Das Recht der Ueberſetzung dieſes Werks ins Engliſche, Franzöſiſche und andere fremde Sprachen behält ſich die Verlagshandlung vor.
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Aus der bisherigen Darſtellung des gaunerſprachlichen Stoffes erkennt man, wie die deutſche Gaunerſprache den Hauptgrundzug mit andern Gaunerſprachen gemein hat, daß ſie durchaus auf dem Boden der Volksſprache wurzelt und daß ſie dieſen Boden auch niemals verläßt. Sie hat auch, jedoch nur zum Theil, das mit fremden Gaunerſprachen, namentlich im Bereich der romani - ſchen Sprachen, gemein, daß ſie aus gaunerpolitiſchen Rückſichten von der volksthümlichen Bedeutung vieler Wörter abweicht und dieſen eine bildliche oder durchaus eingeſchränkte, meiſtens auf be - ſtimmte Perſonen und Verhältniſſe bezügliche Bedeutung verleiht, bei welcher faſt immer Scharfſinn, Witz und Spott in ebenſo glänzender wie frivoler Weiſe hervortritt. Sie hat endlich noch mit fremden Gaunerſprachen das gemein, daß ſie aus Nützlichkeits - rückſichten mit überraſchender Zähigkeit an alten Ausdrücken der Volksſprache feſtgehalten hat, welche in dieſer ſchon längſt nicht mehr üblich und ihr dadurch fremd geworden ſind. Dieſe letztere Rückſicht iſt ſehr bedeutſam. Sie hat zwar bei den Bearbeitern der Gaunerſprachen auf romaniſchem Gebiete allerdings Beachtung gefunden, ſie hat aber auch wieder dazu verleitet, daß bei derAvé-Lallemant, Gaunerthum. IV. 12mangelnden Kenntniß des innern Weſens und Lebens des Gau - nerthums und ſeiner Sprache, wie das entſchieden bei Francisque - Michel der Fall iſt, von den Gaunerlinguiſten ein Uebermaß des Volksſprachvorraths in die Gaunerſprache hineingetragen und ſomit derſelben aus dieſem Vorrath eine Bereicherung aufgedrun - gen wurde, welche ihrem Weſen und Zweck durchaus fremd und entlegen iſt und ihre klare Auffaſſung trübt. Treffend bezeichnet Pott („ Zigeuner “, II, 2), welcher überhaupt hell und friſch in die Gaunerſprache hineingeblickt hat, dieſelbe als eine „ erfundene, gemachte “Sprache. Die Gaunerſprache iſt durchaus eklektiſch und conventionell. Jhr Umfang iſt von Geiſt und Kunſt des Gauner - thums begrenzt, ihre Typen nach dem Bedürfniß gewählt. Jhr Kriterium iſt die Abgeſchloſſenheit ihres Verſtändniſſes und ihre Lebensfähigkeit iſt vom Geheimniß abhängig. So greift das Gaunerthum keck und verwegen in den Volksſprachſchatz hinein und ſchafft mit Scharfſinn, Spott, Jronie, Laune, Witz, Humor und Satire in abſoluteſter, frivolſter und tollſter Weiſe Wörter und Bilder, von denen kein einziges ohne ſprudelndes Leben iſt und von denen viele einen wunderbar tiefen Blick nicht nur in den ganzen Geiſt des Gaunerthums, ſondern auch, trotz der ge - waltſamen Entſtellung, in das innerſte Volksleben eröffnen.
Die deutſche Gaunerſprache hat auch das mit andern Gau - nerſprachen gemein, daß ſie, freilich aber auch wieder in nur ge - ringem Maße, zu ihrem Wortvorrath aus fremden Sprachen, beſonders aus der Zigeunerſprache, einen Vorrath hinzugeſchlagen hat, ſo viel die Zigeuner bei ihrem unſtäten Umherſchweifen hier und da auf den Volksſprachboden haben fallen laſſen. Sie hat aber doch vor allen andern Gaunerſprachen eine ganz beſondere Eigenthümlichkeit voraus: die überaus reiche Verſetzung mit jüdiſch - deutſchen Wörtern und ſogar ganzen Redensarten. Trotz aller ſchmählichen Bedrückung hat das jüdiſche Element überall, wo es ſich in ſeinen Jndividualitäten repräſentirte, tief und nachhaltig in das Volksleben hineingewirkt. Dieſe Wirkung war ſo groß, daß die jüdiſchen Sprachtypen, wenn auch vereinzelt, doch in ſolche Sprachen eindringen konnten, deren Bau und Flexionsweiſe3 ihrer Aufnahme den entſchiedenſten Widerſtand leiſteten. Dies ſieht man beſonders in der franzöſiſchen Gaunerſprache, bei deren Be - arbeitung Francisque-Michel die eingedrungenen jüdiſchen Typen oft ganz verkennt und ihre Abſtammung auf eine an das Komiſche ſtreifende flache Weiſe erläutert. Zwei Factoren aber waren es, welche dem jüdiſchen Element ſo tiefen Eingang in das deutſche Volksleben und in die deutſche Sprache verſchafften, ſodaß über - haupt eine ſo wunderliche Sprachzuſammenſchiebung wie das Judendeutſch möglich war: die Fügigkeit der wenn auch an Fle - xionen armen deutſchen Sprache ſelbſt und — der eigenthümliche deutſche Aberglaube, deſſen Zaubermyſticismus ſogar eine Ueber - fülle jüdiſch-kabbaliſtiſcher Formen aufnahm, unbekümmert, ob dieſe in ihrer fremden geheimnißvollen Erſcheinung überhaupt für die deutſche Sprachform möglich waren oder dem Volke auch nur ſonſt einigermaßen klar und begreiflich werden konnten.
Das Weſen, die gegenſeitige Beziehung und Zuſammenſchie - bung der deutſchen und jüdiſchdeutſchen Sprache iſt bereits erläu - tert worden. Die Gewalt der kabbaliſtiſchen Sprache und Formen aber, wie dieſe in ganz beſonderer Eigenthümlichkeit dem deutſchen Volke dargeboten und populär gemacht wurden, ohne daß doch das Volk eine beſtimmtere Ahnung von ihrem Urſprung gewann oder gewinnen konnte, hat eine zu entſchiedene culturhiſtoriſche und auch gaunerſprachliche Bedeutſamkeit, als daß ſie hier ganz übergangen werden dürfte. Dieſe Formen haften überall im ſocial - politiſchen Leben, in Glauben, Brauch und Sitte des Volks, ſie haften an Schrift und Wort, an Stein und Mund, öffentlich und geheim, bewußt und unbewußt, mit verſtändlichem und unverſtänd - lichem Ausdruck. Darin aber beſteht ihre dämoniſche Gewalt, daß ſie beſtändiger Ausdruck eines wenn auch weit verirrten, doch in - nerlichen geiſtigen Lebens waren: ja daß ſie, wenn gleich kaum geahnt und immer rudimentär und aphoriſtiſch, doch beharrlich und unvertilgbar ihr unheimliches Leben bewahrt haben, und auch jetzt noch immer zu verworfenen Zwecken lebendig gemacht und heraufbeſchworen werden können.
Bei den Kabbaliſten findet man unter der Menge verſchiede - ner Alphabete auch eins, welches von ihnen für das älteſte aus - gegeben wird, deſſen Moſes und die Propheten lange vor der an - geblich erſt von Esdra eingeführten Quadratſchrift ſich bedient haben ſollen und deſſen Charaktere und Gebrauch ſehr geheim gehalten wurden. Es wurde Scriptura coelestis, Himmelsſchrift, genannt. Ein anderes ihm ähnliches iſt die Scriptura malachim, Scriptura angelorum, Engelsſchrift, oder Scriptura melachim, auch Scriptura regalis, Königsſchrift, genannt. Ein drittes, bei - den genannten Alphabeten weit weniger ähnliches iſt die Scriptura transitus fluvii. Auf den erſten Blick erkennt man in allen drei Alphabeten den ſo geheimnißvoll gehaltenen Schlüſſel zu den myſteriöſen Charakteren der chriſtlichen Zauberdogmatik, welche ſelbſt den volksbetrügeriſchen Zaubermyſtikern in ihrer urſprüng - lichen Bedeutſamkeit zum größten Theil unbekannt waren und nach und nach ſowol in der figürlichen Darſtellung wie im ur - ſprünglichen logiſchen Verſtändniß ganz und gar abflachten. Man findet ſie namentlich in allen Zauberkreiſen, Nativitätstafeln u. dgl., bald vereinzelt, bald in mehr oder minder gedrängter Gruppirung, meiſtens ohne logiſchen Zuſammenhang und ohne inneres Verſtänd - niß, und man kann darum nicht zweifelhaft ſein, daß ſie ſämmt - lich eine Erfindung der Kabbaliſten ſelbſt ſind, namentlich wenn man im Vergleich mit den alten ſemitiſchen Schriftarten1)wozu ſchon die der achtzehnten Auflage der „ Hebräiſchen Grammatik “von Rödiger beigefügte vergleichende Tabelle vollkommen ausreicht. nur entfernte Aehnlichkeiten oder mindeſtens arge Verſtümmelungen jener alten urſprünglichen Alphabete findet. Charakteriſtiſch bei allen drei Alphabeten iſt, daß ſie, zur abſichtlichen Verſtärkung ihrer5 myſtiſchen Bedeutſamkeit, neben und mit ihrer logiſchen Bedeutung Sternbilder darſtellen ſollen, weshalb denn auch ihre Charaktere in Sterne auslaufen. 1)Caelestem vocant (scripturam), quia inter sidera collocatam et figuratam ostendunt, non secus atque caeteri Astrologi signorum imagi -Die in mehr als einer Hinſicht intereſſan - ten Alphabete folgen hier nach der alten, ſehr ſeltenen (in meinem Beſitz befindlichen), unten allegirten lyoner Ausgabe der Werke des Agrippa von Nettesheym vom Jahre 1531, woſelbſt ſie auf S. 317 und 318 zu finden ſind.
Zunächſt die Himmelsſchrift:
Theth Cheth Zain Vau He Daleth Gimel Beth Aleph〈…〉〈…〉 Zade Pe Ain Samech Nun Mem Lamed Caph Jod〈…〉〈…〉 Tau Schin Resch Kuff〈…〉〈…〉
Das Aleph findet ſich ähnlich in palmyreniſchen Jnſchriften, ſo auch das Gimel, obſchon dort der vertikale Zug an letzterm von der Mitte an ſchräg nach rechts abfällt. Das Daleth iſt dem pal - myreniſchen gleich; das He und Vau ſind demſelben ähnlich; Sajin und Cheth ſind ganz abweichend; Theth und Samech ſind ſich gleich und weichen ganz vom palmyreniſchen ab; ebenſo die übri - gen Buchſtaben, obſchon hier und da eine entfernte Aehnlichkeit ſich zeigt.
Die Engelsſchrift iſt noch abweichender, obſchon hier phö - niziſche Charakterähnlichkeiten zu finden ſind.
Theth Cheth Zain Vau He Daleth Gimel Beth Aleph〈…〉〈…〉 Pe Ain Samech Samech Nun Mem Lamed Caph Jod〈…〉〈…〉 Tau Schin Resch Kuff Zade〈…〉〈…〉
6Hier iſt mit abſoluter Willkür in die ſemitiſchen Schrift - formen und in ihre Bedeutung hineingegriffen worden. So iſt die in allen ſemitiſchen Alphabeten gleiche Grundform des Schin hier ſowol dem Kuph wie dem Beth und Zain beigelegt worden. Das in zwiefacher Form vorhandene Samech, das Aleph, Theth und Tau ſind ganz fremdartige Schnörkel, welche ſchon durchaus in das willkürliche Decorative und Ornamentale übergehen. Hin - gegen hat das Cheth einige Aehnlichkeit mit dem phöniziſchen Cheth und iſt von dem althebräiſchen Münzen - und Gemmen - Cheth nur dadurch unterſchieden, daß es auf der langen Seite liegt. Das Jod iſt durchaus palmyreniſch; das Ain hat Aehnlich - keit mit dem althebräiſchen Münzen - und Gemmen-Ain, und das Tau erſcheint als eine Verdoppelung des Tau in derſelben Gem - menſchrift oder in der althebräiſchen Schrift.
Eine weit ſtärkere kabbaliſtiſche Färbung hat die Scriptura transitus fluvii. Sie hat kein Sain, mithin nur 21 Buchſtaben:
Cheth Vau He Daleth Gimel Beth Aleph〈…〉〈…〉 Samech Nun Mem Lamed Caph Jod Theth〈…〉〈…〉 Tau Schin Resch Kuff Zade Pe Ain〈…〉〈…〉
Hier iſt mit höchſter Willkür in alle möglichen kabbaliſtiſchen Buchſtabenformen hineingegriffen worden und man wagt kaum darauf zu deuten, daß das Aleph mit dem aramäiſch-ägyptiſchen, das Beth mit dem palmyreniſchen und das He mit dem phöni - ziſchen (in umgekehrter Stellung) einige Aehnlichkeit hat, wenn man dazu deutlich erkennt, daß das Beth, Daleth, He, Cheth, Jod, Caph, Zade, Tau u. ſ. w. offenbar mit der Kammerſchrift übereinſtimmt.
1)nes e stellarum lineamentis educunt, p. 316, in „ Henrici Cornelii Agrip - pae ab Nettesheym, armatae militiae equitis aurati, et jur. utr. ac med. Dris Opera “(Lyon 1531).
7Jn allen drei Alphabeten kann man die Grundlage der mei - ſten zaubermyſtiſchen Charaktere ſo wenig verkennen wie die Grund - lage der geheimen Gaunerzinken, ſo entſtellt und verwiſcht auch hier wie dort, zu verſchiedenen Orten und Zeiten, die Form des urſprünglichen Charakters erſcheint. Der Vergleich mit den Zauber - zeichen in den zahlloſen Zauberbüchern und ſelbſt ſchon mit den wenigen, Th. II, S. 59 fg. dargeſtellten Gaunerzinken neuerer Zeit, älterer nicht zu gedenken, gibt Belege genug an die Hand. Noch deutlicher wird aber der Einfluß dieſer Charaktere auf die wäh - rend des Mittelalters mit großer geheimnißvoller Wichtigkeit in den Wappen - und Heroldsſchulen betriebenen Wiſſenſchaft der Heraldik und auf die ſeit dem Mittelalter in oft unerklärlicher Weiſe zum Vorſchein kommenden Bauornamente, wenn man ein eigenthümliches kabbaliſtiſches Alphabet damit in Verbindung bringt, welches man ebenfalls bei Agrippa von Nettesheym, a. a. O., S. 319, findet. Das Alphabet, welches keinen beſon - dern Namen hat, wurde bei den Kabbaliſten in hohen Ehren und ſehr geheim gehalten, jedoch auch wieder ſehr raſch bekannt, ſodaß es ſogar ſchon im 15. Jahrhundert für profan und abge - droſchen galt. Es hat unter allen kabbaliſtiſchen Alphabeten die tiefſte Begründung und das bündigſte Syſtem, und ſcheint auch für die Geſchichte und Sprache der alten Bauhütten mit den ſehr oft völlig räthſelhaften Zeichen der Steinmetzen und Maurer von Jntereſſe zu ſein. Zu ſeinem Verſtändniß muß zunächſt auf die Zahlengeltung der hebräiſchen Buchſtaben verwieſen werden, welche Th. III, Kap. 81, erklärt worden iſt.
Mit Herbeiziehung der fünf Finalbuchſtaben ſtellen die Kab - baliſten die hebräiſchen Zahlbuchſtaben mit beſtimmten, hier jedoch nicht näher zu erörternden Beziehungen1)Von der Bedeutung der drei Zahlenreihen ſagt Agrippa von Nettes - heym, a. a. O., S. 318: „ Dividantur viginti septem Hebraeorum cha - racteres in tres classes, quarum quaelibet novem contineat literas: Prima scil. 〈…〉〈…〉quae sunt signacula numerorum simplicium, rerumque intellectualium, in novem angelorum ordines distributorum, secunda tenet〈…〉〈…〉 signacula denariorum, rerumque coelestium, in novem orbi - in folgenden neun8 Kammern (camerae) auf und zwar in der Ordnung, daß die einander entſprechenden Einer, Zehner und Hunderte in je eine Kammer zuſammengeſetzt werden, wie die zur Erläuterung unter - geſetzten Zahlen ausweiſen. 1)Will man die hebräiſche Alphabetfolge richtig herausfinden, ſo lieſt man zuerſt die erſten Buchſtaben aller neun Kammern, dann die zweiten und endlich die dritten aller Kammern durch.
III | II | I | ||
〈…〉〈…〉300. 30. 3. | 〈…〉〈…〉200. 20. 2. | 〈…〉〈…〉100. 10. 1. | ||
VI | 〈…〉〈…〉600. 60. 6. | 〈…〉〈…〉500. 50. 5. | 〈…〉〈…〉400. 40. 4. | IV |
〈…〉〈…〉900. 90. 9. | 〈…〉〈…〉800. 80. 8. | 〈…〉〈…〉700. 70. 7. | ||
IX | VIII | VII |
Jn dieſer Darſtellung erkennt man ſchon die Grundzüge der noch heute in den Glücksbuden vielgebrauchten Zahlenlottokarten mit den dabei üblichen (Th. III, Kap. 35 bei der Fallmacherſprache angedeuteten) Claſſificationen und Kunſtbezeichnungen. Jntereſſan - ter iſt aber noch die weitere Ausbeutung dieſes Kammerſyſtems. Nach ihren äußern viereckigen Umriſſen wurden nämlich die oben dargeſtellten neun Kammern als Fragmente eines Vierecks ſyſte - matiſch von den Kabbaliſten zu Buchſtaben verwandt und in eine (oben mit römiſchen Ziffern bezeichnete) beſtimmte Reihenfolge ge - bracht, ſodaß jede Kammer durch eine beſtimmte Figur nach fol - gendem Syſtem dargeſtellt wurde:
〈…〉〈…〉IX VIII VII VI V IV III II I
1)bus coelorum: tertia vero tenet quatuor reliquas literas, cum quinque finalibus per ordinem, scilic. 〈…〉〈…〉signacula centenariorum rerum - que inferiorum, videlicet quatuor elementorum simplicium et quinque generum compositorum perfectorum.
9Jede Kammer faßte nun drei Buchſtaben in ſich. Je nach - dem nun der erſte, zweite oder dritte Buchſtabe der einzelnen Kammer bezeichnet werden ſollte, wurde das Kammerzeichen oben mit einem einfachen, doppelten oder dreifachen eckigen Strich oder Punkt verſehen. Agrippa von Nettesheym1)Agrippa von Nettesheym begeht, mindeſtens nach der erwähnten alten lyoner Ausgabe, mancherlei Jrrthümer und läßt arge Druckfehler unverbeſſert. So hat er, ſehr verwirrend und falſch, S. 319 das oben richtig von rechts zu links geordnete Syſtem der Kammerfiguren von links zu rechts aufgeführt und wird dadurch völlig unverſtändlich, wie er denn dabei auch mit ſeinen erläu - nimmt als Beiſpiel den Namen Michael,〈…〉〈…〉, welcher mit Kammerzeichen von rechts zu links ſo geſchrieben wird:〈…〉〈…〉〈…〉〈…〉 iſt nämlich der zweite Buchſtabe des vierten Kammerzeichens,〈…〉〈…〉 der zweite Buchſtabe des erſten,〈…〉〈…〉 der zweite Buchſtabe des zwei - ten,〈…〉〈…〉 der erſte Buchſtabe des erſten, und〈…〉〈…〉 der zweite Buchſtabe des dritten Kammerzeichens.
So wird ferner geſchrieben (von rechts zu links)
Die Kammerzeichen wurden auch contrahirt geſchrieben, wie z. B. das obige Wort Michael:〈…〉〈…〉 und häufig in einen einzigen Charakter zuſammengezogen, wie daſſelbe Wort Michael:〈…〉〈…〉
10Aus dieſen Zuſammenziehungen beſtanden jene vielen geheim - nißvollen zaubermyſtiſchen Geiſter - und Beſchwörungszeichen, deren ſich die betrügeriſchen Aſtrologen und Nekromanten im Mittelalter bedienten und welche ſie für unglaubliche Summen — es kommen Kaufpreiſe von 9000 Dukaten vor für ein einziges Zeichen — verkauften.
Es darf nicht auffallen, daß ſchon Agrippa von Nettesheym, welcher von 1486 — 1535 lebte, dieſes kabbaliſtiſche Alphabet als bekannt und profan erklärte. 1)a. a. O., S. 318: „ Hic modus apud Cabalistas olim magna ve - neratione habitus, sed hodie tam communis effectus, ut fere inter pro - phana locum sortitus sit “.Tabourot führt (liv. I, chap. XXI, fol. 159b und beſonders fol. 161 und 162), freilich ſchon ſehr un - klar und verwildert und mit zu großer franzöſiſcher Färbung die - ſelbe Kammerſchrift als volksthümliche Spielerei auf und gibt dazu Beiſpiele in franzöſiſcher Sprache. Es iſt charakteriſtiſch, daß Tabourot die ſeltſame graphiſche Erſcheinung ſchon durchaus als volksthümliche Erſcheinung auffaßt, deren kabbaliſtiſcher Urſprung ihm ſelbſt ſo unklar iſt, daß er entfernte Aehnlichkeit mit den hebräiſchen Schriftzeichen darin findet (qui ressembleront quelque chose à la lettre hebraïque, si on veut un peu entourner les traicts des lettres) und bei ihrer Uebertragung in das Franzö - ſiſche die Kammern theils mit hebräiſchen, theils mit verkehrt ge - ſtellten großen griechiſchen und lateiniſchen Buchſtaben, ungeſchickt und willkürlich genug, abtheilt. Geſchickter und klarer hat ſein Zeitgenoſſe, Blaiſe de Vigenère, in ſeinem ſehr ſelten gewordenen „ Traité des chiffres “(Paris 1587, fol. 276b) die Kammerſchrift aufgefaßt, ſodaß er in der Diplomatie, welche ſich aber gerade auch nicht bedeutend um den kabbaliſtiſchen Urſprung gekümmert zu haben ſcheint, ſondern nur ihre verſteckten Zwecke verfolgte, für den Erfinder der aus der Kammerſchrift entſprungenen und bis zur Stunde in der diplomatiſchen wie in der Gaunerpraxis ſtark1)ternden Beiſpielen nicht beſonders glücklich iſt und überhaupt nicht recht klar und unbefangen in die Kabbala hineingeblickt hat.11 gebrauchten Winkel - und Quadratſchrift gilt. Auch Klüber1)„ Kryptographik. Lehrbuch der Geheimſchreibekunſt (Chiffrir - und De - chiffrirkunſt) in Staats - und Privatgeſchäften “(Tübingen 1809), S. 260., erwähnt ihrer nach Vigenère und nach dieſem mag das bei Ta - bourot unklar und typographiſch ſchlecht und incorrect dargeſtellte Syſtem zur Vergleichung mit der urſprünglichen kabbaliſtiſchen Kammerſchrift hier eine Stelle finden.
Man ziehe vier Linien, je zwei parallel, ſodaß ſie ſich wech - ſelſeitig rechtwinkelig durchſchneiden und in der Mitte ein Quadrat bilden. Jn jede Section ſetze man zwei oder drei Buchſtaben, ſo - daß alle Buchſtaben des Alphabets in die neun Sectionen vertheilt ſind. Den erſten Buchſtaben jeder Section laſſe man einfach ſtehen, dem zweiten gebe man einen Punkt, dem dritten zwei Punkte. 2)Es verſteht ſich, daß man die Buchſtaben auch anders vertheilen und nach einer durchaus willkürlichen Ordnung in die Sectionen ſetzen kann. Das Alphabet im obigen Schlüſſel iſt franzöſiſch, daher fehlt das k und w und das v wird durch u ergänzt.So wäre der Schlüſſel z. B. folgender:
a b. c: | d e. | f g. h: |
i l. m: | n o. | p q. r: |
s t. | u x. | y z. |
Hier bildet jede Buchſtabenſection das beſtimmte und beſon - dere Fragment eines Vierecks. Steht die Figur ohne Punkt innen, ſo iſt der erſte Buchſtabe angezeigt; der einfache Punkt bedeutet den zweiten, der doppelte Punkt (Kolon) den dritten Buchſtaben der Figur. Danach werden die oben erwähnten Beiſpiele hier von links zu rechts ſo geſchrieben:
Soweit erſcheint die Winkel - und Quadratſchrift durchaus als klare und verſtändliche Analogie der Kammerſchrift: das Raffi - nement der Diplomatie hat nun aber ein Uebriges gethan. Viel - fach nämlich werden die doppelten Punkte weggelaſſen und beſon - ders durch ſpitze Winkel erſetzt, wie z. B. nach folgendem Schlüſſel:〈…〉〈…〉 nach welchem die Vocale ſo geſchrieben werden:〈…〉〈…〉 a e i o u oder nach einem andern Schlüſſel:〈…〉〈…〉 nach welchem die Vocale wieder ſo geſchrieben werden:〈…〉〈…〉 a e i o u oder nach einem Schlüſſel, bei welchem ſogar das hebräiſche Ka - mez〈…〉〈…〉 die Stelle des Punktes zur Bezeichnung des zweiten Buch - ſtabens vertritt:〈…〉〈…〉 Danach werden die obigen Beiſpiele (von links zu rechts) ſo aus - gedrückt:
13Alle dieſe Zeichen ſind unzweifelhaft kabbaliſtiſchen Urſprungs und liegen ſchon den älteſten Zauberzeichen und Gaunerzinken zu Grunde. Jhre ſchon ſehr frühe Popularität iſt durch Agrippa von Nettesheym, Tabourot und Vigenère verbürgt. Man darf aber auch ohne Vermeſſenheit es wagen, den Blick noch auf die Orna - mente und Frieſe fallen zu laſſen, welche man an den beſonders im nördlichen Deutſchland, Holland und Frankreich allmählich ſeit Einführung des Chriſtenthums nach dem urſprünglich römiſchen Bauſtil ausgeführten eigenthümlichen Stein - und beſonders Ziegel - bauten findet. Die Linien und Zeichnungen dieſer Ornamente und Frieſe erſcheinen vielfach ſehr eigenthümlich und dunkel. Sie mögen vielleicht als urſprünglich graphiſche Charaktere oder Jn - ſchriften zu betrachten ſein, welche freilich nach und nach zur bloßen decorativen Malerei abgeflacht ſind. An mehr als einer Stelle ſeiner trefflichen „ Fabliaux “macht der bereits Th. III, S. 68, Note 2, erwähnte geiſtvolle Le Grand d’Auſſy, beſonders in ſeinen „ Notes historiques et critiques “und namentlich zur fünften Erzählung des zweiten Theils: Huéline et Eglantine, auf die Berührung der chriſtlichen Ritterſchaft mit den Mauren in Spanien aufmerkſam, ſowie ſpeciell auf den Einfluß, welchen der aus dem Verbote bildlicher Darſtellung hervorgegangene Hang der Araber zur Anbringung zahlreicher Sinnſprüche an Bauwerken, Waffen und Gegenſtänden des täglichen Gebrauchs auf die einfachen Bilder, Wappen und Embleme der chriſtlichen Ritterſchaft hatte. Dieſe chriſtlichen Decorationen waren urſprünglich bloße dürre Bil - der, ohne Jnſchrift und Deviſe, und erſt ſeit der Bekanntſchaft mit dem mauriſchen Gebrauche ſind Jnſchrift und Deviſe als Theil der chriſtlichen Wappenornamentik nachzuweiſen. Es iſt auch be - merkenswerth, daß Agrippa von Nettesheym S. 320 die außer - ordentliche Befähigung und vielgeübte Kunſt der arabiſchen Schrift -14 contraction hervorhebt, indem er ſagt: „ Hic modus (nämlich die Zuſammenziehung eines Worts in einen einzigen Schriftcharakter) apud Arabes receptissimus est, nec est scriptura aliqua, quae tam prompte atque eleganter sibi connectatur sicut Arabica “. Dieſe Befähigung iſt allerdings ſehr eigenthümlich und beſonders ſichtbar in einem alten arabiſchen aſtrologiſchen Pergamentmanu - ſcript, welches ich beſitze und in welchem auf verſchiedenen Blät - tern als beſtimmte Beſchwörungsformel derſelbe contrahirte Cha - rakter ſo oft und ununterbrochen wiederholt iſt, daß er ganze Seiten füllt und daß, von der Gleichmäßigkeit des beſtändig wie - derholten Charakters veranlaßt, das logiſche Verſtändniß end - lich im fortgeſetzten Einerlei ermüdet und dafür das Auge unwill - kürlich nur das Graphiſche in ſeinen vielen gleichen Einzeltheilen als harmoniſches decoratives Ganzes ohne logiſche Bedeutung auffaßt.
Wie die Aufnahme geheimnißvoller exotiſcher Charaktere in die chriſtliche geheime zaubermyſtiſche Wiſſenſchaft nachgewieſen, wie ihre Verkennung und daraus entſpringende Verfärbung ſie profa - nirt und zeitig zu einer decorativen Spielerei des Volks und wie - derum aus der breiten Popularität zu einer neuen eklektiſchen Schrift der Diplomatie umgeſchaffen hat: ſo entſchieden iſt es, daß die Erfinder der originellen Charaktere überhaupt nicht, oder doch mindeſtens nicht allein die leere monotone Ornamentik, ſon - dern vorzugsweiſe ein wenn auch durch verworrene myſtiſche Sym - bolik verdunkeltes logiſches Verſtändniß in jenen Charakteren geben wollten und wirklich auch gegeben haben. Die Verdunkelung dieſes Verſtändniſſes zeigte ſich jedoch ſo früh, daß ſchon im 16. Jahrhundert der in den vollen Wirrwarr der Abflachung und Ver - bleichung jener alten graphiſchen Typen zur bloßen Ornamentik und phantaſtiſcher ſubjectiver Spielerei hineingreifende Tabourot nur noch gelegentlich und in einzelnen Fragmenten die alte logi - ſche Originalität zu retten und nachzuweiſen im Stande iſt. So interpretirt er a. a. O., I, fol. 5a, die ornamentale Zeichnung〈…〉〈…〉15 als une S fermée avec un traict pour dire fermesse au lieu de fermeté. So ferner I, fol. 162b das Ornament〈…〉〈…〉 als ein griechiſches Φ und verdoppeltes M, „ composé par un brave amoureux nommé François sur sa maistresse Marthe “. So endlich das Ornament〈…〉〈…〉 als verdoppeltes und verſchlungenes C, welche Ornamentik Ta - bourot gleich der Verſchlingung des C mit H an unendlich vielen von Heinrich II. von Frankreich mit der Katharina von Medicis aufgeführten Bauten ſelbſt geſehen haben will. Fol. 163a führt er jedoch ein ihm ſelbſt ſchon unklar gebliebenes1)Tabourot ſagt dabei: „ J’ay veu aussi practiquer des chiffres, en forme de lettres Moresques, pour servir de pendans, de fort bonne grace: et croy que si l’invention estoit cognue, qu’elle ne seroit pas mal plai - sante, L’on fait ainsi des lettres TVENBOSRAY, que j’ay tiré d’un nom et surnom “. hübſches Orna - ment auf „ en forme de lettres Moresques “:〈…〉〈…〉
Es ließen ſich noch viele andere Beiſpiele anführen, nament - lich von Bauten in den alten Reichsſtädten und wieder beſonders in Norddeutſchland, wo unter anderm in Lübeck eine Fülle von Beobachtung an alten Bauornamenten ſich darbietet. Entſprechen - des und mannichfach hierher Bezügliches wird noch in Kap. 6 berührt werden.
Während das von den Kabbaliſten erdachte und von den chriſtlichen Zaubermyſtikern zum eigenen Selbſtbetrug nachgeahmte und zum Betrug anderer ausgebeutete künſtliche Syſtem einerſeits bei ſeiner Kundgebung in das Volk raſch verblich oder zerſplitterte und theilweiſe zu einer argloſen Spielerei des letztern wurde, er - hielt ſich andererſeits das von den Zaubermyſtikern in ihren Schriften mit dem ganzen Apparat und Ernſt der Gelehrſamkeit Verarbeitete als rationelle Wiſſenſchaft, welche ſtets als Quelle neuer abergläubiſcher Verirrungen dienen, aber auch in anderer Richtung tief eingreifende Wirkungen ausüben, namentlich dem verſchlagenen ſtaatsklugen Cardinal Richelieu zum Pfunde werden ſollte, mit welchem er einen entſetzlichen Wucher trieb, als er die Kryptographie zur höchſten und feinſten Ausbildung brachte. Er bildete ſie mit der raffinirteſten diplomatiſchen Kunſt und Ver - ſchlagenheit aus, wie er ſie in ſtaunenerregender perfider Weiſe zu ſeinen politiſchen Zwecken ausbeutete, ganz dem kühnen Pro - gramm entſprechend, welches Trittheim in ſeinem berühmten Briefe an den Karmelitermönch Arnold Boſt von ſeiner Wiſſenſchaft1)„ Polygraphiae libri sex Joannis Trithemii, abbatis Peapolitani, quondam Spanheimensis, ad Maximilianum I Caesarem “(Köln 1571). Dieſe kölner Ausgabe iſt einer der ſchönſten Drucke des 16. Jahrhunderts, welche ſich in meiner Sammlung finden. aufgeſtellt hatte. Bei der ſeit Jahrhunderten eingeriſſenen gänz - lichen Desorganiſation zwiſchen Volk und König war es Riche - lieu, welcher für den ſiechenden Körper ein heimliches wirkſames Gegengift in der franzöſiſchen Polizei erfand, von welchem Lud - wig XIV. in dem Edict von 1667 eine unumwundene offene Ana - lyſe gab und deſſen Wirkungen jene Raſerei des nervenzerrütteten Körpers beförderten, welche man mit dem Namen der franzöſiſchen Revolution bezeichnet.
Nichts iſt für dieſes Siechthum des franzöſiſchen Körpers und für ſeine Vergiftung bezeichnender als die in Frankreich er -17 fundene geheime Polizeiſchrift. Hat man dieſe kennen ge - lernt, ſo muß man an alle jene ungeheure breite politiſche Schande glauben, welche der erbitterte Pierre Manuel in ſeiner „ Police de Paris dévoilée “1)„ La Police de Paris dévoilée. Par Pierre Manuel. L’un des Ad - ministrateurs de 1789. Avec Gravure et Tableaux. Deux tomes. A Paris, L’an second de la Liberté “. Das Buch iſt ſehr ſelten und wahrſcheinlich wol recht bald von der „ Police dévoilée “, auch der ſpätern, unterdrückt wor - den. Nur mit ſehr großer Mühe habe ich ein Exemplar auftreiben können. ohne Schonung und Erbarmen aufdeckt. Er ſelbſt nennt ſein Buch (II, 87): „ un moyen que n’a jamais eu un peuple de connoître jusqu’à quel point peut se dépra - ver une ville, qui, avec des lumières, n’a point de vertus “. Es gibt doch etwas, was noch unter dem Laſter ſteht und was, wie die Hölle unter der Erde, noch tief unter dem verſchlemmten Pfuhl des Laſters gedacht werden kann: jener ſataniſche Geiſt der abſoluten Luſt am Böſen, der in dem furchtbaren Fäulungsproceß wie ein tödtliches Miasma ſtill, heimlich und in tiefem Dunkel von dem verſumpften Boden nach der Oberfläche aufbrodelt, den Einzelnen wie die ganze Gruppe vergiftet und wie ein tödtliches Contagium Land und Leute überzieht und hinwegrafft. Die ge - heime Polizeiſchrift läßt ſich nicht anders definiren, als die Schrift des Geiſtes, der ſtets verneint; man kann ſie, wie man nach den Sternbildern eine Himmels - und Engelsſchrift bezeichnet, nach ihrer Weiſe und Wirkung eine Höllenſchrift nennen.
Der Graf von Vergennes, franzöſiſcher Miniſter der auswär - tigen Angelegenheiten, hatte dieſe Schrift für die diplomatiſchen Agenten Frankreichs eingeführt, damit dieſe ſich derſelben auf Em - pfehlungskarten für Fremde bedienten, welche nach Paris reiſen wollten. 2)Ein höchſt merkwürdiges und ſeltenes Buch: „ Geheime Polizei-Schrift des Grafen von Vergennes, als Beweis der feinen Politik des ehemaligen Ca - binets in Verſailles unter der Regierung des unglücklichen Königs Ludwig XVI. “(ohne Druckort, vermuthlich Eiſenach 1793), gibt vollſtändigen Aufſchluß über dieſe ſcheußliche Uriasliteratur. Klüber, „ Kryptographik “, S. 291 — 317, hat dies Buch benutzt. Zur Schmach deutſcher Nation hatte ein Mann mit deut - ſchem Namen, der k. k. Bankalgefällinſpector J. F. Opitz zu Czaslau, ſich als den wahren Erfinder dieſer Schrift genannt, ohne jedoch dieſe brandmarkendeDie Polizeiſchrift ſoll von Vergennes nur vervoll -Avé-Lallemant, Gaunerthum. IV. 218kommnet, aber ſchon unter Ludwig XV. vom verſailler Cabinet eingeführt ſein. Doch erſcheint ſie ihrem ganzen Weſen nach älter und iſt mit gutem Recht bis zu Richelieu zurückzudatiren. Die urſprüngliche Polizeiſchrift legte auf die eigentliche Schrift gar kei - nen, auf die Leſezeichen1)Die Leſezeichen und die Jnterpunktion, namentlich das Kolon und Semi - kolon, Frage - und Ausrufungszeichen, welche nachweislich erſt ſeit dem 17. und 18. Jahrhundert zu allgemeiner Anwendung gekommen ſind, geben in ihrer An - wendung für die geheime Polizeiſchrift kein geſchichtliches Kriterium ab, da in der erſt ſeit 1783 bekannt gewordenen geheimen Polizeiſchrift die Leſezeichen und Jnterpunktionen in ganz eigenthümlicher beſchränkter Weiſe und mit ab - weichender, wenn auch ſehr beſtimmter Bedeutung angewandt werden. nur untergeordneten Werth, faßte aber ihren ganzen hölliſchen Verrath in den decorativen Theilen der Empfehlungskarten zuſammen und gab allen Linien, Zeichnungen und Ornamenten, mit welchen das Volk gerade am argloſeſten und unverfänglichſten ſpielte, eine eigene furchtbare Bedeutung. Das aber war ein Hauptzug im Charakter des ſo ſtolzen wie verſchlagenen Cardinals, daß er bei ſeiner tiefen Verachtung des Volks daſſelbe immer gerade da zu faſſen wußte, wo es am arg - loſeſten ſpielte. Jn dieſen ſcheinbar bedeutungsloſen Decoratio - nen war aber kein Zug, kein Strich, kein Punkt, keine Linie, Figur, Ziffer und Farbe ohne Bedeutung. Heimat, Geſtalt, Züge, Alter, Stand, Religion, Temperament, Charakter, Vorzüge, Feh - ler, Talente, Wiſſenſchaft, Kenntniſſe, bürgerliche, häusliche und Familienverhältniſſe, Vermögen, politiſche Stellung und Verdäch - tigkeit, Grund und Zweck der Reiſe, ja ſogar verſteckte körperliche Fehler: alles war in dieſen Karten aufs genaueſte angegeben, ohne daß der Jnhaber auch nur eine Ahnung davon hatte, daß ein königlicher oder ſpäter kaiſerlicher Geſandter ſich und ſeinen Hof damit herabwürdigte, daß er in gemeiner Gaunerart durch Gauner - zinken den argloſen Fremden wie einen „ Freier “für ſeine diplo - matiſche Chawruſſe im Cabinet eines Königs und Kaiſers „ zinkte “und „ verſlichnete “. Die decorative Polizeiſchrift iſt eine vollſtän - dige Gaunerſchrift, welche erſt dann aufgegeben und in die eigent -2)Autorſchaft erwieſen zu haben. Vgl. Klüber, a. a. O., und „ Reichsanzeiger “, 1796, Nr. 80, 87 und 253.19 liche chiffrirte Polizeiſchrift übergeführt wurde, als die Kunſt und Umſtändlichkeit ihrer Darſtellung, welche ſtets einen Handzeichner, alſo die Mitwiſſenſchaft eines Dritten, erforderte, durch die Ver - ſchiedenartigkeit ihrer Staffage für die Einzelnen auffällig und ver - dächtig geworden oder auch direct verrathen ſein mochte. Beide Schriftarten müſſen hier dargeſtellt werden1)Dieſe Darſtellung erfolgt nach dem auch von Klüber, a. a. O., S. 297 fg., benutzten Buche, deſſen in Note 1, S. 17, Erwähnung gethan iſt., nicht allein weil ſie gleichen Urſprungs und gleicher Geltung mit den Gaunerzinken, ſondern auch überhaupt, weil ſie hiſtoriſch geworden ſind und ihre fortlaufende Praxis außer Zweifel ſteht, namentlich wenn man die auffälligen Erfolge der unter der modernen Fratze der „ Civili - ſation “noch immer in alter Weiſe herrſchenden franzöſiſchen Po - lizei in ihrer ſchlecht verſteckten politiſchen und moraliſchen Entſitt - lichung ins Auge faßt und auch in die deutſchen Polizeibureaux den Blick fallen läßt, ſei es auch nur, um in dem Wanderbuche eines Handwerksgeſellen unter der Viſirnummer oder ſonſtwo einen geraden oder krummen Strich oder ähnliche Schnörkel und Zeichnungen zu entdecken als feigen, hinterliſtigen Zinken der Polizei - zunft, daß der arme Teufel ausgewieſen iſt, vielleicht weil er den Groſchen für die Nacht auf der Herberge nicht hatte!
Zunächſt war bei der decorativen Polizeiſchrift die Farbe des Papiers maßgebend. Die Karten waren dabei einfarbig oder zweifarbig. Die Farben gingen auf die Landsmannſchaft und hat - ten folgende Bedeutungen:
Die Einfaſſung des Billets war nun in hohem Grade wichtig. Zunächſt deutete ſie auf äußere Merkmale und Verhält - niſſe des Jnhabers.
Das Alter des Jnhabers wurde ſo angedeutet: bis zu 25 Jahren war die Einfaſſung zirkelförmig; bis zu 30 Jahren oval; bis zu 45 Jahren achteckig; bis zu 55 Jahren ſechseckig; bis zu 60 Jahren viereckig; über 60 Jahre ein längliches Viereck.
Der Wuchs des Jnhabers wurde durch gerade oder wellen - förmige Linien angedeutet, wobei die Nähe und Entfernung der Linien voneinander von beſonderer Bedeutung waren. Die große und ſchöne Perſon wurde durch weit voneinander ſtehende und wellenförmige Linien bezeichnet; groß allein durch ebenſolche, jedoch gerade Linien; die Mittelſtatur und ſchöner Wuchs ward durch eng aneinander geſetzte wellenförmige Linien, die Mit - telſtatur mit ſchlechtem Wuchs durch enge gerade Linien, die kleine und wohlgewachſene Statur durch ganz eng anein - ander geſetzte wellenförmige Linien, klein mit ſchlechtem Wuchs durch ganz enge gerade Linien. Buckelig wurde durch einen willkürlichen Zug an den Seiten; krumm oder ſchief aber unten an der Einfaſſung, und endlich lahm durch ein beliebiges Zeichen oberhalb in der Mitte der Einfaſſung bezeichnet.
Die Geſichtszüge wurden jedesmal mitten im Obertheil der Einfaſſung ausgedrückt. Eine Roſe bedeutete ſchön und freund - lich; eine Tulpe ſchön und ernſthaft; eine Sonnenblume leidlich ſchön, aber freundlich; eine Narciſſe mittelmäßig ſchön und ernſt - haft; ein Satirkopf garſtig, aber freundlich; ein gehörnter Widder -22 kopf häßlich und ernſthaft. Ein Augenfehler wurde angezeigt durch einen einfachen oder zwiefachen Punkt über dem Geſichtszeichen.
Verheirathet wurde durch ein von oben bis unten um die Einfaſſung gewundenes, unten frei herabhängendes Band bezeich - net. Bei Ledigen fehlte das Band ganz. Reich wurde durch zwölf um die Einfaſſung vertheilte Knöpfe, nicht arm durch vier, arm aber durch Weglaſſung aller Knöpfe ausgedrückt. Eine Perrüke wurde durch eine das Geſichtszeichen überragende Muſchel bezeichnet. Fehlte die Muſchel, ſo trug der Jnhaber eige - nes Haar.
Endlich wurde noch mit der Einfaſſung die Abſicht der Reiſe ausgedrückt. Bei einer Heirath ward das Band um die Einfaſſung nur bis zur Hälfte umgewunden. Bewerbung um ein geiſtliches Amt war ein kleiner Kreis oder eine Null an der untern Einfaſſung in der Mitte zwiſchen den Linien. Civil - dienſte waren zwei kleine Kreiſe zwiſchen den Einfaſſungslinien, oben zu beiden Seiten des Geſichtszeichens. Kriegsdienſte waren vier kleine Kreiſe ſymmetriſch zwiſchen den Einfaſſungslinien an - gebracht. Ebenſo wurden Wechſelgeſchäfte durch ſechs, Ver - gnügungen durch acht Kreiſe ausgedrückt. Kaufmänniſche Speculation war wie bei der Bewerbung um ein geiſtliches Amt, nur ſtand hier ein Oval anſtatt des Kreiſes. Gelehrſam - keit, Wiſſenſchaft und Kunſt ward mit zwei Ovalen zu bei - den Seiten des Geſichtszeichens oben zwiſchen den Einfaſſungs - linien ausgedrückt. Jn gleicher Weiſe wurden vier Ovale zur Bezeichnung von Erbſchaft, ſechs Ovale für Beſuch bei Ver - wandten oder Freunden, und acht Ovale für Staatsge - ſchäfte gebraucht. Die unbekannte Abſicht wurde durch Weg - laſſung aller Zeichen bemerklich gemacht.
Die Religion wurde durch das Leſezeichen unmittelbar hin - ter dem Namen des Jnhabers ausgedrückt. Danach war:
Der beſondere Zug unter dem Namen des Jnhabers wurde zum Ausdruck des innern Charakters gebraucht. So wurde Einſicht mit dem Zeichen ︸ ausgedrückt. Ein gerader Strich unter dem Namen ― bedeutete Einfalt, Dumm - heit. Narrheit wurde mit dem Schnörkel〈…〉〈…〉 Leichtſinn aber mit der geſchlängelten Linie〈…〉〈…〉 bezeichnet.
Zwei Striche („) über dem Schlußzeichen, welches unter dem Namen ſteht, bedeuteten Ehrlichkeit, Ehrliebe und Redlich - keit. Verſchwiegenheit wurde durch zweifache Doppelſtriche („ „) an den Seiten des Schlußzeichens ausgedrückt; Hang zu Betrügerei aber unter dem Schlußzeichen mit dem Zuge〈…〉〈…〉
Ein Punkt über dem Schlußzeichen (〈…〉〈…〉) bedeutete den Spieler; ein Punkt unter demſelben (〈…〉〈…〉) Verliebtheit; ein kleiner Strich unter dem Schlußzeichen (〈…〉〈…〉) kennzeich - nete den Trinker.
Endlich wurden Kenntniſſe mit Zahlen ausgedrückt, welche leichthin für die Nummer und Regiſtratur des Billets gelten konnten.
Kenntniſſe in mehrern Fächern wurde durch mehrere nebeneinander geſetzte Zahlen ausgedrückt, wobei die links ſtehende Zahl die Vorzüglichkeit der durch ſie repräſentirten Wiſſenſchaft vor der rechts folgenden bezeichnete, z. B.: 726 bedeutet mehr Kenntniß in Sprachen als in der Jurisprudenz und mehr Kennt - niß in letzterer als in der Mathematik. Jſt die Zahl mit dem Zeichen〈…〉〈…〉 unterzogen, ſo kennt der Jnhaber das Weſen und Weſentliche der angezeigten Wiſſenſchaft.
Zur nähern beiſpielsweiſen Verdeutlichung des ganzen Verfah - rens mögen hier zwei der bei Klüber, Taf. V und VI, angehäng - ten Empfehlungskarten folgen.
Die Karte iſt ſo zu interpretiren: Alphons d’Angeha iſt ein Portugieſe (das Papier iſt weiß), unter 45 Jahre alt (die Karte iſt achteckig), groß von Perſon (die Einfaſſung iſt breit), aber ſchlecht gewachſen (die Einfaſſung hat gerade Linien); von Geſicht leidlich ſchön, doch freundlich (in der Einfaſſung oben iſt eine Sonnenblume), verheirathet (die Einfaſſung iſt mit einem Bande umwunden), nicht arm (um die Einfaſſung befinden ſich vier Knöpfe), hat eigenes Haar (es iſt keine Muſchel hinter der Son - nenblume), ſucht Kriegsdienſte (zwiſchen den Einfaſſungslinien ſind25 vier kleine Kreiſe), iſt katholiſcher Confeſſion (hinter dem Namen d’Angeha ſteht ein Kolon), leichtſinnig (unter dem Namen ſteht eine geſchlängelte Linie), einſichtsvoll (unter dem Zeichen des Leicht - ſinns ſteht das der Einſicht), ehrliebend (über dem Zeichen des Leichtſinns ſtehen zwei Striche „), verliebt (unter dem Zeichen der Einſicht ſteht ein Punkt), kennt Mathematik, Staatskunde und Sprachen, beſonders Mathematik (denn in der Zahl 657 ſteht die 6 voran) und hat gründliche Bildung (unter der Zahl 657 ſteht das Zeichen der Einſicht).
Ein zweites Beiſpiel iſt folgendes:
Die Farbe des Papiers iſt hier gelb. Esquire de Gray iſt danach ein Engländer, 35 Jahr alt (die Einfaſſung iſt oval), groß von Statur (die Einfaſſungslinien ſtehen weit auseinander), ſchön gewachſen (die Einfaſſungslinien ſind wellenförmig), ſchön von Geſicht, aber ernſthaft (oben in der Einfaſſung iſt eine Tulpe), verheirathet (die Einfaſſung iſt mit einem Bande umwunden), ſehr26 reich (um das Oval ſtehen zwölf Knöpfe), trägt eine Perrüke (hinter der Tulpe iſt eine Muſchel), reiſt als Gelehrter, um ſeine Kenntniſſe zu erweitern (oben ſeitlich von der Tulpe, dem Geſichts - zeichen, ſind zwei Ovale), iſt evangeliſcher Confeſſion (hinter dem Namen ſteht ein Semikolon), beſitzt viele Kenntniſſe (unter dem Namen ſteht das Zeichen der Einſicht), iſt redlich (über dem Zei - chen der Einſicht ſtehen zwei Striche „), verſchwiegen (das Zeichen der Einſicht iſt zu beiden Seiten mit zwei Strichen verſehen), liebt das Spiel (über dem Zeichen der Einſicht ſteht neben den Strichen noch ein Punkt), verſteht ſich auf Jurisprudenz und Staatswiſſen - ſchaft (die Karte hat oben links die Zahl 25, und zwar ſind die Kenntniſſe in der Rechtswiſſenſchaft größer als in der Staats - kunde, weil die 2 voranſteht), und hat gründliche Bildung (das Zeichen der Einſicht iſt unter die Zahl 25 geſetzt).
Noch beſtimmter als die auf ſo ſchmähliche Weiſe verrathenen Perſonen charakteriſirte aber die franzöſiſche Polizei ſich ſelbſt mit dieſer raffinirten Gaunerſchrift, indem ſie ſich damit als Typus hinterliſtigen Verraths hinſtellte. Jn jener Zeit der franzöſiſchen Revolution, wo in brutaler Gottesvergeſſenheit alles geheiligte Recht, aller Glaube, alle Sitte mit Füßen getreten ward, kann es nicht befremden, daß ſelbſt den bekannteſten und unverdächtigſten Perſonen ſolche Karten als ſogenannte „ Sicherheitskarten “auf gedrungen wurden, damit die geheime Aechtung zu jeder Zeit an dem bereits ſchon verrathenen Opfer unter der Guillotine vollzogen werden konnte.
Wenn aber auf demſelben ſittenverwüſteten Boden, an deſſen Horizontlinie jetzt die „ Civiliſation “und „ Nationalität “wie eine Fata-Morgana in trügeriſcher verkehrter Spiegelung am Wüſtenrande erſcheint, das neue Kaiſerreich den alten Verrath auch für ſeine Polizei nützlich und gut fand, ſo werden die ebenſo ungeheuern wie räthſelhaften Erfolge der kaiſerlich franzöſiſchen Polizei auf deutſchem Boden einigermaßen erklärlich und in der deutſchen Bruſt das Bewußtſein alles deſſen lebendig angefacht, was deutſcher Ernſt, deutſche Ehre, deutſche Zucht und Sitte heißt. Von der Propaganda des ſcheußlichen geheimen Verraths mögen27 Klüber’s Worte, a. a. O., S. 293, Zeugniß geben. „ Noch jetzt “, ſagt Klüber, „ pflegt zu Paris der Miniſter der auswärtigen An - gelegenheiten manchem Fremden eine Art von Sicherheits - und Empfehlungskarten zu geben. Jch will eine derſelben von dem Jahre 1806 hier beſchreiben, ohne daß ich jedoch die darin muth - maßlich enthaltene Geheimſchrift zu erklären vermag. Es iſt ein Achteck von ſtarker, aber dünner Pappe, überall mit feinem, gut aufgeleimtem Papier überzogen, ungefähr in der Größe einer gro - ßen Taſchenuhr. Auf beiden Seiten läuft auf dem äußerſten Rande zuerſt eine ſchwarze Linie herum, an dem einen Orte ſtärker, an dem andern ſchwächer; auf dieſe Linie folgt eine rothgelbe Ein - faſſung, einen ſtarken Meſſerrücken breit; dieſe wird ſodann aber - mals begrenzt durch ſchwarze Linien, die bald einfach, bald dop - pelt, bald dicker, bald dünner ſind. Auf der Hauptſeite ſteht auf weißem Papier in Kupfer geſtochen, der franzöſiſche Reichsadler, auf einem gewundenen Stabe, unter der ſchwebenden Reichskrone, zwiſchen zwei Lorberzweigen, die unten ſich kreuzen, und mit einem Bande zuſammengebunden ſind. Zu beiden Seiten der Krone ſteht cirkelförmig: « Empire français ». Die Kehrſeite iſt in der Mitte, von oben herab, durch zwei Farben getheilt; die linke (heraldiſch die rechte) Hälfte iſt weiß, die rechte hellgrün. Oben ſteht, in Kupfer geſtochen, in einem Halbzirkel: « Respect au droit des gens ». Jn dieſem Halbzirkel ſteht, in drei geraden Linien, geſchrie - ben (als wäre es in Kupfer geſtochen) der Name und Charakter des Eigenthümers der Karte. Dann ein Querſtrich, und unter dieſem, in Kupfer geſtochen, die Worte: « Le Ministre des Re - lations Extérres ». Unter dieſen, eigenhändig, die Signatur: « Ch. Man. Talleyrand ». Hierunter, in Kupfer geſtochen, in zwei Zei - len: « Par le Ministre. Le Chef de la div. on des Rel. ons Comm. les ». Und darunter eigenhändig die Signatur: « D’Harmond ». “
Welch’ eine Beglaubigung in dem Namen Talleyrand!
Die Verſchiedenartigkeit der zu bezeichnenden Perſonen und Verhältniſſe machte die Anwendung gedruckter oder in Kupfer ge - ſtochener Kartenblankets umſtändlich und ſchwierig, wenn auch ſolche in allgemeinen Umriſſen möglich waren. Der ſchwierigſte Uebelſtand war, daß für jeden Agenten ein eigener Zeichner noth - wendig und ſomit die Wiſſenſchaft Dritter unvermeidlich wurde. Vergennes nahm daher ſeine Zuflucht zu einer andern unverdäch - tigern Methode, bei welcher alles Decorative beſeitigt und das Nöthige blos durch Chiffern ausgedrückt wurde, wodurch die Schrift viel unverfänglicher erſchien, ohne auch nur ein Minimum von dem dadurch bezweckten Verrathe einzubüßen. Die Methode war einfach folgende:
Die Statur wird durch ein N ausgedrückt, welches wie die Abbreviatur von Numero oben in die linke Ecke des Billets ge - ſetzt wird. Ein großes N bedeutet groß, ein kleineres n mittel - groß, n klein, und n drückt die Unbekanntſchaft mit der Größe der Perſon aus.
Jſt der Jnhaber der Karte verheirathet, ſo werden durch das N zwei horizontale Striche gezogen. Bei Unverheiratheten bleiben die Striche weg.
Weiß man nicht, ob der Jnhaber verheirathet iſt, ſo wird hinter das N ein o geſetzt, alſo No. Die Vermuthung der Ver - heirathung wird gleichfalls durch No. ausgedrückt, bei welchem jedoch das N mit zwei horizontalen Strichen durchzogen iſt.
Das Tragen einer Perrüke wird durch das Zeichen〈…〉〈…〉 unter dem N angezeigt. Das eigene Haar wird durch das Zei - chen〈…〉〈…〉 unter dem N angedeutet. Steht das N ohne eins dieſer beiden Zeichen, ſo weiß der Ausſteller nichts Beſtimmtes über das Haar zu ſagen.
Die Landsmannſchaft wird durch Zahlen 1 bis 40 nach der im vorigen Kapitel aufgeführten Ordnung bezeichnet. Von 1029 an werden die Zahlen dicht aneinander geſetzt, ſodaß kein Zweifel über ihre Zuſammengehörigkeit entſtehen darf.
Das Alter wird durch die nachfolgenden Zahlen ausgedrückt:
1 bedeutet bis 25 Jahre; 2 bis 30 Jahre; 3 bis 35 Jahre; 4 bis 40 Jahre; 5 bis 45 Jahre; 6 bis 50 Jahre; 7 bis 55 Jahre; 8 bis 60 Jahre; 9 bis über 60 Jahre.
Die innern und äußern Eigenſchaften werden durch einen Rechnungsbruch ausgedrückt. Der Bruch ſowol im Zähler wie im Nenner hat ſtets vier Zahlenſtellen.
Durch den Zähler werden die innern, durch den Nenner die äußern Eigenſchaften ausgedrückt.
Die erſte Zahl (auf der Stelle der Tauſende) bezeichnet die Geiſteskraft, und zwar:
Die zweite Zahl (auf der Stelle der Hunderte) bezeichnet die Sinnesart:
Die dritte Zahl (auf der Stelle der Zehner) bezeichnet die Hauptleidenſchaft, und zwar:
Die vierte Zahl (auf der Stelle der Einer) bezeichnet die Vermögensverhältniſſe, und zwar:
Die erſte Zahl (auf der Stelle der Tauſende) bezeichnet den Leibeswuchs, und zwar:
Die zweite Zahl (auf der Stelle der Hunderte) zeigt die Ge - ſichtsbildung an, und zwar:
Die dritte Zahl (auf der Stelle der Zehner) bezeichnet die Mienen und Geberden, und zwar:
Die vierte Zahl (auf der Stelle der Einer) bezeichnet die Ab - ſicht der Reiſe, und zwar:
Zu bemerken iſt, daß aus jedem Fache in der Regel nur eine einzige Zahl genommen wird, welche jedoch, wie oben angedeutet, gewechſelt werden kann. Sollen aber Zahlen aus mehrern Fächern derſelben Abtheilung genommen werden, ſo müſſen dieſe Zahlen ganz dicht aneinander geſetzt werden.
Der Stand der Perſon wird ebenfalls durch Zahlen bezeich - net, und zwar bedeutet:
Die Kenntniſſe der Perſon werden durch dieſelben Zahlen ausgedrückt, welche bei der chiffrirten Polizeiſchrift gebräuchlich und im vorigen Kapitel erläutert worden ſind.
Die Verſchwiegenheit wird dadurch angedeutet, daß man die Zahlen, welche die Landsmannſchaft, das Alter, den Stand und die Kenntniſſe anzeigen, zwiſchen zwei Doppelſtriche einſchließt: „ 274 „.
Die Ehrlichkeit und Redlichkeit wird durch das Zeichen〈…〉〈…〉 angedeutet, welches unter den Namen der Perſon kommt. Jſt die Ehrlichkeit zweifelhaft, ſo wird ein langer Strich unter den Namen geſetzt.
Der Betrüger wird durch die wellenförmige Linie〈…〉〈…〉 unter dem Namen bezeichnet.
Die Religion wird durch dieſelben Leſezeichen angedeutet,32 welche bei der decorativen Polizeiſchrift üblich und im vorigen Kapitel erläutert ſind.
Die Kenntniß der Wahrheit wird unter den Zahlen der Kenntniſſe und des Standes mit dem Zeichen〈…〉〈…〉 angedeutet.
Was unbekannt iſt, wird durch einen Horizontalſtrich〈…〉〈…〉 oder durch eine Null (0) oder durch einige Punkte (.....) an - gedeutet.
Die Anordnung der Zahlen und Zeichen iſt endlich folgende:
Links (heraldiſch rechts) oben ſtehen die Zahlen der Leibes - größe, des Eheſtandes und des Haares. Gleich daneben ſtehen die Zeichen der Heimat und des Alters. Dann kommen die als Rechnungsbruch aufgeſtellten acht Zahlen (vier Zähler, vier Nenner), welche Geiſteskraft, Sinnesart, Hauptleiden - ſchaft, Vermögen, Leibeswuchs, Geſichtsbildung, Miene, Geberden und Abſicht der Reiſe ausdrücken. Rechts (heraldiſch links) oben ſtehen die Zahlen der Kenntniſſe und des Standes.
Jn der Mitte der Karte ſteht der Name des Jnhabers der - ſelben; gleich hinter dem Namen ſteht das Religionszeichen. Unter dem Namen ſteht das Zeichen der Ehrlichkeit.
Zur Erläuterung mögen ferner zwei der bei Klüber, S. 313, angeführten Beiſpiele1)Die Randlinien ſind bei der chiffrirten Polizeiſchrift gewöhnlich ohne beſondere Bedeutung. dienen:
33Die Erklärung iſt: Herr von Sprinthal iſt groß von Perſon (das N iſt groß); ob verheirathet, iſt unbeſtimmt (denn nach N ſteht eine Null); doch iſt er wahrſcheinlich ledig (die Querſtriche durch das N fehlen); trägt eine Perrüke (unter dem N ſteht eine wellenförmige Linie); iſt aus Pfalzbaiern (bei der Zahl 20 7 ſtehen die beiden erſten Zahlen 20 hart aneinander); iſt zwiſchen 50 — 55 Jahre alt (die 7 in der Zahl 20 7); iſt verſchwiegen (die Zah - len ſind durch „ „ eingeſchloſſen); beſitzt viel Einſicht (die Zahl 5 im Zähler); iſt geſetzt (die Zahl 4 im Zähler); iſt ein Spieler (die Zahl 6 im Zähler); iſt nicht arm (die Zahl 7 im Zähler); iſt ſchön gewachſen (die Zahl 5 im Nenner); mittelmäßig ſchön von Geſicht (die Zahl 6 im Nenner); von ernſthafter Miene (die Zahl 7 im Nenner); ſucht Kriegsdienſte (die Zahl 1 im Nenner); verſteht Staatskunde (die Zahl 5 rechts), Mathematik (die Zahl 6 rechts), Sprachen (die Zahl 7 rechts), iſt Soldat (die Zahl 2 rechts), kennt die Wahrheit (die Zahlen der Kenntniſſe und des Standes haben das Zeichen〈…〉〈…〉), iſt katholiſcher Confeſſion (hinter dem Namen ſteht ein Kolon) und ein Betrüger (ſein Name iſt mit dem wellenförmigen Striche〈…〉〈…〉 unterzeichnet.
Zweites Beiſpiel (Klüber, S. 315):
Herr P. H. de Vlyten iſt klein von Statur (der kleine Buch - ſtabe n); verheirathet (zwei Striche durch das n); trägt eigenesAvé-Lallemant, Gaunerthum. IV. 334Haar (unter n ſteht das Zeichen〈…〉〈…〉); iſt Holländer (die 5 nach dem n in der Zahl 55); der Grad ſeiner Einſicht iſt unbe - kannt (die 1 im Zähler); iſt leichtſinnig (die 3 im Zähler); ver - liebt (die 4 im Zähler); reich (die 6 im Zähler); ſchief gewachſen (die 6 im Nenner); ſchön von Geſicht (die 9 im Nenner); von freundlicher Miene (die 3 im Nenner); hat Wechſelgeſchäfte (die 7 im Nenner); verſteht die Rechtsgelehrſamkeit (die 2 rechts oben); macht aber den Kaufmann (die 4 rechts oben); unbekannt iſt, ob er die Wahrheit kennt (das Zeichen〈…〉〈…〉 fehlt unter den Zah - len der Kenntniſſe und des Standes); unbekannt, ob er verſchwie - gen iſt (die Zahlen ſind nicht mit „ „ eingeſchloſſen); er iſt re - formirt (das Komma hinter dem Namen), und iſt ehrlich (das〈…〉〈…〉 unter dem Namen).
So viel möge genügen zur Kenntniß der polizeilichen Gau - nerei, welche ſchon zweihundert Jahre lang in Frankreich ihr Weſen getrieben hat, zur Warnung für den deutſchen Polizeimann, auf daß er nicht in Verſuchung falle, zur Witzigung für Hoch und Niedrig und vor allem zur Würdigung der jetzt ganz beſonders den modernen Erſcheinungen gegenüber mächtiger als je ſich gel - tend machenden tiefen Wahrheit und Warnung des Apoſtels: Μήτις ὑμᾶς ἐξαπατήσῃ κατὰ μηδένα τρόπον ὅτι ἐὰν μὴ ἐλϑῃ ἡ ἀποστασία πρῶτον, καὶ ἀποκαλυφϑῇ ὁ ἄνϑρωπος τῆς ἁμαρ - τίας, ὁ υἱὸς τῆς ἀπωλείας.
Während man in der geheimen Polizeiſchrift die ſtreng abſo - lute Redaction der ſtark verfärbt in das Volk gedrungenen kabba - liſtiſchen Typen zu einem geheimnißvollen Syſtem erblickt, deſſen Abſolutismus um ſo perfider erſcheint, je populärer der Grundſtoff an ſich in den allgemeinen Typen geworden war: ſo erkennt man in den vom Gaunerthum zu ſeinen Typen gewählten Gaunerzinken35 zwar denſelben populären Stoff als Grundlage. Weit entfernt aber, ein abgerundetes ſtrenges Syſtem zu ſchaffen, um das exclu - ſive geheime Verſtändniß anzubahnen und zu bewahren, blieb das Gaunerthum auch hier ſeinem Grundſatz getreu, in das Volk hin - einzudringen und ganz im Volk zu leben, aus deſſen Sprache und Typen das ihm dienlich Scheinende mit ſchlauer Wahl zuſammen zu leſen und für ſein geheimes logiſches Verſtändniß umzumodeln. Das macht gerade das Verſtändniß der Gaunerzinken ſo überaus ſchwer. Dieſe leiden nicht allein an der populären Verfärbung der originellen Typen, ſondern dazu auch noch an der autokraten Auswahl und frivolen Umwandelung des verſchlagenen Gauner - thums. Und doch ſind noch bis zur Stunde in ſehr vielen Gau - nerzinken die alten Originaltypen deutlich zu erkennen. Nimmt man z. B. den rohen verwilderten Zinken der Kirſchner in Th. II, S. 59:
ſo erkennt man in dem Charakter, welcher von dem im 18. Jahr - hundert als Diebszeichen allgemein gebräuchlichen Pfeil durchzogen iſt, ganz entſchiedene Spuren der oben dargeſtellten Himmels - und Engelsſchrift. So iſt a. a. O. in dem am 28. Juli 1856 am Diete’ſchen Hauſe zu Gerſtberg in Niederöſterreich vom Schränker gezeichneten Zinken
ſehr beſtimmt eine Spur von der Kammer - und Winkelſchrift zu erkennen, ſo wenig bewußt auch dem Jnhaber und Zeichner des Zinkens die Urſprünglichkeit deſſelben mit der erſten wahren Be - deutſamkeit geweſen ſein mag. Solche Hindeutungen finden ſich in faſt allen Gaunerzinken. Es darf nicht überraſchen, daß häufig in frappanter Weiſe die Zinken mit den ſtreng geheim gehaltenen3*36ſyſtematiſchen polizeiſchriftlichen Characteren übereinſtimmen. Es iſt möglich, daß der Geiſt gleicher Hinterliſt und Verſchlagenheit auf gleiche oder doch ähnliche Formen der Ausdrucksweiſe verfallen kann: man mag dieſe Aehnlichkeiten immerhin nur als bloße Zu - fälligkeiten nehmen. Niemals darf man aber vergeſſen, daß die Polizeiſchrift, wenn auch ſtreng ſyſtematiſch redigirt und geheim gehalten, doch auf den ſchon volksthümlich gewordenen Typen alter kabbaliſtiſcher Formen beruht und daß dem Gaunerthum mit ſeinem ſcharf - und weitſehenden, höchſt objectiven Blick kaum irgend - eine Spielerei und Schwäche des Volks entging, welche es nicht zur Erhaltung ſeiner Exiſtenz und Eigenthümlichkeit auszubeuten verſtanden hätte. So läßt ſich denn — und das iſt charakteriſtiſch für alle Gaunerſprachen — ein allgemeines Gaunerzinkenſyſtem nicht entdecken. Kaum kann von einem allgemeinen Diebszeichen, dem Pfeil, als Zeichen der behenden Schnelligkeit, oder von einem allgemeinen Zinken der Beſorgniß vor Gefangenſchaft, Th. II, S. 61
oder der gelungenen That
die Rede ſein. Wenn ja eine umfaſſendere Zinkenverſtändigung ſtattfindet, die man jedoch niemals mit Grund ſyſtematiſch nennen darf, ſo iſt und bleibt ſie doch immer auf eine beſtimmte einzelne Gaunergruppe und höchſtens auf eine größere Stadt als verab - redete Verſtändigung beſchränkt. Von ſolchen Verſtändigungen findet man allerdings viele Spuren, ohne jedoch über das Ganze jemals klar geworden zu ſein, da ohnehin aus gaunerpolitiſchen Rückſich - ten die Zinken häufig wechſeln. Aber immer, ſelbſt in der größten Willkür und Verwilderung, findet man dieſelben alten, wenn auch ganz verwehten und verſchollenen Anklänge. Frappant iſt der ſpöttiſche Humor des wackern London Antiquary1)„ A dictionary of modern slang, cant and vulgar words used at the present day in the streets of London “u. ſ. w. (London 1859)., wenn er37 S. xlv bei Erläuterung der Gaunerzinken auf der Marſchroute eines bettleriſchen Strolches, welche dem Buche vorgeheftet iſt, in die Worte ausbricht: „ And strange it would be if some modern Belzoni, or Champollion, discovered in these beggars’ marks fragments of ancient Egyptian or Hindoo hieroglyphical writ - ing! “ Allerdings kann man das, ohne Belzoni oder Champollion zu ſein, wenn man nur etwas in die jüdiſche Kabbala und ihre Geneſis eingedrungen iſt und ein wenig von der Kunſt und Sprache des Gaunerthums verſteht!
Gerade aber die Cadgers map of a begging district, welche der Antiquary gibt, vereinigt eine Anzahl charakteriſtiſcher Gauner - zinken, welche ſämmtlich auch in Deutſchland unter den Gaunern gebräuchlich ſind, wenn auch, wie leicht erklärlich, in mannichfach abweichender Bedeutung. Es wird daher nicht unintereſſant ſein, dieſe Stapplermarſchroute hier wiederzugeben, zumal man feſt überzeugt ſein kann, daß in jeder größern deutſchen Stadt ähn - liche graphiſche Topographien exiſtiren ſo gut wie in England und daß die neuerlich mehr und mehr in Aufnahme gekommenen und beſonders von Wirthen ſolcher Städte für den Nachweis ihrer Hotels ſtark geförderten und ihren Gäſten gern zur weitern Em - pfehlung überreichten kleinen „ Fremdenführer “mit kleinen behen - den lithographirten Grundriſſen des Orts, oder auch beſondere Empfehlungskarten mit dem Grundriß der Stadt auf der Rückſeite der Karte, welche kaum größer iſt als eine Viſitenkarte, in gründ - lichſter Weiſe von Gaunern ausgebeutet werden.
38Der „ Antiquary “ſelbſt gibt zu den Hieroglyphen auf der Karte einen Commentar, nämlich:
Welches weite und reiche Feld überhaupt von jeher dem Gau - nerthum zur Auswahl für ſeine Zinken zu Gebote ſtand, das be - weiſt die ſchon im Mittelalter ſichtbare, ungemein ſtarke Ausbeu - tung der eigentlich erſt im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Tagesblätter wieder in Aufnahme gebrachten und ganz volksthüm - lich gewordenen Rebus. Tabourot, a. a. O., Buch I, Kap. 2 und 3, gibt eine ſehr große Auswahl mit zum Theil höchſt ſchmu - zigen Holzſchnitten, ſodaß leider keiner davon hier wiedergegeben werden kann. Es iſt aber ſehr merkwürdig und für die Breite und Popularität dieſer Spielerei in hohem Grade bezeichnend, daß ſchon vor Tabourot’s Zeit ein ganz ſpecieller perſönlicher Gebrauch davon gemacht wurde, ſodaß z. B. im 16. Jahrhundert der alte Buchhändler Pierre Grangier zu Dijon über ſeinen Buchladen ohne weiteres die Figur ſetzen ließ:
40welche Tabourot einfach ſo erläutert: Qui à chacun doigt, est en main, sous si. C’est à dire: qui à chacun doit, est en maint soucy. Oder jener boshafte Notenrebus über den ſtarken Einfluß, welchen Philipp II. von Spanien 1590 bei der Wahl des Cardinals Hippolyt Aldobrandini zum Papſt (Clemens VIII. ) übte; nämlich unter dem Bilde des Papſtes die Notenzeile:
Ebenfalls zeigt ſich bei dieſem Rebus des Mittelalters die Ausbildung der Th. II, S. 61, dargeſtellten Freiſchupperzinken zu einem Syſtem, welches man bei Tabourot, a. a. O., Fol. 23 b, freilich aber auch ſchon in einſeitig beſchränkter und dürftiger Weiſe angedeutet findet, nämlich die Würfelpaſche:
[⚂]CO[⚄ ⚄]malades sont allées de nuict avec lan[⚂ ⚂]devers les[⚃ ⚃]demander leurs[⚄ ⚄]mettre pour[⚀ ⚀]esperans par ce moyen devenir[⚅ ⚅]mais pour ce faire il en faudroit à chacune[⚁ ⚁]
Den Schlüſſel gibt Tabourot: Deux cinq signifient quines, deux trois ternes, deux quatre carmes, deux as ambesas quasi embesace, deux six seines.
Recht überraſchend iſt endlich noch, daß ſich neuerlich auch die Blumenſprache als Gaunerzinken bemerklich macht. Aller - dings findet man in ältern und neuern Gaunerzinken (vgl. Th. II, S. 64) nicht ſelten die rohe Geſtalt einer Blume als Wappen - zeichen dargeſtellt; doch ſcheint die Bedeutung nicht über die wap - penartige Kennzeichnung der ſpecifiſchen Perſönlichkeit hinauszu - gehen. Erſt vor fünf Jahren wurde ich auf die Blumenſprache aufmerkſam gemacht, indem ich in der Brieftaſche eines aus Mit - teldeutſchland ſtammenden hochſtappleriſchen Strolchs eine wahr -41 ſcheinlich auf dem Wege hierher nach Lübeck in Hamburg oder Oldesloe nach einem hieſigen Adreßbuche1)Es mußte ein älteres, einige Jahre früher erſchienenes geweſen ſein. Jnzwiſchen hatten ein paar Wohnungsveränderungen ſtattgefunden. redigirte Namensliſte angeſehener Lübecker fand, in welcher einzelne Perſonen mit ſeit - wärts angebrachten, zum Theil verſchiedenen Blumen beſonders hervorgehoben waren, wo alſo doch wol die Blume eine appella - tive Bedeutung haben ſollte. Das Syſtem dieſer vom Stappler als bloße Zufälligkeit hartnäckig bezeichneten Blumen konnte ich nicht ermitteln. Doch mögen etwa noch weitere Spuren einer ſolchen eigenen Gaunerflora gefunden werden können, die vielleicht aus irgendeinem der vielen, von buchhändleriſcher Speculation ge - förderten Büchern „ von der Blumenſprache “geſchöpft, vielleicht aber auch eine nahe Analogie des noch immer in Flor ſtehenden und möglicherweiſe durch Zigeuner verſchleppten orientaliſchen „ Selam “ſein mag, deſſen Kunſt auch der wackere Klüber, a. a. O., S. 281, nach dem „ Myſterienbuch alter und neuer Zeit “, S. 101 fg. ſeine Forſchungen gewidmet hat. 2)Der ehrenfeſte, ſtreng diplomatiſche Klüber macht zum Schluß (S. 283), völlig unerwartet, ſogar ſelbſt eine botaniſche Excurſion auf das Gebiet zart - ſinniger erotiſcher Symbolik des Morgenlandes, indem er ein ganz correctes Bouquet bindet: „ Jch beſuche dich, liebe Freundin, morgen früh im Garten, mit meinem Bruder, einem rechtſchaffenen Manne, der dich, ſchönes Mädchen, liebt und dich zu heurathen wünſcht! “Nach dem „ Myſterienbuch “, welches übrigens auch von der Diplomatie in dieſer eigenthüm - lichen Gaunerbotanik ausgebeutet iſt, wie die oben dargeſtellten Empfehlungskarten zeigen, bedeutet die Roſe überhaupt ein Mäd - chen, die Nelke eine Mannsperſon, die Aſter Vater oder Mutter, die Hyacinthe Freund oder Freundin, die Aurikel Bruder oder Schweſter, das Stiefmütterchen Witwer oder Witwe, Crocus ein Kind (mit Thymian einen Knaben, mit Reſeda ein Mädchen), Kornblume Landmann, Ranunkel Soldat, Akelei Juriſt, Kamille Arzt, Goldlack Kaufmann, Vanillenblume Fremder, Tuberoſe Vornehmer, Spike Geringer, Orangenblüte Reich - thum, Feldkümmel Armuth, Tulpe Stadt, Veilchen Land, Tauſendſchön Tag, Mohnblume Nacht, Primel Morgen,42 Nachtviole Abend, Kreſſe Spaziergang, Spaniſchgeniſte Beſuch, Balſamine Geſellſchaft, Ritterſporn Reiſe, Jris - tuberoſe Ball, Jasmin Garten, Kleeblume Concert, Gänſe - blümchen Frage, Jelängerjelieber lieben, Myrthe heirathen, Diptam haſſen, Krauſeminze fürchten, Vergißmeinnicht wünſchen, Rosmarin trauern, Pudennienroſe entfernen, Ane - mone freuen, Baſilikum ſprechen, Maiblume gut, unſchuldig, Kornrade böſe, ſchuldig, Wicke verſchwiegen, heimlich, Hol - lunder plauderhaft, Winde aufrichtig, Neſſel treu, Muskat - kraut angenehm, reizend, Epheu ewig, rothe Sommerlevkoi heute, weiße Sommerlevkoi morgen, künftig, violette Som - merlevkoi geſtern, ehedem, Majoran mein, Meliſſe dein, Salbei ſein, Narciſſe ich, mir, mich, brennende Liebe du, dich, dir, Storchſchnabel Schiff oder Reiſe zu Waſſer, Kaiſer - krone Feldzug, Patientia Krankheit, Himmelſchlüſſel Tod.
Doch genug dieſer Spielereien, wenngleich ihr Urſprung, ihre Bedeutung und Wirkungen viel merkwürdiger und erheblicher ſind, als auf den erſten Anblick und bei dem bloßen gewohnten ver - gnüglichen Zeitvertreib erſcheint.
Es überraſcht bei der Forſchung nach der graphiſchen Aus - drucksform, daß man im Gaunerthum nur die einzige deutſche Currentſchrift findet, welche höchſtens, aber auch nur ſehr ſelten, mit der lateiniſchen Currentſchrift wechſelt. Alle zahlreiche künſt - liche graphiſche Ausdrucksformen, in welche ſich der Zaubermyſti - cismus mit allem Sinn und Verſtand verlor und begrub, alle mit rationeller Wiſſenſchaft ſyſtematiſch bearbeitete bunte Kunſt der Geheimſchreiberei konnten keinen nachhaltigen Einfluß auf das Gaunerthum üben, ſo willkommen dieſem auch aller und jeder Verſteck war. Tief war allerdings das in die unterſten Schichten43 des Volks gewieſene Gaunerthum vom Aberglauben befangen: aber es hatte doch vollauf Objectivität, den platten Unſinn, Lug und Trug des Zaubermyſticismus vollkommen zu erkennen und gerade in dieſer Erkenntniß zum vollſten Spott und Hohn über Form und Volk verwegen in dieſe Formen hineinzugreifen, ledig - lich um ſie bei Gelegenheit zu ſeinen rationellen Zwecken auszu - beuten. Niemals anders machte es die zaubermyſtiſchen Typen zu ſeinem Eigenthum und niemals können dieſe Typen als Ausdruck ſeiner beſondern Eigenthümlichkeit gelten. So findet man die Sefelgräber, Rochlim, Zachkener u. ſ. w. im Beſitze eines bedeu - tenden zaubermyſtiſchen Formelapparats und ſieht ſie denſelben mit einer ſo gläubigen Hingabe und Fertigkeit handhaben, daß ſogar das Mitleid über die tiefe Verblendung des Gauklers oft rege werden und man nahezu es natürlich finden möchte, wie in voll - kommener Erfaſſung der Unwiſſenheit und Schwäche des Volks der Betrüger die blinde Menge mit ſich fortreißt. Auch in der Zaubermyſtik blieb das Gaunerthum objectiv und in der Benutzung ihrer Typen durchaus beſonnen und eklektiſch.
Wollte man in Zweifel ziehen, daß dem Gaunerthum die Geheimſchreiberei wirklich ein verſchloſſenes Geheimniß geblieben ſei, ſo muß man auf den vorſichtigen, bunten und häufigen Wech - ſel der kryptographiſchen Methoden und Typen ſelbſt verweiſen, welcher alſo doch Verdacht hatte und die Gefahr des Verraths vorausſetzte, und darf namentlich als ſchlagenden thatſächlichen Beweis anführen, daß gerade am Central - und Glanzpunkte der Kryptographie, am franzöſiſchen Hofe, im erſten Viertel des vori - gen Jahrhunderts, wo die von Richelieu und Ludwig XIV. mäch - tig geförderte feine intriguante diplomatiſche und polizeiliche Kunſt zur höchſten Blüte gebracht war, ein Gauner mit ſeinen zahlreichen Spießgeſellen, Cartouche, es war, welcher, noch ſchlauer als die ſchlaueſte Diplomatie und Polizei, überall hindrang, wohin er hindringen wollte, den Hof und alle ſeine Jntriguanten beherrſchte und von bedeutendem politiſchen Einfluß geweſen wäre, wenn er es auf etwas anderes als auf den kahlen egoiſtiſchen Diebſtahl abgeſehen hätte. Es fehlte dem Gaunerthum, welches ſeine Jünger -44 ſchaft aus den höchſten und unterſten Ständen in ſich vereinigte, weder an Geſchick noch an Gelegenheit, Geheimniſſe zu erforſchen, wo es darauf ankam. Auch ſind genug Cabinets - und Depefchen - diebſtähle bekannt geworden, zum Zeichen, daß die raffinirte Kunſt jederzeit das zu verlangen verſtand, deſſen Beſitz ſie für nützlich hielt und erlangen wollte.
Die Abweiſung einer ſpecifiſchen Gaunerſchrift liegt tief im Weſen des Gaunerthums begründet. Verſteck und Beweglichkeit ſind die Hauptfactoren, welche ſich gegen jede ſyſtematiſche Sta - tuirung auflehnen, weil mit der Ergründung des Syſtems die ganze Ausdrucksform und ihr belebender Geiſt bloßgelegt und ver - rathen ſind. Die vom Gaunerthum mit kühnem Griff in die ab - ſtracteſten entlegenſten Formen menſchlichen Verkehrs und Wiſſens herbeigeholten und nutzbar gemachten Typen waren immer nur Fragmente und ebenſo raſch mit dem Stempel des geheimen Ver - ſtändniſſes zu verſehen, wie überhaupt auch ebenſo leicht wieder zu verwerfen, ſobald ſie nicht mehr verborgen und im Verſteck beweg - lich blieben. Daher findet ſich denn in der vielhundertjährigen Geſchichte des Gaunerthums keine Spur einer beſondern ſyſtema - tiſchen Gaunerſchrift. Denn das Judendeutſch mit ſeiner deutſch - rabbiniſchen und Currentſchrift war und blieb nationales Eigen - thum des in Deutſchland zerſtreuten jüdiſchen Volkes und merk - würdig iſt, daß, obſchon die jüdiſchdeutſchen Typen das deutſche Gaunerthum in Sitte und Sprache bis zur ſtärkſten Verfärbung durchzogen haben, doch actenmäßig von wenigen oder gar keinen chriſtlichen Gaunern bekannt oder nachgewieſen iſt, daß ſie die jüdiſchdeutſche Currentſchrift hätten leſen oder ſchreiben können, wiewol es durchaus unzweifelhaft iſt, daß es viele Ausnahmen der Art gegeben hat und beſonders jetzt gibt. Durch jene beſon - dere graphiſche Ausdrucksweiſe hatte der aus Juden beſtehende Theil des deutſchen Gaunerthums manches im voraus und nur die unklare Auffaſſung dieſes Vorzugs hat dieſe Typen als Grund - lage eines beſondern und beſonders befähigten jüdiſchen Gauner - thums bezeichnen können.
Jn der ganzen Geſchichte des Gaunerthums finden ſich nur45 zwei Stellen und zwar beide aus der zweiten Hälfte des 17. Jahr - hunderts, wo auf eine beſondere Gaunerſchrift oder Schriftſyſtema - tik von fern hingedeutet wird: die eine ältere bei Philander von Sittewald („ Wunderliche und wahrhaffte Geſichte “, II, 587, ſechs - tes Geſicht: Soldatenleben; ſtrasburger Ausgabe von 1665), wo ſich „ ein klein Briefflein befindet, welches von einem Bawrs - Mann zwiſchen zweyen Fingern “in das Räuberlager gebracht wird und in franzöſiſcher Sprache mit griechiſchen Lettern geſchrie - ben iſt. Der ſehr leicht zu verſtehende Brief lautet mit voller Schreibung der Druckligaturen des Originals:
Μέσσιερς, σὴ βοῦς ἔστες ἐνκόρες ὰ Δομβάστελ, ῥετήρεζ βοῦς δελὰ ᾽ῶ πλοῦτος. γάρ ὔν παίσαν, κὴ σά σῶβέ δὲ βοῦς ἄ δῶννέ ἄδρεστε ὰ νόστρε γουβερνεῦρ δὲ βοῦς ἢ ἔνλεβερ. Αδίευ.
Das heißt in buchſtäblicher Uebertragung:
Messieurs, si vous estes encores à Dombastel, retirez vous delà au plutôs. Car, un paysan, qui s’a sauvé de vous a donné adreste à notre gouverneur de vous y enlever. Adieu.
Die ganze wunderliche Schreiberei iſt doch wol nichts ande - res als höchſtens das von Philander irgendwo aufgefundene und wiedergegebene Machwerk irgendeines verdorbenen Studenten oder gelehrten Strolches, und iſt das einzige bekannte Beiſpiel einer beſondern, aber auch nicht einmal ſpecifiſch gauneriſchen Schreibung in der langen Geſchichte der Gaunerliteratur. Ohnehin wird die fremdartige Schreibung von den Räubern ſelbſt zurückgewieſen, da Philander unmittelbar darauf erzählt: „ Sie wurden zornig, daß er ihnen nicht auff ihre Sprache zugeſchrieben habe. “
So erſcheint denn auch dieſe Schreibung wie überhaupt das ganze viſionäre, wenn gleich auf ſehr glaubwürdige Erfahrungen überhaupt gegründete Geſicht als eine Erfindung und Spielerei des Philander von Sittewald ſelbſt.
Das andere Beiſpiel geheimer Schreibweiſe iſt in Weſen und Conſtruction noch untergeordneter und geiſtloſer. Es findet ſich S. 356 im „ Schauplatz der Betrieger “(vgl. Th. I, S. 217) in der 160. Erzählung: „ Das liſtige Kennzeichen “. Die Buchſtaben46 der Worte werden regelmäßig einer um den andern in zwei unter - einander ſtehende Reihen vertheilt: D s ſ d s e h e e c e a i t a r c t z i h n (das iſt das rechte Zeichen).
Die Spielerei iſt hier zu leicht zu erkennen, als daß ſie je - mals gaunerpraktiſch hätte werden können; ohnehin ſteht ſie völlig vereinzelt da und iſt wol kaum der weitern Rede werth. Für die linguiſtiſche Spielerei der Stubengelehrten bot ſich zur Blütezeit des Galimatias im 16. und 17. Jahrhundert der reichſte und tollſte Stoff dar. Wer davon zahlreiche und verwegene Proben ſehen will, der findet bei Tabourot a. a. O., beſonders im ganzen erſten Buche, genug davon und zwar meiſtens von der ſchmuzig - ſten Sorte in Wort und Bild.
Mit der deutſchen Orthographie und Kalligraphie ſieht es in der Gaunerſprache meiſtens traurig aus, obwol je nach dem ſocialen Bildungsgrade der gauneriſchen Jndividualität nicht ſelten ſehr gut ſtiliſirte und zuweilen auch wirklich ſchön geſchriebene Briefe zum Vorſchein kommen. Ueberraſchend bleibt es immer, wenn man bei dem gewandten, ja oft feinen Benehmen einer gau - neriſchen Jndividualität nicht ſelten eine Menge der ärgſten Schreib - fehler findet, während doch der Ausdruck ſelbſt correct und ge - wandt iſt. Namentlich treffen hier bei weiblichen Gaunern die grellſten Contraſte zuſammen. Die großartige Anna Marie Bom - mert aus Graudenz, welche hier in Lübeck unter dem Namen Clara Ottilie Leiſtemann auftrat, ſchrieb eine ebenſo unſaubere Handſchrift, wie ſie die ärgſten grammatiſchen Schnitzer machte. Eine als Gräfin C. M. reiſende Gaunerin vom feinſten Beneh - men, welche fließend franzöſiſch und engliſch ſprach, machte in einem an mich gerichteten deutſchen Briefe mehrere orthographiſche Fehler. Ueberhaupt aber erklärt ſich die große Schwankung der Orthographie in der Gaunerſprache aus der ſich überall geltend machenden Prävalenz des Dialektiſchen, welche nicht ſelten die einzelnen Ausdrücke bis zur Unkenntlichkeit entſtellt, weshalb denn47 auch deutſche Gaunerbriefe in dieſer Hinſicht große Aufmerkſamkeit bei ihrer Entzifferung erfordern.
Ueberall aber gibt es keine ſpecifiſche Gaunerſchrift, ſo wenig wie es ſpecielle gaunerdeutſche graphiſche Ligaturen gibt, obſchon auch in deutſchen Briefen ganz wie im Jüdiſchdeutſchen die krumme Zeile gebraucht wird, von welcher bereits Th. III, Kap. 71 aus - führlich gehandelt worden iſt.
Wiederholt iſt darauf hingewieſen worden, daß die „ Sprache der Bildung “in hiſtoriſchem Proceß als ein Transact der in der Hegemonie miteinander wechſelnden deutſchen Dialekte entſtanden iſt, zu welchem dieſe ſich als zur correcten, würdigen, allgemeinen Ausdrucksform der deutſchen Sprache geeinigt haben, ohne daß darum irgendein Dialekt ſeine Eigenthümlichkeit und die Berech - tigung zu ſeiner weitern innern Ausbildung aufgegeben hätte. Jn ähnlicher Weiſe erſcheint die deutſche Gaunerſprache als ein Trans - act aller Dialekte zu einer einzigen, der deutſchen Geſammtgauner - gruppe allgemein verſtändlichen Ausdrucksform. Doch iſt keines - wegs die Veredelung und Correctheit des ſprachlichen Ausdrucks der Zweck dieſes Transacts, ſondern das abſolute Geheimniß zur Ermöglichung und Erhaltung des abgeſchloſſenen Verſtändniſſes. Aus gleichem Grunde findet das Dialektiſche ſeine volle Geltung in der Gaunerſprache, ſobald es Geheimniß ſein kann, und bleibt das Veraltete in voller Geltung beſtehen, ſobald es für das all - gemeine Volksverſtändniß obſolet oder unverſtändlich geworden iſt und wird ſogar, wenn es als Gaunertype bekannt und vom Gaunerthum deswegen außer Brauch geſetzt worden war, in48 der älteſten urſprünglichen Form mit mehr oder minder veränder - ter logiſcher Bedeutung wieder auf - und angenommen. Darum tritt aber auch ganz beſonders das hiſtoriſch Gegebene und in den verſchiedenen Phaſen hiſtoriſch Gebildete in Sprache und Gram - matik des Gaunerthums ſehr farbig hervor, ohne daß die Gauner - ſprache ſonſt weſentlich von der Grammatik der „ Sprache der Bil - dung “abwiche, deren geſchichtliche Ausbildung ſie im genaueſten Anſchluß durch alle Stadien mit durchlebt hat. Die ſpecifiſche Gaunerſprachgrammatik beſchränkt ſich daher auch nur auf die Darſtellung und Erläuterung des vom Gaunerthum ſtatuirten und aus dem ihm zu Gebote ſtehenden großen bunten Sprachſtoff mit geiſtvoller und ſchlauer Wahl zuſammengeleſenen Wortvorraths und auf die Erklärung der den einzelnen Wörtern in dieſem Vor - rath willkürlich beigelegten logiſchen Bedeutung. Bei dem tiefen Geheimniß des mit der größten Eigenthümlichkeit, Kunſt und Berechnung vom Gaunerthum zuſammengetragenen Sprachſtoffs und bei dem hiſtoriſch nachgewieſenen argen Mangel an juriſtiſcher und polizeilicher Aufmerkſamkeit auf das Gaunerthum darf es nicht befremden, daß die Gaunerſprache niemals gründlich bearbeitet wurde, obſchon hier und da fleißige Theologen bei ihrer Seelſorge in den untern Schichten des Volks gelegentliche Notiz nahmen von den vereinzelt hervortretenden Typen der Gaunerſprache. Selbſt als im Dreißigjährigen Kriege der gewaltige Andrang des in koloſſalen Räubergruppen repräſentirten Gaunerthums das ſocial - politiſche Leben mit ſeiner rechtlichen und ſittlichen Sicherheit auf das äußerſte gefährdete, vermochte die gewaltſam gegen das Gau - nerthum aufgerufene, unfertig und ungerüſtet dem Feinde gegen - über tretende Landespolizei ſo wenig die Sprache wie das Weſen des Gaunerthums aufzufaſſen, daß eine wenn auch nur leidliche Erkennung und grammatiſche Bearbeitung der Gaunerſprache mög - lich geweſen wäre. Dennoch läßt ſich die fortlaufende Spur einer Gaunerſprachgeſchichte verfolgen. Freilich muß man bei der Be - achtung der immer nur gelegentlich und vereinzelt zum Vorſchein gekommenen gaunerſprachlichen Erſcheinungen wie von einer Klippe zur andern ſpringen, deren Fuß ſtets von der Brandung des raſt -49 los bewegten Volkslebens und von dem dichten Nebel der Un - wiſſenheit und des Aberglaubens verdeckt und ſchwer zu unterſuchen iſt. Jntereſſant bleiben aber die wilden, wunderlichen Formen ſelbſt in der Vereinzelung und niemals verleugnet es ſich ganz, daß der zerriſſene und zerklüftete Boden, über welchem jene Er - ſcheinungen hervorragen, ein durchaus deutſcher Boden iſt.
Je leichter es iſt, bei dem Charakter der deutſchen Gauner - ſprache, als deutſcher Volksſprache, auf die Grammatik der letztern zu verweiſen, deſto gebotener iſt es, die einzelnen gaunerſprachlichen Documente ſelbſt in ihrer hiſtoriſchen Erſcheinung ins Auge zu faſſen, ſie in ihrer vollen Zeit und Eigenthümlichkeit darzuſtellen und zu charakteriſiren, und ſomit im einzelnen das hiſtoriſche Ge - ſammtbild einer Gaunergrammatik zu geben.
Bei der Kritik dieſer hiſtoriſchen Spracherſcheinungen ſind mehrere beſondere Rückſichten zu nehmen. Vor allem muß man feſthalten, daß, mit alleiniger Ausnahme der höchſt merkwürdig daſtehenden „ Wahrhaften Entdeckung der Jaunerſprache “des „ Con - ſtanzer Hans “1791, kein einziges Werk und ſei es das dürrſte Wörterverzeichniß, bekannt iſt, welches unmittelbar aus gauneri - ſcher Feder gefloſſen iſt. Das iſt beſonders deshalb in Betracht zu ziehen, weil die Redaction ſelbſt der verbürgtermaßen direct aus Gaunermunde geſchöpften und ſomit als glaubhaft originell er - ſcheinenden Ausdrücke und Sammlungen bei der myſteriöſen Ab - geſchloſſenheit und gänzlichen Fremdartigkeit der gaunerſprachlichen Ausdrücke von jeher unkritiſch und unſicher war, wovon bis zur Stunde die ſchlagendſten Beiſpiele vorliegen. Beſonders iſt dabei die Redaction der meiſtens ganz unbegriffenen jüdiſchdeutſchen und zigeuneriſchen Wortzuthaten ſehr ungelenk und unklar, wenn auch in den von lebenden fremden Sprachen hergeleiteten Gaunerwör - tern die fremde Abſtammung meiſtens deutlich zu erkennen iſt. Sehr wichtig für das Kriterium der Redaction iſt ſchon von vorn - herein der Vergleich des baſeler Rathsmandats mit ſeiner ſpätern Bearbeitung im Liber Vagatorum, welcher letztere nicht nur durch viele Schreib - und Druckfehler, ſondern auch durch ſehr bedeutendeAvé-Lallemant, Gaunerthum. IV. 450Misverſtändniſſe1)Beſonders überzeugen davon die vielen Varianten, worauf Hoffmann von Fallersleben im „ Weimariſchen Jahrbuch “, IV, 65 fg., aufmerkſam macht. den klaren und bewußten Ausdruck des baſeler Rathsmandats oft ſtark verdunkelt und durch dieſen Mangel an Correctheit weſentlich dazu beigetragen hat, daß die Sprache und mit ihr auch das ganze Weſen des Gaunerthums durch Jahr - hunderte hindurch ein unerklärtes, undurchdringliches Geheimniß geblieben iſt, trotzdem daß der Liber Vagatorum vermöge ſeiner vielen Auflagen und Luther’s Protection doch populär genug ge - worden ſein mußte, während das baſeler Rathsmandat ſelbſt durch - aus unbekannt blieb und erſt nach Jahrhunderten und zwar zum erſten male im Jahre 1749 gedruckt wurde: noch dazu in den la - teiniſchen „ Exercitationes juris universi praecipue Germanici u. ſ. w. “des pedantiſchen J. Heumann und in der zum Vertrock - nen dürren Abhandlung „ De lingua occulta “, aus deren ſteifer ſcholaſtiſcher Latinität das prächtige Rathsmandat mit ſeiner friſch - farbigen Skizzirung des Volkslebens überraſchend, wie eine Oaſe aus der Wüſte, heraustritt.
Wichtig für die Kritik der gaunerſprachlichen Documente iſt auch die Zeit, in welcher ſie geſammelt und zum Vorſchein ge - bracht ſind. Nicht allein, daß man in den Wurzeln und Flexionen der älteſten deutſchen Gaunerwörter nicht ſelten auch den Ueber - gang des Alt - und Mittelhochdeutſchen in das Neuhochdeutſche wahrnehmen kann: man ſieht auch von der andern Seite wieder in ebendieſer Gaunerſprache jenen trüben und wunderlichen Rück - ſchritt der vorgedrungenen reinen neuhochdeutſchen Sprache, welche vermöge der pedantiſchen Eitelkeit der Gelehrten wiederum von der ſcholaſtiſchen Latinität getrübt und verdunkelt wurde und ſogar erleiden mußte, daß echt deutſchen Wörtern, welche Eingang in die Gaunerſprache gefunden hatten, eine lateiniſche Wurzel unter - geſchoben wurde. So z. B. iſt das durchaus deutſche Vermerin durch die ſpätere falſche Redaction des Liber Vagatorum in Ve - ranerin umgewandelt worden u. ſ. w. Aehnliche Verfälſchungen ſind Grantener für Grautener, Jnnen für Junen. Beſon -51 ders iſt der Hinblick auf die Zeit der Aufnahme eines Wortes für die richtige Erkennung der Wortwurzel deshalb wichtig, weil das fremdwurzelhafte Stammwort in älterer Zeit noch wenig durch die dialektiſche Verfärbung gelitten hat. So iſt man leicht verſucht, nach der neuern Schreibung Gehege, Spital, vom deutſchen hegen, mit Beziehung auf die Abgeſchloſſenheit der Spitäler, ab - zuleiten, während die wenn auch immer ſchon dialektiſch entſtellte Schreibung des Liber Vagatorum Hegiß iſt, welches leicht auf die richtige Stammwurzel〈…〉〈…〉, kus,〈…〉〈…〉, hekis, er hat zur Ader gelaſſen, führt.
Aber auch Land und Ort, wo die Sammlung entſtanden iſt, muß berückſichtigt werden. Aus den Sammlungen erkennt man nicht nur die Zuſammenſetzung und den Geiſt der ſpecifiſchen Gruppe, aus deren Munde und geoffenbartem Leben der Wort - vorrath geſammelt war: man ſieht auch bei dem freien Rechte alles Dialektiſchen in der Gaunerſprache das als gauneriſches Ge - ſammtgut längſt ſtatuirte ſpecifiſch Dialektiſche des entlegenen Orts der Sammlung häufig einer neuen dialektiſch veränderten Redaction unterworfen, ſodaß man oft nicht einmal die urſprüngliche Wurzel zu erkennen vermag und daß der ungeübte Blick leider nur zu oft auf ganz wunderliche Etymologien geräth, wovon namentlich Fran - cisque-Michel in ſeinem „ Argot “und Thiele in ſeinen „ Jüdi - ſchen Gaunern “die frappanteſten Proben geben. Auf der andern Seite darf man aber auch wieder auf das oft willkürlich zur vor - herrſchenden Geltung gebrachte Dialektiſche des Redactionsorts kein zu großes Gewicht legen, ſondern muß — und das iſt ſehr zu beachten bei Sammlungen, welche bei größern und wichtigern Unterſuchungen aus den Acten und dem Munde der Jnquiſiten zuſammengetragen ſind — immer auch auf die Herkunft und auf den hauptſächlichſten frühern Verkehr und Aufenthalt der Jnqui - ſiten oder Sträflinge ſehen. Die Polizeidirection zu Hannover hat hier ein ſehr zur Nachahmung zu empfehlendes Beiſpiel gegeben, indem ſie vor wenigen Jahren in ſämmtlichen Strafanſtalten aus dem Munde der Sträflinge eine Sammlung von Gaunerwörtern zuſammentragen ließ, welche, wenn auch nur klein an Umfang,4*52doch im hohen Grade bemerkenswerth iſt und ganz beſonders dia - lektiſch Verſchiedenartiges und Entlegenes aufweiſt. Von ſehr großer Wichtigkeit ſind aber die freilich nur noch ſehr ſparſam von Fachmännern aus dem täglichen dichten Verkehr und Kampfe mit dem Gaunerthum in großen Städten veranſtalteten Samm - lungen, wie z. B. die wenn im ganzen unvollſtändige und zuwei - len ſogar nicht correcte, doch tüchtige und brauchbare von C. W. Zimmermann (Berlin 1847). Die großen Städte ſind für die im - mer bewegliche Gaunerſtrömung die großen Baſſins, in denen die ganze Sprachmaſſe beſtändig ab - und zufließt und zugleich ſich ab - lagert. Sie ſind bei dem dichten Zuſammenſtrömen der zahlreichen Re - präſentanten des Gaunerthums die wahren Gaunerſprachakademien, in denen die Sprache Form und Sanction erhält und mit einer Gewalt in das Volksleben zurückſtrömt, vor welcher man wahr - lich erſchrecken muß, wie man das recht deutlich bei der Fiefelſprache erkennt, welche weſentlich nur aus einer einzigen Vorſtadt Wiens über ganz Deutſchland ſtrömt.
Weſentlich für die Kritik der Gaunerſprache iſt endlich noch der Hinblick auf beſondere hiſtoriſche und politiſche Ereig - niſſe, welche immer auch eine ſtarke und kühne Bewegung des Gaunerthums zur Folge hatten und bei deſſen frechem Hervor - treten eine mehr oder minder größere Offenbarung des Weſens und der Sprache ermöglichten, je nachdem es der Behörde gelang, der verbrecheriſchen Gewalt energiſch entgegenzutreten und ihren Sieg nicht allein mit Galgen und Rad zu feiern, ſondern auch mit pſychologiſcher und ſprachlicher Forſchung auszubeuten. Jn der wilden und koloſſalen Bewegung des Dreißigjährigen Krieges trat das Gaunerthum in ungeheurer Fülle und Offenheit hervor. Es wurde nahezu volksthümlich und germaniſirte ſeine bis dahin über - haupt und beſonders hinter jüdiſchdeutſchen Typen verſteckte Sprache ſo überaus ſtark, daß in der Menge und Fülle der deutſchen Aus - drücke die jüdiſchen Typen auffällig zurücktraten und daß die jetzt in ihrer vollen Eigenthümlichkeit als deutſche Volksſprache hervor - tretende Gaunerſprache in und nach dem Dreißigjährigen Kriege in vollſte Blüte ausbrach und ihre claſſiſche Periode zu feiern53 begann, welche erſt nach dem faſt zweihundertjährigen Kampfe der Polizei mit dem Gaunerthum, im 19. Jahrhundert, mit des treff - lichen von Grolman Wörterbuch abgeſchloſſen, ſeitdem aber ver - möge der gehaltloſen Nachſchreiberei unwiſſender und unberufener Vocabulariſten in argen Verfall gerathen iſt, ſowie jeglicher gründ - lichen Bearbeitung entbehrt, obſchon 1845 Pott, „ Zigeuner “, I, 1 — 43, dazu die trefflichſte Anregung und Anleitung gegeben hat.
Auch bei politiſchen oder ſonſtigen auffälligen Ereigniſſen hat das alle Begebenheiten, Ereigniſſe und Perſonen ſchnell und ſcharf ins Auge faſſende Gaunerthum ſeine Rechnung gemacht und viel - fach ſolche Beziehungen mit einem beſondern Gaunerausdruck auf - gefaßt, wie z. B. in der älteſten Aufzeichnung des Kanzlers Dith - mar von Meckebach die Tumeherren (Falſchmünzer) gar nicht zu verſtehen ſind, wenn man nicht den Blick auf den Proceß wider die Domherren des 14. Jahrhunderts wirft, in welchem dieſe als Falſchmünzer figuriren. Solche Ausdrücke kann man nicht ſelten auf ganz beſtimmte Perſonen und Begebniſſe zurückführen. So findet ſich das Wort Fleiſchmann, mit der zuerſt von der Rot - welſchen Grammatik von 1755 gegebenen jüdiſchdeutſchen Ueber - ſetzung: „ Boſer-Jſch, Fleiſchmann, der die Diebe auf obrigkeit - lichen Befehl verfolget und auszukundſchaften ſuchet. “ Nach der logiſchen Bedeutung des correct aus〈…〉〈…〉, bosor, Fleiſch, und〈…〉〈…〉, isch, Mann, conſtruirten Boſer-Jſch kann man leicht ſich veran - laßt fühlen, an die ſpecifiſchen Wortbeſtandtheile der Compoſition mit ihrer allgemeinen logiſchen Bedeutung ſich zu halten, um das auch noch in der heutigen Gaunerſprache (Boſſertiſch, Poſſer - tiſch, Boſeriſch, Poſeriſch u. ſ. w. als Bezeichnung für Auf - fänger, Hatſchier, Polizei - oder Gerichtsdiener) übliche Wort zu erklären. Doch belehrt uns das Wörterverzeichniß von St. -Geor - gen am See (vgl. Kap. 24), daß Fleiſchmann der Eigenname eines Offiziers war, welcher die Gegend von Frankfurt und Darm - ſtadt fleißig nach Räubergeſindel durchſuchte und zuletzt von Räu - bern überfallen und grauſam ums Leben gebracht wurde. Da das an ſubſtantiviſchen Perſonenbezeichnungen ſehr reiche „ Wald - heimer Lexikon “weder im deutſchen noch im jüdiſchdeutſchen Aus -54 druck dieſes Wort enthält, ſo läßt ſich annehmen, daß die tragi - ſche Begebenheit etwa gegen das Ende der erſten Hälfte des vori - gen Jahrhunderts ſich ereignet hat.
Dieſe geſchichtliche Kritik hat daher ſtets den Vorzug vor der grammatiſchen Wortunterſuchung. Für das Judendeutſch führt Tendlau, a. a. O., eine Menge ſolcher allgemein gewordener Redensarten an, die auf beſondere Perſonen und Ereigniſſe zurück - zubeziehen ſind, wie überhaupt das Volk es liebt, bekannte und populäre Perſönlichkeiten, vom Miniſter bis zum Schauſpieler, als Typus eines beſtimmten Begriffs nach irgendeiner Gewohnheit, Eigenthümlichkeit oder Aehnlichkeit oder auch dem bloßen Namen nach aufzufaſſen und als appellativen Begriff aufzuſtellen, worin die engliſche Gaunerſprache gewiß am meiſten ſich auszeichnet.
Wie groß auch immer bei der Durchforſchung der deutſchen Geſchichte, beſonders bei der Betrachtung alter Sprach - und Bau - denkmäler, die Sehnſucht des Culturhiſtorikers nach der eigenſten Volksſprache der Deutſchen ſein mag, deren Geſchichte in ſo gewaltigen Zügen hervortritt, ſo vergebens bleibt die Forſchung nach den feinern Zügen in Leben und Sprache. Ueberall, wo vom Volk und ſeinem tiefinnerſten Leben die Rede iſt, findet man über den deutſchen Zügen die römiſche Sprache wie eine trübe, dichte Glaſur haften, mit welcher die Gewalt des Klerus alle feinern Lineamente und Ornamente überzog und verdunkelte. Erſt nach - dem Jahrhunderte lang die lebendige deutſche Sprache in über - mäßiger Stagnation von der unnatürlichen Gewalt der fremden klerikalen Sprache zurückgehalten war, durchbrach die Volksſprache in wunderbarer Mächtigkeit die unnatürlichen Dämme und brauſte mit unwiderſtehlicher Gewalt hinaus in Weite und Breite, überall befruchtend, erquickend, belebend und das Volk zum hellen Be -55 wußtſein ſeines Weſens und ſeiner köſtlichen reichen Sprache fördernd.
Für die frühe und vollkommene Ausbildung einer lebendigen deutſchen Volksſprache gibt aber doch auch ſchon die älteſte, wenn gleich nur ſehr geringfügig erſcheinende Gaunerſprachurkunde ein frappantes Zeugniß. Man findet nämlich in dem zu Breslau im königlichen Provinzialarchiv aufbewahrten Notatenbuch des Dith - mar von Meckebach, Kanonikus und Kanzler des Herzogthums Breslau unter Kaiſer Karl IV. (1347 — 78) ein Verzeichniß von elf, ohnehin nur auf die Bezeichnung beſtimmter Gaunergewerbs - zweige beſchränkte Vocabeln, welche aber in ihrer ganzen Con - ſtruction ihren Urſprung und ihre Wahl aus dem Stoff und Boden einer vollkommen ausgebildeten Volksſprache verrathen, wie auch ſchon ihre Zuſammenſetzung aus deutſchſprachlichen und fremd - ſprachlichen Stämmen vollkommen der Weiſe gleichkommt, in wel - cher auch das ſpätere Gaunerthum bis zur Stunde ſeine Kunſt - ausdrücke zuſammenträgt. Beſonders lebhaft tritt ſogleich das Judendeutſch hervor. Bemerkenswerth iſt noch, daß dieſe deutſchen Gaunerausdrücke vorherrſchend in lateiniſcher Sprache, und zwar in recht ſchlechtem Mittellatein, erklärt ſind. So iſt das „ Maleficus terrarum “der Ueberſchrift als Landſtreicher, umher - ziehender, gewerbsmäßiger Verbrecher oder Gauner aufzufaſſen. Das Verzeichniß folgt hier nach Hoffmann von Fallersleben im „ Weimariſchen Jahrbuch für deutſche Sprache, Literatur und Kunſt “, Bd. I, Heft 2, S. 328:
Die Erklärungen, welche Hoffmann dazu gibt, ſind größten - theils verfehlt; Stromer und Kawalſprenger werden rich - tig erklärt; dahingegen iſt Stoßer durchaus der auf Meſſen und Märkten ſtehlende Schottenfäller, von〈…〉〈…〉, schoto, und〈…〉〈…〉, schtus (vgl. Th. II, S. 192). Nuſſer, Taſchendieb, iſt nicht vom ahd. nuscari (?) fibularius, Spangenmacher, wie Hoff - mann anführt, abzuleiten, ſondern doch wol von〈…〉〈…〉 (wie bereits Th. III, S. 205 und 206 angegeben), oder von〈…〉〈…〉, nossar, welches letztere ſpringen, hüpfen bedeutet und auch (z. B. Pſalm 105, V. 20) vom Losmachen der Gefangenen gebraucht wird. So hat ſich Nuſſer noch in dem ſehr gebräuchlichen Volksaus - druck nüſchen (die Taſchen viſitiren) erhalten. Vazenheuer iſt nicht, wie Hoffmann will, von vaze, fascia, Band (?), abzuleiten, ſondern vom ahd. vaz, Gefäß, das doch wol mit dem hebr. 〈…〉〈…〉und〈…〉〈…〉 und dem Fudt des Liber Vagatorum in Verbindung ſteht, da〈…〉〈…〉 in der erſten Bedeutung Zwiſchenraum, quod patet, und genitalia muliebria bezeichnet, woran ſich wieder der volks - gebräuchliche Ausdruck Fotze (auch für ein liederliches Weibsbild) anſchließt. Dagegen iſt die von Hoffmann angeführte Ableitung der Tumeherren, Falſchmünzer, nach dem am Schluß des vori - gen Kapitels bei der hiſtoriſchen Kritik Geſagten als richtig an - zuerkennen. Swimmer, Schwimmer, iſt deutſchen Urſprungs und dem heutigen unterkabbern entſprechend, unter einer Mauer oder Schwelle eingraben, um durchzukriechen, gleichſam untertau - chend zu ſchwimmen. Die Ableitung des Schenenwerfer und Ebener iſt bereits Th. III, S. 206 erörtert und berichtigt worden. Die Ableitung des Spanvelder von ſpannen und Feld erſcheint bei Hoffmann richtig. Verſucher (bei Ottfried firsuachen) ſcheint in der veralteten, jedoch noch im Niederdeutſchen erhaltenen Be - deutung beſuchen gebraucht zu ſein und dem modernen Strade - halter, Stradehändler, Buſchklepper mit gewaffneter Hand, zu entſprechen.
Nicht lange Zeit, gewiß kaum ſpäter als ein halbes Jahr - hundert, nachdem Dithmar von Meckebach vermöge ſeiner wenigen Vocabeln einen tiefen Blick in das Volks - und Gaunerleben ſei - ner Zeit beurkundet hatte, erließ der baſeler Rath das Mandat wider die Gilen und Lamen, deſſen bereits Th. I, S. 49 fg., Er - wähnung gethan und deſſen genauer Abdruck nach Daniel Brück - ner’s correcter Quelle Th. I, S. 125 fg., gegeben iſt.
Abgeſehen von dem hohen Werthe des Rathsmandats als älteſten Muſters einer in echt freiſtädtiſchem Tone gehaltenen Po - lizeibekanntmachung und einer durchweg volksthümlichen Anſprache enthält es eine wichtige Anzahl damaliger Gaunerausdrücke, welche vom Rathe ſelbſt erläutert werden. Das Mandat blieb, wie ſchon erwähnt, bis 1749 ungedruckt und vergeſſen, und würde trotz der von Johannes Knebel 1475 genommenen Abſchrift, welche eben - falls ungedruckt blieb bis 1839, ohne alle nachhaltige Wirkung außerhalb Baſels geblieben ſein: wenn nicht das Mandat um das Ende des 15. Jahrhunderts von unbekannter Hand bearbeitet und unter dem Titel des „ Liber Vagatorum der Betlerorden “im Druck herausgegeben worden wäre. Jn ſprachlicher Hinſicht be - ſteht nun aber ein ſehr merklicher Unterſchied zwiſchen dem Ori - ginal und der Bearbeitung. Der Verfaſſer des Liber Vagatorum hat die correcten Gaunerausdrücke des Mandats vielfach entſtellt, mag dies durch bloße Leſe -, Schreib - oder Druckfehler veranlaßt ſein, oder aus wirklichem Mangel des Redacteurs an eigener Kenntniß der allerdings ungewöhnlichen techniſchen Vocabulatur, von welchem letztern Mangel übrigens der ſehr eigenmächtige und unkundige Johannes Knebel die ärgſten Proben gibt. So findet man im Liber Vagatorum durchgehends Grantener für Grau - tener, Veranerin für Vermerin, Schwanfelder für Span - felder, Jnnen1)Brückner hat allerdings auch die incorrecte Schreibung Jnnen, welche Th. I, S. 131, Z.