PRIMS Full-text transcription (HTML)
Jahrbücher der deutſchen Turnkunſt.
Erſtes Heft.
Danzig,S. Anhuth. 1843.

Motto: Still am Heerd zu hocken Haßt der kühne Jüngling, Haßt die Flauſchhandſchuhe Und die Federpolſter. (Heimskringla, von Mohnicke überſetzt.)

Jnhalt.

  • I. Ueber den Zweck der Jahrbuͤcher der TurnkunſtS. 1.
  • II. Ueber die Nothwendigkeit der koͤrperlichen Aus - bildung 4.
  • III. Zur orthopaͤdiſchen Turnkunſt. Von Dr. Kleeberg 11.
  • IV. Geſchichte der Hanauer Turngemeinde nebſt deren Geſellſchaftsordnung. Von Aug. Schaͤrttner 19.
  • V. Die Turngemeinde zu Schmalleningken. Von Dr. Harniſch 37.
  • VI. Turnfeſte. 43.
  • VII. Statiſtiſches.
    • A. Beſuch der Koͤnigsberger Turnanſtalt 49.
    • B. Nachricht uͤber die Turnanſtalt zu Heils - berg in Oſtpreußen. Von Rektor Kleiſt. 55.
    • C. Dritte Nachricht uͤber die Turnanſtalt zu Frankfurt a. M. 57.
  • VIII. Turnzeitung.
    • A. Ein Wort uͤber deutſche Turnſitte. Von Oberlehrer Fatſcheck. 62.
    • B. Erfahrungen und Anſichten uͤber das Turnen in Seminaren. Von Semi - nar-Direktor Sluymer 69.
    • C. Die Nothwendigkeit der Gymnaſtik nach hiſtoriſch-ethiſchen Ruͤckſichten. Von Oberlehrer W. Wechsler 79.
    • D. Wie iſt dem Turnweſen aufzuhelfen. Ein Vorſchlag. 85.
    • E. Etwas uͤber das Soldatenturnen 89.
    • F. Nachricht 94.
    • G. Aufgaben 96.
  • IX Allgemeine Gelenkuͤbungen, verbunden mit den Springvoruͤbungen. Erſtes Hundert. 100.
  • X. Buͤcherſchau. Von Oberlehrer W. Wechsler. 128.
  • XI. Abwehr. 134.
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I. Ueber den Zweck der Jahrbücher der Turnkunſt.

Viel und oft iſt der Wunſch nach einem Blatte aus - geſprochen worden, in welchem jeder Freund der Turn - kunſt die neueſten und ſicherſten Nachrichten über das deutſche Turnweſen finde. Die meiſten politiſchen Blät - ter haben bisher das deutſche Turnweſen auf eine in einem ſolchen Grade ſchwer begreifliche Weiſe überſehen. Frü - her war es eine verfehmte Sache, und ſonach iſt das Schweigen erklärlich, und jetzt kommen ſie vor den vie - len politiſchen Fragezeichen nicht dazu. Doch trotz aller öffentlichen Nichtachtung mehren ſich die Turnplätze in Deutſchland auf eine erſtaunliche Weiſe, ſo daß es Noth thut, den Stand der Dinge kennen zu lernen, zumal durch die Königl. Cabinetsordre vom 6. Juni 1842 ſich die Theilnahme im Volke auf eine höchſt erfreuliche Weiſe geſteigert hat. Betrachten wir ferner die man - nichfachen Beſtrebungen auf dieſem wichtigen Gebiete menſchheitlicher Erziehung, ſo finden wir auf demſelben echt deutſche Vielgeſtaltigkeit, doch leider eben weil bis jetzt ſich ſelbſt und dem Zufall überlaſſen, ohne Len - ker und Leiter der gemeinſamen Beſtrebungen zu oft ohne Gehalt und Geſtalt, wohindurch dennoch mehr oder minder das Ringen nach dem Jdeal leuchtet.

So will alſo das Jahrbuch nicht allein eine Turn - zeitung ſein, worin das Turnweſen in allen ſeinen Bezie - hungen zum Leben auf das Gründlichſte, auf eine für jeden Gebildeten faßliche Weiſe, beſprochen werden ſoll; es wird auch ein Bereinigungspunkt aller Turnplätze,Jahrb. d. Turnkunſt. I. 12ein gemeinſamer Ringplatz der Turnlehrer zu werden ſtreben, und ein Ort ihrer Erholung und Erhebung ſein, deren Stellung bis jetzt noch trotz jener Cabinetsordre und anderer günſtiger Ereigniſſe ſo unbeſtändig iſt, wie die Welle von Wind und Fluth getragen und getrieben.

Sonach ergeben ſich uns folgende Hauptgeſichts - punkte zur Beſprechung: Die Nothwendigkeit der kör - perlichen Ausbildung zu erweiſen, 1) vom Standpunk - te deutſcher Volkserziehung, 2) vom Standpunkte der Philoſophie und Geſchichte, und 3) vom Standpunkte der Arzeneiwiſſenſchaft. Ferner 4) mit Rückſicht auf obige drei Punkte, kurze, bündige Geſchichte einzelner Turnanſtalten, Turnvereine (nebſt Abdruck deren Sta - tuten); Beſchreibung von Turnfahrten, Turnſpielen, Turnfeſten, Volksſpielen und Volksfeſten, wo ſolche noch vorhanden ſind und vornähmlich eine Berührung mit dem Turnweſen ſtattfindet, 5) ſtatiſtiſche Nachrichten von ſämmtlichen Turnplätzen Deutſchlands, von ihrer Ent - ſtehung und Einrichtung, den Mitteln, durch die ſie beſtehen, nebſt Namhaftmachung der Lehrer und Freunde der Turnſache, ſo wie der Zahl der Turner nach den Schulen. 6) Gründliche Behandlung einzelner Zweige der Turnkunſt. Dies iſt alſo der rein techniſche Theil. 7) Bücherſchau: worin die beſſeren Bücher, welche das Turnweſen zum Gegenſtande haben, empfohlen werden, vor den ſchlechteren aber gewarnt wird. 8) Turnzeitung: neueſte Nachrichten aus dem Reiche der Turnkunſt z. B. Errichtung einer neuen Turnanſtalt, Bekanntmachungen u. ſ. w. 9) Da nachweislich die jetzt ſich überall kund - gebende Liebe zum deutſchen Sprachſtudium ihren haupt - ſächlichſten Anſtoß durch das Turnweſen erhalten, wol - len wir, um dieſe Liebe auch ferner zu pflegen, einen Abſchnitt Sprachliches hinzufügen. 10) Wollen wir zuletzt noch der Angriffe mit Glimpf und Schimpf gedenken.

Dieſen Zweck beſtmöglichſt zu erreichen, haben ſchon mehrere Lehrer und Freunde der Turnkunſt ihre Theilnahme zugeſagt, und es iſt gegründete Hoffnung3 vorhanden, ſofern dieſe Theilnahme eine allgemeine wird, den vorgeſteckten Zweck der Jahrbücher auf befriedigende Weiſe zu erreichen. Wir erlauben uns daher ſämmt - liche Vertreter der Turnſache, ſo wie die Freunde der - ſelben, hiemit ergebenſt aufzufordern, den angegebenen Zweck der Jahrbücher, jeder in ſeinem Kreiſe, und na - mentlich auch mit Beiträgen, möglichſt zu fördern.

Da wir mit dem Büchlein nichts verdienen, ſondern nur nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen zum Beſten der nicht unr als heilſam, ſondern als nothwendig von uns erkannten Sache wirken wollen, ſo iſt der Preis des - ſelben ſo billig, wie nur irgend möglich geſtellt; doch ſind wir bereit, wo es beſonders gewünſcht wird, ein billiges Honorar für gelieferte Aufſätze zu geben.

Was nun das Erſcheinen der Jahrbücher betrifft, ſo geſtehen wir offen: dies hängt von der Theilnahme ab, die wir bei den Vertretern und Freunden der Turn - kunſt finden, ſo wie von der freundlichen Nachſicht der Behörden. Unſer eigener und eigentlicher Wunſch und Wille iſt, halbjährlich ein Heft von 4 6 Bo - gen erſcheinen zu laſſen. Briefe und Aufſätze erbitten wir uns theils auf geradem Wege, theils durch die Buchhandlung von S. Anhuth in Danzig, die den Verlag bereitwilligſt übernommen hat, und für eine möglichſt gute Ausſtattung des Büchleins Sorge tragen wird. Zuletzt noch eine beſcheidene Bitte: da es den Jahrbüchern nur zum Vortheil gereichen kann, daß die Mitarbeiter in ihnen genannt werden, ſo erſuchen wir alle Freunde und Lehrer des Turnweſens, ſo uns mit Rath u. That behilflich ſein wollen, ſich uns des Baldigſten zu nennen, damit wir ſie im zweiten Hefte als Mitarbeiter an - und aufführen können.

So möge denn unſerm Unternehmen zum Beſten der gemeinſamen Sache die allgemeine Theilnahme freundlich entgegenkommen; nur ſo können wir Muth behalten und Kraft gewinnen, um das angefangene Werk mit Erfolg fortzuſetzen.

Königsberg in Preußen, den 18. Hornung 1843. Der Herausgeber.

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II. Ueber die Nothwendigkeit der körper - lichen Ausbildung.

Es ſcheint erforderlich, über die Nothwendigkeit der körperlichen, oder was daſſelbe iſt, der turneriſchen Ausbildung, meine Anſicht näher auseinander zu ſetzen.

Jch ſpreche nicht, wie man bisher gewohnt gewe - ſen, von der Nützlichkeit, von der Heilſamkeit der kör - perlichen Ausbildung, ich ſpreche von ihrer Noth - wendigkeit. Und ich gehe noch weiter, und be - haupte, daß in Zukunft eben ſo wenig mehr die Rede ſein dürfe von Turn übungen, körperlichen Übun - gen, Leibesübungen in anderm Sinne, als daß ſie nur das Mittel und der Weg zur Bildung und Aus - bildung des Körpers ſein ſollen, eben ſo wie wir nicht von geiſtigen Übungen ſprechen, wohl aber, daß man das Gedächtniß, den Verſtand u. ſ. w. üben müſſe, doch nur um das Ziel aller Übungen, die Bildung des Geiſtes, zu erlangen. Dieſe Nothwendigkeit nun er - folgt uns aus dem Begriffe: Menſch. Der Menſch iſt nicht blos Geiſt, aber eben ſo wenig bloß Leib: er beſteht aus beiden auf das Jnnigſte und Weſentlichſte zu einer Einheit, Menſch, verbundenen Theilen, von denen keiner, in Folge menſchlicher Bildung, vorherr - ſchen darf, ohne dieſe vom Schöpfer geſetzte Einheit in demſelben Maße zu ſtören. Es iſt nicht eine Seele, nicht ein Körper, den wir erziehen, es iſt ein Menſch. Aus dem müſſen wir keine zwei machen. Man muß den einen nicht abrichten, ohne den andern, ſondern ſie beide gleich führen und leiten wie ein Paar an eine Deichſel geſpannte Pferde. (Mich. Montaigne).

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Nur ein Heil giebt es für beide: ſtrengt den Geiſt nicht an ohne den Körper, den Körper nicht ohne den Geiſt, damit beide, gleich kräftig und im Gleichge - wicht ſtehend, geſund bleiben. (Platon) Was wir demnach zur Übung und Bildung des Körpers und Geiſtes thun mögen, muß in dem Bewußtſein geſchehen, daß es ein Menſch iſt, nicht eine Seele, nicht ein Körper; gleichwie Chriſtus ſagt: die Mutter denkt nicht mehr an die Angſt, um der Freude willen, daß der Menſch zur Welt geboren iſt.

Gehen wir näher ein. Der Menſch, d. h. Geiſt und Körper, follen zwar, wie Platon will, gleicherweiſe ausgebildet werden, ſo daß beide im Gleichgewicht blei - ben, und dennoch ſoll der Geiſt herrſchen über den Körper als das belebende göttliche Princip in demſelben, der Körper ſoll des Geiſtes Diener ſein. Der vollkom - mene Diener aber iſt der, welcher mit dem Herrn, nicht mit dem Gefühl des unterdrückten, ſondern des freien Willens, eins iſt und ſich fühlt, und in deſſen Geiſt die Befehle vollführt. Dieſes wird er aber nicht durch bloße Übungen, die den Körper oder bloße Theile des Körpers für ſich allein angehen, noch durch Abrichten, wo alle Aufmerkſamkeit auf die möglichſte Ausbildung des Kör - pers in gewiſſer Hinſicht gerichtet und der Geiſt ver - nachläſſigt wird, noch auch durch Vernachläßigung des Körpers, durch Entleibung des Menſchen. Jn jedem dieſer Fälle löſt ſich mehr oder minder die Einheit im Menſchen in eine feindſelige Zweiheit auf, und es of - fenbart ſich uns der gefallene Menſch. Nur da, wo die Bildung des Körpers mit der des Geiſtes gleichen Schritt gehalten, wo beide im Gleichgewicht ſtehen, wo alſo der Menſch als Menſch d. h. in ſeiner Einheit erſcheint, nur da iſt der wahre Menſch zu finden. Die Einheit des Geiſtes und Körpers iſt ja von Gott nicht als eine augenblickliche oder nur zufällige geſetzt, ſie iſt uns ein für alle Mal weſentlich; freilich in unſerm jet - zigen, von Leidenſchaft und Jrrthum getrübten menſch - heitlichen Zuſtande eine ideale, immer aber doch durch*6gleichmäßig fortſchreitende und harmoniſch ineinander - greifende körperliche und geiſtige Ausbildung zu er - ſtrebende Einheit. Wie die Sprache das getreueſte Ge - präge und Bild des Geiſtes iſt, ſo ſollen auch die Bewe - gungen des Körpers, der Körper in ſeiner einheitlichen und mannichfaltigen Erſcheinung gleicherweiſe den Geiſt verkörpern, Ausdrücke der Gedanken und Gefühle, ein Abdruck des inwendigen Menſchen ſein, und als Begleiter des Wortes daſſelbe verdeutlichen und eindring - licher machen. Unbefohlen ſollen alle Bewegungen kommen, wie ſie dem Gefühl und dem Gedanken ange - meſſen ſind, kurz und kräftig, raſch, ernſt, rund, ſcharf, edel, gewöhnlich, geſund und natürlich. Die willkühr - lichen wie die unwillkührlichen Muskeln ſollen gehor - chen dem innern Gebote, des Kühnen Auge beginnt in demſelben Augenblicke zu leuchten, wo der kühne Gedanke am fernen Horizonte dämmert. Die Mus - keln und Adern beginnen zu ſchwellen, das Herz klopft vernehmlicher, der Athem wird hörbarer, kurz der Kör - per weiß nichts anderes, thut nichts anderes, als was der Geiſt in ihm will.

Doch fragen wir, durch welche Eigenſchaften wird der Körper befähigt, dieſer treue Diener des Geiſtes zu ſein, ſo ſind es vorzugsweiſe drei Eigenſchaften, Muskelkraft, Gelenkigkeit und Willkührlichkeit der Be - wegungen. Die harmoniſche Verbindung dieſer drei Eigenſchaften, giebt dem Körper das einnehmende und anſtändige Aeußere der Feſtigkeit, Sicherheit und Ge - wandheit in Stellung und Gebrauch der Gliedmaßen. Dies wird uns um ſo deutlicher, wenn wir an die Gegenſätze dieſer körperlichen Tugenden, um mich ſo auszudrücken, denken; Kraft Schwäche; Gelenkigkeit Unbeugſamkeit der Gelenke (Verſteiftheit); Willkühr - lichkeit der Bewegung (Gewandheit) Unempfind - lichkeit und Ueberreizung, Trägheit und Unbeholfenheit. Kraft, Muskelkraft, wird nur durch Übung der Mus - keln errungen; die Beweglichkeit der Gelenke, oder Ge - lenkigkeit, iſt eine Mitgift der Natur (wie wir Säug -7 linge, auf dem Rücken liegend, ſehr bequem mit ihren Füßen ſpielen ſehen) und der Schwäche, welche Gelen - kigkeit aber nur durch Übung erhalten, und einmal verloren, ſchwer aber auch nur durch Übung wieder errungen werden kann. Die Willkührlichkeit der Mus - keln-Gewandheit beruht hauptſächlich in der Federkraft der Muskeln d. h. in der Beweglichkeit der Gelenke, verbunden mit angemeſſener Kraft; Gewandheit iſt demnach diejenige Eigenſchaft des Körpers, vermöge deren die willkührlichen Muskeln augenblicklich auf den Reiz, den der Wille des Menſchen durch die Nerven auf ſie ausübt, wirken, und zwar in demſelben Maße wirken, in welchem dieſer Reiz auf ſie ausgeübt wird. Wirkt der Muskel auf den ihm durch die Nerven mit - getheilten Reiz gar nicht oder wenig, ſo nennen wir dieſe Eigenſchaft Unempfindlichkeit der Muskeln, wirkt derſelbe aber über den Willen, und Reiz hinaus, alſo auf krank - und krampfhafte Weiſe, ſo iſt das Ueberrei - zung, eine Gereiztheit, wirkt er aber erſt nach einiger Zeit auf den ihm durch die Nerven mitgetheilten Reiz, ſo iſt dies Trägheit: der Geiſt iſt willig, aber das Fleiſch iſt ſchwach. Der Wille des Menſchen wirkt zwar durch die Nerven auf die Muskeln, dieſe gehor - chen aber nicht ſofort, ſondern erſt nach einiger Zeit. Wirkt aber auch der Muskel, jedoch in falſcher Weiſe, anders als der Willensreiz vorſchreibt und als in den Ge - ſetzen der Natur begründet iſt, ſo nennen wir dies Un - beholfenheit. *)Koch’s Gymnaſt. 1830, S. 19 26.Unempfindlichkeit und Gereiztheit, Träg - heit und Unbeholfenheit laſſen ſich nur durch körper - liche Übungen, aber auch ſicher und beſtimmt durch ſie aufheben, doch nicht ohne ſie. Wenn alſo die Herr - ſchaft über den Körper in deſſen Kraft, in deſſen Ge - lenkigkeit und Gewandheit beruht, die Kraft ohne Ge - lenkigkeit Verſteiftheit, Gelenkigkeit ohne Kraft Schwäche iſt, Gewandheit ohne Kraft und Gelenkig - keit nicht gedacht werden kann, die Vereinigung aller8 drei Eigenſchaften nur durch körperliche Übungen, ſo - fern dieſe Ubungen ein Ganzes in ſich bilden, und den Körper als ein Ganzes vor Augen haben, errungen werden kann, ſo folgt denn hieraus von ſelbſt die Nothwendigkeit der körperlichen Ausbil - dung, eben weil nur durch ſie die Herrſchaft über den Körper zu erreichen und zu erringen iſt, das von Platon verlangte Gleichgewicht im Menſchen erlangt und geſichert werden kann.

So haben wir denn gefunden, daß der Menſch auch in Beziehung auf ſeinen leiblichen Theil ausge - bildet werden muß, wenn er Menſch im urſprünglichen Sinne des Wortes bleiben will, wenn der Geiſt Herr des Körpers ſein und bleiben ſoll; 2) daß dieſe leib - liche Bildung im Gleichklang mit der geiſtigen ſtehen muß, und in der harmoniſchen Vereinigung von Kraft, Gelenkigkeit und Gewandheit beſteht; woraus denn 3) als in No. 2. ausgeſprochen, von ſelbſt folgt, welche Theile des Körpers, oder vielleicht deutlicher geſagt, in welcher Beziehung wir den Körper üben und bilden ſollen, nämlich in Hinſicht auf Kraft, Gelenkigkeit und Gewandheit; aber 4) nicht blos in welcher Hinſicht, ſondern auch auf welche Weiſe dieſe Bildung geſche - hen ſoll. 1) Alle drei Theile, Kraft, Gelenkigkeit und Gewandheit, ſind nicht blos jeder für ſich allein, ab - geſondert von einander, ſondern als ein harmoniſches Ganzes zu üben und zu bilden, ſo daß alſo die Kraft nicht mehr als die Gelenkigkeit geübt wird, wodurch eine gewiſſe Steifheit entſtehen würde, ſondern beide in gleichem Maß und Grad; 2) darf dieſe körperliche Bildung nur geſchehen in Hinblick auf die geiſtige Bildung, darf nicht als Ziel menſchlicher Bildung gel - ten, nicht als Zweck, ſondern als Mittel, um das Gleichgewicht in der menſchlichen Bildung zu erlangen, worin die antike Schönheit beſteht. Aber wir ha - ben die Nothwendigkeit leiblicher Bildung aus dem Begriffe Menſch ohne Rückſicht auf Alter, Stand und Geſchlecht gefunden, doch auch dieſe Beziehungen kön -9 nen keinen Unterſchied machen. Stillſtand im Geiſtigen wie im Leiblichen iſt geiſtiger und leiblicher Tod. Die körperliche Bildung iſt nothwendig zur Entwickelung der ſchlummernden Kräfte des Kindes, zum harmoni - ſchen Wachsthum in der Zeit der Entwickelung, und zur Erlangung männlicher Schönheit. Wie aber jeder tüchtige Menſch nicht eher aufhört geiſtig zu leben, geiſtig ſich zu bilden, als bis Gott ihn abruft, ſo lange muß er demnach auch in gleichem Verhältniß leiblich zu leben, leiblich ſich zu bilden ſuchen. Die leibliche wie geiſtige Kraft ſoll nicht raſten und roſten. Sie gleicht dem Magnet, der ungebraucht und ungeübt ſeine Ziehkraft verliert. Auch der Geiſt des Greiſes ſoll noch Herr des greiſen Leibes ſein. Auch an der Grenze des Lebens ſoll der Menſch das Jdeal des Men - ſchen, ſich ſelbſt nicht aus dem Auge verlieren: das Gleichgewicht, in dem Geiſt und Körper zu ein - ander ſtehen ſollen. Die Verkümmerung des einen Theiles zieht auch hier noch eine Trübung des ur - ſprünglichen Menſchenbildes nach ſich. Auch der Greis ſoll noch dem Jünglinge als ein Bild der Nacheiferung, als ein erreichbares Jdeal um mich ſo auszudrük - ken erſcheinen, als ein Wegweiſer echter und rechter menſchheitlicher Erziehung und Bildung, als ein Bild der Ehrfurcht.

Das Leben in allen ſeinen Verhältniſſen verlangt der einen wie der andern Ausbildung, keines derſelben kann ihrer eines entrathen. Sei verſichert, ſagte So - crates dem Epigenes einem Jünglinge, deſſen ſchlechte Haltung verrieth, daß er die Leibesübungen vernach - läſſigte, und ihrer nicht zu bedürfen meinte ſei verſichert, ſo wenig als im Kampfe wirſt du bei irgend einem andern Unternehmen Schaden davon ha - ben, wenn du deinen Körper gut ausgearbeitet haſt; denn bei allem, was Menſchen vornehmen, leiſtet der Körper ſeine Dienſte, und, ſoll er ſie gehörig leiſten, muß er tüchtig geübt ſein. Selbſt da, wo du ſeiner am wenigſten zu bedürfen glaubſt; bei dem Denken; 10 iſt es denn nicht bekannt genug, daß auch dabei viele wegen übler Beſchaffenheit des Körpers ſehr ſtraucheln? Gedächtnißſchwäche, Muthloſigkeit, üble Laune, Schwer - muth, bis zum völligen Jrrwahn bemächtigen ſich ih - rer, und all ihr Wiſſen hilft ihnen nichts.

Wie nun die leibliche und geiſtige Bildung alle Stufen des Alters und alle Verhältniſſe des Lebens umfaßt, ſo begreift ſie auch mit gleicher Nothwendig - keit beide Geſchlechter, das Bild des Menſchen kommt ja beiden zu. Das Weib ſoll eben ſo wohl wie der Mann, die Jungfrau wie der Jüngling, ſich der har - moniſchen Ausbildung des Geiſtes und des Leibes, des platoniſchen Gleichgewichts, der platoniſchen Geſund - heit erfreuen. Der Mann muß hinaus in’s feindli - che Leben , und bedarf daher dieſer Ausbildung im ho - hen Grade, des Männermuthes*)ἀνήρ ἀνδρεία; vir virtus; Mannlichkeit, Männ - lichkeit, Mannhaftigkeit, Mannheit. im Kampfe mit den dunkeln Mächten des Lebens. Aber das Leben, ſo den Mann von Außen angreift, trifft das Weib innerli - cher, nachhaltiger, nothwendiger. Während der Mann den Gefahren entgegengeht, dieſelben mehr außer ſich findet, ſind des Lebens Angriffe mit dem innerſten Le - ben des Weibes verbunden, ſind mit ihm geboren. Sie ſind ſo unzertrennlich von ſeinem Weſen, wie der Schatten von dem Körper. Darum iſt es doppelt nothwendig, das weibliche Geſchlecht zu rüſten und zu wappnen gegen dieſe Kämpfe, ſoll es ohne den - ſelben mehr oder minder, nicht ſelten auch gänzlich zu unterliegen ſeine Stellung behaupten, ſeine hohen Pflichten erfüllen. Und ſo ſchließe ich mit dem klaſſi - ſchen Ausſpruche der Miß Wright: Jch bedauere oft, daß man bei der Erziehung der Mäd - chen ſo wenig Sorgfalt auf Leibesübungen wendet; mit dem Körper erhält der Geiſt ſeine Kraft, und Gott weiß, daß unſer Ge - ſchlecht gar ſehr der einen wie der andern11 bedarf. Jedem widrigen Schickſal ſind wir ausgeſetzt, und doch entnervt man uns in jeder Hinſicht, als fürchtete man, die Stür - me möchten uns ohne dies nicht hart genug treffen!

III. Zur orthopädiſchen Turnkunſt.

Während Jahren war ich häufig in dem Turn - ſaale des Herrn Euler Zeuge der Übungen ſeiner weib - lichen Zöglinge, deren Geſammtzahl in dieſer Zeit 149 betrug, obwohl der erſte halbjährliche Curſus nur 6 zählte. Dieſe vermehrte Frequenz iſt der Beweis für das wachſende Jntereſſe der Anſtalt und der ſtei - genden Würdigung deſſelben von Seiten des Publi - kums, das im Anfange nur mit Mühe das Vorurtheil überwand, welches in der öffentlichen Meinung gerade Mädchen von ſolchen Körperübungen ansſchließt. Meine wiederholte Anweſenheit bedingte nicht allein die Theil - nahme für die Turnkunſt überhaupt, und für Schüle - rinnen, welche meine Patientinnen waren, ebenſo ſehr auch der Wunſch des Herrn Euler, wenngleich dieſer durch eifrige und praktiſche Studien der Anatomie mit dem Baue des menſchlichen Körpers wohl vertraut iſt, ihn in der ärztlichen Beurtheilung der kränklichen Zög - linge zu unterſtützen, und auf Grund derſelben die in - dividuell nöthigen Übungen zu erwählen. Nur bei einem Theil der Zöglinge war es die Anerkennung des Werthes des Turnens für die phyſiſche Erziehung über - haupt, welche die Angehörigen beſtimmte, ſie den Übungen12 zu überweiſen; bei dem andern Theile waren es Rückſich - ten kurativer Art, um durch die Übungen auf die Ge - fahr des eigenen Rathes oder nach ärztlicher Verord - nung, Verkrüppelung zu beſeitigen. Jedoch über beide Theile drängt ſich die Bemerkung auf, daß wenige Mädchen mit Ausdauer mehrere Curſus nacheinander mitmachten,*)Leider habe ich bis jetzt dieſe traurige Erfahrung auch bei den Knaben machen müſſen, und es ſind nur Aus - nahmen, wenn Knaben 1 2 Jahre turnen. Die meiſten hören auf, wenn ſie die erſten Schwierigkei - ten überwunden haben. D. H. vielmehr war ihr Wechſel in denſelben auffallend, und darf der Grund deſſelben weniger in den Schülerinnen als vielmehr in der Anſicht der Angehö - rigen und mithin des Publikums überhaupt über das Turnweſen geſucht werden.

Über dieſes Verhältniß dem mediciniſchen Berichte über die hieſige Turnſchule einige Bemerkungen beizu - fügen, ſo weit es der Zweck dieſer Blätter geſtat - tet, halte ich im Jntereſſe der Sache ſelbſt für eine erwünſchte Gelegenheit. Es kann dabei nur meine Abſicht ſein, mich blos auf die Berückſichtigung der mediciniſchen Jntereſſen einzulaſſen, indem ich andern Händen die Erörterung der Verhältniſſe überlaſſe, wel - che die eigenthümlich prekäre Stellung der Turnkunſt, ſowohl als pädagogiſche als mediciniſche Gymnaſtik in der Geſellſchaft bedingen. Jn dieſer Hinſicht ſcheint mir das Turnen ein gleiches Schickſal mit vielen ander - weitige Jntereſſen berührenden Jnſtitutionen der jetzigen Zeit zu theilen; während es nämlich von oben her als nahe bevorſtehende Staatsinſtitution in Ausſicht geſtellt, ſein Werth in mediciniſcher und pädagogiſcher Hinſicht als wichtiges Mittel der phyſiſchen Erziehung anerkannt wird, und bereits nach langer Unterbrechung an vielen Orten Anſtalten unter eigenen Lehrern entſtehen, ſo fehlt der Turnkunſt zum rechten Leben die Organiſation von Seiten des Staates und die Aufnahme in den Volksgeiſt. Bisher war es häufig Mode, für eine13 Zeit lang den Turnplätzen die Kinder zuzuſchicken; erſt wenn dieſes allgemeine Sitte geworden iſt, wer - den die wohlthätigen Einwirkungen dieſer Uebungen allgemein hervortreten. Dieſer Erfolg wird nie von einem Zwangsturnen erwartet werden können, ebenſo - wenig, ſo lange das Turnen als bloße körperliche Fertigkeit und heilſame Erſchütterung des Körpers, zur Ausgleichung der Nachtheile einer luxuriöſen Ver - weichlichung angeſehen wird. Nur wenn als Volks - ſitte neben der gelehrten Bildung die turneriſche Er - ziehung gleichen Schritt hält, kann der Zwieſpalt aus - geglichen werden, daß nicht einſeitig Geiſt oder Leib, ſondern ein Menſch herangebildet werde.

Während man früher von der Theilnahme an gymnaſtiſchen Uebungen kränkliche, mit Gebrechen und Verkrüppelungen behaftete Perſonen geradezu ausſchloß, und von dem idealen Vorbilde der vollkommenſten Körperentwickelung ausgehend, nur Kinder mit glück - licher und wohlgebildeter Leibesconſtitution aufnahm, um in ihnen die Hoffnungen für die Erziehung eines kräftigen Geſchlechtes zu verwirklichen, ſo waren es doch ſeit einiger Zeit eben die wohlthätigen Folgen dieſer Leibesübungen nicht allein für die allgemeine Geſundheit, als insbeſondere in Beziehung auf die Ausbildung der Muskeln, welche die Aerzte bewog, gymnaſtiſche Uebungen gerade als Heilmittel für Schwa - che und Gebrechliche anzuwenden, und dieſen die Turn - plätze zu öffnen. Großen Einfluß auf dieſe Umände - rung hatten jedoch veränderte und verbeſſerte Anſich - ten, welche in Folge der Fortſchritte der pathologiſchen Anatomie und der Phyſiologie über die Natur der Leibesdeformitäten namentlich der Rückenverkrümmun - gen hervortraten, und den nahmhaften Einfluß der Muskeln auf die Entſtehung und Fortbildung ſolcher Gebrechen hervorhoben. Die einſeitige Meinung, welche den Grund der Deformitäten allein in den Kno - chen und ihren gegenſeitigen Verbindungen ſuchte, wurde durch verbeſſerte Anſichten über die Theilnahme der1 *14Muskeln und in neueſter Zeit durch die Forſchungen über die Bedingungen eines veränderten Nerveneinfluſ - ſes bei krankhaften Zuſtänden der Muskeln verdrängt. Die Zeit war vorüber, wo Jnſtrumentenmacher und Mechaniker allein die Behandlung in den orthopädiſchen Jnſtituten vollbrachten, ſeitdem die Gymnaſtik mit in den Kreis der Heilmittel gezogen wurde. Allerdings hat auch dieſe Jdee ihre Auswüchſe getrieben, und es wurden Jnſtitute gegründet, in denen bloßes Turnen alle Leibesgebrechen beſeitigen ſollte. Von hochwich - tigem Einfluſſe war in neueſter Zeit die Erfindung von Stromeier über die Durchſchneidung der Muskeln und Sehnen zur Heilung von Gebrechen, deren ganzes Gebiet bei der vollkommenen Anerkennung des Werthes der Operation von Aerzten durchgegangen wurde, um die Grenzen ihrer möglichen Anwendungsfähigkeit dar - zuthun, wobei die Nachkur allein einer gewählten Gymnaſtik überlaſſen bleibt.

Nach ſolchen Vorgängen erweiterte ſich der Kreis der Perſonen, und die Wohlthaten der Gym - naſtik wurden einem Theile derſelben zu Gute, der eben wegen dieſer Gebrechen früher davon ausgeſchloſ - ſen war. Es bleibt freilich ein bedeutender Unterſchied in der Wahl der Uebungen, und es wurde gerade durch dieſe Erweiterung die Erfindungsgabe der Turnlehrer in Anſpruch genommen, und der gewöhnlichen Turn - kunſt eine neue Seite abgewonnen, für die Heilung beſonderer Gebrechen, ſofern dieſelben auf abnorme Muskelaktion begründet ſind, geeignete Methoden zu entwerfen, Uebungen und mechaniſche Conſtructionen für dieſelben zu bilden, die vorzugsweiſe ihren Ein - fluß auf die kranken Muskeln concentriren. Die auf einen größern Kreis von Gebrechen erweiterte Ortho - pädie, während ſie gleichzeitig den Rath des Arztes, die Operation des Chirurgen und die Maſchinen des Mechanikers zu Hülfe nimmt, bedarf eben ſo ſehr der Uebungen der Gymnaſtik, während der größte Theil15 ihrer Kunſt den Geſunden verbleibt, um ſie vor Ge - brechen zu bewahren.

Während die ausgebildeten, angeborenen oder erworbenen Formfehler immer nur ihren Platz in or - thopädiſchen Jnſtituten zur Erreichung einer möglichen, häufig prekären Heilung finden dürften, verbleiben den Turnplätzen noch die zahlreichſte Claſſe dieſer Leiden - den, bei welchen die Entwickelung ſolcher Uebel in drohender Ausſicht iſt, und der kleinere Theil, welcher die Uebungen zur Nachkur nach orthopädiſchen Curen gebraucht. Leider zeigt es aber die Erfahrung auch auf dem hieſigen Turnplatze, daß die ausgebildetſten Rück - gratsverkrümmungen ſofort der Anſtalt übergeben wur - den. Es kann dem Kenner nicht zweifelhaft bleiben, daß ſolche Fälle keine Heilung erwarten dürfen, ohne die gleichzeitige Mitwirkung anderer Heilpotenzen, und nur aus dem Umſtande bleibt auch hier dieſen der Turnplatz geeignet, daß es die einzige Abſicht bleibt, durch die geeigneten Uebungen die nachtheiligen Wir - kungen der Verkrümmung theils auf die allgemeine Geſundheit, theils auf die Mitleidenſchaft anderweiti - ger Muskelparthien entgegen zu arbeiten.

Letzteres Verhältniß paßt insbeſondere für bereits ausgebildete Mädchen, während jüngere allerdings mit beſſern Hoffnungen aufgenommen werden können. Der letzte Curſus namentlich zeigte in dieſer Hinſicht ein erfreuliches Beiſpiel an einem Mädchen, welches mit hoher Schulter und ſtarker ſeitlicher Verkrümmung der Wirbelſäule eintrat, und nach einem halben Jahre gerade ausſchied. Jn einem andern Falle hatte eine zweijährige orthopädiſche Behandlung bei einem Schiefſtande des Kopfes mit Verzerrung des Geſichts und ſeitlicher Verbiegung der Halswirbel dem Fort - ſchritt des Uebels keinen Halt entgegen ſetzen können, bis zuletzt die Turnübungen beſonders nach Durch - ſchneidung des Kopfnickermuskels auch auf den letztern Fehler einen ausgezeichneten Erfolg hatten. Hier wurde aber auch eine ſeltene Ausdauer im Verfolge der16 Uebungen ſeitens des Mädchens und ihrer Angehöri - gen mit höchſt erfreulichem Erfolge gekrönt.

Ein ſo wirkſames Heilmittel gymnaſtiſche Uebun - gen für ſchwache, kränkliche, und mit Verbildungen be - haftete Kinder ſind, ebenſo entſchieden wohlthätig bleiben ſie für alle Uebrigen ſowohl zur Uebung, Stär - kung und Ausbildung des Leibes, als zur Abwehr der nachtheiligen zahlloſen Einflüſſe, welche die Erziehung der jetzigen Zeit für die erſte Jugend in ihrem Ge - folge hat. Von Werth bleibt auch jetzt, nachdem der Kreis für die Wirkſamkeit der gymnaſtiſchen Uebungen in krankhaften Zuſtänden ſich erweitert, die allgemeine Darſtellung des Einfluſſes der gymnaſtiſchen Uebungen von Koch, welche er in ſomatiſcher wie pſychologiſcher Hinſicht, unterſtützt durch genaueſte Sachkenntniß aus eigener Erfahrung, genügend nachweiſt.

Jn Betreff des Antheils der Gymnaſtik für die weibliche Erziehung, welche in der Art, wie ſie we - nigſtens in größern Städten allgemein iſt, kräftige Bildungen faſt nur noch als Ausnahmen ſehen läßt, liegt noch ein großer Stein des Anſtoßes in der herrſchenden Anſicht, daß eben dieſe Uebungen für das zweite und zarte Geſchlecht unangemeſſen und ſelbſt zweckwidrig wären. Gegen dieſe Meinung oder dieſes Vorurtheil, deſſen Bekämpfung nur ſchwer denen ge - lang, die ihre Mädchen auf die Turnſäle ſchickten, will ich nicht kämpfen mit Anführung von Citaten über die weibliche Gymnaſtik der Griechen, vielmehr in der Angabe derjenigen Umſtände, welche dieſe Mei - nung im Volke begründeten, und ohnerachtet des Auf - ſchwunges der Turnkunſt für Knaben die Theilnahme der Mädchen annoch niederhalten, die Möglichkeit ihrer Beſeitigung darthun.

Zuvörderſt trägt das Weſen des Turnens, wie es ſich einige Jahre nach den Freiheitskriegen kund gab, eine weſentliche Schuld, und der jetzigen Generation iſt es noch nicht in Vergeſſenheit gekommen, wie durch die Auswüchſe, welche die Turnkunſt damals trieb,17 eine rohe, gewaltſame, verwegene Leibesübung, und durch das Unweſen der Turnlehrer ſelbſt, ſich eine An - tipathie im Volke, zumal gegen die Uebertragung ſol - ches Weſens auf das weibliche Geſchlecht, gegen das Turnweſen ſich bildete. Natürlich überdauert dieſer Widerwille noch den Untergang des Turnweſens der damaligen Zeit, ſowie die Einwirkung der neuern Gymnaſtik. Die Turnlehrer brachten dadurch ihrer Kunſt einen bedeutenden Schaden, daß ſie ſich nicht bloß mit dem Unterrichten der Jugend in Leibesübun - gen begnügten, ſondern eine totale Umwandlung ihrer leiblichen wie geiſtigen Richtung nach aufgeſtellten Jdeen, namentlich Deutſchthümelei herbeiführen wollten. Das Bewußtſein der wohlthätigen Fortwirkung der Uebungen auf Leib und Seele befriedigte ihren heißen Wunſch nicht, ſofort ein neues kräftiges Geſchlecht ge - ſchaffen zu haben.

So entfremdeten ſie ſich die Knaben, um wie viel mehr die Mädchen.

2) Die Schulbildung der Mädchen erlaubt ih - nen nicht Zeit noch Gelegenheit zur Ausbildung kör - perlicher Tüchtigkeit. Ohne die Lorinſerſche Streit - frage hier aufzuregen, beſtätigt die tägliche Erfah - rung das Geſagte. Ein gleiches Verhältniß gilt für die Knabenſchulen, wie für die höhern Unterrichtsan - ſtalten, und einen ſchlagenden Beweis dafür liefert die Liſte der Zöglinge der hieſigen Turnſchule. *)Vergl. den ſpaͤter folgenden Aufſatz: Beſuch der - nigsberger Turnanſtalt. D. H. Die Noth der Kinder in der geiſtigen Arbeit iſt ſo groß daß nicht die Zeit, nicht die Luſt für Leibesbildung, übrig bleiben kann.

3) So lange die Organiſation in den Schulen zur gehörigen Berückſichtigung leiblicher Uebungen nicht vorhanden iſt, wird auch der Erziehung die allgemein als nöthig anerkannte Richtung in angeführter Hin - ſicht fehlen. Wir bemerkten bereits früher, daß in**18dieſem Punkte der weſentlichſte Hebel für die Verallge - meinerung der Gymnaſtik zu ſuchen ſei.

4) Die Gelegenheit fehlt unter den obwaltenden Umſtänden, ſich mit Leichtigkeit von den Einrichtungen und der Zweckmäßigkeit derſelben auch für das weib - liche Geſchlecht überzeugen zu können, und ſomit auch der Wunſch für ihre Benutzung. Was in orthopädi - ſchen Jnſtituten für die angeregte Sache geſchieht, iſt in der Regel vom Verkehr der Welt abgeſchloſſen, und hier auch mit Recht, um die natürliche Scheu der Blosſtellung von Leibesgebrechen nicht zu verletzen.

Die Nothwendigkeit der körperlichen Ausbildung zu erweiſen, iſt fernerhin keine Aufgabe mehr für die Arzeneikunde, und kann auch keine für dieſe Blätter bleiben; es hieße vielmehr Eulen nach Athen tragen, ſollten dieſelben ſich allein in dieſer Hinſicht damit abgeben, um ein anerkanntes Axiom, deſſen Details längſt in jeder Beziehung hinlänglich feſtgeſtellt ſind, näher und - weitläufiger beſprechen zu wollen. Vom Standpunkte der Arzeneikunde darf daher die Noth - wendigkeit der leiblichen Erziehung, wie der Heraus - geber dieſer Blätter in dem Proſpectus die Mitwir - kung der Aerzte zu ſeiner wohlgemeinten Abſicht in Anſpruch nimmt, hier um ſo weniger berückſichtigt werden, als es vielmehr gilt, wie ihre vorhandenen Lehren zum gemeinſamen guten Zwecke und zur Ein - führung ins Leben am beſten mit der Turnkunſt in Verbindung geſetzt werden können, und welcherlei Uebungen beſondern Krankheitsformen am zweckmäßig - ſten entſprechen. Jn diätetiſcher Hinſicht iſt über die - ſen Zweck wohl bereits genug und tüchtiges geſpro - chen*)Vor Allem in: Die Gymnaſtik aus dem Geſichtspunkte der Diaͤtetik und Pſychologie u. ſ. w. von Dr. Koch (jetzt Medicinalrath in Merſeburg) Magdeburg 1830. Ein Buch, was jeder Familienvater beſitzen ſollte. D. H. , für die therapeutiſche Seite der Turnkunſt ſteht noch ein weites Feld offen. Dr. Kleeberg.

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IV. Geſchichte der Hanauer Turngemeinde nebſt deren Geſellſchaftsordnung.

Das Turnen nahm hier ſeinen Anfang gleich nach dem Befreiungskriege, indem unter Leitung des dama - ligen Gymnaſiallehrers Prof. Vormel (jetzt Direktor des Gymnaſiums in Frankfurt a. M.) ein Turnplatz für das Gymnaſium errichtet wurde, welcher hernach auch von Andern, Knaben und Erwachſenen, beſucht wurde. Beſonders verdient machte ſich um dieſen erſten Turnplatz der älteſte Sohn des damaligen Stadtſyndi - kus, ſpäteren Bürgermeiſters Karl, der leider früh verſtarb, Obergerichtsprokurator Auguſt Karl, wel - cher als der eigentliche Begründer des Turnweſens in unſerer Stadt zu betrachten iſt. Er war die Seele des hieſigen Turnplatzes, und leitete denſelben bis zum Schluſſe der öffentlichen Turnplätze (1819).

Nach dieſer Zeit ſetzte ſich das Turnen nur kümmerlich in kleineren Kreiſen fort, und namentlich war es wieder die Familie Karl, welcher wir es zu verdanken haben, daß das Turnen hier nie ganz auf - hörte, und daß wenigſtens einige Zöglinge der alten Schule übrig blieben, von welchen der neue Aufſchwung ausgehen ſollte.

Die Turngeräthſchaften (Reck, Barren, Schwin - gel, Seile ꝛc. ) vererbten ſich in den auf einanderfol - genden und durch Wohnortsveränderung der Mitglie - der oder durch andere Umſtände wieder aufgelöſten Ge - ſellſchaften, bis im Jahre 1838 durch den Zuſammen -20 tritt von nur 5 älteren Turnern der Grund zu der jetzt beſtehenden und ſich herrlich ausbreitenden Geſell - ſchaft gelegt wurde. Jm letzten Winter wurde das Winterturnen in einem von der, bis zu 70 und mehr Mitgliedern angewachſenen Geſellſchaft gemietheten Saale zuerſt in größerer Ansdehnung getrieben.

Dieſen Sommer erhielt die Geſellſchaft ihre erſte Unterſtützung, indem der Stadtvorſtand derſelben, auf ihr Anſuchen um Ueberweiſung eines ſtädtiſchen Grund - ſtücks zu einem Sommerturnplatz, weil ſich kein ſol - ches in der Stadt für den Augenblick ausmitteln ließ, die Miethe für ihren Sommerturnplatz mit 30 fl. aus der Stadtkaſſe bezahlte.

Jetzt hat der Stadtvorſtand als weitere Aner - kennung der Geſellſchaft die nicht benutzte Hospitalkir - che zum ſtändigen Winterturnplatz angewieſen. Ueber - haupt hat die Geſellſchaft durch ihr wackeres Streben und den in derſelben waltenden geſunden Geiſt, das Vertrauen nicht nur des Publikums, ſondern auch aller Behörden erworben, ſo daß für ihre fortſchreiten - de Entwickelung die beſten Hoffnungen ausgeſprochen werden können.

Jm Herbſte vorigen Jahres gab die Geſellſchaft ihr erſtes, im Frühjahre dieſes Jahres ihr zweites, und am verfloſſenen 2. Oktober ihr drittes Schau - turnen, bei welchen aus der größer werdenden Menge der Zuſchauer die wachſende Theilnahme des Publi - kums zu erkennen war.

Jm Sommer v. J. vermehrte die Geſellſchaft ihre Geräthſchaften durch Anſchaffung eines Kletterge - rüſtes; im letzten Winter ſchaffte ſie weiter eine wag - rechte Leiter und eine Streckſchaukel an, welche letztere auch auf dem diesjährigen Sommerturnplatz angebracht war; der diesjährige Winterturnſaal wird eben einge - richtet.

Der Beitrag eines Mitgliedes beträgt ordnungs - mäßig bis jetzt 1 fl. halbjährlich; für den Schwimm -21 unterricht war, da die Caſſe den nöthigen Überſchuß nicht hatte, ein weiterer Beitrag von 1 fl. 20 kr. nöthig.

Die innere Einrichtung der Geſellſchaft iſt aus nachfolgender Geſellſchaftsordnung zu erſehen.

Außer dem unſerigen beſtehen noch zwei Turn - plätze in hieſiger Stadt: nämlich der im Sommer 1838 errichtete Turnplatz für das Gymnaſium, und der bei der Bürgerſchule, jedoch noch als Privatſache beſtehende.

Die Zahl der Mitglieder unſeres Vereins iſt jetzt 122, die der ſeit dieſem Spätſommer Aufgenom - menen 4, ſowie der Ausgetretenen 9, derer, ſo den Uebungen nicht fleißig beiwohnten und deshalb ausge - ſtoßen ſind 2, und derjenigen endlich, welche dermal in Vorſchlag zur Aufnahme begriffen 5.

Geturnt wurde im vorigen Winter und Som - mer, am Abend der Mittwoche und Samſtage in jeder Woche, doch werden die Uebungen in dieſem Winter, wegen des für die jetzige Turnerzahl engen Raumes des neuen Platzes an vier Abenden in der Woche ſtatt - finden müſſen, wobei die ganze Schaar in 2 Abthei - lungen von je 6 Ringen gebracht ſein wird.

Der Turnvorſtand tritt in Zeit von 14 Tagen einmal, Abends 8 Uhr, zuſammen, zur Berathung über das Wohl der Gemeinde, Verpflichtung neuer Mitglieder auf die Geſetze, und zur Aufzeichnung derjenigen, welche etwa zur Aufnahme ſich vorſchla - gen laſſen.

Hanau, 31. Oktober 1842. Der Turnwart Aug. Schärttner, im Auftrage des Vorſtandes.

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Geſellſchafts-Ordnung der Turngeſellſchaft in Hanau.

Erſter Abſchnitt. Der Verein.

§. 1. Zweck des Vereins.

Die Turngeſellſchaft iſt ein Verein junger Män - ner, welche zuſammengetreten ſind, zum Zweck gemein - ſchaftlicher Körperübungen.

§. 2. Zweck der Turnuͤbungen.

Die Turnübungen haben zum Zweck, neben Entwickelung und Kräftigung der körperlichen Anlagen einen wackern deutſchen Sinn und Reinheit der Sitten zu erſtreben, zu bewahren und zu verbreiten.

§. 3. Mitglieder.

Die Geſellſchaft iſt zuſammengeſetzt aus wirk - lichen Mitgliedern und Ehrenmitgliedern.

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§. 4. Verfaſſung der Geſellſchaft.

An der Spitze der Geſellſchaft ſteht ein aus und von der Geſellſchaft gewählter Vorſtand von 9 Mitgliedern, welche aus ihrer Mitte einen Sprecher als Leiter der Vorſtandsverhandlungen und einen Ver - walter des Vereinsvermögens wählen.

§. 5. Verpflichtungen des Vorſtandes.

1) Verpflichtungen des Sprechers.

Der Sprecher hat die Verpflichtung, die Mit - glieder des Vorſtandes, wann immer es nöthig erſcheint, an einen paſſenden Ort zuſammenzurufen, die zur Be - rathung vorliegenden Gegenſtände dem Vorſtand vor - zutragen, die Berathungen darüber zu leiten, die ge - faßten Beſchlüſſe niederzuſchreiben und, wenn ſie ſich zur Bekanntmachung an die Geſellſchaft eignen, dieſel - ben in einer allgemeinen Verſammlung (am nächſten Turntag) der Geſellſchaft bekannt zu machen. Ferner hat derſelbe das Jahrbuch der Geſellſchaft zu führen.

2) Verpflichtungen des Verwalters.

Der Verwalter hat die Beiträge der Mitglieder, ſowie die Strafgelder und außerordentlichen Auflagen beizutreiben, darüber Buch zu führen und auf ſchrift - liche Anweiſung des Sprechers die von dem Vorſtand beſchloſſenen Ausgaben zu beſtreiten und zu verrechnen. Am Ende jedes Vierteljahres hat derſelbe vor dem Vorſtand Rechnung abzulegen, muß aber auch außer - dem zu jeder Zeit jedem Mitglied auf ſein Verlangen Einſicht in die Bücher geſtatten. Ferner hat derſelbe die Bücherſammlung der Geſellſchaft unter ſein er Aufſicht.

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3) Verpflichtung des Geſammtvorſtandes.

Dem Geſammtvorſtand, als dem Vertreter der Geſellſchaft, liegt die Pflicht ob, über das Wohl der Geſellſchaft zu wachen und beſonders darauf zu ſehen, daß in der Geſellſchaft nichts geſchehe, was ihren ſitt - lichen Zuſtand und die brüderliche Eintracht in derſel - ben ſtören könnte. Er hat das Betragen der ein - zelnen Mitglieder leitend, belehrend und aufmunternd zu überwachen. Er hat über die Aufnahme und Ausſtoßung von Mitgliedern zu entſcheiden. Er allein hat das Recht und die Pflicht, ungeſetzmäßiges Betragen zu rügen, und wenn Störungen eintreten ſollten, die geeigneten Mittel aufzuſuchen und anzu - wenden, um die Ordnung wieder herzuſtellen. Ferner hat er die Befugniß, wenn nöthige oder wün - ſchenswerthe außergewöhnliche Anſchaffungen gemacht werden ſollen, wozu die gewöhnlichen Beiträge nicht ausreichen, bei der Geſellſchaft eine außerordent - liche Auflage zu beantragen; doch ſteht die Bewilli - gung dieſer Auflage (welche für das ganze Jahr die Hälfte des jährlichen Beitrags nicht überſtei - gen darf), der ganzen Geſellſchaft zu.

§. 6. Aufnahme.

Wer in die Geſellſchaft aufgenommen zu werden wünſcht, muß ſich bei dem Vorſtand durch ein Mit - glied vorſchlagen laſſen. Dieſer zeigt durch den Spre - cher (oder in Abweſenheit deſſelben durch einen Stell - vertreter aus den Mitgliedern des Vorſtandes) den Vorgeſchlagenen der Geſellſchaft am nächſten Turntag an und fordert dieſelbe auf, wenn Jemand triftige Gründe gegen die Aufnahme des Vorgeſchlagenen vor - zubringen habe, dieſe einem Vorſtands-Mitgliede an - zugeben. Der Vorgeſchagene wird nun, um ihn ken - nen zu lernen, wenigſtens einmal auf dem Turn -25 platz eingeführt. Nach Verlauf von drei Turntagen entſcheidet dann der Vorſtand über Aufnahme oder Ab - weiſung des Vorgeſchlagenen.

Bedingungen der Aufnahme ſind:

  • 1) unbeſcholtener Ruf,
  • 2) ſittlicher Lebenswandel,
  • 3) anſtändiges Betragen,
  • 4) Alter über 14 Jahre,
  • 5) der Vorgeſchlagene darf aus keiner andern Geſellſchaft ausgeſtoßen ſein.

§. 7. Form der Aufnahme.

Nachdem die Aufnahme des Vorgeſchlagenen durch den Vorſtand beſchloſſen iſt, wird derſelbe mit den Geſetzen bekannt gemacht und nachdem er in die Hand des Sprechers (Stellvertreters) das Verſprechen abgelegt hat, den Geſetzen und Anordnungen der Ge - ſellſchaft ſich willig zu fügen, wird er am nächſten Turntag durch den Sprecher in die Geſellſchaft einge - führt, wo er in die Hand des Turnwarts dieſes Ver - ſprechen laut zu wiederholen hat und von jetzt an als Mitglied gilt, von der Geſellſchaft durch Zuruf begrüßt und von dem Turnwart einer Riege zugetheilt wird.

§. 8. Ausſtoßung.

Die Ausſtoßung geſchieht durch den Vorſtand; doch findet gegen den Beſchluß deſſelben eine Berufung an die ganze Geſellſchaft Statt, welche durch der Stimmen aller Mitglieder den Beſchluß des Vorſtan - des umſtoßen kann.

Gründe für die Ausſtoßung ſind:

  • 1) unſittlicher Lebenswandel,
  • 2) wiederholt gerügtes unanſtändiges Betragen,
  • 3) nachläſſiges Beſuchen des Turnplatzes,
Jahrb. d. Turnkunſt. I. 226
  • 4) Widerſetzlichkeit gegen Turnwart und Vor - turner,
  • 5) Weigerung des Gehorſams gegen die Geſetze,
  • 6) Verweigerung des Beitrags,
  • 7) der Geſellſchaft feindſelige und nachtheilige Reden und Handlungen.

§. 9. Wahlen.

Die Wahlen des Vorſtandes und des Turnwarts geſchehen von der Geſellſchaft.

Die Vorturner werden von dem Vorſtand be - ſtimmt und von dem Turnwart den Riegen zugetheilt.

Die Anmänner werden von jeder Riege gewählt.

§. 10. Form der Wahlen.

1) Wahl des Vorſtandes.

Jedes Mitglied ſchreibt auf einen Zettel die Namen Derjenigen, welche es zu Vorſtandsmitgliedern wünſcht. Dieſe Zettel werden gefaltet in ein Gefäß gelegt. Wenn alle geſtimmt haben, werden die Zettel unterſucht, und die Mitglieder, welche abſteigend die meiſten Stimmen haben, ſind für die beſtimmte Zeit Vorſtandsmitglieder. Findet für das letzte zu wählen - de Vorſtandsmitglied Stimmengleichheit für zwei oder mehre Statt, ſo wird durch Rottirung entſchieden.

Anmerk. zu 4: Klagen gegen Turnwart und Vorturner duͤrfen auf dem Turnplatz nicht Statt finden, ſon - dern muͤſſen bei dem Vorſtand vorgebracht werden, welcher dann die geeigneten Maßregeln zu ergreifen hat. Anmerk. zu 6: Der Beitrag kann nach Erwägung der Verhältniſſe Einzelnen durch den Vorſtand erlaſſen werden.
6
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2) Wahl des Turnwarts.

Die Wahl geſchieht in derſelben Weiſe, mit dem Unterſchied, daß nur ein Name auf den Zettel ge - ſchrieben wird. Bei Stimmengleichheit entſcheidet eben - falls Rottirung.

§. 11. Ergaͤnzungswahlen.

Tritt der Fall ein, daß einer der Beamteten der Geſellſchaft ſein Amt aufgeben muß, ſo ſchreitet die Geſellſchaft (oder die betreffende Abtheilung) un - verzüglich zu einer Ergänzungswahl. Die Verpflich - tung des Neugewählten dauert aber nur bis zum Ab - lauf des Halbjahrs.

§. 12. Gründe, welche die Niederlegung eines Amtes geſtatten oder bedingen.

  • 1. Austritt oder Ausſtoßung aus der Geſellſchaft.
  • 2. Dauernde Kränklichkeit, welche die Verſehung des Amtes verhindert.
  • 3. Andauernde Verhinderung durch nöthige Ge - ſchäfte.
  • 4. Längere Zeit dauernde Reiſen.
  • Anmerk. 1. Nur wenn einer der unter 2, 3 und 4 ange - fuͤhrten Gruͤnde vorhanden iſt, kann die Annahme eines Amtes abgelehnt werden.
  • Anmerk. 2. Es koͤnnen mehre Aemter in einer Perſon ver - einigt ſein, z. B. Turnwart und Vorſtandsmitglied ꝛc. ꝛc. Nur Sprecher und Verwalter, wegen §. 5, 1. 2., Turnwart und Vorturner oder Vorturner und Anmann muͤſſen getrennt bleiben.
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Zweiter Abſchnitt. Vermögen des Vereins.

§. 13. Worin es beſteht.

Das Vermögen des Vereins beſteht:

  • 1) in den vorhandenen Turngeräthſchaften;
  • 2) in dem in der Kaſſe vorräthigen Geld und der Bücherſammlung.

§. 14. Erwerbung des Vermoͤgens.

Das Vermögen wird erworben:

  • 1) durch die ordentlichen Beiträge;
  • 2) durch Bewilligungen der ſtädtiſchen Be - hörden;
  • 3) durch Schenkungen;
  • 4) durch Vermiethung des Turnplatzes an andere Geſellſchaften.

§. 15. Das Vermoͤgen betreffende Beſtimmungen.

1. Das Vermögen des Vereins iſt unveräuſ - ſerlich.

Wird der Verein genöthigt, durch was für Gründe es auch ſei, ſich aufzulöſen, ſo wird das Ver - mögen den ſtädtiſchen Behörden zur Aufbewahrung über - geben, mit der Beſtimmung, es entweder derſelben Ge - ſellſchaft, wenn die Verhältniſſe ihren Wiederzuſammen - tritt geſtatten, oder einer neuen zu gleichem Zweck und unter ähnlichen Beſtimmungen ſich bildenden Geſellſchaft, nach Vorlegung ihrer Geſellſchaftsordnung auszuhän - digen.

2. Geld ſoll in der Kaſſe durchaus nicht aufgehäuft, auch nicht auf Zinſen angelegt werden. Es ſollen zu29 unvorhergeſehenen Ausgaben nicht mehr als 100 fl. in der Kaſſe ſein. Alles übrige ſoll zu nützlichen Er - weiterungen der Turnanſtalt verwendet werden. (Auch kann es mit Uebereinſtimmung der Geſellſchaft zu einem allgemeinen volksthümlichen Unternehmen als Beitrag verwendet werden.)

Wenn keine Gelegenheit ſich zeigt, die überflüſſi - gen Gelder zu den angegebenen Zwecken zu verwenden; ſo werden die Beiträge herabgeſetzt, können aber zu ihrem früheren Satze wieder erhöht werden, ſobald zur nützlichen und wünſchenswerthen Erweiterung der An - ſtalt Geld erfordert wird. Doch ſollen Erhöhungen möglichſt vermieden werden.

§. 16. Benutzung der Turngeraͤthſchaften und Buͤcher.

1. Außer den Turntagen iſt es nur geübten Tur -[n]ern, und andern nur unter Aufſicht geübter Turner erlaubt, die Turngeräthſchaften zu benutzen.

2. Bücher aus der Sammlung der Geſellſchaft wer - den jedem Mitglied auf Verlangen auf 14 Tage ver - abfolgt; der Leihende hat dann für Beſchädigung oder Verluſt derſelben einzuſtehen; auch darf er ſie ohne Erlaubniß des Verwalters keinem Dritten leihen.

§. 17. Beſchaͤdigungen.

Für Beſchädigungen an den Geräthſchaften, wenn ſie nicht nachweislich durch beſonderes Verſchulden eines Einzelnen entſtanden ſind, ſteht die Kaſſe ein. Für zer - ſchlagene Fechtelklingen hat der, welcher ſie zerſchlägt, ein Drittel des Werthes zu erſetzen.

Wer einen Fremden mitbringt, iſt für den Scha - den, den derſelbe verurſacht, verantwortlich.

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Dritter Abſchnitt. Verhalten der Mitglieder.

§. 18. Allgemeine Beſtimmungen.

Es wird von jedem Mitgliede vorausgeſetzt, daß es den Zweck der Geſellſchaft erkannt habe und ſich die - ſem gemäß ſowohl auf als außer dem Turnplatz betra - gen werde. Anſtändiges und geſetztes Betragen, wel - ches aber keineswegs die Fröhlichkeit ausſchließt, ſteht jedem Jünglinge wohl an und wird um ſo mehr von dem Turner erwartet, als derſelbe zur Erhaltung und Beförderung der ſittlichen Weihe der Geſellſchaft und zur Verbreitung der Geſittung auch nach Außen beru - fen iſt und überall der Jugend als Muſter vorleuch - ten ſoll. Jedes Mitglied iſt daher verpflichtet, nach Kräften dahin zu wirken, daß jeder Turner ſich über - all zur Zufriedenheit der Geſellſchaft betrage. Nament - lich haben die älteren und erprobten Mitglieder die Verpflichtung, wo in Geſellſchaften oder an öffentlichen Orten Turner ſich einfinden, darüber zu wachen, daß kei - ner ſich eine Unanſtändigkeit zu Schulden kommen laſſe, dieſelben in vorkommenden Fällen zu vermahnen und zurechtzuweiſen und hauptſächlich durch eigenes Beiſpiel wohlthätig auf die jüngern einzuwirken. Jeder Tur - ner hat außerdem die Verpflichtung, wenn er etwas Nachtheiliges über das Betragen eines Turners in Er - fahrung bringt, dem Vorſtande davon Anzeige zu ma - chen, damit derſelbe die geeigneten Maßregeln ergrei - fen könne.

§. 19. Beſondere Beſtimmungen.

1) Jeder Turner hat den Anordnungen des Vor - ſtandes willig Folge zu leiſten; wer ſich deſſen weigert, wird von dem Vorſtande zur Rechenſchaft gezogen.

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2) Streitigkeiten zwiſchen einzelnen Mitgliedern dür - fen in keinem Falle, weder auf dem Turnplatz, noch außerhalb durch Selbſthülfe entſchieden werden. Fällt ein Streit auf dem Turnplatz vor, ſo hat der Turn - wart die Sache wo möglich beizulegen, im entgegen - geſetzten Falle hat er die Streitenden zur Ruhe zu verweiſen und die Sache dem Vorſtande vorzubringen, welcher die Streitenden anhört, und deſſen Entſcheidung ſich jeder zu fügen hat.

Daß keine Streitigkeiten an öffentlichen Orten vor - fallen, wodurch auf die ganze Geſellſchaft ein ſchlechtes Licht fallen würde, wird von Jedem erwartet. Jeden - falls haben in einem vorkommenden Falle der Art die gegenwärtigen Vorſtandsmitglieder ꝛc., ſo wie die älteren Turner von ihrem Anſehen Gebrauch zu ma - chen, die ſtreitenden Parteien zu beruhigen, oder nach Lage der Sache zu entfernen. Ueberhaupt ſollen ſol - che Unregelmäßigkeiten zu ſtrenger Rechenſchaft gezogen werden.

3) Wird jedem Turner zur Pflicht gemacht, über - all in Geberden, Reden und Handlungen den ſtreng - ſten Anſtand zu wahren. Uebertretungen dieſer Regel ſollen, als den Turner entwürdigend und die Geſell - ſchaft beſchimpfend, auf das Strengſte und bis zur Ausſtoßung geahndet werden.

Es wird überdies erwartet, daß jeder Turner aus Achtung gegen die Geſellſchaft und im Gefühl ſeiner Würde, auch Andern, welche ſich in ſeiner Gegenwart dergleichen erlauben, ſein Mißfallen zu erkennen gebe, und wenn dies nicht berückſichtigt wird, ſich aus ihrer Geſellſchaft entferne; denn jede Unanſtändigkeit ihm ge - genüber muß er als eine Beleidigung ſeiner Menſchen - würde anſehen.

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Vierter Abſchnitt. Der Turnplatz.

§. 20. Verhaͤltniß der Turner zu einander.

Auf dem Turnplatz ſtehen alle Turner als Brüder zu einander und nennen ſich Du. Obgleich es nun wünſchenswerth wäre, daß dieſes Du auch außerhalb des Turnplatzes zwiſchen Turnern beibehalten würde, ſo können doch bürgerliche Verhältniſſe dort eine Aen - derung erheiſchen. Auf Ehrenmitglieder bezieht ſich dieſe Vorſchrift überhaupt nicht.

§. 21. Turnkleidung.

Die Kleidung des Turners beſteht in:

1) einer Jacke von ungebleichter Leinwand, welche am beſten ſtatt der Knöpfe mit Bändern verſehen iſt.

2) Hoſen von demſelben Stoffe, weit genug, um die Glieder nicht zu beengen, jedoch nicht zu weit, um nicht durch Pludern die Bewegung zu hindern.

  • Anmerk. 1) Der Turnwart und die Vorturner haben ein Abzeichen an der Jacke.
  • Anmerk. 2) Halsbinden koͤnnen nur in ſeltenen Faͤllen geſtat - tet werden, duͤrfen aber auch dann nur duͤnn und leicht umgebunden ſein.

§. 22.

1) Der Turnplatz wird an den Turntagen um 6 Uhr geöffnet und das Turnen in den Riegen beginnt, ſobald die erforderliche Anzahl von Vorturnern oder Anmännern auf dem Platze iſt.

2) Auf den Ruf des Turnwarts zum Turnen oder ein Zeichen mit der Schelle, ſtellt jeder Turner ſich zu ſeiner Riege; wer ſpäter kommt, ſtellt ſich unten hin.

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3) Jede Uebung, welche der Vorturner vorturnt, wird von jedem in der Riege der Reihe nach gemacht oder wenigſtens verſucht. Keiner darf ſich weigern, eine Uebung zu machen, es müßte denn ſein, daß ir - gend eine körperliche Urſache oder Krankheit eine oder die andere Uebung verböte.

4) Kein Turner darf ohne Erlaubniß ſeines Vor - turners aus ſeiner Riege und zu einer andern Riege treten; kein Vorturner darf einen Turner aus einer andern Riege ohne Erlaubniß ſeines Vorturners in ſei - ner Riege turnen laſſen. Wer dawider handelt, ver - fällt in eine Strafe von 6 Kreuzer.

§. 23. Regelmaͤßige Dienſtleiſtungen.

Das Herbeiſchaffen der beweglichen Geräthſchaften geſchieht von der Riege, welche ſie zuerſt nöthig hat, und zwar von den Einzelnen der Reihe nach; das Wegſchaffen von der Riege, welche ſie zuletzt gebrauchte. Um Zänkereien zu vermeiden, hat der Anmann der Riege diejenigen zu verzeichnen, welche das Holen und Fortſchaffen zuletzt beſorgt haben.

  • Anmerk. Die beweglichen Geraͤthſchaften duͤrfen nur auf dem fuͤr ſie beſtimmten Platz gebraucht und alſo nicht auf einen andern Platz geſchleppt werden.

§. 24. Vorſchriften, das Turnen betreffend.

1) Es iſt nicht erlaubt, in anderer, als der vorge - ſchriebenen Turnkleidung zu turnen; wer in ande - rer Kleidung auf dem Turnplatz erſcheint, tritt als Zuſchauer an einen dazu beſtimmten Platz auf die Seite. Fremde ſind von dieſer Regel ausgenommen.

2) Während der Uebungen hat jeder Turner ge - nau darauf zu achten, welche Uebung der Vorturner vormacht und welche Handgriffe dabei anzuwenden ſind; denn nur dadurch können Unglücksfälle verhütet wer -34 den. Auch hat der Vorturner die jedesmalige Uebung laut auszurufen und beim Vormachen eine deutliche Erklärung davon zu geben.

3) Auf den Ruf Bahn frei hat Jeder ſogleich den Raum zu verlaſſen, welcher zu der vorzunehmen - den Uebung erforderlich iſt. Der Wichtigkeit dieſer Regel wegen wird eine Strafe von 3 Kreuzer auf ihre Verletzung geſetzt.

4) Während der Uebungen ſollen alle Reden und Handlungen, ſelbſt Scherze, welche die Aufmerkſamkeit ſtören, unterlaſſen werden, und iſt der Wichtigkeit we - gen auf jedes Dawiderhandeln eine Strafe von 3 Kreu - zer geſetzt.

5) Nach gemachter Uebung tritt jeder ſogleich auf ſeinen Platz zurück.

6) Ohne genügende Urſache darf Keiner während der Uebungen aus der Riege treten und iſt ſolche vor - her dem Vorturner anzugeben.

7) Wer ohne triftige Gründe die ordentlichen Turn - übungen verſäumt, verfällt in eine Strafe von 6 Kreuzer.

Gründe, welche das Ausbleiben entſchuldigen, ſind:

  • a. dringende Geſchäfte,
  • b. Verreiſtſein,
  • c. eine Krankheit, welche den Turner am Aus - gehen verhindert. Kann derſelbe ausgehen, ſo iſt er verpflichtet, zu erſcheinen, und in dieſem Falle tritt er, ausnahmsweiſe von §. 24., 1., als Zuſchauer in ſeine Riege; denn auch das bloſe Zuſchauen iſt fördernd für die Uebungen.
  • Anmerk. 1: Das Ausbleiben und die Gruͤnde dafuͤr ſollen wo moͤglich vorher dem betreffenden Vorturner ange - zeigt werden.
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  • Anmerk. 2: Entſchuldigungen, welche ſich in der Folge als unwahr herausſtellen, ſollen auf das Strengſte beſtraft werden; denn Luͤge iſt ein entehrendes Laſter, das am allerwenigſten der Turner ſich zu Schulden kommen laſſen darf.

8) Wer viermal hintereinander ohne Entſchuldigung fehlt, ſoll von dem Turnwart gemahnt, und wenn die Ermahnung nichts fruchtet, ausgeſtoßen werden; denn ein ſolcher giebt zu erkennen, daß die Uebungen für ihn keinen Werth haben und kann daher durch ſein böſes Beiſpiel der Geſellſchaft nur ſchädlich ſein.

9) Es iſt nicht erlaubt, vor dem am Schluß der Uebungen Statt findenden Verleſen ohne Entſchul - digung den Turnplatz zu verlaſſen, und die Entſchul - digungen müſſen vor dem Weggehen dem Turnwart angegeben werden, bei 6 Kreuzer Strafe.

10) Es wird an jedem Turntage von jeder Riege an zwei verſchiedenen Geräthſchaften oder Uebungs - plätzen nach einander geturnt. Die Aufeinanderfolge der Uebungen iſt auf dem Turnplatz angehängt. Jede Riege tritt beim Beginn zu der Uebung, welche für ſie an der Reihe iſt, und auf das Zeichen des Turnwarts rückt jede in Ordnung auf die ſie zunächſt treffende. Von Zeit zu Zeit vereinigen ſich alle Riegen zu ge - meinſchaftlichen Uebungen (Turnläufen, Turnfahrten, Turnſpielen ꝛc.)

11) Fremde dürfen drei Mal eingeführt werden (vergl. §. 17.); Turner von auswärtigen Turn - plätzen haben natürlich jederzeit Zutritt.

12) Außer den Turntagen darf der Turnplatz nur unter Aufſicht von geübten Turnern beſucht werden und haben die Ungeübteren dieſen oder den gegenwär - tigen Vorturnern und Anmännern Folge zu leiſten. An ſolchen Tagen dürfen die beweglichen Geräthſchaf - ten nur mit beſonderer Erlaubniß des Turnwarts be - nutzt werden.

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13) Hunde dürfen nicht mitgebracht werden.

14) Das Rauchen iſt nur auf dem Zuſchauer - platz erlaubt; doch iſt es keinem Turner erlaubt, während der Turnzeit ſich deshalb dorthin zu be - geben.

Dieſe Geſellſchaftsordnung ſoll jedes Vier - teljahr einmal und der vierte Abſchnitt jeden Monat einmal auf dem Turnplatz öffentlich verleſen werden.

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V. Die Turngemeinde zu Schmalleningken.

Schmalleningken iſt ein Marktflecken am Ufer des Niemen gelegen, an dem Punkte, an welchem Preußen, Rußland und Polen zuſammen ſtoßen. Die letzten Häuſer des Ortes liegen faſt unmittelbar an der Szwen - toje, welches das Grenzflüßchen zwiſchen Preußen und Rußland, und von ſo geringer Breite iſt, daß man bei gewöhnlichem Waſſerſtande ohne Springſtange mit Leichtigkeit hinüberſpringen kann.

Als Arzt des Ortes hielt ich es für Pflicht, für die körperliche Ausbildung der heranwachſenden Jugend meines Wirkungskreiſes Sorge zu tragen, und wo kräftigt ſich der Körper mehr und zeitiger, als auf dem Turnplatze? Mein Vorſchlag, eine Turnan - ſtalt zu gründen, wurde von den Aeltern und Lehrern der hieſigen Jugend und vor allem von dieſer ſelbſt mit großer Freude aufgenommen, und ſogleich zur Ausführung des vorgelegten Planes geſchritten, wobei ich in den Lehrern den Herren Gamradt und Meyer, von denen erſterer ein Zögling des Fridericianums in Königsberg, die thätigſten und treulichſten Hel - fer gefunden und noch beſitze. Von der Polizei - Behörde wurde die Benutzung eines Stückes Commu - nal-Grundes bewilligt und dieſes zu unſerm Zwecke2*38aufs beſte eingerichtet. Die Beſchaffenheit des Platzes läßt nichts zu wünſchen übrig, der Grund beſteht aus ſandigem feſtem Boden, im Norden von Hügeln, im Weſten, Oſten und Süden durch Bäume vor Winden hinlänglich geſchützt. Da hier das Turnen noch un - bekannt, und der Mitglieder der Turngemeinde im Anfange nur wenige waren, ſo konnten die Vorrichtungen da - zu bis jetzt ſich nur auf die nothwendigſten beſchrän - ken und die am meiſten erforderlichen Geräthſchaften herbeigeſchafft werden. Es ſind daher nur einige Bar - ten und Recke aufgeſtellt, der Abhang eines Hügels iſt in eine gleichmäßig ſchiefe Fläche verwandelt, ein in einen ſpitzen Winkel auslaufender Graben aufgeworfen worden; einige Taue wurden angeſchafft und von je - dem Turner eine Springſtange gehalten.

Die Turngemeinde beſteht ungefähr aus 30 Mit - gliedern verſchiedenen Alters, vom 15ten bis zum 6ten Jahre herab. An ihrer Spitze ſteht ein immerwähren - der Turnrath, beſtehend aus den ſchon genannten Herren Lehrern Gamradt und Meyer, und mir. Von ihm geht alles aus, was für unſer Turnweſen beſchloſ - ſen und beſtimmt wird; unter ihm ſtehen 2 Turn - warte, Poſten, welche der Reihe nach von allen grö - ßern Turnern des Vereines auf eine Woche verwaltet werden, deren Pflicht es iſt, auf Ordnung des Turn - platzes und Jnſtandhaltung deſſelben und der Turnge - räthſchaften zu halten, ſowie für die Sicherheit der be - weglichen Gegenſtände zu wachen. Die Turner ſind ſämmtlich mit Turnkleidern verſehen, und erſcheinen, Donnerſtag und Sonntag ausgenommen, im Sommer täglich Abends gegen 6 Uhr bei guter Witterung auf dem Turnplatze. Das Turnen ſelbſt beginnt um 6 Uhr und wird ſpäteſtens um 8 Uhr geſchloſſen. Die Gemeinde iſt in zwei Abtheilungen getheilt, von denen die eine am Barren, die andere am Recke unter Auf - ſicht und Leitung des Turnrathes turnet. Auch beim Baden werden, da ſämmtliche Mitglieder des Turnra -39 thes und der größte Theil der Turngemeinde des Schwim - mens mehr oder weniger kundig, mit der gehörigen Vorſicht und Aufſicht, Uebungen im Springen, Schwim - men und Tauchen veranſtaltet.

Die Statuten werden nach dem Turnen der Ge - meinde vom Turnrathe mehrmals wiederholt, und ſind folgende:

  • 1) Auf dem Turnplatze herrſcht Freiheit und Gleichheit unter den Mitgliedern der Ge - meinde, hier gilt kein Anſehn der Perſon und wird keine Rückſicht auf Geburt, Alter, Größe, Sprache, Religion und andere etwa - nige äußere Verhältniſſe genommen.
  • 2) Die Gemeinde hat dem Turnrathe und in deſſen Auftrage auch den Turnwarten auf dem Turnplatze Folge zu leiſten.
  • 3) Außer der vom Turnrathe beſtimmten und von den Turnwarten bekannt gemachten Zeit und ohne Aufſicht darf nicht geturnt werden.

Die Ordnung, welche von der Gemeinde beim Turnen beobachtet wird, iſt folgende: Gegen halb ſechs Uhr wird in dem ganz nahe dem Turnplatze vorbeifließenden Niemen gebadet, auch werden wöchent - lich ein bis zweimal Uebungen im Schwimmen ꝛc. an - geſtellt. Vom Baden wird zum Turnplatz gegangen. Jſt das Turnen beendigt, ſo wird, was für den andern Tag beſchloſſen, bekannt gemacht, die Gemeinde ordnet ſich hierauf und zieht unter Abſingung eines Turn - oder Jugendliedes, die Stangen aus den Recken in ihrer Mitte, bis zum Schlagbaum, an welchem ſie ſich trennt.

Die Ausgaben werden gemeinſchaftlich vom Turn - rathe und den Aeltern der Turner beſtritten. Zum näch - ſten Frühjahre iſt die Aufſtellung einer Kletterſtange,40 einer Leiter und die Anſchaffung mehrerer anderer zum Turnen gehöriger Geräthſchaften beſchloſſen worden.

Jm Laufe des verwichenen Sommers ward auch eine Turnfahrt unternommen. Die Turner verſammel - ten ſich an einem Sonntage Morgens 5 Uhr vor dem Schulgebäude und zogen dann längs dem ziem - lich ſteilen Niemen-Ufer bis zum höchſten Punkte deſ - ſelben, auf welchem das eine Poſtmeile entfert liegende Adl. Gut Kaſſigkehmen geſehen wird, was zum Sam - melplatze beſtimmt wurde. Hierauf brachen die Turner in drei gleiche Züge vertheilt, von denen jeder von einem Mitgliede des Turnrathes geführt wurde, in der für jeden Zug beſtimmten Richtung nach dem Walde auf, und zwar ſo, daß die einzelnen Glieder der einzel - nen Züge durch beſtimmte Signale mit einander in Ver - bindung ſtanden. Zuvor war beſtimmt worden, daß derjenige Zug den Preis errungen haben ſolle, welcher als der erſte auf dem beſtimmten Sammelplatze ankom - men würde, doch mußte er den vorgeſchriebenen Weg verfolgt und die ihm entgegen tretenden Hinderniſſe, Hecken, Gräben u. ſ. w. nicht umgangen haben, wel - ches durch gegebenes Wort verſprochen war. Durch das von den einzelnen Zügen mehrmals gegebene Sig - nal, konnten dieſe ungefähr auf die Richtung und Ent - fernung des einen von dem andern ſchließen und die Freude und der Wetteifer unter den Turnern war nicht gering, wenn ein Zug vor dem andern einen Vorſprung errungen. Alle drei Züge langten faſt zu gleicher Zeit an dem beſtimmten Sammelplatze, dem Kaſſigkehmer Kruge an. Nachdem hier einige Erfri - ſchungen eingenommen, geſungen und geſpielt worden, ward der Rückweg in ähnlicher, jedoch in einer andern Richtung angetreten und gegen Mittag Schmallening - ken erreicht. Sämmtliche Turner, ſowie auch einige Väter und Verwandte derſelben, welche die Turnfahrt mitgemacht und den einzelnen Zügen ſich angeſchloſſen hatten, äußerten ihre Freude über das gehabte Vergnü -41 gen und den Wunſch, binnen kurzer Zeit eine zweite Turnfahrt zu unternehmen, welche jedoch, der anhal - tend ſchlechten Witterung willen, nicht ausgeführt wer - den konnte. Eben ſo mußte ein Schauturnen, wel - ches für einen ſchönen Herbſttag beſtimmt war, einge - tretener Hinderniſſe wegen unterbleiben.

Waren es nun zunächſt perſönliche Tapferkeit, dann Männlichkeit, Tugend im alten Sinne des Wortes und Wahrhaftigkeit, die beim Beginne des turneriſchen Lebens unter Jahns Leitung auf dem Turnplatze Pfle - ge und Gedeihen fanden, ſo konnte in unſerm kleinen Wirkungskreiſe bei ſchwachen Kräften wohl wenig da - von die Rede ſein; aber gleichwohl hat es auch hier an erfreulichen Früchten nicht gefehlt, die bei ernſtem und redlichem Streben gedeihlich empor reifen werden. Ward auch ſchon der jugendlich friſchen Heiterkeit keine Schranke entgegengeſetzt, ſo durfte doch nicht verſäumt werden, die ernſte Tendenz des Ganzen feſtzuhalten und jeglichen Muthwillen mit Nachdruck zurück zu wei - ſen. So herrſchte denn bei den Uebungen, an denen Kinder chriſtlichen und jüdiſchen Glaubens, höhern und niedern Standes der Aeltern Theil nahmen, Strenge und Ordnung. Erreichung körperlicher Gewandheit und Abhärtung durch angemeſſene Leibesübungen, für die in Stadt und Land noch zu wenig geſorgt wird, ſo wie Verträglichkeit der Jugend und Erhöhung der Sittlichkeit lag uns vorzugsweiſe am Herzen, bei der Errichtung des Turnplatzes, und der Erfolg täuſchte uns nicht. Alle Turner, die nun in dem gemeinſa - men Streben einen Eingangspunkt gefunden, welcher ſie nunmehr ihre Mußeſtunden nützlicher zubringen lehrte, begannen nun in größerer froher Eintracht zu leben und die beim Scheiden vom Turnplatze ange - ſtimmten Geſänge erfüllten ſie mit heiterer Freude und belebten zum beharrlichen Fortſchritte bei den körper - lichen Uebungen. So manche Klage verſtummte, die früher nur zu oft gehört war, der Eifer für die Schul -**42wiſſenſchaften nahm im allgemeinen zu, mit freundli - cherem Geſichte betraten die Kinder die Schule, auch ward das Gute und die Zweckmäßigkeit von den Ael - tern auf das lebhafteſte anerkannt. Wie hätte das nicht auch der Lehrer Gemüth erheben, und ihnen ein mächtiger Sporn ſein ſollen, mit Beginn des nächſten Frühjahres aufs neue den Turnplatz zu eröffnen, und dem ſchwachen Anfange einen gedeihlicheren Fortgang folgen zu laſſen.

Schmalleningken, im Februar 1843. Dr. Harniſch.

43

VI. Turnfeſte.

Der 5. September 1841 verſammelte etwa 20 Turner der Hanauer Gemeinde, und ſämmtliche der Frank - furter auf dem Turnplatze der letztern zu einem Wett - turnen. Es war dies, ſoviel uns bekannt, der erſte und keineswegs mißlungene Verſuch ſolche gemeinſchaft - liche Feſte abzuhalten, bei denen ſich die Turner ver - ſchiedener Gemeinden perſönlich näher kennen lernen und die einen auch mit den Uebungen der andern vertraut werden. Auch dadurch, daß man ſich bei ſol - chen Gelegenheiten gegenſeitig ausſpricht, Meinungen und Anſichten in Betreff des Turnens austauſcht, wird der rechte Geiſt, der unter den Turnern herrſchen ſoll, mehr und mehr gehegt und gepflegt, und manchem eingeprägt, der denſelben noch gar nicht, oder doch nur wenig kannte. Mancher wird auch, wenn er das rege, rüſtige Treiben auf dem Turnplatze, das Zuſammenhal - ten und Zuſammenwirken aller zu einem Ziele ſieht, und die Art, in welcher dies geſchieht, beobachtet, da - durch für die Sache gewonnen. Und das Turnen ſelbſt, welches ſich in unſeren Gegenden noch et - was in den Kinderſchuhen befindet, gewinnt dadurch an vermehrter Theilnahme bei Jung und Alt.

Dieſe Gedanken waren es, welche die Frankfur - ter veranlaßten, auf ihrem Platze ein feſtliches Tur - nen abzuhalten. Ein Wettturnen war mit demſelben44 verbunden, um den Geiſt, die Kräfte und die Leiſtun - gen der verſchiedenen Gemeinden, ſo wie der einzelnen Turner derſelben kennen und beurtheilen zu lernen, zu gleicher Zeit aber die beſſern Turner zu noch eifrigerem Streben anzuſpornen, und die übrigen anzufeuern, es den Vorangeeilten nach - und gleichzuthun, immer aber das Ziel der deutſchen Turnkunſt im Auge zu behalten.

Drei wurden bei jenem Turnen von den Kampf - richtern als die beſten genannt und mit Lorbeerkrän - zen bekränzt. *)Warum ſind dieſe drei Sieger nicht genannt? Jch er - ditte mir ihre Namen fuͤr das naͤchſte Heft. D. H.

Bei dieſer Gelegenheit wurde der Wunſch rege, jedes Jahr ein ſolches Wettturnen abzuhalten und zwar abwechſelnd in den Städten, wo Turngemeinden ſich gebildet hätten. Die Mainzer luden dann am 3. Ok - tober deſſelben Jahres, bei einer Zuſammenkunft in Ha - nau, auf das nächſte Jahr zu einem Wettturnen in Mainz ein. Durch mehrere Zuſammenkünfte an ver - ſchiedenen Orten hatten ſich die Turngemeinden, an die ſich noch die neue Turngemeinde zu Darmſtadt angeſchloſſen, näher kennen gelernt, ſo daß alle mit ungemeiner Spannung und Freude an das kommen - de Feſt dachten, und eifrig arbeiteten, daſſelbe zu einem in jeder Hinſicht ſchönen zu machen. Mit frohen Hoffnungen hatten wir uns denn wohlgemuth am 18. September 1842 in Mainz eingefunden, um uns im Laufe des Nachmittags auf dem Turnplatze herum - zutummeln, und fröhlich und guter Dinge zu ſein.

Der Gang bei dem Feſte war folgender: Nach zwei Uhr zogen wir, etwa 100 Turner, von dem Verſammlungsorte, dem Winterturnplatz der Mainzer aus, in Reih und Glied durch die Stadt, die Fahne jeder einzelnen Gemeinde derſelben voran, nach dem vor dem Raimundi Thore gelegenen Turnplatze. Eine Menge Volks folgte dem Zuge, während ſchon eine große Zahl von Turnfreunden und Schauluſtigen am Turnplatze uns erwarteten. Hier angekommen wur -45 den die Fahnen auf dem mit Laubwerk geſchmückten Tie aufgepflanzt, worauf die Turner nach Ablegung der unnöthigen Kleidungsſtücke, in einen Kreis zum Ge - ſang zuſammentraten, und ſodann das Riegenturnen begann, was dem eigentlichen Wettturnen vorausging, und auch während deſſelben theilweiſe fortdauerte. Gegen vier Uhr traten dann die Wettturner aus den vier Gemeinden, 21 an der Zahl, zuſammen, und be - gannen, geordnet von den Kampfrichtern (den Herren Krätzer aus Mainz, Milot aus Hanau und Reichard aus Frankfurt) das Turnen. Zuerſt wurde das Reck, dann der Schwingel und zuletzt der Barren vorgenom - men. Weitere Gerüſte konnten der Kürze der Zeit wegen nicht benutzt werden. Das Turnen ſelbſt wurde in der Weiſe betrieben, daß jeder Wettturner an jedem Turngeräth nach freier eigener Wahl zwei Uebungen vormachte, welche von den übrigen nach der Reihe nachgeturnt wurden. Jeder wählte wie natürlich die beſten, die er im Vorrath hatte, und ſie fielen zur Zufriedenheit der Kampfrichter und der zahlreich ver - ſammelten Turnkenner aus. Schon war die Dämme - rung nahe, als das Wettturnen endete, und die von den Kampfrichtern als Sieger erkannten Turner verleſen wurden. Dies geſchah vom Tie aus, woſelbſt ſich zwölf Mainzer Jungfrauen verſammelt hatten, um die Sieger mit einem Lorbeerkranz und einer Schleife von rother Seide zu ſchmücken. Die Turner ſtanden ſämmtlich um den Tie herum, in ihrer Mitte die Wett - turner. Ein Sieger wurde nach dem andern auf den Tie gerufen, dort bekränzt und bei ſeinem Herunter - kommen von den Turnern mit einem kräftigen Gut Heil begrüßt. Bekränzt wurden in folgender Ordnung:

Schiele von Frankfurt,
Voigt von Hanau,
Poſt von Frankfurt,
Wedekind von Hanau,
Metz von Darmſtadt,
Buchholz von Mainz.
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Ein Geſang folgte der Bekränzung, und eine Turn - kühre beſchloß das Feſt. Es war ſchon dunkel, als wir in derſelben Art, in der wir den Platz betreten hatten, denſelben wieder verließen, um uns bei einem Abendeſſen in einem großen Saale zu verſammeln, und ſo noch einen recht vergnügten Abend zu verleben.

Wir erlauben uns in Bezug auf dieſes froh verlebte Feſt nur noch die Bemerkung zu machen, daß es gar ſehr an Ordnung fehlte, weniger bei den Turnern ſe[l]bſt als bei den Zuſchauern, die die Schranken um den Turnplatz zu durchbrechen und ſo denſelben anzu - füllen ſich nicht entblödeten. Ferner daß der Leiter des Turnweſens in Mainz, Herr Müller, die ganze Laſt der Anordnung und der Ausführung allein auf ſich ru - hen hatte, ohne von einem einzigen ſeiner Turner un - terſtützt zu werden. Möge das im kommenden Jahre wahrſcheinlich in Hanau abzuhaltende Wettturnen nicht an dieſen Mängeln leiden.

Die Hanauer Turngemeinde veranſtaltete, wie jedes Jahr, ſo auch dies Mal am Schluſſe des Som - merhalbjahres ein öffentliches Turnen, wozu die Stadt - behörden und Turnfreunde beſonders, und die Bür - gerſchaft im allgemeinen eingeladen wird. Jn dieſem Jahre fiel daſſelbe auf den 2. Oktober, und verſam - melte zum letzten Mal für das laufende Jahr die Tur - ner der verſchiedenen Gemeinden zu gemeinſamem Tur - nen. Was den Hauptmangel bei dem Mainzer Tur - nen bildete, war hier die Hauptzierde, die Ordnung, die durch thätiges Jneinandergreifen aller, beſonders aber durch den Eifer des Turnwartes und des ihn unterſtützenden Vorſtandes beſtändig aufrecht erhalten wurde. Die Schranken, die den Turnplatz umgaben, wurden geachtet, nur die Stadtbehörden und die be - ſonders eingeladenen Turnfreunde durften den Platz be - treten. So herrſchte Ordnung unter den Turnern,47 ſelbſt im Turnen, frei konnte jeder ſich bewegen; und jedem Anweſenden konnte das ungehinderte Schau - en des Treibens und Arbeitens der Turner werden, wodurch die Theilnahme am Ganzen nothwendig erhöht wurde. Und dieſe Theilnahme war eine allgemeine, eine bei allen Zuſchauern rege. Niemand ging unbefrie - digt von dannen, jeder mit Theilnahme und Liebe zur Sache. Das Turnen ſelbſt war zuerſt Riegenturnen, Turnen in Riegen, von denen eine jede an allen zahl - reich vorhandenen Geräthen tnrnte. Nach beendigtem Riegenturnen trat Turnkühre (Turnen nach freier Wahl) ein, bei welcher die beſſern Turner zuſammen an einigen Gerüſten turnten, jeder die Uebung, die er gerade wollte. Den Schluß des Turnens machte ein Dauerlauf und Schlängellauf von allen anweſenden Turnern, etwa 160 an der Zahl. Mit Geſang war begonnen worden, dem eine kurze Rede des Turnwarts folgte. Mit Geſang wurde geſchloſſen und nachdem ein Feuerwerk abgebrannt war, in Reih und Glied in die Stadt zu einem Abendeſſen marſchiert. Wer noch keinen Begriff davon hatte, was Turnen iſt, hier konnte er ihn erhalten; wer den Geiſt nicht kannte, der unter Turnern herrſcht oder doch herrſchen ſoll, hier konnte er ihn kennen lernen. Fromm, friſch, fröhlich und frei und Einigkeit , dieſe Grundlagen ächten Turner - ſinnes, leuchteten uns bei unſerm Eintritt in den Feſt - ſaal aus dem Hintergrunde deſſelben in Transparenten entgegen. Sie ſtanden zu beiden Seiten eines büſten - ähnlichen Gemäldes, unſern Turnvater Jahn vorſtellend, mit Laubwerk und Blumenkränzen umgeben, von Geren, Schutz und Trutzwaffen aller Art umſtellt. Alles war ſinnig von den Feſtordnern veranſtaltet.

Drei lange Tiſche waren zur Aufnahme der Tur - ner gedeckt, und fröhlich und mäßig, wie es Turnern geziemt, ging es zu bis tief in die Nacht. Das Feſt, wie das Eſſen, war ein echt turneriſches, und letzteres beſonders durch Trinkſprüche, Jahn, Arndt, dem Turn - geiſt aus dem doppelten E. E., der Einheit und Einigkeit48 u. dgl. m. dargebracht, durch Muſik und Geſang, durch Vorträge ernſter und launiger Dichtungen, durch Witz und Frohſinn gewürzt. Viele Freunde und Verehrer des Turnweſens erhöhten, zum Mahle geladen, die Schönheit und Anmuth des Mahles. Vor allen ſei hier eines Mannes dankbar gedacht, der als Beſchützer des Turnweſens in Hanau ſich vielfach verdient ge - macht und ſich die Dankbarkeit ſämmtlicher Hanauer und vieker anderer Turner erworben hat. Es iſt dies Herr Schulinſpektor Röder, ein biederer Deutſcher. Er verſicherte bei einem Trinkſpruche auch ferner ſich des Turnens thätig annehmen, es auch fernerhin kräftig unterſtützen zu wollen. Auch ihm erklang dreimal ein kräftiges Hoch!

Lange ſaßen wir ſo beiſammen, bis wir unſern Rückweg nach Frankfurt und Mainz antraten, die Ha - nauer aber ihren Wohnungen zueilten.

Mögen überall die Turner ſich ſo aneinander an - ſchließen und einſt Deutſchlands Turner ein Ganzes ausmachend ſich brüderlich vereinigen. Vielleicht bei Einweihung des Hermannsdenkmals.

Ein Frankfurter Turner.

Wenn der Verfaſſer über Unordnung bei dem Mainzer Wettturnen klagt, ſo müſſen wir bedenken, daß es mehr Leute giebt, welche die Unordnung, als ſolche, die die Ordnung lieben, und daß, wie der Zeit - geiſt ſich jetzt ausſpricht, ein Turnlehrer immer ſchlecht berathen iſt, ſo er Zucht und Ordnung aufrecht halten will. Jch habe traurige Erfahrungen in dieſer Be - ziehung gemacht. Wir ſind noch lange nicht auf den Punkt gekommen, von welchem aus man das Turnen als einen Zweig der Erziehung betrachtet. Es gilt nur als eine Stunde der Erholung, die man nicht billig genug bezahlen kann. Was man aber unter dieſer Erholung verſteht, iſt leicht zu beantworten, wenn man das vergnügliche Treiben der Jugend u. A. betrachtet. 49Dieſe Klagen mehren ſich von allen Seiten, und ich habe noch keinen einzigen Leiter der Turnübungen ge - funden, der nicht geklagt. Und man frage die ältern Turner, deren viele in hohen Aemtern ſtehen, ſie ſind nicht minder unzufrieden mit dem Geiſte der Ju - gend und ihrer Erziehung. Als ſchlagender Beweis, wie weit zurück wir noch ſind, gilt folgender Zug. Einer meiner Bekannten ſchrieb mir aus Sachſen: Bei meinem zweiten Beſuche des Turnplatzes machte ich die trübe Erfahrung, daß auch nicht die geringſte Zucht und Ordnung herrſchte. Auf meine desfalſige Bemerkung hieß es: wenn wir ihnen nicht deu Wil - len laſſen, ſo kommen ſie gar nicht! Suchen wir daher im Volke ſelbſt eine beſſere Anſicht von der Sa - che zu bewirken, das andere findet ſich dann ſchon von ſelbſt.

D. H.

VII. Statiſtiſches.

A. Beſuch der Königsberger Turnanſtalt.

Wir verſuchen hier nicht, eine Geſchichte der Turnan - ſtalt in Königsberg in Pr. zu geben, ſondern behal - ten uns dieſe, ſowie eine ernſte und bündige Geſchichte der Turnanſtalt in Danzig vom 1. Oktober 1837 1. Oktober 1840 für die nächſten Hefte der Jahrbü - cher vor. Wir wollen hier nur eine kurze, doch möglichſt vollſtändige Ueberſicht von dem Beſuche der Anſtalt geben, und einige Bemerkungen anknüpfen. Der Beſuch war demnach folgender:

Jahrb. d. Turnkunſt. I. 350
Schulen. Winter 1840 41.Zahlende.Freiſchuͤler.Sommer 1841.Zahlende.Freiſchuͤler.Summa des 1. Jahres
1)Collegium Friederi - cianum Direktor Gotthold ...52511424294
2)Kneiphoͤfiſches Gym - naſ. Direktor Schul - rath Lucas ..2277473079
3)Altſtaͤdtiſches Gym - naſ. Direktor Ellendt113432235
4)Hoͤhere Buͤrgerſchule Direktor Buͤttner1616161632
5)Loͤbenichtſche hoͤhere Stadtſchule Direktor Moͤller ....6637122543
6)Elementar - und Pri - vatſchulen ...66121218
7)Erwachſene incl. der Maͤnnerabtheilung18182423142
Summa .. 101100124218458343
Turnerinnen von 6 20 Jahren ..6610101
51
Winter 1841 42.Zahlende.Freiſchuͤler.Sommer 1842.Zahlende.Freiſchuͤler.Summa der Turner im 2ten Jahre.Summa der Turner in beiden Jahren.
13132423137191
883023738117
88382994681
9916162557
1284242043679
1212353414765
4747414188130
109105420818622317660
343135348587103
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Was die Schüler aus Privatanſtalten betrifft, ſo waren diejenigen aus der Privat - und Erzie - hungsanſtalt des Herrn Oberlehrer W. Caſtell die zahlreicheren. Unter den Erwachſenen befanden ſich junge Kaufleute, Studenten, Referendare, Aſſeſſoren, Of - fiziere, Lehrer, Aerzte und Profeſſoren. Bemerkenswerth iſt es, daß der Offizierſtand in Königsberg für das Turnen und Fechten bis jetzt wenig Theilnahme ge - zeigt, während viele der jüngern Offiziere in Danzig ſehr eifrige Turner waren, und ſämmtliche höhere und höchſten Stabsoffiziere ihre Theilnahme mit Wort und That bezeugten.

Bei meiner Ueberfiedelung von Danzig nach Königsberg nahm ſich das Provinzial-Schul-Collegium der Turnſache mit Liebe an, und forderte ſämmtliche Direktoren der hieſigen Schulen auf, ihren Schülern meine Turnanſtalt zu empfehlen. Der Direktor der höhern Bürgerſchule, Herr Büttner, führte mir jene 16 Turner perſönlich zu; Herr Direktor Gotthold vom Collegium Friedericianum, ein Mann von ſeltener gei - ſtiger Rüſtigkeit und Regſamkeit, der noch in ſeinem 66ſten Jahre an allen zeitgemäßen Fragen der Gegen - wart den regſten Antheil nimmt, und an dem ſeine Schüler, deren viele längſt in Amt und Würden, ohne Ausnahme mit wahrer Verehrung hängen, ergriff vor - läufig das beſte Mittel, um der Eltern Wunſch und Willen zu erfahren. Er dictirte nämlich den Schülern eine Frage an die Eltern, ob ſie wünſchten, daß ihre Söhne turnen ſollten. Und es ergab ſich jene bedeutende Anzahl von 52 Turnern. Von ſämmtlichen Schülern zeichneten ſich bis jetzt durch körperliche und geiſtige Friſche und Regſamkeit und turneriſchen Sinn aus: Reimer vom Friederichs-Collegium, und Laubmeyer von der Bürgerſchule. Jener iſt jetzt Stud. jur., dieſer widmet ſich gegenwärtig dem kaufmänniſchen Ge - ſchäfte in Danzig. Auch jetzt zeichnen ſich noch meh - rere aus, doch dies im nächſten Hefte. Von den ab - gegangenen Erwachſenen zeichneten ſich aus:53 Herr Stud. med. Müncheberg und Herr Kaufmann Ehlers aus Lübeck. Die Turnanſtalt zählt ſeit ihres jäh - rigen Beſtehens viele Freunde. Die ſtädtiſchen Behör - den bewilligten eine jährliche Unterſtützung von 200 Rthlr., wofür die Freiſchüler frei ſind, und trugen bei der Regierung an, dieſelbe möge von Einem Hohen Miniſterium ein Gehalt zu erwirken ſuchen. Die Hoch - verordnete Königl. Regierung entſprach ſehr bereitwillig dieſem Antrage, aber Ein Hohes Miniſterium vertrö - ſtete auf die Zeit, wann das dermalen berathene und vorbereitete Turngeſetz ins Leben treten würde. Als Freunde und Beſchützer ſind zu nennen: Herr Stadtrath Bartiſius, Herr Regierungsrath Pinder und Herr Re - gierungs - und Baurath Puppel, letzterer Turner Jahn’s vom Jahre 1811; Herr Stadtverordneter Vorſteher Bittrich, Herr Juſtizrath Chriſtiani, Herr Stadtrath Eduard Köhler, der Mechanikus und Stadtverordnete Herr Steinfurt. Außerdem fühlt ſich die Anſtalt zu herzlichem Danke verpflichtet gegen Herrn Oberlehrer Fatſcheck (deſſen Rath und That dieſelbe viel verdankt), ehemaligem Turner unter Paſſow in Breslau und Jahn in Berlin, ferner gegen die Herren Pfarrer Dr. Weiß, Prof. Simſon, Aſſeſſor Meinecke, Oberlehrer Wechsler an der Burgſchule, und die Kaufleute Herren Laubmeyer, W. Friſch und Ferd. Reinhold. Von den Herren Aerzten nahmen ſich meiner orthopädiſchen Mädchenturnanſtalt ganz beſonders an: Herr Medici - nalrath Dr. Aegidi, die Herren Dr. Dinter, Dr. Fröhlich, Dr. Hasper, Prof. Dr. Hayn, Dr. Hilbert, Dr. Hirſch, Dr. Kleeberg (welchem als meinem ärzt - lichen Beichtvater ich ſehr viel verdanke), Medicinalrath Dr. Seerig und Medicinalrath Dr. von Treyden. Wenn auch trotz dieſer und anderer zahlreicher Freunde und Beſchützer der Turnſache letztere, beſonders wenn wir auf die 5 höhern Schulen ſehen, äußerſt ſchwach ſteht und geht, ſo bedarf es ſehr wohl der ernſten Frage: wie iſt da zu helfen? Dieſe Klagen ertönen von allen Seiten. Jch habe viele Turnplätze beſucht,*54und von vielen Nachrichten empfangen, überall dieſel - be Klage, aber auch denſelben Ausſpruch: ohne ein Turngeſetz, ohne Verpflichtung, wie in Dänemark, Nor - wegen, Schweden und Rußland wird es nie gehen. Täuſchen wir uns nicht wenn wir leſen, daß die Anzahl der Turner einige hunderte ſind. Um zu einem richti - gen Ergebniß zu kommen, ſind mancherlei Fragen zu erwägen, z. B. wie viele turnen nicht? und wir werden finden, daß 78 pCt. unfähig zum Soldatendienſte ſind, und 90 pCt. nicht turnen. Dadurch drängt ſich uns eine nicht zu überſehende Frage auf: wie und in wel - chem Sinn und Geiſt wird geturnt? Eine kleine Be - leuchtung dieſer zweiten Frage ſiehe unter Abwehr. Will man die allgemeine Verpflichtung der Schüler nicht, ſo tritt dieſelbe bis Tertia incl. ein, in den bei - den obern Klaſſen mag freie Wahl herrſchen. Jſt aber auch dies nach falſchen Principien der Neuzeit noch zu ſtreng, ſo bleibt immer noch die Nothwendigkeit, die Anſtalt ſicher zu ſtellen, und da giebt es kein ander Mittel, als daß jeder Schüler, der die Schule beſucht, monatlich 2 Sgr. als Turnbeitrag zahlt, wie hier und da ſchon dieſe Einrichtung getroffen iſt. Dann würde ſich die Zahl der Turner auch ohne Zwang des Beſuches ſehr vergrößern und der Turnlehrer, in ſeinem Beſtehen geſichert, für dieſe Anzahl Turner die Geräthe einrichten und demnächſt einzelne Vorturner beſolden. Wie die Verhältniſſe ſich aber annoch ge - ſtaltet haben, kann und darf jeder Turnlehrer ſeinen gegenwärtigen Aufenthalt nur als einen einſtweiligen betrachten, wodurch die Thatkraft übereilt oder gelähmt, und die Stimmung gereizt oder getrübt wird, kein heimiſches und heimatliches Gefühl zieht in ſein doch ſonſt für alle Empfindungen offenes Herz ein. Es giebt noch einen anderen Nachtheil, wiſſenſchaftlich gebildete Leute mögen ſich einer ſo unſichern Sache nicht hin - geben; und ſo werden wir dahin kommen, daß entwe - der nur Seminariſten Turnlehrer werden, oder, wie in Rußland, und wie der Gymnaſtiker Prof. Dr. Werner55 in Deſſau, früher in Dresden, vorſchlägt, nur Unter - offiziere. Aber in dem einen wie in dem andern Falle wird die deutſche Turnkunſt, turneriſche Er - ziehung und Bildung, der Haupttheil deut - ſcher Volkserziehung, zu Grabe getragen. Alles Gute kommt von oben herab, möge auch für die deutſche Turnkunſt der Auferſtehungsmorgen an - brechen. Gott befohlen.

E.

B. Nachricht über die Turnanſtalt in Heilsberg in Oſtpreußen.

Schon ſeit dem Jahre 1835 iſt an der hieſigen evan - geliſchen Schule unter Anleitung des Lehrers Kohlborn eine Turnanſtalt eingerichtet. Nach dem Abgange des - ſelben ſuchten die übrigen und ſpätern Lehrer ſich theoretiſch und praktiſch ſoweit auszubilden, daß ſie die Schüler auf dem betretenen Felde weiter bringen konn - ten. Ein jährliches Schulfeſt, das allmählig in ein Turnfeſt übergeht und ein zahlreiches Publikum her - beizieht, trägt viel dazu bei, die Vorliebe für das Tur - nen bei Eltern und Kindern zu mehren. Am 7. d. M. überzeugte ſich Herr Turnlehrer Euler aus Königs - berg von dem, was hier geleiſtet wird. Seine Winke und Anleitungen werden gewiß nicht ohne Erfolg ſein.

Heilsberg, im Auguſt 1842. Rektor Kleiſt.

Obengenannter Lehrer Kohlborn unterrichtet jetzt hinter Moskau die Söhne eines ruſſiſchen Großen. 56Der Turnlehrer des Großfürſten in Petersburg, Linden, iſt ein Berliner, außerdem ſind Preußen Turnlehrer in Warſchau, Wien, Ungarn, Turin, Lyon (Dürre), beſonders in Nordamerika. Auffallend iſt es, daß die arme und minder zahlreiche evangeliſche Gemeinde zu Heilsberg ſchon ſo lange einen Turnplatz hat, die rei - chere und zahlreichere katholiſche Gemeinde aber nichts vom Turnen wiſſen will. Als eifrige Freunde des Turnwe - ſens erkannte ich die Herren: Landrath von Buddenbrock, Superintendent Böhnke, Conducteur Kleiſt u. A. Höchſt dankenswerth aber iſt es, daß der Herr Rektor Kleiſt, der früher nie geturnt, nun ſelbſt als Rektor der Schule aus Liebe zu ſeinen Schülern und zur guten Sache jetzt noch theoretiſch und praktiſch ſich im Tur - nen zu unterrichten eifrigſt beſtrebt iſt, während über - all die jüngern Lehrer ſich vornehm von der Sache zu - rückziehen, als wäre dieſelbe nicht achtbar genug. Leider iſt der Platz zu klein und ungünſtig gelegen, aber Lehrer und Schüler benutzen redlich was ihnen geboten iſt, letztere machen an der ſchrägen Leiter und am Reck ganz hübſche Sachen.

D. H.

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C. Dritte Nachricht über die Turnanſtalt zu Frankfurt am Main.

Lokal: Auf der Seilerſtraße und Klapperfeld Lit. B. 110, neben dem Arnoldiſchen Garten, woſelbſt zu allen Tagesſtunden jede zu wünſchende Auskunft ertheilt wird.

Mit dem käuflichen Erwerb einer Lokalrtät, deren voll - ſtändige Einrichtung nunmehr beendet iſt, hat für die Turnanſtalt ein neuer Zeitabſchnitt begonnen. Dieſer Umſtand, die bewilligte Erhöhung des jährlichen Koſten - beitrages (von 600 Gulden) aus dem ſtädtiſchen Aerar und endlich die vermehrte Frequenz machte Verbeſſe - rungen in dem urſprünglichen Plane und namhafte Ermäßigungen der Turngelder möglich, welche die Herausgabe dieſer dritten Nachricht veranlaſſen, womit Folgendes zur Kenntniß des geehrten Publikums ge - bracht wird:

1) Ausbildung und Veredlung der körperlichen Kräfte und in ihrem Gefolge Stählung der Geſund - heit, Beförderung der Sittlichkeit und Erzielung größe - rer Empfänglichkeit der Seele für geiſtige Bildung der Pfleg-Anbefohlenen ſind der Hauptzweck der Anſtalt.

2) Die Uebungen umfaſſen das Turnen in ſei - nem ganzen Umfange, einſchließlich des Roßſchwingens58 (Voltigirens), des Fechtens und Exercirens, letztere beide jedoch als beſondere, von dem gewöhnlichen Un - terrichte getrennte Disciplinen.

3) Es findet in den Uebungen ein, alle Ge - fährlichkeit vermeidender Uebergang vom Leichten zum Schweren ſtatt.

4) Es werden die Uebungen während des gan - zen Jahres mit Ausſchluß von je einigen Wochen Ferien in den Monaten April und September, fort - geſetzt. Jm Winter finden dieſelben in einem ent - ſprechend geheizten Saale ſtatt.

5) Die Aufnahme neuer Schüler findet während der unter 4) gedachten Ferien ſtatt, und es wird, be - ſonders wegen der zu bewirkenden Eintheilung der ver - ſchiedenen Abtheilungen, um recht zeitige Anmeldung der Zöglinge gebeten, indem während der Zwiſchenzeit die Aufnahme nur bedingt und ausnahmsweiſe erfolgen könnte.

6) Der für einen halben Jahres-Kurſus an die Anſtalt zu entrichtende Geldbetrag iſt mit Rückſicht auf die von Hohem Senat für diejenigen Knaben, welche hieſige öffentliche Schulanſtalten beſuchen, vorbehal - tene Vergünſtigung wie folgt feſtgeſetzt worden:

  • a) Für ſolche Knaben und Jünglinge, welche keine öffentlichen Lehranſtalten be - ſuchenfl. 5. 24 kr.
  • b) Für die Schüler des Gym - naſiums, der Selecten -, Mu - ſter - und Mittelſchule 2. 42
  • c) Für die Schüler der Weiß - frauen -, Allerheiligen -, Dom - und Dreikönigsſchule 1. 48.
  • d) Für Erwachſene 3. 30.

7) Der vorſtehend gedachte Geldbetrag, wird beim Einſchreiben für ein halbes Jahr voraus ent - richtet. Weitere Koſten ſind mit den gymnaſtiſchen Uebungen, (excl. der Anſchaffung einer Turnjacke und eines, die Geſetze, Spiele, Lieder und Uebungen enthal -59 tenden Turnbüchleins zu 18 kr ) nicht verbunden, da alle übrigen Erforderniſſe Seitens der Anſtalt geliefert werden.

8) Die gewöhnlichen Unterrichtsſtunden ſind im Sommer von 5 bis halb 7 und von halb 7 bis 8 Uhr Abends; im Winter von 4 bis 5 und von 5 bis 6, von 6 bis 7, von halb 6 bis 7 und von 7 bis halb 9 Abends und werden einer Abtheilung je - chentlich zweimal ertheilt. Ueber die Wahl der Stun - den und Tage findet beim Einſchreiben nähere Ver - ſtändigung ſtatt.

Den gymnaſtiſchen Unterricht für Mädchen betreffend.

9) Es verſteht ſich von ſelbſt, daß zwiſchen den Turnübungen für die männliche Jugend und den für die Mädchen beſtimmten gymnaſtiſchen Anſtands -, Ge - lenkigkeits - und Kraftübungen ein wohl zu beachten - der Unterſchied ſtattfindet. Ueber die Wahl der Unterrichtsſtunden (wöchentlich zweimal) wird ſich beim Einſchreiben verſtändigt. Halbjährig ſind fl. 5. 24 kr. voraus zu entrichten. Beſonderer Vorrichtungen in der Bekleidung bedarf es nicht.

Den Fechtunterricht für Erwachſene betreffend.

10) Es finden allgemeine und beſondere Fecht - ſtunden ſtatt. Für die erſteren, zu welchen wöchentlich für je eine Abtheilung nach näherer Verſtändigung zwei Stunden beſtimmt ſind, und an denen bis zu 16 Perſonen, die im Fechten ſchon geübt ſind und auf einen regelmäßigen Unterricht des übrigens anweſen - den Fechtmeiſters keinen Anſpruch machen, theilneh - men können, wird pr. Semeſter mit fl. 4. 30. kr. vor - aus zahlbar abonnirt.

11) Das Honorar für beſonderen Fechtun -60 terricht regulirt ſich nach der Zahl der Theilnehmer, welche ſich für eine Stunde zuſammen finden, in der Art, daß bei wöchentlich 2 Unterrichtsſtunden:

  • 1 Schüler für die Lection ca. 20 kr. oder p. Se - meſter fl. 16.
  • 2 Schüler für die Lection ca. 15 kr. oder p. Se - meſter je fl. 12.
  • 3 Schüler für die Lection ca. 12 kr. oder p. Se - meſter je fl. 9. 36 kr.
  • 4 Schüler für die Lection ca. 9 kr. oder p. Se - meſter je fl. 7. 12 kr.
  • 5 Schüler für die Lection ca. 8 kr. oder p. Se - meſter je fl. 6. 24 kr.
  • 6 Schüler für die Lection ca. 7 kr. oder p. Se - meſter je fl. 5. 36 kr.

voraus entrichtet.

12) Hau - und Stoß-Rappiere, Hüte, Masken, Hau - und Stoßhandſchuhe werden auf Koſten der An - ſtalt unterhalten. Denjenigen Theilnehmern, welche ſich ihres eigenen Fechtapparats bedienen wollen, wird ein beſonderer Platz zu deſſen Aufbewahrung eingeräumt.

13) Die Klingen, welche während des Fechtens zerbrechen, ſind jedesmal von demjenigen Fechter zu er - ſetzen, in deſſen Hand ſie zerſprangen. Klingen, wel - che in der Hand des Meiſters ſpringen, zahlt der be - treffende Schüler.

Den Exercir-Unterricht betreffend.

14) Hierfür werden nach vorgängiger Verſtän - digung wöchentlich 2 Stunden anberaumt. Der halb - jährige voraus zu entrichtende Geldbeitrag beträgt in dem Falle fl. 4. 30 kr., wenn die Abtheilung der Schüler die Zahl 6 überſteigt. Anderen Falles treten die oben für den Fechtunterricht feſtgeſetzten Honorare ein.

15) Jeder Knabe iſt mit einer Knabenflinte, einem Seitengewehr und einer Patrontaſche zu verſehen, welche Requiſiten in der Anſtalt aufbewahrt werden.

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16) Für junge Leute, welche ſich auf den Stadt - wehrdienſt vorbereiten wollen, beſteht die Einrichtung eines mit dem 1ſten Februar beginnenden und mit der Oſtermeſſe endenden Jnſtructions-Kurſus in der Art, daß die Theilnehmer ſo weit gebracht werden, um auf den Grund des hieſigen Exercir-Reglements, die übliche Prüfung beſtehen zu können. Anmeldungen hierzu ſind möglichſt frühzeitig zu bewirken. Das Honorar für den ganzen Kurſus von ca. 48 Stunden beträgt fl. 4. 30 kr. pr. Mann.

Privatunterricht, Orthopädie.

17) Außer dem durch obige Beſtimmungen ge - ordneten öffentlichen Unterrichte, wird auf Verlangen ſowohl im Lokale der Anſtalt als auch in den betref - fenden Wohnungen Privatunterricht ertheilt. Eben ſo iſt auch die Anſtalt bereit, durch Anordnung dienlicher Uebungen und Stellungen zur Beſeitigung körperlicher Mängel, leichter Knochenverkrümmungen und derglei - chen, ſowohl unmittelbar als vorbeugend mitzuwirken, und wird in ſolchen Fällen Herr Dr. med. A. M. Hoffmann die ärztliche Begutachtung und Leitung, wo ſolches gefordert wird, wie bisher übernehmen.

Frankfurt a. M., im März 1842. Auguſt Ravenſtein.

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VIII. Turnzeitung.

A. Ein Wort über deutſche Turnſitte.

Sie wünſchen, daß ich in Jhren Jahrbüchern meine Anſicht vom Turnweſen ausſpreche; ich weiß nicht ob ich Jhrem Wunſche irgend genügen kann, indem ich einige kurze Andeutungen gebe, zu deren Ausführung es mir gegenwärtig an Muße gebricht.

Jn der Geſtalt, in welcher ſich das Turnen in Deutſchland ſeit 1819 friſtet, kann es nie das werden, was es ſein ſoll. Das Turnen gedeiht, wie Geſchichte und Erfahrung lehrt, nur da zum rechten Daſein und vollen Leben, wo es als naturgemäße, zur Kunſt ſtre - bende Aeußerung der Männlichkeit (virtus) in volks - thümlicher und zeitgemäßer Geſinnung wurzelnd, ſich zur Volksſitte geſtaltet. Durch eine ſolche Auffaſſung des Turnweſens iſt ein Standpunkt gegeben, der alle die beſonderen Geſichtspunkte einſchließt, aus welchen man es zu betrachten pflegt, und der uns zugleich ge - ſtattet, die Angemeſſenheit dieſer Betrachtungsweiſen zu würdigen.

Denken wir uns die Turnübungen als Sitte, ſo iſt es zuvörderſt unſtatthaft, auf ihren phyſiſchen Einfluß abgeſehen vom ethiſchen hinzuweiſen, oder63 wohl gar, indem man ſie als bloße Leibesübungen empfiehlt, jenen wichtiger erſcheinen zu laſſen als dieſen. Jn jeder lebendigen Sitte iſt Körperliches und Geiſti - ges als Leib und Seele aufs innigſte verbunden. Dieſe Verbindung iſt überhaupt Bedingung und we - ſentliches Merkmal alles wahrhaft menſchenthümlichen Lebens. Die Turnſitte vereinigt in ſich die Geberde der Männlichkeit mit dem männlichen Sinn. Sie wird vermißt, wo beides fehlt. Sie kann aber eben ſo wenig aufkommen, wenn das eine oder das andere fehlt, wenn entweder das äußere turneriſche Trei - ben des belebenden Geiſtes entbehrt, oder der turneri - ſche Sinn vergeblich nach einer entſprechenden Aeuße - rung ringt.

Mit der Auffaſſung des Turnens als einer Sitte iſt ferner ſowohl der ſogenannte humaniſtiſche als auch der nationale (patriotiſche) Standpunkt gegeben; und zwar in der Art, daß der erſte dieſer Geſichts - punkte dem zweiten eingeordnet erſcheint. Menſchen - ſitte überhaupt iſt, wie die Sprache, die in ſinnlicher Hülle lebendig gewordene Menſchenſeele; der Sprache gegenüber das Geberde gewordene menſchliche Gemüth. Durch Uebung der Sprache und Sitte wird der Menſch erſt zum Menſchen, durchs Turnen, in welchem ſich der männliche Muth geberdet, der Mann erſt zum Manne. Wie nun das allen Menſchen gemeinſame Weſen zwar gedacht werden kann, aber nirgends rein und nackt zur Erſcheinung kommt; wie in der Wirklichkeit viel - mehr das Menſchenthümliche ſich nur in einer unend - lichen Mannigfaltigkeit von eigenthümlichen Erſchei - nungen offenbart: ſo iſt alle Sitte, in welcher menſch - liches Gemüth zur Welt kommt, immer eine eigenthüm - liche, eine Volksſitte, und in weiterer Sonderung eine perſönliche. Es giebt gewiſſe Grundzüge, die ſich in keiner beſonderen Sitte verlängern, aber es giebt kei - ne allgemeine Sitte für allgemeine Menſchen. Der einzelne Menſch hat jedoch das, was er als eigenes Sit - tengebiet beſitzt, nicht als Einzelner ſelbſt geſchaffen,64 ſondern ſich aus der Volksſitte angeeignet, die, wie die Volksſprache, als Erzeugniß des Volksgeiſtes ge - dacht werden muß. Das Volksthümliche iſt ihm der Schlüſſel zum Menſchenthümlichen; nur vermittelſt ei - ner Volksſprache und Volksſitte vermag er in ſich zur Selbſtſtändigkeit zu gedeihen und zugleich mit ſeiner Volksgemeinde und von dieſer aus mit dem Menſchen - geſchlechte in lebendige Wechſelwirkung zu treten; die Mutterſprache iſt ſeine Sprachmutter, die Mutterſitte ſeine Sittenmutter. So muß denn auch, auf daß Je - dermann im Volke für ſich Mann werde und fremden Völkern gegenüber das geſammte Volk als ein Mann gelte, die Turnſitte eine volksthümliche ſein. Uns Deut - ſchen geziemt ein deutſches Turnweſen.

Alle und jede Sitte hat ihren Urſprung in der organiſchen Natur des Menſchen und entwickelt ſich aus dieſer mit Nothwendigkeit, während die Unſitte unorganiſch und das Werk der Willkür iſt. Die Ge - berdung des Gemüthes iſt eine weſentliche Function des menſchenthümlichen Lebens. Was ein Volk in ſei - nen früheſten Zeiten auf dem Wege naturgemäßer Ent - wickelung an Sitte gewinnt, vererbt ſich, wie jede an - dere Errungenſchaft im Gebiete des Geiſtes und wie jeder volkseigene Beſitz an Land und Leuten und ſon - ſtigen leiblichen Gütern, von den Vorfahren auf das ſpätere Geſchlecht. Und dieſes übernimmt mit ſeiner Erbſchaft die Verpflichtung, das Ueberkommene zu er - halten und fortzubilden. Geſchieht dieſer Pflicht in Betreff der Sitte Genüge, ſo gedeiht das Gemüth des Volkes allmählig zur Blüthe und Reife, indem die inſtinktmäßige Uebung der Sitte zur Kunſt wird, in der kunſtmäßigen Uebung aber die Regel zur Anſchau - ung und Geltung und mit der Regel das organiſch - geſetzmäßige der Sitte zum Bewußtſein kommt. Wird dagegen der überlieferten Sitte dieſe Pflege nicht zu Theil, ſo bleibt ſie roh, oder ſinkt von einer edleren Geſtalt zu einem Zuſtande der Verwilderung und Ent - artung zurück, bis ſie endlich, an Gemüth und Ge -65 berde abgezehrt, einer unvermeidlichen Auflöſung un - terliegt. Eine allgemeine Sittenverderbniß, die alle Richtungen des Gemüthes und alle Stände und Alter der bürgerlichen Geſellſchaft ergreift und mit welcher in der Regel auch eine allgemeine Sprachverderbniß verbunden iſt, kann als untrügliches Zeichen eines ver - weſenden Volksthumes betrachtet werden. Dagegen be - wirkt der Verfall einer einzelnen Volksſitte zunächſt nur eine Hemmung des organiſchen Lebens, die ſich in krankhaften und unſchönen Volkszuſtänden kund giebt. Und eine ſolche Hemmung läßt ſich immer beſeitigen, ſo lange die Lebenskraft des gefammten Organismus noch ausreicht, um den beſonderen Schaden zu über - wältigen und den Verluſt zu ergänzen. Es kommt nur darauf an; daß diejenigen welche zu Pflegern des Volksthums berufen ſind, den Uebelſtand zu würdigen und den rechten Grund deſſelben herauszufinden wiſſen; daß ſie mit Einſicht und Treue die geeigneten Mittel wählen und anwenden, um die rohe Sitte zu veredeln, die verwilderte und entartete durch Zucht herzuſtellen, und zum Erfatz für die ausgeſtorbene aus dem Grund und Boden des Volksthums eine neue, friſche und ge - ſunde Sittenſaat zu gewinnen. Verfäumt man aber die Zeit, in welcher die Rettung einer organiſchen Sitte noch möglich iſt; will man immer nur flicken und friſten, wo eine gründliche Reform und eine neue Geburt nothwendig iſt; fehlt der rechte Muth und das rechte Zeug, eine ſolche Reform und Wiedergeburt zu bewirken: dann wird ſich der Volksfreund nicht der bangen Sorge erwehren können, daß mit dem Zurück - finken und Ausbleiben der einen weſentlichen Lebens - function die gänzliche Auflöſung des organiſchen Volks - lebens bereits beginne. Offenbar gilt alles, was hier von der Natur und dem geſchichtlichen Verlauf des Sittenlebens überhaupt geſagt worden iſt, insbeſondere auch von der Turnſitte. Als Geberde der Männlich - keit iſt dieſe gewiß eine weſentliche Funktion des Volks - lebens. Um dies anzuerkennen, braucht man ſich bloß**66die geſchichtliche Thatſache zu vergegenwärtigen, daß Eroberer, denen es darum zu thun war, ein befeſtig - tes Volk gänzlich zu vernichten, dieſen Zweck vorzugs - weiſe durch gewaltſame Unterdrückung der volksthümli - chen Turnſitte erreicht haben. Die Pflege und Förde - rung der Turnſitte iſt Menſchen - und Bürgerpflicht, iſt eine Volksangelegenheit.

Erwägen wir, was in unſerem deutſchen Vater - lande in dieſer Angelegenheit bisher geſchehen und jetzt zu thun iſt! Es giebt wohl kein Volk, dem nicht in ſeinen früheſten Zeiten eine eigenthümliche Turnſitte er - wachſen wäre. Dieſe iſt aber durch verſchiedene ge - ſchichtliche Verhältniſſe bei dem einen Volke mehr be - günſtigt worden, als bei dem anderen. Jn Deutſchland iſt von den älteſten Zeiten ab hauptſächlich die Wehr - manns-Sitte und als Vor - und Beiwerk derſelben die Waidmanns-Sitte mit nobler Paſſion gepflegt worden und in der That zu einer hohen Kunſtbildung gediehen, der eine entſprechende wiſſenſchaftliche Kunde zur Seite ſteht. Jn anderen Richtungen hat ſich die deutſche Turnſitte minder kräftig entfaltet, ſo daß immer der Nährſtand gegen den Wehrſtand, das Schutzwerk gegen das Trutzwerk, die Bürgerluſt gegen die Ritter - luſt im Nachtheile geweſen iſt. Daß dieſe Unebenheit der Volksſitte in der Natur des Deutſchen begründet ſei, wird man ſchwerlich behaupten wollen. Das hieße ausſprechen, daß das deutſche Volk unfähig ſei, ſich zu einem organiſchen Volksleben durchzubilden; indem doch zur Darſtellung dieſes Organismus Männer des Frie - dens und Friedensthaten eben ſo weſentlich ſind als Krieger und Kriegsthaten. Es waren innere und äu - ßere geſchichtliche Verhältniſſe, welche in den erſten Zei - ten unſeres Volks und im Mittelalter das überwiegen - de Hervortreten der Wehrſitte herbeiführten. Aber ſchon das Ende des Mittelalters mahnte durch Untha - ten, daß eine übermüthige Abſonderung der Wehrmann - ſchaft von der Werkmannfchaft ein Mißverhältniß ſei; und die neuere Zeit und Geſchichte arbeitet emſig da -67 ran, dieſes Mißverhältniß auszugleichen. So wird denn gegenwärtig mit dem Bedürfniſſe einer volksthümli - chen Turnſitte zugleich das Bedürfniß einer zeitgemä - ßen Geſtaltung derſelben fühlbar. Was uns in dieſer Beziehung hauptſächlich noththut, iſt, daß die mannig - fache Gliederung der turneriſchen Werk - und Wehrſitte ſich aus einem allgemeinen Volksturnen entwickele und mit dieſem ſtets in vertrauter Berührung bleibe; daß nicht einzelne Zweige der Turnſitte gepflegt wer - den, ſondern der ganze Baum von der Wurzel aus; daß alles deutſche Mannsvolk ſich in männlicher Geberde übe, und in ſeiner Geſammtheit die einige, von Gemeinſinn beſeelte und dem Gemeindeweſen innig verbundene deutſche Volksmannſchaft darſtelle. Alſo kei - ne Sonderung des Civilturnens vom Soldatenturnen, der erwachſenen Turner von den Knaben, der turnenden Gymnaſiaſten, von den turnenden Bürgerſchülern; ſon - dern gemeinſames Turnen aller Turnfähigen und öffent - liche, von den Gemeindevorſtänden eingerichtete und be - aufſichtigte Turnſtätten! nur in ſolcher Geſtaltung kann das deutſche Turnweſen dem Menſchenfreunde und Patrio - ten genügen und den Anforderungen des Lebens ge - recht werden.

Man hat für die Schätzung des Turnweſens au - ßer dem phyſiſchen (mediciniſchen), ethiſchen, humaniſti - ſchen und nationalen, auch den pädagogiſchen Ge - ſichtspunkt geltend gemacht. Welche Anſicht gewährt dieſer Geſichtspunkt, wenn die Vorſtellung von einer Turnſitte feſtgehalten wird? Die Turnſitte wird um ihrer ſelbſt willen gehegt und geübt, wie der Menſch überhaupt ſein Leben liebt, und lebt um des Lebens willen. Der Turnende genügt in der Geberdung ſei - ner Männlichkeit einem organiſchen Bedürfniſſe, wie der Redende durch den ſprachlichen Ausdruck ſeiner Gedan - ken. Es iſt daher eigentlich unnütz, das Turnen ſei - nes Nutzens wegen zu empfehlen, und zwecklos, es als Mittel zu einem weiterliegenden Zwecke darzuſtellen. 68Jnſofern jedoch die männliche Jugend zum Turnen an - gewieſen und angehalten wird, erſcheint dieſe Lehre und Zucht allerdings als ein Mittel zum Zwecke als ein Erziehungsmittel. Hiebei möge man aber dreierlei nicht aus dem Auge verlieren. Erſtens: Wenn mit den Turnübungen der Jugend ein Erziehungszweck ver - folgt wird, ſo iſt dies eben kein anderer als: den fer - tigen Turner zu bilden, d. h. Gemüth und Geberde der Männlichkeit im Zöglinge zur Reife zu bringen, die ihm angeborne Kraft, die, unerzogen ſich in einem ungeſchickten, rohen Benehmen, in Gewaltthat, Rauf - und Zerſtörungsſucht äußert, einem organiſchen Geſetze zu unterwerfen und dadurch eben wahrhaft frei zu ma - chen. Zweitens: Der Turnplatz erziehe ſeine Zöglinge fürs Leben. Der erwachſene, erzogene Turner ſoll nicht aufhören zu turnen, ſondern erſt anfangen ſich in der Volks-Turngemeinde ſelbſtſtändig zu geberden; ſo wie die Schule ihren Schüler keinesweges zu dem Zwecke mündig macht, daß er als Mann ſchweige. Es iſt aber auch wiederum das öffentliche Leben, welches den Turner erzieht, und die Turnübungen der Jugend wer - den immer kümmerlich und bedeutungsleer bleiben, wenn die Alten nicht turnen, wenn das Turnen nicht allge - meine Volksſitte iſt. Drittens: Es iſt ganz in der Ordnung wenn in einer Erziehungsanſtalt für die männ - liche Jugend der Turnplatz neben der Schule, die gym - naſtiſche Uebung neben der muſiſchen, die Pflege des Werks und der Geberde neben der des Wortes und der Sprache ſteht. Ordnet man aber den Turnplatz der Schule unter, ſo ergiebt ſich ein Mißverhältniß, durch welches das Gedeihen beider Anſtalten gefährdet wird

Jch ſchließe dieſen Verſuch, das Verhältniß der Vorſtellung von einer Turnſitte zu anderen Auffaſſungs - weiſen bemerklich zu machen, mit dem Wunſche, daß die Bedeutung des Turnweſens von neuem vielſeitig er - örtert werden möchte; denn wenn es auch zur Einfüh - rung allgemeiner Turnübungen zunächſt hauptſächlich69 des Entſchluſſes und der That bedarf, ſo iſt das Ge - deihen derſelben doch auch weſentlich davon abhängig, daß wir wiſſen, was wir wollen und thun.

Königsberg in Pr., den 26. Februar 1843. Fatſcheck.

B. Erfahrungen und Anſichten über das Turnen in Seminaren. Von Sluymer, Sem. -Direktor in Pr. Eylau.

Schon als im Jahre 1835 das hieſige Seminar er - öffnet wurde, ſorgte der Unterzeichnete, welcher als Jüngling ſelbſt 4 Jahre lang regelmäßig geturnt und die leiblich kräftigenden und gemüthlich erhebenden Er - folge deſſelben an einer ſehr beträchtlichen Schaar von Jünglingen und Knaben kennen gelernt hatte, für die Aufſtellung einiger Recke, Barren, eines Schwebebau - mes und Springels auf dem dicht hinter dem Hofe der Anſtalt gelegenen Spielplatze. Weil wir damals meh - rere Zöglinge hatten, die in der Zimmermannſchen Stiftsſchule zu Königsberg dieſe Uebungen liebgewon - nen, ſo wurde auch ſogleich in den ſogenannten Zwi - ſchenſtunden von jenen Geräthen Gebrauch gemacht, und ſchon gab ich mich der Hoffnung hin, daß auch ohne beſonderen Unterricht dieſe Uebungen in der An - ſtalt allgemein werden und von einer Generation auf die andere ſich fortpflanzen würden. Hierin hatte ich mich jedoch geirrt. Denn da jene Turner, theils um ſich etwas ſehen zu laſſen, theils auch aus einer ſehr70 zu entſchuldigenden Vorliebe immer nur die ſchwereren und ſolche Uebungen machten, die ihre volle Kraft und Geſchicklichkeit in Anſpruch nahmen, ſo blieben die höchſt nothwendigen Vorübungen ungekannt. Was die andern aber ſahen, erſchien zu ſchwierig, zu gefährlich, ſo daß nur wenige der ſchon ohnehin kräftigen und gewandte - ren Jünglinge ſich mit dem Turnen befreundeten und, trotz mancher Aufmunterung von Seiten der Lehrer, unſer Geräth gar oft lange vereinſamt daſtand.

So friſtete das Turnen bei uns nur eine küm - merliche Exiſtenz, bis es durch eine Verfügung des Königl. Provinzial-Schul-Collegii zu Kbg. d. d. 28. Oktober 1837 neues Leben gewann. Jn dieſer hieß es nämlich alſo: Für die äußere Haltung nicht min - der, als für das körperliche Gedeihen und für die gei - ſtige Bildung iſt es von entſchiedenem Werthe, wenn die Zöglinge in gymnaſtiſchen Uebungen ſich mehrfach verſuchen und iſt deshalb auf baldige Einleitung die - ſer Uebungen Bedacht zu nehmen.

Da dieſer Befehl zugleich die Erlaubniß in ſich ſchloß, dem Turnen eine Stelle in dem Lehrplane und der regelmäßigen Schulzeit einzuräumen, ſo machten wir uns um ſo lieber ſogleich an die Be - folgung deſſelben, als die Anſtalt zu Michael neue Zöglinge aufnimmt, und man ſchon an der Art, wie viele derſelben eine anſtaltliche Treppe auf - und abſtei - gen, es deutlich erkennen kann, wie ſehr ſolche Uebun - gen ihnen Noth thun. Noch mehr aber ſchien in diä - tetiſcher Hinſicht es uns wichtig, auch den Winter hindurch gymnaſtiſche Uebungen zu treiben. Denn da in dieſer Jahreszeit faſt durchgängig die ganze Tageshelle von den Unterrichtsſtunden in An - ſpruch genommen wird, ſo ſind ſchon hiedurch regel - mäßige Spaziergänge ziemlich unmöglich gemacht; nimmt man aber hiezu noch die häufige Ungangbarkeit der Wege, den leider nur zu oft vorhandenen Mangel an Fuß - und anderer Bekleidung, ſo wie die bei dringen - der Arbeit ſehr zu entſchuldigende Abneigung gegen71 ein anſcheinend zweckloſes Umhergehen: ſo wird man ſich wohl nicht wundern, daß ſolche junge Leute ſelbſt an Sonntags-Nachmittagen, zu jener nicht einmal aus - reichenden Bewegung nur ſchwer zu beſtimmen ſind. Ueberdies dürften Spaziergänge in Maſſe für die Sitt - lichkeit eben ſo gefahrbringend, als, wenigſtens bei ſchlechten Wegen, unbequem, ja unausführbar ſein; ſie aber ſtets unter der Leitung eines anſtaltlichen Lehrers machen wollen, hieße doch wahrlich die perſönliche Frei - heit zu ſehr beſchränken und letzteren Ungebührliches zu - muthen. Und doch thut gerade in der Winterszeit tüchtige körperliche Bewegung den jungen Leuten vorzugsweiſe Noth, da dieſes Semeſter die Hauptarbeitszeit iſt, das anhaltende Sitzen aber bei dünnem Lichte oder dampfi - ger Lampe und am Tage ſelbſt bei meiſt geſchloſſenen Fenſtern nur zu leicht Congeſtionen des Blutes nach der Bruſt und dem Kopfe verurſacht, und ſo außer Unter - leibsbeſchwerden eine Menge Krankheiten der edelſten Organe, namentlich der Augen und Lungen herbeizufüh - ren, ſo wie auch gegen jeden Wechſel der Witterung äußerſt reizbar, für anſteckende Hautausſchläge ſehr empfänglich zu machen pflegt.

Solche und ähnliche Gründe, verbunden mit der Rückſicht, daß auf dieſem Wege allein die den Volksſchulen nöthigen Turnlehrer vorgebildet werden möchten, drängten uns zu dem Entſchluſſe, ſofort Hand ans Werk zu legen.

Da es bei wöchentlich 36 Unterrichtsſtunden, die für Jnſtrumental-Muſik ungerechnet, nicht rathſam ſein dürfte, deren Anzahl noch zu vermehren, ſo wurden jeder der drei Seminar-Abtheilungen 2 der entbehrlichſten Lehrſtunden geſtrichen, für das Turnen beſtimmt, und dieſes aus naheliegenden Gründen im Winter von 11 12, im Sommer von 4 5 Uhr, ſtets alſo innerhalb unſerer gewöhnlichen Schulzeit! angeſetzt. Einer der jüngern und rüſtigſten Lehrer über - nahm, wenngleich er bis dahin noch nicht ſelbſt ge - turnt hatte, unter dem Beirathe des Directors und72 durch die bekannten Schriften von Jahn und Guts - Muths unterſtützt, die Leitung dieſes Unterrichts, zu welchem alle Zöglinge unentgeltlich hin - zugezogen,*)Es iſt wohl immer das Kennzeichen einer mangel - haften Schulverfaſſung, wenn den Eltern zugemuthet wird, fuͤr einen Unterricht, der zur allgemeinen Bildung weſentlich gehoͤrt, beſonders zu bezahlen. So mußten ſie’s z. B. zur Zeit des Mittelalters, wenn ſie ihre Kinder im Rechnen unterwieſen ha - ben wollten! Jetzt muß fuͤr dergleichen nothwen - dige Dinge jedenfalls das Patronat der Schule Sorge tragen. Sollte daſſelbe nicht aber auch vom Tur - nen gelten? jedoch auch, ſoweit es nur irgend ihr Ge - ſundheitszuſtand geſtattete, alle dazu verpflichtet wurden.

Weil man auf einem bald hart gefrorenen, bald mit Schneemaſſen überdeckten oder durchweichten Boden die meiſten Uebungen gar nicht, andere auch nur ſehr unvollkommen ausführen kann, ſo wurde beſonders für die Winterzeit eine zwar gedeckte, nach einer Seite aber ganz offene, ziemlich geräumige Remiſe auf dem an - ſtaltlichen Hofe zum Turnſchauer . (Turnſcho - ber) eingerichtet. Einige Recke und Barren gruben wir hier in den ungedielten Boden ein, befeſtigten am Dachſtuhl, ohne daß es eines koſtbaren Gerüſtes bedurfte, ein Klettertau und einige dünne Kletterſtangen und fügten ſpäter noch eine in eiſernen Ankern hangende wagerechte Leiter hinzu. Die Anwendung eines dicken Kletterbaumes aber vermieden wir abſichtlich, da Je - mand an ihm nur langſam hinaufklimmen lernt, bis dahin aber der Anfänger ſehr leicht ſeiner Bruſt durch einen unvorſichtigen Druck nachhaltigen Schaden zu - fügt, überdies Jeder, der mit Gewandtheit an einer dünnen glatten Stange emporfteigt, auch in der freien Natur jeden Baum zu erklettern befähigt ſein wird. Daß wir unter oben geſchilderten Verhältniſſen auf die Uebungen am Schwebebaum und Springel im Win -73 ter faſt ganz verzichten müſſen,*)Recke und Barren haben wir alſo ſowohl auf dem Spielplatze, als im Turnſchauer; im letztern aber noch den Kletterapparat und die waagerechte Leiter, auf erſterem den Schwebebaum und Springel. Jm Sommer wird gewoͤhnlich in beiden, nahe an einander liegenden Raͤumen geturnt. iſt ein Uebelſtand, der indeß durch vorzügliche Berückſichtigung derſelben zur Sommerzeit leicht ausgeglichen wird. Auch der Mangel an Schwingpferden iſt bei der Beſchränktheit des Raumes leicht zu ertragen, indem die meiſten dar - an vorkommenden Uebungen ſich auch recht gut am Schwebebaume anſtellen laſſen. Sehr ſchmerzlich ver - miſſen wir dagegen den keilförmig geſtalteten, trocke - nen Graben für den Weiteſprung, ſo wie größere Räume für den Gehrwurf und den Dauerlauf, indem ein jeweiliges Hinausgehen auf die benachbarten Wie - ſen und Wege, um dort zu ſpringen und zu laufen, durchaus keinen zureichenden Erſatz gewährt.

Die Arten der bei uns gebräuchlichen Turnübungen ſind bis auf die Lauf - und Hantel - übungen, für welche letztere wir einfaches Scheitholz benutzen, ſchon durch die Angabe unſerer Geräthe be - zeichnet; es ſind dieſelben, deren Einführung auch der Volksſchule möglich und dringend zu empfehlen iſt. **)Vergleiche Sluymer Lehrplan fuͤr Volksſchulen Kbg. 1842, bei Graͤfe & Unzer, in welchem §. 23. pag. 92 96. das Weſentlichſte uͤber das Turnen der Volks - ſchulen beigebracht ſein duͤrfte.Daß die Seminariſten damit in methodiſcher Folge, von den leichteren zu den ſchwereren allmälig fortſchrei - tend, bekannt gemacht werden und ſie in angemeſſenem Wechſel üben, ohne es in einer bis zur Erſchöpfung der Kräfte zu treiben, verſteht ſich, wie bei jedem ver - nünftigen Unterrichte, ſo auch hier, von ſelbſt.

Bei unſerem Turnen bleibt, wie bei allen an - dern anſtaltlichen Lehrgegenſtänden, jede fremdartige Beimiſchung z. B. von Geſang und Rede, inglei - chen jede abſichtliche Schauſtellung fern. So wie aberJahrb. d. Turnkunſt. I. 474nicht ſelten unſere Singſtunden einen gebildeten Freund des Geſanges als Zuhörer herbeilocken, ſo auch das Turnen manchen Zuſchauer, zumal wenn im Sommer die rüſtige Jugend auf dem neben den Gärtchen der Lehrer befindlichen Spielplatze ſich tummelt.

Nur 1 Jahr lang war es nöthig, jede der 3 Seminar-Abtheilungen beſonders zu be - ſchäftigen. Später, ſeit die Zöglinge mit dieſen Uebungen vertraut geworden, und die nöthigen Vor - turner gebildet waren, konnten wir ganz füglich Ab - theilung 1 und 2, jede aus ca. 25 Leuten beſtehend, vereinigen, wodurch denn nicht nur um 2 Stunden Leh - rerkraft erſpart, ſondern auch jenen Zöglingen ſelbſt in der größern Geſellſchaft der Unterricht angenehmer wurde. Daß die Neulinge wenigſtens im erſten Halbjahre al - lein beſchäftigt werden, möchte wohl immer anzurathen ſein; ſonſt aber müſſen bei dergleichen Anordnungen natürlich eben ſo ſehr die Anzahl der vorhandenen Ge - räthe, denn nie darf eine Abtheilung müßig ſtehn, als die Größe des Tummelplatzes berückſichtigt wer - den.

Jm Allgemeinen herrſcht bei dieſen Uebungen eine eigenthümliche Verbindung militairiſcher Disciplin mit heiterer, freier Beweg - lichkeit. Am Anfange der Stunde treten die Tur - ner nach Soldaten-Art rottenweiſe an, machen einige militairiſche Bewegungen und marſchiren dann unter Commando ihrer Vorturner zu den angewieſenen Plät - zen, um nach Ordnung und Regel genau das nachzu - machen, was der Vorturner oder der Hauptlehrer, jetzt ein ſehr gewandter Turner, ihnen zeigt. Eine ähnliche Sammlung findet bei jedem Uebungs - wechſel und am Schluſſe der Stunde ſtatt. Bei den Uebungen ſelbſt darf der jugendliche Muth und Froh - ſinn immerhin ſich zwanglos äußern, ohne jedoch je in lärmende Unordnung auszuarten, oder in träge Theilnahmloſigkeit zu verſinken.

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Daß die große Mehrzaht unſerer Zöglinge die Uebungen wirklich lieb hat und ihren Werth für die Geſundheit erkennt, erſieht man be - ſonders aus dem Eifer, mit welchem ſehr oft nach ei - nigen Stunden anhaltenden Sitzens das ſtets zugäng - liche Turngeräth aufgeſucht und benutzt wird. Dennoch gehts auch hier wie bei jedem Schulunterrichte; man freut ſich auch, wenn er einmal ausfällt. Wollen wir’s aber den jungen Leuten in ihren leinenen Jäck - chen und Beinkleidern verargen, wenn ſie bei ſchlech - ter Witterung und bedeutenden Kältegraden mit eini - gem Zagen und Schauder ſich an die Turnarbeit ma - chen? Es geht aber auch dann, wenn nur die Unluſt überwunden iſt; es geht ſelbſt bei 15 bis 17° Kälte in den offenen Räumen ganz gut. Nur pflegen wir in letzterm Falle die Stunde um ein Drittel abzukür - zen, weil bei ſo bedeutender Kälte die angreifendſten Uebungen in ziemlich ſchneller Folge angeſtellt werden müſſen, und eine übermäßige Anſtrengung beſonders den Lungen gerade dann ſehr leicht verderblich werden kann.

Fragt man nun nach dem Erfolge, ſo iſts zunächſt erfreulich anzumerken, daß noch nie dabei ein erheblicher Unfall ſich ereignet hat, wohl aber im Ge - gentheil die Klage über Unterleibsleiden ganz verſchwun - den, die über Bruſtbeſchwerden merklich ſeltener gewör - den iſt; auch hat die Anſtalt ſeitdem faſt jährlich mehrere Thaler am Medizinetat erſpart. Die Mehr - zahl unſerer Zöglinge erfreut ſich einer dauernden Ge - ſundheit und viele ſelbſt einer friſchen, ja blühenden Geſichtsfarbe. Letzteres aber würde wohl noch allge - meiner der Fall ſein, wenn nicht in den letzten theuern Jahren die von den Bürgern gebotene Koſt nur ſehr mager und ſpärlich geweſen, wenn ferner in den Woh - nungen beſſer für Erneuerung der Luft geſorgt wäre, und die Seminariſten nicht ſo häufig in ihrer Armuth durch mangelhafte Fußbekleidung ſich catarrhaliſche Leiden zuzögen.

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Doch iſt ſeit dem achtjährigen Beſtehen unſerer Anſtalt noch keiner der Zöglinge geſtorben und ſelbſt von den aus ihr hervorgegangenen ca. 180 Lehrern ſind es auch nur etwa 4 5. *)Einer an einem Bruſtleiden, wozu er die Anlage ſchon beim Eintritte in die Anſtalt mitgebracht, die uͤbri - gen an nervoͤſen und entzuͤndlichen Krankheiten, die ſie zum Theil auf Reiſen, in der rauheſten Jahres - zeit bald gehend bald fahrend ohne Mantel, denn nur ſehr ſchwer gelangt der arme Lehrer in den Be - ſitz eines ſolchen (!) ſich zugezogen.

Faſt noch günſtiger ſind die Ergebniſſe in geiſtiger und ſittlicher Hinſicht. Die ju - jendliche Kraftfülle findet hier eine naturgemäße Ablei - tung und bleibt um ſo leichter vor Verirrungen, denen ſonſt dieſes Alter nur zu häufig unterliegt, bewahrt. Mit der anerzogenen Unbeholfenheit, ja Plumpheit vieler legt der Turner auch manche Sittenrohheit ab und bald unterſcheidet ihn eine anſtändigere, freiere, ge - wandtere Körperhaltung eben ſo vortheilhaft von dem ſchwerfälligen Handwerksburſchen und Landmann, als von dem verzierten Schreiber oder Schneidergeſellen. Und daß dies nicht auf äußerer Dreſſur, ſondern auf einer von Jnnen heraus entwickelten tüchtigen Geſin - nung ſich gründe, erkennt der Kundige leicht, wenn er dabei die geiſtige Regſamkeit dieſer Leute im Unter - richte ſowohl, als auf größern, meiſtens mit Ge - fang und Turnſpielen ausgefüllten Spaziergängen zu beachten Gelegenheit nimmt. Trotz mancher äußern Noth und oft großer Armſeligkeit giebt’s hier doch noch recht viel tüchtige Kraft, geſunden Sinn und friſchen Muth!

Und auch in ernſtern Proben hat letzterer ſich ſchon bewährt. So im Jahre 1840, als unſer Städt - chen 3 mal durch Brandunglück heimgeſucht wurde. Jmmer kamen die Seminariſten unaufgefordert zahl - reich herbei und leiſteten durch Kühnheit, Umſicht und ſchnell geordnete, vereinte Thatkraft ſtets die weſentlich -77 ſten Dienſte; ja ſie entriſſen bei dem dritten, bedeu - tendſten Brande ein ſchon halb von den Flammen ver - zehrtes Haus der völligen Zerſtörung, indem ſie, nur ſehr mangelhaft von Spritzen unterſtützt, unter eines Lehrers Leitung den Brand des Daches mit Feuerei - mern auslöſchten. *)Als Zeichen dankbarer Anerkennung veranſtalteten mehrere Honoratioren der Stadt im darauf folgenden Sommer den Seminariſten eine ſehr vergnuͤgliche Spazierfahrt, verbunden mit einer wenn auch fruga - len, doch anſtaͤndigen Bewirthung. Viele Familien waren mit hinaus in den ſchoͤnen Park eines benach - barten Gutes gezogen, wodurch das Feſt eine eigen - thuͤmliche Anmuth gewann.

Seit in neueſter Zeit immer mehr gewichtige Stimmen das Turnen als ein Bedürfniß der Volks - ſchule in Anſpruch nehmen, iſt es der hier zuſammen - tretenden Prüfungs-Commiſſion für Elementarlehrer als nöthig erſchienen, die abgehenden Zöglinge auch hierin zn prüfen und ihnen einen Vermerk darüber in das Abgangs-Zeugniß zu ſetzen. Leider aber haben wir noch nicht, mit gutem Beiſpiele voran - gehend, mit unſern Uebungsſchülern ein geordnetes Turnen beginnen können, weil es uns zur Aufſtellung kleinerer Geräthe durchaus am nöthigen Raume mangelt, die vorhandenen größeren Utenſilien aber für Kinder meiſtens ganz unzugänglich ſind und, von ihnen dennoch benutzt, ſehr leicht Un - glücksfälle veranlaſſen könnten.

Zum Schluſſe noch eine Bemerkung über die Anſtellung der Turnlehrer. Nur ſehr ſelten genießt bekanntlich ein von einem Hülfslehrer verwalte - ter Unterricht bei den Schülern der nöthigen Achtung und Theilnahme. Darum erſcheint es erforderlich, auch das Turnen ſo viel als irgend möglich ſtets ei - nem der Hauptlehrer zu übertragen. Für Seminare und Bürgerſchulen kann dies bald keine Schwierigkeit haben, da in der Regel die geiſtig entwickeltſten Semi -*78nar-Zöglinge jetzt auch gute Turner ſind. Es erſcheint indeß rathſam, in Zukunft nicht ſowohl ein beſtimm - tes Jndividuum als Turnlehrer einer Auſtalt zu be - rufen, als vielmehr bei allen, welche neu hinzutreten, darauf zu rückſichtigen, ob ſie für die Uebernahme dieſes Lehrgegenſtandes geeignet ſein möchten. Auch müßte in den Etats der Anſtalten es niemals heißen: dem Turnlehrer N. N. x Rtlr., ſondern: dem je - desmaligen Turnlehrer an Honorar (etwa) 50 Rtlr. Und meine Gründe? Der Turnunter - richt iſt, wo er auch im Winter ertheilt wird, recht angreifend, erfordert eine kernfeſte Geſundheit und ei - nen hohen Grad von Selbſtverläugnung. Beides hat nicht jeder Lehrer zu jeder Zeit. Wird nun aber ein beſtimmtes Jndividuum als Turnlehrer angeſtellt, ihm alſo dieſe Arbeit für lange Jahre zur unausweichlichen Pflicht gemacht, ſo fühlt er bald deren ganze Schwere, es regt ſich die Unluſt, es wird die Klage laut. Ent - wickelt ſich nun vollends noch ein körperliches Leiden, ſo wird entweder dieſem die ſehr billige Rückſicht ver - ſagt, oder es liegt der ſehr wichtige Unterricht alsbald ganz danieder oder verliert doch den ſo weſentlichen Cha - rakter der Friſche und Freudigkeit. Jſt dagegen dieſer Lehrgegenſtand an keine beſtimmte Perſon gebunden, ſo kann er jedesmal dem rüſtigſten Manne übertragen werden und wird von einem ſolchen gewiß auch immer recht gern übernommen werden, da bei der geringen Beſoldung ſämmtlicher Elementarlehrer 50 Rthlr. ſtets als eine ſehr erwünſchte Zulage erſcheinen. Der Un - terricht aber dürfte hiedurch nicht weſentlich gefährdet ſein, ſelbſt wenn ihm demnach auch einige Jahre lang in minder tüchtiger Turner vorſtände.

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C. Die Rothwendigkeit der Gymnaſtik nach hiſtoriſch ethiſchen Rückſichten. Von W. Wechsler.

Selten erſcheint ein Menſchenleben in ſeiner organi - ſchen Vollkommenheit. Es wird ſchon vor der Geburt entſtellt durch jene unauslöſchlichen Muttermäler, die uns ohne unſer Bewußtſein von der allmählig habi - tuell gewordenen Entartung ganzer Geſchlechter aufge - prägt ſind. Es wird von ſeiner Geburt an gehemmt von jenen unwillkommenen äußern Störungen, deren zahlloſes Heer den langſamen Gang unſrer Entwicke - lung feindlich umſchwärmt, und durch unabläſſige An - griffe uns faſt jeden Schritt auf dieſem mühſamen Wege ſtreitig macht. Und endlich, wenn es auch noch ſo reich ausgeſtattet aus der Hand der Natur gekom - men, wenn es glücklich allen Stürmen ſeiner rückſichts - loſen Umgebung entgangen iſt, wird es noch mit vol - lem Bewußtſein, in der beſten Abſicht von den Menſchen ſelbſt verdorben.

Ja die meiſten und weitaus größten unter den Uebeln, woran wir leiden, ſind ſolche, die von den Er - ziehern unſrer Kindheit, und wenn ſie uns entlaſſen, von uns ſelbſt über uns verhängt ſind. Thiere kom - men in der Regel viel leichter zur geſunden und vollendeten Entfaltung ihres Weſens, denn die Natur iſt die einzi - ge Führerin ihrer Entwickelung, und die weiß immer80 genau, was ſie will und ſoll. Bei uns hat ſie durch die Triebe, die ſie in uns legte, nur mit ſchwachen oft verkennbaren Geleiſen die Richtung bezeichnet, der wir folgen ſollen; aber der Vernunft überließ ſie die Zügel des Lebenslaufes zu führen, und dabei ſind wir denn gewöhnlich nicht zum beſten regiert. Denn zu einer wahrhaft genügenden Leitung wäre eine Kenntniß aller der Zwecke, welche die Natur mit dem Menſchen im Sinne hat, ihrer Ordnung und Unterordnung, ihrer ſämmtlichen Beziehungen nöthig, und das iſt bei der kaum überſehbaren Breite der Entfaltung, für welche die menſchliche Natur angelegt iſt, nur ſchwer und im - mer nur ſpät zu erlangen. Daher die, man ſollte faſt glauben unvermeidliche Verkümmerung, an der die Menſchheit durch alle Perioden ihrer Geſchichte gelit - ten hat, die hiedurch bedingten Einſeitigkeiten ihrer Entwickelung, und das unzufriedene Streben aus einem Zuſtande hinaus, deſſen Mangel ſich fühlt, ſelbſt wo man ihn nicht auszuſprechen und die Mittel zum Er - ſatz des Fehlenden weder zu finden noch zu brauchen weiß.

Fangen wir, um nicht ins Weite zu ſchweifen, unterhalb jener Einſeitigkeit an, welche die Natur ſelbſt in dem Gegenſatz der Geſchlechter gewollt hat, indem ſie dem Weibe vorherrſchende Empfänglichkeit und Senſibilität, dem Manne den Charakter der Spon - taneität und Jrritabilität zuwies: dieſer männliche Charakter der Kraft und des Strebens nach außen, wie ſelten erſcheint er in der Geſchichte, was er doch billig ſollte, als der herrſchende Grundcharakter der Völker! Und doch iſt es dieſe Eigenſchaft faſt aus - ſchließlich, auf der die göttliche Natur des menſchlichen Geſchlechtes ruht, wenn anders das Sittliche in der Herrſchaft des Geiſtes über die Natur beſteht. Denn wollen wir uns nicht in Pfaffenmärchen und die weſenloſen Geſpinnſte des Hexenbanuers oder der Mesmerianer verſteigen: ſo hat der Geiſt in uns nur einen Hebel, wodurch er die Körperwelt um ſich her81 bewegen und nach ſeinem Gefallen lenken kann, es iſt ein geſunder, muskelkräftiger Körper. Dadurch iſt alle Energie des Willens bedingt: denn ob ein ſtar - ker Wille auch ſonſt noch denkbar ſei, ohne dieſes Mit - tel ihn auszuführen, läßt ſich wenigſtens nicht ent - ſcheiden, da wir die Fähigkeiten des Geiſtes nie an ſich, ſondern nur nach den Wirkungen ermeſſen können, die ſie in der Außenwelt hervorbringen. Und was helfen am Ende alle Tugenden der Geſinnung, was hilft Weis - heit und Liebe dem, der die Fertigkeit nie er - warb, ſie auszuüben, dem die Beſonnenheit gebricht, der Weisheit durch das Gewirre des Lebens zu folgen, dem die Beharrlichkeit auf dem Wege erlahmt, auf dem Wohlwollen ſich allein bethätigen kann.

Dem Morgenlande iſt dieſer Begriff, vielleicht nur durch die Schuld der telluriſchen Verhältniſſe, nie - mals zum Bewußtſein gekommen. Verwöhnt von der allzufreigebigen Erde, von einem zu milden Himmel umarmt, ſchmilzt in erſchlaffender Hitze die ungeübte Kraft und die durch den leiſeſten Reiz erregte Begier der lüſternen Sinne erträgt ihre Uebung nicht einmal. Mit welchem prüden Abſcheu ſahen die Juden die un - ter Antiochus IV. verſuchte Einführung der Gymna - ſtik, und den damit verbundenen, die Sinnlichkeit ſteigernden, Epispasmus (1. Macc. 1., 15. 16.)

Bei den Griechen zeigten ſich dieſe Uebel nicht mehr. Das gemäßigte Klima fördert zugleich und ſtählt die Kraft; das geſpanntere Bewußtſein wird objectiver und bricht die Gewalt der Sinnlichkeit; die in ſubjectiven Gefühlszuſtänden träumend gewiegte Re - ligiöſität des Orients läutert ſich hier zu der com - pacteren, mehr dem Leben und der Wirklichkeit ange - hörigen Sittlichkeit. Schon ihre ἀρετή iſt, wenn man auf die Stämme ἄρω, ἀρέσκω ſieht, die gedrungene, feſt gegründete Kraft, die das Nützliche, Taugliche, Paſ - ſende zu ſchaffen weiß, und uuter ihren vier Kardinal - tugenden iſt die ἀνδρία (die Mannheit, Mannhaftig - keit) die wir gewöhnlich Tapferkeit überſetzen, eben dieſe82 auch die Geſinnung ſpannende Tüchtigkeit eines geſun - den Leibes, daher Platon in ſeinem Staat (B. IV. p. 329.) die Jünglinge zu dieſer Tugend auch vor - züglich durch Gymnaſtik will erzogen haben.

Bei den Römern endlich erreichte dieſer Begriff und damit die ihm entſprechende Entwickelung des Le - bens die ganze ihm gebührende Anerkennung. Mann - heit (virtus von vir, wie ἀνδρία von ἀνήρ) iſt ihnen der Jnbegriff aller ſittlichen Vollkommenheit, die Tu - gend ſelbſt. Und wenn Cicero im erſten ſeiner Bücher von den Pflichten, nach dem Vorgange der Stoiker die fortitudo animi, magnitudo (c. 5.) ſeinem Sohne ſchildert, ſo entgeht es ſelbſt ſeinem friedlichen, mehr auf dem Forum als im Lager heimiſchen, und die Waffen der Toga daher unbedenklich nachſetzenden Sinne nicht, daß wir, wie es c. 19. heißt, alles tap - fer Vollführte mit einem vollen Munde loben, daß Rom (ῤώμη, robur, die Kraft) dieſer Tugend ſeinen Namen und allen ſeinen Ruhm verdankt.

Wenn endlich auch dieſe weltüberwindende Kraft den gewaltigen Schlägen der vom Norden geſtählten Germanen erliegt, ſo iſt ſchon hierdurch die athletiſche Anlage unſerer Nation hiſtoriſch beglaubigt; denn giebt es eine höhere Gewähr für die Stärke, als den Sieg über den Stärkſten? Der deutſchen Nation iſt der ge - ſchichtliche Beruf zugefallen, die vom Alterthum einzeln entwickelten Hauptſeiten ſittlicher Vollendung als Hinter - laſſenſchaft deſſelben eins nach dem andern anzutreten, ſich zuzueignen, und dann zu der Einheit eines allſeitig entwickelten Lebens, zu einem ſittlichen Jdeal in ſich zu verarbeiten. Nun erbte ſie erſt die höchſte Blüthe der orientaliſchen Geſchichte, die vollkommenſte Religion im Chriſtenthum; aber dieſes, um als das aufge - tragne Pfropfreis eines fremden Baumes mit dem wil - den germaniſchen Stamme, auf den es geſetzt iſt, erſt zu verwachſen, beherrſcht den neuen Volksſtamm lange (das ganze Mittelalter hindurch) allein, und reißt ihn beinahe ganz wieder in die Einſeitigkeit des be -83 ſchaulichen Orientalismus zurück. Aber nur der Kle - rus verfällt dieſem lebensmüden, feindlichen Sinn, der kräftige Naturſinn des germaniſchen Wildlings, dem dieſe Anſchauung aufgepfropft iſt, läßt ſich mit allen Predigten von der heilbringenden Kreuzigung und Er - tödtung des Fleiſches weder zu den falſchen ascetiſchen Kaſteiungen überreden, noch von der heldenhaften Ue - bung der Waffen abbringen. Aus der Reihe der Kardinaltugenden iſt im Chriſtenthume die Mannheit wieder verſchwunden. Nur die Tugenden der Geſin - nung ſind geblieben, und ſind hier allerdings geläu - tert: was die Weisheit bei den Griechen, iſt 1. Cor. 13., 13. der Glaube, was bei jenen die Gerechtigkeit war, iſt hier die Liebe; aber für die beiden Fertigkeits - tugenden, Mäßigung und Tapferkeit, muß hier als ſchwacher Erſatz einſtehen, was der beinahe Verzwei - felnde ſonſt nur nach langer vergeblicher Anſtrengung als letzten Stab für ſeine ermattende Kraft ergreift, die Hoffnung. Als wenn ſelbſt jeder Verſuch, das Göttliche, das Sittliche ſchon hier auf Erden mit - ſtigkeit zu vollbringen, von vorn herein als ein ver - gebliches Bemühen aufzugeben wäre!

Doch nein! Auch in der chriſtlichen Welt wird dieſes Streben nicht erſchlaffen. Als die Deutſchen die zweite Erbſchaft des Alterthums antraten, und der Griechen Wiſſenſchaft und Kunſt am Anfang der neuern Geſchichte in Beſitz nahmen, begann ſich dieſer im Katholicismus verkörperte weltfeindliche Sinn ſchon wieder der Erde und der ſittlichen Thatkraft zu - zuwenden. Nach allem, was er ſeit jenen drei Jahr - hunderten den Griechen abgelernt, iſt die Zeit heran - gerückt, wo er auch den Werth ihrer ἀνδρία und der von ihr geforderten Gymnaſtik anerkennen wird. Man hat vor kurzem mit oft wunderlichen Uebertreibungen von einer Rehabilitation des Fleiſches geſpro - chen: wenn dieſer Ausdruck etwas bedeuten ſoll, ſo iſt es eben dies. Es muß die Zeit für uns kommen, und wenn uns nicht alle Zeichen trügen, ſo iſt ſie nahe,84 wo die Ausbildung des Körpers eben ſo dringende Angelegenheit der Nationalbildung ſein wird, wie die des Geiſtes, wo Gymnaſien im Sinne der Alten eben ſo eifrig gepflegte Staatsanſtalten ſein werden, wie es jetzt die Gymnaſien im modernen Sinne ſind. Es iſt die Ahnung dieſer Zeit, die ſich bereits im deutſchen Volke regt; es fühlt, daß es unter orientaliſch-geiſtli - cher Asceſe, unter griechiſch-wiſſenſchaftlichen Studien ſein körperliches Leben, ſeine Kraft verfallen ließ, und ſehnt ſich, wie ein Hypochonder, nach Bewegung, als dem einzigen Heilmittel ſeiner von allen, die das Uebel fühlen, nur ſelten richtig erkannten Krankheit. Wir haben über der immer höher geſteigerten Bildung des Kopfes und des Herzens unſer reales Leben verlo - ren und ein allgemeines Mißbehagen liegt als Wir - kung dieſer einſeitigen Entwickelung auf dem halb ver - kümmerten Volke. Der arme Michel fühlt das wohl; ihn ſchmerzt der Kopf, ihm ſticht es im Herzen und die Aerzte, die ihn behandeln, rathen auf allerlei bedenkli - che Gehirn - oder Bruſtkrankheiten: ſchafft ihm durch eine organiſirte Nationalgymnaſtik die erforderliche Be - wegung und ſtellt die Harmonie ſeines Lebens mit ſeinen übrigen Kräften her, ſo wird von ſeinem Kopfe der Druck und von ſeinem Herzen die Beklem - mung weichen; denn ein geſundes iſt immer auch ein zufriedenes Volk.

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D. Wie iſt dem Turnweſen aufzuhelfen. Ein Vorſchlag.

Das Turnweſen hat in dem Bewußtſein des Volks ſchon eine ſolche Bedeutung gewonnen, daß ihm auf Landtagen und in Kammern anfangs leiſe dann lau - ter das Wort geredet worden iſt, und einzelne Regie - rungen bedeutſame Schritte gethan haben, um die wohlthätigen Folgen deſſelben ihrem Volke möglichſt zugänglich zu machen. Keiner Regierung aber iſt es bis jetzt gelungen, was man für das Turnweſen ge - than, mit dem Bewußtſein des Volkes in Einklang zu bringen, eben weil man das Turnweſen nur äußer - lich, nicht in ſeinem innern Zuſammenhange, urſprüng - lichen Weſen, in ſeiner Volkserziehungsnothwendigkeit angeſehen hat. Es iſt ſo tief in dieſem Volksbewußt - ſein gewurzelt, daß ſelbſt eine 26 jährige Fehme einer übermächtigen Parthei es nicht aus demſelben rei - ßen konnte, eben weil es ächt deutſch und deutſch - thümlich, d. h. auf deutſchem Grund und Boden ent - ſproſſen, aus deutſchem Bewußtſein hervorgegangen, und als ſein Od und Brod, als Ureigenthum beanſprucht und feſtgehalten worden iſt. Darum hat man denn auch überall mit Freuden die beiden Königlichen Cabi - netsorders begrüßt, daß das Turnen auf den Schul - plan kommen und auch die Soldaten turneriſch aus - gebildet werden ſollen.

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Das Volksbewußtſein verlangt überall etwas Tüchtiges, ſo auch in Beziehung des Turnweſens. Dieſem Verlangen iſt nun durch jenes Königliche Wort entſprochen worden, aber nur theilweiſe. Cs verlangt noch eine That: Sicherſtellung der Turnſache und ihrer Vertreter, ſowie Allgemeinzugänglich - machung der wohlthätigen Wirkungen der körperlichen Erziehung und Bildung, was alles durch jenes König - liche Wort erſt in Ausſicht geſtellt worden.

Jſt die Lage der Volkslehrer überhaupt keine Beglückwünſchungswerthe, ſo beſonders die der Turn - lehrer. Jeder Turnlehrer, der wirken will, der in dem Turnweſen nicht eine Vergnügungs -, Erholungs - und Abrichtungsanſtalt, ſondern ein Volkserziehungsweſen erblicket, jeder ſolcher Turnlehrer ſieht, ohne Geld und Gold, in der Unſtetigkeit des ewigen Juden, ſein eige - nes Bild. Durch keine Behörde, königliche wie ſtädti - ſche, und eben ſo wenig durch das rege Volksbewußt - ſein iſt der Turnlehrer geſichert. Was namentlich die per - ſönlich thätige Theilnahme im Volke betrifft, ſo will man die Sache, aber will ſelbſt nichts dafür thun; man wartet, ob der Nachbar nicht etwa die Güte hat. So haben denn die Turnlehrer zu wenig zum Leben, aber zu viel zum Sterben; viel Arbeit und wenig Le - bensmittel; ſie altern vor der Zeit. Das Turnen, ſo nach Herodikos, Hippokrates, Gallen und Hufeland ſonſt wohl für Jeden ein Lebensverlängerungsmittel, wird nur für ſie ein Lebensverkürzungsmittel.

Was iſt zu thun? Um Gottes willen ja keine Winkelturnanſtalten, d. h. wo jede Schulanſtalt für ſich ihren Turnplatz in ſo und ſo viel verkleinertem Maßſtabe beſitzet. Oeffentlich muß es ſein das Turnen, der Lehrer muß ein öffentlicher ſein, es und er, er und es müſſen unabhängig daſtehen von den einzelnen An - ſtalten, unabhängig von der jedesmaligen Laune des Publikums, abhängig nur von der vorgeſetzten Schul - behörde. Die Turnanſtalt ſoll eine Volkserziehungs -87 anſtalt ſein, aber kein Freudenhaus. Hier ſoll erzo - gen werden der Körper in ſeiner Einheit und in ſei - nem Verhältniß zum Geiſt; der Wille ſoll in Zucht genommen werden, das Gemüth aber gekräftigt. Nur ſo bildet ſich der Menſch, nur ſo ſein Charakter. Dadurch ward Hellas die Lehrerin der Menſchheit und die ewige Roma groß. Und wie wird dies? Nicht durch Lehren und Reden auf dem Turnplatz; durch den Geiſt der Oeffentlichkeit, durch den Geiſt des Ganzen. Jch berufe mich hier, um nicht mißverſtanden zu wer - den auf unſer Heerweſen.

Wann wird dies werden? Wird der Staat vor den vielen politiſchen Fragezeichen endlich einmal an das Fragezeichen kommen, das beim Turnweſen ſteht? Wie es auch werden mag, etwas muß geſchehen, aber für jede Schulanſtalt einen Turnplatz in allen mögli - chen Ausgaben, immer aber in Taſchenausgaben, wün - ſche ich nur unſern Erbfeinden in Oſt und Weſt. Soll aber etwas geſchehen, ſo muß auch hier das Volk in ſeinen Vertretern mit der That vorangehen. Und die wäre? Jch will es kurz ſagen: Eine Provin - zial-Turnanſtalt auf Aktien, von den Land - ſtänden ins Leben gerufen! Man entgegenrede mir nicht: Das geht nicht! Alles Gute geht, wenn man ernſtlich will. Auch iſt dies Mittel ſo ſehr neu nicht. Blicken wir hin auf die Völker, in denen das Volksbewußtſein friſch grünt. Die Polen in Poſen er - richten Erziehungsanſtalten, die von den polniſchen Land - ſtänden ins Leben gerufen und erhalten werden, und unter ihrer Aufſicht ſtehen. Ungarn, das große Mag - natenland, hat ſeit mehreren Jahren in Peſth durch ſei - ne Magnaten eine National-Turnanſtalt auf Aktien erbaut, und die paſſenden Lehrer angeſtellt, und für deren ſichere Stellung geſorgt. Von England wollen wir nicht ſprechen, denn dort giebt es ſeit 1825 beſon - dere Turnanſtalten, um kräftige und gewandte Dienſt - boten zu bilden, zu geſchweigen der Anſtalten für bei -88 de Geſchlechter aus den höhern Ständen. *)Die engliſchen Gelehrten wundern ſich hoͤchlich, wie die deutſchen Gelehrten ohne Leibesuͤbungen beſtehen koͤnnen; und wo ich nicht irre, hat unſer beruͤhmter Landsmann Beſſel bei ſeiner letzten Anweſenheit in England auch etwas davon vernommen.Wir neh - men ſo viele Tollheiten von unſern Nachbaren an, wollen wir auch einmal was gutes annehmen. Eine ſolche Anſtalt müßte die Lehrer für die ganze Provinz bilden, ſie müßte eine Muſteranſtalt ſein. Auch hier - für fehlen die Vorgänge nicht. Franzoſen und Ruſſen haben ſolche Muſteranſtalten für das Turnweſen der Soldaten ſeit Jahren. **)Wir haben unſer Lehrbataillon, auch eine Muſter - anſtalt fuͤr unſere Armee, aber an Turnen wird bei demſelben nicht gedacht. Vergl. Ueber die Vortheile ei - ner Turnſchule bei jedem Jnfanterieregiment in Lei - besuͤbungen. Zur Militair-Gymnaſtik insbeſondere. Landshut 1830. S. 150 u. f. f. Nur durch gemeinſame Kräfte laſſen ſich ſolche Anſtalten ins Leben rufen, einrichten und erhalten, nur ſo wird dem Volkswunſch und Wil - len, daß die Sache geſichert und Jedem zugänglich ge - macht werde, genüge geleiſtet. Jm Volke verlangt man eine That. Hier iſt ſie. Der König hat das Wort geſprochen; ich bin begierig, wer dem Königlichen Worte zuerſt entgegenkommen wird mit der That. Man hat das Königliche Wort begrüßt als einen mächtigen Fort - ſchritt; welche Landſtände werden aber in dieſer Sache nicht bloß den Fortſchritt begrüßen, ſondern ſelbſt den - ſelben thun? Thatſachen entſcheiden. Glück auf!

D. H.

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E. Etwas über das Soldatenturnen.

Jetzt, wo in Preußen die Soldaten, vorerſt jedoch nur die Diviſions - und Brigadeſchüler Leibesübungen treiben ſollen, gilt es ins Auge zu faſſen, welche Uebun - gen vorzugsweiſe den Zweck erreichen, den die höchſt dankenswerthe Konigl. Cabinetsordre bei den Kriegern Preußens erſtrebt wiſſen will. Es wird freilich nicht an ſolchen Fingerfixen fehlen, die ſofort die günſtige Wen - dung der Dinge benutzend, Bücher in die Welt ſenden, die lieber nicht geſchrieben werden ſollten und es iſt an der Zeit, ſolchen gehörig zu Feder und Leder zu ge - hen. Es gilt zu warnen und zu weiſen. Mögen un - ſere Offiziere durch den hohen Titel Militairgymna - ſtik ſich nicht irre führen laſſen. Bis jetzt ſind mir nur zwei Werke entgegengetreten, die der Empfehlung werth und würdig ſind und ich habe ſchon in meinem Turnbuch die deutſche Turnkunſt S. 43. die ange - nehme Pflicht erfüllt, auf das zweite, als das neueſte aufmerkſam zu machen. Das eine Werk iſt: die Landwehr gegründet auf die Turnkunſt von W. von Schmeling. 1819. Das andere von dem bekannten Maßmann, ohne ſeinen Namen heraus - gegeben: Leibesübungen. Erſtes Heft. Zur Militairgymnaſtik insbeſondere. 1830. Der geſchichtliche, einleitende Theil iſt von Maßmann. Der zweite Theil Anwendung der Leibesübungen auf deutſche Verhältniſſe, von einem bairiſchen Offizier und**90frühern Turner. Der dritte Theil iſt ein Auszug aus erſtgenanntem Werke von Schmeling. 4. Ueber die Vortheile einer Turnſchule bei jedem Jnfanterie-Regi - ment (Aus dem Spectateur militaire). 5. Ueber den Gebrauch der eiſernen Wuchtkolben oder Hanteln bei den hannöverſchen Truppen. Exerzier-Reglement für die Jnfanterie der hannöverſchen Armee. 1ſte Ab - theilung, 3ter Abſchnitt, 1ſtes Kapitel, §. 140. Die - ſes ſo ſehr inhaltreiche Werkchen koſtet 15 Sgr. Leider haben wir bis jetzt noch kein einziges Soldaten - turnbuch als Leitfaden bei dem Unterricht der Solda - ten, was nur einigen Werth hätte. Gutsmuths Turn - buch 1817, oder Elementar-Gymnaſtik von E. Young, Oberſt-Kommandant der K. K. Militairerziehungsan - ſtalt in Mailand, aus dem Jtalieniſchen überſetzt vom K. K. Oberlieutenant Poſchacher, Mailand aus der K. K. Buchdruckerei 1829, oder Werners Militair - gymnaſtik können niemals zu denſelben gerechnet wer - den als ihren Zweck einigermaßen erfüllend. Guts - muths iſt kein Soldat geweſen, Young und Werner keine Turner, wozu noch kommt, daß Werner nicht nur auf eine falſche, ſondern auf eine gemeine Weiſe in ſeinen Gymnaſtiken auftritt, ſo daß aus ſeiner Wirkſamkeit nie etwas Gutes erſprießen kann. Doch wollen wir die Elementar-Gymnaſtik von Young hie - mit dem Wohlwollen unſerer Offiziere empfehlen. Die Winke, welche Young giebt, ſind immer ſehr be - achtenswerth. Ein ausführliches Urtheil über ſein Buch giebt der auch als Turner tüchtige Maßmann in dem oben angeführten Werke: Leibesübungen, Lands - hut 1830, S. 18 ff.

Nun bleibt uns noch die Frage zu beantworten, was für Uebungen getrieben werden ſollen. Dieſe Frage iſt um ſo wichtiger, als ein Berliner Correſpon - dent der Rhein. Zeitung in No. 275. uns folgendes erzählt: Jn der hieſigen vereinigten Artillerie - und Jngenieurſchule, ſowie in den andern Militairerzie - hungs - und Bildungsanſtalten der Armee ſoll nun91 auch das Turnen eingeführt werden. Es ſind bereits darüber Gutachten verlangt worden, von denen die meiſten beſonders das Schwimmen, Fechten, Reiten und Tanzen berückſichtigt wiſſen wollen. Das klingt ein Bischen ſonderbar. Es iſt von Turnen die Rede und das Gut - achten ſpricht von Tanzen. Schwimmen, Fechten, Rei - ten ſind wohl Theile der Turnkunſt im weiteſten Sinne, von dem heutigen Tanzen kann man dies aber ſchwerlich ſagen. Wenn aber die Allerhöchſte Cabinets - ordre von Leibesübungen ſpricht, die nunmehr auf den verſchiedenen Militairſchulen getrieben werden ſol - len, ſo kann doch füglich nur vom eigentlichen Turnen die Rede ſein, allenfalls auch vom Fechten, weil beide mehr zuſammengehören und im ſtillen Raum getrieben werden können. Schwimmen und Reiten ſtehen aber in keinem Zuſammenhange damit. Solche Gutachten aber, ſollten ſie wirklich alſo ſich ausgeſprochen haben, würden ein trauriges Geſtändniß ablegen von der Gei - ſtesbildung ihrer Urheber; denn entweder haben ſie die Königliche Cabinetsordre nicht verſtanden oder ha - ben keine Vorſtellung von unſerm Turnweſen, oder drittens ſie wittern wie 1819 in dem Turnweſen noch Demagogie, und mit ſolchen Jdeen dürfen natürlich künftige Offiziere nicht inficirt werden. Doch ehe wir an die Beantwortung der Frage gehen, ſind wir ge - nöthigt uns vorerſt die Frage zu ſtellen: wer ſoll turnen? Diviſions - und Brigadeſchüler. Darnach ſtellt ſich aber nun auch die Beantwortung der erſten Frage hinſichts der Uebungen anders. Diviſionsſchuͤ - ler turnen und Brigadeſchüler turnen. Jene werden zu Offizieren, dieſe meiſtens zu Unteroffizieren gebil - det. Beide Theile müſſen kräftig und gewandt ſein, Ausdauer beſitzen in Beziehung jeglicher körperlicher Anſtrengung. Aber der Unterſchied iſt: der Artilleriſt hat es mit Kanonen zu thun. Hieraus folgt nun von ſelbſt, daß der Körper der Artilleriſten vielſeitiger und tüchtiger, ſtärker ausgebildet werden muß.

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Darnach würden ſich nun für Brigadeſchüler als durchaus nothwendig folgende Uebungen darſtellen:

1. Die allgemeinen Gelenkübungen, woran ſich die Springvorübungen und die Schwebeübun - gen anſchließen, durch welche die einzelnen Gelenke nicht nur geſchmeidig werden, ſondern zugleich eine feſte, ſichere Haltung des Körpers in Ruhe und Bewegungen er - zielt wird. Dies gilt im verſtärkten Maßſtabe

2. von den Hantelübungen, welche ſeit langer Zeit, wie oben ſchon bemerkt worden, in Hannover zur Einübung der Rekruten im Exercier-Reglement aufgenommen und eingeführt ſind. Die Hantelübungen könnte man die Gelenkübungen mit Hinderniſſen nennen, weil durch das Gewicht und den Schwung der Han - teln die Uebungen bedeutend ſchwieriger werden, und in ſofern auch ganz beſonders die Kräftigung ſämmt - licher Muskeln, und wenn man will, vorzugsweiſe der Bruſtmuskeln bewirken. Man verlangt vom Sol - daten ſchnelle Findung des Gleichgewichts, ich meine, daß dies ſchon im Geſagten liege. Sofern jedoch die Streckmuskeln geübt und geſtärkt werden ſollen, ſo dienen dazu die oben angeführten Schwebeübungen, in der Art, wie ich ſie in meinem Turnbuche beſchrieben habe und ganz beſonders die daſelbſt verzeichneten Streckübungen.

3. Die Uebungen am Bock, Pferd, Bar - ren und Reck, das Springen und Schwingen an denſelben. Die Wellen am Reck ſind überflüſſig. Dieſe Uebungen und ihr Nutzen ſind zu bekannt, um auf ihre Nothwendigkeit noch aufmerkſam machen zu müſ - ſen; nur das, daß dieſe Uebungen jetzt praktiſcher aus - gebildet worden ſind, was in der Natur der Sache liegt.

4. Die Uebungen an Leiter und Tau. Beide vollenden die active Kraft der Arme. Sie be - wirken in jeder Hinſicht eine ungemeine Sicherheit der Arme, da dieſelben im Zug und Druck, Hang und Stütz geübt werden.

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5. Uebungen am Kraftmeſſer mit Zug und Druck. Da die Artilleriſten mit Kanonen zu thun haben, ſo iſt es vor allem Noth, daß ſie im Heben ſich üben, und ſie möglichſt vor dem Ueberhe - ben zu bewahren. Darum müſſen vorzugsweiſe ihre Arm -, Bauch - und Rückgratmuskeln ausgebildet werden.

6. Hiebfechten. Das Stoßfechten erfordert eine viel zu lange Uebung, um hier irgend wie in Betracht kommen zu können, wenn wir es auch für nothwendig erachten, daß die Cadetten die freilich mit außerordentlichen Ausnahmen, ſehr wenig Sinn bis jetzt für eine vernünftige körperliche Ausbildung gezeigt haben als künftige Offiziere ſich deſſelben auf das eifrigſte befleißigen. Das Hiebfechten iſt ächt deutſch und uralt, wenn auch immer die Deutſchen al - len Völkern im Stoßfechten überlegen waren. Wir empfehlen das Hiebfechten weniger in turneriſcher als beſonders in kriegeriſcher Beziehung. Der Muth wird erhöht durch die Schlagfertigkeit, durch die Bekannt - ſchaft mit der Waffe.

Das iſt zu deutlich, als daß ich glauben könnte, daſſelbe noch näher erklären zu müſſen. Es iſt aber wirklich ſonderbar, und die rüſtigern Nachkommen wer - den es kaum glauben, daß von den hunderttauſenden preußiſchen Soldaten vielleicht nur der hundertſte Theil fechten gekonnt. Jeder gemeine franzöſiſche Soldat kann fechten, auch jeder preußiſche Offizier? Selten werden wir auf Straßen und Wegen Einem begegnen, deſſen Haltung und Geſtalt verkündet, daß er die rit - terlichen Uebungen treibe. Und doch ſoll der preußi - ſche Offizier, der Darſteller des ritterlichen und kriege - riſchen Sinnes des preußiſchen Volkes ſein.

D. H.

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F. Rachricht.

Jm vorigen Jahre wurden folgende neue Turnanſtal - ten in der Provinz Preußen eingerichtet: 1) Jn Ma - rienburg am Seminar; 2) in Pillau an der höhern Stadtſchule, auf den Antrag und vieljähriges Arbei - ten des Predigers und Rektors Henke durch die ſtädti - ſche Behörde. Die Stadt bewilligte 100 Rthlr. zur Einrichtung, welche Summe nachher noch bereitwilligſt erhöht wurde. Der Commandant der Feſtung gab auf die freundlichſte Weiſe den Platz in der Feſtungs - Anpflanzung dazu her. Der Elementarlehrer Kleix - ner erhielt ſeine turneriſche Ausbildung in meiner An - ſtalt. 3. Jn Jnſterburg an der höhern Bürgerſchule. Den Turnunterricht leitet der Oberlehrer Fiſcher. Je - der Schüler, der dieſe Bürgerſchule beſucht, zahlt ohne Ausnahme einen monatlichen Beitrag von 2 Sgr.; wodurch die Anſtalt für immer geſichert iſt. 4. Jn Guttſtadt an der höhern Stadtſchule, durch den Eifer des Predigers Schwadlo eingerichtet. Der Elementar - lehrer erhielt ſeine ſchwache turneriſche Vorbildung in meiner Anſtalt. 5. Jn Lyck am Gymnaſium.

Eingegangen ſind dagegen in den letztern Jah - ren folgende Turnanſtalten: 1. Jn Danzig am Gym - naſium und den beiden höhern Bürgerſchulen; 2. zu Marienburg an der höhern Stadtſchule; 3. zu Memel. An allen drei Orten fehlte die erhaltende Theilnahme der betreffenden Behörden.

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Mit dem nächſten Frühjahre haben wir dage - gen die Hoffnung, neue Anſtalten in der Provinz ins Leben treten zu ſehen. 1. Der Rektor Weißhaupt in Bartenſtein wird eine ſolche für ſeine Schule, höhere Stadtſchule, auf ſeine Koſten errichten, da die ſtädti - ſche Behörde nichts für die Sache thun will. Hier wäre aber die beſte und in ſeinen Statuten wohl begründete Ge - legenheit für den Königsberger Turnverein gegeben, hel - fend und unterſtützend beizuſpringen. Ob es geſchehen wird, bezweifeln wir. 2. Ferner in Gumbinnen. Ueber - haupt hat die Gumbinner Regierung von jeher ſich der Turnſache auf eine höchſt ehrenwerthe und kräftige Weiſe angenommen, wie wohl zu wünſchen, daß auch andere Regierungen daſſelbe gethan. Nur wenn der Staat die Turnſache organiſirt, kann ſie gedeihen und frei bleiben vor böſen Ein - flüſſen, die auch jetzt wieder ſich derſelben bemeiſtern wollen. Welcher Fürſt wird Heinrich den Städteerbauer darſtellen, und die zeitgemäßen Rit - terübungen einführen?

D. H.

96

G. Aufgaben.

Es wird dem Turnweſen, wie es ſich nach den Be - freiungskriegen geſtaltet, von ſo vielen Seiten und ſelbſt von ſehr achtbaren Stimmen und Freunden der Turn - kunſt ſo viel Böſes nachgeſagt, das Verbot der Turn - plätze, die jetzige Unluſt der Jugend und der Eltern dermalige ſchwache Theilnahme ihm allein zur Laſt ge - legt, ſo daß es gar ſehr Noth thut, das Wahre an der Sache zu erfahren. Es gilt daher: Eine Dar - ſtellung jenes Turnweſens in ſeiner Wirklichkeit und Nothwendigkeit und in ſeinen Uebereilungen, Uebergriffen, oder wie ſonſt zu nennen. Erforderniß iſt: das Turn - weſen ſelbſt in ſeinem Beginn und Fortgang, ſowie die jedesmaligen Umgebungen und Verhältniſſe, die theils fördernd, theils trübend und hemmend bis zum Ver - bot wirkten, mit philoſophiſch-geſchichtlichem Geiſte auf - zufaſſen und allgemein faßlich, kurz und bündig für dieſe Blätter darzuſtellen.

2. Der Nutzen von Turnſchulen auf dem Lande in kriegeriſcher Beziehung;

  • a) in Hinſicht auf den künftigen Wehrdienſt;
  • b) in Hinſicht auf die Erhöhung des kriege - riſchen Sinnes des Volks im allgemeinen und der Schlagfertigkeit ins beſondere.

3. Offene Darlegung der Nachtheile, wenn junge Offiziere die Turn - und Fechtlehrer in Cadet -97 tenhäuſern, Ritterakademien, Diviſions - und Brigade - ſchulen ſind.

4. Warum muß das Turnen öffentlich ſein und geſchehen?

5. Kurze Darſtellung des ächten und rechten Geiſtes auf den frühern Turnfahrten, wie er auch noch jetzt und für immer zu wünſchen iſt.

6. Ueber die Schulzucht in den Zwiſchenſtunden.

7. Mit Rückſicht auf den Aufſatz vom Oberleh - rer Wechsler: Ueber die Hypochondrie des deutſchen Volkes, und wie dieſelbe zu heilen

8. Ein geehrter Mitarbeiter wollte ſchon für dies erſte Heft dieſe Aufgabe löſen, ward aber durch Ge - ſchäfte daran verhindert; ich erlaube mir daher ſie hiermit aufzuführen zu einer künftigen Bearbeitung.

Ueber ἀνήρ ἀνδρία vir virtus; Mann, Mannheit, Mannlichkeit, Männlichkeit, Mann - haftigkeit, Mannthum, Menſch.

Nach Feſtſtellung des Sprachlichen wird noch die Angabe des Weges gewünſcht, wie dieſe Eigenſchaften zu erringen.

9. Preisaufgabe. (Mit Rückſicht auf den Aufſatz des Herrn Oberlehrer Fatſcheck.)

Betrachten wir die Geſchichte der Völker, ſo ſe - hen wir, daß bei allen die Turnſitte der Träger des Volkslebens und ſomit zum großen Theil auch die Bedingung ihrer Größe geworden und geweſen. Auch die Deutſchen haben dieſe Turnſitte gehabt. Die Re - formation in ihrer einſeitig-geiſtigen Erregung und Entwickelung und vor allem der 30-jährige Krieg wa - ren ihr Tod, und das deutſche Volksleben ging mit Rieſen - ſchritten der Auflöſung entgegen. Jhre Wiedergeburt ſällt in die Zeit vor und während der Freiheitskriege, in die Zeit der höchſten Noth, und der Freiheit Morgen - roth. Bei der kräftigſten Kindes - und Knabenentwik - kelung beſteht immer die eiſerne Nothwendigkeit derJahrb. d. Turnkunſt. I. 598Frage: was zu thun, damit das Kind, der Knabe Jüngling werde, und Mannesreife erlange. So ergiebt ſich dann auch für dies erſt erblühende Turnweſen die Nothwendigkeit der Frage:

Was muß geſchehen, damit das deutſche Turnweſen eine deutſche Turnſitte werde?

Die jetzigen Verhältniſſe und Bedingungen, unter denen es ein kümmerliches Daſein friſtet, ſind mehr dafür geeignet, dieſen naturgemäßen Entwickelungs - gang aufzuheben oder doch weithin in die Zukunft zu ſchieben.

Einlieferungszeit der Arbeiten mit einem Sinn - ſpruch verſehen, und einen verſiegelten Zettel, den Na - men des Verfaſſers und denſelben Sinnſpruch enthal - tend, iſt der 1. September d. J. Bekanntmachung und Abdruck der Preisſchrift erfolgt im dritten Heft, wel - ches den 1. Januar 1844 erſcheint. Der Umfang des Aufſatzes darf nicht über zwei Druckbogen betragen, und muß allgemein verſtändlich geſchrieben ſein, wie der Zweck der Jahrbücher und ſein Leſerkreis es er - fordert. Richter ſind: E. M. Arndt in Bonn, Ernſt Eiſelen in Berlin, Prof. Glumpp in Stuttgart, Fried - rich Ludwig Jahn in Freiburg a. U., und Medicinal - rath Dr. Koch in Merſeburg. Zwar habe ich der Herren Antwort, ob ſie das Richteramt gütigſt über - nehmen wollen, der Kürze der Zeit wegen noch nicht erhalten können, doch läßt ihr Eifer für die Turn - ſache nur eine bejahende Antwort erwarten. Sollte eine Aenderung im Richteramte eintreten, ſo werde ich dieſelbe ſo wie den Einlieferungsort in jedem Falle im zweiten Hefte, ſo noch im Juli erſcheinen wird, mittheilen.

Da es mein Wunſch iſt, von Zeit zu Zeit, wo möglich alle Jahre, eine Preisaufgabe zu ſtellen, ſo ſehe ich mich genöthigt, mit einem zweiten Vor - ſchlage hervorzutreten: mit dem der Gründung eines Preis - oder Prämienfonds. Derſelbe99 iſt leicht zu beſchaffen, wenn die Theilnahme der Turnplätze Deutſchlands hierfür gewonnen iſt. Jch nehme mir daher die Freiheit, mich an dieſelben, ſo - wie an die ſonſtigen Freunde des Turnweſens zu wen - den. Die geſammelten Beiträge bitte ich an mich oder an die Verlagshandlung zu ſenden. Jeder Eingang wird im nächſt folgenden Hefte angezeigt. Da nun jetzt noch dieſer Fond fehlt, ſo habe ich aus dem Mei - nen bereits drei Friedrichsd’or als erſten Preis bei dem Verleger niedergelegt.

D. H.

100

IX. Allgemeine Gelenkübungen verbunden mit den Springvorübungen. Vergl. Eiſelen’s Turntafeln 1837 und die deutſche Turnkunſt von Karl Euler 1840.

Erſtes Hundert.

Mit dieſem erſten Hefte des Jahrbüchleins der Turn - kunſt habe ich es übernommen, einen Gegenſtand zu behandeln, der von immer höherer Wichtigkeit wird, und dies um ſo mehr, als die Zahl der Turnlehrer ſich mehrt, die in eben ſo viel Wochen und Monden ihre vollſtändige turneriſche Ausbildung erhalten haben, als Jahre dazu nöthig geweſen. Daher es denn vor allem Noth thut, ihnen etwas in die Hände zu geben, wonach ſie ihre Turner ausbilden können. Und wenn ich gerade dieſe Gelenkübungen gewählt, ſo geſchah es in dem Bewußtſein, daß ſie der Grund aller körperli - chen Ausbildung ſind, und wer ihrer mächtig gewor - den, durch ſie auch bald der Uebungen an und mit Turngeräthen mächtig ſein werde. Jch halte die Aus - bildung durch dieſe Gelenkübungen noch in ſofern für nothwendig, als unſer Tanz, wie unſer Tanzunterricht vollkommen ausgeartet ſind. Jener beſteht nur noch in Spazierengehen oder Raſen, dieſer in der nothdürftig -101 ſten Bekanntmachung der allgemeinen Regeln und Be - wegungen des Tanzes. An ein Erſtbefähigtmachen zum Tanze denkt Niemand mehr, einzelne wenige Tanzlehrer ausgenommen. Aber es fehlten bisher auch die Turnbücher, in denen dieſe Uebungen verzeichnet und erläutert geweſen wären, und die meiſt widerwär - tige Literatur von Gymnaſtiken behandelte dieſe Ue - bungen am ſtiefmütterlichſten. Die Freiübungen von Spieß ſind zu unbekannt geblieben und nicht überſichtlich genug aufgeſtellt. So fand ich es denn für gut, die - ſelben noch weiter als in meinem oben angegebenen Turnbuche geſchehen, auszuführen. Jch hoffe, dieſelben bei mehr Muße und Heiterkeit in ähnlicher Weiſe, wie meine Leiterübungen, zu vervollſtändigen.

Jch werde, um kürzer ſein zu können, gleich die Befehlwörter geben, alſo:

1. Stellung! Was die Turner auch treiben mögen, auf dieſes Wort müſſen alle ſich nach der Größe in eine Reihe ſtellen. Die Arme hängen ru - hig an der Seite.

2. Abſtand! Vom Flügelmann an legt ein jeder Turner bei geſtrecktem Arme, die Finger ſeiner rechten oder linken Hand auf des Nachbars Schulter. Dies iſt der Raum, innerhalb deſſen die Uebungen aus - geführt werden und welchen die Turner beobachten und behaupten müſſen. Und ſind während der Uebungen einige ſich zu nahe gekommen, ſo ertönt das Wort: Abſtand! und die Ordnung iſt ſofort hergeſtellt.

3. Einfache Stellung! Der Arm, welcher den Abſtand genommen hatte, geht ruhig an ſeinen Ort.

4. Volle Stellung! Füße im rechten Winkel! Man ſetzt die Hände, die 4 Finger nach vorn, den Daumen nach hinten gewendet, in die Seiten, gerade über die Hüften; die Ellenbogen ſind nach hin - ten gezogen, damit die Schultern zurückkommen; der Kopf iſt frei, gerade aus, nicht gezwungen. Die Beine*102ſind feſt aneinander geſchloſſen, und die Füße bilden zu einander einen rechten Winkel.

Die Schüler müſſen nach 2 3 Stunden da - hin gekommen ſein, auf den erſten Ruf: Stellung! ſogleich 1 4 raſch ohne weiteres zu machen.

5. Wechſelſtand! Abwechſelnd hebt man die Füße, indem man die Kniee etwas biegt und die Füße ſtreckt, auf die Fußſpitzen, ſo daß der Schwerpunkt bald auf das eine, bald auf das andere Stehbein fällt. Ei - nes hat man hierbei zu beobachten, daß man den Fuß, indem man die Ferſe vom Boden löſet, in ſeiner Richtung nicht ändere, ferner daß das Stehbein gerade bleibt. Man befiehlt alſo: Wechſelſtand rechts! wenn der linke Fuß ſich ſtark ſtreckend auf die Zehen erhebt, und das linke Knie ſich biegt; Wechſel - ſtand links! wenn der linke Fuß ſtehen bleibt, und der rechte ſich auf die Zehen erhebt mit Einbiegung des rechten Kniees.

6. Doppelſtand! Man hebt ſich mit beiden Füßen zu gleicher Zeit auf die Zehen, aber wohl be - achtet, nicht wie Uebung 34. bei geraden Knieen, ſon - dern indem, wie Uebung 5., die Kniee ſich nach vorne biegen, ſo alſo daß der Unterleib (nicht wie bei der kleinen Kniebeuge Uebung 49. eingezogen wird) ſich der Bewegung nach vorn in etwas anſchließt, was vornämlich die Oberſchenkel thun. Ober - und Unter - ſchenkel bilden einen ſehr ſtumpfen Winkel, während bei der kleinen Kniebeuge von vornherein die Anlage zum ſpitzen Winkel nothwendig gegeben iſt.

7. Wechſelſtand rechts mit Kreuzſtel - lung links vorn! Das rechte Bein bleibt alſo ſtehen, das linke kreuzt, ſanft gebogen und den Fuß geſtrekt a, vor dem rechten Beine, ſo daß der Fuß jenſeit des rechten Fußes ſenkrecht auf die Fußſpitze zu ſtehen kommt, die Sohle ganz nach außen gerichtet. Wo die Beine ſich kreuzen, liegen ſie feſt aneinander. Hierauf geht der Fuß wieder zurück.

103

8. b, Wechſelſtand rechts, Kreuzſtel - lung links hinten! Das linke Bein geht mit ſanfter Biegung des Kniees und geſtrecktem Fuße in einem kleinen Bogen nach hinten und kreuzt im Rük - ken des rechten Fußes, und kommt wie vorhin, ſenk - recht auf die Fußſpitze zu ſtehen, ſo daß die Ferſe nicht ſeitwärts geneigt iſt.

9. Uebung 7. und 8. verbunden! Das linke Bein geht ſanft gebogen wie Uebung 7. vor das rechte Bein, und kommt ſenkrecht auf die Fußſpitze zu ſtehen, erhebt ſich ſodann ohne Aufenthalt, geht in derſelben ſanften Beugung des Kniees und mit ange - meſſenem Bogen bei ganz auswärts ſtehendem Fuße nach hinten, und kreuzt wie Uebung 8.

10. Uebung 7. und 8. fortgeſetzt! Zuerſt mache ich Uebung 7., dann Uebung 8., gehe hierauf wieder nach vorn und mache Uebung 7, gehe nach hinten und mache Uebung 8. Dies 3 4 Mal fortgeſetzt. Erſt ſo bekommt man Geläufigkeit und Sicherheit in der Uebung, und übt das Gleichgewicht - halten auf einem Beine ſtehend.

11. Wechſelſtand links! Kreuzſtellung rechts vorn! Der linke Fuß bleibt nun ſtehen, und das rechte Knie biegt ſich ſanft, geht im Bogen nach links und kommt an der Außenſeite des linken Fußes ſenkrecht auf die Fußſpitze zu ſtehen; und nun in demſelben Bogen wieder zurück.

12. Wechſelſtand links! Kreuzſtellung rechts hinten! Hierauf geht das rechte Bein ſanft gebogen nach hinten, und kreuzt hinter dem linken Beine, an das es ſich feſt anlehnt. Auch hier achte man, daß der Abſatz ſich nicht ſeitwärts neige. Jn demſelben Bogen geht das Bein wieder zurück und ſtellt ſich an ſeinen Ort.

13. Uebung 11. und 12. verbunden! Der linke Fuß bleibt alſo ſtehen, das rechte Bein macht erſt Uebung 11., geht hierauf in einem ange -104 meſſenen Bogen zurück, zur Seite, nach hinten, macht Uebung 12. und geht nun wieder zurück an ſeinen Ort.

14. Uebung 11. und 12. fortgeſetzt! Zuerſt mache ich Uebung 11., gehe dann nach hinten und mache Uebung 12., gehe nun den Weg zurück und mache von Neuem 11. und 12. und ſo fort.

Anmerkung. Jch habe bisher angegeben, daß das kreuzende Bein nicht ſofort in die Kreuz - ſtellung gehe, ſondern in einem Bogen. So viel muß man nun dem Selbſtüber und dem Lehrer überlaſſen, mit welchem Bogen ſich die Uebung am ſchönſten aus - nimmt. Ferner läßt man dieſelbe anfangs in einem kleinen und dann immer größern Bogen machen, ſo daß ſie auch immer ſchwieriger wird, da ſie immer ſchön ausſehen, das Knie ſanft gebogen und der Fuß ganz geſtreckt und auswärts gerichtet ſein ſoll. Uebung 10. und 14. in immer ſo erweiternden Bogen fort - geſetzt, iſt nicht ſo leicht.

15. Wechſelſtand links mit Zehenſtand vorwärts rechts in der Spreize! Beide Füße ſtehen immer noch im rechten Winkel. Das linke Bein bleibt alſo ſtehen. Das rechte Bein biegt ſich nur ſoviel im Kniegelenk, um mit geſtrecktem Fuße vom Boden loszukommen; ſodann bewege ich den Fuß in ſeiner urſprünglichen Richtung und Stellung vor - wärts und komme mit geſtrecktem Knie - und Fußge - lenk in den Zehenſtand zu ſtehen. Weit kann ich den Fuß nicht vorſtellen, da das andere Bein ganz gerade bleiben muß. Je ſchärfer ich den Fuß ſtrecke, und wenn ich den Unterleib etwas nach vorne bewege, um ſo weiter komme ich in den Zehenſtand zu ſtehen. Zu beobachten iſt, daß ſowie der Fuß ſteht, derſelbe ganz gerade vorwärts geht, ſo daß alſo die Ferſe nach Jnnen und die Fußſpitze nach außen gerichtet iſt.

16. Wechſelſtand rechts mit Zehenſtand vorwärts links! Wie Uebung 15.

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17. Wechſelſtand links mit Zehenſtand rückwärts rechts! Das rechte Fuß - und Kniege - lenk werden etwas gebogen, um vom Boden los zu - kommen, ſodann das Bein in beiden Gelenken ſcharf nach hinten geſtreckt, der Vorderfuß nach außen und die Ferſe nach innen, d. h. der Fuß kommt mit der Jnnenſeite der großen Zehe aufzuſtehen, oder mit an - dern Worten: der Fuß muß die Haltung, die er im Stande hatte, auch in der Bewegung nach hinten behaupten.

18. Wechſelſtand rechts mit Zehenſtand rückwärts links! Wie die vorige Uebung.

19. Uebung 15. und 17. verbunden! Zuerſt mache ich alſo Uebung 15., biege ſodann ſanft Knie - und Fußgelenk, ſo daß der Fuß unverrückt ſeine auswärtsſtehende Richtung behält, gehe nun ganz ge - rade nach hinten, und mache Uebung 17., worauf ich den Fuß wieder an ſeine Stelle ſetze.

20. Uebung 16. und 18. verbunden! Wie die vorige Uebung.

21. uebung 19. drei bis vier Mal fort - geſetzt! Man macht alſo zuerſt Uebung 15., alsdann Uebung 17., biegt Knie - und Fußgelenk ſanft, geht nach vorn und macht Uebung 15., biegt Knie - und Fußgelenk, geht nach hinten und macht Uebung 17. u. ſ. fort.

22. Uebung 20. ebenſo fortgeſetzt zu machen!

23. Hierbei laſſen ſich noch einige Veränderun - gen machen, z. B. kann ich mit einem größern oder kleinern Bogen von vorn nach hinten und umgekehrt gehen. Bei einem kleinern Bogen wird das Fußge - lenk ſanft gebogen, bei einem größern bleibt es ganz geſtreckt. Beides zu üben.

24. Wechſelſtand links mit Zehenſtand ſchräg vorwärts rechts! Rufen wir uns ins Gedächtniß, daß die Füße im rechten Winkel ſtehen. Aus dieſer Stellung ſind drei gerade Bewegungen mög -106 lich, 1. die gerade vorwärts, wo alſo mehr die Jnnen - ſeite des Fußes voran geht, als die Fußſpitze die wir in Uebung 15 23. abgehandelt haben, 2. ſchräg vorwärts, wo nur die Fußſpitze vorangeht. So wie der Fuß ſteht, bewegt er ſich vorwärts mit der Fuß - ſpitze voran; 3. gerade ſeitwärts, wo, wie bei gerade vorwärts mehr die Jnnenſeite, ſo hier mehr die Außen - ſeite des Fußes vorangeht. Den beiden erſten Bewe - gungen entſpricht 1. gerade rückwärts, Uebung 17. und 18., wo die Ferſe und die Außenſeite des Fußes mehr der vorſchreitende Theil iſt, und 2. ſchräg rückwärts, wo die Außenſeite in und mit ihrer ganzen Linie ſich ſchräg rückwärts bewegt, ohne im Geringſten die Haltung und Richtung des Fußes zu verlieren, die er im Stande hatte, nur daß die Fuß - ſpitze geſtreckt wird.

Unſere hier in Frage ſtehende Uebung erklärt ſich nun leicht. Der rechte Fuß bewegt ſich, die Fuß - ſpitze voran, in ſeiner eingenommenen Linie vorwärts, d. h. ſchräg vorwärts, und kommt in den Zehenſtand. Hierauf wieder zurück.

25. Wechſelſtand rechts mit Zehenſtand ſchräg vorwärts links! Wie die vorige Uebung.

26. Wechſelſtand links mit Zehenſtand ſchräg rückwärts rechts! Wie oben 24. geſagt, geht der rechte Fuß mit ſeiner Außenſeite in ſeiner ganzen Linie voran zur Seite, woraus denn die Be - wegung ſchräg rückwärts wird (ſchräg vorwärts und ſchräg rückwärts könnte man eben ſo gut, aber weni - ger verſtändlich ſchräg ſeitwärts nennen). Je weiter der Fuß ſich fortbewegt, um ſo mehr ſtreckt ſich das Fußgelenk, bis der Fuß vollkommen geſtreckt in den Zehenſtand kommt, und ſodann wieder zurück geht.

27. Wechſelſtand rechts mit Zehenſtand ſchräg rückwärts links! Wie die vorige Ue - bung.

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28. Uebung 24. und 26. mit einander verbunden! Dies kann auf zweierlei Art geſchehen: 1. Zuerſt mache ich Uebung 24., gehe ſodann zurück mit angezogenem Fuße (um nicht den Boden zu be - rühren und mache ſodann Uebung 26., worauf ich den Fuß an ſeinen Ort ſtelle; oder 2. zuerſt mache ich Ue - bung 24., gehe ſodann nicht wieder zurück, ſondern ſogleich geſtreckt nach hinten auf die Stelle, wohin der Fuß zu ſtehen gekommen, wenn ich zurückgegangen wäre, und nun das Schrägrückwärts gemacht hätte. Jch kann auch umgekehrt zuerſt Uebung 26. und dann 24 machen. Doch wird offenbar die zweite Art, gleich von vorn nach hinten zu gehen, wobei ein Dreieck beſchrieben wird, doch nur halb eine Bewe - gung ſchräg ſeitwärts.

29. Uebung 25. und 27. mit einander verbunden! Wie die vorige Uebung in beiden Beziehungen.

30. Uebung 28. und 29. fortgeſetzt! Jſt wohl deutlich, zuerſt macht man Uebung 24., dann 26., geht dann wieder zurück nach vorn und macht von Neuem Uebung 24. u. ſ. w.

31. Wechſelſtand mit Zehenſtand zur Seite rechts und links! Jſt nunmehr wohl leicht.

Hierbei kann man 2. den bewegenden Fuß ſo auswärts biegen, daß er mit dem Stehfuße einen ſtarken ſchiefen Winkel bildet.

32. Von dieſer Uebung giebt es keine entſpre - chende nach der entgegengeſetzten Seite hin. Damit ſie indeß nicht ganz leer ausgehe, nehmen wir folgende als die ihr in entgegengeſetzter Richtung entſprechende an. Wenn ich nämlich Uebung 31. nach der zweiten Art gemacht habe, ſo biege ich das Kniegelenk ſo ſtark, daß der Fuß auf die Fußſpitze ſenkrecht, und parallel mit dem Stehbeine zu ſtehen kommt. Dieſe Uebung unterſcheidet ſich von den Uebungen 7. und 11. da - durch, daß der bewegende Fuß dort an die Außenſeite108 (daher Kreuzſtellung), hier dagegen an die Jnnenſeite des Stehfußes ſenkrecht zu ſtehen kommt. Das Knie iſt ganz ſeitwärts gerichtet. Rechts und links zu machen.

33. Alle dieſe Uebungen laſſen ſich nun noch mit geſchloſſenen Füßen machen, d. h. aus dem Stande mit geſchloſſenen Füßen, wobei alſo nicht bloß die Fer - ſen ſondern auch die Vorderfüße feſt aneinander ge - ſchloſſen ſind; ſo daß ſich demnach die Zahl der Uebun - gen verdoppeln würde. Jndeſſen bei der leidigen Ge - wohnheit unſerer weiblichen wie männlichen Jugend, die Füße naturwidrig einwärts zu tragen, halte ich für gut, dieſen Stand bei geſchloſſenen Uebungen ſel - ten zu gebrauchen, fleißig nur da zu üben, wo er hin - gehört, d. h. bei den Vorübungen zum Springen. Doch muß man die Uebungen auch ſo einmal durchma - chen. Das einzige Augenmerk, was man beobachten muß, iſt, darauf zu ſehen, daß die Füße immer mit ein - ander parallele Richtungen verfolgen. Das Uebrige iſt leicht.

34. Zehenſtand! Die Füße ſtehen alſo im rechten Winkel. Man hebt ſich ruhig auf die Ballen, ſo hoch wie möglich; die Beine bleiben gerade und geſchloſſen, die Ferſen feſt an einander. Man verharrt eine Zeit lang in dieſer Stellung. Vorkommende Feh - ler ſind: das Beugen der Kniee, das Sinken des Kopfes und das in die Höhe ziehen der Schultern und Ellenbogen. Nichts darf ſich am ganzen Körper rüh - ren. Es iſt ja nur eine Uebung des Fußgelenkes.

35. Wippen! Man erhebt ſich wieder wie Uebung 34. in den Zehenſtand, und läßt ſich wieder nieder mit den Abſätzen beinahe bis auf den Boden. Dies raſch wiederholt ohne die Kniee zu beugen oder mit den Abſätzen den Boden zu berühren.

36. Hüpfen mit Knieſteifen! Wieder Zehenſtand, und dann ſchnellt man ſich bei ganz ſtei - fen Knieen blos durch die Federkraft des Ballens in die Höhe. Die Ferſen bleiben feſt aneinander ge -109 ſchloſſen. Dieſe Uebung iſt oft zu machen. Der Leh - rer kann leicht ſehen, ob die Kniee geſtreckt bleiben oder nicht, im letztern Falle entſteht eine Oeffnung zwiſchen den Knieen.

Uebung 34., 35. und 36. laſſen ſich noch 1) machen aus dem Stande mit geſchloſſenen Füßen, und bilden und gewähren hier die Vorbedingungen und Vorübungen zum Springen, und ſind ſonach mit den folgenden Springvorübungen fleißig zu üben. Dem - nach alſo:

37. Zehenſtand bei geſchloſſenen - ßen! Auf welche Weiſe das Gleichgewicht ſchwerer zu behaupten iſt, als wenn die Füße im rechten Win - kel ſtehen.

38. Wippen!

39. Hüpfen mit Knieſteifen!

2) laſſen ſich dieſe drei Uebungen einbeinig ma - chen, und zwar aus dem Stande mit geſchloſſenen oder mit auswärtsſtehenden Füßen. Alſo

    • 40. Zehenſtand!
    • 41. Wippen!
    • 42. Hüpfen mit Knieſteifen!
    Rechts und links. Das andere Bein hebt man geſtreckt mit geſenktem Fuße etwas vorwärts in die Höhe. Die Rich - tung des Hangfußes richtet ſich nach der Richtung des Stehfußes. Die Haltung der geſchloſſenen Füße ſieht nicht hübſch aus, beſonders bei dem Hangfuße, daher man ihn lieber auswärts gerichtet hält.

3) laſſen ſich dieſe Uebungen in der Kreuzſtellung machen, a) wenn das rechte Bein vor dem linken, und b) wenn das linke vor dem rechten Beine kreuzt. vor allem ſehe man zu, daß die Kniee ſich nicht bie - gen, und kein Fuß vor dem andern ſteht. Die Füße ſtehen möglichſt auswärts.

4) Hinkhüpfen mit Kreuzſtellung! Die Stellung iſt ganz dieſelbe, wie bei 3, nur daß das hintere Bein das Stehbein iſt, das vordere kreuzende5*110Bein den Boden nicht berührt, nur die Geberde des Auftretens macht. Rechts und links.

Dieſe Uebungen ſollen das Fußgelenk ſtärken und löſen, d. h. ihm Federkraft verleihen, und vor allem die Streckmuskeln üben. Daß dieſe Federkraft (Elaſtieität), dieſe Uebung der Streckmuskeln des Knie - gelenkes ſelten gefunden wird, zeigt jeder Ball, das Tanzen auf dem Plattfuß mit krummen Knieen, und vor allem (trotz des Paradeſchrittes) die krummen Kniee unſerer jungen emporgeſchoſſenen Lieutenants.

43. Wechſelhüpfen! Dies geſchieht mit gebogenen Knieen. Es iſt beinahe der Wechſelſchlag mit Hüpfen. Uebung 45. Man ſchnellt ſich abwech - ſelnd bald mit dem rechten, bald mit dem linken Fuß in die Höhe, immer auf die Zehen niederkommend, ohne anzuferſen.

44. Wechſelſchlag (Standſchlag)! Man ſchlägt abwechſelnd mit den Ferſen hinten an das Ge - fäß an. Die Oberſchenkel dürfen ſich dabei nur we - nig bewegen, und die Kniee nicht hervortreten. Der jedesmalige Fuß wird ruhig aufgehoben, ferſt raſch an, und wird nun wieder geräuſchlos niedergeſetzt. Alles Scharren, Kratzen, Stampfen iſt beim Turnen verboten, indem die Uebungen dadurch etwas Plumpes und Schwerfälliges erhalten, ſtatt daß ſelbſt die ſchwer - ſten Uebungen leicht ausſehen müſſen. Dies gilt bei allen, beſonders bei den Springübungen.

45. Springſchlag! Jſt das vorige mit Hüp - fen oder Springen auf der Stelle. Man hüpft alſo wechſelfüßig ſo hoch, daß man jedesmal mit den Fer - ſen hinten an das Geſäß anſchlägt. Dies raſch hin - tereinander. Das Springen geſchieht leicht auf die Ballen und kaum hörbar.

46. Doppelſchlag! Die vorige Uebung mit beiden Füßen zugleich. Man hüpft alſo aus dem Ze - henſtand mit geſchloſſenen Füßen ſtark in die Höhe, und ſchlägt mit beiden Ferſen zu gleicher Zeit am Geſäß an und kommt hierauf wieder in den Ze -111 henſtand mit geraden Knieen nieder. Erſte Stufe 30 mal hintereinander anferſen. Macht man dieſe Uebung öfter hintereinander, ſo ſehe man zu, daß der Körper, beſonders der Kopf nicht verfalle, die Schul - tern nicht mitſpringen, d. h. nicht angezogen werden, und daß man immer auf die Zehen niederkomme.

Standſchlag und Springſchlag ſind leicht, und verurſachen nur dem Unbeholfenen Schweiß, erſteres natürlich weniger als letzteres. Um ſo mehr jedoch der Doppelſchlag, wo ſo viele auf die Abſätze nieder - kommen. Um letzteren einzuüben iſt es gut, denſelben nicht mehrmals hintereinander machen zu laſſen, ſon - dern auf Eins! ſpringen alle auf, ferſen an und kom - men auf die Zehen nieder. Hierauf läßt man ſie ſich ſammeln, und auf Eins! ſpringen ſie von Neuem auf. Hierbei hat man die beſte Gelegenheit, die Feh - ler, heſonders das Stampfen der Einzelnen zu bemer - ken und zu beſſern.

47. Hinkhüpfen! rechts und links. Man ſteht eben wieder wie bei 40. auf einem Fuße, indem man das andere Bein geſtreckt mit geſenktem Fuße et - was von der Erde gehoben hat, und nun hüpft man mit dem Stehbein auf, ohne jedoch den Fuß ſo hoch nach hinten zu werfen, daß er anferſt.

48. Hinkſchlag rechts und links. Man ſchnellt ſich mit dem Stehbein in die Höhe und ferſt hinten an. Dies fortgeſetzt. Zu bemerken iſt, daß das Hang - oder Streckbein dabei ruhig bleiben, der Körper über - haupt gerade aufrecht erhalten werden muß.

49. Hinkſchlag mit Anfaſſen des Hang - fußes! rechts und links. Man biegt den Hangfuß ganz zurück, bis zum Anferſen, ſo daß man die Fuß - ſpitze mit der gleichſeitigen Hand, ohne den Körper zu beugen, faſſen kann. Nun hüpft man mit dem Stehbein in die Höhe und ferſt an. Dieſe Uebung iſt ſchon etwas ſchwierig.

50. Kleine Kniebeuge! Zuerſt volle Stel - lung und Zehenſtand. Die Füße im rechten Winkel. 112Jch biege nun die Kniee ein wenig bis das Loth, von den Knieen gefällt, gerade vor die Fußſpitze trifft. Der Oberleib bleibt ganz gerade und ruhig. Hierauf ſtrecke ich die Kniee ſogleich wieder, auf den Zehen ſtehen bleibend, beuge mich von neuem ꝛc. Dieſe wie alle ſolche Uebungen öfter hinter einander zu machen. Sind viele Turner, ſo müſſen alle zu gleicher Zeit ſich niederlaſſen und erheben, der Lehrer giebt alsdann das Zeichen mit der Hand zum Niederlaſſen und Erheben. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß man fortwährend im Zehenſtand verharret. Eine Bemerkung muß ich noch hinzufügen. Beim Beugen der Kuiee richten ſich dieſe immer nach den Füßen; ſtehen dieſe im rechten Win - kel, ſo gehen die Kniee bei der Beugung in demſel - ben Maße auseinander, ſind die Füße geſchloſſen, ſo bleiben auch bei der Beugung die Kniee geſchloſſen. Der Turner hat alſo in dem Stande der Füße das untrüglichſte Zeichen, ob die Kniee zu ſchließen oder zu trennen. Darum darf demnach ein von den Knieen gefälltes Loth bei der Beugung derſelben, nie und nimmer neben dem Fuß weder nach innen noch nach außen fallen, ſondern muß gerade vor die Fußſpitze treffen.

51. Daſſelbe mit Hüpfen! (Doppel - hüpfen!) Aus der kleinen Kniebeuge ſchnellt man ſich möglichſt ſtark in die Höhe, wobei man die Beine ſtreckt. Jndem man auf die Zehen niederkommt, biegt man von neuem die Kniee, und ſchnellt ſich wieder in die Höhe. Dreierlei iſt hierbei zu beobachten, 1) daß man die Beine in der Luft, nachdem man ſich in die Höhe geſchnellt hat, gerade macht, und nicht, wie beim Wechſelhüpfen biegt; 2) daß man beim Niederkom - men nicht ſtehen bleibt, ſondern ſogleich einknickt, um ſich von neuem in die Höhe zu ſchnellen, Niederkom - men und Einknicken iſt eins; 3) daß man den Ober - leib ganz gerade hält, man darf ſich nicht vorn über - neigen. Da nun dies zu erreichen, anfangs und bei vielen unmöglich oder doch ſehr ſchwer iſt, ſo habe ich es für gut befunden, auch hier, wie bei der kleinen113 Kniebeuge mit der Hand das Zeichen zu geben. Alſo nieder! langſam mit der Hand niederfahrend, und Sprung! raſch auffahrend, worauf die Turner ſich aufſchnellen und auf die Zehen niederkommen, wo die Schwachen ſich erſt ſammeln, und es nun von neuem nieder! und Sprung! ertönt. Nur auf dieſe Weiſe iſt es möglich, eine gewiſſe Gleichheit und Ordnung in die Uebung und die Uebenden zu bringen.

52. Tiefe Kniebeuge! Wieder Zehenſtand! und dann beugt man ſich, ſo tief mit den Knieen ein - knickend, daß man beinahe auf die Ferſen oder Waden zu ſitzen kommt. Hierbei iſt es wieder ein Haupter - forderniß, den Körper ganz ruhig und gerade zu hal - ten. Sehr wenige ausgenommen, verfallen im Anfange alle, ſo daß ſie mit der Bruſt die Oberſchenkel berüh - ren. So gerade und ungezwungen, wie man ſteht, muß man ſich auch niederbeugen. Die Haupturſache des Zuſammen - und Vorwärtsfallens iſt, wenn man nicht im Zehenſtande verharret, ſondern auf dem vol - len Fuße ſtehet, wo es nicht möglich iſt, eine gerade Haltung zu bewahren. Man kann ſich dieſe Uebung leicht einüben, wenn man ſich an einem Stuhle oder ſonſt einem Gegenſtande hält, auf welche Weiſe man das Gleichgewicht bald finden und behaupten lernt.

53. Sitzhocken! Dieſe Uebung iſt die vorige, nur, was das Hocken anzeigt, das Verharren in die - ſer tiefen Kniebeuge. Dieſe Uebung iſt inſofern ſchwie - riger als die vorige, weil man hier leichter das Gleich - gewicht verliert.

54. Füße geſchloſſen! kleine Kniebeuge!

55. tiefe Kniebeuge!

56. Sitzhocken!

Dieſe 3 Uebungen ſind nur in ſofern etwas ſchwieriger, als die Behauptung des Gleichgewichts, wegen der ge - ringern Fläche auf welcher ich ſtehe, ſchwieriger iſt.

57. Hüpfen im Sitzhocken! Die Füße ſind geſchloſſen. Nun macht man das Sitzhocken, und ſchnellt*114ſich mit den Ballen von der Erde, wobei man jedoch im Sitzhocken bleibt. Dieſe Uebung iſt beſonders heil - ſam für das Hüft - urd Kniegelenk, die beide gelöſt und geſtärkt werden.

58. Hüpfen aus der tiefen Kniebeuge! Man macht die tiefe Kniebeuge, und ſchnellt ſich nun ſo ſtark wie möglich, indem man die Beine vollkom - men in der Luft ſtreckt, in die Höhe; kommt hierauf in den Zehenſtand nieder, biegt in demſelben Augen - blick die Kniee bis zur tiefen Kniebeuge, und ſchnellt ſich von neuem in die Höhe. Dies einige Male fort - geſetzt. Hier beobachte man, daß Kniee und Füße immer geſchloſſen ſind. Gut gemacht iſt dieſe Uebung ſehr ſchwierig.

59. Wechſelhüpfen im Sitzhocken! Sitz - hocken! nun hüpft man auf, wie Uebung 57. und ſtreckt im Augenblick des Aufhüpfens das rechte Bein ganz gerade zur Seite, ſodann wechſelt man raſch die Füße und kommt auf das rechte Bein zu ſtehen, und ſtreckt das linke zur Seite. Dies oft zu üben. Als Veränderungen dienen, wenn man das Bein nicht blos zur Seite ſondern auch vorwärts oder rückwärts ſtreckt.

60. Das Niederlaſſen auf einem Beine!

  • a) rechts,
  • b) links.

a) Das linke Bein ſtreckt man mit geſenkter Fuß - ſpitze vorwärts, und knickt nun mit dem rechten Knie ſo ſtark ein, daß man auf die Wade zu ſitzen kommt. Nachdem man ſo das Sitzhocken auf einem Beine gemacht, erhebt man ſich durch das Strecken des rech - ten Kniees, und läßt ſich von neuem nieder u. ſ. w.

b) natürlich auf dieſelbe Weiſe: man ſtreckt das rechte Bein, und läßt ſich auf dem linken nieder. Wenn vielen dieſe Uebung beinahe unmöglich iſt, ſo kommt dies oft daher, daß ſie auf dem Ballen ſtehen. So nothwendig man auf den Ballen ſtehen muß, wenn man die tiefe Kniebeuge auf beiden Beinen macht, ſo115 nothwendig iſt es dagegen auf vollem Fuße zu ſtehen, wenn man ſich auf einem Beine niederläßt. Aber auch ſo wird es vielen, die die Kraft haben, ſehr ſchwer, weil ſie das Gleichgewicht nicht behaupten können. Am leichteſten übt man daher dieſe Uebung auf dem Stuhle ein. Man ſtellt ſich alſo mit dem rechten Fuß auf den Stuhl, ſtreckt das linke Bein am Stuhl vor - bei, und läßt ſich nun, mit der rechten Hand an der Stuhllehne ſich feſthaltend, nieder, und erhebt ſich ſo - dann. Kann man es nun ſo, ohne ſich am Stuhle feſtzuhalten, ſo verſuche man es auf dieſelbe Weiſe am Schwebebaume, und dann auf der Erde. Auf dem Schwebebaume iſt es deswegen etwas ſchwieriger, weil derſelbe rund iſt, auch etwas beweglicher Natur. Wer dieſe Uebung verfolgen will, der verſuche dieſelbe auf dem Zopfende des Schwebebaumes, auf einem Barren - holm, und zuletzt ungehalten auf der Reckſtange.

61. Wechſelſchnellen! Faſt das Gegentheil vom Wechſelſchlag. Wie man dort anferſt, ſo ſchnellt man hier im Gegentheil das Knie an die Bruſt bei geſtreckter Fußſpitze. Weſſen Hüftgelenke nicht gar zu ſteif ſind, wird bald mit dem Kniee, bei ſehr geringer Biegung des Oberleibes, ſich an die Schultern ſchla - gen können. Der Oberleib muß ganz ruhig bleiben, ſonſt leidet die Bruſt.

62. Daſſelbe mit Hüpfen! (Springſchnel - len!) ähnlich wie Springſchlag, nur eine umgekehrte Bewegung. Man ſchnellt immerfort das Knie, vom Boden hüpfend, an die Bruſt.

63. Doppelſchnellen! Dies kann nicht wohl raſch hintereinander gemacht werden. Die Kniee werden zu gleicher Zeit nach der Bruſt geſchnellt; ſoll dies nun geſchehen, ſo müſſen Kniee und Füße hierbei gut vorfliegen. Dies die Vorübung zum Hochſpringen; ja das Hochſpringen iſt eigentlich weiter nichts als das Doppelſchnellen mit Vorwärtsbewegung.

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64. Doppelſchlag aus dem Sitzhocken!

65. Doppelſchnellen aus dem Sitzhok - ken! Beide Uebungen ſind ſchwierig, und verlangen eine tüchtige Uebung. Der Natur der Sache nach iſt die erſtere leichter als die zweite. Jn beiden Fällen ſchnellt man ſich durch Streckung der Schenkel ſtark in die Höhe, im erſten Falle aber wirft man die Un - terſchenkel nach hinten und ferſt an, kommt in den Ze - henſtand, knickt ein, ſchnellt ſich auf u. ſ. w.; im zwei - ten Falle ſchnellt man die Kniee raſch nach vorn, Kniee und Füße fliegen vor, und man kommt wieder in den Zehenſtand, um von neuem einzuknicken und aufzuſchnellen.

66. Ausſchnellen! Rechts und links.

1) Man hebt den Oberſchenkel wagerecht in die Höhe, d. h. daß er mit dem Oberleib einen rechten Winkel bildet. Der Fuß iſt geſtreckt. Nun ſchnellt man den Unterſchenkel gerade aus, ſo daß das Bein ganz ge - rade iſt. Zu hüten hat man ſich, daß die Fußſpitze nicht zittert nach dem Ausſchnellen.

2) Man hebt den Oberſchenkel ſo hoch wie möglich, die Fußſpitze geſtreckt, und tritt nun ſenkrecht nach vorn. Auch hier iſt die Schwierigkeit, das Zittern der Fuß - ſpitze zu vermeiden. Jſt der Tritt mit der Fußſpitze ein ſenkrechter, ſo iſt kein Zittern vorhanden, iſt er nicht ſenkrecht, ſo wird es ein Schlag von unten mit dem Fuß, und dies iſt das gerügte Zittern.

67. Man kann dieſe Ausſchnell - und Stoßübun - gen nun noch nach allen Richtungen durchführen, aus dem Stande mit geſchloſſenen Füßen, oder wenn die - ſelben im rechten Winkel ſtehen, wie wir dieſe ver - ſchiedenen Richtungen und Arten des Standes bei dem Wechſelſtand, Uebung 15 33., kennen gelernt haben. Wir überlaſſen dem Lehrer, die einzelnen Ne - benarten ſich deutlich zu machen, und beſchränken uns, die Hauptarten kurz anzugeben.

1) Ausſchnellen und Stoßen gerade vorwärts haben wir gehabt, Uebung 66. Drehen wir nun Knie117 und Fuß umeinen rechten Winkel auswärts (ſiehe Uebung 31.), ſo wird es a) wenn ich den Oberſchenkel nur wage - recht in die Höhe hebe, Ausſchnellen zur Seite, und b) wenn ich ihn ſo hoch wie möglich hebe, Tritt oder Stoß zur Seite. Einfacher wird die Uebung, wenn ich den Fuß in derſelben Richtung belaſſe, die er im Stande gehabt, alſo 1) geſchloſſen, oder 2) im rechten Winkel. Jede derſelben iſt nun mit Ausſchnel - len oder mit Stoßen zu machen.

68. 3 ) Ausſchnellen und Stoßen nach hinten! Hierbei beſonders unterſcheiden ſich beide Uebungen ſcharf. a) Ausſchnellen! Man ſtreckt den Oberſchenkel ſo weit als möglich nach hinten, ſchlägt den Unterſchenkel zurück, d. h. biegt das Knie ähnlich wie beim Wechſelſchlag, und ſchnellt nun ſcharf den Unterſchenkel aus, ſo daß beide Schenkel eine gerade Linie bilden.

b) Tritt oder Stoß! Jch biege das Kniegelenk (ſchlage den Unterſchenkel zurück), ziehe hierauf den Oberſchenkel nach vorn, ſei es bis er mit dem Ober - leib eine gerade Linie bildet oder noch weiter nach vorn, und nun trete oder ſtoße ich mit aller Gewalt nach hinten, natürlich mit geſtreckter Fußſpitze.

Wir ſehen, daß, wollen wir es genau nehmen, und die oben, Uebung 15 bis 33., angegebenen Rich - tungen und Arten verfolgen, daß wir eine Menge Ue - bungen erhalten würden. Zählen wir ſie auf: A. Aus - ſchnellen. I. Die Füße ſind geſchloſſen, 1) gerade vorwärts, 2) gerade ſeitwärts und 3) gerade rückwärts. Die Richtungen ſchräg vorwärts und ſchräg rückwärts nehme ich nicht, weil die Fußſpitze zu leicht in Gefahr kommt, einwärts zu rollen, und die Neigung nach einwärts halte ich für einen Fehler. II. Die Füße im rechten Winkel! 1) gerade vorwärts, 2) ſchräg vorwärts, 3) ſeitwärts, 4) ſchräg rückwärts, 5) gerade rückwärts und 6) ſeitwärts, wo aber die Fußſpitze ſo auswärts gedreht wird, daß ſie mit der andern einen ſtump -118 fen Winkel bildet, d. h. ganz ſeitwärts gerichtet iſt, vergl. Uebung 31. und 67. Dieſe 9 Ausſchnellübun - gen rechts und links = 18 Uebungen. B. Die Stoßübungen in allen dieſen Arten und Richtun - gen rechts und links geben ebenſoviele, alſo = 18, ſo daß dies 36 Ausſchnell - und Stoßübungen wären; ein Beweis, wenn es einem um eine große Zahl von Uebungen zu thun iſt, ſie ſich auch leicht finden läßt.

Drehen. Uebung 69 79.

Unter den Drehübungen verſtehen wir ſolche, vermittelſt deren wir uns um unſere eigene Längen - achſe drehen. Sie dienen vornämlich dazu, die Herr - ſchaft über den Körper, das Gleichgewicht zu gewin - nen. Auch hier will ich die Zahl der Uebungen nicht erſchöpfen, vielmehr nur andeutend verfahren. Der auf - merkſame Lehrer wird von ſelbſt auf die Fortſetzung kommen, ſobald es ihm ernſtlich um mehr zu thun iſt. Bei dieſen Drehübungen tritt der Unterſchied der beiden Standweiſen beſonders hervor.

69. Die Füße im ſpitzen Winkel. Die Ferſen ſind feſt aneinander geſchloſſen. Zehenſtand! nun dreht man ſich auf den Ballen nach rechts ſoweit, bis beide Füße mit einander parallel ſind, und wieder zurück zur Stellung. Daſſelbe ebenſo links. Zu be - obachten hat man, daß die Kniee ganz geſtreckt ſind, und kein Fuß mehr als der andere ſich drehe. Abſatz des einen und innere Seite des andern Fußes reiben ſich abwechſelnd.

70. Die Füße im rechten Winkel. a) Vierteldrehung! rechts. Man dreht ſich hoch auf den Ballen gleichmäßig nach rechts einen viertel Kreis, in welchem Fall beide Füße einer hinter dem an - dern ſtehend eine gerade Linie bilden, und nun wieder zurück zur Stellung. Sodann dreht man ſich links einen viertel Kreis und wieder zurück.

71. Die Vierteldrehung nach rechts und links mit einander verbunden! Man119 dreht ſich alſo erſt rechts, ſodann wieder zurück und ohne Aufenthalt gleich nach links, und wieder zurück nach rechts, jedesmal die volle Vierteldrehung ſo weit, daß beide Füße eine gerade Linie bilden.

72. Halbe oder Kreuzdrehung! Zehen - ſtand! und nun dreht man ſich im Halbkreis, ſo daß man auf die entgegengeſetzte Seite zu ſtehen kommt, und die Beine ſich an den Kniegelenken kreuzen, ſo - dann zurück zur Stellung. Daſſelbe links.

73. Dieſe beiden Kreuzdrehungen nach rechts und links mit einander verbunden! Wie ſchon 71. durch die Verbindung der beiden Vier - teldrehungen eine halbe Drehung aber ohne Kreuz - ſtellung wurde, ſo entſteht hier durch die Verbindung der beiden halben oder Kreuzdrehungen eine ganze Drehung, d. h. man dreht ſich einen vollen Kreis oder einmal um die eigene Achſe. Die Uebung ſelbſt iſt wohl deutlich genug, um ſie nicht näher beſchreiben zu müſſen. Nur mache man ſie mehrmals hinter ein - ander.

74. Die Füße geſchloſſen! Drehungen bei geſchloſſenen Füßen ſind nur dann möglich, wenn die Drehung ſelbſt auf einem Fuße geſchieht, der an - dere aber denſelben nur begleitet. Nehmen wir nun dies an, ſo erhellt, daß hier bei keiner Drehung eine Kreuzſtellung, überhaupt keine Trennung der Füße und Beine ſtattfinden kann. Das eine Bein bildet nur den Schemen und Schatten des andern. Ferner, da die Drehung des einen Fußes nicht von dem andern Fuße un - terſtützt wird, ſo iſt ſie bei weitem ſchwerer als die, wo die Füße im rechten Winkel ſtehen, und es erſcheint nothwendig, wo die Drehung über einen viertel Kreis hinausgeht, ſich durch den Oberleib einen gewiſſen Schwung zu geben, um die gewünſchte Drehung voll - enden zu können. Hierbei iſt es nun auch möglich, aus dem Stande nach einer Seite hin eine ganze Drehung zu machen, was nach der andern Stel -120 lung (wo die Füße im rechten Winkel ſtanden) nicht möglich iſt. Die Drehungen ſind hier alſo:

    • a) ¼ Kreis
    • b) ½ Kreis
    • c) ¾ Kreis
    • d) 1 Kreis
    nach rechts und nach links, und jedes mal wieder zurück, bald auf dem rechten, bald auf dem linken Fuß.

75) Die bisherigen Drehungen fanden alle im Zehenſtande ſtatt; verſuchen wir dieſelben auch auf dem Abſatze zu machen. Dabei erſcheint nun kein weſentlicher Unterſchied, ob die Füße geſchloſſen ſind oder im rechten Winkel ſtehen, immer aber iſt der eine Fuß der ſtumme Begleiter des andern. Auch hier mache man die ver - ſchiedenen Kreisdrehungen nach rechts und links durch, und 2) auf dem rechten und auf dem linken Abſatze.

76. Man ſtellt die Füße einen kleinen Schritt oder genau genommen, einen Fuß lang auseinander. Die Drehung im Zehenſtande macht keinen Unterſchied von der Uebung 70 73., aber die Drehung auf beiden Abſätzen geht ſo ohne Schwierigkeit, und bei der Vierteldrehung kommt dieſelbe Stellung heraus, die wir bei Uebung 70. hatten, und bei der halben Drehung wird dieſelbe ebenfalls eine Kreuzdrehung wie bei Uebung 72.

77. Auch hier verbinde man die Viertel - und halbe Drehungen nach rechts und links, wie wir ſie Uebung 71. und 73. gehabt haben.

78. Dieſe Drehungen nach rechts und links laſ - ſen ſich ebenfalls einbeinig ausführen, und zwar:

    • a) ¼ Kreis
    • b) ½ Kreis
    • c) ¾ Kreis
    • d) 1 Kreis
    auf dem rechten und auf dem linken Beine, und genau un - terſchieden a) auf dem Ballen, b) auf dem Abſatz.

Zu bemerken iſt, daß zu jeder Drehung nach ei - ner Seite hin auch die Rückdrehung bis zur Stellung gehört. Auch hier erſcheint es für nothwendig, daß ein Schwung außerhalb des Drehbeines gegeben werde.

121

79. Wir haben dieſe Drehübungen bis jetzt ohne und mit Schwung gemacht, verſuchen wir ſie nun auch mit und im Sprunge zu machen, d. h. man ſpringt auf, dreht ſich, und kommt in den - ſelben Stand, aus welchem man in die Höhe gehüpft, nieder. Dieſe Drehung kann nun dieſelben Kreis - theile befaſſen, die 78. angegeben ſind. Bin ich alſo nach rechts aus dem Zehenſtande ½ Kreis geſprungen, ſo muß ich auch wieder in den Zehenſtand niederkommen. Die Bemerkungen, die wir bei 78. gemacht, gel - ten auch hier. Der Drehſprung wird nach rechts und links, in den beſtimmten Kreistheilen hin, und wieder zurück gemacht, ferner aus dem Zehen - und dem Ferſenſtande, auf einem und auf beiden Füßen.

Spreizübungen. Uebung 80 94.

Spreizen iſt die Bewegung des einen Beines nach allen Richtungen hin, während das andere Bein feſtſteht. Sonach iſt das Gehen ein fortwährendes Spreizen. Das Spreizen geſchieht demnach ſo, daß ich, während das eine Bein (Stehbein) feſtſteht, das andere (das Spreizbein) in irgend einer Richtung raſch hinbewege, und wieder niederſetze; ſobald das Bein ge - ſpreizt, ſetzt man es wieder an ſeine Stelle. Dabei muß ſowohl das Stehbein als das Spreitzbein geſtreckt, und der Oberleib vollkommen ruhig bleiben. Man ſpreizt ſo hoch wie möglich. Damit das Spreizen der Menge in Ordnung geſchieht, giebt der Lehrer das Zeichen mit Hand und Wort.

Obwohl wir bei Uebung 24. die verſchiedenen Rich - tungen, in denen geſpreizt werden kann, aufgezählt und gehabt haben, wollen wir ſie hier doch zu Nutz und Frommen wiederholen.

a) Die Füße im rechten Winkel!

80. Gerade vorwärts mit angezogenen Fußſpitzen!

81. Gerade vorwärts mit geſtreckten Fußſpitzen! Während bei 80. die Fußſpitzen mög - lichſt ſtark nach dem Leibe angezogen werden, was Jahrb. d. Turnkunſt. I. 6122wenn man recht hoch ſpreizt in den Waden empfind - lich ſchmerzt, werden dieſelben bei 81. möglichſt der Erde zugeſtreckt. Bei letzterer Uebung iſt es etwas ſchwerer, als bei erſterer, die Fußſpitzen recht auswärts zu behalten, ohne daß der Fuß ſeine Seite zeigt; alſo nicht mehr auf die volle Sohle zu ſtehen käme, wenn er ſich in derſelben Richtung niederſetzte, vielmehr würde er eher auf die Außenſeite niederkommen. Weil die Schüler leicht bei dieſer Uebung das Bein ſchräg vorwärts in die Höhe heben, alſo auch ſchräg vor - wärts ſpreizen, ſo ſtelle man ſie, den Dielen des Fuß - bodens entlang ſehend, mit den feſt aneinander geſchloſ - ſenen Ferſen auf dieſe Dielritze; ſpreizt nun der Fuß, ſo muß ſeine Ferſe immer dieſer Dielritze entlang in die Höhe gehen. Entfernt ſich der Abſatz von der Ritze, ſo ſpreizt der Fuß ſchräg vorwärts. Man kann die Kinder auch ſo vorwärts der Ritze entlang gehen laſſen, ſo daß ſie immer mit den Fußſpitzen auswärts, und mit dem Abſatz an dieſe Ritze zu ſtehen kommen. Dies wäre bei den Soldaten der Parademarſch, vergl. die Schwebeübungen und den Schwebegang (Euler, die deutſche Turnkunſt S. 119 121.)

82. Gerade rückwärts angezogen! Wie die Füße ſtehen ſpreizt man gerade zurück, ſo daß alſo dieſelben immer auswärts gerichtet ſind. Um vom Bo - den los zukommen, da bei allen Spreizübungen nie - mals das Knie gebogen werden darf, ſo ziehe man die Fußſpitzen an. Man kann nun dieſelben angezo - gen laſſen, oder auch ſogleich wieder ſtrecken. Will man den Fuß wieder hinſetzen, muß man ihn natür - lich im letztern Fall wieder anziehen. Die meiſten fehlen hier darin, daß ſie beim jedesmaligen Spreizen den Oberleib nach vorne neigen, und das Knie des Spreizbeines biegen.

83. Schräg vorwärts angezogen! Wie der Fuß ſteht, geht derſelbe, die Fußſpitze voran, in die Höhe. Die Ferſe muß ganz in der Spur des Vorderfußes bleiben.

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84. Schräg vorwärts (den Fuß) ge - ſtreckt! Wie das Vorige.

85. Schräg rückwärts angezogen!

86. Schräg rückwärts geſtreckt! Ging bei 82. die Ferſe voran, und bei 83. und 84. die Fußſpitze, ſo hier die Außenſeite des Fußes in ihrer ganzen Linie ſchräg nach hinten.

87. Ganz ſeitwärts angezogen!

88. Ganz ſeitwärts geſtreckt! Während bei 85. und 86. die ganze Seitenlinie des Fußes gleichmäßig ſich zur Seite fortbewegte, ſo geht hier der Vorderfuß bei ſeiner Auswärtsſtellung auch mehr vorwärts als der Hinterfuß.

b) Die Füße geſchloſſen.

89. Gerade vorwärts angezogen! Dies recht hoch gemacht, greift die Wadenmuskel an.

90. (Gerade vorwärts) geſtreckt!

91. (Gerade) rückwärts! angezogen!

92. Seitwärts! angezogen!

93. (Seitwärts!) geſtreckt! Hierbei hat man Acht zu geben, daß der Vorderfuß ſich nicht mehr nach außen wende, als der Hinterfuß. Der Fuß muß in derſelben Richtung verharren, in welcher er auf dem Boden ſteht, d. h. er muß ſich in ſeiner ganzen Linie gleichmäßig zur Seite bewegen.

94. Spreizen von außen nach innen! und Spreizen von innen nach außen!

  • a) bei geſchloſſenen Füßen!
  • b) aus dem rechten Winkel!

Die erſte Uebung kann man auch bezeichnen: Spreizen von hinten, oder von der Seite nach vorn; und letztere Uebung: Spreizen von vorn nach hinten oder zur Seite. 1) Man macht entweder die Spreize gerade nach hinten, und bewegt den Fuß möglichſt hoch und raſch in einem Halbkreis nach vorn; oder man ſpreizt zur Seite geht nun raſch nach vorn, und ſtellt den Fuß ſogleich an ſeinen Ort. 2) Man macht die Spreize nach vorn, und geht ſo zur Seite124 oder weiter nach hinten und ſtellt ſogleich den Fuß an Ort und Stelle. Je raſcher und höher man den Fuß bewegt, um ſo ſchwerer iſt die Uebung, weil um ſo ſchwieriger die Bewahrung des Gleichgewichtes, und die Streckung beider Beine, des Spreiz - und des Steh - beines. Zur Erleichterung der Kleinen und Unbehol - fenen läßt man anfangs das Bein langſam und nie - drig, dann immer höher und ſchneller ſchwingen. Wer es zu Nutz und Frommen weiter verſuchen will, der ſpreize von innen und von außen über einen Gegen - ſtand z. B. über eine Stuhllehne.

Das Spreizen iſt eine Uebung des Hüftgelenkes, darum darf auch kein anderer Theil des Körpers mit - arbeiten, ſich mitbewegen. Die Kniee müſſen alſo im - mer geſtreckt, die Füße in ihrer Stellung und Richtung, der Oberleib und der Kopf vollkommen oder doch möglichſt ruhig bleiben. Einer der gewöhnlichſten Fehler iſt außer dem Beugen der Kniee, das Fallen des Turners auf die Seite des Stehbeines.

95. Grätſchen! War Spreizen die Bewe - gung des einen Beines in irgend einer Richtung, ſei es in gerader Linie oder im Bogen, während das an - dere Bein feſtſtand, ſo iſt Grätſchen die Bewegung beider Beine zu gleicher Zeit nach entgegengeſetzten Richtungen hin, ſei es im Stande, im Sprunge, oder wie am Barren u. ſ. w. im Schwunge. Das Grät - ſchen kann nun geſchehen: a) das eine Bein gerade vorwärts, das andere gerade rückwärts. b) Das eine Bein ſchräg vorwärts, das andere ſchräg rückwärts. c) Beide Beine ſeitwärts. A und b laſſen ſich rechts und links machen. Die Stellung aus der das Grät - ſchen gemacht wird, iſt gleichgültig, geht aber ſogleich während der Uebung in die geſchloſſene über, d. h. die Füße müſſen mit einander parallel ſein.

Hat man eine größere Reihe, ſo läßt man die - ſelbe rechts oder links um! machen, ſo daß einer hinter dem andern ſteht. Die Hände ruhen, wie bei allen Gelenkübungen, wenn es nicht ausdrücklich wi -125 derrufen iſt, an den Hüften, wie in der vollen Stel - lung angegeben iſt. Auf Sprung aus! ſpringen die Turner aus dem Zehenſtande bei geſchloſſenen - ßen in die Höhe und kommen, die Füße einen kleinen Schritt alſo 1 Fuß auseinander mit den Ze - hen zuerſt auf die Erde nieder, und ſenken ſogleich ge - räuſchlos die Ferſe auf den Boden. Auf weiter oder langſam weiter rutſchen die Füße auf ganzer (voller) Sohle in ihrer urſprünglichen Stellung (alſo die Füße nicht auswärts, wobei man leicht aus - gleiten kann) ſoweit auseinander, als es ohne Be - ſchwerde angeht. Die Haltung des Körpers iſt ganz gerade aufrecht. Weder Hüft - noch Kniegelenke dürfen ſich biegen. Langſam auf! Hierauf ge - hen die Füße auf voller Sohle wieder zurück, bis ſie noch einen Fuß auseinander ſind, wo alle ſtehen blei - ben, bis ſie auf: Sprung! oder Sprung auf alle zuſammen aufſpringen, und auf die Zehen bei ge - ſchloſſenen Beinen niederkommen. Um dies gleichmä - ßig zu üben, kann man das Sprung aus! und Sprung auf! (die Füße zuſammen) oft hinter ein - ander machen laſſen, bis es mit Sicherheit geſchieht. Wenn man die Turner ſo rechts oder links um! machen läßt, hat man noch den Vortheil, daß man mit einem Blick, (natürlich ſtellt ſich der Lehrer auf das eine Ende,) die ganze Reihe mit Leichtigkeit über - ſehen kann, ob die Köpfe in gerader Linie und auf - recht ſtehen, der Oberleib ſich nicht vorneige, die Kniee nicht gebogen ſind, und die Füße nicht auf der Seite, ſondern auf voller Sohle, nicht einwärts, ſondern mit einander parallel laufend, auf der Erde ruhen. Läßt man dies rechts um! oder links um! nicht machen, ſo müſſen die Turner einen weit größern Abſtand von einander nehmen. Daſſelbe iſt auch der Fall beim Spreizen zur Seite, wo die Nachbaren ſich ebenfalls treten würden.

96. Grätſchen in der Luft! Eine gute Uebung, um die Herrſchaft über ſeinen Körper zu er -*126langen, iſt die Grätſche in der Luft. Man hüpft aus dem Zehenſtande bei geſchloſſenen Beinen in die Höhe, wirft die Beine nach entgegengeſetzten Richtun - gen (grätſcht), ſchließt dieſelben wieder, und kommt in dem Zehenſtande zur Erde. Dies ohne Aufenthalt, bei immer geſtreckten Beinen, ohne mit dem Körper zu verfallen, iſt gar nicht ſo leicht. Am leichteſten iſt das Grätſchen zur Seite. Sollte dieſe Uebung für Anfänger noch zu ſchwierig ſein, ſo können ſich die - ſelben vor einen Tiſch, Stuhl u. ſ. w. ſtellen, die Hände auflegen, aus dem Zehenſtande in die Höhe hüpfen, die Beine grätſchen, und wieder in dem Zehen - ſtande mit geſchloſſenen Beinen niederkommen. Dies können und müſſen auch die Anfänger oft hinter ein - ander machen, weil es mit Unterſtützung der Hände leicht iſt, und zugleich als nothwendige Vorübung zu den Uebungen an Pferd und Bock dient.

97. Einfacher Kreuzſprung! Volle Stel - lung! Füße im rechten Winkel, Zehenſtand! Sprung eins! oder auch nur eins! Man ſpringt auf, und kommt mit gekreuzten Beinen, d. h. das rechte über das linke Bein oder umgekehrt gekreuzt, auf die Bal - len nieder, die Füße auswärts gerichtet. Die Beine ſind gerade. Gut gemacht darf kein Fuß über dem andern hervorragen. Sprung zwei! oder zwei! und man befindet ſich in der frühern Stellung. Man befiehlt demnach am beſten: Sprung rechts! in - dem das rechte Bein über das linke kreuzt. Sprung! oder zwei! indem man in die anfängliche Stellung zurück kommt. Sprung links! worauf das linke Bein über das rechte kreuzt. Man ſpringt mit beiden Füßen zu gleicher Zeit auf, und kommt mit denſel - ben zu gleicher Zeit nieder. Nie darf man beide - ße unterſcheiden können durch den Schall und Tritt. Geht dieſe Uebung ziemlich, ſo kann man zur folgen - den übergehen.

98. Doppelter Kreuzſprung! Volle Stellung! Füße auswärts! Zehenſtand! Sprung127 rechts! wie 97. Sprung links! Aus der mit dem rechten Beine gekreuzten Stellung geht man gleich mit einem Aufſprung in die mit dem linken Beine gekreuzte Stellung über, d. h. alſo: man ſpringt in die Höhe und kommt wieder auf die Ballen zu ſtehen, das linke Bein über das rechte gekreuzt. Demnach befiehlt man: Sprung rechts! Sprung links! oder auch eins! zwei! immer fortgeſetzt ohne Unterbrechung. Hierbei gebe man ja Achtung, daß der Oberleib ruhig bleibt, die Kniee nicht einknicken, und kein Fuß vor den andern zu ſtehen kommt. Man ſpringt mit den Füßen zu gleicher Zeit auf, und kommt auch ebenſo nieder. b. Dies raſch hinter einander zu machen.

99. Kreuzſprung in der Luft! Wenn 98. geht, kann man ſich an dieſe Uebung machen, ſonſt nicht. Man kann dieſe Uebung aus dem Zehenſtand mit ge - ſchloſſenen Füßen, was leichter iſt, oder dieſelben im rechten Winkel machen. Zehenſtand und Sprung! Man ſpringt auf, kreuzt in der Luft, rechts oder links, immer wechſelnd, und kommt wieder in die frühere Stellung nieder. Dies ſind Uebungen, die auch Tanz - lehrer oft machen laſſen, um die Hüftgelenke zu ſtär - ken und zu geſchmeidigen. b. Dies ohne Unterbrechung raſch hintereinander zu machen, indem man niederſpringt, hüpft man wieder auf.

100. Kreuzſprung auf einem Bein! Dies iſt wie Uebung 98., nur daß das hintere Bein das Stehbein iſt, und das vordere kreuzende Bein den Boden nicht berührt. Es macht nur die Geberde des Auftretens. Rechts und links zu machen.

D. H.

128

X. Bücherſchau.

  • 1. Das Turnen, ein deutſch-nationales Entwicke - lungs-Moment von Dr. W. F. Klumpp, Prof. am Gymn. in Stuttgart. Stuttg. u. Tüb. 1842.
  • 2. Alaaf Preußen! Zur Begrüßung der neuen Epoche in dem preußiſchen, hoffentlich deutſchen Erziehungsweſen, eingeleitet durch die Cabinets - ordre vom 6. Juni d. J., die allgemeine Ein - führung der gymnaſtiſchen Uebungen betreffend. Ein Vortrag in der pädagogiſchen Geſellſchaft in Berlin gehalten von Ad. Dieſterweg. Ber - lin. 1842.
  • 3. Das Turnen und die deutſche Volkserziehung. Ein Entwurf. Frankfurt a. M. 1843.

Als mich der Herausgeber zur Mitwirkung bei dieſem Jahrbuch einlud, entſchloß ich mich zu dem Ver - ſuch, die Nothwendigkeit einer öffentlichen Gymnaſtik bei uns aus ethiſchen und hiſtoriſchen Geſichtspunkten zu entwickeln. Was mir an Stoff zu dieſem Zweck zu Gebote ſtand und brauchbar ſchien, war bald in ein Thema zuſammengeſtellt, und eben war ich im Begriff, an die Bearbeitung des geordneten Materials zu ſchreiten, als die Kunde von unſern verbeſſerten Cenſurverhältniſſen erſcholl. Jch wurde nun zweifel -129 haft, ob ſich meine Anſicht über jenes Thema noch unumwunden würde ausſprechen laſſen, und eben weil ich zweifelte, ob ich es noch thun dürfte, entſchloß ich mich, es nicht zu thun. Mir konnte dieſer Entſchluß nicht ſchwer fallen. Da, wie ſchon Tacitus ſagt, die glücklichen Zeiten ſo ſelten ſind, wo man denken darf, was man will, und was man denkt ſagen darf, und deswegen von jeher die edelſten Menſchen weit mehr gedacht, als geſprochen haben: ſo wird ſich wohl nie - mand darüber beklagen, wenn er Gedanken von ſo zweifelhaftem Werthe freiwillig für ſich behält. Um indeſſen weder meinem Verſprechen noch meiner Ueber - zeugung untreu zu werden, hob ich einige Punkte aus dem fertigen Thema heraus und ſchob ſie ſo unzu - ſammenhängend, wie ſie lagen, zu der aphoriſtiſchen Skizze aneinander, die der Leſer S. 79. gefunden hat und die ihm, ſo trocken und unentwickelt, kaum zu etwas an - derm Gelegenheit giebt, als ſich in der Nachſicht zu üben. Um ſo erfreulicher war es mir, als ich in den drei obigen Broſchüren, die mir der gefällige Heraus - geber hinterher zukommen ließ, daſſelbe, was ich mir vorgeſetzt hatte, zwar anders aber unendlich beſſer, als ich gekonnt hätte, bereits erſchöpfend geleiſtet fand. Jch glaube daher dem Leſer einen Theil von dem, was ich ihm ſchuldig blieb, noch nachträglich abzuzahlen, wenn ich ihm dieſe Abhandlungen nicht empfehle, denn das thun ſie am beſten ſelbſt ſondern nur nenne.

Der Verfaſſer von Nro. 1., einer unſrer geiſt - vollſten Pädagogen, hat ſeit 1814 ſelbſt Turnübungen der Jugend geleitet und iſt alſo durch Erfahrung eben ſo wie durch Klarheit ſeiner Einſicht vorzugsweiſe be - fähigt, ein vollgültiges Urtheil darüber abzugeben. Die geſchichtliche Entwickelung, mit der er beginnt, weiſt der griechiſchen Gymnaſtik den äſthetiſch-plaſti - ſchen, der römiſchen den kriegeriſchen Charakter nach, wäh - rend wir ſchon in der deutſchen Vorzeit, beſonders aber in den Turnieren des Mittelalters, Leibesübungen finden, mit kriegeriſchem Charakter, wie in Rom,130 aber zugleich als heiteres Spiel behandelt, wie in Athen, ſo daß ſchon hier der Beruf der Deutſchen erſcheint, die Einſeitigkeit des antiken Lebens zur Einheit einer ſittlichen Totalität zu verbinden. Beim Uebergang in die neuere Geſchichte hört dieſe deutſche Gymnaſtik auf. Die Gründe davon übergeht der Verfaſſer. Aber ge - rade ihre Entwickelung müßte den beſten Beweis lie - fern, daß wir uns von der kranken Einſeitigkeit, in welche das deutſche Leben beim Eintritt des griechiſch wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins in der neuern Geſchichte ſich zuſammenzog, nur durch die größere Pflege des leiblichen Daſeins wieder erholen können und daß die Gymnaſtik das zunächſt erforderliche Vermittelungs - glied iſt, wodurch die Gegenwart ſich in eine ſchönere Zukunft verwandeln wird, deren Nähe uns der geſetz - mäßige Entwickelungsgang der Geſchichte bereits erkennen läßt. Den Zuſtand der allgemeinen Verkümmerung ſchil - dert der Verfaſſer ſehr gut S. 6. als es einmal ſo weit ge - kommen war, daß friſche Leibesübungen, wie Klettern und Ringen, Baden und Schwimmen, nicht nur nicht mehr getrieben wurden, ſondern ſogar als überflüſſig, als Zeitverderb, als Rohheiten und Ungezogenheiten von der Schule förmlich verpönt waren, als der Knabe dafür, zur lächerlichen Karrikatur geworden, in Puder und Haarbeutel erſchien, da mußte freilich allmählig jede Ahnung eines nach Leib und Seele kräftigen Ju - gendlebens verſchwinden, und wie konnte dann von den Männern erwartet werden, was ihnen als Knaben und Jünglingen bis auf die letzte Spur fremd geblie - ben war? Da waren es denn nicht etwa Staats - männer und Magiſtrate oder Volksmänner, ſondern Pädagogen, welche in gerechtem Unwillen über dieſe Un - natur und Verkümmerung zuerſt wieder Hülfe ſuchten und in vollkommen richtigem Takte bei der Jugend anfingen. Es geſchah zuerſt durch die Philanthropi - ſten, in der Philanthropie zu Deſſau, in der Salz - manniſchen Anſtalt zu Schnepfenthal. Allein die ger - maniſchen Leibesübungen hingen aufs engſte mit der131 Wehrhaftigkeit des Mannes, des ganzen Volkes zuſam - men. Bei der politiſchen Verkehrtheit und Armſelig - keit Deutſchlands aber, auch zur Zeit der Philanthro - pien noch, konnten ſolche Jdeen gar keine Wurzel finden. Erſt einige Jahrzehende ſpäter (1812) erhält die Sache von Berlin aus neues Leben; hier galt es, ein altes, aber vergeſſenes Jnſtitut an die wichtigſten und heiligſten Bedingungen der Nationalität, Freiheit, Selbſtändigkeit und Ehre des Vaterlandes raſch und ergreifend anzuknüpfen und dazu bedurfte es eines ſo energiſchen, von ſeiner Jdee ergriffenen und ihr alles opfernden Mannes, wie Jahn. Die bedauerlichen Verirrungen nationaler Jdeen in’s Gebiet der eigent - lichen Politik bewirkten erſt in Preußen, dann in den meiſten deutſchen Staaten die Reaction gegen das Tur - nen, doch wurde ſie nur ein Durchgangspunkt für daſſelbe. Eiſelen in Berlin, und die einſt Turner der Haaſenheide waren, erweckten es von neuem, be - ſonders wirkte darauf die Schrift des Dr. Lorinſer, 1837, und das Miniſterium in Preußen überließ 1838 den Provinzialſchulcollegien die beliebige Ein - richtung von Turnplätzen. Eine kurze Ueberſicht ver - folgt nun dieſe Regeneration des Turnweſens durch alle deutſchen Staaten. Jm zweiten Theile behandelt der Verfaſſer das Verhältniß des Turnens zur National - erziehung nach dem phyſiſchen, dem allgemein ethiſchen und dem nationalen Werthe mit treffender Einſicht, und zeigt, daß der normale Geſundheitszuſtand, den es bewirkt, den moraliſchen Muth, damit den männlichen Charakter und die Selbſtſtändigkeit, und dadurch den individuellen Charakter überhaupt entwickeln und ſtär - ken müſſe. Eben ſo ſachverſtändig ſind die Vorſchläge, die der Verfaſſer im dritten Theil für die beſte Ein - richtung des Turnweſens macht.

Es wäre kein geringes Verdienſt dieſer treffli - chen im 2ten Hefte der Vierteljahrſchrift zuerſt erſchie - nenen und daraus hier beſonders abgedruckten Arbeit, wenn ſie nicht ohne Einfluß geblieben ſein ſollte auf132 die preußiſche Cabinetsordre vom 6. Juni 1842, wodurch die Leibesübungen als ein nothwendiger und unent - behrlicher Beſtandtheil der männlichen Erziehung förm - lich anerkannt, in den Kreis der Volkserziehungsmit - tel aufgenommen, und zunächſt mit den Gymnaſien, höhern Stadtſchulen und Schullehrer-Seminarien in Verbindung geſetzt werden. Die freudige Ausſicht, die dieſe wahrhaft königliche Willensäußerung jedem Men - ſchen - und Vaterlandsfreunde eröffnet, betrachtet nun der rühmlich bekannte Verfaſſer von Nro. 2., indem er die Gymnaſtik aus dem humaniſtiſchen, patriotiſchen, disciplinariſchen und wiſſenſchaftlichen Geſichtspunkte würdigt. Wir wollen die Rede nicht excerpiren; man kennt Dieſterwegs kerngeſunden Sinn. Alaaf Preu - ßen! mit dieſem Hoffnungs-Gruß empfängt er das folgenreiche Ereigniß. Wir ſtehen an der Eröffnung einer neuen Epoche. Unſre theoretiſche, unpraktiſche Einſeitigkeit iſt am Verſchwinden. Die quietiſtiſche, unſelige Speculation auf die Freuden des Himmels weicht der tüchtigen Wirkſamkeit auf der Erde, dem Schauplatz des ganzen Menſchenlebens. Dieſes men - ſchenwürdig zu geſtalten, erkennen wir als unſere Auf - gabe. Alle Glieder des Volks zu bilden, den ganzen Menſchen, in ihm den Bürger, den Erdenſohn, alſo den Leib wie den Geiſt, daran denken wir. Es iſt ein wahrer Fortſchritt. Am Schluſſe giebt der Ver - faſſer eine Ueberſicht der in dieſe Sphäre einſchlagenden Literatur.

Wer auch der Verfaſſer von Nro. 3. ſein mag (ein höherer Beamter im Unterrichtsweſen nach p. 2.), er ſteht würdig neben ſeinen beiden Vorgängern, wenn man die klare Einſicht erwägt, mit der er unſere Zu - ſtände betrachtet. Unſre Zeit bedarf der Leibesübun - gen mehr, als einſt Griechenland ſelbſt. Jn demſelben Maße, als unſer ganzes Leben mit ſeiner verzweigteren Ausbildung künſtlicher geworden iſt und wir uns von jener Einfachheit der Verhältniſſe, in welcher der ganze Menſch und nicht wie bei uns eine einzelne kleine133 Seite deſſelben zur Thätigkeit gefördert wurde, haben entfernen müſſen, iſt es nöthiger, daß die Erziehung alles thue, um den einzelnen Menſchen in ſich ganz zu bilden und ihn aus der künſtlichen Entfremdung zur einfachen Natur zurückzuführen. Dazu wirkt die Gym - naſtik weſentlich mit. (p. 9.) Jnsbeſondere muß uns Deutſchen die Stärkung und Ausbildung des Leibes am Herzen liegen, inwiefern ſie eine Grundlage je - ner muthigen, rüſtigen Thatkraft iſt, welche in je - dem Einzelnen leben muß, damit wir ein ſelbſtſtändi - ges Volk bilden. (p. 12.) Die Turnplätze müſſen nach ſeiner Anſicht öffentlich und Gegenſtände nationa - ler Theilnahme ſein, das thut jetzt unſerm ſo weit aus - gebildeten öffentlichen Erziehungsweſen Noth. Weil für die geiſtige und geiſtliche Ausbildung bei uns ſeit drei Jahrhunderten beſſer vorgeſorgt iſt, reden wir heute für die leibliche Seite, aber nur um in ihr dem wahrhaft menſchlichen Geiſte, deſſen Vollendung der chriſtliche iſt, eine kräftige und ſchöne Darſtellung zu leihen, in deren Anſchauung er ſelbſt wiederum neue Freude und Zuverſicht gewinne. Eine wahre Kraft fährt ſich nicht in einer Richtung feſt, ſondern iſt erſt dann froh und frei, wenn ſie auch die andre Seite ergreift und ſich an den entgegengeſetzten Enden reich und mächtig fühlt. (p. 39.) Wir vertrauen dem Geiſte unſrer Zeit, denn was wir an unſrer Ju - gend thun, thun wir an der Zukunft unſres Vater - landes.

Ja, an der Zukunft unſres Vaterlandes, für die ſo Viele träumen und ſchwärmen und ſeufzen und re - den und nichts thun! Wenn irgendwo in der Gegenwart, ſo iſt hier der Boden, auf dem die Freunde des wahren Fortſchritts ſich ſammeln, das Rhodus, wo die Männer der That ihren Waffentanz beginnen ſollten!

Wechsler.

6*134

XI. Abwehr.

Es konnte nicht fehlen, daß ſeit das Turnweſen wieder zu Gnaden angenommen worden, Kämpen ſich dagegen erheben würden. Und man hätte ſich wun - dern müſſen, wenn es anders gekommen. Wir unſe - rer Seits laſſen uns dadurch nicht beunruhigen, denn wir wiſſen, was wir haben und wollen. Doch hören wir, wie ein ſolcher Kämpe ſich räuspert.

Man hat in Berlin das Turnweſen wieder zu Gnaden angenommen. Wir erlauben uns, daran eine Bemerkung zu knüpfen. Die Turnerei mag für die Ausbildung des Körpers eine ſehr gute Sache ſein, obgleich ſie im Grunde mehr die Plumpheit, als die Schönheit des Körpers befördert. Alle Turner bilden zunächſt den Arm am ſtärkſten aus; dadurch bekommt derſelbe eine unverhältnißmäßige Schwere und erzeugt jenes Vorbeugen des Oberkörpers und jenes Schlen - kern der Arme, an welchem man die Turner von frü - her ſehr leicht erkannte. Noch gefährlicher aber ſind gewiſſe Einbildungen, die früher mit der Turnerei ver - bunden waren, gewiſſe Ueberſchätzungen ihres Werthes, die man aus dem erſten beſten jener Turnziele, die nach den Befreiungskriegen erſchienen, leicht erſe - hen kann. Unſer Jahrhundert braucht mentem sa - nam in corpore sano, aber keine Athleten. (Te - legraph 1842. S. 624. Nro. 156.)

Ein ungeſchickterer Angriff hätte nicht gemacht135 werden können. Derſelbe wimmelt ſo ſehr von Wi - derſprüchen, daß es kein angenehmes Geſchäft iſt, dar - auf einzugehen. Zuerſt ſoll die Turnerei für die Ausbildung des Körpers eine ſehr gute Sache ſein, obgleich ſie im Grunde mehr die Plumpheit als die Schönheit des Körpers befördert. Das heißt am Ende doch weiter nichts als: die Turnſache iſt ſehr gut, aber zu nichts nütze, ja ſogar ſchädlich, ſintemal ihre eigentliche Wirkung darin beſteht, die Plumpheit des Körpers zu befördern! Wie eine Sache ſehr gut ſein und bleiben könne, wenn ihre eigenthümliche, nicht zufällige, Wirkung eine ſchlechte iſt, ſehe ich nicht ein. Dieſe Erſcheinung ſucht er nun zu erklären. Alle Turner bilden zunächſt den Arm am ſtärkſten aus. Ob dies wahr iſt, müſſen wir Turnlehrer am beſten wiſſen. Jch meiner Seits bezweifele dies nicht nur, ſondern kann die Anklage, in dieſem Umfange gemacht, thatſächlich als eine Unwahrheit widerlegen. Es iſt offen - bar, daß der Verfaſſer niemals auf einem Turnplatze geweſen, dem ein Turnlehrer vorgeſtanden. Dies hätte er in Frankfurt a. M., in Berlin, ſelbſt in ſeiner Nähe in Hannover, wo Hufeland, (jetzt in Hildesheim,) eine Zeit lang Turnlehrer war, ſehr bequem haben können. Doch er hat vielleicht die Hamburger Tur - ner vor Augen. Mögen dieſelben ihre Vertheidigung ſelbſt führen. Er fährt fort: dadurch bekommt der Arm eine unverhältnißmäßige Schwere und erzeugt je - nes Vorbeugen des Oberkörpers, und jenes Schlenkern der Arme, an welchem man die Turner von früher ſehr leicht erkannte. Hier erfahren wir, was der Verfaſſer unter Plumpheit verſteht. Der Arm be - kommt eine unverhältnißmäßige Schwere, ſchwer wie Blei! Der Verfaſſer ſcheint auf plumbum anzuſpie - len, plumbeus iſt ja ein bleierner, d. h. plumper Menſch. Er wird alſo nicht allein witzig, ſondern zeigt ſich auch als Sprachforſcher, wenn es ihm nicht etwa Leonhard Friſch vorgeſagt. Die Plumpheit ſcheint ſonach in der unverhältnißmäßigen Schwere der Arme136 zu beſtehen. Aber weiter. Das Vorbeugen des Ober - körpers beruht in der Schwere der Arme! Es ver - ſuche doch einmal der Verfaſſer, ſeine Arme durch Ge - wichte oder ſonſt was, ſchwerer zu machen, ob dies nicht umgekehrt eine Urſache mehr iſt, gerade zu gehen? Er betrachte unſere Dienſtboten, die viel Waſſer u. ſ. w. tragen müſſen, ob dieſelben wirklich ſich vorwärts über - biegen. Da hat er die Geſetze der Natur ſchlecht er - lauſcht. Zu ſeiner Beruhigung und Belehrung in ſolchen Dingen empfehlen wir ihm: John Thaw, über die Verkrümmungen. Aus dem Engliſchen. Weimar. 1825. Dieſe ſchlechte Haltung bei Gang und Stand liegt tiefer. Es giebt eine gewiſſe geiſtige und körperliche Nachläſſigkeit, ein Sichgehenlaſſen, eine Plumpheit des Körpers, die ein Ausfluß geiſti - ger Plumpheit ſein kann, oder auch davon herrührt, daß der Geiſt nicht Herr des Körpers iſt. Das Vor - beugen des Körpers rührt aber meiſtens daher, daß in der häuslichen und Schulerziehung auf die Haltung des Körpers viel zu wenig geachtet wird. Ein junger Baum will gezogen ſein. Und wäre die häusliche und die Schulaufſicht gut, zwei wöchentliche Turnſtunden, noch ſo einſeitig gegeben, könnten darauf wenig oder gar nicht einwirken. Es iſt vom Verfaſſer ſehr we - nig redlich gehandelt, der Turnkunſt zum Vorwurf zu machen, was im allernachtheiligſten Fall nur dem Leh - rer zur Laſt gelegt werden könnte, und was aufrich - tig geſagt eigentlich außer der Turnzeit verſchuldet iſt. Wie ſchwer es iſt, auf die Haltung der Jugend zu wirken, das weiß nur ein Turnlehrer. Er müht ſich Jahr aus, Jahr ein, und doch ſieht er ſelten et - was, was Erfolgen ſeiner Mühen ähnlich ſieht. Nur wenn der Geiſt der geſammten Erziehung darauf hin - wirkt, oder wenn wir endlich dahin gekommen ſein werden, die Turnkunſt als eine Erziehung und Bildung des Körpers in Beziehung auf ſein Verhältniß zum Geiſt zu betrachten, und ſie zu fordern und zu fördern, erſt dann wird der Turn -137 lehrer ſich über ſein Amt und ſeine Wirkſamkeit freu - en können. Jetzt kann er es nicht. Doch darüber ein ander Mal.

Völlig unbegreiflich aber iſt uns die Anklage: die Einbildungen, die früher mit der Turnerei ver - bunden waren, ſind noch gefährlicher. Das erkläre uns ein Klügerer. Was auch früher mit der Turn - ſache verbunden oder von ihr ausgeſchloſſen war, gilt für die Gegenwart als zu Grabe getragen. Mag es löblich ſein und ſcheinen, die Tugenden der Väter die Kinder noch genießen zu laſſen, ſo iſt es aber nur das Amt eines Teufels, die Jrrthümer der Väter noch an den Kindern heimzuſuchen.

Doch finis coronat opus! Unſer Jahrhundert braucht mentem sanam in corpore sano, aber keine Athleten. Wir erfahren hier ſo ganz von un - gefähr, was der gelehrte Verfaſſer unter Athleten ver - ſteht; es ſind junge Leute, die ihre Arme am meiſten ausbilden, wodurch jene gerügte ſchlechte Haltung er - zeugt wird. Hier tritt die Unwiſſenheit des Verfaſſers in ihrem vollen Glanze auf. Mit dem athletenmäßi - gen Ausbilden der Arme iſt zugleich die athletenmä - ßige Ausbildung des Rumpfes verbunden, wie an den neumodiſchen Herkuleſen zu erſehen, welche allerdings ſich ſo einſeitig der körperlichen Uebungen befleißigen, wie der Verfaſſer allen Turnern vorwirft. Wenn er aber ganz einfach Athleten ſagt, ſo kennen wir nur die antike Bedeutung dieſes Wortes, ein Menſch, der die allſeitigſte Ausbildung ſeines Körpers über das Maß der Schönheit hinaus zum Gegenſtande ſei - nes Lebens und Strebens macht. Ueber die Bildung der Athleten und ihre Uebungen mag ſich der Ver - faſſer in Dr. Krauſe’s Agonistikon der Griechen und Römer eines Beſſern und Gründlichern belehren.

So ſcheint der Angriff des Vehmrichters auf nichts geſtellt geweſen zu ſein. Und doch liegt der An - klage ein bedeutendes Etwas zum Grunde, was der Ver - faſſer, ſei es aus Böswilligkeit oder aus Unverſtand,138 mit Sophiſtereien verheddert hat, damit man ſo ſcheint es die Turnerei wieder in Gnaden fahren laſſe. Dieſes Etwas iſt: die einſeitige Ausbildung ſo vieler Turner. Dies geſchieht nun freilich nicht da, wo ein vernünftiger Turnlehrer die Uebungen leitet, oder doch nur mit ſeltenen Ausnahmen. Aber wohl da, wo junge Leute, Lehrer und Schüler zugleich, körper - licher Uebung halber ſich zuſammen thun, oder wie andere, die in ihrer Behauſung gewiſſe Schauſtücke, z. B. das Ziehklimmen an einem Arme ꝛc. einüben, oder auch da, wo Lehrer an Schulen ſich des Gewinnſtes halber der Leitung der Turnſache annehmen, und von der Turnſache ſelber und ihrem Geiſte wenig oder nichts verſtehen, da tritt dieſe widerwärtige Er - ſcheinung einſeitiger ja der einſeitigſten Ausbildung nur zu oft hervor. Gerade hier werden die Vorreden und Einleitungen ſo gerne und ſo oft der vergnüglichen Jugend zu Liebe überſchlagen, man blättert hier und da im Buche, und thut dann groß mit gewiſſen Flos - keln und Redensarten, die man beim Durchblättern gefunden und behalten, man prunkt mit Schauſtücken. Solchen Leuten kommt es in der Regel nur auf das Was? nicht auf das Wie? an. Und auf dieſe Weiſe kann die im Leben gewonnene ſchlechte Haltung aller - dings durch dieſe einſeitige Ausbildung des Körpers noch mehr befeſtigt werden. Dadurch ſoll nun keines - weges geleugnet werden, daß man ſich bei dieſer ein - ſeitigen Ausbildung nichts Ungehöriges ſollte ange - wöhnen können. Nur in der Ausdehnung und auf die Weiſe, wie der Angreifer behauptet, muß ich es beſtimmt verneinen.

So glaube ich dem Verfaſſer den faulen Fleck an der gegenwärtigen Geſtaltung des Turnweſens offen und klar dargelegt zu haben, und jeder wahre Freund körperlicher Ausbildung, jeder vernünftige Turnlehrer wird es ihm Dank wiſſen, wenn er dieſe einſeitige turneriſche Ausbildung, dieſe Abrichterei und Spielerei139 auf das Unnachſichtlichſte verfolgt. Die Turnſache ſelbſt laſſe er uns jedoch als eine zur menſchheitlichen Erziehung gehörige, heilige Sache ſtehen. Mißbrauch hebt die Sache nicht auf.

D. H.

Gedruckt bei Kathke & Schroth.

About this transcription

TextJahrbücher der deutschen Turnkunst
Author N. N.
Extent148 images; 33572 tokens; 7232 types; 239704 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationJahrbücher der deutschen Turnkunst Erstes Heft N. N.. Karl Euler (ed.) . 148 S. AnhuthDanzig1843.

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Staatsbibliothek München BSB München, Gymn. 37 t-1/2

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Sport; Gebrauchsliteratur; Sport; core; ready; china

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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