PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Gemälde weiblicher Erziehung.
Zweiter Theil.
Mit einem Kupfer.
Heidelbergbei Mohr und Zimmer. 1807.
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Gemälde weiblicher Erziehung. Zweiter Theil.

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Sechs und dreißigſter Brief.

Mehrere Wochen ſchon ſind wir in unſerm klei - nen Arkadien. Jch habe unterdeſſen alle Deine Nachrichten erhalten, womit Du unſere Herzen königlich erfreut haſt. Von Platov und Wolde - mar iſt das erſte Paquet eingelaufen. Der Frühling iſt in aller ſeiner Herrlichkeit erſchienen. Millionen und abermals Millionen Blüthen be - decken alle Obſtbäume und alle Weinberge weit umher.

Die blühenden Pfirſich - und Mandelbäume glänzen wie Roſenknospen in dem großen Blü - thenkranze der Natur. Die Fruchtfelder gleichen einem ausgebreiteten Sammtteppich. Schaaren von Lerchen ſchweben und wirbeln und frohlocken drüber hin, und verlieren ſich ins unendliche Blau des überhangenden Himmels. Der Strom win -4 det ſich ſilbern durch die unabſehlichen Fruchtfelder hin. Jn ſeliger, heiterer Ruhe haben ſich die Ortſchaften an ſeinen Ufern und an den ſonnigen Bergen gelagert. Luſtige Finken rufen von allen Zweigen uns ihren Triumpf entgegen, daß der Winter dahin und vergangen iſt. Selig iſt alle Kreatur im Gefühl ihres Daſeyns. Sichtbar, ſichtbar iſt der Hauch des Ewigen! So mußt es ſeyn, als die Erde neu geſchaffen war, und der Ewige noch unter den kindlichen Menſchen in der Abendkühle wandelte. Vergehen möchte man vor Freude und vor Sehnſucht nach dem tiefen uner - ſchöpflichen Born aller Wonne und alles Lebens! Ganze Tage ziehe ich mit den Kindern umher. Bücher und alles Menſchenwerk wird dahinten ge - laſſen. Wir ſchwärmen in ſeligem Genuſſe umher. Die Kinder haſchen Schmetterlinge, ſammeln Blumen in Körben, winden Kränze und ſchmü - cken ſich unter einander. Mich haben ſie ganz ins Blumengewinde verſtrickt, und ſo bin ich verſtrickt in Freud und ſeligen Gefühlen. Emma! Emma! Wie ſelig lebt man mit Kindern ſelber ein Kind im Angeſichte der großen und herrlichen Mutter! 5Unſer Pfarrer fürchtet, die Freude werde mich auflöſen möchte ſie es! Könnte man ſeliger ſter - ben und menſchlicher, als vor Freude? Und ſind nicht dieſe Tage dem Menſchen zum Vollgenuß ſeines Daſeyns gegeben, zum Vorgefühl deſſen, was irgendwo ſeyn muß und irgend einmal heran - nahen wird des unbekannten, von jeder Men - ſchenbruſt geahnten Ziels der Sehnſucht! Wenn Du bey dieſem Briefe lächelſt, indem Du ihn vielleicht an einem grauen naßkalten Regen - tage lieſeſt, wenn Du leiſe oder gar laut im einſa - men Kabinett ſagſt: wie die liebe Tante ſchwärmt! ſo haſt Du Recht aber auch die ſchwärmende Tante hat Recht. Wenn Du aber fürchten ſollteſt, daß die Kinder ſich dabei aus Nachahmungstrieb beſtreben ſollten, mehr zu empfinden, als ſie wirk - lich empfinden, dann hätteſt Du Unrecht; doch Du weißt es auch ſchon, daß meine Gefühle ſich vor Kindern ſehr mäßig in Worten ergießen, und was unwillkürlich ausbricht, das kann nicht zur Will - kür in der Nachahmung verleiten. Fürchte nichts, meine Gute. Die Kinder ſehen mich bloß glücklich, und dieß hebt das kindliche Gemüth6 unvermerkt zu gleicher Stimmung. Sie ſind ſo ſeelenfroh mit mir, und ſchwärmen wie die Bienen unter Blumen, und ſaugen Honig aus der herr - lichen Natur. Keine hält dies Frohſeyn für etwas anders, als Naturnothwendigkeit. Und wenn jemand ihnen Schönes dafür ſagte, daß ſie einen Sinn fürs Schöne haben, das würde ihnen ſo vorkommen, als wenn man ſie wegen des Athem - holens lobte. Ueberhaupt ſind ſie der Schmeiche - lei unzugänglich, und eben deshalb der Affektation unfähig. Der Schönheitsſinn hat ſich in ihnen ſo natürlich und ohne alles Räſonnement entwi - ckelt, daß ſie ſich ſeines Werdens gar nicht bewußt worden, und er als etwas Angebornes erſcheint. Sie freuen ſich am Schönen, weil es ſchön iſt. Auch wiſſen ſie, daß dieſe Freude den Menſchen vom Thier unterſcheide, wie der Sinn fürs Gute und Große; aber ſie glauben, daß auch dieſer dem Menſchen natürlich, und nur in dieſem und dem durch Krankheit oder unglückliche Verhältniſſe ab - geſtumpft ſey.

Als ich in den erſten Morgen hier erwachte,7 ward ich auf eine gar liebe Art überraſcht. Der Pfarrer hatte nämlich in dem Fenſter meines Schreibekabinettchens, das dicht an mein Schlaf - zimmer ſtoßt, eine Aeolsharfe eingeſpannt, wo - mit er mir ein Geſchenk machte.

Jch hatte ihn gebeten, mich mit Sonnenauf - gang wecken zu laſſen. Die Fenſter gehen nach der Morgenſeite heraus. Kurz vor Sonnenauf - gang erhob ſich ein ſtarker Luftzug, der die Harfe in verſchiedenen auf einander folgenden Bewegun - gen berührte, und es entſtand dieſes Eingreifen einer Tonfolge in die andere, die von einer drit - ten und vierten eingeholt, begleitet und aufgelöſ’t ward, und mit einander in ſanftem Vergehen ver - ſchmolz ich erwachte aber die Vorempfin - dung der Töne vor dem völligen Erwachen, ver - miſcht mit den wirklich gehörten, die in manich - faltigen Modulationen immer noch fort und im - mer wieder von neuem ertönten, gaben meinem Morgentraum von einer andern Welt im ewigen Frühlingsglanze eine Dauer von mehreren Mi - nuten über den Schlaf hinaus, bis die Sonne8 ſich über dem Horizont erhoben, und ihr zerſchnit - tenes Bild durch die Sommerläden von Latten zu meinem Fenſter hinein ſchickte. Die Harfe tönte fort, die Kinder erwachten eins nach dem andern. Der Pfarrer hatte ein kleines Chor ſeiner beſten Stimmen im Orte unter unſern Fenſtern in der Laube verſammelt, er ſelber ſpielte das poſitiv im untern Zimmer, und die Knaben ſangen das Chor aus Schulz’ens Athalia: Laut durch die Welten tönt Jehova’s großer Name, ꝛc. Die Kin - der waren außer ſich, und Deine Freundin mußte ſich durch ſtilles Weinen entladen.

Wir kleideten uns ſchnell an, und flogen hinun - ter in den Saal, wo das Poſitiv ſteht. Der Pfarrer, Deborah und Betty erwarteten uns zu einem ſchönen Frübſtück, das Mutter und Tochter bereitet hatten. Der Saal war mit friſchen Krän - zen geziert. Die Sänger draußen wurden gleich - falls bewirthet, und unſere Kinder liefen hinaus, den Singvögeln Krumen unter die Bäume und auf den Raſen zu ſtreuen; dann wurden unter dem andern Fenſter, das auf den Hof ſieht, die9 Hühner verſammelt, und empfingen ihr Frühſtück zum erſten Male aus unſerer Hand. Darauf kam ein zahmes Reh, womit der Pfarrer Jda beſchenk - te, auf einen Ton, dem es immer folgt, herbei, beroch und leckte der neuen Gebieterin die Hand. Sie reichte ihm Brot, und es that ſo vertraut mit ihr, als ob es ſie ſchon lange gekannt. Auch Mathilde ſollte nicht leer ausgehen; der Pfarrer ſchenkte ihr einen ſchneeweißen Pfau, an deſſen ſtolzer Geberdung ſie große Freude hatte.

Jda und ihr Reh, das ſie Lüftchen nennt, ſind ſeitdem faſt unzertrennlich. Abends ſchließt ſie das Lüftchen in ſeine Höhle, wie ſie ſagt. Morgens läßt ſie es wieder heraus.

So wurden wir auf unſerm Sommerſitz empfan - gen. Der ganze erſte Tag war ein Feſttag. De - borah iſt ganz Liebe, ganz Ergebenheit für mich. Jhr Clärchen findet ſie ſo an Geiſt und Herzen verklärt, wie ſie ſagt, daß ſie mich dringend gebe - ten, es ferner mit uns ſeyn zu laſſen. Und wirklich entfaltet das Kind ſich herrlich, und(2)10ſeine Kernnatur gibt einen herzerfreuenden An - blick.

Das Wiederſehen am erſten Abend zwiſchen El - tern und Tochter, Schweſter und Schweſter war herzinnig. Sie konnten ſich gar nicht erſt ſatt an einander freuen. O biſt du denn wirklich meine Tochter, mein Herzblättchen? Wie du ſo groß geworden, und ſo gar hold! Und o! meine himmliſche Mutter, mein goldener Vater, laß dich nur noch einmal küſſen, und noch einmal, und noch einmal! O ich werde noch närriſch vor Freude! So ging das in einem fort. Und wie die Schweſtern ſich dann in die Arme ſanken, und Clärchen laut ſchluchzte: Nein, es iſt ja nicht auszuhalten, wie lieb ich euch alle habe, und dich, du ſtille ſüße Betty, am meiſten, nur den Vater doch noch mehr, und die Mutter wie - der noch mehr o ich weiß gar nicht was ich ſchwatze wenn ich mich nur recht ausfreuen könnte! Jda weinte vor froher Theilnahme, auch dachte ſie wohl an Dich, meine Emma, und an den Vater, an Woldemar und die kleinen un -11 bekannten Geſchwiſter: ich mochte ſie nicht fragen. Auch Mathilde nahm innigeren Antheil, als je - mals. Alle drey Kinder hatten für Betty und für Deborah allerlei gearbeitet. Von ihrem Ta - ſchengelde hatte Jda eine Parthie neuer Schul - bücher für die armen Kinder des Ortes gekauft, die ſie dem Herrn Pfarrer überlieferte. Clärchen hatte nemlich hierzu gerathen, als Jda von ihr ausforſchen wollen, welches kleine Geſchenk ihm wohl lieb ſeyn könnte.

Seit Paul todt iſt, wußte Jda noch nichts wie - der an ſeine Stelle zu ſetzen. Der gute Pfarrer nahm das ganz ſo auf, wie ich wünſchte, dankte Jda mit wenigen väterlichen Worten, und ſagte: wenn die Kinder jeßt fleißiger lernten, als ſonſt, und wohlgezogener würden, ſo wäre das zum Theil ihr Werk; denn er wolle die Bücher zu Preiſen machen, womit er Fleiß und ordentliches Betragen belohnen würde. Wie des Kindes Wangen glüheten, und wie ſie die lieben Augen ſo verſchämt niederſchlug! Von dieſem Kinde kann man ſagen: das Himmelreich iſt ſein. Jda12 trägt es in ihrem Herzen, und in dieſem Moment erſchien es ſichtbar auf ihrem Angeſicht.

Jetzt werden die Mädchen alle drey wieder einen Curſus in der Naturgeſchichte bei dem Pfarrer anfangen. Der Muſikmeiſter kömmt wöchentlich einmal aus der Stadt. Botaniſirt wird auf allen Spaziergängen. Unſere poetiſche Stunde wird meiſtens im Garten oder auch im nahen Wäldchen gehalten werden. Auch hat jedes Kind ſein eige - nes Gärtchen zum Bearbeiten.

Jetzt kannſt Du Dir unſere Lebensweiſe denken. Auch korrespondiren die Kinder alle drey mit Woldemar, und ſo üben ſie ſich im Briefſchreiben auf die natürlichſte Weiſe. Jch ſehe ihre Brief - lein durch, mache ſie auf die kleinen Fehler in Sprache und Ausdruck aufmerkſam, und lerne ſo ihre Vorſteliungsarten ſammt ihrem Ausdruck genau kennen. Sehr intereſſant iſt es mir oft, die Bemerkungen dieſer drei Kinder über einen und denſelben Gegenſtand zu leſen. Wie ſo an - ders oft eine jede dieſelbe Sache, den nemlichen Vorgang auffaßt, und wiedergibt.

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Du wirſt eine wahre Freude haben, wenn Du der Kinder Briefe an den Woldemar einſt ſiehſt. Jda’s erſter Brief von hier aus lautet ſo:

Woldemar, Du beſter Woldemar, wir ſind wieder hier bei unſern herrlichen Willichs. Und der Pfarrer hat Jda wieder lieb, und Frau Pfar - rerin Deborah hat Jda auch wieder lieb. Wenn wir hier ſind, ſo kann ich es nicht begreifen, wie man es in der Stadt nur aushalten mag. Oft denke ich, wir ſind hier allzuglücklich. Und Clärchen nun vollends, die meynt, es müſſe irgend ein Un - glück drein kommen, weil man es ſo doch nicht lange aushalten könne. Und Betty iſt recht ſchön geworden, oft ſieht ſie aus, wie ein gemalter En - gel. Jch habe einmal einen geſehen, der ſo glück - lich ausſah, und ſo fromm, er hält einen Palm - zweig in der Hand, und ſagt einer ſchönen Jung - frau, daß Gott ſie ſehr beſonders lieb habe. Ge - rade ſo kann Betty bisweilen ausſehen. Aber hier ſehen die Menſchen alle ſchöner aus als in der Stadt. Und Du, lieber Woldemar, biſt Du denn auch recht vergnügt? Wenn Du wieder14 kommſt, wirſt Du uns ſo viel erzählen können. Und Herr von Platov noch mehr. Aber ich möch - te doch nicht mit euch reiſen. Es iſt hier gar zu ſchön. Jch habe auch ein liebes Reh, das ſo flink iſt, und Lüftchen heißt. Und Mathilde hat einen Pfau, der iſt ganz weiß, und hat einen langen langen Schweif, und wenn ſie Alba ruft, ſo kommt er geflogen. Mathilde und Clärchen haben Dich ſehr lieb; oft zanken ſie, wer von ihnen Dich am liebſten hat, und dann muß ich lachen; denn kei - ner kann es ja wiſſen, wie der andere lieb hat, nur das weiß ich, daß kein Menſch Woldemar ſo lieb haben kann, wie Jda. Was wir hier alles lernen, das will Clärchen Dir ſchreiben: ich habe es ihr verſprechen müſſen, daß ich es nicht thun will. Mathilde ſchreibt Dir einen langen Brief: ſie will mir nicht ſagen, wovon ſie Dir ſchreibt. Bringe mir ja auch ſchöne Bilder mit, wenn Du wieder kommſt, den Joſeph, den die böſen Brüder verkauften, und der ſo kläglich bittet. Nicht wahr, Woldemar, Du würdeſt Dein Schweſterchen nicht verkaufen?

Ach ich möchte Dir noch ſo viel ſchreiben: aber15 ich will lieber aufhören; wenn ich auch noch ſo viel ſchreibe, ſo iſt es doch immer, als hätte ich Dir noch nichts geſagt, und aufhören muß man doch einmal. Adieu, lieber Woldemar! Jch laſſe den Herrn von Platov 50 Mal grüßen.

So ſchreibt die kleine Schwärmerin, und mit einer unglaublichen Leichtigkeit. Clärchen ſtudiert lang auf ihre Briefe: der Vater ſagte neulich, ſie zimmerte ſie; das ganze Weſen iſt noch immer etwas unbeholfen, dennoch ſind auch die ihrigen ſehr kindlich. Mathildens Briefe klingen ſchon hochtrabender. Jhr langer Brief an Woldemar, den ſie Jda und Clärchen nicht zeigen wollte, ent - hält eine Beſchreibung des Konzertes, und un - ſers Abſchieds aus der Stadt, und der kleinen Herreiſe und des Empfanges, alles in eine ge - wiße ſtudierte Ordnung gebracht. Auch trägt ſie ihm auf, was er dem Bruder Kornet alles ſagen ſoll, wenn er ihn beſucht, und das iſt vermuthlich der Grund, warum ſie den Brief nicht wollte ge - ſehen haben. Jch kann dies Gefühl nicht tadeln, und nahm hievon Veranlaſſung, Clärchen und Jda16 zu ſagen, wie man durch Neugierde ſich nie müſſe verleiten laſſen, ſolche Mittheilungen zu fodern, ſelbſt von Menſchen nicht, denen man gut ſey, weil es Dinge geben könne, über welche ſie nicht gern ſprechen möchten, weil ſie andere Menſchen beträfen, denen man Verſch wiegenheit ſchuldig ſey, wie Mathilde ihrem Bruder. Beide Kinder begreifen das beſſer, als ich vermuthet. Beide ſagten: nun wollen wir auch die arme Mathilde gewiß nie wieder plagen, uns ihre Briefe mitzu - theilen. Für heute laß mich enden; denn Jda ſagt: aufhören muß man doch einmal. Erfreue uns bald mit Nachrichten aus dem jetzt ſo wer - then Norden. O wie haben die Kinder den Brief - boten ſo lieb!

Sieben und dreißigſter Brief.

Zu dem ſchönſten Gewinn, den unſere Kinder vom Landleben haben, rechne ich beſonders die Entwickelung des religiöſen Sinnes in ihnen. Nicht bloß die reine Stille unſeres Lebens im An - geſicht der ſchönſten Natur, iſt ihnen auch in17 dieſer Rückſicht ſo ſehr gedeihlich; auch das Leben mit unſern frommen Pfarrersleuten, und die Art der Sonntagsfeier helfen mir bewirken, oder be - wirken vielmehr faſt ohne mein Zuthun, was ohnedies nicht methodiſch in den Kinderſeelen her - vor zu bringen ſteht. Jn Jda iſt der Keim hier - zu von der Natur ſo ſchön und ſo entſchieden angelegt, daß er nur wenig Pflege bedarf, um ſich auf das ſchönſte zu entfalten. Man könnte ſagen, die ganze Liebenswürdigkeit dieſes glück - lich organiſirten Kindes ſey nichts weiter als Re - ligioſität. Was iſt denn dieſer zarte Schönheits - ſinn anders als Grundlage der Liebe zum herr - lichſten der Weſen? Und was iſt ihre dankbare heiße Liebe für mich anders? Und das ganze ſich vergeſſende Hingeben ihrer Selbſt, an Menſchen, die ihr groß und gut erſcheinen? und ihre hol - de Demuth, die da macht, daß ſie mit ihren Ar - beiten zurück tritt, und ſich davon ſchleicht, wenn ſie merkt, daß ſie viel beſſer gerathen ſind, als Clärchens und Mathildens? Tante Selma, ich habe dir eine wunderliche Frage zu thun ſag - te ſie neulich, als ich mit ihr ganz allein ſpazie -(3)18ren gegangen, während Clärchen und Mathilde Deborah und Betty im Hausgeſchäft halfen ich ſchäme mich faſt vor der Frage Sage ſie den - noch, liebes Kind, wenn du kannſt (Wir waren im Kornfelde:) O ich denke oft, wenn wir ſo auf dem Felde ſpazieren, oder am Ufer des Fluſſes, oder auf einem Berge, an den, der auch oft auf Bergen, in Kornfeldern und an den Ufern her umwandelte, der die Kinder ſo lieb hatte, und der ſo himmliſch gütig gegen ſie war: und da fällt mir oft die Frage aufs Herz, ob er mich auch wohl lieb haben könnte, wenn er jetzt auf Erden lebte? und ob er mich auch geſegnet haben würde, als ich noch klein war? Gewiß hätte er dich an ſein Herz gedrückt und geſegnet, als du noch klein wareſt, und gewiß würde er dich jetzt lieben, und dir ein Plätzchen in ſeinem Himmelreiche zu - ſichern, in ſeines Vaters Hauſe, wo ſo viele Woh - nungen ſind. So lange dein Herz rein bleibt, kannſt du deſſen gewiß ſeyn.

Jda. Und dann zürne nicht, liebſte Tante möcht ich auch wohl wiſſen, ob ich ſeine Maria oder ſeine Martha geweſen wäre, wenn mein Bruder19 Lazarus, und ſein Freund geweſen wäre? Jch weiß nicht, warum ich viel lieber Maria ſeyn möchte, als Martha. Martha war doch ſo brav, und hatte ihn gewiß auch recht lieb. Wa - rum muß ich denn die Maria ſo viel lieber haben?

Jch. Die beſten Frauen vereinen Maria und Martha in ſich. Der Menſch iſt nicht ganz Geiſt und Seele, er iſt auch Körper, und ſoll für beide ſorgen. Aber die geſchäftige Martha ſoll die ſtille horchende Maria in uns mit ihrer Geſchäftigkeit nicht übertäuben, noch weniger den frommen Sinn ſtrafen, wie das auch ihr Herr und Mei - ſter jener Martha ſagt. Jetzt waren wir Marien, nun gehen wir nach Haus zur Frau Deborah und ſehen, ob wir auch helfen können; auch du, mein beſtes Kind, mußt häuslich werden, wie es die gute Clara und Betty ſind.

Jda. O du liebe Tante, biſt ſo gütig: ich darf doch recht oft fragen, wenn mir ſo etwas in den Sinn kommt, das ich niemand ſagen mag, außer dir? Jch möchte dich ſo manches fragen; aber mir fehlen oft die Worte dazu.

Jch. Gewiß, du darfſt. Jch will dir alles be -20 antworten, was ich kann. Theile mir immer alle Regungen deines Herzens mit.

Jda. Jch werde dich noch ſehr vieles fragen müſſen. Je öfter du mit mir ſprichſt, je mehr Fra - gen habe ich, je mehr wünſche ich zu wiſſen, und doch verſtehe ich dich faſt immer, wenn auch nicht im erſten Augenblick. Oft wenn ich ganz allein im Garten bin, verſtehe ich auf einmal alles, was du mir zuvor geſagt, wenn ich dann wieder nachdenke, was ich Anfangs nicht begriff.

Jch. Komm du zu mir, ſo oft du mich allein ſiehſt, auch wann ich ſchreibe oder leſe, ich will jedesmal abbrechen, wenn ich kann, und kann ich das nicht, dann ſpart mein gutes Kind die Frage auf. Auch würdeſt du wohl thun, deine Fragen bisweilen aufzuſchreiben, beſonders wenn ſie Dinge betreffen, die mehr den Verſtand an - gehen.

Jda. O Tante, ich möchte ſo gern recht viel wiſſen, und recht klug ſeyn, dann, däucht mir, müßte ich auch recht gut werden: iſt es nicht ſo, Tante? Muß man nicht immer beſſer werden, ſo wie man verſtändiger wird?

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Jch. So ſollte es ſeyn, liebſte Jda. Jn der Welt iſt es nicht mehr ſo.

Jda. Lehre mich nur recht viel, gute Tante, deine Jda wird gewiß brav, wenn ſie verſtändig iſt. Als der Herr Pfarrer letzten Sonntag über die Worte predigte, daß, Chriſtum lieb haben, beſſer ſey, als alles wiſſen: da habe ich ihn ſehr gut verſtanden, und mir das recht gemerkt, daß nicht Wiſſen an ſich unnütz ſey, ſondern nur die unrechte Anwendung das Wiſſen unnütz und oft ſchädlich mache; und da ſagte er, ein frommes kindliches einfältiges Herz voll Liebe ſey viel beſ - ſer, als alles Wiſſen eines harten liebloſen Men - ſchen. Wer aber ſeinen Geiſt mit ſchönen und heilſamen Kenntniſſen ausſchmücke, und dabei ein Herz voll warmer Liebe habe, der ſey der würdigſte o Tante, da mußt ich immer fort an dich denken. Du weißt ſo viel, und biſt ſo hold und ſo lieb könnt ich doch werden, wie du biſt!

Jch drückte die kleine Schwätzerin an mein Herz, und es rollte eine Thräne über des Kindes Stirne herab. Sanft lenkt ich ſie nun ab von22 dem allzuerweichenden Geſpräch. Auch wird dies wenige hinlänglich ſeyn, dich tief in deines Kin - des Herz blicken zu laſſen.

Auch Mathilde iſt, ſeit wir hier ſind, ſehr viel anders. Mit großer Freude folgt ſie mir, wenn ich ſie Sonntags mit zur Kirche nehme; und der gute Pfarrer nimmt nicht ſelten Rückſicht auf un - ſere Kinder.

Alle drei freuen ſich, wenn ſie Sonntag Mor - gen läuten hören. Gewöhnlich gehen wir zuvor in den großen Tempel, den der Spätſommer oft ſo hell und herrlich über uns wölbt. Wer Kin - derſeelen bilden will, wer ihnen die ſchönſte Ent - wickelung geben will: o der verſäume nicht, ſo oft es ihm geſtattet wird, die ſchöne Jahreszeit wenigſtens mit ihnen im Angeſicht der großen freien Natur zu verleben.

Freilich iſt die ſchöne Entwickelung daran nicht gebunden: aber wem dieſes Mittel vergönnt wird, der verſchmähe es nicht.

Laßt eure Kinder, wenn ſie euch werth ſind,23 nicht ſchon früh von den Erbärmlichkeiten der Konvenienz in den reinſten Genüſſen beſchränkt werden: laßt, o laßt ſie Kinder ſeyn, damit ſie Menſchen werden mögen, und laßt ſie der Mor - genröthe des Lebens ſich ungeſtört freuen, damit ſie dieſen einen Theil ihres Lebens wenigſtens ge - noſſen haben, wenn das Schickſal ihnen auch den Reſt mit bitteren Erfahrungen miſchen ſollte!

Meine Jugend war nicht froh: o könnte ich wie - der Kind ſeyn wie Jda, und glücklich ſeyn, wie ſie! Darbend an aller Nahrung, die mein raſcher Geiſt und mein glühendes Herz begehrten, ſchmach - tete ich meine Kindheit in einem engen Bezirke dahin. Tauſend Fragen arbeiteten in meiner Seele, für die ich keine Worte hatte, ſie darein zu kleiden, und hätte ich ſie ausſprechen können: ſo war kein Ohr dafür in meiner Nähe! Da wollt ich zu den Büchern und ſie fragen: aber ſie gaben dem noch unmündigen Geiſte keine Antwort. Da wollt ich zur herrlichen Mutter, daß ſie mich auf - nähme an ihr Herz: aber den Himmel voll Ster - ne begränzten hohe Mauern, und Mauern ſchie -24 den das Auge von der Erde und ihrem Grün. O ich habe eine traurige Kindheit verſeufzt, bis in mein zwölftes Jahr, wo ich zum erſten Male auf’s Land kam. Und da erſt ging mir ein ande - res Leben auf. Aber dieſer eigenen verlornen Ju - gend verdanke ich das innige Erbarmen, das mich aus allen Kindern anſpricht, und daß mir keines Weſens Anſprüche heiliger vorkommen, als die eines Kindes.

Wir werden diesmal ſehr ſpät in die Stadt zu - rückkehren, und das um ſo mehr, da auch unſere beiden Verreiſ’ten vor November nicht zu uns kommen werden. Von beiden lauten die Nach - richten fortwährend ſehr vergnügt, wie Du aus den Beilagen ſehen wirſt. Was machen Virgi - nia und Kathinka? Wie lebt unſere treue Ger - trud? Jch grüße die Gute gar herzlich. Jch küſſe die beiden Engel, die ſie Dir pflegen hilft.

Lebe wohl, Emma!

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Acht und dreißigſter Brief.

Emma, geliebte Emma! welch ein neues Op - fer fodern das Schickſal und Dein Gatte von Dir! Alſo Petersburg verlaſſen, und nach Kon - ſtantinopel mit ihm gehen ſollſt Du, ohne Deine Kinder in Deutſchland wieder zu ſehen? Das iſt ſehr hart! Sage Deinem Gemahl, daß ich be - reit ſey, Dir Jda und Mathilde bis D… ent - gegen zu bringen, wenn er ſich dort auch nur ei - nige Tage aufhalten dürfe, damit das Mutter - herz ſich an dem Anblick des liebenswürdigſten Kindes erquicke. Auch Herr von Platov richtet ſich gewiß ſo ein, daß er und Woldemar mit euch und uns zugleich in D… eintreffen.

Und wären es nur drei Tage. Auch triumphire ich zum voraus in der Freude, daß die Kinder ein - ander ſehen. Noch weiß hier niemand etwas von meiner Jdee, als der Herr Pfarrer. Antworte mir bald. Jch richte unterdeſſen alles zur Reiſe ein, ſo daß wir jeden Augenblick einſteigen kön - nen, wenn Dein Brief es gewiß macht, daß wir(4)26euch in D… treffen ſollen. Dieſe Reiſe kann für unſere Kinder ſchon inſtruktiv werden. Auch iſt es mir lieb, daß der Weg uns wieder eine gute Strecke durch Deutſchland führen wird, und eine, die wir noch nicht bereiſ’ten. Wir richten uns ſo ein, daß wir acht Tage früher in D… ſind, als Du, damit ich Muße gewinne, den Kindern das zu zeigen, was jetzt von jenen Kunſtſchätzen Ein - druck auf ſie machen kann. Biſt Du ſelbſt erſt da, und Dein Gemahl, und die kleinen Schwe - ſtern: dann gute Nacht Merkwürdigkeiten von D…! für uns ſeyd ihr dann nicht mehr da, wir nicht für euch. Dann leben wir die wenigen Tage nur durch einander. Laß den ſchönen Traum wirklich werden!

Wie bald und wie ich es den Kindern ſage, welcher Freude wir entgegen reiſen, weiß ich noch nicht. Starke, gewaltige Erſchütterungen halte ich für weibliche Naturen zu bedenklich. Freilich können ſie auch ohne unſere Veranſtaltungen, vom Schickſal ſelbſt veranlaßt, uns treffen: aber dann mag auch das Schickſal ihre Wirkungen ver -27 antworten! Herbeiführen ſoll die Erzieherin keine ſolche Ueberraſchung, wodurch das junge Gemüth zu heftig erſchüttert werden kann. Sahe ich doch einmal ein fünfjähriges Kind zu Grunde gehen, welches man durch die plötzliche Wiederer - ſcheinung ſeiner Wärterin, die lange verreiſ’t ge - weſen war, angenehm überraſchen wollte. Das Kind liebte kräftiger, als man ihm zugetraut hatte; die Freude, und beſonders das überlaute Freudengeſchrei der guten Perſon erſchütterte das Kind ſo gewaltig, daß es die Sprache, wie den Gebrauch aller ſeiner Sinne auf der Stelle verlor, und völlig ſtupide wurde und blieb. Jch ſah es als ſechzehnjähriges Mädchen, wo es bloß noch eine ſtarke Körpermaſſe war, voll blühender Ge - ſundheit, aber ohne alle Seele. Ein anderes junges Mädchen von 15 Jahren hätte bald die frohe Ueberraſchung, die der Onkel ihr zugedacht, eben ſo ſchwer gebüßt. Wie verſteinert, faſt le - benlos ſtand ſie da, als plötzlich ihr jüngerer Bru - der vor ihr ſtand, den ſie 60 Meilen entfernt ver - muthete. Es dauerte ſehr lange, ehe ſie nur wei - nen konnte, und mehrere Wochen hindurch blieb28 ſie todtenblaß. Solche Beiſpiele, deren ich mehrere ſahe, haben mich aller ſtarken Ueberra - ſchung ſehr abgeneigt gemacht. Jch ſelbſt für meine Perſon haſſe ſie ordentlich; ſie berauben uns aller Freiheit des Gemüths, und machen die Freude zu einer rohen krampfhaften Aufwallung, zu einem Rauſch, welcher uns die Beſinnung raubt. Dieſe Freude (wenn ſolches unbehagliche Gefühl noch den Namen verdienen könnte) gränzt ſo nahe an das quälende Peinliche im Schmerz, daß ich ſie vom heftigen Schmerze nicht zu unter - ſcheiden weiß. Jch brauche lange Zeit, ehe ich aus ſo einem tumultuariſchen Zuſtande wieder zu mir komme. Und iſt nicht ein Gemüth voll hoher Ruhe das eigentliche Element der ſchönern Em - pfindungen! Großes plötzlich hereinbrechendes Unglück kann eine geſunde Seele viel leichter tra - gen. Da kommt man ſchneller zum Gefühl ſeiner Kraft. Sollte es alſo auch Deines Mannes freundlich heimliche Abſicht ſey, die Reiſe über L… zu ſtellen, und uns hier zu beſuchen: ſo bitte ich Dich, um meiner und der Kinder willen, uns das ganz beſtimmt zu melden, da -29 mit wir uns deß ſo lange als möglich vorher freuen. Sehen müſſen wir uns aber auf alle Weiſe, ehe Du ſo gar fern von uns ſcheideſt.

Du wirſt alſo dem alten Schauplatze großer Thaten und Menſchen ſehr nahe ſeyn, ihn zum Theil mit eigenen Augen ſehen: ich könnte Dich beneiden! Und doch wünſcht ich, Du bliebſt bei uns im trauten Vaterlande, und wir machten alle nur eine liebende Familie aus auf keinen Fall könnte ich mich nun von dieſen Kindern tren - nen, ehe ihre Bildung vollendet iſt. Jetzt fodert das Schickſal ſelbſt von Dir, daß Du mir dieſe ſchöne Pflicht ganz übertrageſt.

Wie herrlich wär es, wenn wir beiſammen auf dem ſchönſten Fleckchen Deutſchlandes wohnten! Doch, ſollte Dein Mann einſt nach Jtalien beru - fen werden: auch da könnten wir vereint leben.

Schreibe bald, und laß es möglich werden, daß wir in D. zuſammentreffen: ich bitte Dich. Auch kann ich es von Deinem Manne nicht anders30 glauben, als daß er es ſo oder ſo vorhabe. Tren - nen auf mehrere Jahre kann er uns nicht wollen, ehe wir uns alle noch einmal von Angeſicht geſe - hen. Sage ihm das, und daß ich ihn beſſer kennte, um ihm ſo etwas zuzutrauen. Und nun bald, bald Nachricht, Emma!

Neun und dreißigſter Brief.

O welch ein Wiederſehen und welche Trennung war das! Nein, das könnt ich nicht noch einmal haben! Jch habe mir und uns allen mehr zuge - traut, als ich Urſache hatte. Und es war Jrr - thum, daß die Freude den Schmerz überwiegen könne. Zwar ſagteſt Du, Du habeſt die erſtere um keinen Preis zu theuer erkauft aber ach! ich ſahe, wie der wüthende Schmerz Dein Herz zerriß, noch ehe der Trennungstag da war und die Kinder, ſie waren lange nachher ſich ſelbſt nicht mehr ähnlich. Lange konnten wir unſer ruhig ſchönes Lebensgleis nicht wieder finden. Nichts vermochte uns zu tröſten.

31

Auf das Land wollte ich nicht wieder zurückkeh - ren, weil die ſchlimme Jahrszeit ſchon ſo weit vorgerückt war, und um uns nicht wieder eine neue Trennung zu bereiten. Und die Stadt, wie ſchrecklich öde war ſie mir geworden! Nach und nach haben wir uns ſelbſt wieder gefunden, haben unſere Einrichtung für den Winter gemacht, und werden ſo häuslich eingezogen leben, als das in der geſelligen Stadt nur immer möglich iſt. Muſikmeiſter, Tanzmeiſter, Sprachmeiſter ſind von neuem angenommen. Und von ſchönen weib - lichen Arbeiten, Stickerei - und Strickereiarbeit u. ſ. w. ſoll eine ſtattliche kleine Werkſtätte ange - legt werden.

Die Kinder ſind ſehr eifrig auf die Stickerei. Da haben ſie neulich große Tableaux von Stickar - beit geſehen, Blumen und Fruchtſtücke, und nun ſoll daſſelbe auch ausgeführt werden. Da haben ſie vor, mir eine Platte zu einem Arbeitstiſch zu ſticken. Eine große Vaſe mit Blumen wollen ſie ſticken. Wenn ſie Abends zu Bette gehen, freuen ſie ſich ſchon auf den andern Morgen, wo32 ſie ihre luſtige Arbeit wieder anfangen dürfen. Beim Licht erlaube ich ihnen das Sticken nicht; Abends ſind ſie darüber aus, das Spinnen zu lernen. Die Jdee, für Woldemar Leinzeug zu ſpinnen, Oberhemden, Tücher u. ſ. w., macht ſie überfroh. Zwei Stunden Abends wird geſpon - nen, während deſſen leſen ſie abwechſelnd vor. Jetzt ſind es Reiſebeſchreibungen, die vorgeleſen werden. Bald erwarten wir auch unſere beiden Wanderer ins Winterquartier, die ſollen uns dann von ihren Wanderungen mündlich erzählen. Kurz, wir wollen uns den Winter auf alle Art verkürzen, auch auf die eigentlichſte, denn wir wollen im März ſchon wieder hinaus aufs Land.

Clärchen bleibt auch dieſen Winter wieder bey uns. Die Mutter meynt, nun müſſe ich des Kin - des Erziehung vollenden. Mir ſcheint es, als wäre dieſes dringende Verlangen ein Vorgefühl ihres frühen Verſchwindens, und als wiſſe ſie, daß ſie ihrem geliebten Kinde nicht viel mehr wer - de ſeyn können. Wie gern erfülle ich ihren Wunſch! Jſt mir dies gute Kind bey Jda’s Er -33 ziehung doch faſt unentbehrlich. Jda bedarf ei - ner Freundin ihres Alters, bei der ſie ihre ſchön - ſten kindlichen Gefühle niederlegen kann.

Mathilde iſt zu verſchieden von ihr, obgleich ſie ſich lieben. Unter dieſen beiden kann keine rechte Jnnigkeit entſtehen. Zwiſchen beiden aber ſteht Clärchen mitten inne, und nähert ſie beide ein - ander.

Doch laß Dich’s ja nicht reuen, daß wir Ma - thilde aufgenommen. Jda’s weiche Zartheit wird ſie nie ganz verſtehen können: aber ſie wird, was ſie nach ihren Anlagen werden kann gewiß kein gemeines Weſen; wie Du das auch ſelbſt in den wenigen Tagen wahrgenommen. Sie iſt gewiß eine der ſchönern Naturen, die nur früher in ein günſtiges Klima kommen dürfen, um ſehr vortreff - lich zu werden. Das Klima des elterlichen Hau - ſes hat ihr eine zu harte Rinde gemacht. Seit un - ſerer Reiſe nach D. haben alle drey Kinder ſchnelle Schritte aus der Kindheit heraus gethan. Es iſt, als ob beſonders bei Jda dio große Freude(5)34und der gewaltige Schmerz eine Reife bewirkt hätten, die ſonſt vielleicht ein paar Jahre noch zurückgeblieben ſeyn würde. Jch fühle, wenn ich ſie nahe bey mir habe, daß ich über ſo vieles mit ihr reden kann, und von ihr verſtanden werde.

Die Kluft zwiſchen ihr und Mathilde fühlt ſie, kann ſich’s aber nicht erklären, wodurch ſie ent - ſteht. Von Mathilde iſt es ein Zeichen wirkli - cher Gutartigkeit, daß ſie Jda’s große Vorzüge keinesweges beneidet. Wie viel mehr aber Clär - chen thut, als ſie nicht beneiden, haſt Du ſelbſt geſehen. Wenn ich Jda nicht kennte, ſagte ſie neulich zu Mathilde, ſo wüßte ich ja nicht, wie lieb und hold man ſeyn kann, auch wenn man noch ſo jung iſt.

Es iſt mir oft, als müßt ich Jda Blumen ſtreuen, wie einem Heiligenbilde; und wie ich vor zwei Jahren Abends einmal hörte, daß Jda für mich betete, da meynte ich, der ganze Him - mel ſtünde offen, und aller Segen käme auf35 mich herab. Oft muß ich weinen, wenn ich den - ke, wie ſie ſo gut iſt, daß ich es nicht auch bin. O du biſt wohl gut, Cläre, ſagte Mathilde, du biſt frömmer, als ich; aber ich bin froh, daß ich euch nur recht von Herzen gut ſeyn kann. Nicht wahr, Cläre, das iſt auch ſchon etwas von der rauhen Mathilde? ſie wird ſchon noch beſſer werden.

Anch hat Mathilde wirklich ſchon viel über ihre rauhe Natur gewonnen. Sonſt konnte ſie Jda und Clärchen oft ſehr hart anfahren; aber dieſe Härte hat ſich beſonders ſeit der Reiſe um vieles gemildert. Jedermann wendete ſich unterwegs zu Jda und Clärchen. Mathildens ſtolze Miene und ihr harter Ton entfernte die Leute von ihr. Faſt nie ſprach ein Armer ſie an, und wer irgend etwas von uns begehrte, ſelbſt unter unſern Do - meſtiken, wendete ſich immer zunächſt an Jda, die aller Welt Fürſprecherin iſt. Dies hat Mathilde von ſelbſt bemerkt, und ſelbſt den Grund gefun - den: ich brauchte zu ihren Bemerkungen nur we - nig hinzuzuthun. Deine Kälte gegen ſie ſcheint tief und ſchmerzlich auf ſie eingedrungen zu ſeyn.

36

Wann wird nun die Mama mich lieb haben können? ſagte ſie neulich, als ſie ſich eben bei mir allein ſah. Sie iſt ſo hold gegen jeden, und nur gegen mich war ſie kalt. Bin ich denn noch ſo gar ſchlecht? Nein, mein Kind, das biſt du nicht; aber dein Ton iſt noch oft rauh und hart, und da glaubt man, ſo ſey auch dein Gemüth. Oft ſcheint es auch mir (aber nur auf Augenblicke), du lieb - teſt keinen Menſchen. Und das kann mich ſehr betrüben; denn ohne Liebe iſt keine Güte.

Mathilde. Ach! Tante, in ſolchen Augen - blicken liebe ich mich ſelbſt am wenigſten; da könnt ich mich oft ſelbſt ſchlagen, daß ich ſo bin.

Jch. Nun ſah dich die Mama gerade ſo: wie konnte ſie dich denn lieben? Werde Herr über deine rauhe Art zu ſeyn, über deine unempfind - lich ſcheinende Härte, und man wird dich doppelt lieben. Lieben wird man dich um der Milde dei - nes erworbenen Charakters, und lieben wird man dich um der Kraft willen, mit der du ihn errun - gen. Wenn Kraft zur Milde geworden, ſo iſt nichts liebenswürdiger als ſie. Das laß dich trö - ſten, mein liebes Herz.

37

Mathilde. Jch will werden, beſte Tante, was ich ſeyn ſoll. Du ſollſt noch Freude an mir haben, und die Mama auch. Und wenn ſie mich dann auch nicht lieb hätte, ſo weiß ich doch, daß ich es verdiene, und daß ſie mich dann nur nicht kennt.

Jch. So iſt es recht, Mathilde. Aber Mama wird die erſte ſeyn, die dir ihre zärtliche Liebe beweiſ’t. Nun bitte ich Dich, Emma, ſende dem armen Kinde bald einen recht freundlichen Brief. Sie muß nicht ſich ohne die Liebe ihrer Wohlthäterin behelfen lernen. Deine beiden Engel haben mich im Wachen wie in Träumen bisher oft beſchäftigt. Auch an dieſen Kindern hat ſich unſere Weiſe ſchön bewährt. Sind nicht beide das Bild der Geſundheit, und beide voll aufſtrebenden Lebens? Aber an der Gertrud haſt Du auch einen unbezahlbaren Schatz. Jn ihrer Aufſicht kann nichts verſäumt, nichts verwahrloſ’t werden, da muß alles alles gedeihen. Und wie ſie Dich verſtehen gelernt hat, und doch nicht ſelbſt herrſchen und nur immer Deine folgſame andere Hand ſeyn will! Jch habe ihres Gleichen noch38 nicht geſehen. Und ſollte es denn ſo ſchwer ſeyn, ihr ähnliche Subjekte zu finden, woraus eine ſorg - ſame Mutter ſich eine helfende Pflegerin ihrer Kinder bilden könnte, die ihre Stelle vertreten, ſo oft ſie abweſend ſeyn muß, oder andere Ge - ſchäfte und andere Pflichten im Hauſe ihrer war - ten? oder während ſie krank iſt? Jch begreife nicht, wie ſo wenige unſerer jungen Mutter dar - auf fallen. Es iſt ja doch in unſern Verhältniſſen (und ich ſetze voraus in jedem) keiner Mutter, ſo lange ſie noch Gattin iſt, möglich, bloß Mutter zu ſeyn, und einzig für die Erziehung ihres Kin - des zu leben. Was aber die nachmalige Erziehung ſo ſchwer macht, und oft für Mütter allzuläſtig das iſt die frühe Verwöhnung der Kinder zu Un - arten, die ihnen hernach wieder aberzogen werden ſollen. Und wo nehmen ſie die an? meiſtens in fremder Aufſicht, die keine Autorität über ſie hat, während die Mutter ſie nicht um ſich haben kann, oder entfernt ſeyn muß. Aber in der beſtändigen Umgebung einer gutartigen, ruhig verſtändigen Perſon, die ſie achten müſſen, weil ſie eigentlich der Mutter ſchwächeres Abbild iſt, wie können ſie39 da ſchlimme Gewöhnungen annehmen? Was waren die Ammen der Alten anders, welche le - benslängliche Mitglieder des Hauſes bleiben, und eines ſo großen Anſehens darin genoßen, als ſolche Gertruden? Freilich wenn man eine ſolche Perſon ohne Autorität über die Kinder ſetzt, und ſie ſich ſelbſt keine zu geben vermag, dann iſt ihre Aufſicht eher ſchädlich als heilſam. So bald ſie in der Mutter Abweſenheit Stellvertreterin ſeyn ſoll, muß auch kein Schatten von der Dienſtmagd mehr auf ſie fallen, ſie muß von Stund an mit Achtung behandelt werden. Dies ſetzt nothwen - dig voraus, daß ſie ſie wirklich verdiene. Die Aus - führbarkeit dieſer Jdee war mir nie zweifelhaft. Noch gewißer iſt ſie mir geworden, ſeit ich Deine Gertrud wieder geſehen. Aber ſie hat auch eine ordentliche Schule bei uns gemacht. An Jda hat ſie geſehen, daß unſere Weiſe die rechte ſey. De - ſto ſicherer folgt ſie ihr nun bei den beiden Klei - nen. Und daß ſich auch dieſen Menſchen Rein - lichkeit anerziehen läßt ein Punkt den ich am meiſten bezweifelte hat ſie uns gleichfalls be - wieſen. Jhr ganzes äußeres Anſehen war jetzt40 höchſt ſauber. Und ſie erröthete ſanft, als ſie ſah, mit welchem Wohlgefallen mein Blick auf ihrer ganzen Perſon verweilte. Und wie ſich ihre Sprache ſeitdem noch ausgebildet hat! Gewiß, Du biſt recht glücklich in ihr. Aber ſo eine Per - ſon in den niedern Ständen gleich vollendet auf - ſuchen zu wollen, das wäre Thorheit. Erziehen muß man ſie ſich, oder vielmehr man muß ihr geſtatten, daß ſie ſich in unſerm Umgange aus - bilde, und muß ſie alſo nicht fern von ſich halten. Mit Freuden hörte ich von Deinem Gemal, daß er auf jeden Fall Gertrudens Zukunft durch etwas Gewißes geſichert; dadurch, (und daß kein Schat - ten einer Sorge ſich ihrer bemächtigen kann) muß - te ihr ſchon uneigennütziges Gemüth die völlige Freiheit und Heiterkeit bekommen, die ich in Dresden an ihr ſo gern bemerkte. Jch ſprach mit ihr hierüber, und ſie ſagte: ich hoffe, daß ich keins von ihnen ſterben ſehe, und daß ich das Ver - mächtniß nie brauche; aber die Sicherheit, daß ich niemals Mangel leiden kann, macht mich nun auch ſo ſorglos wie ein Kind. Sehr brav aber finde ich ihr Enthalten von allem, was ſie in41 dieſem Falle, den ſie nicht zu erleben wünſcht, doch würde entbehren müſſen, wie überhaupt das Vermeiden alles Vornehmſcheinens. Es zeigt von einer ſehr geſunden Seele. Jch kann Dir nicht ſagen, wie achtenswerth ſie mir in ihrer faſt unveränderten bürgerlichen Tracht vorkam. Jhr ſimples Häubchen und ihr Jäckchen ſtehen ihr ſo gut. Lebe wohl! Wann werden uns end - lich die erſten Nachrichten von euch erfreuen?

Vierzigſter Brief.

Unſere Reiſenden ſind ſeit einigen Wochen zu - rück aber wie werde ich Dir’s ſagen, was ich zu berichten habe? Liebe Emma, ihre Zu - rückkunft hat uns ſtatt der gehofften Freude viel Schmerz und Sorge gemacht.

Doch ſey Du ohne Sorge, alles geht gut. Krank, von einem Arzte begleitet, kamen beide ei - nes Abends ſpät hier an. Die Kinder ſchliefen(6)42ſchon; ich allein war noch auf, als ein langſam - fahrender Wagen vor unſerer Thüre ſtill hielt. Jch ſchickte hinaus. Ein fremder Mann trat vor mich. Sehr behutſam bereitete er mich vor, auf das, was er zu ſagen hatte. Erſt bat er, ob ich für dieſe Nacht ein Paar verunglückte Reiſende ins Haus nehmen könnte. Als er meine Ver - wunderung über dieſen Antrag ſah, ſagte er: die beiden Reiſenden ſind Jhnen keines Weges fremd. Nun ſchoß mirs auf’s Herz. O es iſt der Herr von Platov mit ſeinem Zögling! rief ich. Ja die ſind es. Aber was iſt es? welch ein Unglück iſt ihnen widerfahren?

Herr von Platov hat das Bein gebrochen, und ſein Zögling, der allein bei ihm war, und ihm Hülfe leiſten wollte, hat ſeinen rechten Arm aus der Schulter gerenkt, und aus Mangel ſchneller Hülfe Geſchwulſt und heftiges Fieber bekommen.

Jch flog hinaus an den Wagen, und fand Platov ſehr matt und Woldemar im ſtärkſten Fieber, das durch die kleine Fahrt ſehr heftig43 geworden war. Sie wurden beide in unſere un - tern Zimmer gebracht. Jch ließ hier Lager für ſie bereiten, und beſorgte mit meinen Leuten, was ſonſt zu ihrer Pflege nöthig war. Der Arzt verſprach auf mein Verlangen, ein paar Tage bei uns zu bleiben.

Als der herbeigeholte Wundarzt das Seinige gethan, welches bis tief in die Nacht dauerte, nahm der Arzt ſeinen Platz im Zimmer, wo bei - de Kranken lagen, und beſtand darauf, die Nacht hindurch ſelbſt bei ihnen aufzubleiben. Auch für mich war an keinen Schlaf zu denken.

Als die Kranken gegen Morgen eingeſchlum - mert waren, erzählte mir der Arzt den unglück - lichen Vorfall mit folgenden Worten.

Jch kam von einer kurzen Fahrt zu einem Verwandten zurück, und wollte eilig zu Hauſe nach O , als ich an der Poſtſtraße einen um - gefallenen Reiſewagen und zwei Reiſende gewahr ward, wovon der Jüngere ſich mit der äußerſten Anſtrengung bemühete, dem Aeltern aufzuhelfen,44 deſſen eines Bein unter den Wagen gekommen war. Der Poſtknecht war abgeſtiegen, die Pfer - de waren unterdeß wild geworden. Herr von Platov hatte die Zügel einen Augenblick zu ſpät ergriffen, die Pferde gingen durch, der Wagen ſchlug um; Herr von Platov im Hinausſpringen begriffen, blieb mit dem einen Fuß im Tritt und kam damit unter den Wagen. Sein junger Ge - fährte war eben im Begriff, den Wagen in die Höhe zu heben, und hatte ſich dabei die Schul - ter ausgerenkt, als ich zu ihnen ſtieß. Der Poſtillion war ſeinen Pferden nachgerannt, und die Verunglückten waren ohne alle Hülfe. Mit dem Beiſtand meiner Leute brachte ich ſie in mei - nen Wagen. Da in der Nähe kein Ort war, wo ich ſie hätte hinbringen können, ließ ich ſehr langſam auf L. zu fahren, und ſo kamen wir end - lich bei Jhnen an. Der junge D. bekam von der Angſt und Anſtrengung ein Fieber, das durch den Schmerz an der Schulter, und nach der Bewegung des Fahrens ſehr heftig wurde. Doch beſorgen Sie nichts; ich bitte Sie. Der Beinbruch des Herrn von Platov iſt keiner der ſchlimmſten, und die45 Verrenkung wird, wie ich hoffe, auch ohne ſchlimme Folgen bleiben.

Jetzt war meine Sorge, wie ich den Kindern, und beſonders Jda, den Vorfall am Morgen be - kannt machen wollte, ohne daß es ſie zu ſchmerzlich angriffe. Jch ging um ſechs Uhr, wie gewöhn - lich, ſie zu wecken; aber ſie merkten bald, daß mir die gewohnte Heiterkeit gänzlich fehle. Tan - te, liebe Tante, biſt du krank, fragte Jda? Nicht ich bin krank, gutes Kind, aber zwei an - dere Perſonen, die wir ſehr lieb haben, ſind krank. Ach! das iſt gewiß Woldemar und Herr von Platov, die hat gewiß ein Unglück un - terwegs befallen: liebe Tante, wir müſſen hin - reiſen, wo ſie ſind, und ſie beſuchen und pflegen, daß ſie bald wieder geſund werden; die beiden andern ſtimmten bittend ein. Das brauchen wir nicht, lieben Kinder; ſie ſind im Hauſe, ſind in der Nacht in Begleitung eines Arztes zu uns ge - kommen, und hier wollen wir ihnen mit der treue - ſten Pflege beiſtehen, damit ſie ihres Unfalls bald vergeſſen. Dieſe Jdee, die die Kinder eifrig er -46 griffen, nahm dem Schmerze ſeinen ſchärfſten Stachel. Sanftweinend kleidete Jda und ſehr ſtill und ſchnell die beiden andern ſich an, um bald hinunter zu kommen.

Der Arzt wollte es erſt den Kindern gar nicht geſtatten, ins Krankenzimmer zu kommen, weil Woldemar in der Nacht im Fieber unaufhörlich mit Jda beſchäftigt war, und in ſeinen Phanta - ſieen ſie beſtändig rief. Er fürchtete zu gewaltſa - me Bewegung. Doch Woldemar ließ, als er wieder zu ſich gekommen, mit Bitten nicht nach, bis Jda und die andern ins Zimmer gelaſſen wur - den. Jch hatte Jda vorher bedeutet, wie viel von ihrer Mäßigung abhinge und dieſe Vor - ſtellung vermochte mehr über ſie, als ich ſelbſt ge - hofft hatte.

Du biſt nicht ſo wiedergekommen, mein Wol - demar, als ich mir gedacht hatte; aber wir wollen dich und den Herrn von Platov ſchon bald wieder geſund pflegen. Jetzt wandte ſie ſich an den Arzt, und bat ihn höchſt naiv und zuverſicht -47 lich, ihr und den Schweſtern (ſo nennt ſie die andern beiden) zu ſagen, was ſie zu thun haben, und was ſie bei der Wartung der Kranken vermeiden müßten.

Bewegt von des Kindes unſchuldiger freimüthi - ger Bitte, ſagte er ihr alles, und inſtruirte ſie wie eine erwachſene Perſon. Sie horchte ſcharf auf, und verlor keines ſeiner Worre. Dem Wol - demar ward es ſehr ſchwer, ſich in den Schran - ken zu halten, die der Arzt ihm vorgeſchrieben. und dieſe Anſtrengung ſelbſt mochte wohl zu der Heftigkeit des zweiten Fieberparoxismus mitge - wirkt haben. Er war wirklich ſehr arg. Der arme Junge declamirte fürchterlich; ſeine Phan - taſie malte ihm immer Jda und die andern kleinen Schweſtern vor, die er aus dem Waſſer retten wollte, und die immer wieder verſanken, wenn er ſie halb empor gezogen hatte. Jda weinte ſchmerzlich, und wandte alles erdenkliche an, ihn zu überzeugen, daß ſie wirklich vor ihm ſtän - de, dann lächelte er ihr zu, und ſagte: ja, ja, ich will es glauben, wenn ich dich erſt gerettet48 haben werde; aber ſieh, wenn du halb herauf biſt, dann ſinken Kathinka und Virginia wieder unter: o ich Unglücklicher, ſo muß ich euch doch umkommen ſehen! So kaſteiete ſich der Arme viele Stunden lang, und Jda litt Todesangſt.

Jch nöthigte ſie, hinaus zu gehen, und ließ Clärchen und Mathilde ihre Stelle einnehmen. Endlich übernahm ihn ein freundlicher Schlaf. Da ließ ich Jda wiederkommen und ſeiner wahr - nehmen. Die folgenden Paroxismen waren ſchwächer und immer ſchwächer. Auch Platov erholte ſich, nur darf er ſich eben ſo wenig regen als Woldemar. Die äußerſte Ruhe iſt beiden ſtreng geboten. Nun wechſeln und wetteifern die drei Mädchen im Vorleſen mit mir: auch laſſen ſich beide Kranke ſo gern von ihnen unſere Ge - ſchichte während ihrer Abweſenheit mit allen ih - ren kleinſten Begebenheiten erzählen. Viel wird auch muſizirt. Platov iſt entzückt über die Fort - ſchritte der Kinder. Beſondere Freude hat er an Jda’s ſüßer Stimme.

Dieſer Unfall unſerer beiden Reiſenden nöthigt49 und berechtigt uns dieſen Winter einſamer und häuslicher zu leben, als wir es ſonſt gekonnt hät - ten; und der Gewinn von dieſem Unglück ſcheint für uns alle überwiegend zu ſeyn. Jch dächte, wir hätten noch nie einen ſo frohen Winter ver - lebt, als dieſen. Es werden alle Künſte eifriger getrieben, und was ſich in Gegenwart der beiden Geneſenden thun läßt, geſchieht in ihren Zim - mern, z. B. das Zeichnen, Sticken, wobei immer abwechſelnd vorgeleſen wird. So gar die Tanzſtunden will Herr von Platov oft gern in ſeinem Zimmer haben: und Jda, welche ſah, daß Clärchens und Mathildens artige Gewandt - heit und wirklich ſchöner Anſtand im Tanzen ihm Freude machten, hat ohne alles Zureden wieder Theil genommen, und gibt ſich alle Mühe, den andern wieder nachzukommen, die ihr weit vor - geeilt waren. Auch Woldemar, der wieder auf ſeyn kann, hat geſtern mit ſeiner Armbinde eine artige Menuette mitgetanzt. Auch gibt ihm ſeit acht Tagen Platov jeden Morgen ein paar Lehr - ſtunden, während deren unſere lieben Mädchen Haushaltungsgeſchäfte beſorgen. Dann beſucht(7)50uns auch nicht ſelten unſers Clärchens Vater, welchen Platov noch nicht kannte, an dem er aber großes Wohlgefallen hat. Cläre kann dann ganz entzückt werden, wenn ſie ihren Vater von dem Manne ſo gefeiert ſieht, den ſie mit den andern Kindern vergöttert. Tante, ſagte ſie geſtern, ich möchte närriſch werden vor Freuden, wenn ich den prächtigen Herrn von Platov mei - nen herrlichen Vater ſo zärtlich umarmen ſehe! Es iſt mir dann, als ob ich zwei Sonnen am Him - mel auf einander zukommen ſähe.

Könnt es Dir noch wohl begegnen, daß du dem einen oder dem andern in irgend einer Sache zuwider wäreſt?

Unmöglich Tante! Als ich noch ein rohes wil - des Kalb war, da macht ich dem Vater oft Ver - druß, und ich konnt es gar nicht einmal fühlen, daß es Unrecht ſey, wenn ich ihm in meiner Un - bändigkeit die ſchönſten Blumen im Garten zer - trat, um nach dem Kirſchbaum mit den ſchönen Glaskirſchen ſchneller hinzukommen, oder wenn51 er ſtudieren wollte, oder Betty unterrichten, und ich unaufhörlich tobte mit den Kindern des Nach - barn, die ich immer mit nach Haus brachte, weil Betty mir zu verſtändig und zu fromm war. O wenn jetzt der Vater mir ein ſo ernſthaftes Ge - ſicht machte, wie damals ich könnt es nicht aushalten! Seit ich bei dir war, beſte Tante, ſeit ich dich lieb habe, liebe ich Vater und Mutter und Schweſter noch einmal ſo ſehr, und ſo ganz anders wie ſonſt. Eben ſo wenig könnt ich es ertragen, daß Herr von Platov mit mir zürnte.

Der gute Pfarrer harrt ſchon mit Ungeduld des Frühlings, der uns (wenigſtens auf kurze Zeit) alle wieder auf unſerm Landſitz verſammelt; denn ehe Platov und Woldemar die neue Som - merreiſe antreten, machen ſie mit uns einen Früh - lingsaufenthalt von einigen Wochen in Nauen - burg. Aber bis dahin wird der Pfarrer noch oft zu uns kommen. Die beiden Männer ſchließen ſich mit jedem Sehen feſter an einander. Jedes tiefere Eindringen in die Eigenthümlichkeit des andern erhöhet die Achtung. Für Woldemar52 wird ihr Umgang ſehr belehrend, und wie viel Jahre kann es noch dauern, ſo wird Woldemar der Dritte unter ihnen; denn er reift ſichtbarlich. Der letzte Sommer iſt ihm eine große Stufe ge - weſen zur Entwickelung, der phyſiſchen wie der geiſtigen. Lebe wohl, Emma!

Mit Sehnſucht werden die nächſten Briefe von K… erwartet, deß bitte ich eingedenk zu ſeyn.

Noch einmal, laß Dein Herz ohne Sorge ſeyn. Wir waren vielleicht nie froher beiſammen, als eben jetzt. Jeder Unfall, auch ein Beinbruch kann liebende Menſchen enger an einander knüpfen.

Lebe wohl!

Ein und vierzigſter Brief.

Erwünſchter hätten eure Briefe, ihr lieben Tür - ken, nicht kommen können. Und wie ſo gar lieb - lich ſind Deine Berichte von den beiden Kleinen!

Beide halten ſo viel von einander? Mich freut53 es nur, daß ſie ſchon da, und getauft waren, ehe ihr nach K… kamt, denn ſonſt hätte D ihnen wohl türkiſche Namen gegeben. O macht nur, daß ihr bald wieder nach Deutſchland kommt, da - mit Kathinka nicht gar zu ausländiſch werde.

Dieſe ſtarke Natur wird nicht gar leicht zu lenken ſeyn, beſonders wenn D fortfährt, an ihrer Originalität ſo großes Behagen zu äu - ßern. Auch ſoll der böſe Menſch nicht meynen, daß die Erzpädagogin nur einmal Willens iſt, alles was er muthwillig verdirbt, wieder in Ord - nung zu bringen ; an ihm ſelbſt aber wird ſie meiſtern, ſo lange bis ſie ihn zum beſſern Erzieher erzogen hat. Lies ihm ja dieſe Stelle oder lieber den ganzen Brief vor; ich bitte Dich.

Hätte er ſich durch ſeine grenzenloſe Freude an Jda und Woldemar in Dresden nicht ſelbſt ver - rathen, was er von der guten Erziehung halte, ſo könnten einen ſeine komiſchen Ausfälle gegen den pädagogiſchen Ernſt wohl oft irre machen. Aber vergebens hatte er geſtrebt, ſich zu verbergen,54 als er Woldemar’s glühendes Herz und die hohe Reinheit des köſtlichen Jungen ſah. Sein eignes großes Gemüth erſchien ohne alle Hülle in der heiligen Vaterfreude. Und wie ihn Jda’s Fröm - migkeit rührte und wie ihn Mathildens ſchein - bare ſtolze Kälte zurückſtieß! O ſag ihm, daß ich ihn beſchwöre, die Naturanlagen zu einem ähnlichen Charakter in Kathinka nicht ſelbſt ſo zu erhöhen. Gerade weil ſie ſo viel Entſchiedenes hat, laſſe ich ihn bitten, ſie durch ſeine Art ſie zu nehmen, nicht gar eigenwillig, ſelbſtſüchtig und ſcharf zu machen. Gerade ſie muß gehorchen lernen; ihr muß ein kindlicher Sinn gegeben werden: und wär es auch durch Strenge. Laß ſie lieber fürchtend lieben, als eigenwil - lig widerſtreben. O wie würde es mich be - trüben, wenn ich bei unſerer endlichen Vereini - gung eins Deiner Kinder ſehen müßte, das kalt, ſtolz, ſelbſtſüchtig, hochfahrend, allem Zarten und aller Jnnigkeit widerſtrebend wäre, das, jene fromme Hingabe des Herzens an Vater und Mut - ter nicht kennend, nur im Genuß wirklicher oder erträumter Verſtandesüberlegenheit froh ſeyn55 könnte und wenn dies nun gar ein Mädchen wäre! So gewiß es iſt, daß unſer überfeines Zeitalter ſo ſcharfer ſtolzer überlegener Weiber nicht wenige hervorgebracht hat, ſo gewiß iſt es auch, daß die Natur ſie ſo nicht haben wollte, daß ſie es ihr zum Trotz wurden. Was ich von allge - meinen praktiſchen Erziehungsregeln halte, weißt Du, liebſte Emma. Noch ſind keine aufgeſtellt worden, welche auf jedes Kind anwendbar wären, die nicht nach der beſondern Natur des Kindes mo - difizirt werden müßten. Und das Allge - meine aufs Jndividuum anwendbar zu machen, iſt die Aufgabe des Erziehers.

Eben ſo wenig läßt ſich auch irgend ein Jndivi - duum als Erziehungsprodukt, als Modell aufſtel - len; denn wer wagt es, zu beſtimmen, was an einem vollendeten, in ſo fern es ein ſolches ge - ben kann, der eigentlichen Erziehung gehöre? Und was der Natur? und wie viel der zufälligen Umgebung?

Demnach gibt es ein Etwas, das aller Erzie -56 hung zur Grundlage dienen muß, das zuerſt ge - rade darauf abzwecken muß, dem jungen Men - fchenweſen in der Entwickelung ſeiner Menſchen - natur kräftig zu Hülfe zu kommen, das ferner dahin zielen muß, den weiblichen Sinn im Mäd - chen, die männliche Kraft im Knaben in ihrer Fülle hervorgehen zu laſſen. Jhre Hauptſorge muß ſodann ſeyn, daß ſich des Kindes individuelle Natur nach allen ihren Eigenthümlichkeiten frei, leicht und kräftig entfalte. Es darf im Mädchen der herriſche Mannsſinn nicht aufkommen, wenn es auch Anlage dazu hätte. Sein Weſen ſoll ſich zu weiſer Biegſamkeit formen. Das iſt bei ſtark aus - geprägten Naturen eine ſchwere Aufgabe der Erzie - hung, und gelingt nur, wenn man früh genug daran arbeitet. Nicht minder ſchwer iſt die, die Kraft einer allzuweichen überzarten Natur zu erhö - hen. Da gibt es der Mißgriffe ohne Zahl. Nicht ſelten wird durch Mißverſtand des Erziehers der Eigenſinn auf die Schwäche gepfropft, wo man Selbſtſtändigkeit zu impfen gedachte; oder es wird auch aus übergroßer Freude an der Zartheit eine völlig willenloſe Schwäche in der zarteren57 Natur erzielet. Vor beiden laß Deine liebliche Virginia bewahrt bleiben. Wäre Jda, die mit der Virginia die höchſte Aehnlichkeit zu haben ſcheint, in ihrer weichen Zartheit zu ſehr begün - ſtigt, hätte man das an ihr gelobt und mit be - ſonderer Aufmerkſamkeit gehegt, gepflegt, her - vorgezogen, was ihre Naturanlage nun ſo mit ſich brachte: ſo müßte ſie jetzt eines der weichlich - ſten, ſchwächlichſten, reitzbarſten, überſpannte - ſten Weſen ſeyn. Aber welch eine ſchöne Gewalt hat ſie über ſich und ihre Schwäche, und welch holde Fröhlichkeit herrſcht durch ihr ganzes Seyn! Wäre Mathilde von frühem an den Weg geführt worden, den man ſeitdem mit ihr nahm, hätte man früh ihrer Kraft die rechte Richtung an - gewieſen : wie ſchön harmoniſch müßte ſie ſich entfaltet haben! Jetzt muß ſie durch ſauern Kampf das Verſäumte erringen und die Falten des Cha - rakters wieder ausarbeiten, worüber ſie ihres ſchönen Lebensmorgens nicht recht froh werden kann. O laß es mit Kathinka nicht eben dahin kommen, ich bitte Dich herzlich. Jhr Ka - thinka will, und Kathinka will nicht darf(8)58ja nicht entſcheiden, ſo drolligt ſie das auch ausſprechen, ſo ſchön es ſie auch kleiden mag. Jn unſerer Welt, in unſern (weiblichen) Verhält - niſſen, wo, ohne den ernſten Richter in uns, noch ſo viele Dinge außer uns über unſer Thun und Laſſen gebieten, da muß dies ich will, und ich will nicht überall hart anſtoßen, und eben ſo hart zurückprallen. O welche Kämpfe, welche Bitterkeiten werden den armen ſo verwöhnten Geſchöpfen bereitet! Und ſelbſt die Männer, die das im Kinde dulden, ja wegen des komiſchen Kontraſtes mit der Schwäche, die ſie beluſtigt, oft begünſtigen, gehen am härteſten dagegen an, wenn ſie es im erwachſenen Weibe begegnen, und ſtrafen den weiblichen Eigenwillen und die harte Entſchiedenheit ihres Weſens mit Spott, Ver - achtung, oder, wo das bei dem übrigen Werth der Perſon nicht möglich iſt, mit Haß, wodurch unſer Daſeyn bis zur Vernichtung elend wird, da es nur in Liebe und Achtung des erſten Geſchlechts ſchön entblühen kann.

Wenn alſo Kathinka z. B. des Morgens er -59 klärte: Kathinka will heute nicht gewaſchen ſeyn, wie ſie es ſchon anfängt, was iſt da zu thun? Vielleicht nichts weiter, als daß ſie die Mutter zum Gutenmorgen nicht küſſen darf. Reichte das nicht hin, ſo darf ſie nicht fühſtücken; wollte ſie auch das verſchmerzen, ſo bleibt ſie auf der Schlaf - kammer, und darf nicht mit Dir hinunter gehen. Gertrude wird ſchon auf ſie acht haben, ohne ſie angenehm zu beſchäftigen; das darf freilich nicht geſchehen, ſonſt würde ſie auch dieſe Strafe weg - trotzen. Kommt ſie dann eine Stunde oder noch ſpäter nachher, und will gewaſchen ſeyn, ſo thut es Gertrude, ohne ihr Vorwürfe zu machen, ſagt ihr aber: wenn du morgen wieder ſo lange war - teſt, ſo waſche ich dich nicht, und dann kannſt du gar nicht zu Vater und Mutter heruntergehen. Dies wird ſicher helfen. Vor allen Dingen aber laß Gertrud ſich wohl vorſehen, daß ſie die ſanf - tere Virginia ihr nicht lobend zum Muſter ſtelle. Daß ſie letzterer in ihrem Herzen den Vorzug gibt, kann ſie nicht hehlen, äußern darf ſie das aber nicht, dies müßte für beide verderblich werden. Am nachtheiligſten würde es auf Kathinka wirken. 60Entweder ſie gewöhnte ſich früh, mit kalter Gleichgültigkeit das Wohlwollen der Perſon zu entbehren, mit der ſie doch ſo viel lebt, oder ſie würde heimlich bitter gegen das Unrecht, welches ſie ſich angethan glaubt. Jn dieſer Rückſicht al - ſo die vollkommenſte Gleichheit und Unparthei - lichkeit beobachtet, das bitte ich.

Laß beſonders Kathinka nie vergebens nach et - was verlangen, das ihr gewährt werden kann; bewillige ihr alles, was irgend zugeſtanden wer - den darf; aber laß ihren Trotz doch nie wankend machen in dem, was Du einmal beſchloſſen.

Kathinka iſt ein herrliches Geſchöpf. O laß ja nicht die Anlagen zu einer großen Seele in Selbſtſucht und Uebermuth verwildernd ausarten. Sie liebt Dich jetzt ſchon ſo feurig; an dieſem Bande leite ſie, doch hüte Dich vor der Weiſe der Mütter, die den Eigenwillen einer ſtarken Kin - desſeele, und die Kraft eines großen Gemüths durch die Gewalt der Rührung brechen wollen. Ein lebhaftes ſchlaues Kind kommt der pädagogi -61 ſchen Kunſt hier bald auf die Spur, und achtet bald nicht mehr, wenn die Mutter es oft mit den Worten zu zügeln meynt: du betrübſt deine Mutter, mein Kind, wenn du das thuſt. Sehr ſchnell haben ſie es weg, daß dies eine bloße Re - densart ſey, und nicht viel bedeute. Nichts iſt hier wirkſam, als die Stimme des ruhigen Ern - ſtes, der kann kein Kind widerſtreben, das nicht ſchon ſehr verderbt iſt. Mir hat dieſes Mittel noch nie verſagt. Lebe wohl, beſte Emma!

Zwei und vierzigſter Brief.

Unſere beiden Kranken ſind völlig hergeſtellt, und wollen auch bald wieder hinaus in die Welt, und wollen die zweite Reiſe auf die nämliche Art machen, wie die erſte, d. h. großen Theils zu Fuß. Zur Abwechſelung nehmen ſie bald den gewöhnlichen Poſtwagen, bald Extrapoſt, auch werden ſie eine Rheinfarth und eine Farth auf der Donau machen. Die Rheinreiſe könnt ich ihnen beneiden.

62

Wie die erſte Reiſe den Woldemar gebildet, habe ich Dir ſchon einmal geſagt: oft kömmt er mir jetzt vor, wie ein jüngerer Freund des Herrn von Platov. Jda ſagte neulich: Tante, wie iſt es, daß ich den Bruder jetzt ſo anders liebe, als ehe - mals? beſonders ſeit er krank war? Er kommt mir jetzt noch viel verſtändiger vor, als ſonſt; und ich denke, er allein müßte mich beſchützen können, wenn ich in Gefahr wäre. Das würde er auch können, Jda; er hat viel Muth, viel Entſchloſ - ſenheit, und das iſt es, was du in ihm ſo ſehr achteſt. Und dies Zutrauen hat deiner Liebe zu ihm eine ſo andere Geſtalt gegeben. Dies Zu - trauen und dieſe Achtung müſſen noch immer wach - ſen, ſo wie Woldemar an Kraft und Muth zu - nimmt. Jn dem Bruder hat die Natur uns Frauen den Stellvertreter des Vaters angewieſen. Und wenn der Bruder ganz das iſt, was dein Woldemar täglich mehr und mehr wird: ſo ent - ſteht in dem Schweſterherzen ganz von ſelbſt ein Grad des hingebenden Vertrauens, ja der kindli - chen Folgſamkeit, die ein großherziger Mann nicht als einen ſchuldigen Tribut fodert, ſondern als63 ein freiwilliges Geſchenk ehrt, und die geliebte Schweſter darum nur deſto zarter behandelt. O wie oft habe ich Dich, beſte Emma, hier ge - wünſcht, damit Du Zeugin ſeyn möchteſt, wie Jda und die beiden andern abwechſelnd die Kran - ken pflegten. Eine zartere ſchönere Aufmerkſam - keit gibt es nicht, als Jda’s; und doch wetteifer - ten die beiden Schweſtern täglich mit ihr: nur ſtand es keiner ſo natürlich ſchön an, als Jda. Sich ſelbſt vergeſſend lebte ſie nur in den Kranken. Wo könnte ſich auch der weibliche Charakter ſchö - ner zeigen, als am Krankenbette? Hier wird ein ächtweiblich Gemüth erkannt. Und wenn je ein weiblicher Orden ehrwürdig war, ſo iſt es der, deſſen eigentlicher Beruf Krankenpflege war.

Sie ſollte eins der Hauptaugenmerke bei der Bildung des weiblichen Charakters ſeyn, das nie aus der acht gelaſſen werden dürfte. Es ſollte dazu nicht bloß die weiche Gemüthsſtimmung ge - geben, es muß auch die Kraft des Gemüths dazu geſtärkt werden, damit es den Anblick der Leiden ertragen könne, ohne ſelbſt zu Grunde zu gehen. 64Freue Dich Deiner Tochter, Emma, bei ihr ſind weiche Milde und Kraft zum Dulden, wie zum Duldenſehen, glücklich vereinigt. Sie erinnerte mich oft an ein liebes ſechzehnjähriges Mädchen, für deſſen Bildung ich einſt ſorgte. Oft mußt ich den Kindern von ihr erzählen, wie ſie ſieben Wo - chen hindurch nicht von dem Bette der geliebten Geſpielin wegzubringen war, die an den heftig - ſten Krämpfen litt. Alle andern jungen Geſpie - linnen wurden aus Vorſicht von dieſem Kranken - bett entfernt, weil auf ſchwache Naturen nichts verderblicher wirkt, als der Anblick von heftigen Krämpfen.

Magdalis allein war aus dem Krankenzimmer durch keine Vorſtellung und durch keine Bitte, ihrer ſelbſt zu ſchonen, zu entfernen. Jch gab endlich dem heißen Verlangen nach, hoffend, ein ſolches Gemüth, das den ſchwerſten Dienſt ſo kräftig fodere, werde auch mit Kraft darin beſte - hen. Während dieſer ſieben Wochen kamen die ſchrecklichſten Anfälle Nacht und Tag ſo oft, daß ſelten zwei Stunden frei hingingen. Und Mag -65 dalis war faſt meine einzige Gehülfin in der Pfle - ge dieſer unglücklichen Geſpielin. Alles opferte ſie dieſer Pflege freudig auf, die liebſten Lehrſtunden, die ſie ſonſt um keinen Preis hingegeben hätte, die angenehmſten Beſuche, die ſchönſten Spazier - gänge, kurz alles, alles, was ſie ſonſt liebte, gab ſie willig hin, bis die kranke Freundin völlig ge - neſen war. Oft fürchtete ich, die vielen Nacht - wachen, und der ſtete Anblick dieſer ſchrecklichen Leiden würden zerſtörend auf ihre Geſundheit wir - ken: aber Magdalis blühete während dieſer An - ſtrengungen und nachher, wie zuvor. Die Liebe hatte ſie über ſich ſelbſt erhoben, und ihr eine Kraft gegeben, die ich zuvor in ihr nicht geahnet. Aber wie wirkte auch dieſe Liebe auf die junge Freundin, welche von dieſer Krankheit völlig ge - nas! Es entſtand daraus eine Freundſchaft, die nur der Tod unterbrechen konnte.

Wenn ich ehedem unſern lieben Mädchens hie - von erzählte, fragte mich Jda oft: ſollte ich das auch wohl einmal können? Und ſie hat bewieſen, daß ſie viel kann. Auch Mathilde und Clärchen(9)66thaten bei Woldemar’s und Platov’s Pflege, was ihnen Jda geſtattete, recht brav. Der Arzt iſt ent - zückt von Jda, und nennt ſie oft ſcherzend die barmherzige Schweſter, oft auch ſeine kleine Heilige.

Jn wenigen Tagen geht es hinaus nach Neuen - dorf. Der Winter mit ſeinen kleinen Mühſalen und ſeiner ſtillen Traulichkeit iſt dahin; in der Stadt kann uns nun nichts mehr halten.

Lebe wohl, Emma! Den nächſten Brief ſchrei - be ich Dir aus unſerm Sommerſitz.

Drei und vierzigſter Brief.

Die beiden Reiſenden ſind fort. Das kleine Ungemach der erſten Reiſe (wie ſie ihren Unfall nannten) war völlig vergeſſen. Jn Geſundheit und ſtrömender Fülle der friſchen Kraft, die hier auf dem Lande im Genuſſe des heiterſten Früh -67 lings täglich ſtieg, hielten ſie bei uns aus, und ließen ſich von uns und der Willigſchen Familie liebend hegen, ſo lange ſie konnten bald aber drängte die friſche Kraft zu ſehr, ſie mußten wie - der hinaus mit den Zugvögeln ins Weite. Alle liebende Bitten der Schweſter Jda, nur noch eine einzige Woche zu bleiben, vermochten über den unruhigen, vom Reiſeweh geplagten Woldemar nichts mehr.

Laß mich, laß mich fort, du engliſche Schweſter, war alles, was er ihren Bitten entgegen ſetzte. Platov hatte die Zeit der Abreiſe von ihm ab - hängen laſſen, um zu ſehen, wie er in dem Kampf beſtehen würde, vielleicht auch, um ſich den eignen gegen Willich zu erleichtern. Bis der Tag feſtgeſetzt war, überließ ich auch Jda ſich ſelbſt, und ließ ſie verſuchen, wie weit die Gewalt ihrer Bitten reichte. Jetzt, da es entſchieden war, foderte ich ſie auf, ſtark zu ſeyn, und dem Bruder keine ſaure Minute mehr zu machen. Jch bedeutete ihr, wie wichtig das Reiſen jungen Männern ſey, und wie nothwendig für ſie ein68 feſtes Beharren beim einmal gefaßten Ent - ſchluß iſt. Sie begriff das, und ſo bald ſie ei - ne Sache eingeſehen hat, bin ich von ihrem Muth und von ihrer Kraft, ſich zuſammen zu faſ - ſen, gewiß. Auch entſprach ſie meiner Erwar - tung vollkommen. Als der angeſetzte Tag der Abreiſe gekommen war, ſchien gerade ſie die ſtärk - ſte von uns allen. Clärchen zerfloß in Thränen, und ließ ihren Schmerz unverholen ausbrechen. Schon früher hatte ſie ſehr naiv oft laut gewünſcht, daß doch Woldemar auch ihr Bruder ſeyn möchte, damit ſie auch künftig, wenn er ein Mann ſey, ihn ſo lieben dürfe, wie Jda. Mathildens ſtol - zes Gemüth fühlte ſich gekränkt, zu ſehen, wie er nicht nur Jda, ſondern auch Clärchen vorzog, obgleich er in dem letzten Winter gegen ſie immer freundlich war: aber ſie unterſchied ſehr fein, daß ſeine Freundſchaft gegen ſie mehr Güte als Liebe war. Dennoch mußte auch ſie ſich weinend abkeh - ren, als er ihr die Hand zum Abſchiede bot, und ſie bat, ihn nicht zu vergeſſen, und Jda ſchwe - ſterlich lieb zu haben. Clärchen fiel ihr weinend um den Hals, und Mathilde wendete ſich mit69 wechſelnder Röthe hinweg und verbarg ihr Geſicht, damit niemand ihre Thränen ſähe. Auch Betty, die ihn nur erſt ſeit drey Wochen kannte, hieß ihn Bruder Woldemar, und ſagte: wenn Woldemar wieder kommt, ſoll er mich auch Schweſter heißen müſſen. Und biſt du denn nicht ſchon meine ſanfte Schweſter Betty? Lebt wohl, ihr himmli - ſchen Mädchen, und liebt euren Woldemar! Und ich meyne, gute Emma, daß ſie ſeine Bitte erfüllen. Der Pfarrer und ſeine Deborah konn - ten gar nicht von den Reiſenden laſſen.

Deborah flüſterte mir leiſe ins Ohr: ich habe ihnen auf immer Lebewohl geſagt; ich ſehe die beiden nicht wieder. O wie hat mich das Todes - urtheil betrübt, das ſie über ſich ſelbſt ausſprach! Und doch habe ich es nicht gewagt, ihr zu wider - ſprechen, und habe dieſe Saite ſeitdem gar nicht berührt. Jhr Vorgefühl der Vollendung iſt mir zu heilig, um darüber mit ihr ſtreiten zu wollen. Nur ihren Mann werde ich aufmerkſam machen müſſen; denn ihm zeigt ſie eine immer gleiche Heiterkeit. Jhn könnte der Schlag zu plötzlich treffen.

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Lebe wohl für heute; bald hörſt Du mehr von uns.

Vier und vierzigſter Brief.

Durch ein Ungefähr kam es neulich einmal am Tiſch zur Sprache, daß Woldemar nicht Dein Sohn ſey, und alſo nicht Jda’s rechter Bruder, wovon bis jetzt in dieſer Familie und von den Kindern niemand etwas geahnet, auch Platov wußte es nicht, daß Dein D. ſchon zuvor einmal vermählt war, und ſeine Gattin gleich nach Wol - demar’s Geburt verloren. Jda weinte ſchmerz - lich; ſie konnte den Gedanken gar nicht ertragen, daß Woldemar nicht Dein Sohn ſey. Jch ſuchte ſie von dieſem widerwärtigen Gedanken ab auf eine freundliche Anſicht der Sache zu leiten, und ſagte ihr halb ſcherzend, wie Du den großen Feh - ler, nicht Deines Mannes erſte Gattin, und nicht Mutter ſeines Sohnes zu ſeyn, durch ein ſolches Maaß von zarter Sorge und weiſer Liebe für71 Woldemar vergütet, daß niemand, der es nicht wiſſe, es wahrnehmen könne, und jeder, der es wiſſe, Dich und Woldemar nur deſto lieber haben müſſe, wenn er die tiefe Verehrung ſehe, die Woldemar für Dich habe, und Deine Zärtlichkeit für ihn durchaus nicht von der Liebe zu Jda zu unterſcheiden vermöge.

Gern hätte ich dieſe Entdeckung noch eine Zeit - lang verhütet; aber ſie war nun geſchehen, und Jda’s Herz kann es noch immer nicht verſchmerzen, daß der herrliche Bruder nicht ihrer Mutter Sohn iſt. Ob ſie Dir darüber ſchreiben wird, ſoll mich verlangen. Faſt muß ich zweifeln, daß ſie es werde; denn ſie kann nicht anders denken, als daß ſie durch dieſes unwillkommene Gefühl auch Dich vergeblich betrüben müſſe, wenn ſie es von neuem in Dir aufregt.

Was mich freut, iſt, daß die Entdeckung nicht bei Woldemar’s Hierſeyn gemacht ward. Es kam durch einen Fremden heraus, der den Mit - tag mit uns ſpeiſ’te. Dieſer Zufall hat mich über72 die Frage zweifelnd nachſinnen gemacht, ob man die Kinder nicht lieber ſo früh als möglich über ihre wahren Familienverhältniſſe belehren ſolle, als ſie in ſüßer Täuſchung aufwachſen laſſen, die dann in einem Augenblicke geſtört werden kann; und wer ſteht uns dafür, daß dieſer Augenblick des Zufalls nicht der ungünſtigſte ſey! Und das Reſultat meines Nachſinnens, wie mein entſchie - denes Gefühl iſt für die früheſte Enthüllung der Wahrheit, ſo bald ſie dem moraliſchen Charak - ter der Eltern oder des einen von ihnen nicht nach - theilig iſt, ſo lange keines der Kinder ſein Da - ſeyn einem Vergehen, einer Schuld verdankt. Wo das iſt, da kann weder einem ſolchen Kinde, das in die Familie aufgenommen, noch den übri - gen ächten Kindern der Familie, die Entdeckung je zu ſpät kommen, und darf vor den Jahren der Reife nicht gemacht werden, denn Gott will den Vater und die Mutter von den Kindern geehrt haben. Dieſes Allerheiligſte in der Kindesſeele darf und muß nie auf das Spiel geſetzt werden. Nichts muß ihnen über die ehrfurchtsvolle Liebe zu den Eltern gehen, und wer, (ſey es auch nur73 durch unvorſichtigen Scherz) dieſe reine göttliche Flamme im Kinde trübt, der verſündigt ſich an der heiligen Unſchuld: wer ſie aber verlöſchen macht, wer eines von ihnen ärgert, über den er - ging aus dem liebevollſten Munde der härteſte Fluch. Wie ich zu dieſer Abſchweifung komme? das wirſt Du nicht fragen, denn Du erinnerſt Dich ohne Zweifel noch deſſen, was vor einigen Jahren in einer uns wohl bekannten Familie vorfiel. So oft ich deſſen gedenken muß, ſchau - dert mirs vor dem Schickſal eines ſo unglücklichen Kindes.

Wer mir jetzt vor Jda’s Ohren das Wort Stief - mutter oder Stiefbruder ausſpräche, könnte mich ſchon beleidigen, ſelbſt ohne irgend einen Akzent auf die häßliche Vorſylbe. Was unſere Nach - barn über dem Rheine auch immer mit der Sylbe beau vor dem frere und pere wollten; es muß wenigſtens etwas Freundliches gemeynt ſeyn, das dem Unterſchied unter Bruder und Bruder, Vater und Vater, wo er nun einmal ausgeſprochen werden mußte, ſeine Härte nehmen ſollte, oder ſie wenigſtens mildern. Und wir,(10)74die wir ihnen ſo manchen Tand blindlings nach - geahmt, haben auf dieſe Milde der Sitte nicht gemerkt, und ſprechen das harte Stief - und das nicht viel mildere Halb bruder Halb ſchweſter ſo geläufig aus. Auch das liebende Wort bonne - maman der gebildetern Stände für Großmut - ter iſt ſo ſchön, wenn gleich in dem Worte Groß - mutter wenigſtens keine gehäſſige Nebenidee liegt. Werde nicht ungeduldig, liebe Emma, über die Allgemeinheit in dieſem Briefe. Jch komme ſo gleich wieder zu Dir und den Deinen, und bitte Dich herzlich, laß Virginia und Kathinka etwas früher als Jda erfahren, daß der Bruder Wol - demar, von dem ſie ſo oft reden hören, eine an - dere Mutter hatte, die er früh verloren, ehe Du ſeine zweite Mutter geworden, damit ſie es nicht auch zur ungelegenen Zeit einmal hören, und es ſie dann eben ſo betrübe, wie Jda. Kannſt Du doch Deinen ganzen Schatz von Liebe für Woldemar in dieſe Erklärung hineinlegen. Ver - hüte aber, daß nie die verhaßten Töne Stief - oder Halb ihre Ohren mit dem ſüßen Worte Schweſter oder Bruder zugleich berühren.

75

Lebe wohl, Emma! Jch kann dieſem Briefe nichts mehr hinzu thun, behalte ihn aber viel - leicht noch zurück, auf daß ich ihn durch einen Traulichern zu Dir geleiten laſſe. Unſere Kin - der ſind ſehr wohl und froh.

Fünf und vierzigſter Brief.

Unſere Reiſenden haben geſchrieben. Die Beſchreibung ihrer Rheinfahrt iſt ganz dithi - rambiſch, wie ſie ſich von einem ſo feurigen Jüng - ling erwarten läßt. Sie wird Dich an Deinem Bosphorus gar ſehr erfreuen. Auch Platov’s Brief iſt ganz voller Frühlingsblüten. Und nun reiſen ſie weiter nach Norden immer neuen Früh - lingen entgegen. Nach Hamburg und Koppen - hagen hat ihnen unſer Pfarrer gute Adreſſen gegeben. Auch kennt Platov ſchon an beiden Or - ten einige Gelehrte perſönlich. Jn H. wird es für den wißbegierigen Woldemar viel Sehens - werthes gehen. Auch werden ſie lange genug ver -76 weilen, um wenigſtens das Wichtigſte für einen jungen Weltbürger zu ſehen. Beſonders die mu - ſterhaften Armenverſorgungsanſtalten und die Werkhäuſer. Der Hafen muß einen impoſanten Eindruck auf den jungen Menſchen machen. Die - ſer Wald von Maſtbäumen, und die ganze le - bendige Waſſerwelt im Hafen ſelbſt, bleiben auch für den beſtändigen Einwohner immer ein inte - reſſanter Anblick. Dieſes rege Leben, dieſes Drängen und Treiben, dieſer tumultuariſche Verkehr in allerlei Zungen, wie ergreift dies den Fremdling ſo ſonderbar! Auch Platov ſieht alle dieſe Dinge in dem vollen Reiz der Neuheit. Meine Adreſſen werden ſie mit einigen ſehr ge - bildeten Familien bekannt machen. Von Trave - münde gehen ſie auf der Oſtſee nach Koppenha - gen, wenn nicht etwa ein ſehr dringendes Verlan - gen von Platov’s Freunden, vom günſtigen Oſt - winde beflügelt, ſie von Hamburg aus nach Eng - land führt. Jn dieſem Falle bekommen wir ſie nächſten Winter nicht wieder zu ſehen, denn da müßten ſie über Frankreich zurückkommen: und in beiden Ländern ſo viel Kenntniſſe einzuſamm -77 len, daß es ihnen genüge, dazu brauchen ſie Zeit. Von Hamburg, wo ſie einige Wochen bleiben, erhalten wir beſtimmte Nachricht über ihren fer - neren Reiſeplan. Deine hieſigen Kinder entblü - hen immer ſchöner an Geiſt und Körper. Jetzt wetteifern Jda und Mathilde in der Sorge für Küche und Haushalt, worm Clärchen, die dieſe Geſchäfte früher geübt, ihre Meiſterin iſt. Und während ich die Drei zu dieſen Küchenſtudien von mir entlaſſe, kommt Betty ſchmeichelnd zu mir, und bittet, ihr doch ein Stündchen zu ſchenken. Dann leſen und plaudern wir miteinander, und ſie vergißt der Stunde der Rückkehr faſt immer.

Betty hat einen reinen klaren Verſtand, eine ſtille Seele und ein recht tiefes Gemüth, aber einen überwiegenden Hang zum Ernſte, ja zur Schwermuth. Man hat ihr Schiller’s Gedichte geſchenkt, ſie liebt ſie, aber es quält ſie, daß ſie den Dichter nicht ganz verſtehen kann, deſſen ſchwermüthige Anſicht des Lebens ihr ſo ſehr zu - ſagt. Da kommt ſie denn oft mit ihrem Schiller und fodert Aufſchluß über den verborgenen Sinn78 manches Gedichts. Die Bürgſchaft, und noch mehr die Kraniche des Jbikus führten uns neu - lich recht tief ins graue Alterthum. Der tragi - ſche Geiſt der Griechen hat einen unglaublichen Reiz für ſie. Alles was ſie darüber hört, regt ihre Begierde nur immer lebendiger auf. So bald unſere drei andern reif genug ſind, will un - ſer Freund Willich ihnen und Betty auf meine Bitte eine Vorleſung über die alte Geſchichte halten, woran er jetzt ſchon arbeitet. An einem Buche über alte Geſchichte, das für unſer Ge - ſchlecht tauglich iſt, fehlt es ſo ganz. Aber ich habe ſonſt meine Klage hierüber ſchon vor Dir ausgeſchüttet.

Dieſer Mann, dem der weibliche Sinn ſo hei - lig iſt, wird vielleicht dem Bedürfniß nach Wunſch abhelfen. Unterdeſſen erzähle ich Betty in Bruch - ſtücken, was ihr Freude macht, ſo wie ich es den andern gethan und noch thue, und nehme aus den Büchern, die da ſind, das Brauchbare. Bo - taniſirt wird auch dieſen Sommer wieder. Von dem, was ſie Deutſches für ſich leſen, müſſen ſie mir gute Auszüge liefern. Was ihnen in ihrer79 franzöſiſchen Lectüre beſonders gefällt, das über - ſetzen ſie mir ſtellenweiſe ins Deutſche. Engel’s kleine Schauſpiele, den Edelknaben und den dank - baren Sohn, ſollen ſie ins Franzöſiſche überſetzen. Alle Morgen haben ſie eine Stunde in der deut - ſchen Grammatik beim Pfarrer. An ſchönen feinen Handarbeiten wird in dieſer Jahrszeit nicht viel gemacht; doch das holen wir im Winter nach. Es werden dieſen Sommer viel kleine Fahrten gemacht, auf unſern Abendſpatziergängen begleiten uns jetzt auch die Kinder. Selbſt De - borah läßt ſich ungern bereden, ihrer Geſundheit zu lieb zurück zu bleiben. O laßt mich doch der Erde in ihrer Schönheit noch freuen, weil ich darauf bin, ſagte ſie neulich, als wir ſie ba - ten, ſich der feuchten Abendluft nicht auszuſetzen, und leiſe mir ins Ohr: bald lieg ich darunter. Während des langen Wegs war ſie ſehr heiter, ja oft muthwillig. Und wir vermieden, als ob wir es verabredet, ſorgfältig den feierlichen Ernſt, der uns an dieſen Abenden ſonſt ſo natürlich iſt.

Adio, Emma!

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Sechs und vierzigſter Brief.

Jch fange noch einen Brief an, um ihn den beiden fertig liegenden, nebſt den Briefen von Platov und Woldemar und unſern lieben Mäd - chen, beizupacken. Wenigſtens muß ich Dir ja den Empfang Deiner Briefe melden, und Deinem D. über ſeine Lenkſamkeit meine Freude bezei - gen: ſo komiſch er ſich auch dabei gebehrden mag. Kommt es doch auf die Art nicht an, wie er ſich der Erzpädagogin unterwirft: ſie iſt zufrieden, wenn er nur gehorcht. Laß ihn auch das leſen. Doch er hat ja ſogar verſprochen, alle meine Briefe an Dich Abends bei ſeinem Karavanenthee und der türkiſchen Pfeife mit Dir zu leſen. Laß ihn nur, das kann gar nicht ſchaden. Wenn wir uns dann einmal wiederſehn, werde ich ihn ſcharf examiniren, was er daraus behalten hat. O wann ſehen wir uns einmal wieder! Wann?

Willſt Du auch wiſſen, wo ich dieſen Brief ſchreibe? Auf einem großen Erntefelde, neben einem Haufen gebundener Garben. Da habe ich81 mir ein Tiſchchen und einen Seſſel ſtellen laſſen. Erſt habe ich mit unſern Kindern und den Dorf - leuten unſerm Pfarrer Garben binden helfen. Wir banden die erſten. Die Arbeiter brachten uns Aehrenkränze mit Roſen und Cyanen durchflochten. Wir theilten Brot und Erfriſchungen aus. Die Kinder mit ihren Kränzen auf den Hüten binden fort, ſo lange ſie mögen. Das Landvolk jauch - zet, die Kinder ſingen Erntelieder. Der Pfar - rer arbeitet mit; Deborah bereitet den Mähern und Binderinnen das Abendeſſen, welches wir, wenn es heut Abend nicht zu kühl wird, mit den Andern hier auf dem Felde verzehren. Dieſen Morgen las ich mit den Kindern das Eleuſiſche Feſt von Schiller. Wir hatten unſere poetiſche Stunde hier im Freien unter einer weitſchatten - den Eiche, dicht am Felde wo angemähet werden ſollte. Der Pfarrer ſelbſt nahm heute Theil. Alles ward mit mir begeiſtert, als ich anfing: Windet zum Kranze die goldenen Aehren, flech - tet auch blaue Cyanen hinein; Freude ſoll jedes Auge verklären. u. ſ. w. Wir alle waren vom Stücke ergriffen, als ſähen wir die Ernte - Göt -(11)82tin einziehen, und es verſchmolz die ſchöne Gegen - wart mit der grauen fabelhaften Ferne, mit dem rohen kindlichen Alter der Welt, deſſen man nicht gedenken kann, ohne im Jnnerſten bewegt zu ſeyn, und ohne des eigenen erſten Geiſteserwachens aus der Thierheit zu gedenken. Könnt ich Dich zu uns herzaubern, daß Du Deine Mädchen als Garbenbinderinnen ſäheſt! Aber welche Kluft iſt zwiſchen uns! Die Kinder ſind ungemein reizend unter dem Haufen Landvolk. Mathilde wird ei - nen hohen ſchlanken Wuchs bekommen, ſie ragt ſchon jetzt ſtark hervor. Dieſen Abend wird im Pfarrhofe getanzt. Der Pfarrer hat Prager be - ſtellt, die vor ein Paar Tagen hier durchgezogen. Es verſteht ſich, daß unſere vier Binderinnen auch mittanzen, und Deine Freundin nicht minder. Es kommen auch einige junge Leute aus der Nach - barſchaft dazu.

Lebe wohl für heute. Jch werde morgen viel - leicht noch etwas hinzuſchreiben. Die Poſt geht erſt morgen Abend hier durch.

83

Da bin ich wieder, wie ich geſtern verhieß. Jch ſitze am offenen Fenſter meiner Schlafkammer, von wo man ein großes reiches Garbenfeld über - ſieht. Jch athme die herrlichſte Kühle. Bis Mitternacht tanzte das Völklein, und jetzt mit Sonnenaufgang iſt alles ſchon wieder auf dem Platze, in fröhlich reger Thätigkeit. Unſere lieben Mädchen liegen noch in tiefſter Ruhe. Sie ha - ben viel getanzt, und waren geſtern am Tage un - gewöhnlich geſchäftig. Jch ergötze mich wechſelnd am herrlichen Schauſpiele draußen, und am An - blick der lieblichen Schläferinnen neben mir. Ma - thildens ſtolzen Zügen gibt die tiefe Ermüdung etwas überaus reizendes. Jda iſt das Bild der heitern Ruhe. Clärchens Geſicht iſt gar poſſier - lich verzogen. Wie reizend waren die lieblichen Geſchöpfe geſtern Abend beim Tanze. Der Platz war hübſch erleuchtet. Unſere Gäſte waren: ein Amtmanns Sohn mit ſeiner kleinen Schweſter, und zwei junge Barone von 17 und 18 Jahren mit ihrem Hauslehrer, der ein Freund unſers Pfar - rers iſt, wurden geſtern zuerſt von letzterm bei uns eingeführt.

84

Die beiden Barone ſind wackere junge Leute. Sie werden nächſten Winter mit Herrn Voigt auf die Akademie gehen. Der Jüngere heißt Julius, der Aeltere Theodor. Die beiden Leute haben gar angenehme Sitten. Bei unſern Kin - dern verlor ſich die kleine Schüchternheit bald genug; ſie tanzten völlig unbefangen mit ihnen. Der Amtmanns Sohn mag etwa 20 Jahr alt ſeyn. Er heißt Bruno, und iſt nicht ganz leicht zu kennen, wenigſtens mag ich noch nichts be - ſtimmtes über ihn ſagen. Auch Herr Voigt tanzt recht nett. Zuerſt war der Ball allgemein: un - ſere Kinder tanzten der Reihe nach mit allen Ar - beitern, die ſich ein Herz faſſen konnten, ſie aufzu - fodern. Und ſo thaten die Fremden mit den Bin - derinnen aus dem Dorfe. Hernach als es drauſ - ſen kühl ward, zogen wir hinein nach der Haus - flur, und die Leute blieben auf ihrem Tanzplatz im Freien.

Bei Jda ſchien das Andenken an jenen Hunde - tanz völlig erloſchen: Sie tanzte mit einer Gra - zie, die alles, auch unſern Pfarrer entzückte. 85Mich düukt, ich ſelbſt hätte ſie nie ſo tanzen ſehen. Ob wohl ſchon ein dunkles Gefühl, ein ſtilles Sehnen zu gefallen, erwachen mochte? Und doch, ſie war ſo kindlich unbefangen, ſo ganz heiter und frei. Mathilde war ganz in der Freude des Tanzes verloren. Clärchens Manier hat noch immer einen kleinen Anſtrich des Bäuri - ſchen. Aber die friſche Blüthe ihrer Wangen, und das liebe treuherzige Auge, und ihre ganze faſt ſchweſterliche Art, mit dem Landvolk umzu - gehen, machten ſie äußerſt liebenswürdig. Die guten Leute konnten ſich nicht ſatt an ihr freuen. Betty tanzt nicht. Aber ſie bot mit ſehr hübſcher Art Erfriſchungen umher. Um 1 Uhr gingen die Herren nach Hauſe. O Emma, wie iſt die Welt oft ſo ſchön! Und es gibt Tage, wo dies Ge - fühl durch alle unſere Adern gewaltig ſtrömt. Wie heiter ergoß der Lebensſtrom ſich durch mein ganzes Weſen. Und was war es denn, das mich ſo überfroh machte? Nichts anders als der Ein - klang aller, die rein harmoniſche Stimmung des ganzen Kreiſes, der mich umgab.

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Sieben und vierzigſter Brief.

Hier ſind Briefe aus Hamburg. Als die auf die Poſt gegeben wurden, waren unſere Beiden ſchon auf der Oſtſee. Jetzt ſind ſie vielleicht auch von Koppenhagen ſchon wieder abgereiſ’t, und auf dem Wege nach Norwegen. Sie wollen bis Tor - nen. Jch fürchte nur, daß ſie mit der ſchönen Jahrszeit nicht völlig mehr ausreichen. Jn Tor - nen hätten ſie am Ende des Junius billig eintref - fen ſollen, damit ſie das große Schauſpiel einer nordiſchen Mitternacht, von der Sonne vergol - det, in ſeiner ganzen Pracht geſehen hätten. Auf die Berichte von dorther freue ich mich. Die wer - den wir aber wohl erſt mündlich, oder wenig - ſtens dann erhalten, wenn die beiden uns ſchon wieder näher ſind. Sie machen eine recht nei - denswerthe Reiſe.

Mein kleines Häuflein hat ſich ſeit meinem letz - ten Briefe wieder um ein Schäfchen vermehrt. Einige Tage nach unſerm Ball ließ ſich Bruno87 bei mir melden. Seine kleine Schweſter Hertha begleitete ihn, und ſeine Bitte, das Kind bei mir zu behalten, war ſo rührend, daß ich nicht zu widerſtehen vermochte. Jch verſprach ihm, es wenigſtens zu verſuchen, ob ſie ſich in unſers Hau - ſes Ordnung leicht finden könne, und der Gang unſers Lebens durch ſie nicht zu ſehr geſtört würde. Die Kleine iſt 11 Jahre alt, und hat ſeit 4 Jah - ren keine Mutter mehr. Da iſt ſie nun im höch - ſten Eigenwillen aufgewachſen, hat den Vater wie das Hausgeſinde beherrſcht und gequält, und gehorcht niemand, als dem Bruder, aber auch dem ungern und mit Murren. Sie ſcheint nie - mand und nichts zu lieben, als ſich ſelbſt, und ob ihre Jndolenz oder ihr Starrſinn größer ſey, iſt für mich noch unentſchieden. Bruno war von unſern Kindern entzückt, und meynt, wenn Her - tha nur um mich und mit dieſen Kindern ſeyn dürfte, müſſe ſie anders werden.

Er hat es vom alten Vater halb ertrotzt, daß er das Mädchen von ſich läßt, welches ſein Aug - apfel iſt, ſo unliebenswürdig ſich das ſonderbare88 Geſchöpf auch darſtellt. Auf ein feſtes Verſprechen konnt ich mich nicht einlaſſen, wenn gleich mich die Bruderliebe innig rührte. Hertha, welche zu Hauſe an tödtender Langeweile leidet, weiß nicht anders, als daß ſie zum Vergnügen und bloß als Beſuch bei uns ſeyn. Eine ſchwere Aufgabe wird ihr Unterricht ſeyn. Sie iſt faſt in allem hinter den andern zurück, und ich müßte dieſe entweder ſehr aufhalten, oder Hertha faſt alle Stufen überſpringen laſſen, wenn ich ſie mit den dreien unterrichten wollte. Jch werde ſie alſo allein zu mir nehmen, während die drei andern in der - che beſchäftigt ſind, denn in den Geſchäften der Haushaltung übertrift ſie die andern weit, ſelbſt Clärchen und das iſt mir höchſt willkommen. Am hinderlichſten iſt ſie uns des Morgens und Abends, und bei jeder Herzensergießung, die ih - rem rohen Gemüth fremd iſt. Da iſt die bloße Gegenwart jedes Uneingeweihten läſtig, ja ſtö - rend. Jch habe ſie deshalb in dem kleinen Ka - binett dicht an unſerm Schlafzimmer hingebettet.

Wenn ſie uns erſt mehr angehört, nehm ich89 ſie näher. Bis jetzt habe ich ſie noch faſt unbe - ſchäftigt gelaſſen, weil ſie einen großen Wider - willen gegen alle weibliche Handarbeiten, wie gegen jede Anſtrengung des Kopfes bezeigt. Das einzige was ſie gern mit uns thut, iſt ſpazieren gehen; und da hält ſie ſich an meiner Seite, und will immer erzählt haben. Da wechſeln dann die Drei mit mir ab. Sie ſehen es alle, wo es Hertha fehlt; doch ſind ſie ſehr liebreich ge - gen ſie. Mathilde kam geſtern Abend beim Schlafengehen zu mir, ergrif meine Hand und küßte ſie mit Heftigkeit. Jetzt, du gute Tante, fühle ich es zum erſtenmale ganz, was ich dir verdanke. Wenn ich Hertha anſehe, iſt es, als ob ich mich ſelbſt im Spiegel ſehe, wie ich vor ein paar Jahren noch war. Aber ich will dir auch helfen, Hertha zu beſſern. Wir alle Drei haben es verabredet, daß wir ſie nie tadeln, ihr niemals widerſprechen, und ihr immer nur ein |ſtilles Beiſpiel ſeyn wollen. Jch mußte ſie herzlich an mich drücken. Und willſt du das, mein theures Kind? Wie könnt ich dir, beſte Tante, ſonſt auch die Engelsgeduld(12)90vergelten, die du mit der ſtörrigen Mathilde ſo oft hatteſt und noch immer haben mußt? Jda und Cläre kamen dazu und beſtätigten, was Ma - thilde für ſich und ſie verſprochen. Und wir leg - ten uns mit dem Himmel im Herzen zur Ruhe. Schlaf auch Du ſanft, liebſte Emma! und ver - gilt meine umſtändlichen Berichte bald mit Aehn - lichen. Dieſe neue Sorge gibt meinem Leben einen neuen Reiz. Bald hörſt Du wieder von uns.

Acht und vierzigſter Brief.

Hertha macht uns viel zu ſchaffen. Das gibt eine ganz neue Schule für meine andern Drei. Da gilt es Geduld und ausharrende Liebe.

Von den lieben Mädchen laſſe ich es abhängen, ob Hertha bei uns bleiben ſoll, oder ob wir ſie wieder zurückſenden. Oft macht ſie es den andern allzuſauer, und achtet auf keine ſchweſterliche Weiſung. Oft ſcheint es mir, als ob die gedul -91 dige Liebe der Andern Hertha zur Verkehrtheit reizte, als ob ſie verſuchen wollte, wie weit ſie es treiben dürfe? Ein ruhiges Machtwort von mir wirkt dann wie ein Zauberſchlag. Aber ich fürch - te, daß dieſe Sprache mit der Neuheit ihre Ge - walt über das ſtörrige Geſchöpf verlieren möchte. Kommt es dahin, daß dieſe Waffe an der Unart ſtumpf wird, gehört ſie zu den Kindern, die durch körperlichen Schmerz orientirt werden müſſen, dann muß ich ſie aufgeben. Dies kann meine Weiſe nicht werden. Meine Natur ſträubt ſich mit Abſcheu gegen dieſe Mittel; obgleich ich ein - ſehe, daß es Fälle geben kann, wo körperliche Züchtigungen die einzigen Beſſerungsmittel ſind. Und wie müßte der Anblick äußerſter Strenge auf ſolche Gemüther wirken, die keine andere Gewalt je an ſich erfuhren, als die der Vernunft und Liebe!

Hier ein kleines Stück vom geſtrigen Tage.

Hertha iſt grenzenlos unordentlich. Jm väter - lichen Hauſe war ſie gewohnt, daß die Mägde92 ihr alles nachräumten. Das ſtille Beiſpiel unſe - rer Kinder wirkt noch gar nicht auf ſie. Sie macht alle Zimmer, wo ſie ein Weilchen hauſet, zu Polterkammer, wo alles durch einander liegt.

Komm, Hertha, ich will dir deine Sachen in Ordnung bringen helfen ſagte Mathilde gar liebreich zu ihr. Jch will nicht war ihre rauhe Antwort. Aber Tante leidet eine ſolche Unord - nung im Hauſe nicht; wie wird das werden, wenn ſie ſieht, wie alles bei uns herumfährt? Jch will nicht, gab ſie noch einmal zurück. Jetzt trat ich aus dem Kabinett, aus welchem ich den Kindern zugehört. Komm jetzt gleich, Hertha, und mache Ordnung, ſagte ich ruhig, aber feſt: Sie ſah mich forſchend an, ob ſich wohl etwas gegen mein Wort thun ließe. Endlich ſagte ſie: Mathilde muß mir aber helfen. Mathilde hat es dir angeboten, du haſt es ausgeſchlagen; diesmal wird ſie dir nicht helfen. Jch gab den dreien ein Geſchäft, welches ſie entfernte. Jch werde hier oben bleiben, ſagt ich, um dir zu Hülfe zu kom - men, wo es nöthig thut. Jch ſetzte mich an den Stickrahmen, und ſahe ihr aus der Ferne zu. 93Es ging recht gut. Sie warf von Zeit zu Zeit einen verſtohlnen Blick auf mich, und forſchte, ob ich noch ſehr ernſt wäre. Als ſie fertig war, trat ich zu ihr, ſahe ſie freundlich an, und woll - te hinunter gehen. Heute haſt du mich wohl nicht gern, Hertha? Sie erröthete ſtark. Wir werden noch gute Freunde werden, Hertha. Jetzt nimm Hut und Handſchuh, wir wollen ſpa - zieren gehen, wenn du mit willſt. Sie folgte, und wir machten einen der fröhlichſten Spazier - gänge; die andern waren liebreich mit ihr, und ſie wurde bald zutraulich. Lebe wohl, ich darf heute nichts mehr hinzuſetzen.

Neun und vierzigſter Brief.

Wären unſere lieben drei nicht ſchon ſo weit, als ſie ſind, ſo wäre es ſehr waglich, ihnen eine ſolche Geſpielin zu geben, wie ſie an Hertha be - kommen. Jetzt kann es ihnen wenig Nachtheil bringen. Ja dieſer tägliche Umgang wird ihnen94 eine Vorbereitung auf das Leben in der Welt, wo ſie demnach lernen müſſen, mit Menſchen auszukommen, die ſehr anders geartet ſind. Hertha macht ihnen aber dieſes Studium recht ſauer. Bei einer völligen Rohheit und Unwiſſenheit hat ſie einen Dünkel, eine Rechthaberei, die oft eben ſo lächerlich als empörend ſind. Und hier das Mit - tel zu treffen zwiſchen allzu willfähriger Nachgie - bigkeit und allzu ſtrengem Widerſtande, wovon die eine ſie immer ſtarrköpfiger und eingebildeter, und die andere vielleicht bitter machen würde, iſt gar nicht leicht. Doch nehmen ſich unſere lieben Mädchen vortrefflich, und Hertha fängt an, ſich ſehr bei uns zu gefallen. Auch hat ſie bei aller Rohheit einen lebhaften Geiſt, der oft gleich Blitz - ſtrahlen hervorbricht, und die andern angenehm überraſcht. Durch dieſe Anlage zum Witz kann ſie einſt recht intereſſant werden. Aber wehe de - nen, die in ihrer Nähe leben müßten, wenn ihr grober Egoismus nicht gebändigt würde! Der Witz an ſich iſt ſchon ein bedenklicher Genoſſe der Weiblichkeit; aber mit Stolz, Egoismus, Dün - kel und Liebloſigkeit vereint wer kann ihn am95 Weibe da noch dulden? Eine Zeitlang will ich es noch verſuchen, was mit dieſem ſonderbaren Geſchöpfe auszurichten ſtehet. An mich wagt ſie ſich mit ihren Einfällen nicht: deſto öfter aber lauert ſie Mathilden auf. Auch an Clärchẽn reibt ſich ihr Muthwille nicht ſelten. Vor Jda hat ſie eine Art frommer Scheu; aber Jda beträgt ſich auch untadelhaft gegen Hertha, und duldet ihre Unarten mit einer höchſt liebenswürdigen Sanftmuth. Mit dem Geſinde hat Hertha täg - lich Händel; denn ſie kann es gar nicht faſſen, daß auch die dienenden Menſchen ein Gefühl ha - ben, welches geſchont ſeyn will, und meynt, daß ſie durchaus geſchaffen ſind, unſern Launen zu willfahren. Der Magd eine Ohrfeige geben, und dieſe mit einem Dukaten wieder gut machen, meynte ſie neulich, das ſey doch wohl nichts ſchlim - mes, und die Magd könne ſich immer freuen, auf eine ſo leichte und geſchwinde Art zu ſo einem Goldſtück gekommen zu ſeyn. Ueber dieſer Be - hauptung kam ich hinzu, als ich nach Tiſch im Garten geweſen war. Lieſel war nämlich beim Ab - räumen des Tiſches unvorſichtig, und ſtieß ein96 Glas um, wodurch Hertha ein wenig naß ge - macht worden. Hertha ſchalt ſie einen Klotz. Lie - ſel ward feuerroth und ſagte nichts. Jda ergrif der Lieſel Hand, drückte ſie liebreich und ſagte: liebe Lieſel, ſo etwas begegnet einem wohl ein - mal, ich habe geſtern auch eins umgeſtoßen. Jch thue es nun ſo bald nicht wieder, denn ich habe jetzt beſſer acht. Lieſel hatte eine Thräne im Auge, und ging hinaus. Hertha ſah die Thräne nicht, und ſagte zu Jda: wer wollte doch mit der Dienſt - magd ſo viel Aufhebens machen! Unſere Mägde mußten ſich ganz andre Dinge gefallen laſſen. Manche Ohrfeige haben ſie umſonſt bekommen, aber manche hat mein Vater ihnen auch hernach bezahlt, und noch neulich hat die Gunda für eine einen Dukaten bekommen. Hier kam ich dazu und ließ mir das andere erzählen. Ja, was iſt denn nun mehr, ſagte Hertha; eine Magd muß ja wiſſen, daß ein Unterſchied iſt unter Menſchen. Jch faß - te Hertha ſcharf ins Auge, und ſchaute ſie bei dieſen Worten lange unverwandt an. Ein Unter - ſchied (ſagte ich) iſt allerdings jetzt zwiſchen Dir und Lieſel, und ein recht großer. Hertha97 fühlte, was ich ſagen wollte, und ſo gern ſie jeden ſonſt fixirt, der ihr etwas Belehrendes ſagen will, um ihn außer Faſſung zu bringen, ſo ſchlug ſie jetzt ſehr betroffen die Augen nieder. Jch entließ ſie damit, und rief die Lieſel, der ich nun ein Geſchäft anwies, welches eine eigene Behendig - keit fodert, indem ich ihr freundlich ſagte: gute Lieſel, mache ſie es auch recht ſacht, ich weiß ja, daß ſie das verſteht; ich verlaſſe mich auf ſie. Jetzt war das Erröthen an Hertha. Sie ward roth bis zu den Ohren, und wußte nicht, wo ſie hinſehen ſollte.

Und daß ich ſie ſo weit habe, iſt ſchon etwas. Jſt nicht dies Erröthen ſchon ein großer Schritt zum beſſer werden? Jetzt kommt es hauptſächlich darauf an, dies Gefühl in dem Kinde zu ſchonen und es nicht gar zu oft in dem Grade zu erregen. Manche unwichtigere Unart werde ich ungeahndet müſſen durchgehen laſſen, damit ſie ſolche Beſchä - mungen nicht gewohnt werde, und ſie allzuleicht ertragen lerne.

Manche ſchnippiſche Antwort wird fürs Erſte noch ganz überhört werden müſſen, und manche(13)98Fratze, die ſie im Unwillen ſchneidet, überſehen, wenn nicht mir das Zurechtweiſen und ihr das ge - tadelt werden zu geläufig werden ſoll. Beim Ge - ſinde ſcheinen unſere Kinder Hertha’s Unarten durch doppelte Freundlichkeit vergüten zu wollen.

Vieles hätte ich Dir heute noch zu ſagen, aber ich muß ſchnell abbrechen, man ruft mich eilig hinunter. Lebe denn wohl, recht wohl für heute!

Fünfzigſter Brief.

Viele Wochen ſind uns gar traurig dahin ge - ſchlichen, ſeit ich Dir nicht ſchreiben konnte. Der letzte Brief an Dich, von dem ich abgerufen ward, liegt noch unvollendet. Jch wollte den Zeitpunkt abwarten, wo ich Dir fröhliche Nachricht geben könnte; aber das währt vielleicht noch lange.

Es war ein heißer Septembertag, als ich Dir ſchrieb. Betty, welche ſehr zart iſt, hatte den Morgen viel geſchaft und ſich ſtark erhitzt. Sie99 ſteigt hinab in den Keller, um dem Vater einen recht friſchen Trunk Wein zu holen. Sie wird ſchwindlicht und ſtürzt die halbe Stiege hinunter, wo ſie ohne Bewußtſeyn eine Zeitlang liegen bleibt. Clärchen vermißt ſie endlich, und frägt im ganzen Hauſe nach ihr herum. Dem Vater fällt es ein, daß ſie vor einer Weile in den Keller gehen wollen. Clärchen geht ihr nach und findet ſie unten am Boden bleich und bewegungslos lie - gen. Eilig fliegt ſie hinauf und ruft: Vater! o Vater, Betty! Jhr ganz zerſtörtes Geſicht, ihr plötzliches Verſtummen läßt das allerſchlimmſte ahnen. Jſt Betty todt ? fragt Deborah mit ſchneidendem Schmerz und ſinkt hin. Welche Verwirrung! man ruft mich eilig. Der Pfarrer wußte nicht, wem er zu Hülfe eilen ſollte. Jch bringe Deborah mit ſeiner Hülfe ins Bett, und laſſe Jda bei ihr, ſteige dann in den Keller hinab. Es ward das Nöthige angewendet, Betty wieder ins Bewußtſeyn zu bringen. Sie erholte ſich bald; aber die Mutter war ſichtbar verändert, und iſt ſeitdem ſehr ſchwach. Nur wenige Stunden kann ſie am Tage außer dem Bett ſeyn. Mit ſicht -100 baren Schritten geht ſie der Vollendung entgegen. Jhr Blick wird täglich klarer, ihre Phyſionomie immer heiliger. Der Schmerz bildet ein bleiben - des Lächeln in ihren Zügen. Jmmer, es ſey Tag oder Nacht, iſt eine von uns in ihrer Nähe. Ha - be ich jetzt die himmliſche Wache ſchon ſichtbar um mich? ſagte ſie neulich. O wer wird euch eure Treue für mich vergelten! Jch kann es ja nicht mehr. Aber ſo im Hauch der Liebe vergehen, heißt das denn auch ſterben? Wenn die Blätter abfallen, dann falle auch ich, aber ich falle ſanft wie ſie, und noch mehr bedauert aber nein, ihr werdet nicht trauern, ihr liebt mich zu ſehr. Der Weg iſt dunkel, den ich noch gehen muß; aber der Stern des neuen Morgens glänzt mir immer heller und heller, je enger der Weg, je dunkler die Nacht um mich wird. Es war eines Abends, als ſie ſo red[ete], wir alle waren um ihr Bett verſammelt. Es war eine heilige Stille. Clärchen ſchien im Schmerz zu vergehen. Seitdem ſind wieder Tage oder doch Stunden voll Lebenshoff - nung eingetreten. Nur Deborah ſcheint nicht zu hoffen. Doch ſagt ſie das nicht gerad aus.

101

Von unſern Reiſenden ſind wieder Briefe da. Jch lege ſie den meinigen bei. Jhr Aufenthalt in Norwegen ſcheint ſie ſehr froh zu machen. Von Schweden werden ſie nach der ſchönen Jnſel - gen gehen, dann durch einen Theil des preußi - ſchen Pommern nach Berlin, von da nach Dres - den. Doch von Berlin aus haben wir wieder um - ſtändliche Nachricht.

Lebe wohl! Leben iſt ein ernſtes Geſchäft, aber ſterben iſt noch ernſter. Jch werde vielleicht lan - ge nicht wieder ſchreiben. Und ſelbſt die Kinder werden es während dieſer Szenen bei uns nicht können.

Ein und fünfzigſter Brief.

Verzeihe, meine geliebte Emma, verzeihe der trauernden Freundin, dies ungewöhnlich lange Verſtummen. Unſern ſchönen Landſitz haben wir auch dieſen Winter nicht verlaſſen, obwohl er102 noch vor dem Winter verödete. Von den Kindern haſt Du wenigſtens ſeither Nachricht über unſern Geſundheitszuſtand erhalten. Laß mich jetzt von den Begebenheiten dieſes langen Zwiſchenraumes einiges nachholen.

Bald nach meinem letzten Briefe ward Debo - rah immer ſchwächer und nahete dem Ende immer ſichtbarer. Die Kinder hatten wechſelsweiſe die Aufwartung, ſo daß immer eine beſtändig um die Kranke war, die andern gingen ab und zu. Mit der ſtörrigen Hertha hatte ich eine Art Vertrag geſchloſſen, daß ſie, ſo lange Deborah leiden wür - de, durchaus gehorſam und ſtill wie ein Lamm ſeyn, oder ins väterliche Haus zurückgehen müſſe. Der hieſige Aufenthalt mußte ihr ſchon lieb ge - worden ſeyn; denn ſie wählte das erſte. Jch gab ihr viel zu thun, und verſprach, wenn ſie es gut machte, daß auch ſie uns in der Krankenpflege un - terſtützen ſollte. Und dazu kam es am Ende. Die Kranke war nach jenem feierlichen Abend recht ſtill und ſehr ſchwach: doch flammte, wie bei ſolchen Kranken gewöhnlich, das verlöſchende Licht103 oft noch recht hell wieder auf, daß ſo gar der Arzt wieder ernſte Lebenshoffnung gab. Auch De - korah ſagte dann wohl mit einem ſchmachtenden Durſt nach Leben: Ach! ſagt mir doch, werde ich noch bei euch bleiben? O heißt mich hoffen, ihr Guten, daß ich noch ferner mit euch wandeln ſoll. Jhr Mann ſchien mit dem Himmel um ihr Leben zu ringen: Nein, Deborah, du wirſt nicht ſter - ben, du darfſt noch nicht von uns gehen! Wir können dich noch nicht laſſen. Dann blickte ſie mich ſehnſüchtig an, als wollte ihr Leben ſich an meinem halten: o ich kann noch nicht von euch gehen, Gatte, Freundin, Kinder, ich will noch nicht ſterben, will noch nicht ſelig ſeyn! Jn der nächſten Stunde war dann alles anders, dann war ſie ſo ſtill, ſo ſanft, lächelte uns alle an mit himmliſcher Ruhe, ſchüttelte verneinend das Haupt zu jeder Lebensverheißung, wollte ſelbſt die verordneten Tränke nicht nehmen, und gab nur endlich den zärtlichen Bitten des Mannes und der Kinder nach.

Wenn ſie recht heiter war, dann rief ſie uns alle zu ſich, und wir bildeten einen Halbkreis um104 ihr Bett. Dann mußten wir ihr, jedes aus un - ſerm Leben, etwas erzählen, das ſie noch nicht gehört oder gern wieder hören wollte. Wun - dern ſie ſich nicht, Freundin, warum mein herr - licher Freund dort ſie blickte nach ihrem Man - ne mich nicht über das belehrt, was hinter dem Vorhange glänzt, an dem ich ſo nahe bin, daß ich ihn ſchon berühre? Nein, Deborah, mich wundert das nicht. Jhr Wandel war im Himmel; ihr reines ſeliges Herz hat hier ſchon Gott geſchaut. Was ſollte dein Freund dich lehren, du himmliſches Gemüth? ſagte ihr Mann. Uns lehre dein Weg, uns lehre dein heiliges Herz. Du ſieheſt den Himmel offen, und wirſt auch mit uns noch einen neuen Frühling ſehen.

Die Kinder waren ganz in liebender Rührung hingegeben. Unſere Kinder ſind durch dies Kran - kenbett, und beſonders durch die letzten Szenen, am Gemüth ſehr ſchnell gereift. Betty iſt in tiefe Schwermuth verſunken. Jhr getrübter Blick verwechſelt Schuld und Urſache. Sie kann ſich nicht tröſten, daß ihr Fall der Mutter Hinſchei -105 den nach ſich gezogen. Doch ich fahre in der Er - zählung fort. Unter wechſelnder Hoffnung und troſtloſer Reſignation verlebten wir noch einige Wochen. Endlich, an einem ſchönen heitern Win - termorgen voll Frühlingshoffnung, ließ Deborah uns wieder alle zu ſich bitten. Es war noch früh. Orion erloſch im Weſten. Der Oſt röthete ſich ungewöhnlich ſchön. Dies iſt die letzte irdiſche Morgenröthe für mich; laßt ſie mich noch mit euch ſehen. Mit ſehr ſchwacher Stimme ſprach die Kranke dieſe Worte. Die Kinder zerfloßen in Thränen.

O nimm mich mit dir, Mutter, rief mit Hef - tigkeit die blaſſe faſt ganz verſtummende Betty. Jch darf, ich will nicht mehr leben. Der Vater kämpfte mit zerreiſſendem Schmerz, und kämpfte um Ruhe: er wollte der letzten Augenblicke ſeiner geliebten Deborah keinen verlieren. Flehend um Ruhe ſah er Betty an. Bleibt alle noch recht nahe bei mir, daß ich eure Blicke voll Liebe ſchaue, bis mein Auge bricht; ſo lange mein Ohr noch Töne aufnehmen kann, laßt mich Worte der Liebe(14)106hören. Jch nehme ſie alle mit ins ſelige Land, dieſe Blicke, dieſe Worte der Liebe. Nicht wahr, Herrmann, beim Orion, oder wo Gott ſonſt will, finden wir uns wieder? Sage es mir noch ein - mal, daß wir uns alle wieder haben werden, wenn auch ihr von der irdiſchen Morgenröthe ſcheidet. Aber noch dürft ihr nicht zu mir kom - men! Die Erde bedarf ſolcher Menſchen noch, wie ihr ſeyd, und die Erde iſt ſie nicht auch ein Tempel Gottes? Nein, ihr dürft noch nicht zu mir kommen. Aber ich darf es, Mutter, ich habe hier nichts mehr zu ſchaffen, wenn du hinweg geeilt biſt. Jch winkte Betty flehend, ihres Vaters zu ſchonen. Wie habt ihr mich alle ſo himmliſch geliebt! Betty, du mußt noch lange bei dem Vater bleiben, denn der Vater darf noch nicht von ſeinen Pfarrkindern ſcheiden; alle wiſſen den Weg noch nicht recht, den ſie gehen ſol - len. O wie hätte ich dich ſo gern noch einmal zu Allen reden gehört von dem Wege, der zum Leben führt zum Leben, dem ich ſo ganz nahe bin. Jch kann nur nicht reden, ſonſt würde ich euch wohl ſagen, wie es um dieſes Leben ſtehe; ich107 fühle es ja ſchon in mir. Weint doch nicht ſo, ſonſt werde ich dem Himmel wieder abgewandt o weint nicht ſo! Seht doch nur, wie ſelig ich ſchon bin! Sie ſank ermattet auf’s Kiſſen zurück. Jch bin ſo müde bald werde ich ausruhen. Lebe wohl, mein Herrmann! du haſt mich ſehr, ſehr, ſehr geliebt, aber ich habe dich auch geliebt, ſo viel ich ſchwaches Geſchöpf nur immer konnte; bald werde ich auch das beſſere können, wenn ich nicht mehr müde bin. Lebe wohl, mein Herrmann! Lebe wohl, Freundin! und ihr, meine Kinder, meine Betty, meine Cläre ich weiß ja nicht, welche die beſte von euch war: ich muß euch mit einander ſegnen. Und auch Jda, und Mathilde, und Hertha nein, ich kann euch eure Liebe nicht mehr danken. Jhr wißt doch, daß es da, wo ich hingehe, viel, viel ſchöner iſt, als hier; wenn ich ein wenig ſchlummere, dann ſehe ich’s aber ausſprechen kann das keine Zunge. Jch will nun wieder ſchlummern, lebt Die Worte erſtarben, das Auge verloſch, der Athem ſtand ſtill, ſie war geſchieden. Jch blieb mit den Kindern noch eine108 Weile in ſtiller Betrachtung am Bette der Ent - ſchlafenen; dann führte ich die Meinen hinaus in’s Freie. Die Sterbeglocke, die auf den Dör - fern das Verſcheiden eines Mitgliedes der Ge - meine ſogleich ankündigt, wurde gezogen. Die Kinder zerfloßen in lautem Weinen. Jch ließ ſie ausweinen, ging dann, und ſuchte den Pfarrer auf, den ich mit ſeinen beiden Töchtern in den erſten heiligſten Augenblicken ihrem Schmerze al - lein überlaſſen hatte. Wir ordneten mit einan - der das Nöthigſte an. Bis zur Beerdigung wa - ren wir alle den ganzen Tag im Hauſe; nur Abends ging ich mit den Kindern in unſer ſtilles Gemach. Ganz furchtlos gingen die Kinder mehr - mahls hinan an die entſeelte, immer noch ſchöne, Hülle, ſo lange ſie noch unbeerdigt lag. Das heißt alſo ſterben? ſagte Jda leiſe zu mir, als wir mit einander das ſanfte Lächeln der Miene, und die ganz unentſtellt heitern Züge des lieben heiligen Angeſichts geſehen und hinaus gegangen waren. O es iſt mir ſehr lieb, daß du mir er - erlaubt haſt, bis auf den letzten Augenblick da zu bleiben. Nun fürcht ich mich nicht mehr vor dem109 Gedanken. Aber wie vieles muß ich doch noch fragen, was dazu gehört! Ach, ich kann ſo gar vieles dabei noch nicht begreifen, und mir wird ſo bang und beklommen, wann ich denke, daß dieſelbe theure Perſon, die im Momente noch ſo liebend zu uns allen ſprach, ſchon in der nächſten Minute nichts mehr nach uns fragte und nichts mehr von uns wußte; und wie ſie nun ſo ohne alle Theilnahme daliegt, uns nicht mehr tröſtet! O wie iſt das ſo ſeltſam, leben und ſterben! ich kann es noch ſo wenig begreifen. Wie kann man ſterben, wenn man einmal wirklich gelebt und wie kann man wieder leben, wenn man einmal ſo ganz geſtorben iſt, daß man nichts mehr von allem weiß, was um uns geſchieht.

Ganz begreifen wirſt du das auch künftig nicht, meine Jda. Es gibt noch außerdem viele Dinge, die nicht zu begreifen ſtehen, und über die man dennoch ohne allen Zweifel tief in der Seele ge - wiß wird. Aber wie iſt es denn damit, beſte Tante? Begreifſt du vielleicht die Kraft des Lebens, die im ſpäten Herbſt aus der Natur110 ganz verſchwunden ſcheint, ſo daß nichts wachſen, nichts aus der ſtarren Erde hervorgehen kann, und die ſich im Frühlinge zuerſt wieder mit leiſem Leben regt, und die Natur tief durchſchauert und durchzuckt, und eine Knospe nach der andern aufſchwellt, und ein Blümchen noch nach dem andern hervorlockt, bis ſie endlich mit der ganzen Fülle des neuen Lebens allmählig herausbricht? Geſehen, erfahren, empfunden haſt du das oft aber kannſt du es begreifen? O nein! Wohl hat man mir geſagt, wie die Jahrszeiten von den Richtungen herkommen, die unſere Erde viermal in zwölf Monaten nach der Sonne nimmt; ich habe das auch alles verſtanden; aber ich begreife darum doch den lebendigen Geiſt des Frühlings nicht; ich kann nur empfinden, wie er mich, und alles was da iſt, durchſchauert. Seit geſtern, liebe Jda, iſt es aber wieder ſehr rauh und freudenlos in der Natur, glaubſt du dennoch, daß der Frühling wiederkommt? O gewiß, gewiß!

Es iſt doch noch kein Blümchen da, es regt ſich noch nichts vom neuen Leben. Der Wind iſt111 ſchneidend, die Sonne verbirgt ſich und ſcheint erloſchen, und die Erde trauert. Wie weißt du denn, ob der Frühling wirklich wieder kommen werde? O er hat uns noch nie vergeſſen. Er iſt ja nach jedem Winter immer wieder gekehrt.

Jch. Und der einmal am erſten Frühling ge - ſprochen hat: die Erde laſſe aufgehen, Gras und Kräuter und Blumen die Fülle, der ſpricht es je - den neuen Frühling wieder. Und der einmal ſa - gen konnte: Es werde der Menſch ohne daß wir begreifen wie der Menſch ward, der kann auch zum zweitenmal ſchaffend ſagen: Kommet wie - der, Menſchenkinder! Und der dem ſeligen Geiſte unſerer Freundin dieſe ſchöne Hülle gebildet, die er jetzt verlaſſen, weil ſie ihm unbrauchbar ward, der kann ihm auch eine neue bilden. Das wann und wo und wie wollen wir ihm kindlich glau - bend überlaſſen. Wir umarmten uns ſchweigend, und waren bald am Hauſe.

Bei der Beerdigung, die nach der Landesſitte des Morgens früh geſchah, wollte die ganze Ort - ſchaft der Mutter folgen, unter dieſem Na -112 men war ſie von allen gekannt und geliebt. Die Knaben der ſehr gut eingerichteten Schule hatten Graun’s Auferſtehen, ja auferſtehen einge - lernt, und ſangen es, während der Sarg ver - ſenkt wurde, unter vielen, vielen Thränen des Gefolges. Unſere Kinder waren faſt aufgelöſ’t. Betty weinte nicht mehr, und ſehr wohl hätte ſie zum Monumente auf der Mutter Grabe dienen mögen smiling on grief, wie der Dichter ſagt. Die gewohnte Leichenrede hielt ein benach - barter Pfarrer; des Gegenſtandes nicht ganz un - werth. Sobald mein Freund Faſſung genug hat, will er ſelbſt zu ſeiner Gemeine über Tod und Ewigkeit reden. Das muß eine große Lehrſtunde für uns alle werden. Dann wollen wir, bis es vollends Frühling wird, noch auf ein paar Wochen mit einander verreiſen. Unſere Kinder ſind wohl. Dies diene Dir zur Beruhigung, wenn ſie ſo - bald nicht ſchreiben ſollten.

Lebe wohl!

113

Zwei und ’fünfzigſter Brief.

Platov und Woldemar, welchen ich unſern Verluſt nach Berlin hin berichtet, kürzten ihren dortigen Aufenthalt ab, um uns gegen Ende des April zu beſuchen. Jhr Hierſeyn hat wohlthätig auf uns alle gewirkt. Der Pfarrer und Platov haben ſich unauflöslich an einander geſchloſſen. Selbſt in Betty, welche ſichtbarlich verblich, regt ſich ein ſchwacher Funke von Kraft und Lebens - freude. Noch ſind ſie hier; und wie wir ſie dies - mal entlaſſen wollen, iſt mir unbegreiflich. Könnte, wollte der Pfarrer ſeine Gemeine auf ein paar Monate verlaſſen, um ſeine wankende Geſundheit herzuſtellen: wir zögen alle mit ein - ander nach der Schweiz, um dort die ſchöne Jahrs - zeit zu verleben. Jch bliebe dann mit den Mäd - chen in Genf, wenn wir die Gegenden des Lan - des mit ihnen bereiſ’t, worauf es uns am meiſten ankommt; und die Männer ſtreiften in den unbe - ſuchteren Theilen der Schweiz umher, bis wir ſämmtlich nach der Weinleſe wieder heimzögen. Aber ohne den Pfarrer können wir nicht, weil ich(15)114ihn eben ſo wenig ſeiner Kinder berauben, als die Familie jetzt mit ihrem gemeinſamen Schmerz allein laſſen darf. Es ſcheint ohnedies, als ſchlage dieſer Schmerz allzutiefe und breite Wurzeln bei dem Vater wie bei den Töchtern, und von uns allen war der Geiſt des Lebens gewichen un - ſere Reifenden fachten ihn wieder an. Geht aber alles, in dem noch friſche Lebensflamme wehet, aus dem Hauſe, ſo muß es nothwendig veröden. Woldemar iſt ein ſchöner Jüngling geworden. Der Schmelz der friſchen Blüthe verherrlicht die aufſtrebende Kraft. Jetzt heißt er Platov Du. Das Verhältniß des Mentors und Zöglings iſt ganz in ein Freundesverhältniß übergegangen.

Platov ſcheint mir jünger geworden. Das liegt nun wohl hauptſächlich in dem aufgehobenen Kon - traſt der Kindheit und vollen Reife, die man ſonſt hier neben einander ſah, aber es hat auch das Leben mit der friſchen Jugend eine eigne verjün - gende Kraft. Jn Woldemars Lage läßt ſich kein wirkſameres Bildungsmittel denken, als das Rei - ſen. Sein Talent zur Muſik iſt nicht gering. Er115 ſpielt Violin und Pianoforte mit großer Fertigkeit und mit Ausdruck. Aber es hat ſich in ihm noch ein anderes entwickelt, von dem wir alle wenig oder nichts ahneten. Als er neulich auf meinem Zimmer bei mir war, und eine kleine Zeichnung aus der Brieftaſche langen wollte, die er unter - wegs erbeutet, und worauf er viel hielt, weil ſie Betty ſo ſehr gliche, entfiel ihm ein Blatt. Es fiel in meinen Schooß. Jch laſ die Ueberſchrift, er erröthete. Soll ich es nicht leſen, Woldemar? Er wurde noch verwirrter. Meine Neugier wur - de rege. Er widerſtand nicht, und ich las, was du hier in der Abſchrift findeſt.

Der Hirte. Der Morgen.

Hirte.
Lieblicher kühliger Morgen, wie roth
Blüh’n dir die himmliſchen Wangen,
Still in heißem Verlangen,
Die entbluhete Welt zu umfangen;
Jſt dir dein Antlitz von Liebe ſo roth?
116
Morgen.
Wohl iſt mir von Liebe mein Antlitz ſo roth,
Wohl glühen, wohl blühn mir die Wangen,
Still in heißem Verlangen
Die entblühete Welt zu umfangen;
Hirte, deß iſt mir das Antlitz ſo roth.
Hirte.
Aber es träufelt der Thränen Fülle,
Dir in heiliger kühliger Stille
Von der roſigen Wange herunter
Und die Blümlein entblühen bunter,
Und die Vögelein ſchütteln ſo munter,
Schütteln ſo froh, ihr betropftes Geſieder:
Warum ſteigſt du weinend hernieder?
Morgen.
Frühe in heiteren Hallen der Nacht,
Hab ich, o Hirte, lauſchend gewacht,
Habe durchflattert die lüftigen Räume,
Habe belauſchet die ſeligen Träume.
O wie ſie ſchlummernd des Elends vergeſſen,
Nimmer die Plagen des Lebens ermeſſen,
Friedlich liegend, ſo Freund als Feind,
Alle am Buſen der Mutter vereint:
Deß hab ich in liebender Freude geweint.
117
Hirte.
Aber wenn nun der Schlummer gewichen
Wenn nun die friedlichen Träume verblichen,
Ach dann erwachet der Zwieſpalt der Kummer.
Morgen.
Abends labt wieder der freundliche Schlummer,
Und wenn die Träume nun alle verblühet,
Dann auch ein hellerer Morgen erglühet.

Darf ich das behalten, Woldemar? Ja, Tante, nun du es einmal geſehen haſt. Darf ich es dei - ner Mutter ſchicken? O ja. Auch ſie darf alles ſehen, was in mir iſt, und aus mir kommt.

Sein Reiſejournal wird er mit nächſtem an den Vater abſchicken. Was ich bis jetzt davon geleſen, kündigt einen treflichen Beobachter an.

Jeden Abend nach dem Eſſen bleiben wir am Tiſch verſammelt, und da werden mündliche Be - richte erſtattet. Bald erzählt Platov, bald Wol - demar. Der Pfarrer ſcheint dann wohl bis zum Lächeln erheitert. Und Betty, welche ſonſt an118 nichts mehr rechten Theil nimmt, freut ſich auf den Abend, und kann ihn nicht erwarten.

Mit Jda hat Woldemar einen noch zarteren Ton genommen. Sie ſchwebt um den Bruder, wie eine dienende Hebe um den Götterſohn. Clär - chen und Mathilde treten vor dem Jüngling ein wenig ſchüchtern zurück, ſo vertraut ſie auch mit dem Knaben waren. Er merkt das nicht. Seine ganze Aufmerkſamkeit iſt zwiſchen der Schweſter und der traurenden Betty getheilt. Wie viel der letztern davon gehört, ſcheint er ſich nicht bewußt zu ſeyn. Hertha ſtellt ſich, wo ſie nur kann, mit der gefliſſenſten Aufmerkſamkeit ihm entgegen. Bald bringt ſie ihm Blumen; bald will ſie ihm das eingeſchenkte Glas bringen; bald ihm Licht holen, wenn er ſiegeln will; kurz, ſie lauert auf jede Gelegenheit, wo ſie der Jda ein Dienſtchen wegſtehlen kann. Hätte der Schmerz nicht alle Gemüther zu größerer Milde geſtimmt: ich fürch - te, Jda’s Geduld käme durch Hertha auf eine zu harte Probe. Woldemar nimmt ihrer wenig wahr. Er nennt ſie die Geiß, oder auch den Rehbock,119 weil ſie alles, was ſie thut, mit gar wunderlichen Kapriolen begleitet. Sonderbar genug ſcheint bei ihr jetzt jede Miene berechnet zu ſeyn; was ſie auch thut, und wie ſie ſich geberdet, ſo blickt ſie immer nach ihm, ob er es auch bemerke.

Mathilden, welche recht ſchlank und ſchön her - aufgewachſen iſt, kleidet ihr ſtolz verſchämtes Zu - rücktreten ungemein gut. Ueber ihre ſehr glück - liche Aenderung freut beſonders Platov ſich, der mir neulich bekannte, er habe gar nicht viel von ihr gehofft, weil er ſie immer zu den gemeinen Naturen gezählt, aus denen eine recht all - tägliche Erziehung und ſtrenge Zucht gerade die brauchbarſten Menſchen bilde, und die eine höhere Natur vergebens ängſtige und quäle, weil ſie das Gemeine doch nimmer zu ſich hinauf zu ziehen vermöge. Recht weit ab von der Wahr - heit liegt dieſe Bemerkung wohl nicht; nur paßte ſie auf Mathilde nicht. Es gibt Naturen, die nur durch Strenge, ſelbſt durch körperliche Züch - tigung orientirt und zu dem angehalten werden müſſen, was die menſchliche Geſellſchaft unbedingt120 von jedem ihrer Mitglieder fodert. Eine ſolche Strenge zu üben, kommt nun aber dem wohlor - ganiſirten harmoniſchen Weſen erſchrecklich vor. Und Milde wo ſie nicht beſſert, verſtockt unaus - bleiblich. Aber woran ſind dieſe ſchlimmeren oder gröbern Naturen zu erkennen? Oft, ja faſt immer, iſt das nur Verwöhnung, was ein harter Mißton der Natur zu ſeyn ſcheint. Mathilde hat dieß hinlänglich bewieſen. Wenn Du ſie jetzt wiederſäheſt, wie würdeſt Du ſie lieben müſſen! Auch haben ſelbſt ihre harten Züge ſich gemildert. Sie hat eine fürſtliche Miene, aber Hochmuth iſt nicht mehr darin. Das findet auch Woldemar, der gewiß recht fein bemerkt. Wo iſt Ma - thildens ſtolzer Trotz geblieben? ſagt er neulich, als er ſie mit Clärchen ſo innig verſchwiſtert und in ſanfter Stille mit ihr die Haushaltungsge - ſchäfte theilen ſah. Jhr Hochmuth ſcheint mir jetzt Großmuth geworden. Vom Kornett haben ſie gute Nachricht mitgebracht. Es ſcheint die militäriſche Zucht gut auf ihn zu wirken. Aber der General, ein etwas finſterer, ernſter Mann, hält ihn auch recht kurz, gerade ſo, wie das bei121 ihm nothwendig war. Jndeſſen hat er ihm Urlaub verheiſſen, wenn in Jahresfriſt keine Klage über ihn einlief. Platov ſagt mir, der junge Menſch habe ein brennendes Verlangen, ſeine Schweſter unter uns zu ſehen, und werde ſich ſchon zuſam - mennehmen. Er hat Mathilden durch Platov einen Brief geſandt, der zwar elend genug ſtiliſirt iſt, und noch elender geſchrieben, worauf die gebil - detere Schweſter aber dennoch große Tropfen fallen ließ, als ſie ihn las. Der General iſt, trotz ſeiner Strenge, gütig genug gegen ihn, ihm mehrere Leh - rer zu halten, damit er ihn aus der gröbſten Roh - heit heraus reiſſe. Und dies Glück ihres Bruders machte der Schweſter Thränen fallen. O ich möchte ihm die väterliche Hand küſſen, rief ſie aus, als ſie las, daß er ihm Lehrer im Zeichnen und in der Mathematik halte. Jch ſchließe dieſen Brief, und kann es um deſto eher, da alle unſere Leutchen Dir geſchrieben und Du ohnehin auf einmal faſt zu viel zu leſen bekommſt. Grüße Deinen treflichen Gemahl von deiner und ſeiner Selma, und lebe wohl!

(16)122

Drei und fünfzigſter Brief.

Es will nun mit Macht Frühling werden, aber wir müſſen fort, in ein ander Land. So ſchön der Neuenburger Frühling auch ſonſt war, wir müſſen fort, damit es in und um uns wieder an - ders werde. Hier kann die ungeheure Lücke nicht ausgefüllt werden, die Deborah’s Hinſcheiden ge - laſſen. Es gehet wirklich nach der Schweiz. Der Pfarrer hat in einem alten Freunde ſeinen Stell - vertreter gefunden. Die Gemeine, die Betty’s Hinſcheiden ſieht, bittet darum. Doch wird er uns nur auf kurze Zeit begleiten, und früher, als wir, zurückkehren.

Geſtern Abend als die Kinder alle unten im Gar - tenſaal waren, und ich hinauf nach meinem Zim - mer ſchlich, um ein halbes Stündchen der Einſam - keit zu genießen, hörte ich Woldemarn auf mei - nem Fortepiano eine neue Kompoſition verſuchen. Jch gieng leiſe herzu. Er ſang mit tiefer Bewe - gung, was auf dem Pulte vor ihm lag. Es war von ſeiner Hand und ſo überſchrieben:

123
Woldemar an Betty.
Süße Freundin, zag o zage nicht;
Dir verliſcht des ſchönen Lebens Licht.
Zagen und verzagen,
Heißt die Mächte des Himmels verklagen.
Soll die fromme Lieb im Schmerz vergehn,
Wer mag dann im Leben noch beſtehn!
Die dein ſchwimmend Auge bangend ſucht,
Sehen wir auf ihrer ſchnellen Flucht
Ueber Sternen eilen,
Aber dir winkt ſie noch zu verweilen.
Soll die ſtille Lieb im Schmerz vergehn;
Wer mag noch den Frühling glänzen ſehn!
Roſen ſtreueſt du im Mondenlicht?
O nur eine Roſe pflanze nicht,
An dem heilgen ſtillen Muttergrabe.
Allzutheuer wäre ſolche Gabe
Streu die zarte Lebensblüthe nicht hinab,
Jn der Mutter allzufrühes Grab.
124

Jch ſchlich leiſe wieder zur Thüre hinaus, ohne von ihm bemerkt zu werden. Die Thüre war nur angelehnt. Jch miſchte mich unten wieder unter die Kinder. Woldemar kam den Abend nicht Alſo es iſt beſchloſſen, wir reiſen; ſo in dieſer ſchwülen ſchwermüthig ſchwärmeriſchen Einſamkeit beiſammen bleiben dürfen wir nicht. Wir reiſen nun bald, und gehen bis Schafhauſen oder Koſtanz mit einander. Dann nehmen wir den Weg nach Genf, und die Männer gehen ent - weder über den Gotthard nach Mailand, oder beglei - ten uns bis Genf, und beſuchen das wilde Savoyen. Ungern habe ich mich entſchloſſen, auch Hertha mit nach der Schweiz zu nehmen; aber Bruno läßt nicht ab von mir. Es iſt gar eine wunder - liche Miſchung von Eigenheiten in dieſem Kinde, die ein eigenes ſehr ſorgfältiges Studium erfo - dern. Jhr Beſtreben angenehme Eindrücke zu machen iſt ſo ſehr ſichtbar. So ſorglos, ja oft widerwärtig ihr Betragen iſt, wenn ſie bloß mit uns iſt, ſo gemeſſen, von ſo ſchlauer Aufmerkſam - keit geleitet, zeigt es ſich, ſo bald Männer da ſind. Wie ſie um Woldemar bemüht iſt, habe125 ich dir ſchon geſagt; auch an Platov möchte ſie gerne heran, möchte ſich durch kleine Dienſte ihm gern wich - tig machen, wenn er nur die mindeſte Notitz von ihr nehmen wollte. Aber ihre kleinen ſchlauen Künſte gleiten alle ab an ſeinem Ernſte. Eben ſo iſt ſie ſich zu zeigen bemühet, ſo oft ſonſt Männer zum Beſuch da ſind. Bei mir iſt es ihr zum erſten Male im Leben begegnet, daß ſie eine Perſon ihres Ge - ſchlechtes fürchtend achten mußte. Auch ſcheint ihr das noch immer nicht ganz behaglich: ſie würde es lieber nicht thun, wenn ihr es helfen könnte. Für jetzt glaube ich auch bei ihr noch nicht viel mehr bewirkt zu haben, als äußerliche Zucht; und auch das wäre ohne die ernſten Auftritte im Willig - ſchen Hauſe wohl nicht ſo bald gelungen. Das Band, welches ſie an uns feſt hält, iſt das ihr neue Geiſtesleben, wodurch ihr das peinliche der Leere ihres ehemaligen Lebens erſpart wird. Jch möchte wohl gern wieder zu Hauſe ſeyn, denn da darf ich alles was ich will, ſagte ſie neulich zu Ma - thilden, aber ich ennuyire mich zu Tod. Selbſt das Herrſchen über Mägde und Weiber iſt ihr langweilig; aber Männern ſchnippiſche Antworten126 geben, das wär ihr ein Spaß. Dazu kann es nun hier unmöglich kommen, weil man ſie kaum noch bemerkt. Bruno will ſchon eine große Um - wandelung an ihr finden; aber ich weiß es beſſer, wie wenig geſchehen iſt. Es iſt ein wahres Glück für ſie, daß ihr naſeweiſes Geſichtchen jetzt noch wenig Eindruck macht. Das wird aber noch kom - men. Wenigſtens verſprechen oder drohen ihre Augen einſt eine große Herrſchaft über die Män - ner. Gebe ich ſie jetzt zurück, und wächſ’t ſie ſo ohne weibliche Obhut auf, ſich ſelbſt und den Män - nern überlaſſen, ſo iſt es für mich entſchieden, was ſie wird, und das ſcheint auch dem Bru - der ſehr deutlich vorzuſchweben. Nehme ich ſie mit, und behalte ſie bis zur vollendeten Ausbil - dung bei uns, ſo muß ich zu ſorglich über unſere Kinder wachen, und dieſe ganz argloſe unſchuldige Freiheit, in der ſie das Paradies ihrer Kindheit bis jetzt bewohnten, iſt doch ſo köſtlich. Was könnte mich wohl bewegen, ihnen früh die Frucht vom Baum des Erkenntniſſes zu reichen: Werden ihnen die Augen nicht immer noch zeitig genug aufge - than? O wie iſt mir alles frühzeitige Orienti -127 ren ſammt allen Präſervativkuren gegen die ſinnli - chen Triebe ſo zuwider! und nun vollends die gegen ihre Verirrungen. Aber eben deshalb iſt es ſo nothwendig, alles aus unſerm Eden zu entfernen, was mit der alten Schlange nur im mindeſten im Bunde ſteht, und eben darum liegt mir die Frage ſchwer auf dem Herzen, ob ich ein Kind neben den unſrigen behalten darf, in welchem der Natur - trieb ſo früh aufgeregt, ſchon ſo überlaut ſpricht. Für heut lebe wohl. Bald ſchreibe ich wieder.

Vier und fünfzigſter Brief.

Unſere nächſten Briefe erhältſt du vielleicht noch von hier, vielleicht auch ſchon aus der Schweiz. Eine dort anweſende Freundin hat das Nöthige für uns beſtellt. Wir werden ein artiges Land - haus mit einem Garten nahe bei Genf bewohnen. Dicht neben uns wohnt die Freundin mit ihren drei Töchtern, und einem Sohne.

Jetzt noch ein Wort über Deinen kleinen Pro - bus, über deſſen Daſeyn wir uns nicht rein freuen128 konnten, da es der kleine Menſch Dir gar zu ſauer gemacht. Auch hat er uns Deiner Briefe gar zu lange beraubt. Er wird viel zu ſchaffen haben, dies alles bei uns zu vergüten. Du haſt alſo wäh - rend Deiner Krankheit die Gertrud zur eigentlichen Gouvernante Deiner beiden Kinder erhoben? Das konnteſt Du mit ihr ſicher wagen, dafern ſie dieſes Amt mit der Pflege des kleinen Probus vereinen kann, doch wird dies am leichteſten gehen, wenn Du ihn bis zu Deiner Herſtellung mit ſeiner Amme ganz der Gertrud übergibſt. Die große Stille des Kindes laß Dich nicht zu ernſtlich kümmern. Bei vielen Kindern gehet dies Erwachen aus dem erſten Schlafe vor ſich. Laß ihn jetzt nur noch vegetiren, das ſchadet nicht, wenn nur vorerſt ſein phyſiſches Leben gekräftigt wird, und dazu kennſt Du, erfahrne Mutter, ja alle Mittel beſſer als ich ſie Dir in Briefen mittheilen könnte. Vor allen Dingen ſorge jetzt für Deine Herſtellung. Nichts kann für Deine Kinder wichtiger ſeyn. Möchte Deines Gemahls Zurückberufung nicht fern mehr ſeyn! Wie ſehnen wir alle uns nach Dir, nach ihm, und Deinen jüngern Kindern. Un -129 terſcheidet Kathinka ſich noch immer ſo ſehr in al - len Stücken von Virginia? Beſtehet ſie noch ſo gern auf ihrem Köpfchen, wo ſie es darf? Und lieben ſich die beiden noch ſo gar innig? Wel - che Anſtalt haſt Du zu ihrem Unterrichte treffen können? Oder haſt Du ihn noch immer ſelbſt ge - geben?

Laß Deinen D. mir von allem Bericht erſtat - ten, bis Du wieder ſchreiben darfſt. Hier ein großes Pack Briefe von Deinen deutſchen Kin - dern. Ein wahrer Spiegel unſers Lebens und Seyns!

Auch muß Dein Freund mir oder Platov ſa - gen, wie er Woldemar’s erſte Jünglingsregung aufgenommen? ob ſie ſeinen Wünſchen auch zu widerwärtig entgegenwachſen könnte! Fort muß der junge Menſch aus unſerer Nähe wieder, das verſteht ſich; aber wie, wenn nun der Keim einer ſehr ernſthaften Neigung für Betty ſchon Wurzel geſchlagen? O bitte Deinen Gemahl, uns hierüber nicht in Ungewißheit zu laſſen: ich ken -(17)130ne ſeine Geſinnung über dieſen Punkt nicht ganz. Aber verhüten, hindern ließ ſich hier auch nichts.

Leb wohl.

Fünf und fünfzigſter Brief.

Lange habe ich Dir nicht geſchrieben, weil ich lange mit mir ſelbſt gekämpft, ob ich es wagen ſoll, Hertha mit nach der Schweiz und alſo gänz - lich unter uns aufzunehmen? Jetzt iſt es beſchloſ - ſen. Was mich hauptſächlich dazu beſtimmt, iſt, daß ſie die Jüngſte von allen, noch nicht dreizehn Jahre alt, und in aller Ausbildung ſo weit hin - ter den Unſrigen zurück iſt, daß ihr Beiſpiel faſt nicht auf ſie wirken kann. Auch wäre es ja ohne - hin unmöglich, ſie immer in dieſer Unſchuldswelt zu erhalten, wenn wir nicht einſt eine eigene Ko - lonie auf irgend einem wüſten Eilande ſtiften wollen.

Zudem ſo ſchließt ſich Brund als Begleiter der Geſellſchaft an. Fände ſich’s nun, daß Hertha’s131 Umgang der kleinen Republik nicht gedeihlich wäre, ſo ſende ich ſie mit ihm ihrem Vater zurück. Ge - lingt es mir auch mit ihr welch ein neuer Ge - winn meines Lebens! Mathildens gelingende Bil - dung macht mir friſche Hoffnung. Entſchiedener kann wohl niemand in ſeinem gewählten Lebens - berufe den Ruf des Himmels empfinden, als Dei - ne Freundin. Und je ernſter ich mich ihm hin - gebe, deſto gebietender über mein ganzes Weſen empfinde ich ihn. Wollt ich mich ihm jetzt wie - der entziehen, ich vermöcht es nicht mehr wollt ich mich irgend einem neuen Geiſtesverkehre noch hingeben, ſo würde mir das als eine Treuloſig - keit, eine Abtrünnigkeit erſcheinen. Und wenn es mir auch Hertha ſchwer macht; hatte ich’s nicht mit der glücklich organiſirten Jda faſt allzuleicht? Wer hat es denn den Erziehern verheißen, daß ihnen nur immer die glücklichſten Anlagen zur Ent - wickelung übergeben werden ſollen! Hertha’s Freude mit uns zu ziehen iſt grenzenlos, wie überhaupt der Jubel und der geſchäftige Ungeſtüm des gan - zen Völkleins unbeſchreiblich iſt. Was iſt es in jungen Seelen mit dieſer Sehnſucht in die blaue132 Ferne hinaus, wenn es ihnen auch da, wo ſie ſind, noch ſo wohl wäre? Und warum ergrei - fen auch uns andere die vorüberfliegenden Töne eines Poſthorns mit einem ſtillen Reiſeweh?

O Du ſollteſt uns nur ſehen, wie wir uns zur großen Wanderung rüſten! wie geſchäftig das Völklein zuträgt und ordnen hilft. Es iſt ein ganz neuer Geiſt des Lebens über uns alle gekommen. Wer verheißt uns denn dort goldene Tage, die wir nicht hier auch hätten haben mögen! Was ent - zückt uns und hebt uns über uns ſelbſt? Es iſt die Hoffnung, die dunkele Ahnung noch unbe - kannter Freuden, noch neuer Gefühle, die den menſchlichen Geiſt ſtärker beſchwingt; ſie iſt es auch, die uns mit ſo mächtigen Zauberfäden von Zukunft zu Zukunft fortzieht bis in die unbe - greifliche Unendlichkeit hinaus.

Bald wird nun alles geordnet ſeyn, und dann gehet die ganze Caravanne voran, nach Süden.

Alle Kinder ſchreiben Dir noch. O wie wird133 unſer liebes Neuenburg veröden! Wie ſchwer wird uns der Abſchied werden! Lebe wohl.

Sechs und fünfzigſter Brief.

Zum erſten Male alſo ſchreibe ich Dir aus die - ſem Zauberlande, dem Lande meiner Sehnſucht, wohin ſich von frühem an alle meine kindlichen Wünſche gewendet. Am Bodenſee weilten wir vierzehen Tage, und genoßen der ganzen Herrlich - keit, von da gingen wir nach Schafhauſen. Wie der donnernde Rheinfall mit ſeiner Erhabenheit uns ergriff wie die Kinder beim Anblick der Himmelſtürmenden Rieſenberge vor Freude jauchz - ten. Und wie die ganze Reiſe von da bis Zürich, und von Zürich bis Bern und endlich bis Genf, von wo ich Dir ſchreibe, nur ein Moment des höchſten Genuſſes ſchien. Das alles werden der Kinder Briefe Dir ſagen. Noch ſind wir hier alle beiſammen. Die Männer ſtreifen täglich herum, und erſteigen alle erreichbaren Gipfel. Jch mit meinem Häuflein habe mich hier ſchon häuslich ein -134 gerichtet. Unſerer Freundin, Elwire mit ihrer Familie verdanken wir viel. Sie weiß das Ge - heimniß, ihren Hülfeleiſtungen einen ſolchen An - ſtrich zu geben, als ob man ihr einen Dienſt thäte, indem man ſie annimmt. Was ich von ihren Kin - dern halten ſoll, ob ich mich ihres Umgangs für die Unſern erfreuen ſoll? iſt mir noch nicht klar. Jhre Gefälligkeit iſt ſehr groß, aber ſie haben der Manier zu viel. Jhr ganzes Weſen ſcheint ein Kunſtgebilde. Die älteſte iſt 14, die jüngſte 11 Jahr; aber die Kindheit ſcheint von allen Dreien ſchon längſt gewichen zu ſeyn. So verſchiedene Naturen ſich auch in ihren äußerſt verſchiedenen Bildungen ausſprechen, ſo ſind ſie doch alle drei wie in eine Form gegoſſen. Alle ihre Bewegun - gen, ihre Minen nach demſelben Maaß abgemeſſen. Viel thut zu dieſer Wirkung auch wohl die völlig gleiche Kleidung von allen Dreien. Mich ängſtigt die Aengſtlichkeit ihrer Bewegungen bei jedem Blick, den ich auf ſie thue, und wie widerſteht das ſichtbare Bewußtſeyn jeder ihrer Minen und die ganze ſtudierte abgemeſſene Grazie in den ar - men Kindern!

135

Auch wollen die Unſrigen gar nicht heran. So lieb ſie die ſanfte Madam Elwire ſchon haben, ſo fremd ſtehen ſie neben den drei Töchtern, und de - ren ſteifen Gouvernante der Mlle Fleuri. O war - um hat dieſe gute Mutter es ſich nicht zugetraut, ihre Töchter ſelbſt zu bilden! Ja hätte ſie ſie nur neben ſich aufwachſen laſſen, im Sonnenſchein ihrer natürlich freundlichen Güte, es ſtünde ſicher - lich jetzt beſſer um dieſe armen eingeſchnürten Ge - ſchöpfe. Wahr iſt es, und das muß man ihnen laſſen, ihr Kompliment machen ſie wie ein Tanz - meiſter, und höſlich ſind ſie, wie man es nur be - gehren mag; vor ihren Verbeugungen und ſonſti - gen Artigkeiten weiß man ſich gar nicht zu retten; aber durchaus kein Fünkchen kindlicher Freude ſcheint aus ihnen hervor. Wenn ſie an unſern Kindern nicht nach und nach zum Leben aufthauen, ſo müſſen ſie ſie durch ihre froſtige Art verſteinern, wenn ſie lange bei einander bleiben. Wir müſſen dann unſer Heil verſuchen, ob die geſunde Natur auch hier der Unnatur Meiſter werden kann. Die deutſchen Namen dieſer Kinder hat Mlle. Fleuri ſo - gleich beim Antritt ihrer Regierung über ſie fran -136 zöſirt, und aus der Älteſten, ſonſt Eliſa genannt, eine Liſette gemacht. Die zweite ſonſt Lorchen, heißt nun Lorette. Die Kleinſte ſollte mit aller Gewalt Pulcherie heißen, das iſt aber glücklicher Weiſe nicht durchgegangen, weil ſie außer ihrem antiken Namen Pulcheria auch noch den eben ſo alten Valeria hatte, und nach dieſem: Valerie gerufen wird. Liſette und Valerie gehören alſo von jetzt an in unſern Lebensſpiegel, den wir Dir in Briefgeſtalt ſenden. Denn ſo wenig wir ſie auch gutwillig mit uns einflechten woll - ten, ihr Einfluß auf uns, ihre poſitive oder nega - tive Einwirkung bleibt doch einmal unvermeidlich, ſo lange wir in ihrer Nähe ſind. Das intereſſan - teſte Geſicht von den Dreien hat die jüngſte, und obwohl ſie ihren Knix eben ſo ſteif und bei denſel - ben Veranlaſſungen macht, wie die Schweſtern, auch eben ſo gemeſſen dieſelben Phraſen der Höf - lichkeit ſagt, ſo glaube ich doch, daß ſie die Stim - me der Auferſtehung einer beſſern Natur früher hören wird, theils weil ſie jünger iſt als die Schwe - ſtern, aber auch deshalb weil ihre Züge eine ganz eigne Energie andeuten, mit denen es ſehr poſſirlich137 kontraſtirt, daß ſie nicht das harmloſeſte Nein ſagen kann, ohne ihr: Je vous demande pardon, für dieſes Nein hinzuzufügen, und auch wenn ſie deutſch redet, jeder Bejahung ihr: aufzuwar - ten! voranſchickt. Dies iſt den guten Kindern täglich eingerieben worden, bis dieſe und ähnliche tätowirten Schnörkel endlich in ihrer Haut ge - haftet. Lorette müßte, nach ihren Zügen und ih - rer ganzen Geſtalt zu ſchließen, eins der luftig - ſten leichteſten fröhlichſten Weſen geworden ſeyn, wenn man ihr dieſes Schnürleib der Kunſt nicht ſo feſt um ihre Natur gezogen, daß ſie ſich nicht darin zu regen vermag. Man müßte ſie das Wind - ſpiel nennen, wenn man ihre Geſtalt bezeichnen wollte. Liſette gleicht der ſanften Mutter am meiſten, und da ſie von ſo bildſamer gefälliger Natur iſt (man möchte ſie zum Bilde der reinen faſt willenloſen Empfänglichkeit aufſtellen): ſo hat auch bei ihr die Schule der Mlle. Fleuri am mei - ſten gefruchtet. Dieſe hat ſie völlig in ihre Form gegoſſen.

Auch iſt ſie auf dieſes ihr Meiſterwerk nicht we -(18)138nig eitel. Avez vous jamais vu une dou - ceur, une égalité de caractére plus parfaite, que dans Mlle. Lisette? fragte ſie mich neu - lich mit der ſichtbarlichſten Selbſtgefälligkeit. Die Mutter fängt jetzt an zu ahnen, daß ſie ſich in der Wahl der Erzieherin ihrer Töchter wohl ge - irrt haben könnte. Sie machte geſtern die Bemer - kung, unſere Kinder ſchienen ihr viel glücklicher als die ihrigen und obgleich ſie auf den erſten Anblick mehr Kinder zu ſeyn das Anſehen hätten ſo könne man an ihnen doch nichts kindiſches, nichts läppiſches gewahr werden, und ſetzte dann hinzu: ich fürchte, ich werde Jhre kleine Familie bald lieber haben müſſen, als meine eigene. Das ſollen Sie nicht müſſen, ſiel ich ein; denn noch wird die heitere Kindheit in den Jhrigen vielleicht wieder hervorzurufen ſeyn.

Wie das aber?

Wir müſſen unſer Heil fürs erſte an Mlle. Fleuri verſuchen. Können wir ſie nicht gelen - kiger machen, dann müſſen wir mit ihr in Trak - taten eingehen, daß ſie die Kinder wenigſtens ſeyn laſſe, was ſie ſelbſt nicht mehr ſeyn kann, und vor139 allem den Eindrücken nicht entgegen arbeite, die die neue Kolonie vielleicht auf ſie machen dürfte. Denn das iſt einmal gewiß, daß die gute Natur im Menſchen ſich in dieſen Jahren leicht wieder emporarbeitet, wenn der Unnatur nicht etwa da - durch Vorſchub gegeben wird, daß die Eitelkeit oder irgend eine andere Leidenſchaft mit ihr in den Bund tritt. Jn dieſer Verbindung freilich wird ſie leicht unausrottbar. Man ſage dem 13 14 jährigen Zieräffchen, es ſey durch ſeine lieblich krauſen Manieren die Bewunderung des ganzen Kreiſes in dem es lebt, oder gar der ganzen Stadt, und es wird ſicher nicht unterlaſſen, ſeine ſchnippi - ſchen Minen und Gebehrdungen nebſt den ſämmt - lichen Kapriolen, die dazu gehören, täglich dem Spie - gel zuzuſchneiden. Man lehre das Mägdlein, das gern die Rechte der Erwachſenen an ſich reiſſen wollte, daß es durch ſtrenge Beobachtung der ge - wohnten geſellſchaftlichen Zeremonien um ſo viel früher für voll gelten könne: dieſe Lehre wird da ſicher fruchten, wo nicht ſchon beſſerer Same em - porgekommen und kräftig gediehen iſt. Die gute Elwire hörte mir ſehr aufmeröſam zu.

140

Sie kennen mich, Theure, von Jugend auf, und ſind vielleicht, mit allem was an und in mir iſt, beſſer bekannt als ich ſelbſt. Und ſo müſſen Sie auch wiſſen, wie ich’s mit meinen Mädchen im Sinn habe, und welche Abſicht ich hatte, als ich die Fleuri zu mir berief. Sie ward mir als eine der beſten Erzieherinnen gerühmt, ich hoffte von ihr, was ich mir ſelbſt nicht zutrauen durfte. Meine Kinder waren wohl ein wenig roh, als ſie zu uns kam. Jch vermochte es nicht, ihrer Kind - heit auch nur einigen Zwang anzulegen. Darum übergab ich ſie der Fleuri mit unbedingtem Zu - trauen. Sie war nun eifrig darüber her, an ih - nen zu ſchleifen, zn modeln, zu poliren, und es iſt ihr in den 3 Jahren ſo weit gelungen, als ſie es da ſehen.

Wie es nun zuging, daß ich meinen Jrrthum nicht früher eingeſehen, als ſeit ich Sie mit Jhrer frohen Schaar täglich ſehe, das weiß ich nicht!

Und doch iſt es ſo leicht zu erklären, geliebte Elwira. Wenn ſich vor unſern Augen eine ſchöne141 geſunde Natur plötzlich in ihr Gegentheil verwan - delte, ſo müßte der Anblick uns fürchterlich ergrei - fen ohngefähr ſo als wenn wir aus dem läng - ſten Sommertage, der mit tauſend tauſend Herr - lichkeiten geſchmückt uns anlachte, mit einemmal in einen naßkalten ſtürmenden Dezembertag ver - ſetzt würden, deſſen 7 armſelige Stunden uns vom düſtern Himmel noch um 2 verkürzt würden. Ge - duldig und faſt ohne es gewahr zu werden, gehen oder ſchleichen wir aus einem Außerſten ins andere, wenn wir ſtufenweiſe hineingeführt werden. Es iſt erſtaunlich, welche Gewöhnbarkeit in der mora - liſchen wie in der phyſiſchen Menſchennatur liegt, und was allmählige Gewöhnung über uns vermag. So, meine Freundin, wurden Sie der ungünſtigen Veränderung ihrer Kinder nicht gewahr, weil ſie ſo allmählig kam, und durch das, was ſie nach und nach wurden, das Bild von dem was ſie waren, beinahe gänzlich in Jhnen ausgelöſcht iſt. Jch, die ich ſie ſeit 7 Jahren nicht ſah, und jenes Bild noch rein in mir trage, ſehe den unholden Kontraſt mit Schmerz; denn er iſt groß. Jhre Kinder ge - hörten zu den lieblichſten die ich je ſah. Was142 Jhnen Rohheit ſchien, war gewiß nichts fehler - haftes in den guten Kindern, von denen zwei mehr von der lebhafteren Natur des Vaters über - kommen haben, als von der mütterlichen Sanft - heit. Eine leichte Aufgabe iſt es nie, einem Kinde Ausbildung zu geben, das in ſeinen Na - turanlagen von den unſrigen ganz verſchieden iſt. Ja es iſt ſchon ſchwer, gegen ein Kind von ei - ner uns etwas fremden Natur nur gerecht zu ſeyn, da man ſich faſt nicht in daſſelbe hineindenken kann. Und dennoch haben die meiſten Väter oder Mütter dieſe zu löſen; da ſeltener gleichgeartete Ehegatten ſich verbinden als verſchiedene. Denn nicht das Gleiche ſucht ſich in beiden Geſchlechtern, da das ſchon Eines iſt, ſondern das Verſchiedene, damit es eins werde. So geſchiehet es vor unſern Augen. Der ſtille Mann bewirbt ſich gern um das Leben-ſprudelnde Mädchen. Der feurigregſa - me Jüngling ſucht die ſtillere Jungfrau und hängt bewundernd an dem Blick der tiefen Ruhe. Jn ei - ner Familie arten ſelten alle Sprößlinge nach dem Vater, oder einzig nach der Mutter, und die größten Kontraſte finden ſich oft unter den Ge -143 ſchwiſtern. Es iſt alſo nothwendig, daß jede Mutter den Originalcharakter ihrer Kinder ſtudire, die beſondere Natur ei - nes jeden erforſche, es dieſer gemäß be - handle, und nie von allen das Gleiche fodere; nie das ſanftere dem lebhafte - ren, oder umgekehrt das feurigthätige dem ſtillempfänglichen zum Muſter vor - halte. Was von dieſen ſo verſchiedenen Natu - ren in einander übergehen kann, das geſchieht ohne Zuthun der poſitiven Erziehung, und macht ſich ins Geheim von ſelbſt. Alles abſicht - liche Streben bewirkt aufs höchſte ſklaviſche Nach - ahmung, und es kann durch ſie eine ſchwache Na - tur ganz aus ihrer Bahn gebracht und jämmerlich verkrüppelt werden. Und darum iſt das Bemühen aller Fleuri’s, ganz verſchieden geartete Weſen in eine Form zu gießen, nicht nur ein ſchädliches, ſondern auch ein ſträfliches Beginnen.

Elwire. Was iſt aber hier zu thun?

Jch. Nichts anders, als, wie ich ſchon ſagte: Mlle. Fleuri zu einer lieberaleren Anſicht von der Menſchennatur und zu einigem Neſpekt gegen die -144 ſelbe zu verhelfen, oder ſie zu dem Selbſtgeſtändniß zu bringen, daß ſie durchaus nicht erziehen müſſe. Laſſen ſie ihr nur ein wenig Zeit, ob ſie ſich uns vielleicht zu nähern verſucht, und wär es auch für’s erſte nicht aus den reinſten Abſichten.

Elwire. Sie nehmen mir einen Stein vom Herzen.

So ſind wir alſo nun einverſtanden. Und El - wira wünſcht nichts mehr, als daß unſere beiden Häuflein beiſammen bleiben und völlig eins wer - den mögen. Wegen unſerer Reiſe berufe ich mich auf die Journale der Kinder, die Dir gewiß Freude machen ſollen. Lebe wohl!

Sieben und fünfzigſter Brief.

Warum ich Dir von der Schweiz ſo wenig ſage? von dem gelobten Lande aller Menſchen voll war - men Naturgefühls: weil ſchon der Männer Brie - fe ganz voll davon ſind, und weil Du ſelbſt kommen145 und es ſehen mußt. O wärſt Du erſt hier! Wären wir einmal alle vereinigt! Wahrlich, Du entbehrſt zu viel, daß Du Deine Jda nicht werden ſieheſt, was ſie bald ſeyn wird, eine der holdſeligſten Jung - frauen. Jſt doch das Werden faſt überall köſtli - cher erquickender zu ſchauen, als das herrlichſte Seyn. Freilich nur dem menſchlichen Geiſte aber von einem höheren, der kein Werden kennt, und das ewige Seyn ſelber iſt, haben wir ja nur dunkele Ahnung. Warum rührt und erquickt uns der Frühling durch ſein Treiben und Keimen zum Leben ſo innig? Aber bin ich nicht eine Thörin, daß ich den Stachel Deines ohnehin zu ſchmerzlichen Sehnens nach uns noch mehr ſchärfe, da ich alles aufſuchen ſollte, wodurch er ſich nur einigermaßen beſänftigen ließe? Die Kinder ſchicken Dir dies - mal ihr Längenmaaß mit. So bald ich eines guten Malers oder nur Zeichners habhaft werden kann, erhältſt Du Jda’s Bild. Bis dahin be - gnüge Dich mit dem, was die Feder zeichnen kann. Jda iſt etwas weniger lang wie Mathilde, wie das die Maaße ausweiſen, und es ſcheint, als würde ſie nicht viel mehr wachſen, da ihre ganze Geſtalt(19)146ſich ſchon in ſo vollendeter Form zeigt. Jhr ganzes Weſen und all ihre Bewegungen ſind durchaus grazienhaft. Seit ſie aus der luſtigen Kindheit ins jungfräuliche Leben hinüber gleitet, hat ihr Blick etwas tief ſinnendes, das ihr einen zauberiſchen Reiz gibt. Jhr lichtbraunes Haar lockt ſich immer ſchöner, und das ſtille ſeelenvolle Auge ſchaut einen mit heller Zurerſicht an. Nur wenn Platov ſie anblickt, ſenkt ſich das Augenlied und die ſchönen langen ſeidenen Wimper decken ſanft die ſtille Glut der Augen. Was dies verſchämte Niederſchlagen wohl will? Platov äußerte neulich, noch nie habe der Anblick eines menſchlichen Weſens wohlthätiger auf ihn gewirkt, als dieſes Kindes, und indem das Wort Kind über ſeine Lippen gieng, erröthete er, wie vor einer Unwahrheit. Es war ſein Herz das dieſes unwahre Wort ſtrafte. Zu meiner Freude trat Jda herein, und er machte ſich ſtill hinaus. Jda’s Geſicht überflog eine feine Röthe. Was iſt Dir, mein gutes Kind? fragt ich ſie. O ich freue mich, daß Herr von Platov hin - aus geht. Wie ſo, Jda? haſt Du ihn nicht mehr lieb? O ja, Tante, recht ſehr lieb; aber ich woll -147 te gern mit Dir allein ſeyn. Aber das war ja ſonſt nicht ſo, Du hatteſt es faſt immer gern, ſo oft er mit uns ſeyn konnte da war er der alte liebe Platov, der ältere Woldemar; und nun freuſt Du dich, da er weg geht. Haſt Du mir denn ſo gar etwas beſonderes zu ſagen? Nein, Tante, laß mich nur ſtill bei Dir ſeyn, ich bin dann vergnügter. Gut, lieber Engel, ſey Du bei mir, ſo oft es Dir ſo ums Herz iſt, wie jetzt. Jch weiß es noch ſehr gut, wie es mir war, als ich vierzehn bis fünfzehn Jahre alt war; wie es mir da oft ſo beklommen war, und ich mich nach einer Freundin ſehnte, die mir tief ins Herz ſchauete, und alles darin läſe, was ich nicht ſagen konnte, und mir das verworrene Jnwendige ruhig und klar machte. Ach, Tante, wie ſprichſt Du ſo gar innig, recht aus der Tiefe meiner Seele. Wie kannſt Du es denn ſo ganz wiſſen, wie mir iſt? Jch bin ja doch ſo glücklich, wie ein Kind es nur ſeyn kann, und doch muß ich oft hinaus und mich ausweinen, wenn ich Luft haben will. Da denke ich dann, ich habe vor Freude geweint, daß ich ſo glücklich bin, und das iſt es auch wohl,148 aber nicht ganz dann denk ich, wenn ihr alle beiſammen ſeyd, Du willſt nun auch hinein gehen, und wieder luſtig ſeyn, wie vor drei bis vier Jah - ren, und dem Bruder um den Hals fallen, und euch alle ſagen, wie lieb ich euch habe, aber ich kann es nicht mehr, am wenigſten, wenn Platov dabei iſt, und ich weiß es doch nicht warum ich mich vor ihm ſchämen verbergen möchte; er iſt doch ſo ſehr gut. Bin ich denn nicht mehr was ich war. Bin ich kein gutes Kind mehr? oder warum fürchte ich mich, ihn anzuſehen? Und ich kann doch alle andere ſo ruhig anblicken. Nur vor dir, liebſte Tante, hätte ich mich auch ſcheuen müſſen, wenn ich nicht bald zu dir gekommen wäre, und Dir ſo recht von Herzensgrund geſagt, wie mirs iſt. Das würde mich ſehr betrübt haben, mein gutes Kind. Jhr wißt es ja, ich lebe nur in eurem Vertrauen, in eurer Liebe mein ſchönſtes Leben. O ſüße Tante, nun ich einmal ein Herz gefaßt habe, Dir alles zu ſagen, was mich quält und freut, nun kann ſich nichts mehr zwiſchen Dich und mich ſtellen. Und Du mußt alles wiſſen. Jetzt verſtehe ich das wohl, was Du mir einmal von149 der Beichte der Katholiken ſagteſt und wie ſie auch andern Herzen, die nicht dieſer Kirche angehö - ren, zum Bedürfniß werden könnte. Nun ich dir meine Unruhe gebeichtet habe, bin ich ſo leicht. Und wenn mir nun wieder beklommen iſt, komme ich zu Dir. Das thue Du liebes Herz, ich bitte Dich. Wie weit wir noch gekommen wären weiß ich nicht. Aber Mathilde kam herein geſtürmt und fiel mir heftig um den Hals, dann umklamerte ſie Jda wie außer ſich, Jdchen! Jdchen! wie ſoll ich die Freude aushalten? der Bruder hat Urlaub und kommt hier zu uns. Sieh nur Tante, da ſteht es; es ſteht ganz gewiß in dem Briefe, lieſ nur! Sie reichte mir den Brief zitternd und krampfhaft zuk - kend. Jda umarmte ſie mit ſchönen Schweſterthrä - nen. Da kamen auch die Andern herbei, die Ma - thilde mit dem Briefe ſo gewaltig hatten laufen ſehen. Was kleidet ein weibliches Geſicht ſchöner als Mitfreude oder mitempfundner Schmerz? die eignen gewiß nicht. Wie ſchön Jda iſt, hatte ich noch nie ſo geſehen als heute, da ſie neben Ma - thilde ſtand und den Brief des Fähnrichs mit ihr las. O wie ſchön hing die große Thräne an der150 Augen Wimper wie wallte die ganze Geſtalt in ſtiller Freude. Du freuteſt Dich an Jda’s Gang und Haltung als Du ſie in Dresden ſaheſt, und hatteſt Urſache. Jetzt iſt das liebe ovale Köpfchen ein klein wenig vorwärts gebogen, und nun, däucht mir, ſo, gerade ſo müßt es ſeyn: we - nigſtens in dieſer ihrer Stimmung muß es gewiß ſo ſeyn. Jhr ganzer Bau iſt ſehr zart, ſchlank, und doch die Geſtalt ſo ſchön geründet Aber willſt Du das Bild der Unſchuld ſehen, die es durchaus nicht ahnet, was ſie iſt, ſo komm und ſieh Dein holdſeliges Kind. O daß dieſe zarte Knospe in reiner Himmelsluft aufblühe, daß kein ſchädlicher Hauch ſie berühre.

Lebe wohl, Emma!

Acht und fünfzigſter Brief.

Ob Jda die Muſik noch kultivirt? O ja, und recht emſig. Jhre Stimme iſt lieblich, und ihre Art, das Piano zu behandeln, würde Dich151 höchlich freuen. Doch ſcheint ihr Talent zum Zeichnen noch entſchiedener. Wie allerliebſte Blumenzeichnungen ſie macht, davon haſt Du Proben geſehen: ich meynte, ſie würde dabei ſtehen bleiben. An meinem letzten Geburtstage hat ſie mich durch ein Angebinde überraſcht, das mir den größern Umfang ihres Talentes hinlänglich beweiſet. Du erinnerſt dich gewiß der ſchönen freien Handzeichnung der Madonna mit dem Kinde auf dem Schooße, das ihr ſo ſehnlich verlangend in das himmliſche Auge ſieht, und das von der ſeligen Mutter mit namenloſem Ausdruck angeſchaut wird. Dieſes Bildes, das ſeit einigen Monaten nicht aufgehängt war, hat ſie ſich zu bemächtigen gewußt, und iſt jeden Morgen ein Paar Stunden früher aufgeſtanden als ich und die andern alle, und ſo hat ſie uns allen unbemerkt die Zeichnung deſſelben vollen - det, nachdem ſie zuvor die einzelnen Theile des Geſichts nach einem Studienbuche mit anhalten - der Geduld geübt, darauf einige leichte Köpfe gezeichnet und endlich ſich an dies Werk gemacht. Es iſt ein wohl gelungner Verſuch. Gleich am152 folgenden Morgen ließ ich einen wackern Maler zu uns kommen, zeigt ihm das Bild, und nahm ihn zu unſerm Lehrer an. Er war höchſt ver - wundert, als ich ihm erzählte, wie dies Bild ent - ſtanden. Wir alle nehmen jetzt Stunden bei ihm, auch ich. Du würdeſt Dich gewaltig freuen wenn Du dieſe kleine Zeichenakademie ſehen ſollteſt, und wie da gewetteifert wird. Jda wird mich nur zu bald einholen, und ehe wirs uns verſehen eilt ſie uns allen vorbei. Hertha ſudelt noch ſehr kindiſch, ſo lange ich mich auch ſchon mit ihr beſchäftigt habe. Mathilde bleibt bei der Landſchaft, Clärchen macht recht artige Blumen, und will ſich nun auch an Köpfen ver - ſuchen. Seit dem Tage da Jda’s Zeichnungen erſchienen, wird alles mit dem Malerauge von uns angeſchaut. Aber ſey deshalb nicht bange, Emma, daß irgend etwas Schönes von uns ganz darüber hintan geſetzt wird. Wir wollen uns ſchon zügeln.

Während der Zeichenſtunde ſieht der Meiſter oft ſo unverwand nach Jda, daß ich glauben muß,153 er hat ihr Bild im Kopfe ſchon fertig. We - nigſtens glaube ich ſtark, daß er ihre Züge in der Abſicht ſtudirt, ſie zu malen.

Neun und fünfzigſter Brief.

Vier Monate ſind wir nun hier. Die Männer ſtreiften während der Zeit umher und beſuchten uns von Zeit zu Zeit. Unſer lieber Pfarrer iſt wieder nach Neuenburg zu ſeiner Gemeine zu - rückgekehrt. Betty hat ihn begleitet. Jhr Leben war wieder aufgeblühet. Und es war Zeit, daß ſie mit dem Vater heimkehrte, ehe auch ſie von Woldemar’s brennendem Auge noch tiefer getrof - fen, noch inniger durchdrungen wurde.

Platov und Woldemar durchkreuzen jetzt das Land nach allen Richtungen. Bruno gefällt ſich in Genf und in unſerer Nähe ſo ſehr, daß er ſich jetzt nicht entſchließen konnte, ſie zu begleiten. Er iſt alſo hier unſer täglicher Begleiter und nimmt(20)154an allen unſern Freuden, Beſchäftigungen und Streifereien Theil. Auch iſt er zum Mitglied unſerer Zeichenakademie aufgenommen worden. Hertha hat keine Geduld zum Zeichnen. Auch zur Muſik iſt es zu ſpät für ſie. Sie iſt einmal über die Jahre hinaus, wo man die bloß mechaniſchen Übungen, die zur Sache unerläßlich gehören, noch von ſich erlangen kann; dazu kommt nun noch ihre grenzenloſe Beweglichkeit.

Es werden ihr alſo beide Künſte erlaſſen. Übri - gens wird ſie mit jedem Tage intereſſanter, Sie unterſcheidet ſich von der ganzen übrigen Kolonie durch einen ſchnellen treffenden originellen Witz, verbindet ihn jetzt aber mit einer Gutmüthigkeit, wodurch ſie uns allen ſehr lieb wird. Unaufhör - lich neckt ſie die ganze Geſellſchaft, den Bruder nicht ausgenommen, und doch kann ihr niemand zürnen, ſelbſt Mathilde nicht, die ihr am öfterſten zum Ziele dient, und die doch noch vor ein Paar Jahren den kleinſten Spott gleich tragiſch nahm. An mir allein will ihr Witz ſich noch immer nicht wagen, und als ich ſie neulich einmal fragte: aber155 Hertha, warum ſoll ich allein frei ausgehen? Haſt Du in Deinem Köcher keinen einzigen Pfeil für mich? Da maß ſie mich mit einem ſchelmiſch verſtohlnen Blick und ſchwieg. Haſt Du denn auf meiner Naſenſpitze nie eine immer wiederkeh - rende Fliege geſehen, die ich ungeſtüm und ver - geblich wegjagte, und ſonſt ſo etwas? Warum verſchonſt Du mich immer? Endlich ſagte ſie: ja, Tante Selma, wenn Du über Hertha ſo unge - duldig geworden wäreſt als gewiße ehrbare Leute über Fliegen und Mücken werden können, dann hätte ich auch um Dich herumſummen und über Dich lachen müſſen, wenns Dich geprickelt hätte. Aber Du bliebſt immer ſo freundlich, und Dein Ernſt iſt mir niemals komiſch vorgekommen. Dich zu necken würde mir gottlos dünken. Wag ich es doch bei Jda faſt nicht mehr. Aber ſieh nur den Bruno an, muß man ſich ihn nicht immer mit dem langen Philoſophenbart denken, wenn er ſo gravitätiſch thut? O was gäbe ich darum, ihn nur ein einzigmal als Rathsherrn mit einer großen Perücke zu ſehen, wie er ſein weiſes Haupt auf einer weißen Schüſſel von Kragen zu Rathe trägt. So156 ſtrömt es fort, wenn ihre Schleußen einmal auf - gezogen ſind; und alle in der Geſellſchaft haben den kleinen Arlekino gerne, und laſſen ihr alles durchgehen. Jhre immer wachſende Gutmüthig - keit ſöhnt den ſanfteren Bruno immer wieder mit ihr aus, der über ihren Muthwillen leicht unge - duldig werden könnte. Aber, Hertha, ſagte er kürzlich einmal, als ſie ausgelaſſen luſtig und neckiſch war, warum haben wir alle die Jda ſo lieb? iſt es Dir denn gar nicht möglich, Dich nach ihr zu bilden? und was antwortete ſie? Neulich ſagte ich zum Rohrſperling am See, als wir vor - übergingen, es wäre doch ſehr ungezogen von ihm, daß er keine Nachtigall wäre, und nicht wenigſtens wie die Nachtigall ſänge, die wir doch alle viel lie - ber hätten, als ihn aber er flog und gaukelte immer um mich herum, ich wollt ihn haſchen und ihm das Schnäbelchen zubinden, aber er kroch tie - fer ins Schilf und ſchrie heraus: Aeffchen, Aeffchen, komm zu mir! Aeffchen, komme nicht zu Dir! Bruder, ich wollte Du wäreſt ein Schwan, und ſchiffteſt gravitätiſch auf dem See herum, und ich wäre der Rohrſperling, dann gaukelte ich immer157 um Dich herum, und ſänge Dir das beſte vor, was ich wüßte, und ſetzte mich auf Deinen ſtolzen Flügel, und ſchiffte mit Dir, und ehe der Schwan den langen Hals umgebogen, um zu ſehen, wer ihn pickt, huſch wäre das Vöglein wieder im Schilfen. So fertigt ſie den Bruder oft ab, und ſo kann ſie’s Stundenlang treiben, bis ich ſage: Spätzchen, hör auf! das iſt ihr genug: ſie ſieht mich verſtoh - len an, legt den Finger auf den Mund, und macht ſich irgend etwas zu ſchaffen. Auch kann ich Dir nicht ſagen, wie intereſſant es mir iſt, dieſes ganz anders geartete Weſen ſich frei entfalten zu ſehen. Sie bringt ein neues Farbenſpiel in unſer Leben. Jch habe mit dem Bruno hinlänglich zu thun, ihn gerechter gegen dieſe ihm fremde Natur zu machen. Seine Begriffe von der eigentlichen Weiblichkeit ſind allzubeſchränkt. Jda iſt ſein Jdeal, und was ſich dem nicht nähert, meint er, ſey unweib - lich. Oft halte ich ihm vor, wie langweilig die Welt beſonders die feinere gebildete Welt und ihr Geſellſchaftsleben ſeyn würde, wenn alle Weiber ganz in eine Form gegoſſen wären und daß wir billig mit dankbarer Gelehrigkeit auf die Na -158 tur achten ſollten, die in der Geiſter - wie in der Körperwelt ihren Reichthum und ihre Fülle in ſo tauſendfach wechſelnden Erſcheinungen beurkundet, und daß es nicht etwa ein beſonderes Ver - dienſt, ſondern ausgemachte Schuldig - keit des erziehenden Menſchen ſey, in jedem ihm anvertrauten Weſen das aus - zubilden, wozu es ſeine individuelle Natur ausgeprägt hat. Jſt denn aber Hertha’s ſprudelndes immer herausfahrendes We - ſen nicht wirklich ſehr unweiblich? Nein, guter Bruno, es iſt nur eine anders geſtaltete Weiblich - keit. Nur wenn ſie damit uns alle zu beherrſchen verſuchte, und die wirkliche Überlegenheit des ru - higen Ernſtes leichtſinnig wegzuſpötteln wagte, und wenn wir uns irren ließen, dann würde ſie unweiblich werden. Gerade dadurch, daß wir ihr eigenthümliches Geiſtesleben frei hervorſprudeln laſſen, gewinnen wir auch Raum für den Ernſt auch gibt es für die ſehr lebhaften Mädchen ein gewiſſes Knabenalter, wenn ich es ſo nennen darf, das erſt vorüber ſeyn muß, ehe die Weiblichkeit Platz gewinnen kann. Sie in dieſem Alter hart159 und eng zu beſchränken, iſt nicht gut. Seyn Sie nur geduldig, lieber Bruno, Sie werden einſt Freude haben an Jhrer Hertha. Wenn ſie es dem Bruder allzu kraus macht, dann tritt gewöhn - lich Jda ins Mittel, und vertheidigt ſie gegen ihn, und zwar mit ſchönem Ernſt. Siehſt du, Bruno, ſagte Hertha heute, Jda will, es ſoll nur eine Jda ſeyn, und Du willſt ihrer zwei haben. Nein, Jdchen, Du ſollſt unſer aller Vernunft bleiben, und ich bleibe euer einziger lieber Spaßvogel, und ſo bleibt jedes in ſeinem Gebiet. Daß mirs nur keines von euch verſucht, auch närriſch ſeyn zu wollen, und du Bruno am wenigſten, hörſt Du, ſonſt ſchenke ich Dir eine Alongenperücke.

An Jda hängt ſie ſchwärmeriſch. Cläre ſteht als Mittelnatur zwiſchen allen. Auch ſie hat Witz oder vielmehr Naivetät, die oft wie Witz trift, und wie Witz ausſieht. Das iſt eine rechte Kernnatur, kräftig geſund, bis ins innerſte Mark.

Noch will ſich unſer Häuflein immer nicht recht mit Elwirens Töchtern befreunden. Dies betrübt160 die Mutter. Doch das wird noch kommen; nur nicht, ſo lange die Fleuri ſie regelt. Mit Hertha habe ich der Fleuri wegen einen förmlichen Ver - trag ſchließen müſſen, daß ſie ſich durchaus nicht an ſie wage. Auch hat ſie meine Gründe begriffen und ſich ſeitdem keinen ſchelmiſchen Blick auf jene mehr erlaubt, welche ſie ſonſt wohl mit dem Na - men mechante créature beehrte, und ihr aus dem Wege läuft, wo ſie kann. Von Mathilden ſcheint die Fleuri am meiſten zu halten. Obgleich Mathildens Gravität eine ganz andere iſt, als die ihrige. Sieh, liebſte Emma, da haſt Du einmal wieder eine Skitze unſers kleinen Lebens. Vergilt ſie ſo gut Du kannſt, und ſuche mich, wo mög - lich an Umſtändlichkeit zu übertreffen. Vor allen Dingen ſchreib bald, Deiner

Sechszigſter Brief.

Der Bruder Fähnrich iſt da. O wie tief empfin - det die anſcheinend kalte ſtolze Mathilde! Das161 ganze kleine Häuflein war eines Abends in einem Halbkreiſe um meinen Sopha verſammelt; ich hat - te ihnen einen Thee verſprochen, wobei immer ge - leſen wird. Wir laſen die Geſchwiſter von Göthe; uns allen war es ſo von Herzen behaglich. Da ſprang die Thür auf. Die Magd, die einen Fremden anmeldete, trat herein, der Fremde un - mittelbar hinter ihr. Die Uniform überhob uns aller Zweifel. Mathilde blickte zuletzt auf. Jhn anſchauen, ihm um den Hals fliegen, und Bru - der! Bruder! rufen war eins.

Sie hielten ſich lange ſchweigend umfaßt. Gro - ße Tropfen rollten von Mathildens Wangen. Bald ſchloß ſich ein Kreis um die beiden. O ein ſchöner Kranz liebender Menſchen! Jch ließ ſie lange gewähren. Endlich nach oft abgebrochener, oft wiederholter Umarmung nahm Mathilde den Fähnrich bei der Hand, und führte ihn zu mir. Sieh Bruder, das iſt meine Mutter, mein Schutzengel. Jhr danke ich alles, was ich bin und was ich noch werden kann. Sie hat mich mir ſelbſt geſchenkt. Und nun kann ich auch dir(21)162eine beſſere Schweſter ſeyn, als ſonſt. Glauben Sie das nicht, Mathilde thut ſich ſelbſt unrecht, ſagte ich ihm; manches hat ſie bei uns erſt ge - lernt, aber lieben konnte ſie ihren Bruder ſchon immer, das liegt tief in ihr. Der junge Menſch iſt ein hübſches eitles Offizierchen, jetzt neunzehn Jahre alt. Er weiß es, daß ihm die Uniform ſehr wohl ſteht. Selten geht er einem Spiegel vorbei, ohne ſich durch einen Blick hinein gütlich zu thun. Leer ſcheint er mir noch ſehr, aber Ma - thilde merkt es noch nicht. Nur in das Ge - ſchenk, welches er ihr mitgebracht, kann ſie ſich nicht finden. Es beſteht in einer kleinen Toilette mit Schminkdöschen und anderm Zubehöre der frivolſten Verſchönerungskunſt. Auch ſchämt ſie ſich, es andern zu zeigen, und bat mich, daß es beſonders Hertha nicht erfahren möchte. Hertha hat das eitle Offizierchen ſehr bald ausgefunden. Aber Mathilde hütet ihren Blick beſtändig, ſo oft er einen ſatyriſchen Pfeil auf den Fähnrich ab - ſchießen will. Auch umgibt ſie den Bruder be - ſtändig, wie mit einem Schilde, und bewacht ihn ängſtlich, damit er nichts ſage, wodurch er ſich163 bei den andern ſchade. Sie weicht ihm faſt nie von der Seite. Hertha ſagt, ſie ſey ſein Mentor, ſeine Minerva, und decke ihn mit der Ägide. Es iſt wirklich ein ſchönes ſchlankes Geſchwiſterpaar, und recht lieblich neben einander zu ſchauen. Jhn ſcheint Mathildens Allgegenwart ein wenig zu drücken; er möchte beſonders gern mit Hertha ſpaſſen, aber Mathilde leidet es nicht. Biſt Du denn nun ganz glücklich? fragte ich Mathilden. Jch weiß nicht, beſte Tante, warum ich nicht ganz froh ſeyn kann? und doch weiß ich es; es iſt die Furcht, daß der Bruder Dir und Jda miß - falle. Auch fürchteſt Du Hertha’s Züngelchen ein wenig? Jſt’s nicht ſo, Mathilde? So iſt es, Tante! Jch könnte es nicht ertragen, ſie über ihn ſpotten zu hören und doch weiß ich, daß ſie es gar nicht böſe meint. Ueber mich mag ſie immer lachen, nur über den Bruder nicht, das könnte ich nicht verſchmerzen. Sie wird es auch nicht, ich ſtehe für ſie.

Jch nahm Hertha hernach zu mir allein auf der Gartenterraſſe, wir ſetzten uns auf ein einſames164 Bänkchen, das von Waldreben überhangen iſt. Man überſieht von da den ganzen Garten und ſieht auf den See hinaus. Mathilde und der Fähnrich gingen Arm in Arm in einiger Ferne vorüber. Es iſt doch was köſtliches einen Bruder zu haben, fing ich an, wie die Mathilde jetzt ſo glücklich iſt! Wie ſie ſo ſchön an den Bruder geſchmiegt dahin wan - delt! Ja, Tante, das weiß ich auch, wie man da ſo glücklich iſt! Wenn ich den Bruno nicht hätte, ich möchte nicht leben. Das ſieht man Dir aber nicht immer an, daß Du ihn ſo gar lieb haſt. Oft ſcheint es, Du habeſt Deinen Muthwillen lieber als den Bruder, wenn Du ihn ſo recht auf den Bruno losläſſeſt.

O darüber habe ich mich ſchon oft geärgert, aber ich kann es nicht laſſen, ihn zu necken, wenn er ſo unbändig vernünftig gravitätiſch meyne ich und ſo weiſe iſt. Wenn ihn aber ein andres neck - te, dann würde ich ſehr böſe werden, und wenn es ſelbſt Jda wäre, ich könnte unartig gegen ſie ſeyn. Nun ſieh, Hertha, gerade ſo wie Dir’s da zu Muthe wird, ſo iſt es jetzt auch Mathilden,165 und darum umgibt ſie den Fähnrich beſtändig und darum ſoll auch Hertha ihn nicht neckiſch anſe - hen, und wenn er ein auch ſo lächerliches Närr - chen wäre. Nicht wahr Tante? Ja, Hertha, ich fodre von Dir, daß Dir die Schweſterliebe ei - ner andern heilig ſey und daß Du mit Deinem losgelaßnen Muthwillen nie mehr die Freude ei - nes ſchönen Herzens trübſt. Denke nur, wie ſehnlich und wie lange Mathilde ſich auf dieſe Tage ſchon voraus gefreut hat! und wollteſt Du der Kobold ſeyn, der ſie ſchadenfroh ſtörte? Nein gewiß nicht, Tante, verlaß Dich auf Hertha. Aber Tante, warum könnens denn die Schweſtern ſo gar nicht vertragen, daß der Bruder im mindeſten an - gefochten werde? Das hat außer der ſchönen Schwe - ſterliebe wohl noch einen beſondern Grund, liebe Hertha. O welchen? Als einſt in Birkenfeld ein ſtößiger Stier auf Dich zu kam, und Du ganz außer Dir warſt vor Entſetzen zu wem rann - teſt Du? und wer ſchwang Dich über die Mauer in den Garten, und wehrte mit ſeinem Hirſchfän - ger den Stier ab? Es war Bruno, bei dem Du Schutz ſuchteſt und fandeſt. Und wer riß Dich166 in Deinem 8ten Jahre aus der Flamme, als die wilde Hertha dem Kamin zu nahe gekommen war, und ſchon ihre Kleider brannten, wer trug ſie bren - nend in ſeinen Armen aufs nächſte Bett, und dämpfte mit ſeinem eignen Körper die Flam - me, indem er ſich ſelbſt verbrannte? Es war Dein ernſter Bruno. Und wer nimmt Dich gegen die Beſchuldigung der Fleuri und gegen jede ähnliche Anklage, daß Dein Herz böſe ſey, in Schutz wer anders als Bruno? Alle Schweſtern die einen Bruder haben, ſind von der Natur auf den brüder - lichen Schutz angewieſen. Bei ihnen vertritt über - all der Bruder die Stelle des Vaters, wo es auf Schutz ankommt: daher zum Theil das peinliche Ge - fühl der Schweſter, den Bruder furchtſam, ſchwach, verächtlich oder auch nur lächerlich zu ſehen. Nun Tante, durch mich ſoll die gute Mathilde keinen böſen Augenblick mehr haben, das darf ich Dir verſprechen, denn Hertha kann nie mehr ganz leicht - ſinnig ſeyn, ſeit ſie mit Dir und Jda lebt. Vor euch beiden würde ich mich fürchten, wenn ich euch nicht ſo entſetzlich lieb haben müßte. Noch den - ſelben Abend antwortete ſie recht artig und ſo gar167 beſcheiden auf eine wunderliche Frage, die der Fähnrich aus Langerweile an ſie that Bruno gab ihr einen ſehr freundlichen Blick, und ſie legte den Finger auf den Mund, gab ihm aber unter dem Tiſche freundlich die Hand.

Jda ging nach Tiſch auf ſie zu und küßte ſie, faſt mütterlich belohnend. Jn einigen Wochen iſt der Urlaub des jungen Menſchen zu Ende.

Lebe wohl, beſte Emma!

Ein und ſechszigſter Brief.

Seit meinem letzten Briefe habe ich faſt eine zu lange Pauſe gehalten. Aber ich rechnete auf die Briefe der Kinder, die Dir immer reichern Erſatz geben müſſen, und die meinigen immer ent - behrlicher machen. Durch ſie weißt Du, daß Ma - thildens Bruder uns längſt wieder verließ. Auch hätte die Unterbrechung in unſern Studien durch ihn ohnedem faſt zu lange gedauert.

168

Seitdem hat ſich auch Mlle. Fleuri von Elvi - ren und ihren Kindern getrennt. Zu uns herüber ziehen konnten wir ſie einmal nicht. Jhr durch - aus verzerrtes und verſtimmtes Weſen lag zu tief, und konnte ſich mit der beſſern Natur nicht mehr ausgleichen. Elvire iſt ſehr froh, dieſe Scheidung zu Stande gebracht und überſtanden zu ſehen. Die Kinder kommen mir vor wie junges Geflügel, das man mit gebundenem Fittich und Beinen in einem wohlverſchloſſenen Korbe meilenweit gefahren oder getragen. Man iſt nun an Ort und Stelle, macht den Korb auf, löſ’t die Bande, und will es auf dem Hofe laufen laſſen. Aber die Flügel ſind ge - lähmt, die Beine geſchwollen, denn ſie waren hart gebunden, ſie haben mit der ſuſpendirten Kraft auch ſelbſt den Willen zu fliegen oder zu laufen auf eine Zeitlang eingebüßt. Doch laßt es nur, lieben Leute, laßt es ſcheu ſich in den Winkel ducken; die Kraft kehrt wieder ſind anders Flügel und Beine nicht zerbrochen der Wille mit ihr, die Natur reſtaurirt ſich, das gemißhandelte Weſen richtet ſich aus der Verkrüppelung auf und wird wieder was es war. Nur wenn dem armen Schä -169 cher die Beine ganz zerſchlagen ſind, kann er ſie nie wieder brauchen. Elvire wollte nun daß ich ihre Töchter völlig unter uns aufnähme. Das habe ich abgelehnt. Jn ihrer faſt ganz negativen Gegenwart können ſie ſich am erſten wieder auf - richten. Sollten ſie ganz mit uns ſeyn, ohne uns zu ſtören oder zu unterbrechen, ſo müßten ſie ſich ſchon ganz in unſere Lebensweiſe und Zeiteinthei - lung fügen, und das wäre ein neues Joch für ſie, wenn gleich ein ſanfteres als der Fleuri ihres. Für unſere Kinder iſt es keins, ſie haben es von klein auf als ein Glück angeſehen, immer, entweder ſelbſtthätig oder ſtill aufmerkſam zu ſeyn. Der Wechſel von beiden iſt ihnen Erholung. Sie ſelbſt haben, von mir aufgefordert, dieſe Ein - theilung ihrer Stunden gemacht, der ſie ſich alſo auch ganz freiwillig unterwerfen. Wenn wir, wie dies faſt ſchon beſchloſſen iſt, von jetzt an noch ein Jahr hier bleiben, ſo muß der bloße Umgang mit unſern Kindern ohnehin ſchon ſehr vortheilhaft auf Elvirens Töchter einwirken. Und ſie mögen ſich in den Erholungsſtunden gern alle vereinen. Auch ſind ſie, ſeit der Fleuri Abreiſe auf allen(22)170Spatziergängen bei einander. An unſern Vorle - ſungen dürfen ſie fürs erſte noch nicht Theil neh - men. Sie haben noch nichts deutſches geleſen, und könnten mit unſern Kindern nicht Schritt hal - ten; denn dieſe leſen kein Buch, und hören keins vorleſen, wovon ſie mir nicht genaue Rechenſchaft geben könnten. Sie leſen ſehr wenig. Haben ſie den Geiſt eines Buches gefaßt, ſo zeigt ſich das bald. Zum bloßen leeren Zeitvertreibe leſen ſie nichts, gar nichts. Zur Erholung von unſern klei - nen Anſtrengungen ladet uns die herrliche Natur faſt täglich ein. Und an Tagen, wo ſie ſich un - freundlich verhüllt, oder uns die rauhe Seite zu - kehrt, ſtehen uns die Künſte liebend zur Seite. Was brauchen wir denn Makulatur in Form eines moraliſchen Zeitvertreibes? o der unſeligen Sünd - fluth von fadem Geſchreibſel die einer der größ - ten Wohl - und Uebelthäter des Menſchenge - ſchlechts durch die Erfindung der Preſſe über uns gebracht hat! Doch Du, geliebte Emma, biſt dem Gebirge Ararat nahe, das die Fluth nicht errei - chen konnte. Dir ſendet die verderbte Schrift - ſteller-Welt in Deiner Arche nichts zu. Was171 Dir gebracht wird, ſind friſche grünende Oelblät - ter des ſchönern Geiſteslebens. Du alſo kennſt die Migraine nicht, die ſich Deine Freundin oft angeleſen, wenn ſie zu halben Tagen und Nächten das traurige Gewäſch durchſuchte, was man für große und kleine Kinder zuſammenſchreibt, um etwas nur etwas brauchbares für unſer Häuf - lein heraus zu fiſchen. Da ward ich denn mit mir eins, dieſen Tand ruhen zu laſſen, den Verſtand unſerer Kinder mit anſchauender Sachkenntniß zu nähren, ihr Herz ſtill an der Natur und an der heiligen Liebe erwärmen zu laſſen, und ihre Phan - taſie durch wirkliche Meiſterwerke belebend anzu - hauchen.

Wie dies über alle meine Erwartung gelingt, davon ſcheinen die Briefe der Kinder ſchon eine Vorahnung zu geben. Aber willſt Du es ganz wiſſen; ich darf getroſt ſagen: komme, und ſiehe! Ein unbefangneres Urtheil, eine zarter blühende Phantaſie, und eine größere Jnnigkeit der Liebe, mußt Du noch bei keinem 15jährigen Mädchen ge - ſehen haben, wie bei Deiner Jda. Komme und ſiehe! du glückliche Mutter.

172

Wenn die geknickte Natur der Kinder unſrer Freundin ſich erſt ein wenig wieder gehoben hat, und ihr Geiſt von dem lebendigen Odem der friſchen Jugend noch einmal angehaucht iſt, dann ſollen ſie auch mit uns leſen. Früher würde ihre untheil - nehmende Gegenwart uns ſtören, ohne ihnen er - ſprießlich zu ſeyn.

Selbſt Deine Freundin wird bei dem Genuſſe der herrlichſten Geiſtesprodukte unvermerkt von Mißmuth und Langerweile beſchlichen, wenn ſie müßige Ohren neben ſich gewahr wird, durch wel - che nichts eindringen kann, und vollends Menſchen, deren Herz allem Zarten und Schönen unerreich - bar iſt. Mit unſern Kindern kann ich ſo man - chen der ſchönſten Genüſſe theilen. Mathildens Geiſt kann recht ſtarke Speiſe vertragen. Das Große, das Erhabene, das Romantiſche ergreift ſie ganz beſonders. Jda’s lyriſcher Geiſt kann ſich beſſer mit der ſtilleren lyriſchen Poeſie befreunden. Neulich überraſchte ich ſie des Morgens frühe bei einem eigenen poetiſchen Verſuche, den ſie ins Reine ſchrieb. Als ſie fertig war, legte ſie das173 Blatt ſtill auf den Tiſch vor mir hin, und ſchlich hinaus. Jch las und war nicht wenig überraſcht. Jch lege Dir dieſe Erſtlingsblüthen ihres Geiſtes hier ein.

Die Lämmerwolken.
Lämmer des Himmels, wo ziehet ihr hin?
Mit euch zieht Jda’s ſehnender Sinn.
Ziehet auf blauen lüftigen Wegen,
Ziehet dem Aufgang des Lichtes entgegen.
Himmliſche Heerde, ach fern wo der Mond
Stralend herüber kommt, ferne da wohnt
Liebend der Vater, die Mutter, die Kleinen:
Grüßet ihr Lämmer des Himmels die Meinen.
Saget, daß Jda in Liebe verſenkt,
Wandelnd am Ufer der Fernen gedenkt.
Zieh nun in Frieden, du himmliſche Heerde,
Weidend am Himmel und lächelnd der Erde.
174

Jſt dies Dein allererſter Verſuch, Jda? fragte ich ſie, als ſie wiederkam.

Jch habe wohl ſchon einen frühern gemacht, beſte Tante: willſt Du auch den ſehen, ſo hole ich Dir das Blatt. Sie brachte es, und Du findeſt es gleichfalls hiebei.

Der Thau im Graſe.
Habt ihr getrunken vom himmliſchen Thaue,
Blümlein der goldenen Frühlingsaue?
Gräschen habt ihr alle getrunken?
O wie leuchten die goldenen Funken!
Gräschen ihr habet alle getrunken.
Wiegend hängen an allen Spitzen
Leuchtende Tröpflein: ſie funkeln, ſie blitzen.
Blümlein, hat euch die Sonne geküßt,
Daß ihr die holden Aeuglein aufſchließt?
Blümlein ſie hat euch ſtralend geküßt.
Soll ich euch rauben der goldenen Aue,
Blümlein, getränket vom himmliſchen Thaue?
Blümlein des Frühlings, ſoll ich euch pflücken,
175
Liebend ans klopfende Herz euch zu drücken!
Soll ich euch ſchonen, ſoll ich euch pflücken?
Blühet, ihr Blümchen der goldenen Aue,
Blühet und glänzet im himmliſchen Thaue,
Wollet ihr freundlich mit Düften erquicken,
Jda will liebend herunter ſich bücken,
Liebend ans klopfende Herz euch zu drücken.

Und wie biſt Du denn darauf gekommen, Jda, ſo etwas zu machen? O ich war oft ſo vergnügt, und ein andermal wieder ſo wehmüthig, daß ich mich nicht zu laſſen wußte, und doch konnte ich’s niemanden ſagen, wie mirs ſo ſeltſam war, ſelbſt Dir nicht, meine allerbeſte Tante. Da dacht ich, es müſſe den Leuten die gedichtet, wohl ſo zumuthe geweſen ſeyn, und da hätten ſie ſich vielleicht da - mit geholfen, daß ſie zum Papier gegriffen. Und ſo habe ich es verſucht, und wenn ich geſchrieben, dann war ich wieder ganz ruhig. Es gibt Stun - den, wo ich immerfort ſchreiben möchte, und dann wieder andere, wo ich immer ſinnen muß; Aber ſey nicht bange, liebſte Tante; Jda wird darum176 doch Deine fleißige Jda bleiben. Sieh Emma, ſo iſt Dein Kind. Lebe wohl, glückliche Mutter!

Zwey und ſechszigſter Brief.

Danke mir nicht, liebſte Emma, für das in Deinem Kinde gewordene Schöne, Herrliche, und wenn ich Dir davon mit noch größrer Ruhmredig - keit ſchreiben ſollte, als ich bisher wohl that. Jch weiß zu gut, wie wenig davon auf Rechnung der Erzieherin kommt, und wie viel der großen Bildnerin davon gehört. Glaube z. B. ja nicht, daß auch nur dies kleine poetiſche Flämmchen, das jetzt noch ſchwach hervorleuchtet, das Werk der Bildung ſey. Nein, Emma, wenn ich Antheil dar - an hätte, wäre es anders, auch müſſen ja dann Clärchen und Mathilde eben ſo wohl ſolche Geiſtes - ſtralen auswerfen, denn ſie haben denſelben Unter - richt genoſſen, und an meinem täglichen Umgang gleichen Antheil mit Jda gehabt. Die Poeſien die ich ihnen mittheilte, waren alle in einem ganz177 andern Geiſt gedichtet. Du weißt, welche Dichter wir am meiſten laſen und auswendig lernten. Ein ſolches Flämmchen aber, welches die Natur unmit - telbar entzündet, nicht belebend anhauchen wollen, würde mir unrecht ſcheinen. Und es auszulöſchen wäre ohnedem ganz vergebliches Beginnen. Jch konnte ja nichts als dieſer lieblichen Phantaſie freundliche Bilder zuführen, und dieſes tiefe Ge - fühl mit warmer Liebe nähren und pflegen. So iſt nun geworden, was Du ſieheſt. Und das ſo gewordene ſtehet keiner weiblichen Tugend hindernd entgegen, wie die angebildete Künſtlerin nothwen - dig thun muß. Das Bewußtſeyn der Naturgabe erhält das Gemüth des Weibes in ſchöner Demuth, eben weil es eine Gabe iſt. Das an ſich geriſſene, mit Anſtrengung und Studium ſich angeeignete macht ſtolz und übermüthig, wenigſtens im Weibe. Und die Leidenſchaft, das Errungene zu erhalten und zu vermehren, nimmt Beſitz vom ganzen Ge - müth, und macht leicht Ekel an den tauſend klei - nen Dingen, die mit einander die ſchöne Häuslich - keit ausmachen. Sie können fortan das Gemüth nicht mehr heiter beſchäftigen: und werden ſie auch(23)178betrieben, ſo iſt es mit Seufzen ob ihrer Kleinheit. Nichts kann hierüber ſprechender belehren, als die Kinderſtube einer ſolchen Hausfrau. Sey Du aber über Deine Jda ganz unbeſorgt. Wie ſehr ſie zur ſchönſten Häuslichkeit ausgeprägt iſt, das hat ſie in Platov’s und Woldemar’s Krankheit und an De - borahs Krankenlager bewieſen, und wird den größ - ten Beweis der Zukunft nicht ſchuldig bleiben, da - für ſtehe ich. Wie ich aber die Mädchen alle zu dem anhalte, was doch immer auch ein weſent - licher Theil des weiblichen Berufes bleibt, davon habe ich Dir kürzlich nicht geſprochen, und eben ſo bin ich Dir die Mittheilung unſrer ganzen hieſigen Einrichtung noch ſchuldig. Wohl iſt nicht viel be - ſonderes davon zu berichten. Doch das mußt Du wenigſtens wiſſen, daß ich Clärchen zur Vorſtehe - rin des ganzen Haushaltes gemacht, auch ihr alle Ausgaben ſammt der Berechnung davon anvertraut habe. Das Detail der Wirthſchaft beſorgen ſie alle Wochenweiſe. Da wird weder Jda noch Ma - thilde, noch die leichtſinnige Hertha verſchont.

Freilich iſt es an allem ſehr merklich, wer eben die Woche hat, und am beſten ſteht ſich die ganze179 Geſellſchaft, wenn die häusliche Virtuoſin Clare die Reihe trifft, denn auch ſie muß die Reihe mit halten. Das geſtehen ihr auch alle einmü - thig zu. Der hohen feierlichen Mathilde ſtehet es freilich gar ſonderlich an, wenn ſie mit ihrer Woche das Bund Schlüſſel übernimmt, und einen Theil des Vormittages in der Küche zubringt, aber man merkt ihr keinen Widerwillen an. Clärchen iſt im Haushalt, wie der Fiſch im Waſſer, d. h. durchaus im Elemente. Jda iſt der Anblick von manchem, was zur Küche gehört, noch immer wi - drig. Du kennſt ja ihren hohen Reinlichkeitsſinn. Aber ſie fügt ſich. Wie ſie alles Geflügel von früheſter Kindheit an liebte, weißt Du gleichfalls. Unter ihrer Aufſicht ſtand ſchon frühe der Hühner - hof. Und da war denn oft große Noth, wenn irgend ein Huhn geſchlachtet werden ſollte, an dem ſie ihr beſonderes Wohlgefallen hat. Hier - über waren wir noch immer nicht ganz im Reinen. Neulich kam Clärchen als ſie die Woche hatte, ge - gen Abend zu Jda und foderte ein Paar Hühner für den folgenden Tag. Die beiden einzigen, die geſchlachtet werden konnten, gehörten grade zu180 Jda’s Favoriten. Was that Jda, ſie gab in der Stille von ihrem Taſchengelde, und ſchickte ſo lange umher, bis man ihr ein Paar Hühner brachte, wodurch ſie das begehrte Opfer bei Clare abkaufte. Die gekauften Hühner wurden ge - ſchlachtet, und die Günſtlinge waren gerettet. Der ganze kleine Handel wurde mir noch an dem nemlichen Abend hinterbracht.

Tags darauf kam der Mann einer Frau, die wir unſere Samſtagsfrau nennen, weil ſie ſich an dieſem Tage den gewöhnlichen Zuſchuß zur Ver - pflegung ihres ſchwindſüchtigen Vaters abholte: er empfing die gewohnte Gabe aus der Armenkaſſe der Kinder. Auf meine Frage, warum die Frau ſo lange nicht da war, warum er jetzt käme, und wie es der Frau ginge, antwortete der Mann: ach wir ſind wohl recht elend; ſonſt waren wir zu - frieden mit Erdäpfel und Brot, und wenn wir Sonntags ein Pfund Fleiſch im Topfe hatten, ſo waren wir überglücklich, und ſo viel konnten meine gute Frau und ich erwerben. Jetzt liegt ſie nun ſeit 2 Monaten da, ſie und ich können nichts verdie -181 nen, und ohne den Beiſtand wohlthätiger Men - ſchen müßten wir gar verzagen. Nun will aber der Doktor, ſie ſoll alle Tage ſtarke Brühen und dann und wann auch Hühnerfleiſch eſſen. Aber du mein Gott, wo ſoll das herkommen? Geſtern Abend ſagte die arme Kranke, ja wenn ich mich nur einmal in Hühnerfleiſch ganz ſatt eſſen könnte. Jch ſah Jda an, ſie ward roth. Jch ſagte ihr auf engliſch: fchade daß unſere beiden Schlacht - hühner nicht mehr da ſind, die Frau ſollte ſie ſo - gleich haben. Jda erröthete noch mehr. Tante, ſie ſind noch da, ſie dauerten mich gar zu ſehr, ich habe andere dafür kaufen laſſen und die haben wir heute Mittag gegeſſen. Ja ſo, nun dann weiß ich der armen Kranken nicht zu helfen. Gib dem Manne Geld, Jda, daß er ſelbſt Hühner kaufe. Liebe Tante, es war das letzte von meinem Mo - natsgelde, und Schulden darf ich nicht machen, wie Du weißt. Jch habe aber noch Vorrath in meiner Privatarmenkaſſe, Jda, willſt Du nun Hüh - ner holen laſſen, Du weißt ja nun, wo welche zu haben ſind? Gute Tante, die Köchin iſt geſtern bis in die Nacht herumgelaufen, ehe ſie die beiden182 bekommen hat, und ſagte, es ſeyen in der ganzen Nachbarſchaft jetzt keine zu haben, weil die vielen Fremden alles aufzehrten. Ja dann weiß ich der kranken Frau nicht zu helfen. O Tante, Blaurock und Perdrix ſollen daran. Dann müſſen ſie aber auch hier in unſrer Küche zuberei - tet werden, Du weißt, Clärchen kocht vortreflich, und wird ſie der Kranken gewiß recht nach Wunſch zubereiten. Gut, liebe Tante, aber bitte, laß die Hühner greifen und ſchlachten, wenn ich nicht da bin.

Dies ward zugeſtanden. Wir beſtellten den armen Mann auf den folgenden Mittag. Er holte die Krankenmahlzeit, und kam mit muſend Seg - nungen von der Kranken zurück. Tags darauf ward ihr das zweite bereitet. Jda war froh des kleinen Siegs. Von jetzt an wird faſt täglich für die ar - me Kranke gekocht und gebraten, und wenn ihr gute Nahrung wieder aufhelfen kann, ſo kommt ſie gewiß durch. Sorgfältiger iſt wohl weit umher nicht leicht ein Armer verpflegt, als dieſe Kranke ſeit 8 Tagen. Es iſt eine Freude zu ſehen, wie183 die Kinder auf ihre Pflege wetteifernd raffiniren. Sie haben unter ſich ausgemacht, daß ſie ſie in der Woche wechſelsweiſe beſuchen wollen. Am Samſtag Abends gehen ſie alle hin; auch Elvirens Töchter ſind mit in dieſem Verein. Auch ſie tra - gen ſeitdem zum Wochengelde für die arme Fami - lie bei. Wie faſt alle hülfloſe Armen, war auch dieſe Familie tief in Schmutz verſunken. Jda ſchauderte und litt bei dieſem Anblick mehr als die andern. Die ganz häusliche Clare ſchaffte ſogleich Rath. Jn der Dämmerung ſchlich ſie mit unſrer Hausmagd hin, die alle Reinigungsgeräthſchaft mit hinnehmen mußte. Auch wurde, was an ab - gebrauchtem Leinzeuge zu finden war, zuſammen - gerafft und mitgenommen, die Kranke ſauber ge - bettet, und ſo viel Ordnung und Reinlichkeit in dieſe Wohnung des Elends gebracht, als vielleicht noch nie darin zu finden war. Triumphirend kam Clare mit der Liſel zurück, umarmte Jda und ſagte, nun ſoll mein Jdchen und Mathilde ſich recht freuen wenn ihr hinkommt; ich hab’s euch armen Kindern wohl angeſehen, wie es euch ekelte. Mir thut das ſo viel nicht. Jn Neuenburg gab es viele ſolche184 Arme, als mein Vater erſt auf die Pfarre kam; da haben wir es oft ſehen müſſen. Aber meine Mutter hatte eher keinen Frieden, als bis es in allen Haushaltungen ganz ordentlich und ſauber war. Und dann ſagte ſie zu mir und Betty: die erſte Wohlthat die man dem Armen erweiſen kann, ſobald man ihn geſättigt hat, iſt die, daß man ihn aus dem Sumpf des Schmutzes herauszieht. Und da iſt mir das ſo zum Bedürfniß worden. Wenn ich auf der Straße ſchmutzige Kinder ſehe, da däucht mir immer, ich müßte ſie waſchen und reinigen. O liebe Clare, Du biſt doch beſſer als ich, ſagte Jda, aber ich will es Dir ſchon noch nachthun, Du ſollſt nur ſehen. Mathilde ſagte ſeufzend, nein Jda, ich lerne das nicht; mir ekelt es gar zu ſehr. Gern will ich einen Tag und wohl zwei faſten, wenn es ſeyn ſoll, und dem Armen meinen Antheil überlaſſen; aber in ſolchen Greuel hineingehen, und gar anfaſſen und aufräumen, nein das kann ich nicht. O Clare, wie biſt Du ſo gut! Rechnet das doch nicht ſo hoch es iſt ja nichts, gar nichts, als frühe Gewohnheit, erwie - derte Clärchen.

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Jda ſagte mir ins Ohr, die Kranke hätte Clare eine Heilige genannt. Clare geht nun alle Mor - gen mit der Liſel extra hin, und wiederholt das Geſchäft, lüftet und räuchert, damit wenn die an - dern kommen, ſie es nett und ſauber finden. Die Mamſell Clärchen iſt ein wahres Engelsbild, ſagte die Liſel als ſie das letztemal mit ihr zurück kam. Liſel hat außer Jda niemand ſo lieb als Clärchen. Ja, Fräulein Mathilde iſt wohl auch herzensgut, aber ſie ſieht doch gar zu vornehm aus. Unſer Wildfang nennt die Clare jetzt nicht anders als die barmherzige Schweſter. Jda war heute mor - gen eine Stunde früher auf, um Clarens Bett mit Blumen zu beſtreuen, und ihr einen Kranz von Myrthen und Jonquillen aufs dunkle Haar zu legen. Clärchen blühet in den friſcheſten Farben, aber nie iſt ſie ſchöner als wenn ſie die Woche hat, und ſich recht abarbeitet. Jda thut das ihre mit dem ſchönſten Anſtande, leicht und fröhlich, doch fühlt man immer heimlich, ſie ſey zu zart und geiſtig für die gröbere Proſe des Lebens, wenn man ihr zuſieht. Mathildens feierliche Langſamkeit iſt ihr ein wenig hinderlich, aber wir ſind dennoch nicht(24)186ſchlecht bedient, wenn ſie die Woche hat. Hertha muß ſich noch oft Hülfe erbitten, wenn’s ordent - lich gehen und alles zu rechter Zeit gethan ſeyn ſoll, ſo viel ſie auch vom Haushalt verſteht.

Jm Ganzen gleicht unſer Hausweſen jetzt einer wohleingerichteten Uhr, die nur ſelten aufgezogen zu werden braucht. Unſere Kinder erziehen ſich untereinander. Wo ſollte Deine Freundin noch zu thun finden, wenn ſie nicht ihr ganzes Leben an Dich ſchreibend immer noch einmal durchlebte? Doch Scherz bei Seite, wir haben noch vieles zu thun und zu lernen ehe Du kommſt, wenn wir vor Dir, und beſonders vor Deinem geſtrengen Gemahl beſtehen wollen. Lebe wohl, Emma!

Drei und ſechszigſter Brief.

Vor einigen Tagen kam Mathilde des Morgens ganz früh an mein Bett geſchlichen. Ganz leiſe machte ſie mir folgenden Vortrag: Liebe Tante, erlaube mir, daß ich heute, morgen und über -187 morgen nicht zu Tiſche komme. Jch. Wo willſt Du denn eſſen? M. Jch wollte gern auf dem Schlafzimmer bleiben, und während ihr andere ſpeiſet, Klavier ſpielen. Jch. Aber wann willſt Du denn eſſen? M. Beſte Tante! ich wollte gar nicht eſſen. Jch. Aber warum, mein Kind? M. Jch ſchäme mich, gegen Clärchen ein ſo armes Ge - ſchöpf zu ſeyn, das noch faſt gar nichts kann, und gar nichts iſt. Jch. Und da wollteſt Du Dich im Faſten üben, und durch Faſten auszeichnen? M. Du weißt, liebe Tante, wie gern ich eſſe, und da dacht ich, wenn ich mich einmal einige Tage ohne Eſſen behelfen gelernt, würde ich auch ſonſt mehr Gewalt über mich gewinnen, und auch wohl den Ekel überwinden, der mich ſo unbehülflich macht, aber ich habe auch noch eine Bitte dabei. Jch. Und welche, mein gutes Kind? M. Du ſollſt mir nemlich alles was ich in dieſen 3 Tagen gebraucht haben würde, für die arme Frau geben, die zur völligen Geneſung noch viel braucht. Jch. Aber was wollen wir denn den andern ſagen, war - um Du nicht zu Tiſche kommſt? M. Ja, das iſt’s eben, warum ich zu Dir komme. Wenn man188 lügen dürfte, dann hätte ich keinem Menſchen etwas von meinem Vorhaben geſagt, hätte mich krank geſagt, mir aber doch hier zu eſſen ausgebe - ten, und alles heimlich durch die Liſel hingeſchickt zur armen Frau. Jch hätte dann auch um Wein gebeten, und der wäre gewiß der Geneſenden be - ſonders gut bekommen. Jch habe dieſe Nacht viel darüber nachgeſonnen, ob man in einem ſolchen Falle wohl lügen dürfte, ich habe aber nicht mit mir darüber fertig werden können, und da kam es endlich zu dem Vorſatze, Dir alles zu ſagen. Jch. Deine Jdee iſt ſchön und löblich, gutes Kind, aber ich kann ſie doch nicht ganz gut heißen. Ein 3tägi - ges Faſten iſt für einen Körper, der nicht daran gewöhnt iſt, eine allzuharte Probe. Fürs erſte muß ich Dir rathen, es mit einem Tage zu verſu - chen, und ſelbſt an dieſem Tage noch ein wenig Brot und Waſſer zu genießen. Willſt Du dieſe Uebung im Entbehren wiederholen, ſo thue es ein andermal. M. Aber wie ſoll ich es denn nun vor den andern machen? darf man in dieſem Falle - gen? Jch. Nein, Mathilde, das darf man nicht, wie ſchön auch die Abſicht ſeyn möge. M. Was iſt189 aber zu machen? ſagen könnte ich doch die Urſache meines Obenbleibens unmöglich, denn ſonſt wäre es nichts damit, und man konnte ſogar glauben, ich wollte es nur darum, weil ich es neulich einmal geſagt habe. Jch. Das Gefühl, das Dir verbietet, von Deinem Faſten im Hauſe zu ſprechen, iſt ein ſehr richtiges. Weißt Du was? Wir wollen es bloß Jda ſagen, warum Du heute nicht hinunter kommen kannſt, damit Jda wenigſtens wiſſe, wor - an ſie ſey; denn ſie hat ein Recht auf Dein gan - zes Vertrauen. Den Andern wollen wir ſagen, daß Du wünſchteſt, oben zu bleiben, ohne den Grund anzugeben. Deine Portion ſoll Dir gebracht wer - den, und Wein dazu. Liſel ſoll zu Deiner Dis - poſition ſeyn während unſerer Mahlzeit. Wir wollen uns diesmal ſelbſt bedienen. M. Aber wenn ich nun finde, daß mich das Faſten nicht ſo gar ſehr angreift, als Du befürchteſt, dann darf ich es doch morgen und übermorgen auch thun? Nein, gute Mathilde, die Handlung und ihre Fol - gen ſtehen in keinem richtigen Verhältniß. Die Anſtrengung iſt zu groß, gegen das was durch ſie erreicht wird. Was die Arme dadurch gewinnt,190 iſt nicht nennenswerth gegen die Abſchwächung Deines Körpers, und was Du an moraliſcher Fe - ſtigkeit dadurch gewinnen könnteſt, haſt Du durch Deinen ernſten Willen ſchon gewonnen. Und wollteſt du den Ekel durch Hunger beſtrafen und überwinden, ſo dürfteſt Du nicht eher wieder eſſen, als bis Du das widrigſte ohne Empörung Deines innern Sinnes anſchauen und berühren könnteſt. Es bleibt alſo bei dem einen Tage. Sie hielt ihren Faſttag vortreflich ohne Sauerſehen, und ganz wie es im Evangelio geboten, wenn man ja faſten wollte. Auch hatte ſie es der Liſel ſtreng unter - ſagt, der armen Frau auch nur durch ein Wört - chen zu verrathen, wer aus der Geſellſchaft ihr das heutige Mittagseſſen ſende, und ich habe die - ſen Befehl verſtärkt, damit Mathilde auch nie ein lobendes Wörtchen darüber höre. Selbſt Jda fühlte daß ſie ſich alles Lobes enthalten müſſe; aber ſie iſt ſeitdem noch viel liebreicher gegen ſie, als je zuvor.

Wie gefällt Dir jetzt unſere Mathilde? O ich wußt es immer, daß ſie uns durch ihr hohes Ge -191 müth noch einmal erfreuen würde. Dieſe Hand - lung freilich iſt unbedeutend, aber der Geiſt, aus dem ſie kam, die Art, mit der ſie vollbracht ward, haben mich tief bewegt. Wollte man ſagen, ſo etwas führe zur moraliſchen Schwärmerei oder gar zur anmaßenden Erhebung über andere, die das nicht über ſich vermögen, ſo kömmt mir das vor, als ob man die Frömmigkeit ſelbſt anklagen wollte, daß ſie den Menſchen, der ihr ſein Herz hingegeben, über ſich ſelbſt und über andere er - heben und ſtolz machen könne, da doch nicht alle Menſchen es ſo weit brächten. Freilich kann die Frömmigkeit in Schwärmerei ausarten, und zum geiſtlichen Stolze verleiten; aber muß ſie das noth - wendig? und iſt darum ſie ſelbſt verwerflich, weil ſie in dem fehlerhaften Gemüthe alſo ausarten kann? Fürchte alſo von dieſer Seite ja nichts, meine Beſte, und bitte auch Deinen D über dieſen Punkt ganz ruhig zu ſeyn.

Wo die Barmherzigkeit nicht zur Schau getra - gen wird, da kann ſie auch nicht aus Eitelkeit entſpringen, oder zu Eitelkeit werden. , Und192 die Schwärmerei der Menſchenliebe? O die Macht des Egoismus iſt ſo groß unter den Men - ſchen; wenn nun die Unſrigen ein wenig für ſein Gegentheil ſchwärmten! Doch Du und ich kön - nen uns hierin auch nicht mißverſtehen. Verzei - hung alſo für dieſe Vertheidigung, die Dir viel - leicht völlig überflüſſig erſcheint.

Unſere Kinder ſind bei dieſer Sinnes-und Han - delnsart ſo glücklich, ſo fröhlich, als Kinder nur ſeyn können. Kann doch die Ausgelaſſenheit und die Herrſchaft der Thorheit nur auf Augenblicke glück - lich machen, und müſſen ſie doch nothwendig eine bange Leere zurücklaſſen, wo man durch ſie fröh - lich war.

Erſt ſeit wir hier ſind, haben wir das Stu - dium der Geſchichte ernſtlich zu betreiben angefan - gen. Materialien dazu hatten wir genug eingeſam - melt. Eines unſerer Zimmer iſt ganz mit Land - karten tapezirt. Jn dieſem halten wir un - ſere Geſchichtſtunde, und die Karte des Landes, von deſſen Geſchichte eben die Rede iſt, liegt vor193 uns. Die Naturgeſchichte ſammt der Naturlehre wird in meinem kleinen Muſeum vorgetragen. Ein ſchöner Himmelsglobus, Bode’s Sternkarten, der weite Horizont aus dem einen Fenſter, ein gutes Teleskop, und Bruno’s Bekanntſchaft mit den Sternbildern orientiren uns am Himmel. Ei - nen ſehr guten Vortrag der mathematiſchen Geo - graphie hält uns jeden Morgen von 8 9 ein hier privatiſirender Gelehrter, deſſen Lieblingsſtu - dium Aſtronomie iſt. Dieſe Studien ſind außer Muſik, Zeichnen und Jtalieniſch alles, was in den diesjährigen Kurſus gehört.

Hertha’s Gegenwart hätte ſehr ſtörend ſeyn müſſen, wenn ich ihr nicht vom Anfange an in allen Lehrſtunden ein völlig pythagoriſches Still - ſchweigen auferlegt. Muthwilliger Hang mit ir - gend einer komiſchen Frage dazwiſchen zu kommen nahm nicht ſelten bei ihr die Geſtalt der Wißbe - gierde an. Jch mußte ihr alſo das Schweigen zur einzigen unerläßlichen Bedingung der Theilnahme an dem Unterricht machen, gab ihr aber ein Büch - lein, in welches ſie mit zwei Worten jeden Punkt(25)194notiren durfte, über welchen ſie nach der Stunde nähere Belehrung wünſchte. Hierdurch war ihr Muthwille gezügelt, und ihre Späſſe oft zurück - gehalten. Auch hat ſie ſich nach und nach zu wirk - lich ausharrender Aufmerkſamkeit gewöhnt, da ſie anfangs durch ihre närriſchen Zwiſchenfragen ſich ſelbſt und die andern oft vom eigentlichen Punkt ablenkte, und die Lehrſtunde ſtörte. Sie faßt gar ſchnell, und hat Clärchen in manchem ſchon einge - holt. Eine unbändige Freude zeigt ſie aber nicht ſelten, wie eine Lehrſtunde zu Ende iſt, auch wenn ſie mit dem größten Verlangen der Stunde entge - gen geſehen. Als Bruno neulich Abends ihnen die Sternbilder am Himmel zeigte, die ſie zuvor auf der Bode’ſchen Charte geſehen, meinte ſie, die Menſchen müßten doch von jeher rechte Spielkin - der geweſen ſeyn.

Wenn ich, ſagte ſie, mir dieſe Bilder ausge - ſonnen, und an den Himmel gefaſelt hätte, ſo wollte ich mal ſehen, wie es über die arme Hertha hergehen würde. Was würdeſt Du ſagen, lieber Bruder Bruno, wenn die Perücke der Berenice, oder das Meduſenhaupt meine Erfindung wäre? 195 Und nun vollends Hunde und Löwen, Fliegen und Bären, Eidexen, Schlangen und Jungfrauen, Helden und Spiegel und Kränze und Becher wie in einem Quodlibet da durcheinander herzuwerfen. Würdeſt Du da nicht ſagen, es ſpuke in Hertha’s Haupte? Aber da darf etwas Närriſches nur vor 2000 Jahren erfunden ſeyn flugs iſt es klug. O wenn ich vor 2000 Jahren gelebt hätte, ich hätte euch noch viel tolleres Zeug erdenken wol - len und wenn ich dann da droben von meinem Sterne herunter euch zuſchaute, wie ihr euch ſo ernſthaft plagt, alle dieſe ſchönen Sachen in den Kopf zu bringen, o wie wollt ich lachen. Aber zum Unglück bin ich ſo ſpät gekommen, wenn ich euch auch noch ſo luſtige Bilder erfinden und dahin pflanzen wollte, Bode nimmt ſie doch nicht auf, und ohnedem laßt ihr ſie nicht gelten. Bruno ward ſehr ernſthaft und ſagte: Hertha muß nicht wieder mit uns hinausgehen, und muß dieſe Stunde nicht mehr mit haben. Statt aller Antwort ſetzte ſie ſich ihm gegenüber, und ſah ihn von Zeit zu Zeit verſtohlen freundlich, ja bittend an, bis ſie endlich einen Blick von ihm erlauert, dann faßte ſie196 ihn mit ihrem freundlichſten Blick ſo feſt, und ru - hete nicht eher mit Liebäugeln, bis er aufſprang und ſie in ſeine Arme ſchloß. Nun das wußt ich ja wohl, rief ſie lachend, daß die Löwen und - ren am Himmel Dein armes Schweſterchen auf Erden nicht zerreißen würden. Sie fiel ihm herz - lich um den Hals, und er ging bewegt hinaus. Mit ihm wußte ſie ſich nun ausgeſöhnt, aber mich ſahe ſie furchtſam zweifelnd an, wie ich ihr die Störung unſrer ſo allgemein geliebten Lehrſtunde nehmen, und ob ich ihr ernſtlich zürnen würde? Liebe Hertha, ſagte ich ernſt, Du hatteſt ſehr un - recht, Deinen Bruder auf dieſe Weiſe zu ſtören. Wiſſen könnteſt Du es ſchon, daß den Männern jede Wiſſenſchaft, und alles was den Verſtand beſchäftigt heiliger iſt, als uns. Jeder Ausbruch eines wachſamen Leichtſinnes bringt ſie auf, und deshalb haben die Männer ſo oft unſer Geſchlecht für unfähig erklärt, ſich wiſſenſchaftliche Bildung zu erwerben. Wollteſt Du denn wohl, daß ſie hierin Recht behielten? Und wenn ſie Recht zu ha - ben glauben, wer iſt Schuld daran, ſolche, die zu allem was ſie lernen wollen, einen ruhigen197 Ernſt mitbringen, oder? Sie ſollen nicht Recht behalten, meine beſte Tante. Bitte den Bruno, daß er die leichtſinnige Hertha in die nächſte Stunde wieder mit aufnimmt, und wenn ſie dann, in dieſer oder einer andern Stunde wie - der ſtört, ſo mag ſie verſtoßen werden, ſie hat es verdient. Jch halte Dich beim Worte, meine Hertha. Seitdem hat ſie ſich noch nicht einmal wieder vergeſſen. Lebe wohl, geliebte Emma!

Vier und ſechszigſter Brief.

Sehr traurig kam (geſtern ſinds 14 Tage) Jda zu mir in den Garten. Was haſt Du, Liebe? fragt ich ſie. O beſte Tante, erinnerſt Du Dich der kleinen Seraphine, mit der wir vor einigen Mo - naten auf der Promenade ſo gern ſpielten? Ja wohl, denk ich des heitern Engels, was iſt dem Kinde wiederfahren, daß du ſo traurig von ihm ſprichſt? Ach es hat in dieſer Nacht ſeine Mutter verloren. Jch kann Dir nicht ſagen Emma, wie198 mich dieſe Nachricht ergriff. Das holde Kind iſt eben 2 Jahre alt, läuft und ſpricht und iſt ſehr le - bendig, aber äußerſt zart.

Sein Vater reiſ’te vor 3 Monaten nach Amerika. Ob die Mutter hat Verordnungen machen können, weiß ich nicht: ſie iſt ſehr plötzlich geſtorben, das Kind war in den Händen der Mägde. Wie ein Blitz durchſchoß mich der Gedanke: dies Kind ſollſt du zu dir nehmen, unſere jungen Mädchen ſollen an ihm den wichtigſten Theil des weiblichen Berufs lernen. Jda, ſagte ich, es iſt mir etwas in den Sinn gekommen, das ich mit Dir theilen muß o liebſte Tante, ich verſtehe Dich, Du willſt des Kindes Mutter ſeyn: nicht wahr, ich hab es er - rathen? Ja, Herzenstochter, Du haſt es getrof - fen. Da aber das Kind nicht bloß mit mir und Dir ſondern mit euch allen leben ſoll, ſo muß ich erſt aller Einwilligung dazu haben. O Du kannſt uns allen ſicherlich keine größere Freude machen. Soll ich die andern zu Dir rufen? Ja, Jda, rufe ſie alle auf mein Zimmer, auch Bruno, ſage ihnen aber nichts. Jch fand ſie alle verſammelt, als ich199 aus dem Garten kam. Jch habe euch etwas vor - zutragen, liebe Hausgenoſſen, redete ich ſie an, ich wünſche euch allen eine neue Mitgenoſſin zu geben, die aber noch zu jung iſt um uns viele Freu - den geben, ja um ſie nur von uns annehmen zu können. Ja, die Sorge für ſie wird uns manches kleine Opfer abfordern, und manchen Zwang auf - legen. Wir werden uns im freien Gebrauch unſe - rer Zeit ſehr beſchränkt ſehen, und manches kleine Ungemach zu erdulden haben; denn unſere kleine Freundin iſt erſt 2 Jahr alt. Die Wiege, und die ganze Kinderſtube des wirklichen Lebens haben für den äußern Sinn gar nicht viel poetiſches, ſie ſind vielmehr höchſt proſaiſch, und das rein poeti - ſche darin iſt ſehr geiſtig. Beſonders Sie, lieber Bruno, könnten wohl manche böſe Viertelſtunde da - von haben. Jch frage Sie alſo ernſtlich um Jhre Meinung, und bitte um ihre Zuſtimmung, weil es Sie am meiſten belaſten dürfte. Aber auch ihr, meine Kinder, ſollt freie Wahl haben. Verwei - gern die Meiſten von euch ihre Einwilligung, ſo un - terbleibt die Aufnahme. Eine Stimme dazu habe ich ſchon auf meiner Seite: ich blickte Jda an. 200Du haſt ſie alle, riefen die drei andern auf ein - mal. Auch Bruno ſagte: ich ſchließe mich den übrigen an. Nun ſo hört denn: unſer kleiner Liebling Seraphie hat das Unglück gehabt, in die - ſer Nacht ſeine Mutter zu verlieren. Sie iſt an einer Krampfkolik ſehr plötzlich geſtorben. Wahr - ſcheinlich hat ſie wegen ihres Kindes nichts beſchlieſ - ſen können, und dies würde nun den Mägden über - laſſen bleiben, bis die Obrigkeit ſich ſeiner annäh - me. Dieſe kleine verlaſſene Seraphine iſt es alſo die wir als Tochter und Schweſter aufnehmen wol - len. Jch habe aber nun manches von euch zu for - dern, welches unverbrüchlich gehalten werden muß. Wenn die Natur ſelber uns ein kleines hülfloſes Menſchengeſchöpf anvertraut, ſo legt ſie uns zngleich die unerläßliche Pflicht auf, alles was in Gegenwart des Kindes gethan wird, ſo zu thun, daß es der freien Entwickelung ſeiner Kör - per - und Verſtandeskräfte, und der beſten Wil - lensrichtung auf keine Weiſe hinderlich, ſondern durchaus beförderlich ſey. Überhaupt ſind die Rech - te der ſchwachen hülfloſen Unſchuld ſehr heilig wer ſie nicht achtet, wer ſie verletzt, über den iſt201 ein harter Fluch ausgeſprochen. Wer nun aber gar die Sorge für ein fremdes Kind freiwillig zu der ſeinigen macht, wem die Natur ſie nicht gab, der hat eine noch viel größere Verpflichtung. Wir wollen alles alles thun, was Du uns vor - ſchreiben wirſt, ſagte Mathilde und Clare, und dann werden wir ſelbſt beſſer, fiel Hertha ein, dann darf ich ja keine muthwillige Störung mehr machen. Nun wohlan, lieber Bruno, Sie haben es gehört, was Hertha freiwillig verſprochen.

Jndem trat ein Mädchen hinein, mit einem ſchwarz geſiegelten Briefe, und mit den Worten, an mich gerichtet: Dieſen Brief hat meine un - glückliche Herrſchaft zwei Stunden vor ihrem Ende geſchrieben, ihn geſiegelt, und noch einmal geſie - gelt, und mir ſterbend übergeben, daß ich ihn gleich wann ſie verſchieden wäre, zu ihnen brächte, ich konnte aber nicht eher. Jch hieß die Magd warten, öffnete das erſte Siegel, dann das zweite, und las, was mit ſehr ſchwacher zitternder Hand darin geſchrieben ſtand:

(26)202

Edle großmüthige Fremde!

Ein Fremdling in dieſem Lande und auf der Erde, der an den Pforten des Ausgangs ſteht, wendet ſich an Sie, und vertraut Jhnen das theuerſte Kleinod an, welches die ſcheidende Mut - ter nicht mit ſich nehmen darf. Mein Stolz, mei - ne Freude, mein Abgott war Seraphine. Sie für Himmel und Erde recht zu bilden, war mein ein - ziger Gedanke. Gott will es anders. Er fordert mich früher zu ſich. Jch betete, ich rang, ich wollte noch nicht ſcheiden. Aber er fordert mich immer lauter, ich muß ſcheiden von dem Engel der mein Alles war, und der die heiße Mutter - liebe noch ſo wenig empfunden ach und nun muß dies Herz voll unendlicher Liebe brechen. Und das mutterloſe Kindlein muß vergehen, wenn Sie, Großmüthige, ſich ſeiner nicht annehmen. Jch habe Sie im Leben nie angeredet, nur ſtille ferne Zuſchauerin war ich, deſſen was Sie thun. Aber voll Ehrfurcht, Liebe und heiligen Vertrauens, wende ich mich zu Jhnen. Ja ich ſterbe mit der feſten Zuverſicht, daß mein Gebet bei Gott jetzt ſchon erhört iſt, und Sie meine Bitte erhören,203 ſobald Sie dieſe Zeilen der Sterbenden geleſen ha - ben. Vielleicht kommt einſt der Vater meiner Seraphine, der unglückliche Gatte ſeines einſt ge - liebten und jetzt verkannten Weibes zurück. Dann ſagen Sie ihm, daß ſeine Gattin unſchuldig war, und daß ſie ihm alles alles vergeben, und mit ei - nem Herzen voll Liebe zu Gott gegangen.

Jch wollte Jhnen noch danken, daß Sie meine Bitte erfüllen aber es iſt zu Ende mit mir. Gott gebe Jhnen einſt ein ſchöneres Ende Einſt führen Sie mir meine Seraphine wieder in die Arme, und namenloſe Seligkeit vergilt alle Werke Jhres himmliſchen Herzens.

Denke Dir, beſte Emma, die Wirkung dieſes Briefes, den ich Bruno zum Vorleſen reichte, weil ich es nicht konnte. Die Kinder waren wie auf - gelöſ’t von heiliger Rührung. Als wir uns ein wenig geſammelt, hieß ich die Magd uns voran - gehen, und folgte ihr mit Jda. Bruno begleitete uns zum Hauſe der Unglücklichen. Das Kind ſpielte am Bette der entſeelten Mutter. Es lachte204 uns freundlich entgegen als wir eintraten. Der Anblick war herzzerreißend. Mit tiefer heili - ger Ehrfurcht nahte ſich Jda der lächelnden Tod - ten. Jch ordnete an was nöthig war. Willſt Du mit uns in unſern ſchönen Garten kommen, und Blumen pflücken, ſo lange die Mutter ſchläft, Seraphinchen? Sieh, die Mutter ſchläft ſo feſt, wir wollen ſie nicht aufwecken. Das Kind ließ ſich willig von mir in die Arme nehmen. Jda trug ſein Spielzeug. Die Magd ſein Bettchen. Bruno ging tief in ſich gekehrt neben mir. Wir hatten den kleinen Weg bald gemacht. Mit un - glaublicher Sehnſucht hatten die andern uns zu - rückerwartet. Freudig umringten alle den lächeln - den Engel. Auch Elvirens Töchter kamen herbei. Mutter feſt feſt ſchlafen, Mutter nicht aufwek - ken, war das erſte, was das Kind ſagte. Wir gaben ihr das Mergenſüppchen und ſie liegt dann unter uns umher, als ob ſie uns von je angehöre.

Als im Trauerhauſe alles beſorgt, und die un - glückliche Mutter zur letzten Ruheſtätte begleitet war, bettete ich die kleine Seraphine zwiſchen Jda205 und mich. Wir beiden theilen die Hauptſorge. Aber auch die drei andern bekommen ein Ämtchen bei der Kleinen. Clärchen kleidet und wäſcht ſie des Mor - gens und beſorgt ihre Küche. Jda bringt ſie Abends zu Bette und ſingt ſie in Schlaf. Mathilde und Hertha fahren ſie wechſelsweiſe im kleinen Wagen im Garten umher. Jda zeigt ihr Bilder. Wenn wir ſpazieren, wird das Kind von der Liſel getra - gen, oder die Kinder löſen ſie wechſelſeitig ab, auch läuft es ſchon dann und wann. Während der Stunden, die Hertha nicht mit hat, beſchäftigt ſie die Kleine. So vertheilt, wird uns die Sorge für das Kind gar nicht läſtig und kann es nicht werden, obgleich es beſtändig um uns iſt. Über alle meine Erwartng zart iſt das Benehmen der jungen Mädchen gegen die Kleine. Jhre kleinen Thorheiten wagen ſich jetzt gar nicht hervor. Her - tha z. B. hatte mancherlei wunderliche Exklama - tionswörtchen mit ins Haus gebracht, wovon ſich auch ſchon eins und das andere den übrigen Kin - dern angehängt hatte. Es entfuhr ihr ein recht tolles als ſie mit Seraphine ſpielte. Die Kleine verſuchte ſogleich es nachzuſprechen. Die andern206 ſahen ſie bedeutend an. Hertha ſchlug ſich mit der Hand auf den Mund, und ſagte, da! das war dafür. So komiſch aber dieſe Büßung war, ſo ernſthaft haben ſie und die andern ſeitdem ſolche Worte vermieden. Unſere Mädchen lernen alſo recht im Ernſt Erziehen.

Seraphine nennt ſchon alle mit Namen. Mich hat ſie ſeit den erſten Tagen Mutter geheißen. Den Bruno nennt ſie Buo. Das Kind blühet und gedeihet in unſerer Pflege recht ſichtbarlich. Aber wir leben auch faſt immer im Freien mit ihr. Jede Lehrſtunde die im Gartenhäuschen genommen wer - den kann, nehmen wir da. Und wenn die Kin - der alle beſchäftigt ſind, fährt die Liſel Seraphine im kleinen Wagen, oder ſie kriecht und läuft auf dem Grasplatze vor mir herum. Oder ſie ſieht, auf meinem Schooße ſitzend, Bilder. Alle Frauen auf den Bildern nennt ſie Mutter*)Jch habe eine Madonna, die ihrer verſtorbenen Mutter viel ähnlich ſieht, die habe ich gegenüber ihr Bettchen gehängt., alle kleine Kinder Seraphine, und alle männliche Figuren groß und klein heißt ſie Buo. Alle Vögel ohne207 Ausnahme nennt ſie Täubchen. Wir haben ein Lachtaubenpaar in unſerm Zimmer. Aber für heute nichts mehr von dieſem herrlichen Kinde. Jch werde Dich ohnedem oft genug davon unterhalten. Auch unſere Kinder werden für eine Zeitlang wohl zu keinem andern Gegenſtande des Briefwechſels kommen.

Jch habe einmal nichts wichtigeres auf dieſer Welt mehr zu thun. Mit dieſer Erziehung werde ich vermuthlich mein Tagewerk ſchließen, und ſie muß alſo nun das Ganze krönen. O Emma, wie hängt unſer aller Herz an dem Kinde! Lebe wohl, Emma!

Fünf und ſechszigſter Brief.

Wir ſchreiben noch immer aus der Schweiz. Auch haben wir unſern Aufenthalt von neuem verlängert, und Haus und Garten wieder auf ein Jahr be - dungen. Außer meiner eignen Vorliebe für dieſe208 Gegend, hält mich auch noch eine Rückſicht auf das Kind, das ich ſeinem Geburtslande nicht gern früh entreißen möchte. Sie muß es erſt lieben lernen. Und vielleicht können wir uns hier alle vereinen. O möchte das möglich ſeyn! Von Wol - demar und Platov wirſt Du aus Rom Nachricht erhalten haben. Auch ſind ſie Dir jetzt vielleicht näher als uns. Unſere letzten Briefe von ihnen waren aus Rom datirt, wo ſie ſich ganz über die Maßen wohl fühlten. Doch iſt Betty’s Anden - ken bei Woldemar keinesweges erloſchen, wie Dein Gemahl vermuthet. Und Betty’s ſtille fortwäh - rende Schwermuth läßt nur gar zu leicht errathen, was ſie allen, ſelbſt dem Vater ſo gefliſſentlich zu verbergen bemühet iſt. Der Vater ſchreibt mir ſehr beſorgt über die Tochter. Jm nächſten Früh - linge denkt er mit ihr die Reiſe hieher zu machen, um ſeine muntere Cläre heimzuholen, an der die Schweſter ſich wieder aufrichten ſoll. Die Tren - nung von dieſer reinen höchſt gutartigen Natur wird uns allen ſchwer ankommen. Beſonders ihr ſelbſt und Jda, die ſehr eng mit einander verbun - den ſind. Alle viere wetteifern jetzt, Seraphi -209 ne neu zu kleiden. Sie wächſ’t ſo ſchnell, daß ihr Vorrath von Kleidern faſt nicht mehr zu brauchen iſt. Da ſollteſt Du die emſigen Mädchen ſehen. Es iſt ein ſehr ſauber gewöhntes Kind. Mit wel - cher Freude ſie es des Morgens kleiden, kannſt Du Dir kaum vorſtellen, dann wird es mir zum Morgenkuß gebracht. Und Gott allein weiß, mit welcher Jnnigkeit ich ihm für dieſe Erbſchaft dan - ke; die ſchönſte, die ich in meinem Leben gemacht habe. Mein Auge fließt oft über, wenn ich den verlaßnen Engel an’s Herz drücke. Mutter nicht unartig ſeyn , ſagte ſie heute morgen, als meine Augen beim Anblick des holdſeligen Kindes feucht wurden. Sie nahm ihre beiden verkehrten Händ - chen und drückte ſie mir auf die Augen, um mir die ſüßeſten Thränen abzuwiſchen. Seraphine auch nicht unartig ſeyn Mutter lachen! rief ſie, als mein Herz von Seligkeit überfloß. Jda, Mutter wieder lachen! und ihre kleinen Händ - chen ſtreichelten mich ſanft. Buo, Mutter nicht mehr unartig , rief ſie dem Bruno entgegen, der eben hereintrat. Neulich ſtand ſie auf Jda’s Schooß und ſah ihr lange in die Augen, endlich(27)210rief ſie: Mutter, Mutter, Jda zwei kleine Püppchen in den Augen! Sie hatte ihr eigen Bild darin ge - ſehen. Jhre größte Freude ſind Blumen. Jda geht oft nach meiner Anleitung im Garten mit ihr botaniſiren. Und zwar für jetzt ſo, daß ſie erſt alle rothe Blumen aufſuchen, die findet ſie nun ſchon faſt allein heraus, dann laſſen wir ſie die gel - ben oder blauen wieder eben ſo aufſuchen. Sie unterſcheidet ſehr fein für ihr Alter. O wann wer - den wir uns endlich vereinigen, und nur eine Fa - milie ausmachen! die glücklichſte auf Erden. Wie wirſt Du dies himmliſche Kind lieben! Hertha iſt ſchon viel milder geworden, ſeit Seraphine mit uns iſt, es iſt als ob des Kindes Natur ſich uns allen anbildete. Jda ſagte geſtern als wir beide mit dem Kinde allein waren: jetzt erſt fühle ich es recht, warum unſer himmliſcher Freund als er auf Erden wandelte, den Kindern ſo hold geweſen. Ja, Jda, es gibt ſchon für ein rein menſchliches Herz nichts rührenderes als den Ausdruck reiner Kindlichkeit in einem zarten ſich uns ganz hinge - benden Weſen. Und wer von uns könnte dies Kind ärgern, wer möchte durch Neckereien es zum211 Eigenſinn, zur Heftigkeit reizen, oder es nur et - was hören laſſen, das es nicht nachſprechen darf, oder etwas ſehen, das es nicht thun darf. O lieb - ſte Tante, wir ſind alle beſſer geworden, ſeyd Se - raphine bei uns iſt, und müſſen es immer mehr werden, mit jedem Tage. Für heute lebe wohl, Emma!

Sechs und ſechszigſter Brief.

Seit ich unſer längeres Hierbleiben feſtgeſetzt, habe ich auch Elvirens Bitte endlich zugeſtanden, ihre Töchter an allem Unterricht den ſie jetzt ge - brauchen können, Theil nehmen zu laſſen. Und Bruno gibt ihnen auch eine vorbereitende Stunde jeden Morgen. Hin und wieder zeigt ſich ein Fünk - chen neuen Lebens in dem guten Kinde. Elvire iſt hocherfreut über unſer längeres Hierbleiben. Der kleine Anwachs unſrer Akademie iſt recht artig. Sehr intereſſant iſt die Verſchiedenheit der Gei - ſteskräfte und ihrer Äußerung. Jda, Clare und212 Mathilde ſtehen ohngefähr auf der nemlichen Stufe der Bildung, wenn gleich ſie höchſt verſchieden von einander in ihren Anlagen ſind. Unvermerkt haben ſie die letzte Stufe der Kindheit verlaſſen und ſind in das Jungfrauen-Alter hinübergerückt, wohin ſie die ganze liebenswürdige Kindlichkeit mit ſich genommen und nur das Kindiſche allein zurück - gelaſſen haben.

Die beſondern Belehrungen über die Zwecke der Natur mit allem, was da lebt, welche dies Alter fodert, wird mir bei der Reinheit ihres Sinnes und bei der heiligen Unſchuld ihres Herzens gar nicht ſchwer. Nur bei jungen Mädchen, deren Einbildungskraft ſchon mit üppigen Bildern er - füllt iſt, kann auch das belehrende Wort hierüber zum verderblichen Funken werden, der, wenn er in ſolchen Zunder fällt, oft ſchnell zündet, und ſo, daß der heilige Ernſt, mit dem das Wort ge - ſprochen wird, ihn nicht zu löſchen vermag. O ihr Mütter, wüßtet ihr es ganz, wie ſelig eine Kindheit iſt, durchaus in lauterer Unſchuld durch - lebt, die weder im Wachen noch im Traume von üppigen Vorſtellungen geſtört, deren ſüße ahnungs -213 volle Herzensregungen von gröberer Aufwallung der aufgeregten Sinne unbefleckt bleibt o ihr ſelbſt wäret gewiß in eurer Töchter Gegenwart durchaus unſträflich, und umgäbet ſie wie allge - genwärtig, auf daß kein unreines Wort ihr Ohr, und kein üppiges Bild ihr Auge berühre, ihr ließt ſicherlich alle Bücher von eurem Nähtiſch verbannt bleiben, zu denen die kindliche Neugier ſie reizen könnte, ſobald ihr den Rücken wendet. Doch wenn ihr auch dieſe Bücher noch ſo feſt unter Schloß hieltet, könnt ihr auch die Wirkung verſchließen, die ſie auf euch thun? Auch brauchtet ihr alsdann den Jſisſchleier nie zur Unzeit zu lüften, ja, wenn auch die Männer einmal größere Ehrfurcht vor dem Auge und Ohr der Unſchuld bekämen, dann könnte und müßte dieſes Wort der Belehrung das letzte ſeyn, und dem Tage kurz vorausgehen, wo der Erwählte ſie in ſeine Hütte führt. Nur die Verderbtheit macht frühen Unterricht der Art nöthig, und zwingt ihn auch oft zu einer Zeit ab, wo er mehr ſchadet als frommet, und wo alles, was er noch bewirken kann, in der Klugheit be - ſteht, die durch Anſichhalten den Mangel der Her -214 zensreinheit nothdürftig deckt. Jch ſage noth - dürftig denn ihr könnet ſie nur lehren, über ihre Worte zu wachen und wenn ihr der Zunge ſolchen Zaum auch glücklich angelegt habt kön - net ihr auch das Schalksauge wieder zum Engels - auge umſchaffen könnet ihr die heilige Blume der Schaam wieder aufblühen machen, wenn ſie einmal welkend hinabgeſunken iſt? O Mütter! Mütter! bewahrt euren Töchtern das goldne Kleinod des Herzens! Verzeihe liebſte Emma ich weiß ja, daß Du ſolches Zurufes nicht bedarfſt, aber mir iſt es oft auf Augenblicke, als ſey ich vom Him - mel beſtellt, es allen jungen Müttern zuzurufen, welch ein göttliches Leben das Leben ſchuldloſer Jugend ſey, und wie es keinen höhern Triumph des Mutterherzens geben könne, als ihre Tochter in ſolcher Lilienreinheit aufblühen zu ſehen.

Lebe wohl, theure Emma. Dieſen Triumph wirſt Du haben, wenn Du Jda in Deine Arme ſchließeſt.

215

Sieben und ſechszigſter Brief.

Wie ſpät oft gewiſſe Eigenheiten bei jungen Mädchen zum Vorſcheine kommen! Hertha iſt nun ſchon eine beträchtliche Zeit bei uns, und ich wuß - te noch nicht, daß ſie an der Geſpenſterfurcht leide. Von ihrer entſetzlichen Gewitterfurcht hatten wir frühe Proben; denn ſie konnte ſich nicht verſtecken; aber jene andere hatte ſich lange verborgen gehal - ten, bis ſie bei einer beſondern Veranlaſſung plötz - lich hervorbrach. Es hatte nemlich eine Schweſter der Liſel, die einige Stunden entfernt wohnt, ſie beſucht, und ihr erzählt, wie in ihrem Orte, ei - ner, der ſich im Wahnſinne ſelbſt gehenkt, die Nacht das ganze Dorf beunruhiget, ſo daß der Prediger auf ſeine ſchnelle Herabnahme und Be - erdigung gedrungen, und den armen ſpuckenden T endlich zur Ruhe zu ſprechen verſucht habe, daß man aber wiſſe, er irre ſeitdem anderswo um - her, und daß man an vielen Orten Nachts ein Lärmen höre, wovon man keinen Grund erſinnen könne. Auch hänge ſich den Reiſenden, die dort vorüber - fahren, oft etwas wie Blei an den Wagen, oder216 mache die Pferde plötzlich ſcheu, und ziſche dann mit Hohngelächter die geängſteten Leute aus. Her - tha war gerade in der Geſindſtube, als die Bäuerin dies erzählte. Mit einemmale ward die ganze My - thologie der Ammenſtube wieder in Hertha wach und als ſie am Abend hinaufgehen ſollte, nach den Schlafzimmern, um mir etwas zu holen, ward ſie ganz bleich. Was iſt Dir, liebe Hertha? fragt ich wirklich verwundert, wollteſt Du nicht gern etwas für mich holen? Du biſt ja ſonſt ſo leicht beweglich. Jda ſprang gleich einem Reh hinauf und war im Moment mit der verlangten Sache wieder da. Liebe Tante, ſtammelte Hertha, ich wollte gern, aber ich konnte nicht hinaufgehen. Biſt Du nicht wohl? O ja, aber es war mir als ob ich hier auf dem Boden gebannt ſey, ich konnte nicht hinauf. Jch meine, ich glaube, es müſſe gleich hinter mir drein kommen. Was denn, Hertha? Ach Tante, Du weißt nicht, und Du glaubſt es auch nicht, aber der Liſel ihre Schwe - ſter hat es geſagt, und die ſieht doch ſo ehrlich aus und lügt gewiß nicht. Nun was denn? Und da kam denn die Geſchichte des ſpukenden Gehenkten217 heraus. Gerne, liebe Hertha, will ich es glau - ben, wenn Du mir nur einigermaßen begreiflich machen willſt, wie Du es glauben magſt, daß der Gehenkte, deſſen Körper unter der Erde liegt, ſich den Reiſenden anhänge, und mit welchem Organ er ſie ausziſche, da alle ſeine irdiſchen Organe ſich auflöſen, in Staub und Moder. Aber die ehrliche Walpurga (der Name der Bäuerin) wollte der Schweſter doch gewiß nichts weis machen. Das glaube ich auch, Hertha. Aber wenn Walpurga, die nicht franzöſiſch verſteht, ein franzöſiſches Buch über die Naturgeſchichte fände, und ein loſer Schalk ihr weis machte, es ſey ein arabiſches Zau - berbuch meinſt Du nicht, daß ſie es glauben würde, wenn er es ihr recht wahrſcheinlich machte? O ja, Tante. Und warum? weil ſie gar nichts von der wirklichen Sprache des Buchs verſteht. Aber wenn ſie Dir nun das Buch brächte, mit der Verſicherung, es ſey ein arabiſches Zauberbuch, in dem gar wunderbare Dinge ſtehen, würdeſt Du es ihr glauben? Nein, Tante! das würde ich nicht, denn ich verſtehe ja Franzöſiſch und könnte ſogleich ſehen was darin ſteht. Wenn ſie Dir aber wirklich(28)218ein arabiſches Buch brächte, etwa über Arithmetik oder Aſtronomie, und verſicherte Dich, wer dies Buch beſitze, könne Geld machen, Todte erwecken, und von ſich ſelbſt Tod und Krankheit abhalten würdeſt Du ihr das glauben? Nein, Tante! Aber Du verſteheſt doch kein Arabiſch und wüßteſt ja nicht was darin ſtehet. Es könnte doch vielleicht ſeyn. Die Walpurga kann ja nicht wiſſen was in dem Buch ſteht, weil ſie die Sprache nicht kennt in der es geſchrieben iſt, und zu dem ſo iſt es ja gar nicht wahrſcheinlich, ja es ſcheint mir unmög - lich, daß es ein ſolches Buch geben könne. Ein ſolches Buch wäre nicht unmöglicher, als das nächt - liche Auferſtehen eines beerdigten Gehenkten, und die Macht eines uns unſichtbaren todten Körpers Pferde ſcheu zu machen oder Leute auszuziſchen. Aber Tante! Es glauben doch ſo viele Menſchen Nenne mir die wohl unterrichteten Menſchen, die ſo etwas glauben. Unſere Haushälterin auf Buchenhayn Haſt Du nicht ſelbſt oft genug ih - rer Unwiſſenheit geſpottet? Die alte Frau Rek - torin Erinnere Dich, was Du von der wohl ſag - teſt. Aber ſelbſt der Herr Pfarrer zu Neuen -219 burg behauptete ja oft, es gäbe ſo viele gar unbe - greifliche Dinge und hatte gewiß ſehr recht, gute Hertha. Aber zu dem vielen Unbegreiflichen das uns vor Augen liegt, wollen wir ja nicht noch die Ammenmährchen hinzuthun, um uns zu quä - len. Jſt Dir oder Mathilde oder Jda je etwas der Art begegnet, liebe Hertha? Nein, Tante. Nun ſo glaube es mir einmal aufs Wort, es gebe keine ſolche Erſcheinung. Aber Tante, wie ſoll ich denn ſolche Gedanken los werden, die mich bei Tage eben nicht quälen, aber ſobald es dunkel wird und ich allein bin mich unbeſchreiblich ängſtigen? Jda erbot ſich darauf, allemal mit ihr zu gehen, ſo oft ſie Abends im Dunkeln hinauf oder hinunter zu gehen habe, ſo lange bis ſie ſich nicht mehr fürchte. Selbſt im Mondſchein, ſagte Hertha, ſey ihr oft unausſprechlich bange, weil ſie da immer ſonderbare finſtere Geſtalten ſehe. Und ich, ſagte Jda, ſahe auf den goldnen Mond - ſtralen oft ein ganzes Heer freundlicher Genien zu mir kommen, oder ſchöne Engelsgeſichter darauf ſchweben, wie Raphael ſie gemalt.

Wie verſchieden dieſer beiden Phantaſieen! Jda220 hält treulich Wort, und begleitet Hertha auf je - dem Wege den ſie Abends zu machen hat. Und wenn ſie nicht kann, ſo thut es Clärchen oder Ma - thilde, die durchaus nichts von ſolcher Furcht be - greifen. Ein ſo von Furcht geängſtetes Gemüth durch bloßes Raiſonnement heilen wollen, wäre vergebliches Unternehmen. Jm Umgange mit furchtloſen heiteren Seelen verliert ſich dieſe Furcht von ſelbſt, wenn ſie nicht durch zu frühe und zu oft wiederholte Eindrücke dem jungen Gemüth zu tief eingegraben iſt. Bei Hertha hatte dieſe Lei - denſchaft wie unter der Aſche geglimmt, und war durch Walpurgens Erzählung wieder zur lichten Flamme angefacht. Gibt es denn aber gar keine zutreffenden Träume, keine Ahnungen, keine Vor - bedeutungen? fragte Hertha kürzlich einmal. Es erzählen doch ſo viele Menſchen davon. Bei die - ſen Dingen, liebe Hertha, iſt der Unglaube viel heilſamer als die Leichtgläubigkeit. Mir iſt in meinem ganzen Leben nichts vorgekommen, das mir dieſe Dinge nur einigermaßen wahrſcheinlich gemacht hätte, und von allen meinen Freunden und Bekannten iſt noch keinem etwas begegnet,221 das dieſem Glauben Nahrung geben könnte. Ge - träumt habe ich oft ſehr lebhaft, ſo daß ich mit ei - ner ganz kleinen Anlage zu ſolchem Glauben dieſe Träume hätte für prophetiſch halten müſſen. Jch hielt ſie für gewöhnliche Träume, und es erfolgte nichts.

Aber die Todtenuhr, liebe Tante, die unſers Gärtners Tod anzeigte? Jſt ein Wurm im Holze, der da nagt, wo er zu nagen findet, und mit dem Leben oder Sterben der Bewohner des Hauſes nichts zu ſchaffen hat. Aber das Heimchen? Schlägt die Flügel zuſammen, wenn’s ihm recht warm und behaglich iſt. Und die Eule? Die fliegt vom Lichte geblendet nach den Fenſtern zu, wo ſpät Nachts noch Licht brennt und da das gewöhnlich in Krankenſtuben iſt, ſo fliegt ſie da hinan, und wer darauf achten will, wird finden, daß Kranke nach ſolchem nächtlichen Beſuche eben ſowohl geneſen als ſterben. Und ſo wäre das alles nichts, liebe Tante? Nimm das vorläufig an, liebe Hertha. Wenn Du bei reiferem Verſtande Er - fahrungen für die Sache machſt, dann theile ſie222 mir mit: ich laſſe mich belehren. Dieſe Sprache fand Eingang bei ihr. Hätte ich mich mit Eifer gegen dieſe Dinge erklärt, ſo hätte vielleicht Ei - genſinn und Rechthaberei ſich zu dem tiefgewur - zelten Ammenglauben geſellt, und ihn unauslöſch - lich gemacht. Clare erzählte nun noch, wie der Vater zu Neuenburg darauf gearbeitet, daß der - gleichen Vorſtellungen immer mehr außer Credit gekommen, und wie er die Leute ſeiner Gemeine oft ſcherzend, oft ſanft ſchonend zurechtgewieſen, wenn ſie ihm mit dergleichen Dingen gekommen, und wie er ihnen oft geſagt: der rechte Glaube an Gott laſſe gar keinen ſolchen Glauben Platz in dem Gemüthe, und daß es faſt unmöglich ſey, mit Gott erfüllter Seele ſich ſo etwas zu denken. Ein Menſch, der mit ganzem Herzen bete, könne faſt nicht zugleich ſich vor der Macht der Geiſter fürchten. Auch dies ging nicht an Hertha vor - über.

Wir freuet es mich, daß unſern andern Kin - dern der Kampf gegen die peinliche Furcht erſpart worden. Es iſt einer der härteſten Kämpfe,223 und dauert bei einigen Menſchen während ihres ganzen Lebens fort.

Seraphinen davor zu bewahren, ſoll meine ernſte Sorge ſeyn. Wenn dieſes lebhafte Kind einmal davon ergriffen wäre, würde es ſchwerlich wieder zu heilen ſeyn.

Mit Hertha’s Gewitterfurcht werden wir viel - leicht auch eine Weile zu ſchaffen haben. Dieſe macht einen ſonderbaren Kontraſt mit ihrer ſon - ſtigen Keckheit. Wir ſehen ſie nicht ſelten von der ausgelaſſenſten Luſtigkeit zur gänzlichen Verzagt - heit übergehen, wenn ſich ſchnell ein Gewitter zu - ſammenzieht. Dann ſchmiegt ſie ſich ängſtlich an mich, oder in Ermangelung meiner an eines von den Andern, als ob nur in unſerer Nähe Schutz zu ſuchen wäre. Unſer aller Heiterheit bei dieſer herrlichen Erſcheinung ſcheint ihre krampfhafte Angſt allein mildern zu können. Aber iſt dir denn gar nicht bange, fragte ſie neulich Jda? Bisweilen wohl ein wenig, ſagte Jda, wenn die Luft ſo ganz dick und ſchwül, und der ganze Him -224 mel ſchwarz umzogen iſt, dann kommt es mir vor als wenn die ganze Natur im bangen Verzagen läge. Aber wenn das Gewitter heraufzieht, und ſich wieder die Luft bewegt und die erſten Regen - tropfen fallen, da fühle ich mich wieder anders.

Beim letzten Gewitter, welches wirklich ſehr heftig war, konnte Hertha ſich des lauten Wei - nens nicht enthalten. Jch ſchloß ſie ſtill an mich, und redete unterdeſſen zu den Andern, wie es ſo natürlich ſey, daß der ununterrichtete Menſch ein wenig davon geängſtiget werde, und daß dieſer Kampf der Natur die Menſchen in der erſten Kindheit der Welt fürchterlich erſchreckt haben müſſe. Dieſe leiſe Rechtfertigung ihrer Angſt trö - ſtete ſie ſchon ein wenig. Als es meiſt vorüber war, und die Zeit zwiſchen Blitz und Donner ſich immer verlängerte, und der Donner immer pracht - voller klang, je mehr er von dem Betäubenden verlor, ließ ich mir Klopſtock’s Oden bringen, und las die Frühlingsfeier. Die Kinder kannten ſie noch nicht, und waren entzückt. Hertha hörte mir zu mit einer Theilnahme, wie noch nie. Um225 dieſen Eindruck ganz rein zu erhalten, las ich an dem Tage nichts mehr vor, und ſprach auch nichts weiter über dieſen Gegenſtand. Sobald es ganz vorüber war, zogen wir alle hinaus, um mit der Natur die herrliche Erfriſchung zu theilen. Sie war unausſprechlich erquickend. Mit dieſem Ge - witter ſchied der Sommer von uns. Seitdem haben wir dieſen Winter einen kleinen phyſikali - ſchen Kurſus gehabt, und die Erſcheinungen der Elektrizität ſo anſchaulich als möglich zu machen geſucht. Wenn nun die Gewitterzeit wieder kommt, muß es ſich zeigen, was dieſer Unterricht bei Hertha gewirkt.

Seraphine iſt noch zu ſehr Kind, um ſich vor dem Gewitter zu fürchten. Sie machte den letz - ten Donner auf eine gar komiſche Art nach, ſo wie jetzt den Schall der Kanonen oder der Trom - mel, wo ſie ſie hört. Jhre Lebendigkeit gibt uns täglich neue Freude.

Jhre Liebe zu mir iſt ſtärker als man ſie einem Kinde von dieſem Alter zutrauen möchte. Jn(29)226meiner Nähe zu ſeyn, gehet ihr über alles, ſo daß ſie ſchon kleine Ränke erſinnet, um bei mir zu bleiben, wenn ich ſolche Geſchäfte habe, wo - bei ſie mir hinderlich iſt. Am erſten gelingt es da der Jda, ſie von mir wegzuſpielen.

Wegen der verbannten Geſpenſterfurcht machte mir neulich ein recht braver Mann die Einwen - dung: wie ich dieſe Furcht denn ſo ganz aus dem kindlichen Gemüthe vertilgen wolle, da man ja nicht mit höchſter Gewißheit wiſſen könne, ob ſie ſo völlig grundlos ſey? Die geiſterwelt ſey uns ja noch ein ganz in Nacht gehülltes, räthſelvolles Geheimniß. Eben deswegen ſollte gegen Kinder ein tiefes Schweigen darüber beobachtet werden, war meine Antwort.

Haben ſie doch der Dinge, die ſie ins Leben einführen ſollen, ſo viele zu lernen. Jſt ihnen doch der eigne Geiſt ein großes unauflösliches Räthſel in ſeinem Weſen, Wirken und Thun, deſ - ſen Wirkungen doch ganz unwiderlegbar ſind. Wie ſollten ſie denn ſchon mit dem noch dunkleren227 Geheimniß der übrigen Geiſterwelt belaſtet wer - den! Er ſchüttelte das Haupt noch ein wenig, ob - gleich er etwas von Wahrheit in der Antwort füh - len mochte. Lebe für heute wohl, meine Gute! Deine Jda hat Dir ganz ausführlich geſchrieben.

Acht und ſechszigſter Brief.

Unſere arme Seraphine iſt ſehr krank geweſen. Sie hat uns viel Angſt gemacht. Jch und die Kinder haben wechſelsweiſe bei ihr gewacht. Durch dieſe Krankheit und beſonders in der nachfolgenden Kränkelei der langſamen Geneſung iſt uns die Kleine gar eigenwillig worden. So lange ſie ſehr litt, geſchah alles wie ſie es wollte; dies iſt ſeit - dem zu einer Art Gewohnheit worden, und das macht uns viel zu ſchaffen. Jetzt habe ich’s beſon - ders mit der allzuweichen Jda und mit der ſeelen - guten Clare zu thun, daß ſie in ihrer Nachgiebig - keit nicht zu weit gehen. Tante, ich will ja ſo gerne was das beſte iſt, und kann es hier auch228 wohl einſehen. Aber wenn ich das arme welke Knöspchen anſehe, wie es das Köpfchen hängt, dann kann ich nicht, wie ich gern will, dann möcht ich lieber den peinlichſten Schmerz leiden, als nein ſagen, zu dem was Seraphinchen will. So leide denn Schmerz, liebſte Jda, um Seraphinen für die Zukunft Schmerz zu erſparen, und ſage herzhaft nein, wenn ſie etwas will, das man ihr nicht ge - ſtatten darf, ſobald ſie wieder ganz friſch iſt. Su - che aber dies nein ſogleich durch irgend eine kleine Freude vergeſſen zu machen, ohne daß ſie eigent - lich merkt, daß es Erſatz ſeyn ſoll, denn ſonſt wür - de ſie bald nach dem angewöhnten Erſatze ſo unge - duldig ſchreien, als ſie jetzt nach dem Gegenſtande ihrer kleinen Phantaſie ſchreiet. Z. B. wenn ich nicht gleich im Zimmer wäre, und ſie wollte mit einer Scheere ſpielen, die Hertha etwa liegen gelaſ - ſen ſie muß ſie nicht haben, auch wenn ſie in der Scheide ſteckt und das Kind ſich nicht leicht da - mit verwunden könnte ſie muß ſie nicht haben! Haſt Du aber ein Stück Geld zur Hand, ſo ſpiele ihr damit vor, oder tritt mit ihr ans Klavier, und ſinge ihr etwas, oder ſpiele Ball mit ihr,229 oder laß ſie die Fiſchchen mit der magnetiſchen An - gel fangen, oder was Du ſonſt ſchickliches zuerſt ergreifen magſt, thu es nur gleich, ehe das Ver - langen nach der Scheere zu einer fixen Jdee gewor - den iſt. Haſt Du den Moment verſäumt, und verwirft ſie was Du ihr vorhälſt, dann gehe mit ihr hinaus, laß ſie die Hühner füttern oder ſonſt etwas thun, das ſie zerſtreut. Aber ſetze ſie ſelbſt in Thätigkeit. Glückt Dir auch das nicht, ſo bleibe nur ernſthaft, liebkoſe ihr nicht, ſondern bringe ſie gleich zu mir: Du weißt, daß ſie mir noch nie den Gehorſam verſagt, und bei mir noch nicht ein einzigmal geſchrieen hat. Tante, das iſt es eben was ich gar nicht recht begreife, daß ſie Dir allein im Augenblick gehorcht, und doch fürchtet ſie ſich gar nicht vor Dir. Wie iſt denn das nun, daß ſie ſogleich nachgibt, wenn Du ſprichſt, ja wenn Du ſie nur anſieheſt? Weil ſie bei mir im - mer dieſelbe ruhige Feſtigkeit geſehen. Dieſe be - merken Kinder, ſelbſt ganz kleine, ſehr leicht, und wagen nie etwas dagegen. Auch mag ihnen ein dunkles Gefühl wohl ſagen, daß ſie dem reiferen Alter öfter eigen iſt, als der noch weichen Jugend,230 deshalb verſuchen ſie es da eher, ihren Willen durch - zuſetzen. So lange das Kind ſehr krank war, kam es ja nicht auf ſeine Erziehung an; es lag uns al - les an ſeiner Erhaltung. Jetzt, nun es uns wie - der geſchenkt iſt, tritt unſere Sorge für die ſchönſte Ausbildung dieſer ſeltenen Anlagen wieder ein, wenn gleich ſie der für des Kindes körperliche Ge - ſundheit noch zur Zeit untergeordnet bleiben muß. Alles was darauf entſchiedenen Einfluß hat, muß uns wichtig ſeyn, und bis zu dem Grade wichtig, daß wir ihr auch ſehr ſchöne Freuden opfern kön - nen. Seraphine iſt z. B. jetzt nicht ſo gern im Garten wie ſonſt, und wir ganz Geſunden wären gern immer darinn. Bei dem Kinde iſt es wahr - ſcheinlich noch ein Reſt von Krankheitsgefühl, was ihr die Luft im Freien ſo empfindlich macht, we - nigſtens iſt mir das viel wahrſcheinlicher, als daß ſie aus Eigenſinn nicht im Garten ſeyn will. Da iſt es nun gut, ja es iſt nöthig, daß wir ihr das Opfer bringen, ſelbſt mehr im Zimmer zu ſeyn, weil ſie einmal gewohnt iſt, immer um uns zu ſeyn. Freilich könnte Liſel mit ihr hier bleiben. Viel - leicht ließ ſie ſich das auch gefallen, aber wir müß -231 ten die ſonſt ſo gute Liſel doch noch erſt ſelbſt erzie - hen, wenn ſie uns hier gar nichts verderben ſollte. Wir bleiben alſo ſelbſt während der köſtli - chen Frühlingstage mehr im Zimmer, und ſagen uns dabei: wie wär es, wenn wir gar keinen Gar - ten hätten! Jn einigen Tagen wird das ſchon anders ſeyn, Seraphine wird wieder hinaus ver - langen; und im andern Falle wechſeln wir ab und gehen parthieweiſe ſpazieren. Jſt Seraphine wie - der friſch, dann ſoll ſie ſich ganz an die Lebensweiſe der Geſellſchaft gewöhnen, und viel mit uns im Freien ſeyn. Hier haſt Du nun, liebſte Emma, ſogleich dieſe Frage beantwortet, wie ich meine Mädchen in der Erziehungskunſt unterrichte. Erziehungskunſt Erziehungswiſſenſchaft wie mir die Worte ſo ſeltſam hohl klingen! Jch weiß wohl, daß man ſolcher Worte oft nicht entrathen kann. Aber wenn ein noch ſo glänzender Preis darauf ſtünde, wenn mir ein Kranz aus Sternen geflochten und mein Name hineingeſchrieben wer - den ſollte, ich wüßte die Sache in kein Syſtem zu bringen, ihr keine wiſſenſchaftliche Form zu geben, alſo auch nicht in beſtimmten Stunden232 darin zu unterrichten. Jch habe ſchon viel zu thun, nur zu glauben, daß andere das wirklich können. Dies mag freilich wohl von dem ganz unſyſtematiſchen Geſchlechts-Charakter herrühren. So oft ich es mir auch vorſtellte, wie es angefan - gen ſeyn müßte, wenn ich einmal etwas über Er - ziehung ſchreiben wollte: ſo lief alles was ich dar - über denken konnte, immer auf eine Erziehungs - geſchichte, auf eine Darſtellung des lebendigen durch Handlung verkörperlichten pädagogiſchen Gei - ſtes und Sinnes hinaus. Jetzt werde ich wohl außer der Geſchichte unſerer kleinen Kolonie, die ich Dir, geliebte Emma, in meinen Briefen vorle - ge, nicht viel weiteres ſchreiben, ſo oft man mich auch von mancher Seite her darum angehet, und dieſe Briefe ſind doch allzu individuell, um publi - zirt zu werden. Eins möchte ich noch wohl, und bringe es vielleicht zur Ausführung. Nemlich das: ich möchte mich wohl ganz in die Lage einer armen oder doch nicht gar begüterten Familie hin - einverſetzen, und da heraus ein Erziehungsgemäl - de zeichnen und ausmalen, ſo daß es hingeſtellt würde und die vorübergehenden Stiefkinder des233 Glückes, die es anſchauen möchten, ſprächen: ja, das können auch wir ausführen, und das wollen wir. Warum ſoll die Armuth uns hindern, un - ſere Kinder zu würdigen Menſchen zu bilden?

Wohl ſtehet ſchon lange ſolch ein Gemälde vor dem Volke auf der Staffelei. Es iſt von einer Meiſterhand, und die hat es Lienhardt und Gertrud überſchrieben. Aber warum ſoll in der deutſchen Ausſtellung nur eines daſtehen? Wenn nur Seraphine erſt ſo weit iſt, daß man ſie mehr anhaltend beſchäftigen kann, dann laſſe ich das durch unſere jungen Mädchen thun, um täglich ein Paar Stunden für dieſe Jdee zu gewinnen, die mir wirklich am Herzen liegt. Bald müßt Du mir auch wieder ein recht ausführliches Wort über Deine drei ſchreiben, bis wir endlich ver - einigt ſind, und keines Schreibens weiter bedür - fen; aber wann wird das ſeyn? wann? Wann wird uns das freudige Erſchrecken über die Lieb - lichkeit Deiner uns unbekannten Virginia und Kathinka, Deines Probus zu Theil, und Dir das Entzücken über eine ſchöne holdſelige Jung -(30)234frau, die keinem Spiegel traut, und ſich zu fürch - ten ſcheint, er möchte ſie mit einem zu ſchmei - chelnden Scheinbilde belügen die der entzückte Bruno noch nie mit einem einzigen Wörtchen zu loben gewagt, dieſe zarte Knospe, von der ſelbſt der Verderber den Muth nicht haben könnte, den Himmelsthau abzuſtreifen? Und die ſtille Demuth, die ihren Werth ſo ganz nicht ahnet, o ſelige Mutter! und dreimal ſeliger Mann, der ſie einſt an ſein Herz drückt! Jedes andere als Du, meine Emma, müßte mich der Schwär - merei zeihen aber das Mutterherz, wie die Liebe, glaubet alles, und hoffet alles: und ſeine Hoffnung ſoll nimmer zu Schanden werden. Lebe wohl!

Neun und ſechszigſter Brief.

Seraphine iſt faſt ganz geneſen. Wir alle laſ - ſen es uns angelegen ſeyn, die kleinen Fältchen wieder auszuglätten, die ſie von ihrem Krankſeyn235 davon getragen, und das fordert wirklich Aufmerk - ſamkeit. Schon bei der ſeligen Mutter waren ihr manche kleine Verwöhnungen geſtattet, und wer könnte die Entſchlafene darum tadeln! So wie das Kind zu uns kam, und durch nichts an ſeine kleine Wünſche erinnert ward, waren ſie bald ver - geſſen. Während der Krankheit, wo uns alles auf des Kindes Erhaltung ankam, mochte manche Erinnerung aus der früheren Zeit wieder erwa - chen. Es äußerte ſeine kleinen Wünſche oft mit Ungeduld, aber ſie wurden erfüllt, um es nur heiter zu ſehen. So z. B. beim Eſſen. Zu allen Speiſen ward ihm ſo viel Zucker gethan, als es nur begehrte, damit es nur etwas genießen möch - te. Jetzt will der Arzt das Zuckern der Speiſen nicht mehr geſtatten, weil das Kind ohnehin an Säure leidet; es muß ihm alſo dieſe Angewöh - nung nach und nach wieder genommen werden. Aber wie? Reizen darf man die arme Kleine noch nicht. Jch laſſe alſo gewöhnlich, während es ſein [p]ppchen eſſen ſoll, irgend ein neues kleines Spielzeug kommen, deſſen Anblick es ergötzt, und worüber es den Zucker vergißt; ſo wird dem klei -236 nen Leckerzüngelchen die Suppe hinunter geſpielt, ehe es ihm einfällt, daß etwas daran fehlt. Während Seraphine ſo gar ſchwach war, wollte der Arzt, daß ſie auch jeden Mittag ein Stück Biscuit, in ſtarken Wein getunkt, bekäme. Jhr dies wieder abzugewöhnen, erwarte ich nur die erſten recht reifen Früchte. Wenn ſie dann Wein und Biscuit fordert, heißt es nur: du bekommſt jetzt etwas viel ſchöneres, als Biscuit und Wein, du bekommſt ſüße Kirſchen u. ſ. w. Freilich müſ - ſen wir dann Sorge tragen, daß ſie die Kirſchen oder Erdbeeren oder Himbeeren zu keiner andern Zeit bekomme, und auch nicht ſehe, ſonſt würde uns dies Mittelchen nicht glücken. Noch hat ſie ſeitdem ſich dazu gewöhnt, immer getragen zu werden. Es iſt aber ſelbſt zu ihrer völligen Ge - neſung erforderlich, daß ſie ſich ſelbſt bewege. Und da erfordert es immer neue Kunſtſtücke, ſie auf die Beine zu bringen. Bald vergeſſe ich hier etwas, bald dort, das ſie mir holen muß, und das immer ein Paar Schritte weiter von uns. Auch lege ich bald hier, bald da eine Blume[o]der ein Bildchen hin, wonach ihr dann bald gelüſtet. 237Tante: Seraphine das haben! Gehe, lauf, hol es dir. Bald läuft mein Dückchen und holt es. So ſpiele ich ſie wieder ins Leben hinein. So wie ihr das Geſundheitsgefühl wiederkommt, erwacht auch nach und nach die ganze liebevolle Lieblichkeit des Kindes wieder. Krankheiten ma - chen ſehr egoiſtiſch, auch kleine Kinder. Jſt der Egoismus nur eine herbe Frucht des Krankſeyns, ſo hört er mit ihr wieder auf, wenigſtens bei recht ſchönen Gemüthern gewiß. Jſt in den Kindern von früh an dieſer alte Menſch, anſtatt gekreu - zigt zu werden, fein ſanft und weich gehalten, und dadurch mächtig worden, ſo wächſ’t er in Krankheiten zu einem mächtigen Rieſen auf, der nicht mehr zu bändigen iſt. Du kennſt Deine Freundin, und weißt, daß Härte eben kein ſtar - kes Jngredienz ihrer Natur iſt; aber recht kalt kann mir’s werden, wenn ich dieſem erbärmlichen Egoismus in großen und kleinen Kindern begegne, der ſich und ſeine krankhaften Gefühle zum Mit - telpunkte macht, um den ſich alles übrige gehor - chend und dienend bewegen ſoll. Auch um dieſes feigen Despotismus willen, der in kränkelnden238 Menſchen recht einheimiſch werden kann, muß es eine Hauptſorge der Erzieher ſeyn, ihren Zöglin - gen zum reinen Geſundheitsgefühl zu verhelfen, weil darin die eigentlich liberale Geſinnung und alle großmüthigen Gefühle gedeihen, beſonders bei Knaben. Ein Mann, der von Kindheit auf kränklich war, wird faſt unausbleiblich einen gar kleinlichen Charakter, wenigſtens eine ſtarke Bei - miſchung von allerlei Kleinheiten bekommen. Nur aus dem Gefühle der Kraft gehet die Großmuth hervor, wie die meiſten herrlichen Tugenden. Frei - lich iſt weder das eine noch das andere Hauptzug der Weiblichkeit, aber man thut unrecht, wenn man die Scheidegrenze beider Geſchlechter ſo gar ſcharf ziehen will, als ob beide nicht dennoch in der einen Jdee Menſch wieder zuſammenflöſſen! und nicht auch die weibliche Kraft ein Boden ſey, auf dem die ſchönſten Blüthen und Früchte allein recht gedeihen könnten. Nein, Emma, geſündere blü - hendere Mädchen als unſere, weiß ich weit und breit nicht und mit ſtolzer Demuth laß es mich Dir einmal laut bekennen, beſſere auch nicht. Ein ſo ſtolzes Wort haſt Du von Deiner Freundin zu -239 vor noch nie gehört. Wirſt Du auch dies Deinem Gemahl zeigen? Doch ja, laß es ihn nur leſen, und laß ihn dann kommen und ſehen, ob es mit Recht geſprochen ſey, ſobald er will; ſag ihm, daß ich ſeinen ſchärfſten Blick nicht ſcheue. Halt ihn nur recht in Furcht vor der geſtrengen Tante, da - mit er uns die Kathinka nicht gar zu willenskräftig werden laſſe. Da kommt eben Seraphine aus dem Garten gelaufen, klettert hinten auf meinen Stuhl, hält mir die Augen zu, und will daß ich rathe an was für eine Blume ſie mich riechen läßt; mit den Worten: ich Tante nicht ſage, daß es eine Roſe iſt. Jetzt iſt es aber vorbei mit dem Schreiben. Lebe wohl. Die Kleine läßt nicht mehr von mir, und ich nicht von ihr!

Siebenzigſter Brief.

Unſere Reiſenden müſſen nun bald hier ſeyn. Jch danke Deinem Gemahl für ſeine offene und ganz liberale Erklärung über Woldemar und Jda,240 in Rückſicht auf die künftige Wahl eines Lebens - gefährten. Wäre ſeine Erklärung anders ausge - fallen, läge ihm hier Rang und Geburt am Her - zen, ich würde mich wenigſtens mit meinen Schrit - ten ſtreng nach ſeinen Willens-Äußerungen gerich - tet haben, und hätte beſonders den wackern treff - lichen Pfarrer gebeten, ſeine Betty nicht mitzu - bringen, wenn er die Clare zu holen kommt. Jetzt aber da Dein Gemahl mit ächt väterlicher Milde ſeinen Kindern freie Wahl geſtattet, und nur wünſcht, daß ſie ſich hier nicht täuſchen und die erſte Jugendphantaſie nicht für entſchiedene unbe - ſiegbare Neigung nehmen, jetzt ſind wir geborgen. Jch darf alſo das Wiederſehen der Leutchen nicht hindern, auch den Platov von Jda nicht fern hal - ten. Möge dann die Natur ſelber walten! O glückliche Jugend, die ihren ſchönſten Trieben mit reinem Bewußtſeyn folgen darf! deren ſtille Nei - gung durch harten Widerſtand nicht zur verderbli - chen Flamme wird! Sollten Jda und Platov wirklich vom Schickſal für einander beſtimmt ſeyn, dann armer armer Bruno! Und doch würde auch ohne Platov Bruno nie einen tiefen Eindruck auf241 Jda haben machen können. Jhm fehlt das ächt männliche des Mannes, das Siegel, welches die Natur auf ihr letztes Meiſterwerk gedrückt, und welches das ächtweibliche Weib nicht vermiſſen darf, wo es ſein ganzes Weſen auf immer hin - geben ſoll. Bruno iſt wirklich ein treuer lieber Menſch, aber ein wenig Pedant, ein wenig Hy - pochondriſt, ein wenig an der Einſeitigkeit und Kleingeiſterei kränkelnd. Herzlich gut kann man einem ſolchen Menſchen wohl ſeyn. Aber eine Seele wie Jda’s will mehr als das, ſie will eh - rend bewundern. Eine ſolche Seele findet im de - müthigen Hingeben an den bewunderten Freund allein jenes hohe Genügen, das die letzte Staffel alles Erdenglückes, und die Krone und der Stolz des Weibes iſt. Mir iſt jetzt ſehr wohl, wenn ich in Jda’s Zukunft hinausblicke. Und über die arme ſchon ſehr tief verwundete Betty bin ich nun auch getröſtet. Hat Woldemar ſie vergeſſen, oder hat ſich ihrem Bilde in ſeinem Gemüthe ein ande - res vorgeſchoben, ſo muß gerade hierin Heilung für ſie liegen. Wären aber beide unwiederbring - lich ineinander verloren, und das Schickſal träte142[242] als väterlicher Wille dazwiſchen, wie elend müſſen beide werden; am meiſten Betty! Nun leben meine Mädchen den Reſt vom Frühling ihres Kin - derlebens ganz ungeſtört zu Ende. Was ihrer im heißen Lebensſommer auch warten möge, den Früh - ling haben ſie rein genoſſen, und den Schatz der Erinnerung kann ihnen nichts in der Welt rauben.

Ob ich den Brief wohl ſollte zu Ende bringen, ohne von Seraphine zu reden? Jn früherer Zeit pflegte Dein muthwilliger D mir wohl vorzuwerfen, meine Briefe dufteten im Frühling immer von Veilchen und Roſen und oft mußt ich über mich ſelbſt lächeln, wenn ich’s gewahr ward, welche Rolle dieſe Blümlein in meinen Briefen ſpielten. Jetzt iſt Seraphine das Veil - chen, von dem ich immer reden muß, und er wird nicht unterlaſſen, mit ſeinem wohlbekannten - cheln nach dem Namen zu ſuchen, bis er ihn ge - funden. Aber er wird ihn noch oft finden. Und wenn er das Kind erſt ſelbſt ſieht, ſo werde ich mit ihm zu ſchaffen haben, daß er mir nicht den Rang ablaufe. Jetzt iſt das Kind völlig geneſen,243 und lieblicher als je. Auch kein einziges Unart - chen von der Krankheit her darf ihm ferner ge - ſtattet werden. Selbſt das beſtändige Bitten um Eſſen muß ihm nach und nach abgewöhnt werden; ſo wie der kranke Magenreiz völlig aufhört. Aber wo der aufhört, und wann das ſtete Bedürfniß zu eſſen, bloße Gewohnheit iſt, das iſt bei ſo einem kleinen Kinde ſchwer zu beſtimmen. Es zu zerſtreuen, und ihm die Sache vergeſſen zu machen, iſt das einzige wirkſame Mittel, es nach und nach wieder an ſeine Stunde des Eſſens zu gewöhnen. Jetzt plaudert das Kind ganz artig. Wir haben uns, ſo viel möglich, des Nachſprechens ſeiner Mund - art zu enthalten geſucht, ſo verführeriſch das auch war, und es fängt an, uns nachzuſprechen, und ſpricht ſchon gar rein. Selbſt ſchwere Namen bringt es heraus; auch den eignen.

Während der Krankheit hatte das Kind ſich auch oft durch Schreien zu erleichtern, oder auch ſich das ſchneller zu verſchaffen geſucht, was nicht im Augenblicke zur Hand war. Auch dies haben wir ihr wieder abgewöhnt, und zwar dadurch,244 daß wir ſie (ſo weh es uns auch that) die Er - fahrung machen ließen, daß ſie durch dies Mittel - chen keinen Wunſch mehr erreiche. Wir hießen ihr Schreien geradezu Unart, und ließen ſie ſte - hen. Nun verſprach ſie artig zu ſeyn, und ward zu Gnaden wieder angenommen. Eine Zeit dar - auf erhielt ſie das Verlangte. Sie merkte ſich bald, daß das Schreien dennoch nütze, und nur durch einen kleinen Umweg zum Ziele führe; auch mochte ihr das ſüße Gefühl der Ausſöhnung nach ſolcher Szene wohl thun. Kurz, ſie blieb bei ih - rer Methode, bis ich verordnete: ſo bald ſie wie - der ſchrie, ſollten alle von ihr weggehen, und keins ſich eher um ſie bekümmern, als bis ſie völlig ruhig ſey; aber auch dann ihr das Be - gehrte nicht geben, ſondern ſie durch etwas ganz anders freundlich zerſtreuen. Dies half ſchon viel, ſie verſuchte dies Mittel nicht mehr oft. Zum völligen Entwöhnen vom Schreien mag wohl der Anblick eines gezüchtigten Kindes unſerer Bleiche - rin, etwa von Seraphinens Alter, mitgewirkt haben. Jch wußte nemlich, daß dieſe Mutter die Ruthe als ein Univerſalmittel gegen alle Kinder -245 unart beſtändig zur Hand hält. Jch hörte das kleine Evchen ſchreien, und immer dazwiſchen ru - fen, daß ſie geſchickt ſeyn wolle. Jch gieng mit Seraphine hinzu. Seraphine ſah ſolchen Akt der Zucht zum erſtenmale, ſie fragte: warum ſchlägt die Mutter Evchen? Jch antwortete kalt und ohne Anwendung auf ſie: weil Evchen immer ſchreit, und weil das ſehr garſtig iſt. Seraphine will nicht mehr ſchreien, ſüße Mutter! Und ſie ſchreit ſeitdem wirklich nicht mehr, ſondern weint ſtill in einem Eckchen, wenn ihr etwas durch den Sinn fährt, oder kommt, ſich anſchmiegend, zu mir mit jedem kleinen Wehe, es mir zu klagen.

Kleine Unergründlichkeiten mancher Art finde ich immer noch in dem Kinde. So z. B. (Se - raphine hat nemlich ungemeine Luſt an bunten Farben, und beſchäftigt ſich gerne damit, ſie zu unterſcheiden) vor einigen Wochen hatte ich ein blaues Kleid an, und das Kind auch. Seraphine bemerkte es zuerſt, freute ſich laut darüber, und wiederholte oft: Mutter ein blaues Kleid an hat, und Seraphine ein blaues Kleid an hat. Den246 Morgen darauf zeigte ich ihr Bilder. Es waren auf dem Blatte Schmetterlinge abgebildet; auch ein ganz blauer. Seraphine nannte ihn gelb. Alle übrigen Farben benannte ſie richtig. Es frap - pirte mich; aber ich ſagte ganz ruhig, der Schmet - terling iſt blau, liebe Seraphine. Sie aber wie - derholte: er iſt gelb. Jch ſchlug das Blatt ſchwei - gend um, und nahm ein anderes vor. Es waren Tauben darauf, und die eine wieder blau. Ohne daß ich fragte, wies ſie zuerſt auf die blaue Tau - be: die iſt roth. Jch antwortete, (weil ich das für Eigenſinn nahm) wenn die Taube roth iſt, ſo legen wir das Buch weg, und ſehen keine Bil - der mehr. Nein, ſie iſt gelb, rief das Kind wei - nend. Jch ſchwieg und ſpielte freundlich etwas anderes mit ihr; denn nun war ich völlig unge - wiß, wofür ich das halten ſollte.

Dies Grillchen, wenn es eines war, und nicht vielmehr augenblickliche Verwirrung, iſt nun ver - geſſen. Sie nennt das Blaue von ſelbſt wieder blau. Aber ſo wie ſie vor einigen Wochen das Blaue aus den Farben auszumerzen ſchien, ſo hat247 ſie jetzt die Zahl 5 aus den Zahlen herausgeworfen. Das Zählen machte ihr bis dahin eine eigne Freu - de. Wir ſteigen nie eine Treppe auf oder ab, daß ſie mich nicht aufforderte, die Stufen mit ihr zu zählen, und Seraphine zählte ſchon lange von 1 bis 10 ganz richtig allein. Seit acht Ta - gen überſpringt ſie gefliſſentlich, ſo ſcheint es, die Zahl 5, und geht gleich von 4 zu 6 über. Jch hatte ihr Rechenpfennige geſchenkt, womit wir täglich ſpielend zählten. Damit nun auch dies (ſoll ich ſagen Grillchen?) ſich ſachte wieder ver - liere, habe ich alles Zählbare, woran ich ſie ſonſt übte, bei Seite gethan, auch die Rechenpfennige. Wenn wir aber die Treppe hinaufgehen, und ſie zählte von ſelbſt, und hat vier ausſprochen, ſo ſage ich ſogleich fünf, und ſie ſetzt die ſechs darauf. Wie lange dieſe ſcheinbare Scheu vor der 5 dauern wird, ſoll mich verlangen. Und wo der Grund hievon liegt, muß ſich doch irgend einmal finden. Vielleicht iſt es keine eigenſinnige Grille, ſondern wirkliche Vergeſſenheit der blauen Farbe wie der Zahl; wenigſtens ſollte man aus zwei ſolcher Fälle noch keinen ſichern Schluß ziehen wollen. 248Aber ſcharf beobachten ſoll man nach ſolchen klei - nen Vorfällen, und das werde ich.

Unerſchöpflich iſt Seraphine im Fragen. Jhr: Warum? gibt mir manchmal zu ſchaffen. Heute gleich beim Aufſtehen verlangte ſie nach dem Gar - ten. Jch ſagte ihr, ſie könne noch nicht in den Garten gehen, weil es ſehr naß im Garten ſey. Sie war verdrießlich, und fragte: warum iſt es denn ſo naß? Es hat dieſe Nacht ſtark gereg - net, mein Kind. Aber warum hat es denn ge - regnet? Weil die Blumen ſo durſtig waren, und gern Regentropfen trinken wollten, ſo wie Du gern Milch und Waſſer trinkſt, wann Du durſtig biſt. Es regnete bald darauf wieder, und Sera - phine ſtand ganz ſtill am Fenſter und ſchaute nach den Granaten und Orangenbäumchen außen auf der Fenſterbank, wie die Tropfen in die aufgeſchloſ - ſenen Kelche fielen. Mutter, Mutter, die Blume thut den Mund auf und trinkt, rief ſie ſchnell. Bald kam ein kleiner Zeiſig geflogen, und trank von dem Waſſer, das ſich in den Orangenblüthen gefangen hatte. Jhre Freude war ſehr groß. 249Jch erzählte ihr nun, wie nach dem Regen noch viel ſchönere Blumen aufblühen würden, und wie nun alles wieder friſch würde, was geſtern welk und traurig herabhing. Das Kind ward ſo hei - ter, als ob es ſich ſelbſt mit der ganzen Natur er - quickt fühlte. Es holte ſein kleines Spielzeug, ſetzte ſich ganz ruhig damit zu mir, und verlangte nicht mehr nach dem Garten, bis die Nachmit - tagsſonne alle Regenwolken aus Weſten vertrieben hatte. Wir gingen hinaus. Da ſtand nun in Oſten ein Regenbogen, ſo herrlich als ich je einen geſehen. Seraphine lief zu allen Blumen, als wollte ſie mit einer jeden reden. Mutter, liebe Mutter, wie ſchön ſind die Blumen aufgeblühet! Jch überließ das Kind ganz ſich ſelbſt, und winkte auch den andern, zu ihrer Freude nichts hinzuzu - thun, damit ſie rein ihr Eigenthum bleibe, und nichts Gegebenes würde. Bald fiel Seraphinens Blick auf den Himmel, und ſie ſah den gewalti - gen Bogen. O Mutter! Mutter! ſieh, ein groſ - ſes buntes Thor am Himmel! Seraphine gern da - hinein will, rief das Kind. Deine erſte Mutter iſt dahinein gegangen, ſprach ich, des Kindes(32)250Phantaſiebild feſthaltend: Du Seraphinchen mußt noch bei uns bleiben, wir alle haben Dich ſo gern. Seraphine auch gern bei Mutter bleiben will, und bei Schweſter Jda, war ihre Antwort. (Die Schweſter Jda kommt bei ihr unmittelbar nach der Mutter.) Aber warum iſt denn die erſte Mutter ſo weit weggegangen, liebe Mutter? Sie ward nach dem ſchönen Land abgerufen, Sera - phinchen, das weit weit von hier liegt, wo die Menſchen Engel werden, und immer vergnügt find, und immer geſund, gar keine Schmerzen mehr haben, und nicht mehr müde werden, und nicht mehr weinen. Wenn Du mit Schweſter Jda einmal dahinreiſeſt, lieb Mütterle, willſt Sera - phine denn auch mir Dir nehmen? Seraphine wollte auch gerne dort ſeyn, wo ſie nicht mehr un - artig ſeyn kann. Du weißt nemlich, daß Weinen und Unartigſeyn bei ihr noch gleichbedeutende Ausdrücke ſind. Einmal, mein ſüßes Kind, zie - hen wir alle dahin, aber nicht alle zuſammen auf einmal. Einige gehen voran, und wer hier noch zu thun hat, der kommt nach. Haſt Du denn auch noch viel zu thun, Mutter, ehe Du dahin rei -251 feſt? Ja wohl, Seraphine, ich wollte gerne hier bleiben, bis Du groß biſt und verſtändig, dann gehe ich voran, und warte mit Deiner lie - ben Mutter auf Dich, bis Du auch nachkommſt. Jetzt leitete ich das Kind unmerklich auf etwas an - deres, damit ſich dieſe Vorſtellungen nicht zu feſt bei ihr ſetzen, und zu ſehnſüchtigen Gefühlen wer - den möchten.

Neulich als wir über Seraphine geſprochen, äuſ - ſerte die gute Elvire ihre Verwunderung gegen mich, wie es denn möglich wäre, ſo ſein ganzes Leben der Bildung junger Kinder aufzuopfern. Aber wer ſagt Jhnen denn, Liebe, daß ich ein Opfer bringe? Haben Sie mir das jemals angeſehen? Sie müßte eingeſtehen, daß ſie mich nie in großer Anſtrengung geſehen, wie man das doch leicht wahrzunehmen pflege, wenn jemand ein beſchwer - liches Werk thue. Elvire: Aber ich fühle doch, daß ich mich beſtändig angeſtrengt halten, und mir vieles verſagen muß, ſeit ich die Fleuri entlaſſen, und meine Kinder mehr unmittelbar um mich habe, obgleich ſie einen großen Theil des Tages mit Jh -252 nen leben. Jch. Das iſt das Neue der Sache, es iſt der zu ſpäte Anfang, für Jhre Kinder zu le - ben, was Sie ſo drückend belaſtet. Es iſt die Entfremdung, die zwiſchen Jhnen und Jhren Töchtern entſtanden war, die ganz andere Art zu ſeyn, die dieſe Kinder unter dem Regiment der Fleuri angenommen. Hätten ſie vom Frühen an bis jetzt ihre Töchter ſelbſt geleitet; es würde Sie gar nichts koſten, den Aſſembleen und grand Thees zu entſagen: Sie würden unmerklich einen andern Maaßſtab des Vergnügens bekommen ha - ben. Was Sie für Jhre Töchter jetzt unmittelbar ſelbſt thun, iſt Opfer; was ich thue, iſt Trieb, iſt Jnſtinkt gewordene Gewohnheit. Kann ich mir doch faſt nicht mehr helfen, das, was ich anſchaue, in pädagogiſcher Hinſicht und Bedeutung bloß zu würdigen. Wirklich, Elvire, muß ich mich ſcharf hüten, daß ich bei meinem Urtheil über Menſchen, Bücher, und andere Dinge nicht unvermerkt über - all das pädagogiſche Maaß und Gewicht mitbringe. Eine ſolche Einſeitigkeit des Urtheils wäre aller - dings ein offenbarer Verluſt, eine Einbuße des Menſchen durch den Pädagogen, das iſt, ein Opfer,253 vor welchem ſich alle erziehende Menſchen, die der Sache mit Seele und Sinn ergeben ſind, wohl zu verwahren haben, weil es den, welcher es bringt, arm macht, ohne die zu bereichern, denen es gebracht wird; ja, müſſen nicht eben dieſe von der Geiſtesbeſchränkung, von der Nichtliberalität ihrer Bilder nothwendig am meiſten leiden? Und wenn ich in dieſem Sinne mehr geopfert, als ich ſelbſt weiß, ſo bitte ich, mich weder dafür zu lo - ben, noch zu tadeln, ſondern freundlich zu be - dauern. Bedauern? nein auch das nicht: denn wie reichlich wird uns alles vergolten, und wo iſt ein ſchöneres Leben für das weibliche Herz als un - ter Kindern? Wie labt und erquickt uns der Gar - ten der Unſchuld und Freude, den wir, wir ſelbſt beſorgen. Spreche mir alſo keins mehr von den Opfern, die ich wiſſend oder unwiſſend bringe. Tauſend und tauſend duftende Blüthen lohnen der Gärtnerin ſorgende Liebe. Ob Elvire mich ganz begriff, weiß ich nicht. Du, theure Emma, verſte - heſt mich ganz, deß bin ich gewiß: auch Dein Le - bensſtrom fließt ja durch dieſe Paradieſesauen.

Jch darf heute nichts mehr hinzuſetzen. Näch -254 ſtens einmal wieder ein Stück aus einem andern Geſpräch mit Elviren. Lebe wohl!

Ein und ſiebenzigſter Brief.

Alle unſere Kinder ſind im Schreiben an die holde Mama begriffen. Du erfährſt alſo durch ſie alles, was unſer Leben und Thun betrift. Und ich darf mich auf dieſe lieben Briefſtellerinnen und ihre Berichte ſchon verlaſſen. Von mir denn heute nur die verſprochene Unterredung mit Elviren. Sie that mir nemlich, bald nach jenem Geſpräche, die Gewiſſensfrage: warum ich an den grand thées oder thées dansants keinen Antheil neh - me? Jch erwiederte kurz, weil meine lieben Mäd - chen keinen daran haben. Elvire. Aber und das wollt ich eben mit meiner Frage warum haben dieſe Guten keinen Antheil an einem Ver - gnügen, das doch für ihr Alter ganz eigentlich beſtimmt iſt? Wer ſoll denn tanzen, wenn es die Jugend nicht ſoll? und wann ſollen die jungen255 Mädchen mit dem männlichen Geſchlechte in ei - gentliches Verkehr treten. Jch. Das ſind zwei Hauptfragen, und wohl gar drei, die freilich wie - der in eine zuſammenlaufen, die ich aber doch als zwei beantworten will. Elv. Jch bin Jhnen in meinem grenzenloſen Vertrauen blindlings gefolgt, und habe mich in dieſem letzten Jahre aus den Geſellſchaften faſt ganz zurückgezogen; Sie wer - den mich alſo ſehr verpflichten, wenn Sie mich auch in den Stand ſetzen, mir ſelbſt und andern befriedigende Gründe dafür anzugeben. Jch. Und das bin ich Jhnen ſchuldig, liebe Elvire, beſonders wenn Sie wirklich um meinetwillen Jhre Lebensweiſe geändert, wie ich nicht eitel genug war, anzunehmen. Wir fangen bei der Frage an: warum ich meine Kinder nicht anders als bei häuslichen Feſten tan - zen laſſe? und warum ich ſie von allen öf - fentlichen Tanzparthien zurückhalte? Hier meine Antwort, die durchaus harmlos ge - gen alle gemeynt iſt, die eine andere Anſicht der Dinge haben, als die meinige.

So lange die eigentliche Zeit der Erziehung des256 jungen Mädchens dauert, iſt es nur noch Ehren - mitglied der Geſellſchaft von Erwachſenen, an de - nen es nur in den engern Kreiſen, und nur von Zeit zu Zeit einigen Antheil nimmt, von großen öffentlichen Verſammlungen iſt es billig bis zu der Zeit völlig ausgeſchloſſen, wo es als eine ſelbſt - ſtändige Perſon in die Welt tritt. Elv. Aber warum darf ein Mädchen, ſo lange es noch er - zogen wird, nicht an allen und nicht an großen öffentlichen Geſellſchaften Theil nehmen? Jch. Aus vielen wichtigen Gründen nicht, liebe Elvire. Der erſte davon iſt, daß das geſellige Le - ben das junge Gemüth viel zu mächtig zerſtreut, daß es ihm die Jdee des Ler - nens und der nothwendigen Abhängig - keit zuwider macht, und ihm ſo die Ler - nensfähigkeit raubt, daß der Hang zu Vergnügungen, die nicht mehr kindlich ſind, ſich ſeiner zu frühe bemächtigt, daß die Sorge für den äußern Putz, die für einen weſentlichern Schmuck faſt ganz verdrängt, daß die mancherlei ſich widerſprechenden Urtheile, die es da257 hört, das junge Gemüth verwirren, ſo lange es noch kein eignes Urtheil ha - ben kann, und ihm eine große Seich - tigkeit und Unſicherheit geben muß. Daß man ihm den Schatz aller Schätze, den reinen beſtändigen kindlichen Froh - ſinn, die heitere Genügſamkeit raubt, die man ihnen durch nichts erſetzen kann, und an deren Stelle Eitelkeit, Leichtſinn, Begierde zu glänzen, Ver - druß, wenn’s mißlingt, und tauſend andere Dinge pflanzt, die den Frieden der kindlichen Seele wie ſchädliches Gewürm benagen. Elv. Und könnten wir ihm wirklich in den Unterhaltungen und Ver - gnügungen der Erwachſenen keinen Erſatz geben? Jch. Wollten wir etwa die gewöhnlichen Unter - haltungen der Geſellſchaft: ſtundenlange Geſprä - che, die man oft durch künſtliches Druckwerk wie - der in Gang bringen muß, wenn ſie verſiegen wollen, oder vielleicht das Kartenſpiel für Erſatz rechnen? Oder ſoll der Genuß der Leckereien, die bei ſolchen Veranlaſſungen in Menge gereicht(33)258werden, ſie entſchädigen? Elv. Aber der Tanz, die eigentliche Seele des Vergnügens? Jch. Der wird das Leben, die Seele der jungen Seele, wird ihr einziger herrſchende Gedanke, wenn man die Mädchen früh auf öffentliche Bälle führt. Der Reiz, da ſchon eine bedeutende Rolle zu ha - ben, iſt zu mächtig für ſie, um ſie nicht aus dem Gleichgewichte zu bringen. Alles ihr Dichten und Trachten gehet von nun an nur dahin. Sie berechnen die glücklichen Tage eines Winters nur nach der Anzahl der Bälle, und die wirklich ver - lebten Stunden nur nach den vertanzten. Jedes ruhige Vergnügen muß ihnen jetzt fade ſcheinen; die ſtille Einkehr in ſich ſelber immer ſeltener, der angeſtrengte Fleiß immer unmögli - cher werden. Elv. Wie ſollen ſie ſich denn aber gegen das männliche Geſchlecht benehmen lernen? Wann ſollen ſie mit dieſem in ein engeres Ver - kehr treten? Jch. Mit den Männern in freieres Verkehr tritt eine jede, ſobald ein Mann ſie zu ſeiner Lebensgefährtin erkoren. Elv. Und bis dahin ſollen ſie von Männern ganz entfernt blei - ben, mit ihnen in gar keine Berührung kommen? 259Wie ſollen ſie denn über Männerwerth urtheilen, entſcheiden, und den beſſern herauswählen, wenn ſie Jch. Sie fangen an, ſich ſelbſt zu wider - legen, liebſte Elvire. Elv. Wie das? Jch. Sagen Sie mir, in welchem Lande wählen die Weiber ſich ihre Männer? Wenn nun eine noch ſo fein unterſcheidet, und den treflichſten unter allen gefunden; darf ſie ſagen: Du biſt mein? Elv. Wie ſoll es denn aber ſeyn? ſoll ſie unbe - kannt bleiben, mit dem ganzen Geſchlechte, und die erſte Hand ergreifen, die ſich ihr darbeut, ohne die beſſere zu kennen? Jch. Nein, Freun - din, das ſoll ſie nicht. Jn dem Hauſe der El - tern, an der Seite des Vaters und der Mutter, im Schooße der Familie, im engern Kreiſe der elterlichen Freunde lerne ſie das Geſchlecht kennen, aus welchem ſie einen Führer durchs Leben bekom - men ſoll. Da beobachte, vergleiche und ſchätze ſie ſtill, bis ihre entſcheidende Stunde ſchlägt.

Aber kein ſtarkſinnlicher Eindruck wie beim Tanze, ſey der erſte, der auf ſie gemacht wird und noch dazu oft von einem ihr durchaus fremden260 Jüngling. Es ſey, wo möglich, ein zarterer ſchö - nerer Beginn der Liebe, der Liebe, die bis zum letzten Hauche dauern ſoll. Gegen zehn glückliche Ehen, die dieſen zarteren Anfang nahmen, ließ ſich vielleicht kaum eine aufweiſen, wozu der erſte Grund auf einem Balle bei ſtark wallendem Blute gelegt ward. Elv. Wohl ſehe ich es ein, was auf dieſem ihren Wege für die Seelenreinheit ge - wonnen wird, und ſelbſt für das häusliche Glück; aber wie werden ſo reine Seelen ſich mit der Welt und der Zeit vertragen, in welcher wir leben? Jch. Fragen wir lieber Welt und Zeit, warum ſie ſo beſchaffen ſind, daß ſie für reingeſtimmte, gut geartete Menſchen eine ungünſtige Luft hauchen? Oder beſtimmter geſprochen, die ſo gearteten Men - ſchen mögen Welt und Zeit beſſern helfen ſo viel an ihnen iſt. Elv. Wie ſollen ſie das aber, wenn ſie nicht in die Welt kommen, und immer nur in ihrem Familienzirkel bleiben? Jch. Zuerſt ſoll freilich ein jedes nur ein einziges beſſern, das ihm am allernächſten iſt, nemlich, ſich ſelbſt. Elv. So ziehen wir am beſten in eine Kloſterzelle. Jch. Zuerſt ſich ſelbſt, alsdann die zunächſt umgebenden. 261O wenn wir dies alle thäten, liebſte Elvire, die Wirkung würde bald allgemein ſichtbar werden. Und dann, gute Elvire, ſoll ja auch nur die noch lernende, noch in ihrer erſten Ausbildung begriffene Jugend von den Zirkeln der großen und luſtigen Welt ausgeſchloſſen ſeyn.

Der ſchon erzogene Menſch ſtudiere dieſe und empfange ſelbſt, gebend von ihr, was ſie Gutes zu geben vermag. Elv. Sie, Freundin, geben der Geſellſchaft aber nicht, was ſie ſo gern von Jhnen empfienge: ich habe die Klage hierüber oft gehört, und nie zu beantworten gewußt. Jch. Wenn das nicht bloß Worte der Zeitverkürzung, oder höfliche Redeformen waren (in dieſem Fall dient ja eine Verneigung, auch wenns unſere Freun - de betrifft, ſtatt aller Antwort) [,]ſo geben Sie der Geſellſchaft zu bedenken, daß ich für jetzt der jungen aufblühenden Welt faſt ausſchließend ange - höre. Meine Stelle in der großen geſelligen Welt, wenn ich je eine darin gehabt, iſt ſo leicht auszu - füllen. Bei dieſer Jugend, der ich mich einmal ganz gewidmet, wäre das vielleicht nicht völlig ſo262 leicht; deshalb verzeihe mir jene, und erlaſſe mir großmüthig die kleine Schuld, mit der ich ihr ver - haftet bleiben muß. Hier wurden wir unterbro - chen durch unerwarteten Beſuch, und ich ſchließe hier füglich. Lebe wohl, Emma!

Zwei und Siebenzigſter Brief.

Auf Deine alte Frage, ob man den Ehrtrieb der Kinder gar nicht reizen, und wenn er ſich etwa von Natur oder aufgeregt zeige, gar nicht bei ihrer Erziehung gebrauchen dürfe? blieb ich Dir ſo wie auf manche andere frühere Frage die Antwort ſchuldig, oder würde ſie als eine unbezahlte Schuld anerkennen müſſ[en], wenn ich nicht darauf gerech - net hätte, daß Du in der getreuen Darſtellung deſſen was ich thue, auf die meiſten dieſer Fragen Antwort gefunden. Was ich von dieſem Triebe als Hülfsmittel, als Sporn halte, beſonders bei Mädchen, das muß Dir aus dem Nichtgebrauch deſſelben klar geworden ſeyn. Willſt Du meine263 Meynung auch noch in Worte gekleidet; hier iſt ſie. Aller Heroismus des männlichen Muthes nährt ſich an dieſer Quelle. Ohne dieſen Stachel kann ich mir keine Kriegsthaten, keine Verläugnung der Lebensluſt, noch anderer mächtiger Naturtriebe denken. Wo alſo in irgend einem Staate des Mannes einziger Beruf Krieg wäre, da müßte dieſer Trieb in dem Knaben ſchon angefacht, und durch alles, was man mit ihm thut, genährt und geſtärkt werden. Aber es gibt kein Sparta und keine Spartaner mehr, und der Menſch ſoll vorab Menſch werden, ehe er Krieger wird. Dennoch braucht der Mann, als Mann, als Haupt einer Familie, wann und wo er auch lebe, Muth, und wenn die Natur ihn nicht reich damit ausgeſtattet, ſo muß er dem Knaben mit Hülfe des Ehrtriebes anerzogen werden; denn ermangeln darf der Mann ſeiner nicht ganz, wenn er mit dem weichern Ge - ſchlechte nicht im umgekehrten Verhältniſſe ſtehen ſoll. Und wenn wir das Wort Tugend im gewöhn - lichen Sinne der Alten nehmen wollten, bei denen ſie in Kraftäußerung beſtand, ohne moraliſche Rückſicht auf die Richtung der Kraft, ſo könnte264 die Tugend ſelbſt aus keiner andern Quelle ent - ſpringen, als aus der Ehrliebe. Jn dieſem Sinne dürfen wir das Wort aber nicht nehmen, denn ſonſt wäre die Tugend des edlen Pferdes und des Elephanten größer als die eines Menſchen, ſelbſt des edelſten Menſchen. Wenn wir nun das dar - unter verſtehen, was der denkende Geiſt aller Zei - ten doch mit ihr gemeint hat, obgleich es nicht immer beſtimmt ausgeſprochen wurde, wenn ſie die Richtung der geſammten Kraft zu dem iſt, was der Gott in uns unbedingt fordert, und um ſein ſelbſt willen fordert, ſo kann von der Ehrliebe (auch bei Männern) nicht mehr, als von der er - ſten einzigen Quelle der Tugend die Rede ſeyn. Aus ihr kann nur das hervorgehen, worüber die Menge Richter iſt, und das allein iſt ihr Werk.

Was aber iſt von der Ehrbegierde zu halten, als Mittel zur Erzielung des Edlen und Schönen im Weibe? Kann ſie die Blüthen der Weiblichkeit belebend anhauchen? Soll dieſe Blüthe ſich vor den Augen der beifallgebenden Welt entfalten? oder ſoll ſie ganz im Schatten frommer Häuslich -265 keit ihren ſtillen Lebenstag beginnen und enden? Wenn ſie das ſoll, ſo kann bei ihr von der Ehre nie als etwas Poſitivem geredet werden.

Gefallen ſoll das reinweibliche Weib, mißfallen darf es nimmer: ſoll aber ihr Streben nach dem Schönen nicht mit heiligem Herzen zum Schö - nen, als dem Strebenswerthen gerichtet werden? Macht die Erziehung des Weibes das Schöne zum Mittel, und das Gefallen zum letzten Zweck : dann iſt freilich die ſtachelnde ſpornende Eitelkeit die einzige Bonne, die wir erziehen laſſen ſollen; ſie wird es am beſten ausführen.

Ein gar anderer Hebel im weiblichen Herzen iſt der Wunſch nach Liebe. Der kann nicht früh ge - nug angehaucht, nicht zart genug gepflegt werden, im weiblichen Gemüthe. Die erſte Richtung im Kinde nimmt er zur Mutter. O Mütter! ihr könnt alles durch ihn durch ihn leitet ihr euer Kind wohin ihr wollt. Laßt es euch lieben, laßt es euch recht lieben. Reine Liebe allein ſchon iſt höchſter Zweck, iſt das höchſte Schöne, und gibt(34)266es außer ihr noch etwas Schönes, ſie iſt der Weg dazu ſie führt, wohin eiteles Streben zu gefal - len unmöglich führen kann, ſie erſchafft, ſie wirkt was keine andere Kraft wirken mag. Verzeih Emma, der Wärme, von der Deine Freundin als - bald ergriffen wird, ſo wie ſie dieſem Gegenſtande ſich nähert. Lebe wohl, ich kann heute nicht weiter!

Drei und ſiebenzigſter Brief.

Noch eine andere Frage ſoll ich Dir beantwor - ten: Ob die Leidenſchaft der Furcht zu bemei - ſtern ſey, wenn ſie unglücklicher Weiſe eines jun - gen Gemüthes ſich ſo ſtark bemächtigt, daß es die Beſonnenheit darüber einbüßt, die doch einer der treueſten Schutzengel des Weibes ſeyn ſoll? Schwer iſt die Aufgabe, meine liebſte Emma, aber daß ſie gar nicht zu löſen ſey, möcht ich un - gern zugeben. Daß man dieſe Leidenſchaft verhü - ten könne und ſoll, darüber habe ich mich früher267 ſchon erklärt. Aber wenn nun der Anblick furcht - ſamer ängſtlicher Perſonen, die man doch nicht im - mer von den Kindern fern halten kann, dennoch dieſe Krankheit der Seele in ihnen angezündet hätte; ſoll man ſie unerbittlich ſtreng den gefürch - teten Gegenſtänden entgegenſtellen, um ſie mit ihnen vertraut zu machen? Keinesweges. Hier iſt Gewalt gerade das unwirkſamſte. Auch Spott, und wär es Sokratiſcher Spott, iſt da nicht im - mer am rechten Platz, wenn gleich er oft das Ge - müth wohlthätig von ſeiner Laſt erleichtert. Jn meinem 6 7ten Jahre plagte mich mancherlei Furcht. Z. B. außer der Geſpenſterfurcht auch noch die vor Hunden und Pferden. Ein Pferd, das mir unvermuthet nahe kam, konnte mich un - glaublich ängſtigen. Nun ward monatlich das Bier zu unſerm Hausgebrauche vor den Keller in den Hof gefahren, und da nahm der Vater mich wenn er meine Angſt ſahe, liebreich bei der Hand, führte mich unter freundlichem Geſpräche den Pfer - den allmählich näher, machte mich auf die ſchöne Pyhſionomie dieſer Thiere aufmerkſam, und ſagte dann ſeinem noch ſehr kindiſchen Töchterchen, vor268 andern Pferden könne er eben nicht ſtehen, aber dieſe braunen Pferde hätten noch nie einem Men - ſchen etwas gethan. Dies nahm ich in meiner Einfalt an, und wie ich erſt mit den braunen Pfer - den vertraut war, ward ich’s bald auch mit den Schimmeln, Rappen und Schecken, kurz ich war von dieſer Furcht bald geneſen. Die vor Hunden dauerte länger, weil mich das wüſte Gebell immer außer Faſſung ſchreckte. Am tiefſten aber war die Geiſterfurcht bei mir gewurzelt, und hatte ſich durch Mährchen von verwünſchten Prinzen auf eine ſonderbare Weiſe mit der Furcht vor Hunden amal - gamirt. Nun hatte unſer Nachbar einen unge - heuern ganz ſchwarzen Hund, der ſich Abends wohl in unſer Haus ſchlich. Er hieß Wacker, und die - ſer Wacker erſchien mir Abends immer als böſer Geiſt, ſo daß ich jedesmal erbärmlich weinte, wenn ich hinaus in den Gang ſollte. Da ſtand dann wohl mein Vater auf, ging ohne Licht hinaus auf den Gang, kam ganz ſtill wieder herein, ſtellte ſich mitten unter uns, und ſagte mit komiſchem Ernſt: Kinder, ſeht mich doch einmal von oben bis unten und recht ſcharf an, ob ihr irgend etwas an269 mir ſehet. Wir beſchauten ihn genau nun wenn mich denn weder Wacker noch ſonſt eines ge - biſſen hat, ſo gehe auch Du einmal hinaus, ſagte er zu meinem Bruder, und ſo mußte der Bruder gehen, dann kam die Reihe an mich: ich ging mit einigem Zagen, aber des Vaters komiſche Auffor - derung ihn zu beleuchten, hatte uns alle und auch mich einmal ſo heiter gemacht, daß die Angſt ſchon halb verſchmerzt war, auch ich kam triumphirend herein als ob ich von keiner Furcht wüßte. Und ſo ward ich nach und nach von mancher Furcht frei, und hätte nie mehr an dieſer ſchweren Kinderplage gelitten, hätte ich nicht den trefflichen Vater in meinem 8ten Jahre ſchon verloren, und hätten mir nicht ſpäterhin durch die Schuld des Geſindes, die Gewitter, das Nordlicht, das Erdbeben, der jüng - ſte Tag und die geſammte Geiſterwelt ſo unſägliche Angſt gemacht, daß ich meines kindlichen Lebens gar nicht froh werden konnte. Meine eigne Er - fahrung von der Größe des Übels hat mich die Sa - che als wichtig in der Erziehung anſehen gemacht. Wo die Furcht in einem Kinderherzen einmal ein - heimiſch worden, da können viele Jahre hingehen,270 ehe ſie völlig überwunden wird, aber man ſoll nicht eher ablaſſen, als bis man die Heilung des Übels vollendet. Die völlige Liebe treibet die Furcht aus: ſo ſtehet irgendwo geſchrieben, und es iſt eine Wahrheit, die auch hier anzuwenden ſtehet. Pflanzen wir Liebe zu Himmel und Erde in die junge Seele! Befreunden wir das Kind frühe mit allem was lebt, lehren wir es, jedes Leben als heilige Himmelsgabe lieben, zeigen wir in uns ſelbſt ihm eine fromme Scheu, irgend ein Leben ohne Noth zu zerſtören; und ſobald es etwas einſehen kann, lehre man es, wie hoch alles Organiſirte über den übrigen Theil der Schöpfung erhaben iſt, ſo wird es nicht leicht von leidenſchaftlicher Furcht oder Ekel vor irgend einem Thiere von widriger Ge - ſtalt befallen werden, vorausgeſetzt daß wir ſelbſt von Thierſcheue frei ſind. Was man mit Liebe anſchaut, kann man nicht fürchten. Jda kennt keine Furcht vor irgend einem Thiere: ſie liebt al - les was Leben in ſich trägt, und dem Pflanzenreich leihet ihre Phantaſie Leben, damit ſie inniger es lieben könne. Lebe wohl, Emma!

271

Vier und ſiebenzigſter Brief.

Vor kurzem entſtand ein plötzlicher Feuerlär - men in unſerer Nähe. Es war Abends ſchon ein wenig ſpät. Wir alle waren ſehr erſchrocken; denn auch Deine Freundin kann ſich des erſten Schreckens nicht erwehren. Jch machte mich ſtark und bat die Kinder, ruhig zu bleiben. Die an - dern faßten ſich, nur Hertha war ganz außer ſich, und flehte Himmel und Erde, Bruno und uns alle um Hülfe an. Jhr Zuſtand ward krampf - haft heftig, als ſie die rothen Flammen hervor - brechen ſah.

Jch ſchloß unſere beſten Sachen, ſo weit ſich das thun ließ, ruhig zuſammen; Bruno half mir treulich. Die Schlüſſel bewahrte ich ſo, daß je - des von ihnen ſah, wo ich ſie hinthat. Dann ließ ich alles, was wir zur Flucht bedurft hät - ten, zurecht legen, damit wir ſogleich, wie die Gefahr näher käme, das Haus verlaſſen könnten, um bei entfernt wohnenden Bekannten Zuflucht zu nehmen. Als alles für den Augenblick der272 Gefahr geordnet war, bat ich Elvire, ein Glei - ches thun, und dann zu uns zu kommen. Es liegt bei jeder Gefahr etwas überaus Tröſtendes in der Geſellſchaft mehrerer Perſonen, und wenn wir jeder einzelnen auch keinen hohen Grad des Muthes oder der Beſonnenheit zutrauten, ſo iſt es die Mehrheit der Perſonen, die uns beruhigt, und jede Beſorgniß durch leiſe Schutzesahnung beſänftigt. Höchſt erfreulich war alſo mir und den jungen Mädchen der unerwartete Zuſpruch mehrerer unſrer Bekannten, beſonders einiger Männer, da deren Gegenwart durch ihre Figur allein ſchon den Begriff des Schutzes in uns le - bendig macht. Einer von ihnen ging ab und zu, von uns zur Brandſtelle, und von da wieder zu uns, um uns Bericht abzuſtatten. Hertha’s Angſt war unbeſchreiblich, jemehr das Stürmen der Glocken und der ganze wüſte Tumult zunahm. Der Lärmen war indeſſen größer, als die Gefahr. Hertha war faſt nicht zu halten; ſie wollte fort, ohne zu wiſſen wohin? Endlich ließ das Stür - men nach. Von der Flamme war nichts mehr zu ſehen, und der Freund brachte die frohe Both -273 ſchaft, das Feuer ſey völlig gelöſcht, und ſelbſt die Bewohner des brennenden Hauſes ſeyen alle unverſehrt geblieben, und haben das beſte von ihren Habſeligkeiten gerettet. Hertha ſchöpfte wieder Athem. Man wollte ſie nun mit ihrer Verzagtheit necken, ich ſuchte das von ihr abzu - wenden, und bin gewiß, ſie nimmt ſich, um die - ſer Schonung willen, in Zukunft zuſammen. Als alles vorüber war, lud ich die Geſellſchaft zu einem Punſch, und wir wurden gar fröhlich. Es ward noch dieſen Abend Schiller’s Glocke geleſen; und wie klein ſchien uns nun der ganze Vorfall gegen des Dichters Bild einer Feuersbrunſt. Hertha ſagte mir in’s Ohr: auf ein andermal wird dein armes Häschen geſcheiter ſeyn. Wir blieben bis nach Mitternacht beiſammen, es ward einer unſerer fröhlichſten Abende ſeit lange. Seraphine hat den ganzen Lärmen verſchlafen, und ſich auch nicht einmal geregt. Mit dem Kin - de in meinen Armen, Jda und Cläre an meiner Seite, hätte ich dem Bruno die beiden andern Kinder, und unſeren ſchützenden Männern meine Sachen empfohlen, wenn wir hätten wandern(35)274müſſen, und ſo wäre ich getroſt durch die Nacht in das wirthliche Haus unſerer Freunde gegan - gen, welches uns hätte aufnehmen können. Doch ſo hatten wir es leichter. Früh am Morgen ſchickten wir zu den Abgebrannten: ob es ihnen an irgend etwas nöthigem gebreche? Es war faſt alle ihre Habe unverſehrt geblieben, auch hatten die Nachbarn ſie ſchon mit allerlei friſchem Mund - vorrath verſorgt, ſo daß unſer Beiſtand faſt über - flüſſig war.

Als wir uns zur Lehrſtunde verſammelt hatten, ließ Hertha ſich ſo vernehmen: Es ſagen die klugen Leute ſo oft, daß alles Schlimme ſeinen guten Nutzen habe, und daß eigentlich nichts durchaus ſchlimm ſey; ſage mir doch, liebe Tante, wozu nützt denn ſo ein Schadenfeuer wie das von geſtern Abend?

Jch. Es ſollte mir nicht ſchwer werden, liebe Hertha, Dir den Nutzen davon begreiflich zu machen, wenn es Dir ernſtlich darum zu thun wäre, ihn zu begreifen. Jch mochte das erſte275 Dir ein wenig ſtark akzentuirt haben: ſie ſah halb ſchelmiſch, halb verlegen mich an. Nicht wahr, Tante, der Hauptnutzen für Hertha wäre der, daß ſie vielleicht für ihr Haſenherz ein neues beſ - ſeres Herz bekäme, wenn es oft ſo in der - he brennte? Getroffen, liebe Hertha. Aber wo - zu dient es denn den armen Beſitzern des Hau - ſes? Laß uns, erwiederte Bruno, dieſe Frage vom Privatnutzen eines jeden Übels einmal bei Seite thun, Hertha, und dafür lieber ſo fragen: wenn das Feuer ſich’s unterſteht, auch Häuſer anzuzünden, warum mußte es überall erſchaffen werden? Hertha drohete ihm mit dem Finger. Bruno fuhr ernſthaft fort: ſollte es lieber kein Feuer geben, damit es niemals am unrechten Orte brenne, oder ſollte das Feuer, wenn es doch ein - mal ſeyn muß, eine Jntelligenz ſeyn, damit es wiſſe, was es thue, und ſich an nichts vergreife, worauf die Menſchen einen Werth ſetzen? Oder ſollten nicht die Menſchen den Himmel vielmehr um Klugheit und Geſchick und Behutſamkeit an - flehen, damit ſie dies koſtbare Geſchenk nicht kin - diſch mißbrauchen oder thöricht verwahrloſen?

276

Nun Bruder, das Feuer ſoll alſo auf Erden bleiben, und wir wollen ihm nichts als das nöthi - ge Brennholz ſo nahe legen, daß es zünden könne. Jetzt kam der Lehrer der Phyſik, und es traf heute gerade den Anfang der Lehre vom Feuer. Das ward heute eine beſonders intereſſante Stunde; wie denn die Phyſik überhaupt unſer junges Völk - lein ſehr anzieht. Faſt eben ſo lieb iſt ihnen die Antropologie, die derſelbe Lehrer ſeit einigen Mo - naten vorträgt. Aber welche Geiſtesübung würde dieſem Häuflein nicht zur Freude? O komm doch und hilf uns glücklich ſeyn!

Noch gab es keinen kleinen Unfall in unſerm Le - ben, der nicht Quelle des Vergnügens geworden wäre. Aber wie gnädig haben auch die Himmli - ſchen uns mit jedem größern Übel verſchont! O in der Zeit der allgemeinen Bedrängniß iſt es oft, als ſollte man ſich ſchämen, ſo glücklich zu ſeyn! We - nigſtens ſoll man ſich und die Seinen ſtark machen, und wohl bewaffnen gegen alles, was kommen kann. Wer hat das feſteſte Schild gegen alles, als der, der das Leben und ſeine Freuden nicht277 überſchätzt! Oft fürcht ich, unſere Kinder ſind zu glücklich für die Zeit, in welche ihr Leben fiel aber wenn ich die Einfalt des Herzens, die De - muth ſehe, womit ſie es genießen, die liebende Theilnahme an jedem fremden Elend, ſo bin ich getröſtet, und freue mich ruhig des Sonnenlichtes, von welchem dies Fleckchen Erde beglänzt iſt, auf welchem wir wohnen, während ein anderer Theil von fürchterlichen Wettern umzogen iſt. Lebe wohl, Emma!

Fünf und ſiebenzigſter Brief.

Wie ich es gemacht, unſere Kinder ſo vor Leicht - ſinn und Launen, dem gewöhnlichſten weiblichen Seelenfieber, zu bewahren? Ob ich etwas Poſitives dazu gethan, weiß ich nicht. Nur das weiß ich, daß ich die Mütter ſehr im Jrrthum glaube, die dieſe Krankheiten an ihren Töchtern für unbedeu - tend halten. So wie ſie aus böſen Wurzeln ent - ſpringen, tragen ſie auch böſe ſchädliche Früchte. 278Viel leichter lebt es ſich, ſelbſt neben einem ge - trübten Gemüthe, als mit einem unſteten voll lau - nenhaften Aprilwetters. So lange ein launen - haftes Weib ſchön und jung und vergöttert iſt, werden von ihren berauſchten Verehrern dieſe ne - gativen Liebenswürdigkeiten oft zu den poſitiven gerechnet, aber auch nur von dieſen. Die übrige Welt rechnet anders, und die Hausgenoſſen alle wiſſen es, wie herrſchende Launen den ſchönen Le - bensfrieden ſelbſt in der heiterſten Seele befehden, bis ſie ihn endlich überwältigt.

Die Wurzel iſt keine andere als Egoismus, ſtamme der nun aus Kränklichkeit oder woher es ſonſt ſey. Nicht ſelten iſt dieſe der Boden für mancherlei ſchädliches Unkraut. Du weißt, beſte Emma, daß Deine Freundin ſo glücklich war, ihr Völklein faſt immer geſund zu erhalten. Unſere früh begonnene und nie unterbrochene einfache Lebensweiſe hat ihrem Körper ſeine Entwickelungsperioden leicht ge - macht, indem ſie alles Widerwärtige fern hielt, und ſie leicht über alle bedenkliche279 Stufen des kindlichen Alters hinüber - geführt. So konnte alſo in dieſem Boden der Saame des feindlichen Egoismus nicht wuchern, und ſie kannten die Laune ſammt allen freudenſtö - renden Wirkungen nur aus fremden Erzählungen. Denn daß Deine Freundin ſich ſelbſt aufs beſte dagegen zu verwahren ſtrebte, verſteht ſich. Nichts wirkt ſo leicht auf junge Seelen, als die Lau - nen derer, von denen die Blüthe oder die Zer - ſtörung ihres Paradieſes abhängt. Die Mut - ter, welche launenhaft die kleinen Freuden ihrer Kinder verbietend zertritt, und was ſie geſtern gut hieß, weil ihr Horizont heiter war, heute ta - delt, weil heute Regenwetter eingetreten: wie dürfte die ſich verwundern, wenn die Kleinen ſich untereinander ihr ſpielendes Leben zum finſtern Ernſt machen? Ein geſundes kräftiges Kind im heitern Klima der ruhigen Liebe aufgeblühet, kann nicht launenhaft werden.

Was den Leichtſinn betrifft, ſo hängt er mit dem ſchönſten Vorrechte der frühern Jugend ſo innig zuſammen, ja iſt ſo ſehr dieſes ſelber, daß280 man nicht ſorgſam genug ſeyn kann, ihn zu erhal - ten, ſo lange dieſer geflügelte Genius der Kind - heit nur immer die Züge ſeines Paradieſesantlitzes bewahrt. Nur der ſpäter erſcheinende Stiefbruder dieſes kleinen Paradiesengels, der ſich da einſtellt, wo die Jugend vom Baume ſchädlicher Erkenntniß ſchon gekoſtet, und der mit der Vernunft um die Herrſchaft ringt und ſtreitet, bis er ihr das Szep - ter entwunden, der iſt es, gegen den die ſpätere Erziehung ſich vergebens waffnet, wenn die frü - here ihm den Eingang nicht unmöglich gemacht hat. Dieſer konnte einmal bei uns keine Herberge finden. Jn fröhlichen Spielen hatten die Kleinen ihre Kindheit vergaukelt. Die Vernunft war durch keine Treibhauskräfte früh herausgelockt, und als ihre Zeit kam, freuten ſie ſich dieſes neuen Vermögens viel zu ſehr, als daß ſie mit ihrem Erbfeinde, dem verderblichen Leichtſinne auch noch hätten Traktaten ſchließen mögen, oder ſich gegen die Vernunft irgend einen Vorbehalt ausbedingen. Hertha freilich, die ſpäter zu uns kam, brachte einen ſtarken Vorrath von Ausflüch - ten und Einwendungen gegen ſie mit, und die281 wären in einem ſchlimmen Grade leichtſinnig ge - worden, wenn ihre ganze Umgebung hier ſie nicht zur Vernünftigkeit genöthigt. Freilich Jda’s Beſonnenheit wird ſie nie erlangen, und Mathil - dens ſtrengen Ernſt eben ſo wenig, aber darüber habe ich mich auch ſonſt ſchon erklärt, wie unge - recht dieſe Forderungen an Hertha wären.

Das Leben mehrerer Kinder mit einander hat allerdings manchen Nachtheil, und impft nicht ſelten fremde Fehler auf die beſonderen einer jeden Natur, aber groß kann dieſer Nachtheil nur als - dann werden, wenn in Schulen und Erziehungs - häuſern, Kindern von ſehr ungleichartigen Fami - lien, in der ſpäteren Jugend und von höchſt ver - ſchiedenen Graden der Rohheit oder der Vor-und Verbildung in großer Anzahl zuſammen kommen. Da freilich kann nicht bloß das Zarte geknickt, das Starke verhärtet, das Leichte und Freie bis zur Verwilderung getrieben werden; es können ſelbſt ſehr ungleichartige ſich widerſprechende Fehler von dem einen auf das andere übertragen werden. Aber bei einer kleinen Anzahl, die leicht zu überſehen iſt, früh ganz nach einerlei Grundſätzen(36)282von einem Geiſte geleitet, kann ein ſolches Beieinanderſeyn nicht nachtheilig werden, man müßte denn annehmen, daß es auch bösartige Na - turen gäbe, die ſchon verderbt aus dem Urquelle aller Weſen in die Welt der Erſcheinungen hervortreten, die ihrer beſſern Umgebung zum Trotz ſich bei ihrer Originalſchlimmheit behaupteten. Nur verbildete, verwilderte, verwahrloſ’te Kinder müſſen durch ihr nahes Beiſammenſeyn ſich und ſelbſt den beſſeren ſchaden. Die Schulen haben außer dieſem noch den Nachtheil, daß die jungen Mädchen in den Gaſſen der Stadt, durch das was ſie da ſehen und hören, täglich ein unmerkliches Etwas vom weiblichen Zart - ſinn einbüßen müſſen. Oder welche Polizey wollte dem wehren, was ſich dem weiblichen Auge und Ohr da Verderbliches entgegendrängt? Jch komme von dieſer Abſchweifung wieder zurück auf mein liebes kleines Häuflein, welches mir täglich die Güte der Menſchennatur beweiſet, und, ſo die Himmliſchen uns gnädig bleiben, einſt zum Beweiſe dienen wird, wie kräftig auch die weibliche Natur ſich zeige, wenn man ihrer freien Entwickelung nicht hindernd oder niederdrückend zuwider arbeitet, ſondern ihr vielmehr283 hülfreich entgegen kommt. Auch mit Deinen jün - gern Kindern muß es Dir ganz nach Wunſch ge - lingen. Und ſeyd ihr erſt hier, dann können Jda und Mathilde Deine Miterzieherinnen werden.

Erſt dadurch bildet der weibliche Charakter ſich am ſchönſten aus. Jeder wohlgeleiteten älteren Tochter des Hauſes ſollte man im letzten Akt ihrer eigenen Erziehung die Theilnahme an der Erziehung der jüngern Geſchwiſter anvertrauen, und über al - les was die Mutter mit den jüngern Kindern thut, ſollte geheimer Rath mit der älteren Tochter ge - pflogen werden. So könnte keine Willkür, ge - gen die ſich jüngere Geſchwiſter gewöhnlich ſehr ſträuben, von Seiten der älteren ſtatt haben. Es verſteht ſich ohnedies, daß von ſolchen Ehrenpoſten nicht vor dem 16 17ten Jahre die Rede ſeyn kann. Früher ſchadet es beiden Theilen. Noch iſt dabei nicht aus der Acht zu laſſen, daß einige Jndividuen ſpäter, als andere, 16 17 Jahre alt werden. Die Mündigkeit der Vernunft ſtellt ſich bei den verſchiedenen Jndividuen zu ſehr verſchie - denen Zeiten ein; und wo ſie gar ausbleibt, da284 muß auch billig dieſer Ehrenpoſten ganz verweigert werden. Reizender noch liebenswürdiger kann kein 17jähriges Mädchen erſcheinen, als wenn es in Ermangelung der Mutter ſeinen jüngeren Geſchwi - ſtern mit weiſer verſtändiger Liebe vorſtehet. O Du ſollteſt Jda, Clare und Mathilde nur ſehen, wenn ſie ſich mit Seraphine beſchäftigen! Aber die Zeit wird ja kommen, wo Du der Freude an Dei - ner Jda in reichem Maße genießen wirſt. Lebe wohl, Emma!

Sechs und ſiebenzigſter Brief.

Woldemar und Platov ſind da. Das Wieder - ſehen unter den Geſchwiſtern zeigte mir beider Ge - müther in der reinſten Anmuth. Woldemar ſchien betroffen über die Schönheit ſeiner Schweſter, die ſich während ſeiner Abweſenheit unglaublich ſchnell und reich entfaltet. Er ſuchte das ganze Wunder in ihr, und merkte nicht, wie auch ſein Sinn dafür ſich in dieſer Zeit geſchärft und erhöhet. Jda285 ſtaunte den hohen Jüngling faſt mit Ehrerbietung an. Seit der Zeit ſeines Hierſeyns ſcheinen beide nur für einander zu leben. Tante, beſte Tante, was haſt Du mir für eine Schweſter gebildet, ſag - te er dieſen Morgen mit trunkener Freude. Solch ein Herz voll himmliſcher Liebe fand ich nirgends außer bei noch einer er ſtockte, und ein ſchönes Roth überflog ſein reines Angeſicht. Platov iſt ſehr ſtill und zurückhaltend gegen Jda. Wenn ich es nicht anders wüßte, könnte ich es eine feind - ſelige Entfernung nennen. Den ganzen Tag trägt und führt er ſich mit Seraphine herum, die ihm auch gleich einer Klette anhängt. Aber ich verſtehe ihn in ſeiner ſtrengen Zurückgezogenheit, ich verſtehe ihn beſſer als Jda ihn verſtehen wird, wenn ſie von ihrem Freudenrauſch über Woldemar erſt ſo weit wieder wach iſt, Platov’s Änderung gegen ſie recht wahrzunehmen. Er verſucht das Äußerſte, ſeiner ſelbſt Herr zu bleiben, da er des Vaters Geſinnung über dieſen Punkt nicht kennt, und ſelbſt Jda noch nicht errathen hat. Auch könn - te leicht ſein Stolz ihn abhalten, eine ſolche Be - lehrung von dem Vater ſeines Zöglings zu fordern,286 ſo wie er ihn antreibt jede andere zu verſchmä - hen.

Laſſen wir ihn denn noch! Seraphine trägt indeſſen das Benefiz davon. Er nimmt das Kind ganz ungemein zart, wie ſeine ſeltene Natur es fordert, und liebt wie es ſcheint die Jda jetzt in ihrem verjüngten Bilde. Viel ähnliches iſt wirk - lich in dieſen beiden Naturen, wenn gleich auch manche große Verſchiedenheit. Die Harmonie des ganzen Weſens die in Jda erſcheint, werden wir in Seraphine ſchwer bewirken können. Schon jetzt tritt ihre Phantaſie ſtark hervor. Doch noch wäre es zu früh zur Nativität des künftigen Cha - rakters. Platov ſagt, dies Kind ſey die Menſch - gewordene Poeſie in der Wiege. Wir werden ja ſehen, was es mit ſeiner Behauptung auf ſich habe.

Wie die ganze kleine Kolonie ſich mit Mathilde des Bruders freute, ſo jetzt mit Jda, nur noch ei - nige tauſendmal mehr. Auch eignen ſie alle ſich an dieſem Bruder einen nicht kleinen Antheil zu,287 welchen an dem Fähnrich keine begehrte. Hertha ſchämt ſich ihrer ehemaligen Rolle vor Woldemar und Platov. Jn die entgegengeſetzte ſich hinein zu ſetzen will nicht gelingen, und ſo tritt ſie ganz zurück. Bruno iſt von Platov über ſein Erwarten gütig behandelt. Platov ſchätzt in ihm, was Fleiß und Studium aus einer mittelmäßigen Natur ma - chen können. Bruno ehrt Platov wie einen Heroen, und ſchaut bewundernd an ihm hinauf. Nicht viel anders wirkt ſelbſt der jüngere Woldemar auf ihn.

Noch waren alle Tage ihres Hierſeyns Ferien - tage. Alle Lehrſtunden ſind wie von ſelbſt ſuſpen - dirt. Jetzt werden wir kleine Gebirgsreiſen mit ihnen machen. Elvire und ihre Töchter mit uns, die, im Vorbeigehen geſagt, an der Lebenswärme unſeres Häufleins immer mehr entglimmen. Denke Dir doch eine Karavane von 16 Perſonen, ohne die Dienerſchaft. Auch Seraphine nehmen wir mit, und da darf uns die treue Liſel nicht fehlen, die, während wir ſteigen, mit der Kleinen, und einem von den jungen Mädchen mit ihr an irgend288 einem ſchönen Orte bleibt, wo ſie unſere Rückkehr erwarten.

Nur halb würde ich die Freude genießen die un - ſer wartet, wenn ich Seraphine hier zurückließe. Jn wenigen Wochen gehet unſer Zug vor ſich. Al - les rüſtet ſich dazu; ausgenommen Jda, die an nichts denkt, als mit Woldemar zu ſeyn. Die andern haben ſtill Jda’s Antheil an den Geſchäften übernommen, um ſie ganz der neuen Freude zu überlaſſen. Abends 6 Uhr, wenn wir nicht ſpa - zieren, ſind wir alle in einen Kreis um die beiden gereiſ’ten Leute verſammelt, und da müſſen ſie wech - ſelsweiſe erzählen. Durch die Art ihrer Darſtel - lung wiſſen beide das Verlangen der Geſellſchaft ſo lebendig zu erhalten, daß wir den Abend kaum erwarten können. Nicht ſowohl was der Reiſende ſieht, ſondern wie er es ſieht, macht ſeine Reiſe zu etwas. Das wiſſen wir freilich[all]e. Aber ich dächte, ich wüßte das jetzt beſſer wie ſonſt. Wie viele Beſchreibungen der Schweiz, wie ſie von Rei - ſenden nach allen Richtungen durchkreuzt wurde, haben wir geleſen! Und jetzt, da ich dieſe beiden289 erzählen höre, iſt mir oft, als wäre die Rede von einem friſch entdeckten Lande. Auch können wir eigentlich ſagen, die beiden haben uns den Weg gebahnt, uns die Stätte bereitet. Ohne völlig landeskundige, vielgereiſ’te männliche Be - gleitung ſollten Frauen die Schweiz nicht berei - ſen, wenn ſie nicht oft die geringere Freude mit der größern Anſtrengung erkaufen wollen. Oft haben ſie nur das Geprieſenſte oder Gekannteſte geſehen, als wär es um das Mitſprechen zu thun, indeß das ſchönſte ihnen entgangen.

Platov und Woldemar freuen ſich dieſes Ritter - zuges nach dem gelobten Lande mit uns Weibern ganz ungemein. Wie weit wir gehen, iſt noch unbeſtimmt. Ohne Seraphine gingen wir viel - leicht ſehr weit. Aber ich weiß nicht, wie ich mich von dem Kinde trennen könnte. Treten Umſtände ein, die es nöthig machen, ſo laſſe ich Clärchen bei ihr, bei der ſie gewiß ſehr gut verſorgt iſt. Jda muß auf jeden Fall mit uns; obwohl auch ſie ſich recht ernſtlich zum Hierbleiben erbieten wür - de, ſobald von einer die Rede wäre. Von Jda(37)290trennt mich nichts, als Du, meine Emma, ein Mann, oder der uns einſt alle trennt. Lebe wohl!

Sieben und ſiebenzigſter Brief.

Da ſind wir alle in Lauſanne. Ausgenommen Elvire, die ein gichtiſcher Schmerz genöthigt, zu Hauſe zu bleiben. Zwei ihrer Töchter hat ſie uns mitgegeben; die älteſte iſt ihr zur Geſellſchaft und Pflege in Genf bei ihr geblieben.

Seraphine macht uns viel Freude, aber doch furcht ich, daß ſie uns die weitere Reiſe ſehr er - ſchweren dürfte. Es muß auf ein ſo junges Kind immerwährend Rückſicht genommen werden, und das wird unſere Plane ſehr beengen. Jch ſage Dir nichts von dem mannichfaltigen Wechſel der Schönheit an den Ufern des Sees. Du wirſt ja endlich kommen, und dies alles mit uns genießen. Meine jungen Mädchen, beſonders Jda, Cläre291 und Mathilde, ſind wie in einem Freudenrauſch. Auch ſind uns Jahreszeit und Witterung ausneh - mend günſtig. Wie die Mädchen von der Natur - herrlichkeit ergriffen ſind! Jda ſehe ich nicht ſelten am ſpäten Abend oder ſehr früh Morgens mit ihrer Schreibtafel einſam wandeln. Und dann tritt Woldemar und Cläre, ſo wie Ma - thilde freundlich zurück. Keins fragt ſie, was ſie da mache? keins klagt, daß ſie ſich abſondere; auch vergütet ſie ſolche Entfernungen durch eine deſto ſchönere Geſelligkeit, wenn ſie ſich wieder unter ſie miſcht. Während ſie ſo allein wandelt, und Platov ſich an den größeren Haufen anſchließt, hält ſich Woldemar nicht ſelten zu mir. Und da gibt es manches trauliche Geſpräch, ja ſein Ver - trauen wird oft ſo innig, daß es mir iſt, als ob unſer Verhältniß das des Sohnes zur Mutter ſey, und ich völlig Deine Stelle bei ihm vertrete. Haſt Du, beſte Tante, von meinen Eltern noch nie erfahren, welche Plane ſie etwa mit mir ha - ben? Platov weiß das entweder nicht, oder hat Urſachen, die ich halb errathe, warum er ihrer Geſinnung über einen gewiſſen Punkt gar nicht292 erwähnt. Mit dieſer Anrede ſich zu mir wen - dend, machte er geſtern Abend ſeinem Herzen Luft.

Jch. Von den Planen Deiner Eltern für die Zukunft weiß ich nicht viel, lieber Woldemar, aber ihre Geſinnung über den bewußten Punkt glaube ich vollkommen zu kennen. Willſt Du Dich mir näher aufſchließen? Er blickte umher, ob wir auch ganz allein ſeyn, und dann fing er wieder an:

W. Du wirſt Dich, gute Tante, meiner frü - hern Neigung für ein ſehr reines himmliſches We - ſen erinnern. Wenigſtens kann ſie Dir nicht ganz entgangen ſeyn, denn Du haſt eines meiner Blät - ter geſehen. Als ich die Herrliche zuerſt ſahe, war ich noch kaum ein Jüngling zu nennen, und ſchäm - te mich der Gefühle die ſie in mir erregte, auf eine Art die ich Dir nicht beſchreiben kann. Als ich ſie nach ein Paar Jahren wiederſah, zuckte mein gan - zes Weſen krampfhaft bei ihrem Anblick: ich konn - te mich oft nicht halten, es war mir, als müßte ich ihr zu Füßen fallen; aber dieſelbe Scheu hielt mich zurück, mich ihr auch nur durch eine Miene zu offenbaren. Darauf ſtarb ihre Mutter, und ſie293 ſelbſt ſchwand dahin wie ein Schatten. Jhr Geiſt ward immer verklärter, ihre ſchöne Geſtalt ſchien nur noch ein Phantaſiebild, ohne alle irdiſche Kör - perlichkeit. Hätten wir uns damals nicht alle ge - trennt; ich wäre erlegen oder zu einem elenden Schwächling geworden, der nichts mehr gewollt hätte, als mit ihr vergehen. Du trennteſt uns, und das war ſehr gut. Aber was war ge - trennt? Waren’s auch unſere Gemüther? Pla - tov ſchwieg völlig gegen mich, und ſein Schweigen benahm mir den Muth, ihm über die Sache Rede abzugewinnen, die doch meine ganze Seele füllte. Er führte mich in den Städten, die wir beſuchten, in die auserleſenſten Zirkel, wo wir eine Aufnah - me fanden, wie mein feurigſter Ehrgeiz ſie ſich nicht geträumt hatte. Jch ſah ſchöne Mädchen, ſehr holde, ſehr liebenswürdige Geſchöpfe, und andere junge Leute flüſterten mir nicht ſelten ins Ohr: ich habe eine Eroberung gemacht. Ver - zeihe Deinem eitlen Jungen, Du beſte Tante! ich war nicht erobert. Die Königin meiner Jugend herrſchte fort in meinem Gemüthe, und ließ den liebreichen Mädchen die mir wohl wollten, nur294 ein ganz kleines kleines Plätzchen. Und dennoch war ich nicht gewiß, ob die Einzige mich ſo meyne, wie ich ſie: gewiß? o ich wußt es ja gar nicht, und weiß es noch nicht. Er blick - te mich forſchend an und wenn ich nun hier - über etwas errathen hätte wußt ich denn, ob mein Vater? den Platov durft ich nicht fra - gen, den nagte ſelbſt ein ähnliches Weh, das er ſehr heimlich vor mir hielt. Dies wechſelſeitige Schweigen hätte bald unſer reines Verhältniß ge - trübt aber wir ahneten ja den Grund des Ver - ſtummens gegen einander, und ſo blieb es beim Alten, bis wir endlich wieder bei Dir ſind, und Du uns das Räthſel unſers Schickſals löſen hilfſt denn das mußt Du, und nur Du kannſt es, Tan - te Selma!

Jch. Jch will Dich nicht fragen, Woldemar um den Namen Deiner Geliebten, noch um Pla - tov’s Geheimniß, denn ich weiß den einen, und ahne das andere. Betty nennt Deinen Namen ſo wenig, wie Du den ihrigen, und dieſes Zeichen iſt bei euch höchſt wahrſcheinlich gleichbedeutend. Woldemar war vom Klange dieſes Namens wie295 elektriſirt. Das Feuer das bis jetzt unter der Aſche geglommen, brach durch und loderte in hel - len Flammen. Ja Tante, Betty oder keine, das iſt entſchieden! Jſt mein Vater gegen Betty, ſo dulde ich und ſchweige, aber dann kann ich ihm keine neue Tochter geben. Dein Vater iſt nicht gegen Betty, aber er fürchtet für die Dauer Deiner Gefühle. Nun, dann iſt alles gut; er mag mich prüfen, und auch Betty und ihr Vater ſollen mich prüfen wie ſie wollen. Wie werde ich ſie aber wiederſehen?

Jch. Das, lieber Woldemar, gehört zu der Prüfung, auf die Dein Vater beſteht, daß Du Betty nicht zu früh wiederſieheſt, daß Du Dich wo möglich geduldeſt, bis er und Deine Mutter kommen. Er hat um ſeine Zurückberufung ſchon mehrmals nachgeſucht, ſie aber noch immer nicht bewirken können.

W. O das iſt peinlich, Tante Selma, wie will ich das erwarten! Und wenn nun Betty indeſſen

Jch. Betty’s Geſundheit hat ſich jetzt empor - gearbeitet. Und wenn Du es Dir nicht mehr ver -296 ſagen magſt, laß Betty einen Blick in Dein Herz thun.

W. Nein, ich will noch warten, ich will ihrer erſt recht werth werden.

Jch. Gut, Woldemar, ſo wünſcht es Dein Vater. Auch biſt Du ja noch ſo jung. Nicht ganz ſo ſteht es mit Platov. Der iſt um ein be - trächtliches älter, und wenn der ſein Herz noch lange hinhält, ſo wird es zum höchſten Glück in dieſem Bündniß zu ſpät.

W. Wenn ich mich in Platov’s Wünſchen nicht irre, wenn er Jda wirklich ſo liebt, wie ſie ge - liebt werden muß, und wenn auch Jda ihn unter allen Männern allein für den Auserwählten, Ein - zigen hält, der ſie glücklich machen kann, dann muß ſie ſein werden: das könnt ich und würde ich vom Vater erbetteln oder ertrotzen, aber haben muß er ſie; denn wie anders wär ihm die Wohl - that der neun Lebensjahre zu vergelten, die er mir opfert? Und ſchöner iſt noch kein ſolches Opfer ge - bracht worden. O der Vater kann ihm Jda nicht verſagen: er hat ſonſt nichts in ſeinem Vermögen, das zur Vergeltung für Platov’s königliches Ge -297 müth dienen könnte. Aber mit Jda’s Herzen er - hält Platov noch ein Himmelreich zum Lohn.

Hier wurden wir geſtört, und die Sache iſt nun ſo weit, daß ſie ſich ſelbſt weiter bringen muß. Lebe wohl, Emma. Bald ein Mehreres!

Acht und ſiebenzigſter Brief.

Clärchen muß zurück nach Genf, um den Vater und Betty in unſerm Hauſe zu empfangen, wel - che aus Neuenburg abgereiſ’t waren, ehe ſie von unſerer jetzigen Reiſe etwas erfahren. Die Briefe müſſen ſie nicht mehr zu Haus getroffen haben, ſo wie die ihrigen uns verfehlt. Der Vater wünſcht mit Betty einige Monate unter uns in Genf zu leben, und dann mit beiden Töchtern heimzuzie - hen. Er meynt, Clärchen werde auf dieſe Weiſe am beſten mit dem Gedanken der Trennung aus dem Schweſterkreiſe vertraut. Jch ſchicke alſo Clare nach Genf zurück. Bruno will ſie begleiten,(38)298und ich gebe ihr zum ſchützenden Engel auch noch Seraphine mit. Denn es gibt für ein reines weibliches Herz keine fchönere Bedeckung als ein Kind das wir zu ſchützen haben. Clare findet ſich durch mein Vertrauen hochgeehrt. Es perlten ein Paar ſchöne Tropfen von den friſchen pfirſichrothen Wangen, als ich ſagte: ich gebe Dir ein Unter - pfand meines höchſten Vertrauens, ich gebe Dir Seraphine mit. Du biſt Seraphinens Mutter, und Bruno iſt Dein ſchützender Ritter. Morgen reiſen ſie, und übermorgen ziehen wir weiter, denn alles iſt einmal zur Weiterreiſe gerüſtet, und kann nicht wohl wieder umgeſtellt werden.

Woldemar verarbeitet ſeinen Schmerz, ſich wei - ter von dem Orte zu entfernen, dem Betty ſich nähert, recht ritterlich. Jn Bruno iſt etwas vor - gegangen, ſeit Platov hier iſt, welches mir jetzt erſt anfängt, klar zu werden. Jch beſorgte ſehr, daß ſeine warme Bewunderung Jda’s zu einer unheilbaren Leidenſchaft werden müßte, denn es war nur allzu ſichtbar, daß ſie an ſeinem Hier - bleiben einen großen Antheil habe. Seit er Pla -299 tov geſehen, ſcheint er ſich zu beſcheiden, und ich glaube oft auf ſeinem Geſichte zu leſen, daß er nur ihn von den Sternen begünſtigt hält, Jda zu erringen. Wie hätte er ſich ſonſt auch zu Clär - chens Begleiter anbieten können, wie er doch ge - than! Hatte er ſich doch auf die Reiſe durch die Schweiz mit der ganzen Kolonie ſo lange gefreut! Jch mag ihn auch gar nicht fragen, ob er wieder zu uns kommt, oder ob er mit Freund Willich und ſeinen Töchtern in Genf bleibt? Jch fürchte, eine wunde Stelle zu berühren. Die Trennung Seraphinens von uns habe ich ſchon mehrere Ta - ge vorbereitet, daß ich ſie viel mit Clärchen ſeyn ließ, und auch Platov bat, weniger mit ihr zu ſpielen, als, ſeit er bei uns iſt, immer geſchehen. Während wir reiſ’ten, habe ich ſie abwechſelnd bald in dem einen, bald in dem andern Reiſewagen ſitzen laſſen, damit ſie ſich an keine Geſellſchaft zu ausſchließend gewöhnen möchte. Die Gründe, warum ich ſie zurückſende, laſſen ſich dem noch zu jungen Kinde nicht begreiflich machen. Sie muß alſo von uns getrennt ſeyn, ohne es einmal zu wiſſen. Wenn wir morgen früh ausreiſen, muß300 es zu gleicher Stunde geſchehen, dann wird Sera - phine ſchlafend zu Clärchen und Bruno und der Liſel in den Wagen gehoben, und ihr Wagen fährt zuerſt nach Südweſten wir gen Nordoſten. Der Abſchied von Clärchen und Bruno darf nicht in des Kindes Gegenwart genommen werden. Es fragte mich einmal jemand, ob eine ſo heimliche Veranſtaltung, wodurch ein Kind um einen natür - lichen und gerechten Schmerz betrogen werde, nicht dem jungen Gemüthe ſchädlich ſey, und ob er nicht wie jeder andere gutgemeynte Betrug mehr Unheil ſtifte, als durch ihn verhütet werden ſoll? Jch antwortete bloß verneinend. Man entließ mich aber nicht ohne Gründe. Ein Kind, ſagte ich darauf, hat, ſo lange es noch ganz klein und un - mündig iſt, mit allen unmündigen Geſchöpfen, nemlich den Thieren, gerechte Anſprüche an die Menſchen, wie an das Schickſal, es in wohlthä - tiger Unwiſſenheit über bevorſtehende Übel zu laſ - ſen, und es kein unabwendbares Leiden eher füh - len zu laſſen, als in dem Moment wo es da iſt. Der erwachſene Menſch empfindet alles Wohl und alles Wehe dreifach, und er darf nicht klagen,301 denn beides wiegt einander auf. Das Kind wie das Thier haben keine vorherſehende Weisheit noch berechnenden Verſtand und wenig Erinnerung. Jhr Genuß wie ihr Schmerz iſt Sache des Augen - blicks, und mit dem Augenblicke dahin. Das Kind durch frühzeitiges Räſonniren mit ihm gewaltſam aus dieſem Stand der unmündigen Unſchuld reißen, es früh dem dreifachen Genuß des Angenehmen, wie dem dreifachen Gefühl des Elends zuführen wollen, wenn das was es zum Menſchen macht, in ihm kaum zu keimen begonnen heißt die Grenzſteine der Natur verrücken. Was den Be - trug betrifft, ſo möcht ich es eben ſo wenig Be - trug genannt wiſſen, wenn man ein Kind über eine unvermeidliche Trennung ſchlafend hinweg - bringt, als ich es Betrug nenne, wenn man ihm überzuckerten Wurmſamen unter dem Namen von Zuckerkörnern gibt. Den Wurmſamen ſoll es ein - mal nehmen, den Zucker ißt es gern und wer mag es betrogen heißen, wenn es den braunen Zitwer der ihm wohlthut, nicht wahrnimmt, im Zucker der ihm wohlſchmeckt. Sobald ein Kind begreifen kann, daß es, und warum es Arzeneien nehmen302 müſſe, fällt jener Grund weg; dann heiße es: du biſt ein verſtändiges Kind, und weißt, daß man von der Arzenei die bitter ſchmeckt, geſund und luſtig wird, alſo nimm, und nimm gleich. Nur unterhandle man ſo wenig als möglich vorher mit ihm. Der Zweck den man dadurch beabſichtigt, nemlich das Vertrautmachen mit der unangeneh - men Sache, gehet nicht nur verloren, ſondern die Phantaſie vergrößert das gefürchtete Übel auch oft noch ſo ſehr, daß alle unſere räſonnirende Weisheit daran zu Schanden wird, und wir nun gerade das unterlaſſen müſſen, wozu wir das Kind ſo mühſam vorbereiteten, wenn wir nicht großes Un - heil ſtiften wollen. Denn hat die Phantaſie eines Kindes einmal ein Mückchen zum Elephanten ge - macht, ſo kann es von dem Rieſen ſeiner Einbil - dung eben ſowohl zertreten werden, wie von einem wirklichen. Man laſſe alſo alles Unvermeidliche, Unangenehme ſchnell wie das Schickſal über das Kind hereinbrechen, und wo man es nicht ſchlafend hinüberbringen kann, da führe man es raſch hin - durch, ehe ſeine Phantaſie durch langes Anſchauen die Sache immer dunkler und dunkler gefärbt. 303Seraphine hat das mit faſt allen lebhaften Kindern gemein, daß ſie Abends ungern zu Bette geht; an - fangs dacht ich ſie ſo lange aufbleiben zu laſſen, bis ſie von ſelbſt zu Bette verlangte. Aber dies Verlangen kam gar nicht: ſie wollte immer mit uns aufbleiben, und dann war ſie ſo ausgelaſſen froh, und meiſtens ſo exaltirt, daß ſie auch die Nacht nicht ſchlafen konnte, und nicht ſelten auch uns um den Schlaf brachte. Und darauf folgte ganz natürlich ein verdrießlicher Tag. Jch beſchloß alſo, ſie regelmäßig jeden Abend um 7 Uhr ſchlafen zu legen. Wenn ich ihr nun vorbereitend ſagte: Seraphine, nun gehſt Du bald zu Bette; ſo legte ſie ſich aufs Bitten oder aufs Weinen. Seitdem mache ich es anders. Jch laſſe ſie bis kurz vor 7 Uhr luſtig herumſpielen. Wenn es ſchlägt, ſtehe ich ſchnell auf, nehme ſie bei der Hand, fordere ſie auf, den andern gute Nacht zu ſagen, und führe ſie hinauf ins Schlafzimmer. Jn wenigen Mi - nuten iſt ſie eingeſchlafen, und liegt da wie ein lächelnder Engel, ohne daß es ihr eine Thräne oder mir nur ein Wort gekoſtet, ſie zum Schlafen zu bringen. Lebe wohl, die Reiſeanſtalten fordern304 mich. Unſere nächſten Nachrichten erhältſt Du aus Bern.

Neun und ſiebenzigſter Brief.

Aus Bern, ſagte ich, erhältſt Du Nachricht. Hier ſind wir ſeit 6 Tagen, und ich löſe mein Wort. Unſere Herreiſe war köſtlich, nur daß uns die Kleine überall fehlte. Dennoch freut es mich, daß ſie nicht mehr mit uns iſt. Wir machen nun ganz andere Tagereiſen, und können ganz andere Wanderungen unternehmen.

Wie ſehr kommt uns Woldemar’s und Platov’s Begleitung zu ſtatten! Sie kennen aber all das Schönſte und Herrlichſte der Gegenden, und wiſ - ſen welche Genüſſe mit den geringſten Anſtren - gungen zu erkaufen ſtehen, und ſcheinen es genau zu errathen wie weit die weibliche Kraft zur An - ſtrengung reiche. Ein froherer Haufe hat wohl noch nicht leicht dies Land durchzogen.

305

Wir reiſen ſehr langſam, überall, wo wir er - ſchienen, erregte der Zug ein luſtiges Erſtaunen. Wenn wir Abends reiſen, wird viel im Wagen geſungen. Das hält auch unſere Kutſcher wach. Mathilde ſpielte die Guitarre dazu, und die be - gleitet uns auch auf unſern Wanderungen.

Von Clärchen, Bruno und der Kleinen haben wir heute die erſte flüchtige Nachricht erhalten. Sie ſind glücklich in Genf eingetroffen, und Cläre wird nur wenig Zeit zur Anſtalt für ihre Gäſte behalten. Seraphine nennt unſer aller Namen ſtündlich, küßt unſere Bildniſſe, legt Blumen auf meinen Tiſch, wenn ſie aus dem Garten kommt, und wiederholt ſich unaufhörlich den Troſt: Mut - ter bald wieder kommen, Jda bald wieder kommt, und alle bald wieder kommen. Wie leicht iſt auch das weichſte Kinderherz getröſtet! Alles währt bei ihm einen Augenblick: ſelbſt die ſchönſte Anhäng - lichkeit erſtirbt, wenn ihm der Gegenſtand lange aus den Augen gerückt bleibt. Wollen wir die Kindheit darüber anklagen? O nein! Willſt du, o Mutter! in deines Kindes Seele einzig herr - ſchen, ununterbrochen fortleben ſo ſey unzer -(39)306trennlich von ihm, und laß deine ſichtbare Ge - genwart es beſtändig umgeben. Abweſend hat man bei Kindern immer verlornes Spiel. Jetzt ſucht Cläre das Flämmchen Kindesliebe zu mir in Seraphine dadurch wach zu erhalten, daß ſie ihr oft von mir erzählt. Auf eine zeitlang geht das gut. Lange hält aber dieſe Art, abweſend zu lie - ben, bei den Kindern nicht Stand. Wären wir mehrere Monate abweſend, ſo müßt ich Seraphi - ne erſt wieder ganz von neuem gewinnen. Was iſt dies nun im Kinde? wollen wir das als Un - fähigkeit zu Liebe und Treue richten? Keineswe - ges. Es iſt nur Unvermögen, einen Gegenſtand feſtzuhalten, Unfähigkeit, ſich die geliebte Perſon auch abweſend mit gleicher Lebendigkeit vorzuſtel - len; daſſelbe Bedürfniß zu lieben bleibt in ihm, daher ſchließt es ſich ſo leicht wieder an andere Perſonen und Sachen an, wenn ihm die entrückt ſind, die es ſonſt liebte, vorausgeſetzt, daß es nicht zu oft losgeriſſen werde; denn dadurch er - kaltet das Herz, und verliert auch die Fähigkeit zu lieben. Dem Kinde gehört allein die Gegen - wart und das Gegenwärtige.

307

Jda fängt an, wie ich es anfangs gleich ver - muthet, Platov’s anſcheinende Kälte gegen ſie ſchmerzlich zu empfinden. Beſonders da er nun mit Woldemar faſt immer beiſammen iſt, und ſie immer mit uns. Ein ſtilles heimliches Sehnen bemächtigt ſich ihres ganzen Weſens. Vergeblich ſucht ſie es durch äußere Fröhlichkeit zu decken: Platov allein ſcheint davon getäuſcht, und ſieht ſie oft ernſt und bedenklich an, wenn er ſie mit den andern Mädchen ſingen und lachen hört, und leicht herumgaukeln ſieht. Jhren Geſpielinnen entgeht es nicht, daß ein ſtiller Kummer gleich einem Wurme an ihrer innern Ruhe nagt. Wie lange ſie ſich gegen mich halten wird, ſoll mich wundern. Woldemar kann oft wild auffahren über dieſes wechſelſeitige Quälen. Wenn er den Engel wirklich liebt, warum ſpricht er nicht? Was ſoll dieſe Kälte, worüber Jda troſtlos ver - gehen muß? ſo fuhr er geſtern gegen mich her - aus. Seit ſie von der großen Reiſe zurück und wieder mit uns ſind, behandelt Platov die Jda mit der gemeſſenſten Ehrerbietung. Wie ſoll das noch werden? Platov iſt zu ſtolz, einen ſolchen Lohn308 vom Zöglinge zu begehren, Woldemar zu groß - herzig, ſeine Schweſter, wem es auch ſey, anzu - bieten. Platov iſt zu edel, Jda anders als mit der Zuſtimmung der ganzen Familie zu begehren, zu edel, ſie jemand anders als ihr ſelbſt zu ver - danken, ſo wie er durchaus um ſein ſelbſt willen geliebt ſeyn will, Jda iſt viel zu weiblich, als daß ſie irgend einen Schritt entgegen thun könnte. Und ſo wird ſich das arme Völklein noch wohl eine zeitlang abquälen, bis irgend ein glücklicher Zufall ihm zum Ziele hilft, oder bis die Natur, ihre Rechte behauptend, durch alle dieſe Bedenk - lichkeiten hindurch bricht, und in reiner Flamme auflodert. Ein wenig peinlich ſind die Unterhal - tungen Mittags und Abends bei Tiſche, beſonders ſeit Seraphine nicht mehr unter uns iſt, die ſelbſt feindſelige Menſchen hätte einander vereinen kön - nen, uns allen ein verknüpfendes Band war, und ſich ſelbſt faſt zum beſtändigen Stoffe des Geſprä - ches ohne ihr Wiſſen hergab. Nein, Emma, ſo darf es nicht lange bleiben. Wir müſſen alle da - bei zu Grunde gehen, wenn wir in dieſer peinli - chen Stille mit einander zu Hauſe wären. Ma -309 thilde kam geſtern Abend zu mir am Bette, als Jda ſchon ſchlief, oder zu ſchlafen ſchien, und wollte Troſt von mir über Jda’s unergründlichen Trübſinn. Was kann dem heitern Engel feh - len, meine beſte Tante? Jſt er nicht angebetet von uns allen? Uns alle übertraf Jda noch vor kurzem an himmliſcher Heiterkeit, und nun je mehr ſie lächelt, je liebreicher ſie gegen uns an - dere iſt, je mehr ſieht man’s, daß ſie uns etwas verbirgt und was kann dieſes unglückliche Et - was ſeyn, das nur zu ſichtbarlich an ihren Wan - gen zehrt? Kannſt du mir es ſagen, Tante? Meine gute Mathilde, erlaß mir die eigentliche Antwort auf deine | Frage noch eine kurze Zeit; es muß ſich bald enthüllen, was dieſe Verände - rung bei Jda bewirkt hat. Du ſagteſt, ſie ſey von uns allen geliebt gib Acht, ob nicht eines in der Geſellſchaft vielleicht kälter gegen ſie iſt, als ſonſt. Jda iſt viel Liebe gewohnt, ſie iſt im Hauche der Liebe aufgewachſen; Liebe iſt das Ele - ment, in welchem allein ſie gedeihen kann.

Mathilde. Ach Tante, es geht mir jetzt ein Licht auf. Ja, einer in der Geſellſchaft iſt ganz310 anders gegen Jda, wie ſonſt; wir alle haben es gemerkt, und ſind ihm bös darüber, denn Jda kann es nicht verdient haben; es iſt nicht möglich. Aber das dacht ich nicht, daß dies die Urſache von Jda’s Schmerz ſeyn könne.

Jch. Vielleicht iſt dieſes ſeltſame Betragen Platov’s auch nicht die einzige Urſache. Laß uns die ganze Sache noch ein wenig mit Schweigen übergehen. Und vor allem, meine liebſte Ma - thilde, trage Sorge, daß niemand von den an - dern die arme Jda mit Fragen über ihre Traurig - keit quäle. Vielleicht, daß ſie ihrer in kurzem mächtig wird. Überlaſſe ſie nur ganz ſich ſelbſt. Sie hat Kraft, und vermag viel über ſich. Da - mit entließ ich Mathilde. Sollte Jda aber noch ſtiller ihren Schmerz in ſich verſchließen, und Pla - tov ſich immer gleichfinſter zurückziehen, dann muß ich auf eine Trennung Platov’s von uns dringen, ehe die zarte Knospe zerfällt. O wüßt ich ſie im Augenblicke bei Dir fern, fern von der quälenden Gegenwart des Mannes, der ihr ganzes Weſen erfüllt! Da kam ſie eben ge - gangen, legte Blumen auf meinen Tiſch, um -311 armte mich ſchweigend, und wollte ſchweigend wieder hinaus. Jch fühlte mein Halstuch naß, und rief ſie bittend zurück. Jda, liebſte Jda, ich ſchreibe eben deiner Mutter, willſt du nicht ein Brieflein einlegen? O nur diesmal nicht, Tante. Bald, ja recht bald will ich der beſten Mutter ſchreiben. Aber erlaß es mir diesmal, ich bitte dich. Was ſoll ich denn der Mutter von dir ſagen? Sage ihr, daß Jda bald recht vergnügt ſeyn wird ein wohlthätiger Guß machte dem beklommenen Herzen Luft. Jch hielt ſie ſchweigend in meinen Armen, und entließ ſie ſchnell aus einem Seitenthürchen, als Platov hereintrat, um mit mir über unſern fernern Rei - ſeplan zu ſprechen. Lebe wohl für diesmal. Näch - ſtens mehr!

Achtzigſter Brief.

Die Neuenburger Familie iſt ſehr glücklich in Genf. Schon genug hätten der Vater und die312 beiden Schweſtern an der Freude des Wiederha - bens aber es hat ſich noch ſonſt etwas arti - ges zugetragen. Es hat ſich ein liebes Pärchen zuſammengefunden. Gleich vom Anfang gab Bru - no nach Jda der Clare vor allen Mädchen den Preis. Seit er überzeugt ward, daß Jda in ihm den Einzigen Auserwählteſten nicht finden könne, ruhete ſein Blick oft forſchend auf Clärchen; aber dieſe ahnete nichts. Die Reiſe hat ſie einander näher gebracht. Es iſt ein ſchöner herzinniger Ver - ein zwiſchen beiden. Doch ich lege Dir Clärchens Brief ſelbſt bei, und einen von Bruno desgleichen, feſt überzeugt, daß beide Dir angenehm ſind.

Der Pfarrer iſt ſehr glücklich im Glück ſeines Kindes. Auch bekommt er an Bruno einen wak - kern Sohn. Seraphine ſchreibt täglich Briefe an uns alle, und obgleich ſie noch keinen Buchſtaben bilden kann, ſo werden mir doch ihre kleinen wun - derlich bemalten Zettelchen immer mitgeſandt, und ſie geht nicht eher vom Tiſche hinweg, als bis ſie ſie eingeſiegelt ſieht. Auch weiß ich dieſe Papier - chen vollkommen zu entziffern. Der ſchöne Text313 in allen dieſen Ziffern iſt ja Liebe. Oft kann mich eine heiße Sehnſucht nach dem Kinde anwandeln, und mir auf Augenblicke Wermuth in den Freuden - becher miſchen. Doch der iſt ohnedies ſchon ſehr getrübt durch Jda’s Anblick. Bald muß es an - ders werden. So darf es nicht lange mehr blei - ben. Hier ſind die Briefe:

Clärchen an die Tante Selma.

Beſte Tante! Dein Clärchen iſt ſehr glücklich. Wohl war ſie das immer, und am meiſten ſeit ſie Dich kennt, aber ſie iſt jetzt anders glücklich, viel anders. Doch wie werde ich Dir das denn nun ſagen, was, ſeitdem ich von Dir bin, mit mir vor - gegangen? Mein einziges Leiden dabei iſt, daß ich nicht gleich in Deine Arme, an Deine Bruſt fliegen kann, um da die ungeſtüme Freude auszu - weinen. Meinen Vater habe ich, ſeit die Mut - ter von uns gegangen, ſo glücklich, ja ſo ſelig nicht wieder geſehen als jetzt. Sage mir doch, du Beſte, wie ſoll ich all das Wohlſeyn tragen! Und der Vater belohnt mein überſchwengliches Glück mit einer Liebe, als ob es das höchſte Ver -(40)314dienſt wäre, glücklich zu ſeyn. Ja, es iſt auch wohl etwas ſchweres, in ſolcher Seligkeit nicht unterzugehen. Aber glaube nur nicht, daß ich Seraphine darüber aus der Acht laſſe: es wäre ja gottlos wenn ich’s thäte. Verlieren würde ſie dabei nichts, denn die himmliſche Betty hat ſie ſich faſt zu ſehr ſchon zugeeignet. Und der Vater trägt und führt ſie herum wie Platov that, als er zurückkam. Aber ſchmählich wär es doch, wenn ich ſie in meinem grenzenloſen Glück verſäumte. Wann will ich denn aber anfangen Dir zu erzäh - len, was vorgegangen? o ich ſcheue mich ſo ſehr!

Du weißt wohl, beſte Tante, daß ich immer lachen mußte, über die Leute in den Büchern, die ſo wunderlich viel von ihrem Herzen ſprachen, und von ſo großen ungeheurem Schmerz, und von ſo entſetzlich ſtarker Liebe. Nun, ſo liebt euch, dacht ich, und ſeyd ſtill und vergnügt, und damit gut! Aber jetzt werde ich es eben ſo machen, und darum fürchte ich mich. Doch, ich will mich nicht fürch - ten, Du biſt es ja, der ich es ſchreibe, und es wird auch nicht gedruckt. Der Abſchied von Dir315 und von euch allen that mir ſchmerzlich weh, auch dem, der neben mir im Wagen ſaß, ging es nahe, das konnte man ſehen. Wir fuhren eine halbe Stunde lang ganz ſtill ohne ein Wort zu ſagen. Da erwachte endlich Seraphine und fragte ſehnend nach Dir und nach Jda und den andern. Jch ſuchte ſie zu beſänftigen, aber ſie weinte ſehr als ich ihr ſagte: ihr wäret weit voraus, und wir wür - den uns heute nicht ſehen. Jch nahm ſie auf mei - nen Schooß und ſuchte ihr Deine Stelle ſo gut als möglich zu erſetzen. Jch Deine Stelle? höre doch die ſtolze Clare. Bruno ſaß ganz ſtill neben mir, und ward immer ſtiller; ich merkte es aber an der Liſel, die gegenüber ſaß, daß er mich viel anſehen mußte. Oft that er den Mund auf, wie zum Sprechen, aber es verſagte ihm immer. So fuh - ren wir mehrere Stunden. Jch fing endlich an zu plaudern, und brachte auch ihn hinein. Wir ka - men jetzt nach Morgues, nach Rolle und dann nach Nian, wo Mittag gehalten wurde. Die Liſel ging zu ihren Verwandten, als ſie uns das Nöthige beſorgt hatte. Wir hatten ein artig kleines Zim - mer. Bruno trug Seraphine hinein, und gab ſie316 in meine Arme. Dann ſah er mich mit einem Blick an, wie ich noch keinen je von ihm geſehen. Jch fühlte daß |ich ſehr roth wurde. Wir ſetzten uns zu Tiſch. Es ward wenig gegeſſen. Bruno ergriff meine Hand: ich fühlte daß die ſeinige bebte. Gute, gute Clare, ſagte er, Sie könnten ein ein - ſames Herz ſehr ſelig machen. Seit 4 Jahren kenne ich Sie, und heute erſt weiß ich es wie durch Offenbarung, daß Sie mein ganzes Lebensglück in Händen haben. Die Tante hat mich Jhnen zum Begleiter nach Genf gegeben: wollen Sie den ſtillen Bruno zum Führer durch das Leben? O zürnen Sie nicht, und antworten ſie nicht ſchnell: durch ein ſchnelles Nein zerſtören Sie die Ruhe des armen Bruno auf immer. Beſte Tante, es übernahm mich gewaltig. Jch zitterte am gan - zen Körper. War’s vor Schaam, Schmerz oder Freude ich weiß es nicht. Zürne nicht, du Liebliche, o zürne nicht über den ungeſtümen un - beſcheidenen Bruno. Er konnte ſich ja nicht mehr halten. Er blickte mir immer ſehnender ins Auge. Bruno! ſtammelte ich, und konnte nicht mehr. Engel des Himmels, ſprich nur ein einziges Wort,317 nein, kein Wort, blicke mich nur einmal an. Jch ſchlug die Augen zu ihm auf, ſah ihn aber nicht, denn ſie ſtanden voll Waſſer. Mein Geſicht ſank an ſeine Schulter. Er umfaßte mich und Sera - phine. Das Kind küßte ihn und mich, und ſagte: Bruno Clärchen auch küſſen. Das feuerte den blöden Bruno an. Es war geſchehen, und ich fühlte, daß mein ganzes Weſen ſein ſey, auf im - mer. Die Liſel kam zurück. Wir ſtiegen in den Wagen, der mit den ſeligſten Menſchen davon rollte. Und nicht eher, als bis wir Genf ganz nahe waren, fiel es mir ein, ob auch der Vater wohl nicht zürnen ſollte, daß ſeine Clare ſich ſo eilig verſchenkt. Wir waren angelangt, ich weiß nicht wie! Bruno nahm Seraphine auf den Arm, und die überglückliche Clare flog ungeſtüm auf den beſten der Väter zu, dann zu Betty, und ward von beiden tauſendmal ihre liebſte Clare ge - heißen. O kann man denn noch glücklicher ſeyn, als ich in dieſem Moment des Empfanges? Und doch war ich es wenige Minuten nachher, als auch Bruno herzutrat, und vom Vater ſo liebend be - grüßt wurde, als ob er ſchon ahnete, was zwiſchen318 uns vorgegangen ſey. Bruno blickte mich an, ich ihn und uns beiden entſtürzten Thränen. Sera - phine ſagte ſchelmiſch: Bruno Clärchen wieder küſſen: ich wurde wie Glut. Auch Bruno errö - thete. Mein Vater ſah uns beide fragend an. Bruno, was iſt das? Bruno: das Kind hat mir Glücklichen die Zunge gelöſ’t. Vater meiner herrlichen Clare, wollen Sie auch mein Vater ſeyn? wollen Sie den Bruno zum Sohn annehmen? Mein Vater ſuchte ſich zu faſſen, dann ſagt er: die Freude kommt mir zu plötzlich, faſt muß ich ihr erliegen. Welchen beſſern Sohn hätte ich mir wünſchen dürfen! Laßt mich nur erſt recht zu mir ſelbſt kommen, meine Kinder, daß meine Seele euch mit Ruhe ſegne! O Deborah! könnt ich Dich nur dieſen Augenblick aus Deinem Him - mel zurückrufen, daß Du es ſäheſt, wie glücklich Dein Verlaßner hier auf Erden noch werden konn - te! Jch ſchluchzte und ſank zu des Vaters Füßen, Bruno neben mir. Segne mich auch, mein Va - ter, ſagte er mit bebender Stimme! Und des Vaters Stimme wankte, und an ſeinen Wimpern hingen helle Tropfen. Seraphine war unterdeſſen319 hinten auf des Vaters Stuhl geklettert, wie ſie es Dir zu thun pflegte, und guckte uns von oben herab ganz komiſch an. Betty nahm ſie zu ſich, und ſie ſagte: Bruno Clärchen lieb hat, aber Se - raphine Clärchen auch lieb hat. Der Vater hob uns auf, ſah zum Himmel und ſagte leiſe: Vater dort oben, haſt Du hier unten noch ſeligere Kin - der als wir, ſo hilf ihnen ihr Glück tragen, da - mit ſie nicht erliegen! Dann wendete er ſich zu Bruno; theurer Sohn! hier haben Sie die eine Hälfte meines ganzen Reichthums. Nehmen Sie mein Kind hin; es hat den Vater nie betrübt, ſein Herz iſt ein Paradies der Unſchuld und Freude. Sie wird den Gatten nie anders als durch Krank - heit oder Tod betrüben. So lautete des Vaters Segen; und daß mein Herz nicht von der Freude zerſprang, kann ich noch heute nicht faſſen. Bru - no ſtammelte: Wenn ich dieſen Engel der Unſchuld je betrübe, ſo keinen Fluch mein Sohn, keinen Fluch gegen Dich ſelbſt; er entehrt Dein treues Gemüth, das ich ſeit langem kenne.

Wir machten nun eine Tour in’s Freie mit ein - ander, wo jetzt alles mir anders, ganz anders320 ſchien, wie ehemals es lag ein Schimmer der Verklärung über alles verbreitet. O beſte Tante, wie ſoll ich ſolcher Freude werth werden. Mein Herz iſt zum Zerſpringen voll.

Zürne nicht, daß ich mich in dieſem Briefe ſo gelobt habe; ich weiß es ja, daß ich nicht ſo bin, wie der Vater und Bruno mich ſehen, aber ich mußte Dir alles berichten. Lebe wohl, allerbeſte Tante!

Bruno an die Tante Selma.

Meine theure Mutter, denn jetzt ſind Sie auch die meine; auch das verdanke ich meiner Cläre. Und was hätte ſie mir außer ſich ſelbſt koſtbareres ſchenken können, als das Recht, Sie Mutter zu heißen. Welch ein Weſen haben Sie mir in mei - ner Cläre gebildet! Könnte ich ſie Jhnen nur ganz ſo darſtellen, wie ſie iſt. Jſt mir’s doch, als ob nur ich den Engel kennte, und als ob jedes andere ſie durch mich kennen lernen müßte, auch Sie, beſte Tante, nicht ausgenommen. Nein, es iſt nicht möglich, daß Sie ſich die ganze Hold -321 ſeligkeit der hellen Unſchuld vorſtellen, jetzt da ſie mit namenloſer Liebe geliebt wird, und es aus Demuth nicht faſſen kann, daß ſie es ſey, die mit dieſer Liebe gemeynt iſt. Seraphinen verdanke ich den erſten Kuß, den ſich Clärchen rauben laſſen: ohne das Kind hätte ich noch keinen. Ohne die Reiſe mit einander, wäre der arme Bruno nie ſo dreiſt geworden, Clärchen um ihre Liebe anzufle - hen. Aber ihre Nähe ihre zarte Liebe für das Kind erfüllte mein Jnneres mit brennender Sehnſucht, dies liebende Herz für mich zu gewin - nen. Aus der Sehnſucht blühete Hoffnung auf, wenn ich ſie anblickte, und die Erinnerung aller ihrer Freundlichkeit gegen mich wieder erwachte. Liſel mußte uns auf eine Stunde verlaſſen, als wir in Nian waren. Dies gänzliche Alleinſeyn mit Clärchen hätte mich allzu verzagt gemacht aber die Unſchuld in Seraphinens Geſtalt ward der Vermittler zwiſchen uns ſie lieh dem blö - den Bruno Wort und Sprache und Clärchen, Clärchen ſprach ohne Worte. Der Purpur ihrer Wangen, die geſenkte Wimper, von der eine Thrä - ne tropfte, die ſich an der Schulter des ſeligſten(41)322Menſchen verbarg waren ihre Sprache und o wie viel beredter, als die auserleſenſten Wor - te! Jch wollte Jhnen die Geſchichte meiner Liebe erzählen, aber ich ſehe, daß ich es nicht vermag. Den Segen des edlen Vaters habe ich. O nun auch den Jhrigen, und ich fordere den glücklichſten Sterblichen heraus, ſich mit Bruno zu meſſen. Vier glückliche Wochen wollen wir mit dem Vater und Betty noch hier ſeyn, dann kommen wir zu Jhnen, und werfen uns in Jhre Arme; denn wir hoffen einen Theil der Reiſe noch mit Jhnen zu machen; nur jetzt muß der Vater noch ausruhen von der Reiſe, und von der allzuplötzlichen Freude über ſein Clärchen. Auch Jhr Bruno könnte jetzt nicht reiſen; er iſt allzu - glücklich, hat aller Freuden Fülle tief in ſich. Und wem verdankt er es nächſt der Cläre ſelbſt? Wer hat dieſer kräftigſchönen Natur zu ſolcher Entfal - tung geholfen? O nur der Anblick der Men - ſchen, welche Sie ſo reich gemacht, kann Jhnen Vergeltung ſeyn!

So, Emma, iſt alſo mein Traum erfüllt, mein ſchöner Traum von der Liebe eines ganz323 kindlichen Gemüths ſo dacht ich immer, müſſe Clärchen einſt lieben und ſo geliebt werden. Wie ſo ſchön geſtaltet ſich die Liebe in einem noch ganz friſchen Herzen, das von keiner frühen Treibhaus - glut angeſengt wurde, das von dieſem ganz neuen Gefühl, wie von einem Paradieſesengel beſucht wird, wie ſo anders, als in den halbwelken, halbverbrauchten Herzen! Wie können ſie mich jammern, die kleinen liebelnden Perſönchen, de - nen eine ſo reine Seligkeit durch das elende Vor - ſpiel der erſten Liebe, oder durch frühgereizte Sinnlichkeit verloren gehet! O mißgönnet eu - ren Töchtern den Himmel der Liebe nicht, der nur einem ganz friſchen Herzen offen ſtehet, miß - gönnet ihn euren Töchtern nicht, ihr Mütter, auch wenn ihr ſelbſt durch die Muttereitelkeit eu - rer Mütter darum gekommen wäret, wenn das Verlangen, euch früh bewundert zu ſehen, euch Armen das gelobte Land der Liebe verſchloſſen ha - ben ſollte, und eure erſte wirkliche Liebe nichts weiter war, als matte Wiederholung[de]s oft er - neuerten Phantaſieſpieles, und eure Ehe nichts weiter iſt, als ein Vertrag um der bürgerlichen324 Exiſtenz willen geſchloſſen. Wollt ihr aber, ihr Mütter, hart ſeyn, und euern Töchtern das Pa - radies der Liebe verſchließen, ſo erreicht ihr euren Zweck am ſicherſten, wenn ihr eure Töchter vom zwölften Jahre an, oder noch früher, ihren Leſe - hunger aus den Leihbibliotheken nach Herzens - wunſch befriedigen laßt, oder ſie ſelbſt mit Roma - nen und Schauſpielen vom gewöhnlichen Schlage fleißig verſorgt. Aber, ſprecht ihr, Schauſpiele und Romane ſind ja oft lehrreicher als Predig - ten; warum ſollen die jungen Mädchen ſie nicht zu ihrer Bildung und Beſſerung leſen? Zu ihrer Bildung ſoll man ihnen aus allen Mei - ſterwerken das zarteſte und ſchönſte auswählen, und mit ihnen leſen, oder ſich das ſtrenggewählte von ihnen vorleſen laſſen. Nun iſt aber keine Gattung von Geiſtes - oder vielmehr von Feder - produkten reicher an Ausſchuß oder Mißgut, und ärmer an Meiſterwerk, als eben dieſe beiden Gat - tungen, in welchen auch die Nachahmer der Nach - ahmer immer noch von ſpätern Nachſchreibern be - raubt werden, und wo an keine Originalität zu denken iſt, wenn man die wenigen großen Namen325 der Männer ausnimmt, die uns in ſolchen Schrif - ten zu denken gaben, und unſern Schönheitsſinn ſich ſelber verſtehen und orientiren lehrten. Aus dieſen wenigen Schriften wähle man für das jun - ge bildungsfähige Mädchen das heraus, was nicht über ſeine Jahre vorgreifend hinausführt; man ſorge, daß ſich dieſes Wenige tief in die junge Seele hineinſenke. Man laſſe ſie in ſolchen Gei - ſtesprodukten nicht naſchend ſchwelgen; es werde ihr als geſunde Nahrung ein mäßiges und beſchei - den Theil gereicht oder vergönnt.

Zur Beſſerung leſen? O wehe dem jun - gen Mädchen, das einer Beſſerung bedarf, wie ſie aus dieſen Büchern, und überhaupt aus - chern zu erwarten ſtehet!

Ja, Emma, es gibt einen höchſten Licht - punkt im Leben. Es iſt das Morgenroth der erſten Liebe, wo alle Blüthen noch friſch bethaut ſind, wo alle Sänger der Lüfte dem Morgenrothe entgegen jube[l]n, alle Sorgen des Tages noch326 tief im Schatten dahinten liegen; und ſo ein Morgen, friſch und rein gelebt, heiligt den ganzen Lebenstag. Lebe wohl, Emma! Jn kurzem müſſen wir der Glücklichen noch mehr zählen unter den Unſern.

Ein und achtzigſter Brief.

Wo ich heute anfangen ſoll, theure geliebte Emma, das weiß ich wahrlich nicht. Was ich Dir zu berichten habe es muß Dein Mutter - herz aufs innigſte bewegen, es muß darüber in nie empfundener ihm ganz neuer Freude entglühen.

Deine Jda iſt ſehr, ſehr glücklich. Die beiden Briefe von Clärchen und Bruno haben das Eis gebro - chen. Sie wurden kurz zuvor, ehe ich ſie in meinem vorigen einſiegeln wollte, laut vorgeleſen, als wir ei - nes Abends alle verſammelt waren. Gleich nach - dem ſie geleſen worden, ſchlug die Stunde der Poſt: ich konnte alſo nichts mehr, als ſie einſie - geln. Was ſie wirkten, berichte ich heute.

327

Platov und Jda ſaßen ſeit langer Zeit zufällig einmal wieder neben einander. Jda wie gewöhn - lich ängſtlich befangen, Platov ernſt und finſter: beiden war nicht wohl in dieſer mißbehaglichen Nähe, aber es ſollte geleſen werden, und es war kein Vorwand da, ſich zu entfernen. Woldemar ſaß ihnen ſcharf blickend und unwillig gegenüber, als ich die Briefe hervorzog und las. Das Unerwartete darin wirkte wie ein Zauberſchlag auf alle, aber wunderbar bewegt waren die drei. Jda ward bleich und bebte auf ihrem Seſſel. Das junge Völkchen ſtrömte hinaus in dem Garten, um ſich laut in den Lüften auszufreuen. Jda wollte auch hinaus, konnte aber nicht, kraftlos ſank ſie auf den Seſſel zurück. Platov ganz ergriffen, ſprang auf, faßte ſie bebend in ſeine Arme: Engel des Himmels, Du darfſt nicht von uns ſcheiden! war alles was der Überwältigte ſagen konnte. Du darfſt nicht, oder ich ſterbe mit Dir, wenn Du ſtirbſt. Wol - demar hatte genug. Jda’s blaſſes Haupt hing an Platov’s Schulter. Jhre ganze Geſtalt war eine ſchöne Lilie. Platov ſchloß ſie feſt an ſich, als wolle er ihr Leben einhauchen. Sein betender328 Blick richtete ſich von ihr zum Himmel, vom Him - mel wieder zu ihr, uns andere gar nicht bemerkend, und als ob niemand ſonſt außer ihr und ihm in der Welt ſey. Sie erholte ſich. Matt richtete ſich ihr Blick empor, bang und ſchüchtern ſah ſie ſich in ſeinen Armen, und eine ſanfte Röthe über - goß ſie ſchnell. Doch hatte ſie die Kraft nicht, ſich loszuwinden. Er entließ ſie leiſe ſchonend, und ſie erholte ſich immer mehr, und ſah uns alle mit frommer Liebe an; mit gleicher Liebe, als ob wir drei nur eine Perſon wären.

Platov näherte ſich ihr bebend wieder und er - griff ihre Hände, die ſie ohne Weigerung nehmen ließ. Und wenn Du ins Leben wirklich zurück - gekehrt, willſt Du für den leben, der ohne Dich nicht mehr ſeyn kann? Willſt Du meinem Leben ſeine verlorne Bedeutung wiedergeben? Jda ſah ihn mit ſonderbar ſtillem Lächeln an. O ſprich nur ein einzig Wort, mir dieſes fromme Lächeln zu deuten. Willſt Du für den leben, der außer Dir nichts mehr am Leben hat noch will? Kannſt Du, willſt Du ihn ganz hinnehmen, Dich ihm329 hingeben? Sie barg ihr Haupt an ſeiner Bruſt, und ſtammelte ein leiſes Wort. Und jetzt erſt wurden ſie mich und Woldemar gewahr. Platov that einen ſcharfen Blick auf Woldemar. Wolde - mar trat näher, faßte beider Hände, und ſagte mit ſtarker aber etwas wankender Stimme: im Namen meines Vaters, der immer ein gerechter Mann war, gebe ich Dir das herrlichſte Juwel unſerer Familie. Niemand als mein Wohlthäter durfte dies Kleinod erhalten, hätteſt Du es ver - ſchmäht, Platov, ſo hätteſt Du einen Undankba - ren gemacht; ich hätte alle Deine vorige Liebe, Deine Großmuth mit Haß vergolten. Mir dünkt, ich fing ſchon an, den Mann zu haſſen, der einſt mein Abgott war, als es ſchien, daß Jda Dir gleichgültig geworden. Bruder! Bruder! riefen Platov und Jda. Er flog an ſie, und beide zogen ihn in die ſeligſte Umarmung, die jemals drei Menſchen vereint. Jch ſtand in ſprachloſen Ge - fühlen verſunken. Woldemar näherte ſich mir. Biſt Du ſo mit Deinem Woldemar zufrieden? Hab ich es recht gemacht? Wohl haſt Du es recht gemacht! Jda und Woldemar traten zu mir. (42)330O Deinen Segen! Jn Deinem Segen empfangen wir den des Vaters und der Mutter zugleich. Wir umſchloſſen uns alle. Dann eilten wir hinaus ins Freie. Platov nahm Jda am Arm, und beide wandelten ſelig dahin. Von meiner Hand dies - mal nichts mehr. Die Glücklichen mögen ſelbſt reden, wenn ſie können.

Zwei und achtzigſter Brief.

Wir reiſen nun für diesmal nicht weiter in die Schweiz hinein, ſondern kehren auf das baldigſte zu den Neuenburgern nach Genf zurück. Mein Herz hat nun volle Genüge. Jetzt wäre Sterben das Schönſte, wenn nicht das Kind mich aufs neue mit ſtarken Banden ans Leben feſſelte. Meine Sehnſucht nach Seraphine wird täglich unbezwing - licher, und das hat mit für unſere Rückkehr ent - ſchieden. Wenn das Wie der Exiſtenz ſo über - ſchwenglich glücklich iſt, dann kommt auf das Wo überhaupt nur wenig an. Und was brauchen dieſe331 ſeligen Menſchen der Reiſe? glücklicher können ſie doch einmal nicht mehr werden. Stille Ruhe, damit ſie ihres Glückes ganz froh werden, iſt al - les, was ſie bedürfen, und dieſe finden ſie am beſten in unſerer jetzigen Heimath. Auch iſt noch einer unter uns, dem im Jnnern das gewaltigſte Verlangen tobt, den ſein Magnet unwiderſtehlich nach Genf hinzieht. Jetzt iſt an kein Warten auf der Eltern Ankunft mehr zu gedenken. Die Schleuſen ſind aufgethan, die brauſende Fluth bricht hindurch. Wenn wir nicht bald von Zürich abreiſen, ſo müſſen wir einem Deſerteur nachſetzen. Woldemar will und kann nicht mehr warten. Dem Platov würde in der Fülle ſeiner Freude das Mentorliche Ermahnen zum Gedulden, zum Warten übel anſtehen. Auch treibt er ſelbſt mit aller Gewalt, ſeinen Woldemar ans Ziel zu bringen. Das brüderliche Verhältniß unter bei - den gehört zu den ſchönſten, ſo es auf Erden ge - ben kann.

Wie Jda lieben würde, das ließ ſich im vor - aus beſtimmen. Die Liebe hat ganz ihren Cha -332 rakter angenommen. Jetzt, da die Sehnſucht ih - res Herzens ſo ſchön geſtillt iſt, iſt auch alle lei - denſchaftliche Heftigkeit fern von ihr. Sie liebt mit der ſtillen Jnnigkeit einer ganz befriedigten Seele, verloren in dem Erwählten, und doch voll Ruhe, ſo wie höhere Weſen lieben müſſen. Von Platov wird ſie mit dem heftigſten Jugendfeuer vergöttert. Und wenn er mit bebendem Entzücken vor ihr ſteht und ſie unverwandt anſchaut, als wolle er in ihrem Anſchauen vergehen, ſo blickt ihr ſchönes Auge halb von der ſchattenden Wimper beſchützt nur ſchüchtern zu ihm auf, und ſenkt ſich bald wieder. Oft ſcheint ihr ſinnender Blick zu fragen: bin ich es denn wirklich die ſo überſchweng, lich geliebt wird? Warum bin denn ich ſo ſelig? Was iſt es denn an oder in mir, das den Pla - tov ſo hingeriſſen? fragte ſie mich kürzlich. Jch kann ja ſeine Liebe nicht begreifen. Es iſt nichts Einzelnes in oder an Dir, meine Jda; es iſt Dein ganzes eigenes Selbſt, das ſein Jnneres befriedigend ausfüllt. Unbegreiflich, ſagte ſie. Wie er mich ſo ganz erfüllt, das kann ich begrei - fen. Jch hätte durch mich allein nicht beſtehen333 können; aber er war ja ohne mich ſo reich in ſich ſelbſt, was konnte die arme Jda noch ſeinem We - ſen hinzuthun? Oel in die Flamme ſeines innern Lebens, die ohne Dich ſich bald verzehrt hätte, ſagte Platov, der im Hereintreten das letzte gehört was Jda geſprochen.

Seit den glücklichen vierzehn Tagen, da ſich ihr Schickſal ſo entſchieden, beſchäftigt Jda ſich in den meiſten Stunden beſonders Morgens ganz wie zuvor, da wir zu Hauſe waren, oder auf der Reiſe einen Stillſtand machten, beſonders ſetzt ſie das Zeichnen fort. Platov hat ihr für die Zu - kunft eine Reiſe mit ihr nach Jtalien verheißen, um ihren Kunſtſinn zu vergnügen. Jeden Mor - gen zeichnet ſie zwei Stunden, während welcher Platov ihr vorlieſ’t oder ſie durch Erzählung von ſeinen Reiſen unterhält. Jn einem Zimmerchen ganz mit Weinreben überhangen, ſitzen beide. Oft kommt Woldemar zu ihnen hineingeſtürmt und beſchaut ſie beide, und es durchzuckt ſein ganzes Weſen. Dann will er fort nach Genf und will ſich nicht länger halten laſſen. Und wir müſſen fort,334 und dürfen den Armen auf keine zu harte Probe ſtellen.

Von Mathilde und Hertha, wie von Elvirens Töchtern ſagte ich Dir lange Zeit nichts. Clär - chens Abweſenheit und Jda’s häufiges Verſchwin - den aus dem Schweſterkreiſe (denn Platov hält ſie viel umlagert), würden Mathilden ein peinli - ches Alleinſeyn verurſachen, wenn ich nicht hier, wie überall, wo wir raſten, eine gewiſſe Lebens - ordnung eingeführt. Wir beſchäftigen uns ſehr regelmäßig, und Mathilde hält ſich gern zu mir. Wohl kann ſie ſich an Jda’s Freude recht ſchwe - ſterlich mitfreuen, und Jda verdoppelt in den Viertelſtunden, die ſie mit einander ſind, ihre Liebe zur Geſpielin ihrer früheſten Jugend. Aber Mathilde begnügt ſich auch fröhlich damit, und bleibt ruhig und ſelbſt genügſam. Auch noch kein Fünkchen des Verlangens nach einem ähnlichen Glücke ſcheint ſich (ſoll ich ſagen in ihrer kälteren oder lieber ihrer noch ſchlummernden Natur?) zu regen. Hertha weiß oft nicht, wo ſie nun mit ihrer armen kleinen Perſon hin ſoll. Der Bru -335 der iſt fort, Clärchen auch, Jda iſt für ſie ſo gut als abweſend. Jch gebrauche dieſe Veranlaſſung, ſie in ſich ſelbſt mehr hineinzuführen, und ſie auf - merkſam zu machen, wodurch ſie ihre innere Leere ausfüllen könnte. Wenn Hertha jetzt nicht ver - ſtändig würde, und nicht Stetigkeit zum Aushar - ren bei irgend einer Sache bekä[m]e, ſo wäre das ſehr ſchlimm, da ſich ihr jetzt das Gefühl ſo ſtark aufdringt, wie wenig es tauge wenn man die Lu - ſtigmacherey als Beruf treibt. Ja, Tante, ich fühle, daß Du Recht haſt, ſagte ſie geſtern, tadle mich nur immer, ich bin eine gar leere Haut, und habe mich ſelbſt ſo wie ich da bin, am wenigſten gern. Mathilden habe ich aufgegeben, täglich ein Paar Stunden mit ihr zu leſen. Dann gebe ich ihr eine von meinen Morgenſtunden, in welcher ich Goldſhmit’s Geſchichte der Römer mit ihr leſe. Nach jeder Lekzion muß ſie mir einen Aufſatz ma - chen, den ich nachſehe und korrigire. Dieſes Stu - dium ſcheint ihr Freude zu geben. Auch Jda und Mathilde hatten im vorigen Jahre große Luſt daran. So lange bis ein Buch exiſtirt, das junge Mädchen unter dreizehn Jahren zur Vor -336 bereitung auf das eigentliche Studium der Ge - ſchichte dienen könnte, müßte billig jede Erziehe - rin einen Schatz von Thatſachen ſich eigen machen, aus welchem ſie ihren Zöglingen beim Spatzieren oder Arbeiten mittheilte. Dies muß hinreichen, bis der Geiſt zu der Reife gekommen iſt, wo er eines Überblickes über das Ganze der Geſchichte fähig geworden. Für die Jugend unſers Geſchlech - tes kann die Geſchichte nicht ſorgſam, nicht zart genug behandelt werden.

Jn drei Tagen reiſen wir von hier. Wie ich Platov und Jda in Bewegung bringen werde, mögen die Unſterblichen wiſſen; denn beide wollen aus dieſem erſten Schauplatze ihrer Liebe nicht hinweg. O nur noch ein Paar ſelige Tage laßt uns hier, ſagte Platov und Woldemar erwie - derte ich, dem’s unter den Sohlen brennt, der ſoll hier ſtille auf euch warten? oder ſoll er das Morgenroth ſeiner goldenen Zeit ohne uns begrüßen Und kann der Mentor das verant - worten, ſeinen Telemach ſo ins Feuer zu jagen? ſoll er ihn nicht zügeln, damit er nicht zu tief337 hineinrenne? Aber der Arme iſt ſelbſt an Hän - den und Füßen gebunden. Nun wir müſſen fort, laſſen Sie nur aufpacken, und ſagen Sie’s den beiden glücklichen Menſchen, wenn’s Zeit iſt, in den Wagen zu ſteigen. Das ſoll geſchehen. Und wirklich überläßt der ſonſt ſo rüſtige Platov mir und Woldemar jetzt alles, und ſitzt mit ſei - nem Täubchen in der einſamen Weinlaube, als ob es außer ihnen beiden nichts Lebendes mehr auf Erden gäbe. Halten Sie doch, lieber Pla - tov, ehe wir reiſen, dem ungeſtümen Woldemar noch eine Vorleſung über Geduld und Mäßigung, damit er das zarte Herz nicht zertrümmere, das er ſtürmend zu erobern eilt. Ja, ja ich will’s ihm noch heute beweiſen, daß er verſtändig ſeyn muß, für zwei, nemlich für ſich und ſeinen Men - tor, den alle Verſtändigkeit und alle Weisheit verlaſſen hat. Schicken Sie ihn mir nur gleich her, doch nicht gleich, lieber heute Abend, wenn meine Sonne untergegangen, wenn Jda ſchläft.

Du ſiehſt, meine Emma, was Dein Töchter - lein vermag welch ein Jünglingsfeuer ſie in(43)338dem Herzen eines Mannes entzündet, der allen Klippen und allen Sirenen der Jugend ſchon vor - beigeſchifft war. Lebe wohl, Emma. Der Kin - der Briefe müſſen Dein Herz von Freude faſt trun - ken machen.

Drei und achtzigſter Brief.

Seit acht Tagen ſind wir wieder in Genf. Dir die neuen Szenen der Luſt zu malen, iſt mir faſt unmöglich, auch berufe ich mich auf die Briefe der Jntereſſenten ſelbſt. Nur ſo viel: Unſere Betty nimmt ihr Glück vom Schickſale mit einer Würde an, die Dich und Deinen Gemahl ent - zücken müßte, wenn ſie ſich in Briefen ſo äußern könnte, wie in ihrer ganzen Perſon. Der ſtolze Woldemar iſt ſo demüthig, ſo ſanft, daß man ſagen möchte, beide hätten ihre Perſönlichkeiten gegen einander ausgetauſcht. Wo die ſtille ſchüch - terne Betty einen ſolchen Muth hergenommen, iſt ſchwer zu deuten. Auch iſt Betty, ſeit wir ſie339 nicht ſahen, ſehr ſchön geworden. Es ſind Roſen auf ihren zarten Wangen entblühet, unter den Lilien, die ſeit dem Tode der Mutter, und faſt immer allein da blüheten. Bis hieher hatte ich geſchrieben, da kommt Betty, und bringt mir dieſe ihre Einlage an Dich und Deinen Gemahl mit einem Anfange und einer Nachſchrift von Woldemar.

Meine theuren Eltern!

Euer Sohn iſt der glücklichſte Menſch auf Got - tes weiter Erde. Sagen und ſchreiben läßt ſich ſo etwas nicht. Jch könnte den Himmel ankla - gen, daß er mir zu ſo viel Seligkeit das Herz nicht weit genug erſchaffen, es iſt, als müßt es zerſpringen. Könnt ich zu Euch fliegen, ſo würde mein Verſtummen Euch alles ſagen. Aber Betty, meine Seele, mein Geiſt, mein Herz, mein Or - gan ſoll für mich reden. Auch wird es Betty kön - nen, denn ſie liebt nicht ſo heiß, und doch viel - leicht noch heißer, nicht ſo tief, und doch noch tiefer o ich weiß nicht, was ich ſagen will, nur das weiß ich, Betty liebt ſchöner, inniger,340 beſſer, größer, edler als ich. Denn hat ſie mich nicht mit dem blaſſen Angeſichte, mit ihrem ſtillen ſich verzehrenden Herzen früher geliebt, als ich’s wußte, als ich’s ahnen konnte, als ich die Groß - muth ſolcher ſtillen Liebe erkennen konnte? Sie wollte, ſich aufopfernd, ſich willig in’s Grab legen, wo ihre Mutter ſchläft, weil ſie Eure Geſinnung nicht kannte, und ohne Euren freiwilligſten Se - gen wollte ſie die Liebe des Menſchen nicht, der doch nur ganz allein in ihrer Seele wohnte. Sa - ge ſelbſt, Du Heilige, iſt es nicht ſo? Hier nimm die Feder Deines allzutrunkenen Freundes, ich kann nicht mehr!

Betty an Woldemar’s Eltern.

Und werde ich es denn können, würdigſte El - tern! Jhr edler Sohn hat alle Verſchanzungen ei - nes Herzens niedergeriſſen, welches ſchon einſam und unglücklich ſeyn gelernt hatte. Aber was ſage ich unglücklich? Jch war es nicht. Jch war ent - ſchloſſen dem frühen Tode mein welkendes Leben als ein freiwilliges Opfer hinzugeben, damit Jhr treflicher Sohn weder in Jhrer Liebe noch auf ſei -341 ner Bahn zum Glücke gefährdet werden möchte, und wenn ja in ihm ein Fünkchen des Wohlgefal - lens an der Pfarrerstochter in früher Jugend ent - glommen wäre, daß es ſobald als möglich wieder verlöſche. Sehr anders iſt nun freilich alles ge - kommen. Sie wollen und wollten es frühe ſo hör ich von dem Manne, der das große Herz Jhres Sohnes gebildet hat. Sie wollen das Pfarrermädchen als einen nicht unwerthen Zweig ihrer Familie einimpfen! Wohl! die Liebe Jhres Sohnes gibt mir Stolz und Kraft alles zu ſeyn, was Sie von mir erwarten. Von einem ſolchen Jüngling erkoren zu ſeyn, das gibt Muth zu al - lem was herrlich und würdig iſt. Auch habe ich an Jda eine Schweſter, deren Bild wie in einer Glorie mir immerwährend vor der Seele ſchwebt, und das ſich ja endlich in mir abdrücken muß. Aber wann werde ich endlich ſo glücklich ſeyn, die bei - den von Angeſicht zu ſehen, welche den großherzig - ſten Jüngling Sohn heißen? Theure Eltern! nur das fehlt uns zum Himmelreiche noch, welches zwei ſelige Paare mit allen ſeinen Freuden jetzt überſtrömt. Mein Vater o ich bin ſehr glück -342 lich, dieſes Vaters Tochter zu ſeyn! mein Vater brennt von Verlangen, die Eltern dieſes Sohnes zu ſehen, der nun auch ſein Sohn iſt, und den er als Knaben ſchon väterlich geliebt. Mein Vater brennt von Sehnſucht, ſich wie ſoll ich das nun ausdrücken? ſich zu rechtferti - gen? nein, das iſt nicht das rechte Wort; aber woher nehme ich ein anderes? ſich und die ganze Sache Jhnen zu zeigen wie ſie wirklich iſt, und daß es nicht bei ihm ſtand, eine Liebe zu hindern, die uns allen unbewußt, ſchon in früher Jugend entglomm, und mächtig geworden war, zur Treue bis in den Tod, ehe wir ſie uns ſelbſt nur geſtan - den. Ohne Jhre Zuſtimmung, das weiß ich, hätte mein ſtolzer herrlicher Vater die ſeinige nie ge - geben. Sterben konnte er ſein Kind ſehen, aber nicht verſchmäht noch verachtet. Verzeihung, theuerſte Eltern, daß ich eines Falles nur erwäh - nen konnte, der bei Jhnen nicht möglich war; aber wir kannten Sie damals nicht ſo, wie Sie uns jetzt bei dieſer neuen Eröffnung erſchienen, und wie ich Sie beſonders jetzt durch Jhren Sohn er - kenne. Mein ganzes künftiges Leben ſoll nun auch343 in reinem hingebenden Vertrauen zu Jhnen dahin fließen. Nur Woldemar und Jda ſollen mir das Vorrecht ſtreitig machen können, Sie von allen Menſchen auf Erden am treueſten zu lieben.

Auch ſind Woldemar und ſeine Betty eins wor - den, ſich ohne alles Murren Jhren Verfügungen zu unterwerfen. Beſtimmen Sie, wie viele Jahre Woldemar noch reiſen, welche Proben er noch be - ſtehen ſoll, ehe wir dieſen Vorhimmel verlaſſen. Sind wir nicht überglücklich, ſo von einander ge - wiß zu ſeyn, wie es vielleicht noch nie zwei Men - ſchen waren? Wir ſind beide noch jung. Ein gan - zes Leben voll Liebe und Hoffnung liegt vor uns. Wir wünſchen, wir wollen und hoffen nichts, als einander immer ſchöner und ſchöner zu lieben, und dazu brauchen wir nichts als das Leben ſelbſt. Was könnten wir auch noch brauchen, jetzt da der Himmel ſelbſt und alle ſeine Heiligen und eine ſehr ſelige meine vorangegangene Mutter durch den Beifall der Eltern meines Woldemar ihren Segen über uns geſprochen? Was fehlt uns denn noch? Möge Woldemar nun noch rei -344 ſen, wann und wohin er ſoll: Betty iſt nicht allein. Die Gewißheit ſeiner Liebe, welche mir tief im Herzen wohnt, iſt die einzige Geſellſchaft deren es bedarf. Rufen ſie alſo den Geliebten immer ab; er nimmt ſein großes treues Herz mit ſich, und meines dazu, und keine Zeit und keine Entfernung können fortan uns trennen. O rufen Sie ihn zu ſich, theure Eltern, daß er Jhnen alles, alles ſage, wie ſo gar ſelig wir ſind, und daß auch die arme Betty wieder zu ſich ſelbſt komme; denn Wolde - mar hat ſie ihr ſelbſt entwendet. Sie muß doch ihr überſchwengliches Glück faſſen lernen, und da - zu muß ſie allein ſeyn, d. h. ohne Woldemar, deſ - ſen Nähe ſie immer mehr ſich ſelbſt entrückt. Und er iſt doch ſo ſanft, ſo demüthig, und wirbt täg - lich immer wieder von neuem um das Herz des ihm ganz eigenen Mädchens. Ruſen Sie ihn zu ſich, daß Betty ſich ſelbſt erſt wieder finden möge, um ſich ihm von neuem zu ſchenken. Und o! laſſen Sie ſich endlich mit den ſchönſten Banden ins Va - terland zurückziehen. Wir wollen einen Kreis der Liebe um Sie ſchließen auf Erden muß es keinen ſolchen mehr geben.

345

Woldemar fährt fort:

Ja, liebe Eltern, laßt euren Sohn zu euch kommen, auf daß er ſein Glück beſſer trage, und darin nicht erliege; oder ſchickt ihn auf irgend et - was Großes etwas Schweres aus, damit er ſein Kleinod erringe. Nur noch 2 3 ſchöne Minu - ten, d. h. Monate muß er aus dieſem Freuden - kelche trinken, um ſeines Glückes ganz inne zu werden: dann ruft ihn ab, daß er deß alles werth werde o Thor, der ich bin! wer kann denn ei - nes ſolchen Freudenhimmels je werth ſeyn?

Lebet wohl!

Euer Woldemar.

Jch, meine Emma, ſetze heute nur noch weni - ges hinzu, damit unſer Briefpaquet ſchnell abge - hen könne, und Du der höchſten Mutterfreuden ſo früh als möglich theilhaftig werdeſt. Nur das noch, liebe Emma, und Sie, beſter D : kommt bald zurück! Das Leben iſt kurz, und ſolche Freu - den wollen genoſſen ſeyn. Eilt, ihr Theuren, zu - rück zum Vaterlande! Was kann der Schauplatz(44)346der Ehre geben, das mit dem Verluſt eines ſolchen Genuſſes nicht allzutheuer erkauft wäre!

Auch glaube ich wirklich, daß es ſehr gut wäre, wenn Woldemar noch ein Jahr auf Reiſen, oder auf irgend einen Geſchäftsauftrag ausginge, ehe er ſich mit Betty auf immer verbindet. Eine all - zufrühe Ehe iſt für ein recht dauerndes Glück in derſelben nicht ſehr günſtig. Betty iſt 19 Jahre, Woldemar 22 Jahr alt. Betty wendet dann das Jahr noch zu ihrer Ausbildung an, und Wolde - mar kommt über die ſtürmiſche Zeit des Lebens noch zwölf Monate weiter hinaus. Könnt Jhr unſerm großen Wunſche eines Wiedervereins noch nicht willfahren, bleibt Jhr noch in K , und will Dein Gemahl ſeinen Woldemar in die Ge - heimniſſe der Diplomatik eingeweihet wiſſen: un - ter wem könnte das beſſer geſchehen, als unter dem Vater? Laßt ihn dann ein Jahr wenigſtens bei Euch bleiben. Was Jhr auch entſcheidet, laßt es nur bald entſchieden ſeyn. Vergeßt aber bei Eurer Entſcheidung nicht unſer aller Sehnen nach Euch. Lebe wohl! Von Seraphinen habe ich ſo347 lange geſchwiegen; in meinem nächſten Briefe er - ſcheint ſie wieder.

Vier und achtzigſter Brief.

Seraphine hatte ihr Mütterchen nicht aus dem Herzen verloren, wie ich halb und halb fürchtete. Clärchen und Betty theilten bis zu unſrer Ankunft die Beſorgung des Kindes, und trugen ſehr zarte Sorge, das Flämmchen Liebe für die Abweſende zu nähren, und mein Andenken hell und lebendig im Kinde zu erhalten. Jmmer bei den froheſten Veranlaſſungen, in den ſchönſten Momenten des Tages, nannten ſie ihr meinen Namen. Bei al - lem, was das Kind freute, bezogen ſie ſich auf mich, und was ihr ſchönes aufgeſpart werden konnte zu meiner Wiederkunft, ward an dieſe Wiederkunft geknüpft, ſo daß des Kindes Ver - langen täglich wuchs. Daß dies alles nicht Kunſt - griff war, ſondern aus der innigen Liebe dieſer beiden zu mir ganz natürlich hervorgehen mußte,348 brauche ich nicht zu erinnern. Endlich hielten unſere Wagen vor der Thür, als das Kind mit Bruno im Garten war. Alles flog im wilden Freudentaumel durch einander, als wir ausſtiegen. Meine Sinne waren verwirrt, und ſo ſehnlich mich nach dem Kinde verlangt hatte, ſo ſahe ich es doch nicht, als es mitten unter uns ſtand, bis es ſchmerzhaft weinend rief: Seraphine iſt auch da, Mutter Seraphine auch küſſen! Bruno hob es zu mir in die Höhe: Mutter, Mutter wieder da! rief die Kleine, und klammerte ſich feſt an mich. Mutter, ſüße Mutter iſt ſo lange weg ge - weſen! Nun Mutter nicht mehr wegreiſen. Se - raphine will Mutter immer feſthalten, ganz feſt. Seraphine Mutter ſo lieb hat! Sie beſchrieb mit dem Fingerchen einen gewaltigen Kreis, um das Maaß ihrer Liebe zu bezeichnen. Und nun lief ſie hin, und holte ihre Puppe, und dann die Blumen, die ſie auch heute, wie alle Morgen, friſch auf meinen Tiſch gelegt. Dann zog ſie mich gewaltſam fort in den Garten, um mir zu zei - gen, was da ſeitdem aufgeblühet, und dann klet - terte ſie wieder an mich hinauf, als ich von ſo349 viel Freude überwältigt, mich ſetzen mußte, küßte mir die naſſen Augen, und klammerte ſich immer feſter an mich! Nein, du holder Engel, ich ver - laſſe dich nicht wieder. Was ſind alle Granit - rieſen der Schweiz mit ihrem ewig grauen Schei - tel, was alle Wunder der Natur gegen ein Herz voll ſüßer reiner Liebe! Jch wollte nun hin - aus, und Ordre geben, daß ausgepackt würde, und wollte ſelbſt holen, was ich Seraphinen mit - gebracht. Aber ſie hielt mich feſt umklammert und ſagte: Nein, nein, ich nichts haben will; Mut - ter hier bleiben. Jch nahm ſie auf, trug ſie auf meinen Armen in den Garten, und ließ mir alles zeigen, und alles erzählen, was ſie nur wollte. Nun erzählte ſie mir auch, daß Bruno die Cläre lieb habe, und ihr alle Tage ſchöne Blumen ſchen - ke, und ihr alle Morgen eine Roſe in’s Haar ſtecke, und daß der Herr Pfarrer Seraphine lieb habe, und ihr von einem Vater erzählt, der ſehr freundlich ſey, und alle Blumen wachſen laſſe, und den Regenbogen gemacht, und die Sonne, und den niemand ſehen könne, der aber alle Men - ſchen lieb habe, und beſonders die Kinder, wenn350 ſie artig wären. Es kam der Pfarrer mit Bruno auf uns zu, indem das Kind ſo plauderte. Zür - nen Sie mir nicht, theure Freundin, daß ich Jh - nen bei dem Kinde alſo vorgegriffen, ſprach er, mich ein wenig abwärts führend. Die Kleine ſah mich oft in dem Garten bei den Blumen ſtehen bleiben, oder den Regenbogen betrachten. Vor einigen Tagen reichte ſie mir das Händchen, und ſagte: im Garten ich den Herrn Pfarrer et - was fragen will. Jch ging mit ihr hinaus. Sie führte mich an eine hohe Lilienſtaude, die ſie zum erſtenmale blühend ſah, blieb daran ſtehen, und ſagte: Wer hat die Blume gemacht? Die Blu - me iſt gewachſen, und in dieſer Nacht aufgeblü - het, war meine Antwort. Jndem ſah ſie den Regenbogen an, der vor uns im Oſten ſtand, und fragte weiter: iſt der Regenbogen auch gewach - ſen und aufgeblühet? Nein, mein Kind. Wo iſt denn der Regenbogen hergekommen? Jetzt iſt der günſtige Moment zum erſten Eindrucke da, dacht ich, und ſtand nicht länger an, ihr zu ſagen, was ſie Jhnen ſehr getreu wieder erzählt. Finden Sie es nun jetzt noch zu früh, ſo vergißt das Kind351 dieſe erſte Jdee noch wieder, wenn Sie nichts weiter hinzuthun. Nein, mein Guter, dieſer erſte Eindruck ſoll nicht wieder verlöſchen, und wenn ich ihn auch nur als ein ganz ſchwaches Fünkchen unter der Aſche ſchlafend noch erhalten kann. Leiſe will ich den heiligen Funken decken, daß er nicht erſticke. So oft Seraphine mich etwas der Art mit wirklichem Verlangen fragt, thue ich ein Wörtchen mehr hinzu. Habe ich’s doch auch an Jda erprobt, wie wohlthätig die frühen Eindrücke auf ein ſolches Gemüth wirken. Seraphine kam wieder gelaufen, mit dem Bruno an der Hand, in - dem ſie ihn herbeizog und ihn anklagte. Bruno mir nicht ſagen will, wie der Vater heißt, der die Sonne gemacht hat? den Namen, liebe Se - raphine, dürfen wir nur dann ausſprechen, wenn wir recht fromm waren, ſagt ich. Biſt Du heute immer brav geweſen? nicht immer, ſagte ſie trau - rig. Nun ſo nenne ich Dir den Namen heute nicht. Jch will Dir aber Blumen ſchenken, die der unſichtbare Vater hat aufblühen laſſen, damit Du Dich recht freuen mögeſt; er ſieht es ſo gerne, wenn alle ſeine Kinder fröhlich ſind.

352

Seraphinens Heftigkeit kann mir aber oft recht bange machen für ihre Zukunft. Jch glaubte an - fangs, dieſe wäre bloß Nachlaß ihrer Krankheit, aber ſie zeigt ſich immer mehr als Eigenthümlich - keit ihrer energiſchen Natur. Seit ſie mich wieder hat, iſt ihre Liebe zu mir faſt allzuheftig. Sie will mir gar nicht mehr von der Seite weichen. Die Äußerungen dieſer Liebe ſind vom Eigenſinn oft nicht zu unterſcheiden. Es iſt dies eine arge Klippe der Erziehung, woran die beſten Mütter um ſo leichter ſcheitern, je tiefer die Liebe als Grund - prinzip ihres Seyns in ihnen gewurzelt iſt. Auch Deine Freundin fürchtet ſich, ihre pädagogiſche Vernunft an dieſer Klippe ſcheitern zu ſehen. Wehe thut es jedem Herzen, auch dem kindlichen, ſich ein Übermaß von Liebe Schuld geben zu laſſen. Und nicht ſelten erzeugt zurückgegebene Liebesäuße - rung Bitterkeit in der Kinderſeele. Und doch wer kann ein ſolches Herz immer befriedigen? und wer darf das, wenn es mit Eigenſinn ſeine An - ſprüche auf uns jeden Moment geltend machen will! Neulich Morgens kam das Kind an meine Thüre, um mir Blumen zu bringen, und wie immer durch353 dieſe ſich den Weg zu mir zu bahnen, und ſich mei - ner ganz zu bemächtigen ich hatte einen höchſt dringenden Brief eilig zur Poſt zu fördern. Es war mein letzter an Dich, liebſte Emma. Meine Thüre war von innen verriegelt, weil ich auch kei - nen Augenblick geſtört werden durfte, wenn der Brief noch mit der nächſten Poſt abgehen ſollte. Seraphine klopfte an, und rief: Mütterle mach auf, Seraphine Blumen bringt. Jch kann nicht, liebes Kind, ich muß ſchreiben. Bitte, bitte! aufmachen! Seraphine nur Blumen bringen, nur einen Kuß geben! Jch ließ mich erweichen, ich machte auf. Sogleich war ſie hinten auf meinem Seſſel, umklammerte mich, zerküßte mir das Ge - ſicht, wollte mich mit den Blumen ſchmücken, und mich ganz nach Herzensluſt handhaben. Jch nahm ſie herunter vom Stuhl, und ſagte: Du mußt jetzt wieder gehen, mein Kind. Sie umklam - merte mich feſter und rief muthwillig: Seraphine doch nicht weggeht. Die Zeit verſtrich, ich ſchellte. Die Liſel kam, und ich ſagte ihr, ſie müſſe das Kind jetzt hinwegnehmen. Die Kleine brach in ein entſetzliches Geſchrey aus. Jch ſiegelte meinen(45)354Brief eilig, gab ihn zur Beſorgung, und gebot der Liſel mit Seraphine in den Hof zu gehen, und nicht eher wieder zu kommen, als bis fie ganz ſtill und artig ſey. Die Kleine ſchrie noch heftiger, aber es blieb bei dem geſagten. Erſt nach einer Viertelſtunde kam die Liſel mit ihr wieder, und nun war das Kind zwar ſtill und freundlich, aber ein wenig ſcheu vor mir. O wie mich das ſchmerzte! Es verſteht ſich, daß ich vom Fenſter die Liſel und das Kind genau beobachtete. Entſchloſſen war ich von dieſem Augenblicke an, feſter als je, was ich an Geiſtes - und Gemüthskraft habe, ganz dem Kinde zu widmen, und faſt ausſchließend dafür zu leben. Aber ſich von dieſer Liebe nicht beſtechen zu laſſen, dies Kind nicht zu verziehen. Wahrlich es iſt kein Leichtes, wenigſtens für mich nicht.

Vom Schreiben, ſo wie von allen Beſchäftigun - gen, wobei ich Seraphine entfernt von mir halten muß, werde ich mich einſtweilen losſagen, bis die Kleine ſo weit iſt, daß ſie ſich an meiner Seite ſelbſt beſchäftigen kann. Gern nähme ich auch für dies Kind noch eine Geſpielin gleichen Alters,355 wenn mich dies nicht immer tiefer und tiefer ins Erziehungsgeſchäft verflöchte. So lange wir hier ſind, und Hertha und Mathilde und Elvirens Töchter mit uns leben, braucht es der Geſpielin ſo ſehr nicht, aber wenn das Häuflein ſich erſt zer - ſtreut hat, dann wird meine Kleine zu einſam. Dann bin ich es ihr und mir ſchuldig, ihr zur Kin - dergeſellſchaft zu verhelfen, mit welcher ſie ganz als Kind ſpielen und ihrer Kindheit froh werden könne. Doch für jetzt ſey das dem Schickſal noch ganz anheim geſtellt, welches mit dieſem Kinde überhaupt gar eigene Wege nimmt. Sobald mir dieſes eins anweiſet, das durch ſeine Natur Se - raphinen keine Gewalt anthun, und in deſſen Nähe ſie ſich frei entwickeln kann, nehme ich eins auf, aber ſuchen will ich es nicht.

Eine Stelle in einem Deiner letzten Briefe hat mich ſehr aufmerkſam gemacht. Es iſt nemlich die, wo Du mir ſagſt; daß Du von meinen Anleitun - gen zur Behandlung Deiner jüngern Kinder nicht den uneingeſchränkten Gebrauch machen, und dem aufgeſtellten Beiſpiel meiner Ausübung dieſer356 Grundſätze bei weitem nicht ſo unbedingt folgen könneſt, als Du Dir feſt vorgeſetzt, daß Deine Verhältniſſe es Dir oft ſchwer machten, und Du nicht ſelten verſucht ſeyeſt zu glauben, es gehöre die Hingabe ſeiner ganzen Exiſtenz dazu, um ſeine Kinder nach dieſen Grundſätzen ſtreng und ohne Ausnahme zu leiten.

Daß dem alſo ſey könnt ich nicht widerle - gen, wenn ich es auch verſuchen wollte. Wirklich gehört zu einer ſolchen Erziehungsweiſe ein Grad der Hingabe und der Richtung ſeines ganzen Stre - bens, die nicht jedermanns Sache iſt, und den ſelbſt der beſte Wille nicht immer von ſich erhalten und in jeder Lage möglich machen kann. Aber was folgt daraus? Dir, meine Gute, kann es nicht begegnen, das für ganz unausführbar zu erklären, was Du nicht ganz auszuführen ver - magſt, und was ſich vielleicht nur in ſolchen Ver - hältniſſen, wie die meinigen, gerade ſo möglich machen ließ. Oft ſchon ſann ich darüber nach: wenn ich ein Erziehungsbuch zu ſchreiben hätte, ob ich alles, was ich über die Sache im Sinne357 und auf dem Herzen habe, als trockene, reine, all - gemeine Regel hinſtellen, oder nicht vielmehr dieſe Sätze oder den Geiſt davon zum Leben brin - gen, d. h. als lebendige Handlung dargeſtellt, er - ſcheinen laſſen ſollte, damit er in andern wieder zu Leben werde? Jmmer blieb ich am letztern, an der lebendigen Darſtellung am liebſten haften. Und was wäre denn nun, fragte ich mich ſelbſt, was wäre aufzuſtellen? Ein Gemälde genau nach dem kopirt, was wir im Leben alle Tage und über - all ſehen? ein Gemälde welches jedermann als wirklich ſo anſpräche, daß er ausrufen müßte: ja, das iſt gerade ſo wie bei uns? da wäre dann ein ſolches Erziehungsgemälde ein Spiegel, worin die Alltäglichkeit ſich ſelbſt auf die alltäglichſte Weiſe mit freundlicher Selbſtgenügſamkeit beſchauete, und ſich ſtreichelnd ſagte: ja, ſo ſind wir nun ein - mal, und ſo iſt der Menſch wenn er nicht idealiſirt wird. Soll es alſo ſeyn? oder ſollte nicht viel - mehr ein Gemälde von dem aufgeſtellt werden, was die ſorgſamſte Erzieherin erringen kann, wenn ihr keine gar drückende Verhältniſſe im Wege ſte - hen? Soll nicht überhaupt ſo viel als möglich das358 Vollkommene dargeſtellt werden? die Mangelhaf - tigkeit in der Ausführung ſindet ſich ohnehin bei allem was menſchlich iſt, von ſelbſt. Und fühle nicht auch ich das, die ich doch losgebundener und freier von hindernden Verhältniſſen bin als tauſend andere? Laß Dich das alſo nicht irren, liebſte Emma, daß Du nicht alles kannſt. Unſer Stre - ben ſoll und darf auf nichts geringeres gerichtet ſeyn, als auf das Vollkommene. Glück, Lage, Verhältniſſe, Kräfte beſtimmen bei den meiſten andern Dingen was wir von dem vorgeſteckten Ziele erreichen: ob die Krone vom Adler, ob ſein Herz, oder nur das Zweiglein, das er in der Klaue hält? Bei der Erziehung nicht alſo: da muß das Herz getroffen werden. Auch Dir meine Emma muß das weſentliche Eine in dieſer Sache ganz gelin - gen: und iſt dieſes Eine gelungen, iſt der Kern, iſt das Weſen des Weſens in Deinen Kindern zur Vortrefflichkeit gediehen, mags denn auch am min - derweſentlichen hin und wieder mangeln.

Vielleicht iſt es auch nur Mutterängſtlichkeit, die Dich zweifeln macht. Sind nicht gerade die359 trefflichſten Meiſter in jeder Kunſt oft am wenigſten mit dem, was ſie leiſteten, zufrieden? Wer weiß, haſt Du nicht meine Forderungen in den meiſten Punkten übertroffen. Alles, was ich von Dei - nen jüngern Kindern weiß, weiß ich durch Dich ſelbſt: und kannte ich nicht von jeher Deine zarte, oft zaghafte Beſcheidenheit; muß ich nicht ver - muthen, daß mich der Anblick von dem, was Deine jüngſten Kinder geworden ſind, auf das ſchönſte überraſchen werde, wenn das günſtige Ge - ſchick endlich zu unſerm Wiederverein ja und Amen ſpricht? An dieſem Einen, wodurch alles andere überglänzt wird, an dem reinen Sinne für das Schöne, Wahre und Gute kann es Deinen Kin - dern unmöglich fehlen, eben ſo wenig, als an der Richtung ihres Willens zu dem, was ihrem in - nern Sinne ſich einmal tief als wahr, als ſchön und als gut eingeätzt hat. Lebe wohl!

360

Fünf und achtzigſter Brief.

Ein kleines Waislein iſt für Seraphine zur be - ſtändigen Gefährtin gefunden, und bereits aufge - nommen worden. Es heißt Milly (Emilie), und iſt drei Jahre älter als Seraphine. Milly iſt von engliſchen Eltern hier geboren. Die Mutter ſtarb bei der Geburt. Der Vater folgte ihr bald. Milly ward zu einer Amme auf’s Land gethan, wo eine Schweſter des Vaters die Aufſicht behielt. Die Tante hat ſich kürzlich verheirathet, und mir die Sorge für die Kleine förmlich übertragen.

Für Seraphine iſt es ungemein wohlthätig, daß ſie eine Geſpielin erhalten. Und für mich und uns alle dazu. Milly hat aber ein gewalti - ges Trotzköpfchen, und nie hatte ich es zu thun mit einem ſo ganz unkindlichen Starrſinne. Jch will und ich will nicht, ſind ihre gewöhnlichſten Redeformen. Dieſer ſtarre eiſerne Sinn wird mir Seraphine ſanft machen helfen, und zwar auf eine andere Weiſe, als die trunkenen Heloten die freien ſpartaniſchen Knaben zur Nüchternheit361 gewöhnen halfen. Jch meyne, nicht durch den Abſcheu an der Sache, denn das wär eine ge - fährliche Kur; die wird leicht zum Abſcheue gegen die Perſon.

Seraphine liebt jetzt ſchon das kleine ſonderbare Perſönchen leidenſchaftlich, obwohl Milly ſich aus Seraphinen nicht gar viel macht. Ein Kind, wie[S]raphine, thut aus Liebe und um der Liebe wil - len alles. Wie aber Milly’s eiſerner Sinn ge - beugt werden ſoll? das iſt eine andere Aufgabe; denn noch hat ſie gar kein Bedürfniß geliebt zu werden.

Jm großen Zimmer habe ich beiden Kindern wie - der ein Plätzchen eingehegt, welches ſie mit ihren Spielſachen bekramen dürfen. Da halt ich ſtrenge Polizey, daß keines das andere beeinträchtige. Milly iſt bis zur Pedanterey ordentlich und rein - lich von ihrer Tante gewöhnt, und Seraphine darf ihr nichts von ihren Sachen anrühren. Wenn ich ſelbſt einmal nicht bei ihrem Spiele präſidiren kann, ſo treton Mathilde und Hertha wechſels -(46)362weiſe an meine Stelle. Mathilde hat jetzt viel Gewalt über die Kinder. Jhre hohe Miene, ihr ſanfter Ernſt, und ihre ſchöne Milde verſchaffen ihr einige Autorität. Mit Hertha, dem Spaß - vogel, wollen ſie immer ſcherzen und necken. Und ſie weiß nicht, wenn es Zeit iſt, aufzuhören, und treibt das Spiel zu weit.

Aber die Liebe, womit alle Kinder Jda anhän - gen, iſt ganz anders, und konnte nur einem ſehr liebevollen Gemüthe in dem Grade zu Theil wer - den. Viel anders ſind dieſe beiden Kinder, als Jda und Mathilde in dem Alter waren, und ſo wollen ſie auch auf eine gar andere Weiſe behan - delt ſeyn. Das ſchöne Gleichmaaß aller Kräfte findet ſich bei keiner ſo, wie ich es bei Jda fand. Feurig ſind beide. Nur daß Seraphine mehr Zartheit und Jnnigkeit, und Milly mehr Energie des Willens und regere Phantaſie hat. Sera - phine zeigt viel Wißbegierde. Milly ſchaut die Dinge faſt noch ſchweigend an, und ohne ihr großes Feuerauge und ihren Trotz würde man ſie vielleicht bei aller Heftigkeit für indolent halten363 müſſen, welches ſie doch ſo gar nicht iſt. Über ein ihr unverſtändliches Wort kann ſie lange grü - beln, ehe ſie nur fragt, und hat ſie gefragt, und die Antwort iſt ihr nicht klar, ſo kann ſie vor Hef - tigkeit mit dem Fuß ſtampfen. Vor einigen Ta - gen fing ſie an die Puppe zu ſchlagen, als Hertha ihr nicht ſagen wollte, wo die Sonne eigentlich wohne, und warum ſie alle Abend denſelben Weg nach Hauſe nehme, wenn ſie unterginge? Warum ſchlägſt Du die Puppe? rief ich ihr von meinem Schreibtiſch zu. Weil ſie ſo dumm iſt, und nicht reden kann, war die Antwort. Die Puppe darf wohl dumm ſeyn, ſagte ich ihr, die Menſchen dürfen das aber nicht, die ſollen klug und verſtän - dig werden, und ſanft dazu und freundlich. Jch will aber nicht freundlich ſeyn die drei letzten Worte blieben ihr auf der Zunge; denn ich ſahe ſie unverwandt an, und ſie wagte es nicht, ſie auszuſprechen. Willſt Du immer freund - lich und verſtändig ſeyn? fragte ich, mich an Se - raphine wendend. Ja, rief das Kind, und fiel mir um den Hals. Dann lief ſie zu Milly, ſtrei - chelte ſie ſanft auf den Backen, und ſagte bittend:364 Milly muß auch artig ſeyn! Geſtern war Milly’s Geburtstag, und wir hatten ſie Morgens mit vie - len Blumen und einer Menge Spielſachen be - ſchenkt. Ehe es Mittag war, hatte ſie alles ſchon wieder ausgetheilt, bis auf ein kleines engliſches Buch: little Jack, worauf ſie, ohne leſen zu können, einen großen Werth legte. Neulich Abends rief ſie mir ſpät noch aus ihrem Bettchen zu: ich kann gar nicht ſchlafen, Tante. Und warum kannſt Du nicht ſchlafen, Kind? Weil die kleinen Thiere alle laufen können, und die großen Bäume gar nicht. Du weißt ja, Milly, daß die Bäume feſt ſind in der Erde. Aber warum müſſen denn die Bäume immer ſo feſt in der Erde ſtehen? Weil ſie nicht leben, und ſich nicht halten könnten, dar - um mußten ſie mit ihren Wurzeln in der Erde be - feſtigt ſeyn, damit ſie nicht umfallen, und die Vorübergehenden todtſchlagen. Aber warum leben ſie denn nicht: es wäre doch viel beſſer, wenn ſie auch frei herumlaufen könnten, wo ſie wollten. Die Welt iſt ein großes Haus, liebe Milly. Jn einem großen Hauſe müſſen allerlei Geräthe ſeyn für die Bewohner des Hauſes. Du haſt mich ja365 noch nie gefragt, warum der Tiſch kein Bett und das Bett kein Ofen ſey? Der Tiſch und der Schrank, der Stuhl, das Bett und der Ofen müſſen da ſeyn, und allerlei liebe Hausthiere dazu, wenn es einem im Hauſe recht wohl werden ſoll. Das ſcheinſt Du ſelbſt einzuſehen. Oder würdeſt Du es gern haben, wenn auch Tiſch und Stühle und alle Geräthſchaften lebten, und im Hauſe luſtig durcheinander liefen? Die Jdee der lebenden Hausgeräthe machte die närriſche Kleine gewaltig lachen, und ſie ſchlief bald darauf gar vergnügt ein.

Das Reiben dieſer ſehr verſchiedenen Naturen aneinander muß für Milly wie für Seraphine ge - deihlich werden. Milly’s ſeltſamer Geiſt gibt mei - nen Jdeen über Erziehung täglich neuen Zuwachs. Feſter als je überzeuge ich mich, daß bei ſo unge - meinen Kindern nur ſehr wenig Poſitives anzu - wenden ſtehe. Solchen kann eigentlich nichts ge - geben werden. Es iſt aber höchſt nöthig zu wa - chen, daß ihre ſprudelnde Quelle nicht verſtopft noch getrübt, noch mißleitet werde. Mißleitet oder getrübt bringt ſie Unheil. Auch wird es be -366 ſtändiger Aufſicht bedürfen, daß die gebietende Engländerin den deutſchen Trotzkopf nicht bitter mache, und beſonders daß Seraphinens erſte Liebe zur Geſpielin, rauh zurückgeſtoßen, nicht die Kraft erzeuge, ſich ohne Liebe zu behelfen. Eine traurige Kraft im Weibe, wenn ſie je Grundkraft ihres ganzen Weſens werden könnte. Beide Kinder erkennen meine Autorität, aber auch nur meine unbedingt an. Von jeder andern appelliren ſie wenigſtens. Unſägliche Mühe wand - te Milly neulich an, die Magnetnadel in meinem kleinen Kompaſſe nach ihrem Sinne zu richten, die natürlich immer wieder nach Norden ſtrebte, wenn ſie ſie nach Süden gerichtet. Die ge - horcht keinem Menſchen, ſagte Mathilde, ein we - nig unvorſichtig zu ihr. Jch bin auch eine Mag - netnadel, war ihre ſchnelle Antwort. Gehorcht die Nadel auch der Tante nicht? hört ich aus meinem Kabinette ſie fragen. Nein, ſagte ich, ſie zu mir rufend, die muß immer nach Norden zeigen, die hat gar keinen Willen. Warum muß ſie? Das weiß ich nicht, Milly. Aber das weiß ich, daß verſtändige Kinder gern gehor -367 chen wollen, wenn ſie auch nicht müſſen. Wem gehorchft denn Du, liebe Tante? Mei - nem Vater. Wo iſt Dein Vater? den habe ich ja gar noch nicht geſehen. Jch auch nicht, aber ich weiß, was er befohlen hat, und ich ge - horche ihm gern. Wie hat er Dir denn et - was befohlen, wenn Du ihn nie geſehen? Er hat es vor langer, langer Zeit in ein großes Buch ſchreiben laſſen, und das Buch habe ich geleſen. Aber gehorchſt Du ihm denn gern? Ja, Milly, denn ich habe ihn ſehr lieb. Warum haſt Du ihn ſo lieb? Weil er ſo gut iſt, und uns allen täglich Gutes thut. Auch mir, Tante? Ja, Milly. Was hat er mir denn Gutes gethan? Sind dir deine Augen lieb, Milly? Ja wohl, ohne die könnt ich nicht wiſſen, wo ich bin? Auch deine Oh - ren? Ja freilich. Auch deine Zunge? deine Hände und Füſſe? O wie Du ſo fra - gen kannſt? Nun das alles iſt ein Geſchenk des unſichtbaren Vaters, dem du und alle alles andere verdanken. Jch weiß aber nicht, was er befohlen har? Eben weil kleine Kinder das368 noch nicht wiſſen können, gehorchen ſie ihren ſicht - baren Eltern, und wenn die nicht mehr ſind, ſo gehorchen ſie denen, die ſie an Eltern ſtatt lieben und pflegen, und ihnen wohlthun. Milly ward ganz ſtill. Und ich entließ ſie. Am andern Mor - gen, als ſie aufwachte, ſagte ſie ſtatt des guten Morgens: ich bin doch keine Magnetnadel, denn die muß immer nach der einen Seite hin, ich muß aber nicht, ich will nun einmal gehorchen, aber keinem andern Menſchen, als der Tante, das ſage ich euch allen. Dies iſt ihr vorläufig zugeſtanden.

Da ſiehſt Du mich alſo wieder in voller neuer Thätigkeit, und beſchäftigt wie noch nie. Wäre Milly nur ein Jahr älter, als ſie iſt, dann möcht ich ſchon ihre Erziehung nicht mehr übernehmen, und dürft es auch nicht, weil es auf Seraphinen verderblich wirken müßte. Jſt eine ſtarke weib - liche Natur einmal bis zu einem gewiſſen Grade in Eigenwilligkeit erhärtet, dann ſcheitert die - dagogiſche Kunſt an ihr ganz nothwendig. Alles, was ſie beugen ſoll, macht ſie nur noch widerſtre -369 bender. Für ſolche gibt es außer dem Schickſale keine Erzieher. Jm Kampfe mit dieſem müſſen ſeine Kräfte ringen, und entweder ſiegen oder untergehen. Jetzt hoffe ich von der kleinen Ama - zone noch alles. Lebe wohl, Emma!

Sechs und achtzigſter Brief.

Die ſechs glücklichen Menſchen wollen Dir ſelbſt ein Stück aus ihrem Triumphgeſange vorſingen. Mögen ſie ſchreiben, wenn ſie können! Tags wenn es ſchön iſt, ſchweifen die drei Pärchen um - her, Mittags und Abends ſammeln ſie ſich wieder bei mir, um in unſer aller Geſellſchaft des vollkommenſten Alleinſeyns zu genießen. Geſpeiſ’t wird im Nu, und dann meynen ſie etwas recht’s gethan zu haben, wenn ſie, tief in einander ver - loren, bei uns ſitzen bleiben. Hertha meynte, ſie wollte in ihrem Leben ſo nicht lieben, daß alle andere Menſchen dabei zu kurz kämen. Kann man doch kaum alle Tage einen gnädigen Blick(47)370von den drei Königinnen erhaſchen. Ja, wenn’s nur Königinnen wären, ſo brauchten ſie wenig - ſtens ſchleppentragende Pagen, oder einen Spaß - vogel, und müßten ordentlich eſſen und trinken Göttinnen ſind es, die alles, alles genug haben, und von Luft und Nektar und Ambroſia leben. Mathilde ſagt nicht, wie ſehr ſie Jda entbehrt, ſie will es ſtill verſchmerzen. Auch ſchafft ſie ſich täglich neue Beſchäftigung. So bat ſie mich kürzlich, ihr Gelegenheit zum Spaniſchen zu ver - ſchaffen. Jch habe jetzt einen Meiſter für ſie ge - funden. Auch Elvirens Töchter nehmen Theil, und ſo gibt es einen neuen Wetteifer. Hertha hat nicht Geduld genug dazu. Den Bruder zu necken, dazu iſt ihr aller Muth geſunken. Und mich freut es, daß ihr das höchſte Lebensglück, ſo wie der tiefſte Schmerz Ehrfurcht gebieten. Milly und Seraphine ſind das ſeltſamſte Kinder - pärchen ſo gar und ganz verſchieden und doch in vielen Stücken wie für einander geſchaffen, Seraphine kann faſt nicht mehr ohne Milly ſeyn. Seraphine war von ihrer einſamen Mutter faſt allzuſehr zum Küſſen, und zu kleinen Liebkoſun -371 gen verwöhnt; es war ihr ein zu großes Bedürf - niß geworden. Milly hat unter vielen Eigenhei - ten auch die, niemanden küſſen zu wollen. Auch mir reicht ſie zum guten Morgen und zur guten Nacht bloß die Hand: noch nie hat ſie etwas mehr gethan. Daß ich ſie in Rückſicht auf mich und alle andere dabei laſſe, verſteht ſich. Nie ſoll ein Erwachſener beim Kinde um Liebkoſungen betteln; und das aus vielen Gründen nicht, von dem ein einziger genug wäre. Aber wenn nun die zarte, verwöhnte, empfindli - che Seraphine die ſpröde Milly oft ſo zärtlich um einen einzigen ganz kleinen Kuß, nur einen, flehet, und ich es ihr nicht begreiflich machen kann, warum man den von niemand ſo fordern ſoll, dann ſtehe ich oft bei mir an, ob ich nicht für Seraphine bei dem kleinen Trotzkopfe bitten ſoll. Aber warum denn die Milly mich gar nicht küſſen will? ich ſie doch ſo lieb habe kam ſie heute klagend zu mir.

Jch. Liebe Seraphine, geheſt du gern ſchlafen, wenn du nicht müde biſt? Nein, Tante, dann ich nicht gern ſchlafen gehe. Wenn man dir zu372 trinken bietet, und du keine Luſt haſt, magſt du dann gern trinken? Nein, Tante. Nun ſiehe, Milly küßt nicht gern, weil ſie keine Luſt zum Küſſen hat.

Seraphine. Aber ich habe Luſt, o ich woll - te ſo gerne, daß Milly auch Luſt hätte, mich immer lieb zu haben. Vielleicht daß ſie es ein andermal gern thut, wenn du ſie gar nicht mehr darum plagſt. So oft Milly mit mir längs dem Corridor geht, der mit Landkarten behängt iſt, bleibt ſie vor der Karte von England ſtehen, und ob ſie auch keinen Namen leſen kann, kennt ſie alle Grafſchaften, und geht von Cambridge, wo ihre Eltern wohnten, nicht eher weg, als bis ſie mir die Gegend ſo genau beſchrieben, als ob es unſere nächſte Nachbarſchaft wäre. Und wenn ich ſie recht zutraulich machen will, darf ich ihr nur Stand halten, ſo lange ſie Luſt hat zu erzählen. Jmmer ſchließt ſie damit, wenn ſie groß ſey, müſſe ſie dahin. Nun fürchtet ſie ſich aber vor gar nichts, als vor dem Waſſer. Als wir neulich eine Fahrt auf dem See machten, war ſie die einzige, die nicht mit wollte. Jch373 führte ſie nach der Karte von Europa, und zeigte ihr England darauf, indem ich ſie fragte, wie willſt du denn dahin kommen, wenn du groß biſt? du ſieheſt doch, daß England eine Jnſel iſt, zu der man nicht anders als zu Waſſer gelangen kann. Sie forderte Hut und Handſchuh, und ſagte: Laß mich nur mitfahren, ich will ſehen, daß ich mich nicht mehr fürchte. Demungeachtet zitterte ſie, als wir einſtiegen, ſo heftig, daß ich ſie noch einmal fragte: Willſt du auch lieber zu Haus bleiben? Sie blieb aber ſtandhaft bei dem Verlangen mitgenommen zu werden. Jch nahm ſie auf meinen Schooß, und ſchloß ſie feſt in die Arme, damit ſie das Schwanken des Fahrzeugs nicht ſo unmittelbar fühle. Sie hielt aus ohne eine Klage. Seraphine, die mit ihrer Mutter oft den See befahren, liebt das Waſſer, und jubelt laut vor Luſt wenn ſie von einer ſolchen Fahrt hört. Sey doch nicht bange, liebe ſüße Milly, Mut - ter Dich ja feſthält, ſagte ſie immer tröſtend, als ſie Milly in meinen Armen beben ſah. Es that eine ſonderbare Wirkung auf Seraphine, den Starrkopf hier ſo zahm und gar verzagt zu ſehen. 374Glaubſt Du Emma, daß dieſe entſchiedene Schwä - che an der faſt allzuſtarken Seele mir lieb und ſehr lieb iſt? Dennoch werde ich ſie nicht hegen und noch weniger nähren, ſondern ſie ihr, wenn gleich langſam bemeiſtern helfen, aber auf dieſem Grunde auch manches anbauen, was in dem ganz furcht - loſen unabhängigen Gemüth nicht ſo leicht gedei - hen möchte. Jetzt weiß ich den Eingang zu dem ſtolzen Herzen. Als Gefühl der eignen Schwäche, der Abhängigkeit von den großen Naturgewalten, kann dieſe bange Verzagtheit das Mittel zu ſchö - nern heiligern Regungen in der Seele werden. Auch dünkt mir, Milly wäre ſeit jener Fahrt ein wenig milder und biegſamer als zuvor.

Als ſie vor einiger Zeit einmal gefragt ward, ob ſie auch etwas lernen wollte, war ihre Ant - wort: ich will nicht etwas, alles will ich ler - nen. Und wenn das nun möglich wäre, warum wollteſt Du denn alles? fragte ich, das Wort nehmend. Dann könnte ich mir alles ſelbſt ma - chen, und brauchte keinen Menſchen zu bitten. Kann man denn alles von ſich ſelbſt lernen? fragte375 ich ſie wieder, oder braucht man auch anderer Bei - ſtand? Sie ſann ein Weilchen nach, dann ſagte ſie: nun ſo will ich alles das lernen was Du kannſt; dann brauche ich doch nur eine Perſon zu bitten. Und Dich bitte ich lieber wie alle andere Menſchen. Aus demſelben Grunde, weil ſie nie - mand bitten will, hat ſie ſich auch gewöhnt, beim Anziehen und Ausziehen aller Hülfe zu entbehren. Sie macht ſich alles ſelbſt, auch das Mühſamſte. Lebe wohl, liebſte Emma!

Sieben und achtzigſter Brief.

Endlich alſo iſt die Erfüllung von unſer aller Hauptwunſche nahe. Jch werde Dir alſo auch nicht viel mehr zu berichten haben, da ſich alles was uns beiden wichtig iſt, ſehr viel beſſer münd - lich verhandeln läßt, als ſchriftlich. Wie viel traulicher ſind ſolche Unterhaltungen, wo man ſich von Angeſicht zu Angeſicht ſchaut, und wo zwiſchen Wort und Antwort nicht Wochen oder gar Mon -376 den verfließen, und die mittheilende Gegenwart ſchon zur Vergangenheit geworden, ehe das Mit - getheilte die Freundin erreicht. Einen Vorzug hat freilich der ſchriftliche Gedankenaustauſch, wie Du behaupteſt, vor dem mündlichen, nemlich das Bleibende alles Geſchriebenen. Es iſt doch eine ſchöne Zauberey, durch die der flüchtige Geiſt aufs Papier gebannt wird, der im Hauch des geſpro - chenen Wortes zu ſchnell verflattert, ſo leſe ich in Deinem Briefe, in welchem Du das nahe Ende unſers Briefwechſels bedauerſt. Jch kann Dir nicht ganz unrecht geben. Die Aufnahme welche meine Briefe bei Dir gefunden, könnte mich ſtolz machen, wenn ich Deine liebe Partheilichkeit für mich nicht kennte. Nur der Gedanke an den Druck dieſer Briefe, welchen Dein Gemal ſo ſehr wünſcht, der Gedanke will mir noch nicht lieb werden. Euer Plan, euch hier bei uns anzu - bauen, hat meinen vollen Beifall, durch ihn wer - den faſt alle meine Wünſche für die Gegenwart erfüllt. Kathinka und Virginia werden ſich mit meinem Häuflein bald befreunden. Milly ſogar freut ſich mit Seraphine um die Wette, und kann377 es gar nicht erwarten, bis beide kommen. Se - raphine hat das ſchönſte von ihren Spielſachen für ſie ausgeleſen. Mathilde fragte mich jüngſt ganz im Vertrauen, ob die Mama ſie nun wohl lieb haben könne? Das kann und das muß ſie gewiß, ſagt ich, ſie freudig in meine Arme ſchließend. Aber wer wird mich armen Schelm nun wollen? fiel Hertha lachend und mit Thränen im Auge ein. Der Bruder braucht mich nun nicht mehr, der iſt entſetzlich glücklich. Und die Mama hat nie einen Spaßvogel nöthig gehabt. Willſt Du mich denn noch haben, Du goldene Tante? So lange Du willſt, ſollſt Du meine luſtige Hertha bleiben. Auch dieſes ſonderbare Geſchöpf wirſt Du lieben müſſen, gute Emma. O wäreſt Du erſt da! Jch habe, glücklich genug, ein Haus dicht an dem unſern, für euch gefunden, welches groß, heiter und ſelbſt elegant iſt, und einen ſchönen Garten hat, der viel größer iſt, als der unſrige. Da werden wir alſo künftig nur eine Familie ausmachen. Schon wird alles zu eurem Empfang bereitet. Seraphine ſagte, als ſie die hohen geräumigen Zimmer ſah, das muß ein groſ -(48)378ſer Vater und eine ſehr hohe Mama ſeyn, die da wohnen ſollen. Sie hat mich euch wohl ſcherzend unſere Türken nennen gehört, und jetzt ſcheint ſie Türken und Rieſen zu verwechſeln, zu welcher Verwechſelung ſie durch die ſehr großen Zimmer und den großen Garten veranlaßt wird.

Kürzlich gingen wir eines Abends im Mond - ſchein ſpazieren. Der Mond ging hinter eine Wolke, und Jupiter trat glänzend hervor. Sieh, Mutter, rief Seraphine, da kommt ein kleiner allerliebſter Mond: iſt das des großen ſein Sohn? Alle lachten. Die Kleine ſah mich verwundert an, und konnte ihr Lachen nicht begreifen. Nein, ſagte ich ernſthaft, der große und der kleine Mond haben kein Leben, und können alſo auch keine Kin - der haben. Damit war ſie zufrieden. Willſt Du auch wiſſen, mein Seraphinchen, wie der kleinere heißt, ſo frage einmal Mathilde, die weiß es. Mathilde nannte ihr den Namen, und zeigte ihr den Berg, über welchen ſie ihn Abends um dieſe Zeit für jetzt immer wiederfinden könnte, und ſeitdem nennt die Kleine den Stern Jupiter.

Jda, Betty und Clare ſenden euch tauſend und379 aber tauſend Liebes entgegen. Zum Schreiben iſt ſelbſt Jda zu glücklich. Lebe wohl!

Acht und achtzigſter Brief.

Dies iſt alſo das letztemal, daß ich die Feder zur Hand nehme, um mit Dir, meine geliebte Emma, zu reden. Auch ſoll es nur ein kurzer Abſchiedsbrief von unſerm Briefwechſel ſeyn. Meine Hand verſagt mir ihre Dienſte. Mein Geiſt und Herz ſehnen ſich nach dem lebendigen Wort, und nach dem lang entbehrten Schauen Deines Angeſichtes. Deinen letzten ſchriftlich ge - äußerten Wunſch kann ich aber nicht erfüllen. Wollt ich auch gern, wie Du es wünſcheſt, alles in meinen Dir geſchriebenen Briefen, was des Bewahrens werth ſeyn mag, in einem gedräng - ten Auszuge in dieſen letzten zuſammenfaſſen, um dieſen dem Druck zu übergeben: ich fühle, daß ich es jetzt nicht kann, und vielleicht nie können werde. Lieber alſo gebe ich Deines Mannes Begehr einer Einwilligung zum Druck des Ganzen nach; wo es dann bei jeder Mutter ſtehet, ſich das brauchbare ſelbſt herauszuziehen. Du und die Welt, in wel - cher Deine Kinder bald auftreten werden, mögen richten, ob der Geiſt und Sinn der rechte war, in380 welchem ſie gebildet wurden. Machen Jda den Platov, Clare den Bruno, Betty den Woldemar nicht ſo glücklich, als wir es mit Recht von ihnen fordern; bilden ſie den Kindern, welche Gott ih - nen ſchenken wird, nicht ganz die reine Geſinnung und Grundſätze an, mit welchen ihr Geiſt und Ge - müth fürs Leben ausgeſtattet wurden: ſo brauchte ich dennoch nicht alles verloren zu geben, ich könnte mich auf ſo manches entſchuldigend berufen; aber ich will verloren haben, wenn dieſe drei nicht Stand halten. Und dieſe ſüße Hoffnung, ja die Gewiß - heit der ſteten Fortpflanzung des Wahren, Guten und Schönen iſt es, die mich über die Flüchtigkeit des irdiſchen Daſeyns ſo ganz beruhigt. Dieſe Art des Fortlebens nach dem Hierſeyn macht das ſchauervolle Gerippe des Todes verſchwinden. Ja Emma, es entzückt mich ein Gedanke: Wer auch nur in einer Seele das Göttliche hervorgerufen und zu Leben und That entzündet hat, deſſen Verſchwinden aus den blühenden Auen des Lebens iſt kein wirkliches Sterben, und was er der Erde läßt, iſt mehr als ſie ihm geben oder vergelten konnte. Lebe wohl! Jch bin zu ernſt und zu froh, um weiter zu ſchreiben.

[381]

Beilage zur Ergänzung des Hiſtoriſchen in vorliegendem Gemälde.

[382][383]

1.

Die Familie von D. war nun aus K. zurückge - kehrt, und hatte ſich, mit Selma und ihrem Häuf - lein vereint, einſtweilen am Genferſee nieder - gelaſſen.

Der junge von D. hatte die ihm beſtimmte Pro - bezeit glücklich beſtanden; er lebte mit ſeiner Betty auf einem ehrenvollen Poſten, in einer der ange - ſehenſten Städte von Süddeutſchland, wo beide einer allgemeinen Liebe und Bewunderung genoßen.

Jda und ihr Gemal lebten ganz in der Nähe der Eltern, und Selma genoß durch ſie die reinſte Freude, die Menſchen einander gewähren können. Wenn das, was Selma gethan, noch eines Loh - nes bedürfte, ſo werde ihr der ſchönſte in über - ſchwenglichem Maße.

Clärchen war mit ihrem Bruno zum Vater nach Neuenburg gezogen. Selma vollendete Hertha’s und Mathildens Geiſtesbildung, und während384 ihr dieſe beiden bei Seraphine und Milly behülf - lich waren, leitete ſie auch Virginiens und Ka - thinka’s Erziehung. So erhielt ihr Leben, indem es ſanft dahingleitete, immer neuen Reiz und neue Bedeutung.

Nach einem Jahre warb um Mathilde einer der jungen Barone aus der Nachbarſchaft von Neuen - burg, der ſie auf ſeiner Rückkehr aus Jtalien wie - der geſehen, und ihren ganzen Werth innig em - pfunden. Sie ward die Seine. Hertha verlor den Vater, der noch kurz vor ſeinem Tode all ſein Vermögen mit ſeinen Tiſchfreunden verſchwendet. Seine Kinder waren dadurch nicht unglücklich, ja Bruno und Clärchen wären höchſt glücklich ge - weſen, hätte der Himmel ihnen den einen ſüßen Wunſch nicht verſagt, der ihr Herz in uuaufhör - lichem Sehnen bewegte. Aber es ſchien, als ſolle er auf immer unerfüllt bleiben. Eines Abends als beide in lieber Traulichkeit mit dem Vater bei einander ſaßen, ward Clärchen wie auf einmal ge - tröſtet, ungewöhnlich heiter. Jch habe es gefun - den, ſagte ſie, was ich thun ſoll; denn ich muß ja385 auf eine Weiſe wieder erſtatten, was Tante Selma an mir gethan hat. Betty und Jda und Mathilde drücken jede ein Kindlein ans Herz, und können es dem vergelten, was doch kein anderer Dank vergüten kann. Jch will von nun an an fremden Kindern thun, was Tante Selma uns that, und was die lieben Dreie an den ihrigen abtragen. Willſt Du es, mein Bruno, und willigſt auch Du ein, mein theurer Vater, ſo nehmen wir einige ganz junge Kinder zu uns, die das Unglück hat - ten, ihre Mütter früh zu verlieren. Auch möchte ich ſolche Kinder nehmen, denen das äußere Glück überall nie gelächelt, damit ſie bei uns ſeine Gunſt entbehren lernten. Wie wollen wir denn aber eine ſolche Familie erhalten? fragte Bruno. Wie wür - den wir unſere eigene erhalten, antwortete Clare, wenn uns der Himmel eine recht zahlreiche zuge - dacht hätte? Dann müßten wir ihm vertrauen, daß er uns Mittel anwieſe, ſie zu erhalten. Nun das wollen wir auch in dieſem Falle. Jndem klopfte der Briefbote aus der Stadt. Was er brachte war ein Brief von Jda an Clärchen. Clär - chen las und bethaute ihn reichlich mit Freuden -(49)386thränen. Da ſehet, ihr Lieben! Nimm, lieber Bruno und lies. Bruno las laut: Clare, meine liebſte Clare! Es iſt heute mein Geburtstag, wie Dir wohl bekannt iſt; aber wie er gefeiert worden, das kannſt Du in Deiner großen Ferne nicht wiſ - ſen, und ich muß, ich muß mein allzuglückliches Herz bei Dir, meine Clare, entladen.

Früh, als ich erwachte, fiel mein Blick auf ein Bild: Du erinnerſt Dich doch noch des ſchönen Bildes der Liebe in Caſſel? von dem wir nicht wieder wegfinden konnten eine Mutter halb kniend umringt von liebenden Kindern. Du weißt, wie wir alle von dem Bilde gefeſſelt waren; dies hat mein Platov für ſeine Jda kopieren laſſen, und Woldemar ein Blatt darunter gelegt, von ſeiner Hand, die Mutter, überſchrieben. Mein ganzes Zimmer war voll duftender Blumen. Schöner, dacht ich nun, könne es heute gar nicht werden. Da traten der Vater herein, und die Mutter. Jch hielt meine ſüße Angelika auf dem Schooße. Ein unbeſchreiblich väterlicher Blick fiel auf mich und das Kind, dann auf das gegenüber387 hängende Bild, dann zum Himmel, und ich ſahe das Vaterauge in feuchtem Glanze. Er verbarg den naſſen Blick, indem er mich mit dem Kinde umſchloß; aber ich fühlte einen Tropfen auf mei - ner Wange o Clare! wie war ich ſo ſelig! es war ja eine Freudenthräne welche köſtliche Perle für Deine Jda! Die Mutter konnte nichts, als mich ſtill an’s Herz drücken.

Nach einem Weilchen ſagte der Vater, ſeinen gewöhnlichen Humor wieder findend: Mit euch allzuglücklichen Menſchen iſt nichts anzufangen; man kann euch nicht einmal etwas ſchenken, ihr habt alles genug und vollauf in eurem überfrohen Herzen. Andern jungen Weibern kann man doch auch eine Freude machen, mit ein Paar brillan - ten Ohrgehängen, mit einem ſchönen Perlenhals - bande, oder ſonſt etwas, wodurch die andern ver - dunkelt werden können; aber euch hat die böſe Tante Selma ſo reich gemacht, daß man bei euch gar nichts der Art anbringen kann. Billig ſollten die Juwelier und ſämmtlichen Bijouteriehändler die Tante verklagen, denn ſie müſſen ja alle verar -388 men, wenn eure unſichtbaren Reichthümer all den herrlichen Schmuck aus der Mode bringen. Hier, liebe Jda, haſt Du ein papiernes Ange - binde, da Du es doch ſo gern mit Papier zu thun haſt. So ſagend gab er mir einen Blick: o daß ich ihn beſchreiben könnte! Und was warf er mir in den Schooß? Ein Papier, deſſen Werth hinreichend iſt, zu einem Stiftungsfond zur Er - ziehung ſechs armer mutterloſer Kinder. Sel - ma, die von allem Zeuge war, und ihrer ge - wohnten Art nach nichts ſagte, und in ſprachloſer Freude verſunken war, ſtand jetzt auf, und reichte meinem Vater die Hand. Sehr bewegt ſagte er: Jch weiß, daß ich hier in Jhrem Geiſte und Jh - rer werth gehandelt. Auch Jhnen darf ich ja kei - nen andern Beweis meiner Ehrfurcht und Dank - barkeit geben. Jetzt trat auch Betty herein an Woldemar’s Hand. Sie überreichte mir eine Verzichtakte auf ihren Antheil an dem mütter - lichen Vermögen, um ſie Dir, meine holde Clare, zu ſenden. Und ſo iſt es auch recht, und muß ja ſo ſeyn, da Dein Bruno alles verloren, und Betty und Woldemar viel mehr als genug haben. Zu389 dem Stiftungsfond für arme Kinder hat Platov auch von dem Seinen noch hinzugethan. Und nun, meine beſte Clare, meine traute holdſelige Schweſter, hilf oder rathe zur Ausführung. O wenn Du es ſelbſt wollen könnteſt! Haſt Du doch alles, was dazu gehört, in reicherem Maße als wir andern erhalten. Möchteſt Du es wollen! Sage, goldne Schweſter, willſt Du Mutter der Verlaſſenen werden? Dein Ja ſoll mir das ſchön - ſte Angebinde ſeyn. Lebe wohl, wohl, wohl! Man drängt mich aufzuhören.

Deine ganz eigene Jda.

Nun, mein Vater, und Du, beſter Bruno: nicht wahr, ich ſoll? Jch würde auch ohne die - ſen Brief dafür geſtimmt haben, ſagte der Vater. Und Bruno: jetzt kann es nur darauf ankommen, in unſrer Gegend umher zu ſehen nach den kleinen mutterloſen, unglücklichen Kindern, deren Auf - nahme eine wirkliche Wohlthat für ſie werden kann. Und damit Du, theurer Bruno ſieheſt, wie lange ich dieſen Wunſch ſchon liebend im Her - zen bewege, ſo will ich Dir meinen Plan vorle -390 gen, den Tante Selma für mich auf den Fall ent - worfen, wenn Du und der Vater zur Ausführung einwilligen würden. Clare zog ein Heft aus ih - rem Pulte, und reichte es dem Bruno. Bruno las. Es war folgenden Jnhaltes:

2. Plan einer Erziehungsweiſe für Kinder ohne Eltern und Vermögen.

Sechs, acht, höchſtens zehn kleinere Mädchen können auf einmal aufgenommen werden. Sie müſſen aber noch ſehr jung ſeyn, damit ihre Er - ziehung ein Ganzes werde. Kleidung, Wohnung, Speiſe muß höchſt einfach, ſauber und reinlich ſeyn. Und darf hierin kein Unterſchied geſtattet werden, als den der verſchiedene Geſundheitszu - ſtand fordern dürfte. Mit gleicher freundlicher Liebe müſſen ſie alle behandelt werden, damit in allen der Keim der Liebe lebendig erhalten werde. An eine gewiſſe geſetzmäßige Ordnung müſſen ſie früh gewöhnt werden, wie an regelmäßige Thä -391 tigkeit, ſobald ſie das Alter erreicht haben, wo von irgend einer Selbſtthätigkeit die Rede ſeyn kann. Frühe müſſen ſie gewöhnt werden, ſich ſelbſt zu bedienen, und ihren kleinen Bedürfniſſen (wiewohl unter ſteter Aufſicht) ſelbſt abzuhelfen. Und wo die Selbſthülfe nicht hinreicht, müſſen ſie ſich wechſelſeitig helfen. Jmmer müſſen ſie unter den Augen irgend einer gebildeten Perſon ſeyn, damit ſie ſich zu keinem rauhen, rohen oder ge - meinen Ton und Weſen gewöhnen. Haben ſie das fünfte Jahr ihres Lebens erreicht, ſo müſſen ſie wenigſtens zwei Stunden täglich ordentlich be - ſchäftigt werden. Dieſe Beſchäftigung muß durch ihre Spiele ſchon eingeleitet und vorbereitet wer - den. Z. B. Wenn ſie unter ihren Spielſachen auch eine Rechentafel haben, worauf ſie allerlei Figuren nachmalen, die man ihnen vorgezeichnet hat, ſo laſſe man ſie zur Abwechſelung auch Buch - ſtaben nachbilden; ſie lieben dieſe eben ſo, wie an - dere Figuren. Aus dieſen einzelnen Buchſtaben lehre man ſie Lieblingswörter zuſammenſetzen. Dieſe ſpielende Vorbereitung wird das nachmali - ge Schreiben, wie das Leſen des Geſchriebenen392 ſehr erleichtern. So läßt ſich manches andere Spiel als Grundlage des Unterrichts gebrauchen. Vor allem aber ſollen dieſe jungen Mädchen frühe zu weiblichen Handarbeiten angehalten wer - den; doch ohne Zwang und durch immer friſch er - regten Trieb. Wollen ſie z. B. ſich an Geburts - tagen oder am Weihnachtsfeſte einander oder ihre Lehrer beſchenken, ſo ſey es mit kleinen Arbeiten von ihrer Hand. Nichts feuert ſo ſehr zur weib - lichen Geſchicklichkeit an, und hiebei werden zwei ſchöne Zwecke auf einmal erreicht. Jſt der Thä - tigkeitstrieb auf ſo gutem Boden gepflanzt, ſo wurzelt er tief, und wird zur frohen Gewohnheit. Es verſteht ſich, daß bei dieſen Geſchenken aller Luxus vermieden wird, ſo wie auch jene Groß - muth und Liberalität des Gebens denen nicht ein - geimpft werden darf, denen das Schickſal die Mittel dazu verſagt. Denn da wirkt ſie nur Un - ordnung und Unglück. Edel und über das Ge - meine erhaben kann man dennoch auch in der Dürf - tigkeit ſeyn; nur auf eine andere Weiſe, als der begüterte Menſch.

Dies ſoll die Bildnerin armer Kinder nie aus393 der Acht laſſen; denn es iſt wichtig. Gehorſam ſollen ſie früh lernen, da er ihnen ganz unent - behrlich iſt, doch nicht jenen ſklaviſchen Gehorſam, der das Gemüth zu keiner eigenen Willenskraft kommen läßt, ſondern eine ſanfte Biegſamkeit, ein frommes aber freies Fügen in des Schickſals Willen, in die Macht der Nothwendigkeit, wel - ches in Folge über Armuth und Niedrigkeit er - hebt, und jedem Leiden ſeinen ſchärfſten Stachel nimmt. Vom ſechsten Jahre an muß ihre Thä - tigkeit immer ernſter und immer geordneter wer - den. Und wenigſtens einige Stunden des Tages wird nicht geſpielt. Jn der Spielzeit müſſen ſie frei und ohne Zwang ſich bewegen. Früh muß in ihnen der Keim der Frömmigkeit erweckt, und mit belebender Wärme angehaucht werden. Kein Eigenſinn, keine Launen dürfen ihnen geſtattet werden. Alle Gegenſtände des bloßen Luxus halte man ſo fern von ihnen als möglich, damit keine Lüſternheit danach in ihnen entſtehen könne. Jhre höchſt einfache Koſt werde ſchmackhaft bereitet, und ſorgfältig muß alles lüſterne Sprechen über Leckereien von ihren Ohren entfernt werden. Zu(50)394den nothwendigen Künſten des weiblichen Fleißes, zu allen Künſten der Nadel und der Spindel, zum Stricken und Nähen aller Art müſſen alle mit gleichem Ernſte angehalten werden. Eben ſo zu aller und jeder Sachkenntniß, die dem prakti - ſchen Leben erſprießlich ſeyn kann. Vor allen Dingen werde ihre Verſtandesfähigkeit früh ge - weckt, wie Vernunft und Urtheil durch jede zweck - mäßige Uebung geſchärft. Höhere Kunſt und ed - lere Wiſſenſchaft werde denen unter ihnen nicht vorenthalten, die ein ganz ausgezeichnetes Talent verrathen. Denn wen die gütige Mutter Natur ſelbſt zu etwas höherem berufen hat, der darf und ſoll nicht in den Staub der Niedrigkeit hin - abgedrückt werden. Für ſolche muß aber andere Anſtalt getroffen werden. Jn der Regel dieſer Stiftung ſind die höhern Künſte ausgeſchloſſen. Für ein arbeitſames Leben voll heiterer Thätig - keit werden ſie ausgebildet. Und dabei müſſen ſie nimmer glauben etwas zu entbehren. Genügſam - keit und ſtille Freude ſey die Uniform ihres Ge - müthes. Ob ſie alſo im Zeichnen etwas weiteres verſuchen, als Blumen, das muß durch die An -395 lage entſchieden werden, die ſich in ihnen zeigt. Aber Blumenzeichnung müſſen ſie alle lernen, wie man ſchreiben lernt. Eine ſchöne Handſchrift zu erlernen gehört zu den unerlaßlichen Forderun - gen. Rechnen, mit der höchſten Fertigkeit, und beſonders aus dem Kopfe, iſt eben ſo nothwendig. Naturgeſchichte, Kräuterkunde, Erdbeſchreibung, einige Kenntniß vom Baue des menſchlichen Kör - pers, eine allgemeine Ueberſicht der Weltgeſchich - te, eine verſtändige Anſicht des Weltgebäudes, das ſind die Gegenſtände des Wiſſens, die ihnen nicht fremd bleiben dürfen. Zur Küche und allen Haushaltungsgeſchäften müſſen ſie gar früh mit rechtem Ernſte angehalten werden, wovon Beſor - gung der Wäſche und des Leinzeuges für ſie ein weſentliches Stück ſeyn muß. Zum Geſange müſ - ſen ſie alle angeleitet werden, und damit ihr Ohr ſich recht zeitig bilde, ſo darf es an einem guten Jnſtrumente nicht fehlen. Sehr dienlich iſt hiezu ein Poſitiv. Wollte man fragen, wozu ſie ge - rade ſingen lernen müſſen? ſo wäre das ohnge - fähr, als ob man fragte: warum denn ihr Herz weich und mild werden ſoll? und warum man396 aus dieſen Kindern mehr als Arbeitsmaſchinen machen wolle? Das Haus, worin ſie ihre frohe Kindheit verleben ſollen, muß nothwendig einen Garten haben, worin ſie ſich in der ſchönen Jah - reszeit Morgens und Abends beluſtigen, und zwi - ſchen den Lehr - und Arbeitsſtunden immer friſche Luft und neue Arbeitsluſt athmen. Auch muß jede ihr eigenes Fleckchen Land zu bebauen haben. Jm Winter diene ihnen der Garten zu ihren Schlittenfahrten, und andern ähnlichen Winter - freuden. Auch die Poeſie darf aus dieſer kleinen Mädchenrepublik nicht gar verbannt werden; aus eben dem Grunde, warum der Geſang ihnen an - gebildet werden muß. Nur müſſen ſie von dieſem Nektar ſelten koſten.

Zur behenden Krankenpflege mit ſachter weicher Hand, wie zu jeder ächtweiblichen Tugend, kön - nen ſie nicht frühe genug eingewöhnt werden. Da - für muß ihnen der innere Sinn aufgeſchloſſen, geſchärft und erhöhet werden. Von Belohnungen ſey hierbei die Rede nicht: das ſind nur Mittel den Egoismus auf eine kunſtmäßige Weiſe in den Kin -397 derſeelen zu wecken (ein Unkraut, das auch ohne Nahrung und Pflege wächſ’t und wuchert). Keine, gar keine Tugend des Herzens kann durch ſolche Mittel erzielet werden, denn das Weſen der Tu - gend beſtehet in der geraden Richtung des Ge - müths zu allem wahrhaft Guten und in der Kraft - übung, dieſe Richtungen trotz allen Hinderungen zu behaupten. Äußere Zucht und Ordnung mag wohl durch Ausſicht auf Lohn und Scheu vor Strafe bewirkt werden. Und doch darf auch bei dieſen Kindern vielleicht nie die Rede davon ſeyn, wenn ſie ganz früh aufgenommen werden. Noch einmal ſey es geſagt, daß in Kleidung, Wohnung und Koſt alles Überflüßige, alles Geſuchte und Glän - zende ſorgfältig vermieden werden müſſe. Jeder früh angewöhnte Luxus wird zum Bedürfniß, und macht das Leben höchſt elend, wenn man ſich erſt ſpät wieder davon entwöhnen, und einen ganz an - dern Maßſtab des äußern Glückes annehmen ſoll. Jmmer ſehnt der Sklave des Luxus ſich nach den Fleiſchtöpfen Egyptens, und ſeinem Lauch und Zwiebeln zurück, und wenn man ihm auch Him - melsbrot dafür böte.

398

Der Reichthum dieſer kleinen Republik beſtehe in der Unkunde des Reichthums und der Üppigkeit, und in der Freude an dem Wenigen was da iſt. Die Weisheit welche ihnen ganz zur Natur wer - den muß, iſt: ein kindlichfrohes dankbares demü - thiges Empfangen deſſen was ihnen zu Theil wird. Kein Wort der murrenden Klage, daß ihnen des Guten nicht mehr werde, müſſe je von einem unter ihnen gehört werden können. Die Gemeinheit der Geſinnung allein macht die geringern Stände zum Pöbel. Sie werde alſo bis auf ihren klein - ſten Schatten verbannt aus der Geſellſchaft. Hätte ſich durch irgend eine fremde oder dienende Perſon etwas der Art eingeſchlichen, und ließe ſich je ein Ton des mißvergnügten Murrens hören, ſo muß das ſo verwirrte Gemüth mit ſchonender Liebe an ſeine wahren Verhältniſſe im Leben erinnert, und ihm begreiflich gemacht werden, wie über - ſchwenglich mehr überhaupt jeder Menſch hat und genießt, als er eigentlich an das Schickſal zu for - dern hätte. Dieſe Weisheit ſpringt mit allem was wahrhaft gut iſt im Menſchen, aus einer Quelle. Laßt das junge Gemüth alles, wodurch es froh399 und glücklich wird, aus der unſichtbaren Vater - hand empfangen, lehrt es, dieſen Vater mit tie - fer Ehrfurcht lieben, ſo kann es über das Verſagte nicht murren. Ein ſo gebildetes Gemüth taugt ſicherlich für alle Verhältniſſe des Lebens, für die höchſten wie für die niedrigſten. Es ziert den An - tonin auf dem Thron, und macht den Tagelöhner achtungswerth. Es bewahrt ganz unbezweifelt die niedern Stände vor der Niederträchtigkeit, die Armuth vor der Armſeligkeit, das Unglück vor dem Elend, und gibt ſtatt der Kriecherei eine De - muth, die mit dem ſchönſten Selbſtgefühl beſte - hen kann.

Dies alſo ſey das Ziel der Bildung dieſer kleinen Kolonie. Glückt es, ſo müſſen ſie, die die Welt unglücklich nennt, in ſich ſelbſt und durch ſich ſelbſt neidenswerth glücklich ſeyn. Jemehr dieſe Kinder ſich dem Alter nähern, wo die Kindheit in die eigentliche Jugend übergeht, jemehr müſſen ſie das Leben mit einem ernſten Blick anſchauen, und die Forderungen die ſie an ſich ſelbſt zu machen haben, mit Klarheit erkennen. Und das Erkannte400 nicht ausüben wollen, muß ihnen ſelbſt etwas Un - mögliches ſcheinen. Ernſt muß es ihnen ſeyn mit jeder Aufgabe, mit jeder Arbeit. Auch muß es ihnen nimmer als eine Unehre erſcheinen, für an - dere zu arbeiten. Wiſſen müſſen ſie daß die Ge - ſellſchaft der Menſchen nur durch Wechſeldienſt be - ſtehe. Alſo andern mit ihrer Arbeit zu dienen, dünkte ihnen keinesweges verächtlich. Für Geld ſchöne weibliche Arbeiten zu machen, ſey ihnen nimmer zuwieder. Kein falſcher Ehrgeiz ſchleiche ſich in ihre Gemüther. Zufrieden mit ihrem Platze in der menſchlichen Geſellſchaft ſey es ihr einziger Stolz ihn aufs beſte auszufüllen. Sich durch ihren Kunſtfleiß eine kleine Ausſteuer für das Leben zu erwerben, für die Zeit, wo die Stiftungsgeſetze fordern ſie zu entlaſſen, um an - dern unglücklichen Kleinen Platz zu machen. Nur die, welche ſich zum Erziehungsgeſchäft berufen fühlen, und fähig gemacht, können entweder in dieſem Bildungshauſe bleiben, um die Wohlthat die ihnen wiederfuhr, ſogleich an den jüngern zu vergelten, oder auch in der Welt als Erzieherin - nen aufzutreten. Die andern greifen zu dem,401 wozu ihr Naturell und ihre etwaigen Gaben und Fähigkeiten ſie berufen haben. Wählt ein wacke - rer Mann ſich eine von ihnen zur Gattin, ſo muß es die Schuld dieſer Bildungsanſtalt ſeyn, wenn der Gatte durch ſie unglücklich wird; vorausge - ſetzt, daß ſie wirklich in früheſter Jugend aufge - nommen ward, und bis zur völligen Reife in die - ſem Hauſe blieb. Noch etwas darf bei dieſer Stiftung nicht aus der Acht gelaſſen werden. Es gibt in der That eine Erbſünde. Nemlich eine ſolche, die in der angeſtammten Organiſation ihren Sitz hat. Sie iſt nicht ganz unaustilgbar. Eine ſtrenge Zucht von Frühem an kann ihrer mächtig werden. Aber dieſe anzuwenden, iſt nicht die Sache ſehr gebildeter Menſchen. Sie bleibe alſo fern von dieſer Stiftung. Und damit es ihrer nie bedürfe, ſo ſehe man bei der Aufnahme von jungen Kindern wo möglich dahin, daß ſie nicht Spröß - linge eines ſehr verderbten Stammes ſeyen. We - nigſtens müſſen die Kinder der rechtſchaffenſten El - tern zur Aufnahme immer das Vorrecht haben. Vor allen Dingen müſſen die erſten, welche aufge - nommen werden, von guter Art ſeyn. Dies iſt402 weſentlich, damit der Geiſt des Hauſes gleich vom Anbeginn ein guter Geiſt ſey.

3.

Der Plan ward von allen mit herzlichem Wohl - gefallen gebilligt. Und Cläre rief mit einer Leb - haftigkeit, als ob die Tante Selma gegenwärtig wäre: ja, Du beſte Tante, ich will es alles aus - führen, wie Du es geordnet haſt; ich bliebe Dir ja ſonſt den Beweis ſchuldig, daß ich nicht unwerth war, Deinem Geiſte und Herzen ſo nahe zu ſeyn! Jch will es zeigen, daß ich von Deinem Feuer erwärmt, und von Deinem Glanze beſchie - nen worden. Das Landhaus, welches ehemals von Selma und ihrer frohen Schaar bewohnt war, ward von ihr der neuen Stiftung geſchenkt, und wurde nun zum zweitenmale zum Schauplatz der Schönſten kindlichen Freuden. Nur ward es aus Gründen, die im Plane liegen, merklich verän - dert, und ganz für die neue Lebensweiſe einge - richtet.

Jetzt kam es darauf an, ſolche Zöglinge aufzu -403 nehmen, die der Abſicht des Plans und der Stif - tung entſprächen. Dieſe fanden ſich bald, es wa - ren zwei kleine Pfarrerstöchter aus der Schweiz, deren Mutter bei ihrer Geburt geſtorben war. Ein Jahr lang waren ſie von einer braven Bäuerin ge - ſäugt und verpflegt. Der Pfarrer hatte Zutritt im von D ſchen Hauſe, und war ſehr wohl dort gelitten, obſchon er außer ſeinem ächten Schwei - zercharakter wenig empfehlendes hatte. Jda ließ die Bäuerin mit den Kindern zu ſich kommen. Jhre Bildung war gar lieblich. Selma nahm es über ſich, ſie Clärchen ſelbſt zu bringen, und Ger - trude ward von nun an Clärchens Gehülfin.

Mit dieſen beiden Kindern, Anna und Salome, begann nun die Eröffnung der Stiftung. Bald darauf kam ein drittes Kind, das kleine Marie - chen hinzu, welches ſeine beiden Eltern auf eine ſehr unglückliche Weiſe durch einen Bergſturz ver - loren hatte, und ſelbſt mit äußerſter Mühe und Anſtrengung aus dem Schutte des Hauſes leben - dig hervorgezogen worden.

Aus einer der unglücklichen Städte Schwabens, welche im Kriege allen Wohlſtand eingebüßt hat -404 ten, kamen bald noch drei andere verwaiſ’te Klei - nen hinzu.

Mit dieſen ſechs Kleinen ward das neue Leben dieſer heitern Familie begonnen. Bruno wid - mete ſich dem Landbau und den Lieblingswiſſen - ſchaften. Er bauete das Eigenthum des Pfar - rers, welches ehedem verpachtet war, da die Län - dereien der Pfarre ihn hinlänglich beſchäftigt hat - ten. Jetzt übernahm Bruno beides. Der Pfar - rer lebte nun ausſchließend ſeinen Kindern und ſeiner Gemeine, welche ihn einmüthig wie einen Vater, ja wie einen Apoſtel des Herrn ehrte. Mit dem ernſteren Zeitpunkte des Lebens, wel - chen man noch nicht wohl Alter benennen kann, ward ſein Gemüth immer ſtiller aber heiterer. Der Gedanke an ſeine Deborah hatte die Schärfe ſeines Stachels verloren, und vermiſchte ſich un - vermerkt mit jener Sehnſucht nach dem Beſſern, welche ſchöne Gemüther oft ſchon am Morgen des Lebens mächtig ergreift, dann ſpäter durch die wirklichen Freuden und Sorgen des Lebens zu - rückgedrängt oder eingeſchläfert wird, bis ſie end - lich, ſo wie der Abend näher kommt, und ſo man -405 cher Verluſt uns von der Vergänglichkeit, ja von der Nichtigkeit alles diesſeitigen nur zu durchgrei - fend belehrt hat, ſich in der Geſtalt der heitern Reſignation wieder einfindet, und den ſo gearte - ten Menſchen ſanft vom Leben ablöſ’t. Die Freude an dieſer neuen Stiftung knüpfte den ed - len Willich noch einmal mit ganz friſchen Banden an das Leben. Durch ſie ward ein alter Lieb - lingswunſch erfüllt, über welchen er oft in frü - hern Zeiten an ſchönen Sommerabenden ſich faſt ſchwärmend mit Selma unterhalten. Dieſen Plan, welchen er nur als Luftſchloß noch angeſehen hatte, ſollte er nur durch ſeine geliebte Clare ausgeführt ſehen, ja mit ihr an der Bildung dieſer Adoptiv - enkel arbeiten; denn das mußte er, wie er ſagte, nothwendig, wenn er ſeine ganze Freude am Le - ben behalten ſolle.

Wie nun dies alles in’s Werk gerichtet wurde, davon gibt vielleicht eine eigene Darſtellung Re - chenſchaft, wenn die Aufnahme dieſes erſten Ge - mäldes, und wenn Geſundheit und frohe Schreib - luſt eine ſolche geſtatten.

Druckfehler im erſten Theil.

Vorrede.

Pag. 7Zeile 10leſe manbedurftetſtattbedürftet
8 9 DrapperienTrapperien
142 18 SachenSache
210 23 männlichenämliche
211 11 wardwird
214 20 JungeJunger
220 3 welcheswas
270 7 männlichennämlichen
271 10 ernſtenerſten

Jm zweiten Theil.

Pag. 21Zeile 2lese manimmerstattmehr
47 8 WorteWorre
86 7TorneaTornen
86 9
149 9 mirdir
154 21 michmir
157 5 SchilfeSchilfen
165 3 nochauch
176 14 müßtenmüssen
180 18 ErdäpfelnErdäpfel
196 17 flatterndenwachsamen
204 18 liefliegt
211 4 seitseyd
223 16 HeiterkeitHeiterheit
237 2 DöckchenDückchen
247 22 zweenzwei
Pag. 260Zeile 8lese manJhremstattihren
297 2 auchnoch
299 13

nach Tage setze man da - durch

315 20 NionNian
320 19 ihnsie
321 16 NionNian
346 8 2019
9 2422
361 21 tretentreton
367 23 hathar
398 2 UnkundeUrkunde
401 1 etwanigenetwaigen

Gegen die Orthographie der Verfaſſerin iſt durchaus: Meynung ſt. Meinung, meynen ſt. meinen, ſeyn ſt. ſein, ſey ſt. ſei ꝛc. geſetzt.

About this transcription

TextGemälde weiblicher Erziehung
Author Caroline Christiane Louise Rudolphi
Extent424 images; 66074 tokens; 9897 types; 433055 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationGemälde weiblicher Erziehung Zweiter Theil Caroline Christiane Louise Rudolphi. . 408 S. : 1 Ill. Mohr und ZimmerHeidelberg1807.

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Staatsbibliothek München BSB München, Paed.th. 4842-2

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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