Herrn Heinrich König in Fulda dem Denker und Dichter hochachtungsvoll zugeeignet vom Verfaſſer.
Die Satyriker der alten Zeit haben uns in ihren Werken einen Schatz von trefflichen Bemerkungen hinterlaſſen, die als Grundlage zu einer kernhaften und geſunden Erziehung dienen koͤnnten. Denn was iſt Satyre anders, als Geißelung der Thorheiten und Laſter, die, als Folge einer falſchen Leitung von Kind - heit an, mit uns großgezogen und gepflegt werden? Wenn der edle Juvenal uͤber die verkehrten Wuͤnſche der Menſchen Gericht haͤlt, und uns durch ſchla - gende Beiſpiele zeigt, wie deren Erfüllung ſogar nur zu oft zum Verderben fuͤhrt, ſpricht er da nicht wie ein weiſer Lehrer der Menſchen? Wenn er uns be - weist, daß eine geſunde Seele in einem geſunden Koͤrper das wuͤnſchenswertheſte Gut iſt, fuͤhrt er da nicht alle Eltern auf den Weg, den ſie zu befolgenHartwig’s Erziehungsl. 12haben, wenn ſie ihre Kinder gluͤcklich ſehen, wenn ſie ſich ſelbſt ein glückliches Alter verſchaffen wollen? Auch Horaz predigt keine andere Moral als dieſe, und die Satyren des Perſius ſind voller Andeutun - gen zu einer trefflichen Erziehungslehre.
Fuͤr unſere Zeit aber haben die Werke jener Maͤnner ein ganz beſonderes Jntereſſe, obgleich ſie rein menſchliche Wahrheiten enthalten, die unter allen Umſtaͤnden gültig ſind und ſo lange wie das Ge - ſchlecht ſelbſt dauern werden. Denn es laͤßt ſich nicht laͤugnen, daß das neunzehnte Jahrhundert mit der Epoche des roͤmiſchen Kaiſerthums in mancher Be - ziehung eine entſchiedene Aehnlichkeit beſitzt.
Damals wie jetzt herrſchten Verfeinerung und Verweichlichung vor, und man war nur zu geneigt die wahren Guͤter des Lebens den bloß ſcheinbaren zu opfern. Lebte Juvenal zu unſern Zeiten, er wuͤrde gewiß eben ſo viel Anlaß zum Zorne finden, als da - mals wo Entruͤſtung ihm ſeinen Vers dictirte.
Worin liegt nun die Urſache dieſes allgemeinen Strebens nach aͤußeren Guͤtern mit Hintanſetzung der viel wichtigeren innern? — Nirgends anders als in der Jrreleitung des Triebes nach Gluͤckſeligkeit, der uns allen inwohnt.
Von falſchen Vorſtellungen geblendet, ſuchen wir unſer Glück da wo es nicht liegt und vernachlaͤſſi - gen ſeine Quellen, die uͤberall und reichlich hervor -3 ſprudeln. Vergebens daß ſo viele Beiſpiele uns da - ran erinnern ſollten, daß Reichthuͤmer nur denjenigen begluͤcken, deſſen koͤrperliche und geiſtige Faͤhigkeiten der Laſt gewachſen ſind — wir vergeſſen, daß die harmoniſche Ausbildung des Menſchen die einzige feſte Grundlage ſeines Gluͤckes iſt, und daß, wer dieſe beſitzt, die ſogenannten Gluͤcksguͤter entweder leichter entbehren oder leichter erwerben kann.
Die Wirklichkeit dem Scheine opfernd, vernach - laͤſſigen wir bei der Erziehung unſerer Kinder, was die Baſis einer jeden Erziehung ſein ſollte, und beei - len uns, ſtatt Menſchen aus ihnen zu bilden, ſie zu reinen Erwerbsmaſchinen zu dreſſiren. Verlaßt alſo, ihr braven Eltern, dieſe Wege des Jrrthums, und haltet ſtets bei der Erziehung eurer Kinder den Kern - ſpruch im Auge: daß eine geſunde Seele in einem geſunden Leibe das hoͤchſte Gut iſt, das ihr ihnen hinterlaſſen koͤnnt, ein Gut, fuͤr das ſie euch bis an das Ende ihrer Tage dankbar ſein werden. — Das Leben iſt eine ewig wechſelnde Wahlſtatt, und kein Sterblicher iſt je alt geworden, oder er hat der Ver - aͤnderungen viele geſehen. — Alle Guͤter, die außer uns ſelbſt liegen, ſind unbeſtaͤndig wie die Winde, oder wie die von den Winden getriebenen Wellen. — Lehret dieſes fruͤh eure Kinder, mahnt ſie daran, keinen zu großen Werth auf Guͤter zu legen, die nur dem Menſchen ankleben und nicht ihn ſelbſt aus -1 *4machen. Erhebt ſie uͤber die gewoͤhnlichen Vorur - theile und macht ſie darauf aufmerkſam, daß die Goͤtter unmoͤglich großen Werth auf Reichthuͤmer legen koͤnnen, da ſie dieſelben ſo oft dem Abſchaum der Menſchheit zuwerfen. Nicht den Croͤſus eurer Nachbarſchaft ſollen ſie ſich zum Muſter waͤhlen, ſondern den geſundeſten verſtaͤndigſten Menſchen, den ihr kennt: nicht den Reichſten ſollen ſie als den Gluͤck - lichſten ſchaͤtzen, ſondern den, deſſen lebensfroher Sinn das Leben am Vielſeitigſten genießt.
Vor allen Dingen bedenkt, daß eine weichliche Erziehung die allerſchlechteſte iſt, die ihr ihnen geben koͤnnt. Jhr macht ſie dadurch unfaͤhig den Stuͤrmen ihres ſpaͤtern Lebens zu widerſtehen, vermehrt die Gefahren, die ihnen drohen, und vermindert doppelt grauſam die Genuͤſſe, die ſie erwarten. » Die Mutter, « ſagt Rouſſeau, » die aus übertriebener Liebe ihr Kind zu ihrem Abgott macht, die ſeine Schwaͤche vermehrt, damit es ſie nicht fühlen ſoll, und in der Hoffnung, es den Geſetzen der Natur zu entziehen, alles Un - angenehme ſorgfaͤltig von ihm entfernt: ſie denkt nicht daran, wie ſie einer augenblicklichen Schonung wegen, tauſend Gefahren über ſein liebes Haupt zu - ſammenzieht, und wie grauſam es iſt, die Schwaͤche der Kindheit bis in die Mittagsſchwuͤle des maͤnn - lichen Alters hinuͤberzuleiten. Um ihren Sohn un - verwundbar zu machen, tauchte ihn Thetis, ſo ſagt5 die Fabel, in das Waſſer des Styx. Die Allegorie iſt ſchoͤn und klar. Die grauſamen Muͤtter, von de - nen ich rede, handeln anders: ſie tauchen ihre Kin - der in den Strom der Weichlichkeit, erziehen ſie zu Opfern kuͤnftiger Leiden, und oͤffnen ihre Poren den unzaͤhligen Uebeln, die ſie dereinſt als Erwachſene uͤberfallen werden. «
Moraliſche und geiſtige Kraft haͤngen mit einer feſten Geſundheit viel inniger zuſammen, als man gewoͤhnlich glaubt. Jn einem ſiechen Koͤrper wird auch der trefflichſte Geiſt Spuren des Siechthums verrathen, waͤhrend aus dem Haupte eines geſunden Jünglings die ſchoͤnſten Gefühle, die kraͤftigſten Ge - danken entſpringen.
Nur zu oft verfallen Eltern und Lehrer in den Fehler, daß ſie bei der Erziehung der Kinder den Gang der Natur außer Acht laſſen. Jn einem Alter, wo man nur darauf bedacht ſein ſollte, durch haͤu - fige Bewegung im Freien die Bruſt zu erweitern und die Glieder zu ſtaͤrken, werden bereits ſtrenge An - forderungen an das Gehirn gemacht, jenes Organ, das von allen am ſpaͤteſten zur Reife gelangt, und deſſen Vollkommenheit von der geſunden Entwicke - lung aller übrigen Organe abhaͤngt. Unverhaͤltniß - maͤßiger Werth wird auf ein unfruchtbares, zu theuer - erkauftes Wiſſen gelegt, welches gewoͤhnlich, nach aufgehobenem Drucke, ſpurlos verſchwindet. Kinder6 ſollen lernen, was ſie unmoͤglich begreifen koͤnnen. Jhr Gedaͤchtniß wird mit leeren Worten beſchwert, waͤhrend ihr Urtheil brach liegt. Eitles Bemuͤhen — denn mit dem Wachsthum waͤchst erſt der Jdeenkreis, und nicht eher als bis der Knabe ſich fuͤr das zu er - lernende wirklich intereſſirt, wird er es ſich dauer - haft aneignen. Kaͤmen wir doch endlich zur Erkennt - niß, daß es fuͤr die Jntelligenz keine beſſere Kul - tur giebt, als fruͤhzeitig die koͤrperlichen Kraͤfte zu pflegen, welche ſpaͤterhin der Jntelligenz als Jnſtru - mente dienen ſollen.
Alſo wird Kraͤftigung des Körpers unſer Haupt - ziel ſein, wenn wir die Grundlage eines Baues legen wollen, der kraͤftig genug ſein ſoll, die kuͤnftigen Leiden und Freuden des Lebens zu tragen. Und gewiß iſt dieſes der heißeſte Wunſch eines jeden Vaters, einer jeden Mutter; aber nur zu oft verfehlen Eltern auch mit den beſten Abſichten den richtigen Weg, da die Unkenntniß der Geſetze, nach welchen der Koͤrper waͤchſt und gedeiht, eine faſt allgemeine zu nennen iſt.
Wenn ich daher in dieſer kleinen Schrift auf die Hauptpunkte aufmerkſam mache, welche zu jenem Ziele fuͤhren, ſo glaube ich ein nicht undankbares Werk uͤbernommen zu haben. Zwar bringe ich nur laͤngſt Bekanntes zu Markte (wie die Meiſten, die Buͤcher ſchreiben — nil sub sole novum) aber nütz - liche Wahrheiten koͤnnen nicht oft genug dem Pub -7 likum wiederholt werden, und wenn man ſchaͤdliche Vorurtheile auch nur bei einigen Leſern vertilgt, ſo darf man ſich ſchon ſeines Erfolges freuen.
Ehe der verſtaͤndige Landmann ſeine Saat aus - ſtreut, bereitet er das Feld zu ihrem Empfange vor. Die Erde wird mit Pflug und Spaten aufgelockert, damit die Luft in ihren Schooß dringen koͤnne, denn fuͤr alles Lebende und Keimende iſt ſie erſtes Beduͤrf - niß. Auch ſoll das Samenkorn weich gebettet ſein, damit die zarten Wurzelfaſern keinen zu harten Wi - derſtand finden, und ſich nach allen Seiten frei und ungehindert ausbreiten. So wird aus dem vorſich - tig geduͤngten Boden reichlichere Nahrung dem Pflaͤnz - chen zugefuͤhrt, und es ſtrebt kraͤftig zum allbelebenden Lichte der Sonne. Luft, Nahrung, Feuchtigkeit, Waͤrme und Kaͤlte, alle Einflüſſe, welche die Pflanze zu ihrem Wachsthume nothwendig bedarf, werden aber auch, wenn ſie das richtige Maaß uͤberſchreiten, zu Hinderniſſen ihres Gedeihens. Heftige Winde legen die Saat um, ein zu ſtarker Duͤnger verbrennt die Wurzeln, nach anhaltendem Regen verfaulen die mehlreichen Knollen. Durch zu große Waͤrme und Trockenheit wird die Aehre ausgedoͤrrt, unter entge - gengeſetzten Verhaͤltniſſen gelangt ſie nicht zur voll - kommenen Reife. Welche Kenntniß des Bodens, der climatiſchen Verhaͤltniſſe und der Natur der Pflanze bedarf es alſo nicht, um ihren Wachsthum, ſo weit8 menſchliches Zuthun reicht, zur Vollkommenheit zu bringen, und wie viele guͤnſtige äußere Einfluͤſſe muͤſſen nicht noch hinzu kommen, um die wohldurch - dachte Arbeit des verſtaͤndigen Landmannes, wenn auch nur mit maͤßigem Erfolge zu lohnen. Auch der Menſch iſt ein Saatkorn, das zum Sinken oder Schwim - men auf die Wogen des Lebens geworfen wird, und fuͤr ihn muͤſſen die Eltern thun, was dort fuͤr die Pflanze der Landmann. Aber ungleich ſchwieriger iſt die der elterlichen Sorgfalt zugewieſene Pflege, da das Weſen, deſſen Cultur ihr übertragen, auf einer hoͤhern Stufe der Entwickelung ſteht und von viel mannigfaltigeren Einflüſſen abhaͤngt. Es iſt nicht allein als Pflanze oder als Thier verwundbar, ſon - dern auch als geiſtiges Weſen. Nicht genug, daß man den Koͤrper verſtaͤndig erzieht, und ihm Licht, Be - wegung, Nahrung und Kleidung ſo zumißt, daß er kraͤftig aufwaͤchst, auch ſeine Leidenſchaften muͤſſen zum Guten geleitet, und ſein Geiſt von Vorurtheilen gereinigt werden; denn eine ungezuͤgelte Leidenſchaft, eine falſche Jdee koͤnnen das Leben eben ſo gut ver - kuͤrzen, als eine phyſiſche Schaͤdlichkeit es thut.
Wie ſchwierig iſt die gegenſeitige Beleuchtung aller dieſer Verhaͤltniſſe! Welch ein Studium, auch nur an einem einzelnen Leben die geheimnißvolle Wechſelwirkung des Koͤrpers und der Seele zu er - forſchen, in einem einzelnen Jndividuum den eigent -9 lichen wunden Fleck aufzufinden, von dem das Con - tagium ausging, welches das Ganze allmaͤhlig in den Kreis des Erkrankten hineinzog! Wir duͤrfen uns daher nicht wundern, daß gute Biographieen ſo ſelten ſind, da dieſe Werke bei ihren Verfaſſern zugleich eine pſychologiſche und eine phyſiologiſche Kenntniß des Menſchen vorausſetzen, wie man ſie nur ſelten vereinigt findet.
Wichtigkeit einer reinen Luft. — Kohlenſäure, ein Gift. — Stadt und Landluft. — Beſchaffenheit der Schlaf - und Wohnſtuben. — Lage des Wohnhauſes. — Gefahr des zu frühen Einziehens in ein neugebautes Haus.
Selten fuͤhlt ſich der Menſch in einer gluͤcklicheren Stimmung, als wenn er nach einer ſchweren Krank - heit auf’s Neue zum Leben erwacht. Die taͤgliche Zunahme ſeiner Kraͤfte, das Gefühl der wiederkeh - renden Geſundheit erfuͤllt ihn mit einem unausſprech - lichen Wohlbehagen, und im ruhigen Genuß des Augenblickes iſt es ihm, als ob er in die Tage ſeiner Kindheit zuruͤckverſetzt ſei, wo ihm auch der Augen - blick alles war. Wie ſchaͤtzt er nun ſo manche Wohl - that, an die er in den Tagen der Geſundheit nicht dachte! Wie ſchmeckt ihm das Eſſen, wie erquickt ihn der Schlaf, und wie wohlig iſt es ihm, wenn er das Krankenzimmer verlaͤßt, um zum erſten Male wieder in’s Freie zu treten! Dann erſt erkennt er,11 welche belebende Kraft in einer reinen Luft liegt, und wundert ſich vielleicht, wie es Menſchen geben kann, die nicht taͤglich an dieſem Balſam ſich erqui - cken, die ſich und ihre Kinder freiwillig auf Tage in einen Kerker einſchließen koͤnnen, gleich dem, aus welchem er entflohen. Die atmosphaͤriſche Luft iſt in der That das erſte und naͤchſte Beduͤrfniß unſeres Lebens; wir koͤnnen faſt keinen Augenblick ohne ſie beſtehen, waͤhrend wir Speiſe und Trank viele Stun - den lang entbehren koͤnnen. Fünfzehn bis zwanzig Mal in einer Minute, ſind wir inſtinctmaͤßig genoͤ - thigt einen neuen Vorrath von Luft einzuathmen und den verbrauchten wieder auszuhauchen. Die gute oder ſchlechte Beſchaffenheit eines Stoffes, der ſo ſehr unausgeſetztes Beduͤrfniß iſt, muß nothwendig auf unſere Geſundheit den maͤchtigſten Einfluß aus - uͤben.
Die chemiſche Analyſe belehrt uns, daß die aus - geathmete Luft verſchiedene Veraͤnderungen erlitten hat, daß ſie viel dunſtfoͤrmiges Waſſer, welches bei kaltem Wetter ſogleich ſichtbar wird, und eine groͤ - ßere Menge kohlenſaures Gas enthaͤlt. 1)Reine atmosphäriſche Luft beſteht aus Sauerſtoff und Stickſtoff, deren relative Mengen ſich wie die Zahlen 21: 79 verhalten. Außerdem enthält ſie im Durchſchnitt ein halbes Tauſendſtel Kohlenſäure und eine ſehr variable Quantität von Waſſerdampf.Humphry12 Davy athmete faſt eine Minute lang (19 Respira - tionen) 161 Kubikzoll Luft, welche 1,6 Kubikzoll Koh - lenſaͤure enthielten. Hernach enthielt die Luft 17,4 Kubikzoll dieſes Gaſes. Jn einer Minute wurden alſo 15,8 Kubikzoll kohlenſaures Gas ausgeſchieden.
Nach den meiſterhaften Verſuchen von Allen und Pepys betrug die ganze Menge der in 24½ Mi - nuten erzeugten Kohlenſaͤure 789,76 Kubikzoll, oder, fuͤr die Minute 32 Kubikzoll engliſch, was fuͤr den Tag, ungefaͤhr 26 Kubikfuß betraͤgt.
Das kohlenſaure Gas, welches in ſehr kleinen Mengen, auch in der geſundeſten Luft ſich vorfindet, iſt im reinen Zuſtande eines der toͤdtlichſten Gifte und kann in groͤßerer Menge gar nicht einmal ein - geathmet werden, da es augenblicklich eine krampf - hafte Verſchließung der Stimmritze bewirkt.
Es iſt bekannt, daß in Kellern, worin viele gaͤhrende Getränke ſich befinden, in manchen Gruben (matte Wetter), in manchen unterirdiſchen Hoͤhlen (Hundsgrotte bei Neapel, Schwefelhoͤhle bei Pyr - mont); das kohlenſaure Gas entweder ganz rein, oder in ſehr bedeutendem Verhaͤltniß mit atmosphaͤriſcher Luft vermiſcht, Menſchen und Thiere toͤdtet, wenn ſie nicht ſchleunigſt wieder in eine reinere Atmos - phaͤre gebracht werden, und auch dann gelingt es nicht immer ſie in’s Leben zuruͤckzurufen.
13Ein Stoff, der in groͤßerer Menge ſolche Wir - kungen hervorbringt, muß auch in kleinerer Quan - titaͤt ſich als höchſt nachtheilig erweiſen, und dieſes wird durch zahlreiche Erfahrungen beſtaͤtigt.
Man kann annehmen, daß im Allgemeinen in Bezug auf Nahrung, Kleidung, Reinlichkeit und Wohnung, die Kinder des Landmanns keinen Vor - zug vor den Kindern des Staͤdters voraus haben; und doch ſehen wir auf ihren vollen Wangen die rothe Farbe des Wohlſeins, waͤhrend die Kinder in den Staͤdten gewoͤhnlich von ungeſunder Blaͤſſe an - gekraͤnkelt ſind. Worin ſonſt liegt der Grund dieſes Contraſtes, als in der Verſchiedenheit der ſie umhuͤl - lenden Atmosphaͤre?
Jeder Luftzug der den Landmann umweht, ſtreift weither uͤber gruͤne Felder oder duftendes Ge - hoͤlz, ſaugt den Balſam unzaͤhliger wohlriechender Kraͤuter auf, und ſpricht ſchon durch ſeine Friſche das Gefuͤhl wohlthaͤtig an.
Wie ſo ganz anders iſt die Luft in den Staͤdten! Nicht nur daß tauſende von Menſchen ihr mit jedem Athemzuge etwas Kohlenſaͤure beimengen; daß aus ſo vielen Kaminen Kohlenſtaub und giftige Gasarten mit dem Rauche emporwirbeln, daß zahlreiche Offi - zinen und Fabriken ihr die heterogenſten Duͤnſte und Effluvien mittheilen: auch die Zerſetzung ſo vieler vegetabiliſcher und animaliſcher Stoffe, welche die14 beſte Straßenpolizei nicht immer ſchnell genug entfernen kann, traͤgt zu ihrer Verunreinigung bei.
Jn den breiten neuen Straßen unſerer Haupt - ſtaͤdte, wo die Luft frei zirkulirt, verlieren ſich zwar dieſe fremdartigen Beimengſel augenblicklich in dem großen atmosphaͤriſchen Ocean, aber in den engen ſchmutzigen Gaſſen der aͤrmeren Stadttheile, wo die Haͤuſer noch dazu oft thurmhoch emporſtreben und das Himmelslicht ausſchließen, iſt die ſtockende Luft be - ſtaͤndig verdorben. Boͤsartige Fieber und kontagioͤſe Krankheiten waͤhlen deßhalb auch ſolche Quartiere zu ihren Lieblingsſitzen, und verlaſſen ſie nicht eher, als bis man durch die Anlage neuer Straßen und das Niederreißen ganzer Haͤuſerreihen den gefaͤhrli - cher Krankheitsheerd zerſtoͤrt. Quetclet hat nachge - wieſen, daß in Bruͤſſel die Sterblichkeit dort am groͤßten iſt, wo die Bevoͤlkerung am dichteſten ſich zuſammendraͤngt und wo fuͤr Ventilation am Schlech - teſten geſorgt iſt.
Dr. Duncan, ein Liverpooler Hospitalarzt, fand daß auf dem Lande, auf einer Flaͤche von 17,254 engliſchen Quadratmeilen, bei einer Bevoͤlkerung von 205 Seelen auf die Meile, die Sterblichkeit wie 1 in 54,91 ſich verhielt, waͤhrend ſie in den Staͤdten auf einer Flaͤche von 747 Meilen, bei einer Bevoͤl - kerung von 5045 Seelen auf die Meile, bis zu 1 in 38,16 ſtieg. Und obgleich manche andere Urſachen15 zu dieſem bedeutenden Unterſchiede in der Mortali - taͤt beitragen moͤgen, kann man gar nicht daran zwei - feln, daß der groͤßte Theil der Schuld der ſchlech - tern Beſchaffenheit der Luft, da wo groͤßere Men - ſchenmaſſen ſich zuſammendraͤngen, beizumeſſen iſt.
Dieſe Thatſachen werden hoffentlich hinreichen, wohlmeinende Eltern zu uͤberzeugen, wie ſehr viel ſie fuͤr die Geſundheit ihrer Kinder thun koͤnnen, wenn ſie nur dafuͤr ſorgen, daß die Kleinen in einer moͤg - lichſt reinen Luft aufwachſen. Verdorbene Speiſen geben ſich als ſolche dem Geſchmacke zu erkennen und werden ſogleich verworfen, aber eine verdorbene Luft wird oft uͤberſehen, obgleich ſie auf die Dauer eben ſo nachtheilig einwirkt, wie die fehlerhafte Qua - litaͤt irgend eines andern Beduͤrfniſſes. Dieſelbe ſorg - ſame Mutter, welche ihren Kindern um keinen Preis ſchlechte Nahrungsmittel vorſetzen moͤchte, ſcheint um die Beſchaffenheit der Luft, welche ſie einathmen, gaͤnzlich unbekuͤmmert. Es iſt unbegreiflich, wie weit die Unachtſamkeit oder Unwiſſenheit in dieſem Punkte geht. Wie wenige ſind darauf bedacht, die Luft in ihren Zimmern gehoͤrig zu erneuern, wie viele fuͤrchten ſich ſogar davor? Wer aber nur einigermaaßen uͤber die Vortheile einer beſtaͤndigen Lufterneuerung belehrt worden iſt, wird gewiß in dieſen beklagenswerthen Jrrthum nicht verfallen, ſondern ſo viel als moͤg - lich der Vermehrung und Anhaͤufung der Kohlenſaͤure16 in ſeinen Zimmern entgegenarbeiten. Die Kohlen - ſaͤure iſt uͤbrigens nicht der einzige ungeſunde Stoff, der ſich in ſchlechter Zimmerluft vorfindet. Es wer - den ihr durch Ausathmen und Ausdünſtung manche animaliſche Stoffe beigemengt, welche ſpaͤter in Faͤul - niß uͤbergehen und den unangenehmen Geruch in ſchlecht geluͤfteten Stuben groͤßtentheils verurſachen. 1)Der ſonſt ſo unausſtehliche Tabaksqualm mag viel - leicht zur Reinigung der Luft in einem ſolchen mit anima - liſchen Dünſten ausgefüllten Lokale beitragen, und ſich in dieſer Beziehung als heilſam erweiſen. Das im Tabaksrauche enthaltene Kreoſot (?) iſt eines der beſten fäulnißwidrigen Stoffe (Antiputrida).
Die Schaͤdlichkeit dieſer animaliſchen Duͤnſte iſt vielleicht eben ſo hoch als die des kohlenſauren Gaſes anzuſchlagen. Wenn unſer Auge ploͤtzlich ſo geſchaͤrft wuͤrde, daß wir die menſchenfeindlichen Atome, die in einer ſolchen Stubenluft ſich bewegen, ſehen und den Unterſchied zwiſchen ihr und einer reinen Land - luft wahrnehmen koͤnnten, wir würden nicht genug uͤber unſere bisherige Sorgloſigkeit ſtaunen koͤnnen.
Wenn eine verdorbene Luft die Kraͤfte des Er - wachſenen untergraͤbt und ihn moraliſch und phyſiſch niederdruͤckt, ſo wird ſie dieſe Wirkung bei Kindern in einem noch hoͤhern Grade aͤußern. Der zartere Organismus des Kindes bietet ſchaͤdlichen Einfluͤſſen aller Art einen viel geringern Widerſtand, wie die17 derbere Natur des Erwachſenen, und wo dieſer mit einer Unpaͤßlichkeit davon kommt, wird oft jener toͤdtlich getroffen. Ueber die Haͤlfte aller Geborenen ſtirbt vor dem ſiebenten Jahre, und gewiß iſt Luft - verderbniß eine der Haupturſachen dieſes ſo unge - heuren Verluſtes. Die in ihrer Entwickelung dadurch gehemmten Kinder, fallen um ſo leichter als Opfer irgend einer andern hinzukommenden Schaͤdlichkeit. Baudelsque iſt der Meinung, daß das wiederholte Einathmen derſelben Luft die Haupturſache der Scropheln iſt, und fuͤhrt unter andern folgendes Beiſpiel an. Einige Stunden von Amiens liegt das Dorf Oresmeaux in einer geſunden hohen Lage, 100 Fuß uͤber dem nachbarlichen Thale. Vor 60 Jahren waren faſt alle Huͤtten dieſes Dorfes aus Lehm gebaut und hatten keine offenen Fenſter; ihr Licht erhielten ſie durch einige eingemauerte Scheiben. Die meiſten Einwohner waren Weber und daher genoͤthigt, den groͤßten Theil ihrer Zeit in dieſen engen Wohnungen zuzubringen. Faſt alle litten an Scropheln, und manche beſonders hart zugeſetzte Familien ſtarben gaͤnzlich aus. Eine Feuersbrunſt legte das halbe Dorf in Aſche; die Huͤtten wurden nach einem beſ - ſern Plane wieder aufgebaut; die Scropheln nahmen allmaͤhlig ab und ſind nun gaͤnzlich verſchwunden.
Das Kind bringt einen ſehr großen Theil ſeiner Zeit im Schlafzimmer zu. Die Wahl dieſes RaumesHartwig’s Erziehungsl. 218iſt daher von einer Wichtigkeit, die alle Aufmerk - ſamkeit verdient, und dennoch, ſogar in den reich - ſten Haͤuſern, nicht ſelten uͤberſehen wird. Wie oft werden Kinder zum Schlafen in kleine dumpfige Hinterſtuͤbchen relegirt, wo nie ein Sonnenſtrahl hineinfaͤllt, waͤhrend in demſelben Gebaͤude die hell - ſten und geraͤumigſten Prunkgemaͤcher nur einige Mal im Jahre einer glaͤnzenden Geſellſchaft geoͤffnet werden.
Das Schlafzimmer muß groß und hoch ſein. Je mehr Kubikfuß Luft es enthaͤlt, deſto weniger wird dieſe im Laufe der Nacht verunreinigt werden, weil die Aus - duͤnſtungen ſich in einem groͤßern Raume vertheilen.
Die ausgeathmete und verunreinigte Luft ſteigt wegen ihrer Waͤrme (29º bis 30º R.) und groͤßerer Leichtigkeit nach oben, und fuͤllt die hoͤhern Luftſchich - ten des Zimmers aus. Die Waͤrme unſerer Haut theilt ſich der ſie unmittelbar beruͤhrenden Luftſchicht mit, welche mit den Ausduͤnſtungen derſelben geſaͤt - tigt wird. Dieſe erwaͤrmte und mit ausgeduͤnſteten Subſtanzen geſchwaͤngerte Luftſchicht hat ebenfalls eine Tendenz zum Steigen, ſo daß von den Fuͤßen bis zum Scheitel, die den Menſchen beruͤhrende Luft in einer fortdauernden Bewegung nach oben begriffen iſt. Aus dieſem Grunde ſind hohe Zimmer der Geſundheit zutraͤglicher.
Beſonders in Staͤdten und feuchten Gegenden iſt es ſehr wichtig, daß die Schlafſtube in einem19 hoͤhern Stockwerke gelegen ſei. Parterre-Stuben ſind in der Regel feucht. Auch iſt in Staͤdten die Luft in der Naͤhe des Bodens am Verdorbenſten, weil ſie mit dem reineren Luftocean, der uͤber der Stadt ſich ausbreitet, ſich am ſchwierigſten vermi - ſchen kann. Je hoͤher man wohnt, deſto mehr naͤ - hert man ſich einer reineren, mit fremden und ſchaͤd - lichen Beſtandtheilen unvermiſchten Luft.
Jn Staͤdten, wo es an Abzugskanaͤlen fehlt und die Unreinigkeiten in den Goſſen ſich zerſetzen, iſt auf dieſe Thatſache beſonders zu achten. Jn einem feuchten Klima ſind die Nebel über dem Boden am dichteſten, und die Trockenheit der Luft nimmt mit ihrer Entfernung von der Erdoberflaͤche zu. Die Entſtehung der Wechſelfieber liefert uns hievon ein merkwuͤrdiges Beiſpiel. Es gibt Zeiten, wo man in Rom, im Erdgeſchoſſe ſchlafend von Jntermittens be - fallen wird, waͤhrend man ſchon im zweiten Stocke frei bleibt, und ſogar in einem und demſelben Raume werden Jndividuen, die die Nacht ſitzend zubringen, haͤufig verſchont, waͤhrend die auf dem Boden lie - genden von der Krankheit ergriffen werden.
Das an die feuchten Ausduͤnſtungen gebundene Miasma erhebt ſich alſo nur einige Fuße vom Bo - den, und obgleich es bei bedeutenden Epidemieen viel hoͤher ſteigt und die Einwohner aus den obern Etagen2*20auf die Berge treibt, ſo iſt es ſtets in der Tiefe am gefaͤhrlichſten.
Die beſten Schlafſtuben ſind ſo gelegen, daß das Sonnenlicht frei hinein fallen kann. Sie werden da - durch auf die wohlthaͤtigſte Weiſe trocken gehalten.
Wenn auch nicht ein Jeder im Stande iſt, ſei - nen Kindern ein geraͤumiges und gut gelegenes Schlafzimmer zu geben, ſo kann man doch unter allen Verhaͤltniſſen dafuͤr ſorgen, daß es gehoͤrig ge - luͤftet ſei. Ventilationsapparate laſſen ſich ohne große Koſten anſchaffen. Jn Ermangelung derſelben muß man darauf ſehen, daß die Fenſter waͤhrend des Tages offen ſtehen. Man ſetze Bettlaken und Ma - trazen mehrere Stunden dem Luftzuge aus, ſo daß die Duͤnſte, die ſich waͤhrend der Nacht daran feſt - geſetzt haben, gehoͤrig verfliegen koͤnnen. Man wech - ſele das Bettzeug ſo oft als moͤglich und trockne es vor dem Ueberziehen jedesmal ſorgfaͤltig ab.
Bettvorhaͤnge ſind durchaus verwerflich. Es iſt offenbar, daß ſie die ausgeathmete Luft in einem engen Raume uͤber dem Kopfe des Schlafenden con - denſiren, und ihn zum wiederholten Einathmen der - ſelben noͤthigen. Wie ſchaͤdlich es ſein muß, wenn mehrere Kinder in einem kleinen, ſchlechtventilirten Zimmer zuſammen ſchlafen, braucht keine weitere Erwaͤhnung. Nie ſollten zwei Kinder in einem Bette ſchlafen; noch verwerflicher iſt es, wenn man ſie mit21 Erwachſenen oder aͤlteren Perſonen dasſelbe Lager oder dasſelbe Zimmer theilen laͤßt. Wenn aber, an irgend einem Orte, ſo muß in der Wochenſtube fuͤr Reinheit der Luft geſorgt werden. Wir haben hier ein neugebornes Weſen, das beſonders leicht von allen Schaͤdlichkeiten getroffen wird; eine ſtark aus - duͤnſtende und fiebernde Woͤchnerin; einen ununter - brochenen Aufenthalt in demſelben Raume, oft noch die Anweſenheit von Ammen und Waͤrterinnen. Bei der Vereinigung ſo vieler Elemente zur Luftverderb - niß, iſt daher ganz beſonders fuͤr die aͤußerſte Rein - lichkeit zu ſorgen; hier muß mit ſorgfaͤltiger Ver - meidung aller Gefahr, die aus zu großer Abkuͤhlung entſtehen koͤnnte, die Luft ſo rein als moͤglich ge - halten werden, damit der Hineintretende nicht den geringſten unangenehmen Geruch wahrnehme, denn thut er dieſes, ſo kann man verſichert ſein, daß die Zimmerluft ſowohl der Mutter wie dem Kinde ſcha - det. Verlangt die Witterung, daß geheizt werde, ſo iſt ein offener Windofen nicht genug zu empfehlen. Durchnaͤßte Waͤſche darf nie vor dem Feuer getrock - net werden, auch iſt alles Kochen im Zimmer zu vermeiden. Die Luft wird dadurch mit waͤſſerigen oft unangenehm riechenden Duͤnſten angefuͤllt, und in einem hohen Grade verdorben.
Das Speiſezimmer ſei, wo moͤglich, nur allein fuͤr dieſen Zweck beſtimmt; iſt es zugleich Wohnzimmer22 ſo ſollte jedesmal nach dem Eſſen geluͤftet wer - den, um die mephitiſchen Duͤnſte der Speiſen zu entfernen. Auch hier erprobt ſich waͤhrend der kaͤl - teren Jahreszeit ein Windofen als ein vortrefflicher Ventilator, denn ſo wie die Dünſte ſich bilden, wer - den ſie durch den im Kamin aufſteigenden Luftzug fortgeſchafft, wodurch die Atmosphaͤre ſtets rein erhal - ten wird. Die Beſchaffenheit der Luft in den Zimmern eines Hauſes wird natuͤrlich auch von der Lage des - ſelben abhaͤngen. Liegt es im Herzen einer großen Stadt, in einer engen, ſchmutzigen, niedrigliegenden Straße, oder noch ſchlimmer an einer Sackgaſſe, wo die Luft nicht durchſtreifen kann: iſt es von an - dern hohen Gebaͤuden dicht umgeben, und hat es weder Garten noch Hofraum, ſo ſind dieſes eben ſo viele unguͤnſtige Umſtaͤnde, die der Familienvater bei der Wahl ſeiner Wohnung beruͤckſichtigen ſollte. Be - ſonders huͤte er ſich, zu fruͤh in ein neugebautes Haus zu ziehen, ehe die Waͤnde gehoͤrig ausgetrocknet ſind. Die Zimmer eines ſolchen Hauſes ſind mit waͤſſeri - gen Duͤnſten ausgefuͤllt, welche die Transpiration auf die unangenehmſte Weiſe unterdruͤcken und das Gefuͤhl geben, als ob man in einem Keller ſich befände.
Die gefaͤhrlichſten Krankheiten ſind nicht ſelten die Folge des Verweilens in dieſen naßkalten, mit Waſſer durch und durch geſchwaͤngerten Raͤumen.
23Kalktheile und metalliſche Farben werden zu - gleich mit der in den Waͤnden befindlichen Feuchtig - keit verfluͤchtigt.
Blei -, Kupfer - und Arſenikverbindungen ſind in den meiſten Malerfarben vorhanden, verfluͤchtigen ſich und tragen zur Luftverderbniß bei. Dieſelben ſchlimmen Einfluͤſſe herrſchen, obgleich in geringern Graden, in allen feuchten Wohnungen, und gebie - ten eine Vorſicht in der Wahl, welche nur zu oft vernachlaͤſſigt wird.
Es waͤre nun fuͤr eine moͤglichſt reine Luft im Hauſe geſorgt; wollen wir aber das Kind ihre ganze Wohlthat genießen laſſen, ſo ſchicken wir es, ſo viel wie nur moͤglich in’s Freie. Hier aber geſellt ſich zur guͤnſtigen Einwirkung einer reinen Atmosphaͤre und eines groͤßeren Temperaturwechſels, der ſtaͤrkende und belebende Einfluß der Bewegung, der ſo uͤberaus wichtig iſt, daß ich ihm einen beſondern und aus - fuͤhrlichen Abſchnitt einraͤumen muß.
Einfluß der koͤrperlichen Bewegung auf die Geſundheit. — Traurige Folgen des zu vielen Sitzens. — Schwäche des neugeborenen Kindes. — Rückſichten, die beim Herumtragen und Anfaſſen desſelben zu beobachten ſind. — Wie lernt es am früheſten gehen? — Das Spielen nicht nur in phyſiſcher, ſondern auch in moraliſcher und geiſtiger Hinſicht wichtig. — Lob des Tanzens, der Fechtkunſt, des Schwimmens, der Gärtnerei, des Turnens.
Die Schaͤdlichkeiten, die in den Lehrbuͤchern einzeln abgehandelt werden, ſtehen in der Wirklichkeit faſt niemals ſo vereinzelt da, denn gewoͤhnlich treten ihrer mehrere zuſammen, um die Kraft einer Geſundheit zu untergraben.
Schlechte Luft und Mangel an Bewegung; Un - reinlichkeit und unzweckmaͤßige Nahrung, finden wir oft vereinigt als Urſachen vieler verſchiedenen Krank - heitsformen, und von einem jeden dieſer ſchaͤdlichen Einfluͤſſe laͤßt ſich, wie vom Ungluͤck ſagen, daß er ſelten allein koͤmmt. Und doch reicht ſchon ein Ein - ziger hin, das Leben zu verkuͤrzen und zu ſchwaͤchen!
25Es kann einer noch ſo maͤßig leben, noch ſo ſehr fuͤr Reinlichkeit ſorgen, noch ſo ſehr ſeine Lei - denſchaften, dieſe ſo haͤufigen Geſundheitsſtoͤrer in ſeiner Gewalt haben, es iſt unmoͤglich, daß er ſtark und geſund bleibe, wenn er die noͤthige Bewegung vernachlaͤſſigt. Die Betrachtung ihres Einfluſſes auf alle Hauptorgane unſeres Koͤrpers, wird uns von ihrer uͤberaus großen Wichtigkeit überzeugen und den Ausſpruch des beruͤhmten Sydenham, des engliſchen Hippocrates, rechtfertigen, der ſie fuͤr das vorzüglichſte Staͤrkungsmittel erklaͤrt. Aber wie wenig wird noch ihre maͤchtige Wirkung vom Publikum gewuͤrdigt und ihre Heilkraft benutzt! Wie leer ſieht es noch immer, außer an heitern Sonn - und Feſttagen, auf den Pro - menaden aus, die gewiß auch in der Woche nicht ſo verlaſſen ſein wuͤrden, wenn die Nothwendigkeit der Bewegung im Freien, wie ſie es wohl verdiente, allgemein anerkannt wäre. Man darf aber durchaus nicht glauben, daß man bei unterlaſſener Bewegung geſund bleiben koͤnne. Waͤre es moͤglich, daß ein ſtarker, geſunder Organismus (vom bloßen Vegetiren iſt natuͤrlich nicht die Rede), bei lange fortgeſetztem Mangel an Bewegung beſtehen koͤnnte, ſo iſt alles was Wiſſenſchaft und Erfahrung uns uͤber die Natur des Menſchen lehren, durchaus werthlos, und es duͤrfte in unſerm Zeitalter von Diaͤtetik eben ſo wenig als von der Aſtrologie und Hermeneutik die Rede ſein.
26Es waͤre ſchwer ein Hauptorgan unſeres Koͤr - pers zu nennen, welches nicht durch die Bewegung geſtaͤrkt würde. Was bemerken wir bei einem jeden Spaziergange? Der Kreislauf des Blutes wird be - ſchleunigt, der Puls geht ſchneller, die Athemzüge wiederholen ſich raſcher. Ein angenehmes Gefühl von Waͤrme, welches immer ein Zeichen von erhoͤh - ter Vitalitaͤt iſt, verbreitet ſich uͤber die ganze Haut, und Theile, wo ſonſt die Circulation ſtockte (kalte Haͤnde und Fuͤße) werden roth und lebendig.
Der raſchere Umtrieb des Blutes hat bedeuten - dere Ausſcheidungen zur Folge. Durch die vermehrte Anzahl und groͤßere Tiefe der Athemzüge, durch den vermehrten Andrang des Blutes nach der Haut, wer - den eine groͤßere Menge verbrauchter Stoffe aus dem Koͤrper entfernt. Jndem durch die Bewegung das Blut gleichmaͤßiger in allen Koͤrpertheilen circulirt, werden Congestionen in innern edlen Organen (Ge - hirn, Lungen, Eingeweide des Unterleibes) verhin - dert, die den Ausgangspunkt ſo vieler gefaͤhrlicher Krankheiten bilden.
Beſchraͤnkten ſich die Wohlthaten der Bewegung nur allein auf dieſe Punkte, ſo waͤren ſie ſchon hoͤchſt bedeutend, denn wie viel lebensverlaͤngernde und verſchoͤnernde Kraft liegt nicht in Staͤrkung der Lun - gen und des Herzens, in regulirter Hautthaͤtigkeit, in reinen Saͤften, in gleichmaͤßiger Blutvertheilung! 27Doch dieſes iſt bei weitem nicht alles! Ein jedes Organ kann nur bei einer ſeinen Kraͤften angemeſſe - nen Thaͤtigkeit gedeihen; bleibt es unthaͤtig, ſo ſchla - fen allmaͤlig ſeine Kraͤfte ein. Das Muskelſyſtem, welches einen ſo bedeutenden Theil unſeres Koͤrpers ausmacht, welches nicht nur zu allen willkürlichen Bewegungen dient, ſondern auch den unwillkuͤrlichen Bewegungen des Magens, des Darmkanals, der Respirationsorgane, der Circulation ꝛc. vorſteht, muß durch den Mangel ſeines natuͤrlichen Reizes er - ſchlaffen und die Atonie aller uͤbrigen Syſteme nach ſich ziehen. So wie ein an die Dunkelheit eines Kerkers gewoͤhntes Auge das helle Licht nicht ver - traͤgt, ſo ermuͤdet den Stubenſitzer die geringſte Be - wegung. Seine Muskelkraft nimmt ab; ſeine Res - piration iſt ſchwach und ſeine Verdauung leidet, theils durch die Stockungen des Blutes im Unter - leibe, welche die freie Thaͤtigkeit der Organe hindern und bei dem Stubenſitzer niemals ausbleiben, theils auch durch die ſchwaͤcheren und langſameren Bewe - gungen des Magens und der Gedaͤrme, die natuͤrlich eine langſamere und ſchwierigere Digestion zur Folge haben. Um dieſen Uebeln zu entgehen, ſucht man nur zu oft, ſtatt zum allereinfachſten, nothwendigſten und allein hülfreichen Mittel zu greifen, die Ver - dauungsorgane durch reizende Koſt und Getraͤnke an - zuſpornen und vermehrt dadurch die Krankheit, bis28 zuletzt der ungluͤckliche Verkenner der Geſetze der Na - tur in die tiefſten Tiefen der Hypochondrie und des Lebensuͤberdruſſes verſinkt.
Der groͤßere Verbrauch von Saͤften, der waͤh - rend der Bewegung ſtatt findet, hat einen verſtaͤrk - ten Appetit zur Folge. Die Stoffe, die beim Ath - men verfliegen, ſo wie diejenigen, welche die ver - mehrte Hautthaͤtigkeit ausſcheidet, müſſen natürlich durch eine neue Zufuhr von Nahrung erſetzt werden. Der Stubenſitzer, der ſeltener und weniger tief athmet, deſſen Haut verhaͤltnißmäßig unthaͤtig iſt, der alſo weniger conſumirt, fuͤhlt das Beduͤrfniß nach Speiſe und Trank in einem geringeren Grade, und ein jedes Uebermaaß muß ihm deſto ſchaͤdlicher werden, je geringer das reelle Beduͤrfniß bei ihm iſt. Bewegung macht nicht nur beſſeren Appetit, ſondern auch beſſere und ſchnellere Verdauung, denn die Mus - keln, welche die Hoͤhle der Unterleibseingeweide ein - ſchließen, werden dadurch angeregt, und beſchleuni - gen durch ihren abwechſelnden Druck, die Thaͤtigkeit des ganzen Darmkanals.
Alle Nervenfaſern, die der Empfindung, der Bewegung und der Ernaͤhrung vorſtehen, haben ihre letzten Endigungen oder Wurzeln im Gehirn, dem allgemeinen Senſorium, welches den Zuſtand aller uͤbrigen Organe abſpiegelt. Leidet ein beſonderer Theil, ſo gibt er ſeinen Zuſtand durch ein Gefühl29 von Schwere, Druck oder Schmerz zu erkennen; lei - det der ganze Organismus, ſo haben wir das Ge - fuͤhl eines allgemeinen Unbehagens, welches natuͤr - lich auch auf die geiſtigen Funktionen einen bedeu - tenden Einfluß ausübt, und dem Gemuͤth ſo wie dem Verſtande eine krankhafte Faͤrbung giebt. So ab - haͤngig iſt der Menſch als denkendes Weſen von koͤrperlichen Eindruͤcken, ſo unrecht handelt er, wenn er in geiſtigem Uebermuth ſeine koͤrperliche Huͤlle verſchmaͤht; denn ihr Verfall muß nothwendig auch den hochſtrebendſten Geiſt mit in den Staub ziehen.
Durch den wohlthaͤtigen Einfluß einer zweckmaͤ - ßigen Bewegung auf die Verdauung, wird das mit einem reicheren Blute genaͤhrte Gehirn zu einer ver - ſtaͤrkten Thaͤtigkeit befaͤhigt; die Nervenkraft wird erhoͤht, und das harmoniſche Jneinanderwirken aller Organe erzeugt das Gefuͤhl der Geſundheit und der vermehrten Kraft, eines der beſeligendſten, die wir kennen. Das Gemuͤth wird erheitert, der Verſtand ſieht die Gegenſtaͤnde unter den Farben der Wahr - heit; die Seele wird geſund wie der Koͤrper und wirkt wiederum auf deſſen Geſundheit zurück. O wie viele Philoſophen wuͤrden ganz anders philoſophiren, wenn ſie mehr durch die Felder und uͤber die Berge ſtreiften; wenn ſie ihr in der engen Studierſtube kurzſichtig gewordenes Auge in der freien Natur an einen weiteren und ſchoͤneren Horizont gewoͤhnten!
30Ein anderer Hauptvortheil, den der fleißige Spaziergaͤnger gewinnt, iſt, daß er Erkaͤltungen weit weniger zu fuͤrchten hat.
Durch den Mangel an Bewegung und eine zu warme Bekleidung wird die Haut immer ver - zaͤrtelter, immer weichlicher, und um ſo mehr den Folgen der Temperaturwechſel, die auch bei der groͤßten Sorgfalt nicht zu vermeiden ſind, bloß - geſtellt.
Das ſicherſte Mittel, ſich zu erkälten, iſt in be - ſtaͤndiger Furcht vor Erkaͤltung zu leben — und auch hier heißt es, wie in ſo manchen andern Stuͤ - cken, daß das Gluͤck dem Muthigen wohl will.
Jch bemerke nur, daß Tollkuͤhnheit und Muth verſchieden ſind — dieſer eine Tugend — jene ein Fehler — und daß alles ſeine Grenzen hat.
Die Vortheile der fleißigen Bewegung im Freien, und die ſchlimmen Folgen ihrer Unterlaſſung, ſind daher ſo groß, ſo einleuchtend, ſo ſehr durch die taͤgliche Erfahrung außer allen Zweifel geſetzt, daß es durchaus unbegreiflich iſt, wie ſonſt verſtaͤndige Leute ihren Mangel an Bewegung mit mangelnder Zeit entſchuldigen können. Jch glaube vielmehr, daß ſogar der beſchaͤftigſte Mann der ganzen Monarchie, wenn er ein paar Stunden taͤglich der koͤrperlichen Bewegung widmete, ſchon am Ende des erſten Jah - res ſeiner verbeſſerten Lebensweiſe einen bedeutenden31 Poſten an erſparter Zeit in das Hauptbuch ſeines Lebens einſchreiben koͤnnte.
Seine verbeſſerte Geſundheit wuͤrde ſeinen Kopf in den Stand ſetzen, in kürzerer Zeit mehr zu ver - richten, und die vielen Tage von Unwohlſein und Unfaͤhigkeit zu geiſtigen Arbeiten, welche unterlaſſene Bewegung verurſacht, wuͤrden gaͤnzlich wegfallen. Dieſe nehmen aber weit mehr Zeit weg, als man aus falſcher Oeconomie an einem jeden einzelnen Tage durch Stillſitzen zu erſparen glaubt.
Zu jeder Zeit wichtig iſt Bewegung im Freien, zu keiner wichtiger, als in dem Alter, worin der Grund des kuͤnftigen Mannes gelegt wird. Die den Mann ſtaͤrkende Bewegung muß relativ das Kind noch mehr ſtaͤrken, und ihre Unterlaſſung in dieſem Alter noch ſchaͤdlichere Folgen nach ſich ziehen.
Um allen phyſiſchen und moraliſchen Uebeln der Verzaͤrtelung zu entgehen, werden wir daher von der fruͤheſten Zeit an das Kind an ein thaͤtiges Leben im Freien gewoͤhnen, wobei wir aber die Ruͤck - ſichten, welche ſeine Schwaͤche fordert, niemals außer Acht laſſen: ſtets des Grundſatzes eingedenk, daß auch das Nuͤtzliche, wenn es das Maaß überſchreitet, zu ſeinem Gegentheile wird. Jn allen Dingen fuͤhrt gewiß eine langſam fortſchreitende Uebung am wei - teſten denn, wenn man auch eine Zeit lang ſchein - bar nicht ſo ſchnell vorwaͤrts koͤmmt, ſo hat man32 wenigſtens den Vortheil, daß man nie gezwungen wird, einen Schritt ruͤckwaͤrts zu thun, und daß ein jeder Tag zur Entwickelung und Befeſtigung der Faͤhig - keiten das Seinige beitraͤgt.
Die Schwaͤche des neugebornen Kindes iſt be - kanntlich ſo groß, daß es weder das Koͤpfchen noch den Rumpf bewegen und nur die Arme und Beine etwas hin und her werfen kann. Die Wirbel und viele andere Knochen beſtehen noch aus getrennten Stuͤcken, die durch Knorpel verbunden ſind und erſt ſpaͤter, durch die allmaͤlige Verwandlung dieſes letz - teren in Knochenmaſſe, zu einem einzigen feſten Stücke ſich vereinigen.
Die noch ſchlafende Kraft des Muskelſyſtems, ſo wie die große Nachgiebigkeit der feſten Stuͤtzpunkte desſelben erfordern daher die groͤßte Vorſicht bei der Behandlung des Saͤuglings. Ein jeder voreiliger Verſuch, denſelben zum Aufrechtſitzen zu gewoͤhnen, muß die Gefahr einer Verbiegung des Ruͤckgrates mit ſich fuͤhren, da dieſes in den erſten Monaten durchaus nicht im Stande iſt, das Gewicht des Kopfes und des Oberkoͤrpers zu tragen, und wegen der Schwaͤche und Verſchiebbarkeit ſeiner Ligamente ſehr leicht aus der Lage geruͤckt wird.
Jn der erſten Zeit ſchlaͤft der Saͤugling faſt un - unterbrochen. Das An - und Ausziehen Morgens und Abends, das Waſchen, das oͤftere Herumlegen ſind33 fuͤr dieſe Periode eine hinreichende Bewegung. Aber ſchon von der dritten oder vierten Woche an, benutze man jeden ſchoͤnen Tag, zur Zeit wo die Sonne am hoͤchſten ſteht, zum Hinaustragen in’s Freie. Anfangs darf die Promenade nur eine ganz kurze Zeit dauern; die Wärterin ſoll langſam gehen und nicht ſtillſtehen, vorzuͤglich nicht im Zuge.
Allmaͤlig wird die Dauer dieſer Excurſionen ver - laͤngert; ſie werden bei guͤnſtiger Witterung mehr - mals taͤglich wiederholt, noch ſpaͤter wird auch an unfreundlichen kaͤlteren Tagen das warmgekleidete Kind hinausgetragen. So kann man, vorſichtig fort - ſchreitend, ſchon ſehr fruͤh das heilſame Werk der Ab - haͤrtung beginnen, und die kraͤftigere und ſchnellere Entwickelung des Kindes bedeutend befoͤrdern.
Beim Herumtragen des Kindes iſt große Behut - ſamkeit erforderlich. Wenn man es in eine ſitzende Stellung bringt, und ſieht, daß es den Kopf nach der einen oder der andern Seite neigt, oder den Koͤr - per nach vorn haͤngen laͤßt, ſo iſt es noch zu fruͤh, es in ſitzender Stellung herumzutragen. Jſt aber der gehoͤrige Zeitpunkt eingetreten, der ſich durch das Streben des Kindes ſich aufzurichten, und das Lie - gen mit dem Sitzen zu vertauſchen, zu erkennen giebt, ſo muß man beim Herumtragen die Vorſicht gebrau - chen, das Kind bald auf den einen, bald auf den andern Arm zu nehmen. Die Verſaͤumung dieſerHartwig’s Erziehungsl. 334Regel führt nur zu leicht zu Verkruͤmmungen, denn wenn die eine Seite des Koͤrpers immer auf demſel - ben Arm ruht, ſo wird ſie beſtaͤndig gehoben, waͤh - rend die andere bei fehlender Unterſtuͤtzung ſich ſenkt; die ſchlaffen Baͤnder und Muskeln geben nach, und ſo bilden ſich bei haͤufiger Wiederholung derſelben Lage Verkruͤmmungen, die man mit einiger Aufmerk - ſamkeit und Kenntniß der Gefahr vermieden haͤtte. Traͤgt man aber das Kind abwechſelnd, bald auf dieſem, bald auf jenem Arm, ſo werden die Ruͤcken - muskeln beider Koͤrperhaͤlften gleichmaͤßiger angeſtrengt und entwickelt.
Anfangs laſſe man das Kind nicht zu lange im Arm aufrechtſitzen, denn es wird leicht muͤde, die Muskeln geben nach, und der Koͤrper nimmt eine ſchiefe Stellung an.
Gegen das langſame Wiegen laſſen ſich keine gegruͤndete Einwendungen machen wohl aber muß das ſchnelle Wiegen, vorzuͤglich wenn die Wiege auf beiden Seiten anſtoͤßt, den Kindern auf mehrfache Weiſe ſchaͤdlich werden. Es entſteht dadurch ein ziemlich ſtarker Luftzug, der vorzuͤglich bei Krank - heiten der Luftwege gefaͤhrlich werden kann. Durch die ſchnelle Bewegung des Koͤrpers und alſo auch der Augen von einer Seite zur andern, entſteht Ver - wirrung der Gegenſtaͤnde, Schwindel und Uebelſein.
35Das heftige Anſtoßen giebt dem ganzen Nerven - ſyſtem eine Erſchuͤtterung, die bei Berückſichtigung der hohen Reizbarkeit desſelben, ſehr beträchtlich ſein muß.
Bei haͤufiger Wiederholung wird alſo das ſchnelle Wiegen alle ſchlimmen Folgen der Ermuͤdung und Erſchoͤpfung der Senſibilitaͤt nach ſich ziehen.
Die beſte Art, das Kind fruͤh gehen zu lernen, iſt wohl die folgende: Man legt das leicht bekleidete Kind auf die Erde, ſo daß es auf einem Teppich auf dem Ruͤcken liegt. » Es wird nun bald anfangen die Arme und Beine zu bewegen, und ſomit die erſte active Bewegung der Gliedmaßen taͤglich mit Ver - gnügen üben. Ein weiches Bette taugt dazu nichts, weil das Kind in die weichen Federn ſinkt, und ſo - mit ſich nicht frei genug regen und bewegen kann. Wie angenehm dieſe taͤgliche Leibesuͤbung fuͤr Saͤug - linge iſt, kann man daraus abnehmen, daß ſie ſogleich ruhig und vergnuͤgt werden, wenn man ſie vom wei - chen Lager auf ein hartes und auf den Fußboden legt, und die Erfahrung lehrt, daß durch dieſes Ver - fahren die Kinder nicht allein an Kraft zunehmen und fruͤher gehen lernen, ſondern daß ſie des Nachts auch ruhiger ſchlafen, denn kein Schlaf iſt erquicken - der als der, welcher auf maͤßige Koͤrperanſtrengung folgt. Mit dem neunten, zehnten Monat fangen alle Kinder, mit denen man taͤglich die genannten Lei - besuͤbungen anſtellte, ſchon an zu kriechen und bald3*36darauf zu gehen. Am naturgemaͤßeſten iſt es, daß Kinder erſt das Kriechen und dann das Gehen ler - nen. Um Erſteres zu befoͤrdern, fange man an, ſie in dem Alter von 4 bis 5 Monaten taͤglich einmal einige Minuten lang auf den Bauch zu legen. Man wird finden, daß ſie dann nicht allein ihre Glieder bewegen, ſondern daß ſie ſich auch auf dieſelben ſtuͤtzen, ihren Leib und Kopf erheben und Verſuche zum Krie - chen machen. Die Muskeln bekommen auf dieſe Weiſe einen hoͤhern Grad von Kraft und Feſtigkeit; das Kind wird bald Verſuche machen, ſich aufzurich - ten, und, indem es ſich an Tiſchen und Stuͤhlen feſthaͤlt, gehen zu lernen. «1)Most, der Menſch in den erſten 7 Lebensjahren.
Jch glaube, daß man auf dieſem Wege die Ge - fahren vermeiden wird, die aus dem zu fruͤhzeitigen Gehen entſpringeu koͤnnten. Wenn das Kind ſich ohne fremde Huͤlfe aufrichtet und dem Naturdrange folgt, werden gewiß das Knochengeruͤſte und die Muskeln ſchon ſtark genug ſein, das Gewicht des Koͤrpers zu tragen.
Bringt man aber Gehkoͤrbe, Laufwagen und der - gleichen Maſchinen in Anwendung, ehe die ſchwachen Extremitaͤten der Laſt gewachſen ſind, ſo iſt es kein Wunder, daß eine ſo unnatuͤrliche Anſtrengung uͤble Folgen nach ſich zieht. Man muß allerdings die37 Kinder ſo früh als moͤglich gehen lehren, aber nicht durch kuͤnſtliche Mittel und fremde Hülfe, ſondern durch eine in allen Punkten zweckmaͤßige phyſiſche Erziehung, welche die Entwickelung ihrer Kraͤfte der Art befoͤrdert, daß ſie fruͤh zu gehen vermoͤgen.
Muskeln, Knochen und Ligamente bilden ein zuſammenhaͤngendes Syſtem, und alles was jene ſtaͤrkt, muß auch ihre feſteren Anhaltspunkte kraͤftigen.
Verkrümmungen kommen daher am haͤufigſten bei Kindern vor, bei denen die Regeln der Diaͤtetik ver - nachlaͤſſigt werden, und das Ausweichen der Ruͤcken - wirbel iſt Folge der dadurch hervorgebrachten Schwaͤche.
Ein paar Schritte ſind fuͤr den Anfaͤnger in der Kunſt des Gehens ſo viel wie eine Meile fuͤr den ruͤſtigen Fußgaͤnger.
Muthet man den ſchwachen Beinen zu viel zu, ſo entſtehen leicht Kruͤmmungen der Schien - und Wadenbeine oder ein watſchelnder Gang. Fiel das Kind bei ſeinen erſten Verſuchen, ſo huͤte man ſich, durch Schreien den erſten Grund zur Furchtſamkeit bei ihm zu legen. Man faſſe es nicht beim Arm, um es raſch in die Hoͤhe zu heben, denn nur zu leicht entſtehen durch dieſes rohe Verfahren Verren - kungen oder jedenfalls eine Schwaͤchung des Armes, ſondern man greife ihm unter die Achſeln und faſſe es leicht und ohne Druck an den Seitentheilen des Oberkoͤrpers.
38Beim Gehen muß man das Kind ebenfalls an dieſen Theilen halten, denn hier iſt gleichſam ſein Mittelpunkt, und von hier aus wird ihm das ſo noͤ - thige Gleichgewicht verliehen. Beim Fuͤhren an einem oder an beiden Armen, verliert das Kind ſehr leicht das Gleichgewicht und faͤllt.
Doch bald bedarf das ſchon ſtaͤrkere Kind nicht mehr des unterſtuͤtzenden Armes und erfreut ſich einer ſelbſtſtändigen Bewegung. Von nun an muß man es taͤglich ſo viel wie moͤglich im Freien ſich bewegen und ſpielen laſſen.
Das Spielen iſt mehr als Staͤrkungsmittel fuͤr den Koͤrper, es iſt zugleich die beſte Schule fuͤr das Gemuͤth und fuͤr die Morgendaͤmmerung des Ver - ſtandes. Hier wird der Grund der reinſten Freund - ſchaften gelegt, deren Erinnerung fuͤr das ganze Leben werth und theuer bleibt, und wehe dem, deſſen kaltes Herz die Geſpielen ſeiner heitern Kinderjahre vergißt, und ſein Gedaͤchtniß nicht gerne zu den Mit - genoſſen ſeines Fruͤhlings zuruͤckfuͤhrt.
Wie intereſſant iſt es nicht bei den kleinen Spie - lenden, den kuͤnftigen Schauſpielern auf der großen Buͤhne des Lebens, die keimenden Leidenſchaften zu beobachten; das Beſtreben es den Andern an Kraft und Gewandtheit bevorzuthun; den uͤbermuͤthigen Mißbrauch der Macht und die edle Vertheidigung des Unterdruͤckten; die Empoͤrung des Gemuͤthes39 gegen Unrecht, und leider, nicht ſelten, den Neid uͤber die Vorzüge eines andern; die Eiferſucht; das Beſtreben durch Liſt und Betrug, die Waffen der Schwaͤche, Vortheile zu erringen, die auf geradem Wege nicht zu gewinnen ſind.
Hier laͤßt ſich ſo ſchoͤn der Grundcharakter beo - bachten, hier kann man ihn ſo recht auf ſeinen ge - heimſten Fehlern ertappen (denn kindliche Leidenſchaft entdeckt alles) und Winke fuͤr ſeine moraliſche Beſſe - rung ſammeln.
Das Spielen iſt das eigentliche Leben des Kin - des, und die Stunden, die es in der Schule ſitzend zubringt, erſcheinen ihm nur als eine traurige Un - terbrechung dieſes Lebens, als eine verlorene Zeit. Und mit welcher Freude kehrt es nach dieſen lang - weiligen Pauſen zu ſeinen geliebten Spielen zuruͤck, wie jubelt und jauchzt es, wenn Magiſter Tinte (aus Callot-Hoffmanns Erzaͤhlungen wohlbekannt) das Buch zuſchlaͤgt und das eigentliche Hauptgeſchaͤft des Tages wieder angeht. Und auch der aͤltere Zuſchauer jubelt mit, wenn er den heiteren Schwarm den Au - genblick ſo ſchoͤn genießen ſieht, und denkt dann mit ſanfter Ruͤhrung an die Zeit zuruͤck, wo auch ihm der Augenblick alles war. O laßt eure Kinder nur recht oft und recht lange ſpielen, verkuͤrzt ihnen nicht ein Glück, das in dieſer Ungetruͤbtheit nie wie - der kommen kann, und verſaͤumt nicht, von falſchen40 Theorieen geblendet, ein Bildungsmittel fuͤr Koͤrper und Gemuͤth, welches die Natur ſelbſt als das zweck - maͤßigſte angiebt! » Liebt die Kinder, « ſagt der beredte Rouſſeau, » beguͤnſtigt ihre Spiele, ihre Freuden, ihren[liebenswuͤrdigen] Jnſtinct. Wer von euch wuͤnſcht ſich nicht zuweilen dieſes Alter zurück, wo das Laͤ - cheln beſtaͤndig um die Lippen ſpielt, und die Seele einen ewigen Frieden feiert? Warum wollt ihr den kleinen Unſchuldigen den Genuß entziehen einer ſo ſchnell verſchwindenden Zeit, eines ſo werthvollen Gutes, von dem ſie keinen Mißbrauch machen koͤnnen? Warum wollt ihr mit Schmerz und Bitterkeit dieſe ſo eiligen Jahre betruͤben, die fuͤr ſie, eben ſo wenig als fuͤr euch, je wiederkehren koͤnnen?
Wißt ihr den Augenblick, ihr Vaͤter, wo der Tod eure Kinder erwartet? Und werdet ihr euch dereinſt nicht Vorwürfe machen, wenn ihr ihnen die kurze Zeit raubt, welche die Natur ihnen goͤnnte? Sobald ſie das ſuͤße Daſein empfinden, erlaubt ihnen deſſen Genuß, und handelt ſo gegen ſie, daß zu wel - cher Stunde auch der Himmel ſie zu ſich rufen mag, ſie nicht ſterben ohne das Leben genoſſen zu haben. «
Das ſo wohlthaͤtige Spielen iſt aber nicht immer ohne Gefahr. Jſt das Kind davon erhitzt, ſo kann es ſich leicht durch ſein ungeduldiges Verlangen nach Abkuͤhlung ſchaden.
41Dieſe Gefahr iſt nicht die einzige, welche es wuͤnſchenswerth macht, daß Kinder ſo viel als moͤg - lich unter Aufſicht ſpielen. Ueberlaͤßt man ſie ganz und gar ihrer ungeregelten Lebhaftigkeit, ſo werden ſie ſich viel leichter beſchaͤdigen als wenn das ruhige Auge eines erwachſenen Moderators ihnen einige Schranken auflegt.
Alle Uebungen, welche die Kraft und Gewand - heit des Koͤrpers vermehren, gehoͤren in den Plan einer guten phyſiſchen Erziehung. Das Tanzen iſt fuͤr Knaben eben ſo vortheilhaft als fuͤr Maͤdchen, denn der Koͤrper gewinnt dadurch eine gute gerade Haltung, die für die Geſundheit ſo aͤußerſt vortheilhaft iſt.
Wer mit vorgebogenen Schultern und gekruͤmmtem Ruͤcken geht, hindert das freie Spiel der Respira - tionsmuskeln und druͤckt die Eingeweide des Unter - leibes, ſchadet alſo unmittelbar zweien der wichtig - ſten Funktionen1)Stühle mit gerade aufſteigenden Rückenlehnen und ſo ſchmalem Sitze, daß wenn das Kind nicht gerade ſitzt es herunterfallen muß, ſind zur Verbeſſerung dieſes Fehlers ſehr zweckdienlich. Eine Kunſt, die den Koͤrper lehrt, ſich gerade zu halten und ſeinen Bewegungen mehr Leichtigkeit und Anmuth verleiht, wird gewiß von kei - nem geringgeſchaͤtzt werden, der den Nutzen eines gewandten Auftretens zu wuͤrdigen weiß. Mancher,42 der ſein Gluͤck in der Welt gemacht hat, verdankt ſeinem Tanzlehrer vielleicht mehr als er gerne einge - ſtehen möchte. Beim erſten Erſcheinen einen guten Eindruck zu machen, iſt gewiß eines der unſchuldig - ſten Mittel, die es giebt, die launiſche Fortuna guͤn - ſtig zu ſtimmen. Fuͤr junge Maͤdchen insbeſondere iſt der Tanzunterricht eine wahre Wohlthat. Die armen Kinder muͤſſen ſo viel entweder am Arbeits - tiſche oder am Claviere ſitzen, daß eine Uebung, wo - bei geſunde koͤrperliche Bewegung durch Takt und Muſik belebt, ſtattfindet, des Contraſtes wegen, dop - pelt nuͤtzlich erſcheint. Das Gift des zu vielen Sitzens wird dadurch etwas neutraliſirt. Leider wird ſpaͤter zu oft auf Baͤllen verdorben, was hier gut gemacht wird, denn es iſt nicht zu laͤugnen, daß die Tanzwuth manchem jungen Leben ein fruͤhzeitiges Ende bereitet.
Der Unterricht in der Fechtkunſt iſt in mehr als einer Beziehung gut: ſie ſtaͤrkt vorzüglich den Ober - koͤrper und den Arm, und auch das Auge wird da - durch geuͤbt. Beſonders bei anfangender Kurzſichtig - keit moͤchten Fechtübungen bei gleichzeitigem Unterlaſſen alles Leſens und Schreibens von großem Nutzen ſein.
Das Schwimmen iſt eine ganz vorzuͤgliche koͤr - perliche Uebung; nicht nur, daß die Muskeln der Bruſt und der oberen Extremitaͤten, die ohnehin nicht ſo viel Uebung als die der unteren haben, dadurch43 geſtaͤrkt werden; auch die Haut wird durch die Be - rührung des feuchten Elementes geſtaͤrkt, gereinigt und gegen manche Erkaͤltungen geſchützt. Das Ru - dern dient ebenfalls zur Staͤrkung des Oberkoͤrpers und ſollte, wo es angeht, nicht vernachlaͤſſigt werden.
Schoͤn iſt es, wenn man die Kinder viel im Garten beſchaͤftigt — je nach ihren Kraͤften — mit dem Ausziehen von Unkraut, oder mit fleißigem Pflanzen und Graben. Beſſer noch, wenn man dem Kinde einen kleinen Theil des Gartens — imperium in imperio — zuweist, worin es nach Belieben ſchalten und walten kann, denn die Luſt an Pflanzen und Blumen ſollte ſo früh als moͤglich gepflegt werden. Es iſt ein gutes Zeichen, daß die Turnplaͤtze wieder Leben zeigen; nur muß man nicht glauben, durch heftigere in einen kurzen Zeitraum zuſammengedraͤngte Anſtrengungen, den Mangel einer haͤufigeren, zwang - loſen und alſo auch natuͤrlicheren koͤrperlichen Be - wegung erſetzen zu koͤnnen. Die Uebel des zu lan - gen Sitzens werden keineswegs durch die Turnuͤbun - gen neutraliſirt. Auch werden dieſe nicht ſelten die Kraͤfte der Schuͤler überſteigen, da hier eine gefaͤhr - liche Emulation ſtattfindet; — manche moͤgen auch wohl zu complizirt und unnoͤthig ſein.
Nichts deſto weniger iſt es erfreulich, daß ein groͤßerer Werth auf die Gymnaſtik gelegt wird. Man faͤngt allmaͤlig an einzuſehen, daß um ſtarke Seelen44 zu bilden, es noͤthig iſt, vorerſt für robuſte Koͤrper zu ſorgen.
Nach dieſem Grundſatze wurden die Hellenen er - zogen: ſo entſtanden jene herrlichen Koͤrperformen, die dem Bildhauer als Modelle zu ſeinen Jdealen dienten. Daß die Geiſteskraͤfte der Alten, neben die - ſer ſorgfaͤltigen koͤrperlichen Erziehung nicht litten, beweiſen hinlaͤnglich ihre Sophocles, ihre Platos, ihre Epaminondas, ihre Dichter, ihre Philoſophen und Staatsmaͤnner, die alle auf dieſe Weiſe erzogen wurden, und in jeder Hinſicht den Vergleich mit den geiſtigen Groͤßen der Gegenwart vertragen koͤnnen.
Die Functionen und Structur der Haut. — Folgen der Unreinlich - keit. — Wichtigkeit des kalten Badens und Waſchens. — Nach - theile der Verzärtelung der Haut. — Allmälige Abhärtung des Kindes gegen Temperaturveränderungen. — Federbetten ſchädlich.
Es waͤre ſehr zu wuͤnſchen, daß wir mit dem roͤmi - ſchen Recht, auch die roͤmiſche Sorge fuͤr Hautcultur übernommen haͤtten; die Pandecten und Jnſtitutionen moͤgen ihren Nutzen haben: aber fleißiges Baden und Waſchen hat gewiß einen viel allgemeineren Werth: durch jene wird Mancher um ſein Vermoͤgen und ſeine Ruhe gebracht, durch dieſes aber befeſtigen wir unſere Geſundheit, ein Gut, das gewiß, mit der einzigen Ausnahme eines guten Gewiſſens allen andern Guͤtern vorangeht.
Wo die Haut ſchwach und verzaͤrtelt iſt, kann es keine vollkommene Geſundheit geben: dies iſt eine Wahrheit die ein fluͤchtiger Blick-auf ihre wichtigen Functionen hinreichend beweiſen wird.
46Die Haut iſt hauptſaͤchliches Organ des Taſt - und Gefuͤhlſinnes, und wird als ſolches von einer ſehr großen Anzahl empfindlicher Nervenfaſern durch - webt; ſie iſt zugleich eines der wichtigſten Abſonde - rungsorgane, und ſcheidet im geſunden Zuſtande eine große Quantitaͤt zerſetzter Stoffe aus. Die Wenigſten machen ſich einen richtigen Begriff von der Wich - tigkeit dieſer Ausſcheidung, da ſie gewoͤhnlich unmerklich vor ſich geht: moͤgen die intereſſanten Verſuche eines Seguin ſie eines beſſeren belehren.
Um die Wirkung der Haut - und Lungenaus - dünſtung abgeſondert kennen zu lernen, bediente ſich dieſer beruͤhmte und eccentriſche Naturforſcher eines mit elaſtiſchem Harz überzogenen Taffetkleides, das keine Luft durchließ, oben offen war, und fuͤr den Mund eine mit Kupfer umgebene Muͤndung hatte. Dieſes Kleid wurde, nachdem es von Seguin ange - zogen worden, oben durch ein ſtarkes Band verſchloſſen, dann die Kupfermuͤndung an den Mund geklebt und befe - ſtigt. So ſetzte ſich Seguin auf die Wage, wurde gewogen, blieb mehrere Stunden ruhig und wurde wieder gewogen.
Der Unterſchied zwiſchen beiden Waͤgungen gab den in dieſer Zeit durch die Lungenausdünſtung erlit - tenen Verluſt. Hierauf verließ er die Huͤlle, ließ ſich ſogleich wieder wiegen, und nach einer beſtimmten Zeit, von Neuem wiegen. Der Unterſchied der letzten Waͤgungen gab den durch Lungenausduͤnſtung und47 Hautausduͤnſtung zugleich erlittenen Verluſt. Die Subtraction der Lungenausduͤnſtung von der geſammten Ausduͤnſtung gab das Quantum der Hautausdünſtung.
Dieſe lange Zeit mit großer Genauigkeit fortgeſetz - ten Verſuche ergaben unter andern folgende Reſultate:
Bei groͤßerer Waͤrme der Temperatur und ſtaͤr - kerer Bewegung erſcheint das Ausgeſchiedene als Schweiß. Die Quellen des Schweißes und folglich auch der unmerklichen Transpiration ſind die von Purkinje entdeckten Schweißkanaͤlchen. Die kleinen Poren auf den erhabenen Linien des Handtellers und der Sohle ſind bekannt. Purkinje fand, daß dieſe Oeffnungen in der Haut zu fadenfoͤrmigen Or - ganen fuͤhren, welche ſpiralfoͤrmig verlaufen und zuletzt in einen nicht mehr gewundenen, blindgeſchloſ - ſenen laͤnglichen Balg ſich endigen. Dieſe Kanaͤl - chen muß man ſich microſcopiſch klein denken. Sie ſind in ſehr großer Anzahl uͤber die ganze Haut ver - breitet, an einigen Stellen zahlreicher als an andern. Außer dieſen Schweißkanaͤlchen ſind unzaͤhlige Saͤckchen mit engerem Halſe uͤber die ganze Haut verbreitet, welche eine die Haut einoͤlende Subſtanz, die Haut - ſchmiere ausſondern. Aus dem Boden der meiſten dieſer Saͤckchen entſpringen die Haare.
Die Haut iſt aber nicht bloß ein ausſcheidendes, ſondern auch ein aufſaugendes Organ. Es iſt be - kannt, daß manche mediciniſche Stoffe, wenn ſie in die Haut eingerieben werden, ihre vollſtaͤndige Wir - kung ausuͤben. Auch iſt die Reſorption von Gas - arten durch die Haut, durch die Verſuche vieler Phy - ſiologen ganz außer Zweifel geſetzt.
49Nun wird es uns ein Leichtes ſein, die ſchlim - men Folgen der vernachlaͤſſigten Hautcultur zu uͤber - ſehen. Wird für die Reinlichkeit der Haut nicht gehoͤrig geſorgt, ſo muß ſich die oͤlige Abſonderung anhaͤufen, und mit den abgelagerten Producten der Ausduͤnſtung eine große Anzahl Schweißporen ver - ſtopfen, ſodaß zuletzt ein bedeutender Theil der Haut unwegſam wird. Die zahlreichen Nerven dieſes Or - gans empfinden gar bald den normwidrigen Zuſtand, und theilen ihre Verſtimmung dem Gehirne mit. Es entſteht eine allgemeine Unbehaglichkeit, eine Stoͤ - rung des Gemeingefuͤhls. Die geſunde Miſchung der Saͤfte leidet durch die Unthaͤtigkeit eines ſo wich - tigen ausſcheidenden Organes, und es ſinkt zuletzt der ganze Nutritionsproceß.
Nun denke man ſich noch, daß bei großer Un - reinlichkeit, die Haut immerfort von einer mit thie - riſchen Effluvien geſaͤttigten Atmosphaͤre umgeben iſt, und dieſe zerſetzten Stoffe beſtaͤndig einſaugt. Die Miſchung der Saͤfte leidet alſo nicht bloß durch un - vollkommene Ausſcheidung, ſondern auch durch die Aufſaugung hoͤchſt ungeſunder Materien.
Wir duͤrfen uns daher gar nicht wundern, daß Unreinlichkeit der Haut ſo viele chroniſche Krank - heiten veranlaßt, und muͤſſen das haͤufigere Baden und Waſchen als einen erfreulichen Fortſchritt be - gruͤßen. So weit wie die Alten haben wir es freilichHartwig’s Erziehungsl. 450noch, nicht gebracht. Dieſe wußten die Wichtig - keit der Hautcultur beſſer zu wuͤrdigen. Jn allen ihren Staͤdten waren praͤchtige Palaͤſte dieſem wohl - thaͤtigen Dienſte geweiht. Noch jetzt erblickt der Fremde mit Staunen die gigantiſchen Ueberreſte der Thermen eines Caracalla und eines Diocletian, die zu den Wundern der ewigen Stadt gehoͤren; und nichts, außer den Aquaͤducten und Abzugskanaͤlen (die ebenfalls der Geſundheit dienten) giebt ihm einen hoͤhern Begriff von der Civiliſation und Groͤße der Roͤmer, als jene maͤchtigen Ruinen.
Haͤlt man die Haut zu warm, ſo wird ihre Empfindlichkeit auf eine gefaͤhrliche Weiſe geſteigert.
Man fuͤhlt zuletzt den geringſten Temperatur - wechſel und zittert vor jedem Hauche. Jmmer ſorg - faͤltiger huͤllt man ſich in Flanell und Ueberroͤcke ein, und meidet mehr als je die Bewegung in der offe - nen freien Luft.
Durch ein ſo falſches Verfahren wird die Haut immer empfindlicher und erkaͤltet ſich nunmehr bei der geringſten Veranlaſſung, die ein geſundes Organ unmoͤglich treffen koͤnnte.
So wird Schwaͤche der Haut zu einer reichen Quelle von lebenverkürzenden Uebeln. Wollte man die ſchwerſten Krankheiten von Stufe zu Stufe bis in ihre erſten Anfaͤnge verfolgen, man wuͤrde oft uͤber die anſcheinende Geringfuͤgigkeit dieſer letzteren51 erſtaunen. Die Meiſten ſterben langſam an den Fol - gen von Diaͤtfehlern, die ſie fuͤr unwichtig halten, oder nicht einmal kennen.
Alle Theile unſeres zuſammengeſetzten Organis - mus ſind ſo innig verbunden, daß ein Angriff auf ein Organ, wie durch eine electriſche Kette ſich allen andern mittheilt. Vernachlaͤſſigt man nur einen einzigen Punkt in der Hygienik, ſo kann man nicht wiſſen, wie weit die nachtheiligen Folgen ſich noch erſtrecken werden. Welch eine Mahnung fuͤr Eltern, mit der groͤßten Sorgfalt fuͤr die phyſiſche Erziehung ihrer Kinder zu ſorgen, und dabei genau den Weg zu verfolgen, den Erfahrung und der geſunde Men - ſchenverſtand als den richtigen angeben!
Eben ſo ſchaͤdlich wie allzu große Waͤrme, wirkt oft eine nicht gehörige Erwaͤrmung der Haut. Durch anhaltende Abkuͤhlung in feuchtkalter Luft entſteht zuletzt eine wahre Lebloſigkeit derſelben, wodurch die unmerkliche Ausduͤnſtung ebenfalls unterdrückt wird, und dieſelben ſchlimmen Folgen durch ſchlechte Mi - ſchung der Säfte und Stoͤrung des Gleichgewichtes im Nervenſyſtem entſtehen.
Wir kennen nun die Einflüſſe, die eine ſchaͤd - liche Einwirkung auf die Haut ausuͤben, und wer - den ſie um ſo leichter durch ein zweckmaͤßiges Ver - fahren zu entfernen wiſſen.
4*52Durch Waſchungen und Baͤder, die allmaͤlig immer kaͤlter gemacht werden, erzielen wir beim Kinde den doppelten Nutzen der Reinlichkeit und der Hautſtaͤrkung. Bei den Spartanern war es Grund - ſatz die Neugeborenen in den Eurotas zu tauchen, und auch einige neuere Aerzte halten die fruͤhe An - wendung dieſes Abhaͤrtungsmittels für heilſam.
Die Meiſten, und ich glaube mit Recht, rathen davon ab. Der Reiz des kalten Waſſers ſcheint mir fuͤr den Neugeborenen, der Monate lang an eine gleichfoͤrmige Temperatur von 30 bis 31º R. ge - woͤhnt war, viel zu maͤchtig. Ein allmaͤliges und vorſichtiges Fortſchreiten von lauwarmen Baͤdern zu kalten Waſchungen entſpricht weit mehr dem Gange der allen raſchen Uebergaͤngen abgeneigten Natur, und fuͤhrt ohne die geringſte Gefahr zum ſelbigen Ziel.
Anfangs werde das Kind daher lauwarm geba - det in einem Waſſer, deſſen Temperatur der Blut - waͤrme ohngefaͤhr gleichkoͤmmt. Man betrachte dieſe Baͤder nur als Reinigungsmittel und laſſe das Kind nie laͤnger darin, als noͤthig iſt, um den Koͤrper ge - hoͤrig abzuwaſchen, denn lauwarmes Baden ſchwaͤcht den Organismus eben ſo ſehr wie kaltes ihm zur Staͤrkung dient, und darf daher in dieſem Falle durchaus nicht zu lange fortgeſetzt werden.
Schon nach den erſten Tagen gehe man vorſich - tig zu immer kaͤlteren Waſchungen uͤber, ſo daß nach53 4 oder 6 Wochen friſches aus der Quelle oder aus dem Brunnen geſchoͤpftes Waſſer dazu verwendet wird. Das Kind verdauet und athmet ſchneller wie der Erwachſene, folglich werden auch ſeine Abſon - derungen verhaͤltnißmaͤßig bedeutender ſein. Unrei - nigkeiten ſammeln ſich leichter auf ſeiner ſtark aus - duͤnſtenden Haut. Der eigenthuͤmliche Geruch kleiner Kinder, ſelbſt bei denen, die ſehr reinlich gehalten werden, beweist hinlaͤnglich die groͤßere Thaͤtigkeit ihrer Transpiration. Das Kind muß daher im er - ſten Lebensjahr zweimal taͤglich gewaſchen werden, ſpaͤterhin reicht man aus mit einem einzigen Bade. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß man die kalten Wa - ſchungen nicht zu fruͤh nach dem Eſſen vornehmen darf, auch nicht wenn das Kind von koͤrperlicher Be - wegung erhitzt iſt. Das Waſchen muß ſchnell ge - ſchehen und hinterdrein der Koͤrper ohne Verzug abgetrocknet und gerieben werden. Bei kaͤlterem Wetter waſche man die Kinder in einem maͤßig gewaͤrmten Zimmer (15º R.) wobei das Waſſer ſeine voͤllige Kaͤlte behalten mag — es wird nur um ſo mehr die Haut ſtaͤrken und erfriſchen. Sobald das Alter der Kleinen es erlaubt, laſſe man ſie in der guten Jahreszeit fleißig im Fluſſe baden und ſo fruͤh als moͤglich das Schwimmen lernen — eine der ge - ſundeſten Bewegungen, die außerdem noch den gro - ßen Vortheil bietet, daß man dadurch in den Fall54 kommen kann, ſein eigenes oder eines Andern Leben zu retten. Noch beſſer, wenn man die Mittel beſitzt, ſeinen Kindern von Zeit zu Zeit die Wohlthat des Seebades zu goͤnnen. Es iſt dieſes die wahre Hoch - ſchule fuͤr Staͤrkung der Lungen und der Haut; eine Wunderquelle von Lebensfriſche und Kraft. Wer ſich an gluͤcklichen Kindern erfreut, der mache einen Sommerbeſuch in Oſtende; dort wird er die wahrhaft magiſchen Reſultate der vereinten Wirkung der Baͤder, des Spielens am Strande und der erquickenden See - luft, an ſo vielen kleinen Engeln bewundern koͤnnen.
Die wohlthaͤtigen Einwirkungen des kalten Wa - ſchens ausführlich zu beſchreiben, wuͤrde mich zu weit fuͤhren. Es genuͤge zu bemerken, daß nachdem der erſte Eindruck der Kaͤlte voruͤbergegangen iſt, das Blut in groͤßerer Menge zur Haut ſtroͤmt und dieſe dadurch beſſer genaͤhrt und ſtaͤrker wird, folglich auch ihre Funktionen beſſer erfuͤllt. Keine Unreinlichkeit verſtopft ihre Poren und beſchraͤnkt ihre Thaͤtigkeit, gleichmaͤßig auf ihrer ganzen Oberflaͤche dunſtet ſie Zerſetzungsſtoffe aus. Das Blut vertheilt ſich gleich - maͤßig in den inneren und aͤußeren Theilen, keine verderblichen Stockungen, keine Congestionen, welche den Menſchen entweder zum Verdauen oder zum Denken unfaͤhig machen. Welch ein Gewinn fuͤr die Geſundheit, und wie wird dadurch ſo vielen Krank - heiten der Eingang verwehrt!
55Die Waͤſche muß bei Kindern ſo oft als moͤg - lich gewechſelt werden; iſt ſie unrein, ſo dunſtet ſie zerſetzte animaliſche Stoffe aus und bildet auf der ganzen Hautoberflaͤche eine hoͤchſt ungeſunde Atmos - phaͤre. Die thaͤtige Aufſaugung der Haut fuͤhrt aber, wie ich oben ſchon bemerkt habe, dieſe ſchaͤdlichen Materien wiederum ins Blut. Es iſt daher von ſehr großer Wichtigkeit, daß die Haut ſtets von einer reinen Luft umfloſſen werde; zu dichte und warme Kleidung iſt aus dieſem Grunde ſchon verwerflich.
» Reinlichkeit iſt das halbe Leben fuͤr Kinder, « ſagt Hufeland, » je reinlicher ſie gehalten werden, deſto beſſer gedeihen und bluͤhen ſie. Durch bloße Reinlichkeit bei ſehr maͤßiger Nahrung koͤnnen ſie in kurzer Zeit ſtark, friſch und munter gemacht werden, da ſie hingegen ohne Reinlichkeit bei der reichlichſten Nahrung abmagern und verblaſſen. Dieß iſt die un - erkannte Urſache warum manches Kind verdirbt und verwelkt, man weiß nicht woher. Ungebildete Leute glauben dann oft, es muͤſſe behext ſein oder die Mit - eſſer haben. Aber die Unreinlichkeit iſt der feindliche Daͤmon, der es behext und der es auch ſicher am Ende verzehren wird. «
Die Haare muͤſſen taͤglich gekaͤmmt und gebuͤr - ſtet werden: ſie werden dadurch belebt und geſtaͤrkt und mancher boͤſe Ausſchlag verhütet. Wie mancher, der an hartnaͤckigen Kopfſchmerzen leidet, waͤre die -56 ſem Uebel entgangen, wenn ſeine Eltern ihm fruͤh - zeitig das heilſame Kaͤmmen der Haare angewoͤhnt haͤtten.
Waͤre nun aber auch die aͤußerſte Reinlichkeit nicht eine Pflicht, die wir uns ſelbſt ſchuldig ſind, ſo wuͤrde die Ruͤckſicht auf Andere ſie uns anbefehlen. Durch Reinlichkeit erweckt man ein guͤnſtiges Vor - urtheil für ſeine Moralitaͤt und Bildung, man be - weist dadurch, daß man etwas auf die gute Mei - nung der Welt haͤlt und ihr zu gefallen ſucht. Der unreinliche Menſch iſt entweder ein durchaus unge - bildetes Weſen oder ein verbildeter Cyniker, ein Jrus oder ein Diogenes, und dazu wollen wir doch wahr - lich unſere Kinder nicht erziehen!
Durch die groͤßte Reinlichkeit allein wuͤrden wir indeſſen nur wenig fuͤr die Staͤrkung der Haut ge - winnen, wenn wir ſie nicht zugleich an eine kuͤhlere Temperatur gewoͤhnten. Aber auch hier muͤſſen wir um ſo ſorgfaͤltiger jede Uebertreibung vermeiden, da der kindliche Organismus mehr Waͤrme als der er - wachſene bedarf; denn ſeine eigene Waͤrmenerzeugung iſt geringer. Edwards fand, daß die Neugeborenen der meiſten Raub - und Nagethiere ſchnell erkal - ten, ſobald ſie bei niedrigen Temperaturen von der Mutter entfernt werden; dagegen ſie, an der Mutter liegend, nur um ein Weniges kaͤlter als dieſe ſelbſt ſind.
57Die ſtatiſtiſchen Unterſuchungen von Edwards beweiſen ferner, daß der Mangel an Temperatur in einem bisher nicht gewuͤrdigten Verhaͤltniſſe, Urſache der Sterblichkeit bei den neugeborenen Menſchen iſt (Edwards, de l’influence des agents physiques sur la vie.) Jn den erſten Wochen oder Monaten moͤchte daher der Gebrauch von Federbetten zu entſchuldigen ſein, vorzuͤglich bei Schwachgeborenen, weil Federn ein ſehr ſchlechter Waͤrmeleiter ſind; ſpaͤter muͤſſen ſie durchaus mit minder erhitzenden Betten vertauſcht werden, denn ein Kind, das eine lange Nacht in Federn liegt, iſt fuͤr den ganzen folgenden Tag ent - nervt. Wie kann ein junger empfindlicher Organis - mus, der faſt die Haͤlfte ſeines Lebens in einem ſol - chen Schwitzkaſten zubringt, ſtark und geſund werden? Es iſt dieſes eine reine Unmoͤglichkeit; auch ſieht man leicht ein, daß Federbetten bei Nacht und ein kuͤh - leres Verhalten bei Tage ſich durchaus widerſprechen. Dazu koͤmmt noch, daß die ſo ſtark vermehrte Aus - duͤnſtung ſich in den Federbetten anhaͤuft und zur Verderbniß der Atmosphaͤre beitraͤgt. Einfache wollene Decken, die man ſo oft waſchen kann als man will, ſind, ſchon der Reinlichkeit wegen, vorzuziehen.
Man entferne daher, ſo ſchnell als moͤglich jenes weichliche Lager, und waͤhle ſtatt ſeiner eine Matraze aus Roßhaar oder anderen haͤrteren Subſtanzen zur Unterlage, die man mit oft zu wechſelnden Decken58 und leinenen Betttuͤchern uͤberzieht. Anfangs bedeckt man das Kind mit einem leichten Federuͤberzuge, welches um ſo fruͤher mit gewoͤhnlichen wollenen Decken vertauſcht werden kann je mehr man die Conſtitution des Kleinen durch fleißiges Hinaustragen ins Freie und kalte Waſchungen bereits geſtaͤrkt hat. Alsdann kann das Kind ſchon in einem ungeheizten Zimmer ſchlafen, wenn nicht allzu große Winterkaͤlte es ver - bietet. Ein Hauptvortheil eines haͤrteren Lagers iſt, daß es dem Drucke des Koͤrpers nicht ſo nachgiebt, waͤhrend das weichere Federbett ſich in die ſchiefſten Lagen fuͤgt. Nirgends ſieht man auch mehr Kruͤppel und Verwachſene als in Laͤndern wo Federbetten all - gemein gebraͤuchlich ſind.
Kinder erkaͤlten ſich leicht, wenn man ſie an ein zu warmes Zimmer gewoͤhnt, da alsdann beim Hinausgehen ins Freie, jeder Zugwind ihre warme und ſtarkduftende Haut um ſo mehr angreift. Die kuͤnſtliche Stubenwaͤrme darf nie 15º R. uͤberſteigen und das Sitzen in der Naͤhe des Feuers ſollte Kin - dern durchaus unterſagt werden.
Die gewoͤhnliche Urſache des Froſtes an Haͤnden und Fuͤßen iſt, daß die Kleinen halbgefroren ins Zimmer kommen und die erſtarrten Glieder ſogleich am gluͤhenden Ofen erwaͤrmen. Durch den unge - heuern Temperaturunterſchied zwiſchen eiſiger Kaͤlte und Feuerwaͤrme entſteht Ueberreizung, Entzuͤndung,59 Anſchwellung und Geſchwuͤrbildung; eine Plage, die leicht zu vermeiden waͤre. Gewiß rühren ſehr viele der rothen Naſen, die uns begegnen, von keiner andern Urſache als dieſer her, und man thut Freund Bachus Unrecht, wenn man ihn ohne Weiteres fuͤr den Hauptſchuldigen erklaͤrt. Wichtiger noch in ihrer Einwirkung auf die Haut als die Stubentemperatur iſt die Kleidung, deren Beurtheilung im naͤchſten Kapitel folgt.
Schaͤdlichkeit einer zu engen Kleidung. — Monſtröſer Gebrauch der Schnürleiber. — Bemerkungen über die barbariſche Sitte des Einwickelns. — Wie ſoll man die Kinder kleiden? — Tragen von Flanell beſonders nützlich.
Obgleich es Leute genug geben mag, welche glau - ben, ihr Koͤrper ſei eigentlich nur da, um ſchoͤne Kleider daran zu haͤngen, und den Schutz, den dieſe gegen Kaͤlte und Hitze gewaͤhren, nur als Nebenſache anſehen, ſo kann ich ihrer Meinung nicht ſo ganz beiſtimmen und muß, bei Kindern wenigſtens, bitten, dieſen letzteren als der Mode vorangehend zu betrachten. Nie darf das Zweckmaͤßige dem Schoͤnen aufgeopfert werden, dieſes geſchieht aber allemal, wo die Klei - dung zu enge iſt und irgend einen Theil des Koͤr - pers druͤckt. Alles was den freien Umlauf des Blut - ſtroms hemmt, ſchadet der Geſundheit. Dieſe, als harmoniſches Jneinandergreifen aller Organe und61 aller Thaͤtigkeiten, ſetzt voraus eine gleichfoͤrmige Ernaͤhrung, eine gleichfoͤrmige Vertheilung der Blut - maſſe in allen Organen, je nach den Beduͤrfniſſen ihres Baues. Durch einen jeden Druck wird nun dieſe zweckmaͤßige Vertheilung der naͤhrenden Saͤfte ge - hindert, das Blut ſtockt unterhalb der gedruͤckten Ve - nen, es haͤuft ſich an, und belaͤſtigt die Function des betroffenen Organs. So ſehen wir Kopfſchmer - zen durch eine zu feſte Halsbinde verurſacht werden, weil dieſe den Rückfluß des Blutes aus den Venen des Gehirns und ſeiner Bedeckungen erſchwert.
Die Functionen jenes Organes koͤnnen aber nur dann gehoͤrig vor ſich gehen, wenn es von einer be - ſtimmten Blutmenge durchſtroͤmt wird; ſobald Con - gestion entſteht, müſſen momentan Empfindung, Willen und Denkkraft leiden.
Jn den meiſten Faͤllen können wir zwar, durch Entfernung der Urſache den normalen Zuſtand in kurzer Zeit wieder herſtellen; wenn aber die Schaͤd - lichkeit oͤfter einwirkt, wenn ſie (wie im Militaͤr - dienſt, auf Maͤrſchen, Paraden) nicht ſo bald ent - fernt werden kann, oder wenn man ſie, aus Eitel - keit durchaus nicht entfernen will, ſo wird endlich das oͤfter angegriffene Organ dauerhaft geſchwaͤcht. Die contagioͤſe Augenentzuͤndung, die ſo vielen Sol - daten das Geſicht koſtet, zaͤhlt gewiß unter ihre Haupt - urſachen die ſchweren Tſchzako’s und ſteifen Halsbinden62 die den Ruͤckfluß des Blutes aus dem Kopfe er - ſchweren, vorzüglich bei anſtrengenden Paraden, wo die beſchleunigte Circulation ohnehin mehr Blut nach den obern Theilen treibt. Aus derſelben Ur - ſache entſtehen nicht ſelten hitzige Fieber und Schlag - fluͤſſe. Bei Kindern kommen nun freilich ſolche ex - treme Faͤlle nicht ſo leicht vor, doch ſchien es mir zweckmaͤßig beilaͤufig an die übeln Folgen einer auf einen hohen Punkt getriebenen Schaͤdlichkeit zu erin - nern, da man daraus abnehmen kann, wie dieſelbe auch bei geringerer Jntenſitaͤt einwirkt. So wie der haͤrteſte Stein, durch einen beſtaͤndig auf denſel - ben Fleck hinunterfallenden Tropfen endlich ausge - hoͤhlt wird, eben ſo gewiß bringt die haͤufige Wie - derholung anſcheinend geringer Schaͤdlichkeiten, zuletzt bedeutende Krankheiten hervor. Wie viele Leute gibt es nicht, die wohl nicht zu den Trinkern zu rechnen ſind, die aber dennoch keinen Tag vergehen laſſen, ohne mehr Wein zu genießen, als die ſtrenge Maͤßig - keit gerade billigen moͤchte. Die ſchlimmen Folgen werden ſich vielleicht nicht nach Monaten, aber ge - wiß nach Jahren zeigen. Denn die Geiſtes - und Nervenkraͤfte uͤberhaupt, muͤſſen unfehlbar bei ſol - chen oft wiederholten kleinen Angriffen ihre Schaͤrfe weit fruͤher verlieren als ſie ſonſt gethan haben wuͤrden. Aber der Menſch achtet gewoͤhnlich nur auf ganz auffallende grellhervortretende Schaͤdlich -63 keiten; die feineren verderblichen Jnfluenzen, die tagtaͤglich an ſeinem Weſen nagen, die ſo viele chro - niſche Krankheiten langſam aufbauen, und weit mehr Opfer hinraffen als die gefaͤhrlichſten Epidemieen es thun, entgehen ſeiner Aufmerkſamkeit.
Ein eng anliegendes Kleidungsſtuͤck, an welcher Stelle es auch angebracht ſein mag, wird daher zur Schaͤdlichkeit, wenn es fortdauernd einwirkt, vor - zuͤglich in einem jugendlichen, in ſchnellem Wachs - thum nach allen Seiten hin begriffenen Organismus, der ohnehin dem Drucke weniger widerſteht, und alſo ſchon durch ſeine groͤßere Paſſivitaͤt um ſo eher leidet. Wie kann man erwarten, daß ein Organ mit dem uͤbrigen Organismus gleichmaͤßig wachſen ſoll, wenn man durch Druck ſogar ſeine ſchon beſte - hende Groͤße einſchraͤnkt, ſtatt ihm freien Raum zu ungehinderter Entwickelung zu laſſen? Und welche Gruͤnde kann man zur Entſchuldigung eines ſolchen Verfahrens anfuͤhren? Fort alſo mit allem was die freie Bewegung, den freien Wachsthum hindert! Keine zu engen Schuhe! Sie legen den Grund zu den marternden Kraͤhenaugen, verurſachen Schmer - zen und hindern am Gehen! Keine Strumpfbaͤnder! nach einiger Bewegung ſchwillt das Bein an, das Blut ſtockt unterhalb der Ligatur, und es entſtehen Venenerweiterungen, die ſpaͤter gefaͤhrlich werden koͤnnen.
64Enganliegende Beinkleider ſchaden durch Reibung empfindlicher Theile, Zuſammendruͤcken der Einge - weide der Bauchhoͤhle und bedeutende Stoͤrung des Blutumtriebes. Wenn nun aber ſchon Schuhe, Strumpf - baͤnder, Halsbinden und Beinkleider durch Druck ſchaͤdlich werden, was ſoll man dann zu dem mon - ſtroͤſen Gebrauch der Schnuͤrleiber ſagen, oder uͤber - haupt aller Binden, Weſten oder Roͤcke, welche die Mitte des Koͤrpers zuſammenſchnuͤren? Durch dieſen unterhalb des Zwerchfells1)Das Zwerchfell, (von zwerchen) der hauptſächlichſte Respirationsmuskel, liegt zwiſchen den Eingeweiden der Bruſt (Lungen, Herz) und des Bauches (Magen, Leber, Milz) ausgeſpannt und trennt die beiden Höhlen von einander. Wenn wir einathmen ſteigt es in die Bauchhöhle hinunter, und drängt deren Eingeweide zurück, wie ein jeder leicht an ſich ſelbſt erproben kann, wenn er nur beim Einathmen die Hände über dem Bauch zuſammenlegt. Man ſieht wie wichtig es ſein muß, das ſreie Spiel des Zwerchfells nicht zu hindern. angebrachten Druck wird zuerſt die Respiration gehemmt und ein kuͤnſtliches Aoſtma hervorgerufen. Die Verdauung muß nothwen - digerweiſe durch den Druck auf Leber, Magen und Milz geſtoͤrt, und die Blutbewegung beſonders im Pfortaderſyſtem gehemmt werden, wodurch fruͤhzeitig auf abdominal Plethora, Hypochondrie und allge - meine Nervenſchwaͤche hingearbeitet wird. Die fuͤr das koͤrperliche Gedeihen ſo uͤberaus wichtige Bewe -65 gung im Freien, wird natürlich durch einen zu eng - anliegenden Guͤrtel ſehr erſchwert, wie uͤberhaupt das frei herumlaufende ſpielende Kind keine enge Klei - dung vertraͤgt. Dieſen ſo verderblichen Gebrauch, trotz ſeiner auffallenden ſchlechten Folgen dennoch fort - ſetzen wollen, heißt doch wahrlich der Eitelkeit ein zu großes Opfer bringen.
Gibt es aber irgend eine Sitte, gegen die man mit allen Waffen der Vernunft, des Spottes und der Entruͤſtung ankaͤmpfen ſollte, ſo iſt es gewiß das barbariſche Einwickeln der Saͤuglinge.
Legt man es darauf an, die Haut zu verzärteln, die Glieder zu ſchwaͤchen, und in der Entwickelung aufzuhalten; will man die freie Circulation des Blu - tes hemmen, die Respiration erſchweren, und wich - tige Organe durch Congestionen gefaͤhrden; will man verderblich auf das Gemüth des Saͤuglings wirken, der, in allen Bewegungen gehemmt, dem traurigen Gefuͤhl ſeiner engen Gefangenſchaft durch Schreien und Weinen Luft macht; will man von Anfang an den Grund zu einer ſchwaͤchlichen, rachitiſchen und ſcrophuloͤſen Conſtitution legen, ſo iſt in der That nichts Beſſeres, als das Einwickeln zu empfehlen. Welcher Kinderfreund mag wohl zuerſt auf dieſe ſchoͤne Erfindung gekommen ſein? Haͤtten die armen kleinen Maͤrtyrer nur Worte, ihre Gefuͤhle zu ver - koͤrpern, wie würden ſie dem Ehrenmanne danken!
Hartwig’s Erziehungsl. 566Einſtweilen thun ſie es mit ihren Thraͤnen! Jch weiß zwar nicht, mit welchen Gruͤnden man dieſe, der Boͤo - ten oder der Caraïben wuͤrdige Sitte entſchuldigt, doch ſind ſie aller Wahrſcheinlichkeit nach die Folgenden.
Man ſchuͤtzt das Kind dadurch vor dem Fallen, vor Beſchaͤdigungen, Verwundungen. — Die Kraͤfte des Kindes ſind aber anfangs zu gering, als daß es ſie mißbrauchen koͤnnte. Es iſt zu ſchwach, ſich von der Stelle zu bewegen, und kann nur ſeine Arme und Beine ruͤhren. Wie barbariſch, dem Saͤugling ſogar dieſe geringe Bewegung, die ihm ſo viel Ver - gnuͤgen macht, und mehr als man glaubt zur Staͤr - kung ſeiner Circulation beitraͤgt, zu entziehen, und ihn wie eine egyptiſche Mumie einzuwickeln! Wird er etwas groͤßer, ſo kann man ja durch die einfach - ſten Vorkehrungen verhuͤten, daß er ins Feuer, oder aus dem Bette faͤllt, oder ſich durch das Anſtoßen an ſcharfen Ecken beſchaͤdigt.
» Wickelt man etwa junge Hunde, oder junge Katzen ein, « fragt der Autor des Emile » und ſieht man irgend eine uͤble Folge von dieſer Verſaͤumniß? Saͤuglinge ſind aber ſchwerer! Jch gebe es zu; aber im Verhaͤltniß ſind ſie auch ſchwaͤcher. Sie koͤnnen ſich ja kaum ruͤhren, wie ſollten ſie ſich beſchaͤdigen? «
Die knorpelige Biegſamkeit der kindlichen Kno - chen iſt das beſte Schutzmittel gegen Beſchaͤdigung. Wie oft koͤmmt es nicht vor, daß Kinder fallen ohne67 andere Folgen, als blaue Flecken, die binnen Kur - zem verſchwinden. Auch iſt es gar nicht ſo uͤbel, wenn Kinder oͤfter fallen und ſich fruͤhzeitig an ge - ringe koͤrperliche Schmerzen gewoͤhnen. Sie werden deren in ſpaͤterem Leben noch ganz andere zu erdul - den haben. Fruͤhzeitige Abhaͤrtung gegen den Schmerz gehoͤrt auch mit zu einer guten phyſiſchen Erziehung.
Wer wollte alſo eines durchaus problematiſchen Vortheils wegen ein Verfahren einſchlagen, gegen welches Vernunft, Erfahrung und Humanitaͤt mit vereinten Kraͤften auftreten? Jn England denkt keine Seele an das Einwickeln, und gewiß verſteht das practiſche engliſche Volk ſich auch am Beſten auf die phyſiſche Erziehung ſeiner Kinder.
Ein zweiter Entſchuldigungsgrund koͤnnte ſein, daß man durch das Einwickeln und Ausſtrecken der Glieder ihre Verkruͤmmungen verhütet. Dieſer Grund iſt aber wo moͤglich noch ſchlechter als der erſte; denn ein Verfahren, welches die Glieder zu einer unnatuͤrlichen Unthaͤtigkeit verurtheilt, ſchwaͤcht ihre Entwickelung, ſchwaͤcht die Verdauung, ſchwaͤcht die Nutrition, ſchwaͤcht mit einem Worte den ganzen Organismus, und iſt daher das allergeeigneteſte Mittel, das gefuͤrchtete Uebel herbeizufuͤhren. Faͤngt das Kind an zu gehen, (und dazu wird es doch end - lich trotz eures Einwickelns kommen) ſo koͤnnen die erweichten Knochen den Koͤrper nicht tragen, und5 *68die ſchwachen Beine biegen unter der ungewohnten Laſt. Bei einem Kinde hingegen, das nach vernuͤnf - tigeren Grundſaͤtzen erzogen wurde, und von Anfang an nach Herzensluſt Arme und Beine in der fri - ſchen Luft bewegte, ſind die normal entwickelten Glie - der dem Gewichte der übrigen Theile vollkommen gewachſen, und werden ohne allen Zweifel gerade bleiben. Sollte man nicht nach allen jenen Vorkeh - rungen meinen, daß die Natur die Abſicht habe, uns alle krummbeinig werden zu laſſen, und daß die kunſt - reiche Hand und hohe Weisheit der Ammen und Waͤrterinnen durchaus erforderlich ſei, dieſes Grund - uͤbel zu verhindern?
Ferner könnte man zur Beſchoͤnigung jenes Gebrauches anfuͤhren, daß das eingewickelte Kind nicht ſo viel Aufwartung bedarf. — Dieſer Grund kann gelten, wenn Muͤtter damit einverſtanden ſind, daß die Geſundheit ihrer Kleinen der eigenen Bequem - lichkeit oder der einer Amme geopfert werden muß; ſonſt aber moͤchte ich folgendes dagegen einwenden:
Alle Lebensverrichtungen gehen beim Kinde ſchneller vor ſich, ſein Athmen, ſeine Circulation, ſeine Ver - dauung, folglich auch ſeine Ausleerungen.
Die Geſundheit des Kindes eben ſo ſehr wie das Gefuͤhl der Mutter (denn wie wird ein gebildetes Frauenzimmer den Gedanken ertragen, daß ihr Kind auch nur ein paar Minuten verunreinigt bleibe?)69 erfordert durchaus einen haͤufigen Wechſel der Waͤſche. Jn einem offenen Kleide wird jede Verunreinigung leichter bemerkt, ſo daß man ſogleich den Pflichten, welche die Reinlichkeit verlangt, nachkommen kann. Dieſer Vortheil iſt ſo groß, daß er allein ſchon hin - reicht, das Einwickelu zu verurtheilen. Weg alſo mit allen enganliegenden Feſſeln! Das Leben hat deren genug, fangen wir nicht an, ſie unnoͤthiger Weiſe unſeren Lieben gleich beim Eintritt in dasſelbe an - zulegen.
Um den Neugeborenen gegen Kaͤlte zu ſchuͤtzen, werden wir ihm daher ſtatt eines Marterzwanges lange, warme, wollene Kleider anziehen, ſo daß die Struͤmpfe wegfallen koͤnnen, denn ihre Durchnaͤſſung wird oft uͤberſehen und veranlaßt Erkaͤltung. Keine feſten Binden, welche die Circulation hemmen! Kein Druck auf irgend einen Theil! Keine zu enganſchließende und zu warme Muͤtzen, denn in den Krankheitslehren der erfahrenſten Kinderaͤrzte finden wir ſie als eine haͤufige Urſache der toͤdtlichen Hirnwaſſerſucht ange - fuͤhrt. Eine zu warme Kopfbedeckung iſt überhaupt ſchaͤdlich; ſie zieht zu viel Blut nach dem Gehirn und zur aͤußeren Kopfhaut, und iſt ganz der gol - denen Regel des Boerhaave zuwider: daß der Kopf kuͤhl und die Fuͤße warm gehalten werden muͤſſen. Beſonders verwerflich ſind Pelzmuͤtzen, da ſie keine Ausduͤnſtung durchlaſſen, den behaarten Kopftheil70 hermetiſch verſchließen und auch durch ihre Schwere ſchaden. Den Gebrauch der Nachtmuͤtzen ſuche man ſo fruͤh als moͤglich abzuſchaffen, das heißt ſobald die Natur dem Kinde eine genügende natuͤrliche Kopf - bedeckung verſchafft. Wozu einen Theil ſo warm zudecken, den die Natur durch einen kraͤftigen Haar - wuchs gegen die Einwirkung der Kaͤlte ſchuͤtzt? Jch bin uͤberzeugt, daß man durch eine zu warme Kopfbedeckung den Grund zu manchem kuͤnftigen Schlagfluſſe, zu man - cher kuͤnftigen Hirnerweichung legt. So wie man im politiſchen Leben die Urſachen großer Bewegun - gen in weiter Zeitferne zu ſuchen hat, eben ſo wur - zeln auch im Leben des Jndividuums die Perturba - tionen des reiferen Alters gar oft in den Fehlern, die wir bei der erſten Erziehung begehen.
Ueberhaupt muß man bei der Kleidung der Kinder genau die Mittelſtraße halten, und weder durch uͤbermaͤßige Bedeckung ihre Haut verweich - lichen, noch auch durch eine zu leichte Beklei - dung ihren zarten Organismus zu ſehr Erkaͤl - tungen ausſetzen. Dieſen Prinzipien getreu, wird man bei jedem kühleren Winde nicht gleich das Kind in Maͤntel und dickere Halstuͤcher einwickeln, und eben ſo wenig es in den erſten Jahren mit bloßem Halſe in der Kaͤlte herumlaufen laſſen. Ein großer Theil von Deutſchland iſt mit einem rauhen, feuchten und veraͤnderlichen Clima, ich weiß nicht, ob ich71 ſagen ſoll, geſegnet, und es dauert lange, ehe der Winter dem Fruͤhlinge weicht. Aus dieſem Grunde iſt das Tragen von leichten, duͤnnen Flanellwaͤms - chen, unmittelbar auf der Haut, beſonders bei ſchwaͤch - lichen Kindern, wo Anlage zur Schwindſucht zu be - fuͤrchten ſteht, ſehr empfehlenswerth. Flanell hat vor der Leinwand den großen Vorzug, daß er ſich als ſchlechterer Waͤrmeleiter nicht ſo ſchnell abkuͤhlt; die Bruſt alſo beſſer gegen ploͤtzlichen Temperatur - wechſel ſchuͤtzt, — ein Umſtand, der bei ſchwachen Con - ſtitutionen und in unſerm veraͤnderlichen Clima ſehr wichtig iſt.
Ferner unterhaͤlt der poroͤſe Flanell, auch bei heißem Wetter und ſtarker Bewegung eine freie Aus - duͤnſtung; dieſe aber kuͤhlt die Haut ab, in demſelben Maaße wie ſie verfliegt: man empfindet daher nie das druͤckende Gefuͤhl der inneren Hitze, welches die in der dichteren leinenen Bekleidung ſo leicht ſtattfin - dende Schweißbildung begleitet. Dieſes erklaͤrt ſich leicht durch ein einfaches phyſikaliſches Geſetz. Ein jeder Koͤrper, der aus der fluͤſſigen Form in die Dunſtgeſtalt übergeht, abſorbirt ſehr viel Wärme, die er natuͤrlich ſeiner Umgebung entzieht. Bei freier Ausduͤnſtung wird daher die durch den Lebensproceß erzeugte Waͤrme beſtaͤndig in demſelben Maaße wie ſie ſich bildet, fortgeſchafft, weil ſie auf die Dunſt - bildung verwendet wird: ſo daß unter ſolchen72 Umſtaͤnden auch ein hoher aͤußerer Waͤrmegrad nicht unangenehm iſt. Umgekehrt, wenn ein dunſt - oder gasfoͤrmiger Koͤrper ſich zur Flüſſigkeit verdichtet, ſo entbindet er alle Waͤrme, deren er bedurfte, um als Dunſt zu verfliegen.
Ein Jeder wird wiſſen, wie es unmoͤglich iſt, die Hand uͤber heiße Waſſerdaͤmpfe zu halten, weil dieſe ſich unmittelbar an der verhaͤltnißmaͤßig kalten Haut verdichten, und dabei eine betraͤchtliche, ſogar ſengende Waͤrme entbinden.
Auf dieſelbe Weiſe theilt die Hautausduͤnſtung, wenn ſie nicht ſo ſchnell als ſie ſich bildet, verfliegen kann und nun als Schweiß zuruͤckbleibt, der Haut ſehr viel entbundenen Waͤrmeſtoff mit, wobei zugleich die im Koͤrper beſtaͤndig gebildete Waͤrme ſich an - haͤuft und ein ſehr unbehagliches Gefuͤhl erzeugt.
Baumwollene Hemde und Beinkleider theilen die Vorzuͤge des Flanells, und ſind auch in der ganzen engliſchen Armee den leinenen ſubſtituirt worden, weil alle Militaͤraͤrzte fanden, daß Erkaͤltungen und Lun - genuͤbel durch ihren Gebrauch vermindert werden.
Mit dem Worte Flanell verbinden viele den Begriff einer erſtickenden Waͤrme und einer großen Verweichlichung — beides mit Unrecht. Der ganze Koͤrper ſoll ja nicht uͤber und uͤber in dichte Wolle eingehuͤllt werden; nur Bruſt und Unterleib des Kin - des ſollen mit einem duͤnnen Gewebe aus dieſem Stoffe73 bekleidet ſein, der erfahrungsmaͤßig am allerbeſten gegen Erkaͤltungen ſchuͤtzt, und daher fuͤr dieſe wich - tigen Theile die paſſendſte Bedeckung liefert. Von Verweichlichung zu reden iſt geradezu laͤcherlich. Eher moͤchte das ewige Sitzen auf dem Sopha, im ſtark - geheizten Zimmer und im warmen Schlafrock, ſo wie das Schlafen unter berghohen Federdecken dieſen Na - men verdienen.
Ein nicht unerheblicher Vortheil des Tragens von Flanell auf bloßer Haut iſt, daß die uͤbrige Kleidung nicht ſo ſchwer und dicht zu ſein braucht. Man hat nicht noͤthig ſo fruͤh nach dem Ueberrocke zu greifen, bewegt ſich leichter in der Kaͤlte und er - zeugt auf dieſe Weiſe Waͤrme genug, um ſie bald nicht mehr zu fuͤhlen.
Das Tragen eines duͤnnen Tuches, loſe um den Hals gebunden, iſt beſonders aus dem Grunde zu empfehlen, weil bei juͤngeren Kindern Erkaͤltungen des Halſes ſo leicht die gefaͤhrliche Form des Croups annehmen.
Jm Sommer kann das Kind am Tage mit blo - ßem Halſe gehen, gegen Abend oder in der kuͤhlen Morgenluft muß aber das Tuch wieder umgebun - den werden.
Jm Sommer ſind dünne, kurze, baumwollene Socken vorzuziehen, die taͤglich gewechſelt werden muͤſſen; im Winter waͤhle man laͤngere, wollene Struͤmpfe,74 welche das Kind nicht laͤnger als zwei oder drei Tage tragen darf.
So vortrefflich lederne Schuhe auch die Naͤſſe abhalten, ſo hat Leder doch den großen Nachtheil, daß es ein ſehr guter Waͤrmeleiter iſt, ſehr ſchnell abkuͤhlt, eben ſo ſchnell heiß wird und dadurch manche Ver - kaͤltungen verurſacht. Bei jungen Kindern waͤhle man daher Stoffſchuhe, welche dieſe ſchlimme Eigen - ſchaft nicht beſitzen, die Füße gleichmaͤßiger warm halten, und die Hautausduͤnſtung leicht durchgehen laſſen. Raspail moͤchte gern Holzſchuhe uͤberall ein - gefuͤhrt wiſſen, die gewiß in diaͤtetiſcher Beziehung, den ledernen Schuhen und Stiefeln bei Weitem vor - zuziehen waͤren, da Holz ein ſchlechter Waͤrmeleiter iſt, und die Feuchtigkeit noch viel beſſer abhaͤlt. Lei - der iſt ihr Gebrauch zu unbequem.
Die Roͤcke und Hoͤschen muͤſſen im Sommer bei Kindern, die ſchon gehen koͤnnen, ſo kurz ſein, daß die Arme und Waden unbedeckt bleiben. Jſt das Kind an leichte Sommerkleidung gewoͤhnt, ſo daß die friſche Luft frei um die Glieder ſpielt und ihre Haut abhaͤrtet, ſo wird man im Winter ſie nicht ſo ſehr mit Kleidung zu uͤberladen brauchen.
Bequeme Strohhüte mit einem breiten Rande zum Schutze der Augen gegen Staub und uͤbermaͤ - ßiges Sonnenlicht, empfehlen ſich durch ihre Leich - tigkeit und weil ſie die Ausduͤnſtungen des Kopfes75 frei durchziehen laſſen. Es gibt für den Sommer keinen zweckmaͤßigeren und angenehmeren Kopfputz. Jm Winter laſſe man die Knaben einfache Tuchmützen tragen; Pelz iſt zu warm und haͤlt die Ausduͤnſtungen zurück. Sogar bei warmer Witterung darf das Fla - nellwaͤmschen nicht abgelegt werden, denn Erkaͤltun - gen des Unterleibes ſind gerade um dieſe Zeit gar nicht ſelten, weil kuͤhle Abende gewoͤhnlich auf die ſchwuͤlen Stunden des Tages folgen.
Die Farbe der aͤußeren Kleidungsſtuͤcke iſt nicht ganz gleichguͤltig. Legt man Stuͤcke Tuch von ver - ſchiedener Farbe auf Schnee, ſo wird dieſer viel ſchneller und leichter unter dem Schwarzen wie unter dem Weißen ſchmelzen.
Ein ſchwarzes Kleid ſaugt ſehr viel Waͤrme ein, und ſtrahlt auch viel Waͤrme aus; es iſt waͤrmer in der Sonne und kaͤlter im Schatten, alſo weder dem Sommer noch dem Winter angemeſſen. Eine weiße Flaͤche wirft die Waͤrmeſtrahlen zuruͤck, laͤßt ſie nicht durchdringen, und da ſie auch bei Weitem weniger Waͤrme ausſtrahlt als eine ſchwarze, ſo iſt ſie kuͤhler im Sommer und waͤrmer im Winter. Alſo ſind zu jeder Jahreszeit hellere Farben vorzuziehen. Jhr Einfluß auf unſere Gemuͤthsſtimmung moͤchte auch mit in Anſchlag zu bringen ſein, denn dieſe wird ſehr oft durch die Gegenſtaͤnde modificirt, die unſerm Auge begegnen.
76Fuͤr Knaben gibt es keine zweckmaͤßigere Som - mertracht als einen bequemen Kittel aus ungebleichter Leinwand, der mit einem breiten ledernen Guͤrtel loſe um die Huͤften befeſtigt wird. Die Bewegungen des Armes ſind darin viel freier als in einem Rocke. Jn dieſem ſammeln ſich auch viel leichter Unreinlichkeiten an; leinene Kittel ſind wohlfeiler und laſſen eine groͤ - ßere Reinlichkeit zu. Auch im Winter ſind wollene gefuͤtterte Kittel, die an Waͤrme einem gewoͤhnlichen Tuchrocke gleich kommen, eine bequeme und zutraͤg - liche Tracht.
Richtet man ſich nach der Jahreszeit, ſo daß man es in keiner uͤbertreibt, und nach Umſtaͤnden ab und zu thut, ſo wird man ſeine Kinder weder zu Weich - lingen erziehen noch auch durch übertriebene Abhaͤr - tung ihre Geſundheit gefaͤhrden.
Eigenſchaften einer guten Amme. — Auffüttern der Kinder. — Vor - ſichten bei demſelben und beim Entwöhnen. — Pünktlichkeit wichtig. — Diät der Kinder.
Die Natur hat gewollt, daß die Mutter auch nach der Geburt ihres Kindes fortfahren ſoll, ſeine Ernaͤhrerin zu ſein. Jedesmal, daß ſie ihr Kind nicht ſaͤugt, wird alſo die Abſicht der Natur vereitelt, niemals ohne Schmerz fuͤr das Mutterherz und ſehr oft zum Nachtheil des Saͤuglings. Denn wie kann man von einer Fremden die Sorgfalt und willige Selbſtaufopferung einer Mutter erwarten? Und wenn auch dieſe Fremde das ihr anvertraute Kind mit ſorgfaͤltiger Liebe pflegt, wie muß eine zaͤrt - liche Mutter nicht trauern, daß das erſte Laͤcheln78 ihres Lieblings nicht ihr, ſondern einer andern gehoͤrt? Und doch gebietet nicht ſelten das Wohl des Kindes, ſo wie der Mutter, ein Abweichen von dem Gange, welchen die Natur vorgeſchrieben.
Manche Mutter iſt auch mit dem beſten Willen nicht im Stande ihr Kind zu ernaͤhren.
Jſt ſie von ſehr ſchwaͤchlicher Conſtitution, ſind ihre Nerven hoͤchſt reizbar und laͤßt ſich Anlage zur Schwindſucht bei ihr vermuthen; ſieht man deutlich, daß der Saͤfteverluſt ihre Geſundheit gefaͤhrden wuͤrde, ſo waͤre es unbillig von ihr die Erfuͤllung einer Pflicht zu verlangen, die offenbar ihre Kraͤfte uͤberſteigt. Und was waͤre der Lohn dieſer Aufopfe - rung? — daß ihr Kind mit einer an Nahrungsſtoffen armen, duͤnnen Milch genaͤhrt, doch nur kraͤnkeln und in der Entwickelung zuruͤckbleiben würde, bis man ſich endlich entſchloͤſſe, einen andern Weg ein - zuſchlagen und ihm die Milch einer geſuͤnderen Amme zu bieten. Beſſer alſo der Verſuch unterbleibe von Anfang an, wenn vorauszuſehen iſt, daß er doch zu keinem guten Reſultate fuͤhren kann.
Fuͤr den Neugeborenen gibt es keine paſſendere Nahrung als die Milch, denn die Natur trifft immer die zweckmaͤßigſte Wahl. Die Milch allein genügt ohne allen Zuſatz vollkommen zur Erhaltung des Lebens, da ſie alle Beſtandtheile enthaͤlt, die zur Ernaͤhrung aller Organe noͤthig ſind. Dabei iſt ſie79 leicht verdaulich, ſie reizt und erhitzt nicht, und ver - einigt alſo alle Eigenſchaften, die der paſſendſte Nah - rungsſtoff fuͤr einen ſchwachen und reizbaren Orga - nismus beſitzen muß.
Kann daher eine Mutter ihr Kind nicht ſelbſt ſtillen, ſo iſt das Naͤchſtbeſte eine gute Amme, und kann auch dieſe nicht gefunden werden, ſo muß das Kind groͤßtentheils mit Milch aufgefuͤttert werden.
Nach den Autoren ſoll eine tüchtige Amme das Bild der kraͤftigſten Geſundheit ſein, und dabei von ſanftem, gutmuͤthigem, leidenſchaftloſem Charakter. Nicht einmal Sehnſucht nach ihrem Kinde oder ihren Angehoͤrigen ſoll ihren Gleichmuth truͤben, und ſtets ſoll ſie ein fleißiges, heiteres, genügſames und from - mes Leben gefuͤhrt haben.
Außerdem muß dieſes Jdeal von einer Amme eine junge Erſtgebaͤrende zwiſchen dem 18ten und 26ſten Jahre ſein; auch muß es ſich gerade ſo fuͤgen, daß ſie entweder zu gleicher Zeit mit der Mutter, oder wenigſtens nicht uͤber 6 oder 8 Wochen vorher, ent - bunden ward. Daß ein ſo ausgezeichnetes Weſen noch dazu bereitwillig ſein ſoll, die Mutterpflichten einer Andern zu uͤbernehmen, und dabei der eignen gaͤnzlich zu vergeſſen, moͤchte wohl die Schwierigkeit des Auffindens vermehren. Allein auch mit maͤßi - geren Anſprüchen wird es immer ſchwer genug ſein (vorzuͤglich jetzt, wo Verweichlichung und Frivolitaͤt80 ſich immer mehr uͤber Stadt und Land verbreiten) eine glückliche Wahl zu treffen, und das Auffüt - tern iſt immer noch beſſer als eine Amme, deren moraliſche und phyſiſche Geſundheit zu wuͤnſchen uͤbrig laͤßt.
So lange das Kind an der Bruſt liegt, wird ſein Wohlbefinden mit der Geſundheit der Amme im ge - naueſten Einklange ſtehen. Heftige Gemuͤthsaffekte ſeiner Ernaͤhrerin koͤnnen eine ſolche Alteration der Milch hervorrufen, daß ſie in ein Gift verwandelt wird und toͤdtliche Kraͤmpfe verurſacht. Ein jeder Diaͤtfehler hat auf ihre Qualitaͤt Einfluß.
Das Kind iſt in dieſer Periode noch ſo unſelbſt - ſtaͤndig, daß ſein Wohlbefinden ganz und gar von dem Wohlbefinden eines Andern abhaͤngt, und daß es jeden nicht ſelbſt verſchuldeten Exceß dennoch wegen ſeiner hohen Reizbarkeit ſchwerer buͤßen muß, als diejenige, die ihn begangen. Es fehlt daher nicht an Gruͤnden, weßhalb eine Mutter, die in den traurigen Fall koͤmmt, ihr Kind einer Fremden anvertrauen zu müſſen, dieſe unter ſtrenger Aufſicht halten ſoll. Die Amme ſoll niemals außer der Zeit eſſen, ſich nie den Magen mit Speiſen uͤberladen, und weder Bier noch andere gegohrne Getraͤnke im Uebermaaß genießen. Sie darf ſich weder einem indolenten Stillſitzen und Nichtsthun uͤberlaſſen, (vorzuͤglich wenn ſie fruͤher an ein thaͤtiges Leben gewoͤhnt war) noch auch durch zu81 vieles Herumgehen ſich ermüden. Ein Tag muß wie der andere ruhig und ungeſtoͤrt verlaufen (wie waͤh - rend Windſtille die Wellen am Strande) denn ein jedes Abweichen von dieſem regelmaͤßigen Gange wirkt nachtheilig ein auf die Zuſammenſetzung der Milch und ſtoͤrt das Wohlbefinden des Kindes. Kann man dieſe Regelmaͤßigkeit von der Amme nicht erlangen, oder bemerkt man bei ihr eine gefahrdrohende Leiden - ſchaft, die ſie anfangs zu verheimlichen wußte, ſo ſchreite man lieber zum Auffuͤttern und verabſchiede die unzuverlaͤſſige Ernaͤhrerin, ſobald es ohne Gefahr eines zu raſchen Wechſels geſchehen kann.
Man wuͤrde Unrecht haben nach den Erfahrungen, die bei Findelkindern gemacht worden ſind, einen Schluß gegen das Auffuͤttern zu ziehen. Hier hat man allerdings gefunden, daß die Sterblichkeit der armen Verlaſſenen in einem hohen Grade zunahm, wenn dieſer Weg eingeſchlagen ward, und daß ſich ein viel guͤnſtigeres Reſultat herausſtellte, wenn die Kleinen entweder in den Findelhaͤuſern ſelbſt an der Ammenbruſt ernaͤhrt (mit deren Wahl man es natuͤrlich nicht einmal ſehr genau nimmt), oder zu dieſem Zweck auf’s Land geſchickt wurden.
Denn das Auffüttern erfordert nicht nur, daß die Qualitaͤt und Wahl der Nahrung eine vortreffliche ſei, ſondern auch in der Darreichung derſelben eine Regelmaͤßigkeit und eine Reinlichkeit, wie ſie von derHartwig’s Erziehungsl. 682liebloſen Aufwartung in ſolchen Haͤuſern wohl kaum zu erwarten ſteht.
Fehlen dieſe Erforderniſſe, ſo iſt das Auffuͤttern allerdings moͤrderiſcher als die ſchrecklichſte Seuche. Aber bei wohlhabenden Privatleuten, (und bei dieſen allein kann ja die Rede von einer Wahl ſein) wo das Auge der Mutter beſtaͤndig uͤber den Kleinen wacht, wo man mit Recht Puͤnktlichkeit, Reinlich - keit und jede moͤgliche Sorgfalt vorausſetzen darf, fallen jene Einwendungen gegen das Auffuͤttern weg.
Auch beſtaͤtigt die Erfahrung, daß in einem großen Theil des ſuͤdlichen Deutſchlands, wo die Neugebo - renen (wenn die Mutter nicht ſelbſt ſtillen kann, oder nicht ſelbſt ſtillen will) auf dieſe Weiſe genaͤhrt wer - den, ſie dabei recht gut gedeihen. Um aber ſo wenig als moͤglich vom Wege der Natur abzugehen, muß jedenfalls Milch die Hauptbaſis der Nahrung des Kleinen ausmachen. Man waͤhle diejenige Miſchung, welche der erſten Muttermilch am Naͤchſten koͤmmt: am beſten eine duͤnne mit Waſſer vermiſchte, aber ja nicht durch Zucker verſüßte Kuh - oder Ziegenmilch. Die Miſchung muß jedesmal friſch bereitet werden, ſie darf nie laͤngere Zeit ſtehen, erkalten, und wieder erwaͤrmt werden, weil ſie hierdurch gar zu leicht zerſetzt wird. Uebrigens wird die Mutter durch den Geruch oder durch das Schmecken ſich leicht uͤber - zeugen koͤnnen, ob die Milch noch tauglich iſt. Anfangs83 ſetzt man zwei Drittel Waſſer zu und allmaͤlig immer weniger, bis man nach den erſten drei oder vier Mo - naten ungemiſchte Milch reicht. Die Temperatur der Miſchung muß wo moͤglich ſtets dieſelbe ſein, und der Waͤrme der aus der Bruſt fließenden Milch gleichkommen (28º bis 30º R.) Man gieße das Waſſer zu der abgekochten und kalt gewordenen Milch, nicht aber umgekehrt.
Man darf nicht vergeſſen, daß die Verdauungs - organe des Neugeborenen ſehr klein ſind, daß 6 bis 8 Eßloͤffel in den erſten Tagen und Wochen die ganze Capacitaͤt des Magens ausfüllen, und daß das Reichen einer groͤßeren Menge auf einmal, nothwendig krankhafte Zufaͤlle zur Folge haben muß.
Magenüberfuͤllung gehoͤrt mit zu den veranlaſſen - den Urſachen aller aſtheniſchen Kinderkrankheiten, denn ſie ſchwaͤcht die Verdauung ganz auſſerordentlich, und ſetzt dadurch das Kind in der Ernaͤhrung und im Wachsthume zurück.
Soll das Kind uͤberhaupt gedeihen, ſo iſt Pünkt - lichkeit in der Darreichung der Bruſt oder der Nah - rung eine Hauptſache. Anfangs verlangt das Kind alle 2 bis 3 Stunden etwas Nahrung; ſpaͤter iſt es hinreichend wenn es ſeltener geſchieht.
Die Mutter muß ihr Kind ſo gewoͤhnen, daß es vor dem Niederlegen die Bruſt nimmt und erſt wieder gegen Morgen ſein Bedürfniß befriedigt. Wird6*84die Nachtruhe der Mutter geſtoͤrt, ſo leidet ihre Ge - ſundheit in einem hohen Grade und ſie wird nicht im Stande ſein, eine geſunde Milch zu bereiten. Ein Kind, welches jeden Augenblick aufwacht und ſchreiend nach der Bruſt verlangt, wird zu ſeinem eigenen Moͤrder und iſt zugleich ſeiner Ernaͤhrerin eine ewige Pein.
Wie wichtig iſt es fuͤr Mutter und Kind, nicht nur in dieſer, ſondern in ſo mancher andern Hinſicht, daß dem Kleinen frühzeitig heilſame und feſte Schran - ken geſetzt werden, uͤber die ſein Eigenſinn nicht Herr werden kann! Dann lernt es bald, ſich in die unumſtoͤßlichen Geſetze der Nothwendigkeit geduldig fuͤgen, zum großen Vortheil fuͤr ſeine eigene Geſund - heit und ſeinen Eltern zur Freude.
Sei es nun, daß das Kind an der Bruſt genaͤhrt oder daß es aufgefuͤttert wird, jedenfalls muß man es bei Zeiten an eine feſtere Nahrung gewoͤhnen, damit der zu raſche Uebergang von einer Ernaͤhrungs - weiſe zur andern ihm ſpaͤter nicht gefaͤhrlich werde.
Um dieſen allmaͤlig einzuleiten, werden wir ſchon 3 oder 4 Monate nach der Geburt damit an - fangen, dem Kinde etwas fein geraspeltes, gut ge - backenes Biscuit aus dem feinſten Weizenmehl in Milch oder Waſſer zur Conſiſtenz eines fluͤſſigen Breies gekocht, zu reichen. Anfangs nur einmal, ſpaͤter zweimal, und einige Zeit vor der Entwoͤhnung wenig - ſtens drei mal taͤglich.
85Arrow-root (gewoͤhnliches Kartoffelſtaͤrkemehl iſt in jeder Hinſicht vollkommen ſo gut und nicht ſo theuer) mit Milch oder Waſſer zubereitet, iſt eine gute Kinderſpeiſe, die fruͤhzeitig gereicht werden kann. Doch darf man ſich nicht zu viel darauf verlaſſen, denn Arrow-root allein iſt nicht faͤhig den Koͤrper zu ernaͤhren.
Noch ſpaͤter kann man von Zeit zu Zeit etwas duͤnne Bouillon oder Huͤhnerſuppe mit Vortheil reichen. Entwoͤhnt man das Kind allmaͤlig, ſo wird es einer jeden Gefahr am ſicherſten entgehen. Auſſer dieſen halbfluͤſſigen Nahrungsmitteln darf man im erſten Jahre dem Kinde durchaus nichts reichen.
Hart gekochte Eier, Kartoffeln, Kaffee, Thee, Gewuͤrze, beſonders aber Mehlbrei, Kloͤße, Eier - kuchen und Huͤlſenfruͤchte ſind fuͤr den Saͤugling Gift, da ſie theils zu reizend ſind, theils eine Stärke der Verdauung vorausſetzen, wie man ſie von keinem zarten Kindermagen erwarten darf. Kindern an der Bruſt Bier oder ſogar Wein zu geben, iſt durchaus widerſinnig. Schwaches Bier wird zwar von belgiſchen Aerzten nicht nur erlaubt, ſondern ſogar anempfohlen, auch ſieht man, daß Kinder dabei anſcheinend gedeihen, wenn wir aber die große Reizbarkeit der kleinen ſchwachen Geſchoͤpfe bedenken, ſo muß Duͤnnbier ihren Organismus eben ſo ſehr reizen, als ein ſtarker Wein einen Erwachſenen.
86Eine jede feinere Anlage muß dadurch zu Grunde gehen, und Niemand wird mich uͤberzeugen, daß ein Leſſing, ein Voltaire oder ein Rabelais ohne Gefahr fuͤr ihren ſcharfſinnigen Witz ſchon in der Wiege Bier haͤtten trinken koͤnnen.
Sobald das Kind ſeine Zaͤhne erhalten, iſt es ein |Zeichen, daß man zu feſteren Nahrungsmitteln uͤbergehen muß, da die Jnſtrumente zu ihrer Ver - kleinerung bereit ſtehen.
Entſprach die erſte Erziehung den Anforderungen der Vernunft, iſt das Kleine dadurch ſo ſtark gewor - den, wie man es nur von ſeinem Alter erwarten kann, ſo braucht man, vorzuͤglich nach dem vierten oder fuͤnften Jahre, mit der Wahl der Speiſen durchaus nicht ſo aͤngſtlich zu ſein.
Vier mal taͤglich zu eſſen iſt vollkommen hin - reichend. Das geſunde, nach den angegebenen Prin - zipien erzogene Kind, wird ohnehin weder zu haͤufig noch zu viel eſſen, denn Gefraͤßigkeit iſt meiſtens Krankheitsſymptom, da der ſchwache Koͤrper von einem dunkeln und irrigen Jnſtinct geleitet, durch die Menge der Nahrung ſeinen Zuſtand zu verbeſſern ſucht. Ein Kind, das viel im Freien ſich bewegt, taͤglich kalt gewaſchen wird, und bei dem Respira - tionsorgane und Haut kraͤftig functioniren, wird die gehoͤrige Energie beſitzen, vegetabiliſche Stoffe zu verdauen, woran der Magen eines verzaͤrtelten87 Mutterſoͤhnchens ſcheitern wuͤrde. Bewegung und Reinlichkeit haben alſo, außer der Staͤrkung der un - mittelbar angeregten Organe, auch Staͤrkung des Magens zur Folge, da wegen des innigen Zuſam - menhanges aller Theile die Staͤrkung eines Organes ſich den andern mittheilt. Welch ein Vortheil fuͤr ein zweckmaͤßig erzogenes Kind den vielen Coliken, Diarrhoͤen und Blaͤhungen, an welchen weichlicher Erzogene ſo oft leiden, zu entgehen! Dieſe buͤßen eben ſo viele Tage fuͤr den Wachsthum und die Ausbildung ihres Koͤrpers ein; jene verlieren keinen einzigen, dafuͤr ſind ſie aber auch im zehnten oder eilften Jahre ſtaͤrker, wie die andern im vierzehnten. Und wenn ſie erſt groß werden, wie ganz anders ſpiegelt ſich in ihren geſunden Augen die Welt! Für ſie iſt das Leben mit dem Glanze einer italieniſchen Sonne erhellt, waͤhrend nordiſcher Nebel jene ungluͤck - lichen Opfer einer unverſtaͤndigen Zaͤrtlichkeit um - duͤſtert.
Vorausgeſetzt alſo, daß man in jeder Hinſicht mit dem Kinde nach einem vernuͤnftigen Plane ver - faͤhrt, wird man in der Wahl der Speiſen nicht zu aͤngſtlich zu ſein brauchen. Eine gehoͤrige Miſchung von Vegetabilien und Fleiſch iſt gewiß die zutraͤg - lichſte Diaͤt. Leichte Mehlſpeiſen, Reis mit Milch gekocht, Knollen - und Wurzelgemuͤſe, nicht zu viel Blaͤttergemuͤſe, da dieſe leicht Blaͤhungen verurſachen,88 Sago, Tapioca, einfach gekochtes und gebratenes Rind -, Kalb - oder Hammelfleiſch, Hühner, weichgekochte Eier, alle dieſe Speiſen ſind fuͤr einen Kindermagen paſſend.
Enten, Gaͤnſe, Schweinefleiſch, Kaͤſe, Gewuͤrze, Hautgout, Kloͤße, zu viel Kartoffeln, feſte Mehl - ſpeiſen und ſchlechtgebackenes Brod ſind ſchwer zu verdauen und auch ſonſt nicht zutraͤglich.
Backwerk und Zucker, womit aͤngſtliche Muͤtter ſo ſehr freigiebig ſind, dürfen dem Kinde gar nicht gegeben werden; erſteres iſt auch für den beſten Magen ſchwer zu verdauen und Zucker iſt für die Zaͤhne reines Gift; auch Feigen und Roſinen greifen durch ihren Zuckergehalt dieſe Vorpoſten des Verdauungs - ſyſtemes an.
Der Magen wird ſich bei der groͤßten Regelmaͤ - ßigkeit im Genuſſe der Speiſen, ſtets am Beſten befinden. Laͤßt man ihm zwiſchen den Mahlzeiten eine gehoͤrige Pauſe, ſo ſammelt ſich in der Ruhe ſeine Erregbarkeit wieder an. Der Appetit wird ſich zur richtigen Zeit einſtellen, und man kann verſichert ſein, daß alle Functionen der Verdauung weit beſſer vor ſich gehen werden. Giebt man aber den Kin - dern zwiſchendurch Butterbrod und Kuchen zu eſſen, ſo fehlt der Appetit zur Zeit, wo er ſich einſtellen und an einer nahrhaftern Koſt ſich ſaͤttigen ſollte; der Magen wird viel zu oft gereizt und Unregelmaͤ -89 ßigkeiten in der Verdauung koͤnnen gax nicht aus - bleiben.
Regelmaͤßigkeit in der Aufnahme der Speiſen bedingt Regelmaͤßigkeit der Oeffnung, die fuͤr die Geſundheit ſo wichtig iſt und die man daher den Kindern fruͤhzeitig angewoͤhnen muß.
Dieſes kann aber gar nicht geſchehen wenn ſie mit Butterbrod und Kuchen den Tag uͤber gefuͤttert werden. Aus dieſem Fehler entſtehen dann jene Coliken, Verſtopfungen, Diarrhoͤen, Magenſaͤuren ꝛc., die den Eltern ſo viel zu ſchaffen machen und bei einem kluͤgeren Verfahren leicht haͤtten vermieden wer - den koͤnnen. Eine andere wichtige Regel iſt, daß die Kinder langſam eſſen lernen. Die gehoͤrige Ver - kleinerung des Speiſebiſſens, ſo wie ſeine Vermi - ſchung mit dem Speichel erleichtert ſehr das Ver - dauungsgeſchaͤft im Magen.
Wird der Biſſen unverkleinert verſchlungen, ſo braucht der Magenſaft natuͤrlich mehr Zeit ihn auf - zuloͤſen und die Verdauung muß langſamer von Statten gehen.
Waſſer iſt das geſuͤndeſte Getraͤnk auch fuͤr den Erwachſenen, noch mehr aber fuͤr das Kind. Es ſtaͤrkt den Magen, verduͤnnt das Blut, reizt weder Nerven noch Blutgefaͤße wie der Wein, und boͤoti - ſirt nicht wie das Bier. Aber wozu in das uͤberfluͤſſige Lob eines Getraͤnkes eingehen, welches uͤberall ſo90 viele Lobredner findet, und im vollſten Maaße dieſes Lob verdient.
Von Thee, Kaffee und Chocolade duͤrfen Kinder gar nichts wiſſen.
Milch und Brod geben ein ganz vorzuͤgliches Fruͤhſtuͤck. Man muß Kinder nicht zu fruͤh nach dem Abendeſſen zu Bett ſchicken, ſonſt haben ſie einen unruhigen Schlaf, und man merkt es ihnen am folgenden Morgen an.
Schädlichkeit des zu langen Schlafens und Wachens. — Zu ſpätes Aufbleiben der Kinder höchſt nachtheilig,
Wohl haſt du Recht, guter Sancho, den Erfinder des Schlafes zu preiſen; des Mantels, der alle Gedanken des Menſchen zudeckt; der Wage, die den Bauer dem Koͤnige gleichſtellt und den Einfaͤltigen dem Klugen.
Aber nur dann iſt der Schlaf, wie alles andere Gute zu preiſen, wenn er im richtigen Maaße genoſſen wird, denn nur ſo iſt er erquickend, und nur ſo erfuͤllt er die Abſicht ſeines Erfinders!
92Setzt man ihn zu lange fort, ſo entſteht Traͤg - heit des Blutumlaufes und Stockung in den Venen, vorzuͤglich des Gehirns, welches ohnehin in der hori - zontalen Lage weit eher zu Congestionen geneigt iſt. Deßhalb hat man auch nach einem langen Schlaf einen verwirrten Kopf und iſt nicht im Stande einen Gedanken ſcharf aufzufaſſen. Recht wohl erinnere ich mich noch der Bemerkung meines unvergeßlichen Lehrers Blumenbach: daß keiner zehn Jahre ein Lang - ſchlaͤfer ſein koͤnne ohne zu verdummen.
Ferner, da waͤhrend des Schlafes weniger orga - niſche Stoffe verbraucht werden und das Vegeta - tionsgeſchaͤft ungeſtoͤrt vor ſich geht, ſo bewirkt Ueber - maaß desſelben leicht uͤbermaͤßige Ernaͤhrung, kranke Fettheit, Ueberfuͤllung mit ſchwachbearbeiteten Saͤften. Durch die uͤbermaͤßige Ruhe des Nervenſyſtems wird ſeine Reizbarkeit erhoͤht, waͤhrend zugleich, wegen zu langer Unthaͤtigkeit, die Muskeln an Energie und Kraft einbuͤßen. Die Haut wird durch das laͤngere Verweilen unter den warmen Bettdecken verweichlicht. Füge ich noch hinzu, daß eine jede uͤberfluͤſſige Stunde, die man dem Schlafe entzieht, eine fuͤr das Leben gewonnene iſt, ſo ſind Gruͤnde genug vorhanden, um Eltern zu bewegen, ihre Kinder an das fruͤhe Auf - ſtehen zu gewoͤhnen.
Die Natur des Kindes verlangt freilich einen laͤngeren Schlaf. Es iſt ein ſehr receptives und93 ſenſibles Weſen, wird daher ſchon von einer geringeren Reizſumme erſchoͤpft und erfordert mehr Zeit zur Wiederherſtellung ſeines Gleichgewichtes. Anfangs ſchlaͤft es faſt den ganzen Tag, und wacht nur auf, um die Beduͤrfniſſe ſeines Magens zu befriedigen; bald aber gewinnt es mehr Kraft, ſein Wachen dehnt ſich aus, und ſo wird allmaͤlig bis zum vollen Mannes - alter, eine Stunde nach der andern dem eigentlichen Leben zugefuͤgt. Eine feſte, allgemein guͤltige Zeit - periode fuͤr den Schlaf genau zu beſtimmen, iſt unmoͤglich, da das Beduͤrfniß desſelben nach den verſchiedenen Jndividualitaͤten ſo verſchieden iſt. Je lebhafter das Kind, je mehr es im Freien ſich herumtummelt, je mehr das Nervenſyſtem bei ihm zu praͤdominiren ſcheint, deſto tiefer und laͤnger und feſter wird es ſchlafen.
Ein zu kurzer Schlaf iſt eben ſo ſchaͤdlich als das Gegentheil. Auf dieſe Weiſe koͤmmt man gar nicht aus der Muͤdigkeit heraus, und erfreut ſich nie des ſchoͤnen Gefühls von Munterkeit und Kraft, das für den Geſun - den die eigentliche Wuͤrze ſeines Daſeins ausmacht.
» Zu anhaltendes Wachen ſtoͤrt die Reproduction und verurſacht bedeutende Erſchoͤpfung der Reizbar - keit, daher Mattigkeit, Stumpfheit der Sinne, des Geiſtes, Blaͤſſe, Abmagerung, im hoͤheren Grade ſogar Verſtandesverwirrung. « (Himly’s allgemeine Pathologie.)
94Wie thoͤricht alſo handeln diejenigen, die ſich dieſes herrliche Staͤrkungsmittel des Schlafes ent - ziehen: ſie glauben ihr Leben zu verlaͤngern und kuͤrzen es bedeutend ab; ſie erinnern an die Leute, die auf der einen Hand mit elenden Kupfermuͤnzen Oeconomie treiben, waͤhrend ſie auf der andern ihr reines Gold verſchwenden.
» Das anhaltende Wachen wird deſto nachthei - liger, wenn es durch heftige Reizmittel erzwungen wird, da durch dieſe die Receptivitaͤt um ſo mehr erſchoͤpft und zum Theil auch zugleich die Summe der bleibenderen Reize, der Saͤfte, vermindert wird. « (Himly.)
Jch uͤberlaſſe es nun dem Urtheil meiner Leſer, ob es wohl gethan iſt, Kinder in Geſellſchaften auf - ſitzen zu laſſen.
Wenn Kiuder bei ſolchen Gelegenheiten aufbleiben wollen, ſo iſt es nur, weil der ungewohnte Glanz, die ungewohnte Bewegung ſie reizen; ſie kaͤmpfen mit ihrer Muͤdigkeit um ihrer Neugierde oder ihrer Eitelkeit zu gefallen, ſie werden blaß, matt und ſchlaͤfrig, und doch hat man alle Muͤhe ſie zu Bett zu bringen. Auch iſt nicht zu vergeſſen, daß noch nebenbei, und zu einer Zeit, wo der Kinderfreund ſie lieber in ihrem Bette ſehen moͤchte, die armen Kleinen ſich mit Kuchen und reizenden Getraͤnken den Magen und die Nerven verderben.
Es bedarf wohl kaum der Erwaͤhnung, daß wenn dieſe Scenen ſich oͤfters wiederholen, ihre95 Folgen fuͤr die Geſundheit des Kindes hoͤchſt nach - theilig ausfallen muͤſſen.
Jſt das Kind überreizt ehe es zur Ruhe gebracht wird, ſo geht längere Zeit verloren, bevor der Sturm des Gefaͤßſyſtems und die Aufregung der Nerven ſich legen, alſo bis die ruhige Circulation und das ruhige Athmen wieder eintreten, ohne welche die Reproduction des Koͤrpers nicht vor ſich gehen kann. Einem Kinde, das zu gehoͤriger Zeit ſich zu Bette legt, dient eine jede Stunde der Nacht zur Ernaͤh - rung und Kraͤftigung des Koͤrpers; für das uͤber - reizte Kind aber geht dieſe koſtbare Zeit halb verloren, ehe Gefaͤß - und Nervenſyſtem ihr Gleichgewicht ge - winnen und Ernaͤhrung moͤglich wird.
Am folgenden Tage zeigen ſich die ſchlimmen Folgen dieſes überlangen Wachens; das muͤde Kind bleibt den halben Morgen im Bette liegen und kann nicht mit der gewoͤhnlichen Munterkeit ſpielen; es hat ſich den Magen verdorben und der Appetit mangelt — zuweilen iſt der ſchaͤdliche Effekt mehrere Tage ſichtbar. Kein Wunder, daß Kinder, die oͤfter lange aufbleiben, bleich und kraͤnklich ausſehen, und daß auch die beſte Nahrung bei ihnen nicht anſchlagen will. Eltern, die viel Geſellſchaft ſehen, duͤrfen daher ja nicht ihre Kinder Antheil daran nehmen laſſen, und wäre es auch nur, um ſie nicht zu fruͤh an kuͤnſtliche Vergnügungen zu gewoͤhnen. Der Glanz96 von Baͤllen und Abendgeſellſchaften traͤgt auch nicht im Geringſten zum Gluͤcke der Kinder bei; das Spielen im Freien mit ihren Kameraden, in weiten bequemen Kleidern, denen das Herumtummeln nichts ſchadet, iſt das Hauptvergnuͤgen ihres Alters.
Daß Kinder gerne zu lange aufbleiben, ruͤhrt uͤbrigens von einem andern Fehler in der phyſiſchen Erziehung her, naͤmlich vom Mangel an gehoͤriger Bewegung bei Tage, denn eine Schaͤdlichkeit geht gewoͤhnlich mit der andern Hand in Hand.
Angenommen, ein ſchwaͤchliches Maͤdchen geht den Tag uͤber nicht aus, weil man Erkaͤltung fuͤrchtet. Die natuͤrliche Folge dieſer Einkerkerung wird ſein, daß gegen Abend das Beduͤrfniß des Schlafes ſich nicht gehoͤrig einſtellt, daß die Kleine, wie die mei - ſten nervenſchwachen Perſonen, um dieſe Zeit, beſon - ders munter ſein wird. Kommt nun ſogar der Reiz einer Geſellſchaft hinzu, ſo aͤußert ſich die Lebhaftig - keit in liebenswuͤrdiger oder hoͤchſt unangenehmer Munterkeit (letzteres haͤufiger) und die Gaͤſte koͤnnen das kleine regſame Ding nicht genug bewundern. Am Tage würden ſie ein ganz anderes Weſen zu ſehen bekommen und zugeſtehen muͤſſen, daß Lampen - ſchein entſetzlich truͤgt.
Ein geſundes Kind, das am Tage mehrere Stunden im Freien herumſpielt, wird gewiß am Abend ſich freuen, wenn die Schlafſtunde ſchlaͤgt. 97Es wird augenblicklich einſchlafen und keine unruhigen Traͤume werden es reizen. Dafür wird es aber auch am folgenden Morgen fruͤh wieder munter ſein und ganz der Geſundheit leben koͤnnen, waͤhrend das andere noch ſchlaͤft, oder die erſten Stunden des Tages halb traͤumend zubringt. Da das Kind am Morgen noch muͤde iſt, ſteht es hoͤchſt ungern auf und gewoͤhnt ſich daran, laͤngere Zeit im Halbſchlafe die ange - nehme Waͤrme des Bettes zu genießen; dieſe Ge - wohnheit waͤchst dann natuͤrlich mit dem Kinde auf, und koſtet dem kuͤnftigen Manne manche ſchoͤne Stunde. Das Sprichwort: Morgenſtund hat Gold im Mund, iſt voller Weisheit. Wer früh munter iſt, wird wahrſcheinlich auch mit groͤßerer Leichtigkeit ſeine Tagesarbeit vollenden, und dabei auf dem Wege des Wohlſtandes raſchere Fortſchritte machen. Jſt ſein Loos ſo geſtellt, daß er fuͤr ſein taͤgliches Brod nicht zu arbeiten braucht, ſo wird er manche genußreiche Stunde ſeinem Leben zufuͤgen, und dabei das beruhi - gende Gefühl genießen, dieſes koͤſtliche Geſchenk nicht muthwillig verkuͤrzt zu haben.
Wechſelwirkung der Seele und des Körpers. — Einfluß der Leiden - ſchaften auf die körperliche Geſundheit. — Einfluß einer guten phyſiſchen Erziehung auf die Leidenſchaften. — Mittel gegen die Furcht. — Eigenſinn der Kinder oft dem Leben gefährlich.
Wir wiſſen zwar nicht auf welche Weiſe Seele und Koͤrper des Menſchen verbunden ſind und muͤſſen dieſe Unterſuchung den Philoſophen uͤberlaſſen; das aber lehrt uns die taͤgliche Erfahrung, daß Affecte und Leidenſchaften einen bedeutenden Einfluß auf unſere Geſundheit ausuͤben. Wie irrig, die Krank - heiten des Menſchen allein von der materiellen Seite aufzufaſſen, da er doch als fuͤhlendes und denkendes Weſen ſo verwundbar iſt! Wie viele acute und chroniſche Leiden entſpringen aus den verzehren - den Leidenſchaften und den getaͤuſchten Hoffnungen des Lebens? Und wie kann man hoffen, durch ma - terielle Mittel allein dieſe Leiden zu heilen? Gewiß wird dieſer Einfluß der Seele auf den Koͤrper nicht99 oft genug beruͤckſichtigt oder nicht weit genug verfolgt; man hat noch zu wenig daran gedacht (außer in der Behandlung der Geiſteskrankheiten) die Leidenſchaften als Heilmittel zu benutzen. Allerdings iſt es leichter, ein gewoͤhnliches Recept zu verſchreiben, als den Gemuͤthszuſtand ſeines Patienten zu ſtudiren, ſein Vertrauen zu erwerben, und ſich der ſchwachen oder ſtarken Seiten ſeines Charakters als Hebel zu ſeiner koͤrperlichen Beſſerung zu bedienen. Aber, von der andern Seite, welch ein Triumph fuͤr den denkenden Arzt durch die unmittelbare Einwirkung ſeiner eigenen Seele, die Seele eines Mitmenſchen aufzurichten, und ſie aus erſtarrender Lethargie zu neuem Leben zu erwecken!
Die Einwirkung der Affecte auf den ganzen Orga - nismus iſt in der That erſtaunlich. Schmerz, Freude, Zorn und Schrecken koͤnnen toͤdten wie der Blitz oder den Verſtand unheilbar zerruͤtten. Eine freudige Botſchaft ruft oft den Kranken von den Pforten des Todes zuruͤck. Nach einer Schlacht iſt die Sterblichkeit unter den Verwundeten der geſchlagenen Armee (auch bei gleicher Pflege) am groͤßten. Furcht bleicht in wenigen Stunden die Haare des Jüng - lings. So durchlaufen die Affecte die Scala von der hoͤchſten Erregung bis zur tiefſten Depreſſion und ſind die immateriellen Repraͤſentanten der materiellen Arzneimittel (ſtaͤrkend, erregend, narcotiſch, ſchwaͤchend.)
7 *100Auch bei ihrer maͤßigeren Einwirkung ſehen wir, daß ſie den Barometer des körperlichen Zuſtandes beſtimmen.
Wie wirkt nicht die Hoffnung auf den ganzen Menſchen? er athmet ſchneller, ſein Puls ſchlaͤgt raſcher, eine angenehme Waͤrme belebt ihn, er fuͤhlt das Beduͤrfniß vermehrter Thaͤtigkeit, ſein Appetit ſteigt, ſein Gehirn iſt freudiger erregt als durch den Genuß der feinſten Weine. Wandelt ſich dieſe Hoff - nung in Furcht um, alsdann welche Veraͤnderung! Das Athmen wird ſo traͤge, daß dem Bedürfniß nach Luft durch dieſes Seufzen nachgeholfen werden muß, der Puls geht langſam, die Haut wird kalt, ein ſchwarzer Schleier ſcheint ſich uͤber die ganze Natur auszubreiten, das Gehirn nimmt Theil an der allge - meinen Depreſſion und ſinkt unter einer Laſt von truͤben Gedanken. So ſind die meiſten Menſchen waͤhrend ihres ganzen Lebens, Sclaven der Furcht und der Hoffnung, und laſſen ſich von der einen zur andern hin und her bewegen.
Eine richtige Anſicht des Lebens und diejenige Seelenverfaſſung, welche Horaz, der anmuthig phi - loſophiſche Dichter ſo ſehr anempfiehlt, nicht zu ſtolz die Segel zu ſpannen, wenn der Wind des Glückes blaͤst, aber auch nicht im Sturm des Ungluͤcks zu zaghaft am Ufer zu ſchleichen, koͤnnen uns allein in den Stand ſetzen, das ſchwere Gleichgewicht zu101 behaupten und unſere Unabhaͤngigkeit gegen aͤußere Umſtaͤnde einigermaßen zu ſichern.
Auf dieſen Punkt muͤſſen daher die Eltern fruͤh - zeitig hinarbeiten, wenn ſie das Gluͤck ihrer Kinder auf eine feſtere Baſis ſtuͤtzen wollen.
Die Regulirung der Leidenſchaften iſt gewiß einer der wichtigſten Gegenſtaͤnde, die wir in Bezug auf die phyſiſche Erziehung zu betrachten haben. Dieſe hat zur Aufgabe dem Kinde den hoͤchſtmoͤglichen Grad von Geſundheit zu ſichern und den Grund eines kraͤf - tigen, langen und glücklichen Lebens zu legen. Alles was dieſen Zweck befoͤrdern oder hindern kann iſt Gegenſtand ihrer Sorgfalt. Begnügte ſie ſich allein mit Unterſuchungen uͤber den Einfluß der Temperatur, der Speiſen, der Bewegung, der Reinlichkeit, und ließe ſie die feineren Einflüſſe des Gemüths unbe - ruͤckſichtigt, welche doch den Organismus, eben ſo ſehr als jene materiellen Reize modificiren, ſo haͤtte ſie ihre Aufgabe gewiß nur halb geloͤst. Statt alſo dieſen wichtigen Punkt gaͤnzlich einer andern Disci - plin zu überlaſſen, muß ſie im Gegentheil dringend auf den innigen Verband zwiſchen koͤrperlicher und geiſtiger Geſundheit aufmerkſam machen, und daran erinnern, daß die eine ohne die andere nicht beſtehen kann.
Was wuͤrde es helfen, den kindlichen Organis - mus gegen Wind und Wetter abzuhaͤrten und dabei ungeſtoͤrt den Keim von Leidenſchaften ſich entwickeln102 laſſen, die vorausſichtlich ein trauriges und ſieches Leben herbeifuͤhren muͤſſen.
Aber indem wir durch eine richtige Leitung das Kind mit dem koͤſtlichen Gute der koͤrperlichen Geſundheit bereichern, geben wir ihm zugleich jene heitere froͤhliche Stimmung, die der Tugend ſo zu - traͤglich iſt und das Aufwachſen in allem Guten ſo ſehr unterſtuͤtzt. Der gewoͤhnliche Gemuͤthszuſtand eines geſunden Kindes iſt wohlwollend, liebenswuͤrdig und vergnuͤgt; im Vollgefuͤhl ſeines Gluͤcks iſt es freundlich gegen Jedermann; eine gleichmaͤßige, heitere Stimmung wird ihm zur Gewohnheit. Gegen das Ueberhandnehmen wie vieler verderblichen Affecte wird es nicht durch dieſe gluͤckliche Grundſtimmung geſchuͤtzt!
Wenn ein heftiger Zornanfall die Verdauung ploͤtzlich ſtoͤrt und den Menſchen aller Vernunft beraubt, ſo macht anderſeits eine beſondere Reizbarkeit des Nervenſyſtems zu dieſem Affecte vorzuͤglich geneigt.
Reizbare Nerven koͤnnen aber bei einer vernünftig geleiteten phyſiſchen Erziehung durchaus nicht vor - kommen, und ſomit wird der verderblichen Lei - denſchaft des Zornes die ſtaͤrkſte Wurzel abge - ſchnitten.
Neid und Mißgunſt koͤnnen ſich nur bei einem kraͤnklichen Kinde zeigen. Wie! dieſer muntere, roth - wangige Knabe, dieſes froͤhliche, geſunde Maͤdchen103 ſollten neidiſch ſein, und wen ſollten ſie denn beneiden? Sind ſie nicht vielmehr ſelbſt Gegenſtaͤnde des Neides fuͤr alle, die die wahren Guͤter des Lebens verſcherzt haben, indem ſie Schatten nachgelaufen ſind? Wohl aber begreifen wir den Neid bei einem ſchwaͤchlichen Kinde, das, von den Vergnuͤgungen ſeines Alters ausgeſchloſſen, beim warmen Sonnenſchein das Zimmer, vielleicht das Krankenlager huͤtet, und deſſen Ohr von den muntern Stimmen der in der Ferne Spielen - den getruͤbt wird. Wohl begreifen wir, wie ſchon im Kindesalter durch Vernachlaͤſſigung des koͤrper - lichen Gedeihens, der Grund zu dieſer ſich ſelbſt verzehrenden Leidenſchaft gelegt werden kann.
Die uͤble Laune, jener abſcheuliche Daͤmon, der ſeine Opfer zum Unglückswerkzeuge ihrer Angehoͤrigen macht, kann unmoͤglich das Gemuͤth eines geſunden Kindes vergiften. Ein uͤbelgelauntes Kind, das ſich muͤrriſch und unfreundlich gegen die, welche ihm Liebe erweiſen, betraͤgt, iſt ſchon moraliſch und phyſiſch krank, und die Huͤlfe des Arztes, ſo wie eine beſſere phyſiſche Erziehung muͤſſen hier die moraliſche Beſſe - rung einleiten.
Ermahnungen und Zureden allein können ein Uebel nicht heben, deſſen Quellen in koͤrperlicher Verſtimmung liegen.
Eine ſo herrliche Grundlage wie die phyſiſche Geſundheit zur moraliſchen Ausbildung auch liefert104 ſo iſt ſie doch nur der fruchtbare Boden, auf dem eine ſorgfaͤltige moraliſche Erziehung fortbauen ſoll.
Einer der erſten Grundſaͤtze muß ſein, die Furcht im Kinde nicht aufkommen zu laſſen, Furcht vor der Dunkelheit, Furcht vor Geſpenſtern, Furcht vor dem Gewitter. Man denke ſich ein Kind, das beim Schlafengehen ſchnell unter die Bettdecke kriecht, weil es in der Dunkelheit irgend ein ſchreckliches Fantom zu ſehen fuͤrchtet. Die Zeit der Nacht, fuͤr einen jeden andern die ſchoͤnſte Ruhezeit, iſt fuͤr den armen Kleinen das Signal der peinlichſten Unruhe. Waͤh - rend andere einen erquickenden Schlaf genießen, treibt ihm der geringſte Laut den Angſtſchweiß aus, und nur dann ſchlaͤft es ein, wenn uͤbergroße Muͤdig - keit der Furcht die Wage haͤlt. Der nachtheilige Ein - fluß dieſes Zuſtandes bedarf keines Beweiſes.
Die Furcht iſt ein beſtaͤndiger Krampf; ſie ſchnuͤrt alle kleinen Gefaͤße zuſammen, die ganze Haut wird kalt, blaß, und die Ausduͤnſtung voͤllig gehemmt. Alles Blut ſammelt ſich in den inneren Theilen, der Pulsſchlag ſtockt, die Circulation wird geſtoͤrt.
Die Furcht iſt alſo ein ſehr deprimirender Affect, der die allgemeine Senſibilitaͤt, und folglich die Ab - haͤngigkeit von allen aͤußern Einfluͤſſen bedeutend erhoͤht. Wie ſchuͤtzen wir das Kind gegen dieſe entnervende Leidenſchaft? Am Beſten dadurch, daß105 wir ſelbſt mit einem guten Beiſpiele vorangehen. Wenn, beim Ausbruch eines Gewitters ein Kind bemerkt, daß ſeine Mutter ſich aͤngſtigt und bei jedem Donnerſchlage zuſammenfaͤhrt, ſo wird es natuͤrlich dieſelbe Furcht empfinden. Laͤßt man ſich aber nichts merken, ſcherzt und lacht man nur ruhig fort, freut man ſich laut uͤber die wohlthaͤtigen Folgen des Gewitters, ſo wird das Kind wahrſcheinlich von keiner Angſt etwas wiſſen.
Wenn man Kinder mit Geſpenſtergeſchichten unter - haͤlt, oder ihnen mit Schreckbildern droht, ſo ſchadet man auf doppelte Weiſe. Man giebt ihnen falſche Begriffe und macht ſie zu Sclaven einer blinden Furcht.
Vom erſten Anfang an muß man gegen Kinder wahr ſein und ihnen nichts ſagen, was nicht mit der Wahrheit übereinſtimmt. Wenn ſie nur einmal merken, daß man ſie wiſſentlich betrogen hat, ſo iſt alles Vertrauen verloren und ihr ganzer Charakter bekoͤmmt eine falſche Richtung.
Ueberhaupt iſt das Kind, in moraliſcher Bezie - hung das Bild ſeiner Umgebung. Ein Kind gebildeter Eltern, das im vaͤterlichen Hauſe nur Beiſpiele des Guten und Schoͤnen geſehen hat, wird ſeltener vom Wege des Guten und Schoͤnen abirren.
Wie ſehr ſchadet es dem Kinde, wenn es in der Geſellſchaft von Ammen und Waͤrterinnen aufwaͤchst! Geſpenſterfurcht, laͤcherliche Vorurtheile, unedle106 Sprache, ſchlechte Gewohnheiten, ſind Folgen des vielen Zuſammenlebens mit einer ungebildeten Die - nerſchaft. Wer mit Sclaven umgeht, wird auch die Geſinnungen eines Sclaven annehmen.
Jm Emile finden wir einige vortreffliche Rath - ſchlaͤge zur Bekaͤmpfung der Furcht bei Kindern.
» Der Menſch fuͤhlt ſich ſo ſchwach, daß er alles fuͤrchtet, was er nicht kennt. Gewohnheit verbannt dieſe Furcht. Kinder, in reinlichen Haͤuſern erzogen, wo man keine Spinnen ſieht, fuͤrchten Spinnen und dieſe Furcht klebt ihnen ſpaͤter noch an. Jch habe nie Bauern geſehen, welche Spinnen fuͤrchteten. Weßhalb ſollte die Erziehung des Kindes nicht an - fangen, noch ehe es ſpricht, da die bloße Wahl der Gegenſtaͤnde, die man ihm vorhaͤlt, es furchtſam oder muthig machen kann? Jch verlange, daß man es an neue Gegenſtaͤnde gewoͤhnen ſoll, an haͤßliche, ekel - hafte Thiere, aber allmaͤlig, von weitem, bis es durch das haͤufige Zuſehen, wie andere dieſe Thiere anfaſſen, ſie zuletzt ſelbſt anfaſſen lernt. Wenn es in der Kindheit ohne Schaudern, Kroͤten, Schlangen, Krebſe geſehen hat, wird es ſpaͤter vor dem Anſchauen irgend eines Thieres keine Furcht haben.
Es giebt keine furchtbaren Objecte, fuͤr ſolche welche ſie taͤglich ſehen. Alle Kinder fuͤrchten Masken. Jch fange damit an, meinem Emile freundliche Masken zu zeigen. Alsdann haͤlt einer ſich dieſe Maske vor;107 ich lache, alle lachen, und das Kind lacht wie die uͤbrigen. Allmaͤlig gewoͤhne ich es an weniger ange - nehme Masken, und zuletzt an abſcheuliche. Habe ich meine Uebergaͤnge verſtaͤndig geleitet, ſo wird Emile ſtatt ſich uͤber die letzte Maske zu fuͤrchten, eben ſo daruͤber lachen, wie uͤber die erſte, und nun beſorge ich nicht mehr, daß man ihn mit irgend einer Maske aͤngſtige.
Will ich Emile an das Knallen eines Schieß - gewehrs gewoͤhnen, ſo fange ich damit an, etwas Pulver auf der Pfanne einer Piſtole abzubrennen.
Dieſe ſchnell aufſchlagende Flamme macht ihm Vergnuͤgen. Jch wiederhole den Verſuch mit etwas mehr Pulver; ich lade die Piſtole ſchwach, dann ſchaͤrfer; zuletzt greife ich zum Gewehr, zu Boͤllern, zu Kanonen, zu den ſchrecklichſten Detonationen. 1)Hier geht der gute Rouſſeau etwas weit.Die Menſchen und zuweilen die Thiere (ſehr deutlich waͤhrend bedeutender Sonnenfinſterniſſe) haben eine natuͤrliche Furcht vor dem Dunkeln. Verſtand, Kennt - niſſe und Muth befreien nur wenige von dieſem Tribut. Jch kenne Freigeiſter, Philoſophen, Soldaten, die, am hellen Tage muthig, in der Nacht wie Weiber zittern, wenn die Blaͤtter eines Baumes rauſchen.
Man ſchreibt dieſe Angſt den Ammengeſchichten zu, man irrt ſich, ſie hat eine natürliche Urſache. 108Und die waͤre? Dieſelbe, welche den Tauben arg - woͤhniſch und das Volk aberglaͤubig macht: die Unkenntniß von dem, was um uns vorgeht.
Gewoͤhnt wie ich bin, alle Gegenſtaͤnde aus der Ferne zu ſehen und ihren Eindruck von vorneherein zu berechnen, wie ſollte ich, wenn ich meine Umge - bung nicht mehr wahrnehmen kann, mir nicht tauſend Geſtalten und tauſend Bewegungen denken, die mir ſchaden koͤnnen, und denen ich nicht entfliehen kann? Aus der gefundenen Urſache ergibt ſich das Heilmittel. Jn allen Dingen ſtumpft die Gewohnheit die Einbil - dung ab, und nur neue Objecte koͤnnen ſie erwecken. Sucht alſo den, welchen ihr von der Furcht der Dunkelheit befreien wollt, nicht durch Ueberredung zu heilen, ſondern fuͤhrt ihn oft in die Dunkelheit und ſeid verſichert, daß alle Gruͤnde der Philoſophen dieſe Gewohnheit nicht aufwiegen werden. Die Dach - decker wiſſen nichts von Schwindel, und wer ſich an die Dunkelheit gewoͤhnt, wird ſie nicht mehr fuͤrchten. Deßhalb viele Spiele im Dunkeln, aber um Er - folg zu haben, muͤſſen dieſe Spiele froͤhlich ſein. Nichts macht trauriger als die Finſterniß. Das Kind muß lachend in das finſtere Zimmer treten; das Lachen muß es uͤberkommen, ehe es wieder heraus - geht: waͤhrend es darin bleibt, muß der Gedanke an die Vergnuͤgungen, die es verlaſſen und bald wie - derfinden wird, es vor allen phantaſtiſchen Einbil -109 dungen bewahren, die es im Dunkeln heimſuchen koͤnnten. «
Nichts ſchadet einem Kinde mehr, als wenn man nicht conſequent mit ihm verfaͤhrt; wenn man ihm einen Augenblick etwas verbietet, um es im Naͤchſten zu erlauben. Merkt das Kleine, daß es durch Bitten und Thraͤnen ſeinen Willen durchſetzen kann, ſo wird es dieſes Mittel zur Herrſchaft durchaus nicht unbe - nutzt laſſen. Eltern muͤſſen in allen Dingen gerecht gegen ihre Kinder ſein, ſich wohl bedenken, ehe ſie ihnen etwas verbieten, dann aber auch feſt bei ihrem Willen verharren. Ein Kind, das nie Urſache gehabt hat, an der Conſequenz oder an der Gerechtigkeit ſeiner Eltern zu zweifeln, wird ſich ohne Murren in ihren Willen fuͤgen, wenn auch dieſer Wille mit ſeiner Neigung nicht uͤbereinſtimmt. Warum führe ich dieſen Punkt hier an? Weil er von großer Bedeu - tung fuͤr die Geſundheit und ſogar fuͤr das Leben des Kin - des ſein kann, denn es fehlt durchaus nicht an Beiſpielen, daß Krankheiten eigenwilliger Kinder, die zum Einneh - men oder zur noͤthigen Ruhe durchaus nicht zu bewegen waren, ein toͤdtliches Ende nahmen, und wie mußten in ſolchen Faͤllen die unglücklichen Eltern ihre verlorene Herrſchaft nicht bereuen? Ein Kind, das einmal den Scepter an ſich geriſſen und daran gewoͤhnt iſt, daß alles ſich in ſeine Launen fuͤgt, laͤuft jeden Augenblick Gefahr krank zu werden. Denn iſt es ſchon einem110 Erwachſenen, deſſen Wille von einer reiferen Vernunft geleitet wird, ſchwer, das moraliſche nnd phyſiſche Gleichgewicht zu behaupten, wie wird es dort aus - ſehen, wo ein unvernuͤnftiger Wille regiert? Jeden Augenblick wird ſo ein ungluͤckliches verzogenes Kind durch Naſchen unreifen Obſtes, oder durch das Eſſen ungeſunder Speiſen und zur unrechten Zeit (denn man ſieht wohl, daß die Dienſtboten dem regierenden Herren nichts abſchlagen koͤnnen) ſich den Magen verderben, ſo daß wenn die Eltern auch noch ſo gute Prinzipien in Bezug auf die phyſiſche Erziehung haben, ſie dieſelben unmoͤglich werden durchſetzen koͤnnen, wenn ſie einmal das Regiment aus der Hand gegeben haben, — ein wichtiger Beitrag zu den vielen Beweiſen, daß moraliſche und phyſiſche Erziehung gegenſeitig auf einander wirken.
Zum Schluß erlaube ich mir einen guten Rath zu geben, der mir die Haupterziehungsregeln in ſich zu begreifen ſcheint: man erziehe ſeine Kinder ſo, daß ſie von der Zukunft weit mehr zu hoffen als zu fuͤrchten haben. Wer mit guter Geſundheit, maͤßigen Anſprüchen und geringen Beduͤrfniſſen ins Leben tritt, wird wahr - ſcheinlich ſeine Hoffnungen uͤbertroffen finden; wer aber mit einem verzaͤrtelten Koͤrper und mit großen Anſpruͤchen und Beduͤrfniſſen aufwaͤchst, dem werden ſonder Zweifel Wiederwaͤrtigkeiten und Taͤuſchungen auf jedem Schritte begegnen.
Von der geiſtigen Erziehung in Bezug auf das körperliche Wohl - befinden. — Bemerkungen über die Schulerziehung und die in den Schulen herrſchenden Methoden. — Ueber den Unterricht in der Geſchichte, der Geographie, den alten Sprachen. — Vortheil natur - wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe. — Phyſiologie und Diätetik ſollten auf Schulen gelehrt werden. — Ein Wort über ſchlechte Lectüre.
Man achtet nicht genug darauf, daß unſere geſunde geiſtige Thaͤtigkeit von dem geſunden Zuſtande unſers Gehirnes abhaͤngt, und daß dieſes wieder im genaue - ſten Zuſammenhange mit der Geſundheit aller uͤbrigen Organe ſteht. Wuͤrde die ſo wichtige Wahrheit, daß ein ſchwacher Koͤrper auch den Geiſt ſchwaͤcht, beim gewoͤhnlichen Schulunterrichte ihrem vollen Werthe nach anerkannt, ſo muͤßte die geiſtige Erziehung unend - lich dadurch gewinnen. Alsdann würde man dem zarten Gehirne der Kinder nur ſolche Aufgaben ſtellen, welchen ſeine Kraͤfte gewachſen ſind, und zugleich durch eine rationelle phyſiſche Erziehung für eine112 tuͤchtige Entwickelung desſelben Sorge tragen. Ein flüchtiger Blick auf die Einrichtung unſerer Schulen, und auf die darin vorherrſchenden Methoden, wird genügen auch den groͤßten Optimiſten zu uͤberzeugen, daß hier noch ſehr viele Reformen noͤthig ſind.
Vorerſt wird im Allgemeinen auf die Beſchaffen - heit der Schulſtuben noch viel zu wenig geſehen; ſie ſind meiſtentheils zu klein, zu niedrig, zu dunkel. Wenn ſchon ſehr viele oͤffentliche Schulſtuben den Tadel eines Mangels an gehoͤriger Groͤße, Trocken - heit, Ventilation und Helligkeit verdienen, ſo kann man ſich denken, wie es in dieſer Beziehung in den Privatinſtituten und Penſionen ausſieht. Hier muß nicht ſelten eine unverhaͤltnißmaͤßige Anzahl Kinder taͤglich 6, 7, 8, Stunden und noch laͤnger in dumpfigen Stuben zubringen, wo aus Mangel an Ventilation die Luft gar bald verdirbt. Die Folgen zeigen ſich bald in dem kraͤnklichen, blaſſen Ausſehen der Kinder, in dem Abnehmen ihrer natuͤrlichen Munterkeit. Eben ſo ſchaͤdlich iſt der in vielen Penſionen beſtehende Gebrauch, die Kinder in ſchlecht ventilirten, verhaͤlt - nißmaͤßig kleinen Schlafſtuben anzuhaͤufen. Jn einem Raume, wo vielleicht 4 Kinder ihrer Geſundheit un - beſchadet, ſchlafen koͤnnten, muͤſſen deren 6 oder 8 die Nacht zubringen.
Oft iſt in der Schulſtube ſo wenig fuͤr gehoͤriges Licht geſorgt, daß die von den Fenſtern entfernteren113 Baͤnke faſt immer im Dunkeln ſind, ſo daß Kurz - und Schwachſichtigkeit gar nicht ausbleiben koͤnnen. Oft wird, weil die meiſten Lehrer keinen Begriff von Augen - diaͤtetik haben, bis tief in die Daͤmmerung hinein geleſen, eine Gewohnheit, deren ſchlimme Folgen ich im naͤchſten Kapitel ausfuͤhrlicher betrachten werde. Glaubt man alſo, daß nuͤtzliche Kenntniſſe ſich nur auf den Schulbaͤnken einſammeln laſſen, und daß Kinder nothwendig den groͤßten Theil des Tages ſitzen muͤſſen, ſo ſorge man wenigſtens dafuͤr, daß der Schauplatz ihrer Thaͤtigkeit ſo eingerichtet ſei, daß ihre Geſundheit nicht unnoͤthiger Weiſe leide.
Bei der Gleichguͤltigkeit der meiſten Eltern uͤber dieſen ſo wichtigen Punkt, ſollte der Staat einer com - petenten und durchaus unabhaͤngigen Commiſſion die ſtrenge Aufſicht aller Erziehungsanſtalten uͤbertragen. Dieſe koͤnnte nicht ſcharf genug auf die Beſchaffen - heit der Schulſtuben ſehen, ſo wie auf die Menge der in einem Jnſtitute aufzunehmenden Schuͤler. Oeffentlich muͤßte ſie bekannt machen, in welchem Zuſtande der Reinlichkeit, der Ordnung, der Zweck - maͤßigkeit ſie die Anſtalten einer Provinz gefunden; oͤffentlich muͤßte ſie loben und tadeln. Die Geſund - heit der aufkeimenden Generation iſt fuͤr das allge - meine Wohl zu wichtig, als daß ſie ohne Controle der Habſucht oder der Unwiſſenheit uͤberlaſſen bleibe. Wer die Leitung einer Schule uͤbernimmt, trittHartwig’s Erziehungsl. 8114dadurch in die Reihe der oͤffentlichen Charactere und gehoͤrt vor das Forum der oͤffentlichen Meinung. Auch in den beſteingerichteten Schulſtuben werden die Uebel des zu lange Sitzens noch immer groß genug ſein. Wie ihr es auch anfangt, ſo wird doch durch die gebuͤckte Lage, welche das Kind beim Leſen oder Schreiben annimmt, die Circulation ſeines Blutes gehemmt, die Thaͤtigkeit ſeiner Lungen geſchwaͤcht und ſeine Verdauung geſtoͤrt werden. Sorgt noch ſo ſehr fuͤr Ventilation, ſorgt noch ſo ſehr fuͤr ein gehoͤ - riges Licht, eine feſte Geſundheit und langes Stubenſitzen ſind unvertraͤglich, und wenn ihr, wie nicht anders zu erwarten ſteht, wirklich uͤberzeugt ſeid, daß die Geſundheit eurer Kinder alle andern Ruͤckſichten verdunkelt, ſo werdet ihr gewiß die Stunden des Stillſitzens nicht auf Koſten des koͤr - perlichen Gedeihens verlaͤngern wollen. Jhr werdet es um ſo weniger, wenn ihr bedenkt, daß ihr ohne - hin auf dieſem Wege nur Scheinfruͤchte fuͤr den Geiſt gewinnen koͤnnt und Gefahr lauft, ihn zugleich mit dem Koͤrper zu verkruͤppeln. Kaͤmet ihr doch endlich zur Erkenntniß, daß alle geiſtigen und koͤr - perlichen Faͤhigkeiten des Menſchen Zweige ſind, die aus einem gemeinſchaftlichen Stamme entſpringen, und daß einer mit dem andern bluͤht, ſo wie einer mit dem andern verwelkt. Es gibt Kinder von fruͤh - reifem Verſtande, die alles mit erſtaunlicher Leichtigkeit115 erfaſſen. Sie ſind dabei meiſtens von ſchwacher Con - ſtitution und mit einer gefaͤhrlichen Entwickelung des Nervenſyſtems begabt. Jn der Regel ſucht die ge - ſchmeichelte Eitelkeit der Eltern die Wißbegierde dieſer kleinen Wunder aufzumuntern, und ſieht ohne Beſorgniß, wie ſie ſich von den Spielen ihres Alters zuruͤckziehen, um hinter todten Buͤchern zu erblaſſen.
Nichts kann irriger und verderblicher ſein als dieſes Verfahren. Das frühzeitige Ueberwiegen des Geiſtes iſt entweder ſchon ein Krankheitsſymptom oder haͤngt doch mit einer ſchwaͤchlichen Conſtitution zuſammen, welche vor allen Dingen geſtaͤrkt werden ſollte. Die Wißbegierde dieſer frühreifen Kinder muß daher, ich will nicht ſagen unterdrückt werden, (denn ein Kind kann auch ohne Buͤcher ſehr viel, erſtaunlich viel lernen), ſondern man muß dieſelbe ſo zu regeln wiſſen, daß ihre Befriedigung der koͤrper - lichen Entwickelung nicht ſchadet.
Woher koͤmmt es, daß ſo viele lebhafte und begabte Kinder, die auf der Schule die erſte Stelle einnahmen, ſich ſo oft im Leben mit einer ſehr unter - geordneten begnuͤgen müſſen? Entweder weil ihr Gehirn fruͤhzeitig durch übermaͤßige Reizung geſchwaͤcht wurde, oder, was noch viel haͤufiger der Fall, weil ihr ſiecher Koͤrper dem Geiſte die Energie des Willens benimmt. Waͤre die phyſiſche Erziehung dieſer Kinder beſſer geleitet worden, ſo haͤtte ihr ſpaͤteres Alter8 *116ohne allen Zweifel die glaͤnzenden Hoffnungen ihrer Morgenroͤthe erfüllt, waͤhrend ſie nun als Opfer einer verkehrten Treibhauserziehung untergehen.
Betrachten wir nun die Hauptzweige des Wiſ - ſens, die man auf Schulen lehrt; unterſuchen wir ob die Zeit der Schuͤler nicht vielleicht auf eine zweckmaͤßigere Weiſe angewendet werden koͤnnte — ob es nicht moͤglich wäre, dem Geiſte eine ſehr hohe Bildung zu geben, ohne daß die Geſundheit des Koͤrpers dabei zu kurz käme?
Niemand wird laͤugnen, daß das eigentliche Studium der Geſchichte weit uͤber den kindlichen Horizont hinausliegt. Die Entwickelung der Gruͤnde, welche die Groͤße und den Verfall der Voͤlker ver - anlaſſen; die Unterſuchung des Ganges weltveraͤn - dernder Jdeen; die Betrachtung des Einfluſſes, welchen wichtige Entdeckungen und hervorragende Charactere auf die wechſelnde politiſche Macht der Nationen ausuͤben, dieſes alles ſind Gegenſtaͤnde, welche die Theilnahme des Kindes nicht in Anſpruch nehmen koͤnnen, weil ihm der Maaßſtab zu ihrer Wuͤrdigung fehlt.
Nur an einzelnen intereſſanten Situationen, an Beiſpielen des Edelmuthes, der Tugend, der Selbſtauf - opferung, der Vaterlandsliebe, wird es Gefallen finden.
Es wird, um nur ein Beiſpiel anzuführen, die Thaten eines Columbus mit Vergnuͤgen erzaͤhlen hoͤren; wenn wir aber uͤber den Einfluß der Entdeckung117 Amerika’s auf die bisherigen und kuͤnftigen Schick - ſale der alten Welt mit ihm ſprechen wollten, wuͤrde es uns ſeine Aufmerkſamkeit entziehen. Und doch machen gerade ſolche Betrachtungen über die Entſtehung und die Folgen großer Begebenheiten, in den Augen der Erwachſenen den Hauptwerth der Geſchichte als Bildungsmittel für den reiferen Menſchen aus; denn handelte es ſich bloß um Namen und Zahlen, ſo waͤre die Chronologie der Buͤrgermeiſter eines Staͤdtchens eben ſo lehrreich, wie die Chrono - logie der Weltgeſchichte.
Rechnen wir daher jene Epiſoden, jene einzeln ſtehenden leuchtenden Punkte in der Geſchichte der Menſchheit ab, ſo ſcheint uns wenig Stoff uͤbrig zu bleiben, der das hiſtoriſche Studium fuͤr Kinder intereſſant und nuͤtzlich machen koͤnnte. Mit dem Auswendiglernen von Herrſchernamen und Jahres - zahlen, womit doch gewoͤhnlich der groͤßte Theil der dieſem Studium gewidmeten Zeit ausgefuͤllt wird, iſt gewiß weder für Verſtand noch Herz etwas ge - wonnen, und auch das Gedaͤchtniß entledigt ſich bald der unnuͤtzen Buͤrde. Dagegen bleiben ſchoͤne Charak - terzuͤge großer Maͤnner, ſo wie Plutarch ſie erzaͤhlt, weil ſie das Herz ruͤhren und zu edlen Entwuͤrfen entflammen, noch lange uͤber die Schulzeit hinaus im Geiſte lebendig, ein ſicherer Beweis, daß nur dieſer Theil des Geſchichtsunterrichtes von dauerndem118 Nutzen war. Zu deſſen Erlernung bedarf es aber nicht eines vielſtündigen Sitzens, eines ermuͤdenden Auswendiglernens, eines ungeheuern pedantiſchen Apparates von Tafeln und Büchern: ein verſtaͤndiger Geſchichtslehrer, der ſeinen Vortrag dem kindlichen Horizonte anzupaſſen weiß, wird in verhaͤltnißmaͤßig kurzer Zeit weit mehr ausrichten koͤnnen und die Aufmerkſamkeit ſeiner kleinen Zuhoͤrer ſo zu feſſeln wiſſen, daß ſie ihm nicht ſo leicht das gierig Aufge - faßte vergeſſen ſollen.
Wie viel laͤßt ſich nicht beim Spazierengehen auf dieſe Weiſe erlernen und durch paſſende Wieder - holung, Fragen und Antworten dem Gedaͤchtniß dauerhaft einpraͤgen?
Jch verlange nicht, daß die ganze Erziehung eine peripatetiſche ſein ſoll (dazu iſt unſer Clima nicht gemacht) ich wollte nur an dieſem einzigen Beiſpiele zeigen, daß man das uͤbertriebene Sitzen fuͤglich ent - behren kann.
Die Biographieen ſolcher Maͤnner, die durch Ausdauer, ſelbſtſtaͤndige Kraft und tugendhaften Lebens - wandel, ſich ſelbſt und ihren Mitbruͤdern in einem hohen Grade nuͤtzlich geworden ſind, und als ruhm - wuͤrdige Beiſpiele der Menſchheit voranleuchten, ſollten einen großen Theil des Geſchichtsunterrichtes aus - fuͤllen (der Nutzen iſt evident); leider kommen ſie faſt gar nicht darin vor.
119Der Knabe kennt die Thaten eines Attila oder eines bluttriefenden Nero; von den ſtillen Tugenden eines Franclin weiß er nichts.
Die meiſten Verſtaͤndigen ſind daruͤber einig, daß mit dem Studium der alten Sprachen, ſo wie es gewoͤhnlich betrieben wird, entſetzlich viel Zeit ver - loren geht.
Die Meiſten, die jahrelang lateiniſch und griechiſch auf Schulen getrieben haben, bringen es nie ſo weit, daß ſie die claſſiſchen Autoren mit Leichtigkeit und Genuß leſen lernen. Gewiß iſt es nicht uͤbertrieben, zu behaupten, daß außer den Philologen und Fach - gelehrten, von hundert Schuͤlern, die alle Klaſſen der Gymnaſien durchgemacht haben, und von dort zur Univerſitaͤt uͤbergehen, nicht einmal fuͤnf, in ihrem ganzen ſpaͤtern Leben, die Autoren je wieder anſehen, mit deren Verſtaͤndniß ſie ſich 7 oder 8 Jahre abgemuͤht hatten. Wie koͤmmt es nun, daß die Meiſten, gerade zu einer Zeit, wo ſie hoffen koͤnnten in den Geiſt der großen Schriftſteller des Alterthums einzudringen, ſie ſo gaͤnzlich bei Seite legen? Die Art und Weiſe wie jene Sprachen gelehrt werden, traͤgt an dieſer Vernachlaͤſſigung die groͤßte Schuld.
Waͤhrend der Jahre, die er auf dem Gymnaſium zugebracht, iſt der Schuͤler mit lateiniſcher und grie - chiſcher Grammatik ſo uͤberſaͤttigt worden, daß er nach aufgehobenem Zwange an nichts weniger als an120 das Leſen der Klaſſiker denkt, und iſt er einmal von den Wogen des Lebens ergriffen, ſo fehlt es ihm ſpaͤter auch bei dem beſten Willen oft an Zeit. Er hat nur todte Sprachformen gelernt; die großen Denker aber, die in jenen Sprachen geſchrieben, und woran er ſich eigentlich bilden koͤnnte, bleiben ihm zeitlebens unbekannt.
Es iſt nur zu wahr, daß die Alten uns durch die Schule verleidet werden. So klagt Byron, daß er nie den Horaz habe genießen koͤnnen, weil die Erin - nerung ſeiner Schuljahre an den Oden dieſes Lieblings aller Grazien klebe.
Wer zweifelt daran, daß das vernuͤnftige Stu - dium der Alten eine vortreffliche Uebung für Ge - daͤchtniß und Urtheil ſei? Giebt es aber nicht zweck - maͤßigere und fuͤr die große Mehrzahl nuͤtzlichere Gegenſtaͤnde, die denſelben Vortheil bieten?
Kann der Deutſche z. B. an den claſſiſchen Schriftſtellern ſeines Vaterlandes, ſo wie an engliſchen und franzoͤſiſchen Autoren, nicht eben ſo gut ſein Gedaͤchtniß und ſeinen Verſtand als an todten Sprach - formen uͤben? Haben nicht Maͤnner in dieſen lebenden Sprachen geſchrieben, deren Schriften eben ſo gut das Leſen und Wiederleſen verdienen, wie die Werke der Alten? Gibt es nicht vortreffliche Ueberſetzungen der vorzüglichſten claſſiſchen Autoren? Haben nicht Maͤnner wie Goͤthe und Schiller, deren Kenntniß121 des Alterthums, wenn auch nicht eine grundgelehrte, doch gewiß eine mehr als mittelmaͤßige war, nur allein aus dieſen geborgten Quellen geſchoͤpft? Und iſt nicht das gruͤndliche Erlernen einer modernen Sprache, die fuͤr das Leben in ſo mancher Beziehung nuͤtzlich ſein kann, ein Nebenvortheil, der durchaus nicht zu verachten iſt?
Entweder liegt in jenen alten Sprachen eine ſeltſame Magie, welche ſie zu den einzig würdigen Bildungsmitteln fuͤr die Jugend macht, oder man muß zugeſtehen, daß ein Erziehungsſyſtem, welches ihrem faſt ausſchließlichen Studium die ſchoͤnſten Jahre der geiſtigen und koͤrperlichen Entwickelung beſtimmt, große Verbeſſerungen, wenn nicht eine gaͤnzliche Um - geſtaltung bedarf.
Als ein Beweis, daß langjaͤhrige Beſchaͤftigung mit den Claſſikern durchaus nicht zur Schaͤrfung des Verſtandes ſo viel beitraͤgt, als ihre Verfechter ſich einbilden, moͤge der welthiſtoriſche Kampf uͤber die Kornfrage dienen, welcher im vorigen Jahre die Augen von Europa auf ſich zog.
Wie haben Cobden und Bright, die ſich ge - wiß nie viel mit Virgil und Homer abgegeben, (dafuͤr aber deſto mehr mit Adam Smith und Say) ihre Gegner, groͤßtentheils Maͤnner aus Oxford und Cambridge geſchlagen, und mit welcher ſiegreichen Dialektik deren klaͤglichen Argumente zertruͤmmert!
122Die erfindungsreichſten und thatkraͤftigſten Maͤnner der neuen Zeit, welche dem Menſchengeſchlechte die Bahnen des Fortſchrittes eröffnen, und ohne allen Zweifel die aͤchteſten Ariſtocraten der Natur ſind, dieſe Maͤnner haben groͤßtentheils entweder keine regel - maͤßige Schulbildung genoſſen, oder ſo wenig Nutzen daraus gezogen, daß man ſie bei ihnen eher als eine Geiſteshemmung betrachten konnte.
Jn den bloͤden Augen ſeines Orbilius galt Liebig fuͤr einen unnuͤtzen Knaben, der ſeinen Eltern nur Kummer machen würde. Swift, ein Mann von durchdringendem Scharfſinn, war auf der Schule nur als Blockhead bekannt, und Shaksper, jener alles uͤberſtrahlende Genius, wußte von latein und griechiſch ſehr wenig.
Waͤre das Studium der alten Sprachen aber auch das Unentbehrlichſte, ſo iſt doch gewiß keine Nothwendigkeit vorhanden, es ſo früh anzufangen, es ſo lange fortzuſetzen, ihm ſo viele Stunden des Tages zu opfern. Man kann unſtreitig mit einem viel geringern Zeitaufwande zum Ziel kommen. Faͤhige Kinder, (und nur bei ſolchen kann ja uͤberhaupt vom Studiren die Rede ſein) die vor dem zwoͤlften Jahr auch nie ein lateiniſches oder griechiſches Buch geſehen haben, werden, wenn ſie von nun an, drei oder vier Stunden taͤglich und ununterbrochen ſich damit be - ſchaͤftigen, es ſo weit bringen, daß ſie auf Univerſitaͤten123 ihre philologiſchen Studien mit Erfolg werden fort - ſetzen koͤnnen. Sie werden unſtreitig nicht weniger tief in den Geiſt des Alterthums eindringen, weil ſie ſich nebenbei manche andere nuͤtzliche Kenntniſſe, und durch fleißiges Bewegen im Freien, einen tuͤchtigen Fond von Geſundheit und Lebenskraft erworben haben. Jch glaube wenigſtens, daß um die geſunden Griechen zu verſtehen, es durchaus nicht uͤbel iſt, ſelbſt geſund zu ſein, und kann mir unmoͤglich denken, daß ein hypochondriſcher Profeſſor den Geiſt der Hellenen richtig auffaſſen wird.
Wozu nuͤtzt das Studium der Geographie, ſo wie es gewoͤhnlich auf Schulen betrieben wird? Dieſe oͤde Nomenclatur von Ländern, Fluͤſſen, Bergen und Staͤdten, wobei ſich das arme Kind nichts denkt, weil es keinen Zuſammenhang hineinbringen kann? Wer von uns verdankt nicht ſein Bischen Erdkunde einer ſpaͤteren Zeit, wo politiſche Begebenheiten oder die Lectuͤre intereſſanter Reiſebeſchreibungen ihn auffor - derten, auf der Karte nachzuſuchen?
Die Geographie ſollte ſtets mit dem Geſchichts - unterrichte Hand in Hand gehen. Hat man z. B. dem Kinde den Freiheitskampf der Griecheu oder den Zug des Hannibal uͤber die Alpen erzaͤhlt, ſo muß gleich auf der Karte der Schauplatz dieſer Begeben - heiten aufgeſucht werden. Man benutze die Gele - genheit, dem Kleinen lehrreiche Bemerkungen uͤber124 Clima, Hoͤhenverhaͤltniſſe, Vegetation, Einfluß des Bodens auf den Menſchen (alles ſeinen Faͤhigkeiten gemaͤß) mitzutheilen. Auf laͤngern Spaziergaͤngen lehre man ihn die Geographie ſeiner Umgebung kennen, um einen Standpunkt zur Vergleichung mit groͤßeren Verhaͤltniſſen zu gewinnen; er lerne am Baͤchlein wie Fluͤſſe ſich bilden und am Huͤgel wie Alpen ſich erheben. Beim Spazierengehen ſuche man ihm richtige Begriffe uͤber die Relationen des Erdballs zur Sonne, zum Monde, zu den Sternbildern zu geben. Man mache ihn auf die Arbeiten des Land - manns in den verſchiedenen Jahreszeiten aufmerkſam, und belehre ihn uͤber deren Wechſel in den verſchie - denen Zonen. Von der Agricultur gehe man zur Jnduſtrie und zum Handel über, und mache ihn mit den Wechſelwirkungen dieſer drei Hauptbeſchaͤftigungen des Menſchen bekannt.
So wuͤrde man immer weiter vordringend und immer etwas Neues an das bereits Bekannte anknuͤ - pfend, ohne allen Zweifel es zu einem weit ſchoͤnern Reſultate bringen, als jene gedankenloſen Lehrer, die nur von Buͤcherweisheit etwas wiſſen wollen, und ein an ſich ſo intereſſantes Studium den Kindern verleiden. Sollen ſpaͤter dem ernſteren Studium der Geographie einige Stunden gewidmet werden, ſo greife man vor allen Dingen nach Reiſebeſchreibungen (eine lehrreichere Lectuͤre fuͤr Kinder gibt es nicht);125 man folge einem Cook oder einem Chamiſſo um die Welt, einem Mungo Park nach Afrika, einem Roß und Mackenzie in die froſtigen Regionen von Amerika. Wie wuͤrde eine Geographie auf dieſe Weiſe gelehrt im Gedaͤchtniß Wurzel faſſen, und wie oft und freudig wuͤrde die Erinnerung zu ſo angenehm und nuͤtzlich zugebrachten Stunden zuruͤckkehren!
Giebt es eine Wiſſenſchaft, welche das Gemuͤth veredeln und den Geiſt mit großen Jdeen bereichern kann, ſo iſt es unſtreitig das Studium der Natur, ein Studium, das unbegreiflicher Weiſe als Bildungs - mittel fuͤr die Jugend noch ſo ſehr vernachlaͤſſigt wird.
Zwar wird hier und dort etwas Naturwiſſen - ſchaft getrieben und pedantiſch aus geiſtloſen Buͤchern gelehrt, doch fuͤhrt dieſes zu Nichts. Man muß die Natur unmittelbar ſtudieren. Sie iſt das Buch aller Buͤcher; in ihr lernen wir uns ſelbſt erkennen; ſie ſtreift ſo viele Vorurtheile von uns ab; ſie giebt uns einen ſo richtigen Blick zur Wuͤrdigung der Menſchen und der Verhaͤltniſſe.
Und gewiß geſchieht dieſes nicht auf Koſten der Poeſie, denn die großartigſten Schoͤpfungen der Dichter werden kleinlich, wenn wir ſie mit den unendlichen Wirklichkeiten vergleichen, welche die Naturforſchung uns offenbart.
Das Telescop eines Herſchel laͤßt uns ganz andere Himmel ahnen, als Dante, Milton oder Homer126 ſie jemals erfanden; und da, wo das unbewaffnete Auge nur einen klaren Waſſertropfen ſieht, entdeckt das Microscop eine Welt von lebenden Geſchoͤpfen und zeigt uns im Unſichtbaren neue Unendlichkeiten. Laßt eure Kinder nur fleißig im Buche der Natur leſen, und ſeht ob ihr Gemuͤth und ihre Verſtandes - kraͤfte nicht den herrlichſten Nutzen daraus ziehen werden!
Zeigt ihnen das Zweckmaͤßige in allen Einrich - tungen der Natur; das harmoniſche Jneinanderwirken aller Kraͤfte und Weſen; die Vorausſicht mit der fuͤr das winzigſte Thier, fuͤr das kleinſte Pflaͤnzchen ge - ſorgt iſt, damit es ſeinen Platz an der Sonne aus - fuͤlle und genieße.
Sollte die Betrachtung des unendlichen Sternen - heeres, der Glanz der auf - und niedergehenden Sonne, die unzaͤhligen Pflanzen und Thierformen, die auf der Erde zerſtreut ſind, und jede nach ihrer Weiſe den Schoͤpfer loben und preiſen, den Geiſt nicht weit mehr bereichern, als Kenntniſſe, ſchwarz auf weiß, in der ſtaubigen Schulſtube geſammelt? O, wenn das Herz eurer Kinder bei dieſem Anblick nicht groͤßer wird, und ſich bewundernd und liebend erweitert, ſo wird kein geſchriebenes Wort es ruͤhren können!
Durch das Studium der Natur lernt der Menſch erſt ſeine wahre Stellung erkennen, ſeine Kleinheit und ſeine Groͤße. Wenn unſer Sonnenſyſtem nur127 ein Atom im Weltall iſt, ſo muß auch der maͤchtigſte Erdenſohn die engen Grenzen ſeines Wirkungskreiſes erkennen, und zugeben, daß in Bezug auf perſoͤnliche Wichtigkeit, die Diſtanz zwiſchen ihm und dem Nie - drigſten nur gering iſt. Schon Sokrates benutzte eine aͤhnliche Lehre, um den Kinderſtolz des ſchoͤnen Alci - biades, der mit den Beſitzungen ſeines Hauſes prahlte, zurechtzuweiſen, indem er ihm auf der Erdkarte zeigte, daß Griechenland nur einen kleinen Theil des Ganzen ausmache, daß Attica kaum zu finden ſei, und daß der Kreis, worin ſeine Guͤter lagen, als zu unbe - deutend, auf der Karte keinen Namen habe! Jch wuͤßte in der That kein beſſeres Gegengift gegen Stolz und Hochmuth, als die frühzeitige Erweiterung des kindlichen Horizonts durch das Studium der Natur.
Man koͤnnte vielleicht einwenden, daß das Be - ſchauen ihrer unendlichen Groͤße entmuthige und das Selbſtgefühl unterdrücke, dieſes iſt aber ein Jrrthum.
Der Menſch erblickt beim Beſchauen der Natur uͤberall ſo viele Beweiſe einer unendlichen Vorausſehung und Guͤte, daß er ſich unter dem Schutz allweiſer Geſetze vollkommen beruhigt fuͤhlt.
Wenn er auch klein und unmaͤchtig iſt, und ſein irdiſches Daſein, (wer er auch ſei) wie der Schatten eines Traumes vergeht, ſo iſt auf der andern Seite ſein Geiſt, der ihn befaͤhigt, die Himmelsraͤume zu durchmeſſen und das Walten der Natur zu durchforſchen,128 etwas ſo goͤttliches und erhabenes, daß dieſer Ge - danke ihn wieder aufrichtet und mit freudiger Zuverſicht erfüllt. Ein Kind, dem man fruͤh eine ſolche Gei - ſtesrichtung giebt, muß daher auch an moraliſcher Bildung ſehr gewinnen, und richtigere Anſichten uͤber den wahren Werth der Dinge und der Menſchen mit ins Leben tragen.
Auch dieſen Hauptvortheil des Naturſtudiums will ich noch erwaͤhnen, daß hier ſchon eine geringe Kenntniß von practiſchem Nutzen iſt. Der erſte Schritt traͤgt ſeine Fruͤchte. So bietet uns die Phyſik eine Menge intereſſanter Erfahrungen, die man Kindern durch einfache Experimente begreiflich machen kann, z. B. viele Geſetze der Waͤrme, der Schwere, der Optik, manche phyſicaliſche Eigenſchaften der Luft, der Metalle, der Koͤrper uͤberhaupt. Fuͤr welchen Stand das Kind auch beſtimmt ſei, wie auch ſeine kuͤnftigen Verhaͤltniſſe ſich geſtalten moͤgen, ſo ſind dieſes Kenntniſſe, die im Zeitalter der Dampfma - ſchinen und der Gasbeleuchtung von jedem Gebildeten gefordert werden.
Die Chemie, welche alle uns bekannten Stoffe in ihre einfachſten Beſtandtheile zerlegt, und uns die Geſetze zeigt, nach welchen dieſe 52 Elemente zu un - zaͤhligen Combinationen ſich vereinigen, iſt auch fuͤr den Nichtchemiker unentbehrlich. Ohne Chemie giebt es keinen Fortſchritt im Ackerbau, keine Verbeſſerung129 in der neueren Jnduſtrie. Kaum ſind 60 Jahre ſeit der eigentlichen Geburt dieſer Wiſſenſchaft verfloſſen, und wie hat ſie ſchon die Welt umgeſtaltet und be - reichert! Jhr und ihrer Schweſter, der Phyſik, ver - danken wir das Dampfboot und den Dampfwagen, mit denen die Berechnung einer neuen Zeit anfaͤngt. Sie macht keinen Schritt ohne den Menſchen mit neuen Bequemlichkeiten mit neuen Erwerbsquellen zu bereichern, und wie viel laͤßt ſich nicht von der Zu - kunft einer Wiſſenſchaft erwarten, deren Kindheit ſchon ſolche Rieſenwerke vollbracht!
Die meiſten Menſchen koͤnnen Latein und Griechiſch entbehren, einige Kenntniſſe der Phyſik und der Chemie waͤre einem jeden nuͤtzlich. Wäre es nicht endlich hohe Zeit, daß das Kind die Schule nicht mehr ver - ließe, ohne etwas zu wiſſen von der Luft, die es |ein - athmet, von dem Waſſer, womit es ſeinen Durſt ſtillt, und von der Erde, auf der es froͤhlich einhergeht?
Wie mitleidig wird das naͤchſte Jahrhundert die Bildung unſerer Tage belaͤcheln, wo man zu den Hochgebildeten gerechnet wurde, ohne auch nur den geringſten Anflug von Naturkenntniß zu beſitzen!
Wenn es fuͤr den Menſchen kein wichtigeres Stu - dium giebt, als das des Menſchen ſelbſt,
The proper study of mankind is man:
ſo muß man ſich wundern, daß ſechszehnjaͤhrige Juͤng - linge noch immer aus der Schule entlaſſen werden, ohneHartwig’s Erziehungsl. 9130auch nur den oberflaͤchlichſten Begriff von ihrer eigenen Organiſation und von der Geſundheitslehre erhalten zu haben. Wie! ihr habt Jahre lang eure Schuͤler unzaͤhlige Stunden ſitzen laſſen, unter dem Vorwande ihren Geiſt zu cultiviren; ſie haben von euch lernen müſſen, wie es vor 2000 Jahren in Rom und Athen ausſah; ſie kennen dem Namen nach alle Provinzen und alle Staͤdte der Welt, ſind in den feinſten Nuancen der lateiniſchen und griechiſchen Grammatik bewan - dert, und wiſſen von ihrem eigenen Koͤrper nichts, nichts von den Nerven, von der Blutcirculation, von dem Knochenbau, von den Muskeln, nichts von ihrem eigenen Wunderbau! Die Geſetze des Solon und des Lykurg, welche geſunde Staaten gruͤndeten, ſind ihnen bekannt, nicht aber die Geſetze, nach welchen ſie ihre eigene Geſundheit erhalten und befeſtigen koͤnnen! Duͤnken euch jene ſo viel wichtiger als dieſe?
» Es iſt in der That, « ſagt Lichtenberg, » ein ſehr blindes und unſern aufgeklaͤrten Zeiten ſehr un - angemeſſenes Vorurtheil, daß wir die Geographie und die roͤmiſche Geſchichte eher lernen als die Phyſio - logie und Anatomie, ja die heidniſche Fabellehre eher, als dieſe für Menſchen beinahe ſo unentbehrliche Wiſſenſchaft, daß ſie naͤchſt der Religion ſollte ge - lehrt werden.
Jch glaube, daß einem hoͤhern Geſchoͤpf, als wir Menſchen ſind, dieſes das reizendſte Schauſpiel131 ſein muß, wenn er einen großen Theil des menſch - lichen Geſchlechtes ein paar tauſend Jahre ſtarr hinter einander herziehen ſieht, die auf’s Ungewiſſe und unter dem Freibriefe, Regeln fuͤr die Welt aufzuſuchen, hin - gehen, und ſich und der Welt unnütz ſterben, ohne ihren Koͤrper, der doch ihr vornehmſter Theil war, gekannt zu haben, da ein Blick auf ihn, ſie, ihre Kinder, ihren Naͤchſten, ihre Nachkommen haͤtte gluͤcklich machen koͤnnen. «
Die politiſche Oeconomie iſt eine der nuͤtzlichſten Wiſſenſchaften, welche durchaus in allen Schulen den aͤltern Knaben vorgetragen werden muͤßte, und ſo viel ich weiß, in keiner vorgetragen wird. Jhre Hauptwahrheiten ſind leicht faßlich und intereſſiren gleichmaͤßig alle Claſſen der Geſellſchaft. Sie lehrt uns das Zweckmaͤßige lieben, macht auf den hohen Werth der Arbeit aufmerkſam, lehrt uns den Segen des Friedens ſchaͤtzen, giebt uns beſſere Einſichten in den Mechanismus der Geſellſchaft, ein richtiges Ur - theil uͤber manche wichtige Punkte, und ſtreift viele in ihren Folgen hoͤchſt verderbliche Vorurtheile von uns ab. Ein ſo reiches Studium, welches dabei die Begriffe 15 oder 16jaͤhriger Knaben nicht uͤberſteigt, und bei allgemeinerer Verbreitung ſo viel zur Hebung des Menſchengeſchlechtes beitragen wuͤrde, verdient gewiß manchen andern Disciplinen vorgezogen zu werden, und duͤrfte in keinem guten Schulplan fehlen.
9 *132Die jetzige Erziehung der Maͤdchen iſt wo moͤglich noch fehlerhafter als die der Knaben, da man ſie zu nichts weniger als zu kuͤnftigen Hausfrauen und Müttern bildet, und die geſunde Entwickelung ihres Koͤrpers noch mehr vernachlaͤſſigt. Wenn die Frau vom Hauſe beſtaͤndig kraͤnkelt, kehrt der Unfriede bald ein. Sorgt daher vor allen Dingen, ihr Muͤtter, daß eure Toͤchter bluͤhend und ſtark werden, und be - laͤſtigt ſie nicht mit dem Erlernen ſo vieler Quisqui - lien, vorzuͤglich wenn die Natur ſie weder zu Virtuoſen noch zu Bel ‒ esprits beſtimmte.
Wie viele Maͤdchen verlieren nicht unendlich viel Zeit mit Muſikuͤbungen, welche ſie ſpaͤter faſt immer liegen laſſen? Die ganze Erziehung ſcheint nur darauf gerichtet, eine ganz kurze Epoche des Lebens moͤglichſt glaͤnzend zu machen.
Auf dieſem Wege werden aber weder Herz noch Verſtand ausgebildet, ſondern hoͤchſtens Eitelkeit und Flachheit. Sucht lieber fuͤr eure Toͤchter einen wahr - haft gebildeten Lehrer, der ihr Auge fuͤr die Natur oͤffne und das fuͤr alles Gute und Schoͤne empfaͤng - liche Frauenherz mit den Thaten großer Maͤnner ruͤhre, oder an den Gedanken großer Schriftſteller er - waͤrme. Noch beſſer, wenn ihr ſelbſt dieſe ſchoͤne Rolle uͤbernehmen koͤnnt, wenn euer Kind euch nicht allein das Leben verdanken wird, ſondern mehr noch als das Leben, eine Erziehung, welche dem Koͤrper133 eine bluͤhende Kraft und dem Geiſte eine herrliche Entwickelung verleiht.
Dieſe unſchaͤtzbaren Guͤter laſſen ſich aber weder durch einen homoͤopathiſchen Anflug von fremden Sprachen, noch durch das zeittoͤdtende Erlernen einer ſeelenloſen muſicaliſchen Fingerfertigkeit erlangen.
Jch faſſe nun das Vorhergehende noch einmal kurz zuſammen.
Eine zweckmaͤßige geiſtige Erziehung verlangt vor allen Dingen, daß man durch zu langes Stuben - ſitzen die Geſundheit nicht zerſtoͤre, und daß das Gehen oder Sitzen im Freien weit haͤufiger zum Unterricht benutzt werde, als bis jetzt noch geſchieht. Sie verlangt, daß in den erſten 6, 7 oder 8 Jahren (je nach den Kraͤften) von gar keinem geregelten Schulunterricht die Rede ſei.
Sie fordert, daß man die Gegenſtaͤnde des Un - terrichts ſo waͤhle, daß das Kind auch im ſpaͤteren Leben Nutzen daraus ziehe und daß die Methode einige Spuren von Geiſt verrathe.
Sie fordert, daß man das Gedaͤchtniß nicht mit Wortkram uͤberlade und mehr fuͤr die Cultur des Gemuͤthes und des Urtheils ſorge, daß man dem Kinde keine Sachen vortrage, die es nicht verſtehen kann. Sie verlangt, daß die Schulſtube allen Er - forderniſſen der Geſundheit entſpreche, daß ſie hell, groß und wohl geluͤftet ſei. Sie verlangt endlich134 gebieteriſch, daß der Juͤngling die Schule nicht verlaſſe, ohne die Regeln zu kennen, welche die Geſundheit erhalten und befeſtigen. Es iſt dieſes der nothwen - dige Schlußſtein der phyſiſchen Erziehung; bis jetzt haben die Eltern fuͤr die Geſundheit ihres Knaben geſorgt, doch nun verlaͤßt er die Schule und tritt ſelbſtſtaͤndiger in die Welt. Neue Leidenſchaften werden in ihm wach, es iſt noͤthig, daß man nicht unvorbe - reitet ihn ſich ſelbſt uͤberlaſſe, daß im Augenblick, wo er ſeine Selbſtſorge uͤbernimmt, er auch wiſſe, welche Gefahren er zu vermeiden, welchen Weg er einzu - ſchlagen habe.
Die Lectuͤre der Kinder verdient eine ganz beſon - ders ſtrenge Aufſicht, denn es iſt unberechenbar, welchen Schaden ein einziges ſchlechtes Buch verurſachen kann. Zum Gluͤck werden geſunde Kinder, die man nie unbeſchaͤftigt laͤßt, ihre natuͤrliche Erholung bei ihren Spielkamaraden ſuchen und gar wenig Ver - langen nach ſolcher verderblichen Lectuͤre tragen. Freilich, wenn man ſie zum Stillſitzen zwingt, und ihnen dabei langweilige Lehrſtunden giebt, (langweilig, weil die Gegenſtaͤnde ſchlecht gewaͤhlt und geiſtlos vorgetragen werden) ſo iſt es nicht zu verwundern, daß ſie nach kurzweiligeren Erzaͤhlungen greifen, und waͤhrend des Unterrichtes Sachen leſen, von denen der gutmuͤthige in aller Unſchuld fortdocirende Lehrer135 keine Ahnung hat! Das allergefaͤhrlichſte für Kinder und Erwachſene iſt und bleibt die Langeweile, und deßhalb ſind auch ſo viele oͤffentliche und Privat - ſchulen wahre Schulen der moraliſchen und phyſiſchen Verderbniß.
Wie ſchützt man Kinder gegen Kurz - und Schwachſichtigkeit? — Einfluß eines zu ſtarken, zu ſchwachen, zu ungleichen Lichtes. — Urſachen des Schielens. — Bemerkungen über die Behandlung der übrigen Sinne.
Wie gluͤcklich, wer ein Auge beſitzt, das ihm noch im hohen Alter treu bleibt und in weiter Ferne die Gegenſtaͤnde ſcharf unterſcheidet! Welche Sorgen plagen nicht den Schwachſichtigen, der in ſteter Furcht leben muß, ſein Uebel moͤge zunehmen und ihn vielleicht mit den ewigen Schatten der Blindheit umſchleiern, noch lange ehe ſein Leben ſich zum Abend neigt.
Unthaͤtigkeit, Entbehrung, Armuth, Abhaͤngigkeit, das Licht der Sonne nicht mehr ſehen, noch das Licht des menſchlichen Auges, welch’ eine Ausſicht für die Zukunft, genug alles Gute der Gegenwart zu truͤben!
Aber auch der Kurzſichtige muß manchen Genuß entbehren. Die Reize der Natur im Großen gehen137 fuͤr ihn verloren, und da, wo das fernſehende Auge die ſchoͤnſte Mannigfaltigkeit von Feldern, Baum - gruppen, Flußwindungen, Doͤrfern und Bergumriſſen, mit einem Worte, die tauſend Einzelnheiten einer belebten Landſchaft erblickt, ſieht er nur ein verwor - renes chaotiſches Nebelbild.
Ein Kurzſichtiger, der im achtzehnten Jahre zum erſten mal eine herrliche Gegend durch eine Brille ſah, weinte Thraͤnen der Ruͤhrung; nie hatte er ſich die Natur ſo reizend vorgeſtellt; es war ihm wie die ploͤtzliche Offenbarung einer ſchoͤneren Welt, als durch das einfache Vorhalten der concav geſchliffenen Glaͤſer, der Schleier von ſeinen Augen gehoben wurde.
Gewiß machen die vielen Unannehmlichkeiten, welche die Kurzſichtigkeit im taͤglichen Verkehr mit ſich führt, ſie zu einem weit groͤßern Uebel, als wofuͤr man ſie gewoͤhnlich haͤlt. Sie verurſacht ein unſicheres Auftreten; das Spiel der Phyſiognomieen und der Geberden geht uns dadurch verloren; ſie erſchwert das Studium der Kunſt oder macht es ganz unmoͤglich; ſie iſt Schuld, daß wir oft ganz un - ſchuldig gegen die Hoͤflichkeit verſtoßen.
Der Gebrauch der Glaͤſer hilft auf die Dauer in dieſer Ausdehnung nicht, denn es iſt durchaus nicht rathſam, ſie ſo ſtark zu waͤhlen, daß ſie voll - kommen alle Unannehmlichkeiten der Kurzſichtigkeit beſeitigen, da man ſonſt ihre Schaͤrfe immer ſteigern138 muß, und ſo zuletzt auf einen Punkt koͤmmt, wo keine Steigerung mehr moͤglich iſt.
Die Pflege der Augen bei Kindern iſt uͤberaus wichtig, denn es haͤngt groͤßtentheils von der Auf - merkſamkeit der Eltern und Lehrer ab, ob dieſe Organe von Fehlern befreit bleiben ſollen, die, um nur wenig zu ſagen, manchen bittern Tropfen in den Kelch des Lebens gießen.
Jch habe ſchon mehrmals wiederholt, daß alle Theile unſeres Koͤrpers in gegenſeitiger Abhaͤngigkeit von einander ſtehen, und daß das Weſen der Geſund - heit in einem harmoniſchen, bewußtloſen Jneinander - ſpielen aller Organe beſteht. Wenn alſo die allge - meinen Regeln, welche die Geſundheit des Koͤrpers bedingen, befolgt werden, geſchieht ſchon ſehr viel für Staͤrkung und Erhaltung der Augen; aber bei dieſen ſo hoͤchſt feinen ſenſiblen Organen, die be - ſtaͤndig einem eigenthuͤmlichen und ſtarken Reiz aus - geſetzt und waͤhrend des groͤßten Theiles unſeres Lebens ununterbrochen thaͤtig ſind, iſt man faſt be - rechtigt ein eigenes unabhaͤngiges Leben anzunehmen, das bei fortdauernder vollkommener Geſundheit unſeres Koͤrpers, durch oͤrtlich wirkende Schaͤdlichkeiten nicht ſelten vernichtet werden kann. Das Auge bedarf alſo zu ſeiner Erhaltung ganz beſonderer Re - geln, welche Eltern und Lehrer ja recht beherzigen ſollten.
139Das Licht iſt der eigenthuͤmliche Reiz fuͤr das Sehorgan; die Quantitaͤt und Qualitaͤt dieſes Reizes muß daher vor Allem beruͤckſichtiget werden. Das Licht kann ſchaden durch zu große Staͤrke, aber auch durch zu große Schwaͤche; es ſchadet, indem es das Auge ungleichmaͤßig reizt.
Wenn ein zu intenſives Licht auf das Auge faͤllt, ſo entſteht leicht Ueberreizung und Abnahme, ſogar voͤllige Vernichtung der Sehkraft.
Ein Blitzſtrahl kann ploͤtzlich blind machen. Sieht man auf einen ſehr hellen Gegenſtand, in die Sonne z. B., ſo iſt auf einige Zeit die Stelle der Netzhaut, worauf der Lichtreiz fiel, wie gelaͤhmt; ein ſchwarzer Fleck ſchwebt vor den Augen, der erſt allmaͤlig ver - ſchwindet. Ein Theil des Auges kann voͤllig geblendet ſein, waͤhrend das uͤbrige ſeine volle Empfaͤnglichkeit behaͤlt. So bemerkten Brewſter, Herſchel und an - dere Aſtronomen, daß wenn ſie lange Zeit auf einen ſehr kleinen Stern ſahen, dieſer zuletzt verſchwand, augenblicklich aber wieder erſchien, wenn ſie das Auge ein wenig wendeten, weil jetzt das Bild des Sternes auf einen Theil der Retina (Netzhaut, Ausbreitung des Sehnerven) fiel, der bis dahin ohne Anregung, alſo in voller Energie geblie - ben war.
Vorzüglich ſchaͤdlich wirkt ein zu helles Licht, wenn es unmittelbar auf eine ſehr ſchwache Beleuchtung140 folgt, denn dieſer ſchnelle Uebergang greift das Auge eben ſo ſehr an, als ein ploͤtzlicher Tempera - turwechſel den ganzen Koͤrper.
Nichts aber ſchwaͤcht die Sehkraft ſo ſehr, als wenn laͤngere Zeit das Licht (wie im obigen Beiſpiel) ungleichmaͤßig auf den Sehnerv wirkt, wobei einzelne Theile der Retina ſtark gereizt werden, waͤhrend an - dere in verhaͤltnißmaͤßiger Unthaͤtigkeit verbleiben. Es wird dadurch eine innere Disharmonie in das Organ geſetzt, zu deren Ausgleichung viel Zeit gehoͤrt, und man kann nicht zweifeln, daß wenn man das Auge wiederholt ſolchen Schaͤdlichkeiten ausſetzt, es zuletzt bedeutend geſchwaͤcht werden muß. Ein Jeder weiß aus eigener Erfahrung wie das Auge ſchmerzt und thraͤnt, wenn man einen helleren Gegenſtand auf dunklem Grunde lange und anhaltend betrachtet.
Jn einem hoͤchſt intereſſanten Aufſatze, den der beruͤhmte Lichtenberg mit allen Grazien des feinſten Witzes ausgeſtattet, finden wir unter andern folgen - des Beiſpiel des ſchaͤdlichen Effects eines ungleichmaͤ - ßigen Lichtes angefuͤhrt.
» Ein Rechtsgelehrter in London wohnte ſo, daß ſeine Zimmer nach der Straße zu die volle Mittags - ſonne hatten; ſeine hinteren Zimmer lagen daher nicht allein gegen Mitternacht, ſondern gingen auch noch dazu in einen kleinen Hof, der mit einer hohen Mauer umgeben war und waren alſo etwas finſter. Jn dieſen141 Zimmern arbeitete er; fruͤhſtuͤckte und ſpeiſete hingegen in den andern, in welche ihn uͤberdies ſonſtige Ver - richtungen oͤfters zu gehen noͤthigten. Dieſes Mannes Geſicht nahm ab und er hatte dabei einen immerwaͤh - renden Schmerz in den Augen. Er verſuchte allerlei Glaͤſer, conſulirte Oculiſten, aber alles vergeblich, bis er endlich fand, daß der oͤftere Uebergang aus dem Dunkeln zum Hellen die Urſache ſeiner Krank - heit ſei. Er veraͤnderte alſo ſeine Wohnung, und vermied alles Schreiben bei Licht, und wurde ſehr bald wieder hergeſtellt. «
Da wir nun die Schädlichkeit einer ungleichmaͤ - ßigen Beleuchtung hinlaͤnglich kennen, wird es uns nicht ſchwer fallen, ſchon in der Wochenſtube für die Augen des Saͤuglings zu ſorgen, denn ſchwaches Licht kann hier nicht leicht gefaͤhrlich werden, (es muͤßte ſonſt das Kind im Finſtern bleiben) wohl aber ein zu grelles und ungleichmaͤßiges, wodurch Schielen und Schwachſichtigkeit ſo oft entſtehen.
Das helle Fenſterlicht, und noch viel weniger das volle oder reflectirte Sonnen - oder Mondlicht darf nie auf die Wiege des Kleinen fallen. Dieſe muß vielmehr ſo geſtellt werden, daß es beim Auf - wachen eine gleichmaͤßige ſchwache Beleuchtung findet. Der Schein des Nachtlichtes darf nie das Auge be - ruͤhren, denn auch waͤhrend des Schlafes durchſchim - mert ein helles Licht den ſchwachen Vorhang der142 Augenlider und ſchwaͤcht die Sehkraft fuͤr den ganzen folgenden Tag.
Jſt das Kind aber wach, ſo wird ſein Auge von der glaͤnzenden Flamme angezogen und verdorben, ſo wie auch die Motte ihre Fluͤgel am verraͤtheriſchen Lichte verſengt.
Das wahre Schielen iſt gewoͤhnlich die Folge einer ungleichen Anſtrengung beider Augen; die un - gleiche Kraft, welche bald hinzutritt, unterhaͤlt als - dann die fehlerhafte Stellung des Augapfels. Das Geſicht wird ungleichmaͤßig angeſtrengt, jedesmal daß die beſondere Aufmerkſamkeit des Kindes auf einen Gegenſtand gelenkt wird, der nur mit einem Auge wahrgenommen werden kann, waͤhrend das andere unthaͤtig bleibt. Dieſer Gegenſtand kann ſehr ver - ſchiedener Art ſein: das Licht einer Lampe oder eines hellen Fenſters, oder eine pickende Uhr, oder ein dem Kinde werthes Weſen, nach welchem es mit Liebe hinblickt.
Oft entſteht Schielen von der uͤbeln Gewohn - heit der Kinderwaͤrterinnen, den Kleinen das Spiel - zeug zu nahe vor die Augen zu halten.
Zuweilen wird Schielen durch die Gewohnheit der Kinder verurſacht, zwei ihnen werthe aber von einander entfernte Gegenſtaͤnde zugleich anzuſehen, was den leicht beweglichen Augen eines Kindes nicht ſchwer faͤllt.
143Ueberſichtigkeit entſteht insgemein dadurch, daß die liegenden Kleinen ihnen intereſſante Gegenſtaͤnde, welche uͤber und hinter ihrem Kopfe ſich befinden, oft und lange betrachten. Man darf daher nicht, hinter dem Kopfende des Bettes oder der Wiege ſtehend, die Aufmerkſamkeit des Kindes auf ſich ziehen oder mit ihm ſpielen.
Wenn durch irgend eine dieſer Urſachen ein oder beide Augen oͤfters aus der Sehachſe verruͤckt werden, ſo entſteht natuͤrlich eine ungleichmaͤßige Energie der Augenmuskeln; die mehr angeſtrengten gewinnen an Kraft und werden dauerhaft verkuͤrzt, waͤhrend ihre Antagoniſten erſchlaffen und ſich verlaͤngern. So wird eine boͤſe Gewohnheit, welcher anfangs mit einiger Aufmerkſamkeit leicht zu begegnen war, zuletzt zu einem entſtellenden Uebel, das nur durch eine Operation gehoben werden kann. Man dulde kein ſeitwaͤrts einfallendes Licht, man merke ob das Kind mit einem Auge nach einem beſondern Objecte hin - ſchielt, und veraͤndere alsbald ſeine Lage, ſo daß es den Gegenſtand mit beiden Augen gut ſieht.
Durch ſolche Kleinigkeiten kann man oft großen Uebeln vorbeugen. Welche Mutter wird ihnen nicht ihre ganze Aufmerkſamkeit ſchenken! Jſt aber das Schielen einmal eingetreten, ſo iſt das Beſte einen erfahrenen Arzt um Rath zu fragen, da die geringeren Grade dieſes Uebels durch ein zweckmaͤßiges Verfahren144 noch zu heben ſind. Man verliere ja nicht die koſt - bare Zeit, im Wahne das Schielen werde mit dem Wachsthum verſchwinden, da gerade mit der laͤngern Dauer die Moͤglichkeit der Heilung ohne chirur - giſche Operation abnimmt. Ueberhaupt ſobald dem Kinde nur etwas an den Augen fehlt, ſobald die geringſte Lichtſcheu, die ſchwaͤchſte Roͤthung ſich zeigt, ſollte man ſich ohne Saͤumen an ein competentes Urtheil wenden. Es iſt unglaublich wie viel man in dieſem Alter durch Nachlaͤſſigkeit ſchaden kann. Augen - uͤbel, die bei ſchnellem Eingreifen ohne boͤſe Folgen verſchwunden waͤren, geſtalten ſich oft gefaͤhrlich und unheilbar, weil man zu lange auf die Selbſt - huͤlfe der Natur gerechnet. Waͤhrend der ganzen Kindheit, oder vielmehr waͤhrend des ganzen Lebens müſſen natuͤrlich dieſelben Ruͤckſichten gegen den zar - teſten und edelſten Sinn immerfort beobachtet werden. Vermeidung eines zu grellen Lichtes und moͤglichſte Gleichfoͤrmigkeit der Beleuchtung ſind Regeln, deren Vernachlaͤſſigung die ſchleichende Urſache unzaͤhliger Augenkrankheiten, ja nicht ſelten der voͤlligen Blind - heit iſt.
Jch bin nicht ſehr fuͤr Bettvorhaͤnge eingenommen, da ſie die der Geſundheit ſo nothwendige freie Luft - circulation hindern, aber um das Auge des ſchlafenden und erwachenden Kindes zu ſchonen, muß das grelle Licht durch ein zweckmaͤßige Stellung des Bettes145 abgehalten werden. Zu tief darf die Dunkelheit auch nicht ſein, denn wenn ein Kind in einer ganz ver - dunkelten Stube ſchlaͤft, ſo blendet das hernach hineingelaſſene Tageslicht um ſo mehr.
Man dulde nicht, daß die Kinder bei Lampen - oder Kerzenſchein zu viel leſen oder ſchreiben, vor - zuͤglich nicht auf zu weißem Papier. Das Licht, welches von dieſer hellen Flaͤche auf das Auge zu - rückgeworfen wird, iſt blendend und ermuͤdet die Sehkraft ungemein. Soll das Kind ſchreiben, ſo ſei es auf weniger feinem, etwas blaͤulichem oder grau - lichem Papier, deſſen Reflex weniger reizt.
Die Lampenſchirme, welche das Licht auf dem Schreibpult concentriren und den übrigen Raum in verhaͤltnißmaͤßiger Dunkelheit laſſen, verdienen eine beſondere Ruͤge, weil das Auge dabei einem zu großen Contraſt zwiſchen Licht und Schatten ausgeſetzt iſt und ungleichmaͤßig gereizt wird.
Sind dieſe Lampenſchirme ſchon ſchaͤdlich, ſo muͤſſen natuͤrlich die Augenſchirme es noch mehr ſein. Hier trifft beim Leſen oder Schreiben eine ſtark er - hellte weiße Flaͤche die eine Haͤlfte des Auges, waͤh - rend die andere ohne Anregung bleibt. Statt alſo dem Auge Schutz und Linderung zu gewaͤhren, ermuͤ - den ſie es durch eine hoͤchſt ungleichförmige Beleuch - tung nur um ſo mehr.
Hartwig’s Erziehungsl. 10146Das Zimmer, worin die Kinder ſich aufhalten, darf nicht weiß angeſtrichen oder mit glaͤnzenden Gegenſtaͤnden (vergoldete Rahmen, blanke Metall - flaͤchen) angefuͤllt ſein, da das Auge in einem ſolchen Raume die noͤthige Ruhe nicht findet — grau, chamois, mit gruͤn oder blau vermiſcht, muͤſſen die herrſchen - den Farben darin ſein. Nirgends ſchreiende Con - traſte, uͤberall finde das unbeſchaͤftigte Auge nur milde, angenehme, erquickende Farben. Hoͤchſt ſchaͤd - lich iſt es, wenn von einer gegenuͤberſtehenden, weiß oder gelb angeſtrichenen Mauer, ein greller Licht - reflex in das Zimmer geworfen wird; kein Lichtein - druck kann dem Auge verderblicher ſein als dieſer, und man glaube nicht, daß das ſtaͤrkſte Auge einer ſolchen Schaͤdlichkeit lange widerſteht.
» So manche Augenſchwaͤche, « ſagt Buͤſch, (Erfahrungen von J. G. Buͤſch, Profeſſor in Ham - burg. Hamburg 1790) » und voͤllige Blindheit entſteht bloß aus Verfehlung dieſer wichtigen Regel. Als ich vor 15 Jahren den ſeligen Hagedorn in Dresden zum erſten Mal beſuchte, den ich faſt ganz blind fand, nahm er meinen Beſuch in einem Zimmer an, wo mir das Licht ganz unausſtehlich war. Er wohnte in einer ziemlich ſchmalen Gaſſe. Das Sonnenlicht fiel von den Quaderſteinen der gegenuͤber gelegenen Haͤuſer ſcharf zuruͤck in das Zimmer. « » Haben Sie, « fragte ich, » in dieſem Hauſe ſchon lange gelebt? « —147 » Schon über zwanzig Jahre. « — » Und war dieß immer ihr gewoͤhnliches Arbeitszimmer? « — » Das war es beſtaͤndig. « — » So, « ſagte ich ihm, » ſehe ich mit Bedauern die Urſache ihres Ungluͤcks ein, denn in dieſem Lichte konnten ihre Augen nicht geſund bleiben. «
Das Tragen eines Schleiers iſt ſehr zu tadeln. Der Schutz, den er dem Teint gewaͤhrt, wird auf Koſten des Geſichts erkauft. Das beſtaͤndige Hin - und Herflattern des halbdurchſichtigen Gewebes ermuͤdet die Sehkraft ungemein, da das Auge be - ſtaͤndig nach den Vibrationen des Schleiers ſich zu richten ſtrebt. Junge Maͤdchen ſollten daher dieſen Putzartikel gar nicht in ihrem Beſitze führen, und, wenn es ſein muß, ſich gegen Staub und blendendes Licht, durch die viel zweckmaͤßigeren Sonnenſchirme verwahren. Daß Kinder nicht ins Feuer, noch in die Sonne ſehen, noch beim Gewitter muthwillig ihr Auge dem Blitz zuwenden ſollen, braucht keine wei - tere Erwaͤhnung.
Schadet ein zu ſtarkes Licht durch Ueberreizung dem Auge, ſo bringt umgekehrt eine zu ſchwache Be - leuchtung, da, wo eine ſtaͤrkere noͤthig waͤre, nicht geringere Uebelſtaͤnde mit ſich.
Das beſchaͤftigte Auge bedarf einer adaͤquaten Lichtmenge um ſein Penſum gehoͤrig zu vollziehen, fehlt ihm dieſe, ſo wird es ungebuͤhrlich angeſtrengt10 *148und geſchwaͤcht. Aus dieſem Grunde iſt das Leſen oder Schreiben in der Daͤmmerung ſo ſchaͤdlich, und muß bei haͤufiger Wiederholung auch die Kraft des ſtaͤrkſten Auges zerruͤtten.
» Schreiben oder Leſen in der Daͤmmerung, « ſagt Lichtenberg, » muß man nie. Es iſt ein Ver - fahren, das, den gelindeſten Ausdruck zu gebrauchen, thoͤricht iſt. Der ſchnoͤde Gewinn an Oel und Zeit geht tauſendfach durch das Leiden und den Unmuth hin, den man ſich durch ſchwache Augen zuzieht.
Es iſt uͤberhaupt ein ſehr großer, wiewohl ſehr gemeiner Jrrthum zu glauben, ein ſchwaches Licht ſei den Augen guͤnſtig. Dem unbeſchaͤftigten Auge wohl, das nicht ſehen will, allein dem ſehen wollenden iſt es ſchlechtweg ſchaͤdlich und ein ſtarkes zutraͤglicher. Muß bei Licht geleſen oder geſchrieben werden, ſo iſt es immer beſſer zwei oder drei Lichter zu gebrauchen als ein Einziges, nur muß die Flamme ſelbſt mit ſo wenigem Aufwand von Schatten verdeckt werden, als es die Umſtaͤnde verſtatten. «
Wird irgendwo gegen dieſe wichtige Regel gefehlt, ſo iſt es auf Schulen. Gewoͤhnlich wird ſo lange mit dem Anſtecken der Lampen gezoͤgert, bis es auch mit großer Anſtrengung nicht mehr moͤglich iſt zu leſen; davon abgeſehen, daß es in manchen Schulftu - ben Plaͤtze gibt, wo auch am Tage eine kuͤnſtliche149 Daͤmmerung durch das Genie des Architecten ange - bracht worden iſt. Ein Jeder, der verſucht hat, laͤngere Zeit in der Daͤmmerung zu leſen, muß empfunden haben, wie ſchwach und ſchmerzhaft ſeine Augen danach waren.
Man verbiete daher dem Kinde das Leſen bei mangelndem Licht und gehe ſelbſt mit gutem Bei - ſpiele voran. Tritt die Daͤmmerung ein, ſo laſſe man, wenn man etwas gar Jntereſſantes zur Hand hat, die Lampe anzuͤnden, und ſchließe das Tages - licht aus, oder noch beſſer, man uͤbe auf einige Zeit Entſagung und lege das Buch weg.
Die Daͤmmerung fordert ganz vorzuͤglich zum Nachdenken auf; ſie iſt die Zeit der Sammlung, der Ruhe, eine natürliche Pauſe zwiſchen den Beſchaͤfti - gungen des Tages und des Abends. Das Licht wirft zu dieſer Stunde einen ſanften maleriſchen Schein auf alle Gegenſtaͤnde; und wenn die helle Mittags - ſonne die derbe Proſa des Lebens vorſtellt, ſo ver - ſinnlicht die Daͤmmerung eines heitern Sommertages die traͤumeriſche Poeſie mit ihrem alles verſchoͤnernden Schimmer.
Dem Leſen in der Daͤmmerung oder bei mangeln - dem Lichte müſſen wir die unter Schuͤlern ſo haͤufige Kurzſichtigkeit zuſchreiben. Um alsdann beſſer ſehen zu koͤnnen, ſind ſie genoͤthigt, das Buch dicht vor die Augen zu halten, damit die Buchſtaben groͤßer150 erſcheinen und ſo verlieren ſie endlich die Faͤhigkeit, ferne Gegenſtaͤnde zu erkennen. Aber auch bei gutem Lichte iſt es nicht moͤglich, daß ein Kind ſo viele Stunden des Tages immerfort auf Buchſtaben ſehe, ohne kurzſichtig zu werden. Schuͤler, die ihr gutes Geſicht behalten, ſind faſt immer ſolche, die waͤhrend der Schulzeit weit eher an’s Spielen als an das Auswendiglernen denken, und ſtatt ihre Exercitien ſelbſt zu machen, den einfachern Weg waͤhlen, ſie von einem Kameraden abzuſchreiben.
Die Kurzſichtigkeit erreicht nicht auf einmal einen hohen Grad, ſondern verkleinert allmaͤlig den ſichtbaren Horizont.
Es waͤre daher ſehr zu wünſchen, daß Eltern von Zeit zu Zeit Proben mit den Augen ihrer Kinder anſtellten, um die erſten Spuren eines Fehlers auf - zufinden, der gewoͤhnlich durch Unachtſamkeit erſt dann entdeckt wird, wenn er ſchon eine bedeutende Hoͤhe erreicht hat. Gewoͤhnlich, da dieſelben Urſachen beide Uebel mit ſich fuͤhren, meldet ſich die Kurz - ſichtigkeit zugleich mit Augenſchwaͤche; das Kind be - kommt thraͤnende roͤthliche Augen, beſonders Abends, und klagt über Schmerzen, vorzuͤglich wenn es bei Licht leſen oder ſchreiben ſoll. Zeigen ſich dieſe Symptome, dann iſt es hohe Zeit einzuſchreiten und den Augen die noͤthige Ruhe zu goͤnnen. Von nun an, bis das Geſicht voͤllig wieder hergeſtellt iſt,151 erlaube man durchaus nicht, daß das Kind am Abend arbeite; man laſſe es auch am Tage ſo wenig als moͤglich, und nie anhaltend leſen oder ſchreiben; man entferne jeden kleinen und ſchlechten Druck; man gewoͤhne es daran, das Papier moͤglichſt weit vom Auge zu halten, und uͤbe es fleißig beim Spa - zierengehen im Unterſcheiden entfernter Objecte. Bei einem ſolchen Verfahren wird man das Uebel im Keime erſticken.
Waͤre nur ein beſſeres Erziehungsſyſtem einge - fuͤhrt, wobei Kinder dem Gebote der Natur zum Trotz, nicht den groͤßten Theil des Tages zwiſchen 4 kahlen Waͤnden ſitzen müßten, ſo wuͤrde man von Kurz - und Schwachſichtigkeit viel weniger hoͤren. Ohne dieſe uͤbermaͤßige Anſtrengung der Augen wuͤr - den die Kinder eben ſo viel oder noch mehr lernen. Das muͤßte ein geiſtloſer Lehrer ſein, der nicht auch ohne Buͤcher ſeine Schuͤler zu bilden verſtaͤnde und zwar beſſer als mit Huͤlfe des geſchriebenen Wortes. Was bildet den Mann? Der Umgang mit Verſtaͤn - digeren und Gebildeteren als er ſelbſt. Alſo brauchen wir auch nicht ſo weit zu ſuchen, was die Jugend bilden ſoll.
Darauf iſt ebenfalls zu ſehen, daß das Kind nicht zu fruͤh nach dem Eſſen ſich an die Arbeit ſetze. Zur Zeit der erſten Verdauung zieht der Magen alle Saͤfte und Kraͤfte an ſich, und es iſt daher,152 damit er ungehindert ſein wichtiges Geſchaͤft voll - ziehen koͤnne, den andern Organen Ruhe zu goͤnnen. Die Thatſache, daß die meiſten Thiere und viele Menſchen nach dem Eſſen ſchlafen, und daß man uͤberhaupt um dieſe Zeit zu keiner angeſtrengten gei - ſtigen Arbeit aufgelegt iſt, wie ſehr man ſonſt ſeine Hauptfreude darin ſucht, zeigt uns, was wir hier zu thun haben. Waͤhrend des Eſſens (wie der un - gluͤckliche Shelley, der leider nicht alt genug wurde, um ſeinen Fehler zu bereuen) oder gleich nach dem - ſelben zu leſen, heißt die Verdauung muthwillig ſtoͤren und das Auge ganz zur unrechten Zeit beſchaͤftigen.
Das Beſte nach einem frugalen Mittagstiſch iſt ein heiteres Geſpraͤch mit gutmuͤthiger Laune gewuͤrzt. Der Geiſt wird durch den Genuß dieſes feinen gei - ſtigen Tonicums geſtaͤrkt und erquickt, und iſt noch einmal ſo gut zu ernſthaftern Beſchaͤftigungen aufgelegt. Auch in Bezug auf das Auge ſind alle in den vo - rigen Kapiteln angegebenen Regeln uͤber Bewegung, Luftgenuß, Diaͤt, Hautcultur, Reinlichkeit, von der groͤßten Wichtigkeit, denn, wie bereits bemerkt worden, haͤngt die Geſundheit des Auges genau mit dem all - gemeinen Wohlbefinden zuſammen. Jedesmal daß der Koͤrper geſchwaͤcht wird, leidet auch die Schaͤrfe des Geſichtes. Einem uͤberhaupt ſchwaͤchlichen Kinde alſo noch obendrein ſtundenlanges Leſen zuzumuthen,153 laͤßt ſich durchaus nicht entſchuldigen, da das zugleich mit den übrigen Organen geſchwaͤchte Auge eine ſolche Behandlung, (wobei auch ein geſundes zu Grunde geht) noch weniger vertraͤgt. Zu den ſchaͤd - lichen Folgen einer zu engen Kleidung muß ich auch noch ihren Einfluß auf die Augen rechnen. Es bedarf wohl keines Beweiſes, daß die Geſundheit dieſer Organe eben ſo wie die Geſundheit aller uͤbrigen Koͤrpertheile, nur bei ungehemmter Blutcirculation beſtehen kann, denn wo das Blut in einem Gebilde ſtockt, entſteht zuerſt Hemmung ſeiner Function und zuletzt förmliche Desorganiſation ſeines Gewebes oder Paralyſe ſeiner Kraͤfte. Manche Geſichtsſchwaͤche, mancher ſchwarze Staar wurzelt einzig und allein in dem verderblichen Gebrauch der Schnuͤrleiber.
Fehler des Gehoͤres ſind faſt eben ſo haͤufig als Geſichtsmaͤngel und beruhen ebenfalls zum groͤßten Theile auf einer ſchlechten phyſiſchen Erziehung, Scropheln ſind dieſem Sinne ſehr oft verderblich (eine kleine Erkaͤltung auf einen ſcrophuloͤſen Boden gepflanzt, hat ſchon manch armes Kind fuͤrs Leben taub gemacht). Gegen unmittelbare Schaͤdlichkeiten iſt das Ohr wohl beſſer als das Auge geſchuͤtzt, weil es nicht ſo ununterbrochen thaͤtig iſt, und in der Regel nicht ſo ſehr angeſtrengt wird. Dennoch iſt es nicht ſelten, daß ſtarke Erſchütterungen und Ex - ploſionen die Reizbarkeit des Gehoͤrs auf dieſelbe Weiſe154 erſchoͤpfen, wie ein Blitzſtrahl das Auge unrettbar blenden kann. Deßhalb darf man nie ein Kind durch einen Schuß in der Naͤhe des Ohres erſchrecken, oder es heftig auf dieſes Organ ſchlagen, oder an der Seite des Kopfes es raſch in die Hoͤhe heben. Hat man daher einen guten Freund, der viel von derar - tigen practiſchen Spaͤßen haͤlt, ſo entferne man moͤg - lichſt die Kinder, wenn er einen mit ſeinem Beſuche beehrt.
Toͤne ſind fuͤr das Ohr, was das Licht fuͤr das Auge, alſo muß auch ihre unangemeſſene Einwirkung dem Gehoͤrſinn ſchaden.
Es iſt bekannt genug, daß Kanoniere durch den Donner des Geſchuͤtzes taub werden, und daß mancher Gloͤckner das Loos des Quaſimodo theilt; aber zu wenig denkt man daran die Wirkung der Toͤne unter gewoͤhnlichen Verhaͤltniſſen zu beobachten. Es iſt gewiß, daß haͤufiger Wechſel von großer Stille zu großem Geraͤuſch, vorzüglich bei ſchwachen Nerven die Schaͤrfe des Gehoͤrs ſehr vermindern muß. Zu lange fortgeſetzte muſicaliſche Uebungen werden eben - falls durch Ueberreizung Gehoͤrſchwaͤche hervorbringen (vielleicht lag hier der Grund der Taubheit unſeres Beethoven). Reizt man hingegen das Ohr zu wenig, ſo muͤſſen nothwendig deſſen Kraͤfte durch Mangel an Uebung einſchlafen. Vorzuͤglich wichtig iſt die ſtrenge Beobachtung der Ohrendiaͤtetik für angehende155 Muſiker. Dieſe fein organiſirten Kuͤnſtlernaturen ſind ſchon an und fuͤr ſich ſehr empfindlich und reizbar; ihr Gehoͤr insbeſondere hat eine bedeutende Senſibi - litaͤt; ſie kommen oft in den Fall, es zu ſehr anzu - ſtrengen. Sie muͤſſen daher ihren Eifer maͤßigen, und niemals im Dienſte der Harmonie, die Pflichten, die ſie ihrem Koͤrper ſchuldig ſind, vergeſſen. Je mehr ſie fuͤr ihre Geſundheit ſorgen, deſto beſſer wird es nicht nur um ihr Gehoͤr, ſondern auch um ihre Fortſchritte in der Kunſt ſtehen, in welcher ſie allein leben und weben.
Unmittelbar nach dem Eſſen muſicaliſche Uebungen vorzunehmen, iſt eben ſo ſchaͤdlich wie das Leſen nach demſelben und zwar aus denſelben Gruͤnden. Die Wahl einer Wohnung iſt auch in Bezug auf das Ohr nicht gleichguͤltig. Jch moͤchte keinem, der viel auf ein feines Gehoͤr haͤlt, rathen, ſich in der Naͤhe eines Glockenſpieles einzumiethen, oder auf einem geraͤuſchvollen Markte, oder in einer Straße wo viel gefahren wird. Aehnliche Bemerkungen laſſen ſich auch über die uͤbrigen Sinne, den Taſt -, Geruchs - und Geſchmacksſinn machen.
Der in vielen Profeſſionen ſo noͤthige Taſtſinn bildet ſich durch Uebung erſtaunlich aus und wird ebenfalls durch Ueberreizung leiden müſſen, z. B. wenn man grobe Handarbeiten verrichtet.
156Da in Staͤdten die ſchlechten Geruͤche vorwiegen, waͤre es vielleicht kein ſo großes Unglück fuͤr den Staͤdter ſchlecht zu riechen, waͤre nicht das Uebel, daß der Geſchmacksſinn gewoͤhnlich zugleich mit ſeinem Nachbar leidet.
Wie verhütet man eine undeutliche Ausſprache und Stottern? — Wichtigkeit einer frühen Ankämpfung gegen die Schüchternheit.
Die meiſten Fehler des Sprachorganes, die undeut - liche Ausſprache, das ſchnelle verworrene Hervor - ſtoßen der Woͤrter, das Stottern laſſen ſich in der Regel im Anfang ihrer Entſtehung durch einige Auf - merkſamkeit verbeſſern.
Oft haͤngen ſie von einer allgemeinen Reizbar - keit der Nerven ab, von einer Dispoſition, die man Convulſibilitaͤt nennen koͤnnte. Alle Bewegungen des Kindes ſind haſtig; die Muskeln entziehen ſich ſeinem Willen und gerathen leicht ins Zittern; bei der ge - ringſten Veranlaſſung entſteht bedeutende Beſchleu - nigung des Pulſes und Wechſel der Geſichtsfarbe; es iſt ſo ungeduldig ſeine Gedanken auszudruͤcken, daß die Sprache ihrem Fluge nicht nachkommen kann.
Lebhafte Kinder verfallen ſehr leicht in dieſen Fehler; mit der Schnelligkeit, womit die Jdeeen ihnen158 zuſtroͤmen, ſteht die Fertigkeit ihres Sprachorganes ſie auszudruͤcken nicht in Harmonie, und die natuͤrliche Folge iſt ein undeutliches ſchnelles Hervorſtottern der Woͤrter, welches man kaum oder gar nicht verſtehen kann.
Sobald man merkt, daß das Kind undeutlich ſpricht, muß man es ſofort den Satz wiederholen, und dabei jede Sylbe deutlich ausſprechen laſſen; oder man thue als ob man es gar nicht verſtanden haͤtte; es wird alsdann von ſelbſt ſeinen Gedanken eine verſtaͤndlichere Form zu geben ſuchen. Da eine ſchlechte Ausſprache ſo oft mit krampfhafter Reiz - barkeit zuſammenhaͤngt, ſo wird eine nervenſtaͤrkende Erziehung auch von dieſem Fehler befreien.
Oft haͤngt eine undeutliche Sprache von einer moraliſchen Jnfirmitaͤt ab. Sehr ſchuͤchterne Kinder wagen es kaum ihre Stimme hoͤren zu laſſen, oder uͤbereilen ſich, wenn ſie etwas zu ſagen haben, um nur ja recht ſchnell einer ihnen peinlichen Aufmerk - ſamkeit zu entgehen.
Die Schüchternheit iſt uͤberhaupt ein Fehler, den man nicht mit dem Kinde wachſen laſſen darf, da er im Leben ſehr hinderlich werden wird. Man bringe ſolche Patienten (denn es iſt eine Krankheit) ſo viel wie moͤglich unter Menſchen. Harte Worte, Dro - hungen und Schlaͤge ſind hier wie uͤberall, ein ſchlechtes Mittel zur Beſſerung. Es iſt offenbar, daß wenn159 man ein reizbares Kind, das beim Anblick eines Frem - den ſich verkriecht und durchaus nicht zu bewegen iſt, ihm die Hand zu reichen, durch ein ſolches Ver - fahren dazu zwingen will, man den Fehler nur verſtaͤrkt.
Sobald ein neuer Fremder koͤmmt, wird das Kind deſſen Erſcheinen mit unangenehmen Erinne - rungen verknuͤpfen und dadurch nur in ſeiner Men - ſchenſcheu verſtaͤrkt werden.
Das Beſte iſt, man laſſe das Kind nur ganz ruhig im Zimmer bleiben und nehme keine weitere Notiz von ihm. Bald wird es die Augen aufſchlagen und aus Neugierde nach dem Fremden ſchauen. Laͤchelt dieſer es freundlich an, wird es ſchon mehr Zutrauen gewinnen, und ſich zuletzt von ſelbſt dem Gegenſtande ſeiner anfaͤnglichen Furcht naͤhern. Will man gleich anfangs Gewalt brauchen, ſo muß hoͤchſt wahrſcheinlich das ſchreiende Kind hinausgetragen werden, nach einer Scene, die weder fuͤr die Han - delnden noch fuͤr die Zuſchauer angenehm ſein kann.
Die Zeit und die Nothwendigkeit, dieſe großen Lehr - meiſter, verbeſſern gewoͤhnlich den Fehler der Schuͤch - ternheit, doch bei hohen Graden dieſes Uebels laͤßt es ſich weder durch Vernunft noch Uebung bemeiſtern und iſt Schuld, daß mancher verdienſtvolle Mann durchaus in der Welt nicht die Rolle ſpielt, wozu ſeine Talente ihn berechtigt haͤtten.
160Man kann daher nicht fruͤh genug damit anfan - gen dieſe moraliſche Schwaͤche zu bekaͤmpfen, und ich glaube, daß eine gute, phyſiſche Erziehung ſehr huͤlfreich dagegen ſein wird. Man entzieht dadurch das Kind der verderblichen Stubenatmosphaͤre und dem ewigen Einerlei eines beſchraͤnkten Raumes; es ſieht im Laufe des Tages eine Mannigfaltigkeit von Gegenſtaͤnden und Menſchen und waͤchſt ſo allmaͤh - lich im Schooße der Geſellſchaft auf.
Von dieſer Seite betrachtet, bietet gewiß die Er - ziehung in einer oͤffentlichen Schule manchen Vor - theil, vorzuͤglich fuͤr ſolche, die von Hauſe aus nicht weich gebettet ſind, und ſich daher fruͤh an unſanfte Rippenſtoͤße gewoͤhnen muͤſſen.
Solche kleine Ermahnungen ſind aber Niemanden ſchaͤdlich, und wem die Goͤtter wohl wollen, den fuͤh - ren ſie gewiß auf nicht allzuglatten Wegen ins Leben.
Diätetik der Zähne. — Einfluß von Süßigkeiten auf die Zähne. — Die Zähne ſind auch Gefühlsorgane. — Die Geſundheit der Zähne von der allgemeinen Geſundheit abhängig.
Die Zaͤhne ſpielen in der Oeconomie unſeres Koͤr - pers eine viel wichtigere Rolle, als man gewoͤhnlich glaubt. Wenn ſie fehlen, ſo wird der erſte Act der Verdauung, der ſchon im Munde vor ſich geht, un - vollkommen verrichtet, und dieſer Mangel muß auf die Dauer die ganze Digeſtion angreifen.
Außerdem iſt es keine geringe Entbehrung ſo manche Lieblingsſpeiſe aufgeben und ſeinen Kuͤchen - zettel einſchraͤnken zu muͤſſen, in einem Alter, wo man gewoͤhnlich mehr noch als in juͤngern Jahren auf eine gute Kuͤche haͤlt. Man wird zwar einwenden, daß die Kunſt der Zahnaͤrzte die Natur vollkommen zu erſetzen weiß, aber wie leicht kann man nicht in die Lage kommen, entweder das noch immer theureHartwig’s Erziehungsl. 11162Surrogat nicht bezahlen zu koͤnnen oder einen guten Dentiſten nicht bei der Hand zu haben, wenn man fern von einer groͤßern Stadt wohnt.
Es iſt daher immer ſchoͤn, wenn die Eltern fruͤh - zeitig dafuͤr ſorgen, daß man ſpaͤter die Huͤlfe jener Herren gar nicht noͤthig haben wird und ſeine eige - nen Zaͤhne bis ins hoͤchſte Alter behaͤlt.
Der Beſitz guter Zaͤhne hat fuͤr das ſchoͤnere Geſchlecht einen noch ganz beſonderen Werth. Das anmuthigſte Geſicht wird durch eine Reihe gelber carioͤſer Zaͤhne entſtellt und das freundlichſte Laͤcheln büßt einen Theil ſeines Reizes dadurch ein.
Schlechte Zaͤhne verderben nicht ſelten den Athem. Auch pflegt die Vernachlaͤſſigung der Zaͤhne ſich oft durch die unleidlichſten und anhaltendſten Schmerzen zu raͤchen, die Tage und Wochen vergiften — Gruͤnde genug, ſie ſo fruͤh als moͤglich zu ſchonen und zu pflegen.
Unter allen Nahrungsſtoffen, die wir kennen, giebt es keinen aͤrgeren Feind fuͤr die Zaͤhne als der Zucker. Es iſt bekannt, daß dieſer Stoff die groͤßte Neigung hat mit der Knochenſubſtanz eine chemiſche Verbindung einzugehen und ihren Zuſammenhang zu zerſtören; auch werden wohl die Meiſten aus Erfah - rung wiſſen, welche wüthende Schmerzen ſich nicht ſelten nach dem Eſſen von Feigen, Roſinen und Zucker163 einſtellen, wenn dieſe Subſtanzen mit einer nur etwas ſchadhaften Stelle in Beruͤhrung kommen.
Der haͤufige Genuß von Naſchwerk und Suͤßig - keiten iſt daher das ſicherſte Mittel, Caries der Zaͤhne herbeizufuͤhren und den Grund zu quaͤlenden Schmer - zen zu legen. Suͤßigkeiten koͤnnen aber von Kindern gar wohl entbehrt werden, da ſie auch nicht im Ge - ringſten zu ihrem Gluͤck beitragen, ihnen vielmehr haͤufig durch Magenverderbniß boͤſe Stunden machen. Ein Kind, das ewig nach Naſchwerk verlangt, iſt ſchon ſehr ſchlecht erzogen und beweiſt dadurch, daß die Eltern ſchwach genug ſind, ſeinen Launen, ſogar zu ſeinem eigenen Schaden nachzugeben, wenn es ſie nur recht zu plagen verſteht, eine Meiſterſchaft, die ſolche verzogene Quaͤlgeiſter gewoͤhnlich ſehr bald erlangen.
Die Zaͤhne ſind nicht bloß zur mechaniſchen Funktion des Kauens beſtimmt: ſie ſind im ſtrengſten Sinne des Wortes Gefuͤhlsorgane. „ Kein Theil des menſchlichen Organismus, ‟ ſagt der berühmte Dub - liner Arzt Dr. Graves, „ iſt merkwürdiger und zweck - maͤßiger eingerichtet, als die Zaͤhne, welche aus der Verbindung einer pulpoͤſen, reich mit Nerven begab - ten Maſſe und einer harten knochenaͤhnlichen Subſtanz zuſammengeſetzt und ſo befaͤhigt ſind, die ihnen oblie - gende doppelte Function zu uͤben. Die Zaͤhne ſind im Stande, trotz des ſie umkleidenden Schmelzes,11*164jeden zwiſchen ihre Raͤnder gebrachten Gegenſtaud mit großer Genauigkeit zu unterſcheiden. Dieſe hoͤchſt ausgebildete Zartheit des Gefuͤhls in den Zaͤhnen hat bis jetzt die Aufmerkſamkeit der Phyſiologen nicht in dem gebuͤhrenden Grade rege gemacht. Wie wichtig fuͤr den Organismus dieſe Gefuͤhlsfaͤhigkeit ſei, iſt leicht erſichtlich, da die Zaͤhne nur durch ſie im Stande ſind, die Nahrung zu zerſchneiden und zu zermahlen. Wir ſind dadurch befaͤhigt, die Lage und die meiſten phyſicaliſchen Eigenſchaften des Speiſe - biſſens zu erkennen, wonach es ſich dann beſtimmt, ob er den Schneide - oder Backenzaͤhnen überwieſen werden ſoll. Ohne dieſe Gefuͤhlsfaͤhigkeit wuͤrden die Schneide - und Mahlflaͤchen beider Zahnreihen nicht in eine paſſende Lage gebracht, und die Kaubewegungen des Unterkiefers nicht in der entſprechenden Weiſe regu - lirt werden. Wenn auch allerdings Lippen, Zunge und Wangen bei allen dieſen Verrichtungen den Zaͤh - nen zu Huͤlfe kommen, ſo ſpielen dieſe doch ſelbſt die Hauptrolle dabei und ſind darin mehr als ſchnei - dende Jnſtrumente, ſie ſind dem Munde, was die Finger der Hand ſind. Dies ſtellt ſich namentlich dann hervor, wenn wir beobachten, wie die Zaͤhne gewiſſermaßen pruͤfend zu Werke gehen und den Speiſebiſſen unterſuchen, ob keine ihnen ſchaͤdliche harte Beſtandtheile, wie z. B. kleine Sandkoͤrner, in demſelben enthalten ſeien. ‟
165Organe mit einer ſo feinen Senſibilitaͤt begabt, verlangen nun aber auch eine rückſichtsvollere Be - handlung, als ihnen gewoͤhnlich aus Unkenntniß ihres zarten bewunderungswuͤrdigen Baues zu Theil wird. Vorzuglich ſchaͤdlich iſt es, wenn man ſie dem ploͤtz - lichen Uebergang von einer kalten zu einer heißen Temperatur ausſetzt, oder umgekehrt. Nicht nur daß ihr Schmelz bei ſolchen ſchnellen Wechſeln leicht einen Sprung bekommt, der alsdann den knoͤchernen Theil ohne Schutz laͤßt, auch die Vitalitaͤt der Zaͤhne muß darunter leiden und ihr fruͤhes Ausfallen bedin - gen. So wie die Lebenskraft einer Haut, die ruͤck - ſichtslos den Witterungsveraͤnderungen ausgeſetzt wird, abnimmt: ſo wie der mit Reizen uͤberſtuͤrmte Magen in Atonie verfaͤllt, ſo muß auch die Energie der Zahnnerven und folglich die Nutrition der Zaͤhne bei wiederholten ſchaͤdlichen Einwirkungen dieſer Art, betraͤchtlich leiden. Man laſſe daher die Kinder nie zu warm eſſen und trinken. Sie duͤrfen ihre Suppen, ihre Speiſen, ihre Getraͤnke nur dann genießen, wenn alles huͤbſch kuͤhl geworden iſt. Zu kalte Sachen ſind natuͤrlich eben ſo ſchädlich, vorzuͤglich wenn man ſie gleich nach etwas heißem genießt. Auch hier bewaͤhrt ſich die Vortrefflichkeit der goldenen Mittelſtraße. Ein herrliches Praͤſervativ fuͤr die Zaͤhne iſt, ſie be - ſtaͤndig rein zu halten, wozu das taͤgliche Buͤrſten mit einem guten Zahnpulver gehoͤrt. Das Buͤrſten der166 Zaͤhne iſt nicht allein dadurch heilſam, daß es den ſogenannten Weinſtein*)Der Weinſtein der Zähne beſteht größtentheils aus den Ueberbleibſeln von unzähligen Jnfuſorien. Leuwenhök entdeckte ſchon vor langer Zeit, daß lebende microſcopiſche Thierchen in ſehr großer Anzahl in dem Schleime der Mund - höhle vorkommen, aber es blieb Herrn Mandl vorbehalten, uns zu zeigen, daß der Weinſtein aus den Leichnamen oder Kalkpanzern dieſer kleinen Welt beſteht. Campher ſchadet den Zähnen durchaus nicht und tödtet augenblicklich die den Wein - ſtein bildenden Jnfuſorien. Er muß alſo in allen guten Zanhnpulver eine Stelle finden. entfernt, ſowie die Ueber - reſte der Speiſen, die zwiſchen den Zaͤhnen haͤngen bleiben und, wenn man ſie nicht fortſchafft, den Athem verderben, ſondern auch durch Befeſtigung des Zahn - fleiſches. Es wird dieſes feſter, haͤrter, waͤchſt und verſchließt die Zaͤhne beſſer, welches ungemein zur Erhaltung derſelben dient.
Doch werden alle dieſe Cautelen nichts helfen, wenn wir nicht fuͤr die Geſundheit uͤberhaupt ſorgen, denn zu guten feſten Zaͤhnen gehört ein guter feſter Koͤrper. Wer fruͤh fuͤr eine ſtarke Haut, fuͤr einen ſtarken Magen und fuͤr ſtarke Lungen ſorgt, legt den Grund zu einer ſtarken Zahnreihe, die ſo leicht keine Luͤcken bekommen wird. Dieſe Einheit des menſch - lichen Organismus, dieſe Abhaͤngigkeit aller Organe von einander, wird uͤberhaupt noch lange nicht genug vom Publikum gewuͤrdigt.
167Exiſtirte in dieſem Punkte weniger Unwiſſenheit, ſo würden die Regeln der Diaͤtetik (zum großen Nach - theil der Aerzte) ſich mehr Geltung verſchaffen.
Einer, der nicht einſieht, wie ein taͤglicher Spa - ziergang ſeinen Magen ſtärken ſoll, wird gewiß dieſe heilſame Bewegung weit eher vernachlaͤſſigen, als ein beſſer Unterrichteter, welcher weiß, wie die Staͤrkung eines Koͤrpertheils ſich mehr oder weniger allen An - dern mittheilt.
Beſondere Cautelen, die bei Anlage zu Scropheln und Lungenſchwind - ſucht zu beobachten ſind. — Beſchreibung des ſcrophulöſen Ha - bitus. — Behandlung der Kinder mit phtiſiſchem Habitus.
Nichts iſt wahrer und zugleich betrübender, als daß die Suͤnden der Vaͤter bis ins dritte und vierte Glied beſtraft werden, denn nur zu oft kommen unſchuldige Kinder mit Krankheitsanlagen zur Welt, deren Quelle in den Verirrungen ihrer Eltern und Voraͤltern liegt.
So ſind Wahnſinn, Epilepſie, Lungenſucht und ſo manche andere Krankheiten „ wer nennte ſie alle ‟ das Erbtheil mancher Geſchlechter und gehen mit den Familienguͤtern und Titeln auf die Nachkommen uͤber.
Wer mit ſich ſelbſt nicht Mitleid fuͤhlt und durch Ausſchweifungen ſeine Lebenskraͤfte zerſtoͤrt oder ſeine Geſundheit wiſſentlich vernachlaͤſſigt, der habe wenig - ſtens Mitleid mit ſeinen Kindern und bedenke, welche fuͤrchterliche Strafe ihn dereinſt in deren Siechthum ereilen wird.
169Wie kann das Gluͤck dem noch laͤcheln, der ſeine Lieben, ſeine Hoffnungen um ſich her verwelken ſieht und ſich geſtehen muß, daß an ihm ſelbſt die Schuld liegt. Wie ſchoͤn belohnt ſich hingegen die treue Erfuͤllung der Pflichten, die man ſeinem phyſiſchen Wohlſein ſchuldig iſt! Welch ein erhebendes Gefuͤhl, in geſunden Kindern ſeine Hoffnungen bis uͤber das Grab hinauszudehnen und der Vater eines bluͤhenden Geſchlechts zu ſein.
Giebt es auf der Erde viel groͤßere Freuden, als ein geliebtes Kind an das Herz zu druͤcken, in deſſen lachenden Augen die reinſte Geſundheit ſich abſpiegelt und ſich zu ſagen: dieſes gluͤckliche, ſich des Lebens freuende Geſchoͤpf verdankt dir ſeine Ge - ſundheit, ſein Leben und ſein Gluͤck.
Jſt nun eine gute phyſiſche Erziehung fuͤr alle Kinder nothwendig, ſo iſt ſie es ganz beſonders fuͤr ſolche, die mit einer angeerbten ſchwaͤchlichen Conſti - tution zur Welt kommen, oder in ihrem Blute den Keim der Scropheln und der Lungenſucht tragen.
Hier hat ſie zur Aufgabe, die urſpruͤnglich ſchwache Lebenskraft zu ſtaͤrken, die beſtehende Krank - heitstendenz zu vernichten, die fehlerhaft gebildeten Theile durch Uebung zu verbeſſern und den Koͤrper uͤber die vielen gefaͤhrlichen Klippen der Kindheit und der Jugend hinaus zu geleiten.
170Dieſe ſchwierige Aufgabe iſt ausfuͤhrbar nicht durch Mittel, die in der Apotheke zu holen ſind, denn dieſe koͤnnen unmoͤglich Kraftloſigkeit in Staͤrke umwandeln; ſondern durch die ſorgfaͤltige Anwen - dung der diaͤtetiſchen Regeln, die ich in dieſer Schrift angegeben habe und die eben ſo maͤchtig als ein - fach ſind.
Die Grundlage aller ſcrophuloͤſen Krankheiten iſt meiſtentheils eine angeborene Schwäche, die zu einer fehlerhaften Säftemiſchung und zu hartnäckigen, lang - ſam verlaufenden Entzuͤndungen Veranlaſſung gibt.
Dieſe Entzündungen ſind oft ſehr gefährlicher Art. Sie greifen das Auge an, verdunkeln und durchlöchern die Hornhaut, machen unheilbar blind; oder ſie befallen die Drüſen des Unterleibes, verhindern dadurch die Ernährung, verurſachen Abzehrung und Tod; oder ſie entſtehen in den Gelenken des Fußes, des Kniees, der Hüfte und der Wirbelſäule, und haben alsdann Lahmheit, Beinfraß, tödliche Eiterung zur Folge. Böſe, um ſich freſſende Geſchwüre, die einen großen Theil des Geſichts zerſtören, beruhen oft auf einer ſcrophu - löſen Baſis. Gut, wenn das ausbrechende Uebel ſich den verhältnißmäßig guͤnſtigen Heerd der Halsdruͤſen wählt, und der Patient mit häßlichen Narben in dieſer Gegend davonkömmt, denn ſo behält er doch den Ge - brauch ſeiner Glieder, um den ſo manche andere Leidensgefährten gebracht werden.
171Die eigenthuͤmliche Knochenerweichung, (engliſche Krankheit, Rachitis) die ſo viele Verkrümmungen der Beine, der Bruſtknochen, der Wirbelſäule veranlaßt, iſt ſcrophulöſer Natur. Auch nach der Heilung der eigentlichen Rachitis, bleiben ihre Entſtellungen oft für das Leben als traurige Merkmale zurück und bedingen durch Functionsſtörung wichtiger Eingeweide fortwäh - rendes Siechthum und frühzeitigen Tod. Fügen wir nun noch hinzu, daß die Lungenſucht, eine Krankheit an welcher in vielen Gegenden Deutſchlands der fünfte Theil der Bevölkerung ſtirbt, gewöhnlich auf ſcrophulöſem Habitus beruht, ſo verdient gewiß die phyſiſche Erziehung derjenigen Kinder, die mit einer ſo unglücklichen Anlage geboren ſind, die allergrößte Sorg - falt, vorzüglich da von ihrer Zweckmäßigkeit, einzig und allein Rettung zu hoffen iſt.
Leider ſind die Scropheln gar oft in Klaſſen der Geſellſchaft einheimiſch, wo alle Schädlichkeiten zu - ſammentreffen um den glimmenden Funken zur ver - derblichen Gluth anzufachen, und wo Mangel und Armuth keine Beſſerung der Umſtände erlauben; aber wie viele Fälle gibt es nicht, wo ſie in den reichſten und angeſehenſten Familien vorkommen, und wo man hoffen darf, durch eine vernünftige Leitung die drohende Gefahr zu entfernen.
Die Anlage zu den Scropheln giebt ſich ſchon durch gewiſſe aͤußere Merkmale zu erkennen, deren172 Complex man den ſcrophuloͤſen oder lymphatiſchen Habitus nennt. Dieſer zeigt ſich unter zwei verſchie - denen Formen, der irritablen und der torpiden, je nach dem Vorherrſchen des ſanguiniſchen oder phlegmati - ſchen Temperaments, wobei aber zu bemerken, daß dieſe beiden Extreme meiſtens durch unmerkliche Schattirungen in einander uͤbergehen. Kinder mit irritablem Scrophelhabitus zeichnen ſich aus durch eine aͤußerſt feine ſammetaͤhnliche Haut. Beim Anfaſſen findet man dieſelbe duͤnn und nachgiebig, waͤhrend die Haut geſunder Kinder dick, feſt und ſtark iſt. Unter dieſer feingebildeten Haut ſieht man die Ge - faͤße durchſcheinen, und daher haben auch ſolche Kin - der gewoͤhnlich jene rothen Wangen, die ihnen den täuſchenden Anſchein einer bluͤhenden Geſundheit ge - ben. Nicht ſelten bemerkt man fruͤhzeitig große Gei - ſtesanlagen und oft ſchon im dritten Jahre auffallende Spuren von Scharfſinn und Witz. Die Knochen ſind fein, die Muskeln ſchwach, die Finger lang und dünn, an den Extremitaͤten keulenfoͤrmig angeſchwol - len. Je mehr das Kind ſich zum phlegmatiſchen hin - neigt, deſto mehr treten folgende Charactere hervor. Oberlippe dick und aufgeworfen, welches immer ein Zeichen der Schwaͤche iſt; dicke angeſchwollene, ver - ſchleimte Naſe; dicke, ſogenannte Kroͤtenbaͤuche; mehr duͤnne Extremitaͤten; die Kinder ſind langſam in ihren Bewegungen; ihre Geiſteskraͤfte bleiben in173 der Entwicklung zuruͤck; ſie ſind bloͤdſinnig, bis zum Cretinismus.
Sie ſchlafen viel, wollen beſtaͤndig eſſen, und haben beſonderes Geluͤſte nach vegetabiliſchen Dingen: Brod, Milch und Mehlſpeiſen.
Dabei ſind die meiſten Secretionen veraͤndert, der Schweiß iſt ſauer, der Harn getrübt. Scrophu - loͤſe Kinder leiden ſehr an Magenſaͤure. Die Schlaff - heit der Muskeln, der Abſcheu vor Fleiſchſpeiſen, die veraͤnderten Secretionen, die Abnahme der Tempera - tur, (ein auffallendes Zeichen von Lungenunthaͤtigkeit und Energieloſigkeit des Gefaͤßſyſtems), das blaſſe Ausſehen der meiſten ſcrophuloͤſen Kinder: alle dieſe Umſtaͤnde deuten auf ein auffallendes Sinken des animaliſchen Lebens und zugleich auf den Weg, den wir zur Bekaͤmpfung dieſer gefaͤhrlichen Krankheits - anlage einzuſchlagen haben.
Vor allen Dingen muß fuͤr eine beſſere Blut - miſchung geſorgt werden, durch paſſende Nahrungs - mittel und durch Anſpornen der Lungenthaͤtigkeit.
Vegetabiliſche Koſt iſt viel ſchwerer verdaulich als animaliſche. Viele Thiere, die ſich ausſchließlich mit Pflanzenſtoffen ernaͤhren, haben mehr als einen Magen um die verſchiedenen Proceſſe der Digeſtion durchzufuͤhren.
Wir werden daher mit Beruͤckſichtigung der ſchwachen Verdauungskraft dieſer Kinder zu ihrer174 Ernaͤhrung geſundes, gekochtes oder gebratenes Fleiſch, weichgekochte Eier ꝛc. und hoͤchſtens friſche Wurzel - gemüſe erlauben.
Das Brod muß gut ausgebacken und ſein Ge - nuß beſchraͤnkt ſein. Der Magen darf nicht über - laden werden; ſie muͤſſen oͤfters kleinere Portionen genießen. Auch hier iſt friſches, geſundes Waſſer das heilſamſte Getraͤnk: weder in Bier noch in Wein iſt die noͤthige Staͤrkung zu ſuchen, ſondern in der Befriedigung eines durch Bewegung verſtaͤrkten Appetits.
Es waͤre nun fuͤr das Material einer guten Blutbildung geſorgt, aber dieſes allein würde wenig helfen, wenn wir nicht zugleich fuͤr vermehrte Lun - genthaͤtigkeit ſorgten. Das Hauptmittel hierzu iſt Bewegung in freier Luft, aber mit beſonderen Cau - telen, welche die Schwaͤche der Subjecte und ihre Dispoſition zu Entzuͤndungen und Erkaͤltungen er - fordert.
Die Bewegung darf nie bis zur Erhitzung oder Ermuͤdung fortgeſetzt werden: ſie muß genau dem Zuſtande der Kraͤfte angemeſſen ſein. Man vergeſſe nie, daß übermaͤßige Bewegung bei ſolchen Kindern ſehr leicht Gelenkentzuͤndungen veranlaßt, die nur Anfangs mit Erfolg behandelt werden koͤnnen, und nur zu oft Anfangs uͤberſehen werden. Klagt daher ein Kind uͤber Schmerzen im Knie oder Schmerzen175 beim Auftreten, ſo nehme man die Sache niemals leicht, ſondern wende ſich gleich an die Huͤlfe eines erfahrenen Arztes.
Die Qualitaͤt der eingeathmeten Luft iſt hier von ganz beſonderer Wichtigkeit.
Wenn daher die ſcrophuloͤſe Anlage bei einem Kinde hervortritt, ſo koͤnnen die Eltern nichts beſſeres thun, als es einen ganzen Sommer oder mehrere Sommer hinter einander an die Meereskuͤſte zu ſchicken. Von einigen Wochen wird man natuͤrlich keinen großen Erfolg ſehen, denn wie kann man hoffen, durch das 4 oder 5 woͤchentliche Einathmen der See - luft und einige zwanzig Baͤder eine Krankheitsanlage, oder ſogar eine ſchon ausgebrochene Krankheit zu tilgen, die ihren Sitz in jedem Partikelchen unſers Koͤrpers hat. Nicht Monate, nein Jahre gehoͤren in dieſem Fall dazu, um die ſchlechtausgebildeten feſten Theile durch conſiſtentere zu erſetzen.
Kann man ſeine Kinder nicht ans Meer oder auf Berghoͤhen ſchicken, ſo wohne man wo moͤglich auf dem Lande, in einer hochliegenden geſunden Ge - gend; iſt auch dieſes nicht thunlich, ſo ſuche man ſich in der Stadt eine nach der Suͤdſeite liegende Woh - nung, die hell und trocken ſei.
Man laſſe keinen freundlichen Tag vorbeigehen, ohne den kleinen Krankheitscandidaten aufs Land zu176 ſchicken, um ihm wenigſtens ſo viel als moͤglich das Einathmen einer unverdorbenen Luft zu verſchaffen.
Beſondere Rückſicht erfordert die große Dispo - ſition zu hartnaͤckigen Erkaͤltungen, die bei allen ſcro - phuloͤſen Kindern vorkoͤmmt. Weht daher ein ſchar - fer Oſt - oder Nordwind, ſo halte man lieber das Kind zu Hauſe, als daß man ſeine nicht allzuſtarken Lungen einem Angriffe ausſetze, denen ſie nicht ge - wachſen ſind.
Aus mehreren bereits angegebenen Gruͤnden iſt ein flanellenes Bruſttuch auf der bloßen Haut getra - gen, fuͤr ſcrophuloͤſe Kinder ganz beſonders empfeh - lenswerth. Es iſt das beſte Mittel, manchen Huſten zu ſparen, und hat gewiß ſchon Viele vor einer dro - henden Schwindſucht gerettet.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß, wo die ſcrophu - loͤſe Anlage vorhanden iſt, das lange Sitzen in der Schule bedeutend eingeſchraͤnkt werden muß, wenn man nicht den Ausbruch der Krankheit in einer mehr oder weniger gefaͤhrlichen Form erleben will.
Hier ſollte die Erziehung einem Hauslehrer an - vertraut werden, der mit beſtaͤndiger Ruͤckſicht auf die Geſundheit ſeines Zoͤglings, deſſen Geiſt und Ge - muͤth zu bilden verſtaͤnde. Das Spazierengehen werde zugleich zum Unterrichte benutzt. Weiß der Lehrer ſeine Bemerkungen der Faſſungskraft ſeines Schülers anzumeſſen, ſo daß dieſer durch vernuͤnftige Fragen177 ſein ganzes Jntereſſe an den Tag legt und mit vol - lem Ohre zuhoͤrt, ſo wird die Promenade noch ein - mal ſo nuͤtzlich ſein, da die feinſten Nervenkraͤfte dabei wohlthaͤtig angeregt werden. Gewiß muß die ſcrophuloͤſe Anlage ſehr tiefe Wurzeln geſchlagen ha - ben, wenn ſie nicht durch die ſorgfaͤltige Vermeidung aller unguͤnſtigen Umſtaͤnde allmaͤhlich ausgerottet wird.
Derſelbe Erziehungsplan paßt uͤberall, wo Ver - dacht auf erbliche Dispoſition zur Phtiſis vorhanden iſt. Jn dieſem Fall entſteht die groͤßte Gefahr um die Zeit der Pubertaͤt, wo die Sanguification einen neuen Jmpuls erhaͤlt und der Andrang des Blutes nach den Lungen zunimmt. Jſt nun der Bruſtkaſten in Folge einer zu weichlichen Erziehung eng und unaus - gebildet geblieben, ſo veranlaßt die gehemmte Blut - circulation Congestionen nach dieſen Organen, die alsdann ſehr leicht zu Blutſpeien, Huſten, Lungen - entzuͤndungen, und ſpaͤter zur vollkommenen Ausbil - dung der Phtiſis Veranlaſſung geben.
Hier hat daher die phyſiſche Erziehung vorzüg - lich dafuͤr zu ſorgen, daß der Bruſtkaſten ſich fruͤhzei - tig erweitere, damit er den ſpaͤteren Sturm der Puber - taͤtsrevolution aushalte. Das beſte und einzige Mittel iſt natürlich, die Lungen allmählich ſo zu ſtaͤrken und ihre Thaͤtigkeit ſo anzutreiben, daß ſie ſich einenHartwig’s Erziehungsl. 12178bequemen Thorax bilden, worin ſie ſich ungehemmt und ohne Kurzathmigkeit ausbilden koͤnnen. Harte Theile geben oft dem Drucke von Jnnen nach, wenn man ihnen Zeit laͤßt; zur Pubertaͤtszeit aber iſt die ver - mehrte Lungenthaͤtigkeit ſo bedeutend, daß die Erwei - terung des Thorax nicht ſchnell genug erfolgen kann, um die Differenz auszugleichen.
Gymnaſtiſche Uebungen, welche beſonders die Respirationsmuskeln ſtaͤrken und eine aufrechte Hal - tung bewirken, muͤſſen beharrlich, aber nie ſo weit, bis auch nur die geringſte Erhitzung eintritt, fortge - ſetzt werden. Schon nach einem Jahre wird man eine merkliche Erweiterung des Thorax bemerken, die einen nur aufmuntern kann, den wohlgewaͤhlten Weg zu verfolgen.
Man laſſe das Kind oͤfter laut leſen, Anfangs taͤglich ein paar Minuten und allmaͤhlig ſteigern, bis zu einer halben Stunde und daruͤber. Es iſt dieſes eine vortreffliche Uebung, nicht nur für die Lungen, ſondern auch fuͤr die Stimme und Ausſprache. Hat man auf dieſe Weiſe durch Bewegung, durch gymnaſtiſche Uebungen und durch lautes Leſen den Lungen eine kraͤftige Ausbildung gegeben, ſo wird man der Zukunft ruhiger entgegenſehen koͤnnen. Wir leben aber leider in einem veraͤnderlichen, feuchten, windigen, rauhen Clima — Germania, informis terris,179 aspera coelo, tristis cultu adspectuque*)Tacitus. De Moribus Germanorum. — welches oft ſtärkeren Lungen beſchwerlich wird.
Beſſer alſo, daß man zur kritiſchen Periode, um auch einer jeden Gefahr zu entgehen, den bedrohten Juͤngling in ein Land ſchickt, wo mildere Luͤfte we - hen und die Baͤume ewig gruͤnen.
Die italiaͤniſche Kuͤſte hat in letzterer Zeit viel von ihrem alten Ruf verloren, denn nach ſchwülen Tagen ſollen die Abende empfindlich kalt ſein, und, wenn die Tramontana weht, die ſchlechtgebauten Woh - nungen keinen gehoͤrigen Schutz gewähren. Auch Hyéres genießt eine unverdiente Beruͤhmtheit, und ſoll, wie ſo manches andere, nur in den Beſchrei - bungen der Dichter und der Enthuſiaſten ſchoͤn ſein.
Glücklicherweiſe hat die Dampfſchifffahrt den Reiſehorizont ſo erweitert, daß es jetzt viel leichter iſt im Lande der Pyramiden oder in einer Weſtindi - ſchen Jnſel die Wohlthat eines waͤrmeren Himmels - ſtriches aufzuſuchen, als es vor 50 Jahren in Nizza oder in dem vom ſchneidenden Miſtral ſo oft durch - wehten Montpellier moͤglich war.
Schon iſt das durch ſeinen ewigen Fruͤhling ſo reizende Madeira von einer ganzen Colonie bevoͤlkert, die ſich vor der Gefahr eines rauhen Climas dorthin180 gefluͤchtet hat, und die Zeit naht heran, wo man Ge - ſundheitsreiſen nach Florida oder nach Süd-Carolina mit eben der Leichtigkeit und Haͤufigkeit machen wird, wie man zur Zeit den neapolitaniſchen Goͤttergolf aufſucht oder die romantiſche Umgebung des Monte pellegrino.
Buchdruckerei von H. Voß in Düſſeldorf.
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Fraktur
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