In demſelben Verlage ſind ferner erſchienen:
Dem k. k. Stadthauptmann von Gräz Auton Freiherrn von Paümann widmet dieſes Buch der Verfaſſer.
[II][III]Nicht weil der Held meines Romanes Jhren Tauf - namen führt;
nicht weil wir Vagabunden uns vor Jhrer amt - lichen Strenge zu ſichern wünſchen;
nicht endlich, weil ich Jhnen dadurch „ eine Ehre zu erweiſen “gedächte, werden Sie mit dieſer Widmung, Zueignung, Dedikation beläſtiget. O nein. Es ſind Empfindungen ganz anderer Art, welche mich dazu antreiben. Daß ich es in wenig Worten ausſpreche: eine Strafe für Sie ſoll es ſein! Denn weil dies der erſte größere Roman iſt, an welchen ich mich wagte; weil es folglich zwiefach unſicher ſcheint, ob er Leſer und Beifall findet; weil alſo der Erfolg ein zweifel - hafter bleibt! ... Jſt es nicht eine gefährliche Sache, ſolch’ ein Werk ſich zueig’neu, ſeinen Namen in großen Buchſtaben hinter dem Titelblatte prangen zu ſehen? VIIIUnd hinter welch’ einem Titelblatt! Und welch’ ein Name! Der Polizei-Direktor hinter den Vaga - bunden!
Wohlan denn, dieſe Strafe iſt Jhnen zuerkannt.
Sie ſind daran gewöhnt, bei zuerkannten Strafen fragen zu hören: warum? weshalb? wofür? Sie machen billigerweiſe dies Recht der Frage in Jhrer eigenen Angelegenheit geltend, und ich erwiedere:
Wenn ein Schriftſteller zurückgezogen aus dem Geräuſch der ſogenannten Geſellſchaft, nur in einem ſehr kleinen Kreiſe von umgänglichen Bekannten, in der Natur und in ſeinen literariſchen Beſtrebungen ver - kehrt; wenn ſich weder um letztere, noch um ihn ſelbſt unter 60,000 Einwohnern am Orte eine Seele beküm - mert; wenn die Mehrzahl nicht weiß, daß er lebt, dich - tet, tichtet und trachtet; wenn ſeine Bücher in keiner Leihbibliothek, auf keinem Toilettentiſche zu finden ſind; wenn er unbemerkt und unbeachtet ſeinen Weg wan - derte, ſein Einſiedlerleben führte, ohne mit Fragen über etwaige Thätigkeit bedrängt zu werden; wenn er im glücklichen Gefühle, ſich ſelbſt überlaſſen, vom Robot - Dienſte herkömmlicher Einladungen und Beſuche frei zu bleiben, ſein eigener Herr heißen durfte, ein Glück, welches in anderen Städten nicht leicht errungen wird;IX — wenn, ſag’ ich, ein ſolcher Schriftſteller nun plötzlich, unerwartet aus ruhigem Stillleben ſich aufgeſtört ſieht durch einen Mann, welcher, das Schwert der Gewalt an der Hüfte, exekutive Vorrechte an der Stirn, ein - dringt in des alten Muſenſohnes Zelle; ihn empor ſchreckt aus müßigen Träumen; ihn bei Namen nennt, wie einen Nachtwandler, den man erwecken will; ihm zuruft:
„ Jch kenne Dich und Deine Thaten. So viel Stücke „ haſt Du aufführen laſſen, ſo viel Lieder haſt Du „ geſungen, ſo viel Gedichte geſchmiedet, ſo viel „ Bände geſchrieben. Du biſt ein deutſcher Schrift - „ ſteller; Du wähnſt in eitlen Stunden, ein Dichter „ zu ſein; ha, ich kenne Dich! Und weil mir gerade „ kein Anderer zur Hand iſt; und weil ich neben mei - „ nen ſtrengen Berufspflichten auch die Poeſie liebe, „ ihre Blumen in bunten Kränzen um meine Akten „ zu ſchlingen; und weil ich einen Poeten gebrauche, „ mit dem ich auf den Schloßberg wandeln und von „ Literatur plaudern könne; und weil, — und weil, „ — und weil, — ſo raffe Dich auf, Holtei, und „ folge mir! “
Und wenn nun dieſer Mann wiederkehrt und täg - lich fragt:
X„ Was arbeiteſt Du jetzt? Was haſt Du vor? Wie „ viel haſt Du geſtern gethan? Wie weit iſt Dein „ Manuſcript gewachſen? Um Gotteswillen, wie „ lange ſoll der arme Trewendt warten, bis wieder „ eine Sendung abgeht? “
Und wenn dieſer Mann meine ſchönſten faulen Stunden unterbricht, mich meinem dolce far niente entreißt, mir keinen Frieden gönnt? Mir, ja mir, dem beglückten Autor, nach welchem ſonſt kein Hahn kräht im ganzen Weichbild der Stadt Graz, Gratz, Grätz, oder Gräz?
Was verdient dieſer Mann? Was hat er ſich ſelbſt zugezogen?
Die Widmung, ſag’ ich; die Zueignung! die Dedikation!
Da haben Sie’s nun. Wahren Sie ſich, ſo gut Sie können! Es hilft Jhnen doch nichts, denn es iſt geſchehen: wenn Sie dieſes Urtheil leſen, iſt es bereits publizirt in tauſend Exemplaren. Und da mein Ver - leger nicht in Gräz drucken läßt, ſo können Sie nicht einmal die Konfiskation vornehmen. Ja, ich fordere Sie ſogar heraus, diejenigen Exemplare mit Beſchlag belegen zu laſſen, die „ am hieſigen Platze “ver -XI kauft werden. Verſuchen Sie das einmal! Es ſoll Jhnen ſchwer fallen.
Es hilft Jhnen nichts mehr; wird mein Buch ſcharf getadelt, Sie müſſen ihn tragen helfen, den Tadel.
Wie ſtreng’ aber die Kritik damit verfahre, Eines kann ſie ihm nicht abſtreiten: die Wahrheit; die innere Wahrheit der Charaktere, wie die äußere der Begeben - heiten. Dieſe iſt vorhanden, weil kein Menſch im Romane auftritt, den ich nicht gekannt, beobachtet habe; kein Ereigniß geſchieht, welches nicht ein erlebtes wäre. Ob Namen verändert, oder entſtellt? Ob Städte und Dörfer abſichtlich falſch bezeichnet ſind? Darauf kommt es nicht an. Wenn nur die Perſonen für lebendige Weſen mit Fleiſch und Blut gelten. Wenn der Ver - faſſer nur ſelbſt an ſie glaubte, da er ſie in Bewegung ſetzte! Und das that ich. Das thu’ ich noch. Von dieſer Seite fürcht’ ich nichts.
Eben ſo wenig fürcht’ ich die Kritik, wenn ſie mich von Oben herab über die Wahl des Stoffes hart anlaſ - ſen will. Gegen dieſe Vorwürfe bin ich gewaffnet; mein Schild iſt des Buches Titel. Wer die „ Vaga - bunden “von mir geſchrieben in die Hand nimmt, muß wiſſen, was er zu erwarten hat. Um den Stab darüber zu brechen, braucht man es gar nicht erſt zuXII leſen. Der ernſthafte Rezenſent mache ſich’s bequem und ſage: das muß dummes Zeug ſein, denn es heißt ſo und ſo und der Verfaſſer iſt der und der. Auch kann er beifügen: es enthält nichts von kommuniſti - ſchen, ſozialiſtiſchen, politiſchen Tendenzen, folglich iſt es außer der Zeit, folglich hab’ ich es keines Blickes gewürdiget und erkläre es hiermit für ſchlecht. Wie geſagt, das wäre das Bequemſte. Aber ich fürchte mich auch davor nicht.
Nein, was ich fürchte, wäre vernehmen zu müſſen: der wohlwollende Leſer habe ſich dabei gelangweilt!
Wenn dieſer Fall eintritt, mein theurer Freund, in welchen Winkel verkrieche ich mich dann vor Jhnen?
Und es iſt doch möglich? Wer verbürgt mir das Gegentheil? Bin ich nicht auf meine alten Tage zum Romanſchriftſteller geworden, wie man eine Hand umdreht?
Profeſſor Auguſt Kahlert, mein lieber Landsmann, ſchrieb mir vergangenen Winter aus Breslau: „ den Deutſchen fehlt das tiefe, liebevolle Eingehen in Ein - zelheiten der Perſonen und Situationen, was die Eng - länder ſeit allen Zeiten beſitzen. Jch bin immer noch der Meinung, daß Sie (als wie ich!) der MannXIII wären, im Fache des biographiſchen Romans etwas zu leiſten. Mit dem Theater iſt es jetzt ein ſchlimmes Ding ꝛc. “
Dieſe Zeilen regten mich auf, jene Mappe wieder einmal hervorzuſuchen, in welcher ich ſeit vielen Jahren allerlei Entwürfe zu Erzählungen größeren Umfangs aufbewahre. Jch prüfte, wählte, verwarf; gerieth auch über die im Jahre 1845 / 6 begonnenen, aus Mangel an Luſt, Fleiß, Muth? ich weiß nicht, wieder aufgegebe - nen Vagabunden. Die Landſtreicher machten mir viel zu ſchaffen. Den Kopf von ihren Streichen voll, traf ich im März in Prag ein, führte ſie im April den Wiener Prater entlang herum, nahm ſie im Mai mit nach Baden und brachte ſie, bei ſanftem Schneegeſtöber, in unſern hieſigen Frühling mit. Das Uebrige wiſ - ſen Sie.
Kahlert hat dies Buch auf ſeinem Gewiſſen.
Wegen künftiger Romane von meiner Feder könnte nur das Leſepublikum die Verantwortung tragen; von dieſem allein hängt es ab, ob dieſer Verſuch der erſte und letzte bleiben, oder ob er Geſchwiſter bekommen ſoll!
XIVDieſe Vorrede iſt ſchon geſchrieben; ſie harrt nur der Reinſchrift, um ſich auf die Reiſe nach Breslau zu begeben, — da trifft in Gräz Tom Pouce ein, der große Admiral. Und ich ſtehe betrübt bei ſeinem Anblick; denn Er fehlt mir in dieſem Buche. O wenn mein Schkramprl Pouce’n beſeſſen, er hätte nicht .... ja ſo; Sie haben das Buch noch nicht geleſen und wiſſen noch nicht, wer Schkramprl iſt.
Aber Tom Pouce kennen Sie. War ich doch bei Jhnen in der Loge, als der Huldreiche im ſchwarzen Frack, auf ſeines Kammerdieners Handteller ſtehend, uns Viſitenkarten übergab, während ſeine Equipage draußen auf der Scene hielt. Nun denn, ich folgte ihm auf die Bühne. Jch war begierig, mit eigenen Ohren zu hören, ob Das auch reden, denken, ob es ſich für einen Menſchen wie unſer Einer halten werde?
Bei dieſer Gelegenheit begegnete ich Herrn Ballet - meiſter Crombé und mich erinnernd, derſelbe ſei Duport’s Schüler geweſen, kam mir der glückliche Gedanke, ihm zu erzählen, daß ich Duport’s in dieſem Romane Erwähnung gethan und die Geſchichte, wie er Tänzer ward, mitgetheilt hätte. Worauf Crombé mir mit ächt franzöſiſcher Politeſſe erwiederte: ich hätte ganzXV Recht und die Geſchichte ſei wörtlich wie ich ſie mit - getheilt, nur daß, Duport betreffend, kein einziges Wort davon wahr ſei.
Mein Schreck!!
Jch taumelte zurück; um ein Haar breit trat ich Tom Pouce, der als Zauberer verkleidet unter meinen Füßen herum zwergte, zuſammen wie einen Froſch. Stürzte ſein Gefolge ſich nicht rettend dazwiſchen, ſo zählte die deutſche Flotte einen Admiral weniger.
Aber mein Schreck: der zweite Band bereits im Druck — und die Geſchichte von Duport eine Lüge?
Herr Crombé beruhigte mich. Die Geſchichte iſt richtig, doch nicht Duport hat ſie erlebt, ſondern der zu ſeiner Zeit beliebte Tänzer Samengo.
Jch athmete wieder auf. Nach dieſer Berichtigung bitt’ ich nun die betreffenden Blätter im dreißigſten Kapitel zu verbeſſern.
Jetzt wüßt’ ich nichts mehr vorzubringen.
Etwa noch eine Entſchuldigung, daß in vorliegen - der Erzählung ſo viele Leute ſterben; vom ſchwarzen Wolfgang bis zu Gräfin Julia, eine ganze Reihe von Todten!
Ob das, künſtleriſch beurtheilt, fehlerhaft ſei, ver - ſteh’ ich nicht. Behaupten darf ich: es iſt aus dem LebenXVI gegriffen, dies Abſterben. Auch aus meinem eigenen. Denn überzähl’ ich die Namen derjenigen die mir geſtor - ben ſind und alljährlich ſterben, dann frag’ ich trauernd: wer von meinen Freunden und Freundinnen aus frühe - rer Zeit wird denn zuletzt noch übrig bleiben, mich zu begraben?
Solch’ ein alter Vagabund hat ein zähes Leben.
H.
Wie in Liebenau die Linden blühen, und wie in deren Dufte die alte Mutter Gokſch ihren Enkel, den blauäugigen Anton erwartet; auch was ſie mit einander redeten.
Die Linden ſtanden in voller Bluͤthe. Vor der Thuͤre ihrer kleinen Huͤtte ſaß auf einem zerbrochenen umgeſtuͤrzten Korbe die alte Mutter Gokſch zwiſchen zwei Miſthaufen, vor ſich ein Gaͤrtchen voll bluͤhen - der Blumen. Mit ſichtlicher Vorliebe wendete ſie ein - mal ums anderemal ihren matten Blick dem Duͤnger zu; der Blumen achtete ſie wenig, weil ſie ihnen jenen Raum nicht goͤnnte, wo nach ihrer Meinung Kartoffeln wachſen ſollten. Sieht man doch gleich, murmelte ſie vor ſich hin, daß der Junge eines Vor - nehmen Kind iſt: Jmmer denkt er auf Putz und Schmuck, und die Großmutter mag zuſehen, wo ſie Futter hernimmt fuͤr ihn, wie fuͤr ſich ſelbſt. Und wo er nun wieder bleibt? Die Sonne wird bald zu Ruͤſte gehen, aber er treibt ſich noch im Walde herum. Und wenn er kommt, kann ich nicht einmal mit ihm zanken, ob ich ſchon moͤchte, weil er ſo große dunkel -Die Vagabunden. I. 12blaue Augen hat, wie ſeine verſtorbene Mutter. So bald er mich mit dieſen Augen anſchaut, ſtirbt mir jedes ernſte Wort auf den Lippen. Er macht mit mir, was er will. Haben ihn doch auch alle Menſchen gern: Der Baron, der alte Baͤr; und die Fraͤulen; und der Paſtor; und der Schulmeiſter. Ganz Liebe - nau iſt vernarrt in den Anton. Jhm ſehen ſie Alles nach. Eh’ ſie ihre Koͤrbe zum alten Korbmacher tra - gen, der gewiß ein gutes Stuͤck Arbeit macht, und raſch, bringen ſie lieber ihren Kram hier an’s Ende des Dorfes zu meinem Jungen, und warten wochen - lang geduldig, bis es ihm gefaͤllig iſt, daran zu gehen. Nu freilich, wohlerzogener iſt er, als die dummen Dorfluͤmmel. Seine Sprache ſchon iſt nicht ſo rauh und grob, weil er von Kindheit auf mich reden hoͤrte, und mir klebt immer noch mein Stadtleben an; das kann mir Niemand abſtreiten. War ich doch auch einmal jung; jung — und ſchoͤn, wie meine ungluͤckliche Tochter!
Bei dieſen Worten fuͤllten ſich die Augen der Mutter Gokſch mit Thraͤnen, und ein leiſes Schluch - zen erſtickte den Lauf ihres Selbſtgeſpraͤches. Beide Haͤnde druͤckte ſie feſt vor ihr welkes Angeſicht, um ſich recht ungeſtoͤrt dem Grame hinzugeben. Doch nicht lange blieb ſie ihm uͤberlaſſen. Anton, der leiſe3 zu ihr hingeſchlichen war, zog ihr die Haͤnde vom Haupte, und fragte freundlich: Großmutterle, warum flennſt Du? Da umſchlang die gute Frau den ſchoͤ - nen Jungen mit beiden Armen, und aus den Zaͤhren einſamen Schmerzes wurden Thraͤnen des liebevoll - ſten Mitgefuͤhls. Zaͤrtlich ſchmeichelnd ſtrich Anton mit ſeinen duͤnnen Fingern uͤber Stirn und Wangen der Mutter Gokſch. Gewiß, ſprach er, Du biſt noch immer eine huͤbſche Frau, Großmama, wenn man Dir nur die Runzeln wegſtreichelt, und dein Geſicht ein wenig glatt macht. Auf den Sonntag werde ich Dich mit Johanniswaſſer einſprengen, und hernach werde ich das kleine Plaͤtteiſen nehmen und Dich gehoͤrig aus - biegeln; dann kannſt Du ſchmuck zur Kirche gehen und wirſt unſerm Herrn Paſtor gegenuͤber ſitzen, friſch und ſauber, wie ein neu ausgeputztes Haus, wo ſie daran geſchrieben haben: renovatum anno Domini ſo und ſo viel; drei rothe Kreuze darunter. Wenn Du nur um Alles in der Welt nicht ſo viel weinen wollteſt, wie ich den Ruͤcken kehre; dann waͤr’s noch beſſer; denn die Thraͤnen haben Dir ſchon Furchen gebiſſen in beide Wangen, gerade wie der Regen in unſeren Dachgiebel, ſo gegen Abend ſteht. Sei doch vernuͤnftig, Alte, und mach’ mir nicht ſo viel Ver -1*4druß. Jch kann doch nicht den ganzen Tag bei Dir ſitzen, um Acht zu geben auf Dich und Dir vorzuſin - gen, wie einem kleinen Kinde? Mit ſechszig bis ſie - benzig Jahren koͤnnteſt Du ſchon genug Verſtand haben, um manchmal ein Stuͤndchen ohne Aufſicht zu bleiben? Und wenn Du nicht gut thuſt, werde ich Dir eine derbe Ruthe flechten, ſo wahr ich Anton heiße, und ein beruͤhmter Korbmacher in Liebenau bin.
Da lachte die Mutter Gokſch uͤber ſein albernes Geplauder, daß ihr beinahe wieder die Thraͤnen uͤber beide Backen gelaufen waͤren, und kichernd rief ſie: „ Ach, wenn Deine Mutter Dich ſo ſehn koͤnnte! “ Aber kaum hatte ſie’s geſagt, als ſie wirklich zu weinen anfing; diesmal jedoch ſo innig und ſanft, daß der ehrliche Anton ein Bischen mitweinte, denn das geſchah ihm jedesmal, wenn ſeiner Mutter gedacht wurde, deren er ſich aus den erſten Monden ſeiner Kindheit zu erinnern waͤhnte, wie eines glaͤnzenden Traums. Augenblicklich ließ er von ſeinen Scherzen ab. Mit feierlichem Ernſte ſetzt’ er ſich auf den Bo - den, der Großmutter zu Fuͤßen und ſein tiefes Auge feſt nach ihr gewendet, fragte er in ruͤhrendem Tone: Nicht wahr, ich ſehe ihr gleich?
5„ Nur allzuſehr, “erwiederte die Großmutter.
Anton ſchwieg ein Weilchen, dann begann er: das iſt wieder eines von den dunklen, unverſtaͤndli - chen Worten, wie ſie Dir oft entſchluͤpfen, Alte, gleichſam gegen Deinen Willen. Sie aͤngſtigen mich, dieſe Worte. Siehſt Du, das muß ein Ende nehmen. Jch will wiſſen, was es mit meiner ſeligen Mutter war? Will wiſſen, wer mein Vater geweſen? Was aus beiden geworden? Und wie Du in dieſe Huͤtte verſchlagen worden biſt? Jch habe ein Recht dazu, Großmutter! Jch bin kein Kind mehr. Am vorletzten Oſterfeſte ſchon hat mich unſer Herr Paſtor konſir - mirt, und hat mich ſammt der ganzen Gemeinde zum Tiſche des Herrn gehn laſſen; — jetzt bin ich ſiebzehn vorbei; — und hat damals geſagt, ich waͤre reifer und wuͤrdiger dazu als alle Jungen im Dorfe, die um ein Jahr aͤlter ſind. Folglich kannſt Du mit mir reden, wie mit einem Erwachſenen. Das weißt Du auch recht gut. Alſo koͤnnteſt Du billig ein Ende machen und mich heute wiſſen laſſen, was ich uͤber kurz oder lang doch erfahren muß.
„ Wie geſcheidt der Junge ſeine Reden ſetzt, “mur - melte die Mutter Gokſch, indem ſie ihm die reichen Locken von der Stirne ſchob. Sie betrachtete ihn6 lange, wie wenn ſie uͤberlegte, ob ſie ſeinen Wunſch erfuͤllen duͤrfe? Dann aber ſprach ſie ploͤtzlich: „ Nein, Anton, es geht nicht. Es kommen Dinge vor in die - ſer traurigen Geſchichte, die fuͤr Dich noch zu fruͤh ſind. Sage was Du willſt, Du biſt ja doch nur ein Kind. “
Meinſt Du, Großmutter, wendete Anton dagegen ein, meinſt Du wirklich? Jch weiß mehr, als Du denken magſt, vom Leben und von den Menſchen. Wer, wie ich, auf eigene Hand aufgewachſen iſt, im - mer unter dem Landvolk ſich herumtrieb, Alles hoͤrte, Alles beobachtete, ſchon als kleiner Knabe denken und vergleichen lernte, der iſt in meinen Jahren ein Mann. Erzaͤhle mir, was Du willſt, ich werde Dich verſte - hen — und ich werde dazu ſchweigen, wenn es noͤthig iſt.
Unſchluͤſſig ſtaunte die Alte ihren Enkel an, den ſie niemals noch ſo entſchieden ſprechen gehoͤrt, und zweifelnd ſchuͤttelte ſie den Kopf, indem ſie vor ſich hinfluͤſterte: „ Werden denn in dieſer Zeit die Kinder ſchon ſo fruͤh muͤndig? “
Da ertoͤnte vom kleinen Kirchthurme die Abend - glocke. Wehmuͤthig zitterten ſanfte Klaͤnge auf lauem Winde getragen uͤber das bemooste Strohdach und7 verloren ſich tief im kaum hoͤrbaren Widerhall des Kieferwaldes, der die letzten Haͤuslein dieſes Dorfes faſt beruͤhrte. Anton nahm ſeine Kappe ab. Die Alte lispelte ein frommes Verslein. Und als ſie fertig war mit ihrem kurzen Gebet, ſagte Anton: Nun, Großmutter, beginne! Mir iſt um’s Herz, als haͤtten ſie mit dieſem Glockenzuge meine Mutter in’s Grab gelegt. Laß mich wiſſen, wo der Huͤgel gruͤnt, auf dem ich knieen darf, wenn ich mit ihr ſprechen will?
Und die Mutter Gokſch hub an:
Wie die Großmutter auf Anton’s inſtändiges Bitten ihm die Lebens -, Liebes - und Todesgeſchichte ſeiner ſchönen Mutter erzählt.
„ Dein Großvater, Anton, mein guter ſeeliger Mann, war Kantor und Schulrektor in N. Na, das weißt Du. Davon hab’ ich Dir ſchon oft genug er - zaͤhlt; von unſerem huͤbſchen gruͤnumlaubten Haͤus - chen hinter der Kirche, und wie er mich heimfuͤhrte, als junge, ſchmucke Braut. Des Herrn Amtsdieners Tonel haben ſie mich geheißen; denn mein Vater ſee - lig war Amtsdiener beim hohen Rath. Aber wie ich Hochzeit machte, war er ſchon lange todt; und meine Mutter folgte ihm bald nach meiner Verheirathung,8 ſo daß ich die Flitterwochen hindurch ſchwarz einher gehen mußte, wie eine Amſel. Das haſt Du alles ſchon gehoͤrt, Anton, ich kann Dir es aber jetzt nicht ſchenken, denn mein Kopf iſt gar ſchwaͤchlich, und wenn ich nicht die ganze Geſchichte vom Anfang an - fange, bring’ ich ſie gar nicht zu Stande. Aber wo blieb ich denn? “—
Bei der Amſel, Großmutter!
„ Richtig. So ſchwarz wie eine Amſel mußt’ ich einhergehen. Und ſammt meiner Trauerkleidung kam ich in’s Wochenbett, mit einem kleinen Anton. Der machte aber nicht lange, ſo war er hin. Der arme kleine Kerl konnte die Thraͤnen nicht verwinden, die ich um meine Mutter ſo gern geweint haͤtte, die ich aber verſchlucken mußte, weil Dein Großvater zornig ward, wenn er mich weinen ſah. Jch hab’ das Kind meiner Mutter zu Fuͤßen gelegt. Jch dachte in meiner Ein - falt, damit ſie gleich einen Engel als Boten bei der Hand haben ſollte, wenn ſie vielleicht einmal Luſt haͤtte, mir einen Gruß zu ſchicken aus ihrem Grabe, oder ſonſt etwas? Es hat ſich jedoch nichts eingeſtellt. Mein zweites Kind — lange nachher — war ein Maͤdel. Das war Deine Mutter, Anton! Antonie haben wir ſie genannt. Das heißt, Dein Großvater9 rief ſie Antoinette. Und da wurde zuletzt Nette daraus, und unſere Nachbarn meinten, der Name kaͤme dah[er], daß ſie ſo nett und ſauber war. Denn ſie wuchs auf in purer Schoͤnheit, daß jeder ſtehen blieb und ihr nachſtaunte, der ihr begegnete. Jch ſah ihre Schoͤn - heit auch, und ihre Klugheit und Anmuth, o ja, ich ſah Alles, denn mein Gott, wofuͤr waͤre ich denn ihre leibliche Mutter geweſen? Daneben jedoch ſah ich auch ihre Fehler: Jhren leichten Sinn, ihre Eitelkeit! Dein Großvater wollte davon nichts ſpuͤren; der hob nur die Tugenden heraus. Und als ſie gar zu ſingen anfing, und als ſie ſaͤmmtliche Schulkinder mit ihrer kraͤftigen, reinen Stimme beſiegte, da war’s gar aus! da kannte mein guter Mann nichts uͤber ſeine Nette! Ja, wenn unſer Herrgott die himmli - ſchen Heerſchaaren herabgeſendet haͤtte, daß ſie vor meinem Manne muſiziren muͤßten und ſingen, der haͤtte, glaube ich, geradezu geſagt: Sobald mein Nettel nicht mitſingt, will die ganze Muſik nichts heißen. So war er. Freilich, himmliſch geſungen hat ſie, das muß ich ſelbſt eingeſtehen; mit vierzehn Jahren ſtand ſie hier da, Anton, wie eine vollkommene Jungfrau, und wenn ſie den kleinen Mund aufthat, und ihre Zaͤhne wies, und die Stimme drang heraus,10 da ging es einem wohl durch alle Gliedmaßen. Jch fuͤhlte es eben ſo warm, wie Dein Großvater; nur haͤtt’ er’s ihr nicht immer ſagen ſollen. Da wurde denn einmal ein großes Feſt veranſtaltet in G., was ſie ein Muſikfeſt nannten. Dazu haben ſie von Weit und Breit aus dem ganzen Lande zuſammenberufen, was ſtreichen konnte und blaſen und ſingen und ſchreien und Pauken ſchlagen. Wie die Ameiſen ſind die Muſikuſſe uͤber die Berge gekrochen, durch die Thaͤler, aus allen Winkeln und Ecken, daß es nur ſo wimmelte! Natuͤrlich war mein Mann auch dabei mit ſeiner Geige — und ohne Nette waͤr’s ja durch - aus nicht gegangen. Sie fuͤhrten auf, wie die Welt geſchaffen worden iſt. Die Schoͤpfung nannten ſie’s. Das kam mir ſchon ſuͤndhaft vor. Noch ſuͤndhafter hielt ich es, daß Dein Großvater als chriſtlicher Schulmann, der er doch einmal ſein ſollte, ſich nicht ſchaͤmte, ſo viel Aufhebens zu machen von der Heid’ - niſchen Muſik. Denn heid’niſch war ſie. Das hab’ ich ihn und ſeine Muſikfreunde ſagen hoͤren. Ein Heide, ſagten ſie, haͤtte das eben erſt in der großen Wienſtadt geſchrieben. Da entbloͤdeten ſie ſich nicht, in Einem weg von goͤttlichen heidniſchen Melodieen zu ſprechen. Schrecklich! Aber ich mußte wohl ſchwei -11 gen. Doch die Strafe blieb nicht aus. Von dieſem gotteslaͤſterlichen Muſikfeſte ſchreibt ſich unſer Elend her. Deine Mutter hatte die ſuͤndhafte Eva vorſtellen muͤſſen, ſo erzaͤhlte ſie mir’s, als ſie zuruͤckkehrten. Mit zu ziehen hatte ich mich redlich gehuͤtet. Ja, die Eva hat das unſchuldige Maͤdchen vor Aller Augen machen muͤſſen und geſungen hat ſie Liebeslieder mit Adam, der niemand anders geweſen ſein ſoll, als ein Opernſaͤnger aus der Hauptſtadt. Ob die Schlange auch vorgekommen ſei, das hab’ ich niemalen aus der Antoinette ihren Erzaͤhlungen herausbringen koͤnnen. An anderem Vieh hat es nicht gefehlt. Zum Gluͤck haben die Saͤnger wenigſtens ihre Kleidung nicht ab - legen duͤrfen. Sonſt war Alles wie beim Suͤndenfall. Ach, mein lieber Anton, hatte Dein Großvater bisher mit ſeiner Nette Abgoͤtterei getrieben, jetzt fand er gar keine Grenzen mehr. Die Lobſpruͤche, die ſie von Hoch und Niedrig erhalten, hatte er eingeſackt und ſich voͤl - lig damit ausgepolſtert, daß er ſelber aufgeblaͤhet war wie ein welſcher Hahn, den die Koͤchin mit gebrate - nen Kaſtanien ſtopfte. Einen guͤldenen Ring ließ er ihr machen fuͤr drei ſchwere Dukaten und auf einem Plaͤttchen ſtand eingegraben: „ Eva. “ Den Ring mußte ſie tragen, als ob ſie eine Dame waͤre. Das12 gab ihr den letzten Gnadenſtoß. Wenn ich ihr eine haͤusliche Arbeit auftrug, ließ ſie nur ihren Ring im Lichte glitzern und ſetzte ſich an’s Klavicembalo. O Anton, da war ſie ſo lieblich und ſchuͤttelte mit den dunklen Locken herum, daß die allerhoͤchſten Noten herauspfiffen aus dem Perlenmunde, als ob’s Waſ - ſertropfen waͤren, die an der Sonne funkeln. Und da war die thoͤrigte Mutter wieder ſtill, ſchaffte ſelbſt im Hauſe und horchte auf ihres Kindes Geſang.
Unterdeſſen waren die Huſaren, die ſonſt in G. gelegen, zu uns nach N. in’s Quartier gekommen. Schon wie ſie einruͤckten und wie ihre Trompeten uͤber den Platz ſchmetterten, daß es bis in unſeren ſtillen Kirchhof drang, ſpuͤrt’ ich an Netten’s Betragen, die Sachen waͤren nicht in der Ordnung. Sie war wie ausgetauſcht, unruhig, niedergeſchlagen, dann wieder auf einmal uͤbermuͤthig, wild, luſtig. Der Alte gab nichts auf meine Mahnungen. So ſind halt die Kuͤnſtlernaturen, ſprach er. Sie iſt eine echte Kuͤnſt - lernatur! Was er damit ſagen wollte, hab’ ich nicht entdecken koͤnnen. Mir war’s zu hoch.
Da hatte denn Deine Mutter Freundſchaft geſchloſ - ſen mit einem Maͤdel ihres Alters, die Tochter eines Steinmetzgers, oder Bildhauers, wie er ſich nannte,13 der unten am Fuße der hohen, ſteinernen Bruͤcke ein Haͤuschen bewohnte; ein duͤrftig-hoͤlzernes Ding von Gebaͤude. Ging unſer Bergfluͤßchen nur ein Biſſel voll, ſo leckten die Wellen an des Mannes Beſitzthum, und waͤr’ es nicht von Steinen, Grabkreuzen und plumpen Heiligen beſchwert worden, mir ſcheint, das Gewaͤſſer haͤtt’ es laͤngſt fortgeſchwemmt. Mit der beſagten Bildhauers Chriſtel hatte unſere Antoinette Freundſchaft geſchloſſen und ſie beſuchten ſich. Mir gefiel der Umgang nicht. Erſtens wollte ſich’s doch nicht recht ſchicken, daß des Luther’ſchen Kantors Kind Tag-aus Tag-ein bei den kathol’ſchen Leuten ſteckte, die da lauter ſteinerne Goͤtzenbilder um ſich hatten. Und dann uͤberhaupt war mir ſo weh’, wie wenn mir Unheil ſchwante. Wie geſagt, ſo geſcheh’n. Eines Abends komm’ ich uͤber die Bruͤcke, von Neudorf herein, wo ich eine meinige Muhme beſucht hatte, und mitten auf der Bruͤcke, da ſie ſich am hoͤchſten woͤlbt, und ich vom Steigen muͤde bin, raſt’ ich einen Augen - blick aus, ſchau’ mich um nach den gruͤnen Bergen im Abendroth, — faͤllt mein Blick hinab auf Bildhauers Haͤuschen, — und ſiehſt Du, Anton, Du magſt mir’s nun glauben, oder nicht, jetzt noch, wo ich Dir’s beſchreibe, fuͤhl’ ich den Stoß, den mir’s damals in’s14 Herz gethan! — Jch ſchau’ hinab und ſehe einen Kornet von den Huſaren, ein Buͤrſchlein, nicht uͤbler als Du heute biſt, ſchlank wie eine Tanne, aus Bild - hauers Thuͤre treten; der dreht ſich faſt den Kopf aus den Schultern und ſtarrt empor nach der Bruͤcke, wo ich ſtehe. So wie er meiner anſichtig wird, macht er links um und huſch iſt er im Hauſe wieder d’rin. Mir brachen ſchier die Knie’ zuſammen unter meines Lei - bes Laſt und ich mußte das letzte Reſtchen Kraft auf - bieten, um weiter zu geh’n. „ Wird ſie zu Hauſe ſein? “ Das war der einzige Gedanke, den ich faſſen konnte. Er kam mir auf die Zunge. Schritt vor Schritt ſprach ich weiter nichts, als: heiliger Gott, wird ſie zu Hauſe ſein? Denn war ſie nicht daheim, dann war ſie zu Bildhauers gegangen und dann wußt’ ich, woran ich war. So bieg’ ich Dir um die Ecke, in’s kleine Gaͤßchen ein, das nach dem Kirchhofe fuͤhrt und eilig wie ich bin in meiner Todesangſt renn’ ich an ein Frauenzimmer an, das verbluͤfft vor mir ſtehen bleibt: es war meine Tochter! Wohin ſo ſpaͤt, Antoi - nette? ruf’ ich ihr heftig in’s Geſicht; und ſie, roth wie ein gekochter Krebs, ſtammelt nur: Dir entgegen, Mutter. Na, ſo komm’, ſprech’ ich, und reiße ſie mit mir fort und halte ſie ſo feſt am Arme, als ob die15 ganze Schwadron am andern Arme zoͤge! Der Vater war zu Biere gegangen. Jch hatte ſie allein, nahm ſie heftig in’s Gebet. Doch ſie hielt ſich ſtandhaft; ſie leugnete mit Feſtigkeit, — und ich ließ mich taͤu - ſchen. Ließ mich taͤuſchen, weil ich bei der ſchaͤrfſten Aufmerkſamkeit, von dieſem Abend an zu rechnen, nichts mehr wahrnehmen konnte, was meinen Arg - wohn erneuert haͤtte. Jm Herbſt war ich vollkommen beruhiget; um ſo mehr, weil die Huſaren ſchon wieder in andere Garniſon geruͤckt waren. So, daß ich mich entſchloß, wieder einmal die Neudorfer Muhme heim - zuſuchen; ich hatte das nicht gethan, ſeitdem mir der Weg uͤber die Bruͤcke durch den Kornet im Bildhauer - haͤuschen verdorben ward. Nun denke Dir meine Verwunderung, Anton, wie ich nach dem Haͤuschen ſuche und forſche und find’ es nicht mehr? ſondern an ſeiner Statt entdeck’ ich ein neues, groͤßeres, von Mauerziegeln feſt errichtet, mit Schieferplatten einge - deckt; das war uͤber Sommer emporgewachſen. Und wo hatte der hungrige Bildhauer das Geld dazu her - genommen? Du meinſt, dies waͤr’ ſeine Sache geweſen und haͤtt’ ich nichts danach zu fragen gehabt. Ge - wiſſermaßen wohl. Doch aber meldete ſich in meinem Herzen eine drohende Stimme, die mir den Beſuch16 bei der Neudorfer Muhme wieder leid machte. Jch drehte auf dem Flecke um, ging nach Hauſe. Mir war, als wenn ein boͤſer Geiſt mir zuraunte: Das Haus iſt auf Deiner Tochter Schande gebaut. — Zitt’re nicht, armer Junge, bald kommt’s noch ſchlim - mer! — Und wie ein boͤſer Geiſt keinmal allein bleibt, trat alſogleich ein zweiter an mich heran: die Frau Thorſchreiberin naͤmlich; das war ein ſchlimmes Weib, Gott moͤg’ ihr ewige Ruhe vergoͤnnen. Die fing zu ſchnattern an, wie es ihr Brauch, redete vom Hun - dertſten in’s Tauſendſte, von der Schule, von meinem kleinen Garnhandel, von der Muſik, von den Huſaren, und ob unſere Nettel ſich denn getroͤſtet habe uͤber den Ausmarſch der Eskadron? Der Himmel gab mir Kraft, dem haͤßlichen Weibe nicht zu zeigen, wie ſcharf ihrer Zunge Stachel in mein wundes Herze drang. Jch hielt mich aufrecht und lachte ihr in die Naſe, daß es faſt luſtig klang. Dann ging ich meiner Wege. Wie ich aber in unſer Haus, wie ich in Dei - ner Mutter Kammer gerathen bin, das kann ich Dir nicht beſchreiben, Anton, denn ich weiß es nicht. Jch weiß nur, daß ſie auf ihrem Bette ſaß und den Kopf haͤngen ließ. Antonie, ſchrie ich ſie an, ſo laut als der Krampf, der mir die Kehle zuſchnuͤrte, mich17 ſchreien ließ, was ſoll das heißen, daß fremde Weiber mich befragen nach Deinem Schmerz uͤber den Aus - marſch der Huſaren? Und daß Du ſeit acht Tagen vergehſt und verkommſt, wie eine Blume ohne Regen? Und daß die vermaledeiten Bildhauer-Leute ein neues ſtolzes Haus auferbauen? Antonie, haſt Du das Suͤn - dengeld gezahlt? Jch frage Dich, ich, Deine Mutter.
Da haͤtteſt Du ſie ſehen muͤſſen, Anton, wie ſie ſich emporrichtete und vor mir ſtand, um eine Hand hoͤher wie gewoͤhniglich. Schreie nicht, Mutter, Du thuſt mir wehe, ſprach ſie. Du ſollſt die Wahrheit vernehmen, auch ohne daß Du mir drohſt. Laͤnger haͤtte ich ohnedieß nicht geſchwiegen. Geh’n wir hinab zum Vater; auch er muß wiſſen, wie es mit ſeinem einzigen Kinde ſteht.
So ſchritt ſie mir voran, ungebeugt und maͤchtig, das ſechzehnjaͤhrige Maͤdchen, als ob ſie die Anklaͤ - gerin waͤre, und ich folgte ihr bebend, wie wenn ich ein ſchlechtes Gewiſſen haͤtte. Sie war halt gar zu ſchoͤn; man konnte ſie nicht ſehen ohne Entzuͤcken.
Dein Großvater ſaß bei ſeiner Notenſchrift. Sie winkte ihm die dicke Schwanenfeder aus der Hand, gleichſam als ob ſie ihm befehlen wollte, zu hoͤren. Und nun begann ſie: Bei dem großen MuſikfeſteDie Vagabunden. I. 218hatte ſie den jungen Grafen zum erſten Male geſehen. Unſere Augen, ſo druͤckte ſie ſich aus, haben ſich begeg - net und unſere Herzen haben ſich gefunden. Dann fuhr ſie fort, zu ſchildern, wie ſein Bild nicht mehr aus ihrem Gedaͤchtniß wich. Spaͤter zogen die Truppen hier ein. Guido fand Gelegenheit, ſie an - zureden. Bei Bildhauers trafen ſie ſich. Nachdem ich jene unſelige Entdeckung gemacht, daß der junge Mann dort verkehrte, wurden ſie vorſichtiger. Sie mieden ſich bei Tageslicht. Aber ach, die Naͤchte brachte ſie jenſeits der Bruͤcke zu. Wenn der Vater und ich im tiefen Schlummer lagen, ſchlich die Ver - fuͤhrte in’s Haus der Kupplerfamilie. —
Jch vermag Dir nicht zu wiederholen, Anton, wie ſie das Alles vorbrachte. War es doch nicht anders, wie wenn ſie in ihrem vollen Rechte waͤre und wir hatten das Zuhoͤren. Endlich zog ſie einen Brief hervor, den ihr der Graf zum Abſchied an ſie geſchrie - ben. Da ſtand es mit deutlichen Worten, daß er ſie verehre, daß er ſie lieben werde ſein Lebelang, daß er ſie als Braut betrachte, und daß er nur der Eltern Einwilligung abſchmeicheln wolle, um die Schoͤnſte heimzufuͤhren auf ſeine Herrſchaft und ſie gluͤcklich zu machen.
19Wir hoͤrten, wir laſen, wir ſtanden da verdutzt und ſtumm. Jch war ja von jeher eine dumme uner - fahrene Perſon, und Dein Großvater, die beſte Seele von einem Manne, wußte nichts von falſchen Men - ſchen. Ja, wenn’s falſche Noten geweſen waͤren! Kurzum, aus dem Jammer wurde ein Freudenfeſt: Wir weinten, wir verſoͤhnten uns, wir umarmten die Braut mit feurigen Gluͤckwuͤnſchen und gelobten uns, gegenſeitig zu ſchweigen uͤber die Sache und zu harren, bis es an der Zeit ſei, unſer Schweigen zu brechen und die Nettel Frau Graͤfin zu nennen.
Aber Du kannſt mir’s glauben, Anton, trotz meiner Dummheit war ich, bei allem Jubel, klug genug, einzuſehen, daß Deine Mutter ſich nur gluͤck - lich ſtellte; daß ſie verſuchte, ſich ſelbſt zu taͤuſchen, weil ſie uns taͤuſchen wollte. Sie glaubte nicht an ihre Zukunft. Mein Mann war von uns Dreien der Einzige, dem es rechter Ernſt war mit ſeiner Hoff - nung. Sonſt gingen die Tage truͤb und traurig hin, wie der finſtre Spaͤtherbſt, in dem wir lebten. Nette ſang wenig mehr. Sie ſagte, es fiele ihr ſo ſchwer. Nur wenn ein Brieflein vom Herzallerliebſten eintraf, athmete ſie freier auf. Dann ſang ſie beim Vater unten und der ſchwur darauf: praͤchtiger, voller haͤtt’ 2*20ihre Stimme niemals geklungen. Von der Einwilli - gung ſeiner Eltern jedoch ſchrieben der Herr Graf nimmermehr nichts, oder doch nur von einer vorſichtig zu behandelnden Angelegenheit.
Gegen Weihnachten wurde Antonie immer ſtiller, einſilbiger, zuruͤckgezogener. Auch ihre Kleidung ver - nachlaͤſſigte ſie, die ſonſt immer flink und ſauber ein - hergegangen, daß Alles an ihr knackte, mit einer Taille zum umſpannen. Jhr Umſchlagetuch uͤber ein duͤrf - tiges Hauskleid, anders erblickten wir ſie nicht mehr; der Sonntagsſtaat hing im Kaſten. Den Verkehr mit Bildhauers Chriſtel hatte ſie laͤngſt ſchon abge - ſchnitten. Das war mir recht. Doch auch ſonſt vergoͤnnte ſie keiner Schulfreundin das Wort. Sie ſchien wie todt fuͤr Alles, was ihre Liebe nicht betraf.
Der heilige Weihnachtsabend ruͤckte heran. Von einer Stunde zur andern meinte ich, der Poſtbote muͤſſe eintreten und muͤſſe heimlich-geſendete Gaben bringen, mit denen der junge Graf ſeine traurige Braut aus der Ferne bedenke. — Vergebens! Wir hatten einen Chriſtbaum beſorgt und ihn aus unſerer Armuth mit beſcheidenen Geſchenken aufgeputzt, ſo gut wir’s vermochten.
Da ſtehen wir um die Dunkelſtunde in Vaters21 Zimmer, er und ich, bei geſchloſſenen Laͤden, ſtecken kleine Wachskerzen auf die Zweige, haͤngen Naſchwerk daran und handthieren ſo ſtumm neben einander her. Endlich fragt Dein Großvater: wie’s wohl heut’ uͤber’s Jahr hier ausſehen wird, Alte? Jch raffe mich zuſammen und ſpreche dreiſt: wie wird’s denn aus - ſehen, Alter? Gut! Hm, ſagt er wieder, ob der Graf und die Nettel dann ſchon ein Paar ſind? Und wie er das ſagt, vernehm’ ich einen ſchneidenden Angſtſchrei aus Antoniens Gemach herabdringen, der mir kurzweg die Sprache verlegt. Der Alte hatte nichts gehoͤrt denn er war ſchon lange taub fuͤr Alles, was nicht Muſik heißt. Da ruf’ ich ihm in’s Ohr: nun mach’ und zuͤnde die Lichtlein an; ich gehe hinauf, die Nettel holen! Und ich gehe hinauf, Anton, — — nein! nein, ich kann nicht weiter — ... “
— Großmutter, ich bitte Dich, fahre fort! —
„ Nun denn, nach einer Stunde ſaßen Dein Groß - vater und ich vor Deiner Mutter Bett, die bleich darin lag, ein ſchmerzvoll-ſuͤßes Laͤcheln um ihren Mund. Jm Arme, mein lieber Anton, hielt ſie Dich. Aber Du warſt ſehr klein und ſchrie’ſt, wie wenn Du am Spieße ſtecken thaͤteſt. Solches geſchah am vier - undzwanzigſten Dezember ...!
22Vor Mutter und Vater hatte das hartnaͤckige Maͤdel ihren Zuſtand zu verbergen gewußt. Was jetzt erfolgt war, konnte und durfte natuͤrlich nicht verborgen bleiben. Dein Großvater mußte gebuͤhrende Anzeige machen. Da war denn der Stab uͤber die Kantorfamilie gebrochen, die Fahne der Schmach ward uns auf’s Dach geſteckt und weh’te wie ein durchloͤcherter, ſchmutziger Fetzen im kalten Schnee - winde, indeſſen and’rer Orten die Weihnachts-Feier - tage froͤhlich begangen wurden. Es waͤhrte auch nicht lange, ſo hatte der Paſtor Primarius es Oben durch - geſetzt, daß Dein Großvater vom Amte gejagt wurde, weil, wie der vollgefreſſene Bratenſack behauptete, die Schulkinder nicht mehr von einem harthoͤrigen Lehrer unterrichtet werden koͤnnten, der fuͤr die Schande ſeiner eigenen Tochter taub und blind geweſen waͤre. Wir mußten ausziehen. Aus unſerem heimlichen, warmen, gruͤnumwachſenen Haͤuschen hinaus! Zum Gluͤck, daß die Baͤume duͤrr waren und winterkahl. Um Oſtern zogen wir hinaus. Wir hatten weiße Oſtern. Es war noch grimmig kalt. Draußen in der Wieſenauer Vorſtadt fanden wir eine kleine Woh - nung. Jn einem Zimmer hauſete ich mit meinem armen, niedergebeugten Alten. Jm anderen trieb23 Deine Mutter ihr Weſen mit Dir. Ach, wie ſie ſang; wie ſie Dich in ihren Armen wiegte. Mit ſchoͤneren Liedern iſt kein Kaiſerſohn in Schlaf geſungen worden. Und der Großvater fand eben ſo viel Freude daran, wie der kleine hilfloſe Enkel. Jhr Beide habt gelaͤ - chelt, wenn ihr Nettens Stimme vernahmt. Jhr habt gelaͤchelt, Anton; ich hab’ geweint: Denn die Stimme war ja doch unſer Ungluͤck; ſie hatte uns doch eigentlich in’s Ungluͤck gebracht.
Deines Herrn Vaters Briefe wurden immer rarer und wenn etwa wieder einmal einer geſchlichen kam, war der letzte gewoͤhnlich um etliche Woͤrter kuͤrzer, als der vorletzte. Nette ſchwieg. Der Alte fragte nach nichts. Jch weinte. Ein ganzes Jahr hab’ ich verweint, daneben fleißig meinen Garnhandel betrie - ben und davon haben wir gelebt; davon und von den paar Kreuzern, die der Alte mit Notenſchreiben erwarb.
Am naͤchſten Weihnachtsabend konnteſt Du ſchon laufen, Anton; langteſt ſchon mit kraͤftigen Haͤndchen nach den Kerzen am Weihnachtsbaum. Dein Vater ließ nichts weiter von ſich hoͤren. Antonie ſchrieb wohl einigemal; ſie bekam keine Antwort mehr. Sie verging ſo langſam in dem Maße, wie Du zunahmſt. Du warſt ein ſtarkes, bluͤhendes Kind.
24Es lag dazumal ein tiefer Schnee in unſerer Gegend. Jm Februar brach ploͤtzlich Thauwetter herein mit heißen Winden und lauem Regen. Man mochte keinen Fuß vor die Thuͤr ſtellen. Pocht es eines Abends bei uns an. So ſpaͤt? ſpricht der Alte. Ein Brief! ruft Deine Mutter, und ſtuͤrzt hinaus. Es war ſo. Der Brieftraͤger hatte wirklich einen gebracht. Des Grafen Siegel, nicht ſeine Handſchrift. Deine Mutter las ihn ruhig durch, zwei -, dreimal. Dann ſagte ſie: ich muß einen Sprung zu Bildhauers machen; hab’ eine nothwendige Beſtellung. Jetzt, in der Nacht, bei dem Wetter? frag’ ich. Jch muß, ſagte ſie, legte Dich auf ihr Bett, gab Dir einen Kuß und nahm ihren Mantel um. Dann reichte ſie mir und meinem Alten die Hand. Du nimmſt ja ordent - lich Abſchied? ſprach der. Vielleicht bleib’ ich uͤber Nacht aus, war ihre Antwort; pflegt den Jungen! — Weg war ſie!
So wett’ ich doch, was Einer will, ſagt’ ich zu Deinem Großvater, der Graf iſt hier und beſtellt ſie zum Geſpraͤch. Deſto beſſer, meinte der Alte, vielleicht fuͤhrt’s zu gutem Ende.
Nun ja, freilich wohl, zum Ende hat es gefuͤhrt.
Du ſchliefſt ſo ruhig an meiner Seite, Anton, Du25 wußteſt von nichts. Dein Großvater ſchnarchte mit dem Thauwind um die Wette, der im Schornſtein heulte. Jch ſchlief nicht. Bis Mitternacht lauſcht’ ich immer, ob nicht die Thuͤre gehen, ob Nette nicht heimkehren wuͤrde. Sie kam nicht. Dann uͤberließ ich mein Haupt den traurigen Gedanken, die darin ihr Weſen treiben wollten. Und als ich endlich gegen Morgen einſchlief, ſah ich im Traume nichts als Waſ - ſer; dickes, gelbes, truͤbes Waſſer; daß ich meinem Gott dankte, wie mich der Tag erweckte. Nun ſprach ich den Morgenſegen, bereitete das Fruͤhſtuͤck, raͤumte auf und wartete der Dinge, ſo da kommen ſollten, doch in ſteter Todesangſt. Mein Mann dagegen ſchien voll freudiger Zuverſicht, und als er ſich zu ſeinem Notenpapiere ſetzte, ſagt’ er laͤch[eln]d: vielleicht hat Er ſie gleich mit ſich genommen, zu ſeinen Eltern?
Aber ihr Kind? rief ich, auf Dich weiſend.
Das macht’ ihn ſtumm und nachdenklich. Doch durch dieſe Aeußerung war mir der Brief wiederum in den Sinn gekommen und war mir eingefallen, daß ſie ihn in ihren Schubkaſten gelegt. Jch holte ihn alſogleich heraus, nahm meine Brille, — denn ich brauchte ſchon dazumal eine Brille — und las, Anton. Ach, ich weiß ihn auswendig, den gottverfluchten26 Brief. Er war nicht von ihm, nicht von Deinem jungen Vater; von ſeiner Mutter war er geſchrieben, von der alten Graͤfin.
Wenn das luͤderliche Weibsbild, ſchrieb ſie, welches meinen Sohn, da er noch ein unmuͤndiger Knabe geweſen, liſtig verfuͤhret hat, nicht aufhoͤrt, ihn und uns mit ihren frechen Briefen zu belaͤſtigen, ſo werd’ ich ſie ſammt ihren ruchloſen Eltern und die ganze ſchlechte Wirthſchaft in N. den Behoͤrden zur ſtrengſten Beſtrafung anzeigen. Fuͤr den Ban - kert wird kein Heller mehr gezahlt, nachdem das Geſindel meinem Sohne ſchon bedeutende Summen zum Aufbau von Haͤuſern abzuſchwindeln gewußt. Dieß iſt das letzte Wort in dieſer ſchmutzigen Angelegenheit.
So lautete ungefaͤhr der Frau Graͤfin liebreiche Zuſchrift. Nun wurde mir augenblicklich klar, was Deine Mutter ſo ſpaͤt am Abend noch bei Bildhauers gewollt. Sie, die auch nicht das geringſte Geſchenk von ihrem Liebhaber angenommen, war empoͤrt uͤber ſolche ungerechte Vorwuͤrfe; war empoͤrt uͤber die Habſucht der Bildhauerleute, die gewiß falſches Spiel geſpielt und in Nettens Namen dem jungen Grafen das Geld abgebettelt hatten, womit ſie ſich aus ihrer27 eigenen Noth geriſſen. Das war mit Haͤnden zu greifen: Deine Mutter wollte ſie zu einem Geſtaͤnd - niß zwingen; deßhalb der naͤchtliche Beſuch. Aber warum kehrte ſie nicht zuruͤck? Das blieb mir ein Raͤthſel. Hielt das ſchlechte Volk ſie vielleicht mit Gewalt? Hatte man ſie vielleicht eingeſperrt, um ſie durch Drohungen zum Schweigen zu bewegen?
Es litt mich nicht. Deinem Großvater ſchaͤrft’ ich ein, auf Dich Acht zu haben, und in des Heilands Namen begab ich mich auf den Weg, trotz Wind und Wetter. Jch mußte durch’s Staͤdtchen gehen, um aus unſerer Vorſtadt nach der Bruͤcke zu kommen. Auf dem Wege fand ich Alles in Allarm. Weiber ſtanden vor den Thuͤren und erzaͤhlten ſich mit jam - mervollen Geberden, Maͤnner, Jungen rannten mit langen Stangen, mit Haken, mit Aexten bewaffnet durch die Gaſſen. Auf meine aͤngſtlichen Fragen, was es doch gaͤbe, vernahm ich nur einen Ruf: Das Waſſer! Das Waſſer!
Und als ich nun die Bruͤcke erreichte, — bis oben hinauf, ſchier bis an die hohe Woͤlbung draͤngte ſich die Fluth, ſo gelb, ſo truͤbe, wie ich ſie im Traume geſehen. Unten war Alles ein Meer. So ſchnell war es uͤber Nacht gewachſen, daß die Bewohner der28 Huͤtten am unteren Ufer kaum Zeit gefunden, ihr Leben zu retten. Die hoͤlzernen Haͤuſer ſchwammen ſtuͤckweis auf dem Strome fort. Bildhauers Neubau war zuſammengeſtuͤrzt. Von den Seinigen Niemand gerettet, weil dies Haus am tiefſten gelegen. Chri - ſtinens Leichnam ſpuͤlte das Waſſer eine Meile weiter hinab auf eine Wieſe. Die Uebrigen wurden nicht gefunden, auch Deine Mutter nicht, lieber Anton. “
Hier brach die alte Gokſch ihre Erzaͤhlung ab. Sie konnte vor Schluchzen nicht weiter ſprechen.
Anton hatte keine Thraͤnen. Schweigend erhob er ſich vom Boden, wo er geſeſſen, ſiel ſeiner Großmutter um den Hals, druͤckte einen langen Kuß auf ihre welken Lippen. Dann gingen ſie mit einander in’s Haͤuschen, und ohne eine Schnitte Brot zu beruͤhren, legten ſie ſich auf ihr reinliches Lager, waͤhrend die Voͤgel auf den Baͤumen rings umher ihnen ein Abendlied zwitſcherten.
Wie Anton in den Wald läuft, ſich auszuraſen und ſeinen Schmerz auszu - ſchlafen; wie er durch den ſchwarzen Wolfgang erweckt wird, deſſen nähere Bekanntſchaft macht und endlich ein Pflegekind heimbringt.
Als am naͤchſten Morgen die alte Frau erwachte, fand ſie ein Blatt Papier mit Stecknadeln an ihre Bettdecke geheftet, worauf in großen Lettern zu leſen ſtand:
„ Liebe Großmutter, Anton iſt hinaus in den Wald gegangen und wird vor Abend nicht zuruͤck - kehren. Mach’ Dir keine Sorgen um mich. Die Einſamkeit ſoll mir gut thun. Morgen bin ich wieder fleißig bei meinen Koͤrden. “
Wer ihn geſehen haͤtte, den guten Anton, als er bei’m erſten Schimmer des Tages von ſeinem ſchlaf - loſen Nachtlager emporſprang und kaum angekleidet das Weite ſuchte, der wuͤrde wahrlich in ihm den heiteren, froͤhlichen Knaben von geſtern kaum wieder erkannt haben. Die Geſchichte von ſeiner Geburt und von dem geheimnißvollen Ende ſeiner Mutter ſchien ihn voͤllig umzuwandeln. Auf ſeinem ſonſt ſo freundlichen Angeſicht lag ein Ausdruck von Zorn und Wuth, wie man nur bei recht verwilderten, boͤsartigen Menſchen wahrzunehmen pflegt. Jm30 Herzen des kraͤftigen Jungen kaͤmpften ſichtbar hef - tige Entſchluͤſſe, deren Widerſtreit ſich bisweilen in tief ausgeſtoßenen Seufzern, oder in einzelnen abge - riſſenen Worten kund gab. Seine Haͤnde waren krampfhaft zuſammengeballt. Von Zeit zu Zeit ſtreckt’ er ſie drohend gen Himmel. Als er, heftigen Schrit - tes, den ſogenannten „ Fuchswinkel “erreicht, einen duͤſteren, unzugaͤnglichen Platz im großen Walde, warf er ſich, wie wenn er jetzt erſt ſicher vor jeder Begegnung mit einem menſchlichen Weſen und ſei - nem Grame nun erſt ungeſtoͤrt uͤberlaſſen ſei, laut heulend zu Boden und begann das bunte Waldmoos um ſeine Lagerſtaͤtte her auszurupfen und zu zerſtoͤ - ren. Eine ganze Nacht hindurch hatte er ſeinem Schmerze Gewalt angethan, und ſich maͤnnlich be - herrſcht, um die Großmutter nicht zu beunruhigen. Jetzt wußt’ er ſich jeder Feſſel entbunden und durfte ſich austoben. Raſende Fluͤche gegen Jenen gerichtet, der ihm das Daſein gegeben, ſchaͤumten von Anton’s Munde. Eine Verwuͤnſchung draͤngte die andere. Rache, Rache fuͤr meine Mutter! So lauteten die letzten Worte, die er abgemattet und erſchoͤpft hervor - bringen konnte. Dann ſank er bewußtlos in dumpfen Schlaf, der ihm anfaͤnglich finſtere, blutige Bilder31 zeigte, ſpaͤter jedoch ſanftere Traͤume vor ihm auf - ſteigen ließ, daß die Fieberqual entwich und ein ruhiger ſtaͤrkender Schlummer uͤber ihn ſich aus - breitete.
Stunde fuͤr Stunde zog der ſchoͤnſte Sommertag um den Schlaͤfer hin, der ihn in ſeinem Jnnern fuͤhlte und durchlebte. Balſamiſche Duͤfte ſenkten ſich von den hohen Tannen herab, daß er ſie einathme und ſeine von Jammergeſchrei wunde Bruſt ausheile. Er wußte, daß er ſchlief. Er empfand, daß der Schlaf ihn ſegnend abtrennte von den Leiden des Lebens. Deshalb gab er ſich willig der ſuͤßen Lockung hin, die ſommerlau auf ihm lag. Und da kam auch die Mutter. Sie neigte das Angeſicht uͤber ihn, — aber es glaͤnzte, daß er ihre Zuͤge nicht ſehen konnte, — und lispelte ihm wie ſingend in’s Ohr: habe Friede, mein Sohn! Es war kein Traum mehr. Zu erwachen waͤhnte der Aermſte. Jhre langen Locken beruͤhrten ſeine Augenlider. Sehnſuͤchtig ſchlang er die Arme, ſie zu umfangen, — doch als er die Augen geoͤffnet, als er wirklich erwachte, leuchtete ein fremder Feuerblick ihm entgegen, und an ſeiner Seite knie’te ein in ſchlechte Lumpen gehuͤllter Bettler. Der ſchwarze Wolfgang war es. Jn der ganzen Gegend32 allzuſehr bekannt und uͤbel verſchrieen als Taugenichts und Umhertreiber.
Was willſt Du von mir? rief Anton dem Wolf - gang zu. Was verfolgſt Du mich bis hierher, wo ich Einſamkeit ſuchte? Soll man auch im dicken Walde keine Ruhe finden vor den Menſchen?
„ Was haben Dir denn die Menſchen zu Leide gethan? “ſagte Wolfgang. „ Dir, der bei ſeiner Großmutter lebt, im wohnlichen Hauſe; der ſein Bett hat und ſeine Suppe? Jm Winter ſeine warme Kleidung? Der ſich redlich ernaͤhrt mit ſeiner Haͤnde Arbeit? Was haben ſie Dir gethan? “
Haſt Du danach zu fragen? erwiederte Anton muͤrriſch. Geh’ Deiner Wege und laſſ’ mich hier liegen.
„ Jch will nicht! “war Wolfgangs trotzige Ant - wort. „ Bei Dir zu ſein bin ich Dir nachgeſchlichen und kau’re an Deiner Seite, ſo lange Du ſchlaͤfſt, um Dir die Bremſen zu verjagen, die Dich ſtechen und Deinen Schlaf ſtoͤren wollten. Alle Menſchen moͤcht’ ich vergiften; lebendig ſchinden koͤnnt’ ich ſie, wenn ich die Macht dazu haͤtte. Nur Dich hab’ ich lieb, Korbmacherjunge. “
Wie komm’ ich zu der Ausnahme? fragte mit faſt33 ſpoͤttiſchem Laͤcheln unſer Anton, waͤhrend er ſeinen Oberkoͤrper zur Haͤlfte von dem bemooſeten Erdboden aufrichtete und auf dem linken Arm das Haupt geſtuͤtzt, dieſes dem ſchwarzen Wolfgang zuwendete.
„ Das weißt Du nicht mehr? Jch weiß es deſto beſſer und ich will’s Dir wohl ſagen. Vor einem Jahre, oder iſt’s noch laͤnger, gingſt Du einmal mit den Toͤchtern eures rothnaſigen, verſoffenen Barons und mit des Paſtors Soͤhnen um’s Dorf herum, gegen Abendzeit. Jch ſaß hinter einer Schlehdornhecke und ſah euch kommen. Jch war voll von Bosheit und Hunger. Beim Paſtor, wie beim Gutsherrn hatten ſie mich von der Thuͤre gewieſen, und die aͤlteſte von den Schloßfraͤulen, die ihrem Vater ſo aͤhnlich ſieht, ſchrie mir nach: hab’ ich Dir’s nicht oft genug geſagt, nichtsnutziger Schlingel, Du darfſt die Woche nur einmal betteln? Dumme Gans! Wenn ſie mich uͤberall auf Sonnabend beſtellen, nach ihrem armſeli - gen, verſchimmelten Stuͤck Brot, wovon ſoll ich denn die andern Tage leben? Soll ich das verdorrte Zeug, woran ſich jeder rechtſchaffene Kettenhund die Zaͤhne ausbeißt, auch noch lange mit herumſchleppen? Wie geſagt, ich war voll von Bosheit, und wie ihr ſo bei den Hecken vorbei ſtricht und das haͤßliche WeibsbildDie Vagabunden. I. 334ſeine Schnauze nach der Seite drehte, wo ich ſaß, da konnt’ ich’s nicht laſſen, ich mußt’ ihr einen Stein in’s Geſicht werfen. Und der flog ihr ſo huͤbſch zwi - ſchen Naſe und Maul, daß ſie einen Satz machte wie eine Kraͤhe, die angeſchoſſen iſt, und Zeter bruͤllte aus ihrem blutigen Schnabel. Jch wollte ausreißen, aber die Paſtorjungen hatten mich entdeckt, holten mich ein und fielen uͤber mich her; Zwei uͤber Einen. Sie ſchlugen mich auf den Kopf und wo ſie hintrafen mit ihren Knuͤtteln, die ſie Schuljungen-Stoͤcke heißen, oder Ziegenhainer. Da warfſt Du Dich zwiſchen ſie und mich, bedeckteſt mich mit Deinem Leibe und bateſt, nun moͤcht’ es genug ſein, und wie ſie immer wieder auf mich eindrangen, fingſt Du an, mit ihnen zu kaͤmpfen, hielteſt beide zuruͤck, daß ich unterdeſſen entfliehen konnte. Seitdem lieb’ ich Dich, Anton. Dich allein, wie ich ſonſt Alle haſſe. “
Jch beſinne mich jetzt, ſagte Anton; es iſt gerade ein Jahr her. Es war der letzte Spaziergang, zu dem ſie mich abriefen. — Du biſt in meinem Alter?
„ Jch glaube. Gewiß weiß ich’s nicht. “
Du weißt nicht? Kannſt Du nicht Deine Eltern befragen?
„ Jch habe keine Eltern. “
35Auch nicht? Armer ſchwarzer Wolfgang! Aber doch Verwandte?
„ Niemand. Meine Mutter iſt im Zuchthauſe geſtorben, eh’ ich ſechs Jahr’ alt wurde. Mein Vater ward in Boͤhmen gehenkt. “
Gott erbarme ſich, das iſt ja ſchrecklich!
„ Warum denn ſchrecklich? Luſtig iſt’s. Sie wiſ - ſen nirgend, was ſie mit mir anfangen ſollen, weil ich nirgend eine Heimath habe. Jch bin hinter’m Zaune auf die Welt gekommen, wie eine Katze. Neulich hat mich der Landdragoner feſtgenommen, hat mich an ſeines Pferdes Schwanz gebunden und hinein auf’s Amt geliefert. Der Landrath lachte, wie er mich erkannte, und ſprach: was ſoll ich mit dem anfangen? Wohin ich ihn mit dem Schub ſchicke, wird er mir ewig wieder zuruͤckgeſtellt; ſie behalten ihn an keinem Orte, weil er an keinem Orte zu Hauſe iſt. Es iſt einmal unſer Vagabunde; laßt ihn laufen! — ha, ſo lauf’ ich nu! “
Ach wie ungluͤcklich mußt Du ſein! rief Anton, der ſeine theilnehmende Ruͤhrung kaum zuruͤckdraͤn - gen konnte.
„ Ungluͤcklich? Daß ich nicht wuͤßte. Jch kenn’s ja nicht anders. War’s doch von jeher ſo mit mir be -3 *36ſchaffen. Fruͤher, eh’ ich Dich lieb hatte, war mir wohl manchmal, als ob ich’s nicht aushielte. Seit - dem Du Dich fuͤr mich pruͤgeln laſſen, weiß ich doch einen Menſchen auf der Welt, an den ich denken mag, ohne daß mich die Luſt in den Gliedern zuckt, ihm wehe zu thun, oder einen Poſſen zu ſpielen. Bis dahin ſpuͤrt’ ich immer nur Haß und das zehrt Einem foͤrmlich am Leben. Jetzt iſt mir manchmal zu Muthe, als ob ich auch ein Gefuͤhl haben koͤnnte, wie andere Leute. Und vorhin, wo Du hier lagſt und ſchliefſt und ich mich uͤber Dich bog und ſah Dich im Schlafe mit den Lippen zucken, als wollteſt Du lachen, da war mir eben, wie wenn ich weinen muͤßte. Aber es war mir gut dabei. So weich und gut, inwendig, verſtehſt Du mich, um’s Herz herum; ſiehſt Du, hier auf der Stelle. “
Bei dieſen Worten riß der Landſtreicher ſein gro - bes, ſackleinenes Hemd von der ſonnverbrannten Bruſt und zeigte dem ſtaunenden Anton jenen Fleck, wo man des Herzens ſtuͤrmiſchen Schlag wild gegen die Bruſt pochen ſah, daß ſie hoch empor bebte.
Du mußt krank ſein, Wolfgang, rief Anton mit - leidig aus; ſo wuͤthend hammert keines geſunden Menſchen Pulsſchlag.
37„ Den Teufel, mag ich nicht krank ſein? Freilich bin ich krank. Jch komme aus dem Fieber gar nicht heraus. Aber wenn ich einen tuͤchtigen Schluck ſchar - fen Kornbranntewein hinuntergießen kann, wird mir gleich wieder beſſer; dann bin ich ſtark, wie der Ge - ſuͤndeſte, und nehm’ es mit jedem auf. Jetzt ſollten die verfluchten Paſtorjungen nur uͤber mich fallen, ich wollte ſie zuſammenhauen ſammt ihren Ziegen - hainern! “
Haſt Du Schnaps getrunken? fragte Anton erroͤthend; heute, zum Sonntag?
„ Freilich hab’ ich, ſonſt waͤr’ ich nicht ſo ruͤſtig und meine Augen thaͤten nicht ſo brennen. Ein frem - der Herr, der waͤhrend der Kirche mit einer Kutſche in euer Dorf einfuhr, Poſtpferde vor den Wagen ge - ſpannt, hat mir einen Groſchen zugeworfen. Nicht mehr? ſchrie ich, nachdem ich die Muͤnze aufgeleſen, ſteckte dem geizigen Kerl die Zunge heraus, ſchickte ihm ein paar herzhafte Schimpfwoͤrter auf den Weg nach und bin ſaufen gegangen. “
Aber Wolfgang, fluͤſterte Anton, da biſt Du ja wirklich ein ſchlechter Menſch?
„ Das will ich ja ſein, “rief jener trotzig. „ Und wenn ich nur nicht immer krank waͤre und nicht immer38 das ewige Fieber haͤtte, da wollt’ ich ſchon noch viel ſchlechter ſein! Soll ich etwa auch nicht? Wes - halb ſollt’ ich’s mit den Menſchen gut meinen? Sind ſie gut gegen mich? Von meiner Mutter hab’ ich nichts als Fußtritte gehabt; meine Nahrung mußt’ ich mir ſelbſt zuſammenbetteln, oder ſtehlen; und dann nahm ſie mir fort, was mir gehoͤrte. Der Vater trieb ſich mit Dirnen herum; ſobald ich ihn um etwas bat, ſchlug er nach mir, gleichviel, ob mit der Fauſt, oder mit einem Stuͤck Holz. Als ſie ihn druͤben aufge - haͤngt hatten, weil er einen Landjuden todtgeſtochen und beraubt, bin ich von Thuͤr’ zu Thuͤr’ gekrochen und hab’ gebeten, ſie moͤchten mich aufnehmen, mir Brot geben; ich wollte fuͤr ſie arbeiten. Zuerſt, wenn ſie mich neugierig betrachtet, ziſchelten ſie unter einan - der: Das iſt ein ſchoͤner Junge! Wenn ſie mich aber um meine Herkunft fragten und ich ſagte ihnen die Wahrheit, da ſchrieen ſie auf: Was? den Sohn eines Moͤrders in’s Haus nehmen? Geh’ an den Galgen zu Deinem Herrn Papa! Und ſie hetzten mich mit Hunden. Damals wollt’ ich gut thun; die Men - ſchen wollten’s nicht haben. Jetzt will ich nicht. “
Du wirſt Dich aber zu Grunde richten mit Dei - nem haͤßlichen Saufen. Du wirſt immer kraͤnker39 werden und in den ſchoͤnſten Jugendjahren ſterben, ſagte Anton.
„ Weiß ich’s nicht? “antwortete der Wolfgang; „ begehr’ ich denn was Anderes? Auf dem Miſte werd’ ich ſterben, am Feldwege, im naſſen Graben. Deſto beſſer! Wer jung ſtirbt, braucht alt nicht zu haͤngen, wie mein Alter. Hu — — ich ſeh’ ihn noch baumeln! Halb war ich ohnmaͤchtig vor Grauen und halb war ich luſtig vor Freude, daß er mich nicht mehr pruͤgeln wuͤrde. Schrecklich war’s doch und ich moͤchte nicht haͤngen! Blieb’ ich aber am Leben, ſo kaͤm’ ich in jedem Falle an den Galgen, oder auf’s Rad; das ſpuͤr’ ich. Alſo wie geſagt: beſſer, ich ſterbe auf meine eigene Hand und durch mich allein. Das hab’ ich Dir jetzt geſagt, Anton; ich hab’ Dir geſagt, daß Du der Einzige biſt, den ich nicht haſſe, gegen den ich keine Wuth fuͤhle. Nun mußt Du mir dafuͤr verſprechen, daß Du mir die Augen zudruͤcken willſt, wenn’s aus wird mit mir. Willſt Du? “
Thuſt Du doch, ſprach Anton geruͤhrt, als wuͤß - teſt Du im Voraus, wann Dein Stuͤndlein ſchlagen ſoll?
„ Beinah’ weiß ich’s auch. Und ich werde Dich rufen, wenn es Zeit iſt. “
40Mich rufen? Wenn Du im Sterben laͤgeſt? Wie wollteſt Du das anfangen?
„ Das laſſ’ meine Sorge ſein. Jch bin ein halber Zigeuner; kann ein Biſſel hexen. Du wirſt gerufen werden — und damit gut. Jetzt leb’ wohl. Jch geh’ allein aus dem Walde, damit Dich niemand mit mir reden ſieht. Will Dir die Schande nicht anthun. Auf dem Schloſſe moͤchten ſie Dir den Umgang mit mir uͤbel anrechnen. Leb’ wohl, — bis zum Tode! “
Ehe noch Anton ein Wort der Entgegnung gefun - den, auf dieſen gewaltſamen Abſchied, war Wolfgang ſchon im dichten Gebuͤſch verſchwunden. Unſer jun - ger Freund blieb ſich und ſeinem Nachdenken uͤber - laſſen. Er verglich ſein Schickſal mit dem des unſe - ligen Landſtreichers und mußte zugeben, daß es, gegen jenes gehalten, ein beneidenswerthes ſei. Doch dann verglich er ihre Vaͤter: Wolfgangs Vater war ein roher, rauher Kerl, das iſt richtig; ſagte er zu ſich ſelbſt. Doch wird er es auch wohl von Kindheit auf nicht anders geſehen haben und gelernt, ſo wenig als ſein armer Sohn. Folglich darf man von ihm nichts Beſonderes verlangen. Mein Vater jedoch iſt vor - nehmer Leute Kind, und reich, und ein gebildeter junger Herr geweſen, und hat meine Mutter dennoch41 betrogen, im Stiche gelaſſen, in Tod und Verderben geſtuͤrzt. Wer iſt nun ſchlechter? Der gemeine Her - umtreiber, der den Sohn mißhandelt, wenn dieſer ihm ungelegen kommt? Oder mein eigener Vater, der niemals nach ſeinem Sohne fragte, ſo daß dieſer ſich nicht einmal ruͤhmen darf, auch nur einen Schlag von der vaͤterlichen Hand empfangen zu haben?
Der Vergleich fiel nicht zu Graf Guido’s Gun - ſten aus. Ja, wir wollen es eingeſtehen, Anton ver - irrte ſich, von liebendem Bedauern fuͤr ſeine Mutter, und von inniger Dankbarkeit fuͤr die Großmutter angetrieben, ſo weit in rachſuͤchtigem Grolle gegen den, der ihm das Daſein gegeben, daß er ihn im Geiſte an den naͤchſten hohen Baum aufknuͤpfte und eine Minute hindurch mit ſchauerlichem Behagen den paſſendſten Platz fuͤr ſeinen armen Suͤnder aufſuchte. Doch hielt dieſe Verwilderung eines urſpruͤnglich zar - ten Gemuͤthes nicht lange an. Weh’ uͤber mich, rief er aus, was ſind das fuͤr ſuͤndliche Bilder? Wer weiß, wie oft der junge Mann doch an mich gedacht hat? Vielleicht konnte er damals nicht anders, in der Klemme zwiſchen Liebe und kindlichem Gehorſam? Und ſpaͤter hat er mich vergeſſen. Das iſt natuͤrlich. Er haͤlt mich fuͤr todt, wie meine Mutter. Gewiß hat42 ſie ihm ſterbend verziehen. Jch will es lebend. Jch will ihm verzeihen — und todt ſein fuͤr ihn. Nein, er ſoll nicht dort oben haͤngen, an dem ſchoͤnen alten Baum!
Waͤhrend Anton dieſe verſoͤhnenden Worte dem Walde kund gab, erblickte er auf einem Aſt der maͤch - tigen Eiche, dicht an einer ſpaltigen Oeffnung des Stammes, mehrere wilde Turteltauben, die da drin’n niſteten. Es ſchienen die Eltern und ein paar Junge zu ſein. Eins der letzteren war offenbar der Liebling der Alten, denn es empfing volle Nahrung von bei - den, waͤhrend das andere, ſobald es ſich naͤhern wollte, unſanft zuruͤckgeſtoßen wurde und ſogar Biſſe von den Schnaͤbeln ihres Vaters und ihrer Mutter erhielt. Einer dieſer Stoͤße war zu ſtark fuͤr das kleine Thier; es wankte, verlor den Halt, und noch nicht voͤllig fluͤgge, fiel es, — ohne ſich Schaden zu thun, — halb ſchwebend vor Antons Fuͤße.
Der Eindruck, den dies einfache Ereigniß auf unſern Helden hervorbrachte, iſt nicht zu beſchreiben. Er gab ſich ihm kindlich hin. Sorgſam ergriff er die kleine Ausgeſtoßene, bedeckte ſie mit Kuͤſſen und Thraͤnen, verhieß ihr freundliche Pflege. Seine Lieb - koſungen thaten ihr wohl: ſie ruhte friedlich in ſeinen Haͤnden.
43Mittlerweile wurden die ungerechten Eltern doch beſorgt um ihr verlorenes Kind, ſtießen allerlei rufende Toͤne aus und ſchwangen ſich dem Platze, wo Anton lag, immer naͤher. Er aber, ſchnell emporſpringend, verſcheuchte ſie. Nicht mehr euer Kind! rief er laut, daß es im Walde nachhallte. Sie iſt mein! Jch erziehe ſie!
Mit dieſem heroiſchen Ausrufe erhob er ſich, um den Wald zu verlaſſen und zu ſeiner Großmutter heimzukehren.
Vom Onkel Naſus, ſeinen Töchtern: Linz, Miez und Tieletunke, gleichwie von den Paſtorſöhnen: Paſtor-Puſchel und Rubs. Anton zeigt ſich als Poet.
Es wird Zeit, daß wir den geneigten Leſer in Anton’s fruͤhere Lebensjahre, ſo wie in die Verhaͤlt - niſſe ſeines heimathlichen Dorfes ein wenig einfuͤhren. Deshalb werden wir einen Ruͤckſchritt machen muͤſſen; doch ſoll der Fortſchritt unſerer Erzaͤhlung dadurch nicht lange aufgehalten werden.
Der alte Baron Kannabich, der Liebenau, den erſten Schauplatz dieſes ſchlichten Romans, von ſei - nem Vater (dieſer wiederum von dem ſeinigen und ſo44 weiter hinauf) ererbt hatte, war auch einmal jung geweſen, wie das bei vielen alten Baronen der Fall zu ſein pflegt. Und als er jung, war er ein wilder, nichtsnutziger, luͤderlicher, junger Herr geweſen, wie das bei vielen jungen Baronen der Fall zu ſein pflegt. Deshalb hatte er denn auch in ſeine aͤlteren Tage nicht viel mehr mit hinuͤber gebracht, als drei Toͤch - ter, — deren Mutter bei Geburt der juͤngſten ſtarb, — dreimal ſo viel Schulden, als ſchon bei ſeines Vaters Lebzeiten auf Liebenau gehaftet; — einen unverſieg - baren und unbeſieglichen Durſt, (doch nicht nach Waſſer); — und endlich eine dreimal dreimal, folg - lich neunmal groͤßere Naſe, als Freiherrn, Ritter und Grafen im gewoͤhnlichen Laufe der Dinge zu tragen belieben. Dieſe Naſe gab unſerm Anton, welcher ihr blau-rothes Farbenſpiel von Kindheit auf mit beſon - derer Andacht obſerviret, erwuͤnſchte Gelegenheit, den geſtrengen Gutsherrn mit dem Beinamen: „ Onkel Naſus “zu belehnen; eine Benennung, welche an - faͤnglich kaum durchdringen wollte, da des Paſtors Soͤhne vorher eine andere geſchaffen. Sie behaupte - ten, der Freiherr ſchreibe ſich nicht Kannabich, ſondern von Rechtswegen: „ Kannenpich, “weil er lieber aus großen „ Kannen, “denn aus kleinen Glaͤſern „ pichle. “ 45Und ſie hießen ihn Onkel „ Kannenpichler. “ Jn ſeiner Art war das nicht uͤbel, jedoch zu komplizirt, um in’s Volk uͤberzugehen. Onkel Naſus war an - ſchaulicher, einfacher, wurde deshalb allgemein beliebt und ſchlich ſich endlich bis in’s Schloß, wo es dann durch Diener und Maͤgde bis zur ſogenannten Kam - merjungfer und durch ſolche wieder bis zu den „ Schloßfraͤulen “ſelbſt gelangte, welche naiv genug waren, es auch zu acceptiren und in guter Laune ihren oft in ſehr uͤbler Laune polternden, ungnaͤdigen Papa „ Onkel Naſus “zu ſchelten, obſchon dieſer kei - nes Menſchen Onkel oder Oheim war, denn er hatte niemals Bruder noch Schweſter beſeſſen: er war ein einziges Kind.
„ Onkel Naſus iſt heute wieder mit dem linken Fuße zuerſt aus dem Bette geſtiegen! — Onkel Na - ſus hat heute wieder einmal zu tief in’s Glas geguckt! — Mit Onkel Naſus iſt ſeit acht Tagen nichts anzu - fangen! “— Das waren Aeußerungen, die nicht ſel - ten in den jungfraͤulichen Gemaͤchern der drei Schwe - ſtern von Kannabich beim Aus - und Ankleiden vernommen wurden. Wenn auch „ Linz “als aͤlteſte mancherlei dagegen einzuwenden wußte, ſie wurde uͤberſtimmt, da „ Miez “, die zweite, in dieſer Sache46 mit „ Tieletunke “, der dritten, uͤbereinkam; und was Tieletunke betrifft, ſo geſtand ſelbige mit der ihr eige - nen Unbefangenheit eine ausgeſprochene Vorliebe fuͤr Anton, den Korbmacherjungen, den Geſpielen fruͤhe - rer Zeit, den Schoͤpfer des „ Onkel Naſus “immer gern ein.
Damit nun aber keiner meiner Leſer waͤhne, jene ſo eben genannte Namen der drei Schweſtern ſeien denſelben unchriſtlicher Weiſe am Taufſteine zu Theil geworden, verſaͤume ich nicht, beizufuͤgen, wie „ Linz, Miez und Tieletunke “nur Umbildungen von Karo - line, Emilie und Ottilie ſind; Transſcriptionen, die wir der freien Fantaſie der beiden Paſtorſoͤhne ver - danken, aus deren hoſenloſer Kindheit ſie ſich unver - merkt in die Gymnaſialzeit geſchlichen, und, wie ſo mancher Mißbrauch auf Erden, durch Verjaͤhrung geheiliget haben. Gleiches Schickſal traf uͤbrigens die kuͤhnen Thaͤter, denn an Beiden: Julius und Robert geheißen, blieben die vertraulichen Kindernamen: „ Paſtor-Puſchel und Rubs “feſt haften, waͤhrend Anton allein, nur in minder vertrauten Umgang gezo - gen, ſolcher Ehre verluſtig ging. Er war und blieb ſchlechthin Anton, an laͤngeren Sommertagen, wo man mit der Zeit nicht zu geizen braucht: der Korb -47 macherjunge. Linz und Miez ſtanden ihm fern, auch bei ihren Kinderſpielen, die beide in gleichem Alter mit Puſchel und Rubs, folglich als Maͤdchen ſchon reifer wie Knaben, nur aus Herablaſſung mitmachten. Tieletunke aber, faſt um ein Jahr juͤnger als Anton, fand deſſen Namen zu huͤbſch, um daß ſie ihn haͤtte umſtuͤlpen ſollen. Sie rief ihn folglich Anton! und wenn ſie gut aufgelegt war, wurde manchmal Toni daraus; was wohl eigentlich keine Verzerrung, viel - mehr eine verkuͤrzende Uebertragung des lateiniſchen Antonius in’s Deutſche iſt; nach welcher ihr, wie ſie zu aͤußern liebte, blos Kopf und Schwanz, naͤmlich: An - und us uͤbrig blieb. Und mit An-us wiſſe ſie nichts weiter anzufangen. Denn der Paſtorſoͤhne Vorſchlag: asinus daraus zu machen, gab ſie zornig zuruͤck, ſobald ihr der Herr Paſtor die Bedeutung dieſes Wortes beigebracht.
Der Paſtor nun hatte Schloßfraͤulein und eigene Soͤhne vorbereitend unterrichtet, ſo gut und ſo ſchlecht er dieß bei redlichem Willen im Stande gewe - ſen. Anton, der nur als halbgeduldeter Freiwilliger an jenen Lehrſtunden naſchen duͤrfen, hatte das Beſte davon in ſich aufgenommen und das Meiſte, weil er von allen der Begabteſte geweſen. Das entging der48 feinfuͤhlenden Tieletunke nicht. Und wie ſie ſcheinbar den adelichſten Stolz gegen den armen Burſchen an den Tag legte, war ſie ihm innerlich am herzlichſten zugethan. Die Neckereien ihrer Schweſtern hatten es fruͤhzeitig dahin gebracht, daß ſie ihre wahren Empfin - dungen in ſich verbarg, wie eine Schnecke ſich mit bedrohten, oder gar betaſteten Fuͤhlhoͤrnern in’s Jnnere des Hauſes zuruͤckzieht. Linz und Miez, minder fein organiſirt, und ihrem vaͤterlichen Großnaſentraͤger eben ſo nahe verwandt, als Ottilie der durch ſie und ihr Geborenwerden entſeelten zarteren Mutter, mach - ten aus ihrer Vorliebe fuͤr Puſchel und Rubs gar kein Geheimniß. Dieſe drei Verhaͤltniſſe wuchſen mit den drei Paaren heran, wie es eben nur in ſolchen laͤndlichen Zuſtaͤnden moͤglich. Es war eine werdende Dorfgeſchichte, — nach altem Zuſchnitt.
Jetzt ſind Puſchel und Rubs als wohlbeſtandene Gymnaſiaſten in der Hauptſtadt und kommen waͤh - rend der Schulferien, im Sommer auch oft uͤber Sonnabend und Sonntag nach Liebenau zum Be - ſuche. Sie bereiten ſich fleißig vor auf ihre Pruͤfun - gen fuͤr den großen Schritt zur hohen Schule, den man damals noch nicht ſo zeitig that, wie ſpaͤter; es49 war noch nicht die Epoche fruͤhreifer Weisheit und Gelehrſamkeit.
Anton, weniger unterrichtet, aber kluͤger als ſie, flicht ſeine Koͤrbe und in dieſe ſammt den Weiden - ruthen gar manchen beſonderen, eigenthuͤmlichen Ge - danken, auf den die jungen Herrn Gelehrten ſchwer - lich gerathen duͤrften. Jhr Schulwiſſen hat ſie geiſtig faſt abgetoͤdtet, und ſo ſicher ſie ſich durch’s Examen winden werden, ſo gewiß ſind ſie flache, nuͤchterne, wenn ſchon gutmuͤthige Geſellen.
Eben ſo bleiben, wie bereits angedeutet, Linz und Miez gar weit hinter Tieletunke zuruͤck. Nicht allein an Geiſt, ſondern was weit mehr ſagen will, auch an Charakter. Die juͤngſte der Schweſtern iſt die ſelbſt - ſtaͤndigſte, die an Willen feſteſte. Dabei iſt ſie trotzig - beſcheiden, mit ſeltenen Ausnahmen nachgiebig, ja unterwuͤrfig und den aͤlteren gehorſam.
Jhr eigenthuͤmliches Weſen zeigte ſich ſchon her - vorragend, da ſie, ein ſechsjaͤhriges Kind, mit den Kindern des Hofgeſindes ſpielte. Alle barfuͤßigen kleinen Jungen, bis zu jenen zehnjaͤhrigen Schlingeln hinauf, welche bereits vom Dorfſchulmeiſter fuͤr die kirchliche Kinderlehre vorbereitet wurden, fuͤgten ſich anerkennend ihrem geiſtigen Uebergewicht. DieſesDie Vagabunden. I. 450war ſo entſchieden, daß es ſogar ein leibliches wurde. Fraͤulein Tieletunke fuͤhrte ſtrenges Regiment und pruͤgelte noͤthigenfalls ihre jungen Verehrer tuͤchtig durch; was dieſe ohne Widerrede ſich von ihr gefallen ließen, waͤhrend ſie ſich doch gegen Linz und Miez raufend zur Wehre ſetzten und die gnaͤdigen jungen Schloßfraͤulen dermaßen zurichteten, daß Onkel Na - ſus oft mit der Karbatſche dazwiſchen hauen mußte.
Sehr bezeichnend iſt folgender Vorfall: Gottfried, des Schulmeiſters Soͤhnlein, gleichfalls um einige Jahre aͤlter als Tieletunke und durch ſeinen Vater eine Art von Reſpektsperſon fuͤr den Liebenauer Nach - wuchs, hatte einmal gewagt, ſich als ſolche geltend zu machen und der jungen Gebieterin Gehorſam zu verweigern. Man war allgemein geſpannt, welche Folgen daraus entſtehen wuͤrden. Tieletunke ließ ſich ein Stoͤckchen reichen, befahl dem rebelliſchen Gottfried ſtill zu halten (was dieſer in ſtummem Er - ſtaunen wirklich that), und erklaͤrte mit feſter Stimme, ſie werde dem Schuldigen fuͤnfundzwanzig Streiche geben. — (Wem dieſe Strafe zu hart und die Summe der Schlaͤge zu groß erſcheint, der wird zu bedenken erſucht, daß die Strafende dazumal noch nicht zaͤhlen konnte und mit 25 einen unbeſtimmten Begriff ver -51 band; es war, wie wenn ſie drei oder ſieben geſagt haͤtte. ) — Beim erſten Streiche ſchon zerbrach das duͤnne Staͤbchen. War nun wirklich kein anderes zur Hand, oder ſchafften die Kinder keines mehr herbei, weil ſie Gottfrieds Vater zu erzuͤrnen fuͤrchteten: die Execution konnte nicht fortgeſetzt werden. Da ſagte Tieletunke: mit der Hand ſchlag’ ich einen ſo unſau - beren Buben nicht; er mag laufen, aber ich ſpiele nicht mehr mit ihm!
Am andern Tage, als zur gewohnten Spielſtunde ſich das muntere Voͤlkchen auf dem gruͤnen Kirchhofe verſammelte, ſaß Tieletunke an ihrer Mutter Gruft und ſpielte nicht mit den anderen. Und nun kam Gottfried, reichte ihr ein ſtaͤrkeres Haſelſtoͤckchen dar, ſprechend: gieb mir meine Strafe, Tieletunke; das wird ſchon aushalten, ich hab’ es ſelber abgeſchnitten; wenn ich aber gepruͤgelt bin, ſpiele auch wieder mit mir.
Von jenem Abende ſchreibt ſich Antons Neigung fuͤr Ottilien.
Dieſe Neigung wuͤrde, bis auf den Zeitpunkt, welcher unſere Erzaͤhlungen eroͤffnet, ſchon zur heißen wenn auch halb hoffnungsloſen, doch eben darum ſchwaͤrmeriſchen Liebe eines reiferen Knaben herange -4 *52bluͤht ſein; wuͤrde unſeren jungen Freund gaͤnzlich in Anſpruch genommen haben; haͤtte nicht die fuͤr ihr Geſchlecht faſt zu maͤnnliche Energie des Fraͤuleins den Korbmacher befremdet und inſtinktmaͤßig abge - kuͤhlt. Er wagte nicht, fuͤr ſie zu ſchmachten, auch wenn er allein war nicht, weil er befuͤrchtete, ſie koͤnne ihn hoͤhniſch verſpotten. Sie, die ihn oft ſchon „ Korbmachermaͤdel “geſcholten, weil er ſo leicht ſich der Ruͤhrung hingab; ſie, die als kleines Kind ſchon beklagt, daß ſie nicht ein Junge geworden. Es iſt recht boͤſe von meinem rothnaſigen Papa, hatte ſie damals immer geaͤußert, daß er, als der Klapper - ſtorch, der meine arme Mutter todtgebiſſen, mich ihm brachte, nicht ausgerufen hat: das iſt ein Junge! Es hing ja von ihm ab. Er durfte nur wollen, gleich war ich ein Junge, wie ihr, und hieß Otto, ſtatt Ot - tilie. Jetzt muß ich ein dummes Maͤdel ſein und lange Roͤcke tragen.
So hatte ſie damals geredet und redete nun frei - lich nicht mehr ſo, aber der Wunſch, ein Juͤngling zu werden, ſtatt eine Jungfrau zu ſein, ſchien ſich oft noch bei ihr geltend zu machen. Dieſe Richtung ſtoͤrte Anton in der ſehnſuͤchtigen Andacht einer erſten un - ſchuldigen Liebe. Er zitterte faſt vor der, die er anbe -53 ten wollte, wie ſanft, wie weiblich, wie anmuthig ſie auch ſonſt ſein mochte.
Wer irgend mit einiger Kenntniß des menſchlichen Herzens, mit einiger Beobachtungsgabe ausgeſtattet, die Beiden mitſammen geſehen, konnte ahnen, daß hier eines jener Urgeheimniſſe der Natur in verbor - genſter Macht wirkte. Der Juͤngling ſchien das Maͤdchen zu fliehen, das Maͤdchen ſchien ihn gering zu ſchaͤtzen; und dennoch fuͤhlten ſich Beide von der unbeſchreiblichen Gewalt aneinander gezogen, die aus Mann und Weib wieder eine Seele und einen Leib machen moͤchte und dieſes Problems Loͤſung ſeit Adam und Eva auf die verſchiedenſten Arten, bis jetzt immer noch erfolglos, ſucht.
Sobald Paſtor-Puſchel und Rubs in Liebenau eintrafen, ſich vom Staube des Weges einigermaßen geſaͤubert hatten, begaben ſich Beide ſtets regelmaͤßig und ohne Aufſchub aus dem Pfarrhofe nach dem Her - renhauſe, um Onkel Naſus die Hand zu kuͤſſen, der ſeinen „ Maͤdels “alſobald befahl, Wein und Brot vorzuſetzen. Dann ritt er aus und ließ die zwei Paare treiben, was ihnen gefaͤllig war. Gewoͤhnlich unter - nahmen ſie einen Spaziergang, den die „ Studenten “mit ihren beinahe vier Meilen in den muͤden Fuͤßen54 moͤglichſt abzukuͤrzen und im naͤchſten ſchattigen Waͤld - chen zu beenden wußten, wo man ſich lagerte. Bis vor einem Jahre noch hatte man zu jedem dieſer Zuͤge Anton abgeholt. Der Korbmacherjunge, der ſauberſte, huͤbſcheſte, kluͤgſte Genoſſe der Spielzeit durfte nie fehlen. Jetzt war das nicht mehr ſo. Die Hochſchuͤ - ler fingen an, ſich ſeiner zu ſchaͤmen; in ſeinem Weſen lag es nicht, ſich aufzudringen. Er blieb fern und Tieletunke ſchlenderte allein hinter den zwei zaͤrtlichen Paaren her, ohne durch ein Wort oder eine Miene zu verrathen, daß ſie den Begleiter ihrer Kindheit ver - miſſe. Doch entſchaͤdigte ſie ſich dann beim Ausklei - den fuͤr ihre Entbehrung, wenn ſie den Schweſtern zu verſtehen gab: Rubs und Puſchel wichen dem ver - trauten Verkehr mit ihrem ehemaligen Spielkamera - den nicht deshalb aus, weil ſie ſich des Dorfjungen, ſondern weil ſie ſich vor ihm ſchaͤmten, der in ſeiner grauen, grobleinenen Jacke zierlicher, vornehmer, unterrichteter ſei, als die plumpen Schulflegel.
Und gewiſſermaßen ſprach ſie wahr. Die Gegner der Ariſtokratie moͤgen zweifeln wie ſie wollen und koͤnnen, — es gibt einen angeborenen Adel; nur frei - lich, daß er nicht unveraͤußerliches Erbtheil der Ade - ligen bleibt! Daß er oft mehrere Generationen uͤber -55 huͤpft! Daß er verwunderliche Kreuz - und Querſpruͤnge macht! Daß die Racen Auffriſchung und Wechſel brauchen! Geht es doch bei Pferden, Schafen und Rindvieh nicht anders zu.
Eine der edelſten von allen unſerem Helden ange - borenen Eigenſchaften war die Empfaͤnglichkeit, die Bildungsfaͤhigkeit ſeines Verſtandes, wie Gemuͤthes. Aus den Buͤchern, die er theilweiſe beim Paſtor em - pfangen, die er von den Schloßfraͤulen ausgeliehen, ging ſo viel in ihn uͤber, drangen die Gedanken, die er in ſich aufnahm, ſo tief ein, daß er ſeinen Um - gebungen, ſeinen Verhaͤltniſſen, ſeinem wirklichen Wiſſen weit voraus, ſich gleichſam ſelbſt uͤbertraf; daß er ſeiner eigenen Entwickelung vorangeeilt ſchien. Jn ſtaͤdtiſchem Verkehr, in geſelligen Vergnuͤgungen heimiſch, wuͤrde er ein vorlauter, altkluger, unaus - ſtehlicher Laffe geworden ſein. Jm Haͤuschen ſeiner biedern Großmutter, als beſcheidener, reingewaſchener, ſaubergehaltener Dorfhandwerker, — vielmehr: Pfu - ſcher, — war er ein Phaͤnomen. Tieletunke wußte am beſten, was ſie that, wenn ſie ihren Schweſtern zu bedenken gab, daß die gelehrten Paſtorſoͤhne von dem ungelehrten Anton lernen koͤnnten.
Zwei kleine Talente fingen fruͤhzeitig an, ſich be56 ihm zu entwickeln. Zuerſt ein muſikaliſches. Unter all’ den Jungen, ſo beim Herrn Schulmeiſter ſtreichen und geigen mußten, zum Schreck und Schauder ſaͤmmtlicher Dorfhunde, welche aͤngſtlich mit ein - geklemmten Schwaͤnzen und nur bei unvermeidlichen Gaͤngen und Geſchaͤften an der philharmoniſchen Sektion des Schulhauſes voruͤber ſchlichen, — war er der Einzige, der ſeiner kleinen armſeligen Fiedel reinere Toͤne zu entlocken wußte. So glaͤnzend ſtrahl - ten ſeine Progreſſen, daß er Herrn Kickelier, den Leh - rer (Gottfrieds Vater), bald uͤberbot und nichts mehr von ihm vernahm, als ſtaunende Lobeserhebungen, waͤhrend derſelbe den uͤbrigen Jungen nicht Finger - knipſe genug darreichen konnte fuͤr all’ ihre Mißtoͤne.
Die zweite von Antons Gaben ſprach ſich in fri - ſchen Reimen aus, die ihm wunderbar leicht gelangen. Jch haͤtte mich wiſſenſchaftlich-kritiſcher ausdruͤcken und ſagen koͤnnen: er beſaß Anlagen zur Poeſie; er war Naturdichter; und dergleichen mehr. Jch ſagte abſichtlich und ausdruͤcklich: ſein Talent ſprach ſich in Reimen aus. Weil ich zu den aufrichtigen Leuten gehoͤre und eingeſtehe, daß ich den Reim bei einer gewiſſen harmloſen Gattung lyriſcher Kleinigkeiten nicht entbehren mag; daß ich ihn faſt fuͤr die Sache57 ſelbſt halte; daß ein kleines Liedchen reimen muß, wenn es ein Lied ſein will. Fuͤr mich giebt es keine Blume ohne Bluͤthen.
Antons Reime kannte nur der liebe Gott und er. Sonſt Niemand. Nicht einmal die Großmutter. Denn wie er, vor etwas laͤnger als einem Jahre, Ottilien ein ſeiniges Spruͤchlein hergeſtottert, hatte dieſe ihn unbarmherzig ausgelacht und gemeint, die Mutter Gokſch wuͤrde wohl thun, ihm den Hagedorn mit dem Klopfſtock auszutreiben, und er moͤge huͤbſch ſeine Kunden prompter bedienen, damit ſie nicht ſo lange auf ausgeflickte Koͤrbe warten muͤßten!
Seitdem verſchloß Anton, was die Muſe ihm ein - geben wollen, in tiefſter Bruſt und vertraute Niemand mehr eine Silbe an.
Aber ſeltſam bleibt es, daß ſeitdem auch, wenn Tieletunke ſich allein und unbelauſcht meint, ſie immer und immer folgende Zeilen wiederholt:
Seltſam, ſeltſam bleibt es, daß Tieletunke dieſe Reime ſich oft ſinnend vorſagt. Noch ſeltſamer, daß dieſelben, von einmal hoͤren, ihr im Gedaͤchtniß blieben!?
Wie Anton auf’s Schloß gerufen wird, vor dem fremden Muſikmeiſter Ca - rino zu geigen; dann mit einem Glaſe Ungarwein im Kopfe einſchläft, und mit der Liebe im Herzen erwacht.
Fuͤr die ausgeſtoßene Turteltaube, die er vorſich - tig heimtrug, auf’s aͤngſtlichſte beſorgt, langte Anton vor Sonnenuntergang bei ſeiner Großmutter an. Um jeder Frage, wie er den langen Tag, und wo, zuge - bracht haben moͤge? auszuweichen, hielt er ſeiner Alten die Taube hin, mit den Worten: „ noch ein Pflegekind! “
Mutter Gokſch beſaß zarten Sinn genug und59 kannte ihren Enkel hinreichend, um zu begreifen, daß er die Erinnerungen an ſeine Herkunft und ſeiner Mutter Schickſal fuͤr’s Erſte begraben wolle. Sie reichte ihm ihre Hand, ſchuͤttelte ſeine Rechte, wie man ſie einem alten, treuerprobten Freunde ſchuͤttelt, und erwiederte nur: fuͤr Dein Pflegekind wollen wir Beide ſorgen; — und dann waren auch die Schloß - fraͤulen hier, ſammt den Paſtorjungen, ſie wollten Dich abholen ...
„ Zum Spaziergange? “unterbrach Anton die Großmutter; „ was faͤllt denen auf einmal wieder ein? Sie haben eine Ewigkeit nicht nach mir gefragt! “
Nicht zum Spaziergange, fuhr die Alte fort; von dem kehrten ſie ſchon zuruͤck. Nein, auf’s Schloß ſollſt Du kommen und Deine Geige mitbringen. Den alten Baron hatten ſie bei ſich, der hatte muͤſſen um’s ganze Dorf laufen; der keuchte ſammt einem fremden Herrn hinter ihnen her und fluchte laͤſterlich uͤber den weiten Marſch. Seine Naſe ſpielte in allen Farben.
„ Und Tieletunke? “
Die war auch dabei, natuͤrlich. Aber die fragte nicht nach Dir und ſprach uͤberhaupt nicht.
„ Dann gerade will ich gehen. Doch wer iſt denn der Fremde? “
60Weiß ich’s? Sie nannten ihn Muſikdirektor und er iſt, glaub’ ich, verwandt mit dem Paſtor. Mir iſt auch, als haͤtt’ ich ſchon von ihm reden hoͤren, wie die Paſtorin noch lebte, gleichwie von einem verlore - nen Sohne. Nun mag er ſich wohl wiedergefunden haben! Aber vom Schweinehuͤten kommt der nicht. Er ſah ſehr praͤchtig aus.
„ Vor ihm ſoll ich geigen? “wiederholte Anton nachdenklich einigemale. „ Sie wollen wahrſcheinlich uͤber mich ſpotten und das iſt wieder ein Einfall von Fraͤulein Ottilie. Aber gleichviel: ich geh’ doch! “
Damit nahm er ſeine Geige und ging auf’s Schloß.
Sie ſaßen in der Laube vor der Thuͤr. Onkel Naſus, der Paſtor und der fremde Herr, an einem gruͤnen Gartentiſche, auf dem verſchiedene, halbge - leerte Weinflaſchen ſtanden. Die Maͤdchen, Miez und Linz, mit den „ Studenten “gingen ab und zu. Letz - tere ſuchten gelegentlich und wenn es unbemerkt geſchehen konnte, ihre ſtets leeren Glaͤſer wieder zu fuͤllen.
Ottilie ſtand in der halboffenen großen Hausthuͤr, an den geſchloſſenen Thorfluͤgel gelehnt und den Abendflug der Schwalben betrachtend, als ob die Uebrigen ſie nichts weiter angingen.
61Wie Anton am Eingang der langen dichtverwach - ſenen Laube erſchien, wedelten ihm des Freiherrn Hunde zutraulich entgegen und rieben ſich an ſeinen Knieen, als an denen eines guten Freundes.
Anton kuͤßte dem Baron die Hand, worauf dieſer ihn in die Wange kniff und in beſter Weinlaune ſagte: „ Na, Schlingel? “ Sonſt achtete Niemand ſonderlich auf ihn. Der fremde Herr war eben dabei, von ſei - nen Reiſen und Abentheuern zu erzaͤhlen. Anton legte die ſchlechte Geige auf einen leeren Stuhl und hoͤrte, augenblicklich vom Vortrage des Redenden gefeſſelt, aufmerkſam zu.
Der ſogenannte Muſikdirektor ſchien ein Mann von dreißig bis fuͤnfunddreißig Jahren. Sein Beneh - men war das eines viel gereiſeten, nach allen Rich - tungen bekannten und gebildeten Menſchen. Wo war er nicht uͤberall geweſen? Was hatte er nicht geſe - hen, erfahren, durchgemacht? Der Sohn eines armen Kleinbuͤrgers, des wohlehrſamen Weißgerbers Karich, war er vor laͤnger als zwanzig Jahren mit einer Bande muſizirender Bergknappen aus dem Erzge - birge davongelaufen und kehrte nun als Herr Carino, bei einem kleinen Fuͤrſten am Rhein fuͤr Kapellmeiſter angeſtellt, in die Heimath auf Beſuch, in welcher62 Niemand mehr von der ganzen Verwandtſchaft am Leben, wie des verſtorbenen Vaters Bruder, der gute Paſtor Karich in Liebenau. Dieſen auszufor - ſchen trieb ihn wehmuͤthige Erinnerung an die dahin - geſchiedenen Eltern, denen er ſo viel Kummer gemacht. Doch kaum war die erſte Stunde, dem Gedaͤchtniß der Todten geweiht, voruͤber, als des Mannes unver - wuͤſtliche Luſtigkeit wieder ausbrach und er in den nachgiebigen Oheim drang, ihn bei Onkel Naſus ein - zufuͤhren, von deſſen Naſe, großem Durſt und drei - toͤchterlichem Kleeblatt, die geſtern zur Sonnabend - feier angelangten Vettern mit ſchuͤlerhafter Begeiſte - rung verkuͤndeten. Naſus, jeglicher kuͤnſtleriſchen Re - gung fremd und ohne Spur von Antheil fuͤr einen Virtuoſen, nahm doch den Neffen ſeines treuen See - lenhirten und Winterabend-Geſellſchafters gut genug auf, wurde aber ſogleich uͤberaus gnaͤdig gegen ihn, als Carino angedeutet, daß Kuͤnſtler, beſonders muſi - kaliſche, unaufhoͤrlich Durſt empfaͤnden. Mit Weine angefeuchtet ließ er ſich denn auch die fabelhaften Mittheilungen aus Carino’s Jrrfahrten huldreich munden. Die Andern hoͤrten zu, wie man thut, wo man nichts Beſſeres zu thun weiß. Ottilie, wie ſchon erwaͤhnt, ſchien mit ihren Gedanken am blauen Him -63 melszelte zu weilen, unter welchem verſpaͤtete Schwal - ben hin und her ſchwebten. Anders war es mit An - ton. Dieſer verſchlang jede Silbe. Und weniger viel - leicht waren es Erlebniſſe, Schickſale, Thaten und Erfolge, deren ſich der Erzaͤhler ruͤhmte, als vielmehr der ſtete Wechſel der verſchiedenſten Schauplaͤtze, auf denen dieſer wandernde Muſikus erſchien, zu denen er ſich Bahn zu brechen gewußt. Eben erſt in Prag eingeſchlichen, blies er ſchon als Mitglied in der Pri - vatkapelle eines Staroſten zu Warſchau die Klari - nette. Kaum verhallten dort die Toͤne, als er bereits durch Galizien nach Wien gelangt und daſelbſt bei dem Orcheſter eines Vorſtadttheaters Violiniſt gewor - den war. Bald darauf begleitete er irgend eine beruͤhmte Saͤngerin auf dem Pianoforte, wie im Reiſe - wagen, nach Mailand, — und ploͤtzlich hoͤren wir ihn zu Neapel in einem Hofkonzerte das Brumm - eiſen ſpielen, auf welchem er es zu ſeltener Fertigkeit gebracht haben will. Endlich laͤuft er in Konſtanti - nopel ſichtliche Gefahr, geſaͤckt und erſaͤuft zu werden, wie ein Neſt voll blinder, junger Hunde, ſtiehlt ſich aber uͤber Buchareſt und aͤhnliche, hoͤchſt muſikaliſch geſtimmte Staͤdte nach Deutſchland zuruͤck, wo er gerade zu rechter Zeit anlangt, um Seiner Durch -64 laucht dem Fuͤrſten von X. Y. Z. die unterwegs kom - ponirte Symfonie aus Fis-Moll zu Fuͤßen zu legen und zur Belohnung dafuͤr den Platz eines Muſikdi - rektors an hochfuͤrſtlicher Kapelle zu erhalten, den er zwar fuͤr den Augenblick wie einen Ruhe-Platz betrach - tet, aber ausdruͤcklich hinzufuͤgt: nur fuͤr ſo lange, als er ſelbſt Ruhe brauchen — und haben wird.
Anton, der in Liebenau aufgewachſen, das ſtille Dorf nie verlaſſen, — denn die umgebenden, wenn auch ausgedehnten Waldungen waren fuͤr ihn zum Dorfe gehoͤrig! — der niemals daran gedacht hatte, je von ſeiner Großmutter und deren Huͤtte zu ſchei - den; Anton begriff weder die Beweglichkeit, noch das Geſchick des Tonkuͤnſtlers. Wie ein Zauberer kam ihm der Mann vor, der in entfernten Landen ſich heimiſch, und bei der Sprache der Toͤne nicht an Worte gebunden, geltend gemacht. Eine neue Welt that ſich an dieſem Abende vor Antons Phantaſie auf. Und ohne dieſen Abend waͤre unſer Buch unmoͤglich, denn die kuͤnftige Wanderluſt ſeines Helden entfaltet heut’ ihre erſten Keime.
Saͤmmtliche Zuhoͤrerſchaft, ein jedes darunter auf ſeine Art freilich, fand ſich zuletzt durch des Erzaͤhlers Vortrag doch gefeſſelt, ſo daß Niemand Zeit gewann,65 ſich um Anton und ſeine außergewoͤhnliche Aufregung zu bekuͤmmern. Nur Ottilien entging nicht, was ihn bewegte. Sie ſah, wie er mit verklaͤrtem Antlitz an den Lippen des Redenden hing, und ſie fand ihn, wie er gleichſam in eine neue Lebens-Epoche gehoben, aus tiefen Augen ſchaute, wunderbar ſchoͤn. Jhrem wunderlich-trotzigen Charakter ſagte eine gewiſſe Noth - wehr gegen ſolche Bewunderung zu, deshalb zerſtoͤrte ſie ſogleich abſichtlich den Eindruck, den der Anblick des Korbmacherjungens auf ſie, wider ihren Willen, hervorgebracht, indem ſie ſpoͤttiſch fragte: ob denn der Herr Muſikdirektor uͤber ſeinen eigenen unbedeuten - den Schickſalen den bedeutenden jugendlichen Kunſt - genoſſen gaͤnzlich vergeſſen wolle, der ja auf ſeinen Wunſch hierhergerufen worden waͤre, um ihm vorzu - ſpielen?
Carino lachte laut auf, hemmte den Strom ſeiner Rede und zeigte das lebhafteſte Verlangen, Anton zu hoͤren. Rubs reichte dieſem ſeine armſelige Geige, aber ſchon beim erſten Griff platzten die Saiten. Sehr natuͤrlich: Ottilie hatte alle vier mit ihrer kleinen Etuiſcheere unbemerkt durchſchnitten. Das Gelaͤchter wurde allgemein. Anton, in ſprachloſer Verwirrung, ſtarrte Ottilien an, als ob er ſie befragen wollte:Die Vagabunden. I. 566warum? Zugleich drang ein Gefuͤhl der Befriedigung durch ſeine Sinne, welches ihn waͤhnen ließ, daß ſi[e]dieß gethan, um ihm eine Beſchaͤmung vor dem frem - den Meiſter zu erſparen. Dieſer aber zoͤgerte nicht, aufzuſpringen und ſeinen eigenen Violinkaſten aus dem Gaſtzimmer herabzuholen; — denn man hatte ihn auf dem Schloſſe bewohnt, weil beim Paſtor kein Raum vorhanden, der des weitgereiſeten Weltmannes wuͤrdig geweſen waͤre. Hier, mein Soͤhnchen, ſprach er, nimm dieſe echte Cremoneſerin; auf ihr kannſt Du zeigen, was fuͤr Hunde Du verſtehſt, hinter dem Ofen - Loche hervorzulocken.
Anton antwortete durch eine verneinende Bewe - gung des Hauptes; mit beiden Haͤnden wehrte er ab, das koſtbare Jnſtrument zu beruͤhren, und als Carino wiederholt in ihn drang, machte ſich ſeine Verlegenheit in den Worten Luft: ich will ſie nicht entweihen mit meinen Fingern.
Dieſer gewaͤhlte Ausdruck aus dem Munde des Dorfknaben uͤberraſchte Carino. Was Teufel, ſagte er, wie ſprichſt denn Du? Schau’ mich doch an Was der Junge fuͤr Augen hat!? Coraggio, bellis - simo ragazzo, Du mußt ſpielen; jetzt will ich Dih hoͤren! Da, ſauf’ ein großes Glas Ungarwein au[s]67Onkel Naſus kuͤhlſtem Kellerloch; ſpuͤle die jungfraͤu - lich-verzagte Schuͤchternheit hinab; ergreife den Bo - gen und laſſ’ mich erfahren, ob Dein Auge luͤgt!
Zum Erſtenmal in ſeinem jungen Leben trank Anton Wein. Der edle Saft aus jenem gottgeſegne - ten Lande durchdrang ihn mit raſcher Glut. Ehe noch eine Minute vergangen, zog ein Feuerſtrom durch ſeine Adern. Muthig ergriff er nun Carino’s Violine und ſpielte frei, ohne Zagen, die alte ſchlichte Weiſe, die wir tauſendmal vernahmen, ohne darauf zu achten, die uns aber entzuͤcken wuͤrde, wenn wir ſie als aus - laͤndiſches Volkslied durch eine fremde Saͤngerin ken - nen gelernt haͤtten? ich meine die uͤberall verbreitete Melodie voll tiefer Jnnigkeit und Wehmuth:
„ Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus “mit ihrem klagenden, wie drei Abſchiedſeufzer verhallen - dem:
„ Ade! Ade! Ade! “
Dreimal geigte er das Lied, ohne irgend eine Va - riation, nur jedesmal trauriger, ging zuletzt in’s Moll uͤber und brach ab, ohne rechten muſikaliſchen Schluß.
Die Anweſenden, obwohl erſtaunt, weil ſie aͤhn - liche Toͤne von Antons Fiedelbogen nie gehoͤrt, wag - ten doch nicht, ſich zu aͤußern; gleich den Bewohnern5 *68mancher Stadt, auf den Ausſpruch der Kritik har - rend, die ihnen erſt verkuͤndigen ſoll, ob ihnen denn auch gefallen duͤrfe, was ihnen gern gefallen haͤtte?
Carino jedoch, ploͤtzlich ernſt geworden, legte ſeine Rechte auf Anton’s Lockenkopf und ſagte leiſe: Junge, vom Geigen verſtehſt Du freilich nichts; Du haͤltſt Deinen Bogen wie ein Biegeleiſen und greifſt wie ein Schneider, der Floͤhe ſucht; auch kann ich nicht wiſſen, ob in Dir ein tuͤchtiger Muſiker, oder ein auch nur leidlicher Virtuoſe ſteckt? Aber, daß Jemand in Dir ſteckt, daß Du ein Herz, ein Gemuͤth, daß Du Gefuͤhl und Geiſt haſt, daß Gott in Dir wohnt! das ſchwoͤr’ ich Dir zu, ſo gewiß, daß ich ein arger Lump und daneben eine wahre Kuͤnſtlernatur bin. Den Jungen haltet warm, ihr Onkels! Geht freundlich mit ihm um, ihr Damen und Vettern! Das iſt kein gewoͤhnlicher Korbflechter. Aus ſolchem Holze ſchnitzt das Schickſal bisweilen ſeine Auserwaͤhlten. Gib mir einen Kuß, Antonio, ich hab’ Dich lieb.
Dieſe in humoriſtiſcher Feierlichkeit geſprochenen Worte machten auf alle Eindruck, ſogar auf Onkel Naſus, der ſeine Ruͤhrung mit einem großem Schluck hinunter zu ſchwemmen ſuchte.
Ottilie war hinter der Hausthuͤr verſchwunden.
69Anton fand ſich am meiſten ergriffen durch das Wort: „ wahre Kuͤnſtlernatur. “ Hatte nicht ſein ſeli - ger Großvater wie die alte Mutter Gokſch ihm geſtern Abend erzaͤhlt, das liebe ungluͤckliche Toͤchterlein, die ſchoͤne Antoinette in vaͤterlichem Stolze oftmalen alſo genannt? Und der fremde Meiſter mit italieniſchem Namen nannte ſich ſelbſt ſo und daneben einen „ argen Lump? “ Ein Ausdruck, den Anton zwar in Liebenau nie gebrauchen hoͤrte, deſſen Bedeutung ihm aber klar ſchien. Muͤſſen denn alle wahren Kuͤſtlernatu - ren, ſo dachte er bei dieſem Vergleich, andere Leute ſein, wie die anderen Leute? Dann ergriff er ſeine ſaitenloſe Geige; kniff ſie veraͤchtlich unter den linken Arm; kuͤßte Onkel Naſus die Hand; empfahl ſich ſeinem neuen Goͤnner, der aus der feierlichen bereits wieder in die durſtige Stimmung uͤbergegangen war; verneigte ſich vor dem Herrn Paſtor, vor Linz wie Miez; nickte dem Puſchel und dem Rubs gute Nacht; und ſchlich, betruͤbt, Ottilien nicht mehr zu gewahren, aus der Laube. Als er jedoch beim Ausgange derſel - ben noch einmal die Augen zuruͤckwendete, ſah er ſie hinter dem Hausthuͤrfluͤgel hervorgucken und es ſchien ihm, als ob ſie ihm einen Fingerkuß nachſende. Doch ſtrafte er ſeine Augen Luͤgen und ſuchte ſich ſelbſt ein -70 zureden, die zweifelhafte Daͤmmerung muͤſſe ihn getaͤuſcht haben.
Großmutter ſchlief ſchon. Er ging auf den Zehen, um ſie nicht zu wecken, entſchlummerte ſpaͤt, ſah dann im Traume den Muſikdirektor Carino mit einer unbe - kannten Frau im lebhaften Geſpraͤch einherwandeln, wobei er ſich, wie haͤufig im Traume vorkommt, fruchtlos abmuͤhete, beide zu erreichen und abge - brochene Worte zu erlauſchen. Nur ſeinen eigenen Namen verſtand er bisweilen.
Als er aus unruhigem Schlafe erwachte, die Bil - der des quaͤlenden Traumes zu ſondern verſuchte, fand er eine merkwuͤrdige Aehnlichkeit zwiſchen jener unbekannten Frau und den Schilderungen, die ihm die Großmutter von ſeiner Mutter zu machen pflegte. Er haͤtte ſich nicht genug verwundern koͤnnen, daß ihm dies nicht ſchon im Traume aufgefallen ſei, wenn er ſich nicht zugleich erinnern muͤſſen, daß Ottiliens ihm nachgeworfener Fingerkuß, der ihm bei der Daͤmmerung des Abends zweifelhaft und fraglich erſchien, waͤhrend der Dunkelheit der Nacht und des Traumes zu großer Bedeutung angewachſen war. Nach einer Stunde des Beſinnens, Erwaͤgens, des Zweifels und der Hoffnung, verſchwanden ihm Carino71 und das Bild der fremden Frau voͤllig; nur Tiele - tunke’s Kuß lebte noch und wirkte in ſeiner Seele.
Worin blos davon geredet wird, was Mutter Gokſch, Anton und Ottilie mit ſich ſelbſt redeten; auch was die ſchöne Leſerin ſagt; — und endlich der Autor.
Die neue Woche in Liebenau begann eben ſo lang - weilig wie alle neuen Wochen auf Erden zu beginnen pflegen, wenn nach irgend einer Auffriſchung oder Erregung der Menſchen Daſein wieder den alten Gang geht. Muſikdirektor Carino hat das Schloß verlaſſen und ſeinem guten Oheim dem Paſtor Lebe - wohl geſagt, um ſich an die Hofkapelle des bewußten Fuͤrſten am Rhein zu begeben; Puſchel und Rubs ſind nach der Hauptſtadt zuruͤckgekehrt, um, ihren Studien obliegend, ſich bald in’s Examen zu werfen; die Schloßfraͤulen fuͤhren die Wirthſchaft in Kuͤche, Haus und Staͤllen, bleichen Leinen, beſſern Waͤſche aus; Onkel Naſus reitet, die dickſten Staͤmme muſternd und Holzfrevler verfolgend, in ſeinen Waͤldern um - her, gleich dem bruͤllenden Leuen, zu trachten, wel - chen er verſchlinge; Anton flicht Koͤrbe.
Wir wiſſen aus ſeinem Gedichtlein, daß er ſonſt72 ſchon zaͤrtliche Gedanken mit einzuflechten pflegte. Aber was waren jene Gedanken von ſonſt gegen dieſe von jetzt? Die Liebe, von der er damals prophetiſch geſungen, war eine ſanft-ſchuͤchterne, im Entſtehen entſagende, und an eine ſolche kann ich uͤberhaupt, — mag die guͤtige Leſerin mich noch ſo unguͤtig als Laͤſterer verdammen! — auf die Dauer nicht glau - ben. Am allerwenigſten bei ſo ſchlichtem, natuͤrlichem, ungeziertem Dorfjungen. Sie war ihm nicht tief in’s Leben gedrungen. Sie war eben nur vorhanden, wie ſie eigentlich immer vorhanden iſt: ſie ſchwamm in der Luft um ihn her, ſei es nun als Blumenduͤftchen, ſei es als feindſeliges, anſteckendes Miasma, — je nachdem. Sie ſtreifte Antons Herz; er ahnete ſie; aber das Herz war zu friſch, zu jugendſtark, zu rein, — ſie fand keinen Eingang durch dies geſunde Herz, um den ganzen Menſchen einzunehmen. So war das bisher gegangen. Jetzt aber hatten ſchmerzhafte Er - fahrungen, leidenſchaftliche Zuſtaͤnde ihn bewegt, erregt, erſchuͤttert und durchwuͤhlt. Zwiſchen der Kunde vom Untergang ſeiner Mutter bis zum Kuß - haͤndchen Ottiliens lagen ſchon zwei lange Naͤchte und ein heftiger Tag. Das Herz Antons, vorgeſtern noch eine feſtgeſchloſſene, volle Knospe, hatte ſich zur73 offenen, ſchwellenden Blume entfaltet, und ſaugte mit banger Wolluſt den Hauch der Leidenſchaft. Ja ſogar Antoinettens traurige Geſchichte, wie die Alte ſie ihm rein und ſchmucklos vorgetragen, wirkte nun, wenn er ſie in ſeiner Fantaſie ſich wiederholte, mit dazu, ihm Ottilien, die er bisher immer nur als Schloßfraͤulein gedacht und geſehen, als weibliches Weſen naͤher zu ruͤcken. Der Gegenſatz beſonders war ſeiner Ruhe ſo gefaͤhrlich: dort dachte er ſich die eigene Mutter, Tochter beſchraͤnkter armer Kantorsleute, ein Opfer des reichen, hochgeborenen Junkers werden; hier ſtand die Tochter des gefuͤrchteten Gutsherrn, noch in Erinnerung an jene Zeit, vor Aufhebung der Erbunterthaͤnigkeit eine große Macht! ihm, dem Korbflechterjungen gegenuͤber. Er hielt ſich fuͤr einen Leibeigenen des Onkel Naſus. Das ſeine Großmut - ter freiwillig Liebenau zu ihrem Aufenthalt erwaͤhlt, als ſie ſich aus fruͤheren, kleinſtaͤdtiſchen Umgebun - gen fluͤchten wollte; daß ſie ihn, ein ſchon vorhande - nes Kind und Anhaͤngſel mitgebracht; daß er folglich kein Unterthan dieſer Herrſchaft ſei, das wußte, oder vielmehr bedachte Anton nicht. Er ſah in Ottilien immer noch die Tochter des „ Dominiums. “ Und um wie viel hoͤher ſtand dieſe uͤber ihm, als jemals ſein74 Vater, der Kornet, oder Lieutenant uͤber des Kantors Nette geſtanden haben koͤnnte? Und dieſe Ottilie hatte ihm — ihm — — nein, es war zu viel!!
Denn was bedeutet es, wenn ein Maͤdel ihre Fingerſpitzen kuͤßt und den Kuß einem jungen Bur - ſchen durch die Luft nachſendet? Doch nur: weil ich fuͤr den Augenblick Dich nicht erreichen kann, kuͤß’ ich meine Finger, aber wenn Du mir naͤher ſtehſt, werd’ ich Deine Lippen kuͤſſen.
Und der Gedanke, daß dieſes nicht vollbracht wer - den koͤnne, durchaus nicht, ohne daß er zugleich die ihrigen kuͤſſe!
Nein, wie geſagt, es war zu viel! Viel zu viel!
Was ſoll das heißen, fragte Mutter Gokſch von ihrer Naͤherei nach Antons kleiner Werkſtatt hinuͤber, daß Du heute gar ſo heftig ſingſt bei Deiner Arbeit? Da ſind ja die Finken in unſerem Gaͤrtchen faule Schelme gegen Dich.
„ Nu Großmutterle, “erwiederte Anton, nachdem er erſt ſeine Strofe beendet, „ mir iſt halt meine Bruſt ſo voll, ich weiß nicht wie? Da muß es heraus? Und Du hoͤrſt mich ja gern ſingen? Du lobſt ja meine Stimme, ſeitdem ſie uͤbergeſchnappt, oder vielmehr hinuntergeſchnappt hat in’s Mannbare. Du ſagſt ja75