrigen Reſpekt hat. Mit uns An - dern ſchaltet er nach Belieben; wenn ich recht aufgebracht bin, und ihm ſtolz begeg - ne, ſo iſt er im Stande, gar nicht einmal darauf zu merken.

So ſchoͤn hat ihn Betty gefunden? So ſchoͤn als Eduard iſt er auf keinen Fall, das meynt auch die Mutter, er iſt auch nicht ſo groß und herrlich als Eduard; aber ſein Bau iſt fein, ſchlank, und dennoch kraͤftig. Er hat eine edle Phyſionomie, und uͤberhaupt etwas intereſſantes; ſein An - ſtand iſt frey und kunſtlos, manchmal ſogar trotzig. Was ihn auszeichnet, iſt ein ge - wiſſes, beynah verachtendes, Laͤcheln, das ihm um den Mund ſchwebt; aber der Mund iſt doch huͤbſch, ſo wie auch ſein Auge, das gewoͤhnlich faſt ganz ohne Bedeutung, ſtill und farblos, vor ſich hin ſchaut, das aber helle Fun - ken ſpruͤht bey einem Geſpraͤch, das ihn intereſ - ſirt, es wird dann ſichtbar groͤßer und dunk - ler. Er hat eine ſchoͤne helle Stirn, und es kleidet ihn gut, wenn er, wie er oft70 thut, ſich die dunkelbraunen Locken, die tief daruͤber her fallen, mit der Hand zu - ruͤckſtreicht, oder wenn ſie vom Wind geho - ben werden. Die Mutter findet, er haͤtte etwas altritterliches, beſonders wenn er ernſt - haft ausſieht, oder unvermuthet in ein Zim - mer tritt, ſie muͤßte ſich ihn immer mit ei - ner blanken Ruͤſtung und einem Helm den - ken. Thereſe hat viel mit Auffinden von entfernten Aehnlichkeiten und mit den al - ten Bildern zu ſchaͤffen, und behauptet er ſaͤhe dem Gemaͤhlde vom Pilgrim aͤhnlich, das in der Mutter Zimmer haͤngt. Sie ruh - te nicht eher, bis ich es mir von ihr zeigen ließ, und ſie hat wirklich Recht; es iſt ei - ne entfernte Aehnlichkeit.

Jch fuͤrchte, Sie werden, trotz meiner umſtaͤndlichen Beſchreibung, doch kein richti - ges Bild von ihm haben.

Sie ſehen aber, liebe Tante, wie gern ich Jhnen alles lieber mit der groͤßten Um - ſtaͤndlichkeit berichte, damit Sie nur nicht verlaͤumderiſchen Nachrichten Glauben beymeſ -71 ſen duͤrfen, und dann mit vorgefaßten Mey - nungen, die uns nachtheilig ſind, herkom - men. Sie haben noch keinen Tag feſtgeſetzt, an dem wir Sie ſehen ſollen. Mit welcher Ungeduld erwarte ich Sie, meine verehrte, liebe Freundin!

Jch haͤtte Jhnen gern erzaͤhlt, welches froͤhliche Leben wir leben, und welche Din - ge wir unter Florentins Anleitung ausfuͤhren. Aber heute, und in den naͤchſten Tagen, kann ich nicht daran denken. Es wird mir wenig Zeit zum ſchreiben gelaſſen. Kommen Sie bald, und nehmen Sie Theil, und erhoͤhen Sie unſre Froͤhlichkeit durch Jhre Gegenwart. Jch hoffe heute noch, oder doch morgen einen Brief von meiner guͤtigen Freundin zu erhalten, mit der beſtimmten Nachricht Jhrer Abreiſe. Leben Sie wohl, lieben Sie Jhre Juliane.

[72]

Sechſtes Kapitel.

Eduard und Florentin hatten einigemal kleine Reiſen im Gebirg und in der umliegenden Ge - gend gemacht. Jn abwechſelnden Verkleidun - gen hatten ſie die benachbarten Staͤdtchen und Doͤrfer durchzogen, auf Kirmſen, Hochzeiten, Jahrmaͤrkten, bald als Kraͤmer oder als Spiel - leute. Manches luſtige Abentheuer kam ihnen entgegen, ſie wieſen keines von ſich. Wenn ſie dann von ihren Wanderungen zuruͤck kamen, hatten ſie viel zu erzaͤhlen und von den Er - oberungen zu ſprechen, die ſie wollten gemacht haben. Juliane bekam den Einfall ſie einmal zu begleiten; und das naͤchſte Mal, daß ſich die beyden jungen Maͤnner wieder zu einer ſol - chen abenteuerlichen Reiſe anſchickten, theilte73 ſie Eduard ihren Wunſch ſie zu begleiten mit. Er war voller Freude uͤber dieſen Entſchluß, der ihm die Hofnung gab, Julianen auf ein paar Stunden der Foͤrmlichkeit zu entziehen, die jetzt bey der vergroͤßerten Geſellſchaft immer mehr uͤberhand nahm, und ihrer in der Ein - ſamkeit froh zu werden; auch ſeinem Freunde war es lieb, er hatte einen ſolchen Wunſch bey Julianen gar nicht vermuthet. Der Graf und ſeine Gemahlin hatten aber viel dawider, und wollten es anfangs unter keiner Bedingung zu - geben. Der Wohlſtand ward beleidigt, Julia - nens Geſundheit ausgeſetzt, der uͤbrigen Ge - fahren und ihrer eignen Aengſtlichkeit nicht zu gedenken. Florentin, der ſeinen Kopf auf die - ſen Plan geſetzt hatte, und Eduard, der ein Recht zu haben glaubte, eine ſolche Erlauhniß zu fordern, hoͤrten mit Bitten und Vorſtellun - gen nicht eher auf, bis ſie ihnen zugetheilt ward, nur unter der Bedingung, daß ſie nicht zu Pferde ſondern zu Fuß gingen, und daß ſie nicht die Nacht ausbleiben wollten. Und nun wurden noch ſo viele Anſtalten gemacht, ſo74 viel Regeln und Warnungen gegeben, daß Juliane, ganz aͤngſtlich gemacht, ſich im Her - zen vornahm, gewiß nichts zu uͤbertreten, und gewiß zum letztenmal eine ſolche Erlaubniß zu begehren. Eduard aber ward der ganze Ein - fall beynah zuwider wegen der großen Um - ſtaͤndlichkeit, und er war eben nicht geſonnen, ſich gar zu ſtreng an die Vorſchriften zu halten.

Nachdem ſie endlich alles zu Stande ge - bracht, und Juliane den Abend mit ſchwerem Herzen von ihren Eltern Abſchied genommen hatte, machten ſie ſich morgens fruͤh auf den Weg, nur von ein paar Jagdhunden be - gleitet. Sie waren alle drey als Jaͤger ge - kleidet. Eduard und Florentin trugen Buͤch - ſen, Juliane hatte nur ein Jagdmeſſer und Taſche, ſtatt der Buͤchſe trug ſie die Guitar - re, von der ſich Florentin ſelten trennte. Da Juliane gut zu Pferde ſaß, und oft in Maͤn - nertracht ausritt, ſo war ſie ihrer nicht unge - wohnt, ſie ging ſo leicht und ungezwungen daher, als haͤtte ſie nie eine andere Kleidung75 getragen, und auch ſo als Knabe ſah ſie wunderſchoͤn aus; auch die beyden Freunde nahmen ſich gut aus, als aͤltere Bruͤder des lieblichen Kindes. Sie gingen dem Morgen entgegen, der in voller Pracht heraufſtieg, der Fruͤhling in ſeiner ganzen Herrlichkeit um - fing ſie, die Voͤgel ſangen munter, Bluͤthen duſteten und die Baͤume glaͤnzten im Schein der Sonne.

Sie gingen durch den Wald nach dem Gebirge zu, froͤhlich und unbekuͤmmert wie die Kinder. Sie genoſſen ſich ſelbſt in rei - ner Unbefangenheit; Vergangenheit und Zu - kunft war ihren Gedanken fern, der Wille des Augenblicks war ihnen Geſetz.

Ach, rief Eduard auf einmal aus; ſo le - ben, wenn auch nur eine kurze Zeit, und ſterben, eh wir den Tod zu wuͤnſchen haben! Schlafen gehen und nicht wieder aufſtehen! Jhr denkt an den Tod, ſagte Florentin, um zu bedenken wie ihr ſo gern nicht an ihn den - ken wollt! Thorheit! rief Juliane, wer will jetzt vom Tode ſprechen? Florentin76 nahm ihr die Guitarre ab, und ſpielte einen raſchen Tanz, ſie drehte ſich mit Eduard in ſchnellen Kreiſen. Er hatte ſich unter einem Baume niedergeſetzt. Nachdem ſie zu tanzen aufgehoͤrt hatten, ſetzten ſich beyde neben ihn. Es tanzt ſich gut auf dem kurzen Graſe. Beſſer und erfrenlicher als auf dem getaͤfelten Fußboden Eurer Saͤle, das iſt gewiß. Wenn man nun hier im Walde an eine Aſ - ſemblee denkt! Davon kein Wort, Ju - liane, ich mag eben ſo wenig von Aſſembleen hoͤren, als Sie vom Tode. Hiemit nahm er die Guitarre wieder auf, und ſang:

Sie iſt mir fern, wie ſoll ich Freude finden!
Jch kann dem Kummer nur mein Leben
weihn.
Wie um den Baum ſich uͤppig Ranken
winden,
Die Nahrung raubend ſeiner Krone draͤun,
So, fern von Dir, mich Sorg und Un -
muth binden,
Daß keine Erdenluſt mich kann erfreun.
77
Fragt nicht, warum mein Sinn ſo raſtlos
eilt;
Fuͤr mich iſt nirgends Ruh, als wo ſie
weilt.

Juliane, erhitzt vom raſchen Tanz, lehn - te ſich an Eduard, ein ſanfter Wind, der hoch in den Wipfeln der jungen Birken rauſchte, kuͤhlte ihr das gluͤhende Geſicht, und wehte die Locken zuruͤck, die in der Bewegung durch ihre eigne Schwere ſich von der Nadel losge - macht hatten, und nun bis tief auf die Huͤf - ten herabfielen. Eduard verlor ſich ganz im Anſchaun ihrer Schoͤnheit, und die Toͤne der Guitarre, die dazu geſungenen Worte dran - gen in ſein Jnnerſtes. Er druͤckte Julianen mit Heftigkeit an ſeine Bruſt; die Gegen - wart des Freundes vergeſſend hielt er ſich nicht laͤnger, ſeine Lippen waren feſt auf die ihrigen gepreßt, ſeine Umarmung wurde kuͤh - ner, er war auſſer ſich. Juliane er - ſchrack, wand ſich geſchickt aus ſeinen Ar - men, und ſtand auf, ihm einen zuͤruenden78 Blick zuwerfend. Eduard war betroffen, ſie reichte ihm beruhigend die Hand, die er mit Kuͤſſen bedeckte. Nunmehr ſang Florentin, mit raſchen Griffen ſich begleitend, gleichſam als beruhigendes Echo jener erſten ſehnſuchts - vollen Anklaͤnge:

Jch bin dir nah, wie ſoll die Wonn ich
faſſen,
Die mir aus deinen lieben Augen winkt!
Als ſollt ich nimmermehr dich wieder laſſen.
Wann voll Verlangen Herz an Herz nun
ſinkt,
So ſoll mein Arm den holden Leib um -
faſſen,
Jndeß mein Mund der Liebe Thraͤnen
trinkt.
O Gluͤck der Liebe, ſeliges Entzuͤcken!
Geſchenk der Goͤtter, Menſchen zu be -
gluͤcken!

Wie ſchoͤn, rief Juliane, als das Lied geendigt war, wie ſchoͤn weiß er die Selig -79 keit und die Schmerzen eines liebenden Her - zens auszuſprechen! Florentin, Sie lieben! gewiß Sie lieben! Sie ſollten uns die Ge - ſchichte Jhres Gluͤcks mittheilen! oder, wenn Sie nicht gluͤcklich lieben armer Floren - tin! Sie nahm ſeine Hand in ihre bey - den Haͤnde. Er ſeufzte und lehnte ſeine Stirn auf ihre Hand.

So oͤffnen Sie uns Jhr Herz, fuhr ſie mit bewegter Stimme fort, wir ſind es bey - de werth. Florentin richtete ſich auf. Wie mich Eure Theilnahme ruͤhrt, Jhr Gu - ten. Es iſt das erſte von Herzen zu Herzen gehende, dem ich begegnet bin! Wohl trage ich Liebe in meiner Bruſt, Juliane, aber ein Weib, dem ſie eigen gehoͤrte, die ſie mit mir theilte die fand ich noch nie! O das iſt unglaublich. Sie entziehen ſich uns. Nein, bey Gott, Nein!

Sie werden es weder gluͤckliche noch un - gluͤckliche Liebe nennen wollen, wenn Sie hoͤ - ren, daß ich von meinem ſechzehnten Jahre an der Erziehung der beruͤhmteſten ſchoͤnen80 Frauen in Venedig uͤberlaſſen war. Jch lernte jeden Sinnenrauſch kennen, fruͤher als ich das geheime Feuer im innerſten meines Her - zens kannte und verſtand, und keine Verderb - niß der verderbteſten Welt hat es daraus vertilgen koͤnnen. Die Schoͤnheit betete ich an, wo ſie ſich mir darbot, ein gluͤckliches Naturcll unterſtuͤtzte mich kurz, ich ward nirgend grauſam behandelt. Nachher lebte ich eine Zeit lang von aller ſchoͤnen feinen Welt entfernt bey armen Hirten in den Ge - birgen; dieſer ſchoͤnen Tage werde ich immer mit Freude gedenken. Jch lebte mit lieben holden Kindern zuſammen, wahren Kindern der Natur, und der erſten Unſchuld; bey ihnen heilte meine Fantaſie wenigſtens wie - der. Einen Gegenſtand der Liebe aber, die bis jetzt mir nur unbelohnt, aber tief im Herzen lebt, wo wuͤrde ich den wohl fin - den? Er eriſtirt irgend wo, das weis ich, von dieſer frohen Ahndung werde ich im Leben feſt - gehalten: aber wo er exiſtirt? wo ich ihn fin - de? Aber welche Forderungen werden81 Sie auch machen? ſagte Juliane. Was wird der Herr verlangen von einer Frau, die ihm die rechte ſey! Unwiderſtehlich reizend ſind Sie, Juliane, wenn Sie die kleine Lippe ſo trotzig aufwerfen, und das Naͤschen hoͤhniſch ruͤmpfen! Welche Anmaßung! O keinen Zorn, wenn ich meinen Kopf behal - ten ſoll, er kleidet Sie viel zu ſchoͤn! Was hilft es denn, daß ich in Einer alles verei - nigt fand, was meine Wuͤnſche faſſen? Sie iſt ja die liebende Braut des Gluͤcklichen dort! Sie ſind ausgelaſſen, Florentin!

Nun ſeht, ihr Lieben. ich fordre wenig, ihr werdet es vielleicht nicht glauben, recht ſehr wenig; doch ſcheint es eine große Forderung zu ſeyn, denn ich fand ſie nie erfuͤllt. Nichts als ein liebenswuͤrdiges Weib, die mich liebt, liebt wie ich ſie, die an mich glaubt, die ohne al - le Abſicht, bloß um der Liebe willen, die mei - nige ſey, die meinem Gluͤck und meinen Wuͤnſchen kein Vorurtheil und keine boͤſe Ge - wohnheit entgegenſetzt, die mich traͤgt wie ich bin, und nicht erliegt unter der Laſt; dieFlorentin. I. 682muthig mit mir durch das Leben, und, wenn es ſeyn muͤßte, mit mir in den Tod ſchrei - ten koͤnnte. Sehen Sie Juliane, das iſt alles! und ich habe es nicht gefunden, obgleich ſchoͤne Frauen jedes Standes mir uͤberall und ohne Bedenken die unzweideutig - ſten Beweiſe ihrer Liebe, wie ſie es nann - ten, gaben. Mit welchen Frauen haben Sie gelebt, Florentin! Jn der beſten, der feinſten Geſellſchaft mitunter, ſeyn Sie verſichert, gute Juliane. Sie ſollten uns doch bald mit ihren Schickſalen und Abentheuern bekannt machen, ſagte Eduard. O thun Sie es, ſagte Juliane, Jhr Le - benslauf muß ſehr intereſſant ſeyn! Jn - tereſſant! rief er aus; ich bitte euch, was nennt ihr denn intereſſant? Jch weiß wahr - haftig nicht, ob er das ſeyn wird. Jch wollte, mein Lebenslauf gehoͤrte irgend einem andern zu, vielleicht wuͤrde ich ihn dann auch ergoͤtz - lich finden: als mein eigner Lebenslauf aber ge - faͤllt er mir eben nicht. Euch will ich auch ein - mal die Luſt verſchaffen, nur jetzt nicht, denn83 mich duͤnkt, es iſt Zeit, daß wir uns nach ei - ner Mahlzeit umſehen. Wenn Sie es zu - frieden ſind, ſagte Juliane, ſo gehen wir, waͤhrend die Mittagsſonne brennt, nicht von dieſem Platz, er iſt ſchattig und kuͤhl. Geben Sie her, was von kalter Kuͤche da iſt, unſer gruͤnes Lager mag zugleich unſre Taſel ſeyn. Sehen Sie, auch fuͤr ein ſauberes Tuch hat man geſorgt, um es aufzudecken. Sogar Wein findet ſich hier, ſagte Florentin, indem er die Flaſche hervorzog. Stellen Sie ihn dort an den Bach hin, damit er abkuͤhle. So reichlich fanden wir uns noch nie auf un - fern Zuͤgen verſorgt. So hat die Umſtaͤnd - lichkeit, die meine Begleitung verurſachte, doch wieder etwas angenehmes erzeugt. Wie oft mußte ich nicht ſchon die Annehmlichkeiten eines bequemen Lebens entbehren! konnte ich mir aber nur eine groͤßere Unabhaͤngigkeit da - mit erkaufen, ſo geſchah es mit tauſend Freu - den. Doch wohl auch oft dem Liebchen zu gefallen? ſagte Eduard. Auch das genug,(6) 284ſagte Florentin, ich hatte dann auch ſuͤßen Lohn.

Sie lagerten ſich um das Tuch und verzehr - ten ihren Vorrath unter froͤhlichen Scherzen, Geſaͤngen und Lachen. Florentin pflegte durch den Wein lebhafter noch und heiterer zu wer - den als gewoͤhnlich, Eduard aber fuͤhlte ſeine Lebensgeiſter leicht durch ihn erhitzt, reizbarer und zugleich ſchwerer; Juliane ward von ih - nen mit Bitten beſtuͤrmt, dieſesmal doch ihren Wein ohne die gewoͤhnliche Miſchung von Waſſer zu trinken, ſie war aber nicht dazu zu bewegen. Die Ausgelaſſenheit und der ſtei - gende Muthwille der beyden fing an ſie zu aͤng - ſtigen, ſie fand jetzt ihr Unternehmen unbeſon - nen und rieſenhaft kuͤhn; die beyden Maͤnner kamen ihr in ihrer Angſt ganz fremd vor, ſie erſchrack davor, ſo ganz ihnen uͤberlaſſen zu ſeyn; ſie konnte ſich einen Augenblick lang gar nicht des Verhaͤltniſſes erinnern, in dem ſie mit ihnen ſtand, ſie bebte, ward blaß. Eduard bemerkte ihre Angſt. Was fuͤrchteſt du holder Engel! Du biſt bey mir, biſt mein er um -85 armte ſie mit einigem Ungeſtuͤm. Laſſen Sie mich, Eduard! rief ſie, ſich aus ſeinen Armen windend; nicht dieſe Sprache Sprechen Sie jetzt gar nicht zu mir, Jhre Worte vergroͤßern meine Furcht ich bin ſo erſchreckt ich weiß nicht warum? Sie verbarg ihr Geſicht in ihre beyden Haͤnde. Beruhigen Sie ſich Juliane! Stille, ich beſchwoͤre Sie, nicht ein Wort weiter, wenn Sie mich lieben! Florentin hatte ſich, als er ihre Unruhe bemerkte, zuruͤckgezogen, die Guitarre genommen, und allerley Melodien fantaſirt; die beyden Hunde hatten ſich zu ihm gelagert, und druͤckten aufwaͤrts ihre Koͤpfe an ſeine Knie. Geſammelt fieng Juliane endlich an: die Sonne ſteht noch zu hoch, wir koͤn - nen in der druͤckenden Hitze dieſe Schatten nicht verlaſſen. Sie, Florentin, koͤnnten jetzt Jhr Verſprechen erfuͤllen, und uns einiges aus Jh - rem Leben erzaͤhlen!

Er ſchwieg ein Weilchen, dann ſang er fol - gende Worte:

86
Draußen ſo heller Sonnenſchein,
Alter Mann, laß mich hinaus!
Jch kann jetzt nicht geduldig ſeyn,
Lernen und bleiben zu Haus.
Mit luſtigem Trompetenklang
Ziehet die Reuterſchaar dort,
Mir iſt im Zimmer hier ſo bang,
Alter Mann, laß mich doch fort!
Er bleibt ungeruͤhrt,
Er hoͤrt mich nicht:
Erlaubt wird, was dir gebuͤhrt,
Thuſt du erſt deine Pflicht!
Pflicht iſt des Alten ſtreng Gebot;
Ach, armes Kind! du kennſt ſie nicht,
Du fuͤhlſt nur ungerechte Noth,
Und Thraͤnen netzen dein Geſicht.
Wenn es dann laͤngſt voruͤber iſt,
Wonach du trugſt Verlangen,
Dan[n]goͤnnt man dir zu ſpaͤt die Friſt,
Wenn Klang und Schein vergangen!
87
Was du gewaͤhnt,
Wonach| dich geſehnt,
Das findeſt du nicht:
Doch bleibt bethraͤnt
Noch lang dein Geſicht.

Was ſoll uns jetzt das Lied, Florentin? fiel Juliane ungeduldig ein; ich dringe auf die Erfuͤllung ihres Verſprechens! Sie koͤnn - ten auch mein Lied als eine Einleitung nehmen zu dem, was ich Jhnen zu erzaͤhlen habe. Aus meiner Kindheit weiß ich mir nichts ſo be - ſtimmt zu erinnern, als den Zwang und das Unrecht, das mir geſchehen iſt, und das ich ſchon damals ſehr klar fuͤhlte. Gewiß iſt jedem Kinde ſo zu Muthe, dem man nach einer vor - her beſtimmten eigenmaͤchtigen Abſicht eine ſtreng eingerichtete Erziehung giebt.

[88]

Siebentes Kapitel.

Die Geſellſchaft lagerte ſich bequem, und Flo - rentin fieng an zu erzaͤhlen:

Wie ein Traum ſchwebt mir die fruͤhe Er - innerung vor, daß ich in meiner erſten Kind - heit in einem einſamen Hauſe auf einer kleinen Jnſel lebte. Jn dem Hauſe wohnte niemand, als eine gute freundliche Frau, die Sorge fuͤr mich trug und mich keinen Augenblick verließ, und ein etwas aͤltlicher Mann, der die ſchweren Haus - und Gartenarbeiten verrichtete, und je - den Tag mit einer kleinen Barke fortruderte, und die noͤthigen Vorraͤthe einholte. Es befanden ſich gewiß noch mehrere Haͤuſer auf der Jnſel; von dieſen erinnere ich mich aber nichts, ſo we - nig als von ihren Bewohnern. Ein paarmal89 kam eine ſchoͤne| ſehr praͤchtig gekleidete Dame, von zwey Herrn begleitet, mit der zuruͤckkehren - den Barke. Dieſe Dame liebkoſte mich zaͤrt - lich, gab mir Spielzeug und Konfekt, und ich mußte ſie Mutter nennen. Einer von den Herren, der auch ſchoͤn und glaͤnzend gekleidet war, bezeigte meiner Mutter viel Aufmerkſam - keit, und war ſehr freundlich gegen ſie, ſo wie ſie auch gegen ihn. Dem andern Herrn, der, wie ich nachmals erfahren habe, ein Geiſtlicher war, begegneten beyde mit Ehrfurcht. Gegen mich waren beyde unfreundlich; ſie ſchalten mich wenn ich mich zu nah an meine Mutter draͤngte oder nicht von ihrem Schooß fort wollte. Sie waren mir beyde verhaßt, beſonders der geiſt - liche Herr, deſſen Recht mich zu ſchelten ich im - mer im Herzen bezweifelte. Der Stolz und die Unfreundlichkeit der beyden Maͤnner hatte einen ſo verhaßten Eindruck auf mein kindliches Ge - muͤth gemacht, daß ich ſie fuͤrchtete, und ſie niemals begruͤßen oder anreden mochte, ſo ſehr meine Mutter darauf beſtand. Empfindlichen Kindern iſt Haͤrte und Unfreundlichkeit un -90 ertraͤglicher als jede Entbehrung, die man ihnen mit Guͤte und Sanftmuth auferlegt.

Eines Tages kam unſer alter Mann mit der Barke zuruͤck. Er war ganz beſtuͤrzt und ſprach heftig mit der Frau; dieſe weinte, kuͤßte mich und ſtieg mit mir in die Barke. Der Mann fuhr uns an ein fremdes Ufer, wo der Anblick der vielen Menſchen und Haͤuſer mich in Erſtaunen ſetzte. Jch ward durch viele Straſ - ſen in ein ſehr großes Haus gefuͤhrt, dann durch eine Menge Zimmer, in denen ſich viele Men - ſchen hin und her draͤngten. Die meiſten waren ſchwarz und wunderlich gekleidet, und obgleich es ſo viele waren, und alle beſorgt und beſchaͤf - tigt ſchienen, ſo gieng es doch ſtill und feyerlich zu. Mein Herz ward kalt bey dem geiſtermaͤßi - gen Anblick, den ich mir ſo gar nicht erklaͤren konnte. Endlich gelangte ich in ein ſehr großes Zimmer, deſſen Waͤnde und Fußboden ſchwarz behaͤngt waren; kein Tageslicht drang hinein, ein paar Wachskerzen mit ſchwarz umwunde - nen hohen Leuchtern brannten duͤſter. Ganz am entgegengeſetzten Ende ſtand ein ſchwarz be -91 hangenes Ruhbett, auf dem eine gleichfalls ganz ſchwarz gekleidete Dame ſaß, die einen lan - gen ſchwarzen Schleyer uͤber das Geſicht hatte.

Jndem ich hineintrat, ſtand die Dame auf, und ich erkannte die Stimme meiner Mutter; der geiſtliche Herr bat ſie ruhig zu ſeyn, und gieng mir entgegen, um mich zu ihr zu fuͤhren, ich war vor Angſt und Schre - cken wie im Fieber, und ich verbarg mich zitternd im Gewand meiner Waͤrterin. Mei - ne Mutter mochte die Urſache meines Schre - ckens errathen, ſie kam auf mich zu, und legte ihren Schleyer zuruͤck, ſo daß ich ihr Geſicht erkannte; aber ich vermißte ſchmerz - lich den glaͤnzenden Schmuck, den ich ſonſt mit ſolchem Ergoͤtzen in ihren Haaren, an Hals und Ohren hatte ſchimmern ſehen. Jch blieb lange furchtſam und aͤngſtlich; man gab mir glaͤnzendes Spielzeug, ich konnte mich aber nicht beruhigen. Endlich ward mir ein kleines Maͤdchen zugefuͤhrt, die mir freund - lich zuredete, und den Gebrauch des ſchoͤnen Spielzeugs kannte; man ſagte mir, ſie ſey92 meine Schweſter; ich ſpielte mit ihr, und meine Furcht verſchwand beynah ganz. Dieß war das erſte Mal, daß ich ein anderes Kind ſah, und meine Freude war ſehr groß uͤber dieſe neue Bekanntſchaft. Nun war ich gluͤcklich genug, nur konnte ich mich durch - aus nicht an die finſtern Zimmer gewoͤhnen, ich ſehnte mich nach der friſchen Luft, nach dem Himmel und den Baͤumen; meine Mut - ter begegnete mir mit der groͤßten Zaͤrtlichkeit, ich liebte ſie, aber ich ging doch noch lieber mit meiner Waͤrterin ins Freye. Meine Mut - ter blieb immer in dieſen mir verhaßten Zim - mern, ſie weinte faſt immer, wenn ich ſie ſah, und ich hoͤrte ſie oft wiederholen: mein Va - ter ſey geſtorben; aber ich konnte es nicht faſſen, ich wußte nicht, wer mein Vater geweſen ſey, ich hatte dieſe Benennung gar nicht zu brauchen gelernt. Meine Mutter ſagte mir mit Thraͤnen: der ſchoͤne Herr, der mich in ihrer Geſellſchaft auf der Jnſel beſucht haͤtte, waͤre mein Vater geweſen. Jch weinte nun auch, und war nicht wieder93 zu beruhigen; die Waͤrterin fragte mich: warum ich denn ſo ſehr weinte? Jch wollte es nicht ſagen, man drang in mich. O daß der Prior nicht mein Vater war, ſchrie ich, ſo waͤre der todt, und der andre Herr lebte noch! Jch erinnere mich jetzt nicht mehr, was auf dieſen Ausruf erfolgte, auch nicht, ob der Prior zugegen war.

Von den Hausleuten hoͤrte ich manch - mal mit Bedauern ſagen: es waͤre doch ſonſt viel anders im Hauſe geweſen! Jch erkun - digte mich dann bey ihnen und bey meiner Schweſter, wie es eigentlich geweſen waͤre? Jhre Erzaͤhlungen gaben mir ein wunderli - ches buntes Bild von den weltlichen Freuden, die jetzt ganz aus dem Hauſe verbannt, und an deren Stelle feyerliche Unterredungen und Andachtsuͤbungen getreten waren. Meine Schweſter wußte nicht viel zu erzaͤhlen, au - ßer daß die Mutter damals ſehr reiche glaͤn - zende Kleider angehabt haͤtte.

Einige Mal hoͤrte ich den Prior meine Mutter erinnern, daß es jetzt die hoͤchſte94 Zeit ſey, mir die Erziehung meiner kuͤnfti - gen Beſtimmung zu geben, und mich in die nothwendige Lebensart einzufuͤhren. Meine Mutter bat ihn aber, ihr die Geſellſchaft ihrer Kinder noch nicht zu nehmen, ſie wuͤr - de alles verſaͤumte wieder nachholen. Ohne daß ich den Sinn dieſer Worte verſtand, aͤngſtigten ſie mich mit trauriger Ahndung, die auch ſehr bald erfuͤllt ward. Meine Mut - ter ward immer ernſter und truͤber, und bald auch ſtrenger gegen uns. Anſtatt unſrer ge - woͤhnlichen zierlichen leichten Kleidung gab man uns haͤßliche Kleider von grobem Zeuge, mit kloͤſterlichem Schnitt, und das waͤhrend derſelben Tage, da ich die Freude hatte, daß man die ſchwarzen Vorhaͤnge aus dem Zimmer meiner Mutter nahm. Die hellen Teppiche kamen nun zum Vorſchein, die praͤchtig vergoldeten Zierrathen glaͤnzten mir entgegen, ich war voller Freude uͤber dieſe Herrlichkeiten; und nun mußte ich dieſe Klei - dung anlegen, die mir ſchon an den Moͤn - chen, die ich geſehen hatte, ſo widerlich war. 95Jch war außer mir, ich wollte es durchaus nicht leiden, keine Drohung konnte mich be - wegen. Endlich zog meine Schweſter mit ſtil - len ſanften Thraͤnen an, was man von ihr verlangte, da ließ ich mir’s auch gefallen. Noch mehre Schrecken erwarteten mich an die - ſem ungluͤcklichen Tage.

Wir wurden zur Mutter herein gerufen; ſie war im Geſpraͤch mit dem Prior und noch einem Mann in geiſtlicher Kleidung, den ich nicht kannte, der mir aber einen ſo fatalen Eindruck machte, daß ich gewiß den Augenblick, wo ich ihn zuerſt geſehen, nie vergeſſen werde. Er hatte ein finſtres kaltes Geſicht wie der Prior, nur daß dieſer, ein vollkommen ſchoͤner Mann, mit feyerlichem ſtol - zen Anſtand ſich ſehr gut zu praͤſentiren wußte, auch uͤber meine Mutter eine Supe - rioritaͤt hatte, die Allen Ehrfurcht einfloͤßen mußte. Der neue Ankoͤmmling war lang und mager, von gelber Geſichtsfarbe, und hatte ſo durchaus etwas jaͤmmerliches und de - muͤthiges. Er buͤckte ſich bey jedem Wort,96 das meine Mutter mit einer Protektions - miene zu ihm ſprach, ſo furchtſam und un - geſchickt. Mir entging nichts von dem allen, meinen Widerwillen wußte ich aber erſt ſpaͤ - ter zu erklaͤren. Er ward mir als mein Hof - meiſter bekannt gemacht, und zu gleicher Zeit ſagte meine Mutter zu meiner guten Waͤrterin, ſie waͤre von nun an die Hof - meiſterin meiner Schweſter, die unter ihrer unmittelbaren Aufſicht ſtehen ſollte. Jch be - neidete meine Schweſter, ich waͤre ſo gern bey meiner Waͤrterin geblieben. Es erfolgte jetzt ein foͤrmliches Abſchiednehmen; meine Mutter kuͤßte mich, und fuͤhrte mich zum Prior, der mir ſeinen Segen gab, meine Schweſter ward weinend von mir getrennt, der Hofmeiſter empfing mich aus den Haͤn - den des Priors, der ihm Wachſamkeit und Fleiß empfahl. Er fuͤhrte mich fort, ich folgte ihm halb todt vor Entſetzen und ban - gem Erwarten. Es war der Anfang einer ungluͤcklichen Reihe von Jahren, der ich entgegenging.

97

Er fuͤhrte mich in das fuͤr uns beſtimm - te Zimmer, es war ganz entlegen, und vom geraͤuſchvollen Theile des Hauſes ent - fernt. Eine große ſchwere Thuͤre, am En - de eines finſtern Ganges ward aufgethan. Wir traten hinein, eine kalte Luft umfing mich, ich ſchauderte, und derſelbe Schau - der uͤberfiel mich jedesmal, wenn ich hin - einkam. Das Zimmer war groß und hoch, gothiſch gewoͤlbt, die Fenſter ganz oben, und zum Ueberfluß noch vergittert, die nack - ten grauen Waͤnde nur von finſtern Heiligen - bildern verziert. Am einen Ende bedeckte ein großes Kruzifix einen Theil der Wand; drunter ein Tiſch, worauf eine Decke und zwey große Kerzen ſich befanden, gegen uͤber unſre Betten, zwei Tiſche mit Schreibe-Zu - behoͤr, ein Repoſitorium mit Buͤchern und einige Stuͤhle: das war alles, was dieſe Gruft enthielt, in der ich vier lange, bange Jahre mit meinem geſpenſterhaften Aufſeher, unter unaufhoͤrlichem Zwang ver - leben mußte. Jch mochte ungeſaͤhr zehn JahrFlorentin. I. 798alt geweſen ſeyn, als ich hineingelaſſen ward. Seltne ſpaͤrliche Sonnenſtrahlen fielen durch die kleinen Gitter, und dieſe vermehrten nur immer mehr meine Traurigkeit und mei - ne Sehnſucht nach dem freyen Himmel, wenn ſie die gegenuͤber ſtehende Wand erhellten. Jeden Morgen beym Erwachen fiel mir das Kruzifix in die Augen, auf das oft ein ſolcher blaſſer Strahl ſchraͤg hinfiel und es ſo ſchauderhaft erleuchtete, daß ich davor zu - ruͤckbebte. Jch habe mich in dieſen ganzen vier Jahren an den Anblick nicht gewoͤhnen koͤnnen; ich war froh, wenn der Himmel umwoͤlkt war, damit ich die Strahlen nicht mehr ſaͤhe, die ſonſt meine groͤßte Freude gemacht hatten. Seitdem war ich noch oft ſehr ungluͤcklich, ich habe Momente der ſchrecklichſten Verzweiflung erlebt; aber ge - gen die Bitterkeit jenes Zuſtandes, in dem ich die lieblichſten Jahre meiner Kind - heit vertrauren mußte daran reichte ſeit - dem nichts wieder! Wie graͤnzenlos ungluͤck - lich ein Kind ſeyn kann, dem die Hoffnung99 noch nicht bekannt iſt, das Nichts hat, Nichts kennt als den gegenwaͤrtigen Moment, an dem es mit allen Sinnen, mit aller Kraft und Begierde ſeiner empfangenden See - le haͤngt; wenn es abhaͤngig von fremder Laune, fremder Abſicht, ſeine frohen Wuͤn - ſche, die natuͤrlichen Gefaͤhrten ſeines Al - ters unterdruͤcken muß, ſo daß ſelbſt dieſe ihm fremd werden gewiß hat ein jeder dieß irgend einmal erfahren: aber die mei - ſten vergeſſen dieſen peinvollen Zuſtand wie - der, ſobald ſie daruͤber hinaus ſind. Ja oft raͤchen ſie ſich fuͤr das ausgeſtandne Ue - bel wiederum an ihren Kindern, ſo wie die - jenigen gegen ihre Untergebenen am haͤrte - ſten verfahren, die ſelbſt aus dem Stand der Dienſtbarkeit ſind. Kinder werden von einer Generation auf die andre als ange - bohrnes Eigenthum angeſehen, das man zu ſeinem eigenen Vortheil, oder nach Laune, bearbeitet und benutzt. Nun, wenn es un - abaͤnderlich ſo bleiben muß, ſo iſt es nur eine Jnkonſequenz, daß die Eltern nicht(7) 2100auch uͤber Leben und Tod ihrer Kinder zu richten haben!

Es hielt ſchwer, eh ich mich bewegen ließ, bey meinem Hofmeiſter zu bleiben, der im Hauſe allgemein der Pater genannt ward. Jch ſtraͤubte mich aus allen Kraͤften dagegen. Endlich ward mir im Namen mei - ner Mutter notifizirt, daß ich mich durchaus fuͤgen muͤßte, ſonſt ſollte ich ſogleich ins Kloſter der Benediktiner, wohin ich durch beſondere Verguͤnſtigung des Priors nun erſt in vier Jahren zu gehen brauchte. Er haͤtte aus Gewogenheit fuͤr mich und meine Mut - ter es erlaubt, daß der groͤßte Theil meines ſtrengen Noviziats in ihrem Hauſe unter der Aufſicht des Paters vergehen duͤrfte, und fuͤr dieſe Gunſt ſollte ich doppelt gehorſam und dankbar ſeyn.

Mein Schrecken war uͤbermaͤßig, als ich erfuhr, daß ich zu den Benediktinern ſollte. Der Prior hatte mich einmal im Klo - ſter herumgefuͤhrt, mir die Ordnung, Ein - richtung und Geſetze erklaͤrt, und trotz dem,101 daß er mir alles aufs ſchoͤnſte und unter vie - len Schmeicheleyen vortrug, konnte doch nichts den Abſcheu uͤberwinden, den ich mit der groͤßten Heftigkeit gegen Kloſter und Moͤnche faßte.

Er war ſonderbar, dieſer Haß, denn ich kannte ja die Welt noch nicht, und wuß - te nichts von ihren Freuden. Aber es war mir immer, als ſpraͤche etwas in meinem Jnnern zu mir: es giebt noch viel ſchoͤne Dinge, aber weit von hier! Doch alles, was ich einwenden mochte, half nichts, woll: te ich dieſe vier Jahre noch im Hauſe mei - ner Mutter bleiben duͤrfen, ſo mußte ich mir alles gefallen laſſen; und nun war es beſchloſſen, daß ſowohl ich, als meine Schweſter zum Kloſter beſtimmt waͤren, und daß wir, dieſer Abſicht gemaͤß, ſchon jetzt unſre Lebensart daran gewoͤhnen ſollten.

Anfangs wurde ich und meine Schweſter taͤg - lich zu meiner Mutter gefuͤhnt, nach und nach wurden aber dieſe Befuche immer ſeltner, meine Schweſter blieb meiner alten Waͤrterin102 ganz uͤberlaſſen, und ich war allein mit dem Pater. Nur an ſeltnen Feſttagen durſten wir zur Mutter kommen; auch fanden wir immer weniger Troſt bey ihr, ſie bezeigte uns zwar viel Liebe, beſonders mir; aber ſie ſelbſt ward taͤglich truͤber, und den An - dachtsuͤbungen immer mehr hingegeben. Mein einziger Troſt war meine Schweſter, die ich aber nie ſprechen konnte als im Garten, wo - hin mich der Pater regelmaͤßig jeden Abend fuͤhrte, wo ſie ſich dann auch mit ihrer Hof - meiſterin einfand; dieß war die einzige fro - he Stunde, die ich den ganzen Tag hatte; und auch dieſe war beſchraͤnkt, denn der Pa - ter verließ mich keinen Augenblick, und ge - lang es uns auch, uns allein zu unterhal - ten, ſo vergiengen ſie unter gegenſeitigen Klagen. Das arme kleine Madchen jammer - te beſonders ſehr uͤber die haßliche Kleidung, die ihr nicht ſtehen wollte, ich troͤſtete ſie oft, wenn ich weniger uͤbel gelaunt war, und einigemal verſicherte ich ihr ſogar als ei - ne Prophezeyung, ich wurde es, wenn ich103 erſt aͤlter waͤre, gewiß aͤndern, und ich woll - te ſie frey machen, ſobald ich frey waͤre. Darauf wußte ſie aber niemals etwas zu ſa - gen, ſie ſah mich mit großen Augen an, und es ſchien als glaubte ſie mir nicht, was mich denn nicht wenig verdroß.

Meine Tage fuͤllten troſtloſe Studien, die alle darauf abzweckten, mich zu meinem kuͤnftigen Stande geſchickt zu machen; das kanoniſche Recht, geiſtliche Gebraͤuche, Kir - chengeſchichte, kurz alles was in dieſes Fach gehoͤrt: mein armes Gedaͤchtniß ward mit dieſen todten Dingen bis zur Zerſtoͤhrung ge - martert. Das beſte, was ich davon trug, war die Kenntniß einiger alten, und der deutſchen Sprache; der Pater war ein Deut - ſcher von Geburt, und liebte ſeine Sprache. Der Prior, der als ein gelehrter Mann be - kannt war, hatte es uͤber ſich genommen, meine Studien zu dirigiren. Er kam je - de Woche einmal und unterſuchte meine Fort - ſchritte, es war daher leicht zu begreifen, daß der Pater ſein Beſtes an mir verſuchte. 104Mit der groͤßten Strenge hielt er mich an, mir Sachen einzupraͤgen, die ich, Gott ſey Dank, in kuͤrzerer Zeit vergaß, als ich zu ihrer Erlernung gebraucht hatte; zur Erho - lung wurde mir verſtattet in den Legenden die Geſchichte der Heiligen und Maͤrtyrer zu leſen, deren Gemahlde an den Wanden hien - gen. Auch verſuchte ich es oft, mit der Fe - der die Umriſſe dieſer Bilder nachzuahmen, welches mir immer gut gelang; mit einiger Anleitung haͤtte ich vielleicht ein Kuͤnſtler werden koͤnnen. Gewiß iſt es aber, daß Kinder von lebhaftem Geiſte gegen die Din - ge, wozu man ihnen durch fruͤhe Gewoͤh - nung eine Neigung zu geben ſucht, grade dadurch einen Widerwillen bekommen; nur auf ſchwache, furchtſame Gemuͤther vermag die Gewohnheit etwas. Der Abſcheu gegen mein Leben und meine Beſtimmung nahm mit jedem Tage zu, da alles, was mich umgab, mich bis zur Ermuͤdung darauf hinwieß. Freywillig und lebensmuͤde haͤtte ich ſie viel - leicht einſt ſelbſt gewaͤhlt.

105

Alle erwachſenen Leute erſchienen mir nicht allein muͤrriſch und hart, ſondern ganz unverſtaͤndig und blind, ihre Befehle und Verbote ſinnlos und abgeſchmackt. Darinn ward ich beſonders durch einen Zufall aus dem erſten Jahre meines widrigen Lebens beſtaͤrkt; ich war nemlich einmal mit meiner Schweſter im Zimmer meiner Mutter, ſie wollte unſre Faͤhigkeit im Lefen pruͤfen. Zufaͤllig war kein andres Buch in der Naͤhe, als ein Gedicht, das meine Mutter eben geleſen hatte. Jch las einige Verſe, in denen das Gluͤck der Kindheit geprieſen ward; meine Mutter war mit der Fertigkeit, womit ſie geleſen wurden, zufrieden, und ruͤhmte, indem ſie ſich zum Pater wandte, die Schoͤnheit der Verſe, und die ruͤhrende Wahrheit des Jnhalts; der Pa - ter ſtimmte laut mit ein. Schwache Geſchoͤp - fe, die in ſolcher Abhaͤngigkeit leben muͤſſen, gluͤcklich zu preiſen, zu beneiden, das war zu toll! Jch ward ganz wuͤthend, weinte, und war durch nichts zu bewegen, noch weiter zu leſen, und mußte die Strafe fuͤr meinen Ei -106 genſinn, wie ſie es nannten, erleiden, deren Ungerechtigkeit mich nur noch mehr empoͤrte, und meine Verachtung gegen die geringe Ein - ſicht meiner Vorgeſetzten noch vergroͤßerte. Wie ſeufzte ich nach dem Moment, mich von den hartherzigen, unverſtaͤndigen Tyrannen los zu machen, ſie nicht mehr fuͤrchten zu duͤrfen! Jch ſuchte in den Augen meiner Schweſter eine Uebereinſtimmung mit dieſem Gefuͤhle, ohne ſie zu finden; das Kind war durch meine erlittne Strafe erſchreckt, und las gedankenlos, was man ihr aufgab, mit allem Eifer, bloß um den Beyfall der Mutter zu erhalten; ich hatte Mitleid mit ihr, aber mein Zutrauen zu dem ſchwachen Kinde war verſchwunden.

Der Eindruck dieſer Begebenheit haftete unausloͤſchlich in meinem Gemuͤth; ich war ſeitdem uͤberzeugt, mehr Verſtand zu haben, als die mich beherrſchten, und ſie betruͤgen zu duͤrfen. Weil ſie ſtaͤrker waren und ihre Staͤr - ke gegen mich anwandten, ſo glaubte ich mei - nen Verſtand, als die einzige Waffe, wodurch ich ihnen uͤberlegen waͤre, gebrauchen zu muͤſ -107 ſen. Jch ſuchte auf jede Weiſe meine Unab - haͤngigkeit in meinem Jnnern zu erhalten, je mehr ich meine Handlungen und mein aͤußeres Leben nach ihrem Willen ordnen mußte. Jn jeder Meinung ging ich gefliſſentlich von der ihrigen ab, es war mir genug, daß jene etwas feſt glaubten, um ſtarke Zweifel in mir dage - gen zu hegen, und grade das entgegengeſetzte anzunehmen. Da ich nun meine Freydenkerey forgfaͤltig verbergen mußte, ſo hielt ich mich heimlich fuͤr den Zwang ſchadlos; jeder Akt von Unabhaͤngigkeit, auch der allerunbedeu - tendſte, erfuͤllte meine Seele mit einem gehei - men Triumph, und daß ich nicht gleich auf der Stelle fuͤr meine Unwahrheit von Gott be - ſtraft wurde, befeſtigte mich in meiner Ueber - zeugung. So lebte ich, in anſcheinendem Frieden, innerlich in beſtaͤndigem Krieg mit meinen Vorgeſetzten, dachte auch, ſie verach - teten mich eben ſo, wie ich ſie, und ſuchten mich nur zu uͤberliſten.

Wie ward ich nun uͤberraſcht und erſchuͤt - tert, als ich bey einer Krankheit, die ich aus108 Stolz einige Tage verbarg, der ich aber end - lich unterliegen mußte, die Zaͤrtlichkeit meiner Mutter und die Sorgfalt meines Hofmeiſters fuͤr meine Geneſung gewahr ward! Es wa - ren die Blattern, die mit gefaͤhrlichen Sym - ptomen herausbrachen. Einige Tage lag ich in heftigen Fieber ohne Bewußtſeyn; in dem Augenblick, als ich endlich zu mir kam, und noch ganz entkraͤftet die Augen aufſchlug, war das erſte, was ich unterſcheiden konnte, der Anblick meiner Mutter, die auf ihren Knieen lag, und mit heiſſen Thraͤnen und geaͤngſtig - tem Herzen Gebete fuͤr ihr Kind zum Him - mel ſchickte. Jch machte eine Bewegung, ſie kam zu mir, ich ſah ſie bleich und ihre Klei - dung und Haare zerſtreut und nicht in der gewoͤhnlichen Ordnung; ich erkundigte mich nach der Urſache, da hoͤrte ich: ſie waͤre in den Naͤchten meiner Lebensgefahr nicht von mei - nem Bette gewichen, und haͤtte ſich auch am Tage nicht von mir entfernen wollen, um ge - hoͤrig auf ihrem Bette zu ruhn, oder ſich um - zukleiden. Jhre Freude, als ſie gewahr ward,109 daß ich meine Beſinnung wieder erlangt haͤtte, und ſie mich wieder ruhig und zuſammenhaͤn - gend ſprechen hoͤrte, auch der Arzt verſicherte, ich ſey jetzt außer aller Gefahr, war unbe - ſchreiblich, und bewegte mich tief. Mein Zu - ſtand ſchien mir ſelbſt hoͤchſt abſchreckend und ekelhaft; doch hielt er weder meine Mutter noch meinen Hofmeiſter ab, mir alle moͤgli - chen Dienſte ſelbſt zu leiſten, und Erleichte - rungen zu verſchaffen. Sie verließen mich faſt keinen Augenblick, begegneten mir mit nie erfahrner Freundlichkeit, und ſuchten mir ſo - gar durch kleine Spiele dieſe Leidenszeit zu verkuͤrzen. Trotz meiner koͤrperlichen Schmer - zen war ich zum erſtenmal vergnuͤgt; mein Herz erweichte ſich gegen diejenigen, die ich fuͤr meine Feinde gehalten hatte, und die mich jetzt ſo freundlich und zaͤrtlich behandelten. Mein Vergehen, ſie als Feinde betrogen zu haben, fiel ſchwer auf mein Gewiſſen; es draͤngte mich, mich ihnen zu entdecken, und ſie ſelbſt um die Aufloͤſung meiner Zweifel zu bitten. Jn dieſer Aufwallung von frommer110 Treuherzigkeit legte ich eine vollſtaͤndige Beichte in Gegenwart meiner Mutter und des Paters ab; heiſſe Thraͤnen entfielen meinen Augen bey dem Bekenntniß meiner Suͤnden! Der Moment war entſcheidend, denn jetzt hing es von ihnen ab, mich auf immer fuͤr ſich zu ge - winnen. Die Jdee vom Kloſter ausgenom - men, war ich zu Allem bereit, was von mir gefordert wuͤrde; ja auch zu dieſem haͤtte ich mich vielleicht verleiten laſſen, wenn ſie mich mit weniger ſichtbarer Abſicht behandelt haͤt - ten; aber ſie verſtanden mich nicht, dieß ret - tete mich.

Waͤhrend meiner Beichte waren beyde ſehr erſchreckt, wegen der Tiefe meiner Ruch - loſigkeit, wie mein Hofmeiſter ſich ausdruͤckte, meine Mutter aber wegen meines weltlichen Hanges zur Unabhaͤngigkeit, der durch keine geiſtliche Uebung und Anſtrengung zu unter - druͤcken ſey. Waͤhrend meiner Geneſung ward ich mit Schonung behandelt, nur mußte ich mehr noch als vorher, Gebete herſagen, und ſonſt allerley von mir verachtete Dinge vor -111 nehmen. Mit unbeſchreiblicher Geduld verrichte - te ich alles, bloß aus Gefaͤlligkeit fuͤr die Men - ſchen, die mich liebten, und die ich beleidigt hat - te. Daß ſie mir mein Unrecht nicht ſuͤhlen ließen, hatte ihnen mein ganzes Herz wieder gewonnen.

Jhr Betragen veraͤnderte ſich aber, je mehr ich wieder an Kraͤften zunahm. Mit der moͤglichſten Streuge ward ich beob - achtet; zu unaufhoͤrlichen, mir verabſcheu - ungswuͤrdigen Uebungen angetrieben; nicht die allergeringſte Freyheit ward mir verſtattet; im Hauſe der Mutter mußte ich vollkommen ſo leben, als im Kloſter; dabey zeigte man mir unaufhoͤrlich das groͤßte Mistrauen. Jch fuͤhlte mich hier ſo rein, war es mir bewußt, daß ich durch meine Aufrichtigkeit vielmehr ihr Zutrauen haͤtte erwerben ſollen; ich ſand jene ſo klein, ſo unedel in ihrem Mistrauen, und mich ſo unwuͤrdig behandelt, daß mein Entſchluß wieder aufs neue feſt ward, mich zu befreyen. Wie? und wann? das ſah ich, un - erfahren und kindiſch wie ich war, durchaus nicht ein. Der Zufall kam mir zu Huͤlfe.

112

Wir machten unſern gewoͤhnlichen Spa - tziergang im Garten; der Prior kam dazu und nahm unſre Aufſeher auf die Seite, um et - was mit ihnen zu uͤberlegen; ich blieb mit meiner Schweſter in einem bedeckten Gang allein. Auf einmal hoͤrten wir auf dem Hof neben an einige Stimmen und Pferdegetrap - pel; neugierig, wie jeder Eingekerkerte, guck - ten wir durch eine ziemlich große Oeffnung der Pianke, die unſern Garten von jenein Hofe trennte. Jch erblickte einen Juͤngling, der ſich in muntrer militaͤriſcher Tracht eben auf ein ſchoͤnes Pferd ſchwang, und vom Hofe herunter ritt. Er war nicht mehr zu ſehen, und Alles ſtill um uns. Jch betrachtete bald mich, bald meine Schweſter. Das Bild des leichten ſchlanken Juͤnglings, wie er ſich auf das raſche Pferd ſchwang, einen reichgekleide - ten Knaben hinter ſich, ſchwebte mir noch im - mer vor Augen; mein Zuſtand kam mir ganz unleidlich vor; ich weinte heftig, ich war auf - ſer mir, und in einem Zuſtande von Verzweif - lung. Meine arme Schweſter verſuchte mich113 zu troͤſten; es gelang ihr aber nicht eher, bis ſie mir verſprach, ſie wollte ihr moͤglichſtes thun, mich mit dem Juͤngling bekannt zu machen.

Wirklich gelang es ihr einige Tage darauf, ihn durch die Planke zu ſprechen, und ihn zu bitten, den andern Tag in derſelben Stunde wieder an dem Ort zu ſeyn, zugleich ſagte ſie ihm von meiner Begierde, ihn zu ſprechen. Sie gewann ihre Hofmeiſterin fuͤr mich, die mir noch immer ſehr gewogen war, oͤffentlich aber nichts fuͤr mich thun konnte.

Den andern Tag, als wir im Garten wa - ren, entfernte ſie ſich um die beſtimmte Zeit mit dem Pater und meiner Schweſter, die nur unter der Bedingung nicht dabey zu ſeyn, ſie in ein ſo gewagtes Unternehmen hatte hinein ziehen koͤnnen. Jch blieb allein am be - ſtimmten Ort, der Juͤngling erſchien bald darauf, nicht wenig neugierig auf eine ſo aben - theuerliche Zuſammenkunft. Mit wenigen Worten, und ohne Zeitverluſt, ſagte ich ihm kurz die Urſache, warum ich ſeine naͤhere Be -Florentin I. 8114kanntſchaft wuͤnſchte, bey welcher Gelegenheit ich ihn zuerſt geſehen, und welche Hoffnung ich gleich beym erſten Anblick von ihm gefaßt habe; zugleich machte ich ihn mit meiner gan - zen Lage bekannt. Er nahm auf der Stelle den waͤrmſten Antheil an meiner Noth, be - klagte mich, verſprach mir ſeine Huͤlfe und ſeinen Rath in allem, was ich unternehmen wollte, und gewann mein ganzes Herz durch ſein edles Weſen. Er beſtaͤrkte mich in mei - nem Vorſatz, mich muthig zu widerſetzen, vorher aber ſollte ich zu erlangen ſuchen, daß wir freundſchaftlich zuſammen umgehen koͤnn - ten. Wir trennten uns, da ich die Stimmen der Uebrigen vernahm, mit dem gegenſeiti - gen Verſprechen, uns bald wieder zu ſehen.

Jch hatte neuen Muth durch dieſe Be - kanntſchaft gewonnen; und die erſte Wirkung davon war die, mich nicht ferner zu verſtellen; jetzt verachtete ich meine Unterdruͤcker mehr, als ich ſie fuͤrchtete.

Den andern Morgen ſagte ich dem Pa - ter in einer ordentlichen Anrede: ich dankte115 ihm fuͤr ſeine bisherige Bemuͤhung, der er aber von nun an uͤberhoben ſeyn ſollte, weil es mit meinen Studien vollkommen aus waͤre! Wollte er mich aber etwa zum Studiren zwin - gen, ſo wuͤrde ich ſogleich zu meiner Mutter gehen und es ihr ſelber ſagen, daß ich unter keiner Bedingung ins Kloſter gehen, noch auch die geiſtlichen Studien weiter fortſetzen wolle; ich ſey feſt entſchloſſen und ganz bereit, mich jeder Begegnung auszuſetzen, um mich frey zu machen. Der Pater war wie aus den Wolken gefallen, als er mich dieſe Sprache fuͤhren hoͤrte, und wollte einiges verſuchen, mich wie - der zum alten Gehorſam zu bringen; da er mich aber unwandelbar entſchloſſen ſah, nahm er ploͤtzlich eine ganz andre Miene an. Der arme Teufel mochte wohl fuͤrchten, ſeine gute eintraͤgliche Stelle, und die kuͤnftige Verſor - gung, die ihm der Prior zugeſagt hatte, zu verlieren, wenn ich mich meiner Mutter ent - deckte; er wußte, dieſe wuͤrde den Fall ſogleich dem Prior mittheilen, der dann vor allen Dingen einen andern Hofmeiſter fuͤr den re -(8) 2116belliſchen Knaben herbeyſchaffen wuͤrde; eine Veranſtaltung, die zuerſt den Pater zu ſeinem eignen Nachtheil haͤtte betreffen muͤſſen. Nach einigem Bedenken fragte er mich nach meinem Plan, ſagte viel zu ſeiner Vertheidigung: wie ich ihn verkennte, wie er mich im Herzen im - mer bedauert haͤtte, und mir aufrichtig zuge - than ſey; da es ihm aber aufgetragen waͤre, mich ſo zu behandeln, ſo haͤtte er ſeine Pflicht doch thun muͤſſen. Verlaſſen wollte er mich aber auf keinen Fall, und hier wuͤrde Gott es ihm verzeihen, wenn er, im Zweifel uͤber ſeine Pflicht, ſeinem Herzen folgte; und was der Worte mehr waren. Sobald ich nur merkte, daß es ſein Vortheil ſey, mir nichts in den Weg zu legen, hoͤrte ich nicht weiter darauf. Alles was er fuͤr mich thun koͤnnte, ſagte ich ihm, waͤre, mir die Erlaubniß zu geben, daß ich den Sohn unſers Nachbars, des M rcheſe, beſuchen duͤrfte, mir auch unverzuͤglich und ins Geheim ein Pferd und eine anſtaͤndige Kleidung fuͤr mich anzuſchaffen, dies alles dann dem jungen Manfredi zu uͤberbringen,117 und ſo viel moͤglich mir zum Ausgehen zu ver - helfen.

Er verſprach alles, nur ſollte ich Sorge tragen, daß er mich nicht verlaſſen duͤrfte; ich gab ihm mein Wort, und von dem Augenblick ſchwur er mir ganz ergeben zu ſeyn. Jch traute ihm viel zu leicht: wahrſcheinlich haͤtte er mich bey der naͤchſten Gelegenheit verrathen, wenn er Zeit dazu gefunden haͤtte, aber es nahm ſchneller eine gute Wendung, als ich ſelber hof - fen durfte. Jch ging ſogleich zu meinem jun - gen Freunde, der Pater begleitete mich, damit es im Hauſe keinen Verdacht erregte, wenn man mich ohne ihn ausgehen ſaͤhe. Zu mei - nem Freunde ließ er mich aber allein, nachdem wir einen Ort verabredet hatten, wo wir uns jedesmal wieder antreffen wollten. Die Freude, die wahrhaft kindiſche Luſt, als ich nnn im Zim - mer meines lieben Manfredi war, und in Frei - heit mich mit ihm unterhalten konnte, beſchrei - be ich euch nicht. Jch machte ihm bekannt, wie weit ich in der Jnſurrection gekommen ware, und daß er nun das Pferd, was mir118 der Pater verſchaffen wuͤrde, verſorgen, und meine Kleider bey ſich verbergen moͤchte, die ich dann immer bey ihm anlegen wollte, ſo oft wir zuſammen ausritten; denn daß ich gleich zuerſt wollte reiten lernen, verſteht ſich von ſelbſt, mein guter Manfredi wollte mein Mei - ſter ſeyn. Jn unſern heißen Koͤpfen fand die - ſer ganze Plan nicht die geringſte Schwierig - keit, mein Freund verſprach mir alles, was ich verlangte; was am Ende daraus werden ſollte, das wollten wir ein andermal uͤberlegen, in dieſem Augenblick hatten wir vor aller Herrlich - keit keine Zeit dazu. Jch war bey meines Freundes Fechtuͤbungen zugegen, und ſogleich ward beſchloſſen, auch ich ſollte heimlich Theil daran nehmen. Jetzt wußte ich beſtimmt, daß ich Soldat werden wollte, und Manfredi beſtaͤrkte mich in dieſem Vorſatz. Jch lief ganz voll von allem, was ich geſehen, und betaͤubt von tau - ſend Empfindungen zu meinem ehrwuͤrdigen Hofmeiſter, den ich antrieb mir das noͤthige herbeyzuſchaffen.

Als ich das naͤchſte Mal zu Manfredi kam,119 ſand ich ſeinen Vater bey ihm, und er ſtellte mich dieſem ſo vor, daß ich merken konnte, er haͤtte ihm von mir etwas geſagt. Jch war aͤngſt - lich, ich hatte noch immer eine gewiſſe Furcht vor allen erwachſenen, aͤlteren Leuten, als den Fein - den der jungen. Der Marcheſe floͤßte mir aber bald Zutrauen ein, er begegnete mir freundlich und mit Schonung. Als ich einigen Muth ge - faßt hatte, fragte er mich nach den genauern Umſtaͤnden meiner Geſchichte, Manfredi hatte ihm nur das allgemeine davon mitgetheilt. Jch erzaͤhlte nun meine Lebensart, klagte uͤber den Zwang zu Studien, die mir Langeweile mach - ten; daß ich zum Kloſter beſtimmt, aber ent - ſchloſſen waͤre, mich bis in den Tod zu wider - ſetzen; daß an dieſer Haͤrte und dieſem Zwang niemand Schuld waͤre, als der mir ſatale Prior, der Beichtvater meiner Mutter, dem ſie nicht allein das Heil ihrer Seele, ſondern auch die Fuͤhrung aller weltlichen Dinge anvertraut haͤt - te. Ja, rief ich mit dem groͤßten Affekt, ich will lieber den Tod als das Kloſter! ich will die abſcheulichen Moͤnchskleider nicht laͤnger tra -120 gen! ich will nicht ausſehen wie dieſe Moͤnche, und nicht werden wie ſie; dazu hat man mich ſchon ſeit der zarten Kindheit gewoͤhnen wollen. Jch klagte ſogar mit der groͤßten Bitterkeit, daß mir ſchon angekuͤndigt waͤre, mir in den naͤchſten Tagen die Haare abzuſcheeren, die ich, eitler thoͤrichter Weiſe, zu ſehr liebte. Bis jetzt hatte ſie mei - ne Mutter trotz der Vorſtellungen des ſchreckli - chen Priors immer noch erhalten, weil ſie ſelbſt ſie liebte; nun ſollten ſie aber herunter, weil ſie befuͤrchtete, ihr Herz zu ſehr an dieſen welt - lichen Schmuck zu haͤngen.

Sie laͤcheln, Juliane, uͤber die Waͤrme, mit der ich dieſer kindiſchen Eitelkeit erwaͤhne! Sie koͤnnen aber wohl ſchwerlich denken, wie entſetzlich mir die Jdee war, eben ſo auszuſe - hen wie die Moͤnche mit ihren geſchornen Koͤpfen: meine Haare hielt ich noch fuͤr das einzige, was mich von dieſer verhaßten Klaſſe unterſchied, das Seil, das mich noch in ge - wiſſem Sinn an die Welt knuͤpfte, die ich durch - aus nicht verlaſſen wollte, die ich erſt wollte kennen lernen; dieſe Haare ſollte ich nun laſ -121 ſenl Nun, lieber Florentin, rief Julia - ne, halten Sie ſich nicht auf, was ſagte der Marcheſe zu Jhrer tragiſchen Erzaͤhlung? Dem Marcheſe ſchien ſie Vergnuͤgen zu machen, er laͤchelte einigemal mit Bitterkeit, als ich vom Einfluß des Priors auf meine Mutter ſprach. Jn der Folge erfuhr ich, daß er durch die Einmiſchung der Geiſtlichen in Familien: Ange - legenheiten ſchon eine ſchreckliche Zerruͤttung bey einem ſeiner Freunde erfahren, und ſeitdem allem was zum Moͤnchsthume gehoͤrte, den un - verſoͤhnlichſten Haß geſchworen habe. Er iſt ſo wohl durch ſeine Herkunft als durch ſein Ver - moͤgen von großem Einfluß, und gebraucht die - ſen ſo viel er vermag, und mit der groͤßten Vorſicht und Klugheit, um allen Orden zu ſcha - den, wenigſtens ihrem zu großen Einfluß ent - gegenzuarbeiten.

Er fragte mich, wozu ich entſchloſſen waͤre, und was ich zunaͤchſt thun wollte? Jch ent - deckte ihm mein Verſtaͤndniß mit dem Pater, und wie ich, ſo bald mich Manfredi in den nothwendigſten Stuͤcken wuͤrde unterrichtet ha -122 ben, geſonnen ſey, davon zu gehen, und im Auslande Soldat zu werden. Mit dem letzten war der Marcheſe zufrieden, aber die Heimlichkeit wollte er nicht billigen. Er drang darauf, mich meiner Mutter zu entdecken. Jch erinnerte ihn, wie meine Mutter ſo ganz von ihrem Beichtvater abhinge, und daß ich von dieſem ja auf keine Weiſe etwas hoffen duͤrfte. Gegen jeden Mann von Ehre, ſetzte ich keck hinzu, und der mit gleichen Waffen gegen mich ficht, werde ich offen und ohne Ruͤckhalt handeln und ſpre - chen, aber gegen dieſe Menſchen halte ich die Liſt fuͤr erlaubt, ſie iſt mein einziger Vortheil gegen ſie. Den Marcheſe beluſtigte wahrſcheinlich mein kin - diſcher Eifer, denn er ließ mich eine gute Weile declamiren. Endlich ſagte er: Nun gut, mein junger Freund! beruhigen Sie ſich nur. Sie haben Recht, Sie duͤrfen ſich nicht ausſetzen, ich werde Jhre Sache fuͤhren, hoffentlich ſoll es mir gelingen Sie frey zu machen, nur ver - ſprechen Sie mir, nichts ohne mein Vorwiſſen zu unternehmen. Jch verſprach alles, was er wollte, in der Freude einen Beſchuͤtzer an den123 Vater meines Freundes gefunden zu haben. Jetzt gedachte ich auch meiner armen Schweſter, die, wie ich mir einbildete, in derſelben angſt - vollen Lage ſeufzte. Der Marcheſe erkundigte ſich naͤher nach ihr; da nahm Manfredi das Wort, und beſchrieb ihre ruͤhrende Schoͤnheit, ihre Sanftmuth und Geduld mit einiger Waͤr - me. Der Marcheſe hoͤrte ihn ernſthaft an, und ſagte dann: Es thut mir leid, fuͤr Jhre Schweſter kann ich nichts thun; Familien Ver - haͤltniſſe machen es fuͤr die Toͤchter oft zur Noth - wendigkeit den Schleyer zu nehmen, und nach allem, was mir Manfredi ſagt, ſcheint ſie ſich recht gut in dieſes Schickſal zu fuͤgen. Jch wollte ihm vom Gegentheil uͤberzeugen: Nein, nein, fuhr er fort, es geht nicht an, fuͤr Jhre Schweſter laͤßt ſich nichts thun, und es waͤre ſehr gut, wenn ihr junge Herrn ihr nicht Hoffnung machtet, und ſie von dem Wege ablenktet, den ſie gehen muß. Was aber Sie betrifft, verhalten Sie ſich ganz ruhig, Sie ſollen bald frey ſeyn. Ein Juͤngling ſollte niemals zum Kloſter beſtimmt werden, ſo lan -124 ge man noch Koͤpfe und Arme in der Welt braucht, und ſo lange es Armeen giebt.

Jch folgte dem Marcheſe, und blieb ruhig auf meinem Zimmer, beym Pater wurden meine Auſtraͤge widerrufen, und ihm nur em - pfohlen ein wachſames Auge auf das zu haben, was bey meiner Mutter vorginge, und es mir zu hinterbringen. Einige Tage darauf kam er beſorgt zu mir, und erzaͤhlte: er waͤre zu mei - ner Mutter gerufen worden, wo er den Prior gefunden haͤtte; beyde haͤtten mit Heftigkeit geredet, indem er hinein getreten ſey, und ihn ſcharf befragt: wo ich den Marcheſe geſprochen haͤtte? und bey welcher Gelegenheit? Er, der Pater, hatte ſich dann voͤllig entſchuldigt, und verſichert er wuͤßte von nichts, er wollte mich aber darnach fragen. Dieß waͤre ihm geſtattet worden, und nun wollte er ſich bey mir erkun - digen, was er berichten ſollte? Es ward nun geſchwind etwas erſonnen, das ziemlich glaub - wuͤrdig klang, und wobey der Pater zugleich von jedem Verdacht frey blieb, und alles al - lein auf mich fiel. Er gab mir zugleich Nach -125 richt von einigen ernſthaften Unterredungen, die meine Mutter mit dem Prior gehabt, endlich ward ich vorgerufen; der ehrwuͤrdige Pater empfahl mir noch einmal ſein Heil, und nun trat ich nicht ohne Herzklopfen und bange Er - wartung in meiner Mutter Zimmer.

Hier hatte ich einen ſchweren Auftritt zu uͤberſtehen. Jch ward genau aber ohne Stren - ge vernommen; dann wandten ſowohl meine Mutter als der Prior jede Ueberredung, jede Schmeicheley an, mich zu bewegen, daß ich mich freywillig zum Kloſter entſchlieſſen ſollte. Meine Mutter weinte, bat, rief mir jede Er - innerung ihrer muͤtterlichen Zaͤrtlichkeit ins Ge - daͤchtniß zuruͤck, beſchwor mich mit aufgehobe - nen Handen, mit den ruͤhrendſten Gebehrden, ihr alles was ſie je fuͤr mich geduldet haͤtte durch dieſen einzigen Entſchuß, der das ewige Heil meiner Seele und ihrer eigenen ſicherte, zu be - lohnen. Jch war wie gepeinigt, konnte nicht ſprechen, nur durch meine Liebkoſungen ſuchte ich ſie zu beruhigen; im Schmer, die Frau, die ich ehrte, ſo leiden zu ſehen, und um meinet -126 willen, aus Sorge fuͤr meine ewige Seligkeit ſo leiden zu ſehen, konnte ich durchaus meinen Widerwillen nicht wieder finden; halb war |ich erweicht, und wirklich in Gefahr nachzugeben; in dem Augenblick ſing aber der Prior an, mit ſeiner fetten Stimme, die mir in den Tod zu - wider war, mir die großen Vortheile der Abge - ſchiedenheit von dieſer verderbten zur ewigen Verdammniß lebenden Welt vorzuzaͤhlen, und mir mit allen Hollenſtrafen fuͤr meine Wider - ſetzlichkeit gegen meine Mutter zu drohen. Da fiel mir mein guter Manfredi ein, und ſein vortrefflicher Vater, und daß ich, wenn ich ſtandhaft bliebe, ein Pferd haben und Soldat werden ſollte; dieß brachte mich zu mir ſelbſt, und ich war gerettet. Dem Prior antwortete ich nicht, aber meiner Mutter mit einer fuͤr mein Alter ſeltnen Entſchloſſenheit und Feſtig - keit.

Wie es der Marcheſe angefangen hatte, bes greife ich noch jetzt nicht; denn ich weiß gewiß, er hat mit meiner Mutter ſelbſt nicht einmal ge - ſprochen: kurz, ich ward befreyt, und das127 Reſultat aller Ueberlegungen und Unterredun - gen war, daß ich nach einer nicht ſehr entfern - ten großen Stadt, in die adeliche Militair - Schule daſelbſt geſchickt ward, um mich dort in den noͤthigen Uebungen geſchickt zu machen, eh ich in Dienſte treten konnte. Mein Hof - meiſter, auf den nicht der geringſte Verdacht fiel, bekam die Verſorgung nun noch fruͤher, als er gehofft hatte, er troͤſtete ſich alſo fuͤr meinen Verluſt, und mir war es auch nichts geringes, ihn ſo auf gute Art los zu werden. Der Ab - ſchied ward mir leicht; meine arme Schweſter graͤmte ſich aber recht herzlich, daß ich mich von ihr trennen mußte. Das arme Kind war nun ganz den Menſchen uͤberlaſſen, die ſich der Schwaͤche ihres Characters bedienten, um ſie nach ihrer Willkuͤhr zu lenken. Sie fuͤhlte ihre Abhaͤngigkeit, aber dieſe druͤckte ſie nicht ſo wie mich; doch ich konnte es mir gar nicht denken, daß ſie nicht eben ſo unzufrieden ſeyn muͤßte. Beym Abſchied ſteckte ich ihr einen Zettel zu, ich rieth ihr darin mir zu ſchreiben, wenn ich ihr helfen ſollte, ihre Hofmerſterin128 wuͤrde mir zu Liebe gewiß ihre Briefe be - ſtellen.

Jetzt erwartete mich aber noch eine große Freude: Manfredi kam, und kuͤndigte mir an, daß er mit mir reiſe. Er war zwar aͤlter als ich, und hatte ſeine Uebungen ſchon vollendet, da der Marcheſe ihn aber ſo jung nicht zum Regiment ſchicken wollte, ſo hatte er in die Bitte des Sohns gewilligt, in meiner Geſell - ſchaft ſich noch in manchen Dingen vollkommner zu machen, und mich auch, da ich ſo voͤllig ohne Welt war, und man mich auf eine ſo unverzeihlich nachlaͤßige Weiſe ganz allein reiſen ließ, dort einzufuͤhren, und meine Studien zu dirigiren. Auffallend war es in der That, wie man mich nach der ſtrengſten Aufſicht ploͤtz - lich mir ſelbſt uͤberließ, ohne Fuͤhrer, ohne Rathgeber, als ob ich von nun an fuͤr vogel - frey erklaͤrt waͤre. Man hielt mich von dem Augenbick an wahrſcheinlich fuͤr einen Raub des Satans und jede Sorgfalt fuͤr ganz unnoͤthig.

Der Marcheſe billigte gleich den Vorſatz ſeines Sohns, und befeſtigte ihn noch darin. 129Meine Erziehung ſchien ihn zu intereſſiren. Jn der Folge glaubte ich zu bemerken, daß es ihm auch darum zu thun war, Manfredi von meiner Schweſter zu entfernen; damals fiel es uns aber beyden gar nicht ein, wir freuten uns herzlich beyſammen zu ſeyn, und waren dem guͤtigen Marcheſe dankbar fuͤr ſeine Wohltha - ten. Jch war damals etwa vierzehn oder funf - zehn Jahr, Manfredi einige Jahre aͤlter. Es war in derſelben Jahreszeit, in der wir jetzt ſind, daß ich zuerſt die ſchoͤne Welt frey betrat, an der Hand meines guten Manfredi. Ach, rief Juliane, ich ſchoͤpfe endlich freyen Odem! Jch fand keinen Ausweg fuͤr Sie, und aͤngſtete mich gewaltig, Sie endlich dennoch unter den Moͤnchen zu ſehen; es wollte mir gar nicht dentlich werden, daß Sie nun hier ſind, und kein Moͤnch haben werden muͤſſen. Floren - tin, fiel Eduard ein, hat ſo gut erzaͤhlt, man mußte es ganz aus den Augen verlieren, daß es eigentlich ſeine Geſchichte ſey! Jn der That, ſagte Juliane, ich haͤtte nie geglaubt, daß er ſo zuſammenhaͤngend und in einem Stro -Florentin. I. 9130me fort reden koͤnnte. Jch kann nicht fin - den, daß ich ſo gut erzaͤhlt haͤtte, denn anſtatt die einfache Geſchichte gerade weg zu erzaͤhlen, bin ich in den Konfeſſions-Ton hinein gera - then. Es iſt die Erinnerung meiner Kindheit, die einzige Epoche meines Lebens, die mich intereſſirt, die mich ſo ſchwatzhaft gemacht hat. Zum Gluͤck iſt es hier nun aus, denn ich bin es ſelbſt muͤde. Wie? Aus? Ja, aus! denn was mir nun noch zu erzaͤhlen bleibt, iſt des Erzaͤhlens kaum werth, und laͤßt ſich in ein Dutzend Worten ung faͤhr faſ - ſen; nehmlich die eine, bis zur Ermuͤdung wiederholte Erfahrung: daß ich eigens dazu erkohren zu ſeyn ſcheine, mich in jeder Laͤcher - lichkeit bis uͤber die Ohren zu tauchen, immer nur von einem Schaden zum andern etwas kluͤger zu werden, mich immer weniger in das Leben zu ſchicken, je laͤnger ich lebe, und zuletzt der Narr aller der Menſchen zu ſeyn, die ſchlechter ſind als ich. Nicht ſo gar bitter, lieber Florentin, ſagte Eduard freundlich; ver - geſſen Sie nicht, daß dieſes mehr oder weni -131 ger das Schickſal aller Juͤnglinge iſt, nur wirkt dieſe Allgemeinheit verſchieden auf die verſchiedenen Gemuͤther. Ja wohl, aber eben das iſt es, ſagte Florentin, daß es grade auf mich ſo und nicht anders wirken mußte! Jſt denn dieſe Verſchiedenheit nicht eigentliches das Schickſal zu nennen, als die aͤußern Be - gebenheiten? Juliane unterbrach ihn: O lieber Florentin, nur einige von Jhren Erfah - rungen, wie Sie ſie nennen, erzaͤhlen Sie noch, ich bin ſehr begierig zu hoͤren, wie man Sie ſo oft hat zum Beſten haben koͤnnen, man muß es doch eigen angefangen haben. Auf die einfachſte Weiſe von der Welt, das ſollen Sie hoͤren.

Manfredi und ich waren unzertrennlich waͤhrend unfers Aufenthalts auf der Akademie: noch liebe ich ihn immer herzlich, und ich wuͤnſchte wohl, wir traͤfen noch einmal im Le - ben zuſammen, wir waren uns gewiß aͤchte Freunde, obgleich wir, dem Aeußern nach, eben nicht fuͤr einander paßten: ich war immer wild, ausgelaſſen, einigermaßen tollkuͤhn und(9) 2132roh; er hingegen ſanft, liebend, von ſchoͤner Geſtalt, und edlem Geſicht, feinem Anſtand, tadelloſen, wahrhaft altadelichen Sitten, ſtren - gen Grundſaͤtzen uͤber die Ehre; und doch zog uns dieſe Verſchiedenheit vielmehr gegenſeitig an. Er konnte am erſten mich von irgend einer Ausgelaſſenheit zuruͤckfuͤhren, dagegen konnte ich ſicher auf ihn rechnen, wenn es darauf ankam, irgend etwas rechtes auszufuͤh - ren, oder wenn meine Ehre zu retten war. Hatte ich zu irgend etwas mein Wort gegeben, ſo half er es loͤſen, wenn auch mit Lebensge - fahr. War es aber vollbracht, ſo mußte ich oft die ernſthafteſten Verweiſe wegen meiner Unbeſonnenheit von ihm hoͤren. Von nie - mand haͤtte ich ſie ertragen, als von dem, der den Muth und die Liebe hatte, alles fuͤr mich zu wagen. O du mein guter Genius, der du meine Jugend, mein ſchoͤnſtes Daſeyn ſchuͤtz - teſt, warum haben wir uns trennen muͤſſen? Seitdem, mein Manfredi, wandre ich einſam und in der Jrre. Florentin ſagte dieſe letzten Worte mit einer vor Ruͤhrung erſtickten133 Stimme, er hob ſein Auge mit Wehmuth em - por, dann ſchwieg er, in Gedanken verloren. Eduard nahm ſeine Hand; Florentin blickte ihn an und ſah Thraͤnen in ſeinen Augen glaͤnzen, er warf ſich in ſeine Arme: Jch verſtehe den Vorwurf dieſes Haͤndedrucks, mein guter Eduard! Nein, ich bin jetzt nicht mehr allein, nicht mehr in der Jrre! ich habe wie - der ein Herz gefunden, das verdient neben dem Andenken an meinen Manfredi zu ſtehen! Jch bin Dein, Eduard, auf immer! Ewig Dein, mein Florentin! Sie hielten ſich in feſter Umarmung umſchloſſen. Schließt mich nicht aus, aus eurem Bunde, ſagte Ju - liane, auch ich bin euer! Eduard um - armte ſie zaͤrtlich; ſie beugte ſich gegen Floren - tin, er beruͤhrte freundlich laͤchelnd ihre Stirn mit ſeinen Lippen.

[134]

Achtes Kapitel.

Nach einer Pauſe fing Florentin wieder an:

Wir waren ungefaͤhr zwey Jahre auf der Akademie, unſre Uebungen waren vollendet, wir ſprachen ſchon von unſrer Ruͤckreiſe und meinem weitern Fortkommen, als ganz uner - wartet ein Brief an mich ankam, er war von meiner Schweſter. Der Tag ihrer Einklei - dung ſey beſtimmt, ſchrieb ſie mir, und ſehr nah, ſie wolle alſo von mir und meinem Freunde ſchriftlich Abſchied nehmen, und mich meines Verſprechens, ihr zu helfen, entlaſſen, denn ſie duͤrfe jetzt nicht mehr auf die Ausfuͤh - rung deſſelben hoffen. Sie ſey nun entſchloſ - ſen, ſich drein zu ergeben; auch hoffe ſie, es135 wuͤrde ihr gewiß am Ende gut gehen, denn ſeit dem Jahre, daß ſie nun im Kloſter gelebt, habe ſie viel Liebe und Freundlichkeit von den Nonnen erfahren; ſie habe auch ſchon eintge gute Freundinnen, die ſie ſehr liebe, die ſie wieder zaͤrtlich lieben, und mit denen ſie im - mer zuſammen ſey, das ſey doch eine Freude, die ſie bey der Mutter entbehre, wo ſie eben ſo ſtreng eingezogen leben muͤſſe, als im Klo - ſter, und dabey ganz allein, ohne eine Geſpie - lin ihres Alters zu haben. Sie wuͤnſche ſehr von mir und Manfredi muͤndlich Abſchied zu nehmen, wir ſollten es doch moͤglich zu machen ſuchen, zuruͤckzukommen, um bey der ſeyerli - chen Einkleidung zugegen zu ſeyn, und ſie in ihrem Schmuck zu ſehen, denn ſie wuͤrde ganz herrlich geſchmuͤckt ſeyn, die Mutter haͤtte ihr fuͤr ihren Gehorſam einen reichen Anzug zur Ceremonie gegeben, und ſo viel Geld zu guten Werken, als ſie nur immer verlangte. Jhre vorige Hofmeiſterin habe dieſen Brief zu be - ſtellen uͤbernommen, aus alter Liebe fuͤr ihre Pflegekinder, und wolle ihr auch meine Ant -136 wort uͤberbringen, wenn ich ihr eine ſchreiben wollte.

Dieß war ungefaͤhr der Jnhalt ihres Brie - fes. Die Unſchuld aber, das Unbewußte, Einfaͤltige, das aus jedem Wort hervorblickte, kann ich nicht ausdruͤcken. Wir wurden beyde auf eine eigne Weiſe von der Beſchraͤnktheit geruͤhrt, und Manfredi erinnerte ſich dabey mit vieler Zaͤrtlichkeit der ſuͤßen Geſtalt und der frommen kleinen Miene. Jch beſchloß auf der Stelle, ſie zu retten, wenn Manfredi mir zur Ausfuͤhrung helfen wollte. Dieſer war nicht ſo bald zu bewegen, aber ich hatte ihm das Geſtaͤndniß abgedrungen, daß ihr ruͤhren - des Bild, ſo wie er es durch die Planke des Gartens erblickt hatte, jetzt aufs neue mit großen Anſpruͤchen auf ſeine Huͤlfe vor ihn traͤte, daß er es eigentlich noch nie aus ſeiner Seele verloren habe, kurz daß er ſie liebe, und gewiß gluͤcklich ſeyn wuͤrde, wenn er ſich mit ihr verbinden duͤrfte. Ueberdem hatte ich ihr Huͤlfe verſprochen, und ſie ſchien ſogar auf ihn gerechnet zu haben; er ward endlich uͤberredet,137 daß unſre Unternehmung gerecht und ehren - voll ſey, und verſprach mir ſeine Huͤlfe. Und nun ward ein allerliebſter Plan verabredet, der ſo toll war, daß es uns alle drey, wenn er gelungen waͤre, ins tiefſte Elend gezogen haͤtte. Uns kam aber damals nichts leichter, nichts natuͤrlicher vor.

Meiner Schweſter ſchrieb ich in wenigen Worten: Jch wolle mein Verſprechen mit Manfredis Huͤlfe erfuͤllen. Sie ſolle alles thun, was man von ihr verlangte, nur Sorge tragen, daß ſie nicht die erſte ſey, die an dem Tage das Geluͤbde ablegte. Sie werde mich in dem Augenblick ſehen, wenn ſie zum Altar gehen muͤſſe, dann ſolle ſie ſich gefaßt halten, mir auf meinen Wink zu folgen. Mit Man - fredi hatte ich verabredet, gleich zuruͤck zu rei - ſen, ohne es jemand wiſſen zu laſſen, ohne uns zu zeigen, und den Tag der Einkleidung in einem entlegenem Hauſe vor dem Thor zu erwarten. Dann wollte ich ganz eingehuͤllt ins Kloſter gehen, und mich unter das Ge - draͤnge miſchen; wenn dann meine Schweſter138 ſich mit der Begleitung aller Angehoͤrigen durch die Menge draͤngte, um zum Altar zu gelan - gen, und alles aufmerkſam auf die Himmels - braͤute waͤre, die vor ihr eingekleidet wuͤrden, dann ſollte ich den Moment wahrnehmen, ſie von den uͤbrigen ab, und zur Thuͤr zuruͤck fuͤhren, ſie dann ſchnell in einen Mantel ver - huͤllen, den ich uͤber meinen eigenen haͤngen wollte, und mit ihr durch den naͤchſten Gang in den Garten eilen. Da bey einer oͤffentli - chen Feyerlichkeit die Thuͤren offen ſind, oder doch nachlaͤſſig bewacht werden, ſo war von dieſer Seite kein Hinderniß zu befuͤrchten. Manfredi mußte unterdeſſen eine Strickleiter an die Mauer befeſtigt haben, und uns drauſ - ſen mit einer Chaiſe und raſchen Pferden er - warten; auch muͤßte er eine Maͤnnerkleidung in Bereitſchaft halten, die meine Schweſter fogleich anlegen koͤnnte, wenn wir uns außer der Stadt ſaͤhen, dann wollten wir, ohne zu raſten, nach Venedig reiſen, dort wuͤrden ſie ſogleich getraut. Fuͤr die Einwilligung meiner Schweſter war ich Buͤrge, ich war uͤberzeugt,139 ſie wuͤrde ſich in ihrem neuen Looſe beſſer und gluͤcklicher finden, als in dem traurigen, wozu ſie ſich ſchon ſo geduldig gefuͤgt hatte. Man - fredi bleibt mit ihr in Venedig, ich reiſe zu - ruͤck, verſoͤhne den Marcheſe mit ihnen, der zu edel iſt, um ſie ſeinen Zorn lange empfin - den zu laſſen, beſonders da dieſe Handlung ſeinen wahren Grundſaͤtzen gar nicht entgegen ſeyn kann; was er uns damals daruͤber ge - ſagt, war gewiß nur, um uns von allen wei - tern Planen abzuhalten, ſein Ernſt konnte es aber nicht ſeyn. Jſt nur erſt der Marcheſe verſoͤhnt, ſo muß es ihm leicht werden, auch unſre Mutter zu beruhigen, beſonders da es doch nun einmal geſchehen, und nicht zu aͤn - dern ſeyn wird. Dann hole ich ſie wieder von Venedig ab, ſie werden beyde gluͤcklich ſeyn, und werden mir ihr Gluͤck danken; ich habe dann redlich meine große Schuld gegen Manfredi abgetragen. Wir haben unſer Leben gewagt fuͤr die gute Sache, wir haben den Prieſtern ein Schlachtopfer aus den Haͤnden gewunden! Das Bewußtſeyn dieſer großen140 Handlung wird uns auf ewig ſtaͤrken und er - heben, und unſer Troſt im Tode ſeyn, wenn wir dem Verſuche unterliegen ſollten!

Mit dieſen hohen Worten, die wir wech - ſelsweiſe einander zuriefen, und uns die Koͤpfe immer mehr erhitzten, eilten wir an die Aus - fuͤhrung des großen Werks. Von den unzaͤh - ligen Schwierigkeiten fiel uns keine ein. An - fangs ging alles dem Plane gemaͤß. Wir reiſten ab, kamen an, wohnten im ſtrengſten Jncognito vor dem Thore in einem unbekann - ten Hauſe. Den Morgen nach unſrer Ankunft erzaͤhlte uns unſre Wirthin: es werde heute in dem Nonnenkloſter ein großes Feſt gefeyert, wo die ganze Stadt gewiß hinſtroͤmen wuͤrde, um es anzuſehen, ſie ſelbſt wolle auch nicht zuruͤckbleiben; ſie bat uns daher, mit unſrer Abreiſe zu eilen, wenn wir nicht etwa auch Zuſchauer abgeben wollten. Es wuͤrden drey vornehme Fraͤulein heute ihr Geluͤbde ablegen, die alle drey ſchoͤn und fromm wie die heili - gen Engel waͤren, und es wohl verdienten, gluͤckſelige Braͤute des Himmels zu werden. 141Das waͤre ein ſehr ſchoͤnes und erbauliches Schauſpiel, auch freute man ſich ſchon, die hei - ligen Reden des vortrefflichen Priors zu hoͤ ren und ſeinen Segen zu erhalten. Sie nannte den wohlbekannten Namen des Priors, und mein ganzer Eifer entbrannte aufs neue. Man - fredi eilte, ſeine Auſtraͤge zu beſorgen, ich in die Kirche des Kloſters.

Es war noch ſehr fruͤh, das Volk verſammelte ſich allmaͤhlich, mir ward die Zeit lang. Jch ging wieder hinaus, um mir den naͤchſten Gang nach dem Garten, und durch denſelben nach der Mauer, recht zu merken. Jn der Thuͤr begegnete mir meine alte Waͤrterin; ich wandte mich von ihr, um mich zu verbergen, ſie hatte mich aber ſchon erkannt und guckte mich ſcharf an. Mein Jeſus! ſind Sie wahrhaftig hier; kommen Sie nur gleich mit mir zum Fraͤulein, ſie er - wartet Sie ſchon, folgen Sie mir nur. Ei, ei, Sie ſind wirklich gekommen! Jhre Anrede befremdete mich, ich ſuchte ſie ſo vorſichtig als moͤglich auszuforſchen, ſie wußte aber nichts weiter, konnte mir auf keine Frage antworten,142 als daß ſie mich zu meiner Schweſter fuͤhren ſollte, die mich ſprechen muͤßte, ich folgte ihr alſo. Sie oͤffnete eine Thuͤr, ich trat hinein, und ſah meine Schweſter in praͤchtigem Braut - ſchmuck in den Armen meiner Mutter, die ſie mit Schmeicheleyen und Kuͤſſen bedeckte. Mei - ne Schweſter ſchrie laut auf, als ſie mich ge - wahr ward, ihr Geſicht in beyden Haͤnden bergend; dann kam ſie auf mich zu: Vergieb mir! rief ſie, und fiel mir um den Hals, ver - gieb mir, Guter, und lebe wohl! Sie wollte noch ſprechen, meine Mutter verhinderte ſie aber daran. Geh, meine fromme Tochter! ſagte ſie, laß mich mit ihm allein. Meine Schweſter ging hinaus, ich war unbeweglich und ſtumm vor Erſtaunen. Meine Mutter ſing wieder an: Jch habe nur wenig Zeit, Florentin, mich mir Dir zu unterhalten. Dein entſetzliches gottloſes Vorhaben iſt entdeckt! Sey ewig geprieſen von mir, gebenedeyte Jungfrau, daß du das Herz meines Kindes geruͤhrt haſt, eh es unwiderruflich verloren war! Ju dieſer Nacht, die das arme Kind143 in der Angſt ihres Herzens unruhig und ſchlaf - los zubrachte, ward es ihr in einer wunder - vollen Erſcheinung offenbar, daß ſie auf ſchlim - mem Wege ſey, und im Begriff ihre Seele ewiger Verdammniß zu uͤbergeben, und mit ihr zwey andre Seelen noch, die leider, ach! vielleicht nicht mehr zu retten ſind. Ein Strahl der ewigen Gnade hat das geliebte Kind des Himmels erleuchtet, und ſie feſt im Entſchluß zum Guten gemacht. Dieſen Mor - gen, als ich ihr den Brautſchmuck anlegen holf, und mich ihrer Schoͤnheit im Herzen erfreute, hat ſie mir euer Vorhaben entdeckt, und Deinen Brief gezeigt. Florentin, ich will jetzt nichts davon erwaͤhnen, wie ſehr es mich beugte, noch ſteht es bey Dir, mich in hoher Himmelsfreude wieder aufzurichten. Auf mein Geheiß hat das fromme Kind gebeichtet, und ihre Seele von aller Angſt loͤſen laſſen. Der Prior, den ſie die Beichte abgelegt, weiß nun alles; auch habe ich ſo eben eine Unterredung mit ihm Deinetwegen gehabt. Du haſt Dich ſchwer vergangen, er kann und darf es nicht144 verhindern, daß Du ſchwer dafuͤr buͤßeſt. Ein einziges Mittel giebt es noch, Dich mit dem Himmel |zu verſoͤhnen. Entſage der Welt, leb in Ruhe im Schooß der Kirche! Nim - mer, nimmermehr, Mutter! rief ich in hoͤch - ſter Bewegung. Nein? durchaus nicht? Nun ſo fliehe, eile von hier weg, es iſt das einzige, was ich fuͤr Dich thun kann, wenn ich Dich aufs ſchnellſte entfliehen heiße, denn hier biſt Du jetzt keinen Augenblick in Sicher - heit, mein Herz blutet fuͤr Dich, glaub mir das! Hier, nimm dieſen Beutel! Was er enthaͤlt, iſt alles, was Du jemals von mir zu erwarten haſt. Dein weiteres Fortkom - men bleibt Dir ſelbſt uͤberlaſſen; Du haſt Dir ein muͤh - und ſorgenvolles Leben erwaͤhlt, nun mußt Du es tragen. Du wirſt kuͤmmerlich darben muͤſſen in der Welt; in der heiligen Zuruͤckgezogenheit, haͤtteſt du weltliche Noth nie gekannt. Davon nichts mehr, Mut - ter! ich will gehen, gleich gehen! Nur ein Wort noch! Jſt es moͤglich, daß Sie ſelbſt meiner ſchwachen Schweſter zureden konnten,145 mich dem Prior zu verrathen? Laͤſterliche Worte! nennſt Du die Beichte Verrath? Deine fromme Schweſter ſchwach? Es galt ihre Ruhe auf dieſer, ihre Seligkeit auf jener Welt. Sie iſt mein Kind! Und ich nicht, Mutter? bin ich nicht Jhr Sohn?

Jch erzaͤhle euch hier ſo zuſammenhaͤngend als moͤglich, was mit der aͤußerſten Verwir - rung geſprochen ward, indem eins dem andern immer in die Rede fiel, ich war beſonders we - gen dieſer unerwarteten Wendung in großer Verwirrung. Zuletzt ward ich heftig, meine Worte fallen mir jetzt nicht wieder ein, aber ſie mochten wohl eben nicht ſanft ſeyn; ich ſtroͤmte uͤber von Vorwuͤrfen, daß ſie ihren Sohn, ihren einzigen Sohn, im blinden Aber - glauben den Pfaffen aufgeopfert hatte, und ſchonte ſie vielleicht zu wenig. Sie ward aufge - bracht und rief endlich in großer Hitze: Trotze nicht laͤnger, Florentin, und hoͤre etwas, wo - zu ich nicht wieder einen ſchicklichen Augenblick finden werde, denn wir werden uns nie wiederFlorentin I. 10146ſehen! Jch bin nicht Deine Mutter, und meine Tochter iſt nicht Deine Schweſter! Das war freylich etwas neues, ich war wie betaͤubt. Wo? wer? wer denn? rief ich. Dazu iſt jetzt nicht Zeit, auch nuͤtzt es Dir nicht, es zu wiſſen, Deine Eltern leben nicht mehr; ſie waren mir theuer, darum wareſt auch Du es mir. Es wird gelaͤutet, ich muß jetzt fort. Halte Dich nicht laͤnger auf, Flo - rentin, wenn man dich hier erblickt, ſo ver - mag ich Dich nicht zu retten. Es iſt der letzte Liebesdienſt, den ich Dir erweiſe: laß Dich umarmen, mein Sohn! Jch bin zwar nicht Deine Mutter, aber ich habe muͤtterliche Sor - ge fuͤr Dich getragen, vergiß es niemals! Lebe wohl, Gott fegne dich! Flieh! ich hoͤre Stimmen im Nebenzimmer! Oder kehrſt Du noch um? wirfſt Du dich reuig in die Arme der heiligen Kirche? Leben Sie wohl! rief ich ihr nach, als ſie mich ſtandhaft vernei - nen ſah und ſich mit einem Ausdruck von Schmerz und Unwillen ins Nebenzimmer wandte. Jetzt hoͤrte ich viele Stimmen, unter147 allen hervor die mir ſo verhaßte Stimme des Priors. Betaͤubt eilte ich fort, im allgemei - nen Getuͤmmel kam ich unbemerkt wieder hinaus.

Manfredi erwartete mich, der Abrede ge - maͤß, an der Gartenmauer; ich ſetzte mich in den Wagen, und ohne ihm weiter etwas zu ſagen, mußte er wieder hinfahren, wo wir hergekommen waren.

Dieß war das tragiſche Ende unſrer Heldenunternehmung! Begreifen Sie jetzt wohl, Juliane, wie leicht es iſt, einen Narren aus mir zu machen? Manfredi ſahe mich mit großen Augen an, und wartete mit Gelaſſenheit, bis der Strom von Ausru - fungen und Schtmpfreden, der ſich reichlich von meinen Lippen ergoß, gemaͤßigter wurde. Endlich war ich ruhig genug geworden, ihm den Verlauf meiner Unternehmung zu erzaͤh - len. Er war nicht wenig erſtaunt uͤber die Veraͤnderungen, Erklaͤrungen und Verwicklun - gen, die dieſe hervorgebracht hatte. Die Schwaͤche meiner Schweſter fiel ihm wenig(10) 2148auf, er geſtand mir, er haͤtte gleich anfangs Hinderniß von ihrer Seite befuͤrchtet, und ihre Einwilligung wuͤrde ihn weit mehr gewundert haben. Er war mit mir uͤberzeugt, daß ſie einſt ihr Geluͤbde bereuen, und dann dieſen verlornen Moment gern mit ihrem Leben zu - ruͤckrufen wuͤrde. Mein guter Manfredi trauer - te uͤber ihr Schickſal, und ſuchte ſie gegen meine heftige Anklage in Schutz zu nehmen.

Von ſeiner Liebe zu ihr war nicht wieder die Rede zwiſchen uns. Entweder ſie war in ihm eben ſo ſchnell erloſchen als aufgelodert, oder er draͤngte ſie gewaltſam in ſein Jnnres zuruͤck, um den gemeinſchaftlichen Angelegen - heiten, die uns jetzt ſo nahe lagen, Raum zu laſſen. Es ward beſchloſſen, daß Manfredi wieder zuruͤck auf die Akademie gehen muͤßte; von dort ſollte er an ſeinen Vater ſchreiben, ihm alles entdecken, und ihn um Rath fra - gen, ob er es wagen duͤrfte, in ſeine Vater - ſtadt zuruͤck zu reiſen, oder wenn der Antheil, den er an meinem Unternehmen genommen,149 bekannt geworden, und es gefaͤhrlich fuͤr ihn ware, ſo ſollte er ihn um die Erlaubniß bitten, mir folgen zu duͤrfen, ich hatte beſchloſſen, nach Venedig zu reiſen. Duͤrfte er aber zu ſeinem Vater reiſen, ſo ſollte ich in Venedig Nachricht von ihm erwarten, er wuͤrde alsdann dort alles anwenden, die boͤſen Folgen unſers Un - ternehmens zu unterdruͤcken, dann wollten wir uns auf irgend eine Weiſe wieder zuſammen treffen. Manfredi verſprach mir auch vor al - len Dingen keine Muͤhe und keine Nachfor - ſchung zu ſparen, um etwas uͤber meine Geburt und meine Eltern zu erfahren: wir hofften, der Marcheſe ſelbſt wuͤrde ſich dafuͤr intereſſiren, und uns eine Aufklaͤrung dieſer ſeltſamen Begebenheit verſchaffen. Wie die Kinder beſchaͤftigte uns die Dunkelheit uͤber mein vergangnes Schickſal mehr, als die Sor - ge fuͤr die Zukunft; ein ſonderbares Raͤthſel war es allerdings, daß fremde Menſchen ſich eine ſolche Gewalt uͤber mich hatten anmaßen wollen, und dann mich wieder mit ſo vieler Sorgfalt behandelt hatten. Die Nacht hin -150 durch reiſten wir, dann trennten uns unſre verſchiedenen Wege. Den Morgen ſchieden wir unbekuͤmmert und mit der Zuverſicht, uns bald wieder zu ſehen, um uns dann gewiß nie wie - der zu trennen.

[151]

Neuntes Kapitel.

In wenigen Tagen war meine Reiſe gluͤcklich und ohne Abentheuer zuruͤckgelegt; da war ich nun, ohne Aufſicht, ohne Zweck, ohne Plan, als den zu leben, in meinem ſiebzehnten Jahr, mit aller meiner eigenthuͤmlichen Ausgelaſſen - heit, die noch ausgelaßner war, ſeitdem ich niemand angehoͤrte, mit einem Vermoͤgen von ungefaͤhr tauſend Dukaten, (ein unerſchoͤpfli - cher Reichthum fuͤr meine Unbeſorglichkeit und Unerfahrenheit) ſprudelnd vor Geſundheit und Muthwillen und allen erwachenden Sinnen in Venedig! Erwartet hier von mir, ihr lieben Freunde, keine detaillirte Fortſetzung meiner Lebensgeſchichte, es koͤnnte mich leicht152 zu weit fuͤhren; auch gehoͤren meine tollen Be - gebenheiten in der majeſtaͤtiſchen Republik, dieſem Sammelplatz aller Thorheiten in ernſt - hafter ceremonioͤſer Huͤlle ſo wie der graͤulich - ſten Anhaͤufung aller Grauſamkeiten unter die froͤhlichſte Maske geſteckt, ſie gehoͤren nicht in den eigentlichen Lauf meines Lebens: vielmehr ward dieſer durch jene gehemmt; aber ſie ma - chen zuſammen ein artiges Kapitel in meinen Konſeſſionen aus, die ich gewiß noch einmal ſchreiben, und Jhnen zueignen werde, Julia - ne. Gut, ich werde Sie bey Jhrem Wort halten. Und dieſes deswegen, weil ſie ſich mit einem Bekenntniß endigen ſollen, das, aller Wahrſcheinlichkeit nach, das letzte ſeyn wird, das ich abzulegen haben werde, und das Julianen am naͤchſten betrifft. O jetzt keine von Jhren niedlichen Poſſen, Florentin! Bringen Sie Jhre Geſchichte zu Ende, ich bin hoͤchſt neugierig. Und ich hoͤchſt ermuͤdet von den Erinnerungen meiner unnuͤtz vertau - meiten Jahre! Doch ich gehorche.

Jn kurzer Zeit war ich nun in Venedig der153 Polarſtern des guten Tons, |die Seele aller Jntriguen, der Freund aller luſtigen Koͤpfe, der Anfuͤhrer aller tollen Streiche, der Tyrann aller zaͤrtlichen, und der Ehrgeiz aller koketten Frauen geworden. Es gab kein gutes Haus, in das ich nicht freyen Zutritt hatte. Da ich mit meinen tauſend Dukaten zu leben angefan - gen, als waren es eben ſo viele Tonnen Gol - des, ſo nahmen ſie ein raſches Ende. Die Boͤrſen meiner Anhaͤnger benutzte ich nicht, wiewohl ſie mir offen ſtanden, weil ich ſie nicht brauchte: ich war ſehr gluͤcklich im Spiel, und ſpielte viel. Einigen klaͤglichen dummen Teu - feln, die weder das Spiel, noch ſich ſelbſt ver - ſtanden, (denn ſie hatten in wahrer blinder Wuth ihr ganzes Vermoͤgen gegen mich geſetzt und verloren) deren Frauen ich kannte und bedauerte, hatte ich ihren Verluſt zuruͤckgege - ben, wodurch ich bald in den Ruf der Groß - muth gerieth.

Jn dieſer brillanten Epoche bekam ich ei - nen Brief von Manfredi. Sein Vater war gleich nach Empfang ſeines Briefes zu ihm154 auf die Akademie gekommen. Durch unſre Geſchichte war der Prior zu ſehr in Vortheil gegen den Marcheſe geſetzt, als daß er ihn nicht haͤtte zu benutzen ſuchen ſollen. Man - fredi durfte es ſo wenig als ich wagen, ſich in ſeiner Vaterſtadt ſehen zu laſſen, aber auch nach Venedig durfte er nicht kommen, ſondern er mußte nach Frankreich zu dem Re - giment, worin ſein Vater ihm eine Kompag - nie gekauft hatte. Der Marcheſe war ſehr aufgebracht wegen des unuͤberlegten Streichs, beſonders weil er es uns eigentlich unterſagt hatte, irgend etwas fuͤr Felicita, (ſo heißt ſie) zu unternehmen. Doch ließ er mir durch Man - fredi wiſſen, er wuͤrde jemand den Auftrag geben, auf mein Betragen in Venedig Acht zu geben, und weiter Sorge fuͤr mein Fort - kommen tragen, wenn der Bericht uͤber mich gut ausfiele. Noch habe er nichts naͤheres uͤber meine Geburt und meine Eltern erfah: ren koͤnnen, er wuͤrde aber keine Muͤhe ſpa - ren und mir, ſobald er etwas ſicheres wiſſe,155 Nachvicht daruͤber ertheilen. Unterdeſſen ſollte ich der wuͤrdigſten Eltern mich wuͤrdig machen.

Jch hatte eine große Freude uͤber den Brief meines Manfredi, denn außer dieſen Nachrichten fand ich die ſchoͤnſten Beweiſe von der Fortdauer ſeiner Liebe und einige freundliche Vorſchlaͤge, uns wieder zu ſehen. Auch der vaͤterliche Ton des Marcheſe freute und beruhigte mich; doch war es, als ob ir - gend ein Geiſt mich abhielt, mich, wie ich gekonnt haͤtte, ganz ſeiner Sorge zu uͤberlaſ - ſen, und ſeinem gutgemeinten Rath zu fol - gen. Es widerſtrebte etwas in mir der Noth - wendigkeit, einen regelmaͤßigen Stand und ein Amt zu bekleiden, es war mir nicht be - ſtimmt, auch fuͤhlte ich ſelbſt mich nicht dazu geſtimmt. Zwar nahm ich mir vor, Man - fredi aufzuſuchen, um bey demſelben Regi - mente, wobey er ſtand, wo moͤglich Dienſte zu nehmen, und ich ſchrieb es ihm, aber die Ausfuͤhrung dieſes vernuͤnftigen Plans ſchob ich immer weiter hinaus. Bald wollte ich dieß156 nur noch abwarten, bald jenes ausfuͤhren; kurz es ward nichts daraus.

Unter vielen Reiſenden und Fremden, die ich kennen lernte, waren ein paar Englaͤnder, die ſich ſehr an mich hingen: reiche Lords, die ihr Geld um ſich her warfen, um ihre Lange - weile los zu werden, und das, was ſie fuͤr ihr Geld eintauſchten, machte ihnen nur noch groͤſ - ſere. Jhr ſonderbares humoriſtiſches Weſen zog mich an, ihre Langeweile machte mir die groͤßte Kurzweile. Was ihnen an mir gefallen haben mochte, weiß Gott; ſie waren beſtaͤndig bey mir und ſagten oft, in ihrer rauhen Mund - art, ich waͤre der einzige Jtaliaͤner, der ihnen nicht unleidlich waͤre. Das war freylich ſehr ſchmeichelhaft fuͤr mich, wenn ich nur nicht Venedig mit ſeinen Herrlichkeiten und meines Lebens dort herzlich uͤberdruͤſſig geworden waͤre! Jch ſehnte mich fort.

Jch hatte meine Lords zu allen Kunſtwer - ken, die Venedig enthaͤlt, gefuͤhrt, hatte viele Staͤdte Jtaliens, wo es etwas Sehenswuͤrdi - ges gab, mit ihnen durchreiſt. Dieß und der157 Umgang mit einigen jungen deutſchen Mahlern, die ich in der Zeit kennen lernte, brachten mich auf den Gedanken, die Kunſt zu ſtudiren und dann nach Rom zu gehen, um ſeine Wunder der Kunſt zu ſehen und zu verſtehen. Dieſen Gedanken ergriff ich nun aus ganzer Seele und ſchob das Soldatwerden weit, weit zuruͤck. Jch ſann und that und traͤumte nichts anders, als zeich - nen, die Werke des Alterthums ſtudiren, und mit meinen Mahlern Kunſtgeſpraͤche fuͤhren. Mit dieſen war ich auch entſchloſſen, nach Rom zu reiſen, und mit ihnen dort zu leben: durch einen ſonderbaren Vorfall ſah ich mich aber ge - noͤthigt, fruͤher noch, als dieſe es bewerkſtelli - gen konnten, Venedig zu verlaſſen.

Jn einem großen Hauſe ward eines Abends waͤhrend dem Karneval ein Ball gegeben; ich ward von den Englaͤndern beredet, mit ihnen hinzugehen. Man ſpielte, der eine von mei - nen Lords ſpielte hoch, und verlohr anſehnlich gegen eine Maske, die durch ihr anhaltendes Gluͤck wohl Verdacht gegen ſich erregen mochte. Mein ehrlicher Grosbrittannier verſtand das158 Ding unrecht, und ſchimpfte etwas zu laut, und in der gewohnten kraͤftigen Manier. Nach einem kurzen heftigen Wortwechſel warf der Lord ſeine Karte der Maske an den Kopf. Jch befand mich an einem andern Ende des Saals in einer Unterhaltung mit ein paar mir unber kannten Masken, die mich neugierig machten, weil ſie mich zu kennen ſchienen, wenigſtens wußten ſie viel von mir; ploͤtzlich hoͤrte ich Tumult, ſah Stilette blinken, die Maske ſank nieder; in demſelben Moment kam der andre Lord haſtig auf mich zu, nannte hoͤchſt unvor - ſichtig meinen Namen laut, und rief mich ſei - nem Landsmann zu Huͤlfe. Jch, noch unvor - ſichtiger, folgte ihm hin. Man hatte dem Niedergeſunknen die Maske abgenommen, man erkannte den Sohn eines Nobile, er war todt. Der Laͤrm nahm zu; der Lord hatte ganz den Kopf verloren, bewegte ſich nicht von der Stelle, und ließ das Gedraͤnge um ſich her anwachſen. Jch riß ihm das blutige Stilett, das zum Gluͤck noch kein andrer bemerkt hatte, aus der ſchlaffen herunterhaͤngenden Hand, ließ159 es fallen, indem ich mich zu gleicher Zeit darnach buͤckte, und es wieder aufnahm. Dem Moͤrder nach! rief ich aus, dort nach jener Thuͤr! er hat hier neben mir das noch bluti - ge Stilett fallen laſſen, ſo eben draͤngt er ſich dort hinaus! Alles folgte mir nach der Thuͤr, die ich bezeichnet hatte. Der Lord ward verlaſſen. Seinem Landsmann gab ich einen Wink, und im Vorbeigehen ſagte ich ihm: zu mir! Alsdenn miſchte ich mich in den dichten Haufen, der nach der Thuͤr ſtroͤmte; ich trieb und draͤngte mit der Men - ge und kam gluͤcklich hinaus. Jch miethete ſogleich ſelbſt eine Gondel, die ich an einem beſtimmten Ort warten ließ, und eilte nach meiner Wohnung, wo ich die beyden Lords ſchon fand. Jch kuͤndigte ihnen an, daß ſie unverzuͤglich fort muͤßten, bezeichnete ihnen den Ort, wo ſie die Gondel in Bereitſchaft finden wuͤrden, und rieth ihnen, gleich nach Rom zu reiſen. Sie waren wegen Geld in Verlegenheit; was ſie bey ſich gehabt, war im Spiel verloren und nach ihrem Hauſe160 durften ſie ſich nicht wagen, weil man dort gewiß ſchon auf ſie wartete. Jch gab ihnen alles, was ich an baarem Gelde hatte. Sie verſprachen mir mein Darlehn gleich wieder auszahlen zu laſſen, denn auf ihr zuruͤckge - laßnes Vermoͤgen in Venedig war nicht mehr zu rechnen. Sie gingen fort, und kamen gluͤcklich nach Rom. Jch hatte alles ſo ſchnell und vorſichtig getrieben, daß es ſelbſt vor meinem Bedienten ein Geheimniß geblieben war.

Jch hatte mir eine Erkaͤltung zugezogen, und mußte einige Tage zu Hauſe bleiben. Als ich zum erſten Mal den Abend wieder in Geſell - ſchaft ging, kam mir die Dame vom Hauſe, die meine Freundin war, entgegen, und fuͤhrte mich, ſo bald ſie unbemerkt war, in ein Kabi - nett. Seyn Sie auf Jhrer Hut, ſagte ſie, es iſt bekannt, daß Sie dem Moͤrder des jun - gen Nobile durchgeholfen haben, und daß er Jhr Freund iſt. Sie erinnern ſich, daß zwey Masken mit Jhnen ſprachen, als einer von den Englaͤndern Sie bey Jhrem Namen zu Huͤlfe161 rief. Der Ermordete iſt ein Anverwandter und Freund der einen von den beyden Masken: er erfuhr erſt, wer der Ermordete ſey, nachdem Sie ſich ſchon hinaus gedraͤngt hatten. Der Moͤrder war gleich nicht zu finden, Sie haben ihm fortgeholfen, und der Freund des Nobile hat beſchloſſen, Sie fuͤr Jhre unzeitige Huͤlfe buͤßen zu laſſen. Sie ſind angeklagt, und man wird einen Verhaftsbefehl auswirken. Was dieſe Maßregel gegen Sie erleichtert, und je - den Verdacht beſtaͤrkt, iſt: daß man aus Jh - rem Geburtsort einigen Leuten von Bedeutung aufgetragen hat, uͤber Jhre Auffuͤhrung genau zu wachen. Einer von denen, welchen es auf - getragen worden, iſt eben der Ermordete, und dieſer hatte es wieder ſeinem Freunde aufgetra - gen, Jhre Bekanntſchaft zu machen, um Sie beſſer zu beobachten; dieſer nimmt nun dieſen Umſtand als einen Beweis, daß Sie Antheil an der Ermordung gehabt, um ſich von ſeiner Aufſicht zu befreyen.

Jch beklagte mich gegen meine Freundin uͤber dieſe |ſinnloſe Beſchuldigung. SinnlosFlorentin. I. 11162oder nicht, fiel ſie mir ein, Sie wiſſen, es iſt genug, daß man den leiſeſten Verdacht erregt, um Sie zu verderben. Sie haben dem Moͤr - der fortgeholfen, dieß iſt genug, und mehr als genug gegen Sie. Jhr Feind hat ſich auf das Zeugniß der andern Maske berufen, daß Sie zu Huͤlfe gerufen worden, und wirklich hingeeilt ſind. Dieſe Maske nun iſt mein ſehr guter Freund, der es weiß, daß ich Jhnen gewogen bin, er hat mich alſo, kurz vorher, ehe Sie kamen, von Allem unterrichtet. Das Zeugniß abzulegen darf er nun einmal nicht verſagen; aber wenigſtens ſind Sie gewarnt. Eilen Sie nach Hauſe, ſorgen Sie, daß man keine Pa - piere bey Jhnen findet!

Jch mußte ſogleich fort; auf der Treppe, wie ich hinuntergehe, koͤmmt der eine meiner jungen Deutſchen athemlos mir entgegen. Gott Lob, daß ich Sie finde! rief er mir zu, Sie muͤſſen fort, gleich auf der Stelle. Jch begleite Sie bis hinaus, und erzaͤhle Jhnen unterwe - gens. Jch war ohne Geld, von dem jungen Kuͤnſtler war nichts uͤberfluͤſſiges zu erwarten. 163Er mußte einen Augenblick auf mich warten, ich ging wieder zur Geſellſchaft zuruͤck; meine Freun - din mochte mir meine Beſtuͤrzung anſehen, ſie kam mir entgegen, ich vertraute ihr meine Ver - legenheit, ſie half mir auf der Stelle heraus, nach einem kurzen zaͤrtlichen Abſchied verließ ich ſie und Venedig.

Jch eilte mit meinem Deutſchen Freunde durch lauter enge Gaͤßchen, und wir kamen gluͤcklich hinaus. Er erzaͤhlte mir nun, daß er und ſein Freund mich haͤtten in meiner Woh - nung beſuchen wollen, zu ihrem Schrecken haͤt - ten ſie aber Gerichtsperſonen bey mir gefunden, die alles durchſucht, und meine Briefe und Pa - piere durchgeleſen haͤtten. Aus den verwirrten Reden, die ihnen entfallen waͤren, haͤtten ſie ungefaͤhr vernehmen koͤnnen, weſſen man mich beſchuldigte. Sie waͤren darauf fortgeeilt mich aufzuſuchen, und mir zu helfen, daß ich fort - kaͤme. Gluͤcklicher Weiſe waͤre ihnen nicht weit von meiner Wohnung mein Bedienter begegnet, von dieſem haͤtten ſie erfahren, wo ich hinge - gangen ſey.

(11) 2164

Jch mußte fort, das ſahe ich ein. Meine Papiere waren allein ſchon hinreichend mir den Prozeß zu machen. Außer einigen launenhaf - ten poſſenmaͤßigen Sachen, die ich zu meiner Luſt aufgefetzt, in denen ich das wuͤrdige Ve - nedig nicht geſchont hatte, waren auch einige Briefe und Billets vorhanden von Frauen, welche die Richter etwas nahe angingen, und die ich unvorſichtiger Weiſe nicht vernichtet hat - te. Gnade war alſo nicht zu hoffen. Jch machte mich ſogleich auf den Weg, und em - pfahl meinen guten Deutſchen mich bald in Rom aufzuſuchen. Sie verſprachen es mir. Der Aufenthalt in Venedig war ihnen durch dieſe Begebenheit verleidet, auch hatten ſie in der That viel Anhaͤnglichkeit fuͤr mich. Sie wollten durchaus etwas Deutſches an mir fin - den, ich haͤtte es ihnen gern und mit Vergnuͤ - gen geglaubt, haͤtten die Lords nicht zu gleicher Zeit behauptet, ich habe viel von einem Eng - laͤnder an mir.

[165]

Zehntes Kapitel.

Auf meiner einſamen Reiſe hatte ich Raum etwas nachzudenken. Mir war, als haͤtte mich ein bezauberter Wirbelwind aus Venedig und allen Verhaͤltniſſen geriſſen. War es aber das ploͤtzliche des ganzen Ereigniſſes, oder war es, daß mein Leben in Venedig mich beſchaͤftigt hat - te, ohne mich zu intereſſiren, kurz mir ſchwebte das Ganze wie laͤngſt vergangen nur entfernt im Gedaͤchtniß, ich konnte meine Wuͤnſche und meine Gedanken alle vorwaͤrts richten, nichts zog mich zuruͤck. Dieß machte mich aufmerk - ſam auf mich ſelbſt, und auf die Leere meiner gefuͤhrten Lebensart.

Jch dachte an Manfredi, ich wuͤnſchte bey ihm zu ſeyn; zu gleicher Zeit fuͤhlte ich eine166 gewiſſe Abneigung, mich jetzt ſchon dem Solda - ten-Stand zu ergeben. Das Leben eines Sol - daten in Friedenszeit ſchien mir eine luſtige Sklaverey, nicht viel beſſer als Lakaien-Dienſt, und nur durch herrſchendes Vorurtheil daruͤber hinaus geſetzt. Soldat wollte ich zwaͤr ſeyn, dabey blieb es, dieß war der Hintergrund mei - nes Lebensplanes, aber nicht in einer Garniſon, nicht bey einer ſtehenden Armee. Jch wollte nie fuͤr den Despotismus, nie fuͤr eine unbekannte, oder gar nach meinen Begriffen ungerechte Sa - che fechten. Wie die Helden des Alterthums, wollte ich nur fuͤr die Freyheit ſtreiten, und in erkaͤmpftem Frieden, ruhig, frey, mein eigen ſeyn. Bey dem Gedanken an die Helden des Alterthums ward mir zugleich der an mein Vor - haben wieder rege, die Kunſt der Alten in Rom zu ſtudiren. Jetzt fuͤhlte ich ganz beſtimmt den Trieb dazu aufs neue in mir erwachen, und ich beſchloß meine ganze Zeit und mein Leben in Rom dazu anzuwenden. So bald ich dort an - kam, machte ich auch gleich alle Anſtalten, ein - ſam und fleißig meinen Plan auszufuͤhren. Er167 ſchien mir ſo gut und ſo wuͤrdig, daß ich da - von an Manfredi ſchrieb, und nachdem ich ihm meine letzte Begebenheit mitgetheilt, wendete ich meine ganze Beredſamkeit an, ihn zu bewe - gen, daß er ſogleich ſeine Kompagnie in Stich laſſen und zu mir nach Rom kommen ſollte, um mir nachzuahmen.

Jch bekam nach einiger Zeit eine freund - ſchaftliche Antwort von meinem guten Man - fredi. Zu mir koͤnnte er aber nicht kommen, der Marcheſe halte es nicht fuͤr rathſam, daß er ſeine Laufbahn unterbreche, und habe es ihm unterſagt. Meine Kataſtrophe in Vene - dig habe er ſchon durch ſeinen Vater erfahren, der uͤberaus aufgebracht wegen meiner Unbe - ſonnenheiten geweſen ſey. Man hatte es ihm nemlich aus Venedig mit allen moͤglichen Ver - kehrtheiten und Verfaͤlſchungen berichtet. Vom Antheil an der Mordthat ſprach er mich uͤbri - gens zwar frey, aber ich haͤtte mich niemals, meynte er, in ſolche gefaͤhrliche Geſellſchaften miſchen ſollen. Da ich aber doch die Ehre nicht verletzt haͤtte, ſo habe er noch nicht auf -168 gehoͤrt, ſich fuͤr mich zu intereſſiren, und es ſey ihm erfreulich geweſen, aus meinem Briefe an Manfredi zu erfahren, daß ich in Rom ſey. Auch habe er gar nichts dagegen, daß ich mich dort einem ruhigen Leben und den Studien uͤberlaſſe, nur ſollte ich meine Zeit zweckmaͤßig benutzen. Zuletzt kam wieder daſ - ſelbe Verſprechen, er wolle auch in Rom auf meine Auffuͤhrung wachen laſſen, und nach den Berichten, die daruͤber einliefen, wuͤrde er mich behandeln.

Jch aͤrgerte mich entſetzlich uͤber dieſe Auf - ſicht, die ſo unſichtbar wie die Allwiſſenheit uͤber mir ſchwebte, ohne daß ſie mit der All - weisheit verbunden geweſen waͤre, wie dieſe; denn ſie hatte mir in Venedig auf die ver - kehrteſte Weiſe von der Welt den groͤßten Schaden zugefuͤgt. Jch fand kein Mittel, mich von ihr zu befreyen, ohne den Marcheſe zu erzuͤrnen; er war mir zu werth, niemand als er hatte noch ſo viel fuͤr mich gethan. Jch glaubte aber, man wuͤrde es bald muͤde werden, mich zu beobachten, da ich aͤuſſerſt169 eingezogen, und bloß mit meiner Abſicht be - ſchaͤftigt lebte. Mit den beyden Lords, die ich noch in Rom fand, und die mir ſehr laͤ - ſtig wurden, mußte ich noch viel umherſtrei - fen und ihnen helfen die Beweiſe ihres Kunſt - verſtandes zuſammen treiben, die ſie fuͤr ihre baaren Guineen einhandelten. Sie hatten mir meinen Geldbeutel zuruͤckgegeben, ich fand die geliehene Summe dreyfach verdoppelt darinn; was mir gehoͤrte, nahm ich davon, das uͤbri - ge gab ich ihnen zuruͤck; nicht etwa, als ob ich es unter meiner Wuͤrde gehalten haͤtte, Geld anzunehmen: unter den Umſtaͤnden, in denen ich lebte, waͤre dieß laͤcherlich und zweck - los geweſen. Mein kleines Vermoͤgen war aufgezehrt, dem Marcheſe Geld abzufordern, dazu hielt ich mich nicht berechtigt, ob er es mir gleich durch Manfredi hatte anbieten laſſen, mich im Fall der Noth an ihn zu wenden. Dieſe Noth ſchien mir aber noch nicht eingetre - ten. Jch machte den Cicerone, ſobald es mir an Geld fehlte, und lebte wieder bey meinen Studien, ſo lange es vorhielt. Von den170 Fremden, die meiner bedurften, nahm ich unbefangen meinen Lohn an, es war kein andres Verhaltniß zwiſchen mir und ihnen, als daß ich ihnen meine Dienſte, ſie mir ihr Geld gaben. Mit den Lords ſtand ich aber nicht auf demſelben Fuß; der Dienſt, den ich ihnen geleiſtet, den konnten ſie mir mit Geld nicht bezahlen. Dieſe Herren aber fuͤhlten meinen Unterſchied nicht, ſie waren beleidigt, und thaten aufgebracht, daß ich ihre vollwich - tige Dankbarkeit verſchmahte; ich konnte ſie nur mit dem Verſprechen beruhigen, ſie in England zu beſuchen, wenn ich einſt Jtalien verlaſſen moͤchte, und in jeder Geldverlegen - heit von ihrer Freundſchaft Gebrauch zu machen. Sie reiſten endlich nach England zuruͤck.

Unterdeſſen waren meine guten Deutſchen Kuͤnſtler aus Venedig angelangt, und nun hob eine Zeit fuͤr mich an, die wohl immer zu den gluͤcklichſten Epochen meines Lebens gehoͤren wird. Jch ging mit niemand um, als mit Kuͤnſtlern, beſonders mit den auslaͤndiſchen, und unter dieſen zeichnete ich beſonders wieder171 die Deutſchen aus. Unter ihnen fand ich je - derzeit den hellſten Sinn, das treulichſte Be - ſtreben, und am meiſten innere Freyheit. Mein angeſtrengteſter Fleiß brachte mich in kurzem ſo weit, daß ich mit meinen Gefaͤhr - ten wetteifern konnte. Sobald meine Ge - maͤhlde verkaͤuflich waren, legte ich das Ge - werbe eines Cicerone voͤllig nieder, zeichnete und mahlte ununterbrochen. Um den Verkauf meiner Bilder, meiſtens Landſchaften, bekuͤm - merte ich mich eben ſo wenig, als um die An - wendung des geloͤſten Geldes. Das erſte be - forgten meine Freunde, und die Summen, die zu meiner wenig koſtbaren Lebensart vollkom - men ausreichten, haͤndigten ſie meiner Frau ein. Jhrer Frau? rief Juliane erſtaunt; doch wahrſcheinlich bloß Jhrer Haushaͤlterin? Nein, meiner Frau! Wie? Sie ſind verheirathet? Wirklich getraut? fragte Eduard. Wahrſcheinlich traute ſie mir, und ich habe ihr nur zu viel getraut. Es war ein ſehr ſchoͤnes Maͤdchen, eine Roͤmerin, die uns lange zum Modell geſeſſen hatte. Sie172 hielt ſich klug und beſcheiden, ſo daß ſie von uns allen hochgehalten, und wegen ihrer großen Schoͤnheit ſehr bewundert ward. Einige Tage fanden wir ſie niedergeſchlagener als gewoͤhn - lich, ich bat ſie, uns etwas vorzuſingen, um ſich ſelbſt damit zu erheitern. Sie ſang uns nun ein Lied, deſſen Jnhalt ungefaͤhr war: wenn ſie einen Mann haͤtte, der ſie liebte, und fuͤr ſie ſorgen wollte, ſo moͤchte ſie einzig fuͤr ihn und ſeine Wuͤnſche leben, das wuͤrde dann ihr groͤßtes Gluͤck ſeyn. Sie fang das Lied mit einer ſolchen ſuͤßen Unſchuld, ſo ſchuͤchterner Jnnigkeit, und ſah dabey ſo entzuͤckend ſchoͤn aus, daß ich, da ſie waͤhrend des Geſanges ihre Blicke am meiſten auf mich geheftet hatte, ihren Wunſch erfuͤllen mußte. Sie blieb gleich bey mir. Jch hatte meine große Freude an dem Kinde, wie gut ſie ſich nahm, und mit welchem Anſtande ſie dem Hausweſen vorſtehen konnte. Jch muß aber geſtehen, ſie haͤtte es weit ſchlechter machen koͤnnen, ſie wuͤrde mir doch nicht weniger gefallen haben, denn ihr kleidete alles, was ſie unternahm; man kann173 ſich nichts reizenderes erdenken, als dieſes kleine anmuthige Weſen. Meine groͤßte Luſt war es, ſie zu ſchmuͤcken, und ſie jeden Tag in unſerm Zirkel in immer neuem Koſtume und unerwar - teten Abaͤnderungen aufs koſtbarſte zu kleiden, darauf verwandte ich nicht eben den kleinſten Theil meiner Einkuͤnfte. Jch mahlte ſie unter jeder Geſtalt, und in allen erſinnlichen Stel - lungen, als Goͤttin, als Heilige, als Prie - ſterin, als Nymphe: dieſe Bilder ſollen mir ſehr gut gelungen ſeyn. Wir fuͤhrten das ein - fachſte und doch tollſte Leben, das ſich erden - ken laͤßt. Jch war der beſte Ehemann von der Welt, und ließ mich von ihr beherrſchen, ſo viel ſie wußte und vermochte; ſie lernte es im - mer beſſer. Je mehr ſie ihre Gewalt uͤber mich kennen lernte, deſto impertinenter und launenhafter ward ſie; da es mir aber damals auch gar nicht daran fehlte und ich, wenn es darauf ankam, zehnmal launenhafter und toll - koͤpfiger war als ſie, ſo entſtand nicht ſelten ein gar artiges Gepolter und Laͤrmen zwiſchen uns.

174

Jn unſern gewoͤhnlichen Abendzuſammen - kuͤnften, die bey mir gehalten wurden, ward entweder uͤber das Werk eines großen Meiſters, das wir denſelben Tag geſehen hatten, geſpro - chen, oder es ſtellte einer unter uns, der eine Arbeit vollendet hatte, ſie zur Beurtheilung auf, oder man las auch wohl einen alten Dich - ter laut vor. Mitten in den ernſthafteſten Beſchaͤftigungen entſtand dann nicht ſelten, zur großen Verwunderung aller Anweſenden, ein ploͤtzlicher lauter Laͤrm und Zank zwiſchen mir und meiner Frau, wovon niemand den Grund errathen konnte. Gewoͤhnlich war es aber nichts anders, als daß ſie mir, von den an - dern unbemerkt, ein Geſicht geſchnitten, das mir, wie ſie wohl wußte, verhaßt an ihr war; dieß beantwortete ich ihr dann mit einer imper - tinenten Gebehrde, die ſie nicht leiden konnte, ſo ging es eine Zeitlang hin und her, ohne daß es die andern bemerkten, bis wir dann laut auf einander losfuhren. Natuͤrlich endigte der Krieg eben ſo luſtig, als er entſtanden war. Unſre Haushaltung beſtand aber herrlich, zur175 Erbauung und Beluſtigung aller Angehoͤ - rigen.

Jch haͤtte fuͤglich eine lange Reihe Jahre in denſelben Beſchaͤftigungen und denſelben Freuden hinbringen koͤnnen, aber eine geheime Unruhe im innerſten Gemuͤth, ein Treiben nach einem unbekannten Gut ließ es mich ſelten rein genießen, daß es mir doch eigentlich recht wohl ging. Jch wuͤnſchte mir einen groͤßern Wirkungskreis, es kam mir oft ganz verkehrt vor, daß ich Kraft und Jugend einer einſei - tigen Ausbildung hingegeben; es duͤnkte mir laͤcherlich, daß ich ſo viel angewendet haͤtte, um mich frey zu machen, und nun dieſe er - rungne Freyheit doch nicht in ihrem ganzen Umfang benutzte. Mein Beſtreben ſchien mir kindiſch und zwecklos, weil ich immer mehr inne ward, daß ich eigentlich gar kein Talent zur Malerey hatte; dennoch war es mir wie - der gar nicht moͤglich, mich loszumachen, ſo wenig von meiner Lebensweiſe, als vom An - blick und dem Studium der großen Wunder der Kunſt. Jn manchen Stunden beunru -176 higte es mich wieder, nichts uͤber meine Ge - burt und meine Eltern zu erfahren, ich mußte bey jedem Schritt, den ich unternehmen wollte, befuͤrchten, daß ich meiner eigentlichen Beſtimmung entgegen arbeite. Oft fuͤhlte ich mich zu dieſen unruhigen Betrachtungen ge - fuͤhrt, doch konnte ich mich nicht lange einer truͤben Stimmung uͤberlaſſen, meine Freunde ſowohl als alle meine Uebungen fuͤhrten bald wieder Vergeſſenheit alles Grams herbey.

Endlich ward mir von meiner Kleinen die nahe Ausſicht zur Vaterwuͤrde verkuͤndet. Wie ſoll ich euch beſchreiben, wie mir ward bey die - ſer Nachricht! Es geſchah eine ploͤtzliche Re - volution in mir. Alles, was ich bis dahin geglaubt, gedacht, gefuͤrchtet, gehofft, geliebt und gehaßt hatte, nahm eine andre gleichſam glaͤnzendere Geſtalt in mir an. Jetzt wußte ich, was ich wollte; ich dachte nicht mehr an ein entferntes Gluͤck, ich hatte meine Beſtimmung gefunden. Doch mich ſelbſt verlor ich voͤllig dabey aus den Augen, auf das Kind bezog ich Alles: ich dachte unaufhoͤrlich an die Art, wie ich es177[er]ziehen, wie ich fuͤr ſein Gluͤck forgen, und wie ich in dieſem Kinde erſt meine Kindheit ge - nießen wollte, die mir ſelbſt ſo getruͤbt worden war. Was ich von Konntniſſen befaß, ſuchte ich zu ordnen und feſt zu halten, um es dann nuͤtzen zu koͤnnen, dabey ſtrengte ich mich mehr als gewoͤhnlich an, immer neue zu ſammeln. Meine Einkuͤnfte, um die ich mich ſonſt nie bekuͤmt mert hatte, berechnete ich jetzt mit großer Ge - nauigkeit; jedes Goldſtuͤck, das ich beyſeite legen konnte, erhielt im voraus ſeine Beſtim mung zum Beſten des Ankoͤmmlings. Lange Reden hielt ich an die Mutter, als ſie mit eini - gen Einſchraͤnkungen unzufrieden war, die ich einfuͤhren wollte, in denen ich ihr Sinn fuͤr ihre neue große Wuͤrde zu geben verſuchte. Jch merkte es nicht in meinem Eifer, daß ſie ſie mit großem Leichtſinn aufnahm. Einigemal war ich gegen meine Freunde, die ſich eines Laͤchelns und leichten Spottes uͤber meinen gut muͤthigen Enthuſiasmus nicht enthalten konn - ten, ernſthaft aufgebracht: ſie ſchwingen und ſahen mir gelaſſen zu. Kein rauhes LuͤftchenFlorentin. 1. 12178durfte die Mutter anwehen, ich bekuͤmmerte mich um jede Regel der Diaͤt, ich dachte nur darau, ſie in der beſten und ruhigſten Stim - mung zu erhalten, und vermehrte durch meine Aengſtlichkeit ihre Ungeduld, ſo daß ich unauf - hoͤrlich von ihren Launen litt. Was habe ich nicht angewandt, ſie vom Tanze abzuhalten, dem ſie mit großer Leidenſchaft ergeben war! Geliebt hatte ich ſie wohl eigentlich nie, aber jetzt fuͤhlte ich wahre Zaͤrtlichkeit fuͤr ſie; ſie war mir heilig. Wie weit aber war ſie von dieſen Gefuͤhlen entfernt, die mich ſo ent - zuͤckten!

Jch war genoͤthigt, eine Reiſe nach Florenz vorzunehmen, um eine angefangne Arbeit dort zu vollenden. Jch arbeitete mit ſolchem Eifer, daß ich in zwey Monaten vollendete, wozu ich ſonſt noch einmal ſo viel Zeit gebraucht haͤtte. Jch erhielt eine anſehnliche Summe, und eilte zuruͤck zu meinen Freunden.

Jch fand meine Kleine etwas blaß bey mei - ner Zuruͤckkunft, ich erkundigte mich aͤngſtlich nach ihrem Befinden, ihre Antwort befriedigte179 mich nicht, indeſſen ſchob ich es in meiner Freu - de auf ihren Zuſtand, denn ſie war uͤbrigens wohl und froͤhlicher, muthwilliger, als ich ſie verlaſſen hatte. Wir ſaßen bey Tiſche, ich er - zaͤhlte, fragte, uͤberließ mein Herz den ſchoͤn - ſten Eindruͤcken der Freude. Endlich fragte ich ſie ſo ſchonend als nur moͤglich, wie es zuging, daß ihr Wuchs noch ſo unveraͤndert waͤre, ich haͤtte nicht geglaubt, ſie noch ſo ſchlank zu fin - den? Meine zaͤrtlichen beſcheidenen Fragen wur - den mit lautem Gelaͤchter beantwortet; ich ließ nicht ab, ſie ward uͤbel gelaunt, einige heftig ausgeſtoßne Worte vermehrten meine Beſorg - niß, ich drang in ſie, endlich ſie hatte meine Abweſenheit benutzt ſie hatte ſich durch kuͤnſtli - che Mittel von dem Zuſtande befreyt. Die lange Beſchwerde, die ewige Sorgfalt ward, dem leichtſinnigen Geſchoͤpfe ſtraͤflich zur Laſt, ſie fuͤrchtete fuͤr ihre Schoͤnheit! Gott! ich werde noch jetzt ganz verwirrt, wenn ich mich daran erinnere. Jch verlor alle Faſſung, alle Gewalt uͤber mich. Athem und Sinne, vergingen mir meiner ſelbſt nicht mehr(12) 2180maͤchtig, warf ich mein Meſſer, das ich in der Hand hatte, mit ſolcher Gewalt zu ihr hinuͤber es haͤtte ſie auf der Stelle toͤdten muͤſſen, haͤtte die Wuth mich nicht blind gemacht; es blieb uͤber ihrem Kopf tief in der Wand ſtecken. Von meiner Wildheit erſchreckt, ſchrie ſie laut auf, und verließ eilends das Zimmer, ich war unvermoͤgend, ihr zu folgen.

O Florentin, ſagte Juliane, wie fuͤrchter - lich erſcheinen Sie mir! Sie haͤtten eine Mord - that begehen koͤnnen! Wie! war nicht ſie eine hartherzige, treuloſe, widernatuͤrliche Moͤr - derin? Mich, mich hatte ſie hoͤchſt unbarmher - zig gemordet! Still nur davon, und erlaubt, daß ich ende.

Die Treuloſe hatte auf der Stelle das Haus verlaſſen, ich ſah ſie nicht wieder. Ein gewiſ - ſer Kardinal hatte ſich ihrer angenommen. Wie ich nun erfuhr, hatte Se. Eminenz, die uͤbri - gens ein Muſter der Froͤmmigkeit fuͤr ganz Rom war, ihr ſchon laͤngſt nachgeſtellt, und wahr - ſcheinlich waͤhrend meiner Abweſenheit ſeine Ab - ſicht erreicht. Ein heftiger Blutſturz, den ich181 gleich nach jenem Auftritt bekam, drohte mei - nem Leben. Jch war zerſtoͤhrt, konnte meine Kraft, meine Froͤhlichkeit und meinen Trieb zur Arbeit nicht wiederfinden. Die Luſt zu rei - ſen kam mir wieder an, ich durfte es aber nicht wagen, wegen meiner angegriffenen Geſundheit. Jch mußte bey jeder etwas heftigen Bewegung Blut auswerfen. An dem Maͤdchen raͤchte ich mich weiter nicht; dem Kardinal konnte ich es aber doch nicht ſo hingehen laſſen; ich machte einige Verſe, in denen ich ihn eben nicht ſchonte. Es war Witz und Bitterkeit genug darin, ſie kamen bald in Rom herum. Meine Geſchichte war bekannt geworden, man errieth den Dich - ter, und zugleich die Eminenz. Er mochte es wahrſcheinlich durch aufmerkſame Diener erfah - ren haben, und fuͤr ſeinen Heiligenſchein beſorgt geworden ſeyn.

Jch ſuchte nun dieſe Begebenheit zu vergeſ - ſen, und ſtrengte mich an, meine alte Lebens - weiſe wieder einzufuͤhren, als ganz unerwartet ein Billet von meiner treuloſen Schoͤnen an182 mich kam. Aus einem Reſt von Anhaͤnglich - keit fuͤr mich, rieth ſie mir, ſo geſchwind als moͤglich Rom zu verlaſſen. Se. Eminenz waͤ - ren aͤußerſt aufgebracht auf mich, und haͤtten beſchloſſen, mich auf die Galeeren zu ſchicken, ich waͤre alſo keinen Tag ſicher in Rom. Se. Eminenz haͤtten ihr verſichert, ich haͤtte dieſe Strafe verdient, nicht allein wegen des boshaſ - ten Pasquills, wofuͤr er ſich niemals raͤchen wuͤrde, das er mir auch ſchon von Herzen ver - geben habe, ſondern ſowohl wegen der abſchen - lichen Abſicht ſie zu ermorden, nachdem ich ſie gewaltſam verfuͤhrt habe, als auch wegen mei - ner Jrreligioſitaͤt, und des gottloſen Planes, eine heidniſche Sekte zu ſtiften, zu welchem Ende ich geheime Zuſammenkuͤnfte mit jungen Kuͤnſtlern gehalten habe, wobey wir laͤſterliche Reden gegen den katholiſchen Glauben ausge - ſtoßen, und verſchiedene heidniſche Gebraͤuche eingefuͤhrt haͤtten. Ueberdieß waͤre ich ſchon laͤngſt verdaͤchtig, und ein Gegenſtand der Auf - merkſamkeit fuͤr die Polizey, weil von auswaͤrts her von gewiſſen Leuten Nachfrage nach meiner183 Auffuͤhrung geſchehen ſey; ich muͤßte mich alſo ſchon laͤngſt verdaͤchtig gemacht haben.

Denkt euch! denkt euch dieſen Abgrund von Abſurditaͤt! Es lag mir nichts daran, mich zu vertheidigen, ich haͤtte es leicht gekonnt. Es war mit gleichguͤltig, wo ich lebte, Jtalien war mir aber verhaßt. Jch verließ Rom noch in derſelben Stunde. Weil ich die Bewegung des Fahrens nicht ertragen konnte, ging ich zu Fuß nach Civita Vecchia, einige von meinen guten Gefaͤhrten gingen mit mir bis dahin - Hier ſchiffte ich mich nach Marſeille ein. Dort war die Luft, und die ruhige Einfoͤrmigkeit mei - nes Lebens, meiner Geſundheit ſo zutraͤglich, daß ich in einigen Monaten wieder voͤllig herge - ſtellt war. Auf wiederholte Briefe an Man - fredi bekam ich keine Antwort. Jn der Folge erfuhr ich, daß ſein Regiment die Garniſon ver - aͤndert habe, und meine Briefe wahrſcheinlich nicht an ihn gelangt waren. Damals glaubte ich aber zu meinem tiefſten Schmerz, er habe ſich von mir gewandt. Jch ſchrieb dieß dem Marcheſe zu, der wahrſcheinlich den Nachrich -184 ten aus Rom zufolge eine ſchlechte Meynung von mir bekommen, und ſie ſeinem Sohn mit - getheilt haͤtte. An den Marcheſe ſelbſt ſchrieb ich alſo nicht, ich glaubte ſeine Antwort vorher wiſſen zu koͤnnen.

Nan durchwanderte ich einſam einen großen Theil von Frankveich; die ſchoͤnen Traͤume und Bilder waren von mir gewichen, die ſonſt auf jeder neuen Reiſe vor mir herflogen. Mein Herz hatte ſich verſchloſſen, und ſo blieb ihm auch alles verſchloſſen. Jch lebte von Portraͤt - mahlen. Hatte ich mir an einem Ort einiges Geld erworben, ſo reiſte ich weiter. Manches zog mich an, aber nirgends wurde ich feſt ge - halten. Allenthalben fand ich dieſelben Ge - wohnheiten, dieſelben Thorheiten wieder, de - nen ich ſo eben entgehen wollte. Ein Vorur - theil hing am andern, und an dieſer Kette ſah ich die Welt gelenkt und regiert. Allenthalben fand ich Sklaven und Tyrannen; allenthalben Verſtand und Muth unterdruͤckt und gefuͤrchtet, Dummheit und niedrige Geſinnung beſchuͤtzt von denjenigen, denen ſie wieder als Pfeiler diente.

185

Jch trieb mich in Paris umher, es war mir nach und nach ein gar ſchlechter Spaß geworden, Geſichter aller Art fuͤr baare Bezah - lung zu konterfeyen, und fuͤr dieſes ſuͤndlich er - worbene Geld ein leeres thoͤrichtes Leben weiter hinaus zu ſpinnen, und die Erfahrung immer zu wiederholen, daß ich nirgends hinpaſſe.

An einem oͤffentlichen Ort kam ich zu - faͤllig in ein Geſpraͤch mit einem Engliſchen Manufakturiſten, der auf Frankreich ſchimpfte, und mir die Engliſche Freyheit ruͤhmte; mir fiel das Verſprechen ein, das ich meinen Lords in Rom gegeben hatte, in wenigen Ta - gen war ich in London. Hier fand ich nur den einen Lord, der andre, der den Nobile getoͤdtet hatte, wohnte auf ſeinem Landſitz. Eine Zeitlang lebte ich nun mit jenem im Cirkel der Londoner Elegants. Jch fand aber keine Luſt an ihren Routs und Punſch und tollen Wetten, worin ſie den Ehrgeiz des guten Tons ſetzten. Die Geſellſchaft ihrer Frauen erfreute mich nicht; ihre Fabriken, Manufakturen, ihr Geld, ihr Hochmuth, ihre Nebel und ihre Stein -186 kohlen machten mich traurig und ſchwermuͤ - thig. Und ihre Freiheit, die mir ſo oft ge - prieſene? Jch war bey einer Debatte im Unterhauſe zugegen und nun war ich be - ſtimmt entſchloſſen, und es bleibt unwiderruf - lich dabey, ich gehe zur republikaniſchen Ar - mee nach Amerika. Es muß jenen Menſchen gelingen, ſich frey zu machen, da ſie nicht von falſchem Schimmer geblendet ſind, den man ihnen anſtatt des aͤchten Goldes aufdringen will. Meine Kraft und meine Thaͤtigkeit ſey ihnen geweiht. Bey dieſem Gedanken erwach - ten Muth und Freudigkeit wieder in mir, fuͤr die Amerikaniſche Freiheit fechten, duͤnkte mir ein wuͤrdiger Endzweck.

Jch fetzte einen Tag feſt, an dem ich wieder nach Frankreich wollte. Den Tag vor - her hatten meine Londoner Herren ein Pfer - derennen, zu dem ſie mich mit zogen; ich folgte mit einigen andern den Rennern, mein Pferd ſtuͤrzte, ich ward heftig herunter geſchleudert; ohne es zu achten, ſtieg ich wieder auf, fuͤhlte mich aber, nach einer kurzen Anſtrengung ih -187 nen zu folgen, ſo angegriffen, daß ich mich nach Hauſe mußte bringen laſſen. Meine Bruſt war durch den Fall aufs neue verletzt worden, ich war krank, allein und verlaſſen. Mein Geldvorrath war erſchoͤpft, was noch uͤbrig war, reichte kaum hin, mich wieder herzuſtellen. Um dieſes zu beſchleunigen, woll - te ich einige Zeit auf dem Lande leben; die Luft in London war mir hoͤchſt ſchaͤdlich. So bald ich es nur wagen durfte, ſo weit zu ge - hen, machte ich mich auf, um meinen Lord auf ſeinem Landhauſe zu beſuchen, und mich bey ihm voͤllig zu erholen.

Jn ſeinem mit der gewoͤhnlichen Pracht der Engliſchen Land-Palaͤſte errichteten Wohn - ſitz fand ich alles in bunter, lauter Freude und Luſtbarkeit. Der Lord hatte ſich vor we - nigen Tagen mit einer reichen Erbin vermaͤhlt, und man war noch ſehr mit den Feſten be - ſchaͤftigt. Jch kam zu Fuß, war matt, bleich und im Koſtum eines Fußgaͤngers. Jch muß - te lange ſtehen, eh ich jemanden fand, der mich Sr. Herrlichkeit melden wollte. Es gab188 eine Zeit, wo ich es nicht ſo geduldig abge - wartet haͤtte, aber ich war krank, und mein Geiſt gebeugt. Des Stehens im laͤrmenden Vorſaal endlich muͤde, ſchickte ich eine Karte mit meinem Namen hinein, und ſetzte dazu, ich waͤre im Garten. Jch ging wirklich da - hin und ſetzte mich auf die erſte Bank, die ich fand. Bald darauf kam auch der Lord mit einem wahren Feſttagsgeſicht, das immer laͤnger ward, je naͤher er mir kam, und mein Ausſehen und meinen Aufzug gewahr ward. Seine ganze Haltung ſchwebte zwiſchen Erſtaunen und Verlegenheit. Jn jeder andern Stimmung haͤtte mich Se. Herrlichkeit ſehr be - luſtigt, jetzt war es mir aber ganz gleichguͤl - tig; es war ein ſchoͤner warmer Herbſttag, der Sonnenſchein that mir wohl, ich legte mich bequem auf den ſchoͤnen Sitz und ließ den Lord ſich wundern und nicht begreifen. Seine Fragen beantwortete ich ihm zur hoͤchſten Noth - duͤrftigkeit; er wußte bald, wie es gegenwaͤr - tig mit mir ſtand, und mein Begehren, eini - ge Zeit lang bey ihm auf dem Lande zu woh -189 nen. Nach einigem Huſten und Raͤuſpern, und einem ſehr bedeutenden Spiel mit Uhrkette und Hemdkrauſe, erzaͤhlte er mir endlich: waͤhrend ſeiner Ruͤckreiſe nach England ſey ſein Vater ploͤtzlich geſtorben, und habe viel Schulden und die Guͤter in Unordnung gelaſſen. Auch er habe nach gemachter Rechnung, auf ſeinen Reiſen weit mehr ausgegeben, als ihm eigent - lich erlaubt geweſen. Schon auf dem Punkt, ganz ruinirt zu ſeyn, habe er ſeine geſammel - ten Schaͤtze der Kunſt und die groͤßten Sel - tenheiten alle verkaufen muͤſſen, was doch nicht zugereicht habe, ihn wieder in Ordnung zu brin - gen; er ſey aber jetzt ſo gluͤcklich geweſen, eine ſehr reiche Frau zu finden, durch deren Vermoͤgen er ſich wieder in den Stand geſetzt ſaͤhe, ſei - nen alten Glanz anzunehmen. Er finde ſich uͤberaus gluͤcklich; nur auf das Gluͤck, ſeinen alten Freunden oͤffentlich viel zu ſeyn, muͤſſe er Verzicht thun; heimlich koͤnne er aber manches fuͤr ſie thun. Seine Anverwandte und die Fa - milie ſeiner Gemahlin, die jetzt zu ſeinem Gluͤck alles gethan habe, muͤſſe er durchaus hierin190 ſchonen, und ihnen nicht das Zutrauen neh - men, daß er von ſeiner Neigung zur Ver - ſchwendung geheilt ſey, wovon ſie immer noch. einen Ruͤckfall befuͤrchteten. Da ſie nun ſeinen. Aufenthalt in Jtalien als den Hauptgrund ſei - nes Verderbens anſaͤhen, ſo ſey ihnen alles ver - daͤchtig, was von dort herkomme, beſonders alle Kuͤnſtler, und was damit zuſammenhaͤnge. Jetzt ſey die ganze Familie noch in ſeinem Hauſe zu den Vermaͤhlungsfeſten verſammelt, und er ſowohl als ich wuͤrden viel von ihrer uͤbeln Laune und ihrem Verdacht zu leiden ha - ben, wenn er mich als Kuͤnſtler und Bekannt - ſchaft aus Jtalien bei ihnen einfuͤhren woll - te; das, was er mir ſchuldig ſey, was ich fuͤr ihn gethan, komme in keinen Betracht bey ih - nen, da er jene Geſchichte mit einigen andern Umſtaͤnden erzaͤhlt habe, und ſie nur die Summe berechneten, die er an jenem Abend im Spiel verloren. Seine Freundſchaft und ewige Dank - barkeit ſey noch immer dieſelbe fuͤr mich; ich ſollte nur erſt eine andre Toilette machen, und in einem Wagen oder zu Pferde bey ihm an -191 kommen, dann wollte er mich unter fremden Namen, als Graf oder Marquis vorſtellen; unter dieſem Titel koͤnnte ich eine Zeit lang, wie zum Beſuch, bey ihm bleiben. Alsdann wollte er mir eine bequeme Gelegenheit, nach Frank - reich zu reiſen, verſchaffen, und mir einige ſehr gute Empfehlungen dorthin mitgeben. Sollte ich mich aber nicht in dieſe Maßregeln fuͤgen koͤnnen, ſo moͤchte ich wenigſtens nicht die kleinen Beweiſe ſeiner Daͤnkbarkeit und Freundſchaft verſchmaͤhen, und erlauben, daß er ſich zum Theil der großen Verbind - lichkeiten entledige, die er mir habe. Wo ich auch waͤre, ſollte ich mich ſeiner erinnern, und immer auf ſeine Freundſchaft rechnen. Waͤh - rend deſſen hatte der großmuͤthige Lord einen Geldbeutel hervorgezogen und ihn neben mir auf die Bank hingelegt.

Als ich merkte, daß er nichts mehr zu ſa - gen hatte, und irgend eine Antwort erwartete, ſtand ich auf, ſetzte meinen Hut gelaſſen auf, wandte mich und ging hinaus, ohne ein Wert zu ſagen. Ueberdieß war auch eben die Sonn192 untergeſunken. Wie lange er mir nachgeſe - hen haben mag, weiß ich nicht.

Mir war leichter, da ich hinaus ging, als da ich herein trat. Der Auftritt hatte mei - ner Laune ganz wohl gethan, mir war ſo leicht wieder zu Sinn, als ſeit lange nicht; es war mir, als haͤtte ich eine große Rechnung im Leben abgeſchloſſen, und koͤnnte nun auf neues Conto wieder anfangen.

Jch genoß im nahen Gaſthofe einiger ru - higen Stunden, in denen ich uͤberlegte, was ich nun thun wolle? Zur Armee konnte ich noch nicht, ich haͤtte bey meiner angegriffenen Ge - ſundheit das Soldatenleben nicht ertragen, es ging uͤberdieß zum Winter. Jch ging zu - ruͤck nach London, verkaufte meine uͤberfluͤſſi - gen Habſeligkeiten, und ſo mit recht friſchem heitern Sinn, der nicht wenig dazu beytrug, daß ich bald wieder Kraͤfte und Geſundheit erlangte, verließ ich England und ſchuͤttelte den Staub von meinen Fuͤßen, als ich wieder zu Calais anlangte.

193

Jm ſuͤdlichen Frankreich hoffte ich zuerſt meine Geſundheit wieder zu erlangen, ich befchloß alſo hin zu wandern und den Win - ter unter jenem milden Himmel abzuwarten. Den Fußreiſen fing ich an vielen Geſchmack abzugewinnen; es giebt keine luſtigere und abentheuerlichere Art zu reiſen, wenn es ei - nem eben nicht darauf ankoͤmmt etwas ſpaͤter an das Ziel ſeiner Reiſe zu gelangen, oder wenn man, was noch ſchoͤner iſt, ſeiner Reiſe kein Ziel zu ſetzen braucht.

Freylich mußte ich nun wieder zum Portraͤt - mahlen meine Zuflucht nehmen, um durchzukom - men. Es ward mir aber ſchwerer und zuletzt ganz unmoͤglich, eine Kunſt, die die Goͤttin, das Gluͤck und die Gefaͤhrtin meiner ſchoͤnen und gluͤcklichen Tage geweſen war, im Ungluͤck als Magd zu gebrauchen. Jch behalf mich oft lieber aͤußerſt kuͤmmerlich, litt manchen Tag lieber wirklich Noth, ehe ich mich dazu entſchloß. Jch half mir ſinnreich genug, und auf unzaͤhliche Weiſen durch; eine der an - genehmſten war mir darunter, als Spiel -Florentin. I. 13194mann von Dorf zu Dorf verſorgt zu wer - den.

Auf meiner Wandrung machte ich zufaͤllig die Bekanntſchaft eines Schweizers, der mit ſeiner kranken Frau den Winter in Frank - reich zubringen wollte, um ſie wenigſtens ſo lang als moͤglich zu erhalten, da keine Hoff - nung zu ihrer voͤlligen Wiederherſtellung war. Sie ſtarb waͤhrend des Winters, und er, der uͤber ihren Verluſt ſehr trauerte, bat mich, ihm auf ſeiner Ruͤckreiſe nach Baſel Geſell - ſchaft zu leiſten. Jch nahm es gern an, ich hatte die Schweiz noch nicht geſehen. Um ſich zu erheitern, reiſte er nicht geradezu nach Baſel, wo er wohntc, ſondern begleitete mich vorher auf meinen Zuͤgen in den Alpen. Jch machte einige gutgelungene Zeichnungen, die er behielt. Unter dieſen Beſchaͤftigungen verſtrich wieder der Sommer; nun ging ich mit ihm nach Baſel, wo ich durch ihn in einigen artigen Haͤuſern bekannt ward.

Die Haͤrte des Winters hielt mich lang in Baſel, waͤhrend dem gab ich Unterricht195 im Zeichnen und Mahlen. Einigen liebens - wuͤrdigen Menſchen dort habe ich gar vieles zu verdanken, ohne daß ſie es vielleicht ahn - den. Auf ihren Rath, und durch ihr Lob aufmerkſam gemacht, lernte ich Deutſch und einige eurer guten Dichter kennen. Sie gaben mir gluͤckliche Stunden, und recht - fertigten meine Vorliebe fuͤr die Deutſchen. Jch ward durch ſie bewogen noch erſt durch Deutſchland zu reiſen, und mich noch laͤn - ger den Stuͤrmen eines ungewiſſen Lebens hinzugeben, eh ich zu meiner Beſtimmung gelange. So bald man nur hoffen durfte, daß die Kaͤlte nicht mehr zuruͤckkehren wuͤrde, habe ich mich von Baſel aufgemacht; ich habe einige ſchoͤne Theile von Deutſchland durchreiſt, und fuͤhle mich ſo geſtaͤrkt an Leib und Seele, daß ich nun meinen Entſchluß gewiß auszufuͤhren gedenke. Mich treibt etwas unnennbares vorwaͤrts, was ich mein Schickſal nennen muß. Es lebt etwas in mir, das mir zuruft, nicht zu verza - gen, und nicht bloß zu leben, um zu leben,(13) 2196ich muß meinen Endzweck, ich muß das Gluͤck, das ich ahnde, wirklich finden.

Jhr wolltet es ſo, meine guten Freun - de, da habt ihr alſo die Erzaͤhlung meiner wichtigſten Begebenheiten. Es ſind wunder - liche Bilder der Vergangenheit in mir rege geworden, bey denen ich mich vielleicht zu lange aufgehalten habe, ſie haben ſich mei - ner bemeiſtert. Laßt es geheim zwiſchen uns bleiben, was ich euch erzaͤhlt habe. Es giebt Menſchen, die das, was man ihnen ſagt, ſelten ſo nehmen, wie man es ſagt, und wie man es genommen haben will, ſon - dern aus eigner Bewegung noch ganz etwas anders dahinter ſuchen und vermuthen. Der Himmel gebe, daß euch meine Erzaͤhlung keine Langeweile gemacht, und daß ihr jetzt nicht uͤbler von mir denkt als vorher.

Beyde verſicherten ihn ihrer freundſchaft - lichſten Theilnahme, und daß er ihnen viel - mehr jetzt noch werther geworden ſey. Sie unterhielten ſich noch mit ihm uͤber dieſe und jene Begebenheit, die ihnen aufgefallen war. 197Juliane erkundigte ſich genauer nach den Na - men, Verhaͤltniſſen und den Perſonen, die darinn vorkommen. Fragen Sie mich nicht um dergleichen Zufaͤlligkeiten, liebe Ju - liane, ſie gehoͤren nicht auf die entfernteſte Weiſe zu mir, und von mir ſollte ich Jh - nen erzaͤhlen! Hinz oder Kunz, es iſt ei - nerley. Wenn es Jhnen ſo um den deutli - chen Begriff der Perſoͤnlichkeit zu thun iſt, ſo koͤnnen Sie ſich Perſonen nach Jhrer Be - kanntſchaft dazu denken, man findet ſehr leicht paſſende Vorbilder. Und nun, bevor wir uns auf den Ruͤckweg machen, laſſen Sie uns noch erſt tiefer ins Gebirge hinein - gehen, dort von dem Gipfel eines Bergs, den ich kenne, iſt eine Ausſicht, die ich, eh die Sonne untergeht, zeichnen und Jh - nen, lieben Freunde, als ein Gaſtgeſchenk und ein Andenken dieſes Tages zuruͤcklaſſen will. Die Sonne ſteht nicht mehr hoch, es hat ſich ein kleiner Wind erhoben, und Sie koͤnnen ohne Beſchwerde gehen, Ju - liane.

198

Jene waren es wohl zufrieden, man machte ſich auf den Weg, und im Gehen ſagte Florentin: jene Ausſicht habe ich aus einem ganz beſondern Grund zum Abzeichnen erſehen. Man ſieht von dort ein Haus, das mich durch ſeine Bauart und eine Aehnlichkeit in der Lage an eine luſtige Ge - ſchichte erinnert, die ich euch noch erzaͤhlen will. Jhr moͤgt euch meiner dabey erin - nern, wenn ich fern bin, und ihr die Zeichnung beſchaut in friedlichen Tagen.

Als ich in Venedig war, ließ ich mich in einer der ſchoͤnen Naͤchte mit einigen jun - gen Leuten auf dem Golfo herum fahren. Wir machten Muſik, und waren voller Muthwillen und Luſt. Einer unter ihnen hatte eine gute Freundin, die in einem Landhauſe nicht weit vom Ufer wohnte, es fiel ihm ein, ihr eine Muſik unter ih - rem Fenſter zu bringen, und er bat uns ihn zu begleiten: wir willigten ein, und ſtiegen ans Land. Die Muſik ward gebracht, und ſo gnaͤdig aufgenommen, daß man uns199 alle einlud ins Haus zu kommen, um Er - friſchungen einzunehmen. Der gute Freund ging ſogleich hinein, wir andern entfern - ten uns beſcheiden, nachdem wir einen Ort beſtimmt hatten, an dem wir uns wieder zuſammen finden wollten. Wir zerſtreuten uns; was die andern anfingen weiß ich nicht, ich ging am Ufer des Golfo ent - lang, freute mich uͤber die entzuͤckende Aus - ſicht, die in glaͤnzendem Mondlicht vor mir lag, und hoͤrte dem Geſang der Gondelie - re zu, und der verſchiedenen Muſik auf den Gondeln, die hin und her ſchwammen. So fortwandelnd, ſah ich mich auf einmal vor einem Gitter, das ein anmuthiges Blumen - Parterr umſchloß, von dem die Geruͤche die Luft um mich her durchwuͤrzten. Am an - dern Ende des Parterrs, dem Gitter ge - genuͤber, war ein Haus ſichtbar mit einem Balkon, der nur wenig von der Erde er - hoͤht war, auf demſelben ſtanden die Thuͤ - ren offen, die nach einem Zimmer zu fuͤh - ren ſchienen, aus dem ein helles Licht ſchim -200 merte, und der Gefang einer weiblichen S〈…〉〈…〉 me, von einer Guitarre begleitet, er - ſcholl. Das Ganze zog mich hinlaͤnglich an, um mich etwas naͤher umzuſehen. Jn einem Augenblick ſprang ich uͤber das Gitter, und ſtand dicht vor dem Balkon, wo ich das ganze Zimmer hinter demſelben uͤberſehen konnte.

Es war ein niedlich gebauter Sallon, der ſo geſchmackvoll und zugleich praͤchtig de - korirt war, als ich es ſelten geſehen habe. Beſonders zog meine Blicke ein ſchoͤner Fuß - teppich an, mit gruͤnem Grund, auf den zerſtreute Roſen eingewirkt waren, der ſich gegen die glaͤnzenden mit Gold verzierten Waͤnde ſehr ſchoͤn ausnahm. Das Ganze ward von einem kryſtallnen Kronleuchter zau - beriſch beleuchtet. Eine ſchoͤne junge Frau, im leichteſten zierlichſten Gewande, die ſchwarzen Haare oben auf dem Kopfe zuſam - mengeknuͤpft, ging ſingend auf dieſem Tep - pich mit leichtem Fuß umher, in ihrem Arm ruhte die Guitarre, die ſie mit vieler An -201 muth ſpielte. Einige große Spiegel an der gegen mir uͤberſtehenden Wand vervielfach - ten das Bild der reizenden Geſtalt im Vor - uͤberſchweben. Jch war wie feſtgebannt, ich konnte mich nicht ſatt ſehen. Sie legte die Guitarre hin, und zog eine Schelle, ein Lakay in reicher Livree trat herein und brach - te Erfriſchungen, ſie ſetzte ſich nun auf den Sopha dicht am offnen Balkon und verzehr - te einige Orangen, die ſie erſt mit großer Zierlichkeit ſchaͤlte. Die unbedeutendſte Be - wegung gefiel mir an ihr. Jch mußte es wagen, ſie zu ſprechen, das war gewiß. Ohne mich lange zu beſinnen, ſang ich halb leiſe einige Verſe auf dieſelbe Melodie, die ſie ſo eben geſungen hatte. Jch konnte ſie genau dabey beobachten: erſt war ſie er - ſchrocken, dann ſtaunte ſie, zuletzt ward ſie aufmerkſam, ich hoͤrte auf und ſeufzte tief. Einen Augenblick beſann ſie ſich, dann trat ſie auf den Balkon heraus; ſie ſprach einige Worte, aus denen ich merkte, daß ſie mich fuͤr einen andern nehmen mußte. 202Jch antwortete ſo, daß ſie nicht ſogleich aus dem Jrrthum geriſſen ward. Als ich hoffen durfte, daß die Unterhaltung ſie ge - nugſam intereſſirte, gab ich ihr zu verſte - hen, daß ich ihr unbekannt ſey. Sie war aufgebracht, ging zuruͤck, ſprach aber doch immer weiter durch die offen gebliebene Thuͤ - re; es waͤhrte nicht gar lange, ſo hatte ich ſie wieder durch Bitten und Schmeiche - leyen auf den Balkon gezogen. Sie wollte meinen Namen wiſſen, ich ſagte ihn ihr, ſie ſchien einiges Zutrauen zu gewinnen als ſie ihn hoͤrte. Sie hatte ſchon viel zu mei - nem Vortheil gehoͤrt, ſagte ſie, und ſchon lange gewuͤnſcht mich perſoͤnlich zu kennen. Was konnte ſie mir erfreulicheres ſagen? Auch war unſre Bekanntſchaft mit dieſen we - nigen Worten ſo gut als befeſtigt. Meine Rolle war etwas ſchwierig, ich mußte durch - aus ſie ſchon geſehen, gekannt, geliebt ha - ben, ſonſt waͤre mein Eindringen ganz un - verzeihlich geweſen, auch ſprach ſie ganz ſo, als| ob mir alle ihre Verhaͤltniſſe bekannt203 ſeyn muͤßten, da ich doch nicht das minde - ſte, nicht einmal ihren Namen wußte, und ſie zum erſten Mal ſah.

Gewandtheit und Dreiſtigkeit halfen mir gluͤcklich durch. Nach einigen kleinen Debatten erhielt ich Erlaubniß, ſie den folgenden Abend an demſelben Ort wieder zu ſehen. Jch mußte nun zuruͤck, ich fand meine Gefaͤhrten am be - ſtimmten Ort wieder, und ſchiffte mich mit ih - nen ein. Auf meine Erkundigung erfuhr ich von ihnen, wer meine ſchoͤne Unbekannte ſey. Die Nachrichten waren gut und erfreulich. Aus einem großen Hauſe, vom Kloſter an ei - nen Mann vermaͤhlt, der alt genug war ihr Großvater zu ſeyn; ſie lebte groͤßtentheils auf dem Lande, wo ihr Gemahl ſie dann und wann beſuchte. Sie liebte ihn nicht, war keine Fein - din der muntern Geſellſchaft, kurz ich fand keine Urſache zu verzweifeln.

Die ſolgende Nacht fand ich mich wieder vor dem allerliebſten Balkon ein. Daſſelbe Licht, derſelbe Glanz. Jch ſtand nicht lange, als ſie heraustrat, ſie ſprach freundlich mit204 mir, ich bat um Erlaubniß zu ihr hinauf zu kommen, ſie verweigerte es nur ſchwach, ich ward dringender, ſie nachgebender; mit einem Sprung war ich auf dem Balkon zu ihren Fuͤßen. Das Geſtaͤndniß ihrer Liebe entzuͤckte mich. Nun ſaß ich ihr gegenuͤber, auf demſel - ben Teppich, von demſelben Kronleuchter be - leuchtet. Sie ſaß wieder auf demſelben Sopha, ſchaͤlte Orangen, die ſie mit mir theilte, ich war wie berauſcht, meine Sinne waren gefan - gen. Einige Stunden waren ſchnell verſcherzt, nun verlangte ſie, ich ſollte wieder fort; dieſer leichte Anſtrich von Sproͤdigkeit, mich nicht laͤnger bey ſich zu behalten, konnte mir nicht ſehr im - poniren, ich beſtand darauf nicht fortzugehen, und es ward mir erlaubt zu bleiben. Doch mußte ich wieder hinaus auf den Balkon, um dort zu warten, bis ſie mich wieder rufen wuͤrde, und ihre Frauen erſt fortzuſchicken. Die Lich - ter wurden ausgeloͤſcht, ich mußte lange draußen ſtehen, es fing an zu regnen, ich ward ver - drießlich, Langeweile war mir von je her un - ter jeden Umſtaͤnden unleidlich. Endlich kam205 eine Geſtalt, die mich bey der Hand nahm, nicht die bekannte, es war eine vertraute alte Kammerfrau, ſie fuͤhrte mich durch einige fin - ſtre Zimmer, jeder Umſtand fiel mir unange - nehm auf. Endlich oͤffnete ſie eine Thuͤr und ging zuruͤck. Die Gebieterin kam mir entge - gen, ſie war im nachlaͤſſigen Nachtgewande, ſehr ſchoͤn, das Zimmer aͤußerſt praͤchtig, der Schein einer Lampe erleuchtete es nur daͤmmernd, alles war koͤſtlich, unvergleichlich, aber es war nicht jenes Zimmer, jene Erleuchtung, jene Spiegel, jener ſchoͤne Teppich; mich umgab nicht der ſuͤße Blumenduft, es war nicht die - ſelbe Grazie, die umherſchwebte. Jch ſehnte mich nach dem Schimmer, nach der Luft jenes kleinen Tempels, der mich zuerſt ſo freundlich begruͤßt, und meine Fantaſie gefangen genom - men hatte. Das ganze reizende Bild war mir entruͤckt, meine Wuͤnſche mir fremd geworden. Jch ſetzte mich neben die ſchoͤne guͤtige Dame, und ſprach einiges mit ihr, wahrſcheinlich wa - ren es hoͤchſt gleichguͤltige abgeſchmackte Phra - ſen, die die Dame ſehr betreten machten, und206 eben ſo gleichguͤltig beantwortet wurden. Es gab einen Augenblick der ſonderbarſten verle - genſten Stille, ich fuͤhlte das unſchickliche, wollte durchaus wieder in meine vorige Stimmung kommen, die Anſtrengung ge - lang mir ſchlecht, ich ward voͤllig verdrießlich, und ſchlief endlich ein! Als ich erwachte, ſchien der Tag hell ins Zimmer hinein; ich fand mich allein, noch auf demſelben Sopha: es waͤhrte einige Minuten eh ich mich entſinnen konnte, wie ich in dieſes Zimmer gekommen, und was mit mir vorgegangen war? Aber mit welcher Beſchaͤmung fiel mir nun mein ganzes Abentheuer und mein unerklaͤrlich albernes Be - nehmen ein. Die Thuͤren waren alle offen, kein Menſch kam mir in den Weg, ich ſchlich mich unbemerkt aus dem Hauſe, und eilte aus der Gegend, ſo ſchnell als moͤglich. Jch war uͤberzeugt, daß meine Geſchichte ſo hoͤchſt laͤ - cherlich, als ſie wirklich war, und gewiß mit den unvortheilhafteſten Zuſaͤtzen, in Venedig herumkommen wuͤrde, und traute mich gar nicht, mich die erſte Zeit wieder dort ſehen zu207 laſſen. Jch verließ alſo Venedig auf einige Mo - nate, und zog aufs Land, Das war die Zeit, von der ich Jhnen erzaͤhlt, die ich unter Hirten auf dem Lande gelebt habe.

Dieß iſt gegen die Abrede, Florentin, ſagte Juliane, dieſe Geſchichte gehoͤrte noch zu ihren Confeſſionen!

[208]

Eilftes Kapitel.

Die Zeichnung war beynahe ganz angelegt, als die Sonne ſich auf einmal hinter eine dicke Wolke verbarg, die ein ploͤtzlicher Wind von Abend her am Horizont herauftrieb; es don - nerte in der Entfernung. Unſere Wanderer rafften ſich auf, um vor dem nahenden Gewit - ter noch ein Dorf zu erreichen, von dem ſie nicht weit entfernt waren. Das Wetter zog ſich aber ſchneller zuſammen, als ſie dahin ge - langen konnten. Ein Wirbelwind jagte den Staub wie eine dichte Wolke uͤber ihnen empor, der Donner kam naher, die Blitze wurden ſtaͤr - ker, einzelne große Regentropfen fielen. Ju - liane ward aͤngſtlich, ſie lief aus allen Kraͤften,209 bald verſetzte der Sturm ihr den Athem, der Staub verdunkelte, und verletzte ihre Augen. Sie fuͤrchtete eben ſo ſehr auf freyem Felde zu bleiben, als Schutz unter einem Baume zu ſu - chen. Jhre Fuͤße waren vom Laufen auf den ſpitzen Steinen wund geworden, und ſie ſtieß allenthalben an.

Ein ſtarker Blitz, dem der Donner gleich nachfolgte, fiel vor ihnen nieder, Julianens Knie wankten, ſie fiel halb ohnmaͤchtig zu Bo - den. Die beyden Freunde nahmen ſie abwech - ſelnd in ihre Arme, und trugen ſie fort. Das Gewitter war nun ganz nahe, Blitz und Don - ner wechſelten unaufhoͤrlich, der Regen ſtroͤmte in Guͤſſen herab.

Jn der Verwirrung verfehlten ſie den rech - ten Weg zum Dorfe, ſie irrten, fuͤr Julianens Geſundheit beſorgt, aͤngſtlich umher; endlich erblickten ſie, indem ſie an einem Bache hinauf gingen, am jenſeitigen Ufer eine Muͤhle, die einſam im Thale lag, von Bergen umſchloſſen. Eine Bruͤcke ging nicht hinuͤber, ſie riefen laut; aber der Sturm und das Rauſchen desFlorentin. I. 14210Bachs war lauter als ihre Stimmen. End - lich gelang es ihnen nach vielem Winken und Rufen bemerkt zu werden; einige Muͤllerbur - ſchen kamen mit einem Kahn zu ihnen heruͤber, nahmen die beyden Freunde und die vor Angſt und Muͤdigkeit halb todte Juliane ein und brachten ſie nicht ohne Muͤhe uͤber den vom Regen angeſchwollenen Bach nach der Muͤhle.

Sie waren vom Muͤller und von ſeiner Frau nicht gekannt, wurden aber gaſtfrey auf - genommen. Eduards erſte Sorge war trockne Waͤſche und Kleider fuͤr Julianen zu verſchaf - fen. Eine neue Verlegenheit entſtand. Sie mußten Julianens Geſchlecht der Muͤllerin ent - decken, dieſe war erſtaunt und getraute ſich nicht, ihnen zu glauben. Nach vielen Bitten und Betheurungen ließ ſie ſich endlich bewegen, Waͤſche und Kleider fuͤr Julianen herzugeben, und ihr bey der Umkleidung huͤlfreich zu ſeyn, denn die arme war ſo erſchoͤpft, daß ſie kaum zu ſtehen vermochte. Waͤhrend ſie umgekleidet und zu Bette gebracht ward, war in der daran211 ſtoßenden Stube ein Kaminfeuer gemacht wor - den; Eduard und Florentin waren dabey be - ſchaͤftigt, ihre Kleider zu trocknen. Die Muͤl - lerin trat aus der Kammer, und berichtete ih - nen, die Jungfer waͤre eingeſchlafen! Sie ſah die jungen Leute mit mißtrauenden neugie - rigen Blicken an. Sie konnte ſich das Ver - haͤltniß auf keine rechtliche Weiſe erklaͤren, in - dem dieſe junge ſchoͤne Perſon, von deren Ge - ſchlecht ſie nun voͤllig uͤberzeugt war, mit den beyden Maͤnnern ſtehen muͤſſe. Sie hatte aller - ley Vermuthungen, ſchmiedete ſich irgend einen Zuſammenhang, den ſie ihnen in nicht gar feinen Wendungen deutlich zu verſtehen gab. Zuletzt ſagte ſie etwas aͤngſtlich: ſie habe zwar ihre Huͤlfe nicht verſagen duͤrfen, aber weder ſie noch ihr Mann wuͤrden gern Leute beher - bergen, die ſich zu verbergen Urſache haͤtten; und mehr ſolcher Redensarten, die eben keine guͤnſtige Meynung von ihren Gaͤſten ver - riethen.

Die beyden beluſtigte ihre Beſorgniß, und ſie vermehrten ſie muthwillig durch geheimniß -(14) 2212volle Bitten, ſie nicht zu verrathen. Florentin trieb tauſend kleine Poſſen um ſie her und ſuchte ſie durch Schmeicheleyen und artigen Scherz freundlich zu erhalten. Sie ſchien da - fuͤr auch gegen ihn beſonders gefaͤllig, und Eduard zog ſie deshalb auf. Bald war ſie ſo dreiſt gemacht, daß ſie ſich einige zweydeutige Spaͤße uͤber Julianen erlaubte, deren Stand ſie weit entfernt war zu ahnden. Sie drang immer mehr mit Fragen in ſie, die aber nicht ernſthaft beantwortet wurden. Der Muͤller war unterdeſſen ſeinen Geſchaͤften nachgegan - gen, und hatte ſeiner Frau die Sorge fuͤr die Wanderer uͤberlaſſen.

Juliane erwachte nach einem kurzen Schlummer und hoͤrte zu ihrer nicht geringen Beſchaͤmung die Zweifel und den Argwohn der Muͤllerin. Sie gab ein Zeichen, daß ſie erwacht ſey, Eduard eilte zu ihr ans Bett, um ſich nach ihrem Befinden zu erkundigen; ſie bat ihn, dieſen fuͤr ſie ſehr verdruͤßlichen Auftritt zu endigen, und die Frau uͤber ihren Jrrthum ernſthaft aufzuklaͤren; ſie hatte zwar anfangs213 gewuͤnſcht, unbekannt zu bleiben, lieber wollte ſie aber dieſen Vorſatz aufgeben und ihren Na - men entdecken, um den Vermuthungen und den Zudringlichkeiten der Frau ein Ende zu machen. Eduard ging ſogleich wieder hinaus, und ver - kuͤndigte ihr nun, wen ſie unter ihrem Dache bewirthe. Juliane rief ſie zu ſich, und beſtaͤ - tigte, was Eduard geſagt hatte; aber die Frau wollte ihnen durchaus nicht glauben. Alles was ſie zu ihrer Beglaubigung vorbringen mochten, ſchien eben dem Argwohn der guten, etwas einfaͤltigen Frau nur neue Nahrung zu geben; das machen Sie mir nicht weiß, rief ſie, daß meine gnaͤdige Herrſchaft zu Fuß, ohne Bedienten und verkleidet ausgehen wird! Florentin lachte ausgelaſſen uͤber dieſe tolle Be - gebenheit, Juliane mußte trotz der Verwirrung auch lachen. Die Muͤllerin lief hinaus und holte ihren Mann. Dieſer ſah kaum Julia - nen etwas genauer an, als er ſie gleich er - kannte: er hatte ſie oft geſehen, wenn er in ſeinen Geſchaͤften aufs Schloß gekommen war, in der Maͤnnertracht aber, blaß und ohnmaͤch -214 tig, mit naſſen herunterhaͤngenden Haaren, beym Eintritt nicht wieder erkannt; er bat ſie ſehr wegen des Verdachts ſeiner Frau um Ver - zeihung, ſuchte dieſe, ſo gut als er vermochte, zu entſchuldigen, und verließ ſogleich das Zim - mer wieder.

Die Muͤllerin war beſchaͤmt und verwirrt, ſie erbot ſich zu allen Dienſten mit der groͤßten Bereitwilligkeit, und erkundigte ſich nach den Befehlen der jungen Graͤfin. Vor allen Din - gen bat Juliane, ihr einen Boten zu verſchaſ - fen, den ſie aufs Schloß ſchicken koͤnnte, um ihren Wagen heraus zu holen, weil ſie gleich nach Hauſe fahren wolle. Die Nacht war aber unterdeſſen voͤllig hereingebrochen, das Gewit - ter hatte zwar aufgehoͤrt, aber der Sturm war noch ſtark und der Regen ſtroͤmte gewaltig herab, dabey konnte man in der Finſterniß nicht einen Schritt vor ſich ſehen. Der Muͤller entſchuldigte ſich, daß er jetzt niemand uͤber den Bach koͤnne fahren laſſen, es waͤre beynahe unvermeidliche Lebensgefahr dabey, da er vom Regen ſehr angeſchwollen ſey, und der Sturm215 den Kahn gegen die Pfaͤhle ſchleudern moͤchte. Bis zu Tages Anbruch muͤßte ſie alſo geduldig warten. Man erkundigte ſich, ob nicht noch ein andrer Weg als der uͤber den Bach nach dem Schloß fuͤhrte? Es ging allerdings noch einer durch das Gebuͤrge, dieſer fuͤhrte aber ſo weit herum, daß der Bote doch nicht vor dem andern Morgen anlangen wuͤrde.

Juliane befand ſich in unbeſchreiblicher Angſt, wegen der Angſt ihrer Eltern. Sie zitterte und weinte, ihre Fantaſie fuͤllten die ſchreckhafteſten Vorſtellungen. Eduard war be - reit, ſich ſelbſt uͤber den Bach zu wagen, nur um ſie deſto eher zu beruhigen; hierin willigte ſie aber auf keinen Fall ein. Wollen Sie mich hier allein laſſen, rief ſie, und ſich ſelbſt in Gefahr geben? das wuͤrde ja meine Angſt noch vermehren! Sie verſprach endlich, gedul dig den Tag abzuwarten. Nun wollte ſie ver - ſuchen aufzuſtehen, ſie fuͤhlte aber eine ſolche Mattigkeit und ſo große Schmerzen an ihren Fuͤßen, daß ſie ſich entſchließen mußte, im Bette zu bleiben.

216

Die Muͤllerin hatte ein Abendeſſen berei - tet. Eduard und Florentin ſetzten ſich vor das Bett; auf eine ſolche Ermuͤdung fehlte es un - ſern jungen Wanderern nicht an Eßluſt, und waͤren die Speiſen auch nicht ſo niedlich und ſorgfaͤltig zubereitet geweſen, es wuͤrde ihnen dennoch gewiß trefflich geſchmeckt haben; an dieſen hatte aber die Muͤllerin wirklich ihre ganze Kunſt verſchwendet, um ihre Gaͤſte nach Wuͤrden zu bewirthen, die ſie anfangs zu ih - rer großen Beſchaͤmung ſo verkannt hatte.

Es gelang den beyden Freunden, Julianen auf Augenblicke ihre Unruhe vergeſſen zu ma - chen, und ſie etwas zu erheitern. Sie fanden aufs neue Gelegenheit uͤber ihre Schoͤnheit zu erſtaunen. Die Blaͤſſe und die Mattigkeit in Blick und Stimme verlieh ihr neue Reize, und kontraſtirte auf eine intereſſante Weiſe mit der Kleidung, die die Muͤllerin ihr geliehen hatte, die tuͤchtig und fuͤr das Beduͤrfniß gemacht, ihren zarten Gliedern nirgend anpaſſen wollte. Florentin wollte ſie durchaus in dieſer Umge - bung zeichnen, damit ſie ſich kuͤnftig in ihrem217 hoͤchſten Glanze der Nichtigkeit aller menſch - lichen Pracht erinnern moͤge. Denn, ſetzte er hinzu, wahrſcheinlich wird dieſe Bege - benheit doch die anſtrengendſte und abentheuer - lichſte ſeyn, die ſie in ihrem ganzen kuͤnftigen Leben erfahren werden.

Jn den Blicken der beyden Liebenden leuch - tete die innigſte Zaͤrtlichkeit hervor. Darf er ſo kuͤhn unſer kuͤnftiges Leben verſpotten? ſchien Juliane mit ihrem beſeelten Blick zu fragen; und in Eduards Augen las ſie die Ver - ſicherung der ewigen Liebe, des unvergaͤngli - chen Gluͤcks. Er hatte ſeinen Arm um ſie ge - ſchlungen, ſie lehnte das holde Geſicht an ſeine Schultern; die Seligkeit der Liebe hielt ihre Lippen verſchloſſen, ſie ſprachen nicht, und ſagten ſich doch alles.

Florentin war hinausgegangen und hatte ſich an die Hausthuͤre gelehnt. Er hoͤrte auf die Wogen des Bachs, der ſich reiſſend fort - waͤlzte, und ſprudelnd und ſchaͤumend uͤber die Raͤder der Muͤhle hinſtuͤrzte; auf das Brauſen des Windes im Walde, und das friedliche218 Klappern innerhalb der Muͤhle. Es klang ihm wie veruehmliche Toͤne. Wie ein Wettgeſang des thaͤtigen zufriedenen Landmanns und des muthigen, ehrſuͤchtig drohenden Kriegers toͤn - ten Muͤhle und Waldſturm; der Bach rauſchte in immer gleichen Geſaͤngen ununterbrochen dazwiſchen, wie die ewige Zeit, allem Ver - gaͤnglichen, allem Jrdiſchen trotzend, und ſeine Bemuͤhungen verhoͤhnend.

Er hoͤrte im Wohnzimmer des Muͤllers laut reden, er ſchlich ſich aus einem Anfall von Neu - gierde unter das offene Fenſter, und hoͤrte ein Geſpraͤch zwiſchen dem Muͤller und ſeiner Frau an, das ſie uͤber ihre Gaͤſte fuͤhrten; dieſe Er - ſcheinung mochte ihnen wunderlich genug vor - kommen. Der Muͤller konnte, wie es ſchien, die Sitte nicht billigen, die die vornehmen Leute einfuͤhren, inkognito zu reiſen. Man kennt ſie nicht! rief er, am Ende werde ich noch in jedem wandernden Geſellen einen verkleideten Prinzen, oder eine Prinzeſſin vermuthen muͤſſen, und mich in Acht nehmen, daß ich ihm nicht zu nahe trete. Die Muͤllerin war ganz beſaͤnftigt, und wollte219 ihn mit dieſer Sitte ausſoͤhnen: Sie hoͤren und ſehen doch, ſagte ſie, wenn ſie ſo reiſen, manches, was ſie ſonſt nimmermehr erfahren wuͤrden, und daß die vielen Umſtaͤnde und Weit - laͤuftigkeiten wegfallen, iſt bequemer fuͤr ſie, und auch fuͤr unſer einen. Nun, ſagte der Muͤl - ler wieder, manches brauchen ſie auch nicht zu erfahren, und dafuͤr, daß wir keine Umſtaͤnde mit ihnen machen duͤrfen, machen ſie auch wie - der mit uns keine. Nun, Vater, du wirſt dich noch einmal um den Kopf reden, ich daͤchte doch, wir haͤtten nicht zu klagen. Wer ſpricht davon? ich meynte nur. Ja dir macht man’s nimmermehr recht! mit deinem haͤßlichen Mißtrauen machſt du einen auch mit ſo argwoͤhniſch; haͤtte ich mich nicht beynahe ganz erſchrecklich gegen die junge gnaͤdige Herr - ſchaft vergangen? und wer war Schuld als du? Jch will alles verantworten, was ich ſpreche, aber das koͤnnen nicht alle, und darum muͤſſen ſie ſich wohl in Acht nehmen! Ach und es iſt doch gewiß eine liebe allerliebſte Herr - ſchaft! ich wuͤrde mich in meinem Leben nicht220 zufrieden geben, wenn ich ſie beleidigt haͤtte. Beleidigt haſt du ſie doch, aber ſie hat es dir wieder verziehen! Ja ſo guͤtig iſt ſie, und ſo herablaſſend, wie eine Heilige, und dabey ſo zart und ſo ſchoͤn! Vater, wenn du das ſo geſehen haͤtteſt, wie ein Wachsbild, man kann ſie doch gar nicht genug anſehen! Und die beyden jungen Herren ſind wohl auch ſo guͤtig wie die Heiligen? Ja ihr Frauen! Nun, was faͤllt dir wieder ein? du haſt immer ganz beſondere Gedanken. Ja vorzuͤglich der Eine, der iſt nun vollends lauter Guͤte! nicht wahr? Welchen meynſt du denn, Vaͤter - chen? Nun den, du weißt wohl, du haſt ihn mir ja ſo ſchlau gezeichnet. Jch verſteh dich nicht, mein Schatz! Sieh doch nur ſeine gruͤne Jacke an, der linke Ermel iſt ja ganz weiß! wo ſollte er denn das wohl her ha - ben? Weiß? der linke Ermel? Wie ſoll ich’s denn wiſſen? Jn der Muͤhle macht man ſich leichtlich weiß. Ja beſonders, wenn die Muͤllerin ſo leicht roth wird! Es muß auch alles zuſammentreffen, um dich argwoͤh -221 niſch zu machen. Behuͤte, lieber Schatz, ſagte der Muͤller laut lachend, und kuͤßte ſie, ich bin nicht im geringſten argwoͤhniſch, wenn ich deutlich alles ſehe und hoͤre, wo man mich nicht vermuthet. Nun, wenn du alles ge - ſehen haſt, ſo wirſt du auch wohl geſehen ha - ben Daß du dich wacker geſtraͤubt haſt, als er einen Kuß von dir verlangte. Ja mein Kind, ſiehſt du, daher iſt er weiß am Ermel!

Florentin gefiel die leichte gutmuͤthige Art, womit der Muͤller uͤber die kleine Begebenheit ſcherzte. Er ſelbſt war gemeynt; er hatte ſich mit der jungen artigen Muͤllerin einige Schaͤke - reyen erlaubt, um ſie bey guter Laune zu erhal - ten, als ihre Gaͤſte ihr noch unbekannt waren, und er ihr mit immer neuen Forderungen fuͤr Julianen viel Muͤhe machen mußte.

Er trat vom Fenſter zuruͤck und pfiff und rief den beyden Hunden, um ſich vom Muͤller bemerken zu laſſen. Dieſer kam ans Fenſter und noͤthigte ihn, noch ein wenig in die Stube zu kommen. Florentin ging hinein und unter - hielt ſich mit ihm; der heitre, grade Sinn des222 Mannes und ſein guter Verſtand gefielen ihm immer beſſer. Florentin nahm, waͤhrend er ſprach, mit der groͤßten Unbefangenheit die Buͤr - ſte vom Nagel, die unter dem Spiegel hing, und buͤrſtete ſich ruhig das Mehl vom Ermel; die Muͤllerin lief ganz beſchaͤmt aus der Stube, aber der Muͤller laͤchelte und ließ ſich nicht im geringſten aus der Faſſung bringen. Er ſprach viel von ſeinem Stande und ſeinem Geſchaͤft. Seine ſparſamen, ruhigen Worte, und die Ueberzeugung der Wichtigkeit, mit denen er die Sorgen und Freuden davon ſchilderte, ohne ir - gend einen andern Stand im Leben unnoͤthig, und mit affektirter Verachtung mit dem ſeinigen zu vergleichen, gab ihm eine Wuͤrde, der Flo - rentin mit Ehrerbietung begegnen mußte. Er gedachte dabey mit einem Gefuͤhl von Beſchaͤ - mung an die Unruhe, mit der er ſelbſt ſich um - trieb, um einen Zweck zu finden, der ſeinem Leben Werth und Beſtimmung gaͤbe.

Der Muͤller bemerkte endlich, es waͤre nun wohl Zeit fuͤr ihn, ſich zu Bett zu legen; Floren - tin bot ihm eine gute Nacht, und war im Be -223 griff hinaus zu gehen, als Eduard hereintrat, und in Julianens Namen den Muͤller und ſeine Frau erſuchte, die Nacht mit den beyden Herren durchzuwachen, ſie ſelbſt wollte verſu - chen zu ſchlafen, ſie waͤre aber ſo aͤngſtlich, daß ſie gewiß nicht wuͤrde ſchlafen koͤnnen, wenn nicht alles im Hauſe wachte. Sie ließ die Frau bitten, bey ihr im Zimmer zu bleiben, und den Muͤller, ja ſo bald der Tag anbraͤche, je - mand aufs Schloß zu ſchicken. Die Muͤllerin ging ſogleich zu ihr, und der brave Mann war eben ſo willig, den Befehlen der jungen Graͤfin zu gehorchen.

Florentin bemerkte etwas ungewoͤhnlich hef - tiges und leidenſchaftliches an ſeinem Freunde. Er ließ ſich in kein Geſpraͤch mit hineinziehen, gab zerſtreute oder gar keine Antwort, und ging haſtig, und mit ungleichen Schritten in der Stube auf und ab. Florentin glaubte ſogar in ſeinen Augen Spuren von vergoßnen Thraͤnen wahrzunehmen. Dieſe Aeußerungen waren bey dem ſonſt ſanften ſtillen Eduard etwas befrem - dend, doch beunruhigten ſie ſeinen Freund nicht224 weiter; er hielt es hoͤchſtens fuͤr Zeichen eines kleinen Zwiſtes zwiſchen ihm und Julianen, von denen, welche die Liebe eben ſo ſchnell zernichtet, als ſie ſie erzeugte. Er redete ihn an und aͤu - ßerte fein ſpottend, ſeine Vermuthung; Eduard blieb aber ernſt und truͤbe, und bat ihn kurz darauf, mit ihm hinaus ins Freye zu gehen. Die Nacht war kalt und ſtuͤrmiſch, er beſtand aber darauf dennoch hinaus zu gehen, und Flo - rentin begleitete ihn.

Sie ſaßen ſchweigend neben einander auf der Bank vor dem Hauſe. Florentin unter - brach die Stille zuerſt: Jmmer hoͤre ich doch wieder dieſe Toͤne des Waldes, des Stroms und der Muͤhle mit derſelben ange - nehmen, gleichſam anregenden Empfindung. Beynah moͤcht ich glauben, daß ich eigentlich fuͤr das beſchraͤnkte haͤusliche Leben beſtimmt bin, weil alles dafuͤr in mir anſpricht, nur daß ein feindſeliges Geſchick wie ein boͤſer Daͤ - mon mich immer weit vom Ziele wegſchleudert! Glaub mir, ſagte Eduard, es weiß ſelten einer, was er ſoll. Ja wohl, fiel Floren -225 tin ein, und es dauert lange, bis er weiß, was er will! es iſt auch beynahe alles ei - nerley, und alles Thun iſt das rechte. Nur daß man etwas thue! Ja wohl! und dar - um will ich eilen. Jch will fort! Vielleicht habe ich ſchon zu lange verweilt.

Eduard antwortete nicht, Florentin hoͤrte ihn ſeufzen. Was iſt dir, Eduard? fragte er ihn mit herzlicher Liebe, du haſt Schmerz, warum verhehlſt du ihn mir? Nein, ich will ihn dir nicht verhehlen, rief Eduard aus. Sieh, Florentin! eine Seele, wie die deinige, einen Freund, wie du biſt, ſuchte ich, ſeitdem Freundſchaft mir ein Beduͤrfniß iſt, und das iſt ſie, ſeit ich mich meiner ſelbſt bewußt bin. Unverhofft fand ich dich; ich vermuthete gleich in den erſten Stunden, du ſeyſt der, den ich ſuchte, und dieſe Vermuthung fand ich in der Erzaͤhlung deiner Schickſale mehr als einmal beſtaͤtigt. Und nun ſoll ich dich, kaum gefun - den, wieder verlieren! Halte es nicht eines Mannes unwuͤrdig, wenn ich dir mein Leid daruͤber geſtehe. Jch kann dich nicht wiederFlorentin I. 15226laſſen, es iſt mir in manchen Augenblicken ganz unmoͤglich zu denken, daß ich dich wie - der laſſen ſoll! Jch bin ſehr reich, ich weiß es, vielleicht iſt es Unrecht, mehr zu verlangen, als ich beſitze: aber ich bin in der Freundſchaft unerſaͤttlich, und an dich fuͤhle ich mich mit unnennbaren Banden geknuͤpft! Jch begrei - fe dein Gefuͤhl, mein Freund! dies ſey dir Buͤrge, daß ich deſſen werth bin; du biſt mir theurer, als ich es ſagen kann. Daß du bey allen Guͤtern, die dir nie fehlten, ſelbſt in dem Beſitz der Geliebten noch Raum fuͤr Freund - ſchaft haſt, und dir den Sinn dafuͤr erhielteſt, macht dich mir verwandt und ewig werth. Wie kann dich aber eine Trennung ſo wehmuͤ - thig ergreifen, die doch eben durch keine beſon - ders ungluͤcklichen Umſtaͤnde bezeichnet iſt? Wie felten duͤrfen Freunde ihren Lauf bey einander beginnen und vollenden? Jſt das Band, das Freunde verknuͤpft, durch die Trennung geloͤſt? Muß nicht, in der Welt zerſtreut, von ihnen ausgefuͤhrt werden, was ſie vereint beſchloſſen? O, daß ich Armer, Einſamer, dich reichbeglei -227 teten troͤſten ſoll! Verzeih meinem Zweifel, ich kann nicht glauben, daß meine Trennung von dir, dieſesmal allein die Urſach deiner Trau - rigkeit iſt. Es kann ſeyn; aber wie es auch ſey, Florentin, ich mag, ich werde dich nicht laſſen! Hoͤre, ich gehe mit dir; ich theile deine Unternehmungen, ich will die Stelle dei - nes Manfredi erſetzen, ich verſchmaͤhe jedes an - dre Schickſal, als das Deinige. Was mir fehlt, beſitzeſt du ſo groß und frey! Du wirſt auch in mir manche gute Gabe finden. Ver - eint, ungetrennt, wollen wir erſinnen und aus - fuͤhren, fechten, leben und ſterben, ſterben fuͤr die Freyheit! Jch gehe mit dir nach Amerika! Wie iſt dir? Wie iſt dir? Du ſchwaͤrmſt! Nein, ich laſſe dich nicht wieder, ich gehe mit dir! Was kann ich dir anders zuru - fen, als Juliane! O Eduard, mir iſt dieſer ganze Auftritt wie ein Traum. Wel - ches Raͤthſel! du biſt durch irgend einen Vor - fall aufgebracht, ja gereizt bis zum Wahnſinn. Mit Fragen will ich dich nicht quaͤlen. Aber ich beſchwoͤre dich, ſey gefaßt, ſey ruhig, und(15) 2228wenn du es vermagſt, ſo entdecke mir, was dich ſo erſchuͤttern konnte. Erinnere dich, was du ſo raſch verlaſſen willſt! Mich laß aber zie - hen, mir ein Gluͤck zu erringen, fuͤr das und mit dem du geboren wardſt, erfreue dich deſſen, und bleibe in Frieden. So bleibe du bey mir, Florentiu! nur noch ein Jahr bleibe bey mir, dann ziehe ich mit dir, wohin du willſt! Ach, Eduard! du ſollteſt mich nicht halten wollen! Was du nicht ſagen kannſt, fiel Eduard ein, weiß ich laͤngſt, mein Freund! Du liebſt Julianen, ich weiß es, aber Wer? wer darf das ſagen? Bleib ruhig, Florentin, es blieb mir nicht unbemerkt. Du haſt dennoch falſch geſehen Kannſt du ſo dein eignes Ge - fuͤhl verlaͤugnen, und was haſt du zu fuͤrchten? Jch fuͤrchte nichts von dir, ſey uͤberzeugt! ich kenne dich, dir iſt die Freundſchaft heilig. Du wirſt dich fuͤr den Freund aus aller Kraft dei - ner Seele zu bekaͤmpfen wiſſen. Auch wird deine Leidenſchaft ſich bald in das reinſte Freund - ſchaftsgefuͤhl aufloͤſen. Und dann, von beyden Freunden geleitet, ſoll Juliane des ſchoͤnſten229 Daſeyns ſich zu erfreuen haben. Keine Luͤcke bleibe in ihrem Herzen, ihre Liebe beduͤrfende Seele ſey ganz gluͤcklich im Genuß. Ge - mach, mein guter Eduard! gemach! So gelaſſen wollteſt du wirklich drein ſehen, wie der Freund feine Tage unter Pruͤfungen der Selbſtuͤberwin - dung hinſchleichen ließe, ſein waͤrmſtes Leben, ſein lebendigſtes Gefuͤhl ertoͤdtete, und mit halb - verſchloßnem mißtrauenden Herzen keinen froͤh - lichen Augenblick verlebte? Jch geſtehe dir auf - richtig, dieſe heroiſche Tugend darf ich nicht zu der meinigen zaͤhlen. Waͤre der Fall ſo, wie du ihn waͤhnſt, ſo waͤre, aufs ſchnellſte ent - fliehen, fuͤr mich das rathſamſte, und das, was ich gewiß zuerſt thun wuͤrde. Aber es iſt nichts von dem allen. Wahr iſt es, Julianens Schoͤnheit uͤberraſchte mich: ſie iſt ein anmuthi - ges Weſen, mit immer neuen, immer lieblichen Bildern erfuͤllt ihre holde Geſtalt die Fantaſie, aber Ach, wenn du ihre Seele kenn - teſt, ſo weich! zugleich ſo voller Kraft und Liebe, ihren Charakter, die herrlichen Anla - gen! Jch verkenne Julianen nicht. Waͤre230 ſie aber auch fuͤr mich beſtimmt, ich zweifle, daß ich ganz gluͤcklich ſeyn wuͤrde. Freund, wer mit dieſem Engel nicht leben koͤnnte, der Der verdient gar nicht zu leben, willſt du ſagen. Leicht wahr! ich ſpuͤre ſelbſt ſo etwas! indeſſen verſteh mich, mein lieber Freund! Graͤfin Juliane, Erbin eines großen Namens, eines großen Reichthums, aus den Haͤnden der hoͤchſten Kultur kommend, im Zirkel der ſeinen Welt ſchimmernd, der Anbetung von allen, die ſie umgeben, gewohnt, und Floren - tin, der arme, einſame, ausgeſtoßne, das Kind des Zufalls. Wilder, ſeltſamer Menſch! warum nennſt du dich ſo? und war - um duͤnkſt du dich noch immer allein? in unſ - rer Mitte allein? Habe Geduld mit mir, ich darf mich nicht entwoͤhnen, allein zu ſeyn; muß ich nicht fort? Was treibt dich, ich beſchwoͤre dich? Vertraue dich nicht ohne Noth dem eigenſinnigen Gluͤck, bleibe bey mir! Jch will’s verſuchen, lieber Freund, aber ich ſtehe nicht dafuͤr, ich muß, ich muß doch231 endlich dahin, wo meine Beſtimmung mich ruft.

Eduard wollte noch etwas ſagen, als die Muͤllerin zu ihnen heraus kam. Julia - ne ließ ihnen ſagen, ſie moͤchten in ihr Zimmer kommen, und ihr Geſellſchaft lei - ſten, ſie koͤnnte unmoͤglich ſchlafen.

Alle, auch der Muͤller, den ſie drum hatte bitten laſſen, verſammelten ſich nun bey ihr; ſie war vom Bett aufgeſtanden, und ſaß in einem bequemen Stuhl beym Ca - minfeuer; die Kleider der Muͤllerin hatte ſie noch an.

Jn der erhellten Stube ſah Florentin nun deutlich die Zerſtoͤrung auf Eduards Geſicht, und in ſeinem Weſen; kaum daß dieſe ſich etwas legte, da Julianens zaͤrt - lich beredter Blick ſich nicht von ihm wandte und ihn um Verzeihung zu flehen ſchien. Sie rief ihn zu ſich, und ſprach leiſe und beruhigend mit ihm. Florentin war gewiß, daß etwas ernſthaftes zwiſchen ihnen vorge - gangen ſeyn mußte, waͤhrend er ſie allein232 gelaſſen hatte. Es war ihm klar, daß es Eiferſucht ſey, was das ſchoͤne reine Ver - haͤltniß der Liebenden zerſtoͤre. Eine aͤng - ſtigende Unruh druͤckte ſein Herz, da es ihm einfiel, daß er ſelbſt vielleicht, ungluͤckli - cher oder unvorſichtiger Weiſe, Urſach dazu gegeben habe. Er uͤberdachte noch einmal jedes Wort, das ihm Eduard vor der Thuͤr geſagt hatte, er mußte ihn bewundern, daß er, bey einer Leidenſchaft, die ihm ſelbſt ſo fuͤrchterlich und ſo zerreiſſend ſchien, mit ſo viel Feinheit und Aufopferung fuͤhlte und ſich aͤußerte. Sein Glaube an Eduards ſchoͤ - ne edle Seele erhielt eine neue Beſtaͤtigung, die ihn mehr als jemals anzog; auf dieſe Weiſe fuͤhlte er ſich von widerſprechenden Gefuͤhlen durchſtuͤrmt, und alles, was er in ſich beſchließen konnte war: bald, ſehr bald fort zu gehen.

Waͤhrend daß er in ſich gekehrt, und in ſeine Gedanken verlohren da ſaß, waren die uͤbrigen in einem allgemeinen Geſpraͤch begriffen. Juliane erzaͤhlte: das Brauſen233 des Waldes und des Waſſers haͤtten ſie ent - ſetzlich zu fuͤrchten gemacht; es waͤre ihr nicht moͤglich geweſen einzuſchlafen, obgleich ſie die Augen feſt verſchloſſen und ſich die Decke uͤber den Kopf gezogen habe, um nichts zu hoͤren. Als ſpraͤche des Waldes und des Waſſers Geiſt drohend zu mir her - uͤber, ſagte ſie noch ſchaudernd, ſo war mir; jeden Augenblick fuͤrchtete ich, ſie wuͤrden mir in ſichtbaren Geſtalten erſcheinen; alle alten Romanzen und Balladen, die ich jemals geleſen habe, ſind mir zu meinem Ungluͤck grauſend dabey eingefallen. Sie haͤt - ten es nur hoͤren ſollen, Florentin! O ich habe auch die Geiſter zuſammen ſprechen hoͤren, aber mich nicht vor ihnen gefuͤrch - tet, mir klang es freundlich und vertraulich; es ſind mir freylich keine Balladen und Ro - manzen dabey eingefallen. Wiſſen ſie uns keine Geiſtergeſchichte zu erzaͤhlen? fragte ſie den Muͤller, in Geſellſchaft mag ich ſie gar gerne hoͤren; der Kreis wird gleich eng und vertraulich dabey. O wir wiſſen ge -234 nug, ſagte die Muͤllerin, da es der Mann ablehnte zu erzaͤhlen: aber ſie ſind alle gar zu fuͤrchterlich und erſchrecklich, ſo daß ich es nicht wagen moͤchte, ſie der gnaͤdigen Graͤfin jetzt zu erzaͤhlen Jch bin der Meynung unſrer guten Frau Wirthin, fiel Eduard ein; es moͤchte Sie zu ſehr beun - ruhigen, da Sie ohnedem bewegt und an - gegriffen ſind. Gut, ſagte Juliane, we - nigſtens muͤſſen Sie mir aber erlauben, Jh - nen etwas zu erzaͤhlen; es faͤllt mir eben eine Geiſtergeſchichte wieder ein, die weder ſchreckhaft noch fuͤrchterlich und doch merk - wuͤrdig iſt. Sie ſetzten ſich insgeſammt um ſie her, und verſprachen ihr Aufmerkſamkeit. Sie erzaͤhlte nun folgende Geſchichte.

[235]

Zwoͤlftes Kapitel.

Meine Tante Clementine hatte in ihrer Ju - gend eine Freundin, von der ſie ſich oft Mo - nate lang nicht trennte. Dieſe Freundin war verheirathet, ihren Namen habe ich nicht erfahren, die Tante nannte ſie nur immer Marquiſe. Sie lebte gluͤcklich mit ihren Ge - mahl, den ſie ſehr liebte, und von dem ſie eben ſo wieder geliebt ward. Sie waren ſchon fuͤnf oder ſechs Jahre verheirathet ohne Kinder zu bekommen, wie ſie beyde es ſehn - lichſt wuͤnſchten. Dem Marquis war es ſehr wichtig einen Erben zu haben, weil der Be - ſitz großer Guͤter an dieſe Bedingung geknuͤpft war. Die gute Dame fuͤrchtete fuͤr die Liebe236 ihres Gemahls, und ſparte weder Geluͤbde noch Gebete, um ſich das erſehnte Gluͤck von allen Heiligen zu erflehen. Sie wallfahrtete nach allen wunderthaͤtigen Bildern, und nach den geruͤhmten Baͤdern. Meine Tante die ſie auf vielen dieſer Reiſen begleitete, war Zeuge ihres Grams, der endlich ſo tief wur - zelte, daß man und nicht ohne Grund, an - fing, fuͤr ihre Geſundheit beſorgt zu werden: denn nicht allein, daß der Schmerz vergebli - cher Erwartung ſie nagte, ſie ward auch groͤßtentheils dadurch untergraben, daß ſie unzaͤhlige Gebraͤuche des Aberglaubens an - wandte, und von jeder guten Gevatterin oder jedem gewinnſuͤchtigen Betruͤger ſich Verordnungen und Arzneyen geben ließ.

Die Vorſtellungen ihrer Freunde gegen dieſe Verblendung waren vergeblich. Um dieſen endlich zu entgehen, brauchte ſie mei - ſtens die Mittel heimlich, oder unter man - cherley Vorwand. Unterdeſſen verſuchten jene alles erſinnliche, um ſie aufzuheitern, meine237 Tante verließ ſie in dieſer Zeit faſt gar nicht.

Jn der Weihnachtsnacht waren die Freun - dinnen in der Kirche, die Marquiſe betete laͤnger und eifriger als jemals und konnte ſich, der haͤufigen Erinnerungen und Bitten ihrer Freundin ungeachtet, gar nicht losreiſſen. Sie gab vor, da dieſe ſich uͤber den ver - mehrten Eifer verwunderte, ſie haͤtte viele Dankgebete zum Himmel zu ſchicken fuͤr die gluͤckliche Errettung ihres Gemahls, der Tags vorher von einer Reiſe zuruͤckgekommen, auf der er mancherley Gefahren ausgeſetzt gewe - ſen war.

Die Tante wagte es nun nicht mehr ſie wieder zu ſioͤhren, da ſie ſie an den Stufen des Altars und zu den Fuͤßen eines Wun - derbildes tief hinabgebeugt, weinen und laut ſchluchzen hoͤrte, denn ſie wußte aus Erfahrung, daß ſie durch eine Unterbre - chung auf viel Tage unruhig gemacht wurde. Sie erwartete alſo, theils mit Geduld, theils mit ihrer eignen Andacht beſchaͤftigt,238 bis die ihrer Freundin geendigt waͤre. Da dieſe ihr doch endlich zu lang duͤnkte, rief ſie ihr zu; da ſie aber ohne zu ant - worten und ohne ſich zu bewegen liegen blieb, ſo beugte ſie ſich zu ihr hinunter, hob den Schleyer von ihrem Geſicht und fand ſie ohne Bewußtſeyn, kalt und in tiefe Ohn - macht geſunken.

Mit Huͤlfe einiger zunaͤchſt ſtehender Men - ſchen fuͤhrte meine Tante ſie aus der Kirche, und half ſie in den Wagen heben, der vor der Kirchthuͤr hielt. Sie hatten einen ziemlich großen Weg nach ihrem Hauſe zu fahren, waͤh - rend dem gelang es ihr, ſie durch alle Huͤlfe, die in dem Augenblick moͤglich war, wieder zn ſich ſelbſt zu beingen. Als ſie wieder ſprechen konnte, fragte ſie die Tante um die Urſache ihrer ſonderbaren Heftigkeit, und bat ſie ſo dringend und unter ſo zaͤrtlichen Liebkoſungen, ihr Herz gegen ſie zu oͤffnen, daß ſie nicht laͤn - ger widerſtehen konnte. Sie vergoß in den Armen ihrer Freundin einen Strom von Thraͤ - nen, und nachdem dieſe ihrem Herzen Luft ge -239 macht hatten, erzaͤhlte ſie ihr: ſie haͤtte ſo eben einen Vorſatz ausgefuͤhrt, den ſie ſchon ſeit laͤnger als einem Jahre in ihrem Herzen gehegt, habe, zu deſſen wirklicher Ausfuͤhrung ſie noch niemals Kraͤfte genug in ihrer Seele gefuͤhlt haͤtte; aber heute Nacht haͤtte ſie dieſe in ihrem heißem Gebete zur heiligen Jungfrau errungen. Sie haͤtte es gluͤcklich vollbracht, doch ſich ſo ange - ſtrengt, daß ſie gleich darauf ihre Beſinnung verlohren habe. Dieſelbe, an deren Altar ſie die augenblickliche Kraft wie einen Strahl vom Himmel in ihrer Seele empfangen, moͤge es ihr vergeben, daß gleich darauf ihren Koͤrper dieſe Schwaͤche befallen, und daß ſie auch jetzt noch ſich der Thraͤnen nicht enthalten koͤnne. Meine Tante erwartete mit ungeduldiger Un - ruhe das Ende dieſer Vorrede und das, wo - hin ſie fuͤhren ſollte. Endlich ſammelte ſich ihre Freundin und erzaͤhlte ihr: ſie habe das Geluͤbde abgelegt, und wuͤrde es unverbruͤchlich halten, ſich freywillig von ihrem geliebten Ge - mahl zu trennen, wenn ſie laͤnger als das naͤch - ſte Jahr ohne Kinder bliebe; ihr Gemahl ſoll -240 te ſich alsdann eine andere Gattin waͤhlen, mit der er gluͤcklicher waͤre, ſie ſelbſt aber wollte ihr Leben unter eifrigen Gebeten fuͤr ſein Wohl in einem Kloſter beſchließen. Sie kamen bey dieſen Worten vor dem Hauſe an, und wurden aus dem Wagen gehoben, noch ehe meine Tante ein Wort uͤber dieſes traurige Ge - luͤbde hatte vorbringen koͤnnen. Der Marquis kam ihnen entgegen, voll Beſorgniß wegen ih - res ungewoͤhnlich langen Ausbleibens. Die beyden Frauen ſprachen kein Wort, er ſah ſie verwundert an, und nahm an der blaſſen Geſichtsſarbe ſeiner Gemahlin und der be - kuͤmmerten Miene meiner Tante gleich wahr, daß ihnen etwas auſſerordentliches muͤſſe zu - geſtoßen ſeyn. Er fuͤhrte ſie ins naͤchſte Zim - mer, und ließ nicht eher ab, bis er die Ur - ſache ihrer Beſtuͤrzung erfahren. Sie er - laubte es endlich meiner Tante, dem Mar - quis ihr Geluͤbde zu entdecken. Dieſer ſuch - te ſich ungeachtet ſeines heftigen Schreckens zu faſſen, und bat ſie, ſich zu beruhigen; ſie ließ aber nicht eher mit Thraͤnen und241 Bitten nach, bis er ihr verſprach, ſie durch keine Gegenvorſtellung, und keine heimliche Veranſtaltung an der Ausfuͤhrung ihres Ge - luͤbdes zu verhindern. Nun erfolgte eine Scene von zaͤrtlichen Vorwuͤrfen, von Liebe, Großmuth und Aufopferung, die man ſich wohl leicht vorſtellen kann.

Die Nacht war unterdeſſen beynahe ver - ſtrichen, die Marquiſe fuͤhlte ſich ſehr ermuͤ - det, und bat meine Tante ſie nach ihrem Zimmer zu begleiten, weil ſie trotz ihrer Muͤ - digkeit nicht wuͤrde ſchlafen koͤnnen, und ſie ihr noch einiges ſagen wollte. Jhr Gemahl fuͤhrte ſie die Treppe hinauf, ein Gitter ver - ſchloß einen ziemlich langen Gang, an deſſen Ende das Schlafzimmer der Dame lag. Der Marquis zog an der Klingel, die Kam - merfrau trat aus dem Zimmer, um zu oͤffnen, er wollte eben wieder die Treppe hinunterge - hen, als die Marquife ausrief: Ach ſeht! ſeht hin! was koͤmmt da fuͤr ein engliſch ſchoͤnes Kind. Man fah hin durch das Gitter, wo ſie hinzeigte, ſah aber nichts als die Kammerfrau,Florentin. I. 16242die mit einem Licht in der Hand den Gang her - unter kam, und die Gitterthuͤr aufſchloß. Was haſt du da fuͤr ein ſchoͤnes Kind? fragte ſie ſie haſtig. Die Kammerfrau ſah ſie an, oh - ne zu antworten. O ſeht doch das Engelskind! rief die Marquiſe wieder, that einige Schritte vorwaͤrts, und beugte ſich freundlich, wie zu einem Kinde herab. Entſetzen und Erſtaunen bemeiſterte ſich der Anweſenden, denn ſie ſahen kein Kind. Die Marquiſe ging mit offnen Armen noch einige Schritte, als wollte ſie et - was umfaſſen, wankte, und ſank mit einem lauten Schrey nieder.

Sie ward zu Bette gebracht. Als ſie wie - der zu ſich ſelbſt kam, frogte ſie, aͤngſtlich die Antwort erwartend, ob denn die andern nicht das Kind am Fuße des Bettes ſtehen ſaͤhen? Da man nun an der Stelle, die ſie bezeichnete nicht das geringſte wahrnahm, und ſie am Ach - ſelzucken und am bedauernden Zureden der an - dern merkte, daß man ſie fuͤr krank hielt, und als ob ihr nicht geglaubt wuͤrde, daß ſie wirk - lich das ſaͤhe, was ſie zu ſehen vorgab, be -243 ſchrieb ſie mit der groͤßten Genauigkeit und ganz gelaſſen die Geſtalt des Kindes, das ſie zu ihren Fuͤßen an das Bett gelehnt ſtehen ſah. Es ſchien ihr in einem Alter von drey Jahren, trug ein leichtes weißes Gewand, Arme und Fuͤße waren nackt, um den Leib hatte es einen blauen Guͤrtel von hellglaͤnzendem Zeuge, deſ - ſen Enden hinter ihm nieder flatterten. Das Koͤpfchen ſey mit himmliſchen blonden Locken, wie mit den zarteſten Strahlen umgeben, das mit den kindlichen Wangen, dem friſchen Munde und den lachenden blauen Augen wie ein wunderſuͤßes Engelskoͤpfchen ausſehe. Das ganze Figuͤrchen umſchwebe hinreißende Anmuth; kurz, ſie beſchrieb es ſo umſtaͤndlich, daß man gar nicht mehr zweifeln durfte, ſie ſaͤhe es in der That vor ſich; da ſie es aber anfangs haͤtte umarmen wollen, waͤre es zu - ruͤckgewichen, daher ſey ihr Schreck und die Ohnmacht gekommen, denn es haͤtte ſie uͤber - zeugt, daß ſie eine Erſcheinung ſehe.

Jhre Freunde durften keinen Widerſpruch wagen, aus Beſorgniß ſie aufzubringen, und(16) 2244man gerieth in große Verlegenheit. Der Arzt wurde herbeygeholt, er fand ſie in heftiger Wallung, ſonſt aber keine Spur von irgend einer Krankheit. Er verordnete vorzuͤglich Ruhe. Sie wollte verſuchen zu ſchlafen, rief aber in dem Augenblick: O ſeht doch, wie es ſich freundlich gegen mich neigt, und nun geht es, das liebe Geſichtchen immer zu mir gewendet, zuruͤck. Seht, dort ſetzt es ſich im Winkel nieder, es winkt mir mit den Haͤndchen, ich ſolle ſchlafen! Man bat ſie, die Augen zu verſchließen, damit ſie Ru - he faͤnde. Die Bettvorhaͤnge wurden nie - dergelaſſen, und nachdem ſie etwas kuͤhlen - des getrunken hatte, ſchlief ſie ein.

Bey ihrem Erwachen, nachdem ſie eini - ge Stunden ruhig geſchlafen hatte und es unter - deſſen voͤllig Tag geworden war, hoffte man, ihre Erſcheinung wuͤrde verſchwunden ſeyn; aber zum Erſtaunen blieb dieſe, wie in der Nacht. Kaum erwachte ſie, ſo zog ſie die Vorhaͤnge zuruͤck und ſah auch ſogleich das Kind mit muntern freundlichen Gebehrden245 auf ſich zukommen. Sie unterhielt ſich nun auf die vertraulichſte und liebreichſte Weiſe mit ihm, und verſicherte, es gaͤbe ihr durch ſehr ausdrucksvolle Mienen verſtaͤndliche Ant - wort. Sie gebot ihm, ſich vom Bett zu entfernen; es ging zuruͤck; drauf winkte ſie ihm wieder, und es kam naͤher; dann gebot ſie ihm, ihr etwas zu reichen, da machte es, wie ſie verſicherte, eine Gebehrde mit Kopf und Schultern, als wollte es ihr zu verſte - hen geben, dieß ſey uͤber ſeine Macht.

Sie ſtand auf, ging im Zimmer her - um, das Kind lief beſtaͤndig vor ihr her, immer ruͤckwaͤrts, das Geſicht zu ihr gewen - det. Man war in der ſchrecklichſten Beſorg - niß wegen dieſer bleibenden Erſcheinung; man hielt es fuͤr eine voͤllige Zerruͤttung der Sinne und der Geſundheit; und man drang einigemal in ſie, ſich den Haͤnden eines Arztes zu uͤbergeben. Sie war aber nicht zu bewegen Arzney zu nehmen, weil ſie ſich ſo wohl fuͤhlte, als ſie ſeit lange nicht gewohnt war. Jn der That bluͤhte ſie zum246 Erſtaunen aller Bekannten, in kurzer Zeit, ordentlich neu auf. Sie ward wieder mun - ter, ſie konnte wieder gehoͤrig Speiſen zu ſich nehmen und ruhig ſchlafen, ſie nahm wieder an der Geſellſchaft frohen Antheil, und ſchien ſogar ihres traurigen Geluͤbdes nicht mehr zu gedenken. Ein paar Mal ſprach ſie nur mit ihrem Gemahl davon, aber mit der groͤßten Geiſtesruhe; ſie verſicherte ihn, ſie verlaſſe ſich voͤllig auf ſein Verſprechen, ihr in der Erfuͤllung nicht entgegen zu ſeyn. Die Er - ſcheinung des Kindes verließ ſie keinen Au - genblick. Es begleitete ſie bis an die Gitter - thuͤre, ſo oft ſie ausging; ſo bald die Thuͤr zugemacht war, ſah ſie es den Gang wieder zuruͤck nach ihrem Zimmer ſchweben; wenn ſie wieder kam, fand ſie es eben ſo am Git - ter ihr entgegen kommen. Dabey war es, wie ſie vorgab, immer traurig, wenn ſie es verließ, und vergnuͤgt, wenn ſie es wieder ſah. Bey Nacht trug es eine Kerze in der Hand, und am Tage einen Blumenkranz. Auſſer jenem Bezirk hatte es ſie nie verfolgt. 247Man beredete ſie ein anderes Zimmer zu be - ziehen, dazu war ſie aber auch nicht zu be - wegen. Sie weinte, wenn ſie nur daran dachte, es von ſich zu ſtoßen, und der Mar - quis ließ es ſich endlich gefallen, weil er hoffte, ſie wuͤrde doch nun ihrer Viſion zu gefallen nicht ins Kloſter gehen. Sie liebte die kleine Geſtalt mit wahrer muͤtterlicher Leidenſchaft; ſie ward oft in Geſellſchaften unruhig, und ſehnte ſich nach dem Kinde hin, wenn ſie es einige Stunden verlaſſen hatte. Man hoͤrte ſie in ihrem Zimmer mit ihm ſprechen. Sie hatte ein kleines Bett dem ihrigen gegen uͤber ſtellen laſſen, darein legte es ſich, wenn ſie es ihm ſagte, auch ſah ſie es des Nachts, wenn ſie von unge - faͤhr aufwachte, drin liegen, aber es erwachte in demſelben Moment mit ihr. Eben ſo machte ſie ihm in einer Ecke des Zimmers eine Spielanſtalt, mit einem kleinen Tiſch und Stuͤhlchen, ſie ſah es ſich dazu nieder - ſetzen; die Spielſachen beruͤhrte es aber nicht, es ſpielte nur mit den Blumen, die es in248 der Hand hielt, oder es ſaß ſtill ihr gegen - uͤber und laͤchelte ſie mit großen Augen an. Nur wenn ſie es faſſen wollte, dann ward ſie erinnert, daß es eine bloße Taͤuſchung ſey, dann wich das Luftbild von ihren Haͤnden zuruͤck, und ließ ſich eben ſo wenig ergrei - fen, als die ſarbige Geſtalt des Regenbo - gens.

Nach einiger Zeit ereignete ſich etwas, wel - ches das Wunderbare dieſer Erſcheinung zugleich erklaͤrte und vergroͤßerte. Die Marquiſe fuͤhlte nehmlich deutliche Zeichen, daß ſie guter Hoff - nung ſey. Die Freude des Ehepaars war ohne Granzen, als ſie deſſen endlich gewiß waren. Jm Taumel der Freude, ihr Gebet erhoͤrt, und ſich des troſtloſen Geluͤbdes entbunden zu ſehen, eilte ſie nach demſelben Altare, vor welchem ſie es damals abgelegt hatte, und gelobte nun an der Stelle ihr Kind, ſtatt ihrer, dem Kloſter zu weihen! Der Marquis war mit dieſem Geluͤbde beynahe ſo unzufrieden, als mit dem vorigen, doch mußte er es geſchehen laſſen. 249Einen Knaben hoffte er mit Golde loszu - kaufen.

Neun Monate nach dem Tage der erſten Erſcheinung ward ſie gluͤcklich von einer Tochter entbunden. Waͤhrend ihrer Niederkunft ſah ſie die Erſcheinung an ihrem Lager unbeweglich ſte - hen, in dem Augenblick aber, daß ihr Kind zur Welt kam, war jene verſchwunden, und ſie hat ſie niemals wiedergeſehen.

Juliane endigte hier ihre Erzaͤhlung, und ihre Zuhoͤrer dankten ihr einſtimmig fuͤr das Vergnuͤgen, das dieſe ihnen gemacht hatte. Wenn ich mir jemals wuͤnſchen koͤnnte, eine Erſcheinung zu ſehen, ſagte der Muͤller, ſo waͤre es eine ſolche! Behuͤte mich Gott und alle heilige Engel vor Geiſtern! rief ſeine Frau, indem ſie andaͤchtig ein Kreuz machte; ſie moͤgen auch ſeyn, oder Geſtalt haben, was und wie ſie wollen! ſie bedeuten gar zu ſelten etwas Gutes. Eine ſehr niedliche Ge - ſchichte! ſagte Eduard; beſonders gefaͤllt mirs, daß ſie ſo wunderbar, und doch ſo einfach, ſo wahrſcheinlich iſt; man verſteht ſie vollkommen,250 ohne durch eine beſondere proſaiſche Aufloͤſung geſtoͤrt zu werden, wie es ſonſt bey wirklich erlebten Wundern gewoͤhnlich der Fall iſt. Und Sie ſagen gar nichts dazu, Florentin? fragte Juliane; Sie ſehen ſo gedankenvoll aus, haben Sie etwa gar nicht zugehoͤrt? Jch habe wohl zuhoͤren muͤſſen, ſagte dieſer, die Geſchichte zwang mich ordentlich zur Aufmerk - ſamkeit. Mir war, als waͤren mir ſowohl die Begebenheiten, als die Menſchen darin nicht fremd; unwillkuͤhrlich ſchob ſich mir bey jedem eine bekannte Perſon unter; ſo wie man, wenn man ein Schauſpiel lieſt, ſich die Schau - ſpieler denken muß, von denen man es einſt hat ſpielen ſehen. Und was ich ſonſt nicht leicht fuͤhle, mich hat ein leiſes Grauen dabey uͤberfahren. Grauen? fragte Juliane, dieſe Wirkung hatte ſie doch auf mich gar nicht, da mich ſonſt ſchon bey dem bloßen Gedanken an eine Geiſtergeſchichte ſchaudert; man ſollte es aber ſchon an Jhnen gewohnt ſeyn, daß die Dinge allezeit auf Sie ganz anders wirken, als auf andere ehrliche Leute. Doch ſehen251 Sie, der Tag bricht an, fuhr ſie fort, nun daͤchte ich, waͤhrend unſer guter Herr Wirth Anſtalten trifft, daß der Bote auf’s Schloß geht, und die Frau Muͤllerin uns noch ein Fruͤhſtuͤck bereitet, ſo ſingen Sie etwas, Flo - rentin! Jch kann nicht verhehlen, ich bin vol - ler Unruhe und Ungeduld, Muſik wird am erſten faͤhig ſeyn, dieſe zu taͤuſchen.

Der Muͤller und ſeine Frau gingen hinaus, um zu thun, was ſie verlangt hatte. Nun fangen Sie an, ſagte Juliane, die Guitarre werden Sie nicht brauchen koͤnnen, ſie hat wahrſcheinlich ſehr von der Naͤſſe gelitten. Es thut nicht viel, ſagte Florentin, ſie wird noch immer gut genug ſeyn, Tact und Tonart ungefaͤhr drauf zu bemerken, mehr braucht es nicht. Doch was verlangen Sie fuͤr ein Lied? Singen Sie, was Sie wollen, nur etwas neues und kluges! Nach einem kurzen Beſinnen ſang er folgende Strophen:

Mein Lied, was kann es neues euch verkuͤnden?
Und welche Weisheit, Freunde, fordert ihr?
252
Der Hohen meine Jugend zu verbuͤnden,
Dieß, wie ihr wißt, gelang noch niemals
mir.
Noch neu, noch alt wußt ich je zu ergruͤnden;
Das Schickſal goͤnn im Alter Weisheit mir.
Wir irren alle, denn wir muͤſſen irren,
Gelaſſen mag die Zeit den Knaͤul entwirren.
Der Waldſtrom brauſt im tiefen Felſen -
grund,
Gar ſchroffe Klippen fuͤhren druͤber hin,
Die furchtbar haͤngen uͤber’m finſtern Schlund;
Wer ſtrauchelt, dem iſt ſichrer Tod Gewinn!
Ein Muͤder wankt am Geiſt und Gliedern
wund
Daher, ſchaut bang hinab, kalt grauſt der
Sinn:
Am Felſen ſpielt ein Kind, ſorglos bemuͤhet
Ein Bluͤmchen pfluͤckend, das am Abgrund
bluͤhet.
Oft muͤhten ſinnreich Dichter ſich und Weiſe,
Das Leben mit dem Leben zu vergleichen.
253
Am gluͤcklichſten geſchah’s im Bild der Reiſe!
Ein Thor eroͤffnet Armen ſich, wie Reichen;
Fruͤh ausgewandert auf gewohntem Gleiſe
Sieht er die Daͤmmrung kaum dem Licht ent -
weichen,
So treibt der Wahn, ihm duͤrf’s allein ge -
lingen,
Raſtlos in nie erreichte Fern zu dringen.
Es thuͤrmen Felſen ſich in ſeinen Wegen,
Des Mittags Strahlen gluͤhn auf ſeinem
Haupt,
Jn Wuͤſten Sands muß ſich der Fuß be -
wegen,
Ein Ungewitter naht, der Sturmwind ſchnaubt,
Wo kommt ein ſichres Dach dem Blick ent -
gegen?
Es ſeufzt nach Nuh, wem ſtolzer Muth ge -
raubt;
Jn ſpaͤter Nacht, nach tauſendfaͤlt’ger Noth
Koͤmmt er ans Ziel und dieſes iſt der
Tod!
254
Der Juͤngling tritt, von Ahndung fort -
gezogen,
Zur Schwelle hin, die in das Leben fuͤhrt.
An ſeiner Schulter toͤnt der goldne Bogen
Der Goͤttin, ſo die Welt ihm hold verziert,
Der Phantaſie, die ihn auf kuͤhnen Wogen
Sanft fortreißt, ihn mit bunten Bildern
ruͤhrt.
Wenn er dann ſo nach ſchoͤnen Traͤumen haſcht,
Wird unbewußt vom Gluͤck er uͤberraſcht.
Gebt acht, gebt acht, Gelegenheit iſt
fluͤchtig.
Nicht leicht ihr Stirnenhaar im Flug zu faſſen.
Obgleich zu nuͤtzen ſie ein jeder tuͤchtig,
Dem’s klug gelang, ſie nicht entfliehn zu
laſſen,
So iſt dem Wuͤrdigen ſie nie ſo wichtig,
Daß er von ihr ſich mag beſtimmen laſſen.
Doch was hilft Muth, was maͤchtiges Be -
ſtreben
Dem Schiff, das tollen Stuͤrmen Preis ge -
geben?
255
So mancher hat gefunden, was zu ſuchen
Er gleichwohl nicht verſtand, was zu ge -
winnen
Vergebens er, und muͤhvoll wird verſuchen;
Mißlingen droht dem treulichſten Beginnen.
Wie viele hoͤrt man dann ihr Loos verfluchen
Und klagen: Gluͤck! o mußteſt du zerrinnen?
Was traut ihr muͤßig auf des Gluͤckes Gunſt?
Natur ſey Vorbild, Leben eine Kunſt!
Wer hebt des Kuͤnſtlers Muth in Kampf
und Leiden
Als ferne Ahndung hoher heilger Liebe?
Was lehrt ihn Schellenlaute Thorheit meiden
Als eignes Gluͤck der ſuͤßen zarten Liebe?
Wo iſt ein Port fuͤr Hohn und boͤſes Neiden,
Als in den Armen frommer, treuer Liebe?
Und wird des Helden Stirn in Myrtenkraͤnzen
Der Nachwelt ſchoͤner nicht, als Lorbeer
glaͤnzen?

Florentin war von ſeinem eignen Geſange nach und nach ſo begeiſtert, daß ihm Reime256 und Gedanken je mehr je leichter zufloſſen, und die beyden waͤren es nicht muͤde geworden, zuzuhoͤren, wenn er auch noch laͤnger fortge - ſungen haͤtte. Die Muͤllerin unterbrach aber ſeinen Geſang und ihre Aufmerkſamkeit, indem ſie das Fruͤhſtuͤck herein brachte. Zu gleicher Zeit kam auch der Bote mit der Nachricht zu - ruͤck, der Wagen und die Bediente der Graͤ - fin wuͤrden in weniger als einer Stunde an - langen. Er hatte am jenſeitigen Ufer einen Reitknecht vom Schloß zu Pferde angetroffen, der ihn bey ſeiner Ueberfahrt erwartete. Die - ſer hatte ihn gefragt, ob er nicht etwa drey Herren in Jagdkleidern geſehen haͤtte, denen zwey Hunde gehoͤrten, die er vor der Thuͤr der Muͤhle liegen ſaͤhe? Da er nun gleich geſagt, daß ſie alle drey in der Muͤhle eingekehret ſeyen, und dort uͤbernachtet haͤtten, und daß er eben abgeſchickt ſey, um den Wagen vom Schloß zu holen, ſo habe ihm der Reitknecht befohlen, nur wieder zuruͤckzugehen, und der Herrſchaft zu ſagen, daß er ſogleich den Wagen, der im Dorfe warte, nach der Muͤhle ſchicken wuͤrde.

257

Juliane hatte wieder ihre Kraͤfte geſam - melt; die Nachricht, daß ſie in kurzer Zeit ab - geholt wuͤrde, machte ſie voͤllig heiter und gut gelaunt. Um Eduards Stirn ſchwebte eine Wolke, die Julianens ganze Heiterkeit nicht voͤllig zerſtreuen konnte. So oft ſie ihre Un - geduld, nach Hauſe zu ihren Eltern zu kommen, aͤußerte, ſtieg ſein Unmuth beynah bis zur Bit - terkeit. Mein geliebter Freund, ſagte Ju - liane, es hilft Jhnen zu nichts, daß Sie Jhre Vorwuͤrfe nicht ausſprechen, ſie ſind ſichtbar auf Jhre Stirn geſchrieben; aber wie ſie auch erſcheinen ſind ſie ſehr ungerecht; Sie ſollten die angenehmen Stunden nicht mit Mis - muth endigen!

Das Fruͤhſtuͤck war kaum verzehrt, als der Wagen mit der Kammerfrau der Graͤfin Eleo - nore kam, die ihr Waͤſche und Kleider mit - brachte. Juliane erkundigte ſich nach ihren El - tern. Sie hatten die Nacht in erſchrecklicher Angſt zugebracht, erzaͤhlte die Kammerfrau; der Graf wollte ſich trotz dem Ungewitter ſelbſt aufmachen, um ſie aufzuſuchen, durfte aberFlorentin. I. 17258die Graͤfin nicht verlaſſen, die ſich ſehr uͤbel befunden, und bey jedem ſtarken Blitz ohnmaͤch - tig ward. Jm ganzen Schloß blieb alles die Nacht uͤber auf, und ſobald das Gewitter nur etwas nachgelaſſen, mußte die Kammerfrau mit dem Wagen nach dem Dorfe fahren, weil ſie vermutheten, daß die jungen Leute nach die - ſer Seite zu gewandert waͤren, der Reitknecht mußte unterdeſſen zu Pferde das Gebirg und die Gegend durchſuchen. Er war auch gleich, nachdem er dem Kutſcher die Muͤhle bezeichnet, auf’s Schloß zuruͤckgeritten, um es zu melden, daß ſie gluͤcklich gefunden waͤren.

Juliane war geruͤhrt uͤber die Angſt, die ſie ihren Eltern gemacht hatte, und eilte ſich umzukleiden, um ſo ſchnell als moͤglich wieder zu ihnen zu kommen. Florentin und Eduard beſchloſſen, zu Fuß zuruͤckzugehen, ſie konnten auf dem weit naͤhern Fußweg doch noch fruͤher als der Wagen auf dem Schloſſe ankommen. Sie nahmen freundlich Abſchied von ihren gu - ten Wirthen, die es als eine Beleidigung an - ſahen, als man davon ſprach, ihnen ihre ge -259 habte Muͤhe und Unkoſten zu bezahlen. Ju - liane zog einen kleinen Ring vom Finger und gab ihn der Muͤllerin zum Andenken, um einigermaßen ihre Erkenntlichkeit zu bezeigen.

Der Graf und Eleonore kamen ihrer Toch - ter eine große Strecke entgegen, die beyden Freunde ergoͤtzten ſich die Freude zu ſehen, mit der ſie empfangen ward, und mit der ſie aus dem Wagen in die Arme ihrer Eltern ſtuͤrzte, als ob ſie Jahre lang getrennt geweſen waͤren. Juliane wurde mit Fragen beſtuͤrmt und mußte es feyerlich ihrem Vater verſprechen, niemals wieder ſeine Einwilligung zu einer aͤhnlichen Unternehmung zu fordern.

So endigte die abentheuerliche Wande - rung. Obgleich ihnen keine andere als ge - woͤhnliche Begebenheiten zugeſtoßen waren, ſo war ſie ihnen doch wichtig geworden. Sie hatten auf dieſem kurzen Wege, den ſie mit einander gewandert, tiefere Blicke in ihr Jn - neres zu thun Gelegenheit gefunden als ſie in einem Jahre langen Nebeneinandergehen in der großen Welt vermocht haͤtten. Julia -(17) 2260ne hatte die Erfahrung ihrer Abhaͤngigkeit gemacht, und mußte es ſich geſtehen, daß ſie es nicht ſo unbedingt wagen duͤrfe, außer ihren Graͤnzen, und ohne ihre Bande und ihre erkuͤnſtelten Bequemlichkeiten fertig zu werden.

[261]

Dreyzehntes Kapitel.

Die Zeit des Aufſchubs war verſtrichen, es waren nur noch drey Tage bis zu dem fuͤr die Vermaͤhlung feſtgeſetzten, und man erwartete jede Stunde die Ankunft der Graͤ - fin Clementine.

Unter verſchiedenen Anverwandten und Freunden, die ſich nun allmaͤhlich auf dem graͤflichen Schloſſe einfanden, kam auch ei - ner ihrer Nachbarn, auf den ſich ſchon alle laͤngſt gefreut hatten, weil er ihnen durch ſeine Eigenheiten viel zu lachen gab. Er war vormals Oberſtwachtmeiſter, hatte aber bey ſeinem herannahenden Alter den Abſchied262 genommen, und lebte nun auf ſeinen Guͤ - tern, wo er Oekonomie trieb, ſeine Beſitz - thuͤmer verbeſſern, und ſeine Bauern auf - klaͤren wollte: zu dem Ende las er alles, was in dieſem Fache geſchrieben ward, und verſuchte alle Menſchenfreundlichkeit lehrende Theorieen zu realiſiren. Da er nun den groͤß - ten Theil ſeines Lebens ſich mit Jdeen ganz anderer Art beſchaͤftiget hatte, ſo konnte es nicht fehlen, daß er alles falſch anfing, ſei - ne oft gute Abſicht verfehlte, und ſich nur ſelten nuͤtzlich, deſto haͤufiger hingegen laͤ - cherlich machte. Da ſeine Verbeſſerungen gewoͤhnlich mehr darauf hinausgingen, ihn zu bereichern, als wie er vorgab das Gute wirklich gemeinnuͤtzig zu machen, und er bey allen Vorkehrungen, die er traf, ſeine Bauern zu bilden, ſich doch niemals vor - ſtellte, daß ſie klug genug waͤren, ſeine ei - gentliche Abſicht einzuſehen, und aus eben dem Grunde nicht allein ſie nicht befoͤrder - ten, ſondern ihr auch noch auf alle erſinn - liche Weiſe entgegenarbeiteten, ſo lebte er in263 ewigen Verdruͤßlichkeiten und Zaͤnkereyen. Uebrigens war er, was man einen recht guten thaͤtigen Mann nennt. Niemals hat wohl jemand, bey ſo vielen Anſpruch auf Gravitaͤt und Wuͤrde, mehr Anlaß zum Lachen und Bedauern gegeben, als der gu - te Oberſtwachtmeiſter. Er brachte bisweilen ſeine Laͤcherlichkeiten mit einer ſolchen Nai - vetaͤt vor, daß man geneigt war zu glau - ben, er wolle ſich ſelbſt parodiren: ſo ge - ſchah es denn oft, daß ſeine Hoͤrer ohne alle kraͤnkende Abſicht laut auf lachten, wo er eigentlich die ernſthafteſte Aufmerkſamkeit hatte erregen wollen.

Bey ſeinem jetzigen Beſuche brachte er das Geſpraͤch auf die oͤkonomiſchen Einrich - tungen des Grafen, und konnte ſeine Ver - wunderung nicht genug daruͤber bezeigen, daß dieſem alles ſo wohl, ſo leicht und ohne alle Widerwaͤrtigkeiten gelinge, waͤh - rend er mit aller Arbeit es nur bis zum Streit und zur Verwirrung zu bringen wiſſe. Er hatte auf ſeinem Wege nach dem Schloß264 ſich mit einem alten Landmann aus dem Schwarzenbergiſchen Dorfe in eine Unterre - dung eingelaſſen, der die eingefuͤhrten Neue - rungen und Verbeſſerungen ſeiner Herrſchaft nicht genug loben und ſegnen konnte. Die - ſes unverdaͤchtige Lob hatte ihn ganz wild gemacht; er polterte und ſprudelte nun eine Anrede an den Grafen heraus, wo neben recht kraͤftigen derben militaͤriſchen Ausdruͤ - cken, die Worte Bildung und Verfeinerung aͤußerſt drollig hervorſtachen, und endigte mit dem Anliegen: der Graf ſolle ihm Un - terrricht in der neueſten Verbeſſerungs-Me - thode geben.

Um ihn etwas zu beſaͤnftigen, und ihn von ſeiner Muthloſigkeit zu heilen, erinner - te ihn der Graf an ſeine Verſchoͤnerungen des Parks, des Gartens und des Wohn - hauſes.

Ja, ja, ſagte er mit Selbſtzu - friedenheit, das iſt freylich Etwas! Es hat mir doch auch, muß ich ſagen, viel Ar - beit und Kopfbrechen und viel ſchweres Geld265 gekoſtet. Nun freylich! ſo etwas wie mein Ermenonville, meinen Otaheitiſchen Pavil - lon, meine Chineſiſchen Bruͤcken, derglei - chen haben ſie noch nicht ausgefuͤhrt, das iſt wahr! Apropos, ich muß Jhnen doch erzaͤhlen: ich habe von meinem Neffen, der vorigen Sommer von ſeiner Reiſe um die Welt zuruͤckgekommen, eine ganz vortreffliche und genaue Zeichnung von den Egyptiſchen Pyramiden erhalten, die ich, ſobald ich mit meinem Veſuv zu Stande bin, eben ſo nachzuahmen gedenke; unter uns, ich hoffe, es ſoll gewiß ein Meiſterwerk und ein ſeltnes Stuͤck werden. Dabey habe ich deu Gedanken, in dieſen Pyramiden ein Mo - nument fuͤr mein ſeliges Lottchen zu ſtiften. Jch habe auch ſchon den Platz mit Trauer - weiden und wilden Roſen bepflanzen laſſen, und der Neveu will die alten Jnſchriften, die er mitgebracht hat, hinein beforgen. Dahin will ich mich dann in melancholiſchen Stunden in die Einſamkeit begeben, mich meinen Gedanken uͤberlaſſen, und das266 Andenken meines lieben ſeligen Lottchens feyern.

Jetzt meynte ich aber nur die Oekono - mie, Jhre Verbeſſerung des Ackerbaues, und das ehrbare folgſame Betragen Jhrer Bauern. Sehen Sie, das war’s, dahin bringe ich’s mit aller Arbeit nicht. Wie ich es mir ſauer werden laſſe, das werden Sie wohl nicht glauben; wie ich mich Tag und Nacht damit beſchaͤftige die Beſtien auszu - bilden; und wie ſollt es einen nicht drey - fach aͤrgern, wenn man dahinter kommt, daß ſie ihrem Wohlthaͤter Gutes mit Boͤſem vergelten, und luͤgen und betruͤgen, wo ſie nur immer koͤnnen. Blutſauer habe ich’s mir werden laſſen! Ja ſollten Sie ſich vor - ſtellen, ich bin ſo weit gegangen: als ich neulich etwas von ihnen verlangte, wobey ich, wenn es mir gelungen waͤre, auf ein paar tauſend Thaͤlerchen jaͤhrlich mehr haͤtte rech - nen koͤnnen, mußten nicht allein meine Toͤch - ter, bey einem Feſt, das ich veranſtaltete, mit ihnen tanzen, ja ich ging ſo weit, daß267 ich ſie ſelbſt in ihren eignen Haͤuſern uͤber - raſchte, mich mit ihnen zu Tiſche ſetzte, und von ihrer miſerabeln (Gott verzeih mir die Suͤnde) Kocherey aus einer Schuͤſſel mit ihnen verzehrte! Jch that nicht anders, als ob es mir ganz vortrefflich ſchmeckte, dank - te ihnen, und unterhielt mich mit ihnen, als ob ſie meine Kameraden waͤren. Jch ſage das eben nicht darum, als ob es ſo beſonders tugendhaft von mir waͤre, ich weiß recht wohl, daß es gegen die Aufklaͤrung und gegen die reine Menſchlichkeit liefe, wenn ich anders handelte, aber, ich vermuthete, die Halunken wuͤrden von meiner Herablaſ - ſung geruͤhrt ſeyn, und in alles einwilligen, was ich von ihnen verlangte, es waͤre denn doch ein Beweis ihrer verfeinerten Sitten und ihrer edlen Herzen geweſen. Aber mir nichts, dir nichts! ſie blieben bey ihrem ſtar - ren Eigenſinn, es fehlte nicht viel, ſo haͤtten ſie ſich gegen mich zuſammen gerottet, bloß aus Egoismus, weil mir, wie ſie ſagten, al - lein der Vortheil zufließe, und ſie freylich268 wohl ein wenig mehr Arbeit und einen klei - nen Zeitverluſt dabey gehabt haͤtten. Anfangs wollte ich’s nun doch mit Gewalt durchſetzen, aber ſie waren ſo undankbar, mir mit einem Proceß zu drohen! Jch ließ es gut ſeyn und war zufrieden; aber geaͤrgert hat es mich, daß ich aus der Haut haͤtte fahren moͤgen! Nun, Herr Graf, ſagen Sie mir nur, Sie richten ja aus, was Jhnen beliebt! Thun Sie denn nach mehr? Bey weitem nicht ſo viel, als Sie, Herr Obriſtwachtmei - ſter, ſagte der Graf beruhigend. Aber Sie haben ſelbſt ſehr richtig bemerkt, ich bin ſo gluͤcklich, einen Schlag ſehr guter Leute auf meinen Guͤtern zu beſitzen, die mir allenthal - ben kraͤftig die Hand bieten. Jch ſuche nur zu verhuͤten, daß ſie nicht durch zufaͤlliges Un - gluͤck bis zu dem ſchauderhaften Elend ge - beugt werden, wo ſie Huͤlfe in der Nieder - traͤchtigkeit und Vergeſſenheit ihres Elends in der Voͤllerey zu ſuchen haben. Sie werden erfahren haben, wie meine Schweſter fuͤr die Kranken ſorgt. Auf eine aͤhnliche Weiſe wer -269 den ſie jedesmal unterſtuͤtzt, wenn es noͤthig iſt. Da ſie nun fuͤr die erſten Beduͤrfniſſe nicht ſo hart und unablaͤſſig zu ſorgen brau - chen, ſo kommen ſie von ſelbſt und ganz oh - ne Zwang darauf, ihren Zuſtand immer mehr und mehr zu verbeſſern. Sie thun mir alſo zu viel Ehre an, Herr Obriſtwachtmeiſter, wenn Sie mir allein alle Verbeſſerungen und manches ungewoͤhnlich Gute zuſchreiben, daß Sie auf meinen Guͤtern bemerken wollen. Sehr viele, ja die meiſten Jdeen dazu, kom - men von meinen Landleuten ſelbſt; ſie kennen den Boden, den ſie bearbeiten muͤſſen, durch ihre Erfahrung am beſten, daher ſind ſie am erſten im Stande und berechtigt, ſich die vortheilhafteſte Behandlungsart zu erſinnen; ich reiche ihnen nur huͤlfreich die Hand, wenn etwa die Ausfuͤhrung ihre Mittel uͤber - ſteigt. Der Vortheil des Gelingens gehoͤrt ihnen unbezweifelt, ſo wie auch billig der Schaden des Jrrthums oder des Verfehlens, der jedoch ihre ganze Beſtrafung ausmacht. Das Wichtigſte, fing Eleonore an, hat270 mein Gemahl Jhnen noch nicht erwaͤhnt, Herr Obriſtwachtmeiſter: ich meyne den abgeſchaff - ten Frohndienſt. Die Leute haben nun, was ihnen ſo wichtig iſt, Muße, ihre eignen Ge - ſchaͤfte deſto beſſer zu beſorgen. Der Obriſtwachtmeiſter hatte, waͤhrend der Graf geſprochen, mit komiſcher angeſtrengter Auf - merkſamkeit zugehorcht, um etwas zu ler - nen, auch einigemal Beyfall genickt, indem er die Umſtehenden nach der Reihe anguckte. Als aber Eleonore vom Abſchaffen des Frohn - dienſtes anfing, ſprang er ungeduldig auf. Gut, daß Sie davon anfangen, Frau Graͤ - fin! ich hatte es mir ſchon laͤngſt vorgenom - men, Jhnen meine Meynung daruͤber zu ſa - gen. Sie haben Jhren Bauern den Frohn - dienſt erlaſſen, der jedem Gutsbeſitzer von Gott und Rechts wegen zukoͤmmt, dadurch haben Sie aber allen Jhren Nachbarn vielen Schaden zugefuͤgt. Herr Graf! es iſt nicht ein jeder geſonnen, ſeinen gerechten Vortheil ſo muthwillig zu verſchleudern, und nun wird uns alles erſchwert. Nein, erlauben Sie mir,271 daß ich’s Jhnen ſage, daran thaten Sie ſehr Unrecht! Eine alte Gerechtigkeit muß man nicht aufheben. Unſere Vorfahren haben den Frohndienſt eingerichtet, und das waren auch keine Narren; die Nachkommenſchaft ſollte nur mehr Reſpekt vor ihren Einrichtungen haben! Einzelne Verbeſſerungen, ja einzelne laſſe ich mir gefallen, aber das Ganze darf nicht nie - dergeriſſen werden! Alle Teufel! bey der Ord - nung muß es bleiben. Und nehmen Sie mir’s nur nicht uͤbel, Herr Graf, auf dieſe Weiſe geht es Jhren Bauern freylich herrlich und in Freuden, da Sie ſich das Jhrige entziehen! aber damit waͤre mir noch gar nicht gedient, meine Bauern ſollen ſich nicht aus Eigennutz vervollkommnen, und meinen Willen ihres eignen Vortheils wegen vollziehen, ſondern aus reiner Liebe und Dankbarkeit ſollen ſie mir meinen Willen thun. Weltlichen Vortheil ſollen ſie gar nicht vor Augen haben, ſondern Moralitaͤt, feine Ausbildung des Kopfs und des Herzens! Lieben ſollen mich die Halunken! Jn dieſem Ton fuhr der gute Obriſtwacht -272 meiſter noch ein Weilchen fort, zur großen Beluſtigung der Geſellſchaft, die uͤber dieſen Freund der Kultur ſich nur mit Muͤhe das laute Lachen enthielt. Eleonore mußte einige - mal das Geſicht wegwenden; der Graf ver - ſuchte es, ihn zu unterbrechen, und ein ande - res Geſpraͤch auf die Bahn zu bringen, aber das ging nicht ſo leicht. Er kramte mit gro - ßem Eifer alles durch einander aus, und ſchwieg nicht eher, bis man zu Tiſche ging, wo er ſich dann wieder beruhigte. Beym Anblick der mannichfaltigen Flaſchen ward er vollends wieder friedlich und freundlich ge - ſinnt, vergaß Kultur, Oekonomie und Mo - ralitaͤt, ließ es ſich trefflich ſchmecken, und pruͤfte ſo lange die einheimiſchen und fremden Weine gegen einander, bis man ihn nach ei - nem andern Zimmer fuͤhrte, wo er den Reſt des Tages ruhig verſchlief.

Wie gefaͤllt Dir die herrliche Karikatur? fragte Eduard. Dieſes iſt einer der um - faſſendſten Geiſter, die es gibt, erwiederte Flo - rentin; er vereinigt in ſich alle die Narrheiten,273 die man ſonſt in der ganzen Welt ausgebreitet findet; jedes Raͤthſel, das uns in ihr verwir - rend und aͤngſtigend entgegenfaͤhrt, iſt aufs be - lehrendſte in ihm allein aufgeloͤſt! Juliane bedauerte ſpottend die armen Fraͤulein, die aus oͤkonomiſch-politiſch-menſchenfreundlicher Ab - ſicht mit den unwilligen, aufgebrachten Bauern tanzen mußten, und ſtellte die Noth, ſich nach ihrer Weiſe fuͤgen zu muͤſſen, ſehr komiſch und lebhaft vor. Sogar Thereſe und die Knaben uͤbten ihren Muthwillen an dem ehrlichen Obriſt - wachtmeiſter, bis der Graf ihnen endlich Einhalt that, der ſich bey dieſen Geſpraͤchen erinnert hatte, daß ſeinen Bauern am Vermaͤhlungstage ein Gaſtmahl auf dem Schloß bereitet werden muͤſſe, und war verwundert noch keine Anſtalten dazu machen zu ſehen. Eleonore geſtand ihm: ſie haͤtte es zwar nicht vergeſſen, koͤnnte ſich aber immer nicht entſchließen etwas anzu - ordnen, was noch jedesmal ihr Mißfallen er - regt, ſo oft ſie dabey geweſen. Der Graf erwiederte: es laſſe ſich ſchwerlich etwas gegruͤn - detes gegen eine ſo ehrwuͤrdige Sitte einwenden,Florentin. I. 18274die von jeher in ſeinem Hauſe Statt gefunden, und die er nicht gern ohne Grund abſchaffen wuͤrde. Verzeih mir, mein Beſter! ſagte Eleonore, aber ich konnte mir nie weder gutes, noch erfreuliches dabey denken, wenn ich dieſe Leute an einer langen Tafel, ſchnur gerade ge - reiht ſitzen ſah, Zwang und ſtaunende Lange - weile auf allen Geſichtern, die Maͤnner an der einen, die Frauen auf der andern Seite; zufaͤl - lig Feinde ſich nah, Freunde und Liebende ge - trennt, fremd, aͤngſtlich, unbehaglich! Von der Dienerſchaft, wo nicht gar von der herr - ſchaftlichen Familie ſelbſt bedient, fuͤhlten ſie ſich in nicht geringer Verlegenheit, ſo oft ihnen etwas gereicht ward, und nahmen ſich dann na - tuͤrlich ſo ungeſchickt und link dabey, daß die uͤbermuͤthigen Lakaien ſich berechtigt glaubten, ſie hohnlachend zu verſpotten. Jrgend ein Laͤ - cheln, oder das Anſehn von Superioritaͤt, das man doch nicht unterdruͤcken kann, und das nur auffallender wird, je mehr man’s unterdruͤcken will, macht ihnen vollends dieſen oſtenſibeln Akt von Herablaſſung zur Pein. Es kann nicht275 fehlen, daß das demuͤthigende und zugleich er - niedrigende Bewußtſeyn ſich nicht in ihre Her - zen ſchleiche: ſie ſeyen unter dem Vorwand eines Gaſtmahls bloß zur Dekoration fuͤr die Vorneh - men beſtimmt, die ſich an einer laͤndlichen Sce - ne erluſtigen wollten. Duͤrften dieſe ehrlichen Leute freymuͤthig ihre Meynung ſagen, ſo wuͤr - den ſicherlich die meiſten, wie Sancho Panſa bey den Ziegenhirten, ihrem Herrn fuͤr die un - bequeme Ehre danken, in ſeiner Geſellſchaft zu ſpeiſen; von denen, die es nicht ausſchluͤgen, haͤtte ich auch nicht die beſte Meynung. Eleonore wandte ihre ganze Beredtſamkeit an, den Grafen zu bewegen, daß er dieſen alten Gebrauch abſtellen, und den Bauern auf eine andere Art ein Andenken des froͤhlichen Tages vergoͤnnen moͤchte, aber der Graf wollte nichts davon hoͤren. Es ſind noch Leute darunter, ſagte er, die ſowohl am Tage unſerer Vermaͤhlung, als bey Julianens Geburt ſind bewirthet wor - den, was wuͤrden dieſe glauben und glauben machen, wenn wir es bey dieſer Gelegenheit un - terließen? Entweder, daß unſere Freude nicht(18) 2276von Herzen gehe, oder daß wir die Gebraͤnche unſerer Vorfahren nicht mehr ehren. Es darf nicht unterbleiben! Doch bleibt Dir, Liebe, die ganze Anordnung unumſchraͤnkt uͤberlaſſen. Die Mißbraͤuche, die Du ganz richtig angemerkt haſt, werden ſich vielleicht vermeiden laſſen.

Das Geſpraͤch ward durch Briefe von der Graͤfin Clementine an den Grafen und an Ju - lianen unterbrochen. Beyde entfernten ſich. Eleo - nore berathſchlagte waͤhrend dem mit Eduard und Florentin wegen des Auftrags, den ihr der Graf gegeben. Es ward endlich unter ihnen etwas verabredet, und Florentin eilte ſogleich die noͤthigen Anſtalten dazu zu treffen, die Kin - der begleiteten ihn.

Der Graf kam zuruͤck, und als er Eleo - noren mit Eduard allein antraf, ſagte er ih - nen: ſie duͤrften nun nicht mehr auf Clemen - tinens Gegenwart bey der Vermaͤhlung rech - nen, ſie haͤtte es voͤllig abgeſchrieben. Eleono - re bat ihn, ihr etwas Naͤheres aus dem Brie - fe mitzutheilen, weil ſie auf des Grafen Ge -277 ſicht einige Sorge wahrnahm, die ſie beun - ruhigte.

Jch befuͤrchte, ſagte er, daß Clementine von einem ernſthaftern Grund zu kommen ab - gehalten wird, als der iſt, den ſie vorſchuͤtzt. Wenn ſie nur nicht wieder krank iſt, und es uns verbirgt! Eleonore ſuchte ihn zu beruhi - gen; ſie erinnerte, daß ihre faſt niemals wei - chende Kraͤnklichkeit ein ganz ruhiges Verhal - ten oft nothwendig mache, gefaͤhrlich ſchien es doch nicht zu ſeyn, da ſie beyde Briefe eigen - haͤndig geſchrieben haͤtte. Sie ſchlug dem Grafen einen verlaͤngerten Aufſchub vor, er unterbrach ſie aber mit einiger Ungeduld: Es ſcheint auch Clementinens Wunſch zu ſeyn, ſagte er; aber, meine Liebe, ich kann weder dir, noch jener hierin nachgeben. Jch werde es nicht laͤnger aufſchieben, ein ſo heilig gege - benes Verſprechen zu erfuͤllen, und ich ſelbſt ſehne mich zu lebhaft, dich, Eduard, als meinen Sohn zu umarmen. Es bleibt bey dem beſtimmten Tage, gleich nachher wollen wir zuſammen Clementiney beſuchen, mich ver -278 langt recht danach, ſie zu ſehen. Er ging mit Eleonoren in den Garten, wo er ihr noch einiges aus dem Briefe mittheilen wollte.

Juliane war traurig, ihre geliebte Tante nun nicht erwarten zu duͤrfen. Sie uͤberlas ihren Brief immer wieder aufs neue. Eduard ſuchte ſie bey ſich in ihrem Zimmer auf, und wollte ſie durch ſeine zaͤrtlichen Liebkoſungen erheitern. Sie fuͤhlte ſeine Liebe, konnte ſich aber dennoch nicht aus ihrer truͤben Stim - mung reiſſen, und bat ihn endlich, ſie allein zu laſſen. Er ging fort und ſuchte Florentin auf; er wollte nicht mit ſeinem Unmuth allein ſeyn. Juliane ſchrieb folgenden Brief an Clementinen.

Juliane an Clementina.

Jhr letzter Brief hat mich nicht ſo froh ge - macht, wie ſonſt alles, was von ihnen kommt. Sie ſelbſt erwartete ich, liebe Tante, wie ſoll ich mir nun an einem Briefe von derſelben279 Hand genuͤgen laſſen, die ich ſelbſt ſo gern mit Kuͤſſen uͤberdeckt haͤtte, auf deren Segen ich hoffte!

Jch habe jetzt Sorgen, meine Tante! wie ſoll ich ſie aber ausſprechen? Wenn ehe - dem eine kindiſche Sorge mein Gemuͤth traf, dann wußten Sie es zu errathen, ich war durch Jhre Huͤlfe davon befreyt, ehe ich ſie zu nennen wußte. Aber jetzt wird es bedeu - tender, ich fuͤrchte mich vor den ernſthaften Anſtalten. Man koͤmmt und geht; Einrich - tungen werden gemacht, andere zerſtoͤhrt; Va - ter und Mutter haben lange geheime Unter - redungen, dann wird oft Eduard dazu gerufen. O haͤtte ich es gedacht, daß es ſo viel Muͤ - he, und mir ſo viel Angſt machen wuͤrde! Und alles iſt weit ſchlimmer geworden, ſeit Jhren Briefen, Tante! Nachdem ſie geleſen waren, fielen lange Unterredungen vor; der Vater war ſehr bewegt, meine Mutter weinte. Jch ſaß unbemerkt an meinem Fenſter, da konnte ich ſie ſehen, ſie gingen auf der Ter - raſſe auf und ab. Jch durfte um nichts fra -280 gen, denn es ſchien, als machten ſie mir ab - ſichtlich aus dem Jnhalt des Briefs und des Geſpraͤchs ein Geheimniß, aber es beunruhigte mich. Was kann vorgehen? Jch habe Jhren Brief unzaͤhligemal durchgeleſen, um vielleicht in ihm ſelbſt einen Aufſchluß zu finden, aber umſonſt! Meine theure Clementine ſchreibt von Pflichten, die mir nun aufgelegt wer - den, denen ich vielleicht nicht gewachſen ſey. Was ſind das fuͤr Pflichten? giebt es noch an - dere, als die ich kenne: daß ich Eduard einzig und bis in den Tod lieben ſoll? Und wenn es nur dieſe ſind, wie ſollten ſie mir zu ſchwer ſeyn? Kann man zu lieben aufhoͤren? giebt es eine andere Gluͤckſeligkeit, als treu zu lie - ben bis in den Tod? Einſt ſagten Sie mir: das ſchoͤnſte Gluͤck auf Erden fuͤr ei - ne Frau waͤre, wenn der Gatte zugleich ihr Freund ſey. Sie ſprachen mir aus der See - le, meine geliebte Clementine; und wenn dem ſo iſt, ſo duͤrfen Sie ſich mit Jhrem Kinde freuen; Eduard iſt gewiß der Freund ſeiner Juliane; er liebt mich ja, und kann man281 lieben, ohne der Freund der Geliebten zu ſeyn?

Aber, was ihm nur fehlen mag? er iſt nicht allein beſorgt und nachdenklich, wie ich es bin; er iſt traurig, voll Mißmuth bis zur ungerechten Klage: ich liebe ihn nicht ſo, wie er hoffte, von mir geliebt zu ſeyn. Jch weiß ſeine Zweifel nicht zu beruhigen, und meine eigne Unruhe wird immer groͤßer. Vielleicht zerſtreut ſich dieſer Nebel um uns, wenn wir erſt in Ruhe uns ſelber werden le - ben, wenn erſt der Laͤrm, die Wichtigkeit, die Feyerlichkeiten voruͤber ſind.

Jch haͤtte vielleicht groͤßers Recht zu kla - gen, als Eduard, daß ihn nicht ſo ganz ge - nuͤgt an ſeiner Freundin, daß er noch eines Freundes zu ſeinem Gluͤcke bedarf. Jetzt wuͤnſchte ich aber ſelbſt ſo ſehr als er, daß Florentin bey uns bleiben moͤchte. Jn dieſen Stunden der Mißverſtaͤndniſſe iſt er unſer guter Engel; die boͤſen Geiſter weichen vor ſei - ner Gegenwart. Es iſt ein ganz herrlicher Menſch, liebe Clementine! Eduard haͤngt mit282 der bruͤderlichſten Freundſchaft an ihm und ich liebe ihn wie einen aͤltern Bruder. Jch fuͤhle es wohl, was ich ihm ſchon jetzt verdanke, und was er uns beyden werden koͤnnte! Aber alles unſer Bitten vermag nicht, ihn zuruͤckzuhalten. Eduard hat eine Vermuthung, die ich Jhnen einmal muͤndlich mittheilen werde; ich halte ſie aber nicht fuͤr gegruͤndet, und auf keinen Fall iſt es ſo ernſthaft, als er glaubt.

Dieſen Morgen war ich lang allein mit Florentin. Wir uberraſchten uns beyde mit der gegenſeitigen Frage: was fehlt Ednard? jeder von uns glaubte den andern im Ver - ſtaͤndniß. Er wußte aber ſo wenig und iſt ſo unruhig uͤber dieſe Erſcheinung, als ich ſelbſt. Zum erſtenmale habe ich ihn mit vollem Zu - trauen begegnet; ich geſtand ihm meine kleine Eiferſucht, und daß ich fuͤr Eduards Liebe be - ſorgt bin; aber er gab mir Unrecht, er warn - te mich, nicht in die gewoͤhnliche Schwaͤche der Frauen zu verfallen und Achtung fuͤr die Freundſchaft der Maͤnner zu haben. Es wa - ren Jhre Worte, Clementine. Jch mußte voll283 ſtaunender Achtung vor ihm ſtehen, denn ſo tiefe Blicke in mein Jnneres hat niemand noch, außer Jhnen, gethan; ſolche Dinge hat mir noch kein Menſch ſonſt geſagt. Er hat mich aus den tiefſten Winkeln meines Herzens, da wo ich ſelbſt nicht hin zu dringen wagte, her - ausgefunden. Es war beynah zu hart, mein Stolz empoͤrte ſich endlich gegen ſeine Beſchul - digungen. Sie kennen freylich meine Schwaͤ - chen, ſagte ich ihm, aber Sie wiſſen doch nicht, was ich zu thun im Stande bin. Das glaube ich, ſagte er; wenn Sie das nur in der That thun wollten, was Sie zu thun im Stande ſind; wenn Sie nur nicht das, was Sie ſind, verlaͤugnen, um wie die andern zu ſcheinen. Drauf ſprach er noch viel uͤber Eduard und mich; ſo ſuͤß troͤſtete er mich nun, ſprach mir ſo beredt, als ob er fuͤr ſich ſelbſt ſpraͤche, von Eduards inniger Liebe, wußte mir ſo fein alle ſeine Feinheiten herzu - zaͤhlen Jch konnte nicht laͤnger ſorgen, alle meine Bangigkeit war faſt verſchwunden bey ſeinem freundlichen Troſt. Nur vergeſſen Sie284 nicht, ſagte er, was ich Jhnen geſagt; wenn Sie es auch jetzt nicht verſtehen, einſt wer - den Sie es doch verſtehen lernen. Jch fuͤhlte eine Thraͤne uͤber mein Geſicht rollen, als ich ihm die Verſicherung gab; ſeine Worte, ſeine Stimme, die wie eine ſcheidende Pro - phezeyhung klang, hatten mich tief bewegt. Er kuͤßte ſanft mir die Thraͤne vom Geſicht; ich konnte es nicht wehren, er war ſelbſt zu ſehr geruͤhrt. Auch ich werde dieſen Au - genblick nicht vergeſſen, ſagte er; ſo ſehe ich Sie niemals wieder. Darauf verließ er mich.

Aber Clementina, warum ſind Sie nicht bey mir? wo ſoll ich Muth hernehmen die ernſte Stunde zu uͤberſtehen? mußten Sie gerade jetzt Jhr Maͤdchen verlaſſen?

Jch vergeſſe alles, wovon ich Jhnen ſonſt ſchreiben koͤnnte. Mein Herz iſt ſo voll! von mir ſelbſt voll! muß es, wird es nicht bald beſſer werden? Leben Sie wohl Cle - mentina, theure geliebte Freundin! Seegnen Sie Jhre Juliane.

[285]

Vierzehntes Kapitel.

Es war ein heiterer herrlicher Morgen; ein großer, von hohen ſchattigen Baͤumen umge - bener Platz im Park, den man aus dem Cabinet der Graͤfin uͤberſehen konnte, und der von der andern Seite die Ausſicht ins freye Feld ließ, war zur feſtlichen Bewir - thung der Landleute eingerichtet. Unter den Baͤumen rings um den Platz ſtanden Tiſche von verſchiedener Groͤße; jeder Familie war einer angewieſen, deſſen Groͤße der Anzahl der Perſonen angemeſſen war. Es durſte keiner aus Mangel an Raum zuruͤckgelaſſen werden. Jede Hausmutter ſah ſich im Kreiſe der ihrigen, und ſorgte nach ihrer gewohnten286 Weiſe fuͤr ihre Bequemlichkeit. Stuͤhle ſtan - den umher, geraͤumige Lehnſeſſel fuͤr die Al - ten. Glaͤnzend weiße Tuͤcher waren uͤber die Tiſche gedeckt. Frauen und Toͤchter ſtellten geſchaftig das noͤthige Geraͤth umher, kein Lakai, keine Livree war zu erblicken. Ge - laſſen ſorgte jede fuͤr die ihrigen, brachte forgſam das ererbte, lang geehrte Glas, das gewohnte Meſſer des Hausvaters, damit er keine haͤusliche Bequemlichkeit vermiſſe. Mit Braten, Wein und Kuchen waren die Tiſche reichlich beſetzt, mit Blumen anmuthig ver - ziert. Die Mitte des Platzes, ein friſcher dichter Raſen, war zum Tanz fuͤr die jungen Leute beſtimmt; da konnten die Alten ruhig an ihren Tiſchen ſitzend dem Tanze zuſehen.

Fruͤh war Eleonore hinausgegangen, um ſelbſt noch einmal nachzuſehen, ob alles nach ihren Befehlen eingerichtet ſey, und ob nichts mangle? Nach und nach kamen alle zuſam - men in feſtlichem Anzuge. Junge Maͤdchen mit Baͤndern und Blumen geſchmuͤckt, ver - ſammelten ſich, Thereſe an ihrer Spitze, um287 Julianen einen bluͤhenden Myrthenkranz zu uͤberreichen. Jetzt kamen auch einige Abge - ordnete aus Eduards und des Grafen nah lie - genden Guͤtern. Jeder Tiſch war fuͤr einige Gaͤſte mit berechnet, ſie fanden alſo leicht einen Platz. Sie ſuchten ſich ſogleich ihre Ver - wandte oder Bekannte heraus, und wer keine zu finden hatte, wurde von allen eingeladen, er waͤhlte ſelbſt ſeinen Wirth; die freundlich - ſte Hausfrau, das netteſte, ſittſamſte Toͤch - terchen zaͤhlten die meiſten Gaͤſte, und ent - ſchieden die Wahl auf den erſten Blick. Der Graf hatte einige Soͤhne aus dem Dorfe un - ter ſeinem Regimente, dieſen hatte er heim - lich Urlaub geſandt, nach ihrer Heimat zu - ruͤck zu kehren und ſich mit ihren Maͤdchen zu verbinden, die ſchon laͤngſt auf dieſe Er - laubniß geharrt hatten. Jetzt kamen die mun - tern Soldaten unvermuthet zwiſchen den Baͤu - men hervor, und begruͤßten die freudig er - ſchreckten Eltern und die erroͤthenden Braͤute, die ſich unter den verſammelten Maͤdchen be - fanden, und welche heute ihre Ausſteuer von288 Eleonorens Haͤnden erwarteten. Herzlich froher lauter Willkommen ſchallte von allen Seiten; Umarmungen, Gluͤckwuͤnſche und Haͤndeſchuͤtteln gingen im kunſtloſen Reihen - tanz durch einander, bey dem der freyere mi - litaͤriſche Anſtand und die hellen Farben der Uniformen luſtig abſtachen gegen das einfaͤl - tige friedliche Betragen der Einwohner.

Der Graf und Florentin kamen dazu; er bezeigte Eleonoren ſeine Zufriedenheit, und laͤchelte vergnuͤgt bey dem ſchoͤnen Anblick. Sehen Sie, Florentin, ſagte Eleonore, wie das alles lacht und lebt! Mir iſt, ſagte Florentin, als ſaͤhe ich eine Scene von Teniers lebendig werden! Es waͤre noch der Muͤhe werth zu leben, wenn es immer ſo auf der Welt ausſehen koͤnnte! Mutter, rief The - reſe, wo bleibt denn Juliane? ich werde un - geduldig. Es iſt wahr, ſagte Eleonore, ſie muͤßte ſchon hier ſeyn, und wo bleibt Eduard? Sie waren ſchon dieſen Mor - gen mit ihm aus, Florentin, ſagte der Graf, ich ſah ſie beyde zuruͤckkommen, was hatten289 Sie ſchon ſo fruͤh vor? Die Geſellſchaft trennte ſich geſtern ſehr fruͤh, wir blieben noch zuſammen, ein Buch, das wir vor ei - nigen Tagen zu leſen angeſangen hatten, zog uns ſo fort, daß wir nicht eher aufhoͤren konnten, bis es geendigt war; es war nun nicht mehr Zeit ſich niederzulegen, wir gin - gen hinaus, und erwarteten den Morgen. Seit einigen Tagen, fing der Graf wieder an, habe ich ein nachdenklicheres, truͤberes We - ſen an Eduard bemerkt, als ihm gewoͤhnlich iſt. Hat er Jhnen etwa die Urſache ver - traut, Florentin? oder haben Sie ſonſt Ge - legenheit gehabt zu bemerken, was ihn druͤckt? Sie muͤſſen uns kein Geheimniß daraus ma - chen, es iſt vielleicht nicht unmoͤglich ſeinem Verdruß abzuhelfen, oder irgend einen ge - heimen Wunſch zu erfuͤllen. Warum ver - birgt er ſich uns? Mir iſt nichts be - kannt, Herr Graf, als was Sie ſelbſt be - merkt haben, nehmlich daß er nicht ſo heiter als gewoͤhnlich iſt. Haben Sie ſonſt kei - ne Vermuthung? Die ſteigende Unge -Florentin I. 19290duld, vielleicht die Erwartung! Unmoͤg - lich! ſein Gluͤck iſt ſo nah, ſo ſicher. Vielleicht iſt es etwas mir hat er wirklich ich weiß nicht Wenn Sie mir erlauben, ſo will ich jetzt die Graͤfin Juliane aufſuchen. Er ging zuruͤck auf das Schloß. Die Fragen des Grafen hatten ihn verwirrt. Entdeckt hatte Eduard ſich ihm nicht, aber er war feſt uͤberzeugt, eine ge - heime Eiferſucht, die er gerne unterdruͤcken moͤchte, marterte ihn, er war bis zur Pein - lichkeit reizbar geworden; Juliane heiterte ihn freylich oft wieder auf, aber nur auf kur - ze Zeit, dann war irgend eine Kleinigkeit wieder im Stande, ihn zu beunruhigen. Wie ein Geſpenſt trat es Florentin vor die Seele, er ſey die Urſache diefer Zerſtoͤhrung. Auch das, was in jener Nacht in der Muͤhle vorgegangen war, konnte er ſich auf keine an - dere Weiſe ſonſt erklaͤren.

Auf dem Corridor nach Julianens Zim - mer ſah er eine Thuͤr geoͤffnet, die er bis jetzt immer verſchloſſen gefunden hatte; er291 trat hinein, es war das neu eingerichtete Schlafzimmer fuͤr Julianen, in dem die Kammerfrauen eben noch einiges ordneten. Ein Basrelief mit Figuren in Lebensgroͤße uͤber dem Kamine zog ſogleich ſeine Augen auf ſich. Es war eine Pſyche, welche die Lampe in der Hand, den ſchlummernden Gott der Liebe mit ſtaunendem Entzuͤcken beſchaute. Es war in edlem Styl gearbei - tet, und von vollendeter Ausfuͤhrung, Flo - rentin betrachtete es mit innigem Vergnuͤgen, und glaubte die Hand des Meiſters darin zu erkennen; er freute ſich es ſo unverhofft erblickt zu haben. Das ganze Zimmer war uͤbrigens mit glaͤnzender Pracht eingerichtet. Als er es eben verlaſſen wollte, und noch einen Blick umher warf, fiel ihm das große Prachtbette auf, das dem vortrefflichen Kunſtwerk gegenuͤber ſtand. Am Obertheil des Lagers ſowohl, als zwiſchen den ſtolzen Federbuͤſchen, die auf den reich mit gold - nen Quaſten verzierten ſchweren ſeidnen Vor - haͤngen prangten, breiteten ſich mit großer(19) 2292Wuͤrde die Wappen, gleichſam der ſchweben - den, beynahe entkoͤrperten Pſyche erdruͤckend entgegen. Wir wagen es nicht zu be - ſtimmen, was dem Florentin fuͤr Bemer - kungen eingefallen ſeyn moͤgen, aber er lach - te laut auf.

Juliane und Eduard begegneten ihm, als er zur Thuͤr heraustrat. Jch war im Begriff Sie beyde aufzuſuchen, Sie wer - den im Park erwartet. Von wem? ſind meine Eltern dort? Sie wuͤnſchen im Park zu fruͤhſtuͤcken, eh die Geſellſchaft zu groß wird, auch werden Sie eines er - freulichen Anblicks genießen. Sie eilten hinunter.

Eine jubelnde Symphonie von vielen Jnſtrumenten, die zwiſchen den Baͤumen ver - ſteckt waren, empfing ſie. Juliane trug ein weißes Kleid von der feinſten Gaze, das in leichten Falten bis zu den Fuͤßen her - ab fiel, unter der Bruſt war es von einer Reihe Smaragden zuſammengehalten, ihre Haare in eigner Pracht, ohne allen Schmuck293 aufgeſteckt; feine goldne Kettchen zierten Hals und Arme, auf dem ſchoͤnen Buſen wiegte ſich ein Stern von Diamanten. So ſchweb - te ſie aus dem Schatten der Baͤume hervor, herrlich geſchmuͤckt, doch leicht und kunſtlos. Augen und Herzen flogen ihr entgegen. Ei - ne ſelige Heiterkeit verklaͤrte ihr Geſicht beym Anblick der frohen Menge. Jhre Eltern an der andern Seite des Platzes erblickend, wollte ſie ſogleich zu ihnen heruͤberfliegen; ihre eiligen Schritte aber wurden von Kin - dern gehemmt, welche ſie mit Blumenketten umgaben und feſt hielten; zugleich naͤherte ſich ihr mit Geſang der Trupp junger Maͤd - chen. Sie hob Thereſen zu ſich hinauf, kuͤßte ſie, und ließ ſich den bluͤhenden Kranz von ihr auf die Locken druͤcken. Mit naſſen Au - gen laͤchelte ſie beym Geſang der Maͤdchen, die einen Korb mit den ſchoͤnſten Blumen zu ihren Fuͤßen niederſetzten. Kaum hatte ſie ſich in den Armen ihrer Eltern von der freu - digen Ruͤhrung erholt, als die beyden Kna - ben, Julianens Bruͤder, einen kleinen Wa -294 gen ganz von Roſen durchflochten herbey - zogen, die Kinder zwangen ſie ſcherzend hin - auf, ſie ſetzte ſich unter eine Art von Roſen - thron. Thereſe ſtand ihr auf dem Schooß, der Blumenkorb zu ihren Fuͤßen, ſo ward ſie im Triumph und Freudengeſchrei fortge - zogen; das Ganze ſah ſo reizend und zaube - riſch aus, daß man einen Feen-Aufzug zu ſe - hen glaubte.

So ging es fort nach einem ſtillen ent - fernten Theil des Parks, wo das Fruͤhſtuͤck bereitet war. Zwiſchen den Buͤſchen ſtanden bluͤhende Orangenbaͤume, die einen balſami - ſchen Duft verbreiteten. Wo man hinſah, erblickte man Julianens und Eduards Na - men aus Blumengehaͤngen. Die Baͤume waren durch eben ſolche Blumengehaͤnge ver - bunden, und das Ganze bildete einen vollen bedeutenden Bluͤthenkranz. Von verſchiede - nen Seiten in kleiner Entfernung ließen ſich Oboen und Waldhoͤrner bald wechſelnd, bald zuſammenſtimmend hoͤren, und wenn ſie ſchwiegen, erſchallte ganz von ferne die froͤhli -295 che Muſik bey den Landleuten heruͤber. Je - des Geraͤuſch war entfernt, alle ſaßen ſchwei - gend und horchend, jedes ſchien beſchaͤftigt, die Freuden mit allen Sinnen in ſich aufzu - nehmen. Florentin verglich im Stillen den Eindruck dieſes kleinen Tempels mit dem des prangenden Schlafgemachs, das er geſe - hen, und es iſt leicht zu errathen, welches er ſich von beyden am liebſten zum Allerheilig - ſten im Heiligthum der Liebe auserſehen haͤtte.

Von tauſend ſuͤßen Gefuͤhlen durchſtroͤmt, das Herz pochend von liebevoller Ahndung, lehnte Juliane das gluͤhende Geſicht an den Buſen ihrer Mutter, Eduards Lippen ruhten auf ihrer Hand, die er mit den ſeinigen um - ſchloſſen hielt. Meine Juliane, mein an - gebetetes Maͤdchen! ſprach er im Entzuͤcken der Liebe: werde ich Dich jemals ſo gluͤcklich ma - chen koͤnnen, als Du in den Armen der Mut - ter biſt? Sie bleibt in den Armen ihrer Mutter, ſagte Eleonore, ſie ſanft an ſich druͤckend, auch wenn ſie die Jhrige ſeyn wird! 296Sie rauben ſie uns nicht, lieber Eduard! Moͤgt Jhr beyden das hoͤchſte Gluͤck jedes das ſeine im andern finden, ſagte der Graf, indem er ſie umarmte, Jhr ſeyd mein koſtbarſtes Kleinod. Gott verleihe Euch ſeinen reichſten Seegen in dem meinigen! Die Rede des Grafen ſchien erſt beſtimmt zu ſeyn, noch meh - reres zu enthalten, er brach aber mitten darina ab, und ſah nach ſeiner Uhr mit einiger Be - denklichkeit. Jch haͤtte ſehr gewuͤnſcht, fing er wieder an, noch einige Zeit in dieſem ver - traulichen Kreiſe zu verweilen, aber ich ſehe ſo eben, daß wir keine Zeit mehr zu verſaͤu - men haben: Juliane, Du mußt an Deine Toilette denken, wir muͤſſen uns ja noch alle umkleiden. Bleibt die Graͤfin Juliane nicht ſo, wie ſie da iſt? fragte Florentin; das wer - den wir bedauren muͤſſen; ſie iſt ſo ſchoͤn in dieſem Anzuge, daß keine Veraͤnderung vor - theilhaft fuͤr ſie ſeyn kann. Es iſt wahr, ſagte der Graf, aber hier darf nicht die Rede von der Schoͤnheit der Kleidung ſeyn, ſondern von der Schicklichkeit. Jn dieſer kann ſie nicht oͤf -297 fentlich getraut werden, heute muͤſſen wir nothwendig in Galla ſeyn. Wenn uns nur die Fremden nicht uͤberraſchen, wir haben zu lange verweilt. Nun laßt uns zuruͤck gehen, ſagte Eleonore, wir finden wahrſcheinlich ſchon einige verſammelt. Auch unſer wunderlicher Obriſtwacht - meiſter wird wohl ſchon aufgeſtanden ſeyn; es wird mich beluſtigen zu ſehen, was er zu unſerm Volksfeſte ſagen wird; ich wette, er findet etwas gegen die Humanitaͤt darin zu tadeln. Man trennte ſich. Jeder ging auf ſein eignes Zimmer. Eleonore fand, daß ſie noch eine Stunde uͤbrig hatte, ſie verſchloß ſich in ihr Kabinet und ſchrieb folgenden Brief an Cle - mentinen, die in der allgemeinen Freude von allen ſchmerzlich vermißt ward.

Eleonore an Clementinen.

Mitten aus dem feſtlichen Getuͤmmel, und in unruhiger Beſorgniß, jeden Augenblick ab - gerufen zu werden, ſchleiche ich mich in meine298 Kammer, um Dir einige Worte zuzurufen: ich will meinem Herzen dieſe Freude nicht verſa - gen, ich will zu Dir reden, will mir einbil - den, Du ſaͤßeſt neben mir, und ich ſaͤhe es dem lieben Geſicht an, wie Dein Herz die Freuden des meinigen theilt.

Aber auch ſchelten muß ich mit Dir, Du Uebervernuͤnftige! Wie? Juliane wird zum Altare gefuͤhrt, und Du biſt nicht bey ihr? wie magſt Du es nur verantworten? Du weißt wohl, wie ich Dein Thun und Deinen Wandel verehre; dennoch glaube ich nicht, daß Du die Art und Weiſe von uns Weltkindern ſo ſichtbar verachten darfſt: es iſt wohl eben ſo verdienſtlich von mir, daß ich mich aus dem Getuͤmmel losreiſſe, um an Dich zu ſchreiben, als daß Du das Haus der Froͤhlichkeit nicht be - ſuchen willſt, um den armen kleinen Geſchoͤpfen Deiner Pflege unter Deinen Augen Huͤlfe und Nahrung reichen zu laſſen. Denkſt Du nicht daran, wie nothwendig Du auch hier biſt? Wer unter uns ſoll wohl Julianen das Beyſpiel der Sammlung und Froͤmmigkeit geben, das299 ſie von ihrer Tante erhalten wuͤrde! Es werden viele gedankenlos um ſie ſtehen, und ſie wird umſonſt die Augen ſuchen, an deren frommen Andacht ſie ſonſt gewohnt war, die ihrigen zum Himmel zu erheben! Wird nun nicht die wich - tigſte Angelegenheit ihres Lebens faſt leichtfin - nig vollendet werden?

Die boͤſe Nachricht, daß wir Dich nicht erwarten duͤrfen, betruͤbte uns alle, und wie ſehr Juliane anfangs daruͤber trauerte, kannſt Du wohl denken; bald wußte ſie ſich aber zu beruhigen, da wir ihr von Deiner eigentlichen Beſorgniß nichts mittheilten, und ſie ſo ge - wohnt iſt, alles gut und recht zu finden, was von der Tante koͤmmt. Jetzt athmet ihre Bruſt wieder in ihrer natuͤrlichen leichten Unbefangen - heit. Du nennſt es gewiß nicht blinde muͤtter - liche Eitelkeit, wenn ich mich im Herzen freue, die Holdſeligkeit des lieben Maͤdchens zu ſehen, dieſe ſtolze zarte Schoͤnheit, die aus ihrem Jnnern ſtrahlend ſie umgiebt. Ja Du Theure! Du wuͤrdeſt, wenn Du ſie ſo vor Dir ſaͤheſt, leuchtend und gluͤhend im vollen Ausdruck ih -300 res Gluͤcks, Du wuͤrdeſt nicht laͤnger unzufrie - den ſeyn, daß ihr Vater eilt, ſie mit dem Ge - liebten zu vereinigen, daß ſie trotz aller Deiner Gruͤnde ſo fruͤh vermaͤhlt wird. Juliane iſt beynah noch Kind, ſagſt Du, vieles liegt unentwickelt und tief verborgen in ihr, das nicht geahndet wird, am wenigſten von ihr ſelbſt, ſie faͤngt kaum an, ſich ſelbſt zu erken - nen, ſie wird aus einem Kinde zur Gattin, und wird gewiß einſt auf die uͤberſprungene Stufe ihres Lebens mit Wehmuth zuruͤckſehen. Das iſt ſehr wahr, Liebe; nicht weniger aber iſt es wahr, daß Juliane vielleicht ihre Beſtimmung ganz verfehlen moͤchte, wenn ſie den erſten vernehmlich ausgeſprochnen Wunſch ihres Herzens unterdruͤcken muͤßte. Du weißt, wie ſehr Juliane mir in vielen Stuͤcken aͤhnlich iſt, da mein Gemuͤth von jeher in ſchweſterli - cher Liebe vor Dir aufgeſchloſſen lag, ſo wie auch das ihrige von der zarteſten Kindheit an. Du wirſt es nicht vergeſſen haben, daß auch die Mutter, wie jetzt die Tochter, ſich nur ſpaͤt und langſam erkannte; wie nur ihre fruͤhe301 gluͤckliche Beſtimmung verhinderte, daß nicht das lang verborgne Feuer heftiger Leidenſchaft - lichkeit verderblich um ſich gegriffen. Was an - ders bewahrte ſie vor jeder Gefahr, die ihr aus ihrem Jnnern drohte, als die Zufriedenheit mit ihrem Looſe, die ſie an den Pforten der Selbſt - erkenntniß, empfing; als die ruhige Liebe in ih - rem Herzen; als der Gatte, die Schweſter, die Kinder! Jhr koſtbaren Reichthuͤmer! Mei - nem Gluͤck verdanke ich meine Tugend!

Auch das iſt wahr, daß Eduard uns von Jugend auf mehr Beweiſe eines liebenden Ge - muͤths und der feinen Ausbildung, als eines ſelbſtſtaͤndigen Sinns gegeben; aber eben dieß ſein liebendes Gemuͤth, daͤchte ich, muͤßte uns Buͤrge ſeyn. Wie haͤngt er doch mit inniger Liebe an der Geliebten ſeiner Jugend! Wie iſt er ihr durch alle Wandelbarkeit ſeines Lebens ſo wahrhaft treu geblieben! Seine Liebe war gleichſam der dauernde Grund, auf welchem die bunten Farben des Lebens wie loſe Faͤden hin und her gewebt waren. Es fehlt ihm vielleicht nichts weiter, als die beſtimmen -302 de Vereinigung mit der Geliebten, um ihn ganz feſt zu halten. Jch habe Sinn fuͤr haͤusliche Freuden an ihm wahrgenommen; ich kann an niemand verzweifeln, dem dieſer Sinn nicht fehlt. Laß uns nur nicht weiter mit unſerer Vorſorge dringen wollen! Unſre Hoffnung iſt, ſie dauernd gluͤcklich zu ſehen. Doch wer ent - huͤllt uns die Zukunft? Duͤrfen wir uns er - lauben, Boͤſes zu veruͤben, um ein kuͤnftiges Gut zu ſichern? Das waͤre ja ſogar gegen Deinen eignen Grundſatz.

Du weißt doch, daß Eduard ſeinen Plan, gleich nach der Vermaͤhlung mit Julianen auf Reiſen zu gehen, aufgegeben hat, zu unſrer großen Freude. Die Kleine konnte ſich nicht entſchließen, uns zu verlaſſen, er hat ſich auf ihr unablaͤſſiges Bitten entſchloſſen, noch einige Jahre bey uns zu leben, eh er ſeine weitern Plane ausfuͤhrt. Sie bleibt alſo immer noch in unſerer Mitte, er raubt ſie unſerm Kreiſe noch nicht, er ſelbſt iſt ein theures Mitglied deſſelben geworden. Wir wollen nun alles auf - bieten, um ihn ſeinen neuen Entſchluß nicht303 bereuen zu laſſen. Feſt ſoll ſich an Feſt ketten, und eine Luſt die andere verdraͤngen. Waͤrſt Du nur hier, die bange Sorge wuͤrde bald von Dir weichen! Dein Bruder iſt in der beſten Laune von der Welt; Du weißt, wie liebens - wuͤrdig er in ſeiner Heiterkeit ſeyn kann; und uͤberhaupt ſind wir ſo froͤhlich und ausgelaſſen wie die Kinder, haben alle Sorgen weit abge - worfen.

Nun ernſtlich an meine Toilette, Juliane iſt ſicher ſchon fertig; der Laͤrm wird immer lauter, ich darf doch nicht zuletzt erſcheinen. Bald ſiehſt Du uns bey Dir, ich habe Dir viel zu erzaͤhlen von den lieblichen Feſten, die hier begangen werden, vorzuͤglich von einem hier im Park, meinem Fenſter gegenuͤber. Dieß wird Dir gefallen, es iſt ganz in Deinem Sinn; das koͤmmt daher, weil ich nichts an - ordne, ohne in meinem Sinn den Deinigen zu Rathe zu ziehen.

Eleonore.

[304]

Funfzehntes Kapitel.

Florentin war allein geblieben. Er ging auf den Platz im Park: er war leer, die Leute waren hinausgegangen auf den Weg zur Kirche, dort wollten ſie, in zwo Reihen geordnet, die herrſchaftlichen Wagen durchfahren laſſen. Er ging verdruͤßlich ins Schloß zuruͤck. Auf Gaͤngen und Treppen war alles voller Tumult und Gedraͤnge von wichtig thuenden, mit Nichts laͤrmend beſchaͤftigten Menſchen. Allent - halben begegneten ihm fremde Geſichter. Un - muthig floh er auf ſein Zimmer. Das Geraſ - ſel der Wagen zog ihn ans Fenſter. Eine lange Reihe von vier - und ſechsſpaͤnnigen Equi -305 pagen, mit goldbedeckten Lakaien behangen, leerte ſich, eine nach der andern. Unertraͤgliche Figuren wurden maſchinenmaͤßig aus den glaͤn - zenden Kaſten gehoben, und ins Schloß gefoͤr - dert. Florentin ſchauderte bey dem Anblick. Endlich ward er von den praͤchtigen Kleidungen erinnert, daß er ſich wohl auch noch anders an - ziehen muͤſſe, und nun fiel es ihm erſt ein, daß ihm die weſentlichen Stuͤcke zum gehoͤrigen Anzug mangelten. Halb verlegen, halb luſtig, war er noch unſchluͤſſig, was er zu thun habe, als ihn ein Bedienter zu Julianen rief. Er fand ſie in ihrem Zimmer voͤllig angekleidet.

Kommen Sie her, Florentin, rief ſie ihm entgegen, ich will nicht allein bleiben. Haben Sie die Mutter nicht geſehen? Jſt Eduard nicht bey Jhnen? Es koͤmmt auch kein Menſch zu mir. Aber wie Sie mich anſtaunen! Nicht wahr, es kleidet mich nicht? Sie war mit fuͤrſtlicher Pracht gekleidet. Sie blitzte und funkelte vom koͤſtlichen Geſchmeide und reicher Stickerey. An der Stelle des friſchen Mor - genkranzes war eine kleine Krone von JuwelenFlorentin. I. 20306geſetzt, die Arme und der freye Hals waren mit den auserleſenſten Perlenſchnuͤren geſchmuͤckt, und dieſen angemeſſen ſchimmerte der uͤbrige dazu gehoͤrige Schmuck.

Wundert Sie mein Erſtaunen? fragte Florentin, Sie ſind blendend, Juliane! Aber ich gefalle Jhnen nicht, nicht wahr? Jch ſuche vergebens den leichtfuͤßigen ſchalk - haften Knaben im Walde; wo iſt die gedemuͤ - thigte Uebermuͤthige hin, im geliehenen Wams und kurzen Rock? Wo ſind die Umriſſe der gewohnten Geſtalt vom heutigen ſchoͤnen Mor - gen? Jch glaube es Jhnen gern, ſagte Juliane. Der Himmel behuͤte mich auch vor einer Exiſtenz, wo ich oft ſo gekleidet ſeyn muͤßte; ich glaube, am Ende koͤnnte man das Lachen dabey verlernen. Ja es mag wohl ernſthaft machen, aber was zwingt ſie dazu? Wir haben herzlich gewuͤnſcht, dieſen Tag mit Feſten ganz anderer Art zu begehen; aber Sie wiſſen, der Vater laͤßt nicht leicht eine alte Sitte abaͤndern; um ihm nun ſeine Freu - de auf keine Weiſe zu ſtoͤren waͤren nur307 erſt dieſe Tage voruͤber! Sie werden durch ſie auf alle kuͤnftige gluͤcklich! O uͤber alles gluͤcklich werde ich ſeyn! ohne dieſe Hoff - nung muͤßte ich der glaͤnzenden Laſt erliegen. Es iſt ſchoͤn von Jhnen, daß Sie meine au - genblickliche ſchlechte Laune durch dieſe Erinne - rung verſcheuchten. Wie man doch oft ſo un - dankbar ſeyn kann! Ueble Laune iſt frey - lich am erſten dazu aufgelegt. Lieber Flo - rentin, Sie muͤſſen ein Andenken von mir nehmen, um ſich dieſer Stunde und meines Gluͤcks zu erinnern. Sie ſuchte einen Au - genblick unſchluͤſſig in einigen Schubladen. Nehmen Sie dieſe Brieftaſche, die Stickerey darauf iſt von mir, dies mag ihr einigen Werth in Jhren Augen verleihen. Er kniete nieder vor ihr und kuͤßte ihre Hand: So empfange ich den Dank aus Euren Haͤnden, ſchoͤne Jungfrau; waͤre mir doch der erſte Dank beſtimmt, ſo duͤrfte ich ihn von den holden Lippen einſammeln! Die Thuͤr ward geoͤffnet, Eduard trat herein, Floren - tin ſtand auf. Was haſt Du vor, Flo -(20) 2308rentin? Anbetung, mein Freund! Tol - le Poſſen! und noch nicht anders gekleidet? Fort, fort, es koͤmmt Geſellſchaft.

Florentin ging hinaus. Auf der Treppe be - gegnete ihm der Jokey, der ihn noch vom erſten Augenblick an, da er ihn im Walde geſehen, zugethan war. Sattle mir gleich den Schimmel, mein guter Heinrich, ſagte er ihm leiſe, reite ihn durch das Hinterthor hinaus, vor das Dorf, und erwarte mich dort, daß Dich aber niemand ſieht; ſage es auch niemanden! Hroͤſt Du? Verlaſſen Sie ſich auf mich.

Er ſprang fort; Florentin ging wieder auf ſein Zimmer. Du haͤltſt es nicht aus, rief er unmuthig; was ſoll dir das widerſinnige Weſen? Jmmer wieder die alte Weiſe: wie - der einige beſſere Menſchen, die vom Haufen der Gewoͤhnlichen beſtimmt werden! Halte es nicht aus! aber die wenigen Stunden noch; es iſt kindiſche Ungeduld, nicht einen Au - genblick will ich mir ſelbſt zur Laſt ſeyn Was werden ſie aber dabey denken? Gut gefragt, wer ſteht mir in irgend einem309 Falle fuͤr die Gedanken der Menſchen? Es iſt aber ungeſittet, wenn ich gehe es iſt aber unwuͤrdig, wenn ich bleibe. Eduard! wirſt Du mich verſtehen? wirſt Du Dein ſchwankendes, zweifelndes Gemuͤth bald beru - higen koͤnnen? Wie hat ſich aber auch die Scene veraͤndert! Wie ſind die lieblichen Farben der Morgenroͤthe hingeſchwunden, und haben dem laͤrmenden Tage Platz gemacht! Wie werden vom ſchweren Geſchuͤtz der Kon - ventionen Deine zarten Freuden zertruͤmmert, goͤttliche Liebe! Alles iſt zerſtoͤrt! Julianens holde Geſtalt durch ein Gewicht angefeſſelt, verzerrt; das eigne, ſchoͤne, bewegliche Le - ben von verſteinertem Kryſtall umſtarrt. Eduard! was will der blaſſe Mondſchimmer der heimlichen Kraͤnkung auf Deinem Ge - ſicht, worauf der Sonnenſchein der gluͤcklichen Liebe onſt glaͤnzte? O es iſt wahr, daß Frie - de und Freude bald entfliehen, wo ich ver - weile. Fort will ich, fort muß ich! Alles wird bald gut werden fuͤr Dich, Eduard. Nur der Verbannte wird oft ſeine Arme um -310 ſonſt nach einem Freunde ausſtrecken, und ſie ohne Troſt wieder ſinken laſſen. Aber fort, fort; allein will ich den Fluch tragen, der uͤber mich verhaͤngt iſt!

Waͤhrend dieſen bald haſtigen, bald zoͤgernden Worten war er, indem er ſich zu gleicher Zeit zur Reiſe anſchickte, im Zimmer unruhig auf und ab - gegangen. Jetzt war er ganz reiſefertig und ſtand in der geoͤffneten Thuͤr, den Hut in der Hand; er beſann ſich, es war ihm, als muͤß - te er Abſchied nehmen. Zu Eleonoren will ich noch einmal gehen, dachte er, ich finde ſie vielleicht noch allein.

Eleonore war mit ihrem Putze ganz fer - tig, und ſiegelte eben den Brief an Clementi - nen, um ihn noch fortzuſchicken. Mich duͤnkt, es iſt jemand im kleinen Corridor, ſag - te ſie zur Kammerfrau, ſieh zu. Floren - tin ward ihr gemeldet, und trat gleich dar - auf ſelbſt hinein. Was iſt das? rief die Graͤfin; Stiefel? Sporen? Was wollen Sie in dieſem Aufzuge? Geben Sie mir Jh - ren Segen, theuerſte Graͤfin, ich will fort!311 Traͤumen Sie? oder traͤume ich? ich ver - ſtehe Sie nicht Guͤtige Eleonore, fragen Sie nicht, Jhre ſegnende Hand laſſen Sie mich zum Abſchied kuͤſſen. Was iſt Jhnen, ums Himmels willen, was iſt Jhnen wieder - fahren? wo wollen Sie hin? Die Kam - merfrau kam wieder hinein: Gnaͤdige Graͤfin werden erwartet, es iſt geſchickt worden Den Augenblick! Florentin, Sie duͤrfen nicht ſo raͤthſelhaft ſeyn, was wird mein Gemahl ſagen? Jhnen uͤberlaſſe ich meine Verthei - digung, Eleonore, und deswegen komme ich eigentlich zu Jhnen, leben Sie wohl, ich darf Sie nicht laͤnger aufhalten. Aber wo wollen Sie hin? Wir ſehen Sie doch wieder? Soll ich einſt noch ſo gluͤcklich ſeyn? Der Ort, wohin ich gleich zuerſt kom - me, iſt Jhnen bekannt. Mein Gott! freylich, Sie reiſen zu Clementinen. Wollen Sie uns dort erwarten? Sobald es hier wieder ruhig iſt, werden wir zu ihr reiſen. Flo - rentin verbeugte ſich: Geben Sie mir irgend ein Zeichen fuͤr die Graͤfin Clementina mit,312 das mich ihr empfiehlt. Hier nehmen Sie dieſen Brief, ich haͤtte nicht gedacht, daß er durch Sie wuͤrde beſtellt werden, Jhrer iſt nicht darin erwaͤhnt, aber Sie ſind ihr ſonſt ſchon bekannt, Sie duͤrfen nur Jhren Namen nen - nen. Gnaͤdige Graͤfin! rief die Kammer - frau wieder. Leben Sie denn wohl, Flo - rentin, auf Wiederſehen! Leben Sie wohl, Eleonore, Jhnen trage ich es auf, Eduard zu beruhigen, und mein Andenken bey Ju - lianen zu erhalten! Wie, dieſe wiſſen nicht? Florentin war wieder zur kleinen Thuͤr hinaus, ohne weiter zu hoͤren, oder zu ant - worten. Die Kammerfrau ſchloß hinter ihm zu; in dem Augenblick fuͤhrte von der andern Seite der Graf einige Damen herein.

Florentin ging durch den Park, wo er hoffen durfte, niemanden zu begegnen, und ſo fort zum Dorfe hin, wo er Heinrich, mit dem Schimmel ihn erwartend, fand. Er nahm Abſchied von dem Knaben, druͤckte ihm eine Belohnung fuͤr ſeinen Dienſteifer in die Hand, ſetzte ſich auf den getreuen Schimmel, und313 fort ſprengte er im Galopp, ohne ſich umzu - ſehen. Heinrich ſah ihm noch nach, als er ihn ploͤtzlich ſtill halten und das Pferd her - umwenden ſah; er kam wieder zuruͤck. Warte noch einen Augenblick, rief er ihm zu. Heinrich trat hinzu und hielt das Pferd; Florentin zog ſeine Schreibtafel heraus, und ſchrieb mit Bleyſtift auf ein Blatt: Des Schickſals Schlaͤge ſtaͤhlen und geben Kraft ſich aufzurichten, indem ſie niederbeugen; aber der Menſchen kleinliche Mißverhaͤltniſſe und Mißverſtaͤndniſſe zerſtoͤren grauſam das Ge - muͤth. Jch ſegne meinen Eintritt in Euren Kreis, aber ich gehe, damit ihn niemand ver - wuͤnſche! Lebe wohl, Eduard, gedenke mei - ner.

Juliane, wer Sie ſieht, wird Sie ken - nen; wer Sie kennt, muß Sie lieben; wer Sie liebt, kann nie aufhoͤren. Bleiben Sie gluͤcklich!

Florentin.

214[314]

Gieb es an Eduard von Uſingen, guter Heinrich, aber gieb es ihm allein. Und nun Adieu. Er ritt langſam fort. Er hatte beſchloſſen, die Nacht in der bekannten Muͤhle zu bleiben, und mit Tages Anbruch vollends zur Stadt zu reiten.

[315]

Sechzehntes Kapitel.

Florentin war nach einer verdruͤßlichen Reiſe in der Stadt angekommen. Nie war er mehr mit ſich ſelbſt uneins geweſen. Zwar gefiel ihm die Haſt, mit der er das Schloß und alle ſeine Reizungen, ſo bald es ihm Zeit zu ſeyn geduͤnkt, verlaſſen, da es ihm nicht unbemerkt geblieben war, daß er die Empfindſamkeit des ſchoͤnen Maͤdchens ſo hoch haͤtte hinauf ſpie - len koͤnnen, als er nur immer gewollt; dennoch konnte er ſich nicht des heimlichen Ver - dachts gegen ſich ſelbſt erwehren, der Mangel an den uͤblichen Staatskleidungsſtuͤcken haͤtte ihn ſo ploͤtzlich auf und davon getrieben. Vollends316 laͤcherlich erſchien es thm, wenn er uͤberlegte, daß die graͤfliche Familie vielleicht dieſen Grund als ausgemacht, und ſogar als den einzig moͤglichen annehmen wuͤrde. Er be - ſchloß, wenigſtens in der Zukunft, ſich die be - ſchaͤmende Ungewißheit ſeiner eigenen Motive zu erſparen. Sobald er daher im Gaſthof eingekehrt war, trug er ſogleich Sorge, eine Art von Uniform fuͤr ſich zu beſtellen, die man ihm des andern Tags mit allem dazu gehoͤrigen zu liefern verſprechen mußte.

So viel er von der großen Stadt im Hineinreiten geſehen, hatte ſie wenig Anzie - hendes fuͤr ihn. Roher Laͤrm, nichtsthuende Geſchaͤftigkeit, prahlſuͤchtige Armſeligkeit, lee - re untheilnehmende Neugierde auf den ge - raͤuſchvollen Gaſſen, fiel ihm dieſesmal mehr als jemals widerlich auf. Wahrſcheinlich waͤre er, ohne ſich aufzuhalten, gerade zum andern Thor wieder hinaus geritten, aber es lag ihm daran, Eleonorens Brief an Clementinen ſel - ber zu beſtellen.

Bald nach ſeiner Ankunft ging er hin. 317Das Haus war leicht zu finden, denn es rag - te durch ſeine ſchoͤne Bauart vor allen benach - barten hervor. Am Eingang des Vorhofs lagen auf einer Erhoͤhung zwey Sphinxe. Die Un - geheuer ſahen den Eintretenden ſo klug und pruͤ - fend an, als wollten ſie ſeine Abſicht erforſchen. Florentin uͤberfiel eine Art Grauen, als er zwiſchen ihnen durch, uͤber den ſtillen Platz nach dem Hauptgebaͤude ſchritt.

Waͤhrend er gemeldet ward, fuͤhrte ihn ein Bedienter die breite ſteinerne Treppe hinan, durch einige Vorzimmer in einen vortrefflich dekorirten Saal, wo er ihn einige Augenblicke zu verweilen erſuchte. Florentin betrachtete einige Chineſiſche Vaſen von ſeltener Groͤße, welche an den Pfeilern zwiſchen den großen Fluͤgelthuͤren ſich befanden, die ſtatt der Fen - ſter auf einen Altan fuͤhrten; hier ſtanden Orangen-und Citronenbaͤume in ſchoͤn verzier - ten Gefaͤſſen umher, deren ſuͤßer Duft ſich im Saal verbreitete. Florentin trat durch eine der offnen Thuͤren hinaus, und fand ſich ſehr angenehm uͤberraſcht, als er in einen wei -318 ten vortrefflichen Garten hinunter ſah. Dieſer graͤnzte in der Ferne an einen See, deſſen lachende Ufer mit Weinbepflanzten Huͤgeln, Kornfeldern, Gebuͤſchen und netten einzelnen Haͤuſern umgeben waren. Jm Garten gingen eine Menge Leute, oder ſaßen im Schatten der hohen Baͤume, ſo daß er ungewiß wurde, ob es ein oͤffentlicher Garten ſey, oder ob er zum Hauſe gehoͤre.

Ein herrlicher Springbrunnen trug ſeinen hellen Waſſerſtral beynah bis zur Hoͤhe des Hauſes, wo er dann in vielfarbigen glaͤnzen - den Kryſtalltropfen wieder hinunter fiel und ſich in ein weites Marmorbecken ſammelte; Weiden und Akazien ſpiegelten mit vermiſch - tem Gruͤn ihr Laub im klaren Waſſerſpiegel. Anmuthiger gruͤnte der Raſen um ihn her, und die Luft ward durch ſein Spiel erfriſcht und erquickend. Florentin dachte an das graͤf - liche Schloß zuruͤck; ein und derſelbe Geiſt ſchien dieſes ſo wohl als Clementinens Haus, nur in einem verſchiedenen Sinn, zu bewoh - nen. So wie dort der alte mit dem moder -319 nen Geſchmack neben einander beſtand, ſo kontraſtirte hier der ſteinerne Ernſt des Ein - gangs mit der freundlichen Schoͤnheit des Jn - nern. Er ahndete Clementinens Geiſt, und ein Ehrfurchtsſchauer durchbebte ihn bey dem Gedanken, ſie ſelbſt nun bald zu ſehen.

Jndem rauſchte ein weiblicher Fußtritt in dem Nebenzimmer, Florentin ging vom Altan zuruͤck. Es kann nicht Clementina ſeyn, dachte er, der Schritt iſt zu raſch. Betty war es. Er hatte es vergeſſen, daß er dieſe hier finden muͤßte; jetzt freute er ſich, das muntere zierliche Maͤdchen unverhofft er - ſcheinen zu ſehen. Er lief auf ſie zu. Nicht ſo ausgelaſſen! rief ſie mit komiſcher Gra - vitaͤt, begruͤßen Sie fein ehrerbietig in mir die Graͤfin Clementina. Jch komme in ih - rer Perſon, als bevollmaͤchtigter Miniſter, und mir haben Sie Jhr Kreditiv zu uͤberreichen. Nun ſo halten Sie nur Jhre ehrfurchtsvolle Anrede! denn Sie ſehen doch ganz ſo aus, als haͤtten Sie ſich eine erſonnen, und woll - te ſie ſo eben wieder hinunterſchlucken! Betty320 iſt ja eben das Redenhalten nicht an mir ge - wohnt worden, ſagte Florentin Nein, ant - wortete ſie, Jhre Jmpromptuͤ’s ſind mir be kannter; aber eben darum bin ich neugierig auf Jhre Rede! Mein Auftrag iſt aber, Sie in der Graͤfin Clementina Namen hier will - kommen zu heißen, und Sie um Nachrich - ten vom Schloß zu bitten. Heute kann die Graͤfin Sie nicht ſehen; ſie erholt ſich erſt jetzt langſam von einem ſehr heftigen Anfall ihrer gewoͤhnlichen Krankheit. So hatte der Graf doch richtig geahndet! die Briefe aber waren von ihrer Hand Sie ſchrieb ſie mit der groͤßten Anſtrengung. Außerdem will ſie ſich heute ruhig verhalten, um morgen im Stande zu ſeyn, eine Muſik auffuͤhren zu hoͤ - ren, die ſie nie verſaͤumt. Sie, Florentin, werden nun durch mich von ihr erſucht, morgen nach dieſer Muſik ſich bey uns einzu - finden. Jch werde erſcheinen; doch wuͤnſch - te ich auch wohl dieſe Muſik zu hoͤren; wo wird ſie aufgefuͤhrt? Gut, daß Sie fra - gen! ich haͤtte es beynah vergeſſen; die Tante321 laͤßt Jhnen zugleich ſagen, wenn Sie etwa die Muſik zu hoͤren wuͤnſchten, ſo ſoll Sie jemand zur rechten Zeit abholen und einfuͤh - ren. Sie laͤßt es Jhnen eigentlich wiſſen; das iſt eine Auszeichnung, merken Sie ſich dies fein. Und nun geſchwind, was macht man auf dem Schloß? Geſtern, als ich fortritt, war man eben dabey, ſich den prie - ſterlichen Segen geben zu laſſen. Wie? geſtern? und wir haben keinen Brief? und Sie ritten fort? Hier iſt ein Brief fuͤr die Graͤfin Clementina, von Eleonoren Geben Sie her, o geſchwind! warum ga - ben Sie den nicht gleich zuerſt? Wie wird die Tante ſich freuen! nun ſo geben Sie doch!

Er zog den Brief hervor, wollte ihn aber nicht ohne einen Kuß von Betty herausgeben. Mit einer ſchalkhaft verdruͤßlichen Miene, als ob ſie ihn nur recht bald los zu werden wuͤnſchte, hielt ſie ihm die Wange hin. Jn demſelben Moment ging die Thuͤr auf, und ein junger Offizier trat herein. Betty fuhrFlorentin. I. 21322zuſammen und veraͤnderte die Farbe. Der Offizier begruͤßte ſie mit einem finſtern Blick, und ſah nun ſtumm und ſtoͤrriſch vor ſich hin. Halb nur gefaßt, mit unſichrer Miene, ſtellte ſie beyde einander vor, den Offizier nannte ſie Rittmeiſter von Walter. Sie gab ſich Muͤ - he, ein haltbares Geſpraͤch auf die Bahn zu bringen, es gelang ihr aber ſchlecht. Sie muͤſſen mir erlauben, fing ſie endlich an, daß ich der Tante nicht laͤnger den erſehnten Brief vorenthalte; auf morgen alſo, Florentin. Jch moͤchte Sie bitten, mir einen Augenblick zu ſchenken, ſagte der Rittmeiſter, mehr for - dernd, als bittend. Jetzt nicht, lieber Walter, ſagte ſie ſo freundlich als moͤglich; aber darf ich nicht hoffen, Sie dieſen Abend im Garten zu ſehen? Gat dann, ant - wortete er, dieſen Abend! Betty ver - neigte ſich gegen beyde und eilte aus dem Saal.

Florentin erinnerte ſich, von Julianen gehoͤrt zu haben, daß Betty naͤchſtens die Braut eines gewiſſen Walters wuͤrde. Alſo323 der Braͤutigam! dachte er im Hinuntergehen, und wie es ſcheint, wenig geliebt, und noch weit weniger liebenswuͤrdig. Arme Kleine! wahrſcheinlich wirſt du dieſen einzigen muth - willigen Augenblick durch eine Reihe von un - angenehmen zu buͤßen haben! Laß ſehen, viel - leicht gelingt es mir, ſie dir zu erſparen, es gelingt mir vielleicht, dieſen Drachen zu zaͤh - men.

Er ging denſelben Weg mit ihm und re - dete ihn einigewal freundlich an, wurde aber mit kurzen Antworten abgefertigt, bis er es wie abſichtslos fallen ließ, daß er hoͤchſtens noch einen Tag in der Stadt zu bleiben ge - daͤchte. Sogleich nahm der Rittmeiſter mehr Antheil an ihm, und erbot ſich, ihm noch vor dem Mittagseſſen einige Merkwuͤrdigkei - ten der Stadt zu zeigen: unſer Florentin nahm es an. Dieſe Merkwuͤrdigkeiten beſtanden nun in allerley Dingen, die (was ſich der Ritt - meiſter nicht traͤumen ließ) fuͤr Florentin we - der merkwuͤrdig noch erfreulich waren; zuletzt wurde dann mit einigen andern jungen Leu -(21) 2324ten, die zu ihnen kamen, eine ſogenannte Par - tie fine zum Abend verabredet, und Floren - tin dazu eingeladen. Dieſer, dem es beynah leid war, ſich mit Walter eingelaſſen zu ha - ben, verſuchte es, von ihren gemeinſchaftlichen Bekannten mit ihm zu ſprechen; ſeine rohen Anſichten traten aber bey dieſer Gelegenheit in ein ſo helles Licht, daß er Florentin je laͤnger, je mehr unertraͤglich ward. Er ſchwieg unmuthig ſtill, und war froh, als er wieder in ſeinen Gaſthof gelangte, wo er den laͤſti - gen Begleiter los zu werden gedachte; zu ſei - nem Verdruß ging dieſer aber mit hinein und ſetzte ſich nebſt noch einigen hinzugekommenen mit zu Tiſche.

Hier fuͤhrte er ſehr laut das Wort. Durch einige zweydeutige Spaͤße, laͤcherli - ches Geſichterſchneiden, und die Dreiſtigkeit, durch platte Perſiflage, andere in beſchaͤmen - de Verlegenheit zu ſetzen, war er bey den bekannten Tiſchgenoſſen in den Ruf eines witzi - gen Kopfs, und eines angenehmen Geſell - ſchafters gerathen. Man belachte und be -325 klatſchte alles, was er vorbrachte; Florentin, der Langeweile hatte, lachte nicht, und gab ſich auch die Muͤhe nicht aus Gefaͤllig - keit zu lachen. Waltern ſchien dieſe Gleich - guͤltigkeit gegen ſein anerkanntes Verdienſt eine beleidigende Anmaßung, und um ſich zu raͤchen, kehrte er die Spitze ſeines Witzes, mit nicht zu feinen Anſpielungen gegen Flo - rentin, die zur Abſicht hatten, den Anwe - ſenden einen Wink zu geben: er haͤtte ſich dieſen heute ganz eigentlich zur Tiſchbeluſti - gung auserſehen. Der Plan war gut, nur nicht genau genug berechnet; Florentin, der nicht mehr in der Stimmung war, ſich et - was gefallen zu laſſen, hatte gar bald durch ein paar beiſſende Antworten das Lachen auf ſeiner Seite. Dieſer Sieg wirkte auf Walters Witz. wie ein Platzregen auf ein Feuerwerk. Pikirt darf ein ſolcher Spaß - macher nicht ſeyn, oder es iſt um ihn ge - ſchehen. Von nun an gluͤckte ihm nichts mehr. Jn ſeiner Angſt ward er ziemlich grob, ohne allen Witz.

326

Waͤhrend dem hatte ein Mann, der nicht weit von Florentin ſaß, dieſen mit Aufmerkſamkeit zu beobachten geſchienen: er ward von den andern, Doktor, genannt. Zu dieſen wandte Florentin ſich jetzt, um der Unterredung mit Waltern auszuweichen. Das Geſpraͤch kam bald auf die Muſik, die den andern Tag bey der Graͤfin Clementine auf - gefuͤhrt werden ſollte. Es iſt eine geiſt - liche Muſik? fragte Florentin. Ja ant - wortete der Doktor, es iſt ein Requiem von ihrer eignen Kompoſition, das jaͤhrlich auf den beſtimmten Tag aufgefuͤhrt wird. Walter traͤllerte einen Gaſſenhauer; bey den Worten geiſtliche Muſik ſagte er einem ne - ben ihm ſitzenden Offizier etwas ins Ohr, und beyde lachten uͤberlaut Der Doktor hat - te dieſen Ausbruch von Luſtigkeit mit Gelaſ - ſenheit abgewartet, eh er weiter ſprach. Sie werden, fuhr er dann gegen Florentin fort, ein ſtark beſetztes Chor von meiſtens vortrefflichen Stimmen hoͤren. Es iſt eine der liebſten Beſchaͤftigungen der Graͤfin, ſich327 dieſes Chor auszubilden, von dem ſie ſich nicht allein ihre eignen Kompoſitionen vortra - gen laͤßt, ſondern auch die herrlichſten al - ten Sachen, die man ſonſt nirgends mehr hoͤrt als bey ihr. Fuͤr die alte Dame, fing der Rittmeiſter an, iſt dieſe melancholiſche Muſik erſtaunlich paſſend, ſonſt aber hat ſich noch jeder honette Menſch dabey ennuyirt. Hier miſchten ſich noch andere ins Ge - ſpraͤch, theils fuͤr, theils gegen dieſe Be - hauptung, der Streit ward allgemein, waͤh - rend dem ſagte Florentin zum Doktor: Wenn Sie eben jetzt nichts beſſers zu thun haben, ſo wuͤrde ich Sie bitten, einen Spaziergang mit mir zu machen. Jch war im Be - griff dieſelbe Bitte an Sie zu thun, er - wiederte jener. Es entſtand eine kleine Stille, als man die beyden aufſtehen ſah. Jm Hinausgehen hoͤrte Florentin ganz deut - lich, daß Walter Gluͤcksritter ſagte.

Jch hatte Unrecht, ſagte der Doktor, als ſie draußen waren, in Gegenwart die -328 ſer unmuſikaliſchen Seelen von einer zu ſprechen, die ganz Muſik iſt.

Sie gingen in einen der nahgelegenen oͤffentlichen Gaͤrten auſſerhalb der Stadt, wo ſie ſich Erfriſchungen geben ließen. Floren - tin konnte ſich nicht enthalten, einiges uͤber die ſchlechte Tiſchgeſellſchaft zu aͤußern. Er fragte ſeinen Begleiter, ob er dieſen Wal - ter genauer kenne? Jch kenne ihn, ſag - te dieſer. Jch habe das Gluͤck, zu den Freun - den der Graͤfin Clementine zu gehoͤren, und faſt immer in ihrem Hauſe zu ſeyn, dort ſehe ich ihn nur zu oft! Gewoͤhnlich ſpeiſe ich nicht an der oͤffentlichen Wirthstafel; darf ich ſagen, daß ich mich heute dort ein - fand, blos um Jhre perſoͤnliche Bekannt - ſchaft etwas fruͤher zu machen? Jch bin durch Fraͤulein Betty’s Erzaͤhlung zu be - gierig geworden. Jch freue mich Jhrer Bekanntſchaft, verſetzte Florentin!

Nach einigen Fragen und Erlaͤuterungen, ihr beyderſeitiges Verhaͤltniß mit der graͤfli - chen Familie betreffend, ruͤckte Florentin329 endlich mit der Frage heraus: Wie es kom - me, daß Clementine, die ihm als der Schutz - geiſt der Angehoͤrigen ſey bekannt gemacht worden, daß dieſe die Verbindung zwiſchen Walter und Betty wuͤnſchen, ja nur zuge - ben koͤnne? Wie! leuchtet es ihr nicht in die Augen, ſagte er, daß Betty mit dieſem Menſchen hoͤchſt ungluͤcklich werden, oder ganz zu Grunde gehen muß? wie iſt es ſo Schade um dieſe liebenswuͤrdige Natur! Ja wohl Schade! rief der andre, mit einem halbunterdruͤckten Seufzer. Jch kenne Betty ſeit ihrem zwoͤlften Jahre, ich liebe ſie, ſeit ich ſie kenne. Das ſanft ernſthafte Geſicht des Mannes erroͤthete etwas bey die - ſen Worten. Betty hat einen wuͤrdigen Freund, wie ich ſehe, ſagte Florentin nach einem kleinen Schweigen; wie kann es zu - gehen, daß ſie einem ſchrecklichen Schickſal ſichtbar entgegen gehen darf? Bettys ungluͤckliche Neigung Waͤr es moͤglich? Was kann dieſes liebenswuͤrdige Kind, im Schooß der Liebe mit aller Sorgfalt ausge -330 bildet, was kann ſie bewegen, ſich dieſen ro - hen Gefaͤhrten zu waͤhlen? Gehoͤrt ſie etwa auch zu jenen Zarten, die ſich bloß an die aͤußere Erſcheinung der Energie halten? Nicht ganz ſo hart! fiel ihm jener ein; es iſt ihm gelungen ſie zu feſſeln, oder viel - mehr ſie in einem Moment der Hingebung ſich eigen zu machen. Es iſt nicht gewiß, ob ſie ihn noch liebt, ja ob ſie ihn jemals liebte. Jſt es die ſchoͤne wachſende Treue eines unverdorbnen weiblichen Herzens? Jſt es Reue, oder Stolz? Genug ſie haͤlt ſich fuͤr unaufloͤslich gebunden, obgleich die Graͤ - fin, der ſie ſich ohne Ruͤckhalt anvertrau - te, ihre Vermaͤhlung immer weiter hinaus zu ſchieben ſucht. Walter weiß ſehr wohl, wie uͤbel er bey der Graͤfin angeſehen iſt, daher ſein Haß gegen dieſe unvergleichliche Frau. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß alles von ihm aus Liebe zu ihrem anſehnli - chen Vermoͤgen angelegt ward; und nur zu wohl iſt ihm ſein Plan gelungen! So muß denn die Arme aus Schwachheit um Schwach -331 heit ewig verloren ſeyn? und die Freun - de koͤnnten ſie retten und ſehen muͤßig zu, wie ſie untergeht! Woher wiſſen Sie das? Warum wendet Clementine nicht hier ihre ganze Autoritaͤt an? hier iſt es an der Zeit, ſich dem Vorurtheile mit Macht entgegen zu ſetzen! Sie muͤßten die Vor - treffliche freylich kennen lernen, um ſie zu verſtehen. Clementine gehoͤrt zu den ſeltnen Seelen, die wahre Ehrfurcht, die zarteſte Scheu fuͤr die Sinnes-Freyheit andrer Per - ſonen hegen. Dieſe, in ſich und in den ſie umgebenden, nie zu verletzen und auf das hoͤchſte auszubilden, iſt ihr groͤßtes Be - ſtreben. Nie hat ſie aber jemand durch Au - toritaͤt zum Beſſern zu zwingen verſucht. Sie hat nicht verſaͤumt, Betty das Elend vorzuſtellen, dem ſie entgegen geht; da dieſe aber feſt iſt in ihrem Glauben: Wal - ter liebe ſie, die Liebe wuͤrde ihn ausbil - den, und einer liebenden geliebten Frau ſey alles moͤglich; ſo erlaubt ſie ſich weiter kei - nen Schritt dagegen zu thun, weder offen332 noch heimlich; außer daß ſie die Vermaͤh - lung noch lange aufgeſchoben hat, damit Betty Zeit habe, ihren Jrrthum gewahr zu werden. Auch dann noch, wenn ſie viel - leicht zu ſpaͤt zuruͤck kommt, darf ſie gewiß ſeyn, Huͤlfe und Schutz bey ihr zu finden, ſo bald ſie ihn bedarf und ſucht; denn nie legt ſie dem Jrrthum eine haͤrtere Stra - fe auf, als den er ſelbſt mit ſich fuͤhrt, und auch dieſe bemuͤht ſie ſich, auf jede Weiſe zu lindern Sie haͤtte es wohl ge - wuͤnſcht, mich mit Bettys Hand begluͤcken zu koͤnnen, da es aber meiner innigen treuen Liebe nicht gelang, ſo haͤlt ſie mit Recht jedes andre Mittel, ſie dazu zu bewegen, fuͤr unerlaubt und unwuͤrdig. Sie deren große Seele jeden Schmerz mit gepruͤfter Stand - haftigkeit traͤgt, vermag nie andern ir - gend eine unangenehme Empfindung zu ver - urſachen; ſie findet es bey ihrer Reizbarkeit immer noch leichter ſelbſt zu dulden, als andre dulden zu ſehen; auch findet ſie in ihrem Geiſt, und ihrer Religion, Kraft333 und Troſt, wo andre verzweifeln wuͤrden. Doch verzeihen Sie mein Herr, ich ſage Jhnen mehr als Sie vielleicht zu wiſſen verlangen. Jch weiß in der That nicht ſchick - lich aufzuhoͤren, wenn ich von dieſer erha - benen Frau ſprechen darf. Jch bitte Sie, fahren Sie fort. Zum Theil bin ich ſchon vorbereitet; Eleonorens Freundin, Julia - nens zweyte Mutter, kann nicht anders als ganz vorzuͤglich ſeyn. Jch war allerdings begierig mehr von ihr zu erfahren, und ich wuͤßte nicht, wen ich lieber uͤber ſie ſpre - chen hoͤrte, als einen wuͤrdigen Vertrauten und Hausgenoſſen.

Florentin ſprach dieſe Worte mit ſo ſicht - barem Antheil, daß der andre ſogleich fort - fuhr: Sie iſt immerwaͤhrend krank, bald mehr, bald weniger. Sie erhaͤlt ihr Leben nur durch die ſtrengſte Diaͤt, die geringſte Abweichung bringt ſie dem Tode nahe; ſo wie ſie die Luſt zu leben und eine gleich - muͤthige heitre Laune durch immerwaͤhrende Thaͤtigkeit erhaͤlt.

334

Jn ihren ſchoͤnſten heiterſten Stunden beſchaͤftigt ſie ſich mit Muſik; und nicht bloß zum eitlen Zeitvertreib, wie die meiſten Frauen, ſondern als ernſtes Studium. Jn ihren Kompo - ſitionen athmet die Begeiſterung inniger Andacht einer hohen frommen Seele; wer reines Herzens iſt, wer Sinn fuͤr Harmonie hat, muß mit Entzuͤcken von dieſen Toͤnen ſich uͤber alles Jr - diſche hinweg gehoben fuͤhlen; nur ein fuͤhllo - ſer Barbar, nur Walter konnte ſo ſich aͤußern, da von dieſer Muſik die Rede war.

Viel Zeit und Aufmerkſamkeit nimmt ihr der Umgang mit Kindern. Sie iſt faſt immer von Kindern umgeben, mit denen ſie ſich Stundenlang zu beſchaͤftigen weiß. Sie wird von ihnen wie eine Mutter geliebt, und ſie hat auch die Zaͤrtlichkeit einer Mutter. Oft habe ich Thraͤnen in ihren Augen glaͤnzen ſe - hen, wenn ein Saͤugling in ſeiner Huͤlfloſig - keit die kleinen Aermchen nach ihr ausſtreckt, oder auf ihrem Schooß einſchlaͤft, und im Schlafe laͤchelt.

Clementina iſt aber nicht allein die gute335 Fee aller ſchoͤnen lieblichen Kinder; ſie ſchenkt den ungluͤcklichen, mitleidswuͤrdigen noch eine beſondere thaͤtige Aufmerkſamkeit. Es war ihr nemlich nicht entgangen, daß die gerin - gere Klaſſe der Eltern nur wenig Sorgfalt auf ihre kranken Kinder zu wenden vermag; daß aus Mangel an der nothwendigen War - tung eine große Menge davon ſterben, oft als Kruͤppel ein hoͤchſt elendes Leben fort - ſchleppen muͤſſen, den Eltern eine Laſt, und von dieſen dafuͤr verachtet und ſchlecht behan - delt werden. Das Elend ſelbſt muß ihnen ein Nahrungszweig werden, indem ſie es vorzei - gen, um das Mitleid andrer zu erregen, und ſich ſelbſt immer mehr dargegen abſtumpfen. Denken Sie ſich, wie dieſe Vorſtellungen eine Seele wie die ihrige erſchuͤttern mußten! Jch ſah ſie in der gewaltſamſten Anſtrengung, bis es ihr gelang, zu helfen, ſo weit menſchliche Huͤlfe reicht.

Den Garten der Graͤfin begrenzt ein See Jch ſah ihn dieſen Morgen. Kleine Haͤuſer, Felder und Gaͤrten umgeben ihn. 336 Ganz recht! Dieſe Haͤuſer, dieſe Gaͤrten, Fel - der und Huͤgel ſind die Zufluchtsoͤrter der ar - men kleinen Weſen. O, mein Herr, wenn Sie hier das Thun und die Art zu handeln der Graͤ - fin je beobachtet haͤtten, wie ich es taͤglich thun darf, Sie wuͤrden meinen Enthuſiasmus fuͤr dieſe Frau verſtehen. Jch darf ſie in dieſem ehrwuͤrdigen Geſchaͤft als Arzt unterſtuͤtzen, und fuͤhle mich unendlich geehrt in dieſem Auf - trag. Eins der kleinen Haͤuſer bewohne ich ſelber, um ſo viel als moͤglich gegenwaͤrtig zu ſeyn. Oft haben wir ſchon die Freude gehabt, Kinder geſund und bluͤhend in die muͤtterliche Arme zuruͤck zu fuͤhren, aus denen ſie uns im tieſten Elende und ohne Hoffnung des Wie - derſehens uͤberliefert waren.

Doch, eine ausgefuͤhrtere Beſchreibung kann ich Jhnen hier unmoͤglich geben; ſie duͤrf - te nur weitlaͤuftig werden, ohne Jhnen wei - ter etwas zu lehren. Der Geiſt und die Lie - be, in Plan und Ausfuͤhrung, laͤßt ſich mit Worten nicht beſchreiben, dieſe koͤnnen nur durch eigne Anſchauung wahrgenommen wer -337 den. Sind Sie es zufrieden, ſo fuͤhre ich Sie hin. Jhre Erzaͤhlung iſt vollkom - men befriedigend; ich habe beruͤhmte Anſtalten der Art geſehen, ich kenne das. Nein, rief der Arzt, eine aͤhnliche haben Sie wahrlich nie geſehen. Ueberdies, fuhr Florentin fort, moͤchte es der Graͤfin nicht angenehm ſeyn, mich dort zu ſehen, da ſie ausdruͤcklich verlangte, heute allein zu ſeyn. Jch wuͤr - de Sie nicht hinfuͤhren, wenn ſie ſelbſt dort waͤre; bey dieſem Geſchaͤft iſt ſie fuͤr nie - mand ſichtbar, denn ſie haßt jede Art von Oſtentation. Auch iſt es niemand außer mir erlaubt, Fremde dort hinzufuͤhren, weil die Aufmerkſamkeit fuͤr dieſe die nothwendige Sorgfalt abzieht und zerſtreut. Jetzt iſt ohne - dies die Zeit, in der ich dort ſeyn muß; kom - men Sie doch nur mit!

Florentin ließ es ſich endlich gefallen. Der Mann gefiel ihm in ſeinem ſchoͤnen Eifer fuͤr das Gute, trotz der etwas ſtarken Neigung zur Redſeligkeit. Sie iſt doch meiſtens, dachte er, Zeichen eines offnen, abſichtsloſen Gemuͤths;Florentin. I. 22338wenige Menſchen ſind mit ihren Worten zum Vortheil andrer ſo freygebig. Jn wenig Tagen, fing der Doktor, indem ſie gingen, wie - der an, ſehen wir ſie wieder mit andrer Sorg - falt beſchaͤftigt. Sie werden vielleicht ſchon von einer Badeanſtalt gehoͤrt haben fuͤr arme Kranke, dieſe iſt ihr Werk und entſtand wie von ſelbſt. Es iſt wenige Meilen von hier ent - fernt, ſie ſelbſt braucht dieſes Bad zu ihrer Er - haltung ſeit mehrern Jahren. Jhrem mitlei - denden, fuͤr jeden fremden Schmerz empfind - lichen Herzen war es eine hoͤchſt peinvolle Em - pfindung, eine Klaſſe Menſchen an Allem Man - gel leiden zu ſehen, die wegen wirklicher, ſehr harter Gebrechen ſich am Bade einfanden, un - terdeſſen andre im groͤßten Ueberfluß lebten, die nur Vergnuͤgen und Zeitverkuͤrzung dort ſuchten. Auf eigne Koſten hat ſie alſo jede Bequemlich - keit fuͤr die kranken Armen einrichten laſſen, und zwar alles ſo gut, ſo ſauber und bequem, daß ſie fuͤr ihre eigne Perſon ſich derſelben jedesmal bedient. So duͤrfen nun die armen geplagten nicht mehr den Abhub der Reichen kuͤmmerlich339 erbetteln, und die Huͤlfe fuͤr ihre Schmerzen nicht erſt dann erwarten, wenn jene, oft weni - ger leidende befriedigt ſind. Es wird alles fuͤr ſie auf das puͤnktlichſte und gefaͤlligſte beſorgt, ſo daß ſie auf jede Weiſe gegen den Einfluß des Uebermuths geſchuͤtzt bleiben. Zu dieſen gehoͤ - ren dann auch die ſonſt uͤblichen Kollekten, die oft ganz unzweckmaͤßig vertheilt werden; und das Schauſpiel der allgemeinen Abfuͤtterungen, die auf den Kranken, bey ihrer gewoͤhnlichen Noth und der taͤglichen fchlechten Nahrung von ſehr uͤbeln Folgen ſind. O, rief Flo - rentin, oft war ich Zeuge, mit welchem Ueber - druß, mit welcher Verachtung man ſeinen Bey - trag zollte! Freylich, antwortete jener, doch vergeſſe man nicht, daß dergleichen auch fuͤr viele, die ſich nicht ausſchließen duͤrfen, oft ein laͤſtiger Tribut ſeyn kann. Freywillige Bey - traͤge, von Einzelnen, weiſet die Graͤfin nie zu - ruͤck; um, wie ſie ſagt, den Seegen des Wohl - thuns niemand zu entziehen. Die Gabe wird augenblicklich von der Graͤfin ſelbſt, in der Ge - genwart des Gebers, den Armen zum freyen(22) 2340Gebrauch eingehaͤndigt. Bekannt wird aber nichts davon gemacht, weder mit noch ohne Namen. So werden auch wohl dieſe mil - den Beytraͤge ſelten genug ſeyn. Das doch nicht; es giebt viel gute Menſchen; und zeigt man ihnen den rechten Weg, ſo gehen ſie ihn auch wohl. Jn welcher Welt, dachte Flo - rentin, habe denn ich gelebt?

Sie waren am Ufer des Sees angelangt, und hatten ein Haus, ein Zimmer nach dem andern in der kleinen Kolonie beſucht. Florentin war dem Arzt gefolgt, theils aus Gefaͤlligkeit, theils auch um dem Rittmeiſter deſto ſichrer auszuwei - chen, deſſen Geſellſchaft er mehr als jedes an - dre Uebel verabſcheute. Dieſe Rohheit bey ſo viel Anmaßung, die Verachtung der feinen Welt im Beſitz aller mit ihr verknuͤpften Verkehrthei - ten, ſie waren ihm in der Seele zuwider. Er war ſich keiner Menſchenfurcht bewußt, doch uͤberfiel ihm etwas aͤhnliches von boͤſer Vorbedeutung bey dieſem Walter. Er zog es alſo vor, mit dem guten Doktor die wohlthaͤtigen Anſtalten der Graͤfin zu beſuchen, obgleich er denſelben341 unangenehmen Eindruck befuͤrchtete, den er ſchon oft bey Beſuchen der fuͤr Elende erbauten Pal - laͤſte gefuͤhlt hatte, wo es der einzige wirklich ausgefuͤhrte Endzweck war, den Namen und Reichthum des Stifters bis an das Ende aller Dinge bekannt zu machen. Freudig ward er aber uͤberraſcht beym Anblick dieſer Stiftung, wo ohne allen Prunk und irdiſche Verherrli - chung der Geiſt der Liebe allein, ſtill und heilig wirkte. Hat Clementine nie geliebt? fragte Florentin. Jch weiß nichts eigentliches von ihrer Geſchichte, auch weiß dieſe wohl niemand als Eleonore; jetzt ſpricht ſie nie daruͤber. Was koͤnnte es aber anders ſeyn, das eine ſo fromme Seele beugt und erhebt, als Leiden der Liebe? So wie es nur durch die Liebe allein moͤglich iſt, die zweckmaͤßigſte Wohlthaͤtigkeit im ſchoͤnſten Sinn zu verbreiten. Nur von liebenden Frauen, ſagte Florentin, muͤßte alle Wohlthaͤ - tigkeit kommen. Die Frauen verſtehen auch am beſten die Beduͤrfniſſe einer ſchwachen Natur; der Mann wuͤrde die Schwachheit lieber vertil - gen von der Erde, als ſie im Leiden unterſtuͤ -342 tzen. Ei, Sie ſagen das einem Arzt! Ja wohl; eben darum denke ich, koͤnnen die Frauen vortreffliche Waͤrterinnen und Verpflege - rinnen, weniger aber Arzt ſeyn. Dieſer muß auch die haͤrteſten Mittel nicht ſcheuen, um das Uebel zu verderben; jene wuͤrden aus Mitgefuͤhl des aͤußern Leidens nichts entſcheidendes thun koͤnnen. Darin liegt etwas wahres. Doch ſind fromme Stiftungen von ungluͤcklichen Maͤn - nern errichtet worden. Jmmer werden dieſe doch mehr das Gepraͤge des wilden, herben Schmerzens tragen, werden eigentlich mehr fuͤr Buͤßende als fuͤr Leidende taugen. Erinnern Sie ſich des Mannes, der den ſtrengſten aller Orden geſtiftet! Auf dem Gipfel der Hoffnung ſeiner gluͤhenden Liebe von einem vernichtenden Schlage getroffen, indem er die Geliebte todt unter den Haͤnden der Wundaͤrzte antraf, die ihren von einer entſetzlichen Krankheit entſtellten Koͤrper oͤffneten, als er eben von einer Reiſe zu - ruͤckkommend, ſich durch eine geheime Thuͤr mit Vorſicht und Ungeduld einfchlich, um ſie mit ſeiner unerwarteten Erſcheinung freudig zu uͤber -343 raſchen, verbannt er ſich auf immer aus der menſchlichen Geſellſchaft, und bildet eine um ſich her, wo aus keinem Munde je ein andres Wort erſchallt, als die beſtaͤndige Erinnerung des Todes. Eine Frau an ſeiner Stelle wuͤrde eine milde Stiftung errichtet haben. Jch habe nicht geglaubt, einen ſo beredten Kenner der weiblichen Natur in dem Manne zu finden, den mir Betty als einen Veraͤchter der Frauen geſchildert hat. Dieſe Jronie iſt ſtark! rief Florentin lachend. Die Frauen haben freylich im Ernſt weder Gluͤck noch Ungluͤck meines Le - bens beſtimmt. Hat Betty mir das abgemerkt, ſo werde ich auch wohl nicht Gnade gefunden haben vor ihren Augen, das iſt natuͤrlich. Jſt es aber meine Schuld, wenn es ſo iſt? Waͤren die Frauen alle wohlthaͤtige Engel, wie Eleonore und Clementine, ſie wuͤrden der Menſchheit je - des Leiden verguͤten, das ihr dummes Vorur - theil und ſelbſtſuͤchtige Eitelkeit zufuͤgen. Sie verlangen etwas unmoͤgliches, dieſe großen Mittel Verſtehen Sie mich: es iſt ja nicht das, was geſchieht, ſondern der Sinn, in dem344 es geſchieht. Die freudige, gluͤckliche Eleonore macht um ſich her alles gluͤcklich. Sie ſammelt die Freuden des Lebens, um ſie wieder zu ſpen - den. Die erhabene, ungluͤckliche Clementine haucht ihren eignen Schmerz in goͤttliche Har - monieen aus, und fuͤhlt die Schmerzen der an - dern tiefer, um Troſt und Huͤlfe zu verleihen. Die Liebe iſt es und nichts als dieſe, die hier troͤftet, wie ſie dort vergnuͤgt. Es ſcheint die Tugend der weiblichen Langmuth immer mit ru - higer Heiterkeit die Folgen des boͤſen Princips unſchaͤdlich zu machen; ſich ihm vernichtend ent - gegen zu ſtellen iſt mehr die unſrige. Jſt unſer Beſtreben auch groͤßer, ſo iſt ihr Gelingen deſto ſicherer!

Der Doktor hatte Florentin mit großem Vergnuͤgen eigentlich mehr ſprechen ſehen, als zugehoͤrt; denn ſo wenig auffallend Florentin gewoͤhnlich erſchien, ſo wuchs der Ausdruck ſei - ner Geſtalt bis zur Schoͤnheit, wenn er im Feuer der Rede ſich ſelbſt und alles um ſich her zu vergeſſen ſchien. Sie ſollten uns nicht ſo bald wieder verlaſſen, ſagte er; Sie345 wuͤrden vielleicht in unſrer Mitte eine Laufbahn finden, die Jhnen genuͤgte, und Jhrer wuͤrdig waͤre! Das doch noch nicht, antwortete er gelaſſen; das darf ich noch nicht. Zuerſt will ich, um es zu duͤrfen, damit beginnen, daß ich wirklich trotz jeder Lockung das ausfuͤhre, was ich mir vorgenommen, und an deſſen Aus - fuͤhrung ich ſchon ſo viel Zeit geſetzt. Sie ſoll nicht ſo ganz nur verſchwendet worden ſeyn. Sie folgen Jhrem Beruf unter den Augen der erhabenen Clementine, und werden vielleicht doch noch einſt dauerndes Gluͤck und Lohn aus ihren bildenden Haͤnden empfangen. Mir aber iſt es nothwendig, das in großer Maſſe ar - beiten zu ſehen, was ich, ſeitdem ich denken kann, in mir trage. Allenthalben, wo man ſich befindet, kann man den Krieg fuͤr die Frey - heit unterſtuͤtzen und verfechten. Allenthalben ſteht man auf dem Schlachtfelde, wo Habſucht und Barbarey herrſcht, und ſo hinge man frey - lich, wenn auch unſichtbar, mit jener großen Maſſe zuſammen; waͤre es mir nur nicht ſo nothwendig, andre Menſchen, einen andern346 Welttheil zu ſehen, als den, der ſich jetzt der kultivirte nennt. Das Schauſpiel eines neuen, ſich ſelbſt ſchaffenden Staats iſt mir intereſſant. Es haͤufen ſich uͤberdies immer mehr innere und aͤußere Gruͤnde, warum ich in einer uͤbertaͤu - benden Thaͤtigkeit mich ſelbſt zu vergeſſen ſuchen muß.

Nach dieſen Worten ward er wieder ſtill, und in ſich gekehrt. Bald darauf gingen ſie nach dem Haus des Doktors, das wohlein - gerichtet, zierlich und bequem, am Ufer des Sees, mitten in der Kolonie lag. Hier zeigte er ihm ſeine vortreffliche Naturalien - ſammlung, ſeine reiche auserleſene Biblio - thek, die zugleich einen Schatz an ſeltnen Karten und Reiſebeſchreibungen enthielt. Flo - rentin ſprach uͤber dieſe Dinge mit einer Sachkenntniß, woruͤber der Arzt erſtaunte, da er ihn dergleichen nicht zugetraut haben mochte; auch nahm er ſeitdem ſichtbar an Achtung fuͤr ihn zu. Er ſelbſt erſchien hier bey ſeinen Heiligthuͤmern im vortheilhafteſten347 Lichte. Florentin hatte niemals weniger den Mangel an Witz und uͤberraſchenden Einſaͤl - len in der Unterhaltung vermißt, als bey dieſen wahrhaft verdienſtvollen Mann. Er ward nicht muͤde ihn reden zu hoͤren; auch ſprach er immer beſſer je mehr er Gelegen - heit fand, ſeine tiefe Gelehrſamkeit und die mannichfaltigen gruͤndlichen Kenntniſſe anzu - wenden. Seine ſonſt mehr ruhige Phyſio - gnomie ward dann durch Begeiſterung erhoͤht, beſonders bey gewiſſen, ihm heiligen Din - gen. So ſprach er das Wort, Natur, im - mer mit einer Art von Ehrfurcht aus, ſo wie man im Tempel ſich vor den Namen des Aller - hoͤchſten beugt.

Eine neue Welt ging vor Florentin auf bey ſeinem Geſpraͤch. Nie hat er ſich mehr be - lehrt gefuͤhlt, nie hatte er groͤßere Achtung fuͤr einen Menſchen empfunden. Nur zu ſchnell verging ihm der Abend; es graute ihm, als er daran dachte, in die Stadt zu dem laͤr - menden Gaſthof zuruͤck zu kehren. Es konnte348 ihm alſo nichts erwuͤnſchteres begegnen, als da der Doktor ihm anbot, daß er die Nacht in ſeinem Hauſe bleiben moͤchte. Er nahm das Anerbieten eben ſo freymuͤthig an, als jener es gethan.

[349]

Siebzehntes Kapitel.

Sie waren beym Abendbrod im Garten; von Julianen und Eduard ſprachen ſie viel. Flo - rentin verbarg es ſeinem neuen Freunde nicht, wie ſehr ihm beyde werth waren. Der Doktor gab ihm einige Aufſchluͤſſe uͤber das raͤthſelhafte in Eduards Charakter, das ſo tief in ihm lag, daß man lange Zeit mit ihm umgehen konnte, ohne irgend etwas anderes zu ahnden, als den ausgebildeten Weltmann, der das gefuͤhlvollſte Herz mit einem hellen Kopf verbindet. Nie - mand ahndet in ihm, fuhr er fort, dieſen Ab - grund von Unzufriedenheit und gefaͤhrlichen Eigenſinn; ſeine Bildung liegt wie ein Firniß uͤber dieſe ſcharfen Ecken, die bey weitem noch350 nicht durch die der Erfahrung verarbeitet und abgerundet ſind. Auch dieſe fruͤhe Vermaͤh - lung lag nicht in Clementinens Abſicht, und daß ſie dennoch geſchieht, iſt wahrſcheinlich mit ein Grund ihrer letzten verſtaͤrkten Krank - heit. Sichtbar hat aber der Brief von der Graͤfin Eleonore ſie beruhigt, denn er ſagte ihr, daß es geſchehen ſey; niemals bereut oder be - klagt ſie aber eine Sache, die geſchehen iſt. Er ſprach ferner von Julianen mit großem Antheil. Sie iſt Clementinens geliebteſter Liebling, doch glaubte ſie neulich, die kleine Thereſe wuͤrde vielleicht Julianen einmal uͤber - treffen. Nicht mit Unrecht, ſagte Florentin, ſie iſt in der That ein ſeltnes Kind; ich habe nie ſoviel Ernſt und Tiefe bey einem Kinde wahrge - nommen als bey dieſem. Ob ſie aber eigentlich ſo wunderbar liebenswuͤrdig, ſo wahrhaft bezau - bernd wird als Juliane, kann man wohl noch nicht beſtimmen, und auch in dieſer liegt noch ſo vieles in tiefer Verborgenheit. Clemen - tine ſagte einmal, Juliane muͤßte durch das Leben zur Liebe gebildet werden; aber Thereſe350[351] wuͤrde erſt durch die Liebe, zum Leben ſich aus - bilden.

Hier ſahen ſie Betty, nur von einem Be - dienten begleitet, uͤber den See auf einem Kahn zu ihnen kommen. Sie brachte dem Arzt die Nachricht, daß es mit Clementinen recht gut ginge, ſie ſchliefe ruhig. Sie waͤre heruͤber gekommen, theils ihm das zu verkuͤn - digen, theils auch, da ſie gehoͤrt Florentin ſey bey ihm, dieſen zu fragen, ob er den Rittmeiſter nicht irgendwo geſehen haͤtte? Er hat dieſen Abend im Garten zu ſeyn ver - ſprochen, ſagte ſie, die beſtimmte Stunde iſt aber laͤngſt voruͤber und er iſt nicht gekom - men. Florentin erinnerte ſich, daß er, des Verſprechens an Betty uneingedenk, die Partie fine mit den andern jungen Leuten verabredet hatte, wozu er ſelbſt mit eingela - den war; er ſchwieg aber davon, und erwie - derte blos, er haͤtte ihn nicht weiter als bey Tiſche geſehen. Aber Doktor, rief Betty aus; lernen Sie doch von Florentin, Faſ - ſung zu behalten, wenn man Sie auch ſtoͤrt. 352Sie machen ja ein ſo bedenkliches ungewiſ - ſes Geſicht, als haͤtte ich Sie eben bey einer Verlaͤumdung von mir ſelbſt uͤberraſcht. Ge - ſtehen Sie nur, Sie haben von mir ge - ſchwatzt! Doch was liegt daran? Florentin hat doch nicht recht Acht darauf gegeben, er iſt viel zu ſehr mit ſich ſelber beſchaͤftigt. Halten Sie mich fuͤr ſo ſelbſtſuͤchtig, gute Betty? Ei es waͤre mir gar nicht ange - nehm, wenn Sie es nicht waͤren. Sie mach - ten dann eine Ausnahme, die Ausnahme muͤßt ich reſpectiren, das Reſpectiren macht mir Muͤhe und die Muͤhe Langeweile. Nun und Clementine? Stille wer wird einen ſolchen Namen unnoͤthigerweiſe ausſpre - chen! Hier, ſetzen Sie ſich nieder, und er - zaͤhlen Sie mir ordentlich und bedaͤchtlich, wie es am Hochzeittage auf dem Schloſſe war? War Eduard liebenswuͤrdig? wie ſah Juliane aus? Florentin machte ihr eine drollige Beſchreibung von Julianens Putze, von dem er natuͤrlich nichts zu beſtimmen wußte als den Effect, woruͤber Betty ſich dann todt lachen353 wollte, ſie behauptete, ihn durchaus nicht zu verſtehen. Nun ſo will ich zeichnen, wenn ich mich mit Worten nicht verſtaͤndlich machen kann!

Er zeichnete darauf eine Karikatur hin, man lachte, und ſcherzte froͤhlich daruͤber. Betty war noch luſtiger als gewoͤhnlich; es ſchien als wollte ſie durch die gewaltſame An - ſtrengung eine innere Kraͤnkung betaͤuben und unterdruͤcken. Florentin hatte ſie nur noch lieber wegen dieſer Kraft; um ſo mehr haßte er aber den Urheber dieſer Kraͤnkung.

Es ward vorgeſchlagen, Florentin ſollte ihren Schattenriß machen. Das nicht, ſagte er, dies Stumpfnaͤschen ſchickt ſich ſchlecht zu einem Schattenriß, aber zeichnen will ich Sie. Sie ſtellte ſich in einer leichten ange - nehmen Stellung vor ihn hin. Mit wenigen Strichen war das Figuͤrchen entworfen, im ſchwebenden Tanz mit beyden Haͤnden ein Tambourin in die Hoͤhe haltend, Geſicht und Haltung, obgleich nur in fluͤchtigen Umriſſen, zum Sprechen aͤhnlich. Florentin war ver -Florentin. I. 23354gnuͤgt mit dem Entwurf, er hatte ſeiner Hand nicht mehr dieſe Sicherheit zugetraut.

Er war noch nicht ganz fertig, als auf ein - mal der Rittmeiſter dazu kam. Sie haben Geſellſchaft Herr Doktor, rief er im Herein - treten; ich begreife nun, warum ich Sie Fraͤu - lein, vergeblich geſucht und Sie mein Herr vergeblich erwartet habe; doch ich haͤtte es auch wohl errathen koͤnnen. Sie werden mich entſchuldigen ſagte Florentin, ich hielt es nicht fuͤr ein gegebnes Verſprechen; uͤberdies habe ich den Nachmittag und Abend ſo ange - nehm zugebracht O das glaube ich gern, unterbrach ihn Walter; Sie mein Herr Dok - tor ſind immer die Gefaͤlligkeit ſelbſt. Bet - ty war in der ſchmerzlichſten Verlegenheit; Flo - rentin und der Doktor waren es ihrentwegen nicht weniger. Laſſen Sie doch ſehen, fuhr Walter fort, indem er naͤher zum Tiſch trat, wo die Zeichnung lag; Sie haben hier eine Academie wie ich ſehe; die Kuͤnſte wer - den doch immer mehr getrieben in der Welt! Florentin kam ihm zuvor, als jener das355 Blatt in die Hand nehmen wollte. Er ver - deckte es ſchnell mit einem andern Blatt. Ent - ſchuldigen Sie, ſagte er kurz und trocken, es iſt nicht ſertig. Mir koͤnnen Sie es im - mer halb fertig zeigen, ich bin gar kein Ken - ner. Um deſto weniger Herr Rittmeiſter! Es iſt Fraͤulein Betty, ihr Portrait das habe ich geſehen! Allerdings iſt es das. Nun ſo muß ich Jhnen dann ſagen: ich habe ein Recht dazu es zu fordern. Das mag ſeyn, aber ich habe kein Recht es Jhnen zu geben, es gehoͤrt dem Fraͤulein Sie werden alſo entſcheiden Fraͤulein, rief er auf - gebracht. Jn der That lieber Walter es war ein Scherz ich bat darum Nun ſo wird man es doch wenigſtens erkaufen koͤn - nen; was iſt Jhr Preis? fragte er, ſeine Boͤrſe hervorziehend. Florentin antworte - te nicht, und legte das Blatt mit Gelaſſenheit in ſein Taſchenbuch. Es iſt nicht fuͤr Be - zahlung gemacht, lieber Walter, ſagte Betty wieder. Es muß doch auf irgend eine Weiſe wieder in Jhre Haͤnde kommen, denn(23) 2356weder ich, noch Sie ſelbſt, werden zugeben, daß ihr Bild in der Welt mit auf Abentheuer zieht. Herr Rittmeiſter! ſagte hier der Doktor mit feſter Stimme, Sie ſcheinen zu vergeſſen, daß Sie hier in meinem Haufe ſind! Jch werde dieſem ehrwuͤrdigen Hau - ſe nicht laͤnger beſchwerlich fallen. Hohn - lachend, und aufgedunſen von wildem Zorn fuhr er zur Thuͤr hinaus. O ihr wißt nicht, was ihr mir thut! rief Betty voller Angſt, und ging ihm nach.

Das iſt zu viel! ſagte Florentin. Es iſt entſetzlich, ſagte der Doktor. So habe ich ihn noch nie geſehen. Jch vermu - the beynah, daß er einen Rauſch hatte. Offenbar legt er es aber beſonders auf Sie an. Sie werden alſo wohl thun ihm aus - zuweichen. Jch bin ihm ausgewichen, ſagte Florentin; doch wenn er mich gefliſ - ſentlich ſucht, ſo ſoll er mich finden! Aber wie dauert mich das gute Kind, daß der ſchoͤnſte Moment, die Bluͤthe ihres Da - ſeyns unter einem ſolchen Einfluß verdor -357 ren muß! Kann man ſie nicht losma - chen? Jſt es nicht moͤglich, der Graͤfin Cle - mentine Licht uͤber ſeine Nichtswuͤrdigkeit zu geben? Dieſe iſt ja nichts weniger als im Jrrthum uͤber ihn, aber ich glaube Jhnen ſchon geſagt zu haben, wie ſie daruͤ - ber denkt. Sie laͤßt jeden auf ſeine Gefahr nach ſeiner Ueberzeugung handeln, und haͤlt ſich durchaus nicht fuͤr berechtigt, vermittelſt ihrer Autoritaͤt andre zu beſtimmen, nicht durch Vorſtellungen, vielweniger durch ir - gend ein Zwangsmittel. Betty iſt es be - kannt, wie die Graͤfin uͤber Walter denkt, da ſie ſich aber gebunden glaubt, und in der feſten Hoffnung lebt, die Liebe wuͤrde ihn erziehen, ſo haͤlt Clementine es fuͤr ei - nen Wink der Vorſehung, fuͤr ein unabaͤn - derliches Verhaͤngniß, dem ſie ſich nur ſtraͤf - licherweiſe, und dennoch ohne Nutzen ent - gegen ſetzen wuͤrde. Glaubt Clementine nur an eine goͤttliche Vorſehung, und nicht zugleich auch an die vernichtende Einwirkung des Teufels, ſo hat ſie doch nur eine hal -358 be Religion, das ſollten ſie ihr einmal ſa - gen. Unbegreiflich bleibt immer die verhaß - te Schwaͤche (denn laſſen Sie es uns ja nicht Liebe nennen) vieler, ja ſogar ausgezeichne - ten Frauen, fuͤr Menſchen, die ihnen in jeder Ruͤckſicht untergeordnet ſind; es iſt hier nicht das erſtemal, daß ich einen lie - benswerthen, achtungswuͤrdigen Mann ge - gen einen Wicht habe zuruͤckſetzen ſehen. Soll - te nicht etwa die Taͤuſchung dabey zum Grun - de liegen, daß die Achtung, die ſie fuͤr je - nen zu haben ſich gezwungen fuͤhlen, ihre Oberherrſchaft zweifelhaft macht? oder daß ſie die Wuͤrde der Liebe nicht verſtehen, und ſich ihrer als eine Schwaͤche vor dem Man - ne ſchaͤmen, den ſie einer gleichen Schwaͤ - che fuͤr unfaͤhig halten? Nichts davon! Keinen andern Grund kann es in dieſem lie - bereichen, unbefangnen Herzen geben, als un - beſtechliche Treue, die der Hingebung folgt. Der Verfuͤhrer verſtand es, ihre Sinne gefan - gen zu nehmen; ſie ahndet nicht die Moͤg - lichkeit, wie dieſes haͤtte geſchehen koͤnnen,359 wenn ſie ihn nicht liebte. Sie iſt unſchul - dig trotz ihrer Schuld, und ihre Treue hoͤchſt achtungswerth! Lernt ſie aber nicht endlich dieſen Jrrthum verachten, und er - kennt die Liebe; tritt an die Stelle der bluͤ - henden Unbefangenheit nicht die Reife der Achtung vor ſich ſelber, die eine liebende Frau nur in der Liebe fuͤr einen hochverehr - ten Mann findet, ſo waren es dennoch tau - be Bluͤthen, oder ein giftiger Thau hat die edle getoͤdtet. Und darum iſt es Eure Pflicht, ſie, wenn auch unter tauſend Schmerzen, vom Verderben zuruͤckzufuͤhren.

Und nun ſagen Sie mir noch, wie kann Cle - mentine, nach allem was ich von ihr gehoͤrt habe, in der großen Welt leben? Schon ſeit meh - rern Jahren lebt ſie auch wirklich nicht in der großen Welt. Sie geht nie in Geſell - ſchaften; ſchon ihre fortdauernde Kraͤnklich - keit leiht ihr einen Vorwand ſich davon aus - zuſchließen; doch iſt ihr Haus immer der guten Geſellſchaft offen, auch Fremde beſu - chen ſie; der feine zwangloſe Ton, der in360 ihrem Hauſe herrſcht, macht, daß es von allen geſucht wird. Die Unterhaltung der Graͤfin iſt leicht, und geiſtreich, durch die - ſe allein ahndet man in der Geſellſchaft die Frau von außerordentlichen Gaben. So oft ſich Gelegenheit zeigt, giebt ſie Konzerte und Baͤlle, wo ſich immer eine Menge jun - ger Leute einfinden, deren Vergnuͤgen durch nichts, was die ernſte Stimmung der Wir - thin verrathen koͤnnte, geſtoͤrt wird. Sie zieht ſich freylich immer ſehr bald in ihr ein - ſames Zimmer zuruͤck, aber ohne im gering - ſten die Luſt zu unterbrechen, ſo wie ſie nie - mals irgend eine Art von Aufſehen ihrent - wegen erlaubt. Jch denke mir, wie oft dieſe Guͤte mag gemißbraucht worden ſeyn, in der Welt! Dem iſt es auch wohl nur allein zuzuſchreiben, daß der Zutritt zu ihr ſo erſchwert worden iſt, obgleich ſie auf keine Weiſe argwoͤhnender ward durch den wie - derholten Betrug. Die Noth der Huͤlfe ſuchen - den wird jederzeit von ihr ſelbſt gepruͤft. Dies Geſchaͤft uͤbertraͤgt ſie niemals irgend einem361 andern; kann ſie nicht ſelbſt pruͤfen, ſo hilft ſie ohne Unterſuchung. Uebrigens lebt ſie im - mer allein, obgleich faſt ſtets von Menſchen umgeben; auch wuͤßte ich nicht, daß ſie eine Freundin haͤtte, der ſie ſich mittheilt, außer Eleo - noren. Da der erſte Eindruck gewoͤhnlich fuͤr ſie entſcheidend auf das ganze Leben bleibt, und ſie wohl erfahren haben muß, daß kein Raiſonne - ment und keine Vernunft ſtark genug iſt, die - ſen jemals bey ihr zu vertilgen, ſo macht ſie ſo ſelten als moͤglich neue Bekanntſchaften, und huͤtet ſich gleichſam vor jedem neuen Eindruck. Sie koͤnnen es als einen ganz beſondern Vor - zug anſehen, daß ſie Sie zu ſprechen wuͤnſcht.

Sie ſprachen nun noch manches uͤber Eduard und Juliane ſo wohl als uͤber Betty. Was Florentin an dieſem Tage uͤber den ver - worrnen Zuſammenhang ihres Betragens ſo unzuſammenhaͤngend gehoͤrt und geſehen hatte, ging ihm wild durch einander im Kopfe her - um. Dies ſind alſo, rief er aus, die zarten Verwirrungen der feinen Verhaͤltniſſe362 und der tugendhaften Mißverhaͤltniſſe der ge - bildetſten Welt! O alle Jhr Vortrefflichen, Auserkohrnen, ihr wißt doch mit euren an - geſtrengteſten Kraͤften nichts anders zu thun, als die zahlloſen Plagen zu erleichtern, die ihr euch ſelbſt einander zufuͤgt! Unter meiner plumpen Hand aber zerriſſe dies kuͤnſtlich ge - fuͤgte Gebaͤude, deſſen Thuͤrme ſich prahlend in die Wolken heben, waͤhrend ſein Fuß im Treibſande wankt. Moͤchte es mir nur einſt gelingen mir eine niedre, feſte Huͤtte zu er - bauen, die Sturm und Wogen trotzt, und auch dem Ruͤtteln meiner eignen muthwilligen Hand widerſteht! Und wo, fragte der Doktor laͤchelnd, ſuchen Sie Boden zu die - ſem Wunderhuͤttchen? Gewiß nicht hier, nicht von den wurmzernagten Splittern der ſeinen Welt gedenke ich es mir zuſammen zu betteln Ruhig lieber Florentin, wer ge - denkt ſie Jhnen aufzudringen? Die feinere Ausbildung laͤßt ſich mit jenem geheim - nißvollen Berg vergleichen, von dem die Dich - ter unter dem Namen Venusberg viel wun -363 derbares erzaͤhlen. Berauſcht von einer ſuͤß - toͤnenden Harmonie, ſagen ſie, wird man hinein gezogen; wer am Eingange ſtehen bleibt, ahndet nichts als Schreckniſſe in der Verworrenheit, die ſein Blick nicht zu durch - dringen vermag; wer aber unerſchrocken vor - dringt, der findet ewige Freuden; und wer ſich voll Ungeduld wieder hinauszuſehnen ver - mag, findet doch ſonſt nirgend Ruhe, und unaufhaltſam zieht der Zauber ihn wieder zu - ruͤck. Nun mir ſcheint dieſer Zauber doch in nichts zu liegen, als im Hochmuth ſich ſo gern etwas gar großes zu duͤnken. Dies iſt der Rauſch, der ihre Sinne gefangen haͤlt, daß ſie in die ſchwindelnde Tiefe wieder zu - ruͤck muͤſſen, und in der freyen Welt ſich nicht zu finden wiſſen, wo jeder gleicher Rechte ſich erfreut, und niemand ſich uͤber den andern erheben darf. Nun ſehen Sie, ſo iſt es doch nur anders maskirter Hochmuth, der es Jhnen ſo verleidet, unter den Emporſtreben - den zu exiſtiren. O guter Gott, es mag wohl ſeyn, nichts iſt anſteckender als das Boͤſe! 364Doch ſoll es mir wohl noch gelingen, die ſchlechten Gewohnheiten wieder abzuſtreifen. Jch ſehe, es iſt heute nichts mehr mit Jhnen anzufangen, Sie ſind bitter. Das doch nicht! Wo iſt der Thor, der auf ein ſicheres, dauerndes Lebensgluͤck rechnet? Aber laſſen Sie es mich Jhnen geſtehen: Betty’s Schick - ſal, und das Jhrige, das ich ſo deutlich vor mir ſehe, das von Eduard und Juliane, was ich nur ahnde, es hat mich verwirrt und be - truͤbt. Aus welchen loſen Faͤden iſt der Traum eures Gluͤcks geſponnen! Es lebt dafuͤr in unſrer Seele etwas, das, dem ungebildeten Menſchen fremd, uns uͤber jeden Gluͤckswechſel erhebt!

Nein, Siegen oder Untergehen! rief Flo - rentin aus, als er allein war. Und doch hatte die freudige Gelaſſenheit, mit der der Doktor die letzten Worte geſprochen, etwas in ihm erregt, das ihn nachdenklich machte. Am Ende blieb er aber freylich dennoch uͤberzeugt: daß er ſeinem jetzigen Plane folgen muͤſſe; daß es fuͤr ihn keine andre Thaͤtigkeit gebe, als in365 einem neuen Leben das zu vergeſſen, was ihn im alten gequaͤlt hatte. Jene Ahndung war auch noch nicht aus ſeinem Herzen geflohen: er muͤſſe in der Welt einen Aufſchluß uͤber ſeine Beſtimmung und ſeine Geburt aufſuchen.

Den andern Tag, waͤhrend der Doktor ſeine Geſchaͤfte in der Stadt verrichtete, war Flo - rentin allein zuruͤck geblieben, weil er ohne Noth nicht gern dort verweilen mochte. Der Doktor ſchickte ihm ſein Pferd und ſeine uͤbri - gen Sachen aus dem Gaſthof, und kam zum Mittagseſſen ſelbſt wieder zu ihm hinaus. Er erzaͤhlte ihm: Walter habe den Morgen ſchon einigemal im Gaſthofe nach ihm fragen laſſen; was wird er wollen? Vielleicht eine Ausfordrung, ſagte Florentin. Leicht moͤglich, daß er ſich von Jhnen beleidigt haͤlt! Sie ſehen, ſagte Florentin, indem er auf ſeinen Degen zeigte, ich habe eine Vorbedeu - tung gehabt. Die Uniform iſt uͤberhaupt gar nicht uͤbel; gewiſſe Menſchen haben Ne - ſpect vor einer Uniform, weil dieſe das einzige366 iſt, wodurch ſie ſelbſt ſich Reſpect zu ſchaffen wiſſen.

Waͤhrend ſie noch am Tiſch ſaßen, kam fol - gendes Billet:

Florentin wird es nicht vergeſſen ha - ben, daß er zur Muſik abgeholt wird. Die Tante freut ſich ſehr, ihn dieſen Abend zu ſehen. Bereiten Sie ihn darauf vor, lieber Freund, daß er Wal - tern hier finden wird, und bitten Sie ihn in meinem Namen, des geſtrigen fatalen Auftritts nicht weiter zu geden - ken. Es war ein Mißverſtaͤndniß. Wal - ter hat ſeinen Jrrthum eingeſehen, und es wird nur auf Florentin ankommen, daß uns der Abend Friede und Freude bringt.

Betty.

Es war alſo eine Ausſoͤhnung! ſagte Flo - rentin. Jch traue dem nicht ſo ganz, ſagte der Doktor; wegen einer Ausſoͤhnung haͤtte er367 ſicherlich nicht ſo oft nach Jhnen fragen laſſen. Jch wollte nur, Betty waͤre nicht dabey zu ſchonen, mir iſt er im innerſten Herzen fatal. Laſſen wir ihn jetzt. Die Graͤfin iſt heiter und ſehr wohl; ich mußte ihr viel von Jhnen erzaͤhlen, ſie hoͤrte jedes Wort mit ganz beſonde - rem Jntereſſe an. Es ſind auch Briefe vom Schloß dieſen Morgen gekommen. Juliane und Eduard befehlen Jhnen ja hier zu bleiben, bis ſie herkommen. Wollen ſie kommen? wann? Vielleicht noch heute, in den naͤch - ſten Tagen aber gewiß.

[368]

Achtzehntes Kapitel.

Am Eingange des Hauſes ward Florentin nach einem Seitenfluͤgel gewieſen. Er trat in einen hochgewoͤlbten Gang; zwiſchen den Saͤu - len gingen mehrere Perſonen ſtill hinauf, nach dem Ende des Ganges, wo ſich eine große Fluͤ - gelthuͤre oͤffnete. Es war alles feyerlich ernſt; die Schritte hallten von dem Boden wieder; die Jdee eines Wohnhauſes war verſchwunden, es war der Eingang zum Tempel. Jetzt oͤff - neten ſich die Fluͤgelthuͤren fuͤr ihn, ein hoher Dom empfing ihn. Er hoͤrte noch die letzten Worte der Meſſe, die Verſammlung erhob ſich von ihren Knieen, einige Einzelne verweilten noch in tiefer Andacht.

369

Der Orgel gegenuͤber befand ſich ein Mol nument. Florentin ging naͤher hinzu, um es zu betrachten. Auf einem Sarkophag ruhte ein Genius in Geſtalt eines Kindes, die Fackel entſank verloͤſchend ſeiner Hand; es war nicht gewiß, ob er todt oder ſchlafend abgebildet war. Auf den Seiten des Sarkophags zeigten ſich in halberhobener Arbeit die Horen, die traurend, mit verhuͤlltem Angeſicht, eine nach der andern hinſchlichen; uͤber dem Monu - ment befand ſich das Gemaͤlde der heiligen Caͤ - cilia, der Beſchuͤtzerin der Tonkunſt und Erfin - derin der Orgel. Florentin erſchrack faſt, als er ſeine Augen zu dem Bilde aufhob; es war die goͤttliche Muſe, die in lichter, freudenrei - cher Glorie des großen Gedankens, uͤber Tod und Trauer ſiegend ſchwebte.

Das Gemaͤlde jener heiligen Anna, das ihn, als er es zuerſt geſehen, ſo ergriffen hatte, war nur ein ſchwacher Abglanz dieſer Herrlich - keit. Jm Anſchauen verloren, vergaß er es voͤllig, daß es Clementinens Portraͤt ſey, von dem er ſchon ſo viel gehoͤrt hatte. Nichts wasFlorentin. I. 24370an Menſchen und Menſchenwerk erinnert, war ſeiner Seele dabey gegenwaͤrtig, nie hatte er die Goͤttlichkeit der Muſik ſo verſtanden, als vor dieſem Angeſicht.

Die Sonne warf im Unterſinken noch einen blendenden Strahl durch die hohen Fenſter, die weißen Kerzen ſchimmerten blaß hindurch, alle Gegenſtaͤnde lenchteten auf eine ſeltſame Weiſe, und bewegten ſich wie Geiſter. Der Strahl fiel gerade auf das Geſicht der heiligen Caͤcilia; Farben und Zuͤge waren verſchwun - den, es war nur ein blendender Glanz; Floren - tin haͤtte in die Knie ſinken moͤgen vor dieſer Herrlichkeit.

Die Betenden ſtanden auf; zuletzt erhob ſich langſam von den Stufen des Altars die Graͤfin Clementine. Es war eine edle ſchlan - ke Geſtalt, etwas uͤber die gewoͤhnliche Groͤße. Ein ſchwarzes glaͤnzendes Kleid floß in rei - chen Falten bis zu ihren Fuͤßen herab, und bedeckte die Arme bis zur weißen, feinen Hand. Auf der linken Seite trug ſie ein Kreuz von Diamanten; ein langer ſchwarzer Schleyer verhuͤllte Kopf und Haare, ſo daß371 man nur die erhabene Haltung wahrnehmen konnte, auch das Geſicht war ganz davon verdeckt; in der einen Hand, die ſich auf Betty ſtuͤtzte, hielt ſie ein weißes Tuch, die andre trug herabhaͤngend eine Rolle. So wankte ſie, ſichtbar ermattet, vor Florentin voruͤber, ohne ihn wahrzunehmen, ihre Au - gen blieben feſt am Boden geheftet. Neben dem Monument war ein halbvergitterter Sitz〈…〉〈…〉 dort ſetzte ſie ſich; Betty und einige junge Maͤdchen, die ihr gefolgt waren, bemuͤhten ſich geſchaͤftig um ſie her; dieſe entfernten ſich, und Clementine blieb allein. Sie hatte ihren Schleyer aufgeſchlagen, und ſah die Blaͤtter durch, die nun aufgerollt vor ihr lagen. Jhr Geſicht zeigte mehr als Reſte ehmallger erhabener Schoͤnheit; die Zuͤge ſtanden im reinſten, edelſten Verhaͤltniß, aber eine Marmorblaͤſſe bedeckte ſie. Waren ihre Augen unter den ſchoͤngewoͤlbten Liedern ge - ſenkt, ſo ſchien ſie mit der leuchtenden Stirn, den bleichen, mit den Spuren des Grams nur leicht gezeichneten Wangen, und den fei - nen, feſt geſchloßnen, farbloſen Lippen, nicht(24) 〈…〉〈…〉372mehr dem Leben dieſer Erde zu gehoͤren. Aus dieſen Zuͤgen ſchien das Leben entwichen und ganz nach den großen Augen entflohen zu ſeyn, die in ihrem ſchwarzen naͤchtlichen Glanze, wenn ſie ſie langſam erhob, wie einſame Sterne durch den umwoͤlkten Himmel funkelten.

Florentin konnte die ſeinigen nicht von ihr abwenden, ſie bemerkte ihn aber nicht, war auch uͤberhaupt bloß mit den Blaͤttern beſchaͤf - tigt und ſah ſich nach niemand um. Jndem er ſie aber immer ſchaͤrfer anſah, duͤnkten ihm ihre Zuͤge je laͤnger je mehr bekannt. Die Sce - nen ſeiner Kindheit wurden wieder lebendig vor ihm; die Erinnerung an Manfredi draͤngte ſich ihm beſonders wieder auf, und alle Begeben - heiten jener Zeit.

Nach einer kurzen feyerlichen Stille erſchol - len wie vom Himmel nieder die Stimmen der unſichtbaren Saͤnger! Begleitet von den Toͤ - nen der allmaͤchtigen Orgel, ſchwoll der Geſang des heiligen Chorals in tief ausſtroͤmenden Ac - centen, waͤlzte ſich an der hohen Kuppel hinauf, und zog die Andacht des tiefſten Herzens wie in einer Weihrauchſaͤule mit ſich zum Himmel373 auf. Wie zum erſten Male hoͤrte Florentin dieſe himmliſche Muſik wieder, die er in ſeiner Jugend ſo oft gehoͤrt zu haben ſich erinnerte. Niemals hatte er aber ſich ſo davon durchdrun - gen gefuͤhlt als jetzt. Er wußte nicht, ward ſie hier vollkommner noch ausgefuͤhrt, oder war ſein Gemuͤth empfaͤnglicher dafuͤr geworden?

Der ſchwebende Nachhall des Chorals er - ſtarb in einen leiſen Hauch; da erſcholl die Po - ſaune durch Herz und Gebein rufend, und nun begonnen die Choͤre bald abwechfelnd ſich ein - ander antwortend, bald vereinigt vom Aufruf einer einzelnen Stimme geweckt, zur maͤchti - gen, alles mit ſich fortreiſſenden Fuge anzu - wachſen, bis Himmel und Erde in den ewigen, immer lauter werdenden Wirbel mit einzuſtim - men ſchienen, und alles wankte und bebte und zufammen zu ſtuͤrzen drohte. Die Bruſt des Knaben auf dem Sarkophag ſchien ſich vom gewaltigen Geſange zu heben; ſtaunend erwar - tete Florentin, er wuͤrde ſich aufrichten und ſeine Stimme mit einmiſchen in die Stimme der ganzen Welt fuͤr die Ruhe der Seelen, und mit der heiligen Caͤcilia, die ihre Lippen zu oͤff -374 nen ſchien, beten fuͤr die Erloͤſung der Buͤſ - ſenden.

Clementine war wie in Entzuͤckung geho - ben; ihre Augen ruhten entweder auf der Rolle, die ſie raſch umblaͤtterte, oder ſie wendete ſie glaͤnzend freudig in die Gegend, wo die Stim - men der Saͤnger herabkamen; dann ruhte ſie wieder wie verloren in ſich ſelbſt, ſanfte Thraͤ - nen gleiteten langſam uͤber das heilige Geſicht herab, die ſie weder zu hemmen noch zu ver - bergen bedacht war.

Florentin war aus der Menge ihr gegenuͤber getreten, um ſie genau mit der heiligen Caͤci - lia vergleichen zu koͤnnen, zu der ſie in ihrer Begeiſtrung ein wahrhaftes Urbild war. Die Muſik war beinah zu Ende; zu Anfang des herrlichen ſanft aushauchenden Schlußchors kam Betty wieder zu Clementinen, die ihr einige freundliche Worte ſagte. Betty ſah ſich hierauf in der Verſammlung umher; da ſie Florentin erblickte, gruͤßte ſie ihn freundlich. Clementine ſchien ſie etwas zu fragen, worauf jene eine bezeichnende Bewegung mit der Hand machte, gegen Florentin. Clementine ſtand auf und375 ſuchte ihn mit den Augen; zufaͤllig wichen einige vor ihm ſtehende zuruͤck, ſo daß er deutlich vor ihr ſtand. Einige Augenblicke blieb ſie, weit hervor ſich beugend, in derſel - ben Stellung, ihre Augen feſt mit ſichtbarem Erſtaunen auf ihn geheftet; eine ſchnelle Roͤ - the uͤberflog den Marmor ihres Geſichts, dann erblaßte ſie wieder, ihre Augen ſchloſſen ſich, und ſie ſank ohnmaͤchtig zuruͤck. Betty faßte ſie in ihre Arme, einige andre eitten ihr zur Huͤlfe, ſie wurde hinaus getragen, Betty folgte. Bald darauf war auch die Muſik ge - endigt, deren Schluß Florentin nicht vernom - men hatte. Betaͤubt eilte er hinaus und in den Garten.

Der Abend ſenkte ſich daͤmmernd nieder. Der große Garten war voller Menſchen. Froͤh - liches Lachen und muntere Geſpraͤche ertoͤnten von allen Seiten. Auf dem Raſen tummelten ſich liebliche Kinder; hier ſaß eine Gruppe, die zu einer Guitarre ſang; dort waren andre um eine Flaſche Wein verſammelt. Auf den ver - ſteckteren Plaͤtzen im dichteren Gebuͤſch wandel - en liebende Paare in ſuͤßer Vertraulichkeit;376 der ganze Garten war ein froͤhliches liebliches Bild eines kummerfreyen vergnuͤgten Lebens, fuͤr jedes Alter und jedes Gemuͤth.

Jn einer andern Stimmung waͤre Floren - tin dieſer Anblick hoͤchſt erquickend geweſen; jetzt ſuchte er aber einen einſamen Ort, um ſich zu ſammeln; er war unruhig und zerſtreut. Warum, dachte er, warum iſt dieſe Clemen - tine und alles was ſie umgiebt, grade mir wie eine Erſcheinung, da ſie doch unter den uͤbrigen Menſchen wie eine laͤngſt bekannte Mitbuͤrge - rin wandelt? warum wird jede ferne Erinne - rung wieder wach in mir? was thut ſich die Vergangenheit, dies laͤngſt verdeckte Grab, ge - gen mich auf? warum kann ich nicht mit den andern des gegenwaͤrtigen Augenblicks froh werden? Er ſuchte endlich dem Eindrucke der Muſik die Unruhe zuzuſchreiben, die immer noch in ſeiner Seele wiederhallte.

Aus dem geoͤffneten Gartenſaal kam ihm der Doktor entgegen. Die Graͤfin iſt erſt jetzt wieder zu ſich ſelbſt gekommen, ſagte er, und iſt noch ſehr ermattet. Die Anſtrengung war zu groß fuͤr ſie. Da ihr jede Bewegung377 und auch das Sprechen unterſagt iſt, ſo hat ſie mir aufgetragen, ſie bey Jhnen zu entſchuldi - gen, daß ſie nicht zur Geſellſchaft herunter koͤmmt; ſie iſt heute nicht im Stande, Sie zu ſehen, ſie hofft, Sie wuͤrden noch einige Tage laͤnger hier verweilen. Hier kamen Betty, der Rittmeiſter und noch einige andre zu ihnen. Der Doktor entfernte ſich, die Graͤfin hatte ihn zu ſprechen verlangt.

Dem Rittmeiſter ſchien ſein Verſprechen, ſich geſitteter gegen Florentin zu betragen, ent - weder zu reuen, oder unmoͤglich zu halten, er war widerwaͤrtiger als jemals gegen ihn. Waͤh - rend Betty zu erwarten ſchien, daß es zwiſchen ihnen zu einem Geſpraͤch kommen ſollte, fing der Rittmeiſter an in ſeiner gewoͤhnlichen Ma - nier Florentin um ſeine Uniform zu befragen; dieſer antwortete kurz ab, mit ſichtbarer Ver - achtung. Endlich ſtand Walter auf und ging mit den andern in eine Ecke des Saals, wo er auf eine beleidigende Weiſe bald halb laut mit ihnen fluͤſterte, dann uͤberlaut lachte. Die arme Betty war wie auf Kohlen. Jch kenne Sie heute gar nicht, ſagte ſie leiſe zu Flo -378 rentin, wie zeigen Sie ſich ſo widerſpaͤnſtig? Das nicht, ſagte er, aber auf der Folter bin ich; dieſer Walter und ich ſind nothwendig Feinde. Auch weiß ich ſelbſt nicht, wie ich ver - ſtimmt bin; erſt die Muſik Sie ſcheint Jhnen alſo keinen angenehmen Eindruck ge - macht zu haben? fragte ſie, ihn laut unterbre - chend. Sie mißverſtehen mich, Betty! Er ſuchte die unangenehme, druͤckende Gegen - wart der uͤbrigen zu vergeſſen, und erzaͤhlte ihr ganz ſo, wie er es fuͤhlte, und als ob er allein von ihr gehoͤrt wuͤrde, den Eindruck, den die erhabene Muſik auf ihn gemacht hatte. Fragen Sie mich um keine einzelne Stelle, fuhr er fort, deren entſinne ich mich keiner ein - zigen; aber mein Gemuͤth war geloͤſt von allem Kummer dieſes Lebens. Wie auf Engelſchwin - gen fuͤhlt ich mich durch die allmaͤchtigen Toͤne der Erde entnommen und ſah eine neue Welt ſich vor meinen Augen aufthun. Walter kam hier wieder zu ihnen und ſtoͤrte die Unter - redung und Florentins Begeiſtrung. Man ſprach von andern Dingen, und zuletzt vom Monument in der Kapelle. Florentin erkun -379 digte ſich nach der Veranlaſſung. Die Tante, ſagte Betty, hat es, ſo viel ich weiß, nach ihrer Angabe fuͤr ſich verfertigen laſſen, das iſt aber ſchon ſehr lange her, vielleicht noch eh ich geboren ward. Es iſt ihr heilig, eine naͤhere Veranlaſſung hat ſie aber keinem von uns mitgetheilt. Schade nur, rief der Rittmeiſter, daß die ganze Stadt von dem hei - ligen Geheimniß ſehr wohl unterrichtet iſt. Jch weiß nicht, was Sie damit ſagen wollen? ſagte Betty ſchuͤchtern. Wie ſollten Sie das wiſſen koͤnnen, Liebe? erwiederte er; es iſt ja auch ſchon, wie Sie ſelber bemerkten, eine ſehr alte Geſchichte. Betty ſchien aufge - bracht und verlegen wegen dieſer Ausfaͤlle. Sie iſt gerettet, dachte Florentin, wenn ſie erſt zum deutlichen Gefuͤhl, ſich ſeiner zu ſchaͤmen, zu bringen iſt! Er fragte nun abſichtlich nach manchen Dingen, die ſie intereſſiren muß - ten und ließ ſich geduldig vom Rittmeiſter, durch boshafte, witzig ſeyn ſollende Anmerkun - gen, haͤmiſche Verdrehungen und unmaͤßiges Lachen unterbrechen. Jhm war es recht, je mehr jener ſich ſelbſt herabſetzte. Betty ſprang380 endlich ungeduldig auf, nahm Florentin am Arm, und lief nach den Garten hinaus; die uͤbrigen folgten, Walter mit ſichtbarem Grimm.

Es war ſtiller in dem Garten geworden, nur einzelne Perſonen wandelten in der Entfer - nung in den hohen Gaͤngen, bis auch dieſe ſich allmaͤhlich verloren. Sie ſtiegen eine Ter - raſſe hinauf, die mit hohen Baͤumen beſetzt war, und dem Hauſe gegenuͤber den Garten am Ufer des Sees begrenzten. Jn der Mitte der Terraſſe ſtand ein kleiner runder Tempel auf weißen Marmorſaͤulen mit Roſen - und Jas - minbuͤſchen umgeben. Von hier hatte man die freye Ausſicht uͤber den jenſeits liegenden, be - kannten See, mit ſeinem Kranz von wohlthaͤti - gen Pflanzungen. Daruͤber hinaus ging der Blick in weite Ferne, bis dunkel am Horizont das blaͤuliche Gebirge ihn begraͤnzte. Der Mond ſtieg eben herauf, und ſchien eine hoch - rothe verzehrende Flamme durch die fernen Duͤnſte, bis er ſich ploͤtzlich voͤllig hinauf ge - ſchwungen hatte, und rein und ſilberhell ſeine Bahn betrat.

Tief im Herzen ward nun Florentin die381 Gegenwart der rohen Geſellen zuwider. An - fangs war er zwar Willens geweſen, ſich mit ihnen zu beluſtigen, aber er war es nicht im Stande. Jm Freyen, in einer ſchoͤnen Ge - gend, duͤnkten ihm verhaßte Perſonen noch ver - haßter als im Zimmer.

Er erkundigte ſich bey Betty, ob der Gar - ten immer, ſo wie heute, fuͤr jedermann frey waͤre? Jmmer, ſagte ſie; hier iſt der be - liebteſte, beſuchteſte Spaziergang der Einwoh - ner, und der liebſte Spielplatz der Kinder. Man koͤmmt und geht, wenn man will, und jeder genießt der unumſchraͤnkteſten Freyheit. Einer von den Begleitern bezeigte ſeine Ver - wunderung, daß die Graͤfin weder Beſchaͤdi - gung noch Unordnung befuͤrchte bey dieſer allge - meinen Freyheit. Mißbrauch der Freyheit, ſagt die Tante, iſt bey weitem nicht ſo ſehr zu befuͤrchten, als Schadloshaltung fuͤr den Zwang! Sey es nun dies oder die allgemeine Achtung und Liebe fuͤr ſie, kurz es iſt noch niemals et - was verdruͤßliches vorgefallen, ſo viel ich weiß. Es koͤmmt darauf an, fuhr Walter wieder dazwiſchen, was man ſo dafuͤr annehmenFlorentin I. 25382will oder nicht, gegen gewiſſe Dinge dieſer Art iſt man auch ziemlich nachſichtsvoll. Jſt denn, fing Florentin wieder an, der Graͤfin die Menge niemals laͤſtig? ſehnt ſie ſich nie - mals nach einer einſamen Stille? Jm Garten, daͤchte ich, muͤßte man dieſe gern ſuchen. Nein, ſie liebt es, grade hier viel froͤhliche Menſchen zu ſehen und zu begegnen. Recht einſam, ſagt ſie, bin ich doch nur in meinem Zimmer; die Haͤuſer ſind urſpruͤnglich erfunden, ſich von den andern abzuſondern. Was mich im Freyen umgiebt, was ich dort ſehe und em - pfinde, laͤßt mich von ſelbſt nicht einſam ſeyn. Der Aufenthalt im Freyen, ſagte ſie auch ein - mal, haͤtte fuͤr ſie eine gewiſſe Zauberkraft; die Geliebten ſtehen ihr hier naͤher und die Be - ſchwerlichen entfernter. Das heißt, unter - brach ſie der Rittmeiſter: die alte Dame braucht Geſellſchaft. Sie ſelber hat weder zu verlieren noch zu fuͤrchten, wenn der Garten von Men - ſchen allerley Art wimmelt, und fuͤr die jungen Damen im Gefolg iſt es ſehr erwuͤnſcht. O Walter! Sie wiſſen nicht was Sie ſprechen, rief Betty aus. O Betty! rief er, ſie pa -383 rodirend, Sie werden nie die Augen oͤffnen! Betty verbarg ihre hervorſtroͤmenden Thraͤnen in ihrem Tuche; und ſchluchzte endlich laut, da er nicht aufhoͤrte, ſie zu aͤrgern. Florentin ward dies zu viel, er verwies ihm mit Maͤßi - gung ſein Betragen; Walter aber, der es nur zu erwarten geſchienen, daß dieſer ſich mit ein - miſchen ſollte, fragte ihn mit trotzigem Hohn: Ob die irrende Ritterſchaft wieder erſtanden ſey, den beleidigten Jungfrauen Schutz zu ge - waͤhren? So kam es zu beleidigenden Reden und Antworten hin und her, denn Flo - rentin hielt ſich laͤnger nicht. Bis zur Wuth ge - reizt zog Walter den Degen, und rief jenem zu, ſich zu vertheidigen. Betty ſchrie laut auf vor Entſetzen. Nicht hier, Herr Rittmeiſter, ſagte Florentin; Sie vergeſſen, was Sie die - ſem Orte ſchuldig ſind! Kommen Sie, Fraͤu - lein, ich fuͤhre Sie nach dem Hauſe; Sie, Herr Rittmeiſter, erwarten morgen fruͤh Nach - richt von mir. Nicht hier von der Stelle, feiger Schurke! rief der tolle Walter, nicht von der Stelle! ich laſſe hier mein Leben, oder Den andern, die ihn zuruͤck zu hal -(25) 2384ten ſuchten, befahl er drohend, ſich ruhig zu verhalten, und ſo drang er voll Wuth auf Flo - rentin ein, dieſer mußte ſich zur Wehr ſetzen. Nach einigen Gaͤngen, da Walter trotz ſeiner uͤberlegenen Staͤrke, im Nachtheil gegen Flo - rentins Gewandtheit kam, der ſich geſchickt und gelaſſen bloß vertheidigte, fuͤhrte er mit haͤmi - ſcher Wuth einen Streich gegen das Geſicht ſeines Gegners, der, wenn er ihm gelungen waͤre, ihn auf’s Leben ungluͤcklich gemacht haͤtte. Bube! rief Florentin, dem die bos - hafte Abſicht nicht entging; und im Moment hatte er durch eine kuͤhne, geſchickte Wendung ihm den Degen aus der Hand gewunden und in Stuͤcken gebrochen zu ſeinen Fuͤßen ge - worfen.

Betty war, ſobald der Kampf begann, nach dem Hauſe zuruͤck mehr geflogen als gelaufen, unaufhoͤrlich nach Huͤlfe rufend. Durch den Garten kam ſie, ohne jemand zu begegnen; die Bediente, die ſie unten im Hauſe fand, liefen ſogleich, ohne zu wiſſen, was ſich zutruͤ - ge, ihrer Bezeichnung nach, in den Garten. Unaufgehalten flog ſie die Treppe hinauf, und385 ſtuͤrzte, immer noch nach Huͤlfe rufend, bleich, athemlos, mit herunterhaͤngenden Haaren, in Clementinens Zimmer, die eben eingeſchlum - mert war. Der Doktor ſaß leſend in einer Ecke des Zimmers. Clementine fuhr erſchro - cken auf, der Doktor eilte herzu, Betty ſank ohnmaͤchtig an Clementinens Ruhbett nieder. Jm Tempel im Garten rief ſie, als ſie wieder zu ſich kam, mehr brachte man nicht von ihr heraus, ihre Sinne waren wie verwirrt vom Entſetzen. Eilen Sie hin, lieber Freund, ſagte Clementine; ſehen Sie ſelbſt nach, was dem unbeſonnenen Kinde widerfahren ſeyn mag. Walter Flo - rentin rief Betty wieder, noch außer Athem. Um des Himmels Willen, rief Clementine, eilen Sie, eilen Sie.

Man hatte in der Verwirrung nicht darauf geachtet, daß ein Wagen raſſelnd vorgefahren, und ein blaſender Poſtillion gehoͤrt wurde. Jetzt oͤffnete ſich die Thuͤre; Juliane und Eduard tra - ten herein. Was iſt hier? um Gottes wil - len! rief Juliane, indem ſie bey Clementine niederkniete. Warum haben wir niemand386 im Hauſe gefunden? rief Eduard, was geht hier vor? welche Verwirrung! Der Doktor wiederholte ihnen Bettys Ausruf. Walter haben wir hier nicht weit vom Hauſe ſtehen, und mit einigen andern heftig ſprechen hoͤren; ich irre nicht, es war Walter. So iſt er nicht todt? rief Betty. Todt? Wie das? Und Florentin? fragte Clementine. Jſt Florentin noch hier? rief Eduard wieder.

Mein Kind! mein gutes Maͤdchen! ſagte Clementine, und kuͤßte die ſich feſt an ſie ſchmie - gende Juliane. Muͤßt ihr, meine Lieben, ge - rade jetzt erſcheinen O, lieber Doktor, un - terbrach Betty ſie mit Ungeduld, es koͤmmt noch niemand zuruͤck, wollen Sie nicht in den Garten gehen? auf der Terraſſe. Er ging, die andern drangen in Betty, den Vorfall zu erzaͤhlen. Es gab ein Gefecht zwiſchen den beyden, auf das uͤbrige muß ich mich erſt be - ſinnen, jetzt weiß ich nichts, gar nichts. Sie kniete neben Juliane vor Clementine nie - der, und weinte uͤber ihre dargebotene Hand. Faſſe dich nur, du heftiges Kind, ſagte Cle - mentine beruhigend, geh jetzt auf dein Zimmer,387 und verſuche es, etwas ruhiger zu werden O nein, Tante, ſchicken Sie mich nicht fort, ich kann nicht allein bleiben, ich fuͤrchte mich Die Bedienten kamen hier zuruͤck, die zuerſt auf Betty’s aͤngſtliches Huͤlferufen in den Gar - ten geeilt waren. Sie hatten den ganzen Gar - ten durchſucht und niemand gefunden, es war alles ruhig. So koͤnnen wir es ja auch wohl ſeyn fuͤrs erſte, ſagte Clementine, es wird ſich alles aufklaͤren. Und nun, meine theu - ren Gaͤſte, ſagt mir, wie kommt Jhr ſo uner - wartet, und doch ſo laͤngſt erwartet? Wir gedachten Sie eigentlich auf eine ganz andre Art zu uͤberraſchen, als es uns gelungen iſt, ſagte Juliane. Wir wollten noch zur Muſik hier ſeyn, wollten uns unbemerkt unter die Zu - hoͤrer miſchen, um zu ſehen, ob Sie uns her - aus finden wuͤrden. Es zerbrach aber etwas an unſerm Wagen, wir mußten uns einige Stunden aufhalten, die Freude war verdorben, und beym Eintritt fanden wir uus mehr uͤber - raſcht, als Sie ſelbſt. Aber, liebe Tante, wir kommen auch eigentlich mit darum, um die El - tern und die Kinder zu melden, ſie werden ge388 wiß in wenigen Stunden hier ſeyn. So muͤßt ihr mich jetzt verlaſſen, Jhr Lieben, ich muß nun zu ruhen ſuchen, um auf die Freude des morgenden Tages geſtaͤrkt zu ſeyn. Erſt Jhren Segen, Tante, eh wir Sie verlaſſen! Segen fuͤr uns! Gott ſegne meine lieben Kinder! moͤgt Jhr nie die Leiden der Liebe er - fahren! Gott ſegne Euch! Eduard war uͤber ihre Hand gebeugt, Juliane hob ihre Au - gen zum Himmel, um Erfuͤllung des ſegnenden Wunſches zu erflehen; Betty weinte, ihr Ge - ſicht mit beyden Haͤnden verdeckend.

Eduard ging dem Doktor im Garten nach; da ſie nun daſelbſt alles ſtill fanden, ſo gingen ſie von der andern Seite der Terraſſe am See hinunter, und ſuchten an dem beſtimmten Ort den Kahn, der zur Ueberfarth immer bereit war; da ſie ihn aber nicht fanden, vermutheten ſie ſogleich, daß Florentin ſich nach dem Hauſe des Doktors uͤbergeſetzt haͤtte. Sie eilten zuruͤck, ließen anſpannen, und fuhren hinaus. Flo - rentin war nirgends zu finden.

About this transcription

TextFlorentin
Author Dorothea von Schlegel
Extent400 images; 57354 tokens; 9113 types; 387563 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationFlorentin Ein Roman Dorothea von Schlegel. Friedrich Schlegel (ed.) . 388 S. BohnLübeckLeipzig1801.

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

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