PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft.
Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Häckel, a. o. Pro - fessor der Zoologie und Director des zoologischen Museums an der Universität Jena
WeimarHermann Böhlau1863.
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Du hast mir, lieber Freund und College, nicht eher Ruhe gelassen, als bis ich Darwins viel besprochenes Werk über die Entstehung der Arten im Thier - und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkomm - neten Rassen im Kampfe ums Dasein, nach der zweiten Auflage übersetzt von Bronn, Stuttgart 1860, gelesen hatte. Ich habe Deinen Willen gethan und mich durch das einiger Maassen unbeholfen angeordnete und schwerfällig geschriebene und theilweise in kurioses Deutsch übersetzte Buch von Anfang bis zu Ende hindurch gearbeitet; die meisten Theile des Werks reizten zu wiederholtem Lesen. Vor allem danke ich Dir für die ausdauernden Bemühungen, denen es endlich glückte, mich zum Studium dieses ohne Zweifel be - deutenden Buches zu bewegen. Dass mich die Schrift an - sprechen würde, schienst Du mit Bestimmtheit voraus zu setzen; freilich dachtest Du zunächst an meine gärtnerischen und botanischen Liebhabereien. Allerdings bietet die Gärt - nerei gar manche Gelegenheit z. B. den Kampf ums Dasein zu beobachten, den man zu Gunsten der auserwählten Lieblinge zu entscheiden pflegt, eine Tätigkeit, welche in der Sprache des gewöhnlichen Lebens jäten genannt wird;1*4welcher Verbreitung eine einzige Pflanze fähig ist, wenn sie Raum und sonst günstige Verhältnisse dazu findet, das erlebt der Gärtner auch manchmal mehr als ihm lieb ist; und was die Veränderlichkeit der Arten, was Erblichkeit, kurz, was Züchtung betrifft, nun darin macht einer, der seit Jahren das Steckenpferd reitet eine unserer abänder - ungsfähigsten Zierblumen nach bestimmten Richtungen hin zu vervollkommnen, manche Erfahrung und Beobachtung.

Dennoch warst du, lieber Freund, nicht ganz auf der richtigen Fährte, als Du mich vorzüglich wegen meiner Gartenleidenschaft mit dem genannten merkwürdigen Buche zusammenbringen wolltest. In noch höherem Grade wirkten nämlich Darwins Darlegungen und Ansichten auf mich in so ferne ich sie in Verbindung brachte mit der Sprach - wissenschaft.

Von den sprachlichen Organismen gelten nämlich ähnliche Ansichten, wie sie Darwin von den lebenden Wesen über - haupt ausspricht, theils fast allgemein, theils habe ich zu - fällig im Jahre 1860, also in demselben Jahre, in welchem die deutsche Uebersetzung von Darwins Werk erschien1)Das englische Original ward in erster Ausgabe im November des Jahres 1859 veröffentlicht (Seite 6 der Uebersetzung). Es blieb mir unbekannt., über den Kampf ums Dasein, über das Erlöschen alter Formen, über die grosse Ausbreitung und Differenzierung einzelner Arten auf sprachlichem Gebiete mich in einer Weise aus - gesprochen, welche, den Ausdruck abgerechnet, mit Dar - wins Ansichten in auffälliger Weise zusammen stimmt2)Die deutsche Sprache, Stuttgart 1860 S. 43 g.; besonders S. 44 zu Anfang.. Kein Wunder also, dass diese mich lebhaft ansprachen.

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Wenn Du nunmehr wissen willst, welche Wirkung Dar - wins Buch auf mich geäussert hat, so will ich Dir das recht gerne auseinander setzen und noch dazu vor aller Welt. Ich hoffe, dass der Nachweis, wie die Hauptzüge der Dar - winschen Lehre auf das Leben der Sprachen Anwendung finden oder vielmehr, wenn man so sagen darf, unbewuster Weise bereits fanden, Dir, dem eifrigen Verfechter Darwinscher Grundsätze, nicht ganz unwillkommen sein werde. Auch denke ich, dass die Dinge, die ich Dir mittheilen möchte, auch für andere nicht ohne alles Interesse sein dürften. Indem ich mich zunächst an Dich wende und mir das harmlose Ver - gnügen mache Dich mit einem offenen Briefe zu überraschen, rede ich vor allem zu den Naturforschern, von denen ich wünsche, dass sie mehr Notiz von den Sprachen nehmen mögen, als diess bisher geschehen ist. Und zwar denke ich hierbei nicht nur an die physiologische Erforschung der Sprachlaute, welche in neuerer Zeit so ausgezeichnete Fortschritte gemacht hat, sondern auch an die Beachtung und Betrachtung der sprachlichen Unterschiede in ihrer Bedeutung für die Naturgeschichte des Genus Homo. Soll - ten nicht etwa die sprachlichen Unterschiede als Grundlage eines natürlichen Systems dieses in seiner Art einzigen Ge - nus brauchbar sein? Ist nicht die Entwickelungsgeschichte der Sprache eine Hauptseite der Entwickelungsgeschichte des Menschen? So viel steht doch gewiss fest, dass ohne Kenntniss der sprachlichen Verhältnisse Niemand sich von der Natur und von dem Wesen des Menschen eine genü - gende Anschauung erwerben kann.

Dass bei den Sprachforschern die naturwissenschaftliche Methode mehr und mehr Eingang finde, ist ebenfalls einer meiner lebhaftesten Wünsche. Vielleicht vermögen die fol -6 genden Zeilen einen oder den andern angehenden Sprach - forscher dazu in Betreff der Methode bei tüchtigen Bota - nikern und Zoologen in die Schule zu gehen. Auf mein Wort, er wird es nicht zu bereuen haben. Ich wenigstens weiss sehr wohl, was ich dem Studium von Werken, wie Schleidens wissenschaftliche Botanik, Carl Vogts physiolo - gische Briefe u. s. f. für die Erfassung des Wesens und des Lebens der Sprache zu danken habe. Habe ich doch aus diesen Büchern zuerst erfahren, was Entwickelungsgeschichte ist. Bei den Naturforschern kann man einsehen lernen, dass für die Wissenschaft nur die durch sichere, streng ob - jective Beobachtung festgestellte Thatsache und der auf diese gebaute richtige Schluss Geltung hat; eine Erkennt - niss, die manchem meiner Collegen von Nutzen wäre. Sub - jektives Deuteln, haltloses Etymologisieren, vage Vermu - thungen ins Blaue hinein, kurz alles, wodurch die sprach - lichen Studien ihrer wissenschaftlichen Strenge beraubt und in den Augen einsichtiger Leute herabgesetzt, ja sogar lächerlich gemacht werden, wird demjenigen gründlich ver - leidet, der sich auf den oben angedeuteten Standpunkt nüchterner Beobachtung zu stellen gelernt hat. Nur die genaue Beobachtung der Organismen und ihrer Lebens - gesetze, nur die völlige Hingabe an das wissenschaftliche Object soll die Grundlage auch unserer Disciplin bilden; alles noch so geistreiche Gerede, das jenes festen Grundes enträth, ist jedes wissenschaftlichen Werthes bar und ledig.

Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstunden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Lebens7 zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft; ihre Methode ist im Ganzen und Allgemeinen dieselbe, wie die der übri - gen Naturwissenschaften1)Von der Philologie, einer historischen Disciplin, ist hier na - türlich nicht die Rede.. So konnte mir denn auch das Studium des Darwinschen Buches, zu dem Du mich veran - lasstest, nicht als meinem Fache allzu ferne liegend er - scheinen.

Darwins Werk scheint mir durch die Geistesrichtung unserer Tage bedingt zu sein, abgesehen von jener Stelle (S. 487 g.), wo der Verfasser der bekannten Beschränkt - heit seiner Landsleute in Glaubenssachen das wenig folge - richtige Zugeständniss macht, dass sich mit seiner An - sicht dennoch der Begriff der Schöpfung vereinigen lasse. Diese Stelle lassen wir natürlich im Folgenden völlig ausser Betracht; sie enthält einen Widerspruch Darwins mit sich selbst, mit dessen Darlegungen sich nur die Vorstellung allmählichen Werdens der Naturorganismen, keineswegs aber die einer Schöpfung aus Nichts vereinigen lässt. Folge - richtig ergibt sich aus Darwins Lehre als der gemeinsame Anfang aller lebenden Organismen die einfache Zelle, aus welcher sich im Verlaufe sehr langer Zeiträume die ganze Fülle der noch vorhandenen und der bereits wieder ge - schwundenen lebenden Wesen entwickelte, wie wir ja noch jetzt diese einfachste Form des Lebens bei den auf der nied - rigsten Entwicklungsstufe stehen gebliebenen Organismen und im ersten Embryonalzustand auch der höheren Wesen finden. Darwins Buch, sagte ich, scheint mir in vollkomme - ner Uebereinstimmung mit den philosophischen Grund -8 ansichten zu stehen, die man heute zu Tage mehr oder minder klar bewust und ausgesprochen bei den meisten naturwissenschaftlichen Schriftstellern findet. Ich will das etwas weiter ausführen.

Die Richtung des Denkens der Neuzeit läuft unver - kennbar auf Monismus hinaus. Der Dualismus, fasse man ihn nun als Gegensatz von Geist und Natur, Inhalt und Form, Wesen und Erscheinung, oder wie man ihn sonst bezeichnen mag, ist für die naturwissenschaftlichen Anschau - ung unserer Tage ein vollkommen überwundener Stand - punkt. Für diese gibt es keine Materie ohne Geist (ohne die sie bestimmende Nothwendigkeit), aber eben so wenig auch Geist ohne Materie. Oder vielmehr es gibt weder Geist noch Materie im gewöhnlichen Sinne, sondern nur eines, das beides zugleich ist1)Diese Beobachtung beruhende Ansicht des Materialismus zu beschuldigen, ist eben so verkehrt, als wollte man sie des Spiritualis - mus zeihen.. Ein philosophisches System des Monismus fehlt zur Zeit noch, doch sieht man in der Entwickelungsgeschichte der neueren Philosophie deutlich das Ringen nach einem solchen. Es ist übrigens nicht ausser Acht zu lassen, dass gerade in Folge der jetzigen Art zu denken und die Dinge zu betrachten der Gang der wissenschaftlichen Thätigkeit ein anderer geworden ist, als er füher war. Während man einst zuerst das System fer - tig machte und dann das Object darauf hin bearbeitete es ins System zu bringen, verfährt man jetzt umgekehrt. Vor allem versenkt man sich in das genaueste Einzelstudium des Objectes, ohne an einem systematischen Aufbau des Ganzen zu denken. Man erträgt mit gröster Gemüthsruhe den9 Mangel eines dem Stande unserer scharfen und genauen Einzelforschungen entsprechenden philosophischen Systems in der Überzeugung, dass vor der Hand ein solches noch nicht geschaffen werden könne, vielmehr mit dem Versuche der Herstellung desselben gewartet werden müsse, bis der - maleinst eine genügende Fülle zuverlässiger Beobachtungen und sicherer Erkenntnisse aus allen Sphären des mensch - lichen Wissens vorliegt.

Eine nothwendige Folge der monistischen Grundanschau - ung, die hinter den Dingen nichts sucht, sondern das Ding mit seiner Erscheinung für identisch hält, ist die Bedeu - tung, welche heute zu Tage die Beobachtung für die Wis - senschaft, zunächst für die Naturwissenschaft, gewonnen hat. Die Beobachtung ist die Grundlage des heutigen Wis - sens. Ausser der Beobachtung lässt man nur den auf sie gegründeten mit Nothwendigkeit sich ergebenden Schluss gelten. Alles a priori Construierte, alles ins Blaue hinein Gedachte gilt im besten Falle als geistreiches Spiel, für die Wissenschaft aber als werthloser Plunder.

Die Beobachtung lehrt nun aber, dass alle lebendigen Organismen, die überhaupt in den Kreis genügender Beo - bachtung fallen, sich nach bestimmten Gesetzen verändern. Diese ihre Veränderungen, ihr Leben, sind ihr eigentliches Wesen; wir kennen sie nur dann, wenn wir die Summe dieser Veränderungen, wenn wir ihr ganzes Wesen kennen. Mit andern Worten: wenn wir nicht wissen wie etwas ge - worden ist, so kennen wir es nicht. Nothwendige Folge der Beobachtungsgrundlage ist die Bedeutung, welche die Entwickelungsgeschichte und die wissenschaftliche Erkennt - niss des Lebens der Organismen überhaupt für die Natur - wissenschaft unserer Tage erlangt hat.

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Die Wichtigkeit der Entwickelungsgeschichte für die Erkenntniss des individuellen Organismus ist widerspruchs - los anerkannt. Zuerst fand die Entwickelungsgeschichte Eingang bei der Zoologie und Botanik. Lyell hat bekannt - lich auch das Leben unseres Planeten als eine Reihe ganz allmählich verlaufender Veränderungen dargestellt; ein ruck - weises, plötzliches Eintreten neuer Lebensphasen finde hier eben so wenig statt, als im Leben anderer Naturorganis - men. Auch Lyell beruft sich vor allem auf die Beobach - tung. Da die Beobachtung des allerdings nur sehr kurzen Zeitraumes des jüngsten Erdenlebens nur ein allmähliches Verändern ergibt, so haben wir durchaus kein Recht für die Vergangenheit eine andere Art des Lebensverlaufes vor - auszusetzen. Von derselben Ansicht ging ich von je her bei der Betrachtung des Lebens der Sprachen aus, welches ebenfalls nur in seinen für uns letzten und jüngsten, ver - hältnissmässig sehr kurzen Perioden innerhalb der unmittel - baren Beobachtung fällt. Diese kurze Zeit von einigen Jahrtausenden lehrt uns mit unumstösslicher Gewissheit, dass das Leben der Sprachorganismen überhaupt nach be - stimmten Gesetzen in ganz allmählichen Veränderungen ver - laufe und dass wir nicht im entferntesten ein Recht haben vorauszusetzen, dass diess jemals sich anders verhalten habe.

Darwin und seine Vorgänger gingen nun einen Schritt weiter als die übrigen Zoologen und Botaniker: nicht nur die Individuen haben ein Leben, sondern auch die Arten und Gattungen; auch sie sind allmählich geworden, auch sie sind fortwährenden Veränderungen nach bestimmten Ge - setzen unterworfen. Wie alle Forscher der Neuzeit, so be - ruft sich auch Darwin auf die Beobachtung, wenn diese11 auch, wie es die Natur der Sache, eben so wie bei dem Leben der Erde und dem der Sprachen, mit sich bringt, auf einen kurzen Zeitraum beschränkt ist. Da wir wirk - lich wahrnehmen können, dass die Arten nicht völlig be - ständig sind, so ist ihre Veränderungsfähigkeit überhaupt, wenn auch in beschränktem Maasse, beobachtet. Eine an sich zufällige Sache, nämlich die Kürze des Zeitraumes, innerhalb welches brauchbare Beobachtungen angestellt wur - den, ist der Grund, dass die Veränderung der Arten im ganzen als nicht bedeutend erscheint. Man braucht nur, im Einklange mit den Ergebnissen sonstiger Beobachtungen, für das Vorhandensein lebender Wesen auf unserem Welt - körper eine grosse Anzahl von Jahrtausenden anzunehmen, um begreiflich zu finden, wie durch fortwährende allmäh - liche Veränderung, analog denen, die wirklich unter un - sere Beobachtung fallen, die Gattungen und Arten, wie sie jetzt vorhanden sind, entstehen konnten.

Darwins Lehre scheint mir demnach in der That nur eine nothwendige Folge der heute zu Tage in der Naturwissen - schaft geltenden Grundsätze zu sein. Sie beruht auf Be - obachtung und ist wesentlich ein Versuch einer Entwickel - ungsgeschichte. Was Lyell für die Lebensgeschichte der Erde, das hat Darwin für die Lebensgeschichte der Bewoh - ner der Erde ausgeführt. Darwins Lehre ist also keine zu - fällige Erscheinung, sie ist nicht die Ausgeburt eines ab - sonderlichen Kopfes, sondern ein rechtes und echtes Kind unseres Jahrhunderts. Darwins Lehre ist eine Nothwen - digkeit.

Das was Darwin für die Arten der Thiere und Pflanzen geltend macht, gilt nun aber auch, wenigstens in seinen hauptsächlichsten Zügen, für die Organismen der Sprachen. 12Diess auszuführen ist der eigentliche Zweck dieser Zeilen, zu dem wir uns nunmehr wenden, nachdem wir im allge - meinen gezeigt zu haben glauben, wie überhaupt durch die Beobachtungswissenschaften der Neuzeit, zu denen auch die Sprachwissenschaft gehört, ein gemeinsamer Zug, bedingt durch eine bestimmte philosophische Grundanschauung, hin - durch geht.

Nehmen wir nun das Darwinsche Buch zur Hand und sehen wir zu, was sich von Seiten der Sprachwissenschaft den von Darwin vertretenen Anschauungen analoges zur Seite stellen lässt.

Vor Allem sein jedoch daran erinnert, dass die Verhält - nisse der Specificierung im Gebiete der Sprachen zwar im Wesentlichen dieselben sind als im Reiche der Naturwesen überhaupt, dass aber die Ausdrücke zur Bezeichnung dieser Verhältnisse, deren sich die Sprachforscher bedienen, von denen der Naturforscher abweichen. Diess bitte ich stäts vor Augen zu behalten, da auf dieser Erkenntniss alles Fol - gende beruht. Was die Naturforscher als Gattung bezeich - nen würden, heisst bei den Glottikern Sprachstamm, auch Sprachsippe; näher verwandte Gattungen bezeichnen sie wohl auch als Sprachfamilien einer Sippe oder eines Sprachstam - mes. Ich will jedoch keineswegs verschweigen, dass über die Feststellung der Gattungen bei den Sprachforschern nicht minder Uneinigkeit obwaltet, als bei den Zoologen und Bo - tanikern; auf diesen charakteristischen Umstand, der sich bei allen Abstufungen der Specificierung wiederholt, komme ich später noch besonders zurück. Die Arten einer Gattung nennen wir Sprachen eines Stammes; die Unterarten einer Art sind bei uns die Dialecte oder Mundarten einer Sprache; den Varietäten und Spielarten entsprechen die Untermund -13 arten oder Nebenmundarten und endlich den einzelnen Indi - viduen die Sprechweise der einzelnen die Sprachen redenden Menschen. Bekanntlich sind sich die einzelnen Individuen einer und derselben Art nicht absolut gleich, völlig dasselbe gilt von den sprachlichen Individuen; auch die Sprechweise der einzelnen eine und dieselbe Sprache redenden Menschen ist stäts mehr oder minder stark individuell gefärbt.

Was nun zunächst die von Darwin behauptete Verän - derungsfähigkeit der Arten im Verlaufe der Zeit betrifft, durch welche, wenn sie nicht bei allen Individuen in glei - chem Maasse und in gleicher Weise hervortritt, aus einer Form mehrere Formen hervorgehen (ein Prozess der sich natürlich abermals und abermals wiederholt), so ist sie für die sprachlichen Organismen längst allgemein angenom - men. Diejenigen Sprachen, die wir, wenn wir uns der Ausdrucksweise der Botaniker und Zoologen bedienten, als Arten einer Gattung bezeichnen würden, gelten uns als Töchter einer gemeinsamen Grundsprache, aus welcher sie durch allmähliche Veränderung hervorgiengen. Von Sprach - sippen, die uns genau bekannt sind, stellen wir eben so Stammbäume auf, wie diess Darwin (S. 121) für die Arten von Pflanzen und Thieren versucht hat. Es zweifelt Nie - mand mehr daran, dass die ganze Sippe der indogerma - nischen Sprachen, indisch, eranisch (persisch, armenisch u. s. w.), griechisch, italisch (lateinisch, oskisch, umbrisch sammt den Tochtersprachen des ersteren), keltisch, slawisch, litauisch, germanisch oder deutsch, also eine Sippe, die aus zahlreichen Arten, Unterarten und Varietäten besteht, von einer einzigen Grundform, der indogermanischen Ur - sprache, ihren Ausgang genommen habe; dasselbe gilt von den Sprachen der semitischen Sippe, zu welcher bekannt -14 lich hebräisch, syrisch und chaldäisch, arabisch u. s. f. ge - hören, sowie von allen Sprachsippen oder Sprachstämmen überhaupt. Als Beispiel möge hier der Stammbaum der indogermanischen Sprachsippe Platz finden, wie er nach unserem Dafürhalten als Bild des allmählichen Entstehens derselben aufzustellen ist1)S. die beigefügte Steindrucktafel.; man vergleiche ihn mit Darwins bildlicher Darstellung (S. 121), wobei man nicht ausser Acht lasse, dass Darwin ein ideales Schema aufstellt, wir aber das Bild der Entstehung einer gegebenen Sippe zeich - nen2)Übereinstimmender mit dem Darwinschen Schema ist die eben - falls ideal gehaltene Zeichnung der Entstehung sprachlicher Arten und Unterarten aus einer Grundform, die ich Deutsche Sprache S. 28 ent - worfen habe.. Uebrigens war es nicht wohl thunlich unser Sippen - bild genau auszuführen, die Mundarten (Varietäten) sind überall nur angedeutet worden; die Spaltungen des era - nischen und indischen Astes musten wir hinweg lassen.

Was unser Bild besagt, lässt sich mit Worten etwa folgendermaassen ausdrücken.

In einer früheren Lebensperiode des Menschengeschlechtes gab es eine Sprache, die wir aus den aus ihr hervorge - gangenen indogermanisch genannten Sprachen ziemlich ge - nau erschliessen können3)In Bezug auf die grammatischen Formen habe ich diesen Ver - such gemacht in meinem Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprache, Weimar, Böhlau, 1861. 1862., die indogermanische Urspache. Nachdem sie von einer Reihe von Generationen gesprochen ward, während dem wahrscheinlich das sie redende Volk sich mehrte und ausbreitete, nahm sie auf verschiedenen Theilen ihres Gebietes ganz allmählich einen verschiedenen Charakter an, so dass endlich zwei Sprachen aus ihr her -15 vorgiengen. Möglicher Weise können es auch mehrere Spra - chen gewesen sein, von denen aber nur zwei am Leben blieben und sich weiter entwickelten; dasselbe gilt auch von allen späteren Theilungen. Jede dieser beiden Sprachen unterlag dem Differenzierungsprozesse noch zu wiederholten Malen. Der eine Zweig, den wir nach dem, was später aus ihm ward, den slawodeutschen nennen wollen, theilte sich abermals durch allmähliche Differenzierung (durch die fortgesetzte Neigung zur Divergenz des Charakters, wie es bei Darwin heisst) in deutsch und slawolettisch, von denen das erstere die Stammmutter aller deutschen (germanischen) Sprachen und ihrer Mundarten, das letztere die der sla - wischen und litauischen (baltischen, lettischen) ward. Die andere Sprache, die sich durch Differenzierung aus der indogermanischen Ursprache heraus entwickelt hatte, das ariograecoitalokeltische man verzeihe diese langathmige Bezeichnung theilte sich später ebenfalls in zwei Spra - chen, von denen die eine, die graecoitalokeltische, die Mut - ter der griechischen, albanesischen und der Sprache ward, aus welcher später keltisch und italisch hervorgiengen und die wir deshalb die italokeltische nennen, die andere aber, die arische1)Sowohl die ältesten Inder als auch die ältesten Eraner (Perser) nennen sich Arier, daher der Name für die gemeinsame Grundsprache des Indischen und des Eranischen. Sprache, die nah verwandten Stammmütter der indischen2)Die Grundsprache der indischen Sprachfamilie ist uns erhalten, es ist die Sprache, in welcher die uralten religiösen Hymnen der Inder, die Vedahymnen, abgefasst sind. Aus dieser Sprache entwickelten sich einerseits die mittelindischen Sprachen die Prakritsprachen und wei - terhin die neuindischen Sprachen und Mundarten (das Bengalische, Mahrattische, Hindustanische und verwandte), anderseits eine Schrift - und der eranischen (persichen) Sprachfamilie er -16 zeugte. Weitere Uebersetzung des Bildes in Worte ist wohl überflüssig. 1)Genaueres s. in meiner Deutschen Sprache, S. 71 flg.

Ähnliche Stammbäume lassen sich natürlich von allen Sprachsippen entwerfen, deren Verwandtschaftsverhältnisse hinreichend genau erkannt sind. Sprachen oder Mundarten, die sich sehr nahe stehen, gelten uns als noch nicht lange vorhandene Trennungen einer ihnen gemeinsamen Grund - sprache; je verschiedener von einander die Sprachen einer Sippe sind, desto früher setzen wir ihre Loslösung aus ge - meinsamer Grundform an, indem wir die Verschiedenheit auf Rechnung einer längeren individuellen Entwickelung schreiben.

Nun wirst Du, lieber Freund, und mit Dir diejenigen Naturkundigen, welche sich nicht mit sprachlichen Dingen befasst haben, die Frage aufzuwerfen nicht abgeneigt sein, von wannen uns solcherlei Wissenschaft komme. Ähnliche Stammbäume, wie der für eine Sprachsippe hier beispiels - weise aufgestellte, auch für Pflanzen - und Thiersippen zu entwerfen, die man genau genug kennt, unter der Voraus - setzung, dass sie von früheren Grundformen abstammen und diese Grundformen in ihren Hauptzügen zu erschliessen, das ist wohl ein nicht unausführbares Beginnen. Das aber ist ja eben nur die Frage, ob solche Grundformen als einst wirklich existiert habend vorauszusetzen sind. Wer gibt euch Sprachforschern das Recht, so könntest Du fragen, eure aus den vorliegenden Sprachformen erschlossenen2)sprache, die nie Volkssprache war, das Sanskrit, die Sprache der nach - wedischen indischen Litteratur, so zu sagen das indische Latein, das, wie das Schriftlatein der Römer, bis auf den heutigen Tag Gelehr - tensprache geblieben ist.

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17 Grundsprachen und Ursprachen für Wirklichkeiten aus - zugeben und eure Sippenstammbäume für mehr zu halten, als für blosse Phantasiegebilde? Warum seid ihr so sicher und einstimmig in der Behauptung der Veränderlichkeit der Arten, der Spaltung einer Form in mehrere im Verlaufe der Zeit, während wir Zoologen und Botaniker uns über diese Frage nicht wenig streiten und genug Leute von uns das Dasein der Arten als ein von jeher Gewesenes betrachten und über Darwin, der über Thier - und Pflanzenarten etwa eben so denkt wie ihr über Spracharten, ohne weiteres den Stab brechen?

Antwort. Die Beobachtung ist in Beziehung auf Ent - stehung neuer Formen aus früheren sprachlichem Ge - biete leichter und in grösserem Maassstabe anzustellen, als auf dem der pflanzlichen und thierischen Organismen. Aus - nahmsweise sind wir Sprachforscher hier einmal im Vor - theile gegen die übrigen Naturforscher. Wir vermögen wirklich an manchen Sprachen geradezu nachzuweisen, dass sie in mehrere Sprachen, Mundarten u. s. f. auseinander gegangen sind. Einige Sprachen und Sprachfamilien kann man nämlich durch mehr als zwei Jahrtausende hindurch beobachten, da uns mittels der Schrift das im wesentlichen treue Bild ihrer früheren Formen überliefert ist. Diess ist z. B. beim Lateinischen der Fall. Wir kennen sowohl das Altlateinische, als die durch Differenzierung und durch frem - den Einfluss Ihr würdet sagen durch Kreuzung nach - weislich aus ihm hervorgegangenen romanischen Sprachen; wir kennen das uralte Indisch, kennen die zunächst aus diesem gewordenen Sprachen und die weiterhin von diesen stammenden neuindischen Sprachen. So haben wir festen und sicheren Beobachtungsgrund. Was bei denjenigen Spra -218chen, die wir zufällig deshalb so lange Zeiträume hindurch beobachten können, weil die sie redenden Völker glück - licherweise aus verhältnissmässig früher Zeit Schriftdenk - male hinterlassen haben, wirklich vorliegt, das muss auch bei den anderen Sprachsippen vorausgesetzt werden, denen dergleichen Bilder ihrer früheren Formen abgehen. Wir wissen also geradezu aus vorliegenden Beobachtungsreihen, dass die Sprachen sich verändern so lange sie leben, und diese längeren Beobachtungsreihen verdanken wir der Schrift.

Wäre die Schrift bis auf den heutigen Tag noch nicht erfunden, so würden die Sprachkenner wohl niemals auf den Gedanken gekommen sein, dass Sprachen wie z. B. Russisch, Deutsch und Französisch schliesslich von einer und derselben Sprache abstammen. Vielleicht wäre man dann überhaupt gar nicht darauf verfallen gemeinsamen Ursprung für irgend welche Sprachen, seien sie auch sehr nahe ver - wandt, vorauszusetzen und überhaupt anzunehmen, dass die Sprache veränderlich ist. Wir wären ohne Schrift noch viel übeler daran als Botaniker und Zoologen, denen doch Reste früherer Bildungen zu Gebote stehen und deren wis - senschaftliche Objecte sich überhaupt leichter beobachten lassen als Sprachen. So aber haben wir mehr Beobach - tungsmaterial als die übrigen Naturforscher und sind daher früher auf den Gedanken der Unursprünglichkeit der Arten gekommen. Auch mögen wohl die Veränderungen in den Sprachen im Ganzen in kürzeren Zeiträumen vor sich ge - gangen sein, als in der Thier - und Pflanzenwelt, so dass Zoologen und Botaniker etwa erst dann mit uns gleich gün - stig gestellt wären, wenn wenigstens von einigen Gattungen ganze Reihen sogenannter vorweltlicher Formen in vollkom - men erhaltenen Exemplaren, also mit Haut und Haar, mit19 Blatt, Blüte und Frucht auf uns hätten kommen können. Die sprachlichen Verhältnisse sind also als paradigmatische Beispiele für die Entstehung von Arten aus gemeinsamen Grundformen einigermaassen lehrreich für jene Gebiete, auf denen es, vor der Hand wenigstens, an nachweislichen Fällen der Art noch mangelt. Uebrigens ist, wie gesagt, der Unterschied bezüglich des Beobachtungsmaterials zwischen der Sprachwelt und der Pflanzen - und Thierwelt nur ein quantitativer, nicht aber ein specifischer, denn bekanntlich ist ja die Abänderungsfähigkeit in gewissem Grade auch für Thiere und Pflanzen eine anerkannte Thatsache.

Aus dem bisher über die Differenzierung einer Grund - form in mehrere zuerst wenig dann allmählich stärker von einander abweichende Formen Dargelegten folgt, dass wir auf sprachlichem Gebiete zwischen den Bezeichnungen für die verschiedenen Stufen der Unterschiede, d. h. zwischen Sprache, Dialekt, Mundart, Untermundart keine festen und sicheren Begriffsunterschiede aufzustellen vermögen. Die Verschiedenheiten, welche durch diese Worte bezeichnet werden, haben sich allmählich gebildet und gehen ineinan - der über; noch dazu sind sie in jeder Gruppe von Sprachen ihrem Wesen nach verschiedenartig. So stehen z. B. die semitischen Sprachen in einem wesentlich anderen Verwandt - schaftsverhältnisse zu einander, als die indogermanischen Sprachen; von der Verwandtschaftsart beider Sippen unterschei - det sich aber wieder die der finnischen Sprachen (finnisch, lappisch, magyarisch u. s. f.) sehr wesentlich. So war denn begreiflicher Weise noch kein Sprachforscher im Stande eine genügende Definition von Sprache im Gegensatze zu Dialekt u. s. f. zu geben. Was die Einen Sprachen nennen, das nennen die Andern Dialekte und umgekehrt. Sogar das2*20so genau durchforschte Gebiet der indogermanischen Spra - chen liefert uns für diese Behauptung Belege. So reden manche Sprachforscher von slawischen Dialekten, andere von slawischen Sprachen; auch die verschiedenen, die deut - sche Familie bildenden Sprachen hat man bisweilen als Dialekte bezeichnet. Ganz eben so verhält es sich aber mit den entsprechenden Begriffen Art, Unterart, Varietät. Wenn hierüber Darwin sagt (S. 57): Eine bestimmte Grenz - linie ist bis jetzt sicherlich nicht gezogen worden, weder zwischen Arten und Unterarten, d. i. solchen Formen, welche nach der Meinung einiger Naturforscher den Rang einer Species nahezu aber doch nicht gänzlich erreichen, noch zwischen Unterarten und ausgezeichneten Varietäten, noch endlich zwischen den geringeren Varietäten und indi - viduellen Verschiedenheiten. Diese Verschiedenheiten grei - fen, in eine Reihe geordnet, unmerklich ineinander, und die Reihe weckt die Vorstellung von einem wirklichen Ueber - gang, so brauchen wir nur die Benennungen Art, Unter - art, Varietät mit den in der Sprachwissenschaft üblichen (Sprache, Dialekt, Mundart, Untermundart) zu vertauschen und das von Darwin Gesagte gilt vollkommen für die sprach - lichen Unterschiede innerhalb der Sippen, deren allmäh - liches Entstehen wir so eben an einem Beispiele vor Augen geführt haben.

Wie verhält es sich nun aber mit der Ursprünglichkeit der Gattungen, d. h. auf sprachlichem Gebiete, mit der Ursprünglichkeit der den Sippen zu Grunde liegenden Muttersprachen? Wiederholt sich hier dieselbe Erscheinung, die wir an den Sprachen einer Sippe wahrnehmen, stammen auch diese Muttersprachen wiederum von gemeinsamen21 Grundsprachen und schliesslich diese alle von einer ein - zigen Ursprache ab?

Diese Frage würde sich mit mehr Sicherheit entscheiden lassen, wenn wir die Gattungsgrundformen einer grösseren Reihe von Sprachsippen aus ihren Nachkommen nach den Gesetzen des Sprachlebens bereits erschlossen hätten. Vor der Hand fehlt es aber an solchen Präparaten noch so gut als völlig. Indessen lässt sich doch einiges zur Entschei - dung der aufgeworfenen Frage aus Beobachtungen an den vorliegenden Sprachen gewinnen.

Vor allem ist die Verschiedenheit der einzelnen, als solche sicher erkannten, sprachlichen Sippen eine so grosse und derartige, dass an einen gemeinsamen Ursprung der - selben kein vorurtheilsfreier Beobachter denken kann. Kein Mensch ist z. B. im Stande sich eine Sprache vorzustellen, von welcher etwa indogermanisch und chinesisch, semitisch und hottentottisch abstammen könnten; ja selbst aus den Grundformen benachbarter und in ihrem Wesen einiger - maassen ähnlicher Sprachstämme, z. B. aus der semitischen und der indogermanischen Grundsprache, lässt sich keine diesen beiden als Mutter zu zu theilende Sprachform erschlies - sen. Eine so zu sagen materielle Abstammung aller Spra - chen von einer einzigen Ursprache können wir also unmög - lich voraussetzen.

Anders aber steht die Sache in Bezug auf die sprach - liche Form. Sämmtliche höher organisierten Sprachen, also z. B. die indogermanische Sippenmutter, die wir ja erschlies - sen können, zeigen nämlich durch ihren Bau augenfällig, dass sie aus einfacheren Formen durch allmähliche Ent - wickelung hervorgegangen sind. Der Bau aller Sprachen weist darauf hin, dass seine älteste Form im wesentlichen22 dieselbe war, die sich bei einigen Sprachen einfachsten Baues (z. B. beim chinesischen) erhalten hat. Kurz, das, wovon alle Sprachen ihren Ausgang genommen haben, waren Bedeutungslaute, einfache Lautbilder für Anschauungen, Vorstellungen, Begriffe, die in jeder Beziehung, d. h. als jede grammatische Form fungieren konnten, ohne dass für diese Functionen ein lautlicher Ausdruck, so zu sagen, ein Organ, vorhanden war. Auf dieser urältesten Stufe sprachlichen Lebens gibt es also, lautlich unterschieden, weder Verba noch Nomina, weder Conjugation noch Decli - nation u. s. f. Versuchen wir diess wenigstens an einem einzigen Beispiele anschaulich zu machen. Die älteste Form für die Worte, die jetzt im Deutschen That, ge - than, thue, Thäter, thätig lauten, war zur Entsteh - ungszeit der indogermanischen Ursprache dha, denn diess dha (setzen, thun bedeutend; altindisch dha, altbaktrisch da, griechisch ϑε, litauisch und slawisch de, gothisch da, hochdeutsch ta) ergibt sich als die gemeinsame Wurzel aller jener Worte, was hier nicht weiter nachgewiesen wer - den kann; (jeder Sprachforscher auf indogermanischem Ge - biete wird diess jedoch bestätigen.) In etwas späterer Ent - wickelungsstufe des Indogermanischen setzte man, um be - stimmte Beziehungen auszudrücken, die Wurzeln, die da - mals noch als Worte fungierten, auch zweimal, fügte ihnen ein anderes Wort, eine andere Wurzel, bei; doch war jedes dieser Elemente noch selbständig. Um z. B. die erste Per - son des Praesens zu bezeichnen sagte man dha dha ma, aus welchem im späteren Lebensverlaufe der Sprache durch Verschmelzung der Elemente zu einem Ganzen und durch die hinzutretende Veränderungsfähigkeit der Wurzeln dha - dhâmi (altind. dádhâmi, altbaktr. dadhâmi, griech. τίϑημι,23 althochdeutsch tôm, tuom für tëtômi, neuhochdeutsch thue) hervorgieng. In jenem ältesten dha ruhten die verschie - denen grammatischen Beziehungen, die verbale und no - minale sammt ihren Modificationen noch ungeschieden und unentwickelt, wie solches sich bis jetzt bei den Sprachen beobachten lässt, die auf der Stufe einfachster Entwickelung stehen geblieben sind. Eben so, wie mit dem zufällig ge - wählten Beispiele, verhält es sich aber mit allen Worten des Indogermanischen.

Dir und Deinen Collegen kann ich gleichnissweise die Wurzeln als einfache Sprachzellen bezeichnen, bei welchen für die Function als Nomen, Verbum u. s. f. noch keine be - sonderen Organe vorhanden sind und bei denen diese Func - tionen (die grammatischen Beziehungen) noch eben so wenig geschieden sind, als bei einzelligen Organismen oder im Keimbläschen höherer lebender Wesen Athmen und Ver - dauen. 1)Vgl. K. Snell, die Schöpfung des Menschen, Leipzig 1863, S. 81 flg.

Für alle Sprachen nehmen wir also einen formell glei - chen Ursprung an. Als der Mensch von den Lautgebärden und Schallnachahmungen den Weg zu den Bedeutungslauten gefunden hatte, waren diese eben nur Bedeutungslaute, einfache Lautformen ohne alle grammatische Beziehung. Dem Lautmateriale nach aber, aus dem sie bestunden und der Bedeutung nach, die sie ausdrückten, waren diese ein - fachsten Anfänge der Sprache bei verschiedenen Menschen verschieden; dafür zeugt die Verschiedenheit der Sprachen, die aus jenen Anfängen sich entwickelt haben. Wir setzen deswegen eine unzählbare Menge von Ursprachen voraus, aber für alle statuieren wir eine und dieselbe Form.

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Einiger Maassen entsprechend wird es sich wahrscheinlich mit der Entstehung der pflanzlichen und thierischen Orga - nismen verhalten; die einfache Zelle ist wohl die gemein - same Urform derselben, wie die einfache Wurzel die der Sprachen. Die einfachsten Formen des späteren Thier - und Pflanzenlebens, die Zellen, sind wohl auch in einer gewissen Periode des Lebens unseres Weltkörpers als in Menge ent - standen vorauszusetzen, wie in der Welt der Sprachen die einfachen Bedeutungslaute. Diese anfänglichen, weder als Pflanzen noch als Thiere anzusprechenden Formen des or - ganischen Lebens bildeten sich später nach verschiedenen Richtungen hin weiter aus. Eben so die Wurzeln der Sprachen.

Da wir in historischer Zeit beobachten können, dass bei Menschen, die unter wesentlich gleichartigen Verhält - nissen leben, die Sprachen sich im Munde aller sie reden - den Individuen gleichmässig verändern, so nehmen wir dem - zufolge auch an, dass sich die Sprache bei völlig gleich - artigen Menschen auch gleichartig bildete. Denn die oben entwickelte Methode vom Bekannten aus auf das Nicht - bekannte zu schliessen, gestattet uns nicht, für die der un - mittelbaren Beobachtung entrückte Vorzeit andere Gesetze des Lebens vorauszusetzen, als die sind, welche wir in dem unserer Beobachtung zugänglichen Zeitabschnitte wahr - nehmen.

Unter anderen Verhältnissen bildeten sich auch die Sprachen anders und zwar stund aller Wahrscheinlichkeit nach die Verschiedenheit der Sprachen in geradem Verhält - nisse zur Verschiedenheit der Lebensverhältnisse der Men - schen überhaupt. Die Vertheilung der Sprachen auf der Erde muss also ursprünglich eine strenge Gesetzmässigkeit25 gezeigt haben; benachbarte Sprachen müssen sich ähnlicher gewesen sein, als Sprachen von Menschen, die in verschie - denen Welttheilen lebten. Von einem gedachten Punkte aus müssen, je nach der Grösse der Entfernung von diesem Punkte, die Sprachen sich in immer stärker werdender Ab - weichung von der Sprache des Ausgangspunktes gruppiert haben, da mit der räumlichen Entfernung die Verschieden - heit des Klimas und der Lebensverhältnisse überhaupt zu - zunehmen pflegt. Von jener geforderten regelmässigen Vertheilung der Sprachen glauben wir allerdings selbst jetzt noch Spuren wahrnehmen zu können. So zeigen z. B. die amerikanischen Sprachen, die Sprachen der südlichen Insel - welt bei aller Verschiedenheit doch einen unverkennbar ge - meinsamen Typus. Ja selbst im asiatisch-europäischen Welttheile, dessen sprachliche Verhältnisse durch geschicht - liche Vorgänge so stark verändert wurden, sind Gruppen wesentlich ähnlicher Sprachstämme nicht zu verkennen. Indogermanisch, finnisch, türkisch-tatarisch, mongolisch, mandschurisch sowie dekhanisch (tamulisch u. s. f.) zeigen z. B. sämmtlich den Sufixbau, d. h. alle Bildungselemente, alle Beziehungsausdrücke treten an den Auslaut der Wur - zel an, nicht aber vor dieselbe oder in dieselbe (Ausnahmen, wie z. B. das Augment des indogermanischen Verbums, sind nur scheinbar, was hier nicht genauer dargethan werden kann; über das Augment vgl. z. B. Comp. der vgl. Gramm. der indog. Spr. §. 292, S. 567). Bezeichnen wir eine be - liebige Wurzel mit R (radix), ein oder mehrere beliebige Suffixe mit s, Praefixe mit p, Infixe mit i, so können wir uns kürzer fassen, indem wir sagen, dass die Wortform der sämmtlichen genannten Sprachsippen durch die morpholo - gische Formel Rs darstellbar ist; für das Indogermanische26 lautet die Formel genauer Rxs; mit Rx bezeichnen wir nämlich eine beliebige, zum Zwecke des Beziehungsaus - druckes regelmässig veränderbare (steigerungsfähige, poten - zierbare) Wurzel, wie z. B. Band, Bund, Bind-e; Flug, Flieg-e, flog; grabe, grub; riss, reisse; ἔ-λι-πον, λείπ-ω, λέ-λοιπ-α u. s. f. Andere Sprachen zeigen mehr als eine Wortform, so kennt z. B. das Semitische die Wort - formen Rx, pRx, Rxs, pRxs u. s. f. Aber trotz dieses grossen Gegensatzes zum Indogermanischen, der namentlich in der Form pRx (im Praefixbau) ausgesprochen ist, stimmt doch das Semitische wieder darin mit seinem indogermanischen Nachbar überein, dass beide die einzigen bekannten Spra - chen sind, denen mit Sicherheit die Wurzelform Rx zu - kommt. Diese auffallenden Uebereinstimmungen im Baue geographisch benachbarter Sprachsippen halten wir für Nach - wirkungen aus der Zeit des früheren und frühesten Sprach - lebens. Die Entstehungsherde solcher Sprachen, deren Bil - dungsprinzip wesentlich analog ist, glauben wir uns als be - nachbart denken zu müssen. In ähnlicher Weise, wie die Sprachen, zeigen ja auch die Floren und Faunen der ein - zelnen Welttheile einen ihnen eigenthümlichen Typus.

In historischer Zeit sehen wir nun fort und fort sprach - liche Arten - und Gattungen untergehen und andere sich auf ihre Kosten ausbreiten. Ich erinnere beispielsweise nur an die Ausbreitung der indogermanischen Sippe und den Unter - gang der amerikanischen Sprachen. In der Vorzeit, als die Sprachen noch von verhältnissmässig schwachen Bevölker - ungen gesprochen wurden, mag das Aussterben sprachlicher Formen in ungleich höherem Grade stattgefunden haben. Da nun die höher organisierten Sprachen, wie z. B. die in - dogermanische, bereits sehr lange existieren müssen, wie27 diess aus ihrer hohen Entwickelung und aus ihrer jetzigen, bereits schon ausgesprochen senilen Form und der im Gan - zen langsamen Veränderung der Sprachen sich ergibt, so folgt, dass die vorgeschichtliche Lebensperiode der Sprachen eine viel längere gewesen sein muss, als die innerhalb der ge - schichtlichen Zeit fallende. Kennen wir ja doch erst die Sprache von der Zeit an, da die sie redenden Völker sich der Schrift bedienten. Wir haben also für jene Vorgänge des Verschwindens sprachlicher Organismen und der Störung der ursprünglichen Verhältnisse überhaupt einen sehr langen Zeitraum, eine Zeit von vielleicht mehreren Zehntausenden von Jahren vorauszusetzen. 1)Vgl. Deutsche Sprache S. 41 flg.In diesem langen Zeitraume gingen höchst wahrscheinlich viel mehr sprachliche Gattun - gen zu Grunde, als deren gegenwärtig noch fortleben. So erklärt sich auch die Möglichkeit der grossen Ausbreitung einzelner Sippen, z. B. der indogermanischen, der finnischen, der malaiischen, der südafrikanischen u. a., die sich nun auf breitem Boden reich differenzierten. Solcherlei Vorgang nimmt nun Darwin auch für die Pflanzen - und Thierwelt an, er nennt ihn den Kampf ums Dasein. Eine Menge von organischen Formen muste in diesem Kampfe zu Grunde gehen und verhältnissmässig wenigen bevorzugten Platz machen. Lassen wir Darwin selbst reden. Er sagt (Seite 350 flg. ): Die herrschenden Arten der grösseren herrschen - den Gruppen streben viele abgeänderte Nachkommen zu hinterlassen, und so werden wieder neue Untergruppen und Gruppen gebildet. Im Verhältnisse als diese entstehen, neigen sich die Arten minder kräftiger Gruppen in Folge ihrer gemeinsam ererbten Unvollkommenheit dem gemein -28 samen Erlöschen zu, ohne irgendwo auf der Erd-Oberfläche eine abgeänderte Nachkommenschaft zu hinterlassen. Aber das gänzliche Erlöschen einer Arten-Gruppe mag oft ein sehr langsamer Prozess sein, wenn einzelne Arten in ge - schützten oder abgeschlossenen Standorten kümmernd noch eine Zeit lang fortleben können [bei Sprachen pflegt diess in Gebirgen der Fall zu sein, ich erinnere z. B. an das Baskische der Pyrenäen, den Rest einer nachweislich früher weit verbreiteten Sprache; ähnlich verhält es sich im Kau - kasus und sonst]. Ist eine Gruppe einmal untergegangen, so kann sie nie wieder erscheinen, weil ein Glied aus der Generationen-Reihe zerbrochen ist.

So ist es begreiflich, dass die Ausbreitung herrschen - der Lebensformen, welche eben am öftesten variiren, mit der Länge der Zeit die Erde mit nahe verwandten jedoch modifizirten Formen bevölkern, denen es sodann gewöhn - lich gelingt, die Plätze jener Arten-Gruppen einzunehmen, welche ihnen im Kampfe ums Dasein unterliegen.

An diesen Worten Darwins braucht man auch nicht ein einziges zu ändern um sie auf die Sprachen anzuwenden. Darwin schildert in den angeführten Zeilen völlig treffend die Vorgänge beim Kampfe der Sprachen um ihre Existenz. In der gegenwärtigen Lebensperiode der Menschheit sind vor allem die Sprachen indogermanischen Stammes die Sie - ger im Kampfe ums Dasein; sie sind in fortwährender Aus - breitung begriffen und haben bereits zahlreichen andern Sprachen den Boden entzogen. Von der Menge ihrer Arten und Unterarten zeugt der oben angedeutete Stammbaum derselben.

Durch den massenhaften Untergang von Sprachen star - ben nun manche Mittelformen aus, durch die Wanderungen29 der Völker verschoben sich die ursprünglichen Verhältnisse der Sprachen, so dass jetzt nicht selten Sprachen sehr ver - schiedener Form als Gebietsnachbarn erscheinen, ohne dass Mittelglieder zwischen beiden vorhanden sind. So haben wir nunmehr z. B. das vom Indogermanischen völlig ver - schiedene Baskische als Sprachinsel in jenes eingesprengt. Wesentlich dasselbe sagt Darwin von den Verhältnissen der Thier - und Pflanzenwelt (S. 465 flg.).

Diess wäre nun etwa, lieber Freund und College, das, was mir in den Sinn kam, als ich Deinen verehrten Darwin studierte, dessen Lehren Du so eifrig zu vertheidigen und zu verbreiten strebst, wodurch Du, wie ich so eben erfahre, sogar den Zorn glaubenseifriger Tagesblätter auf Dich geladen hast. Begreiflicher Weise konnten es nur die Grundzüge der Darwinschen Anschauungen sein, die auf die Sprachen Anwendung finden. Das Reich der Sprachen ist von dem der Pflanzen und Thiere zu verschieden, als dass die Ge - sammtheit der Darwinschen Ausführungen mit ihren Einzel - heiten für dasselbe Geltung haben könnten.

Desto unbestreitbarer ist aber auf sprachlichem Gebiete die Entstehung der Arten durch allmähliche Differenzierung und die Erhaltung der höher entwickelten Organismen im Kampfe ums Dasein. Die beiden Hauptpunkte der Darwin - schen Lehre theilen also mit mancher andern wichtigen Erkenntniss die Eigenschaft, dass sie auch in solchen Krei - sen sich bewähren, welche anfänglich nicht in Betracht ge - zogen wurden. 1)S. 426 berührt Darwin kurz die Sprachen, in deren Verwandt - schaftsverhältnissen er mit Recht eine Bestätigung seiner Lehre ver - muthet.

Weimar. Hofbuchdruckerei.

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TextDie Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft
Author August Schleicher
Extent32 images; 6362 tokens; 2066 types; 46366 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDie Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft August Schleicher. . 29 S., [1] Bl. : graph. Darst. BöhlauWeimar1863.

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ClassificationFachtext; Sprachwissenschaft; Wissenschaft; Sprachwissenschaft; core; ready; mts

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