PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Vagabunden.
Erſter Band.
Die Vagabunden.
Roman in vier Bänden
Erſter Band.
Breslau,Verlag von Trewendt & Granier.1852.
[I]

Dem k. k. Stadthauptmann von Gräz Auton Freiherrn von Paümann widmet dieſes Buch der Verfaſſer.

[II][III]
Verehrter Herr!

Nicht weil der Held meines Romanes Jhren Tauf - namen führt;

nicht weil wir Vagabunden uns vor Jhrer amt - lichen Strenge zu ſichern wünſchen;

nicht endlich, weil ich Jhnen dadurch eine Ehre zu erweiſen gedächte, werden Sie mit dieſer Widmung, Zueignung, Dedikation beläſtiget. O nein. Es ſind Empfindungen ganz anderer Art, welche mich dazu antreiben. Daß ich es in wenig Worten ausſpreche: eine Strafe für Sie ſoll es ſein! Denn weil dies der erſte größere Roman iſt, an welchen ich mich wagte; weil es folglich zwiefach unſicher ſcheint, ob er Leſer und Beifall findet; weil alſo der Erfolg ein zweifel - hafter bleibt! ... Jſt es nicht eine gefährliche Sache, ſolch ein Werk ſich zueig’neu, ſeinen Namen in großen Buchſtaben hinter dem Titelblatte prangen zu ſehen? VIIIUnd hinter welch einem Titelblatt! Und welch ein Name! Der Polizei-Direktor hinter den Vaga - bunden!

Wohlan denn, dieſe Strafe iſt Jhnen zuerkannt.

Sie ſind daran gewöhnt, bei zuerkannten Strafen fragen zu hören: warum? weshalb? wofür? Sie machen billigerweiſe dies Recht der Frage in Jhrer eigenen Angelegenheit geltend, und ich erwiedere:

Wenn ein Schriftſteller zurückgezogen aus dem Geräuſch der ſogenannten Geſellſchaft, nur in einem ſehr kleinen Kreiſe von umgänglichen Bekannten, in der Natur und in ſeinen literariſchen Beſtrebungen ver - kehrt; wenn ſich weder um letztere, noch um ihn ſelbſt unter 60,000 Einwohnern am Orte eine Seele beküm - mert; wenn die Mehrzahl nicht weiß, daß er lebt, dich - tet, tichtet und trachtet; wenn ſeine Bücher in keiner Leihbibliothek, auf keinem Toilettentiſche zu finden ſind; wenn er unbemerkt und unbeachtet ſeinen Weg wan - derte, ſein Einſiedlerleben führte, ohne mit Fragen über etwaige Thätigkeit bedrängt zu werden; wenn er im glücklichen Gefühle, ſich ſelbſt überlaſſen, vom Robot - Dienſte herkömmlicher Einladungen und Beſuche frei zu bleiben, ſein eigener Herr heißen durfte, ein Glück, welches in anderen Städten nicht leicht errungen wird;IX wenn, ſag ich, ein ſolcher Schriftſteller nun plötzlich, unerwartet aus ruhigem Stillleben ſich aufgeſtört ſieht durch einen Mann, welcher, das Schwert der Gewalt an der Hüfte, exekutive Vorrechte an der Stirn, ein - dringt in des alten Muſenſohnes Zelle; ihn empor ſchreckt aus müßigen Träumen; ihn bei Namen nennt, wie einen Nachtwandler, den man erwecken will; ihm zuruft:

Jch kenne Dich und Deine Thaten. So viel Stücke haſt Du aufführen laſſen, ſo viel Lieder haſt Du geſungen, ſo viel Gedichte geſchmiedet, ſo viel Bände geſchrieben. Du biſt ein deutſcher Schrift - ſteller; Du wähnſt in eitlen Stunden, ein Dichter zu ſein; ha, ich kenne Dich! Und weil mir gerade kein Anderer zur Hand iſt; und weil ich neben mei - nen ſtrengen Berufspflichten auch die Poeſie liebe, ihre Blumen in bunten Kränzen um meine Akten zu ſchlingen; und weil ich einen Poeten gebrauche, mit dem ich auf den Schloßberg wandeln und von Literatur plaudern könne; und weil, und weil, und weil, ſo raffe Dich auf, Holtei, und folge mir!

Und wenn nun dieſer Mann wiederkehrt und täg - lich fragt:

X

Was arbeiteſt Du jetzt? Was haſt Du vor? Wie viel haſt Du geſtern gethan? Wie weit iſt Dein Manuſcript gewachſen? Um Gotteswillen, wie lange ſoll der arme Trewendt warten, bis wieder eine Sendung abgeht?

Und wenn dieſer Mann meine ſchönſten faulen Stunden unterbricht, mich meinem dolce far niente entreißt, mir keinen Frieden gönnt? Mir, ja mir, dem beglückten Autor, nach welchem ſonſt kein Hahn kräht im ganzen Weichbild der Stadt Graz, Gratz, Grätz, oder Gräz?

Was verdient dieſer Mann? Was hat er ſich ſelbſt zugezogen?

Die Widmung, ſag ich; die Zueignung! die Dedikation!

Da haben Sie’s nun. Wahren Sie ſich, ſo gut Sie können! Es hilft Jhnen doch nichts, denn es iſt geſchehen: wenn Sie dieſes Urtheil leſen, iſt es bereits publizirt in tauſend Exemplaren. Und da mein Ver - leger nicht in Gräz drucken läßt, ſo können Sie nicht einmal die Konfiskation vornehmen. Ja, ich fordere Sie ſogar heraus, diejenigen Exemplare mit Beſchlag belegen zu laſſen, die am hieſigen Platze ver -XI kauft werden. Verſuchen Sie das einmal! Es ſoll Jhnen ſchwer fallen.

Es hilft Jhnen nichts mehr; wird mein Buch ſcharf getadelt, Sie müſſen ihn tragen helfen, den Tadel.

Wie ſtreng aber die Kritik damit verfahre, Eines kann ſie ihm nicht abſtreiten: die Wahrheit; die innere Wahrheit der Charaktere, wie die äußere der Begeben - heiten. Dieſe iſt vorhanden, weil kein Menſch im Romane auftritt, den ich nicht gekannt, beobachtet habe; kein Ereigniß geſchieht, welches nicht ein erlebtes wäre. Ob Namen verändert, oder entſtellt? Ob Städte und Dörfer abſichtlich falſch bezeichnet ſind? Darauf kommt es nicht an. Wenn nur die Perſonen für lebendige Weſen mit Fleiſch und Blut gelten. Wenn der Ver - faſſer nur ſelbſt an ſie glaubte, da er ſie in Bewegung ſetzte! Und das that ich. Das thu ich noch. Von dieſer Seite fürcht ich nichts.

Eben ſo wenig fürcht ich die Kritik, wenn ſie mich von Oben herab über die Wahl des Stoffes hart anlaſ - ſen will. Gegen dieſe Vorwürfe bin ich gewaffnet; mein Schild iſt des Buches Titel. Wer die Vaga - bunden von mir geſchrieben in die Hand nimmt, muß wiſſen, was er zu erwarten hat. Um den Stab darüber zu brechen, braucht man es gar nicht erſt zuXII leſen. Der ernſthafte Rezenſent mache ſich’s bequem und ſage: das muß dummes Zeug ſein, denn es heißt ſo und ſo und der Verfaſſer iſt der und der. Auch kann er beifügen: es enthält nichts von kommuniſti - ſchen, ſozialiſtiſchen, politiſchen Tendenzen, folglich iſt es außer der Zeit, folglich hab ich es keines Blickes gewürdiget und erkläre es hiermit für ſchlecht. Wie geſagt, das wäre das Bequemſte. Aber ich fürchte mich auch davor nicht.

Nein, was ich fürchte, wäre vernehmen zu müſſen: der wohlwollende Leſer habe ſich dabei gelangweilt!

Wenn dieſer Fall eintritt, mein theurer Freund, in welchen Winkel verkrieche ich mich dann vor Jhnen?

Und es iſt doch möglich? Wer verbürgt mir das Gegentheil? Bin ich nicht auf meine alten Tage zum Romanſchriftſteller geworden, wie man eine Hand umdreht?

Profeſſor Auguſt Kahlert, mein lieber Landsmann, ſchrieb mir vergangenen Winter aus Breslau: den Deutſchen fehlt das tiefe, liebevolle Eingehen in Ein - zelheiten der Perſonen und Situationen, was die Eng - länder ſeit allen Zeiten beſitzen. Jch bin immer noch der Meinung, daß Sie (als wie ich!) der MannXIII wären, im Fache des biographiſchen Romans etwas zu leiſten. Mit dem Theater iſt es jetzt ein ſchlimmes Ding ꝛc.

Dieſe Zeilen regten mich auf, jene Mappe wieder einmal hervorzuſuchen, in welcher ich ſeit vielen Jahren allerlei Entwürfe zu Erzählungen größeren Umfangs aufbewahre. Jch prüfte, wählte, verwarf; gerieth auch über die im Jahre 1845 / 6 begonnenen, aus Mangel an Luſt, Fleiß, Muth? ich weiß nicht, wieder aufgegebe - nen Vagabunden. Die Landſtreicher machten mir viel zu ſchaffen. Den Kopf von ihren Streichen voll, traf ich im März in Prag ein, führte ſie im April den Wiener Prater entlang herum, nahm ſie im Mai mit nach Baden und brachte ſie, bei ſanftem Schneegeſtöber, in unſern hieſigen Frühling mit. Das Uebrige wiſ - ſen Sie.

Kahlert hat dies Buch auf ſeinem Gewiſſen.

Wegen künftiger Romane von meiner Feder könnte nur das Leſepublikum die Verantwortung tragen; von dieſem allein hängt es ab, ob dieſer Verſuch der erſte und letzte bleiben, oder ob er Geſchwiſter bekommen ſoll!

XIV

Dieſe Vorrede iſt ſchon geſchrieben; ſie harrt nur der Reinſchrift, um ſich auf die Reiſe nach Breslau zu begeben, da trifft in Gräz Tom Pouce ein, der große Admiral. Und ich ſtehe betrübt bei ſeinem Anblick; denn Er fehlt mir in dieſem Buche. O wenn mein Schkramprl Pouce’n beſeſſen, er hätte nicht .... ja ſo; Sie haben das Buch noch nicht geleſen und wiſſen noch nicht, wer Schkramprl iſt.

Aber Tom Pouce kennen Sie. War ich doch bei Jhnen in der Loge, als der Huldreiche im ſchwarzen Frack, auf ſeines Kammerdieners Handteller ſtehend, uns Viſitenkarten übergab, während ſeine Equipage draußen auf der Scene hielt. Nun denn, ich folgte ihm auf die Bühne. Jch war begierig, mit eigenen Ohren zu hören, ob Das auch reden, denken, ob es ſich für einen Menſchen wie unſer Einer halten werde?

Bei dieſer Gelegenheit begegnete ich Herrn Ballet - meiſter Crombé und mich erinnernd, derſelbe ſei Duport’s Schüler geweſen, kam mir der glückliche Gedanke, ihm zu erzählen, daß ich Duport’s in dieſem Romane Erwähnung gethan und die Geſchichte, wie er Tänzer ward, mitgetheilt hätte. Worauf Crombé mir mit ächt franzöſiſcher Politeſſe erwiederte: ich hätte ganzXV Recht und die Geſchichte ſei wörtlich wie ich ſie mit - getheilt, nur daß, Duport betreffend, kein einziges Wort davon wahr ſei.

Mein Schreck!!

Jch taumelte zurück; um ein Haar breit trat ich Tom Pouce, der als Zauberer verkleidet unter meinen Füßen herum zwergte, zuſammen wie einen Froſch. Stürzte ſein Gefolge ſich nicht rettend dazwiſchen, ſo zählte die deutſche Flotte einen Admiral weniger.

Aber mein Schreck: der zweite Band bereits im Druck und die Geſchichte von Duport eine Lüge?

Herr Crombé beruhigte mich. Die Geſchichte iſt richtig, doch nicht Duport hat ſie erlebt, ſondern der zu ſeiner Zeit beliebte Tänzer Samengo.

Jch athmete wieder auf. Nach dieſer Berichtigung bitt ich nun die betreffenden Blätter im dreißigſten Kapitel zu verbeſſern.

Jetzt wüßt ich nichts mehr vorzubringen.

Etwa noch eine Entſchuldigung, daß in vorliegen - der Erzählung ſo viele Leute ſterben; vom ſchwarzen Wolfgang bis zu Gräfin Julia, eine ganze Reihe von Todten!

Ob das, künſtleriſch beurtheilt, fehlerhaft ſei, ver - ſteh ich nicht. Behaupten darf ich: es iſt aus dem LebenXVI gegriffen, dies Abſterben. Auch aus meinem eigenen. Denn überzähl ich die Namen derjenigen die mir geſtor - ben ſind und alljährlich ſterben, dann frag ich trauernd: wer von meinen Freunden und Freundinnen aus frühe - rer Zeit wird denn zuletzt noch übrig bleiben, mich zu begraben?

Solch ein alter Vagabund hat ein zähes Leben.

H.

[1]

Erſtes Kapitel.

Wie in Liebenau die Linden blühen, und wie in deren Dufte die alte Mutter Gokſch ihren Enkel, den blauäugigen Anton erwartet; auch was ſie mit einander redeten.

Die Linden ſtanden in voller Bluͤthe. Vor der Thuͤre ihrer kleinen Huͤtte ſaß auf einem zerbrochenen umgeſtuͤrzten Korbe die alte Mutter Gokſch zwiſchen zwei Miſthaufen, vor ſich ein Gaͤrtchen voll bluͤhen - der Blumen. Mit ſichtlicher Vorliebe wendete ſie ein - mal ums anderemal ihren matten Blick dem Duͤnger zu; der Blumen achtete ſie wenig, weil ſie ihnen jenen Raum nicht goͤnnte, wo nach ihrer Meinung Kartoffeln wachſen ſollten. Sieht man doch gleich, murmelte ſie vor ſich hin, daß der Junge eines Vor - nehmen Kind iſt: Jmmer denkt er auf Putz und Schmuck, und die Großmutter mag zuſehen, wo ſie Futter hernimmt fuͤr ihn, wie fuͤr ſich ſelbſt. Und wo er nun wieder bleibt? Die Sonne wird bald zu Ruͤſte gehen, aber er treibt ſich noch im Walde herum. Und wenn er kommt, kann ich nicht einmal mit ihm zanken, ob ich ſchon moͤchte, weil er ſo große dunkel -Die Vagabunden. I. 12blaue Augen hat, wie ſeine verſtorbene Mutter. So bald er mich mit dieſen Augen anſchaut, ſtirbt mir jedes ernſte Wort auf den Lippen. Er macht mit mir, was er will. Haben ihn doch auch alle Menſchen gern: Der Baron, der alte Baͤr; und die Fraͤulen; und der Paſtor; und der Schulmeiſter. Ganz Liebe - nau iſt vernarrt in den Anton. Jhm ſehen ſie Alles nach. Eh ſie ihre Koͤrbe zum alten Korbmacher tra - gen, der gewiß ein gutes Stuͤck Arbeit macht, und raſch, bringen ſie lieber ihren Kram hier an’s Ende des Dorfes zu meinem Jungen, und warten wochen - lang geduldig, bis es ihm gefaͤllig iſt, daran zu gehen. Nu freilich, wohlerzogener iſt er, als die dummen Dorfluͤmmel. Seine Sprache ſchon iſt nicht ſo rauh und grob, weil er von Kindheit auf mich reden hoͤrte, und mir klebt immer noch mein Stadtleben an; das kann mir Niemand abſtreiten. War ich doch auch einmal jung; jung und ſchoͤn, wie meine ungluͤckliche Tochter!

Bei dieſen Worten fuͤllten ſich die Augen der Mutter Gokſch mit Thraͤnen, und ein leiſes Schluch - zen erſtickte den Lauf ihres Selbſtgeſpraͤches. Beide Haͤnde druͤckte ſie feſt vor ihr welkes Angeſicht, um ſich recht ungeſtoͤrt dem Grame hinzugeben. Doch nicht lange blieb ſie ihm uͤberlaſſen. Anton, der leiſe3 zu ihr hingeſchlichen war, zog ihr die Haͤnde vom Haupte, und fragte freundlich: Großmutterle, warum flennſt Du? Da umſchlang die gute Frau den ſchoͤ - nen Jungen mit beiden Armen, und aus den Zaͤhren einſamen Schmerzes wurden Thraͤnen des liebevoll - ſten Mitgefuͤhls. Zaͤrtlich ſchmeichelnd ſtrich Anton mit ſeinen duͤnnen Fingern uͤber Stirn und Wangen der Mutter Gokſch. Gewiß, ſprach er, Du biſt noch immer eine huͤbſche Frau, Großmama, wenn man Dir nur die Runzeln wegſtreichelt, und dein Geſicht ein wenig glatt macht. Auf den Sonntag werde ich Dich mit Johanniswaſſer einſprengen, und hernach werde ich das kleine Plaͤtteiſen nehmen und Dich gehoͤrig aus - biegeln; dann kannſt Du ſchmuck zur Kirche gehen und wirſt unſerm Herrn Paſtor gegenuͤber ſitzen, friſch und ſauber, wie ein neu ausgeputztes Haus, wo ſie daran geſchrieben haben: renovatum anno Domini ſo und ſo viel; drei rothe Kreuze darunter. Wenn Du nur um Alles in der Welt nicht ſo viel weinen wollteſt, wie ich den Ruͤcken kehre; dann waͤr’s noch beſſer; denn die Thraͤnen haben Dir ſchon Furchen gebiſſen in beide Wangen, gerade wie der Regen in unſeren Dachgiebel, ſo gegen Abend ſteht. Sei doch vernuͤnftig, Alte, und mach mir nicht ſo viel Ver -1*4druß. Jch kann doch nicht den ganzen Tag bei Dir ſitzen, um Acht zu geben auf Dich und Dir vorzuſin - gen, wie einem kleinen Kinde? Mit ſechszig bis ſie - benzig Jahren koͤnnteſt Du ſchon genug Verſtand haben, um manchmal ein Stuͤndchen ohne Aufſicht zu bleiben? Und wenn Du nicht gut thuſt, werde ich Dir eine derbe Ruthe flechten, ſo wahr ich Anton heiße, und ein beruͤhmter Korbmacher in Liebenau bin.

Da lachte die Mutter Gokſch uͤber ſein albernes Geplauder, daß ihr beinahe wieder die Thraͤnen uͤber beide Backen gelaufen waͤren, und kichernd rief ſie: Ach, wenn Deine Mutter Dich ſo ſehn koͤnnte! Aber kaum hatte ſie’s geſagt, als ſie wirklich zu weinen anfing; diesmal jedoch ſo innig und ſanft, daß der ehrliche Anton ein Bischen mitweinte, denn das geſchah ihm jedesmal, wenn ſeiner Mutter gedacht wurde, deren er ſich aus den erſten Monden ſeiner Kindheit zu erinnern waͤhnte, wie eines glaͤnzenden Traums. Augenblicklich ließ er von ſeinen Scherzen ab. Mit feierlichem Ernſte ſetzt er ſich auf den Bo - den, der Großmutter zu Fuͤßen und ſein tiefes Auge feſt nach ihr gewendet, fragte er in ruͤhrendem Tone: Nicht wahr, ich ſehe ihr gleich?

5

Nur allzuſehr, erwiederte die Großmutter.

Anton ſchwieg ein Weilchen, dann begann er: das iſt wieder eines von den dunklen, unverſtaͤndli - chen Worten, wie ſie Dir oft entſchluͤpfen, Alte, gleichſam gegen Deinen Willen. Sie aͤngſtigen mich, dieſe Worte. Siehſt Du, das muß ein Ende nehmen. Jch will wiſſen, was es mit meiner ſeligen Mutter war? Will wiſſen, wer mein Vater geweſen? Was aus beiden geworden? Und wie Du in dieſe Huͤtte verſchlagen worden biſt? Jch habe ein Recht dazu, Großmutter! Jch bin kein Kind mehr. Am vorletzten Oſterfeſte ſchon hat mich unſer Herr Paſtor konſir - mirt, und hat mich ſammt der ganzen Gemeinde zum Tiſche des Herrn gehn laſſen; jetzt bin ich ſiebzehn vorbei; und hat damals geſagt, ich waͤre reifer und wuͤrdiger dazu als alle Jungen im Dorfe, die um ein Jahr aͤlter ſind. Folglich kannſt Du mit mir reden, wie mit einem Erwachſenen. Das weißt Du auch recht gut. Alſo koͤnnteſt Du billig ein Ende machen und mich heute wiſſen laſſen, was ich uͤber kurz oder lang doch erfahren muß.

Wie geſcheidt der Junge ſeine Reden ſetzt, mur - melte die Mutter Gokſch, indem ſie ihm die reichen Locken von der Stirne ſchob. Sie betrachtete ihn6 lange, wie wenn ſie uͤberlegte, ob ſie ſeinen Wunſch erfuͤllen duͤrfe? Dann aber ſprach ſie ploͤtzlich: Nein, Anton, es geht nicht. Es kommen Dinge vor in die - ſer traurigen Geſchichte, die fuͤr Dich noch zu fruͤh ſind. Sage was Du willſt, Du biſt ja doch nur ein Kind.

Meinſt Du, Großmutter, wendete Anton dagegen ein, meinſt Du wirklich? Jch weiß mehr, als Du denken magſt, vom Leben und von den Menſchen. Wer, wie ich, auf eigene Hand aufgewachſen iſt, im - mer unter dem Landvolk ſich herumtrieb, Alles hoͤrte, Alles beobachtete, ſchon als kleiner Knabe denken und vergleichen lernte, der iſt in meinen Jahren ein Mann. Erzaͤhle mir, was Du willſt, ich werde Dich verſte - hen und ich werde dazu ſchweigen, wenn es noͤthig iſt.

Unſchluͤſſig ſtaunte die Alte ihren Enkel an, den ſie niemals noch ſo entſchieden ſprechen gehoͤrt, und zweifelnd ſchuͤttelte ſie den Kopf, indem ſie vor ſich hinfluͤſterte: Werden denn in dieſer Zeit die Kinder ſchon ſo fruͤh muͤndig?

Da ertoͤnte vom kleinen Kirchthurme die Abend - glocke. Wehmuͤthig zitterten ſanfte Klaͤnge auf lauem Winde getragen uͤber das bemooste Strohdach und7 verloren ſich tief im kaum hoͤrbaren Widerhall des Kieferwaldes, der die letzten Haͤuslein dieſes Dorfes faſt beruͤhrte. Anton nahm ſeine Kappe ab. Die Alte lispelte ein frommes Verslein. Und als ſie fertig war mit ihrem kurzen Gebet, ſagte Anton: Nun, Großmutter, beginne! Mir iſt um’s Herz, als haͤtten ſie mit dieſem Glockenzuge meine Mutter in’s Grab gelegt. Laß mich wiſſen, wo der Huͤgel gruͤnt, auf dem ich knieen darf, wenn ich mit ihr ſprechen will?

Und die Mutter Gokſch hub an:

Zweites Kapitel.

Wie die Großmutter auf Anton’s inſtändiges Bitten ihm die Lebens -, Liebes - und Todesgeſchichte ſeiner ſchönen Mutter erzählt.

Dein Großvater, Anton, mein guter ſeeliger Mann, war Kantor und Schulrektor in N. Na, das weißt Du. Davon hab ich Dir ſchon oft genug er - zaͤhlt; von unſerem huͤbſchen gruͤnumlaubten Haͤus - chen hinter der Kirche, und wie er mich heimfuͤhrte, als junge, ſchmucke Braut. Des Herrn Amtsdieners Tonel haben ſie mich geheißen; denn mein Vater ſee - lig war Amtsdiener beim hohen Rath. Aber wie ich Hochzeit machte, war er ſchon lange todt; und meine Mutter folgte ihm bald nach meiner Verheirathung,8 ſo daß ich die Flitterwochen hindurch ſchwarz einher gehen mußte, wie eine Amſel. Das haſt Du alles ſchon gehoͤrt, Anton, ich kann Dir es aber jetzt nicht ſchenken, denn mein Kopf iſt gar ſchwaͤchlich, und wenn ich nicht die ganze Geſchichte vom Anfang an - fange, bring ich ſie gar nicht zu Stande. Aber wo blieb ich denn?

Bei der Amſel, Großmutter!

Richtig. So ſchwarz wie eine Amſel mußt ich einhergehen. Und ſammt meiner Trauerkleidung kam ich in’s Wochenbett, mit einem kleinen Anton. Der machte aber nicht lange, ſo war er hin. Der arme kleine Kerl konnte die Thraͤnen nicht verwinden, die ich um meine Mutter ſo gern geweint haͤtte, die ich aber verſchlucken mußte, weil Dein Großvater zornig ward, wenn er mich weinen ſah. Jch hab das Kind meiner Mutter zu Fuͤßen gelegt. Jch dachte in meiner Ein - falt, damit ſie gleich einen Engel als Boten bei der Hand haben ſollte, wenn ſie vielleicht einmal Luſt haͤtte, mir einen Gruß zu ſchicken aus ihrem Grabe, oder ſonſt etwas? Es hat ſich jedoch nichts eingeſtellt. Mein zweites Kind lange nachher war ein Maͤdel. Das war Deine Mutter, Anton! Antonie haben wir ſie genannt. Das heißt, Dein Großvater9 rief ſie Antoinette. Und da wurde zuletzt Nette daraus, und unſere Nachbarn meinten, der Name kaͤme dah[er], daß ſie ſo nett und ſauber war. Denn ſie wuchs auf in purer Schoͤnheit, daß jeder ſtehen blieb und ihr nachſtaunte, der ihr begegnete. Jch ſah ihre Schoͤn - heit auch, und ihre Klugheit und Anmuth, o ja, ich ſah Alles, denn mein Gott, wofuͤr waͤre ich denn ihre leibliche Mutter geweſen? Daneben jedoch ſah ich auch ihre Fehler: Jhren leichten Sinn, ihre Eitelkeit! Dein Großvater wollte davon nichts ſpuͤren; der hob nur die Tugenden heraus. Und als ſie gar zu ſingen anfing, und als ſie ſaͤmmtliche Schulkinder mit ihrer kraͤftigen, reinen Stimme beſiegte, da war’s gar aus! da kannte mein guter Mann nichts uͤber ſeine Nette! Ja, wenn unſer Herrgott die himmli - ſchen Heerſchaaren herabgeſendet haͤtte, daß ſie vor meinem Manne muſiziren muͤßten und ſingen, der haͤtte, glaube ich, geradezu geſagt: Sobald mein Nettel nicht mitſingt, will die ganze Muſik nichts heißen. So war er. Freilich, himmliſch geſungen hat ſie, das muß ich ſelbſt eingeſtehen; mit vierzehn Jahren ſtand ſie hier da, Anton, wie eine vollkommene Jungfrau, und wenn ſie den kleinen Mund aufthat, und ihre Zaͤhne wies, und die Stimme drang heraus,10 da ging es einem wohl durch alle Gliedmaßen. Jch fuͤhlte es eben ſo warm, wie Dein Großvater; nur haͤtt er’s ihr nicht immer ſagen ſollen. Da wurde denn einmal ein großes Feſt veranſtaltet in G., was ſie ein Muſikfeſt nannten. Dazu haben ſie von Weit und Breit aus dem ganzen Lande zuſammenberufen, was ſtreichen konnte und blaſen und ſingen und ſchreien und Pauken ſchlagen. Wie die Ameiſen ſind die Muſikuſſe uͤber die Berge gekrochen, durch die Thaͤler, aus allen Winkeln und Ecken, daß es nur ſo wimmelte! Natuͤrlich war mein Mann auch dabei mit ſeiner Geige und ohne Nette waͤr’s ja durch - aus nicht gegangen. Sie fuͤhrten auf, wie die Welt geſchaffen worden iſt. Die Schoͤpfung nannten ſie’s. Das kam mir ſchon ſuͤndhaft vor. Noch ſuͤndhafter hielt ich es, daß Dein Großvater als chriſtlicher Schulmann, der er doch einmal ſein ſollte, ſich nicht ſchaͤmte, ſo viel Aufhebens zu machen von der Heid - niſchen Muſik. Denn heid’niſch war ſie. Das hab ich ihn und ſeine Muſikfreunde ſagen hoͤren. Ein Heide, ſagten ſie, haͤtte das eben erſt in der großen Wienſtadt geſchrieben. Da entbloͤdeten ſie ſich nicht, in Einem weg von goͤttlichen heidniſchen Melodieen zu ſprechen. Schrecklich! Aber ich mußte wohl ſchwei -11 gen. Doch die Strafe blieb nicht aus. Von dieſem gotteslaͤſterlichen Muſikfeſte ſchreibt ſich unſer Elend her. Deine Mutter hatte die ſuͤndhafte Eva vorſtellen muͤſſen, ſo erzaͤhlte ſie mir’s, als ſie zuruͤckkehrten. Mit zu ziehen hatte ich mich redlich gehuͤtet. Ja, die Eva hat das unſchuldige Maͤdchen vor Aller Augen machen muͤſſen und geſungen hat ſie Liebeslieder mit Adam, der niemand anders geweſen ſein ſoll, als ein Opernſaͤnger aus der Hauptſtadt. Ob die Schlange auch vorgekommen ſei, das hab ich niemalen aus der Antoinette ihren Erzaͤhlungen herausbringen koͤnnen. An anderem Vieh hat es nicht gefehlt. Zum Gluͤck haben die Saͤnger wenigſtens ihre Kleidung nicht ab - legen duͤrfen. Sonſt war Alles wie beim Suͤndenfall. Ach, mein lieber Anton, hatte Dein Großvater bisher mit ſeiner Nette Abgoͤtterei getrieben, jetzt fand er gar keine Grenzen mehr. Die Lobſpruͤche, die ſie von Hoch und Niedrig erhalten, hatte er eingeſackt und ſich voͤl - lig damit ausgepolſtert, daß er ſelber aufgeblaͤhet war wie ein welſcher Hahn, den die Koͤchin mit gebrate - nen Kaſtanien ſtopfte. Einen guͤldenen Ring ließ er ihr machen fuͤr drei ſchwere Dukaten und auf einem Plaͤttchen ſtand eingegraben: Eva. Den Ring mußte ſie tragen, als ob ſie eine Dame waͤre. Das12 gab ihr den letzten Gnadenſtoß. Wenn ich ihr eine haͤusliche Arbeit auftrug, ließ ſie nur ihren Ring im Lichte glitzern und ſetzte ſich an’s Klavicembalo. O Anton, da war ſie ſo lieblich und ſchuͤttelte mit den dunklen Locken herum, daß die allerhoͤchſten Noten herauspfiffen aus dem Perlenmunde, als ob’s Waſ - ſertropfen waͤren, die an der Sonne funkeln. Und da war die thoͤrigte Mutter wieder ſtill, ſchaffte ſelbſt im Hauſe und horchte auf ihres Kindes Geſang.

Unterdeſſen waren die Huſaren, die ſonſt in G. gelegen, zu uns nach N. in’s Quartier gekommen. Schon wie ſie einruͤckten und wie ihre Trompeten uͤber den Platz ſchmetterten, daß es bis in unſeren ſtillen Kirchhof drang, ſpuͤrt ich an Netten’s Betragen, die Sachen waͤren nicht in der Ordnung. Sie war wie ausgetauſcht, unruhig, niedergeſchlagen, dann wieder auf einmal uͤbermuͤthig, wild, luſtig. Der Alte gab nichts auf meine Mahnungen. So ſind halt die Kuͤnſtlernaturen, ſprach er. Sie iſt eine echte Kuͤnſt - lernatur! Was er damit ſagen wollte, hab ich nicht entdecken koͤnnen. Mir war’s zu hoch.

Da hatte denn Deine Mutter Freundſchaft geſchloſ - ſen mit einem Maͤdel ihres Alters, die Tochter eines Steinmetzgers, oder Bildhauers, wie er ſich nannte,13 der unten am Fuße der hohen, ſteinernen Bruͤcke ein Haͤuschen bewohnte; ein duͤrftig-hoͤlzernes Ding von Gebaͤude. Ging unſer Bergfluͤßchen nur ein Biſſel voll, ſo leckten die Wellen an des Mannes Beſitzthum, und waͤr es nicht von Steinen, Grabkreuzen und plumpen Heiligen beſchwert worden, mir ſcheint, das Gewaͤſſer haͤtt es laͤngſt fortgeſchwemmt. Mit der beſagten Bildhauers Chriſtel hatte unſere Antoinette Freundſchaft geſchloſſen und ſie beſuchten ſich. Mir gefiel der Umgang nicht. Erſtens wollte ſich’s doch nicht recht ſchicken, daß des Luther’ſchen Kantors Kind Tag-aus Tag-ein bei den kathol’ſchen Leuten ſteckte, die da lauter ſteinerne Goͤtzenbilder um ſich hatten. Und dann uͤberhaupt war mir ſo weh, wie wenn mir Unheil ſchwante. Wie geſagt, ſo geſcheh’n. Eines Abends komm ich uͤber die Bruͤcke, von Neudorf herein, wo ich eine meinige Muhme beſucht hatte, und mitten auf der Bruͤcke, da ſie ſich am hoͤchſten woͤlbt, und ich vom Steigen muͤde bin, raſt ich einen Augen - blick aus, ſchau mich um nach den gruͤnen Bergen im Abendroth, faͤllt mein Blick hinab auf Bildhauers Haͤuschen, und ſiehſt Du, Anton, Du magſt mir’s nun glauben, oder nicht, jetzt noch, wo ich Dir’s beſchreibe, fuͤhl ich den Stoß, den mir’s damals in’s14 Herz gethan! Jch ſchau hinab und ſehe einen Kornet von den Huſaren, ein Buͤrſchlein, nicht uͤbler als Du heute biſt, ſchlank wie eine Tanne, aus Bild - hauers Thuͤre treten; der dreht ſich faſt den Kopf aus den Schultern und ſtarrt empor nach der Bruͤcke, wo ich ſtehe. So wie er meiner anſichtig wird, macht er links um und huſch iſt er im Hauſe wieder d’rin. Mir brachen ſchier die Knie zuſammen unter meines Lei - bes Laſt und ich mußte das letzte Reſtchen Kraft auf - bieten, um weiter zu geh’n. Wird ſie zu Hauſe ſein? Das war der einzige Gedanke, den ich faſſen konnte. Er kam mir auf die Zunge. Schritt vor Schritt ſprach ich weiter nichts, als: heiliger Gott, wird ſie zu Hauſe ſein? Denn war ſie nicht daheim, dann war ſie zu Bildhauers gegangen und dann wußt ich, woran ich war. So bieg ich Dir um die Ecke, in’s kleine Gaͤßchen ein, das nach dem Kirchhofe fuͤhrt und eilig wie ich bin in meiner Todesangſt renn ich an ein Frauenzimmer an, das verbluͤfft vor mir ſtehen bleibt: es war meine Tochter! Wohin ſo ſpaͤt, Antoi - nette? ruf ich ihr heftig in’s Geſicht; und ſie, roth wie ein gekochter Krebs, ſtammelt nur: Dir entgegen, Mutter. Na, ſo komm, ſprech ich, und reiße ſie mit mir fort und halte ſie ſo feſt am Arme, als ob die15 ganze Schwadron am andern Arme zoͤge! Der Vater war zu Biere gegangen. Jch hatte ſie allein, nahm ſie heftig in’s Gebet. Doch ſie hielt ſich ſtandhaft; ſie leugnete mit Feſtigkeit, und ich ließ mich taͤu - ſchen. Ließ mich taͤuſchen, weil ich bei der ſchaͤrfſten Aufmerkſamkeit, von dieſem Abend an zu rechnen, nichts mehr wahrnehmen konnte, was meinen Arg - wohn erneuert haͤtte. Jm Herbſt war ich vollkommen beruhiget; um ſo mehr, weil die Huſaren ſchon wieder in andere Garniſon geruͤckt waren. So, daß ich mich entſchloß, wieder einmal die Neudorfer Muhme heim - zuſuchen; ich hatte das nicht gethan, ſeitdem mir der Weg uͤber die Bruͤcke durch den Kornet im Bildhauer - haͤuschen verdorben ward. Nun denke Dir meine Verwunderung, Anton, wie ich nach dem Haͤuschen ſuche und forſche und find es nicht mehr? ſondern an ſeiner Statt entdeck ich ein neues, groͤßeres, von Mauerziegeln feſt errichtet, mit Schieferplatten einge - deckt; das war uͤber Sommer emporgewachſen. Und wo hatte der hungrige Bildhauer das Geld dazu her - genommen? Du meinſt, dies waͤr ſeine Sache geweſen und haͤtt ich nichts danach zu fragen gehabt. Ge - wiſſermaßen wohl. Doch aber meldete ſich in meinem Herzen eine drohende Stimme, die mir den Beſuch16 bei der Neudorfer Muhme wieder leid machte. Jch drehte auf dem Flecke um, ging nach Hauſe. Mir war, als wenn ein boͤſer Geiſt mir zuraunte: Das Haus iſt auf Deiner Tochter Schande gebaut. Zitt’re nicht, armer Junge, bald kommt’s noch ſchlim - mer! Und wie ein boͤſer Geiſt keinmal allein bleibt, trat alſogleich ein zweiter an mich heran: die Frau Thorſchreiberin naͤmlich; das war ein ſchlimmes Weib, Gott moͤg ihr ewige Ruhe vergoͤnnen. Die fing zu ſchnattern an, wie es ihr Brauch, redete vom Hun - dertſten in’s Tauſendſte, von der Schule, von meinem kleinen Garnhandel, von der Muſik, von den Huſaren, und ob unſere Nettel ſich denn getroͤſtet habe uͤber den Ausmarſch der Eskadron? Der Himmel gab mir Kraft, dem haͤßlichen Weibe nicht zu zeigen, wie ſcharf ihrer Zunge Stachel in mein wundes Herze drang. Jch hielt mich aufrecht und lachte ihr in die Naſe, daß es faſt luſtig klang. Dann ging ich meiner Wege. Wie ich aber in unſer Haus, wie ich in Dei - ner Mutter Kammer gerathen bin, das kann ich Dir nicht beſchreiben, Anton, denn ich weiß es nicht. Jch weiß nur, daß ſie auf ihrem Bette ſaß und den Kopf haͤngen ließ. Antonie, ſchrie ich ſie an, ſo laut als der Krampf, der mir die Kehle zuſchnuͤrte, mich17 ſchreien ließ, was ſoll das heißen, daß fremde Weiber mich befragen nach Deinem Schmerz uͤber den Aus - marſch der Huſaren? Und daß Du ſeit acht Tagen vergehſt und verkommſt, wie eine Blume ohne Regen? Und daß die vermaledeiten Bildhauer-Leute ein neues ſtolzes Haus auferbauen? Antonie, haſt Du das Suͤn - dengeld gezahlt? Jch frage Dich, ich, Deine Mutter.

Da haͤtteſt Du ſie ſehen muͤſſen, Anton, wie ſie ſich emporrichtete und vor mir ſtand, um eine Hand hoͤher wie gewoͤhniglich. Schreie nicht, Mutter, Du thuſt mir wehe, ſprach ſie. Du ſollſt die Wahrheit vernehmen, auch ohne daß Du mir drohſt. Laͤnger haͤtte ich ohnedieß nicht geſchwiegen. Geh’n wir hinab zum Vater; auch er muß wiſſen, wie es mit ſeinem einzigen Kinde ſteht.

So ſchritt ſie mir voran, ungebeugt und maͤchtig, das ſechzehnjaͤhrige Maͤdchen, als ob ſie die Anklaͤ - gerin waͤre, und ich folgte ihr bebend, wie wenn ich ein ſchlechtes Gewiſſen haͤtte. Sie war halt gar zu ſchoͤn; man konnte ſie nicht ſehen ohne Entzuͤcken.

Dein Großvater ſaß bei ſeiner Notenſchrift. Sie winkte ihm die dicke Schwanenfeder aus der Hand, gleichſam als ob ſie ihm befehlen wollte, zu hoͤren. Und nun begann ſie: Bei dem großen MuſikfeſteDie Vagabunden. I. 218hatte ſie den jungen Grafen zum erſten Male geſehen. Unſere Augen, ſo druͤckte ſie ſich aus, haben ſich begeg - net und unſere Herzen haben ſich gefunden. Dann fuhr ſie fort, zu ſchildern, wie ſein Bild nicht mehr aus ihrem Gedaͤchtniß wich. Spaͤter zogen die Truppen hier ein. Guido fand Gelegenheit, ſie an - zureden. Bei Bildhauers trafen ſie ſich. Nachdem ich jene unſelige Entdeckung gemacht, daß der junge Mann dort verkehrte, wurden ſie vorſichtiger. Sie mieden ſich bei Tageslicht. Aber ach, die Naͤchte brachte ſie jenſeits der Bruͤcke zu. Wenn der Vater und ich im tiefen Schlummer lagen, ſchlich die Ver - fuͤhrte in’s Haus der Kupplerfamilie.

Jch vermag Dir nicht zu wiederholen, Anton, wie ſie das Alles vorbrachte. War es doch nicht anders, wie wenn ſie in ihrem vollen Rechte waͤre und wir hatten das Zuhoͤren. Endlich zog ſie einen Brief hervor, den ihr der Graf zum Abſchied an ſie geſchrie - ben. Da ſtand es mit deutlichen Worten, daß er ſie verehre, daß er ſie lieben werde ſein Lebelang, daß er ſie als Braut betrachte, und daß er nur der Eltern Einwilligung abſchmeicheln wolle, um die Schoͤnſte heimzufuͤhren auf ſeine Herrſchaft und ſie gluͤcklich zu machen.

19

Wir hoͤrten, wir laſen, wir ſtanden da verdutzt und ſtumm. Jch war ja von jeher eine dumme uner - fahrene Perſon, und Dein Großvater, die beſte Seele von einem Manne, wußte nichts von falſchen Men - ſchen. Ja, wenn’s falſche Noten geweſen waͤren! Kurzum, aus dem Jammer wurde ein Freudenfeſt: Wir weinten, wir verſoͤhnten uns, wir umarmten die Braut mit feurigen Gluͤckwuͤnſchen und gelobten uns, gegenſeitig zu ſchweigen uͤber die Sache und zu harren, bis es an der Zeit ſei, unſer Schweigen zu brechen und die Nettel Frau Graͤfin zu nennen.

Aber Du kannſt mir’s glauben, Anton, trotz meiner Dummheit war ich, bei allem Jubel, klug genug, einzuſehen, daß Deine Mutter ſich nur gluͤck - lich ſtellte; daß ſie verſuchte, ſich ſelbſt zu taͤuſchen, weil ſie uns taͤuſchen wollte. Sie glaubte nicht an ihre Zukunft. Mein Mann war von uns Dreien der Einzige, dem es rechter Ernſt war mit ſeiner Hoff - nung. Sonſt gingen die Tage truͤb und traurig hin, wie der finſtre Spaͤtherbſt, in dem wir lebten. Nette ſang wenig mehr. Sie ſagte, es fiele ihr ſo ſchwer. Nur wenn ein Brieflein vom Herzallerliebſten eintraf, athmete ſie freier auf. Dann ſang ſie beim Vater unten und der ſchwur darauf: praͤchtiger, voller haͤtt 2*20ihre Stimme niemals geklungen. Von der Einwilli - gung ſeiner Eltern jedoch ſchrieben der Herr Graf nimmermehr nichts, oder doch nur von einer vorſichtig zu behandelnden Angelegenheit.

Gegen Weihnachten wurde Antonie immer ſtiller, einſilbiger, zuruͤckgezogener. Auch ihre Kleidung ver - nachlaͤſſigte ſie, die ſonſt immer flink und ſauber ein - hergegangen, daß Alles an ihr knackte, mit einer Taille zum umſpannen. Jhr Umſchlagetuch uͤber ein duͤrf - tiges Hauskleid, anders erblickten wir ſie nicht mehr; der Sonntagsſtaat hing im Kaſten. Den Verkehr mit Bildhauers Chriſtel hatte ſie laͤngſt ſchon abge - ſchnitten. Das war mir recht. Doch auch ſonſt vergoͤnnte ſie keiner Schulfreundin das Wort. Sie ſchien wie todt fuͤr Alles, was ihre Liebe nicht betraf.

Der heilige Weihnachtsabend ruͤckte heran. Von einer Stunde zur andern meinte ich, der Poſtbote muͤſſe eintreten und muͤſſe heimlich-geſendete Gaben bringen, mit denen der junge Graf ſeine traurige Braut aus der Ferne bedenke. Vergebens! Wir hatten einen Chriſtbaum beſorgt und ihn aus unſerer Armuth mit beſcheidenen Geſchenken aufgeputzt, ſo gut wir’s vermochten.

Da ſtehen wir um die Dunkelſtunde in Vaters21 Zimmer, er und ich, bei geſchloſſenen Laͤden, ſtecken kleine Wachskerzen auf die Zweige, haͤngen Naſchwerk daran und handthieren ſo ſtumm neben einander her. Endlich fragt Dein Großvater: wie’s wohl heut uͤber’s Jahr hier ausſehen wird, Alte? Jch raffe mich zuſammen und ſpreche dreiſt: wie wird’s denn aus - ſehen, Alter? Gut! Hm, ſagt er wieder, ob der Graf und die Nettel dann ſchon ein Paar ſind? Und wie er das ſagt, vernehm ich einen ſchneidenden Angſtſchrei aus Antoniens Gemach herabdringen, der mir kurzweg die Sprache verlegt. Der Alte hatte nichts gehoͤrt denn er war ſchon lange taub fuͤr Alles, was nicht Muſik heißt. Da ruf ich ihm in’s Ohr: nun mach und zuͤnde die Lichtlein an; ich gehe hinauf, die Nettel holen! Und ich gehe hinauf, Anton, nein! nein, ich kann nicht weiter ...

Großmutter, ich bitte Dich, fahre fort!

Nun denn, nach einer Stunde ſaßen Dein Groß - vater und ich vor Deiner Mutter Bett, die bleich darin lag, ein ſchmerzvoll-ſuͤßes Laͤcheln um ihren Mund. Jm Arme, mein lieber Anton, hielt ſie Dich. Aber Du warſt ſehr klein und ſchrie’ſt, wie wenn Du am Spieße ſtecken thaͤteſt. Solches geſchah am vier - undzwanzigſten Dezember ...!

22

Vor Mutter und Vater hatte das hartnaͤckige Maͤdel ihren Zuſtand zu verbergen gewußt. Was jetzt erfolgt war, konnte und durfte natuͤrlich nicht verborgen bleiben. Dein Großvater mußte gebuͤhrende Anzeige machen. Da war denn der Stab uͤber die Kantorfamilie gebrochen, die Fahne der Schmach ward uns auf’s Dach geſteckt und weh’te wie ein durchloͤcherter, ſchmutziger Fetzen im kalten Schnee - winde, indeſſen and’rer Orten die Weihnachts-Feier - tage froͤhlich begangen wurden. Es waͤhrte auch nicht lange, ſo hatte der Paſtor Primarius es Oben durch - geſetzt, daß Dein Großvater vom Amte gejagt wurde, weil, wie der vollgefreſſene Bratenſack behauptete, die Schulkinder nicht mehr von einem harthoͤrigen Lehrer unterrichtet werden koͤnnten, der fuͤr die Schande ſeiner eigenen Tochter taub und blind geweſen waͤre. Wir mußten ausziehen. Aus unſerem heimlichen, warmen, gruͤnumwachſenen Haͤuschen hinaus! Zum Gluͤck, daß die Baͤume duͤrr waren und winterkahl. Um Oſtern zogen wir hinaus. Wir hatten weiße Oſtern. Es war noch grimmig kalt. Draußen in der Wieſenauer Vorſtadt fanden wir eine kleine Woh - nung. Jn einem Zimmer hauſete ich mit meinem armen, niedergebeugten Alten. Jm anderen trieb23 Deine Mutter ihr Weſen mit Dir. Ach, wie ſie ſang; wie ſie Dich in ihren Armen wiegte. Mit ſchoͤneren Liedern iſt kein Kaiſerſohn in Schlaf geſungen worden. Und der Großvater fand eben ſo viel Freude daran, wie der kleine hilfloſe Enkel. Jhr Beide habt gelaͤ - chelt, wenn ihr Nettens Stimme vernahmt. Jhr habt gelaͤchelt, Anton; ich hab geweint: Denn die Stimme war ja doch unſer Ungluͤck; ſie hatte uns doch eigentlich in’s Ungluͤck gebracht.

Deines Herrn Vaters Briefe wurden immer rarer und wenn etwa wieder einmal einer geſchlichen kam, war der letzte gewoͤhnlich um etliche Woͤrter kuͤrzer, als der vorletzte. Nette ſchwieg. Der Alte fragte nach nichts. Jch weinte. Ein ganzes Jahr hab ich verweint, daneben fleißig meinen Garnhandel betrie - ben und davon haben wir gelebt; davon und von den paar Kreuzern, die der Alte mit Notenſchreiben erwarb.

Am naͤchſten Weihnachtsabend konnteſt Du ſchon laufen, Anton; langteſt ſchon mit kraͤftigen Haͤndchen nach den Kerzen am Weihnachtsbaum. Dein Vater ließ nichts weiter von ſich hoͤren. Antonie ſchrieb wohl einigemal; ſie bekam keine Antwort mehr. Sie verging ſo langſam in dem Maße, wie Du zunahmſt. Du warſt ein ſtarkes, bluͤhendes Kind.

24

Es lag dazumal ein tiefer Schnee in unſerer Gegend. Jm Februar brach ploͤtzlich Thauwetter herein mit heißen Winden und lauem Regen. Man mochte keinen Fuß vor die Thuͤr ſtellen. Pocht es eines Abends bei uns an. So ſpaͤt? ſpricht der Alte. Ein Brief! ruft Deine Mutter, und ſtuͤrzt hinaus. Es war ſo. Der Brieftraͤger hatte wirklich einen gebracht. Des Grafen Siegel, nicht ſeine Handſchrift. Deine Mutter las ihn ruhig durch, zwei -, dreimal. Dann ſagte ſie: ich muß einen Sprung zu Bildhauers machen; hab eine nothwendige Beſtellung. Jetzt, in der Nacht, bei dem Wetter? frag ich. Jch muß, ſagte ſie, legte Dich auf ihr Bett, gab Dir einen Kuß und nahm ihren Mantel um. Dann reichte ſie mir und meinem Alten die Hand. Du nimmſt ja ordent - lich Abſchied? ſprach der. Vielleicht bleib ich uͤber Nacht aus, war ihre Antwort; pflegt den Jungen! Weg war ſie!

So wett ich doch, was Einer will, ſagt ich zu Deinem Großvater, der Graf iſt hier und beſtellt ſie zum Geſpraͤch. Deſto beſſer, meinte der Alte, vielleicht fuͤhrt’s zu gutem Ende.

Nun ja, freilich wohl, zum Ende hat es gefuͤhrt.

Du ſchliefſt ſo ruhig an meiner Seite, Anton, Du25 wußteſt von nichts. Dein Großvater ſchnarchte mit dem Thauwind um die Wette, der im Schornſtein heulte. Jch ſchlief nicht. Bis Mitternacht lauſcht ich immer, ob nicht die Thuͤre gehen, ob Nette nicht heimkehren wuͤrde. Sie kam nicht. Dann uͤberließ ich mein Haupt den traurigen Gedanken, die darin ihr Weſen treiben wollten. Und als ich endlich gegen Morgen einſchlief, ſah ich im Traume nichts als Waſ - ſer; dickes, gelbes, truͤbes Waſſer; daß ich meinem Gott dankte, wie mich der Tag erweckte. Nun ſprach ich den Morgenſegen, bereitete das Fruͤhſtuͤck, raͤumte auf und wartete der Dinge, ſo da kommen ſollten, doch in ſteter Todesangſt. Mein Mann dagegen ſchien voll freudiger Zuverſicht, und als er ſich zu ſeinem Notenpapiere ſetzte, ſagt er laͤch[eln]d: vielleicht hat Er ſie gleich mit ſich genommen, zu ſeinen Eltern?

Aber ihr Kind? rief ich, auf Dich weiſend.

Das macht ihn ſtumm und nachdenklich. Doch durch dieſe Aeußerung war mir der Brief wiederum in den Sinn gekommen und war mir eingefallen, daß ſie ihn in ihren Schubkaſten gelegt. Jch holte ihn alſogleich heraus, nahm meine Brille, denn ich brauchte ſchon dazumal eine Brille und las, Anton. Ach, ich weiß ihn auswendig, den gottverfluchten26 Brief. Er war nicht von ihm, nicht von Deinem jungen Vater; von ſeiner Mutter war er geſchrieben, von der alten Graͤfin.

Wenn das luͤderliche Weibsbild, ſchrieb ſie, welches meinen Sohn, da er noch ein unmuͤndiger Knabe geweſen, liſtig verfuͤhret hat, nicht aufhoͤrt, ihn und uns mit ihren frechen Briefen zu belaͤſtigen, ſo werd ich ſie ſammt ihren ruchloſen Eltern und die ganze ſchlechte Wirthſchaft in N. den Behoͤrden zur ſtrengſten Beſtrafung anzeigen. Fuͤr den Ban - kert wird kein Heller mehr gezahlt, nachdem das Geſindel meinem Sohne ſchon bedeutende Summen zum Aufbau von Haͤuſern abzuſchwindeln gewußt. Dieß iſt das letzte Wort in dieſer ſchmutzigen Angelegenheit.

So lautete ungefaͤhr der Frau Graͤfin liebreiche Zuſchrift. Nun wurde mir augenblicklich klar, was Deine Mutter ſo ſpaͤt am Abend noch bei Bildhauers gewollt. Sie, die auch nicht das geringſte Geſchenk von ihrem Liebhaber angenommen, war empoͤrt uͤber ſolche ungerechte Vorwuͤrfe; war empoͤrt uͤber die Habſucht der Bildhauerleute, die gewiß falſches Spiel geſpielt und in Nettens Namen dem jungen Grafen das Geld abgebettelt hatten, womit ſie ſich aus ihrer27 eigenen Noth geriſſen. Das war mit Haͤnden zu greifen: Deine Mutter wollte ſie zu einem Geſtaͤnd - niß zwingen; deßhalb der naͤchtliche Beſuch. Aber warum kehrte ſie nicht zuruͤck? Das blieb mir ein Raͤthſel. Hielt das ſchlechte Volk ſie vielleicht mit Gewalt? Hatte man ſie vielleicht eingeſperrt, um ſie durch Drohungen zum Schweigen zu bewegen?

Es litt mich nicht. Deinem Großvater ſchaͤrft ich ein, auf Dich Acht zu haben, und in des Heilands Namen begab ich mich auf den Weg, trotz Wind und Wetter. Jch mußte durch’s Staͤdtchen gehen, um aus unſerer Vorſtadt nach der Bruͤcke zu kommen. Auf dem Wege fand ich Alles in Allarm. Weiber ſtanden vor den Thuͤren und erzaͤhlten ſich mit jam - mervollen Geberden, Maͤnner, Jungen rannten mit langen Stangen, mit Haken, mit Aexten bewaffnet durch die Gaſſen. Auf meine aͤngſtlichen Fragen, was es doch gaͤbe, vernahm ich nur einen Ruf: Das Waſſer! Das Waſſer!

Und als ich nun die Bruͤcke erreichte, bis oben hinauf, ſchier bis an die hohe Woͤlbung draͤngte ſich die Fluth, ſo gelb, ſo truͤbe, wie ich ſie im Traume geſehen. Unten war Alles ein Meer. So ſchnell war es uͤber Nacht gewachſen, daß die Bewohner der28 Huͤtten am unteren Ufer kaum Zeit gefunden, ihr Leben zu retten. Die hoͤlzernen Haͤuſer ſchwammen ſtuͤckweis auf dem Strome fort. Bildhauers Neubau war zuſammengeſtuͤrzt. Von den Seinigen Niemand gerettet, weil dies Haus am tiefſten gelegen. Chri - ſtinens Leichnam ſpuͤlte das Waſſer eine Meile weiter hinab auf eine Wieſe. Die Uebrigen wurden nicht gefunden, auch Deine Mutter nicht, lieber Anton.

Hier brach die alte Gokſch ihre Erzaͤhlung ab. Sie konnte vor Schluchzen nicht weiter ſprechen.

Anton hatte keine Thraͤnen. Schweigend erhob er ſich vom Boden, wo er geſeſſen, ſiel ſeiner Großmutter um den Hals, druͤckte einen langen Kuß auf ihre welken Lippen. Dann gingen ſie mit einander in’s Haͤuschen, und ohne eine Schnitte Brot zu beruͤhren, legten ſie ſich auf ihr reinliches Lager, waͤhrend die Voͤgel auf den Baͤumen rings umher ihnen ein Abendlied zwitſcherten.

29

Drittes Kapitel.

Wie Anton in den Wald läuft, ſich auszuraſen und ſeinen Schmerz auszu - ſchlafen; wie er durch den ſchwarzen Wolfgang erweckt wird, deſſen nähere Bekanntſchaft macht und endlich ein Pflegekind heimbringt.

Als am naͤchſten Morgen die alte Frau erwachte, fand ſie ein Blatt Papier mit Stecknadeln an ihre Bettdecke geheftet, worauf in großen Lettern zu leſen ſtand:

Liebe Großmutter, Anton iſt hinaus in den Wald gegangen und wird vor Abend nicht zuruͤck - kehren. Mach Dir keine Sorgen um mich. Die Einſamkeit ſoll mir gut thun. Morgen bin ich wieder fleißig bei meinen Koͤrden.

Wer ihn geſehen haͤtte, den guten Anton, als er bei’m erſten Schimmer des Tages von ſeinem ſchlaf - loſen Nachtlager emporſprang und kaum angekleidet das Weite ſuchte, der wuͤrde wahrlich in ihm den heiteren, froͤhlichen Knaben von geſtern kaum wieder erkannt haben. Die Geſchichte von ſeiner Geburt und von dem geheimnißvollen Ende ſeiner Mutter ſchien ihn voͤllig umzuwandeln. Auf ſeinem ſonſt ſo freundlichen Angeſicht lag ein Ausdruck von Zorn und Wuth, wie man nur bei recht verwilderten, boͤsartigen Menſchen wahrzunehmen pflegt. Jm30 Herzen des kraͤftigen Jungen kaͤmpften ſichtbar hef - tige Entſchluͤſſe, deren Widerſtreit ſich bisweilen in tief ausgeſtoßenen Seufzern, oder in einzelnen abge - riſſenen Worten kund gab. Seine Haͤnde waren krampfhaft zuſammengeballt. Von Zeit zu Zeit ſtreckt er ſie drohend gen Himmel. Als er, heftigen Schrit - tes, den ſogenannten Fuchswinkel erreicht, einen duͤſteren, unzugaͤnglichen Platz im großen Walde, warf er ſich, wie wenn er jetzt erſt ſicher vor jeder Begegnung mit einem menſchlichen Weſen und ſei - nem Grame nun erſt ungeſtoͤrt uͤberlaſſen ſei, laut heulend zu Boden und begann das bunte Waldmoos um ſeine Lagerſtaͤtte her auszurupfen und zu zerſtoͤ - ren. Eine ganze Nacht hindurch hatte er ſeinem Schmerze Gewalt angethan, und ſich maͤnnlich be - herrſcht, um die Großmutter nicht zu beunruhigen. Jetzt wußt er ſich jeder Feſſel entbunden und durfte ſich austoben. Raſende Fluͤche gegen Jenen gerichtet, der ihm das Daſein gegeben, ſchaͤumten von Anton’s Munde. Eine Verwuͤnſchung draͤngte die andere. Rache, Rache fuͤr meine Mutter! So lauteten die letzten Worte, die er abgemattet und erſchoͤpft hervor - bringen konnte. Dann ſank er bewußtlos in dumpfen Schlaf, der ihm anfaͤnglich finſtere, blutige Bilder31 zeigte, ſpaͤter jedoch ſanftere Traͤume vor ihm auf - ſteigen ließ, daß die Fieberqual entwich und ein ruhiger ſtaͤrkender Schlummer uͤber ihn ſich aus - breitete.

Stunde fuͤr Stunde zog der ſchoͤnſte Sommertag um den Schlaͤfer hin, der ihn in ſeinem Jnnern fuͤhlte und durchlebte. Balſamiſche Duͤfte ſenkten ſich von den hohen Tannen herab, daß er ſie einathme und ſeine von Jammergeſchrei wunde Bruſt ausheile. Er wußte, daß er ſchlief. Er empfand, daß der Schlaf ihn ſegnend abtrennte von den Leiden des Lebens. Deshalb gab er ſich willig der ſuͤßen Lockung hin, die ſommerlau auf ihm lag. Und da kam auch die Mutter. Sie neigte das Angeſicht uͤber ihn, aber es glaͤnzte, daß er ihre Zuͤge nicht ſehen konnte, und lispelte ihm wie ſingend in’s Ohr: habe Friede, mein Sohn! Es war kein Traum mehr. Zu erwachen waͤhnte der Aermſte. Jhre langen Locken beruͤhrten ſeine Augenlider. Sehnſuͤchtig ſchlang er die Arme, ſie zu umfangen, doch als er die Augen geoͤffnet, als er wirklich erwachte, leuchtete ein fremder Feuerblick ihm entgegen, und an ſeiner Seite knie’te ein in ſchlechte Lumpen gehuͤllter Bettler. Der ſchwarze Wolfgang war es. Jn der ganzen Gegend32 allzuſehr bekannt und uͤbel verſchrieen als Taugenichts und Umhertreiber.

Was willſt Du von mir? rief Anton dem Wolf - gang zu. Was verfolgſt Du mich bis hierher, wo ich Einſamkeit ſuchte? Soll man auch im dicken Walde keine Ruhe finden vor den Menſchen?

Was haben Dir denn die Menſchen zu Leide gethan? ſagte Wolfgang. Dir, der bei ſeiner Großmutter lebt, im wohnlichen Hauſe; der ſein Bett hat und ſeine Suppe? Jm Winter ſeine warme Kleidung? Der ſich redlich ernaͤhrt mit ſeiner Haͤnde Arbeit? Was haben ſie Dir gethan?

Haſt Du danach zu fragen? erwiederte Anton muͤrriſch. Geh Deiner Wege und laſſ mich hier liegen.

Jch will nicht! war Wolfgangs trotzige Ant - wort. Bei Dir zu ſein bin ich Dir nachgeſchlichen und kau’re an Deiner Seite, ſo lange Du ſchlaͤfſt, um Dir die Bremſen zu verjagen, die Dich ſtechen und Deinen Schlaf ſtoͤren wollten. Alle Menſchen moͤcht ich vergiften; lebendig ſchinden koͤnnt ich ſie, wenn ich die Macht dazu haͤtte. Nur Dich hab ich lieb, Korbmacherjunge.

Wie komm ich zu der Ausnahme? fragte mit faſt33 ſpoͤttiſchem Laͤcheln unſer Anton, waͤhrend er ſeinen Oberkoͤrper zur Haͤlfte von dem bemooſeten Erdboden aufrichtete und auf dem linken Arm das Haupt geſtuͤtzt, dieſes dem ſchwarzen Wolfgang zuwendete.

Das weißt Du nicht mehr? Jch weiß es deſto beſſer und ich will’s Dir wohl ſagen. Vor einem Jahre, oder iſt’s noch laͤnger, gingſt Du einmal mit den Toͤchtern eures rothnaſigen, verſoffenen Barons und mit des Paſtors Soͤhnen um’s Dorf herum, gegen Abendzeit. Jch ſaß hinter einer Schlehdornhecke und ſah euch kommen. Jch war voll von Bosheit und Hunger. Beim Paſtor, wie beim Gutsherrn hatten ſie mich von der Thuͤre gewieſen, und die aͤlteſte von den Schloßfraͤulen, die ihrem Vater ſo aͤhnlich ſieht, ſchrie mir nach: hab ich Dir’s nicht oft genug geſagt, nichtsnutziger Schlingel, Du darfſt die Woche nur einmal betteln? Dumme Gans! Wenn ſie mich uͤberall auf Sonnabend beſtellen, nach ihrem armſeli - gen, verſchimmelten Stuͤck Brot, wovon ſoll ich denn die andern Tage leben? Soll ich das verdorrte Zeug, woran ſich jeder rechtſchaffene Kettenhund die Zaͤhne ausbeißt, auch noch lange mit herumſchleppen? Wie geſagt, ich war voll von Bosheit, und wie ihr ſo bei den Hecken vorbei ſtricht und das haͤßliche WeibsbildDie Vagabunden. I. 334ſeine Schnauze nach der Seite drehte, wo ich ſaß, da konnt ich’s nicht laſſen, ich mußt ihr einen Stein in’s Geſicht werfen. Und der flog ihr ſo huͤbſch zwi - ſchen Naſe und Maul, daß ſie einen Satz machte wie eine Kraͤhe, die angeſchoſſen iſt, und Zeter bruͤllte aus ihrem blutigen Schnabel. Jch wollte ausreißen, aber die Paſtorjungen hatten mich entdeckt, holten mich ein und fielen uͤber mich her; Zwei uͤber Einen. Sie ſchlugen mich auf den Kopf und wo ſie hintrafen mit ihren Knuͤtteln, die ſie Schuljungen-Stoͤcke heißen, oder Ziegenhainer. Da warfſt Du Dich zwiſchen ſie und mich, bedeckteſt mich mit Deinem Leibe und bateſt, nun moͤcht es genug ſein, und wie ſie immer wieder auf mich eindrangen, fingſt Du an, mit ihnen zu kaͤmpfen, hielteſt beide zuruͤck, daß ich unterdeſſen entfliehen konnte. Seitdem lieb ich Dich, Anton. Dich allein, wie ich ſonſt Alle haſſe.

Jch beſinne mich jetzt, ſagte Anton; es iſt gerade ein Jahr her. Es war der letzte Spaziergang, zu dem ſie mich abriefen. Du biſt in meinem Alter?

Jch glaube. Gewiß weiß ich’s nicht.

Du weißt nicht? Kannſt Du nicht Deine Eltern befragen?

Jch habe keine Eltern.

35

Auch nicht? Armer ſchwarzer Wolfgang! Aber doch Verwandte?

Niemand. Meine Mutter iſt im Zuchthauſe geſtorben, eh ich ſechs Jahr alt wurde. Mein Vater ward in Boͤhmen gehenkt.

Gott erbarme ſich, das iſt ja ſchrecklich!

Warum denn ſchrecklich? Luſtig iſt’s. Sie wiſ - ſen nirgend, was ſie mit mir anfangen ſollen, weil ich nirgend eine Heimath habe. Jch bin hinter’m Zaune auf die Welt gekommen, wie eine Katze. Neulich hat mich der Landdragoner feſtgenommen, hat mich an ſeines Pferdes Schwanz gebunden und hinein auf’s Amt geliefert. Der Landrath lachte, wie er mich erkannte, und ſprach: was ſoll ich mit dem anfangen? Wohin ich ihn mit dem Schub ſchicke, wird er mir ewig wieder zuruͤckgeſtellt; ſie behalten ihn an keinem Orte, weil er an keinem Orte zu Hauſe iſt. Es iſt einmal unſer Vagabunde; laßt ihn laufen! ha, ſo lauf ich nu!

Ach wie ungluͤcklich mußt Du ſein! rief Anton, der ſeine theilnehmende Ruͤhrung kaum zuruͤckdraͤn - gen konnte.

Ungluͤcklich? Daß ich nicht wuͤßte. Jch kenn’s ja nicht anders. War’s doch von jeher ſo mit mir be -3 *36ſchaffen. Fruͤher, eh ich Dich lieb hatte, war mir wohl manchmal, als ob ich’s nicht aushielte. Seit - dem Du Dich fuͤr mich pruͤgeln laſſen, weiß ich doch einen Menſchen auf der Welt, an den ich denken mag, ohne daß mich die Luſt in den Gliedern zuckt, ihm wehe zu thun, oder einen Poſſen zu ſpielen. Bis dahin ſpuͤrt ich immer nur Haß und das zehrt Einem foͤrmlich am Leben. Jetzt iſt mir manchmal zu Muthe, als ob ich auch ein Gefuͤhl haben koͤnnte, wie andere Leute. Und vorhin, wo Du hier lagſt und ſchliefſt und ich mich uͤber Dich bog und ſah Dich im Schlafe mit den Lippen zucken, als wollteſt Du lachen, da war mir eben, wie wenn ich weinen muͤßte. Aber es war mir gut dabei. So weich und gut, inwendig, verſtehſt Du mich, um’s Herz herum; ſiehſt Du, hier auf der Stelle.

Bei dieſen Worten riß der Landſtreicher ſein gro - bes, ſackleinenes Hemd von der ſonnverbrannten Bruſt und zeigte dem ſtaunenden Anton jenen Fleck, wo man des Herzens ſtuͤrmiſchen Schlag wild gegen die Bruſt pochen ſah, daß ſie hoch empor bebte.

Du mußt krank ſein, Wolfgang, rief Anton mit - leidig aus; ſo wuͤthend hammert keines geſunden Menſchen Pulsſchlag.

37

Den Teufel, mag ich nicht krank ſein? Freilich bin ich krank. Jch komme aus dem Fieber gar nicht heraus. Aber wenn ich einen tuͤchtigen Schluck ſchar - fen Kornbranntewein hinuntergießen kann, wird mir gleich wieder beſſer; dann bin ich ſtark, wie der Ge - ſuͤndeſte, und nehm es mit jedem auf. Jetzt ſollten die verfluchten Paſtorjungen nur uͤber mich fallen, ich wollte ſie zuſammenhauen ſammt ihren Ziegen - hainern!

Haſt Du Schnaps getrunken? fragte Anton erroͤthend; heute, zum Sonntag?

Freilich hab ich, ſonſt waͤr ich nicht ſo ruͤſtig und meine Augen thaͤten nicht ſo brennen. Ein frem - der Herr, der waͤhrend der Kirche mit einer Kutſche in euer Dorf einfuhr, Poſtpferde vor den Wagen ge - ſpannt, hat mir einen Groſchen zugeworfen. Nicht mehr? ſchrie ich, nachdem ich die Muͤnze aufgeleſen, ſteckte dem geizigen Kerl die Zunge heraus, ſchickte ihm ein paar herzhafte Schimpfwoͤrter auf den Weg nach und bin ſaufen gegangen.

Aber Wolfgang, fluͤſterte Anton, da biſt Du ja wirklich ein ſchlechter Menſch?

Das will ich ja ſein, rief jener trotzig. Und wenn ich nur nicht immer krank waͤre und nicht immer38 das ewige Fieber haͤtte, da wollt ich ſchon noch viel ſchlechter ſein! Soll ich etwa auch nicht? Wes - halb ſollt ich’s mit den Menſchen gut meinen? Sind ſie gut gegen mich? Von meiner Mutter hab ich nichts als Fußtritte gehabt; meine Nahrung mußt ich mir ſelbſt zuſammenbetteln, oder ſtehlen; und dann nahm ſie mir fort, was mir gehoͤrte. Der Vater trieb ſich mit Dirnen herum; ſobald ich ihn um etwas bat, ſchlug er nach mir, gleichviel, ob mit der Fauſt, oder mit einem Stuͤck Holz. Als ſie ihn druͤben aufge - haͤngt hatten, weil er einen Landjuden todtgeſtochen und beraubt, bin ich von Thuͤr zu Thuͤr gekrochen und hab gebeten, ſie moͤchten mich aufnehmen, mir Brot geben; ich wollte fuͤr ſie arbeiten. Zuerſt, wenn ſie mich neugierig betrachtet, ziſchelten ſie unter einan - der: Das iſt ein ſchoͤner Junge! Wenn ſie mich aber um meine Herkunft fragten und ich ſagte ihnen die Wahrheit, da ſchrieen ſie auf: Was? den Sohn eines Moͤrders in’s Haus nehmen? Geh an den Galgen zu Deinem Herrn Papa! Und ſie hetzten mich mit Hunden. Damals wollt ich gut thun; die Men - ſchen wollten’s nicht haben. Jetzt will ich nicht.

Du wirſt Dich aber zu Grunde richten mit Dei - nem haͤßlichen Saufen. Du wirſt immer kraͤnker39 werden und in den ſchoͤnſten Jugendjahren ſterben, ſagte Anton.

Weiß ich’s nicht? antwortete der Wolfgang; begehr ich denn was Anderes? Auf dem Miſte werd ich ſterben, am Feldwege, im naſſen Graben. Deſto beſſer! Wer jung ſtirbt, braucht alt nicht zu haͤngen, wie mein Alter. Hu ich ſeh ihn noch baumeln! Halb war ich ohnmaͤchtig vor Grauen und halb war ich luſtig vor Freude, daß er mich nicht mehr pruͤgeln wuͤrde. Schrecklich war’s doch und ich moͤchte nicht haͤngen! Blieb ich aber am Leben, ſo kaͤm ich in jedem Falle an den Galgen, oder auf’s Rad; das ſpuͤr ich. Alſo wie geſagt: beſſer, ich ſterbe auf meine eigene Hand und durch mich allein. Das hab ich Dir jetzt geſagt, Anton; ich hab Dir geſagt, daß Du der Einzige biſt, den ich nicht haſſe, gegen den ich keine Wuth fuͤhle. Nun mußt Du mir dafuͤr verſprechen, daß Du mir die Augen zudruͤcken willſt, wenn’s aus wird mit mir. Willſt Du?

Thuſt Du doch, ſprach Anton geruͤhrt, als wuͤß - teſt Du im Voraus, wann Dein Stuͤndlein ſchlagen ſoll?

Beinah weiß ich’s auch. Und ich werde Dich rufen, wenn es Zeit iſt.

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Mich rufen? Wenn Du im Sterben laͤgeſt? Wie wollteſt Du das anfangen?

Das laſſ meine Sorge ſein. Jch bin ein halber Zigeuner; kann ein Biſſel hexen. Du wirſt gerufen werden und damit gut. Jetzt leb wohl. Jch geh allein aus dem Walde, damit Dich niemand mit mir reden ſieht. Will Dir die Schande nicht anthun. Auf dem Schloſſe moͤchten ſie Dir den Umgang mit mir uͤbel anrechnen. Leb wohl, bis zum Tode!

Ehe noch Anton ein Wort der Entgegnung gefun - den, auf dieſen gewaltſamen Abſchied, war Wolfgang ſchon im dichten Gebuͤſch verſchwunden. Unſer jun - ger Freund blieb ſich und ſeinem Nachdenken uͤber - laſſen. Er verglich ſein Schickſal mit dem des unſe - ligen Landſtreichers und mußte zugeben, daß es, gegen jenes gehalten, ein beneidenswerthes ſei. Doch dann verglich er ihre Vaͤter: Wolfgangs Vater war ein roher, rauher Kerl, das iſt richtig; ſagte er zu ſich ſelbſt. Doch wird er es auch wohl von Kindheit auf nicht anders geſehen haben und gelernt, ſo wenig als ſein armer Sohn. Folglich darf man von ihm nichts Beſonderes verlangen. Mein Vater jedoch iſt vor - nehmer Leute Kind, und reich, und ein gebildeter junger Herr geweſen, und hat meine Mutter dennoch41 betrogen, im Stiche gelaſſen, in Tod und Verderben geſtuͤrzt. Wer iſt nun ſchlechter? Der gemeine Her - umtreiber, der den Sohn mißhandelt, wenn dieſer ihm ungelegen kommt? Oder mein eigener Vater, der niemals nach ſeinem Sohne fragte, ſo daß dieſer ſich nicht einmal ruͤhmen darf, auch nur einen Schlag von der vaͤterlichen Hand empfangen zu haben?

Der Vergleich fiel nicht zu Graf Guido’s Gun - ſten aus. Ja, wir wollen es eingeſtehen, Anton ver - irrte ſich, von liebendem Bedauern fuͤr ſeine Mutter, und von inniger Dankbarkeit fuͤr die Großmutter angetrieben, ſo weit in rachſuͤchtigem Grolle gegen den, der ihm das Daſein gegeben, daß er ihn im Geiſte an den naͤchſten hohen Baum aufknuͤpfte und eine Minute hindurch mit ſchauerlichem Behagen den paſſendſten Platz fuͤr ſeinen armen Suͤnder aufſuchte. Doch hielt dieſe Verwilderung eines urſpruͤnglich zar - ten Gemuͤthes nicht lange an. Weh uͤber mich, rief er aus, was ſind das fuͤr ſuͤndliche Bilder? Wer weiß, wie oft der junge Mann doch an mich gedacht hat? Vielleicht konnte er damals nicht anders, in der Klemme zwiſchen Liebe und kindlichem Gehorſam? Und ſpaͤter hat er mich vergeſſen. Das iſt natuͤrlich. Er haͤlt mich fuͤr todt, wie meine Mutter. Gewiß hat42 ſie ihm ſterbend verziehen. Jch will es lebend. Jch will ihm verzeihen und todt ſein fuͤr ihn. Nein, er ſoll nicht dort oben haͤngen, an dem ſchoͤnen alten Baum!

Waͤhrend Anton dieſe verſoͤhnenden Worte dem Walde kund gab, erblickte er auf einem Aſt der maͤch - tigen Eiche, dicht an einer ſpaltigen Oeffnung des Stammes, mehrere wilde Turteltauben, die da drin’n niſteten. Es ſchienen die Eltern und ein paar Junge zu ſein. Eins der letzteren war offenbar der Liebling der Alten, denn es empfing volle Nahrung von bei - den, waͤhrend das andere, ſobald es ſich naͤhern wollte, unſanft zuruͤckgeſtoßen wurde und ſogar Biſſe von den Schnaͤbeln ihres Vaters und ihrer Mutter erhielt. Einer dieſer Stoͤße war zu ſtark fuͤr das kleine Thier; es wankte, verlor den Halt, und noch nicht voͤllig fluͤgge, fiel es, ohne ſich Schaden zu thun, halb ſchwebend vor Antons Fuͤße.

Der Eindruck, den dies einfache Ereigniß auf unſern Helden hervorbrachte, iſt nicht zu beſchreiben. Er gab ſich ihm kindlich hin. Sorgſam ergriff er die kleine Ausgeſtoßene, bedeckte ſie mit Kuͤſſen und Thraͤnen, verhieß ihr freundliche Pflege. Seine Lieb - koſungen thaten ihr wohl: ſie ruhte friedlich in ſeinen Haͤnden.

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Mittlerweile wurden die ungerechten Eltern doch beſorgt um ihr verlorenes Kind, ſtießen allerlei rufende Toͤne aus und ſchwangen ſich dem Platze, wo Anton lag, immer naͤher. Er aber, ſchnell emporſpringend, verſcheuchte ſie. Nicht mehr euer Kind! rief er laut, daß es im Walde nachhallte. Sie iſt mein! Jch erziehe ſie!

Mit dieſem heroiſchen Ausrufe erhob er ſich, um den Wald zu verlaſſen und zu ſeiner Großmutter heimzukehren.

Viertes Kapitel.

Vom Onkel Naſus, ſeinen Töchtern: Linz, Miez und Tieletunke, gleichwie von den Paſtorſöhnen: Paſtor-Puſchel und Rubs. Anton zeigt ſich als Poet.

Es wird Zeit, daß wir den geneigten Leſer in Anton’s fruͤhere Lebensjahre, ſo wie in die Verhaͤlt - niſſe ſeines heimathlichen Dorfes ein wenig einfuͤhren. Deshalb werden wir einen Ruͤckſchritt machen muͤſſen; doch ſoll der Fortſchritt unſerer Erzaͤhlung dadurch nicht lange aufgehalten werden.

Der alte Baron Kannabich, der Liebenau, den erſten Schauplatz dieſes ſchlichten Romans, von ſei - nem Vater (dieſer wiederum von dem ſeinigen und ſo44 weiter hinauf) ererbt hatte, war auch einmal jung geweſen, wie das bei vielen alten Baronen der Fall zu ſein pflegt. Und als er jung, war er ein wilder, nichtsnutziger, luͤderlicher, junger Herr geweſen, wie das bei vielen jungen Baronen der Fall zu ſein pflegt. Deshalb hatte er denn auch in ſeine aͤlteren Tage nicht viel mehr mit hinuͤber gebracht, als drei Toͤch - ter, deren Mutter bei Geburt der juͤngſten ſtarb, dreimal ſo viel Schulden, als ſchon bei ſeines Vaters Lebzeiten auf Liebenau gehaftet; einen unverſieg - baren und unbeſieglichen Durſt, (doch nicht nach Waſſer); und endlich eine dreimal dreimal, folg - lich neunmal groͤßere Naſe, als Freiherrn, Ritter und Grafen im gewoͤhnlichen Laufe der Dinge zu tragen belieben. Dieſe Naſe gab unſerm Anton, welcher ihr blau-rothes Farbenſpiel von Kindheit auf mit beſon - derer Andacht obſerviret, erwuͤnſchte Gelegenheit, den geſtrengen Gutsherrn mit dem Beinamen: Onkel Naſus zu belehnen; eine Benennung, welche an - faͤnglich kaum durchdringen wollte, da des Paſtors Soͤhne vorher eine andere geſchaffen. Sie behaupte - ten, der Freiherr ſchreibe ſich nicht Kannabich, ſondern von Rechtswegen: Kannenpich, weil er lieber aus großen Kannen, denn aus kleinen Glaͤſern pichle. 45Und ſie hießen ihn Onkel Kannenpichler. Jn ſeiner Art war das nicht uͤbel, jedoch zu komplizirt, um in’s Volk uͤberzugehen. Onkel Naſus war an - ſchaulicher, einfacher, wurde deshalb allgemein beliebt und ſchlich ſich endlich bis in’s Schloß, wo es dann durch Diener und Maͤgde bis zur ſogenannten Kam - merjungfer und durch ſolche wieder bis zu den Schloßfraͤulen ſelbſt gelangte, welche naiv genug waren, es auch zu acceptiren und in guter Laune ihren oft in ſehr uͤbler Laune polternden, ungnaͤdigen Papa Onkel Naſus zu ſchelten, obſchon dieſer kei - nes Menſchen Onkel oder Oheim war, denn er hatte niemals Bruder noch Schweſter beſeſſen: er war ein einziges Kind.

Onkel Naſus iſt heute wieder mit dem linken Fuße zuerſt aus dem Bette geſtiegen! Onkel Na - ſus hat heute wieder einmal zu tief in’s Glas geguckt! Mit Onkel Naſus iſt ſeit acht Tagen nichts anzu - fangen! Das waren Aeußerungen, die nicht ſel - ten in den jungfraͤulichen Gemaͤchern der drei Schwe - ſtern von Kannabich beim Aus - und Ankleiden vernommen wurden. Wenn auch Linz als aͤlteſte mancherlei dagegen einzuwenden wußte, ſie wurde uͤberſtimmt, da Miez , die zweite, in dieſer Sache46 mit Tieletunke , der dritten, uͤbereinkam; und was Tieletunke betrifft, ſo geſtand ſelbige mit der ihr eige - nen Unbefangenheit eine ausgeſprochene Vorliebe fuͤr Anton, den Korbmacherjungen, den Geſpielen fruͤhe - rer Zeit, den Schoͤpfer des Onkel Naſus immer gern ein.

Damit nun aber keiner meiner Leſer waͤhne, jene ſo eben genannte Namen der drei Schweſtern ſeien denſelben unchriſtlicher Weiſe am Taufſteine zu Theil geworden, verſaͤume ich nicht, beizufuͤgen, wie Linz, Miez und Tieletunke nur Umbildungen von Karo - line, Emilie und Ottilie ſind; Transſcriptionen, die wir der freien Fantaſie der beiden Paſtorſoͤhne ver - danken, aus deren hoſenloſer Kindheit ſie ſich unver - merkt in die Gymnaſialzeit geſchlichen, und, wie ſo mancher Mißbrauch auf Erden, durch Verjaͤhrung geheiliget haben. Gleiches Schickſal traf uͤbrigens die kuͤhnen Thaͤter, denn an Beiden: Julius und Robert geheißen, blieben die vertraulichen Kindernamen: Paſtor-Puſchel und Rubs feſt haften, waͤhrend Anton allein, nur in minder vertrauten Umgang gezo - gen, ſolcher Ehre verluſtig ging. Er war und blieb ſchlechthin Anton, an laͤngeren Sommertagen, wo man mit der Zeit nicht zu geizen braucht: der Korb -47 macherjunge. Linz und Miez ſtanden ihm fern, auch bei ihren Kinderſpielen, die beide in gleichem Alter mit Puſchel und Rubs, folglich als Maͤdchen ſchon reifer wie Knaben, nur aus Herablaſſung mitmachten. Tieletunke aber, faſt um ein Jahr juͤnger als Anton, fand deſſen Namen zu huͤbſch, um daß ſie ihn haͤtte umſtuͤlpen ſollen. Sie rief ihn folglich Anton! und wenn ſie gut aufgelegt war, wurde manchmal Toni daraus; was wohl eigentlich keine Verzerrung, viel - mehr eine verkuͤrzende Uebertragung des lateiniſchen Antonius in’s Deutſche iſt; nach welcher ihr, wie ſie zu aͤußern liebte, blos Kopf und Schwanz, naͤmlich: An - und us uͤbrig blieb. Und mit An-us wiſſe ſie nichts weiter anzufangen. Denn der Paſtorſoͤhne Vorſchlag: asinus daraus zu machen, gab ſie zornig zuruͤck, ſobald ihr der Herr Paſtor die Bedeutung dieſes Wortes beigebracht.

Der Paſtor nun hatte Schloßfraͤulein und eigene Soͤhne vorbereitend unterrichtet, ſo gut und ſo ſchlecht er dieß bei redlichem Willen im Stande gewe - ſen. Anton, der nur als halbgeduldeter Freiwilliger an jenen Lehrſtunden naſchen duͤrfen, hatte das Beſte davon in ſich aufgenommen und das Meiſte, weil er von allen der Begabteſte geweſen. Das entging der48 feinfuͤhlenden Tieletunke nicht. Und wie ſie ſcheinbar den adelichſten Stolz gegen den armen Burſchen an den Tag legte, war ſie ihm innerlich am herzlichſten zugethan. Die Neckereien ihrer Schweſtern hatten es fruͤhzeitig dahin gebracht, daß ſie ihre wahren Empfin - dungen in ſich verbarg, wie eine Schnecke ſich mit bedrohten, oder gar betaſteten Fuͤhlhoͤrnern in’s Jnnere des Hauſes zuruͤckzieht. Linz und Miez, minder fein organiſirt, und ihrem vaͤterlichen Großnaſentraͤger eben ſo nahe verwandt, als Ottilie der durch ſie und ihr Geborenwerden entſeelten zarteren Mutter, mach - ten aus ihrer Vorliebe fuͤr Puſchel und Rubs gar kein Geheimniß. Dieſe drei Verhaͤltniſſe wuchſen mit den drei Paaren heran, wie es eben nur in ſolchen laͤndlichen Zuſtaͤnden moͤglich. Es war eine werdende Dorfgeſchichte, nach altem Zuſchnitt.

Jetzt ſind Puſchel und Rubs als wohlbeſtandene Gymnaſiaſten in der Hauptſtadt und kommen waͤh - rend der Schulferien, im Sommer auch oft uͤber Sonnabend und Sonntag nach Liebenau zum Be - ſuche. Sie bereiten ſich fleißig vor auf ihre Pruͤfun - gen fuͤr den großen Schritt zur hohen Schule, den man damals noch nicht ſo zeitig that, wie ſpaͤter; es49 war noch nicht die Epoche fruͤhreifer Weisheit und Gelehrſamkeit.

Anton, weniger unterrichtet, aber kluͤger als ſie, flicht ſeine Koͤrbe und in dieſe ſammt den Weiden - ruthen gar manchen beſonderen, eigenthuͤmlichen Ge - danken, auf den die jungen Herrn Gelehrten ſchwer - lich gerathen duͤrften. Jhr Schulwiſſen hat ſie geiſtig faſt abgetoͤdtet, und ſo ſicher ſie ſich durch’s Examen winden werden, ſo gewiß ſind ſie flache, nuͤchterne, wenn ſchon gutmuͤthige Geſellen.

Eben ſo bleiben, wie bereits angedeutet, Linz und Miez gar weit hinter Tieletunke zuruͤck. Nicht allein an Geiſt, ſondern was weit mehr ſagen will, auch an Charakter. Die juͤngſte der Schweſtern iſt die ſelbſt - ſtaͤndigſte, die an Willen feſteſte. Dabei iſt ſie trotzig - beſcheiden, mit ſeltenen Ausnahmen nachgiebig, ja unterwuͤrfig und den aͤlteren gehorſam.

Jhr eigenthuͤmliches Weſen zeigte ſich ſchon her - vorragend, da ſie, ein ſechsjaͤhriges Kind, mit den Kindern des Hofgeſindes ſpielte. Alle barfuͤßigen kleinen Jungen, bis zu jenen zehnjaͤhrigen Schlingeln hinauf, welche bereits vom Dorfſchulmeiſter fuͤr die kirchliche Kinderlehre vorbereitet wurden, fuͤgten ſich anerkennend ihrem geiſtigen Uebergewicht. DieſesDie Vagabunden. I. 450war ſo entſchieden, daß es ſogar ein leibliches wurde. Fraͤulein Tieletunke fuͤhrte ſtrenges Regiment und pruͤgelte noͤthigenfalls ihre jungen Verehrer tuͤchtig durch; was dieſe ohne Widerrede ſich von ihr gefallen ließen, waͤhrend ſie ſich doch gegen Linz und Miez raufend zur Wehre ſetzten und die gnaͤdigen jungen Schloßfraͤulen dermaßen zurichteten, daß Onkel Na - ſus oft mit der Karbatſche dazwiſchen hauen mußte.

Sehr bezeichnend iſt folgender Vorfall: Gottfried, des Schulmeiſters Soͤhnlein, gleichfalls um einige Jahre aͤlter als Tieletunke und durch ſeinen Vater eine Art von Reſpektsperſon fuͤr den Liebenauer Nach - wuchs, hatte einmal gewagt, ſich als ſolche geltend zu machen und der jungen Gebieterin Gehorſam zu verweigern. Man war allgemein geſpannt, welche Folgen daraus entſtehen wuͤrden. Tieletunke ließ ſich ein Stoͤckchen reichen, befahl dem rebelliſchen Gottfried ſtill zu halten (was dieſer in ſtummem Er - ſtaunen wirklich that), und erklaͤrte mit feſter Stimme, ſie werde dem Schuldigen fuͤnfundzwanzig Streiche geben. (Wem dieſe Strafe zu hart und die Summe der Schlaͤge zu groß erſcheint, der wird zu bedenken erſucht, daß die Strafende dazumal noch nicht zaͤhlen konnte und mit 25 einen unbeſtimmten Begriff ver -51 band; es war, wie wenn ſie drei oder ſieben geſagt haͤtte. ) Beim erſten Streiche ſchon zerbrach das duͤnne Staͤbchen. War nun wirklich kein anderes zur Hand, oder ſchafften die Kinder keines mehr herbei, weil ſie Gottfrieds Vater zu erzuͤrnen fuͤrchteten: die Execution konnte nicht fortgeſetzt werden. Da ſagte Tieletunke: mit der Hand ſchlag ich einen ſo unſau - beren Buben nicht; er mag laufen, aber ich ſpiele nicht mehr mit ihm!

Am andern Tage, als zur gewohnten Spielſtunde ſich das muntere Voͤlkchen auf dem gruͤnen Kirchhofe verſammelte, ſaß Tieletunke an ihrer Mutter Gruft und ſpielte nicht mit den anderen. Und nun kam Gottfried, reichte ihr ein ſtaͤrkeres Haſelſtoͤckchen dar, ſprechend: gieb mir meine Strafe, Tieletunke; das wird ſchon aushalten, ich hab es ſelber abgeſchnitten; wenn ich aber gepruͤgelt bin, ſpiele auch wieder mit mir.

Von jenem Abende ſchreibt ſich Antons Neigung fuͤr Ottilien.

Dieſe Neigung wuͤrde, bis auf den Zeitpunkt, welcher unſere Erzaͤhlungen eroͤffnet, ſchon zur heißen wenn auch halb hoffnungsloſen, doch eben darum ſchwaͤrmeriſchen Liebe eines reiferen Knaben herange -4 *52bluͤht ſein; wuͤrde unſeren jungen Freund gaͤnzlich in Anſpruch genommen haben; haͤtte nicht die fuͤr ihr Geſchlecht faſt zu maͤnnliche Energie des Fraͤuleins den Korbmacher befremdet und inſtinktmaͤßig abge - kuͤhlt. Er wagte nicht, fuͤr ſie zu ſchmachten, auch wenn er allein war nicht, weil er befuͤrchtete, ſie koͤnne ihn hoͤhniſch verſpotten. Sie, die ihn oft ſchon Korbmachermaͤdel geſcholten, weil er ſo leicht ſich der Ruͤhrung hingab; ſie, die als kleines Kind ſchon beklagt, daß ſie nicht ein Junge geworden. Es iſt recht boͤſe von meinem rothnaſigen Papa, hatte ſie damals immer geaͤußert, daß er, als der Klapper - ſtorch, der meine arme Mutter todtgebiſſen, mich ihm brachte, nicht ausgerufen hat: das iſt ein Junge! Es hing ja von ihm ab. Er durfte nur wollen, gleich war ich ein Junge, wie ihr, und hieß Otto, ſtatt Ot - tilie. Jetzt muß ich ein dummes Maͤdel ſein und lange Roͤcke tragen.

So hatte ſie damals geredet und redete nun frei - lich nicht mehr ſo, aber der Wunſch, ein Juͤngling zu werden, ſtatt eine Jungfrau zu ſein, ſchien ſich oft noch bei ihr geltend zu machen. Dieſe Richtung ſtoͤrte Anton in der ſehnſuͤchtigen Andacht einer erſten un - ſchuldigen Liebe. Er zitterte faſt vor der, die er anbe -53 ten wollte, wie ſanft, wie weiblich, wie anmuthig ſie auch ſonſt ſein mochte.

Wer irgend mit einiger Kenntniß des menſchlichen Herzens, mit einiger Beobachtungsgabe ausgeſtattet, die Beiden mitſammen geſehen, konnte ahnen, daß hier eines jener Urgeheimniſſe der Natur in verbor - genſter Macht wirkte. Der Juͤngling ſchien das Maͤdchen zu fliehen, das Maͤdchen ſchien ihn gering zu ſchaͤtzen; und dennoch fuͤhlten ſich Beide von der unbeſchreiblichen Gewalt aneinander gezogen, die aus Mann und Weib wieder eine Seele und einen Leib machen moͤchte und dieſes Problems Loͤſung ſeit Adam und Eva auf die verſchiedenſten Arten, bis jetzt immer noch erfolglos, ſucht.

Sobald Paſtor-Puſchel und Rubs in Liebenau eintrafen, ſich vom Staube des Weges einigermaßen geſaͤubert hatten, begaben ſich Beide ſtets regelmaͤßig und ohne Aufſchub aus dem Pfarrhofe nach dem Her - renhauſe, um Onkel Naſus die Hand zu kuͤſſen, der ſeinen Maͤdels alſobald befahl, Wein und Brot vorzuſetzen. Dann ritt er aus und ließ die zwei Paare treiben, was ihnen gefaͤllig war. Gewoͤhnlich unter - nahmen ſie einen Spaziergang, den die Studenten mit ihren beinahe vier Meilen in den muͤden Fuͤßen54 moͤglichſt abzukuͤrzen und im naͤchſten ſchattigen Waͤld - chen zu beenden wußten, wo man ſich lagerte. Bis vor einem Jahre noch hatte man zu jedem dieſer Zuͤge Anton abgeholt. Der Korbmacherjunge, der ſauberſte, huͤbſcheſte, kluͤgſte Genoſſe der Spielzeit durfte nie fehlen. Jetzt war das nicht mehr ſo. Die Hochſchuͤ - ler fingen an, ſich ſeiner zu ſchaͤmen; in ſeinem Weſen lag es nicht, ſich aufzudringen. Er blieb fern und Tieletunke ſchlenderte allein hinter den zwei zaͤrtlichen Paaren her, ohne durch ein Wort oder eine Miene zu verrathen, daß ſie den Begleiter ihrer Kindheit ver - miſſe. Doch entſchaͤdigte ſie ſich dann beim Ausklei - den fuͤr ihre Entbehrung, wenn ſie den Schweſtern zu verſtehen gab: Rubs und Puſchel wichen dem ver - trauten Verkehr mit ihrem ehemaligen Spielkamera - den nicht deshalb aus, weil ſie ſich des Dorfjungen, ſondern weil ſie ſich vor ihm ſchaͤmten, der in ſeiner grauen, grobleinenen Jacke zierlicher, vornehmer, unterrichteter ſei, als die plumpen Schulflegel.

Und gewiſſermaßen ſprach ſie wahr. Die Gegner der Ariſtokratie moͤgen zweifeln wie ſie wollen und koͤnnen, es gibt einen angeborenen Adel; nur frei - lich, daß er nicht unveraͤußerliches Erbtheil der Ade - ligen bleibt! Daß er oft mehrere Generationen uͤber -55 huͤpft! Daß er verwunderliche Kreuz - und Querſpruͤnge macht! Daß die Racen Auffriſchung und Wechſel brauchen! Geht es doch bei Pferden, Schafen und Rindvieh nicht anders zu.

Eine der edelſten von allen unſerem Helden ange - borenen Eigenſchaften war die Empfaͤnglichkeit, die Bildungsfaͤhigkeit ſeines Verſtandes, wie Gemuͤthes. Aus den Buͤchern, die er theilweiſe beim Paſtor em - pfangen, die er von den Schloßfraͤulen ausgeliehen, ging ſo viel in ihn uͤber, drangen die Gedanken, die er in ſich aufnahm, ſo tief ein, daß er ſeinen Um - gebungen, ſeinen Verhaͤltniſſen, ſeinem wirklichen Wiſſen weit voraus, ſich gleichſam ſelbſt uͤbertraf; daß er ſeiner eigenen Entwickelung vorangeeilt ſchien. Jn ſtaͤdtiſchem Verkehr, in geſelligen Vergnuͤgungen heimiſch, wuͤrde er ein vorlauter, altkluger, unaus - ſtehlicher Laffe geworden ſein. Jm Haͤuschen ſeiner biedern Großmutter, als beſcheidener, reingewaſchener, ſaubergehaltener Dorfhandwerker, vielmehr: Pfu - ſcher, war er ein Phaͤnomen. Tieletunke wußte am beſten, was ſie that, wenn ſie ihren Schweſtern zu bedenken gab, daß die gelehrten Paſtorſoͤhne von dem ungelehrten Anton lernen koͤnnten.

Zwei kleine Talente fingen fruͤhzeitig an, ſich be56 ihm zu entwickeln. Zuerſt ein muſikaliſches. Unter all den Jungen, ſo beim Herrn Schulmeiſter ſtreichen und geigen mußten, zum Schreck und Schauder ſaͤmmtlicher Dorfhunde, welche aͤngſtlich mit ein - geklemmten Schwaͤnzen und nur bei unvermeidlichen Gaͤngen und Geſchaͤften an der philharmoniſchen Sektion des Schulhauſes voruͤber ſchlichen, war er der Einzige, der ſeiner kleinen armſeligen Fiedel reinere Toͤne zu entlocken wußte. So glaͤnzend ſtrahl - ten ſeine Progreſſen, daß er Herrn Kickelier, den Leh - rer (Gottfrieds Vater), bald uͤberbot und nichts mehr von ihm vernahm, als ſtaunende Lobeserhebungen, waͤhrend derſelbe den uͤbrigen Jungen nicht Finger - knipſe genug darreichen konnte fuͤr all ihre Mißtoͤne.

Die zweite von Antons Gaben ſprach ſich in fri - ſchen Reimen aus, die ihm wunderbar leicht gelangen. Jch haͤtte mich wiſſenſchaftlich-kritiſcher ausdruͤcken und ſagen koͤnnen: er beſaß Anlagen zur Poeſie; er war Naturdichter; und dergleichen mehr. Jch ſagte abſichtlich und ausdruͤcklich: ſein Talent ſprach ſich in Reimen aus. Weil ich zu den aufrichtigen Leuten gehoͤre und eingeſtehe, daß ich den Reim bei einer gewiſſen harmloſen Gattung lyriſcher Kleinigkeiten nicht entbehren mag; daß ich ihn faſt fuͤr die Sache57 ſelbſt halte; daß ein kleines Liedchen reimen muß, wenn es ein Lied ſein will. Fuͤr mich giebt es keine Blume ohne Bluͤthen.

Antons Reime kannte nur der liebe Gott und er. Sonſt Niemand. Nicht einmal die Großmutter. Denn wie er, vor etwas laͤnger als einem Jahre, Ottilien ein ſeiniges Spruͤchlein hergeſtottert, hatte dieſe ihn unbarmherzig ausgelacht und gemeint, die Mutter Gokſch wuͤrde wohl thun, ihm den Hagedorn mit dem Klopfſtock auszutreiben, und er moͤge huͤbſch ſeine Kunden prompter bedienen, damit ſie nicht ſo lange auf ausgeflickte Koͤrbe warten muͤßten!

Seitdem verſchloß Anton, was die Muſe ihm ein - geben wollen, in tiefſter Bruſt und vertraute Niemand mehr eine Silbe an.

Aber ſeltſam bleibt es, daß ſeitdem auch, wenn Tieletunke ſich allein und unbelauſcht meint, ſie immer und immer folgende Zeilen wiederholt:

Jch flechte ſchlanke Weiden
Jn meine Körbe ein;
Jch ſchlinge meine Leiden
Und Freuden mit hinein;
Jch hab ein ſtilles Sehnen,
Das thut mir wohl und weh;
Mein Auge ſchwimmt in Thränen,
Wenn ich mich flechten ſeh.
58
Die Weidenruthen ſtreben
Aus dem Geflecht heraus;
Doch müſſen ſie ſich geben,
Es wird ein Korb daraus.
Ein Korb! Das iſt ein ſchlechter,
Ein trauriger Doppelſinn.
O armer, armer Korbflechter,
Ein Korb iſt Dein Gewinn.

Seltſam, ſeltſam bleibt es, daß Tieletunke dieſe Reime ſich oft ſinnend vorſagt. Noch ſeltſamer, daß dieſelben, von einmal hoͤren, ihr im Gedaͤchtniß blieben!?

Fünftes Kapitel.

Wie Anton auf’s Schloß gerufen wird, vor dem fremden Muſikmeiſter Ca - rino zu geigen; dann mit einem Glaſe Ungarwein im Kopfe einſchläft, und mit der Liebe im Herzen erwacht.

Fuͤr die ausgeſtoßene Turteltaube, die er vorſich - tig heimtrug, auf’s aͤngſtlichſte beſorgt, langte Anton vor Sonnenuntergang bei ſeiner Großmutter an. Um jeder Frage, wie er den langen Tag, und wo, zuge - bracht haben moͤge? auszuweichen, hielt er ſeiner Alten die Taube hin, mit den Worten: noch ein Pflegekind!

Mutter Gokſch beſaß zarten Sinn genug und59 kannte ihren Enkel hinreichend, um zu begreifen, daß er die Erinnerungen an ſeine Herkunft und ſeiner Mutter Schickſal fuͤr’s Erſte begraben wolle. Sie reichte ihm ihre Hand, ſchuͤttelte ſeine Rechte, wie man ſie einem alten, treuerprobten Freunde ſchuͤttelt, und erwiederte nur: fuͤr Dein Pflegekind wollen wir Beide ſorgen; und dann waren auch die Schloß - fraͤulen hier, ſammt den Paſtorjungen, ſie wollten Dich abholen ...

Zum Spaziergange? unterbrach Anton die Großmutter; was faͤllt denen auf einmal wieder ein? Sie haben eine Ewigkeit nicht nach mir gefragt!

Nicht zum Spaziergange, fuhr die Alte fort; von dem kehrten ſie ſchon zuruͤck. Nein, auf’s Schloß ſollſt Du kommen und Deine Geige mitbringen. Den alten Baron hatten ſie bei ſich, der hatte muͤſſen um’s ganze Dorf laufen; der keuchte ſammt einem fremden Herrn hinter ihnen her und fluchte laͤſterlich uͤber den weiten Marſch. Seine Naſe ſpielte in allen Farben.

Und Tieletunke?

Die war auch dabei, natuͤrlich. Aber die fragte nicht nach Dir und ſprach uͤberhaupt nicht.

Dann gerade will ich gehen. Doch wer iſt denn der Fremde?

60

Weiß ich’s? Sie nannten ihn Muſikdirektor und er iſt, glaub ich, verwandt mit dem Paſtor. Mir iſt auch, als haͤtt ich ſchon von ihm reden hoͤren, wie die Paſtorin noch lebte, gleichwie von einem verlore - nen Sohne. Nun mag er ſich wohl wiedergefunden haben! Aber vom Schweinehuͤten kommt der nicht. Er ſah ſehr praͤchtig aus.

Vor ihm ſoll ich geigen? wiederholte Anton nachdenklich einigemale. Sie wollen wahrſcheinlich uͤber mich ſpotten und das iſt wieder ein Einfall von Fraͤulein Ottilie. Aber gleichviel: ich geh doch!

Damit nahm er ſeine Geige und ging auf’s Schloß.

Sie ſaßen in der Laube vor der Thuͤr. Onkel Naſus, der Paſtor und der fremde Herr, an einem gruͤnen Gartentiſche, auf dem verſchiedene, halbge - leerte Weinflaſchen ſtanden. Die Maͤdchen, Miez und Linz, mit den Studenten gingen ab und zu. Letz - tere ſuchten gelegentlich und wenn es unbemerkt geſchehen konnte, ihre ſtets leeren Glaͤſer wieder zu fuͤllen.

Ottilie ſtand in der halboffenen großen Hausthuͤr, an den geſchloſſenen Thorfluͤgel gelehnt und den Abendflug der Schwalben betrachtend, als ob die Uebrigen ſie nichts weiter angingen.

61

Wie Anton am Eingang der langen dichtverwach - ſenen Laube erſchien, wedelten ihm des Freiherrn Hunde zutraulich entgegen und rieben ſich an ſeinen Knieen, als an denen eines guten Freundes.

Anton kuͤßte dem Baron die Hand, worauf dieſer ihn in die Wange kniff und in beſter Weinlaune ſagte: Na, Schlingel? Sonſt achtete Niemand ſonderlich auf ihn. Der fremde Herr war eben dabei, von ſei - nen Reiſen und Abentheuern zu erzaͤhlen. Anton legte die ſchlechte Geige auf einen leeren Stuhl und hoͤrte, augenblicklich vom Vortrage des Redenden gefeſſelt, aufmerkſam zu.

Der ſogenannte Muſikdirektor ſchien ein Mann von dreißig bis fuͤnfunddreißig Jahren. Sein Beneh - men war das eines viel gereiſeten, nach allen Rich - tungen bekannten und gebildeten Menſchen. Wo war er nicht uͤberall geweſen? Was hatte er nicht geſe - hen, erfahren, durchgemacht? Der Sohn eines armen Kleinbuͤrgers, des wohlehrſamen Weißgerbers Karich, war er vor laͤnger als zwanzig Jahren mit einer Bande muſizirender Bergknappen aus dem Erzge - birge davongelaufen und kehrte nun als Herr Carino, bei einem kleinen Fuͤrſten am Rhein fuͤr Kapellmeiſter angeſtellt, in die Heimath auf Beſuch, in welcher62 Niemand mehr von der ganzen Verwandtſchaft am Leben, wie des verſtorbenen Vaters Bruder, der gute Paſtor Karich in Liebenau. Dieſen auszufor - ſchen trieb ihn wehmuͤthige Erinnerung an die dahin - geſchiedenen Eltern, denen er ſo viel Kummer gemacht. Doch kaum war die erſte Stunde, dem Gedaͤchtniß der Todten geweiht, voruͤber, als des Mannes unver - wuͤſtliche Luſtigkeit wieder ausbrach und er in den nachgiebigen Oheim drang, ihn bei Onkel Naſus ein - zufuͤhren, von deſſen Naſe, großem Durſt und drei - toͤchterlichem Kleeblatt, die geſtern zur Sonnabend - feier angelangten Vettern mit ſchuͤlerhafter Begeiſte - rung verkuͤndeten. Naſus, jeglicher kuͤnſtleriſchen Re - gung fremd und ohne Spur von Antheil fuͤr einen Virtuoſen, nahm doch den Neffen ſeines treuen See - lenhirten und Winterabend-Geſellſchafters gut genug auf, wurde aber ſogleich uͤberaus gnaͤdig gegen ihn, als Carino angedeutet, daß Kuͤnſtler, beſonders muſi - kaliſche, unaufhoͤrlich Durſt empfaͤnden. Mit Weine angefeuchtet ließ er ſich denn auch die fabelhaften Mittheilungen aus Carino’s Jrrfahrten huldreich munden. Die Andern hoͤrten zu, wie man thut, wo man nichts Beſſeres zu thun weiß. Ottilie, wie ſchon erwaͤhnt, ſchien mit ihren Gedanken am blauen Him -63 melszelte zu weilen, unter welchem verſpaͤtete Schwal - ben hin und her ſchwebten. Anders war es mit An - ton. Dieſer verſchlang jede Silbe. Und weniger viel - leicht waren es Erlebniſſe, Schickſale, Thaten und Erfolge, deren ſich der Erzaͤhler ruͤhmte, als vielmehr der ſtete Wechſel der verſchiedenſten Schauplaͤtze, auf denen dieſer wandernde Muſikus erſchien, zu denen er ſich Bahn zu brechen gewußt. Eben erſt in Prag eingeſchlichen, blies er ſchon als Mitglied in der Pri - vatkapelle eines Staroſten zu Warſchau die Klari - nette. Kaum verhallten dort die Toͤne, als er bereits durch Galizien nach Wien gelangt und daſelbſt bei dem Orcheſter eines Vorſtadttheaters Violiniſt gewor - den war. Bald darauf begleitete er irgend eine beruͤhmte Saͤngerin auf dem Pianoforte, wie im Reiſe - wagen, nach Mailand, und ploͤtzlich hoͤren wir ihn zu Neapel in einem Hofkonzerte das Brumm - eiſen ſpielen, auf welchem er es zu ſeltener Fertigkeit gebracht haben will. Endlich laͤuft er in Konſtanti - nopel ſichtliche Gefahr, geſaͤckt und erſaͤuft zu werden, wie ein Neſt voll blinder, junger Hunde, ſtiehlt ſich aber uͤber Buchareſt und aͤhnliche, hoͤchſt muſikaliſch geſtimmte Staͤdte nach Deutſchland zuruͤck, wo er gerade zu rechter Zeit anlangt, um Seiner Durch -64 laucht dem Fuͤrſten von X. Y. Z. die unterwegs kom - ponirte Symfonie aus Fis-Moll zu Fuͤßen zu legen und zur Belohnung dafuͤr den Platz eines Muſikdi - rektors an hochfuͤrſtlicher Kapelle zu erhalten, den er zwar fuͤr den Augenblick wie einen Ruhe-Platz betrach - tet, aber ausdruͤcklich hinzufuͤgt: nur fuͤr ſo lange, als er ſelbſt Ruhe brauchen und haben wird.

Anton, der in Liebenau aufgewachſen, das ſtille Dorf nie verlaſſen, denn die umgebenden, wenn auch ausgedehnten Waldungen waren fuͤr ihn zum Dorfe gehoͤrig! der niemals daran gedacht hatte, je von ſeiner Großmutter und deren Huͤtte zu ſchei - den; Anton begriff weder die Beweglichkeit, noch das Geſchick des Tonkuͤnſtlers. Wie ein Zauberer kam ihm der Mann vor, der in entfernten Landen ſich heimiſch, und bei der Sprache der Toͤne nicht an Worte gebunden, geltend gemacht. Eine neue Welt that ſich an dieſem Abende vor Antons Phantaſie auf. Und ohne dieſen Abend waͤre unſer Buch unmoͤglich, denn die kuͤnftige Wanderluſt ſeines Helden entfaltet heut ihre erſten Keime.

Saͤmmtliche Zuhoͤrerſchaft, ein jedes darunter auf ſeine Art freilich, fand ſich zuletzt durch des Erzaͤhlers Vortrag doch gefeſſelt, ſo daß Niemand Zeit gewann,65 ſich um Anton und ſeine außergewoͤhnliche Aufregung zu bekuͤmmern. Nur Ottilien entging nicht, was ihn bewegte. Sie ſah, wie er mit verklaͤrtem Antlitz an den Lippen des Redenden hing, und ſie fand ihn, wie er gleichſam in eine neue Lebens-Epoche gehoben, aus tiefen Augen ſchaute, wunderbar ſchoͤn. Jhrem wunderlich-trotzigen Charakter ſagte eine gewiſſe Noth - wehr gegen ſolche Bewunderung zu, deshalb zerſtoͤrte ſie ſogleich abſichtlich den Eindruck, den der Anblick des Korbmacherjungens auf ſie, wider ihren Willen, hervorgebracht, indem ſie ſpoͤttiſch fragte: ob denn der Herr Muſikdirektor uͤber ſeinen eigenen unbedeuten - den Schickſalen den bedeutenden jugendlichen Kunſt - genoſſen gaͤnzlich vergeſſen wolle, der ja auf ſeinen Wunſch hierhergerufen worden waͤre, um ihm vorzu - ſpielen?

Carino lachte laut auf, hemmte den Strom ſeiner Rede und zeigte das lebhafteſte Verlangen, Anton zu hoͤren. Rubs reichte dieſem ſeine armſelige Geige, aber ſchon beim erſten Griff platzten die Saiten. Sehr natuͤrlich: Ottilie hatte alle vier mit ihrer kleinen Etuiſcheere unbemerkt durchſchnitten. Das Gelaͤchter wurde allgemein. Anton, in ſprachloſer Verwirrung, ſtarrte Ottilien an, als ob er ſie befragen wollte:Die Vagabunden. I. 566warum? Zugleich drang ein Gefuͤhl der Befriedigung durch ſeine Sinne, welches ihn waͤhnen ließ, daß ſi[e]dieß gethan, um ihm eine Beſchaͤmung vor dem frem - den Meiſter zu erſparen. Dieſer aber zoͤgerte nicht, aufzuſpringen und ſeinen eigenen Violinkaſten aus dem Gaſtzimmer herabzuholen; denn man hatte ihn auf dem Schloſſe bewohnt, weil beim Paſtor kein Raum vorhanden, der des weitgereiſeten Weltmannes wuͤrdig geweſen waͤre. Hier, mein Soͤhnchen, ſprach er, nimm dieſe echte Cremoneſerin; auf ihr kannſt Du zeigen, was fuͤr Hunde Du verſtehſt, hinter dem Ofen - Loche hervorzulocken.

Anton antwortete durch eine verneinende Bewe - gung des Hauptes; mit beiden Haͤnden wehrte er ab, das koſtbare Jnſtrument zu beruͤhren, und als Carino wiederholt in ihn drang, machte ſich ſeine Verlegenheit in den Worten Luft: ich will ſie nicht entweihen mit meinen Fingern.

Dieſer gewaͤhlte Ausdruck aus dem Munde des Dorfknaben uͤberraſchte Carino. Was Teufel, ſagte er, wie ſprichſt denn Du? Schau mich doch an Was der Junge fuͤr Augen hat!? Coraggio, bellis - simo ragazzo, Du mußt ſpielen; jetzt will ich Dih hoͤren! Da, ſauf ein großes Glas Ungarwein au[s]67Onkel Naſus kuͤhlſtem Kellerloch; ſpuͤle die jungfraͤu - lich-verzagte Schuͤchternheit hinab; ergreife den Bo - gen und laſſ mich erfahren, ob Dein Auge luͤgt!

Zum Erſtenmal in ſeinem jungen Leben trank Anton Wein. Der edle Saft aus jenem gottgeſegne - ten Lande durchdrang ihn mit raſcher Glut. Ehe noch eine Minute vergangen, zog ein Feuerſtrom durch ſeine Adern. Muthig ergriff er nun Carino’s Violine und ſpielte frei, ohne Zagen, die alte ſchlichte Weiſe, die wir tauſendmal vernahmen, ohne darauf zu achten, die uns aber entzuͤcken wuͤrde, wenn wir ſie als aus - laͤndiſches Volkslied durch eine fremde Saͤngerin ken - nen gelernt haͤtten? ich meine die uͤberall verbreitete Melodie voll tiefer Jnnigkeit und Wehmuth:

Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus mit ihrem klagenden, wie drei Abſchiedſeufzer verhallen - dem:

Ade! Ade! Ade!

Dreimal geigte er das Lied, ohne irgend eine Va - riation, nur jedesmal trauriger, ging zuletzt in’s Moll uͤber und brach ab, ohne rechten muſikaliſchen Schluß.

Die Anweſenden, obwohl erſtaunt, weil ſie aͤhn - liche Toͤne von Antons Fiedelbogen nie gehoͤrt, wag - ten doch nicht, ſich zu aͤußern; gleich den Bewohnern5 *68mancher Stadt, auf den Ausſpruch der Kritik har - rend, die ihnen erſt verkuͤndigen ſoll, ob ihnen denn auch gefallen duͤrfe, was ihnen gern gefallen haͤtte?

Carino jedoch, ploͤtzlich ernſt geworden, legte ſeine Rechte auf Anton’s Lockenkopf und ſagte leiſe: Junge, vom Geigen verſtehſt Du freilich nichts; Du haͤltſt Deinen Bogen wie ein Biegeleiſen und greifſt wie ein Schneider, der Floͤhe ſucht; auch kann ich nicht wiſſen, ob in Dir ein tuͤchtiger Muſiker, oder ein auch nur leidlicher Virtuoſe ſteckt? Aber, daß Jemand in Dir ſteckt, daß Du ein Herz, ein Gemuͤth, daß Du Gefuͤhl und Geiſt haſt, daß Gott in Dir wohnt! das ſchwoͤr ich Dir zu, ſo gewiß, daß ich ein arger Lump und daneben eine wahre Kuͤnſtlernatur bin. Den Jungen haltet warm, ihr Onkels! Geht freundlich mit ihm um, ihr Damen und Vettern! Das iſt kein gewoͤhnlicher Korbflechter. Aus ſolchem Holze ſchnitzt das Schickſal bisweilen ſeine Auserwaͤhlten. Gib mir einen Kuß, Antonio, ich hab Dich lieb.

Dieſe in humoriſtiſcher Feierlichkeit geſprochenen Worte machten auf alle Eindruck, ſogar auf Onkel Naſus, der ſeine Ruͤhrung mit einem großem Schluck hinunter zu ſchwemmen ſuchte.

Ottilie war hinter der Hausthuͤr verſchwunden.

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Anton fand ſich am meiſten ergriffen durch das Wort: wahre Kuͤnſtlernatur. Hatte nicht ſein ſeli - ger Großvater wie die alte Mutter Gokſch ihm geſtern Abend erzaͤhlt, das liebe ungluͤckliche Toͤchterlein, die ſchoͤne Antoinette in vaͤterlichem Stolze oftmalen alſo genannt? Und der fremde Meiſter mit italieniſchem Namen nannte ſich ſelbſt ſo und daneben einen argen Lump? Ein Ausdruck, den Anton zwar in Liebenau nie gebrauchen hoͤrte, deſſen Bedeutung ihm aber klar ſchien. Muͤſſen denn alle wahren Kuͤſtlernatu - ren, ſo dachte er bei dieſem Vergleich, andere Leute ſein, wie die anderen Leute? Dann ergriff er ſeine ſaitenloſe Geige; kniff ſie veraͤchtlich unter den linken Arm; kuͤßte Onkel Naſus die Hand; empfahl ſich ſeinem neuen Goͤnner, der aus der feierlichen bereits wieder in die durſtige Stimmung uͤbergegangen war; verneigte ſich vor dem Herrn Paſtor, vor Linz wie Miez; nickte dem Puſchel und dem Rubs gute Nacht; und ſchlich, betruͤbt, Ottilien nicht mehr zu gewahren, aus der Laube. Als er jedoch beim Ausgange derſel - ben noch einmal die Augen zuruͤckwendete, ſah er ſie hinter dem Hausthuͤrfluͤgel hervorgucken und es ſchien ihm, als ob ſie ihm einen Fingerkuß nachſende. Doch ſtrafte er ſeine Augen Luͤgen und ſuchte ſich ſelbſt ein -70 zureden, die zweifelhafte Daͤmmerung muͤſſe ihn getaͤuſcht haben.

Großmutter ſchlief ſchon. Er ging auf den Zehen, um ſie nicht zu wecken, entſchlummerte ſpaͤt, ſah dann im Traume den Muſikdirektor Carino mit einer unbe - kannten Frau im lebhaften Geſpraͤch einherwandeln, wobei er ſich, wie haͤufig im Traume vorkommt, fruchtlos abmuͤhete, beide zu erreichen und abge - brochene Worte zu erlauſchen. Nur ſeinen eigenen Namen verſtand er bisweilen.

Als er aus unruhigem Schlafe erwachte, die Bil - der des quaͤlenden Traumes zu ſondern verſuchte, fand er eine merkwuͤrdige Aehnlichkeit zwiſchen jener unbekannten Frau und den Schilderungen, die ihm die Großmutter von ſeiner Mutter zu machen pflegte. Er haͤtte ſich nicht genug verwundern koͤnnen, daß ihm dies nicht ſchon im Traume aufgefallen ſei, wenn er ſich nicht zugleich erinnern muͤſſen, daß Ottiliens ihm nachgeworfener Fingerkuß, der ihm bei der Daͤmmerung des Abends zweifelhaft und fraglich erſchien, waͤhrend der Dunkelheit der Nacht und des Traumes zu großer Bedeutung angewachſen war. Nach einer Stunde des Beſinnens, Erwaͤgens, des Zweifels und der Hoffnung, verſchwanden ihm Carino71 und das Bild der fremden Frau voͤllig; nur Tiele - tunke’s Kuß lebte noch und wirkte in ſeiner Seele.

Sechstes Kapitel.

Worin blos davon geredet wird, was Mutter Gokſch, Anton und Ottilie mit ſich ſelbſt redeten; auch was die ſchöne Leſerin ſagt; und endlich der Autor.

Die neue Woche in Liebenau begann eben ſo lang - weilig wie alle neuen Wochen auf Erden zu beginnen pflegen, wenn nach irgend einer Auffriſchung oder Erregung der Menſchen Daſein wieder den alten Gang geht. Muſikdirektor Carino hat das Schloß verlaſſen und ſeinem guten Oheim dem Paſtor Lebe - wohl geſagt, um ſich an die Hofkapelle des bewußten Fuͤrſten am Rhein zu begeben; Puſchel und Rubs ſind nach der Hauptſtadt zuruͤckgekehrt, um, ihren Studien obliegend, ſich bald in’s Examen zu werfen; die Schloßfraͤulen fuͤhren die Wirthſchaft in Kuͤche, Haus und Staͤllen, bleichen Leinen, beſſern Waͤſche aus; Onkel Naſus reitet, die dickſten Staͤmme muſternd und Holzfrevler verfolgend, in ſeinen Waͤldern um - her, gleich dem bruͤllenden Leuen, zu trachten, wel - chen er verſchlinge; Anton flicht Koͤrbe.

Wir wiſſen aus ſeinem Gedichtlein, daß er ſonſt72 ſchon zaͤrtliche Gedanken mit einzuflechten pflegte. Aber was waren jene Gedanken von ſonſt gegen dieſe von jetzt? Die Liebe, von der er damals prophetiſch geſungen, war eine ſanft-ſchuͤchterne, im Entſtehen entſagende, und an eine ſolche kann ich uͤberhaupt, mag die guͤtige Leſerin mich noch ſo unguͤtig als Laͤſterer verdammen! auf die Dauer nicht glau - ben. Am allerwenigſten bei ſo ſchlichtem, natuͤrlichem, ungeziertem Dorfjungen. Sie war ihm nicht tief in’s Leben gedrungen. Sie war eben nur vorhanden, wie ſie eigentlich immer vorhanden iſt: ſie ſchwamm in der Luft um ihn her, ſei es nun als Blumenduͤftchen, ſei es als feindſeliges, anſteckendes Miasma, je nachdem. Sie ſtreifte Antons Herz; er ahnete ſie; aber das Herz war zu friſch, zu jugendſtark, zu rein, ſie fand keinen Eingang durch dies geſunde Herz, um den ganzen Menſchen einzunehmen. So war das bisher gegangen. Jetzt aber hatten ſchmerzhafte Er - fahrungen, leidenſchaftliche Zuſtaͤnde ihn bewegt, erregt, erſchuͤttert und durchwuͤhlt. Zwiſchen der Kunde vom Untergang ſeiner Mutter bis zum Kuß - haͤndchen Ottiliens lagen ſchon zwei lange Naͤchte und ein heftiger Tag. Das Herz Antons, vorgeſtern noch eine feſtgeſchloſſene, volle Knospe, hatte ſich zur73 offenen, ſchwellenden Blume entfaltet, und ſaugte mit banger Wolluſt den Hauch der Leidenſchaft. Ja ſogar Antoinettens traurige Geſchichte, wie die Alte ſie ihm rein und ſchmucklos vorgetragen, wirkte nun, wenn er ſie in ſeiner Fantaſie ſich wiederholte, mit dazu, ihm Ottilien, die er bisher immer nur als Schloßfraͤulein gedacht und geſehen, als weibliches Weſen naͤher zu ruͤcken. Der Gegenſatz beſonders war ſeiner Ruhe ſo gefaͤhrlich: dort dachte er ſich die eigene Mutter, Tochter beſchraͤnkter armer Kantorsleute, ein Opfer des reichen, hochgeborenen Junkers werden; hier ſtand die Tochter des gefuͤrchteten Gutsherrn, noch in Erinnerung an jene Zeit, vor Aufhebung der Erbunterthaͤnigkeit eine große Macht! ihm, dem Korbflechterjungen gegenuͤber. Er hielt ſich fuͤr einen Leibeigenen des Onkel Naſus. Das ſeine Großmut - ter freiwillig Liebenau zu ihrem Aufenthalt erwaͤhlt, als ſie ſich aus fruͤheren, kleinſtaͤdtiſchen Umgebun - gen fluͤchten wollte; daß ſie ihn, ein ſchon vorhande - nes Kind und Anhaͤngſel mitgebracht; daß er folglich kein Unterthan dieſer Herrſchaft ſei, das wußte, oder vielmehr bedachte Anton nicht. Er ſah in Ottilien immer noch die Tochter des Dominiums. Und um wie viel hoͤher ſtand dieſe uͤber ihm, als jemals ſein74 Vater, der Kornet, oder Lieutenant uͤber des Kantors Nette geſtanden haben koͤnnte? Und dieſe Ottilie hatte ihm ihm nein, es war zu viel!!

Denn was bedeutet es, wenn ein Maͤdel ihre Fingerſpitzen kuͤßt und den Kuß einem jungen Bur - ſchen durch die Luft nachſendet? Doch nur: weil ich fuͤr den Augenblick Dich nicht erreichen kann, kuͤß ich meine Finger, aber wenn Du mir naͤher ſtehſt, werd ich Deine Lippen kuͤſſen.

Und der Gedanke, daß dieſes nicht vollbracht wer - den koͤnne, durchaus nicht, ohne daß er zugleich die ihrigen kuͤſſe!

Nein, wie geſagt, es war zu viel! Viel zu viel!

Was ſoll das heißen, fragte Mutter Gokſch von ihrer Naͤherei nach Antons kleiner Werkſtatt hinuͤber, daß Du heute gar ſo heftig ſingſt bei Deiner Arbeit? Da ſind ja die Finken in unſerem Gaͤrtchen faule Schelme gegen Dich.

Nu Großmutterle, erwiederte Anton, nachdem er erſt ſeine Strofe beendet, mir iſt halt meine Bruſt ſo voll, ich weiß nicht wie? Da muß es heraus? Und Du hoͤrſt mich ja gern ſingen? Du lobſt ja meine Stimme, ſeitdem ſie uͤbergeſchnappt, oder vielmehr hinuntergeſchnappt hat in’s Mannbare. Du ſagſt ja75 immer, wenn ich ſinge, ſaͤnge Deine Seele mit? Na, ſo laß ſie ſingen, die alte Seele! Mir iſt leichter und beſſer dabei, wie wenn ich’s Maul halte.

Jch weiß nicht, wie Du mir vorkommſt, Anton? Seit geſtern faͤngſt Du an, Deinem Vater Gott verzeih ihm! aͤhnlich zu ſehen. Wie Du jetzt geſungen haſt, glaubt ich, er ſaͤße vor mir.

Was Dir doch einfaͤllt, Alte. Haſt Du Dich nicht heiſer geredet, mir zu beweiſen, ich waͤr meiner Mutter lebendiges Kontrafei, oder wie ſie’s nennen?

Doch Anton, doch. Fruͤher warſt Du’s. Jetzt tritt auch der Vater hervor.

Das macht, weil ich Mann werde!

Der Himmel gebe, daß es bei dieſer Aehnlich - keit ſein Bewenden haben moͤge!

Anton ſchwieg einige Minuten mit niedergeſchla - genem Blicke. Dann hub er die Augen zu ihr empor und ſagte: Großmutter wir koͤnnen nicht aͤndern, was uͤber uns verhaͤngt iſt. Wohl jedem, der einen Vater achten und lieben darf! Wer aber niemals einen beſaß, den er ſo nennen konnte; wer aufwaͤchst, in der Meinung, ſein Vater ſei ihm verloren und todt, und ihn dann nur findet, um zu hoͤren: es ſei ein ſchlechter Vater! Der muß ſich dann auch76 behelfen und einrichten, wie’s geh’n will. Wie heißt’s in der Bibel: die Suͤnden der Vaͤter werden heimge - ſucht an uns Kindern!? Darauf muß unſer Eins gefaßt ſein; vollends wenn man ein Bankert iſt. Freilich bin ich ſchlimmer d’ran, als unſer Paſtor - Puſchel und Rubs, die einen braven ehrlichen Vater haben; aber ich bin doch auch beſſer d’ran, wie der ſchwarze Wolfgang, dem ſein Vater aufgehaͤngt wurde. Wer weiß, wozu ich’s dennoch einmal bringe? Jſt’s nicht als Korbflechter, ſo iſt’s als Versmacher und Buch - ſchreiber; iſt’s nicht als das, ſo iſt’s als ein Saͤnger; iſt’s nicht als Saͤnger, ſo iſt’s vielleicht gar als Gei - ger! Oder uͤberhaupt was Beſonderes. Der fremde Muſikmeiſter hat geſagt, wie er mir die Hand auf den Kopf legte, in mir ſtecke Jemand! Jch weiß nicht, war’s der Wein, den ich trinken muͤſſen, oder war es ſeine Hand, aber es brannte mich, da er es ſagte.

Anton, Anton, ſprach die Großmutter, gerathe nicht auf unrechte Gedanken! Was willſt Du Beſon - deres werden? Was kannſt Du? Arbeite fleißig, ver - diene Dein Stuͤck Brot, ſammle Dir womoͤglich einen Sparpfennig und wenn mich der liebe Gott abruft, hole Dir in dies kleine Haͤuschen eines rechtſchaffe - nen Bauern Kind als Eheweib heim, die Dir ein77 paar Thaler mitbringt, auf daß Du friedlich lebeſt und dereinſt im Frieden ſterbeſt. Alles Andere iſt dummes Zeug.

Jch, heirathen, Großmutter? Niemals! Und eines dummen Bauern Kind obenein? Erſt gar nicht. So lange Du lebſt, bleiben wir beide beiſammen: ich bin zufrieden mit meiner Alten; verlange mir keine andere nicht. Und ſollteſt Du fruͤher ſterben als ich, was ja noch gar nicht ausgemacht iſt, dann geh ich auf und davon, ſchaue mich in der Welt um und und das Uebrige wird ſich finden!

Und willſt nicht wieder nach Liebenau heimkehren in unſer ſtilles Haͤuschen?

Wenigſtens nicht fruͤher, als bis der Jemand, der in mir ſteckt, herausgekommen iſt und ſich zeigen kann. Das iſt mein Vorſatz, ſo gewiß Tieletunke ... hier hielt er ploͤtzlich inne und begann auf’s Neue emſig zu arbeiten.

Die Alte war im Begriff, zu entgegnen. Doch that ſie ſich Gewalt an, ſtand auf, legte ihre Arbeit bedaͤchtig zuſammen und ging hinaus, ohne weiter eine Silbe zu ſprechen. Draußen, nachdem ſie die Hausthuͤr hinter ſich angezogen, ſetzte ſie ſich auf das Baͤnkchen hinten im kleinen Garten und begann mit78 leiſe-klagender Stimme ein Selbſtgeſpraͤch; eine Rede - uͤbung, in deren verſchiedenſten Formen ſie uͤber - haupt ſtark war: Das wußt ich ja, daß es ſo gehen wuͤrde. Der boͤſe Geiſt des Vaters regt ſich in ihm, ſammt der leichtſinnigen Empfindſamkeit der Mutter. Nach des Herren Tochter wagt er die Blicke zu wenden! O mein Schoͤpfer, wenn ſie doch auf den Kanzeln nicht immer von Verfuͤhrung und boͤſen Bei - ſpielen predigen wollten! Der ſchlimmſte Verfuͤhrer wohnt in den Menſchen ſelber und Satan braucht nicht erſt von Außen anzupochen, weil er mit ihnen, in ihnen geboren wird. Moͤchte mir nicht auch unſer Herr Paſtor die Erbſuͤnde abſtreiten? Da haben wir’s ja; was iſt denn hier Anderes im Spiel? Hat er je etwas der Art geſehen? Ganz von ſelbſt iſt er auf ſolche Spruͤnge gekommen. Nein, Herr Paſtor, meine Erbſuͤnde laß ich mir nicht nehmen.

Waͤhrend ſie im Freien alſo mit ſich allein redete, that Anton im Stuͤbchen desgleichen:

Wenn’s nun wirklich keine Taͤuſchung waͤre? Wenn ſie mir wirklich und wahrhaftig eine Kußhand zugeworfen? Sie, die mich immer ſpoͤttiſch behan - delt und ſeit einem Jahr gar ſo kalt und ſtolz gegen mich iſt? Was wuͤrde das beweiſen? Daß ſie79 mich im Stillen liebt; daß ſie nicht wagt, es zu zei - gen, weil ſie ſich des Korbmacherjungen ſchaͤmt. Folglich darf ich nicht bleiben, was ich bin. Folg - lich muß ich in die Welt laufen, wie des Paſtors Neffe, und muß verſuchen, in der Fremde mein Gluͤck zu machen, wie er; denn in Liebenau wird nichts aus mir, das iſt gewiß. Alſo fort! Auf und davon! Aber meine Großmutter? Es waͤre ihr Tod: nein, das geht nicht. Ach, ich Ungluͤcklicher! Was ſoll ich thun? hier bleiben und Koͤrbe flechten!

So klagte die Alte, ſo ihr Enkel, jedes allein, dennoch um die Wette. Aus dem friedlichen Haͤuschen ſchien der Friede gewichen.

Und wo wohnt er denn? Jn der anderen Land - leute Huͤtten? Stumpfſinn und rohe Gleichguͤltigkeit wuͤrden wir in manchen finden, wenn wir einzudrin - gen vermoͤchten in ihr Jnneres und in’s Jnnere ihrer Bewohnen Aber wo auch nur eine Spur von Em - pfindung, von Gefuͤhl, von menſchlichen Regungen lebt, da giebt es Zwieſpalt und Widerſpruch.

Und im Pfarrhauſe? Ernſten Sinnes ſitzt der gutmuͤthige, etwas beſchraͤnkte Karich da, dampfte dicke Wolken aus ſeinem ſchlechten Tabakskraute und vertieft ſich in duͤſtere Traͤume uͤber ſeiner Jungen80 Zukunft, die er bald auf eine entfernte Univerſitaͤt ſenden ſoll; denen er, wenn dies ſchwere Opfer gebracht iſt, nichts mehr zu hinterlaſſen haben wird, als ſeinen ehrlichen Namen.

Jm Herrenhauſe? Die Toͤchter lieben den Vater nicht, den ſie kaum fuͤrchten; von Achtung war niemals die Rede. Der Vater bemuͤht ſich, in unbe - zahlten Weinen die traurige Ausſicht zu ertraͤnken, daß er nicht im Stande ſein wird, ſeinen Glaͤubigern gegenuͤber den Beſitz von Liebenau noch fuͤr laͤngere Dauer zu erſtreiten. Er, fuͤr ſeine Perſon, wagt in ſtuͤrmiſchen Tagen an ein Piſtol aus ſeiner Reiterzeit und eine Kugel vor den umnebelten Schaͤdel zu denken. Aber was beginnen dann ſeine Maͤdels? Sollen ſie in Dienſte gehen? Jhr Brot bei Fremden erwer - ben? Und ſind doch Freifraͤulein von reinſter Geburt! Linz und Miez haben zwar den adeligen Anſpruͤchen faſt entſagt. Seitdem des Vaters Trunkſucht, ſeine Unvertraͤglichkeit, ſein plumpes Betragen ſie aus dem nachbarlichen Umgange geriſſen; ſeitdem ſie auf ihr Dorf, auf den Umgang mit der Schulmeiſterin, der Verwalterin und dem Paſtor angewieſen blieben, hat ihnen der Gedanke: die Sponſade der beiden Stu - denten zu heißen, nichts fuͤrchterliches mehr. Wenn81 ſie nicht geradezu von einem kuͤnftigen Ehebuͤndniſſe reden, ſo denken ſie doch gewiß daran. Denn ſie wollen um jeden Preis unter die Haube kommen, und kennen ihres Vaters Lage, ihre drohende Armuth, wie ihr Ein mal Eins.

Kaum wird ſich Jemand unter meinen juͤngeren Leſern deutlich machen koͤnnen, wie abgeſchloſſen, wie fern von der Welt und von Allem, was ſie bewegt, vor fuͤnfzig, ja vierzig, dreißig Jahren noch, die Bewohner eines ſolchen Dorfes vegetirten, durch wel - ches keine Straße fuͤhrt; in welches ſich oft Jahrelang nicht einmal ein wandernder Handwerksburſche ver - irrte; wohin allwoͤchentlich nur einmal das bereits altgewordene Zeitungsblatt aus der Hauptſtadt, und auch dieſes nur dann gelangte, wofern der danach ausgeſandte Hirtenjunge den gluͤcklichen Moment nicht verſaͤumte, in welchem die ordinaͤre Poſt durch’s Nachbardorf ſchlich und ein ſtets verſoffener Schirr - meiſter gerade nicht vergaß, dem aͤngſtlich Harrenden dieerſehnten Blaͤtter zuzuwerfen. Durch Puſchel und Rubs kam auch nichts Geiſtiges von Außen in’s ein - foͤrmige Leben der Familie, denn beide kaͤmpften ſich auch nur zwiſchen Entbehrung und erzwungenem Fleiße durch, ohne in der Stadt irgend eines foͤrdern -Die Vagabunden, I. 682den Verkehres froh zu werden. Sie wußten, wie ſo haͤufig arme Schuͤler aller Zeiten, nichts, als was ſie muͤhſelig und nur deshalb erlernt hatten, weil ſie nicht tadelnde Cenſuren heimbringen wollten. Dieſe ihre Theilnahmloſigkeit gegen Alles, was gebildeter Menſchen Bruſt bewegt, was auch ungebildete, doch mit hoͤheren Anlagen ausgeſtattete Weſen, gleich Ottilien, ſehnend ahnen; machte ſie letzterer ſo unbe - deutend, ſetzte ſie in ihrer Meinung ſo tief herab, daß ſie beide, wie ſchon oben angedeutet wurde, weit unter den Korbmacherjungen ſtellte.

Das wiſſen wir ja laͤngſt, liebſter Holtei, wird meine ſchoͤne, jugendliche Leſerin jetzt ausrufen. Das wiſſen wir bereits zur Genuͤge. Alſo, alter Schwaͤtzer, entwickeln Sie nicht ſo viel; gehen Sie nicht ſo lange um Jhren pſychologiſchen Brei wie ein Kater herum; ſondern melden Sie mir frei heraus, als ein offenher - ziger Romanſchriftſteller, wie es mit dem zugeworfenen Kuſſe ausſieht, den Jhr ſchoͤner Anton aus der Daͤm - merung des Abends hinter der Hausthuͤr hervor in die Daͤmmerung fliegen geſehen haben will? Durch welchen Anblick er ſich, Jhrer Verſicherung zu Folge, aus kindiſcher und beſcheidener Neigung und Ehrfurcht, in eine hoͤchſt ſtraͤfliche, weder ſittlich noch buͤrgerlich83 zu rechtfertigende Leidenſchaft hineingetraͤumt haben ſoll!?

Darauf erwiedere ich der fragenden, holdſeligen Leſerin, daß ich erſtens um geduldige Nachſicht bitte fuͤr einen jugendlichen Anfaͤnger von 54½ Jahren, der ſeinen erſten Roman ſchreibt (denn einige kuͤrzere Verſuche in dieſer Gattung zaͤhlen kaum). Zweitens aber muß ich geſtehen, daß ich ſelbſt nicht weiß, woran ich mit dieſem Kuſſe bin.

Das heißt: mir iſt bekannt, und ich waͤre gar ein ſchlechter Erzaͤhler, ſollte ich daruͤber noch Zweifel hegen! daß Ottilie zwei Finger ihrer linken Hand, naͤmlich den zweiten und dritten derſelben, dicht an - einander gelegt, auf ihre Lippen preßte, mit letztern eine Bewegung des Zuſpitzens machte, welche die Mundmuskeln anzunehmen pflegen, ſobald ſie hervor - bringen wollen, was man einen Kuß nennt. Daß ſie ſolchen fluͤchtigen, dennoch heißen Kuß den Abend - luͤften anvertraute und daß ihr feuchtes Auge dem ſcheidenden, aus der dichten dunklen Weinlaube in den freieren Hofraum ſchreitenden Anton nachblickte, iſt ebenfalls hiſtoriſch gewiß und mit jenem Stempel innerſter Wahrheit verſehen, den mein ganzes Buch in allen groͤßeren und kleineren Beſtandtheilen traͤgt. 6 *84Um jedoch der Kuͤſſenden kein Unrecht zuzufuͤgen, koͤnnte ich hier das Selbſtgeſpraͤch einſchalten, welches ſie hielt, zu der naͤmlichen Stunde, wo wir Mut - ter Gokſch und Anton bei dem ihrigen belauſchten. Aber es wuͤrde zu lang werden und ich darf meine fragende Leſerin nicht erzuͤrnen. Dieſe will nun einmal nicht, daß Ottilie den Korbmacher liebe; und es iſt denn doch durchaus nicht anders, ſo ſoll die Liebende es mindeſtens nicht eingeſtehen.

Wohlan denn, ſie that es auch nicht. Wies ſie doch mit ſtolzem Hohn, ihr eigenes Gefuͤhl nicht ſchonend, die zarten Empfindungen zuruͤck, deren ſie ſich, wenn auch nur in ſchwachen, unbeherrſchten Augenblicken, ſchuldig wußte. Sie, die junge Baronin, die Tochter des Erb - und Gerichtsherrn auf und zu Liebenau; Tochter einer unmittelbar reichs - freien Standesfrau, welche nur durch eigenthuͤmliche Verkettung der Umſtaͤnde bis zu einem Onkel Naſus herabgeſtiegen war; ſie, die charakterfeſteſte, ihrer Schweſtern armſelig-unadeliche Liebſchaften verachtend und tadelnd; ſie, empfinden fuͤr Anton, den vater - loſen, niedern Handwerker? Lieber ſterben!

Wer daraus entnehmen moͤchte, daß ihre Neigung eine ſehr tief gehende geweſen ſein muͤſſe, dem kann85 ich es nicht wehren. Wir werden ja ſehen, wohin ſie endlich fuͤhrt? Und um dazu nach und nach zu gelangen, bleibt uns nichts uͤbrig, als das ſechste Kapitel zu beſchließen.

Siebentes Kapitel.

Langweilige Tage ſonder Luſt und Freude. Anton iſt fleißig, ohne zu wiſſen, warum? Aus Tagen werden Wochen, bis die Erndte heran kommt. Komödian - ten ziehen ein. Naſus verliebt ſich.

Jch mag die vorraͤthigen Notizen, ſo den Stoff zu dieſer hoͤchſtwahrhaftigen, durch meine ſchwache Feder auszuarbeitenden Lebensgeſchichte liefern, nachdem ſolche mit reinſter Gewiſſenhaftigkeit zuſammengeſtellt wurden, durchmuſtern wie ich will, nichts findet ſich vor, unſer ſiebentes Kapitel nur einigermaßen wirkſam zu beginnen; was doch ſchon der myſtiſchen Zahl Sieben zu Ehren, eben ſo wichtig, als nuͤtzlich waͤre. Die gewoͤhnlichſten Zuſtaͤnde laufen, einem ſommerlich ausgetrockneten Bache aͤhnlich, durch das unerquickliche Bett des allergewoͤhnlichſten Daſeins. Und weil Anton, wenn ich mich ſo ausdruͤcken darf, ſeither vom Baume der Erkenntniß naſchet, geht ihm jene kindliche Unbefangenheit verloren, welche ſich mit86 Allem zufrieden ſtellte. Er lebt nicht mehr in und mit den Freuden der Natur, die bis dahin aus jedem Bluͤmchen, aus jedes Vogels Kehle auf ihn wirkten. Er weiß, daß es draußen eine Welt fuͤr ihn giebt, deshalb hat er die kleine Welt, die ihm ſo lange genuͤgen wollte, nicht mehr recht lieb.

O, man braucht nicht Anton zu heißen; braucht kein Korbmacherjunge zu ſein, um ſich aͤhnlicher Ueber - gaͤnge und trauriger Fortſchritte aus eigener Jugend - zeit zu erinnern; da ſchleichen Tage ohne Gegenwart an einem ſich ſelbſt quaͤlenden Traͤumer voruͤber, weil ſein Sinn auf eine unerforſchliche Zukunft gerichtet iſt und ſo betruͤgt er ſich grauſam um das Gluͤck harm - loſer Unſchuld. Ein Gluͤck, nach deſſen Reinheit er kuͤnftig mit verzehrender Sehnſucht zuruͤckſchauen wird. Warum auch hat die Großmutter ſeinen Bitten nachgegeben? Warum die Geſchichte ſeiner Mutter ihm erzaͤhlt? Konnte ſie nicht in frommer Einfalt ihn ſchonen mit einer Luͤge?

Und ſo ſehen wir den jugendlichen Helden unſeres Buches ungluͤcklich, bevor er noch einen Schritt gethan in das große Ungluͤck hinaus, welches man Leben nennt; in den ewigen Kampf der Menſchheit. Sehen ihn ungluͤcklich auf eigene Hand und durch eigenes87 Talent dafuͤr; denn es giebt ein Talent fuͤr’s Ungluͤck - lichſein! Wer ſich Zeit nehmen will, es auszubilden, verſinkt, wenn er auf geiſtige Beſchaͤftigung ange - wieſen iſt und dieſe ſich abzuzwingen nicht moraliſche Kraft beſitzt, gar leicht in hypochondriſche Unthaͤtig - keit, oder in verzweifelnde Ausſchweifungen, die ihn dem Untergange zufuͤhren. Anton genoß den Vor - theil, ein Handwerk zu treiben; er wurde, nachdem die ſanfte, kindliche Luſt am Daſein ihn verlaſſen, durch die oͤde Leere, worin er ſich ploͤtzlich geworfen fuͤhlte, nur veranlaßt, in die Arbeit ſich zu retten. Es war ein dunkler Trieb, der ihn dazu draͤngte. Nie - mals noch waren ſeine Kunden raſcher bedient worden. Von allen Seiten empfing er Lobſpruͤche fuͤr ſolchen Fleiß; auch der Großmutter Anerkennung blieb nicht aus. Manchmal, wenn er einen ganzen Kreis aus - zubeſſernder Koͤrbe und Wagenflechten um ſich her ſtehen ſah, rief er aus: das ſind meine Schanzen! Nun ſollen ſie nur kommen und auf mich ſchießen, ich will mich ſchon vertheidigen!

Mutter Gokſch verſtand dieſen Ausruf nicht. Ach Gott, Anton ſelbſt verſtand ihn nicht; er ſprudelte ihn nur ſo heraus, wie in Ahnung vor irgend einem drohenden Mißgeſchick. Weil er ihn aber oͤfters wie -88 derholte, meinte die Alte, er fuͤrchte einen Beſuch des Barons, der etwa hinter ſeine Liebe zu Ottilien ge - kommen waͤre und nun eintreten koͤnne, um ihn hoͤchſt eigenhaͤndig durchzuwalken, wozu die von ihm unzer - trennliche Karbatſche ein trefflich geeignetes Jnſtru - ment abgab. Auf ihre ſtrengen Fragen uͤber dieſen Punkt entgegnete dann wohl Anton mit lautem Lachen: Alte, Du biſt ein Narr; wo denkſt Du hin?

Hernach jedoch verfiel er ſtets wieder in truͤben Ernſt und ſang nur wehmuͤthige Lieder. Seine Stimme war weich und voll, wie gar ſelten in ſo jungen Jahren.

Nicht umſonſt iſt er Eva’s Kind, ſagte Mutter Gokſch, wider Wiſſen und Willen zweideutig, indem ſie der heidniſchen Muſik gedachte.

Von allen wehmuͤthigen Liedern, die er vortrug, ſang er eines am haͤufigſten: die drei Reiter waren es, welche er ſo oft zum Thore hinaus ziehen und Abſchied nehmen ließ, daß Mutter Gokſch behauptete, die armen Teufel muͤßten’s nun doch bald ſatt kriegen, Ade zu ſagen und zu reiten? Auch fragte ſie mehr - mals angelegentlich, ob er nicht die zerriſſenen Saiten an der Geige herſtellen und ſie zur Feierabendſtunde darauf begleiten wolle, wenn ſie ein chriſtliches Kir -89 chenlied ſaͤnge? Worauf Anton aber entſchieden ver - neinte und dabei ſagte: Ha, wenn’s des Fremden ſeine Geige waͤre; die hat Toͤne im Leibe, daß ſogar Fraͤulein Tieletunke ihren Spott vergißt, hinter der Hausthuͤr, und einem armen Kerl einen Ku .... ja ſo! (Hier ſchlug er ſich auf den Mund.)

Es begab ſich uͤbrigens in Antons Herzensange - legenheit, was bei ſolchen zwiſchen Furcht und Zwei - fel ſchwankenden Liebesgeſchichten gewoͤhnlich iſt; was auch meinen aͤlteren Herrn Leſern aus ihrer Zeit noch, als ſelbſt erlebt, erinnerlich ſein mag, wofern Dieſelben jemals in aͤhnlichen Lagen waren? Man hat erſt vor lauter Liebe nicht zu lieben, man hat vor Sehnſucht nicht zu hoffen gewagt. Der Abſtand ſchien zu groß. Auch wenn die Staͤnde gleich waͤren. Denn fuͤr den kindlich und kindiſch Liebenden, der mehr die Liebe als den Gegenſtand liebt, iſt beſagter Gegenſtand immer vom hoͤchſten Stande; weil er in ihm ſtets einen Engel ſieht. So kriecht er, ein an eigenem Werthe aufrichtig Zweifelnder, neben der fliegenden Himmelsbotin her und betet an. Doch ploͤtzlich, ſiehe da, geſchieht der Angebeteten etwas Menſchliches; ſie laͤßt ſich zu ihm und ſeiner beſchei - denen Ehrerbietung herab, wie etwa Ottilie es90 gethan, durch den vielbeſprochenen Luftkuß, der Engel verliert die Fittige, das Menſchliche tritt heraus, der junge Mann beginnt ſich zu fuͤhlen, Leidenſchaft ſiegt uͤber die Andacht, irdiſche Hoffnungen quellen bluͤhend hervor, die ſich an jenes unerwartete Ereig - niß knuͤpfen, wie das Erbluͤhen voreiliger Blumen an einem warmen Apriltag; ... doch nun iſt’s auch ſchon aus. Alles iſt vorbei. Vergeblich harrt der kuͤhn Gewordene auf die nothwendigen Folgen des erſten Schrittes? Sie unterbleiben. Der erſte Schritt war der letzte und hat nur dazu gedient, ihm ſeine Ruhe zu rauben, indem er kecke Wuͤnſche aufer - weckte, die unerfuͤllt welken.

Dies alles geſchah unſerem Anton. Ottilie, wenn ſie ihm zufaͤllig und ſelten begegnete, war ſtolzer, fremder, zuruͤckſtoßender als jemals vor jenem Abende, welchen der luftige Traum eines Kuſſes durchweht hatte. Verſuchte er, ihr naͤher zu treten, um ein Zwiegeſpraͤch zu beginnen, ſo kehrte ſie ihm den Ruͤcken und ließ ihn ſtehen, waͤhrend Linz und Miez gleich - guͤltig-freundlich mit ihm redend, nach ſeiner Arbeit, nach ſeiner Großmutter fragten, wie ſie es ſtets gethan, und ihm Gruͤße von Puſchel und Rubs beſtellten, um anzudeuten, daß die langen Juͤnglinge ihnen bisweilen91 ſchrieben. Eine Correſpondenz, die durch irregulaire Poſten, durch Butter - und Obſt-Weiber beſorgt wurde; weshalb auch der Sommer vorzugsweiſe die Jahreszeit dieſer Zuſchriften blieb; im Winter fehlt es an Befoͤrderung.

Wie ſehr in neuerer Zeit beliebt worden iſt, ver - traute Briefwechſel in Buͤcherform durch den Druck Preis zu geben, kann ich mich doch nicht entſchließen, den hier in Rede ſtehenden zu veroͤffentlichen. Er iſt zwar, was den Jnhalt betrifft, manchem im Buch - handel erſchienenen nicht gar ſo tief untergeordnet, aber die Form giebt ſich nicht einladend und duͤnkt mich, hauptſaͤchlich von Seiten des Freifraͤuleins, in Bezug auf die eigenſinnige Rechtſchreibekunſt all zu frei. Was die langen Juͤnglinge betrifft, ſo mengen dieſelben fleißig griechiſche, wie lateiniſche Brocken bei; theils um durch ihr Wiſſen ſich ein Anſehn zu geben; theils um auf die eingeſtreuten franzoͤſiſchen Brocken der Damen gleichfalls mit auslaͤndiſcher Waare auf - aufzuwarten. Man nannte das ſchon damals: deutſchen Styl.

Durch ihn aber bin ich ein wenig von meinem Wege abgekommen. Jch wollte eigentlich nicht erzaͤh - len, was ich jetzt ſchwatzhaft und halb willenlos92 erzaͤhlt habe; ich wollte vielmehr in hiſtoriſcher Kuͤrze berichten, daß auf die Art und Weiſe, welche wir jetzt ſchon durch anderthalb Kapitel kennen, ganze Wochen des lieben Sommers verſtrichen; daß nichts geſchah, was als aͤußerliches Ereigniß ausdruͤcklicher Erwaͤh - nung werth erſchiene? Es ſind dies Zuſtaͤnde, welche den Erzaͤhler zwingen, eine Luͤcke zu laſſen im Gange der Mittheilungen; eine Luͤcke, die dem Leſer und deſſen geiſtigem Mitwirken auszufuͤllen uͤberlaſſen bleibt. Wie auch koͤnnte ohne ſolches ein Roman - ſchreiber beſtehen? Ein Buch dieſer Gattung ſchreiben, dichten, ſchaffen nennt es, wie Jhr wollt! heißt doch endlich nichts anderes, als auf begabte Mitar - beiter zaͤhlen, die ſich unter den Leſern finden. Nur ſolche ſind Leſer in meinen Augen; nur ſolche bilden das Publikum.

Die Uebrigen, jene geiſt - und ſeelen-leeren Blattverſchlinger, die nichts von uns Schriftſtellern wollen, als durch unſere Huͤlfe eine faule Stunde abgetoͤdtet zu wiſſen; jene fuͤhlloſen Egoiſten, die kein Herz haben fuͤr Freud und Leid im Buche ... Ei, was werd ich mir die Stimmung verderben, durch den Gedanken an ſie? Hole ſie Dieſer und Jener!

93

Die Linden bluͤhen laͤngſt nicht mehr, wie im erſten Kapitel. Auf den Feldern beginnt es leer zu werden. Die Erndte iſt in vollem Gange. So reich, ſo guͤnſtig, wie ſie in jenen minder fruchtbaren Land - ſtrichen irgend ausfallen mag. Das Dorf Liebenau befand ſich in freudiger Zufriedenheit: Die Hofe - gaͤrtner hatten einen betraͤchtlichen Zehnten auf ihren Antheil erhalten; die Beduͤrfniſſe des Jahres ſchienen vollauf gedeckt; Aepfel, Birnen und Pflaumen beug - ten unter ihrer Laſt die dickſten Baumaͤſte nieder, daß man ſtuͤtzen mußte. Der Seegen des Herrn war uͤber die armen Leute gekommen, was ihnen leider nicht alljaͤhrlich wiederfuhr. Darauf moͤgen nun wohl jene Dorfkomoͤdianten rechnen, die mit einem kleinen Korbwagen, von zwei winzig kleinen Pferdchen gezo - gen, bei dem Wirthshauſe im Oberdorfe einkehren. Jm Wagen ſitzt ein junges Weib, zwei Saͤuglinge an der Bruſt. Ein kleiner Junge von etwa fuͤnf Jahren lenkt mit ſtarker Fauſt die muntern Thiere. Der Wagen traͤgt eine Menge von wunderlichem Ge - raͤth, bunten Lappen, Stricken, Stangen und oben auf ſchwebt eine große Trommel. Neben dem Wagen geht ein baumlanger, wild-ausſehender Mann; meh -94 rere Burſchen von verſchiedenem Alter, und ein ſchlankes, ſeltſam ſchoͤnes, wenn auch voͤllig braunes Maͤdchen, in jugendlicher Kraft und Fuͤlle. Barfuß, nur mit einem duͤnnen Unterrock und einem bis an den Hals ſchließenden Hemdchen, beide blendend weiß, bekleidet, traͤgt ſie ſich voll natuͤrlicher Anmuth, zeigt bei jedem ihrer Schritte die herrlichſte Geſtalt und laͤßt ihr ſchwarzes Haar ſorglos flattern, den brennenden Blick umherwerfend, als ob Dorf und nebenbei auch noch das ganze Land ihr gehoͤrten. Es iſt Baͤrbel, des großen Samuel Schweſter. Das Weib mit den Zwillingen iſt Samuels Genoſſin. Die jungen Burſchen ſind eben da, kaum ſelbſt wiſſend, ob ſie in naͤherer Beziehung, als jene welche Samuels Peitſche um ſie ſchlingt, zur Familie ſtehen.

Zigeuner ſind gekommen! rufen die Nachbarn des Wirthshauſes Einer dem Andern zu; denn haͤufig nennt man in Doͤrfern alle reiſenden Gaukler Zigeu - ner, auch wenn ſie aufrichtig-weiße, nur ungewaſchene Sproͤßlinge heimathlichen Bodens waͤren. Das letz - tere konnte vielleicht von Samuels Weibe und den ſie begleitenden Jungen gelten; er ſelbſt aber und noch mehr Baͤrbel gehoͤrten unzweifelhaft zum Stamme95 der indiſchen Aus - und Einwanderer, uͤber deren Herkunft, Sein und Werden immer noch ein nebel - hafter Schleier haͤngt.

Kaum angelangt, machten ſie auch ſchon von der großen Gaſtſtube Gebrauch, wie wenn Haus und Wirthſchaft ihr Eigenthum waͤre. Jhr kleines Thea - ter war augenblicklich aufgeſchlagen in einer Ecke des weiten Raumes und diente ihnen fuͤr jetzt zur Kuͤche, zum Schlafgemach, zur Kinderſtube, zu was nicht noch? Die groͤßeren Burſche hatten ſogleich ihre Angelſchnuͤre zur Hand, womit ſie ſich ohne Zoͤgern auf den Weg machten, nach jenem tiefen, ſchmalen, blauen Bache, der eintauſend Schritte von Liebenau zwiſchen alten Erlen friedlich fließt; aus deſſen ſtillen Fluthen noch niemals ein Eingeborener auch nur die Graͤte eines Fiſches zu holen verſuchte. Kaum jedoch hatten die boͤſen Buben ihren Koͤder fallen laſſen, ſo zappelte ſchon eine Beute um die andere.

Baͤrbel beſorgte die Roſſe, ſchirrte ſie aus und trieb ſie, mit ſicherer Hand einige Bretter der Um - zaͤunung beſeitigend, auf eine ſchoͤne gruͤne Wieſe, die an den Hof des Wirthshauſes ſtoͤßt. Es traf ſich aber ſo ungluͤcklich, daß dieſe Wieſe eine herrſchaft -96 liche und noch dazu die einzige dreiſchuͤrige *)Eine Wieſe, auf der in einem Sommer zweimal Heu und einmal Grumet gedeiht, die alſo dreimal geſchoren wird., das Heujuwel des ganzen Beſitzthumes ſein mußte. Baͤrbel konnte das freilich nicht wiſſen. Doch nehm ich keinen Anſtand, zu bekennen, ſie wuͤrde, wofern ſie es gewußt, auch nicht viel danach gefragt haben. Denn als die Wirthin in der hinteren Hausthuͤr ſtehend aͤngſtlich ausrief: Ungluͤcksmaͤdel, was thuſt Du? und da kommen der gnaͤdige Herr von Liebenau eigen - haͤndig angeritten! Als Onkel Naſus auf ſeinem ſteifen Schecken, wenn auch nicht eigenhaͤndig , doch wirklich perſoͤnlich und lebendig und zwar im wildeſten Trabe, deſſen Scheck und er noch maͤchtig waren, her - beieilte, die furchtbarſten Fluͤche ſchon aus der Ferne vor ſich her ſendend! Da trat Baͤrbel, als haͤtte ſie bei ſich erwogen: ein Baron iſt ja eben auch nur ein Mann! dem Raſenden laͤchelnd entgegen, wel - chem von dieſem Anblick geblendet, das Wort auf den Lippen erſtarb.

Euer Gnaden, ſprach ſie, mit einem auslaͤndiſch toͤnenden Accent, ich wollt Euer Gnaden bitten, um97 Permiſſion als Grundobrigkeit, daß mir duͤrfet ſpielen heunt auf die Nacht; unſriges Papier ſein in Richtig - keit, wann wollen ’S anſchau’n?

Aber Schockſchwerenoth , ſchrie Naſus, denn das war das ſanfteſte, was die nur durch Baͤrbels Schoͤnheit und Ruhe zuruͤckgedraͤngte Wuth ihn her - vorbringen ließ! Was machen denn eure Schind - maͤhren auf meiner Wieſe?

Freſſen thun’s, Euer Gnaden, erwiederte Baͤrbel in unerſchuͤtterlichem Gleichmuth.

Das ſeh ich, Kanaille , fuhr der Baron fort, wobei er in ſeiner Art vollkommen ſanft und freund - lich blieb; das ſeh ich, aber wer giebt ihnen das Recht? Meine ſchoͤnſte Wieſe,

O mein Jeſus, Euer Gnaden, das Biſſel Wieſ! Zweimal gemaͤht heuer, wachſt nur Grummet. Ver - gunnen Euer Gnaden an meine Roͤſſel! Sein ſo klein wie Hundel; freſſen nit gar viel; nur Maulvoll. Schauen S wie ausſchlagen und ſchreien: wie kleine Buben. Sein gar ſo luſtig!

Naſus verſtummte. Mit dem Ausdruck dummen Erſtaunens ließ er einen luͤſternen Blick uͤber die weißen Gewaͤnder des braunen Baͤrbels gleiten und ſeiner Naſe Purpurgluth brannte feuriger wie je, alsDie Vagabunden. I. 798wollte ſie Kunde geben von der Flamme, ſo im wei - land flotten Kavllaerie-Offizier aus grauem Aſchen - haufen emporzuckte.

Baͤrbel ſah ſich ihres Sieges ſchon gewiß. Nur zu gut war ihr bewußt, welchen Eindruck ſie uͤberall auf Jung und Alt, vorzuͤglich auf Alt! hervor - zubringen pflegte.

Bitt ich, Euer Gnaden, fluͤſterte ſie, damit die in der Hausthuͤr neugierig harrende Wirthin es nicht hoͤren moͤge, belieben ein Biſſel Kupfer zu haben, in Jhrigen Geſicht? Weiß ich gutes Mittel; kann ich vertreiben Kupfer mit Salbe, daß Euer Gnaden wer - den weiß und jung. Wann Euer Gnaden ſchaffen, kommt Baͤrbel auf G’ſchlos und ſtreich Pflaſter auf Geſicht.

Der Baron ſchmunzelte. Ob er an die Salbe glaubte, wiſſen wir nicht. Aber ihn lachte der Gedanke eines Beſuches an.

Na, meinetwegen , ſprach er, heute Abend, wenn euer Narrenſpiel aus iſt, magſt Du kommen. Aber nicht auf’s Schloß, denn meine Maͤd ..... hier unterbrach er ſich. Komme auf den Kirch - hof, verſteh’ſt Du? Nach neun Uhr iſt’s dunkel, da traut ſich kein Teufel ſonſt zwiſchen die Graͤber. Mir99 iſt das gleich. Jch bin ein alter Held. Hoͤrſt Du: nach neun Uhr meinetwegen ſo ſpaͤt Du willſt. Du fuͤrchteſt Dich doch nicht?

Warum fuͤrchten, Euer Gnaden? Baͤrbel fuͤrchtet ſich vor gar nix!

Alſo gewiß! Gegen zehn Uhr!! Du ... Du brauner Racker!

Mit dieſem Liebkoſungsworte gab Naſus ſeinem Schecken die Sporen und ritt davon. Ueber die Wieſe und uͤber Baͤrbels unberechtigte Naͤſcher war weiter nicht mehr geredet worden.

Die Schloßfraͤulein wunderten ſich ſehr, ihren Herrn Vater waͤhrend des Mittageſſens mehrfach lispeln zu hoͤren: Brauner Racker! Wobei er ſich jedesmal die blauen Lippen mit der Zunge beleckte, auch wenn er vorher nicht getrunken hatte.

100

Achtes Kapitel.

Theaterſpiel. Wie Anton zum Erſtenmal ein Drama ſieht. Ein Bekannter tritt auf. Onkel Naſus wird von ſeiner Leidenſchaft für Bärbel geheilt, aber nicht von ſeiner kupferigen Naſe.

Anton war eben wieder zu ſeiner Arbeit gegangen: einige Buͤndel friſch eingeweichter Weidenruthen lagen vor ihm und er flocht ruͤſtig, als er ſcharfe Trommelwirbel die Dorfgaſſe herab vernahm.

Was iſt das, Alte? fragt er, ohne aufzuſtehen; faͤngt etwa der ſiebenjaͤhrige Krieg wieder an?

Was wird es ſein, ſagte Mutter Gokſch, Dorfkomoͤdianten ſind es, die ihre Thorheiten aus - ſchreien!

Dorfkomoͤdianten!? So lange Anton denken konnte, hatten dergleichen ſich nach Liebenau niemals verirrt. Er erhob ſich vom Arbeits-Schemel, als wollt er zum kleinen Fenſter treten, ließ ſich aber ſogleich wieder zum ſitzen nieder. Was geht’s mich an? ſprach er leiſe; ich mag ſie doch nicht ſehen. Das iſt nur fuͤr luſtige Leute, und mir iſt nicht luſtig zu Sinne.

Jetzt verhallte die Trommel; eine helle Stimme wurde hoͤrbar:

101

Heute, zum Feierabend, mit obrigkeitlicher Bewilligung, bei’m Wirthshauſe im Oberdorfe, wird die Schauſpieler-Truppe des großen Samuel auffuͤhren zum allererſtenmale das Leben und un - ſchuldige Leiden der Pfalzgraͤfin Genoveva; ein ſchoͤnes auferbauliches Schauſtuͤck; keine Puppen, lauter lebendige Menſchen. Der Anfang iſt um acht Uhr. Maͤnner bezahlen einen Groſchen, Wei - ber einen halben, Kinder drei Pfennige, ganz kleine Kinder bringen ein Ei. Es wird niemanden nicht gereuen, denn ſo was Schoͤnes hat er noch niemalen geſehen und wird es nicht ſehen, ſo lange das Dorf ſteht. Jmmer heran, ihr Leute, wem’s nicht gefaͤllt, kriegt ſein Geld retur!

Der Ton dieſer Stimme kam Anton bekannt vor; er hatte ihn gehoͤrt und wußte doch nicht, von wem? Er trat an’s Fenſter. Er ſah den Trommelſchlaͤger, wie er gerade auf’s Neue wirbelnd weiter zog. Moͤcht ich doch ſchwoͤren, ſprach er kopfſchuͤttelnd, das ſei der ſchwarze Wolfgang? Doch wie kaͤme der unter die Komoͤdianten? Aber nun muß ich auf jeden Fall hingehen und zuſchauen.

Und er ging.

Jch habe die Auffuͤhrung, von welcher hier die102 Rede iſt, auch geſehen. Jch, der Verfaſſer dieſes Buches, kannte die Truppe des großen Samuel recht gut. Jhr Repertoir beſtand aus zwei Stuͤcken. Die - ſelben Stoffe bildeten es, welche faſt ausſchließlich den Gegenſtand aͤhnlicher Darſtellungen auszumachen pflegten. Der erſte iſt der unerſchoͤpfliche Mythus vom keuſchen Juͤngling, in welchen jedoch bei dieſen rohen Verarbeitungen ſtets die ſuͤndhafte Stiefmutter hinein ſpielt: halb bibliſcher Joſef, halb antike Phaͤdra. Der Koͤnig, oder Kaiſer, lebt in zweiter Ehe, mit einem jungen Weibe, welches vom alten Vater hin - weg nach dem holden Sohne ſchielt. Dieſer, ein Gemiſch von Hypolit und Jakobs tugendſamem Joſef, weiſet ſie verſchmaͤhend zuruͤck, verwandelt ihre Nei - gung in Haß, erweckt ihre Rachſucht, wird von ihr verleumdet, angeklagt, durch den leichtglaͤubigen Vater in den Kerker geworfen, zum Tode verurtheilt und natuͤrlich gerettet, nicht durch Dazwiſchenkunft der ſieben weiſen Meiſter , ſondern der luſtigen Perſon, die man zu jener Zeit, obwohl wahrſcheinlich hispani - ſcher Abkunft, nicht Grazioſo, vielmehr ehrlich genug: Hannswurſt nannte. Nach den oberflaͤchlichen Pro - ben, die ich bisher von Baͤrbels Redeweiſe gab, wird man mir kaum glauben, wenn ich verſichere, daß ſie103 ſowohl, als ihre nicht beſſer ſprechenden Kunſtgenoſ - ſen, dennoch einigen Eindruck auf mich gemacht haben, durch ihre Auffuͤhrung. Freilich war ich noch ſehr jung, hatte jedoch ſchon manches Große und Erhabene geſehen auf den Brettern der Hauptſtadt und ſchaͤme mich nicht, zu bekennen, daß ich trotz dem ergriffen wurde, von etlichen Auftritten jener Dorfkomoͤdie.

Der zweite Gegenſtand, dem man faſt noch haͤu - figer begegnete; durch den auch unſer Anton in die Zauberwelt dramatiſcher Poeſie eingefuͤhrt werden ſoll, war die ſtets wiederkehrende Geſchichte der heil. Ge - noveva, bisweilen untermengt mit einigen Zuͤgen und Andeutungen aus der getreuen Briſeldis (ſiehe das Volksbuch vom Markgrafen Walthern!); ſpaͤterem Geſchlechte durch Halm’s Griſeldis in die Herzen gerufen. Das edle, duldende, vom Gatten verſtoßene, endlich durch den Lohn ihrer Tugend ſelige Weib.

Die Rollenbeſetzung bei der Wanderbuͤhne in Liebenau war nicht ſo uͤbel. Der große Samuel gab einen ſtolzen Siegfried; Schweſter Baͤrbel eine ſchoͤne, wenn auch keinesweges heilige Genoveva; doch wußte ſie gar trefflich die Mienen der Unſchuld nachzuahmen, wobei nur zu erforſchen bliebe, wen um Alles in der Welt, aus dem Kreiſe ihrer Bekanntſchaft ſie ſich104 dabei zum Vorbilde haͤtte nehmen koͤnnen? Wenn Erfahrung nicht lehrte, daß ein Naturtalent haͤufig keines Vorbildes bedarf. Genoveva’s Zofe und Ver - traute wurde durch die Schwaͤgerin; Schmerzensreich durch den kleinen Roſſe-lenkenden Neffen gegeben. Vom Darſteller des verraͤtheriſchen Golo werden wir ſpaͤterhin zu ſagen haben, wollen jedoch hier nicht unbemerkt laſſen, daß die Mitſpielenden (wahrſchein - lich Freunde der deutſchen Karte?) ihn Solo zu nennen beliebten. An Rittern und Knappen lieferten die juͤngeren Landſtreicher genuͤgenden Vorrath; ſie verwandelten ſich aus halbnackten Raub-Fiſchern gar leicht in wackere Kaͤmpen, mit Huͤlfe einiger buntge - faͤrbten Federn und Pferdeſchwaͤnze auf glanzlederne Kappen geſteckt.

Fuͤr die Hirſchkuh, die nicht fehlen durfte, war man genoͤthiget geweſen, einen Dilettanten aufzu - ſuchen, weil die zur Bande gehoͤrige gelb-braune Vorſteh-Huͤndin, welche bisher mit Gluͤck und Ge - ſchick dieſer wichtigen Rolle vorgeſtanden, geſtern auf der Reiſe von unbeſiegbarer Jagdluſt verlockt, einem ſtrengen Revierjaͤger zum blutigen Opfer gefallen. Die umſichtige Direktion hatte in dem an Jahren weit vorgeruͤckten, halberblindeten Dachsſchliefer des105 Gaſtwirthes Naturell und ruhige Beſonnenheit zur Genuͤge gefunden, um ihn mit dieſem Part zu belehnen. Das Stirnband, auf welchem zwei kleine Rehgeweihe prangten, ſeltſamer zwiefacher Widerſpruch in den Augen jagdgerechter Kenner! und wodurch man die Hirſchkuh zu bezeichnen gedachte, wurde dem armen alten Waldmann ſo feſt um ſein ehrwuͤrdiges Haupt nebſt dazu gehoͤriger Kehle geſchnuͤrt, daß es ihn faſt erſtickte und daß ſein Auftreten (der kleine Schmerzensreich half ihm durch einen Strick, woran er ihn hinter ſich her zerrte, uͤber das erſte Kuliſſen - und Lampen-Fieber hinweg) in fortdauerndem Wuͤrgen und ſich Straͤuben beſtand, was verſchiedene einſichtsvolle Beurtheiler im jugendlich-laͤndlichen, ſtrumpfloſen Publiko fuͤr Kunſtaufwand zu nehmen geneigt ſchienen. Jn der großen Verſoͤhnungsſcene, wo Siegfried Genoveven reuig in die Arme ſchließet, als Schmerzensreich auch in das erneuerte elterliche Buͤndniß mit aufgenommen, nicht mehr Muße fand, ſeine vierbeinige maͤnnliche Amme zu uͤberwachen, gelang es dieſer, das heißt dem halbtodten Waldmann, ſeinen ihn ſchwerer als manche Krone druͤckenden Hoͤrnerſchmuck abzuſtreifen. Er feierte ſolchen Triumph der Freiheit augenblicks durch eine Stellung, wie106 freie Hunde dieſelbe allerdings haͤufig einzunehmen pflegen, wie man ſie aber bei offener Scene nicht zu ſehen gewoͤhnt iſt. Er vergaß was ſo manchem Kuͤnſtler geſchieht, den Charakter ſeiner Rolle als Hirſchkuh und fiel gaͤnzlich in den Hund zuruͤck. Die Thraͤnen, welche dem ruͤhrenden Schauſpiele zu Ehren aus den Augen reichlich verſammelter Zuſchauer ſtroͤmten, wuͤrden durch Waldmanns Beitrag zum Enſemble wahrſcheinlich gehemmt worden ſein, wenn nicht Samuel-Siegfried ſo viel Faſſung gewonnen haͤtte, ſeinen pfaͤlzgraͤflichen linken Fuß aus der Gruppe, in die er ſammt Gattin und Kind verſchlun - gen ſtand, momentan zu loͤſen und den ruͤckſichtsloſen Jmproviſator in dieſelbe Kuliſſe, die dieſer eben ent - weihete, tief hinein zu ſchleudern. Der Effekt des Drama’s war gerettet, aber Waldmann hatte aus - gerungen; ſein erſter Auftritt auf die Buͤhne war ſein letzter fuͤr’s Leben geworden. Der Gaſtwirth machte nicht viel Aufhebens davon; denn, meinte er, ich haͤtt ihn ja doch todtſchlagen laſſen muͤſſen; er war ſchon zu infallied.

Das Schauſpiel hatte eine gute Stunde gedauert; nicht laͤnger. Moͤchten ſich manche Buͤhnendichter an ſolch gediegener Kuͤrze ein Beiſpiel nehmen.

107

Die Landleute zerſtreuten ſich bald. Bier und Schnaps hatten ſie ſchon waͤhrend der Darſtellung genoſſen, nicht minder ihr Pfeifchen geraucht; ganz wie man es jetzt, zu Zeiten unſerer geiſtigen Fort - ſchritte in großſtaͤdtiſchen Sommertheatern zu thun liebt. Am naͤchſten Morgen hieß es zeitig aufſtehen! Sie gingen alſo gleichguͤltig von dannen. Hier und da hoͤrte man eine weibliche Stimme ausrufen: wun - derſchoͤn haben ſie’s gemacht! Damit war Alles geſagt und vergeſſen.

Aber Anton!?

Zwar hatten ſich unter den mancherlei Leſe - buͤchern , die er vom Schloſſe dargeliehen erhalten, auch bisweilen aͤltere Schauſpiele befunden. Dieſe waren von ihm mit lebhafter Theilnahme durchflogen worden. Auch war ſeiner ſtets aufmerkſamen Wiß - begier der Unterſchied zwiſchen Erzaͤhlung und Drama keinesweges entgangen und die feſſelnde Handlung einiger Stuͤcke hatte ihn beaͤngſtigend ergriffen. Nie - mals jedoch war ihm der Gedanke klar zum Bewußt - ſein gekommen, daß derlei Werke in der Abſicht ge - ſchrieben wuͤrden, von Menſchen leibhaftig verſinnlicht zu werden. Nun trat ihm eine ſolche allerdings ver - ſtuͤmmelte, in erbaͤrmlicher Sprache abgefaßte und108 eben ſo unrichtig vorgetragene, nichts deſto weniger in ihrer ewig poetiſchen Grundlage unverwuͤſtliche Dichtung vor’s leibliche Auge, nahm Form und Ge - ſtaltung vor ihm an und ließ ihn in raſchem Fort - gange des beibehaltenen, urſpruͤnglich meiſterhaften Scenenbaues den theilweiſ albernen, faſt gemeinen Dialog vergeſſen, deſſen Mangelhaftigkeit ihm ſonſt gewiß nicht entgangen ſein wuͤrde. Dazu bewegte ſich Baͤrbel wirklich ſchoͤn und edel, ſah bezaubernd aus, ſo daß ſie in ihm, neben ſchuldigem Mitleid fuͤr ein grauſam verſtoßenes Weib, nicht minder Gefuͤhle ganz entgegengeſetzter Gattung erweckte; von denen er zwar nicht verſtand, ſich Rechenſchaft abzulegen, die aber mit jenen des verbrecheriſchen Golo ein wenig harmonirten.

Und dieſer Golo! Kein Zweifel mehr: es war der Ausrufer mit der Trommel, war der Herold der Ko - moͤdianten, war der ſchwarze Wolfgang im abentheuer - lichſten Putze, welcher ihn ſehr gut kleidete.

Wolfgang, der Vagabund nachbarlicher Kirch - ſpiele iſt unter die Schauſpieler gegangen!? Wie war er darauf gerathen, wie dazu gelangt? Wie hatt er erreicht binnen kaum zwei Monaten ſo viel Uebung zu gewinnen, daß er neben Samuel und Baͤrbel ſich109 leidlich ausnahm? Und was bedeutete uͤberhaupt das Leben und Treiben dieſer Menſchen? Jm Umherziehen von Dorf zu Dorf? Jhr ganzes Gewerbe? Was wollten, was ſollten ſie in der Welt? Welchen Nutzen ſchafften ſie? Gab es viele ſolche Leute? Gab es ihrer auch in Staͤdten; in Staͤdten, von denen er ſo vieler - lei geleſen und gehoͤrt, deren keine er geſehen? Ei ja wohl, denn Puſchel und Rubs erwaͤhnten bisweilen des Theaters , hatten es, wie Anton ſich zu erin - nern meinte, ſogar einmal beſucht. Alſo das war das Theater? Aber in der Stadt mußte es anders ſein! Groͤßer! Schoͤner! Und gebildete Spieler dar - auf! Dort wuͤrde Wolfgang nicht beſtehen, ſammt all ſeiner Keckheit! Wolfgang, derſelbe ſchwarze Wolfgang, der ſich in Brantewein zu Tode ſau

Gerade ſo weit war Anton mit ſeinen raſch auf - einanderfolgenden, ſich gleichſam uͤberſtuͤrzenden Ge - danken gediehen, als der naͤmliche Wolfgang, dem letztere gegolten, hinter einem mit verblichnem Baum - ſchlag bekleckſten Leinwandfluͤgel hervortrat, noch in die bettelhafte Pracht des Dorfkomoͤdianten gehuͤllt, worin er ſich allzuſehr gefiel, um ſie fuͤr’s Erſte abzu - legen.

Anton wurde durch dies unerwartete Erſcheinen110 aus tiefem Sinnen aufgeweckt und der Wirklichkeit wiedergegeben, wo er denn ſtaunend bemerkte, daß er, die hinter dem Vorhang befindlichen, mit Ein - packen beſchaͤftigten Schauſpieler abgerechnet, der Einzige im oͤden, duͤſtern Gaſtgemach geblieben ſei. Sogar Wirth und Wirthin hatten das Haus verlaſſen, um den abgeſchiedenen Waldmann anſtaͤndig unter die Erde zu bringen.

Wolfgang trat raſchen Schrittes in den leeren Raum, als ob er jemand ſuche? Und ſo wie er den in der entgegengeſetzten dunklen Ecke ſtehenden Anton erkannt, ſprach er ihn barſch mit den Worten an:

Was willſt Du noch hier? Auf wen warteſt Du?

Dieſe Anrede, wie ſie faſt feindſelig klang und deshalb durchaus nicht zu den freundlichen Worten ſtimmte, welche Wolfgang im Fuchswinkel mit ihm gewechſelt, entſetzten Anton dermaßen, daß der Schreck ihm Faſſung verlieh, was bei milden und nachgiebi - gen, innerlich doch ſtarken Naturen haͤufig geſchieht; ſo, daß er kaltbluͤtig zu erwiedern vermochte: nur auf Dich. Ueberzeugen wollt ich mich, ob Du das wirklich biſt, der heute

Na, nun haſt Du Dich uͤberzeugt, unterbrach ihn Wolfgang; nun geh Deiner Wege.

111

Was haſt Du denn im Sinne, Menſch, fragte Anton, zum gehen ſchon gewendet, daß Du ſo wild und grob gegen mich biſt? Was hab ich Dir denn in den Weg gelegt? Oder biſt Du ſtolz geworden, ſeit - dem Du das Komoͤdienhandwerk treibſt?

Verhoͤhne mich nicht, Korbmacherjunge, ſchrie jener. Meinſt Du, ich haͤtte nicht bemerkt, wie ſie den ganzen Abend nach Dir ſchaute? Du gefaͤllſt ihr, das weiß ich. Sie iſt ein leichtſinniges Weibſtuͤck. Aber ſo lange ich noch da bin, kommt ihr kein Anderer nahe; ſonſt gilt’s ein Leben. Wenn mich der Teufel geholt hat, macht was ihr wollt; eher nicht. Und jetzt druͤcke Dich! Sie ſoll Dich nicht mehr ſehen!

Damit ſchob er den verbluͤfften Anton hinaus.

Dieſer wußte ſelbſt nicht, wie ihm geſchehen? Er blieb draußen im Freien, mit offenem Munde, voͤllig erſtarrt, einige Minuten lang mitten auf dem Fahr - wege ſtehen, um ſich nur erſt wieder zu ſammeln. Die Nacht war undurchdringlich finſter, die Sterne in Wolken verhuͤllt; die Landleute hatten ſich laͤngſt verloren. Tiefes Schweigen rings umher, nur von Anton’s bewegter Stimme unterbrochen: Alſo iſt der ſchwarze Wolf wirklich ein Hexenmeiſter, daß er weiß, was mit mir vorgegangen, waͤhrend ich die112 Genoveva geſehen habe? Daß er Kenntniß hat von den ſuͤndhaften Gefuͤhlen, die in mir wach wurden? Er muß mich beſſer kennen, wie ich mich ſelber. Denn ich weiß durchaus nicht, was mit mir vorgeht? Jch weiß doch, daß ich Ottilie noch immer unveraͤnderlich liebe und wenn ich an ſie gedenke, iſt mir zwar wehe, weil ſie mich verachten will, aber es iſt mir doch auch wohl dabei; wahrſcheinlich weil ich in dieſer Liebe emporwuchs. Gedenk ich aber an die Schauſpielerin, ſo wird mir gleich ganz anders, ganz bang und angſt - voll, es hammert und pocht mir im Herzen, wie wenn ich zerſpringen ſollte? Was iſt denn das? Lieb ich denn auch die Genoveva? Und giebt’s denn zweierlei Arten von Liebe? Und kann man denn zwei Frauenzimmer auf einmal lieben? Jn den Buͤchern lieben ſie doch immer nur Eine und die nennen ſie ihre Einzige!

Sie hat mich betrachtet, ſpricht der Wolfgang; ich gefalle ihr? Er iſt eiferſuͤchtig auf mich; deshalb iſt er mein Feind worden, der ſonſt mein Freund ſein wollte. Umbringen will er mich, ſobald ich ihr nahe komme!? Alſo er iſt ihr Liebhaber. Darum iſt er unter die Komoͤdianten gegangen? Wie gluͤcklich muß er nicht ſein, weil er immer bei ihr iſt; weil ſie113 immer zaͤrtlich gegen ihn dennoch ſchilt er ſie: nennt ſie ein leichtſinniges Weibsſtuͤck? Wenn er weiß, daß ſie das iſt, warum iſt er dann ihr Liebſter? Kann man ſchlechte Weiber auch lieb haben?? Ach, ich weiß ja vom lieben, langen Tage nichts; ich bin doch ein erbaͤrmlich dummer Dorfteufel. Jetzt, denk ich, waͤr es an der Zeit, heimzuſchleichen. Die Groß - mutter aͤngſtiget ſich, daß ich zu Schaden gekommen? Wenn ſie nur ſchon ſchliefe! Denn ſaͤße ſie etwa noch beim Laͤmpchen an der Arbeit und ſaͤhe mir in’s Angeſicht, ich verginge vor Scham und Schande. Nein, ich will mich gleich in’s Bette vergraben und Alles verſchlafen, wie einen verruͤckten Traum!

Mit dieſem redlichen Entſchluſſe trat unſer Freund den Ruͤckzug an. Kaum hundert Schritt im Finſtern weiter gedrungen, vernahm er Tritte, Fluͤſtern, unter - druͤcktes Lachen hinter ſich her. Wie von banger Ahnung gewarnt, ſchluͤpft er hinter einen dicken Wei - denſtamm, der ihn ſchuͤtzend barg, als dicht bei ihm vier gluͤhende Augen voruͤberleuchteten. Von den Geſtalten der beiden Perſonen, denen dieſe Augen zugehoͤrten, konnte er kaum einen Umriß ausnehmen; doch hoͤrte er, was ſie ſprachen und verſtand deutlich die Worte: Kirchhof, der alte Baron, Pflaſter!

Die Vagabunden. I. 8114

Daß es Golo mit Genoveva geweſen, die auf eine naͤchtliche Fahrt auszogen, daruͤber blieb ihm kein Zweifel. Haͤtt er ſich in ſeiner Seele frei und rein gewußt, wuͤrde wohl auch eine Beſorgniß, es koͤnne ſeinem Erb -, Grund - und Gerichts-Herrn etwas Uebles zugedacht ſein, ihn angetrieben haben, dem leichten Paͤrchen zu folgen? Furcht war es nicht, was ihn zuruͤck hielt. Weil er ſich aber nicht verhehlen mochte, daß in den Eindruck, den des braunen Maͤd - chens bedenkliche Schoͤnheit auf ihn gemacht, ſich nei - diſche Bitterkeit gegen den ſchwarzen Wolfgang miſche, ſo fand er ſich nicht berufen, zwiſchen ſie und ihre Abentheuer zu treten. Er eilte vielmehr nach dem großmuͤtterlichen Haͤuschen, ſo raſch die dunkle Nacht geſtatten wollte; dankte Gott, daß er die Alte ſchlafend fand; kroch unter ſeine Decke; betete das kurze vielſagende Gebet, welches er aus der Kindheit fromm bewahrt; und bracht es wirklich zu einem geſunden ſtaͤrkenden Schlummer, aus dem erſt die Großmutter ihn zur Morgenſuppe emporſchuͤtteln mußte. Außer dieſer gewoͤhnlichen Suppe brachte diesmal der Morgen zwei ungewoͤhnliche Neuigkeiten, die von einer Hausthuͤr, von einer Obſtgarten-Umzaͤu - nung zur anderen aus geſpraͤchtiger Nachbarinnen115 Mund eiligſt durch Liebenau wanderten und ſo auch die Ohren der Mutter Gokſch erreicht hatten, von welcher ſie dem ſtaunenden Anton mit ſeinem Fruͤh - ſtuͤck zugleich aufgetiſcht wurden.

Die erſte meldete, daß der große Samuel zuſammt der ganzen Bande bereits vor Sonnenaufgang Lie - benau verlaſſen habe, und daß folglich jene fuͤr heut Abend angekuͤndigte Auffuͤhrung des keuſchen Stief - ſohnes zweifelsohne unterbleiben muͤſſe.

Die zweite, ungleich wichtiger, faſt raͤthſelhaft, lautete folgendermaßen: Seine reichsfreiherrliche Gna - den, Baron von Kannabich auf Liebenau, habe geſtern Abend in einer Anwandlung von tiefem Schmerze und liebevoller Erinnerung an ſeine unvergeßliche Frau Gemahlin, auf einmal das Beduͤrfniß empfun - den, in eigener Perſon an ihrer Gruft einige hoͤchſt - eigene Zaͤhren zu vergießen; habe ſich dem zu Folge, nach reichlich genoſſenem Nacht - und Schlaf-Trunk auf den Kirchhof begeben, jedoch ohne Fackeln; habe vielmehr jede Begleitung entſchieden unterſagt, um durch nichts in ſeiner Ruͤhrung geſtoͤrt zu werden. Eine Viertelſtunde ſpaͤter, nachdem er dem Kirchhofe zugewandelt, ſei aus ſchwarzer Nacht eine Art von Huͤlfegeſchrei und Jammergebruͤll erklungen, welches8 *116ſogar die Hof - und Dorfwaͤchter ſehr uͤbel im erſten Schlafe unterbrochen. Bald jedoch, als man im Schloſſe einige Anſtalt getroffen, mit Laternen zum Rechten zu ſehen, ſei der gnaͤdige Herr hoͤchſt ungnaͤ - dig und verſtoͤrt zuruͤckgekommen, mit der Verſicherung, daß es gefaͤhrlich ſpucke und daß ihm ſogar ein Geiſt erſchienen. Das Hofgeſinde war voller Angſt und Schrecken auseinander geſtoben. Die Leute vom Schloſſe aber hatten (unter dem Siegel der Ver - ſchwiegenheit, welches die Frau Schulmeiſterin nur ihren Vertrauteſten loͤſete) letzterer mitgetheilt, ihr Baron habe vom Kirchhofe ein kohlpechbrand - rabenſchwarzes Pechpflaſter heimgebracht, und ſolches ſitze ſo zauberhaft feſt auf ſeiner beruͤhmten Naſe, daß es ſeit Mitternacht bis Dato den vereinten Beſtrebun - gen der beiden Baroneſſen Linz und Miez noch nicht gelungen, die vaͤterliche Naſe zu befreien. Auch be - fuͤrchte das ganze Schloß, dieſes ſchaͤndliche Pflaſter, wahrſcheinlich aus noch ſchlimmeren Beſtandtheilen als einfaches Pech zuſammengeſetzt, werde nur dann weichen, wenn Onkel Naſus darein willige, ſaͤmmt - liche darunter befindliche Haut mit in den Kauf zu geben. Als Linz und Miez dieſen Antrag ihm in toͤch - terlicher Zaͤrtlichkeit ſtellten, wurd er hoͤchſt auf -117 gebracht, nannte ſie Raben-Aeſer von Kindern und erklaͤrte auf Ehrenwort: lieber wolle er Zeitlebens ſeinen Geſichts-Erker mit Trauer-Tuch ausgeta - peziert tragen, als ſich ſchinden und abhaͤuten laſſen, wie ein geſchoſſenes Waſſerhuhn; und ſie moͤchten ſich zum Henker ſcheeren, wenn ſie nicht ſeine Hetz - peitſche zu ſchmecken Appetit haͤtten. Auf Erklaͤrun - gen uͤber Geiſterſpuck und wie das Pflaſter damit zuſammenhaͤnge? ließ er ſich weiter nicht ein.

Anton malte, waͤhrend er langſam einen Loͤffel Suppe nach dem anderen und mit jedem zugleich einige Brocken dieſer heiter’n Morgenmaͤhr ſchluͤrfte, ein ziemlich klares Bild in ſeinem Geiſte aus, von den Vorfaͤllen, die allen uͤbrigen Dorfbewohnern wie Zauberkunde klangen. Die raſche Abreiſe der Samue - liſchen Truppe beſtaͤtigte ihm auf’s neue ſeinen geſtern gefaßten, ſchier ſchon wieder verſchlafenen Argwohn, daß Genoveva und Golo darauf ausgezogen ſeien, Onkel Naſus zu ſchaͤdigen. Er huͤtete ſich aber wohl - weislich, die Großmutter in ſeine Malereien blicken zu laſſen, begnuͤgte ſich, mehrfach den Kopf zu ſchuͤt - teln und verſuchte, alles Ernſtes, an die gefaͤhrliche Schoͤne gar nicht mehr zu denken.

Was Onkel Naſus betrifft, ſo hat erſt einige Tage118 nachher ein aus der Nachbarſchaft herbeigeholter Wundarzt mit Beihuͤlfe warmen Oeles das haͤßliche Pflaſter, wenn auch nicht ſchmerzlos, doch am Ende gluͤcklich dem Patienten abgeſtreift, ohne daß der lei - dende Theil etwas Anderes dadurch eingebuͤßt haͤtte. Wenn wir nicht weniger borſtenartiger Haare Erwaͤh - nung thun wollen, die auf dem rothen Grunde gedie - hen waren.

Onkel Naſus wurde wieder, der er geweſen. Doch beobachtete er ausdauernd ein brummiges Schweigen uͤber den ganzen Vorfall. Duldete auch nicht, daß ſeine Umgebungen deſſelben gedachten.

Seine Toͤchter hoͤrten ihn wohl noch in Augen - blicken, wo er ſich unbelauſcht waͤhnte, die geheimniß - vollen Worte: Brauner Racker! wiederholen; doch mit unverkennbar anderem Ausdruck, als die Erſten - male, wo er ſie mehr zaͤrtlich gelispelt.

119

Neuntes Kapitel.

Jn Liebenau bringen ſie den Erndtekranz, wobei getanzt wird und wieder eine neue Perſon auftritt. Anton erlebt Auszeichnung und Zurückſetzung. Bärbel erſcheint auch, aber nur im Dunkeln.

Der Erndtekranz ſollte gebracht werden. Onkel Naſus hatte den naͤchſten Sonntag fuͤr dieſe Feierlich - keit beſtimmt und weitere Anſtalten dazu getroffen, als er ſeit verſchiedenen Jahrgaͤngen noͤthig befunden. Linz und Miez empfingen ſtrengen Befehl, mehrere Taͤnzerinnen aus der Nachbarſchaft einzuladen, was große Schwierigkeiten fand, weil, wie ſchon oben erwaͤhnt, der Umgang mit allen Gutsbeſitzerfamilien eingeſchlafen war. Man mußte folglich zu Paſtor - Toͤchtern, jungen Verwaltersfrauen, Schullehrer - Nichten und ſogar zu Schweſtern des eigenen Foͤrſters Zuflucht nehmen, um ein Dutzend rothwangiger, voll - bluͤtiger, feſtzuſammengeſchnuͤrter, in ſchreiende Farben geſchmacklos gekleideter Balltaͤnzerinnen aufzutreiben. Auf dieſe Weiſe leiſteten des Baron’s Maͤdel’s dem vaͤterlichen Mandat Folge und ſtellten ihr Kon - tingent. Nicht ſo gluͤcklich war Papa geweſen mit Lieferung der Herren Taͤnzer, die er auszuſchreiben ſich ſelbſt vorbehalten, und durch deren Erſcheinung120 die Seinigen uͤberraſcht werden ſollten. Nachdem vie - lerlei Verſuche voͤllig mißlungen, ſandte er an Puſchel und Rubs Auftraͤge: ſtaͤdtiſche Genoſſen und Schul - freunde, wo moͤglich ein paar junge Herren in zweierlei Tuch , (das heißt: Offiziere) mitzubringen.

An ungluͤcklichere Agenten konnte der Baron ſich kaum wenden. Dieſe beiden armen Jungen, die oft wochenlang von dem großen groben Brote zehren mußten, welches ihnen der vaͤterliche, mutterloſe Back - ofen doch auch nur durch Gelegenheit lieferte; die kein Taſchengeld, oder doch ſehr wenig erhielten; die kein Vergnuͤgen, wofuͤr man Geld zahlt, mit An - dern genießen konnten; wo ſollten ſie Bekannt - ſchaften hernehmen, fuͤr die Zwecke des Onkel Naſus paſſend? Und dennoch thaten ſie etwas in ihrer Art Großes und Erhabenes: Sie hatten nach gluͤcklicher Beſtehung ihres Examen’s fuͤr die hohe Schule, wel - ches mit der durch den Paſtor ihnen zugeſtellten frei - herrlichen Tanz - und Erndtekranz-Ordre zuſammen - traf, die geniale Jdee gefaßt und ausgefuͤhrt, ihre Mitdulder und Mitſieger im Examen, acht an der Zahl, ihrer elf waren ſie im Ganzen geweſen, zum Liebenauer Erndtekranz und Ball champêtre, im Namen Seiner reichsfreiherrlichen Gnaden des Baron121 Kannabich feierlich einzuladen; eine Einladung, die mit allgemeinem, aus Erſtaunen ſich nach und nach entwickelndem Jubel auf - und angenommen wurde.

Um dem Vorwurfe zu entgehen, daß ich mein Ein-mal-Eins vergeſſen, ruͤge ich auf friſcher That einen ſcheinbaren Rechnungsfehler in vorſtehenden Zeilen. Rubs und Puſchel ſind ihrer ein Paar, oder in Ziffern ausgedruͤckt 2. Die Einladung haben ſie an 8 gerichtet. 8 zu 2 macht 10. Folglich koͤnnten nicht elf Abiturienten Theilnehmer des Examens geweſen ſein? Und dennoch habe ich ausdruͤcklich elf geſchrieben? Jſt das Unachtſamkeit? Zerſtreuung?

Nein, fuͤrwahr, das iſt es nicht. Lerne mich beſſer kennen, aufmerkſame, an Deinen ſchoͤnen Fingern nachzaͤhlende und nachrechnende Leſerin; es iſt, was man in der kritiſchen Sprache einen feinen Zug, eine verborgene Schoͤnheit, eine ſinnige Nuͤance nennt. Vorbereiten wollt ich dadurch, daß unſere Paſtor - ſoͤhne allerdings neun Mitbewerber bei der Pruͤfung pro maturitate zaͤhlten, daß ſie aber nur acht derſelben einzuladen, weil ſie ſich an den neunten, als einen durchaus Exkluſiven, gar nicht wagten. Es war dies der Sohn des reichen Geſchaͤftsmannes Herrn van der Helfft; ein Juͤngling, der fleißig, ernſt, fuͤr ſeine122 Jugend uͤberreif an maͤnnlicher Wuͤrde, in eleganteſter Kleidung, ſich ſtets vom Umgang aller Mitſchuͤler fern gehalten und ohne durch Unfreundlichkeit im All - gemeinen zu beleidigen, doch im Einzelnen jede ver - trauliche Annaͤherung von ſich gewieſen hatte. Er war die Perle in der Krone guter, muſterhafter Schuͤ - ler, das Vorbild der oberſten Klaſſe, der Jnbegriff reiner, feiner Sitten, der Stolz ſeines ſtolzen, uͤber - reichen Vaters. Alle Lehrer des Gymnaſiums ver - einten ſich bei jeglicher Konferenz zum Preiſe des jungen van der Helfft, und uͤberſtimmten die jedesmal wiederkehrende Aeußerung eines alten, ziemlich unter - geordneten Schulkollegen, der nichts mehr dozirte, als ein Bischen Naturwiſſenſchaft und Phyſik, der gewiſſermaßen nur das Gnadenbrot als Lehrer genoß, der jedoch ein eigenthuͤmlich-humoriſtiſcher Kauz war. Dieſer pflegte jede Lob - und Preis-Hymne, welche der Chor der Profeſſoren auf den jungen van der Helfft anſtimmte, mit den Worten zu ſchließen: wenn er nur ein Einzigesmal einen dummen Streich machen moͤchte! Als nun der Direktor der gelehrten Schule, aͤrgerlich uͤber ſolch unlehrerhaftes Begehren, endlich fragte: was denn, Herr Kollega, meinen Sie eigent - lich mit dieſem ſeltſamen Wunſche? Da brach der123 kleine Graukopf aus und rief ganz heftig: was ich meine, Herr Rektor? Jch meine, daß eine ſolche tugendhafte Weisheit, ſolche Sittſamkeit und Wuͤrde, ſolch untadeliger Fleiß an einem ſiebzehnjaͤhrigen Burſchen unnatuͤrlich ſind; daß aus ſolchen jungen, glatten Schulmuſtern und Zierpuppen niemals etwas wird; daß Jugend ihr Recht verlangt. Wundern thut mich dabei nur der Alte, der ſeinem Namen nach hollaͤndiſcher Abkunft ſcheint und folglich auch das hollaͤndiſche Sprichwort kennen ſollte, nach welchem der Vater einer Tochter, wenn der Vater eines Soh - nes um deren Hand fuͤr letzteren wirbt, zu fragen pflegt: Hat Jhr Herr Sohn aber auch ſchon aus - getobt? Bequemer fuͤr die Lehrer iſt gewiß, wenn die Jungen den Anfang des nothwendigen und natur - gemaͤßen Austobens weiter hinausſchieben; doch beſſer fuͤr die Jungen bleibt es, wenn ſie bei Zeiten anfan - gen. Jch bleibe bei meiner Anſicht. Haͤtte Herr van der Helfft nur ein paarmal im Karzer geſeſſen, ich wuͤrde weit mehr Reſpekt vor ihm hegen. Dixi et salvavi.

Rektor und Schulkollegium belaͤchelten des alten Herren komiſchen Erguß und zuckten mitleidsvoll die124 Achſeln, als wollten ſie ſagen: er iſt reif zur Quies - zirung!

Daß an einen ſolchen Vogel Phoͤnix Puſchel und Rubs mit ihrer Erndtekranz-Einladung ſich nicht wagten, wird man begreiflich finden. Deſto uͤberra - ſchender wirkte nun ſein Benehmen auf die zehn tanz - luſtigen Abiturienten. Er, Theodor van der Helfft, der im Laufe der Schulzeit mit keinem ſeiner Komili - tonen etwas anderes als das unumgaͤnglich Noth - wendige geredet; der jetzt Nummer Eins mit Aus - zeichnung auf dem Zeugniß ſeiner Reife prangen ſah, waͤhrend die zehn anderen eine beſcheidene Zwei davon getragen; er wendete ſich zu ihnen und ſchlug ihnen vor, auf der Fahrt nach Liebenau, wohin auch er ſammt ſeinem Vater zum Erndtefeſt geladen, von jenem aber allein zu reiſen angewieſen worden, ſeine, Theodors, Gaͤſte zu ſein. Unſer großer Stuhl - wagen, fuͤgte er hinzu, laͤßt ſich durch zwei einzuhaͤn - gende Baͤnke ſehr leicht in einen zehnſitzigen verwan - deln und ich werde, auf dem Kutſchbock Platz nehmend, die Pferde lenken; mit unſeren vier Rappen kommen wir ſchneller nach Liebenau, als mit einem Lohn - kutſcher.

Zehn dumme Geſichter, unter denen die beiden125 Puſchel und Rubs angehoͤrigen wahrſcheinlich die duͤmmſten waren, bejaheten durch erſtauntes Schwei - gen dieſen glaͤnzenden Antrag, zu deſſen Vollfuͤhrung Theodor die ſiebente Morgenſtunde des in Rede ſtehenden Sonntags und als Sammelplatz das Haus ſeines Vaters angab, als in welchem man ſich durch ein reichliches Fruͤhſtuͤck zu den Anſtrengungen der Reiſe, wie des laͤndlichen Feſtes vorbereiten und kraͤf - tigen wolle.

Die Sache verhielt ſich aber ganz einfach ſo. Herr van der Helfft sen. trieb neben ſeinem Groß - handel auch (freilich ſehr im Stillen!) ein klei - nes Haͤndelchen, mit Hypotheken naͤmlich, auf Haͤuſer oder Landguͤter eingetragen. Wo ein Grundbeſitzer einigemale mit ſeinen Zinſen im Reſt geblieben, waren wie Raben, die ein Aas wittern, die Maͤkler des großen Mannes da, um auszuſtoͤbern, wie es mit dem unſicheren Zahler ſtehe? Lauteten die Berichte in ihrem Sinne guͤnſtig, dann wußten ſie durch aller - lei hingeworfene Andeutungen, die auf ihre Zinſen harrenden Eigenthuͤmer jener Grundverſchreibungen aͤngſtlich zu machen und erkauften dann dergleichen Papiere, die uͤbrigens auf den Fall eines Bankerottes Sicherheit gewaͤhren mußten, mit unzweifelhaftem126 Vortheil fuͤr ihren Herrn und Meiſter. So war Timotheus van der Helfft in den Beſitz einer gerichtlich eingetragenen, auf Liebenau lautenden Schuldver - ſchreibung von 30,000 Thalern à Prozent gelangt, welche letztere Onkel Naſus ſeit drei halben Jahren ignorirt hatte. Herr van der Helfft hatte bisher nur maͤßig erinnert, mit Klagen nur gedroht, Subhaſta - tion nur wie ein Schreckbild aus der Ferne gezeigt, offenbar in der menſchenfreundlichen Abſicht, ſeinen Glaͤubiger immer ſicherer ſinken zu laſſen, um dann die Herrſchaft, deren noch immer bedeutender Wald - beſtand ihn lockte, ohne lange Umſchweife in ſeine Haͤnde zu bekommen. Der Baron, ſchlau genug, ſo etwas zu ahnen, wollte den Kaufherrn an Ort und Stelle haben, um ihn durch den Anblick alter Staͤmme luͤſtern zu machen, damit vielleicht ein Verkauf aus freier Hand ihn vor der Krida ſchuͤtze und ſo viel ab - werfe, noch ein kleines Kapitaͤlchen uͤber Seite zu bringen. Deshalb hatte er den Staͤdter dringend ein - geladen. Der Staͤdter aber, ſchlauer als ſchlau, begriff die Abſicht des Doͤrfners und beſchloß, ſich durch den Sohn vertreten zu laſſen, der unbefangen auftreten, dabei uͤber Manches Aufſchluß erhalten und dann Bericht erſtatten konnte; um ſo paſſender, weil127 die Herrſchaft fuͤr ihn beſtimmt, zu ſeinem Edelſitz auserſehen war. Je burſchikoſer Theodor erſchien, deſto leichter mußte ihm ſeine Rolle als unentdeckter Spion werden und deshalb ergriff er die Gelegenheit, welche der Paſtorſoͤhne Einladung darbot, ſo eifrig, im Voraus von ſeines Vaters zuſtimmendem Lobe uͤberzeugt. Daran fehlte es auch nicht. Er kutſchirte, neben einem zierlichen Reitknecht thronend, die von Herrn van der Helfft’s Gabelfruͤhſtuͤck hoch ent - flammte Zehnzahl beſtens den gruͤnen Waldgefilden zu, welche er bereits als ihm gehoͤrig pruͤfte und lie - ferte ſaͤmmtliche Burſchenſchaft, durch raſche Fahrt ziemlich nuͤchtern geworden, richtig vor der uns bekannten Wildenweinlaube ab. Onkel Naſus ent - ſetzte ſich anfaͤnglich, daß der koloſſale Vierſpaͤnner nur junges Taͤnzergeſindel, nicht aber den erwarteten, fuͤrchtend-gehofften, liſtig zu zaͤhmenden Glaͤubiger mitbringe? Wie jedoch Theodor ſich als Sohn des Gewaltigen zu erkennen gab, nahm er dieſen bereit - willigſt fuͤr einen Friedensherold und eilte, Tiele - tunke, als die juͤngſte, huͤbſcheſte und kluͤgſte der Toͤchter, durch einige Kniffe, Puͤffe und Zwicker in kindliche Pflichten der Koketterie und Bezauberung einzuweihen, wobei er ihr zaͤrtlich in’s Ohr grunzte:128 von Dir, Du dumme Gans, haͤngt es jetzund ab, und von Deiner Larve und Deinen paar Pfund Gaͤnſe - fleiſch, ob Dein alter Vater wie ein Bettelhund von Haus und Hof wandern ſoll? Oder ob Du den ein - zigen Sohn des verfluchten Wucherers fangen und den Vater retten kannſt! Reiche Dame, oder alte Spitaljungfer? Du haſt die Wahl!

Baron Kannabich war noch nicht betrunken, als er dieſe gewichtigen Worte ſprach; denn er hatte ſich fuͤr van der Helffts wahrſcheinlichen Empfang nuͤch - tern erhalten wollen, weshalb er auch in der Kirche die Predigt abgewartet.

Der Erndtekranz wurde um vier Uhr Nachmittags in’s Herrenhaus getragen. Muſikanten gingen dem Zuge voran; viele Dorfleute, darunter auch ſolche, die nichts mit der Feierlichkeit gemein hatten, folgten ihm, um bei Gelegenheit in jene Raͤume des Schloſſes dringen zu duͤrfen, welche ſonſt niemals geoͤffnet wur - den, und dort die alten, buntſeidenen, wenn auch von Zeit und Maͤuſen zerſtoͤrten Tapeten anzugaffen. Anton war ſo ſehr daran gewoͤhnt, dieſen Zug mitzu - machen, noch aus den Jahren fruͤheſter Kindheit, wo er als Geſpiele der Fraͤuleins und als Tieletunke’s Liebling ſich im Schloſſe heimiſch fuͤhlte, daß er auch129 heute, die juͤngſte Vergangenheit vergeſſend, ſich an - ſchloß. Er uͤberlegte weiter nicht, welche Folgen dies moͤglicherweiſe haben koͤnnte? Seine Großmutter ſchuͤttelte aͤngſtlich das alte Haupt, wie er dahin zog in ſeinem beſten Putze!

Er war ſehr ſchoͤn. Weiße Beinkleider aus dem feinſten ſelbſtgeſponnenen Leinwandſtuͤcke der Mutter Gokſch geſchnitten und vom Dorfſchneider mit beſon - derer Vorliebe und Sorgfalt gearbeitet, ſaßen ihm ſo nett und knapp und hoben ſeine ſchlanke, kraͤftige Geſtalt ſo anmuthig hervor, daß man nichts Huͤbſche - res ſehen konnte; ein kurzes Jaͤckchen von dunkel - blauem Tuche ſchmiegte ſich wie gegoſſen an die breiten Schultern; um den halboffenen Hemdkragen ſchlang ſich ein rothſeidenes Tuch, deſſen Zipfel lang umher flatterten; auf den vollen braunen Locken, nach dem rechten Ohre hin geſenkt, ſaß ein ſtrohgelbes Ledermuͤtzchen. Und das edle Angeſicht, aus welchem unter dunklen Brauen und Wimpern ein blaufeuchtes Auge hervorſtrahlte, bildete in wehmuͤthigem Ernſt den wirkſamſten Gegenſatz zu der faſt ſpoͤttiſch laͤcheln - den Oberlippe, auf der ſich der erſte Anflug eines regelmaͤßig geformten Bartes woͤlbte. Sein Gang war feſt und leicht, beides zugleich, ohne Spur vonDie Vagabunden. I. 9130Ziererei, den natuͤrlichſten Anſtand bezeichnend. Die kleinen Fuͤße ſchienen, in duͤnneren Schuhen als jemals ein Liebenauer Burſche beſeſſen, einherſchrei - tend, ſelbſt zu zweifeln, ob ſie Boden genug faſſen koͤnnten, der ihnen anvertrauten Perſon das rechte Gleichgewicht zu erhalten? Doch ging es herrlich und Anton wandelte auf ihnen muthig einher.

Die Großmutter ſchaute ihm lange nach, dann erlaubte ſie ſich die unbeſcheidene Frage: Du lieber Gott, was wollteſt Du mit dem Jungen neben den Dorfluͤmmeln?

Jm Schloſſe hatten ſie den großen Saal des Erd - geſchoſſes geoͤffnet, geluͤftet, ausgeputzt, fuͤr Tanz und Luſtbarkeit. Das Mittagsmahl war beendet. Theodor, neben Ottilien geſetzt, und an beſſeren Wein im vaͤter - lichen Hauſe gewoͤhnt, hatte des Barons Ermunte - rungen zum Trinken eben ſo unbeachtet gelaſſen, als Ottilie die liebevoll an ſie geſtellten Aufforderungen: zuvorkommend und kokett zu ſein. Sie gaben ein ſtummes Paar ab. Deſto lauter wurden die Anderen. Sie konnten kaum den Beginn des Tanzes mehr erwarten.

Die Pflicht der Schloßfraͤulein, altherkoͤmmlichem Brauche gemaͤß, ſich einigemale mit den Pferde - und131 Ochſen-Knechten des Hoſes umherzuſchwenken, wurde eiligſt abgemacht, die kranztragenden Maͤgde raſch beſchenkt, durch eine Anweiſung auf Bier und Brann - tewein fuͤr’s Dorfwirthshaus ſo ſchnell als moͤglich beſeitigt, und kaum waren die leicht Befriedigten fort - geſchickt, als andere Muſikanten, ob beſſere? ſteht dahin, ihre widerſpaͤnnſtigen Geigen und Klari - netten ergriffen, den herrſchaftlichen Ball zu eroͤffnen. Er war nun eben nicht ſehr herrſchaftlich, dieſer Ball. Die Geſellſchaft eine, gelind ausgedruͤckt, ſehr gemiſchte, wie ſchon aus den uns bekannten Ein - leitungen fuͤr die Feſtlichkeit entnommen werden mag. Drei Figuren ſind es, die ſich ausnahmsweiſe hervor - thun, dem Ganzen einigen Glanz zu verleihen. Zuerſt, wie billig, nennen wir die juͤngſte Tochter des Hauſes. Ottilie, anſpruchslos gekleidet, gewaͤhrte, ohne voll - kommen ſchoͤn zu ſein, einen angenehmen Anblick und benahm ſich, wie man ſich in der hoͤheren Welt benimmt. Sie konnte nicht anders. Neben ihr zeigte ſich Theodor als wohlerzogen und zierlich; nur daß er durch Hochmuth und gelangweilte Theilnahmloſig - keit, die er offen, ja abſichtsvoll zur Schau trug, den guͤnſtigen Eindruck verdarb. Er konnte auch nicht anders.

9 *132

Anton war es endlich, der uͤber Alle hervorragte und fuͤr die Zier des Feſtes gegolten haben koͤnnte, wenn er nicht zuruͤckgezogen und ſtumm in einem Winkel geblieben waͤre. Daß er uͤberhaupt blieb, nachdem das Landvolk ſich entfernt, ſcheint ſeltſam genug. Jhm waͤre ſo ’was auch nicht in den Sinn gekommen; vielmehr hatte er, als der lange Zug ſich emſig durch die weitgeoͤffneten Fluͤgelthuͤren in den Saal draͤngte, ſeinerſeits ſtandhaft ſich gegen den Strom geſtemmt, um draußen zu bleiben, unter den Aermſten, Geringſten, Schuͤchternſten der Gemeinde. Dort jedoch hatte Tieletunke’s Blick ihn erſpaͤht und ſie war es, die ihn herein geholt, mit ihm zu tanzen, waͤhrend alle uͤbrigen Taͤnzerinnen die Robott des Tages an derbe Knechte abtrugen. Er tanzte ſo leicht und wußte dabei ſeine Taͤnzerin ſo ſicher zu fuͤhren, daß ſie mehr flogen, als tanzten. Ottilie kam in dieſem Schweben dem auf ihren Sieg ſpekulirenden Vater dermaßen belebt und feurig vor, daß er ſich von Dankbarkeit zu Anton gezogen fand, als welcher durch ſein Geſchick die Reize der ſonſt kalten Dame in helleres Licht zu ſtellen gewußt. Mit einer vom Mittagstiſche ſchon ſchwer gewordenen Zunge ſprach er ihn in der gewoͤhnlichen Liebkoſungsformel: Na,133 Schlingel? an, und ohne ſelbſt recht zu wiſſen, was er that, befahl er ihm, beim herrſchaftlichen Balle zu verweilen. Kaum war dieſe gebieteriſche Einladung ausgeſprochen, als Ottilie von ihrem Taͤnzer zuruͤck - trat, dem Vater einen faſt zornigen Blick zuwarf, und ſich unter die andern Frauenzimmer verlor.

Anton ſtand in peinvoller Lage da. Sein zarter Sinn ließ ihn die durch Ottilien zugefuͤgte Schmach deſto ſchmerzlicher empfinden, weil die ihr zuvor - gegangene Auszeichnung ihn mit taͤuſchenden Hoff - nungen zu wecken begonnen hatte. Dem Befehle des Barons ungehorſam zu ſein, wagte er nicht. So mußte der Arme verbleiben, wo er ſich nur geduldet, wo er ſich von ihr, um deren Willen allein er gern dort ſein moͤgen, nicht gern geſehen wußte. Deshalb ſtand er ſtumm und unbeweglich im Winkel, neben den Muſikanten. Als Einer derſelben uͤber Schmer - zen in der linken Hand klagte, es war ihm ein Glasſplitterchen darin ſitzen geblieben, von einer Flaſche, die er vorgeſtern einem ſeiner Freunde am Kopfe entzwei geſchlagen, nahm Anton deſſen Geige und ſtrich ſtatt ſeiner Laͤndler und Walzer her - unter.

Gut, Anton, gut! rief jetzt Ottilie, die eben mit134 Theodor an ihm vorbeiſauſete; das iſt brav: jetzt tanzt ſich’s noch einmal ſo ſchoͤn.

Da legte Anton verdruͤßlich die Geige gleich wieder weg und brummte: wer ſich aus der ihrem Benehmen gegen mich einen Vers machen wollte, der muͤßte mehr verſtehen, wie Brot eſſen.

Die Anweſenheit Theodors und der Abſtand zwiſchen dieſem und den uͤbrigen Schuͤlern, beſonders den Paſtorſoͤhnen, entging ſeinem Scharfblick eben ſo wenig, als des Onkel Naſus unterwuͤrfige Aufmerk - ſamkeit fuͤr jenen jungen Herrn. Ohne die Gruͤnde erforſchen zu koͤnnen, durchſchaute ſein natuͤrlicher Verſtand doch bald den Zweck und das machte ihn noch verbiſſener und muͤrriſcher, ſo daß er einige wohlgemeinte Anreden, wie Linz und Miez in ihrer nichtsſagenden Manier aufmunternd an ihn richteten, faſt undankbar hinnahm, ohne ihnen Folge zu geben.

Raſch verfliegt Stunde um Stunde des fruͤhzeitig begonnenen Balles, bei dem ſaͤmmtliche Theilnehmer ſich beſtens ergoͤtzen, nur die drei ausgenommen, welche uns die wichtigſten ſind. Und die Haupt - perſon dieſes Buches, ſein Held Anton, nachdem Ottiliens unwillkommenes Lob ihm auch jene Zer - ſtreuung weggeſpottet, welche er ſich durch Aufſpielen135 zum Tanze bereitete, trachtet einzig und allein nach einem guͤnſtigen Moment, wo es ihm gelingen moͤchte, unbemerkt von Onkel Naſus, zu entſchluͤpfen. Des - halb ſucht er ſich, die Wand des großen Saales entlang, ſo feſt an die alten Tapeten gedruͤckt, daß er eine der darauf eingewirkten Figuren zu ſein ſcheint, langſam von einem Fenſter zum andern zu ſchieben, bis er dem allgemeinen Ausgang nahe kommt. Doch hier gerade muß der Baron ſitzen, mit Paſtor Karich und einigen anderen alten Herren, im halben Wein - ſchlummer zwar, aber aus dieſem doch von Zeit zu Zeit durch den Klang eines friſchgefuͤllten Glaſes auf - geweckt.

Da blieb ihm denn nichts uͤbrig, als geduldig den ſchicklichſten Zeitpunkt zur Flucht zu erlauern. Er preßte, wie wenn er fuͤr nichts Anderes Augen beſaͤße, ſeine Stirn gegen die Fenſterſcheiben und ſtarrte hinaus in den dunklen Garten. Die Glocke des kleinen Kirchthurmes ſchlug eben die zehnte Stunde. Jhre Klaͤnge, ſchwach heruͤberzitternd, miſchten ſich ſeltſam in den Tanzlaͤrm des Saales. Beim letzten Schlage, den Anton mit dem Seufzer begleitete: ſchon zehn Uhr? richtete ſich dicht unter dem Fenſter eine weiße, weibliche Geſtalt empor. 136Die Zuͤge des Angeſichts auszunehmen, verhinderte ihn die Helle, welche durch die im Saale brennenden Kerzen verbreitet, ihn blendete; aber aus ihren Bewegungen und mehr noch aus der beunruhigenden Ahnung, die ihn durchrieſelte, glaubte er die braune Baͤrbel zu erkennen. Sie, aus der Dunkelheit des Gartens nach erleuchteten Raͤumen blickend, hatte leichteres Spiel und erkannte zweifellos ihn, den ſie ſuchte. Sie gab ihm einen bedeutſamen Wink. Mit lebhafter, eindringlicher Geberde lud ſie ihn zu ſich. Das war kein Jrrhum. Wolfgang hat richtig geſehen, dachte Anton, ich hab ihr gefallen, ſie ſucht mich auf. Kaum eine Minute lang waͤhrte der Kampf ſeiner Seele. Aber dieſer Kampf zerriß ihm faſt die Bruſt, ihm war, als ob Ottilie ihn feſt halte, als ob ſein Herz mit dem ihrigen verwachſen ſei, als ob er jetzt, in dieſem Augenblick der Pruͤfung, den Raum nicht verlaſſen duͤrfe, wo ſie athme. Und doch trieb ſtuͤrmiſche Sehnſucht ihn hinaus, der bezaubernden Verfuͤhrerin zu folgen, wohin ſie ihn lockte! Wie wenn er ſich durch den Anblick ſeiner Geliebten ſchuͤtzen, kraͤftigen wollte, wendete er noch einmal ſeinen Blick nach den Tanzenden zuruͤck: da ſah er dicht hinter ſich Ottilie an Theodors Seite, in137 belebtem Geſpraͤch, wie Jener gerade nach ihm deutete und Ottilie mit fpoͤttiſchem Achſelzucken darauf erwiederte. Das gab den Ausſchlag. Ohne laͤnger zu zoͤgern, wendete er ſich nun der Thuͤre zu, und erreichte, unbemerkt von Allen, wie er glaubte, die Weinlaube, uͤber deren Spalier er eiligſt in den Garten kletterte. Halb bewußtlos ſtuͤrzte er ſich der ihn Erwartenden entgegen, umfing ſie mit zitternden Armen und kam erſt wieder zur Beſinnung, als Baͤrbel ihn kraͤftig von ſich ſtieß. Nix Buſſel! Nix zaͤrtlich! Zu Lieb iſt kein Zeit; der Tod iſt kommen. Wolfgang laßt Dich rufen. Der liegt im Fuchswinkel und ſtirbt. Weil Du ihm ver - ſprochen haſt, willſt zudrucken ſeinige Augen, muß ich Dich holen. Jch ſuche Dich ſchon ganzes Abend. Hurtig, nimm in die Hand Deine Beine und lauf. Baͤrbel geht nit mit in Fuchswinkel; fuͤrcht ich mich vor Tod! Kaum war dieſe Botſchaft in kurz aus - geſtoßenen, abgebrochenen Saͤtzen verkuͤndiget, ſo ſtieg die braune Baͤrbel mit der Gewandheit eines Marders uͤber die Weinlaube, um wieder den Weg durch den Schloßhof in’s Freie zu gewinnen; denn einen andern Ausgang gab es aus dem mit hoher Mauer umgrenzten, zur Nachtzeit verſchloſſenen Gar -138 ten nicht. Anton vermochte keinesweges, ihr ſo bald zu folgen. Von der jetzt eben noch getraͤumten, lebendigen Erfuͤllung lang - und bang-gehegter wilder Wuͤnſche und Erwartungen in’s Reich des Todes war der Uebergang zu heftig. Er, der weder Liebe noch Tod, weder Anfang noch Ende, anders als aus Ahnungen kannte, ſollte nun, wo er in den Armen bluͤhender Schoͤnheit Aufſchluß uͤber ſeine eigenen Gefuͤhle zu erringen und dadurch gewiſſermaßen Rache an Ottilie zu nehmen vermeint hatte, den ſchweren Gang zu einem Sterbenden antreten, dem er das Wort gegeben, nicht zu fehlen, wenn man ihn rufe?! Die volle Kraft reiner ungeſchwaͤchter Jugend, war noͤthig, um in ſolchem Kampfe nicht zu unter - liegen.

Jch hab’s dem ſchwarzen Wolfgang verſprochen! Weiter ſagt er nichts und ſchickte ſich an, der braunen Baͤrbel Beiſpiel nachzuahmen. Doch ſollten fuͤr ihn die ſchweren Pruͤfungen dieſer Nacht ſich draͤngen; er ſollte, dies war der Wille ewiger Maͤchte, in ihr zum ganzen Manne reifen. Denn als er das Geſtell des Weinlaubenſpaliers erklettert hatte und ſchon im Begriff ſtand, durch dichtbelaubte Ranken ſich windend, den Sprung hinab auf den Erdboden139 zu machen, mußte er halb in der Luft haͤngen bleiben, weil unter ihm Baͤrbel, die er laͤngſt auf raſcheſter Flucht zum langen Samuel waͤhnte, und dieſer zur Seite Theodor ſtanden. Der junge van der Helfft, vom Tanze mit Ottilien ein wenig aufgeregt, als er bemerkte, daß er zu bemerken beginne, wie ſie gar nicht ſo uͤbel ſei, hatte ſich die vaͤterlichen Lehren in’s Gedaͤchtniß gerufen, unter denen die fuͤrnehmſte dahin ausging: er moͤge ſich um Gotteswillen von keiner jener Bettelbaroneſſen eine Schlinge um den Hals werfen laſſen, weil ſo etwas dem Projekt ſchaden koͤnne. Dieſer Lehre wieder eingedenk in dem Augenblick, wo er zu ſpuͤren anfing, daß einige Nei - gung in ihm erwache, ſich fuͤr die Miſère des Lie - benauer Balles bei Ottilien zu entſchaͤdigen, beſiegte er ſolche fluͤchtige Neigung ohne Muͤhe und begab ſich in’s Freie, unter dem Vorwande, friſche Luft zu ſchoͤpfen, was ſeinem Kopfſchmerz gut thun wuͤrde. Ein boͤſer Stern wollte, (meine Leſer werden, wie ich fuͤrchte, lange warten muͤſſen, bevor ſie erfahren, was ich damit meine?) daß er in die wilde Wein - laube trat, wie gerade aus deren Bogenwoͤlbung Baͤrbel ſich hernieder ließ. So dunkel war es nicht,140 daß er nicht mehr geſehen haben ſollte, als er zu ſehen brauchte, um außer ſich zu gerathen.

Fallen Engel vom Himmel herab, mich zu ent - ſchaͤdigen fuͤr dieſes elende, unſaubere Feſt? rief er aus, und hielt die Zigeunerin mit beiden Haͤnden. Was ſie weiter mit einander geſprochen oder verabre - det, koͤnnen wir nicht verrathen. Sicher iſt nur, daß Anton uͤber ihnen baumelnd, in Baͤrbels Haͤnden flimmernde Goldſtuͤcke klingen hoͤrte. Schon fuͤrchtete er, nicht laͤnger in der Schwebe ausdauern zu koͤnnen und zwiſchen beide ſtuͤrzen zu muͤſſen, wie ein Fels - ſtuͤck, welches vom Berge abgeloͤſet, zwei Rehe trennt, als aus der Hausthuͤr Onkel Naſus ſammt Be - gleitung der maͤnnlichen Haͤlfte des Balles mit Ker - zen und allerlei Staͤrkungsmitteln trat, nach dem hochgeehrten jungen Gaſte und deſſen Befinden zu ſchauen. Baͤrbel verſchwand mit unbegreiflicher Schnelligkeit. Theodor wendete ſich eiligſt den Su - chenden zu, die ihn umringten und durch die Nach - richt ſeines Beſſerbefindens entzuͤckt, ihn wieder in’s Schloß zogen.

Anton gelangte zur Erde, und dieſe mit ruͤſtigen Fuͤßen betretend, wanderte er, von unbeſchreiblichen141 Empfindungen getrieben, dem verrufenen Fuchs - winkel zu.

Zehntes Kapitel.

Anton erfährt, was der Tod ſei.

Jch bin oͤfter im Fuchswinkel geweſen, lieber Leſer. Jch kenne die Wege und Schliche, die durch Dick und Duͤnn, durch Urwald und Gehege, durch Tannenſchonung und junges Laubholz dahin fuͤhren, recht gut; weiß aber doch nicht, ob bei Nacht, beſon - ders jedoch in einem Seelen - und Koͤrper-Zuſtand wie Anton’s, ich mich zurecht gefunden haben wuͤrde?

Er fand ſich zurecht. Ohne daran zu denken; ohne ſich nur umzuthun nach dem Pfade, der links, rechts, uͤber Graͤben, durch ſtachlichte Brombeerhecken fuͤhrte, traf er ihn, wie der junge Wandervogel, vom Jnſtinkt gezogen, den Weg findet in Laͤnder, die ihm gar noch fremd ſind. Sinnenglut und gekraͤnkte Eitel - keit, Neugier und Todesgrauen, Eiferſucht und Weh - muth ſtritten in ihm um die Herrſchaft. Er ſollte den unzugaͤnglichen, von Menſchen gemiedenen Waldwin - kel wieder betreten, wo er zuerſt um ſeiner Mutter jammervolles Ende geweint. Und den faſt gefuͤrchte -142 ten ſchwarzen Wolfgang, deſſen Erſcheinung ihn damals erweckt und milderen Gefuͤhlen zugewendet, den ſollte er jetzt ſterbend finden, wenn anders Baͤr - bel, jene verabſcheuungswuͤrdige Schoͤne, ihm Wahrheit geredet? Einem Sterbenden ſollte er die Augen zudruͤcken, er, Anton, der noch kein Thier ſter - ben geſehn, geſchweige denn einen Menſchen?

Ob der Tod wirklich erſcheint, wenn er Einen abholt? Ob ich ihn wahrhaft vor mir ſehen werde, den leibhaftigen lebendigen Tod?

Das waren Fragen, mit denen unſeres Freundes kindiſch-unſchuldige Unerfahrenheit ſeinen ſonſt ſo ſcharfen, richtigen Verſtand gleichſam uͤbertoͤlpelte. Bis er ſich dann wieder ſelbſt zurechtwies und uͤber eine Baumwurzel ſtolpernd ausrief: warum nicht gar? den Tod ſieht man nicht, den fuͤhlt man nur.

Je naͤher Anton der bewußten Stelle kam, deſto langſamer ward ſein Schritt, deſto leiſer trat er auf. Der Gedanke an die Mitternacht, an die Geiſter - ſtunde, die, wo nicht ſchon angebrochen, ganz nah ſein mußte, regte ſich in ihm. Da vernahm er dum - pfes Stoͤhnen; es ſchien von dem Platze auszugehn, auf dem er ſelbſt gelegen, als der ſchwarze Wolfgang ihn aufgefunden.

143

Wolfgang, biſt Du hier? fragte Anton mit zit - terndem Tone. Das Stoͤhnen ſchwieg und eine hei - ſere Stimme erwiederte: ja, hier! Alſobald knie’te Anton neben dem Kranken, deſſen Hals er ſanft um - ſchlang, deſſen Haupt er vorſichtig emporhob und ſtuͤtzte.

Und Wolfgang redete: Gut, daß Du kam’ſt; es iſt die hoͤchſte Zeit. Jch werde leichter ſterben, wenn Du bei mir biſt. Nun iſt’s aus, Korbmacher. Jch hab meinen Willen: die braune Baͤrbel hat dem ſchwarzen Wolfgang den Reſt gegeben; ſie und der Brantwein. Nimm Dich vor beiden in Acht. Sie ſagte immer, ſie liebe mich? Aber ſterben wollte ſie mich nicht ſehen. Sie meinte, das waͤre grauslich. Sie mag Recht haben. Jch verzeih ihr, nur weil ſie Dich ſchickte. Zum Leben war ſie mir lieber; zum Sterben kann ich Dich beſſer gebrauchen: Du biſt gut; ſie iſt ſchlecht; noch ſchlechter als ich.

Armer Wolfgang, ſchluchzte Anton, ſich und ſei - nen eigenen Jammer vergeſſend; warum ſuchteſt Du nicht eine Ruheſtelle in einem friedlichen Hauſe? Warum ſchleppteſt Du Dich nicht bis zu uns? Gern haͤtt ich Dir mein eigenes Lager als Krankenbett ein -144 geraͤumt. Und unſer alter Herr Paſtor haͤtte Dich beſucht mit geiſtlichem Troſt und Zuſpruch ....

Geh mir mit Deinem luther’ſchen Schwarzrock, der kann mir nicht helfen. Einen Prieſter von meiner Kirche giebt es in eurer Ketzergegend nicht; ich muß ohne Oelung abfahren, mir wird mein Reiſewagen nicht geſchmiert. Da war mein Alter gluͤcklicher daran, wie ſie ihn aufhingen. Sapperment war das ein ſchoͤner Zug! Tauſend und aber tauſend Men - ſchen! Und er das Kruzifix in der Linken, von dem ein kleiner, daumlanger, beinerner Heiland aus blut - rothen Nelken und Roſen hervorguckte, den er einmal um’s andremal an die bleichen Lippen druͤckte und kuͤßte. Und ein dicker Kapuziner neben ihm, der ihm unaufhoͤrlich in’s Ohr ſchrie, daß er gen Himmel fah - ren werde. Ha, wie er dann in der Luft zappelte, da hing er, wie eine reife Frucht; und ich muß am Boden verfaulen. Oh, der Schmerz, Anton, der zer - reißt mir die Bruſt. Jedes Wort, das ich ſpreche, giebt mir einen Stich.

So rede nicht, Wolf. Ruh ein wenig; verſuch ob Du ſchlummern magſt? Jch verlaſſe Dich nicht; ich weiche nicht von Dir. Gewiß nicht.

Jch muß reden! Verſprich mir, Anton, daß145 Du mit der Baͤrbel Dich nicht einlaſſen willſt, wenn ſie Dir wieder begegnet? Verſprich mir’s. Um Dei - netwillen nicht. Aber auch meinetwegen nicht. Dich thaͤt ſie zu Grunde richten, und ihr goͤnn ich Dich nicht. Die Eiferſucht wuͤrde mich aus dem Grabe treiben, ich muͤßte als Geſpenſt zwiſchen euch fahren. Sonſt mag ſie’s halten mit wem ſie will; nur mit Dir nicht. Sonſt mit wem ſie will. Meinet - halb auch mit Onkel Naſus. Traͤgt der mein ſchwar - zes Pflaſter noch? Ha, ha, ha, o weh, das Lachen erſtickt mich! Luft! Jn Teufels Namen, Luft! Korb - macher, Du erdroſſelſt mich mit Deinem Arme. Wenn Du mich erſticken willſt, nimm einen Strick, knuͤpfe mich auf! Haͤnge mich! Ha, ha, ha, Vater und Sohn!

Auf dieſe Weiſe trieb es der Sterbende laͤnger als eine Stunde, daß Anton zuletzt ganz unempfindlich und ſtumpf wurde gegen ſeine ruchloſen Phantaſieen.

Als Tag und Nacht ſich zu ſcheiden begannen, ward er ruhiger. Noch ein heißer Blutſtrom ſtuͤrzte aus ſeinem zuckenden Munde, dann ſprach er ſanft: Das Schlimmſte iſt voruͤber; der liebe Gott hat Mitleid mit mir. ’s iſt uͤberſtanden. Vergiß nicht, mir die Augenlider zu ſchließen. Off’ne Augen ſindDie Vagabunden. I. 10146ſchrecklich bei Todten. Tauche mein Tuch in den Quell dort nahe bei und leg es auf die Augen, wenn ſie geſchloſſen ſind. Jch dank Dir, lieber, lieber Anton! Sei gluͤcklich!

Hiernach verſtummte der ſchwarze Wolfgang.

Die Sonne blickte ſchon durch Morgenwolken und Anton hielt ſeinen unſeligen Freund noch immer im Arm, gleich einer Mutter das ſchlummernde Kind, ſchweigend, um ihn nicht zu erwecken. Wie es aber heller wurde um ihn her, wie er die veraͤnderten Ge - ſichtszuͤge, das glaͤſerne ſtarre Auge, die Ruhe der nicht mehr keuchenden Bruſt bemerkte, da durchzog unheimliches Grauen ſein junges Herz. Er griff nach der Hand des Verblichenen, ſie war ſteif, jede Lebenswaͤrme aus ihr geſchwunden. Er legte die eigene Hand auf Wolfgangs Wange, dieſe ſuͤhlte ſich an wie Stein.

Er iſt todt! ſchrie er auf, zog den Arm, in wel - chem er den Leichnam gehalten, zuruͤck, ſprang empor und wendete ſich ab von dem furchtbaren Bilde, um ſchaudernd zu entfliehen. Doch kaum waren einige Schritte gethan, als er ſich beſchaͤmt ſeines Verſpre - chens erinnerte. Pfui, ſprach er, wie feig bin ich doch! Das iſt halt der Tod, wie er uns Allen beſtimmt iſt,147 weiter nichts. Damit muß man ſich bekannt machen. Und mein Wort gab ich ja auch: die Augen will ich ihm ſchließen!

Nachdem dies geſchehen, blieb er auf den Knieen liegen, faltete ſeine Haͤnde und betete. Hernach zwang er ſich, auf die eiskalte Stirn des Todten, obwohl mit Grauen, einen Kuß zu druͤcken. Endlich ſtand er langſam auf, betrachtete die Leiche mit feſtem Blick und ſagte: Wie Du daliegſt, Wolfgang, will ich Dich im Gedaͤchtniß behalten; will oft an Dich denken und an dieſe Nacht; das kann nicht ſchaden.

Elftes Kapitel.

Wie Anton dem ſchwarzen Wolfgang die letzte Ehre erweiſet.

Grundguͤtiger Himmel, Anton, was haſt Du begangen? Wo kommſt Du her? Wo haſt Du dieſe Nacht zugebracht? Welch Unheil iſt geſchehen? Weſ - ſen Blut klebt an Deinen Kleidern, an Deinen Haͤnden?

Mit dieſem Schreckensruf empfing Mutter Gokſch ihren Enkel. Dieſer erfuhr erſt durch ſie, daß er einem Moͤrder aͤhnlich in’s Haus trat. Er bebte vor ſich10*148ſelbſt zuruͤck. Waͤhrend er Waͤſche wechſelte und ganze Stroͤme lauwarmen Waſſers uͤber ſich goß, die Spu - ren ſeines traurigen Todtenwaͤrter-Amtes zu verwi - ſchen, theilte er durch die Kammerthuͤr und bruchſtuͤck - weiſe der alten Frau das Wichtigſte mit, wobei jedoch ſchamhafte Scheu ihn abhielt, jener Botin Erwaͤh - nung zu thun, die ihn nach dem Fuchswinkel beſchie - den. Sein Bericht kam ohngefaͤhr ſo heraus, daß die Großmutter annehmen konnte, Anton habe von Land - leuten, die Waldbeeren geſucht, ſagen hoͤren, es liege ein Kranker im Gebuͤſch, der nach ihm frage? Sie ſtellte ſich damit auch zufrieden, wie ſie nur erſt keine Blutflecken mehr an ihm ſah. Er begab ſich in ſei - nen Werkeltagskleidern auf’s Schloß, ſobald er etwa vermuthen durfte, daß die von der Ballnacht ermuͤde - ten Jnſaſſen deſſelben Tag gemacht haben wuͤrden, feierlichen Bericht abzuſtatten uͤber den im Walde verſtorbenen Vagabunden, und die gnaͤdige Herrſchaft um ein Begraͤbniß fuͤr ſelbigen anzuſprechen.

Das Kadaver mag draußen verfaulen im Fuchs - winkel, oder die Fuͤchſe moͤgen ihre Jungen damit maͤſten, wenn ihnen das Luder des verfluchten Land - ſtreichers nicht auch zu ſchlecht iſt! So ungefaͤhr lau - tete des Onkel Naſus freundſchaftliche Reſolution.

149

Linz und Miez ruͤmpften ihre Naſen, als welche ſich der nunmehr Vollendete dereinſt zum Ziele ſeiner Steinwuͤrfe auserſehen und meinten, nicht ohne Grund: es gaͤbe Arme genug in Liebenau; fuͤr fremde Umher - treiber reiche ihr Taſchengeld nicht aus. Ottilie ſagte halblaut: Haſt Du Freundſchaft mit dem gehalten? das macht Dir viel Ehre!

Rubs und Puſchel ſammt ihren acht Genoſſen ſtellten ſich an, wie wenn ſie pantomimiſch zu ver - ſtehen geben wollten, es wuͤrde, wende man ſie Einen nach dem Andern um und um, nicht ſo viel Geld aus ihren Taſchen fallen, daß eine Ratte nur einigermaßen anſtaͤndig beerdigt werden koͤnne.

Theodor, welcher eben erſt vom ſchoͤnſten Gaſt - Bett aufgeſtanden, (die Uebrigen waren auf gemein - ſchaftlicher Streu im Bivouak geweſen!) verſchla - fen und gaͤhnend unter ſie trat, und die letzten Worte, die man wechſelte, noch vernahm, zog ſeine Boͤrſe und reichte Anton einige Goldſtuͤcke hin. Dieſer winkte ihn bei Seite, fluͤſterte ihm etwas in’s Ohr, gab das Gold zuruͤck, verbeugte ſich und ging.

Jeder der Anweſenden legte dieſen ſtummen Auf - tritt auf ſeine Weiſe aus, keiner jedoch errieth das Richtige. Am wenigſten Ottilie, welche Anton’s150 Abneigung gegen Theodor mit ſich und ihren eigenen Empfindungen im Zuſammenhang waͤhnte. Theodor aber, purpurroth im Geſicht und uͤber alle Maßen verlegen, trieb in dieſer Verlegenheit den Baron, die Stallleute zu treiben, daß er bald in ſeiner Geſell - ſchaft den projektirten Ritt in Wald und Feld begin - nen koͤnne, auf welchem er die ihm zugedachte Domaine beſichtigen wollte.

Anton war zum Paſtor gegangen, den er, wie immer, bereitwillig, gutmuͤthig, aufopfernd fand. Dann eilte er zum alten Dorftiſchler, dem Sarglie - feranten fuͤr Liebenau, ſeit fuͤnfzig Jahren ſchon und laͤnger: Der Mann war hoch in den Siebzigen.

Wie viele Liebenauer hatte der ſchon eingekleidet in den letzten hoͤlzernen Rock!

Als Anton dieſem ſein Anliegen mittheilend zugleich erklaͤrte: er wolle von ſeinem kleinen Erſparniß den Sarg bezahlen, blickte Meiſter Fiebig ihn von der Seite an und murmelte fragend: Halt ein Naſen - quetſchel? (Du mußt wiſſen, lieber Leſer, ſo benennt man dort zu Lande jene viereckigen Saͤrge, deren Deckel platt und feſt auf dem Koͤrper liegt, und wirk - lich das Geſicht oft zuſammen druͤckt.)

Anton fuhr auf: was denkt ihr, Fiebig? Wenn ich151 einen Menſchen begraben laſſe, ſoll er nicht wie ein Hund verſcharrt werden. Keine Naſenquetſche! Einen ordentlichen Sarg, mit hohem Deckel, wie ſich’s gehoͤrt.

Nu, nu, Korbmacherjunge, nahm Fiebig das Wort, nicht ſo heftig. Meint ich’s doch gut mit Dir; Du haſt ja ſelber nichts? Die Naſenquetſche kaͤme auf’s halbe Geld zu ſtehen. Soll ich etwa auch Eichenholz nehmen?

Warum nicht gar. Haltet mich nicht fuͤr Nar - ren, Fiebig. Nehmt leichtes duͤnnes Tannenholz. Wird ja doch Alles wieder Staub, Menſch wie Sarg. Streicht ihn ſchwarz an, nicht gelb, hoͤrt ihr? Schwarz! Das ſchickt ſich fuͤr den ſchwarzen Wolf - gang. Und malt keine Todtenkoͤpfe darauf, keine Knochen und ſolche Dinge. Wozu?

Na, ſchon recht Anton, werd’s beſorgen. Geh gleich d’ruͤber her, daß ihr ihn heut Abend holen koͤnnt, ſonſt holen ihn euch die Raben fort: ein Gal - genvogel den andern.

Antons menſchenfreundlicher Fuͤrſorge blieb jetzt noch der ſchwerſte Gang: zum Todtengraͤber. Das war ein roher Kerl. Mit guten Worten mochte der152 nicht gewonnen werden; den lockte nur Geld. Das war bekannt in ganz Liebenau.

Anton zeigte ihm einen harten Thaler, bevor er noch zu ihm ſprach. Dann ſagt er: Draußen im Fuchswinkel, Todtengraͤber, liegt eine Leiche. Wir haben noch ſehr heißes Wetter, ſie muß bald unter die Erde. Um fuͤnf Uhr wird Meiſter Fiebig den Sarg fertig haben. Laßt bis dahin auch das Grab fertig ſein; nehmt einen Arbeiter zu Huͤlfe; der Herr Paſtor weiß ſchon, er wird euch ein Plaͤtzchen in der Mauer - Ecke zeigen, wo es hin kommt. Dann nehmt eine Bahre, geht mit eurem Gehuͤlfen zum Tiſchler, holt den Sarg und tragt ihn hinaus; ich gehe mit. Draußen ſargen wir den Todten ein und tragen ihn zu Grabe. Wenn ihr Alles ordentlich beſorgt, iſt die - ſer Thaler euer Biergeld. Was ihr ſonſt zu fordern habt, berechnet der Herr Paſtor.

Hat nichts zu ſagen, Korbmacher, entgegnete der Todtengraͤber, fuͤr einen blanken Thaler hol ich mei - netwegen auch den Teufel aus dem Fuchswinkel. Und das Grab iſt ſo gut wie fertig. Hab’s gegraben auf Vorrath, fuͤr meine Alte, juſtament in die Mauer - Ecke, weil ich dachte, ich wuͤrde das Weib los. Sie hat ſich aber wieder beſonnen und zuſammengeflickt153 und kann noch laͤnger halten, als mir lieb iſt. Klock fuͤnf geh ich um den Sarg. Nur bei’m harten Tha - ler muß es bleiben, ſonſt keinen Schritt nicht.

Sie ſagen immer, nichts auf Erden ſei umſonſt, außer der Tod? brummte Anton, wie er zur Groß - mutter zuruͤckkehrte; doch das iſt auch eine Luͤge. Der Tod koſtet genug.

Jawohl, erwiederte Mutter Gokſch, nur mit dem Unterſchiede, daß der Todte die Unkoſten nicht zu tra - gen hat, ſondern ſeine Hinterbliebenen. Diesmal trifft es uns und an einer Erbſchaft werden wir uns nicht entſchaͤdigen.

Doch, Großmutter. Mir hat er viel hinterlaſ - ſen, der ſchwarze Wolfgang. So lang ich lebe, werd ich ihn vor Augen haben, als Leiche. Und ſobald mich Uebermuth, oder Thorheit verlocken will zu dummen Streichen, werd ich denken: Was hilft’s, junges Blut? Du biſt auch einmal ſolch ein ſtarres, langes, blaſſes, lebloſes Stuͤck Leichnam! Das iſt eine tuͤchtige Lehre!

Bis gegen fuͤnf Uhr arbeitete Anton unverdroſſen. Dann ging er in’s kleine Gaͤrtchen, flocht einen Strauß von Rosmarin und Nelken, wendete ſich zu des Tiſch - lers Wohnung, der Wort gehalten und wartete dort154 auf den Todtengraͤber, welcher ſich auch puͤnktlich ſammt Gehuͤlfen und der ſchwarzen Tragbahre ein - ſtellte. Dann zogen ſie zum Fuchswinkel hinaus.

Als Anton, voraneilend, durch’s Gebuͤſch lugte, rief der Todtengraͤber ihm zu: ſei ohne Sorge, Korb - macher, wir finden ihn noch; der lauft nicht mehr weg, wenn er ordentlich todt iſt, wie ſich’s fuͤr einen rechtſchaffenen Todten gehoͤrt.

Sie legten ihn in den Sarg auf eine Unterlage von weichen Hobelſpaͤnen. Ueber ihn ſtreute Anton die Nelken und Rosmarinzweige, die er mitgenommen.

Dann ſchloſſen ſie den Sarg und der Schall des Hammers, der die Naͤgel eintrieb, hallte weit im Walde wieder und erſchreckte alle Voͤgel.

Die zwei Maͤnner trugen die Bahre.

Anton ging ernſt und ſtill hinter ihnen her. Sie brauchten zwei volle Stunden bis in’s Dorf. Beim Kirchhofe empfing ſie Paſtor Karich im Amtskleide. Anton kuͤßte ihm die Hand fuͤr ſeine Guͤte, im Namen des Todten. Eine Magd leuchtete mit einer großen Stalllaterne voran, bis zum offenen Grabe. Als der Sarg an dicken Seilen hinabgelaſſen war, ſprach der ehrliche Paſtor:

155

Du hatteſt keine Heimath, Ungluͤcklicher, deſ - ſen ſterbliche Ueberreſte wir beſtatten; Du ſuchteſt ſie, umhergetrieben und verirrt, durch Nebel, Schmutz und Koth; verſunken in Suͤnde und Laſter fandeſt Du keine Ruhe auf der Erde. Finde ſie jetzt in der Erde und goͤnne Gottes Huld Dir ſelige Auferſtehung zum Licht und zur Wahrheit. Amen.

Das war die ſchoͤnſte, obgleich kuͤrzeſte Rede, die Anton jemals vom Paſtor gehoͤrt zu haben ſich erinnerte. Sie gingen auseinander, nachdem ſie ſtill gebetet.

Die Magd, die ihrem Herrn voranleuchtete, machte eine Wendung mit der Laterne und bei deren Scheine glaubte Anton das Antlitz der braunen Baͤr - bel zu gewahren, welches uͤber die Mauer in den Kirchhof ſtarrte.

156

Zwoͤlftes Kapitel.

Anton berichtigt ſeine Rechnungen. Theodor bleibt noch in Liebenau. Anton gelangt auf eine neue Spur und fühlt ſich erleichtert.

Gleich am erſten Morgen, der dem Begraͤbniß - Abend folgte, fragte Anton nach ſeiner Schul - digkeit.

Der gute Paſtor, trotz eigener Armuth, verzichtete nicht allein auf die ihm zuſtehenden Gebuͤhren, ſon - dern fand auch Mittel: Kirchenkaſſe und Todtengraͤ - ber zu befriedigen, ſo daß Anton dieſem letzteren nur noch den verſprochenen blanken Thaler zu geben hatte.

Um die Tiſchlerrechnung war er am meiſten beſorgt. Mutter Gokſch wiederholte ihm zwanzigmal, daß fuͤr einen Sarg der Schreiner fordern duͤrfe, was ihm gut duͤnke; daß er beſſer gethan haͤtte, vorher mit Fiebig auszuhandeln; daß es ſie theuer zu ſtehen kommen koͤnne; kurz, ſie jagte ihm bedeutende Angſt ein und er lief einigemale zu Fiebig, damit dieſer ihm die Rechnung machen moͤge. Endlich brachte ſie Fiebig’s Ur-Enkel-Tochter, ein kleines, dummes, rothbaͤckiges Maͤdel, welches zugleich einen alten Korb trug. Die Rechnung lautete woͤrtlich folgendermaßen.

157

Noda vor Antoni Gokſch Korbmachern allhier.

  • vor Hubelſpoͤhne zum Lager. macht es nichts nich.
  • item vor ſchwarze Farbe ... macht es 2 gude Gr.
  • item vor Naͤgel ........ hat ſie der Schmied geſchenkt.
  • item vor Bretter zum Sarge. macht es nichts nich, weil es ein Armer war.
  • item vor Arbeitslohn ..... macht es gar nichts, denn der Korbmacher ſoll mir meinen Korb ausbeſſern, ſo hebt ſich’s.
  • Summa Summarum 2 gude Groſchen woruͤber quitiret Gottfried Fiebig, Tiſchlermeiſter zu Liebenau.

Anton entraͤthſelte mit Muͤhe des redlichen Grei - ſes Schriftzuͤge, doch begriff er bald den liebevollen Sinn derſelben. Er trocknete eine Thraͤne aus ſeinem Auge, nahm dem Kinde den Korb ab, reichte ihm zwei Groſchen und ſchenkte ihm, mit Einwilligung der Großmutter, ein ſilbernes Schauſtuͤck, welches unter den beſcheidenen Koſtbarkeiten der Alten einen158 nicht geringen Rang einnahm. Das Kind ſprang luſtig davon, voll Freude uͤber den Glanz der kleinen Medaille.

Er hat ſelbſt nichts uͤbrig, ſprach Anton; Kinder, Enkel und Urenkel zehren an ihm, und iſt doch ſo gut! Dafuͤr will ich ihm auch einen praͤchtigen neuen Korb bauen. Den alten, durchgewetzten ſoll er nicht wieder ſehen.

Und wie ein redlicher Schuldner ging er abermals an die Arbeit, fuͤr ſeinen Glaͤubiger.

Unterdeſſen hatte Theodor’s Kutſcher den großen Stuhlwagen vor die Laube am Schloſſe gelenkt. Seine vier Pferde, welche der Liebenauer Gaſt-Hafer ſtach, wieherten voll Ungeduld. Doch nur acht Juͤnglinge beſtiegen die Sitze. Des Paſtors Soͤhne blieben, wie ſich ja von ſelbſt verſteht, uͤber die Herbſt - ferien bis zur Abreiſe nach H. beim Vater. Und Theodor wollte auch bleiben Sein Kutſcher war beauftragt, ſtatt der Perſon des Sohnes, ein Briefchen deſſelben an Herrn van der Helfft mitzu - nehmen, und am naͤchſten Tage mit einem zwei - ſpaͤnnigen, leichten Wagen und einem Koffer voll Waͤſche und Kleider wieder nach Liebenau zuruͤck zu kehren. Theodor gab vor, Alles recht genau in159 Augenſchein nehmen zu wollen, und es ſei, meinte er, die Ausdehnung des Beſitzthumes zu bedeutend, um es mit einigen fluͤchtigen Spazierritten abzuthun.

Onkel Naſus triumphirte. Man muͤßte ja doch ein komplettes Stuͤck Rindvieh ſein, wenn man zweifeln koͤnnte, daß er um Tieletunke’s Willen bleibt? O wir haben ihn! Wir haben ihn!! Und das Satansmaͤdel ſtellt ſich an, als wolle ſie nichts von ihm wiſſen?

Nicht allein Onkel Naſus, der eigentlich nicht noͤthig gehabt haͤtte, ſich ſelbſt eine Naſe zu drehen, da er in dieſem Punkte ſchon ſo glorreich verſorgt war! auch Ottiliens Schweſtern, wie des Paſtor’s Soͤhne ließen ſich durch Theodors vielſagendes Schweigen taͤuſchen und gaben ſich der Meinung hin, zwiſchen ihm und der ſtolzen Sproͤden bilde ſich im Geheim ein dauerndes Verhaͤltniß, welches ihn an Liebenau feſſele. Ottilie fand es entweder nicht der Muͤhe werth, ſie ſaͤmmtlich zu enttaͤuſchen, oder ſie ſchwieg zu jeder noch ſo unzarten Anſpielung, nur damit ihr Vater nicht fuͤrder in ſie dringen moͤge; oder, ſchien es ihr gelegen unter dem gleißneriſchen Mantel einer keimenden Neigung fuͤr den jungen Sohn des reichen Mannes, die laͤngſt verborgene160 Blume ſtrafbarer Liebe noch beſſer als bisher ver - bergen zu koͤnnen? Das letztere hauptſaͤchlich in zarter Ruͤckſicht fuͤr Anton, dem ſie durchaus die Wahrheit nicht zeigen wollte: theils aus Stolz, denn ſie ſchaͤmte ſich ihrer; theils aus Liebe, denn ſie wollte ihn durch unerfuͤllbare Hoffnungen nicht ungluͤcklich wiſſen.

Anton glaubte denn auch mit herzdurchſchneiden - der, martervoller Wonne der Eiferſucht, daß Theodor ſein begluͤckter Nebenbuhler ſei, und gab ſich den Qualen dieſer wahnſinnigſten aller Leidenſchaften mit Wolluſt hin. Dabei jedoch bezweifelte ſeine reine Seele, daß ihre Gefuͤhle auf wuͤrdige Weiſe erwiedert wuͤrden, denn er gedachte des Auftrittes mit Baͤrbel! Und doch wieder fand er im eigenen Buſen und im eigenen Schuldbewußtſein die Moͤg - lichkeit, daß ein unerfahrener Juͤngling hier liebend anbeten und dort zitternd begehren koͤnne: beides zugleich! Und wenn etwas Aehnliches bei ihm moͤg - lich geweſen, warum ſollt es bei dem welterfahrenen Sohne der großen Stadt unmoͤglich ſein? Was er in ſich durchkaͤmpfen mußte, ohne mit einer Aeußerung des Vertrauens ſeinem gepreßten Herzen Luft machen, ohne ſich einem befreundeten Weſen ſeines Alters mittheilen zu duͤrfen, peinigte den armen Jungen,161 vorzuͤglich in ſchlafloſen Naͤchten dermaßen, daß er ſich bisweilen den Tod wuͤnſchte und geradezu den ſchwarzen Wolfgang beneidete um ſein Ruheplaͤtzchen in der Kirchhofs-Ecke.

Ja, die ſchlafloſen Naͤchte!

Es iſt ein großer Segen fuͤr die Jugend, daß ſie ſo willig und gut zu ſchlafen verſteht. Der Schlaf iſt nicht nur dienlich zur Staͤrkung ermuͤdeter Glieder; auch als Troͤſtung fuͤr Leiden bleibt er unſchaͤtzbar. Und wie oft legt ſich ein Juͤngling, ſein Kopfkiſſen mit Thraͤnen befeuchtend, nieder; voll von ſchwer - muͤthigem Liebesgrame ſeufzend, gleich einer alten Kirchthurmsfahne im Abendwind, eh noch fuͤnf Minuten vergangen, ſchlaͤft er wie ein Sack und verſchlaͤft neun Zehntheil alles Jammers. Wenn es erſt ſo weit kommt, daß er nach einem Stuͤndchen unruhigen Schlummers aufſchrickt, voͤllig munter wird und dann die Sekunden zaͤhlt, bis nur wieder ein Tag anbrechen will .. dann ſteht es uͤbel mit ihm.

Auf dieſe Weiſe vergingen unſerem Freunde verſchiedene Naͤchte, ſchlichen ihm dahin, ſeit dem Erndtefeſte. Wolfgangs Leiche, Baͤrbel mit den Goldſtuͤcken in der Hand, Theodor auf dem Schloſſe, Ottilie neben ihm, Onkel Naſus einDie Vagabunden. I. 11162ſchwarzes Pflaſter im Geſicht, Paſtor’s Magd mit der Stalllaterne, dieſe drei Paare tanzten, ſobald er die Augen zu ſchließen verſuchte, einen Walzer um ihn her, wozu er ſelbſt auf Carino’s Geige aufſpielen mußte; dann wollten ſeine Finger nicht gehorchen und das Bemuͤhen, ſie zu regen, weckte ihn aus ſchon begonnenem Schlafe immer wieder auf. Vergaß er ſich und ſuchte er durch einen tiefgeſchoͤpften, ſeufzeraͤhnlichen Athemzug die Bruſt zu erleichtern, fragte Großmutter aus ihrem Stuͤbchen in die Kammer hinein: Schlaͤfſt Du Anton? Wo - rauf er jedesmal, ſie zufrieden ſtellend erwiederte: Ja, Groß mutter, ſehr gut!

Wie ungeduldig heftete ſich ſein blaues Auge an’s Fenſterlein neben der Lagerſtaͤtte, die Nacht da draußen zu befragen, ob ſie denn nicht bald dem lieben Tage Raum goͤnnen wolle, damit man zur Arbeit ſchreiten und ſich an ihr zerſtreuen koͤnne? Denn bei Nacht durft er nicht aufbleiben, das litt Mutter Gokſch durchaus nicht.

Eine Nacht nun wollte gar kein Ende nehmen. Zweimal ſchon hatten finſtere, quaͤlende Traͤume, wie der Alp druͤckend, ihn erweckt und noch keine Spur von Morgendaͤmmerung! Da wendet er ſich163 abermals nach dem kleinen Fenſter hin und fluͤſtert: o, ihr goldenen Sterne, ſeid ihr denn eurer ſo viele Erden, als ihr dort oben flimmert? Und leben auf euch auch ſo vielerlei Menſchen? Und machen ſich die auch ſo vielerlei Kummer und Noth? Dann weiß ich wirklich nicht, wem dies Alles frommt! Weiß nicht, zu weſſen Freude ſo Viele leiden! Dann muß ich zweifeln an der Guͤte des Schoͤpfers. Ach, lieber Gott, laß mich nicht verzweifeln! Gieb mir meinen Frieden wieder und mein ruhiges Kindergluͤck! Ver - ſtoß mich nicht! Hoͤrſt Du? Und wenn Du mich hoͤrſt, gieb mir jetzt gleich ein Zeichen!

Kaum waren die letzten Silben dieſes naiven Gebetes geſprochen, als Anton den Himmel und der Sterne hellen Schein nicht mehr ſah; ein Vorhang ſchien das kleine Fenſter zu verdunkeln. Bald ent - deckt er ein menſchliches Angeſicht, welches ihm die Ausſicht raube. Er erhob ſich auf ſeinem Lager, nahm eine knieende Stellung ein und ſah nun deut - lich daß die Glasſcheiben ihn von zwei Augen trenn - ten, die feuriger gluͤhten als Sterne. Sie konnten nur der braunen Baͤrbel gehoͤren. Oeffne! klang es durch’s duͤnne, in Blei gefaßte Glas. Er gehorchte. Jetzt begann ein leiſer Wortwechſel:

11*164

Gold und Gold ſteckt er mir zu. Schoͤn iſt er auch. Du biſt ſchoͤner, mir gefallſt Du beſſer. Willſt mein Liebſter ſein und ich ſchenk Dir ſeiniges Gold. Langer Samuel hat mich gepruͤgelt, bin ihm davon gelaufen, geh nimmermehr zu ihm. Bin ſein Schweſter nit. Dein Fenſterl iſt klein, kann ich ſchon durch; ich bin glatt wie Schlange. Laß mich zu Dir!

Baͤrbel, das geht nicht. Meine Großmutter ſchlaͤft drinnen und hoͤrt jeden Laut.

Komm zu mir! komm heraus!

Jch darf nicht.

Du darfſt was Du willſt. Biſt ja nit kleiner Bube? Schon ein junger Kerl biſt Du.

Jch lieb eine Andre!

Und mich haſt wollen kuͤſſen? Warum haſt gezittert und mich umarmt im Garten bei Schloß? Lieb wen Du willſt, aber geh mit mir!

Niemals darf ich mit Dir gehen, Baͤrbel. Jch hab’s dem Todten verſprochen.

Wem? Todten?

Dem ſchwarzen Wolfgang. Er leidet’s nicht. Es war ſein letztes Wort.

Hu! dem Schwarzen? War wilde Teuxel!

165

Er ſteigt aus dem Grabe, hat er geſchworen, als Geſpenſt und jagt uns auseinander.

Halt Maul! Mir furchtet! Alſo nix iſſ mit uns Zwei?

Nichts Baͤrbel, gar nichts. Es darf nicht.

Auch gut. Aber großes Narr biſt Du, Toni, Jeſus Maria ſchrecklich großes Narr, daß Du haſt Wort gegeben an ſchwarzen Wolf. Baͤrbel nimmt jetzt jungen Herr aus der Stadt. Baͤrbel wird vor - nehmes Menſch, zieht auch in Stadt. Eſel und Ganſel in Schloß glauben, er ſchaut auf Baron - maͤdel? Nix da! Auf mich ſchaut reicher Bub! Muß thun, was Baͤrbel will. Ha, Baͤrbel iſſ gar pfif - figes Weibsbild. Wird werden Frau Theodor, weil Du ſie nicht haſt moͤgen. Adio, ſchoͤnes Toni!

Die letzten drei Woͤrter ſprach ſie, obwohl bereits vom Kammerfenſter verſchwindend, ſo laut, daß der Schall derſelben bis in’s Nebenzimmer drang und daß die Großmutter aͤngſtlich rief: redeſt Du im Schlafe, Anton?

Dieſer ſchloß den Fenſterfluͤgel langſam und vor - ſichtig und ſagte dann: ich glaub es war ſo was? Mir traͤumte gerade, ich waͤr eine vornehme Dame.

Unſinn, erwiederte die Alte zuruͤck, wie kann166 ein vernuͤnftiger Menſch ſolche Thorheiten traͤumen? Dann entſchlief ſie wieder.

Worin es lag, daß unſer Freund auch entſchlief, nachdem nur etliche Minuten ſeit Baͤrbels Ruͤckzug verlaufen waren? Daß er freier athmete? Daß er ſich getroͤſtet waͤhnte? Wer mag es genuͤgend erklaͤren? Dennoch war es ſo. Er fuͤhlte ſich, wie von einer ſchweren Laſt befreit. Er vermochte, ohne Schmerz an Ottilien, er vermochte, zu denken: ſie iſt es nicht, welche den jungen Herrn in Liebenau zuruͤckhaͤlt. Auch war er mit ſich und ſeinem Benehmen gegen die Verfuͤhrerin zufrieden. Er freute ſich, dem ſchwarzen Wolfgang Wort gehalten zu haben. Er verſenkte ſich in mildere Traͤume, als die juͤngſt vergangenen Naͤchte ihm gegeben; ging, traͤumend, mit Tieletunke auf einer gruͤnen Wieſe ſpazieren; er und ſie waren noch Kinder; .... und wie er ſich buͤckte, ihr ein Vergiß - meinnicht zu pfluͤcken, dachte er noch im Halbſchlafe: ich danke Dir, lieber Gott, Du haſt mein Gebet bald erhoͤrt.

167

Dreizehntes Kapitel.

Handelt von einer Braut ohne Bräutigam.

Seit laͤnger als acht Tagen hauſete Theodor nun in Liebenau. Seine Equipage hatte der gefaͤllige Vater ihm hinaus geſendet, aber wahrſcheinlich auch gemeſſene Verhaltungsmaßregeln fuͤr das Benehmen gegen den Baron und deſſen Familie. Denn ſeit Chriſtians Ruͤckkehr und ſeitdem er den Brief geleſen, welchen dieſer Vertraute des Stalles und der Kuͤche ihm mitgebracht, benahm er ſich noch artiger, noch verbindlicher und noch ſchweigſamer als vorher. Tagtaͤglich ritt oder fuhr er mit Onkel Naſus in Feld und Wald; fortdauernd zeichnete er Ottilien durch gewiſſe nichtsſagende, kalte Phraſen vor ihren Schwe - ſtern aus; doch nicht minder tagtaͤglich und fort - dauernd zog er ſich ſo fruͤh als nur moͤglich aus der Geſellſchaft in ſeine Gemaͤcher zuruͤck und von Be - werbungen um die Hand der jungen Baroneſſe haͤtte auch das Ohr einer Spitzmaus nichts vernehmen koͤnnen. Freilich war das ganze Buͤrſchchen erſt acht - zehn Jahre alt; kam ſo eben erſt aus der hohen Schule, um in eine hoͤhere, Univerſitaͤt genannt, zu treten. Aber, wie Onkel Naſus ganz richtig bemerkte:168 er iſt ſo reif, ſo fertig, ſo weiſe, ſo altklug, daß er zu jeder Stunde vor den Altar marſchiren koͤnnte; und, fuͤgte Onkel Naſus hinzu, er muß, ja er muß ſich erklaͤren. Wenigſtens der Brautſtand ſoll ſicher ſein. Mag er dann ein Jahr hindurch, der Form wegen, noch Student heißen, oder Burſche, wie ſie’s nennen. Jch bewirthſchafte ſo lange noch Liebenau; lichte den Wald, wo er zu dick ſteht, und wo man ihn vor lau - ter Baͤumen nicht ſieht; bringe mich in Nummer Sicher und dann uͤbergeb ich ihm, mit meiner Juͤngſten zugleich die Herrſchaft. Er mag neu pflan - zen; er iſt jung; er hat Ausſicht, zu erleben, wie ſeine Anlagen heranwachſen! Aber ohne Verlobung kommt er mir nicht aus dem Schloſſe, und wenn er Ochſen vorſpannte!

Vergebens wendete der alte Herr ſich bittend und fragend an Tieletunke. Dieſe wies jede Andeutung auf ein Verſtaͤndniß mit ihrem jungen Gaſte entſchie - den zuruͤck. Sie verſicherte den Vater, daß ſie ſich gegenſeitig vollkommen gleichguͤltig waͤren.

Der Alte gerieth in Wuth: Es iſt mir ebenfalls vollkommen gleichguͤltig, ob ihr zwei euch gleichguͤltig ſeid? Aber Verlobung will ich haben; Braut follſt Du werden, ehe der verfluchte Tuͤtendreher mir die169 Hypothek aufkuͤndiget; denn ſobald dies geſchieht, bin ich ein Bettler; meine Toͤchter muͤſſen nackt und blos aus ihrer Vaͤter Burg ziehen und nehmen nicht einen ſilbernen Loͤffel mit, auf dem unſer reichsfrei - herrliches Wappen eingegraben ſteht; uͤberhaupt kein anderes Wappen, als das ſchwarze, welches ihr von Geburt tragt und wofuͤr euch kein Jude einen falſchen Groſchen zahlt. Folglich muß geheirathet werden, Tiele, es muß! Du darfft ihn nicht mehr locker laſſen. Wirf Dich in’s Zeug und mach ein Ende!

Sie ſchwieg und ging, was er ſich fuͤr ver - ſchaͤmten, kindlichen Gehorſam auslegte.

Der boͤſe Geiſt trieb ſein Spiel, mengte ſich in dieſes Mißverſtaͤndniß und richtete ſeine Sachen ſo ſchlau ein, daß am Abend deſſelben Tages, wo der Baron jene eindringliche Rede gehalten, ihm durch den Gaͤrtner, einen geſchwaͤtzigen dummen Menſchen, Nachricht zukam, uͤber naͤchtliche Beſuche, welche der verehrte jugendliche Gaſt bei ſich empfange. Zuerſt, verſicherte der Gaͤrtner, pflege ſich die hintere Haus - thuͤr zu oͤffnen, zu welcher Chriſtian ſich einen Schluͤſſel ausgeliehen, weil er oͤfters bei Nacht im Stall Ge - ſchaͤfte haben wolle. Dann trete der Fremde heraus und treibe ſich im Garten umher. Doch muͤſſe ein170 Frauenzimmer aus dem Schloſſe ihm heimlich nach - folgen, denn man haͤtte in den Gebuͤſchen lebhaft reden hoͤren. Und dann gingen beide wieder in’s Schloß zuruͤck. Und dann haͤtte er, der Gaͤrtner, in des Fremden Zimmer durch die Vorhaͤnge hindurch noch lange Licht geſehen. Folglich ......

Der dumme Gaͤrtner war nicht wenig erſtaunt, ſtatt des Donnerwetters, auf deſſen Ausbruch er gerechnet, in des Herren blau-rothem Angeſicht hei - tern Sonnenſchein wahrzunehmen. Jetzt ſchien dem Vielerfahrenen Alles deutlich: Sie wollen mich zum Beſten haben! Sie lieben ſich wie toll und raſend und ich ſoll’s nicht merken? Das Geheimniß reizt ſie? Gut! Deſto beſſer! Macht, was euch gefaͤllt! Je weiter ihr geht, deſto ſicherer gelang ich an mein Ziel. Noch dieſe Nacht hring ich die ganze Geſchichte in Ordnung!

Dem dummen Gaͤrtner wurde der Befehl, ſich ruhig zu verhalten, ſich auf keine Weiſe bemerkbar zu machen, nichts zu ſtoͤren, ſondern nur aufzupaſſen, bis er glaube, daß die Voͤgel im Neſt waͤren und dann den Baron zu holen. Auch dumme Menſchen, die duͤmmſten oft am ſchlaueſten, gehen gern und geſchickt auf derlei ſchlechte Kniffe ein. Der Gaͤrtner171 machte ſeiner Dummheit Ehre, begriff den Sinn des Befehles, wie ein Kluger ihn vielleicht kaum begriffen haͤtte und fuͤhrte ihn ſo gruͤndlich aus, daß er Schlag Ein Uhr an des Barons Schlafzimmer pochte, mit der Meldung: Die Fraͤulen ſei wieder bei’m Stadt - herren d’rin!

Es war ein ziemlich langer Weg von einem Ende des weitlaͤuftigen, halb zerfallenden Gebaͤu’s bis zum anderen. Onkel Naſus, in einen brokatenen, ver - ſchoſſenen Schlafrock gehuͤllt, doch mit Reiterſtiefeln, woran die Sporen klirrten, geruͤſtet; in der Linken eine Kerze auf ſilbernem Leuchter, in der Rechten ſein Schwert fuͤhrend, ſchritt voran. Jhm folgten der Gaͤrtner, der Leibjaͤger, der Koch, denn er brauchte Zeugen!

Vor Theodor’s Stubenthuͤr angelangt, reichte er ſeinem Buͤchſenſpanner den Leuchter hin und pochte ſodann mit der linken Fauſt dreimal gewaltig an das morſche Getaͤfel, daß es ſchier aus ſeinen Fugen gewi - chen waͤre.

Zum Teufel, was giebt’s? erſchallte Theodors Ruf von Jnnen; biſt Du es, Chriſtian? Brennt die alte Raͤuberhoͤhle? Was willſt Du?

Jch bin es, Herr Theodor van der Helfft, ich,172 Freiherr v. Kannabich, nahm Naſus das Wort, der ſeine Tochter ſucht. Oeffnen Sie gutwillig, oder ich ſehe mich genoͤthiget, durch mein Gefolge die Thuͤre ſprengen zu laſſen.

Gaͤrtner, Koch und Jaͤger ſtießen allerlei dumpfes Gemurmel aus, um anzudeuten, daß Gefolge wirklich vorhanden ſei.

D’rinnen herrſchte tiefe Stille, die nur augenblick - lich durch muͤhſam zuruͤckgehaltenes weibliches Ge - kicher unterbrochen wurde. Dann wieder ließ Theodor ſich vernehmen: Jch oͤffne, ſobald ich meinen Schlaf - rock angelegt.

Wir ſiegen, murmelte Naſus; jetzt bleibt ihm nichts uͤbrig, als mich zu ſeinem Schwiegervater zu ernennen!

Die Thuͤr ging auf. Der Baron drang hinein, ſeine Diener blieben im Eingang, denſelben durch ihre Perſonen feſt verrammelnd.

Theodor trat dem Baron entgegen; er war gleich - falls in einen Schlafrock gehuͤllt, in ein Prachtgewand von gruͤner Seide mit bunten Blumen durchwebt. Die beiden Schlafroͤcke ſtanden einander gegenuͤber, wie dem ſchmutzigen grauen November bluͤhender Mai.

173

Wo iſt mein Kind, Herr van der Helfft? Wo iſt Ottilie? So ſchnaubte, ſich zornig ſtellend, der im Jnnerſten uͤbergluͤckliche Vater den hochmuͤthigen Juͤngling an.

Dieſer erwiederte mit der Grazie beleidigter Un - ſchuld: Wie ich hoffe, zu dieſer Stunde in ihrem jungfraͤulichen Bett, Herr Baron. Es ſollte mir leid thun um Sie, wie um Jhr Fraͤulein, wenn ſie ohne des Vaters Vorwiſſen ſich wo anders befaͤnde?

Sehen Sie dies ſelbſt ein, unwiderſtehlicher Verfuͤhrer? Dann geben Sie uns Genugthuung: Erklaͤren Sie meine Tochter Ottilie in Gegenwart dieſer drei Zeugen (zwiſchen den Thuͤrpfoſten regte es ſich und die Angerufenen ſtießen Toͤne aus) fuͤr Jhre verlobte Braut! Sonſt bekommt mein treues Schwert zu thun.

Jch verſtehe Jhre Meinung, mein Herr, ſagte Theodor, und ich muß Jhnen, als Vater, vollkommen Recht geben. Befaͤnde ſich Jhre Tochter jetzt, nach Ablauf der Geiſterſtunde, bei mir in dieſen mir ein - geraͤumten Gemaͤchern, dann bliebe Jhrem alten, unbefleckten Adel nichts uͤbrig, als mein Herz zu durchbohren, oder mich als Sohn an Jhr Herz zu druͤcken. Gewiß ziehen Sie das Letztere vor, und aus174 guten Gruͤnden, wie ich vermuthe. Deshalb auch verſpreche ich Jhnen feierlich, im Angeſicht jener ehren - werthen Zcugen, Jhrer Tochter Ottilie meine Hand als Gatte zu reichen

An dieſe Bruſt, braver Junge! Jhr habt’s gehoͤrt: ſie iſt jetzt ſeine Braut. An meine Bruſt!

Wofern ſie ſich zur Zeit bei mir befindet!

So iſt’s abgemacht! Jch weiß Alles. Jch ver - zeihe euch, ich ſegne euch. Dort im Kabinet ſteckt ſie; wir haben ſie draußen lachen hoͤren, als ſie ſich ver - ſteckte. Komm heraus, Tieletunke, komm, daß Dein Vater Dich ſegne!

Naſus machte Miene, in’s Kabinet zu gehen. Theodor vertrat ihm den Weg. Es entſpann ſich eine Art von Balgerei, die anfaͤnglich Seitens des Barones den Anflug liebevoll-vaͤterlichen Scherzes trug, durch Theodors ernſten Widerſtand bald eine faſt bedenkliche Wendung nahm. Mit Reden und Gegenreden verſtrich die Zeit. Aus heftigem Wort - wechſel wurde lautes Geſchrei und dies drang durch die offene Thuͤr in die leeren oͤden Gaͤnge, erſt alle Fledermaͤuſe, endlich die Schlaͤferinnen des Hauſes aufjagend. Jn demſelben Augenblicke, wo Naſus in hoͤchſter Wuth bruͤllte: Warum ſoll ich mein Kind175 nicht als Braut begruͤßen? Ottilie, Dein Vater iſt’s, der Dich ruft! Jn demſelben Augenblicke machte Ottilie ſelbſt ſich Bahn durch Koch, Jaͤger und Gaͤrtner, erſchien in flatterndem Nachtkleide hinter ihrem Vater und fragte mit dem ihr eigenen, vorneh - men Weſen: Was ſteht zu Befehl? Hier bin ich!

Sie werden ſich jetzt zufrieden ſtellen und die Ueberzeugung gewinnen, Herr Baron, daß Sie mir, mehr aber noch Jhrem hochzuverehrenden Fraͤulein Tochter Unrecht thaten? hub Theodor an. So gewiß Baroneſſe Ottilie aus ihrem Schlafzimmer kommt, ſo gewiß mir nicht die gefaͤhrliche Ehre zu Theil wurde, ſie in dem meinigen zu beherbergen; eben ſo gewiß muß ich auf das Gluͤck verzichten, die mir dargebotene Hand derſelben

Wer hat gewagt, unterbrach ihn Ottilie, vor Zorn ergluͤhend, wer hat gewagt, meine Hand Jhnen darzubieten? Wer uͤberhaupt durfte uͤber meine Hand verfuͤgen wollen? So weit erſtrecken ſich eines Vaters Rechte nicht, und des meinigen wahrlich am Wenigſten. Jch muß bitten, meine Herren, mich und meine Perſon gaͤnzlich aus Jhrem Spiele zu laſſen; hoͤren Sie wohl, aus jedem: ſei es auch eines um Leben, Gut und Ehre! Denn ein ſolches wird, fuͤrcht176 ich, hier geſpielt werden. Mich uͤberraſcht nichts; ich bin auf Alles gefaßt und erwarte das Schlimmſte mit Ruhe.

Ehe noch der Baron auch nur einen ſchwachen Verſuch zu Stande brachte, in vaͤterlicher Autoritaͤt gegen ſie aufzutreten, war Ottilie nicht mehr an - weſend.

Er rang nach Faſſung, nach Kraft, um wenigſtens noch einen Wuthausbruch verſuchen zu koͤnnen? Fruchtlos! Wie gelaͤhmt ſank er in den Lehnſeſſel vor Theodors Bett; ſeine Diener umſtanden ihn, einen Schlagfluß vorherſehend.

Theodor rief nach Chriſtian und befahl dieſem, raſch zu packen, waͤhrend er ſelbſt ſich voͤllig ankleide; vor Tagesanbruch noch wollten ſie abreiſen. Das ging mit unerhoͤrter Eil! Bevor noch Onkel Naſus ſich erholt hatte, war Alles geſchehen. Die Stallleute im Hofe hatten angeſpannt. Theodor ſchien nur zu harren, ob der Baron das Zimmer nicht verlaſſen werde? Offenbar wuͤnſchte er, dies moͤge geſchehen, bevor kund geworden, wer im Kabinet verſteckt gewe - ſen ſei? Der Baron jedoch, der, wenn auch langſam, doch nach und nach ſein Bewußtſein wieder gefunden, raffte ſich noch einmal empor und begehrte, auf ſein177 Hausrecht geſtuͤtzt, zu erforſchen, wer das nichtswuͤr - dige Weibsbild ſei, welches ſolche Schmach uͤber ihn und Ottilie gebracht?

Theodor ſchwankte zwiſchen Verlegenheit und Zorn.

Da that ſich die Tapetenthuͤr auf und heraus trat (in Theodors Kleidern, begreiflicherweiſe!) der ſchmuckſte Burſch, den ein Menſch jemals geſehen. Bei dieſem Anblick gewann der junge van der Helfft ſogleich wieder die volle Zuverſicht des Weltmaͤnn - chens: Endlich, Vetter, rief er dem Eintretenden ent - gegen; Du haſt lange gebraucht, bis Du Toilette gemacht! Nun laß uns aber nicht zoͤgern, dieſem ungaſtlichen Hauſe den Ruͤcken zu wenden. Wenn wir es wieder betreten, ſollen andere Sitten hier herrſchen; dafuͤr will ich gut ſagen.

Die beiden Stutzer umſchlangen ſich zaͤrtlich und gingen triumphirend davon. Bald nachher hoͤrte man ihren Wagen aus dem Hofraume rollen.

Onkel Naſus ſaß wieder im breiten Lehnſeſſel, tiefer noch darniedergeſchmettert, als beim erſten An - fall. Seine Getreuen hatten viel zu thun, ihn auf die knickenden Beine zu bringen. Und als es endlich gelang, ſchien er die Sprache voͤllig verloren zu haben. Die Vagabunden. I. 12178Nur unartikulirte, abgeriſſene Silben ſtotterte der alte Herr muͤhſelig hervor, aus denen ſich der Jaͤger nach langem Studium zuletzt jene fruͤher ſchon vernomme - nen, ihm auch jetzt noch unerklaͤrbaren Worte: brau - ner Racker! zuſammen buchſtabirte.

Vierzehntes Kapitel.

Mahnt an eine Todte, die vielleicht noch gar nicht geſtorben iſt. Dagegen pocht der Tod an Antons Thür.

Es waͤre wider den natuͤrlichen Lauf der Dinge geweſen, haͤtten zur Feierabendſtunde Mutter Gokſch und ihr Enkel die Ereigniſſe vergangener Nacht nicht mit einander beſchwatzt. Schon des Gutsherrn bedenk - liche Erkrankung, die aͤrztliche Huͤlfe und reitende Boten noͤthig gemacht, verurſachte großes Aufſehen und zweideutige Theilnahme im ganzen Dorfe. Wie viel mehr jene geheimnißvollen, faſt fabelhaften Gruͤnde, denen dieſe Erkrankung beigemeſſen ward. Der Großmutter konnte nicht entgehen, daß Antons Mitleid fuͤr den Kranken, von ſelbſtſuͤchtiger Freude uͤber Theodors ploͤtzliche Abreiſe aufgewogen wurde. Auch ſchalt ſie ihn deswegen. Das nahm er zwar179 demuͤthig hin, wußte ſich aber doch in ſofern zu recht - fertigen, als er ſeiner Freude den reinſten Antheil an Tieletunke’s Lebensgluͤck unterlegte. Mit dieſem Menſchen, ſprach Anton, ſo praͤchtig er ausſieht, und ſo feine Kleider ihn ſchmuͤcken, waͤre ſie doch hoͤchſt ungluͤcklich geworden. Und wenn die pfiffig-laͤchelnde Alte ihn fragte: Du dummer Junge, woher willſt Du das wiſſen? antwortete er nur, wo moͤglich noch pfiffiger laͤchelnd, wie ſie: Jch bin nicht ſo dumm als ich ausſehe! Wobei er ein reizend-ſchlaues Geſicht machte, daß ihn die Großmutter vor Liebe gleich haͤtte auffreſſen moͤgen.

Das war ein huͤbſcher Abend. Ringsum herbſtel - ten freilich Wieſen und Baͤume ſchon, doch blieb es noch warm und ſommerlich. Sie ſaßen mit einander vor ihrem Haͤuschen, nicht anders, als in ihren hei - terſten Tagen. Es war ein huͤbſcher Abend, wie geſagt; denn ſie ahneten nicht, daß er der letzte dieſer Art ſei.

Nun thu mir den Gefallen, Großmutterle, und ſieh Dir den Poſt-Boten an, ſagte nach einer Pauſe zufriedenen Schweigens Anton; ſieht der nicht gerade ſo aus, als ob er uns einen Brief bringen wollte? Unverwandt ſtarrt er nach mir heruͤber, jetzt biegt er12 *180ein. Weiß Gott, er kommt hierher. Na, das iſt unerhoͤrt. Außer dem Herrn Paſtor iſt das noch kei - Seele wiederfahren, in ganz Liebenau nicht.

Wem, um Alles in der Welt, haͤtte der muͤde Mann auch in Liebenau Briefe zutragen ſollen? Die Schloßbewohner korrespondirten nicht durch die Koͤ - nigliche Poſt und jene großen, unwillkommenen Zu - ſchriften, welche Onkel Naſus von Zeit zu Zeit empfing, inſinuirte leider fuͤr gewoͤhnlich ein Diener des Ge - richtes.

Doch hatte Anton recht geſehen: die Biegung des beſtaubten Wanderers galt ihnen und er fragte ſie muͤrriſch: koͤnnt ihr mir denn vielleicht eroͤffnen, ob hier im Dorfe eine Frau Hahn lebt?

Hahn? ſagte Anton, Frau Hahn? Jſt mir nicht bekannt. Hennen giebt’s wohl, und Haͤhne auch, genug. Aber Frau Hahn? daß ich nicht wuͤßte!

Nun ſo wollt ich, erwiederte noch muͤrriſcher der verdruͤßliche Mann, ſie ſaͤße im Monde oder ſonſt wo dergleichen, damit es keinem Narren auf der Erde einfiele, an ſie zu ſchreiben; lauf ich mir des dummen Briefes wegen nicht meine neuen Schuhſohlen durch und werd ihn nicht los. Und macht bereits ſchon uͤber einen Thaler an Porto.

181

Anton hatte ſchon wieder eine luſtige Bemerkung auf der Zunge, als ein Seitenblick nach der Groß - mutter gerichtet ihm Stillſchweigen gebot. Denn die alte Frau ſaß todtenbleich neben ihm und ihr Auge, ſonſt ſchon matt und truͤbe, leuchtete wie Feuer unter den Brillenglaͤſern vor. Sie ſagte mit lauter, doch bebender Stimme: Ehe eine Frau Hahn ſich meldet, an welche dieſer Brief, und dabei wendete ſie kei - nen Blick von den Schriftzuͤgen der Adreſſe, gerichtet ſein koͤnnte, muͤßte ſie erfahren, ob ihr Stand, ſo wie auch Tauf - und Geburtsname uͤbereinſtimmen?

Waͤret Jhr es am Ende gar ſelbſt? fragte der Bote. Wohl, ſo nennt mir Stand und Namen; wenn das zutrifft, ſollt Jhr ihn haben und ich will Gott danken, daß ich ihn los bin.

Mutter Gokſch ſprach feierlich: Antonia Hahn, geborene Werner, Wittwe des wohlſeligen Schulrek - tors und Kantors Hahn in N.

Das trifft zu. Auf ein Puͤnktchen trifft es zu. Und nach N. iſt der Brief auch uͤberſchrieben. Von dort hat er viele Kreuz - und Querzuͤge machen muͤſſen, ſo daß er’s wohl ſatt haben mag und Ruhe braucht. Zahlt mir alſo meinen Thaler und drei Groſchen an182 Porto, und vier Groſchen an Botenlohn, dann moͤgt Jhr ihn nehmen, und ich will wuͤnſchen, daß viel Gutes darin ſtehe. Weit genug iſt er her und kommt aus fremder Herren Landen.

Die Großmutter ſtand auf, begab ſich in ihr Stuͤbchen, aus welchem ſie alsbald mit dem begehrten Gelde zuruͤckkehrte, den Brief in Empfang nahm und augenblicklich wieder in’s Haus zuruͤck ging.

Der Poſtbote empfahl ſich.

Anton blieb unbeweglich ſitzen, wie wenn er ver - ſteinert waͤre. Die heitere Stimmung, die ihn ſo eben erſt noch erfuͤllt, war verſchwunden, um einer bangen, dumpfen Ahnung Platz zu machen. Wie er vorher kaum zu ſagen gewußt, warum er ſich gluͤcklich fuͤhle, haͤtte er jetzt noch weniger ſchildern koͤnnen, was ihn ungluͤcklich mache. Aber daß er es ſei, em - pfand er. Er empfand den ſchweren Druck einer gewitterſchwuͤlen Stunde. Und doch laͤchelte der Abendhimmel ſo herbſtlich-rein und blau!

An ſeine Großmutter, ein Brief! Aus weiter Ferne noch dazu, hatte der Bote bemerkt? Und ſeine Großmutter hieß Hahn, nicht Gokſch? Zwar das kam freilich auf Eines heraus: die Dorfleute183 hatten ſie aus dem Staͤdtiſchen in’s Baͤu’riſche*)Jn manchen Gegenden nennt man den Haushahn: Gokſch. uͤberſetzt. Doch von wem konnte dieſes Schreiben kommen? Wichtig mußte es ſein! Die alte Frau war damit in’s Haus geflohen, um es allein, unge - ſtoͤrt zu eroͤffnen und in ihrer Miene hatte etwas ge - legen, wodurch ihm gewiſſermaßen unterſagt wurde, zu folgen, oder ungeſtuͤme Fragen zu thun! Auch mußte ſie die Handſchrift erkennen, oder zu erkennen glauben, ſonſt haͤtte ſie nicht ſo viel Geld daran ge - wagt, das Schreiben einzuloͤſen. Es ruͤhrte dem - nach von einer theuern Perſon her? Und lebte denn der alten Frau, außer Anton, noch eine ſolche? Wo lebte ſie? Anton glaubte doch der Großmutter Lebenslauf genau zu kennen? Sie beſaß ja keine Anverwandte mehr! All die Jhrigen waren ja todt! Alle!!

Er erſchoͤpfte ſich in leeren Muthmaßungen; je laͤnger er gruͤbelte, deſto ungeduldiger ward er. Doch ihre Einſamkeit zu ſtoͤren, haͤtt er niemals gewagt. Lieber blieb er draußen, bis die Nacht mit ihrer Kuͤhle ihn umgab. Es froͤſtelte ihn. Der Herbſt begann ſeine Rechte geltend zu machen. Anton gedachte des184 naͤchſten Winters; des engen Lebens im kleinen Raume, mit der Großmutter allein. Die langen Abende bei matter Lampe! Und man ſpricht ſich zuletzt aus; wovon auch ſollen ihrer zwei immer und immer mit einander reden? Da ſchleicht die Zeit ſo traurig hin .... Was aber, dieſer Gedanke uͤberkam ihn ploͤtzlich, was aber, wenn ſie auch nicht mehr da waͤre. Wenn Du ganz allein bliebeſt?

Wie von einem wilden Thiere uͤberfallen, fuhr er ſchaudernd in die Hoͤh! Seine unbeſtimmten Ahnungen nahmen Geſtalt an: er ſah die Großmutter jetzt im Geiſte, wie er neulich den ſchwarzen Wolf - gang geſehen, ſo bleich, ſo ſtarr und laͤnger waͤr er nicht mehr im Stande geweſen ſich ihr fern zu halten. Er ſtuͤrzte zu ihr hinein.

Sie lag im Bette. Keine Lampe brannte. Anton machte Licht und naͤherte ſich ihrem Lager. Unbe - weglich lag ſie da, die Arme ausgeſtreckt, das Antlitz kaum zum erkennen. Weil ſie die Augen geſchloſſen, meinte Anton ſie ſchliefe, und ſchwieg. Der Schein des Lichtes that ihr ſichtbar wehe: ſie zuckte mit den Augenlidern und fluͤſterte matt: geh ſchlafen, mein Sohn; laß mich auch ſchlafen. Jch bitte Dich. Reden wollen wir morgen. Heute kann ich nicht. 185Geh in Deine Kammer; wenn Du mich lieb haſt.

Wenn Du mich lieb haſt! O dieſes ſchlichte Wort, welche Zauberformel, welcher Machtſpruch hoͤchſter irdiſcher Gewalt kaͤme ihm gleich?

Wenn Du mich lieb haſt! wiederholte der Knabe ſanft und innerlich ſchluchzend; kuͤßte die alten Haͤnde, wankte ſeiner Kammer zu und drinnen warf er ſich auf’s Bett, barg das lockige Haupt tief in weiche Federkiſſen, damit dieſe den Ausbruch ſeines Schmer - zes daͤmpfen moͤchten; damit die Großmutter ihn nicht weinen hoͤre; damit er ſich und ſeinem jungen Grame Luft machen duͤrfe!

Sie ſtirbt! Sie ſtirbt! ſprach er durch gluͤhende Thraͤnen in die Flaumen hinein; ich ſeh es ihr an. So ſieht der Tod aus. Verflucht, dreimal verflucht ſei die Hand, die den unſeligen Brief geſchrieben! Denn der Brief iſt ihr Moͤrder.

Was eigentlich in dem Briefe geſtanden, erfahren wir nicht. Die alte Frau hat, nachdem ſie ihn mit Huͤlfe ihrer Augenglaͤſer in unklarem Daͤmmerſcheine muͤhſam geleſen, jenes Blatt ſogleich verbrannt. Haͤtte Anton bei ſeinem Eintritt in ihr Zimmer fuͤr etwas Anderes Aufmerkſamkeit gehabt, als fuͤr ſeine186 Großmutter, an dem kleinen Heerde muͤßten ihm die Spuren der kaumverwehten Papieraſche aufgefallen ſein.

Von wem das Schreiben geweſen? Von ſei - ner Mutter, der todtgeglaubten! An ihre Mutter, ſeine Großmutter, war es gerichtet. Woher? Wir wiſſen es nicht. Eben ſo wenig, als wir fuͤr jetzt berichten koͤnnen, wie es geſchehen, daß Antoinette die verhee - renden Fluthen entronnen, zu den ihrigen nicht mehr heimkehrte; daß ſie ſo lange Jahre hindurch nichts von ſich vernehmen ließ; warum ſie jetzt gerade ein Zeichen ihres verſchollenen Daſeins gegeben?

Vielleicht ſagt es uns der Verlauf dieſer Geſchichte.

Erfreuliches konnten dieſe wenigen Zeilen fuͤr Mutter Gokſch nicht enthalten haben; das zeigt uns der Zuſtand der alten lebensmuͤden Empfaͤngerin, die feſt entſchloſſen ſcheint, das Geheimniß mit in’s Grab zu nehmen.

Frage mich nicht, mein Anton, ſagte ſie am naͤch - ſten Tage, forſche doch nicht, von wem der Brief her - ruͤhre, den ich geſtern erhielt. Du wuͤrdeſt Dich und mich nur vergebens quaͤlen, denn Du darfſt niemals erfahren, was er mir gemeldet. Jch vertraue auf Deinen kindlichen Gehorſam. Gieb Du Deiner alten187 Pflegerin auch ſo viel Vertrauen, daß Du nicht weiter in ſie dringſt, wenn ſie Dir zuſchwoͤrt: es iſt beſſer fuͤr Dich, in Unwiſſenheit daruͤber zu verbleiben. Denke meinetwegen, ich haͤtte noch einen Verwandten irgend wo gehabt, von dem ich fuͤr mich vielmehr fuͤr Dich, vielleicht etwas Guͤnſtiges erwartet, und das waͤre nun fehlgeſchlagen. Oder bilde Dir ein, man habe mir gemeldet, daß eine Perſon, von der ich immer noch viel Gutes geglaubt, die ich fuͤr ungluͤck - lich, aber ehrlich gehalten, mich und mein Vertrauen taͤuſchte; daß ich eine Freundin verlor; daß ſie mich ſchwer betrog; daß ich gar nicht mehr an ſie denken will. Jrgend ſo etwas ſtelle Dir vor, liebes Kind und laß mich mir ſelbſt und meinen Gedanken uͤber. Habe Geduld mit mir, wenn Du mich niedergeſchla - gen ſiehſt. Jch werde mich ſchon wieder zuſammen - rappeln und, ſo Gott will, auch dieſen letzten Schlag verwinden.

Mit ſolchen ausweichenden Andeutungen mußte ſich Anton zufrieden ſtellen. Doch entging ihm keines - weges, wie die Kraft der Großmutter voͤllig gebrochen ſei. Die Augen blieben tief in den dunklen Hoͤhlen, in welche der Brief ſie verſenkt; die Naſe behielt ihre weiße Spitze; die Lippen laͤchelten nur noch gezwun -188 gen und krankhaft. Es war der Tod, den er im Fuchswinkel kennen gelernt, den er jetzt in ihren Zuͤgen wiederfand.

Guter Anton, damals ſuchteſt Du ihn im gruͤnen Walde auf; diesmal iſt er gekommen, an Deines Haͤuschens Thuͤre zu pochen.

Fünfzehntes Kapitel.

Wie ihrer zwei nicht heirathen wollen und wahrſcheinlich aus einem und dem nämlichen Grunde.

Nicht gar lange mehr hielt Mutter Hahn, denn warum ſollten wir ſie nicht bei ihrem rechten Namen nennen? ſich aufrecht. Einige Tage nach dem ſo eben geſchilderten Ereigniß ward ſie feſt bett - laͤgrig und Anton mußte ſeine Arbeit ſtehen laſſen, um haͤusliche Dienſte einer krankenpflegenden Magd zu verrichten. Krank an irgend einem ſchmerzhaften Uebel war die Großmutter nicht. Nur ſchwach. Sie vermochte kaum, ſich zu regen. Der Geiſt war dafuͤr deſto lebendiger: ſie dachte, ſprach, urtheilte klarer und freier, als in ihren letztvergangenen Lebensjahren. Aerztliche Beihuͤlfe verbat ſie ſich alles Ernſtes. Juͤn - ger, ſprach ſie, kann mich der Mann nicht machen189 und wenn er alle Weisheit gepachtet haͤtte! Warum ſoll ich ſeine Flaſchen austrinken? Das Zeug ſchmeckt ſchlecht und koſtet theures Geld.

Die Beiden plauderten viel mitſammen. Von der Vergangenheit, wie von Anton’s Zukunft. Jedes Geſpraͤch uͤber die letztere ſuchte der gute Junge an der Großmutter Geneſung zu knuͤpfen. Sie dagegen zeigte ſich beſorgt, ihn vorzubereiten, ihn vertraut zu machen mit dem Gedanken, daß er lernen muͤſſe, ohne ſie weiter zu leben. Dein Haͤuschen, meinte ſie, kann Dir niemand nehmen; Schulden ſtehen keine darauf; ich hab es mit meinen paar Pfennigen, die ich mir aus dem Bischen Garnhandel in N. rettete, baar und richtig bezahlt, als ich’s dem ſeeligen Meiſter Schroͤter abkaufte. Und daß der Enkel ſeiner Großmutter Erbe ſei, wenn keine Zwiſchenverwandte mehr am Leben, fuͤgte ſie mit ſchwerem Seufzer hinzu, das iſt eine alte Sache. Du wirſt Dich ſchon fortbringen.

Dabei gerieth ſie denn immer wieder auf ihren alten Plan, Anton ſolle bei Zeiten heirathen. Wenn Du uͤber die Zwanzig hinaus ſein wirſt, dann nimm Dir eine Frau! Handwerksleute auf dem Lande muͤſſen zeitig in den Eheſtand treten.

Davon nun wollte Anton, wie uns ſchon bekannt190 iſt, nichts hoͤren. Wenn ſie mich nun unter die Sol - daten nehmen? Wendete er mehrmals dagegen ein.

Das thun ſie nicht, erwiederte beruhigt und be - ruhigend Frau Hahn. Der gnaͤdige Herr Major hat mir’s mit Hand und Mund verſprochen und der ge - ſtrenge Herr Kreisſekretair auch. Dich nehmen ſie nicht, weil ſie Dich fuͤr einen ſtillen, fleißigen Jungen kennen, der fuͤr mich arbeitet und ſie haben mir’s zu - geſagt, ſo lange ich lebe, hier hielt ſie erſchrocken inne.

Anton war ſchon im Begriff zu aͤußern: aber wenn Du nun ſtirbſt? Doch ſchluckte auch er dies traurige Wort mit Macht hinunter.

Und wiederum hub die Alte an: ſoll dies aber mein Letztes ſein, Anton, hernach erbſt Du ja das Haͤuschen; hernach biſt Du ja, trotz Deiner Jugend, ein Hauswirth; und dann duͤrfen ſie Dich gar nicht einmal nehmen unter die Soldaten. Damit Du aber vollkommen ſicher biſt, mußt Du halt heirathen und das bei Zeiten!

Großmutter, brummte Anton faſt verdruͤßlich, nun ſchweig einmal davon! Wo ſollt ich denn eine Frau finden, wie ich wie ich ſie wuͤnſchte?

Eine ſolche, ſagte die unerſchuͤtterliche Eheſtifterin191 wird der liebe Gott Dir ſchon ſenden, wenn Du nur ......

Jn dieſem Augenblick hoͤrte man ein leiſes Klopfen an der Stubenthuͤr.

Die Redenden ſahen ſich befremdet an, als wollten ſie ſich fragen: wer klopft bei uns an? Treten die Nachbarn nicht ohne Klopfen ein?

Beide riefen wie aus einem Munde: herein!

Es war Ottilie.

Anton zog ſich ohne Zoͤgern in ſeine Kammer zu - ruͤck, nachdem er vor der Eintretenden ſich erroͤthend verbeugt.

Ottilie brachte der Kranken ein Glas voll einge - ſottener Kirſchen. Jch waͤre ſchon fruͤher gekommen, gleich als ich hoͤrte, daß ihr danieder liegt, ſprach ſie, aber bei uns auf dem Schloſſe geht es auch nicht gut. Mein Vater hat in kurzen Zwiſchenraͤumen zwei hef - tige Schlaganfaͤlle erlitten. Der dritte, glaubt der Arzt, kann ihn toͤdten. Jhr wißt, er trinkt unmaͤßig; das ſchadet ihm und verſchlimmert ſeinen Zuſtand. Jch ſehe ſchon lange ein ſolches Ende voraus. Und dann iſt noch Manches dazu gekommen, vielerlei Gram. Jhm droht der haͤrteſte Schlag: ſein Hauptglaͤu - biger will ihn ſtuͤrzen. Dagegen giebt es gar keine192 Huͤlfe mehr. Er muß Liebenau mit dem Ruͤcken anſehen. Jch wollte ihm goͤnnen, daß er fruͤher ſtuͤrbe!

Das ſagen Sie ſo ruhig, gnaͤdige Baroneſſe? rief die alte Frau aͤngſtlich.

Was iſt zu thun? war die Antwort. Jn’s Un - vermeidliche muß man ſich fuͤgen. Bin ich doch darauf gefaßt.

Aber wenn man ſo jung und ſchoͤn und vornehm iſt, wie Euer Gnaden! ... Hieß es doch, der fremde, junge, reiche Herr

Faſelt nicht, gute Mutter Gokſch. Jch werde niemals heirathen. Verſteht Jhr mich? Niemals! Jhr wißt, was ich ſage, iſt auch gethan. Schon als Kind war ich feſten Willens und hielt an meinen Entſchluͤſſen. Jhr koͤnnt mir glauben, wenn ich euch jetzt noch einmal wiederhole: ich werde nie heirathen. Jch gebe euch ſogar die Erlaubniß, es weiter zu er - zaͤhlen; wenn ihr wollt auch eurem Toni! Niemals werd ich einem Manne auch nur einen freundlichen Blick goͤnnen, denn ich bin ..... Doch wozu das? Man braucht nicht katholiſch zu ſein und hat nicht noͤthig, ein Kloſter aufzuſuchen, um Nonne zu werden. Davon genug! Wie geht es euch? Gedenkt ihr bald wieder aufzuſtehen?

193

Jch denke eben ſo wenig von dieſem Lager wieder aufzuſtehen, als mein gnaͤdiges Freifraͤulein an’s Heirathen denken will. Kaum noch ein paar Tage; ich ſpuͤr’s am Beſten!

Dieſe Verſicherung wurde eben ſo leiſe gegeben, damit Anton ſie nicht vernehmen moͤge, als die vorhergegangene Ottiliens laut gegeben worden war, vielleicht, damit er ſie vernehmen moͤge!

Ottilie ſah der Alten feſt in’s Auge, wie wenn ſie dadurch von dem Gewicht der eben gemachten Prophe - zeiung ſich uͤberzeugen wollte; dann reichte ſie ihr die Hand und ſagte mit zuruͤckgehaltenen Thraͤnen (eine ſeltene Waare bei Tieletunke!): wenn wir uns dann nicht mehr wiederſehen ſollten, alte Frau, ſo fahret wohl. Jch fuͤrchte in den naͤchſten Tagen euch nicht mehr beſuchen zu koͤnnen, weil meine Gegen - wart oben noͤthig ſein wird. Gott geb euch einen ſanften Tod und er troͤſte den troͤſte die leben muͤſſen! Jhr zieht in ein Reich, wo es keine Unter - ſchiede giebt, keine Ruͤckſichten, wie hier auf Erden. Hebt mir ein leidlich Plaͤtzchen in eurer Naͤhe auf, wenn ſich’s thun laͤßt.

So, ſich die Augen trocknend, wollte ſie ſcheiden, da trat Anton in’s Zimmer, mit aͤngſtlichen Mienen,Die Vagabunden. I. 13194wie wenn er den Abſchied fuͤr Leben und Tod drin - nen in ſeiner Kammer gehoͤrt und verſtanden haͤtte.

Bei ſeinem Erſcheinen war Ottilie raſch gefaßt. Freundlich nickte ſie den Abſchiedsgruß und im Gehen mit ihren Fingern an jenen Kaͤfig ſtreifend, den Anton fuͤr ſeine uns aus dem dritten Kapitel bekannte Tur - teltaube geflochten, aͤußerte ſie, ohne gleichwohl den anzublicken, dem es galt: das iſt ein huͤbſches, zah - mes Thier, dieſe Taube; die moͤcht ich wohl! Gruͤß Gott, Anton!

Fort war ſie.

Anton machte ſich am Glaſe zu ſchaffen, aus welchem er einige der eingelegten Fruͤchte fuͤr die Großmutter herausſuchte.

Frau Hahn aber lispelte nur: auch ſie nicht! Auch ſie will nicht heirathen! Die armen Kinder!

Sechszehntes Kapitel.

Mutter Gokſch fühlt ihr Ende und ſchließt die Rechnung mit dem Leben ab. Onkel Naſus ſtirbt; ſie folgt ihm.

Es kam eine wilde, ſtuͤrmiſche Nacht, nach ſtil - len, traurigen Tagen. Der Winter ſchickte ſeine Vor - boten. Unſere Kranke, wenn wir eine ſchmerzlos dahin195 ſterbende Greiſin krank nennen duͤrfen, empfand den Wechſel der Witterung ſehr hart. Sie ſchlief mit ſteter Unterbrechung und ſchreckte den von langen Nachtwachen ſchwer ermuͤdeten Enkelſohn haͤufig durch ihre Unruhe auf. Ganz gegen ihre ſonſtige duldſame Art und Weiſe klagte ſie wiederholt, daß es gar nicht Morgen werden wolle. Und doch war es kaum mit - ten in der Nacht. Anton fuͤhlte ſeine Bruſt wie zuſam - mengeſchnuͤrt. Angſt und Schlafſucht uͤbermannten ihn abwechſelnd.

Soll ich Dir ein huͤbſches Lied vorleſen aus dem Geſangbuche? fragte er, um nur etwas zu ſprechen.

Nein, Anton, nein! Jetzt nicht. Jetzt mag ich nichts hoͤren. Jetzt koͤnnt ich’s doch nicht faſſen. Jch horche auf etwas Anders. Sei nur ſtill; horche nur auch, es wird ſich bald melden.

Was denn, liebe Großmutter?

Die Sterbeglocke, mein Sohn. Aber die mei - nige noch nicht. Mein Stuͤndlein hat noch nicht geſchlagen. Jn einer ſo regnichten wuͤſten Nacht laͤßt unſer Herrgott meine arme Seele nicht ſcheiden. Mir vergoͤnnt er einen Sonnenſtrahl, auf dem ſie hinauf ſchweben kann! .... Nein, Anton: der Baron der Baron hoͤrſt Du ihn? Er fluchte graͤßlich!

13 *196

Du phantaſierſt, Großmutter! rief Anton angſt - erfuͤllt. Und kaum hatte er’s gerufen, ſo drang der erſte Ton des wohlbekannten Todtengelaͤutes durch die Seufzer des Regenſturmes.

Das iſt wirklich und wahrhaftig die Sterbeglocke!? ſprach er.

Onkel Naſus iſt todt! ſagte die Alte.

Arme Tieletunke! fuͤgte Anton hinzu. Die Tur - teltaube ſtieß ein aͤngſtliches Gurren aus.

Die Glocken bebten fort, ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, je nachdem der wechſelnde Wind ſich wendete.

Der Wind ſpringt auch herum, wie wenn er nicht wuͤßte, was mit ihm werden ſoll. Aber bald ſetzt er ſich feſt, im Morgen; das ſpuͤr ich an meinen Gliedern. Dann haben wir helles, klares Wetter. Morgen den ganzen Tag. Und dann einen ſchoͤnen reinen Herbſtabend. Einen ſchoͤnen Abend, mein Anton, mit buntem Blaͤtterwerk, wie gemalt. Roth - kehlchen, Schneekoͤnige und Blaumeiſen in den Straͤuchern. Ach, wie ſanft wird ſich’s da ſterben! Weine nicht, Anton! Jch will mein Lieblingslied beten, vom alten Benjamin Schmolck, den Deines Großvaters Vater als Schuͤler in Schweidnitz noch gekannt, den er mit zu Grabe getragen hat. Deinem197 ſeligen Großvater mußt ich dieſes Lied vorſprechen, wie er ſtarb. Daran will ich mich jetzund laben:

Jch habe Luſt zu ſcheiden,
Mein Sinn geht aus der Welt;
Jch ſehne mich mit Freuden
Nach Zions Roſen-Feld.
Weil aber keine Stunde
Zum Abſchied iſt benennt,
So hört aus meinem Munde
Mein letztes Teſtament.
Gott Vater! Meine Seele
Beſcheid ich Deiner Hand,
Führ ſie aus dieſer Höhle
Jn’s rechte Vaterland.
Du haſt ſie mir gegeben,
So nimm ſie wieder hin,
Daß ich im Tod und Leben
Nur Dein alleine bin.
Was werd ich, Jeſu, finden,
Das Dir gefallen kann?
Ach, nimm Du meine Sünden,
Als ein Vermächtniß an:
Wirf ſie in Deine Wunden,
Jn’s rothe Meer hinein,
So hab ich Heil gefunden
Und ſchlafe ſeelig ein.
Dir, o Du Geiſt der Gnaden,
Laſſ ich den letzten Blick.
Werd ich im Schweiße baden,
198
So ſieh auf mich zurück.
Ach, ſchrei in meinem Herzen,
Wenn ich kein Glied mehr rühr,
Und ſtell in meinem Herzen
Mir nichts, als Jeſum, für.
Jhr Engel, nehmt die Thränen
Von meinen Wangen an:
Jch weiß, daß Euer Sehnen,
Sonſt nichts vergnügen kann.
Wenn Leib und Seele ſcheiden,
Tragt mich in Abra’ms Schoos,
So bin ich voller Freuden,
Und aller Thränen los.
Euch aber, meine Lieben,
Die ihr mich denn beweint, ...

(Hier ſtuͤrzte Anton laut weinend nieder und legte ſein Geſicht an die Haͤnde der Großmutter.)

Euch hab ich was verſchrieben:
Gott, euren beſten Freund.
D’rum nehmt den letzten Segen,
Es wird gewiß geſcheh’n,
Daß wir auf Zions Wegen
Einander wiederſeh’n.
Zuletzt ſei Dir, o Erde,
Mein blaſſer Leib vermacht,
Damit Dir wieder werde,
Was Du mir zugebracht.
Mach ihn zu Aſch und Staube,
Bis Gottes Stimme ruft!
199
Denn dieſes ſagt mein Glaube:
Er bleibt nicht in der Gruft.
Dies iſt mein letzter Wille,
Gott druͤckt das Siegel d’rauf.
Nun wart ich in der Stille,
Bis daß ich meinen Lauf
Durch Chriſti Tod vollende,
So geh ich freudig hin,
Und weiß, daß ich ohn Ende
Des Himmels Erbe bin.

Als ich dieſes ſchoͤne Lied meinem Alten vorgeſagt, iſt er freundlich eingeſchlafen. Und ſo wollen wir es alleweile auch machen, Anton, Du wie ich, damit wir morgen friſch und tapfer ſein moͤgen fuͤr unſeren Abſchied. Die Unruhe ſo in mir gewirthſchaftet iſt beſchwichtiget. Der liebe Gott hat es gut mit mir vor.

Sie wendete ſich ein wenig nach der Seite hin und ſchlief wirklich zu ſtillem Schlummer ein.

Aber immer auf’s Neue ſetzte die Sterbeglocke an. Keine Frage mehr, das galt dem Grundherrn.

Der Baron von Kannabich auf Liebenau, vulgo: Onkel Naſus, liegt auf ſeinem weichgepolſterten Lehn - ſtuhl, regungslos und todt, wie ein anderer Leichnam. Jhm zur Seite weilt, das ernſte Antlitz ſorgenſchwer uͤber ihn gebeugt, Paſtor Karich, der ſich fruchtlos200 bemuͤhete ſeines alten Goͤnners und Freundes letzten Stunden Faſſung und maͤnnliche Wuͤrde zu empfeh - len. Weinend ſitzen Linz und Miez in der Bruͤſtung des Fenſters und es iſt ſchwer zu beſtimmen, ob ihre Thraͤnen dem Tode des Vaters, ob ſie ihrer eigenen ſchwarzumflorten Zukunft gelten.

Wer ſich unmittelbar nach dem Verſcheiden des Freiherrn auf ihr Zimmer begeben und dort eingerie - gelt hat, iſt Ottilie.

Jhrer an ihn und an die Großmutter gerichteten, nur halb verſtandenen Abſchiedsworte gedenkend, kniet Anton noch immer vor dem Bett ſeiner ſchla - fenden Wohlthaͤterin und wie er jeden Athemzug der Theuren bewacht, angſtvoll lauſchend, ob es nicht gar der letzte ſei, richtet er zugleich ſeine Theilnahme doch auch auf das Schloß hin, wo er Ottilien weis, die, wie ihm die Glocken verkuͤndet, einen Vater ver - lor. Wenn ſchon keinen kindlich geliebten, vaͤterlich liebenden, doch einen Vater!

Dort iſt’s auch aus, dacht er bei ſich, vorbei fuͤr immer, mit Allem was Freude heißt. Die Fraͤulen koͤnnen das Gut nicht behaupten. Die ganze Familie ſtuͤrtzt zuſammen. Der Verwalter ſchuͤttelt ſchon lange den Kopf. Aus den gnaͤdigen Baroneſſen wer -201 den arme Leute, wie Unſereins. Am Ende nehmen ſie noch Puſchel und Rubs zu Maͤnnern. Das waͤr eine Geſchichte! Und Tieletunke? ... Ja, die iſt am Schlimmſten d’ran. Faſt ſo ſchlimm wie ich.

Von dieſem letzten Gedanken gelangte unſer betruͤbter Denker, mit dem die fluͤchtige Phantaſie ohne - hin gar zu gern auf - und davon ging, immer tiefer in’s Gebiet der Moͤglichkeiten und Unmoͤglichkeiten, bis er ſich zuletzt in kuͤhne, wunderbarliche Luftſchloͤſ - ſer verirrte, in deren allerſchoͤnſtem ihm der holde Schlaf, ſeinem haͤßlichen Bruder Tod ſo nahe, die Stirn beruͤhrte und ſprach: hier weile und traͤume!

Da lagen ſie nebeneinander: die Großmutter, ſchon im Arme des Todes, der noch einmal die Geſtalt des Schlafes angenommen, auf ihr Lager hingeſtreckt wie auf eine Bahre; zu ihren Fuͤßen knieend der jugendliche Enkel, umſchlungen vom Schlafe, wel - cher zum Bruder Tod hinuͤber laͤchelte, als wollt er ihm andeuten: Du ahm’ſt mich taͤuſchend nach!

Beide, die alte Frau, wie Anton, erwachten zugleich.

Als der Juͤngling, der den Tod bereits zu kennen waͤhnte, und ihn doch nicht kannte, ſeiner Großmut -202 ter guten Morgen wuͤnſchte, nahm er die fromme Faſſung, welche aus ihren Zuͤgen auf ihn ſtrahlte, fuͤr neue Lebenskraft. Du biſt beſſer, viel beſſer, jubelte das treue Herz ihr entgegen; der Schlaf hat Dich geheilt; Deine Krankheit iſt gebrochen! Ganz anders ſchau’ſt Du darein, als heute Nacht. Gott ſei gelobt, Du lebſt und wirſt noch lange leben!

Sicherlich, mein Sohn, antwortete ſie, leben werd ich. Und was noch mehr: mein wahres Leben wird erſt beginnen. Davon ſpaͤter. Jetzt geh und gieb dem Vieh draußen ſein Biſſel Futter. Vergiß auch die Turteltaube nicht. Die iſt Tieletunke’s Liebling.

All jene kleinen Wirthſchaftsmuͤhen, die nun Anton’s Fuͤrſorge oblagen, nahmen ihn faſt den gan - zen Tag uͤber in Anſpruch. Er ging ab und zu, nach jeder haͤuslichen Verrichtung wieder einmal zur Mut - ter laufend, um zu fragen, was ſie wuͤnſche und beduͤrfe.

Solch ein Herbſttag iſt kurz. Wenn ſeine Sonne ſich einmal zu neigen beginnt, iſt ſie geſchwind hinab. Das giebt die ſchoͤnſte Feierſtunde im kleinen wohn - lichen Raume. Zu dieſer fand ſich auch Anton mit203 freundlichem Geſichte ein. Er nahm Platz bei’m Bette, ſo daß er der Alten gerade in’s Auge ſah.

Durch allerlei Stubengewaͤchſe und Blumenkram drangen Sonnenſtrahlen in’s Gemach, die Haͤlfte deſſelben mit ihrem Glanze feſtlich zu ſchmuͤcken. Frau Hahn laͤchelte blinzelnd hinein. Anton wollte den Laden ſchließen. Sie aber ſprach: laß nur! Das blendet mich nicht. Jch ſagt es Dir ja geſtern, mein grundguͤtiger Gott werde mich nicht in finſterer Sturmnacht abrufen? Er ſendet mir ſein Licht bei’m Ausgang aus dieſer Erdenwelt. Jetzund, mein Junge, laß uns herzlichen Abſchied nehmen und unterbrich mich nicht durch Jammergeſchrei. Du hoͤrſt es gern, wenn ſie Dich einen jungen Mann heißen; zeige heute, daß Du es biſt. Mein Lebensoͤl iſt ausge - brannt; die Lampe will verloͤſchen. Jch ſcheide von Dir mit einer Seele voll inniger Liebe. Was ich fuͤr meinen ſeeligen Mann, was ich fuͤr Deine Mutter gefuͤhlt, das hab ich gleichſam auf Dich uͤbertragen. Du warſt mir Eh’gemal und Kind zugleich, Du warſt mir Alles. Jch hoffe mein Betragen hat Dich deſſen ſtets verſichert. Dieſe Liebe nehm ich mit mir hinuͤber und lege ſie nieder vor Gottes Thron. Aber auch meinen Dank nehm ich mit, meine Dankbarkeit204 fuͤr Dich. Du warſt immer gehorſam, ſorgfaͤltig, anhaͤnglich; Du haſt mich nie betruͤben wollen; Du biſt ein fleißiger, ordentlicher Junge. Was ſonſt in Dir rumort, Deine verwunderlichen Jdeen und Sa - chen, dafuͤr kannſt Du nicht. Das iſt angeboren; das ſagt mir mein geſunder Menſchenverſtand. Der Hirſch iſt kein Schaf und ein Pferd kann keine Kuh werden. Es kommt nur darauf an, daß man ſich einen Zaum anlegt; daß man ſich beherrſchen lernt. Und das wirſt Du lernen, mein Alter, mit den Jah - ren, mit der Zeit. Wenn ’s zu arg in Dir tobt, wenn des Vaters und der Mutter Gebluͤte Dich turbiret, dann gedenk an die Großmutter; gedenk an ihre letzten Worte. Nicht wahr, das thuſt Du? Und noch einen Kuß gieb mir, Anton, einen herzlichen Kuß, wie Du mir jeden Abend gegeben, bevor Du in Deine Schlummerſtaͤtte gingſt. Du wirſt noch viele Kuͤſſe geben und empfangen; gar manchesmal werden Deine Lippen an einem jungen, friſchen Munde hangen; das iſt ſchon nicht anders bei euch nichtsnutzigen Mannsbildern und der Beſte von euch taugt nicht viel, wie mir ſogar mein ſeeliger Hahn eingeſtan - den; .... aber kein Kuß wird ſo redlich gemeint ſein, wie dieſer letzte Kuß, den Deine alte Großmutter205 giebt und empfaͤngt in ihrem Todesſtuͤndlein! So, ſo, mein armer Junge! Laß mir die Hand. Und gruͤße Tieletunke, wenn Du ſie ſiehſt. Und gruͤße den Herrn Paſtor. Jch wollt ihn nicht zu mir bemuͤhen. Denn erſtlich werden ſie ihn auf dem Schloſſe brauchen, und dann ehrlich zu reden, ich brauch ihn nicht. Den einzigen Gram, den ich in meine Bruſt verſchloſſen mit mir nehme, kann der gute Mann mir doch auch nicht loͤſen. Und im Uebrigen weiß ich, woran ich bin. Nein, ich fuͤrchte mich nicht. Es ſtirbt ſich ja ſo gut, die treue Hand des redlichſten Sohnes in erſterbenden Haͤnden, wie ich die Deine halte .... Deine Thraͤnen fallen ſanft auf mein Antlitz; ſie ſind wie Morgenthau. Siehſt Du die Sonne ſinken? Du meinſt, ſie ſchwindet? Nicht doch, ſie ſteigt empor! Sie nimmt mich mit ſich. Jch werde die Nacht nimmer ſehen. Jch bleib im Licht! Jm Licht, mein Anton!

Jhre Zunge bewegte ſich noch; Worte vernahm er nicht weiter. Ein heiſeres Roͤcheln ſtellte ſich ein. Dieſes waͤhrte nur wenige Minuten. Dann oͤffneten ſich die ſchon geſchloſſenen Augen noch einmal, ſie hefteten ſich feſt auf den geliebten Knaben. Ein ver - klaͤrendes Laͤcheln zog um den tiefeingefallenen Mund,206 ein Seufzer blies die alten Lippen auf; ein Druck der Haͤnde begleitete ihn

Anton’s Großmutter war todt.

Siebzehntes Kapitel.

Onkel Naſus und Mutter Gokſch werden begraben.

Jch weiß nicht woher es kommt und welche Art von Ehre die ſogenannten Vornehmen darein ſetzen, daß ſie ihre Verſtorbenen ſo ſpaͤt als moͤglich begraben laſſen! Jn manchen Gegenden wenigſtens hegt man dieſe ſeltſame Gattung von Eitelkeit. Sollt es Furcht vor dem Scheintode ſein? Jch glaube kaum; denn ich ſelbſt habe oft genug Leichenbegaͤngniſſen beiwoh - nen muͤſſen, wo man ſich ſchon einige Tage vorher, durch allzu kraͤftig duftende Beweiſe, von der unzwei - felhaften Aufloͤſung alles Jrdiſchen uͤberzeugen koͤnnen. Es mag wohl daher kommen, daß Zuruͤckbleibende entweder wirklich wuͤnſchen, die leiblichen Ueberreſte der Jhrigen noch in ihrer Naͤhe zu wiſſen, oder, daß ſie es fuͤr ſchicklich halten, dieſen Wunſch mindeſtens vorausſetzen zu laſſen. Und weil denen, welche ihren Verhaͤltniſſen gemaͤß, groͤßere Raͤume, bequemere Wohnungen inne haben, es leichter wird, ein abge -207 ſondertes Leichenzimmer einzurichten, ſo bleibt ihnen auch hierin ein trauriger Vorzug vor den Aermeren und Geringeren, die gezwungen ſind Luft zu machen, damit ſie ſelbſt nur wieder leben und wirken koͤnnen.

Anton hielt ſich herkoͤmmlicher Weiſe an den drit - ten Tag, wobei er jedoch den eigentlichen Todestag nicht mitrechnete; und dadurch geſchah es, daß des freiherrlichen Gutsherrn und der Kantorswittwe Be - ſtattung in einen und denſelben Nachmittag fiel. Eine ſeltene Begebenheit fuͤr Liebenau: zwei Leichen unmittelbar hinter einander!

Eben kamen die leidtragenden Toͤchter aus der Erbgruft wieder an’s Tageslicht, als zwei Traͤger mit dem Sarge der Frau Hahn in den Friedhof traten. Anton wankte hinter dieſem Sarge her, wie bewußt - los. Puſchel und Rubs, die ſich ſeines Schmerzes, ſeiner Rathloſigkeit huͤlfreich angenommen, leiteten ihn. Das ganze Dorf war noch beiſammen von der Beiſetzung des Baron’s. Es blieb verſammelt, fuͤr das Begraͤbniß der Mutter Gokſch. Blos daß die Leute ſich umwendeten, von der Gruft unter der Kirche weg, um ſich dem Grabe im friſchen Erdboden zu zukehren. Das war Alles. Auch die drei Ba - roneſſen ſtellten ſich dahin. Paſtor Karich ſtand ſchon208 am offenen Grabe. Er redete nur wenig zum Andenken der Verſtorbenen; doch dies Wenige ſcheint mir eigenthuͤmlich genug, damit es hier ein Plaͤtzchen finde!

Jch habe, ſo lautete die Trauerrede fuͤr Anton’s Großmutter, jetzt eben meinen aͤlteſten Goͤnner und hohen Freund, unſern gnaͤdigen Grundherren, zur ewigen Ruhe eingeſegnet, indem ich fuͤr ſelbigen, kraft meines Amtes als berufener und verordneter Diener Gottes, die Gnade des Himmels erflehete und barmherzige Verzeihung Alles deſſen, was menſchlich - ſuͤndhaft an ihm geweſen. Er iſt geſtorben, ohne ſeinen Frieden mit der Ewigkeit abzuſchließen; darum iſt ſein Ende mir ein zweifacher Schmerz.

Hier dagegen ſtehen wir am Grabe einer ſo red - lichen, ſanften, verſtaͤndigen und dabei beſcheidenen Frau, daß ihr Beiſpiel Allen empfohlen werden kann, die noch auf Erden wandeln. Waͤhrend ſie hier unter uns lebte hat niemand eine boͤſe Rede, ein hartes Wort von ihr gehoͤrt, niemand eine uͤble That von ihr geſehen. Wie ſie lebte iſt ſie geſtorben, im frohen Vertrauen auf die ewige Macht, welche Alles leitet und lenkt.

Sie hat einen Enkel hinterlaſſen, der ihrer wuͤrdig209 iſt. Jhr Seegen ruht auf ihm! Anton, im Namen Gottes ruft ein alter Mann Dir zu, daß die ganze Gemeinde es hoͤre! Deiner Großmutter Seegen wird Dich begleiten durch’s Leben. Welche Ver - ſuchungen, welche Pruͤfungen, welche Leiden Dir etwa vorbehalten ſein moͤgen, Du wirſt uͤber alle ſiegen und zuletzt gluͤcklich ſein, ſo gewiß die Seele ſeelig iſt, deren Huͤlle wir jetzt verſenkt haben!! Laßt uns ein ſtilles Gebet ſprechen und kehre dann ein Jedes an ſeinen Heerd. Amen.

Nachdem das Gebet vollendet war, draͤngten ſich Alt und Jung herbei, ihre drei Handvoll Erde auf den Sarg zu werfen. Anton blieb unbeweglich, bis Keiner mehr zuruͤck war. Dann warf er ſeine Spende hinab. Und wie er ſo ſchweigend, ſtill, denn Thraͤnen hatten ſeine Augen nicht mehr, in’s Grab ſtarrte, trat Ottilie an ihn heran.

Toni! rief ſie laut, daß die Leute ringsumher es hoͤrten und auf beide blickten.

Er ſchrack zuſammen und ſah ſie fragend an.

Sie umſchlang ſeinen Kopf mit beiden Haͤnden, druͤckte einen langen Kuß auf ſeine Stirn und ſagte: Leb wohl! Hierauf folgte ſie ihren Schweſtern. Das Gewuͤhl zerſtreute ſich.

Die Vagabunden. I. 14210

Anton blieb am Grabe bis es voͤllig geſchloſſen und der Huͤgel aufgeworfen war, der noch vor Abend mit ſorgfaͤltig ausgeſtochenen Raſenſtuͤcken bedeckt wurde.

Achtzehntes Kapitel.

Unſer Held geräth mit der Juſtiz in Widerſtreit und verläßt Liebenau.

Wenn die Sterbenden wuͤßten wie das, was ſie ihren letzten Willen nennen, ſo oft ganz anders als ſie meinten, oder gar nicht zur Ausfuͤhrung gelangt, ſie wuͤrden, fuͤrcht ich, ſtatt jenes letzten Willens einen letzten Unwillen kund geben. Wie viele Vermaͤcht - niſſe, worin den Zuruͤckbleibenden Einigkeit und gegen - ſeitige Duldung geboten; wie viele Teſtamente, in denen Pietaͤt und Foͤrderung fuͤr begonnene Unter - nehmungen an’s Herz gelegt; wie viele Hinterlaſſen - ſchaften, deren weiſe, der Menſchheit erſprießliche Verwendung ausbedungen ward?! Ach, und kaum iſt der Mund verſtummt, der dies anordnete; kaum die ſeegensreiche Hand erkaltet, die es niederſchrieb; kaum zwei Augen geſchloſſen, welche daruͤber wach - ten; daß auch ſchon Mißgunſt, Selbſtſucht, Eigen - nutz, Verſchwendung den beſten Vorſchriften falſche211 Deutung geben und Auswege finden, ſie zu umgehen! Man vernimmt haͤufig im Volke jenes albern-klingende Wort: wenn der Verſtorbene das wuͤßte, im Grabe wuͤrd er ſich umkehren! Und ſo albern es klingt, es iſt uns Allen gewiß auch ſchon wider unſern eigenen Willen auf die Zunge gekommen, wenn wir mit an - ſehen mußten, wie herzloſe Erben, oder auch der große Zeitgeiſt unter ihre Fuͤße traten, was edle Stifter auf immer zu gruͤnden bemuͤht geweſen.

Bei unſerem Anton war das nun freilich ein an - derer Fall. Er wuͤrde aus freiem eigenen Willen nichts unternommen haben, was er mit ſeiner Anhaͤng - lichkeit fuͤr die Verſtorbene nicht vereinbar gefunden. Man zwang ihn dazu.

Einige Wochen waren ihm unter Arbeit und truͤ - bem Sinnen verſtrichen; der wilde Schmerz fing an ſich in wehmuͤthiger Trauer zu beſaͤnftigen; mitunter zuckte auch ſchon wieder ein Blitz jugendlich-feuriger Lebensluſt ihm durch die Adern, doch er gedachte an die Warnungen ſeiner Sterbenden und ergab ſich entſagender Geduld.

Vom Schloſſe vernahm er nur durch Andere. Der Bankerott war erklaͤrt. Die natuͤrlichen Erbinnen des Baron’s wagten nicht, ihre Rechte in Anſpruch14 *212zu nehmen: ſie traten von der gefaͤhrlichen Erbſchaft zuruͤck. Ueber Ottilien hoͤrte er gar nichts. Die Paſtorſoͤhne waren zur Univerſitaͤt abgereiſet; der alte Paſtor in großer Angſt, wie er ſie genuͤgend bei ihren Studien unterſtuͤtzen ſolle. Jede Verbindung nach Außen ſchien fuͤr Anton abgebrochen; er auf ſeine Werkſtatt im ſtillen Haͤuschen beſchraͤnkt. Und aus Dankbarkeit, aus kindlicher Liebe fuͤr die alte Frau ſucht er ſich einzureden, daß er ſich nach und nach darein finden muͤſſe. Deshalb gelang es ihm bis - weilen, ſeine Einſamkeit lieblich auszuſchmuͤcken, wenn er ſich lebhaft vorſtellte, Tieletunke ſei die Tochter eines armen, geringen Mannes im Dorfe, eines emeritirten Schullehrers etwa ſie trete bei ihm ein und ſpreche: mein Vater iſt nun auch geſtorben; willſt Du mich aufnehmen? Darauf wuͤrde er mit ſanftem Erroͤthen erwiedern: Gern, Ottilie! Und wuͤrde ihr der ſeeligen Großmutter Zimmer uͤberlaſſen, ſie bedienen, fuͤr ſie ſorgen, ſie Braut nennen und da - bei Koͤrbe machen ohn Ende. Dies eingebildete Gluͤck dauerte denn jedesmal bis ihm die Erinnerung an ihren Kuß bei’m Grabe und an ihr: Leb wohl! wieder wach wurde. Der Ton, womit ſie jenes Ab - ſchiedswort geſprochen, war zu beſtimmt, zu deutlich. 213Die freundlichen Bilder entſchwanden; er begann voll zorniger Kraft eine neue Arbeit und die armen Wei - denruthen mußten dafuͤr buͤßen, daß er allein und einſam ſaß.

Entſchiedenen Groll hegte und naͤhrte er in ſeinem ſonſt ſo liebreichen Gemuͤthe gegen die ſogenannten Gerichte und die Juſtizherren! Die Weiber, die ihm Arbeit zubrachten, ließen oft ein Wort daruͤber fallen, daß es auf dem Schloſſe gar ſo ſchlimm her - ginge, ſeitdem die Gerichte eingeſchritten waͤren. Unter Gerichten dachte ſich Anton nun boͤſe alte Maͤnner in ſchwarzen Kleidern, welche vielen Men - ſchen, zunaͤchſt aber Ottilien, jedes gebrannte Herze - leid zufuͤgen duͤrften. Mir ſollten ſie nur kommen, pflegt er oft auszurufen, indem er den kleinen Ham - mer ſchwang, womit er ſeine Hoͤlzer bearbeitete, wie wenn er mit dieſem die ganze hochloͤbliche Gerechtig - keit des Landes zuſammen zu klopfen beabſichtige.

Als ſie aber in Wahrheit zu ihm kamen, o wie ſchnell entſank ihm der Hammer!

Die Lage der Dinge machte ihr Erſcheinen un - vermeidlich. Frau Wittwe Hahn, genannt Gokſch, hat kein Teſtament hinterlaſſen. Sie iſt fremd in Liebenau angekommen, hat eine Freiſtelle erkauft, auf214 dieſer mit einem Enkelſohne gelebt und iſt geſtorben, ohne eine ſchriftliche Spur ſeiner Herkunft irgend einer Behoͤrde zu uͤberreichen. Man weiß kaum, woher ſie kam, kennt ihre fruͤheren Verhaͤltniſſe nicht und der Einzige der davon wußte, dem ſie ſich bei ihrer Ueberſiedlung als Grundherrn und Obrigkeit von Liebenau entdecken mußte, hat, was nur ihm bekannt geweſen, mit genommen in den Aufenthalt des Schweigens. Anton iſt ein uneheliches Kind; das geſteht er, auf ſcharf-dringende Fragen mit toͤdt - licher Verſchaͤmtheit zu. Seine Mutter wuͤrde geſetz - maͤßige Erbin ſein. Erſt von dieſer koͤnnte er em - pfangen, was, wie er waͤhnte, ſchon ihm gehoͤrte. Aber wo iſt dieſe Mutter? Sie ſoll bei einer Ueber - ſchwemmung ertrunken ſein! Dieſes ſie ſoll kann dem Gerichtshalter keinesweges genuͤgen. Wo blieb ihr Todtenſchein? Und ſind nicht vielleicht noch an - dere Verwandte am Leben, die Anſpruͤche zu machen haͤtten? Dieſe muͤſſen aufgerufen werden! Man muß Erkundigungen einziehen. Fuͤr’s Erſte muß ein Kurator eingeſetzt werden, der die Hinterlaſſenſchaft verwaltet. Anton, als noch unmuͤndig, muß einen Vormund bekommen.

Dieſe und andere Anordnungen des unerbittlichen215 Geſetzes drangen ihm wie eiſerne Klammern verwun - dend und beengend in die Bruſt. Als Kurator der Maſſe, (ſo nannten ſie zu ſeinem hoͤhniſchen Gelaͤchter Garten und Haus und Vieh) beſtellten ſie wen? Den alten Korbmacher am andern Ende des Dorfes, den einzigen Gegner den Anton kennt; den brodneidigen Knauſer, der ſeinen jungen Neben - buhler als Pfuſcher und Eindringling haſſet, denn Anton war niemals bei ihm in der Lehre geweſen; hatte ſein Handwerk durch eigenen Antrieb und Fleiß erlernt. Dafuͤr nannt er’s auch eine freie Kunſt.

Die Maͤnner des Geſetzes meinten es gut mit dieſer Wahl, weil ſie von dem Grundſatz ausgingen, Jener, als Handwerksgenoſſe, ſei am beſten dazu be - faͤhiget. Sein Vormund wurde der gute Paſtor. Das waͤre vielleicht ein ausgleichendes Gegengewicht geweſen, wenn nur der alte Karich durch die Umwaͤl - zungen auf dem Schloſſe, durch ſeine Armuth, denn die Pfarre trug blutwenig und Gebuͤhren zu erpreſſen war er zu barmherzig, und der Soͤhne Beduͤrfniſſe, nicht ſo ſchwer darnieder gebeugt worden waͤre. Er beſaß die Kraft nicht mehr, fuͤr Anton’s Rechte maͤnnlich einzuſchreiten; er begnuͤgte ſich achſel - zuckend dem Rechte ſeinen Lauf zu laſſen.

216

Von der Stunde an, wo Anton wußte, daß er nicht mehr Herr ſei im Hauſe der Großmutter; daß es nicht unbedingt ihm gehoͤre, daß dem Kurator die Berechtigung zuſtehe, ihn unter dem erſten naͤchſten Vorwande hinauszuweiſen; fand er ſich auch nicht mehr heimiſch darin. Es litt ihn nicht. Die Arbeit ekelte ihn an. Er mochte nicht mehr im Zimmer weilen. Bei ſchlechtem wie gutem Wetter, gleichviel! trieb er ſich im Walde herum; am liebſten dort, wo außer ihm keine Menſchen weiter zu wandeln pflegten. Streichende Herbſtvoͤgel begegneten ihm heerdenweiſe, wie ſie von einem Ort zum andern zogen. Jhr Bei - ſpiel regte in ihm die oͤfters ſchon geahnete Wander - luſt auf. Manchmal trieben ihn kalte Nebel, wie Regen herabſinkend, Baͤume und Straͤuche vollends entblaͤtternd, froſtig heim. Kaum aber zeigte ſich wieder die Sonne, ob auch matt und bleich, war er auch wieder da draußen; ruͤhrte ſich auch wieder ein ungewiſſer Drang in ihm, ſein Heil in weiter Welt zu verſuchen.

Am erſten November, bei ſchoͤnem Wetter und ſo reiner, milder Luft, als ob es auf den Fruͤhling zu - ginge, lockte ihn der unbeſiegbare Trieb, aus dunklem Foͤhrenwalde, der ihm ſo wenig Sonne und Licht217 zukommen ließ, uͤber die Grenzen der Herrſchaft hin - aus nach einem Huͤgel hin. Einem Huͤgel, welcher jenſeits der Waldungen dieſe von fruchtreicheren Ebenen ſcheidet, und den man, wahrſcheinlich nur weil ihm kein hoͤherer Nachbar zur Seite ſteht, in der Umgegend Berg betitelt. Der Eichberg heißt er. Von dort hinab oͤffnet ſich eine Fernſicht in weite Flaͤchen. Anton war niemals auf ſeinen Spazier - gaͤngen bis dahin gedrungen; wie er denn uͤberhaupt an die Heimath gebannt, ſeiner Pflegerin Haͤuschen fuͤr den Mittelpunkt der Welt mindeſtens der ſeinigen gehalten.

Heute kam, ohne beſtimmten Anlaß, ihm die unwiderſtehliche Luſt, auf den Eichberg zu gehen. Die Richtung, die er verfolgen mußte, ihn zu erreichen, war ihm wohl bekannt. Nach anderthalb Stunden ſchon ſtand er auf dem abgeplatteten Gipfel des oͤden Huͤgels, den nur noch etliche von Zeit, Sturm, Wet - ter und Blitz zertruͤmmerte, morſche Eichſtaͤmme ver - unzierten. Ruͤckwaͤrts gewendet uͤberſah Anton jene Waͤlder, die er ſeit fruͤheſter Kindheit ſo vielfach durch - ſtrichen. Nur die Kirchthurmſpitze von Liebenau blickte daraus hervor. Nach der andern Seite hin ſah er Aecker, Baͤche, Wieſen, Doͤrfer, ja ſogar einige218 kleine Staͤdte. Drei Meilen und noch weiter blickte man in’s Land hinein! Zum erſtenmale im Leben nahm er wahr, was er fuͤr eine große Landſtraße halten mußte; was ſich aber von oben betrachtet nur wie ein graues Band durch Triften und Felder ſchlang.

Noch eine Stunde Weges und ſeine Fuͤße beruͤhrten den Boden jener Straße !

Dieſer Gedanke lebhaft und immer lebhafter wie - der gedacht, ergriff ihn endlich mit wildem, niemals empfundenen Entzuͤcken, welches, nachdem es erſt langſam und lange in ſeiner Bruſt geglimmt, auf einmal in hellen Flammen ausbrach.

Mit halbwahnſinnigem Jubelgeſchrei, vor deſſen Gewalt ſaͤmmtliche Kraͤhen auf den duͤrren Eichen des Berges kraͤchzend die Flucht ergriffen, machte der Juͤngling ſeinen neuen Empfindungen Luft.

Hinaus, rief er, die Muͤtze hoch emporſchleudernd, hinaus! Dort liegt die Welt vor mir! Jch will in die Welt! Sie nehmen mir das Haus, welches mir die Großmutter als freies Eigenthum beſtimmte. Sie wollen mich wieder zum Kinde machen, den ſie fuͤr einen Mann erklaͤrte! Sie ſtuͤrzen ihr Teſtament um! Jch bin frei! Hinaus in die Welt! Jch will auch erfahren, wie’s im großen Leben zugeht! Jch will auch219 leben! Jch hab ein Recht dazu: ich bin jung! ich bin kraͤftig! und haͤßlich bin ich auch nicht. Tiele - tunke kann ja doch nicht mein werden. Was ſoll ich in Liebenau? Jch hab keine Heimath mehr. Die Welt iſt meine Heimath! Hinaus in die Welt!

Waͤre nicht ſeine Muͤtze, die er bei jedem erneuten Anſatz der Lungenfluͤgel immer wieder den Sternen zuſchickte, endlich ſo vernuͤnftig geweſen an einem knorrigen Aſte haͤngen zu bleiben, wodurch Freund Anton genoͤthiget wurde, ſie herabzuholen, wer mag berechnen, wie lange ſein Toben die Kraͤhen noch beunruhiget haben wuͤrde? Das beſchwerliche Erklet - tern des dicken, nicht zu umſpannenden Stammes bracht ihn ein wenig aus der Raſerei; er fing an zu uͤberlegen, daß er, um in die Welt zu ziehen, noth - wendig einige Anſtalten treffen muͤſſe. Wie er da ging und ſtand konnt er nicht hinein laufen, das ſah er ein. Er warf alſo noch einen raſchen, ſcharfen Blick nach der Landſtraße; gleichſam um ſich zu ver - gewiſſern, daß ſie ihm unterdeß nicht abhanden kom - men ſolle, und trat ſodann ohne Zoͤgern den Ruͤckweg an nach Liebenau.

Die Kraͤhen des Eichberges erklaͤrten ſich ein -220 ſtimmig einverſtanden mit der Entfernung des unge - betenen, ſtoͤrenden Gaſtes.

Wer etwa Columbus geſehen, als dieſer ſeine neue Erde im Geiſte, kurz vor der Einſchiffung, die Haͤnde auf dem Ruͤcken, mit gewaltigen Plaͤnen an - gefuͤllt, einherſchritt, der wird, wenn er Vergleiche anſtellen moͤchte, nur ein ſchwaches Seitenſtuͤck haben, wie ich befuͤrchte, fuͤr die Wichtigkeit und das Selbſt - gefuͤhl, welche der Korbmacherjunge auf ſeinem Heimwege vor den Voͤgeln des Waldes zur Schau trug. Er benahm ſich, wie wenn er die Welt, in die er kopfuͤber zu ſtuͤrzen gedachte, ſchon fuͤr ſich erobert haͤtte. Mitunter ging ein Zug kindlicher Wehmuth, ein Vorgefuͤhl kuͤnftigen Heimweh’s durch dieſe kuͤhne Haltung. Aber das redete er ſich immer bald wieder aus; und als er gar vor der Thuͤr ſeines (!?) Haͤuschens durch den Herrn Kurator, welcher einmal wieder zum Rechten ſehen wollen, derb ausgeſcholten wurde, daß er ſich umhertreibe und nicht zu finden ſei, wenn man ihn brauche! da ſchwand auch das letzte Reſtchen von Unſchluͤſ - ſigkeit.

Mit Einbruch der Nacht begann unſer Fluͤchtling221 die auf dem Ruͤckwege vom Eichberg erſonnenen und durchdachten Vorkehrungen zu treffen. Mutter Gokſch hatte zwar die Kaſſe gefuͤhrt, aber Anton ja ſchon ſeit Jahren mit erwerben helfen. Er hielt ſich folglich fuͤr berechtiget, an ſich zu nehmen, was an Gold - und Silber-Muͤnzen vorraͤthig, dem Ku - rator der Maſſe nicht uͤberliefert worden war. Ein Suͤmmchen von dreißig Thalern vielleicht. Damit, meinte er, komm ich bequem durch die ganze Welt! Seine beſten Kleider und gute Waͤſche ſchnuͤrt er in ein tuͤchtiges Buͤndel zuſammen. Alle uͤbrigen Effekten verſchloß er, vereinte ſaͤmmtliche Schluͤſſel durch ein Band, und bezeichnete ſie, nach ihren ver - ſchiedenen Beſtimmungen durch angeheftete Zettel. Weil er denn gerade beim Schreiben war, ſuchte er den feinſten, reinſten Bogen, der ſich etwa noch finden ließ, auf welchen er mit langſam gefuͤhrter Feder nach - folgende Zeilen ſtellte:

Mir haſt Du Dein Leb wohl! geſagt,
So will ich gehen.
Die Taube hier hat Dir behagt;
So mag ſie ſtehen
Jn Deiner Nähe allezeit.
Der ſie erzog, der iſt gar weit:
Du wirſt ihn nicht mehr ſehen,
Denn ich muß gehen.
222
Du ſagteſt nur ein Leb wohl mir,
Jch aber ſende tauſend Dir:
Leb wohl denn ich muß gehen.

Das ſo beſchriebene Blatt heftete er auf den Kaͤfig ſeiner Turteltaube, den er ſodann nach dem Schloſſe trug, wo bereits alle Kerzen geloͤſcht waren, außer in der Kammer des Kochs. Dort gab er ihn ab, nachdem er lange vergebens mit Steinchen an’s Fenſter geworfen, um den verſchlafenen Menſchen zu erwecken. Fuͤr’s juͤngſte Fraͤulein! fuͤgt er bei und verſchwand. Dann lief er wieder nach ſeinem Hauſe, hing ſein Gepaͤck um, ergriff den Schluͤſſel - bund, loͤſchte das Laͤmpchen, ſchloß die Thuͤren, und eilte, als ob er fuͤrchte, es koͤnne ihm noch leid werden, dem Pfarrhofe zu. Da ließ ihn die taube, ſechszig - jaͤhrige Magd ohne Weiteres ein, obwohl der Herr Paſtor ſchon laͤngſt zu Bette lag; denn ſchlafen (meinte ſie) thut er ja ſo nicht.

Sie irrte, die ehrliche Lieſe: er ſchlief. Anton kuͤßte dem wuͤrdigen Manne behutſam die Hand, legte ſeine Schluͤſſelſammlung auf den Stuhl am Bett; verſicherte beim Fortſchleichen die fragende Lieſe, daß ſchon ausgerichtet ſei, was er Seiner Ehr - wuͤrden, dem Herrn Vormund zu beſtellen gehabt; und jetzt wollt er eben den Seitenweg aus der223 Dorfgaſſe einſchlagen .... da fiel ihm der Kirchhof ein: das Grab der Großmutter!

Auf dem Huͤgel, den er wenige Tage zuvor mit einem Kreuze geziert, nahm er Abſchied von ihr, mehr in Thraͤnen, als in Gedanken. Nein, er dachte nicht, er fuͤhlte nur: Wenn ſie von mir weiß, wenn ſie jetzt um mich iſt, wird ſie mir verzeihen; ich kann nicht anders; ſie muß es ſelbſt einſehen. Nun, auf die Landſtraße!!

Neunzehntes Kapitel.

Das neue Leben beginnt. Und wie Anton einen andern Vormund bekommt.

Aller Anfang iſt ſchwer; auch der Anfang eines neuen Lebens. Hauptſaͤchlich bei Nacht, im Novem - ber, wo Einer mit einem ſchweren Pack auf dem Ruͤcken durch die Liebenauer und angrenzende Forſten wandern, und hinter ſich zuruͤck laſſen ſoll, was ihm bisher das Leben duͤnkte, was er aber jetzt fuͤr todt, fuͤr abgeſtorben betrachten will. Anton konnte ſich’s nicht ableugnen, daß mit jedem Tritte den er weiter that, ſeine Bangigkeit zunahm. Von dem Lebens - muthe, dem Unternehmungsgeiſte, dem beſeligenden Leichtſinn, wie er beim Sonnenſchein des Mittags oben auf dem Eichberge in ſich gefuͤhlt, war jetzt um224 Mitternacht keine Spur mehr vorhanden. Dagegen machten ſich vielfaͤltige Beſorgniſſe rege: wohin ſoll ich mich zunaͤchſt wenden? Wird man mir nicht von Liebenau wie einem Ausreißer nachſetzen? Wovon werd ich eſſen und trinken, wenn mein Geld aus - gegeben iſt? Wie kann ich gute Bekanntſchaften machen, die meinem Fortkommen foͤrderlich ſind? Wird man mich nicht vielleicht fuͤr einen Spitzbuben halten? Und wenn ſie mich nun einſperren? Oder ſie ſchicken mich gar nach Liebenau zuruͤck und der Ku - rator ſchlaͤgt mich zur Maſſe?

Mit derlei froͤhlichen Ausſichten ſchmuͤckte Antons lebhafte Phantaſie ihm die erſten Schritte in’s neue Leben aus. Die haͤßliche Novembernacht that das ihrige. Auch war ſeine Laſt viel zu ſchwer. Kenner haͤtten ihr auf den erſten Blick angeſehen, daß ein im Reiſen ungeuͤbter Anfaͤnger dieſen Vorrath von Waͤſche und Kleidungsſtuͤcken zuſammengerollt. Es druͤckte ihm den Buckel zuſammen, wie ſeine Be - ſorgniſſe ihm die Bruſt einſchnuͤrten. Und all ſeiner kindiſchen unnuͤtzen Angſt, daß er verfolgt und ein - geholt werden koͤnne, zum Trotz, legte er ſich im dickſten Nebel auf den Erdboden, um auszuraſten. Erſt nachdem er ſeinen Nacken von der ſchweren Laſt225 befreit und aus dieſer ein Ruhekiſſen fuͤr ſich gemacht, kam er dazu, Rechenſchaft von ſich ſelbſt zu fordern: in welchem Theile des Waldes er ſich denn befaͤnde? Bald wurde ihm deutlich, er ſei vom naͤchſten Wege zum Eichberg abgekommen und habe ſich verlaufen. Und wo lag er jetzt? O weh, wie gern er ſich’s auch verleugnen wollen, da half kein Zittern fuͤr’s Fieber! Er lag im Fuchswinkel! Er lag auf der naͤmlichen Stelle, wo er ſeinen eigenen Vater an den Galgen gewuͤnſcht, wo er dem verlorenen Sohn eines Ge - haͤngten die letzte Ruheſtaͤtte bereitet hatte!

Anton glaubte nicht an Geſpenſter. Jch darf Dir dieſe Zuſicherung ertheilen, Du aufgeklaͤrter, hoͤchſt gebildeter, uͤber jedes Vorurtheil erhabener jugendlicher Leſer aus dem 19. Jahrhundert nach Chriſti Geburt. Aber es erging ihm wie mir; und vielleicht ergeht es Dir, o Juͤngling des gelehrten Zweifels und des unbefriedigenden Wiſſens bisweilen nicht anders? Eben ſo wenig, als er an ſie glaubte, eben ſo ehrlich konnt er ſich vor ihnen fuͤrchten, wenn Zeit und Gelegenheit gerade guͤnſtig ſchienen. Deshalb meld ich es, ohne hoͤhniſches Laͤcheln: in dieſem Augenblick fuͤrchtete ſich mein Held gar unheldenhaft und entſetzlich vor dem ſchwarzenDie Vagabunden. I. 15226Wolfgang. Dabei fand er ſich in peinlicher Ver - legenheit, was er doch beginnen ſolle, dieſe alberne Furcht moͤglichſt zu verſcheuchen? Denn es blieben ihm nur zwei Mittel: die Augen feſt zu ſchließen, oder ſie weit aufzureißen. That er das letztere, ſo ſetzte ſich der ſchwarze Wolfgang in Perſon ihm gegenuͤber und er ſah des Sterbenden Antlitz deutlich, wie wenn’s am hellen Tage waͤre. That er das erſtere, ſo drehten ſich grinſende Larven und Fratzen um ſein ſchwindelndes Hirn, aus deren Kreiſe die Zuͤge ſeiner Lieben entſtellt und verzerrt auf ihn blickten. Weil es ihm gar zu ſcheußlich war, auch der Großmutter ehrwuͤrdiges Haupt mit tanzen zu laſſen, entſchloß er ſich, lieber aufzuſchauen. Wolf - gang wich und wankte nicht vom Platze. Mitten in ſeiner Pein dachte Anton doch immer: nun bin ich nur neugierig, ob ſo ein Ding auch ſprechen kann? Dieſer Gedanke ſetzte ſich auf die Laͤnge feſt bei ihm, daß er ihn zuletzt ausſprach und das Phantom end - lich gar anredete. Biſt Du was? rief er hinuͤber; biſt Du wirklich was? Und willſt Du was von mir? Sag’s! Jch hab ein gut Gewiſſen gegen Dich. Was ich Dir geloben mußte, hab ich erfuͤllt. Und mehr als das. Begraben hab ich Dich; der braunen227 Baͤrbel bin ich ausgewichen; und Deine todten Augen hab ich Dir zugedruͤckt, hier wo wir beide ſitzen. Warum ſperrſt Du ſie jetzt ſo weit auf? Willſt Du mich ſchrecken? Jch fuͤrcht mich nicht vor Dir; nein, nun gar nicht mehr! Du kannſt mir ja doch nichts an - haben. Aber begehrſt Du noch was, ſo ſag’s, dann wird’s geſchehn!

Je lauter ſich Anton in den friſch gewonnenen Muth hineinſprach; je feſter und zuverſichtlicher ſein Auge ſich auf den ſchwarzen Wolfgang richtete, deſto weiter ſchien dieſer von ihm zu ruͤcken, bis ſich das ganze Weſen gar in ein Nichts aufloͤſete und nicht mehr vorhanden war.

Steht es alſo mit euch, ihr Schreckbilder der Finſterniß? rief Anton; wenn man euch ernſtlich ent - gegentritt, dann macht ihr Platz? Das ſoll mir wieder eine Lehre bleiben. Vielleicht iſt’s nicht anders mit Allem, was mich im neuen Leben bedrohen will? Nur drauf! Bin ich nicht ein rechter Waſch - lappen geweſen, mir unnuͤtze Angſt einjagen zu laſſen? Hab ich nicht geſunde Glieder und ſtarke Knochen? Mit denen muß ich mich halt durchſchlagen. Wird ſchon gehen! Zuruͤck kann ich nicht mehr, alſo vor - waͤrts! Einen Kurator brauch ich nicht; will mein15*228eigener Kurator ſein. Und Du, lieber Gott, Du heißeſt ja der Dummen Vormund. Sei auch mein Vormund, ich bitte Dich recht ſchoͤn, ſo lange bis ich geſcheidt werde, mit Deiner Huͤlfe!

Zwanzigſtes Kapitel.

Anton macht auf dem Eichberg eine neue Bekanntſchaft, die ihm wieder zu an deren neuen Bekanntſchaften und endlich zu einer Anſtellung verhilft. Ma - dame Simonelli und deren Tochter. Anton überträgt ſich in’s Franzöſiſche.

Kein Wetter iſt ſo ſchlecht fuͤr den welcher darin iſt, als es dem Anderen erſcheint, der es aus dem Stubenfenſter betrachtet. Das empfand Anton, nach - dem er die Kaͤlte der feuchten Nacht durch raſchen Marſch beſiegt und mit dem unfreundlichen Morgen zugleich den oberen Theil des Eichberges erreicht hatte. Zwar entdeckte er heute die Landſtraße nicht, die er geſtern im Sonnenſchein ſo deutlich geſehen; aber wo ſie lag hatt er ſich wohl gemerkt; ſie zu erreichen, ſchien ihm ein Kleines. Seine Wider - ſacher, die großen Nebel und andere Kraͤhen empfin - gen ihn noch feindlicher als geſtern. Beim heutigen Nebelwetter fuͤhlten ſie ſich ganz die Herren vom Berge, ſie waren ſo recht in ihrem Elemente.

Dumme Thiere, rief ihnen Anton entgegen, ihr229 bleibt hier wohnen, in den verwitterten hohlen Baͤu - men; ich zieh in die Welt!

Ha, ha, erklang es von einem Aſte uͤber ſei - nem Kopfe.

Wer lacht mich aus? fragte der Reiſende, mehr entruͤſtet, als erſtaunt.

Ha, ha, erklang es wiederum und gleich da - rauf: Lora, oh Lora! ha, ha, Lora! .

Donnerwetter, was iſt das? ſagte Anton. Und emporgewandt, bruͤllte er, ſo ſtark er konnte, in die umnebelten Aeſte hinauf: wer ſitzt da oben und ruft nach einer Lore? Was ſind das fuͤr dumme Spaͤße, wenn junge Maͤnner in die weite Welt gehen wollen, um ein neues Leben zu beginnen? Jch frage den Guckuck nach Deiner Lore, oder wie die Perſon heißt? Nur herunter, Du Eſel, wenn Du Kuraſche haſt?

Es gab Niemand Antwort. Aber Anton bemerkte, daß nicht er allein, daß auch ſaͤmmtliche auf dem Eichberg anſaͤßige Kraͤhen, von den Baͤumen rings umher, beſondere Aufmerkſamkeit dem Orte zuwen - deten, aus welchem die Stimme in der Wuͤſte ſich hoͤren ließ. Ein Menſch konnte ſich doch hinter den duͤrren Aeſten nicht verborgen halten? Saß vielleicht Einer im hohlen Stamme? Nicht denkbar. Was230 Teufel, die Kraͤhen pflegen doch nicht aus eigenem Antriebe zu reden? Aber wahrhaftig, das iſt ein leben - diges graues Kluͤmpchen, dort im Winkel zwiſchen Stamm und Aſt? Eine Kraͤhe iſt das nicht, es iſt kleiner; vielmehr ſcheint es ſich vor den Kraͤhen aͤngſtlich zu ducken. O! jetzt erkenn ich’s deutlich: es iſt ein auslaͤndiſcher Vogel. Die Kraͤhen haben ihn ſchon in der Arbeit gehabt, er iſt ſchreckbar zer - zauſ’t. Daß iſt gewiß ein grauer Papagey. Und wie iſt der auf den Eichberg gerathen?

Oh Lora! Lora! ha, ha! Koko!

Koko hat er geſagt. Wahrſcheinlich heißt er Koko und ſeine. Herrſchaft heißt Lore. Ja, lieber Koko, ich bin ſelbſt unterweges, dort hinuͤber zu ſelbſt fremd; ich kann Dir keinen zweckmaͤßigen Rath erthei - len ...... Wie er mir zunickt, als ob er mich ver - ſtaͤnde! Er klettert herab. Weiß Gott, er ſucht mich auf. Komm, komm, Du armer Kerl!

Die Kraͤhen erhoben im Chor ein wildes Zeter - geſchrei. Anton drohete ihnen mit ſeinem Reiſeſtab und hielt dieſen nachher dem vor Kaͤlte bebenden Koko hin. Koko eilte ihm entgegen und kaum hatte ſein Schnabel dieſe Rettungsbruͤcke erreicht, als der kluge Vogel auch ſchon auf ihr entlang uͤber Anton’s231 Arm auf deſſen Schulter gekrochen war. Zitternd ſchmiegte ſich das zahme Thier an ſeines Retters Wange und wie wenn er ihm die wichtigſten Geheim - niſſe, von denen uͤbel geſinnte Kraͤhen auch nicht einen Buchſtaben erhaſchen duͤrften, zu entdecken haͤtte, fluͤſterte er ihm unzaͤhligemale in’s Ohr: Lora! Lora!

Na, das ſeh ich nun wohl ein, ſagte Anton, den kann ich hier nicht zuruͤck laſſen; den muß ich ſchon als Zuwachs meiner Reiſefracht mit mir ſchleppen, bis wir wenigſtens zu Menſchen kommen. Hier zer - pfluͤcken ihn die Kraͤhen; es waͤre Schade um ihn. Solch ein Thier koſtet gewiß viel Geld! Und wer weiß, wenn ich die naͤchſte Stadt erreiche, findet ſich ein guter Kaͤufer. Vielleicht traͤgt mir der Vogel Goldſtuͤcke ein? Ei, ſieh da, ein gutes Zeichen fuͤr den Anfang meines neuen Lebens. Komm, Koko, jetzt ſuchen wir die Landſtraße!

Koko, gleich einem der Wort fuͤr Wort verſteht und begreift, krallte ſich tuͤchtig in Anton’s Rock - aͤrmel ein, hielt ſich wo es bergab raſcher ging noͤthi - genfalls mit dem Schnabel am Kragen feſt und war ſo vertraut und zuthunlich, daß jeder der die Zwei mitſammen ſah, darauf ſchwoͤren mußte, ſie waͤren232 alte Bekannte, die zu beiderſeitiger Erholung eine kleine Luſtreiſe unternaͤhmen.

Noch ein Sprung uͤber dieſen Graben Hopp! und wir ſind auf der großen Landſtraße!

Der Nebel hatte ſchon laͤngſt aufgehoͤrt, ein gebil - deter anſtaͤndiger Nebel zu ſein; er war uͤbergegangen in das, was man hier und da: Bauernnebel nennt; das heißt: er loͤſete ſich in geraden, gutge - wachſenen Regen auf, der wie Bindfaden herabſtroͤmte. Anton und Koko wurden ſehr naß. Die Landſtraße blieb auch nicht trocken. Sie zeigte ſich als alte, viel - erprobte, reicherfahrene, tiefausgefahrene Landſtraße fruͤherer Zeiten: nachgiebig, weich, anhaͤnglich; ſtets darauf bedacht, daß jeder, ſo auf ihr in fremde Lande pilgerte, ein gutes Stuͤck Vaterland, zum Andenken an die Heimath, mit den Stiefeln davon trage. Anton keuchte ſchon an der zwiefachen Laſt, die von unten an ihm zog und von oben auf ihn druͤckte.

Wo fuͤhrt wohl ſo recht eigentlich dieſe Straße hin, guter Freund? fragte er einen ihm begegnenden Fuhrmann, der in etliche dicke Pferdedecken einge - ſchlagen, wie ſein eigenes Denkmal auf einem Pech - Faſſe klebte.

233

Jn’s Polen hinein! war die muͤrriſch gegebene Antwort.

Anton ſchwieg erſtaunt. Koko aͤußerte ſein Befrem - den dadurch, daß er wiederholentlich von Lora ſprach und ſodann dem Pech - oder Theer-Kaufmanne ein Bitteres: ha, ha nachſendete.

Jn’s Polen hinein? Sieh, ſieh, liegt Polen ſo nah bei Liebenau? Das haͤtt ich wirklich nicht gedacht. Nun, wer weiß, in Polen kann es ſehr ſchoͤn ſein fuͤr junge Anfaͤnger? Die ſeelige Großmutter meinte zwar immer, in Polen waͤre nicht viel zu holen; aber ſie hatte, wie alle Frauen, vorgefaßte Anſich - ten und Meinungen von der großen Welt. Wie geſagt, Polen kann ſehr ſchoͤn ſein, wenn nur dieſe Straße ein kleines Biſſel beſſer waͤr!

So ſchwatzte Anton mit ſich ſelbſt, bis Muͤdigkeit, Hunger und Regen ihn endlich ermahnten, in einem Straßen-Wirthshauſe einzuſprechen. Dieſer arme, durchgefrorene Vogel, ſagt er mitleidig, wird auch was warmes zu ſich nehmen wollen. Hier darf ich’s ſchon wagen: hier kennt mich niemand mehr.

Jſt hier Gott gruͤß euch alle beiſamnren! iſt hier ſchon Polenland? Mit dieſem Gruße trat er ein, waͤhrend ſich ein junges Schwein eilig zwiſchen234 ſeinen Beinen durch in’s Freie ſchob und ihn beinahe umgeſchoben haͤtte.

Beileibe, wurde ihm erwiedert; noch zwei Mei - len bis an die Grenze; ſein Sie auch ſchoͤn willkom - men bei uns! Moͤgen Sie Bier oder Schnaps?

Anton hoͤchſt verlegen uͤber die ihm zur Wahl geſtellte Frage, bat ſich einen Kaffee aus.

Die Stammgaͤſte der Schenke laͤchelten mitleids - voll. Sie ſtampften heftig mit ihren leeren Glaͤſern auf den Tiſch, damit man dieſelben auf’s Neue fuͤlle und ihnen Gelegenheit gebe, darzuthun, wie ſie ganz andere Maͤnner waͤren.

Anton achtete wenig darauf. Die Bank hinter dem Ofen ſchien ihm ein reizender Trockenplatz. Er dampfte wie ein kaum erſtickter Waldbrand. Koko druͤckte ſich warm-behaglich an ſeinen Hals, mit uner - muͤdlicher Geſpraͤchigkeit ihn von Lora unterhaltend. Als die Wirthin den beſtellten Kaffee brachte, einige umfangreiche Semmeln zur Beilage mit, erwachte in unſerem Reiſenden auf einmal die Gier des Heiß - hungers. Kaum, daß er ſich Zeit ließ, den duͤnnen Labetrank zu kuͤhlen; in die braunen Fluthen getaucht, verſchlang er Semmel auf Semmel, und da kehrten ihm, von Jnnen wie von Außen erwaͤrmt, alsbald235 Muth und Hoffnung zuruͤck. Jch glaube damals iſt es geweſen, wo er ſeine erſten philoſophiſchen Betrach - tungen uͤber die Gebrechlichkeit des irdiſchen Weſens und uͤber die Abhaͤngigkeit der armen Seele vom menſchlichen Leibe anſtellte.

Koko, den er grauſam vergeſſen, gab ſo deutlich zu verſtehen, ihm auch ſei Erquickung von Noͤthen, und ſprach ſeine Beduͤrfniſſe pantomimiſch ſo ver - ſtaͤndlich aus, daß ſein Retter, obwohl hoch erſtaunt uͤber die faſt menſchenaͤhnliche Ausbildung des gefie - derten Schuͤtzling’s, ihn Theil nehmen ließ am ſchwelgeriſchen Male. Semmel in ſuͤßen Milch-Kaffee getaucht, war dem Vogel offenbar bekannte Koſt; ſie ſchien ihm gelaͤufig und verſetzte ihn in heiterſte Laune, die er auch ohne Aufſchub durch laute Ergießungen des herzlichſten Gelaͤchters, durch einige gellende Pfiffe und durch unendliche Anrufungen fuͤr Lora kund machte.

Die Stammgaͤſte, welche bisher den auf dem grauen Reiſebuͤndel grau in grau verſchwimmenden grauen Auslaͤnder gar nicht bemerkt, wendeten jetzt ihre Ohren ſeinen Exklamationen zu, worauf ſich unter ihnen ein vertrauliches Geſpraͤch entſpann; doch236 laut genug gefuͤhrt, damit der Jnhalt deſſelben den Platz am Ofen erreiche.

Auf jeden Fall gehoͤrt er dazu!

Freilich. Das graue Vieh, was da ſchwadronirt wie ein getaufter Menſch, wird ihnen weggeflogen ſein, und da hat der Burſche zuruͤckbleiben muͤſſen, um es wieder einzufangen?

Natuͤrlich, ſie hatten ja einen ganzen Haufen von ſolchem Ungeziefer bei ſich.

Hoͤrt, Landsmann, rief Einer zu ihm hinuͤber, ihr ſeid wohl auch aus der Menaſcherie, die geſtern hier durchzog?

Menaſcherie? Was iſt das? fragte Anton.

Was ſoll’s ſein? Wilde Beſtien halt!

Seh ich denn aus wie eine wilde Beſtie?

Daß gerade nicht; aber wie Einer, der ſie herumfuͤhrt. Sitzt ihm ja doch ſchon ein Vieh auf der Achſel.

Daß iſt keine wilde Beſtie, ihr guten Leute; daß iſt ein zahmer, ſchoͤner Papagei.

Wir ſeh’n ſchon, daß es kein Trampelthier iſt Deswegen gehoͤrt er halt doch auch zu den auslaͤndi - ſchen Viechern. Und weil er ihm ſo freundſchaftlich auf der Haut haͤngt, wie eine abgerichtete Laus, und237 weil ihr ſo gute Kaffee-Bruͤder miteinander ſeid, ihr beide, nahm ich an, er waͤre einer von den Vagabun - ten die bei den Beeſtern als Domeſtiken angeſtellt ſind? Denn die Unflaͤthe von Pardel und Tigerthier und Hyjenige haben ordentliche Bedienung, wie andere hohe Herrſchaften. Geſtern ſind ſie hier vorbei in vielen großen Wagen, als ob die Luder nicht zu Fuße gehen koͤnnten, wie Unſereins? haben hier Halt gemacht, Vieh und Menſchen getraͤnkt. Die ſchoͤne Frau, der Viechmutter ihre Tochter, hatte juſtament ſo’n grauen Popo, oder wie ſich der oſtin - dianiſche Rabe aus Afrika ſchreibt, aus einem Kaͤfig gelangt und wollt ihn im Kopfe kratzen; aber der aſiatiſche Pfefferfreſſer ſchnappte nach ihr, daß ſie gleich wieder los ließ. Da dachten wir halt, er waͤr .... nichts fuͤr ungut!

Anton fand dieſen Bericht hoͤchſt intereſſant. Die ſchoͤne Tochter von der man ihm erzaͤhlt, in Verbin - dung zu ſetzen mit dem auf ihm ſitzenden Koko gewaͤhrte ihm ein gewiſſes Wohlbehagen. Sollte dieſe Schoͤne, dachte er, die ....

Lora! unterbrach ihn der Vogel.

Jch muß ihn ſeiner Beſitzerin ſelbſt einhaͤndigen! So lautete der Entſchluß des galanten Korbflechters. 238Er hatte denſelben eigentlich in Form eines Gedan - kens nur ſich ſelbſt mittheilen wollen; wider Abſicht und Willen war eine laute Aeußerung daraus gewor - den, die keinem der Anweſenden in der Gaſtſtube entging.

Gleich hier, bei ſeinem erſten Eintritt in die Fremde, ſollte ſich beſtaͤtigen, was ich unſerem Hel - den ſchon vorher abmerkte, als er noch in Liebenau weilte: ſeine Perſoͤnlichkeit werde ihm der Menſchen guͤnſtiges Vorurtheil gewinnen; wer ihn ſehe, werde Wohlwollen fuͤr ihn empfinden. Kaum war ſein Vorſatz ausgeſprochen, daß auch ſchon ein dicker Mann, der druͤben bei’m Fenſter ſaß, ihm zurief: hoͤrt, junger Burſch, ich fahre nach R. Fuͤr einen der nicht ganz ſo dick iſt, wie ich, giebt es noch Platz auf meinem kleinen Korbwagen, und euren Grauen wird mein grauer Wallach zur Noth noch fortziehen koͤnnen. Wenn ihr muͤde und des Laufens ſatt ſeid, will ich euch mitnehmen, daß ihr im Dreck nicht ſo ſchwer zu tragen braucht. ’s geht aber gleich fort. Anton nahm die Einladung dankbar-geruͤhrt an. Bald war ſeine Rechnung berichtiget, welche die Wirthin, haͤtte ſie nicht ihres graͤmlichen Hausherren Luchsauge gefuͤrchtet, dem ſchmucken Gaſte gern239 erlaſſen haben wuͤrde, denn er gefiel ihr ſonderbar, ſo daß ſie an ſich halten mußte, um es nicht gar zu zeigen. Wie jedoch Anton, ſeine Zeche willig bezah - lend, ſcherzhaft fragte: und was macht es fuͤr den da? indem er auf den gefiederten Reiſekameraden hin - wies, da konnte die leicht entzuͤndbare Wirthin nicht umhin, ihm wenigſtens mit der Hand durch die Locken zu ſtreichen, als Beweis ihrer lebhaften, kaum zu beſiegenden Neigung.

Nicht ohne die Korbgeflechte des Wagens einer oberflaͤchlichen Kenner-Pruͤfung zu unterwerfen, die mit einem: liederliche Arbeit! endete, beſtieg Anton jenes leichte Gefaͤhrt, uͤber welches eine grobe Leinewand auf ſchwankende Reifen gezogen, den Regen nur maͤßig durchſieben ließ. Der Wallach ging im ſogenannten Hunde-Trab. Der dicke Mann ſchlief ein. Koko zitterte wieder froͤſtelnd, weshalb ihn Anton mitleidsvoll, und jetzt ſchon mit vorſorgen - der Ruͤckſicht fuͤr die ſchoͤne Herrin, in ſein blaues Taſchentuch huͤllte; eine Wohlthat, welche der kluge Vogel durch unterſchiedliche Schnabelkuͤſſe vergalt, ohne dabei zu zwicken.

Erſt als Anton ſein Kleidermagazin hinter ſich auf und ab tanzen hoͤrte, ſpuͤrten die muͤden Schul -240 tern, wie ſchwer es auf ihnen gelaſtet. Jetzt fuͤhlte ſich der Reiſende ſo leicht und froh, daß er keinen andern Wunſch hegte, als den: es moͤge immer ſo fortgehen wie bisher, dann wollt er’s ſchon aus - halten!!

Gluͤckliches Kind!

Vielleicht auch waren jene Stunden, wo er mit kaltem Novemberregen tuͤchtig angefeuchtet, auf hartem Sitz, im ſtoßenden Wagen, vom faulſten Pferde gezogen, die elendeſte Landſtraße entlang fuhr, ſeiner ganzen kuͤnftigen Pilgerfahrt zufriedenſte??

Vor dem Thore von R. angelangt, blieb der gepruͤfte und erprobte Wallach ſtehen. Der dicke Mann, vom Stillſtand der Reiſemuͤhle erwachend, gab ſich als Fleiſchhauer kund, der aus laͤndlichen Vorſtaͤdten Kaͤlber abzuholen ausgezogen war. An - ton bedankte ſich vielmals, ergriff ſeine Laſt, der eindringende Regen hatte ſie nicht leichter gemacht, und rettete noch zu rechter Zeit ſeine zarten Finger aus einem warmen Haͤndedruck des Fleiſchers, der ſie ihm aus Wohlwollen ſchier zermalmt haͤtte.

Wo gelang ich wohl zur Menagerie? fragte er mitten auf dem Marktplatz ſehr demuͤthig den großen, ſchwarzbaͤrtigen Mann in rother Jacke und ſchmutzigen241 Lederhoſen, der vor einem zeltartigen, von Waſſer triefendem Vorhange, dicht neben einem koloſſalen Oelgemaͤlde ſtand.

Der Schwarzbart wies ſtumm doch bedeutend uͤber die Schulter auf das Tableau.

Anton ſchauderte zuruͤck: unter ſanften Palmen, an denen Cocosnuͤſſe in Maſſen hingen, gleich Stachel - beeren am Strauch, verſpeiſete ſo eben der grimmigſte Tiger mit Seelenruhe einen vielverſprechenden jugend - lichen Neger, deſſen Oberleib aus dem weit aufge - ſperrten Rachen noch hervorſah, wie ein ſchwarzer Rettig.

Geht’s hier ſo zu? dachte der friedfertige Liebe - nauer und wollte Kehrt machen; aber unterdeß hatte Schwarzbart den triefenden Vorhang zuruͤckſchlagend, ihn, den Zoͤgernden in den innern Raum gedraͤngt. Mit bunten Tuͤchern und Kattunen aller Farben und Muſter umhangen zeigte ſich hier eine Art Vorhalle, in deren Mitte, an kleinem Tiſchchen, worauf die glaͤnzend-ſchwarze durch helle Metallbeſchlaͤge gezierte Kaſſette ſtand, eine Frau mit etwa fuͤnfzig Jahren, reich und bequem bekleidet, nicht ohne Wuͤrde ſaß; in ihrem Schooſe ein Affe von der kleinſten Gattung der Seidenaffen. An der anderen Seite des Tiſch -Die Vagabunden. I. 16242chens, nachlaͤſſig gegen einen mit Eiſenſtaͤben ver - gitterten leeren Kaſten gelehnt, ſtand eine ſchoͤne Dame, noch jung, bluͤhend, doch ſo tief in’s Leſen eines Buches verloren, daß ſie den Eintreten - den nicht bemerkte. Die aͤltere, die ihn forſchend anſah, ſagte nur, wie wenn ſie eine tauſendmal wiederholte Formel ausſpraͤche: Erſter Platz acht Groſchen, zweiter vier, dritter zwei.

Anton ſchaute hinter ſich. Der Vorhang der ihn von der Außenwelt abſchnitt war bereits wieder zu - gefallen. Er ſtand im myſtiſchen, durch eine truͤbe Lampe ſpaͤrlich erleuchteten Halbdunkel. Ein ſcharfer, widerlicher Geruch drang ihm von Jnnen entgegen, und er fuͤhlte ſich dadurch foͤrmlich beaͤngſtiget, ſo daß er vergaß, was er eigentlich hier gewollt?

Madame Simonelli, denn ſo hieß die aͤltere Frau, wiederholte maſchinenmaͤßig ihr: Erſter Platz acht Groſchen, indem ſie noch einmal Anton zweifelhaft betrachtete; das Reiſebuͤndel ſchien ſie ſtutzig zu machen, deshalb uͤberſprang ſie den zweiten Platz mit ſeinen unvermeidlichen vier Groſchen und ruͤckte ohne Weiteres mit einem Antrage auf den zwei-Groſchen - Platz hervor.

Da erſt beſann ſich Anton auf ſich ſelbſt.

243

Nach ſeiner Boͤrſe ſuchend aͤußerte er: ich kam wohl, die Wahrheit zu geſtehen, nicht hierher, um etwas zu bezahlen; wollte mich vielmehr nur erkun - digen, ob in der Menagerie eine Dame wohnt, welche Lore heißt?

Die Leſerin fuhr auf, richtete ihre funkelnden Augen uͤber das Buch hinweg nach Anton und fragte faſt beleidiget: Woher Sie weiß mein Name?

Der da ruft ihn unaufhoͤrlich, war die Antwort. Dabei luͤftete er einen Zipfel des bekannten blauen Tuches und geſtattete Koko’n eine kleine Ausſicht in die Umgebung. Die alten wohlgekannten Draperieen heimelten den von Kraͤhen, Wind und Wetter mit - genommenen Dulder traulich an; er ſchlug ſein lauteſtes Wonnegelaͤchter auf und ehe Anton die Wir - kung deſſelben auf beide Damen noch beobachten konnte, hatte die juͤngere ihren Liebling ſchon ergriffen, um ihm an ihrem Buſen eine allerdings beſſere, waͤrmere, beneidenswerthere Zufluchtſtaͤtte anzuweiſen, als Anton ihm irgend darzubieten vermocht.

Er mußte erzaͤhlen, wo? wann? wie? er Koko’n gerettet. Und ich vermuthe, es iſt ein Gluͤck fuͤr ſaͤmmtliche Kraͤhen im Lande, daß Koko’s Goͤnnerin nicht eine große, maͤchtige Monarchin geweſen, wie16*244ſie Antons Erzaͤhlung vernahm. Denn zweifelsohne waͤre dann von ihr ein Mandat ausgegangen alle zur Sippſchaft Corvus cornix und Corvus corone gehoͤrigen Jndividuen mit Krieg zu uͤberziehen, mit Stumpf, Stiel und Federkiel auszurotten; und gegenwaͤrtig noch lebende Kraͤhen wuͤrden wahrſchein - licherweiſe nicht dazu gelangt ſein, dieſe ſuͤße Ge - wohnheit des Daſeins zu genießen. Eben ſo feurig aber, als ihr gerechter Zorn gegen die ungaſtlichen Bewohner des Eichbergs, entbrannte auch ihre Dankbarkeit fuͤr den Juͤngling, der am Wehrloſen zum rettenden Ritter geworden. Sie wußte nicht, wie ſie das kund geben ſollte? Ein Geldgeſchenk an - zubieten wagte ſie nicht. Jn Anton’s Benehmen lag bei aller Seltſamkeit ſeines Eintritts und trotz des Buͤndels auf ſeinen Schultern, die Unmoͤglich - keit, daß eine feine und zartfuͤhlende Frau ihn ſo haͤtte abfinden wollen? Sie wechſelte einige Worte mit Madame Simonelli, worauf dieſe, in der deutſchen Sprache genugſam geuͤbt, zu ihm ſagte: Meine Tochter, Madame Amelot, fragt mich, was ſie thun darf, um ihnen zu zeigen, mein Herr, wie reconnais[-]sante ſie iſt, von Jhrer großen Gefaͤlligkeit.

O mein Himmel, erwiederte Anton, um einer245 ſo anmuthvollen Dame zu dienen, wuͤrd ich es mit allen Kraͤhen, Dohlen und Raben aufnehmen, zehn Meilen weit um Liebenau. Es iſt mir ſchon genug, den ehrlichen Koko wieder bei ihr zu wiſſen, denn ich, auf meinen Reiſen, wuͤrde doch nur ſchlecht fuͤr ihn haben ſorgen koͤnnen.

Sie machen große Reiſe, mein Herr? fragte Madame Simonelli; und wohin, s’il vous plait?

Ach weit! Ja, ſehr weit!

Als Anton dieſe ein wenig in’s Allgemeine ſchweifende Erklaͤrung gab, ſoll ſein Geſicht eben nicht den Ausdruck beſonderen Scharfſinnes zur Schau getragen haben. Er pflegt in vertraulichen Stunden zu bekennen, daß er ſich niemals in ſeinem ganzen Leben ſo dumm vorgekommen ſei. Um nur etwas zu beginnen, was ihm uͤber dieſe peinliche Lage forthelfen moͤge, fing er abermals an, nach ſeiner Boͤrſe zu ſuchen, wobei er die Verſicherung ertheilte, er wuͤnſche ein Billet fuͤr den erſten Platz zu loͤſen. Er ſuchte, er ſuchte umſonſt, die Boͤrſe war verloren!

Sein Silbergeld; die Goldpfennige aus den ver - einten Sparbuͤchſen; die Zauber-Muͤnzen, deren Werth ihm der neuen Welt Pforten zu oͤffnen, ſeine246 gefahrvollen Wege zu ebnen beſtimmt geweſen, ... verſchwunden!

Hoͤchſt wahrſcheinlich blieb das Lederſaͤckchen welches ſeine Schaͤtze barg in jenem Wirthshauſe liegen, wo ihn, als er eben fuͤr ſich und Koko den Kaffee bezahlte, der dicke Fleiſcher durch das gefaͤllige Anerbieten ihn mitzunehmen, uͤberraſchte.

Anton’s Schreck war ſo ſichtbar; der Ausdruck ſeines Ungluͤcks ſo wahr und natuͤrlich, daß es den Damen nicht entgehen konnte. Keine von beiden dachte auch nur im Entfernteſten an eine luͤgenhafte Erfindung.

Auf dringendes Befragen ſtammelte er blos: mein Geld mein Reiſegeld; nun iſt’s aus mit mir!

Es entſtand eine lange Pauſe, die zuerſt durch Madame Simonelli unterbrochen wurde, welche ihm in den artigſten Formen anbot, er ſolle nur ſein Ge - paͤck ablegen, hineintreten und die Thiere betrachten; das werde ihn zerſtreuen. Unterdeſſen wolle ſie und Laura berathen. Denn, fuͤgte ſie mit wahrhaft grazioͤſer Wendung hinzu, wahrſcheinlich hab er ſeine Boͤrſe verloren, als er den Baum erklettert, um Koko vor den Kraͤhen zu retten, und deshalb ſei es ihre Sache, ihn zu entſchaͤdigen.

247

Anton ließ mit ſich geſchehen, was man von ihm verlangte. Er hatte keinen Willen mehr. Ohne zu wiſſen, wie er dahin kam, ſtand er mitten unter den wilden Beſtien, die er mit dumpfem Erſtaunen anglotzte, ohne etwas Anderes dabei zu denken, als daß ſie ihm eigentlich den beſten Dienſt leiſten koͤnn - ten, wenn ſie ſo guͤtig ſein wollten, ihn aufzuſpeiſen mit Haut und Haar, wie der Tiger draußen auf dem Bilde mit dem jungen Neger that.

Er blieb nicht lange allein bei den Thieren. Der Schwarzbart, unzweifelhaft im Auftrage ſeiner Ge - bieterin, geſellte ſich zu ihm. Dieſer Mann, von Geburt Jtaliener, hatte ſich im Dienſte der Madame Simonelli, die ſammt ihrer Tochter fuͤr gewoͤhnlich franzoͤſiſch redete, und in ſteter Beruͤhrung mit Deutſchen, deren Laͤnder ſie fleißig durchkreuzten, eine nur ihm zugehoͤrige Ausdrucksweiſe gebildet, in welche er nach Gutduͤnken aus jenen drei Sprachen aufgenommen, was ihm von jeglicher am Beſten gefiel; woraus denn eines jener unbeſchreiblichen Gemiſche entſtand, wie es die von Menſchenhand gefuͤhrte Feder in Schriftzuͤgen wiederzugeben nun und nimmer im Stande ſein wird. Ohne Beihuͤlfe pantomimiſcher Ausſchmuͤckungen, in denen jeder248 Jtaliener ein Meiſter iſt, wuͤrde er ſich waͤhrend der erſten Converſation unſerm Freunde deutlich zu machen vergeblich bemuͤht haben. Wie er aber Wort und Aktion vereinigte, gelang es ihm verſtaͤndlich zu werden. Er ließ Anton manchen Blick in die inneren Verhaͤltniſſe des Hauſes Simonelli thun. Madame war eine reiche Frau und beſaß außer den lebenden, bruͤllenden, verſchlingenden, fahrenden Guͤtern, auch ſolide Fonds in ſicheren Papieren. Laura Amelot, ihr einziges Kind, an einen Seiltaͤnzer, oder Sprin - ger Amelot verheirathet, lebte ſeit laͤnger als einem Jahre von dieſem getrennt, weil er ſie nicht gut behandelt und ſogar in einem Anfalle von Eiferſucht einſt mit der Balancierſtange nach ihr geſchlagen. Sie war der Mutter Abgott und hatte, nachdem Herr Amelot ihr die Liebe zu einem Manne verleidet, ſich den unſchuldigen Koko zum Liebhaber erwaͤhlt. Mama Simonelli ſchien gar nicht ungehalten uͤber die Trennung der luftſpringeriſchen Ehe, denn erſtens war es ihr an und fuͤr ſich lieb, ihre Tochter wieder bei ſich zu haben; zweitens lockte deren Gegen - wart an der Kaſſe in groͤßeren Staͤdten gar viele Herren zu haͤufig-wiederholtem Beſuche der Menagerie heran. Fuͤr gewoͤhnlich lebten ſie, Menſchen und249 Thiere, gluͤcklich und zufrieden mit einander, den Geſtank abgerechnet, an den ſich aber die Naſe bald gewoͤhnt. Nur heute gerade gab es eine Stoͤrung des haͤuslichen Friedens. Antoine, einer von den Kollegen des erzaͤhlenden Schwarzbartes, hatte in Folge heftiger Scheltworte, die er ſich zugezogen durch unordentliche Fuͤhrung, aus welcher denn auch Vernachlaͤſſigungen im Dienſte entſtehen mußten und von denen die durch ihn verſchuldete Entweichung des geliebten Koko nicht die geringſte geweſen, Knall und Fall das Haus verlaſſen. Er war, gleich nach - dem Koko’s Verluſt ruchbar geworden, uͤber Nacht davon gelaufen; wie Schwarzbart, nach vorher - gegangenen, im Rauſche ausgeplauderten Aeußerun - gen ſicher glaubte: der nicht fernen ruſſiſchen Grenze zu, um in jenem Reiche Soldat zu werden. Wenn nun ſchon zwei tuͤchtige Waͤrter denn es gab neben Schwarzbart noch einen Rothbart noth - duͤrftig hinreichten, fuͤr die Pflege der Thiere, ſo fehlte doch Antoine als geſchickter, wohlſprechender, etwaige Honoratioren anſtaͤndig haranguirender Er - klaͤrer, Umherfuͤhrer, Explikator, ſaͤmmtliche Affen zu beluſtigender Kurzweil aufregender Unterhalter. Schwarz - und Rothbart verſtanden ihre Arbeit,250 et voilà tout! Ma, signore, fuͤr die Geſchichte von die Natur, gab es nur einen Antoine; er konnte reden wie ein Profeſſore!

Bei Naturgeſchichte gedachte Anton der man - cherlei, von ſeltſamen Thieren handelnden Buͤcher, die Tieletunke und der Paſtor ihm zu leſen gegeben. Das muͤßte auch keine Hexerei ſein, dacht er, von dieſen verſchiedentlichen vier - und zweibeinigen Ge - ſchoͤpfen Verſchiedentliches zu erzaͤhlen? Und indem er mehrere in ihren Kaſten und Verſchlaͤgen neugierig muſterte, fiel ihm eines auf, deſſen Gleichen er auch im Abbild noch nicht geſehen: ein baͤrenartiges und doch auch wieder vom Baͤren abweichendes Ungethuͤm.

Der iſt wohl ſehr grimmig, der da? fragt er ſei - nen neuen ſchwarzbaͤrtigen Goͤnner.

Statt eine muͤndliche Antwort zu geben, ging die - ſer dem Kaͤfig zu, ſteckte ſeine Hand zwiſchen den Stangen durch, packte das Beeſt an der Schnauze, ſchuͤttelte es tuͤchtig und ſagte, waͤhrend er Anton aufforderte, ein Gleiches zu thun: wie Kind!

Anton ſetzte fuͤr’s Erſte in die Kindlichkeit gerin - ges Vertrauen und hielt ſich in achtungsvoller Ferne. Er naͤherte ſich indeſſen einigen andern Behaͤltern, ſah dahin, dorthin, und allmaͤhlig ſchwanden di[e]251ſchwarzen Schatten aus ſeiner Seele. Das bunte Leben zerſtreute ihn wirklich, wie Madame Simonelli vorher verſprochen. Es bruͤllte, grunzte, quikte, ziſchte, ſchwatzte vor, neben, uͤber ihm. Hellgeſchmuͤckte Voͤgel riefen ihm ſanft ihr Ara zu; gelb - und roth-behaubte Kakadu’s verſchwiegen ihren Namen nicht; einige frei umherlaufende, ſeltene Ziegen ſtell - ten ihm ihre Kinder vor; ein Strauß und ein Kaſuar, ebenfalls zu diatetiſcher Promenade frei gelaſſen, ſchritten bedaͤchtig an ihm voruͤber, als wollten ſie ihn auffordern, einen von ihnen beiden zu beſteigen und einen Ritt durch die Wuͤſte zu verſuchen; ein Lama druͤckte die Herzlichkeit ſeines Empfanges durch haͤufiges Anſpucken aus; und unzaͤhlige Affen, vom groͤßten wie kleinſten Kaliber, waren augenſcheinlich bemuͤht, unſerem Reiſenden die Honneurs des Hauſes zu machen, und ihm ſeine Grillen zu vertreiben. Sie zeigten ſich ihm in allen erdenklichen Stellungen und Poſituren, von den verſchiedenſten Seiten; gingen bald theilnehmend in ſeine ernſteren Lebensanſichten ein, wobei ſie tief-nachdenkliche, ja kummervolle Mie - nen zum Beſten gaben; ſpotteten ihm aber gleich dar - auf jeden Ernſt durch luſtige, frivole Gebehrden hin - weg, gleichſam als wollten ſie ihn zum Leichtſinn252 auffordern und ihm in ihrer Sprache ſagen: entaͤuß’re Dich Deiner Sorgen, amuͤſire Dich, nimm die Sachen leicht; es iſt auf Erden nicht der Muͤhe werth, ſich zu aͤrgern, oder zu graͤmen.

Anton mußte nicht ſein, der er war; nicht der geiſtig begabte, von Geburt bevorzugte Menſch, wenn dieſe fratzenhaften Zerrbilder menſchlicher Erſcheinung ihn gleichguͤltig laſſen ſollten. Er empfand ſehr tief jenen ahnungsſchweren Schauder, welcher uns jedes - mal durchdringt, wo es ſich um geheimnißvolle Beziehungen, Aehnlichkeiten, Verwandtſchaften des Menſchlichen mit dem Thieriſchen handelt. Doch ſteckte ſein Naturphiloſoph noch zu feſt im unent - wickelten Keime, um auf die Dauer uͤber die halbkin - diſche Lachluſt triumphiren zu koͤnnen. Waren es doch die erſten Affen, die er ſah! Er begruͤßte ſie als Bruͤder und vergaß in ihrem Umgang die verlorene Boͤrſe. Er ließ ſich in Spiele mit ihnen ein, wobei er zuletzt ſelbſt ein Affe wurde, der nachzuahmen ver - ſuchte, wie ſie ihn nachahmten.

Der Schwarzbart ging ab und zu. Von der Affengruppe zu den Damen, von den Damen zu An - ton und den Affen. Er war einem außerordentlichen Botſchafter nicht unaͤhnlich; hielt auch mitten im253 Raume diplomatiſche Konferenzen mit ſeinem Kollegen, dem Rothbart. Anton, zu ſehr in das Affenthum ver - tieft, um zu bemerken, was von den Bewegungen des Menſchen ihm galt, wurde endlich durch das Erſchei - nen der Damen aufgeſtoͤrt. Madame Simonelli nahm das Wort. Madame Amelot, auf ihrem Nacken den wiedergefundenen Koko, ihr franzoͤſiſches Leſebuch vor den Augen, ſchien ſtumme Zeugin bleiben zu wollen. Man ſtellte ihm den Antrag, wenn er vielleicht fuͤr ſeine Zukunft keine beſtimmten Abſichten hege, in den Dienſt des Hauſes zu treten. Seine Gagen ſollten denen des boͤslich Entwichenen gleich kommen und an den Trinkgeldern, von Schauluſtigen in die Buͤchſe geworfen, wuͤrde ihm ſein Dritttheil nicht entgehen. Wir brauchen einen zierlichen jungen Mann von Lebensart und der ſich gut auszudruͤcken weiß. Denn wir wollen uns auch darin vor Anderen auszeichnen. Eine Schwierigkeit nur koͤnnte hinderlich ſein, wenn vielleicht, durch was immer fuͤr einen Accident die Papiere des Reiſenden nicht in der Regel waͤren?

Welche Papiere? fragte Anton, in ſeiner gaͤnz - lichen Unwiſſenheit uͤber ein Papier, welches man Reiſepaß nennt.

Als ihm die Sache deutlich gemacht wurde, ſtand254 er, wie vom Blitze geſchlagen. Regelloſer konnten keines Landſtreichers Papiere erfunden werden, denn er beſaß auch nicht ein ſchmales Streifchen, welches nur dem Abſchnitzel eines Ausweiſes aͤhnlich geſehen haͤtte.

Nach ſeinem Namen befragt und ſeinem Stande, verhehlte er nicht, daß er Koͤrbe geflochten habe und ſich Anton nenne. Uebrigens ſei er ein Waiſenkind.

Anton? Anton? wiederholte Madame Simonelli, mit jenem Nachdruck, der bezeichnet, daß man Licht erblickt. Das iſt auf Deutſch ſo viel wie Antoine? Pierre, ſieh doch nach im großen Portefeuille, wo die Affichen liegen. Es muͤſſen ſich dort eure Paͤſſe vorfinden. Antoine iſt ohne Paß davon gelaufen; er weiß, daß man auf dem Wege zur Galeere dergleichen nicht braucht.

Antoine’s Paß wurde gebracht. Die Perſonal - Beſchreibung traf nicht ſehr genau zu, aber Figur, Alter, Farbe der Haare kamen doch ſo leidlich uͤberein.

Anton ſtand lange unſchluͤſſig.

Madame Amelot warf ihm, uͤber’s franzoͤſiſche Leſebuch, einen Blick zu, der fragen zu ſollen ſchien: Wie wird’s denn? Jch daͤchte doch? und ſo weiter!

Der Blick wirkte.

255

Anton ließ ſich in’s Franzoͤſiſche uͤberſetzen, nahm die Stelle an und hoͤrte von nun an auf: Antoine!

Einundzwanzigſtes Kapitel.

Er wird der Liebling vieler Leute; unter Anderen eines bengaliſchen Bären und einer ſchönen Frau. Daneben lernt er fleißig Franzöſiſch.

Der Aufenthalt in kleineren Staͤdten konnte fuͤr eine ſo großartige Unternehmung, wie jene der Ma - dame Simonelli, ſtets nur ein voruͤbergehender ſein. Deshalb finden wir ſie bald in P., wo eine große, heizbare Bude fuͤr ſie aufgeſchlagen worden, waͤhrend noch in R. nichts weiter, als ſaͤmmtliche zu einer Wagenburg ſinnreich vereinte Fourgon’s, mit Lein - wand uͤberdeckt, den Zwinger bildeten.

Antoine prangt bereits in vollem Putz: Schmieg - ſame Lederhoſen und ein kurzes Jaͤckchen von ſchwar - zem Sammet, mit ſilbernen Knoͤpfen à la Figaro beſetzt, kleiden ihn allerliebſt. Was uͤber die Thiere vorzutragen iſt, hat er ſich raſch zu eigen gemacht. Die muͤndlichen Ueberlieferungen der Damen, wie der auslaͤndiſchen Waͤrter, ſeiner Kollegen, ſind durch ihn mit ſeinen eigenen Jugenderinnerungen aus Raff und aͤhnlichen, den Liebenauern zugaͤnglichen Zoologen in256 ein harmoniſches Ganze verſchmolzen worden. Er luͤgt ein hochanſehnliches Publikum, zum Theil aus Polen beſtehend, auf deutſch, doch nur maͤßig an und gleitet uͤber fragliche, dunkle Punkte mit bewundernswuͤrdiger Zuverſicht hinweg. Dabei floͤßt er den Anweſenden Erſtaunen ein durch ſeinen ungezierten Ausdruck, da er nicht den Ton gewoͤhn - licher Marktſchreier und oͤffentlicher Ausrufer annimmt, ſondern vielmehr natuͤrlich, mit wohlklingender Stimme anmuthig redet. Auch verfehlt er nicht, mit poetiſchen Andeutungen hinzuweiſen auf die (durch ihn und ſei - nen Einfluß bei Madame Simonelli beliebte) neue Anordnung in der Reihenfolge der Kaͤfige, vermoͤge welcher allerlei in die Augen ſpringende Gegenſaͤtze und Wirkungen erreicht worden ſind. Der apathiſche, von ſeinen Schollen traͤumende, hin und her ſchau - kelnde, langweilige Eisbaͤr iſt zwiſchen einen gefleckten Panther und einen ſchoͤnfarbigen Leoparden gebracht; uͤber ihm windet ſich in unaufhoͤrlicher Bewegung die ſchlankſte ruheloſeſte Tigerkatze. Tiger und Hyaͤne ſind getrennt durch jenes gutmuͤthige, ſanfte Un - gethuͤm, deſſen ſehr lange Schnauze Monſieur Pier[re]im vorigen Kapitel ſo vertraulich handhabte; wa[s]Anton mit Furcht ſah, was aber Antoine, ſein257 innigen Beziehungen zur Schnauze ſicher, jetzt eben ſo vertraulich thut. Wobei ich eingeſtehen will, daß gerade an dieſem Thiere mein guter, wahrheitslieben - der Anton zum frechſten Charlatan wurde; ohne ſeine Schuld freilich. Denn es war ihm als Bradi - pus ursinus, als baͤrenartiges Faulthier auf ſeinen Katalog geſtellt worden. Madame Simonelli band ihm auf die Seele, die Seltenheit dieſes erſt neuent - deckten und gleichſam in ihrem Auftrag erfundenen Monstre’s gebuͤhrend hervorzuheben. Ja, ſie ging ſo weit, ihm anzudeuten, er duͤrfe, wenn glaͤubige Hoͤrer verſammelt waͤren, wagen, es ſolchen als Rie - ſenfaulthier, oder vorſuͤndfluthliches, fabelhaftes Mega - therium zu uͤberantworten! Zwiſchen beſagtem Mega - therium, genau betrachtet nichts anderes, als ein langnaſiger bengaliſcher Baͤr, und unſerem Anton beſtand bereits das herzlichſte Freundſchaftsbuͤndniß. Petz, der Jndianer, fraß fuͤr ſein Leben gern Aepfel und Anton erlabte ihn mit dieſer paradieſiſchen Frucht, wo er wußte und konnte. Welche Folgen dieſe Freundſchaft hatte und wie lediglich durch ſie ein wichtiger Wendepunkt in Anton’s Leben eintreten ſollte, das werden wir ſeiner Zeit erfahren.

Die beſchwerlichſte, ſchmutzige Arbeit, wie ſieDie Vagabunden. I. 17258Waͤrtern ſolcher Thierbuden obliegt, ward Anton nicht zugemuthet. Er blieb Bruder Redner und machte nebenbei den oft in Anſpruch genommenen, aber ſtets freundlich behandelten Serviteur ſeiner Herrin und ihrer wunderſchoͤnen Tochter, die in einer eleganten Wohnung, nicht fern der Bude, hauſen. Beide freuten ſich ſeiner Sauberkeit in Tracht, Hal - tung und Betragen. Madame Simonelli entdeckte ſehr bald das ihm eigenthuͤmliche Sprachtalent, wußte es zu wecken, zu naͤhren, und ſchon nach Ver - lauf weniger Wochen wußte Anton ſeinem neuen Namen Ehre zu machen und ſich mit ſeinen Damen einigermaßen Franzoͤſiſch zu unterhalten. Trinkgelder gingen jetzt reichlicher ein, als ſonſt je. Weil er mit vornehmer Gleichguͤltigkeit die große Buͤchſe ſchuͤt - telte und dabei, nicht ohne ſich gelegentlich nach Roth - und Schwarzbart zu wenden, ausrief: fuͤr die Aufwaͤrter, wenn’s beliebt?! konnte zwar Niemand daran denken, daß er fuͤr ſich begehre, beeilte ſich aber dennoch Jedermann, den liebenswuͤrdigen Sammler zu erhoͤren; ſogar junge, ſchuͤchterne Maͤdchen erbaten ſich heimlich fluͤſternd von den Eltern einige Silber - muͤnzen, um ſie, erroͤthend, in den großen Spalt werfen und in die unausfuͤllbare Tiefe fallen hoͤren zu259 duͤrfen. Weil Anton mit ſeinen Genoſſen theilte, ohne nachzuzaͤhlen und zu rechnen, und weil dieſe bei den reichlichen Spenden, die ihm und ſeiner Perſoͤn - lichkeit galten, zwiefach ihre Rechnung fanden, ſo blieben ſie voll Ergebenheit fuͤr ihn, goͤnnten ihm jede Auszeichnung, welche Madame Simonelli ihm ſonſt zu Theil werden ließ und prieſen ihn um ſo hoͤher, als er ſtets bereit war, daheim zu bleiben, die Aufſicht zu fuͤhren, wenn nach beendigter Schauſtellung die Bude geſchloſſen ward und ſie eine Schenke beſuchen wollten.

Dieſe Stunden der Einſamkeit, wo ihm jegliches menſchliche Weſen fern und er allein unter reißenden Beſtien weilte, wurden ihm bald unendlich theuer und werth.

Zwei tuͤchtige eiſerne Oefen ſtroͤmten genuͤgende Waͤrme aus; die Voͤgel ſchliefen; die Raubthiere gingen mit leiſen, kaum hoͤrbaren Tritten in ihren Kerkern auf und ab, oder ſie ruheten, von der kuͤrzlich erfolgten Fuͤtterung ſatt und ſchlaftrunken, auf ihrer Nachtſtreu. Das waren die Stunden, wo der im neuen fremden Leben umher irrende, nach Außen gezogene Menſch, in ſich ſelbſt zuruͤckging, das heißt: in ſeine Vergangenheit. Er hatte ſich eine Geige17*260gekauft; nicht eine ſo koſtbare, wie Carino ihm in der Wildenweinlaube dargereicht; aber doch um Vie - les beſſer, als jene, von der Ottilie damals die Saiten abſchnitt und die Anton bei der Gockſchiſchen Maſſe zuruͤckließ. Auf dieſer Geige ſpielte er, wenn er ſeine einſamen Abendſtunden feierte, in Erinnerungen voll Wehmuth uud Heimweh verſenkt, die alten Liebe - nauer Melodieen, und zwar, wie ich ausdruͤcklich erwaͤhne, zur vollen Befriedigung des hohen verſam - melten Publikums. Sogar Seine Majeſtaͤt der Loͤwe geruhten durch unterdruͤcktes Brummen Theilnahme kund zu geben. Alle lauſchten; keines heulte. Es wurde weniger geplaudert und fanden minder Stoͤ - rungen ſtatt, als bei vielen muſikaliſchen Theezirkeln, wo man die Virtuoſen quaͤlt, bis ſie ſpielen, und wo man nicht auf ſie hoͤrt, wenn ſie es thun. Anton’s Hoͤrerkreis war ganz Ohr.

Es wiederfuhr dem Liebenauer Orpheus biswei - len, daß er mit ſeinen weichſten Toͤnen und ſeinen kindlichſten Erinnerungen einſchlief. Dann ſchob er ſich zuruͤck auf den Sitz, den er ſich am Ende der langen Bude von wollenen Decken kunſtreich gebaut; die Geige entſank den Haͤnden; er ſchlummerte, bis Roth - und Schwarzbart, aus dem Gaſthauſe zuruͤck -261 kehrend, ihn erweckten, wo er ſich dann hinuͤber zu Madame Simonelli begab. Denn er genoß auch den Vorzug, bei ihrer Wohnung ſein Stuͤbchen zu haben.

Schon mehreremale hatte er, mit irgend einem Auftrage zufaͤllig und raſch bei ihnen eintretend, ver - nommen, daß er ein Geſpraͤch zwiſchen Mutter und Tochter unterbrach, welches ihm gegolten. Einzelne Woͤrter, die er eben noch davon gehoͤrt, ließen ihn vermuthen, es ſei da von ſeinen muſikaliſchen Feier - ſtunden die Rede; auch davon, daß er dieſelben bis - weilen mit einem Schlaͤfchen beſchließe; ja, daß er ſchlafend allerlei Geheimniſſe ausplaudre. Madame Simonelli neckte ihn einigemale mit einer verlaſſe - nen Liebe! Madame Amelot laͤchelte dabei vor ſich hin, und Anton glaubte ſeinen Ohren kaum trauen zu duͤrfen, als er die ſchoͤne Frau lispeln hoͤrte: Till - tonque , was hoͤchſt wahrſcheinlich Tieletunke bedeuten ſollte. Dieſen Liebenauer Spottnamen konnte man nur aus ſeinem Munde vernommen und er konnte ihn nur im Traume verrathen haben?! Man hatte ihn alſo belauſcht, waͤhrend er ſchlief? Und mit welcher Abſicht? Offenbar, um ſich zu uͤber - zeugen, ob er auch vorſichtig mit Feuer und Licht umgehe? Denn damit war nicht zu ſpaßen; das ſah262 er ſelbſt ein; er fand es billig, daß er kontrollirt werde.

Aber er verſpuͤrte doch auch ein Luͤſtchen, gelegent - lich zu belauſchen, wer ihn belauſche, das iſt ihm auch nicht uͤbel zu deuten.

Nun ſoll aber Einer nur mit Ungeduld auf etwas harren, dann geſchieht es gewiß nicht. So ging es Anton. Seitdem er auf eine Lauſcherin lauert, will ſich keine einſtellen. Er findet es bald laͤcherlich, die ſchoͤne Schlafſtunde ſich durch Neugier zu verkuͤm - mern. Er giebt das Lauſchen auf und ſchlaͤft wieder. Er traͤumt auch. Der Traum fuͤhrt ihn nach Lie - benau. Doch kehrt er nicht heimlich heim, wie er ent - floh. Nein, oͤffentlich, prunkvoll; er haͤlt einen Triumpfzug. Die Beſtien der Menagerie haben ihn zum Herren erwaͤhlt. Er ſteht, die Geige ſpielend, auf einem goldenen Wagen, der mit Kraͤnzen umhan - gen und ausgeſchmuͤckt iſt; und nicht etwa mit gewoͤhnlichen Blumenkraͤnzen, wie jeder andere Triumphator dieſelben haben koͤnnte. Ei, behuͤte! Bunte Voͤgel ſind es, die Guirlanden bilden: Ara’s, Kakadu’s, ſeltenſte Papageyen, Lori’s und Peruͤchen jeder Art und Farbe haͤngen mit den Schnaͤbeln ſich verkettend und ineinander ſchlingend zuſammen. 263Loͤwen und Tiger ziehen den Wagen. Ein Mandrill und ein Pavian reiten, erſterer auf einer trefflich zuge - rittenen Hyaͤne, der andere auf einem Paß gehen - den Lama daneben her. Strauß und Kaſuar fuͤhren den Zug an; unzaͤhlige kleine Affen folgen ihnen paarweiſe, ſich die Pfoten reichend, wie Schulkinder bei einer Prozeſſion. Der Eisbaͤr traͤgt einen Pelikan im Rachen, ohne ihn zu beſchaͤdigen.

Jm Allgemeinen wird vortrefflich Takt gehalten, denn jeglich Geſchoͤpf lauſchet auf Anton’s Geige. So gelangen ſie bis in die Weinlaube. Die Pforten des Schloſſes ſpringen auf, ſobald der Strauß mit dem Schnabel drei Schlaͤge dagegen gethan.

Ottilie tritt heraus!

Tieletunke! ruft Anton, ſpringt vom Wagen, achtet nicht das Zetergeſchrei mehrerer Affen, denen er unſanft auf die Schwaͤnze tritt, bricht ſich Bahn zur Freundin der Kindheit, da erſcheint, er weiß nicht, woher ſie ſo ploͤtzlich kommt, Madame Amelot, das Schloßfraͤulein an Schoͤnheit hell uͤberſtrahlend, ſchiebt Ottilien zur Seite und fragt laͤchelnd: mais comment peut on aimer ce qui s’appelle Tillton - que? Anton will ſich vertheidigen, das Traum - geſicht zerſtiebt, er erwacht, waͤhnt noch die264 letzten Worte zu hoͤren, und ſieht am entgegen - geſetzten Ende der Bude durch den Ausgang eine weibliche Geſtalt entſchluͤpfen, die auffallende Aehn - lichkeit mit Madame Amelot verraͤth!

Comment peut on aimer ce qui s’appelle Tilltonque?

Dieſe ſeltſame Frage nahm er mit in ſein Bett; begab ſich jedoch am naͤchſten Morgen nach einem Buchladen, woſelbſt er das beſte Woͤrterbuch und die beſte franzoͤſiſche Sprachlehre, ſo fuͤr Geld zu haben waren, kaͤuflich an ſich brachte. Denn er fand es geziemend, ſich ſo gut und richtig wie nur immer moͤglich, in einer Sprache ausdruͤcken zu lernen, welche die Mutterſprache einer Dame ſei, die er als die Tochter ſeiner Gebieterin zu verehren habe.

265

Zweiundzwanzigſtes Kapitel.

Man verläßt P. und reiſet nach D. Anton bleibt dumm und blind. Ein Tiger und ein Bär verſuchen ihm die Augen zu öffnen; doch er ſchließt ſie wieder.

Alſo Madame Amelot ſollte die Lauſcherin gewe - ſen ſein? Mir iſt das ziemlich klar. Und auch Dir, mein junger Leſer, wird es nicht unwahrſcheinlich vorkommen.

Die Leſerin freilich ſchuͤttelt das Koͤpfchen, als wollte ſie aͤußern: wunderliche Geſellſchaft, mit der man in dieſem Buche zuſammen trifft!

Meine Gnaͤdige, ich muß Jhnen Recht geben: Sie iſt etwas gemiſcht, dieſe Geſellſchaft, und der Autor hat gewichtige Gruͤnde, vorauszuſetzen, daß ſie noch gemiſchter werden wird.

Doch erlaub ich mir, zu erinnern, wie der Titel meines Romanes mich im Voraus ſchuͤtzt und gegen derlei Beſchwerden rechtfertiget. Wer ſich unter Va - gabunden begiebt, muß auf das Schlimmſte gefaßt ſein. Jch kann’s nicht aͤndern. Jch verarbeite meinen Stoff, wobei ich mich verpflichte, dieß ſo ſittſam und ruͤckſichtsvoll zu thun, als ſich mit Wahrheit und Natuͤrlichkeit vereinbaren will. Es iſt ſo und nicht anders: Madame Laura Amelot war die Lauſcherin. 266Jedes Kind muß das begreifen. Nur unſerem Kinde Anton war es noch nicht deutlich. Seine Beſcheiden - heit ließ ihn nach langem Zweifeln, Beſinnen, Erwaͤ - gen zuletzt in’s Klare kommen, er habe ſich, noch halb im Traume, getaͤuſcht; die Erſcheinung ſei nicht wirk - lich, ſie ſei ein Spiel ſeiner Einbildung geweſen, denn, wie kaͤme Madame Laura dazu? ... ach, nicht daran zu denken!

Mochte Madame Amelot ihn taͤglich uͤber ſeine Fortſchritte im Franzoͤſiſchen pruͤfen; mochte ſie ihn bei jeder Gelegenheit auffordern, ihr ein deutſches Liedchen zu ſingen, und dabei ſeine liebliche Stimme loben; mochte ſie ihm ſogar Unterweiſung im Gui - tarre-Spiel angedeihen laſſen; mochte ſie franzoͤſiſche Chanſon’s mit ihm einuͤben und ihm dabei die Ver - ſicherung geben, ſeine Ausſprache ſei fuͤr einen Deut - ſchen bewunderungswuͤrdig; mochte ſie endlich, mit klaren Worten ſeiner ſtillen Abendſtunden, ſeiner Phantaſieen auf der Geige, ja mochte ſie ſeiner Traͤume neckend gedenken! Er blieb ein - fuͤr alle - mal blind.

Madame Simonelli hatte in P. gute Geſchaͤfte gemacht. Ueber Gn. und Brg. war ſie, ſammt ihrem Gefolge von Menſchen und Thieren, bis D. gedrungen. 267Monate ſind verfloſſen. Der Fruͤhling iſt da. Alles ringsumher ahnet friſches Leben und Streben. So - gar die Voͤgel, die armen Gefangenen, an ihre Stan - gen gekettet, erwachen aus froſtigem Winter-Phlegma und wechſeln zaͤrtliche Worte. Nur Anton ſpuͤrt nicht, was um ihn her geſchieht? Er lebt in ungeſtoͤrtem Eifer ſeinen Pflichten; lernt daneben fleißig aus ſei - ner Sprachlehre; uͤbt Guitarre und Geſang; ſchreibt zierlich Noten, (ein Erbtheil des ſeeligen Groß - vaters!) lieſet allerlei gute Buͤcher aus Leihanſtal - ten, und wuͤrde ſich gluͤcklich fuͤhlen, wenn nicht zweierlei unangenehme Empfindungen bisweilen dieſe genuͤgſame Zufriedenheit unterbraͤchen. Erſtlich ent - behrt er den ſtillen wehmuͤthigen Frieden ſeiner dunklen Abendſtunden, die theils in dem Maße ſchwinden, als der Tag wieder zunimmt, theils nicht mehr die alte Wirkung auf ihn uͤben, ſeitdem mit den Erinnerungen an Liebenau ſich Erinnerungen an jene getraͤumte Erſcheinung der holden Laura durchweben. Zweitens aber plagt ihn haͤufig eiferſuͤchtiger Verdruß, den er nicht zuruͤckzuweiſen vermag, wenn junge Herren mit Madame Amelot plaudern. Beſonders zuwider ſind ihm darin die ſchoͤnen Offiziere. Sie benimmt ſich zwar durchaus vorwurfsfrei, dennoch, was268 haben die Menſchen mit ihr zu verkehren? denkt er. Sie haben ihr Eintrittsgeld bezahlt, um die Thiere zu betrachten, und wenn ſie etwas Naͤheres über dieſe in Erfahrung bringen wollen, wofuͤr bin ich denn da? Madame iſt nicht als Menagerie-Waͤrter ange - ſtellt. Die Zierbengel ſind mir unausſtehlich! Jm Uebrigen war er ganz zufrieden.

Da kam einmal ein ſchoͤner Pfingſtſonntag. Die Bude war, des Gottesdienſtes halber, geſchloſſen; die anderen Waͤrter, als gute katholiſche Chriſten, hoͤrten ihre Meſſe. Anton hatte die Wache. Lieblich drang der Feſttags-Sonnenſchein durch die Fugen des hoͤlzernen Hauſes, daß von ſeiner Waͤrme durchdrun - gen, ſo manches alte Brett zu leben anfing und per - lendes Baumharz aus durchſichtigen Knoten und Knorren ſchwitzte, wodurch ein aromatiſcher Duft verbreitet wurde, der Anton mit heimiſcher Mahnung an die Nadelholzwaͤlder um Liebenau, an den Weg nach dem Fuchswinkel erinnerte. Langſam ging er den langen leeren Raum auf und ab, voruͤber bei den Kaͤfigen der Thiere, welche uͤppig und faul dahin geſtreckt lagen, jedes in demjenigen Winkel ſeines Kerkers, wohin ein Sonnenſtrahl reichen mochte, den der bunte glatte Pelz ſehnſuͤchtig einſaugte, als ſei er269 fuͤr ſie, die Heimathloſen, auch ein Gruß aus der gluͤhenden Heimath. Nur Bradipus ursinus zeigte ſich unruhig, Anton’s Schritte und Tritte mit luͤſter - ner Lebhaftigkeit verfolgend, wie wenn er ihn auf ſich aufmerkſam machen wollte. Er fuͤhlte ſich vernach - laͤſſiget. Und das mit Grund. Sein Goͤnner hatte ihm ſchon ſeit Wochen jene Naͤſcherei vorenthalten, womit er ihn den ganzen Winter hindurch ſo reichlich beſchenkt: die Aepfel wurden ſchon ſelten und theuer.

Ja, druͤcke Dich nur an die Staͤbe, ſagte Anton, wie ihn der Spaziergang wieder in die Naͤhe des lechzenden Baͤren fuͤhrte; das hilft Dir nichts. Die Aepfel gehen zu Ende. Was noch Ertraͤgliches zu finden iſt, das heb ich meinen Damen auf, fuͤr den Tiſch. Madame Laura liebt Aepfel zum Deſſert; und daß Madame Laura Amelot, geborene Simonelli, Dir vorgeht, wirſt Du begreifen, dummer Toͤlpel; nicht wahr? Sollte man nicht darauf ſchwoͤren, daß Beeſt verſtaͤnde, was ich ihm vorrede? Wie es mich anſchaut! Voͤllig mit menſchlichem Blick! Ha, Du giebſt Pfote? Du kokettirſt mit mir, Monſtrum? Jetzt ſitzt es auf den Hinterbeinen, wie ein bittender Mops. Und wie hoͤflich! Vor lauter Haͤßlichkeit wird es ſchoͤn! Nun gut, weil Du gar ſo haͤßlich biſt, und270 weil wir Pfingſten haben, heute noch einen. Aber merk Dir’s, Ungethuͤm, den letzten! Pour toute la dernière fois, bis die neuen Aepfel kommen! Wenn ich dann noch bei euch bin, ſetzte er hinzu, mit einem Seufzer, deſſen Bedeutung zu erklaͤren, ich nicht unternehme.

Er begab ſich nach dem Hintergrunde, wo durch angekettete Doggen bewacht, die zuſammengeſchobenen Fourgon’s ſtanden und wo er in einem derſelben eine Art von Vorrathskammer angelegt, aus welcher nun der geringſte der noch vorhandenen Aepfel ausgeſucht wurde. Mit dieſem, ihn ſchon von Weitem vorzei - gend, kehrte er zum Standort des zottigen Naͤſchers, neckte ihn ein Weilchen, reichte ihm die erſehnte Frucht, zog ſie wieder zuruͤck, und ſpielte ſo mit dem unbe - huͤlflichen Geſchoͤpf, uͤber ſeine fruchtloſen Anſtrengun - gen lachend. Da klapperte es an der Kaſſenthuͤr, die zwar inwendig zugehackt, ſich durch vertraute Hand von außen leicht oͤffnen ließ. Anton wendete das Geſicht nach dem Eingang. Die er mit ihrer Mutter in der Kirche gewoͤhnt, Laura trat ein.

Jch muß doch ſehen, ſprach ſie, wie ein Ketzer, ein Huguenot (ſie redeten immer franzoͤſiſch mit ein - ander), ſeine Andacht am heiligen Pfingſtfeſt begeht?

271

Wer ſeine Pflicht erfuͤllt, Madame, iſt immer in der Kirche. Das iſt der beſte Gottesdienſt; wie meine Großmutter, Gott goͤnn ihr die Seeligkeit, zu ſagen pflegte.

O Heuchler, der ihr ſeid! Jſt das Pflicht, mit dem haͤßlichen Thiere zu ſpielen?

Eines geht mit dem andern, Madame. Waͤh - rend ich hier Wache halte, thu ich meine Schuldig - keit; und waͤhrend ich meine Schuldigkeit thue, ſpiel ich mit dem haͤßlichen Thiere.

Wißt ihr nicht beſſere Spiele, als mit ſo garſtigen Geſchoͤpfen?

Freilich wohl moͤcht ich lieber mit ſchoͤnen Ge - ſchoͤpfen ſpielen, aber dann wuͤrde die Frage entſtehen, ob dieſe mit mir

Er fuͤrchtete, eine Ungezogenheit begangen zu haben, weil er bei dieſen kuͤhnen Worten Laura fixirt. Deshalb brach er ab, ſchlug die Augen nieder und hielt, waͤhrend er mit der rechten Hand verlegen an ſeiner Uhrkette zupfte, mit der linken dem Pſeudo - Rieſenfaulthier den langerſehnten Apfel vor. Petz machte ſeine lange Schnauze ſo lang ſie reichte, er - wiſchte jedoch den Apfel nur halb, ließ ihn, zahnlos wie ſein Rachen faſt war, wieder fallen und der Apfel272 rollte, die Bretter vor den Kaͤfigen entlang, nach der linken Seite hin. Anton, immer noch ohne die Augen aufzuſchlagen, ſuchte tappend mit der Linken den rol - lenden Apfel einzuholen; doch eben als er ihn erfaßte, vernahm er aus Laura’s Munde die kaum hoͤrbar ge - hauchten Worte: um der Liebe Gottes Willen, bewegt euren Arm nicht, ruͤhrt euch nicht von der Stelle. Zugleich empfand er auf der Oberflaͤche ſeiner Hand eine leiſe Beruͤhrung derſelben, wie von feinen Haa - ren. Der empfangenen Weiſung gehorſam, ohne ihren Sinn noch zu ahnen, ſchlug er jetzt die Augen zu Madame Amelot fragend auf und ſah ſie todten - bleich, erſtarrt vor ſich ſtehen. Er folgte mit den Augen ihrem Blick, der auf ſeine linke Hand geheftet blieb, da ſah er, wie uͤber ihr und dem Apfel die Kralle des naͤchſten Nachbars, des großen bengaliſchen Tigers ſchwebte. Ein Druck dieſer Kralle und Anton’s Hand war zermalmt. Eh er aber noch die blutige Gefahr recht uͤberſehen konnte, hatte ſchon ein Hieb, den Laura mit dem umgekehrten, ſilberbeſchla - genen Stabe ihres Sonnenſchirms, eben ſo geſchickt als kraͤftig fuͤhrte, den Tiger heftig auf den Knochen getroffen, ſo daß dieſer ſeine Tatze auf nur einen fluͤchtigen Moment erhob und zuruͤckzog. Anton273 benuͤtzte natuͤrlich dieſen Moment eben ſo raſch, aber kaum war ſeine Hand, die den Apfel nicht losließ, gerettet, ſo ſchlug auch ſchon des Tigers gewaltige Klaue wie der Blitz in das Brett, genau auf die Stelle, wo Hand und Apfel gelegen, daß die Spaͤne umherflogen.

Noch ſammelte Anton paſſende Worte, um ſeiner Retterin fuͤr dieſe reſolute Beihuͤlfe zu danken, .... Laura bleicher wie zuvor, entfaͤrbte ſich immer leichen - aͤhnlicher ſie ſchwankte, ſie waͤre zu Boden geſunken, haͤtte Anton ſie nicht aufgefangen und be - hutſam nach dem bewußten Hintergrunde geleitet, wo er ſie auf uͤberfluͤſſig vorhandene Decken ſanft nieder - gleiten ließ .......

Dergleichen Auftritte geben Romanſchreibern haͤu - ſig Gelegenheit, wunderliche Vorgaͤnge zu ſchildern, bei deren umſtaͤndlicher Auseinanderſetzung ihre Feder gern verweilt. Wer von meinen Leſern Roman - Leſer ſein ſollte, hier auch von mir erotiſche Scherze zu erwarten, findet ſich getaͤuſcht. Laura iſt eine zu lebensfriſche, natuͤrliche Frau und Anton ein viel zu dankbares, aufrichtiges Gemuͤth, in dieſem Augen - blicke an etwas Anderes zu denken, als an den Augenblick ſelbſt.

Die Vagabunden. I. 18274

Sie erholte ſich bald. Als er ihr Dank ſtammeln wollte, gebot ſie ihm Schweigen, reichte ihm ihre Rechte, forderte jedoch ſeine Linke, betrachtete dieſelbe forſchend und nachdem ſie ſich uͤberzeugt, daß keine Verletzung ſtattgefunden, ſagte ſie: waͤr es doch gar zu Schade geweſen, um Finger, welche den Saiten ſo zitternde Toͤne zu entlocken verſtehen! Kuͤnftig ſein Sie vorſichtig: mit reißenden Thieren und koketten Weibern kann ein junger Mann gar nicht vorſichtig genug ſein. Und dann, fuhr ſie fort, ſeine Hand noch immer feſt haltend, geben Sie mir ein Verſprechen: Das iſt, mit niemand zu reden von dem, was jetzt hier geſchehen iſt; keine Silbe! Hoͤren Sie wohl? Auch mit meiner Mutter nicht.

Als Anton ſchweigend und ſich neigend bejahte, ſpuͤrte er einen kurzen, doch kraͤftigen Druck jener Hand, welche die ſeinige hielt. Bevor er ihn erwie - dern koͤnnen, waren beide Haͤnde getrennt und Laura ſchied, ohne ſich im Fortgehen nach ihm umzu - blicken.

Mit niemand ſoll ich davon reden? Gut! Aber warum nicht? Damit meine Unvorſichtigkeit nicht kund werde? Was thut mir das? Die Andern wiſſen laͤngſt, daß ich und der Tiger auf geſpanntem Fuß275 leben und ſie koͤnnen ſich ja nur freuen, wenn ſie hoͤren, wie ich mit heiler Haut davon gekommen bin? Wa - rum ſollen ſie’s denn nicht erfahren? Die Madame bringt’s doch wahrhaftig keine Schande, mich ſo klug und muthig beſchuͤtzt zu haben? Das macht ihrem Herzen nur Ehre! Sie ſchien ſo theilnehmend, ſo erſchreckt, ſo ohnmaͤchtig, als es uͤberſtanden war; ſie haͤtte nicht mehr Mitgefuͤhl zeigen koͤnnen fuͤr ihren .........

Ja, da fehlte ihm das rechte Wort. Zwiſchen Bruder, Gatte, Liebhaber ſtand ihm die Auswahl frei. Gatte fand er nicht paſſend, weil ſie von dieſem getrennt lebte. Bruder war nicht vorhan - den, weil Madame Simonelli nur ein Kind beſaß. Liebhaber ? Todesblaͤſſe, Ohnmacht, Haͤnde - druck zogen noch einmal an ihm voruͤber. Sein Monolog verlor ſich in unverſtaͤndliches Gemurmel. Die Augen auf jene Decken richtend, auf denen ſie in Ohnmacht gelegen, bemerkte er den Apfel, den er fal - len laſſen, um ſie zu halten. Er hob ihn auf, trug ihn zum Kaͤfig des Baͤren, ſteckt ihn laͤchelnd und liebkoſend in deſſen Ruͤſſel und ſagte zaͤrtlich: wenn das kein Jrrthum iſt, was jetzt in mir vorgeht, ſo18 *276ſollſt Du Aepfel freſſen, mein Alter, dieweil fuͤr Geld Aepfel zu haben ſind. Und die beſten! Das ſchwoͤr ich Dir.

Dreiundzwanzigſtes Kapitel.

Michaletto Sanchez. Vergleichungen zwiſchen ſeinen und Laura’s Zähnen. Anton führt ein Tagebuch.

Waͤhrend des Mittageſſens, bei welchem Anton ſtets die Wahl hatte, zwiſchen den Rollen eines an Koͤniglicher Tafel aufwartenden Lakaien, oder eines zur Tafel gezogenen Kammerherrn, denn er bekleidete ſtreng genommen beide Chargen; benahm ſich Laura, wie wenn durchaus nichts vorgefallen waͤre. Gleich - guͤltig, unbefangen, artig. Anton fuͤhlte ſich mehr - fach verſucht, ſeine Linke verſtohlen zu betrachten, ob ſich nicht vielleicht Spuren des fluͤchtigen Druckes, Blutmale einer gluͤhenden Beruͤhrung vorfaͤnden. Die Hand ſah aus, wie gewoͤhnlich und brannte dennoch in’s Herz hinauf.

Madame Simonelli war uͤbler Laune. Jhr Permiſſionaͤr, der in K. die noͤthigen Voranſtalten treffen ſollte, meldete ihr, daß ihm der Reiſende fuͤr277 die große Reitertruppe des Herrn Guillaume begegnet ſei und daß erſterer heute noch in D. eintreffen werde, um uͤber Hals und Kopf einen Sommercirkus errich - ten zu laſſen. Sie wollen heut uͤber acht Tage ſchon anfangen, ſagte ſie aͤrgerlich. Das verdirbt mir den Platz. D. waͤre noch fuͤr einen Monat gut geweſen, wenn wir ’s allein fuͤr uns behielten. Jetzt iſt ’s aus. Wer einmal bei uns war, traͤgt jetzt ſein Geld zu den Reitern, waͤhrend er ohne dieſe noch etlichemale uns beſucht haͤtte. Nun kommen wir zu fruͤh im Sommer nach K. Unterweges in E. und Br. wird nicht viel zu machen ſein. Und ich haͤtte mir K. ſo gern fuͤr den Winter aufgeſpart!

Alſo in acht Tagen ſchon geht es fort von D.? fragte Anton.

Ja, mein Junge. Bald nachdem Guillaume angefangen hat. Am liebſten braͤch ich auf, eh er noch eintrifft, denn wir ſind nicht die beſten Bruͤder, ich und er. Aber es geht nicht. Sie ruͤcken mir zu raſch auf den Hals. Einige Tage hindurch werden wir uns in das Geld der D. -ger theilen muͤſſen, ſo gut und ſo ſchlecht es geh’n will. Man klopft. Sieh nach, Anton und wenn es etwa gar ſchon Herr Guillaume waͤre, der uns beſuchen will ....

278

So bin ich nicht ſichtbar! rief Laura heftig und ſchickte ſich an, die Flucht zu ergreifen. Doch augen - blicklich warf ſie ſich wieder voͤllig beruhiget in ihren Seſſel, denn die Thuͤr war mittlerweile aufgegangen und eingetreten war ein kleiner, derber Mann von etwa fuͤnfzig Jahren, deſſen ſchwarze Augen uͤber eine krummgebogene Naſe heruͤber in’s Zimmer leuchteten, wie wenn ſie Alles in Brand ſtecken wollten. Er trug einen dunklen Schnurrbart, welcher mit einem weißgrauen doch vollem Lockenkopfe ſeltſam kontra - ſtirte. Gekleidet war er halb ſtutzerhaft-elegant, halb abgeſchabt-aͤrmlich. Mit ausgeſucht verbindlichen Manieren naͤherte er ſich Madame Simonelli, die ihm ſogleich wie einem alten Bekannten die Hand zum Kuͤſſen entgegenſtreckte. Von ihr zu Madame Ame - lot gewendet, laͤchelte er dieſer, die reinſten und ſchoͤn - ſten Zaͤhne fletſchend, eine ſchmeichleriſche Huldigung ihrer taͤglich wachſenden und reicher bluͤhenden Reize zu, und nahm ſodann, wie wenn er eingeladen und nur wichtiger Geſchaͤfte halber zu ſpaͤt erſchienen waͤre, ſeinen Platz am Tiſche, wozu er den eben leer gewor - denen Stuhl Anton’s benuͤtzte. Dieſer brachte das Deſſert, ſtellte es auf und ſchob einen Teller mit prachtvollen Aepfeln vor Laura, wobei er ſie anſah,279 als wolle er ſie an die Apfelſcene des Morgens mah - nen. Nachdem er dies gethan, machte er Miene, ſich zu entfernen.

Madame Amelot jedoch ließ das nicht geſchehen. Sie rief ihn zuruͤck, hieß ihn, ſich einen vierten Stuhl holen, lud ihn ein dieſen zu benuͤtzen und ſtellte ihn, da er zoͤgerte, dem Fremden in aller Form als Antoine, Diener und Freund des Hauſes vor. Worauf der kleine Herr ſich voll militairiſchen An - ſtands erhob und die Damen erſuchte, ihn gleichfalls zu praͤſentiren. Solche Muͤhe uͤbernahm Madame Mutter : ſie bezeichnete und nannte den weltbe - ruͤhmten Herrn Michaletto Sanchez, Kuͤnſtler und Vater dreier allerliebſten Toͤchter, die als Equilibri - ſtinnen und Drahttaͤnzerinnen ihres Gleichen ſuchen!

Michaletto wie Anton verbeugten ſich gegenſeitig, dann ſetzten ſie ſich wieder; Madame Simonelli kre - denzte ein großes Glas Bordeaux und Kuchen, Kaͤſe, Aepfel u. ſ. w. wurden, wie man ſich heut zu Tage daruͤber ausdruͤckt: in Angriff genommen.

Woher kommen Sie mein alter Freund Sanchez? fragte die Simonelli. Wie geh’n die Geſchaͤfte?

Abſcheulich, antwortete dieſer, waͤhrend er mit der Rechten ein Stuͤck Cheſterkaͤſe, mit der Linken280 einen halben Borsdorfer ſeinen allerdings zur Zer - malmung hoͤchſt faͤhigen und geeigneten Kau-Werk - zeugen uͤberantwortete; abſcheulich, erbarmungswuͤr - dig. Dieſer dicke Hahnrei von Guillaume mit ſeinen vierbeinigen Huͤlfstruppen hat mir K. totalement verdorben. Wir ſind nun hierher nicht gereiſet, viel - mehr geflogen, um ihm wenigſtens den Vorrang von einigen Tagen hier in D. abzugewinnen, die wir benuͤtzen wollen, ehe ſein verfluchter Reitſtall fertig wird. Wir fangen morgen an, in einem Salon; ja wohl, nur in einem Salon, ausſchließlich fuͤr die Nobleſſe; Eintrittsgeld ein harter Thaler. Wie? Ah, nicht zu viel. Bei’m heiligen Blute, zu wenig! Sofia ſtellt jetzt andaluſiſche Raͤuberſcenen auf dem Drahte dar, im rothen Mantel, die Flinte dabei, ſie ladet, ſie ſchießt, und dieſe Drapirungen! Sie werden ſehen und ſtaunen. Liſette geht noch immer mit den Beinen oben an der Decke, aber ungleich raſcher und gewandter als vor drei Jahren; ſo lange iſt’s her, daß wir uns trafen? wie? Damals hatte ſie dieſe Force noch nicht. Roſalie, die juͤngſte, iſt ein Satan von Schoͤnheit und Bravour, Sie arbeitet auf dem Schlappſeil. Fruͤher mein Genre, wie Sie wiſſen. Jch war bekannt; ich war ein wenig bekannt, darf281 ich die Ehre haben zu verſichern. Jn Madrid ließen ſie die Stiergefechte leer, wenn es hieß: Michaletto wird arbeiten. Was brauch ich die Stiere zu ſehen, rief Einer dem Andern zu, haben wir nicht Michaletto Sanchez? Das thut wohl, mein Herr! Gut! Bei allen Heiligen, wenn es moͤglich waͤre, ſo wuͤrd ich ſagen: Roſalie uͤbertrifft mich. Sie nimmt noch einen wilderen Schwung. Wolle Gott und ſeine Engel, daß die Mauern des Hauſes feſt ſtehn moͤgen, wo wir unſern Salon gemiethet haben, ſonſt reißt ſie Alles zuſammen. Und dann muͤſſen Sie bewundern den Leuchter-Tanz, ausgefuͤhrt von Liſetta und Sofia. Der iſt ganz neu, nie ſonſt produzirt; meine Jnven - tion. Darin iſt vereiniget Grazie, Kraft, Balance, Ausdauer. Der Buͤrgermeiſter von X. ein Mann in meinem Alter, gerieth in eine ſo heftige Leidenſchaft, als er dieſen Leuchter-Tanz geſehen, daß er ſich entſchlie - ßen wollte, mit uns zu gehen. Vater Sanchez, ſprach er zu mir, Du haſt keinen Bajazzo; aus Liebe fuͤr dieſe himmliſchen Geſtalten will ich mit Dir ziehen, will Dir als Bajazzo dienen, damit ich nur taͤglich dieſen Anblick genießen koͤnne! Gluͤcklicherweiſe hat ſeine Gattin ihm keinen Urlaub ertheilt, ſonſt waͤre282 jene Stadt gegenwaͤrtig ohne Oberhaupt. Schrecklich, aber wahr!

Madame Simonelli fand Vergnuͤgen an Micha - letto’s Geſchwaͤtz, weshalb ſie fleißig ſein Glas fuͤllte, um ihn noch geſpraͤchiger zu machen.

Anton, anfaͤnglich ſehr geneigt, zu glauben, was er hoͤrte, ſchenkte volle Aufmerkſamkeit. Wie er jedoch wahrnahm, daß Laura ſich langweilte und un - verhohlen gaͤhnte, wendete ſich ſeine Aufmerkſamkeit vom luſtigen Prahler auf ſie und er beſchaͤftigte ſich ernſtlich mit Vergleichungen, die er zwiſchen dem Ge - biß des begluͤckten Vaters und jenem der gaͤhnenden Schoͤnheit anſtellte, wobei er ſich immer tiefer im Anſchauen ſolcher Schoͤnheit verlor.

Weil aber Vater Sanchez nicht muͤde wurde in Verzuͤckung zu gerathen uͤber ſeine drei Toͤchter, ſo leitete die ofterwaͤhnte Dreizahl unſeren Liebenauer allgemach auf Onkel Naſus hin, der ja ebenfalls dreier Toͤchter Vater geweſen. Hoͤchſt natuͤrlich gerieth er dabei auf Tieletunke und eh er ſelbſt noch wußte, daß er mit ſeinen Gedanken bei dieſer ſeiner kindlichen Liebe weile, war er ſchon von den Vergleichungen zwiſchen Laura’s und Michaletto’s Zahnreihen, zur283 Vergleichung zwiſchen den Perſonen des juͤngſten Freifraͤuleins von Kannabich und Madame Laura Amelot uͤbergegangen.

Einen gefaͤhrlicheren Uebergang konnt es fuͤr ihn kaum geben.

Jetzt darf ich nicht laͤnger verſchweigen, daß ich ein rein gehaltenes, ſauber geſchriebenes, blaͤtterreiches Manuſkript beſitze, aus welchem ich ſchoͤpfe: Anton’s Tagebuch! Selbſtgeſtaͤndniſſe nennt er’s.

Wir werden kuͤnftig erfahren, wie ich dazu ge - langte. Er hat damit angefangen, auf einzelne Blaͤt - ter die Eindruͤcke niederzuſchreiben, die allerlei Erleb - niſſe auf ihn gemacht. Das hat er ſchon in Liebenau gethan und auf Reiſen fortgeſetzt. Erſt ſpaͤter hat er das Vorhandene zu einem Ganzen geſammelt.

Gewiß koͤnnt ich mir meine biographiſche Arbeit oft gar ſehr erleichtern, wenn ich daraus woͤrtlich ab - ſchriebe. Doch da ein ſolches Verfahren dem Buche nachtheilig werden muͤßte, durch einſeitige Auffaſſun - gen und vorzuͤglich im Beginn ſeiner Erfahrungen, noch ſehr beſchraͤnkte Lebensanſichten, hab ich vorgezogen als Autor das Wort zu nehmen und im Namen meines Helden zu ſprechen. Manche Zuſtaͤnde aber eignen ſich beſſer, Denjenigen ſelbſt-redend ein -284 zufuͤhren, den ſie zunaͤchſt betreffen. Deshalb ſei mir geſtattet, hin und wieder ein Blatt unveraͤndert einzuſchalten. Wenn ſich dies im Laufe der Geſchichte von Zeit zu Zeit wiederholt, duͤrften ſolche Zitate auch das beſte Zeugniß ablegen, uͤber die fortſchreitende, geiſtige Entwickelung eines jungen Mannes, der im - mer reifer wird und taͤglich klarer ſieht und denkt. Das naͤchſte Kapitel ſei einigen Auszuͤgen dieſer Gattung gewidmet.

Vierundzwanzigſtes Kapitel.

Laura will deutſch reden. Michaletto’s Töchter. Die Reitergeſellſchaft. Anton zu Pferde. Eiferſucht.

Aus Antons Tagebuch.

Sie iſt viel ſchoͤner, als Tieletunke; viel, viel! beaucoup! Wenn gleich um einige Fruͤhlinge aͤlter. Sie iſt auch ſehr gut, wohlwollend, mitleidig, tugend - haft. O, ſehr. Um ſo erſtaunlicher, weil ſie die Frau eines ruchloſen Mannes war, und eine Menagerie - tochter iſt, weshalb ſie von Kindheit auf unter reißen - den Thieren lebte.

285

Jch gebe mir alle nur erſinnliche Muͤhe, an Ottilie zu denken, wie fruͤher. Seitdem Madame Laura meiner linken Hand zu Ehren in Ohnmacht zu ſinken ſo guͤtig geweſen, muß ich immer an Madame Laura denken. Es faͤllt mir jetzt erſt ein, daß Ottilie von Kannabich auffallend mager war. Laura hat eine Figur wie die braune Baͤrbel, doch ganz in Weiß und Roth. Jhre Haut iſt Sammet; ſie hat auch etwas von Pfirſich-Flaum. Das weiß Madame ſehr wohl. Sie weiß uͤberhaupt, daß ſie ſchoͤn iſt. Sie muͤßte auch taub ſein, wollte ſie es nicht wiſſen, denn die faden Laffen ſagen es ihr von Fruͤh bis Abend. Neulich, als ſie mich im Franzoͤſiſch reden uͤbte, wobei ſie auch verſucht Deutſch zu lernen, was ſie durchaus nicht zu Stande bringt, fragte ſie mich, wie peau auf Deutſch genannt werde? Jch dachte, ſie bezoͤge dieſe Frage auf den Eisbaͤren, vor deſſen Kaͤfig wir juſt ſtanden und antwortete: Fell Pelz. Wie konnt ich anders? Nachher, als wir aus der Bude zum Eſſen gehen wollten, rief ſie mir zu: An - toine, Sie mir geb der Paraſol, ohne das, der Sonn mich verbrenn mein Fell-Pelz! Da war ſie ſo ſchoͤn, wie ſie das ſagte, daß ich ihr am Liebſten auf offener286 Straße zu Fuͤßen geſtuͤrzt waͤr! Aber ich huͤtete mich wohl.

Geſtern ſind wir Abends in der Vorſtellung des Herrn Michaletto Sanchez geweſen: Madame Si - monelli, Madame Laura und ich. Beinah waͤr ich zuruͤckgeblieben. Jch war in meiner gewoͤhnlichen Tracht und wollte die Frauen als Diener geleiten. Das war auch der Frau Mutter ganz recht. Laura jedoch beſtand darauf, daß ich die hohen Stiefeln und kurze Jacke ablegen, und den braunen Tuchrock an - ziehen mußte, den ich mir fuͤr die Kirche hab machen laſſen. Jch mußte mich auch neben ihnen hinſetzen. So lange die drei Sanchez’ſchen Maͤdchen arbeiteten, ließ mich Madame Amelot nicht aus den Augen. Jch mag wohl ſehr kurioſe Geſichter gemacht haben, vor Erſtaunen.

Der Leuchter-Tanz iſt wirklich wunderhuͤbſch. Das heißt, die Leuchter tanzen nicht, und die Maͤd - chen tanzen eigentlich auch nicht. Wie man’s nehmen will. Die Eine ſteht mit dem linken, die Andere mit dem rechten Fuß, jede auf einem großen vergoldeten Leuchter. Jhre beiden andern Beine ſchweben in der287 Luft. Mit dem einen Arme halten ſie ſich umſchlun - gen, der andere hilft balanciren. Sie ſind angekleidet wie Pagen, oder ſo etwas. Beide ſehr gut gewachſen; es ſieht alſo allerliebſt aus, doch find ich es nicht recht ſchickſam. Die oberen Theile der Leuchter ſind eingerichtet, daß ſie ſich leicht drehen und nun fangen die beiden Frauenzimmer ſich zu wenden an, und wechſeln Seiten und Arme, und biegen ſich vor und zuruͤck, und verfertigen die kunſtvollſten Stellungen. Einigemale meint ich, ſie muͤßten herunter purzeln. Aber nichts da. Gleich ſind ſie wieder aufgerichtet und ſtehen ſo feſt und gerade, wie wenn ſie wirklich ein paar bemalte Wachskerzen waͤren.

Die Roſalie, die ſich auf dem ſchlaffen Seile ſchwingt, iſt die huͤbſcheſte; das heißt, der Madame Amelot reicht ſie nicht das Waſſer. Doch hat ihr Papa die Wahrheit von ihr geſagt; ſie iſt wirklich ein Satan. Nicht nur auf dem Seile; auch ſo. Hoͤch - ſtens vierzehn Jahr kann ſie haben und doch lieb - aͤugelte ſie mit allen Herren im ganzen Saale. So - gar mit den Alten. Einigemale warf ſie mir recht kecke Blicke zu, und jedesmal, wenn ſie das that, zuckte Madame Amelot mit dem Ellenbogen, als288 wollte ſie mich anſtoßen und mich aufmerkſam machen, daß ich hernach ſchon gar nicht mehr wußte, wohin ich gucken ſollte.

Morgen, oder uͤbermorgen treffen Guillaume’s ein. Jhr Cirkus iſt faſt fertig. Da haben ſich die Zimmerleute geſputet.

Geſtern gab Herr Guillaume ſeine erſte Vor - ſtellung. Prachtvoll! Dieſe Kleidungen; dieſer Reich - thum an Dienern und Muſikern; dieſe vortrefflichen Reiter und Voltigeurs! Ach, und die Pferde! Jmmer eines herrlicher als das andere! Hab ich Wunder gemeint, was unſeres ſeeligen gnaͤdigen Barons Leib - Schecke fuͤr ein Roß waͤre. Na, gute Nacht! Muͤßte das ein Gluͤck ſein, auch ſo herumzujagen und das Jubelgeſchrei der Menſchheit um ſich her zu hoͤren? Die Reiter wurden wie berauſcht davon, ſie ſchrieen zuletzt mit, aus voller Kehle, wenn ſie vorbeiſauſeten, daß mir vom Zuhoͤren und Zuſehen der Athem aus - ging. Solch ein Menſch moͤcht ich ſein, wie der Furioſo; wie der unbeweglich auf ſeinem nackten Roſſe ſtand und das flog unter ihm fort und er ſtand immer feſt. Madame Adelaide iſt recht ſchoͤn; doch mir koͤnnte Demoiſelle Jartour beſſer gefallen: ſie hat289 einen melancholiſchen Zug um die Augen, als ob ſie ungluͤcklich waͤre.

Jch konnte mir’s nicht verſagen, dieſe Perſonen, die mir wie uͤbernatuͤrliche Weſen erſchienen waren, in der Naͤhe anzuſchau’n. Da meine Damen ge - ſchloſſene Sitze hatten und ich unter den ſtehenden Herren mich befand, wurd es mir leicht, nach den Raͤumen zu dringen, wo die Reiter und die Roſſe Toilette machen. Herr Michaletto Sanchez war auch dort, wie wenn er bei ſich zu Hauſe waͤre und ſtellte mich dem Herrn Direktor Guillaume vor. Nein aber was die Menſchen unzuverlaͤſſig und falſch ſind! Das iſt zum Erſchrecken! Der naͤmliche Sanchez, der neu - lich bei uns auf Herrn Guillaume geſchimpft, was er nur herausbrachte, war jetzt, wie wir Franzoſen ſagen, frère et cochon mit ihm, wie mit ſeinem intimſten Freunde. Da verlaſſe ſich Einer auf die Leute!

Herr Guillaume arbeitet jetzt nicht mehr; er macht es ſich bequem, dirigirt das Ganze, ſtreicht das Geld ein und fuͤhrt unterweilen die Peitſche, die er nicht ſchont, wie mir vorkommt. Es waͤre ein ſtatt - licher Mann, wenn er nicht einen ſo dicken Bauch haͤtte.

Sanchez erzaͤhlte mir, daß dieſer Guillaume zuDie Vagabunden. 19290den jungen Eleven gehoͤrt hat, die vor ſo und ſo viel Jahren ein Herr Majeux, oder Mahier, als der Erſte in dieſer Art, mit nach Deutſchland brachte. Weil dieſer ſich Stallmeiſter des Koͤnigs von Spanien titulirte, heißen alle Kunſtreiter in vielen Gegenden Nord-Deutſchlands noch heut zu Tage Spaniſche Reiter , und wenn ſie auch aus Buxtehude kaͤmen. Dieſer Herr Mahier drang mit ſeiner Schaar bis nach der Tuͤrkei und brachte es dahin, im Serail des Groß - herren eine Vorſtellung geben zu duͤrfen. Die meiſten der Schuͤler, die er bei ſich gehabt, ſind ſpaͤterhin Direktoren von eigenen Truppen geworden, denen es gut gehen ſoll, als: Kleinſchneck, Kolter, De Bach, Tourniaire und wie Michaletto ſie nannte. Herrn Guillaume, na, dem geht es gewiß gut. Woher haͤtt er ſonſt ſein Fett?

Seine Gattin, die unter dem Namen Adelaide aufgefuͤhrt wird, ſcheint ſich aber verzweifelt wenig aus ihm zu machen. Sie iſt viel juͤnger als er. San - chez behauptet, der Hanswurſt von der Geſellſchaft waͤre jetzt ihr beguͤnſtigter Liebhaber. Das wird wohl aber eine Verleumdung ſein. Jch kann mir nicht den - ken, wie ſolch eine vornehm ausſehende Dame ihrem Gemal treulos werden, oder gar einen Hanswurſten291 lieben ſollte, der ſich im ſchmutzigen Sande umher waͤlzt und auf dem Kopfe ſteht, wie unſere Affen.

Herr Guillaume war ſehr freundlich gegen mich. Madame auch. Sie muſterten mich und meine ganze Figur, von oben bis unten, wie wenn ſie mich kaufen wollten und fragten mich dann: ob ich nicht Luſt haͤtte, das Metier zu ergreifen? Jch erwiederte, ich wuͤrde mich wahrſcheinlich ſehr ungeſchickt anſtel - len, denn ich haͤtte zeitlebens noch auf keinem Pferde geſeſſen. Nichts deſto weniger, ſetzte ich hinzu, liebte ich die Pferde leidenſchaftlich und waͤre wie bezaubert von dem was ich hier geſehen; ſo daß ich mich im Fieber befaͤnde! Sie luden mich ein, des Morgens manchmal in die Proben zu kommen. Jch koͤnnt es ja, ſagten ſie, ſcherzweiſe verſuchen. Warum nicht; das kann ich wohl thun!

Jch werde nicht einſchlafen, ehe ich nicht die Eindruͤcke des heutigen Tages niedergeſchrieben. Doch bin ich kaum im Stande, die Feder zu fuͤhren, weil mir die Hand zittert. Meine Aufregung iſt fuͤrch - terlich.

Schon ſeit vorgeſtern Abend, ſeitdem ich aus der Guilaume’ſchen Garderobe kam, iſt Madame Amelot19*292von der uͤbelſten Laune geweſen. Jch ſchob das auf ihre Verſtimmung, wegen des großen Succeſſes den die Reiter hatten, der uns die Einnahmen unſerer letzten Tage nothwendig ſchmaͤlern mußte, und dachte nur an den lieben Brodneid, um ſo mehr weil ſich Madame Simonelli ehrlich daruͤber ausſprach.

Geſtern begab ich mich in den Cirkus, waͤhrend der Morgenſtunden, wo bei uns keine Seele anweſend war und ich leicht abkommen konnte. Herr Guillaume empfing mich wie einen willkommenen Gaſt und ließ mir ein Pferd vorfuͤhren, um zu ſehen wie ich mich beneh - men wuͤrde. Mir ſchlug wohl ein Bischen das Herz, aber weil Madame Adelaide und Demoiſelle Adele Jartour zugegen waren, ſchaͤmt ich mich nein zu ſagen und dachte: jetzt iſt ſchon Alles Eins, und ſollt es an den Kragen gehen, geritten muß ſein. Kaum ſaß ich im Sattel, wurde mir zu Sinne, als ob ich darauf geboren waͤre. Gott weiß, wie das zu geht, aber Alle riefen es aus, und ich muß es ſelbſt ſagen: ein geuͤbter Reiter koͤnnte ſich kaum beſſer halten. Niemand wollte mir glauben, daß ich noch nie zu Pferde geſeſſen. Jch tummelte das willige Thier mit leichter Hand laͤnger als eine Stunde hindurch in der Bahn, zum Ergoͤtzen der Truppe; ich wollte mich293 gar nicht von ihm trennen, und waͤre nicht die Speiſe - ſtunde herangeruͤckt, ich ſaͤße, ſcheint mir, noch darauf. Herr Guillaume entließ mich nur, nachdem ich feſt gelobt, wieder zu kommen. Der Stallmeiſter ver - ſicherte mich, ſolches Talent ſei ihm noch nicht begeg - net und ich muͤſſe von Vorfahren abſtammen, die mehr auf dem Pferde, als auf dem Erdboden gelebt haͤtten. Meines Vaters, des Kavallerie-Offizieres gedenkend, wollt ich ſchon zuſtimmend erklaͤren, wie das zuſammenhaͤnge; aber ich gedachte auch meiner armen Mutter und verſtummte wieder.

Bei Tiſche erzaͤhlt ich den Vorfall. Madame Simonelli warnte mich, auf die Avancen, die man mir dort gemacht, nichts zu geben. Sie moͤchten mir, aͤußerte ſie, einen netten Burſchen abſpenſtig machen und Du, mein, Sohn haͤtteſt, wenn Du Dich verfuͤh - ren ließeſt, auch nichts davon, als Reitknecht zu wer - den, mit viel Plage und wenig Geld.

Madame Amelot, die ſchon vorher uͤber Kopf - ſchmerz geklagt, verließ die Tafel, ohne zu eſſen. Jch ſah ſie nicht mehr, den ganzen Tag.

Heute Vormittag, eben wie ich mich zurecht machte, um wieder in die Manège zu gehen, trat ſie in unſere Bude; Pierre und der Rothbart reinigten294 die Kaͤfige; ich hatte die Voͤgel verſorgt und buͤrſtete uͤber meinem Gehrock. Da kam ſie dicht an mich heran und ſagte mir leiſe in’s Ohr: Wenn Sie noch einmal Madame Adelaide ſehen, ſehen Sie mich nie mehr. Sie haben die Wahl. Dabei war ſie faſt ſo bleich, als da ſie am Tiger ihren Sonnenſchirm zer - ſchlug, meine Hand zu retten. Jch fuͤrchtete, ſie werde wieder umſinken.

Doch ehe ich noch antworten konnte, war ſie verſchwunden. Natuͤrlich blieb ich, wo ich war, legte meinen Gehrock wieder in den Kaſten, band eine Schuͤrze vor und half den Knechten, um nur etwas zu beginnen. Aber ich wußte nicht, wie mir geſchehen, noch was ich that. Jch wußte auch nicht, ſollte ich wuͤthend ſein, weil mir das Vergnuͤgen zu reiten unterſagt wurde, oder ſollte ich entzuͤckt ſein uͤber Laura’s Eiferſucht? Denn, daß es Eiferſucht iſt, was ſie zornig macht, daruͤber bleibt mir jetzt kein Zweifel mehr.

Alſo Laura intereſſirt ſich fuͤr mich? Die ſchoͤne ſtolze Frau, meiner Herrſchaft Tochter, fuͤr mich, den Korbmacherjungen? Nein, wenn ſie das in Liebenau wuͤßten!

Eine Stunde ſpaͤter kam Madame Simonelli,295 auch in einer Art von Zorn, oder Aerger, oder Wuth, ich weiß nicht, wie ich es nennen ſoll. Wie halt jemand iſt, der ſich eben heftig gezankt hat, und befahl uns, die eiligſten Anſtalten zur Abreiſe zu treffen. Morgen fruͤh geht es ſchon fort. So geſchwind? Wir haben noch nicht einmal die Affichen aus der Druckerei auf denen die letzte Hauptfuͤtterung angezeigt wurde.

Gern waͤr ich wenigſtens heut Abend in den Cirkus gegangen, die Reiterei noch einmal mit anzu - ſehen. Doch wer duͤrfte ſo etwas wagen? Auch gab es bei uns ſchrecklich viel zu thun. Jetzt ſind wir in Ordnung. Mit Tagesanbruch geht es ab. Fuͤr’s Erſte werd ich weder Zeit noch Raum zum ſchreiben finden. Oh! mein Himmel, was werd ich auf dieſe Blaͤtter zu ſchreiben haben, wenn ich ſie wieder zur Hand nehme?

So weit, fuͤr diesmal, die Auszuͤge aus Anton’s Tagebuche.

296

Sechsundzwanzigſtes Kapitel.

Abreiſe von D. Neuer Aufenthalt in K. Lili’s Park. Roth - und Schwarz - bart lieben ernſthaft; Anton wacht für ſie. Er hat eine Erſcheinung, die nur Schein iſt. Dann noch eine, die Wirklichkeit wird.

Madame Laura Amelot ſcheint denn doch keine gewoͤhnliche Frau zu ſein. Nachdem die Eiferſucht ausgetobt, hat ſie wieder weibliche Faſſung und Wuͤrde gewonnen. Sie benimmt ſich, als waͤre zwi - ſchen Anton und ihr weiter nichts vorgefallen und er weiß abermals nicht, woran er iſt. Wir finden ſie auf der Reiſe durch einige kleinere Staͤdte, in welchen ihr Weilen von ganz kurzer Dauer iſt und holen ſie, nach Verlauf eines Monates etwa, in K. ein, wo ſie ſich des Breiteren feſtgeſetzt haben, ohne daß im Ver - haͤltniß der Liebenden irgend ein bemerkenswerther aͤußerlicher Wechſel eingetreten waͤre, wobei aller - dings nicht zu verhehlen, daß ſich Anton innerlich bedeutend veraͤndert hat. Seine Traͤume ſind Wuͤnſche geworden, ſeine Wuͤnſche Begierden. Sie waren einige Tage hindurch Hoffnungen. Dieſen letzteren hat Laura’s Zuruͤckhaltung die Fluͤgel geſtutzt und nun kriechen ſie, ohne Aufſchwung, faſt erbittert am Boden umher, wo ihr Anblick ihm die Heiterkeit297 raubt. Er fuͤhlt ſich wieder Diener, nach dem er einen Augenblick lang gewaͤhnt hatte, Herr zu werden.

Sein Geſchaͤft, die Thiere, die uͤbelriechende Bude, das Publikum, der Geſang, die Muſik, Alles widert ihn an. Seine Einbildungs - kraft weiſet ihn auf Guillaume’s luſtige Bande zuruͤck. Er ſchwebt in wachen Traͤumen mit dem kecken Volk auf wieherndem Renner die Bahn entlang; ſeine ſeidnen Gewaͤndern flattern rauſchend bei’m tobenden Schalle der Muſik. Er moͤchte die Flucht ergreifen, moͤchte den ſchnoͤden Affen, großen Katzen, Baͤren und Hyaͤnen Valet ſagen! Aber Laura laͤchelt ihn, wie aus Zerſtreuung, einmal an, und es iſt aus.

Eines noch haͤlt ihn aufrecht: das Beduͤrfniß zu leſen, zu lernen, wie ſonſt. Nur daß er es jetzt in Staͤdten leichter befriedigen kann, als waͤhrend ſeines Landlebens. Franzoͤſiſche Buͤcher wechſeln mit deut - ſchen; was die Leihbibliotheken beſitzen, ſtoͤbert er auf. Unter anderen ſind ihm auch Goͤthes Gedichte zugekommen. Viele hat er ausgeſchrieben, manche auswendig gelernt. Eines rezitirt er, wo er geht und ſteht. Doch den Titel hat er umgeaͤndert. Nicht Lili’s, nein Laura’s Park nennt er’s. Oft, wenn298 eine weichere Stimmung uͤber ihn kommt, wieder - holt er:

Denn ſo hat ſie aus des Waldes Nacht,
Einen Bären, ungeleckt und ungezogen,
Unter ihren Beſchluß herein betrogen,
Unter die zahme Kompagnie gebracht,
Und mit den andern zahm gemacht:
Bis auf einen gewiſſen Punkt, verſteht ſich!
Wie ſchön und ach! wie gut
Schien ſie zu ſein. Jch hätte mein Blut
Gegeben, um ihre Blumen zu begießen!

Und dann fuͤhlt er ſich verſucht, den indiſchen Baͤren herauszulaſſen aus ſeinem Kaͤfig, an deſſen Statt ſich hinein zu begeben. Ploͤtzlich aber ruft er ſich den Schluß des Gedichtes wieder in’s Gedaͤchtniß und ſpricht mit Goͤthe:

Götter, iſt’s in euren Händen
Dieſes dumpfe Zauberwerk zu enden,
Wie dank ich, wenn ihr mir die Freiheit ſchafft!
Doch ſendet ihr mir keine Hülfe nieder,
Nicht ganz umſonſt reck ich ſo meine Glieder:
Jch fühl’s! Jch ſchwör’s! Noch hab ich Kraft.

Wie er es aber auch ſprechen, durchdenken, durchfuͤh - len, drehen und wenden mochte, fruchtlos blieb doch jede ſeiner Bemuͤhungen, die eigenthuͤmliche Poeſie in’s Franzoͤſiſche zu uͤbertragen, um etwa den Jnhalt299 derſelben ſeiner Lili-Laura einigermaßen begreiflich und zugaͤnglich zu machen. Anton wußte doch jetzt recht gut franzoͤſiſch, ſprach es ſo gelaͤufig beinahe wie Deutſch; und ſprach es beſſer, als Jene die eine fremde Sprache aus den Regeln der Schule erlernen, weil er es von lebendigen Lippen, und was fuͤr Lippen, entnommen. Aber an dieſem Verſuche ſcheiterte jegliches Beſtreben. Sinn und Worte und Form fand er fuͤr die meiſten Strofen dennoch fehlte immer etwas, und ohne dieſes Etwas gerade, wurd es eben etwas ganz Anderes. Solche eigen - ſinnige, unbeſiegliche Sonderung zweier Sprachen fuͤhrte unſern Freund auf mancherlei Betrachtungen uͤber den Geiſt der Sprache im Allgemeinen. Betrach - tungen, welche man eben ſo wenig bei einem Mena - gerie-Waͤrter ſuchen, als Goͤthe geahnet haben duͤrfte, daß ein ſolcher ſich uͤben, aͤrgern und wiederum kraͤf - tigen werde, an einem Gedichte, welches Er im Un - muth unbefriedigter Leidenſchaften einſtmals hinwarf. Aber ſo geht es:

Der Urgeiſt ſtreut den Saamen in die Winde,
Daß manch ein Körnlein Grund wie Boden finde!

Anton hatte niemand, dem er ſich mittheilen koͤn - nen. Weder Schwarz - noch Rothbart, abgeſehen von300 der verzeihlichen Rohheit ihres Herkommens und Berufes, waͤren die Menſchen geweſen, nur zu ahnen, geſchweige denn zu begreifen, wie ein Juͤngling von Antons einnehmender Perſoͤnlichkeit noch ſchmachten, zweifeln wolle, nach Vorgaͤngen, deren er zwei erlebt. Sie verließen ſo leicht keine Stadt und kein Staͤdt - chen ohne Bande zu ſchlingen, die gleich anfaͤnglich durch derbe, aber leicht loͤsbare Knoten gefeſtiget wur - den. Doch waren ſie praktiſche Leute und richteten die leichtere, oder feſtere Verknotung ihrer Buͤndniſſe ſchon im voraus danach ein, ob ſie auf laͤngeren, oder auf kuͤrzeren Aufenthalt am Orte zu rechnen haͤtten.

K. war eine ſogenannte große Station. Hier entſprachen dauernde Verhaͤltniſſe. Beide knuͤpften dergleichen mit gewohnter Leichtigkeit und Uebung an. Aber beide verſahen ſich diesmal, trotz ihrer Uebung, im Gegenſtande der Wahl. Sie hatten die Herzen zweier Schweſtern erobert, Toͤchter eines Nachtwaͤchters die jedoch vom ſtrengen Vater muͤrriſch gehuͤtet und beſſer bewacht, als das ſeinen Schlummerſtunden anvertraute Stadtviertel, bis dahin ziemlich vorwurfsfrei gelebt, und die Huldigungen der Thier-Maͤnner nur unter ſehr buͤrgerlichen Abſich - ten auf Eheſtand angenommen hatten. Ja, was noch301 mehr: Pierre wie Jean, Schwarz wie Roth, fuͤhlten ſich wider Gewohnheit diesmal auch durch ernſtere Neigung gefeſſelt, ſo daß bereits von Anlegung des Erſparten, von Eintreten in’s ſolide Leben, von Zuruͤckziehen aus dem Geſchaͤft u. ſ. w., kurz von Dingen die Rede war, hinter denen die Heirath her - zuziehen pflegt, wie der Finnfiſch hinter wandernden Heeringen, und aus aͤhnlichen Gruͤnden.

Der Herr Nachtwaͤchter befand ſich, mit hoͤchſt ſeltenen Ausnahmen, den ganzen Tag uͤber daheim. Er trieb die ſehr edle Flickſchneiderkunſt, die in Anbe - tracht ihrer oft erſchwerten Kompoſitionen wohl eher unter Kuͤnſte aufgenommen zu werden Anſpruch hat, als jene Schneiderei aus dem Vollen, Ganzen. Seine Toͤchterwaren mitwirkende Kuͤnſtlerinnen. Da konnte weder von ſchwarz - noch roth-baͤrtiger Liebe die Rede ſein. Zwar geſtattete der Zwillingsvater denn Zwillinge waren die Nachtwaͤchterstoͤchter beiden Baͤrten, daß ſie ſich ſammt denen an ſie befeſtigten Auslaͤndern auf Beſuch einfinden durften; doch weder Pierre noch Jean waren Meiſter darin, waͤhrend der langen Sitzungen die Faͤden harmloſen Geſpraͤches ſpinnen zu helfen. Jhr Kauderwelſch war wilden Beſtien verſtaͤndlich, ihrem Kollegen Antoine, zur302 Noth auch der Madame Simonelli. Fuͤr andere Bewohner des Landes von der Duͤna bis zum Rhein, bedienten ſie ſich gern der Zeichenſprache, und fuͤr ihnen wohlgefaͤllige Bewohnerinnen einer ganz ent - ſchieden ausgebildeten. Weil nun aber der flickſchnei - dernde Nachtwaͤchter die Eigenſchaft beſaß, in ſeiner Wohnung und als Familien-Vater ungleich ſchaͤrfer zu vigiliren und ein beſonderer Stuben-Tag-Waͤchter zu ſein, wie er jemals ein Stadt-Nacht-Waͤchter geweſen, ſo blieb dieſen Liebenden fuͤr den Austauſch pantomimiſcher Symbole nur die heil’ge Nacht mit blauem Sternenmantel; dieſe gewiſſenloſe Beſchuͤtze - rin ſo vieler Eltern betruͤgender Plaͤne gelobte ihren Schutz deſto zuverlaͤſſiger, weil die durch den Schnei - der zu bewachenden Gefilde weit ab lagen, vom fer - nen Gaͤßchen in welchem ſeine Zwillinge zuruͤckblieben. Es kam nur darauf an, daß Antoine in’s Vertrauen gezogen wurde; daß er ſo gefaͤllig war, einmal die Nacht-Jnſpektion der Thierwelt zu uͤbernehmen; denn ohne Aufſicht durften Bude und Jnhalt nicht verbleiben. Dazu fand er ſich willig und bereit. Nicht allein um der viel geplagten Knechte willen, die auch ihm ſtets dienlich ſein mochten, mehr faſt noch, um eine Veranlaſſung zu ergreifen, die ſich ihm bei ſeiner303 gegenwaͤrtigen Stimmung kaum erwuͤnſchter darbie - ten konnte. Jhn reizte die Ausſicht auf eine Nacht unter wilden Thieren, allen Menſchen fern, einſam und ungeſtoͤrt mit den Traͤumen, die etwa kommen wuͤrden, ihn zu beſuchen. Deshalb machte er zu Hauſe foͤrmlich Anzeige, daß Pierre und Jean Urlaub wuͤnſch - ten und unterſtuͤtzte ihr Geſuch, durch ſein Anerbie - ten, ſie pflichtgetreu zu vertreten. Madame Simonelli fand nichts einzuwenden. Laura verrieth Unruhe, und gab ein mißfaͤlliges Erſtaunen kund, welches der Bittſteller ſcheinbar nicht zu bemerken den Muth beſaß.

So nimm denn Spieß und Horn, fruͤhergrauter Schultze. Jch muß eingeſtehen, daß ich des Nachtwaͤchters Namen nicht kenne. Um einigermaßen ſicher zu gehen, ergreife ich in der Noth einen von jenen Hauptnamen, auf die mehr oder weniger alle Deutſche hoͤren! Geh Deines Weges, Schultze, nach dem abgelegenen Stadtviertel, Stunden abzu - ſingen, welche Dir unendlich duͤnken. Deinen Toͤch - tern, fuͤrcht ich, werden ſie zu raſch voruͤberfliehen.

Der Klock hatte Zehn geſchlagen, und Gott der Herr war gelobt! Pierre und Jean ſchlichen davon, die Thuͤr nur loſe anlegend; feſt uͤberzeugt,304 daß kein Taſchendieb ſich einſchleichen werde, Woͤlfe und Hyaͤnen heimlich davon zu tragen.

Anton ging im Dunkel auf und ab. Er wollte ſich gar nicht zum ſchlafen niederlegen. Muͤde war er wohl, doch nicht ſchlaͤfrig. Wandelnd, ſinnend, wachte er Mitternacht heran.

Die Augen der Thiere leuchteten wie gluͤhende Kohlen. Man vernahm kein Geraͤuſch in ihren Kaſten, ſo leiſe traten ſie auf. Wie es zwoͤlf Uhr ſchlug, der letzte Ton der großen Thurmglocke verhallte, eben wendete ſich Anton auf ſeinem gleichfoͤrmigen Wege um, da war es ihm, als ob am hinteren Ende der Bude die Vorhaͤnge, welche leere Kaͤfige, Kaſten und anderes ungebrauchtes Geraͤth verhuͤllten, zu flattern begoͤnnen und ſich oͤffneten, als ob ein Lichtſchimmer daraus hervordraͤnge. Sein erſter Gedanke galt einer Nachlaͤſſigkeit der beurlaubten Knechte, einer vielleicht nicht ſorgfaͤltig geloͤſchten Lampe. Er ſchritt eilig vor, .... doch mitten im oͤden Raume blieb er unbeweglich ſtehen .... ſein Athem ſtockte .... Eiſeskaͤlte durchrieſelte ihn, er ſah die alte Frau Gokſch, ſeine ſeelige Großmutter. Sie war gekleidet wie bei Lebzeiten ſie gewoͤhnlich einherge -305 gangen. Aber groͤßer ſchien ſie ihm, hielt ſich mehr aufgerichtet. Sie ſah ihn bittend an.

Was bedeutet mir das? ſtammelte er.

Die Erſcheinung hub ihre Rechte empor und deu - tete damit nach dem Ausgange hin. Kaum aber hatte ſie einige Sekunden lang angedauert, als ihre Umriſſe unſicher wurden, ſich nach und nach verwiſch - ten und bald in einen grauen Nebel aufzuloͤſen ſchie - nen, der ſich wie duͤnner Rauch verzog. Die Stelle ward wieder dunkel, wie ſie vorher geweſen. Anton unterſuchte die Vorhaͤnge, ſchob ſie auseinander, .... Alles leer und ſtill. Sogar die Hunde unter den Reiſe-Wagen ſchliefen ruhig, daß man das regelmaͤßige Schnarchen ihrer Kehlen vernahm.

Anton’s Haupt wurde wieder frei, der Andrang des Blutes zog ſich zuruͤck. Da rieb er ſich die Augen und ſprach zu ſich ſelbſt: es war nicht außer mir! die Erſcheinung kam aus meinem Jnnern. Deshalb hat ſie doch etwas zu bedeuten, ich ſoll dieſen Ort meiden. ... Jetzt kann ich das nicht, ich darf es nicht. Jch glaube an Ahnungen, aber ich darf dennoch nicht davon laufen. Es waͤre elende Feigheit. Bleiben muß ich, geſcheh was da wolle; ich hab’s einmal uͤbernommen.

Die Vagabunden. I. 20306

Raſcheren Schrittes ging er nun auf und nieder; machte ſich mit den Thieren zu ſchaffen; reichte ſeinem alten Feinde, dem Tiger, einige wohlangebrachte Peitſchenhiebe; liebkoſete ſeinen alten Freund, den indiſchen, kindiſchen Baͤren; ſchuͤttelte dem großen Loͤwen die Maͤhne; kurz er vertrieb ſich die Zeit ſo anmuthig, als es in ſolchem Kreiſe gehen will.

Jedesmal wenn er ſich der Aus - und Eingangs - thuͤre naͤherte, verſpuͤrte er einen unbeſtimmten Antrieb, nachzuforſchen ob ſie offen ſtehe. Es kam ihm vor, wie wenn ein naͤchtlicher Luftzug durch die Gardinen eindringe, mit denen Kaſſe und Vorhalle drapirt waren. Jedesmal nahm er einen Anlauf dazu, und unterließ es wieder, ohne zu wiſſen, warum?

Da fuhr ihm ploͤtzlich durch den Sinn, daß er in P. belauſcht worden und doch eigentlich nie zur Gewißheit gelangt ſei, durch wen? daß er damals Laura beargwoͤhnt und dieſe Vermuthung nachher halb und halb wieder aufgegeben habe, daß ſeitdem .... Und wie, wenn ſie jetzt!? ....

Als waͤr er unter wilden Geſchoͤpfen ſelbſt zum reißenden Thiere geworden, welches auf ſeinen Raub ſpringen will, ſo ſtuͤrzte er heftig hinaus und ergreift, ehe ſie noch zu entfliehen vermochte, eine warme307 Beute. Wer iſt hier, ſchrie er mit erkuͤnſteltem Erſtaunen, um dahinter die Furcht zu verbergen, die mit der Kuͤhnheit ſolches Angriffs im Widerſpruch ſtand; wer dringt bei Nacht hier ein?

Gott, wie Sie mich erſchrecken! fluͤſterte Laura, wirklich vor Schreck bebend. Aber ſie ſetzte nicht hinzu: Laſſen Sie mich los.

Sie ſind es, Madame? Jch bitte tauſendmal um Verzeihung.

Wer denn ſollte es ſein, außer mir? Wer ſonſt haͤtte hier etwas zu ſuchen?

Ja mein Gott, was denn Sie?

Das wiſſen Sie nicht? Das ahneſt Du nicht, Menſch ohne Herz? Was ich hier zu ſuchen habe? Er weiß es nicht, ha, er weiß es nicht!!? Erforſchen wollt ich, ob es Wahrheit ſei, daß Pierre und Jean Urlaub genommen? Daß Du an ihrer Statt hier bliebſt? Ueberzeugen wollt ich mich, ob Du wirklich hier biſt?

Aber wo ſollt ich denn ſein?

Weiß ich’s? Bei einer Geliebten!

Jch? Da muͤßt ich doch erſt eine haben; erſt eine haben wollen, Madame. Und uͤberhaupt, Jhnen20*308waͤre das doch vollkommen gleichguͤltig. Warum fragen Sie danach?

Weil ich Dich liebe! Weil Du keine Andere lieben darfſt! Weil Du mein biſt! Mein! Und weil ich Dich dieſen Thieren vorwerfe, wenn Du dies Geſtaͤndniß nicht erwiederſt!

Jetzt war die Reihe zu zittern an ihm.

Wie nach langem, ſchwuͤlem Sommer, wo in trockner Gluth Alles verſchmachten wollen, endlich ein gewaltiges Wetter losbricht und raſet, ſo machte ſich Laura’s muͤhſam zuruͤckgehaltene Leidenſchaft in dieſen wilden Worten Luft, die den, welchem ſie galten, im erſten Augenblicke mehr entſetzten, als begluͤckten. Die Thiere, wie wenn ſie verſtanden haͤtten, daß davon die Rede war, ihnen einen bluͤhen - den Juͤngling zum Zerreißen Preis zu geben, fingen an maͤchtig zu bruͤllen. Der Loͤwe namentlich, der große Verehrung fuͤr Madame Amelot und deren Schoͤnheit zur Schau trug, ſich auch gar zu gern von ihr liebkoſen ließ, wurde hoͤchſt aufgeregt, wobei er foͤrmliche Donnertoͤne ausſtieß.

Laura zerrte den noch ganz verſtoͤrten Anton vor des Bruͤllenden Kaͤfig und indem ſie den Geliebten309 umarmte und feurig kuͤßte, rief ſie durch die eiſernen Stangen hinein: Du biſt Zeuge, Koͤnig der Thiere, daß ich mich ihm gebe! Du magſt mich raͤchen, wenn er undankbar iſt!

Der Loͤwe begriff denn Sinn dieſer Herausfor - derung nicht. Sein bei Nacht ſehendes Auge erblickte nur die Umarmung, die ihn noch zorniger machte. Er fing zu raſen an, daß er das Gitter beinahe ſprengte. Bald ſtimmten ſaͤmmtliche Thiere ein; auch die ſonſt friedlichen, jetzt aus ihrer Ruhe auf - geſchrieen. Es war ein Hoͤllenlaͤrm! Und dieſer ſchauerliche Chor bildete den Weihgeſang begluͤckter Liebe. Denn wie nur Anton erſt zur Beſinnung gelangte; wie er nur erſt zu faſſen vermochte, daß er ſo heiß geliebt ſei, da ſchwanden Ruͤckſichten, Unter - wuͤrfigkeit, Zweifel und Zagen. Da fand auch er die rechten Worte, ihr kund zu geben, was er ſo lange verſchwiegen.

Der helle Tag erſt verſcheuchte das zaͤrtliche Paar. Laura ſtahl ſich nach ihrer Wohnung und Anton folgte, nachdem er durch Pierre und Jean abgeloͤſet worden.

310

Sechsundzwanzigſtes Kapitel.

Er bekommt einen neuen Geburtstag.

Aus Anton’s Tagebuch:

K., vom 24. September.

Am vierundzwanzigſten December waͤre ich geboren? Nicht doch, das war ein Jrrthum. Mein Geburtstag iſt der vierundzwanzigſte September.

Siebenundzwanzigſtes Kapitel.

Abreiſe von K. Anton hält ſich für einen Bräutigam und wird ausgelacht.

Es war ſchon haͤufig die Rede davon geweſen, ſich mit der Menagerie nach Rußland zu wagen, und wenn dieſer Plan ausgefuͤhrt werden, wenn vor Eintritt ſtrengſter Kaͤlte das Hauptziel ſolcher kuͤhnen Fahrt: die Kaiſerſtadt noch erreicht werden ſollte, ſo durfte man ſich keine Stunde mehr beſinnen. Zum Ungluͤck fuͤr unſere Liebenden traf des Permiſ - ſionaͤr’s Bericht, daß fuͤr Curland und Liefland der Eingang bereits geſtattet und fuͤr St. Petersburg die Conceſſion ſo gut wie ſicher ſei, gerade am Morgen nach der verhaͤngnißvollen Nacht bei’m fliegenden311 Hauptquartier des afrikaniſch-aſiatiſch-ſuͤdamerika - niſchen Streif - und geſtreiften (unfreien) Freicorps ein. Er hinderte nicht nur durch beſchleunigten Marſchbefehl, die zarten Myrthenreiſer, die Pierre und Jean in den Boden des nachtwaͤchterlichen Gartens gepflanzt, Wurzeln zu treiben und Bluͤthen anzu - ſetzen fuͤr Brautkraͤnze; er ſtoͤrte auch Anton’s Verkehr und Umgang mit Laura.

Ueberall gab es zu thun, zu ordnen, zu bereiten, uͤberall mußten Alle Hand anlegen; uͤberall war Madame Simonelli; uͤber Allen und auf Alles hatte ſie die Augen der Gebieterin. Es wurde den Lieben - den faſt unmoͤglich, eine ungeſtoͤrte Minute zu finden; ein vertrautes Wort zu wechſeln. Vor wenigen Tagen noch haͤtte Anton ſich dieſer Nothwendigkeit wie jeder anderen entſagend gefuͤgt. Das war jetzt nicht mehr ſo. Der Wanderer der halb verdurſtend in Staub und Hitze einherzieht, mag wohl nach Labung ſeufzen; dennoch waͤndert er, auch ohne ſie. Reicht ihm aber einen Krug friſchen Waſſers hin, mit dem Vorbehalt, daß er nur nippen duͤrfe, laßt ihn einen Zug thun, und dann ſeht zu, ob ihr ihm den Krug ſo leicht entwinden werdet!

Anton, in ſeinem ſtrengen Rechtlichkeitsſinne,312 unter laͤndlich-kleinen Erfahrungen und Wahrneh - mungen aufgewachſen; noch unbekannt mit Vielem, was in minder beſchraͤnkten Verhaͤltniſſen kleine Kinder durchſchauen wuͤrden; vorzuͤglich aber, muß ich hinzufuͤgen, in ſeiner unſchuldvollen Verehrung fuͤr alle ſchoͤne Frauen, in ſeinem Koͤhlerglauben an ſie und ihren reinſten Werth, konnte wohl nicht anders, als ſich den kuͤrzlich geſchilderten Vorgaͤngen zu Folge, fuͤr Laura’s Braͤutigam halten! Fuͤr einen verlobten Braͤutigam, welchem lediglich der Segen der Kirche noch mangelt, um ein Ehegatte zu ſein. Sie hatte ihm geſagt: ich liebe Dich, Du mußt mein werden! Was konnte das ſonſt bedeuten, außer: wir wollen uns heirathen? Jhr ferneres Benehmen hatte dieſem Entſchluſſe mehr als zu deutlich entſprochen. Wittwe war ſie auch, oder doch von ihrem erſten Gatten getrennt, was eben ſo viel heißt. Die bisweilen in ihm aufſteigende Bedenklich - keit, daß ſie ſammt all ihren Reizen, doch vielleicht vier bis fuͤnf Jahre laͤnger auf dieſer Erde umher - wandle, als er, wies er, von ihrer Schoͤnheit entzuͤn - det, entſchieden zuruͤck.

Aber die Mama? Madame Simonelli? Jn wie weit war ſie unterrichtet von den Gefuͤhlen ihrer313 Tochter? Aus welchem Geſichtspunkte ſah ſie das Verhaͤltniß mit einem ihrer Diener? Daruͤber taͤuſchte er ſich nicht: ſie war nicht mehr ſo freundlich, nicht mehr ſo muͤtterlich-derb gegen ihn; ihre Artigkeit beſchraͤnkte ſich auf kalte Hinweiſungen fuͤr’s Ge - ſchaͤft, ohne eine Silbe zutraulichen Geſchwaͤtzes. Keine Frage, ſie misbilligte das Verhaͤltniß.

Aus dieſen Bedenklichkeiten entſtand eine fuͤr beide Theile bezeichnende Unterhaltung zwiſchen ihm und Laura, auf der Reiſe von K. nach Kurland. Man mußte dazumal noch den langen, beſchwerlichen und oft gefaͤhrlichen Weg am Strande machen. Die plumpen Frachtwagen verſanken ſchier im Flugſande; die Vorſpannpferde arbeiteten fuͤrchterlich. Anton war laͤngſt zu Fuße gegangen, dem Schneckenzuge leicht einen Vorſprung abgewinnend. Eh er ſich’s verſah hatte Laura ihn eingeholt. Die erſten Worte galten der Gegenwart, vielmehr der allernaͤchſten Zukunft. Ein Zuſammentreffen im Nachtquartier wurde begehrt und gewaͤhrt. Dann wendete Anton ſich ſeinen Beſorgniſſen zu und theilte ihr mit, was er im Angeſicht der Mutter zu leſen glaube. Sie ſagte:

Es iſt ihr unlieb, daß ich Dich liebe. Jch habe314 noch nicht mit ihr daruͤber geſprochen, aber ſie ver - birgt ihren Unwillen nicht. Gleichviel! Jch kann nicht anders. Seit ich von Amelot getrennt bin, hab ich bei ihr gelebt, gleich einem vierzehnjaͤhrigen Maͤdchen das aus der Penſion tritt. Das Herz hat auch ſeine Rechte. Jch habe lange genug dawider geſtritten. Nun will ich leben!

Laura, erwiederte Anton, ſehr ernſt und feierlich, indem er ſich Muͤhe gab, den Amtston des guten Karich nachzuahmen, wie er denſelben ſo oft von der Liebenauer Kanzel vernommen, das iſt jetzt meine Sache. Wenn der Mann zu einem Weibe ſteht, wie ich zu Dir, dann gebietet ihm ſeine Pflicht zu han - deln! Jch werde morgen mit Deiner Mutter ſprechen und in aller Form um Deine Hand bitten.

Die eigentliche Bedeutung dieſer Anrede war Laura’n entgangen. Sie hoͤrte nur heraus, daß Anton ſich der Mutter entdecken wolle.

Biſt Du von Sinnen? rief ſie aus, wobei ſie ihre kleinen Fuͤße, im Sande watend, kaum vom Flecke brachte; biſt Du voͤllig wahnſinnig? Du wirſt doch nicht ſo unverſchaͤmt ſein, der Mutter zu erzaͤhlen, daß die Tochter Dich erhoͤrt hat?

Aber, theuerſte Freundin, entgegnete unerſchuͤtter -315 lich der jugendliche, unter die Vagabunden gerathene Dorf-Philiſter, muß ſie es denn nicht erfahren, wenn wir vor dem Altare ſtehen?

Gott der Goͤtter? est il bête ce garçon la! Antoine, ich glaube Dein Protegé, das rieſenhafte Faulthier fuͤhrt mehr Esprit in ſeinem lang - ſchnauzigen, dicken Hirnſchaͤdel, als Du, Schoͤnſter der Schoͤnen! Was predigeſt Du mir da von einem Altare? Du glaubſt, Madame Laura Amelot, Tochter der reichen Simonelli wolle Madame Antoine wer - den? Madame Gamin de Liebenau? Suͤßer Junge, in welchem Maͤhrchenlande, aus welchem fabelhaften Gewaͤſſer haſt Du ſolche Traͤume herausgefiſcht? Das kann niemals geſchehen. Das iſt eben ſo unmoͤglich, wie es mir unmoͤglich, noch laͤnger in dieſem Sande zu ſchwimmen: meine Schuhe ſind voll davon, zum ertrinken. Wir wollen die Wagen erwarten; bleib ſtehen! Und vernimm in aller Eile noch dies: waͤreſt Du, wie Du zur Stunde unſer Diener biſt, der reichſte Prinz aus Moskau, ich koͤnnte nie und nimmermehr Deine Ge - mahlin ſein, denn ich bin verheirathet. Zwar leb ich getrennt von meinem Gatten, der ein perfides Ungeheuer iſt, mit all ſeinem Talent; haſſe ihn, bei316 all ſeiner Liebenswuͤrdigkeit, wie ich Dich liebe in all Deiner Dummheit. Aber ich bin katholiſch, und eine katholiſche Ehe kann nicht geloͤſet werden. Merke Dir das, Teufelsbraten von einem Ketzer! Mich verbrennen zu laſſen, weil ich einen zweiten Mann nahm, waͤhrend der erſte noch am Leben iſt, trag ich kein Verlangen. Brennt mich doch ſchon heftig genug das Feuer fuͤr Dich, das in mir wuͤthet. Die Wagen ſind da. Heute zu Nacht, mag es nun gehen, wie es und wo es wolle, muͤſſen wir uns finden. Sei wach, aufmerkſam und wenn es Dir moͤglich iſt: ſei nicht dumm. Jch will Dich belohnen. Adieu!

Anton half ihr in die Kutſche. Beleidigtes Ehr - gefuͤhl, gewiſſenhafte Sittſamkeit, Bewußtſein nie - driger unwuͤrdiger Stellung, Groll gegen ſie und ſich ſchwellten ihm den Buſen. Doch wie ſie bei’m Einſteigen in den Wagen Gelegenheit ſuchte und fand, ſeine Hand zu ergreifen, ſie zu druͤcken, an ihr Herz zu preſſen, ... da verſanken jene grollenden Gewalten in die Tiefen der See, welche am Pfade wogte und er vernahm nur noch: Heute Nacht! Wir muͤſſen uns finden! Jch will Dich belohnen!

317

Achtundzwanzigſtes Kapitel.

Wirthshaus am Strande. Heu duftet ſüßer als Stroh, doch Stroh brennt beſſer. Anton’s Flammen werden durch Feuer gedämpft.

Madame, weiter geht es nicht mit dieſen Pferden; friſche ſind hier nicht aufzutreiben; dort iſt eine Schenke, und ich daͤchte, wir machten Halt! Mit dieſen Worten ſchnitt Pierre gegen Abend den Faden der noch weiter projektirten Tagereiſe mitten durch. Saͤmmtliche Fourgon’s wurden, dicht gedraͤngt, in den engen Hofraum gezogen, der ſich aus Stal - lungen und hoͤlzernen Raͤumen voll Stroh und Heu um das Wohnhaus bildete, außerdem noch durch große Haufen von Reiſig und gedoͤrrtem Seegras verengt wurde. Die Vorſpannbauern mit ihren faulen Pferden ritten augenblicklich heim, den Reiſen - den die Sorge uͤberlaſſend, wie ſie aus der Nachbar - ſchaft morgen andere Pferde auftreiben wuͤrden. Jm Gaſthauſe ſah es nicht beſonders aus: nur ein ertraͤg - liches Wohnzimmer fuͤr Fremde, worin zwei Betten ſtanden. Dieſes nahm Madame Simonelli fuͤr ſich und ihre Tochter in Beſchlag, hieß ihre Leute nach den Thieren ſeh’n, ſchickte auch Anton fort, mit dem Bedeuten, ſie und Laura beduͤrften der Ruhe und318 brauchten nichts mehr. Als die Mutter hinter ihm die Stubenthuͤr in’s Schloß warf, durch welche er ſich nun von der Tochter getrennt wußte, uͤberkam ihn eine Art von Raſerei. Wuͤthend rannte er hinab, ſuchte ſich einen abgelegenen Winkel in irgend einem Heuſchuppen und warf ſich, vor Begier und Aerger heulend hin, ohne weiter nach den Thieren zu fragen. Pierre und Jean vermißten ihn wohl, beruhigten ſich jedoch mit dem Gedanken, er ſei bei den Damen, und da beide ſchon laͤngſt zu wiſſen waͤhnten, wie ſie mit ihm und ihr daran waren, ja ihn beinahe ſchon als ihren Herrn betrachteten, ſo fragten ſie weiter nicht und machten ihre Arbeit ohne ihn.

Der Heuſchuppen in welchem Anton: ſich ſelbſt Madame Simonelli dieſe Nacht die ganze Welt! verwuͤnſchte, wurde durch eine Bretterwand von einem aͤhnlichen Behaͤltniß getrennt, in welchem Stroh aufgeſpeichert lag, zur Streu fuͤr die Gaſtſtaͤlle. Die Bretterwand erhob ſich nur einige Ellen uͤber gewoͤhnliche Mannshoͤhe; der obere Raum war offen. Anton lag mit dem Ruͤcken gegen dieſe Wand und ſtarrte hinauf in die dunkle Leere. Durch das ſchadhafte, mit hoͤlzernen Schindeln und Schilf gedeckte Dach blitzte hin und wieder ein Stern. Jm319 Hofe wurd es nach und nach ruhig. Die Hunde hoͤrten auf, zu bellen. Die wilden Thiere, nach ſo ſpaͤter Abendmahlzeit, ließen auch nichts von ſich hoͤren; Affen, Papageien, alles kleine Vieh, dankten ihrem Gott, daß ſie nicht mehr geruͤttelt und geſchuͤt - telt wurden. Pierre und Jean hatten im bequemen Reiſewagen ihrer Herrin den Bivouac aufgeſchlagen. Alles ſchien zu ſchlafen .... nur Anton ſchlief nicht.

Er wußte, ach nur allzuſicher, daß jede Moͤglich - keit eines Zuſammentreffens zerſtoͤrt war; er begriff ohne Schwierigkeit, daß Madame Simonelli ihre Tochter verhindern wollte, ſich ferner zu kompromit - tiren, er ſah deutlich ein, daß dieſe nicht kommen konnte und dennoch erwartete er ſie von einem Pulsſchlage zum andern!

Das klingt wie Unſinn, und iſt dennoch wahr; iſt nicht nur wahr, in dieſem vereinzelten Falle; es iſt auch wahr im Allgemeinen. Gar mancher meiner Leſer, will er aufrichtig ſein, wird dieſe Wahrheit aus eigener Erfahrung beſtaͤtigen koͤnnen.

Haben wir denn Mondſchein? brummte der Ge - marterte, nach Verlauf einiger Stunden, in das Heu hinein, worin er vergraben lag. Jſt’s mir doch, als320 wuͤrd es oben unter dem Dache hell. Von den kleinen Sternen kann das nicht kommen.

Antoine! hoͤrt er, wie uͤber ſich, fluͤſtern. Er erhob ſich. Das Licht drang aus dem anſtoßenden Gebaͤude heruͤber. Augenblicklich ſchwang er ſich an einem Querbalken hinauf und ſchon auf halbem Wege wurd er von Laura’s Armen umſchlungen. Sie blieb im Klettern hinter ihm nicht zuruͤck.

Wofuͤr waͤr ich denn die Frau des fameuſeſten Tremplin-Springers geweſen, wenn ich von ihm nicht gelernt haben ſollte? Meine Frau Mutter hat die Thuͤr geſchloſſen, ich haͤtte ſie fuͤr ſo boshaft nicht gehalten, aber zum Gluͤck giebt es noch Kammern, und giebt Fenſter die aus dieſen Kammern in Hoͤfe fuͤhren. Komm herab, mein Engel, fort von dieſem haͤßlichen harten Stroh; es riecht uͤbel. Von hier duftet mir Heu entgegen. Jch liebe den Geruch des Heu’s. Man denkt an bluͤhende Wieſen, an idylliſche Hirten, an Fruͤhling und zaͤrtliche Voͤgel, die in den Zweigen niſten.

Jch wußte ja, daß Du kommen muͤßteſt, ſprach Anton, ob es gleich unmoͤglich war.

Nichts iſt unmoͤglich fuͤr die Liebe, ſagte Laura.

Weiter ſprachen und ſagten ſie nichts mehr.

321

O der haͤßliche Tag! Sieh nur Antoine, da kehrt er ſchon wieder, unſer Gluͤck zu ſtoͤren.

Unmoͤglich, meine Theure; Du biſt kaum ſeit einer Stunde bei mir.

Sehr galant. Du faͤngſt an, Dich auszubilden. Aber es kann doch nichts helfen: ich muß fort, ſonſt uͤberraſchen ſie uns. Es iſt ja ganz hell.

Das iſt nicht die Helle des Morgens! Um Gottes - willen, Laura, was haſt Du mit der Kerze gemacht, die Dir hierher leuchtete?

Das kleine Endchen Wachslicht, das ich mit mir nahm? Jch hab es ausgeblaſen

Und druͤben in’s Stroh geworfen?

Weiß ich’s? Jch hielt es noch, ſo lang ich Dich ſuchte. Nachdem ich Dich gefunden

Feuer! Feuer! erſcholl wildes Angſtgeſchrei vom Hofe herein!

Wie raſch es um ſich griff! Wie die Flammen, als waͤren ſie die Zungen hoͤlliſcher Maͤchte, mit heiß - hungeriger Wuth an Allem leckten, was ſie erreichen konnten und wie ſie Alles im ganzen Gehoͤfte bald erreicht hatten! Wie Gebaͤude, Daͤcher, Schuppen, Holzſtoͤße, Reiſewagen, ja ſelbſt die halb ſchon herbſt - lich entblaͤtterten Baͤume ſich in ein Feuermeer ver -Die Vagabunden. I. 21322einiget, bevor Anton, fuͤr Laura und ſich, durch die Hinterwand des leicht gefuͤgten Bretterbaues einen Rettungsweg erzwungen; das wird nur der glauben und moͤglich finden, der aͤhnliche Wirkungen der Feuer-Gewalt mit erlebte und ſah.

Es iſt wirklich, als ob das Feuer einen Geiſt der Vernichtung, einen Willen, als ob es zu Zeiten ſelbſt - ſtaͤndige Abſichten beſaͤße!

Bemuͤht man ſich nicht oft, im eigenen Ofen, mit trockenſtem Holze, bei beſtem Luftzuge ein troͤſtliches Feuerchen aufzubringen, und es will nicht gerathen, trotz jeder Foͤrderung? Und dann wieder, wenn das Element bei Laune ſcheint, und wo man es eben am Wenigſten wuͤnſchte, brennt ein dicker Balken wie zu ſeinem eigenen Vergnuͤgen hell empor, etwa nur durch Beruͤhrung eines glimmenden Fuͤnkchens; ſo daß es foͤrmlich raͤthſelhaft bleibt?

Hier, freilich, wurde des Raͤthſels Loͤſung nicht ſchwer. Eine halbe Wachskerze, kaum ausgeblaſen und mit ungeduldiger Haſt in ein Strohmagazin geſchleudert, kann ſehr leicht auf dem Wege durch die Luft noch einmal Flammen faſſen, und faͤllt ſie dann ſo ungluͤcklich, daß ſie vom Stroh nicht erſtickt wird, giebt ſich das Uebrige von ſelbſt.

323

Anton’s Zuſtand war fuͤrchterlich. Er hoͤrte das Jammergebruͤll der eingekerkerten Thiere, ohne ſich ihnen huͤlfreich naͤhern zu koͤnnen. Nur der Gedanke daran waͤre Wahnſinn geweſen. Ueber den dicht im Hofraum zuſammengedraͤngten Laſtwagen ſchlug die funkenſpruͤhende Lohe von drei Seiten empor, daß ſie ein gluͤhendes Dach daruͤber bildete. Wahrſcheinlich hatte, waͤhrend Wirthsleute und Reiſende ſchliefen, waͤhrend Anton mit Laura von Fruͤhling und gruͤnen Wieſen traͤumte, der Brand ſich durch die Wagenburg ſelbſt nach der anderen Seite des Hofes gewunden; und das war ihm leicht geworden, weil nicht nur alle Kaͤfige dicht voll Stroh geſtopft, ſondern auch mit dieſem uͤberall umhergeworfen, ſo daß der ganze Erd - boden davon bedeckt war.

Mitten in das Grauſen, welches Anton erfuͤllte, bei den Martern ſo ſchoͤner Thiere, bei dem Ungluͤck ihres Verluſtes, trat ihm gleich einer Rache-Goͤttin das Bild der Frau vor die Seele, die durch ſeine Schuld ihr Eigenthum, ihr Vermoͤgen einbuͤßen und vielleicht, waͤhrend er und die Tochter das Leben gerettet, verbrennen mußte!? Dieſe graͤßliche Be - fuͤrchtung ſchreckte ihn auf aus dem ſtarren Stumpf - ſinn, womit er anfaͤnglich dem Brande zugeſehen. 21 *324Er wendete ſich nach Laura um, dieſer zu ſagen, daß er die Mutter aufſuchen wolle .... Laura war ver - ſchwunden. Wie bei energiſchen weiblichen Naturen haͤufig geſchieht, hatte ſie in dringendſter Gefahr ihre beſonnene Faſſung nicht verloren.

Anton umkreiſete den Schauplatz der Verwirrung, ſo ſchnell die bleiſchweren Fuͤße ihn tragen mochten. Er kam vor jener Seite des Wirthshauſes, wo der Eingang zu demſelben nach dem Strande hinlag, mit Freuden an, weil er ſah, daß des armſeligen Gebaͤu - des Vordertheil noch verſchont blieb.

Pierre und Jean hatten die Reiſekutſche ſammt dem darauf befindlichen Gepaͤck der Damen noch gluͤcklich zu rechter Zeit aus dem Hofraum geriſſen. Auch die Kaſſe war gerettet. Madame Simonelli ſaß auf ihr, den Seidenaffen im Schoos. Laura trug eine Chatouille unterm Arm, auf der Achſel ſaß ihr Koko, der wildes Hohngelaͤchter ausſtieß. Beide Frauenzimmer hatten ſich dem Strande genaͤhert, doch hielten ſie ſich fern von einander. Die Mutter ſchaute ſtumm und ernſt hinuͤber, wo bereits einzelne Gluth - ſtroͤme aus dem Dache des nun auch ergriffenen Wohnhauſes brachen. Die Tochter ging wie mit einem Entſchluſſe kaͤmpfend auf und ab.

325

Pierre und Jean erklaͤrten Anton, daß nichts mehr zu retten ſei. Wer ſich in den Brand werfen wolle, muͤſſe mit verbrennen und vorher von den halbgebra - tenen Beſtien zerriſſen werden. Die Klagetoͤne der letzteren waren aber ſchon verſtummt. Einigemale nur ſah man, wie im Wirbel der Flamme empor - getrieben, einen bunten Ara oder anderen Vogel hoch oben erſcheinen, um auf der Spitze einer Feuerſaͤule durch die Gluth verzehrt zu werden. Die herrlichen Geſchoͤpfe! Sie erinnerten an die Mythe vom Phoͤ - nix, nur daß ſie leider nicht, wie dieſer, aus der Aſche neu aufleben durften!

Wirthsleute, mit Knecht und Magd, hatten ihr bewegliches Eigenthum in’s Freie gerettet. Kuͤhe und Schafe waren natuͤrlich verbrannt; von Men - ſchen Keiner. Sie beſprachen ſich, ſeitab von der auf ihrer Kaſſe thronenden Thierfuͤhrerin, in eine dro - hende Gruppe vereiniget, berathend, was ſie zur Ent - ſchaͤdigung fordern, oder was ſie mit Gewalt nehmen wuͤrden.

Anton wagte nicht, weder an jene Leute, noch an ſeine Damen das Wort zu richten. Einem uͤberwie - ſenen Verbrecher aͤhnlich ſtand er da. Er hielt ſich ſelbſt fuͤr den ſtrafbarſten Mordbrenner, der jemals326 geſtaͤupt und gebrandmarkt worden ſei. Er ſtaunte nur, daß man ſich ſeiner nicht bemaͤchtige, um ihn dem Feuertode, den er zwiefach verdient, zu uͤberant - worten.

Der Tag begann. Das Feuer ging zu Ende: es fand keine Nahrung mehr fuͤr ſeine Wuth.

Neunundzwanzigſtes Kapitel.

Zwiſt und Verſöhnung. Mutter und Tochter trennen ſich. Anton bleibt bei Laura. Kühne Pläne.

Zwiſchen den Beſitzern der Brandſtaͤtte und Ma - dame Simonelli waren die Streitfragen uͤber Ent - ſchaͤdigung ſehr bald ausgeglichen. Madame zeigte ſich als erfahrene Weltfrau, die des Schickſals Fuͤgun - gen mit Gleichmuth hinnimmt. Sie hatte als Toch - ter, Gattin, Mutter, ſelbſtſtaͤndige Wittwe, immer auf Reiſen, immer in Wirkſamkeit, ſo viel und ſo vielerlei erlebt, daß nichts mehr vermochte, ſie aus ihrem Geleiſe zu bringen. Vielleicht auch trug zu ihrer Seelenruhe der Umſtand nicht wenig bei, daß ſie ſich eine reiche Frau wußte, die bedeutendes Ver - moͤgen in auswaͤrtigen Banken angelegt. Sie hatte,327 wie man ſich auszudruͤcken beliebt: etwas vor ſich gebracht.

Der Hauswirth wurde nach M. beſchieden, um dort vor Gericht ſeine Anſpruͤche geltend zu machen und deren Befriedigung zu gewaͤrtigen, zu welcher Madame Simonelli ſich verſtand, weil ſie jeder Unter - ſuchung uͤber die Entſtehung des Brandes auszu - weichen wuͤnſchte. Jndem ſie, ohne Weigerung, fuͤr eine vielleicht ſtattgehabte Unvorſichtigkeit ihrer Leute einzuſtehen ſich bereitwillig erklaͤrte, vermied ſie Forſchungen, deren Reſultat ihrem Ehrgefuͤhl uner - traͤglich ſchien.

Pierre begab ſich zu Fuße nach der naͤchſten Ort - ſchaft, Pferde herbeizuſchaffen und noch eine Kutſche.

Nicht ſo leicht ſchien jener Zwieſpalt auszugleichen, der im innern der Familie nachglimmte. Mutter und Tochter ſtanden im Begriff, eine große Scene aufzu - fuͤhren. Anton ahnete wohl, daß ſeine Rolle dabei keine glorreiche werden duͤrfte.

Ein wunderbarer Schauplatz fuͤr dieſe Scenen! Dort die See, uͤber welche ein klarer Herbſttag mild heraufzieht. Hier eine dampfende Brandſtatt, aus der noch immer Flammen zucken, die Suchenden zuruͤckſchreckend, welche aus gluͤhendem Schutt, mit328 Gefahr ihrer Gliedmaßen dies oder Jenes noch her - vorzuholen ſich bemuͤhen.

Und am Strande, wie eine vertriebene Herr - ſcherin, Madame Simonelli, Gericht zu halten uͤber eine ſchuldige Tochter, uͤber einen unſchuldig-ſchul - digen Verraͤther!

Laura war doch die Erſte, die redete.

Das muß ein Ende nehmen, ſagte ſie; wir muͤſ - ſen klar ſehen, Mutter.

Was das betrifft, meine Liebe, hab ich ſchon ſo klar geſehen, daß ich beinahe wuͤnſchen koͤnnte, ich waͤre blind. Schaͤmſt Du Dich nicht vor unſern Leuten?

Und warum ſollte ich, um Anderer Willen verleug - nen, was ich mir ſelbſt eingeſtehen darf? Jſt mein eige - nes Urtheil uͤber mich, meine eigene Meinung von mir, nicht wichtiger fuͤr mich, als Meinungen und Urtheile Fremder? Jch bin frei, unabhaͤngig, hab keine Pflich - ten, außer gegen Sie, meine Mutter, und gegen mich ſelbſt. Die Pflicht gegen Sie hab ich erfuͤllt: ich habe, Jhrem Wunſche gemaͤß, wie ein Aushaͤngeſchild an Jhrer Kaſſe geſtanden, ſeitdem ich von Herrn Amelot getrennt lebe. Sie wiſſen am Beſten, welche Abge - ſchmacktheiten, welche fade Redensarten ich hinneh -329 men mußte, von albernen Stutzern, die frei umher - laufen durften, waͤhrend unſere armen Affen einge - ſperrt waren. Jhnen, meine theure Mutter, mißfiel das nicht, wenn der Schwarm der Anbeter mich um - lagerte, weil es Jhre Kaſſe ſchwerer machen half. Mir blieben ſie alle gleichguͤltig, ich langweilte mich zum Sterben, aus kindlichem Gehorſam. Da ſchickt mir der Himmel, oder ich weiß nicht wer ſonſt? Dieſen! und ich liebe ihn. Kann ich dafuͤr! c’est plus fort que moi!

Was Sie dagegen einzuwenden wiſſen, hab ich mir ein Jahr lang ſelbſt geſagt. Am Ende half nichts mehr. Jch wurde mit mir einig, und mit ihm! Was kuͤmmern mich die Andern. Und daß in ver - gangener Nacht ſolches Unheil uͤber uns kam, iſt nicht meine, iſt noch weniger ſeine, iſt nicht die Schuld unſerer Liebe; nein, es iſt die Schuld derjenigen, die mich verhindern wollte gluͤcklich zu ſein. Mich, die ich ſo wenig Gluͤck erlebte, ſeitdem ich athme; mich, der man wohl ein Bischen Gluͤck goͤnnen duͤrfte! Haͤtten Sie mich gezwungen ihn zu meiden, ſo waͤr ich nicht entwichen, ihn zu ſuchen. Doch das verſteht ſich: der Schade den ich verurſacht, trifft mich allein. 330Jn Jhren Haͤnden iſt mein vaͤterliches Vermoͤgen. Was Herr Simonelli mir hinterließ, verwalten Sie.

Seit dem ich volljaͤhrig bin, ja mein kleiner Antoine, Deine Geliebte iſt um ſo viel aͤlter als Du, armes Kind; deſto ſchlimmer fuͤr uns Beide! ſeit - dem ich volljaͤhrig bin beſitz ich daruͤber die ſchrift - lichen Ausweiſe. Dieſe ſind von jetzt an unguͤltig; ich werde ſie vernichten, auf mein Ehrenwort! und habe dann nichts mehr an Sie zu fordern. Hundert - tauſend Francs werden hinreichen, meine Mutter, damit Sie nach London geh’n, und neue Thiere acqui - riren, wenn Sie denn doch einmal nicht aufhoͤren wollen, oder koͤnnen, in der Welt herumzureiſen. Fuͤr Hunderttauſend Francs kaufen Sie den halben Tower aus. So waͤre denn die Sache in Ordnung.

Das nennt ſie in Ordnung! Ungluͤckliches Weib, wovon wirſt Du leben?

Jch habe meine kleine Privatkaſſe; Sie wiſſen ja. Und meinen Schmuck. Es iſt genug fuͤr mich und ihn, um in die Welt laufen. Das weitere findet ſich. Fuͤrchte nichts, Antoine, nimm meine Chatouille, halte ſie, ſie iſt Dein. Wir haben genug

Auf wie lange? Naͤrrin, ohne Verſtand, ohne Erfahrung! Leichtſinniges, gutherziges Kind! Deine331 paar Francs willſt Du hinopfern und kannſt waͤh - nen, die Mutter werde das annehmen? Jch ſollte Dich ſchlagen fuͤr ſolche Zumuthung. So weit iſt es Gott ſei Lob noch nicht mit Madame Simonelli gekommen, daß ſie noͤthig haͤtte, ihrer ſchoͤnen Toch - ter Eigenthum zu ſtehlen, wenn ſie eine neue glaͤn - zende Menagerie etabliren will. Was Dein iſt bleibt Dir! Und was mein iſt kommt dazu, nach meinem Tode. Und Madame Amelot muß eine reiche Frau ſein, aller Welt und allem Feuer zum Trotze! Komm in meine Arme, Laura. Jch war auch jung; ich beſinne mich auf aͤhnliche Thorheiten aus meinem Leben. Jch kann meiner einzigen Tochter nicht zuͤr - nen! Jch verzeihe Dir.

Und ſie umarmten ſich im Angeſicht der See, der Sonne, Anton’s, welcher letztere den ſchlimm - ſten Stand hatte in den ein junger, braver thatkraͤf - tiger Burſch verſetzt werden kann: Weiber uͤber ſich und ſein Geſchick verhandeln zu hoͤren, ohne Berech - tigung den Ausſchlag zu geben.

Durch die Verſoͤhnung mit ihrer Mutter errang Laura die Erlaubniß, mit dem Manne, der niemals ihr Gatte werden durfte, es ſei denn, Herr Amelot wolle vorher aus beſonderer Gefaͤlligkeit ſich das332 Genick abſtuͤrzen, in die Welt zu ziehen, waͤhrend Mama nach London ging, Thiere anzukaufen. Pierre und Jean mußten als Vertraute und geuͤbte Maͤnner vom Fach gleichfalls dahin. Die große Waſſerreiſe von M. aus nach London zu wagen, ſchien es ſchon zu ſpaͤt im Jahre. Madame Simonelli zog vor, den Weg durch Deutſchland und Frankreich bis nach Calais zu nehmen. Sie behielt ihre wohleingerichtete Reiſekutſche, als Geſellſchaft den kleinen Seidenaffen, naͤchſt Koko das einzige unverbrannte von ſo vielen Thieren. Pierre begleitete ſie. Jean erhielt Geld und die Weiſung, ſich auf eigene Hand nach London zu begeben.

Der Abſchied war herzlich genug, aber kurz, reſo - lut, wie er es immer bei Perſonen iſt, die ſeit ihrer Geburt, an Trennung, Entfernung und Wiederſehn gewoͤhnt ſind.

Anton, theils aus aufrichtiger Anhaͤnglichkeit fuͤr ſeine Wohlthaͤterin, denn das war ihm die Simonelli wirklich geweſen, theils aus Verlegenheit, ſeiner pein - lichen Stellung wohl bewußt, verſuchte dem Lebe - wohl einige ſchwiegerſoͤhnliche Faͤrbung zu geben, wurde jedoch mit dieſem Verſuche voͤllig in die Flucht geſchlagen.

333

Junger Mann, redete die ruͤſtige Frau ihn an, bevor ſie in den Wagen ſtieg, wir ſcheiden freundlich, doch nicht als Freunde. Jch kann denjenigen nicht fuͤr einen Freund meines Hauſes anſehen, der ſich zwiſchen mich und meine Tochter ſtellte. Als Laura wider meinen Wunſch Madame Amelot wurde, ſagt ich ihr voraus, was geſchehen iſt. Diesmal will ich nicht prophezeihen, das Verdienſt die Wahrheit vor - her zu kuͤnden, waͤre zu gering. Uebrigens wuͤnſch ich euch gute Reiſe, und viel Vergnuͤgen, ſo lang es dauert!

Der Poſtillon ſtieß in’s Horn.

Laura und Anton blieben ſich ſelbſt uͤberlaſſen und ihrer Zaͤrtlichkeit, und das war vielleicht das Schlimmſte, was ihrer jungen Liebe, ſollte ſie ja zur alten reifen, widerfahren konnte. Von der Stunde an wo jedes Hinderniß verſchwindet, welches Sehn - ſucht von Gewaͤhrung trennte, beginnt auch gewoͤhn - lich die Sehnſucht zu ſchwinden.

Bei Anton, dem uͤberraſchten Neuling, ſchien die erſte Wirkung des ſicheren, ungeſtoͤrten Beſitzes guͤn - ſtig, ſie gab ihm die Haltung eines neuvermaͤhlten zufriedenen Gatten.

Fuͤr Laura, wo der Reiz dieſer Taͤuſchung nicht334 vorwaltete, wurde ſchon der Anfang ihres Honig - mondes bedenklich. Der kleine Krieg gegen die Mut - ter hatte ſie ſo huͤbſch beſchaͤftiget; jetzt gab es keine Aufpaſſerin mehr, die jeden verbotenen Blick, jeden inbruͤnſtigen Seufzer uͤberwachte. Dafuͤr lauerte bereits der Ueberdruß und gaͤhnte ſchon bisweilen hinter den Gardinen hervor.

Sein Gluͤck recht aus dem Vollen zu genießen, hatte unſer Paar ſich gleich in M. feſtgeſetzt. Violi - nenſpiel, Geſang, Guitarrengeklimper, Lektuͤre, ſoll - ten ſich anderen Blumen gleich durch die Roſen der Liebe ſchlingen.

Waͤre nur irgend eine Stoͤrung von Außen ein - gedrungen; haͤtte nur irgend ein verdruͤßlicher Um - ſtand ſie guͤtigſt beunruhigen wollen! Doch ſo gut ſollt es ihnen nicht werden. Vor lauter Seligkeit und Wonne geriethen ſie ſchier in Verzweiflung.

Anton, zu wahr und ehrlich, um eine Zufrieden - heit zu erheucheln die ihm fehlte und deren er ſeine ſchoͤne Haͤlfte ſchon fruͤher verluſtig geſehen, oͤffnete nach einigem Kampfe ſein Herz:

Was ſoll aus mir werden, begann er eines Mor - gens, was ſoll aus mir werden, Laura? Jch empfinde in mir eine Leere, welche ſogar durch Deine Gunſt und335 Deinen Beſitz nicht ausgefuͤllt ſcheint? Ein Ziel muͤſ - ſen wir uns doch ſetzen, einen Zweck muß ich doch ſuchen, den ich erreichen will! Jch kann doch mein Leben nicht vergeuden, indem ich von Deinem Gelde zehre und wenn ich auch nicht muͤßig gehe, doch nichts foͤrdere. Wie lange ſollen wir noch hier verweilen? Sage, Laura, meinſt Du nicht auch, daß ich ein Geſchaͤft unternehmen, daß ich etwas beginnen duͤrfte?

Antoine, Du redeſt, als ob Du meiner ſchon ſatt waͤreſt!

Du weißt am Beſten, wie wenig das moͤglich iſt. Doch leugne wie Du willſt, auch Du ſpuͤrſt das Be - duͤrfniß, dieſen traurigen Ort zu verlaſſen. Auch Du ahneſt, daß ein fauler Tagedieb Dich bald belaͤſtigen koͤnne.

Uebe Dich nur auf Deiner Geige!

Thu ich’s nicht? Alle Maͤuſe im ganzen Hotel koͤnnen mir’s bezeugen. Aber was hilft mir das? Ein großer Kuͤnſtler zu werden, dazu gehoͤrt mehr.

So mache wieder Koͤrbe.

Spotte nicht. Jene gluͤcklichen Tage ſind voruͤber, wo ich mir daran genuͤgen ließ. Nein, Laura, ich haͤtte336 wohl eine Jdee, ... doch wirſt Du ſie verlachen. Sie iſt kuͤhn; vielleicht gar toll.

Dann heraus damit! Je toller, deſto beſſer wird ſie mir zuſagen!

Mein Violinſpiel iſt nicht bedeutend genug und ich habe auch zu wenig Schule, zu wenig muſika - liſche Kenntniſſe, um als Virtuoſe zu glaͤnzen. Aber an Bravour fehlt es mir doch nicht und manches Stuͤckchen ſpiel ich leidlich. Nun hab ich mir ſo gedacht, es kaͤme nur darauf an, was ich etwa vermag in einer Art und Weiſe vorzufuͤhren, die noch nicht da war. An einen Geiger, der neben den uͤbrigen Muſikanten ſteht, werden mit Recht große Anſpruͤche gemacht und er muß viel leiſten, bis er ſeine Nach - barn uͤberragt. Wenn aber Einer kaͤme, der das Ding ....

Willſt Du vielleicht Deine Variationen uͤber nel cor piu non mi sento vom Kirchthurm herab zum Beſten geben. Das haͤtte ſein Gutes, man wuͤrde die falſchen Griffe weniger heraushoͤren.

Vom Thurme nicht, wohl aber vom Pferde.

Vom Pferde? Warum nicht gar vom Eſel?

Du meinſt, um in meiner Verwandtſchaft zu337 bleiben? Sei nicht boshaft und laſſ mich ausreden. Als ich im Cirkus bei Guillaume war

Ah, Madame Guillaume!

Laſſ mich ganz ausreden; unterbrich mich nicht. Und wenn ich fertig bin iſt die Reihe an Dir. Als ich bei Guillaume war, und ritt, verwunder - ten Er und ſeine Leute ſich uͤber mein angebore - nes Reiter-Talent. Angeboren mußt es ſein, denn ich hatte vorher noch niemals ein Pferd beſtie - gen, wenn Du nicht den Ziegenbock ſo nennen willſt, den unſer Gemeindehirt in Liebenau zur Ergoͤtzlichkeit ſeiner Kinder hielt. Mir kam es vor, als ich im Sattel ſaß, wie wenn ich ſchon haͤufig davon getraͤumt und mich im Traume geuͤbt haͤtte, wie wenn dieſe Traͤume jetzt in Erfuͤllung gingen. Jch fuͤhlte mich ein ganz anderer Menſch! Du unterſag - teſt mir damals, Guillaume’s wieder zu beſuchen, und ich gehorchte. Das gilt jetzt nichts mehr. Wie wir jetzt mit einander ſtehen, kann das kein Hinder - niß meines Planes ſein und Du wirſt nicht argwoͤh - nen, daß ein armer Junge, dem Du Dein volles Vertrauen und mit dieſem Dich Selbſt geſchenkt haſt, Dich auch nur durch eine Silbe verrathen, Dich mit Undank belohnen koͤnnte. Wie wenn wir nunDie Vagabunden. I. 22338Herrn Guillaume nachreiſeten? Wenn ich bei ihm lernte? An Muth, Gewandheit, Kraft fuͤrcht ich kei - nen Mangel. Ehe vier Wochen vergehen ſteh ich auf meinem Roſſe, ſo ſicher wie der kleine Kerl mit der Lyra dort oben auf dem blau-gruͤnen Ofen ſteht. Jhre Saͤttel ſind ja breit ausgepolſtert und bequemer, als manches Kanapee hier im Gaſthauſe. Eine ertraͤg - liche Figur will ich ſchon machen, und daß ich nicht ſchlecht gekleidet ſei, iſt Laura’s Sorge, die ihren kleinen Herrn Amelot ſo aufzuputzen verſtand, daß er einem Apollo glich, nicht wahr? Eh bien, ich bin ſchlank. Wenn ich nun mein Solo reitend ſpiele, nachdem ich es vorher mit Guillaume’s ſicherem Orcheſter tuͤchtig eingegeigt, ſo macht das Aufſehn. Guillaume engagirt mich. Auf dieſe Art erwerb ich etwas, bringe auch etwas in unſere Ménage, (aus der Manège) gewinne außerdem Zeit, uͤber fleißig, ſetze taͤglich drei Stunden daran, und ehe ein Jahr um iſt, jag ich mit dem wilden Furioſo um die Wette, oder ich habe den Hals gebrochen. Jm erſteren Falle iſt Dein Freund ein tuͤchtiger Mann, den man raſend applaudirt, auf den Du ſtolz wirſt! Jm letzteren Falle biſt Du zum Zweitenmal Wittwe und fuͤr dieſen Fall ertheile ich Dir heute, noch ſehr, ſehr339 lebendig wie Du weißt; heute wo mein Kopf noch auf heilem Halſe ſteht und bluͤht, wie eine Feuerlilie auf ihrem Stengel; heute ſchon im Voraus die Erlaub - niß, mich nicht laͤnger zu beweinen, als drei Jahre, drei Monate, drei Wochen, drei Tage und drei Stun - den. Hat die Dritte ausgeſchlagen, darfſt Du Dich nach Deinem Dritten umſchauen! Doch ſieh zu, ob Du wieder einen Antoine findeſt!

Nein ich finde keinen! Und ſtirbſt Du, will ich mit Dir ſterben! Jetzt erſt biſt Du ſchoͤn! Jetzt erſt lieb ich Dich mit all der Liebe, deren ich faͤhig bin. Du haſt Recht: Leben und Wagen! Ohne Leben keine Liebe; ohne Gefahr kein Leben! Heute noch laſſ uns Anſtalten treffen zur Reiſe! Oh, ich ſehe Dich zu Pferde! Du mußt entzuͤckend ſein: dieſe breite Bruſt, dieſe feine Taille, dieſe ariſtokratiſchen Knoͤchel; ganz comme il faut! Und wie will ich Dich kleiden. Fort mit den geſchmackloſen traditionellen Lappen, wie ſie um jene plumpen Stallknechte flattern! Fort damit! Wenn Du auftrittſt, ſollen alle Maͤnner vor Neid gelb werden und alle Weiber aus Mißgunſt berſten, weil Du nicht ihnen gehoͤrſt; weil Du mein biſt! Was?? Madame Guillaume? Jch fuͤrchte ſie nicht. Wird ſie wagen ſich mit mir zu meſſen? Jch22 *340hatte ſie nur zu fuͤrchten, ehe Du mich kannteſt, wie Du mich jetzt kennſt. Nicht wahr Antoine?

Heute noch bleiben wir hier. Heute noch: nur Liebe! Und morgen .... in’s Leben! Auf die Reiſe! Jn die Welt! Gluͤck auf! Gluͤck auf: die Vaga - bunden!

Druck von Robert Niſchkowsky in Breslau.

About this transcription

TextDie Vagabunden
Author Karl von Holtei
Extent356 images; 61019 tokens; 12372 types; 423833 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Vagabunden Roman in vier Bänden Erster Band Karl von Holtei. . XVI, 340 S. Trewendt & GranierBreslau1852.

Identification

Staatsbibliothek München BSB München, P.o.germ. 644 hd-1/2

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

Editorial statement

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:31:42Z
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