PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Lehre vom Urſtand des Menſchen,
geſchichtlich und dogmatiſch-apologetiſch unterſucht
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Gütersloh. Druck und Verlag von C. Bertelsmann. 1879.
Die Lehre vom Urſtand des Menſchen.
Die Lehre vom Urſtand des Menſchen,
geſchichtlich und dogmatiſch-apologetiſch unterſucht
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Gütersloh. Druck und Verlag von C. Bertelsmann. 1879.

Alle Rechte vorbehalten.

Seinem lieben Vater Herrn Konrad Zöckler, Großh. heſſiſchem Dekan a. D., Pfarrer zu Königſtädten bei Groß-Geran, zur demnächſt (am 1. Januar 1880) bevorſtehenden Feier des 50jährigen Amtsjubiläums, ſowie ſeinem lieben Schwiegervater Herrn Dr. Eduard Geiſt, em. Director des Gymnaſiums zu Gießen, R. d. O. Philipps d. Großm. 1. Cl., ꝛc. zur Erinnerung an die bereits ſtattgehabte 50j. Jubiläumsfeier

in kindlicher Liebe dargebracht vom Verfaſſer.

Vorwort.

Jn meinem größeren geſchichtlichen Werke hat das Kapitel vom Urſtand (de statu integritatis) bereits einige Berückſichtigung erfahren. Dieß jedoch nur nach der hiſtoriſchen Seite, und auch in dieſer Hinſicht weder erſchöpfend vollſtändig, noch ſo, daß ſein Entwicklungsgang zuſam - menhängend und als einheitliches Ganzes zur Darſtellung gelangt wäre. Daß eine genauere monographiſche Beleuchtung des Gegenſtandes Zeit - bedürfniß iſt, legt die nachfolgende Einleitung in Kürze dar. Der her - kömmlichen dogmatiſchen und apologetiſchen Behandlungsweiſe habe ich nach einer bisher auffallend vernachläſſigten und doch gerade für gewiſſe Pro - bleme der Gegenwart höchſt wichtigen Seite hin eine Bereicherung zu er - theilen verſucht. Jch habe nemlich die ſowohl bibliſch wie durch ſonſtige uralte Traditionen bezeugten höheren Lebensalter der älteſten Menſchheitsſtammväter unter den Geſichtspunkt einer allmählig dahin ſchwindenden Nachwirkung des Urſtands mit ſeinen reineren und reicheren Lebenskräften geſtellt, und ſo der Thatſache eines Ausgegangen - ſeins der menſchlichen Entwicklung von unſündlichen Anfängen einerſeits eine umfänglichere Bedeutung, andrerſeits eine feſtere Stütze zu gewähren geſucht. Ob es mir gelungen iſt, über das nothwendigerweiſe vieles Dunkle und ſchwer Ergründbare in ſich begreifende Gebiet, deſſen Be - arbeitung mir hienach oblag, allenthalben das erforderliche Licht zu ver - breiten, darüber mögen meine geneigten Leſer urtheilen. Auf jeden Fall hoffe ich die aus den neueſten Verhandlungen über Urſprung und Urzeit des Menſchengeſchlechts reſultirende Nothwendigkeit dargethan zu haben, daß ſowohl bei lehrhafter (dogmatiſcher und ethiſcher) wie bei heilsgeſchichtlich - apologetiſcher Behandlung des Lehrſtücks vom ſündloſen Urzuſtande der Menſchheit künftig mehr Rückſicht auf jenes daran grenzende und innerlich damit zuſammenhängende Gebiet genommen werde, als dieß bisher ge - ſchehen iſt.

Der Verfaſſer.

Jnhalts-Ueberſicht.

  • Seite
  • Einleitung. Stand der Frage1
  • I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung10
  • II. Die Schriftlehre vom Urſtande54
  • III. Die Traditionen des Heidenthums84
  • IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus113
  • V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen (paläontologiſchen) Gegeninſtanzen152
  • VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen180
  • VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts: wo gelegen? ob einer? ob mehrere? 216
  • VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen als Nachglanz der Paradieſes - herrlichkeit244
  • IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts289
  • X. Schluß: Die richtig gefaßte Theorie vom Kindesalter der Menſchheit als Löſung des Räthſels der Urſtandsfrage326

Berichtigungen.

  • S. 63 Z. 2 v. o. lies: auflösbare.
  • 85 10 v. u. Künſten.
  • 101 13 v. o. Nr. VII (ſtatt Nr. VIII).
  • 159 7 v. paläolithiſches.
  • 172 9 v. VI, 3 (ſtatt VII, 3).
  • 187 11 v. u. Pidſchen.
  • 228 2 v. Medien.
  • 232 4 v. o. Coadamiten.
  • 310 8 Päonier (ſt. Pöonier).
  • 323 2 Diduction (ſt. Deduclion).
[1]

Einleitung.

Stand der Frage.

Die Annahme eines glücklichen Unſchuldsſtandes als Ausgangs - punkts für die geſchichtliche Entwicklung der Menſchheit gehört nicht zu denjenigen Beſtandtheilen kirchlicher Lehrüberlieferung, welche das moderne Zeitbewußtſein gelten läßt oder gar begünſtigt. Soweit daſſelbe unter dem Banne jener naturwiſſenſchaftlichen Weltanſicht ſteht, die eine Grenze zwiſchen Thier und Menſch überhaupt nicht mehr anerkennt, alſo der Theologie überall die Zoologie zu ſub - ſtituiren ſucht, hält es ſelbſtverſtändlich jedwede, auch die beſcheidenſte Formulirung der Annahme für gleichbedeutend mit albernem Aber - glauben. Der Fortſchrittsphiloſophie des reinen Monismus er - ſcheint nichts abſurder, als die Anfänge unſrer Culturentwicklung anderwärts als in den ſocialen Trieben und Jnſtincten der höheren Wirbelthiere ſuchen zu wollen. Selbſt die niedere Thierwelt wird von dieſer Schule gelegentlich, wenn es den Urſprung der Religion oder andrer Momente des Geiſteslebens zu erklären gilt, mit herbei - gezogen. Huxley meinte unlängſt, falls es Lubbock gelänge, bei den Ameiſen u. a. auch religiöſe Empfindungen nachzuweiſen, ſo wäre auch dieſer Nachweis als eine intereſſante Bereicherung der Zoologie willkommen zu heißen. Gerade die Exiſtenz der Religion , ſchreibt v. Hellwald, iſt, da ihre Wurzeln bis in die Thierwelt hinabreichen, einer der kräftigſten ſchlagendſten Beweiſe für unſre thieriſche Herkunft, für unſer langes Emporarbeiten aus den aller - tiefſten Culturſtufen; wäre der Menſch, wie man ſo lange lehrteZöckler, Urſtand. 12Einleitung.und noch lehrt, von Hauſe aus ein vollkommenes Weſen geweſen, ſo hätte er der Religion, des Glaubens einfach nicht bedurft; er hätte gewußt, nicht geglaubt, denn das Wiſſen ſchließt den Glauben aus, ꝛc. Mit lapidarſtilartiger Kürze thut Schaaffhauſen (als Vor - ſitzender der deutſchen Anthropologen-Verſammlung zu Kiel 1878) den Machtſpruch: als erſtes und ſicherſtes Ergebniß der prähiſtoriſchen Anthropologie ſei erkannt, daß der heute lebende Menſch nicht in einer urſprünglichen Vollkommenheit geſchaffen worden iſt, die er verloren hat; ſondern er erſcheine uns immer roher und thieriſcher, je weiter zurück wir ſein Bild verfolgen. Vornehmlich im Hinblick auf die kirchliche Lehre vom Urſtand begrüßt der Novara-Reiſende und Ethnologe K. v. Scherzer mit großer Genugthuung es als ein launiges Spiel des Zufalls, daß gerade im bibelfeſten England die erſte Breſche in die Legende der Schöpfungsgeſchichte geſchoſſen worden. Derſelbe meint, Darwins in die verſchiedenſten Geſell - ſchaftsſchichten gedrungene Deſcendenztheorie habe der orthodoxen Kirche und ihren Dogmen weit mehr Schaden zugefügt, als Koper - nikus (!) und Galilei. 1)Huxley, Vortrag vor der anthropolog. Section der Brit. Aſſociation zu Dublin 1878. F. v. Hellwald, Culturgeſchichtliche Randgloſſen, Ausland 1879, Nr. 11, S. 205 f. Schaaffhauſen, in den Verh. der IX. allg. Verſammlung der d. G. f. Anthropologie ꝛc. zu Kiel, redig. von J. Ranke, München 1878, S. 85. K. v. Scherzer, Reſultate auf dem Gebiete der Anthropometrie, in Petermanns Geogr. Mittheilungen, 1879, IV, 147.

Sehen wir von dieſer Art von Gegnern ab, denen zugleich mit dem ſündloſen Urſtande auch die Sünde als etwas nur Eingebildetes, nicht wirklich Exiſtirendes gilt und die für die richtige Religion der Gegenwart den Monismus, d. i. den naturphiloſophiſchen Atheismus erklären, ſo bleibt immerhin auch bei den gemäßigteren Aufklärern unſrer Tage ein überwiegend abſchätziges Urtheil über den Werth der kirchlichen Lehre vom Urſtand und eine kühle Skepſis in Betreff der Geſchichtlichkeit auch nur eines Kernes deſſelben das Vor - herrſchende. Hören wir den Sprecher des politiſchen Liberalismus und3Einleitung.zugleich den Vertreter eines nicht gerade extremen Reformjudenthums. Faſt alle Völker , ſagt Lasker, haben ſagenhaft oder als Glaubens - lehre eine in ſchuldloſer Einfachheit glückſelige Vergangenheit als Urzuſtand ſich vorgeſtellt. Die geſchichtliche Beſtätigung fehlt; in die erſten Anfänge der Völker des heutigen Civiliſationsſyſtems reicht die Beobachtung nicht zurück Liegt, ſo fragt derſelbe, der Höhepunkt des menſchlichen Genius hinter uns, und vor uns allein die Arbeit, die verlorene Höhe wieder zu erklimmen? Viele glauben es, aber oberflächliche Beobachtungen verleiten ſie. Der einzig erkennbare Faden in der leider nur ſtückweiſe bekannten Ge - ſchichte der Menſchheit zeigt uns dieſe in ununterbrochenem Fort - ſchritte. Es bleibe daher dahin geſtellt das Dunkel der Anfänge, in welches der Blick keines Forſchers gedrungen und nur der ver - muthende Gedanke ſich mit Willkür verſetzt! Man laſſe ſie fahren, die Hypotheſen jenes nebelhaften Bereichs, wo die Perſon des Schöpfers die letzte Kenntniß des Urgeſetzes erſetzt ! Beim Buſenfreunde eines Culturforſchers wie C. Tweſten läßt ſich ein andres Urtheil über den Gegenſtand kaum erwarten. Aehnlich äußert ſich der bekannte belgiſche Fortſchrittsphiloſoph Laurent, allerdings ſonſt ein Vertreter Krauſeſcher Jdeen, aber im Punkte der Lehre vom Urſtande weit radikaler gerichtet als die Schelling - Krauſeſche Tradition. 1)Lasker, Ueber Halbbildung, in der deutſchen Rundſchau, 1878, Octob., S. 30. 47. 49. Vgl. C. Tweſten, Die relig., polit. und ſocialen Jdeen der aſiat. Culturvölker ꝛc., Berlin 1872, ſowie was Laurent betrifft, ſeine Phi - losophie de l Histoire, 1869, und dazu Rocholl, Die Philoſ. der Geſchichte, Göttingen 1878, S. 196 f. Von den angeſeheneren deutſchen Philo - ſophen der Gegenwart, ſoweit ſie eine zwiſchen extremem Radikalismus und Orthodoxie vermittelnde Haltung einnehmen, meint Lotze zweifelnd: ob die Einheit des Menſchengeſchlechts wie eine ſchön verzierte Jni - tiale hinter uns liege, oder ob ſie erſt das Ziel ſeiner Entwicklung bilden werde, dieß könne erſt die Zukunft lehren; denkt Carriere den erſten Menſchen einerſeits zwar als höchſtes Entwicklungsproduct1 *4Einleitung.der Thierwelt, aber andrerſeits auch als blitzartig, wie ein großes hiſtoriſches Genie, wie Pallas aus Zeus Haupte, aus der urzeit - lichen Organismenreihe hervorgegangene neue und höhere Schöpfung; will Edm. Pfleiderer der Jdee eines vergangenen goldenen Zeitalters jedenfalls einen hohen Jdealwerth beigelegt wiſſen, gleichwie auch der moſaiſche Schöpfungsbericht trotz aller Ausſtellungen der mo - dernen Kritik ein geniales Philoſophem bleibe, das nur proſaiſche Altklugheit unverſtanden verachten köune. Ja, eine gewiſſe Zeit früherer Glückſeligkeit, meint derſelbe, ſei doch wohl anzunehmen, nur nicht als in die erſte Kindheit unſres Geſchlechts fallend, wohin die Sage vom goldnen Zeitalter ſie zurückſchiebe, ſondern als einer etwas ſpäteren Entwicklungsſtufe angehörig; die Erinnerung an dieſe vergangene ſchöne Zeit begleite den Menſchen auf der Bahn der Geſchichte als ſein guter Genius ꝛc. 1)Lotze, Mikrokosmus (bei Rocholl, S. 328). Carriere, Die ſittl. Weltordnung, 1877. Edm. Pfleiderer, Die Jdee des goldnen Zeitalters, Berlin 1877, S. 24 f.

Die moderne liberale Theologie, mag ſie von Schleiermacher ausgegangen ſein, oder mag ſie ſich nach anderen Meiſtern nennen, ſteht weſentlich auf demſelben Standpunkte einer auf alle Fälle nur ſehr mäßigen Werthſchätzung des Urſtandsdogma’s. Wenn Schleier - macher die urſprüngliche Vollkommenheit des Menſchen idealiſirend verflüchtigte, ſie für die Richtung des Geiſteslebens auf das Gottes - bewußtſein erklärend, gleichzeitig aber auch betonend, daß davon, wie unter dieſer Vorausſetzung die erſten Menſchen ſich entwickelt haben, uns die Geſchichte fehle , weßhalb keine Veranlaſſung ſei, beſondere Glaubensſätze aufzuſtellen, deren Gegenſtände die erſten Menſchen wären, und weßhalb auch das Paradies nur als die Zulänglichkeit der Natur für das Beſtehen der menſchlichen Or - ganiſation, wie ſie aller Entwicklung der Kräfte des Menſchen voraus - gieng , zu verſtehen ſei:2)Schleiermacher, Der chriſtl. Glaube nach den Grundſätzen der ev. Kirche, 3. Aufl., Berlin 1835, S. 59 (S. 323 f.), § 60. 61 (S. 326 ff.). ſo war damit im Allgemeinen die Grenze5Einleitung.bezeichnet, über welche keiner der neueren Vorkämpfer des theologiſchen Liberalismus hinausgekommen iſt. Haſe’s Kritik der kirchlichen Urſtandslehre rügt es als eine der heil. Schrift fremde Ueber - treibung, daß die urſprüngliche Unſchuld in angeborner oder an - gethaner Heiligkeit beſtanden habe ; vielmehr ſei die begriffsmäßige Vollkommenheit des Menſchen in der Phantaſieanſchauung zu einer einſt wirklichen geworden. Die wahre Bedeutung des göttlichen Ebenbilds liege demgemäß weniger in einer verlornen Vergangenheit als in einer deſignirten Zukunft ; doch ſei für den Volksunterricht der in der heiligen Sage ſinnreich dargeſtellte göttliche Urſprung der Menſchheit hervorzuheben . Rothe, der Heilige des Proteſtan - tenvereins, ſtand zwar in mehrfacher ſonſtiger Hinſicht dem Stand - punkte kirchlicher Frömmigkeit näher, als die Meiſten ſeiner modern - liberalen Bewunderer; aber im Lehrſtücke vom Urſtand erhob er ſich kaum bis zu jener Poſition Schleiermachers. Hegelianiſirend, mit ausdrücklicher Berufung auf Vatke, meinte er, man ſehe ſich zu der Behauptung hingedrängt, daß die ſittliche Entwicklung der Menſchheit nothwendig über die Sünde hinweggehe, ja von ihr aus - gehe ; es liege im Begriff der Schöpfung ſelbſt, daß die perſön - liche Creatur aus der Materie zunächſt nicht anders herausge - arbeitet werden könne, denn als unmittelbar noch durch die Materie obruirte und verunreinigte, ſomit auch in ihrer Perſönlichkeit alterirte, kurz als ſündige; für dieſe Annahme ſpreche auch die heil. Schrift, wenigſtens das N. Teſt., das die Gottbildlichkeit deutlich als etwas erſt Zukünftiges, vom Menſchen ſelbſtthätig zu Erringendes darſtelle und eine urſprüngliche Erſchaffung deſſelben als bloß natürlichen, mithin nothwendig ſündigen, in der Stelle 1 Cor. 15, 47 beſtimmt lehre. Jn ähnlicher Weiſe ſucht Biedermann den Grund der Sünde in der von Gott ſelbſt dem Menſchen anerſchaffnen fleiſchlichen Natur, leugnet die geſchichtliche Wirklichkeit eines urſprünglichen Standes der Jntegrität, und ſetzt das göttliche Ebenbild in die dem Menſchen von Natur immanente Beſtimmung, welche durch die Sünde noch nicht verwirklicht ſei. Lipſius läßt als die Urgeſtalt6Einleitung.der ethiſchen Religion eine gewiſſe unmittelbare aber unbewußte, immer freilich nur relative Gottesgemeinſchaft gelten, welche vom Bewußtſein des Gegenſatzes aus als verlorenes Paradies erſcheine. Die Frage nach den natürlichen Bedingungen für die erſten An - fänge des Menſchengeſchlechts ſei einfach der Naturwiſſenſchaft anheim - zugeben ; denn durch alle Analogien mit dem Thierleben, möge man dieſelben noch ſo weit verfolgen, werde doch die Hauptſache, die ſpecifiſch geiſtige Ausrüſtung des Menſchen, nicht aufgehoben. 1)K. Haſe, Evang. Dogmatik, § 64 (S. 48 f. der 4. Aufl.). Rothe, Theologiſche Ethik, § 496 (I, 211 ff., 1. Aufl.). Biedermann, Chriſtl. Dog - matik, Zürich 1869. Lipſius, Lehrb. der ev. -proteſt. Dogmatik 1876, S. 343. Mit der ſchneidendſten pietätsloſeſten Schärfe, ſeinen obengenannten philoſophiſchen Bruder an Schroffheit der Oppoſition wider die Kirchenlehre weit überbietend, hat jüngſt O. Pfleiderer in Berlin ſich über unſren Gegenſtand geäußert. Was die Kirche ſeit Auguſtin von der ſündloſen Unſchuld des Menſchengeſchlechts vor dem Falle gelehrt habe, ſei nichts als zügelloſe Phantaſie. Nur die moderne Natur - und Alterthumswiſſenſchaft ſei hier maaßgebend; den ächten urſprünglichen Sinn der hebräiſchen Sündenfallsmythe habe Schiller getroffen in dem Aufſatze über die erſte Menſchen - geſellſchaft, ſowie mit ihm weſentlich übereinſtimmend Hegel in der Religionsphiloſophie! Mit der gottbildlichen Würde des Menſchen ſei die Annahme ſeines Thierurſprungs ganz wohl vereinbar; jene hänge von den Durchgangsſtufen ſeiner Entſtehung ganz und gar nicht ab. Freilich muß die Form des kirchlichen Glaubens hier weſentliche Aenderungen erfahren: die paradieſiſche Urzeit, allen Thatſachen der Natur - und Geſchichtsforſchung widerſprechend, fällt rettungslos dahin; mit ihr Sündenfall, Erbſchuld und kirchliche Auffaſſung des Erlöſungswerks Chriſti. Aber anſtatt der unhalt - baren Form tritt der Kern (?) nur um ſo reiner hervor. Das Jdeal menſchlicher Würde liegt nicht hinter uns, ſondern vor uns als Ziel der Entwicklung. 2)Pfleiderer, Religionsphiloſophie auf geſchichtlicher Grundlage, Berlin

7Einleitung.

Alſo wirklich?! Die Annahme eines Urſtands wäre thatſächlich preiszugeben? Von ihr wäre nur das als Kern übrig zu laſſen, was als Kern einer Urſtandslehre in Wahrheit nicht mehr gelten kann: ein nicht der geſchichtlichen Vergangenheit, ſondern nur der Zukunft angehöriges Jdeal der Gottähnlichkeit? Der Naturforſchung allein, und zwar der Zoologie in Verbindung mit der Phyſiologie des Menſchen, oder kürzer der Anthropogenie , wäre die Ent - ſcheidung darüber zu überlaſſen, was der Menſch von Haus aus und abgeſehen von der Sünde geweſen? Die Kirchenlehre von einem ſündloſen Urzuſtande vor dem Beginne der ſündigen Entwicklung unſres Geſchlechts wäre als eine der heil. Schrift fremde Ueber - treibung zu verurtheilen und für das Product einer exaltirten Phantaſieanſchauung zu halten? Und wenn vielleicht etwas wie ein goldnes Zeitalter anzunehmen, ſo müßte auch es ſchon als ein Entwicklungsproduct urkräftiger Geſchlechter des früheſten Alterthums gedacht, es dürfte aber nicht in die erſte Kindheit unſeres Geſchlechts verlegt werden?

Für Viele ſind dieſe Fragen ſchon längſt nicht mehr Fragen. Wir müſſen aber im Jntereſſe beider, ſowohl der kirchlichen Theologie als der Zweige der Natur - und Alterthumswiſſenſchaft, welche man ihr hier gern ſubſtituiren möchte, feierlich dawider proteſtiren, daß man die Sache als in dem bekannten Sinne abgethan und erledigt betrachte. Wir behaupten die Geſchichtlichkeit eines ſündloſen und ſeligen Urſtandes der Menſchheit als nicht zu entbehrende Voraus - ſetzung für das Verſtändniß der Menſchheitsgeſchichte überhaupt, nach ihrer religiöſen wie nach ihrer profanen Seite. Und nicht als bloßes Poſtulat ſprechen wir dieß aus. Wir behaupten einen reineren und höheren Urſtand an der Spitze der Menſchheitsentwicklung nicht als bloßen Glaubensſatz, ſondern als eine durch ſchwerwiegende Zeugniſſe auch2)1878, S. 505. 536. Deſſelben Vortrag im Berl. Unionsverein (v. 24. Jan. 1879) über Chriſtenthum und Naturwiſſenſchaft. 8Einleitung.der Wiſſenſchaft gedeckte Wahrheit. Wir beſtehen darauf, daß man außer der Paradieſesgeſchichte der heil. Schrift und den ihr entſprechenden Sagen ſonſtiger religiöſer Ueberlieferung auch die vielerlei Spuren eines Ausgegangenſeins der älteren Völkergeſchichte von einem relativ vollkommnen Urzuſtande, beſonders auf dem Ge - biete ihrer Sprachbildung und ihres religiöſen Lebens, gehörig wür - dige, unter ſorgfältiger Fernhaltung deſſen, was die moniſtiſche Speculation ihrer glaubensfeindlichen Tendenz zulieb muthmaaßt und ohne Beibringung poſitiver Beweiſe, lediglich poſtulirt. Und wir erheben nachdrückliche Einſprache gegen die gewiſſenloſe Eil - fertigkeit, womit man beiden, der Kirchenlehre nicht bloß, ſondern auch der Schriftlehre, craſſe Uebertreibungen, naturwidrige Ueber - ſchwenglichkeiten und abergläubige Extravaganzen bei Darſtellung des paradieſiſchen Urſtands aufzubürden pflegt, welche thatſächlich nur in der Phantaſie der modernen Kritiker exiſtiren oder jedenfalls doch der heil. Schrift ſowie den evangeliſch erleuchteteren Vertretern der Kirchenlehre ſtets fern geblieben ſind.

Was wir zu Gunſten dieſer Behauptungen auszuführen haben, laſſen wir damit ſeinen Anfang nehmen, daß wir einen Rückblick zunächſt auf die Kirchenlehre, dann auf die Schriftlehre vom Urſtande richten, um ſo vor allem das, was dem modernen Zeitbewußtſein an dieſen beiden anſtößig iſt, genauer kennen zu lernen. Das von manchen Vertretern der erſteren geäußerte An - fechtbare und Tadelnswerthe wird ſo aus der letzteren ſeine Berich - tigung erfahren. An die Prüfung der einſchlägigen Schriftausſagen wird ſich eine Ueberſchau über die mit denſelben theils übereinſtim - menden theils ihnen widerſprechenden Traditionen des reli - giöſen Alterthums anzuſchließen haben. Worauf dann das Verhältniß des durch die Naturforſchung und hiſtoriſche Anthropologie über die Uranfänge der Menſchheit und ihrer Culturentwicklung bisher theils Erforſchten theils Gemuthmaaßten zu jener älteren religiöſen Ueberlieferung zu beleuchten und damit der unantaſtbare Kern, den dieſe in ſich ſchließt, zugleich mit deſſen9Einleitung.eigenthümlicher Bedeutung für das chriſtlich-theologiſche Lehrganze ſowie für das praktiſch-religiöſe Jntereſſe an’s Licht zu ſtellen ſein wird. Verhältnißmäßig kürzer werden wir hiebei auch die Fragen nach dem muthmaaßlichen Urſitze der Menſchheit oder der Stätte des Paradieſes, ſowie die nach der ſeit dem Verluſte dieſes Urſitzes verſtrichenen Zeitdauer oder dem Alter der bisherigen Menſchheits - entwicklung erörtern; zwei Fragen, die, trotz ihres engen Zuſammen - hanges mit der Lehre vom Urſtande, doch die dogmatiſche Seite deſſelben mehr nur mittelbarer Weiſe berühren und gewiſſermaaßen als Adiaphora von theilweiſe wenigſtens geringerem Belang für das chriſtlich religiöſe Bewußtſein zu behandeln ſind, immerhin aber doch nicht ganz von der Unterſuchung ausgeſchloſſen bleiben können.

[10]

I. Der Arſtand nach kirchlicher Aeberlieferung.

Verſteht man die Kirchenlehre in jenem weiteren Sinne, wonach außer dem Kern ſymboliſch fixirter Hauptlehrſätze auch das bunte Allerlei von Lehrmeinungen angeſehenerer und geringerer theologiſcher Schriftſteller darunter begriffen wird, ſo kann der Vorwurf unbib - liſcher Uebertreibungen und willkürlicher Speculationen auf dem Gebiete des Urſtandsdogma’s ſchwerlich von ihr fern gehalten werden. Allerdings ſind gewiſſe plumpe wildphantaſtiſche Sagen des Gnoſticismus und des talmudiſchen Judenthums, betreffend die rieſige Leibesgröße und die halb göttliche Würde Adams ſtets inner - halb der Kirche zurückgewieſen worden. Die gnoſtiſch-manichäiſche Steigerung der Perſon des erſten Menſchen zu einer göttlichen Hypoſtaſe konnte ſo wenig Eingang finden, als die Koran-Legende (Sur. II, 28; III, 10), welche Adam, den Stellvertreter Allahs, durch die Engel angebetet werden läßt, oder als ſolche ſymboli - ſirende Fabeln der Rabbinen, wie die, daß Gott Adams Leib von Babylonien, dem Lande der Fruchtfülle, den Kopf von Paläſtina, dem Lande der Erkenntniß, die Gliedmaaßen aber von den übrigen Ländern geſchaffen hätte, oder wie jene andre von einer bis zum Himmel reichenden Höhe des neugeſchaffenen Menſchheitsſtamm - vaters (wofür man ſich auf die mißverſtandne Stelle Joſ. 14, 15 ſtützte, oder gar ſo R. Elieſer auf 5 Moſe 4, 32 berief: Gott ſchuf den Menſchen auf Erden, von einem Ende zum11I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.andern 1)Bartoloccius, Bibliotheca magna rabbinica, Rom. 1675, T. I, p. 64 ss. Eiſenmenger, Entd. Judenthum I, 365. Vgl. Ham - burger, Real-Encyklop. f. Bibel und Talmud, Art. Urmenſch ; Winer, Bibl. Realwörterbuch, Art. Adam .. Doch haben Kirchenväter, beſonders griechiſche, bei Beſprechung der geiſtigen Vorzüge des noch nicht gefallenen Menſchen im Paradieſe ſich theilweiſe üppig rhetoriſirender Ausſchmückungen und mißverſtändlicher Uebertreibungen ſchuldig gemacht. Nach Gregor von Nyſſa war Adam urſprünglich geſchmückt mit dem Purpur der Tugend und dem Diadem der Gerechtigkeit; nicht bloß Vernunft und Unſterblichkeit, auch Weisheit und alle gotteswürdigen Güter gehörten mit zur Ausſtattung deſſen, der ſich als Verwandten Gottes fühlen ſollte und dem, wäre er nicht gefallen, die Geſchlechts - verbindung zwiſchen Mann und Weib fremd geblieben ſein würde. Einen irdiſchen Engel , von wunderbarer Glorie umgeben, nannte Chryſoſtomus den noch nicht gefallenen Adam mit Bezug auf eben dieſes Noch nicht Eingetretenſein des Freiens und Sichfreienlaſſens (Luk. 20, 36); als einen anderen Engel bezeichnete ihn eben deßhalb der ascetiſch-überſchwengliche Gregor von Nazianz. Bei dem die Lehren dieſer Früheren zuſammenfaſſenden Johann von Damas - kus heißt der erſte Menſch, wie Gott ihn erſchaffen, nicht bloß ſündlos, rechtſchaffen, tugendhaft und ſchmerzlos, ſondern mit jeg - licher Tugend geſchmückt, mit allen Gütern ausgeſtattet, gleichſam eine zweite kleine Welt innerhalb der großen, eine Art anbetenden Engels, ein Mittelweſen, ein Seher der ſichtbaren, ein Eingeweihter in die geiſtige Schöpfung, ein König der irdiſchen Dinge, königlich beherrſcht von Oben, irdiſch und himmliſch, zeitlich und unſterblich, ſinnfällig und geiſtig wahrnehmbar, mitteninne zwiſchen Hoheit und Niedrigkeit, Geiſt und Fleiſch in Einer Perſon, ꝛc. 2)Greg. v. Nyſſa, Orat. catech. c. 5 und De opif. hominis. Chryſoſtomus, Hom. 14 und 16 in Genes. Greg. v. Naz. Orat. 42. Joh. v. Damask., De fide orthod. II, 12.

Einen wichtigen Jmpuls zur Ausbildung dieſer über die Schrift -12I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.ausſagen hinausgehenden Steigerungen des Begriffs urſprünglicher Vollkommenheit gewährte den Kirchenvätern, insbeſondre den abend - ländiſchen, der Pelagianismus mit ſeiner Behauptung eines zwar willensfreien, aber weder ſittlich vollendeten noch unſterblichen Erſchaffenſeins des erſten Menſchen. Die betr. Denkweiſe tritt zuerſt bei den Antiochenern des ausgehenden 4. Jahrhunderts hervor. Einem Diodor von Tarſus und Theodor von Mopſueſtia, den morgenländiſchen Geſinnungsgenoſſen der Pelagianer, galt die Er - ſchaffung des erſten Menſchen als eine in ethiſcher Hinſicht unvoll - kommene, durch Chriſti Erlöſungswerk nothwendig zu ergänzende. Adam wurde von ihnen zwar als Mikrokosmos, als das zuſammen - haltende Band der Schöpfung beſchrieben, aber immerhin doch als ſittlich wie phyſiſch wandelbar und als nicht unſterblich; das Schöpfungsband wurde als ein ebenſowohl veränderliches wie auflösbares dargeſtellt1)Theodor v. Mopſ. Comment. in Ep. ad Rom. 8, 19; auch in Ephes. 1, 10 (b. Pitra, Spicil. Solesm. I, 102 sq.). Vgl. Wörter, Der Pelagianismus (Freiburg 1866), S. 20 f.. Aehnlich die Häupter des Pelagianismus, welche dem Menſchen vor dem Falle eine gewiſſe Vollkommenheit zuſchreiben, dieſelbe aber weſentlich nur in einer Ausrüſtung mit Naturgaben und in der Freiheit des Wählens zwiſchen Gut und Böſe, unter beſtimmtem Ausſchluß der Unſterblichkeit, beſtehen laſſen. Die Freiheit, welche ſie Adam beilegen, erſcheint lediglich als formale, ſeine Vollkommenheit als eine ganz unbeſtimmte, ethiſch unerfüllte, auf die pura naturalia beſchränkte, daher in der Hauptſache unver - lorene. Der ſündloſe Urſtand wird nach pelagianiſcher Anſchauung zwar nicht geleugnet, aber doch zu ſittlicher Bedeutungsloſigkeit herabgeſetzt, weil ſein weſentliches Fortdauern auch nach dem Eintritt der Sünde in die Menſchheitsgeſchichte vorausgeſetzt wird2)S. beſ. Julian v. Eclanum, bei Auguſtin, Op. imperfect. contra Jul. III, 144 und V, 59; ſowie Wörter, a. a. O., S. 212. 227..

Gegenüber dieſer Häreſie ſah Auguſtinus als Vorkämpfer des bibliſch-kirchlichen Erbſündebegriffs ſich zu einer Behandlung des13I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Urſtandsdogmas gedrängt, welcher das Lob einer ſtreng-bibliſchen Einfalt und Nüchternheit nicht durchweg ertheilt werden kann. Zwar derartige Schilderungen der Gottbildlichkeit wie die in den Büchern vom Gottesſtaate, welche Adam eine kraft ihrer Vernunft über alle Thiere des Waſſers, des Landes und der Luft erhabene Seele anerſchaffen werden laſſen, welche die Seligkeit der Paradieſes - bewohner vor dem Fall, ihre höchſt geſunde, harmoniſch geſtimmte Leibes - und Seelenbeſchaffenheit ( summa in carne sanitas, in animo tota tranquillitas ), ihr Nicht-altern, ihr Freibleiben wie von ſündiger Erregung ſo von jedwedem Schmerz und Leid mit lebhaften Farben ſchildern, können nicht ohne Weiters als Ueberſchreitungen der rechten bibliſchen Norm getadelt werden1)De civitate Dei XII, 23; XIII, 19 21; XIV, 26.. Vermeidet doch Auguſtin, ſo phantaſievoll er im Uebrigen beim Ausmalen der einzelnen Momente der Paradieſesglückſeligkeit zu Werke gehen mag, immerhin glücklich jene Vorſtellung von der Geſchlechtsverbindung zwiſchen Mann und Weib als etwas erſt durch den Sündenfall Nöthiggewordnen, welche wir für mehrere griechiſche Väter zur Klippe werden ſahen. Und iſt doch auch der bei ihm zuerſt vorfindliche Begriff der erſten oder urſprünglichen Gerechtigkeit (prima justitia) ein theologiſch unverfänglicher, aus der Schrift wohl zu begründender, mit dem er auch die Behauptung einer Nothwendigkeit ſittlichen Fortſchreitens und Vollkommenwerdens der Menſchen auch ohne Sünde in richtige Verbindung ſetzt2)De civ. Dei XIV, 21; De Gen. ad literam IX, 3 sq.; De nuptiis et concupiscentia. Der Ausdruck prima justitia , als Vorläufer des ſpät. dogmatiſchen Begriffs der justitia originalis, zuerſt in der Schrift: De peccatorum meritis et remissione II, 37 (S. Cremer, Art. Gerechtig - keit ꝛc. in Herzogs Real-Encykl., 2. Aufl.).. Was aber entſchieden über die hl. Schrift hinausgeht, das iſt einmal die Behauptung einer beſonderen göttlichen Mithilfe (adiutorium) zum Beharren im Guten, wovon er die Geſinnung und Handlungsweiſe Adams vor dem Falle unterſtützt ſein ließ14I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.(um ſo deſſen Wahlfreiheit möglichſt beſchränkt, die Größe ſeiner Schuld aber möglichſt geſteigert darzuſtellen), andrerſeits die im extremen Gegenſatze zu den Pelagianern von ihm vorgenommene Steigerung der Geiſtesvorzüge des noch nicht gefallenen Menſchen, insbeſondere ſeiner Vernunfterkenntniß, bis in’s Wunderhafte und abſtract Uebernatürliche hinein. Jn dem noch nicht Gefallenen lebte die klarſte Erkenntniß aller göttlichen und natürlichen Dinge, die höchſte vortrefflichſte Weisheit (excellentissima sapientia), ein Wiſſen, ſo hoch über dem von uns ſündigen Menſchenkindern ſtehend, wie der Vogel an Schnelligkeit die Schildkröte übertrifft! Dazu denn jene außerordentliche göttliche Beihilfe zum Guten, die ihn überall umgab und trug, die ihm ſpielend leicht über jeden Fall von Verſuchung hinwegzuhelfen vermocht hätte, um deren willen die Schuld des Gefallenen ſo unbegreiflich groß erſcheint! Nur mittelſt dieſer beſonderen Vorzüge und Vortheile, die er dem Menſchen vor dem Falle andichtete, meinte er die nöthigen Vorausſetzungen zur Erfaſſung des ſündig Böſen in ſeinem vollen Ernſte zu gewinnen, nur ſo den richtigen Grund zu der pelagianiſcherſeits verkannten Lehre von der Erbſünde zu legen. Die ſchon ältere, bei Jrenäus, Clemens und Origenes zuerſt vorkommende Diſtinction zwiſchen Bild Gottes und Aehnlichkeit Gottes , exegetiſch gewaltſam hergeleitet aus 1 Moſe 1, 26 f., mußte ihm dabei Hilfe leiſten. Das Bild Gottes ſollte die anerſchaffene Naturbegabung des Menſchen mit Vernunft und Freiheit bedeuten, daher als unverlier - bar gelten; mit Gottähnlichkeit ſollte die durch jene beſondere Gnadenhilfe bedingte ſittliche Vollkommenheit, die durch den Sünden - fall verloren gieng, bezeichnet ſein. Jn dem großen, unvollendet gebliebenen Werke gegen Julian von Eclanum ſpottet er bitter über das Paradies der Pelagianer mit der kahlen Dürftigkeit der Natur - gaben ſeiner Beherrſcher und deren äußerſt labilem ſittlichem Gleichgewichtszuſtande vor dem Falle. Man male ein ſolches Paradies, ruft er: Niemand wird es als Paradies erkennen! Viel - mehr den Engeln, Heiligen und Seligen des Himmels ähnlich iſt15I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.der Zuſtand der Paradieſesbewohner zu denken; Adam und Eva würden, ohne Fall von göttlichem Lichte umfloſſen, in verklärten Leibern wie die eines Henoch und Elias gelebt haben. 1)Vgl. überhaupt Bindemann, Der hl. Auguſtinus, III, S. 557 ff. ; F. Dorner, Auguſtinus, ſein theol. Syſtem ꝛc. (Berlin 1873), S. 114 124.

Auguſtins überſpannter Supranaturalismus auf dieſem Gebiete hat auf die ſpätere kirchliche Tradition des Abendlands in mehr - facher Richtung nachtheilig eingewirkt. Nicht bloß die morgen - ländiſche Theologie des Mittelalters, der Johannes von Damaskus als Letzter der alten Zeit mit dem Beiſpiele ähnlicher Ueber - treibungen vorangegangen war, ſchweifte weit ab ins Phantaſien - reich auf dieſem Gebiete wie denn hier u. a. Moſes Barcepha (im 10. Jahrhundert) nicht weniger denn vierzehn Wohlthaten oder Gnadengeſchenke Gottes an Adam aufzählte und von einer engel - artigen Erkenntniß geiſtlicher und göttlicher Dinge , ja von pro - phetiſchen Gaben redete, welche Gott dem Adam beigelegt habe. 2)Moſ. Barcepha, De Paradiso, I, 28; II, 7. 9. 12.Auch die römiſche Lehrtradition mittlerer wie neuerer Zeit, und nicht minder die altproteſtantiſche Orthodoxie haben, als Erbſtücke aus Auguſtin’s nur allzu reichem Jdeenſchatz, gar manches Lehr - motiv von zweifelhaftem Werthe, d. h. von bald ſo bald ſo den lauteren Schriftgrund verlaſſendem und ins Abenteuerliche abirren - dem Charakter weiter überliefert. Römiſcherſeits hat man ſowohl jene beſondere göttliche Mithilfe (adiutorium), den unheilbringenden Keim des Lehrſtücks von der urſprünglichen Gerechtigkeit als einem übernatürlichen Gnadengeſchenk (donum supernaturale, super - additum) des erſten Menſchen, als auch die behauptete voll - kommne Weisheit und wunderbare Steigerung der Jntelligenz Adams ſpeculativ weiter zu bilden geſucht. Jn die altproteſtantiſche Lehr - überlieferung iſt zwar nicht jener erſte Punkt, wohl aber der letztere übergegangen. Lutheriſche wie reformirte Dogmatiker des 16. und 17. Jahrhunderts ſind im Streben nach Ausſtattung Adams mit dem Non plus ultra von Weisheit und Sehergabe, theilweiſe auch16I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.von phyſiſcher Kraft, hinter den verwegenſten Scholaſtikern des Papſtthums nicht zurückgeblieben, ohne ſich darum das Fündlein von einem den Protoplaſten baldigſt wieder entzognen übernatür - lichen Gnadengeſchenke gottbildlicher Heiligkeit und Gerechtigkeit mit anzueignen.

Für die Begründung dieſes letzteren Lehrſtücks als des Speci - fikums der römiſchen Urſtandslehre ſind beſonders Hugo von St. Victor und der von ihm angeregte, auf ſeinen Schultern ſtehende Petrus Lombardus wichtig geworden. Während der Erſtere beſonders die vollkommene Erkenntniß aller ſichtbaren Creaturen ſowie auch des Schöpfers und ſeiner ſelbſt betonte, womit Adam aus Rückſicht auf ſeine geiſtigen wie körperlichen Bedürfniſſe von Gott ausgeſtattet worden ſei, gefiel die ſcharfe Dialektik des Letzteren ſich namentlich in einer Spaltung und ſorgfältigen Unterſcheidung des Naturzuſtands des Neugeſchaffenen von der gnadenweiſe hinzu - geſchenkten übernatürlichen Gerechtigkeit und Gottähnlichkeit. Der Lombarde iſt Urheber jener Lehrweiſe, welche die Ertheilung des donum superadditum der paradieſiſchen Gerechtigkeit an die Seele Adams als eine Art von Ehe zwiſchen übernatürlichem und natür - lichem Faktor der Urbeſchaffenheit unſrer Stammeltern denkt. Er läßt demgemäß, weil ja jede Eheſchließung eine beiderſeitige Ein - willigung vorausſetze, den natürlichen Factor (die pura naturalia) zuerſt, ſchon vor Empfang jenes Gnadengeſchenks vorhanden ſein. Das Gottesbild war zuerſt ſchon da, die Gottähnlichkeit trat einige Zeit ſpäter hinzu. 1)Hugo v. St. Victor, De sacramentis fidei, I, p. 6, c. 12 ss; Petr. Lomb., l. II. Sententt., dist. 23. 24.Ein Theil der ſpäteren Scholaſtiker, insbeſon - dere die franziskaniſchen wie Alexander von Hales und Duns Scotus, folgten ihm mit Vorliebe in dieſer Annahme eines Er - ſchaffenſeins Adams in puris naturalibus, mit erſt nachträglicher Hinzufügung des göttlichen Gnadengeſchenks worin unleugbar eine gewiſſe Annäherung an die überhaupt nur puren Naturzuſtand17I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.des Menſchen vor dem Falle annehmende pelagianiſche Lehrweiſe enthalten war. Das auch in ſonſtiger Hinſicht den Rückfall in Pelagianismus ängſtlicher meidende Haupt der dominikaniſchen Scho - laſtik ſchloß ſich dieſer Lehrweiſe nicht an. Nach Thomas Aquin, dem erſt jüngſt wieder der römiſchen Kirche von ihrem Oberhaupte als Muſter und Meiſter aller ächten Philoſophie Geprieſenen, gieng kein Zuſtand purer Natürlichkeit der Ertheilung des übernatürlichen Geſchenks der Gottähnlichkeit voraus; dieſe erfolgte vielmehr gleich im Momente der Erſchaffung Adams, ſodaß dieſer von Anfang an ſich im Beſitze jener beſonderen göttlichen Gnadenhilfe zum Guten befand, die ihm dann durch den Fall wieder verloren ging. Von der geiſtigen Ausrüſtung des Menſchen in dieſem urſprünglichen Vollkommenheitszuſtande, insbeſondere vom Umfange ſeines Wiſſens, redet der Aquinate in überſchwenglichen Ausdrücken. Adam beſaß nicht nur eine virtuelle oder principielle Erkenntniß der ganzen ſichtbaren Creaturenwelt, ſoweit dieſelbe menſchlichem Erkenntnißvermögen zu - gänzlich iſt: auch von den übernatürlichen Geheimniſſen der Offen - barung hatte er Kunde. Das Myſterium der Trinität, angedeutet in den Stellen 1 Moſe 1, 26; 3, 22, war ihm bereits erſchloſſen; daß er auch vom Myſterium der Menſchwerdung Gottes eine, wenn nicht ſchauende doch glaubende und hoffende Erkenntniß hatte, zeigt der Ruf, in welchen er beim Anblick ſeiner Lebensgefährtin Eva ausbrach deren Bildung aus ſeiner Ribbe ja auf Chriſtum und die Kirche weiſſagend hinwies. Nur Zukünftiges von zufälliger Art (futura contingentia) blieb ſeiner Kenntniß entzogen, deßgleichen das Jnwendige des Menſchen, ſowie ſolche äußerliche Einzelheiten des ſinnlichen Bereichs, wie beiſpielsweiſe die Zahl der Steinchen auf dem Grunde eines Fluſſes u. dgl. m.1)Thomas, Summ. theol. P. I, qu. 94, a. 3 sq.; cfr. qu. 92, a. 2 4. Mit dieſer Dar - ſtellung des Wiſſens Adams als eines faſt ſchrankenloſen bahnte Thomas der ſpäteren Scholaſtik den Weg zu den wunderlichſtenZöckler, Urſtand. 218I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Phantaſiekunſtſtücken und zu den ſeltſamſten Verhandlungen über das, was von den Gegenſtänden jenes Wiſſens etwa ausgenommen werden könne. Als Alfons Toſtatus, einer der ſelbſtändigeren ſcholaſtiſchen Exegeten im 15. Jahrhundert, Adams Weisheit in natürlichen Dingen wenigſtens ſo weit herabzuſetzen gewagt hatte, daß er diejenige Salomo’s, des Weiſeſten aller Menſchen, für größer erklärte, widerſprach man ihm von allen Seiten. Aehnlich erging es dem Cardinal Cajetan, als derſelbe, überhaupt ein reſoluter Gegner des exegetiſchen Herkommens, wenigſtens die Geſtirne des Himmels, die Tiefen des Meeres und das Jnnere der Erde von dem was Adam gewußt habe, auszunehmen verſucht hatte. Alle widerſprachen ihm hierin: die Exegeten Pererius, Pineda, Merſenne ꝛc., wie die Dogmatiker Gregor von Valentin, Suarez u. AA. Jm großen Geneſiscommentar des Minimenpaters Merſenne befindet ſich ein längeres Kapitel, welches ausführlich über die Wiſſenſchaft Adams handelt. Adam, ſo wird da gelehrt, trug die Keime ſämmtlicher 100 Wiſſenſchaften, die man überhaupt zu zählen hat, ſchon in ſich; die 14 Claſſen oder Gruppen, in welche dieſer Jn - begriff aller Wiſſenſchaften nach Merſenne zerfallen, erinnern merk - würdig an jene 14 Vorzüge Adams nach Barcepha. 1)Mar. Merſenne, Quaestiones celeberrimae in Genesin, Lutet. Paris 1623. Vgl. meine Geſchichte der Beziehungen zwiſchen Theol. u. Natur - wiſſenſchaft, I, 654. Wegen Alfonſus Toſtatus (Abulenſis) und Cajetans ſ. Suarez, Comment. in D. Thom. etc. tract. II de creatione l. III, c. 9 (p. 147 ss.). Bei dem Jeſuiten Suarez, demſelben Meiſter in ſpitzfindigſter dogmatiſcher Caſuiſtik, welcher jener Frage wegen des Kindererzeugens Adams und Evas ohne Sündenfall ein ganzes Buch widmet und darin umſtändliche Unterſuchungen auch darüber anſtellt, ob es im ſündlos verbliebenen Menſchengeſchlechte wohl unfruchtbare Männer oder Frauen gegeben haben, ob man im Paradieſe wohl Städte, Ge - meinden und dgl. gegründet haben, ob wohl eine Vermannigfaltigung der Nahrungsmittel daſelbſt eingetreten ſein würde, ꝛc. wird die19I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Ehre des hl. Thomas gegenüber jenen Verſuchen, den kühnen Jdea - lismus ſeiner Urſtandslehre zu verkleinern und abzuſchwächen, auf das Nachdrücklichſte gewahrt. Nur in Bezug auf Zukünftiges und auf Vergangenes, jenſeits der irdiſchen Paradieſesgeſchichte Gelegenes wird eine Beſchränktheit der Erkenntniß Adams zugeſtanden; des - gleichen in Bezug auf die Herzensgedanken andrer Menſchen. Aber gegenüber Cajetan wird mit aller Beſtimmtheit eine genaue Kenntniß des Menſchheitsſtammvaters auch vom Himmel und ſeinen Geſtirnen, von den Tiefen des Meeres, von den Mineralien im Schooße der Erde gelehrt; die Frage, ob derſelbe in ſolchen und anderen irdiſchen Dingen auch zu irren vermocht habe, wird ausführlich erörtert und verneint! Und gegenüber Toſtatus Bevorzugung der Salomoniſchen vor der Adamiſchen Weisheit wird kühnlich behauptet: Nein, Adams Weisheit in natürlichen Dingen war größer und vollkommner als diejenige Salomo’s; denn ſie eignete ja ihm als dem Haupt und Meiſter der ganzen ſpäteren Menſchheit, auch war ſie für ihn, beſonders was die natürlichen Dinge betrifft, nothwendiger und unentbehrlicher als für Jenen. 1)Suarez, l. l. Vgl. l. V, p. 248 291.

Leider hat auch die reformatoriſche Theologie ſich der - artiger Ungeheuerlichkeiten nicht ganz enthalten. Für ſie kam jene Annahme einer übernatürlichen gratia superaddita des Urſtands allerdings in Wegfall; deßgleichen die ſchriftwidrig künſtelnde Di - ſtinction zwiſchen Bild und Aehnlichkeit Gottes, welche nur einige wenige Theologen des Calvinismus (Petrus Martyr, Urſinus, Zanchius, Junius) als gegründet zu halten ſuchten2)Siehe m. Geſch der Beziehungen ꝛc., I, S. 626 u. 698.. Aber im Punkte der Wiſſenſchaft Adams von natürlichen und übernatürlichen Dingen ſowie der leiblichen Vorzüge der Stammeltern vor dem Falle bleiben die Väter und Begründer der evangeliſchen Kirche ganz und gar unter dem Banne der älteren dogmatiſchen Tradition. Luther malt nicht bloß in ſeinen Tiſchreden die Herrlichkeiten des Paradieſes und ſeiner Bewohner mit naiv dichtender Phantaſie auf2*20I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.das Sinnlichſte aus, indem er von den allerſchönſten und reinſten Leibern, Sinnen, Verſtand und Willen redet , welche Adam und Eva damals gehabt ( ihre Augen konnten über viel Meil Weges aufs Schärfſte ſehen, die Ohren gar leiſe hören und vernehmen ꝛc. ): auch in ſeinem lateiniſchen Geneſiscommentare entwickelt er ganz entſprechende Annahmen. Das Gottesbild, wozu Adam geſchaffen war, war von vorzüglichſter und edelſter Art, weil frei von jeg - lichem Ausſatze der Sünde in Verſtand wie Willen. Die inneren wie die äußeren Sinnen waren höchſt rein und vollkommen; der Jntellect von reinſter Art, das Gedächtniß das beſte, der Wille der lauterſte; und dabei lebten ſie in ſchönſter Sicherheit, ohne alle Todesfurcht und Bekümmerniß. Es kam dazu jene wundervolle, unübertreffliche Vorzüglichkeit des Leibes und aller Glieder, wodurch er allen übrigen lebendigen Geſchöpfen überlegen war. Denn wahrlich ich halte dafür: vor der Sünde waren Adams Augen ſo ſcharf und klar, daß er den Luchs und Adler übertraf. Mit Löwen und Bären, dieſen ſtärkſten aller Thiere, gieng er, der Stärkere denn ſie, nicht anders um, als wir mit Hündlein. Auch die Früchte, die er genoß, hatten viel größere Süßigkeit und Kraft, denn die jetzigen ...... Jch glaube , heißt es etwas ſpäter, Adam würde mit Einem Wörtlein ganz ſo einem Löwen zu befehlen vermocht haben, wie wir einem zahmen Hunde befehlen; es würde ihm frei geſtanden haben, durch Landbau die Erde alles hervorbringen zu machen, was er nur wollte! Die Eva mit einſchließend, bewundert er das Stück gött - licher Natur , kraft deſſen die noch unſchuldigen Paradieſesbewohner alle Triebe, Sinnen und Kräfte aller Thiere zu verſtehen im Stande waren, aber auch die vollkommenſte Erkenntniß Gottes beſaßen . Denn, fragt er, wie hätten ſie den nicht erkennen geſollt, deſſen Bildniß ſie in ſich hatten und fühlten? Ja auch von den Sternen und der ganzen Aſtronomie beſaßen ſie die ſicherſte Einſicht! Ohne den Fall würde Adam die Eva in der größten Reinigkeit und Gottesfurcht erkannt haben; ſein Kinderzeugen würde in höchſter Furcht, Weisheit und Gotteserkenntniß erfolgt ſein. Die neugebornen21I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Kindlein würden nimmer ſo lange wie jetzt, der Muttermilch und des Umhertragens bedurft haben. Sein Land und ſeine Kräuterbeete würde der unſchuldig Gebliebene nicht nur ohne Beſchwerde, ſondern wie ſpielend und mit dem höchſten Ergötzen beſtellt haben 1)Luther, Tiſchreden von Gottes Werken, Nr. 279 (E. A., 57, 237). Enarrationes in Genes. cap. 1 3 (E. A., tom. I, p. 77. 80. 83. 89. 103. 128. 166).. Zu dieſen kühnen Folgerungen Luthers aus ſeiner Grundtheſe: Ohne Sünde kein Uebel, ohne Fall kein Verluſt des Paradieſes! traten noch gewiſſe nicht minder merkwürdige Speculationen über eine noch lange nach dem Falle und der Austreibung aus Eden ſich hinziehende Abenddämmerung der verſchwundenen Paradieſesſonne in der älteſten Menſchheitsgeſchichte hinzu. Früherer dogmatiſcher Tradition der Kirche verdankte er den Jmpuls zu dieſen Betrachtungen weniger, als der h. Schrift, insbeſondre den die älteſte Patriarchengeſchichte erzählenden Kapiteln 5 10 der Geneſis, unter gleichzeitiger Ver - werthung auch der altclaſſiſchen Sagen vom goldenen Zeitalter und den auf es gefolgten geringeren Weltaltern. Wir kommen ſpäter in andrem Zuſammenhange, eingehender auf dieſe Vorſtellungen Luthers von der Patriarchenwelt als einem Nachglanze der ſeligen Paradieſeszeit zurück. Für jetzt haben wir die Einwirkung ſeiner einſeitigen Steigerung der Paradieſesgeſchichte auf die ältere Lehr - tradition ſeiner Kirche des Weiteren zu verfolgen.

Dieſe Einwirkung kann im Ganzen keine wohlthätige genannt werden. Was ſchon er einſeitig ſupranaturaliſtiſch und mehr den Eingebungen ſeiner kindlich naiven und friſchen Phantaſie als den Andeutungen des Schriftworts folgend dargeſtellt hatte, das wird von ſeinen Nachfolgern auf exegetiſchem und dogmatiſchem Gebiete womöglich noch mehr auf die Spitze getrieben, jedenfalls in noch beſtimmterer Weiſe dogmatiſch fixirt und gleichſam aus dem Fluſſe freierer Phantaſiegeſtaltung vorzeitig zum Erſtarren gebracht. Hieher gehören zwar weniger die immer noch ziemlich maaßvoll gehaltenen Ausdrücke des letzten der lutheriſchen Symbole, der Concordienformel,22I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.deren Darſtellung der Lehre vom Urſtand ungefähr die Mitte hält zwiſchen der vorſichtig abgegrenzten und bibliſch nüchternen Lehrweiſe Melanchthons in der Apologie (ſ. unten) und zwiſchen Luthers der - berer und phantaſievollerer Behandlung des Gegenſtandes1)Form. Conc. p. 579 M.: Etsi enim in Adamo et Heva natura initio pura, bona et sancta creata est etc.; p. 580: .... bonitatem suam, veritatem, sanctitatem et justitiam, quae dotes naturae in paradiso concreatae erant. Vgl. 536; 576; 638.. Wohl aber ſind die Schilderungen einer Anzahl von Predigern und Er - bauungsſchriftſtellern des ausgehenden 16. ſowie die Lehrbeſtimmungen der meiſten lutheriſchen Dogmatiker des folgenden Jahrhunderts hieher zu rechnen. Jn Simon Muſäus2)Simon Muſäus, Richtige und reine Auslegung des erſten Buches Moſy ꝛc. ; Magdeburg 1576 (vgl. m. Geſch. der Beziehungen ꝛc. I, 674 f.). Joh. Arnd, Vom wahren Chriſtenth, B. I, K. 1; B. IV, 1, 6. Scriver, Seelenſchatz I, 1, § 15. ( 1576) Predigten über das 1. Buch Moſe wird bei Behandlung der Paradieſesgeſchichte im engen Anſchluſſe an Luther gezeigt, wie Gott den erſten Menſchen zu königlichen Eren erhoben und ihm die Königliche regalien und lehen überantwortet habe , durch Ertheilung von Gewalt und Herr - ſchaft über alle Thier, durch Zuweiſung einer reichen Speiſekammer, einer vollen Küche und köſtlichen Tiſch , dazu einer gemeinen Hof - ſtube mit allerley Profiant aufs allerbeſte verſorget für alle ge - ſchaffenen Creaturen, da Menſchen und Thiere, d. i. Herren und Knechte, an einerlei Tiſch geſetzet worden ſeien ꝛc. Dieſer königlichen Gewalt habe aber Adam ſich auch aufs Beſte zu bedienen gewußt, da er denn als ein guter Phyſikus auff alle Creaturen ſich ſehr wohl verſtanden, wie ein jedes geartet und genaturet ware , zu geſchweigen anderer Gaben: daß er mit ſterke allen Lewen und Beeren, mit ſchnelligkeit allen Hirſchen und Haſen, mit Scharff - ſichtigkeit allen Adlern und Falcken, und mit Schönigkeit des Leibes und langwirigkeit des Lebens allen Thieren weit weit überlegen geweſt . Man beachte hier die mehrfachen oratoriſchen Steigerungen und Amplificationen der von Luther in Curs geſetzten Vorſtellungs -23I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.weiſen. Vorſichtiger ſchon, mehr nur das Ethiſche und ſymboliſch Bedeutſame betonend, redet Joh. Arnd im Eingang ſeines Wahren Chriſtenthums von der Herrlichkeit der Menſchennatur vor dem Falle. Zu dem Ende hat Gott den Menſchen rein, lauter, un - befleckt erſchaffen, mit allen Leibes - und Seelenkräften, daß man Gottes Bild in ihm ſehen ſollte; nicht zwar als einen todten Schatten im Spiegel, ſondern als ein wahrhaftiges lebendiges Abbild und Gleichniß des unſichtbaren Gottes und ſeiner überaus ſchönen, innerlichen, verborgenen Geſtalt, d. i. ein Bild ſeiner göttlichen Weisheit im Verſtand des Menſchen; ein Bild ſeiner Gütigkeit, Langmuth, Sanftmuth, Geduld im Gemüth des Menſchen; ein Bild ſeiner Liebe und Barmherzigkeit in den Affecten des Herzens des Menſchen; ein Bild ſeiner Gerechtigkeit, Heiligkeit, Lauterkeit und Reinigkeit im Willen des Menſchen; ein Bild der Freundlichkeit, Holdſeligkeit, Lieblichkeit und Wahrheit in allen Geberden und Worten des Menſchen; ein Bild der Allmacht in der gegebenen Herrſchaft über den ganzen Erdboden und über alle Thiere; ein Bild der Ewigkeit in der Unſterblichkeit des Menſchen. Zuſammengefaßt wird der Jnbegriff aller dieſer Vorzüge an einer ſpäteren Stelle in der Weiſe, daß der ganze Menſch, wie er am ſechſten Schöpfungs - tage aus Gottes Händen hervorgieng, als ein Bild und Gleichniß des Dreieinigen geſchildert wird. Alle Creaturen ſind nur Gottes Spur und Fußſtapfen, der Menſch aber iſt Gottes Bild, welcher den Schöpfer ſollte vor Augen ſtellen. Er iſt ſo in die höchſte Ehre und Würdigkeit geſetzt und zum höchſten Adel erhoben; ..... Gott der Allerſchönſte wohnt in des Menſchen Seele am allerliebſten und hat dieſelbe zu ſeinem Tempel geheiliget, daß ſie ſein ſolle eine Wohnung des Vaters, eine Brautkammer des Sohnes, des aller - höchſten Bräutigams, und ein Heiligthum des heiligen Geiſtes ꝛc. ꝛc. Minder ausſchließlich aufs Jnnerliche gerichtet, auch die äußeren Vorzüge mehr hervorhebend, ſchildert Scriver im Seelenſchatze , wie die gottesbildliche Seele des erſten Menſchen eine Kaiſerin und rechte Fürſtentochter war, mit göttlicher Weisheit, Klarheit, Reinig -24I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.keit, Heiligkeit, Gütigkeit, Holdſeligkeit und Vollkommenheit geziert; ein heller Spiegel, darin das ewige Licht mit ſeinem Glanze ſpielte; eine kryſtallene Kugel voll reinen Waſſers, dadurch die Sonne ſcheint und ihren Glanz gleichſam noch anmuthiger und ſchöner macht; ein irdiſcher Engel oder Geiſt, mit Fleiſch angethan und bekleidet, welches ſie allenthalben mit ihrer Lebenskraft ſüßiglich erfüllte und darin als in einem ſchönen Palaſt mit Luſt wohnte und herrſchte ꝛc. Die ſcholaſtiſche Dogmatik des 17. Jahrhunderts betont regelmäßig die dreifache Vollkommenheit des Menſchen im Urſtande: in intellectueller, in ethiſcher, ſowie in äſthetiſcher Hinſicht, oder was ſeine Erkenntniß - functionen, ſeine Willenskräfte und die Reinheit und Harmonie ſeiner ſinnlichen Affecte betrifft. Sie geht aber dabei mehrfach über das rechte Maaß nüchterner, bibliſch normirter Auffaſſung hinaus. Er - ſcheint ein Joh. Gerhard noch möglichſt auf Einhaltung dieſes Maaßes bedacht, wenn er als zur urſprünglichen Gerechtigkeit und Heiligkeit gehörig aufzählt die höchſte Geradheit (rectitudo) und Unverſehrt - heit (integritas) aller Leibes - und Seelenkräfte, ihre völlige Ueber - einſtimmung mit Gottes Geſetz, überhaupt die höchſte Vollkommenheit, Unſchuld und Reinheit des ganzen Menſchen : ſo ſteigert Baier die intellectuellen Vorzüge Adams zu einer von Gott ihm ſpeciell behufs Nachahmung Seiner als des Urbilds ertheilten Weisheit, d. h. einer gewiſſen habituellen Erleuchtung oder Vollkommenheit des Jntellects, um ihm eine vorzügliche und dem Urſtande entſprechende Erkenntniß göttlicher, menſchlicher und natürlicher Dinge zu gewähren ; auch von den körperlichen Vorzügen des erſten Menſchen, z. B. davon, daß ipsa membra corporis organici analogiam quandam habent ad attributa divina , redet dieſer Dogmatiker in etwas ſtarken Ausdrücken. Weiter noch geht Quenſtedt, nach welchem Adams Erkenntniß eine vortreffliche, volle und vollendete war, kurz eine ſo große, wie keiner von uns gefallenen Menſchen ſie entweder aus dem Buch der Natur oder aus der h. Schrift zu ſchöpfen vermag . Er wirft ernſtlich die Frage auf: weſſen intellectuelle Vortrefflichkeit für die höhere zu halten ſei, ob die der Apoſtel nach Empfang des25I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.heiligen Geiſtes oder diejenige Adams vor dem Falle? Die Antwort lautet: die göttlichen Dinge und die Glaubensgeheimniſſe hätten allerdings die Apoſtel, dank Chriſti Offenbarung, vollkommener gewußt; aber in Bezug auf eine vollſtändige und umfaſſende Kenntniß aller natürlichen und dem Menſchen nützlichen Dinge ſei Adam wie allen Menſchen ſo auch den Apoſteln ſowohl extenſiv als intenſiv überlegen geweſen! Selbſt der ſonſt vielfach auf Mäßi - gung und Herabminderung der Ueberſchwenglichkeiten ſeiner ſchola - ſtiſchen Vorgänger ausgehende Hollaz ſchildert die Wiſſenſchaft Adams als eine vorzügliche und für den Urſtand ausreichende ; nur ſei ſie nicht ſchauende Gotteserkenntniß (cognitio Dei intuitiva) geweſen, dergleichen uns Menſchen nicht auf Erden, ſondern erſt im Himmel zu Theil werden könne. Bei ſeinem Zeitgenoſſen, dem Wittenberger J. Deutſchmann ( 1706), war die Annahme einer auf beſondrer Erleuchtung beruhenden Vorzüglichkeit des Wiſſens Adams um gött - liche Dinge ſo feſtgewurzelt, daß derſelbe 1689 eine Theologie Adams, des erſten wahren Lutheraners drucken ließ1)Vgl. auch J. H. Majus, Sciagraphia philosophiae Adami etc., Francofurti 1711, ſowie J. W. Feuerlin, De Adami logica, metaphysica, mathesi, philos. practica et libris. Altorf 1717.. Schon Calo - vius, deſſen Exegeſe der urgeſchichtlichen Abſchnitte der Geneſis Luthers naiv-gemüthliche und tief fromme Weiſe mit einem künſtlich ſchemati - ſirenden ſcholaſtiſchen Verfahren verknüpft, charakteriſirte das Paradies als eine Uebungsſchule der Frömmigkeit (schola et gymnasium pietatis) für die Menſchen, als einen Sitz der Kirche , einen Palaſt des Beherrſchers der Erde , ein Vorbild des ewigen Lebens . Dieſe verſchiednen Bedeutungen motivirte er durch Angabe eines ſechsfachen Zweckes der Erſchaffung des Paradieſes; daſſelbe habe den Menſchen dienen ſollen 1) zur königlichen Wohnſtätte, 2) zur Bewachung wider den Teufel, 3) zur Bebauung, 4) zur Frömmigkeitsübung mittelſt des Baumes der Erkenntniß und des - jenigen des Lebens ( die er nach Luthers Vorgange als eine Art von heiligen Hainen oder Naturtempeln zur Anbetung Gottes denkt,26I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.und wovon er den erſteren das Geſetz, den zweiten das Evangelium vorbilden läßt ), 5) zur Förderung und Erhaltung des Lebens mittelſt des Lebensbaumes, 6) zur ſymboliſchen Vorausdarſtellung des himmliſchen Paradieſes1)Jo. Gerhard, Loc. IV, 248. Baier, Comp. theol. posit p. 293. 297 ; Quenſtedt, Theol. did. polemica II, 6. Hollaz, Exam. theol. acroamat. p. 471. Ab. Calov., Syst. locor. theol., t. III, loc. de creatione, p. 882 ss. Vgl. deſſelben Biblia illustr. u. Commentar. in Genesin. .

Die reformirte Orthodoxie ebenderſelben Zeiten hat ſich nicht viel nüchterner gehalten. Zwar Calvins Darſtellung in ſeinem grundlegenden dogmatiſchen Meiſterwerke erſcheint kraft der Vorſicht, womit ſie ungeſunde Ueberſchwenglichkeiten zu vermeiden und weſent - lich nur die Ausſagen der bibliſchen Berichte treu zu reproduciren ſucht, derjenigen Melanchthons nahe ſtehend; gleichwie auch die Mehrzahl der reformirten Symbole ſich, ähnlich den lutheriſchen, eines üppigen Uebermaaßes bei Schilderung der Vorzüge des noch nicht gefallenen Menſchen enthält und bei Aufzählung der weſent - lichſten im Begriffe der Gottebenbildlichkeit und urſprünglichen Ge - rechtigkeit enthaltenen Momente ſtehen bleibt hiebei die geiſtige Weſensſeite des gottbildlichen Urmenſchen in etwas bevorzugend und auf Koſten ſeiner körperlichen Vorzüge und Vollkommenheiten be - tonend2)Conf. Belg. 19; Conf. Helv. II, 8; Con. Dordrac. 3, 4. a. 1; Decl. Thorun. 3, 5. Wegen des Heidelb. Kat. ſ. weiter unten.. Uebrigens bleiben, wie bereits bemerkt, ſogar von den Claſſikern der reformatoriſchen Lehrbildung des Calvinismus Einige, wie Petrus Martyr, Urſinus ꝛc., in der fehlerhaften Annahme einer Verſchiedenheit von Gottbildlichkeit und Gottähnlichkeit befangen. Und ſeit dem Aufkommen ſcholaſtiſch-dialectiſcher Lehrformen um den Anfang des 17. Jahrhunderts nimmt dieſes Zurückgreifen auf die ältere, patriſtiſche und ſcholaſtiſche Ueberlieferung mehr und mehr überhand. Der Gegenſatz zur pelagianiſirenden und verſchämt natura - liſtiſchen Faſſung der Urſtandslehre ſeitens des Socinianismus und Arminianismus von welchen Secten beſonders die erſtere ſehr27I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.beſtimmt ein ſterbliches Erſchaffenſein Adams lehrte, auch mit dem göttlichen Ebenbilde nicht höhere Geiſtesvorzüge ſondern lediglich die Herrſchaft über die niedere Natur bezeichnet ſein ließ (während die Arminianer an dieſer letzteren Lehreinſeitigkeit ſich nicht mitbetheilig - ten)1)Vgl. Joh. Völkel, De vera religione l. II (De Dei operibus); Ph. v. Limborch, Theologia christiana II, 24, 2. Ueberhaupt: Fock, Der So - cinianismus, II, 484 487; W. Engelhardt, Die Gottesbildlichkeit des Men - ſchen, Jahrbb. f. deutſche Theologie 1870, S. 38. trieb die Orthodoxie zu immer ſtrengerer Reproduction deſſen, was ſ. Z. Auguſtin über den Gegenſtand gelehrt hatte, ja demnächſt auch gar mancher Zuthaten hiezu aus der Epoche der Scholaſtik. Zuſammen mit dem Auguſtinismus wird auch Vieles aus dem Thomismus wieder hervorgezogen, natürlich mit Ausſchluß des ſpecifiſch Römiſchen, wie insbeſondere der Annahme, als ob die Vorzüge des einſtigen Unſchuldsſtandes keine natürlichen, dem Men - ſchen anerſchaffenen geweſen ſeien. Schon Zanchius hatte die Ehe - ſchließung Adams und Evas im Paradieſe dazu benutzt, den ganzen Jnbegriff der Pflichten und Rechte des Eheſtands als implicite in jenem Urbilde aller menſchlichen Verbindungen von Mann und Weib enthalten zu entwickeln, alſo eine ausführliche Moraltheologie des Eheſtandes von mehr denn 100 Folioſeiten, auf den Einen Vers 1 Moſ. 2, 24 gegründet. Andreas Rivetus und Andre entwickelten auf Grund der Stelle von der Benamung der Thiere 1 Moſ. 2, 19 eine ebenſo breite als überſchwengliche Theorie von der Vorzüglichkeit der Wiſſenſchaft Adams, gegenüber den dieſen Punkt bezweifelnden Socinianern. Anderen diente das Protevangelium oder die Weiſſa - gung vom Kampfe des Weibesſamens mit dem Schlangenſamen (1 Moſ. 3, 15) zu den übertriebenſten Schilderungen der prophe - tiſchen Sehergabe Adams, bezw. des von Gott ihm erſchloſſenen Fernblicks in die zukünftige Geſchichte. Bekannt iſt wie Milton, dieſer Tradition folgend, in den beiden letzten Geſängen ſeines Verlornen Paradieſes den Erzengel Michael dem kurz vorher zu Fall gekommenen Adam einen Abriß der geſammten Weltgeſchichte28I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.bis zum jüngſten Gerichte mittheilen läßt1)H. Zanchi, De operibus Dei intra spacium sex dierum creatis. Neostad. 1591. Andr. Rivet, Exercitationes theoll. et scholasticae in l. I Mosis (in ſ. Opp., Roterod. 1651, t. I), beſ. Exercit. XXII. Milton, Paradise lost, C. XI. XII. . Zu anderen Spielereien und Willkürlichkeiten gab die Föderaltheologie der Coccejaner Anlaß, mit ihrem Streben ſchon im Naturbunde vor dem Geſetz und zumal in der Religon des Paradieſes mannigfache Spuren und Vorſpiele des Gnadenbundes nachzuweiſen. Herm. Witſius ſuchte zu zeigen, daß ſchon die Paradieſesreligion vier Sacramente gehabt hätte, nemlich den Garten Eden ſelbſt, ſeine zwei Bäume und den Sabbath. Franz Burmann legte gleichfalls den Paradieſesbäumen ſacramentale Geltung bei. Von der mehrfachen ſegensvollen Beſtimmung und Bedeutung des Paradieſes für den Menſchen redete er in Ausdrücken, die an Calov’s oben erwähnte Darſtellung erinnern; das Paradies ſollte dem Menſchen ſein als ein Königreich, darin zu herrſchen, als eine Küche, darin vollauf zu haben, als eine Werkſtatt ſich darin zu üben, als ein Tempel, Gotte darin zu dienen. Mit eigen - thümlich plumpem Realismus entwickelt dieſer Coccejaner die Vor - züge des paradieſiſchen Menſchen nach ſeiner leiblichen Seite: Gott machte und formirte dieſen Leib ſo herrlich und temperirt in allen Theilen, daß er alle Körper und Leiber übertrifft; ſeine Beine ſind als Pfeiler, die Arme als Flügel, die Hände als Dienſtknechte ja Schreiber des Menſchenverſtandes und wie Jnſtrumente aller Jn - ſtrumente; die Sinnen als Spione und Ausſpäher, das Haupt als ein Caſtell oder Schloß, das Herz als ein Sitz des Lebens und als eine Unruh, die nimmer ſtille ſteht ꝛc. ; .... und das alles mit einer ſolchen Proportion und Vollkommenheit, die man nicht genug begreifen noch verwundern kann , u. ſ. f. 2)H. Witſius, Exercitatt. sacrae im Symb. apostolor. et in Orat. dominicam; ed. 2., Franequerae 1689, p. 111 ss. Fr. Burmann, Geſetz und Zeugniß, oder Auslegungen ...... der V BB. Moſis, Frankfurt 1693, Bd. I. Vgl. Dieſtel, Studien zur Föderaltheologie, Jahrbb. für deutſche Theol. 1865, S. 230 ff.

29I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.

Wir haben im Bisherigen die kirchliche Tradition bis gegen Anfang des 18. Jahrhunderts in denjenigen ihrer Ausſagen verhört, welche das Ueberſchwengliche und Ungeſunde ihrer Auffaſſung des Urſtands vorzugsweiſe anſchaulich hervortreten laſſen. Es würde ungerecht ſein, wollten wir hiemit den Umkreiß der auf die urſprüng - liche Beſchaffenheit des Menſchen bezüglichen Vorſtellungen der Träger jener Tradition ſchon als geſchloſſen und Alles, was zur Darlegung ihrer einſchlägigen Anſchauungen dienen kann, als erſchöpft betrachten. Das kirchliche Dogma vom Urſtande und von der verlorenen Gott - bildlichkeit ſteht nicht ganz ſo unvermittelt und losgelöſt von ſon - ſtigen auf die Menſchheitsgeſchichte bezüglichen Annahmen da, daß es als jeglicher Anerkennung eines geſunden organiſchen Fortſchritts in dieſer Geſchichte widerſprechend erſchiene und es unmöglich machte, die im Paradieſe begonnene Entwicklung als eine continuirliche, einheitlich von Gott geleitete und mit Conſequenz ihrem Ziele zu - ſtrebende zn begreifen. Neben den degradationiſtiſchen, ein Herabſinken von der urſprünglichen Höhe und Vollkommenheit voraus - ſetzenden Anſchauungen geht, mit den früheſten Kirchenvätern anhebend und namentlich in neueſter Zeit, ſeit vorigem Jahrhundert, mit Sorgfalt ausgebildet, eine evolutioniſtiſche, das Wiederempor - ſteigen des gefallenen Menſchen zu den lichten Höhen der ihm urſprünglich beſtimmt geweſenen Gottbildlichkeit und Naturbeherrſchung ins Auge faſſende Betrachtungsweiſe her. Auch ihr müſſen wir uns in näherer Betrachtung zuwenden.

Schon die Geſchichtsphiloſophie der Väter iſt keine ganz ein - ſeitig degradationiſtiſche oder peſſimiſtiſche. Sie ſchenkt neben dem Sinken der Menſchheit von ihrer urſprünglich innegehabten Höhe auch der zum Reiche Chriſti emporſtrebenden Entwicklung ihre Be - achtung; das Drama der Weltgeſchichte ſchließt nach ihr Beme - gungen von beiderlei Tendenz, abwärtsgehende und aufſteigende, in ſich. Von den patriſtiſchen Verſuchen der Gewinnung eines gewiſſen ſpeculativen Geſammtüberblicks über das Ganze der Heilsgeſchichte vor und nach Chriſto ſind die älteſten nicht degradationiſtiſch, ſon -30I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.dern überwiegend evolutioniſtiſch geartet. Die Menſchheit ſteigt, nach jener ſchon im Briefe des Pſeudo-Barnabas (K. 15) ange - deuteten typ〈…〉〈…〉 iſch-prophetiſchen Deutung der Schöpfungsgeſchichte, welche die ſechs Tage als eine Weiſſagung auf die ſechs Weltalter faßt, durch ſechs Jahrtauſende zu ihrem glorreichen Entwicklungs - ziel, dem meſſianiſchen Sabbath-Jahrtauſend als dem Gegenbilde des Schöpfungsſabbaths 1 Moſ. 2, 2 empor. Das Philoſophem ſcheint bereits aus dem helleniſtiſchen Judenthum zu ſtammen; zu ſeiner Aufſtellung dürften hauptſächlich wohl die Worte Pſ. 90, 5: Denn tauſend Jahre ſind vor dir wie ein Tag den Anlaß ge - geben haben. Bis um die Zeiten Conſtantins überwiegt diejenige Ausgeſtaltung des Dogma’s, welche das abſchließende Sabbath - Jahrtauſend gemäß buchſtäblicher Deutung von Apokal. 20, 1 6, als Millenium, als tauſendjährige Herrlichkeitszeit der vorher lei - denden und verfolgten Chriſtenheit denkt; dieſer chiliaſtiſchen Vor - ſtellungsweiſe huldigten Juſtin der Märtyrer, Jrenäus, Hippolytus, Cyprian, Lactanz, Victorin von Petabium. Vom Aufhören der Chriſtenverfolgungen an gelangt die nicht-chiliaſtiſche Deutung zur Vorherrſchaft, wonach das dem Schöpfungsſabbath entſprechende letzte Jahrtauſend der heilsgeſchichtlichen Entwicklung geiſtlich, als Sinnbild der Ewigkeit oder des Reichs der ſeligen Vollendung, ver - ſtanden wird. So nach dem Vorgange der pſeudoclementiniſchen Homilien (Hom. 17), ſowie begünſtigt durch die ſpiritualiſtiſche Exegeſe der alexandriniſchen Schule: Hilarius, Hieronymus, Auguſtin, Cyrill von Jeruſalem, Chryſoſtomus, Hilarianus, Pſeudojuſtin, Pſeudo-Euſtathius, Anaſtaſius Sinaita, Jſidor von Sevilla und Beda welchen beiden Letzteren ein großer Theil der mittelalter - lichen Exegeten und Geſchichtsphiloſophen, ſowohl von myſtiſcher wie von ſcholaſtiſcher Richtung ſich anſchließt. 1)Vgl. überhaupt meine Geſchichte der Beziehungen ꝛc. I, 147 und 289 (Note 51), woſelbſt auch die Belegſtellen zu den oben genannten Vätern.Bei einigen Vätern wird dieſe typiſch-prophetiſche Weltalter-Speculation durch eine einfachere, minder complicirte und dem natürlichen Erkenntnißſtandpunkte beſſer31I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.angepaßte Betrachtungsweiſe: die Vorſtellung eines Emporſteigens der Menſchheit durch die Lebensſtufen der Kindheit, des Knaben - und Jünglings-Alters zum vollen Mannesalter in Chriſto (vgl. Eph. 4, 13) erſetzt oder ergänzt. So bei Tertullian, der, im Zu - ſammenhange mit ſeiner montaniſtiſch-ascetiſchen Weltanſicht, das Patriarchenzeitalter als die rohe Kindheitsſtufe oder das Säuglings - alter der Menſchheit darſtellte, hierauf in der Zeit von Moſe bis auf Chriſtum die auf der Stufe des Knabenalters ſtehende Menſch - heit durchs Geſetz gebändigt werden, ſodann den Erlöſer das Jüng - lingsalter und letztlich den heiligen Geiſt oder Paraklet das reife Mannesalter herbeiführen läßt. Auguſtin nahm dieſer Lebensalter - Speculation, die er mit jenem Schema der ſechs oder ſieben Welt - alter combinirte, ihren einſeitig montaniſtiſchen, ſectireriſch-enthuſia - ſtiſchen Character. Evolutioniſtiſch geartet, eine auf - nicht abſteigende Tendenz der Menſchheitsentwicklung ausdrückend, erſcheint die Jdee auch bei ihm. Gleichwie auch der eigentliche leitende Grundgedanke ſeiner Geſchichtsphiloſophie, die Gegenüberſtellung eines Weltreichs und eines im Kampfe damit letzlich obſiegenden Gottesſtaates, eine progreſſiſtiſche oder evolutioniſtiſche Betrachtungsweiſe kundgibt. 1)Vgl. R. Rocholl, Die Philoſophie der Geſchichte, Darſtellung und Kritik der Verſuche zu einem Aufbau derſelben, Göttingen 1878, S. 24 f.

Gerade die geſchichtsphiloſophiſche Speculation Auguſtins in ſeinem großen Werke vom Staat Gottes zeigt aber auf lehrreiche Weiſe das eigenthümliche Jneinanderſpielen beider, der evolutioni - ſtiſchen und der degradationiſtiſchen Vorſtellungsweiſe. Gottesreich und Weltreich liegen ja in einem langwierigen Kampfe miteinander, und dieſer Kampf beginnt ſowohl jenſeits der menſchlichen Geſchichte in der Geiſterwelt, als innerhalb der irdiſchen Entwicklung bei Adam, mit einem Abfall, einem Entfallen von urſprünglicher lichter Höhe, dem für die Menſchheit wenigſtens ein allmähliges langſames Wie - deremporklimmen zu folgen hat. Dieſe langſam aufſteigende Be - wegung vollzieht ſich aber nur innerhalb des Gottesvolkes auf ſtetige, wenn nicht unausgeſetzt doch im Weſentlichen fortſchreitende Weiſe,32I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.und zwar in Geſtalt jener ſechs im Hexaëmeron vorgebildeten Welt - alter, deren erſtes von Adam bis zur Sintfluth, das zweite von Noah bis Abraham, das dritte von dieſem bis auf David, das vierte von da bis zum Exil, das fünfte von da bis auf Chriſtum, das ſechste von da bis zum Schluſſe der irdiſchen Entwicklung der Kirche Chriſti reicht. Für das Heidenthum dagegen, den gottfeind - lichen Erdſtaat mit ſeinem bunten Völkergewimmel der 72 Nationen, bedeutet das allmählige Hindurchgehen durch dieſe ſechs Weltalter nicht ein Steigen, ſondern ein zunehmendes Herabſinken von der urſprünglichen Höhe. So geht denn Beides nebeneinander her: die ſinkende, von Gott mehr und mehr ſich entfernende Bewegung der gottfeindlichen Menſchheit, und die aufſteigende, dem Ziele völliger und ewiger Gottgemeinſchaft zuſtrebende der Angehörigen des Gottes - ſtaats. Jn den vier großen Weltreichen des Propheten Daniel, welche gegen die Zeit Chriſti hin aus der Grundlage jenes maſſen - haften Völkergewühls ſich hervorbilden, concentrirt ſich der im Laufe der Jahrtauſende immer feindſeliger gewordne Conflict zwiſchen Welt - und Gottesſtaat. Dieſe feindliche Spannung und Gefähr - dung der Exiſtenz des Gottesvolks, wobei dieſes anfänglich vor - übergehend, letztlich total und ſcheinbar bleibend von der Weltmacht umfaßt und gleichſam verſchlungen wird, ſteigert ſich bis zum Ein - tritt der den Sieg des letzteren anbahnenden günſtigen Kriſis, welche Chriſtus herbeigeführt: der vom Berge rollende Stein, der das Monarchienbild zertrümmert, oder auch der Menſchenſohn, dem die wilden vier Thierungeheuer weichen müſſen. Auguſtin folgt da, wo er dieſen Danieliſchen Jdeengang ſeinen Schilderungen einverleibt, der von Hieronymus gegebnen Deutung der vier die Monarchienfolge verſinnbildlichenden Thiere oder Bildſtücke; das erſte Weltreich iſt ihm das aſſyriſch-babyloniſche, das zweite das perſiſche, das dritte das macedoniſche, das vierte das römiſche. 1)De Civ. Dei XII, 10; XX, 23; an der letzteren Stelle wird ausdrück - lich auf den Daniel-Commentar des Hieronymus, wo die richtige Deutung der Monarchienfolge gegeben ſei, verwieſen. Auguſtin ſtellt ſich alſo hier auf denEs verdient wohl33I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.beachtet zu werden, daß die Tendenz auch dieſer den Danieliſchen Weiſſagungen entlehnten Verſinnbildlichung keine einſeitig degra - dationiſtiſche iſt, ſondern Beides miteinander veranſchaulicht: das Auf - und das Abſteigen der ihrem Ziele, der großen Kriſis in Chriſto, entgegengehenden Entwicklung. Jm Monarchienbilde aus Gold, Silber, Erz und Eiſen nebſt Thon geht der Gang der Be - trachtung unaufhaltſam abwärts; im Thierbilde ſteigt er, freilich in der Richtung vom Schlimmen zum immer Schlimmeren, Furcht - bareren und Häßlicheren, ſtetig aufwärts. Es iſt bekannt und bedarf hier keiner näheren Darlegung, wie die Auguſtiniſche Com - bination der danieliſchen Geſchichtsbetrachtung mit jener älteren, auf die typiſche Deutung des moſaiſchen Sechstagewerks ſich ſtützenden, zum Vorbilde zahlreicher geſchichtsphiloſophiſcher Conſtructionen im Mittelalter geworden iſt. Von den mehrerlei Modificationen, welche das urſprüngliche Schema hier erfuhr, mögen als die bemerkens - wertheſten genannt werden: die bei Erigena, der die Siebenzahl der Weltalter zu einer Achtzahl ſteigerte; bei Rupert von Deutz, der zuerſt die ſpäter in den Schriften Joachims und ſeiner Nachfolger zu hoher Bedeutung gelangte Dreitheilung der Heilsgeſchichte (in ein Zeitalter des Vaters, des Sohns und des Geiſtes) mit dem älteren Schema der ſieben Weltalter zu verſchmelzen ſuchte; bei Arno von Reichersberg, der es vorzieht, die ſieben Weltalter in dem weiten Rahmen der pauliniſchen Speculation vom erſten und vom anderen Adam (1 Cor. 15, 45) unterzubringen; bei Picus von Mirandula, der an kabbaliſtiſche Vorgänger ſich anlehnend eine neue typiſch heilsgeſchichtliche Deutung der ſechs Schöpfungstage zu begründen ſucht, wobei der erſte Tag dem Zeitalter Abrahams und der folgenden Patriarchen, der zweite demjenigen Moſis ꝛc. ent - ſpricht. Hervorhebung verdient auch Dante’s ſtreng degradationi -1)Standpunkt einer correcteren welthiſtoriſchen Betrachtungsweiſe, als ſein Schüler der ſpaniſche Presbyter Oroſius, deſſen Deutung des zweiten Weltreichs auf Carthago ſtatt auf Perſien ein Befangenſein in ſpecifiſch abendländiſchen An - ſchauungen verräth.Zöckler, Urgeſchichte. 334I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.ſtiſche und düſter peſſimiſtiſche Weiterbildung des danieliſchen Mo - narchienbildes: das Paradies als goldenes Haupt der als rieſenhaftes Menſchenbildniß dargeſtellten Weltgeſchichte; die folgenden Weltzeiten in ihrer zunehmenden Verſchlechterung durch den oben noch ſilbernen, dann ehernen, dann eiſernen Leib dieſes Rieſen abgebildet; aus dem Rieſenleibe allenthalben Thränen hervorbrechend, welche in die Unter - welt rinnen und hier zu den vier hölliſchen Strömen werden!1)Siehe überhaupt Rocholl a. a. O., S. 30 33. Für Arno von Reichersberg vgl. Bach, Dogmengeſch. des Mittelalters, lI, 618; für Rupert und Picus Mirandula m. Geſch. der Bez. ꝛc., I, 393. 476. Noch bis tief in die nachreformatoriſche Zeit hinein hat die Glie - derung der Weltgeſchichte nach den ſechs oder ſieben Weltaltern, ſowie die der letzten vorchriſtlichen Jahrhunderte nach dem danieliſchen Monarchien-Schema ſich in ziemlich allgemeiner Beliebtheit erhalten. Melanchthon, And. Oſiander und andere evangeliſche Theologen von Anſehen begünſtigten dieſelbe ebenſowohl, wie Petavius und bedingterweiſe noch Boſſuet. Das Jneinander einer progreſſiſtiſchen und einer peſſimiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung, das in dieſer Com - bination ſich ausdrückt, iſt der Lehrtradition aller kirchlichen Con - feſſionen faſt bis dahin eigen geblieben, wo die woderne geſchichts - philoſophiſche Speculation freiere, die Enge der bibliſchen Schemata abſtreifende Formen und Kategorien zu ſchaffen begann. 2)Rocholl, S. 33 f.

Doch wozu dieſes Eingehen auf einen Gegenſtand, der mit unſrem eigentlichen Thema, der Lehre vom Urſtand, nur mittelbarer - weiſe zuſammenhängt? Auf einigen Punkten iſt immerhin dieſer Zuſammenhang doch ein ziemlich enger. Das Streben, neben dem jähen Falle, welchen die bibliſche Paradieſesgeſchichte ſcheinbar den Uebergang vom Urſtand zur nachherigen ſündigen Entwicklung bil - den läßt, noch andere Beziehungen zwiſchen beiden Umſtänden nach - zuweiſen und ſo den ſtarren Contraſt zwiſchen denſelben in etwas zu mildern, den Ausgangspunkt der menſchlichen Cultur - und Geiſtes - entwicklung alſo möglichſt rationell, begreiflich und natürlich zu35I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.geſtalten dieſes Streben regt ſich ziemlich frühzeitig und ruft im Laufe der kirchlichen Jahrhunderte eine Reihe eigenthümlicher Speculationen hervor. Ein Theil dieſer Speculationen, die man wohl als naturaliſtiſche im weiteren Sinne des Wortes und als Vor - läuferinnen des modernen entſchiedneren Naturalismus bezeichnen darf, richtet ſein Augenmerk mehr auf den Paradieſeszuſtand ſelbſt, ein andrer auf die nächſte nachparadieſiſche Zeit. Jm Zuſammen - hange mit der auf Jneinsbildung evolutioniſtiſcher mit degradatio - niſtiſcher Geſchichtsbetrachtung überhaupt abzielenden Tendenz wird bald 1) die Dauer des paradieſiſchen Unſchuldszuſtandes möglichſt verkürzt, bald 2) innerhalb deſſelben ein früheſter Keim und vor - bereitender Anfang zum Abfalle nachzuweiſen geſucht, bald 3) unter Feſthaltung der ethiſchen Jntegrität und Reinheit der noch nicht Gefallenen ihre ſonſtige Vollkommenheit, beſonders in intellectueller Hinſicht, als eine beſchränkte dargeſtellt, bald endlich 4) für die nächſte Zeit nach dem Falle eine gewiſſe Nachwirkung des verlorenen urſprünglichen Vollkommenheitszuſtandes, ein längerer oder kürzerer Nachglanz der Paradieſesſonne als ſich vermiſchend mit den dunklen Schatten der anhebenden Nacht, aufzuzeigen verſucht. Betrachten wir dieſe viererlei Naturaliſirungsverſuche, vorerſt noch ohne kritiſches Eingehen auf die Frage nach ihrer etwaigen exegetiſchen oder heils - geſchichtlichen Berechtigung, des Näheren im Einzelnen.

1) Eine höchſt kurze Dauer des Urſtandes, beſchränkt auf wenige Tage oder gar Stunden, zu ſtatuiren, ſahen viele jüdiſche und ihnen folgend auch viele chriſtliche Ausleger in Folge ihrer buch - ſtäblichen Faſſung der ſechs Schöpfungstage und des damit nahe - gelegten Scheines, als ob das über den Sündenfall der Protoplaſten Erzählte ſich in nächſter Friſt nach ihrer Erſchaffung und Verſetzung ins Paradies zugetragen haben müſſe, ſich veranlaßt. Das vor - und außerchriſtliche Judenthum bot hier allerdings ziemlich verſchie - denartige Traditionen dar. Die vorherrſchende Meinung ſcheint jene z. B. in der Gemara Sanhedr. 4, 10 ausgedrückte geweſen zu ſein, wonach Verſetzung des eben erſchaffenen Menſchen ins Pa -3*36I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.radies und Austreibung aus demſelben an Einem Tage erfolgt ſei; fünf Stunden habe Gott zu ſeiner Erſchaffung bedurft, fünf weitere Stunden ſeien von da bis zum Genuß des verbotenen Apfels ver - ſtrichen, nach zwei weiteren Stunden habe die Austreibung des ge - fallenen Paares ſtattgefunden. Oder auch, wie eine wenig abweichende Verſion lautet: am Morgen habe Adam das göttliche Verbot em - pfangen, und am Abende deſſelben Tages, oder auch ſchon am Nach - mittage, ſei er wegen ſeiner Uebertretung ausgetrieben worden. Dagegen ſetzt der von Joſephus an der Spitze ſeiner Jüdiſchen Alterthümer gegebne Bericht vom Sündenfalle ein ſchon längeres, jedenfalls mehrtägiges Verweilen der Stammeltern im Paradieſe voraus, da er von einer allmähligen Ueberredung Evas durch die ſchmeichelnd mit Adam und ihr verkehrenden Schlange erzählt. Bis zu ſieben Jahren dehnt das (ungefähr zu des Joſephus Zeit in Pa - läſtina entſtandene) Buch der Jubiläen, die ſ. g. Kleine Geneſis, den Aufenthalt unſrer Stammeltern im Paradieſe aus; zugleich hat dieſes Apokryphon die merkwürdige Angabe: Beide, Adam wie Eva, ſeien außerhalb des Paradieſes von Gott erſchaffen worden und den Erſteren habe der Schöpfer 40 Tage nach ſeiner Er - ſchaffung, die Eva aber erſt 80 Tage nach der ihrigen in das Pa - radies verſetzt, im vorausſchauenden Hinblick auf das levitiſche Reinigkeitsgeſetz 3 Moſ. 12!1)Gem. Sanh. c. 4, 10; vgl. Abr. Calov, Bibl. illustr. ad Gen. 2, 7. Joſephus Antiq. I, 1, 4. H. Rönſch, Das Buch der Jubiläen ꝛc. herausgegeben, Leipz. 1874, S. 219 ff. Die kirchliche Tradition hat keine dieſer Angaben jüdiſcher Gewährsmänner ganz zurückgewieſen. Als beliebteſte Annahme ſteht auch innerhalb ihrer die Meinung vom nur eintägigen Verweilen Adams und Eva’s im Paradieſe feſt. Sie wurde vertreten von Jrenäus, Ephräm, Cyrill, Epiphanius, Diodor v. Tarſus, Jacob von Sarug, Anaſtaſius Sinaita u. a. Vätern; im Mittelalter z. B. von Moſes Barcepha, von Petrus Comeſtor, vom Verfaſſer der Sächſiſchen Weltchronik und anderen Chro -37I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.niſten, auch von Dante, laut C. 26 ſeines Paradieſes , (V. 139 ff. ), wo er den Adam berichten läßt:

Auf jenem Berge, der am höchſten ſteigt
Hab ich, rein und befleckt, mich ſieben Stunden
Von früh bis wieder ſich die Sonne neigt,
Wenn ſie im zweiten Viertel ſteht, befunden .

Daß Luther dieſer Meinung zwar nicht unbedingt beipflichtete, aber ihr doch ganz nahe ſtand, zeigt eine Stelle ſeines großen lat. Commentars zur Geneſis, wo er es für das Wahrſcheinlichſte er - klärt, daß Adam am ſechsten Tage geſchaffen worden ſei, gegen den Abend dieſes Tages die Eva zur Lebensgefährtin erhalten habe und mit derſelben bis zum Nachmittage des ſiebenten Tags oder Sab - baths, wo das göttliche Verbot von ihnen übertreten ward, im Paradieſe verweilt ſei. 1)Luther, in Genes. 2, 2. (Ed. Erlang. I, p. 102). Der Gewährs - mann, dem Luther hier folgt, iſt Alfr. Toſtatutus (Quaestt. in Genes. cap. XIII, qu. 606. 607); vgl. Bened. Pererius Comment. in Genes., Colon. 1606, p. 226. Daß ferner auch jene Joſephusſche An - nahme von einem zwar nicht genau beſtimmten, aber jedeufalls mehrtägigen Paradieſes-Aufenthalte der Stammeltern Liebhaber in der Kirche fand, ergibt ſich aus den ihr beipflichtenden Aeußerungen griechiſcher Väter wie Pſeudo-Baſilius (De Paradiso) und Johannes von Damaskus. Auch Auguſtin hat dieſer Meinung ſich vorzugs - weiſe geneigt ausgeſprochen; deßgleichen Gregor der Große; von Späteren z. B. der Jeſuit Pererius, welcher Letztere mit ebenſo gelehrtem als ſubtilem Räſonnement und unter Zuſtimmung auch einiger Evangeliſcher wie Urſinus, Philipp Nicolai ꝛc. zu zeigen ſuchte, der Aufenthalt im Paradieſe müſſe wohl genau acht Tage, nämlich vom Schöpfungsfreitag bis zum Sündenfallsfreitag gewährt haben. Anders der berühmte Chronologe Erzbiſchof Uſher, der Adam und Eva erſt drei Tage nach ihrer Erſchaffung, am 10. Tage nach Beginn der Weltſchöpfung, in’s Paradies verſetzt werden,38I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.aber nur einen Tag darin verweilen ließ!1)Basil. Hom. De Paradiso; Joh. Damasc. De fide orthod. II, 10; Auguſtin, De Civ. Dei XX, 26; Greg. M. Dial. IV, 1; Pererius, 1. c., Usserii Annales Vet. et Novi Testamenti (vgl. Röſch, Art. Bibl. Zeit - rechnung in Herzog’s Encycl.). Bis zu 40 Tagen wollte Cäſarius (oder wohl richtiger Pſeudo-Cäſarius) von Nazianz das Verweilen Adams im Paradieſe ausgedehnt wiſſen, wohl aus ähn - lichen antitypiſch-ſymboliſchen Gründen wie die, welche Andere die Erſtreckung des betr. Aufenthalts bis zu 30 Jahren (nach Luc. 3, 23) bevorzugen ließen. Auch die Siebenzahl von Jahren, welche das Jubiläenbuch ſtatuirt, hat verſchiedne Vertheidiger in der Kirche gefunden. So den byzantiniſchen Chroniſten Syncellus, welchen Cedrenus deshalb tadelte; ſo noch neuerdings Jackſon in ſeinen Chronologiſchen Alterthümern der älteſten Königreiche , während ein andrer Chronologe neueſter Zeit, Greswell, es vorzog bei der Hälfte eines Septennats ſtehen zu bleiben und den Paradieſes - aufenthalt nur bis zu Freitag den 5. April des Jahres 4 der Welt dauern zu laſſen!2)Vgl. Röſch, a. a. O., S. 424; auch Pererius l. c., ſowie was Syncellus und Cedrenus betrifft, meine Geſch. der Bez. ꝛc., I, 375. Die Abſurdität erſcheint hier in beiden Fällen gleich groß, bei den Minimal - wie bei den Maximal-Be - ſtimmungen eines Zeitraums, über deſſen Länge die bibliſche Urkunde keinerlei auch nur annähernde Andeutung gibt und deſſen abſolute Unbeſtimmbarkeit ſchon Euſebius in ſeinem Chronikon ganz richtig erkannte. 3)Euseb. Chron I, 16, 4 ed Mai: Tempora, quibus habitatum est in illo paradiso, nemo est qui effari queat.

2) Nicht ſehr viel erquicklicher als die eben aufgezählten chrono - logiſchen Verſuche, übrigens aber mit größerer Conſequenz auf eine gewiſſe Naturaliſirung des Urſtands ausgehend, erſcheinen die Ver - ſuche zur Nachweiſung vorbereitender Keime und An - fänge des Sündenfalles bei den Paradieſesbewohnern. Jene antiocheniſch-pelagianiſche Darſtellung des Zuſtands des neugeſchaf -39I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.fenen Menſchen als eines ſittlich unvollkommnen, ergänzungsbedürf - tigen, ſpielt mehrfach in die Anſchauungsweiſe orthodoxer kirchlicher Theologen von Anſehen hinein. Duns Scotus bethätigte ſeine pelagianiſirenden Neigungen u. a. auch damit, daß er von läßlichen Sünden redete, welche der Menſch im Unſchuldsſtande leichter und eher zu begehen fähig geweſen ſein dürfte, als Todſünden; auch die Unſterblichkeit Adams vor dem Falle erſcheint bei dieſem Scholaſtiker ſo ſehr auf Schrauben geſtellt und lediglich bedingungsweiſe gefaßt, daß er der im Mittelalter von Abälard, in der alten Kirche von Juſtin, Tatian, Theophilus, Jrenäus, Arnobius, Lactanz gelehrten natürlichen Sterblichkeit (oder bloß donativen Jmmortalität) der Protoplaſten im Urſtande offenbar ganz nahe kommt. 1)Duns Scotus in l. II. Sententt. dist. 21, qu. 1. Vgl. Abälard, Exposit. in Hexaemeron, in Opp. ed. Cousin, T. I, p. 625 s. Wegen der im Texte genannten patriſtiſchen Vorgänger Abälards vgl. Fr. Nitzſch, Grundriß der Dogmengeſchichte, I, 351 f. Bei Rupert von Deutz und einigen andren Theologen begegnet man dem merkwürdigen Gedanken, das Sprechen Evas mit der Schlange ſei als ein Zeichen des gewiſſermaaßen in ihrem Jnneren ſchon im Vollzug begriffenen Abfalls zum Böſen zu beurtheilen. Die Mutter aller Lebendigen , meint Rupert, war ſchon innerlich durch die Galle der Bosheit vergiftet, als ſie die Beredſamkeit der Schlange, dieſes auf üble Weiſe redegewandten diaboliſchen Geiſtes, thörlicher Weiſe bewunderte und verehrte. Während die Mehrheit der ſpäteren katholiſchen Exegeten Einige nicht ohne der Eva ein wunderſames Vermögen zum Verſtehen der Thierſprache überhaupt zuzuſchreiben; ſo, nach Cyrill’s v. Alex. Vorgange, Petr. Lom - bardus, Toſtatus, Pererius dieſe Deutung verwarf und, wie auch Luther in ſeiner Weiſe, die Eva vom Vorwurfe ſündiger oder götzen - dieneriſcher Bewunderung des böſen Geiſtes freizuſprechen ſuchte, kehrte in neuerer Zeit Calmet zum Weſentlichen der Rupertſchen Annahme zurück, indem er das Sprechen mit der Schlange als ein40I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Symptom des ſchon beginnenden Falls der Eva darzuſtellen ſuchte. 1)Rupert v. Deutz, De Trinit. et operib. eius, III, 3. Vgl. Pererius zu Gen. 3, 1, ſowie Calmet zu derſ. St. Eine neuere proteſtantiſche Myſtikerſchule, anhebend mit Jakob Böhme und Gottfried Arnold, liebt es in Adams Verfallen in einen tiefen Schlaf vor Evas Erſchaffung einen erſten Anfang des Sündenfalles zu erblicken. Der urſprünglich die göttliche Weisheit oder ewige Jungfrau in ſich ſelber tragende, alſo androgyne Menſchheitsſtamm - vater ſank nach Böhme von dieſer Höhe ſeines engelgleichen Ur - zuſtandes ſchon dadurch herab, daß er in thieriſchen Schlaf verfiel und ſo die Jungfrau in ſich verdunkelte, weßhalb ihm nun eine ſichtbare irdiſche Gehilfin gegeben werden mußte; den ſo im Grunde ſchon vollzogenen Abfall machte das Eßen von der verbotenen irdi - ſchen Frucht ſpäter vollſtändig. Aehnlich Poiret, Gottfried Arnold, Dippel ꝛc., und noch mehrere der Gegenwart nahe ſtehenden Theo - ſophen wie Michael Hahn, St. Martin, Baader. Jn der Annahme Baumgartens und Hofmanns: Gott habe mittelſt der zwiſchen - eingekommnen Schöpfung des Weibes die Strenge ſeiner dem Adam angedrohten Strafe mildern und ſo die Schwere des Falles der Stammeltern in etwas brechen und verringern gewollt, erſcheint zwar das Anſtößigſte jener Speculation beſeitigt; doch liegt auch in ihr noch eine gewiſſe auf Verringerung des Contraſts zwiſchen dem Unſchuldsſtande und dem gefallenen Zuſtande ausgehende Naturali - ſirungstendenz feinerer Art zu Tage. 2)Jak. Böhme, Vom dreifachen Leben des Menſchen 5, 135 ff., Von der Gnadenwahl 6, 5 ff; Gottfr. Arnold, Das Geheimniß der göttl. Sophia, 1700 (vgl. Dibelins, G. Arnold, Berlin 1873, S. 128 f.). Wegen Poirets ꝛc. ſ. die Nachweiſe in Thl. II meiner Geſchichte der Bezieh. S. 196. 516 f. Endlich Baumgarten, Comm. zum Pentat. 1843; Hof. mann, Weiſſag. und Erfüllung, I, 65 ff., Schriftbew. I, 434; auch Delitzſch, Bibl. Pſychol., S. 89 f.

3) Nicht ſündig inficirt zwar, wohl aber intellec - tuell beſchränkt und kindiſch unwiſſend ſollen die Stamm - eltern vor ihrem Falle geweſen ſein. Dieſe Annahme tritt ſehr41I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.frühzeitig in der Kirche hervor. Mehrere jener Väter des 2. Jahr - hunderts, welche zugleich eine nur bedingungsweiſe angebotne Unſterb - lichkeit Adams vor dem Falle lehrten, huldigten ihr. Theophilus von Antiochia betonte ſehr ſtark, hierin faſt ein Vorläufer der ſpäteren pelagianiſirenden Antiochener, daß Adam vor dem Falle ein Kind und kindiſchen Sinnes (〈…〉〈…〉) geweſen ſei; ähnlich Jrenäus, der demſelben zwar ein Unſchuldskleid (stola sanc - titatis) ertheilt, ihn aber doch ein bloßes Kind (infans) ſein ließ; auch wohl Tertullian, der zwar die Unſchuld und enge Gottesfreund - ſchaft des Paradieſesbewohners hervorhob, eines höheren Wiſſens deſſelben aber nicht gedachte. Die Vorſtellungsweiſe, welche die Beſchaffenheit der Menſchheitsſtammeltern im Urſtande dem Kindes - alter mehr oder minder analog dachte, ſcheint überhaupt bis um die Zeit Auguſtins die vorherrſchende geweſen zu ſein. Erſt dieſer Letztere ſetzte, im Zuſammenhange mit ſeiner früher erwähnten Steigerung der intellectuellen Vorzüge Adams ins Abenteuerliche, auch die Annahme in Curs, daß derſelbe wohl als erwachſener Mann geſchaffen worden ſei wiewohl er dies keineswegs beſtimmt behauptete, ſondern es nur als Gottes Allmacht und Weisheit ent - ſprechend bezeichnete, wenn es ſo geſchehen ſei. 1)Aug., De Genesi ad lit. l. VI, c. 13. (vgl. Lomb., L. II Sent., dist. 17).Wie wenig man um Auguſtins Zeit im Abendlande ſchon daran gewöhnt war, den Paradieſesbewohnern vor dem Falle eine vollſtändig entwickelte, dem reiferen Alter entſprechende Jntelligenz, oder gar übernatürliche Ver - ſtandeskräfte zuzuſchreiben, das zeigen auf lehrreiche Weiſe die Schilderungen einiger lateiniſcher Dichter dieſes Zeitalters in ihren Verſificationen der Schöpfungs - und Sündenfallsgeſchichte. Die dem Spanier Juvencus (um 330) beigelegte, aber vielleicht erſt etwas jüngere hexametriſche Bearbeitung der Geneſis ſtellt den Zuſtand Adams und Evas vor ihrem Falle geradezu als eine Nacht geiſtiger Blindheit und Unwiſſenheit dar, die Wirkung des Apfelbiſſes da - gegen als eine Verſcheuchung dieſer Nacht und ein Hellewerden ihrer42I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Augen. 1)Juvencus, Genes. v. 70: Nec minus interea coecos nox alta tenebat etc. Minder ſtark zu heidniſchartigen Vorſtellungen hinneigend, aber immerhin doch auch der ſpäteren Ueberſpannung der intellec - tuellen Vollkommenheit des Urſtands noch fern bleibend, erſcheint die Geneſisdichtung eines jüngeren Hilarius oder Pſeudo-Hilarius (5. Jahrh. ) in ihren entſprechenden Partieen. O du ſeliges Thier (animal), deß Vater die Rechte des Höchſten iſt ꝛc., wird daſelbſt der neugeſchaffne Adam angeredet und ihm für den Fall des Be - harrens ohne Sünde verheißen, daß er göttlichen Weſens (numen) werden ſolle. Cl. Marius Victor von Maſſilia ( um 450) redet allerdings in etwas ſtärkeren Ausdrücken von der Betrachtung der beſeligenden Gottesgeheimniſſe, wozu die Menſchen im Unſchulds - ſtande des Paradieſes befähigt geweſen ſeien; aber noch zwei um mehrere Jahrzehnte jüngere Geneſisdichter: Dracontius (um 490) und Avitus um (500) heben lediglich die ſelige Unſchuld der Proto - plaſten hervor; die intellectuelle Vorzüglichkeit fehlt in den von ihnen gebotenen Schilderungen des Urſtandes. 2)Siehe in Betreff dieſer altkirchlichen Geneſisdichter m. Geſch. der Bezie - hungen ꝛc. I, 257 265. Der ſpäteren kirchlichen Orthodoxie kam dieſe einfachere und naturgemäßere Be - trachtungsweiſe, wie aus dem früher von uns Mitgetheilten erhellt, mehr und mehr abhanden; und ſolche Verſuche zur Milderung des widernatürlich Ueberſpannten der ſcholaſtiſchen Lehren über Adams unbegrenztes Wiſſen, wie beiſpielsweiſe Toſtatus und Cajetan ſie wagten, halfen dem Uebelſtande in Wirklichkeit nicht ab, dienten vielmehr nur dazu, die Größe der eingetretenen Abirrungen von der nüchternen Schriftgrundlage um ſo anſchaulicher zu zeigen. Erſt in der reformatoriſchen Theologie fand hie und da Rückkehr zu dieſem Grunde ſtatt und wurde demgemäß der Unterſchied zwiſchen paradieſiſcher Unſchuld oder urſprünglicher Gerechtigkeit einerſeits, ſowie zwiſchen phyſiſcher und intellectueller Vollkommenheit des im Urſtande befindlichen Menſchen andrerſeits, wieder ſchärfer wahr -43I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.genommen. Bei Luther ſpielen hie und da (z. B. Tiſchr. Nr. 279) in die überſchwenglichen Schilderungen vom unbegrenzten Wiſſen und den wunderſamen Kräften Adams doch auch ſchlichtere und geſündere Vorſtellungen, namentlich die Parallele des Urſtands mit der Beſchaffenheit eines noch reinen und unverdorbenen Kindes, hinein. Mehrere Ausſprüche ſowohl lutheriſcher als reformirter Symbole laſſen eine ſolche vorſichtiger umgrenzte und naturgemäßere Vorſtellung vom Weſen des Urſtands als eines zwar unſchuldigen, darum aber noch nicht allſeitig vollkommnen Zuſtandes hervortreten. Melanchthon in der Apologie der Augsb. Confeſſion bietet eine Schilderung der urſprünglichen Gerechtigkeit, welche die in derſelben begriffenen Vorzüge mehr ihrer Reinheit als ihrer etwaigen Fülle und abgeſchloſſene Vollendung nach betont. Er rechnet dahin, neben den körperlichen Vorzügen eines allenthalben reinen Geblüts und unverderbter Kräfte des Leibes , die Geiſtesgaben oder ethiſchen Güter einer reinen Gotteserkenntniß, Gottesfurcht und vertrauenden Hingabe an Gott (notitia Dei certior, timor Dei, fiducia Dei) fügt aber wenigſtens im lat. Texte des Symbols, zu dieſer Auf - zählung noch den einſchränkenden Zuſatz: oder wenigſtens Geradheit und Vermögen, Jenes zu leiſten (aut certe rectitudinem et vim ista efficiendi) hinzu. Mittelſt dieſer Einſchränkung, die im deut - ſchen Texte allerdings fehlt, ſollte offenbar auf das zunächſt nur Potentielle, noch nicht zur ſelbſtthätigen Ausbildung und Vollendung Gelangte jener Ureigenſchaften des Menſchen hingewieſen werden. Das dem Kindesalter Analoge, jugendlich Urkräftige, aber noch Ent - wicklungsbedürftige des Urſtands kam ſo in gebührender Weiſe zur Anerkennung, ohne daß doch jene Attribute der reineren Gottes - erkenntniß ꝛc. im Sinne des fortgeſchrittenen Naturalismus der Neuzeit zu bloßen ſchwachen Keimen oder embryoniſchen Anlagen reducirt wurden. 1)Vgl. meine Schrift: Die Augsb. Confeſſion ꝛc. (Frankfurt 1870) S. 140 ff.Jnnerhalb der lutheriſchen Symbolliteratur findet ſich, da die bereits oben betrachteten Ausſagen der Concor -44I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.dienformel über die anerſchaffene Gerechtigkeit doch ſchon beſtimmter und voller lauten, eine ähnliche Erklärung über das Weſen des Urſtands nicht mehr. Dagegen tragen einige einſchlägige reformirte Symbolausſagen einen ähnlichen vorſichtig limitirten Charakter; ſo Frage 6 des Heidelberger Katechismus: Gott hat den Menſchen erſchaffen in rechtſchaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit, auf daß er Gott ſeinen Schöpfer recht erkennete ; Kapitel 8 der zweiten Helve - tiſchen Confeſſion, welches gleichfalls bloß von Gerechtigkeit und wahrhafter Heiligkeit (nach Eph. 4, 21) als Momenten des ver - lorenen Gottesbildes redet, ohne Erwähnung einer intellectuellen Vollkommenheit; auch Nr. 9 der Anglikaniſchen Artikel, wo noch ſummariſcher verfahren und nur die urſprüngliche Gerechtigkeit als das ſeit dem Sündenfalle Verlorne genannt iſt. Daß der neuere theologiſche Supranaturalismus, und zwar nicht einmal bloß der vermittlungstheologiſche, ſondern auch der confeſſionelle, bei dieſer beſchränkteren Faſſung des Begriffs der urſprünglichen Gottbildlich - keit im Allgemeinen ſtehen bleibt, ja gleich der intellectuellen auch die ethiſche Vollkommenheit des Urſtands lediglich als Anlage, nicht als irgendwie ſchon ausgebildete Eigenſchaft denkt, werden wir weiter unten (X) zu zeigen haben.

4) Ein gewiſſer Reſt oder Nachklang der Urſtands-Vollkommen - heit ſoll die paradieſiſche Zeit überdauert und zu den Anfängen der allmähligen Wiedererhebung des gefallenen Menſchengeſchlechts mit - gewirkt haben. Alſo ein nachwirkendes Hineinleuchten der untergegangenen Paradieſesſonne in die dunkle Sün - dennacht; ein Jneinanderſpielen, ein Sichmiſchen des ſtatus ori - ginalis und des status originalem secutus, während der Anfangs - epoche des letztern! Dieſe Weiſe naturaliſirender Milderung deſſen, was ſchroff und hart an der altkirchlichen Urſtandslehre, haben ſchon einige Apologeten der vorauguſtiniſchen Zeit verſucht. Die Art wie beiſpielsweiſe Clemens von Alexandria und Arnobius die allmählige Entſtehung des Heidenthums ſchildern, als eine zu - nehmende Zertheilung, Zerſpaltung und Vervielfältigung des ur -45I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.ſprünglich geglaubten Einen Göttlichen, ſtellt ſich weſentlich als eine derartige Verfolgung der Spuren und Reſte der paradieſiſchen Ur - religion in die immer dunkler werdende heidniſche Nacht hinein dar. Beſonders der Erſtere beſchreibt auf lehrreiche Weiſe die verſchiedenen Wege, auf welchen die von Gott abgefallene Menſchheit, durch Ver - götterung erſtlich der Himmelslichter, weiterhin der irdiſchen Natur - gaben wie Getreide und Wein, der Strafen fürs Böſe (Furien, Eumeniden), menſchlicher Leidenſchaften, menſchlicher Perſönlichkeiten, wie insbeſondere Herrſcher und Wohlthäter, nach und nach zur Vielgötterei herabgeſunken ſeien. Von Arnobius wird beſonders anſchaulich die mit der zunehmenden Zahl von Apotheoſirungen ſterblicher und ſündiger Menſchen nothwendig wachſende ſittliche Cor - ruption der heidniſchen Urvölker dargelegt. 1)Clemens, Protrept. p. 15 Sylb. Arnobius, Adv. gentes VII, p. 299 sq. Auf andere Weiſe thun Einige der oben genannten Geneſisdichter das Jneinander - ſpielen nachwirkender Paradieſeskräfte und trauriger Folgen des Sündenelends dar. Dracontius läßt mit dem Verluſte der urſprüng - lichen Unſchuld und des Gottesgartens zwar die ſelige Gottes - gemeinſchaft der Protoplaſten ein frühes Ende erreichen, zugleich aber ein Anderes, wozu ſie erſchaffen worden: ihre Herrſchaft über die Kräfte der irdiſchen Natur und über die Schätze der Erde, jetzt erſt recht beginnen. Was nur die Erde mit ihren mannichfachen hohen und niederen Gewächſen an Blüthen und Früchten hervorbringt; was nur die Waſſer der Flüſſe, Seen und Meere unter dem Ein - fluß der Winde in Bewegung ſetzen und entweder herantreiben oder wegſpülen: es alles iſt dem Menſchen zur Verfügung geſtellt, damit er, der aus dem Staube Geborene, mehr und mehr das Bild Gottes und Chriſti in ſeinem naturbeherrſchenden Wirken darſtelle. Und mehr noch als dieß gibt Gott dem aus ſeiner Nähe in dieſe Welt Verſtoßenen mit: er ſtellt ihm in den Erſcheinungen des irdiſchen Naturlaufs vielfältige tröſtende Bilder ſeiner einſtigen Wiedererweckung vom Tode, dem er um der Sünde willen verfallen,46I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.vor Augen. Die alljährliche Erneuerung des Grüns der Saatfelder, die ſich häutenden Schlangen, die ihr Geweih zeitweilig abwerfenden und verjüngenden Hirſche, die ihr Gefieder wechſelnden Vögel, der verjüngt aus ſeiner Aſche hervorgehende Phönix, die einander ab - löſenden Phaſen der Himmelslichter: dieß alles ſind ſichtbare Bürg - ſchaften für ein Wiedereingehen des dem Tode verfallenen Menſchen zu neuem Leben, tröſtliche Zeichen von der Treue Deſſen, der nicht ewiglich hadern, nicht immerdar zürnen wird. Bei Cl. Marius Victor ſieht man die Betrachtung über das Loos der aus Eden Vertriebenen eine mehr naturaliſtiſche Wendung nehmen. Was die Gefallenen, nachdem ſie Gottes Fluch vernommen, aus dem Garten hinaustreibt, iſt nicht ein Engel mit dem Feuerſchwerte, ſondern ein Sturmwind, der zuerſt die Wipfel der Bäume des heiligen Haines heftig bewegt, dann das ſchuldige Paar mit gewaltigem Wirbel erfaßt und unaufhaltſam hinausſtößt! Ein Zuſtand hilfloſeſten Elends aber auch barbariſcher Rohheit für die auf der unbebauten und einſamen Erde Umherirrenden beginnt nun, bis ein inbrünſtiges Gebet Adams an den unſichtbar gewordenen Schöpfer Hilfe ſchafft und den Anfang einer beſſeren Zeit herbeiführt. Dieß geſchieht freilich mittelſt einer merkwürdigen Kriſis, nicht ohne Kampf und Arbeit für die Gefährdeten. Eine böſe Schlange raſchelt nemlich, während Adam noch betet, neben Eva im Graſe; auf des Weibes Rath wirft Adam dem raſch unter einen Fels ſchlüpfenden Gewürm einen Stein nach. Da ſprüht den Ueberraſchten aus dem vom Stein getroffenen Felſen plötzlich ein Feuerfunke entgegen, der durch Entzündung des umgebenden Graſes einen Waldbrand erzeugt. Das Feuer greift mächtig um ſich und verſchafft den noch auf unterſter Culturſtufe ſtehenden Erdenherrſchern Kenntniß nicht nur von ſon - ſtigen wohlthätigen Wirkungen der geheimnißvollen Himmelskraft, ſondern ſofort auch ſchon vom metallſchmelzenden Vermögen ihrer Gluthen, da dieſe Bächlein geſchmolzenen Goldes, Silbers und Erzes einher rinnen machen. Eine ſeltſame altchriſtliche Verſion der Pro - metheusſage in der That! Sie weiſt zurück auf Lucreziſche Schil -47I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.derungen, klingt aber zugleich an apokryphiſche Züge chriſtlich - und jüdiſch-mittelaltriger, ja muhammedaniſcher Adamsſagen an; ſo an jene auf das angebliche Offenbarungszeugniß eines Märtyrers Me - thodius geſtützte Legende bei Comeſtor, welche Adams und Evas 15jähriges thränenreiches Elend nach der Vertreibung aus dem Paradieſe beſchreibt, und mehr noch an die arabiſche Sage, welche die längere Zeit getrennt geweſenen Protoplaſten Adam, nachdem er in Jndien, Eva, nachdem ſie in Arabien in der Gegend von Mekka umhergeirrt einander letztlich am Berge Arapha wieder - finden läßt, u. ſ. f. 1)Wegen Dracontius und M. Victors ſ. m. Geſchichte der Beziehungen, S. 260. 263. Vgl. Petr. Comeſtors Hist. scholastica (ebendaſ. S. 420), ſowie Calmet, Comment. literal. in Genes. 3, 24.

Eine beſonders bemerkenswerthe Reihe hiehergehöriger Specu - lationen knüpft an die blibliſchen Nachrichten von den langlebigen Patriarchen zwiſchen der Schöpfung und Sintfluth an. Vor Allen Henoch, der dem Tode ganz Entnommene, aber auch die übrigen dieſer Makrobier von Adam bis auf Noah ſind begreif - licherweiſe als bedeutſame Belege für die Annahme eines längeren Nachwirkens paradieſiſcher Kräfte in der Entwicklung des gefallenen Menſchengeſchlechts vielfach ins Auge gefaßt worden. Lag es doch nahe genug, ihre nahezu tauſendjährigen Lebensalter aus der noch nicht in voller Kraft wirkſam gewordenen Beſchaffenheit des erb - ſündlichen Verderbens im früheſten menſchheitlichen Entwicklungs - ſtadium herzuleiten, alſo gewiſſermaaßen ein Stück langſam ver - witternder paradieſiſcher Urkraft, eine Annäherung an die dem Menſchen uranfänglich zugedacht geweſene Unſterblichkeit darin zu erblicken. Schon Auguſtinus hat ziemlich breite Betrachtungen über dieſen Gegenſtand angeſtellt, die ſich freilich vom Abirren ins Aeußerliche und Ungeſunde keineswegs ganz frei halten. Er erörtert u. a. die Frage, ob mit den nach Jahrhunderten zählenden Lebens - altern auch eine Rieſengröße der Leiber dieſer Patriarchen verbunden geweſen ſei, für welche Annahme er ſich übrigens nicht beſtimmt48I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.ausſpricht. Die Zweifel der Ungläubigen an der Geſchichtlichkeit der Makrobier überhaupt weiſt er ebenſo beſtimmt zurück, wie den Verſuch gewiſſer Rationaliſten ſeiner Zeit, die Jahre zu Zehntels - jahren zu reduciren. Ausführlich handelt er von der Differenz zwiſchen alexandriniſchem und hebräiſchem Texte, betreffend die Zahlen bei den einzelnen Makrobiern, unter Bevorzugung der An - gaben im Grundtexte. Den Hintergrund ſeiner apologetiſchen Er - örterungen bildet die Vorausſetzung, daß ein ſo langes Leben der Urväter dem göttlichen Weltplane ſowie dem Jntereſſe des aus der paradieſiſchen Urzeit ſich entwickelnden Gottesſtaates einzig entſprochen habe. 1)De Civ. Dei XV, 9 ss. Jn ähnlicher Weiſe beſchäftigte ſich dann die Theologie des Mittelalters gern mit dieſem Thema (vgl. unten, IX), obſchon faſt ſtets nur in einſeitiger und wenig erſprießlicher Weiſe. Man ſpe - culirte über Adams und Evas Tod und Begräbniß, ließ die Letztere 10 Jahre nach Erſterem, alſo genau 940 nach Erſchaffung der Welt, ſterben; ließ das Grab Adams durch Noah, und zwar auf dem Hügel Golgatha im hl. Lande, angelegt werden u. dgl. m. 2)Marianus Scotus in ſ. Chronicon; Comeſtor, Hist. schola - stica etc.; vgl. Salianus, Annales eccl. Vet. T., I. Der weit und breit herrſchenden mönchiſch-ascetiſchen Lebensanſchau - ung entſprach es, wenn ein angebliches Nichtfleiſcheſſen der vorſint - fluthlichen Väter, ein Leben von bloßer Pflanzenkoſt; als Urſache für das hohe Alter, wozu ſie es brachten, angegeben wurde. Dem widerſprachen verhältnißmäßig nur wenige Vertreter eines ſtrengeren exegetiſchen Verfahrens zu Gunſten der Annahme, daß jene aus - ſchließlich vegetarianiſche Diät nur für die Paradieſeszeit gegolten habe. Auch die ältere evangeliſche Theologie hat ſich an Specu - lationen über dieſen Punkt mehrfach betheiligt. Lutheriſche wie reformirte Ausleger, und zwar anfänglich die Mehrheit von Beiden, auch Luther ſelbſt, billigten die römiſche Tradition von der Lebens - weiſe der Menſchen bis zur Fluth als einer nur an Pflanzenkoſt gewöhnten. Nur langſam gewann die von Calvin vertretene freiere49I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.und nicht vegetarianiſch ascetiſirende Auffaſſungsweiſe die Oberhand. Uebrigens erſcheint, abgeſehen von dieſem ſpeciellen Punkte, gerade Luthers Behandlung des Thema’s von den vorſintfluthlichen Patriarchen ſonſt durch ihre Selbſtſtändigkeit und friſche phantaſie - volle Originalität beſonders ausgezeichnet. Der Grundgedanke, daß im Leben dieſer Makrobier die Herrlichkeit und Seligkeit des Para - dieſes noch in gewiſſer Weiſe, freilich geſchwächt, getrübt und beein - trächtigt durch den bereits ſich geltend machenden Einfluß des Sündenelends, fortgedauert habe, tritt ungemein kräftig bei ihm hervor. Er ſtellt dabei die in weltlichen Dingen gleichfalls mit hoher Kraft, Weisheit und Geſchicklichkeit ausgeſtatteten, ja hierin den Patriarchen überlegenen Nachkommen Kains in wirkſamen Con - traſt zu jenen frommen Gotteskindern. Was dieſe letzteren um ihres Feſthaltens an der göttlichen Wahrheit willen zu leiden hatten, ihr groß Erſchrecken und Kümmerniß , darob ſie oft durch Engel getröſtet werden mußten, ihre langwierige, unſägliche Mühe und Arbeit, Angſt, Marter und Plage , darin ſie den heiligen Märtyrern und Bekennern ſpäterer Zeiten gleichen: es war das alles haupt - ſächlich durch die Feindſchaft der Kainiten veranlaßt. Eine Welt wäre darumb zu geben, wenns möglich wäre, daß man die Legenden der lieben Patriarchen, ſo vor der Sündfluth gelebet, haben könnte; da würde man ſehen, wie ſie gelebet, geprediget und was ſie ge - litten haben . 1)Tiſchr., Nr. 270 (E. A. 57, 228), Vgl. Nr. 2689 (E. A. 62, 153); auch die Predigt über 1 Moſ. 5 (E. A. 33, 153 ff.). Es war dieß der höchſte Ruhm jener erſten Welt, daß ſie ſo viele gute, weiſe und heilige Männer zumal hatte ..... es waren dieſelben die größten Helden nächſt Chriſtus und Johannes dem Täufer, welche die Geſchichte hervorgebracht hat; ihre Herrlichkeit werden wir am jüngſten Tage ſehen und anſtaunen, ſammt allem dem, was ſie, ein Adam, Seth, Methuſalah ꝛc. gethan und gewirkt haben! Zu ihnen hat Henoch gehört, der nur drei Jahrhunderte hienieden lebende erhabene Prophet und Hoheprieſter, der ſechs Patriarchen zu Lehrern gehabt hat . So zahlreiche höchſtZöckler, Urſtand. 450I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.gottloſe Menſchen damals ſchon auf Erden vorhanden waren: immer - hin war dieſes vorſintfluthliche Zeitalter während deſſen ja auch das Paradies, freilich verſchloſſen für die Menſchen, ſich immer noch auf der Erde befand noch ein beſſeres als alle folgenden Zeit - alter der menſchlichen Geſchichte. Es war jenes goldne Zeitalter, deſſen die alten Dichter, ohne Zweifel belehrt aus der Ueberlieferung der Erzväter, gedenken; auf es zunächſt iſt dann die verderben - bringende Waſſerwelt der Sündfluth gefolgt, hierauf die bleichgelbe Welt der Götzendienerei und der Gottfeindlichkeit, in welcher wir noch leben; das letzte in dieſer Reihe wird die verzehrende Feuer - welt des jüngſten Gerichtes ſein. Kurz, dieß iſt die abſteigende Stufenfolge dieſer Weltalter: zuerſt jene urſprünglichſte beſte und heiligſte Welt, der die köſtlichſten Edelſteine des Menſchengeſchlechts (nobilissimae gemmae totius generis humani) angehörten; dann die Zeit nach der Fluth, wo auch noch etliche herrliche und große Patriarchen, Könige und Propeten gelebt und Chriſtum herbeigeſehnt haben (Luk. 10, 24), die freilich jenen erſten und älteſten Patriarchen nicht gleich ſind; endlich unſere Zeit des Neuen Bundes, die, ob - ſchon Chriſtus in ihr erſchienen, doch gleichſam den Kehricht und Bodenſatz der Welt (velut putamen et faex mundi) bildet, da ſie Chriſtum in eben dem Grade gering achtet, als jene erſte Welt nichts Köſtlicheres kannte und begehrte,