PRIMS Full-text transcription (HTML)
Unſere moderne Bildung im Gunde mit der Anarchie.
Unſere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie.
Stuttgart. Ad. Becher’s Verlag.1852.

Druck der Königl. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg in Stuttgart.

Jnhalt.

  • Seite
  • Einleitung1
  • I. Die Anarchie5
  • II. Die Grundlage der Staaten11
  • III. Das Glück24
  • IV. Die Bildung41
  • V. Der Glaube71
  • VI. Die Erziehung84
  • VII. Die Regierung106
  • Schluß114

Einleitung.

Wir haben ſchwere Zeiten durchlebt und wir gehen viel - leicht noch ſchwereren entgegen. Anarchiſche Bewegungen haben in den letzten Jahren den Staat und die Geſittung mit Ge - fahren bedroht, welche wir noch kurz vorher in dieſem Umfang und in dieſer Nähe nicht für möglich gehalten hatten. Es iſt durch dieſe anarchiſchen Bewegungen unſäglicher Jammer über Einzelne, eine tiefe Schmach über uns Alle gekommen, und die Furcht vor der Wiederkehr ähnlicher Zuſtände erhält auch jetzt noch Alle in einer peinlichen, faſt unerträglichen Span - nung. Wenn uns in jenen Zeiten der tiefſten Erniedrigung noch eine Hoffnung aufrecht hielt, ſo war es der Gedanke, daß die demüthigenden Erfahrungen, welche wir damals machten, uns mit Donnerſtimme an jene Wahrheiten erinnern würden, welche ſo lange unter uns in Vergeſſenheit gerathen waren, und daß wir Alle wie ein Mann, offen unſere lange Verblendung bekennend, zu den Grundſätzen zurückkehren wür - den, welche allein den Staat und die Geſellſchaft erhalten können. Dieſe Hoffnung blieb unerfüllt.

Ob es möglich ſei, die anarchiſchen Grundſätze, nachdem ſie einmal zu dieſer Verbreitung und Stärke herangewachſen ſind, auch jetzt noch mit Erfolg und auf die Dauer zu12bekämpfen, das mag zweifelhaft ſein. Aber darüber ſollte doch wohl bei vernünftigen Leuten kein Zweifel herrſchen, daß es unmöglich ſei, die bereits ſo mächtig gewordene Anarchie mit den nämlichen Mitteln zu vertilgen, unter deren Ein - fluß ſie entſtehen und aus kleinen Anfängen zur Macht ge - langen konnte. Und dennoch iſt im Weſentlichen nicht der geringſte Unterſchied zwiſchen dem, was jetzt an den meiſten Orten geſchieht, nachdem die Anarchie für einen Augenblick äußerlich zu Boden geworfen worden iſt, und zwiſchen dem, was früher während der Dauer eines ganzen Menſchen - lebens bis zum Ausbruch der anarchiſchen Bewegungen ge - ſchehen war.

Während einer langen Reihe von Jahren hatten bei uns die Einen alles Heil von der Erweiterung politiſcher Rechte und Freiheiten, von einer Schwächung der Regierungsgewalt, und von der Abſchaffung des hiſtoriſchen Rechts und des kirchlichen Glaubens erwartet. Andere dagegen ſuchten in der nämlichen Zeit mit der nämlichen Verblendung alles Heil in einer bloſen Verweigerung aller dieſer Forderungen, in einer möglichſten Erweiterung der Macht der Regierung und in einem ſchroffen Feſthalten an den alten Formen. Eine dritte Partei endlich wollte durch ein konſtitutionelles Schaukelſyſtem zwiſchen zwei gleich verkehrten Gegenſätzen eine das Gleich - gewicht erhaltende Macht herſtellen, und bildete ſich ein, das Heil des Staates beruhe auf den Formen einer dieſe Gegen - ſätze vermittelnden Verfaſſung. Jn dieſem rein formalen Streit um den Umfang der Rechte der Unterthanen, um den Umfang der Macht der Regierenden, und um die einzelnen Beſtimmungen der Verfaſſung und der Geſetze verzehrten wir alle unſere Kraft. Und doch könnte ein Kind einſehen,3 daß das Alles an ſich nur Nebenfragen ſind, daß es überall nur auf den guten Gebrauch ankomme, welcher von den Rechten, von der Macht, von den geſetzlichen Formen ge - macht wird, und daß dieſer gute Gebrauch ſich durch for - melle Beſtimmungen gar nicht erzwingen läßt.

Und auch jetzt, nachdem die Nothwendigkeit uns klar geworden iſt, den äußerſten Gefahren mit vereinter Kraft entgegen zu treten, können wir es trotz aller Be - rathungen und Vereinbarungen zu keiner Einigkeit bringen, vielmehr bleiben wir überall in den formellen Vorfragen ſtecken, oder wenn wir dieſe Schwierigkeiten einmal über - wunden glauben, ſo taucht bei jedem Schritte, in welchem es ſich um die Anwendung der vereinbarten Sätze auf einen beſtimmten Fall handelt, ſogleich der alte Zwieſpalt wieder auf. Wenn das ſo fortgeht, ſo kann das Schickſal, welches uns durch die Anarchie bereitet werden wird, nicht zweifel - haft ſein.

Unter dieſen Umſtänden liegt wohl der Gedanke nahe genug, daß unſere Unfähigkeit, uns zu einem ernſtlichen und ausreichenden Widerſtande gegen die Anarchie zu ver - einigen, einen tiefer liegenden Grund haben müſſe, deſſen Erkenntniß uns nützlich werden kann. Dieſen tiefer liegenden Grund aufzufinden, iſt wahrlich jetzt nicht mehr ſchwer, ſeit - dem die letzten Jahre ein ſo grelles Licht auf unſere Zu - ſtände geworfen haben. Wer das Ziel betrachtet, auf welches uns die offenen und die verkappten Freunde der Anarchie mit aller Gewalt hindrängen, der wird keinen Augenblick darüber in Zweifel ſein können, daß die Erreichung dieſes Zieles gleichbedeutend ſein würde mit der Vernichtung aller ſtaatlichen Ordnung und mit der Auflöſung aller ſittlichen1*4Bande der menſchlichen Geſellſchaft. Wer dann weiter den leitenden Grundgedanken in’s Auge faßt, von welchem die Anarchie ausgeht und aus welchem ſie alle ihre Kraft ſchöpft, der wird, wenn ihm nicht etwa vor lauter Bildung der freie Gebrauch des geſunden Menſchenverſtandes abhanden gekommen iſt, mit Leichtigkeit den Punkt auffinden können, auf welchen Alles ankömmt. Und wenn er dann um ſich blickt und ſich frägt, wie ſich wohl die Einen und die An - deren zu dieſer Hauptfrage verhalten, ſo wird ſich ihm das Geheimniß ſchnell enträthſeln, auf welchem unſere Unfähig - keit zum Widerſtand gegen die Anarchie beruht.

Mit dieſer Erkenntniß allein iſt freilich noch nicht viel gewonnen, wenn uns die ſittliche Kraft fehlt, eine neue Bahn einzuſchlagen. Auch gibt es bekanntlich Fälle genug, wo den Leuten ihre Vorurtheile lieber ſind, als die Wahr - heit, und in ſolchen Fällen ſind alle Vorſtellungen umſonſt. Wer nicht hören will, iſt durch die beſten Gründe nicht zu überzeugen. Aber dann übernimmt die bittere Erfahrung das Geſchäft, die Leute für Vernunftgründe empfänglich zu machen. Wir haben mit ſolchen Erfahrungen bereits einen hübſchen Anfang gemacht, und wenn dieſer Anfang nicht ausreicht, ſo wird eine zweite und vermehrte Auflage gewiß nicht ausbleiben. Diejenigen dagegen, welche für ihre Perſon einer zweiten Lektion nicht bedürfen, werden durch die klare Erkenntniß des leitenden Gedankens der Anarchie und der Mittel, mit welchen ſie allein bekämpft werden kann, wenig - ſtens das gewinnen, daß ſie der Gefahr entgehen, ihre Kraft nutzlos zu vergeuden oder ſogar noch Oel in’s Feuer zu gießen, während ſie löſchen wollen.

I. Die Anarchie.

Die Anarchie führt drei ſchöne Worte im Schilde, über deren Sinn man ſich täuſchen könnte: Freiheit, Wohlſtand und Bildung für Alle , wer möchte dazu nicht Amen ſagen? Jndeſſen hat von Seiten ihrer Urheber dieſe Loſung durch Wort und That eine authentiſche Jnterpretation erhalten, welche jeden Jrrthum ausſchließt und deutlich beweist, daß die Bewilligung dieſer Forderungen, ſo wie die Anarchie dieſelben verſteht, nothwendig zum Umſturz jeder ſtaat - lichen Ordnung und zur Auflöſung aller Bande der Geſellſchaft führen müßte.

Gleich die erſte Forderung der Anarchie, die Freiheit für Alle, wird von ihr durch die Forderung des allge - meinen Stimmrechts näher erläutert. Jeder ohne Unter - ſchied der Perſon ſoll das Recht haben, ſich bei der Abſtim - mung über öffentliche Angelegenheiten mit gleichem Gewicht ſeiner Stimme wie jeder Andere zu betheiligen, ſo daß, wenn hundert verwahrloste Geſellen für einen Antrag ſind, und neun und neunzig Ehrenmänner dagegen, der Antrag angenommen iſt.

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Jn den Bereich dieſer Abſtimmungen kann aber alles Mögliche hereingezogen werden, Regierungsform und Be - ſetzung der Stellen, Geſetze und einzelne Maßregeln, Religion und Erziehung, Eigenthumsrechte, perſönliche Freiheit, und überhaupt Alles, was dem menſchlichen Willen zugänglich iſt. Es wäre überflüſſig, daran zu erinnern, daß bei dem gegenwärtigen Zuſtande der menſchlichen Geſellſchaft von dieſen allgemeinen Abſtimmungen keine heilſamen Beſchlüſſe zu erwarten ſind. Aber daran kann nicht oft genug er - innert werden, daß durch die Bewilligung dieſer Forderung die Achtung vor dem Geſetz und vor Allem, was zu Recht beſteht oder als eine Pflicht gilt, gründlich vernichtet wird, denn dieſes Alles gilt da nicht mehr aus dem Grunde, weil es an ſich gut und recht iſt, kraft ſeiner höheren und ſelbſtſtändigen Geltung, ſondern nur als die Frucht eines zufälligen Majoritätsbeſchluſſes, welcher ebenſo gut auch anders hätte ausfallen können, und welcher um ſo ge - ringeren Werth ſogar in den Augen der großen Menge hat, je deutlicher dieſe ſich bewußt iſt, wie verächtliche Elemente und Beweggründe zu dieſem Beſchluſſe mitgewirkt haben. Zudem gelten dieſe Beſchlüſſe höchſtens für einen kurzen Zeitraum von wenigen Jahren, wo dann durch entgegen - geſetzte Beſchlüſſe Alles wieder über den Haufen geworfen werden kann. Jn der Zwiſchenzeit hat dann jeder Einzelne das Recht, gegen das Beſchloſſene zu wühlen, es in der öffentlichen Meinung herabzuſetzen, die einflußreichen Per - ſonen zu verdächtigen oder durch Drohungen einzuſchüchtern, das ohnehin geringe Vertrauen in den Beſtand der Verhält - niſſe noch mehr zu erſchüttern und wohl auch durch Ver - ſprechungen, welche auf die Staatskaſſe oder den Geldbeutel7 anderer Leute lauten, Stimmen für ſeine Plane zu werben. Redliche und beſonnene Leute werden ſich unter ſolchen Um - ſtänden immer mehr von den öffentlichen Angelegenheiten zurückziehen und Wühlern von Profeſſion oder ehrgeizigen Wagehälſen das Glück von Millionen Menſchen Preis geben müſſen. Wenn aber die Leidenſchaften höher gehen, ſo wird die Partei, welche bei der letzten Abſtimmung unterlag, gar nicht bis zur nächſten Abſtimmung warten, ſondern ſchon nach kurzer Friſt eine neue Abſtimmung fordern, weil das früher durch die Ränke der ſiegenden Partei bethörte Volk jetzt über ſeine wahren Jntereſſen aufgeklärt und an - derer Meinung geworden ſei. Verweigert ihr die neue Ab - ſtimmung, und man kann ja doch am Ende nicht alle paar Wochen über Alles und Jedes von Neuem abſtimmen ſo erklärt man euch für Volksverräther und ſchlägt euch auf offener Straße todt im Namen der Volksſouveränetät, die ihr ſelbſt anerkannt habt, alſo von Rechtswegen.

Die zweite Forderung der Anarchie, der Wohlſtand für Alle, führt mit gleicher Nothwendigkeit zur Auflöſung des Staats und der Geſellſchaft, denn nach dem Sinne, welchen die Anarchie mit dieſer Forderung verbindet, iſt dieſelbe nichts mehr und nichts weniger, als eine vom Staate für die Liederlichkeit ausgeſetzte Prämie. Gerade ſo wie die Freiheit für Alle keineswegs dem gewiſſenhaften Manne Schutz gegen Unterdrückung durch ſchlechte Leidenſchaften gewähren, keines - wegs ihm die Bürgſchaft verſchaffen ſoll, daß er in einem wohlgeordneten Staate, ungehemmt durch menſchliche Will - kür oder durch verkehrte Geſetze, die Möglichkeit finde, ſeine ihm durch eine höhere Hand geſetzte Beſtimmung bei red - lichem Streben zu erreichen, ſondern ihn vielmehr der Willkür8 einer blinden Menge und ihrer gewiſſenloſen Führer Preis gibt, ebenſo ſoll der Wohlſtand, welchen die Anarchie for - dert, nicht die Frucht der unverdroſſenen Arbeit und einer gewiſſenhaften Treue ſein, nicht die Errungenſchaft einer beſcheidenen Genügſamkeit ſein, welche allmälig und im Kleinen erwirbt und erſpart, nicht ein Gut, welches durch das Bewußtſein eines treu vollbrachten Tagewerks ſeinen höchſten Werth erhält. Dieſer Wohlſtand ſoll dem Müßig - gang ebenſo zu Theil werden, wie der Arbeitſamkeit, er ſoll dem Verſchwender, welcher heute durchbringt, was er geſtern erhalten hatte, morgen wieder neu erſetzt werden. Der Wohl - ſtand für Alle ſoll auch nicht dazu dienen, die beſcheidenen Anſprüche einer in Zucht und Sitte lebenden Familie zu befriedigen, ſondern er ſoll das Mittel ſein zur Befriedigung einer Genußſucht, welche von Zucht und Sitte nichts weiß, die Bande der Familie auflöst und nur das eigene Jch zum Mittelpunkte ihrer Beſtrebungen macht. Er ſoll eine Ge - nußſucht befriedigen, welche ihre Anforderungen ſtets weiter und weiter ausdehnt und vom Neide geſtachelt ſich nicht zu - frieden gibt, ſo lange ſie es nicht dem Luxus und der Ver - ſchwendung der Reichſten gleich oder zuvor thun kann. Die Arbeitſamkeit ſoll alſo theilen mit dem Müßiggang, die Spar - ſamkeit mit der Verſchwendung, die Ehrbarkeit mit der Lie - derlichkeit, das iſt die Forderung des Wohlſtandes für Alle.

Man braucht kein großer Rechenmeiſter zu ſein, um zu erkennen, daß, wie jene Freiheit für Alle bald ſich in das Gegentheil, in unerträgliche Abhängigkeit Aller, verwan - deln muß, ebenſo der Wohlſtand für Alle ſchnell zu allge - meiner Verarmung führen würde. Aber auch das wird wohl keines Beweiſes bedürfen, daß durch dieſen dem Müßiggang9 und der Verſchwendung ertheilten Freibrief die bereits nur allzu ſehr gelockerten Bande der Zucht und Sitte ſich bald allgemein löſen würden. Dann haben wir keinen Staat mehr, ſondern eine Heerde wilder Thiere.

Bildung für Alle heißt die dritte Forderung der Anarchie. Man ſollte meinen, es ſei ein Jrrthum, aber es iſt wirklich ſo, die zerſtörungsluſtige Anarchie verlangt nach Bildung. Was mag das wohl für eine fremdartige Bildung ſein, welche der Anarchie eben recht iſt? Man mag von der Anarchie noch ſo ſchlecht denken, aber Eines wird man ihr laſſen müſſen: Sie weiß, was ſie will, ſie geht geraden Weges auf ihr Ziel los und weiß dabei mit ſicherem Jnſtinkt Freund und Feind wohl zu unterſcheiden. Eine Bildung, gegen deren Beſtehen die Anarchie nichts einzuwenden hat, ja, die ſie ſogar geradezu als Symbol ihres Strebens hinſtellt, eine ſolche Bildung kann unmöglich ihren Beſtrebungen feindlich ſein.

Sollte jene Bildung, deren Bundesgenoſſenſchaft die zerſtörungsluſtige Anarchie anruft, vielleicht gar unſere eigene, unſere hochgeprieſene, von uns faſt vergötterte moderne Bil - dung ſein? Das wäre eine ſonderbare Erſcheinung, welche ſich nicht einmal durch Unbekanntſchaft mit der Sache er - klären ließe, denn es ſtanden ja überall Litteraten und Advo - katen, Profeſſoren und Geiſtliche, Aerzte und Kaufleute, Schreiber und Volksſchullehrer an der Spitze, welche doch Alle genau wiſſen, was Bildung heißt. Aber Eines läßt ſich jedenfalls nicht beſtreiten, und das iſt immerhin ſchon un - angenehm genug: Unſere ſo viel geprieſene und heutzutage ſo allgemein verbreitete Bildung konnte den wie ein Lauf - feuer ſich verbreitenden anarchiſchen Bewegungen keinen Damm entgegenſetzen, während wir doch noch kurz zuvor ihr10 dieſe Kraft zugetraut hatten. Wie oft, wenn in Spanien, in Mexiko, in ganz Südamerika keine Ruhe werden wollte, und die Verwilderung immer allgemeiner zu werden ſchien, wieſen wir auf unſere trefflichen Schulen, zumal auf die Menge unſerer Volksſchulen und den allgemeinen Beſuch derſelben mit der zuverſichtlichen Behauptung hin, daß bei uns kein Boden für ſolche Unordnungen ſei und daß bei uns die Civiliſation auf zu feſtem Grunde ruhe, als daß ſie die Beute der Barbarei werden könnte. Wie oft erinnerten wir mit Stolz daran, daß durch die Betheiligung Aller am öffentlichen Unterricht, durch die allgemeine Verbreitung der Fertigkeit im Leſen und Schreiben, durch die Wohlfeil - heit der Pfennigslitteratur und aller ähnlichen Schriften, durch die ſich bis auf die entfernteſten Hütten erſtreckende Macht der Preſſe die Aufklärung ein Gemeingut Aller ge - worden ſei. Wie ſteif und feſt bildeten wir uns ein, in dieſer Aufklärung eine ſichere Bürgſchaft für die Feſtigkeit des Staatsgebäudes zu beſitzen! Wir gründeten bereits auf dieſe Annahme den Glauben an die Möglichkeit, dem Staate eine völlig veränderte Einrichtung geben, ihn auf der viel - berühmten breiteſten Grundlage aufbauen zu können. Und ſiehe da, plötzlich gebehrdete ſich ein großer Theil dieſer Aufgeklärten wie verrückt. Sie verlangten einen Staat, in welchem Niemand gehorcht und Alle befehlen, Niemand be - zahlt und Alle im Wohlſtand leben, einen Staat ohne Ord - nung, ohne Geſetz, ohne Sitte, einen Staat, in welchem man heute umwirft, was man geſtern gegründet hat, und in welchem man im Namen der Freiheit einem Jeden auf den Kopf ſchlägt, welcher das Alles nicht in der Ordnung findet. Sie nannten das die Rebublik.

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Die Lektion war hart und wohlverdient. Aber härter noch war eine andere Erfahrung, welche wir gleichzeitig machten: Wie verhielt ſich damals die andere Hälfte der Gebildeten, die Konſervativen? Sie berathſchlagten an allen Orten, und je länger ſie ſich beriethen, um ſo größer wurde ihre Rathloſigkeit und die Verwirrung der Anſichten. Sie entwarfen Programme und zerriſſen ſie wieder, weil keines Beifall fand, keines die Meinung Aller enthielt, keines eine ordentliche Stimmenmehrheit erlangte! Unſere Bil - dung wußte kein Panier zu finden, unter welchem ſie ihre Streiter hätte ſammeln können zum Kampfe gegen die offen - bare Barbarei! Und die Herren würden noch beiſammen ſitzen und berathen bis auf dieſe Stunde, und wir wären indeſſen längſt bei lebendigem Leibe geſchunden von den Bummlern, wenn uns, die wir kurz zuvor im Vertrauen auf die allgemeine Bildung die Abſchaffung der ſtehenden Heere beantragt hatten, die guten Fäuſte deutſcher Sol - daten nicht aus der ärgſten Noth errettet hätten.

Eine Bildung, welche Angeſichts der dro - hendſten Gefahr das rechte Schlagwort nicht zu finden vermag gegen die helle Barbarei, eine ſolche Bildung kann unmöglich auf einem der Anarchie feindlichen Standpunkte ſtehen.

II. Die Grundlage der Staaten.

Wie kömmt nun die Anarchie dazu, ſo tolle Forderungen aufzuſtellen? Wenn dieſe Forderungen nichts weiter wären, als die Erfindung einzelner hirnverbrannter Köpfe, und12 nicht zuſammenpaßten zu anderen weitverbreiteten Anſichten, ſo würden die Leute einfach über dieſe Narrheiten gelacht haben. Statt deſſen erſchienen ihnen dieſe Forderungen ſo natürlich, als nur irgend etwas in der Welt. Die An - ſichten der Menſchen waren alſo vorbereitet auf die Sache. Welche Anſchauungen liegen denn wohl jenen For - derungen zu Grunde?

Denkt euch doch gefälligſt einmal einen Menſchen, welcher ſo feſt, wie an ſein eigenes körperliches Daſein, an die unſichtbare Allgegenwart eines heiligen Gottes glauben würde, eines Gottes, welcher über dem Einzelnen wie über dem Ganzen mit väterlicher Liebe wacht; denkt euch einen Menſchen, welcher feſt überzeugt wäre von der thatſächlichen Exiſtenz eines heiligen göttlichen Willens, welchem wir Ehr - furcht und Gehorſam ſchuldig ſeien, glaubt ihr wohl, daß ein ſolcher Menſch den Satz aufſtellen würde, daß wir, die Einzelnen oder Alle zuſammen, oder die Majorität, auf Erden ſchalten und walten dürften, wie es uns in den Sinn kömmt? Würde ein ſolcher Menſch nicht im Gegen - theil von der Anſicht ausgehen, daß er und jeder Einzelne und Alle zuſammen gar keine wichtigere Angelegenheit haben können, als darnach zu ſtreben, den Willen dieſes heiligen Gottes ſo gut, als es unſerer ſchwachen Kraft möglich iſt, zu erkennen und zu erfüllen? Würde er nicht von der Anſicht ausgehen, daß auch unſere öffentlichen Ange - legenheiten, ſo viel als es nur immer der menſchlichen Unvoll - kommenheit möglich iſt, in dem gleichen Geiſte geleitet werden ſollten, daß unſere Geſetze und Einrichtungen vor Allem darauf berechnet ſein müßten, die Ehrfurcht vor dem gött - lichen Willen zu erhalten und zu befördern, daß zu den13 öffentlichen Aemtern, ſo viel nur immer möglich, ſolche Männer ernannt werden müßten, welche von Ehrfurcht vor dem göttlichen Willen erfüllt ſind, und daß derjenige der beſteingerichtete und beſtregierte Staat ſei, in welchem einem jeden Einzelnen die Erkenntniß des göttlichen Willens und die Mittel zu Erreichung der dem Menſchen von Gott ge - ſetzten Beſtimmung möglichſt erleichtert ſeien?

Und nun umgekehrt denkt euch einen Menſchen, welchem der Glaube an die Exiſtenz eines unſichtbaren Gottes, eines höchſten und heiligen Willens, dem wir Ehrfurcht und Ge - horſam ſchuldig ſind, ein lächerlicher Aberglaube wäre, einen Menſchen, welcher von der Anſicht ausginge, daß er ſelbſt und Alles, was um ihn her iſt, nur das Werk des Zufalls oder einer blinden Naturkraft ſei, welche nach all - gemeinen Geſetzen ſchafft und zerſtört, ohne zu wiſſen, was ſie thut, und ohne von unſerem eigenen Daſein und von dem, was die Menſchen thun, irgend eine Kenntniß haben zu können.

Denkt euch einen ſolchen Menſchen und fraget euch ſelbſt, welche Anwendung derſelbe von dieſer Anſicht auf ſein eige - nes Thun und Laſſen machen werde. Wird derſelbe nicht den Satz aufſtellen, daß der menſchliche Wille die höchſte Autorität im Himmel und auf Erden ſei, daß der Menſch nach freier Willkür beſtimmen dürfe, was auf Erden Geſetz ſein, was als recht und gut gelten ſolle, und daß daher auch kein Menſch das Recht haben könne, ihm irgend ein Geſetz, einen Zwang oder eine Pflicht aufzuer - legen, wozu er nicht ſeine eigene freie Zuſtimmung gegeben habe? Daß irgend ein Geſetz und eine äußere Ordnung auf Erden gelten müſſe, damit nicht ein Alles vernichtender Krieg14 Aller gegen Alle entſtehe, das wird er leicht einſehen. Aber durch keine Ueberredung werdet ihr ihn überzeugen können, daß irgend ein Geſetz und eine äußere Ordnung der Dinge eingeführt werden und auf ihn Anwendung haben dürfe, wozu er nicht ſeine Zuſtimmung gegeben oder durch Abſtim - mung mitgewirkt habe. Und ſobald er findet, daß eine Einrichtung, zu welcher er vielleicht ſelbſt ſeine Zuſtimmung gegeben hatte, Wirkungen äußert, welche ihm unangenehm ſind, ſo wird er ſich gegen dieſelbe auflehnen, wenn er die Macht dazu hat, oder wenn er dieſe Macht nicht hat, eine neue Abſtimmung fordern.

Jhr habt hier den Grundſatz der Volksſouveränetät, ſo wie ihn die Anarchie verſteht, indem ſie Freiheit für Alle fordert. Dieſer Grundſatz iſt alſo nicht blos gegen jenen oft ſo freventlich ausgebeuteten Satz des Abſolutismus ge - richtet, daß der menſchliche Wille des Regenten das höchſte Geſetz, die höchſte Quelle des Rechts ſei, ſondern wie nicht ſelten gottloſe Regenten vergaßen, daß es über ihnen wie über allen Menſchen gleich hoch erhaben eine höchſte ſittliche Macht gebe, deren Wille ihnen wie dem Niederſten im Volke Geſetz ſein müſſe, und daß ihre eigene hoch über die übrigen Menſchen geſtellte Autorität nur inſofern einen Sinn habe, als ſie ſich als die Diener jener höchſten ſittli - chen Macht betrachten und redlich bemüht ſind, dem Willen dieſer höchſten Macht, ſo gut ſie ihn zu erkennen vermögen, auf Erden Geltung zu verſchaffen, ganz ebenſo vergißt und leugnet jetzt die Anarchie, daß es eine ſolche höchſte ſittliche Macht über dem Menſchen gebe, welcher wir Ehrfurcht und Gehorſam ſchuldig ſind.

Wir würden aber ſehr irren, wenn wir glauben woll -15 ten, daß die anarchiſchen Wirkungen jenes Grundſatzes: es gibt keine höhere heilige Macht, welcher wir Ehrfurcht und Gehorſam ſchuldig wären, es gibt keinen Willen über dem menſchlichen Willen ſich nur in Denjenigen äußern, welche mit voller Entſchie - denheit und mit vollem Bewußtſein dieſen Grundſatz in ſich tragen. Die Zahl Derjenigen, welche nicht blos mit groß - ſprecheriſcher Zunge, ſondern auch nach ihrer innerſten Ueber - zeugung Gottesleugner ſind, iſt gewiß viel kleiner als man oft annimmt. Aber ebenſo iſt auch ohne Zweifel die Zahl Derjenigen, in welchen der Glaube an das Daſein eines heiligen Gottes in voller Kraft wirkt, viel geringer als es oft ſcheinen mag; denn ſo gar Mancher, welcher ein eifri - ger Vertheidiger ſtrengkirchlicher Anſichten iſt, läßt ſich in allen Handlungen ſeines Lebens nur von menſchlicher Klug - heit, nicht von Gottvertrauen, nur von ſeinem menſchlichen Eigenwillen, nicht von demüthiger Hingebung an Gottes Gebot, nur von Menſchenfurcht, nicht von Gottesfurcht lei - ten. Weitaus aber die Meiſten tragen weder die eine noch die andere Ueberzeugung mit einiger Beſtimmtheit in ſich. Viele unter dieſen ringen wohl redlich nach einer feſteren Ueberzeugung, ohne gleichwohl dahin gelangen zu können, während bei Anderen, bei ſehr Vielen der Gedanke an dieſe Fragen überhaupt nur ſelten auftaucht, nie einen beſtim - menden Einfluß auf ihr Handeln ausübt, ſo daß bei ihnen die Gewohnheit, unabhängig von dem Gedanken an einen höheren heiligen Willen dahinzuleben, vollkommen herrſchend iſt. Das iſt nun aber gerade jener Standpunkt, welcher zur Anarchie führt.

Ohne Zweifel wollen nicht Alle, welche theoretiſch16 oder praktiſch, mit voller Ueberzeugung oder nur aus Ma - gel an irgend einer Ueberzeugung unter dem Einfl - jenes oberſten Grundſatzes der Anarchie ſtehen, gleich auch bis zu den äußerſten Konſequenzen deſſelben vorgehen. Der Eine möchte bei dieſer, der Andere bei jener Grenze anhal - ten, und dazu hat Jeder für ſeine Perſon das Recht. Aber Niemand, wenn er einmal auf dieſem Standpunkt ſteht, hat das Recht, den Anderen das Vorgehen bis zu jenen äußer - ſten Konſequenzen zu verwehren, bei welchen jeder Staat in Trümmer gehen und jede Geſellſchaft ſich auflöſen muß Dieſes Recht des Widerſtandes hat nur Derjenige, welcher dem entgegengeſetzten oberſten Grundſatz huldigt, indem er von der Ueberzeugung durchdrungen iſt, daß eſ unabhängig vom Menſchen und hoch über ihm erhaben einen heiligen Willen gebe, welchen wir bei redlichem Streben zu erkennen vermögen, ſo weit als es uns nöthig iſt, und welchem wir Ehrfurcht und Gehorſam ſchuldig ſind. Nur dieſes Panier gibt das Recht zum Widerſtand gegen die Anarchie, nur dieſes Panier verleiht die Kraft, ſie ſiegreich zu bekämpfen. Denn an ſich hat kein Menſch das Recht, vom Menſchen Gehorſam zu fordern. Dieſes Recht hat er nur inſofern als es unabhängig vom Menſchen und über dem Menſchen eine Macht gibt, welcher Alle Ehrfurcht ſchuldig ſind, und nur inſofern als er im Namen dieſer Macht ſpricht. Das Recht, im Namen dieſer Macht zu ſprechen, verleiht aber nur der Glaube an dieſe Macht, die Ehrfurcht vor ihr, und der Wunſch ihren Willen zu thun. Die Regierungen von Gottes Gnaden haben daher einen ganz guten Sinn, aber freilich nur ſo lange als dieſe Regierungen ſelbſt an Gott glauben und ſich vor17 ſeinem heiligen Willen ebenſo aufrichtig beugen, wie der Letzte im Volke. Und wie nur dieſer Glaube das Recht, Gehorſam zu fordern, verleihen kann, ſo kann auch nur die - ſer Glaube die Bereitwilligkeit zur Unterordnung unter das Geſetz erzeugen. Denn nur da wo Alle, wo der Höchſte und der Niederſte im Volke ſich in aufrichtiger Demuth gleich tief vor dem Höchſten beugen, nur da wo Geſetz und Sitte, Recht und Ordnung im Namen dieſes Höchſten auf - recht erhalten werden gegen Jedermann, gegen Hoch und Niedrig, nur da beugt ſich der menſchliche Trotz, nur da unterwirft ſich der Eigenwillen dem Ganzen, und nur da achtet er auch die menſchlichen Vollſtrecker des göttlichen Willens.

Aber nein, unſere Konſervativen, die Gegner der Anarchie, wiſſen das beſſer. Sie ſagen uns, wir würden mit der Annahme eines heiligen göttlichen Willens doch nicht weiter ſein als zuvor auch, und es gebe andere Grund - lagen, auf welche die ſtaatliche Ordnung mit Erfolg ge - gründet werden könne.

Was hilft es, fragen dieſe Konſervativen, von der Annahme eines heiligen göttlichen Willens auszugehen, wenn doch nirgends geſchrieben ſteht, welche Anwendung wir von dieſer Annahme auf unſere ſtaatlichen Einrichtungen zu machen haben, und wenn alſo der Menſch trotz dieſer An - nahme in jedem einzelnen Falle ſich auf ſein eigenes ver - ſtändiges Ermeſſen und auf ſeine eigene Entſcheidung be - ſchränkt ſieht? Allein ſind wir denn wirklich ſo von Gott verlaſſen? Geſchrieben ſteht allerdings nirgends, welches für unſere heutigen Zuſtände die beſte Verfaſſung und die beſten Geſetze ſeien, und wenn es auch irgendwo geſchrieben218ſtünde, ſo würde das doch wenig helfen bei Leuten, welche ſtets ſo große Eile haben, ſich auf den Standpunkt ihres eigenen verſtändigen Ermeſſens zu ſtellen. Aber habt ihr denn noch nirgends in der Geſchichte und in eurem eigenen Leben die tiefe Wahrheit jenes Wortes erfahren: die Furcht Gottes iſt der Weisheit Anfang ? Habt ihr nie gefunden, daß religiöſe Sammlung, daß der lebendige Gedanke an das Daſein eines heiligen Gottes, verbunden mit dem ernſten Entſchluß, dem göttlichen Willen den menſchlichen Eigenwillen unterzuordnen, den Menſchen in allen Fragen, welche ſich auf ſein inneres Wohl beziehen, leichter und ſicherer das Rechte und Wahre finden läßt als jeder andere Weg? Und habt ihr nie die Geſchichte vom babyloniſchen Thurmbau geleſen, jenes Baues, welcher uns als das Werk des menſchlichen Hochmuths und der vermeintlichen Allmacht des Menſchen geſchildert wird und von Gott mit einer Sprachverwirrung beſtraft wurde, in welcher Keiner ſich mehr mit dem Andern ver - ſtändigen konnte? Jſt euch denn, während ihr euch in un - mächtigen Verſuchen abmühet, das Staatsgebäude aus eigener Machtvollkommenheit und Einſicht neu aufzuführen, nie der Thurmbau zu Babel eingefallen? Jſt denn nicht bereits überall unter den Werkleuten die Begriffs - und Sprachver - wirrung eine wahrhaft babyloniſche geworden, ſo daß ſie ſich über nichts Ordentliches mehr verſtändigen können?

Niemand wird beſtreiten, daß die menſchliche Erkenntniß des göttlichen Willens ſtets eine unvollkommene ſein werde. Wer wird aber dieſen göttlichen Willen richtiger erkennen, Derjenige, welcher von ſeiner Verpflichtung, nach dieſer Er - kenntniß zu ſtreben, überzeugt iſt und darin ſeine beſte19 Kraft ſucht, oder Derjenige, welcher gar nicht an die Exi - ſtenz eines göttlichen Willens glaubt oder denkt? Und wenn hierin auch kein ſo großer Unterſchied begründet wäre, als es in der That der Fall iſt, was helfen euch denn die beſten Geſetze und Einrichtungen, wenn Niemand Reſpekt vor ihnen hat? Woher ſoll denn aber die Ehrfurcht vor Geſetzen kommen, welche wir rein nach eigenem Gutdün - ken gemacht haben und welche wir ebenſo gut auch anders hätten machen können? Niemand hat Ehrfurcht vor ſich ſelbſt, und ebenſo wenig vor ſeines Gleichen, oder vor dem was nur aus einer derartigen Quelle herſtammt. Was der Menſch nach eigenem freiem Ermeſſen geſchaffen hat, das glaubt er jeden Augenblick auch ebenſo wieder abſchaffen zu können. Ehrfurcht, Achtung hat der Menſch nur vor etwas Höherem, nur vor Demjenigen, was ihm als der Ausfluß einer höheren Macht, und zwar einer höheren ſittlichen Macht erſcheint. Mit der höheren Macht allein iſt es nicht gethan, denn wenn dieſe Macht keine ſittliche iſt, ſo kann ſie uns wohl Furcht, aber nimmermehr Ehrfurcht einflößen. Nur das Heilige und nur das, was als ein Ausfluß des Heiligen uns an ſeine heilige Quelle mahnt, kann Ehrfurcht in uns erwecken. Zwiſchen dem Gehorſam der Ehrfurcht und dem Gehorſam der Furcht iſt aber ein großer Unter - ſchied. Der Gehorſam der Ehrfurcht ſucht die Macht, vor welcher er ſich beugt, noch zu ſtärken und auszubreiten, und er beugt ſich vor ihr auch in der Einſamkeit, unbewacht. Der Gehorſam der Furcht dagegen ſucht die Macht zu ſchwä - chen oder zu ſtürzen, vor welcher er ſich beugt, und er ge - horcht ihr nur ſo weit, als er ſich vor ihrem Arm nicht ſicher fühlt. Wenn ihr daher den Glauben an das Heilige2*20hinwegnehmt aus den Gemüthern, ſo benehmet ihr ihnen auch die Möglichkeit, vor irgend etwas Ehrfurcht zu haben, die Sache, für welche ihr Ehrfurcht fordert, mag im Uebrigen heißen wie ſie wolle.

Und welches ſind denn nun jene Grundlagen des Staats, mit welchen ihr auch ohne den Glauben an einen heiligen göttlichen Willen auszureichen vermeinet?

Die Gerechtigkeit iſt die Grundlage der Staaten. Wirklich? und was iſt denn die Grundlage der Gerechtigkeit? Worauf wollt ihr euch denn berufen, um zu bewirken, daß die Menſchen die Ausſprüche eurer Ge - rechtigkeit für gerecht halten und ſie mit Ehrerbietung aner - kennen? Jn weſſen Namen ſprechet ihr denn eigentlich Recht? Geſchieht es nur in eurem eigenen Namen, kraft menſchli - cher Weisheit, ſo erwartet doch ja keinen Reſpekt für eure Ausſprüche. Geſchieht es aber im Namen eines heiligen göttlichen Willens, ſo ſeid ihr ja unfähig, das Geringſte zu wirken, ſo lange die Leute nicht an dieſen göttlichen Willen glauben. Daß aber dieſer Glaube jedenfalls nicht durch eure Rechtspflege, ſo wie ſie thatſächlich iſt, befördert werde, das werdet ihr wohl ſelbſt zugeben, denn bei dieſer handelt es ſich ja überhaupt gar nicht um die Frage, was an ſich und vor Gott recht oder unrecht, gut oder böſe ſei, ſondern nur um die äußere Legalität. Die Handhabung einer ſol - chen Gerechtigkeit kann alſo im beſten Falle nur den Reſpekt vor den durch Menſchen feſtgeſetzten Formen des Geſetzes, nimmermehr aber die Ehrfurcht vor dem göttlichen Willen befördern, welcher dabei gar nicht in Frage kömmt.

Aber freilich, ihr habt noch einen anderen Eckſtein in Bereitſchaft, auf welchen ihr das Staatsgebäude gründen21 zu können glaubet, und dieſer heißt das Jntereſſe Aller. Da habt ihr euch gerade an den rechten Meſſias gewendet.

Jſt denn das nicht gerade der Grundſatz, von welchem die Anarchie ausgeht? Glauben denn alle Leute, ein Jntereſſe an der Erhaltung des Staates zu haben? Gibt es nicht zahlreiche, mit großer Energie ausgerüſtete Maſſen von Proletariern, welche euch mit Hohnlachen ſagen werden, daß ſie bei einem allgemeinen Durcheinander nichts zu ver - lieren, aber viel zu gewinnen haben, und daß daher ihr Jntereſſe nicht ſowohl in der Erhaltung als im Umſturz des Staates liege? Ob ſie ſich in dieſer Anſicht irren oder nicht, das thut gar nichts zur Sache. Sie haben dieſe Anſicht einmal und werden darnach handeln. Und gibt es nicht neben dieſen Maſſen wieder unzählige Andere, welche zwar keinen allgemeinen Umſturz, welcher ihrem Jntereſſe nicht zuſagt, wohl aber einen theilweiſen Umſturz wol - len? gibt es nicht Unzählige, welche zwar nicht theilen wollen, aber die Republik verlangen, weil ſie ſich ein - bilden, daß dieſe ihrem Jntereſſe beſſer entſpreche? Mit welchem Rechte wollt ihr dieſen Leuten Widerſtand leiſten? Sie berufen ſich ja auf den von euch ſelbſt anerkannten Grundſatz, auf das Jntereſſe. Jhr werdet daher euren Grundſatz wohl dahin erklären müſſen, daß ihr im wohl - verſtandenen Jntereſſe Aller nur denjenigen Perſonen Ein - fluß auf die Regierung geſtatten wollet, welche ein Jntereſſe an der Erhaltung des Beſtehenden haben. Angenommen aber auch, ihr ſeiet im Stande, dieſe dadurch herauszufin - den, daß ihr den Beſitz als die Grundlage der Berechti - gung zur Theilnahme an der Regierung aufſtellt und unter den Beſitzenden wieder dem größeren Beſitz das Uebergewicht22 über den kleineren gebet; angenommen ferner, die Zahl der auf dieſe Art zur Theilnahme an der Regierung Berufenen ſei ſo groß, daß dieſelben, wenn ſie einig ſind und zuſam - menhalten, die Verſuche zum Umſturz des Beſtehenden ver - eiteln könnten,*) Dieſe (materiellen) Jntereſſen ſchlagen ſich nicht, ſie ziehen ſich zurück und unterwerfen ſich ſchnell und unbedingt in der Stunde der Ge - fahr (vergl. das Schreiben des Königs von W. an den Fürſten Schw.). iſt denn wirkliche Einigkeit von dieſen Beſitzenden zu erwarten? Wie viele Leute gibt es denn überhaupt, welche mit dem Beſtehenden vollkommen zufrie - den wären und keine Aenderungen wollten? Will nicht faſt Jedermann Aenderungen, und iſt wohl das Jntereſſe, welches ihr als leitendes Prinzip anerkennen wollt, dazu geeignet, die Anſichten und Beſtrebungen in Bezug auf die vorzunehmenden Aenderungen zu vereinigen? Wird es ſeiner Natur nach nicht vielmehr Spaltungen und Wider - ſtreit hervorrufen? Wird nicht nothwendig, ſobald das Jn - tereſſe die leitende Triebkraft der ganzen Maſchine iſt, der Egoismus der Einzelnen den Austheiler und Schieds - richter machen wollen? Wird da nicht der Einzelne denken, der Staat werde nicht gleich untergehen, wenn ihm, dem Einzelnen, ein etwas ungebührlicher Vortheil zugewendet werde? Wird er nicht darauf ſpekuliren, daß die Anderen, welche ein gleiches Jntereſſe an der Erhaltung des Staates wie er ſelbſt hätten, zuletzt, wenn die Gefahr des Umſtur - zes recht groß werde, eher ſeiner Forderung nachgeben wer - den, als daß ſie durch Hartnäckigkeit Alles auf’s Spiel ſetzen? Daß über ſolchen Berechnungen ein Staat in den Abgrund ſtürzen könne, das hat uns die franzöſiſche Februar -23 Revolution gelehrt. Jn den franzöſiſchen Kammern war unter Ludwig Philipp das Proletariat nicht vertreten, nur die Wohlhabenden und Reichen, nur die großen Jn - tereſſen ſchickten ihre Vertreter dahin. Und dennoch, welches Schauſpiel gewährten uns achtzehn Jahre lang jene Kammern? das Schauſpiel eines fortwährenden Parteikam - pfes um die Majorität, bei welchem die Regierung alle Stetigkeit, alle Sicherheit und alles Anſehen verlor, eines Kampfes, bei welchem eine unerſättliche Begehrlichkeit nach Einfluß, Stellen und Vortheilen aller Art rang und ſie auch nur allzu oft auf Koſten des Landes erreichte. Als aber endlich ein feſteres Miniſterium längere Zeit ſeine Stellen und die Majorität zu behaupten wußte, und die verſchiedenen Miniſter-Aſpiranten die Hoffnung verloren, auf parlamentariſchem Wege zur Macht zu gelangen, da wandten ſich jene nämlichen Vertreter der großen Jntereſſen an die Leidenſchaften der Menge, erſt nur zum Schein und um zu drohen. Da aber der König ſich nicht einſchüchtern ließ, ſo trieben ſie es immer ſtärker, ſtets in der Hoffnung, daß Ludwig Philipp es nicht werde bis zum Aeußerſten ge - langen laſſen, und daß die von ihnen erregte Bewegung noch im letzten Augenblick mit ihrem Siege enden werde. Statt deſſen flog gegen alles Erwarten die von ihnen ſelbſt geladene Mine in die Luft und vernichtete ſie ſelbſt, die Oppoſition, die Majorität, das Königthum, den Wohlſtand und die Ruhe von Millionen Menſchen. So ſpielten mit dem Glück eines großen Landes die Vertreter jener mate - riellen Jntereſſen, welche die ſicherſte Stütze der Staaten ſind und von Ludwig Philipp ſo ſorgfältig ge - ſchützt und gepflegt worden waren.

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Und ſogar noch ſpäter, nachdem bereits das Unglück des franzöſiſchen Volkes aller Welt eine ſo großartige Lehre gegeben hatte, und nachdem der geöffnete Krater der Revo - lution uns Gefahren für die Geſellſchaft gezeigt hatte, wie man ſie vor der Februar-Revolution in dieſer Größe nicht geahnt hatte, haben wir nicht mitten in Deutſchland in noch auffallenderer Weiſe geſehen, mit welcher Zähigkeit die ver - ſchiedenen Jntereſſen der Einzelnen gegenüber von dem Jn - tereſſe des Ganzen an ihrem beſonderen Vortheil feſthalten, und wie ſehr ſie jede Verſtändigung trotz der Höhe der ge - meinſchaftlichen Gefahr immer wieder zurückwieſen, wenn nicht jedem Einzelnen die ſeinem Sonderintereſſe wünſchens - werthen Bedingungen bewilligt würden?

Und dennoch, trotz aller dieſer kläglichen Erfahrungen, ſoll das Jntereſſe der Kitt ſein, mit welchem unſere Staats - männer das Staatsgebäude zuſammenhalten wollen? Wenn nichts Höheres in den Gemüthern lebt, vor wel - chem ſich die Jntereſſen beugen, ſo muß jeder Staat untergehen.

III. Das Glück.

Kein Staat vermag der Auflöſung lange zu widerſtehen, wenn in ihm der Glaube an eine höhere, ſittliche Macht, welcher wir Ehrfurcht und Gehorſam ſchuldig ſind, erloſchen iſt. Auf welchem Wege gelangt nun wohl der Menſch zu dieſem Glauben? Jhr ſaget, dieſer Glaube beruhe auf der Religion, auf der von Gott geoffenbarten, in ſeinem heiligen Worte niedergelegten, auf allen Kanzeln gepredigten, in allen Schulen gelehrten Religion. Ganz25 gut. Allein wie kömmt es, daß trotz allem Religionsunter - richt in Schulen und Kirchen, trotz der unendlichen Verbrei - tung von Bibeln, Katechismen und religiöſen Schriften aller Art, und trotz der durch die allgemeine Betheiligung am Schulunterricht jetzt ſo weit verbreiteten Befähigung zum Leſen und Verſtehen dieſer Schriften gerade jetzt die Religion in ſo wenigen Gemüthern tiefere Wurzeln ſchlagen will? Auf welcher Vorbedingung in uns ſelbſt beruht denn wohl das gläubige Erfaſſen der religiöſen Wahrheiten und zu allernächſt das Erfaſſen der Grundlage aller Religion, des Glaubens an eine höhere über uns waltende ſittliche Macht, welcher wir Ehrfurcht und Gehorſam ſchuldig ſind? Beruht dieſer Glaube etwa auf unſerem Verſtande, auf der Ent - wicklung unſeres Denkvermögens? Wenn das der Fall wäre, ſo müßte gerade jetzt, wo ſo Vieles für Entwickelung des Denkvermögens geſchieht, dieſer Glaube ſehr allgemein ſein, oder er müßte ſich wenigſtens bei den Befähigteren, bei den im Denken Geübteren leichter begründen laſſen. Nun zeigt ſich aber, daß unter den ſchärfſten Denkern, un - ter den Gebildetſten und Gelehrteſten Ungläubige ſich finden neben den Gläubigen, und daß bei ſehr geringen Geiſtes - gaben und bei einer äußerſt dürftigen Ausbildung des Gei - ſtes nicht ſelten eine Feſtigkeit des Glaubens und ein Ver - trauen auf Gott ſich findet, welches durch keine Drohung eingeſchüchtert, durch keine Sophismen beirrt, durch keine Lockungen verführt wird. Alſo ſetzt doch wohl der Glaube noch etwas Anderes voraus, als Belehrung und Verſtändniß derſelben, und es iſt daher die Klarheit des Denkens, welche ohne Zweifel nöthig iſt zu einer richtigen und deutlichen Auffaſſung der einzelnen Glaubenslehren, ohne Einfluß auf26 die Stärke des Glaubens, auf das Glauben oder Nicht - glauben. Es muß alſo doch noch ein anderes Element in uns vorhanden ſein, von deſſen Stärke und Pflege die Jnnigkeit und Kraft des Glaubens abhängt. Wie heißt wohl dieſes Element? wie wird es gepflegt und gekräftigt? Ein Element, von deſſen Ausbildung ſo Vieles, der Glau - ben des Einzelnen und durch ihn das Beſtehen der Staaten bedingt iſt, kann doch unſerer vorgerückten Bildung unmög - lich unbekannt ſein, und wird doch gewiß von uns ganz beſonders gepflegt werden?

Was heißt denn eine ſittliche Macht, was heißt ein heiliger Gott? Daß das Sittliche, daß das Heilige nicht ſinnlicher Natur ſei, bezweifelt wohl Niemand. Aber iſt es denn wohl gleicher Natur mit der Natur des denken - den Geiſtes? liegt ſein Weſen in der Uebereinſtimmung mit den Geſetzen des Denkens? iſt die Vollkommenheit der Geſinnung Eines und Dasſelbe mit der Vollkommenheit des Denkens? iſt Heiligkeit einerlei mit Wahrheit? iſt ſie ein nothwendiges Produkt der Wahrheit? oder iſt ſie davon weſentlich verſchieden? Wenn das Erſtere iſt, ſo müſſen wir auf dem Wege des Denkens zum feſten Glauben an einen heiligen Gott und ſogar zur Heiligung, d. h. zur ſitt - lichen Beſſerung ſelbſt gelangen, und es iſt nur zu verwun - dern, daß wir es hierin noch nicht weiter gebracht haben, da wir ſo ſtarke und ſo überaus klare Denker ſind. Jſt aber das Letztere, iſt die Natur des Heiligen weſentlich verſchie - den, wie von der Sinnenwelt, ebenſo von der Natur der denkenden Geiſteskraft, ſo werden wir zum Bewußtſein des Sittlichen nur unter der Vorausſetzung gelangen können, daß ein demſelben entſprechendes, von der Natur des den -27 kenden Geiſtes weſentlich verſchiedenes Element in unſerem Jnnern ſei, und dieſes müßte dann das ſittliche Element ſein (oder wie wir es ſonſt nennen möchten), denn nur das Gleichartige kann ſich verſtehen, und nur das Gleichartige kann vom Gleichartigen Eindrücke erleiden. Jede Kraft aber, ſie ſei nun ſinnlich, geiſtig oder ſittlich, bedarf der Uebung, wenn ſie uns ordentliche Dienſte leiſten ſoll, und ſo würde denn auch nicht Derjenige in dem Glauben an eine höhere, heilige Macht zur größten Sicherheit gelangen, welcher im Denken am geübteſten wäre oder den Katechis - mus am vollſtändigſten begriffen und ſeinem Gedächtniß eingeprägt hätte, ſondern Derjenige, deſſen ſittliche Kraft am meiſten angeregt und geübt worden wäre.

Welcher von dieſen beiden Sätzen enthält nun die Wahr - heit? liegt das Sittliche innerhalb des dem denkenden Geiſte eigenthümlichen Gebietes, oder liegt es außerhalb deſſelben? Anſtatt dieſe etwas ſchwierige Frage hier weiter zu verfol - gen, kehren wir wohl beſſer zur Prüfung der Beſtrebungen der Anarchie zurück, denn dort läßt ſich glücklicher Weiſe die Wahrheit mit Händen greifen.

Faſt noch wichtiger als die Freiheit für Alle ſcheint der Anarchie die Forderung des Wohlſtandes für Alle zu ſein. Jene württembergiſchen Bauern, welche, als ſie dem Rufe der Freiheit folgend, ſich vor Allem mit tüchtigen Säcken verſahen, mit denen ſie gegen die Stadt zogen, waren prak - tiſche Leute. Jhnen ſchwebte offenbar ein reelleres Ziel vor, als das allgemeine Stimmrecht. Worauf beruht nun wohl dieſe Forderung des Wohlſtands für Alle? Sie beruht zunächſt auf dem Satze, daß der Genuß, der ſinnliche Genuß und daneben auch, ihn ergänzend, der gei -28 ſtige Genuß, die geiſtige Unterhaltung, welche die Theilnahme an allen Erzeugniſſen unſerer Bildung gewährt, die Quelle des Glücks ſei, und zwar die einzige Quelle des Glücks. Der Eine hält es mehr mit dem ſinnlichen, der Andere mehr mit dem geiſtigen Genuß, das iſt Geſchmacksſache. Aber glücklich ſein heißt genießen, und dazu braucht es Geld, viel Geld. Je mehr Geld, deſto reicher die Quellen des Genuſſes und folglich des Glückes. Da wir nun Alle ein gleiches Recht auf Glück haben, ſo müſſen wir auch Alle ein gleiches Recht auf den Wohlſtand haben, welcher uns die Wege zum Glück eröffnet. Ein einfacheres Räſonnement kann es kaum geben, und unſere Staats - und Finanzmänner werden dagegen ſchwerlich viel einwenden können, denn ſeit vielen Jahren haben ſie dem Grundſatz gehuldigt, daß die Sorge für die materiellen Jntereſſen die höchſte Pflicht der Regierung ſei, daß der Wohlſtand des Volkes ſein Glück bedinge, und daß, da der raſche Umlauf des Geldes den Wohlſtand und die Mittel des Genuſſes vervielfältige, und da der Luxus den raſchen Umlauf mächtig fördere, der ſtei - gende Luxus ein handgreiflicher Maßſtab für das Glück des Volkes ſei, weshalb auch die Reichen und Großen dieſer Welt nichts Beſſeres thun könnten, als beſtändig durch Aus - gaben aller Art recht viel Geld unter die Leute zu bringen. Jn einer Zeit, wo es ſchon zu den Meerwundern gehörte, wenn man irgendwo einen zufriedenen Menſchen und ein gründlich vergnügtes Geſicht ſah, bewieſen uns die Finanz - männer, ihre ſtatiſtiſchen Tabellen in der Hand, daß das Glück des Volkes in ſteter Zunahme begriffen ſei. Und die Reichen und Vornehmen kamen den Wünſchen der Finanz - männer auf das Bereitwilligſte entgegen, um ſo mehr als29 auch ſie fanden, glücklich ſein heiße genießen. Jhrem Bei - ſpiele folgten in edlem Wetteifer die mittleren und die unte - ren Stände, aber nicht etwa aus Nachahmungstrieb allein, ſondern weil auch ſie dachten, glücklich ſein heiße genießen. Es entſtand ein allgemeines Rennen und Jagen nach Ge - nüſſen aller Art, nach Zerſtreuungen und Vergnügungen, und die Begierde nach Reichthum, welcher die Mittel zu die - ſen Genüſſen gewähren ſollte, ſteigerte ſich in’s Maßloſe. Aber finden denn die Leute auch wirklich das Glück in dieſen Genüſſen, zu welchen der Reichthum die Wege bahnt? Gab es wohl je eine Zeit, wo die Zufriedenheit ſeltener auf der Welt gefunden wurde, als eben jetzt, ſeit alle Welt das Geld mit vollen Händen wegwirft, um das Glück zu erkaufen? War wohl je eine Zeit, wo die Gemüther zerriſ - ſener und dem wahren Glück unzugänglicher waren, als eben jetzt? Und wird nicht durch dieſe Genußſucht, welche Nie - mand befriedigt, die Auflöſung aller Bande des Familien - lebens immer allgemeiner, die ſittliche und leibliche Noth immer größer? Doch darüber, daß der Genuß, zu welchem das Geld die Wege bahnt, nicht glücklich macht, darüber kann Niemand im Zweifel ſein, welcher nicht für die Lehren der täglichen Erfahrung Auge und Ohr verſchließt. Wer aber das Glück ſchlechterdings nirgends zu finden weiß, der greift nach Genuß, nach Zerſtreuung, nach Betäubung, wie der körperliche Schmerz nach Opium verlangt oder wie der im Sturm verzweifelnde Matroſe ſich über die Brannt - weinfäſſer herſtürzt. Denn der Menſch muß nach Glück verlangen, er mag wollen oder nicht, es iſt dieſes ein in ſeiner innerſten Natur begründetes Geſetz, wodurch wir angetrieben werden, unſere höhere Natur zu erkennen und30 aus allen Verirrungen immer wieder dahin zurückzukehren, wohin der Schöpfer unſern Sinn gerichtet wiſſen wollte. Gebet den Menſchen ein wahres, ſie befriedigen - des Glück, dann wird das Geſchrei nach Wohl - ſtand für Alle plötzlich verſtummen.

Aber wo iſt denn dieſes wunderthätige Glück zu finden? So ſaget es uns doch, ihr, die ihr ſo groß denket von der Allmacht des menſchlichen Verſtandes, von der Allmacht un - ſerer modernen Bildung, aber ſchwatzet uns keine hohlen Redensarten vor und verweiſet uns auch nicht auf eine ferne Zukunft, ſondern bietet uns ein Mittel dar, das un - fehlbar hilft und das ſchnell hilft, denn wir können nicht mehr lange zuwarten. Es muß ja wohl ein ſolches Mittel geben, denn es gab Zeiten, wo der Menſch glücklich war ohne Wohlſtand für Alle, Zeiten, wo der Menſch beim Waſſerkruge ſang, als wär ihm Wein gereicht, während wir jetzt nicht einmal beim Champagner glück - lich werden. Jhr gelehrten Akademieen, die ihr Preiſe habt für alle möglichen Fragen, ſchreibet doch einmal die Frage aus:

Auf welchem Geheimniß beruhte das Glück der ſon - derbaren Menſchen, welche ehemals beim Waſſerkruge ſangen, als wäre ihnen Wein gereicht? durch welche Um - ſtände iſt dieſes Glück abhanden gekommen, und durch welche Mittel ließe es ſich wieder beibringen?

Wenn der Menſch nichts weiter iſt, als ein halb ſinn - liches, halb geiſtiges, d. h. denkendes Weſen, ſo muß ſeine Befähigung zu jenem Glück, nach welchem er durch ein gebieteriſches Geſetz ſeiner Natur zu ſtreben gezwungen iſt, nothwendig entweder in ſeiner ſinnlichen oder in ſeiner31 geiſtigen Natur begründet ſein. Liegt dieſe Befähigung aber weder in unſerer ſinnlichen noch in unſerer geiſtigen Natur, ſo iſt wohl damit erwieſen, daß es noch ein drittes Element in unſerm Jnnern gebe, welches von jenen beiden weſentlich verſchieden iſt.

Wenn aber durch die Befriedigung eines beſonderen, weder ſinnlichen noch geiſtigen Elements in unſerm Jnnern zugleich jene ſo quälende und ſo ſchwer zu ſtillende Sehn - ſucht nach Glück befriedigt wird, während die Befriedigung unſerer ſinnlichen und geiſtigen Natur jenes Verlangen nicht zu ſtillen vermag, dann iſt wohl auch noch mehr als das bloße Daſein dieſes dritten Elements in unſerem Jnnern er - wieſen, denn wir werden in dieſem Falle wohl berechtigt ſein, zu glauben, daß dasjenige Element, von deſſen Befrie - digung unſer ganzes Glück abhängt, nothwendig den in - nerſten Kern unſeres Weſens bilden müſſe.

Die Unterſuchung, ob die Befriedigung unſerer ſinn - lichen Natur uns jenes innere Glück, jenen Seelenfrieden verleihen könne, nach welchem die menſchliche Natur dürſtet, können wir billig den Anhängern der Lehre von der Eman - zipation des Fleiſches überlaſſen. Die Welt iſt ſchon lange beſtrebt, dieſe Frage auf praktiſchem Wege zu unterſuchen, und iſt noch nie zu einer andern definitiven Löſung gekom - men, als zu einer mit Eckel und Ueberdruß ausgeſprochenen Verneinung.

Ueber dieſen Theil der Frage dürfen wir daher die Akten wohl als geſchloſſen betrachten. Aber ſo wenig in der Befriedigung unſerer ſinnlichen Anlagen und Bedürfniſſe an ſich ſchon die Bedingung des Glücks gegeben iſt, ebenſo wenig wird in Abrede zu ſtellen ſein, daß dennoch auch in32 unſerer ſinnlichen Natur für uns die Quelle vieler und reiner Freuden enthalten ſei, ſobald wir darin nur nicht unſer Glück ſuchen, ſondern daſſelbe bereits auf anderem Wege beſitzen. Zufriedenheit, Seelenfrieden erlangen wir nicht durch Be - friedigung unſerer ſinnlichen Bedürfniſſe und Anlagen, aber für Denjenigen, welcher dieſen Seelenfrieden beſitzt und ſorg - ſam darauf bedacht iſt, ihn ſich zu erhalten, können auch Freuden, welche ihre nächſte Quelle in unſerer ſinnlichen Natur haben, ein Mittel zur Erhöhung und Kräftigung ſeiner inneren Zufriedenheit werden. Nur wird es für dieſen Zweck keiner ſolchen Freuden bedürfen, welche nur dem Reich - thum zu Gebote ſtehen, ſondern die einfachſten, Allen leicht zugänglichen Freuden werden, wenn der Standpunkt des Ge - nießenden der rechte iſt, dieſen Zweck ebenſo gut, wo nicht noch beſſer erfüllen, als die koſtſpieligſten. Denn dieſe Freuden äußern jene Wirkung auf ihn nicht durch ihre eigene Natur, ſondern nur als dienende und unterſtützende Mittel.

Und das Gleiche wird wohl auch von unſeren geiſti - gen Anlagen gelten müſſen. Niemand wird bezweifeln, daß geiſtige Beſchäftigungen eine reiche Quelle des Genuſſes ſeien, daß ſie uns Erſatz bieten können für vieles Andere, was uns oft vom Schickſal verſagt iſt, und daß die Freuden, welche wir ihnen verdanken, unter gewiſſen Vorausſetzungen unſerem Glück eine reiche Nahrung zuführen können. Aber nie wird irgend Jemand, welcher das Glück nicht unabhängig von jeder geiſtigen Beſchäftigung in ſich trägt und es nicht auch ohne geiſtige Beſchäftigung zu finden und zu bewahren vermöchte, durch Befriedigung ſeiner geiſtigen Bedürfniſſe und durch Beſchäftigung ſeiner geiſtigen Kräfte glücklich wer - den. Solche geiſtige Beſchäftigungen können Denjenigen,33 deſſen Jnneres nur eine troſtloſe Leere darbietet, zwar vor - übergehend zerſtreuen, ihn ſeinen Zuſtand vorübergehend vergeſſen laſſen, aber nimmermehr ihm das Glück ſelbſt oder einen ausreichenden Erſatz für daſſelbe gewähren. Jhre rechte Bedeutung und einen bleibenden Werth erhält jede geiſtige Beſchäftigung, ſie heiße wie ſie wolle, erſt dann, wenn ſie im Dienſte einer anderen Macht ſteht, ohne deren Wirkſamkeit unſer Gemüth gar nicht die rechte Ruhe findet, um ſich geiſtigen Beſchäftigungen mit ungetheilter Aufmerk - ſamkeit und mit wahrem Jntereſſe zu widmen. Wie wäre es ſonſt auch zu erklären, daß in einer Zeit, in welcher die Beſchäftigung mit geiſtigen Dingen ſo allgemein iſt, das Glück ſo ſelten gefunden wird? Wie gering iſt wohl ver - hältnißmäßig unter den Vielen, welche vorzugsweiſe geiſtigen Beſchäftigungen zugewandt ſind, die Zahl Derjenigen, welche nicht von innerem Zwieſpalt, nicht von innerer Leere ge - quält werden! Und wie Viele wenden ſich nur deßwegen ſo eifrig geiſtigen Beſchäftigungen zu, weil ihr Blick dadurch von ihrem eigenen Jnnern und von deſſen troſtloſem Zu - ſtande auf Anderes abgelenkt wird! Und dann: Wenn in der Ausbildung unſeres denkenden Geiſtes die Bedingung des Glückes liegen würde, wie tief beklagenswerth würden nicht alle die Millionen Menſchen ſein, deren äußere Ver - hältniſſe eine Betheiligung an den Erzeugniſſen unſerer Bil - dung gar nicht erlauben können? Muß nicht nothwendig die unendliche Mehrzahl der Menſchen auf ein ſo geringes Maß von Ausbildung ihrer Geiſteskräfte und auf eine ſo ſpärliche Beſchäftigung mit geiſtigen Dingen beſchränkt blei - ben, daß ihnen in einem ſolchen Falle jeder Zugang zum Glück ſo gut wie abgeſchnitten wäre? Finden wir aber nicht334gerade unter ihnen ſo oft mehr wahre Zufriedenheit, mehr inneres Glück, als unter Denjenigen, welche ſich als Ge - bildete ſo hoch über ihnen erhaben dünken?

Jſt es denkbar, daß in einer Natur, in welcher wir Alles ſo weiſe eingerichtet finden, daß ſogar jedes Thier in ſich und ſeiner Umgebung die Bedingungen ſeines Gedeihens und ſeines Wohlſeins findet, für den Menſchen allein die Quelle des Glücks an Bedingungen geknüpft wäre, welche nur einem kleinen Theile derſelben und auch dieſen meiſtens nur in ſehr unvollkommenem Maße zugänglich ſind? Müſſen namentlich nicht Diejenigen, welche dem Glauben an eine über uns waltende väterliche Liebe noch nicht entſagt haben, es geradezu für eine Nothwendigkeit halten, daß die Bedin - gungen des Glücks allen Menſchen, dem ärmſten wie dem reichſten, dem Taglöhner, wie dem in Wohlſtand und Bildung ſchwimmenden Schöngeiſt gleich zugänglich ſeien? Wenn aber die Ausbildung der geiſtigen Kräfte und die Beſchäftigung mit den Erzeugniſſen unſerer Geiſtesbil - dung die Quelle des Glücks wäre, müßte nicht Derjenige der Glücklichſte ſein, welcher ſich dieſer Beſchäftigung am ungetheilteſten hingeben und ihr ſeine ganze Zeit widmen könnte? Würde hierin nicht eine faſt vollſtändige Ausſchlieſ - ſung vom Glück für alle Diejenigen liegen, welche im Schweiße ihres Angeſichts ihr Brod verdienen müſſen? Wäre wohl ein ſolcher Zuſtand vereinbar mit der göttlichen Gerechtig - keit und mit einer über allen Menſchen gleichmäßig waltenden göttlichen Liebe? Hätte in einem ſolchen Falle die Anarchie nicht das allergrößte Recht, Wohlſtand und Bildung für Alle zu fordern?

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Und wie erginge es wohl unter dieſen Umſtänden den Kindern und der dem Kindesalter noch naheſtehenden Ju - gend? Denn offenbar kann ein Glück, welches von der Ausbildung unſeres Geiſtes abhängig iſt, doch erſt bei rei - feren Geiſteskräften ſeine natürliche Stärke gewinnen. Die Kindheit und die frühere Jugend hätten daher das Zuſehen, und genau genommen müßte das rechte Glück, die wahre innere Zufriedenheit dem Menſchen nicht leicht vor dem Schwabenalter zu Theil werden.

Worauf beruht denn nun aber dieſes jetzt ſo ſelten ge - wordene Glück? Das Geheimniß iſt weltbekannt, nur ignoriren wir es gerne, weil unſer Verſtandeshochmuth uns doch nicht erlauben würde, Gebrauch davon zu machen. Jede Kinderſtube könnte uns das Arkanum des Glücks lehren, diejenige, welche es nicht kennt, ſo gut als diejenige, welche es kennt. Tretet doch da einen Augenblick ein, ihr Weiſen des Abendlandes, die ihr Staaten zu lenken und Völker zu beglücken berufen ſeid, ihr werdet da alle Elemente des Glücks gar anſchaulich beiſammen finden. Hier iſt zuerſt eine Behauſung, welcher ihr den Wohlſtand, den von Allen ſo ſehr erſehnten Wohlſtand gleich beim Eintreten anſehen könnt, und ſo ſind denn auch die Kinder des Hauſes gar zierlich gekleidet, ſie ſind umgeben von einem Ueberfluß an koſtbarem Spielzeug und von allen Hilfsmitteln der beleh - renden Unterhaltung. Vater und Mutter ſind ängſtlich dar - auf bedacht, daß keiner ihrer Wünſche unerfüllt bleibe, keine ihrer jugendlichen Unarten eine ernſte Rüge oder gar eine Züchtigung erfahre, welche ihr Gemüth erbittern könnte. Die Lehrer ſind angewieſen, die lieben Kleinen mit jeder Arbeit, welche das Nachdenken, oder das Gedächtniß, oder3*36die Geduld in Anſpruch nehmen könnte, möglichſt zu ver - ſchonen und mehr durch Lob als durch Tadel, mehr durch einen Aufruf an ihren Ehrgeiz und an ihren guten Willen als durch eine ernſte Forderung, welche unbedingten Gehorſam er - wartet, auf ſie einzuwirken. Naſchereien, Geſchenke und Ver - gnügungen aller Art belohnen jede, auch die zweifelhafteſte Leiſtung. Der zahlreichen Bedienung des Hauſes iſt ſtreng be - fohlen, ſich aufs Ehrerbietigſte gegen ſie zu benehmen, jedem ihrer Winke zu gehorchen und ſtets zu ihrer Unterhaltung bereit zu ſein. Kurz die lieben Kleinen haben ſo ziemlich Alles, was die Anarchie unter Freiheit, Wohlſtand und Bildung verſteht. Und dennoch ſind dieſe Kinder grämlich, dennoch verzehrt ſie die Langeweile, dennoch ſehen ſie ſtets mit Neid auf das, was Andere haben und was ſie im Augenblick nicht haben können, dennoch ſind ſie trotzig gegen Vater und Mutter, dennoch ſind ſie verdroſſen zur Arbeit wie zum Spiele, und je älter ſie werden, um ſo verdroſſener und unzufriedener werden ſie.

Und nun tretet daneben in eine andere Wohnung ein, für deren Beſitzer die ſtrengſte Sparſamkeit eine Nothwen - digkeit iſt. Die einfachſte Kleidung, die wohlfeilſten Spiel - waaren müſſen hier den Kindern genügen, welchen der Chriſt - abend wenig mehr als ein paar Aepfel und irgend ein un - entbehrliches Kleidungsſtück bringt. Die Mutter vergießt wohl manche ſtille Thräne, daß ſie ihrem Kinde ſo oft eine unſchuldige Freude oder ein zu ſeiner Belehrung und Aus - bildung nützliches Hilfsmittel verſagen muß. Und auch ſonſt ergeht es den Kindern dieſes Hauſes viel ſchlimmer als jenen Glückskindern nebenan. Das Wort des Vaters gilt als ſtrenges unverbrüchliches Geſetz. Eine Unfolgſamkeit,37 eine unehrerbietige Antwort gegen die Mutter würde un - fehlbar mit ernſter Strafe gerügt werden. Dem jugendlichen Frohſinn wird zwar freier Lauf gelaſſen, aber keine Unart wird geduldet, beharrlicher Ernſt wird bei der Arbeit ge - fordert, und für Alles was dieſe Kinder zu entbehren ſchei - nen, für Alles was ſie mit kindlichem Gehorſam erfüllen, wird ihnen ſelten ein anderer Lohn, als eine liebevolle Um - armung der Mutter und ein freundliches Wort des Vaters. Dieſe Kinder aber ſind glücklich. Sie fühlen kaum was ſie entbehren, die einfachſten Freuden ſind ihnen ſo willkommen als die koſtbarſten, Gehorſam und Pflichterfüllung ſind ihnen eine Luſt, weil ſie ihnen Zeichen der Liebe von Vater und Mutter erwerben, einer Liebe, welche ihr höchſtes Glück, der unverſiegbare Quell ihres jugendlichen Frohſinnes iſt.

Bedarf es bei ſo einfachen Verhältniſſen noch einer ausführlichen Nutzanwendung? Man wird vielleicht ſagen, das Gleichniß hinke, denn die Kinder hätten in der Per - ſon ihrer Eltern einen Schutz, zu dem ſie in jeder Noth flüchten können, Fürſorger, welche den Hunger und die ärgſte Entbehrung von ihnen fern halten, und dabei leb - ten die Kinder, welche keine Ahnung von der Kürze des Lebens haben, ſorglos ohne den Gedanken an den Tod in den Tag hinein, während wir, die Erwachſenen, be - ſtändig mit der Sorge um unſer Auskommen zu kämpfen haben und durch den Gedanken an den Tod zu einem un - getrübten Genuſſe der Freuden dieſes Lebens unfähig werden. Nun ja, für Diejenigen, welche dem oberſten Grundſatze der Anarchie huldigen, für Diejenigen, welche nicht glauben, daß es über dem Menſchen eine höhere ſittliche Macht gebe, wel - cher wir Ehrfurcht und Gehorſam ſchuldig ſind, für dieſe38 hinkt das Gleichniß freilich, denn ſie entbehren auch noth - wendig den Glauben an eine über ihnen waltende väterliche Liebe, welcher ſie im Leben und im Tode getroſt vertrauen können. Wer aber von dem Tode das Ende ſeines Daſeins erwartet, ſein eigenes Leben nur als eine vorübergehende Erſcheinung im Reiche der ewig wechſelnden Natur betrach - tet, für den gibt es ſchon aus dieſem Grunde keinen reinen, innigen Lebensgenuß. Wenn Alles was unſerem Leben Werth verleiht, uns nur für die kurze Spanne unſerer Lebenszeit bewilligt iſt und nach Ablauf derſelben die Vernichtung un - ſerer wartet, iſt da nicht jeder tiefere Lebensgenuß für uns vergiftet? Muß nicht bei jeder Freude, welcher wir uns hingeben wollen, der Gedanke uns ſtören, daß das Leben uns nur für ſo kurze Zeit geliehen iſt und daß mit ſeinem Ende nicht blos dieſe Freude, ſondern überhaupt jedes Glück, jede Empfindung für uns aufhören werde? Jſt für ein Herz, welches der Vernichtung geweiht iſt, nicht jede Freude ein ſchneidender Hohn? Wer mag mit Jntereſſe Nah - rung ſuchen für ſeinen Geiſt, wenn ſchon der nächſte Augen - blick das Gefäß zertrümmern kann, in welches er ſammelt? Wer mag Bündniſſe des Herzens mit voller Hingebung ſchließen, wahre Liebe, wahre Freundſchaft hegen, wenn ihm der Glaube an die Fortdauer der Perſönlichkeiten eine Thor - heit iſt, wenn Freundſchaft, Liebe und wir ſelbſt mit dem letzten Athemzuge erloſchen ſind? Und liegt nicht in dieſer troſtloſen Verlaſſenheit eine gerechte Strafe für unſeren Uebermuth? Erſt erklärt ſich der menſchliche Hochmuth für ſouverän, für die höchſte Macht im Himmel und auf Erden, und dann fühlt er ſich ſo bettelarm und hilflos, daß er mit der Gier der Verzweiflung nach Allem greifen muß, was39 ihn zerſtreuen und die klagende Stimme ſeines Jnnern über - täuben kann.

Aber nicht ein Gleichniß iſt die für unſeren Verſtan - deshochmuth allerdings demüthigende Hinweiſung auf die Kinderſtube, ſondern ein dem Reiche der Thatſachen ent - nommenes Beiſpiel, eine auf Erfahrung ſich gründende Lehre über die Quelle des Glücks. Nur möge ſich Niemand ein - bilden, daß er das Glück durch den einfachen Entſchluß, an Gott und Unſterblichkeit zu glauben, erkaufen könne. Wenn das Glück ſo leichten Kaufes zu haben wäre, ſo würde ſchwer - lich irgend Jemand ſich lange bedenken. Denn einmal glaubt der Menſch nicht was er glauben will, ſondern was er glauben kann. Und dann, ſo beruht (um bei dem gewähl - ten Beiſpiele zu bleiben) das Glück des Kindes ja nicht darin, daß es von Nahrungsſorgen und von Todesfurcht nichts weiß, ſonſt würde der Unterſchied in der Erziehung keinen Unterſchied in der Stimmung und im Glück begründen. Die Abweſenheit eines Uebels, von welchem wir uns gar nicht bedroht wiſſen, macht Niemand glücklich. Das Glück des Kindes beruht vielmehr auf einer ſehr poſitiven Grundlage. Aber dieſe Grundlage läßt ſich weder mit Händen greifen, denn ſie gehört nicht der Sinnenwelt an, noch läßt ſie ſich durch den Verſtand erfaſſen, denn ſie iſt kein Produkt des Denkens. Sie iſt weder ſinnlicher noch geiſtiger Art, ſie iſt ein Drittes, ſie iſt ſittlicher Art. Sie beruht in der Befriedigung desjenigen, was den innerſten Kern unſeres Weſens bildet, in der Befriedigung unſerer ſittlichen Natur. Dieſe Befriedigung wird nicht durch ſinnliches Wohlergehen erreicht, womit die Affenliebe ſo vieler Eltern die Kinder glücklich zu machen ſucht, ſie wird nicht durch40 Belehrung, Unterricht oder irgend eine ähnliche Einwirkung auf die Vorſtellungen des Kindes hervorgerufen, ſie iſt ein - zig und allein das Produkt eines Verhältniſſes der ſittli - chen Abhängigkeit. Die ſittliche Einwirkung ſittlich ge - bildeter Eltern auf das ſittliche Empfinden, auf das ſittliche Vermögen des Kindes iſt die äußere Bedingung jenes Kinderglückes, das wir ſo oft mit freudiger, aber zugleich mit einer durch den Blick auf unſer eigenes Jnnere mit Wehmuth gemiſchten Theilnahme beobachten. Und das red - liche Streben des Kindes, durch treue Erfüllung der ihm in jenem ſittlichen Geiſte von den Eltern auferlegten Pflich - ten und Gebote die Liebe der Eltern zu verdienen, iſt die innere Bedingung dieſes Kinderglücks, welches in dem Bewußtſein einer der Geſinnung der Eltern entſprechenden Geſinnung beſteht. Dieſes Bewußtſein bildet ſein Glück, dieſes Bewußtſein erfüllt ſein Herz mit jener inneren Freu - digkeit, welche die Quelle jedes harmloſen Vergnügens und die unerläßliche Vorbedingung zu jedem ungetrübten Lebens - genuſſe iſt.

Und was vom Kinde gilt, das muß auch von den Er - wachſenen gelten, denn die innere Anlage und Natur des Menſchen ändert ſich nicht mit den Lebensaltern. Das nämliche ſittliche Element, welches im Kinde vorhanden iſt und Befrie - digung verlangt, iſt auch in den Erwachſenen vorhanden. So wenig wir aber in einer Luft zu leben vermögen, welche einen zum Athemholen nothwendigen Beſtandtheil entbehrt, ebenſo wenig vermögen wir glücklich zu ſein in Verhältniſ - ſen, welche ein weſentliches Element unſeres Jnnern unbe - friedigt und unberückſichtigt laſſen.

Aber nicht blos unſer Glück beruht auf der gehörigen41 Entwickelung und Befriedigung unſerer ſittlichen Natur, ſondern auch die Möglichkeit des Glaubens an eine höhere ſittliche Macht und an unſere eigene der Vergänglichkeit nicht unterworfene Perſönlichkeit. Nur durch die Entwicke - lung und Kräftigung unſerer eigenen ſittlichen Natur wer - den wir in den Stand geſetzt, das Sittliche in ſeiner Eigen - thümlichkeit deutlich zu erfaſſen. So wenig der Blindgebo - rene durch Schilderungen und Beſchreibungen in den Stand geſetzt wird, ſich ein Bild von den Farben und von der äuße - ren Erſcheinung der Natur zu machen, ebenſo wenig vermag irgend Jemand, welcher nicht auf dem Wege der ſittlichen Erfahrung zum Bewußtſein des Sittlichen gelangte, auf dem Wege der verſtändigen Belehrung dahin zu gelangen. Wie wollen wir aber den Glauben an ein ſittliche Macht bei Denjenigen begründen, welchen das Sittliche überhaupt nichts als ein leerer Schall iſt? Und dann, wie ſollen wir an die Fortdauer unſerer Perſönlichkeit glauben, wenn wir uns dieſer Perſönlichkeit, welche weſentlich ſitt - licher Natur iſt, gar nicht bewußt ſind?

IV. Die Bildung.

Das Beſtehen der Staaten beruht auf dem Glauben an die Exiſtenz einer höheren ſittlichen Macht, welcher wir Ehrfurcht und Gehorſam ſchuldig ſind. Dieſer Glaube ſo - wohl als das innere Glück aller Einzelnen beruht auf der Entwickelung und Befriedigung unſerer ſittlichen Natur, welche ebenſo weſentlich verſchieden iſt von unſerer denken - den als von unſerer ſinnlichen Natur. Was thut nun unſere42 Bildung zur Entwickelung und Befriedigung unſerer ſitt - lichen Natur? was leiſtet ſie in dieſer Beziehung? was kann ſie, ihrer ganzen Richtung nach, leiſten?

Daß der religiöſe Glaube durch den Einfluß unſe - rer Bildung weſentlich erſchüttert wird, das iſt eine That - ſache, welche ſchwerlich bei unbefangener Prüfung beſtritten werden wird, nur ſtellt man gerne die Sache ſo dar, daß dieſer Widerſtreit, in welchen unſere Bildung mit dem reli - giöſen Glauben gerathen iſt, keineswegs der Religion ſelbſt gelte, ſondern nur gegen einzelne, vielleicht minder wichtige Punkte des Glaubensbekenntniſſes oder doch überhaupt nur gegen die von der Kirche aufrecht erhaltene Form des Glaubens gerichtet ſei, und daß die Schuld dieſes Wider - ſtreites vernünftigerweiſe nicht unſerer Bildung zugemeſſen werden könne, welche uns ja bekanntlich der reinen Wahr - heit bereits bis auf Büchſenſchußweite nahe gebracht hat, ſondern daß dieſe Schuld nur der veralteten, mit unſeren richtigeren Anſichten unvereinbaren Anſchauungsweiſe der Kirche zur Laſt falle. Aber beruht denn wirklich der Widerſtreit, in welchen unſere Bildung mit dem religiöſen Glauben gerathen iſt, nur in einem das Weſen des religiö - ſen Glaubens gar nicht berührenden Streite um die Form? Wenn das der Fall wäre, ſo würde es ganz uner - klärlich ſein, daß unſere Bildung nicht ſchon längſt für ſich und ihre Anhänger eine ihren Anforderungen entſprechende neue Form des Glaubensbekenntniſſes aufgeſtellt hat. Gei - ſtesdruck und Ketzerverfolgung konnte ſie daran nicht hindern. Denn ſchon längſt beſitzen wir ja auch für religiöſe Fragen eine Denkfreiheit, welche jeder wiſſenſchaftlichen Prüfung, jedem auf Gründe geſtützten Verbeſſerungsvorſchlag die Mög -43 lichkeit gewährt, offen aufzutreten und auf dem Wege der Discuſſion die Ueberzeugungen für ſich zu gewinnen.

Wenn wirklich das einzige Hinderniß in der von der Kirche feſtgehaltenen Form liegen würde, und wenn unſere Bildung fähig wäre, den religiöſen Glauben, ſobald jenes Hinderniß beſeitigt wäre, in einer neuen Form zur Herr - ſchaft über die Gemüther zu führen, wer könnte ſie denn verhindern, dieſes Werk zu vollbringen? Jſt ſie nicht im vollen Beſitze der Macht? oder ſind bei uns die Gebildeten etwa von dem Einfluß auf die Regierung und auf die Lei - tung der menſchlichen Angelegenheiten ausgeſchloſſen? liegt dieſe Leitung etwa in der Hand einer unſerer Bildung frem - den und feindlichen Prieſterkaſte? regieren nicht Juriſten die Welt? kann denn da eine Aenderung in der Form des Glaubensbekenntniſſes auf beſondere Schwierigkeiten ſtoßen? Unſere Bildung hat ja völlig freie Hand, ſie darf nur reden, nur die Parole austheilen, denn da heutzutage alle Welt gebildet iſt, ſo wird ſie ſicherlich eine ungeheure Ma - jorität hinter ſich haben. Früher, ehe unſere Bildung auf ihren jetzigen Höhepunkt gelangt war, lieferte ſie uns noch gar manche Beiträge zur Begründung des religiöſen Glau - bens, freilich nur auf dem wackeligen Boden der Wahr - ſcheinlichkeit, auf welchem ſich wohl ein Nomaden - zelt aufſchlagen, aber kein feſtes Gebäude des Glaubens errichten läßt. Aber ſeit wir ſtärkere Denker und ſogar reine Denker geworden ſind, will es mit dem Begründen eines die Gemüther befriedigenden Glaubens gar nicht mehr von der Stelle. Unſere neueſte Bildung weiß zwar haar - ſcharf anzugeben, was ſie nicht glaubt, und ſie hat laut und vernehmlich genug erklärt, daß für ſie Gott und Unſterb -44 lichkeit zu den überwundenen Standpunkten gehören, wei - ter aber iſt ſie zur Zeit noch nicht gekommen.

Wohin ſollen denn nun unter dieſen Umſtänden diejeni - gen Gebildeten ihre Zuflucht nehmen, welche kraft ihrer Bildung ſich nicht mehr mit dem Glauben der Kirche ver - tragen können und doch auch in ihrer Bildung nichts finden, wodurch das im menſchlichen Herzen nicht zu vertilgende Bedürfniß eines religiöſen Glaubens befriedigt würde? Bleibt ihnen etwas Anderes übrig, als die innerſte Stimme ihres Herzens zu betäuben, indem ſie ſich ſelbſt in einer Menge von Zerſtreuungen und Vergnügungen, von ſinnlichen und geiſtigen Genüſſen zu vergeſſen ſuchen? Und iſt nicht gerade dieſes das Bild, welches uns diejenigen Kreiſe der Geſell - ſchaft darbieten, die wir vorzugsweiſe die gebildeten zu nennen pflegen? Zwar iſt durch die im Gefolge der franzö - ſiſchen Februar-Revolution überall ausgebrochenen anarchi - ſchen Bewegungen einige Störung in der Lebensweiſe jener Kreiſe eingetreten, und die Furcht vor einer zweiten Auflage jener Schreckenstage läßt an vielen Orten eine vollſtändige Rückkehr in die alten Geleiſe noch nicht zu. Allein die Er - innerung an jene ſchönen vormärzlichen Zeiten iſt uns Allen noch gegenwärtig, und im Nothfall dürften wir, um dieſe Erinnerungen aufzufriſchen, uns nur in der ſchönen Litteratur jener Tage umſehen und namentlich die aus Frank - reich damals zu uns herübergekommenen Erzeugniſſe derſel - ben nochmals durchblättern, welche, weil ſie die innerſten Gedanken der guten Geſellſchaft ſo treu wiedergaben und die geiſtigen Bedürfniſſe derſelben ſo trefflich durch Schilderungen des Luxus und der ſittlichen Verworfenheit zu befriedigen wußten, von Allem, was auf Bildung Anſpruch45 machte, mit der größten Gier geleſen und faſt verſchlungen wurden. Wer ſich die damaligen Zuſtände der gebildeten Kreiſe vergegenwärtigt, wird geſtehen müſſen, daß der Ruf nach Wohlſtand und Bildung, wie er bald nachher aus den Reihen der Anarchie erſcholl, blos das Echo der Geſinnun - gen zu ſein ſchien, welche Jahre lang von der Blüthe der Gebildeten an unzähligen Orten ganz unbefangen zur Schau getragen worden waren. Und hatte ſich nicht damals gerade in dieſen Kreiſen der Geſellſchaft durch Ueberſättigung an Wohlſtand und Bildung jene beſondere Gattung der Aller - gebildetſten entwickelt, welche man die Blaſirten nannte, und welche, weit entfernt, durch ihr Auftreten Mitleid oder allgemeine Mißbilligung zu erregen, im Gegentheil als eine Art von Heroen der Bildung angeſtaunt wurden? Unter einem Blaſirten verſteht man nämlich einen Menſchen, welcher, nachdem ihm das Bewußtſein ſeiner ſittlichen Natur und mit dieſem Bewußtſein der unverſiegbare Quell der inneren Zufriedenheit und der reinſten Freuden abhan - den gekommen war, ſich gewöhnte, in einem Strudel von Zerſtreuungen und Genüſſen aller Art einen Erſatz für die - ſen Verluſt zu ſuchen, aber zuletzt die Entdeckung machte, daß alle Vergnügungen, alle geiſtigen und ſinnlichen Be - ſchäftigungen, alles Wohlleben und alle Abenteuer, in denen er ſich herumtreibt, um ſein beſſeres Jch zu betäuben, ihm keine Befriedigung zu gewähren vermögen, ſondern daß nach jeder neuen Zerſtreuung, nach jeder neuen Betäubung ein nur um ſo peinlicheres Erwachen zu dem Bewußtſein ſeiner inneren Leere und einer troſtloſen Verlaſſenheit er - folgt. Wenn ein ſolcher Menſch längere Zeit hindurch für ſeine verwöhnten Sinne und für ſeine ermüdeten Nerven46 nach noch nicht abgenützten Mitteln des Genuſſes und nach ſtärkeren Aufregungen geſucht hat, ſo bemächtigt ſich ſeiner zuletzt eine ſouveräne Gleichgültigkeit gegen Alles, was für die gewöhnlichen Menſchen Reiz und Jntereſſe zu haben pflegt. Das iſt der Zuſtand der Blaſirtheit, welcher bei verſchiedenen Perſonen einen ſehr verſchiedenen Ausgang nehmen kann, deſſen Anfang und innerer Grund aber ſtets in dem Erlöſchen des Bewußtſeins unſerer ſittlichen und unſterblichen Natur zu ſuchen iſt.

Mit vollem Rechte mochte man damals diejenigen unter dieſen Gebildeten, welche es in der Kunſt, ihr ſittliches Selbſtbewußtſein zu ertödten, am weiteſten gebracht hatten, Löwen nennen, denn der Löwe iſt bekanntlich der König der Thiere, und wenn eine Bildung, welche die ſittlichen Bedürfniſſe nicht befriedigt, den Menſchen leicht bis in die Nähe der Beſtialität herabſinken läßt, ſo verleiht ſie ihm doch durch die Pflege der Jntelligenz einen äußeren Schliff und einen Anſtand, welcher unter Thieren wohl für könig - liche Würde gelten kann. Jn einem Punkte bewährten ſich freilich jene Löwen ſchlecht. Denn als plötzlich die Anarchie in allen Ecken und Enden losbrach und mit blut - triefenden Händen Wohlſtand forderte, da verſchwanden ſchnell jene lebensüberdrüſſigen, nach Nervenerſchütterung dürſtenden Tageshelden von dem Schauplatze ihrer Thaten und bargen in ſicherem Verſteck ihr werthes Daſein, des thieriſchen wie des ſittlichen Muthes entbehrend.

Worin beſteht nun aber der oberſte leitende Gedanke unſerer Bildung, durch welchen ſie unfähig wird, die ſitt - lichen Bedürfniſſe des Menſchen zu befriedigen?

Man hat ſchon oft, und wohl nicht mit Unrecht, darauf47 hingewieſen, daß der Zuſtand, in welchem ſich die Philo - ſophie bei einem Volke befinde, einen ſicheren Maßſtab abgeben könne für den Grad und die Art ſeiner Bildung. Man ging ſogar nicht ſelten ſo weit, zu glauben, daß die Philoſophie die eigentliche Quelle dieſer Bildung und die Lenkerin unſerer geiſtigen Zuſtände ſei, was eine offenbare Verwechſelung von Wirkung und Urſache iſt. Die Philo - ſophie erfindet nichts, ſie formulirt nur diejenigen Gedanken, welche das praktiſche Leben entſtehen ließ, ſie bringt die - ſelben in Syſtem. Nicht das Jahrhundert der Philoſophen hat die franzöſiſche Revolution erzeugt, ſondern der ſittliche Verfall erzeugte einen Zuſtand der Gemüther, in welchem der Glaube an eine ſittliche Macht über uns und an unſere eigene ſittliche Natur nicht mehr wurzeln kann, und ein ſolcher Zuſtand führt nothwendig zur Anarchie. Ehe er aber dahin führte, wurde er von der Philoſophie in Syſtem gebracht. Die Philoſophie hat daher höchſtens Hebammen - dienſte bei der Revolution verſehen, nicht aber ſie hervorge - bracht. Und wie in einer wohlgeſitteten Geſellſchaft ein Menſch, welcher ſchamloſe Reden führt, nicht Sittenverderbniß er - zeugt, ſondern einfach fortgejagt wird, ebenſo würde jene Philoſophie, wenn ſie nicht ausgeſprochen hätte, was bereits in den Gemüthern vorhanden war, tauben Ohren gepredigt haben. Wo aber eine Lehre allgemeinen Anklang findet, da iſt ſie ein Maßſtab für den Zuſtand der Gemüther.

Um zu wiſſen, von welchem leitenden Gedanken unſere neueſte Philoſophie ausgeht, bedarf es glücklicher - weiſe keines langen Suchens in den Jrrgängen ihrer Kom - pendien, was ein ſehr unerquickliches Geſchäft wäre. Denn dieſer leitende Gedanke tritt uns allüberall in den Lehrbüchern48 unſerer Philoſophen, bald in dieſer, bald in jener Form, ſo ſchroff entgegen, daß es unmöglich iſt, ſich über ihn zu täuſchen. So leſen wir z. B. in einem der Neuzeit ange - hörigen ſehr dicken wiſſenſchaftlichen Buche Folgendes:

Wir ſuchen fortan eine völlig neue Grundlage für unſere ſtaatlichen, geſellſchaftlichen und Glaubenszu - ſtände zu erringen, und zwar durch die Kraft des Begriffes, in bewußt vernünftiger Entwickelung, frei von jeglichem Autoritätsglauben und von unge - rechtfertigter Herkömmlichkeit. Dies ſind die neuen Lebensbedingungen, und wer fortzuleben begehrt, wird ſich ihnen unterwerfen müſſen.

Dieſer Satz, welcher gewiß von keinem unſerer jung - deutſchen Philoſophen desavouirt werden wird, verbindet das bei unſerer heutigen Philoſophie ſehr ſeltene Verdienſt der Deutlichkeit mit dem bei ihr ſehr gewöhnlichen Verdienſte geſetzgeberiſcher Zuverſicht. Wie der Löwe im Salon durch die Sicherheit ſeiner Bewegungen jeden Zweifel an ſeiner königlichen Würde niederſchlägt, ſo beurkundet der Philoſoph ſeinen geſetzgeberiſchen Beruf durch den gemeſſenen Beſcheid: Wer fortzuleben begehrt, der wird ſich Unſeren Ausſprüchen unterwerfen müſſen. Wonach ſich zu achten.

Etwas bedenklicher lautet der Ausdruck wir ſuchen, oder gar das volltönende wir ſuchen fortan. Das klingt ja faſt, als könnte es noch eine gute Weile währen, bis ihr Fortanſuchenden die neue Grundlage glücklich ausfindig gemacht haben werdet. Was wird wohl bis dahin aus uns übrigen armen Menſchenkindern werden, die wir gerne fort - zuleben begehren würden, wenn wir wüßten, ob ſich ein ſo kühner Wunſch mit eurer noch ungeborenen neuen Grund -49 lage wird vereinigen laſſen? Sollen wir ſo lange zwiſchen Leben und Tod ſchweben? Und wenn der bevorſtehende Generalkrach, wie ſehr zu beſorgen ſteht, früher ausbrechen ſollte, als ihr mit dem Auffinden eurer neuen Grundlage zu Stande gekommen ſein werdet, wie dann? Wenn der - ſelbe plötzlich, während ihr noch an den Federn kauet, auf euch einſtürmt und ſich anſchickt, euch und uns den Garaus zu machen, werdet ihr ihn da wohl durch die Kraft des Be - griffes zum Stillſtand vermögen? Glaubt ihr, er werde ſich viel um euer noli turbare circulos meos bekümmern? Oder ſeid ihr vielleicht mit dem Teufel Du und Du, und habt keine Urſache, euch vor der Flamme zu ſcheuen? Auf welchem Fuße ſtehet ihr denn eigentlich mit der Anarchie, ihr reinen Denker? Das laſſet uns doch etwas näher prüfen.

Alſo, wenn wir eurem Rathe folgen, ſo ſuchen wir fortan eine völlig neue Grundlage für unſere ſtaatlichen, geſellſchaftlichen und Glaubenszuſtände, und zwar durch die Kraft des Begriffes, durch die logiſche Kraft des Verſtandes. An andere Rückſichten irgend einer Art ſind wir bei Her - ſtellung dieſer völlig neuen Grundlage nicht gebunden. Vor dem ſouveränen Throne des menſchlichen Verſtandes muß dieſe neue Grundlage ihre Exiſtenz rechtfertigen, dann iſt ſie nach allen Seiten hin gerechtfertigt. Wer bei Feſt - ſtellung dieſer neuen Grundlage ſich beikommen ließe, zu fragen, ob dieſelbe auch im Einklang ſtehe mit einem höheren, göttlichen Willen, der würde ſich an den neuen Lebensbe - dingungen verſündigen. Denn einen höheren, göttlichen Willen annehmen, ehe derſelbe aus der Hand des Begriffes die Anerkennung ſeiner Exiſtenz empfangen hätte, das hieße ja von einer ungerechtfertigten Herkömmlichkeit ausgehen. 450Da aber die Kraft des Begriffes einen höheren, göttlichen Willen entweder gar nicht oder doch nur ſo weit anerkennen wird, als dieſer göttliche Wille mit der durch die Kraft des Begriffes zu ſchaffenden neuen Grundlage einverſtanden iſt, und da dieſer göttliche Wille, wenn er von der Kraft des Begriffes anerkannt werden will, überhaupt gar nichts wollen darf, was die Kraft des Begriffes nicht von ſelbſt fordern würde, ſo iſt dieſer göttliche Wille offenbar ein ganz un - nützes Möbel und von vorn herein dazu beſtimmt, in dem menſchlichen Willen aufzugehen. Ein heiliger göttlicher Wille, welcher nur als ein von uns Gedachtes von uns auf den Thron erhoben wird, kann offenbar jeden Augenblick von uns auch wieder abgeſetzt werden, ſobald es uns nicht mehr konvenirt , ihn zu denken. Kann wohl eine ſo hinfällige Kreatur des menſchlichen Verſtandes uns Gefühle der Ehr - furcht einflößen? kann ſie in uns die Bereitwilligkeit erwecken uns einem höheren Willen, einem Willen, welcher nicht unſer eigener Wille iſt, zu unterwerfen? Damit aber ſtehen wir unverkennbar ganz auf demſelben Boden wie die Anarchie.

Und wer ſoll denn den entſcheidenden Ausſpruch über die Frage thun, was der menſchliche Verſtand als ein voll - kommenes und untadelhaftes Erzeugniß der Kraft des Be - griffes anzuerkennen habe? Die allgemeine Ver - nunft? wo ſteckt denn dieſe? wie iſt ſie zu finden? etwa durch allgemeine Abſtimmung, alſo auf gleichem Wege, auf welchem ſich die Anarchie ihr Geſetzbuch holt? Aber, wenn ihr dem Bäuerlein hinter dem Pfluge zumuthet, er müſſe durch die Kraft des Begriffes in bewußt vernünftiger Ent - wicklung eine neue Grundlage des Staates erfinden helfen, ſo wird er euch durch die Kraft ſeiner Fäuſte beweiſen, daß51 er ſich nicht für’n Narren halten laſſe. Oder wollt ihr euch nur auf die Gebildeten beſchränken? Wie wollt ihr denn dieſe aus der Menge herausfinden? etwa nach dem Cenſus? Wenn aber dieſe Gebildeten es vorziehen, bei ihrem Ausſpruch mehr ihr Jntereſſe, als das Gebot eines ab - ſtrakten Denkens zu Rathe zu ziehen? wie wollt ihr ſie daran verhindern? und in dieſem Falle könnte leicht die von ihnen zu erfindende neue Grundlage der alten ſo ähnlich ſehen, wie ein Ei dem andern. Oder wollt ihr den Ausſpruch über die zu wählende neue Grundlage ausſchließlich den Philoſophen, d. h. euch ſelbſt vorbehalten? Aber die Phi - loſophen ſind ja unter ſich ſo uneins, wie die Jnſtrumente einer Katzenmuſik; ein Jeder pfeift nach beſonderer Melodie. Und dann, geſetzt auch, ſie vereinigten ſich, ſo würden wir Anderen, die wir keine Philoſophen ſind und es wegen un - ſerer geringen Denkkraft auch nie werden können, bei dieſem Vorſchlag in eine ſchlimme Verlegenheit kommen:

Weigern wir uns, eurem hochweiſen Ausſpruch uns zu unterwerfen, ſo haben wir das Leben verwirkt, denn wer fortzuleben begehrt, der muß die neue Grundlage annehmen. Unterwerfen wir uns aber eurem höheren Ermeſſen und eurer tieferen Einſicht, ſo haben wir das Leben abermals verwirkt, denn das wäre ja purer klarer Autoritätsglauben, welchen wir abthun müſſen, wenn wir fortzuleben begehren. Wenn wir aber ſo wie ſo ſterben müſſen, gleichviel ob parce que oder quoique, ſo könnten wir wohl auf den ſündhaften Ge - danken kommen, uns in ungerechtfertigter Herkömmlichkeit an das Recht der Nothwehr zu halten und vor unſerem Ende noch Einigen von euch das Lebenslicht auszublaſen.

Und worauf gründet ſich denn die Berechtigung des4*52Verſtandes, ein ſo unbeſchränktes Schiedsrichteramt in allen menſchlichen Dingen auszuüben? Jſt ſeine Kraft denn wirk - lich ſo allvermögend, daß ſie dieſer Aufgabe gewachſen wäre? Jhr ſpreizet euch ſo ſehr mit der Kraft des Begriffes. Seid ihr euch denn auch bewußt, was dieſer Kraft zugänglich iſt, und was nicht? Jſt denn dieſe Kraft nicht vor allen Dingen eine rein formale, welche gar nicht bis zum Erfaſſen des Weſens der Dinge vorzudringen vermag? Was weiß ſie uns Anderes über die Dinge anzugeben, als ihre in die Sinne fallenden Eigenſchaften, ihr Entſtehen, die Wirkungen, die ſie hervorbringen, und Aehnliches? Jſt denn aber damit das Weſen der Dinge erklärt? bleibt dieſes nicht ein unſerem Verſtande ewig unlösbares Räthſel? Sind wir in dieſem Sinne nicht von lauter unlösbaren Räthſeln umgeben? Jſt nicht unſer eigenes Daſein, unſer Leben und Empfinden ein ſolches Räthſel? Wenn aber das der Fall iſt, warum ignoriren wir ſo gerne dieſe unleugbare Thatſache? Jn wel - chem Falle werden wir wohl uns ſelbſt und unſere Stellung in der Welt richtiger erkennen: Wenn wir von der Unwahr - heit ausgehen, daß der menſchliche Verſtand allmächtig ſei, oder wenn wir uns jederzeit der Wahrheit bewußt bleiben, daß dem menſchlichen Verſtande beſtimmte Grenzen gezogen ſind, über welche er nicht hinauskann? Wird jene Unwahr - heit nicht den Hochmuth in uns erzeugen, welcher vor dem Falle kömmt? Würde dieſe Wahrheit nicht eine Beſchei - denheit in uns befördern, ohne welche ein ſittlicher Werth des Menſchen gar nicht denkbar iſt, und zu welcher wir offenbar beſtimmt ſind, da ſo Vieles um uns her uns an ſie mahnt? Und in welchem Falle werden wir wohl die Kraft unſeres Verſtandes mit größerem und beſſerem Erfolge53 gebrauchen: Wenn wir uns über das, was ſie vermag, täu - ſchen, oder wenn uns klar iſt, was ſie vermag und was ſie nicht vermag? Und ſodann: Auf welchem Wege, unter welchen Bedingungen allein gelangt denn dieſe rein formale Kraft zu denjenigen Kenntniſſen, welche wir ihr verdanken? Gelangt ſie etwa allein durch ihre eigene Kraft, allein durch ihr freithätiges Denken dahin? Darf etwa der Menſch nur ſeine Augen verſchließen und ſeinem Denken freien Lauf laſſen, um zur Wahrheit zu gelangen? Würde der Verſtand uns auch nur das allergeringſte Zeichen einer Thätigkeit von ſich geben können, wenn ihm nicht zuvor auf dem Wege der Erfah - rung, und zwar zu allererſt der ſinnlichen Erfahrung, der Stoff zu ſeinem Denken zugeführt würde? Könnte unſer Ver - ſtand uns auch nur das Allergeringſte über die uns umgebende Natur ſagen, wenn er nicht zuvor durch die ſinnliche Er - fahrung von ihrem Daſein und von ihren Eigenſchaften in Kenntniß geſetzt worden wäre? Jſt daher nicht klar, daß, je reicher und je richtiger die auf dem Wege der ſinnlichen Er - fahrung erlangten Eindrücke ſind, um ſo eher auch die Kraft des Verſtandes befähigt ſein werde, ſich richtige Begriffe darüber zu bilden? Jſt es daher nicht lächerlich, alles Heil unſeres Denkens ſtets nur von dieſer Kraft des Begriffes zu erwarten, als vermöchte dieſelbe mit Schöpferkraft Alles aus ſich ſelbſt zu entnehmen, und dagegen von der Noth - wendigkeit des Einſammelns reicher und richtiger Erfah - rungen, welches Geſchäft gar nicht durch die Kraft des Begriffes beſorgt werden kann, mit keiner Silbe zu ſprechen? Und gibt es denn nur ſinnliche, gibt es nicht auch ſitt - liche Erfahrungen? kann etwa die Kraft des Begriffes dieſe ſittlichen Erfahrungen da, wo ſie fehlen, aus ihrem54 freien Denken erzeugen? Das vermag ſie ja ſo wenig, als ſie dem Blindgeborenen ein Bild von der Farbenpracht und dem Taubgeborenen eine Vorſtellung von dem Reiche der Töne geben kann. Sie vermag über dieſe ſittlichen Erfah - rungen nur das, was ſie auch über die ſinnlichen vermag, nämlich ſie da, wo ſie bereits als ein Gegebenes vorhanden ſind, nach ihrer Entſtehung und nach ihren Wirkungen zu vergleichen und aus dieſem Ergebniß Schlüſſe zu ziehen, da aber, wo dieſelben noch nicht vorhanden ſind, vermag ſie nichts, als ſie zu ignoriren oder von ihnen zu ſprechen wie der Blinde von den Farben. Was iſt nun unter ſolchen Um - ſtänden zu erwarten, wenn wir eine neue Grundlage für unſere ſtaatlichen, geſellſchaftlichen und Glaubenszuſtände blos durch die Kraft des Begriffes ſuchen? Unſere ſinn - lichen Bedürfniſſe werden dabei ſchwerlich vergeſſen werden, aber nicht weil die Kraft des Begriffes die ſinnlichen Er - fahrungen zu erſetzen vermöchte, ſondern nur, weil dieſelben uns von allen Seiten her ſo handgreiflich an ihr Da - ſein mahnen, daß auch der allereinſeitigſte Denker ſchwerlich in Verſuchung kommen wird, Hunger und Durſt durch die Kraft ſeines Begriffes ſtillen zu wollen. Aber unſere ſitt - lichen Bedürfniſſe werden dabei leer ausgehen, zumal in einer Zeit, welche in ſinnlichen und geiſtigen Genüſſen ſo verſunken iſt, daß bei Unzähligen das Bewußtſein ihrer ſitt - lichen Natur ganz erloſchen, bei unzähligen Anderen wenig - ſtens bis zu einem Grade geſchwächt iſt, bei welchem uns die Sache ſelbſt gar nicht mehr im rechten Lichte und in ihrer wahren Bedeutung erſcheinen kann.

Und wie weit ſeid ihr denn bisher in eurem formalen Geſchäfte durch die Kraft des Begriffes gelangt? Habt ihr55 wenigſtens die zu eurem Begriffsgebäude nöthigen Bauſteine hergerichtet, die Begriffe genau und klar formulirt, ſo daß es bald an das Zuſammenſetzen gehen könnte? Euer berühmteſter Meiſter ſoll ſelbſt erklärt haben, von allen ſeinen Schülern habe ihn nur Einer verſtanden, und dieſer habe ihn miß verſtanden. Haben es vielleicht ſeither die Geſellen wei - ter als der Altmeiſter gebracht in der Kunſt, ſich verſtändlich zu machen? Denn verſtehen müſſen wir doch das neue Geſetzbuch, welches uns frei von jeglichem Autoritätsglauben, in bewußt vernünftiger Entwickelung zur Grundlage aller unſerer Zuſtände dienen ſoll. Vorderſamſt aber ſieht es noch gar nicht darnach aus, als würdet ihr es durch die Kraft des Begriffes bald zu der für uns nöthigen Klarheit bringen. Denn das Erſte, was einem Laien, wenn er einen Blick in unſere neuere Philoſophie wirft, auffallen muß, das iſt ja gerade die ihm vollkommen unverſtändliche Sprache. Das Ding ſieht aus wie Deutſch, aber doch iſt es nicht unſere gewöhnliche deutſche Sprache, nicht die Sprache des geſunden Menſchenverſtandes, ſondern ein Gewebe von fremd - artig gebrauchten Wörtern, von Abſtraktionen, formalen Unterſcheidungen und Gegenſätzen, wobei immer ein Theil das Verſtändniß des andern zu ſeiner Erklärung vorausſetzt, und wenn unſer Einer, welchem der Geiſt noch nicht in ſpaniſche Stiefeln eingeſchnürt wurde, eine Weile mit Aufmerkſamkeit in einem ſolchen Buche liest, ſo wird ihm von alle dem ſo dumm, als ging ihm ein Mühlrad im Kopf herum. Jhr werdet zu - geben, daß das nicht die gewöhnliche Wirkung der Klarheit iſt.

Aus welchem Grunde bedienen ſich nun wohl unſere Philoſophen einer für den geſunden Menſchenverſtand ſo un - verſtändlichen Sprache? Geſchieht es vielleicht nur, um einen56 Jnhalt, deſſen allgemeineres Bekanntwerden ihnen aus irgend einem Grunde gefährlich ſcheint, den neugierigen Blicken einer unberufenen Menge zu entziehen? oder geſchieht es aus einem in Deutſchland nicht gerade unerhörten Gelehr - tendünkel, welcher die Wiſſenſchaft gerne als ſein Privat - eigenthum einzäunen möchte und ſie deshalb, wie früher in ſchlecht Latein, ſo jetzt in ungenießbares Deutſch einwickelt? Wenn das wäre, ſo würde in unſerer ſo überſetzungsluſtigen Zeit gewiß ſchon längſt irgend ein betriebſamer Kopf dar - auf verfallen ſein, die Werke unſerer tiefen Denker in die Sprache des geſunden Menſchenverſtandes überſetzt heraus - zugeben. Das werden die Herren aber wohl bleiben laſſen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dieſe dem geſunden Menſchenverſtande unverſtändliche Sprache gerade zu durch den Jnhalt und die Rich - tung der Philoſophie geboten iſt. Der geſunde Menſchenverſtand ſchöpft ſeine Vorſtellungen und Ausdrücke aus dem reichen Gebiete der Erfahrung, er geht überall von Thatſachen und ihrer Betrachtung aus. Sinnliche, ſittliche, hiſtoriſche Erfahrungen und Thatſachen aller Art bilden den Boden, auf welchem er ſteht. Nicht ſo unſere heutige Philo - ſophie. Sie hat ſich von dieſer unwürdigen Abhängigkeit, welche auf die freithätige Wirkſamkeit ſouveräner Geiſter nur hemmend einwirken kann, vollkommen losgemacht und ſich ausſchließlich auf den Standpunkt des reinen Denkens geſtellt. Dort, auf dieſem erhabenen Standpunkte, entwickelt ſie die abſolute Wiſſenſchaft rein aus ſich ſelbſt heraus, aus jedem Begriff ſeinen Gegenſatz und aus den Gegenſätzen wieder neue Begriffe herausconſtruirend, ſo daß ihr glaubet, einen indiſchen Jongleur zu ſehen, welcher ſich vor euren57 Augen hundert Ellen Band aus dem eigenen Rachen heraus - windet. So etwas läßt ſich natürlich im gewöhnlichen Leben nicht nachmachen. Wollte die Philoſophie die Erklärung der uns umgebenden Räthſel, ſtatt in einer für uns unverſtänd - lichen und für Philoſophen mißverſtändlichen Sprache, in der Sprache des geſunden Menſchenverſtandes verſuchen, ſo würde ſie bei gar vielen Fragen ihr Unvermögen zu einer beſtimm - ten und genügenden Antwort eingeſtehen müſſen. Jn einem ſolchen Falle würde aber offenbar die Philoſophie die ihr von unſerem Zeitbewußtſein geſtellte Aufgabe nicht löſen. Unſer Zeitbewußtſein muß nothwendig, nachdem ihm der Glaube an unſere eigene ſittliche Natur abhanden gekom - men iſt, ſich ausſchließlich an unſeren Verſtand halten, und es muß, nachdem ihm der Glaube an eine höhere ſittliche Macht über uns abhanden gekommen iſt, den Menſchen für das Höchſte, was exiſtirt, halten. Wenn aber der Menſch und im Menſchen der Verſtand das Höchſte iſt, ſo muß uns nothwendig der menſchliche Verſtand die göttliche Allmacht erſetzen können, ſonſt wären wir ja angeführt mit unſerer Souveränetät. Daher iſt die Allmacht des Verſtandes ein nothwendiges Poſtulat unſeres Zeitbewußtſeins, und das Zeitbewußtſein mußte der Philoſophie nothwendig den Auf - trag ertheilen, zu beweiſen, daß dem menſchlichen Verſtande nichts zu hoch und nichts zu rund ſei. Und die Philoſophie hat ſich dieſem Auftrag mit Todesverachtung unterzogen. Da wo der menſchliche Verſtand zu kurz iſt, um zu verſtehen, was wir nun einmal nach unſerer Beſtimmung nicht berufen ſind zu verſtehen, da haben unſere Philoſophen Worte erfunden, Worte und allmälig eine ganze Sprache, durch die man Alles zu erklären vermag, was man verſteht und58 was man nicht verſteht, was da iſt und was nicht iſt, was ſein kann und was nicht ſein kann, eine Sprache, mit der man ſchwarz aus weiß, wahr aus unwahr, gut aus ſchlecht machen kann, je nachdem man’s gerade nimmt. Das reine Denken iſt eine reine Sprache geworden, eine Sprache, welche nirgends in’s Leben paßt, weil ſie nicht aus dem Leben entſtanden iſt, und gegen welche ſich der geſunde Menſchenverſtand ebenſo ſehr als das ſittliche Gefühl auf - lehnen muß. Denn was ſoll der geſunde Menſchenverſtand dazu ſagen, wenn er ſieht, daß die Philoſophie den breiten Boden der Thatſachen, auf welchem jeder nicht betrunkene Menſch ſehr bequem und ſicher gehen kann, als eine un - brauchbare Bahn behandelt und ihm zumuthet, der ſchmalen Linie des reinen Denkens den Vorzug zu geben, auf welchem ſie, mit der Balancirſtange einer ſubtilen Dialektik bewaffnet, ihm in herzbrechenden Krümmungen und Windungen eine Reihe von Seiltänzerkünſten vorgaukelt? Und was ſoll das ſittliche Gefühl dazu ſagen, wenn die Philoſophie es für mundtodt erklärt, und behauptet, daß Nichts als exiſtirend anerkannt werden dürfe, Nichts zum Fortleben berechtigt ſein könne, was nicht aus der Kraft des Begriffes ſeinen Ur - ſprung abzuleiten vermöge? Jſt es denn nicht offenbar, daß man auf dem Wege des reinen Denkens ebenſo gut Pflaſter - ſteine entdecken könnte, als ſittliche Empfindungen, und daß eine Wiſſenſchaft, welche Nichts anerkennen will, was ſie nicht auf dem Wege des reinen Denkens gefunden hat, ſchon längſt ſogar die Exiſtenz der Pflaſterſteine geläugnet haben würde, wenn dieſe nicht glücklicher Weiſe ſo greifbarer Natur wären?

Eine Bildung, welche einer derartigen Philoſophie das Leben geben konnte und dieſelbe mit allen ihren Ver -59 kehrtheiten erträgt, eine ſolche Bildung muß nothwendig eine ausſchließliche Verſtandesbildung ſein, aber nicht eine Bildung des geſunden Menſchenverſtandes, welcher aus That - ſachen ſein Urtheil ſich bildet, ſondern eine krankhafte Verſtandesbildung, welche den umgekehrten Weg, den Weg von den Begriffen zu den Thatſachen für den rich - tigen hält.

Von allen Seiten her ertönt täglich lauter die Klage über eine Begriffsverwirrung, welche immer allgemeiner werde und eine Verſtändigung über die wichtigſten Fragen immer ſchwieriger mache. Eine geſunde Verſtandesbildung erzeugt aber keine Begriffsverwirrung, ſondern Klarheit des Denkens und Leichtigkeit der Verſtändigung. Und in welchen Gebieten des menſchlichen Denkens äußert ſich dieſe Begriffs - verwirrung am auffallendſten? Ueberall, wo von Recht und Unrecht, von Gut und Böſe die Rede iſt, alſo überall, wo es ſich um Fragen handelt, welche auf dem ſittlichen Gebiete wurzeln, überall, wo es ſich um die Aufſtellung oder Anwen - dung von ſolchen Grundſätzen handelt, welche nur unter der Vorausſetzung einer ſittlichen Ueberzeugung einen Sinn haben. Woher kömmt dieſes? Weil wir eine Verſtandesbil - dung haben, welche die ſittlichen Wahrheiten aus der Kraft des Begriffes ſchöpfen will, und ſie dort aus ſehr natürlichen Gründen nicht findet.

Allerdings hat ſich in neuerer Zeit die Begriffsverwirrung auch noch auf andere Gebiete ausgedehnt, welche mit ſittlichen Fragen wenig oder nichts zu thun haben. So finden wir z. B. in vielen wiſſenſchaftlichen Lehrbüchern der verſchie - denſten Art einen beklagenswerthen Reichthum an hohlen Redensarten, welche, wie ſie ſelbſt nur das Erzeugniß eines60 krankhaften Denkens ſind, auch nach anderen Seiten hin nur Begriffsverwirrung verbreiten können. Dieſe Quelle aber iſt nur abgeleiteter Art, ſie iſt eine Wirkung des Einfluſſes unſerer Philoſophie. Uebrigens iſt die Methode, welche in dieſen Lehrbüchern herrſcht, allzu bezeichnend für die Art un - ſerer Verſtandesbildung, als daß ſie hier nicht erwähnt werden ſollte. Die nämliche Ueberzeugung von der Allmacht des Verſtandes, welche unſere Philoſophen verleitet, eine neue Grundlage unſerer ſtaatlichen, geſellſchaftlichen und Glau - benszuſtände blos durch die Kraft des Begriffes erzeugen zu wollen, äußert ſich auch bei der Abfaſſung von Lehrbüchern über ganz poſitive Wiſſenſchaften. Vom Begriff zu den That - ſachen, nicht von den Thatſachen zum Begriff, ſo heißt die neue Methode. Da ſtellt dann ſo ein neuwiſſenſchaftlicher Verfaſſer an die Spitze ſeines Lehrbuches irgend einen all - gemeinen inhaltleeren Satz über das Seiende und Nicht - ſeiende, oder etwas der Art, und kommt allmälig, vom All - gemeinen zum Beſonderen herabſteigend, zu der Entdeckung, daß die Spinne nach den Geſetzen des Denkens noth - wendig acht Füße haben müſſe. Und die ganze gelehrte Welt nickt wohlgefällig Beifall zu dieſem Erfolge der Wiſſenſchaft des reinen Denkens. Aber daneben finden ſich auch Lehr - bücher, deren Verfaſſer, von den gleichen Vorderſätzen aus - gehend und nach der gleichen Methode, zu dem Schluß kommen, daß die Spinne nach den Geſetzen des Denkens nothwendig neun Füße haben müſſe und alſo auch wirklich habe, und darüber bricht dann die ganze philoſophiſch gebildete Gelehr - tenwelt in einen unerhörten Beifallsſturm aus. Denn das iſt ja gerade der höchſte Triumph der neuen Wiſſenſchaftlich - keit, daß ſie ſich durch keine ungerechtfertigte Herkömmlichkeit61 in der freithätigen Wirkſamkeit der Kraft des Begriffes beirren läßt und dem niedrigen Vorurtheil der Thatſachen die untrügliche Macht des reinen Denkens entgegenſtellt. Ernſtlich geſprochen, es iſt weit gekommen in Deutſchland. Sonſt verlangte man von einem wiſſenſchaftlichen Buche vor Allem ein gründliches und umfaſſendes Studium der Thatſachen, ſodann eine der Natur dieſer Thatſachen entſprechende klare Anordnung des Stoffes, und endlich ein aus dieſen Thatſachen geſchöpftes beſtimmtes Urtheil. Jetzt hat die Begriffsverwirrung auch dieſes von uns ſonſt ſo hoch geachtete Wort erfaßt, denn jetzt verſteht man (man, d. h. unſere reinen Denker und ihr bereits ſehr zahlreicher Anhang) unter einem wiſſenſchaftlichen Buche ein ſolches, deſſen Ver - faſſer das Talent beſitzt, aus einem halben Dutzend philo - ſophiſch klingender Sätze und Gegenſätze, je nachdem man es verlangt, entweder ein Lehrbuch der Geſchichte, oder eine Gram - matik über eine beliebige Sprache, oder ein Handbuch der Na - turgeſchichte, oder was ſonſt gerade die Aufgabe iſt, zu ent - wickeln, und zwar nöthigenfalls ohne alles tiefere Studium des Gegenſtandes, rein durch die Kraft des Begriffes und mit ſouveräner Geringſchätzung der Thatſachen. Wenn Solches in Deutſchland geſchehen kann, in einem Lande, welches ſonſt ſo ſtolz war auf ſeinen wiſſenſchaftlichen Ruhm, daß es ſich nicht ſelten gegenüber von anderen Nationen ſogar über den Mangel an nationaler Einheit und Größe zu tröſten ſchien in dem Gedanken an den wiſſenſchaftlichen Ernſt und an die gründlichen Leiſtungen ſeiner Gelehrten, wenn Solches bei uns ungeſtraft geſchehen kann, dann ſollte man faſt glauben, der Anfang vom Ende ſei gekommen. Was bleibt uns denn da noch übrig, worauf wir ſtolz ſein könnten,62 außer unſeren Erinnerungen und dem wiederhergeſtellten Bundestag?

Aber auch in denjenigen Kreiſen, auf welche ſich ein unmittelbarer Einfluß dieſer neuwiſſenſchaftlichen Methode noch nicht erſtreckt, werdet ihr ſelbſt bei dem beſten Willen ſchwerlich eine andere Art von Bildung entdecken, als eine ſolche, welche zur Begründung ſittlicher Ueberzeugungen unfähig iſt. Wo ſolche ſittliche Ueberzeugungen begrün - det werden, da geſchieht es unabhängig von der Art unſerer Bildung. Befraget doch nur einen ſolchen Gebildeten, was Bildung heiße, er wird euch nur von der Ausbildung unſerer ſinnlichen und intellektuellen Anlagen ſprechen, aus welcher ſich dann das Uebrige nach ſeiner Meinung von ſelbſt ergibt. Von einem dritten Elemente in uns, welches von dieſen beiden weſentlich verſchieden wäre, von einem ſelbſt - ſtändigen ſittlichen Elemente in uns wird er nichts wiſſen wollen. Doch gehen hier die Wege unſerer gebildeten Denker auseinander. Die eine Partei erklärt uns mit dürren Wor - ten, daß ſie durch ihren Geiſt, durch ihr Denkvermögen, durch ihren Verſtand zwar recht wohl zur Erkenntniß zahlreicher, in der ſinnlichen Natur und auf dem Gebiete des Geiſtes beſtehender Geſetze gelange, und daß ſie ſich recht wohl ein allen dieſen Geſetzen zu Grunde liegendes höchſtes Geſetz denken könne, daß ſie aber durch ihren denkenden Geiſt un - möglich zu der Annahme von der Exiſtenz ſittlicher Empfin - dungen in uns, und einer höchſten ſittlichen Macht über uns gelangen könne, und daß ſie daher das Sittliche als nicht vorhanden betrachten müſſe. Daß von dieſer Partei nichts geſchehen könne zur Aufrechthaltung ſittlicher Wahrheiten, iſt klar. Sie ſteht offen auf dem Standpunkte der Anarchie63 und hat dabei für ſich den Vorzug der Conſequenz. Dieſer Partei gegenüber ſteht eine andere, deren beſſeres Jch ſich gegen dieſes Ableugnen des ſittlichen Elements in und über uns ſträubt, welche aber, da ſie gleichfalls den Menſchen blos als ſinnliches und denkendes Weſen auffaßt und nicht von der fixen Jdee loskommen kann, daß der eigentliche Menſch ein denkender Geiſt ſei und weiter nichts, zu Fiktionen ihre Zuflucht nehmen muß, nämlich zu der Annahme, daß wir durch unſer Denken in den Beſitz und zum Bewußtſein ſitt - licher Wahrheiten gelangen könnten. Dieſe ſprechen daher gerne von der Erkenntniß des Wahren, Guten und Schönen als von einem ausſchließlichen Ergebniß unſeres Denkens, und gelangen dann durch einen zweiten, ebenſo wenig gerechtfertigten Sprung zu der Liebe des Wahren, Guten und Schönen, woran ſich alsdann allerdings vielerlei anreihen läßt. Aber zum Erfaſſen ſittlicher Empfindungen, ohne deren Vorhandenſein gar nicht von einer Erkenntniß der Exiſtenz des Guten die Rede ſein kann, iſt doch offenbar der denkende Geiſt ſo wenig das Organ, als das Auge zum Erfaſſen der Töne, oder das Ohr zum Unterſcheiden der Farben. Erſt wenn die ſittlichen Empfindungen als eine Thatſache in uns vorhanden ſind, kann der denkende Geiſt über dieſelben ſeine Thätigkeit ausdehnen. Gelangen wir aber zum Erfaſſen der ſittlichen Empfindungen durch eine andere Kraft als durch unſere Denkkraft, ſo werden wir dieſe andere Kraft auch üben müſſen, und das geſchieht dann doch offenbar nicht durch die Verſtandesbildung, nicht durch die Aufklärung, nicht dadurch, daß man die Leute Leſen und Schreiben lehrt. Wie man aber vollends gar von einem ſolchen denkenden Ding Liebe zu irgend etwas64 erwarten kann, Liebe zum Guten, einen ſittlichen Willen, das iſt rein unbegreiflich. Eine Bildung, welche derar - tigen Selbſttäuſchungen das Wort redet, iſt eine Nebel - kappe, welche man den Leuten über die Ohren zieht, ſo daß ſie am hellen Tage im Finſtern tappen. Eine ſolche Bil - dung muß ſich nothwendig von der Anſicht leiten laſſen, daß ſie durch die Pflege der Jntelligenz, durch Unter - richt und durch Einrichtungen, welche den Anforderungen des Verſtandes entſprechen, zugleich auch die ſittlichen Bedürfniſſe befriedige, während es doch eine unleugbare Thatſache iſt, daß man bei aller Geiſtesbildung, bei aller Gelehrſamkeit, bei aller Gewandtheit in den Geſchäftsfor - men, an Geſinnung und an ſittlichem Gehalte auf gleicher Stufe mit dem Zuchthäusler ſtehen könne, und ſie wird, während ſie nur darauf bedacht iſt, die Anforderungen des Verſtandes zu befriedigen, das ſittliche Element in uns immer mehr verkümmern laſſen. Dieſes iſt wohl der Stand - punkt der Mehrzahl unſerer Konſervativen , ein Stand - punkt, welcher unmöglich Kraft zum Widerſtand gegen die Anarchie verleihen kann. Da aber das Erzwungene und Unwahre dieſes Standpunktes allzu augenſcheinlich iſt und ſeine Unhaltbarkeit durch die tägliche Erfahrung immer mehr hervor - tritt, ſo verliert dieſe Partei täglich mehr von ihrem Anhang, und vergrößert durch ihre Verluſte jene erſtere Partei, deren Anſich - ten unvermeidlich zum Materialismus und zur Anarchie führen. Andere, welche minder leichten Kaufes in den Untergang des Staates und der Geſellſchaft einwilligen, aber daran verzweifeln, durch fortgeſetzte und neue Experimente des Ver - ſtandes der Anarchie einen Damm entgegenſtellen zu können, predigen uns bereits den Cäſarismus , d. h. auf gut Deutſch65 ein wohlgeordnetes Fauſtrecht, einen Rettungsanker, mit welchem wohl auch die Anarchie zufrieden ſein kann, denn er führt ſie nothwendig, wenn auch nicht gleich am erſten Tage, zum Siege. Eine Verſtandesbildung, welche das Fauſtrecht zu Hülfe rufen muß! Wem da kein Licht aufgeht, der iſt ſchwer zu überzeugen. Noch Andere endlich, ſehr Viele ſogar, verfallen nach einer anderen Seite hin aus einem Extrem in das andere und ſuchen das Heil, nachdem ſie es vergeblich in der Allmacht des menſchlichen Denkens geſucht hatten, in einer Vernichtung ſeiner natürlichſten Rechte und in einer gewaltſamen Unterwerfung des Verſtandes unter die buchſtäbliche Annahme irgend einer beſtimmten, allen ſeinen bisherigen Gewohnheiten wi - derſprechenden Form des Kirchenglaubens. Aber ſteht nicht zuletzt, trotz aller ſcheinbaren Verſchiedenheit, auch die Mehr - zahl unſerer ſtrenggläubigen Kirchenmänner ganz auf dem gleichen Boden mit unſerer heutigen Bildung? gilt nicht auch ihnen die Annahme der Form des Glaubens, die Annahme der nur mit Hülfe des Verſtandes für uns zugänglichen Form des Glaubensbekenntniſſes, als der erſte Schritt und als das Mittel zum Glauben? Jſt denn ein ſo großer Unterſchied zwiſchen den Philoſophen, welche nicht von den Thatſachen zum Begriff, ſondern vom Begriff zu den Thatſachen fortſchreiten wollen, und zwiſchen den Kirchenmännern, welche durch die Form des Glau - bens zum Glauben ſelbſt zu gelangen hoffen? Jſt ein we - ſentlicher Unterſchied zwiſchen dem Auftreten jener Philo - ſophen, welche erklären: Dieſe von uns durch die Kraft des Begriffes zu erfindenden Formen ſind die neuen Lebens - bedingungen, und wer fortzuleben begehrt, wird ſich ihnen566unterwerfen müſſen, und zwiſchen dem Verfahren dieſer ſtrenggläubigen Kirchenmänner, welche erklären: Dieſe von uns, von den Kirchenmännern und ihren Vorgängern im Amte, kraft menſchlichen Scharfſinns und menſchlicher Gelehrſamkeit aus der Bibel geſchöpfte und aufgeſtellte Form des Glaubens iſt die unerläßliche Bedingung für Alle, welche an Gott glauben wollen, und wer fortzuglauben begehrt, der wird ſich zur buchſtäblichen Annahme dieſer Form be - quemen müſſen? Von dem Augenblicke an, wo ihr euch entſchließet anzuerkennen, daß wir nicht durch die Annahme der Form des Glaubens in den Beſitz des Glaubens ſelbſt gelangen, werdet ihr auch anerkennen müſſen, daß ein Un - terſchied ſei zwiſchen der Form und dem Weſen des Glau - bens, und daß, während die Form nur einen relativen Werth hat, nur Werth hat, infofern ſie das geiſtige Be - dürfniß des glaubenden Subjekts befriedigt, der Kern des chriſtlichen Glaubens für alle Zeiten und für Perſonen von jeder Art der Bildung derſelbe ſei, für Alle den gleichen abſoluten Werth habe. Das gebet ihr aber nicht zu, für euch iſt der Jnhalt durch die Form bedingt, wer die Form hat, der hat den Jnhalt, und wer die allein richtige Form nicht buchſtäblich annimmt, der hat auch den alleinſelig - machenden Jnhalt nicht. Daran haltet ihr feſt, wie der Pliooph an der alleingeſcheidtmachenden Kraft des Begrif - fes, und ihr thuet daran ebenſo recht oder ebenſo unrecht wie er. Auch bewirket ihr auf dieſem Wege bei den mei - ſten Leuten ſo ziemlich das Nämliche, was die Philoſophen, nämlich Unglauben, das könntet ihr an einer ſehr nahe lie - genden Frage erkennen, an einer Frage, welche dem religiö - ſen wie dem natürlichen Denken gleich nahe liegt.

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Es iſt bekannt, daß man im Alterthum das Blau des Himmels, welches ſich über die Erde wölbt, für ein feſtes Gewölbe hielt, oder mehrere über einander liegende Gewölbe dieſer Art annahm, welche man als den Himmel, d. h. als den räumlichen Wohnſitz Gottes und der Engel be - trachtete. Ebenſo iſt bekannt, daß auch die heilige Schrift, obgleich ſie an ſich jede körperliche Vorſtellung von Gott verwirft, und deshalb auch die Anſicht, daß Gott an irgend einem Orte räumlich exiſtirend zu denken ſei, auf’s Entſchie - denſte zurückweist, dennoch jene Vorſtellung vom Himmel als dem räumlichen Wohnſitze Gottes und der Engel voll - ſtändig in die Form ihrer Darſtellung aufgenommen hat, und daß dieſe Vorſtellungsweiſe ſich keineswegs auf einzelne, leicht aus dem übrigen Zuſammenhang herauszudenkende Ausdrücke beſchränkt, ſondern einen ſehr weit gehenden Einfluß auch auf vieles Andere ausübt. Wenn uns daher auch gar nichts Anderes berechtigte oder vielmehr verpflichtete, in unſerer Auffaſſung der chriſtlichen Lehre einen Unterſchied zu machen zwiſchen Form und Weſen, zwiſchen der bild - lichen Darſtellung, wie ſie der damaligen Zeit ſo geläufig war, und zwiſchen Demjenigen, was eigentlich darunter zu verſtehen iſt, ſo würde dieſe Nothwendigkeit ſchon aus die - ſem einzigen Beiſpiele (welches bekanntlich nur eines unter vielen iſt) hervorgehen. Denn es iſt unchriſtlich, kör - perliche Vorſtellungen auf Gott zu übertragen, ſofern wir nämlich die Sache buchſtäblich nehmen. Aber gleichwohl iſt der Gebrauch derartiger bildlicher Darſtellungen, ſowohl in Bezug auf dieſe als auf viele andere Fragen gegenüber von unzähligen Menſchen geradezu eine Nothwendigkeit, und gegenüber von ebenſo vielen Anderen wenigſtens eine ſehr5 *68willkommene Erleichterung ihres religiöſen Denkens. Und dieſer Gebrauch iſt um ſo mehr gerechtfertigt, als aus dem nämlichen Grunde, aus welchem der menſchliche Verſtand unfähig iſt, die vollkommene Wahrheit zu erfaſſen, auch die menſchliche Sprache und Darſtellung ſtets nur unvoll - kommen und verſchleiert die Wahrheit wiederzugeben vermag. Aber von dem Augenblicke an, wo ihr die buchſtäbliche Auffaſſung dieſer Lehre vom Himmel als eine Pflicht des Verſtandes fordert, werdet ihr den heftigſten Wider - ſpruch ſogar von Seiten Derjenigen erfahren, welche ſich ohne jene bildliche Darſtellung überhaupt gar nicht zu hel - fen wüßten, und ſie werden mit Recht dieſen Widerſpruch auf die Weigerung ihres Verſtandes ſtützen, zweierlei ſich widerſprechende Arten der Vorſtellung gleichzeitig ſich anzu - eignen, die eine für ihr kirchliches, die andere für ihr außerkirchliches Denken. Und je mehr ihr in der Kirche auf das buchſtäbliche Feſthalten der kirchlichen Darſtellung hinarbeitet, um ſo lauter wird den Leuten, wenn ſie aus der Kirche heraustreten, das ganze übrige Denken aus jedem Winkel des alltäglichen Lebens heraus einen Widerſpruch gegen jene kirchliche Form des Denkens zurufen. Dieſer Widerſpruch wird ſich dann aber durch eure eigene Schuld nicht auf die Form beſchränken, ſondern auch den Jnhalt zugleich erſchüttern. Und wie tief auch der Eindruck ſein mag, welchen ihr augenblicklich durch eure Beredtſamkeit auf die Zuhörer hervorgebracht habt, ſo wird dieſen dennoch, ehe ſie ſich drei Straßen weit von der Kirche entfernt haben, das kaum errungene Beſitzthum des Glaubens wie ein Traum - bild zerrinnen. So kommt es dann, daß ſo Viele, welche, ſo lange ſie in der Kirche ſind, ſich erbauen, außerhalb69 der Kirche, wo ſie dieſen Glauben wenigſtens ebenſo ſehr bedürften, ohne Glauben dahinleben.

Aber gerade dieſes nämliche Beiſpiel, aus welchem die Kirchenmänner entnehmen könnten, daß der Verſtand ſeine natürlichen Rechte hat, welche ſich nicht ungeſtraft im Na - men des Glaubens aufheben laſſen, dieſes nämliche Beiſpiel könnte auch unſere gebildeten Denker lehren, daß der Ver - ſtand ſeine natürlichen Grenzen hat, über welche hinaus er nichts mehr vermag. Stellt euch doch einmal hinaus, ihr Hochgebildeten, in einer ſternenhellen Nacht und be - trachtet die zahlloſen Sterne. Jhr wiſſet perfekt, daß das nicht Lichter ſind, welche an einem über die Erde ausge - ſpannten Gewölbe, Himmel genannt, hängen, ſondern daß das Weltkörper ſind, welche in einem unendlichen Raume ſchweben. Jhr wiſſet, daß die einen derſelben uns näher ſind als die anderen, wieder andere liegen noch ferner von uns, hinter dieſen ſind wieder andere, und nun denkt euch doch gefälligſt einmal, daß das in alle Ewigkeit ſo fort - gehe, und daß hinter dieſen Sternen immer wieder andere ſeien, oder doch daß der Raum, in welchem ſie ſchwimmen, endlos ſei, endlos denkt euch das doch gefälligſt einmal, ihr ſtarken Denker! Kann euer Verſtand, kann eure Phan - taſie, kann all eure Geiſteskraft zuſammengenommen, einen endloſen Raum denken? Nein, ihr könnt es nicht. Wohlan, ſo denket euch doch einmal das Gegentheil, denket euch hin - ter dieſem tiefen, endlos ſcheinenden Blau und hinter den letzten, entfernteſten Sternen eine Grenze, hinter welcher nichts mehr kommt, aber wohlverſtanden: lediglich gar nichts, nicht einmal ein leerer Raum. Könnt ihr das? Auch nicht? Nun, ſo denket euch doch wenigſtens, daß keines von beiden70 ſtatt finde. Jhr könnt es ebenſo wenig. Und wenn Jhr den gleichen Verſuch, welchen ihr da ſo eben mit Bezug auf den Raum gemacht habt, mit unſerer Vorſtellung von der Zeit machen wollt, vorwärts und rückwärts, nach Anfang und Ende, ſo wird es euch damit nicht beſſer ergehen und ihr werdet das Geſtändniß, daß unſer Verſtand unfähig ſei, dieſe Aufgabe zu löſen, nur dadurch umgehen können, daß ihr euch und uns mit Hülfe jener neuphiloſophiſchdeutſchen Sprache, durch welche man Alles erklären kann, auch das was man nicht denken kann, ein X für ein U machet. Und bedenket es wohl: Es handelt ſich hier nicht um das Begreifen des Weſens der Dinge und auch nicht um das Erfaſſen ſittlicher Empfindungen, wozu der Ver - ſtand ohnehin unfähig iſt, es handelt ſich hier um das, was ihr die allgemeinen Formen der Anſchauung nennet, es handelt ſich alſo hier um eine Frage, bei welcher ſich der Verſtand auf dem ihm eigenthümlichen Gebiete bewegt.

Während unſere krankhafte Bildung unfähig iſt, das ſittliche Element zu befriedigen, weil ſie es von unſerem Denken abhängig glaubt, ſo würde eine geſunde Bildung die Selbſtſtändigkeit dieſes ſittlichen Elementes anerkennen und daſſelbe auch auf ſelbſtſtändigem Wege zu befriedigen ſuchen. Mit dieſer Anerkennung der Selbſtſtändigkeit des ſittlichen Elements würde zugleich der Unterſchied von Form und Weſen des Glaubens ausgeſprochen ſein, und damit wäre allen unſeren kirchlich-theologiſchen Händeln die Spitze abgebrochen. Durch dieſe Anerkennung der Selbſtſtändigkeit des ſittlichen Elements wäre aber auch der Wahn von der Allmacht des menſchlichen Verſtandes gebrochen und er würde71 dadurch veranlaßt werden, wieder in ſeine natürlichen Gren - zen, in die Grenzen des geſunden Menſchenverſtandes zurück - zukehren, wo Klarheit des Denkens, nicht Begriffsverwir - rung herrſcht. Statt in thörichtem Uebermuth ſeine Waſſer weit über ſeine Ufer auszudehnen und Flur und Wald ver - heerend zu überziehen, würde der herrliche Strom unſeres Denkens auf ſeinen edlen Wogen das Schifflein unſeres Lebens wieder wie ſonſt in ſicherer Fahrt zwiſchen blumigen Wieſen und reichen Feldern dahintragen.

V. Der Glaube.

Die Grundbedingung aller Religion beruht in dem Glauben an die Exiſtenz einer über uns waltenden höchſten ſittlichen Macht und an unſere eigene Verpflichtung, ihren Willen zu ehren und zu befolgen. Der bloße Glaube an unſere Abhängigkeit von einer höchſten Macht iſt kein Quell der Religion, ſondern der Furcht. Furcht haben aber auch die Thiere. Erſt der Glaube an eine höchſte ſittliche Macht iſt die Grundbedingung der Religion, und nur ein ſittliches Weſen vermag einen höchſten heiligen Willen zu erkennen, zu ehren und zu lieben. Wenn wir nicht ſelbſt ſittlicher Natur und durch dieſelbe mit jener höchſten ſittlichen Macht verwandt wären, ſo würden wir weder zu dieſem Verhältniß ſittlicher Abhängigkeit, noch zu allen anderen Empfindungen, welche in ihm ihre Quelle haben, befähigt ſein. Wenn aber ſo die Befähigung des Menſchen zur Religion ihrem letzten Grunde nach auf unſerer ſittlichen Natur beruht, ſo ergibt ſich daraus, daß nur in ſo weit, als der Menſch ſich ſeiner ſitt -72 lichen Natur bewußt iſt, die Wahrheiten der Religion, und zwar der geoffenbarten ſo gut als der Vernunftreligion, von ihm ſo lebendig erfaßt werden können, daß ſie die Jnnigkeit und Kraft des Glaubens erlangen.

Wenn aber gegenwärtig der Glaube an die Exiſtenz einer höheren ſittlichen Macht, welcher wir Ehrfurcht und Gehorſam ſchuldig ſind, faſt allenthalben in ſo hohem Grade erſchüttert iſt, an wem liegt die Schuld? Die Kirchenmänner werden ſagen, die Schuld liege am Staate, welcher ihre Macht geſchmälert, den Unglauben gegen das Einſchreiten der Kirche in Schutz genommen, ſeine ganze Sorgfalt ande - ren Jntereſſen als denen der Religion zugewendet habe. Die Kirche hat das Recht, ſchwere Anklagen gegen den Staat zu erheben, wenn ſie ſelbſt immer auf dem rechten Wege war, wenn ſie ſelbſt ſtets vor allen Dingen darnach trach - tete, die Grundbedingung aller Religion unter uns aufrecht zu erhalten, wenn ſie ſelbſt in allen Dingen mit gutem Bei - ſpiel voranging.

Warum hat denn überhaupt der Staat eure Macht ge - ſchmälert? Er that es in neueren Zeiten zumeiſt aus dem Grunde, weil es mehrere Kirchen gab, und weil dieſe ſich unter einander nicht vertragen konnten, einander befchdeten und verfolgten bis auf’s Blut. Und was war denn der Grund und Zweck dieſer Kämpfe? Seit achtzehn hundert Jahren hat es innerhalb der chriſtlichen Kirche unzählige Abweichungen in der Auffaſſung der chriſtlichen Lehre und ſehr verſchiedene Bekenntniſſe gegeben. Nicht ein einziges dieſer Bekenntniſſe leugnete eine höchſte heilige Macht über uns, nicht ein einziges derſelben leugnete, daß wir bei red - lichem Streben den göttlichen Willen erkennen können, und73 daß es unſere Pflicht ſei, ihn in Ehrfurcht und Gehorſam zu erfüllen, ſo gut wir es vermögen.

Jedes dieſer Bekenntniſſe, wie abweichend von einander und wie unvollkommen ſie auch ſein mochten, trug in ſich die Grundbedingung der Religion und war fähig, die Men - ſchen zu Gott zu führen. Hätten ſich die Anhänger dieſer verſchiedenen Bekenntniſſe, ohne das Geringſte von ihrer eigenen Ueberzeugung zu opfern, brüderlich in der gemein - ſamen Aufgabe, die Menſchen zu Gott zu führen, unterſtützt, hätten ſie das, was die Hauptſache iſt und worin ſie übereinſtimmten, zu ihrer Hauptaufgabe gemacht, und hätten ſie das, worin ſie nicht übereinſtimmten, Gott anheimgeſtellt, durch die That zu beweiſen ſuchend, welches Bekenntniß rich - tiger und geeigneter ſei, die Menſchen zu Gott zu führen, ſo würde es jetzt beſſer um den Glauben bei uns ſtehen, und dann würde auch für den Staat ein Hauptgrund, die Macht der Kirche oder der Kirchen zu ſchmälern und ſich auf einen neutralen Boden zu ſtellen, hinweggefallen ſein. Statt deſ - ſen verketzerten und bekämpften ſich die Anhänger der ver - ſchiedenen Bekenntniſſe in jeder Weiſe und verfälſchten da - durch geradezu die Natur der Religion. Denn durch dieſe theologiſchen Händel wurden Fragen, welche im Verhältniß zur Hauptfrage doch nur von untergeordneter Art ſind, zur Hauptſache gemacht und die eigentliche Hauptſache darüber vergeſſen. Und indem Fragen, welche doch nur mit den Waffen des Verſtandes und der Gelehrſamkeit entſchieden werden können, zur Hauptſache gemacht wurden, wurde von der Kirche ſelbſt der Kampf auf ein Gebiet hinüber geſpielt, auf welchem der Glaube nothwendig dem Unglauben unter - liegen mußte, weil die Wurzel des religiöſen Glaubens gar74 nicht auf dieſem Gebiete zu ſuchen iſt. Mit derſelben Ge - häſſigkeit aber, mit welcher die Kirchenmänner der verſchie - denen Bekenntniſſe ſich gegenſeitig verfolgten, wütheten ſie auch gegen die Anhänger des eigenen Bekenntniſſes. Die reinſte Gottesfurcht, das kindlichſte Vertrauen auf Gott, die treueſte Hingebung in ſeinem Dienſte ſchützten nicht gegen Verfolgung, wenn dieſelben nicht mit ſtrengem Feſthalten am kirchlichen Lehrbegriff in allen ſeinen Theilen verbunden waren. Sollte der Staat ruhig zuſehen, wie menſchliche Rechthaberei ſo in ſeinen eigenen Eing eweiden, gegen ſeine beſten Bürger wühle? Sollte er ruhig zuſehen, wie die Kirche, um ſolche Zwecke mit größerem Nachdruck verfolgen zu kön - nen, nach der Oberherrſchaft über ihn ſelbſt ſtrebte? Wo die Kirche auf ſolchen Wegen war, da mußte der Staat, wenn er nicht durch innere Kämpfe und ohne allen Nutzen für die Kirche ſelbſt, zu Grunde gehen wollte, der Gewalt der Kirche Schranken ſetzen.

Und jetzt, wo die in ihren Grundlagen erſchütterte Ge - ſellſchaft fühlt, daß der Unglaube die Quelle aller ihrer Leiden ſei, was haben wir wohl jetzt von der Kirche, von den Kirchenmännern aller Parteien zu erwarten? Wird es ihnen vor Allem darum zu thun ſein, das ſo allgemein geſchwächte und bei Unzähligen faſt erſtorbene ſittliche Be - wußtſein wieder zu beleben, uns daran zu erinnern daß wir durch unſere ſittliche Natur, durch unſere Fähigkeit den göttlichen Willen zu erkennen, Gottes Kinder ſind? Wird ſie es als ihre dringendſte Aufgabe betrachten, überall, bei Hoch und Niedrig, auf die Bereitwilligkeit hinzuarbeiten, den göttlichen Willen zu ehren und ihm den menſchlichen unterzuordnen? Oder wird die Kirche vielmehr vor allen75 Dingen darauf hinarbeiten, die von ihr abweichenden Be - kenntniſſe zu bekämpfen und ſich bei ihren eigenen Angehö - rigen die ſtrengſte Anerkennung des Bekenntniſſes und der Satzungen der Kirche zu erzwingen, in dem Wahne, daß, wenn dieſe Begriffe einmal in den Köpfen der Menſchen ſtecken, der Glaube, welcher ſeine Quelle nicht im Denken, nicht in den Vorſtellungen hat, hintennach kommen werde? Wenn ſie das Erſtere thut, mit hohem ſittlichem Ernſte und mit hoher ſittlicher Milde, ſo wird ſie, ſo viel an ihr iſt, ihre Aufgabe löſen und die meiſt verlorene Macht über die Gemüther der Menſchen wieder erlangen. Wenn ſie aber das Letztere thut, ſo wird ſie nicht nur ihre Aufgabe nicht löſen, ſondern auch die Gedanken der Menſchen noch mehr, als jetzt ſchon der Fall iſt, von demjenigen ablenken, was uns in ſo hohem Grade nöthig iſt, und ſie in eine Richtung führen, aus welcher uns keine Beſſerung erblüht.

Anſtatt der ſittlichen Selbſtprüfung und der ernſten Einkehr in unſerem eigenen Jnnern, anſtatt der Demuth und des gläubigen Gottvertrauens, deſſen wir ſo ſehr bedürften, würde ſie neue Kampfſpiele des Verſtandes über theologiſche Fragen hervorrufen und dadurch auf der einen Seite Wi - derſpruch, Rechthaberei und Verſtandeshochmuth, auf der anderen endloſe Zweifel und Zerriſſenheit der Gemüther befördern. Wer aber das thut, der arbeitet für die Anarchie in der Kirche und im Staate, wie wenig das auch ſeine Abſicht ſein mag.

Und wir wollen ja Chriſten ſein oder wenigſtens Chriſten heißen würde wohl ein ſolches Verfahren chriſtlich ſein? Was that denn unter Verhältniſſen, welche mit unſeren Zuſtänden in ſo vielfacher Beziehung Aehnlichkeit haben, der76 Stifter unſerer Religion? Wenn der Welt durch Aufſtellung eines genau formulirten Glaubensbekenntniſſes und durch die buchſtäbliche Annahme deſſelben geholfen werden könnte, wie kömmt es, daß Chriſtus damals kein ſolches Glaubensbe - kenntniß aufſtellte?

Waren damals etwa bereits ſo richtige Vorſtellungen über Gott und unſer Verhältniß zu ihm unter den Menſchen verbreitet, daß die Aufſtellung eines ſolchen Glaubensbe - kenntniſſes eher entbehrt werden konnte, als zu unſerer Zeit? Sind wir jetzt, nachdem das Chriſtenthum bereits achtzehn hundert Jahre beſtanden hat, nachdem es ſo lange Zeit in allen Städten und Dörfern, in Kirchen und Schulen gelehrt worden iſt, ärmer als damals an richtigen Vorſtellungen über die Fragen der Religion? War damals die Welt nicht noch mehr als jetzt voll von Jrrthümern, Aberglauben und Unglauben aller Art? Wäre es alſo damals nicht noch viel nöthiger geweſen, zum Unterſchiede von allen dieſen Jrr - lehren und um die Einmiſchung nichtchriſtlicher Anſichten zu verhindern, einen mit der größten Genauigkeit und Vollſtändig - keit ausgeführten kirchlichen Lehrbegriff aufzuſtellen? That denn dieſes Chriſtus? Wenn er es gethan hätte, ſo wären ja wohl alle die endloſen theologiſchen Händel, welche ſchon von den erſten Jahrhunderten der chriſtlichen Zeitrechnung an die chriſtliche Kirche bewegten, gar nie möglich geweſen und es wäre auch jetzt kein Streit möglich innerhalb der chriſtlichen Kirche, ſondern die ganze Kirche ſtände mit vereinter Kraft ihren Feinden gegenüber. Dennoch ſtellte Chriſtus kein ſolches Glaubensbekenntniß auf, wohl aber that er das, wodurch allein der chriſtliche Glaube begründet werden kann. Ueberall wandte er ſich an das ſittliche Bewußtſein der Menſchen,77 überall erinnert er ſie, daß ſie göttlichen Urſprungs, daß ſie Gottes Kinder ſeien, überall ſucht er in ihnen dieſes Be - wußtſein zu beleben und zu kräftigen.

Auf das Bewußtſein von unſerer höheren, göttlichen Natur ſucht er unſeren Glauben an Gott, unſere Ehrfurcht vor ſeinem heiligen Willen, unſer kindliches Vertrauen auf ihn zu gründen. Ja er beruft ſich ſogar geradezu für die Wahr - heit ſeiner Lehre auf das Zeugniß unſeres eigenen ſitt - lichen Bewußtſeins: So Jemand will deß Willen thun, der wird inne werden, ob dieſe Lehre von Gott ſei, oder ob ich von mir ſelbſt rede. Er beruft ſich alſo nicht auf das Zeugniß unſeres Denkvermögens, d. h. derjenigen Kraft, deren wir zum klaren Erfaſſen und richtigen Verſtehen der einzelnen Punkte und überhaupt der Form eines Glaubens - bekenntniſſes bedürfen, er beruft ſich vielmehr auf eine an - dere Kraft in uns, welche nicht durch Unterricht und Be - lehrung, ſondern durch demüthige Unterwerfung unter Gottes Willen und durch treues Befolgen deſſelben gekräftigt und zu einem Ausſpruch befähigt wird, und das iſt ja eben das ſittliche Bewußtſein. Darum ſagt er auch nicht: Wahrlich, ſo ihr nicht werdet wie die Schriftgelehrten und Prieſter, ſondern ſo ihr nicht werdet wie die Kinder. Hinge das Heil unſerer Seele von der Annahme einer beſtimmten Form des Glaubensbekenntniſſes ab, wobei doch offenbar ein richtiges Verſtändniß deſſelben nicht fehlen dürfte, ſo würden uns gewiß nicht gerade die Kinder als Vorbild hin - geſtellt werden, in welchen die menſchliche Unvollkommenheit der Auffaſſung noch viel größer iſt, als bei Erwachſenen. Aber bei den Kindern iſt durch ihr ſittliches Ver - hältniß zu den Eltern zugleich einem ähnlichen Gefühle78 gegen den himmliſchen Vater der Zugang bereitet, in ihnen iſt durch die Gewohnheit, einer höheren ſittlichen Autorität zu gehorchen, das Gewiſſen empfänglich, das ſittliche Be - wußtſein lebendig genug, um dem religiöſen Denken einen Jnhalt, eine Grundlage zu geben, während bei den Er - wachſenen Verſtandeshochmuth und die Gewohnheit, nur ihrem eigenen Willen zu dienen, nur allzu oft das ſittliche Bewußt - ſein erſticken.

Aber gerade das war es auch, was die Wuth der Schrift - gelehrten gegen ihn ſo ſehr entflammen mußte. Es iſt ſo bequem, gewiſſe Sätze aufzuſtellen im Namen der Religion, gewiſſe Formen im Namen der Kirche, und von der Annahme dieſer Satzungen die Rechtfertigung vor Gott abhängig zu machen, indem man vorausſetzt, daß das Uebrige, was noch ſonſt vom Menſchen gefordert werden muß, ſich aus der Annahme dieſer Satzungen von ſelbſt ergebe. Gar unbe - quem aber iſt es, zu hören, daß unſere Wiedergeburt gar nicht im Kopfe und im Denken, ſondern im Herzen und in der Geſinnung vor ſich gehen müſſe, daß wir uns ändern, demüthigen, läutern, beſſern müſſen, um für beſſer zu gelten, und daß bei dieſem mißlichen Geſchäfte die geſcheidten Leute vor den Einfältigen gar nichts voraus haben ſollen. Wie, ein Schriftgelehrter, ein Doktor der Theo - logie ſoll durch all ſein Wiſſen und Denken, durch ſeine vollkommene Vertrautheit mit allen Satzungen der Kirche nicht ein Titelchen, nichts, gar nichts voraus haben, vor der allerſimpelſten Bauernfrau? nichts voraus haben vor Kindern? und wenn er meint, das demüthigende Geſchäft der ſittlichen Wiedergeburt umgehen und den Himmel mit ſeiner Dogmatik zufrieden ſtellen zu können, ſo ſoll er79 ſich gar mit übertünchten Gräbern vergleichen laſſen? iſt das nicht himmelſchreiend? darf ſich eine Verſtandes - bildung ſo das Meſſer an die Kehle ſetzen laſſen? Kreu - ziget ihn!

Hätte Chriſtus ſeine Aufgabe in Herſtellung einer neuen Form des Bekenntniſſes geſucht und dieſe neue Form mit den Waffen des Verſtandes und der Schriftgelehrſamkeit gegen die herkömmlichen Anſichten vertheidigt, ſo würde er nim - mermehr gekreuzigt worden ſein. Die chriſtliche Sekte wäre dann auf gleichem Boden mit allen anderen geſtanden, und er hätte ohne Gefahr neben ſo viele andere Schulen und Anſichten noch eine weitere ſtellen mögen. Man würde ihn von der einen Seite angefeindet und verhöhnt, von der an - deren geſchützt und geehrt haben, und die Welt wäre ge - blieben, was ſie war: innerlich krank. Denn durch eine Aenderung in der Form des Glaubensbekenntniſſes ändert man den inneren Menſchen nicht.

Man wird dagegen einwenden, eine gewiſſe Form des Bekenntniſſes ſei doch offenbar unentbehrlich, und es könne auch unmöglich gleichgültig ſein, welche Form des Bekennt - niſſes wir wählen, da nur eine einzige unter den verſchie - denen möglichen Formen die richtige ſein könne. Ganz gewiß. Selbſt wenn wir es nicht wollten, würde unſer denkender Geiſt die Thatſachen unſeres ſittlichen Bewußtſeins in eine beſtimmte Vorſtellungsweiſe einkleiden und ſie für ſich ſelbſt und für Andere in gewiſſe Sätze zuſammenfaſſen, es iſt das eine in unſerer denkenden Natur begründete Noth - wendigkeit. Nur ſollten wir, wenn wir von freier Wahl des Bekenntniſſes ſprechen, nicht vergeſſen, daß wir zwar die Kirche und ihr Bekenntniß wählen können, daß aber die80 Art der Auffaſſung dieſes Bekenntniſſes und die Vorſtellungen, welche wir mit demſelben verbinden, gar nicht in unſere Wahl gelegt ſind. Auch in Bezug auf den denkenden Geiſt gilt, was in Bezug auf die ſittliche Kraft des Glaubens: Man glaubt nicht, was man glauben will, ſondern was man glauben kann. Und auch das iſt unbeſtritten, daß in unſerem Glaubensbekenntniſſe und in unſerer Form des Glaubens uns gar nichts gleichgültig, gar nichts unwichtig ſein ſoll. Jhr ſollt die Form hochachten um des Jnhalts willen, wie ihr den Körper hochachten ſollt um der Seele willen. Und wo ihr berufen ſeid, euren Glauben zu be - kennen und zu lehren, da ſollt ihr ihn ganz ſo lehren, wie ihr ihn in euch traget, unverhüllt, mit ehrlichem Wort, im Ganzen und in ſeinen Theilen. Aber das gleiche Recht ſollt ihr auch Andern zugeſtehen, und Dieſen gegenüber ſollt ihr euch erinnern, daß Chriſtus nicht ſagte: An ihrem Glau - bensbekenntniß ſollt ihr ſie erkennen, ſondern an ihren Früchten. Dieſen gegenüber ſollt ihr euch erinnern, daß die Geſinnung nicht bedingt iſt durch die Formen der Vorſtellungen. Und wie ihr im gewöhnlichen Leben über den Charakter des Menſchen nicht nach der Farbe ſeiner Haare, nicht nach der Form ſeines Körpers urtheilct, ebenſo ſollt ihr auch bei eurem Urtheil über die religiöſe Geſinnung verfahren. Jhr ſaget freilich: Nur eine Form des Glau - bens kann die richtige ſein , und darüber wird zuletzt auch Niemand mit euch ſtreiten. Aber wenn ihr daraus folgert, daß Diejenigen, welche dieſe allein richtige Form ſich nicht an - geeignet haben, Ketzer ſeien, ſo ſind wir eben Alle ſammt und ſonders Ketzer, denn ſogar der Verſtand der Allerver - ſtändigſten iſt nicht im Stande, die reine göttliche Wahrheit81 ohne Beimiſchung der allergröbſten menſchlichen Jrrthümer oder Mängel zu erfaſſen. Jhr armſeligen Geſchöpfe könnt es mit aller Mühe nicht dahin bringen, daß zwei Menſchen, wenn ſie aus dem erſten beſten Buche eine halbe Seite leſen, mit dem Geleſenen genau die nämlichen Vorſtellungen ver - binden, und ihr wollt das Seelenheil von Millionen davon abhängig machen, daß dieſe Millionen ſich alle genau die gleichen Vorſtellungen von Gott und göttlichen Dingen machen? Denn wenn ihr das nicht erreichet, ſo habt ihr ja doch offen - bar den Zweck nicht erreicht, welchen ihr durch die allgemeine Annahme des allein richtigen Glaubensbekenntniſſes zu er - reichen hofftet.

Statt daher mit Anderen zu rechten über die Jrrthümer ihres Denkens, verbeſſert erſt eure eigene ſtets unvollkommene Auffaſſung des Glaubensbekenntniſſes, wenn euch dieſes Bekenntniß ſo theuer und werth iſt, als es euch ſein ſoll. Wer das redlich thut, der wird bald zur Milde im Urtheil über Andersdenkende geleitet werden, denn er wird vielleicht ſchon nach kurzer Zeit die Entdeckung machen, daß er früher in vielfachen Jrrthümern befangen war. Und wenn ihm dabei dennoch ſeine Erinnerung das Zeugniß geben kann, daß er auch früher, trotz jener Jrrthümer, von einem red - lichen Streben und von gottesfürchtiger Geſinnung erfüllt war, ſo wird ihn das ermahnen, über Andere nicht den Stab zu brechen, ſie nicht nach ihren Worten, ſondern nach ihren Früchten zu beurtheilen.

Nicht Alle, welche zu einer kirchlichen Gemeinſchaft ver - bunden ſind, können das Gleiche denken, aber Alle können ſich in gleicher Demuth vor Gott beugen, ſich in gleicher Geſinnung der Ehrfurcht und Liebe zu ihm wenden,682ähnlich wie Kinder zu einem Vater. Laſſet dieſes Band der gleichen Geſinnung wieder das eigentliche Band der chriſt - lichen Gemeinſchaft werden, dann wird bald ein neues Leben den halb erſtarrten Körper der Kirche durchdringen, dann werden Tauſende, welche jetzt noch ſich fern halten von der Kirche, ſich wieder zu ihr wenden, um in ihrem Schooße und in gemeinſchaftlicher Erbauung Nahrung zu ſuchen für ihre Seele, um erlöst zu werden von jener inneren Leere, welche ſie quält, und um den Frieden mit Gott wieder zu finden, welcher allein die Quelle alles wahren Glückes iſt. Wenn das Bewußtſein dieſes inneren Glückes, welches wir der chriſtlichen Religion verdanken, erſt wieder allgemeiner wird, dann wird auch die Geſinnung der Dankbarkeit wieder allgemeiner werden gegen die Kirche, und dieſe Dankbarkeit wird die Leute mächtiger zu ihr hinziehen, als alle jene lächerlichen, der Sache ſelbſt nur ſchädlichen Befehle zum Kirchenbeſuch. Und ihr werdet dann vielleicht bald noch eine andere Erfahrung machen. Während ihr jetzt durch kein Mittel der Belehrung oder des äußeren Zwanges die durch unſere Alles zerſetzende Verſtandesbildung erhöhte Verſchie - denheit des Denkens und der Anſichten auszugleichen oder zu vertilgen vermöget, werdet ihr ſehen, daß auf dem neu - gewonnenen Boden einer in der Geſinnung und in dem ſitt - lichen Bewußtſein begründeten Gemeinſchaft jene Verſchie - denheit der Anſichten ſchnell aufhören wird, ſtörend zu ſein, ihre Schärfe verlieren und allmälig ſogar derjenigen Ueber - einſtimmung Platz machen wird, welche im menſchlichen Denken überhaupt möglich und wünſchenswerth iſt. Weder der Sieg und die ausſchließliche Herrſchaft einer einzigen Form des Glaubensbekenntniſſes, noch die Zertrümmerung der Kirche83 in freie Gemeinden und die Abſchaffung jeder Form des Glaubensbekenntniſſes wird den Gemüthern den verlorenen Frieden wieder geben. Es gibt zu dieſem Ziele nur einen Weg; wenn wir Chriſten ſind, ſo ſollten wir ihn kennen und wollen.

Der Staat aber möge ſich hüten, durch Zwang und Gewaltmaßregeln die Anerkennung des kirchlichen Lehrbe - griffs befördern zu wollen. Auf dieſem Wege kann er wohl Heuchler in Menge erlangen, ſie ſind ſogar für Geld und äußere Vortheile zu haben. Nur bilde ſich dann ja Niemand ein, daß dadurch für die Sicherheit der Staaten und für die Herſtellung des inneren Glückes der Einzelnen das Geringſte gewonnen würde. Man würde dadurch nur übertünchte Gräber erhalten, in welchen der alte Moder der Verweſung fortwirken würde. Durch äußere Annahme eines Glaubens - bekenntniſſes erhaltet ihr noch keine Gefühle der Ehrfurcht, keine innere Bereitwilligkeit zu demüthiger Unterordnung unter ein göttliches Gebot, und es bleibt euch daher auch in menſchlichen Dingen der alte Hang zu ſouveränen Ge - lüſten zu beſiegen. Und ebenſo wenig erhaltet ihr durch dieſe äußere Annahme eines Glaubensbekenntniſſes jenen Seelen - frieden, welcher nicht nach zeitlichem Wohlſtand lüſtern iſt, es bleiben euch alſo, nach wie vor, die alten Theilungs - gelüſte zu bekämpfen. Jm Gegentheil, die Sache wird noch ſchlimmer ſein. Denn zu allen anderen Beweggründen, welche zur Auflehnung gegen das Beſtehende und gegen die Macht der Regierung antreiben, wird noch der kirchliche Zwang hinzukommen, von welchem ſich die Leute werden befreien wollen.

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VI. Die Erziehung.

Die Kirche, für ſich allein, beſitzt unter den gegen - wärtigen Verhältniſſen nicht die Mittel, den Wahrheiten der Religion überall tieferen Eingang in die Herzen der Men - ſchen zu verſchaffen. Die Kirche kann nur ermahnen, nicht die Gemüther empfänglich machen für dieſe Ermahnungen. Sie kann nur erinnern, nur in’s Gewiſſen reden, nicht jene ſittlichen Erfahrungen ſelbſt bilden, an welche ſie erinnern ſoll, nicht das Gewiſſen kräftigen, an welches ſie appelliren ſoll. Was hilft das Ausſtreuen des beſten Samens, wenn er faſt allerwärts auf ſteinharte Erde fällt? Erſt muß der Boden zur Aufnahme des Samens zubereitet werden, es müſſen die Steine, welche ihn bedecken, entfernt, es muß die harte Rinde mit dem Eiſen durchbrochen werden. Das iſt ſchwere Arbeit, welche mehr Hände, mehr Zeit und andere Mittel erfordert, als das Geſchäft des Sämanns.

Dieſen vorbereitenden Einfluß, durch welchen die Kirche unterſtützt werden muß, kann jedes Verhältniß auf den Menſchen ausüben, in welchem ſittliche Beweg - gründe auf ihn einwirken können, ganz beſonders aber das unmittelbare Verhältniß zu überlegenen ſittlichen Per - ſönlichkeiten. Wenn der Staat und ſeine Leitung, wenn die Geſetze und ihre Handhabung, wenn die Geſellſchaft und der geſellſchaftliche Verkehr von ſittlichen Ueberzeugungen durchdrungen iſt, dann ſtrömen dem ſittlichen Bewußtſein des Einzelnen von überallher ſo viele Anregungen zu, welche daſſelbe entwickeln und kräftigen, daß in ihm die ſittlichen Ueberzeugungen wie von ſelbſt entſtehen, und dann iſt die Aufgabe der Kirche eine leichte. Wenn aber im Gegentheil85 der Einzelne überall, wohin er blickt, nur die Abweſen - heit ſittlicher Ueberzeugungen entdeckt, wenn ihm überall nur andere als ſittliche Beweggründe entgegentreten, dann bedarf es einer ungewöhnlichen Stärke ſeines ſittlichen Be - wußtſeins, wenn daſſelbe nicht allmälig durch dieſe Eindrücke immer mehr geſchwächt werden ſoll, und nicht leicht wird ein Menſch, wie redlich auch ſein Streben ſein mag, unter ſo ungünſtigen Umſtänden der Nämliche werden oder bleiben können, welcher er unter günſtigeren Umſtände geworden oder geblieben wäre. Denn wer nicht für mich iſt, der iſt wider mich. Eine Bildung, welche nicht von ſittlichen Ueberzeu - gungen getragen iſt, vernichtet dieſelben.

Kein anderes Verhältniß aber iſt ſo geeignet, jenen vor - bereitenden Einfluß auf die Gemüther, welchen die Wirkſam - keit der Kirche nicht entbehren kann, zu vermitteln, als das Verhältniß der Eltern zu den Kindern, und keine andere Zeit iſt ihm ſo günſtig, als die Zeit der erſten Lebens - jahre. Wo dieſe Zeit und dieſes Verhältniß ungenützt vor - übergeht, da kann das Verſäumte ſpäter nur ſehr ſchwer nachgeholt werden, und am allerwenigſten durch die Kirche allein nachgeholt werden, welcher faſt alle äußeren Bedingungen zu einer ſo weit reichenden Einwirkung fehlen. Darum wird die Religion, die Jnnigkeit des Glaubens immer und über - all es furchtbar ſchwer empfinden, wenn die häusliche Erziehung nicht mit voller Kraft ihren ſittlich bildenden Einfluß auf das heranwachſende Kind geltend macht.

Aber welche Bedingungen ſetzt wohl dieſer ſittlich erziehende Einfluß der Eltern, von deſſen Ausübung ein ſo großer Theil unſerer Befähigung zur Religion abhängt, in den Eltern voraus? Setzt dieſer Einfluß ein gewiſſes Maß86 von Kenntniſſen, von Verſtandesbildung bei den Eltern vor - aus? ſetzt er die richtigſte Form des Glaubensbekenntniſſes und alſo auch das möglichſt richtige Verſtändniß dieſer Form und ihres Sinnes voraus? Das wäre eine für die große Mehrzahl ganz unmögliche Bedingung, denn die meiſten Eltern können nach ihrer ganzen äußeren Lage gar nie dahin gelangen, auf dieſem Wege und durch dieſe Mittel einen bildenden Einfluß auf ihre Kinder auszuüben. Aber Gottlob, es bedarf dieſer Bedingung nicht, und wie wün - ſchenswerth es auch der Kirche erſcheinen mag, daß ſchon von Kindheit an durch die Eltern auch für die Form der religiöſen Vorſtellungen ein über das Allereinfachſte hinaus gehender Einfluß geübt werden möge, nöthig, zu dem hier in Frage ſtehenden Zwecke nöthig iſt die Erfüllung dieſes Wunſches nicht. Aber etwas Anderes iſt dazu unerläßlich nöthig, etwas, das in der ärmſten Hütte und bei dem aller - geringſten Grade geiſtiger Bildung ganz ebenſo gut vorhan - den ſein kann, als im Palaſte und bei der vorgeſchrittenſten religiöſen Einſicht, und dieſes Andere heißt: das volle Be - wußtſein unſerer eigenen ſittlichen Natur, der lebendige Glaube an die Allgegenwart eines heiligen Gottes, eine tiefe Ehrfurcht vor ihm, ein unerſchütterliches Vertrauen auf ihn. Wo dieſer Glaube lebendig in den Eltern wirkt, da wird auch die rechte Zucht von ihnen geübt werden, jene Zucht, welche nicht im eigenen Namen geübt wird, ſondern im Na - men deſſen, welchem ſie das Glück verdanken, Kinder zu be - ſitzen, und welchem ſie verantwortlich ſind für die Erziehung derſelben. Wo dieſer Glaube lebendig in den Eltern wirkt, da wird er auch auf die Kinder ſich übertragen, ſelbſt ohne die Beihülfe von Kenntniſſen und Unterricht, welche nur die87 wenigſten Eltern zu leiſten vermögen, blos durch die ſtill - wirkende Kraft des erziehenden Einfluſſes. Wo aber dieſer Grund gelegt iſt, da kann es der Kirche nicht ſchwer werden, auf dieſem Grunde in dem rechten Sinne weiter fortzubauen.

Jſt nun wohl jene Bedingung, von welcher die Aus - übung eines ſittlich erziehenden Einfluſſes abhängt, bei der Mehrzahl der Eltern in hinlänglichem Grade vorhanden? Als ein theoretiſches Fürwahrhalten, als eine Anſicht, zu welcher ſich die Leute bekennen, wenn gerade auf religiöſe Fragen die Sprache kömmt, mögen jene religiöſen Wahrhei - ten noch bei der großen Mehrheit vorhanden ſein. Kirche, Schule, Ueberlieferung erhalten dieſe Anſichten zur Zeit noch bei ſehr Vielen, aber nur als Anſichten. Wer aber von bloſen Anſichten einen beſtimmenden Einfluß auf unſer Thun und Laſſen erwartet, der kennt ſich ſelbſt und die menſchliche Natur nicht. Anderen gegenüber rufen wir allerdings gern die Autorität ſolcher Anſichten an, wenn die Beſtrebungen dieſer Anderen mit unſeren eigenen Jntereſſen und Gefühlen in Widerſpruch ſtehen, aber unſer eigenes Thun und Laſſen wird ſtets nur durch ſinnliche und ſittliche Gefühle, ſtets nur durch ſinnliche und ſittliche Bedürf - niſſe beſtimmt. Das iſt ja gerade der Unterſchied zwiſchen Anſichten und Ueberzeugungen, daß jene nur in unſerem Denken wurzeln, dieſe aber ſich auf ſinnliche oder ſittliche Erfahrungen gründen. Und darin liegt ja auch der ſo oft verkannte Unterſchied zwiſchen Wiſſen und Glauben, daß jenes ſeine Kraft aus ſinnlichen, dieſer aus ſittlichen Er - fahrungen ſchöpft.

Wenn wir es aber noch nicht von anderer Seite her88 wüßten, daß jene Ueberzeugungen, von denen der ſittlich erziehende Einfluß bedingt iſt, bei den meiſten Eltern nicht mehr als wahre Ueberzeugungen beſtehen, nicht in ihrem innerſten Bewußtſein begründet ſind, nicht ein das ganze Thun und Laſſen beſtimmender Glauben ſind, ſo könnten wir es aus dem gegenwärtigen Zuſtande der Erziehung lernen. An ihren Früchten ſollt ihr ſie erkennen. Denn darin kann für uns kein Troſt liegen, daß zur Zeit der Geiſt der Jugend noch an manchen Orten ein erfreulicher iſt, da nämlich, wo auch unter den Erwachſenen noch ein guter Geiſt herrſcht, wenn wir doch zu gleicher Zeit von ſo vielen anderen Seiten her hören, daß weitaus die meiſten Erfah - rungen auf eine ſichtliche und raſche Zunahme aller der Zeichen hinweiſen, welche die unvermeidliche Wirkung einer verkehr - ten Erziehung oder des Mangels an einer guten Erziehung ſind. Ob dann dieſe Zeichen mehr in äußerer Rohheit und Frechheit, oder mehr in einer Unzugänglichkeit des Gemüths für ſittliche Einflüſſe beſtehen, ob der Mangel an Ehrfurcht gegen Vater und Mutter und gegen jedes ſittliche Gebot ſich mehr in offenem Trotz oder mehr in ſtiller Mißachtung und in emancipationsluſtiger Rechthaberei ſich äußert, ob die Genußſucht die Jugend mehr zu groben Exzeſſen oder mehr zu einer feineren Sinnlichkeit führt, welche das liebe Jch nur mit Annehmlichkeiten umgeben und jede Anſtrengung, jedes Opfer von ihm fern halten möchte, dieſe und ähn - liche Verſchiedenheiten ſind ohne Bedeutung gegenüber von der eigentlichen Frage, ob die Erziehung ihre Pflicht thue, ob ſie dieſelbe mit dem rechten Erfolg thue.

Sehr viele Eltern, welche ſich recht wohl bewußt ſind,89 wie wenig von ihrer Seite für die ſittliche Erziehung ihrer Kinder geſchehe, beruhigen ſich bei dem Gedanken, daß ſie dieſelben ja in die Schule ſchicken. Und allerdings wird man demjenigen, was von Seiten der Schule für ſittliche Erziehung geſchehen kann, eine um ſo höhere Bedeutung beilegen müſſen, je allgemeiner die häusliche Erziehung dieſe Aufgabe nur mang elhaft löst. Dabei darf man aber nicht überſehen, daß die Schule bei der Löſung des erziehenden Theils ihrer Aufgabe mit viel größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hat, als das elterliche Haus. Denn für’s Erſte werden ihr die Kinder erſt in einem Alter übergeben, wo das Gemüth und die Gewohnheiten ſchon eine ziemlich be - ſtimmte Richtung angenommen haben, welche, wenn ſie fehler - haft iſt, nicht mehr ſo leicht verbeſſert werden kann. Für’s Zweite ſteht der erziehende Lehrer einer größeren Maſſe ſehr verſchiedenartiger Kinder gegenüber, welche er gleichförmig behandeln ſoll, ein Verhältniß, durch welches die Aufgabe, jeden Einzelnen möglichſt nach ſeiner Perſönlichkeit und nach den Bedürfniſſen ſeines ſittlichen Standpunktes zu behandeln, äußerſt erſchwert wird. Für’s Dritte ſind die ſittlichen Be - ziehungen, in welche der Lehrer zu den Schülern tritt, viel einförmiger und beſchränkter, bieten ihm viel weniger Ge - legenheit, ſeine Schüler nach ihrer Perſönlichkeit kennen zu lernen und auf dieſelben Einfluß zu üben, als dieſes bei der elterlichen Erziehung der Fall iſt. Endlich wird dem Lehrer, wenn der häusliche Einfluß vor dem Beginn der Schuljahre nicht der rechte war, durch dieſen häuslichen Ein - fluß auch während der Schuljahre ſeine Aufgabe unendlich erſchwert, theils dadurch, daß dort wieder verdorben wird, was er gut gemacht hatte, theils dadurch, daß er in den -90 jenigen Fällen, wo er bei ſeinen minder ausgedehnten Er - ziehungsmitteln eine Unterſtützung durch die Eltern bedürfte, dieſe Unterſtützung dort nicht findet. Deshalb ſollte der Gedanke an das, was die Schule unter günſtigen Ver - hältniſſen leiſten kann, nie uns veranlaſſen, die Bedeutung der häuslichen Erziehung zu verkennen.

Aber gerade je größer die Schwierigkeiten des erziehen - den Theiles der Aufgabe der Schule ſind, um ſo mehr ſollte der Staat, wenn er überhaupt dieſe erziehende Auf - gabe anerkennt und Werth auf ſie legt, zumal in unſerer an ſittlichen Ueberzeugungen und an ſittlicher Kraft ſo armen Zeit, darauf bedacht ſein, die erziehenden Mittel der Schule ſo ſehr als nur irgend möglich zu verſtärken. Und es kann auch gar keinem Zweifel unterliegen, daß der Staat die erziehende Aufgabe der Schule anerkennt. Ueberall, wo der Staat Veranlaſſung hat, ſich über die Aufgabe der Schule und den Zweck des Unterrichts auszuſprechen, da läßt er es nicht leicht an gar ſchönen Worten fehlen über die hohe Bedeutung und die wohlthätigen Wirkungen einer religiöſen Geſinnung, und bei jeder Gelegenheit erinnert er die Lehrer daran, daß es ihre Pflicht ſei, die Jugend zu guten Bürgern zu erziehen , welche göttliches und menſch - liches Geſetz achten und der Welt durch das Beiſpiel der edelſten Tugenden voranleuchten. Aber gleichzeitig ergreift der Staat Maßregeln, durch welche der Schule die Löſung dieſer für ſie ohnehin nicht gerade leichten Aufgabe abſolut unmöglich wird. Gerade ſo, wie der Philoſoph durch die Kraft des Begriffes die neue Grundlage ſucht, und gerade ſo wie die Kirchenmänner durch die Form des Glau - bens zum Glauben gelangen wollen, gerade ſo bildet ſich91 der Staatsmann ein, daß durch Unterricht, durch Mitthei - lung von Kenntniſſen, durch formale Verſtandesbildung, mit einem Worte durch das, was man gegenwärtig wiſ - ſenſchaftliche Bildung nennt, die ſittliche Veredlung nothwendig erreicht werden müſſe. Deßhalb leitet er denn auch das Schulweſen ausſchließlich im Jntereſſe dieſer wiſ - ſenſchaftlichen Bildung und trifft eine lange Reihe von An - ordnungen, welche alle nur auf eine möglichſte Steigerung dieſer wiſſenſchaftlichen Reſultate abzielen, aber mit der Aufgabe einer ſittlich bildenden Einwirkung des Lehrers und des Unterrichts auf den Schüler in offenbarem Widerſpruch ſtehen. Wenn dennoch von vielen Lehrern, welche ihren hohen Beruf richtig erfaſſen, ſogar unter dieſen Verhält - niſſen noch ſegensreich auf manche Schüler eingewirkt wird, ſo geſchieht das eben nicht in Folge der beſtehenden Ein - richtungen, ſondern trotz der Hemmniſſe, welche dieſe Ein - richtungen ihnen nach allen Seiten hin bereiten, und nur weil eine tüchtige ſittliche Perſönlichkeit, wie ſehr man auch ihr Wirken lähmen mag, nie ganz verhindert werden kann, wenigſtens zuweilen das Gewicht ihrer ſittlichen Kraft in die Wagſchale zu werfen. Da aber, wo der Staat ſich wirklich erinnert, daß er ſich noch nach anderen Garantieen für einen ſittlich bildenden Einfluß der Lehrer umſehen müſſe, da weiß er in der Regel nichts Klügeres zu thun, als Form zu Form hinzuzufügen, und von den Lehrern die Verſicherung zu fordern, daß ſie an der buchſtäblichen Form dieſes oder jenes Glaubensbekenntniſſes feſthalten. Ein feines Mittel!

Es iſt traurig, wenn man in Deutſchland nicht mehr weiß, welche Bedingungen unerläßlich ſind zu einer ſittlichen92 Erziehung, es iſt traurig, wenn man dieſes in einem Lande nicht mehr weiß, welches ſo lange Zeit halb Europa mit Erziehern verſorgte. Der unbedeutendſte dieſer Erzieher, der jüngſte Kandidat der Theologie, welcher irgendwo eine Hauslehrerſtelle mit erziehenden Verpflichtungen übernahm, wußte früher ganz klar, welche Stellung er fordern müſſe, um eine Verantwortlichkeit für ſeine erziehende Thätigkeit zu übernehmen, und wenn ihm dieſe Bedingungen nicht gewährt wurden, ſo lehnte er entweder die Verantwortlichkeit oder die Stelle ab. Wenn man einem ſolchen Erzieher bei ſeinem Eintritt in das Haus eine ſchriftliche Anweiſung überreicht hätte, in welcher nicht blos Alles, was er zu thun habe, genau verzeichnet ſtünde, ſondern auch die Art, wie er es zu thun habe, mit welchen Hülfsmitteln und Lehr - büchern, nach welcher Methode, in welcher Aufeinanderfolge der Zeit und in welchen Tagesſtunden, ferner wie weit er in jedem einzelnen Gegenſtande von Jahr zu Jahr kommen müſſe, wie groß die Aufgaben ſein könnten, welche er Tag für Tag ſeinem Zögling zumuthen dürfe, endlich in welchen Fällen er ſtrafen dürfe, und in welchen Fällen nicht, ſo würde der angehende Erzieher ſich ſehr gewundert haben, daß man unter ſolchen Verhältniſſen einen erziehenden Ein - fluß von ihm erwarte. Wenn man ihm dann ferner geſagt haben würde, daß er bei ſeiner Thätigkeit unter die fort - währende Aufſicht eines reſpektabeln Jnſtanzenzugs geſtellt werden ſolle, welcher darüber wachen werde, daß er ſich in Allem genau an die vorgeſchriebene Form halte, dann würde dieſer Erzieher kaum mehr gewußt haben, ob er wache oder träume. Hätte man aber endlich gar dieſem ehrſamen Kan - didaten der Theologie noch weiter eröffnet, daß er nicht der93 einzige Erzieher dieſes Zöglings ſein werde, ſondern daß man, um Einſeitigkeit zu vermeiden, für dieſen Zögling eine kollegialiſche Erziehung durch ein halbes Dutzend Er - zieher beſtellen werde, welche unter einander nach den Ta - gesſtunden in ihrem erziehenden Geſchäft abwechſeln ſollten, daß er mit dieſen Kollegen ſich über die Grundſätze der Er - ziehung zu verſtändigen ſuchen müſſe, daß er aber jedenfalls mit dieſen gemeinſchaftlich die Verantwortlichkeit für das Reſultat zu tragen haben werde, dann würde ſicherlich die - ſer Erzieher ſich auf dem Abſatz umgedreht haben, und in drei Sprüngen die Treppe hinabgeeilt ſein, in der Meinung, er ſei in ein Haus gerathen, wo es bei den Leuten im Oberſtübchen nicht ganz geheuer ſein möge.

Jndeſſen, wir ſtehen nun einmal in unſerem ganzen modernen Staatsleben auf jenem erleuchteten Standpunkte, wo das Gewicht einer ſittlichen Perſönlichkeit gleich Null gilt, und alles Heil von den durch unſere formale Weisheit zu entwerfenden Jnſtruktionen und leitenden Vorſchriften erwartet wird, und ſo dürfen wir uns denn auch nicht wundern, daß man ebenſo unſerem kränkelnden und immer mehr abſterbenden Schulleben ſtets nur durch formale Aenderungen, durch vermeintliche Verbeſſerungen im Lehr - plane, und durch Erlaſſe, Jnſtruktionen, Vorſchriften, Be - fehle und Verbote aller Art wieder auf die Beine zu helfen ſucht, dem eigentlichen Sitze der Krankheit aber um keinen Preis zu Leibe geht. Und da man ferner im Schulweſen nun einmal die eigentliche ſittlich bildende Wirkung nicht von den Perſonen, ſondern von der Wiſſenſchaftlich - keit des Unterrichts erwartet, ſo iſt es auch ganz natür - lich, daß man von Unten bis Oben das Lehrgeſchäft unter94 möglichſt viele Lehrer vertheilt, weil Jeder es um ſo leich - ter zur Meiſterſchaft bringt, auf ein je kleineres Gebiet er ſich beſchränkt, wie man das bekanntlich in jeder Fabrik ſehen kann, wo der eine Arbeiter dieſes Stück, der andere jenes anfertigt. Zuletzt ſetzt man dann die einzelnen Stücke zuſammen, und da gibt es ein herrliches Ganzes, wenig - ſtens in der Fabrik. Jn der Schule unterliegt freilich dieſe letztere Operation des Zuſammenfaſſens größeren Schwie - rigkeiten: Die Theile hat er in ſeiner Hand, fehlt leider nur das geiſtige Band. Jndeſſen, der Kraft des Begriffes iſt ja kein Ding unmöglich.

Aber unter welchen Bedingungen kann denn der Unterricht für ſich allein, und abgeſehen von dem, was die Perſönlichkeit des Lehrers dabei leiſtet, die erziehenden Wirkungen äußern, welche man von ihm erwartet?

Jeder Unterricht, als ſolcher, kann nur inſofern ſittlich bildend wirken, als er an die in unſerem Bewußtſein bereits niedergelegten ſittlichen Erfahrungen erinnert, durch Dar - legung ähnlicher Beiſpiele jene Empfindungen auffriſcht, und durch Erklärung ihrer höheren Bedeutung unſer Jn - tereſſe für ſittliche Wahrheiten ſteigert. Schon hieraus ergibt ſich von ſelbſt, daß die wiſſenſchaftliche Form des Unterrichts keine ſittlich bildende Kraft haben könne, weil ſie ſich an den Verſtand und nicht an das ſittliche Bewußt - ſein wendet, und daß, je mehr die Gedanken auf die wiſ - ſeuſchaftliche Form hingelenkt werden, um ſo weniger ſie ſich dem ſittlichen Bewußtſein zuwenden können. Und das Nämliche wird von allem Wiſſen überhaupt gelten, mag es nun mehr den Verſtand oder mehr das Gedächtniß in Anſpruch nehmen. Einen ſittlich bildenden Einfluß hat das95 Wiſſen an und für ſich ſelbſt noch nicht. Von anderer Be - deutung iſt allerdings wieder das Lernen, die Arbeit des Schülers, aber dabei hängt Alles von den leitenden Beweggründen ab, welche theils durch den häuslichen erzie - henden Einfluß, theils durch den perſönlichen Einfluß des Lehrers bedingt ſind. Davon handelt es ſich alſo hier, wo nur vom Unterricht als ſolchem die Rede iſt, nicht.

Hiernach wird ſich nun Jedermann leicht ſelbſt ſagen, daß z. B. der mathematiſche Unterricht (als ſolcher) eine ſittlich bildende Kraft nicht wohl haben kann. Das Gleiche wird auch von dem grammatiſchen Unterricht und überhaupt vom Sprachunterricht, ſo weit er es nämlich nur mit der Form zu thun hat, gelten müſſen. Sehr wohl aber kann der Sprachunterricht durch den Jnhalt der geleſenen Werke in der Hand eines erziehenden Lehrers ein treffliches Bildungsmittel werden. Aber dazu bedarf es ein - mal eine erziehende Stellung und einen durch dieſe Stellung bedingten erziehenden Einfluß des Lehrers, und dann müſ - ſen, ehe der Jnhalt der geleſenen Werke in umfaſſender Weiſe für dieſe Zwecke benützt werden kann, vorher die Schwierigkeiten der Form überwunden ſein. Denn es iſt immer gefährlich, die Kraft und das Jntereſſe des Schülers zu theilen, ſo lange nach der einen Seite hin noch größere Anſtrengungen nöthig ſind. So lange daher noch nicht eine hinlängliche Vertrautheit mit der Form erreicht iſt, wird eine ſolche Hinweiſung auf den Jnhalt, welche von tieferer Wir - kung ſein könnte, nur ſpärlich eintreten können. Bis zu dieſem Grade der Vertrautheit mit der fremden Sprache ge - langen aber unſere Schüler theils nur ſpät, theils gar nicht, weil die Schule an einer Ueberfülle des Lehrſtoffes leidet,96 durch welche Zeit und Kraft zerſplittert wird, und weil wir durch eine vorwiegende Pflege der wiſſenſchaftlichen Form, welche auf derjenigen Stufe des Unterrichts, wo erziehende Reſultate erwartet werden, nichts gelten ſollte, den Umfang des Lehrſtoffes noch um Vieles durch rein formale Aufgaben erweitern.

Wo von erziehenden Reſultaten des Unterrichts die Rede iſt, da ſollte vor Allem der Religionsunterricht ge - nannt werden dürfen. Aber auch dieſer kränkelt wohl viel - fach an dem allgemeinen Uebel unſerer Zeit, welche das Heil in der Form ſucht. Und zum Ueberfluß hat man an vielen Orten durch eine Einrichtung, welche unſerer ausſchließlichen Verſtandesbildung alle Ehre macht, dafür geſorgt, daß auch dieſer Unterrichtsgegenſtand möglichſt in eine Richtung ge - drängt werde, bei welcher für ſittliche Bildung nicht viel herauskommen kann: Man hat nämlich den Religionsunter - richt in den Kreis der öffentlichen Schulprüfungen herein - gezogen. Dieſe Maßregel, welche in einer andern Zeit min - der bedenklich ſein könnte, muß geradezu verderblich wirken in einer Zeit, wo man ſo allgemein den ganzen Werth der Leiſtungen der Schule in demjenigen ſucht, was durch eine Prüfung nachgewieſen werden kann. Nun kann man be - kanntlich ſittliche Empfindungen und Geſinnungen nicht füg - lich zum Gegenſtand eines Examens machen, denn ſie ſind nur an ihren Früchten zu erkennen. Je mehr Zeit und Kraft alſo der Lehrer darauf verwendet, das Gemüth der Schüler zu läutern und zu kräftigen, um ſo mehr Zeit ent - zieht er demjenigen Zwecke, von deſſen Erreichung das Ur - theil über ſeine Leiſtungen abhängt, und um ſo ſchlechter wird, unter übrigens gleichen Umſtänden, das Examen aus -97 fallen. Und da überdies der Religionsunterricht zu denje - nigen Gegenſtänden gehört, über welche es am ſchwerſten iſt, ohne längeres und unbefangenes Nachdenken klare und ſichere Antworten zu geben, ſo iſt die Gefahr ſehr naheliegend, daß der Lehrer ſeine Schüler entweder auf ein geiſtreiches Frag - und Antwortſpiel einüben oder im Auswendiglernen des Ka - techismus nebſt Zubehör an Liedern und Sprüchen ſeine Stärke ſuchen werde.

Auch der Unterricht in der Naturgeſchichte kann in der Hand des Erziehers ein ſehr nützliches Bildungsmittel werden, wenn er dabei mit Vorliebe auf die überall ſicht - baren Spuren einer göttlichen Weisheit und Güte hin - weist, wenn er daran erinnert, wie väterlich für die Be - dürfniſſe aller Geſchöpfe geſorgt iſt und wie wunderbar der Bau und die Einrichtung derſelben ſind; wenn er ferner das Jntereſſe ſogar für die tief unter dem Menſchen ſtehen - den Thiere erweckt, indem er ihre Lebensweiſe und Gewohn - heiten ſchildert, und wenn er, indem er uns in ihre Zuſtände einführt, das menſchliche Herz zur Theilnahme und zum Mitgefühl ſtimmt; wenn er endlich nicht nur auf den reichen Segen hinweist, welcher in der Natur für das leibliche Wohl - ergehen des Menſchen ausgegoſſen iſt, ſondern uns auch daran erinnert, wie ſehr die Betrachtung der Natur, welche in ihrer erhabenen Größe und in ihrer wunderbaren Mannig - faltigkeit Zeugniß ablegt von der Größe ihres Schöpfers, unſeren Sinn von den kleinlichen Sorgen und Zwiſtigkeiten, in welchen der Menſch ſo leicht ſich verliert, wieder zurück - führen kann zu ungetrübteren Empfindungen und zu dem Be - wußtſein, ein Theil eines Ganzen zu ſein, über welchem die ewige göttliche Liebe im Großen wie im Kleinen wacht. Wenn798aber freilich dieſer Unterricht ſeinen Werth in der Mitthei - lung irgend eines, wenn auch noch ſo wohlerdachten menſch - lichen Syſtems, in der Mittheilung einer Maſſe von Kunſtaus - drücken, mit einem Worte, in der wiſſenſchaftlichen Form ſucht, ſo wird die Wirkung viel eher eine Selbſtvergötterung des menſchlichen Verſtandes als eine ſittlich erziehende, zur Ehr - furcht und Dankbarkeit gegen Gott ſtimmende ſein.

Und in ähnlichem Sinne, wie die Naturgeſchichte, kann auch der Unterricht in der Geſchichte die Aufgabe der Er - ziehung mächtig fördern. Wenn dieſer Unterricht mit der Lebensgeſchichte einzelner Männer beginnt, welche durch ihre Perſönlichkeit und durch ihren Einfluß auf das Schickſal ihrer Zeitgenoſſen das Jntereſſe zu feſſeln vermögen; wenn er dabei mit Liebe der Männer gedenkt, welche durch ihr Wirken den Dank ihrer Mitwelt und die Achtung ſpäterer Jahrhunderte verdienten; wenn er nicht blos das politiſche und öffentliche Wirken dieſer Männer, ſondern auch ihren Charakter, ihre perſönlichen Verhältniſſe und die Umſtände, welche auf ihre ſittliche und geiſtige Ausbildung Einfluß übten, hervorhebt; wenn er endlich dabei nicht vergißt, in - dem er den höheren ſittlichen Maßſtab anlegt, mit Beſon - nenheit die Fehler jener Zeit zu rügen und mit freudiger Anerkennung ihr Gutes zu rühmen, dann werden dieſe der Vergangenheit entnommenen Beiſpiele zu lebenden Vorbildern des Guten werden, welche ihren ermahnenden und warnenden Ruf an das unverdorbene Gemüth der Jugend ergehen laſſen und ihr aus allerlei Volk und aus den verſchiedenſten Jahr - hunderten die Lehre zurufen, daß zwar die Sprache, die Sitten, die Geſetze und die ganze Art der Bildung der Menſchen die verſchiedenſten Formen annehmen könne, daß99 aber trotz aller dieſer Verſchiedenheiten die Bedingungen für das ſittliche Gedeihen des Menſchen zu allen Zeiten die gleichen waren, daß von der Erfüllung dieſer Bedingungen immer und überall gleichmäßig das wahre innere Glück des Menſchen abhängig war, und daß es daher unabhängig von unſerem Denken und von den Formen unſerer Bildung eine ſich ewig gleich bleibende höchſte ſittliche Macht geben müſſe, von welcher unter keinen Verhältniſſen unſer Gewiſſen und unſer Willen ſich ungeſtraft losſagen kann. Und was zuerſt im Einzelnen die biographiſche Behandlung des Ge - ſchichtsunterrichts lehrte, das kann dann auf einer etwas höheren Stufe in umfaſſenderen Bildern die Geſchichte der einzelnen Völker und Staaten durch die eindringlichſten Leh - ren beſtätigen. Aber wenn der? geſchichtliche Unterricht ſei - nen Werth in der Maſſe der Thatſachen ſucht, welche er mittheilt, und in der Leichtigkeit, mit welcher der Schüler das ungeheure Material zu ordnen und zu überſehen ver - mag, ſo wird man von einem in dieſer Richtung ertheilten Unterricht vergeblich eine erziehende Wirkung erwarten. Jm Gegentheil wird dabei viel eher zu erwarten ſein, daß der Schüler ſich hieraus entweder nur die troſtloſe Lehre von einem zu keinem bleibenden Ergebniß führenden Ringen der Menſchheit nach Verbeſſerung ihrer Zuſtände entnehmen werde, oder daß er aus der Vergleichung der verſchiedenen politiſchen Einrichtungen und ihrer Wirkung blos Lehren der Klugheit ſchöpfen werde, welche ihn befähigen ſollen, aus eigener ver - ſtändiger Berechnung und ohne den Hinblick auf ein höhe - res Geſetz die beſten Staatsformen zu erdenken. Nun iſt es aber ja gar nicht in die freie Wahl des Lehrers gelegt, in welchem Sinne und in welcher Richtung er ſeinen Unterricht7 *100ertheilen wolle. Seine ganze Stellung, ſein Verhältniß zu den Schülern, die Art ſeines Zuſammenwirkens mit anderen Lehrern, beſtimmte Vorſchriften und die durch die ganze Einrichtung und Leitung des Schulweſens bedingte Richtung des Unterrichts im Allgemeinen zwingen ihn, in der gleichen Richtung zu arbeiten. Und wollte ein Lehrer, ohne daß ihm die zu einem erziehenden Erfolge unentbehrlichen Bedingungen gewährt ſind, dennoch nach einem ſolchen Erfolge ſtreben, ſo würde er ſeine Kraft in erfolgloſem Verſuche, gegen den Strom zu ſchwimmen, aufreiben.

Man wird vielleicht einwenden, dieſe Richtung des Un - terrichts ſei durch die nothwendige Vorbereitung auf die Univerſitätsſtudien geboten. Wenn dieſe Behauptung richtig iſt, ſo möge man wenigſtens ſo ehrlich ſein, einzuge - geſtehen, daß aus dieſem Grunde auch von einer wahrhaft erziehenden Wirkung des Schulunterrichts nicht die Rede ſein könne. Wir werden dann wiſſen, woran wir ſind, und uns vielleicht anderwärts nach erziehenden Mitteln umſehen. Es wäre aber noch die Frage, ob dieſe Behauptung richtig iſt. Es wäre erſt noch zu unterſuchen, ob dieſe Art der Vor - bereitung eine zweckmäßige Vorbereitung auf die Univerſität ſei. Es wäre zu unterſuchen, ob wir, wenn wir die Hälfte unſeres Schulballaſtes über Bord werfen würden, mit der übrig bleibenden Hälfte nicht mehr erreichen würden als bisher. Es wäre zu unterſuchen, ob wir, wenn wir min - deſtens für die erſte Hälfte der Schuljahre eine ausſchließ - lich erziehende Richtung des Unterrichts erlaubten, nicht mehr Liebe zur Sache, nicht mehr geiſtige Friſche, nicht mehr ſelbſtbewußtes Arbeiten begründen würden. Und es wäre endlich noch zu unterſuchen, ob wir, wenn wir auch101 in der oberen Hälfte die erziehende Richtung des Unterrichts mehr in den Hintergrund und die wiſſenſchaftliche Richtung mehr in den Vordergrund treten laſſen wollen, deshalb die Wiſſenſchaftlichkeit gerade in der bisherigen vorherrſchend formalen Richtung ſuchen müßten, oder ob ein geſundes Denken nicht auf einem anderen Wege beſſer befördert werden würde. Das Alles wäre noch zu unterſuchen, ge - hört jedoch nicht hierher. Aber Eines muß hier ausge - ſprochen werden: Wenn man behaupten wollte, daß die ge - genwärtige Richtung unſeres Schulunterrichts nur um der Vorbereitung auf die Univerſität willen aufrecht erhalten werde, ſo wäre dieſes eine unwahre Behauptung. Wir verfolgen dieſe Richtung, weil dieſe Verkehrtheiten in un - ſerer Vergötterung einer einſeitigen Verſtandesbildung be - gründet liegen und es uns an ſittlichem Muth und an ſitt - licher Kraft fehlt, um uns von dieſem Vorurtheil los zu machen. Wäre das nicht ſo, ſo würden wir uns nicht auch in der Volksſchule den gleichen Verkehrtheiten überlaſſen.

Jn der Volksſchule handelt es ſich nicht um Vorbe - reitung zur Univerſität und überhaupt um nichts, was damit auch nur eine entfernte Aehnlichkeit hätte. Hier iſt die Na - tur und der Umfang der zu lehrenden Kenntniſſe ſo einfach als nur möglich, und dennoch iſt auch hier über dem Stre - ben, den Unterricht nach Umfang und Form zu ſteigern, der erziehende Theil der Aufgabe in neuerer Zeit immer we - niger beachtet worden. Wäre die Geneigtheit unſeres Jahr - hunderts, den Werth des Wiſſens und der formalen Ver - ſtandesbildung zu überſchätzen, minder groß und allgemein, ſo würden wir gewiß nie dahin gekommen ſein, ſogar die Volksſchule in dieſe verkehrte Richtung hereingezogen zu ſehen. 102Wir ſind aber in dieſer Verkehrtheit bereits ſo weit vorge - rückt, daß uns die Anhänger einer ſich ſelbſt überſchätzenden Seminarbildung den hübſchen Satz auftiſchen durften, der Werth der Volksſchule beruhe in der Methode, nach wel - cher dort das Leſen, Schreiben und Rechnen gelehrt wird, und da die Geiſtlichen mit den Kniffen und Pfiffen dieſer alleingeſcheidtmachenden Methoden wenig oder gar nicht ver - traut ſeien, ſo ſeien ſie unfähig, ein Urtheil über den Werth und die Leiſtungen dieſer Schulen zu fällen. Damit iſt wohl deutlich genug geſagt, was man von dieſer Seite her von der erziehenden Aufgabe der Volksſchule denkt. Uebrigens iſt gerade der Streit, welcher in neuerer Zeit über den Ein - fluß der Geiſtlichen auf die Volksſchule und über konfeſſio - nell getrennte oder vereinigte Schulen geführt wurde und noch nicht beendigt iſt, ſehr bezeichnend für unſere Zuſtände. Ein ſolcher Streit iſt überhaupt nur in einer Zeit möglich, wo entweder die Kirche oder die Schule oder beide zugleich eine verkehrte Richtung verfolgen. Wenn die Kirche nichts Anderes erſtrebt, als die Herzen zu Gott zu führen, und wenn die Schule erkennt, daß ohne die Erreichung dieſes Zieles alles Wiſſen und alle Verſtandesbildung werthlos iſt, dann iſt ein Streit zwiſchen beiden nicht zu fürchten, und es wird für die Volksſchule, deren Aufgabe ſo einfach iſt, daß ſie von jedem Geiſtlichen mit Leichtigkeit überſehen wer - den kann, eine Betheiligung der Geiſtlichen nicht nur keinen Nachtheil bringen, ſondern in weitaus den meiſten Fällen wird gar Niemand ſonſt in der Nähe ſein, deſſen Mitwir - kung mit einem ähnlichen Erfolge in Anſpruch genommen werden könnte. Wenn aber freilich die Kirche nicht über den konfeſſionellen Hader hinwegkommen kann, weil ſie ſich103 einbildet, daß, wenn erſt die rechte Glaubensform in den Köpfen ſtecke, der Glaube ſelbſt ſchon nachkommen werde, dann wird man in gemiſchten Gemeinden ſtets die Proſe - lytenmacherei fürchten, und es werden auch in ungemiſchten Gemeinden eine Menge Eltern dieſe Art von Einfluß der Geiſtlichen auf ihre Kinder nicht erweitert ſehen wollen. Und wenn anderer Seits die Schule Verſtandesbildung und menſchliches Wiſſen als ihre einzige oder höchſte Auf - gabe betrachtet, weil ſie ſich einbildet, daß, wenn erſt die Verſtandesbildung ihre ganze formale Entwickelung erlangt habe, auch der rechte Glaube fix und fertig daſtehen werde, dann wird ſie gegen jeden Einfluß der Kirche, ſelbſt gegen den heilſamſten und wünſchenswertheſten, proteſtiren. Die Extreme berühren ſich hier nicht in ihren Folgerungen, aber wohl in den Grundſätzen, von welchen ſie ausgehen. Beide hoffen, aus der Form heraus den Jnhalt zu produziren. Hätten ſie recht, ſo müßten wir jetzt überreich an Glauben ſein, denn wir erſticken bald in Formen.

Aber noch ein anderes, unſere Verkehrtheiten in das grellſte Licht ſtellendes Zeichen unſerer Zeit verdient hier erwähnt zu werden. Wer von den Einrichtungen, welche in den für die männliche Schuljugend beſtimmten Unter - richtsanſtalten beſtehen, und von der Richtung, welche in ihnen vorherrſcht, nicht das Mindeſte wüßte, der dürfte, um ſich zu überzeugen, in wie hohem Grade das ſittlich erziehende Prinzip bei uns in Vergeſſenheit und Mißachtung gerathen ſein müſſe, nur unſere Mädchenſchulen nach ihrer vorherrſchenden Richtung betrachten. Denn das wird doch jeder vernünftige Menſch zugeben, daß für das weib - liche Geſchlecht das Wiſſen, der Umfang der poſitiven104 Kenntniſſe und die formale Ausbildung des Verſtandes (welche wohl zu unterſcheiden iſt von einer Pflege des na - türlichen Urtheils), von ungleich geringerer Bedeutung ſei, als für das männliche Geſchlecht, und daß, wenn irgendwo das erziehende Prinzip noch Anerkennung findet, es gewiß in den Mädchenſchulen, Töchterſchulen, Jnſtituten, und wie dieſe weiblichen Bildungsanſtalten alle heißen, entſchieden vorherrſchen müßte. Nun werfe man doch einmal einen Blick in dieſe weiblichen Unterrichts - und ſogenannten Er - ziehungs-Anſtalten, in welchen die weibliche Jugend, oft maſſenweiſe in einzelne Klaſſen zuſammengedrängt, ihre Bildung holt. Jſt da nicht in der Regel faſt Alles durch - gängig auf dem gleichen Fuße eingerichtet, wie in den Knabenſchulen, ausgenommen daß ein Theil der Zeit auf weibliche Handarbeiten verwendet wird? Vielleicht einzelne Ausnahmen abgerechnet, welche für das Ganze nichts be - weiſen, wird man überall finden, daß auch hier das Lehren und Lernen die weſentlichſte Aufgabe iſt, und daß das Wiſſen und Können das Höchſte iſt, wonach man ſtrebt. Das liebe Publikum beurtheilt den Werth dieſer Anſtalten vorzugsweiſe nach dem, was darin gelernt wird, und fordert von Er - ziehung eigentlich nichts weiter, als daß die Mädchen ſich manierlich aufführen, ſich gut zu präſentiren wiſſen, keine albernen Antworten geben, die kindiſche Schüchternheit ablegen, und im Umgang ſich auf eine gefällige Weiſe be - nehmen. Und ſo geht denn auch das höchſte Streben dieſer Anſtalten dahin, die aufgeklärten Wünſche dieſes ſo erleuch - teten Publikums zu befriedigen. Man ſtellt Lehrer und Leh - rerinnen an, keine Erzieher und Erzieherinnen, denn bei ihrer Wahl gibt die Rückſicht auf Kenntniſſe und Lehrbefähi -105 gung den Ausſchlag, wenn nur ſonſt gegen den Charakter nichts zu erinnern iſt. Man ſucht den Unterricht möglichſt zu vervollkommen, d. h. man ſteigert ihn ſo hoch als möglich nach Jnhalt und Form, und ohne ihm eine vor - herrſchend erziehende Richtung zu geben. Man vertheilt den Unterricht in jeder einzelnen Klaſſe unter mehrere Lehrer, und man ſchickt das mit Lehrſtunden überhäufte Mädchen am Abend mit einem gehörigen Vorrath von Schulaufgaben und mit der erziehenden Ermahnung tenez-vous droite nach Hauſe, wo dann das beklagenswerthe, bereits vom vielen Sitzen und Lernen abgeſpannte Opfer unſerer Thorheiten abermals ſitzen, abermals leſen, ſchreiben und lernen muß, und dadurch noch obendrein dem erziehenden Einfluß der Mutter für ein paar weitere Stunden entzogen wird. Man wende doch ja nicht ein, daß in dieſen Anſtalten nebenbei auch möglichſt auf die ſittliche Richtung der Zöglinge hin - gewirkt werde. Daran zweifelt ja Niemand, wohl aber wird, wer gewöhnt iſt, den Dingen auf den Grund zu ge - hen, unter ſolchen Umſtänden auch von dem beſten Willen der Lehrer keinen bleibenden Erfolg erwarten. Denn da, wo das Wiſſen und die äußere Haltung und der Eindruck, welchen man mit Beidem auf die Welt macht, ſo ſichtbar als die Hauptſache vorangeſtellt wird, da iſt ja ſchon vor - weg der rechte Boden, auf welchem allein eine ſittliche Er - ziehung gedeihen kann, vernichtet und die Jugend von An - fang an auf einen ganz falſchen Standpunkt geſtellt. Und man bedenke es wohl: Es iſt das die Erziehung des weib - lichen Geſchlechts, welches berufen iſt, an der Erziehung der eigenen Kinder einen ſo tief eingreifenden Antheil zu nehmen, dem kindlichen, ſo offenen und empfänglichen106 Gemüth die erſte und ſo oft entſcheidende Richtung zu geben! Es iſt das die Erziehung des weiblichen Geſchlechts, welches berufen iſt, die Seele der Familie zu ſein, wieder zu ſammeln und nach Jnnen zu kehren, was die Außenwelt zerſtreut und verflacht hat! Und wir wundern uns noch, daß das ſittliche Element bei der Jugend und in den Fami - lien ſo furchtbar geſchwächt iſt? Wir wundern uns, daß keine religiöſe Ueberzeugung mehr haften will in den inhalts - leeren Gemüthern, daß alles innere Leben immer mehr er - ſtirbt, und daß an die Stelle eines unerſchütterlichen Ver - trauens auf Gott immer allgemeiner jene verzweifelnde Zer - riſſenheit der Gemüther tritt, welche die Einen mit namen - loſem Weltſchmerz und mit krankhaften Zuckungen erfüllt, die Anderen einem immerwährenden Wechſel von betäuben - den Vergnügungen entgegen treibt?

Jn neuerer Zeit wurde einmal in öffentlichen Blättern ganz ernſthaft der Vorſchlag gemacht, für das weibliche Geſchlecht eine Univerſität zu gründen. Warum auch nicht? Es wäre das offenbar nur die Ausfüllung einer Lücke in unſerem bisherigen Syſtem. Wird der Gedanke den An - forderungen des Zeitgeiſtes entſprechend ausgeführt, ſo wird dieſe neue Univerſität aus zwei Fakultäten beſtehen, von denen die eine das reine Denken vertritt, die andere die reine Sinnlichkeit.

VII. Die Regierung.

Die erſte Bedingung einer guten Regierung iſt die, daß ſie nicht im eigenen Namen und nach den Eingebungen ihrer eigenen Willkür zu regieren ſuche, ſondern ſtets ſich107 bewußt ſei, daß ſie im Dienſte eines Höheren ſtehe, und daß ſie verpflichtet ſei, dem Willen dieſes Höheren zuerſt bei ſich ſelbſt, und dann ebenſo bei allen Anderen Geltung zu verſchaffen.

Hieraus ergibt ſich von ſelbſt, daß Diejenigen, welche nach den Geſetzen eines Landes (entweder in Folge ihrer Geburt, oder in Folge einer Wahl durch den Regenten oder durch andere Perſonen) zur Theilnahme an der Regie - rung berufen werden, gar nicht zur Ausübung eines Rech - tes, ſondern nur zur Ausübung einer Pflicht berufen ſind, und daß deshalb die Frage, wie viele und welche Perſonen zur Ausübung dieſer Pflicht berufen werden ſollen, nur nach dem aus der Sache ſelbſt hervorgehenden Bedürfniß entſchieden werden darf, nicht aber nach den ver - meintlichen Rechtsanſprüchen, welche die Einzelnen hierauf geltend machen möchten.

Unſere modernen Verfaſſungen ſtehen auf einem entgegengeſetzten Boden. Wer auf den Grund dieſer Ver - faſſungen ſich bei politiſchen Wahlen betheiligt, der übt ein Recht aus, und er übt es mit einer perſönlichen Willkür aus, welche er am Regenten höchſt tadelnswerth finden würde. Denn vom Regenten fordert er, daß derſelbe ſeine perſönlichen Anſichten und Wünſche dem Wohl des Staates zum Opfer bringe. Er ſelbſt aber, der Wahlmann, läßt ſich nur von ſeinem perſönlichen Jntereſſe, von ſeinen per - ſönlichen Neigungen und Anſichten leiten, und er hat ver - faſſungsmäßig das Recht dazu. Es iſt daher auch ſehr na - türlich, daß die aus einem ſolchen Prinzip hervorgehenden Wahlen ihrem allgemeinen Charakter nach nicht die geringſte Bürgſchaft für eine gute Regierung darbieten können, und daß in der Regel nur ſolche Perſonen durch dieſe Wahlen108 gewählt werden, welche eine dieſem Standpunkt entſprechende Stellung einzunehmen bereit ſind. Was aber noch ſchlimmer iſt, das iſt der Einfluß, welchen die Herrſchaft dieſes Grund - ſatzes auf die Gemüther ausübt. Denn es wird dadurch die Anſicht allgemein befeſtigt, daß der Einzelne nach freier Willkür beſtimmen oder zu der Beſtimmung beitragen dürfe, was auf Erden Recht und Geſetz ſein ſolle, und das iſt eben der Standpunkt der Anarchie.

Der Abſolutismus, ſelbſt der von den beſten Ab - ſichten geleitete, welcher nur dem göttlichen Willen auf Er - den Geltung zu verſchaffen ſuchen würde, iſt unfähig zu einer guten Regierung, weil der abſolute Monarch nicht überall ſein, nicht überall die Verhältniſſe und die Perſonen richtig überblicken kann, und weil er daher in der unendli - chen Mehrzahl der Fälle ſeine Macht auf Perſonen übertra - gen muß, deren Werth er nicht kennt. Das iſt aber dop - pelt gefährlich in einer Zeit, wo die Zahl der Perſonen, welche von einer tiefen Ehrfurcht vor dem göttlichen Willen erfüllt ſind, ziemlich klein zu werden anfängt. Eine Regie - rung, welche aufrichtig wünſcht, nicht nach eigener Willkür, ſondern im Sinne des göttlichen Willens zu regieren, be - darf daher, um hier nur Eines zu erwähnen, in jeder Gemeinde, je nach der Größe derſelben, die Mitwirkung einer größeren oder kleineren Anzahl von Männern, deren Rath und Ausſpruch über örtliche und perſönliche Verhältniſſe ſie mit vollem Vertrauen benützen kann. Dieſe Perſonen ausſchließ - lich nach dem Cenſus zu wählen, iſt aber ebenſo lächerlich, als ſie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgehen zu laſſen, denn es kömmt dabei Alles auf die Reinheit der Geſinnung und des Charakters an, und dieſe richtet ſich109 nicht nach dem Cenſus. Wer ernſtlich beabſichtigt, dieſe Autorität nur in die Hände würdiger Männer zu legen, der wird dieſe Männer ſtets nur unter den älteren Perſo - nen wählen, und zwar ſchon aus dem einfachen Grunde, weil zur Beurtheilung des ſittlichen Werthes des Menſchen nur die Erfahrung befähigt, zu einer ſolchen Erfahrung aber der Ueberblick über eine lange Reihe von Jahren er - forderlich iſt. Männer, welche das fünfzigſte Jahr über - ſchritten haben, ſind unendlich leichter nach ihrem wahren Werthe zu beurtheilen, als ſolche, welche um zwanzig oder dreißig Jahre jünger ſind. Wer aber z. B. den Vorſchlag machen würde, daß vor dem fünfzigſten Jahre Niemand das Recht haben ſolle, ſeine Stimme als Wahlmann bei der Wahl der Gemeindebehörden, der Geſchworenen und der Deputir - ten abzugeben, und daß ſogar nicht einmal die Fünfziger ohne Unterſchied dieſes Recht haben ſollten, ſondern nur ein aus ihrer Mitte mit möglichſter Umſicht gewählter Ge - meinderath, der würde einen allgemeinen Sturm der ſou - veränſten Entrüſtung erregen, weil wir die Anſicht nicht los werden können, daß es ſich bei ſolchen Wahlen und überhaupt bei dem Einfluß auf die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten um die Ausübung perſönlicher Rechte handle.

Nicht darin beſteht das Weſen einer guten Regierung, daß dieſelbe in allen ihren einzelnen Handlungen dem gött - lichen Willen ſowohl durch die Erkenntniß als durch die Ausführung nahe komme, ſondern darin, daß ſie jederzeit nach dieſem Ziele redlich ſtrebe. Denn ſchon durch dieſes Streben trägt ſie, ſo viel an ihr iſt, zur Erhaltung jener Ehrfurcht vor einem heiligen göttlichen Willen bei, auf110 welcher das Beſtehen der Staaten beruht. Die menſchliche Unvollkommenheit wird ſtets für Jrrthümer und Mißgriffe aller Art zugänglich bleiben, auch bei den redlichſten Ab - ſichten und bei jeder Regierungsform. Diejenigen, bei wel - chen der Glaube an eine über dem Menſchengeſchlecht wachende göttliche Weisheit noch nicht erſtorben iſt, werden auch zuverläſſig von dem Menſchen nicht das Unmögliche fordern, nicht verlangen, daß er Vollkommenes leiſte. Sie werden vielmehr, ſobald ſie nur den redlichen Willen ſehen, das Mögliche zu thun, die menſchliche Unvollkommenheit mit mildem Urtheil ertragen, und den Erfolg mit Vertrauen Gott anheimſtellen.

Die einzige äußere Bürgſchaft für eine den ſittlichen Bedürfniſſen der menſchlichen Geſellſchaft entſprechende Lei - tung des Staates liegt in der rechten Wahl und in der rechte Verwendung der Perſonen, welchen der Staat irgend ein öffentliches Amt überträgt. Aber in dieſer Richtung ſucht unſere moderne Staatsweisheit das Heil nicht. Jhr liegt das Heil vielmehr in der Vollkommenheit der von dem menſch - lichen Verſtande zu erdenkenden Verfaſſungen, Geſetze und Einrichtungen, und ſie gibt ſich dieſer theoretiſchen Aufgabe mit einer ſo fieberhaften Thätigkeit hin, daß ihre beſten Kräfte dadurch aufgerieben werden und ſie vor lauter formalen Verbeſſerungen gar keine Zeit mehr zu demjenigen findet, was ihre Hauptaufgabe ſein müßte, nämlich zu einer um - ſichtigeren Wahl und Beobachtung der im Staatsdienſte ver - wendeten Perſonen.

Und wie dieſe miniſterielle Staatsweisheit ihre eigene Aufgabe nur in den von ihr zu erdenkenden Formen ſieht, ſo kann ſie auch für die unter ihrer Leitung thätigen111 Beamten keine andere Aufgabe begreifen und anerkennen, als die buchſtäbliche Vollziehung der von ihr unter ſo vielen Schmerzen und Wehen zur Welt gebrachten Vorſchriften und Jnſtruktionen. Wer aber auf dieſem Standpunkte ſteht, der kann Männer von lebendiger ſittlicher Ueberzeugung gar nicht gebrauchen, er bedarf intelligente Maſchinen, welche blind nach den ihnen vorgeſchriebenen Formen operiren. Man hat täglich die Erfahrung vor Augen, daß in allen Zweigen des Staatsdienſtes durch dieſes papierene Regiment bei den aus - übenden Beamten, bei Denjenigen, welche mit dem Volke verkehren, bei Allen, welche in’s Leben eingreifen und auf die Leute in einem heilſamen Sinne einwirken ſollen, alſo gerade da, wo das Leben am nöthigſten wäre, alles Leben erſtarrt und einem indifferenten Formalismus Platz macht, mit welchem man unmöglich Einfluß, einen ſittlich ermuthigen - den und für die Regierung gewinnenden Einfluß ausüben kann. Eine andere Art der Bildung als die unſrige, eine ſittliche Bildung, würde wohl den umgekehrten Weg ein - ſchlagen, ſie würde die Perſönlichkeiten mit ſorgfältiger Um - ſicht auswählen und alſo da, wo man ſittliche Erfolge will, ſolche Perſönlichkeiten wählen, von welchen ſittliche Erfolge zu erwarten ſind, an ihren Früchten ſollt ihr ſie erkennen. Sie würde ferner dieſe mit ihrem Vertrauen bekleideten Be - amten zwar durch häufiges perſönliches Nachſehen an Ort und Stelle in ihrem Wirken und in ihren Früchten beob - achten, denſelben aber, unter der Bedingung voller Verant - wortlichkeit für den Geiſt ihrer Wirkſamkeit, möglichſt freie Hand laſſen in Bezug auf die Form. Und gleichzeitig würde dieſe andere Art von Bildung den Beamten noch eine andere Bedingung gewähren, ohne welche die Ausübung eines ſitt -112 lichen Einfluſſes gar nicht zur rechten Entwickelung gelangen kann: Sie würde von dem Grundſatz ausgehen, daß jeder Beamte in dem ihm angewieſenen Kreiſe möglichſt lange bleiben ſolle. Denn der Einfluß einer ſittlichen Perſönlichkeit wächst von Jahr zu Jahr in ſteigender Progreſſion. Sind dieſe Beamten die rechten Leute nicht, ſo werden ſie durch’s Verſetzen nicht beſſer. Wohl aber kann ſogar ein Mann von ſchwächerem Charakter, wenn er voraus weiß, daß er eine lange Reihe von Jahren in dem gleichen Wirkungskreiſe bleiben werde, in dieſer Ausſicht einen Sporn finden, um Gutes zu wirken, weil er die Früchte wird um ſich her reifen ſehen, die er geſäet hat, während er bei einem Syſtem, welches die Beamten, um ſie zu gewandten Geſchäftsleuten zu machen, umhertreibt wie die Figuren eines Schachbretts, ſtets den Troſt hat, daß eine ſichere Beurtheilung ſeiner Wirkſamkeit nach dem Erfolge kaum möglich ſein wird. Wir aber machen es in beiden Beziehungen anders. Je ſchwieriger die Verhältniſſe werden, um ſo mehr vervielfältigen wir die Jnſtruktionen und Vorſchriften, an welche die ausübenden Beamten gebunden ſind. Und wenn wir eines ſchönen Mor - gens die Entdeckung machen, daß in Folge unſerer ſuper - klugen Einrichtungen eine tiefe Kluft die Regierenden von den Regierten trennt, und daß das Räderwerk der Staats - maſchine aus dieſem Grunde nicht mehr einzugreifen vermag, ſo geben wir bald den Geſetzen und Verordnungen die Schuld und ſuchen durch beſſere Geſetze oder durch Jnſtrüktionen, welche die Abhängigkeit der Beamten noch mehr ſteigern, dem Uebelſtände abzuhelfen, bald geben wir den Perſonen die Schuld und verſetzen dieſelben weit weg an eine andere Stelle, wo ſie den Leuten und dieſe ihnen ganz unbekannt ſind, und113 wo ſie alſo die erſte Bedingung zur Ausübung eines ſittlichen Einfluſſes, das perſönliche Vertrauen und die Kenntniß der Perſonen, ſich erſt von Neuem allmälig wieder erwerben müſſen.

So durchdringt die Ueberſchätzung der Form und der Quelle, aus welcher dieſe Form entſtammt, des menſchlichen Verſtandes, alle unſere Beſtrebungen und Einrichtungen. Wie der Philoſoph durch die Kraft des Begriffes eine neue Grundlage für unſere ſtaatlichen, geſellſchaftlichen und Glau - benszuſtände erfinden möchte; wie der Kirchenmann durch die Kraft der kirchlichen Bekenntnißform den erlöſchenden Glauben neu zu beleben ſucht; wie der Schulmann durch die Kraft der wiſſenſchaftlichen Bildung die Erziehung zu fördern vermeint; ebenſo ſucht der Staatsmann durch die Kraft geſetzlicher Formen den auseinander brechenden Staat zuſammenzuhalten. Aber während alle dieſe Träger unſerer modernen Bildung ſich wie Verzweifelude an die Formen anklammern, lichten ſich von Jahr zu Jahr immer mehr die Reihen Derjenigen, in welchen ſich aus dem Segen einer frü - heren Zeit durch die ſtillwirkende Kraft der erziehenden Ueber - lieferung noch ein geſunder Kern von ſittlichen Ueberzeugungen erhalten hatte, und durch deren Hülfe allein der Staat hätte erhalten werden können.

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Schluß.

Wenn es gegenwärtig noch einen Gedanken gibt, in welchem Alle übereinſtimmen, ſo iſt es der, daß unſere jetzigen Zuſtände auf die Dauer ganz unhaltbar ſind und daß es für Niemand eine Wohlthat wäre, wenn ſie lange fortdauerten. Es muß anders werden, das iſt die Ueberzeugung aller Parteien. Und es wird anders werden, ſo gewiß, als auf den Winter ein Frühling folgt. Daß wir zu etwas Beſſe - rem geboren und fähig ſind, als zu einem erbärmlichen Streit um Formen, und zu einem das Herz austrocknenden Egois - mus, das zeigt uns die Geſchichte, indem ſie uns lehrt, daß wir etwas Beſſeres waren. Und das ſagt uns auch unſer eigenes Herz. Wir fühlen, daß uns Etwas fehlt, ohne deſſen Beſitz alles Andere werthlos iſt. Vielleicht iſt dieſes Gefühl zur Zeit noch nicht allgemein genug oder nicht lebendig genug, um ſchon in der nächſten Zukunft die rechten Früchte tragen zu können. Aber wir nähern uns jedenfalls mit ſtarken Schritten dem Zeitpunkt, wo die Hilfe am nächſten iſt, weil die Noth am größten iſt. Das ſo lange ſchon in ſeiner wahren Natur verkannte, in ſeinen heiligſten Rechten miß - achtete ſittliche Bewußtſein, welches ſeit Anbeginn der Welt ſo oft ſchon unter den verſchiedenſten Verhältniſſen und auch bei dem geringſten Grade von Bildung den Menſchen zum Glück befähigte und ſogar den meiſt ſo rohen und kindiſchen Vor - ſtellungen heidniſcher Religionen die Kraft verlieh, Ehr - furcht vor Gott zu erzeugen, Staaten zu gründen und eine geſittete Geſelligkeit zu erhalten, dieſe ſittliche Anlage des Menſchen erſtirbt nie vollſtändig in der menſchlichen Bruſt115 aus Mangel an Pflege, ſie ſchlummert nur, und ſie wird wieder geweckt, ſobald die Folgen ihrer Mißachtung empfind - lich genug hervortreten. Dieſe ſittliche Reaktion wird eintreten für das Ganze, wie ſie eintritt für die Einzelnen, ſobald wir dafür reif ſind, nicht früher und nicht ſpäter. Zu berechnen, wann dieſelbe eintreten werde und in welche Formen ſich das wiedererwachte Bewußtfein unſerer höheren Natur in der Folge kleiden werde, das liegt eben ſo wenig in menſchlicher Macht, als den Eintritt dieſer ſittlichen Reak - tion zu verzögern oder zu beſchleunigen. Die Thorheit eines ſolchen Verſuchs wollen wir Denjenigen überlaſſen, die da glauben, der Zukunft ihre Bahnen anweiſen zu können, weil ſie die Vergangenheit in Syſtem gebracht haben; wir wollen ſie Denjenigen überlaſſen, welche ſich berufen glauben, durch die Kraft ihres ſouveränen Willens Weltgeſchichte zu machen.

So lange aber dieſer Umſchwung in den Gemüthern, welchen wir durch Maßregeln von Oben nicht bewirken kön - nen, nicht erfolgt iſt, und ſo lange daher der Glaube an die Allgegenwart eines heiligen Gottes die Gemüther nicht allgemeiner und lebendiger als jetzt erfüllt, ſo lange werden wir vergeblich ſuchen, eine dauernde und befriedigende Grundlage für unſere politiſchen, geſellſchaftlichen und Glaubenszuſtände zu gewinnen. Viel - mehr kann bis dahin unſere ganze Aufgabe nur eine auf die augenblicklichen Verhältniſſe berechnete und daher auch in ihren Mitteln nach Ort und Zeit ſehr wandelbare ſein, ſie kann nur darin beſtehen, den Staat und die Geſellſchaft gegen die furchtbaren Gefahren, von denen ſie bedroht ſind, ſo gut als möglich und ſo lange als möglich zu ſchützen, in der Hoffnung, daß mittlerweile jener Umſchwung der Ge -116 müther zum Beſſeren, welcher nicht ausbleiben kann, deut - licher hervortreten, ſich in weiteren Kreiſen Bahn brechen, und der Sache der Ordnung neue Kräfte zuführen werde. Aber ſelbſt zur Löſung dieſer beſcheideneren Aufgabe gibt es durchaus kein anderes Mittel, als die rechte Verwendung der auch jetzt noch unter uns vorhandenen ſittlichen Kräfte. Denn gleichwie man den Teufel nicht durch Beelzebub aus - treibt, ebenſo werden wir nimmermehr die Anarchie mit Er - folg bekämpfen durch die Kraft des ſouveränen Verſtandes und durch eine die Form vergötternde Geſinnungsloſigkeit.

Jhr klaget jetzt nicht ſelten über die Lauheit der Kon - ſervativen, welche die Hände in den Schooß legen, ſtatt an der Erhaltung des Staates mit Hingebung mitzuwirken. An dieſer Lauheit mag allerdings oft genug der Mangel an der rechten Geſinnung ſchuld ſein. Aber eben ſo oft kömmt dieſe Unthätigkeit wohl nur daher, weil euer Aufruf gar nicht an die rechte Geſinnung gerichtet iſt, ſondern an eine ſittlich indifferente Kraft, welche ihr zum Dienſte einer ſittlich indifferenten Form aufbieten wollt. Da iſt es dann kein Wunder, wenn die ſittliche Ueberzeugung ſich mit Gleichgültigkeit ab - wendet, eingedenk der Vorſchrift: Laſſet die Todten ihre Todten begraben!

About this transcription

TextUnsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie
Author N. N.
Extent124 images; 29042 tokens; 5280 types; 206539 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationUnsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie N. N.. . [5], 116 S. BecherStuttgart1852.

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SUB Göttingen SUB Göttingen, 8 H UN III, 4231

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Fraktur

LanguageGerman
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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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ShelfmarkSUB Göttingen, 8 H UN III, 4231
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