PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Zur orientaliſchen Frage oder Soll Europa koſakiſch werden?
Ein Mahnwort an das deutſche Volk
Zweite, um 1 Bogen vermehrte Auflage, in der die neueſten Phaſen der politiſchen Lage berückſichtigt ſind.
Leipzig. Commiſſions-Verlag von R. E. Höhme.
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Vorwort.

Gegen Ende des vorigen Jahres theilte mir ein engliſcher Freund mit, daß in England Verſammlungen ſtattfinden würden, um die ſchwankende Regierung zu energiſchem Vorgehen gegen die ruſſiſche Eroberungspolitik zu drängen, und bat mich um Auskunft über die Stimmung in Deutſchland, ob unſer Volk die ruſſenfreund - liche Haltung des Fürſten Bismarck billige und bereit ſei, falls der ruſſiſch-türkiſche Krieg zum europäiſchen Krieg ſich erweitern ſollte, für Rußland gegen das civiliſirte Europa in die Schranken zu treten. Jch antwortete ihm, das deutſche Volk in ſeiner ungeheueren Mehr - heit verabſcheue den gegenwärtigen Krieg, es verabſcheue das ruſſiſche Czaren - und Knutenthum; nach Neujahr würden Verſammlungen abgehalten werden, welche dem Volke Gelegenheit geben würden, ſeine Meinung und ſeinen Willen zum öffentlichen Ausdruck zu bringen; und ſobald der Reichstag verſammelt ſei, würde von ſozial - demokratiſchen Abgeordneten der Verſuch gemacht werden, für eine Jnterpellation, betreffend die Orientpolitik der Reichsregierung, die nöthige Zahl von Unterſchriften zu erlangen und, falls dies an der Servilität der übrigen Parteien ſcheitern ſollte, auf andere Weiſe eine Diskuſſion der Orientpolitik des Fürſten Bismarck zu veran - laſſen.

Ein kurzer, wenige Zeilen langer Auszug aus meinem engliſch geſchriebenen Briefe, wurde in engliſchen Blättern veröffentlicht, und ging, mehr oder weniger unrichtig überſetzt die Unwiſſenheit dieſer elenden Soldſchreiber iſt womöglich noch größer als ihre Niedertracht in die deutſche Reptilpreſſe über, die, ein wahren Schlammvulkan, mich ſeitdem für das todeswürdige Verbrechen, die patriotiſche Staatsmannſchaft des Fürſten Bismarck angezweifelt zu haben, mit einer Schmutzeruption beehrt. Dieſes Geſindel iſt keiner Antwort werth ſein Schimpfen verräth bloß, daß ich einer wunden Fleck berührt aber meinen Parteigenoſſen bin ich eine Erklärung ſchuldig, und dem deutſchen Volke gegenüber fühle ich die4 Verpflichtung, es vor der Gefahr zu warnen, in welcher, Dank der Politik der Reichsregierung, unſer Vaterland ſchwebt.

Meinen Parteigenoſſen habe ich zu ſagen, daß es mir nicht eingefallen iſt, nicht einfallen konnte, die Partei als ſolche in Bezug auf die orientaliſche Frage nach irgend einer Richtung zu engagiren. Was ich gethan habe, was ich thue und thun werde, that und thue ich auf eigene Fauſt, alle Verantwortlichkeit auf mich nehmend.

An das deutſche Volk aber wende ich mich, weil ich es für ein Culturvolk halte, zu gut, um ſeine Knochen für eine Po - litik zu opfern, die unſeren nationalen Jntereſſen ebenſo feind - lich iſt, wie den Culturintereſſen der ganzen ziviliſirten Welt. Jch will ihm zeigen, daß die einzige Partei, welche eine echt na - tionale, das heißt die Jntereſſen des deutſchen Volkes fördernde Politik hat, gerade die Partei iſt, der man die Leugnung, die Bekämpfung des nationalen Prinzips vorwirft, und daß, ander - ſeits, gerade die Partei, die Politik unſere Nationalintereſſen be - kämpft, ſie dem Erbfreund genannten Erb feind preisgibt, welche ſich mit Vorliebe in den Mantel der Nationalität hüllt.

Man klagt mich an, ich, der Sozialdemokrat, ſei dem eng - liſchen Toryminiſterium zu Hülfe gekommen. Albernes Geſchwatz. Was geht mich Disraeli oder Lord Beaconsfield an? Freuen aber ſoll’s mich, wenn Disraeli oder Lord Beaconsfield dem ruſſiſchen Räuber und Mordbrenner in die Arme fällt. Den Mann, der einem Banditen den zum Stoß erhobenen Dolch aus der Hand windet, frage ich nicht nach ſeinem politiſchen Glaubensbekenntniß.

Warum die Wuth gegen mich? Einfach, weil ich der Ueber - zeugung bin, daß die deutſche Politik Sache des deutſchen Volkes iſt, und nicht Sache des Fürſten Bismarck.

Das iſt freilich Majeſtätsbeleidigung denn die Majeſtät in Deutſchland iſt ja Fürſt Bismarck, an dem die andern Majeſtäten blos hängen, von dem ſie blos abhängen nach Treitſchke’ſch natio - nalliberaler Orthodoxie.

Es ſind faſt 200 Jahre her, ſeit in Frankreich ein König das Wort ausſprach: Der Staat bin ich. Der Menſch, der das frevelhafte Wort geſprochen, hat ein gar trauriges Ende ge - nommen, und ſein Enkel hat Buße thun müſſen im Sack der Guil - lotine für die Sünde des Urgroßvaters.

Das ſind faſt zwei Hundert Jahre her, und uns Deutſchen erdreiſtet man ſich heute, im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, ein vollſtändiges Aufgehen in den Willen eines einzigen Mannes zuzumuthen erdreiſtet ſich uns zuzumuthen, daß wir von dieſem5 einen Mann, der nicht einmal ein Monarch iſt, ſondern nur der Bedienſtete eines Monarchen daß wir von dieſem einen Mann glauben ſollen: er iſt das Reich, er iſt die Allweisheit, er denkt für uns, er handelt für uns erdreiſtet ſich uns zuzumuthen, daß wir Jntellekt, Mannhaftigkeit, Ehre, Alles im blinden Vertrauen auf dieſen einen Mann opfern.

Für wie tief geſunken muß man unſer Volk halten!

Das Beleidigende für unſer deutſches Volk wird noch dadurch verſchärft, daß dieſelben Reptilien, die über die deutſchen Volks - verſammlungen Zeter ſchreien, ihr Anathema auskreiſchen, jedes eng - liſche Winkelmeeting zu Gunſten der ruſſiſchen Politik als ein Ereigniß, als eine geſunde nationale That preiſen. Die Eng - länder haben das Recht, eine Meinung zu haben und zu äußern, die Deutſchen nicht.

Und was die beabſichtigte Jnterpellation im Reichstag angeht hat der Reichstag nicht etwa das Recht, Jnterpella - tionen zu ſtellen? Hat er nicht die Pflicht, Jnterpellationen zu ſtellen, wenn das Vaterland in Gefahr iſt und wenn die ſchlimmſte aller Gefahren das Volk, weil ſyſtematiſch im Dunkel gehalten, die Größe und Natur der Gefahr nicht kennt?

Vor 70 Jahren erſchien in Deutſchland ein Buch, das den Titel trug: Deutſchland in ſeiner tiefſten Erniedrigung. Das deutſche Volk, an ſeine Schmach erinnert, zitterte vor Scham und Zorn; und der korſiſche Despot zitterte vor Angſt: er ließ den Buchhändler erſchießen, der das Buch verlegt. Jch hätte faſt den nämlichen Titel für dieſes Schriftchen gewählt; und er wäre zum mindeſten ebenſo paſſend geweſen wie damals. Deutſchland zu den Füßen Kaiſer Napoleon’s, das war gewiß tiefe Erniedrigung, aber Deutſchland zu den Füßen Czar Alexander’s das iſt noch tiefere Erniedrigung. Der Bezwinger der franzöſiſchen Revolution war auch ihr Erbe, ihr Teſtamentsvollſtrecker, er reformirte, er trieb uns vorwärts, befreite uns von mittelalterlichem Wuſt. Das milde Väterchen dagegen vertritt keine Jdee als das bru - tale, viehiſche Knutenthum, verdeckt hinter heuchleriſchen Phraſen

Doch ich gab den Gedanken auf, weil ich den Jnhalt durch den Titel deutlich bezeichnen wollte.

Jm Augenblick, wo ich dies ſchreibe, ſpitzen die Dinge ſich zu einer Entſcheidung zu. Die nächſten Stunden bringen uns den Frieden oder den europäiſchen Krieg. Aber ſelbſt im günſtigſten Fall, d. h. wenn das ſiegesberauſchte Rußland noch in letzter Mi - nute vor dem gezückten Schwert Englands zurückweichen ſollte, wird6 der Friede nur ein Waffenſtillſtand ſein, den Rußland bricht, ſobald es den paſſenden Moment gekommen glaubt. Die Lawine der orientaliſchen Frage hängt nach wie vor über Europa, und unter den europäiſchen Culturländern iſt es Deutſchland, das am meiſten bedroht iſt, wenn auch der geniale Urheber das Bischen Herzegowina nicht finden kann, daß deutſche Jntereſſen durch den ruſſiſch-türkiſchen Krieg bedroht, oder auch nur berührt ſeien.

W. Liebknecht.
Zunächſt laſſe ich nachſtehend einige Artikel folgen, welche ich ſeit Herbſt 1876 für den Vorwärts die Neue Welt und die Sozialdemokratiſche Correſpondenz geſchrieben habe.
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Die Schande Europas. ( Vorwärts vom 10. Oktober 1876.)

Unter dieſem Titel hat die politiſche Wetterfahne, Emile von Girardin in Paris, ſoeben eine Broſchüre veröffentlicht, in welcher die Girardin’ſche Anſicht über die orientaliſche Frage ausgeſprochen und die Girardin’ſche Löſung empfohlen wird. Die Schande Europas iſt, daß die Türken in Europa ſind; die Schande kann nur dadurch ge - tilgt werden, daß man die Türken aus Europa jagt und Rußland freie Hand läßt. Daß die Türken der angegriffene Theil ſind, daß alle Vorwürfe, die man ihnen macht, mit demſelben, ja theilweiſe mit größerem Recht gegen diejenigen Mächte gerichtet werden können, welche die Vor - würfe machen; daß der Beſitztitel aller Völker genau denſelben Werth hat wie der türkiſche; daß den Türken die Cultur fähigkeit abſprechen ein Unſinn iſt, und daß ihr Cultur ſtand, wenn auch unter dem der entwickeltſten Culturvölker ſtehend, doch dem der Ruſſen und der von dieſen protegirten Stämme des türkiſchen Reichs vollkommen gleich iſt das genirt einen Giradin nicht, und genirt auch den gedankenloſen Haufen nicht, der blind auf die Türken ſchimpft, weil ſie Türken ſind.

Die Schande Europas , das ſind nicht die Türken.

Die Schande Europas iſt, daß es kein Europa mehr giebt , wie ein ausländiſcher Diplomat ſich neulich ausgedrückt haben ſoll. ll n’y a plus d’Europe es giebt kein Europa mehr. Früher gab es in Europa Staaten und ein Staatenſyſtem. Jetzt giebt es nur einen Staat, nur eine Macht Rußland.

Ob wahr oder erfunden, das Wort iſt richtig: es giebt kein Europa mehr, es giebt nur noch ein Rußland eine halbbarbariſche Macht, die ſich gerade ſo viel Civiliſation angeeignet hat, um ihre barbariſchen Ziele mit dem Raffinement der Civiliſation verfolgen zu können. Der brutalſte Raubſtaat, den die Geſchichte kennt, der einzige, welcher der langen, ununterbrochenen Reihe von an der Menſchheit begangenen Ver - brechen keinen der Menſchheit erzeigten Dienſt mildernd an die Seite ſtellen kann, dieſer räuberiſchſte, grauſamſte, heuchleriſchſte aller Raub - ſtaaten darf es wagen, ſich als Vertreter der Menſchheit und der Menſchlichkeit aufzuſpielen, und, die Hände noch rauchend von dem Blute des gemordeten Polen, Krokodilsthränen zu vergießen über die Türken -8 greuel , die zum größten Theil erlogen ſind, für ruſſiſches Geld er - logen, und, ſoweit ſie nicht erlogen, durch die infame ruſſiſche Politik hervorgerufen ſind; und dieſer räuberiſchſte, grauſamſte, heuchleriſchſte aller Raubſtaaten darf ungeſtraft Europa, die Welt, aus einer Panik in die andere ſtürzen, darf den Handel und die Jnduſtrie der zum Aufblühen unentbehrlichen Ruhe und Sicherheit berauben, darf Ver - wickelungen ſchaffen, aus denen jeden Augenblick ein europäiſcher, ein Weltkrieg emporſchießen kann.

Das iſt die Schande Europas !

Oder hat etwa Rußland ſo gewaltige Machtmittel zu ſeiner Ver - fügung, daß das ganze übrige Europa ihm gegenüber machtlos iſt und demüthig die Knute des Czars küſſen muß?

Mit nichten. Die deutſche Armee iſt der ruſſiſchen zum minde - ſten gewachſen. Das Nämliche gilt von der franzöſiſchen Armee. Von den Türken pflegte Urquhart, der beſte Kenner der Türken und Ruſſen, gelegentlich des Krimkriegs zu ſagen: Man laſſe die Ruſſen und Türken ihren Streit unter ſich ausfechten: wenn die Diplo - matie den Türken nicht in die Arme fällt*)Wie es in dieſem Krieg wieder geſchehen. Note des Verf. , werden ſie mit den Ruſſen fertig. Thatſache iſt, daß die Ruſſen bis jetzt faſt keine militäriſchen, faſt blos diplomatiſche Erfolge der Türkei gegenüber errungen, und daß ſie dieſe diplomatiſchen Erfolge weniger der eigenen als der frem - den Diplomatie zu verdanken haben. Was ferner Oeſterreich betrifft, ſo hat es genügende Hilfsquellen, um Rußland in einem Vertheidigungs - krieg ſiegreich die Spitze bieten zu können; und daß England an Macht Rußland nicht nachſteht, weiß, mit Ausnahme des Profeſſors Treitſchke, ein jedes Kind.

Gäbe es ein Europa, d. h. hätten die europäiſchen Culturſtaaten eine gemeinſame Politik, könnte nur einer der großen Culturſtaaten ſein Votum, ohne Gefahr ſeitens der Nachbarn, nachdrücklich zu Gunſten des Friedens in die Wagſchale legen und Rußland ein ener - giſches Halt! zurufen, ſo wären die Kriegswolken längſt zerſtreut ja, ſie hätten ſich gar nicht angeſammelt.

Das Halt! iſt nicht zugerufen worden, und es konnte nicht zuge - rufen werden.

Warum nicht?

Feldmarſchall Moltke triumphirte vor vier Jahren im Reichstag: Ohne Erlaubniß des deutſchen Reichs kann kein Kanonenſchuß in Eu - ropa abgefeuert werden. Dieſe Ueberſetzung einer franzöſiſchen Krat - phraſe in preußiſches Deutſch hat ſich leider als bloße Kraftphraſe er - wieſen. Um die Erlaubniß, in Serbien und Montenegro loszuſchlagen,9 iſt das deutſche Reich nicht gefragt worden, und hätte es ſich zu einem Veto! verſtiegen, ſo wäre homeriſches Gelächter an der Newa die Ant - wort geweſen. Und warum? Wenn Graf Moltke es heute nicht weiß, kann er ſich’s von Fürſt Bismarck ſagen laſſen.

Vielleicht iſt ihm ein Licht aufgegangen, als vor mehreren Wochen ein halbamtliches ruſſiſches Blatt der deutſchen Reichsregierung die freche Drohung an den Kopf warf: Man vergeſſe nicht, daß das deutſche Kaiſerreich 1871 nur mit unſerer moraliſchen Hilfe errichtet werden konnte; das deutſche Reich braucht uns, wir aber brauchen das deutſche Reich nicht. Zeigt Deutſchland ſich undankbar, wohlan, ſo haben wir einen anderen Bundesgenoſſen.

Wer der andere Bundesgenoſſe iſt?

Vergangenes Jahr der Krieg in Sicht - Schrecken iſt in friſchem Gedächtniß hatte man in Berlin die Abſicht, dieſen anderen Bun - desgenoſſen , ehe er ſich von den erlittenen Niederlagen erholt, wieder ganz zu Kräften gelangt, durch einen vom Zaun gebrochenen Krieg zu zermalmen; aber Rußland trat in’s Mittel, es wollte den anderen Bundesgenoſſen auf Lager behalten: der Krieg mußte abkomman - dirt werden.

Der andere Bundesgenoſſe iſt Frankreich.

Und wie iſt es gekommen, daß Frankreich, welches in den fünf - ziger Jahren (1853 1856; der Krimkrieg dauerte von 1854 1856) Hand in Hand mit England den ruſſiſchen Eroberungsgelüſten einen kräftigen Riegel vorſchob, anderthalb Milliarden und 150,000 Soldaten opferte, um Europa von dem großen Ruheſtörer, genannt Rußland, zu befreien, jetzt der andere Bundesgenoſſe dieſes nämlichen Rußland iſt, bereit, auf einen bloßen Wink von St. Petersburg das Werk Ruß - lands zu thun?

Antwort: durch den Krieg von 1870 1871; genauer ausge - drückt! durch die Annexion von Elſaß-Lothringen.

Der Krieg, an deſſen Schwelle wir uns befinden, iſt der vierte, ſeit Fürſt Bismarck mit ſeiner Blut - und Eiſenpolitik regiert. Dieſe vier Kriege ſtehen im innigſten Zuſammenhang, einer iſt aus dem an - deren hervorgewachſen, ſie bilden eigentlich nur einen Krieg. Der von 1866, welcher Deutſchland zerriß und drei Viertel Deutſchlands unter die preußiſche Pickelhaube brachte, war die Folge des Dänenkriegs von 1864; die Saat des deutſch-franzöſiſchen Kriegs von 1870 und 71 wurde 1866 in dem preußiſch-öſtreichiſchen Krieg ausgeſtreut; und die gegenwärtige Weltlage iſt die nothwendige Conſequenz des Kriegs von 1870 / 71.

Nach der Schlacht von Sedan proteſtirte die deutſche Sozialdemo - kratie gegen die Fortſetzung des Kriegs und gegen die von oben her10 organiſirte Volksbewegung zum Zweck der Annexion von Elſaß-Loth - ringen. Der Generalrath der Jnternationalen Arbeiteraſſo - ziation erließ damals ein Manifeſt, in welchem es u. A. heißt:

Wie im Jahre 1865 Verſprechungen ausgetauſcht wurden zwiſchen Louis Bonaparte und Bismarck, ſo im Jahre 1870 zwiſchen Bismarck und Gortſchakoff. Wie Louis Bonaparte ſich ſchmeichelte, der Krieg von 1866 werde ihn durch wechſelſeitige Schwächung Oeſterreichs und Preußens zum Schiedsrichter Deutſchlands machen, ſo ſchmeichelte ſich Alexander, der Krieg von 1870 werde ihn durch gemeinſame Er - ſchöpfung Deutſchlands und Frankreichs zum Schiedsrichter des weſt - lichen Continents machen. Wie das zweite Empire den deutſchen Nord - bund unverträglich mit ſeiner eigenen Exiſtenz glaubte, ſo muß ſich das autokratiſche Rußland durch ein deutſches Reich unter preußiſcher Leitung gefährdet halten. Dies iſt das Geſetz des alten politiſchen Syſtems. Jnnerhalb deſſelben iſt der Gewinn eines Staats der Ver - luſt des andern. Der überwiegende Einfluß des Czaren auf Europa wurzelt in ſeinem traditionellen Halt an Deutſchland. Kann er in einem Augenblick, wo in Rußland ſelbſt vulkaniſche ſoziale Kräfte die Grundlage der Autokratie unterwühlen, einen ſolchen Verluſt ſeines auswärtigen Preſtige ertragen? Bereits wiederholen moskowitiſche Blätter genau die Sprache der bonapartiſtiſchen Blätter nach dem Krieg von 1866. Glauben die teutoniſchen Patrioten ernſthaft, die Unabhängigkeit und den Frieden Deutſchlands dadurch zu garantiren , daß ſie Frankreich in Rußlands Arme werfen? Wenn das Glück der deutſchen Waffen, die Arroganz des Erfolgs und dynaſtiſche Jntriguen zu einer Territorialberaubung Frankreichs verleiten, ſtehen Deutſchland nur noch zwei Wege offen. Es muß auf alle Gefahren hin ſich zum erklärten Werkzeug ruſſiſcher Vergrößerung machen oder nach kurzer Friſt zu einem neuen Vertheidigungs - krieg bereit ſein, nicht einem jener neumodiſchen lokaliſirten Kriege, ſondern einem Racenkrieg, einem Krieg gegen die verbündeten Slaven und Romanen. Das iſt die Friedensperſpektive, welche die hirnkranken Patrioten der Mittelklaſſe Deutſchland garantiren !

Jn demſelben Sinne ſprachen ſich die ſozialiſtiſchen Abgeordneten im deutſchen Reichstag aus, und ſchon am 3. Dezember 1871 machte Liebknecht darauf aufmerkſam, daß der ruſſiſche Kaiſer den bruder - mörderiſchen Krieg Deutſchlands und Frankreichs zur Entzündung der orientaliſchen Frage benutzte.

Die Sache war: Kaum hatte Rußland bemerkt, daß das Bis - marck’ſche Deutſchland zur Annexion, oder deutſch: zur Eroberung von Elſaß-Lothringen entſchloſſen war, ſo notifizirte es den europäiſchen11 Mächten, daß eine Reviſion des Pariſer Vertrags, dieſer bitteren Frucht des Krimkriegs an der Zeit ſein dürfte.

Sobald die Annexion nach furchtbarem Blutvergießen bis auf Weiteres vollendete Thatſache geworden, notifizirte das Petersburger Kabinet den Mächten (auch dem neugebackenen deutſchen Kaiſerreich), daß ſich Rußland durch den Pariſer Vertrag nicht mehr gebunden halte.

Was die ſozialdemokratiſchen Abgeordneten unter dem Gebrüll und Gelächter der ſtaatsmänniſchen Reichstagsmajorität vorausgeſagt, hatte ſich erfüllt: Rußland war der Schiedsrichter Europa’s; das preußiſch-deutſche Reich, eingekeilt zwiſchen die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz, der Schleppträger und Vaſall Rußlands.

Und die ruſſiſchen Staatsmänner ſind nicht die Leute, die ein Opfer ſo leichten Kaufs wieder loslaſſen. Schwer hat in den letzten 5 Jahren die Fauſt Rußlands auf Deutſchland gelegen man denke nur an die ſkandalöſe Behandlung deutſcher Reiſender an der ruſſiſchen Grenze , und Schritt für Schritt iſt Rußland ſeinem Ziel: Con - ſtantinopel näher gerückt. Die Volkserhebung in der Herzegowina und Bosnien war Rußlands Werk; die Kriegserklärung der Zwerg - fürſten von Montenegro und Serbien; die Hinausſchleppung des Kriegs theils durch dem Völkerrecht Hohn ſprechende Unterſtützung der Serben, theils durch diplomatiſche Lahmlegung der Türken; die Auffindung neuer Streitpunkte, wenn ein alter beſeitigt das Alles iſt das Werk Rußlands.

Hätte Rußland allein geſtanden, es hätte dies ſchmachvolle Spiel nicht ſpielen können. Aber es verfügt über die deutſche Allianz, und das iſt es, was dieſe unheilvolle Situation herbeigeführt hat. Ob Fürſt Bismarck gut - oder widerwillig die politiſchen Pfade Rußlands wandelt, iſt in Betreff der Wirkungen vollkommen gleichgültig. Genug: der Bien muß . Parirt er nicht Ordre, ſo droht das Schreckgeſpenſt der ruſſiſch-franzöſiſchen Allianz. Nicht Schreckgeſpenſt, ſondern blutig - eiſerne Realität.

Das ſogenannte Dreikaiſerbündniß verhüllte blos auf kurze Zeit die häßliche Wahrheit. Jm flagranteſten Widerſpruch mit der Logik der Thatſachen, blieb das Dreikaiſerbündniß ein frommer Wunſch, um uns nicht eines härteren Ausdrucks zu bedienen. Kommt es zum Krieg, ſo werden die drei verbündeten Kaiſer nicht auf der nämlichen Seite kämpfen.

Das preußiſch-deutſche Reich aber wird auf Seiten Rußlands ſtehn. Es hat keine andere Wahl. Oder will es ſich aus den tödtlichen Krallen des Erbfeindes befreien? Kein Zweifel, Fürſt Bismarck hat ſchon oft daran gedacht, obſchon die ruſſiſche Diplomatie, durch Bona - parte’s Schickſal gewitzigt, ſich die bindendſten ſchriftlichen Garantien12 verſchafft haben wird. Jndeß Stückchen Papier laſſen ſich zerreißen, und die Politik kennt keine Ehrloſigkeiten. Doch tauſendmal bindender als die bindendſten ſchriftlichen Garantien, ſind die materiellen Garantien, die Rußland in den Händen hat. Die reorganiſirte fran - zöſiſche Armee, welche die 1870 von den Deutſchen geſchlagene Armee Bonaparte’s an Kriegstüchtigkeit ebenſo übertrifft wie an Zahl, kann jeden Moment gegen uns gehetzt werden. Sämmtliche Staatsmänner Frankreichs: der geweſene Präſident Thiers, der gegenwärtige Präſident Mac Mahon, der zukünftige Präſident Gambetta ſind glühende Anhänger der ruſſiſchen Allianz zur Befriedigung der Revanchegelüſte. Gegen die ruſſiſche Allianz ſind in Frankreich überhaupt blos die extremſten Radikalen und die Sozialiſten: beide jetzt ohnmächtig.

Und wo hätte Preußiſch-Deutſchland einen Bundesgenoſſen gegen die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz? Es bleiben blos zwei Groß - mächte! England, das in einem Landkrieg relativ wenig Unterſtützung zu leiſten vermag, und Oeſterreich, das allerdings die erforderlichen Machtmittel beſitzt, aber durch die Gründer des preußiſch-deutſchen Reichs aus Deutſchland hinausgeworfen worden iſt. Kann Fürſt Bismarck Hilfe von der Macht erwarten, der er 1866 ſo ſchwere Wunden und Demüthigungen beigebracht und den Stoß in’s Herz beizubringen verſucht hat?

Man ſagt: Lügen haben kurze Beine.

Mit größerem Recht kann man ſagen: Erfolge der Gewalts - politik haben kurze Beine.

Die glänzenden Erfolge von 1866 und 1870 71 ſind ſchon der Nemeſis verfallen. Und unſere feſtduſeligen Philiſter, welche den heiligen Sedan feiern, werden bald mit Entſetzen gewahr werden, daß die deutſchen Armeen in Frankreich trotz alles Patriotismus nicht für Deutſchland ihr Blut verſpritzt haben, ſondern für Rußland.

Und nun zum Schluß:

Die Schande Europas iſt zuerſt von den Sozialiſten erkannt worden. Die Sozialiſten haben einen richtigeren ſtaatsmänniſchen Blick gezeigt, als die genialen und nicht genialen Staatsmänner von Fach. Der Gang der Ereigniſſe hat den Sozialiſten in allen Punkten Recht gegeben. Er wird uns auch fernerhin Recht geben, denn wir rechnen nicht, gleich unſern Gegnern, mit eingebildeten Faktoren, nicht mit Wünſchen, Neigungen, Abneigungen einzelner Perſonen, wir rechnen mit wirklichen, meßbaren Faktoren, mit den thatſäch - lichen Verhältniſſen und Jntereſſen.

Das Uebel erkannt zu haben, genügt aber nicht. Die Erkenntniß muß zur Ausrottung des Uebels verwerthet werden.

An den Sozialiſten Europas und zunächſt Deutſchlands iſt es:13 auf die Beſeitigung von Zuſtänden hinzuwirken, welche die Schande Europas ſind.

Der Krieg im Orient. (Extra-Beilage zu Nr. 20 der Neuen Welt vom 19. Mai 1877.)

Der Krieg, welcher ſoeben da hinten in der Türkei begonnen hat, iſt der fünfte ruſſiſch-türkiſche Krieg ſeit dem Frieden von Kutſchuk Kainardſchi (21. Juli 1774), welcher die Pforte den Ruſſen geöffnet und ihr bedeutende Gebietsabtretungen an die nordiſchen Eroberer auf - gelegt hatte. Der wievielte ruſſiſch-türkiſche Krieg überhaupt, das läßt ſich in der Geſchwindigkeit gar nicht feſtſtellen. Schon Jahrhunderte bevor Kaiſerin Katharina auf ihrer Reiſe nach Südrußland (1787) an die Landſtraße einen Wegweiſer mit der Jnſchrift ſetzen ließ: Weg nach Konſtantinopel! übte die Wunderſtadt an den Dardanellen eine un - widerſtehliche Anziehungskraft auf die Ruſſen aus. Jn dem ruſſiſchen Chroniſten Neſtor leſen wir (Buch 1, Kap. 3):

Oleg ſetzte (i. J. 907) in Byzanz ſeine Truppen an’s Land, die nach altem Kriegsgebrauche viele Häuſer und Kirchen plünderten und verbrannten und die Menſchen theils niederhieben, theils henkten, theils erſäuften und auf verſchiedene Weiſe marterten. Als er dann einen Tribut feſtgeſetzt, den die Chriſten ihm zahlen ſollten, und ſeinen Heer - ſchild zum Zeichen des Sieges am Thore von Byzanz aufgehängt hatte, zog er wieder ab, mit Plünderungsſchätzen beladen. Jeder Verſuch der Chriſten, ſich von ihren heidniſchen Peinigern zu befreien, wurde durch einen neuen Verwüſtungszug beſtraft. So zog ſchon Oleg’s Nachfolger, Jgor, wieder gegen die Griechen, wobei es noch munterer herging als das erſtemal. Es wurden , erzählt Neſtor, von den Ruſſen viele Kirchen und Klöſter ausgeplündert und zerſtört und viele Menſchen theils in Stücke gehauen, theils erſchoſſen, theils mit Nägeln, die man ihnen in den Kopf ſchlug, unmenſchlicherweiſe ermordet.

Die Ruſſen waren damals noch nicht zum Chriſtenthum überge - treten, wohingegen in Konſtantinopel das Chriſtenthum in vollſter Blüthe ſtand und herrſchte. Dieſer Umſtand allein beweiſt zur Genüge, daß das chriſtliche Mäntelchen, welches die Ruſſen ihren Kriegen gegen die Türkei umzuhängen belieben, eben nur ein Mäntelchen iſt zur Täuſchung des dummen Volks . Prangte noch das Kreuz auf der Hagia Sophia (der heiligen Sophienkirche), wäre nie ein Türke nach Europa gekommen Rußland würde, ebenſo wie dies geſchehen iſt und ge - ſchieht, ſich Konſtantinopels zu bemächtigen geſucht haben und ſuchen. Ein Blick auf die Geſchichte Rußlands und auf die erſte beſte Land -14 karte macht dies klar. Rußland iſt ein Raub - und Erobererſtaat, der nach der Weltherrſchaft ſtrebt, und Konſtantinopel iſt die Pforte , welche es von der Welt abſperrt, und der Schlüſſel, welcher ihm die Welt erſchließt. Rußland gleicht dem Gefangenen, der darüber brütet, ſein Kerkerthor zu ſprengen und jede ſich ihm bietende Gelegenheit be - nutzt. Es iſt einfach Jnſtinkt, der Jnſtinkt des Raubthiers, das aus ſeinem Käfig ausbrechen will. Wer in Konſtantinopel regiert, wird in Wahrheit Herr der Welt ſein heißt es im Teſtament Peters des Großen , dieſem mit ſtaunenswerther Schärfe und Kühnheit entworfenen Programm der ruſſiſchen Politik, welches der Petersburger Diplomatie ſehr unbequem geworden iſt, ſo daß ſie es ſich viel Schweiß und viel Geld koſten läßt, die Echtheit des Aktenſtücks zu beſtreiten. Von Peter dem Großen, der kaum die nöthige Bildung und Fähigkeit gehabt haben dürfte, iſt das ſeinen Namen tragende Teſtament aller - dings wohl ſchwerlich verfaßt ebenſo wenig wie die Jlias und Odyſſee von Homer herrühren aber das ändert nichts an der That - ſache, daß das unter dem Namen Teſtament Peters des Großen berühmt gewordene Aktenſtück (welches wir am Schluß dieſes Artikels zum Abdruck bringen) das Programm der ruſſiſchen Politik iſt, an deſſen Verwirklichung ſie jetzt über anderthalb Jahrhunderte lang mit eiſerner Conſequenz und zäheſter Ausdauer arbeitet. Das Programm wird wenn wir von unweſentlichen, antiquirten (ver - alteten) Punkten abſehen ſo treu und gewiſſenhaft innegehalten, daß ſich auch der nicht Eingeweihte mit Hülfe dieſes Ariadnefadens in dem Labyrinth der ruſſiſchen Diplomatie zurechtfinden, die Schleich - wege erkennen, hinter den verlogenen Phraſen die wahren Zielpunkte entdecken kann.

Militäriſche Lorbeeren haben die Ruſſen in ihren Kämpfen gegen die Türken höchſt ſpärlich geerntet; deſto erfolgreicher war ihre Diplo - matie, die ſich oft das übrige Europa dienſtbar zu machen und wieder - holt ſelbſt Oeſtreich und England, die beiden Mächte, deren Jntereſſen denen Rußlands am antagoniſtiſchſten ſind, als Sturmböcke zu benutzen wußte. Jm Jahre 1829 wäre die ruſſiſche Jnvaſions - Armee bis auf den letzten Mann verloren geweſen, wenn die Türkei nicht durch ihre guten Freunde und natürlichen Alliirten (die ſie ſchon vorher bei Navarino lahm geſchlagen hatten) zum Frieden von Adrianopel gedrängt worden wäre.

Das war der letzte glückliche Türkenkrieg Rußlands. Der Krieg, welchen es 1853 vom Zaune brach natürlich mußte die Religion und Humanitaͤt herhalten bekam den Angreifern ſehr ſchlecht, ſie wurden von den Türken empfindlich geſchlagen, mußten, auf die drohende Aufforderung Oeſtreichs hin, Hals über Kopf die Donauprovinzen15 (Moldau und Walachei zuſammen: Rumänien) räumen, und wurden zu einem Vertheidigungskrieg (hauptſächlich in der Krim) gezwungen, der ihnen ſeitens der Türken und deren Verbündeten: der Engländer und Franzoſen (die vom Großmachtskitzel geplagten Piemonteſen zählen nicht mit für ſie war der Krimfeldzug blos eine politiſche Militär - promenade) eine ununterbrochene Reihe ſchwerer Niederlagen einbrachte und das Preſtige Rußlands zerſtörte. Jm Frieden von Paris (1856) mußte Rußland auf die Donaumündungen verzichten und das Todes - urtheil ſeiner Seemacht im Schwarzen Meere unterzeichnen.

Verſteht ſich, mit dem ſtillſchweigenden Vorbehalt, wieder anzu - fangen, ſobald dies thunlich.

Wir ſammeln uns, ſagte ein ruſſiſcher Staatsmann nach dem Pariſer Frieden. Die ruſſiſche Regierung baute ſtrategiſche Eiſenbahnen, reorganiſirte die Armee und wartete den paſſenden Moment ab.

Die europäiſche Politik ging nach Wunſch ſie war in den richtigen Händen.

Jm Herbſt 1862 trat der in Petersburg wohlbekannte und hoch - geſchätzte Herr von Bismarck an die Spitze des preußiſchen Miniſteriums. Oeſtreich, das 1854 die Ruſſen aus den Donaufürſtenthümern getrieben und ſie aus der Offenſive in die hoffnungsloſe Defenſive gedrängt hatte, fand ſich urplötzlich ſelbſt in die Defenſive gedrängt, ſeine Stellung in Deutſchland gefährdet; die wenig verſchleierten Pläne des neuen preu - ßiſchen Miniſterchefs gingen auf Verwirklichung der großpreußiſchen oder kleindeutſchen Jdee, d. i. Ausſchluß Oeſtreichs aus Deutſchland und Einigung des übrigen Deutſchland unter preußiſcher Führung . Der Dänenkrieg (1864) bereitete die endgültige Auseinanderſetzung des Bismarck’ſchen Preußen mit Oeſtreich vor. Erſteres ſiegte. Deutſchland bis an die Mainline wurde theils direkt, theils indirekt annektirt, die ſüddeutſchen Staaten vorläufig laufen gelaſſen und Oeſtreich aus Deutſch - land geworfen . Was das für Deutſchland bedeutete, geht uns hier nichts an; für Rußland bedeutete es: Durchbrechung des gewal - tigen Damms, den die germaniſche Welt von der Nord - ſee bis an die Adria gegen das Slaventhum gezogen hatte.

Das war 1866.

Noch gab es einen moraliſchen Damm: die Möglichkeit des Zu - ſammenwirkens Deutſchlands mit Weſteuropa. Wohlan, vier Jahre ſpäter wurde auch dieſer Damm durchbrochen die Annexion von Elſaß-Lothringen machte das offizielle Frankreich auf Jahrzehnte hinaus zum Feind des offiziellen Deutſchland und zum Bundesgenoſſen aller Feinde Deutſchlands.

Jetzt hatte Rußland was es brauchte; das ſiegreiche Deutſchland16 hatte ihm Europa zu Füßen gelegt und ſich ſelbſt. Rußland zerriß den Pariſer Friedensvertrag. Es giebt ja kein Europa mehr. Die Petersburger Diplomatie hatte es nun blos noch mit der Türkei zu thun. Die anderen Mächte zählten nicht, weil ſie einander aufhoben. Frankreich und Oeſtreich paralyſirten Deutſchland, Deutſchland paraly - ſirte Frankreich und Oeſtreich alle drei hatten nach der Pfeife Ruß - lands zu tanzen. Und England, das freilich nicht unmittelbar unter dieſem Bann war, wurde wenigſtens in ſeinen Bewegungen gehemmt und daran gehindert, ein nachdrückliches Wort zu ſprechen. Das bis - chen Herzegowina , welches der genialen Staatsmannskunſt des Fürſten Bismarck ein ſo glänzendes Zeugniß ausſtellt, iſt langſam, Jedem ſicht - bar, unter den Augen der civiliſirten Menſchheit, die den Frieden her - beiſehnt, zum ruſſiſch-türkiſchen Krieg geworden, den die Diplomatie ſo lange lokaliſiren wird, bis ihr das entfeſſelte Element die Finger verbrennt und vielleicht noch mehr.

Schon regt ſich’s bei den Neutralen . Nach Oeſtreich ſind Funken hinübergeflogen, und Ungarn ſcheint da und dort Feuer gefangen zu haben. England rüſtet, und Frankreich hat einen von Moltke nicht ſonderlich geſchickt applizirten kalten Waſſerſtrahl aus Berlin nöthig gemacht. Nimmt man hierzu die hartnäckig ſich behauptenden Gerüchte von einer Beobachtung der ruſſiſch-polniſchen Grenze durch preu - ßiſche Truppen, ſo kann der ſimpelſte Durchſchnittsverſtand das Utopi - ſtiſche der Diplomaten-Utopie vom lokaliſirten Krieg mit Händen greifen.

Werden die Ruſſen gewinnen, oder die Türken?

Wir haben keine Luſt, Wahrſcheinlichkeitspolitik zu treiben. Das ſprichwörtliche Pech der Wetterpropheten klebt auch den politiſchen Propheten an. Thatſache iſt: die Türkei beſitzt eine ſehr bedeutende Widerſtandskraft und hat in jüngſter Zeit Hülfsquellen erſchloſſen, die ihre Kraft weſentlich geſteigert haben. Militäriſch, das erwähnten wir bereits, hat Rußland ſich der Türkei nie entſcheidend überlegen gezeigt ſeine Erfolge waren faſt ausſchließlich diplomatiſcher Art. Während des anderthalbjährigen Prologs zu dem gegenwärtigen Krieg hat nun aber die ruſſiſche Diplomatie keineswegs glänzende Leiſtungen verrichtet. Sie hat ſogar notoriſch grobe Fehler begangen und in der türkiſchen Diplomatie ihre Meiſterin gefunden. Midhat Paſcha und deſſen Nachfolger haben Gortſchakoff und Conſorten um ihren diplomatiſchen Ruf gebracht, und der Tölpel Jgnatieff iſt, ähnlich ſeinem offiziöſen militäriſchen Vorläufer, dem Humbug Tſchernajeff, zur lächerlichen Perſon geworden. Der Angriffskrieg Rußlands be - zeichnet diesmal das Ende einer verunglückten diplomatiſchen Campagne das iſt das Neue der Situation. Durch die Revolution der Softas17 und die türkiſche Verfaſſung war die ruſſiſche Diplomatie vollkommen matt geſetzt. Es blieb den Gortſchakoffs und Conſorten blos die Wahl zwiſchen ſchimpflichem Rückzug oder dem Verſuch, den durch ihre Un - geſchicklichkeit unentwirrbar verknäuelten Knoten mit dem Schwert zu zerhauen. Das Schwert war von jeher die ultima ratio, der letzte Grund der ſich bankerut fühlenden Brutalität. Kein Zweifel, die Ruſſen haben mehr Soldaten als die Türken, dafür ſind die türkiſchen Soldaten an ſich den ruſſiſchen überlegen, und bei den ungeheuren Schwierigkeiten, die ſich dem Vormarſch in das Herz der Türkei entgegenſtellen, wird ein großer Theil der ruſſiſchen Angriffstruppen unterwegs aufgerieben oder feſtgehalten werden. David Urquhart, vielleicht der beſte Kenner der Menſchen und Dinge in Rußland und der Türkei, ſpeziell der orientaliſchen Frage, ſchrieb vor dem Krimkrieg: Let Turkey alone and she is sure to win! Man überlaſſe die Türkei ſich ſelbſt, falle ihr nicht in den erhobenen Arm, umwinde ſie nicht mit der ſeidenen Schnur der Diplomatie, und ſie wird mit den Ruſſen fertig.

Doch die Unzufriedenheit unter den Chriſten in der Türkei, die Schilderhebungen in Bosnien, der Bulgarei u. ſ. w.! Gut. Das iſt allerdings ein Faktor, der nicht überſehen werden darf; aber auch nicht überſchätzt. Die Unzufriedenheit der türkiſchen Chriſten iſt zu 99 / 100 eine ruſſiſche Lüge, und das übrige Hundertſtel iſt zu 99 / 100 ruſſiſches Fabrikat. Daß die Aufſtände, welche vor Jahren in türkiſchen Grenzgebieten ausbrachen, von Petersburg aus angeſtiftet waren, iſt aktenmäßig feſtgeſtellt. Der Neid auf ruſſiſche Freiheit wird die türkiſchen Chriſten gewiß nicht zur Jnſurrektion treiben, ſind doch die Chriſten in der heidniſchen Türkei tauſendmal freier als die Chriſten in dem chriſtlichen Rußland und zwar als die Chriſten der Staats kirche, denn die andern ſind nicht blos unterdrückt und verfolgt, ſie ſind vogelfrei.

Und das führt uns zu Polen.

Polen das zerfleiſchte, ſyſtematiſch wehrlos gemachte Polen, das, im Winter 1862 auf 63 durch die Verzweiflung in den Aufſtand gepeitſcht, der geſammten ruſſiſchen Kriegsmacht über ein Jahr lang die Spitze bot, und nur durch die guten Dienſte des unter Bismarck’s Führung ſeine Beſtimmung erfüllenden Preußen niedergeworfen werden konnte iſt Polen todt? Und die Völker des Kaukaſus, voran die helden - müthigen Tſcherkeſſen, die faſt ein Jahrhundert lang die ruſſiſchen Armeen ſiegreich bekämpften, bis ſie dem Verrathe zum Opfer fielen?

Genug das Spiel der unterdrückten Nationalitäten kann auch von Leuten die nicht an der Newa wohnen, geſpielt werden, und von allen Ländern der Erde iſt es das mit der Blutſchuld ſo manchen218Völkermords beladene Rußland, das dieſes Spiel am meiſten zu fürchten hat.

Was wird die nächſte Zukunft uns bringen?

Wie lange wird es dauern, bis der Brand unſerm eigenen Dach naht, es ergreift?

Wird die europäiſche Schachpartie geſpielt werden zwiſchen Preußiſch-Deutſchland und Rußland einerſeits, und Oeſtreich, Frank - reich, England und der Türkei anderſeits? Werden unſere Brüder und Söhne, mit Baſchkiren und Kalmucken zuſammengekoppelt, an der Spitze der Civiliſation zu marſchiren haben?

Was da kommen möge, die barbariſchen Elemente, welche die Kriegsfurie entfeſſelt haben, ſind

ein Theil der Kraft

die ſtets das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft.

Ein Jahrhundert friedlicher Entwicklung hätte die Jmpotenz, die Unmenſchlichkeit, die Jmmoralität, die Widerſinnigkeit der modernen Diplomatie und Staatsmannſchaft nicht ſo draſtiſch, ſo handgreiflich ans Licht der Sonnen gebracht, als dieſer diplomatiſche Hexenſabbath der letzten 18 Monate.

Und nun vorwärts auf der betretenen Bahn!

Während geſunder Menſchenverſtand, Recht, Humanität beſchimpft, die Saaten zerſtampft, die Künſte des Friedens geopfert werden plätſchern am Bosporus, langſam anſchwellend, die Wogen der Revolution, und an der Newa und Wolga bohrt leiſe, unaufhaltſam der Wurm des Sozialismus der Todtenwurm der heutigen Geſellſchaft. Für ewige Zeiten gilt nicht das alte: Delirant reges plectunter Achivi. Die Fürſten raſen und die Völker werden geſchlagen.

Teſtament Peters des Großen.

1. Die Ruſſen müſſen in einem fortwährenden Kriegszuſtande er - halten werden, um die kriegeriſchen Neigungen des Heeres zu bewahren. Keine Ruhe, außer um die Finanzen zu verbeſſern, das Heer zu rekru - tiren und um den geeigneten Augenblick zum Angriff abzuwarten. Auf dieſe Weiſe dient der Frieden für den Krieg und der Krieg für den Frieden, im Jntereſſe der Vergrößerung und des erhöhten Wohlſtandes von Rußland.

2. Wir müſſen auf jede mögliche Weiſe aus den beſtunterrichteten Nationen Europas Generäle für die Zeit des Krieges und Gelehrte für die Zeit des Friedens zu uns heranziehen, damit die ruſſiſche Nation von den Vorzügen der anderen Länder Vortheil ziehe, ohne einen Theil der ihrigen zu verlieren.

19

3. Bei jeder Gelegenheit müſſen wir an den Ereigniſſen und Streitigkeiten jeder Art in Europa theilnehmen, vor allen Dingen an denen Deutſchlands, welches, da es uns am nächſten ge - legen, von dem unmittelbarſten Jntereſſe iſt.

4. Polen muß zerrißen werden, indem wir dort Unordnung und ſtete Eiferſucht erhalten; die Einflußreichen müſſen mit Geld gewonnen werden; der Reichstag muß beeinflußt und beſtochen werden, um auf die Königswahl einzuwirken; wir müſſen für uns dort Anhänger ge - winnen, ſie beſchützen, ruſſiſche Truppen hinſchicken und ſie dort laſſen, bis ſie eine Gelegenheit gefunden haben, für immer dort zu bleiben. Sollten die benachbarten Mächte Schwierigkeiten erheben, ſo müſſen ſie einſtweilen durch Theilung zufriedengeſtellt werden, bis wir ihnen abnehmen können, was wir ihnen bewilligt haben.

5. Wir müſſen von Schweden ſo viel an uns reißen, als wir können, und es bewerkſtelligen, daß wir von jenem Staate angegriffen werden, damit wir einen Vorwand zu ſeiner Unterjochung haben. Jn Rückſicht auf dieſes Ziel müſſen wir Schweden von Dänemark und Dänemark von Schweden trennen, und ihre Eiferſucht ſorgfältig auf - recht erhalten.

6. Die Frauen der ruſſiſchen Prinzen ſind ſtets unter den deutſchen Prinzeſſinnen zu wählen, um die Familienver - bindungen zu vervielfältigen, die Jntereſſen zu vergemeinſchaftlichen und auf dieſe Weiſe Deutſchland an unſere Sache zu feſſeln, indem wir dort unſeren Einfluß verſtärken.

7. Hauptſächlich müſſen wir das Bündniß mit England für den Handel ſuchen, weil dieſe Macht uns am meiſten für ſeine Flotte braucht und uns für die Entwickelung der unſerigen äußerſt nützlich ſein kann. Wir müſſen unſer Bauholz und andere Produkte gegen Englands Gold eintauſchen und zwiſchen Englands Kauf - und Seeleuten und den unſeren ununterbrochene Verbindungen anknüpfen, welche die Kauf - und Seeleute unſeres Landes für die Seefahrt und den Handel bilden werden.

8. Wir müſſen uns ununterbrochen gegen den Norden hin, die Oſtſee entlang und gegen den Süden hin, das ſchwarze Meer entlang, ausdehnen.

9. Wir müſſen ſo weit als möglich gegen Konſtantinopel und (Oſt -) Jndien vorrücken. Wer dort regiert, wird in Wahrheit Herr der Welt ſein. Deshalb müſſen wir fort - während Kriege erregen, bald mit der Türkei, bald mit Perſien; Schiffs - werften am ſchwarzen Meer errichten, nach und nach ſowohl von dieſem Meere als der Oſtſee Beſitz ergreifen, welches zum Gelingen des Pro - jekts doppelt nothwendig iſt. Wir müſſen den Fall Perſiens beſchleu -2 *20nigen, bis zum perſiſchen Meerbuſen vordringen, wo möglich den alten Handel der Levante über Syrien wieder herſtellen, und bis nach Jndien vorrücken, welches das Emporium (der Hauptſtapelplatz) der Welt iſt. Sind wir einmal hier, ſo brauchen wir das Gold Englands nicht mehr.

10. Wir müſſen ſorgfältig die Allianz von Oeſterreich ſuchen und aufrecht erhalten; ſcheinbar ſeine Abſichten auf die künftige Be - herrſchung Deutſchlands unterſtützen und im Geheimen die Eiferſucht der Fürſten gegen Oeſterreich ſchüren. Wir müſſen jeden und alle (die Fürſten) veranlaſſen, Hülfe bei Rußland zu ſuchen, und eine Art von Protektion über das Land ausüben, was unſere künftige Herrſchaft vorbereiten mag.

11. Wir müſſen das Haus Oeſterreich bei der Ver - treibung der Türken aus Europa intereſſiren und ſeine Eiferſucht nach der Eroberung von Konſtantinopel unſchädlich machen, indem wir entweder zwiſchen ihm und den alten Staaten von Europa einen Krieg anfachen, oder ihm einen Theil der Eroberung abtreten, um ihm denſelben ſpäter wieder zu ent - reißen.

12. Wir müſſen alle nichtunirten oder ſchismatiſchen Griechen, welche in Ungarn, der Türkei und dem ſüdlichen Polen zerſtreut ſind, um uns ſammeln. Wir müſſen uns zu ihrem Mittelpunkte, ihrer Stütze machen und auf dieſe Weiſe im Voraus ein allgemeines Ueber - gewicht, eine Art von Königthum oder prieſterlicher Oberhoheit gründen. Die Griechen werden ebenſo viele Freunde im Herzen jedes unſerer Feinde ſein.

13. Nachdem Schweden zerſtückelt, Perſien überwunden, Polen unterjocht, die Türkei erobert, unſere Heere vereinigt, das baltiſche und ſchwarze Merr von unſeren Schiffen überwacht ſind, müſſen wir ge - ſondert und im Geheimen erſt dem Hofe von Verſailles, dann dem von Wien das Anerbieten machen, mit uns die Weltherrſchaft zu theilen. Wenn eine von den beiden Mächten unſer Anerbieten annimmt (was keinem Zweifel unterliegt, wenn wir ihren Ehrgeiz und ihrer Einbildung ſchmeicheln), dann müſſen wir dieſe benutzen, um die andere zu zer - ſtören. Dann müſſen wir ſchließlich die übrigbleibende ver - nichten, indem wir einen Kampf beginnen, deſſen Ausgang nicht zweifelhaft ſein kann, weil Rußland zu der Zeit bereits den Oſten und einen großen Theil Europas beſitzen wird.

14. Wenn, was nicht wahrſcheinlich iſt, beide Mächte den Vor - ſchlag Rußlands zurückweiſen, ſo müſſen wir die eine gegen die andere aufhetzen und beide bis zur Erſchöpfung ſich bekriegen laſſen. Dann wird Rußland den geeigneten Augenblick ergreifen und ſeine in Bereit - ſchaft gehaltenen Truppen über Deutſchland ergießen, während21 zwei beträchtliche Flotten, die eine vom Aſow’ſchen Meere, die andere vom Hafen von Archangel aus, mit aſiatiſchen Horden bemannt, unter der Deckung der bewaffneten Flotten des Schwarzen Meeres und der Oſtſee vorrücken. Auf dem Mittelmeer und dem Ozean vorgehend, werden ſie auf der einen Seite Frankreich überſchwemmen, während ſie auf der anderen Deutſchland angreifen; und wenn dieſe beiden Länder überwunden ſind, ſo wird der Reſt von Europa leicht und ohne Verzug unter das Joch ſich beugen.

Auf dieſe Weiſe kann und muß Europa unterworfen werden.

Krieg in Sicht? ( Socialdemokratiſche Correſpondenz vom 18. Nov. 1877.)

I.

Mitte Juli, als alle Welt glaubte, die Ruſſen würden in wenig Tagen vor Adrianopel, in wenig Wochen vor Konſtantinopel ſtehen, herrſchte große Erregtheit auf diplomatiſchem Gebiete; die engliſche Regierung nahm nachdrücklich Stellung gegen Rußland und die öſter - reichiſche Regierung ließ ſich ſogar in demonſtrativer Weiſe Geld für eine partielle Mobilmachung bewilligen. Eine Jntervention ſchien un - mittelbar bevorſtehend und die Plätze am europäiſchen Schachbrett waren ſchon vertheilt: hier England, Frankreich, Oeſterreich, die Türkei dort Rußland und deſſen neutraler Bundesgenoſſe: das bismarckiſche deutſche Reich. Da brach ſich plötzlich die ruſſiſche Jnvaſionswoge an den Erdwällen von Plewna, die ruſſiſche Eroberungsfluth wurde rückläufig wie die deutſche Reichsfluth , und mit der Furcht vor Rußland verſchwand auch die Furcht vor einem europäiſchen Krieg. So lange das Kriegsglück den Türken lächelte, ſchien die Gefahr einer allgemeinen Verwickelung beſeitigt: mochten die Völker dort hinten in der Türkei einander die Schädel einſchlagen was ſcherte es uns? Die Lokaliſirung des Kriegs galt für eine vollendete Thatſache , an der nicht mehr zu rütteln war das Börſenvolk ſchwamm in einem Meer von Wonne.

Da drehte ſich mit einem Mal das Rädchen der Fortuna; der Kriegsgott, der nach unſeres Reichskanzlers weiſer Bemerkung ſeine Launen hat, entzog den Türken ſeine Gunſt, und im Nu verdüſterte ſich wieder der politiſche Horizont und die alten Befürchtungen ſind wiedergekehrt, und zwar verſtärkt wiedergekehrt. Und nicht ohne Grund.

22

Verſchiedene Zeichen deuten auf Sturm. Man wird ſich erinnern, daß vor einigen Monaten Dr. Guido Weiß in Berlin zu einer Ge - fängnißſtrafe verurtheilt wurde, weil er die Exiſtenz des Dreikaiſer - bündniſſes in Frage geſtellt hatte. Nun, vor wenigen Wochen wurden die Unterhandlungen zwiſchen der deutſchen nud der öſterreichiſchen Regierung behufs Erneuerung des deutſch-öſterreichiſchen Handels - vertrages abgebrochen, und vor wenigen Tagen gab der öſterreichiſche Handelsminiſter Chlumetzky öffentlich im Abgeordnetenhauſe Erklä - rungen ab, welche in der Anklage gipfelten, daß die deutſche Regierung durch ihr brüskes Vorgehen das Scheitern der Verhandlungen herbei - geführt habe. Dieſe ſchwerwiegende Anklage iſt bisher nicht widerlegt worden, und der Verſuch einiger liberalen Zeitungen, die Schuld des Scheiterns auf die öſterreichiſche Regierung und deren ſchutz - zöllneriſche Tendenzen zu wälzen, kann angeſichts der notoriſchen ſchutzzöllneriſchen Tendenzen des Fürſten Bismarck nur mitleidiges Lächeln erregen. Jetzt predigt man ſchon offen den Zollkrieg zwiſchen Deutſchland und Oeſterreich.

Unter ſolchen Verhältniſſen noch an das Dreikaiſerbündniß glauben, heißt für das Jrrenhaus reif ſein.

Kein Zweifel: die neuerlichen militäriſchen Erfolge Rußlands haben die Beſorgniſſe Oeſterreichs wieder erweckt, und weder der Unterredung des deutſchen Kaiſers mit ſeinem öſterreichiſchen Bruder , noch der des deutſchen Reichskanzlers mit ſeinem öſterreichiſchen Kollegen iſt es gelungen, die öſterreichiſche Regierung davon zu überzeugen, daß es in ihrem Jntereſſe wäre, die Orientpolitik der Ruſſen zu unterſtützen und allen Abſichten derſelben auf die Türkei Vorſchub zu leiſten. Oeſter - reich hat aufgehört, der von Bismarck vorgeſchriebenen gebundenen Marſchroute widerſtandslos zu folgen das iſt eine Thatſache, die heute feſtſteht.

Nicht minder bedeutungsvoll iſt die geradezu drohende Haltung, welche England in jüngſter Zeit angenommen hat. Bei Gelegenheit des letzten Lordmayor’s-Feſtes in London (am 9. November) beſchul - digte der Lord-Oberrichter Englands den deutſchen Reichskanzler un - verblümt des Zuſammengehens mit Rußland, und ſprach von einem deutſch-ruſſiſchen Bündniß zur Theilung der Tür - kei, welches Fürſt Bismarck abgeſchloſſen habe. Etwas diplomatiſcher, aber in ähnlichem Geiſt äußerte ſich der Chef des engliſchen Miniſteriums, Disraeli ( Lord Beaconsfield ), der in nicht mißzuverſtehenden Worten für die Unabhängigkeit und Jntegrität der Türkei in die Schranken trat.

Daß der Standpunkt Frankreichs in der orientaliſchen Frage weſentlich mit dem engliſchen übereinſtimmt, iſt ſo bekannt, daß wir uns nähere Auseinanderſetzungen erſparen können. Genug: die Parteien23 am europäiſchen Schachbrett haben ſich wieder gruppirt dort Oeſterreich, England, Frankreich, die Türkei hier Rußland und das deutſche Reich.

Die Situation iſt ernſt es wäre thöricht, wollten wir uns darüber ſelbſt belügen.

Dank der Bismarck’ſchen Politik befindet das deutſche Reich ob eine förmliche Allianz exiſtirt, iſt gleichgültig ſich in politiſcher Abhängigkeit von Rußland. Statt die kritiſche Lage Rußlands im Spätſommer und Frühherbſt dazu zu benutzen, Deutſchland von Rußland zu emanzipiren, hat Fürſt Bismarck ſie, umgekehrt, dazu benutzt, ſeine Politik vollſtändig mit der ruſſiſchen zu identifiziren. Das ganze civiliſirte Europa ſchaart ſich gegen unſeren Erbfreund und natürlich auch gegen deſſen Helfershelfer zuſammen, und es frägt ſich nun, ob das deutſche Volk, falls Europa ſich wirklich dazu ermannen ſollte, der ruſſiſchen Mordbrennerei ein Ziel zu ſetzen, ob das deutſche Volk dann gewillt iſt, dem Väter - chen , an deſſen Händen ſeit kaum einem halben Jahr das Blut einer Viertelmillion Menſchen klebt, Heerfolge zu leiſten, und Hand in Hand mit dem Barbarenſtaat Rußland an der Spitze der Civiliſation der Knute zu marſchiren?

II. ( Socialdemokratiſche Correſpondenz vom 19. Nov. 1877.)

Die vollſtändige Jſolirtheit des deutſchen Reichs in der gegen - wärtigen europäiſchen Kriſe iſt eine ſo augenfällige Thatſache, daß ſelbſt die Bismarck’ſche Norddeutſche Allgemeine Zeitung bereits von einer gegen Deutſchland gerichteten Quadrupel-Allianz zu reden beginnt. So viel ſteht feſt, von allen geflügelten Worten unſeres genialen Staatsmannes hat keines ſich beſſer bewahrheitet als das anläßlich der Annexion von Elſaß-Lothringen geſprochene: Geliebt ſind wir nir - gends. Der Beiſatz: aber überall gefürchtet (das war wenig - ſtens der Sinn) hat nicht ſo gut Farbe gehalten. Nein, wir ſind nir - gends geliebt. Wenn wir von unſerem ſauberen Erbfreund abſehen, der ſich gleich dem Meergreis in Tauſend und Eine Nacht auf unſeren Rücken geſchwungen hat und uns mit ſeiner Umarmung zu er - droſſeln droht, finden wir überall Mißtrauen, Abneigung, Haß. Jn Oeſterreich, England, Frankreich herrſcht abſolute Einſtimmigkeit in Be - urtheilung und Verurtheilung der deutſchen Politik. Und das ſind die einzigen Staaten, die ins Gewicht fallen. Sollte Jtalien berufen werden, eine aktive Rolle zu ſpielen, ſo würde es entweder als Anhängſel Frank -24 reichs oder als Anhängſel Rußlands figuriren, immer als Anhängſel, das für ſich allein nicht gerechnet wird. Auch in Oeſterreich thut man ſich noch einigen Zwang an, indeß melden doch ſelbſt reichstreue Blätter, daß in Wien die Aufregung über den brüsken Abbruch der Handelsvertrags-Unterhandlungen ſehr groß ſei. Ganz ungenirt äußert ſich aber die Erbitterung in England. Der Reden beim letzten Lord - mayor’s-Feſt wurde ſchon erwähnt. Wie nachträglich gemeldet wird, kam es bei jener Gelegenheit zu einer förmlichen Demonſtration. Es waren gegen 1000 Perſonen aus allen Klaſſen und Parteien verſammelt; als der türkiſche Botſchafter erſchien, wurde ihm eine förmliche Ovation zu Theil, während andererſeits die gegen Rußland und Preußen reſp. Deutſchand gerichten Stellen mit Gelächter und Hohn aufge - nommen wurden. Der deutſche Geſandte, der wiſſen muß, woher der Wind bläſt, hatte es wohlweislich vorgezogen, durch Abweſenheit zu glänzen.

Was die gegen Fürſt Bismarck geſchleuderte Anklage des engliſchen Lordoberrichters (Allianz mit Rußland zur Theilung der Türkei) be - trifft, ſo haben wir dabei natürlich nicht an eine Theilung zwiſchen Preußiſch-Deutſchland und Rußland zu denken. Eine ſolche Abſurdität konnte dem engliſchen Staatsmann nicht einfallen. Der Plan, welchen er dem Fürſten Bismarck in die Schuhe ſchiebt, iſt: Zerſtückelung der Türkei durch Errichtung ſchein-unabhängiger Staaten, die in Wirklichkeit ruſſiſche Vaſallenſtaaten wären. Aber, wendet viel - leicht der Eine und Andere ein, Fürſt Bismarck iſt doch nicht ſo uneigennützig, blos für ruſſiſchen Nutzen zu arbeiten. Das glaubt auch der engliſche Lordoberrichter nicht. Allein er glaubt, daß, wenn einmal die Türkei zerdrückt und die ganze ſlaviſche Welt unter ruſſiſche Botmäßigkeit gebracht iſt, Oeſterreich nicht fortexiſtiren kann, und Deutſch-Oeſterreich dann von ſelbſt an das Deutſche Reich fallen, die übrigen Beſtandtheile Oeſterreichs dagegen in dem ſlaviſchen Urbrei auf - gehen würden. Und das iſt durchaus nicht unvernünftig.

Wir ſehen, was man der deutſchen Politik im Auslande zutraut. Daß das Mißtrauen unbegründet ſei, wird im Ernſt Niemand behaupten.

Ob die Furcht, auf welche Fürſt Bismarck nach dem Vorbild jenes römiſchen Despoten einſt baute (oderint dum metuant ſie mögen mich haſſen, wenn ſie mich nur fürchten) noch vorhanden iſt und die Wirkungen der nicht vorhandenen Liebe erſetzt, das dürfte zum Mindeſten zweifelhaft ſein. Was man bis zum Sommer dieſes Jahres fürchtete, das war das mit dem größten Militärſtaat der Welt verbündete Deutſche Reich. Seidem iſt nun in Bulgarien und Rumänien der unwiderlegliche Beweis geliefert worden, daß jener25 größte Militärſtaat in der That nur ein Rieſe mit thönernen Füßen iſt, der alle ſeine Kräfte zuſammenzunehmen hat, um mit der Türkei, die doch höchſtens eine Militärmacht dritten Ranges iſt, fertig zu werden. Dieſes Rußland hat aufgehört, in dem Sinne, wie es einer Allianz des übrigen Europa gegenüber nothwendig wäre, bündniß - fähig zu ſein, um einen Ausdruck zu brauchen, deſſen Fürſt Bismarck ſich vor einigen Jahren mit Bezug auf Frankreich bedient hat. Das weiß man im Ausland, und läßt ſich darum nicht mehr durch die Bismarck’ſche Neutralitäts - Politik ins Bockshorn jagen.

Die Sache ſteht gegenwärtig ſo: England und Oeſterreich ſind entſchloſſen, unter gewiſſen Bedingungen zu interveniren und Rußland Halt! und Zurück! zu gebieten. Die Frage iſt nun: Wird Fürſt Bismarck, ſeiner bisherigen Politik getreu, eine ſolche Jntervention als einen Bruch der Neutralität bezeichnen und im Namen der Neu - tralität für Rußland Partei ergreifen? Thäte er dies und bis zum vorigen Juli wurde es in Wien als ausgemachte Sache betrachtet ſo würde allem Vermuthen nach Frankreich ſofort an die Seite Englands und Oeſterreichs treten.

Können wir den Fürſten Bismarck der ſelbſtmörderiſchen Unklugheit fähig halten, das deutſche Reich, ohne Bundesgenoſſen in einen Krieg mit Oeſterreich, Frankreich und England zu verwickeln? Wir ſagen: ohne Bundesgenoſſen, denn Jtalien zählt militäriſch nicht und Rußland braucht ſeinen letzten Mann in der Türkei und um Polen nieder zu halten. Ja, ſein letzter Mann wird nicht ausreichen war das großmächtige Rußland doch 1862 3, als die Polen ſich unter den denkbar ungünſtigſten Bedingungen erhoben hatten, nicht ſtark genug, den Aufſtand zu dämpfen, der ſchließlich nur mit preußiſcher Hülfe Fürſt Bismarck war kurz vorher an die Spitze der Regierung gekommen bewältigt werden konnte. Wenn jetzt, in Verbindung mit einem europäiſchen Krieg, Polen ſich erhübe und von England und Oeſterreich direkt, von Frankreich indirekt unterſtützt würde, ſo müßte eine zahlreiche deutſche Armee an unſeren Oſtgrenzen konzentrirt und zur Unterdrückung des Aufſtandes verwandt werden.

Wir nannten ſoeben Oeſterreich es dürfte gerade jetzt opportun ſein, daran zu erinnern, daß die öſterreichiſche Re - gierung während des Krimkrieges den Engländern und Franzoſen gegenüber ſich bereit erklärt hatte, Galizien frei zu geben und für die Wiederherſtellung Polens einzutreten, da dies das einzige Mittel ſei, Europa und ſpeziell Oeſterreich von dem ruſſiſchen Alp zu befreien.

26

Was man vor 23 Jahren in Wien für nöthig hielt, kann es unter ähnlichen Bedingungen nicht auch heute als nöthig erkannt werden?

Kurz, Deutſchland hätte aller Vorausſicht nach nicht nur keine Hülfe von Rußland zu erwarten, ſondern ſogar Rußland noch Hülfe zu leiſten. Es hätte alſo mit geſchwächten Kräften zugleich Frankreich, Oeſterreich und England zu bekämpfen. Die Partie iſt ſo unegal, daß man die Möglichkeit, auf ſie einzugehen, leugnen möchte.

Und doch!

III. ( Socialdemokratiſche Correſpondenz vom 22. November 1877.)

Die ſoeben gemeldete Erſtürmung von Kars wird unzweifel - haft in England einen tiefen Eindruck hervorbringen und den Jnter - ventionsabſichten des Miniſteriums Disraeli kräftigen Vorſchub leiſten. Man hat ſich in Deutſchland daran gewöhnt, die Macht Englands und des jetzigen Tory-Kabinets in nicht zu rechtfertigender Weiſe zu unter - ſchätzen. Seit den Kriegen gegen den erſten Napoleon, in denen Eng - land eine leitende Rolle ſpielte, haben die Hülfsquellen Englands, wie die Statiſtik zeigt, in höherem Maße zugenommen als die der übrigen Großmächte Europas, und es fehlt alſo jeder vernünftige Grund für die Annahme, England ſei aus ſeiner früheren Macht-Stellung entweder freiwillig herabgeſtiegen oder von ihr herabgedrängt worden. Ebenſo haltlos iſt die weitverbreitete Annahme, das Torykabinet habe mit ſeiner antiruſſiſchen Politik die öffentliche Meinung gegen ſich, die durch Herrn Gladſtone und Konſorten repräſentirt werde. Es gehört eine vollſtän - dige Unkenntniß der engliſchen Verhältniſſe dazu, um das Gewinſel und Gezeter einer Handvoll ehrgeiziger Stellenjäger, vaterlandsloſer Bourgeois, vernagelter Pfaffen und philanthropiſcher Schwärmer für die Stimme Englands zu halten. Herr Gladſtone iſt, trotz ſeiner krampfhaften Anſtrengungen, ohne jeglichen Einfluß auf den Gang der Staatsgeſchäfte und hat ſich durch ſeine Agitation zu Gunſten Ruß - lands, aller Wahrſcheinlichkeit nach, auch für den Reſt ſeines Lebens politiſch unmöglich gemacht. Und was die Türkengreuel-Bewegung angeht, ſo iſt das eine Tages - und Modeepidemie wie jede andere.

Vor dem Krimkrieg hatten wir genau dieſelbe Erſcheinung; damals ſchon ſpielte Gladſtone, wenn auch weniger geräuſchvoll und weit vorſichtiger, dieſelbe Rolle wie heute, und er hatte zu Helfers - helfern die zwei geübteſten, und in bürgerlichen Kreiſen populärſten, Agitatoren Englands, die zwei Häupter der Anticornlaw-League (Liga gegen die Korngeſetze): Cobden und Bright, welche die Agita -27 tion zu beſorgen hatten, die Herr Gladſtone jetzt ſelbſt beſorgen muß. Dieſe zwei Muſterliberalen und Muſtergeſchäftsleute floſſen über von Zärtlichkeit für den milden Czar (der damals Nikolaus hieß), faſelten von ruſſiſcher Humanität und Kultur , ſchilderten die Türkei als durch und durch verfault und barbariſch und lachten Jeden aus, der da ſo ketzeriſch war, zu behaupten, Rußland verfolge Er - oberungszwecke und bedrohe durch ſeine Politik auch die engliſchen Jntereſſen. Die Herren ſchrien ſo laut, daß kein anderes Wort gehört wurde, und wer England nicht kannte, mußte allerdings glauben, ganz England ſtünde hinter Cobden, Bright und Compagnie. Da mit einem Schlage änderte ſich die Scene: der Moment der Entſcheidung kam, England mußte entweder auf ſeine Machtſtellung verzichten, als Großmacht abdanken, oder es mußte das Schwert ziehen. John Bull beſann ſich keine Sekunde die Peace at any price men (Männer des Friedens um jeden Preis die Sentimentalitätsdusler und Geſchäfts - politiker waren im Nu bei Seite geſchoben, weggefegt von der poli - tiſchen Bühne die handwerksmäßig gemachte öffentliche Meinung verſchwand wie im Handumdrehen vor der wirklichen, echten Meinung des engliſchen Volkes, und bei Alma und Jnkerman be - wieſen die Engländer, daß ſie noch die alten ſind.

Wie in Oeſterreich die Lage aufgefaßt wird, erhellt aus der uns von zuverläſſigſter Seite zugegangenen Nachricht, daß am 12. d., alſo Montag vor 8 Tagen, unter dem Vorſitz des Kaiſers, ein außer - ordentlicher Miniſterrath ſtattfand, und die ſofortige Mobili - ſirung von drei Armeekorps beſchloß*)Dieſe Nachricht war ungenau: nicht die Mobilmachung, ſondern nur die Vorbereitung zur Mobilmachung wurde beſchloſſen., welche in Sieben - bürgen, Slavonien und Dalmatien an der Grenze aufgeſtellt werden ſollen.

Kurz, die Ereigniſſe drängen zu einer Kriſis.

Um die gegenwärtige Lage richtig zu beurtheilen, müſſen wir uns zwei Thatſachen vor Augen führen.

Erſte Thatſache: Die Politik des deutſchen Reichs, oder ſagen wir es lieber heraus: die Politik des deut - ſchen Reichskanzlers hat die Lage geſchaffen, auf Grund deren der ruſſiſch-türkiſche Krieg möglich wurde. Ohne die Lostrennung Oeſterreichs von Deutſchland im Jahre 1866, und ohne die Kluft, welche der 1870 / 71er Krieg und die Annexion von Elſaß-Lothringen zwiſchen Deutſchland und Frankreich erzeugt, hätte Rußland nimmermehr wagen können, ſeine Eroberungspolitik der Türkei gegenüber wieder aufzunehmen.

28

Zweite Thatſache: Ohne die famoſe Rückendeckung durch das deutſche Reich, die in der Sprache unſeres Reichskanzlers Neutralität heißt, hätte Rußland den Krieg nicht führen können.

Abgeſehen von Jtalien, das nicht zählt ſind ſämmtliche euro - päiſche Mächte, außer Deutſchland, zweifellos Gegner der ruſſiſchen Politik. Warum haben ſie trotzdem den Krieg ruhig vom Zaun brechen laſſen? Einfach, weil ſie durch die Bismarck’ſche Politik lahm gelegt wurden. Der öſterreichiſchen Regierung wurde die Schlinge des Drei - kanzlerbündniſſes um den Hals geworfen, und was dieſe Schlinge nicht bewirkte, das bewirkte die Angſt vor einem kühnen Griff nach Wien und Deutſch-Oeſterreich. Frankreich empfing aus Berlin einen Strahl kalten Waſſers nach dem anderen, und mußte dem ſchwierigen Problem, einen Krieg mit Deutſchland zu vermeiden, ſeine ganze Aufmerkſamkeit zuwenden. England konnte für ſich allein nicht zur Aktion ſchreiten.

Aus obigen zwei Thatſachen folgert nun die dritte Thatſache, daß jetzt, nachdem zum Mindeſten zwei der genannten drei Mächte den Willen zu erkennen gegeben haben, Rußland nicht länger freie Hand zu gewähren, ein europäiſcher Krieg nur dann zu befürchten iſt, wenn Fürſt Bismarck direkt auf Sei - ten Rußlands tritt.

Trotz der notoriſchen ruſſiſchen Sympathien unſeres Reichskanzlers glauben wir nicht, daß er freiwillig und gern Rußland in der bis - herigen Weiſe unterſtützt hat: die Dienſte, welche er dem Erbfreund geleiſtet, waren die nothwendigen Konſequenzen der Blut - und Eiſen - volitik von 1866 und 1870 / 71. Verweigerte er Rußland die geheiſchte Unterſtützung, ſo drohte ihm eine ruſſiſch-franzöſiſche Allianz.

Wohlan Dank der unerwarteten Widerſtandskraft, welche die Türkei, und der ebenſo unerwarteten Schwäche, welche Ruß - land in dieſem Kriege entwickelt hat, kann die Gefahr eines ruſſiſch - franzöſiſchen Bündniſſes als beſeitigt gelten. Und das iſt ein großes Glück für Deutſchland und die Welt.

Unglücklicher Weiſe macht Fürſt Bismarck keine Miene, dieſen Vortheil auszunutzen. Jm Gegentheil: er thut ſein Mögliches, um das ruſſiſche Preſtige und die ruſſiſche Macht wieder herzuſtellen.

Wie das zu erklären iſt: ob Fürſt Bismarck ſich irgend ge - bunden hat, ob vielleicht die Affaire Benedetti zur Abwechſelung einmal umgedreht worden iſt wir wiſſen es nicht.

Aber wir wiſſen, daß Fürſt Bismarck noch immer auf’s Eifrigſte die ruſſiſche Politik unterſtützt. Die Folge davon iſt: an die Stelle der Gefahr eines ruſſiſch-franzöſiſchen Bündniſſes29 iſt die Gefahr einer europäiſchen Allianz gegen das deutſche Reich gerückt.

Soll das deutſche Volk in einer ſolchen Situation die Hände in den Schooß legen? Die Volks vertretungen in den verſchiedenen deutſchen Ländern, namentlich in Preußen, haben kein Auge für die Wetterwolken, die ſich über unſerem Vaterlande zuſammenziehen. Das Volk ſelbſt muß ſich regen. Und Pflicht unſerer Preſſe und unſerer Agitatoren iſt es, ihm die Gefahr zu zeigen, es zu einem nachdrücklichen Proteſt gegen die Politik zu be - ſtimmen, welche uns in eine nationale Kataſtrophe zu ſtürzen droht.

Zur politiſchen Lage. ( Socialdemokratiſche Correſpondenz vom 20. Dezember 1877.)

Das Vermittlungsgeſuch, welches die Pforte an die europäiſchen Mächte gerichtet hat, iſt den Leitern der ruſſiſchen Politik und deren Agenten ſehr ungelegen gekommen. Jm ruſſiſchen Lager rechnete man darauf, daß die Pforte die Hoffnung nicht nur auf erfolgreiche Fort - ſetzung des Krieges, ſondern auch auf die Jntervention neutraler Mächte aufgeben und in ihrer Verzweiflung ſich Rußland zu Füßen werfen und demüthig aus ſeinen Händen die ſeidne Schnur in Geſtalt eines Separatfriedens hinnehmen würde. Dieſe Erwartung hat ſich nicht erfüllt. Statt die Flinte ins Korn zu werfen, bereitet die Türkei ſich zum äußerſten Widerſtand vor, und ſtatt durch einen Separatfrieden mit Rußland den Harikari (den nobeln japaneſiſchen Selbſtmord durch Bauchaufſchlitzen) elegant zu vollziehen, macht die Pforte den Krieg mit Rußland zu einer europäiſchen Angelegenheit, ſtellt ſich unter den Schutz des Völkerrechts und zwingt die europäiſche Diplomatie, nament - lich die Signatar - (unterzeichnenden) Mächte des Pariſer Friedens, Farbe zu bekennen. Durch dieſen Frieden wurde in bündigſter Form die Jntegrität (Gebietsunverletzlichkeit) der Türkei garantirt.

Nun ſind Verträge und diplomatiſche Garantieen an ſich zwar keinen Schuß Pulver werth (hätten wir das nicht ſchon früher gewußt, ſo würden wir es in den letzten dritthalb Jahren durch Rußland und die ruſſiſchen Satelliten gelernt haben) allein wenn hinter Ver - trägen und diplomatiſchen Garantieen reale Jntereſſen ſtehen, dann iſt es doch ein anderes Ding. Und von dreien der Mächte, an welche die Pforte ſich wendet, läßt ſich mit Beſtimmtheit ſagen, daß ſie ein ſehr reales Jntereſſe haben, den Pariſer Vertrag, inſoweit er der Zer - bröckelung oder Vernichtung der Türkei durch Rußland entgegen ſtrebt,30 aufrecht zu erhalten. Dieſe drei Mächte ſind England und Frankreich, die eigentlichen Urheber des Pariſer Vertrages, und Oeſterreich, das noch weit direkter berührt iſt als die beiden erſt genannten Mächte, inſofern ihm die orientaliſche Frage nicht eine bloße politiſche Macht - frage, ſondern in des Wortes vollſter Bedeutung eine Exiſtenzfrage iſt. Rußland in der einen oder andern Form Herr der untern Donau, ſchnürt die Lebensadern des öſterreichiſchen Reiches zu, und Rußland, der ſiegreiche Hort des Panſlavismus, muß auf das zur Hälfte aus ſlaviſchen Elementen beſtehende und ganz mit ihnen durchſetzte Oeſter - reich ähnlich wirken, wie der Magnetberg auf das Schiff Sindbad’s in Tauſend und eine Nacht.

Auch die vierte europäiſche Großmacht, das ſogenannte deutſche Reich, hat ein weſentliches Jntereſſe an der Aufrechterhaltung des Pariſer Vertrags und der Zurückdämmung Rußlands, denn die Donau iſt nicht bloß ein öſterreichiſcher, ſie iſt auch ein deutſcher Strom; das durch die Bismarck’ſche Blut - und Eiſenpolitik von dem übrigen Deutſchland gewaltſam losgetrennte Oeſterreich gehört zu Deutſch - land, das ohne Oeſterreich ſtets nur ein Rumpf-Deutſchland ſein wird; und alle Jntereſſen, die jetzt Oeſterreich im Orient zu verfechten hat, freilich ſehr ſchlecht verficht, ſind deutſche Jn - tereſſen. Allein die Bismarck’ſche Blut - und Eiſenpolitik iſt noch an der Herrſchaft, ſie kennt keine Jntereſſen Deutſchlands im Orient, ſie überläßt Oeſterreich ruhig der Ueberfluthung, der Wegfluthung durch das Slaventhum, und begnügt ſich mit der beſcheidenen Rolle, Ruß - lands Sache bei den neutralen Mächten zu vertreten und ihm Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen. Kurz, in Deutſchland giebt es jetzt keine deutſche Politik Deutſchland treibt ruſſiſche Politik und kann vorläufig blos als ruſſiſches Appendix (Anhängſel) betrachtet werden.

Welche Wirkung wird nun das Vermittelungsgeſuch der Türkei haben? Der ſichtliche Aerger, mit dem die deutſch - und ruſſiſch-ruſſiſche Preſſe von demſelben ſpricht, beweiſt, daß dieſer Schritt der ruſſiſchen Diplomatie ernſthafte Beſorgniſſe eingeflößt hat. Und zwar iſt es England, deſſen Jnitiative ſie trotz aller Spöttereien über den alt gewordenen, zahnloſen britiſchen Löwen fürchtet. Die ſoeben erfolgte Veröffentlichung der vor dem Krimkriege gegen die ruſſiſche Eroberungs - politik gerichteten Denkſchriften des verſtorbenen Mannes der Königin von England des Prinzen Albert wird mit Recht als ein be - deutſames Symptom aufgefaßt; es iſt bekannt, daß die Königin von England einen förmlichen Kultus mit ihrem verſtorbenen Gemahl treibt und es für eine heilige Pflicht hält, in deſſen Sinne zu handeln; und wenn ſie auch nach der Verfaſſung nicht unmittelbar in die Staats -31 geſchäfte eingreifen kann, ſo hat ſie doch mittelbar großen Einfluß und ihr unzweifelhafter Wunſch, als Teſtamentsvollſtreckerin ihres ver - ſtorbenen Mannes Rußlands Eroberungspläne um jeden Preis zu durch - kreuzen, gewinnt praktiſche Wichtigkeit durch die gleichfalls unzweifelhafte Thatſache, daß der Chef des engliſchen Miniſteriums Disraeli dieſen ihren Wunſch theilt, und je eher je lieber zu den Waffen greifen würde. Außerdem iſt es notoriſch, daß in England unter der Hand ſtark gerüſtet wird, und daß man ſich auch namentlich mit Vorberei - tungen zum Transport einer Armee beſchäftigt.

Ein die eventuelle Aktion Englands ſehr erleichterndes Ereigniß iſt der in Frankreich getroffene Kompromiß zwiſchen dem Präſidenten und der Linken. Durch den 16. Mai war Frankreich für die aus - wärtige Politik vollſtändig gelähmt jetzt hat es den Gebrauch ſeiner Glieder zurückgewonnen und eine eklatante Aktion nach Außen, die bis - her einfach unmöglich war, iſt nun möglich und würde im Jntereſſe der franzöſiſchen Regierung ſein.

Was endlich Oeſterreich angeht, ſo beſitzt es freilich nicht die Fähigkeit der Jnitiative, aber wenn von anderer Seite der Bann des Dreikaiſerbündniſſes gebrochen iſt, dann wird der Selbſterhaltungs - trieb in ſein Recht eintreten und Oeſterreich zur Theilnahme an der Aktion zwingen.

Genug, indem die Türkei ihr Vermittlungsgeſuch an Europa ſtellte, hat ſie die orientaliſche Frage zu einer europäiſchen Frage gemacht, und die Weſtmächte nebſt Oeſterreich in die Alternative ver - ſetzt, entweder als Großmächte abzudanken, oder Rußland mit gezücktem Schwert Halt! zuzurufen.

Die politiſche Lage. ( Socialdemokratiſche Correſpondenz vom 24. Dezember 1877.)

Die politiſche Lage iſt eine ſo kritiſche geworden, daß man uns gewiß erlauben wird, dieſelbe nochmals kurz zu beſprechen. Was wir in unſerem letzten Artikel über die Bedeutung des türkiſchen Media - tionsgeſuches und über die engliſche Politik ſagten, hat inzwiſchen durch die Ereigniſſe und Thatſachen ſeine vollſte Beſtätigung gefunden. Die amtliche Provinzial-Korreſpondenz , welche bezüglich jenes Geſuchs meinte, der Türkei ſchiene kein Verſtändniß ihrer Lage beizuwohnen , hat durch ihre impertinente Bemerkung bloß den Nachweis geliefert, daß ſie ſelbſt nicht das mindeſte Verſtändniß der allgemeinen politi - ſchen Situation hat, und an Kenntniß der orientaliſchen Frage ge -32 troſt mit jenem Staatsmanne wetteifern kann, der einſt das geflügelte Wort von dem Bischen Herzegowina verübte. Heute pfeifen es die Spatzen von den Dächern herab, daß das türkiſche Mediationsgeſuch für die ruſſiſche Diplomatie in Rußland und außerhalb Ruß - lands ein Blitzſchlag aus heiterem (voller Baßgeigen hängenden) Himmel war ein ſehr geſchickter, mit England verabredeter Schachzug, welcher die ruſſiſche Diplomatie zwar noch nicht matt ge - ſetzt, aber in die größte Verlegenheit gebracht hat. Jetzt kann ſie nicht länger fackeln, ſie muß mit ihren wahren Zielen hervorrücken, und das iſt das denkbar Schlimmſte für ſie.

Entweder war es Ernſt mit den Humanitäts-Phraſen und dem Ehrenwort des Czaren, keine Eroberungen zu wollen. Gut, dann iſt abſolut kein Grund zur Fortſetzung des Krieges vorhanden, ein Waffenſtillſtand kann abgeſchloſſen, die Friedens-Verhandlungen können begonnen werden.

Oder die Humanitätsphraſen waren Vogelleim für die Gimpel; trotz des Ehrenworts des Czaren, das beiläufig nicht zum erſtenmal gebrochen würde (ſiehe Chiwa), will Rußland Eroberungen machen, in Aſien direkt, indem es einen Theil von Armenien ſchluckt, in Europa indirekt, indem es noch ein paar Vaſallenſtaatchen à la Serbien, Monte - negro und Rumänien errichtet. Und dann hat Rußland nicht bloß mit der keineswegs ſchon erſchöpften Türkei zu rechnen, ſondern auch mit England. Hieran iſt nun kein Zweifel mehr. Vergebens bemüht ſich die Säbel - und Knutenpreſſe, die Berufung des Parlaments auf den 17. Januar 3 Wochen vor der Zeit als einen harmloſen Scherz, und die notoriſchen Rüſtungen Englands zu Waſſer und zu Land als Spielereien, als eine neue Art von Weihnachtsvergnügungen hinzuſtellen. Einige Pfiffikuſſe, denen dieſe Auslegung doch etwas zu kindiſch erſcheinen mochte, haben die ſcharfſinnige Entdeckung gemacht, England rüſte gegen die Türkei; es wolle, da das Kismet (Ver - hängniß) vom Osmanenreich nicht abzuwenden, das Ende der Türken - herrſchaft in Europa unwiderruflich gekommen ſei, ſich wenigſtens ein tüchtig Stück Beute ſichern und auf Egypten, vielleicht noch einige andere fette Biſſen, die Hand legen. Die ſo reden, wiſſen nicht, oder haben vergeſſen, daß Rußland eines Tages durch den Mund des Czaren in Perſon, England die Theilung der Türkei vorgeſchlagen und Egypten als Beutetheil angeboten hat; und, daß die Antwort Englands der Krimkrieg war. Englands Jntereſſe erheiſcht heute die Aufrechterhaltung der Türkei und die Zurückdämmung der ruſſiſchen Macht ebenſo gebieteriſch wie vor einem Vierteljahrhundert.

Jndeß ein Troſt bleibt den Knuten - und Rubelſkribenten und - Agenten: Angenommen auch, England habe die ernſthafte Abſicht,33 für die Türkei gegen Rußland das Schwert zu ziehen, ſo fehlt ihm doch die Macht, ſeine Abſicht zu verwirklichen; es mag den Willen haben, aber es hat nicht die Kraft zu handeln, und das Bewußtſein der Aktionsunfähigkeit wird im letzten Moment ſelbſt vor dem ſchwäch - lichſten Verſuch der Aktion zurückſchrecken laſſen. Und überdies iſt England in ſich geſpalten, die öffentliche Meinung iſt dem Krieg ent - ſchieden abgeneigt. Und man zitirt Gladſtone und Genoſſen. Nun, was dieſe Herren und deren Bewegung anlangt, ſo haben wir unſeren neulichen Ausführungen nichts hinzuzufügen. Die bloße Ankündigung der in den letzten engliſchen Miniſterräthen beſchloſſenen Maßregeln hat genügt, den Gladſtone-Humbug in das Reich des Lächerlichen zu ver - weiſen. Die Wahrheit iſt: das ganze engliſche Volk, mit Ausnahme einer Handvoll vaterlandsloſer Bourgeois, denen es, gleich unſeren Herrn Bourgeois, ganz einerlei iſt, ob in ihrem Vaterland der Kantſchu herrſcht oder nicht, vorausgeſetzt, daß ihr Ausbeutungs - geſchäft nicht geſtört wird mit Ausnahme dieſer vaterlandsloſen Bourgeois und ihrer Dupes (der von ihnen Geprellten), in Summa ein paar Tauſend Jndividuen, giebt es in England keinen erwachſenen Menſchen, der es nicht für die Pflicht und das Lebensintereſſe Englands hielte, die Zertrümmerung der Türkei durch Rußland unter keiner Be - dingung zu dulden, und erforderlichen Falls mit gewaffneter Hand den moskowitiſchen Eroberern entgegenzutreten.

Doch England ſoll nicht die nöthige Macht haben! Es iſt richtig, England iſt keine Militärmacht erſten Ranges; es kann nicht im Hand - umdrehen Armeen von einer halben, ja einer ganzen Million in’s Feld ſchicken wie leider gewiſſe Staaten des Kontinents. Allein immerhin iſt es, ſelbſt nach deutſchen Generalſtabs-Begriffen, eine Militärmacht von nicht zu unterſchätzender Bedeutung und mit Leichtigkeit im Stande, auf den Kriegsſchauplatz ſo viel Truppen zu werfen, daß das Machtverhält - niß zu Gunſten zur Türkei verſchoben wird. Dazu kämen die Subſidien (Geldzuſchüſſe) der Hebung der aus Mangel an Geld jetzt zum großen Theil brach liegenden militäriſchen Hilfsquellen der Türkei, und die nicht zu unterſchätzenden Dienſte der engliſchen Flotte. Und iſt denn etwa Rußland eine Militärmacht erſten Ranges? Hat etwa die ruſſiſche Militärorganiſation ſich nicht erbärmlich gezeigt? Haben die ruſſiſchen Feldherren den einen Totleben vielleicht ausgenommen, obgleich es kein Kunſtſtück iſt, einen von 120,000 Mann umringten Heerkörper von 30,000 Mann trotz vierfacher Uebermacht blos durch Hunger zu bezwingen haben die ruſſiſchen Feld - herrn ſich nicht ſkandalös unfähig gezeigt? Hat es ſich etwa nicht gezeigt, daß die ruſſiſchen Soldaten individuell den türkiſchen nicht gewachſen ſind? Kurz iſt das ruſſiſche Preſtige , der mili -334täriſche Ruf Rußlands auf den Schlachtfeldern Armeniens und der Bulgarei etwa nicht zerſtört und begraben worden? Dieſes Ruß - land iſt wahrhaftig nicht die Macht, vor der England ſich zu beugen hätte.

Die von uns vorausgeſehene nächſte Folge des Vorgehens Eng - lands fängt ſchon an ſich zu vollziehen. Das Schienengeleiſe des Drei - kanzlerbundes bei Dr. Guido Weiß iſt zu erfahren, warum wir von einem Dreikanzlerbund reden iſt aufgeriſſen, und wenn der koſtbare Zug auch noch nicht entgleiſt iſt, ſo iſt der Waggon Oeſterreich doch in bedenkliches Schwanken gerathen und dürfte bald von dem Reſte losgetrennt und auf ein anderes Geleiſe übergeſprungen ſein, während die zwei anderen Waggons auf der alten Bahn weiter fahren wohin? das wiſſen die Herren Kondukteure ſo wenig wie wir. Jn verſchiedenen öſterreichiſchen, ſogar offiziöſen Blättern drängt der Gedanke ſich ſchon vor, jetzt, da England die Jnitiative ergriffen habe, brauche Oeſterreich, das wider ſeinen Willen bisher neutral geblieben ſei, (man leſe z. B. den Peſter Lloyd ) ſich nicht länger vergewaltigen zu laſſen und könne ſeine eigene Politik treiben, ſtatt die ſeiner Feinde. Dieſe Meinungsäuße - rungen ſind freilich nur Papierſchnitzel , aber Papierſchnitzel , welche die veränderte Windrichtung verrathen. So viel ſteht feſt, die von der deutſchen Regierung zugeſtandene Erneuerung des deutſch - öſterreichiſchen Handelsvertrages auf ſechs Monate iſt für Oeſterreich kein genügender Grund, Rußland und dem Fürſten Bismarck zu Liebe, einen politiſchen Selbſtmord zu begehen.

Ein Wort an die deutſchen Social-Demokraten! ( Socialdemokratiſche Correſpondenz vom 3. Januar 1878.)

I.

Jmmer bedrohlicher geſtaltet ſich die Weltlage immer bren - nender wird die Gefahr, daß aus dem ruſſiſch-türkiſchen Krieg ein europäiſcher Krieg hervorgehen werde. Die engliſche Regierung hat ſich endlich zur Aktion aufgerafft, und unzweifelhaft im Einver - ſtändniß und nach Verabredung mit der Pforte die Rolle des Friedens-Vermittlers übernommen. Da nun Rußland erobern will, und England entſchloſſen iſt, keine ruſſiſchen Eroberungen, welche die Exiſtenz der Türkei und die Jntereſſen Englands gefährden, zu dulden, ſo läßt ſich ſchwer abſehen, wie ein Konflikt zwiſchen beiden Mächten vermieden werden kann. Rußland müßte denn noch in letzter35 Stunde aus der Noth eine Tugend machen, und ſich mit den morali - ſchen Eroberungen ſeiner Humanitäts - und Civiliſationskampagne be - gnügen was kaum zu erwarten iſt. An ein Zurückweichen Eng - lands, das erſt nach langem Zaudern in die Aktion eintrat und ſich im Beſitz der den Erfolg verbürgenden Machtmittel weiß, läßt ſich kaum denken.

Daß aber, wenn einmal der Zauber gebrochen und von irgend einer Seite die Jnitiative gegen Rußland ergriffen iſt, Oeſterreich und Frankreich auf die Dauer nicht neutral bleiben können, und daß dann die eigenthümliche Neutralitätspolitik des Fürſten Bismarck unhaltbar, und vor die Alternative des Bruchs (wenn auch nicht zum Krieg) mit Rußland, oder eines offenen Schutz - und Trutzbünd - niſſes mit Rußland geſtellt wird, das haben wir in früheren Artikeln des Näheren ausgeführt.

Es fragt ſich nun, ſoll das deutſche Volk ruhig die Hände in den Schooß legen, und, vertrauend auf die ſtaatsmänniſche Weisheit und bewährte Friedensliebe des Fürſten Bismarck (Bennigſen’ſche Theaterphraſe!), mit untertürkiſchem Fatalismus die Entſcheidung von Oben erwarten?

Oder ſoll es ſich aufraffen und, ſo weit es in ſeiner Macht ſteht, das Selbſtbeſtimmungsrecht ausüben, ſeines Schickſals Schmied werden?

Der preußiſche Landtag die kleinen deutſchen Landtage kommen hier nicht in Betracht iſt einer Beſprechung der kritiſchen Weltlage, der kritiſchen Lage Deutſchlands feige aus dem Wege gegangen. Von der Majorität des Reichstages, der in etwa Monatsfriſt ſich ver - ſammeln wird, iſt nichts beſſeres zu erwarten. Allein in dem Reichs - tage ſitzen Abgeordnete unſerer Partei, welche ſich weder durch den Terrorismus der Majorität, noch durch die Fallſtricke und Schlingen der Geſchäftsordnung von der Erfüllung ihrer Pflicht abhalten laſſen, und einen nachdrücklichen Verſuch machen werden, Aufſchlüſſe über die Poli - tik des Fürſten Reichskanzlers zu erlangen, und durch einen Appell an die Oeffentlichkeit womöglich das Unheil und die Schmach eines Krieges an der Seite Rußlands und für Rußland von unſerem Vaterlande abzuwenden. Soll aber die Stimme der ſocialdemokratiſchen Abgeord - neten nicht ungehört, nicht wirkungslos verhallen, ſo müſſen ſie im Namen und Auftrage des Volkes reden können. Jhre Wähler ſtehen zwar hinter ihnen, doch das genügt für dieſen Fall nicht. Unſere Reichstags-Abgeordneten müſſen der Reichstags-Majorität gegenüber auf das Volk verweiſen, ſich auf das Volk ſtützen können. Sie müſſen das Recht haben, zu erklären, daß nicht bloß die 600,000 ſocialiſtiſchen Wähler, ſondern das Volk überhaupt, ſoweit es nicht aus Junkern, Gardeoffizieren und vaterlandsloſen Bourgeois3 *36beſteht, die ruſſiſche Politik nur mit Gefühlen des Haſſes und des Abſcheus betrachtet und ſein Blut und ſeinen Schweiß nicht für die Zwecke des Knutenthums vergießen will.

Es gilt, vor Zuſammentritt des Reichstags, überall, wo es irgend angeht, Volksverſammlungen zu veranſtalten und Maſſen - proteſte gegen die bisherige Orientpolitik der deutſchen Reichsregie - rung und gegen die, von gewiſſer Seite beabſichtigte militäriſche Partei - nahme des Deutſchen Reichs für Rußland hervorzurufen.

Geſchieht dies, ſo läßt ſich vielleicht eine Bewegung organiſiren, mächtig genug, den Frieden, deſſen wir ſo dringend bedürfen, zum Mindeſten die ehrliche Neutralität Deutſchlands zu erzwingen.

( Socialdemokratiſche Correſpondenz vom 4. Januar 1878). II.

Nichts könnte des deutſchen Volks unwürdiger, unſerem guten Namen bei den übrigen Völkern nachtheiliger ſein, als eine paſſive Haltung in der gegenwärtigen Kriſe. Man redet uns ſo oft vor, Deutſchland marſchire nicht blos an der Spitze der Civiliſation , ſondern auch an der Spitze der Staaten, ſei die großmächtigſte aller Großmächte, die deutſche Nation die große Nation. Und gerade Die uns das vor - reden, verlangen jetzt, dieſe große Nation , dieſes Volk der Denker , das erſte, gewaltigſte Volk der Erde , es ſolle den Sturmwind, den eine kurzſichtige, frevelhafte Staatskunſt geſäet, ſtumpfſinnig, ohne eine Hand, einen Fuß zu regen, ſtill duldend wie eine Schafheerde, über ſich hinbrauſen laſſen, anſtatt thatkräftig Maßregeln zu treffen zur Ab - wendung der Gefahr und zur Unſchädlichmachung der thörigten und verbrecheriſchen Unheilſtifter. Oder wären wir Herren nur nach Außen hin, und Sklaven, feige, ſtummgehorchende, Alles geduldig hinnehmende Sklaven Daheim, im eigenen Hauſe? Das hieße uns ja die erbärmlichſte, die verächtlichſte Rolle zuweiſen, die ein Volk überhaupt ſpielen kann.

Nein wir denken beſſer von unſerem Volke, und wenn ihm der Weg der Pflicht, der Weg der Ehre, der Weg der Rettung, der Selbſterhaltung gezeigt wird, ſo wird es ihn wandeln. Und an der Socialdemokratie, der einzigen wahren Volkspartei, der Partei der Jnitiative, iſt es, dem Volke den Weg zu zeigen.

Die engliſchen Arbeiter haben uns vor einem halben Menſchen - alter ein leuchtendes Vorbild gegeben. Es war zu Anfang der 60er Jahre: Die Sklavenbarone der amerikaniſchen Südſtaaten hatten die Fahne der Rebellion gegen die große Republik der neuen Welt er -37 hoben das bundestreue Volk der Nordſtaaten kämpfte mit Aufgebot aller Kräfte für die Erhaltung der Union, für die Beſeitigung des Schandflecks der Sklaverei. Die Völker Europas ſtanden einmüthig mit ihren Sympathieen auf Seiten des Nordens, die Regierungen ebenſo einmüthig auf Seiten der ſüdſtaatlichen Rebellen waren es doch Rebellen gegen eine Republik, gegen das Geſetz des Volkes! Und die Regierungen hatten die Bourgeoiſie hinter ſich. Der franzöſiſche Kaiſer Bonaparte, der Mörder der franzöſiſchen Repu - blik, brannte vor Begierde, eine zweite Republik zu morden: er plante die mexikaniſche Expedition, die freilich ihm ſelbſt ſehr ſchlecht. und dem unglücklichen Gimpel Maximilian von Habsburg noch ſchlechter bekommen ſollte. Die Lorbeeren des Dezemberbanditen ließen die liberale engliſche Regierung nicht ſchlafen. Die nämlichen freiſinnigen Staatsmänner und Bourgeois, die heute im Jntereſſe des Knutenreiches die Friedensſchalmeien blaſen, Neutralität flöten und jede Jntervention für eine Todſünde erklären, ſie thaten ihr Möglichſtes, um England zur bewaffneten Jntervention zwiſchen der Union und den Rebellen, mit anderen Worten zum Krieg für die Sklavenbarone und für die Sklaverei zu bewegen. Man ſieht, die Jnkonſequenz iſt blos eine ſcheinbare: damals für die ſtaatliche Sklavenpeitſche, heute für die ruſſiſche Knute! Die Neigungen und Jdeen ſind die gleichen nur der Ausdruck, die Bethätigung nach den verſchiedenen Um - ſtänden verſchieden.

England wäre damals unfehlbar in einen Krieg für die denkbar ſchlechteſte Sache geriſſen worden, wenn nicht die engliſchen Arbeiter die Würde und das Jntereſſe Englands gewahrt, und durch impoſante Demonſtrationen die Regierung an der Ausführung ihres ſchmachvollen Plans gehindert hätten. Man wird ſich erinnern, daß der brave Lin - coln dieſe ruhmvolle Friedensthat des engliſchen Proletariats ausdrück - lich anerkannt hat.

Was die engliſchen Arbeiter vermocht ſollte es die Kräfte der deutſchen Arbeiter, des denkenden Volkes in Deutſchland, über - ſteigen?

Zumal die Gefahr für uns eine noch brennendere, die Schmach eine noch tiefere. Der Sieg Rußlands iſt der Tod der Freiheit in Europa, und vor Allem in unſerem Deutſchland und wir nannten die Sache der Südſtaatler ſoeben die denkbar ſchlechteſte; wir nehmen das Wort zurück: neben den Schinder - und Mordknechten des milden Czars waren die Sklavenbarone Gentlemen, Engel der Bildung und Humanität.

Alſo nicht geſäumt!

Wir hoffen, daß unſere Anregung denn mehr ſoll und kann es ja nicht ſein nicht wirkungs - und fruchtlos ſein möge.

38

Aber die Volksverſammlungen, welche wir befürworten, hätten noch eine andere Aufgabe. *)Dieſer Theil des Artikels hat zwar mit der orientaliſchen Frage nichts zu thun, aber ich hielt es doch für zweckmäßig, ihn mit abzudrucken. W. L.Unſere Vertreter im Reichstag werden das Arbeiterſchutzgeſetz nebſt dem Entwurf eines verbeſſerten Haft - pflichtgeſetzes gleich bei Beginn der Seſſion einbringen. Wie wichtig dieſe Geſetzesvorlagen ſind, das brauchen wir hier nicht auseinanderzu - ſetzen: jeder Arbeiter weiß es. Daß die Majorität des Reichstages denſelben nicht hold iſt, auch das weiß jeder Arbeiter. Eine Ausſicht auf Erfolg haben wir nur dann, wenn es gelingt, auf die Majorität einen moraliſchen Druck auszuüben, ſtark genug, ihren Widerſtand zu überwinden. Pressure from without, Druck von Außen, Druck von Unten nach Oben, Druck des Volkes auf die Geſetzgeber, iſt das Geheimniß aller ſiegreichen Reformen in England. Wohlan, an den deutſchen Arbeitern iſt es, dieſen Druck auf die Reichstagsmajorität auszuüben und hinter die wenigen Arbeiterabgeordneten eine mora - liſche Macht zu ſtellen, welche das Mißverhältniß der Zahlen aufhebt und den Stimmen der Minderheit das zum Triumph erforderliche Ge - wicht verleiht.

Neben der politiſchen Frage müßte alſo die Arbeiterge - fetzgebung der nächſten Reichstagsſeſſion auf die Tagesordnung der Verſammlungen geſetzt werden. Einheitlichkeit, Planmäßigkeit des Vor - gehens iſt ja leicht zu erlangen. Man braucht nur zu wollen. Where there is a will, there is a way. (Apropos where there is a etc., Herr von Treitſchke! Nicht where is etc., ſchlechtweg, wie Sie in Jhrer letzten Sudelei citiren. Sie ſcheinen engliſch gerade ſo gut zu verſtehen, wie Jhre Fachwiſſenſchaft: die Geſchichte!) Alſo where there is a will, there is a way. Wo der Wille iſt, da findet ſich auch ein Weg.

[39]

Die vorſtehend mit wenigen unweſentlichen Abänder - ungen ganz wortgetreu abgedruckten Artikel ſind in genauem Zu - ſammenhang miteinander und bilden ein Ganzes. Berichtigend, er - klärend und ergänzend habe ich nux wenig hinzuzufügen. Daß man, mitten im Drang und Sturm der Ereigniſſe, die Bedeutung der ein - zelnen Thatſachen nicht immer genau abwägen kann, liegt auf der Hand im Allgemeinen wird man mir aber zugeſtehn müſſen, daß der Gang der Ereigniſſe meiner Auffaſſung Recht gegeben hat.

Die deutſche Neutralität hat im engliſchen Parlament ſoeben eine grelle Beleuchtung gefunden: das Vermittlungsgeſuch, wel - ches die Pforte nach dem Falle vom Plewna an die neutralen euro - päiſchen Mächte richtete, iſt nach der amtlichen Erklärung des engliſchen Miniſteriums an dem Widerſtande der deutſchen Reichsregierung geſcheitert. Hätte unſere Reichsregierung ſich England, welches die Jni - tiative ergriff, und den übrigen Mächten, die bereit waren mitzu - machen , nicht mit aller Energie in den Weg geſtellt, um Rußland einen Separatfrieden mit der Türkei zu ermöglichen, ſo wären un - zweifelhaft die entſetzlichen Kriegsgräuel der letzten 5 Wochen uns er - ſpart geblieben. Ein Commentar iſt überflüſſig.

Und nicht bloß wären der Menſchheit dieſe Gräuel unſerer na - tionalen Politik wäre auch die Beſchämung erſpart worden, daß, während das allmächtige Deutſche Reich keine deutſchen Jntereſſen im Orient und darum keinen Grund zur Einmiſchung entdecken konnte, das gehöhnte verſpottete England es war, welches den Vorkampf gegen die ruſſiſche Barbarei übernahm, und die ruſſiſchen Eroberer - horden zum Stehn brachte. Es gibt kein Europa mehr nur noch ein England, der Reſt iſt Schweigen oder Rußland. Nichtsdeſtoweniger wird unſere Reptilienpreſſe allem Vermuthen nach den Verſuch machen, dem Fürſten Bismarck das Verdienſt des Waffen - ſtillſtands und Friedenſchluſſes, falls derſelbe zu Stande kommen40 ſollte, in den welthiſtoriſchen Küraſſierſtiefel zu ſchieben. Schon tauchen dahin zielende Aeußerungen auf. Gegenüber ſolchen Verſuchen iſt auf die Erklärung des engliſchen Miniſteriums hinzuweiſen und auf die Geſammthaltung der deutſchen Reichsregierung in der orientaliſchen Frage.

Die Haltung Oeſterreichs iſt bis zum letzten Moment eine ſchwan - kende geblieben. Es hat zwiſchen deutſch-ruſſiſchen und engliſchen Ein - flüſſen hin und her geſchwankt wie ein Schilfrohr, und bietet uns jetzt, in der Stunde der Entſcheidung auch über Oeſterreichs Schickſal, das groteske Schauſpiel einer Kabinetskriſe wegen des Kaffee - zolls! Der Tag iſt nicht fern, wo man in der Kaiſerburg zu Wien einſehen wird, daß die Zertrümmerung der Türkei zugleich die Zer - trümmerung Oeſterreichs bedeutet, daß der Schwertſtreich oder Feder - ſtrich, der das Osmanenreich aus der Welt ſchafft, auch dem Habs - burgerreich den Tod gibt. *)Jn gewiſſen Kreiſen zu Wien hat man ſich durch den, von Rußland hingehaltenen Köder der Annexion von Bosnien und der Herzegowina be - rücken laſſen. Die Dummen werden nicht alle (ſiehe Punkt 10 und 11 des Teſtaments Peters des Großen).Wenn man es begreift, wird’s aber wohl zu ſpät ſein. Nun wir Socialdemokraten können warten. Dort wie anderorts ſind wir die lachenden Erben .

Was ich über Frankreich geſagt, hat ſich ſchnell erfüllt. Der neue franzöſiſche Miniſter des Auswärtigen, Waddington, erließ unmittel - bar nach Eröffnung der türkiſch-engliſchen Mediationskampagne eine Cirkularnote, in welcher er das Jntereſſe Frankreichs an der orienta - liſchen Frage betonte freilich unter Vermeidung jedes verletzenden oder herausfordernden Worts. Jmmerhin war es die Ankündigung, daß Frankreich wieder mitreden werde, und hat darum unſere Mordspatrioten nichts weniger als angenehm berührt.

Bezeichnend für die Stimmung in Frankreich und zwar in den maßgebenden Kreiſen, iſt ein Leitartikel, der vor einigen Tagen in dem Organ des Zukunfts präſidenten Gambetta, in der République Française erſchien. Der Verfaſſer greift in die Zeiten Philipps von Macedonien zurück, und findet in einer der Philippiken des Demo - ſthenes, in der Rede über die Angelegenheiten des Cherſoneſos (der heu - tigen Halbinſel von Gallipoli), eine ſehr ſchöne Analogie der gegenwär - tigen Lage.

Damals, Ende des 3. Jahres der 109. Olympiade, im Frühjahr 341 vor Chriſtus bedrohte Philipp die Stadt Byzanz (Conſtantinopel, Stambul), und da die nördlichen Küſten des Schwarzen Meeres ge - wiſſermaßen die Kornkammern Griechenlands waren, mußten die Athener,41 obgleich ſie mit Byzanz auf ſchlechtem Fuß ſtanden, auf Mittel und Wege ſinnen, wie man den macedoniſchen Eroberer hindern könnte, ſich zum Herrn der Zugänge des Pontus Euxinus (Schwarzen Meeres) zu machen. Bei dieſer Gelegenheit ſagte Demoſthenes:

Jn dem gegenwärtigen Augenblicke weilt dieſer Menſch (Philippos) an der Spitze großer Streitkräfte in Thracien (heute Rumänien) und wie es heißt, zieht er aus dem Jnnern ſeiner Staaten noch neue Truppen herbei. Wenn er alſo die günſtige Jahreszeit abwartet und dann auf Byzanz marſchirt, um es zu belagern, glaubt Jhr etwa, daß die By - zantiner in der ſtumpfen Gleichgiltigkeit, in der ſie heut befangen ſind, verharren und uns nicht vielmehr zu Hilfe rufen werden? Nein, ich glaube es nicht, und wenn es ſelbſt Leute geben ſollte, denen ſie noch weniger trauten, als uns, ſo würden ſie lieber die Stadt dieſen Leuten ausliefern, als den Philippos in dieſelbe eindringen laſſen, es ſei denn, daß er ſich ihrer mit Gewalt bemächtige. Darum müſſen wir ihnen alſo von Athen eine Flotte ſchicken; denn ſie ſind ihrer Vertheidigungs - mittel baar und wenn wir ihnen nicht zu Hilfe kommen, wird nichts ihre vollſtändige Vernichtung verhindern. Aber, wird vielleicht Jemand ſagen, dieſe Leute ſind beſeſſen und ihre Tollheit überſteigt alle Grenzen. Zugegeben, aber gleichwohl müſſen wir ſie retten, denn dies iſt für unſere Stadt von Wichtigkeit.

Nach dieſer klaſſiſchen Reminiscenz prüſt das Organ Gambetta’s die verſchiedenen in dieſem Jahrhundert verſuchten Löſungen der Dar - danellenfrage: 1) nach dem Vertrage von Unkiar-Skeleſſi (8. Juli 1833) Schließung der Meerenge für alle anderen Mächte zu Gun - ſten Rußlands, welches allein das Recht der Durchfahrt hat; 2) nach der Convention vom 13. Juli 1841 Schließung der Meer - enge für alle Mächte ohne Ausnahme, 3) wie es jetzt von Rußland gefordert zu werden ſcheint, freier Verkehr durch die Dardanellen für Jedermann. Die Republique Française beſinnt ſich nicht lange, welche der drei Löſungen für die beſte zu halten. Sie ſchreibt beſtimmt:

Die einzige Löſung der Frage, die uns mit dem europäiſchen Frieden und mit der Sicherheit der Mittelmeer-Mächte vereinbar ſcheint, iſt die der Convention vom 13. Juli 1841, die abſolute Schließung der Dardanellen. Wie ſlavenfreundlich Herr Gladſtone auch ge - ſinnt ſein mag, ſo können wir doch nicht glauben, daß er dieſer Löſung, ſei es die gänzlich freie Durchfahrt oder die geheime Klauſel von Un - kiar-Skeleſſi vorziehen ſollte. Man darf es ſich nicht verhehlen: die Dardanellen für Rußland geöffnet oder Konſtantinopel in den Händen des Zaren, das kommt ſo ziemlich auf daſſelbe hinaus. Die Aufhebung des Dardanellenvertrags bedeutet, daß die Türkei fortan der Vaſall42 Rußlands, daß Egypten und die Landenge von Suez in einer nahen Zukunft ebenfalls von Rußland abhängig ſind, daß die Seeſtraße nach Jndien den ruſſiſchen Flotten geöffnet, das Gleichgewicht im Mittelmeer für immer zerſtört iſt. Und wenn alle dieſe Erwägungen Herrn Glad - ſtone noch nicht genügen ſollten, ſo möge dieſer leidenſchaftliche Helleniſt doch die Rede des Demoſthenes über die Angelegenheiten des Cher - ſoneſos nachleſen und über die merkwürdigen Worte ſinnen, die wir oben anführten: Byzanz muß gerettet werden, denn das iſt für unſere Stadt von Wichtigkeit. Vor allen Dingen darf die Dardanellen-Frage in Kaſanlik (oder Adrianopel) nicht, wenn uns der Ausdruck geſtattet iſt, wegſtipitzt werden. Die Frage der Dardanellen iſt eine euro - päiſche Frage. Sie kann und darf nur von ganz Europa entſchieden werden. Jede andere Löſung wäre nur eine Kriegsſaat, die vielleicht ſchon in einer nahen Zukunft blutig aufgehen würde.

So die République Française . Man darf ſich indeß keinen Jlluſionen hingeben: Frankreich kann und wird in dieſem Jahrzehnt keine Politik der Jnitiative befolgen nur dann in die Aktion ein - treten, wenn England vorgegangen iſt.

Mein Urtheil über die ruſſiſche Militärmacht iſt durch die neueſten glorreichen Siege nicht verändert worden. Einmal gehöre ich nicht zu den Leuten, die ſich durch den Erfolg des Augenblicks blenden laſſen, und dann iſt der Glorienſchein dieſer Siege durchaus nicht darnach angethan, eine unbefangene Kritik zu vertragen. Die Durch - brechung des Schipkapaſſes iſt notoriſch bloß gelungen, weil die Türken den Waffenſtillſtand abgeſchloſſen glaubten und darum die nöthigen Vorſichts - maßregeln verſäumt hatten; und die gegenwärtige Lage auf dem Kriegs - ſchauplatz iſt trotzdem für die Ruffen keineswegs ſo günſtig, wie die Rubelpreſſe uns vorſchwindelt. Die Donaubrücken ſind zerſtört, die Verproviantirung der ruſſiſchen Armee iſt auf das Bedenklichſte er - ſchwert, und ein Vormarſch der jenſeits des Balkans ſtehenden Truppen, auch ohne Eingreifen anderer Mächte, mit den größten Gefahren ver - bunden.

Ebenſo wenig kann ich zurücknehmen, was ich über die Wider - ſtandskraft der Türkei geſagt. Die türkiſche Armee hat ſich aus - gezeichnet geſchlagen, das türkiſche Volk eine Tüchtigkeit bewieſen, die Niemand ihm zugetraut hätte. Aber die herrſchende Klaſſe taugt nichts das hat die Türkei mit andern Ländern gemein ; das ruſſiſche Gold, der Rubel auf Reiſen hat an den ruſſiſchen Siegen mehr Antheil als das ruſſiſche Eiſen. Kars iſt von den Ruſſen gekauft worden; und daß der Hofkriegsrath in Konſtantinopel die tapfere Armee ſchmählich im Stich gelaſſen hat, ihr keine Verſtärkungen, keine Kleider, keinen Proviant zugeſchickt kurz die einfachſten, nächſtliegen -43 den Pflichten verſäumt hat, kann nicht anders erklärt werden, als durch den bekannten mit Gold beladenen Eſel , dem erwieſenermaßen ſo ziem - lich alle ruſſiſchen Siege in allen Türkenkriegen zu verdanken ſind.

Der ruſſiſche Rubel ſtand nicht allein. Er wurde trefflich unter - ſtützt von der europäiſchen Diplomatie. Daß die deutſche Regierung, blind für die hundertfach konſtatirten Beſtialitäten der Ruſſen, auf Grund des vereinzelten Berichts eines preußiſchen Offiziers im ruſſiſchen Hauptquartier einen Humanitätsfeldzug gegen die Türkei eröffnete, und den betreffenden Offizier, der ſo neutral war, daß er beim dritten Sturm auf Plewna rumäniſche Soldaten in’s Feuer trieb, mit dem Verdienſtorden dotirte das ſetze ich als bekannt voraus. Nicht minder bekannt iſt, daß Serbien, welches den bei Plewna dreimal geſchlagenen Ruſſen ſchließlich zum Sieg verhelfen mußte, im Herbſt 1876 bloß durch die Jntervention der europäiſchen Diplomatie vor einer gründlichen und wohlverdienten Züchtigung bewahrt wurde, die es außer Stand geſetzt hätte, dem geſchlagenen Rußland je Dienſte zu leiſten. Unzähliger anderer Knüppel nicht zu erwähnen, welche die neutrale Diplomatie den Türken in die Radſpeichen geworfen.

Mit den ruſſiſchen Humanitäts - und Civiliſations - Phraſen befaſſe ich mich hier nicht. Die barbariſche, das Völker - und Menſchenrecht mit Füßen tretende, brutal grauſame Kriegführung der Ruſſen hat ſie gründlicher widerlegt, als ich es zu thun vermöchte.

Aber die unterdrückten Nationalitäten ! Die frei - heitsdürſtenden Südſlaven ! Die chriſtlichen Brüder ! Bah! Vogelleim für die Gimpel. Vom Nationalitätsprinzip gilt das famoſe Wort Robespierre’s: es iſt von Schurken erfunden, um Dummköpfe zu nasführen. Das Nationalitätsprinzip ſpricht der Wiſſenſchaft (von der Religion gar nicht zu reden) gleichmäßig Hohn wie der Humanität und Gerechtigkeit: es iſt das bequemſte Mittel der Deſpoten, um die Völker zu ſpalten, nach dem Grundſatz des divide et impera (theile und herrſche!). Das Nationalitätsprinzip theilt, trennt die Völker, bringt ſie unter das Joch ihrer gemein - ſamen Feinde. Das ſozialiſtiſche, demokratiſche Prinzip der Gleich - heit, der Gleichberechtigung, der Solidarität dagegen einigt die Menſchen, einigt die Völker.

Und wie kann Rußland, an deſſen Händen das Blut des ge - mordeten Polen, des gemordeten Cirkaſſien, ſo vieler gemordeten, und doch der Auferſtehung ſicheren Völker klebt, ſich als Vertreter des Na - tionalitätsprinzips aufwerfen?

Mit dem Schwert, womit es gemordet, wird und muß es ge richtet werden. Ein freies Weſteuropa wird die Wiederherſtellung Polens, die Freiheit aller, vom ruſſiſchen Czarenthum unterdrückten 44 Nationalitäten proklamiren. Es ſind jetzt nahezu 10 Jahre her, da berührte ich dieſen Punkt auf dem Rürnberger Arbeitertag. Jn der Debatte über das Syſtem der ſtehenden Heere ſagte ich damals (S. Demokratiſches Wochenblatt vom 26. Dezember 1868):

Einer der Vorredner hat für die allgemeine Entwaffnung ge - ſprochen. Auch ich bin dafür. Aber ſie kann erſt eintreten, wenn alle Feinde der Völker unſchädlich gemacht ſind. Und das wird noch lange dauern. Für Deutſchland und Frankreich ſcheint mir die Stunde der Befreiung nicht ſehr fern. Doch mit unſerer Befreiung ſind wir noch nicht am Ziele, es bleibt uns noch eine blutige Arbeit zu verrichten und eine heilige Pflicht zu erfüllen: die Zertrümmrung Ruß - lands, die Wiederherſtellung Polens. Jſt dem ruſſiſchen Doppelaar das nach Weſten gekehrte Haupt abgeſchlagen; haben wir an Polen die Verbrechen unſerer Fürſten, namentlich des treuloſeſten und undeutſcheſten unter ihnen, Friedrichs des Großen , wie die Geſchichtsfälſcher ihn nennen, geſühnt; iſt der Despotismus aus ſeinem letzten Schlupfwinkel vertrieben, dann, aber auch erſt dann können die Völker entwaffnen. Bis dahin müſſen wir feſthalten an unſerer For - derung der allgemeinen Volksbewaffnung: Jeder Bürger ſoldat, jeder Soldat Bürger!

Die freiheitsdürſtenden Südſlaven ſie ſind gerade ſo wirklich, wie die ſüdruſſiſchen Dörfer, die Potemkin einſt der ruſſi - ſchen Kaiſerin Katharina auf Pappendeckeln vormalte. Bis dato hat an Ort und Stelle noch kein Exemplar entdeckt werden können. Czar Nikolaus ſagte einmal: eine Armee auf dem Papier thut dieſelben Dienſte, wie eine wirkliche, und iſt viel billiger. Freiheitsdürſtende Südſlaven auf dem Papier thun auch ihre guten Dienſte.

Doch die chriſtlichen Brüder! Unterdrückt von den heid - niſchen Türken! Chriſtlich und heidniſch blauer Dunſt für den gedankenloſen Haufen. Jm Lande Leſſing’s, 100 Jahre nach Nathan der Weiſe nicht ernſthaft zu diskutiren. Und unterdrückt! Die muhamedaniſche Religion iſt die einzige tolerante Religion, ſie unterdrückt den Andersglaubenden nicht, ja verbrennt ihn nicht ein - mal, wie das berechtigte Eigenthümlichkeit des Chriſtenthums iſt, wo es kann. Die Chriſten in der Türkei haben die unbeſchränkteſte Selbſtverwaltung nicht bloß in religiöſen Dingen ſondern auch in Ge - meindeangelegenheiten, und leben in einem Wohlſtand, der die mit einem funktionirenden Hirn verſehenen ruſſiſchen Befreier nicht wenig er - ſtaunte. Es geht dieſen Bulgaren ja zehnmal beſſer als unſeren Bauern! war, nach den Berichten engliſcher Correſpondenten, der verwunderte Ausruf der ruſſiſchen Oſſiziere beim Betreten der erſten bulgariſchen Dörfer. Und ſo iſt’s. Väterchen ſollte vor der eigenen Thür fegen,45 und ſeine chriſtlichen Unterthanen und Brüder mit ein Bischen heidniſch-türkiſcher Freiheit beſchenken. Doch das paßt nicht ins Knuten - ſyſtem. Reformen daheim? Wer ſie fordert, wird nach Sibi - rien geſchickt. Die Reformen , die Freiheit ſind, gleich der Hu - manität und anderen ähnlichen Waaren, bloß Exportartikel für den auswärtigen Markt.

Die Türkei ſoll reformiren ! Aber ſo wie Rußland es will: ſie ſoll ſich zu Tod reformiren. Alſo bei Leib keine durchgreifenden, die Staatsſchäden gründlich beſeitigenden Reformen! Sie würden ja die Türkei ſtärken, und das muß um jeden Preis verhindert werden. Der jetzige Krieg wäre vielleicht auf Jahre hinausgeſchoben worden in Folge der erbärmlichen Organiſation der ruſſiſchen Armee , wenn die Türkei nicht in der Karte Midhat ſich eine Verfaſſung ge - ſchaffen hätte, die durch Feſtellung des Prinzips der Gleichbe - rechtigung aller Nationalitäten und Religionsbekenntniſſe dem kranken Mann das richtige Heilmittel verſchrieb. Aber er ſollte nicht ge - ſunden, er ſollte kränker werden oder ſterben, der kranke Mann deshalb der Krieg.

Aber dieſe Verfaſſung war nur durch die Noth erpreßt, ſie iſt nur ein werthloſes Stück Papier! Gemach. Wer nennt mir eine europäiſche Verfaſſung, die nicht durch die Noth erpreßt wäre? Von der engliſchen angefangen, bis herunter zu den deutſchen Nachdrucken, die ſämmtlich auf die tollen Jahre der Juli - und Februarrevo - lution zurückzuführen ſind? Und gerade die Noth würde in der Türkei auch dafür geſorgt haben, daß die Verfaſſung nicht ein Stück - chen Papier blieb.

Nun iſt’s anders. Wird Friede geſchloſſen, ſo wird’s ein fauler Friede, der die chriſtlichen Provinzen der Türkei unter die Zucht - ruthe der europäiſchen Diplomatie bringt. Wird der Krieg fortgeſetzt, ſo werden ſie derart verwüſtet und erſchöpft, daß auf Jahrzehnte hin - aus überhaupt an keine Reformen zu denken iſt. Schon die bisherigen Verwüſtungen werden Jahrzehnte lang zu ſpüren ſein.

Jn keinem Fall iſt jetzt die Löſung der orientaliſchen Frage zu erwarten. Der Friede kann nur ein Waffenſtillſtand ſein, die Vertagung der Frage auf gelegenere Zeiten. Die Fortſetzung des Kriegs kann günſtigſten Falls zu einem Compromiß nach den Wünſchen der engliſchen Staatsmänner führen, und was dieſe unter Freiheit und Humanität verſtehen, das lehrt uns Jrland und Jndien.

Gelöſt wird die orientaliſche Frage erſt werden, wenn in den politiſchen Centren Europas, oder richtiger in den Centren des poli - tiſchen Lebens von Europa: in London, Paris, Berlin, Wien das46 Menſchenrecht zur Geltung gelangt, das Völkerrecht durch das Volksrecht erſetzt iſt.

Dann wird auch der Tag der Freiheit und eine Aera menſchen - würdigen Daſeins für jene unglücklichen Völkerſchaften des Oſtens an - brechen, die ſeit anderthalb Jahrhunderten der Spielball einer herz - und gewiſſenloſen Diplomatie ſind.

Möge das Schauſpiel der grauenhaften Blut - und Eiſen-Orgien auf der Balkanhalbinſel, des geſtörten Handels, der darniederliegenden Jnduſtrie, des Maſſenelends, der zunehmenden Verrohung möge die politiſche und wirthſchaftliche Unſicherheit, die Kriegsgefahr, die unſerem Vaterland drohende Vergewaltigung durch das despotiſche, halbwilde Rußland dem deutſchen Volke die Augen öffnen, es zur Er - kenntniß ſeiner Jntereſſen und Pflichten bringen! Soll Ordnung werden in Europa, ſo muß das Volk Ordnung ſchaffen, indem es die Leitung ſeiner Geſchicke ſelbſt in die Hand nimmt und die Ruhe - ſtörer und Unheilſtifter unſchädlich macht.

Und Denen, die etwa meinen ſollten, die Politik ſei nicht Sache der Arbeiter, rufe ich hier die Schlußworte der von Marx im Jahre 1864 geſchriebenen Jnauguraladreſſe, dieſes Programms der Jnternationalen Arbeiteraſſoziation, in’s Gedächtniß:

Der ſchamloſe Beifall, die nur ſcheinbare Sympathie oder der beſchränkte Gleichmuth, mit welchem die oberen Klaſſen Europa’s die Bergfeſtung des Kaukaſus Rußland zur Beute fallen und das helden - müthige Polen durch Rußland haben vernichten ſehen, die unwider - ſtandenen Uebergriffe dieſer barbariſchen Macht, deren Haupt in St. Petersburg, deren Hände in allen Kabinetten Europa’s, haben den arbeitenden Klaſſen die Pflicht gelehrt, ſich ſelbſt die Myſterien der internationalen Staatskunſt anzueignen, die diplomatiſchen Streiche ihrer Regierungen zu überwachen, ihnen nöthigenfalls mit aller ihnen zu Gebot ſtehenden Macht entgegenzuarbeiten, und, wenn außer Stande den Streich zu verhindern, ſich zu gleichzeitiger öffentlicher Anklage zu verbinden und die einfachen Geſetze der Moral und des Rechts zu proklamiren, welche ebenſowohl die Be - ziehungen Einzelner regeln, als auch die oberſten Ge - ſetze des Verkehrs der Nationen ſein ſollten.

Der Kampf für ſolch eine auswärtige Politik bildet einen Theil des allgemeinen Kampfes für die Emancipation der arbeitenden Klaſſen.

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Vier Wochen ſpäter.

Seit dem Erſcheinen der erſten, über Erwarten raſch vergriffenen Auflage dieſer Broſchüre (in welcher kein Wort geändert ward), hat die orientaliſche Frage in ſofern eine neue Geſtalt angenommen, als Ruß - land, um England nicht zum Aeußerſten zu treiben, vom letzten Schritt, der Beſetzung Conſtantinopels, abgeſtanden iſt, die Türkei aber, von all ihren natürlichen Bundesgenoſſen im Stich gelaſſen, ſich den ruſſiſchen Waffenſtillſtands-Bedingungen unterworfen hat. Weder Oeſtreich noch England haben ſich zu energiſchem Handeln entſchließen können. Eng - land hat ſeine Flotte ins Marmarameer geſchickt, nachdem die Tory - regierung die liberale Oppoſition zerſprengt; es rüſtet zum Krieg, iſt aber bis jetzt noch nicht zur Erklärung des Kriegs gelangt. Eine wahrhaft klägliche Rolle ſpielt nach wie vor Oeſtreich. Es raſſelt abwechſelnd mit dem Säbel, um ſich zurückzuziehen, und zieht ſich zurück, um wieder mit dem Säbel zu raſſeln. Zum Theil iſt der Grund für dieſe jämmerliche Haltung in der Feigheit und Unfähigkeit der Regierung zu ſuchen, welche die Oeſtreich drohende Gefahr nicht be - greift und in ihrer Verblendung den ruſſiſchen Verſprechungen und Lock - rufen nicht ganz unzugänglich iſt. Aber auch die Furcht wirkt mit, und zwar nicht die Furcht vor Rußland. Die militäriſche Machtent - faltung Rußlands iſt keineswegs impoſant. Es ſteht nun feſt, daß die Ruſſen nach dem Falle von Plewna nicht über den Balkan gekommen wären, wenn die Türken nicht, durch engliſche Rathſchläge irre geleitet, an einen Waffenſtillſtand geglaubt, und in dieſem Glauben die nöthigen Vertheidigungsmaßregeln unterlaſſen hätten. Und auch jetzt noch iſt die Lage der ruſſiſchen Armee eine ſolche, daß es den Oeſtreichern ein Leichtes wäre, ſie ohne ſonderliche Mühe aus der Balkanhalbinſel hinaus - zujagen. Aber die öſtreichiſche Regierung fühlt ſich nicht rücken - frei. Sie hat Sadowa und Königsgrätz nicht vergeſſen, ſie erinnert ſich der famoſen Stoß ins Herznote und zaudert. Es iſt wahr, inzwiſchen hat Fürſt Bismarck im Reichstag geſprochen und den Grafen Andraſſy mit Zärtlichkeiten überhäuft die von den Sozial - demokraten beabſichtigte Jnterpellation iſt nämlich, um ihr die reichs -48 feindliche Spitze abzubrechen, von den Reichs freunden inſcenirt worden*)Siehe die in demſelben Verlag erſcheinende Broſchüre: Die Orient - debatte im deutſchen Reichstag (vollſtändig nach dem amtlich ſteno - graphiſchen Bericht), kurz beleuchtet von W. Liebknecht. aber Fürſt Bismarck war etwas zu zärtlich he has overdone it, würden die Engländer ſagen und allzuviel iſt unge - ſund für Staatskanzler und Staaten ſo gut wie für einfache Sterb - liche. Die Folge der Bismarck’ſchen Liebesküſſe war, daß die öſtreichiſche Regierung, die Miene gemacht hatte, den Ruſſen ein Halt zuzurufen, wieder einmal den Rückzug antrat und am 24. Februar, genau 30 Jahre nach dem Sturze des Julithrons ein ominöſes Datum in feierlichem Kronrath den Beſchluß faßte, von dem Reichs - rath einen Credit von 60 Millionen Gulden zu diplomatiſcher Kriegs - bereitſchaft zu fordern.

Das heißt: Oeſtreich behält vorläufig das Schwert in der Scheide und will auf die Conferenz gehen oder den Con - greß, wir wiſſen nicht, wie’s heißt, der diplomatiſche Wechſelbalg iſt noch nicht getauft.

Falls das höchſt fragliche Ding überhaupt ins Leben tritt.

Mittlerweile erhitzt ſich die öffentliche Meinung in England. Was ich in den vorſtehend abgedruckten Artikeln über die engliſche Friedensbewegung geſagt, hat ſich ſeitdem im vollſten Maaße be - wahrheitet. Die Gladſtone und Conſorten ſind von der Bildfläche verſchwunden, und die ruſſiſchen Agenten im Friedensſchaafspelz dürfen ſich nicht mehr öffentlich zeigen, ſie müßten denn Luſt haben, die Fäuſte des Volksrichters Lynch kennen zu lernen.

Jn Oeſtreich dämmert mehr und mehr das Bewußtſein auf, daß die Türkei die Vormauer Oeſterreichs war, und daß die Zerſtörung dieſer Mauer ein richtiger Stoß ins Herz iſt.

Stünde in Oeſtreich ein Mann am Staatsruder, ein Mann, fähig zu denken, fähig zu handeln, fähig der Jnitiative es wäre ein Kinderſpiel, den nordiſchen Alp, ſammt deſſen vaxzin-ber - liniſchem Anhängſel abzuſchütteln und die Frage: Soll Europa koſakiſch werden? mit einem durchſchlagenden, welterlöſenden Nein! zu beant - worten.

Freilich, die ſchon vor faſt 60 Jahren geſtellte Alternative lautet: Koſakiſch oder republikaniſch. Jn die Sprache der Gegenwart über - ſetzt: Koſakiſch oder ſozialdemokratiſch.

Und können wir von Staatsmännern der alten Schule verlangen, daß ſie ſich für das republikaniſch und ſozialdemo - kratiſche entſcheiden?

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Da haben wir das Geheimniß der ruſſiſchen Erfolge. Rußland vertritt ein Prinzip, vertritt es ſtarr und konſequent: das Prinzip des Despotismus; dieſes Prinzip kann nur durch das entgegengeſetzte: das Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit überwunden werden; und dieſem Prinzip ſind die übrigen Mächte ebenſo feindlich, wie Rußland es iſt, feindlicher als ſie Rußland ſind. Wenn die Re - gierungen Oeſtreichs, Englands, Frankreichs klar und nett vor die Alternative geſtellt würden: koſſakiſch oder demokratiſch ſie würden unbedingt und ohne ſich zu beſinnen antworten: koſſakiſch! Gerade wie die franzöſiſchen Bourgeois in Paris 1870 und 1871 dachten und ſagten: lieber Bismarck und die Pruſſiens als die ſozialiſtiſchen Pariſer.

Jndeß wenn auch von den jetzigen Staaten kein radikales Vor - gehen gegen Rußland zu erwarten iſt, ſo folgt daraus doch nicht, daß man fataliſtiſch die Hände in den Schooß legen ſolle. Es iſt richtig: die ruſſiſche Macht kann nur bis zu einem gewiſſen Punkt anſchwellen, und dann muß von Seiten der erwachten und mündig gewordenen Völker der vernichtende Rückſchlag kommen, aber die Friſt bis zu dieſem Rückſchlag wird dadurch, daß man den Völkern die Tragweite der orientaliſchen Frage zeigt, weſentlich abgekürzt.

Ein ſchweizeriſches Parteiorgan hat, ich weiß nicht ob mit Bezugnahme auf meine Broſchüre, die Frage: Soll Europa koſſakiſch werden? als eine etwas kleinmüthige bezeichnet. Mich trifft der Vor - wurf jedenfalls nicht. Jch weiß ſo gut wie Einer, daß die ruſſiſchen Bäume nicht in den Himmel wachſen und daß der Tag des Gerichts nicht ausbleiben kann; aber ich weiß auch, daß es die ſchlechteſte Politik von der Welt iſt, einen Feind zu unterſchätzen, und, im philoſophiſchen Vertrauen darauf, daß er ſchließlich doch erliegen müſſe, auf ſeine Bekämpfung zu verzichten. Oder ſollen wir der famoſen Maxime des Exmitgliedes des Communiſtenbundes und heutigen Communiſten (in Gänsfüßchen) Miquel huldigen, der unter die Gründer gegangen iſt, um den Kapitalismus auf die Spitze zu treiben und ſo ſeinen Sturz zu beſchleunigen?

Wer nicht an die ruſſiſche Gefahr glaubt, der leſe in Kolb’s Statiſtik den ziffernmäßigen Nachweis von Rußlands wahrhaft lawinen - artigem Wachſen und Vordrängen. Hier nur einige Ziffern:

Die Entfernung von der ruſſiſchen Grenze

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Und gleich allen Erobererreichen, kann Rußland nicht Halt machen, es wird durch die Logik ſeiner Exiſtenz vorwärts getrieben, bis es entweder nach Jnnen zerfällt oder von Außen zertrümmert wird.

Doch kann denn überhaupt dieſes Rußland, das ſich militäriſch ſo ſchwach erwieſen hat, uns ernſtlich bedrohen? fragt wohl der Eine oder Andere. Die Antwort iſt leicht: Rußlands Stärke liegt nicht in ſeiner Armee, nicht in ſeinen materiellen Machtmitteln, die zu der räumlichen Größe des Reichs in einem faſt lächerlichen Mißverhältniß ſtehen, ſon - dern in der Thatſache, daß Rußland als Champion des Despotismus, der Völkerunterdrückung par excellence alle übrigen europäiſchen Re - gierungen mehr oder weniger zu Mitſchuldigen, die herrſchenden Klaſſen des übrigen Europa zu Bundesgenoſſen und Werkzeugen hat. Das iſt die Gefahr. Ueber das Rußland in Petersburg könnten wir lachen, wäre nicht das Rußland in Berlin, Wien, London, Paris.

Da ich Paris genannt habe, ſei hier erwähnt, daß die franzöſiſche Regierung, wie neuerdings offenbar geworden iſt, ſeit Beginn der orientaliſchen Kriſe bis zur Bildung des neueſten Miniſteriums ſich die größte Mühe gegeben hat, um Rußland zu einer Allianz gegen Deutſchland zu bewegen. Aus dieſer Thatſache erklärt ſich die ſonſt unverſtändliche Freude Bismarcks über den Sturz des Mac Mahon’ſchen Schürzen-Miniſteriums. Dem Urheber des Dreikaiſer - bündniſſes Pardon! des Dreikaiſer verhältniſſes muß es er - wünſcht ſein, den Schraubſtock der ruſſiſch-franzöſiſchen Allianz los zu werden. Allerdings dürfte Fürſt Bismarck ſich verrechnet haben, wenn er das aus der Linken genommene Miniſterium einer Allianz mit Ruß - land für unfähig hält. Herr Gambetta iſt zum Mindeſten ſo ruſſiſch, wie Mac Mahon und Thiers. Und ſollte die franzöſiſche Bourgeois - republik gelegentlich gegen Rußland ſich wenden, ſo geſchähe es nur, weil ſie auf dieſe Weiſe eher zur Revanche , d. h. zur Wiedereroberung von Elſaß-Lothringen zu gelangen hofft.

Jn welchem Grade der Abhängigkeit von Rußland nun aber ge - rade unſer großmächtiges Deutſches Reich ſich befindet, das verrieth von der famoſen Orientrede zu geſchweigen Fürſt Bismarck ſelbſt in der Reichstagsſitzung vom 25. Februar dieſes Jahres. Es handelte ſich, bei der Etatsberathung, um die Poſition: Botſchaft zu Peters - burg. Abgeordneter Frühauf benutzte den Anlaß, um die ruſſiſche Grenzſperre und die Scheerereien an der ruſſiſchen Grenze zur Sprache zu bringen und den Reichskanzler zu fragen, ob er nicht von der ruſ -51 ſiſchen Regierung Abhülfe verlangen wolle. Auf dieſe ſehr zahme Anfrage Frühauf iſt Nationalliberaler erwiderte Fürſt Bismarck:

Jch würde dem Herrn Vorredner recht dankbar ſein, wenn er praktiſche Vorſchläge machte. (!) Jch kann nur ſagen, daß es ſehr zweifelhaft ſei, daß wir noch in dieſer Seſſion die Ergebniſſe ſolcher Verhandlungen (mit der ruſſiſchen Regierung) zur Debatte ſtellen. Jch möchte überhaupt vor der Täuſchung warnen, daß poli - tiſche Freunde und Nachbarn nothwendigerweiſe Hand in Hand gehen müſſen in Bezug auf Schutzzoll und Grenzbehandlung. Die politiſchen Beziehungen haben darauf keinen Ein - fluß. Denn wenn es auch dieſen Augenblick den Anſchein hat, daß unſere Freundſchaft mit Rußland eine dauernde bleiben werde, ſo wechſeln doch dergleichen Momente in der Geſchichte zu raſch, um davon die Zollverhältniſſe abhängig machen zu können. Rußland richtet ſeine Zollverhältniſſe ſo ein, daß wir alles dahin abſetzen können und wir ſind einverſtanden mit dieſer ſchutzzöllneriſchen Einrichtung. Aber der Vorredner hat darauf hinausgewollt, wir ſollten die jetzige politiſche Situation Rußland gegenüber ausnutzen. Es ſchweben ja darüber noch Verhandlungen. Gelingt es, die ruſſiſche Regierung zu überzeugen, daß ihre Theorie die unrichtige iſt und unſere die richtige, ſo wäre das ja zu wünſchen; aber ich habe kein großes Vertrauen dazu, wir werden vielmehr hier nur durch unſere eigene Zollgeſetz - gebung einwirken können.

Man wird mir zugeben, daß beſcheidenere Worte dem Munde eines großen Staatsmannes , der das mächtigſte Reich der Welt regiert, nicht entſtrömen konnten. Daß Fürſt Bismarck ſonſt nicht eben ein Freund ſolch chriſtlich entſagungsvoller Sprache iſt, brauche ich den Leſern nicht zu ſagen; und wenn er derjenigen Macht gegenüber, welche durch ihre Grenzſperre den Oſten Deutſchlands, namentlich die preußiſchen Oſtprovinzen, darunter die Wiege der preußiſchen Monarchie, wirthſchaftlich ruinirt, durch ſkandalöſe Plackereien und Brutalitäten, denen ſpeziell deutſche Reiſende zum Opfer fallen, dem deutſchen Nationalgefühl Fußtritte über Fußtritte ertheilt, in den deutſchen Oſtſeeprovinzen, mit frecher Verletzung der Verträge, die deutſche Nationalität ſyſtematiſch auszurotten ſucht wenn dieſer Macht gegenüber Fürſt Bismarck eine ſo beſcheidene Sprache zu führen für angemeſſen findet, dann muß er dazu ſeine guten, zwingenden Gründe haben dann muß das Be - wußtſein der Gebundenheit, der Abhängigkeit ſeine Zunge beherrſchen.

Jn Einer Beziehung hat die Situation ſich geklärt. Rußland hat Farbe bekennen, und die Maske der uneigennützigen Menſchen -4 *52und Freiheitsliebe ablegen müſſen. Die Friedensbedingungen, welche es der Türkei ſtellt, und mit denen es wohlweislich bis zum letzten Moment hinter dem Berge hielt, ſind nun, freilich noch nicht in authentiſcher Geſtalt, doch mit dem untrüglichen Stempel der Aechtheit verſehen, der Oeffentlichkeit überliefert worden.

Betrachten wir ſie:

Rumänien, Serbien und Montenegro werden von der Türkei ganz losgeriſſen; und aus der Bulgarei ein autonomes , zum Schein vorläufig die Oberherrlichkeit (Suzeränität) der Pforte anerkennendes Fürſtenthum errichtet. Das künftige Fürſtenthum Bulgarien ſoll nicht nur das ehemalige Donau-Vilajet, ſondern alles Land ſüdlich vom Balkan zwiſchen Serbien und dem Schwarzen Meer mit Einſchluß von Sophia und Philipopel umfaſſen. Adrianopel wird der Türkei belaſſen, aber der größere Theil von Thracien und Macedonien , alſo etwa die Hälfte der noch übrigen europäiſchen Türkei, wird zu Bulgarien geſchlagen. Dieſes neuconſtruirte Fürſtenthum wird, bis die in Ausſicht geſtellte Notabeln-Verſammlnng den Fürſten wählt, von einer ruſſiſchen Commiſſion regiert werden und bleibt von 30,000 Mann ruſſiſcher Truppen beſetzt. Wie lange darüber verlautet nichts. Montenegro ſoll mit Antivari und Podgorizza und außerdem durch Vergrößerung im Nordoſten alſo einen Theil des Paſchaliks Novi-Bazar belohnt werden, Serbien ſoll Niſch und ein beträchtliches Stück von Bosnien erhalten. Außerdem verlangt Rußland eine Kriegsentſchädigung von 1400 Millionen Rubel und als Pfand dafür Armenien von Batum bis Bajazid. Da die Türkei niemals im Stande ſein wird, die geforderte Summe zu bezahlen, ſo bedeutet die Ver - pfändung halb Armeniens die definitive Abtretung dieſes Gebietes. Um aber in die eigenen leeren Taſchen etwas Bargeld zu bekommen, legt Rußland der Türkei noch 800 Millionen Mark Extraſtrafe in Obligationen auf, für deren pünktliche Verzinſung nebſt anderen Tributen auch der egyptiſche verpfändet erſcheint, der ſchon einmal für die ſogenannte engliſche Anleihe verpfändet ward. Nicht genug damit, verlangt Rußland auch die volle Rückzahlung der in türkiſchen Schuldverſchreibungen angelegten ruſſiſchen Kapitalien.

Auffallender oder auch nicht auffallender Weiſe werden die Dardanellen in den Friedensbedingungen gar nicht erwähnt. Das Motiv iſt nicht unſchwer zu entdecken. Rußland will England nicht reizen, um Oeſtreich, daß durch die Friedensbedingungen kaum minder geſchädigt wird als die Türkei, zu iſoliren und die gefürchtete engliſch-öſtreichiſche Allianz zu hintertreiben. Auf einen Con - flikt mit Oeſtreich ſcheint es die ruſſiſche Diplomatie alſo ankommen53 laſſen zu wollen. Sie muß der deutſchen Rückendeckung ſehr ſicher ſein, ſonſt wäre eine derartige Herausforderung ſelbſt - mörderiſcher Wahnſinn.

Außer obigen Bedingungen ſoll Rußland noch die Herausgabe der beſten türkiſchen Panzerſchiffe gefordert haben ein Verlangen, das bisher auf hartnäckigen, vermuthlich von England genährten Wider - ſtand der Türken geſtoßen iſt, von Rußland aber gewiß nicht zu einer conditio sine qua non (einer Bedingung, ohne die es keinen Frieden abſchließen würde) gemacht wird.

Mit Recht ſchreibt die Wiener Neue Freie Preſſe (vom 26. Febr. d. J.):

Liebenswürdig gegen England, ſind die ruſſiſchen Friedensbe - dingungen von einer wahren Bosheit gegen Oeſtreich dictirt. Sind ſie authentiſch (woran nicht zu zweifeln), dann hat im ruſſiſchen Haupt - quartier das Beſtreben, Oeſtreich zu ärgern, noch die Luſt überwogen, die Türkei zu demüthigen. Alles was Graf Andraſſy als unverträglich mit den Jntereſſen Oeſt reichs bezeich - nete, iſt mit der größten Sorgfalt in die Friedensbe - dingungen aufgenommen worden. Unſer Miniſter des Aus - wärtigen hatte erklärt, daß eine Ausdehnung des ſerbiſchen Kriegszuges nach Bosnien nicht geduldet werden könne, weil Bosnien in der öſtreichiſchen Jntereſſen-Sphäre liege. Darum erſcheint in den Friedens - bedingungen die Clauſel, daß Serbien eine beträchtliche Vergrößerung in Bosnien erhalten werde. Graf Andraſſy hatte wiederholt geäußert, er habe gegen eine Ausdehnung Montenegros auf albaniſchem Gebiete nichts einzuwenden, nur könne er nicht zugeben, daß die rauf - und raubluſtigen Söhne der Schwarzen Berge einen Hafen erhielten. Darum weiſen die Friedensbedingungen den Montenegrinern den Hafen von Antivari zu, der zwar ſchlecht iſt, aber mit einiger Arbeit gewiß in einen guten verwandelt werden kann. Graf Andraſſy hat es geradezu als eine offene Verletzung öſtreichiſcher Jntereſſen bezeichnet, wenn Bulgarien in ruſſiſchen Händen bleiben ſollte. Darum heißt es in den Friedensbedingungen kurz und trocken, das Land würde von einer ruſ - ſiſchen Commiſſion regiert und von dreißigtauſend Ruſſen beſetzt bleiben. Von der Freiheit der Donau, von den Schifffahrtverhältniſſen des Stromes wird nicht mit einer Sylbe geſprochen.

Nun, Herr Anhraſſy darf ſich nicht beklagen. Er hat die Früchte ſeiner Politik von Fall zu Fall , d. h. de chute en chute von ’Reinfall zu ’Reinfall.

Noch iſt der Präliminarfriede nicht abgeſchloſſen.

Präliminarfriede ? Warum nicht ſchlechtweg Friede ? Weil es kein Friede iſt. Es ſoll nämlich blos ein proviſoriſches Ab -54 kommen zwiſchen Rußland und der Türkei getroffen werden, deſſen Be - ſtätigung oder Nichtbeſtätigung Sache der projektirten Conferenz (oder wird’s Congreß heißen?) ſein wird.

Deutlicher kann nicht geſagt werden, daß Alles, was jetzt von der ruſſifchen Diplomatie zuſammengebraut wird, bloß einen rein pro - viſoriſchen Charakter trägt.

Genug: die Krallen des Erobrers ſind nicht mehr verhüllt. Hinter der Civiliſation und Freiheitsliebe lauerte die niedrigſte Raubgier, der gemeinſte Landhunger.

Und noch nach einer anderen Seite hin hat Rußland die Maske fallen gelaſſen. Es hat ſeine Beſtialität offenbart durch die Maſſen - hinrichtungen der in der Türkei gefangenen Polen, von denen die meiſten nicht einmal ehemalige ruſſiſche Unterthanen , ja Viele ſogar als Aerzte durch das Genfer Kreuz gedeckt waren. Durch dieſe freche Verletzung des Völkerrechts und der Menſchlichkeit hat das zariſche Rußland, |außer ſeiner Beſtialität, auch ſeine wahre Meinung über die Rechte der unterdrückten Nationalitäten , in hellem Tages - licht, vor verſammeltem Europa, proklamirt, und ſich den Stempel in - famſter Heuchelei aufgedrückt.

Für Den, der die moderne Geſchichte nur einigermaßen kennt, bedurfte es allerdings nicht dieſes Exempels aber es iſt ſo öffentlich ſtatuirt worden, daß fürderhin kein ehrlicher Menſch mit geſundem Menſchenverſtande das Recht hat, den Verſicherungen der ruſſiſchen Regierung zu glauben, daß ihr das Wohl der unterdrückten Nationali - täten am Herz liege.

Dem Verbrechen wird die Strafe folgen. Die Nemeſis wandelt nicht immer ſchnell, aber ſie geht ſicher.

Schon kann das geübte Ohr ihren Schritt hören. Die polni - ſche Frage und das iſt vielleicht das wichtigſte politiſche Ereigniß der Gegenwart die polniſche Frage ſteht auf der Tages - ordnung; im deutſchen Reichstag und im öſterreichiſchen Abgeordneten - haus iſt ſie unter dem zwingenden Druck der Verhältniſſe zur Be - ſprechung gelangt, und im deutſchen Reichstag iſt die Wiederher - ſtellung Polens im Namen der Humanität, des nationalen Jntereſſes und der internationalen Gerechtigkeit gefordert worden.

Wird der Friede zwiſchen Rußland und der Türkei, deſſen Ab - ſchluß ſeit 14 Tagen der bang harrenden Welt faſt ſtündlich verheißen wird, unterzeichnet werden? Wird der Congreß (oder die Con - ferenz) zuſammen kommen? Oder werden die Verhandlungen zwiſchen Ruſſen und Türken ſich zerſchlagen, und wird die Kriegsfurie von Neuem entfeſſelt und über Europa losgelaſſen werden?

Wer kann es wiſſen. Die Ereigniſſe ſind längſt den Händen55 jener Staatsſtümper entſchlüpft, die ſich Staatsmänner zu tituliren lieben, und das ſcheinbar unbedeutendſte untoward event (unvorhergeſehener Zwiſchenfall) genügt, ſämmtliche Zirkel der ban - krouten Diplomatie zu zerſtören und die Welt in das Chaos zu ſchleudern.

Möglich, daß die Kataſtrophe vertagt wird. Möglich, daß ſie in nächſter Zeit hereinbricht.

Ob früher, ob ſpäter ſie iſt unabwendbar, und mit einem europäiſchen Krieg wird es ſchwerlich gethan ſein.

Aus dem Schooße des Choas aber ringt ſich der Kosmos, die harmoniſche Ordnung hervor.

Die Shampowers um einen Carlyle’ſchen Ausdruck zu gebrauchen, welche ſich auf den Trümmern des alten Europa breit machen, die falſchen Scheinmächte, gegründet auf Eiſen nicht dem Eiſen der Pflugſchaar, ſondern dem des menſchenmordenden Schwerts zuſammengeleimt mit Blut, mit Menſchenblut, lebend von der Lüge, aus der Hand in den Mund ſie werden an ihrer Lüge, an ihrem Blut und Eiſen zu Grunde gehn; und auf dem Fundament der Gerechtigkeit wird ein neues, internationales Staaten - ſyſtem erſtehen.

Das wiederhergeſtellte Polen iſt ein Glied in dieſem Syſtem, ein unentbehrlicher Theil des Europa der Zukunft.

Heiße Kämpfe wird’s koſten.

Wer kennt nicht das herrliche Gedicht Freiligrath’s: Die Schlacht am Birkenbaum? Dichter ſind Seher, und ein Seher iſt’s, der am Waldbrand auf der Haar das Geſicht hatte:

Jch ſah hinab und ich ſah genau
Da ſchwammen die Aecker in Blut,
Da hing’s an den Aehren wie rother Thau,
Und der Himmel war Eine Gluth!
Um die Höfe ſah ich die Flamme wehen,
Und die Dörfer brannten wie dürres Gras;
Es war, als hätt ich die Welt geſehen
Durch Höhrauch oder durch farbig Glas:
Und zwei Heere, zahllos wie Blätter im Buſch,
Hieben wild auf einander ein;
Das eine, mit hellem Trompetentuſch,
Zog heran in der Richtung vom Rhein.
Das waren die Völker des Weſtens, die Freien!
Bis zum Haarweg ſcholl ihrer Pferde Gewieh’r,
Und voraus flog ihren unendlichen Reihen
Jm Rauche des Pulvers ein roth Panier!
56
Roth, Roth, Roth! das einige Roth!
Kein prunkendes Wappen drauf!
Das trieb ſie hinein in den jauchzenden Tod,
Das band ſie, das hielt ſie zuhauf!
Das warf ſie entgegen den Sklaven aus Oſten,
Die, das Banner beſtickt mit wildem Gethier,
Unabſehbar über die Fläche tosten
Auf das dröhnende, zitternde Kampfrevier.
Und ich wußte doch hat es mir Keiner geſagt!
Das iſt die letzte Schlacht,
Die der Oſten gegen den Weſten wagt
Um den Sieg und um die Macht!
Das iſt der Knechtſchaft letztes Verenden!
Das iſt, wie nie noch ein Würfel fiel,
Aus der Könige kalten, bebenden Händen
Der letzte Wurf in dem alten Spiel!

Und die Freien ſiegen.

Wann wird ſie geſchlagen werden die letzte Schlacht?

Zum Schluß theile ich noch zwei Briefe eines Freundes mit, der die orientaliſche Frage ſtudirt hat, wie kaum ein Zweiter. Das ſcharfe Urtheil, der ſichere Blick, die umfaſſenden Kenntniſſe verrathen den Meiſter. Ex ungue leonem.

[57]

Wir nehmen die entſchiedenſte Partei für die Türken, aus 2 Gründen:

1) weil wir den türkiſchen Bauer alſo die türkiſche Volks - maſſe ſtudirt und ihn daher als unbedingt einen der tüchtigſten und ſittlichſten Repräſentanten des Bauernthums in Europa kennen gelernt haben.

2) Weil die Niederlage der Ruſſen die ſoziale Um - wälzung in Rußland, deren Elemente maſſenhaft vorhanden, ſehr beſchleunigt haben würde und damit den Umſchwung in ganz Europa.

Die Sachen ſind anders gegangen. Warum? Jn Folge des Verraths von England und Oeſtreich.

England, ich meine die engliſche Regierung, hat z. B. die Serben gerettet, als ſie geſchlagen waren; es hat unter falſchen Vor - ſpiegelungen die Türken veranlaßt, den Krieg zu ſuspendiren, in dem Wahn, die Ruſſen hätten einen Waffenſtillſtand angeboten (durch England), deſſen erſte Bedingung dieſe Suspenſion. Dies allein hat die letzten plötzlichen Erfolge der Ruſſen ermöglicht. Jhre Armee wäre ſonſt durch Hunger und Kälte dezimirt worden: nur die Oeffnung der Wege nach Rumelien, wo Vorräthe zu haben (d. i. zu nehmen) waren und wo außerdem das Klima milder, erlaubte ihnen aus der Mausfalle in Bulgarien, die ſie mit Soldaten überfüllt hatten, zu entrinnen und ihre Schaaren in den Süden zu ergießen. Disraeli war (iſt noch) gelähmt im eignen Cabinet durch den ruſſiſchen Agenten Marquis von Salisbury, den Jntimus des Jgnatieff; den Großkophta of Common place (Hoherprieſter des Gemeinplatzes) Earl of (Graf von) Derby und den jetzt abge - tretenen Earl of Carnarvon.

Oeſtreich hinderte die Türken, ihre Siege in Montenegro frucht - bringend zu machen u. ſ. w.

Endlich und dies iſt ein Hauptgrund ihrer ſchließlichen Nieder - lage die Türken verſäumten eine Revolution in Konſtanti - nopel zu machen, ſo blieb die Jncarnation (Verkörperung) des alten58 Serailregiments Mahmud Damat der Schwager des Sul - tans, der eigentliche Lenker des Krieges, abſolut daſſelbe, als ob das ruſſiſche Kabinet direkt den Krieg gegen ſich ſelbſt dirigirt hätte. Die ſyſtematiſche Paralyſirung und Compromittirung der tür - kiſchen Armee durch dieſen Burſchen kann bis ins kleinſte Detail nach - gewieſen werden. Uebrigens iſt’s allbekannt in Konſtantinopel und dies erhöht die hiſtoriſche Schuld der Türken. Ein Volk, welches in ſolchen Momenten der höchſten Kriſe nicht revolutionär dreinzufahren weiß, iſt verloren. Die ruſſiſche Regierung wußte, was ihr der Damat werth war; ſie hat mehr Strategie und Taktik angewandt, um den Midhat Paſcha von Conſtantinopel entfernt, und den Damat am Regierungsruder zu halten, als wie Plewna zu nehmen.

Natürlich im Hintergrund des ruſſiſchen Erfolges ſteht Bis - marck. Er ſtiftete den Dreikaiſerbund, durch welchen Oeſtreich ruhig gehalten wurde. Selbſt nach dem Fall Plewnas hatte Oeſtreich nur 100,000 Mann aufzuſtellen und die Ruſſen hätten ſich ſtille zurückziehen oder ſich mit den beſcheidenſten Reſultaten begnügen müſſen. Oeſtreichs Abdankung gab von vornherein der ruſſiſchen Partei in England das Oberwaſſer, da Frankreich (in Folge der von Herrn Gladſtone, damals Premierminiſter, geförderten Poſt-Sedan’ſchen Kata - ſtrophe Kataſtrophe nach Sedan) als continentale Militärmacht nicht mehr für England exiſtirte.

Die Folge iſt einfach die Auflöſung Oeſterreichs, die unver - meidlich iſt, wenn die ruſſiſchen Friedensbedingungen angenommen werden und damit die Türkei (wenigſtens in Europa) nur noch formell fort - exiſtiren wird. Die Türkei bildete den Damm Oeſtreichs gegen Rußland und ſein ſlaviſches Gefolge. Alſo zunächſt wird man wohl im geeigneten Moment ſich Böhmen ausbitten.

Aber Preußen als Preußen alſo in ſeinem ſpezifiſchen Gegenſatz zu Deutſchland hat noch andere Jntereſſen: Preußen als ſolches iſt ſeine Dynaſtie, iſt geworden und iſt auf ruſſiſcher Hinter - lage , was es iſt. Niederlage Rußlands, Revolution in Rußland wäre das Todtengeläute für Preußen.

Sonſt hätte wohl ſelbſt Herr von Bismarck nach dem großen Sieg über Frankreich, nachdem Preußen die erſte Militärmacht Europa’s geworden, ihm nicht wieder dieſelbe Stellung gegenüber Rußland ange - wieſen, die es als fünftes Rad am europäiſchen Staatswagen 1815 einnahm.

Endlich iſt für ſolche große Männer, wie Bismarck, Molkte ꝛc. die perſönliche Wichtigkeit, welche die jetzt eröffnete Aufeinander - folge europäiſcher Kriege in Ausſicht ſtellt, keineswegs etwas Gleichgültiges.

59

Daß Preußen gelegentlich Compenſation für die durch es allein ermöglichten ruſſiſchen Erfolge wird fordern müſſen, liegt auf der Hand. Es erhellt dies ſchon aus dem Betragen der Ruſſen gegen die rumäniſche Regierung, die dieſelben Ruſſen bei Plewna gerettet hat, bevor die moskowitiſchen Truppennachſchübe angekommen. Zum Dank ſoll Karl von Hohenzollern nun den nach dem Krimkrieg von den Ruſſen cedirten Theil von Beſſarabien wieder abgeben. Daß dies in Berlin nicht ohne Weiteres erlaubt werden wird, weiß man in Petersburg, und iſt zu einer handsome (hübſchen) Entſchädigung gern bereit.

Aber die ganze Geſchichte hat auch andere Seiten. Die Türkei und Oeſtreich waren das letzte Bollwerk der alten europäiſchen Staaten - ordnung, die 1815 wieder zurechtgeflickt wurde, ſie bricht mit ihrem Untergange vollſtändig zuſammen. Der Krach der ſich in einer Reihe ( lokaliſirter und zuletzt allgemeiner ) Kriege vollziehen wird, beſchleunigt die ſoziale Kriſis und mit ihr den Unter - gang aller dieſer ſäbelraſſelnden Shampowers (falſchen Scheinmächte).

Ein Gutes haben die Ruſſen erreicht; ſie haben die große liberale Partei Englands geſprengt und für lange regierungsunfähig gemacht, während die Torypartei die Mühe, ſich todtzumachen, durch die Ver - räther Derby und Salisbury (dieſer das eigentliche ruſſiſche Triebrad im Cabinet) in officieller Weiſe vollzogen hat.

Die engliſche Arbeiterklaſſe war nach und nach durch die Corrup - tionsperiode ſeit 1848 tiefer und tiefer demoraliſirt worden und endlich ſo weit gekommen, nur noch den Schwanz der großen liberalen Partei, d. h. ihrer Knechter, der Capitaliſten, zu bilden. Jhre Lenkung war ganz übergegangen in die Hände der verkäuflichen Trades-Unions-Führer und Agitatoren von Handwerk. Dieſe Burſchen ſchrieen und heulten in ma - jorem gloriam des völkerbefreienden Zar, hinter den Gladſtone, Bright, Mundella, Morley, dem Fabrikantenpack ꝛc., während ſie keinen Finger rührten für ihre eigenen, in Süd-Wales von den Grubenbeſitzern zum Hungertod verurtheilten Brüder. Die Elenden! Um das Ganze würdig zu krönen, haben in den letzten Abſtimmungen des Hauſes der Gemeinen (am 7. und 8. Februar, wo die meiſten Großwürdenträger der großen liberalen Partei die Forſter, Lowe, Harcourt, Goſchen, Hartington, und ſogar [am 7. Febr.] der große John Bright ſelbſt ihre Armee im Stich ließen und bei der Abſtimmung durchbrannten, um ſich durch ein Votum nicht gar zu ſehr zu compromittiren ) die einzigen Arbeitervertreter im Haus der Gemeinen, und zwar, horribile dictu, directe Vertreter der Minenarbeiter, und ſelbſt Minenarbeiter von Haus aus, Burt, und der erbärm -60 liche Mac Donnell mit dem für den Czar ſchwärmenden Rumpf der großen liberalen Partei geſtimmt!

Aber die raſche Entfaltung der ruſſiſchen Pläne hat plötzlich den Zauber gebrochen, die mechaniſche Agitation (Fünfpfundnoten, die Haupttriebfeder des Mechanismus) geſprengt; in dieſem Augenblicke wäre es leibesgefährlich für die Mothershead, Howell, John Hales, Shipton, Osborne und das ganze Pack, ihre Stimme in einem öffentlichen Arbeitermeeting hören zu laſſen; ſogar ihre Corner - und Ticketmeetings (Winkelmeetings gegen Eintrittskarte) werden von der Volksmaſſe gewaltſam aufgelöſt und auseinandergejagt.

Aber der ſchwerfällige Angelſachſe wird zu ſpät wach, wenig - ſtens für die nächſten Ereigniſſe.

Die ruſſiſche Diplomatie iſt weit entfernt, die albernen chriſt - lichen Antipathien gegen den Halbmond zu theilen. Die Türkei reducirt auf Conſtantinopel und einen kleinen Theil von Rumelien in Europa, aber mit compactem Hinterland in Kleinaſien, Arabien ꝛc. ſoll durch Offenſiv - und Defenſiv-Allianz an Rußland gekettet werden.

Während des letzten Feldzugs thaten die 120,000 Polen in der ruſſiſchen Armee großen Dienſt; jetzt zu den Polen die Türken und die zwei tapferſten Stämme von Europa, die an Europa ihre Schmach zu rächen haben, unter ruſſiſcher Fahne keine ſchlechte Jdee!

1829 handelte Preußen aber damals auch nur noch der größte europäiſche Kleinſtaat und eingeſtändiger Protégé von Rußland gerade wie jetzt.

Die verzweifelte Lage, worin ſich das ruſſiſche Heer nach Ueber - ſteigen des Balkans durch Diebitſch (Juli 1829) befand, hat Moltke gut geſchildert. Es war nur noch durch Diplomatie zu retten.

Die zweite Campagne war auf dem Punkt ebenſo ſchlecht abzu - laufen wie die erſte und dann finis Russiae dann war es mit Rußland aus. Deßhalb kam Nicolaus, der Czar, unter dem Vor - wand, der Heirath des Prinzen Wilhelm von Preußen (jetziger deutſcher Kaiſer) beizuwohnen, am 10. Juni 1829 nach Berlin. Er bat Friedrich Wilhelm III. (den im Siegeskranz ), die Pforte zu vermögen, ihm Bevollmächtigte zu ſchicken, um die Friedens - verhandlungen zu eröffnen. Damals war Diebitſch noch nicht über den Balkan, der größte Theil ſeiner Armee feſtgehalten vor Siliſtria und um Schumla. Friedrich Wilhelm III., im Einverſtändniß mit Nicolaus, beorderte Baron Müffling officiell als außerordentlichen Geſandten nach Conſtantinopel; er ſollte dort aber als Agent für Ruß - land handeln. Müffling war reiner Ruffe, wie er ſelbſt im Aus meinem Leben erzählt; er hatte den Feldzugsplan der Ruſſen 182761 entworfen, er beſtand auch darauf, daß Diebitſch coûte que coûte (es koſte was es wolle) über den Balkan marſchiren müſſe, während er in Conſtantinopel als Friedensvermittler intriguirte; er ſagt ſelbſt, daß der Sultan, durch ſolchen Marſch erſchreckt, an ihn als Freund appelliren werde.

Unter dem Vorwand, den europäiſchen Frieden zu ſichern, gelang es ihm, Frankreich und England zu kirren; letzteres namentlich, indem er durch den ruſſenfreundlichen engliſchen Geſandten Robert Gordon auf deſſen Bruder, den Earl of Aberdeen und durch dieſen auf Wellington der es ſpäter bitter bereut hat wirkte.

Nach der Ueberſchreitung des Balkan durch Diebitſch hatte letzterer das Vergnügen, daß am 25. Juli (1829) Reſchid Paſcha ihn brief - lich zur Eröffnung der Friedensverhandlungen einlud. Am ſelben Tage hatte Müffling ſeine erſte Unterredung mit Reis Effendi (dem türkiſchen Miniſter des Auswärtigen), den er durch heftige Sprache (à la Prinz Reuß) einſchüchterte; er berief ſich dabei auf Gordon ꝛc. Der Sultan, unter dem Drucke des preußiſchen Geſandten (unterſtützt vom engliſchen Geſandten Gordon und dem franzöſiſchen Guille - minot, beide durch Müffling bearbeitet), nahm folgende 5 Friedens - bedingungen an: 1) Jntegrität des ottomaniſchen Reichs; 2) Erhaltung der früheren Verträge zwiſchen der Pforte und Rußland; 3) Zutritt der Pforte zum Vertrag von London (geſchloſſen 6. Juli 1827) zwiſchen Frankreich, England und Rußland, betreffend die Regulirung der griechiſchen Angelegenheiten; 4) ſolide Garantien für die Freiheit der Schifffahrt im Schwarzen Meer; 5) weitere Negotiationen (Ver - handlungen) zwiſchen türkiſchen und ruſſiſchen Geſchäftsführern über Jn - demnitäts - (Entſchädigungs -) Forderungen und alle anderen Prätentionen (Anſprüche) der beiden Parteien.

Am 28. Auguſt kamen die zwei türkiſchen Bevollmächtigten Sadek Effendi und Abdul Kader Bey, begleitet von Küſter (preußiſcher Geſandtſchaftsattaché in Conſtantinopel) zu Adrianopel an, wo das ruſſiſche Generalquartier ſeit ungefähr 8 Tagen war. Am 1. September eröffnete Diebitſch die Unterhandlungen, ohne die ruſſiſchen Bevollmächtigten (Alexis Orloff und Pahlen), die erſt bis Burgas gekommen, abzuwarten.

Aber während der Unterhandlungen ſtieß Diebitſch fortwährend ſeine Truppen nach Conſtantinopel vor. Frech und arrogant (trotz ſeiner faulen Lage oder vielmehr wegen derſelben) verlangte er in einem Termin von 8 Tagen Zuſtimmung der türkiſchen Bevollmächtigten zu folgenden Punkten:

Die Feſtungen von Braila, Giurgewo und Kalafat zu ſchleifen, die Orte ſelbſt der Wallachei einzuverleiben. Abtretung an Rußland62 von Anapa und Poti am Schwarzen Meer und des Paſchalik Achalzik; 700,000 Börſen (etwa 120 Millionen Franken) Kriegs - entſchädigung, deren Zahlung zu garantiren durch Siliſtria und die Donau-Fürſtenthümer als Fauſtpfand in der Hand der Ruſſen. Jn - demnität von ungefähr 15 Millionen Franken an die ruſſiſchen Kauf - leute, für Verluſte, zahlbar in 3 Terminen, nach deren jedem die ruſſiſche Armee ſich zurückziehen würde, erſt an den Fuß des Balkans, dann nördlich von dieſer Bergkette, endlich über die Donau.

Die Pforte proteſtirte gegen dieſe Bedingungen, die ſo ſehr im Widerſpruch waren mit den Mäßigkeitsverſicherungen des Czars. Der neue preußiſche Geſandte Roher (Müffling war am 5. Sept. verduftet, nachdem er ſein Henkerwerk vollbracht, er der Freund der Pforte und Friedensengel), zuſammen mit dem von Müffling ein - geſeiften General Guilleminot und Sir Robert Gordon unter - ſtützten die Reklamationen der Pforte, denn dieſe Frech - heit war gegen die Verabredung, ging ſogar dem im Siegerkranz zu weit. Diebitſch wußte, daß er militäriſch in der Patſche ſaß, machte Scheinconceſſionen: der Artikel über den Betrag der Kriegs - indemnität ſollte zurückgezogen werden im öffentlichen Friedens - vertrage; die erſte Quote der Schadenerſatzzahlung an den ruſſiſchen Handel wurde verringert, denn, wie die türkiſchen Geſandten ſagten: Der Unwiſſendſte wüßte, daß die Pforte nicht zahlen könnte. Der Friede wurde endlich geſchloſſen am 5. September.

Große Senſation in Europa, große Entrüſtung in England; Wellington ſchäumte; ſelbſt Aberdeen wies in einer Depeſche die Gefahr nach, die hinter jeder einzelnen Friedensklauſel lauerte, und verſuchte eine allgemeine Allianz hervorzurufen, wodurch alle Großmächte (Ruß - land eingeſchloſſen) den Frieden im Orient garantiren wür - den. Oeſtreich war willig; aber Preußen vereitelte das Pro - jekt, rettete Rußland von den Gefahren, womit ein europäiſcher Congreß es bedrohte. (Frankreich, wo Carl X. den Staatsſtreich vorbereitete, bahnte ein geheimes Einverſtändniß mit Rußland an; es wurde auch ein Geheimvertrag abgeſchloſſen, wonach Frankreich die Rhein - provinzen erhalten ſollte.)

Unter dieſen Umſtänden hatte Neſſelrode ſich nicht zu geniren; er ſchrieb eine unverſchämte und höhniſche Depeſche an die engliſchen Miniſter, d. h. eine Depeſche, gerichtet an Graf Lieven (den ruſſiſchen Geſandten) in London.

Dies that Preußen damals und hat es jetzt auf größerer Stufen - leiter wiederholt. Schöne Hohenſtaufen dieſe Hohenzollern! Bismarck hatte die Staatsweisheit leicht in der öſterreichiſchen und franzöſiſchen Affaire; gegen Oeſtreich hatte er den Schutz Bonapartes und die Jta -63 liener, und gegen Frankreich hatte er ganz Europa. Außerdem war das Ziel, das er anſtrebte, von den Verhältniſſen geſtellt und vor - bereitet.

Jetzt, wo die Verhältniſſe verwickelt, iſts mit der Genialität zu Ende.

Jm Jnnern von Rußland ſtehts kraus. Der milde Alexander will in Novaja Zemlja eine Strafverbannungsanſtalt für poli - tiſche Verbrecher errichten, das wäre la mort sans phrase der Tod ohne Phraſe. Es wäre wünſchenswerth, daß zunächſt für ein Jahr oder 2 der Friede zu Stande käme. Es wäre namentlich nützlich für die Entwickelung des innern Verfalls in Rußland. Der erſte Schritt der dortigen Regierung (folgend dem preußiſchen Vorbild nach 1815) wäre Verfolgung der panſlaviſtiſchen Agitatoren. Soweit nöthig, hat man ſie benutzt; die Strafe wird auf dem Fuß folgen, wenn das Kriegsgetümmel aufhört.

Druck von R. E. Höhme in Leipzig.

About this transcription

TextZur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden?
Author Wilhelm Liebknecht
Extent73 images; 20639 tokens; 5675 types; 156758 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationZur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? Ein Mahnwort an das deutsche Volk Wilhelm Liebknecht. 2., um 1 Bogen verm. Aufl.. 63 S. HöhmeLeipzig1878.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Berlin SBB-PK, 43 MA 12410

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Politik; Gebrauchsliteratur; Politik; core; ready; china

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