Gegenwärtige Briefe über weibliche Erziehung dürften ſich vielleicht ohne Vorrede in die weibliche leſende Welt wagen, ohne die beſchämende Frage: was wollt ihr? wozu ſeyd ihr erſchienen? zu be - fürchten. Dennoch mögen zur Rechtfertigung ih - res Daſeyns ein Paar Worte vorausgehen.
Die Verfaſſerin wendet ſich mit dieſen an das kleine Publikum, welches ſie während des Schrei - bens einzig vor Augen hatte. Dies denkt ſie ſich aus jungen Müttern beſtehend, die ihren Natur - beruf mit einem ernſten Blick ins Auge gefaßt, und ihn gern auf das würdigſte erfüllen wollten, und eben, weil ſie das recht von Herzensgrunde wollen, auch fremden Rath bei dieſer wichtigen Angelegenheit nicht gar verſchmähen.
Vielleicht nehmen ſie ihn von der weiblichen4 Practik um deſto williger auf, da gerade hier die allgemeinen Theorieen uns nur zu oft im Stiche laſſen, und zwar oft in ſolchen Momenten, wo wir ihres Beiſtandes am meiſten bedürften, weil ihnen der Geiſt des Lebens gebricht, der allein wieder Leben anzufachen vermag, und weil die lebendige Handlung nicht aus der Theorie hervor - gehen kann. Viele practiſche Anweiſungen ſind vorhanden: dennoch hat es die Verfaſſerin nicht für überflüſſig geachtet, dieſen kurzen Auszug von Beobachtungen und Erfahrungen aus ihrem ganz pädagogiſchen Leben ihrer Mitwelt als ein kleines Opfer darzubringen.
Euch jungen Müttern, die ihr für manchen be - ſondern Fall Rath ſuchet, ſind dieſe Briefe vorzüg - lich gewidmet. Nehmet ſie freundlich auf, gute Mütter. Diejenigen unter euch, deren die Verfaſ - ſerin beſonders dabei gedachte, wiſſen es, wenn5 ſie dieſe Zeilen leſen, ohne daß ſie ihre Namen hier ſehen.
Sollten dieſe Anleitungen für den gewiß ſehr achtbaren Mittelſtand dadurch unbrauchbar wer - den, daß die bürgerliche Stufe der Familie, welche in dieſem Gemälde erſcheint, ein wenig hoch, und ihr Vermögenszuſtand etwas über die gewöhnliche Wohlhabenheit angenommen iſt? Jch hoffe nicht. Jrgend ein Stand mußte doch angenommen werden.
Jndeſſen ließe ſich in einem zweiten Erziehungs - gemälde ein anderer Standpunkt nehmen, und von dieſem aus zeigen, wie eine minder begüterte Fa - milie ihre Kinder am zweckmäßigſten für ein wür - diges glückliches oder doch zufriedenes Leben aus - bilden möge. Dieſe zweite Schrift würde alſo ſolchen Müttern zugeeignet, welchen die höhere Lebensweiſe und die Wohlhabenheit der handeln - den Perſonen in gegenwärtigen Briefen ein Hin - derniß ihrer Anwendbarkeit ſcheint. Obwohl der6 Geiſt dieſes Büchleins als ein ſolcher betrachtet ſeyn will, der von allen zufälligen Dingen unab - hängig, es einzig mit dem Weſen der Sache zu thun hat: ſo läßt ſich doch auch ſagen, daß das Leben in jedem bürgerlichen Verhältniß ſeine ei - genen Anſichten habe, welche von Frühem an bei der Erziehung nicht aus der Acht gelaſſen werden dürfen, wenn das Jndividuum bei aller innern Treflichkeit durch ſeine Unkunde der äußern Ver - hältniſſe, oder durch ein unglückliches Mißkennen der ſeinigen, nicht dennoch ſehr elend werden ſoll. Dennoch bleibt der Satz als eine unbeſtreitbare Wahrheit ſtehen, als Hauptſumma aller Er - ziehungslehre: Laſſet eure Kinder Menſchen wer - den, und hindert ſie nicht, ſondern ſeyd ihnen liebreich förderlich zur beſten Erhaltung aller ih - re Anlagen. Ziehet deren keine ungebührlich her - vor, und bringet weder ihre Geiſtes - noch Körper - kräfte in Treibhausluft, auf daß alles in reiner7 Lebensluft gedeihe, und ſich friſch und kräftig entfalte. Dies gilt für alle Zeiten, alle Stände, wie für jedes Geſchlecht. Möge es der Verfaſ - ſerin in dieſen Briefen gelungen ſeyn, zu zeigen, wie die allgemeine Wahrheit aufs Jndividuum angewendet werden könne!
Vielleicht bedarf es auch noch ein Wort der Re - chenſchaft wegen der Einkleidung in ein Roman - ähnliches Gewand. Liebe Freundinnen, die ihr deſſen nicht bedürftet, verzeihet, was das Zeit - alter von dem Buche fodert, das da hoffen will, von Frauen geleſen, und gern geleſen zu ſeyn.
Nehmet dieſes kleine Erziehungs-Gemälde von der Schweſterhand freundlich an. Laßt es euch nahe ſeyn, betrachtet es in einſamer Abendſtunde, bei der Wiege eures ſchlafenden Kindleins. Er - götzet euch daran in traurigen Nächten, wo ihr den kranken Liebling bewachet. Man lieſ’t ja da ſo manches als harmloſe Zeitkürzung. Wollte ei -8 ne von euch die Verfaſſerin im Ernſte fragen: ob eine ſolche Erziehung auch möglich ſey, wie ſie hier aufgeſtellt wurde? ſo ſagt ſie kühnlich: Ja. Jm weſentlichen iſt ſie möglich für jede Mutter, die es ernſtlich will, und — von ſich ſelbſt abhängt. Nach dem Leben iſt dieſes Gemälde entworfen, nur ſind die Lichter ein wenig heller aufgetragen, die Umriſſe ein wenig ſchärfer, als ſie in der Wirk - lichkeit erſcheinen, und die Trapperieen ein wenig maleriſcher geordnet, als ſie das Alltagsleben zu werfen pflegt.
Daß man die Sache wirklich ſo lieben und trei - ben könne, wie dieſe Selma that, dafür ſtellt die Verfaſſerin einer jeden einen ſichern Bürgen. Er wohnt tief im Heiligthum des weiblichen Her - zens und heißt: Mutterliebe.
Du foderſt mich auf, liebe Emma, Deine Weg - weiſerin zu werden in dem ſchönen Beruf, den unſer aller Mutter Dir kürzlich auferlegt, und wodurch ſie Dich ſo hoch geehrt hat, als ſie ein menſchliches Weſen ehren kann. Du biſt Mutter, aber du fühlſt dieſe hohe Würde mit ſtiller De - muth, ja mit faſt allzu ſcheuem Mißtrauen in Deine Einſichten und Deine Geiſteskraft. Weißt Du denn nicht, daß Dein ſtilles Forſchen und Sinnen Einſicht, und Deine Geiſtesruhe Kraft werden muß, wenn Du Dir ſelbſt nur getreu bleibſt? Doch will ich Deiner Bitte nachgeben: was könnte meine theure Adoptivtochter von mir bitten, das ich fähig wäre ihr zu verſagen? Es ſey alſo! — Deine Jda war geſtern acht Tage alt. Es ſcheint demnach noch ſehr früh, jetzt von Erziehung zu reden. Und dennoch iſt es gerade4 jetzt Zeit. — Was Du von Jda’s Amme unnach - laßlich fordern müßteſt, brauche ich Dir nicht zu ſagen, da Du, glückliche Mutter, ſelbſt Ernährerin Deines Lieblings ſeyn kannſt. Die Diät, wo - durch die erſte Nahrung, die Du Jda reichſt, die geſundeſte wird und bleibt, laß Deinen ver - ſtändigen Arzt Dir vorſchreiben, und befolge fie gewiſſenhaft. Ueber das, was man von einer fremden Amme vergeblich fodert, über die mo - raliſche Diät, von mir nur folgende Winke. Be - wahre Dein weiches Gemüth vor tiefem Schmerz nicht nur, ſondern vor jeder ſtarken Bewegung. Suche die heitere Ruhe in Dir zu erhalten, die Dir eigenthümlich iſt, damit alle Deine Kräfte im Gleichgewicht und dadurch die körperlichen Funk - tionen in ungehemmter Thätigkeit bleiben, und die ſüße Nahrung Deinem Kinde ungehindert be - reitet werden möge. Jſt aber irgend ein Unfall zu plötzlich über Dich gekommen, als daß Du Dich des Eindrucks erwehren könnteſt, den er auf Dein zu weiches Gemüth und dadurch auf Deine ſchwache phyſiſche Conſtitution gemacht, fühlſt Du Dich bis im Jnnerſten Deines Weſens ange -5 griffen, erſchüttert, dann verſage Dir die Freude des Selbſtnährens. Es iſt dies ein großes Opfer, muß aber Deiner und des Kindes Erhaltung noth - wendig gebracht werden. Suche dann um jeden Preis die beſte der Ammen zu erhalten, d. h. die am Geiſt und Gemüth geſundeſte. Kann es ſeyn, ſo wähle ein ſchönes, wenigſtens ein gut - müthiges Geſicht dazu. Harte, finſtere, böslei - denſchaftliche Züge darf die Amme deines Kindes auf keinen Fall haben. Das äußerſte Phlegma wäre mir lieber. — Haſt du ein junges, geſundes, gutmüthiges unglückliches Weib gefunden, das deines Kindes Amme werden wollte, ſo ziehe ſie liebreich an Dich, daß ſie Dir und dem Kinde von Herzen zugethan werde. Laß ſie zwar arbei - ten, aber wende alles behutſam von ihr ab, was ihr ſchaden, und noch ſorgſamer das was ſie be - trüben könnte. — — — Doch der Fall, der dieſe Erinnerung nöthig machte, wird bey Dir nicht eintreten. Müßteſt Du das Selbſtnähren aufge - ben, und fändeſt keine ſolche Amme, die allen die - ſen Forderungen entſpräche, dann bleibt Dir ja noch das Auffüttern übrig, welches auf jeden Fall6 moraliſch unſchädlich iſt, und auch körperlich ge - deihlich ſeyn kann. Es gibt ja Nahrungsmittel, die einem jungen Kinde viel zuträglicher ſind, als die Milch einer kranken Mutter, oder einer ſchlech - ten Amme. Es iſt nicht ſchöne Mutterliebe, ſon - dern Schwäche, die in ihren Folgen von der Här - te gar nicht verſchieden iſt, wenn eine kränkelnde Mutter ſich nicht entſchließen kann, die Freude des Selbſtnährens aufzuopfern, und wenn ſie dem zarten Menſchenſprößling zumuthet, ſchon ſo frühe die Plagen des Lebens mit ihr zu theilen. — — Aber noch einmal, ich hoffe, das Schickſal wer - de Dich die ſüße Mutterfreude ganz rein und mit vollen Zügen ſchmecken laſſen. An Deiner Hei - terkeit wird des Kindes Frohſinn zuerſt anglim - men. Aus Deines Angeſichts Freude wird ſein erſtes Lächeln ſich bilden. Deiner melodiſchen Stimme, wenn Du heiter biſt, wird es horchen, und es wird der Wohllaut in dem kleinen Weſen geboren werden. Schreien wird es, wie jedes andre Kind, aber nur wenn irgend ein Schmerz, wenigſtens irgend eine Unbequemlichkeit, ihm die - ſe Nothwehr oder Bitte um Hülfe abdringt. Die -7 ſe Sprache des Schmerzes wirſt Du bald deuten lernen, wie bey Deinem Kinde kein anderes We - ſen es könnte. Abhelfen wirſt Du ſchnell dem kleinſten Leiden, wo Du es entdeckſt, und Jda wird Dich früh vor allen andern Perſonen erken - nen, und ihr ſüßeſtes Lächeln wird Dir zuerſt ſa - gen, daß ſie Dich kenne.
Wie früh das Vermögen der Sinnesorgane zur eigentlichen Wahrnehmung im Kinde erwache, läßt ſich nicht beſtimmen; auch muß dieſe erſte Entwickelung in den verſchiedenen Naturen früher oder ſpäter anfangen. Aber das junge Geſchöpf zeitig mit einfachen und angenehmen Gegenſtän - den der Wahrnehmung umgeben, iſt ſicherlich heil - ſam, und von nicht ſo geringer Bedeutung, als es ſcheint. Kann ich, wie ich’s hoffe, Dich, meine Freundin, bald beſuchen: dann laß mich für die Ausſchmückung des Stübchens ſorgen, das der Schauplatz des erſten Lebensjahres Deiner Jda werden ſoll. Bis dahin, bitte ich, laß es ſo ein - fach als möglich geſchmückt ſeyn. Wie ſauber, wie höchſt reinlich alles darin gehalten wird, weiß8 ich ohnedies. Mir däucht, ich ſehe Jda’s Bett - chen neben Deinem, leicht, aber warm genug für die nicht milde Jahrszeit, nett und ſauber gedeckt, und um der zarten Aeuglein zu ſchonen, die Fen - ſter fürs erſte mit grünen Vorhängen behängt. So - bald Jda das Licht ertragen kann, erhellet ſich das heilige Dunkel des Kämmerleins nach und nach; dann ſtellt meine Freundin ſtatt der Appenzelli - ſchen Taube ein freundliches Kind, oder eine lieb - liche Kindergruppe von Gyps dem Bettchen gegen - über, und wechſelt damit von Zeit zu Zeit, doch nicht zu oft. Es iſt gut, daß die erſten Blicke gleich auf anmuthige Bilder fallen und der jungen Seele nur ſolche zuführen: zu ſchneller Wechſel würde ſie aber verwirren.
Von der mäßigen Wärme, von der oft erfriſch - ten, gereinigten Luft im Zimmer, brauche ich zu Dir, liebſte Emma, eben ſo wenig zu reden, als von der Nothwendigkeit des öfteren Waſchens Dei - ner Kleinen. Dein ganz eigner Sinn für Ord - nung und hohe Reinlichkeit macht jeden Wink der Art überflüſſig. Eben ſo weiß ich, daß Deine9 Foderungen an die Wärterin über dieſen Punkt ſtreng ſeyn werden, wie ſie es ſeyn müſſen.
Ob Jda gewiegt werden ſoll? Man hat aus der Frage über das Wiegen oder Nichtwiegen wohl zu viel gemacht, und die Art, wie man ſie beant - wortet hat, verräth hier und da jene kleinliche pädagogiſche Pedanterey, die in den letzten Jahr - zehnden ſehr oft zum Vorſchein kam. Jda’s Wie - ge von der guten Großmutter iſt mit Läufen ver - ſehen; laß die Läufe daran, aber ſtelle ſie feſt, und gewöhne der Kleinen die ſchaukelnde Bewe - gung nicht als ein Bedürfniß an: iſt ſie geſund, ſo wird ſie gewiß ungewiegt ſchlafen, beſonders in der früheſten Lebenszeit, wo die ganze Exiſtenz faſt noch ein leichter, wenig unterbrochener Schlum - mer iſt; und haſt Du ſie in den erſten vier Wochen nie in den Schlaf gewiegt, ſo wird es auch ſpäter - hin nicht nöthig ſeyn. Laß aber dennoch die Läufe an der Wiege! Es können Zeiten kommen, wo die Kleine, von irgend einer phyſiſchen Unruhe gepeinigt, viel weint und mit dem gewohnten Beruhigungsmittel, mit der Bruſt, nicht zu be -(2)10ruhigen iſt: dann magſt Du es wohl verſuchen, ob die Bewegung, es ſey nun auf dem Arm oder in der Wiege, den Schmerz beſänftigen und den Schlaf herbeyführen will.
Jſt Jda geſund, dann laß ſie nicht mehr ſchla - fen, als ſie eben Luſt hat; laß ſie nie auf eine künſtliche Art zum Schlafen nöthigen. Es ver - ſteht ſich, daß aber auch durch allzulebhafte Be - ſchäftigung, durch das Vorhalten zu vieler Gegen - ſtände, durch zu lautes Vorſingen oder Vorſprechen, der natürliche und ſehr heilſame Antrieb zum Schlaf nicht verſcheucht werden müſſe! — Damit ich aber Deinen eigenen Schlaf durch einen zu lan - gen Brief nicht verſcheuche, oder durch einen lang - weiligen früher herbeirufe, als Dir lieb iſt, ſo leb wohl für heute.
Seit ich Dich zuerſt in Deiner Kinderſtube ſchrift - lich beſuchte, ſind mehrere Wochen verfloſſen, und hat ſich in Jda ſchon mancher ſchöne Keim der11 Entwickelung näher gedrängt. Was Du mir von dem phyſiſchen Wohlſeyn des Kindes ſagſt, hat mich inniglich erfreut. Ach, das erſte Wohl - oder Uebelbefinden in unſerm Daſeyn entſcheidet gewiß weit mehr über unſer ganzes Leben, als ſich an - ſchlagen läßt! Daß Jda Dich früh von jeder an - dern Perſon unterſcheiden würde, habe ich ver - muthet; doch ſo früh — das ſcheint mir faſt un - glaublich. Aber welches Wunder iſt der Liebe un - möglich? Wohl Dir, daß Du den Muth haſt, Dei - nem Kinde faſt ausſchließend zu leben, und daß die äußern Umſtände ſich ihm nicht zu ſtark entge - gen ſtemmen. Wäre das, ſo müßteſt Du Jda früh gewöhnen, auch zur Gertrud gern zu ge - hen, damit nicht, wenn Du abweſend ſeyn müß - teſt, die Sehnſucht nach Dir ſie zur mißmüthig - weinerlichen Stimmung gewöhnte, oder wenn Du auf ihr Weinen immer gleich herbei kämeſt, den Keim des Eigenſinnes und der Jdee des Ertrotzen - könnens bey ihr aufbrächteſt. Es iſt keine Geſell - ſchaft denkbar, die ihr wohlthätiger werden könn - te, als die Deine — wenn Du wirklich immer um ſie ſeyn kannſt. Aber wie, wenn nun Deines12 Mannes dringende Geſchäfte nachlaſſen, und auch Er wieder mehr Anſprüche auf Deine Geſellſchaft macht, und ſie zu ſeiner Erholung bedarf: wie wird es dann werden, wenn Jda zu niemand will, als zu Dir? Gertrud iſt gut, iſt verſtändig, und was ihr an Ausbildung und Einſicht fehlt, erſetzt ihr Gehorſam und ihre faſt vergötternde Liebe für Dich. Gewöhne Jda alſo in Zeiten, auch bei ihr gern zu ſeyn. Aber nutze Gertrudens ehrerbietige Liebe für Dich zu ihrer eigenen Aus - bildung. Suche dies ſeelengute Geſchöpf — ſie iſt es ja ſo werth — von den hergebrachten Mei - nungen und Vorurtheilen des dienenden Standes zu befreyen, und an deren Stelle verſtändige An - ſichten der Dinge und beſſere Ueberzeugungen zu pflanzen.
Jn dieſem Punkte magſt Du ſie ſicher über ihren Stand erheben. Es kann nicht anders als ihr ſelbſt heilſam ſeyn. Bilde Dir an ihr — nicht nur eine zweite Hand, die maſchinenmäßig Dei - nen Willen thut, ſondern laß ſie Deine verſtändi - ge Stellvertreterin werden. Deinen Geiſt kannſt13 Du ihr nicht geben, Dein Mutterherz auch nicht; aber lehre ſie in Deinem Geiſte handeln: ihr gutes, ächt weibliches Herz wird das übrige thun. Ge - lingt Dir dies, wie ich’s wünſche und hoffe: ſo laß ſie Dich unterſtützen in der Mutterpflicht, da - mit Du andere, eben ſo wichtige Obliegenheiten nicht verſäumen müſſeſt. Mit Geſchenken, womit man gewöhnlich Dienſtboten zu gewinnen ſucht, iſt dies nicht zu bewerkſtelligen: wohl aber mit eh - rendem Vertrauen. — Gewöhne Gertruden, ſo viel nur möglich, auch in Zeiten zu der Sprache, die Du mit deinem Kinde geſprochen haben willſt. Wenn ich mich recht erinnere, iſt ihr Deutſch nicht ſehr verdorben. Korrigiere ſie freundlich, wenn ſie Fehler macht, indem ſie zu Dir ſpricht; ſage ihr, daß ſie um Deines Kindes willen ſich von ihren Provinzial-Ausdrücken entwöhnen müſſe. Was aber noch wichtiger iſt: ſprich jetzt ſchon mit ihr über das, was ſie im Sprechen zu dem Kinde zu vermeiden habe; mache es ihrem guten Verſtande recht anſchaulich, wie nachtheilig die gewöhnliche Art der Wärterinnen mit den Kin - dern zu ſchäkern, und wie ſchädlich beſonders jede14 gewaltſame Anreizung zum Lachen werde. Sage ihr, Jda werde von ſelbſt lachen lernen, ſobald ſie ſich recht herzlich freuen könne, und daß das Schäkern und Kitzeln eine ganz verkehrte Weiſe ſey. Wenn Du die Gertrud durch ſolche und ähnliche Belehrungen in Zeiten vorbereitet haſt, wirſt Du an ihr eine recht brauchbare Gehülfin haben, die Dir Dein Geſchäft erleichtern und es auch in Deiner Abweſenheit durch nichts verder - ben wird. Halte ſie auch beſonders an, ſich im - mer reinlich und ordentlich zu kleiden, ſo daß es ihr ſchon feſte Gewohnheit geworden ſey, ehe Jda das Gegentheil nur bemerken könnte, damit der Kleinen Ordnung und Reinlichkeit zur Noth - wendigkeit werde, und ſie vom Gegentheil auch gar nichts ahne.
Die Jahrszeit nahet heran, wo die Lüfte mil - der werden. Laß in den wärmſten Stunden des Tages die Fenſter fleißig öffnen, damit Jda ſich nach und nach mit der friſchen Luft befreunde. Bald genug wird ſie ſich daran freuen und ſelbſt darnach verlangen. Dann trage ſie hinaus in Dein Gärt -15 chen, und verweile immer etwas länger mit ihr im Freien. Kleide ſie dann etwas wärmer, doch hülle ſie nicht zu ſehr ein, damit ſie unſern Zahn - ſchmerz, Ohrenzwang, und das ganze furchtbare Heer von Erkältungsübeln (Rheumatismen ge - nannt) nie aus eigner Erfahrung kenne.
Hat man es doch für möglich gehalten, daß durch ſorgſame Kinderdiät, die fürchterliche Blat - ternkrankheit ganz von den Kindern abzuwenden ſtehe. Und wenn dies auch nur frommer Wunſch und Glaube blieb, ſo lag ihm doch ſicherlich etwas Reeles zum Grunde, nemlich das, daß man durch wohlverſtandene Diät und eine wohlge - ordnete Lebensweiſe, die ſich der Natur ſo nahe als möglich hält, gar vieles ausrichten könne, wenn ſie von den erſten Lebenstagen des Kindes an ununterbrochen und in einem Sinne fortge - ſetzt wird. Selbſt Skrofelkrankheiten müſſen ſicherlich vermieden werden können. Und wie die - ſe den Kindern oft nicht nur die ganze Kindheit verderben, ſondern ihnen wie grauſame Pla - gegeiſter, oft das ganze Leben hindurch, auf den16 Ferſen ſitzen, das haſt Du in der Rſ. .chen Fami - lie geſehen, wo Du Dich des traurigen Lazere - thes in dieſer armen Familie noch erinnerſt. Be - wahre dann Dein liebes Kind vor zu warmen Bet - ten, warmen Stuben, und Speiſen, ſobald ſie anfängt der letzten zu bedürfen, aufs allerſorg - ſamſte. — Lebe wohl; Beſte!
Bald wieder zu ſchreiben war mein Vorſatz; ich habe ihn aber nicht halten können. Unterdeſſen iſt Jda ſechs Monate alt geworden, lächelt alles an, was ſich bewegt, und greift nach allem, was glänzt und leuchtet. Nun wird es alſo immer bedeutender, wie das junge rege Leben beſchäf - tigt werde. Dir, meine Gute, kann es an Stoff dazu, und auch an guter Art nicht fehlen. Doch Du willſt meinen Nath. Vernimm ihn alſo.
Mit dem Peſtalozziſchen Buch der Mütter kannſt Du Dich nicht befreunden? Jch glaube17 das gern. Auch würde der ehrwürdige P. ſelber Dir das nicht verübeln. Für Mütter wie Du biſt, iſt ſein Buch, und ſind alle ſeine Metho - den-Bücher nicht geſchrieben. Er hat es mit dem rohen verwahrloſeten Landvolk und zunächſt mit dem in ſeiner Gegend zu thun. Dieſe Müt - ter hat er im Auge, und deshalb ſind die Vor - ſchriften ſo peremptoriſch und die Anweiſungen gehen auf eine Mechanik des erſten Unterrichts aus. — Für ſolche, deren äſthetiſcher Sinn einen hohen Grad der Ausbildung erhalten hat, und für Selbſtdenkende können ſeine Vorſchriften keine geſetzliche Verbindlichkeit haben. Denn für den einen ſind dieſe Formen und ewigen Wieder - holungen unleidlich, und für die andern unnöthig. Deſſen ungeachtet findet der gebildetſte und ſelbſt der am tiefſten denkende Geiſt in dieſen Schriften reichen Stoff zum Nachſinnen und zu Erwägun - gen über dieſe Sache. Weder Du noch ich wür - den z. B. dieſen Kurſus der Benennung menſch - licher Gliedmaßen ganz ſo mit allen dieſen Wie - derholungen nachbeten mögen. Aber bedarf es deſſen auch? Der Buchſtabe tödtet, der Eeiſt(3)18macht lebendig. Nehmen wir welchen Gegen - ſtand es ſey, der aus verſchiedenen regelmäßigen Theilen zuſammengeſetzt iſt — des Kindes Körper iſt ihm freilich der nächſte, und gewiß ſehr brauch - bar dazu, aber er ſey nicht das einzige, was es ſo nach allen ſeinen Theilen kennen lerne. Jch würde ihn nicht einmal das erſte ſeyn laſſen, weil die Dinge außer ihm zur Anſchauung, beſſer als er ſelbſt, geſchickt ſind, und die minder künſtlichen, als das größte Kunſtwerk der Natur (der menſch - liche Körper), zur Entwickelung der erſten Be - griffe von den Körpern immer tauglicher ſcheinen. Wenn Du im Frühlinge mit Jda in Deinem Gärtchen am Hauſe oder auf Deinem Landſitze im großen Garten, oder in dem noch größern der umliegenden Gegend wandelſt, dann gieb Acht, worauf die Blicke der Kleinen am häufigſten fal - len, worauf ſie am liebſten verweilen, und nach welchen Gegenſtänden ihre kleinen Händchen ſich ausſtrecken, um ſie an ſich zu reißen. Und wäre es ein roher Stein — gehe mit ihr hin, zeige mit dem Finger darauf, und ſage: Stein! ſuche dann mehrere Steine und wiederhole, ſo oft ſie19 darauf merkt, den allgemeinen Namen, Stein, und das ſo oft, bis Du merkſt, daß ſie Steine von andern Körpern unterſcheidet. Fällt ihre Aufmerkſamkeit zuerſt auf’s Lebendige, z. B. auf einen Sperling, auf eine vorbeifliegende Schwal - be: nenne ſie mit dem allgemeinen Namen, Vo - gel; laß Jda alles was fliegt bemerken, und wie - derhole ihr oft das Wort, Vogel. Bringe ihr, wenn’s ihr Freude macht, einen Vogel im Kä - fich näher, laß ſie ihn ſo lange betrachten, als ſie Luſt daran hat, entlaß ihn vor ihren Augen aus dem Käfich: ſie ſieht ihn fliegen, und weiß nun, wie die Vögel, die ſie in der Ferne fliegen ſieht, geſtaltet ſind, und hat ſchon den allgemei - nen Begriff: Vogel. Die unterſcheidenden Be - nennungen: Fink, Schwalbe, Nachtigall, Ler - che, Krähe, mag ſie ſpäter hören, wenn ſich der Begriff vom Vogel erſt recht feſtgeſetzt hat. Sie wird nun, wenn ſie zu ſprechen anfängt, das Haushuhn auch Vogel nennen, und das iſt gut. Laß ſie darin nicht irre machen. Fällt ihr irgend ein anderer Gegenſtand mehr oder früher in die Augen: wohl! ſo ſey es der, bey welchem Du20 mit ihr verweilſt. Jſt’s eine Tulpe oder Nelke, nenne ſie ihr zuerſt mit dem allgemeinen Namen: Blume. Fängt ſie an, Farben zu unterſcheiden, ſo füge den Namen der Farbe hinzu, und lehre ſie gelbe Blume, blaue Blume, rothe oder bunte Blume ſagen, aber nicht eher, als bis ſie wirk - lich die Farben unterſcheiden kann, und übe ſie oft darin.
Jſt die Witterung rauh und kannſt Du mit ihr nicht im Freien ſeyn: ſo mache ſie auf die Gegen - ſtände in ihrem Stübchen aufmerkſam, lehre ſie nach und nach alles kennen, unterſcheiden und be - nennen, was darin iſt; und eben deshalb wünſch’ ich, daß ihr Zimmerchen ſehr einfach dekorirt ſey, damit Du über alle Gegenſtände, die darin ſind, mit ihr reden könnteſt. Aber laß ja die Gegen - ſtände nicht ſchnell wechſeln.
Jn einem ſehr begüterten Hauſe fand ich einſt die Kinderſtube mit alten Haute-Liſſe-Tapeten verunziert. Der Wiege des kleinſten Kindes ge - genüber war der König Saul abgebildet, wie er21 mit dem Spieße nach dem David fährt. Das vorjüngſte Kind, welches eben zu plaudern anfing, fragte mich: Tante, willſt Du mir nicht erklären, was der Mann da macht mit dem großen Meſſer? Jch war verlegen, und wollte das Kind hiervon ab und zum nächſten Bilde führen, um ihm davon et - was zu erzählen, und ſiehe da! das nächſte Bild ſtellte den Teufel auf der Zinne des Tempels vor, wie er Chriſtum verſuchte. Es iſt, wollt’ ich eben ſagen, ein großer Affe, der den ſchönen heiligen Mann da herunterſtürzen will, als mir einfiel, daß ich ſo die Furcht vor den Affen in das Kind hineinfabeln würde. Die nächſte Abbildung ſollte mir aus der Noth helfen — und was fand ich? Es war Herkules, halb verbrannt auf ſeinem Schei - terhaufen, und der Centaur Neſſus, der dem Ak - tus aus einiger Ferne zuſah. Jch erſpare Dir die Beſchreibung der übrigen Vorſtellungen. Daß auch Jupiter und Europa, Diana und Aktäon nicht fehlten, verſteht ſich. — Komm, Lilli, rief ich, wir wollen in den Garten, wollen Blumen pflük - ken und der Mutter einen Kranz flechten. So verließ ich die Kinderſtube, in die ich ſeitdem nur22 noch einmal kam, und die ich ſo voll alberner Schnurpfeifereien fand, die den Kindern zum Zeitvertreib dienen ſollten, und zur gänzlichen Verwirrung ihrer Begriffe dienten, daß ich auf immer genug hatte.
Großer Zurüſtungen und eigends herbeigeſchaff - ter Gegenſtände bedarf es beim allererſten Unter - richte nicht. Die gemeinſten Dinge können dazu dienen, wenn ſie nur nicht zu künſtlich zuſammen - geſetzt ſind. Willſt du Jda früh über Formen belehren: führe ſie oft an einen runden Tiſch, be - zeichne ſeine Form und nenne ſie ihr oft; dann zeige ihr den viereckigen und nenne ihr die Form, indem Du auf die Ecken zeigſt; Du wirſt ſehen, wie bald ſie beyde unterſcheiden wird. Noch beſſer iſt es, wenn der erſte runde Körper, den Du ſie bemerken lehrſt, eine Kugel iſt. Kleine Kinder haben ohnehin eine Freude daran, ſie rollen zu ſehen, und ſie iſt eins der unſchädlichſten Spiel - zeuge, an welchem ſie ſich nicht verletzen können. Laß ſie dann, wenn ſie den runden Tiſch unter - ſcheiden kann, ſelbſt alle runden Flächen aufſuchen,23 als Teller, Taſſen und was der Art in der Nähe iſt. Alles im Zimmerchen kann Stoff zum Plau - dern mit der Kleinen werden, und alles Plau - dern wird Belehrung, wenn man ſich nur eini - germaßen dazu hingibt. Trittſt Du mit ihr ans Fenſter: ſeine regelmäßige Form, und ſeine glei - chen Abtheilungen geben Dir Stoff genug, auf Peſtalozziſche Weiſe oder wie Du ſonſt willſt, mit ihr zu plaudern. Und aus dem Schatze eigener Vernunft und dem noch reichern Schatze der Mut - terliebe wirſt Du täglich neuen Stoff zur Unter - haltung ſchöpfen. — Aber noch einmal, laß die Gegenſtände nicht zu ſchnell und flüchtig an Jda vorübergehen, ſondern ſie vielmehr an jedem ſo lan - ge haften und halten, als ſie nur immer will.
Deine Jda wächſ’t und gedeihet an Geiſt und Körper, und das kleine Herz iſt mit dem Mutter - herzen wie in eins verſchmolzen? O ich zweifle nicht; wie könnt’ es auch anders ſeyn! — Aber24 auch Spuren des aufkeimenden Eigenſinnes willſt Du bemerkt haben? Das wäre freilich früh, und nach unſerm Plane kommt der immer zu früh, weil er gar nie kommen darf. Ehe ich Dir etwas beſonderes über die Unterdrückung oder vielmehr Ausrottung dieſes Fehlers ſage, möcht’ ich gern gewiß ſeyn, ob Du Dich in der Sache nicht irreſt? ob das weinerliche Weſen, das ſie von Zeit zu Zeit überfällt, und das Wegwerfen der Dinge, die ihr ſonſt lieb ſind, auch wirklich Eigenſinn, ob es nicht vielmehr Unluſt iſt, die aus dem Schmerze beim Zahnen herrührt? Biſt Du hierüber ungewiß, ſo würde ich Dir rathen, wenn ſie heftig weint, und ihr Spielzeug auf den Boden wirft, ihr das Weggeworfene nicht wieder aufzuheben, auch wenn ſie darnach griffe, ihr auch für den Augenblick kein anderes zu reichen, ſondern ſie freundlich an Dich zu ſchließen, und zu ſehn, ob ſich vielleicht durch Liebe der Schmerz beſänftigen läßt. Fährt ſie fort, zu weinen, ſo ſey ernſthafter, ſuche ſie aber durch Ortsveränderung zu zerſtreuen; gehe mit ihr in den Garten, oder, wenn das nicht ſeyn kann, aus einem Zimmer in das andere.
25Schreit ſie nach den weggeworfenen Sachen, und ſie wären ihr von irgend jemand wiedergege - ben, und ſie wirft ſie dann abermals weg, ſo iſt kein Zweifel daran, daß es Eigenſinn ſey. Dann muß ſie ſie nicht wieder haben, und wenn ſie noch ſo heftig weinte; dann würde auch ein liebkoſen - der Ton ſie nur noch mehr zum Eigenſinn anrei - zen. Da waffne Dich gegen Dein allzuweiches Gefühl, und ſey nicht eher wieder zärtlich, als bis die böſe Stunde bey der Kleinen ganz vorüber iſt. Auch dieſe Mißlaune in dem Kinde kann vom Schmerz herrühren, und Kränkiichkeit ent - hält gewöhnlich den Samen zum Eigenſinne: Dennoch darf dieſer böſe Same nicht genährt werden. Er muß heraus, und frühe ausgejätet werden, ehe er zu viel Kraft gewinnt. — Gib Jda niemals das, wonach ſie ſchreit; gib ihr das aber gern und mit Deiner ganzen Freundlich - keit, wonach ſie freundlich äugelt; komme, wo es ſeyn kann, auch dem bittenden Blicke ſchon ge - bend entgegen. Schlage nichts, gar nichts ab, das Du geben darfſt: verweigere aber ſtandhaft, was Du einmal abgeſchlagen, und ſollte ſie es(4)26noch ſo ſchön, oder noch ſo kläglich fodern. Schreit ſie, ſo darf ſie es unter keiner Bedingung haben. Damit ſie aber zur Begierde deſſen, was ſie nicht haben ſoll, nicht gereizt werde, ſo laß ſolche Din - ge, wo das Vermeiden nur immer möglich iſt, gar nicht in ihre Nähe kommen. Der verbotene Baum in Eden war ein Erziehungsmittel der Himmliſchen für den ſchon erwachſenen Menſchen, und doch wiſſen wir, wie ſchlecht der Menſch die Probe beſtand. Wollen wir von unſern kleinen Kindern mehr fodern, als unſere erſten Eltern leiſteten? Einige Eltern — recht als wollten ſie die böſe Luſt in ihren Kindern erwecken — umge - ben ſie allenthalben mit ſolchen Dingen, die die Kinder nicht haben ſollen, und pflanzen einen ganzen Wald von verbotenen Bäumen um ſie; ei - nige aus Sorgloſigkeit, andere, um den Gehor - ſam zu prüfen. Du nicht alſo, liebſte Emma! Laß aus Jda’s Stübchen alles fern bleiben, was ſie nicht anrühren darf — beſonders wenn es auf - fällt und ſehr reizt. Gabeln, Meſſer und Scheeren halte ſo fern, als Du kannſt. Kleine Kinder freut der Glanz, und erregt ihre Begier darnach. Ent -27 ferne alle zerbrechliche Sachen: laß ſie aber mit andern glänzenden Dingen nach Herzensverlangen ſpielen, es ſey mit Geld oder andern Metall - ſachen, die nicht beſchädigen und auch nicht ver - dorben werden können. Die Nähe zerbrechlicher koſtbarer Hausgeräthe, die das Kind oft ſehen muß und nicht berühren darf, iſt ſehr nachthei - lig. Wollt ihr Begierden, wollt ihr Trotz, wollt ihr Bitterkeit in eurer Kinder Seelen pflanzen, ſo zeigt ihnen nur vieles, das ſie nicht haben dür - fen. — Es verſteht ſich, dieß gilt nur für eine ge - wiſſe Zeit. Denn die Zeit des Gehorſams muß auch kommen, wo es ſich von vielen Dingen um - geben ſieht, die man nicht entfernen kann, und die es nicht anrühren darf.
Noch eins, meine Emma! Umgib Deine ſüße Jda, ſo viel Du nur kannſt, mit ſchönen Ge - genſtänden aller Art; dulde nichts Geſchmackloſes um ſie. Du maleſt ja ſelbſt, und maleſt ſo ſchöne Blumen: verziere ihre Wände damit! Sobald ſie die, die Du in ihrem Stübchen zuerſt aufgehängt haſt, alle kennet, vertauſche ſie mit andern, und28 verändere dieſe Verzierung nach einigen Monaten wieder; wenn ſie auch dieſe kennt, hänge wieder andere hin, und ſo fort. Laß ſie dann dieſelben Blumen im Garten wieder aufſuchen, und Du wirſt ſo einen Maßſtab ihrer Aufmerkſamkeit und ihres Vergleichungs-Vermögens erhalten. Du ſchriebſt mir neulich, daß ihr Vögel beſondere Freude machten: hänge aus Deiner kleinen Samm - lung ausgeſtopfter Vögel eine Partie nach der an - dern hin, aber nur wenige auf einmal, und ſiehe, ob ſie die in der Natur ihr ſchon bekannten gleich wieder erkennt. Laß dann Abbildungen in Ku - pferſtichen folgen. Das Bertuchſche Bilderbuch kann Dir hier gute Dienſte leiſten. Aber laß nie eine Menge Gegenſtände daraus flüchtig vor ihr vorüber gehen, ſondern befeſtige immer eine Partie davon an die Wand, bis ſie völlig damit bekannt iſt, und gar nicht darin irrt. Dann nimm dieſe Bilder weg und thue andere an die Stelle. Wenn ihr am Fenſter vorbeigehende Pferde, Schaafe, Kühe, aufgefallen ſind, und ſie mit Freude ihre Namen nachgeſprochen, dann zeige ihr bald nachher auch eine gute Abbildung davon, und ſo eine lange Zeit29 nur immer Abbildungen von Dingen, die ſie in der Wirklichkeit ſchon kennt, und es wird ſich früh eine richtige Vorſtellung von Bild und Sache in ihrer Seele feſtſetzen. Nenne ihr oft die einzel - nen Theile jedes Geräthes im Zimmer, beſonders an ſolchen, wo einzelne Theile leicht zu unterſchei - den ſind. Fange bei den einfachſten an, und gehe zu den künſtlicher zuſammengeſetzten fort. —
Haſt Du Jda ſo vor Eigenſinn bewahrt, und ſie gegen Langeweile durch ſtete Beſchäftigung ge - ſichert, dann ſind zwey Hauptquellen des Uebels in der Erziehung verſtopft, und Deinem Mutter - herzen vielleicht jede Strenge für die Zukunft ganz erſpart: Du wirſt vielleicht nie ſtrafen dürfen! — Ueber die Schädlichkeit mancher unentbehrlichen und nicht zu entfernenden Dinge laß ſie ſich durch das Gefühl belehren. Greift ſie nach einem bren - nenden Lichte, oder nach dem Feuer im Kamin; ſo ſage ihr: Jda, es brennt! Jda, es thut wehe! Sie wird das nicht verſtehen, und die ſchöne helle Flamme greifen wollen. Laß ſie das Fingerchen dem Lichte ein klein wenig nähern, (vor dem Ver - brennen wird Mutterſorgfalt ſie wohl ſchützen)30 aber laß ſie ein wenig fühlen, was Brennen heißt. Jch ſtehe dafür, ſie wird nicht mehr in das Licht greifen; und ſollte ſie’s zu vergeſſen ſcheinen, ſo rufe nur: es brennt! und die Erinnerung des Ge - fühls wird mit den Worten zurückkehren. Auf immer wirſt Du freilich auch Meſſer, Gabel, Scheere, und alle ſcharfe Jnſtrumente nicht vor ihr verbergen können. So wie ihr das erſte da - von in die Augen fällt, ſage ihr: Jda, es ſchnei - det! Jda, es ſticht! Dieß Gefühl kennt ſie noch nicht, aber Deine warnende Stimme kennt ſie ſchon, und gewiß wird ſie auf dieſen Ton und auf dieſe Worte merken. — Bezeigt ſie dennoch ein ungeſtümes Verlangen darnach, laß ſie ſich in die Spitze ein klein wenig ſtechen; aber laß es doch ſo viel ſeyn, daß es ſie ein wenig ſchmerzt, und ſie wird ſicherlich das böſe Ding wegwerfen, und wird nach der zweiten Erfahrung die Stimme der Warnung ſchon beſſer kennen und mehr darauf achten. Noch ein Paar ähnliche Erfahrungen, und ſie braucht keine mehr zu machen; ſicher wird ſie auf Deine Warnung merken, und ihr willig gehorchen. Für heute nichts mehr. Aber Du31 haſt die rathgebende Freundin einmal aufgefo - dert; Du ſagſt, daß dieſe Briefe Dir Freude ma - chen, und daß Du dieſe Rathſchläge alle anwend - bar findeſt — es wird alſo dieſen vier Briefen noch mancher nachfolgen.
Alſo läuft Jda wirklich ſchon? und ſie iſt erſt eilf Monat und einen halben alt? Und doch ſahe man bis dahin bey Dir weder Laufband, noch Gängelwagen, noch ſonſt irgend ein Werkzeug, das Kinder früher gehen lehrt, als ſie können, d. h. als ihnen die Kräfte dazu gekommen ſind. Aber man will Dich beſorgt machen, Jda werde vielleicht ein krummes Füßchen oder eine krumme Hand nach dieſer Kriechmethode bekommen. Laß Dir keine Sorge deshalb ans Herz kommen, ich bitte Dich! — Schon viele Kinder ſahe ich, die auf dieſem natürlichſten aller Wege das Gehen lernten, und gerade dieſe waren die kräftigſten, und alle ihre Glieder, wie die Natur ſie haben will. 32Sehr lebhaft erinnere ich mich des Knaben eines Tagelöhners, der bey uns in Arbeit ſtand. Der Vater war ein gebrechlicher Menſch mit ganz krum - men Füßen, der nur wenige Hausarbeiten ver - richten konnte. Die Mutter mußte alſo mit auf die Arbeit ausgehen, um für die Familie die Noth - durft erwerben zu helfen. Da ſollten denn die beiden älteſten Kinder, die auch noch klein waren, dies kleinſte den Tag über warten. Jhr Hüttchen ſtand dicht neben unſerm damaligen Landhauſe. Jch hörte im Hüttchen oft ſchreien. Es jammerte mich der armen Kinder, die ſo alle drei zu Krüp - peln werden mußten. Jch gab den beiden älteſten eine Beſchäftigung, die ihnen angemeſſen war, und nahm den kleinen halbjährigen Buben des Tags, wenn er nicht ſchlief, zu mir in’s Zimmer, breitete dann einen Teppich unter ihm aus, ſetzte ihn darauf, und gab ihm Allerlei zum Spielen — unter andern auch kleine Kugeln. So oft ihm die weg rollten, wollte er ſie wieder greifen; das wollte nicht gelingen, und ſo fing er an zu kriechen, und kroch ihnen nach. Dieſe Verſuche mißglückten bisweilen, und er ſchrie. Jch half ihm nur wenig33 nach, weil es mich zu ſehr in meinen Beſchäfti - gungen ſtörte. Er lernte ſich bald ſelbſt helfen, und kroch, trotz dem beſten Krebſe, bald rück -, bald vorwärts, und gefiel ſich ungemein in dieſer Kraftäußerung. So oft ich ihn freundlich anſah, lachte er mir zu, und kroch mit immer größerer Schnelligkeit. Er mochte etwa zehn Monate alt ſeyn, als ich den Verſuch machte, dem kleinen Hans eine Birn, die er ſehr gern aß, auf einen Stuhl am andern Ende des Zimmers hinzulegen. Er kroch mit großer Schnelligkeit nach dem Stuhle. Aber wie ſollt’ er nun daran kommen? Er machte den Verſuch, ſich an dem Stuhlbeine aufzurich - ten: der Verſuch mißlang. Die Birn reizte ihn ſehr ſtark: er verſuchte es noch einmal, und noch einmal, und es war gelungen — er ſtand am Stuhle, zitterte ein wenig, ergriff ſeine Beute, und lachte überlaut. — Jch lachte ihm Beifall zu. Auf ſeinen Beinen halten konnte er ſich noch nicht lange. Bald ſaß er wieder auf dem Boden, und kroch, wie zuvor, nach allen vier Ecken des Zim - mers in allen Richtungen herum. Jch wiederholte das Experiment täglich, und er bekam bald Kraft(5)34zum Stehen in den Beinen. Da fing ich an, dem kleinen Hans das Ziel weiter zu rücken. Wenn er ſich eben am Stuhl aufgerichtet hatte, legt’ ich den Kuchen, oder das Obſt, oder was es ſonſt war, ein Paar Stühle weiter. Nun fing er an, ſich an den Stühlen halten zu wollen, um zu dem hinzugehen, wo der Preis lag. Die Stütze verſagte aber: ich reichte ihm einen Finger hin, er ergriff ihn, und ſo kam er zum Ziel. Nach ei - nigen Tagen gab ich ihm keinen Finger mehr, und er kam auch hin. Und ſo führte ich ihn bald an der einen, bald an der andern Hand, wohin ich ihn haben wollte. Noch ehe er eilf Monate alt war, lief er allein. War er müde, ſo kroch er wieder, und als er ein Jahr alt war, war er faſt immer auf den Beinen, und Du mußt nicht leicht ein netteres und kräftigeres Bübchen geſehen ha - ben, als dieſen kleinen Hans.
Dieſe Erfahrung hatte ich gemacht, noch ehe ich mit Erziehung mich eigentlich beſchäftigte, und zu einer Zeit, wo ich noch nicht einmal wußte, daß auch das zur Erziehung gehöre. Als dies Ge -35 ſchäft aber mein Beruf wurde, da wiederholte ich bei mehreren kleinen Kindern dieſe natürlichſte aller Methoden des Gehenlernens, und fand ſie probat, wie das erſtemal. Auf ſolche Erfahrungen grün - dete ſich die Zuverſicht, mit welcher ich ſie Dir em - pfahl. Und Dein Beiſpiel hat ſie auf’s neue ge - rechtfertigt. Wollte man uns die unzählige Menge von Beiſpielen entgegenſetzen, wo Kinder am Lauf - zaum gehen lernen, und doch eben keine Krüppel werden, von Kindern, denen das Leitband die Bruſt nicht zuſammendrückt, und wo das frühe Stehen und gezwungene Gehen im Gängelwagen keine krummen Beine gemacht hat: ſo ſetze ich die noch weit größere Menge roher Völkerſchaften da - gegen, bei denen eine verkrüppelte Geſtalt eine viel ſeltnere Erſcheinung iſt, als bei uns Europäern, und die gewiß alle unſere, der Natur vorgreifen - de Werkzeuge, die kindliche Kraft in Thätigkeit zu bringen, nicht kennen. Fort alſo mit dem Lauf - zaume, fort mit dem Gängelwagen, was auch die gute Tante, die Deine Jda damit beſchenkt, von unſerer Methode fürchten mag! Beweiſen wir ihr nicht mit Worten, ſondern mit dem glücklichen Er -36 folge das Gegentheil! Dieſe Art, zu beweiſen, iſt für viele Menſchen die einzig überzeugende.
Mich rufen für heut andere Geſchäfte. —
Noch kein Wörtchen ſagt’ ich Dir zur Antwort auf Deine Frage: wie früh man durch Muſik auf junge Kinder glücklich wirken könne? Aber haſt Du mir nicht dieſe Beantwortung faſt ſchon vor - weggenommen? Was iſt denn Jda’s Freude an Deinem Geſange anders, als reger Sinn, ſchöne Empfänglichkeit für das Melodiſche? Für Har - monie entwickelt ſich bei gewöhnlichen Kindern der Sinn ſo früh nicht. Aber ihr liebliches Nachlal - len des Liedchens: „ Der Frühling iſt gekommen ‟ und die Nachbildung ſelbſt des Rhythmus, ſcheint mir ein Talent anzukündigen, das der Pflege werth iſt. — Sollte aber auch die Deutung dieſer Auſpi - zien zu günſtig ſeyn, ſo iſt es ihr ſicher auf andere Weiſe wohlthätig, wenn ſie ihr ſanftes Mütterchen recht viel ſingen hört.
37Noch habe ich außer einer alten Fuhrmanns - frau — die zwiſchen jeder Zeile von ihrem Mor - genliede: „ Wach auf, mein Herz, und ſinge ‟ immer einige heftige Apoſtrophen an ihre Pferde richtete, wenn ſie ſich beim Striegeln oder An - ſpannen nicht ſchicken wollten, noch habe ich ſonſt niemand unmittelbar nach dem Geſange zür - nen geſehen. Wer in einem ſchönen Gemüthe auch den gerechteſten Unwillen entwaffnen wollte, dürft’ es nur verſuchen, die Melodie von Kirnberger’s: „ Schwach und ſündlich iſt der Menſch geboren ‟ oder Graun’s Arie: „ Jhr weichgeſchaff’nen See - len ‟, oder den ſchönen Choral: „ Herzlich lieb hab’ ich dich, o Herr! ‟ anzuſtimmen; ich ſtehe für das Gelingen. Und kein Jnſtrument (ſelbſt die auf - löſende Harmonika nicht) darf ſich mit der Men - ſchenſtimme meſſen, wenn ſie recht rein und ſanft getragen iſt. O ſinge, ſinge viel, wenn Du Jda bei Dir haſt. Beſonders im Garten. Es wird ja bald wieder Frühling! Dann leb’ und wohne mit ihr unter Blumen und Vögeln, die ſie ſo gern hat, und ſinge ihr häufig vor. Bis dahin beſchäftige ſie und laß ſie ſich ſelbſt beſchäf -38 tigen mit den Gegenſtänden, die ihr Freude ma - chen; mit keinem einzigen aber zu lange, d. h. bis zum Ueberdruß. Zum Vorſpielen auf dem Kla - vier wollt’ ich jetzt noch nicht gern rathen. Jch weiß wohl, daß Kinder gern hinhorchen; aber ſie horchen nach allem, was klingt, und nach einer Schelle faſt eben ſo gern, als nach dem ſchönſten Klavierſpiel, welches ſie gewöhnlich dadurch un - terbrechen, daß ſie ſelbſt mit Händen und Füßen drauf ſchlagen wollen. — Nur Kinder von ſelte - nem muſikaliſchen Talente zeigen früh einen em - pfänglichen Sinn für Harmonie. Bemerkſt Du, daß Jda lange ſtill und fröhlich horcht, wenn ſie zufällig Dich oder ſonſt jemand ſpielen hört, und ernſtlich darnach hinverlangt: dann iſt das Zeichen von der Natur gegeben, dann beſchäftige ſie gern auch damit, daß Du ihr vorſpielſt.
Gib auch fleißig Acht, ob ihre Füßchen bei dem frühen und vielen Laufen gerade bleiben? und wenn ſich eins ein wenig einwärts biegen wollte, ſo laß ſie ja nicht lange ſtehen, auch nicht zu lange hintereinander laufen, ſondern ſie lieben39 auf dem ausgebreiteten Teppich auf dem Boden herum ſpielen. Auch muß Gertrud ſie mitunter noch tragen; aber abwechſelnd auf beiden Armen, nie ſehr lang auf einem. Daß Du mit der ge - lehrigen Gertrud ſo gut fortkommſt, iſt ein wah - res Glück. Sage ihr von meinetwegen, daß ich ſie ſehr werth halte. Jch weiß wohl, daß die redliche Seele keiner goldenen Belohnungen be - darf; aber ich ſchicke ihr mit dieſem Briefe ein goldenes Herz, das ſoll ſie zu meinem Andenken auf ihrer Bruſt tragen, und ſich dabei meiner Wünſche für Jda erinnern. Auf der einen Seite ſteht mein Name, auf der andern: Gedenke mein! Das erklärt meine Freundin ihr ſo: „ wenn ihr weiches Herz die Gute ſollte verleiten wollen, Jda’s kleinen eigenſinnigen Launen nachzugeben, dann ſoll ſie meiner gedenken und — widerſtehen. Auch ſoll ſie ſich Gewalt anthun lernen, und den holden Engel nicht zu oft küſſen. ‟ — Hörſt Du, Beſte? daran ſoll das goldene Herz ſie mahnen.
Jch kenne gute Menſchen genug, die ſich an ſolche Sorgfalt ſtoßen, ſie für pedantiſch, we -40 nigſtens für völlig überflüſſig erklären würden. Denn, würden ſie ſagen, wenn man auch das Unſchuldigſte tadeln und verwerfen will, und wenn man dem Kinde keine zärtliche Liebkoſung mehr machen darf, ohne ängſtlich zu berechnen, ob es ihm auch nicht ſchade: ſo iſt es, als wenn man ihm auch ſeine Portion Speiſe und Getränk jedesmal zuwägen müßte. Wenigſtens antworte - te eine Mutter einmal einem verſtändigen Man - ne etwas der Art, als er ſie bat, nicht zuzuge - ben, daß die Amme ihr Kind ſo heftig küſſe, da das Kind ſogar unwillig ward, und die hefti - ge Amme von ſich abwehrte. Die Kleine wäre nur eigenſinnig, meynte ſie, und dann möchte ſie keine Liebkoſungen, auch von ihr, der Mutter nicht. Daran müſſe ſie ſich aber doch gewöh - nen. — Der Pädagog ſchwieg, und deine Freun - din ſchweigt auch von dieſem unzarten Gegen - ſtande. Er, weil er ſah, daß ſolche Lehre hier auf den Felſen fiel; die Freundin, weil ſie fühlt, daß ſie bei Dir überflüſſig ſey. — Aber eins noch: bitte alle, die Dein Kind lieb haben, und ſich gern mit ihm zu ſchaffen machen, die41 Kleine nicht zu necken, ihr ſcherzend etwas zu entreißen, woran ſie Freude hat, und wenn ſie denn heftig wird, es ihr wiederzugeben. Dies iſt eine der tauſend Arten, Heftigkeit und Eigen - ſinn dem Kinde einzuimpfen.
Auch ſehr gebildete Männer ſpielen wohl ſo mit kleinen Mädchen, weil ſie das tolle Frätzchen ko - miſch finden, das ein heftig gewordenes Kind ſchneidet. Du ſagteſt neulich, daß Jda gern Männer ſehe, und ihnen nicht blöde ſey. Das iſt recht ſchön; aber es führt mich auch ganz na - türlich auf dieſe Warnung. Auch Gertrud muß ja ſo nicht mit Jda ſpaßen.
Noch kennt Jda keine Furcht im Dunkeln? Jch glaube es: was hätte ſie auch wohl bis jetzt ge - ſehen oder gehört, woran die Erinnerung im Finſtern wiederkommen, und ihr bange machen könnte? Daß ihr ja dieſe wohlthätige Furcht - loſigkeit durch nichts getrübt, und ihr ſo lange als möglich erhalten werde! Sie iſt eine der höchſten negativen Wohlthaten, die(6)42als ein Eigenthum der unbefangenen kindlichen Unwiſſenheit reſpektirt wer - den ſollte.
Es geht über alle Vorſtellung, wie unglück - lich man in der Kindheit durch leidenſchaftliche Furcht und Angſt werden kann, und wie dadurch dem Kinde ſeine ganze goldene Morgenröthe ge - trübt wird. Jn meiner früheſten Kindheit hatte mein trefflicher Vater mich ſehr ſorgfältig gegen die Anwandlung dieſer unſeligen Leidenſchaft ver - wahrt. Oft nahm er mich in meinem zweiten und dritten Jahre auf ſeine Arme, hüllte mich in ſeinen Schlafrock, ging mit mir hinaus im Dunkeln in den Garten, zeigte mir den herauf - ſteigenden Mond, und das kindliche Herz fühlte nur Freude und ahnete nichts von Furcht. So ging er zur andern Zeit, wenn’s dunkel ward, mit mir in den Zimmern und Gängen des Hauſes umher, und ſang mir vor. Auch fodert’ er von meiner Mutter, wenn ſie mich ſchlafen legte, und mir mein kurzes Abendgebet vorgeſprochen und mich geküßt, daß ſie ſogleich von mir ging, und das43 Licht mit hinweg nahm. Dann durfte keine Magd und niemand mehr ins Schlafzimmer. Rief ich dann: Mutter, oder Vater, küſſ’ mich noch einmal! ſo kamen ſie wieder und befriedigten das kleine Herz. Hierbei aber blieb es, ich durfte dann nicht mehr rufen, ſchlief auch meiſtens gleich ein, und erwachte vor Morgens ſieben Uhr nicht wieder.
So ging es bis ins dritte, vielleicht vierte Jahr. Da kam unter den Kindern, die mit meinem ältern Bruder ſpielten, auch ein junger Vetter, der eine beſondere Freude hatte, mich zu necken. Der erzählte mir, wenn wir im Halbdunkel ſpiel - ten, allerlei ſchauerliche Dinge, und begleitete ſeine Erzählung mit ſolchen Tönen und Bewegun - gen, daß ich in eine entſetzliche Angſt gerieth. Die mochte dem jungen Menſchen, der etwa zwölf bis dreizehn Jahr alt war, komiſch vorkommen, ſo daß er es immer ſchauerlicher machte, bis er ſah, daß ich vor Angſt nicht mehr zu bleiben wußte; dann verſucht’ er mich wieder zu tröſten: aber die Furcht war mir nun eingeimpft, und ward meiner44 völlig mächtig. Nun konnte man mich zu fürch - ten machen, womit man wollte. Erſt graute mir vor Rieſen ohne Kopf, wovon der Vetter mir er - zählt hatte, dann ver Pferden mit feurigen Au - gen, dann vor dem Alp, dann vor Geſpenſtern, vor Kobolden, Drachen, Hexen, dann vor Ko - meten, Gewittern, und am Ende vor dem jüng - ſten Tag.
Meinen herrlichen Vater hatte ich ſehr früh ver - loren. Niemand arbeitete der Furcht bei mir ent - gegen: ſie nahm bald ſo überhand, daß ich keiner Freude mehr fähig war. Oft wünſcht’ ich mir den Tod, weil mir ein Leben voll ſteter Angſt unleid - lich ſchien. Blumen und Vögel, meine vorzüg - lichſten Freunde, und die ganze ſchöne Natur ſprachen mir vergebens zu; hinter jedem Baum und Strauche ſah ich irgend ein Unthier lauern. Die Sterne, die mich früh ſo glücklich machten, weil man mir geſagt, auf jedem wohn’ ein En - gel, wurden mir nun fürchterlich, weil ich immer meynte, ſie würden ſich in Kometen verwandeln und den jüngſten Tag heranbringen. Kurz, die45 Freude meiner Kindheit war faſt ganz dahin. End - lich ſiegte meine beſſere, heitere Natur. Viel - leicht gaben auch die Geſpräche heiterer, gebildeter Menſchen, bei denen ich zufällig gegenwärtig war, meinem Geiſte eine andere Richtung. Aber noch bis in mein ſiebenzehntes, achtzehntes Jahr hatte ich mit den Reſten dieſer Eindrücke zu kämpfen, die erſt ſehr ſpät völlig verlöſchten.
Bewahre unſern Liebling davor, beſte Emma; erſpare ihr dieſe Kämpfe der Angſt, die eine ſo harte Anſtrengung und einen zu großen Kraftauf - wand fodern, um ſich ganz davon loszumachen. Es gibt Dinge, die man allerdings fürchten ſoll; aber die Periode dieſer Furcht darf bei Jda noch nicht eintreten. Beſorge dabei nicht, daß Jda in dieſer Furchtloſigkeit zu keck, zu dreiſt werden möchte. Jhre heilige Furcht ſey jetzt die, Dich unzufrieden zu ſehen. O! die Zeit wird kommen, wo ein Schauer vor der unſichtbaren Macht, die die ganze Natur bewegt, ihre Seele mit Ehrfurcht durchdringen wird! Jetzt muß nur Liebe in ihr leben; dieß iſt der einige Geiſt, deſſen geheimnißvolle Sprache ſie46 vernehmen ſoll; der allein weckt das Göttliche im Menſchen.
Wächſ’t ſie ein wenig heran — etwa im dritten Jahre — dann laß ſie auf das Brauſen der Wo - gen am Geſtade, auf das Nauſchen der hohen Tan - nenwipfel, auf das Rollen des noch fernen Don - ners merken. Dein feierliches: Horch, Jda, es donnert! horch, wie es brauſet! wird ſie ſchon aufmerkſam machen. Und wenn ſie ſich dann ein wenig ſchüchtern an Dich ſchmiegt, ſo weißt Du, das Gefühl der unſichtbaren Macht iſt in ihre Seele gedrungen. Wie früh ſie den Namen Gott hört, darauf kommt es nicht an. Dieſer heilige Schauer vor dem Unſichtbaren, und die Jnnigkeit, mit der ſie Dir anhängt, ſind ihre erſte Religion. Sollte ſie beim Geräuſche des nahen Donners zu bange werden, dann wird ein heiterer Blick von Dir nach oben hinauf, uud das leiſe Wort: Va - ter im Himmel! das Dir vielleicht unwillkürlich von der Lippe ſtrömt, das kleine Herz beſänftigen. Aber weiter muß ſie noch nichts hören. Solche Worte oder nur Blicke fallen als Funken in’s junge47 Gemüth, und zünden oft erſt ſpät; aber verloren gehen ſie nicht.
Alſo am letzten Tage ihres erſten Jahres hat Jda Dich mit den deutlichen Worten: liebe Mut - ter! erfreut? Und nun verſucht ſie auch: Bruder Woldemar zu ſagen und Onkel Wilhelm? Das mag komiſch genug klingen! Bald werde ich kom - men, und ſie Tante Selma ſagen lehren. O was wird die Tante Selma alles mit ihr plaudern! — Erzähle ihr bis dahin von der Tante. Ehe ein Monat verläuft, bin ich bei Dir.
Kindiſch freue ich mich dieſer Reiſe. Lebe wohl! Stelle bis dahin häufige Sprechübungen mit un - ſerm Liebling an. Jch bin ſehr begierig, zu er - fahren, wie viel und wie deutlich ſie am Ende ih - res funfzehnten Monats wird ſprechen können. Wenn ſie auch noch gar nicht in ordentlich artiku - lirten Tönen ſpräche; es dürfte Dir darum nicht bange ſeyn. Es gibt Kinder, die vor Ablauf ih - res zweiten Jahres nicht ſprechen, und die doch alle Sprachwerkzeuge haben, bei denen ſich aber48 überhaupt alles ſpäter entwickelt. So iſt es frei - lich angenehmer. Mit größter Zuverſicht erwarte ich, Du werdeſt die Gertrud anhalten, alles, was ſie der Jda vorſagt, langſam, beſtimmt, und auf das deutlichſte auszuſprechen. Und daß ſie mir ja nicht dem lallenden Kinde nachlallt, um es fein lange bei dieſer unvollkommenen Kinderſprache zu erhalten, weil die ſo närriſch lautet. Lebe wohl!
So geht es den menſchlichen Planen! Statt meiner kömmt nur ein Brief von mir. Es kann dießmal nicht anders ſeyn; und wo etwas nicht anders ſeyn kann, iſt’s am beſten, ſich ſchnell darein zu finden und auch nicht viel darüber zu ſprechen.
Es iſt zwar ſchon früher von Uebungen der Sinne unter uns verhandelt worden; aber es wird jetzt Zeit, beſtimmter darauf zurück zu kom - men. Stellſt Du denn mit Jda dergleichen Uebun - gen an? Wo die Natur freigebig war, da geht49 freilich alles von ſelbſt, ohne dergleichen beſondere Uebungen, von ſtatten. Aber wie reich das Kind mit Feinheit und Schärfe der Sinnen begabt ſey, das kann man in der früheſten Zeit nicht wiſſen, wenn man keine Verſuche anſtellt.
Mache denn ſolche Verſuche bisweilen mit dem Sehen. Stecke ein Ziel auf in der langen Gar - tenallee, und befeſtige daran, was Jda vorzüglich gern ſieht, es ſey z. B. der Kanarienvogel mit ſei - nem Käfich, und gehe dann mit ihr aus einer Ferne darauf zu, in der ſie ihn Anfangs nicht erkennen kann. Nähere Dich ihm allmählig, und ſiehe zu, wie bald ſie ihn erkennt; bemerken wird ſie ihn ge - wiß, ſobald ihre Augen ihn unterſcheiden können. Tritt am folgenden Tage aus noch größerer Ferne mit ihr davor, und ſie wird ihn ſchon früher er - kennen, aber nur deshalb, weil ſie ihn da vermu - thet. Laß den dritten Tag etwas anderes am Ziele ſeyn, etwa einen großen, recht bunten Blumen - kranz, und nähere ſie dem Ziele ſo lange, bis ſie auf Deine Frage: Was hängt da? richtig ant - wortet. Wechſ’le ſo mit Gegenſtänden, die ihr(7)50lieb ſind, und ſetze das Ziel immer weiter hinaus: ihr Auge wird ſich gewiß anſtrengen, den neuen Gegenſtand an demſelben Orte zu erkennen, und Du wirſt mit Freuden ſehen, wie ihr Blick immer ſchärfer wird. Wenn Du einmal abweſend ſeyn mußt, ſo laß Gertrud Dir mit ihr entgegen kom - men, und ihr nicht ſagen: Die Mutter kommt, aber genau darauf merken, wie bald ſie Dich er - kennt: ſie muß nämlich wiſſen, daß ſie Dir ent - gegen geht. Solche Uebungen ſind ſehr leicht und ungeſucht täglich anzuſtellen.
Auf eine ähnliche Weiſe läßt ſich auch das Ohr üben. Z. B. der Bruder Woldemar, oder der Onkel find ausgeweſen und kommen wieder, ohne daß Jda ſie kommen ſieht. Du biſt oben mit ihr im Stübchen: Du hörſt unten ſprechen, aber nur noch undeutlich, und die Stimme iſt noch nicht ganz kenntlich. Du fragſt: Jda, wer ſpricht da unten? ſie wird ſich ſchon anſtrengen, zu hören, wer der Sprechende iſt. Auf tauſendfache Art laſſen ſich ſolche Verſuche machen, und was kann man mit den kleinen Wichten, die ſo gern unter -51 halten ſeyn wollen, beſſeres ſprechen? Jhre übri - gen Sinne werden ſich von ſelbſt üben und ohne Nachhülfe die gehörige Feinheit erlangen.
Doch magſt Du wohl den Gefühlsſinn — (in den Fingern; das Wort: Taſten oder Getaſt iſt mir ſtark zuwider) dieſen magſt Du zuweilen auch auf die Probe ſtellen. Laß Jda die Augen zuthun, und durch ihr bloßes Anfühlen Deine und Ger - truds Hand unterſcheiden; oder den wächſernen Apfel von dem wirklichen; oder das leinene Hemd - chen von dem kattunenen Kleide u. ſ. w. …
Unterſcheidet ihr Gefühl dieß richtig und ſchnell, dann übe ſie in feinerem Unterſcheiden. Aber die Uebungen des Geſichts und Gehörs müſſen fortge - ſetzt werden. Dieſe ſind weſentlich. Durch die be - kannten fünf Thore ziehen ja alle Vorſtellungen in die junge Menſchenſeele ein. So wollen wir ſie denn auch öffnen, ſo gut wir können; beſon - ders die, durch welche dem Menſchen die menſch - lichſten Vorſtellungen kommen!
52Du ſagſt, daſt Jda ſo große Freude hat am Rauſchen des Windes in Deinen hohen Pappeln, am Geſange der Vögel, an den bunten Farben der Blumen: o laß ſie, ſo viel nur möglich iſt, im Freien ſeyn! Nichts bildet den Sinn für ſchö - ne Natur glücklicher aus, als das Leben in der Natur.
Kaum bin ich von Dir und Deinem Engel zu - rück, ſo muß ich ſchon wieder ſchreiben! Wie iſt mir der Abſchied von Dir und dem holden Kinde ſo gar ſchwer geworden! Jch träumte faſt jede Nacht von Euch, oder vielmehr von einem Ge - mälde einer heiligen Familie, auf die ich aber Euer Bild übertrage. O Emma, glückliche Em - ma! welch ein Kind ward Dir zu Theil! — Gewiß, Du wärſt vor hundert Müttern zu entſchuldigen, wenn Du Jda durch allzuweiche, allzuzärtliche Aufmerkſamkeit verwöhnteſt, ja, wenn Du ſelbſt ſie verzögeſt! Aber das wirſt Du nicht; dafür53 bürgt mir alles, was ich in den drei Monaten von Deiner Verfahrungsart geſehen. Jch könnte jetzt vielleicht aufhören, Dir zu ſchreiben, und doch war Deine Bitte um fernere Leitung ſo herz - lich, und Dein Vertrauen auf die größere Erfah - rung und Geiſtesreife Deiner älteren Freundin ſo innig, daß ich nicht zu widerſtehen vermag. Jch fahre alſo fort, Dir meine Jdeen über Jda’s fernere Bildung mitzutheilen.
Unbeſchreiblich hat mich des Kindes feiner Sinn für Reinlichkeit erfreut. Jch habe vergeſſen, Dir zu erzählen, wie ſie einmal ſo traurig daſaß, als ſie die kleinen Fingerchen beſchmutzt hatte, und Du hinaus gerufen wurdeſt, ehe Du ſie reinigen konnteſt! Gegen mich war ſie noch blöde; ich merkt’ es nicht gleich, was ihr fehlte, bis ich ſie ſtill weinen ſah. Als ich nun fragte, was ihr fehle, ſah ſie beſchämt auf ihre Hände, und ſtam - melte endlich: Liebe Tante, bitt’ abwiſchen. Jch wuſch die kleinen Hände und küßte ſie auf die Wange, und von dem Augenblick an waren wir vertraut. Dieſer Sinn iſt eine der weiblichen54 Grazien, die bis ins ſpäteſte Alter uns einen Schimmer der Liebenswürdigkeit bewahren. Den ſollen wir in unſern Kindern ja recht wach zu er - halten uns beſtreben. Wenn wir mit Jda über den Hof in den Garten gingen, wie ſie ſo ſorg - fältig allem Unreinen auswich, ohne daß Du ſie zu erinnern brauchteſt! Eines Abends, ich weiß nicht wo Du wareſt, kam Woldemar, der im Garten gearbeitet hatte, mit ganz ſchwarzen, er - digen Fingern auf ſie zu und wollte ſie neckend liebkoſen: heftiger hab’ ich das Kind noch nicht weinen gehört, als da. Woldemar erſchrack, ging ſtill hinaus, wuſch ſich, brachte ihr eine Ro - ſe aus dem Garten, ſie lächelte ihm zu, ſchluchzte aber noch, und nun küßte Woldemar ſie mit dem ganzen Ungeſtüm ſeiner Liebe. Da lachte der kleine Engel und ſagte: Jda nicht mehr weinen! Es war ein herziger Anblick.
Kleide Jda nicht in dunkele Zeuge. Wäre ſie ein ſehr lebhaftes Kind und triebe ſich gern acht - los herum, dann würde ich mehr dazu rathen, damit ſie ſelbſt ſich nicht gewöhnte, ſich mit Flek -55 ken zu ſehen. Aber jetzt, es gibt kein ſicherers Mittel, ihren Reinlichkeitsſinn ferner auszubilden, als, ſie weiß oder doch in zarte Farben zu kleiden, weil ſie es da am erſten gewahr wird, wenn ſie nicht reinlich ausſieht. Soll ſie ſich im Garten herumtummeln, ſo binde ihr ein ſchwarzes Schürz - chen über, damit ſie auch dort keinen Flecken bekomme.
Jn dieſem Stücke muß die wackere Gertrud noch beſſer in Deinen Sinn eindringen lernen; das habe ich ihr auch eingeſchärft, damit Jda ſie immer mit Liebe und Wohlgefallen ſehe. Sie hat hierin noch zu viel von dem Stande, dem ſie angehörte, bevor ſie zu Dir kam. Jhm ſcheint Reinlichkeit hoher Luxus, den man ſich nur Sonn - tags erlauben darf. Auf meine Frage: ob ſie nur Sonntags von Dir und Jda geliebt ſeyn wollte? ging ſie ſchweigend und beſchämt hinaus, und kam ſauber gekleidet, aber erröthend bei mei - nem Blick auf ſie ins Zimmer zurück. Jch ging zu ihr, klopfte ihr ſanft auf die Schulter; ſie blickte nieder und ſagte: ich will mich beſſern. 56O! halte darauf, daß ſie ſich wirklich von dieſem faſt einzigen, aber großen Fehler beſſere, obgleich es ihr wehe thun wird! Und wenn Du ihr Geſchen - ke machſt, laß es immer lieber ſauberes Leinzeug ſeyn, als irgend etwas elegantes. Zur nahen Meſſe ſchicke ich ihr ein Duzzend leinene Schürzen. Verdirb mir diesmal die Freude nicht damit, daß Du ihr auch welche ſchenkſt: ſie wird mich wohl verſtehen, was ich damit meyne.
Ob man auch wohl allzureinlich ſeyn kön - ne? fragte mich neulich einmal eine Verwandte in vollem Ernſt. Jch nicht, war meine Antwort; denn mir fehlt zum „ genug ‟ noch manches. Viel - leicht kann es niemand zu ſehr ſeyn: aber auf ei - ne mißverſtandene, pedantiſche Weiſe kann man es wohl ſeyn. Dieſe Frage kommt mir vor, wie die, ob man zu gut ſeyn könnte? Könnte man das ſeyn, ſo wäre das vollkommenſte Weſen gerade dadurch ein unvollkommenes. Wohl aber iſt weiche Güte, da wo Ernſt, ja Strenge hingehört, Schwäche, und Schwäche iſt nicht Güte. —
57Von der Hausfrau, die ſich ſelbſt und ihre Ge - räthe täglich mehrere Male zur beſtimmten Stunde waſchen wollte, ohne ein Stäubchen an ſich oder den Sachen wahrzunehmen; die ihre Stuben und Kammern ohne weitere Veranlaſſung täglich wa - ſchen ließ, und darüber im Winter faſt nie einen trockenen Fußboden und nie eine dunſtreine Luft im Zimmer hätte, von der würde ich nicht ſagen, daß ſie zu reinlich ſey: ich würde das ohne Bedenken Reinlichkeitspedanterie nennen.
Eben ſo wenig kann man zu ordentlich ſeyn, wenn nämlich Ordnung Charakterzug am Weibe iſt. Wohl aber kann man die Mechanik der äußer - lichen Ordnung zu weit treiben, und durch klein - liche Pedanterieen in dieſem, wie in vielen Stük - ken, ein freies, großes Gemüth gewaltig ängſti - gen, wenn man ihm nämlich ſeine Ordnung auf eine läppiſche Art gerade in dieſer Form vorſchrei - ben will. Laß unſern Liebling dieſe ſchönen weib - lichen Tugenden in der lieblichſten Geſtalt ſehen und üben lernen. Fern ſey von ihr alles Aengſt - liche dabei. Jhr heftiges Weinen, als Woldemar(8)58ſie beſchmutzen wollte, läßt mich ahnen, daß ihr ſchöner Hang zur Reinlichkeit einmal zu ſtark wer - den könnte. Und deshalb bitte ich, ſporn’ ihn nicht zu ſehr. Ueberhaupt bedürfen ja nur die ſchwächern Triebe zum Schönen und Guten der Anfeuerung. Die natürlich ſtarken erheben und befeſtigen ſich von ſelbſt. Nur müſſen ſie nicht un - terdrückt, und durch lange Unterdrückung gelähmt werden.
Dieß iſt der neunte Brief, den ich Dir über Jda’s Erziehung ſchreibe, und noch war mit kei - nem Worte vom Gehorſam die Rede. Sollteſt Du hieraus ſchließen, daß ich ihn aus der ächten Pädagogik verbannt wiſſen will? Da wäreſt Du im Jrrthum, liebſte Emma. Selbſt bei der Kna - benerziehung halte ich bis zu einem gewißen Alter unbedingten Gehorſam für nothwendig.
Bei Mädchen, deren ganzes Leben nicht blos Gehorſam gegen die Geſetze des Rechten und Wah -59 ren, ſondern auch gegen die des Schönen und Schicklichen ſeyn ſoll, muß er früh zur Natur wer - den, und ſich in Gefühl verwandeln, das mit Blitzesſchnelle wirkt. Ehe von Gründen nur die Rede ſeyn kann, muß die weibliche Seele ſchnell das Schicklichſte für jeden Moment erkannt, er - griffen, und durch ihr Handeln dargeſtellt haben. Damit nun dieſe Geſetze ſich tief in ihr Weſen eindrücken, muß ein leiſes, mißbilligendes Kopf - ſchütteln von Dir ſchon genug ſeyn, Jda von dem abzuhalten, was ſie nicht thun würde, wenn ihr Verſtand reif genug wäre, ſeine Unzuläſſigkeit zu begreifen. Dein Urtheil ſey, bis ihr eigenes ſich gebildet, für ſie das Tribunal der Schicklichkeit, von dem nicht appellirt werden kann. Bei der faſt anbetenden Liebe zu Dir wird es der Kleinen auch ſo bald noch nicht einfallen, zu fragen: Warum ſoll ich das nicht thun? warum das nicht ſagen? Doch, mit dem zunehmenden Verſtande und mit dem Gefühle der Kraft wird auch der eigene Wille hervortreten, und das Bedürfniß, das Warum ei - nes Verbotes zu wiſſen, kann bei ſolchen Dingen nicht ausbleiben, die vor den Richtſtuhl der Ver -60 nunft gehören. Gib ihr Gründe, ſobald ſie ſie, und ſolche, die ſie faſſen kann.
Mache ihr die innere Nothwendigkeit anſchau - lich, erkannten Gründen immer zu gehorchen. Jch ſpreche von der Zeit, wo ſchon von Vernunftgrün - den die Rede ſeyn kann; ſie wird kommen. Jhr zuvoreilen, iſt ſehr ſchädlich, und verleitet die Kin - der zum altklugen Vernünfteln. Jda will z. B. im nahen Sommer gern auf’s Land, und kann es nicht erwarten, bis ſie zu ihrem Gärtchen kommt, und zu ihren Blumen, ihren Hühnern und ihrer kleinen Voliere. Sie weiß, wie auch Du am Landleben hängſt. Du haſt aber ihrem abweſen - den Vater verſprochen, bis zu ſeiner Wiederkehr die Aufſicht über den Bau und die Einrichtung ſei - ner neuen Zimmer in der Stadt zu haben. Sehr begreiflich läßt ſich’s dem Kinde hieran machen, wie man ſich es oft auflegen müſſe, auch ſeinen ſüßeſten Wünſchen zu entſagen. Aehnliche Veranlaſſung zu ſolcher Belehrung gibt das tägliche Leben genug. Gebrauche die hervorſpringendſten dazu; aber nur ſo oft ſie Dich darum angeht. Fodert ſie keine61 Gründe für Deine Anordnungen, wohlan! laß ſie noch kindlich gehorchen. Es iſt dies dem jun - gen Gemüthe eben ſo heilſam, als verderblich ihm der Geiſt des Widerſpruchs iſt.
Vor dem zu häufigen Raiſonniren mit Kindern kann ich nicht laut, nicht ſtark genug warnen; von ſeiner Schädlichkeit hat mich manches Beiſpiel in meinem Erfahrungskreiſe überzeugt. Jch kenne kaum noch einen ſo verderblichen Mißgriff in der Erziehung, als das ewig moraliſirende Raiſonne - ment. Jch erinnere mich beſonders eines trauri - gen Beiſpiels ſolcher Erziehungsmethode, eines Kindes, das mit nicht ganz ſchlechten Anlagen un - leidlich, widerlich geworden war. Es iſt ein ein - ziges Kind kränkelnder Eltern, die es gränzenlos liebten, und es aus Jrrthum früh zu dieſer ver - meynten Verſtandesäußerung anleiteten, weil ſie dadurch der Geiſtesenergie bei ihm aufzuhelfen glaubten. Sie hatten Dina gewöhnt, nichts zu thun, wovon man ihr nicht den Grund geſagt; nichts auf Treu und Glauben, nichts ohne Wider - ſpruch anzunehmen. Aber wie ſehr mußten ſie62 ihren Fehlgriff bereuen! Dina iſt keine von den tiefen Seelen, die um des Gewißwerdens willen zweifeln, um der Ueberzeugung willen fragen, und aus Geiſtesbedürfniß nicht eher ruhen, als bis ſie den Dingen, ſo weit nur möglich, auf den Grund kommen. Die flachen Geſchöpfe, zu denen Dina gehört, fragen nicht um der Antwort willen; ſie fragen, um nicht hören zu dürfen, was geſagt wird, oft auch nur, um ihre eigene Stimme zu hören. Dina hat ſich einen ſolchen Frag - und Einwendungs-Mechanismus eigen gemacht, daß es einem verſtändigen Menſchen faſt unmöglich iſt, es länger als ein Paar Minuten mit ihr auszu - halten, und daß auch die Geduldigſten ſich bald unwillig von ihr wegwenden, weil ſie bei aller Gutmüthigkeit ſich der Bemerkung nicht enthalten können, daß Dina’s Fragen und Einwürfe mit der Sache, von der die Rede iſt, faſt gar nicht zuſammenhängen. Jetzt iſt ſie erwachſen: und war ſie als Kind ſchon widrig, ſo iſt es jetzt eine wahre Strafe, mit ihr zu ſeyn. Und woher dieſe erbärmliche Geiſtesverkrüppelung? Daher, weil die armen Eltern ſich an den erſten naſeweiſen63 Fragen und an der Geſprächigkeit der Kleinen, als an hervorbrechenden Geiſtesfunken, ergötzten und ſie laut applaudirten! Jetzt iſt ſie ſo weit, daß ſie den Widerſpruch ſchon auf der Zunge be - reit hält, und daß er oft losbricht, noch ehe ſie gehört hat, was man eigentlich ſagen wollen, welches oft zu den lächerlichſten Auftritten An - laß gibt.
Wenn es der reifen Geiſteskraft eigen iſt, über - all nach Grund und Urſach zu fragen, ſo iſt Zuver - ſicht zu dem reiferen Verſtande und Glaube an das Wort der Guten, auch der entſchiedenſte Zug in dem Charakter der Kindlichkeit.
Jn dem Vater ſehe das Kind den Repräſentan - ten des Wahren; in der Mutter den Jnbegriff des Schönen und Guten. An beide ſoll es unbedingt glauben, ſo lange bis es ſelbſt die Frucht vom Baum des Erkenntniſſes brechen kann.
Du ſiehſt alſo, liebe Emma, daß der Gehor - ſam, nach meiner Einſicht, ein ſehr weſentliches64 Stück der Erziehung iſt; und dennoch würde der mich ſicher mißverſtehen, der hieraus ſchlöße, daß ich blinden, ſklaviſchen Gehorſam in Schutz nähme. Gehorſam, der aus Liebe und Vertrauen entſpringt, heiligt den Menſchen, und weihet ihn zur Religion, ja, er iſt ſelbſt ſchon Religion. Gehorſam gegen die bloße Willkür eines Andern, den man weder lieben, noch ihm vertrauen kann, macht feige Sklavenſeelen und heuchleriſche Au - gendiener: wie könnte der zur Erziehung gehören! Aus der unſrigen ſey er auf immer verbannt.
Angeben läßt ſich die Periode des kindlichen Le - bens freilich nicht, wo Glaube und Gehorſam ſich mit eigener Einſicht und Ueberzeugung verweben und wo ſie dieſen allmählig Platz machen müſſen. Aber es gibt auch in dem früheren kindlichen Al - ter (oft ſchon vor dem ſiebenten Jahre) Fälle, in welchen das Kind die Gründe unſerer Vorſchrif - ten faſſen kann; und dann ſollen wir ſie ihm nicht vorenthalten, damit ſein übriger gläubiger Gehor - ſam dadurch einen edlen Charakter gewinne, und eines freien Weſens würdig werde.
65Auf Jda’s Frage (wenn ſie ſie einſt thun ſoll - te:) Mutter, warum muß ich denn alle Tage et - was arbeiten? wüßt’ ich keine beſſere Antwort, als die: Weil du ſonſt lange Weile haben, und aus langer Weile unvernünftig ſeyn könnteſt, und ich dich dann ſtrafen müßte.
Wenn ſie aber fragen ſollte: „ Liebe Mutter, warum willſt du denn nicht, daß ich mit Catha - rine ausgehe? ich höre doch ſo gern, was die Leute auf der Straße ſprechen! ‟ — Dann würde ich mich auf kein Darum einlaſſen, ſondern mein Verbot ernſtlicher wiederholen, und ihr dabei ſa - gen, daß ſie die Urſache noch nicht begreifen könne, daß es aber feſt dabei bleibe, daß ſie nie ohne mich oder Gertrud ausgehe.
Ein Haupthinderniß des kindlichen Gehorſams ſind gewöhnlich die vielen, oft ſehr unnöthigen Verbote, die den Kleinen alle ihre Wünſche mit Dornen umzäunen, und ſie zum gewaltſamen Durchbrechen nöthigen, falls ſie nicht in jämmer - liche Jndolenz verſinken, die alles über ſich er -(9)66gehen läßt, und ihre ganze Freude in Schlafen, Eſſen und Trinken ſucht. Geſtatten wir den klei - nen Weſen alles, was wir können, verbieten wir ihnen nichts, als das wirklich Schädliche, geſtehen wir ihnen aufs erſte Wort der beſcheide - nen Bitte das zu, was wir bewilligen können und dürfen, ſchlagen wir ihnen nie ab, was wir her - nach doch zugeſtehn, laſſen wir unſer erſtes ver - weigerndes Wort auch das letzte ſeyn: ſo werden ſie ſich bald zu der ehrerbietigen Reſignation ge - wöhnen, die ihnen ſo heilſam iſt.
Es iſt eben ſo ſchädlich, ſich etwas von Kindern abbetteln, als abtrotzen zu laſſen. Auch iſt die beharrliche Bettelei nur eine andere Art von Trotz, die gleichfalls auf die Schwäche der Eltern be - rechnet iſt.
Der früheſte Ungehorſam entſteht gewöhnlich aus der Lüſternheit nach dem, was die Erwach - ſenen vor den Augen der Kinder genießen und ihnen verſagen, und deſſen ſich die Kleinen zu bemächtigen ſuchen, ſobald ſie unbemerkt zu ſeyn67 meynen. Wie iſt dem abzuhelfen? Bei unſerer jetzigen Lebensweiſe wohl nicht ſo ganz leicht. Wären unſere Genüſſe einfach, ja dann fiele dieſe Schwierigkeit weg: wir ließen ſie an allem, was unſern Gaumen erfreut, ihren vollen Antheil haben, und damit wäre die Sache abgethan, und des Kindes Wunſch geſtillt, ehe er zur ſchäd - lichen Begierde werden könnte. Aber bei unſerer Lebensweiſe, wo ſo vieles zum täglichen Genuſſe gehört, was zum wenigſten der phyſiſchen Ent - wickelung des jungen Menſchenweſens nicht gün - ſtig, und ſo oft wohl ſehr ſchädlich iſt — was iſt da zu thun? So lange die Kinder noch am Tage ſchlafen, laſſe man ſie früher eſſen, und während der Mahlzeit ihrer Eltern ſchlafen!
Kinder verdauen ſchnell, daher ihr oft erneue - ter Magenreiz während des Tages, daher ihr öfteres Verlangen nach Speiſe. Laß Jda nie lan - ge warten, wenn ſie etwas fodert, ſo lange es nämlich wirklicher Hunger und nicht Leckerei iſt. Gib ihr zeitig ihr Frühſtück, ſo wie ſie des Morgens aufgeſtanden, gewaſchen und angeklei -68 det iſt. Früher niemals. Milch, Waſſer und weiß Brot iſt ein herrliches Frühſtück für geſunde Kinder. Fodert ſie um zehn Uhr wieder: gib ihr ein Stückchen leichtes Rockenbrot und einen Apfel oder anderes Obſt. Noch kann Jda ihre kleine Mittagsmahlzeit um zwölf Uhr vor euch halten, und dann ſchlafen. Fodert ſie um drei oder vier Uhr ihr Veſperbrot, ſo laß ſie es ſogleich haben, damit der Hunger nicht mächtig werde, und ſie zur Ungeduld reize. Gib ihr auch da niemals Backwerk. Ein Stückchen Rockenbrot oder gutes Weizenbrot und etwas Obſt oder Milch, aber nur eins von beiden, ſey ihr beſcheiden Theil. O ich bitte, ſo ſehr ich bitten kann, hal - te ſtreng hierauf und laß den geſunden Appetit nicht zur Lüſternheit werden! Mit heiterer Freu - de verzehre ſie, wie bisher, ihr kleines Mahl. Man bringt die Kinder um gar zu vieles, wenn man ihnen durch Leckerei den geſunden Appetit verdirbt: der läßt ſich ihnen durch nichts anders erſetzen.
Jſt Jda in dem Alter, wo ſie des Schlafs am Tage nicht mehr bedarf, und haſt Du ſie gern69 am Tiſche ſchon bei Dir: dann gewöhne ſie gleich, nur von einer, höchſtens zwei Speiſen am Tiſche zu haben, aber von ſolchen, die dem kindlichen Gaumen angemeſſen ſind, und von dem jungen Magen leicht verarbeitet werden können. Laß ſie in dieſen Speiſen ſich nach Wohlgefallen ſättigen. Ein geſundes, nicht durch Leckereien überreiztes Kind, ißt nicht zu viel; man kann es gewähren laſſen. Haſt Du eine ſtarkgewürzte Schüſſel auf Deinem Tiſch, wie Dein Bruder oder Dein Mann ſie liebt, laß Jda nicht davon koſten, ſtatt deſ - ſen aber laß ſie eine angenehme Milchſpeiſe haben, oder gekochte Früchte u. dergl. Dieſem Geſchmack bleiben Kinder, beſonders Mädchen, lange, und oft für’s ganze Leben getreu. Und er iſt unſerer Natur ſo gedeihlich! Laß auch Jda noch lange keinen Senf uud andere ſcharfe Dinge koſten. Eben ſo wenig Kaffee oder ſüße Weine. O ſey gütig ſtreng, ich bitte Dich herzlich.
Sie ſieht euch täglich Wein trinken. Gieß ihr etwas guten rothen Wein oder auch Rheinwein unter das Waſſer, wenn fie am Tiſche trinken70 will. Läß ſie aber während des Eſſens nicht viel trinken; wohl aber eine Stunde nach Tiſche, wenn ſie durſtet, doch dann nur Waſſer, ſo lange ſie völlig geſund iſt. Wie ſie bei dieſer Diät ge - gedeihen wird, daran ſollſt Du Deine Freude ſehen.
„ Aber wird denn die Frau geh. Räthin D — ihr allerliebſtes Kind immer ſo ſtreng halten? ‟ fragte mich neulich Frau von Z* — „ Jch hoffe ſie wird ſtark genug ſeyn ‟ — entgegnete ich. „ Aber mein Gott, was ſoll denn nun das? Wenn Jda nun groß iſt, ſo kann ſie ja nicht mit andern Leu - ten eſſen, weil ſie dann aller Speiſen ungewohnt iſt, die man auf guten Tiſchen gibt! ‟ — „ So wird ſie ihrer gewohnt werden. Und wenn ſie ihr alsdann nicht bekommen, oder ſie keinen Ap - petit dazu hat, ſo wird ſie auch dann noch von einer oder zwei einfachen Schüſſeln eſſen, die ſich ja auf jeder guten Tafel auch finden — des herr - lichen Obſtes nicht zu gedenken, das bei jedem Deſſert nicht fehlen darf, und wovon Jda eine beſondere Freundin iſt ‟ — „ Aber das arme71 Kind entbehrt denn doch viel, wenn es niemals feine Backwerke, künſtlich gemiſchte Gerichte und ſüße Weine bekommt! Wir Erwachſenen wiſſen am beſten, wie das ſchmeckt, und wie wohl ei - nem dabei iſt! Sollte man denn nun ſeinen Kin - dern das nicht auch gönnen? ‟ — „ O hätten Sie die kleine Jda bei ihren Mahlzeiten geſehen! wä - ren Sie einmal gegenwärtig, wenn ihr Sagoſüpp - chen, ihr Reißbrei, ihre Fleiſchſuppe u. dgl. ge - bracht wird: wie ſie in die kleinen Hände klopft, und wie ſie alles anlacht, was um ſie iſt! Jeder, den ſie lieb hat, muß einen Löffel voll davon haben, ſobald ihre erſte Begierde geſtillt iſt. Von ihrer Suppe müſſen die Mutter, der Onkel und Woldemar und die Gertrud durchaus koſten, und dann jubelt ſie, und fällt wieder von neuem dar - über her. Vom Apfel kriegt auch ſogar der Ka - narienvogel ſein Theil. Gewiß, Frau von Z*, Sie würden Jda nicht mehr bedauern, noch mei - ne Freundin tadeln, wenn ſie einmal bei der Fürſtenmahlzeit dieſes glücklichen Kindes gegen - wärtig geweſen. ‟ — Frau von R*, die mir zuge - hört, kam an mich, und drückte mir leiſe die72 Hand, und die Unterhaltung mit der Frau von Z* hatte ein Ende.
Jm nächſten Frühling kommſt Du mit Jda zu uns. Da wird ſich eine neue Welt für ſie auf - thun. Die Ortsveränderung pflegt auf die Ver - ſtandesentwickelung einen ſehr beſchleunigenden Einfluß zu haben, beſonders, wenn Kinder lang genug an dem neuen Orte verweilen, daß die Bil - der an der jungen Seele nicht zu ſchnell vorüber - gleiten. Auch bekommt man ſo einen ſehr richti - gen Maßſtab für ihre Gedächtnißkraft, wie für ihren Bemerkungsgeiſt. Mit Erſtaunen gewahrt man oft, daß ſie bemerkt haben, was uns faſt entgangen war, und behalten, was wir längſt wieder vergeſſen.
So gern ich es aber habe, daß man noch junge Kinder bei kleinen Luſtreiſen von wenig Meilen mit ſich nehme, beſonders auch um die ängſtliche73 Blödigkeit zu verhüten, die ſich der Kinder be - mächtigt, wenn ſie in langer Zeit niemand, als die Mutter und die Wärterin ſehen: ſo ungün - ſtig finde ich es der wahren Ausbildung, wenn man Kinder von den erſten Lebensjahren an mit auf großen Reiſen herumſchleppt, wo aller Nutzen des Geſehenen verloren gehen muß, weil die neuen Bilder einander ſo ſchnell folgen, daß immer eins das andere aus der Seele verdrängt und kei - nes ihr neue Jdeen zuführen kann. Laß Dich alſo keinen Vorſchlag der Art reizen, liebe Emma! Deine Freundin in Paris mag es gut meynen, wenn ſie Jda, ſobald ſie heranwächſ’t, der franzö - ſiſchen Sprache wegen nach Frankreich locken will; und die Tante in Rom will ihr auch wohl, wenn ſie vom zehnten Jahre an anfangen will, des Kin - des Kunſtſinn in Jtalien zu bilden: aber laß Dich durch das Schimmernde dieſer Vorſchläge nicht bewegen! Die franzöſiſche Sprache — wahr iſt es, es kann kein ſicherers Mittel geben, ſie, wie die deutſche Mutterſprache, und ſelbſt beſſer und geläufiger noch reden zu lernen, als wenn(10)74man von früh an nichts anders ſprechen hört, als ſie; aber darf ſie jemals Hauptaugenmerk bei der Erziehung eines deutfchen Kindes werden? Nicht einmal eine franzöſiſche Wärterin würde ich dem Kinde gern zugeſtehen! Von deutſchen Eltern ließ das Schickſal es geboren werden: Deutſch ſey die erſte Sprache, die es hört, die es lallt, durch die es, und für die es ſein Sprach - organ entwickelt. Deutſch ſey der Sinn, der Charakter, der Geiſt, der ſich ihm aufprägt, und auf welchen die Sprache gewiß keinen unbe - trächtlichen Einfluß hat.
„ Aber wie wird es ſpäterhin noch die völlige Ge - „ läufigkeit erlangen? ‟ — Und wenn es ſie nie be - käme: die Sprache des Auslandes darf nicht Haupt - ſache in der deutſchen Erziehung werden! „ Für „ die höhern Stände iſt die franzöſiſche Sprache „ einmal ein nothwendiges Uebel. Meine Lage „ und Deine Verhältniſſe machen uns die Geläu - „ figkeit dieſer Sprache faſt nothwendig, und ſo „ muß auch Jda ſie ſprechen lernen, weil ſie in „ Deinen Verhältniſſen wahrſcheinlich fortleben75 „ wird ‟ — ſo ſagt Dein Mann. Sorge alſo, liebe Emma! für das, was für dieſen Fall Be - dürfniß iſt; aber nur nicht auf Koſten des We - ſentlichern! Wenn Jda etwa ſechs oder ſieben Jahre alt iſt, und das Deutſche gut und rein ſpricht, dann fange Du ſelbſt an, täglich zu be - ſtimmten Stunden ihr alles franzöſiſch zu nennen, was ſie vor ſich ſieht. Lege ihr Abbildungen von allerlei Gegenſtänden mit franzöſiſcher und deut - ſcher Benennung vor: haſt Du das eine Weile ge - than, dann laß die deutſchen Namen davon, und laß ſie bloß die franzöſiſchen nennen. (Jch ſetze voraus, daß ſie um dieſe Zeit deutſch, und zwar ſchon gut leſen kann. Viel früher möcht’ ich nicht gern, daß ſie es gelernt hätte; doch davon ein an - dermal.) Wenn ſie alſo gut deutſch lieſet, und nicht eher, ſo mache ihr von allen ihren Lieblings - geſchichtchen in ihren gewohnten Leſebüchern fran - zöſiſche Ueberſetzungen, für’s erſte recht wörtlich getreu, und laß Dir dieſe Ueberſetzungen von den bekannten Geſchichtchen oft leſen; dann erzähle Du ihr franzöſiſche, oder lies ihr dergleichen vor, und laß ſie Dir deutſch erzählen; endlich überſetze76 ſie in’s Deutſche, und laß ſie die Kleine Dir wie - der franzöſiſch erzählen, ſo wird ihr die Sprache ſchon geläufig werden. Setze dann täglich eine Stunde feſt, wo ſie Dir alles franzöſiſch ſagen muß, was ſie erwiedert haben will, und halte ihr ſpäterhin, allenfalls auf ein Jahr, oder ein Paar Jahre, eine Franzöſin. Dann haſt Du alles ge - than, was man, wichtigerer Dinge unbeſchadet, für eine fremde Sprache thun darf. Willſt Du dann auch einmal noch eine Reiſe mit ihr nach Genf, Lauſanne, oder nach Frankreich ma - chen, ſo wird ihr dieſe, außer dem Gewinn für die Sprache, alsdann noch ganz andere Vortheile bringen, da ſie ihr jetzt nicht anders als nach - theilig ſeyn könnte.
Warum ich ſo ſehr gegen das Reiſen mit ganz jungen Kindern bin, hat außer jenem erſt genann - ten Grunde (daß nämlich alle neue Gegenſtände zu ſchnell und zu flüchtig an ihrem Geiſte vorüber eilen, nichts einen bleibenden Eindruck machen kann, und eine gewiße, ſpäterhin ſchwer zu beſie -77 gende Zerſtreutheit angewöhnt wird,) noch man - chen andern, gewiß nicht unwichtigern.
Wir häuslich erzogene Frauen kennen das ſüße Gefühl, das in uns rege wird und unſer Gemüth auf eine ſo einzige Art bewegt, ſo oft unſere frü - heſten Kinderjahre mit allen ihren ſchönen Erinne - rungen lebendig vor uns hintreten und uns hold - ſelig anlächeln. Und was kann uns inniger bewe - gen, als der Anblick des Stübchens, wo unſere Wiege ſtand, des Spielzeugs, das wir zuerſt lieb hatten, der Plätze im väterlichen Garten, auf welchen wir am liebſten ſpielten! O! wie hängt das unzerſtreute Herz ſo treu, ſo warm an ſeinen erſten Freuden!
Was ſoll dem Menſchen dieſe einzig ſchönen Ge - fühle erſetzen, wenn ein frühes Umhertreiben von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, dieſe heilige Vorliebe für’s Vaterland, dies ſchöne Vorurtheil des Herzens, das die unverdorbene Natur ſo eng an das Vaterhaus knüpft, gänzlich in uns ver - löſcht hat? Und nun vollends unſer Geſchlecht! 78Wie ſoll ſich die ſchöne Häuslichkeit in uns ent - wickeln, wenn wir früh zum Gaſthof-Leben, und, was von ſelbſt daraus folgt, zur höchſten Ordnungs - loſigkeit gewöhnt ſind? Nicht wahr, meine Emma, Du bringſt der franzöſiſchen Sprache kein ſolches Opfer? Du gehſt mit Jda nicht nach Frankreich?
„ Soll ich aber überall mit ihr gar nicht reiſen? ‟ O ja, liebſte Emma! Wenn ihr Charakter hin - länglich ausgebildet und gegründet iſt, wenn ſie ſich an ſoliden Kenntniſſen erſt einen Schatz er - worben hat, und Du kannſt zur Vollendung ihrer äſthetiſchen Bildung eine Reiſe mit ihr nach Rom oder Paris machen; (leider iſt jetzt die Frage, ob man den heiligen Boden ohne die Schätze der Kunſt, die ihm ſonſt eigen waren, oder die Kunſt - ſchätze auf dem fremden Boden beſuchen ſoll?) dann magſt Du jenen Vorſatz ausführen! Was könnte auch dann Deine Freundin, die ſelbſt ſo gern reiſ’t, dagegen haben, wenn nämlich Deine Verhältniſſe Dir ſo eine Reiſe geſtatten, oder ſie vielleicht gar fodern! Aber vor allem laß Jda erſt in dem heimiſchen Boden recht wurzeln, und be -79 ſonders im väterlichen Hauſe; und daß ihr ja dies der liebſte Aufenthalt von allen ſey!
Jda wird übermorgen vier Jahre alt, und da muß ich ihr ja ein Angebinde ſenden! Auch er - hältſt Du hierbei ein ganzes Käſtchen voll kleiner Sachen, die ein vierjähriges Herz erfreuen kön - nen. Erſtlich erhält ſie eine wirklich ſchöne Puppe (die ſchönſte, die ich haben konnte), in eine lei - nene Chemiſe gekleidet, und mit einem kleinen Mützchen; dann eine andere, ein wenig häßlich, aber ſehr elegant geputzt. Laß Jda jeder von ih - nen einen Namen geben, und gib doch Acht, wie ſie ſie nennen, und welche ſie am liebſten haben wird! Dann erhält ſie eine komplete kleine Wirth - ſchaft, mit allem Zubehör; eine Schachtel mit Rechenpfennigen, und eine Schiefertafel nebſt Schwamm und Griffel. Auch für ſie ſelbſt von meiner Hand gearbeitet, ein rothes Kleidchen und ein weißes. Es kommt wenig darauf an, welches80 ihr von beiden das liebſte wird, aber ich möcht’ es doch wiſſen. Das, welches ſie vorzieht, laß ſie tragen, und kleide ſie auch künftig ſo. Es iſt gut, daß Kinder früh einen eigenen Geſchmack haben, und ihm in ganz unſchuldigen Dingen auch folgen dürfen, nur muß niemand ſie deshalb loben. Daß ſie auf nichts der Art mit Eigenſinn beſtehen darf, braucht nicht geſagt zu werden.
Beobachte ſie fleißig, ob die kleine Wirthſchaft ihr Freude macht, und ob ſie einigen Trieb zeigt, es alles gut in Ordnung zu halten. Hat ſie keine beſondere Freude daran, ſo bewahre den ganzen kleinen Kram bis auf ein andermal, damit ſich kein ſchaler Ueberdruß in ihre Seele ſchleiche. Mache es auch mit den Puppen ſo, wenn ſie ſie nicht lieb hat; und laß ſie überall nichts um ſich haben, das ſie nicht lieben kann. Frage ſie aber nicht darum, raiſonnire nicht mit ihr darüber, ſondern merke es ihr ab, und thue das im Stillen bei Seite, deſſen ſie müde zu werden anfängt. Gerade die am glück - lichſten organiſirten Kinder werden alles leicht mü - de, woran ihre Thätigkeit ſich nicht üben kann. 81Und deshalb habe ich zu dieſen andern Herrlich - keiten die Rechenpfennige und die Schiefertafel hinzugethan.
Durch dieſe einfachen Mittel kannſt Du nicht nur ſie manche Stunde angenehm beſchäftigen, ſondern anfangen, ſie rechnen, ſchreiben und leſen zu lehren, indem ſie bloß mit der Mutter zu ſpie - len glaubt.
Das Wie bei dem Rechnen will ich Dir nicht angeben. Es liegt zu ſehr in der Natur der Sache. Nimm allenfalls Peſtalotzi’s Methode des Rech - nens zur Grundlage. Was er mit Strichen und in Quadraten vorbildet, das bilde Du mit dieſen Rechenpfennigen nach, und gehe eben ſo ſtufen - weiſe, wie es dieſe Methode fodert. Du wirſt Deine Freude haben, wie bald Jda zählen, zu - ſammenthun, abziehen, vermehren und theilen lernen wird.
Zu anderer Zeit male ihr Buchſtaben auf der Tafel vor, immer nur wenige auf einmal, bis ſie(11)82ſie getreu nachmalt; dann wieder andere, und kann ſie auch die nachzeichnen, dann wieder an - dere, bis ſie das ganze Alphabet ſchreibt. Daß ſie beim Schreiben die Buchſtaben auch nennen lernt, verſteht ſich. Jſt ihr das recht geläufig, dann ſchreibe ihr ganz einfache Sylben vor, dann die aus vielen Buchſtaben zuſammengeſetzten, und laß ſie auch dieſe richtig ausſprechen. Nun mehr - ſylbige Wörter; dann ſchreibe ihr kurze Sätze auf, dann, was von ihr ſelbſt oder von Dir geſprochen worden. Hernach laß ſie Dir auf der Tafel kleine Briefe ſchreiben, die Du ihr beantworteſt, und ſo wird ſie ſchreiben und leſen faſt zu gleicher Zeit können. Wenn Du Dich Anfangs der lateiniſchen Buchſtaben bedienſt, ſo haſt Du den Gewinn da - von, daß ſie auch die Druckſchrift ſchneller lieſ’t, weil die mit den geſchriebenen lateiniſchen Lettern mehr Aehnlichkeit hat, als mit den kleinen deut - ſchen. Doch bitte ich Dich, mit dem Leſen der Druckſchrift nicht ſehr zu eilen, weil es keine Bü - cher gibt, die ein Kind von vier bis ſechs Jahren verſteht, und keine ſolche geben kann. Alles, was man der Art für Kinder zuſammengekünſtelt83 hat, läuft auf Erbärmlichkeiten hinaus, wodurch ihnen wohl Worte und Phraſen, aber keine Ge - danken zugeführt werden. Wenigſtens kenne ich kein ſolches Produkt, das nicht beſſer ungeſchrie - ben geblieben wäre. Auch ſcheint es mir eine faſt unerreichbare Aufgabe, ein Buch für Kinder in dieſen Jahren zu ſchreiben, das für ſie verſtänd - lich, anziehend und nicht kindiſch wäre. Laß Jda lieber noch den ganzen Frühling und Sommer im Garten herum ſpielen, und ſich viel im Freien be - wegen: zu den Büchern kommt ſie noch zeitig genug.
Unterrichte, ich bitte Dich, Deine Jda auf jede andere Weiſe lieber, als durchs Leſen, ſo lan - ge, bis ſie mit ihrem richtigen und klaren Ver - ſtande auch ein Buch verſtehen kann, das nicht für Kinder geſchrieben iſt. Lies dann mit ihr, und überſchlage das, was für ihr Alter noch zu früh käme. So wird ſie ſichern Gewinn haben von ihrem Leſen. Schreibe ihr aber von Zeit zu Zeit eine Fabel oder ein Lied auf, das ſie faſſen kann, und laß es ſie auswendig lernen. Haſt Du es ihr vorgeſprochen oder geleſen, und hat ſie84 es verſtanden, und Freude daran gefunden, ſo wird ſie es gewiß nicht unrichtig deklamiren, wenn ſie auch nicht den ganzen Ausdruck hineinlegen kann. Daß ſie es vor Wenigen auſſer Dir herſagt, verſteht ſich; es ſoll ja keine theatrali - ſche, ſondern bloß eine Verſtandes - und Gedächt - nißübung werden! es ſoll zur Entwickelung ihrer Gemüthskräfte dienen! Die Wahl kann Dir nicht ganz ſchwer werden, da Du nur unter dem engern Ausſchuß Deiner Lieblingsdichter wähleſt, mit deren Geiſt Du am vertrauteſten biſt, und aus den wenigen guten Kinderbüchern. O wie viele Stunden meines Lebens haben mich die erbärmlichen Kinderbücher gekoſtet, wenn ich dieſe leere Spreu durchſuchte, um Körner heraus zu finden.
Lebe wohl, liebſte Emma. Auf dies Kapitel werde ich künftig noch oft zurückkommen, um Dich vor der erbärmlichen Seichtigkeit dieſer Bü - cher zu warnen. Es ſchadet der Tiefe des Gemüths und der ſtillen Sinnigkeit nichts ſo ſehr, als das ſtete Moraliſiren mit Kindern, und das Popula -85 riſiren aller ernſten Dinge, das eitle Streben die - ſer Bücher, dem kindiſchen Verſtande alles das nahe zu bringen, was nach der Ordnung der Dinge ihm noch ſo fern liegt. Auch werde ich Dir die ſehr kleine Anzahl guter Kinderbücher nach und nach bekannt machen, welche Du ohne Bedenken Jda ſelbſt in die Hände geben darfſt.
Bei allen, auch den gewählteſten Hülfsmitteln, Deines Kindes Verſtandeskräfte zu üben und in Thätigkeit zu erhalten; bei aller Abwechſelung, wodurch Du Jda’s Aufmerkſamkeit wach und rege erhalten kannſt, wird es Dir doch bisweilen an Unterhaltung für ſie fehlen. Es müſſen Stun - den kommen, wo Du zu den gewohnten Verſtan - desübungen nicht aufgelegt biſt, oder auch, wo ſie es nicht iſt.
Thue Dir ſelbſt ja in ſolchen Stunden keinen Zwang an; es geräth dann nicht. Suche auch86 das Kind nicht durch anſcheinendes Spiel zu neuer Anſtrengung zu überliſten. Auf mein Wort: laß Dich ſelbſt und die Kleine gehen! Aber damit ſie aus langer Weile nicht in Mißmuth, aus Miß - muth nicht in Unarten verfalle, die Du ſtrafen mußt: ſo verſchaffe ihr früh ein Gegenmittel in der weiblichen Arbeit. Lehre ſie jetzt ſchon ſtricken und nähen. Laß ſie erſt Strumpfbänder, dann Strümpfe für ſich und den kleinen Woldemar ſtricken; laß ſie für ſich und ihn Tücher nähen. Jch weiß, daß man es mit fünf Jahren kann, und erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit, wie glücklich ich war, wenn ich ein Strümpfchen vollendet, oder ein Tuch geſäumt hatte, wovon ich rühmen durfte, die Mutter habe nicht dabei geholfen. Beiher magſt Du auch darauf achten, ob ſie lieber für ſich ſelbſt oder für den Bruder arbeitet. Es iſt dies nicht ganz gleichgültig! Nur muß man ſie für’s erſte das thun laſſen, was ſie am liebſten thut, und ihr ja nicht zu früh die Lehre einprägen wollen, es ſey ſchöner für Andere arbeiten, als für ſich ſelbſt. Alles hat ſeine Zeit: auch das erſte Wort über Großmuth und Vergeſ -87 ſenheit ſeiner ſelbſt. Es iſt ein großes Wort und darf nicht zu früh verlauten, wenn es nicht als ein leerer Schall am Ohre vorüberſtrömen, oder die Kleinen zu redſeligen Moralſprechern verbil - den ſoll.
Laß Jda alſo ungehindert zuerſt alles für ſich thun, wenn das ihre kindliche Thätigkeit ſtärker anfeuert. Zeigt ſie mehr Trieb für den Bruder zu arbeiten: bezeige freundliches Wohlgefallen darüber, doch ohne ſie zu loben. Hat ſie das einfache Stricken und Nähen hinlänglich begrif - fen und recht geübt, dann gehe zu den künſtli - chern weiblichen Arbeiten über; und ſo, daß die Erlernung von etwas neuem immer die Belohnung ihres anhaltenden Fleißes in dem ſchon Erlernten werde. Auch beobachte, wo es nur immer mög - lich, ſo eine Stufenfolge vom Leichteren zum Schwerern.
Doch laß ſie die Belohnung nicht ſo lange er - warten, bis ſie der erſten Beſchäftigungen völlig überdrüſſig geworden. Verſchaffe ihr Abwechſe -88 lung, aber nicht ſo ſchnelle, daß ſie ſich gewöhn - te, flüchtig von einem Geſchäfte zum andern zu gaukeln, ohne eins lieb zu gewinnen, oder es zu einem leidlichen Grade der Vollkommenheit darin zu bringen. Sollteſt Du den Flatterſinn an Jda bemerken, und ſollteſt ihn ſo oft bemerken, daß zu beſorgen ſtände, es könnte Charakterzug bei ihr werden: dann halte ſie ernſthafter zur Stetig - keit an, und verdamme ſie, wenn’s Noth thut, auf ein Paar Tage zum Nichtsthun. Für ihre Lebhaftigkeit kann es keine empfindlichere Strafe geben: ich ſtehe Dir für den Erfolg. Bei einem trägen Kinde wäre das freilich die Strafe der Schildbürger, die den Krebs aus Rache ins Waſ - ſer warfen. Für indolente Naturen weiß ich über - haupt wenig Rath. Wo man die nicht bei ihren Bedürfniſſen faſſen kann, da iſt wenig oder nichts auszurichten. Jhnen dieſe für einige Zeit verſa - gen, oder ſie ihnen in reichem Maße gewähren, ſind freilich Mittel, ſie zu Fleiß und Ordnung abzurichten: aber auch ihr Weſen zu veredeln?
Doch in dieſem Falle biſt Du, glückliche Mutter, nicht. Deine beiden Kinder ſind zwar ſehr ver -89 ſchieden geartet, aber beide mit den ſchönſten An - lagen von der Natur ausgeſteuert, der heftige Woldemar, wie die faſt allzu zarte Jda. Aber beide Kinder mußt Du ernſthaft zur regelmäßigen Thätigkeit anhalten, und ſie dazu eingewöhnen. Der Feuerkopf von Knabe würde außerdem ein ſchlimmer Bürger werden. Auch der Edelmann und der Edle ſoll ein guter Bürger ſeyn, und der Welt ſein Contingent ernſtlich zahlen. Und da - mit er könne, was er ſoll, muß er früh dazu vorbereitet werden. Auch wenn in ihm der Welt ein bedeutender Dichter geboren wäre, ſoll er künf - tig nicht ganz amtlos umherſchweifen; denn der Menſch kann nicht in jeder Periode ſeines Lebens, und in der eigentlichen Dichterperiode nicht allezeit Dichter ſeyn. Für dieſe proſaiſche Zwiſchenzeit muß er einen Beruf haben. Auch ſoll der rechte Virtuos in jeder Kunſt einen Schatz von Kennt - niſſen in ſich tragen, die der begeiſterten Phan - taſie den Stoff darreichen.
Was alſo auch aus Deinem genialiſchen Wolde - mar werden, welche Muſe ſich ihn zum Schützling(12)90wählen möge: er muß ſeine Geiſteskräfte früh mit Anſtrengung gebrauchen lernen.
So viel zur Beantwortung Deiner Frage über Woldemar. Tiefer mußt Du mich aber in ſeine Erziehung nicht hinein verflechten wollen. Dies Gebiet iſt der weiblichen Feder verboten, und mit Recht. Zwar ſchreiben und lehren die Männer viel über weibliche Erziehung; aber das berech - tigt uns nicht, über die Gränze zu gehen! Jhr Gebiet iſt größer, iſt nicht ſo eng abgeſteckt, als das unſrige.
Jch kehre wieder zurück zu meinem Liebling, Jda. Für die habe ich noch vieles auf dem Her - zen. Und ſollteſt Du auch über meine Unerſchöpf - lichkeit lächeln: es muß alles heraus.
Jda ſtrickt alſo Strümpfchen und ſäumt Tücher. Kann ſie das, dann nähet ſie ein Röckchen, dann arbeitet ſie an einem Kleide, dann nähet ſie kleine Blumen aus, die ſie ſelbſt gezeichnet hat. Jhr frühes Buchſtabenſchreiben hat ſie, wie ich es vor -91 aus ſahe, zum frühen Zeichnen vorbereitet. Ge - wiß hat hierzu auch der Anblick ſchöner Naturge - genſtände und ihrer Abbildung, und die Verglei - chung zwiſchen Bild und Sache, die ſie früh an - ſtellen mußte, kräftig mitgewirkt. Mich wundert es nicht, daß ſie verſchiedene Blumen ſchon ſehr getreu zeichnet. Laß ſie ſich zu allem, was ſie künf - tig Hübſches arbeiten will, die Zeichnung ſelbſt verfertigen. Auf’s höchſte magſt Du ſie erſt korri - giren, ehe Du ſie ſie bei ihren Arbeiten brauchen läſſeſt, damit ihre Arbeiten ſo wenig wie möglich mißrathen, und ſie den Muth, etwas zu unter - nehmen, nicht verliere, oder ſich über das Schlechte zu leicht tröſte.
Laß ſie ſo von Stufe zu Stufe weiter gehen. Will ihre Lebhaftigkeit einmal die Stufe über - ſpringen: laß ſie es, nur heiße das Mißlungene nicht gut, und wenn es auch für ein anderes Kind von ſechs bis ſieben Jahren gut wäre. Weißt Du, daß ſie es hätte beſſer machen können, ſo ſage ihr, daß es nicht gerathen ſey, und ſage ihr, oder laß ſie lieber ſelbſt finden, woran es liege. Noch einen92 Rath: laß ſie nie zu lange an Einer Arbeit haf - ten, auch wenn ſie es wünſchte, und nie ihre Luſt und Freude an einer Beſchäftigung völlig er - ſchöpfen.
Ob Du ſie wegen des Gelungenen loben ſolleſt? Wenn es einige Anſtrengung gekoſtet hat, ja! Schwache Kräfte bedürfen der Aufhülfe. Aber lobe ja ſelten und mäßig, damit Dein Lob ihr neu und anziehend bleibe, und ſiehe zu, daß das Lob ihr nicht Bedürfniß werde, ohne welches ſie nichts rechtes zu thun fähig wäre; verhüte, daß ſie ſich nicht um ſeinetwillen allein anſtrenge. Selbſt kleine Prämien für Arbeiten, welche Mühe geko - ſtet haben, ſind nicht nachtheilig. Auch hierüber künftig einmal mehr. Für heute ſey es genug.
Wie lange mußt’ ich mir diesmal die Freude ver - ſagen, Dir, geliebte Emma, zu ſchreiben! Wie oft hat mich ſeitdem nach dem Schreibtiſche ver -93 langt! Endlich kann ich meinem Verlangen, und ich weiß, auch dem Deinigen, genug thun, einmal wieder recht aus voller Seele mit Dir zu plaudern.
Sechs Deiner inhaltreichen Briefe liegen vor mir. Vergebens entſchuldigſt Du Dich, daß der Jnhalt von allen Deinen Briefen Jda iſt. Wer kann ſo etwas entſchuldigen? Jch, die ich nichts auf der Welt mit der Jnnigkeit liebe, als Kin - der, nämlich kindliche Kinder; und die ich von al - len Kindern, meine eigenen kaum ausgenommen, keines heißer liebe, als Deine Jda: ich muß, faſt unwillkürlich, mit meinem Geiſte dieſem Kinde durch alle Stufen ſeiner Entwickelung folgen.
Zu ihrem morgenden Geburtstage erhält Jda von der Tante Selma nichts weiter, als einen Ro - ſenkranz, (die Roſen ſind ſehr natürlich und wer - den ſie freuen,) ein Körbchen mit Aepfeln und ei - nen zahmen Hänfling, der ſein Futter heraufzie - hen kann, aber auch aus der Hand frißt. Du ſagſt mir, daß ſie ſo gern etwas verſchenken mag, und faſt bis zur Leidenſchaft freigebig iſt. Laß94 mich bei Gelegenheit wiſſen, was ſie mit dieſen klei - nen Geſchenken thut, und ob ſie ihr Freude machen?
Jetzt zur Beantwortung Deiner Briefe. Laß mich bei dem erſten anfangen.
Ob dieſe frühe Liberalität in einem Kinde auch wohl überbildet werden und zu einem Fehler aus - arten könne? Jda iſt morgen erſt fünf Jahre alt, und will ſchon täglich geben, und alles, was ihr gegeben wird, wieder vertheilen? Das iſt früh, und nicht das gewöhnliche Alter, in welchem ſich die Freigebigkeit in Kindern zu zeigen pflegt. Den - noch fürchte ich bei der richtigen Leitung dieſes ſchö - nen Triebes gar nichts. Weiſe Sparſamkeit, ver - ſtändiges Zurathhalten ſind freilich Eigenſchaften, die in dem Kranze weiblicher Tugenden nicht feh - len dürfen. Sie müſſen aber ſpät erſt hervorkei - men, und noch ſpäter ſich entfalten. Jn des Kin - des Seele ſind ſie ſchreckliche Unnatur. Auch gibt es ſchwerlich einen gehäſſigern Anblick als ein Kind, dem der Eigennutz, die Habſucht und der Geiz angebildet worden. Und das Werk der Er -95 ziehung ſind ſie allemal, wenn ſie ſich in einem jungen Kinde finden. Ein fünf -, ſechsjähriges Kind hat keinen hellen Begriff vom Eigenthum; ihm iſt die Sorge für das Bedürfniß des andern Morgens völlig ſo fremd, wie die, für das Heil der kommenden Generation. Man kann ihm aber einen Begriff vom Mein und Dein beibringen; man kann es auch lehren, ſich an einer Sparbüchſe zu freuen, in welche Tanten, Onkel und Baſen zu Neujahr und am Geburtstage ein Stück Geld hineinwerfen, wodurch ſie ihm einen Schatz ma - chen, den es in ſeinem zwanzigſten oder fünf und zwanzigſten Jahre etwa gebrauchen darf. Wer ſeinen Kindern den Geiz, wenigſtens die Geldliebe, einimpfen will, wie die Blattern, dem wüßte ich keine beſſere Materie dazu zu empfehlen, als ſo eine Sparbüchſe voll Dukaten u. dergl., die man ihm von ſeinem fünften, ſechsten Jahre an bis in’s funfzehnte bisweilen vorzeigt. Die Methode iſt folgende: Man öffnet den Schatz, legt alsdann die goldenen Münzen vor ihm hin, macht das Kind aufmerkſam, wie viel ſchöne Kleider, wie viel leckere Schüſſeln, wie viel Tanzpartieen, Luſt -96 fahrten u. ſ. w. man dafür haben könne; dann ſagt man ihm: All’ dies Geld iſt dein! wenn du groß biſt, ſo bekommſt du das alles zu deinem Ge - brauche! Man läßt das Kind jedesmal vergeblich um einen Dukaten aus dieſem Schatze bitten, wenn es etwa einmal eine Anwandlung zu einem ſchönen Gebrauche in ſich verſpüren ſollte. Es müßte eine vorzüglich ſtark ausgeprägte Seele ſeyn, wenn auf dieſem Wege bei ihr der gehoffte Reſpekt vor dem Gelde nicht endlich eintreten ſollte!
Wie die Lehre vom Eigenthumsrecht auch klei - nen Kindern beizubringen ſey, und was ſie da wirke, wo ſie den Zunder im Kinde findet, davon ſahe ich manches Beiſpiel. Höre, wie eine Mut - ter mit ihrem einzigen Kinde dabei zu Werke ging, und wie es ihr gelang.
Vor etwa fünf Jahren beſuchte ſie meine Schwe - ſter mit ihrem damals vier Jahre alten Knaben. Es war eins der unbändigſten Kinder, und zeigte viel Charakter, wie man das nennt. Meine Schweſter, welche Kinder eben ſo leidenſchaftlich97 liebt, wie ich, und unglücklicher Weiſe keines hat, hatte ſich auf den Beſuch ihres kleinen Pathchens gewaltig gefreuet. Kaum war der Knabe aber da, ſo war für eine Zeitlang der heitere, frohe Lebensgenuß ihres Hauſes unterbrochen. Keine Mahlzeit, kein Spaziergang, keine Ausfahrt blieb jetzt ungeſtört. Der kleine Bube, der ge - wohnt war, ſeine Mutter zu beherrſchen, wollte ſeine Herrſchaft auch über meine Schweſter und ihre ganze Lebensweiſe ausüben, und da das nicht geduldet werden konnte, ſo gab es oft Wortwech - ſel unter den beiden Freundinnen. Deſto beſſer gelang es aber dem Kleinen bei ſeiner Mutter. Was Adolf nicht wollte, daß ſeine Mutter ge - nießen ſollte, das genoß ſie nicht. Sah er, daß die Mutter ein Glas Wein oder eine Taſſe Kaffee vor ſich hatte, ſo durft’ er nur ſagen: Nein, Mut - ter, das will ich trinken, ſo reichte die ſchwache Mutter es ihm hin, und ſagte: „ Da, Adölfchen, nimm es nur hin! Du gönnſt mir aber auch faſt gar nichts! ‟ — Adölfchen nahm den Wein, trank, oder verſchüttete ihn, und die Mutter machte ihm dann hintendrein die Bedingung: Du haſt(13)98deinen Willen gehabt, aber nun mußt du auch artig ſeyn. Wer aber täglich ungezogener ward, war Adolf. Eines Abends machte ich mit meiner Schweſter und dieſer Mutter und ihrem Knaben einen weiten Spaziergang über Feld. Es war einer von den herrlichen Junius-Abenden, die uns wie in eine andere Welt verſetzen. Wir waren ſehr froh; aber wir waren noch weit vom Hauſe. Der Kleine hielt uns auf: er hatte das Mitgehen ertrotzt. Nun wurd’ es ſehr kühl. Die Mutter trug auf dem einen Arm einen Ueberrock für den Kleinen, auf den Fall, daß es kühl werden ſollte. Auf dem andern Arm hatte ſie ein großes Shawl hängen, welches ſie für ſich mitgenommen. Nun fragte ſie den Kleinen: Adölfchen, willſt du den Ueberrock anziehen? „ Nein, Mutter, ich will den Ueberrock nicht anziehen. ‟ — Jch redete ihr zu, dem Kleinen den Ueberrock umzugeben, weil er ſich ſonſt erkälten müſſe. Aber ſie ſagte: er will es ja nicht, und ſo zog er ihn nicht an.
Nun wollte die Mutter ſich ſelbſt den Shawl umthun; der Bube ſchrie, und riß ihn ihr vom99 Halſe. Dies empörte ſelbſt meine ſanfte Schwe - ſter ſo, daß ſie das Adölfchen beim Arme faßte, und es derb durchklopfte. Jetzt fing die ſchwache Mutter an zu lamentieren, daß dem Kleinen Un - recht geſchehe, da das Shawl ihm gehöre, und er nur ſein Eigenthumsrecht geltend mache. Jch überlièß meiner Schweſter die fernere Gerechtig - keitspflege an dem Kleinen, nahm die Mutter am Arm, ging mit ihr voraus und fragte ſie, wie das mit dem Eigenthum des Kleinen gemeynt ſey? Sie antwortete, daß ſie ihm das Shawl eines Tages, da er ſehr darauf beſtanden, es zu ha - ben, wirklich geſchenkt, und in ſeine Kleiderkom - mode gethan, wo ſie alle ſeine Sachen, und al - les was er geſchenkt bekomme, beiſammen ver - wahrt, und ihm oft mit dem Bedeuten gezeigt habe, daß dies alles ſein Eigenthum ſey, wel - ches ohne ſeinen Willen niemand anrühren dürfe. Sie glaube, daß es zum Werthhalten und in - Achtnehmen der Sachen viel beitrage, wenn ein Kind früh wiſſe, was ſein ſey. Jch mach - te einige Verſuche, ihr über dieſen Punkt zu an - dern Jdeen zu verhelfen; aber ich merkte bald,100 daß das verlorne Mühe ſey, und ließ ab von ihr. Wie gefällt Dir das Knäblein? Sieheſt Du nicht in dem lieben Adölfchen ſchon den künftigen hart - herzigen, eigenwilligen, drückenden, egoiſtiſchen Haustyrannen?
Nein, beſte Emma, beſorge Du nicht, daß der ſchöne Hang zur Freigebigkeit bei der kleinen Jda zum Fehler ausſchlagen werde. Laß ſie ge - troſt jetzt noch alles wegſchenken. Die Liberali - tät der Kinder iſt ohnehin noch nichts weiter, als eine ſchöne Aufwallung; aber eben weil es eine ſchöne iſt, und zum herrlichen Strahl in der Krone des weiblichen Gemüths werden kann, eben da - rum ſoll ſie nicht geſtört werden. Was eigent - lich Geben heiße, das wiſſen dieſe Kleinen frei - lich nicht. Die Wohlthätigkeit können ſie noch weniger kennen. Den Dingen legen ſie keinen andern Werth bei, als den des Augenblicks, wo ſie ihnen Freude machen. Vom andern Tage, und was ihnen da Freude geben kann, wiſſen ſie gerade ſo viel, wie die Vögel unter dem Him - mel, die nicht in die Scheunen ſammeln. Es101 kann alſo bei ihrem Geben durchaus keine Reflexion ſtatt finden, und man muß ſie ja nicht dafür lo - ben. Aber wenn Jda von dem Apfel oder der Birne, die ihr ſehr gut ſchmeckt, jedem, den ſie lieb hat, ein Stückchen reicht; oder wenn ſie von zwei ſchönen Blumen gleich eine abgeben muß: wer ſollte nicht, von dem Anblick ergriffen, das Kind liebend anlächeln? wer kann ſich enthalten, es ans Herz zn drücken? Gibt es denn etwas holdſeligers, als dieſe milde Natur? Tugend ſind ſolche Regungen im Kinde nicht; aber es ſind Paradieſesblumen, die auch den trauernden Men - ſchen, der den Glauben und die Liebe verloren, himmliſch erquicken. Als unſer Herr auf Erden wandelte und der verſchmitzten Bosheit mit hei - ligem göttlichem Zorne zürnte: da erquickte auch ihn der Anblick der Unſchuld, und er mußte ſie an ſich ziehen, mußte ſie herzen, und der verhär - teten Art umher zum Beiſpiel aufſtellen.
Wetten wollt’ ich wohl, daß Jda den Roſen - kranz nicht ſich, ſondern Dir aufſetzt, und ſich jubelnd im Kreiſe herumdreht, wenn ſie ihr102 Mütterchen damit geſchmückt hat. Laß es ge - ſchehen, ich bitte Dich. Gib mir auch Nachricht, was ſie mit den Aepfeln thut, und ob ihr der Vogel auch große Freude gemacht hat. Laß ſie ihm doch ja alle Morgen ſelbſt ſein Futter ein - ſchütten und friſches Waſſer ins Glas gießen. Dies iſt ein freundliches Mittel, ſie zur Ordnung in kleinen Geſchäften einzugewöhnen. Laß ſie es jeden Morgen thun, ſobald ſie ſelbſt gefrüh - ſtückt hat. Mahne ſie, wenn ſie es vergeſſen ſollte, ganz leiſe und freundlich daran, bis ihr die kleine Hausſorge völlig individuell geworden. Er wird ſie bald kennen lernen, und ihr tauſend Spaß machen. Gib Acht, Liebe, daß niemand ihr dieß Geſchäft abnehme. Es kann Dir zugleich zum Merkmal ihrer Stetigkeit dienen. Jm An - fange, ſo lange ihr der kleine Gaſt noch neu iſt, wird ſie ihn vielleicht weder vergeſſen, noch ver - ſäumen. Aber ob ſie ihn noch eben ſo treu be - ſorgt, wenn er erſt bei ihr einheimiſch geworden, das iſt bemerkenswerth.
Lachen muß ich noch oft, wenn ich daran denke, wie treu ſie jeden Abend ihre ſchöne Puppe ein -103 wiegte und einſang, ſo lange ich bei Dir war, und wie ſie die geputzte ſo vornehm auf den Lehnſtuhl ſetzte, und ſie die fremde Dame hieß, und Dich endlich bat, die fremde Dame oben auf die Kleiderkammer zu tragen, weil ſie ſich an ihrem Putze ſo müde geſehen hatte!
Spielt ſie noch gern mit ihrer Lilli? O! mun - tere ſie ja in dieſen trüben Wintertagen viel auf, ihre Lilli im Zimmer herum zu fahren, damit ſie nicht zu viel ſitze! Jetzt wär’ es auch wohl gut, wenn Du ſie ein wenig tanzen lehrteſt. Laß dazu die kleine Nachbarin kommen; dies geht um deſto ſicherer, da Du ſelbſt Tanzmeiſter biſt. Kannſt Du es doch bald genug gewahr werden, wenn dieſe Geſellſchaft Deiner Jda nicht gedeihlich ſeyn ſoll - te, und die Sache ſogleich wieder einſtellen. Zum Tanzen gehört Geſellſchaft: dies muß ſie nicht allein lernen. Ueberhaupt wird es nach einiger Zeit ſehr gut ſeyn, wenn Du ihr eine beſtändige Geſpielin geben kannſt, die nicht viel älter und nicht viel jünger iſt, als ſie. Je mehr ſie ſich ent - faltet, je nöthiger wird es, daß ſie ein Weſen ih -104 res Alters um ſich habe, an welches ſie ſich an - ſchließen könne, in welchem ihr kindlicher Geiſt ſich ſpiegle, und ihr Gemüth ſich in Liebe zu ihres Gleichen, und in Bewunderung oder Nachſicht, und kurz in jeder geſelligen Tugend übe, welche man nicht anders, als im täglichen Umgange mit ſeines Gleichen lernt. Siehe Dich bald, und ſtreng prüfend, nach einem Kinde um, das Du Deiner Jda gern zur Geſellſchaft geben möchteſt. Gut wäre es, wenn es ein Kind von gleichem Stande und in gleichen Glücksumſtänden geboren, ſeyn könnte. Wäre es nach gleichen Grundſätzen bis dahin erzogen, und doch von ſehr verſchiedener Jn - dividualität mit Deiner Jda, ſo wüßte ich in die - ſer Sache nichts weiter zu wünſchen. Doch wenn ſich dies auch nicht alles beiſammen findet: in ei - nem Kinde, das man Dir übergeben kann und will, wirſt Du, wenn auch ſein Stand und Ver - mögen weit unter dem Deinigen ſind, und die Klei - nen nur übrigens zu einander paſſen, die Schwierig - keiten zu überwinden wiſſen. Nur auf dem Punkte beſtehe ich, daß es ein Kind guter Art ſey, daß die Natur es an Geiſt und Gemüth reichlich ausgeſtat -105 tet habe. Mag es immerhin arm ſeyn, es kann Jda’s Geſpielin werden; doch mit der unerläßli - chen Bedingung, daß es mit Jda völlig gleich be - handelt werde, und alles genieße und habe, was Jda zu Theil wird, und daß ja kein untergeord - netes, dienendes Weſen neben Jda geſtellt werde. Dies iſt unglaublich nachtheilig. Faſt unvermeid - lich wird dadurch in dem einen Kinde ſklaviſche Kriecherei oder Scheelſucht, Neid und Tücke, und in dem andern Egoismus und Anmaßung gepflanzt. Doch muß ich noch eine Bedingung machen. Er - zieheſt Du ein armes Kind mit Jda, ſo muß ſein künftiges äußeres Schickſal durch Dich ſo feſt ge - ſichert werden, als ſein Charakter und ganzes We - ſen durch die Erziehung. Auf beſondere Unglücks - fälle muß jedes menſchliche Weſen vorbereitet und gefaßt ſeyn; nur ſo weit es von Dir abhängt, muß des Kindes Schickſal geſichert werden. Suche mit Deinem Manne hierüber völlig einig zu wer - den, ehe Du die Sache unternimmſt.
Sorge auch vor allen Dingen, das Kind genau kennen zu lernen, d. h., von ſeinen glücklichen An -(14)106lagen gewiß zu ſeyn, ehe Du es zu Jda’s Lebens - gefährtin machſt. Der Menſch ſoll bei keinem Dinge verzagter ſeyn, als wenn er die Rolle des Schickſals für andere Weſen wiſſentlich übernimmt. Freilich arbeitet ohnedies jeder Menſch an dem Schickſale der Andern; aber mehr als Werkzeug höherer Mächte. Wer aber armen Eltern ein Kind abnimmt, und es in ſeinem Hauſe zum Wohlſtande und zu höheren Lebensgenüſſen erzieht: der gibt ſeinem ganzen Schickſal eine entſchiedene Richtung. Man ſollte alſo das Subjekt, das man wählt, ſo genau als möglich kennen!
Das iſt ein langer Brief, aber ich war Dir auch auf ſo manchen wichtigen Fragepunkt Antwort ſchuldig. Für heute nur noch das, daß Du Dei - nen Woldemar ja nicht lange ohne männliche Ge - ſellſchaft laſſen mußt, da auch Dein Bruder Dich jetzt verlaſſen hat, der ihm freilich den abweſenden Vater erſetzen konnte, wie ſonſt keiner.
Soll ich Dir meines Herzens ganze Meynung über Woldemar ſagen, ſo iſt es die: er muß nicht107 länger in dem weichen Klima mütterlicher Pflege und Aufſicht athmen! Wie bald Dein Mann zu - rückkommen kann, iſt ungewiß. Woldemar iſt neun Jahre alt. Er iſt ein kräftiger, feuriger Knabe; aber wenn er länger ausſchließend mit Dir lebt, wird ſein Herz zu weich, ſeine Phan - taſie zu weiblich. Selbſt der beſtändige Umgang mit dem zarten Schweſterchen ſtimmt ihn für ſein Geſchlecht zu weich.
Suche Dir in dem Kreiſe Deiner Bekanntſchaft einen würdigen jungen Mann zum Erzieher für ihn; mache mit dieſem, wenn Du ihn gefunden, einen gemeinſchaftlichen Erziehungsplan für dieſen herrlichen Knaben; lege ihn dann ſeinem Vater vor, und wenn der ihn ſanctionirt hat, dann mache Dich ſtark, ihn recht treu zu befolgen. Schenke dem Manne, den Du werth gehalten, ihm dieſen koſtbaren Schatz zu übergeben, Dein ganzes Vertrauen. Weißt Du in Deinem Kreiſe niemand, den Du deſſen werth hältſt, ſo will ich Dir in meinem nächſten Briefe das Portrait eines Mannes zeichnen, der mir zu dieſem Geſchäfte un -108 ter Tauſenden der rechte ſcheint. Daß er auch menſchliche Schwächen hat, verſteht ſich; ſie ſind aber nicht der Art, daß Woldemar ſie jetzt ſchon zu bemerken vermöchte, und die ihn hindern könn - ten, an ihn, wie an ein hohes Jdeal, hinauf zu ſchauen. Und würden ſie dem Kleinen früher ſicht - bar, als wir vermuthen, ſo ſind dieſe Schwächen durch die herrlichſten Vorzüge ſtark überglänzt, und können der Achtung für ihn nur wenig Ab - bruch thun.
Mit Ungeduld ſieheſt Du dem verheißenen Bilde des künftigen Mentors Deines Woldemar entge - gen? Wohlan denn! Er iſt ein junger Mann von acht und zwanzig Jahren, hat einige Jahre die Rechte und die Staatswirthſchaft ſtudirt, und war von ſeinen Verwandten für eine glänzende Lauf - bahn beſtimmt, fühlte aber eine ſo ſtarke Abnei - gung gegen dieſe Beſtimmung, oder vielmehr ge - gen die gewöhnlichen Wege zu dieſem Ziele der109 Ehre, daß er ſie ſchwerlich noch betreten möchte. Zu Kindern fühlt er ſich ſo innig hingezogen, daß er gleich mitten darunter iſt, wenn er in unſerm Zirkel ein Häuflein Kinder bei einander ſieht. Noch habe ich keinen Mann ſo traulich mit Kin - dern umgehen ſehen. Als unabhängiger Gelehr - ter zu leben, hat er jetzt beſchloſſen, und das muß er auch wohl, weil ein jedes Amt ihm eine drük - kende Feſſel ſeyn würde. Dennoch ſcheint es mir möglich, ihn dazu zu ſtimmen, daß er ſich Wolde - mar’s Erziehung widme, ſobald er den Knaben ge - ſehen hat. Seine Kinderliebe überwiegt noch die Liebe zur Unabhängigkeit bei ihm. Den ganzen Umfang ſeines Wiſſens kenne ich nicht, und den kennen hier nur wenige. Aber die Art, wie er die Dinge weiß, iſt nur wenigen, ſeltenen Gei - ſtern eigen. Wenn er mit Männern über irgend einen Gegenſtand aus dem Reiche des gelehrten Wiſſens ſpricht, ſo iſt er der Sache auch ſo ganz Herr und Meiſter, als ob ſie von ihm zuerſt ge - dacht wäre; was ihm weniger klar iſt, darüber ſpricht er nicht. Dennoch iſt ſo gar nichts Herri - ſches, noch Abſprechendes in ſeinem Tone; man110 fühlt es, daß ſeine Ueberlegenheit ſtill und rein aus der Kraft und Ruhe ſeines Geiſtes hervorgeht, und er ſich ihrer faſt nicht bewußt iſt. Vorzüglich gern höre ich ihn über deutſchen Geiſt und Deutſchlands Geiſter reden; denn da kann ich ihn faſſen.
Er iſt ſelbſt produktiver Geiſt, hat aber zu kei - ner Fahne geſchworen, gehört keiner Schule aus - ſchließend an. Mir iſt ſein Urtheil ſehr werth. Er hat ſich eine rein liberale Anſicht von deutſchen und ausländiſchen Geiſtesprodukten erhalten. Man kann ihm mit völliger Geiſtesfreiheit zuhören. Am allerliebſten ſehe ich ihn von Kindern und jungem Volke umringt. Die Kleinſten trägt er auf dem Arme, und erzählt ihnen die komiſchſten Mähr - chen von der Welt; die heranwachſenden Knaben umringen ihn, wenn ſie ihn irgendwo einen Augen - blick allein ſehen, und haben ſie ihn einmal gefaßt, dann laſſen ſie ſobald nicht wieder von ihm. Er ſpielt das Pianoforte und ſingt einen herzergrei - fenden, reinen und milden Tenor. Ob er auch zeichnet, weiß ich nicht, aber Kunſtkenner iſt er. Auf meiner neulichen Reiſe nach Kaſſel war er mein111 Begleiter; wir brachten mehrere Morgen in der Gallerie zu. Tiſchbein führte uns mit der ihm eigenen Gefälligkeit herum, und erklärte meinen jungen Begleiterinnen ungemein bereitwillig alles, was ſie ihn fragten. Bald aber horchte er, wie mein Begleiter meinem noch unmündigen Kunſt - ſinne aufhalf. Jch kann Dir die Verklärung nicht darſtellen, die auf P … s Geſicht erſchien, wenn er vor den herrlichen Meiſterwerken ſtand. Es gibt Momente, ſagte er, wo das Gefühl, ein Menſch zu ſeyn, an ſich ſchon Seligkeit iſt; wo der Name einzelner Menſchen in unſerer Seele wie in einem Tempel in heiliger Stille thronet! Der Tag, den wir mit ihm auf der Wilhelmshöhe feierten, wird mir einer der unvergeßlichſten blei - ben. Jn den Chriſtoph ſtieg er nicht hinein, wohl aber verweilte er mit uns einige Stunden auf der Höhe der Kaskade, und weidete Herz und Auge mit uns an der Herrlichkeit der Natur, die man da überſchau’t. Er war zum erſtenmale hier, und genoß mit wahrhaft kindlicher Seele des reizenden Lokale, und doch war er vorlängſt in Schafhau - ſen, und ſah den Rheinfall. Aber mit ganzer112 Seele genoß er, ungleich jenen kalten Kritikern, die im Vaterlande nichts mehr ſchön finden kön - nen, wenn ſie einmal rühmen dürfen, daß ſie im Auslande waren.
Auf Reiſen tritt das Jnnere der Menſchen über - haupt unverhüllter hervor: da hab’ auch ich ſein eigenthümliches Weſen näher kennen gelernt. Eine ſolche Miſchung von Kraft und Milde, von Feſtig - keit und kindlicher Hingabe, von Stolz und De - muth, ſah’ ich noch nicht. Unerbittlich hart iſt er gegen Unwahrheit und feile Kriecherei. Nicht ein - mal galant iſt er gegen Weiber. Er ſcheint im Ganzen für unſer Geſchlecht mehr Mitleid als Achtung zu haben, und doch iſt es ihm wieder Be - dürfniß, die Beſſern unter uns heraus zu heben, und ſie mit Ehrerbietung zu behandeln. Seine Geſtalt iſt männlich. Sein dunkles, feuriges Auge würde zurückſcheuchen, wenn nicht ſo viel heitere Ruhe daraus ſpräche. Jch wollte Dir von ſeinen Schwächen ſagen, und habe ſie unvermerkt faſt ganz aus den Augen verloren. Er haßt, zum Bei - ſpiel, alle konventionellen Formen des Umgangs113 mehr, als billig iſt. Eben ſo haßt, ja verabſcheuet er alle Anſprüche auf Standesvorzüge, und wenn er unter zwei gleich würdigen Menſchen zu wählen hat, von welchen der eine adelich, der andere bür - gerlich iſt, ſo läßt er ſicher den erſten ſogleich ſte - hen und wählt den letzten. Höchſt wahrſcheinlich iſt dies die Frucht der Behandlung, die ihm in frühern Jahren von einem ſeiner hohen Gönner geworden. Vielleicht war auch der Stand ſeiner frühen Liebe entgegen.
Genug, er macht ſeinen Rang an einem frem - den Orte nie geltend, und iſt ſtolz genug, durch ſeine Perſon alles, oder nichts gelten zu wollen. Kurz, er gibt den Edelmann zu wohlfeil weg.
Da haſt Du nun ein flüchtig hingeworfenes Bild des Mannes, von dem ich glaube, daß Woldemar’s Geiſt ſich an dem ſeinigen herrlich entfalten müßte. Sende dieſen Brief Deinem Manne, und wenn er und Du im Urtheile über dieſen Menſchen mit mir zuſammentreffen, und auch Er es wünſcht, daß ich die Sache einleite, ſo ſchicke mir Deinen(15)114Woldemar auf vierzehn Tage zum Beſuch. Eine ſchickliche Gelegenheit wird ſich ſchon finden. — P. ſoll Woldemar bei mir ſehen, und es wäre mit meiner Divinationsgabe ſchlecht beſtellt, wenn der Kleine und er nicht bald unauflöslich an ein - ander gefeſſelt ſeyn ſollten.
Wo zwei ſolche Naturen einander begegnen, da fliegen ſie, wie des alten Platons’s zwei ver - lorne Hälften, wieder an einander, und laſſen ſich nicht mehr.
Unſer P. weiß wenig von dem Kinde, und nichts von meinem Plan. O wie ungeduldig bin ich auf den Ausgang! Und doch kann ich mir das wie noch nicht denken. Denn Du wirſt den Kleinen nicht von Dir laſſen, und wie wir den Mann von uns entlaſſen können, das ſehe ich auch noch nicht.
Da ſitzt Dein herrlicher Junge vor mir, hat den alten Robinſon in der Hand und ergötzt ſich115 herzlich daran. Nein, Emma, ſo dacht’ ich mir den Ausgang nicht. Arme Mutter, Du ſollſt Dich auf, Gott weiß, wie lange, von Deinen beiden Lieblingen trennen, und Deinem Ge - mahl nach dem rauhen Norden folgen? Jmmer vermuthete ich, daß die Regierung ihm einen ſolchen Poſten anweiſen würde; aber nach Pe - tersburg, nein, das dacht’ ich nicht. Und Dein Gemahl hat unwiderruflich entſchieden, daß die Kinder in Deutſchland bleiben ſollen?
Sehr ehrend für mich iſt ſein Vertrauen, in welchem er mir, mit Dir übereinſtimmend, Jda bis zu eurer Rückkehr ganz übergeben will, und daß auch er glaubt, Herr von P. ſey der einzige Mann in unſerm weiten Kreiſe, der Woldemar zur ſchönſten Entwickelung helfen könne. Aber Du, arme Mutter, wie willſt Du das Opfer bringen, ohne daß der Schmerz Dein Jnneres zernagt? Kann es Dich tröſten, ſo laß Dir er - zählen, daß meine Vermuthung völlig erfüllet und meine Hoffnung übertroffen iſt.
Woldemar kam am Sonntag Mittag an, als Herr von P. eben bei uns ſpeiſete. Die Art,116 wie der Kleine auf mich zueilte, die unverkennbar kindliche Zärtlichkeit, mit der er mir um den Hals fiel, und ſonſt faſt niemand im Zimmer bemerkte, fiel P. ſtark auf. Sein Blick war feſt auf den Kleinen geheftet. Und als Woldemar nun anfing von Dir zu erzählen, und von Jda, und wie das Schweſterchen ihn gar nicht habe laſſen wollen, und wie ſeine Augen bei der Erinnerung überfloſ - ſen, ſagte Hr. von P. leiſe zu mir: Noch nie ſah’ ich ein Kind, das ſo auf mich gewirkt hätte! Ei - ne ſehr edle Natur iſt ſeinem Weſen ſichtbar auf - geprägt. Wie kam es, daß Sie mir von dieſem Sohn Jhrer Freundin nicht mehr und bisher faſt gar nichts Beſtimmtes ſagten?
Jch lächelte und ſchwieg. Es ward nun von al - lerlei andern Dingen geſprochen. Woldemar hat - te den fremden Herrn ein paarmal flüchtig betrach - tet. Sein großer Blick und ſeine freundliche Mie - ne machten Furcht und Vertrauen in dem Knaben wechſeln. Faſt getraute er ſich nicht mehr hin - zublicken, und doch konnt’ er es nicht laſſen, und meinen Freund ergötzte dieſer Kampf in dem Ge -117 ſichte des Kleinen königlich. Jch hatte Woldemar zu mir auf den Sopha gezogen, um recht ver - traut mit ihm zu plaudern. Aber immer blickte er halb verſtohlen wieder hin nach P. Dieſer trat näher an uns, nahm Woldemar’s Hand, ſah ihn noch liebreicher an, als zuvor, und fragte: Nicht wahr, du fürchteſt dich nicht vor mir, lieber Wol - demar? Der Kleine ſagte betroffen: Jch fürchte mich niemals; ward aber feuerroth, und wollte hinaus. Bleib bei uns, ſagte P. ſanft bittend. Der Knabe wagte wieder einen Blick zu ihm hin - auf, und P. ſah ihn mit rührender Liebe an.
„ Nun fürchte ich mich gar nicht mehr, Herr von P. ‟ — „ Nun ſo komm näher und liebe mich. ‟ Und im Nu ſprang der Kleine auf und hing an des Mannes Halſe. P. ’s Auge glänzte von Freude, ein ſolches Kinderherz gewonnen zu ha - ben. „ Heiß mich Du, und P., und nicht Sie und Herr von P. ‟ — Das kann ich nicht, gewiß ich kann nicht. — „ So fürchteſt du dich auch noch. ‟ Jch fürchte mich nicht mehr, aber Sie ſind ſo groß und ſind — die Worte fehlten ihm zu dem, was118 er noch ſagen wollte. „ Aber du wirſt auch groß werden. ‟ — Wenn ich eben ſo geworden bin, wie Sie, dann will ich Sie Du heißen. — „ Herrlicher Junge! Nennſt du denn deinen Vater auch nicht Du, wenn er bei euch iſt, oder du ihm ſchreibſt? ‟ Er will es haben, aber ich kann nicht. „ Wie nennſt du denn die Mutter? ‟ Er erröthete ſtark. Die Mutter? Ja, das iſt wieder etwas anderes. Die Mutter ſieht immer ſo freundlich aus, und die muß ich immer lieben, ſo oft ich ſie anſehe, und da muß ich Du ſagen. Der Vater aber ſieht bisweilen ſo ernſt aus. „ Und da liebſt du ihn nicht? O ja, ich liebe ihn wohl recht ſehr, aber anders, als ich die Mutter liebe. Glauben Sie nur nicht, daß ich mich vor ihm fürchte; aber ich liebe ihn ſo, daß ich nicht Du zu ihm ſagen kann. „ Nun, ſo heiße mich denn Sie, ſo lange du willſt. Willſt du aber wohl mit mir gehen, wenn ich nach Hauſe gehe? ‟ O nehmen Sie mich mit! Jch möchte ſie ſo gern noch mehr lieb haben. — P. ſah mich fragend an: ich winkte, ja; er nahm den Knaben an die Hand und fort waren ſie. Erſt ſpät am Abend bracht’ er ihn mir wieder, aber119 mit der Bitte, ihm den kleinen Gaſt zu überlaſ - ſen, er wollte mir ihn auch täglich auf ein paar Stunden wieder abtreten. Der Vertrag ward eingegangen und Woldemar’s Augen funkelten Freude. P. hat Wort gehalten und ihn mir täglich hergebracht. Auch iſt der Kleine gern bei mir, denn ich laſſe ihn gewähren. Will er leſen, ſo lieſet er die ganze Zeit, ohne zu ſprechen. Will er plaudern, ſo habe ich immer ein offenes Ohr für ihn. Aber wovon ſpricht er? Jmmer von P. und nichts als P. Unerſchöpflich iſt der Kleine in ſeinem Preiſen. Und dem P. geht es mit dem Kleinen gerade eben ſo. Wenn wir mit einander ſind, und der Kleine im Garten oder im andern Zimmer ſich beſchäftigt, ſo iſt er der ein - zige Jnhalt unſrer Geſpräche. Dieſen Morgen hatte er Woldemar in ſeinem Hauſe bei ſeinen Landkarten beſchäftigt, und kam allein zu mir. „ Selma, ſagt’ er, ich fühle mich zu dieſem Knaben ungewöhnlich ſtark hingezogen. Seine Erziehung wäre das einzige Geſchäft, das ich mir wünſchen könnte. Jſt es wahrſcheinlich, daß die Eltern, die doch einmal im Wirbel der Welt ſo120 umher getrieben werden, ihn mir überlaſſen ſoll - ten? Jch habe mir in dieſen Tagen einen eig - nen Erziehungsplan für dieß ſelten begabte Kind entworfen. Soll ich ihn Jhnen bringen? Wol - len Sie ihn den Eltern nebſt meinem dringenden Verlangen vorlegen? Sie wiſſen, ich bin ſo glücklich, einer völlig unabhängigen Exiſtenz zu genießen. Sie wiſſen es auch, daß nichts in der Welt mir ſo theuer iſt, als dieſe Unabhängigkeit. Jch habe nie geglaubt, daß ich ihr auch nur für wenige Jahre entſagen könnte. Dieſem Kinde kann ich ſie willig opfern; ja, ich fühle einen heißen Drang darnach. Sagen Sie das den El - tern. ‟ — Sein Auge glänzte: er ſah mich mit ge - ſpannter Erwartung an, ob ich ſeine Jdeen bil - ligend auffaſſen könnte. O Sie Guter! ſtam - melte ich, und meine Augen floßen über. Wer - den Sie es mir verzeihen, daß ich mit meinem heißen Wunſch für dieſelbe Sache ſo lange an mich gehalten habe? Nehmen Sie ihn hin; ich will mit der Mutter alles, was über dieſe Sache noch nöthig ſeyn möchte, verabreden.
Statt aller Verabredung diene nun dieſer Brief,121 dem ich auch noch den geſchriebenen Erziehungs - plan für Woldemar beifüge. Daß ſo ein Plan nur eine rohe Skizze ſeyn könne, die durch das tägliche Leben mit dem Kinde bis zu ſeiner Reife ausgemalt werden muß, fiehſt Du, liebe Emma, wohl ein; und weiter iſt er alſo auch nichts. Dei - nes Mannes volle Zuſtimmung kann uns nicht fehlen, und ſo wäre dieſe Sache entſchieden. So - bald Deine Abreiſe von D. feſtgeſetzt iſt, komme ich zu Dir, Jda abzuholen. O welch ein ſchmerz - liches Sehen wird dies ſeyn! Und wie ich Jda von Dir losbringen will, ich mag’s gar nicht denken. Aber ich komme unfehlbar, ſobald Du mich zu Dir rufſt. Daß ich Dir poſttäglich ſchrei - be, wenn ich Dein zweites Kleinod auch habe, Dir beſonders von Jda’s Entwickelung den ge - treueſten Bericht erſtatte, darauf rechne Du mit höchſter Gewißheit. Jch müßte das Mutterherz nicht kennen, wenn’s mir möglich ſeyn ſollte, Dich vergeblich auf die umſtändlichſten Berichte von Deinen Kindern warten zu laſſen. Stünde es bei mir, den Sachen eine andere Wendung zu geben, zu machen, daß Du Deine Kinder, we -(16)122nigſtens Jda, bei Dir behielteſt: mit Freuden wollt’ ich den gehofften Genuß opfern, und Dir Deine Lieblinge laſſen. Etwas Gutes iſt aber noch bei der Sache, deſſen wir vielleicht beide noch nicht lebhaft gedacht haben: daß die beiden Kin - der nicht getrennt werden! P. bleibt nicht nur mit Woldemar hier in L., er zieht wahrſcheinlich zu uns ins Haus, und ich beköſtige ſie Beide. Da ſind dann die Kinder bei der Mahlzeit wenig - ſtens immer, und oft auch auf den Spaziergängen beiſammen. Jn den Lehrſtunden ſind ſie getrennt, vielleicht auch nicht in allen. Herr von P. iſt des Franzöſiſchen vollkommen mächtig und ſpricht es ſehr ſchön. Von ihm kann Jda Unterricht ha - ben, ſobald ſie ſo weit iſt. Wenigſtens hat er es mir verſprochen, meinen Uebungen mit Jda noch täglich eine Stunde hinzuzuthun, wann ich es wollte. Den Zeichenmeiſter können beide Kin - der vielleicht auch gemeinſchaftlich haben. Was ich für Woldemar beſorgte, als er noch bei Dir war, daß er durch Jda zu weich werden möchte, das ſürchte ich jetzt unter P. Aufſicht nicht mehr. Er ſelbſt wünſcht es, daß die Kinder ſich täglich123 oft ſehen. Für Jda iſt es gewiß gut; doch wünſch’ ich noch immer, Du möchteſt eine kleine Ge - fährtin für ſie gefunden haben; ja ich möchte faſt ſagen, es werde von jetzt an nothwendig, daß ſie eine Geſpielin von ihrem Alter neben ſich habe. Gern will ich auch für dies Kind ſorgen, welches Du auch immer erwählen mögeſt. Lebe wohl, theure Seele!
Gefunden iſt alſo auch die Gefährtin für Jda? Und Mathilde iſt noch dazu ein ganz verwai - ſetes Kind, und ein Jahr älter, als ſie? O wie glücklich trifft das zuſammen! Laß es auch ſeyn, daß die ſechs und ein halb Jahr alte Mathilde ſchon manche Unart an ſich habe; wenn ſie nur ein glückliches Naturell hat, und nicht ganz ver - wahrloſ’t iſt, ſo will ich ſchon mit ihr fertig wer - den. Du ſagſt, ſie ſey ein wenig heftig und zum Eigenſinne, wie zur Herrſchſucht, von ihren124 allzunachgiebigen Eltern verwöhnt; habe aber Verſtand, eine lebhafte Phantaſie und ein tiefes Gefühl, wenn gleich ihrem Gemüth faſt alle weib - liche Zartheit und Jda’s liebliche Freundlichkeit fehle. Laß Dich das alles nicht kümmern; wenn ſie nur ganz unſer iſt, und wir ihr Schickſal ſo weit beſtimmen, als Menſchen es können, ſo ſoll alles gut werden.
Meine Einwilligung zur völligen Adoption haſt Du hiermit in aller Form. — Schauet gnädig auf uns, ihr himmliſchen Mächte, damit unſer Werk gedeihe! — Sonderbar bang kann es einem werden, wenn man ſo wiſſentlich dem Schickſal irgend ei - nes Menſchenweſens die Richtung gibt! Und doch, es ſoll, es muß gut gehen!
Woldemar hängt täglich feſter an ſeinem Men - tor. Sobald Du mir ſchreibſt, daß wir kommen ſollen, Dich noch einmal zu ſehen und Jda zu holen, ſind wir bereit. Es verſteht ſich, daß P. uns begleitet: beide von einander zu trennen, wäre grauſam; auch wirſt Du ſelbſt begierig ſeyn,125 den Mann zu ſehen, der einen großen Theil Dei - ner gegenwärtigen und künftigen Lebensfreude in Händen hat.
Dieſen Morgen, als Woldemar bei mir ſaß, ſagte er: „ Tante Selma, ich kann dir gar nicht beſchreiben (ſeit ein Paar Tagen heißt er mich von freien Stücken Du, ohne daß wir darüber geſpro - chen hätten), ich kann dir gar nicht beſchreiben, wie mir iſt, wenn ich nach Hauſe denke. Oft iſt es, als müßt’ ich dich bitten, im Augenblicke abzu - reiſen, und ich müßte der Engelsmutter an den Hals fliegen, und ſie feſt, feſt halten, daß ſie blei - ben müßte, und mit uns hier in L … glücklich ſeyn; und dann wünſch’ ich wieder, ſie wär’ erſt fort nach Petersburg, daß ich nicht mehr ſo viel daran denken müßte. Und dann kann ich auch Herrn von P. noch beſſer lieb haben, und beſſer Acht haben, wenn er mit mir ſpricht, und mit mir lieſet. Wenn ich jetzt an die Mutter gedacht habe, kann ich an nichts anders mehr denken. Alle Nacht träume ich von ihr und von Jda. Auch dieſe Nacht wieder. Als ich heut Morgen aufwachte, ſtand126 Herr von P. an meinem Bette mit einem Tuche in der Hand, mit welchem er mir die Augen trock - nete. Er fragte: Was iſt dir, mein Junge? Jch habe nur geträumt, ſagt’ ich, von der Mutter und von Jda. Aber ſie ſahen gar nicht ſo aus, wie ſonſt; die Mutter ſah’ aus, wie die marmorne Frau, die alle ihre dreizehn Kinder verloren hat, und nun auch das letzte, jüngſte ſterben ſieht, und mir war’s, als ſähe ich Jda juſt ſo in ihren Armen hängen. Nun verſprach er mir, wir wollten noch in dieſer Woche hin zur Mutter und Jda holen. Da ward ich ganz froh und ſtand auf. Während ich mich anzog, ſpielte und ſang Herr von P.: „ Willkommen, ſchöner Morgen, wie groß iſt deine Pracht. ‟ Jch ſang mit, und mein Traum war ganz vergeſſen. Und nun ſchickt er mich, und läßt dich, liebe Tante, bitten, daß wir ja recht bald reiſen. ‟
Jndem der liebe Schwätzer ſo ſaß und plauderte, brachte man mir Deinen Einladungsbrief. Alles iſt alſo bei Dir bereit. Wohlan, wir ſind es auch, und reiſen morgen, wenn uns nichts abhält. O! ſammle alle Deine Kräfte zuſammen! Du wirſt127 ihrer bedürfen. Es muß ſehr hart ſeyn, ſich von ſolchen Kindern zu trennen. Richte es auch ja ſo ein, daß wir zu gleicher Zeit von Deinem Gute abreiſen. Wir wenigſtens weichen nicht, ſo lange Du noch da biſt. Zu Mathildens Aufnahme iſt hier alles vorbereitet. Zwei traurig ſchöne Wo - chen ſehen wir vor uns.
Ueberſtanden, meine Emma, iſt die ſo ſehr ge - fürchtete Trennung. Wir ſind glücklich hier in L. angekommen, und Du arme verwaiſ’te Mutter wirſt Deutſchlands Gränzen wohl ſchon erreicht ha - ben, indem ich dieſe erſten Zeilen des Troſtes für Dich ſchreibe. Des Troſtes! — als ob ich deſſen nicht ſelbſt bedürftig genug wäre!
Was hilft es mir, daß ich mit Deinen koſtba - ren Schätzen davon zog, nahm ich nicht auch das Gefühl mit mir, daß nun Dein Herz ſo ganz ver - armt ſey? und mußt’ ich mich nicht von einer128 Freundin trennen, die mir theuer iſt, wie das Le - ben? Und ſo oft ich Deine Kinder anſehe, und ihr Anblick mein Herz erquicken will, komme ich mir wie eine Räuberin Deiner Freuden vor. Doch nichts mehr von dieſen widerwärtigen Gefühlen, die ich oft meyne nicht ertragen zu können. Es müſſen andere an ihre Stelle treten. Auch Dir, Du Gute! muß wieder wohl werden, ſo wie Du dem Orte näher kommſt, der Dich mit Deinem D* endlich wieder vereinigt. Und ſo laß mich ſchwei - gen, damit ich den Stachel des Schmerzes nicht tiefer in Dein wundes Herz drücke.
Jch habe Dir häufige und getreue Berichte über deine Kinder, beſonders über Jda und Mathilde, verheißen. Es ſey alſo der Anfang ſogleich ge - macht. Auch wird Platov ſeinen erſten Brief über Woldemar beiſchließen.
Als die ſchmerzliche Losreißung nun geſchehen war, als unſere Wagen nun einander entrollten, Deiner nach Norden, der unſere nach Südweſten, da verſanken wir alle in ein tiefes Schweigen. 129Eine lange Zeit verharrten wir ſämmtlich in die - ſer ſtillen Feier. Jedes überließ ſich ſeiner eigen - thümlichen Natur, die bei dem einen in ſtillem Fortweinen, bei dem andern durch eine gänzliche Abgeſchiedenheit von allem Gegenwärtigen ſichtbar ward. Der Tag war ſo ruhig heiter, der Abend ward unbeſchreiblich ſchön. Mathilde theilte den ihr fremden Schmerz durch eine ſtille Ruhe.
Woldemar unterbrach das Schweigen zuerſt: „ Nun will ich Sie auch ſehr lieb haben, ſagt’ er zu Platov. Jch weiß ja, daß ich nicht im - mer bei der Engelsmutter bleiben konnte. Machen Sie nur, daß ich recht viel lerne, und ſchel - ten Sie mich, wenn ich zu viel tobe. Der Vater hat mich oft geſtraft, wenn ich tolles Zeug trieb, das ſollen Sie aber nicht mehr nöthig haben. Jch will es dem Vater aber immer ſelbſt ſchreiben, wenn ich etwas mache, das nicht taugt. Und Sie müſſen dann der Mutter ſchreiben, was Sie Gutes von mir wiſſen, und ſie tröſten. ‟ —
Bei dem Worte tröſten, rollten ihm zwei große Thränen herunter. Wie Jda dies ſah, brachen die ihrigen von neuem los. Schluchzend ſagte ſie:(17)130„ Auch von Jda ſoll Tante Selma die Mutter tröſten. O ich will ſo brav ſeyn, und ſo fromm, wie ich noch nicht geweſen bin. ‟ —
„ Jch will auch brav ſeyn lernen ‟ — fiel Mathil - de ein — und die Mutter ſoll ſich auch über mich freuen müſſen! ‟ — Jch drückte mein Geſicht ins Wagenkiſſen, um die Kinder durch meine tiefe Rührung nicht noch weicher zu machen. Ein we - nig gefaßter wendete ich mich zu Platov, welcher ſagte: „ wir ſind hier in einer heiligen Welt. So kann es aber nicht immer ſeyn, ſo darf es nicht oft ſeyn; aber ſolche Momente des Lebens heili - gen das übrige: an ihnen entglühet das Menſch - liche im Menſchen. ‟ — Dann fuhr er fort: „ Wol - demar, ich nehme dich beim Worte: biſt du wild und unbändig, ſo klagſt du dich ſelbſt an beim Vater; biſt du verſtändig wacker und ſanft, und lerneſt brav, ſo ſchreibe ich es der Mutter, auf daß wir ihr ſchönes Herz erfreuen. ‟ —
„ So bald wir nach L. kommen, will ich dir ſagen, was du in den erſten zwölf Monaten lernen131 mußt. Dann will ich dir deine Zeit eintheilen helfen, wenn du allein nicht damit zurecht kom - men könnteſt. Da werde ich ſehen, ob du ein rechter Mann werden willſt? Was wir beide über unſere neue Lebensweiſe ausmachen, das ſey Geſetz, darauf halten wir ſtreng. Wie viele Stunden du des Tages zu arbeiten haſt, um das zu lernen, was im erſten Jahre gelernt werden ſoll, das werden wir bald finden. Haben wir es gefunden, ſo wird es Geſetz, und vom ſelbſt gege - benen Geſetz abweichen. — ‟ — „ O nein! nein! das ſoll von Woldemar niemand ſagen; ‟ — fiel der Kleine heftig ein; und ſo nahm das Feuer des Ehrgeizes allmählig den Platz der zu tiefen Rüh - rung bei dem lieben Jungen ein. Seine Augen funkelten bei dem bloßen Gedanken, daß man ihn der Schlaffheit fähig halten könnte.
Jetzt waren nun die Zungen alle wieder ge - löſ’t. Die heitre ſtille Pracht des Abends hatte den Schmerz leiſe beſänftigt. Die Berge fingen an, in der Verklärung der Abendſonne zu glühen; die fernſten ſchienen abgelöſ’t von der Erde im132 reinen Aether zu ſchweben. Der Weg längs dem Gebirg hin, den ich ſo oft gemacht, ſchien mir heute ganz neu. Und konnt’ es anders ſeyn? Ging ich nicht in eine ganz friſche Lebensbahn, mit ganz neuen Ausſichten hinein?
Die Abendglocken läuteten aus den nahen Ort - ſchaften, die Landleute, die ihre Fruchtfelder be - ſucht, und froh unter der Segenshoffnung heim - kehrten, grüßten im reinlichen Sontagsgewande ſo freundlich und doch ſo ehrerbietig in den Wa - gen, daß Jda ſagte: „ nicht wahr, Tante Sel - ma, die guten Bauern haben uns lieb? Aber ich habe ſie auch lieb, und will mich nicht mehr fürchten, wenn ſie ſchmutzig ausſehen. Sonn - tags habe ich ſie aber doch viel lieber, als in der Woche. ‟ —
Der verſtändige Woldemar fing nun an, es ihr zu erklären, warum ſie in der Woche nicht reinlich ausſehen könnten, und wie die Reinlichkeit überhaupt den Gewerbs-Leuten nicht ſo ſehr angemuthet werden dürfe, als uns andern, die wir eine feinere Lebensweiſe führen. 133Jch war froh über das eigene Orientieren der Kin - der, und that nichts hinzu, weil ich es von jeher für einen Fehlgriff in der Erziehung gehal - ten habe, die kleinen Einſichten und Erkenntniſſe, die Kindern aus ſich ſelbſt kommen, erſt noch ſtem - peln und zu etwas machen zu wollen. Laſſe man ihnen doch, wo es nur immer ſeyn kann, das Bewußtſeyn, aus ſich ſelbſt das Wahre oder das Schöne geſchöpft zu haben. Nur wenn ſie falſch urtheilen, bringe man ſie zurecht, und auch dann noch ſchone man behutſam die Eigenthümlichkeit ihres Geiſtes. Kaum waren wir eine halbe Stun - de gefahren, ſo kamen wir an einen Ort, wo Kirchweihe (oder Kirmeß) war. Es ward getanzt, und zwar ſehr wild. Die Muſik war elend, und das Getobe und Gekreiſch der Tanzenden und Trinkenden ſo fürchterlich, wie man es in einem milden ſchönen Weinlande nicht erwarten ſollte. Das hatte bei Jda faſt den ganzen ſchönen Ein - druck verdorben, welchen die Leute des vorigen Ortes auf ſie gemacht. Jda, welche die Freude in dieſer Geſtalt noch nicht kannte, meynte im Ernſt, die Leute wären bös auf einander, und134 wollten ſich leides thun. Sie weinte ſchmerzlich. So wie wir näher kamen, ſchloß ſie vor Angſt ſich immer näher an mich an. Jch nahm ſie auf den Schooß, ſtreichelte, küßte ſie, ſagte ihr aber nichts; denn bei dieſem Grade der Angſt und Furcht gehen doch alle vernünftigen Vorſtellungen verloren. Woldemar machte ſich hernach freund - lich an ſie, ſprach ihr zu, und ſagte: „ Jda, die Leute thun uns nichts, ſie ſind auch nicht bös, thun auch einander nichts zu leide, ſie ſind nur vergnügt. ‟ Jda ſchien das kaum zu hören, und ſchluchzte heftig. Jch ſchloß ſie an mich, hing ihr meinen Schleier über und hoffte, ſie ſollte ſchlafen; aber vergebens.
Als wir dem Ort vorüber waren, und das Ge - kreiſch ſich allmählig in der Ferne verlor, erhohlte die Kleine ſich wieder, und ſagte: „ O Tante, ich will alle Bauern bitten, die ich nur ſehe, daß ſie doch nicht mehr vergnügt ſeyn ſollen, ſie ſind auch gar zu garſtig vergnügt. ‟ Wir mußten herzlich lachen. Dem Kinde war es aber großer Ernſt. Und wie Recht hatte die Kleine! O wie135 kann die Freude in dieſem faſt thieriſchen Charak - ter ſo widerlich ſeyn! Jch fürchte, Jda gibt künf - tig keinem Arbeiter, der ſie darum anſpricht, ei - nen Groſchen zum Trinken, nun ſie es weiß, daß dieſe Art Luſtigkeit vom Trinken herkommt; denn, das war ja das einzige, was ſich ihr über die Sache ſagen ließ.
Auch Woldemar merkte auf, als ich mit Jda ſprach, ſann ein Weilchen nach und wandte ſich dann zu Platov mit der Frage: ob ein Trunkener, der doch nun nicht wüßte was er thäte, geſtraft werden dürfe, wenn er Unglück anrichte? Pla - tov gab ihm die Frage zurück, und ſagte: wenn ein Kind von 5 — 6 Jahren, das man im Zim - mer ohne Aufſicht gelaſſen, ein brennend Licht zu nahe an einen Vorhang oder ſonſt an etwas leicht Feuer fangendes brächte und das Haus anzündete: ob dieſes Kind, wenn es gerettet wäre, noch eine beſondere Strafe verdiene? Woldemar ſagte: nein. Pl. Und warum nicht, Lieber? — Wold. Das Kind wußte ja nicht, was es that. — Pl. Wenn aber einer von jenen trunkenen Bauern mit ſeiner136 Pfeife das Wirthshaus anzündete, worin ſie waren, und du wärſt Richter, was würdeſt du mit dem Menſchen thun, Woldemar? — Er beſann ſich einen Augenblick, und dann: ich würde ihn einſperren laſſen. Pl. Aber warum ihn ſtrafen? er wußte ja eben ſo wenig, was er that, als das Kind; denn ein völlig trunkener Menſch iſt ganz unmün - dig, weil die Mündigkeit im freien Gebrauch der Vernunft beſteht. Wold. Aber er war Schuld daran, daß er nicht wußte, was er that. Pl. Wie ſo? Wold. Ja, er war kein Kind mehr, und mußte wiſſen, was vom vielen Trinken kommt. Pl. So iſt es, Woldemar. Wer ſich ſelbſt ſeiner Vernunft entäußert, iſt nicht frei von Schuld und Strafe für das, was er in dieſem Wahnſinne verübt; obwohl man ihn nicht ſo ſtrafen kann, als wenn er die That mit vollem Bewußtſeyn begangen.
Als wir unter mancherlei Geſprächen eine halbe Stunde gefahren waren, kam ein lahmer Jnva - lide mit einem hölzernen Beine an den Wagen: „ Erbarmen Sie ſich, und ſchenken einem Armen137 „ etwas, dem man im Kriege das rechte Bein ab - „ geſchoſſen. ‟
Jda muß noch keinen verſtümmelten Menſchen geſehen haben. Sie ſchauderte heftig, und beſah ihn doch immer wieder mit der geſpannteſten Neu - gier. „ Tante Selma, ſchenk’ mir ein Brot aus unſerm Reiſekorbe. ‟ Jch gab ihr eins, und et - was Münze dazu: „ Da, armer Mann, ſagte ſie, und reichte ihm Brot und Geld hin: ich wollt’, ich könnte dir ein beſſeres Bein ſchenken, auf dem da kannſt du doch nicht gut gehen. ‟ Er ſah das Kind mit komiſcher Freude an, und ſagte: „ Ja, Mamſellchen, ich kann auch noch damit tanzen ‟ indem er vor ihr luſtig herumhinkte. „ Armer lu - ſtiger Mann, fragte ſie, wo willſt du denn hin? ‟ Nach L …, Mamſellchen. — Sie maß den Wa - gen mit den Augen aus, ob ſich wohl für ihn ein Platz darin machen ließ. Als ſie ſah, daß das nicht ging, ſagte ſie: „ Tante, laß mich und Wol - demar zu Fuß hingehen, daß der lahme Mann fahren kann. ‟ Der Lahme hatte Thränen in den Augen. Nein, Mamſellchen, ich fahre nicht;(18)138ein alter Soldat muß gehen, ſo lange er nur noch ein gutes Bein hat; aber ich will alle Tage zu Gott bitten, daß Sie geſund bleiben, und groß werden, und ſchön wie ein Engel des Himmels. „ Nun, ſo komm denn alle Morgen zu uns. Jch „ will dir alle Morgen ſo ein Brötchen geben, und „ wenn die Tante mir Geld ſchenkt, das ſollſt du „ auch haben; aber du mußt keinen ſo garſtigen „ Trank trinken, wovon die Leute toll werden. ‟ Der Menſch ſahe ſie mit großen Augen an, und murmelte für ſich ein Paar Worte, die ich nicht verſtand. Er überſchüttete uns mit Dankſagun - gen; ich beſtätigte Jda’s Beſtellung, und bezeich - nete ihm unſer Haus. Unſer Wagen rollte davon.
Auch hat der Menſch ſich wirklich eingefunden, und heißt nun Jda’s Paul; denn Paul iſt ſein Name. Gleich am erſten Morgen legte ſie ihr Brötchen für ihn bei Seite. Jch ließ es geſche - hen. Sie mochte ſehr hungrig geworden ſeyn, aber ſie hielt richtig aus, bis um 10 Uhr, wo ihr zweites Frühſtück kam; nur hört’ ich bisweilen ei - nen kleinen Seufzer.
139Jm Weiterfahren fragte Jda: Wer hat dem Armen ſein Bein abgebrochen? ich habe ihn nicht verſtanden. Jch wiederholte ihr, daß es ihm im Kriege abgeſchoſſen worden ſey. Nun mußt’ ich ihr etwas vom Kriege erzählen, ſie konnte das aber gar nicht faſſen; endlich brach ſie aus: Ja, nun weiß ich, wie das iſt; die Leute, die ſich ſo einander wehe thun, und ſich todtſchießen, ſind gewiß betrunken. Jch ſchwieg. „ Wohl ſind ſie trunken, mein Kind, ſagte Platov, wenn auch nicht vom Branntweine. ‟ Jch ſagte Jda, daß ſie von dieſen Dingen noch nichts verſtehen könnte, und daß einmal eine Zeit kommen müſſe, wo die Menſchen nicht mehr gegen einander feindlich aus - zögen.
Herzlich müde und matt kamen wir Abends ſpät in meinem Hauſe an, wo alles auf unſere Ankunft vorbereitet war. Sehr rührend war Jda’s Wie - derſehen der guten vorausgegangenen Gertrud, die uns mit aller ihrer innigen Anhänglichkeit be - willkommte. Mathilde hatte an allem, was vor - ging, wenigen Theil genommen. Jch brachte die140 Kinder zur Ruhe. Und als Jda betete: „ Lieber Gott, laß meinen Vater und meine Mutter und meinen Woldemar dieſe Nacht ſanft ruhen ‟ hört’ ich, daß ſie aus eigenem Antriebe hinzuſetzte: auch die gute Tante und Platov, und den lah - men Paul: du kannſt ja alles! ‟ Denn dein iſt das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, ſprach ich, Jda’s Gebet fortſetzend, aus voller Seele, küßte ſie, nahm das Licht und entfernte mich, um noch einiges für den folgenden Tag zu ordnen. Lebe wohl, theure Emma!
Jetzt ſind wir faſt ganz eingerichtet. Die bei - den Kleinen haben mit mir eine Schlafkammer und ein gemeinſchaftliches Wohnzimmer. Jhre Bettchen ſtehen dicht an dem meinigen.
Gertrud ſchläft in der Nebenkammer. Die Kin - der gehen um halb neun Uhr zu Bett, ich um 11. Jch ſelbſt bringe ſie ſchlafen, wenn ich kann, und141 laſſe niemand als die verſtändige Gertrud meine Stelle vertreten, wenn ich gehindert bin. So - bald ſie im Bette ſind, kommt niemand mehr zu ihnen.
Jda ſchläft auch faſt immer ſogleich ein. Ma - thilde wacht oft noch lange. Gertrud iſt unter - deſſen im Nebenzimmer. Geſtern Abend betete Jda ſo: „ Lieber Gott! ich bin heute ſehr ver - gnügt geweſen; bald wär’ ich auch unartig gewe - ſen, war es aber doch nicht. Laß doch meine Mut - ter heute Nacht recht ſüß ruhen, und von Jda träumen. ‟ Mathilde iſt nicht gewöhnt, zu be - ten, und ich laſſe ſie, bis ihre Zeit gekommen ſeyn wird.
Morgens um 6 Uhr ſtehe ich auf. Um 7 Uhr die beiden Kinder. Dann wird jedes in ſeinem Eckchen gewaſchen. Jedes hat nämlich eine eigene Seite der Schlafkammer inne, wo es, abgekehrt von dem andern, gewaſchen und gekleidet wird. Jda’s Schamhaftigkeit wird ſich bald auch Ma - thilden mittheilen. Mathilde, als die älteſte,142 kommt zuerſt daran, hernach Jda. Jch ſchreibe oder leſe unterdeſſen in dem dicht daran ſtoßenden Kabinet, von dem die Thüre offen ſteht. Neulich Morgens ſchlich Jda im Nachtröckchen leiſe zu mir herein, während Gertrud die Mathilde beſorgte. Jch ſiegelte gerade meinen erſten Brief an Dich ſeit unſerer Trennung.
Als er fertig war, nahm ſie ihn vom Tiſch auf, küßte Deinen Namen, und küßte das Siegel. O das Siegel wird Mutter auch küſſen, ich habe wohl geſehen, wie ſie es machte, wenn ein Brief von Tante Selma kam: oft drückte ſie ihren Mund feſt darauf, ehe ſie es aufmachte. Und nun kom - men ja unſere beiden Küſſe zuſammen. — Wie rührte mich die ſüße Schwärmerin! Gertrud rief ſie ab zum Anziehen, und ſie hüpfte fröhlich davon.
Jn der Schlafkammer hat jedes ſeine eigene Kommode zur Verwahrung ſeiner Sache. Es darf kein einzig Stückchen herumliegen. Ehe ſie hinunter gehen, muß ein jedes ſelbſt alles bei Seite thun, was gebraucht worden. Gertrud143 hat nichts weiter droben zu thun, als die Kam - mer zu kehren. Das andere thun die Kinder.
Unſer Wohnzimmer (das grüne mit den Blu - menkörben, das Du ſo gern hatteſt) iſt wieder in drei Theile getheilt, an der mittleren großen Wand ſteht der Sopha, davor mein Arbeitstiſch, das iſt mein Gebiet. Zu beiden Seiten des Zim - mers ſtehen zwei gleiche Komoden, eine für Ma - thilde, eine für Jda. Jn dieſen muß alle ihr Arbeitsgeräth, ihre Bücher, ihre Spielſachen ſorgfältig abgeſondert und verwahrt werden. Ehe ſie Abends hinauf gehen zum Schlafen, muß alles, was ſie am Tage gebraucht, ordentlich verwahrt ſeyn. Wenn ſie zur Abendzeit etwas aus den Komoden zu holen haben, während wir im Garten oder oben im dritten Stock ſind, müſ - ſen ſie es ohne Licht finden können. Wer etwas herum liegen läßt, wird geſtraft. Dies iſt nö - thig, weil Mathilde entſetzlich unordentlich ge - wöhnt, oder vielmehr verwöhnt iſt. Auch Jda würde mit fortgeriſſen werden, wenn ich die Sache nicht ernſthaft nähme. Womit ich ſie ſtrafe? An Gelde!
144Seit unſerer Bekanntſchaft mit dem lahmen Paul, hat Jda einen Werth auf das Geld ge - legt, und hat zuerſt einen Begriff von dieſem Jn - begriff der Dinge erhalten. —
Paul kam, wie ich im letzten Briefe erzählte, gleich den Morgen nach unſerer Ankunft, wie Jda ihn beſtellt hatte, und empfing ihr Milch - brötchen. Jch fragte ſie nachmittag: ſoll er mor - gen früh wiederkommen? Ja Tante Selma. Aber hat dich denn heut früh nicht gehungert? Sie erröthete und ſchwieg. Dich hat gehungert, liebe Jda, ich habe dir es angeſehen. Soll Paul dein Brot morgen doch wieder haben? Liebe Tante, Jda hat es ja verſprochen. Das iſt auch wahr Jda; aber höre: Von deinem Milchbröt - chen kann Paul nicht ſatt werden, du ſiehſt, er iſt viel größer wie du, und braucht alſo viel mehr zur Sättigung. Paul ißt auch lieber ſchwarz Brot. Wie ſoll ich denn das nun machen, Tante, wenn Paul von meinem Brote nicht ſatt werden kann? Du mußt ihm Geld geben, daß er ſich ein großes kaufe.
145Ja Tante, Du haſt wohl Geld, ich habe aber keines. Nun weißt du, wie wir das machen wol - len? Du ſollſt alle Woche ein Strümpfchen fer - tig ſtricken und Mathilde auch, und wenn ihr mir am Sonntag Morgen die fertigen Strümpfe bringt, bekommt ihr für jedes vier Groſchen, dann habt ihr Geld, das euer iſt, damit macht ihr was ihr wollt. Jda’s Augen glänzten von Freude. Am andern Morgen als Paul kam, fragte ſie, ob ſie zu ihm hinunter dürfe. Jch ging mit ihr hinunter. Höre, guter Paul, ſagte ſie, ich ha - be dir alle Morgen mein Milchbrötchen verſprochen, Tante ſagte aber, das iſt für dich zu klein. Jch habe kein großes Brot, wovon du ſatt werden kannſt, aber ich werde nun alle Sonntag Geld haben, wenn ich fleißig bin, und ich will ſchon fleißig ſeyn. Du kommſt am erſten Sonntag Mittag. Nicht wahr, Tante, Paul kommt? Jch winkte ihr und dem lahmen Paul ja zu. Was willſt du denn aber bis Samſtag anfangen? Jda: Tante, ſchenke Du ihm dieſe Woche ein gro - ßes Brot. Jch rief Gertrud, gab ihr den Schlüſſel zur Speiſekammer, und ließ Jda mitgehen, daß(19)146ſie ſelbſt ein Brot für Paul ausſuchte. Sie hat - te, wie ich vermuthet, daß größte gefaßt, und brachte es mit Mühe geſchleppt. Unterdeſſen hat - te ich Paul beſtätigt, was das Kind verſprochen, und ihm ſcharf eingeprägt, daß er zwar danken, aber der Kleinen nichts Schönes ſagen dürfe. Das würd’ ihm ſchwer werden, meynt’ er: ihm ſtanden die Augen voll Waſſer, als die Kleine mit einer wahren Engelsmiene ihm das Brot reichte. Gott vergelt es, gutes Fräulein! und dabei ſchickt’ er einen Blick zum Himmel, der des Kindes Herz traf. Jda ſah dem Alten ſin - nend nach. Dann hüpfte ſie mit mir hinauf. Nun, liebe Tante, geſchwind, gib mir Baumwolle zum Stricken. Sie erhielt und theilte mit Ma - thilde; Beide fingen zugleich an. Sie ſtricken ganz kleine Strümpfchen, damit ſie ihre Aufgabe auch ohne zu große Anſtrengung vollenden mögen. Etwas bedauerte Jda dabei, daß ſie nun ihren alten Paul nicht alle Tage ſähe. Mir iſt es ſehr recht, daß er nur einmal in der Woche kommt, damit die Freude an der Sache ihr neu bleibe.
Von dieſem Wochengelde müſſen ſie Strafgeld147 erlegen, wenn eins von ihnen nachläßig war. Jch denke, Jda wird ſich wohl hüten. Was Ma - thilde mit ihrem Gelde anfangen wird, ſoll mich wundern. Noch ſcheint ſich bei ihr keine entſchie - dene Neigung irgend wozu entwickelt zu haben. Es iſt ſonderbar, wie bei ſo einer ſtarken Natur eine ſolche Jndolenz beſtehen kann, wie ſie bisher gezeigt. Doch dies unkindliche Kind will ſtudirt ſeyn. Das thue ich, indem ich es faſt ganz gehen laſſe, bis ſich irgend etwas in ihr hervorthut, woran ich ſie erkennen und faſſen kann.
Lebe wohl, Emma. Bald wird Jda Dir auch ſchreiben. Sie übt ſich alle Tage. Und einen beſſern Schreibmeiſter gibt es nicht, als das Ver - langen, ſich entfernten Lieben mitzutheilen.
Der Samſtag kam, und die Kinder hatten’s am Morgen ſehr heimlich mit einander. Sie hat - ten den Abend zuvor die Strümpfchen vollendet. Als wir zum Frühſtück hinuntergingen, fuſchel -148 ten ſie noch immer einander zu. Der erſte Gang war zur Kommode. Jedes brachte ſein Strümpf - chen. Jch zog die Börſe heraus. Jedes erhielt das Verſprochene. Jch genoß des eigenen Ver - gnügens zu ſehen, wie ſich die Freude auf beiden Geſichtern ſo verſchieden abſpiegelte. Was willſt du denn nun mit dem Gelde thun, Jda? O, Tan - te weiß wohl, und indem malte ſie mit dem Fin - ger die Form eines großen Brotes auf den Tiſch. Dafür kann Paul zwei Brote kaufen, ſoll er das alles haben? Alles, liebe Tante. Willſt du denn nichts von dem Gelde behalten? Tante gibt mir ja Brot und Aepfel und alles, was ich gern eſſe. Aber man kann für Geld auch Blumen kau - fen; ſchöne herrliche Blumen. — Sie bedachte ſich — Blumen, Tante — ja die habe ich ſehr lieb. Aber wie lange kann Paul von den zwei Broten eſſen? Vier bis fünf Tage. Liebe Tan - te, ich will keine Blumen haben. Paul ſoll al - les haben. Und damit ging ſie ans Frühſtück, dann zu ihrem Hänfling und Eichhörnchen, de - nen ſie auch Frühſtück gab. Aber ich bemerkte, daß ſie gar nicht recht vergnügt war.
149Der Hänfling ſetzte ſich ihr auf die Schulter; aber ſie achtete nicht auf ihn. Er flog ihr auf die Hand, ſie bewegte die Hand unſanft und ſag - te: geh Hänschen, ich mag dich nicht. „ Was hat dir Hänschen gethan? ‟ O nichts, aber ich mag nicht mit ihm ſpielen. „ Was haſt du, Kind, du biſt ja gar nicht vergnügt? ‟ Es jammerte mich, des armen kleinen Herzens, das bei ſeiner erſten ſchönen Anſtrengung ſo unbefriedigt blei - ben ſollte. Willſt du mir nicht anvertrauen, Jd - chen, was dir fehlt? — O der arme Paul hat ja doch nur auf vier Tage zu eſſen: was ſoll er nun Mittwoch, Donnerſtag und Freitag anfangen? „ Weißt du denn gar keinen Rath, Kind? Frag’ den Bruder Woldemar, wenn der heute Mittag kommt. ‟ „ Hat der auch Geld ‟? Ja wohl, von heut an hat er auch Geld. Sie erheiterte ſich wieder.
Mathilde hatte während des Geſprächs mit Jda an ihrer Kommode gekramt und geſchwiegen. Was willſt du mit deinem Gelde machen? fragt’ ich ſie. Jch weiß noch nicht, Tante, war ihre Antwort. Jch ließ ſie. Was das in dem Kinde150 wohl ſeyn mag? Jda konnte es nicht erwarten, bis Woldemar zu Tiſche kam. So wie er in die Thüre trat, ſprang ſie ihm entgegen und fiel ihm um den Hals. Lieber Woldemar, ich wollte ſo gern, daß der lahme Paul alle Tage Brot haben ſollte. Jch kann ihm nur für 4 Tage etwas kau - fen. So will ich für 3 Tage hinzuthun, ſagte er. O! nun bin ich wieder luſtig, Tante, wenn ich auch keine Blumen habe. Dies Wort von den Blumen war für Woldemar nicht verloren. Nach Tiſche ging ich mit Platov in’s Nebenzimmer, und erzählte ihm den ganzen Verlauf mit Jda. Gut, ſagt’ er. Morgen früh wird Jda unter Blumen erwachen. Das erſte, was Woldemar heute mit ſeinem Taſchengelde vorhatte, war, daß er Jda eine recht neue Freude machen wollte. Jch hab’ ihm den Entſchluß angeſehn, als Jda ſagte: „ wenn ich auch keine Blumen habe. ‟ Es quälte ihn ohnedies ſchon, daß er nichts neues für ſie aufzu - denken wußte. Nun hat ſie ihm einen Gedanken gegeben: ich darf ihn alſo nur machen laſſen, und ihm allenfalls nachweiſen, wo er die ſchönſten Blu - men bekommen kann.
151Während ich mit Platov im Nebenzimmer war, klopfte Jda ein paarmal an die Thüre und rief: „ Tante! ſoll ich zum Becker gehen? Er wohnt „ uns, wie du weißt, gerade gegenüber. ‟ Jch ſchickte Gertrud mit ihr. Sie nahm mit gravitä - tiſcher Miene ihr Geld. Woldemar zog ſeine Börſe heraus und gab ihr das fehlende, faßte ſie bei der Hand, und ging mit ihr und Gertrud hinüber. Sie brachten vier Brote getragen.
O! hätteſt Du Deine Kinder ſo geſehen, liebſte Emma! Mir pochte das Herz gewaltig. Nun hü - tete Jda das Fenſter, bis ſie Paul endlich erblick - te. Woldemar trug ihr die Brote hinunter, woll - te aber nicht dabei ſeyn, wenn Jda ſie Paul gäbe. Was das eigentlich war, weiß ich noch nicht; ob er ſich fürchtete, den alten Menſchen zu weich zu ſehen, oder ob er dem Schweſterchen die Ehre und Freude allein gönnen wollte; kurz, er blieb oben. Jch ging mit ihr. „ Sieh, lieber alter Paul, ſagte ſie, da haſt du für die ganze Woche zu eſſen: ich habe es aber nicht allein gegeben. Mein Wol - demar und ich, wir haben es Beide gethan; haſt152 du nun auch genug, Paul, bis es wieder Sam - ſtag iſt? ‟ Paul griff nach ihrer kleinen Hand, um ſie zu küſſen. „ Nein, Paul, das ſollſt du nicht. Haſt du nun genug? ‟ Ja, Fräulein Jda, ich habe genug, und bin nun ein reicher Mann. Gott muß den alten Paul wohl lieb haben, daß er die Engel für ihn ſorgen läßt.
Arbeiten kann ich nichts weiter, als daß ich grobe Strümpfe ſtricke. Mit dem, was ich ver - diene, bezahle ich mein Nachtlager. Brot habe ich nun auch. Nun darf ich nicht mehr betteln. Aber ich will auch alle Tage für Sie und den Bru - der beten, und für Sie, Jhr Gnaden! auch. „ Thue das, Paul, ſagt’ ich. Von mir bekömmſt „ du alle Tage einen Krug Bier. ‟ Nun ward er wie außer ſich vor Freude, und hinkte gar poſſier - lich vor uns herum. Nein! das iſt zu viel, das iſt zu viel! „ Geh’ nur, Alter! ‟ ſagt’ ich, und gab ihm für diesmal. Er konnte mit Danken gar nicht aufhören. Wir entließen ihn.
Jetzt war Jda ganz glücklich! Und Woldemar herzte ſie mit ungeſtümer Heftigkeit, als wir wie -153 der herauf kamen, ſagte aber kein Wort zu ihr, kein einziges lobendes Wörtchen. Am Abend trat er leiſe zu mir und fragte: „ Tante, darf ich mor - gen ganz früh zu dir kommen? ‟ Wann ſtehſt du auf, lieber Junge? „ Darf ich um 6 Uhr kom - men? ‟ Ja! Mit dem Schlage 6 Uhr klopfte er leiſe an die Kammerthüre; und als ich auf - machte, ſtand er vor mir mit einem ganzen Korbe voll Maiblumen, Aurikeln und Tazetten, und Pla - tov’s Diener folgte ihm mit zwei blühenden Roſen - ſtöcken, und herrlichen Syringen in Töpfen. — „ Darf ich herein kommen, wo Jda ſchläft? ‟ Er ſchlich ganz leiſe herbei, beſtreute ihre Decke mit den Blumen, brach eine Roſe ab, legte ſie ihr in die Hand, ſtellte die Töpfe zu ihrem Haupte in Ordnung, ſah ſie mit unbeſchreiblicher Liebe ſchla - fen, und ſchlich leiſe zurück. „ Tante muß mir aber auch ſagen, wie Jda aufgewacht iſt? ‟ Ja, lieber Junge, das ſollſt du wiſſen; geh’ nur, daß ſie nicht erſchrickt, wenn ſie dich ſo unerwartet hört und ſieht. Er machte ſich ſchnell davon. Das erſte, was an Jda erwachte, war der Sinn des Geruchs. Faſt noch ſchlafend zog ſie prüfend die(20)154Gerüche ein. Endlich ſagte ſie mit noch halb ge - ſchloſſenen Augen: „ Wo bin ich, Tante? bin ich im Garten? ‟ Ja, in einem Garten, den dein Woldemar um dich gepflanzt hat. Nun ſchaute ſie munter umher und küßte die Blumen, die ihr nahe lagen. Gertrud brachte Gefäße mit friſchem Waſſer, und ſammelte Jda’s Schätze zuſammen. Froher habe ich das Kind noch nie geſehen. „ O! der liebe, liebe Woldemar! der himmliſche Wol - demar! Mathilde, haſt du denn nicht auch einen Bruder, der dir Blumen bringen kann? ‟ Ma - thilde ward roth, und ſagte verdrüßlich: Nein! „ Nun ſo komm, du mußt auch welche haben ‟ und damit brachte ſie ihr ein Glas voll der ſchön - ſten. Als die Kinder gekleidet waren, bat Jda ſo lange, bis ich ihr zugeſtand, daß Woldemar zum Frühſtück käme. Er kam, und erntete alle Freude, die ſein heißes Herz nur immer begehren mochte.
Du biſt eine ſehr glückliche Mutter, theure Emma! Platov holte Woldemar wieder ab. Jch fing dieſen Brief für Dich an, und die Kinder ſpiel - ten mit heiterer Ruhe an meiner Seite, als der155 Briefträger ſchellte, und man mir Deinen lieben Erſtling aus P … brachte. So früh wurdeſt Du alſo mit Deinem D* wieder vereint? Was hätte Dein tief verwundetes Herz auch eher beſänftigen können, als dies unverhoffte Entgegenkommen Deines Mannes? O! nun mußt Du auch heiter ſeyn! Jch ſehe den Schmerz in Freude verſchmel - zen, wenn Du unſere Briefe erhältſt. Lebe wohl! Mathildens Natur liegt vor mir in Hieroglyphen, die ich noch gar nicht entziffern kann. Doch ahnt es mich ſehr ſtark, daß ſie kein gemeines Weſen iſt. Meine Aufgabe iſt jetzt, auch dieſes mir noch ganz fremde Herz zu gewinnen. Um ihrer ſelbſt willen, und um Jda’s willen darf ihr Jnneres mir nicht verſchloſſen bleiben.
Aber das wird Zeit und Geduld koſten.
Jch habe Dir noch nicht geſagt, wie unſer Tag eingetheilt iſt. Um 8 Uhr kommt das Frühſtück. Bis 9 Uhr dauert das Frühſtücken mit allem, was156 dazu gehört, nämlich dem Füttern der kleinen Hausthiere, dem heitern Morgengeſpräche, dem Begießen der Blumen u. ſ. w. Um 9 Uhr geht es an das eigentliche Geſchäft des Tages. Erſt wird eine Stunde geſtrickt, und dabei das geſtern Ge - lernte repetirt. Dann wird eine halbe Stunde geſchrieben, einen Morgen bloß Buchſtaben, den andern Morgen in allerlei Zuſammenſetzungen. Dann müſſen ſie das Geſchriebene ableſen. Dann folgt eine Stunde Unterricht auf dem Klaviere, welchen ich ſelbſt gebe, und mit beiden Kindern zugleich angefangen, weil beide großen Trieb zei - gen, und ich gern ſehen möchte, was aus ſchein - bar gleichen Anlagen werden kann, wenn ſie auf die nämliche Weiſe ausgebildet werden. Beide kommen zugleich zu mir an’s Klavier, eine Vier - telſtunde ſpreche ich mit ihnen über das, was ſie davon wiſſen müſſen. Dann laſſ’ ich erſt Ma - thilde ſpielen, der ich, wo es nur ſeyn kann, den Vorrang laſſe, weil ſie die älteſte iſt, und ihr bren - nender Ehrgeiz gar zu leicht verwundet wird. Während die eine ſpielt, ſitzt die andere daneben, ſtrickt und hört zu. Bin ich mit ihrer Aufmerk -157 ſamkeit und mit der Anwendung des Geſagten zu - frieden, dann ſinge ich ihnen ein Lied, das ſie wäh - len dürfen. Nun iſt es halb 11 Uhr. Jetzt ge - hen ſie mit dem zweiten Frühſtücke in den Garten. Um 11 Uhr kommen ſie wieder, da kommt ein jun - ger Menſch, der ſie nach Peſtalozzi’s Methode rechnen lehrt. Von 12 Uhr an bis zu unſerer Tiſchzeit, d. h., um 1 Uhr, ſind ſie frei und ſpie - len, wenn das Wetter mild iſt, im Garten, ſonſt neben mir im Zimmer. Um 2 Uhr iſt unſere Mahl - zeit vorbei. Bis 3 Uhr dürfen die Kleinen thun, was ſie am liebſten wollen. Jetzt ſtricken ſie in dieſer Stunde. Von 3 bis 4 Uhr wird einen Tag gezeichnet, den andern Tag Naturgeſchichte vor - genommen. Um 4 Uhr wird ein wenig Brot und Milch oder Früchte genoſſen; dann geht es hinaus ſpazieren, und oft recht weit.
Woldemar, der mit ſeiner Zeit ſchon mehr aus - richten muß, hat natürlich eine ganz andere Zeit - eintheilung. Doch treffen wir auf der Promenade gewöhnlich zuſammen. Die Beiden gehen um 5 Uhr aus und holen uns wieder, wenn ſie wiſſen, wo158 wir ſind. Du kennſt unſere reizende Gegend, und weißt, welche Abwechſelungen ſie darbietet. Oft gibt es ſtatt des Spaziergangs auch eine Luſtfahrt. Nächſtens werde ich die Kinder zu meinem lieben Pfarrer in N … bringen. Jn deſſen Kabinett ſollen ſie Naturgeſchichte ſtudiren, wozu beſonders Mathilde einen ungewöhnlichen Hang hat. Und ſollteſt du es wohl glauben, daß ſie eine Vorliebe für das Mineralreich äußert!
Jda hängt mehr an dem Poetiſchen in der Na - tur. Blumen! Blumen! und nichts als Blu - men! Doch müſſen Beide mir die Sache recht or - dentlich und verſtändig treiben. Jda’s Schönheits - ſinn iſt für ein Kind von ihrem Alter ſchon ſehr entwickelt, und iſt ungemein zart. So wie ſie die trunkenen Bauern „ garſtig vergnügt ‟ nann - te, ſo ſagt ſie von einem liebenswürdigen Men - ſchen: „ er iſt ſchön vergnügt ‟ oder auch: „ ſelig vergnügt ‟ — und dann glänzt ihr eigenes Ge - ſicht von Freude, wenn ſie ſo von einem Menſchen ſpricht. Auch war ja der holde Engel faſt immer mit ſchönen Geſtalten umgeben. Selbſt Gortrud159 ſieht recht hübſch aus, ſeit ſie der Reinlichkeit den rechten Geſchmack abgewonnen. Und wenn ſie vor - züglich nett gekleidet herein kommt, dann ſpringt Jda wohl an ſie hinan, mit den Worten: „ Schö - ne Gertrud! heute habe ich dich recht lieb! ‟ Wie ſie bei dieſem regen Sinn für’s Schöne, und beim wahren Abſcheu an allem Unäſthetiſchen, dennoch dem alten häßlichen Paul ſo gut ſeyn kann, iſt mir kaum begreiflich. Aber wohl dem glücklich or - ganiſirten Weſen, in dem der Hang zum Schönen mit dem Triebe zum Guten ſo früh in Eintracht ſtehet, und wie in eins verſchmolzen iſt! Ein ſol - ches Kind zu erziehen, iſt Wohlthat für Geiſt, Herz und Seele. Jch weiß nichts, was meinem Leben jetzt noch eine ſchönere Bedeutung geben könnte, als die Wechſelwirkung dieſes Kindes auf mich und die meines Weſens auf das Kind! Nicht gar ſo gut wird es mir mit Mathilden. Dies iſt eine weit unholdere, wenn gleich keine gemeine Natur. Ueber Beide zu wachen, daß das eine Weſen in meinen Händen für dieſe Welt nicht all - zuzart werde, und das andere nicht verhärte, das iſt keine ganz leichte Aufgabe.
160Mathildens unkindliche Natur zu erforſchen, iſt allerdings das nächſte, und doch kann das lange dauern, ehe ich bis auf den Grund gekommen bin. Dies arme Kind iſt äußerſt verſchloſſen. Noch kann ich es z. B. nicht errathen, was ſie mit dem Gelde machen will, welches ſie von einer Woche zur andern bei Seite legt, ohne irgend einen Gebrauch davon zu machen. Noch immer liefern beide Kin - der jeden Samſtag richtig ihr Strümpfchen, und bekommen dadurch eine große Fertigkeit im Strik - ken, ſo wie ich einen reichen Vorrath an kleinen Strümpfen, den wir nächſtens einmal dem Pfar - rer in N … zum Vertheilen unter die Armen ſei - ner Gemeinde bringen wollen. Paul kommt rich - tig alle Woche und holt ſeine Gabe ab. Seit er Jda’s Blumenliebhaberei kennt, hat er Blumen in Töpfen gepflanzt, und bringt ihr jeden Sam - ſtag ſeinen Tribut davon.
Die erſten Male holte Jda immer Brot für das Geld, und ich ließ ſie, damit ſie ihrer Wohl - that froher werden ſollte, wenn ſie die Menge Brot ſähe, die er bekommt; ſeitdem habe ich ihr161 bedeutet, daß es ihm bequemer wäre, ſtatt des Brots das Geld nach Hauſe zu tragen, und das Brot in ſeiner Nachbarſchaft zu kaufen, wann und wie er wolle. Der erſte heißeſte Enthuſias - mus für die Sache iſt nun verflogen, und es mußte ja ſo ſeyn, weil jeder erſte Eindruck das heilige Original iſt, und alle wiederholten Ein - drücke nur Kopieen ſind, die immer ſchwächer wer - den, je öfter ſie ſich wiederholen. — Aber eine ſchöne ſtille Freude hat ſie noch immer, ſo oft der Alte kommt. Wenn er ſie ihr nur nicht einmal verdirbt. Jch merke, er trinkt ſtatt des Biers bisweilen Brantwein. Wenn ſie ihn jemals betrunken ſehen ſollte — dann wird ſie ihn nicht mehr ſehen mögen.
Kannſt Du, Liebe, mir von Mathildens Fa - milienangelegenheiten nicht genauere Auskunft verſchaffen? Wenn ich die mehr kennte, würde ich eher hinter ihren Charakter kommen. Sie iſt wirklich für ein noch nicht achtjähriges Kind ſeltſam verſchloſſen. Mit dem Gelde muß ſie etwas be - ſonderes vorhaben, was es auch ſey. Sie ſieht(21)162es oft an, überzählt es oft: das kann nicht Geiz ſeyn, es wäre entſetzlich. Und doch hat es allen Anſchein davon. Gertrud beharrt feſt auf dieſer Meynung. Jch habe gewaltig mit ihr zu ſchaf - fen, daß ſie dieſem ſonderbaren Kinde nicht kalt und unfreundlich begegne.
O wenn ſich Neid in dies finſter-einſame Ge - müth einſchliche, Neid über Jda’s Liebenswür - digkeit und die faſt vergötternde Liebe, die dem holden Weſen überall entgegen lacht! — Dies zu verhüten, laſſe ich meine angelegene Sorge ſeyn. Jch mache die Kinder in allem gleich. Und wo das Alter einen natürlichen Vorzug zuläßt, ge - nießt ihn Mathilde. Auch kann es mich ordent - lich freuen, wenn ſie in einem oder dem andern Stück es Jda zuvorthut. Und das geſchieht wohl. — Z. B. im Rechnen, da iſt ſie immer voraus. Auch im Zeichnen und Schreiben rückt ſie ſchneller vor. Da glühet ſie dann, wenn es bemerkt wird. —
Neulich ſah ich, daß ſie finſter nach der Straße hinausblickte, während Jda ihre Vögel beſorgte. 163Sie entfernte ſich, um, wie ſie ſagte, bis zur Stunde in den Garten zu gehen. Jda blieb al - lein bei mir im Zimmer.
Jda, ſagt’ ich, worüber mag Mathilde traurig ſeyn? du haſt ihr doch nichts zu leide gethan? Nein, Tante, gewiß nicht. Jch weiß auch gar nicht, was ihr oft fehlt; dann bitte ich ſie, ſie ſoll doch vergnügt ſeyn, und dann verſpricht ſie es mir auch; aber wenn ich ſie wieder anſehe, iſt ſie doch eben ſo traurig. — Jch. Was ihr heute fehlt, das glaube ich zu wiſſen. Sieh, liebes Kind, wenn du deine Vögel fütterſt, und dein Eichhörnchen beſorgſt, dann ſteht ſie und ſieht dir aus der Ferne zu. Da mag ſie heut gedacht ha - ben, daß es doch ſchlimm für ſie ſey, keine Eltern mehr zu haben, denen ſie ihre kleinen Wünſche wohl anvertrauen möchte, und die ihr auch Eich - hörnchen und Vögel und Blumen ſchenkten. Jda. Ja Tante, das iſt es gewiß. Aber warum vertraut ſie Dir nicht an, was ſie wünſchte? Du haſt ſie ja doch ſo lieb. Jch. Das weiß ſie noch nicht, mein gutes Kind. Das wird nicht allen164 Menſchen leicht, zu merken. Jda. O ſüße Tan - te, ſchenke Du ihr meinen Kanarienvogel, dann ſieht ſie doch, daß Du Jda nicht lieber haſt. — Jch. Herzenskind, gib ihn ihr, wenn ſie wie - der herauf kommt. — Das wird ihr Freude machen. Aber thuſt du es auch recht gern? — Jda. O ja wohl, Tante, thut Jda das gern. Auf der Stel - le ging ſie hin, band ihn von dem Fenſter an ih - rer Kommode los, und trug ihn nach Mathildens Platz. Leb wohl, mein Vögelchen, ſagte ſie, und warf ihm einen Kuß zu; indem kam Ma - thilde herein. — Mathilde, ſagte ſie, du mußt auch einen Vogel haben. Willſt du den Kanarien - vogel? Jch behalte mein graues Hänschen, nun haben wir jede einen. Mathilde war verlegen, Beſchämung und Freude kämpften in ihr. „ Lie - be Jda, ich bin nicht ſo brav wie du, aber ich ha - be dich ſehr lieb. ‟
Nun Kinder, ſo ſeyd ihr beide mir lieb. Komm, gute Mathilde, hänge dein Vögelchen auf, und pflege es recht achtſam. Laß es ja niemals Noth leiden. Sie verſprach, den neuen Pflegeſohn recht gut zu halten. —
165Mit wahrer Jnnigkeit ſchloßen die Kinder ſich an einander. — O möchte Mathilde recht durch und durch erweicht ſeyn! — Oft entſcheidet ſo ein kleiner Vorfall viel. Wenn ſie ſich nur ſo ganz natürlich herbeiführen ließen, als ob ſie durchaus abſichtlos wären, ſo könnte man die böſe Falte des Argwohns und der Eiferſucht in einem jungen Gemüthe noch wohl ausglätten. Doch das kann nicht veranſtaltet werden, ohne Abſicht zu ver - rathen. Und wird ein mißtrauiſches Herz die gewahr, ſo thut es verkehrte Wirkung. Seyd ihr, die ihr mit Kindern lebt, wirklich gerecht unpartheyiſch, liebt ihr ohne Prädilekzion jedes mit ſchöner Mutterliebe, ſo muß ſich das durchs tägliche Leben den Kindern von ſelbſt offenbaren, und die Liebe muß endlich den Argwohn beſiegen. Hieran glaube und halte ich feſt, wie lange es auch noch dauern möge, bis Mathilde mein Herz verſtehen lernt.
Mathildens eigener Charakter ſpricht ſich in allem ihren Thun aus. Jda liebt nur ſanfte mil - de Farbe. Mathilden iſt keine Farbe zu grell. 166An Pferden hat ſie ein eigenes Wohlgefallen, und keins findet ſie ſchöner, als Schecken. — Doch hüte ich mich wohl, dieſen ihren Geſchmack zu tadeln. Sie ſoll wenigſtens wahr und offen blei - ben, und ſich in allem frei äußern dürfen. Das Zartere wird ſchon auch den Weg zu ihrem Schön - heitsſinne finden. Geduldiges Erwarten geziemt dem Erzieher wie dem Gärtner.
Jch fange heute wieder mit Mathilden an. Neulich war ein Krämer im Hauſe mit Kattunen. Jch ließ die Kinder ſich jedes ein Kleidchen wäh - len. Jda wählte, wie ich es erwartet, himmel - blau. Mathilde feuerfarb und geflammt. Jn dieſem Kleide wirſt du nicht ſanft ausſehen, liebe Mathilde, ſagte Woldemar, als er zu Mittag kam, und die Kinder ihm ihren Einkauf zeigten. Jch bin ja auch nicht ſanft, Woldemar, gab ſie zurück. Sie glühte, indem ſie es ausſprach. — Das Wahrheitsgefühl ſcheint am ſtärkſten in ih -167 ren Gemüthsanlagen hervorzuragen. Willſt du es denn nicht werden? fragte Platov. Ein un - ſanftes Mädchen iſt gar nicht liebenswürdig. — Sie ſchwieg betroffen, und ſah vor ſich nieder. Jch traue Mathilden zu, daß ſie alles werden will, was ſie ſeyn kann, ſagte ich, ſie in Schutz nehmend. Sie fühlte das; antwortete aber nichts weiter. Nach Tiſch, als ſie und ich zufällig al - lein im Zimmer blieben, trat ſie ſchüchtern an mich: Tante Selma, Du biſt ſo gut gegen mich: ich will auch gut werden. Du ſollſt nicht Unrecht haben, in dem was Du von mir verſprichſt, aber ich kann nicht ſo ſeyn, wie die andern. „ Nun, ſey nur, wie du kannſt; und vor allen Dingen ſcheine nie anders, als du biſt. Jch kenne dich noch ſo wenig, aber das weiß ich, daß du ein gutes Kind ſeyn willſt. ‟ — Jch ſah, wie das ſtolze kleine Herz in dem Zutrauen triumphierte, und ſich von der Demüthigung wieder aufrichtete. — „ Aber wenn du wirklich glaubſt, daß ich dir gut bin, warum vertrauſt du mir nicht an, was dich ſo oft betrübt, und was kein Menſch errathen kann? ‟ — Ach liebe Tante, in meiner Eltern168 Hauſe waren ſie alle ganz anders, und alles war dort anders wie hier.
„ Magſt du denn aber mit uns noch immer nicht gern ſeyn? ‟ O ja! aber ich ſchäme mich vor euch allen, weil ich nicht ſo ſeyn kann. Was ich nur immer von meiner Mutter foderte, das mußte ſie thun, ſonſt ward ich heftig, und warf die Thüren und riß alles durcheinander, und wenn ſie das ſah, dann konnte ſie es nicht aushalten, und ſagte, ich möchte nur gut ſeyn, ſie wollt’ es auch thun. Und wenn der kleine Bruder Kaſimir nicht wollte, wie ich, ſo mußt’ er wohl, und alles fügte ſich nach mir. Und ihr ſeyd nun alle ſo anders, und Jda iſt ſo fromm, daß ich mich vor ihr ſchämen muß, weil ich nicht fromm ſeyn kann. Oft bin ich ſo bös auf mich, und auf alles, was ich anſehe, daß ich alles zerſchlagen möchte. Manchmal könnt’ ich Jda ſchlagen, aber ich fürchte mich vor Dir und Platov und Woldemar, und doch muß ich Jda ſo unbändig lieb haben. Sieh, Tante, das macht mich oft ſo ſtumm, weil ich nicht immer ſagen darf, was ich denke.
169„ Armes Herz! du dauerſt mich ſehr. Willſt du mir denn aber bisweilen ſagen, was du denkſt, und was dich traurig macht? ‟
Aber wenn ich nun Böſes denke, dann mußt du mir ja böſe ſeyn. Jch habe wohl zugehört, wie du neulich zu Jda ſagteſt: die guten Men - ſchen müßten das Böſe und das Schlechte haſſen, und könnten nicht anders. Und der liebe Gott mache es auch ſo. Wenn ich dir nun alles ſage, was ich denke, ſo mußt du mich ja haſſen, und ich wollte doch, daß du mich lieb haben ſollteſt. — „ Höre, Kind, die Sache iſt ſo: Wer das Schlech - „ te in ſich nicht lieb hat, der iſt nicht ganz ſchlecht, „ und wenn einer das Schlechte in ſich verabſcheuet, „ ſo kann er ſehr gut werden. Du biſt noch nicht „ böſe, aber du könnteſt es werden, wenn du dir „ ſelbſt ſo gefieleſt, wie du da biſt. Dein Herz iſt „ krank: es kann geſund werden, wenn du gegen „ den Arzt recht aufrichtig biſt, und ihm alles ſagſt, „ was ihm fehlt. Jch will dein Arzt ſeyn, wenn „ du dich mir anvertrauen willſt. ‟ Ja, Tante Selma, ich will es; aber ich kann nicht, wenn(22)170noch jemand anders dabei iſt. Gut, wir wollen bisweilen mit einander allein ſeyn. Wenn ich Abends oben im Kabinette ſchreibe, und Jda ſchon ſchläft, oder wenn Jda des Morgens gekleidet und gewaſchen wird, da kannſt du zu mir kom - men, ich will dich immer anhören. Bei dieſem Auftritte mit dem ſonderbaren Kinde habe ich mir den erſten Urſprung und das Bedürfniß der Beich - te recht lebhaft denken können. So muß es ge - kommen ſeyn, daß ein Menſch ſich verpflichten konnte, dem andern ſein ganzes Jnnerſtes mit allen Gräueln freiwillig aufzuſchließen. Solche Gemüther müſſen zuerſt das Bedürfniß, ja die Nothwendigkeit der Beichte empfunden haben, und für ſolche kann ſie auch nur ſeyn.
Was hätte ein ſo harmoniſches Weſen, wie Jda einſt ſeyn muß, zu beichten? Wenn das über ſeine ſchöne Natur reflectirt und raiſonnirt, wird es eitel. Und davor kann es nicht genug bewahrt werden.
Mathilde war den ganzen übrigen Tag ſtill ver - gnügt, als ob eine ſchwere Laſt von ihr gewälzt171 ſey. Am Abend, als ſie mir gute Nacht ſagte, wiſperte ſie mir in’s Ohr: Heute war ich nicht ſchlecht, Tante! Jch drückte ſie innig an mich, und mich durchbebte der Spruch: es wird Freude ſeyn im Himmel über einen Sünder, u. ſ. w. Jn meinem Jnnern war himmliſche Freude. Jetzt iſt der wahre Anfang zu ihrer Erziehung gemacht: nun iſt ſie bildungs - und beſſerungsfähig.
Heute nichts mehr, geliebte Emma!
Jch habe Dir lange nicht geſchrieben, beſte Emma. Unſere Kinder waren eine Zeitlang mit mir auf dem Lande. Woldemar blieb mit ſeinem Mentor in der Stadt, und ſie kamen nur, um uns wieder zu holen. Er mußte während unſerer Ab - weſenheit dem alten Paul ſein Wochengeld aus - zahlen, und Jda’s und Mathildens Vögel beſor - gen, auch war er unterdeſſen Jda’s Hofgärtner. Der Abſchied der Kinder von einander war ſo, als ob ſie ſich auf lange trennen ſollten. Wir172 machten die kleine Reiſe zu Waſſer. Dies war für Jda ganz neu. Mathilde muß ſchon öfter auf dem Waſſer geweſen ſeyn, ſie war ſehr ver - traut damit und lachte viel über Jda, die ſich Anfangs fürchtete. Wir brachten den ganzen Tag von Morgens 5 an auf dem Waſſer zu. Jda bezwang ihre Furcht bald. Abends 8 Uhr kamen wir in N. an. Des Pfarrers Familie empfing uns mit wahrhaft patriarchaliſcher Ein - falt und Liebe. Er hat zwei artige gut gezogene Töchter von zehn und zwölf Jahren.
An ihres Vaters Geburtstage hatte ich unſe - re Kinder mit Gelde beſchenkt, das ſie nach Wohl - gefallen verwenden möchten. Mathilde legte ih - ren Antheil wieder ſtill bei Seite, ohne etwas da - von auszugeben. Jda kaufte der Gertrud ein hübſches Halstuch. Das übrige legte ſie an, für des Pfarrers Töchter kleine Geſchenke zu kaufen, die ſie mitbringen möchte. Sie hatte ſehr gut gewählt, nämlich für jede einen aller - liebſten Strohhut, wie ſie ſelbſt einen trägt, ei - nen mit Roſa-Bande, den andern mit Lila. Wie173 ſie ſie austheilen würde, wußt’ ich vorher. Der ſchwarzäugigen rothbackigen Jüngſten ſetzte ſie den mit dem Roſabande ſelbſt auf. Der Aelteſten, mit ſehr zarten ſanften Zügen, brachte ſie den andern. Die Art, wie ſie es that, bezauberte uns alle. An den Pfarrer, der eine äußerſt ori - ginelle Phyſiognomie mit ſtarken Zügen hat, woll - te ſie Anfangs gar nicht heran. Er ſah es, wie ſie zurücktrat und ſich hinter mir verbarg, als er Mathilde küßte. Er ſchonte ſie, ſah ſie aber oft mit zarter Liebe an. Mit Mathilde ſcherzte er bald jovialiſch, und die ſchien es gern zu ha - ben. — Es kommt ſelten, daß ſie ſo bemerkt oder gar vorgezogen wird. — Die beiden Töchter trugen unſere Kinder faſt auf Händen. Unſer erſtes Abendeſſen beſtand aus mancherlei Speiſen, Backwerk und Früchten. Jch hatte den Kindern zuvor nicht geſagt, ob ſie von allem eſſen ſollten, was ihnen angeboten würde, oder ihre gewöhn - liche Abenddiät beobachten. Es ward ihnen von allem gereicht. Mathilde nahm alles an, und that ſich gütlich. Jda fragte: darf ich wählen? Jch bejahte. Sie wählte von den Früchten, was174 ihr ſonſt am ſeltenſten geboten wird, und begnüg - te ſich damit. Aus Mathildens Erzählung an Gertrud weiß ich, daß man in ihrer Eltern Hauſe viel aus einer leckern Tafel machte, und daß die Kinder von allem bekamen. Jch überließ ſie hier ganz ihrem Willen, und ſie nahm deſſen treflich wahr. Sie hat eine robuſte Natur. Den - noch merkte man es ihr nach drei Tagen ſchon an, daß ſie nicht Maaß gehalten. Sie ward etwas bleicher und träger wie ſonſt. Jda blühte ſicht - lich auf. O daß wir immer auf dem Lande ſeyn könnten!
Zum Pfarrhofe gehört ein ſehr ſchöner Obſt - und Gemüſe-Garten. Nahe am Hauſe iſt ein großer runder Raſenplatz, auf der einen Seite mit Akazien und mancherlei Geſträuch und Bäu - men in einem Halbzirkel maleriſch umpflanzt. Auf dieſem Raſen wird Mittags geſpeiſ’t. Für das Abendeſſen haben ſie einen andern ſchönen freien Platz mit einer köſtlichen Ausſicht nach Weſten eingerichtet, von wo man die Sonne über die Gebirge untergehen ſieht.
175Jch weiß nicht, ob es der nahe Strom macht, oder woher ſonſt es kommt, das weſtliche Gebirg ſcheint oft in Duft und Aether zu ſchweben, und iſt die Sonne hinunter, ſo entglühet ein Abend - roth, welches Herz und Sinn heiligt und ver - klärt. Die Berge verdichten ſich dann zu einer dunkelblauen Maſſe, und der Kontraſt des Jrr - diſchen mit dem Himmliſchen ſtimmt immer ern - ſter und ernſter. Oft ſaßen wir beim Abend - tiſch, bis hinter uns der Mond aufſtieg. Oft ging ich noch mit den guten Pfarrersleuten tief ins Feld, wenn ich die Kinder zur Ruhe gebracht. Daß wir wenig oder keine unſerer gewohnten Be - ſchäftigungen hier treiben, verſteht ſich.
Ganz hingegeben der freien großen Natur hatten wir alles andere dahinter gelaſſen. Nur eins ward recht ernſthaft getrieben. Naturge - ſchichte, worin der trefliche Pfarrer ſeine eigene Töchter täglich zwei Stunden unterrichtet, und dieſen Unterricht recht methodiſch mit ihnen treibt. Während unſers Aufenthaltes geſtattete er un - ſern Beiden Theil daran zu nehmen, und war176 gütig genug, ſich ganz nach dem Alter dieſer jun - gen Kinder zu bequemen. Beide haben einen gewaltigen Eifer für das Studium von daher mitgebracht.
Beſonders war Mathilde dort recht im Elemen - te. Des Pfarrers Mineralienkabinett iſt vortref - lich. Aber auch Jda ſollte nicht zu kurz kom - men. Er hat auch ein hübſches Herbarium. Und Betty und Clärchen (ſeine Töchter) kennen alles, was rund umher wächſt, von den Flechten bis zu den Forſtbäumen. Da zogen ſie halbe Tage im Gehölz und auf den Wieſen umher, und brach - ten ſchwere Ladungen von Kräutern und Blumen in ihren Körbchen mit, worüber der Pfarrer dann am andern Morgen dozierte.
Wie gern ließ ich die unſrigen mit herumſchwär - men. Klettern können die Mädchen, wie die Gemſen. Anfangs war ich bange für unſere Kin - der. Aber der Pfarrer beruhigte mich, daß die Seinigen alle Wege und Stege kennten, und ſich noch nie verirrt. Auch wußten ſie Maaß zu hal -177 ten in der Anſtrengung und erhitzten ſich nicht. Jch ward kühn, und ließ Jda mit auf die nahen Berge klettern. Mathilde hatte ſelten Luſt, ſie blieb dann ſo lange im Garten. Jda iſt in den zwei Monaten ſehr gewachſen und ſichtbarlich ſtärker worden; auch hat ſie zu ihrer gewöhnlichen Grazie eine Gewandtheit und Behendigkeit ge - wonnen, die uns den Tanzmeiſter noch für eine gute Zeit entbehrlich macht. Oft fürchtete ich, dies ſehr zarte Weſen werde gegen die Stürme des Lebens ſo wenig im phyſiſchen, als im andern Sinne aushalten können, und blickte dann die überirdiſche Geſtalt mit liebendem Schmerz an. Jetzt darf ich mich auch ihrer Kraft freuen.
Den Herbſt und Winter bringen wir nun ruhig und fleißig in der Stadt zu. Sobald es aber wie - der Frühling wird, d. h. ſchon im März oder April, ziehe ich mit den Kindern hinaus zu unſerm lieben Pfarrer, der noch dieſen Nachſommer auf mein Verlangen ein eigenes Gartenhaus nicht weit vom Pfarrhofe bauen läßt; wo auch für Platov und Woldemar Raum ſeyn ſoll, damit ſie oft zu uns(23)178kommen, und ſo lange mit uns weilen, als es in Platov’s Plan dient. Da hauſen wir dann die ganze ſchöne Jahreszeit mit einander. Jn dem Pfarrhauſe machte unſer Aufenthalt Epoche.
Was ſie durch uns gewonnen haben können, be - greife ich nicht. Daß ich Betty und Clärchen ein wenig Franzöſiſch lehrte, können die guten Eltern ſo hoch nicht anſchlagen, dazu ſind die Leute zu reell.
Jeden Morgen, wenn ſie aus des Pfarrers Stunde kamen, hatten die viere mit einander fran - zöſiſche Stunde bei mir. Sonderbar genug ſchloſ - ſen ſich die ſiebenjährige Jda und die zwölfjährige Betty an einander. Mathilde machte ſich gern mit der kleinern Clara zu ſchaffen. Aber alle vier lieben ſich. Es war eine rechte Noth, als ſie ſich wieder trennen mußten. Den Pfarrer hat Jda jetzt faſt bis zur Ungebühr lieb. Wie oft werde ich Dir noch von dieſer Familie erzählen müſſen! Es kommt mir oft ſelbſt vor, als ob ich ſchwärme, und doch kann ich mir ſehr wohl Rechenſchaft geben, wo eigentlich der Magnet in dieſem Hauſe liege. 179Es iſt die harmoniſche Einheit und Liebe, es iſt der einige Geiſt, der durch das Ganze haucht. Die Pfarrerin an ſich hat nichts ſtark Ausgezeich - netes, es müßte denn die ſtille Ruhe ſeyn, mit der ſie ſo viel ſchafft, ohne daß man von dem Wie etwas gewahr wird; ſehr ungleich ihrer Namens - ſchweſter, Deborah Primroſe, die von jeder ih - rer Schüſſeln bei der Mahlzeit immer die Geſchich - te zum Beſten gab, und die nächſt ihren Apfelpaſte - ten und ihrem Johannisbeerwein nichts Herrlicheres denken konnte, als ihr Meiſterſtück der Erziehung an ihren Töchtern. Deborah Willich ſcheint ſo wenig, und iſt ſo viel, daß ich erſchrecke, wenn ich mir dies Haus ohne ſie vorſtelle. Und doch ſcheint ſie den Keim eines frühen Todes in ſich zu tragen. Ein feines dunkles Roth auf zar - ter Wange, ein ſtilles in ſich Wohnen, und noch manches andere Zeichen machen mir bange für ſie. Jhr Mann ſagt, noch habe ſie kein weibliches We - ſen ſo ſchwärmeriſch geliebt, wie mich. Mir hat ſie das nur ſehr ſchüchtern und leiſe geäußert. Wir drei gingen Abends immer mit einander ſpazieren; denn am Tage erlaubt die Gute ſich das niemals. 180Sie ſieht es für eine ſolche Unmöglichkeit an, daß man es ihr nicht anſinnen mag. Wenn wir Abends nach der Mahlzeit luſtwandelten, nahm ſie ſelten thätigen Theil am Geſpräche; aber ſie lenkte es oft durch ihre Fragen auf Gegenſtände, worüber ſie ihren Mann und mich ſo gern die Meynungen austauſchen ſah. „ Aber, liebe Deborah, warum ſoll ich denn Jhre Anſicht der Dinge nicht auch kennen? fragt’ ich denn wohl. Jſt es recht, daß Sie mich immer fortplaudern laſſen, wenn Jhr Mann mich einmal in den Schuß gebracht? ‟ — „ Wir beide haben uns immer, ſagte ſie, und wenn ich in einer Sache nicht durchzufinden weiß, ſo apellire ich von meinem unreifen Verſtande an den reiferen meines Mannes, und mit dem Spruch dieſer letzten Jnſtanz bin ich völlig zufrieden. Es iſt mir aber ſo neu, und ich finde es ſo gar hold, zwei Verwandte, ſich faſt gleiche Geiſter, mit ein - ander im Wechſeltauſch der Jdeen zu ſehen. Wenn ich ſelbſt mit ſpräche, brächt’ ich mich ja um dieſe Freude. ‟
„ Sprecht ihr beide mit einander, ſo höre ich jmmer etwas Neues. Würde ich mich hinein -181 miſchen, ſo würde das Geſpräch bald zum Alttäg - lichen herabkommen, ohne daß ich’s wollte. So freue ich mich, daß mein Geiſt mit dem Eurigen ſich hebt. ‟ — Jch konnte ihr nicht Recht geben, und doch war, was ſie ſagte, in ihrer Vorſtellung ſo wahr. Auch würden wir alle zu weich werden, wenn ſie öfter Theil nähme. Aber es iſt eine ſel - tene Einigkeit unter dieſen Menſchen. Jch kann nicht ſagen, daß ich ſie bewundere. Sie ſind bloß ihrer treflichen Natur getreu. Mir däucht, ſie könnten nicht anders ſeyn, wenn ſie auch wollten. „ Deborah, ſagt’ er eines Abends, warum ſind wir denn ſo glücklich? ‟ — „ Jch, mein Her - mann, weiß nicht, ob ich es noch verdienen ler - ne. Doch, bin ich nicht ein Kind? was können wir denn verdienen? Und wär’ es nicht ein elen - des Ding, um ſo ein Glück, das wir dem Him - mel erſt abverdienen ſollen! Wenn ich es ganz fühle, wie ich mit ſo heißer Liebe an Dir und den Kindern hange, dann denk’ ich wohl, nun biſt du es werth, Hermann’s Weib zu ſeyn, und wenn ich dann wieder inne werde, daß eben in dieſem Lieben die Seele und das Leben meines Glückes182 wohnt, dann verlier’ ich mich wieder ganz darin, und mir kann bange werden vor dem weiteren Sinnen, und ich laufe dann im Garten herum, und binde lieber die jungen Bohnen auf, die ſich noch nicht ſelbſt halten können, und ſehe, ob die Gurken und Melonen gut ſtehen, und ſehe nach Hünerhof und Küche, ob da alles in rech - ter Ordnung iſt; gerade als ob das Verdienſt ſey, was mich des ſtillen Glückes werth machen könnte, des Himmels, den ich oft im Herzen trage. ‟ — Jch mußt’ ihr um den Hals fallen, der holden Seele, ruhen mußt’ ich an dem heili - gen Herzen.
O grüble nicht, du frommes Herz! gib dich deinem Glücke nur ſicher hin, ruhe an ihm, wie das Kind in dem Schooße der Mutter, dich kann es nicht verderben. Dein irdiſcher Himmel macht dich des Himmliſchen täglich fähiger. — Wir gin - gen ſehr bewegt auseinander.
Künftig erzähle ich Dir mehr von dieſer mir ſo werthen Familie, deren Umgang mir auch für die Kinder ein großer Gewinn däucht.
183Durch alle darſtellende Erzählung könnt’ ich Jhnen ja doch ein ſolches Leben nicht anſchaulich machen. Wie könnte ſich ohne Anſchauung das Bild ſolcher Menſchen und ihrer ſchönen Ver - hältniſſe recht kräftig in ihnen abdrücken? Wo - durch wird der Glaube an Menſchen anders in uns entzündet, als durch das Leben und Seyn mit ihnen?
Noch eines Geſpräches mit dem Pfarrer muß ich erwähnen, weil es ſeinem Jnhalt nach ganz eigen zu dem gehört, was meinen Briefen an Dich ein Jntereſſe gibt. Eines Abends, als ich die Kinder zu Bett brachte, und es noch ſehr heiß war, hatte ich die Fenſter der Schlafkammer offen gelaſſen. Sie ſehen nach dem Garten hin - aus. Jda betete, wie ſie es gewohnt iſt, laut. Der Pfarrer ſtand zufällig unter dem Fenſter und blieb ſtehen. Jda ſagte: „ Jch danke dir, un - ſichtbarer Vater, daß ich heute ſo glücklich war. Jch danke dir, daß meine gute Tante mich lieb hat, und daß ich ſie lieb habe. Jch danke dir, daß du uns alle erſchaffen haſt, und den guten184 Pfarrer, und daß ich auch den Pfarrer lieb habe. Laß uns alle Tage ſo fromm und froh ſeyn, wie heute. Laß uns alle dieſe Nacht ſanft ſchlafen, beſonders den Herrn Pfarrer, der heute ſo freund - lich war. Und laß uns morgen noch beſſer ſeyn, als wir heute waren, mich und Mathilde. Du biſt mein Vater, und meiner guten Eltern Va - ter, und aller guten Menſchen Vater; dich muß ich ja lieben, heute und morgen und immer im - mer. ‟ — „ Amen ‟! hört’ ich eine leiſe Stim - me unten im Garten ſagen.
Nun rief Jda mir noch zu: Gute Nacht, du beſte, beſte Tante! Auch Mathilde ſagte mir mit ungeſtümer Liebe: Gute Nacht! Jch ſtand noch einige Augenblicke in ſeligen Träumen von der Zu - kunft verſunken, löſchte dann das Licht aus, und ging hinunter, um mit meinen lieben Pfarrers - leuten den Abendſpaziergang zu machen. Deborah hatte ein wenig Kopfweh, und blieb mit ihren Töchtern zu Hauſe. Der Pfarrer, den ich im Gar - ten fand, bot mir ſtill ſeinen Arm, und wir wan - delten unter heiterm Abendroth durch die Saat -185 felder hin. Er fing mit leiſer Stimme das Ge - ſpräch ſo an:
Pfarrer. Freundin, ich habe dieſen Abend im Garten einige köſtliche Minuten gehabt, die ich bloß Jhnen verdanke; aber ſie gehören zu den ſchöneren meines Lebens.
Jch. Jch weiß nicht, ob ich Sie recht verſtehe; betrifft es Jda?
Pfarrer. Ja, ich habe Jda’s Abendgebet unter dem Fenſter belauſcht. O! wie war mein Jnneres ergriffen, von der reinen, ungetrübten Kindheit! So war ſie mir faſt noch nie erſchie - nen, wie ich ſie in Jda angeſchau’t habe; und in der Minute, die dieſes Gebet ausfüllte, war das Ganze in einen Punkt zuſammengedrängt. Darf ich Jhnen nun auch etwas bekennen, und wollen Sie mir ob dem Bekenntniß nicht zürnen, edle Freundin?
Jch. Vielleicht errathe ich Sie. Nicht wahr, Sie hatten über einen Punkt Zweifel an Jhrer Freundin, ob ſie auch —
(24)186Pfarrer. O! zürnen Sie nicht, und ver - wechſeln Sie Jhren Freund nicht mit den gemei - nen Zeloten. — Aber —
Jch. Sie wußten nicht, wie es um meine Religioſität ſtehe? —
Pfarrer. Wir ſind es ſo gewohnt, bei einem gewißen Grade von höherer Geiſtesbildung dieſe ſo ganz zu vermiſſen, als ob Religioſität und der Aberglaube eins wären, daß wir kaum mehr hof - fen dürfen, ſie neben der höheren Ausbildung noch beſtehen zu ſehen, beſonders in den vornehmeren Ständen, deren Bildung faſt alle mittelbar oder unmittelbar vom franzöſiſch-philoſophiſchen Zeit - alter herkam. Die Philoſophie hinterm Rheine hatte ihr Unglaubensſyſtem nach dem Theile von Deutſchland und nach der Hauptſtadt verpflanzt, wo ſie im lockern Sande ihre leichten Wurzeln am ſchönſten ausbreiten konnte. Es huldigten große und kleine Geiſter, heilige und unheilige Gemü - ther, der neuen Gottheit. Die beſſeren Seelen trugen das Heilige in ihren Dienſt hinein; ſie konnten bei dieſem bloßen Vernunftdienſte nicht ei -187 gentlich veröden, noch an allem verarmen, was über den menſchlichen Begriff hinaus liegt, da ſie das Beſſere zu ihm brachten, und in ihn hinein trugen. Aber das Zeitalter ward immer leichter und frivoler. Die Apoſtel des Nichtglaubens er - hoben ihre Stimme immer lauter. Die Menſchen mit einem glühenden Herzen für das Göttliche zo - gen ſich ſchweigend zurück. Die junge Generation verwendete ihr weniges Feuer zur Vertilgung des Glaubens, ihren Witz, oder vielmehr Perſiflage, zur Verſpottung alles deſſen, was der kalte Ver - ſtand nicht erfaſſen konnte. Der Strom ſchwoll an, und ſtrömte fort: Alles, was nur dem kind - lichen Glauben des Herzens ähnlich ſah, ward mit weggeſchwemmt. Aufklärung war die Looſung! Aber welche! Man wollte nur einen Gott anbeten, den man aus der Natur greifen könnte. Man fin - det ihn auch in der Natur; aber zuerſt in der Na - tur eines heiligen Herzens. Und das Herz war von der Aufklärung durchkältet. Die meiſte Reli - gion mochte noch in weiblichen Seelen zu finden ſeyn; aber auch dieſe ergriff der Strom. Die Männer, die ihn hätten eindämmen können, wa -188 ren ſelbſt mit fortgeriſſen. Jn den Studierſtuben lag es voll aufklärender Journale. Aus den Ta - ſchen der Geiſtlichen ragten ſie in den Geſellſchaf - ten hervor. Wer für einen guten Kopf gelten wollte, ließ ſich anwerben, und alles ſtimmte in den allgemeinen Chorus.
Jch. Das Zeitalter, von dem Sie reden, iſt nicht mehr.
Pfarrer. Aber ſeine Folgen dauern noch, und können ſobald noch nicht ihre Wirkſamkeit verlieren. Die guten Köpfe jener Zeit hatten ſich durch den energiſchen Widerſtand gegen ein ande - res Extrem gebildet, und waren zu Denkern ge - worden. Das junge Volk bedurfte der Kraft des Widerſtandes nicht mehr; es brauchte nur nachzu - ſprechen. Daher die unglaubliche Seichtigkeit. Was war jetzt leichter, als ein Philoſoph zu ſeyn! Und war erſt Philoſophie die allgemeine Looſung, ſo mußte ſie ſich auch in dem Grade populariſiren, daß ſie bald ein Eigenthum der Frauen ward, näm - lich ihre Sprache. Uebrigens nahm dieſe leichtere Hälfte des Menſchengeſchlechts — verzeihen Sie,189 edle Freundin! ich weiß, ich darf in ſo ernſten Augenblicken das Weib in Jhnen vergeſſen — den Unglauben eben ſo auf Treu’ und Glauben an, wie ſie faſt alle Reſultate des forſchenden Verſtan - des annimmt, und annehmen muß, da ſie aus wohlbekannten Gründen nicht ſelbſt forſchen kann.
Jch. Eine traurige Wahrheit, lieber Pfarrer!
Pfarrer. Nicht ſo gar traurig, meine Freun - din! Wenn das Gebiet des forſchenden Verſtan - des und der ſpekulirenden Vernunft in der Regel Jhrem Geſchlechte verbotenes Land, und die herbe Frucht vom Baume des Erkenntniſſes Jhnen nicht gedeihlich iſt; o! es ward Jhnen ſchöner Erſatz dafür! Sie ſollten — Veſtalinnen in einem ho - hen Sinne — die heiligen Himmelsfunken: Glau - be, Liebe und Hoffnung, in der Menſchenbruſt be - wahren; Sie ſollten ſie der keimenden Menſch - heit, die Jhnen zunächſt anvertraut ward, auf die unmittelbarſte Weiſe, ohne Kunſt und faſt ohne Abſicht, wie durch innere Nothwendigkeit, mit - theilen. Da mußte aber Jhr ganzes Weſen da - von durchdrungen ſeyn. Es mußte dieſer heilige190 Sinn durch Emanation von Jhnen aus in die auf - blühende Menſchheit überſtrömen.
Jch. Sie wiſſen die eben geritzte Wunde ſehr ſanft zu verbinden.
Pfarrer. Während des ſo aufgeklärten Zeit - alters erloſch dies heilige Feuer auch in den Her - zen der weiblichen Welt, wenigſtens der gebilde - ten großen Welt. Und Jhr Freund, theure Selma, iſt es nun ſchon ſeit lange gewohnt, auf die wohlthätige Erſcheinung weiblicher Religioſität Verzicht zu thun, ſobald er einen beträchtlichen Grad der Bildung gewahr wird. Mußt’ ich nicht kleingläubig, furchtſam, ja faſt hoffnungslos mich Jhnen in dieſer Rückſicht nahen? Durft’ ich es erwarten, in einer Seele, in einem Geiſte Eigenthümlichkeiten vereint zu ſehen, die ich ſo lange ſchon nur noch iſolirt gefunden hatte? Bis zu dieſer Stunde mocht’ ich es nicht wagen, Sie auf ſolche Gegenſtände zu bringen, weil ich mir die Freude einer reinen Achtung durch nichts trü - ben wollte. Jch wagte es alſo auch nicht, dieſen Punkt als Erziehungsgrundſatz fragend bei Jhnen191 zu berühren. Zu oft ſchon hatte ich die Strafe ſolches Vorwitzes getragen. Das weibliche Jdeal war mir immer entſchwunden, ſo oft ich mich ihm bis auf dieſen Punkt nahen wollte. Jch ſah Jhre Kinder unſchuldig froh, ſah ſie empfänglich für alles Schöne, lernbegierig und ernſt, wo es darauf ankam; aber ob Sie, Theure! ihnen das Heiligſte verſchwiegen bis zur vollen Reife der Vernunft, wo, leider! die Leidenſchaften auch ſchon reif ſind, und das Herz, unter ihren Stürmen kämpfend, nicht mehr fähig iſt zur Aufnahme dieſes Heilig - ſten — vor dieſer Frage ſtand ich bald fürchtend, bald hoffend ſtill. — Als ich Jda’s Abendgebet im Garten hörte, da erkannte ich meine Freundin in dieſem Gebete. Jch wußte, daß es dem Kinde nicht dictirt ſeyn konnte; aber ich ſah Jhren Geiſt, theure Selma! darin erſcheinen, und daher der Eindruck, den es auf mich machte.
Jch. Gewiß kam es ganz aus dem Herzen des Kindes. Aber Sie würden ſehr irren, wenn Sie mir ein poſitives Verdienſt dabei zuſchrieben. Erſt - lich hatte ſchon die Mutter die erſten Regungen192 der Frömmigkeit in des Kindes Seele geweckt, und zwar früher, als ich es vielleicht gethan haben würde. Es brauchte nur erwärmend angehaucht zu werden, was ſchon da war. Aber ich hätte ſicher auch in dem Falle, daß mir nicht vorgearbei - tet worden wäre, den ſchönſten Moment zu tref - fen geſucht, um ſie zu wecken, und hätte die Kin - der dann, wie jetzt, Zeuge meiner Freudigkeit zu Gott ſeyn laſſen. Für Mathilde iſt dieſer ſchöne Zeitpunkt noch nicht gekommen, obwohl ſie ein Jahr älter iſt, als Jda. Aber bei ihr ſind die un - edlen Leidenſchaften früh empor gekommen; ſie iſt in der früheren Behandlung ſehr verwahrloſ’t. Bei ihr würde die Religion als eine ausländiſche Pflanze auf unbereitetem Boden nicht wohl haben gedeihen können; auch wird ſie ſich in ihrer ſtar - ken, nicht ſehr weiblichen Seele anders, ganz an - ders geſtalten, als in Jda.
Pfarrer. Aber, Freundin! —
Jch. O! ich verſtehe Sie: es ſoll nicht zu ſpät werden. Nur muß die rechte Stunde gekommen ſeyn. Oft waren wir ſchon nahe daran, aber die193 Stunde war noch nicht da. Mathilde iſt bei Jda’s Gebet immer gegenwärtig. Auch ſind ihr wirklich ſchon früher, ehe ſie zu mir kam, Jdeen von Gott gegeben; aber etwas Gegebenes will auch empfan - gen ſeyn, und ſie hat ſie nicht liebend in ſich auf - genommen. So wie ihr Herz ſich veredelt, wird ihr auch das Bedürfniß kommen, aus allen Kräf - ten zu lieben. Was ich ihr jetzt von Gott ſagte, ohne Wunſch und Bedürfniß bei ihr, würde nicht Wurzel faſſen können, und würde vielleicht eine entgegengeſetzte Wirkung haben von der ge - wünſchten.
Pfarrer. Jch ehre Jhr Prinzip: erwarten Sie denn die Stunde. Aber laſſen Sie mich’s wiſſen, wann und wie ſie bei dieſem ſeltſamen un - kindlichen Kinde gekommen, das bitte ich Sie.
Jetzt waren wir dem Hauſe nahe, und ſchieden höchſt zufrieden von einander.
Daß Du mir aus Deiner glänzenden Welt nichts mittheilen willſt, iſt unfreundlich von Dir. Und wenn nun alles, was Du mir mittheilen(25)194wollteſt, als Stoff mit unſerm Jdyllenleben auch noch ſo ſtark kontraſtirte, kommt er denn nicht durch Deinen Geiſt und Dein Herz verarbeitet zu uns? Jch weiß, daß Du der Welt nicht ange - hörſt, die Dich umgibt, daß Du in ihr wie eine halb Verbannte lebſt.
Schließe denn der Freundin Deine innere Welt wieder auf. Mit meinen Berichten mußt Du zu - frieden ſeyn können. Breiter dürften ſie doch wohl nicht ſeyn. O wie freut es mich, daß ich nicht für die Welt ſchreibe, ſondern für Dich, und nur für Dich. Was würde die Welt zu ſolchen Erziehungsbriefen ſagen? Lebe wohl, Emma! Noch eins — den Winter über wird das braune Clärchen bei uns ſeyn, die Mutter will ſie ſo gern in meiner Nähe wiſſen. Jch denke, dieſe kern-geſunde Natur wird auch unſern Kin - dern eine gute Geſellſchaft ſeyn.
Du biſt meinen Wünſchen ſo günſtig entgegen gekommen, haſt mich endlich mit den Nachrichten erfreut, die mir von allem, was Du nur ſagen könnteſt, das Willkommenſte, Beſte ſind. So hat Dein liebes Herz ſich denn wirklich ganz be - ruhigt über die harte Trennung, und Du biſt wieder glücklich mit Deinem D*? und billigſt al - les, was mit den Kindern geſchieht? Nun, es ſollen auch Deine leiſeſten Wünſche in Rückſicht auf ſie reſpectirt werden. Groß finde ich es von Dir, daß Du mich um Jda’s Liebe nicht benei - deſt. Oft fürchtete ich, wenn es in meinen Brie - fen zu hell durchſchien, wie ſehr Jda an mir hängt, es könne Dein Herz betrüben; aber nein, das kann es nicht. Sie liebt in uns beiden nur die Mutter. Die nahe und die ferne Mutter ſchmelzen bei ihr wie in ein Weſen zuſammen. Und es muß Dir ja lieb ſeyn, wenn Du wahr - nimmſt, wie des Kindes Weſen ſo ganz offen vor mir liegt. Daß ihre Entwickelung ſo herr - lich gedeiht, das mußt Du mir nicht hoch anrech -196 nen. Es ſind günſtige Vorfälle, glück - liche Umſtände, die ſie befördern, und denen ich nur die Richtung gebe, nur ſorge, daß keiner verloren gehe, den uns das gute Glück ſendet. So wollt’ ich z. B. aus unſerm kleinen Lebenslaufe von dieſen letzten acht Monaten durchaus den lahmen Paul nicht miſſen. Er hat mir eine Menge Jdeen bei Jda entwickeln helfen, freilich meiſtens nur als blin - des Werkzeug. Doch das iſt hier gleich, wenn nur ein Geiſt da iſt, der den Zufall und das Werkzeug lenkt. Dies iſt die Aufgabe der Er - zieher. Auf eine ſchönere Art hat uns die Willichſche Familie geholfen, wenn gleich auch faſt abſichtlos. Seit wir von ihr wieder zurück ſind, iſt ſie der öftere Jnhalt unſerer Geſpräche.
Endlich, liebſte Emma, fange ich an, Ma - thilde zu entziffern. Jch muthmaßte ſchon vor - her, was ſie mit dem Gelde wollte, welches ſie noch immer ſorgfältig ſammelt, und wovon ſie noch keinen Groſchen ausgegeben. Nun fand ich geſtern in ihrem Schreibbuche, als ich von ohn -197 gefähr darin blätterte, eine Art von Brief, den ſie unvermerkt zuſammenbuchſtabiert hat, er iſt an ihren Bruder, den jungen Kornet, gerichtet, von dem Dein vorletzter Brief mir ſagte, daß er ein ausgearteter verlorner Menſch ſey, nnd viele Schulden gemacht habe. Er muß ſonſt noch Schlimmeres begangen haben, weil man ihn feſt - geſetzt, wie ich bei weiterm Nachforſchen er - fahren.
Der Brief iſt, wie Du denken kannſt, noch ſehr unordentlich geſchrieben, enthält aber ohn - gefähr dies: daß ſie ſich viel um den Bruder grä - me, und es doch keinem Menſchen ſagen möchte, auch mir nicht, weil ſie ſich ſchon ohnedies ge - nug ſchäme; daß ſie ihn gern befreien möchte, aber gar noch nicht wüßte, wie das zu machen ſey? Außerdem ſagte ſie, daß ſie bei Tiſche, wenn gar kein Backwerk und kein ſüßer Wein für ſie käme, oft an die ſeligen Eltern dächte, und wie ſie da alles vollauf gehabt hätten, was man nur wünſchen mochte, und wie ſie da alles hätten thun können, ſie und er, als die Aelteſten,198 was ſie nur immer gewollt. Und nun wäre alles ſo anders, und doch wiſſe ſie, es ſey ſo beſſer, und ſchäme ſich, wenn ſie mißvergnügt ſey. Sie habe auch oft ſchon angefangen, mir alles zu ſa - gen, aber es wäre dann immer, als wohne ein böſer Geiſt in ihr, der ihr den Mund von innen ſchlöße, daß ſie ihn nicht aufthun könne. Jhre liebe ſelige Mutter ſey wohl gut geweſen, daß ſie ihnen immer Kaffee und Wein und Kuchen gegeben, ſo lange ſie nur genießen können, und ihnen allen Willen gethan; oft käme es ihr aber doch vor, ich ſey beſſer, und verſtehe es beſſer, was Kindern gut ſey, weil ja Jda ſo glücklich ſey, u. ſ. w.
Dies iſt ohngefähr das Vornehmſte von dem Jnhalt. Jch legte das Blatt wieder ins Buch. Und als Jda mich bat, auf ein Stündchen mit Woldemar und ſeinem Mentor auszugehen, nahm ich deß wahr, ließ Mathilde ſich neben mich auf den Sopha ſetzen, und da entſtand folgendes Ge - ſpräch:
Jch. Liebe Mathilde, weißt du noch wohl, was du mir vor langer Zeit einmal verſprachſt?
199Mathilde. Ja, Tante, und ich habe es nicht gehalten. Das iſt wohl meine Schuld, und iſt ſchlecht von mir, denn du biſt ſo gut, ich ſollte dir nichts verſchweigen. Aber es war auch wie - der nicht meine Schuld. Wir waren ſo lange in N., da dacht’ ich wenig Böſes: ich war faſt im - mer luſtig. Und nun wir wieder hier ſind, ſcheu - te ich mich wieder vor dir, daß ich doch noch nicht beſſer wäre.
Jch. Magſt du es denn keinem Menſchen ſa - gen, wann du mißvergnügt biſt? was dir fehlt? Nicht Jda, und nicht mir?
Mathilde. Liebe Tante, ich habe es geſtern einem Papier geſagt; ſoll ich das holen? Willſt du es leſen, und mir auch gewiß nicht böſe ſeyn?
Jch. Geh, und hole es, ich will dir nicht böſe ſeyn; da haſt du meine Hand darauf. Aber komm bald wieder, ſo lange wir noch allein ſind.
Sie ward heiter, ging und kam bald mit dem Blatte.
200Jch. An wen iſt das Blatt gerichtet, liebe Mathilde? Es iſt der erſte Brief, den du ſchreibſt?
Mathilde. An meinen Bruder, den Kornet. Es iſt mein allererſter Verſuch.
Jch. Warum haſt du mir noch nie von die - ſem Bruder Kornet geſprochen?
Mathilde. Liebe Tante! Weil ich mich ſchäme, und weil ich fürchte, daß du ihn nicht lieb haben kannſt, und niemand ihn hier lieb ha - ben kann, denn ihr ſeyd alle beſſer, alle ſo ganz anders. Und er iſt doch mein Bruder. Jch wür - de ſehr traurig ſeyn, wenn du und Jda ihm nicht gut ſeyn könntet.
Jch. Aber was hat er denn gemacht, warum ich ihn nicht lieb haben kann? kannſt du mir das anvertrauen, liebes Kind? (Sie blickte ſchüch - tern umher, ob auch jemand in der Nähe ſey? dann halb leiſe:)
Mathilde. Je, er hat alle Tage viel Geld ausgegeben, und hat ſich Wein dafür gekauft und Kuchen, und hat geſpielt, auch viel Geld201 verſpielt, und hat auch ſo viel Wein getrunken, daß er nicht mehr wußte, was er ſagte, und da hat er unverſtändig von ſeinen Obern geſprochen, und ſelbſt über den alten General — und da wol - len ſie ihn fortjagen, weil er aber noch ſo jung iſt, haben ſie ihn eingeſperrt, daß er ſich beſſern ſollte.
Jch. Wo hat er denn das Geld hergenommen? Wer kann ihm was gegeben haben?
Mathilde. Er hat zu den Leuten geſagt, ſeine Eltern wären ſehr reich, und da haben ſie ihm geborgt, ſo viel er nur wollte, und das hat ihn dreiſt gemacht, immer mehr zu borgen.
Jch. Das war ja —
Mathilde. Gelogen, liebe Tante, ich weiß es wohl, und darum ſchäme ich mich ſo, und ſag - te nein, als Jda mich fragte, ob ich keinen Bru - der hätte, der mir Blumen ſchenken könnte? Das war auch gelogen, liebe Tante, ich fühlte das gleich, konnte es aber nicht geſtehen, und da ich es nicht geſtehen konnte, dachte ich, daß es doch(26)202nur halb gelogen ſey, weil mein Bruder mir kei - ne Blumen bringen könnte, und damit wollte ich mich tröſten, und mußte doch immer wieder daran denken, daß ich doch gelogen hätte — und konn - te es nicht wieder vergeſſen.
Jch. Du arme Mathilde, da mag dir wohl recht bange ums Herz geweſen ſeyn! Wenn du nur gleich zu mir gekommen wäreſt, und dein Herz erleichtert hätteſt. Jch hätte dich getröſtet, und dich ſehr gebeten, auch keine halbe Lüge mehr zu ſagen, weil es von halben ſo leicht zu ganzen kommt.
Mathilde. O nun will ich es gewiß immer, denn nun weißt du ja das ſchlimmſte. Lies nur noch den Brief, liebe Tante, dann weißt du alles. Von nun an mußt du alles wiſſen. Es würde Sünde ſeyn, dir etwas zu verſchweigen.
Jch lief das Blatt noch einmal durch.
Jch. Jch kann dir verſprechen, liebe Mathil - de, du wirſt einſt noch recht brav werden. Aber eins möcht’ ich gern noch wiſſen: was du nämlich203 mit dem geſparten Gelde thun willſt? — Kannſt du mir das ſagen?
Mathilde. Liebe Tante! das wußt’ ich eben noch nicht, ſonſt hätte ich es dir lange geſagt. Für den Bruder ſollt’ es immer ſeyn. Manchmal dacht’ ich, ich wollte Torten und Obſt und Wein dafür kaufen, und es ihm nach H … ſchicken, weil ich einmal gehört habe, die Leute im Gefäng - niſſe bekämen nichts als Brot und Waſſer. Ein anderesmal, wenn ich das alles überlegte, was ich bei dir gehört und geſehen, dacht’ ich, das ſey nicht gut, und es wäre beſſer, wenn ich ihm das Geld ſchickte, und ihn bäte, daß er es den Leuten gäbe, die ihm geborgt haben. Und dann wußt’ ich doch wieder nicht, wie ich das Geld oder die ge - kauften Sachen nach H … zu ihm bringen woll - te. Nun bin ich aber recht froh, daß du das alles weißt; nun wirſt du mir auch ſagen, wie ich das machen ſoll? Denn helfen muß ich ihm, er iſt ja mein Bruder. Und es iſt ſchrecklich, daß er ſo unglücklich iſt, während es mir ſo wohl geht.
Jch. Ja, mein gutes Kind, das will ich. Spare du nur immer noch mehr Geld für den204 Bruder. Jetzt darf er nichts haben. Oder warum meynſt du wohl, daß er im Gefängniſſe ſey?
Mathilde. Jch weiß nicht recht, liebe Tante!
Jch. Er ſoll die unangenehmen Folgen ſeines ſchlechten Betragens fühlen, damit es ihm leid thue, und er ſich zu beſſerem Betragen gewöhne. Denn alle Strafe ſoll zur Beſſerung dienen.
Mathilde. Ja! aber er war ſchon lange ein - geſperrt.
Jch. Wie haſt du denn das erfahren?
Mathilde. Die Magd, die ſonſt bei meinen Eltern diente, dient jetzt bei unſerm Nachbar, und wenn ſie durch den Gartenzaun ſah, daß ich allein im Garten war, kam ſie zu mir, und erzählte mir von meinem Bruder, dem Kornet. Vom kleinen Kaſimir wußte ſie aber nichts, der iſt zu einem Prediger auf’s Land gebracht, als ich zu dir kam.
Jch. Es iſt ſehr gut, daß ich dies alles jetzt weiß. Noch heute will ich mit Herrn von Platov reden, daß er uns Nachricht von dem Kornet ſchaf - fen ſoll, und Rath geben, wie wir ihm helfen.
205Mathilde. O! du gütige Tante! Nun will ich auch recht fromm und froh mit Jda ſeyn, und will dir alles ſagen, was ich denke: dann werde ich gewiß nicht mehr ſo oft unvernünftig denken.
Jch. Haſt du denn den Bruder recht lieb?
Mathilde. Ja, Tante Selma, ich habe ihn wohl recht lieb; aber es iſt ſo ſchmerzlich, und ich freue mich faſt niemals, wenn ich an ihn denke. Glaubſt du wohl, Tante, daß ich mich noch ein - mal ſo über ihn freuen kann, wie Jda über Wol - demar? Ach! wenn ich ihn ſo lieb haben könnte, wie wollte ich dann glücklich ſeyn!
Jch. Vielleicht, mein gutes Kind! Aber wenn’s auch nicht ſo ſeyn kann. Lieb haben ſoll eine gute Schweſter den Bruder doch immer. Strafe beſſert meiſtens nur des Menſchen äußeres Betragen; aber Liebe, recht fromme unermüdliche Liebe beſ - ſert ihn von innen aus, wenn er noch nicht ganz böſe iſt.
Mathilde. Ach, Tante! das kann ich füh - len, daß du Recht haſt; deine Liebe hat mich ſchon206 ſehr gebeſſert. Jch war wirklich oft ſchlecht. Hät - teſt du mich da hart geſtraft, ſo wäre ich böſe ge - worden. [Nun]werde ich gut, das weiß ich; aber meine alten Grillen werden noch oft wiederkom - men. Darf ich ſie dir dann immer klagen?
Jch. Jmmer, wie ſie auch ſeyn mögen. Was du auch ſchlimmes denkſt: ich will dich immer lieb behalten, wenn du nur keine Freude daran haſt. Das Schlechte wiſſentlich in ſich dulden, das iſt böſe.
Mathilde. O, küſſe mich, Tante! Sage mir es noch einmal, daß du mich liebſt.
Jch ſchloß ſie mit wahrer Jnnigkeit in meine Arme. Das arme Kind hatte mein Jnnerſtes aufgeregt.
Mathilde. Kann ich wohl noch ſo fromm werden, wie Jda?
Jch. Du kannſt ſehr fromm und brav wer - den, wenn gleich nicht, wie Jda. Es können nicht alle Kinder ſeyn, wie Jda. Jedes muß auf ſeine Weiſe gut und brav ſeyn; du, wie Mathilde207 ſeyn kann, und Jda, wie es Jda am beſten geräth, und nur ſo iſt jedes am beſten. Jch wäre ungerecht, wenn ich dich ganz ſo,[wie]Jda, ha - ben wollte.
Jch ſah, wie das kleine Herz durch dieſe Worte getröſtet war. Gewiß, gewiß! es wirkt nichts mit ſolcher Allgewalt auf das Menſchenherz, als Liebe. Nun Mathilde einmal dafür empfänglich worden, iſt mir für ſie nicht bange mehr. Einen herrlichen Triumph werde ich haben, wenn es mir mit ihr ganz nach Wunſch gelingt. Wir thun jetzt für den Kornet, was zu thun iſt.
Lebe wohl!
Du willſt alſo Gertrud wieder haben, und kannſt ſie bei dem, was Dir bevorſteht, nicht ent - behren? Nun, es ſey! Wir werden uns nicht leicht von ihr trennen; aber uns iſt ſie nicht ſo nothwendig, wie Dir.
208Wir ſenden Dir alſo das brave Geſchöpf mit der Gelegenheit, die Du angewieſen, und bela - den ſie mit tauſend lieben Sachen für Dich.
Einen ſchönen Namen ſoll ich Dir ſenden für einen kleinen Fremdling? Nun, wenn es ein Knabe iſt, ſo heißt er von meinetwegen Herrmann. Jſt es ein Mädchen, ſo nenne ich ſie Virginia.
Unſere beiden Kinder ſind ſchon in Arbeit ge - ſetzt, und nähen und ſtricken gar fleißig, alles für einen kleinen Gaſt, der erwartet wird. Dieſe Jdee macht ſie ſehr froh. Viel nette Sachen ſind ſchon fertig. Gertrud wird alles mitbringen. Sie allein unter allen ihres Standes, die ich kenne, kann Dir ſeyn, was Du in Deiner Lage bedarfſt. Das arme Geſchöpf iſt recht in der Klemme zwi - ſchen der Sehnſucht nach Dir, und der treuen An - hänglichkeit an uns. Beſonders zärtlich wird Jda von ihr geliebt. Für Mathilde iſt es vielleicht gut, daß Gertrud geht. Sie hatten einmal kein Herz für einander. Mathilde fordert kalt und ohne Liebe, wenn gleich beſcheiden, von Gertrud, was209 ſie ihr thun ſoll. Gertrud, die an Jda’s Lieblich - keit gewöhnt iſt, nimmt das für Hochmuth von der Kleinen. Nun hat ſie ihr zwar nie harte Worte gegeben; aber es taugt nicht, wenn Men - ſchen, die ſich ſo nahe berühren, ohne Liebe neben einander ſind. Von jeder Verſtimmung kann man zurückkommen, ja vom Haſſe kann das Herz eher geneſen, als von der kalten Liebloſigkeit. Zu mir allein hat die arme Mathilde volles, kindliches Vertrauen. Mit mir muß ſie es auch nur zu ſchaf - fen haben, bis ihr Herz wieder geheilt, und Liebe ſein Element geworden iſt, in dem es ſich ſchön und frei bewegen mag.
Platov hat nach Z. geſchrieben, um Nachricht von dem Kornet einzuziehen. Er iſt ſchon wieder frei, iſt ſeiner großen Jugend wegen mit der Kaſſation verſchont, und wird ihm zur Bezahlung ſeiner Schulden, alle Monate vom Gehalt ein Ge - wißes abgezogen. Da hat nun Mathilde die beſte Gelegenheit, ihr Erſpartes zu brauchen. Sie hat es Platov ſchon gebracht, damit er es dem Kornet in ihrem Namen überſende. Jch habe der(27)210Kinder Wochengeld verdoppelt, um ſie in ſchöner Anwendung immer mehr zu üben. Auch ſoll Mathilde in ihrer Kommode bisweilen noch ein kleines Privatgeſchenk finden, ſo oft ſie eine be - ſondere Aufmunterung verdient hat, oder bedarf. Jn Jda’s Herzen kann keine mißfällige Regung deshalb entſtehen. Jhr Paul bedarf nicht mehr, als er eben bekommt. Durch die Zulage hat ſie ſo viel gewonnen, daß ſie auch Woldemar biswei - len eine Ueberraſchung machen kann. Und be - darf ſie mehr, ſo bin ich gewiß, ſie wird es ohne alles Bedenken von mir fodern. Dies Kind be - lohnen, wäre es zu einem gemeinen Geſchöpfe machen wollen: denn was es liebliches und herrliches thut, thut es auf Antrieb ſeiner ſchönen Natur. Gleich für die Zulage der beiden erſten Wochen hat ſie Roſa und graue Seide gekauft, zu einer Geldbörſe für den Bruder, die ſie ſo heimlich ſtrickt, daß außer mir und Gertrud und Mathil - de es niemand weiß. Er ſoll ſie zum Geburts - tage haben.
Wie kräftig Woldemar wird, wie fleißig, und wie ſich der nämliche Charakter ſo ſchön in211 ihm entwickelt, wird Platov Dir gewiß von Zeit zu Zeit berichten, und Gertrud’s mündliche Er - zählungen werden das Bild davon vollenden.
Die Gegenwart iſt ſo heiter. O blicke fröhlich in die Zukunft! Lebe wohl, Theure! Hiebei Jda’s erſter Brief. Er iſt noch fehlerhaft, aber dafür auch ganz ihr Werk, und mit unſäglicher Luſt ge - ſchrieben. Das mußt Du ihm anſehen. Noch einmal, lebe wohl!
Woldemar’s Geburtstag wird von den beiden Kindern ſehr nett begangen. Jda flocht’ am Mor - gen früh einen Blumenkranz, den ſie ganz be - hend über ſein Bild in unſerm Wohnzimmer hing. Jhre Geldbörſe und ein Brieflein dazu (das zweite, was ſie geſchrieben) ſchickte ſie durch Ger - trud. Und ſelbſt Mathilde hat eben ſo heimlich, für ein kleines Geldgeſchenk, das ich ihr vor acht Tagen machte, ihm ein nettes Schreibzeug ge -212 kauft, dieß brachte ſie nun ganz verſchämt hervor, und gab es der Gertrud mit. Es iſt das erſte Ge - ſchenk, welches ſie macht.
Woldemar kam geflogen, um ſeine unbändige Freude auszuſchütten. Er zerdrückte Jda faſt: auch gegen Mathilde war er ſchon ſeit einiger Zeit milder, und heute ſehr freundlich. Die Kinder waren wie Engel des Himmels mit einander. Platov hat ihm eine Uhr geſchenkt, wozu ich das Uhrband geſtrickt. Wie der närriſche Menſch ſo ſtolz damit auf und ab ging, und ſich unaufhör - lich beſah! — Jch hatte ihnen ein nettes Frühſtück bereitet. Das genoßen ſie in dem Muſikzimmer. Jda hatte ein Liedchen gelernt, welches ſie ihm nachher ſang. Haſt Du Jda’s Briefchen geleſen, Tante Selma? Jch hatte es nicht geleſen. Er reichte es mir. Und dies iſt ſein Jnhalt:
„ Du biſt ein herrlicher Bruder, und haſt Jda ſo lieb. Jda hat Dich aber gar ſehr lieb. O, wa -213 rum kann man denn das nicht ſagen, wie lieb man den andern hat! Jch dachte immer, wenn du nur erſt ſchreiben kannſt, dann willſt du es ihm wohl beſſer ſagen, als mit dem Munde; aber nun ſehe ich, daß ich es ſo auch nicht kann.
Aber ich freue mich ſehr, daß Du auf der Welt biſt, und daß ich auf der Welt bin, und daß ich Deine Schweſter bin, und Du mein Bruder; und ich kann mir das gar nicht vorſtellen, wenn Du nicht auf der Welt wärſt, und ich nicht. Jch denke, es müßte dann gar nicht hübſch ſeyn auf der Welt. Und worüber ſollte ſich die Mutter denn wohl freuen? Tante fragte mich neulich, ob ich auch wüßte, warum man den Geburtstag feierte? O ich wußt’ es wohl, warum man ihn feiert! Jch habe Dir eine Geldbörſe geſtrickt, nun mußt Du ja an Jda denken, ſo oft Du ſie herausziehſt. Jch habe ſo viel rothe Streifen darein geſtrickt, als liebe Geburtstage im Jahre fallen. Der erſte Streifen iſt Mutter ihr Ge - burtstag, das iſt der breiteſte, dann kommt Va - ter ſeiner, dann Deiner, dann Tante ihrer,214 aber Du wirſt wohl ſehen, wie ſie dann weiter folgen. Dies iſt mein zweiter Brief, lieber Wol - demar. Jch wüßte Dir noch wohl viel zu ſchrei - ben, wenn ich nur wüßte, wie ich es ſchreiben ſollte. Jch bin ſo ungeduldig, Dich zu ſehen, daß ich gar nicht mehr ſchreiben kann. Komm nur bald, Herzens Woldemar. ‟ —
Nun wußt’ ich erſt, warum das liebe Geſchöpf heute ſo früh aus dem Bette wollte. Jn einem angefeuchteten Tuche hatte ſie noch ein Kränzchen aufbewahrt, das legte ſie den Mittag um Wol - demar’s Trinkglas. Unter ſeiner Serviette fand er Deinen und Deines Mannes Briefe, die geſtern für ihn ankamen, da war er ganz felig.
Und wie er des Vaters Lob und Zufriedenheit las, glühete er über und über. Als er an die Worte kam: werde nur ein braver Menſch, und nicht zu weich, da ſah er Platov an, den er mit - leſen ließ, und fragte: bin ich es denn noch im - mer? der ſagte: noch wohl, mein Junger; aber das wird ſich ſchon geben. Lerne nur brav. Und215 bald machen wir eine Reiſe mit einander, da wird man kräftig.
Nun kam er an Deinen Brief, und wer ſehr weich ward, waren auſſer Woldemar, Platov und ich — wir alle. — O Du gute Mutter, wie biſt Du es werth, ſolche Kinder zu haben!
Nach Tiſch fuhren wir zuſammen nach der Buch - nau. Jch weiß nicht, ob Du dies reizende Thal je geſehen. Es liegt wie im Schooße zweier Ber - ge, oder vielmehr eines Berges mit zwei geſon - derten Gipfeln. Einer von dieſen Berggipfeln iſt mit den ſchönſten Buchen bewachſen, wovon ſich ein Theil bis unten in das Thal verliert. Hier liegen ungeheure Steine, die ſo behauen ſind, als ob ſie in der grauen Vorzeit zu Opferaltären gedient hätten. Ein anderer Theil des Gebirgs iſt nach der Süd - und Weſtſeite mit Weinreben Kaſtanien, Pfirſichen und Mandeln bepflanzt. Auf dieſem Fleck hat die üppige Vegetation des Lan - des ſich in ihrer höchſten Kraft und Fülle gezeigt.
Wohl iſt die Weinleſe noch nicht da; aber die Trauben reifen ſchon häufig. Die große Frucht -216 ebene vor uns grünte von neuem, wie im erſten Frühlingsſchmucke. Der Strom ſchlug ſeine Sil - berwellen ſtolz durch ſie hin, und wand ſich ge - waltig ſchäumend hindurch. Die Kinder füllten ihre Körbe mit Herbſtblumen, die hier in großer mannichfaltiger Menge wachſen. Jch ließ ihnen Früchte und Trauben aus dem Weinberge brin - gen, ſo viel ſie mochten. Mit Sonnenuntergang ſtiegen wir auf die Anhöhe hinter den Weinbergen in den Kaſtanienwald. O hätteſt Du nur eine Stunde mit uns ſeyn können! Es war ein un - ausſprechlich milder Reiz über die ganze Natur ausgegoſſen. Wie eingewurzelt ſtanden die Kin - der, als ſie die Sonne hinter das weſtliche Ge - birge verſinken ſahen. O dieſe Ruhe, dieſe Stille der herbſtlichen Natur, wie wirkt ſie ſo wohlthä - tig! Man fühlt ſich im tiefen Frieden mit dem Univerſum, wie mit den kleinſten Kreaturen. Kein Würmchen kann man dann zertreten, die ſtille Natur berührt uns ſo leiſe, und haucht das Heilige in uns ſo heimlich an. Kein Lüftchen und keine Leidenſchaft regt ſich.
Platov bot mir ſchweigend den Arm zum Her -217 abſteigen. Jedes ehrte das Schweigen des an - dern. Wir hatten unſern Wagen heim geſchickt, und wandelten gemach im Volllicht des Mondes nach Hauſe.
Gertrude reiſ’t morgen. Die bringt Dir dieſen und der Kinder Briefe. Auch Platov hat viel geſchrieben, wie er ſagt. An den Arbeiten der Kinder wirſt Du eine rechte Freude haben. Sie beweiſen Dir, was man mit einem Kinde aus - richten kann, ohne es ſehr anzugreifen. Denn fröhlichere Kinder ſah ich noch nie, als die unſ - rigen.
Gertrud bringt Dir das Maaß von allen Dreien mit. Du wirſt erſtaunen, wie ſie gewachſen ſind, ſeit Du ſie nicht geſehen. Jda wird recht ſchlank und grazienhaft in allen ihren Bewegungen. Und wir haben und brauchen noch immer keinen Tanz - meiſter. Sie hat einen gar lieblichen Gang. Ma -(28)218thilde drückt auch im Gange ihren eigenen Charak - ter aus. Und ob daran der Tanzmeiſter viel än - dern würde, wäre die Frage. Stolz, wie ihr gan - zes Weſen, iſt auch ihr Gang.
Vor einigen Tagen kam unſere Köchin vom Markte zu Hauſe, und ſagte mir leiſe, ſie habe den alten lahmen Paul betrunken auf der Straße liegen ſehen. Das habe ich lange gefürchtet.
Jch verbot ihr, es Jda zu ſagen. Am Sam - ſtage, als die Stunde kam, wo er ſein Wochen - geld abzuholen pflegt, blieb er aus. Jda war be - troffen darüber, und meynte, er müſſe durchaus krank ſeyn. Jch tröſtete ſie damit, das könne nicht ſeyn, weil ich ſeinen Hausleuten bedeutet, daß ſie uns Nachricht geben ſollten, wenn er ein - mal krank wäre und ſich nicht helfen könnte. Jda wollte ſich damit nicht zufrieden geben, und beſtand mit einer Heftigkeit, die ich ſonſt an ihr nicht kenne, auf der Bitte, daß ich die Magd hinſen - den möchte, um zu hören, warum er nicht gekom - men, und ihm das Geld zu bringen, im Fall er krank ſey.
219Jch gab nach. Die Magd kam wieder mit dem Beſcheide, er ſey nicht krank, könne aber nicht kommen, und wolle auch das Geld nicht. Dieſe Antwort betrübte das Kind ſehr, und ich ſelbſt war davon betroffen, obwohl ich anfing, zu ahnen, wie es damit ſey. Jch ſchickte noch einmal hin, und ließ ihm ſagen, er ſolle entweder heute kommen, wenn er nicht krank ſey, oder er werde Jda niemals wieder ſehen. Das half. Er kam; aber ſein Anblick ging mir durch die Seele. Be - ſchämt und verwirrt im höchſten Grade ſtand er vor mir. Es freute mich, daß Jda nicht gleich zugegen war.
Jch. Warum wollteſt du nicht kommen, Paul? Du haſt Jda ſehr betrübt.
Paul. Ach! weil ich mich vor dem Engel zu ſehr ſchämen müßte.
Jch. Was haſt du gemacht, Paul? Du machſt mich ganz unruhig. Sag’, was haſt du gethan?
Paul. Mein Gelübde habe ich gebrochen.
220Jch. Welches? Paul! Jch bitte dich, ſprich, ehe die Kleine kommt.
Paul. Das, was ich ſtill am Wagen that, als das Kind mir gebot, keinen Branntwein mehr zu trinken. Jch glaube, Gott hat es mir durch das Kind verboten. Und nun habe ich doch wie - der getrunken, und mich betrunken, und tolles Zeug gemacht, und wie ein Thier auf der Straße gelegen: Und das kann mir Gott nun nicht ver - geben, und Sie auch nicht.
Jch. Aber wollteſt du denn gar nicht wieder zu uns kommen, Paul? Das wäre doch nicht gut von dir. Du weißt, wie viel Jda auf dich hält.
Paul. Wie ich’s hätte aushalten können, weiß ich nicht. Nur das weiß ich, daß ich nicht eher kommen wollte, als bis ich mich recht abgeſtraft.
Jch. Aber, Paul, wo wollteſt du denn zu Eſſen hernehmen?
Paul. Jch wollte betteln; aber alle Tage nicht mehr, als ein Stück Brot, und dazu wollt’ ich Waſſer trinken. Und wenn ich dann den al -221 ten Leib recht abkaſteiet hätte, und gewiß gewußt, daß ich es nicht mehr thun könne, dann wäre ich vielleicht wieder gekommen, vielleicht wäre ich auch noch eher geſtorben, und das wäre mir ſehr gut geweſen. Hier iſt es doch nichts mehr für mich.
Jndem kam Jda geſprungen. O Paulchen! liebes Paulchen! biſt du wieder da? Wo biſt du denn geweſen? Und warum wollteſt du nicht kommen?
Paul. Ja, Fräulein Jda! ich bin wieder da; aber ich will Abſchied von Jhnen nehmen.
Jda. Abſchied, lieber Paul? Wir reiſen nicht weg; oder willſt du wegreiſen? Bleibe bei uns; ich weiß ja ſonſt nicht, wozu ich mich alle Sam - ſtage freuen ſoll.
Paul. Fräulein Jda, ich darf Sie nicht mehr ſehen, und darf Jhre Gabe nicht mehr anneh - men. Gott wird Jhnen alles vergelten; aber ich darf nichts mehr nehmen.
Jda. Was fehlt dir, Paul? Armer Paul, ſag’, was fehlt dir?
222Paul. Jch habe mein Gelübde gebrochen!
Jda. Wie meynſt du das? Jch verſtehe dich nicht. Was haſt du gebrochen?
Paul. Als ich an der Heerſtraße an Jhrem Wagen ſtand, und Sie mir ſagten: „ Trinke kei - nen ſolchen Trank, wovon die Leute toll werden ‟ da habe ich es Gott und Jhnen leiſe verſprochen, daß ich keinen Branntwein je wieder anrühren wollte. Und nun habe ich mich am Mittwoch be - trunken, und habe die Nacht auf der Straße ge - legen, und nun darf ich Sie nicht mehr lieb ha - ben, und Sie auch nicht, Jhr Gnaden, und ich weiß nicht ’mal, ob ich noch für Sie beten darf; denn Gott wird mein Gebet nicht erhören. Jetzt will ich gehen und faſten und ſterben, wenn Gott will. —
Jda weinte, daß ſie laut ſchluchzte. „ Willſt du denn gar nicht wieder kommen? ‟
Paul. Vielleicht, Fräulein, komme ich noch einmal wieder. Es iſt mir ja, als wenn ich in Gottes Himmel käme, wenn ich in Jhr Haus trete.
223Jda. O warte, armer Paul, warte —
Sie lief fort, leerte ihre kleine Kaſſe aus, lieh von Woldemar noch einmal ſo viel dazu, und brach - te es ihm. „ So nimm doch das noch, und kaufe dir Brot dafür. ‟
Paul. Nein, Fräulein! dieſe Gabe hebe ich zu Jhrem Andenken auf, und wenn ich ſterbe, können ſie mich davon begraben, damit ich doch wie andere Chriſten zur Ruhe komme.
Sie weinte ſehr, zog ihre goldene Tuchnadel aus dem Halstuche, ſah mich fragend an, und ſagte dann: „ Da, Paul, zum Andenken von Jda, die du ſo ſehr betrübt haſt. ‟ Der Alte nahm’s, ſtreck - te ſeine Hände nach dem Kinde aus, als wollt’ er es umfaſſen, ließ ſie ſinken, ſtammelte: „ Leben Sie wohl! ‟ — und machte ſich zum Hauſe hinaus.
Jda kam ſchmerzlich betrübt herauf, ſetzte ſich in ein Eckchen und weinte ſich recht ſatt. Wie ſie ruhiger geworden, erzählte ſie die ganze klägliche Geſchichte Mathilden, die jetzt mehr Theil an dem Alten nahm, als je zuvor.
224Die beiden Kinder ſaßen ſehr traulich in einem Fenſterbänkchen. Jch ſah, daß ſie viel nach mir hinſahen, als ob ſie etwas auf dem Herzen hät - ten. Mathilde ſtand zuerſt auf, trat zu mir, und ſagte: „ Tante, wir Beide haben dich etwas zu fragen. ‟
Jch. Was denn, Kinder? Setzt euch näher zu mir, und laßt mich hören.
Mathilde. Haſt du uns nicht geſagt, jeder Menſch, der nur recht wollte, könne immer ver - ſtändig und gut ſeyn? Jeder Menſch, ohne Aus - nahme?
Jch. Jeder, der recht von Herzen will, kann gut ſeyn, das habe ich geſagt, und ſo iſt es. Kein Menſch iſt je in der Nothwendigkeit, ſchlecht zu ſeyn.
Jda. Warum iſt denn nun Paul nicht gut? Hat der nicht recht von ganzem Herzen gewollt? O! ich kann das gar nicht begreifen.
Jch. Paul iſt nicht böſe. Die ſchlimme Ge - wohnheit iſt nur ſtärker, als er, und hat ihn, Gott weiß, wie? einmal wieder überraſcht.
225Jda. Geht denn das mehr guten Menſchen ſo, beſte Tante?
Jch. Ja, es geht mehr Menſchen ſo, die ei - nigen guten Willen haben, daß ſie doch verkehrt handeln können.
Mathilde. Ach, beſte Tante! ſo geht es mir ja auch. Kann man denn aber ganz ſchlecht wer - den, ſo lange man guten Willen behält?
Jch. Nein, liebe Mathilde! Aber wer recht gut werden will, muß früh anfangen, zu wol - len, und recht kräftig und immerfort zu wollen.
Jda. Und das hat Paul wohl nicht gethan?
Jch. Von Paul wollen wir hernach reden, liebes Herz! Mathilde hat noch eine Frage auf der Lippe.
Mathilde. Ja, beſte Tante! Jch wollte ſo gern wiſſen, ob das ganz meine Schuld iſt, daß ich oft ſo verkehrte Gedanken habe, und daß ich oft in mir ſo ärgerlich bin, und ſo mißvergnügt mit Allem. Ein andermal muß ich denn daſſelbe wieder lieben, was mir in den böſen Stunden ſo(29)226zuwider iſt. Wenn ich mich nicht ſo vor dir fürch - tete, ſo würde ich vielleicht auch gar Böſes thun.
Jch. Daß du dieſe Neigung in dir fühlſt, iſt nicht deine Schuld; es iſt ein Verſehen derer, die dich in deiner frühern Kindheit ſo gewöhnten, oder vielmehr verwöhnten.
Mathilde. Aber war denn das nicht ſchlimm von ihnen, mich ſo zu gewöhnen, wie man nicht ſeyn darf?
Jch. Es war Jrrthum. Sie meynten es gut mit dir, als ſie dir alle deinen Willen thaten, und alle deine nicht ſchönen Triebe ſo wild aufſchießen ließen: ſie dachten, du würdeſt dann immer zufrie - den und vergnügt ſeyn. Aber biſt du denn das immer geweſen, als alles geſchah, was du woll - teſt, und alle deine Triebe wild ausbrechen durften?
Mathilde. Nein, Tante Selma! Jch war noch viel öfter mißvergnügt, als bei dir; denn ich wollte oft etwas, das ſie gar nicht thun konnten: und es trieb mich zu Dingen, die ſie unmöglich leiden konnten. Dann ward mir gewehrt, das begriff ich dann nicht, und tobte und ward böſe,227 und that den Leuten zuwider, was ich nur konnte, um mich an dem Widerſtande zu rächen.
Jch. Nun du ſiehſt alſo, daß ſie dich zufrie - den und froh ſehen wollten, und ihre Abſicht ver - fehlten. Sie waren alſo bloß im Jrrthum.
Mathilde. Bin ich denn ganz ohne Schuld, daß ich ſo bin?
Jch. Das warſt du, ſo lange du nicht wuß - teſt, wie anders man ſeyn ſoll. Die Schuld fängt immer mit der Erkenntniß erſt an. Wer von dem Augenblick an, da er das Beſſere er - kannt und empfunden hat, es nicht mit ſeiner ganzen Kraft ergreift, iſt tadelnswerth, iſt ſtraf - bar. Frage die Stimme in dir, die du nun ſchon kennſt, ob es nicht ſo ſey?
Mathilde. (leiſe und beſchämt) So iſt es.
Jch. So iſt es, und ſo war es vom Anbeginn. Dieſelbe Stimme, die das aus deinem Jnnern ſpricht, ſpricht aus allen Gewiſſen eben ſo. Sie iſt des Menſchen Engel. Wer ihn ehrt, wird immer beſſer und beſſer.
228Mathilde. Aber wenn Paul nun ſo ernſt - lich wollte, ſich das Brantweintrinken abzuge - wöhnen, und nicht konnte, werde ich denn mir die Heftigkeit und die Verkehrtheit abgewöhnen können?
Jch. Glückliches Kind, du biſt noch ſo jung, da kann man alles, aber man muß das Schwere aus ganzer Kraft, muß es unaufhörlich wollen, ſonſt erreicht man es nicht.
Paul (ich wendete mich nun zu Jda) hat ſehr viel zu ſeiner Entſchuldigung. Er war Soldat. Wie geplagt ein Soldat iſt, habt ihr hören können, wenn Paul euch von ſeinen Kriegszügen erzählte. Da können die armen Menſchen ohne Brantwein faſt nicht fertig werden, und gewöhnen ſich alle daran. Und wenn ſie nicht zu viel trinken, ſo ſchadet er ihnen nicht. Er iſt ihnen vielmehr recht gut.
Jda. So durfte ja Paul nur ſo viel trinken, als ihm gut war, und dann aufhören.
229Jch. Das iſt eben das Schwere. Und weil Paul ſich das nicht zutraute, weil er wußte, wie leicht einer ſein rechtes Maaß verfehlt, und weil er vermuthlich ſich oft betrunken hatte, ſo that er an unſerm Wagen das Gelübde, gar keinen mehr zu trinken, und meynte es ſich dadurch un - möglich zu machen.
Jda. Das kann ich nicht recht begreifen. Wenn du uns Kindern bei Tiſche Wein gibſt, ſo trinken wir ihn gern; aber wenn du Woldemar bei Tiſche frägſt, ob er noch ein Glas wolle? ſagt er: liebe Tante, ich habe genug. Wenn Wol - demar nun das wiſſen kann, der noch ſo jung iſt, ſo mußt’ es ja der alte Paul noch viel beſſer wiſſen.
Jch. Jhr, guten Kinder, ſeyd daran gewöhnt, auf euer Maaß zu merken; ſo hat man aber Paul nicht erzogen. Und dennoch, liebe Jda, willſt du dich wohl erinnern, wie es dir an Woldemar’s Geburtstag mit den Weintrauben ging? Jch woll - te euch mit Fleiß den Tag euch ſelbſt überlaſſen, ich warnte dich nicht, als dir die Trauben gar zu gut ſchmeckten. Was folgte daraus?
230Jda. Jda hatte den andern Tag Magenweh und Kopfweh.
Jch. Wußteſt du es denn nicht, daß man auch von Obſt und Trauben zu viel eſſen kann?
Jda. (ſehr beſchämt) Doch, gute Tante, ich hat - te das ſchon ein Paarmal verſucht, aber die Trau - ben waren ſo ſüß, du warnteſt mich nicht, und ich eſſe ſie gar zu gern.
Jch. Sieh Kind, was für dich die Trauben und Kirſchen und Pfirſichen ſind, das ſind für Männer ſtarke Getränke. Was den einen reizt, reizt nicht immer den andern. Aber das, was uns mächtig reizt, iſt für uns das Gefährliche.
Jda. O Tante, laß doch den armen Paul wiederkommen, ich will ihn tröſten, ich will ihm ſagen, daß ich es mit den Trauben nicht beſſer gemacht, wie er mit dem Brantwein. O er ſoll, er muß wiederkommen.
Jch. Er wird nicht kommen, dazu iſt er mit ſich ſelbſt zu ſehr entzweit.
Jda. Aber warum iſt er denn ſo ſehr bös auf231 ſich? Du ſagteſt etwas vom Gelübde: was heißt das?
Jch. Wie ſich das Gelübde von einem jeden andern Vorſatz unterſcheidet, das kannſt du noch nicht ganz verſtehen, Liebe. Aber er zürnt mit ſich, weil er das Gelübde gebrochen. Wenn du älter biſt, ſprechen wir mehr davon. Den armen Paul müſſen wir für’s erſte ſich ſelbſt überlaſſen.
Jda. Liebe Tante, mir fällt dabei noch et - was ein.
Jch. Und was, mein gutes Kind? Sage.
Jda. Daß ich nicht mehr ſo bös ſeyn will, wenn ich Leute ſehe, die unvernünftig ſind, weil ſie zu viel getrunken haben.
Jch. Warum, Jda? Findeſt du es denn nicht mehr garſtig?
Jda. O wohl! aber ich kann mir es nun vor - ſtellen, wie das gekommen iſt, und daß einer ſich aus Verſehen betrunken haben kann.
Jch. Und wenn die Trauben eine eben ſolche Wirkung thäten?
232Jda ſprang zu mir herauf und hielt mir den Mund zu. O, bitte, bitte, liebe Tante, ſag das nicht aus. — (Wer hätte das auch ausſagen mö - gen!) —
Jch. Wir wollen alſo dem alten Paul nicht bös ſeyn, und niemand bös ſeyn, der ſo unglück - lich ſchwach geworden iſt, daß er ſeine guten Vorſätze nicht halten kann. Aber wir wollen ſtark werden, und das werden wir, wenn wir unſere Kräfte alle Tage verſuchen.
Sieh, liebe Emma, ſo hat mir der alte Paul ſchon oft genug Stoff zum Geſpräch mit den Kin - dern gegeben.
Alles Uebrige, was ich nicht ſchreiben kann, laß Dir Gertrud mündlich berichten, wenn ſie bei Dir iſt. O ſie wird recht viel zu erzählen ha - ben. Lebe wohl.
Recht lange habe ich mit meinen gewohnten Berichten diesmal inne halten müſſen. Gertrud233 war uns nothwendiger geworden, als ich ſelbſt wußte. Unſer kleines Hausweſen mußte faſt ganz neu organiſirt werden, ſeit dieſes Glied von der Kette abgelöſ’t war. Jetzt iſt alles wieder in Ord - nung; aber wir vermiſſen das treue Herz noch täglich. Froh bin ich indeſſen, daß ſie bei Dir iſt. Du bedurfteſt ihrer ungleich mehr wie wir.
Ehegeſtern überraſchte uns der trefliche Pfar - rer aus N. Er übergab mir ſein Clärchen (der Mutter Herzblatt) für den Winter. Da bringe ich Jhnen einen rohen Schelm, dem Sie aber doch werden gut ſeyn müſſen, ſagt’ er. Er blieb bis dieſen Nachmittag bei uns. Sein Beſuch war dem Hauſe eine liebe Erſcheinung. Clärchen iſt das Bild der guten, geſunden, ſtark ausge - prägten Natur. Als der Vater von uns ging, ſchluchzte ſie und weinte ihr Tuch ganz naß. Zwei Stunden nachher war ſie mit mir und den Kin - dern, als hätte ſie immer mit uns gelebt. Heute werd’ ich ſie förmlich bei uns in Schlaf - und Wohn - zimmer einrichten, und mein liebes Dreiblatt, ſo viel es thunlich iſt, in allen Stücken gleich(30)234machen, wie ich das durchaus nothwendig halte. Der Pfarrer iſt wohlhabend, und ſo wage ich nichts, und brauche keine Verwöhnung zu fürchten, wenn ich das Kind alles haben und genießen laſſe, was unſer frugales Leben gewährt.
Für Muſik und Tanz äußert ſie einen leiden - ſchaftlichen Hang. Wir haben bis zum Schla - fengehen muſizirt. Sie ſpielt ſchon ein wenig. Was ſie am ſtärkſten in der Muſik fühlt, iſt der Takt. Mathilde ſpielte eine Ecoſſoiſe, und ich ſah, wie Clärchens ganzes Weſen tanzte.
Jetzt werde ich einen Tanzmeiſter zu bekommen ſuchen, wie wir ihn haben müſſen. Sobald ich das Subjekt gefunden, das uns dienen kann, ſol - len die Tanzſtunden angehen. Woldemar nimmt die Stunden mit, ſo wird Wetteifer genug da ſeyn. An zwei Paaren iſt es für’s erſte genug; ich neh - me alſo keine Kinder aus der Nachbarſchaft dazu. Dennoch werde ich bei dieſem Unterrichte beſtändig gegenwärtig ſeyn. Es iſt nicht genug, daß der235 Tanzmeiſter ſeine Kunſt verſtehe, er muß ſie auch auf die rechte Weiſe mitzutheilen verſtehen. Nicht leichter hören Kinder auf, Kinder zu ſeyn, als beim Tanzunterricht. Wenn ſie da nicht als Kin - der behandelt werden, wenn ihre Unſchuld und Unbefangenheit da nicht reſpectirt wird, ſo ver - lieren wir oft den Preis der äußerſten Sorgfalt von zehn bis zwölf Jahren in wenig Stunden. Es entwickeln ſich da nicht nur Eitelkeit, ſondern ganz andere Gefühle und Begriffe, von denen wir wollten, daß ſie noch Jahre lang ſchliefen, und ſie ſchießen ſchnell und üppig auf, wie Treibhaus - pflanzen. Verlaß dich aber auf meine ſtrenge Wahl. Finde ich keinen Tanzmeiſter, der meine Anſichten faſſen und reſpectiren, und ſich der heil - loſen Tanzmeiſterkünſte, die Eitelkeit aufzuregen, enthalten kann: ſo nehme ich keinen, wenigſtens unternehme ich dann dieſe Sache nicht eher, als bis bei den Kindern ſo gut und ſicher vorgearbeitet iſt, daß ich nichts zu fürchten brauche. Glückli - cher Weiſe bedürfen unſere Kinder dieſer Aufhülfe der Kunſt zu einer ſchönen Haltung nicht. Die ſchönſte iſt doch wohl ohne Zweifel die leichte na -236 türliche abſichtloſe, in der ſich alle Regungen der Seele leicht und ungehindert ausdrücken können, die nichts Eckiges, Verbogenes noch Genirtes hat, kurz die, deren man ſich gar nicht bewußt iſt. — Sie iſt das angenehme Produkt einer ungeſtörten harmoniſch entfalteten Natur, und eine der ſchö - nen Belohnungen, womit eine naturgemäße Be - handlung der Kinder von der erſten Lebensperiode an uns erfreut.
Am vollkommenſten zeigt ſich bei unſern Kin - dern dieſe Naturgrazie in Jda, die in Anſehung der Haltung faſt gar keiner Erinnerung bedarf. Jn Mathildens Bewegungen, Gang, Haltung und ganzem Anſtande drückt ſich ihr heftiger Cha - rakter noch zu viel aus. Jſt der erſt noch mehr ge - mildert, ſo wird es ſich auch mit dem Ausdrucke deſſelben ſchon finden. Um Clärchens willen muß ich es eigentlich wünſchen, daß wir bald ein tüchtiges Subjekt finden. Sie hat gerade keine ſchlimmen Verwöhnungen der Haltung; aber ihre Manieren ſind etwas roh, und gränzen oft an das Bäuriſche. Und dem kann die Kunſt abhelfen, und ſoll es. Denn es thut einem weh, bei äuſ -237 ſerſt ſanften, gutartigen Menſchen einen unhol - den Gang und täppiſche Manieren zu ſehen; dem muß abgeholfen werden!
Lebe wohl!
Einen Klaviermeiſter will ich ihnen jetzt geben. Alle drei Kinder zeigen Trieb zur Muſik; der Wetteifer wird ſie ſpornen. Außer dem Klavier, worauf unſere Beiden ſchon artige kleine Fertig - keit erworben haben, und auch Clärchen ſchon geübt iſt, (der Vater hat ſie bis dahin unter - richtet) hat ſich jede von ihnen noch ein Jnſtru - ment gewählt, Mathilde die Harfe, Jda die Laute, Clärchen die Guittarre. Woldemar bläſ’t die Flöte und ſpielt die Violine. Da wirſt Du künftig eine artige Hauskapelle haben. Jda’s Stimme wird ſehr hübſch werden; auch hat ſie ein zartes Gehör und intonirt völlig rein; aber wie das ganze Weſen zart iſt, ſo iſt es auch die238 Stimme, und ſie darf durchaus im künſtlichen Singen nicht früh geübt werden. Mathildens Stimme iſt hart. Clärchens Stimme hat etwas von Mathildens Kraft und Jda’s Zartheit. Wenn wir jetzt des Morgens aus dem Schlafzimmer herunter kommen, ſo ſetze ich mich noch vor dem Frühſtück ans Klavier und ſpiele einen Morgen - pſalm, dann ſind die Kinder ſo gleich mir zur Seite und erheben ihre Stimmchen. Jſt der Ge - ſang geendigt, dann wird gefrühſtückt.
Die Stunde nach dem Frühſtück iſt — ja wie ſoll ich ſie nennen? — eine Verſtandes - und Ver - nunftübung. Jch gebe nemlich Worte, von de - nen ich eine Erklärung fodere. Geſtern war die erſte dieſer Stunden. Jch richtete an Clärchen die erſte Frage.
Jch. Liebes Clärchen, warum ſind wir hier beiſammen?
Clärchen. (ſehr raſch und fröhlich) Um etwas zu lernen, Tante Selma.
Jch. Was heißt aber lernen?
239Cl. Was lernen heißt? Ja, liebe Tante! Ler - nen heißt — ja, wie ſoll ich das ausdrücken?
Jch. Wie du kannſt, mein Kind, es braucht nicht ſo zu klingen, als wenn es ein Erwachſener ſagte. Wenn es nur ſo lautet, daß ich ſehe, du habeſt verſtanden, wovon die Rede iſt.
Cl. Lernen heißt: Ja das meine ich doch zu wiſſen — J! wie närriſch, daß ich das nicht ſagen kann.
Jch. Nun laß dir Zeit, gutes Kind. Wenn man ſich Zeit nimmt, und nachdenkt, ſo wird die dunkle Vorſtellung in uns deutlicher, und man kann ſie dann auch andern deutlicher wiedergeben.
Cl. Lernen heißt — (ungeduldig) O ich weiß es nicht, liebe Tante. Was ich doch ſo einfältig bin!
Jch ſah Mathilde und Jda an. Sie ſchwiegen beide.
Jch. Habt ihr noch nie etwas gelernt, Kinder?
(Alle drei auf einmal lachend? O ja, wir ler - nen ja alle Tage.
240Jch. Nun, Clärchen, nenne mir als Beiſpiel nur eine Sache, die du gelernt haſt.
Cl. Jch habe ja ſchreiben gelernt, und nähen, und kochen, und —
Jch. Und ehe du angefangen hatteſt zu lernen, wußteſt du da, wie man es machen muß, wenn man ſchreiben will? und nun vollends gut zu ſchreiben?
Cl. Nein. Jch ſah ſo oft die Briefe an, die mein Vater ſchrieb, und die er erhielt, und konn - te nicht begreifen, wie ſich die Gedanken auf’s Papier heften ließen, und dachte, ich würde das niemals können. Und wie ſich ganze Geſpräche ſo auf’s Papier bringen, und dann wieder able - ſen ließen, ich konnt’ und konnte das nicht faſſen.
Mathilde. Und ehe ich ſtricken konnte, war es mir durchaus unbegreiflich, wie dadurch ein Strumpf werden konnte, daß man die Strick - nadeln unaufhörlich in der Hand bewegt. Es ging das, wenn ich auch zuſah, ſo geſchwind, daß ich nichts davon begriff.
241Jda. O gerade ſo ging mir es mit dem Kla - vier. Wenn ich die Mütter ſo ſchnell ſpielen hör - te, und das ſo herrlich klang, da konnte ich es gar nicht faſſen, wie ſo viele Töne und Klänge immer wieder nur eins ausmachten. Wenn ſie dann hinaus war, ſchlich ich ans Klavier, und wollte das auch ſo machen wie ſie, und griff ge - waltig ins Klavier hinein. Aber das klang ab - ſcheulich.
Jch. Und als du nun ſchreiben lernteſt, Clärchen, wie war es da?
Cl. Ja da mußte ich erſt Buchſtaben nach - machen, hernach ſie zuſammenſetzen zu Sylben, dann zu Wörtern, dann mußt’ ich mehrere Wör - ter ſo zuſammenſetzen, daß ſie irgend einen Ge - danken ausdrückten, dann mehrere Gedanken zu - ſammen ordnen, ſo als ob ich zu jemand ſpräche, und da war, ehe ich michs verſah, ein Briefchen fertig, und ich konnt’ es begreifen, wie es gewor - den war.
Jch. Und du, Mathilde, als du Stricken lern - teſt, wie machte es deine Lehrmeiſterin?
(31)242Mathilde. Sie ſtrickte ſehr langſam, und ließ mich zuſehen, daß ich es begreifen konnte, wie ſie eine Maſche nach der andern durchzog, ei - ne Nadel nach der andern abſtrickte, und wie ei - ne Tour nach der andern herumkam; auch machte ſie ein Zeichen, wo ſie angefangen, ſo, daß ich ſehen konnte, wie die Arbeit zunahm. Dann ließ ſie mich verſuchen, die Maſchen durchzuziehen, die ſie aufgeſtochen, dann ſtrickte ſie eine Maſche und ich eine, ſie eine Nadel und ich eine; ſie ei - ne Tour und ich eine. So übte ſie mich eine Zeit - lang, bis ichs konnte. Und nun begreife ich es wieder nicht, wie es mir hat ſchwer werden können.
Jch. Jhr beide habt bei dieſem Lernen zweier - lei bemerkt, wovon ihr die Jdee des Lernens faſſen und feſthalten könnt.
Jda. Tante, darf ich es jetzt ſagen, was Lernen heißt? Bitte, laß mich es ſagen.
Jch. Nun Kind?
Jda. Es heißt, eine Sache, die wir erſt nicht verſtanden, ſo lange aufmerkſam anzuſchauen und243 feſtzuhalten, bis wir ſie verſtehen; und wenn wir ſie verſtanden, ſo lange üben, bis wir ſie ſelbſt machen können.
Jch. Nun, das iſt ſchon gut. (zu Mathilde) Sage du uns doch, Mathilde, iſt Sollen und Müſſen einerlei?
Mathilde. Nein, Tante Selma, das iſt nicht einerlei, wie es mir ſcheint.
Jch. Wie unterſcheideſt du das? Wenn’s nicht einerlei iſt, muß es ja zu unterſcheiden ſeyn.
Mathilde. Ja, den Unterſchied weiß ich nicht.
Jch. Nun ſo erkläre uns, was jedes von bei - den heiße; dann gibt es ſich mit dem Unterſchied von ſelbſt. Oder meynſt du nicht?
Mathilde. Das Müſſen werde ich wohl er - klären können, aber mit dem Sollen komme ich gewiß nicht zurecht.
Jch. Laß du uns hören, was Müſſen heiße;244 Jda oder Clärchen helfen uns dann mit dem Sol - len aus.
Mathilde. Jch muß jeden Augenblick Athem holen.
Jch. Warum mußt du, liebe Mathilde?
Mathilde. Es zwingt mich dazu. Jch kann es nicht unterlaſſen.
Jch. Was nennſt du mit dem Es?
Mathilde. Ja, das werde ich wieder nicht ſagen können.
Jch. Nun, ſo will ich es dir ſagen. Du meynſt damit einen Drang in deiner Natur, der ſtärker iſt als dein Wille. Dieſen nennen wir Nothwen - digkeit. Und ſich der Nothwendigkeit fügen, der man ſich nicht entziehen kann, heißt alſo?
Mathilde. Müſſen. Nun weiß ich es, und weiß es auch zu ſagen.
Jch. Und du, liebe Jda, haſt du auch wohl ſchon einmal gemußt?
245Jda. Ja, beſte Tante, ich muß ſehr oft, ich muß jeden Tag, jede Minute.
Jch. Zum Beiſpiel?
Jda. Als die liebe Gertrud neulich Morgens um 2 Uhr von uns ging, und du, liebſte Tante, aufbliebſt, um ſie abreiſen zu ſehen, da wollt’ ich auch aufbleiben; ich ſollte zu Bette gehen, aber ich bat dich ſo lange, bis du ſagteſt: nun wir wollen ſehen, ob du wach bleiben kannſt. Jch ſagte, das könnt’ ich gewiß. Um 10 Uhr war ich ſchon müde; ich plauderte immer fort mit Gertrud, da - mit ich munter würde. Nach 10 Uhr nickte ich im - mer ein; da wollte ich Klavierſpielen, dann wollte ich ſtricken, aber das half alles nichts. Jch mußte ſchlafen. Und als mir um 2 Uhr Gertrud noch einmal Adieu ſagte, konnte ſie mich kaum wach bringen. Und ſo iſt es mir oft ſchon gegangen.
Jch. Clärchen, gib uns auch ein Beiſpiel vom Müſſen.
Cl. Als ich neulich von Hauſe reiſ’te, wollte ich ganz luſtig und froh ſeyn, weil ich ja ſelbſt246 gewünſcht, zu dir zu kommen; denn ich wußte, wie du, liebe Tante, ſo gut biſt, und wie viel ich bei dir lernen würde; auch wollte ich deshalb nicht weinen, damit Mutter nicht weinen ſollte, und auch Betty nicht, denn ich kann ſie gar nicht weinen ſehen. Aber wie ich in den Wagen ſteigen ſollte, und mich Mutter und Schweſter noch ein - mal und noch einmal küßten, da mußte ich laut ſchluchzen, es hätte mir ſonſt das Herz zerdrückt. Und als der Vater mir hier Lebewohl ſagte, da ging es mir eben ſo: ich wußte ſehr gut, ich hätte nicht weinen ſollen, und der Vater ſagte mir auch unterwegs ſchon, ich ſollte ja vernünftig ſeyn, wenn er wegginge, aber ich mußte weinen, es half nichts. Bisweilen muß ich auch lachen, wenn ich etwas Komiſches ſehe oder höre, ich mag wollen oder nicht.
Jch. Nun, Kinder, ich ſehe ſchon, daß ihr ſehr gut wißt, was müſſen heißt; aber Clärchen ſprach vorhin das Wort ſollen aus, und ſo, daß ich glauben kann, ſie ſelbſt habe verſtanden, was ſie damit geſagt.
247Cl. Jch, liebe Tante? das weiß ich nicht mehr.
Jch. Du, mein Kind. Du erzählteſt, der Vater habe dir geſagt, du ſollteſt vernünf - tig ſeyn. Glaubteſt du das bloß, weil es der Vater ſagte? oder —
Cl. Nein, ich fühlte ſelbſt, daß ich ſollte, und daß jeder Menſch vernünftig ſeyn ſoll.
Jch. Warum ſagt man aber nicht, der Menſch muß vernünftig ſeyn? Warum heißt es, er ſoll?
Cl. Ja, es — o wie ſagteſt du noch, beſte Tante? Jch habe das Wort ſo gut begriffen, und es doch wieder verloren.
Jch. Die Nothwen —
Cl. Die Nothwendigkeit treibt uns ja nicht zum Vernünftigſeyn, wie zum Athemholen.
Jch. Und wie dich, Clärchen, zum Weinen, wenn du betrübt biſt, zum Lachen, wenn du et - was Komiſches ſiehſt oder hörſt, und Jda zum Schlafen, wenn ſie völlig müde iſt. Aber was fodert uns denn auf zum Vernünftigſeyn, wenn248 es nicht die Nothwendigkeit iſt? Jſt es die Liebe zu deinen Eltern, Clärchen, oder zu mir? oder —
Cl. Oft wohl, beſte Tante, aber nicht immer. Oft kommt es noch wo anders her. Jch weiß nicht wo — —
Mathilde. Ja, das möcht’ ich auch wiſſen, was das in mir iſt, das mir ſagt: du ſollſt vernünftig ſeyn, du ſollſt brav ſeyn, auch wenn Tante dich nicht ſieht, und| wenn dich niemand ſieht. Das iſt doch keine ſolche Nothwendigkeit.
Jda. O Tante, wie heißt das, was in uns ſpricht: du ſollſt, und du ſollſt nicht?
Jch. Die Menſchen haben das mit verſchiedenen Namen bezeichnet; aber wie ſie es auch nannten, Vernunft, oder Gewiſſen, oder das moraliſche Gefühl, oder Geſetz im Menſchen, ſie meynten immer dieſelbe Stimme in uns, die uns zum Gu - ten hinzieht, und vom Schlechten zurückhält, und der wir widerſtehen können, wenn wir wollen. Thun was wir müſſen, heißt alſo der Nothwen - digkeit unterliegen. Thun was wir ſollen, heißt,249 dieſer unbekannten Stimme in uns gehorchen, die ſo tief in uns wohnt und herrſcht, und doch auch wie aus einer andern Welt zu uns herüber ſpricht, die uns ſo heilig vorkommt, und immer heiliger, je treuer wir ihr folgen, ſo, daß wir ſie für Gottes Stimme erkennen müſſen. — Die Kinder waren höchſt vergnügt über ihre Stunde.
Bald werde ich Dir einmal wieder etwas aus einer andern mittheilen.
Für heute lebe wohl, theure Emma!
Die Nachrichten Deines Gemals haben uns alle in eine tumultuariſche Freude verſetzt. Jda kann ihr Glück gar nicht faſſen, daß ſie zwei Schweſterchen auf einmal bekommen. Hundert - mal des Tages fängt ſie davon an, und will es immer von neuem beſtätigt haben, daß dem auch wirklich ſo ſey.
Dein böſer Mann ſagt, er freue ſich, daß es(32)250zwei Mädchen ſind, und daß er alſo doch mit ei - nem Namen ſeinen Willen durchgeſetzt habe. Wäre es Knabe und Mädchen, ſo hätteſt Du auf Hermann und Virginia beſtanden. Nun aber ſoll das eine Mädchen eine Ruſſin werden, und deshalb habe er ſie Kathinka genannt.
Nun, ich bin es zufrieden. Kathinka klingt hübſch genug. Und Virginia iſt einmal mein Schützling. Wie freue ich mich, daß Gertrud bei Dir iſt. Wie wollteſt Du ohne einen ſolchen Beiſtand in dem ſehr verwickelten Verhältniß zu - recht kommen? Gattin und ſorgſame Mutter zweier Kleinen ſeyn, und in der großen Welt le - ben, und repräſentiren, das iſt ſchwer zu verei - nen. Aber mit Gertrud wird es gehen. Sie iſt durch die pädagogiſche Praxis auch zu Grund - ſätzen, oder ſoll ich lieber ſagen, zu einem ſchö - nen Jnſtinkt gekommen? Und dann die wahre Demuth, mit der ſie ſich helleren und ſicherern Einſichten unterwirft, ihre edle — nicht ſklavi - ſche Ergebung in den Willen, den ſie für den beſ - ſern erkennt — ich kann Dir nicht ſagen, wie251 werth ich ſie halte. Du kannſt völlig ruhig und ſicher bei ihr ſeyn, und Deines Mannes Auffode - rung zum geſellſchaftlichen Leben folgen, bis euch andere Zeiten wieder ein ſtilles Familienleben geſtatten.
Wie ſehr Dein Herz ſich dennoch nach Deutſch - land und Deinen hieſigen Kindern ſehne — das ließe ſich auch ohne Mutterherz empfinden.
Jetzt iſt Dir wenigſtens, was Du mir abtreten mußteſt, der Zahl nach erſetzt. Mit der näch - ſten Gelegenheit, ſchicke ich Dir meine ſchöne Virginia, mit dem geſenkten Blick, und den lan - gen Wimpern. Die hängt meine Freundin im Kinderſtübchen auf.
Für eine heilige Kathinka mag Dein Mann ſorgen, ich habe keine. Aber beide Kinder müß - ten billig ihre Vorbilder vor Augen haben.
So bald Du ſelbſt wieder ſchreiben darfſt, mußt Du mir ein ſo getreues Bild von ihnen252 machen, als es mit der Feder nur immer möglich iſt, damit ich ſie mir recht vorſtellen könne. Es iſt nicht genug, daß Du durch unſere Briefe mit uns fortlebſt, wir müſſen es eben ſo mit Dir können.
Jda hat faſt keinen andern Gedanken, als Virginia und Kathinka. Sie will jedem ein Kleid - chen ſtricken. Jch fürchte, ſie ermüdet über der zu großen Arbeit; aber ſie läßt nicht nach mit Bit - ten, und beſteht darauf, ſie werde es gewiß vol - lenden. Jch laſſe es alſo geſchehen. Mathilde will ein Kleidchen mit Blumen für Kathinka ſtik - ken. Kathinka klingt ihr ſo prächtig. Dieſe hat ſie ſich zum Liebling erwählt.
Clärchen will für Virginia arbeiten. Sie iſt halb närriſch vor Freuden, daß Virginia auch Clara heißt. Jda ſagt: Kathinka iſt meine herr - liche Schweſter, und Virginia meine ſchöne, mei - ne ſüße Schweſter. Das Geſchwätz der Kinder macht mir oft eigenes Vergnügen. Jch ſehe, daß jedes von ihnen ſich ein beſonderes Bild von jedem gemacht. Es wird nöthig ſeyn, daß du uns bald253 über die Kinder ſchreibſt. So wenig Unterſchei - dendes ſie auch jetzt noch haben mögen, ſo mache uns doch ja damit bekannt. Jch wollte nicht gern, daß das Jmaginations - Bild der Kinder von den Originalen zu ſehr abwiche.
Mir iſt es peinlich, daß ich nicht weiß, wie die beiden Kinder ausſehen. Deines Mannes Pinſel war gar tief in humoriſtiſche Farben getaucht; und doch müſſen wir etwas davon aufgenommen ha - ben, wie käme Jda ſonſt zu ihrer Charakteriſtik? Jn dem Klange des Namens allein kann es nicht liegen, daß ſie ſich unter Kathinka die ſtärkere, lebhaftere, und unter Virginia die ſanftere, zar - tere Schweſter denkt.
An dieſen beiden Kindern laſſen ſich bedeutende Erfahrungen machen. Wo, wie in dieſem Falle, ſonſt alle Umſtände gleich ſind, muß ſich die Verſchie - denheit der Jndividualität recht beſtimmt zeigen. Da ſie von einem Geſchlecht ſind, von einer Mutter zu gleicher Zeit unter einerlei mütterlichen Geſundheitszuſtand geboren, vom erſten Moment254 an nach völlig gleichen Grundſätzen behandelt, kann bei der etwaigen Verſchiedenheit, die an ihnen erſcheinen möchte, nichts auf Rechnung des Aeußern kommen; es muß rein perſonneller oder individueller Unterſchied ſeyn. Und dieſen zu be - obachten, iſt wichtig genug.
Jetzt muß ich alle 4 Wochen ſpäteſtens Nach - richt von Dir haben, damit die Beiden meiner Kunde nicht zu ſchnell entwachſen. — Wie uns Er - zieherinnen die Schulmeiſterei zum Bedürfniß werden kann!
Glaubſt Du wohl, daß ich mich ordentlich grä - me, bei Kathinka’s und Virginiens Erziehung nicht mitwirken zu können? Aber welch eine Zeit ſtehet uns bevor, wenn Du mit deinen jüngern Kindern wieder nach Deutſchland zurückkehrſt! — Auch Deinen D… wiederzuſehen, wird mir eine große Freude ſeyn, obgleich er mich oft reizt. Auch weiß es der Böſewicht, daß man ihm hold ſeyn muß. Mein Gott, welch ein Leben, wenn Jhr erſt wieder da ſeyd, und wir alle vereint ſind;255 denn getrennt dürfen wir dann nicht mehr ſeyn! Am meiſten frohlocken wird der Vater in ſeinem Sohne. Die ſchöne Milde dieſes Charakters mit dem Feuer, mit der Kraft vereint, muß den Va - ter entzücken. Woldemar lernt ſehr fleißig. Jm Frühling wird Herr von Platov eine bedeu - tende Fußreiſe mit ihm machen. Sie gehen wahr - ſcheinlich nach der Schweiz. Wenn ſie dann zu - rückkommen, ziehen ſie zu uns aufs Land. Unſer Landhäuschen in Neuenburg iſt ſehr hübſch ge - worden. Der Pfarrer Willich brachte mir neu - lich die Zeichnung davon mit. Der Pfarrer ſagt, er und ſeine Deborah würden dann allzuglücklich ſeyn, wenn der neue Pflanzort von uns erſt be - wohnt ſey, und ſie täglich mit uns ſeyn können.
Ach! Jch ſehe das Gewitter ſchon von fern herziehen, deſſen Blitz das Glück ſeines Lebens zertrümmern wird. Deborah kann nicht lange leben. Wohl gut, daß er es ſo ſicher nicht ahnet, wie ich. Deborah verbirgt ihm ihre Schwäche mit ſteter Anſtrengung. Doch vielleicht täuſcht mich auch meine Ahnung! Auch hoffe ich, daß256 uns noch wenigſtens der nächſte Sommer zum ruhigen Beifammenſeyn vergönnt wird. Dieſes Uebel pflegt nicht ſchnell mit dem Menſchen zu enden.
Lebe wohl!
Jetzt haben wir einen Tanzmeiſter. Er kommt wöchentlich zweimal. Und da keins von den Kindern irgend eine harte Verbiegung des Kör - pers hat, die zurecht gebracht werden müßte, ſo wird dies für den Anfang ſchon genug ſeyn. Die Stunden ſcheinen den Kindern lieb. Und der Mann ſcheint mir ein völlig unſchädlicher Menſch. Ganz verſtehen kann er mich nicht, aber er läßt ſich gern bedeuten, und das iſt ſchon gut.
Als Mr. Bretton zu erſt kam, fürchteten die Mädchen ſich ein wenig, und meynten, daß nun alles an ihnen anders ſeyn müſſe, beſonders Clär -257 chen: aber das gab ſich bald. Er weiſ’t ſie recht ſanft zurecht. Auch hat er das gewöhnliche Fade der franzöſiſchen Tanzmeiſter nicht. Jch nahm ihn, ehe die Stunden angingen, allein, und bat ihn, daß er ja keins von den Kindern auszeich - nen, keins auf Unkoſten des andern loben, oder dem andern zum Beiſpiel aufſtellen möchte, weil dies Loben nichts taugte, und es ſich mit dem Bei - ſpiel nehmen von ſelbſt finden würde. Sie wären ohnedieß gewohnt, das Vorzügliche an einander zu bemerken. Das wollt’ ihm erſt nicht einleuch - ten, er hatte noch die gewohnten Begriffe des effets étonnants d’une noble ému - lation. Jch konnte ihm nicht ganz begreiflich machen, daß der edle Wetteifer aus uns ſelbſt, aus eigenem innern Quell entſpringen müſſe, und Kindern voll Kraft und Feuer nicht gegeben wer - den könne noch dürfe, und daß er von dem eifer - ſüchtigen eingepredigten Streben, es dem Andern in allem gleich, oder zuvor zu thun, noch ſehr ver - ſchieden ſey. Daß das letztere mit Hochmuth, Ei - genſucht, Neid, oft ſehr nahe verwandt ſey, und der erſtere aus einem ſchönen Ehrtriebe ſtamme, der(33)258den Menſchen innerlich ſpornt, ſeine ganze Kraft zu verſuchen, und zu ſehen, was er vermag. Er begriff mich nicht ganz; aber er verſprach mir, ſich alles Lobens und alles Spornens zum Wetteifer zu enthalten.
Das hat er bis jetzt gethan. Mit Clärchen hat er es am ſauerſten: Füße, Arme und Rücken wollen ſich den Geſetzen ſeiner Grazie noch nicht fügen. Dazu iſt Clare ſtark von Knochenbau; aber es wird doch gehen. Sie iſt unermüdlich im Verſuchen. Jda und Woldemar brauchen der Zu - rechtweiſung ſehr wenig. Mathilde hat ihr ent - ſchiedenes Tactgefühl für ſich, und dabei keine ſchlimme, obgleich etwas ſteife Haltung, kurz es geht alles nach Wunſch. Meiſtens freuen ſie alle ſich, wenn die Stunde ſchlägt und ſie Mr. Bret - ton kommen hören. Nur geſtern wäre es bald ſchlimm abgelaufen.
Vor Tiſche trat ein Menſch in den Hof mit ei - nem Zug abgerichteter Hunde, er ließ mich fra - gen, ob er ihre Künſte zeigen ſolle. Mir iſt ſo259 etwas ſehr ekelhaft. Den Kindern war die ganze Sache neu, ſie konnten es ſich gar nicht vorſtellen, und baten, daß ich die Künſte machen ließe. Die Hunde waren wie Herren und Damen gekleidet, und die Damen verſchleiert. Zwei dieſer Tänzer und Tänzerinnen ſaßen in einer kleinen Chaiſe, ein Hund als Bedienter hinten auf. Zwei an - dere als Pferde vorgeſpannt. Die Kinder waren ſtark frappiert. Der Künſtler ließ die Tänzer aus - ſteigen, ſpielte auf, und der Tanz begann. Ma - thilde wollte ſich todt lachen, und verſuchte, den Hunden ihre kümmerliche Geſtalt und Geberden nach zu machen.
Die Hunde wurden müde, und wollten den Tanz nicht austanzen. Der Menſch ward wild; prügelte ſie unbarmherzig. Jda gerieth ins Wei - nen. Woldemar ſagte dem Menſchen, daß er ein garſtiger Menſch ſey, weil er nichts beſſeres ge - lernt, als Thiere zu quälen. Clärchen war ſchon lange weggelaufen. Jch ſchickte dem Menſchen etwas, und hieß ihn gehen, damit Woldemar ſich keine Händel zuziehen möchte. Bei Tiſche260 waren die Kinder nicht ſo vergnügt wie gewöhn - lich: zwiſchen Jda und Mathilde erſchien zum er - ſtenmale ein zu greller Kontraſt; Platov war nicht bei Tiſche und ich fühlte mich nicht geſtimmt, mit den Kindern über die Sache zu reden. Als es 4 ſchlug und Bretton kam, war Jda ver - ſchwunden. Nun müſſen ſie immer Anfangs in die Reihe treten, um das Kompliment zu ma - chen. Jda fehlte. „ Ou| est donc Mlle. Ida? est-elle malade? ‟ fragte Bret - ton. „ Non, Monsieur, elle se por - te bien; elle va dabord paroître. ‟ Jch ging hinaus, ſie zu ſuchen, und ſuchte lange, Sie hatte ſich oben hinter ihr Bett verſteckt, wo ich ſie endlich fand. — Jch war ſehr ernſt. — Was iſt das, Jda? fragte ich kalt. O liebe Tan - te, ich mag nicht mehr Tanzen lernen, nun ich die Hunde tanzen geſehen.
Jch. Das ſah wohl freilich garſtig aus, aber der Menſch ſieht ſchön aus, wenn er tanzt. Liebe Tante, Mathilde ſah heut nicht ſchön aus, wie ſie den Hunden nachtanzte: ich261 habe ſie noch nicht ſo unſchön geſehen. Wenn ich ſie oft ſo ſähe, wäre ſie gar nicht mehr meine liebe Mathilde. „ Nun, komm du nur herun - ter, jetzt wird ſie beſſer tanzen, und auch Clärchen und Woldemar tanzen ja gern. ‟ —
Jda. O Tante, laß mich nicht mehr tanzen, ich kann nicht mehr: ich werde immer die garſti - gen Hunde ſehen; bitte, bitte, laß mich nicht mehr tanzen lernen.
Lieb war mir der allzutiefe Eindruck des Ab - ſcheues nicht, der auf das Kind gemacht war, aber ich gab nach. Gut, Jda: du ſollſt nun nicht wieder tanzen, als bis du mich ſelbſt darum bit - teſt. Geh in’s Wohnzimmer, und übe dich un - terdeſſen auf dem Klavier. Jch ging wieder in den Tanzſaal. — „ Ida ne viendra pas, Mr. Bretton. ‟ — Jch erzählte ihm nun den Vorfall von heut Morgen, und wie er auf Jda gewirkt. „ Mais, Madame, c’en est trop, c’est caprice: il falloit pourtantvenir. ‟ — Jch ſagte ihm, daß262 ſie nicht eher wieder zur Stunde kommen würde, als bis jener Eindruck ſo weit ausgelöſcht ſey, daß ſie ſelbſt wünſche zu tanzen. Nun iſt denn freilich noch an keine Quadrille zu denken, die er bald zur Abwechſelung mit ihnen vornehmen woll - te. — Aber weg mit den Quadrillen und mit je - dem Tanz, ſo lange das Kind einen Abſcheu da - gegen hat.
Nur zu wenigen unumgänglich nöthigen Kunſt - fertigkeiten und Geſchicklichkeiten würde ich ein Kind mit Strenge anhalten. Muſik und Tanz muß jedem Kind erlaſſen werden, ſo lange es einen Widerwillen dagegen hat. Man führt zwar Bei - ſpiele an, wo Künſtler anfänglich durch Zwang und Härte zur Muſik angehalten, und doch ſtark wurden in der Kunſt. Jch habe ſolche Beiſpiele nicht erlebt, und wenn mir etwas ähnliches vor - käme, würde es mir nichts beweiſen, als daß es auch beim Zwang noch möglich bleibt, in einer Kunſt etwas zu thun. Was aber derſelbe Künſt - ler geworden wäre, wenn ſein Bildner die Zeit abgewartet hätte, wo der lebendige Trieb in ihm263 erwacht und von ſelbſt herausgebrochen wäre, wer beantwortet uns das?
Sehr froh bin ich aber, daß alle vier Kinder ſo früh einen gar regen Trieb zur Muſik haben. Jch würde viel entbehren, wenn es nicht ſo wäre. Wie es nun Jda mit dem Tanz gehen, ob die Luſt wiederkommen wird: ich wills eine Weile erwarten. Sollte bei Dir auch wohl Beſorgniß entſtehen, daß Jda durch dies Nachgeben wirk - lich eigenſinnig werden möchte? Doch nein, das kannſt Du nicht fürchten. Du weißt, wie into - lerant ich gegen den rechten Eigenſinn der Kinder bin. Sorge alſo nicht, liebſte Emma. Freilich werde ich nun ein wachſames Auge auf ihr Wol - len und Nichtwollen, auf ihre Neigung und Ab - neigung haben müſſen, und ſorgen, daß ihre Phantaſie nicht eine zu wichtige Rolle dabei ſpiele. Beharrt ſie bei dem Widerwillen gegen das Tan - zen, ſo werde ich die Kinder zuſammen einmal ins franzöſiſche Schauſpiel bringen, wenn ein Ballet gegeben wird. Das wird ſchon helfen.
Vom erſten Schauſpiel, welches ſie ſehen, er - zählt’ ich Dir noch nicht. Es war zu erwarten,264 daß es die Kinder ſehr anziehen mußte, und ſo erging es. Es ward Engel’s dankbarer Sohn gegeben. Die Kinder waren ganz verloren im An - blick des Stücks. Als der Sergeant ſo bramarba - ſirte, ſah ich es, wie es dem Woldemar krampf - haft in den Armen zuckte. Jch ſah ihn an. Tante, raunt’ er mir ins Ohr, ich möchte den Kerl beim Kragen faſſen, und ihn prügeln, daß er die ar - men Leute ſo ängſtigt. Nein, es iſt nicht auszu - halten! — Jda war ſehr ſtill; ſie ſchien ſich zu fürchten. — Clärchen war ſo andächtig, als ob ſie in der Kirche ſey. Der Brief des Sohnes rührte ſie ſehr tief. Auf Jda that das weniger Wirkung, weil ſie vom Unterſchied der Stände noch keinen Begriff hat; ſie ſchien die unmäßige Freude des Alten nicht faſſen zu können, daß der Sohn an des Königs Tafel geſpeiſ’t, und daß der König des Vaters Geſundheit getrunken. Sie meynte, das wäre ja nichts Beſonderes. Mathilde verſtand das ſehr gut, aber ſie fühlte beſonders das Komi - ſche in der bäueriſchen Freude des Alten. Als der Sohn wirklich auftrat, da weinten alle drey Mäd - chen in ſanfter Rührung.
265Woldemar ſeufzte vor ſtiller Luſt. Als nun aber die alte Mutter ſich vor dem vornehmen Sohn, und die Schweſter ſich vor dem Bruder Capitain fürchtete, da ſah ich wieder, wie beklommen Clär - chen ward; auch Mathilde fühlte das Schmerzliche in der Szene. Jda ſagte mir ins Ohr: Tante, das begreife ich nicht, warum ſie ſich fürchten. Und wenn Woldemar ein Prinz würde, oder ein Hofrath, oder ein General, ich wollte mich nicht vor ihm fürchten, er ſollte immer mein lieber Bru - der ſeyn. So äußerten die Kinder willkürlich und unwillkürlich dïe Eindrücke, die auf ſie ge - macht wurden.
Alle kamen höchſt zufrieden nach Hauſe; ihre Privatunterhaltung war einige Tage hindurch ein - zig über das Schauſpiel. Und wie es auf die rohe geſunde Natur überall wirkt, ſo wirkte es auch auf unſere Kleinen. — Wenn man für ſie Schau - ſpiele gibt, müſſen die Gegenſtände der Darſtel - lung aus ihrer Sphäre friſch und lebendig heraus - genommen, und nur ein wenig verſchönt ihnen dargeſtellt werden. Die höhere Kunſt, bei der es(34)266auf den Stoff wenig ankommt, iſt für die höhere Bildung: nur ſie kann ihren Werth fühlen. Dar - um muß Schiller’s Wilhelm Tell ein unglaublich größeres Publikum finden, von dem er begriffen werden kann, als die Jungfrau von Orleans. Denn Tell’s Charakter begreift jedes geſunde Menſchenherz; aber eine Erſcheinung wie die Jungfrau, die nur als Kunſtprodukt, und nir - gends in der Wirklichkeit exiſtirt, kann nur vom Künſtler oder von einem poetiſchen Gemüth ganz begriffen werden. Es iſt wohl gut, daß unſere Dichter ſo fürs Volk geſorgt haben, als ſie gethan; aber für die Kinder und die kindlichen Menſchen iſt noch ſehr wenig da. Doch, die könnens auch am erſten entbehren. Was ich nun die Kinder zunächſt ſehen laſſe, wird wohl der Edelknabe ſeyn. Der Kinder Hang zu dieſer Art Vergnügungen iſt un - glaublich groß. Jch werde ſie in dieſem Punkte nicht befriedigen können.
Lebe wohl, meine Emma!
Wie unſere Kinder Geographie lernen, davon bin ich Dir den Bericht noch immer ſchuldig ge - blieben. Woldemar hat ſeine Stunden beſonders, und die drei Mädchen auch. Als ich mit Jda und Mathilde hieher reiſ’te, machte ich ſie ſchon auf - merkſam, wie lange wir auf eine deutſche Meile zubrachten. Dies wiederholte ich bei unſern klei - nen Luſtreiſen; auch bei der Rückreiſe von N… Sie wußten ſich alſo die Länge einer deutſchen Meile recht gut vorzuſtellen. So oft wir weit genug ſpatzieren fuhren, ließ ich ſie die Grenzen unſers Stadtgebietes bemerken. Dann zeigte ich es ihnen auf der großen Charte von Deutſchland, dann wieder auf der Spezialcharte unſerer Pro - vinz. Nun macht’ ich ſie mit der Charte von Eu - ropa, dann mit dem Umfange unſers ganzen Erd - bodens bekannt, und da ſie wußten, wie viel eine Meile ſey, ſo konnten ſie ſich auch leicht die Aus - dehnung eines Landes von 20 Meilen Länge und 13 Meilen Breite denken. Da ſie unſere Pro - vinz der Breite nach durchreiſ’t waren, ſo ward es ihnen nicht ſchwer, wenn ſie ſie auf der Charte268 ſahen, ſich die andern daneben gleichfalls zu ver - ſinnlichen.
Jch merkte bald, daß dieſes Studium ihnen beſonderes Vergnügen gab. Jch fing nun an, ſie in jeder Provinz Deutſchlands zuerſt die Haupt - ſtädte aufſuchen zu laſſen, und ſich beſonders ihre Lage an den Flüſſen zu merken. Dann nahmen wir Gaspari’s Atlas vor, wo die Städte ohne Namen bloß durch kleine Zeichen angegeben ſind; hier müſſen ſie nun aus der Erinnerung mir die Namen der Hauptorte nennen. Wenn ſie dies eine Zeitlang geübt, dann ſollen ſie mir den gan - zen Atlas, Charte für Charte, nachzeichnen, und in ihrem gezeichneten die Namen eintragen. Auf dieſe Weiſe ſchreibt ſich ihnen die Sache unaus - löſchlich ins Gedächtniß. Zu einer andern Zeit ſollen ſie ſich mit dem Urſprunge und ganzen Laufe eines jeden Hauptfluſſes bekannt machen.
Mit der Länderkunde werden wir dann ſpäter eine Skizze der Geſchichte jedes Landes verbinden. Merkwürdige Thatſachen aus der alten und neuen269 Geſchichte erzähle ich ihnen gleichfalls, ſo oft ſie den Wunſch darnach äußern. — Bei dieſen Vor - bereitungen zum eigentlichen Studium der Ge - ſchichte muß es aber noch lange bleiben. Schlimm iſt es nur, daß man ſich die brauchbaren Bücher hiezu ſelbſt erſt ſchreiben müßte. An einer Welt - geſchichte für junge Mädchen fehlt es gänzlich. Zur eigenen Lectüre für die Kinder gibt es faſt nichts. Mangelsdorf’s Exempelbuch aus alter und neuer Zeit könnte ſchon dienen, wenn der Ton nicht gar zu rüde und roh wäre, den Mangels - dorf einmal angenommen. Und doch haben wir nichts beſſeres der Art, das für unſere Zeiten paßte.
Erziehen und zu gleicher Zeit die nöthigen Hülfsbücher ſchreiben, iſt einmal nicht ausführ - bar, und doch thät es ſo Noth, beſonders für die Geſchichte. Eine Weltgeſchichte für Kinder in Knittelverſen exiſtirt freilich; — aber ſollen denn unſere Kinder ſich am heitern Lebensmorgen ſchon in einer Knittelwelt glauben? Das ſollen ſie nie bis zum Lebensabend, hör’ ich Dich mit ſchönem Unwillen ſagen, und ſtimme von Herzen ein.
270Früh genug werden ſie die Menſchen und ſich bedauern müſſen, aber verachten — nein, das ſollen ſie nimmer! Alſo keine burleske Geſchichte menſchlicher Gebrechen. Zuerſt ſollen unſere Kin - der das Schöne und das Gute erkennen lernen. Die Schattenſeite von dem Weltgemälde kehren wir ſelbſt von der nämlichen Jugend fürs erſte noch ab. Kommt die Zeit, wo ſie ſtark genug iſt, auch dieſe zu ſehen — wohlan, ſo werde ſie ihr mit dem ganzen elegiſchen Ernſte gezeigt, der der Sache gebührt. Dieſer trauernde Ernſt ſoll all - mählig den flammenden Enthuſiasmus des heili - gen Jugendſinnes kühlen. Die Zeit des lächeln - den Spottes kommt ſpäter; noch ſpäter die des geiſelnden Satyrs; die — der höhnenden Perſi - flage darf niemals kommen, wenigſtens von deut - ſchem Boden bleibe ſie ewig fern!
Jn das weibliche Gemüth ſoll nie ein Satyr einkehren, ſelbſt der feinſte nicht.
Auch für die frömmſte weibliche Seele ſchlägt endlich die Stunde, wo ihr das Unſchuldsparadies271 der Kindheit geſchloſſen wird, wo die Menſchen und ihr Thun ihr in anderer Geſtalt erſcheinen, als ſie ſie am glücklichen Lebensmorgen erblickten. Dann trauert die ſchöne Seele; aber ſie richtet ſich wieder auf, hebt ſich höher, blickt nach dem Geſtade ferner Welten, und lernt das Leben und ſeine Finſterniſſe ſtill ertragen. Damit aber das Erwachen aus dem Unſchuldstraum ihnen nicht zu ſchrecklich und zu plötzlich komme, ſollen die unſrigen vom erſten Drama des Lebens, ſo wie ſie ſtark genug werden, einen Akt nach dem an - dern ſehen. O wer mir ein ſolches Geſchichts - buch ſchriebe, wie ich es mir denke! — Mangels - dorf’s Haus bedarf kann uns noch weniger als ſein Exempelbuch dienen, ſo ſehr es auch immer Bedürfniß bleibt. Einſtweilen muß ich einen Berg von Büchern zur Seite haben, aus denen ich nehmen kann, was ich jedesmal bedarf. Möch - te irgend ein fähiger weiblicher Kopf es ſich freund - lich geſagt ſeyn laſſen, einen ſolchen Auszug aus Geſchichte zu liefern, wie er für zwölf — ſechs - zehnjährige Mädchen zu brauchen wäre!
Für das Studium der Erdbeſchreibung iſt viel272 beſſer geſorgt. Und noch kürzlich ſind ſehr brauch - bare Charten von Europa erſchienen, zur Erler - nung der alten und neuen Geographie. Die wer - den uns ſpäterhin bei der eigentlichen Geſchichte trefliche Dienſte thun.
Was ich mir die Kinder dieſen Winter vorleſen laſſe? O das iſt ſehr wenig. Nicht geringe Freude machen ihnen Reiſebeſchreibungen. Aber ich laſſe ſie auch davon nur wenig zur Zeit leſen. Und ſind wir erſt wieder auf dem Lande, da wird es noch weniger werden. Jedes von den Kindern hat und bearbeitet dann ſein eigenes Gärtchen. Auch ſollen die Kinder dabei häuslichen Verrich - tungen helfen, und unter Deborah’s Aufſicht ganz eigentlich die Haushaltung lernen.
Wie ſehnt ſich Jda hinaus! Jn Deinem letz - ten Briefe fragteſt Du mich nach unſerm alten Paul. Er iſt nicht wieder gekommen. Jda hat ihm aber ſein Wochengeld jeden Samſtag hinge - ſchickt. Am letzten Samſtag brachte die Magd es zurück, und ſagte: er ſey verreiſ’t. Jch ſah es273 ihr an, daß er todt ſeyn müſſe. Dennoch war es mir lieb, daß ſie dies nicht laut ſagte. Noch wollt’ ich nicht gern, daß Jda einen Todten ſehen ſollte; am wenigſten den alten Paul, den ſie ſo lieb gehabt, und — deſſen Anblick in ſeiner tie - fen ſchmutzigen Armuth den Tod noch unäſtheti - ſcher macht, als er ohnedies ſchon iſt. So ein Todter muß der erſte nicht ſeyn, den die Kleine ſieht. Jch wußte alſo dem Mädchen für die verſchlei - erte Wahrheit Dank. So bald der arme Menſch begraben ſeyn wird, ſoll Jda wiſſen, wo er hin - gereiſ’t iſt. Doch werde ich über dieſe große Reiſe, die uns allen bevorſteht, noch wenig mit ihr re - den. Dazu muß ich noch eine andere Zeit ab - warten, wo ſie die Erſcheinung der ſichtbaren Welt und ibre unendlichen Umwandelungen ſchon von einem höheren Standpunkt überſchauet, und des Unſichtbaren Unendlichen ſchon tief in ſich ſelber gewiß worden. Bis dahin ſey es an der einfachen Erzählung, der Menſch iſt geſtorben, und ſein unbrauchbar gewordener Körper begraben, genug. Freilich wird ſie forſchen und fragen, aber ſie iſt es auch ſchon gewohnt, die Antwort auf(35)274manche Frage weiter hinaus geſetzt zu ſehen. Jch habe euch noch viel zu ſagen, ſagte der größ - te aller Menſchenbildner zu ſeinen rohen Jüngern, aber ihr könnet es jetzt noch nicht tragen. Die - ſes Wort ſollte beſonders uns Erziehern heilig ſeyn. Ein großes Wort muß in einem großen Moment geſprochen werden. So das Wort von der Unſterblichkeit. — Lebe wohl, liebſte Emma!
Zum erſtenmale waren die drei Kinder neulich mit mir im Konzerte. Jhre Erwartung war äuſ - ſerſt geſpannt. Und dennoch wurden ſie von dem Glanz der Lichter und von dem Putze der herrlich geſchmückten brillanten Welt überraſcht, als ſie hineintraten. Jch behielt ſie nahe an meiner Seite, damit ich den ganzen Eindruck wahrneh - men möchte, denn die Sache auf ſie machte.
Mehrere Damen aus der Stadt, denen unſere Erziehungsmethode ſeltſam vorgekommen, hielten275 ſtark auf uns, und waren äußerſt begierig, die Kinder in der Nähe zu ſehen, die ich bis jetzt von der eleganten Welt ſo fern gehalten hatte. Frei - lich kann ich mich dieſer Welt im Winter nicht ganz entziehen, und habe wöchentlich einmal Ge - ſellſchaft im Hauſe. So lange Gertrud bei uns war, ließ ich die Kinder während deſſen unter ihren Augen arbeiten. Seitdem die bei Dir iſt, überlaſſe ich die Kinder ſich ſelbſt, und ge - be ihnen für die Zeit eine beſtimmte Aufgabe. Beſuche ich dieſe Zirkel einmal außer meinem Hauſe, ſo laſſe ich auch dann die Kinder zu Hauſe. Dann iſt oft Herr von Platov ihr Mentor. So wurden ſie alſo von einer Welt des Scheines zu - rückgehalten, und werden es noch ferner, bis wir mit dem Seyn ein wenig feſten Boden unter uns fühlen. Das hat mir aber dieſe glänzende Welt nicht gut genommen, die ihre Sprößlinge nicht früh genug über die Kunſt, ſich zu geben, belehren kann. Es war noch früh, als wir ins Konzert kamen. Neugierig umringten uns die Damen meiner Bekanntſchaft, um, wie ich aus einiger Ferne ſchon flüſtern hörte, die Wunderkinder276 zu ſehen. Mathildens dreiſter freier Anſtand zog zuerſt die Blicke auf ſich. Man redete ſie franzöſiſch an: ſie faßte ſich ſchnell genug zur Antwort. Das Gefühl ihrer Geiſtesgegenwart that ihr ſelbſt wohl, ſie ward immer beherzter und antwortete recht verſtändig. — Die Damen ſahen einander an — Sie hatten vermuthlich von den Kindern jene ſcheue Blödigkeit erwartet, die freilich auch der Erfolg einer eingezogenen Kind - heit werden kann und werden muß, wenn man ihrem kindlichen Geiſte nicht auf eine andere Weiſe ſeine Freiheit bewahrt, als durch den öftern An - blick der großen Welt. Jetzt kam die Reihe an Clärchen, die rothbackigte Pfarrerstochter, wie ich ſie hinter mir nennen hörte.
Jhr Geſicht ſtrahlte von Geſundheit und Freude. Sind ſie zum erſtenmale im Konzert? fragte man ſie. Ja. — Wie gefällt es ihnen denn hier? — Das weiß ich noch nicht, war ihre Antwort, ich habe ja noch nichts gehört. — Aber wie gefallen ihnen die geputzten Leute? — O die habe ich noch nicht recht geſehen; ich kann ja vor lauter Licht277 nicht ſehen. — Die Damen lachten laut. Und was ſagt denn die Kleinſte? indem ſich einige an Jda wendeten. Warum hat die böſe Tante ihr Nichtchen nicht ſchon eher ins Konzert gebracht? Jda maß die Dame, die das Böſe ausſprach, mit großen Augen von oben bis unten. Dann trat ſie an mich: beſte Tante, was die Dame da ſagt, verſtehe ich gar nicht. — Die Dame weiß wohl nicht, wie lieb du mich haſt. — Die Worte des Kindes machten ſie betroffen.
Es war nicht böſe gemeynt, ſagte ſie. Nun trat jene Frau von Z … herzu, die Jda vor ſie - ben Jahren ſo ſehr bedauerte, daß ſie keinen Wein und keine Leckereien bekäme, und ſeitdem häufig geſtichelt hatte, über die ſeltſame Art Kin - der mitten in einer Stadt zu Einſiedlern zu er - ziehen: ſie beobachtete Jda ſcharf. Jda bemerkte es, ſchlug ihr liebes Auge verſchämt nieder, und fragte mich leiſe: warum ſieht die Dame mich ſo bös an? Jch ſagte halb laut: Die Damen meynen es alle nicht böſe mit uns, ſie wollen nur ſehen, ob ihr recht verſtändige Kinder ſeyd? Ein278 ſchönes, ſchönes Kind! hört’ ich ziemlich laut um uns flüſtern. Jndem trat unſere liebe R. herzu, die Dich und Deine Erziehungsmethode durch ei - nen Händedruck einſt in Schutz nahm. Jch bat ſie leiſe, ſich neben uns zu ſetzen, ſo daß wir bei - de die drei Kinder in der Mitte hatten. Clär - chen neben mir, dann Mathilde, und dann Jda neben Frau von R. Sie ließ ſich mit dem Kin - de ins Geſpräch ein. Jda war über meine Er - wartung zutraulich gegen ſie. Aber die Frau hat auch eine holde Freundlichkeit, und wie bald ha - ben Kinder das inne, zu wem ſie ein Herz faſſen dürfen! Sie fragte Jda mit Theilnahme nach un - ſerer gewohnten Lebensweiſe, und das Kind mal - te ſie ihr mit ſo lieblichen Farben vor, daß ich ſelbſt mit höchſtem Jntereſſe horchen mußte, denn ſo hatte ich das Kind ſein Jnnerſtes noch zu kei - nem Dritten ausſprechen hören. Die Damen, dicht hinter und vor uns, eben, die vorhin mit den Kindern geſprochen, und ſo wenig aus den beiden andern herausgebracht, wurden aufmerk - ſam. Jda bemerkte niemand, als die Dame, die mit ihr ſprach: Mit großem Feuer rühmte279 ſie unſern Sommeraufenthalt in N., und die lieben prächtigen Pfarrersleute. Clärchens Wan - gen brannten. Und dann ſprach Jda vom Bruder Woldemar und von ſeinem herrlichen Freunde. Frau v. R. war entzückt von dem Kinde.
Nun ging die Muſik an. Es war die Ouver - türe zum Don Juan, womit das Konzert anfing. Die Kinder waren hingeriſſen von der Gewalt des Mozard’ſchen Genius. Nun folgte ein Vio - linkonzert, das vortrefflich war, aber auf die Kin - der natürlich noch nicht ſeine volle Wirkung thun konnte. Dann kam eine Bravourarie von einer recht braven Sängerin geſungen, die ging aber auch noch ihr inneres Ohr vorbei. Jetzt folgte ein liebliches Duo, das freute die Kinder innig. Jch hatte es wohl einmal mit Platov geſungen. Es ward ſehr gut gemacht, und das Akkompagne - ment that, was es ſollte. Clärchens Lippen beb - ten vor Bereitſchaft, mit zu ſingen. Zuletzt ward eine blinde Künſtlerin zum Orcheſter hingeführt, wo ihre Harmonika ſtand. Jch hatte es verſäumt, die Kinder darauf vorzubereiten.
280Das wirkte zu ſtark. Selbſt Mathilde war ſo ergriffen, daß ſie zitterte. Clärchen ſchluchzte ſo laut, daß ich erinnern mußte, nicht zu ſtören. Jda zerfloß in ſtillem Trauern. Jch bat Frau v. R., ſich ſo zu ſetzen, daß ich unbemerkt mit den Kindern hinausſchlüpfen konnte. Sie deckte erſt unſern Rückzug, und kam dann ſelbſt nach.
Wohl hatte ich ſehr Unrecht gehabt, die Kinder ein ſolches Jnſtrument unvorbereitet hören zu laſ - ſen. — Es war ein ſchöner Märzabend, und Voll - mond. Wir ſpazierten noch ein Weilchen an der Esplanade längs dem Fluſſe, und kamen heiter und ſanft bewegt nach Hauſe. — Zu Hauſe mußte ich den Kindern noch eine Beſchreibung von der Harmonica geben. Dann wollten ſie auch wiſſen, wo und wie man ſolche Jnſtrumente mache.
Jda fragte endlich, wer ſich dies himmliſche Jnſtrument zuerſt ausgedacht? Jch nannte ihr den Erfinder, und führte ſie zu der ſchönen Büſte des ehrwürdigen Alten, die ich ſeit kurzem beſitze. Auf den folgenden Tag verſprach ich den Kindern die Lebensgeſchichte des merkwürdigen Mannes.
281Noch ſpät am Abend machte ich ihnen aus der bekannten Lebensgeſchichte Franklin’s einen Aus - zug, wie er für ſie dienlich ſeyn konnte. Während der Bearbeitung, die mir Freude machte, kam mir der Gedanke, ihnen überhaupt von merkwür - digen Menſchen aller Art kleine Biographieen zu entwerfen, und ſie ihnen zur Schreibübung zu dictiren. Das ſetzt mich freilich in Arbeit, aber es macht den Kindern auch große Freude, und übt ſie, außer dem Hauptbenefiz, ſo ſie davon haben, auch noch unvermerkt im Schreiben.
Jhre Freude an der Muſik iſt durch dies Konzerk merklich erhöhet. Jhre Klavierſtunde können ſie kaum erwarten. Selbſt zu dem eigenen Ueben brauche ich jetzt nur wenig anzufeuern. Für dieſen Winter war dies das letzte Konzert. Jn wenig Wochen ziehen wir aufs Land, Aber auch da ſoll die Muſik ernſtlich fortgeſetzt werden, wie über - haupt die Künſte. Denen iſt ja die Ruhe des Landlebens ſo gedeihlich.
Lebe wohl, beſte Emma!
Von einer unſerer Uebungsſtunden ſprach ich Dir bis jetzt noch nicht. Sie heißt bei den Kindern die poetiſche Stunde, und wird wöchentlich ein - mal, auch mehrmal gehalten, nachdem ich mich dazu geſtimmt fühle. Die Stunde beginnt da - mit, daß jedes der Kinder ein ſelbſtgewähltes auswendig gelerntes Lied oder eine Fabel herſagt, welches ihnen zuvor, wo ſie es nicht verſtanden, erklärt worden. Dann leſe oder ſpreche ich es ihnen vor, und helfe dem Mangel der Declamation ab, d. h. ich gebe ihnen die richtigere an, wo die Kinder ſie verfehlt; doch declamire ich mit äußer - ſter Mäßigung des Affekts, damit ſie ja keinen Ausdruck einſtudieren, der über die Wahrheit des Eindrucks hinaus gehet, den das Gedicht auf ſie gemacht haben kann. Getadelt wird keins, und wenn es auch, wie Clärchen, noch ſo fehlerhaft declamirte, und faſt nur Rythmus und Reim hören ließe. Getadelt wird weder zu ſchwacher noch zu ſtarker Ausdruck; nur durch Vorleſen wird es kor - rigirt: und ſo bleiben ſie immer bey froher Laune in dieſer Stunde. Clärchen, die allzufeſt am283 Reime hält (welcher gewöhnlich rohen Ohren be - ſonders wohlthut), bekommt nun faſt immer reim - loſe Gedichte zur Aufgabe. Haben ſie hergeſagt, dann ſagt mir jedes, was ihm an dem oder dem Stück beſonders gefällt. Zuletzt ſage ich ihnen auch mein Urtheil, wenn es ſich nemlich in ihrem Geiſt und ihrer Sprache abfaſſen läßt. Dann leſe ich ihnen aus einem größern Gedichte, oder auch ein kleines Ganzes vor. Jn der vorletzten Stunde hatten wir Hector’s Abſchied aus Voß’ens Ueber - ſetzung der Jlias. O wie waren die Kleinen ſo ganz hingegeben. Solcher Stellen in der Odyſſee und Jlias gibt es nicht wenige, die der kindliche Geiſt faſſen kann, ohne zu ſtark exaltirt zu wer - den. Ein andermal nehmen wir wieder ein Ges - ner’ſches Jdillchen. — Ganz gegen den gewohnten Gebrauch finde ich in den eigentlich klaſſiſchen Dich - tern viel mehr der Kindheit angemeſſenes, als in unſern Kinderpoeſieen. Selbſt in der Meſſiade gibt es Szenen, die ein rein kindliches Kind faſſen und in Herz und Sinn aufnehmen kann.
O wie die Kinder dieſe Stunde lieben! Mir ſelbſt iſt ſie heilig; ich gebe ſie nicht, wenn ich zu -284 vor von allzufremdartigen Dingen befangen wurde. Jn der letzten Stunde hatte Jda „ Kennſt du das Land ‟ gelernt. Du kennſt einen nicht kleinen Hang zur ſüßen Schwärmerei in dem Kinde. Das Lied und ſein ſchwermüthiger Geiſt hatte ſich ihrer ſtark bemächtigt. Sie hatte es ſelbſt gewählt, als ſie es in einem meiner Notenbücher mit Zelter’s Com - poſition geſehen, und hatte von niemanden ein erklärendes Wort darüber gehört, und doch drückte ſie es wirklich ſchön und höchſt rührend aus. Aber wie ſpricht ſich auch das Sehnen nach dem unbekannten Lande, deſſen Verheißung wir alle im Buſen tragen, in dieſer Sehnſucht Mi - gnon’s nach Jtalien ſo wunderbar hinreißend aus? Wie fließt beides in einander! Es lockt der Dich - ter das Herz aus ſeinem behaglichen, bequemen Frieden mit ſeiner Alltagswelt heraus nach jenem Zauberlande hin, das ſchon in dämmernder Frühe des Lebens uns aus der tiefſten Ferne anſtrahlt. „ Erzähle uns doch etwas, liebe Tante, von der armen kleinen Mignon, die ſo gern nach dem ſchönen Lande hinwollte. ‟
Jch erzählte ihnen, wie das Kind, als es noch285 ſehr klein war, vor dem Schloſſe ſeiner Eltern oft geſpielt, ſich einmal verlaufen habe, dann von Räubern entführt worden, und in ein fremdes kälteres, rauheres Land gebracht, durch Härte zu allerlei peinlichen, unnatürlichen Anſtrengungen ihrer Glieder gezwungen worden. Wie ſie dann von ihren Räubern immer weiter umhergeſchleppt, und wie ſie bei allem Herumziehen das ſchöne Mutterland nie ganz vergeſſen, es immer im Her - zen behalten, und wie ſie mit ihrem Herzen ſich immer ſehnſüchtiger danach hingewendet, je wei - ter die böſen Menſchen ſie davon entfernt hatten. Dann erzählt’ ich ihr, wie ſie endlich ſo viel Kraft und Muth gewonnen, ſich den Mißhandlungen ihrer Tyrannen zu entziehen, und ſich einem freundlichen ſanften Manne anzuvertrauen, der ſie von ihren böſen Herren befreit, zu ſich genom - men, hübſch gekleidet und väterlich verſorgt habe, und wie ſie ihn ſo heiß, ſo innig geliebt, und ihm ſo willig gehorcht, wie aber dennoch die Sehn - ſucht nach dem ſchönen warmen Mutterlande ſie immer wieder hingezogen, die ihr auch das herr - liche Lied eingegeben. Wie endlich ihr väterlicher286 Freund ſie zu einer treflichen Freundin gebracht, welche Natalia hieß, wo ſie an Geiſt, Herz und Leibe mit ſchöner zarter Liebe gepflegt, dennoch vor Sehnſucht vergangen ſey, und nun in dem un - bekannten Lande wohne, das viel herrlicher ſey, als Jtalien. O wie die Kinder horchten! Wie ſie die arme Mignon lieben! Wie viel Fragen wurden noch gethan! Alle Drei fragten faſt im - mer zugleich, und wollten immer noch mehr wiſ - ſen von der Geſchichte. Beſonders Jda und Clär - chen waren unerſchöpflich in Fragen nach dem ſchönen Lande. Am meiſten beſchäftigten ſie die dunkeln Wolkenſtege der Berge, die dahin füh - ren. Jch mußte ihnen nun von der Schweiz und Tyrol und den Alpen erzählen. Gern bekenne ich Dir, daß das keine geographiſche Belehrung wur - de, (die läßt ſich ein andermal nachholen;) ich ließ meine und der Kinder Phantaſie walten, malt’ ihnen das herrliche Schweizerland mit den leben - digſten Farben, beſchrieb ihnen den Gotthard und die Jungfrau, das Schreckhorn, den Furka und das Wetterhorn. Seitdem wollen ſie durch - aus hin. Oft beſprechen ſie ſich untereinander,287 wie ſie es wohl anfangen möchten, mich zu bereden, daß ich eine Reiſe mit ihnen nach der Schweiz und — wohl gar, nach Jtalien machte? Jetzt weißt Du ohngefähr, durch welche Mittel Deine Freundin den poetiſchen Sinn in unſern Kindern zu entfalten ſucht. Alle Drei freuen ſich der Stun - de, und können ſie faſt nicht erwarten. Heiterer und lebendiger ſind ſie nie. Jede Störung dieſer Stunde, und wäre ſie auch die angenehmſte, kommt ihnen ungelegen. Fürchte aber nicht, daß der Hang zur ſüßen poetiſchen Schwermuth über - wiegend bei ihnen werde. Die Proſa des Lebens wird ſchon ihr Recht behaupten.
Zur nächſten Stunde hat Mathilde den Per - lenkranz von Pfeffel zur Aufgabe. Clärchen hat Hölty’s Elegie auf ein Landmädchen gewählt, Jda, Bürger’s Blümchen Wunderhold. Erklärt wird ihnen von den gewählten oder aufgegebenen Stücken nie alles unverſtanden. Mehrere dunkele Stellen werden ihnen zum eigenen Nach - ſinnen ſo dunkel überlaſſen. Jede hat ein weiſ - ſes Buch. Jn dieſes wird ihnen zum Preiſe ein288 noch unbekanntes Gedicht, oder eine Stelle aus einem größeren eingeſchrieben, wenn ſie das Ge - lernte gut herſagen. So bekommen ſie ſelbſt eine kleine Sammlung für ſich, wie es keine gedruckte gibt, noch geben kann. Jn der ſchönen Jahrs - zeit wird dieſe Stunde im Freien gehalten, dar - nach ein Spaziergang gemacht, damit die ange - ſchlagenen Saiten ſanft und ſchön verklingen. Oft gehet dann dieſe Stunde in eine botaniſche über, oder ſonſt in eine naturhiſtoriſche. Oft wird auch über den moraliſchen oder äſthetiſchen Gehalt der geleſenen Gedichte unterwegs noch weiter geſprochen. Oft erzähle ich ihnen, während wir umherſchweifen, oder auf ſchönen Plätzen aus - ruhen, einzelne Züge aus der Geſchichte, und laſſe ſie mir am andern Tage von ihnen wieder erzählen.
Mit faſt ſtolzer Freude ſehe ich, wie ſich Geiſt, Sinn und Körper bei den drei Mädchen ſo herr - lich entfalten. Krank war noch keine. Und ſo verſchieden die Kinder auch ſeyn mögen, ſo iſt doch eine ſolche Jnnigkeit der Liebe unter ihnen, daß289 ich mich oft ſelbſt in meine eigene Kindheit zurück - ſehnen muß, damit ich ihr Kinderleben mit ihnen theilen und in dieſer Wechſelliebe mit ihnen le - ben möchte. Beſonders ſchön iſt das Verhältniß, ſeit Clärchen zwiſchen Jda und Mathilde ſteht. Dieſe rohe kerngeſunde Natur einigt die ſchön gebildete Natur Jda’s und die theils verwilder - te, theils verbogene in Mathilde und ſteht als Mittlerin zwiſchen beiden. Sehr viel würden un - ſere Kinder verlieren, wenn Clärchen uns wieder verließe. Vater und Mutter wünſchen, daß ich nun die Aelteſte auf eine Zeitlang ſtatt Clärchen aufnehme. Aber ich kann es faſt nicht. Auch wärs Schade um Clärchen: es ſteht alles bei ihr in ſo ſchöner Blüthe. Wäre Deborah nicht ſo ſchwach, und bedürfte des Beiſtandes im Hauſe, ſo ſollten beide Pfarrerskinder mit einander bei uns ſeyn. Auch Betty iſt ein ſehr bildungs - fähiges Kind. Aber das muß nicht ſeyn. Betty muß fürs erſte nicht von der Mutter gehen. Und Clärchen darf in der Ausbildung nicht unter - brochen werden. Auch iſt ſie ſchon faſt unzer - trennlich mit uns verflochten.
Wie ſoll ich Dir danken, geliebte Emma! Da liegt es vor mir, das liebliche Bild Deiner Virgi - nia und Kathinka. O ſage, wie heißt der Maler, der die Engelsunſchuld der erſten Kindheit ſo auffaſ - ſen, ſo perſonifizirt hinzaubern konnte? Albano muß er heißen.
Die Kinder ſind erſt ſechs Monate alt, und welche Bedeutung in den Zügen! Wie verſchieden ſchon von einander bei ſo großer Aehnlichkeit! Als ich das Bild ausgepackt, und von der erſten Freude daran zu mir gekommen, hing ich es dem Sopha gegenüber, und ließ die Kinder kommen.
Jhre Freude war unglaublich groß. Jda er - kannte ſo gleich Virginia. „ O die ſüße freund - liche Virginia! Wie ſie die kleinen Händchen ausſtreckt nach Kathinka! ‟ — Mathilde: Und wie die ſchöne Kathinka lacht! Was ſie für große Augen hat, und ſchon ſo prächtiges Haar! ‟ — Clärchen: Und Virginia ſo ſchöne Löckchen und ein ſo kleines rundes Händchen! — Jda: Aber ſieh291 doch nur den ſüßen Mund! Jſt es nicht, als ob ſie Kathinka küſſen wollte? ‟ — So ſchwärmten die Kinder über das Bild — und ging es mir etwa beſ - ſer? Und wie nun auch Woldemar kam, der war ganz außer ſich. „ O die allerliebſten himmliſchen Kinder! O Tante, Tante, ſind das meine Schwe - ſtern? ‟ — Wie Du meinen Wünſchen ſo ſchön zu - vorgeeilt, liebe Emma! Faſt möcht’ ich ſagen, Du dürfteſt dem Schickſal nicht mehr zürnen, daß es Deine beiden älteſten Kinder ſo von Dir ge - trennt — und auch ſo lange wie es ſcheint. Wie ſchönen Erſatz hat es Dir gegeben! Nun können wir unſere Erziehungsberichte gegen einander austauſchen. Nicht wenig wird es mich intereſ - ſiren, die Verſchiedenheit in den beiden Kindern zu bemerken. O ſage mir alles, was Du unter - ſcheidendes an dieſen Kindern, in ihrer innern und äußern Entwickelung wahrnimmſt. Jda iſt ſo glücklich, daß ſie die Schweſterchen nun kennt, als ob ſie ſie wirklich geſehen hätte. Doch dies war auch faſt nothwendig.
Jn wenig Tagen werden uns Platov und Woldemar verlaſſen. Sie haben eine ſo große292 Reiſe vor, daß leicht der Sommer ganz darüber hingehen kann. Jch finde den Plan ſo gut, den Platov entworfen, daß ich nichts dagegen ſagen darf, ſo ſchmerzlich uns allen die Trennung auch ſeyn wird. Jn ſehr gemächlichen kleinen Tage - reiſen wollen ſie Deutſchland in mancher Rich - tung durchziehen, und an den merkwürdigſten Orten ſo lange verweilen, als für Woldemar nö - thig iſt, ſich eine mehr als oberflächliche Kenntniß zu erwerben. Dieſe Art, Geographie zu ſtudieren, iſt allerdings die vollſtändigſte, und ſehr inſtrucktiv. Jn Sprachen hat der kleine Menſch in den drei - zehn Monaten unter Platov’s Leitung recht viel gethan. Auch will er dieſes Studium ſelbſt un - terwegs bei dem jedesmaligen Aufenthalt an merkwürdigen Orten noch immer mit Woldemar fortſetzen. Die Uebungen in der Muſik werden dabei ein wenig hintangeſetzt werden: doch, das läßt ſich im nächſten Winter nachholen. Dafür können ſie auch unterwegs Virtuoſen hören, wie wir ſie hier nicht haben.
Aus jedem bedeutenden Orte wollen ſie uns ſchreiben. Die Briefe werden zuerſt uns geſandt,293 weil wir im Mittelpunkte wohnen, ich ſende ſie Dir dann zu. Und ſo braucht der Beobachtungs - geiſt ſich keinen Zwang anzuthun durch Wieder - holungen. Jch freue mich auf dieſes Journal herz - lich. Es verſteht ſich, daß auch die Werkſtätte der Künſtler und Handwerker häufig von ihnen beſucht werden. Der Plan iſt aber ſo weit um - faſſend, daß er vermuthlich mehrere Sommer aus - füllen wird. So wie Woldemar Deutſchland in jeder bedeutenden Beziehung kennen lernen ſoll, werden ſie damit in zwei Sommern nicht fertig.
Und dann ſollen doch auch andere Länder an die Reihe kommen. Doch, das laſſe ich der Männer Sorge ſeyn. Und beide, Vater und Mentor ſchei - nen völlig einverſtanden über jeden Punkt. Sehr gut finde ich es aber, daß wenigſtens noch auf ein Paar Jahre ordentlich ins Winterquartier zu uns gezogen wird. So werden ſich auch die Geſchwi - ſter nicht fremd, wovon der Gedanke allein ſchmerz - lich iſt, und wir haben wenigſtens auf einige Mo - nate die Freude ihres Umgangs.
Für den Reiſekoffer, der den beiden Wande -294 rern immer auf der Poſt nachfolgen wird, haben unſere drei Mädchen recht fleißig gearbeitet.
Wie viel iſt da geſtrickt und genäht worden! Auch mit ſchönen Geldbörſen ſind die Reiſenden aufs neue verſorgt worden.
Seit zwei Monaten ließen ſich die Kinder Morgens eine Stunde früher wecken, um recht viel fertig zu ſchaffen. Der Wetteifer unter ih - nen war erſtaunlich. Geſtern, als alles fertig war, baten ſich die drei die Erlaubniß aus, ihre Arbeiten ſelbſt unten in den Koffer packen zu dür - fen; jedes practizierte noch ein kleines Privat - Andenken ſo liſtig mit hinein, als ob es die ſchlimm - ſte Kontrebande ſey.
Jda hatte das Löckchen von ihrem Haar abge - ſchnitten, mit dem Woldemar faſt immer ſpielte, hatte es ſauber in ein Papierchen gewickelt und darauf geſchrieben: Woldemar’s Locke. Clärchen hatte mit ächt kindlichem Landwitz ein Vergiß - meinnicht gezeichnet, und drunter geſchrieben:295 Dein Clärchen. Mathilde in einem höhern Styl hat einen Tempel der Freundſchaft zum Symbol ihrer Anſprüche an ſein Andenken gewählt.
Dieſe Sachen ſollt’ er unterwegs erſt finden. Die Jdee macht ſie ſehr glücklich. Sie wispern untereinander oft davon.
Nun ſind ſie auch dabei, ein hübſches Porte - feuille für Platov zu ſticken, und ſind unermüdet, damit es noch fertig werde.
Unſer Familienleben verliert wirklich viel durch die beiden. Auch deshalb werde ich eilen, daß wir aufs Land kommen, auf daß meine lieben Mädchen den Einfluß des männlichen Geiſtes auf den ihrigen nicht ganz entbehren. So ſehr ich auch überzeugt bin, daß das weibliche Herz vom weiblichen Herzen, und ſelbſt der Geiſt vom ver - wandten Geiſte gebildet und alles im Weibe in ſeinen Tiefen weiblich gerichtet ſeyn müſſe: ſo gewiß bin ich auch, daß ohne alle Einwirkung des männlichen Geiſtes und Sinnes unſere Bil -296 dung nicht zu ihrer Vollendung gedeihen könne. Auch hat das die Natur bei ihren Veranſtaltun - gen nicht vergeſſen. Und bliebe alles unter den Menſchen, wie ſie es geordnet hat, ſo iſt ſicher keine vollkommenere Erziehung erdenkbar, als die in der Eltern Hauſe, im Schooße der eigenen Familie. Wo die aber durch Schickſal oder Un - fähigkeit der Eltern unmöglich wird, da muß die Fremde der Familienerziehung ſich ſo weit möglich nähern, beſonders die weibliche. Das Mädchenherz kann ohne zarte Mutterpflege nim - mer gedeihen. Sein Geiſt kann ſtark werden, ohne Mutterliebe.
Aber wer hat gefallen an der weiblichen Kraft, als Kraft? Wendet ſich nicht alles weg von ihr, ſo bald ſie ohne Milde erſcheint, und ohne zarte Jnnigkeit der Liebe? Doch, damit die Milde nicht Schwäche, die Liebe nicht Krankheit ſey im Wei - be, ſonne ſein Geiſt ſich an der männlichen Kraft, und ſein Herz ſtähle ſich im Verkehr mit der fe - ſteren ſelbſt rauheren Natur.
Hiebei erinnere ich mich einer Unterredung mit unſerm Pfarrer in N. Das Geſpräch war297 ohngefähr des nemlichen Jnhaltes, und begann ſo: Bis zu unſerer nähern Bekanntſchaft habe er gar ſchwer an gute Erziehung fremder Kinder glauben können; er habe aus dem Grunde ſie faſt für unmöglich gehalten, weil das junge Herz (beſonders des Mädchens), aus der warmen Fa - milienliebe herausgeriſſen, nothwendig erkalten und ſich gewöhnen müſſe, ohne Liebe zu leben. Gut, ſagt’ ich, ſo gebe man die Kinder, die nicht von ihren Eltern und nicht unter ihren Augen erzogen werden können, in eine gute Familie, daß ſie bei dieſer wiederfinden, was die Eltern einmal nicht geben können.
Dies geſchieht ja auch mit Knaben und Mäd - chen, war ſeine Antwort. Aber laſſen Sie uns fürs erſte beſtimmt bei der Mädchen-Erziehung bleiben, von der ich in meiner Jdee ausging. Eine Art, wie ich mir die Erziehung ſolcher jun - gen Mädchen dachte, war in einer der gewöhnlichen Penſionen, wo die Vorſteherin der Anſtalt ent - weder verheirathet, und Mutter einer eigenen kleinen Familie, oder Wittwe, oder überall un -(38)298verheirathet iſt. Eine andere iſt die Erziehung in einer Familie, die kein Geſchäft aus der Er - ziehung fremder Kinder macht, welche Sie, mei - ne Freundin, ganz unbedingt anrathen.
Bleiben wir fürs erſte bei den Penſionen, welche Sie, wie ich Jhnen oft angemerkt, für ein Uebel halten, das nicht mehr zu den noth - wendigen gehören ſollte.
Jch. Das iſt wirklich mein Glaubensbekennt - niß über die Sache.
Der Pfarrer. So lange es aber noch noth - wendig iſt, welches würden Sie für das zu wäh - lende kleinſte Uebel halten: ſoll die Vorſteherin lieber noch verheirathet und ſelbſt Mutter, oder ſoll ſie Wittwe oder ganz unverheirathet ſeyn? Jn allen dieſen Fällen finden ſich Hinterniſſe.
Jch. Jch wähle das erſte, wenn ich wählen muß.
Pfarrer. Und ich das zweite.
Jch. Jhre Gründe, lieber Freund?
Pfarrer. Jſt die verheirathete Erzieherin299 auch recht glücklich, aber noch jung, und hat oder hofft ein Häuflein eigener Kinder um ſich: können Sie dann von ihr erwarten, daß in einem Her - zen, vom geliebten Manne ganz bewohnt, deſſen Liebe faſt nur eigene Kinder theilen können, auch noch Raum für fremde Kinder ſey? Kön - nen Sie erwarten, daß die Mutter ſich für frem - de Kinder ſo aufopfernd hingeben werde, wie für die eigenen? Jſt das nicht möglich, ſo muß alſo nothwendig eine eigne Rangordnung in der Liebe entſtehen: und was wirkt dieſe in des frem - den Kindes Seele?
Jch. Das iſt eine der ſchlimmſten Seiten die - ſes Verhältniſſes, vielleicht die ſchlimmſte.
Pfarrer. Vielleicht auch nicht; denn es bleibt auch noch möglich, daß ein reiches weibliches Ge - müth Liebe und Erbarmen für viele habe, und daß Klugheit und Güte die erbarmende Liebe zum Fremdling in die Geſtalt der Mutterliebe ſo zu kleiden wiſſe, daß die Kinder des Unterſchiedes nicht wahrnehmen. Aber Sie wiſſen beſſer, als ein Mann es Jhnen ſagen kann, was die Natur300 dem verheiratheten Weibe alles auflegt, und wie unfähig ihr phyſiſcher Zuſtand ſie oft macht, für die eigenen noch unerzogenen Kinder zu ſorgen. Da muß denn irgend eine gute Tante, Schweſter oder Freundin Stellvertreterin werden. Und die Eltern, die ihr Kind der jungen Mutter anver - traut hatten, müſſen in ſolchem Fall dies Ver - trauen erſt wieder auf eine andere Perſon über - tragen. Aber wir hatten das glücklichſte Ver - hältniß dieſer erziehenden Familie angenommen: laſſen Sie uns einmal ein nicht glückliches dage - gen ſetzen, wo beide Ehegatten aus dem Rauſche einer Leidenſchaft für einander erwacht, jetzt gleichgültig geworden, wo der Eheherr ſein Recht als Herr des Hauſes in aller Strenge ausübt, und der Erzieherin die Hände durchaus gebunden ſind — wie dann? wofür wird ſie noch ſtehen kön - nen, auch wenn ſie ſelbſt noch ſo vortreflich wäre? Oder haben wir etwa keine Beiſpiele, daß die an Geiſt und Herzen trefliche Gattin in den erſten Jahren ihres Eheſtandes jenen äußerlichen Reitz verliert, der den ſinnlichen Mann allein zu ihr hingezogen hatte? Und haben wir keine Beiſpiele,301 daß auch ein Paar recht treflicher Menſchen ſich auf eine Zeitlang oder auf immer total mißver - ſtehen, beſonders, wenn ſie durch Selbſttäuſchung oder durch Zwang von Umſtänden, ohne eigent - liche Wahl des Herzens, zu einander gekommen?
Jch. Aber Sie nehmen ſchlimme Fälle an, lie - ber Freund.
Pfarrer. Und doch gehören ſie nicht eben zu den ſeltenſten. Ein vollkommen glückliches Ver - hältniß in der Ehe iſt gewiß keine alltägliche Er - ſcheinung. Und ſehr gut müßte dies häusliche Verhältniß doch ſeyn, wenn es der Erziehung fremder Kinder nicht nachtheilig ſeyn ſollte — und ſo nachtheilig, daß das Benefiz des Familienle - bens leicht dadurch aufgewogen werden dürfte.
Jch. So darf ja ein nicht glückliches Paar auch ſeine eigenen Sprößlinge nicht aufziehen, lieber Freund.
Pfarrer. Wenn das Verhältniß recht ſchlimm iſt, darf es das nicht. Und wenn übrigens gute Menſchen die traurige Entdeckung gemacht, daß302 ſie ſich in der Wahl des Lebensgenoſſen total ge - irrt, ſo iſt die größte Wohlthat, die ſie ihren Kin - dern erweiſen können, die, ſie von ſich und ihrem Mißverhältniß zu entfernen, damit ſie nie Zeuge der Mißſtimmung werden mögen, zwiſchen Per - ſonen, die ihnen gleich theuer ſeyn ſollten, weil das unausbleiblich ſchlimme Wirkung auf den Charakter thut. Und dennoch haben dieſe un - glücklichen Sprößlinge einer eigentlichen Mesalli - ance doch noch das zu erwarten, daß ſie von dem einen oder andern, vom Vater oder von der Mutter, vielleicht von beiden geliebt werden. Aber denken Sie ſich ein ſo unglückliches Menſchenpaar, das fremde Kinder erziehen wollte —: wo ſollte da das Weib, auch wenn ſie der beſſere leidende Theil wäre, den Muth, und wo die heitere Liebe her - nehmen, die ſie den anvertrauten Kindern ſchul - dig iſt?
Jch. Nun, ſo ſey denn die Erzieherin lieber nicht mehr jung, habe ihre eigenen Kinder ſchon groß gezogen, und fange mit den fremden ein zweites Familienleben an, aber nur ſey ſie verhei -303 rathet, damit die fremden Kinder immer in männ - licher und weiblicher Umgebung zugleich ſind, und immer am warmen Strahl der Familienliebe ſich ſonnen.
Pfarrer. Welch ein Jdeal von weiblicher ausdauernder Energie fodern Sie, meine Freun - din! Nennen Sie mir ein lebendes Weib unter allen die Sie kennen, das, wenn es die Aufgabe ſeines Lebens ſchon ſo ganz gelöſ’t, noch Geiſtes - und Gemüthskraft genug hätte, ſo ein zweites noch ſchwereres Tagewerk zu beginnen, und — zu enden.
Jch. Nun dann muß es freilich die Wittwe oder Jungfrau ſeyn, die ſich noch in der Blüthe des Lebens dem Berufe, für Adoptivkinder zu leben, ganz ausſchließend hingebe.
Pfarrer. Und, Witwe oder Jungfrau, muß ſie eines oder das andere freiwillig ſeyn, muß ſich mit dem Schickſal völ - lig abgefunden haben, und mit freiem Gei - ſte über Leidenſchaft, Wunſch und Hoff - nung in dieſer Rückſicht ſich erheben können.
304Jch. Sie fodern viel, mein Freund.
Pfarrer. Und ich leſe in Jhrem Jnnern die noch ſtrengern Foderungen: ich weiß, daß Sie mir zürnen würden, wenn ich weniger von Jh - rem Geſchlecht erwartete. Denn Sie wollen auch, daß die Erzieherin ein Herz habe, das der zarte - ſten, innigſten, glühendſten Liebe empfänglich ſey, und daß nun der ganze Reichthum dieſes Herzens zur Mutterliebe für die Adoptivkinder geworden ſey, die ſich nur durch den Mangel des Naturtriebes zu dieſen angenommenen Kindern von der gewöhn - lichen Mutterliebe unterſcheide, und die das in - nige Erbarmen gegen die Schwachheit mit weiſer Beſonnenheit immerdar verſchmelze, daß es nie in Schwäche ausarten möge.
Jch. Jch weiß nicht, Freund, ob Sie mein Gemüth durch Jhre uns ehrende Anſicht beſtochen haben: ich fühle mich überwältigt, und darf Jh - nen nichts mehr entgegen ſetzen. Nur das noch, daß ich ohne alle männliche Hülfe ungern Mäd - chen erziehen möchte.
Pfarrer. Aber ſo engherzig wollen wir auch305 unſer Jdeal von Erzieherin nicht haben. Sie ſoll alles anerkennen, was ihr männliche Hülfe ſeyn kann; ſie ſoll vornemlich den wiſſenſchaftlichen Unterricht, den auch Jhr Geſchlecht nicht ganz entbehren kann, lieber einem Manne anvertrauen, auch wenn ſie alle nöthige Kentniſſe beſäße, um ihn ſelbſt zu geben; denn alle Verſtandeskultur ſoll vom Manne ausgehen. Eins aber ſoll ſie ſich vorbehalten, und darf es ſich unter keiner Bedingung nehmen laſſen: das iſt der unmittel - bare Einfluß auf die Entwickelung des eigentlichen Charakters, der Weiblichkeit, des Zartgefühls.
Jch. Wie Sie mir aus der Seele ſprechen! Wer mir hier eingreifen wollte, würde mir ver - wundend ans Herz greifen. Aber was die wiſſen - ſchaftliche Bildung betrift, wie ſehr iſt da aller männliche Unterricht vorzuziehen. Wie ſo ganz anders, wie viel heller, klarer, tiefer iſt der Blick des männlichen Geiſtes! Oft wenn ich in irgend einer Sache recht eigentlich zu Hauſe zu ſeyn meynte, und mir ſelbſt das Zeugniß gab, ich könne ſie auch treflich vortragen: ſo durfte nur(39)306ein Mann von mäßigen Fähigkeiten kommen, und über denſelben Gegenſtand ſich auslaſſen, um mich völlig aus dem Traume zu reißen.
Pfarrer. Und dies Erkennen iſt weibliche Größe.
Jch. Weil wir nur durch demüthiges Gefühl unſers Unvermögens etwas ſeyn können?
Pfarrer. Nicht alſo, meine Freundin. Nur das Erkennen und Unterſcheiden ihres Gebietes von dem Männlichen macht das Weib zu dem Höchſten, was es ſeyn kann. Vergebens würden wir nach ihrer leichten liebenswürdigen Schnell - kraft des Geiſtes ringen. Vergebens ſtreben ſie nach der Tiefe, nach der Jdeenverkettung, nach dem Zuſammenhang und der Ordnung im Den - ken, die jede ernſte Wiſſenſchaft fodert. Und da - rum kann nur der Mann den weiblichen Geiſt zur Ordnung im Denken, und zum eigentlichen Wiſſen führen; aber darum kann auch das kind - liche Herz nur am weiblichen Herzen gedeihen. Und darum kann der zarte weibliche Sinn nur vom Weibe entfaltet werden. Alle Mädchen,307 die, unter Knaben, von Männern auferzogen wurden, behielten minder oder mehr ihr lebenlang etwas Unweibliches an ſich.
Jch. Setzen Sie aber auch hinzu, daß Wei - ber, die unter lauter Weibern aufwuchſen, z. B. in Klöſtern, in ſehr zahlreichen Penſionsanſtal - ten, von dem weiblichen Kleinigkeitsgeiſte bald ganz und gar beherrſcht worden, und ihm ſpäter - hin nie mehr entrinnen mögen. Es gibt nichts elenderes, als dieſen weiblichen Kleingeiſt.
Pfarrer. Das iſt die unausbleibliche Folge ſolcher Einſeitigkeit des Lebens. So wie die Män - ner, die lange oder immer ohne den wohlthäti - gen Einfluß Jhres Geſchlechts leben, dafür mit der jämmerlichſten Pedanterei geſtraft werden. Das iſt die Rache der beleidigten Natur.
Das Uebrige dieſes Geſprächs iſt mir entfallen. Mir war aber in dieſer Stunde theils durch eig - nes Ausſprechen meiner Gedanken, theils durch des Pfarrers Anſichten manches klarer und ent - ſchiedener über dieſen Punkt geworden, worüber ich bis dahin nicht auf dem Reinen war, wie ichs308 denn überhaupt fühle, daß eines ſolches Mannes Umgang nicht anders als gewinnreich für uns ſeyn kann. Und welche Seele die Götter lieben, der ſchenken ſie einen Freund, wie ich ihn an die - ſem Pfarrer habe.
Lebe wohl!
Unſere beiden lieben Hausgenoſſen ſind fort, und es iſt die höchſte Zeit, daß auch wir uns fortmachen. Das Haus iſt uns zur Einöde ge - worden, Nichts ſpricht uns mehr liebend an, meine kleine Hausgötterchen ausgenommen, d. h. meine Lieblingsbilder, die uns aber begleiten ſollen. Die Kinder ſind ſo ungeduldig, die Stadt zu verlaſſen, daß ich faſt nichts mehr mit ihnen anfangen kann. — Wir ziehen alſo in wenig Tagen von dannen. Der Winter war hart, aber der Frühling beginnt unbeſchreiblich ſchön. Es ſoll ein wahres Arkadienleben werden.
309Der Pfarrer hat unſer Häuschen ſehr nett und äußerſt bequem eingerichtet. Eins nur macht mir bange: das Dahinſchwinden der guten Deborah. Doch vielleicht richtet ſie ſich mit der Natur noch einmal wieder auf. Clärchen iſt halb närriſch vor Freuden, daß ſie zu den Eltern kommt und doch bei uns bleibt, denn das iſt nun förmlich verabredet, daß ich mein liebes Dreiblatt beiſam - men behalte. Doch wir werden faſt nur eine Fa - milie mit den Pfarrersleuten ausmachen. Jetzt ſteht uns hier noch das Zeremoniel des Abſchied - nehmens bevor, woran diesmal auch ſchon die Kinder Theil nehmen werden, um dem wunder - lichen Geſchwätz ein Ende zu machen. Die Kin - der mögen ſich aber ganz zeigen wie ſie ſind: ich werde ihnen nicht die mindeſte Jnſtruktion über die dabei gebräuchlichen Formen geben. Als ich es ihnen heute morgen ſagte, ſie würden mit mir herumfahren, um von unſern ſämmtlichen Be - kannten Abſchied zu nehmen, fragte Jda: aber warum geſchieht das? Wird es denn den Damen ſehr leid thun, liebe Tante, daß wir nicht mehr hier ſind? Ob es ihnen ſehr nahe gehen wird,310 kann ich nicht wiſſen, glaube es auch kaum: aber ſo oft jemand, wer es auch ſey, nur eine Vier - telſtunde bei uns war, ſo verläßt er uns nicht, ohne uns durch Worte oder durch eine Verbeugung Lebewohl zu ſagen, das habt ihr täglich bemerken können.
Mathilde. Ja, Tante, ich meyne, das ſey nur ſo eine Gewohnheit, bei der man ſich faſt nichts denkt.
Jch. Wie bei allem, was uns ſehr zur Ge - wohnheit worden, das Bewußtſeyn der Abſicht oder des Zweckes ganz verloren geht.
Mathilde. Aber warum thut man es denn noch, wenn man ſich nichts mehr dabei denkt? Jſt dies denn nicht ein bloßes Anſtellen, wovon du geſagt, daß es etwas ſehr Unwürdiges ſey?
Jch. Schon oft haben Menſchen, denen die Wahrheit über alles geht, darauf gedacht, für ſich alle dieſe Formen der bloßen Höflichkeit abzu - ſchaffen, und keine Worte mehr zu gebrauchen, bei denen man ſich entweder nichts denkt, oder ſich311 des Gedachten gar nicht mehr bewußt wird. Aber die Frage war, was ſie an die Stelle ſetzen ſoll - ten? —
Clärchen. Muß man ſich denn aber immer etwas ſagen? es wäre doch viel beſſer, ſich nichts zu ſagen, als freundliche Worte, die nichts bedeu - ten. Jrre ich, oder iſt es ſo, liebe Tante?
Jch. Da haſt du Recht, gutes Clärchen. — Wenn die Worte der Höflichkeit ſo weit abgebraucht ſind, daß ſie gar nichts mehr bedeuten, ſo ſpricht ein wahrhaftes Gemüth ſie auch nicht gern mehr aus. Jndeſſen haben alle Völker und alle Natio - nen in ihrer Sprache Worte und andere Gebräuche der Höflichkeit gehabt, mit denen ſie ſich beym Kommen und Gehen freundlich begrüßten. Es muß alſo wohl im menſchlichen Herzen ein Bedürf - niß liegen, dem Andern unſer Wohlwollen auszu - drücken, beſonders dann, wenn wir ihn eine Weile nicht ſahen, oder nicht ſehen werden. Das Begrüßen und Abſchiednehmen, beim Kommen und Gehen, kann keinen andern Urſprung haben als dieſen.
312Mathilde. Ja, wenn wir nun aber kein eigentliches Wohlwollen für einen Menſchen ha - ben? Es gibt doch Menſchen genug, die man nicht lieben kann.
Jch. Wenn wir auch keine eigentliche Liebe haben können, ſo fühlen wir doch in unſerm Jn - nern, daß wir Wohlwollen haben ſollten. Denn jeder Menſch, auch der verdorbenſte, ſoll uns als Mitgeſchöpf noch werth bleiben, und dies allgemeine Wohlwollen für alles was Menſchen heißt, das wir nie ganz aus dem Herzen ver - lieren können noch ſollen, hat ſchon früh die - ſe Formen des Ausdrucks davon unter den Men - ſchen in Gebrauch gebracht. Dies Gefühl nöthigt uns auch, trotz unſers Unwillens oder Nichtach - tens gegen einzelne Menſchen, dieſe Formeln immer wieder auszuſprechen. Die Gewohnheit thut es gewiß nicht ganz allein; denn, wenn die Menſchen ſehr zornig ſind, grüßen ſie nicht.
Jch erinnere mich eines Gebrauches der Brü - dergemeinde, oder Quäker, wie ſie auch heißen, die ich irgendwo in Deutſchland antraf. Dieſe313 haben unſere gewohntern Begrüßungs-Formeln unter ſich abgeſchaft, aber andere dafür an die Stelle geſetzt. Z. z. Wenn wir guten Tag ſa - gen, oder guten Morgen, oder guten Abend, in - dem wir einen Bekannten erblicken, ſo ſagen die Quäker dagegen: Wie geht es dir? Dieſe Frage der Theilnahme dient bei ihnen ſtatt des gewöhn - liche Grußes. So oft dieſe Leute mir oder ſich untereinander begegneten, hörte ich dieſelbe Fra - ge, bemerkte aber auch, daß ſie faſt nie auf die Antwort achteten.
Clärchen. Ja dann bedeutet dieſe neue Art zu grüßen auch nichts mehr.
Jch. Das, mein liebes Clärchen, ſagte ich ei - nem ihrer Vorſteher, worauf er mir antwortete: „ Wir haben die alte Formel der Höflichkeit weg - geworfen, weil ſie abgenutzt war, und nichts mehr taugte. Wir haben eine andere dafür ge - wählt, bald werden ſich die Leute auch dabei nichts mehr denken; dann werfen wir auch dieſe weg / und brauchen wieder eine neue. ‟ —
Mathilde. Warum machen wir Andern es denn nicht auch ſo?
(40)314Jch. Weil für den Gehalt des Grußes dabei doch nicht viel gewonnen iſt. Oder wir müßten faſt jeden Monat die Formel ändern.
Clärchen. Aber gibt es denn gar kein Mit - tel, wie man zugleich höflich und aufrichtig ſeyn könne? Aufrichtig ſoll man doch ganz gewiß ſeyn, und höflich will man auch gern ſeyn.
Jch. Doch, mein liebes Clärchen. Es gibt ein recht ſicheres Mittel.
Jda. O beſte Tante, ſage es uns. Dies müſſen wir ja kennen.
Jch. Es liegt dies Mittel in jedem liebevol - len Herzen. Ein ſolches Herz wird nie gegen die Wahrheit ſündigen, indem es Andern in Form der Höflichkeit Gutes wünſcht. Und wenn es im Augenblicke, wo es die gewohnten Worte ausſpricht, ſeiner Geſinnung des Wohlwollens für den an - dern ſich auch nicht bewußt wird, ſo iſt ſie doch im Ganzen da, und es hegt im Jnnern kein Gefühl, das ihm widerſpräche. Auch iſt es in den gebil - detern Ständen gar nicht einmal nöthig, daß315 man die allgemeine Formel ausſpricht. Ein geiſt - voller Menſch, wie ein herzvoller, hat ſeine ei - gene Sprache, und folgt dem hergebrachten Ge - brauche nur im Allgemeinen, und nur da wo es nöthig iſt. Gebt Acht, meine Kinder, und ſtraft mich, ſo oft ihr mich Worte ausſprechen hört, die euch mit meinem Gefühl nicht zu ſtimmen ſchei - nen. (Die Kinder ſahen ſich verwundert an, als ob das in ſich unmöglich ſey.) Wir machen alſo vor unſerer Abreiſe den Abſchiedsbeſuch bei den Damen unſerer Bekanntſchaft, weil —
Clärchen. Nicht wahr, Tante, weil es un - freundlich wäre, auf ſechs Monate aus der Stadt zu gehen, ohne ihnen ein Zeichen zu geben, daß ſie uns nicht gleichgültig ſind?
Jda. Und daß wir wünſchen, daß ſie unter - deſſen auch vergnügt und froh ſeyn mögen, wie wir es ſind?
Jch. So iſt’s, Kinder. Und wenn wir wie - der kommen, zeigen wir uns ihnen, daß wir wie - der da ſind, und daß es uns lieb iſt, zu hören, wie es ihnen unterdeſſen ergangen, obgleich ſie316 nicht unſere geliebte Freundinnen, ſondern nur gute Bekanntinnen ſind. Wie wäre auch ein Le - ben unter lauter auserwählten Herzensfreunden und Freundinnen nur möglich. Die meiſten Menſchen, mit denen man lebt, bleiben ja nur gute Bekannte, Nachbarn u. ſ. w.
Clärchen. Aber liebe Tante, da du einmal doch von Bekanntinnen und Freundinnen ge - ſprochen, erkläre uns, was zur Freundſchaft gehört, und wo eigentlich der Unterſchied zwiſchen Freun - den und guten Bekannten liegt? Jch habe dar - über ſchon bisweilen für mich nachgeſonnen, konnt’ aber nicht ganz damit fertig werden.
Jch. Jm höchſten Sinne des Wortes gehört zur Freundſchaft ſehr viel. Und wenn du mich fragteſt: ob ich in dieſem vollkommenſten Sinn des Wortes hier in der Stadt eine Freundin ha - be? ſo müßte ich nein ſagen.
Jda. Aber Tante hat ja doch die gute Frau von R. lieb, die im Konzert ſo freundlich mit uns ſprach, und uns zu Gefallen mit hinaus317 ging. Jſt das denn nicht deine Freundin? du haſt ſie doch lieb.
Jch. Das habe ich. Und ich bin gewiß, daß ſie auch mich lieb hat.
Jda. Nun, liebe Tante, warum nennſt du ſie nicht Freundin? Jſt denn das nicht Freund - ſchaft, wenn zwei Menſchen ſich recht herzlich gut ſind?
Jch. Ja, das kann Freundſchaft heißen, man ſagt nichts Unwahres daran. Aber es gibt viele Stufen und Grade in der Freundſchaft, und was man gewöhnlich ſo nennt, iſt freilich oft nur ein geringer Grad.
Clärchen. Aber was iſt denn nun Freund - ſchaft, im höchſten Sinne des Wortes, wie du ſagſt? Willſt du uns nicht auch das ſagen?
Jch. Dazu gehört, daß ein Paar Menſchen ſich ſtärker zu einander hingezogen fühlen, wie zu allen andern, denen ſie auch gut ſind. Dazu gehört, daß ſie in ihren Neigungen, Wünſchen und Urtheilen, in dem was ſie lieben und nicht318 lieben, werth - oder nicht werthſchätzen, eine große Uebereinſtimmung haben, und daß ſie feſt an ein - ander glauben, d. h. einer den andern mit höch - ſter Gewißheit für brav, gut und ſelbſt für edel halte, ſo daß er für ihn ſtehen kann, wie für ſich ſelbſt. Es gehört auch dazu, daß das Maaß ihrer Geiſtesgaben nicht gar zu verſchieden ſey. Völlig gleich dürfen ihre Fähigkeiten und Neigungen nicht ſeyn; das wäre nicht einmal gut zur Freund - ſchaft. Trifft dies alles, was ich ſagte, bei zwei Menſchen zuſammen, und kommen ſie ſich perſön - lich nahe, ſo ahnen ſie oft im erſten Augenblick ihre Geiſtes - und Gemüths-Verwandtſchaft, und ſchauen einander in die innerſte Tiefe der Seele. Alsdann ſuchen und wünſchen ſie ſich beſtändig nahe zu ſeyn, können ſich ſchwer entbehren, und laſſen nimmer wieder ganz von einander, auch wenn ſie ſich einmal nicht verſtanden haben ſollten. Und ſind es Männer, ſo vertheidigen oder erretten ſie einander mit Blut und Leben, wo es Noth thut. Hierüber will ich euch in der nächſten poe - tiſchen Stunde eine Geſchichte erzählen von ein Paar Freunden, Damon und Phidias genannt,319 die euch die Sache lebendig vor Augen bringen wird.
Mathilde. So kennen wir aber keine Freunde.
Jch. Das iſt das Höchſte in der Freundſchaft, wo die Liebe zum Freunde mächtiger wird, als die Liebe zum Leben. Aber von dieſem Höchſten, zu dem ſich nur ſehr edle Naturen erheben kön - nen, bis zu der Stufe herab, die man auch noch wohl Freundſchaft zu nennen pflegt, gibt es der Grade viele, und man darf gewöhnlich nicht das Höchſte annehmen, wenn von Freundſchaft die Rede iſt. Selbſt bey Männern, die doch ſtärker in der Freundſchaft ſeyn ſollen, als wir, findet dieſer Grad ſich nur ſelten. Und man behauptet, daß die Menſchen ehemals —
Clärchen. (ſchnell unterbrechend) Sind die Männer wirklich ſtärker in der Freundſchaft? und wie geht das zu? beſte Tante, ich kann’s ja nicht glauben.
Jch. Dies iſt eine ſchwere Frage, mein Clär - chen, und könnt’ ich ſie auch beantworten, ſo wür -320 det ihr Kinder meine Antwort noch nicht verſtehen können. Erlaßt mir das noch eine Zeitlang. Doch laßt euch zum Troſte geſagt ſeyn, daß auch wir zu allem wirklich Vortrefflichen die Fähigkeit überkommen haben. —
Jn dieſem Geſpräche wurden wir durch mancher - lei ſtörende Zurüſtungen zur Reiſe unterbrochen. Dann machten wir unſere Beſuche. Auch haben eben dieſe es mir unmöglich gemacht, weiter zu ſchreiben. Jetzt iſt die Stunde der Abreiſe da. Jch ſende dieſen Brief nur noch zur Poſt, und dann ziehen wir davon. Adio.
Gedruckt bey Kaufmann und Friederich in Mannheim. 1807.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Fraktur
Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.