Für das Volk! Dies Wort ſteht auf dem Ti - tel dieſer Erzählung — ich habe es vor der Größe der Aufgabe, die ich mir damit geſtellt, zitternd niederge - ſchrieben, denn ich weiß, was dieſes Wort bedeutet. —
Es iſt eine ſehr einfache Geſchichte, die ich da ge - geben — ein ſtilles Dorf iſt ihr ganzer Schauplatz, ein Bauernſohn ihr Held. Wird ein ſolches Buch Leſer finden in dieſer Zeit politiſcher Bewegung? und wenn auch: werden es denn auch die rechten Leſer ſein, diejenigen, die ich ihm wünſche und für die ich es verfaßt habe? —
Ach, ich möchte, ich könnte dies Buch in die Hüt - ten tragen auf dem Lande, damit es dem Landmann erzähle, wie groß wir in der Stadt von ihm denken! — Damit es auf den ſtillen Dörfern da und dort ei - nen Bundesgenoſſen mehr werbe für die großen undIV heiligen Gedanken, welche dieſe Zeit bewegen, die ei - nen Jeglichen, er ſei Hoch oder Niedrig, Gelehrt oder Einfach, Bürger oder Bauer, aufruft, Theil zu neh - men an dem Kampf für den Fortſchritt, der jetzt ſicht - barer gekämpft wird als jemals. Denn ſo einfach dies Buch iſt, ſo iſt es doch durchdrungen von dieſem hohen Gedanken der Zeit.
Und wieder auch möcht’ ich, dies Buch käme in die Hände mancher Städter, damit ſie von Johannes, deſſen Stolz es iſt, ein Bauernſohn zu ſein, den Land - mann noch höher achten, als ſie bisher wohl gethan und ſich’s nicht mehr einfallen ließen, ſich irgendwie über ihn erheben zu wollen.
Für das Volk! Das Volk iſt auf dem Lande wie in der Stadt — es iſt überall, wo große, einfache, unverbildete Herzen ſchlagen, in urſprünglicher Ge - ſundheit und Kraft. Für dieſe habe ich geſchrieben, an dieſe wende ich mich! Jhnen weihe ich dies Buch. —
Oſtern 1849. Louiſe Otto.
Heil’ger Abend iſt’s vor Pfingſten. Das Feſt iſt dies - mal fruͤh im Jahre gefallen, und die Baͤume ſtehen alle noch in voller Bluͤthe. Die dichte Kirſchallee, die ſich den Huͤgel hinanzieht, gleicht von Weitem einem doppelten weißen Band, das auf gruͤner Decke liegt. Die großen Aepfelbaͤume vor dem Pfarrhaus wollen auch nicht die allerletzten ſein, die das große Fruͤhlingsfeſt mit begehen. Jhre roſigen Knospen ſind ſchon groß gewor - den und angeſchwollen und warten nur auf den naͤchſten Sonnenſchein, um ſich aufzuthun. Das Gras iſt ſchon ein ganz Stuͤck in die Hoͤh’ gewachſen und tauſende von Blumen duften und bluͤhen darin. Beſonders thun ſich die goldgelben Himmelsſchluͤſſelchen hervor, die auch an keinem Pfingſtfeſte fehlen duͤrfen.
Wunderbar ſtill und klar iſt die Luft. Der Himmel ganz lichtblau und ſo durchſichtig, als muͤßte man durch ihn durch wer weiß wie weit ſchauen koͤnnen, wenn12nur da oben Etwas zu ſehen waͤre fuͤr die bloͤden Augen von uns Menſchenkindern! —
Jm Dorfe ſelbſt iſt’s aber nicht ſo ganz ſtill. Da laͤuten eben alle Glocken den Feierabend und den Feier - tag ein. Von den Nachbardoͤrfern klingt’s auch ſo laͤu - tend heruͤber, daß es ein feierliches Jneinanderklingen und Toͤnen iſt. Dabei glitzert noch der hohe vergoldete Thurmknopf der kleinen weißen Kirche wunderbar im Golde der ſinkenden Sonne. Mit Eggen und Pfluͤgen kommen die Leute vom Felde heim und in den Gehoͤften wie vor den Thuͤren kehren und fegen die Maͤgde noch emſig, damit morgen das ganze Dorf ein fein ſonntaͤg - liches Anſehen habe. Ein Stuͤcklein von der Kirche ent - fernt, am Eingange des Dorfes, liegt die Schenke, ein ſtattliches Haus aus rothen Ziegeln erbaut. Ein paar maͤchtige Linden, die es jetzt eben auch nicht erwarten koͤnnen bis ſie gruͤn werden, ſtehen davor, und darunter ſind Tiſche und Baͤnke in die Erde gerammelt.
Auch jetzt, zum Samſtag Abend ſind dieſe Baͤnke nicht ganz leer. Da ſitzt der Dorfrichter Stephan, ein großer, breitſchultriger Mann, dem man die Wohl - habigkeit gleich auf den erſten Blick anſieht, wiewohl er ſie eben nicht zur Schau traͤgt. Er ſitzt in Hemds - aͤrmeln da wie die andern Landleute, traͤgt eine blau - tuchene Weſte und Hoſen von derbem Leder, dazu ein3 paar tuͤchtige ſchwarze Stiefeln, mit denen er gewaltig auftreten kann. Neben ihm ſitzt der Schulmeiſter des Dorfes, Karl Langer, ein rechter Mann fuͤr’s Volk. Zwar ſieht er klein und mager aus neben der ſtattlichen Geſtalt des Richters — aber ſaͤhe man ihn unter lau - ter Staͤdtern, wuͤrde ſein Wuchs noch ganz vollkommen erſcheinen und ſein munteres Geſicht gegen die bleichen und eingefallnen Wangen, die man an den Stadtherr - leins zu ſehen bekommt, gar ſehr abſtechen. Erſt ſeit einem halben Jahr war Langer hier im Dorfe Schul - lehrer; er iſt uͤberhaupt noch ein ganz junger Mann von vier und zwanzig Jahren und als ſolcher ſchon zeitig genug in Amt und Wuͤrden gekommen. Darum iſt er auch noch ohne Hausfrau und deren Stelle erſetzt ſeine Schweſter Laura, die er einſtweilen mit zu ſich genommen. — Jetzt alſo ſitzt er in der Schenke gemuͤthlich unter den Landleuten, die ihm meiſtens herzlich gut ſind. Anfangs zwar haben ſie ein wenig ſcheel ihn kommen ſehen, weil er ihnen faſt zu fein ausſah und ſie ſich an ſein langes, modiſch gekaͤmmtes Haar, das in einen Lockenkranz endigte, nicht recht gewoͤhnen konnten. Aber bald hoͤr - ten ſie auf, daran Anſtoß zu nehmen, da ſie ſahen, wie das neue Regiment, das er bei der Schuljugend einfuͤhrte, ein ganz anderes, namentlich viel beſſeres war, als das des fruͤhern Schulmeiſters. Der hatte1 *4immer nur mit dem Stock den Kindern Alles einpraͤgen wollen — dabei aber lernten ſie Nichts und hatten nicht einmal Reſpekt, geſchweige denn Liebe zu ihrem Lehrer; durch das viele Pruͤgeln ſtumpfte ſich ihr Ehrgefuͤhl ab und ſie wurden nur immer unbaͤndiger ſtatt geſitteter im taͤglichen Leben; mit den Fortſchritten in der Schule ſah es aber noch klaͤglicher aus. Da ging der Lehrer nicht von dem alten Schlendrian ab und was bei einer einfachen Methode die Kinder in ein paar Wochen haͤt - ten lernen koͤnnen, das war ihnen in Jahren kaum bei - zubringen durch die Weiſe, nach welcher es ihnen vor - getragen ward. Dieſer erbaͤrmlichen Wirthſchaft hatte nun Langer bald ein Ende gemacht. Freilich, in einem halben Jahre hatte er noch nicht das ganze Un - kraut, das ſein Vorgaͤnger geſaͤet, ausrotten koͤnnen; aber man ſah doch die neue gute Saat ſchon aufgehen und konnte leicht vorausſagen, wie Alles noch beſſer kommen werde. Die Kinder hatten Liebe zu Langer, und wenn er ſich ja einmal genoͤthigt ſah, den Stock zu benutzen bei den Knaben (bei den Maͤdchen kam es nun ſchon gleich gar nicht mehr vor) ſo macht’ es in der ganzen Klaſſe ſolches Aufſehen, weil es ſo ſelten war, daß es der Geſchlagene gewiß nicht ſo bald wieder zu einem neuen Anlaß zum Schlagen kommen ließ. — Nun gab es ſchon im Dorf auch einige alte grießgraͤmige5 Leute, die ſo ſehr am Alten hingen, daß ſie Alles nur gerade ſo haben wollten, wie es „ zu ihrer Zeit “geweſen, und deshalb tadelten, was ihnen anders und neu er - ſchien. Da kommen ſie aber gerade heute damit ſchoͤn an — doch davon nachher —! Dieſe Leute nun waren mit Langer ewig unzufrieden und ſuchten ihm allerlei in den Weg zu legen. Deſto zufriedener aber waren alle jungen Maͤnner des Dorfes mit ihm, da er mit allen vertraulich umging, ſich gar nicht wichtig machte wie ſein Vorgaͤnger, ſondern Allen, die ihm freundlich ge - ſinnt waren, wie lieben Kindern die Hand druͤckte und mit Vielen Bruͤderſchaft machte. Wie er bei den Maͤd - chen ſtand, davon ſchwiege ich lieber. Es gab gar Man - che darunter, die ſich jetzt auf einmal aͤrgerten, daß ſie ſchon aus der Schule gekommen, ehe ſie einen ſo huͤb - ſchen Lehrer gehabt hatten und Viele, die verſtohlen in ſeine innigen blauen Augen ſahen und froͤhlich erroͤthend ihre Blicke niederſchlugen, wenn er ſie herzlich gruͤßte. Die aber war am gluͤcklichſten, mit der er einmal getanzt hatte. Daruͤber auch war die ganze Gemeinde einig (jene Grießgrame abgerechnet, die ſich auch daruͤber aͤrger - ten und es gar eine Heidenwirthſchaft nannten, daß in der Kirche die geiſtlichen Lieder ein Wenig ſchneller ge - ſungen wurden als ſonſt, wo man eine Zeile end - los ausdehnte —) daruͤber war die ganze Gemeinde6 einig, daß Niemand ſo ſchoͤn in der Kirche die Lieder vorſingt und ſo ſchoͤn die Orgel ſpielte, wie unſer Langer.
Aber ſehen wir uns weiter um nach den Leuten, die mit vor der Schenke ſitzen.
Da iſt auch der Bote Martin, der zweimal die Woche mit ſeinem Planwaͤgelchen und ſeiner Schecke in die Stadt faͤhrt. Ein Mann in den Vierzigen mit einer kleinen gedrungenen Geſtalt und einem rothen Geſicht, dem man es recht eigentlich an der Naſe an - ſieht, weß Geiſtes Kind er iſt — naͤmlich Einer, der die hitzigen Getraͤnke etwas liebt und der dieſe Liebhaberei damit entſchuldigt, daß er unterwegs bei der austrock - nenden Straßenluft ſich oft vor Durſt gar nicht zu laſſen wiſſe. Aber daß er manchmal Einen uͤber den Durſt trinkt, iſt nur zu gewiß. Jetzt raucht er aus einer kurzen thoͤnernen Pfeife und ſieht verdrießlich den großen Wolken nach, die er daraus blaͤſt. Noch einige andere Landleute, die ich nicht erſt einzeln nahmhaft machen will, ſitzen um ihn herum.
Einer von ihnen beginnt zu dem Boten: „ Aber Gevatter Martin, warum biſt Du nur gerade heute ſo verdrieß - lich, haſt’s doch lange genug gewußt, daß der Tag einmal kommen werde, wo Du mit Deiner Schecke einen andern Weg fahren mußt. Da ſitzſt Du nun und7 ſchneideſt Geſichter, indeß wir andern luſtig und guter Dinge ſind. “
Martin zog ſeine Beine noch weiter an und legte ein Knie uͤber das andere. „ Das iſt’s ja eben, was mich am Meiſten aͤrgert “ſagte er und ſah dabei trotzig um ſich, beſonders warf er dem Schulmeiſter einen gif - tigen Seitenblick zu, „ daß Jhr den Tag wie einen Feſttag begehen wollt, gleichſam als haͤttet Jhr ein Ver - gnuͤgen daran, den Ruin von einer Menge Menſchen zu verherrlichen. “
„ Lieber Martin, “begann der Richter und nahm da - bei eine Art von kluger Amtsmiene an: „ Jhr duͤrft gar nicht in Eurer eignen Sache Anklaͤger und Richter ſelber ſein wollen. Jhr habt nun einmal eine Wuth auf die Eiſenbahn und weil Eure Schecke keinen Ver - gleich mit einer Locomotive aushalten kann, ſo ſchimpft Jhr auf dieſe, anſtatt daß Jhr ſie bewundern ſolltet wie wir. Auf Euch und Eurer Schecke hat doch wirk - lich die Regierung keine Ruͤckſicht zu nehmen, wenn ſie etwas fuͤr das allgemeine Wohl thun will. “
Der Bote murmelte einige unverſtaͤndliche Worte zwiſchen den Zaͤhnen und ſtuͤrzte ein großes Glas Bier auf einen Zug aus; wie er das leere Glas mit einer derben Bewegung wieder auf den Tiſch ſetzte, ſagte er: „ Jch bin, weiß es Gott, froh, ſo ſehr ſie mir fehlt, daß8 meine Alte den Tag nicht erlebt hat, die weinte ſich die Augen aus. “
„ Nein, nein, verſuͤndigt Euch nicht noch an ihr “verwieß der Richter, „ das war eine brave, reſolute Frau! moͤglich, ſie haͤtt’ es ein Wenig arg getrieben, bis ſie ſich an die Aenderung gewoͤhnt, aber endlich wuͤrde ſie ſich darin gefunden und der ganzen Sache noch eine gute Seite abgewonnen haben. “
„ Da hat ſich was, “erwiderte Martin unzufrieden, „ laßt Euer Reden lieber, Jhr macht mich ſonſt noch wild! “
Der Schenkenwirth war jetzt zwiſchen die Thuͤr ge - treten und ſagte aufgeregt zu Martin: „ Ja, Gevatter, ich ſtimme mit Euch, die Eiſenbahn iſt unſer Aller Un - gluͤck, da mag der Kuckuk noch laͤnger Schenkenwirth ſein! Druͤben an der Eiſenbahn haben ſie ein abſonder - liches Haus hingebaut, wo Alles zur ebenen Erde drinn iſt und gar kein Aufſatz, nicht einmal ein ſtattliches, reſpectables Dach iſt darauf, ſondern ein ganz niedriges Ding von einem Dach mit grauem Schiefer gedeckt. Das nennen ſie fuͤrnehm „ Reſtauration “, um uns gleich an Ort und Stelle alle Gaͤſte wegzuſchnappen. “
„ Aber “begann der Schullehrer, „ wie koͤnnt Jhr nur ſo engherzig ſein und bei allem Großen, was in der Welt geſchieht, nur an Euren eignen Vortheil oder Nach -9 theil denken? So macht doch nur einmal die Augen auf und ſeht uͤber Euer eignes Haus hinweg, denkt an Eure Mitmenſchen, denkt nur bei ſo etwas Ungeheuerm wenigſtens einmal an’s Allgemeine! Wollte nun jeder Menſch ſo an jeden Fortſchritt, an jedes große Ereigniß nicht immer ſein eigenſuͤchtiges kleines Jntereſſe als hem - mendes Bleigewicht haͤngen’ die Menſchheit waͤre nach Jahrtauſenden noch nicht weiter als wo ſie jetzt iſt. “
„ Da koͤnnen ſie ſtundenlang noch ſo fortreden, das iſt gewiß, mein Bube macht morgen den Aufzug nicht mit und dabei bleibt es! “ſagte der Wirth trotzig und ging in das Haus, Martin folgte ihm.
„ Das wird nur der Schade des Jungen ſein, den Sie um ein Vergnuͤgen bringen, “rief der Schullehrer noch dem Wirth nach, „ das kann ein Jeder mit ſeinen Kindern halten wie er will! “
Woruͤber aber ſtritten die Leute eigentlich? Der Grund hierzu war einfach der, daß am erſten Pfingſt - feiertag die große Eiſenbahn, welche die Hauptſtadt des Landes mit einer der groͤßten Handelsſtaͤdte verband, er - oͤffnet werden ſollte. Zum Erſtenmal wollte man die ganze Strecke mit einem Feſtzug befahren und dann Tags darauf dem allgemeinen Vertrieb uͤbergeben. Nun fuͤhrte die Eiſenbahn etwa in einer Entfernung von einem kleinen Stuͤndchen an unſerm Dorfe voruͤber,10 dort war, allerdings nur fuͤr Guͤterzuͤge, eine Zwiſchen - ſtation errichtet und jene „ Reſtauration “erbaut worden, welche unſer Schenkenwirth vorhin beſchrieb. Nun war es wohl natuͤrlich, daß die Dorfbewohner ſich auch freu - ten, die ſeltſamen, fliegenden und brauſenden Wagen - zuͤge ohne Pferde zu ſehen, von denen ſie bisher nur immer hatten ſo viel erzaͤhlen hoͤren. Es war auch von feſtlichen Aufzuͤgen die Rede, welche die Staͤdter ver - anſtalteten, warum ſollten nun da die Bewohner des Landes zuruͤckbleiben? Unſer Schullehrer war der Erſte, der es im Dorfe zur Sprache brachte, doch auch zum Pfingſtfeſt an den Bahnhof zu ziehen und das neue Wunder ſelber anzuſtaunen und zu begruͤßen. Jhm ſelbſt war es weniger um das Wunder zu thun, das er ver - wirklicht vor ſich ſah, als vielmehr um die Gefuͤhle der Freude und Begeiſterung, die er dabei in ſeiner Umgebung und beſonders bei den Schulkindern anzuregen und in ihren jungen Herzen wie ſanfte, fromme Glockentoͤne — die dann lange Zeit, vielleicht ein ganzes Leben hindurch nachhallen — zu wecken gedachte. Solch’ eine Ge - legenheit ließ er ſich niemals entgehen. So trug er denn zuerſt dem Pfarrer die Sache vor. Der Pfarrer war ein Mann in den Funfzigen, ein Diener des Herrn in Wahrheit. Er hatte ſich nie angemaßt, auf ſeinem Dorfe etwa den Papſt ſpielen zu wollen und ſich wie ein11 Heiliger, Unfehlbarer, dem blindlings zu gehorchen ſei, hoch und fern uͤber ſeine Gemeinde zu ſtellen, als mache ihn der Prieſterrock zu einem ganz apparten Menſchen, zu dem nur mit tiefer Ehrfurcht und Unterthaͤnigkeit aufzuſehen ſei. Ja, dieſer Pfarrer, obwohl jung ge - weſen in der alten Zeit und alt geworden in der neuen Zeit, hielt doch dieſe werth und unterwarf ſich allen ihren Forderungen. Darum eben ſo wenig als er einen geiſtlichen tyranniſchen Herrſcher ſpielen wollte, maßte er ſich an, der Vater ſeiner Gemeinde ſein und dieſe als ſeine Kinder betrachten zu wollen. Dies Verhaͤltniß wußte er recht gut, gehoͤre in die alte Zeit; ſo ſchoͤn es auch damals geweſen, es wollte ſich nicht mehr fuͤr die neue Zeit ſchicken — denn die neue Zeit hat alles Volk muͤn - dig geſprochen und es fuͤr eine Entwuͤrdigung erklaͤrt, muͤndige Menſchen wie Kinder betrachten zu wollen, uͤber die irgend Einer ſich erheben duͤrfe und ſagen: ich bin euer Vater, ihr ſeid meine Kinder. Dies klingt zwar ſehr gemuͤthlich, aber es ſteckt dahinter doch eine Be - leidigung; denn es iſt als ſagte der, welcher ſo ſpricht, eben nichts Anderes als: ich habe Euch recht von Her - zen lieb, aber ich weiß, daß ich geſcheidter bin als Jhr und tauſend Dinge allein recht beurtheilen kann, wovon Jhr nichts verſteht, darum ſorge Jch fuͤr Euch, die Unwiſſenden und Unmuͤndigen, die Jhr Euch nicht ſelbſt12 zu rathen und zu helfen wißt, wie ein Vater fuͤr ſeine Kinder ſorgt, und gebe Euch je nach meinem Belieben wie ich denke, daß es Euch gut thut, entweder Lob oder Tadel, Zuckerbrod oder den Stock. — So klein denken die von dem Volke, die das Verhaͤltniß vom Vater und den Kindern noch auf größere Kreiſe uͤbertragen wollen. Da ſind die Fuͤrſten und Koͤnige — oft die Beſten — die und ihre Schmeichler — machen ein großes Ruͤh - mens davon, wenn von einem Fuͤrſten geſagt wird: Der Koͤnig iſt ein echter Vater des Volks und das Volk liebt ihn dafuͤr als ſeine Kinder. Nun, ſo iſt’s nicht mehr, ſo ſoll es auch nirgends ſein! — Lieben koͤnnen wir unſern Koͤnig ſchon auch, wenn er gut iſt und unſere Liebe verdient, aber wie unſern erſten Buͤrger, wie einen Menſchen, der die große Pflicht, welche er gegen uns uͤbernommen hat, gern erfuͤllt und gegen den wir deshalb wieder unſere Pflichten mit Freuden thun, als einen Ehrenmann, dem wir deshalb auch den Ehrenplatz goͤnnen, den er einnimmt. Das wird ihn mehr ehren, wenn das Volk ihn in ſolcher Weiſe liebt, als wie wenn es ſich ihm als Kinder gegenuͤber ſtellt, die blind vertrauen und gehorchen, weil ſie es ſo gelernt, oder weil eine dunkle Regung, Gewohnheit, Herkommen und dergleichen ſie dazu treiben. Wir moͤgen keinen andern Vater als den, welchen uns die Natur gegeben; andern13 Menſchen gegenuͤber ſind wir in kein anderes Verhaͤlt - niß zu bringen — und wollen wir noch einen Vater haben, ſo laſſet ihn uns uͤber der Erde ſuchen, der liebe Gott im Himmel iſt unſer Vater und ſonſt Keiner. Die nun Gottes Wort lehren, ſollten das vor Allem auch recht bedenken. Die ſollten nicht jenem Papſt zu Rom nachahmen, der ſich gar „ heiliger Vater “nennen laͤßt, um die Menſchen dumm zu erhalten wie die kleinen Kinder und ſie dadurch deſto beſſer beherrſchen zu koͤnnen. Aber mit dieſer Herrſchaft geht es auch ganz zu Ende. Eine Gemeinde wird ihren Pfarrer auch lieben — wenn er gut iſt und Liebe verdient — wenn ſie ihn auch nicht als Vater uͤber ſich ſtellt und ſich ſelbſt zu ſchwa - chen Kindern macht, die ihm blindlings folgen ohne ſelbſt zu pruͤfen und zu uͤberlegen. Eine Gemeinde wird in ihrem ehrenwerthen Pfarrer ihren beſten Freund ſehen und ſich um ſo lieber Rath und Troſt bei ihm holen, als er ſich als der Bruder ſeiner Dorfbewohner zeigt und keine Scheidewand zieht zwiſchen ſich und ihnen. Der Pfarrer des Dorfes, von dem ich erzaͤhle, hatte das wohl erkannt. Er fuͤrchtete nicht, wie viele ſeiner Amtsbruͤder, ſeiner Stellung etwas zu vergeben, wenn er die Leute ſeines Kirchſpengels nicht mit hochmuͤthiger Herablaſſung behandelte, ſondern mit ihnen vertraulich als mit ſeines Gleichen redete, ſich und ſeinen Rath ihnen aber auch14 niemals aufdrang, wo er nicht am Orte war oder nicht gefordert ward. Dadurch kam es von ſelbſt, daß ihn Alle mit Zutrauen und Liebe behandelten und nie Etwas im Dorfe geſchah, ohne daß man zuvor die Zuſtimmung des Herrn Pfarres eingeholt. Er hatte es aber auch durch ſein wahrhaft ſegensreiches Wirken fuͤr alles Gute und Große — was zugleich das wahr - haft Chriſtliche iſt — verdient, daß ihm Jung und Alt mit ſo großem Vertrauen entgegenkam. —
Zu ihm nun war unſer Schullehrer zuerſt gegangen und hatte ihm vorgeſtellt, ob nicht die ganze Kirchfahrt den Tag, an welchem die Eiſenbahn eröffnet werde, feier - lich begehen wolle, da es doch eines der groͤßten Ereig - niſſe ſei, die man ſeit Langem hier in der Gegend er - lebt. Unſer Pfarrer war gleich dabei und wie nun die Sache im Gemeinderath zur Sprache gebracht ward, ſo gab es gar kein langes Streiten daruͤber, man war einig, den erſten Pfingſtfeiertag diesmal noch zu einem ganz beſondern Feſttag zu machen; nur uͤber das Wie berieth man ſich noch lange. —
Der Bote Martin aber und der Schenkenwirth ſaßen nicht mit im Gemeinderath, die wuͤrden ſonſt ſchon da - gegen aufgetreten ſein. Durchſetzen haͤtten ſie ihre An - ſicht aber doch nicht koͤnnen, denn ſie waren die beiden Einzigen im ganzen Dorf, die gegen die Eiſenbahn wa -15 ren und gar nicht an ſie erinnert ſein mochten. Purer Eigennutz war’s, der ſie ſo geſtimmt hatte, weiter Nichts. Der Martin mußte nun ſeine Fuhren in die Stadt einſtellen, in die man nun mit Dampf gelangen konnte und der Schenkenwirth fuͤrchtete die Concurrenz mit der fuͤrnehmen „ Reſtauration. “—
So war nun der Pfingſtmorgen auch herange - kommen.
Wieder war es ein feierliches Laͤuten und ſchon am fruͤheſten Morgen waren einige Burſche auf einen nach Oſten gelegenen Berg gegangen, gleichſam der Sonne entgegen, und wie nun unten im Dorf und endlich von allen Nachbardoͤrfern die Glocken zu laͤuten anfingen, ſo ſchoſſen ſie mit ihren Flinten dazwiſchen und ein viel - ſtimmiges Echo ließ die Schuͤſſe lange und weit nach - hallen, gleichſam als huͤpfte der Knall von Berg zu Berg fort, bis er ſich endlich unten im Thale zur Ruhe fand. Jm Dorfe aber war ſchon ein andres Leben, wenn auch eben erſt die Glocke vier Uhr ſchlug, die Haushaͤhne noch nicht gar zu lange mit zuen Augen „ guten Morgen “gekraͤht, indeß einige faule Huͤhner noch nicht einmal auf den Weckruf gehoͤrt, ſondern ſich wieder zur Ruhe geſetzt und nur die Beine einmal ge - wechſelt hatten. Jn des Schulmeiſters Gaͤrtlein war’s wo’s ſchon munter zuging. Wohl ein Dutzend Jung -16 frauen aus dem Dorf ſaßen da verſammelt und wanden noch Kraͤnze, weil ſie am Abend zuvor, wo ſie erſt ſpaͤt hatten anfangen koͤnnen, da es noch allerhand zu ſorgen und zu ordnen gegeben, nicht mit allen fertig geworden waren. Laura, die Schweſter des Schulmeiſters bringt eben noch einen Korb friſch geſchnittener Blumen herbei. Jhr Bruder ſelbſt darf ſich jetzt nicht ſehen laſſen, er wuͤrde die Maͤdchen nur ſtoͤren. Einige von ihnen wer - fen zuweilen verſtohlene Blicke nach dem kleinen Fen - ſter hinauf, hinter dem er jetzt wohl arbeiten mag, denn er hat viel zu thun und muß auch die fruͤhen Sonntag - morgen, ehe er in die Kirche geht, mit dazu nehmen. Suschen, die Tochter des Richters, erroͤthet jedesmal, wenn ſie ſich ſelbſt beim traͤumeriſchen Hinaufſchauen ertappt — dann will es bei ihr mit dem Kranzwinden immer nicht recht vorwaͤrts gehen, ſie wickelt zuweilen ein Stuͤcklein wieder auf, wo die Blumen zu dick oder zu duͤnn geworden ſind. Die andern Maͤdchen ſchaͤkern daruͤber.
Jetzt kommen die Burſchen, die auf dem Berge ge - ſchoſſen haben, wieder herab und gruͤßend an dem Gaͤrt - lein voruͤber.
„ Gelt, das knallte und platzte? “fragt der Eine von ihnen die Maͤdchen.
„ Das iſt ein luſtiger Brauch! “antwortete Laura,17 „ wußte gar nicht, was es gaͤbe, wie ich das Schießen hoͤrte bei uns in der Stadt thut ſo etwas kein Menſch. “
„ Nicht wahr? “ſagte Friedrich, ein langer, ſtatt - licher Burſche mit krauſem, braunem Haar und Augen ſo treu und hellblau wie Bluͤmlein Vergißmeinnicht, „ nicht wahr, Jungfer Laura — ach verzeiht, ſollte wohl Mamſell ſagen “— unterbrach er ſich.
Aber Laura fiel ihm in’s Wort: „ Warum denn Mamſell? nennen Sie doch alle dieſe Maͤdchen hier Jungfer, warum denn nun mich anders heißen wollen? weil ich aus der Stadt bin? Mamſell iſt ein fremdes Wort und die fremden Worte mag ich gar nicht gern leiden; da wir Deutſche ſind, wellen wir doch auch deutſch reden! ſagt der Bruder immer. “
„ Ach, ich beſinne mich, „ begann Friedrich wieder, “indem er ein Wenig verlegen die Augen niederſchlug, „ in der Stadt ſagen ſie jetzt: Fraͤulein. “
„ Das klingt nun wieder vornehm, als waͤr’ man eine große Dame, nein, laſſt’s nur ein fuͤr allemal bei der Jungfer, das iſt ja gar ein ſchoͤnes Wort! “ent - gegnete Laura.
„ Wills meinen! “bekraͤftigte Friedrich. —
„ Aber da haben ſie ja ganz die Rede von vorhin vergeſſen, “ſagte Laura erinnernd.
„ Je nun, ich wollte nur ſagen, daß es bei uns218doch auch huͤbſch iſt und ob’s Jhnen nicht auch auf die Laͤnge gefallen koͤnnt’ wie in der Stadt? “fragte Fried - rich und ſah dabei auf die Flinte nieder, auf die er ſich geſtaͤmmt hatte.
„ Ach, in der Stadt muß es ſchlecht wohnen ſein, da moͤcht ich im Leben nicht hin! “warf Suschen dazwiſchen.
Laura aber antwortete: „ Nun, leben laͤßt ſich’s in der Stadt ſchon auch, wenn’s nur keine gar zu große iſt, daß einem vor dem ewigen Menſchenwirbel auf den Straßen und den hohen und finſtern Haͤuſern ganz angſt und bange wird — aber wohler iſt’s mir auf dem Lande, friedlicher und heimiſcher, ich weiß nicht wie ich ſagen ſoll, mir iſt gar als waͤren die Menſchen hier beſſer und als wuͤrd’ ich’s ſelber mit. “
Jn Friedrichs Geſicht war es bei dieſen Worten als ginge eine Sonne auf, ſo von Gluͤck und Freude ſtrahlte es ploͤtz - lich, aber er ſagte kein Woͤrtlein darauf, die andern Bur - ſchen ſchaͤkerten indeß mit den andern Maͤdchen, wollten ih - nen uͤber’s Gelaͤnder weg Blumen ſtehlen und wurden end - lich von dieſen zuruͤckgewieſen, indem eines der Maͤd - chen ſagte: „ Da iſt aber kein Fertig werden, nun macht, daß Jhr fortkommt. “
Die Burſchen hatten nun alle in den Knopfloͤchern ſtattliche Blumen, die ihnen die Maͤdchen geſchenkt. Nur Friedrich nicht. Er hatte auch um keine gebeten,19 aber als jetzt die Burſchen alle geſchmuͤckt gruͤßend von dannen gingen, ſah er traurig auf ſeine ſchoͤne gruͤne Sammtweſte nieder, an der keine Blume prangte. Laura ſah dieſen Blick und that einige Schritte in den Garten ruͤckwaͤrts.
„ Auf Wiederſehen, Jungfer Laura! “rief er ihr nach, denn er war jetzt der Letzte, welcher ging.
„ Wartet doch nur einen Augenblick! “bat ſie „ wir werden Sie doch nicht ohne Blume gehen laſſen? “ Jetzt kam ſie an das Gelaͤnder vor und reichte ihm uͤber das - ſelbe hinweg ein wunderherrliches Pfingſtroͤschen, das eben erſt aufgebluͤht war. Sie hatte es im Garten be - merkt und nun friſch gepfluͤckt, der Thautropfen, der beim Sonnenaufgang in ſeinen Kelch gefallen war, gluͤhte noch darin.
„ Friedrich nahm das Roͤschen und er wußte gar nicht, wie ihm zu Muthe war, als dabei Laura’s Finger zufaͤllig ſeine Hand beruͤhrten, es zuckte dabei wunder - ſam raſch durch ſeinen ganzen Koͤrper. „ Ei, ich danke ſchoͤn! “ſagte er innig bewegt und ſprang dann raſch den andern Burſchen nach, nicht als habe er ein Ge - ſchenk erhalten, ſondern als habe er einen Raub be - gangen. Das Roͤschen aber zaͤrtlich anzublicken, konnte er gar nicht muͤde werden.
Eh’ ſie noch das Erſtemal in die Kirche laͤuten hoͤrten, hatten die Maͤdchen ihr Geſchaͤft beendigt und trennten2 *20von einander, um nun den Kirchenſtaat anzulegen.
Unſer Pfarrer hielt eine rechte Pfingſtpredigt aus fro - hem, begeiſtertem Herzen. Er ſprach von dem heiligen Geiſt, dem rechten Gottesdienſt, der Begeiſterung der damals die einmuͤthig verſammelten Juͤnger beim Ge - danken an das Werk, fuͤr das Jeſus geſtorben war, ſo allmaͤchtig anfuͤllte, daß ein Jeder von ihnen mit einem Jeden der Hoͤrer in der Sprache zu reden ver - ſtand, die bei dieſen am ſicherſten Eingang fand; — von der hoͤhern Klarheit, mit der die Apoſtel an dieſem Tage zum erſtenmal uͤber die Groͤße ihres Berufs durch - drungen waren, daß Jedermann dieſe hoͤhere Begeiſterung ihnen anſah, gleichſam als ob ſie in ſichtbaren Feuerzeichen von ihren Stirnen geleuchtet haͤtte. Und der Pfarrer ſprach von dieſem Geiſt weiter, wie er durch alle Zeit fortlebe und die einzelnen Menſchen mit ſeiner Kraft er - fuͤllend die ganze Menſchheit dem Ziel ihrer Heiligung auf der Bahn des Fortſchrittes weiter entgegen und naͤher fuͤhre. „ Und ſo “fuhr er fort, „ iſt aller wahr - hafte Fortſchritt auf Erden im Leben des Einzelnen wie in dem ganzer Voͤlker eine Offenbarung dieſes heiligen Geiſtes, der nach dem Wort der Verheißung bei uns iſt alle Zeit und bis an der Welt Ende. Auch das Ereigniß, das wir heute noch zu feiern gedenken, ob es gleich aus - ſehen mag, als gelte es ganz und gar nur den kleinen Vor -21 theilen des gewoͤhnlichen Lebens — auch dies Ereigniß iſt ein Zeugniß fuͤr das Fortwirken dieſes Geiſtes. Alle große, weltbewegende Erfindungen ſind dies geweſen. Denkt an die Buchdruckerkunſt. Was waͤre aus Luther und ſeiner ganzen Reformation geworden, haͤtte er nicht die Buchdruckerkunſt als ſeine Bundesgenoſſin und Die - nerin zur Seite gehabt? Was haͤtte ſeine Bibeluͤber - ſetzung genuͤtzt, wenn er ſie nur haͤtte niederſchreiben koͤnnen und ſo die heilige Schrift immer nur in den Haͤnden einiger weniger Gelehrten geblieben waͤre, die ihren Jnhalt nach Gutduͤnken dem Volke vorenthalten konnten? Aufklaͤrung iſt der große Zweck der Sendung des heiligen Geiſtes — wie haͤtte es ohne die Buchdrucker - kunſt jemals zur allgemeinen Aufklaͤrung kommen koͤnnen? Die Benutzung der Dampfkraft und der Eiſenbahnen ſind eine Erfindung von gleich großer Wich - tigkeit. Durch die große Schnelligkeit, mit welcher man nun viele Meilen Wegs in ganz kurzer Zeit zuruͤcklegen kann, durch den ganzen erleichterten Verkehr wird, was ſonſt nur Einzelnen vergoͤnnt war, jetzt Tauſenden moͤg - lich. Es iſt wie damals mit der Buchdruckerkunſt, ehe ſie erfunden war, konnten nur einige Gelehrte ſchreiben und leſen, was ſie davon dem Volke ſagten, mußte es blindlings auf Treu und Glauben hinnehmen — Jetzt aber kann nun Jeder leſen und ſelber pruͤfen. Das Volk iſt22 in dieſem Sinne nicht mehr abhaͤngig von einigen We - nigen, die alle Weisheit fuͤr ſich allein in Anſpruch neh - men; es lieſt was es will und nimmt ſich daraus, was ihm Recht ſcheint und ihm gefaͤllt; es laͤßt ſich nicht mehr am Gaͤngelband fuͤhren; es iſt ſelbſtſtaͤndig ge - worden und geht ſeinen eigenen Weg. Das Licht der Aufklaͤrung ſoll Allen ſcheinen. Durch die Eiſenbahn nun koͤnnen auch Tauſende reiſen, die es ſonſt nicht konnten, ſie lernen die Welt kennen und die fruͤher nur in Buͤchern laſen, die lernen nun in der Welt ſelber leſen. Die Voͤlker ruͤcken einander naͤher. Was ſonſt durch weite Entfernungen getrennt war, kommt jetzt zur innigen Vereinigung. Die durch viele Meilen Ge - trennten ſehen ſich nun und erkennen ſich auch als Bruͤder und Schweſtern. Ein gegenſeitiger Austauſch deſſen, was man erfahren, fuͤhrt oft zu einem gemein - ſchaftlichen Streben, einem Streben im Dienſte des hei - ligen Geiſtes. Die Zeit der Aufklaͤrung und des Lichtes iſt mit der Erfindung der Buchdruckerkunſt an - gebrochen — die Zeit der Vereinigung und der Liebe, der allgemeinen Verbruͤderung aller Menſchen wird durch die Eiſenbahnen erſcheinen. Und ſo begruͤßen wir denn den heutigen Tag auch noch des - halb mit hoher Freude, weil er auch unſerm Vaterlande ja ſogar uns ſelbſt in unſrer kleinen Heimath eine23 Eiſenbahn gebracht hat und deren Wohlthaten auch uns wird zu Theil werden laſſen. “
Der Bote Martin war heute nicht in die Kirche ge - kommen, der Schenkenwirth aber rutſchte bei dieſer Stelle unruhig in ſeinem Stande hin und her und war eben nicht ſehr andaͤchtig. Sonſt aber war es die ganze Ge - meinde; am meiſten unſer Schulmeiſter, dem die Be - geiſterung ordentlich wie damals den Apoſteln von der Stirne leuchtete und der noch nie ſo ſchoͤn wie heute den Choral „ Nun danket alle Gott “geſpielt hatte. —
Nachmittag zwiſchen 3 und 4 Uhr war die Stunde, wo der Dampfwagen an der naͤchſten Station voruͤber - fahren ſollte. Man machte ſich alſo um 2 Uhr dahin auf den Weg. Voran ſchritt ein Trupp Dorfmuſikan - ten, ſo gut wie man ſie hatte aufbringen koͤnnen, dann kam der Schullehrer mit der ganzen Dorfjugend. Die Kinder waren alle mit Gruͤn und Blumen geſchmuͤckt. Dann folgten die erwachſenen Maͤdchen des Dorfes in weißen Kleidern meiſt mit bunten, flatternden Baͤndern. Auch Laura und Suschen waren unter ihnen. Sie gingen voran und daruͤber, daß ſie die beiden huͤbſche - ſten Maͤdchen unter dieſen allen waren, war weiter gar nicht zu ſtreiten. Sie hatten alle gruͤne Kraͤnze im Haar und wie ſie paarweiſe gingen, trugen ſie auch zwei und zwei eine Blumenkette. Die Burſchen des Dorfs24 ſchloſſen ſich ihnen an mit Straͤußen auf den Huͤten und an der Bruſt. Eine gruͤne Fahne, auf der ein Pflug und eine Korngarbe zu ſehen war, ward ihnen voran - getragen. Dann kam der Pfarrer, umgeben von dem Gemeinderath. Hinterdrein folgte noch Alles, was nicht mit in dieſen Abtheilungen vertreten war und uͤberhaupt Beine hatte. Jm Dorfe war’s unterdeß wie ausge - ſtorben. Nur in der Schenke war einiges Leben, weil am andern Abend dort Tanz ſein ſollte und es da vor - zubereiten gab. Der Schenkenwirth hatte ſeinen Jungen doch noch gehen laſſen. Er ſelbſt war aus Aerger zu Hauſe geblieben und aͤrgerte ſich doch eigentlich gerade daruͤber, daß er den verwuͤnſchten Dampfwagen nicht einmal ſehen konnte. Nun waͤre er ſo gern mit dabei geweſen, aber er dachte, er werde ausgelacht, wenn er nun noch mitgehe, und ſo war er geblieben zu ſeinem eigenen Verdruß. Den ſuchte er dafuͤr an ſeinen Leuten auszulaſſen, die ſchon ſo genug unter ſeiner Halsſtarrig - keit litten, da ſie nicht mit dem Zuge hatten gehen duͤrfen.
Auf dem Bahnhof war ſchon lange ein großes Le - ben. Der Durchſtich eines Berges in der Naͤhe hatte viel Arbeit gekoſtet und deshalb war auch dieſe Strecke die letzte der ganzen Bahn, welche fertig geworden und die Eroͤffnung ſo lange verhindert hatte. Die Berg -25 leute, wie uͤberhaupt die ganzen Arbeiter, die hierbei beſchaͤftigt geweſen, hatten ſich laͤngs der Bahn aufge - ſtellt. Die Bergleute in ihren Feſtanzuͤgen, alle mit ih - ren kleinen brennenden Grubenlichtern, nahmen ſich gar ſchmuck aus; die andern Arbeiter trugen auch ihre beſten Sachen, hatten mit dem allererſten jungen Eichenlaub ihre Muͤtzen geſchmuͤckt und die Werkzeuge ihrer Arbeit, wie Schaufel und Hacke, bei ſich als ihre Triumphzeichen — denn die Werke der Arbeit ſind der groͤßte Triumph des Menſchen, darum ſind auch die Werkzeuge der Arbeit Ehrenzeichen fuͤr den, der ſie traͤgt, denn heilig und ehrenvoll iſt jede Arbeit, durch welche etwas Nuͤtzliches, Großes oder Schoͤnes geſchaffen wird. Heilig iſt die Arbeit und jeder Arbeiter iſt nicht nur ſeines Lohnes, ſondern auch ſeiner Ehren werth. Darum war die Er - oͤffnung dieſer Bahn, welche die Vollendung des großen Werkes vieler Tauſende von Arbeitern kroͤnte, auch ein Feſt - und Ehrentag fuͤr ſie alle. Ohne ſie, ohne ihre Geſchicklichkeit und ihren Fleiß waͤre dies große Unter - nehmen, deſſen Ausfuͤhrung ſo große Schwierigkeiten bot und deshalb ſo große Arbeitskraͤfte noͤthig machte, gar nicht zu Stande gekommen und wenn zehnmal die reichen Leute ihr Geld dazu gegeben haͤtten und gelehrte Maͤnner ihre Zeichnungen und Plaͤne dafuͤr entworfen. Darum ſind die Arbeiter im Staate, die Nichts haben26 als ihre Arbeitskraft eben ſo viel werth als die Reichen und Beſitzenden, (ja eigentlich mehr als dieſe — doch davon ein andermal) die nur mit ihrem Capital arbeiten, darum ſind ſie auch eben ſo viel werth als der Gelehrte, der Denker, der Erfinder, der ſeine großen und ſchoͤnen Jdeen wohl zu Papier bringen, aber nicht verwirklichen kann ohne die Arbeiter.
Unſer laͤndlicher Zug ward, als er auf dem Bahn - hofe anlangte, dort von Allen froͤhlich willkommen ge - heißen. Auch die, welche einander noch fremd waren, druͤckten ſich die Haͤnde wie alte Bekannte, weil jetzt ein und dieſelbe Freude ſie an dieſen Ort gefuͤhrt hatte. Viele der Landleute hatten noch keine Locomotive geſehen, hoͤrten ſtaunend den Beſchreibungen der Arbeiter zu, welche ſchon oft dergleichen geſehen und harrten der Wunderdinge, die da kommen ſollten. Jetzt begannen die Telegraphen, die an der ganzen Linie aufgeſtellt waren, zu ſpielen und ihre bunten Scheiben, die erſt am Bo - den geſeſſen, ſchwirrten mit Eins bis zur hoͤchſten Spitze der Stange empor. Das war das Zeichen, daß nun der Zug in einer Viertelſtunde da ſein muͤſſe. Alle gingen nun auf ihre Plaͤtze zu beiden Seiten der Bahn, jenſeit der Gruben, die neben dieſer hinliefen, ſtellten ſie ſich auf und aller Augen ſchauten nach rechts, von wo - her der Zug kommen mußte. Jetzt ſtiegen dort auch27 uͤber den Wald, der hier den Horizont begrenzte, eigen - thuͤmliche weiße Woͤlkchen auf und zogen uͤber den dunk - len Tannen hin, aus denen der junge Maiwuchs licht - hell empor leuchtete, gleichſam als haͤtten die Baͤume auch goldene Lichter zur Feier aufgeſteckt, oder als waͤren auf ihren Wipfeln heilige Pfingſtflammen entzuͤndet worden. Nun hoͤrte man ein ſeltſames Klappern, Rol - len und Brauſen und jetzt kam es aus dem Walde hervorgeſauſt und wie eine Windsbraut naͤher und im - mer naͤher — Jetzt war der Zug da und hielt ein paar Minuten zum Gruße an. Die Locomotive an der Spitze war ſchoͤn geſchmuͤckt mit Fahnen und Kraͤnzen — Alles blitzte und funkelte ſo hell und nagelneu an ihr und ihre Pfeife toͤnte ſo gellend und jauchzend zugleich, daß alle Menſchen, die an der Bahn ſtanden, lachten und jubel - ten und wieder nicht wußten, ob ſie ſich die Ohren zuhalten oder lieber recht hinhoͤren ſollten, weil es gar zu naͤrriſch klang. Auch die Wagen, die an der Loco - motive hingen, waren alle mit Blumen und Kraͤnzen geſchmuͤckt und der eine Wagen gar mit einer goldenen Krone. Da drinnen ſaß der Koͤnig mit ſeinen Miniſtern. Das war nun ein Jubeln und Hurrah rufen von allen Seiten und hallte noch lange fort, wie auch der ganze Wagenzug ſchon laͤngſt verſchwunden war.
Den Meiſten von unſern Freunden war’s eigentlich28 viel zu ſchnell gegangen und der ganze Spaß viel zu kurz geweſen zu den langen Vorbereitungen, die man ſeinetwegen getroffen hatte.
Der Pfarrer hatte andaͤchtig ſeine Muͤtze zwiſchen die gefalteten Haͤnde genommen und ſtand mit entbloͤß - tem Haupte da. Jhm war ſo feierlich zu Muthe als ſei er in der Kirche, eine allmaͤchtige Regung durchzitterte ſein ganzes Herz — er nahm einen Greis bei der Hand, der an ſeiner Seite ſtand und ſich vor Weinen kaum zu halten wußte! „ Nicht wahr guter Alter! daß wir das noch erleben! wie haͤtten wir jemals daran denken koͤnnen? “ Der Greis, ein ſchlichter, armer Landmann, der ſonſt immer ſchuͤchtern und wohl gar demuͤthig an des Pfarrers Thuͤr vorbeiging, fiel jetzt dieſem ſelber um den Hals und ſagte ſchluchzend vor Freuden: „ Ach Herr Pfarrer, nun will ich gerne ſterben, nun ich das noch geſehen habe! “und die muͤden Augen unter der runzlichen Stirn des ſilberhaarigen Greiſes glaͤnzten wie von uͤberirdiſcher Wonne und Befriedigung. Er haͤtt’ es nicht weiter in Worte zu faſſen vermocht, was ihn ſo gewaltig bewegte — es war wie eine goͤttliche Ahnung, welche er vor dem Wunderwerk einer Kraft empfand, von welcher unſer Pfarrer ſelbſt am Morgen geſagt hatte: ſie werde die Zeit der Vereinigung und der Liebe, der allgemeinen Verbruͤderung aller Menſchen herauf -29 fuͤhren. Der Greis hatte jetzt einen Blick und einen Schritt in die große Zeit gethan — er war zu alt, ihr noch dienen zu koͤnnen, aber er hatte ihren Anbruch doch noch begruͤßen duͤrfen — nun blieb ihm kein Wunſch mehr uͤbrig, er hatte das groͤßte erlebt, was ihm noch vorbehalten geweſen und wonach er ſich unbewußt ge - ſehnt — nun konnte der Tod kommen und ihn von der Erde nehmen, von dieſer Erde, auf der ſich der Geiſt der Freiheit und der Liebe auf’s Neue offenbart hatte.
Suschen war ernſt geworden und ſagte zu Laura: „ Jch weiß nicht, mir ward ganz graulich zu Muthe, wie ſo das Ungethuͤm daher geſauſt kam und dann ploͤtzlich wieder verſchand und Alles mit Eins vorbei war — das war eine Haſt, ein Laufen, mir ward ganz drehend da - bei und ich dachte „ am Ende geht nun alles im Leben ſo ſchnell — auch ſo ſchnell voruͤber — da ſei doch Gott vor! “
Eh’ noch Laura geantwortet hatte, war unſer Schul - meiſter hinzugetreten, deſſen Geſicht von lauter Freude und Gluͤckſeligkeit ſtrahlte und antwortete jetzt auf Suschens Rede: „ Was thuts auch, wenn nun Alles im Leben ein Wenig ſchneller geht? auch das, daß man ſich gut wird und lieb gewinnt und verſteht? — voruͤber brauchts deshalb ja nicht ſo ſchnell zu ſein!30 er ſah ſie zaͤrtlich an und hatte unvermerkt ihre Hand in die ſeinige genommen, ſie innig druͤckend. Aber Suschen zog ihre Hand raſch weg, ward uͤber und uͤber roth und ſprang ſchnell einige Schritte fort unter eine Gruppe anderer Maͤdchen. Er hatte die Worte leiſe zu ihr geſagt, Niemand weiter hatte ſie hoͤren koͤnnen, das war noch ihr einziger Troſt, ſonſt haͤtte ſie ſich wer weiß wie ſehr geſchaͤmt — nicht nur uͤber die Rede, ſondern eben auch daruͤber, daß ſie roth ward und da - durch am Ende gar etwas merken ließ, daß keine Men - ſchenſeele merken durfte, am wenigſten der Schullehrer ſelbſt, der ihr mit ſeinen blauen Augen noch ſo lange und innig nachſah, daß ſie’s fuͤhlte, obwohl ſie kein einziges Blickchen wieder zu ihm wagte.
Mit Sang und Klang zogen dann Alle wieder in ihr Dorf zuruͤck heiter plaudernd, einander noch fragend und erklaͤrend uͤber das Staunenswuͤrdige, das ſie heute geſehen und erlebt.
Der Dorfrichter Stephan hatte außer Suschen noch ein aͤlteres Kind, einen Sohn, Traugott hieß er, der ſeit einem Jahr verheirathet war, ſeine eigene Wirth - ſchaft im Dorfe beſaß und eben ein paar Wochen nach Pfingſten zum Erſtenmale Kindtaufe hielt.
Da ſtand nun der neue Großvater, der Richter, beim Enkel Pathe und Suschen und der Schulmeiſter ſtanden mit. Die Eltern der Woͤchnerin waren beide lange todt und die Mutter des Kindtaufvaters auch. Darum kam ſeine Schweſter mit an die Reihe. Und unſern Schulmeiſter hatte man gebeten, um ihn recht zu ehren. Vielleicht auch hatte die junge Mutter, denn Jhr wißt ja, wie ſchlau die jungen Weiber in tauſend Stuͤcken ſind, gerade den Schulmeiſter aufgeſucht, weil ſie recht wohl geſehen, daß Suschen immer roth ward, wenn nur von ihm die Rede war, und weil ſie ſelbſt, die junge Frau, ſo gluͤcklich war mit ihrem lieben32 Manne; warum ſollte ſie nicht die Hand bieten, daß wieder ein gluͤckliches Paar wuͤrde, zumal ſie Suschen ſo lieb hatte und der ſchmucke Schulmeiſter ihr ſelbſt gar wohlgefiel? Merken aber ließ Kaͤthe, das junge Weib, gar nichts von dem Plaͤnchen, das ſie ſich in ihrem eigenen Kopf ganz ſtill zurecht gelegt. Mit dem Merken laſſen wußte ſie, haͤtte ſie Alles von vorn her - ein verdorben. Denn Suschen war gar ſchaͤmig und ſittig und haͤtte eher alles Andere mit ſich thun laſſen, als daß ſie ſelbſt nur einen kleinen Finger dazu ge - geben haͤtte, um ein Kraͤnzlein in’s Haar und dann ein Haͤuschen zu bekommen. Suschen hatte ihr Koͤpfchen in allen Stuͤcken ganz fuͤr ſich, in dem aber zumeiſt. Das bedachte Kaͤthe wohl. Deshalb ſagte ſie auch ih - rem Manne kein Wort davon; denn ſie wußte wie dann die Maͤnner ſind, die koͤnnen nachher ſo ein Spaͤs - chen nicht laſſen, zumal wenn ſie nur erſt ein Wenig tief in’s Glas geguckt haben, was bei einer Kindtaufe gewoͤhnlich nicht unterbleibt. —
Wie nun der Kindtaufvater zu unſerm Schulmeiſter kam, um ihn in aller Form in eigener Perſon einzu - laden, erſchrack dieſer nicht wenig und hatte Muͤhe, Schreck und Verlegenheit hinter einer Miene und vielen Worten freudiger Ueberraſchung zu verbergen. Warum er erſchrack? als wenn’s nicht Jedermann wuͤßte und33 Einer oder der Andere es ſelbſt ſo erlebt! Gevatterſtehen iſt eine theure Ehre und unſer Schulmeiſter hatte das Geld eben nicht uͤbrig. Sein Gehalt war gar klein und dann verſtand er auch das Wirthſchaften noch nicht ſo recht. Nicht etwa, daß er geſchwelgt haͤtte und unnuͤtz Geld verthan! Das konnte ihm gewiß Niemand nachſagen. Sein Fruͤhſtuͤck beſtand oft aus trockenem Brod und ſein Mittagsmahl aus Kartoffeln oder gar kalter Semmelmilch, aber wenn ein Armer vor ſeine Thuͤr kam, den konnt’ er nicht fortſchicken und haͤtt’ er den letzten Biſſen mit ihm theilen ſollen. Auch konnt’ er die Freunde in der Stadt nicht vergeſſen und Alles, was er dort mit ihnen getrieben, war ihm lieb und un - entbehrlich geworden — ſo ſchrieb er manchen Brief, deſſen Befoͤrderung auch nicht umſonſt war und gab manches Stuͤck Geld fuͤr Zeitungen, Buͤcher und Noten aus, denn er wollte nicht zuruͤckgehen, weil er auf dem Dorfe war, ſondern weiter lernen und weiter leben mit ſeiner Zeit, damit er die ihm anvertrauten Kinder auch immerfort erziehen koͤnne in der Zeit und fuͤr die, wel - cher ſie angehoͤrten, nicht fuͤr eine alte, die vergangen war; und daß er uͤberhaupt heilſam zu wirken ver - moͤge in dem ganzen Kreis, in den er geſtellt war. Denn ſeine Zeitungen und Buͤcher vergrub er nicht etwa wie die Gelehrten thun in ſeinem Studirpult., nein, er nahm334ſie mit in die Schenke oder wo er ſonſt hoͤrbegierige Maͤnner traf, theilte ihnen daraus mit, was gut und nuͤtzlich zu hoͤren war und half ſo immer mehr anregen, foͤrdern, einen jeden Einzelnen und ſo auch das ganze Dorf.
Alſo zuerſt erſchrak unſer Schulmeiſter uͤber die Einladung, weil ihm die große Ausgabe juſt recht un - gelegen kam, wie aber Traugott geſagt hatte, Suschen werde mit ihm ſtehen, da ſchien ihm gegen ſolche Freude die Ausgabe noch gering angeſchlagen und gern haͤtt’ er Alles dafuͤr hingegeben. Das wuͤrden ſchoͤne Stunden ſein an ihrer Seite und noch mehr! eine feierliche Handlung, zu der ſie zugleich auserſehen waren, knuͤpfte ja eine Art Band um ſie beide, brachte ſie einander naͤher. Wie dankte er nun wahrhaft geruͤhrt dem Traugott fuͤr die Ehre und ſprach aus vollem Herzen ſeine Gluͤckſeligkeit daruͤber aus. Nun konnte er den Sonntag kaum erwarten, der ihm ein rechter Ehren - und Freudentag werden ſollte. —
Jn Traugotts Hauſe waren nun ſchon allerlei Vor - kehrungen zur Taufe getroffen worden. Suschen half dabei der Hausfrau und war unermuͤdlich im Aufputzen des gan - zen Hauſes. Die alte Mutter Eva war unterdeß viel bei dem Kinde und wiegte und herzte es oft ohne Ende. Die Frau Eva hatte den Auszug bei Traugott und35 wenn und wo ſie konnte, machte ſie ſich gern nuͤtz - lich.
Nun waren die Gaͤſte gekommen. Unſer Schul - meiſter meinte, er habe Suschen noch gar nicht ſo ſchoͤn geſehen wie diesmal. Sie trug ein weißes Kleid mit einem roſa Leibband; um den Hals hatte ſie ein roſa ſeidnes Tuͤchlein geknuͤpft. Da eben die Roſen an zu bluͤhen gefangen, trug ſie einen vollen Roſenkranz in dem ſchoͤnen blonden Haar, das vorn glatt geſcheitelt, im Nacken zu einem runden Neſt aufgeſteckt war. Ei - nen Strauß von Myrthen und Roſen, den ihr der Schulmeiſter geſchenkt hatte, trug ſie vor der hoch - klopfenden Bruſt. So ging ſie zwiſchen dem Schul - lehrer — den ſie gar nicht anzuſehen wagte, der aber heut’ die Augen gar nicht von ihr wegbringen konnte — und dem Vater zur Kirche. Die Kinderfrau trug das Kind vornweg, die beide Eltern folgten. Unſer Pfarrer hielt eine ſehr erquickende und gemuͤthliche Taufrede — unſer Schulmeiſter hoͤrte heute aber gar nicht darauf und als vollends Suschen als die juͤngſte Pathe das Kind auf ihren Arm nahm, es darauf wiegte und zaͤrtlich an - laͤchelte, waͤhrend der Pfarrer die heiligen Zeichen dar - uͤber machte — da ward unſerm Schulmeiſter ganz heiß und enge um’s Herz, das Blut ſchoß daraus in ſein Geſicht empor und er fuͤhlte eine quaͤlende Unruhe, in -3 *36deß er doch noch nie ſo ſelig geweſen war wie jetzt im Anblicke Suschens. Er vermochte aber kein Wort mit ihr zu reden als ſie wieder aus der Kirche gingen.
Jm Hauſe Traugotts, in der funkelneu eingerich - teten Oberſtube ward die Taufe noch gemuͤthlich mit Eſſen und Trinken gefeiert. Da waren noch einige Ver - wandte zugegen, Laura und der Pfarrer mit ſeiner Frau. Die Mutter hatte ihren praͤchtigen Buben, Auguſt war er getauft worden, auch mit herzugeholt und zeigt ihn mit ſtolzen Blicken im Kreiſe herum.
„ Ja, das iſt nun ſchon ſo, “ſagte die alte Eva, wenn man die Kinder ſo klein hat, iſt man ganz naͤrriſch vor Freude und denkt, ſo wie man ſie da auf dem Schooße ſchaukelt, muͤſſt’ man ſie immer auf den Armen halten koͤnnen! Moͤcht’s doch ſo ſein, daß man ſie niemals brauchte von ſich zu laſſen! Aber die kleinen Voͤgel werden alle groß, fliegen aus den Neſtern, verfliegen ſich wohl gar in der Fremde wer weiß wie weit und kommen nicht wieder. Ach, gerade ſo war mein Jo - hanneslein auch — und wie die Kaͤthe jetzt ſpricht, ſie wuͤrd’ ihren Jungen nie von ſich geben, ſo ſagt ich’s auch, und hab’s doch gemußt. Nun iſt er unter die fremden Menſchen gekommen und ich weiß nicht, ob ich ihn noch habe, ob nicht? “
„ Freilich wohl, das iſt nun der Eltern Schickſal! “37feufzte die Pfarrerin — ſie hatte zwei Toͤchter und beide waren auch in fremden Staͤdten verheirathet, darum wußt’ ſie ein Lied davon zu ſingen wie es iſt, wenn die Kinder ſich aus den Neſtern verfliegen und nicht wieder kommen, ſie war nun in ihrem Alter allein, ohne Kinder in ihrem Neſt. Aber ſie ſagte fromm er - geben: „ Die Kinder ſollen wir einmal nicht fuͤr uns allein behalten, zu unſerm Gluͤck allein erziehen, wir muͤſſen ſie hingeben in die Welt, an andre Menſchen, damit ſie wieder unter ihnen wirken, wie wir ja auch gewirkt haben. Es ſteht ſchon in der Bibel geſchrieben, daß die Toͤchter die Mutter verlaſſen, um mit ihren Maͤnnern zu gehen, einſt werden ſie’s wieder ſo erleben und ſich am Ende auch daruͤber kraͤnken — wir ſelbſt haben’s ja auch nicht anders gemacht und ſind von un - ſern Eltern gegangen — ſo thut einmal Jedes wieder daſſelbe, wie es ſchon zuvor gethan worden. “
„ Nun ja doch, “fuhr Eva fort, „ es muß wohl ſo ſein; aber wenn’s Einem Jemand ſo ſagte, da wo man ſie nur eben erſt mit Schmerz und Freude zur Welt gebracht und nun vor Liebe ſich oft nicht zu laſſen weiß — wenn da Jemand ſagte: Du mußt ſie doch hergeben und in deinen alten Tagen wirſt du kinderlos und verlaſſen und einſam daſtehen und nicht vielmehr davon erfahren, ob du noch Kinder haſt oder nicht —38 wenn das Jemand ſagte, dem wuͤrden wir nicht glau - ben, meinen, er rede dies nur, um uns boͤswillig in un - ſerm Heiligſten und Liebſten zu kraͤnken. Damals waͤr’ ich gewiß vor Gram und Sorgen geſtorben, jetzt hat man ein zaͤheres Leben bekommen, und ſtirbt nicht gleich, wenn man auch wieder verlaſſen iſt! “
„ Hat Euch Euer Johannes wohl lange nicht ge - ſchrieben? “fragte die Pfarrerin theilnehmend.
„ Das nun eben nicht, gewiſſenhaft bleibt er und ſchreibt aller vier Wochen, wie er’s nun einmal ver - ſprochen, “antwortete Mutter Eva, „ aber da ſind nun ſchon Jahre vergangen und ich hab’ ihn nicht wieder geſehen, weiß nun gar nicht einmal, wie er ausſieht — ach! und dann Frau Pfarrerin! iſt ein Gelehter und Dichter aus ihm geworden und lauter vornehme Herren und Damen gehen mit ihm um — ich aber bin eine alte ſchlichte Bauersfrau — da wird mir manchmal ganz angſt und bang’ um’s Herz, wenn ich da denk’, er koͤnnt’ ſich wohl ſeiner alten ehrlichen Mutter ſchaͤ - men — da moͤcht’ ich doch gleich, daß der Herr Amt - mann ihn niemals geſehen haͤtt’ und ſich ſeiner nicht angenommen — da waͤr’ er jetzt Tageloͤhner oder Knecht, aber waͤr’ bei mir geblieben als mein lieber Junge und hielte mich in Ehren. Aber da hab’ ich ihn hingeben muͤſſen, weil’s hieß, er werde ſein Gluͤck machen, wenn39 er ſtudiren koͤnnt’ — nun iſt er ein großer Herr ge - worden und wenn’s ihm einmal einfaͤllt, wird er vor den vornehmen Leuten ſeine alte Mutter verleugnen — und da moͤgen ſie noch Alle ſo ſchoͤn thun mit ihm — wie die Mutter hat ihn doch Niemand lieb! “
Eva fing leiſe an zu weinen und wiſchte ſich mit der weiten weißen Schuͤrze die hellen Thraͤnen von den runzlichen Backen. Die grauen Haare, die unter dem weißen Muͤtzchen auf der Stirn hervorkamen, ſchob ſie wieder darunter und machte ſich vor ihrem Geſicht zu thun, damit die heitern Gaͤſte nicht gewahr wuͤrden, wie ſie weinte.
Unſer Schulmeiſter hatte es doch gemerkt und fluͤſterte Suschen zu: „ Warum weint denn die Mutter Eva “?
„ Sie hat’s heute ſchon den ganzen Tag ſo getrieben, “verſetzte Suschen, „ ſobald ſie den kleinen Buben zu ſehen bekommt, denkt ſie an ihr Johanneslein, an den Tag, da er getauft worden und wie ſie ihn nun nicht mehr haben kann wie damals, weil etwas Großes aus ihm geworden iſt. Moͤcht’ ihn ſchon auch einmal wieder - ſehen — muß ein ſchoͤner Menſch geworden ſein! “
Die letzte Bemerkung verdroß unſern Schullehrer ein Wenig, warum hatte denn Suschen das Verlangen, den Johannes wieder zu ſehen? und warum mußte ſie denn vorausſetzen, daß er ein ſchoͤner Menſch geworden ſei? ſie hatte gar nicht noͤthig, ihn ſchoͤn zu finden. Er40 fragte ſie weiter nach dem Johanneslein und was denn eigentlich mit ihm ſei?
Da erzaͤhlte Suschen: „ Johanneslein war zehn Jahr alt, wie ſein Vater ſtarb, der das Guͤtchen hier hatte — und auch nicht hatte, denn Ungluͤck aller Art vielleicht auch, daß er nicht immer gut gewirthſchaftet, hatte ihn zuruͤckgebracht, und da er ſtarb fand ſich’s, wie verſchuldet Alles war — die arme Eva konnte Nichts vom ganzen Gut behalten, als die Auszugskammer, die ſie noch hat. Damals war noch ein Gerichtshalter hier im Dorfe (ſeitdem iſt das anders geworden, damals aber hatten wir noch ein beſonderes Gericht, unter das wir gehoͤrten) der einen Buben hatte, nur ein Jahr aͤlter als Johannes, der ſein liebſter Spielgefaͤhrte war. Der Gerichtshalter war zu fuͤrnehm, den Buben in die Dorfſchule zu ſchicken — die war damals auch ſchlecht und gar nicht wie jetzt, ſeit “— Suschen erroͤthete und brach ihre Rede ab, der Schulmeiſter druͤckt ihr ganz ſchnell und leiſe die Hand, wodurch ſie vollends ver - legen ward und das Wort im Munde vergaß; end - lich fing ſie nach einer guten Weil’ wieder an, wo ſie ſtehen geblieben, da ſie durch Schweigen nichts gewann, als daß ſie fuͤhlte, wie zaͤrtlich und gluͤhend des Schul - meiſters Blicke auf ihr ruhten und er auch kein Wort ſprach, ſondern nur immer wieder nach der Hand haſchte,41 die ſie doch jedesmal wegzog — ſo fuhr ſie fort: „ Alſo der Gerichtshalter ließ ſeinen Buben beim Herrn Pfarrer ſelber Schule geben und da der meinte, Einer allein ſei nicht gut, ſo kamen Friedrich und Johannes mit dazu. Aber der lernte von Allen am Beſten, wie der Herr Pfarrer immer ſagte. So ging es nun auch fort, wie ſein Vater todt war, Eva hatte fuͤr den Buben nicht viel zu ſorgen und nun ſeht: wie der Junge des Ge - richtshalters Vierzehn war, zum Abendmahl ging und dann in die Stadt ſollte auf eine Schul’, um einmal ein Gelehrter zu werden, da ſagte der Bube, er ginge nicht, wenn Johannes nicht mit ginge. Der Gerichts - halter uͤberlegt es hin und her und endlich entſchloß er ſich doch, denn er war reich und hatte weiter keine Kin - der. Und ſo gingen die beiden zuſammen fort und Mutter Eva hatte nun ihren Johannes immer nur, wenn Ferien war, da kam er her. Wie er nun aber immer groͤßer ward und immer kluͤger, zog er noch weiter fort auf die Hochſchul’ und ward ein großer Herr Studente. Da war es auch, wo der Gerichtshalter hier fortkam und wir haben ſeitdem Niemand von ſeiner ganzen Sippſchaft wieder geſehen. Johannes iſt nun aber auch ſeit Jahren nicht zur Mutter Eva gekom - men, weil die Stadt ſo weit iſt, in der er ſtudirt — und weil das Studiren ſo viel Geld koſtet, daß er gar nicht Alles von ſeinem Wohlthaͤter annehmen mag, viel -42 mehr ſo fleißig iſt, ſich ſchon ſelbſt Manches zu ver - dienen — aber da hat er weder Zeit noch Geld uͤbrig zur Reiſe und hat nicht herkommen koͤnnen. Da kraͤnkt ſich nun die Mutter Eva, daß ihr ſei als habe ſie kein Kind mehr, und daß ſie auch nicht wiſſe, ob er noch ſo gut und fromm ſei wie damals, als ſie ihn wegge - geben und ob er nicht gar ein vornehmer Herr gewor - den und der Bauernmutter ſich ſchaͤme. “
„ Da muͤßt er ja ein ganz ſchlechter Menſch ſein! “rief unſer Schulmeiſter aus, „ das wird er doch nicht. Die Mutter muß er doch in Ehren halten und waͤr’ er ein Fuͤrſt geworden. Was waͤre das fuͤr eine Zeit, in der ein Kind ſeiner Mutter ſich ſchaͤmen duͤrfte, nur deshalb, weil ſie arm und keine vornehme oder gelehrte Frau iſt. Das macht doch nicht den Werth des Menſchen aus! “
Das Geſpraͤch ward jetzt unterbrochen, weil die Thuͤr auf einmal ganz leiſe aufgemacht ward und ein junger Mann hereintrat und dazwiſchen wie eine Er - ſcheinung ſtehen blieb. Er ſah ſo fremd aus und Nie - mand kannte ihn. Lichtbraunes Haar floß lang und ein wenig verwirrt um ein ſchoͤnes, edles Angeſicht und ein zierlicher Bart um den laͤchelnden Mund. Mit dunklen, wunderbar leuchtenden Augen ſpruͤhte er im Kreiſe umher. Jn dem ſchwarzen Sammtuͤberrock bis oben hinauf unter einen weißen Hemdkragen zugeknoͤpft,43 in der Hand einen runden, grauen Filzhut und ein Spazierſtoͤckchen mit blitzendem Knopf von Stahl, ſah er gar ritterlich aus. Niemand kannte ihn, gleichwohl ward Alles ſtill, weil Alle mit Verwunderung nach dem Fremdling aufſchauten und der Kindtaufvater endlich zu - erſt auf ihn zuging, fuͤglich zu fragen: was er wohl wollte. Eva hatte im Nebenſtuͤbchen zu thun gehabt — da wundert ſie ſich, daß es auf einmal drinn, wo die Gaͤſte ſitzen, ſo ſtill geworden — ſie geht hinein, um zuzuſchauen, was es drinn wohl giebt. Wie ſie nun zwiſchen die Thuͤr kommt und ſieht den ſchoͤnen Fremd - ling, den Alle anſtaunen und der jetzt den Kindtauf - vater nur mit betruͤbter Stimme antwortet: „ Ach, kennt mich denn keine Menſchenſeele mehr? “da bleibt unſre Mutter Eva erſt ganz erſtarrt zwiſchen der Thuͤr ſtehen, dann ſchreit ſie auf, ſchreit „ Johanneslein! “und ſtuͤrzt, ohne nur weiter ein einzig Wort hervor zu bringen, auf den Fremdling zu — der nun Allen kein Fremder mehr iſt. Da ſpringen nun Alle auf, umringen ihn mit lau - ten froͤhlichen Gruͤßen — aber noch hat er fuͤr Niemand weiter Zeit. Nur ſein Muͤtterlein herzt und kuͤßt er; gar kein Ende will er damit finden. Auch Mutter Eva kann noch immer kein Wort herausbringen — ſie weint ganz laut, daß die hellen Thraͤnen uͤber ihr Geſicht herabrinnen. Der Sohn iſt gar ſo hoch aufgewachſen,44 er muß ſich tief buͤcken und ſie ſich ganz lang machen, daß ſie ihn nur recht in die glaͤnzenden Augen ſehen kann. Endlich iſt der erſte Sturm der Ueberraſchung doch voruͤber. Da iſt nun das Johanneslein, von dem eben ſo viel die Rede war, mitten unter ihnen und iſt ein gar ſtattlicher Johannes aus ihm geworden. Es iſt gegangen wie’s das Sprichwort ſagt: wenn man den Teufel an die Wand mahlt, ſo kommt er, nur daß es diesmal freilich kein Teufel war, ſondern ein guter, lie - ber Menſch, der theuere Sohn einer theuern Mutter, welcher kam. Mutter Eva vergißt Alles, was ſie nur vorhin erſt geſagt hat vom Fortfliegen und Verfliegen der Kinder und wie ſie nicht wiſſe, ob ſie noch einen Sohn habe, ob nicht, und wie ſie ſich quaͤle, ob er ſeine alte Mutter noch lieb habe. Jetzt ſieht ſie es, jetzt hat ſie ihn wieder und da iſt Alles gut. Und wie ſie ihn ſo ſchoͤn und groß vor ſich ſieht, hat auch der muͤtter - liche Stolz und Ehrgeiz wieder ſein Recht. Da richtet ſie ſich nun endlich vor ihm auf aus der langen Um - armung und ſagt mit unendlichem Triumph im Ton der Stimme und in dem vom hoͤchſten Gluͤck verklaͤrten Mienen: „ Nun ſeht einmal! das iſt mein Johannes. “
Und Johannes ſchuͤttelt nun auch dem Wirth und der Wirthin die Haͤnde und ſpricht: „ Nun, Jhr nehmt’s doch nicht uͤbel, daß ich gleich ſo herein gekommen bin45 an Eurem Ehrentag. Gleich unten, wie ich in’s Haus trat, fragt’ ich nach Mutter Eva — die Maͤgde ſtaunten mich an und ſagten, ſie ſei droben bei den Gevattergaͤſten — da konnte ich nun nicht ſchnell genug die Treppe her - aufkommen, daß ich ſie wieder ſehe — aber ich dachte auch: Jhr wuͤrdet mich ſchon erkennen — und doch kennt mich Niemand, als eben nur die Herzensmutter. Das nun freilich haͤtt’ ich mir nicht traͤumen laſſen! Auch Sie, Herr Pfarrer, haben mich nicht einmal er - kannt, das koͤnnte mich betruͤbt machen, wenn ich nicht eben zu gluͤcklich waͤre uͤber all’ dies Wiederſehen! “ „ Laſſen Sie ſich’s nur nicht kraͤnken, “ſagt’ der Pfarrer, „ meine alten Augen fangen an bloͤde zu werden, aber im Herzen iſt noch jede Erinnerung friſch und jung. Wie Sie ſprachen, erkannte ich Sie gleich! Die Stimme iſt geblieben wie ſie war, aber lang heraus - gewachſen ſind Sie und in ihrem Alter aͤndern fuͤnf Jahre das Geſicht auch. Damals ſah man noch kein Haͤrchen, wo jetzt der zierliche Bart iſt. “
Johannes wendete ſich darauf zu den Andern und ſagte: „ Dort iſt ja auch Suschen, groß herausge - wachſen und aufgebluͤht, die damals noch in die Schule ging! Nun wir werden ſchon wieder gute Freunde wer - den und bleiben wie einſt! “und er ſchuͤttelte ihr herz - lich die Hand.
46„ Ei ja doch! “ſagte ſie „ wenn nur ſonſt Johannes wieder zu uns kommt, wie er fortgegangen; “und ſie laͤchelte ihn dabei gar zutraulich an.
Unſer Schullehrer ſah ein wenig ſcheel darein bei dieſem Haͤndeſchuͤtteln und Zulaͤcheln. Er hatt’ es von vorhin noch nicht vergeſſen koͤnnen, daß ſie geſagt hatte, ſie moͤge wohl auch gern den Johannes einmal wieder - ſehen, er muͤſſe ein recht ſchoͤner Menſch geworden ſein — nun war er gar ſchon da, war ein ſchoͤner Menſch geworden, druͤckte ihr die Hand, ſie ließ es ſich gefallen wie von ihm noch niemals und ſah ihn mit ſo großen Augen treu - herzig und vertraulich an, wie ihn auch noch nie - mals — gute Freunde brauchten ſie nun gar nicht zu werden und zu bleiben, dachte unſer Schullehrer, das hatten ſie gar nicht noͤthig und kurz, er ſah ganz aͤrger - lich vor ſich nieder.
Traugott ſagte zu dem Ankoͤmmling: „ Aber nun ſoll’s an ein Erzaͤhlen gehen! Nun ſetzen ſie ſich zu uns, neben Jhr Muͤtterlein hierher und “—
„ Traugott! “rief Johannes ganz vorwurfsvoll: „ wollt Jhr mich denn mit Gewalt unter Euch zum fremden Manne machen? Sind wir nicht Duzbruͤder geweſen von Kindheit auf? und nun ich endlich einmal wieder komme, froh und gluͤcklich mein liebes Heimathdorf zu begruͤßen, wo mir die liebſten Menſchen wohnen und47 ich Euch lieber Alle umarmen moͤchte vor Freude, daß ich nun da bin, wo jeder Baum und jedes Haus, ja jedes Winkelchen hier mich noch vertraulich gruͤßt — da iſt’s, als waͤren die Menſchen nicht mehr die Alten — kennen mich nicht — nennen mich Sie — und “
„ Nun, nun! “unterbrach ihn Traugott, „ wenn Du ſo ganz der Alte wiederkommſt, heftig, wie Du als Junge warſt, aber treu, daß man Haͤuſer auf Dich bauen konnte, nun, da wird ſchon auch Alles mit uns in’s alte Geleis kommen — aber ſieh! daß ich’s nur gerade heraus ſage, wenn wir von Dir redeten, da hieß es immer: Ja, der Johannes hat nun viel gelernt, iſt ein großer und feiner Herr geworden, der nur mit vornehmen und gelehrten Leuten umgeht, der wird nicht mehr nach dem ſchlichten Bauernvolk fragen, unter dem er aufgewachſen. Der kommt nun auch nicht mehr zu uns, das Doͤrflein iſt ihm viel zu gering geworden, ſeit er in den großen, ſchoͤnen Staͤdten leben gelernt. “
„ Und ich habe bei Euch wirklich in keinem beſſern Andenken gelebt? “ſagte Johannes vorwurfsvoll: „ Wo - mit hab’ ich das verdient? habt Jhr denn die Leute ſo Schlechtes von mir reden hoͤren? “
„ Erzaͤhlt iſt uns eben immer nur Gutes von Dir worden. Die groͤßten und beruͤhmteſten Maͤnner gingen mit Dir um und die ſchoͤnſten und vornehmſten Frauen48 riſſen ſich darum, mit Dir zu tanzen. Du haͤtteſt gar viel gelernt und waͤrſt bei Alt und Jung gern gelitten. Auch, daß du ſchoͤne Verſe machen kannſt und ein großer Zeitungsſchreiber geworden. Und ſieh nur, da dachten wir, wenn Alles ſich ſo verhaͤlt, wird er frei - lich fuͤr uns verloren ſein; da wird ihm bei uns ſchlich - ten Leuten die Zeit lang werden und er wuͤrde ſich ſchoͤn umſehen, wenn er manchmal mit vornehmen Leu - ten ſpazierte und Einer von ſeinem Dorf kaͤm’ und ſpraͤche: „ Bruder, das ganze Dorf laͤßt Dich gruͤßen! “erklaͤrte Traugott.
„ Ja, “ſagte Eva und ſtreichelte die Locken des Soh - nes, „ ich mußt’ auch immer an den alten Berger den - ken, wie der mir erzaͤhlte, wie’s ihm in der Stadt mit ſeinem Sohn gegangen und den der Schmerz um ihn bald umbrachte als er zu mir ſagte: Das hat man davon, wenn die Soͤhne vornehme Herrn werden und man bleibt ſelber doch ein Bauer, Jhr werdet’s ſchon auch noch erfahren! “
„ Und was war dem Berger begegnet? “fragte Jo - hannes geſpannt.
Eva ſagte: „ Nein — ſo koͤnnteſt Du doch nicht ſein! “und ſtreichelte ihren Sohn, aber wollte weiter nicht mit der Sprache heraus.
„ Jch bitt’ Euch, erzaͤhlt! “bat Johannes.
49„ J, “nahm die Kindtaufsmutter das Wort, „ dem Berger ſein Sohn iſt Schreiber in der Stadt geworden und hat’s nun bis zum Regiſtrator gebracht. Da macht er ſich nun gar wichtig. Kommt da einmal ſein alter Vater in die Stadt und ſucht den Sohn in dem Gaſt - haus, wo er zu eſſen pflegt mit ſeinen Kameraden und andern Leuten, die noch mehr ſind. Wie nun der Va - ter eintritt, laͤuft der Sohn ſchnell auf ihn zu — aber nicht, um ihn zu umarmen, wie er denkt, ſondern um ihm zuzuraunen: „ Kommt hernach mit auf meine Stube, hier kann ich Euch nicht ſprechen vor den fremden Her - ren, thut nicht etwa vertraut mit mir, daß ſie merken, Jhr waͤret mein Vater — ich rath’ Euch Gutes. “
„ Das iſt doch ganz niedertraͤchtig! “riefen Einige der Gaͤſte.
Johannes ſagte: „ Nun, Gott ſei Dank, Mutter, daß Du vorhin ſagteſt, ſo koͤnnte Dein Sohn nicht ſein! wenn Du je mich haͤtteſt fuͤr einen ſolchen Schurken halten koͤnnen — ich haͤtt’s nie vergeſſen! “
„ Nun, brauſe nur nicht gleich auf! “ſagte die Mutter beſaͤnftigend, aber die Welt iſt nun einmal ſo, bedenk’ einmal recht, glaub’s ſchon, die Mutter wuͤrdeſt Du nie verleugnen und ſie wegweiſen, kaͤm’ ſie einmal zu Dir — aber kaͤm’ nun ſo ein armer Knecht, der auch Dein Schulkamerad geweſen und redete Dich vertraulich450an, wenn Du mitten unter hohen Herrſchaften waͤreſt, ſpraͤcheſt doch am Ende, Du kennteſt ihn nicht, oder er ſollte Dich ungeſchoren laſſen bis Du allein mit ihm reden koͤnnteſt — und wer weiß, ob Du nicht irgend ein - mal gethan, als wenn Du kein Bauersſohn waͤreſt! “
„ Ach, Mutter, wie moͤgt Jhr mich nur Alle ſo be - truͤben? “— ſagte Johannes „ ich antworte auf dies Alles gleich gar nicht, aber es kraͤnkt mich, daß Jhr ſo ſchlecht von mir denkt, ich weiß nicht, womit ich’s verdient habe. Es wird da ſchon gut ſein, wenn ich einmal lange hier bei Euch bleibe, damit Jhr mich wieder ordentlich kennen lernt. Vertheidigen mag ich mich nicht — Eins aber koͤnnt’ ich wohl thun. Jhr habt ſchon gehoͤrt, daß ich Verſe mache — nun, da hab’ ich neulich welche in ein großes Blatt ruͤcken laſſen, das viele Tauſende leſen, da koͤnnt Jhr darnach ſehen, wie ich bin — erlaubt Jhr mir, daß ich ſie Euch vorleſe? “
„ Ei ja! “rief Alles und Johannes las:
Mutter Eva ſaß da mit andaͤchtig gefalteten Haͤn - den, als ſei ſie in der Kirche — ſie ſah bewundernd zu ihrem Sohne auf und wußte gar nicht mehr, was ſie vor freudigem Staunen thun und ſagen ſollte. Außer den Verſen im Geſangbuch und den Hochzeitcarmen, wie ſie zuweilen im Dorfe uͤblich waren, hatte ſie nie Verſe gehoͤrt. Dieſe ganze Kunft erſchien ihr als ſo außer - ordentlich, daß ſie gar nicht begriff, wie ihr Sohn dazu komme und wie ſie ſelbſt dazu komme, einen ſolchen Sohn zu haben — vor Bewunderung war ſie ganz ſtill ge - worden. Traugott aber und ein paar der juͤngern Maͤn - ner ſprangen haſtig auf, umarmten unſern Johannes und ſagten, auf einmal ganz zutraulich geworden: Und das haſt Du wirklich Deinen vornehmen Bekannten vor - geleſen und in den großen Blaͤttern drucken laſſen? — Ja Du biſt unſer Bruder, unſer alter Johannes! “
Unſer Pfarrer aber trat auch zu ihm hin: legte ſeine Hand wie ſegnend auf ſeine Stirn und ſagte zur Mutter Eva: „ Wohl dem, der Freude an ſeinen Kindern erlebt! “
Unſer Schullehrer, der eigentlich nicht gut auf Jo - hannes zu ſprechen geweſen, weil er ihm mit Suschen zu vertraut that, ſtreckte ihm jetzt auch die Hand uͤber den Tiſch weg hin und ſagte herzlich: „ Nun kann ich53 ſchon hoffen und bitten, daß wir auch bald gute Freunde werden! “
Johannes dankte Allen froͤhlich und herzlich und ſagte: „ Nun, wenn die paar einfachen Verſe Euch Alle bekehrt haben, wieder an den alten Johannes zu glauben, ſo koͤnnen Euere Zweifel an ihm doch nicht ſo gar groß geweſen ſein. Wenn wir nun lange bei einander ſind, denk’ ich, werden wir Alle gut zuſammen auskommen! “
„ Und Du willſt wirklich lange bei uns bleiben, mein Junge? “fragte Mutter Eva. „ Aber nun erzaͤhl’ nur auch, wie Du eigentlich hergekommen? “
„ Das iſt bald geſagt, auf der Eiſenbahn! da iſt nun der weite Weg zu einer kleinen Strecke einge - ſchmolzen und das Reiſen weit um die Haͤlfte billiger, “begann Johannes — der Richter ſchlug triumphirend auf den Tiſch und rief:
„ Hab’ ich’s nicht gleich geſagt, daß uns die Eiſen - bahn allerlei Gutes bringen wird? “
Johannes fuhr fort: „ Jch hatt’ es lang’ im Sinne, zu kommen, ſobald ſie fertig ſei, aber ich ſchrieb es nicht, weil ich immer dachte: am Ende kommt Dir doch noch etwas darein, wie ſchon oft, dann wartet die gute Mutter vergebens und graͤmt und aͤngſtigt ſich halb todt, wenn ich ausbleibe, drum ſchreib’ ich lieber Nichts. Jn den erſten Tagen kam ich auch wirklich nicht gleich dazu54 und nur auf ein paar Tage mocht’ ich mich nicht los machen, ſondern auf laͤnger — “
„ Und auf wie lange? “fragte Mutter Eva, die es gar nicht erwarten konnte, zu berechnen, wie lange ſie ihr Herzenskind bei ſich haben koͤnnte, zugleich aber immer fuͤrchtete, er werde ſie wieder aus ihrem Himmel ſtuͤrzen, wenn er den Tag der Abreiſe feſtſetzte, den ſie dann wie ein ſchwarzes Geſpenſt ſich immer drohend naͤher ruͤcken ſehen muͤſſe; darum fuͤgte ſie hinzu: „ Oder ſag’s lieber nicht, ich will gar nicht wiſſen, wann Du wieder gehſt, der graͤßliche Tag wird bald genug kommen, ich will nur froh ſein, daß Du da biſt! “
„ Freue Dich immer, Mutter, aber ſagen kann ich’s doch auch — jetzt haben wir Juni — Juli — Au - guſt — September — und vorher wollen wir kein Wort vom Fortgehen und Trennen reden, dann wird ſich’s finden; ſo lange muͤßt Jhr mich ſchon im Dorfe behalten! “laͤchelte Johannes.
Alle ſprachen nur ihre Freude und Verwunderung aus, daß er wirklich ſo lange bei ihnen bleiben wolle — unſere Mutter Eva war aber zu uͤberſelig, um nur ein Wort ſprechen zu koͤnnen. Sie umarmte ihren Sohn mit beiden Armen und weinte wieder ſtill vor Freude, das Geſicht an ſeine Bruſt gedruͤckt, weil ſie ſich ſcheute, ihre heiligen Mutterthraͤnen ſehen zu laſſen.
55„ Nun, Muͤtterchen, laß nur! “fluͤſterte er, „ nun mach’ ich wieder gut, was ich durch jahrelanges Weg - bleiben verſchuldet habe und Du darfſt nicht mehr daran denken, wenn ich Dir unterdeß Kummer gemacht — hab’ ihn ſelber ja auch gehabt, denn immer hatt’ ich Sehnſucht, wollte reiſen und konnte doch nicht. “
„ Aber wirſt auch nicht Langeweile haben? “ſagte ſie wieder bedenklich —
„ Nein, ich darf hier auch nicht muͤßig gehen, ſon - dern habe mir viel Arbeit mitgebracht — deßhalb eben konnt’ ich ſo lange abkommen. Jch hab’ ein Buch fuͤr das Volk zu ſchreiben verſprochen, das zum Herbſt fer - tig ſein ſoll — das bringt mir genug ein, daß ich ein - mal die Reiſe machen und den andern Verdienſt in der großen Stadt, Zeitſchriften und Alles im Stich laſſen konnte. Fuͤr das Buch wird es gut ſein, wenn ich hier in rechter Stille lebe, fern von den Zerſtreuungen und dem tobenden Getreibe der Stadt, “erklaͤrte Jo - hannes.
Die Leute, die vorhin endlich zutraulich geworden waren, ſahen ihn jetzt wieder verdutzt an, erſtaunt und bedenklich zugleich. Ein ganzes Buch wollt’ er ſchreiben in ein paar Monaten und gerade mitten unter ihnen, ſo ganz allein aus ſich heraus, ohne andere Buͤcher und Huͤlfsmittel — das erfuͤllte ſie abermals mit einer Art56 Ehrfurcht vor ihm; aber er ſcherzte dieſe bald wieder hinweg, da er nach einer Menge Leute und Dinge fragte, an die er ſich noch von fuͤnf Jahren her er - innerte, und uͤber Alles um Auskunft bat.
Dann ſagte Traugott: „ Du bleibſt doch bei uns? wir raͤumen Dir das Nebenſtuͤbchen ein, neben der Kammer Deiner Mutter — “
„ Oder, “ſagte der Richter, „ wenn hier am Ende das Kleinekinderſchrein ihn ſtoͤrt, ſo kann er auch bei uns wohnen; in der Oberſtube iſt Platz.
„ Ei ja doch! “fiel Suschen ein, da will ich’s ſchon gemuͤthlich einrichten, die Fliegen hinausjagen, daß Sie keine unterm Schreiben ſtoͤrt, und kein Maͤuschen ſoll ſich ruͤhren! “
Unſerm Schulmeiſter ward ganz blau vor den Au - gen, wenn er daran dachte, daß Johannes mit Suschen unter einem Dach wohnen koͤnnte, und daß ſie ihn ſelbſt dazu einlud, brachte ihn foͤrmlich auf; natuͤrlich ließ er ſich’s weiter nicht merken, nur daß er unwillkuͤrlich von Suschen ein Stuͤcklein mit ſeinem Stuhl wegruͤckte, den er vorhin gar nicht nahe genug zu ihr hatte ſchieben koͤnnen. Er athmete ein Wenig leichter auf, als er auch den Pfarrer ſagen hoͤrte:
„ Wohnt bei uns, lieber Johannes, da iſt es am allerſtillſten und Sie finden bei mir gleich Alles, was Sie brauchen. — “
57„ Ja, “bekraͤftigte die Pfarrerin, „ da wuͤrde es in unſerm Haus wieder einmal ein Bischen lebendig. Seit meine Maͤdchen ſich beide in andere Neſter verflogen, wie Mutter Eva ſagt, iſt es in den huͤbſchen Tapeten - ſtuben ganz ſtill und einſam; wie wollt’ ich mich freuen, wenn ſie wieder einmal bewohnt wuͤrden! “
Johannes dankte geruͤhrt fuͤr ſo viel Guͤte und Liebe, nahm aber keins von allen Anerbieten an, indem er ſagte: „ Jch habe meinen Plan ſchon gemacht, dieſe Nacht bleib’ ich bei meiner guten Mutter und morgen — zieh’ ich in die Burg. “
„ Jn die Burg? “riefen Alle verwundert.
Nun war die Burg naͤmlich die Ruine eines alten Schloſſes, das ehemals auf dem Berg, der ſich gleich hinter der Kirche erhob, geſtanden hatte. Die Guts - herrſchaft unſres Dorfes beſaß es, zugleich aber noch einen ſtattlichen Herrenhof auf einem andern Dorf, ei - nige Stunden entfernt, wo ſie auch nur hier und da im Sommer lebte. Jn der Ruine wohnte im Erdge - ſchoß ein alter Vogt mit ſeiner Frau, der die verfallene Beſitzung zu huͤten hatte und nebenbei die Fremden herum zu fuͤhren und wohl auch zu bewirthen, die etwa herkamen, die Burg zu ſehen. Das geſchah aber ſelten, weil ſie eben keine beſondern Merkwuͤrdigkeiten bot, von der Hauptſtraße fuͤr die Reiſenden zu weit ablag58 und uͤberhaupt nicht beruͤhmt war. Der Thurm davon war noch gut erhalten und enthielt eine altvaͤteriſch ein - gerichtete Stube und Kammer, in der aber noch nie Jemand von der Gutsherrſchaft gewohnt hatte und in die der Vogt die Fremden auch nur auf Augen - blicke ließ.
Johannes ſagte jetzt: „ Die Erlaubniß dazu hab’ ich in der Taſche — ich traf vor ein paar Wochen unſern Gutsherrn ganz zufaͤllig in einer Geſellſchaft, er wußte nicht, wer ich war, und man hatte mich vorzuſtellen ver - geſſen. Jch hatte ein Gedicht vorgeleſen und er ſagte mir einiges Schmeichelhafte daruͤber — es ſtanden ge - rade noch ein paar Herren mit Orden um ihn herum und die alte Luſt ſpukte wieder einmal in mir, die vorneh - men Herren ein Bischen zu aͤrgern und zu demuͤthigen.
„ Das haͤtt’ ich nicht gedacht, ſagt’ ich zu ihm, daß Sie einmal ein Gedicht von dem aͤrmſten Bauerjungen aus Jhrem Dorfe loben wuͤrden. “ Er ſah mich groß an und ich nannt’ ihm meinen Namen und erzaͤhlte kurz, wie Alles gekommen. Er nahm eine leutſelige Miene an, hinter der er, der Herr Graf, ſeinen Ver - druß zu verbergen ſuchte, daß er mit dem Bauersſohn an einem Tiſche geſeſſen und ſo freundſchaftlich ge - ſprochen hatte, und ſagte: „ Es freut mich ungemein, daß ſich unter meinen Dorfkindern ein ſolches Talent ge -59 funden, wenn Sie einmal Jhre Heimath beſuchen, werde ich mich freuen, Sie in meinem Schloſſe zu ſehen — und kann ich nicht vielleicht hier etwas fuͤr Sie thun — ich unterſtuͤtze Talente gern — “„ Sie ſehen, “ſagte ich, daß ich mich mit Huͤlfe unſres ehemaligen braven Herrn Gerichtshalters ſchon ein Wenig herausgearbeitet habe — hier brauche ich Jhre Guͤte nicht in Anſpruch zu neh - men, aber wenn ich wieder in mein Dorf gehe, da haͤtt’ ich wohl eine Bitte “— er mochte denken Wunder was ich fordern werde und ſah mich groß an — ich bat ihn um die Erlaubniß, in ſeinem Thurm zu wohnen, wor - uͤber er ſogar lachte und mir am andern Tag einen Brief an ſeinen Vogt zur Legitimation zuſchickte. “
Durch dieſe kleine Geſchichte ſtieg nun unſer Jo - hannes auf’s Neue ſehr in Anſehn und Liebe bei Allen, die ſie hoͤrten. Der Gutsherr, wußten ſie, war ein ſehr ſtolzer Mann, der ſie ganz wie Unterthanen be - trachtete — er war aber doch gegen Johannes freundlich geweſen — und dieſer hatte gleich einen Beweis gegeben, wie er auch vor den Herren mit Stern und Orden ſich als armen Bauerjungen zu erkennen gab.
So verging nun der ganze Abend noch auf’s Froͤh - lichſte. Am ſeligſten von Allen war aber doch Mutter Eva und konnte nun auch erſt recht die Freude der Kaͤthe uͤber ihren Buben von ganzem Herzen theilen. Nun60 ſagte ſie gar nicht mehr, daß die Kaͤthe ſchon auch noch Schmerz erleben werde, wo ſie jetzt nur lauter Freude ſaͤhe — wenn es ihr gehen werde wir ihr, der Eva, daß ihr Bube groß werde, ſie ihn hergeben muͤſſe und er gar verfliege, daß es ſei, als habe ſie kein Kind mehr — nun ſagte Mutter Eva, gerade auf ihren Herzens-Jo - hannes zeigend, zur Kaͤthe: „ Moͤg’ Dein Auguſt auch ſo Dein Stolz und Deine Freude werden, wie mir’s mein Johannes geworden! “
Unſre Mutter Eva hatte fuͤr ihr Johanneslein das Bett ſo ſorgfaͤltig zurecht gemacht, wie ſie damals zu thun pflegte, als er noch ganz klein war und in der Wiege lag, und wie er nun von ihr gute Nacht nahm, um zu Bett zu gehen, da lehnte ſie die Thuͤr in ihr Kaͤmmerlein nur an, damit ſie auch hoͤre, wenn ihr Liebling ſchlafe. Sie hatte ihr Laͤmpchen angezuͤndet und las den Abendſegen leiſe vor ſich hin. Und wie ſie ihn zu Ende geleſen und das Buch zugeſchlagen hatte, ſaß ſie noch lange mit gefalteten Haͤnden da und dankte Gott inbruͤnſtig fuͤr den heutigen Tag und fuͤr das Gluͤck, das er ihr geſchenkt hatte. Jhre ganze Seele ging in dem einzigen Gedanken auf. — Dann erhob ſie ſich, nahm die Brille ab, ſchob ſie wieder in ihr Futteral und machte ſich noch allerlei zu thun. Ein Stuͤndlein mochte nun wohl vergangen ſein, ſeit der62 Johannes ſich ſchlafen gelegt. Mutter Eva mußte ihn doch noch einmal ſehen, ehe auch ſie ſchlafen ging. Sie zog ihre Pantoffeln aus, damit ihr Auftreten ja kein Geraͤuſch mache, dann machte ſie ganz ſacht und leiſe die Kammerthuͤr auf, ſteckte erſt nur ihren Kopf durch und lauſchte. Sie hoͤrte ruhige Athemzuͤge, wie ein junger Mann ſie thut, der einen geſunden Schlaf hat. Nun nahm ſie auch ihr Laͤmpchen, zog erſt mit einer Stecknadel den Docht ein Wenig in die Hoͤhe, damit er heller brenne und hielt nun die eine Hand vor dem flackernden Schein. So ſchlich ſie ſich wieder in das Stuͤbchen, zum Lager des Sohnes. Er ſchlief feſt und ruhig; ſein Antlitz war ihr zugekehrt, ein heiterer Friede lag darauf, wenn auch ein Zug um den Mund, die Wangen hinauf andeutete, daß auch ſchon mancher Schmerz und mancher Kampf von dem Schläfer ge - rungen worden. Der Schlaf hatte die Wangen hoͤher geroͤthet, die vorhin blaß geweſen waren. Jn die ſchoͤ - nen theuern Augen konnte die Mutter jetzt freilich nicht ſehen, aber ſie weidete ſich doch am Anblick dieſes theuern Geſichtes, des Geſichts ihres Sohnes! — Sie ſtellte das Laͤmpchen auf einen Tiſch hin, daß es ihn beſchien, aber doch nicht zu nahe war — in ſeliger Ruͤhrung neigte ſie ſich uͤber ihn und kuͤßte ihn noch einmal, ganz leiſe nur, damit ſie ihn ja nicht wecke. Eine lange63 Zeit war ſo vergangen — das Laͤmpchen fing an ganz matt zu brennen, da riß ſie ſich endlich von ſeinem An - blick los, um nun auch ſchlafen zu gehen. Sie ſchlich wieder leiſe in ihr Kaͤmmerlein, ließ die Thuͤr aber weit auf. Das Laͤmpchen verloͤſchte ſie nun auch und legte ſich zur Ruhe. Aber das half ihr nicht viel, die Freude ließ ſie nicht ſchlafen, ſie konnte davor kein Auge zu - thun; immer nur dachte ſie an ihren Johannes — daß ſie ihn wieder habe, lange behalten werde, daß ſein Herz auch in der großen Welt ganz ſo geblieben ſei, wie ſonſt, ſie ſo lieb habe und ſein ganzes Dorf gewiß viel mehr als all die großen Leut’, mit denen er lebte — und wie ſie ihn nun ſo ſtattlich und ſchoͤn vor ſich geſehen habe. Unterdeß ging der Mond auf und ſchaute in die kleinen Fenſter hell und neugierig herein. Da ſagte Mutter Eva ſtill zu ſich ſelber: Schlafen kann ich nun einmal nicht, warum ſoll ich’s nicht machen, wie ſonſt? Da hab’ ich Naͤchte lang an Johanneslein’s Wiege wach geſeſſen und ſeinen Schlaf belauſcht, wenn ich dachte, es fehlte ihm etwas — das Johanneslein iſt nun groß geworden und die Wiege iſt lange zerbrochen, aber drinnen liegt der große Johannes, den ich endlich wieder habe nach langer, langer Zeit, warum ſoll ich mich denn nicht zu ihm ſetzen und ſehen, wie er ſchlaͤft? Und ſo ſtand ſie wieder auf, kleidete ſich an und ſchlich in das Stuͤbchen. 64Johannes ſchlief ſo feſt, wie vorhin; er war muͤde von der Reiſe und hatte ein paar Naͤchte zuvor, wo er noch allerhand vor ſeiner Abreiſe zu thun gehabt, mit Ar beiten durchwacht, ſo war’s wohl kein Wunder, daß er heut’ ſo feſt ſchlief. Wie vorhin der Schein des Laͤmp - chens, ſo fiel jetzt der des Mondes auf ſein Geſicht. Mutter Eva ruͤckte ſich ganz leiſe einen alten Lehnſtuhl neben das Bett des Sohnes und ſchaute ihn nun immer unverwandt an. Aber nun war ſie doch bei ihm, ſo konnte ſie eher Ruhe finden. Endlich fielen ihr die muͤden Augen zu und der Kopf lehnte ſich zuruͤck an die Polſterlehne des Stuhls. So ſchlief ſie bis in den Morgen hinein.
Unſer Johannes aber wachte auf, wie unten im Stall die Kuͤhe zu bloͤcken begannen und die Gaͤnſe ſchnatternd uͤber den Hof flogen. Ueber ſeinem Kopf war ein Taubenſchlag angebracht, von dem ihn nur eine duͤnne Bretterdecke trennte. Das war auch ein Gurren, Flattern und Zanken da oben unter den Tauben, daß Johannes erſt gar nicht wußte, was es eigentlich gaͤbe, und wundernd auf und um ſich ſchaute. Er hatte lang nicht auf dem Dorfe geſchlafen, und er, der ruhig fort - ſchlafen konnet, wenn Hunderte von Wagen uͤber das harte Steinpflaſter unter ſeinen Fenſtern in der laͤr - menden Stadt voruͤberraſſelten, oder das widerliche Ge -65 ſchrei von allerhand Ausrufern und Verkaͤufern durch die Straßen ſummte, wachte gleichwohl jetzt auf vor den Stimmen des lieben Viehes, die gar nicht ſo laut klangen, ihm aber fremd, weil er ſie ſo lange nicht gehoͤrt. Er mußte leiſe lachen uͤber dies drollige Durch - einander von Kuͤhen, Schweinen, Ziegen, Gaͤnſen, Huͤhnern und Tauben — da fielen erſt ſeine Augen auf den Lehnſtuhl und die ſchlafende Mutter drinnen. Er fuhr ſich mit der Hand uͤber die Stirn, um ſich zu beſinnen, wann wohl die Mutter gekommen? Er wußte es nicht, gewiß hatte ſie ihn wecken wollen, weil ſie viel fruͤher auf geweſen — er hatte wohl das Wecken nicht gehoͤrt und ſie hatte ſich nun hergeſetzt, um es abzuwarten bis er von ſelbſt erwache; das mochte zu lange gedauert haben, daruͤber war ſie ein - geſchlafen, ſo dacht’ er. Nun wollt’ er ſie wieder nicht wecken und ganz leiſe aufſtehen. Aber eine alte Mutter ſchlaͤft niemals ſo feſt, wie ein junger Sohn — ſie hoͤrte es gleich wie er ſich ein Wenig mehr bewegte und ſah ihn mit hellen Augen an. Aber ſie ſchaͤmte ſich ordent - lich, ihm zu geſtehen, daß die Mutterfreude ſie erſt gar nicht habe ſchlafen laſſen und wie ſie nun die halbe Nacht hier geſeſſen, nur um ihn anzuſehen, gerad’ ſo, wie ſie’s an ſeiner Wiege oft gethan habe. Aber das große Kind habe beſſer geſchlafen als das kleine und ſich566gar nicht geregt, darum ſei ſie ſelbſt auch endlich einge - ſchlafen. Nun wollte ſie nur aber gleich gehen und das Fruͤh - ſtuͤck zurecht machen — es ſei am Ende ſchon ſpaͤt und die Kaͤthe werde ſich wundern, daß ſie noch nicht zu Platze ſei.
So ging ſie, indeß Johannes aufſtand.
Eigentlich war es unſrer Mutter Eva gar nicht recht, daß ihr Sohn nicht bei ihr wohnen bleiben wollte. Zum erſten Mal fuͤhlte ſie es wieder hart, daß ſie kein eigen Haus mehr hatte, daß es doch eigentlich ein fremdes geworden war, in dem ſie nun lebte. Sonſt haͤtte Johannes nicht in den finſtern Thurm gedurft, wo vor den Fenſtern zuweilen Eulen und Kaͤuzchen ſchrieen und drinnen am Ende gar Ratten und Maͤuſe ihr Weſen trieben. Freilich war es ihr noch lieber, er zog in den Thurm, wo er nun ſein eigener Herr ſein ſollte und er ſich bei Niemand zu bedanken hatte, als dem Gutsherrn, der ihn damit ehrte, ihm zu erlauben, was er ſonſt noch nie Jemand erlaubt gehabt hatte. Darauf war ſie nun auch wieder ſtolz. Waͤre er auf die Pfarre gezogen oder zu dem Richter, das waren Leute im Dorf, wo er ſich am Ende viel haͤtte bedanken muͤſſen und die ſeine Mutter nun nur ſo mit gelitten haͤtten — aber gewiß waͤr’ ſie oft nicht recht gekommen, im Wege ge - weſen oder ſo. Dann haͤtt’ es ſie noch mehr nieder - gedruͤckt, daß er nicht bei ihr ſein koͤnne, die ihm Alles67 an den Augen abgeſehen und zu Lieb’ gethan, ſondern bei fremden Leuten, wo er doch oft Manches nicht wuͤrde gekonnt und gehabt haben, wie er gern gemocht die ſeinetwegen Umſtaͤnde gehabt und er dafuͤr Verbind - lichkeiten, die ihm eine Kette geworden waͤren. So war es ihr noch ein rechter Troſt, daß er in den Thurm zog; werde er doch taͤglich herabkommen und ſie koͤnne auch oben bei ihm zu halben Tagen ſitzen, ſie waͤren da allein und es haͤtte Niemand etwas drein zu reden; ſo war’s ihr recht.
Nach dem Fruͤhſtuͤck ging ſie gleich mit ihrem Jo - hannes den Huͤgel hinauf, wo der Thurm ſtand. Sie war noch ruͤſtig zu Fuße und der Berg ward ihr nicht ſauer, zumal heute nicht, wo ihr Sohn ſie fuͤhrte undſtuͤtzte. Es war ein wundervoller Morgen! Hunderte von Voͤgeln ſan - gen und zwitſcherten in den Baͤumen und die Lerchen zumal tummelten ſich wie freudetrunken in den Luͤften herum.
Der Wald, durch den die Haͤlfte des Weges ſich ſchlaͤngelte, machte dieſen ſchattig und angenehm. Ueber den Wald ragte der Thurm hervor. Er war ganz aus Ziegelſteinen maſſenhaft aufgefuͤhrt, die Mauern ſo dick und feſt, daß es ſtaunenswerth war. Die Ringmauer, welche ihn und die ganze alte Burg ſonſt umgeben hatte, ſtand noch zur groͤßten Haͤlfte, der große, finſtere Thor - weg, der unterhalb des Thurmes hereinfuͤhrte, war mit5 *68ſeiner feſten Eiſenthuͤr noch unverſehrt; man meinte wirklich noch in eine Ritterburg zu kommen, wenn die Thuͤr ſich aufthat, aber war man nun durch den langen Thorweg, ſo ſtand nur noch die Ringmauer und rechts drinn ein wie ein Vogelneſt hineingeklebtes Gebaͤu, ein kleines Haus, das der „ Burgvogt “, wie er ſich groß - artig nannte, mit ſeiner Frau bewohnte. Links ſah man noch einzelnes Gemaͤuer im Verfall, deſſen fruͤhere Beſtimmung nicht mehr zu unterſcheiden war. Ueberall wucherten Gras und Geſtruͤpp, manche Mauern waren von uraltem Epheu ganz uͤberzogen und oben auf ihnen, wo ſie ganz verwittert waren, wuchſen Straͤucher und Baͤume. Der urſpruͤngliche Schloßhof war noch da, mit ſchoͤnen Steinplatten belegt, die aber eine dunkle, gruͤn - graue Farbe angenommen hatten und hier und da zerſprengt waren, ſo daß auch ſtellenweis zwiſchen ihnen Gras her - vorſprießte. Dichte alte Fliederſtraͤuche und Baͤume hat - ten in allen Ecken ſich eingeheimelt und da ſie eben in voller Bluͤthe ſtanden, erfuͤllten ſie alle Raͤume mit ihren Duͤften. Wilde Rofen und Akazien, die darunter gemiſcht waren, meinten, auch ſie haͤtten ein Wort mit drein zu reden und gaben ihre Duͤfte dazu. Eine Luͤcke in der Ringmauer fuͤhrte in einen Grasgarten, der auch vom hohen Wall umgeben war. Ein paar ſtaͤmmige Eichen, die wohl uͤber ein paar Jahrhunderte alt ſein69 mochten, ſtanden hier an dem Eingang, aber drinnen breitete ſich ein juͤngeres Geſchlecht von Baͤumen aus. Der Garten, in dem fruͤher vielleicht Hirſche und Rehe, wohl gar wilde Eber ſich getummelt hatten, damit die alten Ritter nahe Jagdfreuden genießen oder die zarten Burg - fraͤulein ſich zierliche Rehe und weiße Hirſchlein zaͤhmen konnten — der Garten war jetzt zum gewoͤhnlichen Nutzgarten geworden, in dem allerhand Obſtbaͤume in blumigem Raſen ſtanden, und rechts gar große geord - nete Gemuͤſebeete ſich ausdehnten und die Kartoffeln, die erſt lange nach der Ritterzeit nach Deutſchland gekommen waren, von einem ziemlichen Stuͤck Land Beſitz ge - nommen hatten.
Jn dieſen Gemuͤſebeeten kauerte jetzt die Frau des Vogts — erhob ſich und wiſchte ihre erdigen Haͤnde an ihren wollnen Rock, als ſie Jemand kommen ſah. Dann hielt ſie die eine Hand vor die Augen, weil die Sonne ſie blendete, und rief dann: „ J, Frau Eva, kommt Jhr denn auch einmal herauf? ſeit wann macht Jhr denn den Wegweiſer fuͤr fremde Herrſchaften? war mein Mann nicht drinn? wenn Jemand herumgefuͤhrt ſein will — da muß ich doch gleich — “
Sie machte einen tiefen Knix vor Johannes und ging eilfertig aus den Gemuͤſebeeten heraus —
„ J nun, “ſagte Mutter Eva lachend und machte70 zugleich dabei eine wichtige Miene, „ wenn die Herrſchaft, die da den Thurm ſehen will, mein Sohn iſt, hab’ ich ſchon ein Recht, Fuͤhrerdienſte zu thun! — “
„ Was redet Jhr da? “— ſagt die Frau Vogt, die ihren Ohren nicht traute.
„ Nun, das iſt mein Johannes! “— rief Eva mit Mutterſtolz und Freude.
Jene aber ſtemmte beide Arme unter und ſtarrte unſern Johannes an, der ſie nun vertraulich auf die Schulter klopfte, freundlich ſprechend: „ Nun, Frau Vogt! da kommt der Johannes wieder, der immer nachlief, wenn Jhr Fremde in den Thurm fuͤhrtet, wo Jhr oft ſagtet: muͤßt Jhr denn ewig hinterdrein zie - hen wie ein Pudel, ſo bald’s nur in den Thurm geht, hundertmal ſeid Jhr nun ſchon in alle Winkel ge - krochen — und ſeht, da will ich nun abermals in den Thurm und mir’s ſogar heimiſch drinnen machen. “
Die Frau Vogt erholte ſich ſchwer von ihrem Er - ſtaunen und er mußte nun auch von ihr all’ die Re - densarten wieder hoͤren, die er jedesmal vernahm, wenn er Leuten im Dorf begegnete, die ihn ſonſt gekannt und jetzt doch nicht wieder erkannten und immer Eins mehr verwundert ausſah als das Andere, wenn Mutter Eva voll freudigen Stolzes ſagte: „ Das iſt mein Johannes, “wo dann immer Jedes zur Antwort gab, was fuͤr ein71 großer Herr er geworden, wie ſchoͤn und ſchmuck ſein Anſehen und ob’s ihm nun wohl auch noch auf dem Dorfe gefallen werde?
„ Nun holt Euern Mann, daß er mich in den Thurm fuͤhre! “bat Johannes, wie die erſte lange Be - gruͤßung vorbei war.
„ Alſo wollt Jhr wirklich das alte Neſt gleich wieder ſehen, da Jhr doch geſtern erſt gekommen ſeid, ich daͤchte, da gaͤb’ es eher im Dorfe umzuſehen, bei der Freundſchaft und bei allen Bekannten, als wie hier oben zu ſchauen, ob die jungen Eulen bald fluͤgge, denn weiter weiß ich hier nichts Neues zu zeigen, “eiferte die Frau Vogt.
Mutter Eva wollte es gleich herausſagen, was ihr Sohn bei dem Thurm beabſichtigte, aber er winkte ihr laͤchelnd, noch Nichts zu verrathen, und ſo ſchwieg ſie.
Als ſie nun aus dem Grasgarten in den Burg - hof und auf das kleine Haus zugingen, trat der Vogt heraus; er hatte ſchon gehoͤrt, was es gaͤbe, und hieß unſern Johannes herzlich willkommen. Der Vogt war ein kleiner duͤrrer Mann, der beinah etwas Aehnliches hatte von der Ruine, deren Huͤter er war. Sein Haar hatte ſich unterdeß ziemlich grau gefaͤrbt, ſein Geſicht war runzlich geworden, ſeine ganze Geſtalt noch mehr zuſammengeſchrumpft, ſonſt aber war er noch ruͤſtig und72 munter, ja er ſchien eher an der eigenthuͤmlichen Be - hendigkeit, welche oft kleinen duͤrren Maͤnnern ſo eigen iſt, gewonnen als verloren zu haben.
„ Und da ſoll nun wirklich der erſte Gang in den Thurm ſein? da muß ich die Schluͤſſel ſchon holen! “ſagte er, war wie der Wind in das Haus, in die Stube hinein und eben ſo ſchnell auch wieder heraus. Das maͤchtige Schluͤſſelbund hatte er in der Hand.
„ Ei! “lachte Johannes, „ ſoll ich mich allemal mit dem ganzen Bund da ſchleppen? Jch meine, an ein oder zwei Schluͤſſeln wird’s genug ſein.
Der Vogt antwortete: „ Es muß Alles ſeine Ord - nung haben — und Sie ſind ja kein Knabe mehr, der, was er zum hundertſten Male geſehen, doch immer wieder zu ſehen verlangt und wird’s wohl jetzt der erſte und letzte Beſuch ſein, den ſie diesmal unſerm Thurm machen — “
„ Weit gefehlt! “lachte Johannes.
„ Nun, mich ſollt’s freuen, wenn Sie oͤfter kommen, “erwiderte der Vogt, „ aber der Geſchmack aͤndert ſich mit den Jahren. “
„ Wirklich? ſollt’ es Euch freuen — ei, das waͤre mir lieb, denn ungebet’ne Gaͤſte — das wiſſen Sie ſchon, wie das Sprichwort ſagt, “meinte Johannes, indem er einige bemooſte Stufen, die von außen73 nach der kleinen Eiſenthuͤr des Thurmes fuͤhrten, vor - ausſchritt.
Der Vogt oͤffnete: „ Wollt Jhr denn auch mit her - ein, Mutter Eva? “wendete er ſich an dieſe, die immer hinterdrein getrippelt war.
„ Ei ja doch! muß doch ſehen, wie mein Sohn woh - nen wird! “platzte ſie heraus.
Der Vogt blieb wie erſtarrt am Eingang in das Thurmgewoͤlbe ſtehen, in das Johannes ſchnell hinein und voran ſchluͤpfte: „ Was ſagtet Jhr, Mutter Eva? “
„ Nun ich will Nichts geſagt haben, geht nur, der Johannes iſt ſchon die ganze Treppe hinauf, der hat flinkere Beine als wir! “ſagte Eva.
„ Jch glaube, Jhr ſeid vor Freuden uͤber Euern Prachtjungen etwas uͤbergeſchnappt, “meinte der Vogt in freundlichem Ton, „ verdenken koͤnnt’ ich’s Euch juſt nicht, ich mag’s ihm gar nicht in’s Geſicht ſagen, wie ſehr er mir gefaͤllt und wie ſchoͤn er ausſieht, loben verdirbt die Jugend, zudem hat er ſo was Zierliches in Gang und in den Bewegungen, daß man denkt, er ſei vornehmer Leute Kind! “
„ Ho, ho, “verſetzte Mutter Eva raſch, „ mein Kind iſt er und iſt drum ſo gut als waͤr’ er Graf oder Baron; und was das Loben betrifft, da haben ihn noch andere Leute gelobt als Jhr! Allen Reſpekt vor Euch und74 Euer Wort in Ehren, aber die vornehmen Leute in der Stadt haben alle einen rechten Narren an ihm gefreſſen, aber er blaͤſt nicht mit in ihr Horn und in das der Adelſchwaͤnze und Schmeichler, die ſich Wunder was duͤnken, wenn ſie ſich ſtellen, als waͤren ſie mit den großen Herren auf Du und Du und ihres Gleichen, mein Johannes ſagt es ihnen in’s Geſicht, daß er ein Bauersſohn iſt und fragt den Kuckuk nach ihnen.
„ Ei Mutter! “rief Johannes laͤchelnd von oben herab, ſo iſt’s brav geſprochen, das iſt beſſer als geſtern, wo Du mich noch mit dem Mißtrauen kraͤnkteſt, als koͤnnt’ ich je mein Doͤrflein und Alles, was drinnen lebt und webt, einmal vor den vornehmen Bekannten ver - leugnen — aber noch etwas haſt Du vergeſſen oder nicht recht geſagt, ich meine eben, die großen Herren ſind auch nichts Anders als unſers Gleichen und wer - den’s ſchon fuͤhlen, wenn wir ſie nicht mehr anders be - handeln, Baron, Buͤrger, Bauer — das iſt kein Unterſchied, das iſt all Eins und wer unter ihnen der beſte Menſch iſt, dem gebuͤhrt die meiſte Ehre, ſonſt Keinem! “
„ Was das fuͤr Reden ſind! “ſagte der Vogt ganz erſtaunt, „ wenn ſo Etwas unſer gnaͤdiger Herr Graf hoͤrte — und gerade in ſeinem Beſitzthum ſprecht Jhr ſolche Worte aus! “
75„ Das erſchreck’ Euch nur nicht! “fuhr Johannes fort, „ ich hab’ ihm Aehnliches in’s Geſicht geſagt — und was meint Jhr, was er darauf that? “
„ Nun, das kann ich nicht wiſſen — wenn ich ſo was geſagt haͤtte, koͤnnt’ ich darauf rechnen, eine Ohr - feige bekommen zu haben — ich weiß nicht, ob er vor Jhren langen Haaren mehr Reſpekt hat, als vor meinen grauen, kurzen — “meinte der Vogt.
„ Da waͤr’ er ſchoͤn angekommen! — die Ohrfeige haͤtt’ ich ihm auf der Stelle wieder gegeben — “lachte Johannes.
„ Ach, das wuͤrden Sie doch nicht gethan haben — gerade ihm! er iſt unſer Herr und Sie ſind von ſeinem Dorfe — “Aber dieſe Worte des Vogts unterbrach Jo - hannes ſchnell:
„ Was, Herr! wir ſind keine Leibeignen mehr! wer auf dieſem Dorfe geboren iſt, iſt doch wahrhaftig nicht des Grafen Knecht! Selbſt unſre Frohn - und Zehnten - laſten ſind abgeloͤſt, ſchlimm genug, daß wir ihm im - mer noch Lehensleute ſind, aber das giebt ihm kein Recht, uns wie Unterthanen zu behandeln und ſelbſt Unterthanen duͤrfen heutzutage nicht mehr roh und grob behandelt werden! — Aber davon ſprechen wir ſchon noch. Jch wollt’ erzaͤhlen, was der Graf that, nach - dem ich ihn wie meines Gleichen behandelte — er gab76 mir dieſen Brief an Euch “— und Johannes gab den Brief des Grafen an den Vogt ab.
Erſtaunt nahm ihn dieſer. „ Er wird mir ſchreiben, “ſagte er, „ daß ich mich bemuͤhen ſoll, Jhnen wieder den gehoͤrigen Reſpekt vor den Herrn Grafen und hoͤchſt deſſen Familie einzufloͤßen. “ Aber was machte er fuͤr Augen, als er im Brief nach einigen allgemeinen Ver - haltungsbefehlen las: „ Den jungen Mann aus unſerm Dorfe, der dieſen Brief uͤberbringt, raͤumt den Thurm zur Wohnung ein, auf ſo lange Zeit, als er ſie be - nutzen will und laßt ihn uͤberall frei ſchalten und walten. Fuͤgt Euch ſeinen Anordnungen, wenn er etwa kleine Veraͤnderungen im Garten oder dergleichen wuͤnſcht und betrachtet ſie als die meinigen. “