PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Lehre vom Urſtand des Menſchen,
geſchichtlich und dogmatiſch-apologetiſch unterſucht
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Gütersloh. Druck und Verlag von C. Bertelsmann. 1879.
Die Lehre vom Urſtand des Menſchen.
Die Lehre vom Urſtand des Menſchen,
geſchichtlich und dogmatiſch-apologetiſch unterſucht
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Gütersloh. Druck und Verlag von C. Bertelsmann. 1879.

Alle Rechte vorbehalten.

Seinem lieben Vater Herrn Konrad Zöckler, Großh. heſſiſchem Dekan a. D., Pfarrer zu Königſtädten bei Groß-Geran, zur demnächſt (am 1. Januar 1880) bevorſtehenden Feier des 50jährigen Amtsjubiläums, ſowie ſeinem lieben Schwiegervater Herrn Dr. Eduard Geiſt, em. Director des Gymnaſiums zu Gießen, R. d. O. Philipps d. Großm. 1. Cl., ꝛc. zur Erinnerung an die bereits ſtattgehabte 50j. Jubiläumsfeier

in kindlicher Liebe dargebracht vom Verfaſſer.

Vorwort.

Jn meinem größeren geſchichtlichen Werke hat das Kapitel vom Urſtand (de statu integritatis) bereits einige Berückſichtigung erfahren. Dieß jedoch nur nach der hiſtoriſchen Seite, und auch in dieſer Hinſicht weder erſchöpfend vollſtändig, noch ſo, daß ſein Entwicklungsgang zuſam - menhängend und als einheitliches Ganzes zur Darſtellung gelangt wäre. Daß eine genauere monographiſche Beleuchtung des Gegenſtandes Zeit - bedürfniß iſt, legt die nachfolgende Einleitung in Kürze dar. Der her - kömmlichen dogmatiſchen und apologetiſchen Behandlungsweiſe habe ich nach einer bisher auffallend vernachläſſigten und doch gerade für gewiſſe Pro - bleme der Gegenwart höchſt wichtigen Seite hin eine Bereicherung zu er - theilen verſucht. Jch habe nemlich die ſowohl bibliſch wie durch ſonſtige uralte Traditionen bezeugten höheren Lebensalter der älteſten Menſchheitsſtammväter unter den Geſichtspunkt einer allmählig dahin ſchwindenden Nachwirkung des Urſtands mit ſeinen reineren und reicheren Lebenskräften geſtellt, und ſo der Thatſache eines Ausgegangen - ſeins der menſchlichen Entwicklung von unſündlichen Anfängen einerſeits eine umfänglichere Bedeutung, andrerſeits eine feſtere Stütze zu gewähren geſucht. Ob es mir gelungen iſt, über das nothwendigerweiſe vieles Dunkle und ſchwer Ergründbare in ſich begreifende Gebiet, deſſen Be - arbeitung mir hienach oblag, allenthalben das erforderliche Licht zu ver - breiten, darüber mögen meine geneigten Leſer urtheilen. Auf jeden Fall hoffe ich die aus den neueſten Verhandlungen über Urſprung und Urzeit des Menſchengeſchlechts reſultirende Nothwendigkeit dargethan zu haben, daß ſowohl bei lehrhafter (dogmatiſcher und ethiſcher) wie bei heilsgeſchichtlich - apologetiſcher Behandlung des Lehrſtücks vom ſündloſen Urzuſtande der Menſchheit künftig mehr Rückſicht auf jenes daran grenzende und innerlich damit zuſammenhängende Gebiet genommen werde, als dieß bisher ge - ſchehen iſt.

Der Verfaſſer.

Jnhalts-Ueberſicht.

  • Seite
  • Einleitung. Stand der Frage1
  • I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung10
  • II. Die Schriftlehre vom Urſtande54
  • III. Die Traditionen des Heidenthums84
  • IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus113
  • V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen (paläontologiſchen) Gegeninſtanzen152
  • VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen180
  • VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts: wo gelegen? ob einer? ob mehrere? 216
  • VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen als Nachglanz der Paradieſes - herrlichkeit244
  • IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts289
  • X. Schluß: Die richtig gefaßte Theorie vom Kindesalter der Menſchheit als Löſung des Räthſels der Urſtandsfrage326

Berichtigungen.

  • S. 63 Z. 2 v. o. lies: auflösbare.
  • 85 10 v. u. Künſten.
  • 101 13 v. o. Nr. VII (ſtatt Nr. VIII).
  • 159 7 v. paläolithiſches.
  • 172 9 v. VI, 3 (ſtatt VII, 3).
  • 187 11 v. u. Pidſchen.
  • 228 2 v. Medien.
  • 232 4 v. o. Coadamiten.
  • 310 8 Päonier (ſt. Pöonier).
  • 323 2 Diduction (ſt. Deduclion).
[1]

Einleitung.

Stand der Frage.

Die Annahme eines glücklichen Unſchuldsſtandes als Ausgangs - punkts für die geſchichtliche Entwicklung der Menſchheit gehört nicht zu denjenigen Beſtandtheilen kirchlicher Lehrüberlieferung, welche das moderne Zeitbewußtſein gelten läßt oder gar begünſtigt. Soweit daſſelbe unter dem Banne jener naturwiſſenſchaftlichen Weltanſicht ſteht, die eine Grenze zwiſchen Thier und Menſch überhaupt nicht mehr anerkennt, alſo der Theologie überall die Zoologie zu ſub - ſtituiren ſucht, hält es ſelbſtverſtändlich jedwede, auch die beſcheidenſte Formulirung der Annahme für gleichbedeutend mit albernem Aber - glauben. Der Fortſchrittsphiloſophie des reinen Monismus er - ſcheint nichts abſurder, als die Anfänge unſrer Culturentwicklung anderwärts als in den ſocialen Trieben und Jnſtincten der höheren Wirbelthiere ſuchen zu wollen. Selbſt die niedere Thierwelt wird von dieſer Schule gelegentlich, wenn es den Urſprung der Religion oder andrer Momente des Geiſteslebens zu erklären gilt, mit herbei - gezogen. Huxley meinte unlängſt, falls es Lubbock gelänge, bei den Ameiſen u. a. auch religiöſe Empfindungen nachzuweiſen, ſo wäre auch dieſer Nachweis als eine intereſſante Bereicherung der Zoologie willkommen zu heißen. Gerade die Exiſtenz der Religion , ſchreibt v. Hellwald, iſt, da ihre Wurzeln bis in die Thierwelt hinabreichen, einer der kräftigſten ſchlagendſten Beweiſe für unſre thieriſche Herkunft, für unſer langes Emporarbeiten aus den aller - tiefſten Culturſtufen; wäre der Menſch, wie man ſo lange lehrteZöckler, Urſtand. 12Einleitung.und noch lehrt, von Hauſe aus ein vollkommenes Weſen geweſen, ſo hätte er der Religion, des Glaubens einfach nicht bedurft; er hätte gewußt, nicht geglaubt, denn das Wiſſen ſchließt den Glauben aus, ꝛc. Mit lapidarſtilartiger Kürze thut Schaaffhauſen (als Vor - ſitzender der deutſchen Anthropologen-Verſammlung zu Kiel 1878) den Machtſpruch: als erſtes und ſicherſtes Ergebniß der prähiſtoriſchen Anthropologie ſei erkannt, daß der heute lebende Menſch nicht in einer urſprünglichen Vollkommenheit geſchaffen worden iſt, die er verloren hat; ſondern er erſcheine uns immer roher und thieriſcher, je weiter zurück wir ſein Bild verfolgen. Vornehmlich im Hinblick auf die kirchliche Lehre vom Urſtand begrüßt der Novara-Reiſende und Ethnologe K. v. Scherzer mit großer Genugthuung es als ein launiges Spiel des Zufalls, daß gerade im bibelfeſten England die erſte Breſche in die Legende der Schöpfungsgeſchichte geſchoſſen worden. Derſelbe meint, Darwins in die verſchiedenſten Geſell - ſchaftsſchichten gedrungene Deſcendenztheorie habe der orthodoxen Kirche und ihren Dogmen weit mehr Schaden zugefügt, als Koper - nikus (!) und Galilei. 1)Huxley, Vortrag vor der anthropolog. Section der Brit. Aſſociation zu Dublin 1878. F. v. Hellwald, Culturgeſchichtliche Randgloſſen, Ausland 1879, Nr. 11, S. 205 f. Schaaffhauſen, in den Verh. der IX. allg. Verſammlung der d. G. f. Anthropologie ꝛc. zu Kiel, redig. von J. Ranke, München 1878, S. 85. K. v. Scherzer, Reſultate auf dem Gebiete der Anthropometrie, in Petermanns Geogr. Mittheilungen, 1879, IV, 147.

Sehen wir von dieſer Art von Gegnern ab, denen zugleich mit dem ſündloſen Urſtande auch die Sünde als etwas nur Eingebildetes, nicht wirklich Exiſtirendes gilt und die für die richtige Religion der Gegenwart den Monismus, d. i. den naturphiloſophiſchen Atheismus erklären, ſo bleibt immerhin auch bei den gemäßigteren Aufklärern unſrer Tage ein überwiegend abſchätziges Urtheil über den Werth der kirchlichen Lehre vom Urſtand und eine kühle Skepſis in Betreff der Geſchichtlichkeit auch nur eines Kernes deſſelben das Vor - herrſchende. Hören wir den Sprecher des politiſchen Liberalismus und3Einleitung.zugleich den Vertreter eines nicht gerade extremen Reformjudenthums. Faſt alle Völker , ſagt Lasker, haben ſagenhaft oder als Glaubens - lehre eine in ſchuldloſer Einfachheit glückſelige Vergangenheit als Urzuſtand ſich vorgeſtellt. Die geſchichtliche Beſtätigung fehlt; in die erſten Anfänge der Völker des heutigen Civiliſationsſyſtems reicht die Beobachtung nicht zurück Liegt, ſo fragt derſelbe, der Höhepunkt des menſchlichen Genius hinter uns, und vor uns allein die Arbeit, die verlorene Höhe wieder zu erklimmen? Viele glauben es, aber oberflächliche Beobachtungen verleiten ſie. Der einzig erkennbare Faden in der leider nur ſtückweiſe bekannten Ge - ſchichte der Menſchheit zeigt uns dieſe in ununterbrochenem Fort - ſchritte. Es bleibe daher dahin geſtellt das Dunkel der Anfänge, in welches der Blick keines Forſchers gedrungen und nur der ver - muthende Gedanke ſich mit Willkür verſetzt! Man laſſe ſie fahren, die Hypotheſen jenes nebelhaften Bereichs, wo die Perſon des Schöpfers die letzte Kenntniß des Urgeſetzes erſetzt ! Beim Buſenfreunde eines Culturforſchers wie C. Tweſten läßt ſich ein andres Urtheil über den Gegenſtand kaum erwarten. Aehnlich äußert ſich der bekannte belgiſche Fortſchrittsphiloſoph Laurent, allerdings ſonſt ein Vertreter Krauſeſcher Jdeen, aber im Punkte der Lehre vom Urſtande weit radikaler gerichtet als die Schelling - Krauſeſche Tradition. 1)Lasker, Ueber Halbbildung, in der deutſchen Rundſchau, 1878, Octob., S. 30. 47. 49. Vgl. C. Tweſten, Die relig., polit. und ſocialen Jdeen der aſiat. Culturvölker ꝛc., Berlin 1872, ſowie was Laurent betrifft, ſeine Phi - losophie de l Histoire, 1869, und dazu Rocholl, Die Philoſ. der Geſchichte, Göttingen 1878, S. 196 f. Von den angeſeheneren deutſchen Philo - ſophen der Gegenwart, ſoweit ſie eine zwiſchen extremem Radikalismus und Orthodoxie vermittelnde Haltung einnehmen, meint Lotze zweifelnd: ob die Einheit des Menſchengeſchlechts wie eine ſchön verzierte Jni - tiale hinter uns liege, oder ob ſie erſt das Ziel ſeiner Entwicklung bilden werde, dieß könne erſt die Zukunft lehren; denkt Carriere den erſten Menſchen einerſeits zwar als höchſtes Entwicklungsproduct1 *4Einleitung.der Thierwelt, aber andrerſeits auch als blitzartig, wie ein großes hiſtoriſches Genie, wie Pallas aus Zeus Haupte, aus der urzeit - lichen Organismenreihe hervorgegangene neue und höhere Schöpfung; will Edm. Pfleiderer der Jdee eines vergangenen goldenen Zeitalters jedenfalls einen hohen Jdealwerth beigelegt wiſſen, gleichwie auch der moſaiſche Schöpfungsbericht trotz aller Ausſtellungen der mo - dernen Kritik ein geniales Philoſophem bleibe, das nur proſaiſche Altklugheit unverſtanden verachten köune. Ja, eine gewiſſe Zeit früherer Glückſeligkeit, meint derſelbe, ſei doch wohl anzunehmen, nur nicht als in die erſte Kindheit unſres Geſchlechts fallend, wohin die Sage vom goldnen Zeitalter ſie zurückſchiebe, ſondern als einer etwas ſpäteren Entwicklungsſtufe angehörig; die Erinnerung an dieſe vergangene ſchöne Zeit begleite den Menſchen auf der Bahn der Geſchichte als ſein guter Genius ꝛc. 1)Lotze, Mikrokosmus (bei Rocholl, S. 328). Carriere, Die ſittl. Weltordnung, 1877. Edm. Pfleiderer, Die Jdee des goldnen Zeitalters, Berlin 1877, S. 24 f.

Die moderne liberale Theologie, mag ſie von Schleiermacher ausgegangen ſein, oder mag ſie ſich nach anderen Meiſtern nennen, ſteht weſentlich auf demſelben Standpunkte einer auf alle Fälle nur ſehr mäßigen Werthſchätzung des Urſtandsdogma’s. Wenn Schleier - macher die urſprüngliche Vollkommenheit des Menſchen idealiſirend verflüchtigte, ſie für die Richtung des Geiſteslebens auf das Gottes - bewußtſein erklärend, gleichzeitig aber auch betonend, daß davon, wie unter dieſer Vorausſetzung die erſten Menſchen ſich entwickelt haben, uns die Geſchichte fehle , weßhalb keine Veranlaſſung ſei, beſondere Glaubensſätze aufzuſtellen, deren Gegenſtände die erſten Menſchen wären, und weßhalb auch das Paradies nur als die Zulänglichkeit der Natur für das Beſtehen der menſchlichen Or - ganiſation, wie ſie aller Entwicklung der Kräfte des Menſchen voraus - gieng , zu verſtehen ſei:2)Schleiermacher, Der chriſtl. Glaube nach den Grundſätzen der ev. Kirche, 3. Aufl., Berlin 1835, S. 59 (S. 323 f.), § 60. 61 (S. 326 ff.). ſo war damit im Allgemeinen die Grenze5Einleitung.bezeichnet, über welche keiner der neueren Vorkämpfer des theologiſchen Liberalismus hinausgekommen iſt. Haſe’s Kritik der kirchlichen Urſtandslehre rügt es als eine der heil. Schrift fremde Ueber - treibung, daß die urſprüngliche Unſchuld in angeborner oder an - gethaner Heiligkeit beſtanden habe ; vielmehr ſei die begriffsmäßige Vollkommenheit des Menſchen in der Phantaſieanſchauung zu einer einſt wirklichen geworden. Die wahre Bedeutung des göttlichen Ebenbilds liege demgemäß weniger in einer verlornen Vergangenheit als in einer deſignirten Zukunft ; doch ſei für den Volksunterricht der in der heiligen Sage ſinnreich dargeſtellte göttliche Urſprung der Menſchheit hervorzuheben . Rothe, der Heilige des Proteſtan - tenvereins, ſtand zwar in mehrfacher ſonſtiger Hinſicht dem Stand - punkte kirchlicher Frömmigkeit näher, als die Meiſten ſeiner modern - liberalen Bewunderer; aber im Lehrſtücke vom Urſtand erhob er ſich kaum bis zu jener Poſition Schleiermachers. Hegelianiſirend, mit ausdrücklicher Berufung auf Vatke, meinte er, man ſehe ſich zu der Behauptung hingedrängt, daß die ſittliche Entwicklung der Menſchheit nothwendig über die Sünde hinweggehe, ja von ihr aus - gehe ; es liege im Begriff der Schöpfung ſelbſt, daß die perſön - liche Creatur aus der Materie zunächſt nicht anders herausge - arbeitet werden könne, denn als unmittelbar noch durch die Materie obruirte und verunreinigte, ſomit auch in ihrer Perſönlichkeit alterirte, kurz als ſündige; für dieſe Annahme ſpreche auch die heil. Schrift, wenigſtens das N. Teſt., das die Gottbildlichkeit deutlich als etwas erſt Zukünftiges, vom Menſchen ſelbſtthätig zu Erringendes darſtelle und eine urſprüngliche Erſchaffung deſſelben als bloß natürlichen, mithin nothwendig ſündigen, in der Stelle 1 Cor. 15, 47 beſtimmt lehre. Jn ähnlicher Weiſe ſucht Biedermann den Grund der Sünde in der von Gott ſelbſt dem Menſchen anerſchaffnen fleiſchlichen Natur, leugnet die geſchichtliche Wirklichkeit eines urſprünglichen Standes der Jntegrität, und ſetzt das göttliche Ebenbild in die dem Menſchen von Natur immanente Beſtimmung, welche durch die Sünde noch nicht verwirklicht ſei. Lipſius läßt als die Urgeſtalt6Einleitung.der ethiſchen Religion eine gewiſſe unmittelbare aber unbewußte, immer freilich nur relative Gottesgemeinſchaft gelten, welche vom Bewußtſein des Gegenſatzes aus als verlorenes Paradies erſcheine. Die Frage nach den natürlichen Bedingungen für die erſten An - fänge des Menſchengeſchlechts ſei einfach der Naturwiſſenſchaft anheim - zugeben ; denn durch alle Analogien mit dem Thierleben, möge man dieſelben noch ſo weit verfolgen, werde doch die Hauptſache, die ſpecifiſch geiſtige Ausrüſtung des Menſchen, nicht aufgehoben. 1)K. Haſe, Evang. Dogmatik, § 64 (S. 48 f. der 4. Aufl.). Rothe, Theologiſche Ethik, § 496 (I, 211 ff., 1. Aufl.). Biedermann, Chriſtl. Dog - matik, Zürich 1869. Lipſius, Lehrb. der ev. -proteſt. Dogmatik 1876, S. 343. Mit der ſchneidendſten pietätsloſeſten Schärfe, ſeinen obengenannten philoſophiſchen Bruder an Schroffheit der Oppoſition wider die Kirchenlehre weit überbietend, hat jüngſt O. Pfleiderer in Berlin ſich über unſren Gegenſtand geäußert. Was die Kirche ſeit Auguſtin von der ſündloſen Unſchuld des Menſchengeſchlechts vor dem Falle gelehrt habe, ſei nichts als zügelloſe Phantaſie. Nur die moderne Natur - und Alterthumswiſſenſchaft ſei hier maaßgebend; den ächten urſprünglichen Sinn der hebräiſchen Sündenfallsmythe habe Schiller getroffen in dem Aufſatze über die erſte Menſchen - geſellſchaft, ſowie mit ihm weſentlich übereinſtimmend Hegel in der Religionsphiloſophie! Mit der gottbildlichen Würde des Menſchen ſei die Annahme ſeines Thierurſprungs ganz wohl vereinbar; jene hänge von den Durchgangsſtufen ſeiner Entſtehung ganz und gar nicht ab. Freilich muß die Form des kirchlichen Glaubens hier weſentliche Aenderungen erfahren: die paradieſiſche Urzeit, allen Thatſachen der Natur - und Geſchichtsforſchung widerſprechend, fällt rettungslos dahin; mit ihr Sündenfall, Erbſchuld und kirchliche Auffaſſung des Erlöſungswerks Chriſti. Aber anſtatt der unhalt - baren Form tritt der Kern (?) nur um ſo reiner hervor. Das Jdeal menſchlicher Würde liegt nicht hinter uns, ſondern vor uns als Ziel der Entwicklung. 2)Pfleiderer, Religionsphiloſophie auf geſchichtlicher Grundlage, Berlin

7Einleitung.

Alſo wirklich?! Die Annahme eines Urſtands wäre thatſächlich preiszugeben? Von ihr wäre nur das als Kern übrig zu laſſen, was als Kern einer Urſtandslehre in Wahrheit nicht mehr gelten kann: ein nicht der geſchichtlichen Vergangenheit, ſondern nur der Zukunft angehöriges Jdeal der Gottähnlichkeit? Der Naturforſchung allein, und zwar der Zoologie in Verbindung mit der Phyſiologie des Menſchen, oder kürzer der Anthropogenie , wäre die Ent - ſcheidung darüber zu überlaſſen, was der Menſch von Haus aus und abgeſehen von der Sünde geweſen? Die Kirchenlehre von einem ſündloſen Urzuſtande vor dem Beginne der ſündigen Entwicklung unſres Geſchlechts wäre als eine der heil. Schrift fremde Ueber - treibung zu verurtheilen und für das Product einer exaltirten Phantaſieanſchauung zu halten? Und wenn vielleicht etwas wie ein goldnes Zeitalter anzunehmen, ſo müßte auch es ſchon als ein Entwicklungsproduct urkräftiger Geſchlechter des früheſten Alterthums gedacht, es dürfte aber nicht in die erſte Kindheit unſeres Geſchlechts verlegt werden?

Für Viele ſind dieſe Fragen ſchon längſt nicht mehr Fragen. Wir müſſen aber im Jntereſſe beider, ſowohl der kirchlichen Theologie als der Zweige der Natur - und Alterthumswiſſenſchaft, welche man ihr hier gern ſubſtituiren möchte, feierlich dawider proteſtiren, daß man die Sache als in dem bekannten Sinne abgethan und erledigt betrachte. Wir behaupten die Geſchichtlichkeit eines ſündloſen und ſeligen Urſtandes der Menſchheit als nicht zu entbehrende Voraus - ſetzung für das Verſtändniß der Menſchheitsgeſchichte überhaupt, nach ihrer religiöſen wie nach ihrer profanen Seite. Und nicht als bloßes Poſtulat ſprechen wir dieß aus. Wir behaupten einen reineren und höheren Urſtand an der Spitze der Menſchheitsentwicklung nicht als bloßen Glaubensſatz, ſondern als eine durch ſchwerwiegende Zeugniſſe auch2)1878, S. 505. 536. Deſſelben Vortrag im Berl. Unionsverein (v. 24. Jan. 1879) über Chriſtenthum und Naturwiſſenſchaft. 8Einleitung.der Wiſſenſchaft gedeckte Wahrheit. Wir beſtehen darauf, daß man außer der Paradieſesgeſchichte der heil. Schrift und den ihr entſprechenden Sagen ſonſtiger religiöſer Ueberlieferung auch die vielerlei Spuren eines Ausgegangenſeins der älteren Völkergeſchichte von einem relativ vollkommnen Urzuſtande, beſonders auf dem Ge - biete ihrer Sprachbildung und ihres religiöſen Lebens, gehörig wür - dige, unter ſorgfältiger Fernhaltung deſſen, was die moniſtiſche Speculation ihrer glaubensfeindlichen Tendenz zulieb muthmaaßt und ohne Beibringung poſitiver Beweiſe, lediglich poſtulirt. Und wir erheben nachdrückliche Einſprache gegen die gewiſſenloſe Eil - fertigkeit, womit man beiden, der Kirchenlehre nicht bloß, ſondern auch der Schriftlehre, craſſe Uebertreibungen, naturwidrige Ueber - ſchwenglichkeiten und abergläubige Extravaganzen bei Darſtellung des paradieſiſchen Urſtands aufzubürden pflegt, welche thatſächlich nur in der Phantaſie der modernen Kritiker exiſtiren oder jedenfalls doch der heil. Schrift ſowie den evangeliſch erleuchteteren Vertretern der Kirchenlehre ſtets fern geblieben ſind.

Was wir zu Gunſten dieſer Behauptungen auszuführen haben, laſſen wir damit ſeinen Anfang nehmen, daß wir einen Rückblick zunächſt auf die Kirchenlehre, dann auf die Schriftlehre vom Urſtande richten, um ſo vor allem das, was dem modernen Zeitbewußtſein an dieſen beiden anſtößig iſt, genauer kennen zu lernen. Das von manchen Vertretern der erſteren geäußerte An - fechtbare und Tadelnswerthe wird ſo aus der letzteren ſeine Berich - tigung erfahren. An die Prüfung der einſchlägigen Schriftausſagen wird ſich eine Ueberſchau über die mit denſelben theils übereinſtim - menden theils ihnen widerſprechenden Traditionen des reli - giöſen Alterthums anzuſchließen haben. Worauf dann das Verhältniß des durch die Naturforſchung und hiſtoriſche Anthropologie über die Uranfänge der Menſchheit und ihrer Culturentwicklung bisher theils Erforſchten theils Gemuthmaaßten zu jener älteren religiöſen Ueberlieferung zu beleuchten und damit der unantaſtbare Kern, den dieſe in ſich ſchließt, zugleich mit deſſen9Einleitung.eigenthümlicher Bedeutung für das chriſtlich-theologiſche Lehrganze ſowie für das praktiſch-religiöſe Jntereſſe an’s Licht zu ſtellen ſein wird. Verhältnißmäßig kürzer werden wir hiebei auch die Fragen nach dem muthmaaßlichen Urſitze der Menſchheit oder der Stätte des Paradieſes, ſowie die nach der ſeit dem Verluſte dieſes Urſitzes verſtrichenen Zeitdauer oder dem Alter der bisherigen Menſchheits - entwicklung erörtern; zwei Fragen, die, trotz ihres engen Zuſammen - hanges mit der Lehre vom Urſtande, doch die dogmatiſche Seite deſſelben mehr nur mittelbarer Weiſe berühren und gewiſſermaaßen als Adiaphora von theilweiſe wenigſtens geringerem Belang für das chriſtlich religiöſe Bewußtſein zu behandeln ſind, immerhin aber doch nicht ganz von der Unterſuchung ausgeſchloſſen bleiben können.

[10]

I. Der Arſtand nach kirchlicher Aeberlieferung.

Verſteht man die Kirchenlehre in jenem weiteren Sinne, wonach außer dem Kern ſymboliſch fixirter Hauptlehrſätze auch das bunte Allerlei von Lehrmeinungen angeſehenerer und geringerer theologiſcher Schriftſteller darunter begriffen wird, ſo kann der Vorwurf unbib - liſcher Uebertreibungen und willkürlicher Speculationen auf dem Gebiete des Urſtandsdogma’s ſchwerlich von ihr fern gehalten werden. Allerdings ſind gewiſſe plumpe wildphantaſtiſche Sagen des Gnoſticismus und des talmudiſchen Judenthums, betreffend die rieſige Leibesgröße und die halb göttliche Würde Adams ſtets inner - halb der Kirche zurückgewieſen worden. Die gnoſtiſch-manichäiſche Steigerung der Perſon des erſten Menſchen zu einer göttlichen Hypoſtaſe konnte ſo wenig Eingang finden, als die Koran-Legende (Sur. II, 28; III, 10), welche Adam, den Stellvertreter Allahs, durch die Engel angebetet werden läßt, oder als ſolche ſymboli - ſirende Fabeln der Rabbinen, wie die, daß Gott Adams Leib von Babylonien, dem Lande der Fruchtfülle, den Kopf von Paläſtina, dem Lande der Erkenntniß, die Gliedmaaßen aber von den übrigen Ländern geſchaffen hätte, oder wie jene andre von einer bis zum Himmel reichenden Höhe des neugeſchaffenen Menſchheitsſtamm - vaters (wofür man ſich auf die mißverſtandne Stelle Joſ. 14, 15 ſtützte, oder gar ſo R. Elieſer auf 5 Moſe 4, 32 berief: Gott ſchuf den Menſchen auf Erden, von einem Ende zum11I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.andern 1)Bartoloccius, Bibliotheca magna rabbinica, Rom. 1675, T. I, p. 64 ss. Eiſenmenger, Entd. Judenthum I, 365. Vgl. Ham - burger, Real-Encyklop. f. Bibel und Talmud, Art. Urmenſch ; Winer, Bibl. Realwörterbuch, Art. Adam .. Doch haben Kirchenväter, beſonders griechiſche, bei Beſprechung der geiſtigen Vorzüge des noch nicht gefallenen Menſchen im Paradieſe ſich theilweiſe üppig rhetoriſirender Ausſchmückungen und mißverſtändlicher Uebertreibungen ſchuldig gemacht. Nach Gregor von Nyſſa war Adam urſprünglich geſchmückt mit dem Purpur der Tugend und dem Diadem der Gerechtigkeit; nicht bloß Vernunft und Unſterblichkeit, auch Weisheit und alle gotteswürdigen Güter gehörten mit zur Ausſtattung deſſen, der ſich als Verwandten Gottes fühlen ſollte und dem, wäre er nicht gefallen, die Geſchlechts - verbindung zwiſchen Mann und Weib fremd geblieben ſein würde. Einen irdiſchen Engel , von wunderbarer Glorie umgeben, nannte Chryſoſtomus den noch nicht gefallenen Adam mit Bezug auf eben dieſes Noch nicht Eingetretenſein des Freiens und Sichfreienlaſſens (Luk. 20, 36); als einen anderen Engel bezeichnete ihn eben deßhalb der ascetiſch-überſchwengliche Gregor von Nazianz. Bei dem die Lehren dieſer Früheren zuſammenfaſſenden Johann von Damas - kus heißt der erſte Menſch, wie Gott ihn erſchaffen, nicht bloß ſündlos, rechtſchaffen, tugendhaft und ſchmerzlos, ſondern mit jeg - licher Tugend geſchmückt, mit allen Gütern ausgeſtattet, gleichſam eine zweite kleine Welt innerhalb der großen, eine Art anbetenden Engels, ein Mittelweſen, ein Seher der ſichtbaren, ein Eingeweihter in die geiſtige Schöpfung, ein König der irdiſchen Dinge, königlich beherrſcht von Oben, irdiſch und himmliſch, zeitlich und unſterblich, ſinnfällig und geiſtig wahrnehmbar, mitteninne zwiſchen Hoheit und Niedrigkeit, Geiſt und Fleiſch in Einer Perſon, ꝛc. 2)Greg. v. Nyſſa, Orat. catech. c. 5 und De opif. hominis. Chryſoſtomus, Hom. 14 und 16 in Genes. Greg. v. Naz. Orat. 42. Joh. v. Damask., De fide orthod. II, 12.

Einen wichtigen Jmpuls zur Ausbildung dieſer über die Schrift -12I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.ausſagen hinausgehenden Steigerungen des Begriffs urſprünglicher Vollkommenheit gewährte den Kirchenvätern, insbeſondre den abend - ländiſchen, der Pelagianismus mit ſeiner Behauptung eines zwar willensfreien, aber weder ſittlich vollendeten noch unſterblichen Erſchaffenſeins des erſten Menſchen. Die betr. Denkweiſe tritt zuerſt bei den Antiochenern des ausgehenden 4. Jahrhunderts hervor. Einem Diodor von Tarſus und Theodor von Mopſueſtia, den morgenländiſchen Geſinnungsgenoſſen der Pelagianer, galt die Er - ſchaffung des erſten Menſchen als eine in ethiſcher Hinſicht unvoll - kommene, durch Chriſti Erlöſungswerk nothwendig zu ergänzende. Adam wurde von ihnen zwar als Mikrokosmos, als das zuſammen - haltende Band der Schöpfung beſchrieben, aber immerhin doch als ſittlich wie phyſiſch wandelbar und als nicht unſterblich; das Schöpfungsband wurde als ein ebenſowohl veränderliches wie auflösbares dargeſtellt1)Theodor v. Mopſ. Comment. in Ep. ad Rom. 8, 19; auch in Ephes. 1, 10 (b. Pitra, Spicil. Solesm. I, 102 sq.). Vgl. Wörter, Der Pelagianismus (Freiburg 1866), S. 20 f.. Aehnlich die Häupter des Pelagianismus, welche dem Menſchen vor dem Falle eine gewiſſe Vollkommenheit zuſchreiben, dieſelbe aber weſentlich nur in einer Ausrüſtung mit Naturgaben und in der Freiheit des Wählens zwiſchen Gut und Böſe, unter beſtimmtem Ausſchluß der Unſterblichkeit, beſtehen laſſen. Die Freiheit, welche ſie Adam beilegen, erſcheint lediglich als formale, ſeine Vollkommenheit als eine ganz unbeſtimmte, ethiſch unerfüllte, auf die pura naturalia beſchränkte, daher in der Hauptſache unver - lorene. Der ſündloſe Urſtand wird nach pelagianiſcher Anſchauung zwar nicht geleugnet, aber doch zu ſittlicher Bedeutungsloſigkeit herabgeſetzt, weil ſein weſentliches Fortdauern auch nach dem Eintritt der Sünde in die Menſchheitsgeſchichte vorausgeſetzt wird2)S. beſ. Julian v. Eclanum, bei Auguſtin, Op. imperfect. contra Jul. III, 144 und V, 59; ſowie Wörter, a. a. O., S. 212. 227..

Gegenüber dieſer Häreſie ſah Auguſtinus als Vorkämpfer des bibliſch-kirchlichen Erbſündebegriffs ſich zu einer Behandlung des13I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Urſtandsdogmas gedrängt, welcher das Lob einer ſtreng-bibliſchen Einfalt und Nüchternheit nicht durchweg ertheilt werden kann. Zwar derartige Schilderungen der Gottbildlichkeit wie die in den Büchern vom Gottesſtaate, welche Adam eine kraft ihrer Vernunft über alle Thiere des Waſſers, des Landes und der Luft erhabene Seele anerſchaffen werden laſſen, welche die Seligkeit der Paradieſes - bewohner vor dem Fall, ihre höchſt geſunde, harmoniſch geſtimmte Leibes - und Seelenbeſchaffenheit ( summa in carne sanitas, in animo tota tranquillitas ), ihr Nicht-altern, ihr Freibleiben wie von ſündiger Erregung ſo von jedwedem Schmerz und Leid mit lebhaften Farben ſchildern, können nicht ohne Weiters als Ueberſchreitungen der rechten bibliſchen Norm getadelt werden1)De civitate Dei XII, 23; XIII, 19 21; XIV, 26.. Vermeidet doch Auguſtin, ſo phantaſievoll er im Uebrigen beim Ausmalen der einzelnen Momente der Paradieſesglückſeligkeit zu Werke gehen mag, immerhin glücklich jene Vorſtellung von der Geſchlechtsverbindung zwiſchen Mann und Weib als etwas erſt durch den Sündenfall Nöthiggewordnen, welche wir für mehrere griechiſche Väter zur Klippe werden ſahen. Und iſt doch auch der bei ihm zuerſt vorfindliche Begriff der erſten oder urſprünglichen Gerechtigkeit (prima justitia) ein theologiſch unverfänglicher, aus der Schrift wohl zu begründender, mit dem er auch die Behauptung einer Nothwendigkeit ſittlichen Fortſchreitens und Vollkommenwerdens der Menſchen auch ohne Sünde in richtige Verbindung ſetzt2)De civ. Dei XIV, 21; De Gen. ad literam IX, 3 sq.; De nuptiis et concupiscentia. Der Ausdruck prima justitia , als Vorläufer des ſpät. dogmatiſchen Begriffs der justitia originalis, zuerſt in der Schrift: De peccatorum meritis et remissione II, 37 (S. Cremer, Art. Gerechtig - keit ꝛc. in Herzogs Real-Encykl., 2. Aufl.).. Was aber entſchieden über die hl. Schrift hinausgeht, das iſt einmal die Behauptung einer beſonderen göttlichen Mithilfe (adiutorium) zum Beharren im Guten, wovon er die Geſinnung und Handlungsweiſe Adams vor dem Falle unterſtützt ſein ließ14I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.(um ſo deſſen Wahlfreiheit möglichſt beſchränkt, die Größe ſeiner Schuld aber möglichſt geſteigert darzuſtellen), andrerſeits die im extremen Gegenſatze zu den Pelagianern von ihm vorgenommene Steigerung der Geiſtesvorzüge des noch nicht gefallenen Menſchen, insbeſondere ſeiner Vernunfterkenntniß, bis in’s Wunderhafte und abſtract Uebernatürliche hinein. Jn dem noch nicht Gefallenen lebte die klarſte Erkenntniß aller göttlichen und natürlichen Dinge, die höchſte vortrefflichſte Weisheit (excellentissima sapientia), ein Wiſſen, ſo hoch über dem von uns ſündigen Menſchenkindern ſtehend, wie der Vogel an Schnelligkeit die Schildkröte übertrifft! Dazu denn jene außerordentliche göttliche Beihilfe zum Guten, die ihn überall umgab und trug, die ihm ſpielend leicht über jeden Fall von Verſuchung hinwegzuhelfen vermocht hätte, um deren willen die Schuld des Gefallenen ſo unbegreiflich groß erſcheint! Nur mittelſt dieſer beſonderen Vorzüge und Vortheile, die er dem Menſchen vor dem Falle andichtete, meinte er die nöthigen Vorausſetzungen zur Erfaſſung des ſündig Böſen in ſeinem vollen Ernſte zu gewinnen, nur ſo den richtigen Grund zu der pelagianiſcherſeits verkannten Lehre von der Erbſünde zu legen. Die ſchon ältere, bei Jrenäus, Clemens und Origenes zuerſt vorkommende Diſtinction zwiſchen Bild Gottes und Aehnlichkeit Gottes , exegetiſch gewaltſam hergeleitet aus 1 Moſe 1, 26 f., mußte ihm dabei Hilfe leiſten. Das Bild Gottes ſollte die anerſchaffene Naturbegabung des Menſchen mit Vernunft und Freiheit bedeuten, daher als unverlier - bar gelten; mit Gottähnlichkeit ſollte die durch jene beſondere Gnadenhilfe bedingte ſittliche Vollkommenheit, die durch den Sünden - fall verloren gieng, bezeichnet ſein. Jn dem großen, unvollendet gebliebenen Werke gegen Julian von Eclanum ſpottet er bitter über das Paradies der Pelagianer mit der kahlen Dürftigkeit der Natur - gaben ſeiner Beherrſcher und deren äußerſt labilem ſittlichem Gleichgewichtszuſtande vor dem Falle. Man male ein ſolches Paradies, ruft er: Niemand wird es als Paradies erkennen! Viel - mehr den Engeln, Heiligen und Seligen des Himmels ähnlich iſt15I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.der Zuſtand der Paradieſesbewohner zu denken; Adam und Eva würden, ohne Fall von göttlichem Lichte umfloſſen, in verklärten Leibern wie die eines Henoch und Elias gelebt haben. 1)Vgl. überhaupt Bindemann, Der hl. Auguſtinus, III, S. 557 ff. ; F. Dorner, Auguſtinus, ſein theol. Syſtem ꝛc. (Berlin 1873), S. 114 124.

Auguſtins überſpannter Supranaturalismus auf dieſem Gebiete hat auf die ſpätere kirchliche Tradition des Abendlands in mehr - facher Richtung nachtheilig eingewirkt. Nicht bloß die morgen - ländiſche Theologie des Mittelalters, der Johannes von Damaskus als Letzter der alten Zeit mit dem Beiſpiele ähnlicher Ueber - treibungen vorangegangen war, ſchweifte weit ab ins Phantaſien - reich auf dieſem Gebiete wie denn hier u. a. Moſes Barcepha (im 10. Jahrhundert) nicht weniger denn vierzehn Wohlthaten oder Gnadengeſchenke Gottes an Adam aufzählte und von einer engel - artigen Erkenntniß geiſtlicher und göttlicher Dinge , ja von pro - phetiſchen Gaben redete, welche Gott dem Adam beigelegt habe. 2)Moſ. Barcepha, De Paradiso, I, 28; II, 7. 9. 12.Auch die römiſche Lehrtradition mittlerer wie neuerer Zeit, und nicht minder die altproteſtantiſche Orthodoxie haben, als Erbſtücke aus Auguſtin’s nur allzu reichem Jdeenſchatz, gar manches Lehr - motiv von zweifelhaftem Werthe, d. h. von bald ſo bald ſo den lauteren Schriftgrund verlaſſendem und ins Abenteuerliche abirren - dem Charakter weiter überliefert. Römiſcherſeits hat man ſowohl jene beſondere göttliche Mithilfe (adiutorium), den unheilbringenden Keim des Lehrſtücks von der urſprünglichen Gerechtigkeit als einem übernatürlichen Gnadengeſchenk (donum supernaturale, super - additum) des erſten Menſchen, als auch die behauptete voll - kommne Weisheit und wunderbare Steigerung der Jntelligenz Adams ſpeculativ weiter zu bilden geſucht. Jn die altproteſtantiſche Lehr - überlieferung iſt zwar nicht jener erſte Punkt, wohl aber der letztere übergegangen. Lutheriſche wie reformirte Dogmatiker des 16. und 17. Jahrhunderts ſind im Streben nach Ausſtattung Adams mit dem Non plus ultra von Weisheit und Sehergabe, theilweiſe auch16I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.von phyſiſcher Kraft, hinter den verwegenſten Scholaſtikern des Papſtthums nicht zurückgeblieben, ohne ſich darum das Fündlein von einem den Protoplaſten baldigſt wieder entzognen übernatür - lichen Gnadengeſchenke gottbildlicher Heiligkeit und Gerechtigkeit mit anzueignen.

Für die Begründung dieſes letzteren Lehrſtücks als des Speci - fikums der römiſchen Urſtandslehre ſind beſonders Hugo von St. Victor und der von ihm angeregte, auf ſeinen Schultern ſtehende Petrus Lombardus wichtig geworden. Während der Erſtere beſonders die vollkommene Erkenntniß aller ſichtbaren Creaturen ſowie auch des Schöpfers und ſeiner ſelbſt betonte, womit Adam aus Rückſicht auf ſeine geiſtigen wie körperlichen Bedürfniſſe von Gott ausgeſtattet worden ſei, gefiel die ſcharfe Dialektik des Letzteren ſich namentlich in einer Spaltung und ſorgfältigen Unterſcheidung des Naturzuſtands des Neugeſchaffenen von der gnadenweiſe hinzu - geſchenkten übernatürlichen Gerechtigkeit und Gottähnlichkeit. Der Lombarde iſt Urheber jener Lehrweiſe, welche die Ertheilung des donum superadditum der paradieſiſchen Gerechtigkeit an die Seele Adams als eine Art von Ehe zwiſchen übernatürlichem und natür - lichem Faktor der Urbeſchaffenheit unſrer Stammeltern denkt. Er läßt demgemäß, weil ja jede Eheſchließung eine beiderſeitige Ein - willigung vorausſetze, den natürlichen Factor (die pura naturalia) zuerſt, ſchon vor Empfang jenes Gnadengeſchenks vorhanden ſein. Das Gottesbild war zuerſt ſchon da, die Gottähnlichkeit trat einige Zeit ſpäter hinzu. 1)Hugo v. St. Victor, De sacramentis fidei, I, p. 6, c. 12 ss; Petr. Lomb., l. II. Sententt., dist. 23. 24.Ein Theil der ſpäteren Scholaſtiker, insbeſon - dere die franziskaniſchen wie Alexander von Hales und Duns Scotus, folgten ihm mit Vorliebe in dieſer Annahme eines Er - ſchaffenſeins Adams in puris naturalibus, mit erſt nachträglicher Hinzufügung des göttlichen Gnadengeſchenks worin unleugbar eine gewiſſe Annäherung an die überhaupt nur puren Naturzuſtand17I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.des Menſchen vor dem Falle annehmende pelagianiſche Lehrweiſe enthalten war. Das auch in ſonſtiger Hinſicht den Rückfall in Pelagianismus ängſtlicher meidende Haupt der dominikaniſchen Scho - laſtik ſchloß ſich dieſer Lehrweiſe nicht an. Nach Thomas Aquin, dem erſt jüngſt wieder der römiſchen Kirche von ihrem Oberhaupte als Muſter und Meiſter aller ächten Philoſophie Geprieſenen, gieng kein Zuſtand purer Natürlichkeit der Ertheilung des übernatürlichen Geſchenks der Gottähnlichkeit voraus; dieſe erfolgte vielmehr gleich im Momente der Erſchaffung Adams, ſodaß dieſer von Anfang an ſich im Beſitze jener beſonderen göttlichen Gnadenhilfe zum Guten befand, die ihm dann durch den Fall wieder verloren ging. Von der geiſtigen Ausrüſtung des Menſchen in dieſem urſprünglichen Vollkommenheitszuſtande, insbeſondere vom Umfange ſeines Wiſſens, redet der Aquinate in überſchwenglichen Ausdrücken. Adam beſaß nicht nur eine virtuelle oder principielle Erkenntniß der ganzen ſichtbaren Creaturenwelt, ſoweit dieſelbe menſchlichem Erkenntnißvermögen zu - gänzlich iſt: auch von den übernatürlichen Geheimniſſen der Offen - barung hatte er Kunde. Das Myſterium der Trinität, angedeutet in den Stellen 1 Moſe 1, 26; 3, 22, war ihm bereits erſchloſſen; daß er auch vom Myſterium der Menſchwerdung Gottes eine, wenn nicht ſchauende doch glaubende und hoffende Erkenntniß hatte, zeigt der Ruf, in welchen er beim Anblick ſeiner Lebensgefährtin Eva ausbrach deren Bildung aus ſeiner Ribbe ja auf Chriſtum und die Kirche weiſſagend hinwies. Nur Zukünftiges von zufälliger Art (futura contingentia) blieb ſeiner Kenntniß entzogen, deßgleichen das Jnwendige des Menſchen, ſowie ſolche äußerliche Einzelheiten des ſinnlichen Bereichs, wie beiſpielsweiſe die Zahl der Steinchen auf dem Grunde eines Fluſſes u. dgl. m.1)Thomas, Summ. theol. P. I, qu. 94, a. 3 sq.; cfr. qu. 92, a. 2 4. Mit dieſer Dar - ſtellung des Wiſſens Adams als eines faſt ſchrankenloſen bahnte Thomas der ſpäteren Scholaſtik den Weg zu den wunderlichſtenZöckler, Urſtand. 218I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Phantaſiekunſtſtücken und zu den ſeltſamſten Verhandlungen über das, was von den Gegenſtänden jenes Wiſſens etwa ausgenommen werden könne. Als Alfons Toſtatus, einer der ſelbſtändigeren ſcholaſtiſchen Exegeten im 15. Jahrhundert, Adams Weisheit in natürlichen Dingen wenigſtens ſo weit herabzuſetzen gewagt hatte, daß er diejenige Salomo’s, des Weiſeſten aller Menſchen, für größer erklärte, widerſprach man ihm von allen Seiten. Aehnlich erging es dem Cardinal Cajetan, als derſelbe, überhaupt ein reſoluter Gegner des exegetiſchen Herkommens, wenigſtens die Geſtirne des Himmels, die Tiefen des Meeres und das Jnnere der Erde von dem was Adam gewußt habe, auszunehmen verſucht hatte. Alle widerſprachen ihm hierin: die Exegeten Pererius, Pineda, Merſenne ꝛc., wie die Dogmatiker Gregor von Valentin, Suarez u. AA. Jm großen Geneſiscommentar des Minimenpaters Merſenne befindet ſich ein längeres Kapitel, welches ausführlich über die Wiſſenſchaft Adams handelt. Adam, ſo wird da gelehrt, trug die Keime ſämmtlicher 100 Wiſſenſchaften, die man überhaupt zu zählen hat, ſchon in ſich; die 14 Claſſen oder Gruppen, in welche dieſer Jn - begriff aller Wiſſenſchaften nach Merſenne zerfallen, erinnern merk - würdig an jene 14 Vorzüge Adams nach Barcepha. 1)Mar. Merſenne, Quaestiones celeberrimae in Genesin, Lutet. Paris 1623. Vgl. meine Geſchichte der Beziehungen zwiſchen Theol. u. Natur - wiſſenſchaft, I, 654. Wegen Alfonſus Toſtatus (Abulenſis) und Cajetans ſ. Suarez, Comment. in D. Thom. etc. tract. II de creatione l. III, c. 9 (p. 147 ss.). Bei dem Jeſuiten Suarez, demſelben Meiſter in ſpitzfindigſter dogmatiſcher Caſuiſtik, welcher jener Frage wegen des Kindererzeugens Adams und Evas ohne Sündenfall ein ganzes Buch widmet und darin umſtändliche Unterſuchungen auch darüber anſtellt, ob es im ſündlos verbliebenen Menſchengeſchlechte wohl unfruchtbare Männer oder Frauen gegeben haben, ob man im Paradieſe wohl Städte, Ge - meinden und dgl. gegründet haben, ob wohl eine Vermannigfaltigung der Nahrungsmittel daſelbſt eingetreten ſein würde, ꝛc. wird die19I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Ehre des hl. Thomas gegenüber jenen Verſuchen, den kühnen Jdea - lismus ſeiner Urſtandslehre zu verkleinern und abzuſchwächen, auf das Nachdrücklichſte gewahrt. Nur in Bezug auf Zukünftiges und auf Vergangenes, jenſeits der irdiſchen Paradieſesgeſchichte Gelegenes wird eine Beſchränktheit der Erkenntniß Adams zugeſtanden; des - gleichen in Bezug auf die Herzensgedanken andrer Menſchen. Aber gegenüber Cajetan wird mit aller Beſtimmtheit eine genaue Kenntniß des Menſchheitsſtammvaters auch vom Himmel und ſeinen Geſtirnen, von den Tiefen des Meeres, von den Mineralien im Schooße der Erde gelehrt; die Frage, ob derſelbe in ſolchen und anderen irdiſchen Dingen auch zu irren vermocht habe, wird ausführlich erörtert und verneint! Und gegenüber Toſtatus Bevorzugung der Salomoniſchen vor der Adamiſchen Weisheit wird kühnlich behauptet: Nein, Adams Weisheit in natürlichen Dingen war größer und vollkommner als diejenige Salomo’s; denn ſie eignete ja ihm als dem Haupt und Meiſter der ganzen ſpäteren Menſchheit, auch war ſie für ihn, beſonders was die natürlichen Dinge betrifft, nothwendiger und unentbehrlicher als für Jenen. 1)Suarez, l. l. Vgl. l. V, p. 248 291.

Leider hat auch die reformatoriſche Theologie ſich der - artiger Ungeheuerlichkeiten nicht ganz enthalten. Für ſie kam jene Annahme einer übernatürlichen gratia superaddita des Urſtands allerdings in Wegfall; deßgleichen die ſchriftwidrig künſtelnde Di - ſtinction zwiſchen Bild und Aehnlichkeit Gottes, welche nur einige wenige Theologen des Calvinismus (Petrus Martyr, Urſinus, Zanchius, Junius) als gegründet zu halten ſuchten2)Siehe m. Geſch der Beziehungen ꝛc., I, S. 626 u. 698.. Aber im Punkte der Wiſſenſchaft Adams von natürlichen und übernatürlichen Dingen ſowie der leiblichen Vorzüge der Stammeltern vor dem Falle bleiben die Väter und Begründer der evangeliſchen Kirche ganz und gar unter dem Banne der älteren dogmatiſchen Tradition. Luther malt nicht bloß in ſeinen Tiſchreden die Herrlichkeiten des Paradieſes und ſeiner Bewohner mit naiv dichtender Phantaſie auf2*20I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.das Sinnlichſte aus, indem er von den allerſchönſten und reinſten Leibern, Sinnen, Verſtand und Willen redet , welche Adam und Eva damals gehabt ( ihre Augen konnten über viel Meil Weges aufs Schärfſte ſehen, die Ohren gar leiſe hören und vernehmen ꝛc. ): auch in ſeinem lateiniſchen Geneſiscommentare entwickelt er ganz entſprechende Annahmen. Das Gottesbild, wozu Adam geſchaffen war, war von vorzüglichſter und edelſter Art, weil frei von jeg - lichem Ausſatze der Sünde in Verſtand wie Willen. Die inneren wie die äußeren Sinnen waren höchſt rein und vollkommen; der Jntellect von reinſter Art, das Gedächtniß das beſte, der Wille der lauterſte; und dabei lebten ſie in ſchönſter Sicherheit, ohne alle Todesfurcht und Bekümmerniß. Es kam dazu jene wundervolle, unübertreffliche Vorzüglichkeit des Leibes und aller Glieder, wodurch er allen übrigen lebendigen Geſchöpfen überlegen war. Denn wahrlich ich halte dafür: vor der Sünde waren Adams Augen ſo ſcharf und klar, daß er den Luchs und Adler übertraf. Mit Löwen und Bären, dieſen ſtärkſten aller Thiere, gieng er, der Stärkere denn ſie, nicht anders um, als wir mit Hündlein. Auch die Früchte, die er genoß, hatten viel größere Süßigkeit und Kraft, denn die jetzigen ...... Jch glaube , heißt es etwas ſpäter, Adam würde mit Einem Wörtlein ganz ſo einem Löwen zu befehlen vermocht haben, wie wir einem zahmen Hunde befehlen; es würde ihm frei geſtanden haben, durch Landbau die Erde alles hervorbringen zu machen, was er nur wollte! Die Eva mit einſchließend, bewundert er das Stück gött - licher Natur , kraft deſſen die noch unſchuldigen Paradieſesbewohner alle Triebe, Sinnen und Kräfte aller Thiere zu verſtehen im Stande waren, aber auch die vollkommenſte Erkenntniß Gottes beſaßen . Denn, fragt er, wie hätten ſie den nicht erkennen geſollt, deſſen Bildniß ſie in ſich hatten und fühlten? Ja auch von den Sternen und der ganzen Aſtronomie beſaßen ſie die ſicherſte Einſicht! Ohne den Fall würde Adam die Eva in der größten Reinigkeit und Gottesfurcht erkannt haben; ſein Kinderzeugen würde in höchſter Furcht, Weisheit und Gotteserkenntniß erfolgt ſein. Die neugebornen21I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Kindlein würden nimmer ſo lange wie jetzt, der Muttermilch und des Umhertragens bedurft haben. Sein Land und ſeine Kräuterbeete würde der unſchuldig Gebliebene nicht nur ohne Beſchwerde, ſondern wie ſpielend und mit dem höchſten Ergötzen beſtellt haben 1)Luther, Tiſchreden von Gottes Werken, Nr. 279 (E. A., 57, 237). Enarrationes in Genes. cap. 1 3 (E. A., tom. I, p. 77. 80. 83. 89. 103. 128. 166).. Zu dieſen kühnen Folgerungen Luthers aus ſeiner Grundtheſe: Ohne Sünde kein Uebel, ohne Fall kein Verluſt des Paradieſes! traten noch gewiſſe nicht minder merkwürdige Speculationen über eine noch lange nach dem Falle und der Austreibung aus Eden ſich hinziehende Abenddämmerung der verſchwundenen Paradieſesſonne in der älteſten Menſchheitsgeſchichte hinzu. Früherer dogmatiſcher Tradition der Kirche verdankte er den Jmpuls zu dieſen Betrachtungen weniger, als der h. Schrift, insbeſondre den die älteſte Patriarchengeſchichte erzählenden Kapiteln 5 10 der Geneſis, unter gleichzeitiger Ver - werthung auch der altclaſſiſchen Sagen vom goldenen Zeitalter und den auf es gefolgten geringeren Weltaltern. Wir kommen ſpäter in andrem Zuſammenhange, eingehender auf dieſe Vorſtellungen Luthers von der Patriarchenwelt als einem Nachglanze der ſeligen Paradieſeszeit zurück. Für jetzt haben wir die Einwirkung ſeiner einſeitigen Steigerung der Paradieſesgeſchichte auf die ältere Lehr - tradition ſeiner Kirche des Weiteren zu verfolgen.

Dieſe Einwirkung kann im Ganzen keine wohlthätige genannt werden. Was ſchon er einſeitig ſupranaturaliſtiſch und mehr den Eingebungen ſeiner kindlich naiven und friſchen Phantaſie als den Andeutungen des Schriftworts folgend dargeſtellt hatte, das wird von ſeinen Nachfolgern auf exegetiſchem und dogmatiſchem Gebiete womöglich noch mehr auf die Spitze getrieben, jedenfalls in noch beſtimmterer Weiſe dogmatiſch fixirt und gleichſam aus dem Fluſſe freierer Phantaſiegeſtaltung vorzeitig zum Erſtarren gebracht. Hieher gehören zwar weniger die immer noch ziemlich maaßvoll gehaltenen Ausdrücke des letzten der lutheriſchen Symbole, der Concordienformel,22I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.deren Darſtellung der Lehre vom Urſtand ungefähr die Mitte hält zwiſchen der vorſichtig abgegrenzten und bibliſch nüchternen Lehrweiſe Melanchthons in der Apologie (ſ. unten) und zwiſchen Luthers der - berer und phantaſievollerer Behandlung des Gegenſtandes1)Form. Conc. p. 579 M.: Etsi enim in Adamo et Heva natura initio pura, bona et sancta creata est etc.; p. 580: .... bonitatem suam, veritatem, sanctitatem et justitiam, quae dotes naturae in paradiso concreatae erant. Vgl. 536; 576; 638.. Wohl aber ſind die Schilderungen einer Anzahl von Predigern und Er - bauungsſchriftſtellern des ausgehenden 16. ſowie die Lehrbeſtimmungen der meiſten lutheriſchen Dogmatiker des folgenden Jahrhunderts hieher zu rechnen. Jn Simon Muſäus2)Simon Muſäus, Richtige und reine Auslegung des erſten Buches Moſy ꝛc. ; Magdeburg 1576 (vgl. m. Geſch. der Beziehungen ꝛc. I, 674 f.). Joh. Arnd, Vom wahren Chriſtenth, B. I, K. 1; B. IV, 1, 6. Scriver, Seelenſchatz I, 1, § 15. ( 1576) Predigten über das 1. Buch Moſe wird bei Behandlung der Paradieſesgeſchichte im engen Anſchluſſe an Luther gezeigt, wie Gott den erſten Menſchen zu königlichen Eren erhoben und ihm die Königliche regalien und lehen überantwortet habe , durch Ertheilung von Gewalt und Herr - ſchaft über alle Thier, durch Zuweiſung einer reichen Speiſekammer, einer vollen Küche und köſtlichen Tiſch , dazu einer gemeinen Hof - ſtube mit allerley Profiant aufs allerbeſte verſorget für alle ge - ſchaffenen Creaturen, da Menſchen und Thiere, d. i. Herren und Knechte, an einerlei Tiſch geſetzet worden ſeien ꝛc. Dieſer königlichen Gewalt habe aber Adam ſich auch aufs Beſte zu bedienen gewußt, da er denn als ein guter Phyſikus auff alle Creaturen ſich ſehr wohl verſtanden, wie ein jedes geartet und genaturet ware , zu geſchweigen anderer Gaben: daß er mit ſterke allen Lewen und Beeren, mit ſchnelligkeit allen Hirſchen und Haſen, mit Scharff - ſichtigkeit allen Adlern und Falcken, und mit Schönigkeit des Leibes und langwirigkeit des Lebens allen Thieren weit weit überlegen geweſt . Man beachte hier die mehrfachen oratoriſchen Steigerungen und Amplificationen der von Luther in Curs geſetzten Vorſtellungs -23I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.weiſen. Vorſichtiger ſchon, mehr nur das Ethiſche und ſymboliſch Bedeutſame betonend, redet Joh. Arnd im Eingang ſeines Wahren Chriſtenthums von der Herrlichkeit der Menſchennatur vor dem Falle. Zu dem Ende hat Gott den Menſchen rein, lauter, un - befleckt erſchaffen, mit allen Leibes - und Seelenkräften, daß man Gottes Bild in ihm ſehen ſollte; nicht zwar als einen todten Schatten im Spiegel, ſondern als ein wahrhaftiges lebendiges Abbild und Gleichniß des unſichtbaren Gottes und ſeiner überaus ſchönen, innerlichen, verborgenen Geſtalt, d. i. ein Bild ſeiner göttlichen Weisheit im Verſtand des Menſchen; ein Bild ſeiner Gütigkeit, Langmuth, Sanftmuth, Geduld im Gemüth des Menſchen; ein Bild ſeiner Liebe und Barmherzigkeit in den Affecten des Herzens des Menſchen; ein Bild ſeiner Gerechtigkeit, Heiligkeit, Lauterkeit und Reinigkeit im Willen des Menſchen; ein Bild der Freundlichkeit, Holdſeligkeit, Lieblichkeit und Wahrheit in allen Geberden und Worten des Menſchen; ein Bild der Allmacht in der gegebenen Herrſchaft über den ganzen Erdboden und über alle Thiere; ein Bild der Ewigkeit in der Unſterblichkeit des Menſchen. Zuſammengefaßt wird der Jnbegriff aller dieſer Vorzüge an einer ſpäteren Stelle in der Weiſe, daß der ganze Menſch, wie er am ſechſten Schöpfungs - tage aus Gottes Händen hervorgieng, als ein Bild und Gleichniß des Dreieinigen geſchildert wird. Alle Creaturen ſind nur Gottes Spur und Fußſtapfen, der Menſch aber iſt Gottes Bild, welcher den Schöpfer ſollte vor Augen ſtellen. Er iſt ſo in die höchſte Ehre und Würdigkeit geſetzt und zum höchſten Adel erhoben; ..... Gott der Allerſchönſte wohnt in des Menſchen Seele am allerliebſten und hat dieſelbe zu ſeinem Tempel geheiliget, daß ſie ſein ſolle eine Wohnung des Vaters, eine Brautkammer des Sohnes, des aller - höchſten Bräutigams, und ein Heiligthum des heiligen Geiſtes ꝛc. ꝛc. Minder ausſchließlich aufs Jnnerliche gerichtet, auch die äußeren Vorzüge mehr hervorhebend, ſchildert Scriver im Seelenſchatze , wie die gottesbildliche Seele des erſten Menſchen eine Kaiſerin und rechte Fürſtentochter war, mit göttlicher Weisheit, Klarheit, Reinig -24I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.keit, Heiligkeit, Gütigkeit, Holdſeligkeit und Vollkommenheit geziert; ein heller Spiegel, darin das ewige Licht mit ſeinem Glanze ſpielte; eine kryſtallene Kugel voll reinen Waſſers, dadurch die Sonne ſcheint und ihren Glanz gleichſam noch anmuthiger und ſchöner macht; ein irdiſcher Engel oder Geiſt, mit Fleiſch angethan und bekleidet, welches ſie allenthalben mit ihrer Lebenskraft ſüßiglich erfüllte und darin als in einem ſchönen Palaſt mit Luſt wohnte und herrſchte ꝛc. Die ſcholaſtiſche Dogmatik des 17. Jahrhunderts betont regelmäßig die dreifache Vollkommenheit des Menſchen im Urſtande: in intellectueller, in ethiſcher, ſowie in äſthetiſcher Hinſicht, oder was ſeine Erkenntniß - functionen, ſeine Willenskräfte und die Reinheit und Harmonie ſeiner ſinnlichen Affecte betrifft. Sie geht aber dabei mehrfach über das rechte Maaß nüchterner, bibliſch normirter Auffaſſung hinaus. Er - ſcheint ein Joh. Gerhard noch möglichſt auf Einhaltung dieſes Maaßes bedacht, wenn er als zur urſprünglichen Gerechtigkeit und Heiligkeit gehörig aufzählt die höchſte Geradheit (rectitudo) und Unverſehrt - heit (integritas) aller Leibes - und Seelenkräfte, ihre völlige Ueber - einſtimmung mit Gottes Geſetz, überhaupt die höchſte Vollkommenheit, Unſchuld und Reinheit des ganzen Menſchen : ſo ſteigert Baier die intellectuellen Vorzüge Adams zu einer von Gott ihm ſpeciell behufs Nachahmung Seiner als des Urbilds ertheilten Weisheit, d. h. einer gewiſſen habituellen Erleuchtung oder Vollkommenheit des Jntellects, um ihm eine vorzügliche und dem Urſtande entſprechende Erkenntniß göttlicher, menſchlicher und natürlicher Dinge zu gewähren ; auch von den körperlichen Vorzügen des erſten Menſchen, z. B. davon, daß ipsa membra corporis organici analogiam quandam habent ad attributa divina , redet dieſer Dogmatiker in etwas ſtarken Ausdrücken. Weiter noch geht Quenſtedt, nach welchem Adams Erkenntniß eine vortreffliche, volle und vollendete war, kurz eine ſo große, wie keiner von uns gefallenen Menſchen ſie entweder aus dem Buch der Natur oder aus der h. Schrift zu ſchöpfen vermag . Er wirft ernſtlich die Frage auf: weſſen intellectuelle Vortrefflichkeit für die höhere zu halten ſei, ob die der Apoſtel nach Empfang des25I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.heiligen Geiſtes oder diejenige Adams vor dem Falle? Die Antwort lautet: die göttlichen Dinge und die Glaubensgeheimniſſe hätten allerdings die Apoſtel, dank Chriſti Offenbarung, vollkommener gewußt; aber in Bezug auf eine vollſtändige und umfaſſende Kenntniß aller natürlichen und dem Menſchen nützlichen Dinge ſei Adam wie allen Menſchen ſo auch den Apoſteln ſowohl extenſiv als intenſiv überlegen geweſen! Selbſt der ſonſt vielfach auf Mäßi - gung und Herabminderung der Ueberſchwenglichkeiten ſeiner ſchola - ſtiſchen Vorgänger ausgehende Hollaz ſchildert die Wiſſenſchaft Adams als eine vorzügliche und für den Urſtand ausreichende ; nur ſei ſie nicht ſchauende Gotteserkenntniß (cognitio Dei intuitiva) geweſen, dergleichen uns Menſchen nicht auf Erden, ſondern erſt im Himmel zu Theil werden könne. Bei ſeinem Zeitgenoſſen, dem Wittenberger J. Deutſchmann ( 1706), war die Annahme einer auf beſondrer Erleuchtung beruhenden Vorzüglichkeit des Wiſſens Adams um gött - liche Dinge ſo feſtgewurzelt, daß derſelbe 1689 eine Theologie Adams, des erſten wahren Lutheraners drucken ließ1)Vgl. auch J. H. Majus, Sciagraphia philosophiae Adami etc., Francofurti 1711, ſowie J. W. Feuerlin, De Adami logica, metaphysica, mathesi, philos. practica et libris. Altorf 1717.. Schon Calo - vius, deſſen Exegeſe der urgeſchichtlichen Abſchnitte der Geneſis Luthers naiv-gemüthliche und tief fromme Weiſe mit einem künſtlich ſchemati - ſirenden ſcholaſtiſchen Verfahren verknüpft, charakteriſirte das Paradies als eine Uebungsſchule der Frömmigkeit (schola et gymnasium pietatis) für die Menſchen, als einen Sitz der Kirche , einen Palaſt des Beherrſchers der Erde , ein Vorbild des ewigen Lebens . Dieſe verſchiednen Bedeutungen motivirte er durch Angabe eines ſechsfachen Zweckes der Erſchaffung des Paradieſes; daſſelbe habe den Menſchen dienen ſollen 1) zur königlichen Wohnſtätte, 2) zur Bewachung wider den Teufel, 3) zur Bebauung, 4) zur Frömmigkeitsübung mittelſt des Baumes der Erkenntniß und des - jenigen des Lebens ( die er nach Luthers Vorgange als eine Art von heiligen Hainen oder Naturtempeln zur Anbetung Gottes denkt,26I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.und wovon er den erſteren das Geſetz, den zweiten das Evangelium vorbilden läßt ), 5) zur Förderung und Erhaltung des Lebens mittelſt des Lebensbaumes, 6) zur ſymboliſchen Vorausdarſtellung des himmliſchen Paradieſes1)Jo. Gerhard, Loc. IV, 248. Baier, Comp. theol. posit p. 293. 297 ; Quenſtedt, Theol. did. polemica II, 6. Hollaz, Exam. theol. acroamat. p. 471. Ab. Calov., Syst. locor. theol., t. III, loc. de creatione, p. 882 ss. Vgl. deſſelben Biblia illustr. u. Commentar. in Genesin. .

Die reformirte Orthodoxie ebenderſelben Zeiten hat ſich nicht viel nüchterner gehalten. Zwar Calvins Darſtellung in ſeinem grundlegenden dogmatiſchen Meiſterwerke erſcheint kraft der Vorſicht, womit ſie ungeſunde Ueberſchwenglichkeiten zu vermeiden und weſent - lich nur die Ausſagen der bibliſchen Berichte treu zu reproduciren ſucht, derjenigen Melanchthons nahe ſtehend; gleichwie auch die Mehrzahl der reformirten Symbole ſich, ähnlich den lutheriſchen, eines üppigen Uebermaaßes bei Schilderung der Vorzüge des noch nicht gefallenen Menſchen enthält und bei Aufzählung der weſent - lichſten im Begriffe der Gottebenbildlichkeit und urſprünglichen Ge - rechtigkeit enthaltenen Momente ſtehen bleibt hiebei die geiſtige Weſensſeite des gottbildlichen Urmenſchen in etwas bevorzugend und auf Koſten ſeiner körperlichen Vorzüge und Vollkommenheiten be - tonend2)Conf. Belg. 19; Conf. Helv. II, 8; Con. Dordrac. 3, 4. a. 1; Decl. Thorun. 3, 5. Wegen des Heidelb. Kat. ſ. weiter unten.. Uebrigens bleiben, wie bereits bemerkt, ſogar von den Claſſikern der reformatoriſchen Lehrbildung des Calvinismus Einige, wie Petrus Martyr, Urſinus ꝛc., in der fehlerhaften Annahme einer Verſchiedenheit von Gottbildlichkeit und Gottähnlichkeit befangen. Und ſeit dem Aufkommen ſcholaſtiſch-dialectiſcher Lehrformen um den Anfang des 17. Jahrhunderts nimmt dieſes Zurückgreifen auf die ältere, patriſtiſche und ſcholaſtiſche Ueberlieferung mehr und mehr überhand. Der Gegenſatz zur pelagianiſirenden und verſchämt natura - liſtiſchen Faſſung der Urſtandslehre ſeitens des Socinianismus und Arminianismus von welchen Secten beſonders die erſtere ſehr27I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.beſtimmt ein ſterbliches Erſchaffenſein Adams lehrte, auch mit dem göttlichen Ebenbilde nicht höhere Geiſtesvorzüge ſondern lediglich die Herrſchaft über die niedere Natur bezeichnet ſein ließ (während die Arminianer an dieſer letzteren Lehreinſeitigkeit ſich nicht mitbetheilig - ten)1)Vgl. Joh. Völkel, De vera religione l. II (De Dei operibus); Ph. v. Limborch, Theologia christiana II, 24, 2. Ueberhaupt: Fock, Der So - cinianismus, II, 484 487; W. Engelhardt, Die Gottesbildlichkeit des Men - ſchen, Jahrbb. f. deutſche Theologie 1870, S. 38. trieb die Orthodoxie zu immer ſtrengerer Reproduction deſſen, was ſ. Z. Auguſtin über den Gegenſtand gelehrt hatte, ja demnächſt auch gar mancher Zuthaten hiezu aus der Epoche der Scholaſtik. Zuſammen mit dem Auguſtinismus wird auch Vieles aus dem Thomismus wieder hervorgezogen, natürlich mit Ausſchluß des ſpecifiſch Römiſchen, wie insbeſondere der Annahme, als ob die Vorzüge des einſtigen Unſchuldsſtandes keine natürlichen, dem Men - ſchen anerſchaffenen geweſen ſeien. Schon Zanchius hatte die Ehe - ſchließung Adams und Evas im Paradieſe dazu benutzt, den ganzen Jnbegriff der Pflichten und Rechte des Eheſtands als implicite in jenem Urbilde aller menſchlichen Verbindungen von Mann und Weib enthalten zu entwickeln, alſo eine ausführliche Moraltheologie des Eheſtandes von mehr denn 100 Folioſeiten, auf den Einen Vers 1 Moſ. 2, 24 gegründet. Andreas Rivetus und Andre entwickelten auf Grund der Stelle von der Benamung der Thiere 1 Moſ. 2, 19 eine ebenſo breite als überſchwengliche Theorie von der Vorzüglichkeit der Wiſſenſchaft Adams, gegenüber den dieſen Punkt bezweifelnden Socinianern. Anderen diente das Protevangelium oder die Weiſſa - gung vom Kampfe des Weibesſamens mit dem Schlangenſamen (1 Moſ. 3, 15) zu den übertriebenſten Schilderungen der prophe - tiſchen Sehergabe Adams, bezw. des von Gott ihm erſchloſſenen Fernblicks in die zukünftige Geſchichte. Bekannt iſt wie Milton, dieſer Tradition folgend, in den beiden letzten Geſängen ſeines Verlornen Paradieſes den Erzengel Michael dem kurz vorher zu Fall gekommenen Adam einen Abriß der geſammten Weltgeſchichte28I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.bis zum jüngſten Gerichte mittheilen läßt1)H. Zanchi, De operibus Dei intra spacium sex dierum creatis. Neostad. 1591. Andr. Rivet, Exercitationes theoll. et scholasticae in l. I Mosis (in ſ. Opp., Roterod. 1651, t. I), beſ. Exercit. XXII. Milton, Paradise lost, C. XI. XII. . Zu anderen Spielereien und Willkürlichkeiten gab die Föderaltheologie der Coccejaner Anlaß, mit ihrem Streben ſchon im Naturbunde vor dem Geſetz und zumal in der Religon des Paradieſes mannigfache Spuren und Vorſpiele des Gnadenbundes nachzuweiſen. Herm. Witſius ſuchte zu zeigen, daß ſchon die Paradieſesreligion vier Sacramente gehabt hätte, nemlich den Garten Eden ſelbſt, ſeine zwei Bäume und den Sabbath. Franz Burmann legte gleichfalls den Paradieſesbäumen ſacramentale Geltung bei. Von der mehrfachen ſegensvollen Beſtimmung und Bedeutung des Paradieſes für den Menſchen redete er in Ausdrücken, die an Calov’s oben erwähnte Darſtellung erinnern; das Paradies ſollte dem Menſchen ſein als ein Königreich, darin zu herrſchen, als eine Küche, darin vollauf zu haben, als eine Werkſtatt ſich darin zu üben, als ein Tempel, Gotte darin zu dienen. Mit eigen - thümlich plumpem Realismus entwickelt dieſer Coccejaner die Vor - züge des paradieſiſchen Menſchen nach ſeiner leiblichen Seite: Gott machte und formirte dieſen Leib ſo herrlich und temperirt in allen Theilen, daß er alle Körper und Leiber übertrifft; ſeine Beine ſind als Pfeiler, die Arme als Flügel, die Hände als Dienſtknechte ja Schreiber des Menſchenverſtandes und wie Jnſtrumente aller Jn - ſtrumente; die Sinnen als Spione und Ausſpäher, das Haupt als ein Caſtell oder Schloß, das Herz als ein Sitz des Lebens und als eine Unruh, die nimmer ſtille ſteht ꝛc. ; .... und das alles mit einer ſolchen Proportion und Vollkommenheit, die man nicht genug begreifen noch verwundern kann , u. ſ. f. 2)H. Witſius, Exercitatt. sacrae im Symb. apostolor. et in Orat. dominicam; ed. 2., Franequerae 1689, p. 111 ss. Fr. Burmann, Geſetz und Zeugniß, oder Auslegungen ...... der V BB. Moſis, Frankfurt 1693, Bd. I. Vgl. Dieſtel, Studien zur Föderaltheologie, Jahrbb. für deutſche Theol. 1865, S. 230 ff.

29I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.

Wir haben im Bisherigen die kirchliche Tradition bis gegen Anfang des 18. Jahrhunderts in denjenigen ihrer Ausſagen verhört, welche das Ueberſchwengliche und Ungeſunde ihrer Auffaſſung des Urſtands vorzugsweiſe anſchaulich hervortreten laſſen. Es würde ungerecht ſein, wollten wir hiemit den Umkreiß der auf die urſprüng - liche Beſchaffenheit des Menſchen bezüglichen Vorſtellungen der Träger jener Tradition ſchon als geſchloſſen und Alles, was zur Darlegung ihrer einſchlägigen Anſchauungen dienen kann, als erſchöpft betrachten. Das kirchliche Dogma vom Urſtande und von der verlorenen Gott - bildlichkeit ſteht nicht ganz ſo unvermittelt und losgelöſt von ſon - ſtigen auf die Menſchheitsgeſchichte bezüglichen Annahmen da, daß es als jeglicher Anerkennung eines geſunden organiſchen Fortſchritts in dieſer Geſchichte widerſprechend erſchiene und es unmöglich machte, die im Paradieſe begonnene Entwicklung als eine continuirliche, einheitlich von Gott geleitete und mit Conſequenz ihrem Ziele zu - ſtrebende zn begreifen. Neben den degradationiſtiſchen, ein Herabſinken von der urſprünglichen Höhe und Vollkommenheit voraus - ſetzenden Anſchauungen geht, mit den früheſten Kirchenvätern anhebend und namentlich in neueſter Zeit, ſeit vorigem Jahrhundert, mit Sorgfalt ausgebildet, eine evolutioniſtiſche, das Wiederempor - ſteigen des gefallenen Menſchen zu den lichten Höhen der ihm urſprünglich beſtimmt geweſenen Gottbildlichkeit und Naturbeherrſchung ins Auge faſſende Betrachtungsweiſe her. Auch ihr müſſen wir uns in näherer Betrachtung zuwenden.

Schon die Geſchichtsphiloſophie der Väter iſt keine ganz ein - ſeitig degradationiſtiſche oder peſſimiſtiſche. Sie ſchenkt neben dem Sinken der Menſchheit von ihrer urſprünglich innegehabten Höhe auch der zum Reiche Chriſti emporſtrebenden Entwicklung ihre Be - achtung; das Drama der Weltgeſchichte ſchließt nach ihr Beme - gungen von beiderlei Tendenz, abwärtsgehende und aufſteigende, in ſich. Von den patriſtiſchen Verſuchen der Gewinnung eines gewiſſen ſpeculativen Geſammtüberblicks über das Ganze der Heilsgeſchichte vor und nach Chriſto ſind die älteſten nicht degradationiſtiſch, ſon -30I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.dern überwiegend evolutioniſtiſch geartet. Die Menſchheit ſteigt, nach jener ſchon im Briefe des Pſeudo-Barnabas (K. 15) ange - deuteten typ〈…〉〈…〉 iſch-prophetiſchen Deutung der Schöpfungsgeſchichte, welche die ſechs Tage als eine Weiſſagung auf die ſechs Weltalter faßt, durch ſechs Jahrtauſende zu ihrem glorreichen Entwicklungs - ziel, dem meſſianiſchen Sabbath-Jahrtauſend als dem Gegenbilde des Schöpfungsſabbaths 1 Moſ. 2, 2 empor. Das Philoſophem ſcheint bereits aus dem helleniſtiſchen Judenthum zu ſtammen; zu ſeiner Aufſtellung dürften hauptſächlich wohl die Worte Pſ. 90, 5: Denn tauſend Jahre ſind vor dir wie ein Tag den Anlaß ge - geben haben. Bis um die Zeiten Conſtantins überwiegt diejenige Ausgeſtaltung des Dogma’s, welche das abſchließende Sabbath - Jahrtauſend gemäß buchſtäblicher Deutung von Apokal. 20, 1 6, als Millenium, als tauſendjährige Herrlichkeitszeit der vorher lei - denden und verfolgten Chriſtenheit denkt; dieſer chiliaſtiſchen Vor - ſtellungsweiſe huldigten Juſtin der Märtyrer, Jrenäus, Hippolytus, Cyprian, Lactanz, Victorin von Petabium. Vom Aufhören der Chriſtenverfolgungen an gelangt die nicht-chiliaſtiſche Deutung zur Vorherrſchaft, wonach das dem Schöpfungsſabbath entſprechende letzte Jahrtauſend der heilsgeſchichtlichen Entwicklung geiſtlich, als Sinnbild der Ewigkeit oder des Reichs der ſeligen Vollendung, ver - ſtanden wird. So nach dem Vorgange der pſeudoclementiniſchen Homilien (Hom. 17), ſowie begünſtigt durch die ſpiritualiſtiſche Exegeſe der alexandriniſchen Schule: Hilarius, Hieronymus, Auguſtin, Cyrill von Jeruſalem, Chryſoſtomus, Hilarianus, Pſeudojuſtin, Pſeudo-Euſtathius, Anaſtaſius Sinaita, Jſidor von Sevilla und Beda welchen beiden Letzteren ein großer Theil der mittelalter - lichen Exegeten und Geſchichtsphiloſophen, ſowohl von myſtiſcher wie von ſcholaſtiſcher Richtung ſich anſchließt. 1)Vgl. überhaupt meine Geſchichte der Beziehungen ꝛc. I, 147 und 289 (Note 51), woſelbſt auch die Belegſtellen zu den oben genannten Vätern.Bei einigen Vätern wird dieſe typiſch-prophetiſche Weltalter-Speculation durch eine einfachere, minder complicirte und dem natürlichen Erkenntnißſtandpunkte beſſer31I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.angepaßte Betrachtungsweiſe: die Vorſtellung eines Emporſteigens der Menſchheit durch die Lebensſtufen der Kindheit, des Knaben - und Jünglings-Alters zum vollen Mannesalter in Chriſto (vgl. Eph. 4, 13) erſetzt oder ergänzt. So bei Tertullian, der, im Zu - ſammenhange mit ſeiner montaniſtiſch-ascetiſchen Weltanſicht, das Patriarchenzeitalter als die rohe Kindheitsſtufe oder das Säuglings - alter der Menſchheit darſtellte, hierauf in der Zeit von Moſe bis auf Chriſtum die auf der Stufe des Knabenalters ſtehende Menſch - heit durchs Geſetz gebändigt werden, ſodann den Erlöſer das Jüng - lingsalter und letztlich den heiligen Geiſt oder Paraklet das reife Mannesalter herbeiführen läßt. Auguſtin nahm dieſer Lebensalter - Speculation, die er mit jenem Schema der ſechs oder ſieben Welt - alter combinirte, ihren einſeitig montaniſtiſchen, ſectireriſch-enthuſia - ſtiſchen Character. Evolutioniſtiſch geartet, eine auf - nicht abſteigende Tendenz der Menſchheitsentwicklung ausdrückend, erſcheint die Jdee auch bei ihm. Gleichwie auch der eigentliche leitende Grundgedanke ſeiner Geſchichtsphiloſophie, die Gegenüberſtellung eines Weltreichs und eines im Kampfe damit letzlich obſiegenden Gottesſtaates, eine progreſſiſtiſche oder evolutioniſtiſche Betrachtungsweiſe kundgibt. 1)Vgl. R. Rocholl, Die Philoſophie der Geſchichte, Darſtellung und Kritik der Verſuche zu einem Aufbau derſelben, Göttingen 1878, S. 24 f.

Gerade die geſchichtsphiloſophiſche Speculation Auguſtins in ſeinem großen Werke vom Staat Gottes zeigt aber auf lehrreiche Weiſe das eigenthümliche Jneinanderſpielen beider, der evolutioni - ſtiſchen und der degradationiſtiſchen Vorſtellungsweiſe. Gottesreich und Weltreich liegen ja in einem langwierigen Kampfe miteinander, und dieſer Kampf beginnt ſowohl jenſeits der menſchlichen Geſchichte in der Geiſterwelt, als innerhalb der irdiſchen Entwicklung bei Adam, mit einem Abfall, einem Entfallen von urſprünglicher lichter Höhe, dem für die Menſchheit wenigſtens ein allmähliges langſames Wie - deremporklimmen zu folgen hat. Dieſe langſam aufſteigende Be - wegung vollzieht ſich aber nur innerhalb des Gottesvolkes auf ſtetige, wenn nicht unausgeſetzt doch im Weſentlichen fortſchreitende Weiſe,32I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.und zwar in Geſtalt jener ſechs im Hexaëmeron vorgebildeten Welt - alter, deren erſtes von Adam bis zur Sintfluth, das zweite von Noah bis Abraham, das dritte von dieſem bis auf David, das vierte von da bis zum Exil, das fünfte von da bis auf Chriſtum, das ſechste von da bis zum Schluſſe der irdiſchen Entwicklung der Kirche Chriſti reicht. Für das Heidenthum dagegen, den gottfeind - lichen Erdſtaat mit ſeinem bunten Völkergewimmel der 72 Nationen, bedeutet das allmählige Hindurchgehen durch dieſe ſechs Weltalter nicht ein Steigen, ſondern ein zunehmendes Herabſinken von der urſprünglichen Höhe. So geht denn Beides nebeneinander her: die ſinkende, von Gott mehr und mehr ſich entfernende Bewegung der gottfeindlichen Menſchheit, und die aufſteigende, dem Ziele völliger und ewiger Gottgemeinſchaft zuſtrebende der Angehörigen des Gottes - ſtaats. Jn den vier großen Weltreichen des Propheten Daniel, welche gegen die Zeit Chriſti hin aus der Grundlage jenes maſſen - haften Völkergewühls ſich hervorbilden, concentrirt ſich der im Laufe der Jahrtauſende immer feindſeliger gewordne Conflict zwiſchen Welt - und Gottesſtaat. Dieſe feindliche Spannung und Gefähr - dung der Exiſtenz des Gottesvolks, wobei dieſes anfänglich vor - übergehend, letztlich total und ſcheinbar bleibend von der Weltmacht umfaßt und gleichſam verſchlungen wird, ſteigert ſich bis zum Ein - tritt der den Sieg des letzteren anbahnenden günſtigen Kriſis, welche Chriſtus herbeigeführt: der vom Berge rollende Stein, der das Monarchienbild zertrümmert, oder auch der Menſchenſohn, dem die wilden vier Thierungeheuer weichen müſſen. Auguſtin folgt da, wo er dieſen Danieliſchen Jdeengang ſeinen Schilderungen einverleibt, der von Hieronymus gegebnen Deutung der vier die Monarchienfolge verſinnbildlichenden Thiere oder Bildſtücke; das erſte Weltreich iſt ihm das aſſyriſch-babyloniſche, das zweite das perſiſche, das dritte das macedoniſche, das vierte das römiſche. 1)De Civ. Dei XII, 10; XX, 23; an der letzteren Stelle wird ausdrück - lich auf den Daniel-Commentar des Hieronymus, wo die richtige Deutung der Monarchienfolge gegeben ſei, verwieſen. Auguſtin ſtellt ſich alſo hier auf denEs verdient wohl33I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.beachtet zu werden, daß die Tendenz auch dieſer den Danieliſchen Weiſſagungen entlehnten Verſinnbildlichung keine einſeitig degra - dationiſtiſche iſt, ſondern Beides miteinander veranſchaulicht: das Auf - und das Abſteigen der ihrem Ziele, der großen Kriſis in Chriſto, entgegengehenden Entwicklung. Jm Monarchienbilde aus Gold, Silber, Erz und Eiſen nebſt Thon geht der Gang der Be - trachtung unaufhaltſam abwärts; im Thierbilde ſteigt er, freilich in der Richtung vom Schlimmen zum immer Schlimmeren, Furcht - bareren und Häßlicheren, ſtetig aufwärts. Es iſt bekannt und bedarf hier keiner näheren Darlegung, wie die Auguſtiniſche Com - bination der danieliſchen Geſchichtsbetrachtung mit jener älteren, auf die typiſche Deutung des moſaiſchen Sechstagewerks ſich ſtützenden, zum Vorbilde zahlreicher geſchichtsphiloſophiſcher Conſtructionen im Mittelalter geworden iſt. Von den mehrerlei Modificationen, welche das urſprüngliche Schema hier erfuhr, mögen als die bemerkens - wertheſten genannt werden: die bei Erigena, der die Siebenzahl der Weltalter zu einer Achtzahl ſteigerte; bei Rupert von Deutz, der zuerſt die ſpäter in den Schriften Joachims und ſeiner Nachfolger zu hoher Bedeutung gelangte Dreitheilung der Heilsgeſchichte (in ein Zeitalter des Vaters, des Sohns und des Geiſtes) mit dem älteren Schema der ſieben Weltalter zu verſchmelzen ſuchte; bei Arno von Reichersberg, der es vorzieht, die ſieben Weltalter in dem weiten Rahmen der pauliniſchen Speculation vom erſten und vom anderen Adam (1 Cor. 15, 45) unterzubringen; bei Picus von Mirandula, der an kabbaliſtiſche Vorgänger ſich anlehnend eine neue typiſch heilsgeſchichtliche Deutung der ſechs Schöpfungstage zu begründen ſucht, wobei der erſte Tag dem Zeitalter Abrahams und der folgenden Patriarchen, der zweite demjenigen Moſis ꝛc. ent - ſpricht. Hervorhebung verdient auch Dante’s ſtreng degradationi -1)Standpunkt einer correcteren welthiſtoriſchen Betrachtungsweiſe, als ſein Schüler der ſpaniſche Presbyter Oroſius, deſſen Deutung des zweiten Weltreichs auf Carthago ſtatt auf Perſien ein Befangenſein in ſpecifiſch abendländiſchen An - ſchauungen verräth.Zöckler, Urgeſchichte. 334I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.ſtiſche und düſter peſſimiſtiſche Weiterbildung des danieliſchen Mo - narchienbildes: das Paradies als goldenes Haupt der als rieſenhaftes Menſchenbildniß dargeſtellten Weltgeſchichte; die folgenden Weltzeiten in ihrer zunehmenden Verſchlechterung durch den oben noch ſilbernen, dann ehernen, dann eiſernen Leib dieſes Rieſen abgebildet; aus dem Rieſenleibe allenthalben Thränen hervorbrechend, welche in die Unter - welt rinnen und hier zu den vier hölliſchen Strömen werden!1)Siehe überhaupt Rocholl a. a. O., S. 30 33. Für Arno von Reichersberg vgl. Bach, Dogmengeſch. des Mittelalters, lI, 618; für Rupert und Picus Mirandula m. Geſch. der Bez. ꝛc., I, 393. 476. Noch bis tief in die nachreformatoriſche Zeit hinein hat die Glie - derung der Weltgeſchichte nach den ſechs oder ſieben Weltaltern, ſowie die der letzten vorchriſtlichen Jahrhunderte nach dem danieliſchen Monarchien-Schema ſich in ziemlich allgemeiner Beliebtheit erhalten. Melanchthon, And. Oſiander und andere evangeliſche Theologen von Anſehen begünſtigten dieſelbe ebenſowohl, wie Petavius und bedingterweiſe noch Boſſuet. Das Jneinander einer progreſſiſtiſchen und einer peſſimiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung, das in dieſer Com - bination ſich ausdrückt, iſt der Lehrtradition aller kirchlichen Con - feſſionen faſt bis dahin eigen geblieben, wo die woderne geſchichts - philoſophiſche Speculation freiere, die Enge der bibliſchen Schemata abſtreifende Formen und Kategorien zu ſchaffen begann. 2)Rocholl, S. 33 f.

Doch wozu dieſes Eingehen auf einen Gegenſtand, der mit unſrem eigentlichen Thema, der Lehre vom Urſtand, nur mittelbarer - weiſe zuſammenhängt? Auf einigen Punkten iſt immerhin dieſer Zuſammenhang doch ein ziemlich enger. Das Streben, neben dem jähen Falle, welchen die bibliſche Paradieſesgeſchichte ſcheinbar den Uebergang vom Urſtand zur nachherigen ſündigen Entwicklung bil - den läßt, noch andere Beziehungen zwiſchen beiden Umſtänden nach - zuweiſen und ſo den ſtarren Contraſt zwiſchen denſelben in etwas zu mildern, den Ausgangspunkt der menſchlichen Cultur - und Geiſtes - entwicklung alſo möglichſt rationell, begreiflich und natürlich zu35I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.geſtalten dieſes Streben regt ſich ziemlich frühzeitig und ruft im Laufe der kirchlichen Jahrhunderte eine Reihe eigenthümlicher Speculationen hervor. Ein Theil dieſer Speculationen, die man wohl als naturaliſtiſche im weiteren Sinne des Wortes und als Vor - läuferinnen des modernen entſchiedneren Naturalismus bezeichnen darf, richtet ſein Augenmerk mehr auf den Paradieſeszuſtand ſelbſt, ein andrer auf die nächſte nachparadieſiſche Zeit. Jm Zuſammen - hange mit der auf Jneinsbildung evolutioniſtiſcher mit degradatio - niſtiſcher Geſchichtsbetrachtung überhaupt abzielenden Tendenz wird bald 1) die Dauer des paradieſiſchen Unſchuldszuſtandes möglichſt verkürzt, bald 2) innerhalb deſſelben ein früheſter Keim und vor - bereitender Anfang zum Abfalle nachzuweiſen geſucht, bald 3) unter Feſthaltung der ethiſchen Jntegrität und Reinheit der noch nicht Gefallenen ihre ſonſtige Vollkommenheit, beſonders in intellectueller Hinſicht, als eine beſchränkte dargeſtellt, bald endlich 4) für die nächſte Zeit nach dem Falle eine gewiſſe Nachwirkung des verlorenen urſprünglichen Vollkommenheitszuſtandes, ein längerer oder kürzerer Nachglanz der Paradieſesſonne als ſich vermiſchend mit den dunklen Schatten der anhebenden Nacht, aufzuzeigen verſucht. Betrachten wir dieſe viererlei Naturaliſirungsverſuche, vorerſt noch ohne kritiſches Eingehen auf die Frage nach ihrer etwaigen exegetiſchen oder heils - geſchichtlichen Berechtigung, des Näheren im Einzelnen.

1) Eine höchſt kurze Dauer des Urſtandes, beſchränkt auf wenige Tage oder gar Stunden, zu ſtatuiren, ſahen viele jüdiſche und ihnen folgend auch viele chriſtliche Ausleger in Folge ihrer buch - ſtäblichen Faſſung der ſechs Schöpfungstage und des damit nahe - gelegten Scheines, als ob das über den Sündenfall der Protoplaſten Erzählte ſich in nächſter Friſt nach ihrer Erſchaffung und Verſetzung ins Paradies zugetragen haben müſſe, ſich veranlaßt. Das vor - und außerchriſtliche Judenthum bot hier allerdings ziemlich verſchie - denartige Traditionen dar. Die vorherrſchende Meinung ſcheint jene z. B. in der Gemara Sanhedr. 4, 10 ausgedrückte geweſen zu ſein, wonach Verſetzung des eben erſchaffenen Menſchen ins Pa -3*36I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.radies und Austreibung aus demſelben an Einem Tage erfolgt ſei; fünf Stunden habe Gott zu ſeiner Erſchaffung bedurft, fünf weitere Stunden ſeien von da bis zum Genuß des verbotenen Apfels ver - ſtrichen, nach zwei weiteren Stunden habe die Austreibung des ge - fallenen Paares ſtattgefunden. Oder auch, wie eine wenig abweichende Verſion lautet: am Morgen habe Adam das göttliche Verbot em - pfangen, und am Abende deſſelben Tages, oder auch ſchon am Nach - mittage, ſei er wegen ſeiner Uebertretung ausgetrieben worden. Dagegen ſetzt der von Joſephus an der Spitze ſeiner Jüdiſchen Alterthümer gegebne Bericht vom Sündenfalle ein ſchon längeres, jedenfalls mehrtägiges Verweilen der Stammeltern im Paradieſe voraus, da er von einer allmähligen Ueberredung Evas durch die ſchmeichelnd mit Adam und ihr verkehrenden Schlange erzählt. Bis zu ſieben Jahren dehnt das (ungefähr zu des Joſephus Zeit in Pa - läſtina entſtandene) Buch der Jubiläen, die ſ. g. Kleine Geneſis, den Aufenthalt unſrer Stammeltern im Paradieſe aus; zugleich hat dieſes Apokryphon die merkwürdige Angabe: Beide, Adam wie Eva, ſeien außerhalb des Paradieſes von Gott erſchaffen worden und den Erſteren habe der Schöpfer 40 Tage nach ſeiner Er - ſchaffung, die Eva aber erſt 80 Tage nach der ihrigen in das Pa - radies verſetzt, im vorausſchauenden Hinblick auf das levitiſche Reinigkeitsgeſetz 3 Moſ. 12!1)Gem. Sanh. c. 4, 10; vgl. Abr. Calov, Bibl. illustr. ad Gen. 2, 7. Joſephus Antiq. I, 1, 4. H. Rönſch, Das Buch der Jubiläen ꝛc. herausgegeben, Leipz. 1874, S. 219 ff. Die kirchliche Tradition hat keine dieſer Angaben jüdiſcher Gewährsmänner ganz zurückgewieſen. Als beliebteſte Annahme ſteht auch innerhalb ihrer die Meinung vom nur eintägigen Verweilen Adams und Eva’s im Paradieſe feſt. Sie wurde vertreten von Jrenäus, Ephräm, Cyrill, Epiphanius, Diodor v. Tarſus, Jacob von Sarug, Anaſtaſius Sinaita u. a. Vätern; im Mittelalter z. B. von Moſes Barcepha, von Petrus Comeſtor, vom Verfaſſer der Sächſiſchen Weltchronik und anderen Chro -37I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.niſten, auch von Dante, laut C. 26 ſeines Paradieſes , (V. 139 ff. ), wo er den Adam berichten läßt:

Auf jenem Berge, der am höchſten ſteigt
Hab ich, rein und befleckt, mich ſieben Stunden
Von früh bis wieder ſich die Sonne neigt,
Wenn ſie im zweiten Viertel ſteht, befunden .

Daß Luther dieſer Meinung zwar nicht unbedingt beipflichtete, aber ihr doch ganz nahe ſtand, zeigt eine Stelle ſeines großen lat. Commentars zur Geneſis, wo er es für das Wahrſcheinlichſte er - klärt, daß Adam am ſechsten Tage geſchaffen worden ſei, gegen den Abend dieſes Tages die Eva zur Lebensgefährtin erhalten habe und mit derſelben bis zum Nachmittage des ſiebenten Tags oder Sab - baths, wo das göttliche Verbot von ihnen übertreten ward, im Paradieſe verweilt ſei. 1)Luther, in Genes. 2, 2. (Ed. Erlang. I, p. 102). Der Gewährs - mann, dem Luther hier folgt, iſt Alfr. Toſtatutus (Quaestt. in Genes. cap. XIII, qu. 606. 607); vgl. Bened. Pererius Comment. in Genes., Colon. 1606, p. 226. Daß ferner auch jene Joſephusſche An - nahme von einem zwar nicht genau beſtimmten, aber jedeufalls mehrtägigen Paradieſes-Aufenthalte der Stammeltern Liebhaber in der Kirche fand, ergibt ſich aus den ihr beipflichtenden Aeußerungen griechiſcher Väter wie Pſeudo-Baſilius (De Paradiso) und Johannes von Damaskus. Auch Auguſtin hat dieſer Meinung ſich vorzugs - weiſe geneigt ausgeſprochen; deßgleichen Gregor der Große; von Späteren z. B. der Jeſuit Pererius, welcher Letztere mit ebenſo gelehrtem als ſubtilem Räſonnement und unter Zuſtimmung auch einiger Evangeliſcher wie Urſinus, Philipp Nicolai ꝛc. zu zeigen ſuchte, der Aufenthalt im Paradieſe müſſe wohl genau acht Tage, nämlich vom Schöpfungsfreitag bis zum Sündenfallsfreitag gewährt haben. Anders der berühmte Chronologe Erzbiſchof Uſher, der Adam und Eva erſt drei Tage nach ihrer Erſchaffung, am 10. Tage nach Beginn der Weltſchöpfung, in’s Paradies verſetzt werden,38I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.aber nur einen Tag darin verweilen ließ!1)Basil. Hom. De Paradiso; Joh. Damasc. De fide orthod. II, 10; Auguſtin, De Civ. Dei XX, 26; Greg. M. Dial. IV, 1; Pererius, 1. c., Usserii Annales Vet. et Novi Testamenti (vgl. Röſch, Art. Bibl. Zeit - rechnung in Herzog’s Encycl.). Bis zu 40 Tagen wollte Cäſarius (oder wohl richtiger Pſeudo-Cäſarius) von Nazianz das Verweilen Adams im Paradieſe ausgedehnt wiſſen, wohl aus ähn - lichen antitypiſch-ſymboliſchen Gründen wie die, welche Andere die Erſtreckung des betr. Aufenthalts bis zu 30 Jahren (nach Luc. 3, 23) bevorzugen ließen. Auch die Siebenzahl von Jahren, welche das Jubiläenbuch ſtatuirt, hat verſchiedne Vertheidiger in der Kirche gefunden. So den byzantiniſchen Chroniſten Syncellus, welchen Cedrenus deshalb tadelte; ſo noch neuerdings Jackſon in ſeinen Chronologiſchen Alterthümern der älteſten Königreiche , während ein andrer Chronologe neueſter Zeit, Greswell, es vorzog bei der Hälfte eines Septennats ſtehen zu bleiben und den Paradieſes - aufenthalt nur bis zu Freitag den 5. April des Jahres 4 der Welt dauern zu laſſen!2)Vgl. Röſch, a. a. O., S. 424; auch Pererius l. c., ſowie was Syncellus und Cedrenus betrifft, meine Geſch. der Bez. ꝛc., I, 375. Die Abſurdität erſcheint hier in beiden Fällen gleich groß, bei den Minimal - wie bei den Maximal-Be - ſtimmungen eines Zeitraums, über deſſen Länge die bibliſche Urkunde keinerlei auch nur annähernde Andeutung gibt und deſſen abſolute Unbeſtimmbarkeit ſchon Euſebius in ſeinem Chronikon ganz richtig erkannte. 3)Euseb. Chron I, 16, 4 ed Mai: Tempora, quibus habitatum est in illo paradiso, nemo est qui effari queat.

2) Nicht ſehr viel erquicklicher als die eben aufgezählten chrono - logiſchen Verſuche, übrigens aber mit größerer Conſequenz auf eine gewiſſe Naturaliſirung des Urſtands ausgehend, erſcheinen die Ver - ſuche zur Nachweiſung vorbereitender Keime und An - fänge des Sündenfalles bei den Paradieſesbewohnern. Jene antiocheniſch-pelagianiſche Darſtellung des Zuſtands des neugeſchaf -39I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.fenen Menſchen als eines ſittlich unvollkommnen, ergänzungsbedürf - tigen, ſpielt mehrfach in die Anſchauungsweiſe orthodoxer kirchlicher Theologen von Anſehen hinein. Duns Scotus bethätigte ſeine pelagianiſirenden Neigungen u. a. auch damit, daß er von läßlichen Sünden redete, welche der Menſch im Unſchuldsſtande leichter und eher zu begehen fähig geweſen ſein dürfte, als Todſünden; auch die Unſterblichkeit Adams vor dem Falle erſcheint bei dieſem Scholaſtiker ſo ſehr auf Schrauben geſtellt und lediglich bedingungsweiſe gefaßt, daß er der im Mittelalter von Abälard, in der alten Kirche von Juſtin, Tatian, Theophilus, Jrenäus, Arnobius, Lactanz gelehrten natürlichen Sterblichkeit (oder bloß donativen Jmmortalität) der Protoplaſten im Urſtande offenbar ganz nahe kommt. 1)Duns Scotus in l. II. Sententt. dist. 21, qu. 1. Vgl. Abälard, Exposit. in Hexaemeron, in Opp. ed. Cousin, T. I, p. 625 s. Wegen der im Texte genannten patriſtiſchen Vorgänger Abälards vgl. Fr. Nitzſch, Grundriß der Dogmengeſchichte, I, 351 f. Bei Rupert von Deutz und einigen andren Theologen begegnet man dem merkwürdigen Gedanken, das Sprechen Evas mit der Schlange ſei als ein Zeichen des gewiſſermaaßen in ihrem Jnneren ſchon im Vollzug begriffenen Abfalls zum Böſen zu beurtheilen. Die Mutter aller Lebendigen , meint Rupert, war ſchon innerlich durch die Galle der Bosheit vergiftet, als ſie die Beredſamkeit der Schlange, dieſes auf üble Weiſe redegewandten diaboliſchen Geiſtes, thörlicher Weiſe bewunderte und verehrte. Während die Mehrheit der ſpäteren katholiſchen Exegeten Einige nicht ohne der Eva ein wunderſames Vermögen zum Verſtehen der Thierſprache überhaupt zuzuſchreiben; ſo, nach Cyrill’s v. Alex. Vorgange, Petr. Lom - bardus, Toſtatus, Pererius dieſe Deutung verwarf und, wie auch Luther in ſeiner Weiſe, die Eva vom Vorwurfe ſündiger oder götzen - dieneriſcher Bewunderung des böſen Geiſtes freizuſprechen ſuchte, kehrte in neuerer Zeit Calmet zum Weſentlichen der Rupertſchen Annahme zurück, indem er das Sprechen mit der Schlange als ein40I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Symptom des ſchon beginnenden Falls der Eva darzuſtellen ſuchte. 1)Rupert v. Deutz, De Trinit. et operib. eius, III, 3. Vgl. Pererius zu Gen. 3, 1, ſowie Calmet zu derſ. St. Eine neuere proteſtantiſche Myſtikerſchule, anhebend mit Jakob Böhme und Gottfried Arnold, liebt es in Adams Verfallen in einen tiefen Schlaf vor Evas Erſchaffung einen erſten Anfang des Sündenfalles zu erblicken. Der urſprünglich die göttliche Weisheit oder ewige Jungfrau in ſich ſelber tragende, alſo androgyne Menſchheitsſtamm - vater ſank nach Böhme von dieſer Höhe ſeines engelgleichen Ur - zuſtandes ſchon dadurch herab, daß er in thieriſchen Schlaf verfiel und ſo die Jungfrau in ſich verdunkelte, weßhalb ihm nun eine ſichtbare irdiſche Gehilfin gegeben werden mußte; den ſo im Grunde ſchon vollzogenen Abfall machte das Eßen von der verbotenen irdi - ſchen Frucht ſpäter vollſtändig. Aehnlich Poiret, Gottfried Arnold, Dippel ꝛc., und noch mehrere der Gegenwart nahe ſtehenden Theo - ſophen wie Michael Hahn, St. Martin, Baader. Jn der Annahme Baumgartens und Hofmanns: Gott habe mittelſt der zwiſchen - eingekommnen Schöpfung des Weibes die Strenge ſeiner dem Adam angedrohten Strafe mildern und ſo die Schwere des Falles der Stammeltern in etwas brechen und verringern gewollt, erſcheint zwar das Anſtößigſte jener Speculation beſeitigt; doch liegt auch in ihr noch eine gewiſſe auf Verringerung des Contraſts zwiſchen dem Unſchuldsſtande und dem gefallenen Zuſtande ausgehende Naturali - ſirungstendenz feinerer Art zu Tage. 2)Jak. Böhme, Vom dreifachen Leben des Menſchen 5, 135 ff., Von der Gnadenwahl 6, 5 ff; Gottfr. Arnold, Das Geheimniß der göttl. Sophia, 1700 (vgl. Dibelins, G. Arnold, Berlin 1873, S. 128 f.). Wegen Poirets ꝛc. ſ. die Nachweiſe in Thl. II meiner Geſchichte der Bezieh. S. 196. 516 f. Endlich Baumgarten, Comm. zum Pentat. 1843; Hof. mann, Weiſſag. und Erfüllung, I, 65 ff., Schriftbew. I, 434; auch Delitzſch, Bibl. Pſychol., S. 89 f.

3) Nicht ſündig inficirt zwar, wohl aber intellec - tuell beſchränkt und kindiſch unwiſſend ſollen die Stamm - eltern vor ihrem Falle geweſen ſein. Dieſe Annahme tritt ſehr41I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.frühzeitig in der Kirche hervor. Mehrere jener Väter des 2. Jahr - hunderts, welche zugleich eine nur bedingungsweiſe angebotne Unſterb - lichkeit Adams vor dem Falle lehrten, huldigten ihr. Theophilus von Antiochia betonte ſehr ſtark, hierin faſt ein Vorläufer der ſpäteren pelagianiſirenden Antiochener, daß Adam vor dem Falle ein Kind und kindiſchen Sinnes (〈…〉〈…〉) geweſen ſei; ähnlich Jrenäus, der demſelben zwar ein Unſchuldskleid (stola sanc - titatis) ertheilt, ihn aber doch ein bloßes Kind (infans) ſein ließ; auch wohl Tertullian, der zwar die Unſchuld und enge Gottesfreund - ſchaft des Paradieſesbewohners hervorhob, eines höheren Wiſſens deſſelben aber nicht gedachte. Die Vorſtellungsweiſe, welche die Beſchaffenheit der Menſchheitsſtammeltern im Urſtande dem Kindes - alter mehr oder minder analog dachte, ſcheint überhaupt bis um die Zeit Auguſtins die vorherrſchende geweſen zu ſein. Erſt dieſer Letztere ſetzte, im Zuſammenhange mit ſeiner früher erwähnten Steigerung der intellectuellen Vorzüge Adams ins Abenteuerliche, auch die Annahme in Curs, daß derſelbe wohl als erwachſener Mann geſchaffen worden ſei wiewohl er dies keineswegs beſtimmt behauptete, ſondern es nur als Gottes Allmacht und Weisheit ent - ſprechend bezeichnete, wenn es ſo geſchehen ſei. 1)Aug., De Genesi ad lit. l. VI, c. 13. (vgl. Lomb., L. II Sent., dist. 17).Wie wenig man um Auguſtins Zeit im Abendlande ſchon daran gewöhnt war, den Paradieſesbewohnern vor dem Falle eine vollſtändig entwickelte, dem reiferen Alter entſprechende Jntelligenz, oder gar übernatürliche Ver - ſtandeskräfte zuzuſchreiben, das zeigen auf lehrreiche Weiſe die Schilderungen einiger lateiniſcher Dichter dieſes Zeitalters in ihren Verſificationen der Schöpfungs - und Sündenfallsgeſchichte. Die dem Spanier Juvencus (um 330) beigelegte, aber vielleicht erſt etwas jüngere hexametriſche Bearbeitung der Geneſis ſtellt den Zuſtand Adams und Evas vor ihrem Falle geradezu als eine Nacht geiſtiger Blindheit und Unwiſſenheit dar, die Wirkung des Apfelbiſſes da - gegen als eine Verſcheuchung dieſer Nacht und ein Hellewerden ihrer42I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.Augen. 1)Juvencus, Genes. v. 70: Nec minus interea coecos nox alta tenebat etc. Minder ſtark zu heidniſchartigen Vorſtellungen hinneigend, aber immerhin doch auch der ſpäteren Ueberſpannung der intellec - tuellen Vollkommenheit des Urſtands noch fern bleibend, erſcheint die Geneſisdichtung eines jüngeren Hilarius oder Pſeudo-Hilarius (5. Jahrh. ) in ihren entſprechenden Partieen. O du ſeliges Thier (animal), deß Vater die Rechte des Höchſten iſt ꝛc., wird daſelbſt der neugeſchaffne Adam angeredet und ihm für den Fall des Be - harrens ohne Sünde verheißen, daß er göttlichen Weſens (numen) werden ſolle. Cl. Marius Victor von Maſſilia ( um 450) redet allerdings in etwas ſtärkeren Ausdrücken von der Betrachtung der beſeligenden Gottesgeheimniſſe, wozu die Menſchen im Unſchulds - ſtande des Paradieſes befähigt geweſen ſeien; aber noch zwei um mehrere Jahrzehnte jüngere Geneſisdichter: Dracontius (um 490) und Avitus um (500) heben lediglich die ſelige Unſchuld der Proto - plaſten hervor; die intellectuelle Vorzüglichkeit fehlt in den von ihnen gebotenen Schilderungen des Urſtandes. 2)Siehe in Betreff dieſer altkirchlichen Geneſisdichter m. Geſch. der Bezie - hungen ꝛc. I, 257 265. Der ſpäteren kirchlichen Orthodoxie kam dieſe einfachere und naturgemäßere Be - trachtungsweiſe, wie aus dem früher von uns Mitgetheilten erhellt, mehr und mehr abhanden; und ſolche Verſuche zur Milderung des widernatürlich Ueberſpannten der ſcholaſtiſchen Lehren über Adams unbegrenztes Wiſſen, wie beiſpielsweiſe Toſtatus und Cajetan ſie wagten, halfen dem Uebelſtande in Wirklichkeit nicht ab, dienten vielmehr nur dazu, die Größe der eingetretenen Abirrungen von der nüchternen Schriftgrundlage um ſo anſchaulicher zu zeigen. Erſt in der reformatoriſchen Theologie fand hie und da Rückkehr zu dieſem Grunde ſtatt und wurde demgemäß der Unterſchied zwiſchen paradieſiſcher Unſchuld oder urſprünglicher Gerechtigkeit einerſeits, ſowie zwiſchen phyſiſcher und intellectueller Vollkommenheit des im Urſtande befindlichen Menſchen andrerſeits, wieder ſchärfer wahr -43I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.genommen. Bei Luther ſpielen hie und da (z. B. Tiſchr. Nr. 279) in die überſchwenglichen Schilderungen vom unbegrenzten Wiſſen und den wunderſamen Kräften Adams doch auch ſchlichtere und geſündere Vorſtellungen, namentlich die Parallele des Urſtands mit der Beſchaffenheit eines noch reinen und unverdorbenen Kindes, hinein. Mehrere Ausſprüche ſowohl lutheriſcher als reformirter Symbole laſſen eine ſolche vorſichtiger umgrenzte und naturgemäßere Vorſtellung vom Weſen des Urſtands als eines zwar unſchuldigen, darum aber noch nicht allſeitig vollkommnen Zuſtandes hervortreten. Melanchthon in der Apologie der Augsb. Confeſſion bietet eine Schilderung der urſprünglichen Gerechtigkeit, welche die in derſelben begriffenen Vorzüge mehr ihrer Reinheit als ihrer etwaigen Fülle und abgeſchloſſene Vollendung nach betont. Er rechnet dahin, neben den körperlichen Vorzügen eines allenthalben reinen Geblüts und unverderbter Kräfte des Leibes , die Geiſtesgaben oder ethiſchen Güter einer reinen Gotteserkenntniß, Gottesfurcht und vertrauenden Hingabe an Gott (notitia Dei certior, timor Dei, fiducia Dei) fügt aber wenigſtens im lat. Texte des Symbols, zu dieſer Auf - zählung noch den einſchränkenden Zuſatz: oder wenigſtens Geradheit und Vermögen, Jenes zu leiſten (aut certe rectitudinem et vim ista efficiendi) hinzu. Mittelſt dieſer Einſchränkung, die im deut - ſchen Texte allerdings fehlt, ſollte offenbar auf das zunächſt nur Potentielle, noch nicht zur ſelbſtthätigen Ausbildung und Vollendung Gelangte jener Ureigenſchaften des Menſchen hingewieſen werden. Das dem Kindesalter Analoge, jugendlich Urkräftige, aber noch Ent - wicklungsbedürftige des Urſtands kam ſo in gebührender Weiſe zur Anerkennung, ohne daß doch jene Attribute der reineren Gottes - erkenntniß ꝛc. im Sinne des fortgeſchrittenen Naturalismus der Neuzeit zu bloßen ſchwachen Keimen oder embryoniſchen Anlagen reducirt wurden. 1)Vgl. meine Schrift: Die Augsb. Confeſſion ꝛc. (Frankfurt 1870) S. 140 ff.Jnnerhalb der lutheriſchen Symbolliteratur findet ſich, da die bereits oben betrachteten Ausſagen der Concor -44I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.dienformel über die anerſchaffene Gerechtigkeit doch ſchon beſtimmter und voller lauten, eine ähnliche Erklärung über das Weſen des Urſtands nicht mehr. Dagegen tragen einige einſchlägige reformirte Symbolausſagen einen ähnlichen vorſichtig limitirten Charakter; ſo Frage 6 des Heidelberger Katechismus: Gott hat den Menſchen erſchaffen in rechtſchaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit, auf daß er Gott ſeinen Schöpfer recht erkennete ; Kapitel 8 der zweiten Helve - tiſchen Confeſſion, welches gleichfalls bloß von Gerechtigkeit und wahrhafter Heiligkeit (nach Eph. 4, 21) als Momenten des ver - lorenen Gottesbildes redet, ohne Erwähnung einer intellectuellen Vollkommenheit; auch Nr. 9 der Anglikaniſchen Artikel, wo noch ſummariſcher verfahren und nur die urſprüngliche Gerechtigkeit als das ſeit dem Sündenfalle Verlorne genannt iſt. Daß der neuere theologiſche Supranaturalismus, und zwar nicht einmal bloß der vermittlungstheologiſche, ſondern auch der confeſſionelle, bei dieſer beſchränkteren Faſſung des Begriffs der urſprünglichen Gottbildlich - keit im Allgemeinen ſtehen bleibt, ja gleich der intellectuellen auch die ethiſche Vollkommenheit des Urſtands lediglich als Anlage, nicht als irgendwie ſchon ausgebildete Eigenſchaft denkt, werden wir weiter unten (X) zu zeigen haben.

4) Ein gewiſſer Reſt oder Nachklang der Urſtands-Vollkommen - heit ſoll die paradieſiſche Zeit überdauert und zu den Anfängen der allmähligen Wiedererhebung des gefallenen Menſchengeſchlechts mit - gewirkt haben. Alſo ein nachwirkendes Hineinleuchten der untergegangenen Paradieſesſonne in die dunkle Sün - dennacht; ein Jneinanderſpielen, ein Sichmiſchen des ſtatus ori - ginalis und des status originalem secutus, während der Anfangs - epoche des letztern! Dieſe Weiſe naturaliſirender Milderung deſſen, was ſchroff und hart an der altkirchlichen Urſtandslehre, haben ſchon einige Apologeten der vorauguſtiniſchen Zeit verſucht. Die Art wie beiſpielsweiſe Clemens von Alexandria und Arnobius die allmählige Entſtehung des Heidenthums ſchildern, als eine zu - nehmende Zertheilung, Zerſpaltung und Vervielfältigung des ur -45I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.ſprünglich geglaubten Einen Göttlichen, ſtellt ſich weſentlich als eine derartige Verfolgung der Spuren und Reſte der paradieſiſchen Ur - religion in die immer dunkler werdende heidniſche Nacht hinein dar. Beſonders der Erſtere beſchreibt auf lehrreiche Weiſe die verſchiedenen Wege, auf welchen die von Gott abgefallene Menſchheit, durch Ver - götterung erſtlich der Himmelslichter, weiterhin der irdiſchen Natur - gaben wie Getreide und Wein, der Strafen fürs Böſe (Furien, Eumeniden), menſchlicher Leidenſchaften, menſchlicher Perſönlichkeiten, wie insbeſondere Herrſcher und Wohlthäter, nach und nach zur Vielgötterei herabgeſunken ſeien. Von Arnobius wird beſonders anſchaulich die mit der zunehmenden Zahl von Apotheoſirungen ſterblicher und ſündiger Menſchen nothwendig wachſende ſittliche Cor - ruption der heidniſchen Urvölker dargelegt. 1)Clemens, Protrept. p. 15 Sylb. Arnobius, Adv. gentes VII, p. 299 sq. Auf andere Weiſe thun Einige der oben genannten Geneſisdichter das Jneinander - ſpielen nachwirkender Paradieſeskräfte und trauriger Folgen des Sündenelends dar. Dracontius läßt mit dem Verluſte der urſprüng - lichen Unſchuld und des Gottesgartens zwar die ſelige Gottes - gemeinſchaft der Protoplaſten ein frühes Ende erreichen, zugleich aber ein Anderes, wozu ſie erſchaffen worden: ihre Herrſchaft über die Kräfte der irdiſchen Natur und über die Schätze der Erde, jetzt erſt recht beginnen. Was nur die Erde mit ihren mannichfachen hohen und niederen Gewächſen an Blüthen und Früchten hervorbringt; was nur die Waſſer der Flüſſe, Seen und Meere unter dem Ein - fluß der Winde in Bewegung ſetzen und entweder herantreiben oder wegſpülen: es alles iſt dem Menſchen zur Verfügung geſtellt, damit er, der aus dem Staube Geborene, mehr und mehr das Bild Gottes und Chriſti in ſeinem naturbeherrſchenden Wirken darſtelle. Und mehr noch als dieß gibt Gott dem aus ſeiner Nähe in dieſe Welt Verſtoßenen mit: er ſtellt ihm in den Erſcheinungen des irdiſchen Naturlaufs vielfältige tröſtende Bilder ſeiner einſtigen Wiedererweckung vom Tode, dem er um der Sünde willen verfallen,46I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.vor Augen. Die alljährliche Erneuerung des Grüns der Saatfelder, die ſich häutenden Schlangen, die ihr Geweih zeitweilig abwerfenden und verjüngenden Hirſche, die ihr Gefieder wechſelnden Vögel, der verjüngt aus ſeiner Aſche hervorgehende Phönix, die einander ab - löſenden Phaſen der Himmelslichter: dieß alles ſind ſichtbare Bürg - ſchaften für ein Wiedereingehen des dem Tode verfallenen Menſchen zu neuem Leben, tröſtliche Zeichen von der Treue Deſſen, der nicht ewiglich hadern, nicht immerdar zürnen wird. Bei Cl. Marius Victor ſieht man die Betrachtung über das Loos der aus Eden Vertriebenen eine mehr naturaliſtiſche Wendung nehmen. Was die Gefallenen, nachdem ſie Gottes Fluch vernommen, aus dem Garten hinaustreibt, iſt nicht ein Engel mit dem Feuerſchwerte, ſondern ein Sturmwind, der zuerſt die Wipfel der Bäume des heiligen Haines heftig bewegt, dann das ſchuldige Paar mit gewaltigem Wirbel erfaßt und unaufhaltſam hinausſtößt! Ein Zuſtand hilfloſeſten Elends aber auch barbariſcher Rohheit für die auf der unbebauten und einſamen Erde Umherirrenden beginnt nun, bis ein inbrünſtiges Gebet Adams an den unſichtbar gewordenen Schöpfer Hilfe ſchafft und den Anfang einer beſſeren Zeit herbeiführt. Dieß geſchieht freilich mittelſt einer merkwürdigen Kriſis, nicht ohne Kampf und Arbeit für die Gefährdeten. Eine böſe Schlange raſchelt nemlich, während Adam noch betet, neben Eva im Graſe; auf des Weibes Rath wirft Adam dem raſch unter einen Fels ſchlüpfenden Gewürm einen Stein nach. Da ſprüht den Ueberraſchten aus dem vom Stein getroffenen Felſen plötzlich ein Feuerfunke entgegen, der durch Entzündung des umgebenden Graſes einen Waldbrand erzeugt. Das Feuer greift mächtig um ſich und verſchafft den noch auf unterſter Culturſtufe ſtehenden Erdenherrſchern Kenntniß nicht nur von ſon - ſtigen wohlthätigen Wirkungen der geheimnißvollen Himmelskraft, ſondern ſofort auch ſchon vom metallſchmelzenden Vermögen ihrer Gluthen, da dieſe Bächlein geſchmolzenen Goldes, Silbers und Erzes einher rinnen machen. Eine ſeltſame altchriſtliche Verſion der Pro - metheusſage in der That! Sie weiſt zurück auf Lucreziſche Schil -47I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.derungen, klingt aber zugleich an apokryphiſche Züge chriſtlich - und jüdiſch-mittelaltriger, ja muhammedaniſcher Adamsſagen an; ſo an jene auf das angebliche Offenbarungszeugniß eines Märtyrers Me - thodius geſtützte Legende bei Comeſtor, welche Adams und Evas 15jähriges thränenreiches Elend nach der Vertreibung aus dem Paradieſe beſchreibt, und mehr noch an die arabiſche Sage, welche die längere Zeit getrennt geweſenen Protoplaſten Adam, nachdem er in Jndien, Eva, nachdem ſie in Arabien in der Gegend von Mekka umhergeirrt einander letztlich am Berge Arapha wieder - finden läßt, u. ſ. f. 1)Wegen Dracontius und M. Victors ſ. m. Geſchichte der Beziehungen, S. 260. 263. Vgl. Petr. Comeſtors Hist. scholastica (ebendaſ. S. 420), ſowie Calmet, Comment. literal. in Genes. 3, 24.

Eine beſonders bemerkenswerthe Reihe hiehergehöriger Specu - lationen knüpft an die blibliſchen Nachrichten von den langlebigen Patriarchen zwiſchen der Schöpfung und Sintfluth an. Vor Allen Henoch, der dem Tode ganz Entnommene, aber auch die übrigen dieſer Makrobier von Adam bis auf Noah ſind begreif - licherweiſe als bedeutſame Belege für die Annahme eines längeren Nachwirkens paradieſiſcher Kräfte in der Entwicklung des gefallenen Menſchengeſchlechts vielfach ins Auge gefaßt worden. Lag es doch nahe genug, ihre nahezu tauſendjährigen Lebensalter aus der noch nicht in voller Kraft wirkſam gewordenen Beſchaffenheit des erb - ſündlichen Verderbens im früheſten menſchheitlichen Entwicklungs - ſtadium herzuleiten, alſo gewiſſermaaßen ein Stück langſam ver - witternder paradieſiſcher Urkraft, eine Annäherung an die dem Menſchen uranfänglich zugedacht geweſene Unſterblichkeit darin zu erblicken. Schon Auguſtinus hat ziemlich breite Betrachtungen über dieſen Gegenſtand angeſtellt, die ſich freilich vom Abirren ins Aeußerliche und Ungeſunde keineswegs ganz frei halten. Er erörtert u. a. die Frage, ob mit den nach Jahrhunderten zählenden Lebens - altern auch eine Rieſengröße der Leiber dieſer Patriarchen verbunden geweſen ſei, für welche Annahme er ſich übrigens nicht beſtimmt48I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.ausſpricht. Die Zweifel der Ungläubigen an der Geſchichtlichkeit der Makrobier überhaupt weiſt er ebenſo beſtimmt zurück, wie den Verſuch gewiſſer Rationaliſten ſeiner Zeit, die Jahre zu Zehntels - jahren zu reduciren. Ausführlich handelt er von der Differenz zwiſchen alexandriniſchem und hebräiſchem Texte, betreffend die Zahlen bei den einzelnen Makrobiern, unter Bevorzugung der An - gaben im Grundtexte. Den Hintergrund ſeiner apologetiſchen Er - örterungen bildet die Vorausſetzung, daß ein ſo langes Leben der Urväter dem göttlichen Weltplane ſowie dem Jntereſſe des aus der paradieſiſchen Urzeit ſich entwickelnden Gottesſtaates einzig entſprochen habe. 1)De Civ. Dei XV, 9 ss. Jn ähnlicher Weiſe beſchäftigte ſich dann die Theologie des Mittelalters gern mit dieſem Thema (vgl. unten, IX), obſchon faſt ſtets nur in einſeitiger und wenig erſprießlicher Weiſe. Man ſpe - culirte über Adams und Evas Tod und Begräbniß, ließ die Letztere 10 Jahre nach Erſterem, alſo genau 940 nach Erſchaffung der Welt, ſterben; ließ das Grab Adams durch Noah, und zwar auf dem Hügel Golgatha im hl. Lande, angelegt werden u. dgl. m. 2)Marianus Scotus in ſ. Chronicon; Comeſtor, Hist. schola - stica etc.; vgl. Salianus, Annales eccl. Vet. T., I. Der weit und breit herrſchenden mönchiſch-ascetiſchen Lebensanſchau - ung entſprach es, wenn ein angebliches Nichtfleiſcheſſen der vorſint - fluthlichen Väter, ein Leben von bloßer Pflanzenkoſt; als Urſache für das hohe Alter, wozu ſie es brachten, angegeben wurde. Dem widerſprachen verhältnißmäßig nur wenige Vertreter eines ſtrengeren exegetiſchen Verfahrens zu Gunſten der Annahme, daß jene aus - ſchließlich vegetarianiſche Diät nur für die Paradieſeszeit gegolten habe. Auch die ältere evangeliſche Theologie hat ſich an Specu - lationen über dieſen Punkt mehrfach betheiligt. Lutheriſche wie reformirte Ausleger, und zwar anfänglich die Mehrheit von Beiden, auch Luther ſelbſt, billigten die römiſche Tradition von der Lebens - weiſe der Menſchen bis zur Fluth als einer nur an Pflanzenkoſt gewöhnten. Nur langſam gewann die von Calvin vertretene freiere49I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.und nicht vegetarianiſch ascetiſirende Auffaſſungsweiſe die Oberhand. Uebrigens erſcheint, abgeſehen von dieſem ſpeciellen Punkte, gerade Luthers Behandlung des Thema’s von den vorſintfluthlichen Patriarchen ſonſt durch ihre Selbſtſtändigkeit und friſche phantaſie - volle Originalität beſonders ausgezeichnet. Der Grundgedanke, daß im Leben dieſer Makrobier die Herrlichkeit und Seligkeit des Para - dieſes noch in gewiſſer Weiſe, freilich geſchwächt, getrübt und beein - trächtigt durch den bereits ſich geltend machenden Einfluß des Sündenelends, fortgedauert habe, tritt ungemein kräftig bei ihm hervor. Er ſtellt dabei die in weltlichen Dingen gleichfalls mit hoher Kraft, Weisheit und Geſchicklichkeit ausgeſtatteten, ja hierin den Patriarchen überlegenen Nachkommen Kains in wirkſamen Con - traſt zu jenen frommen Gotteskindern. Was dieſe letzteren um ihres Feſthaltens an der göttlichen Wahrheit willen zu leiden hatten, ihr groß Erſchrecken und Kümmerniß , darob ſie oft durch Engel getröſtet werden mußten, ihre langwierige, unſägliche Mühe und Arbeit, Angſt, Marter und Plage , darin ſie den heiligen Märtyrern und Bekennern ſpäterer Zeiten gleichen: es war das alles haupt - ſächlich durch die Feindſchaft der Kainiten veranlaßt. Eine Welt wäre darumb zu geben, wenns möglich wäre, daß man die Legenden der lieben Patriarchen, ſo vor der Sündfluth gelebet, haben könnte; da würde man ſehen, wie ſie gelebet, geprediget und was ſie ge - litten haben . 1)Tiſchr., Nr. 270 (E. A. 57, 228), Vgl. Nr. 2689 (E. A. 62, 153); auch die Predigt über 1 Moſ. 5 (E. A. 33, 153 ff.). Es war dieß der höchſte Ruhm jener erſten Welt, daß ſie ſo viele gute, weiſe und heilige Männer zumal hatte ..... es waren dieſelben die größten Helden nächſt Chriſtus und Johannes dem Täufer, welche die Geſchichte hervorgebracht hat; ihre Herrlichkeit werden wir am jüngſten Tage ſehen und anſtaunen, ſammt allem dem, was ſie, ein Adam, Seth, Methuſalah ꝛc. gethan und gewirkt haben! Zu ihnen hat Henoch gehört, der nur drei Jahrhunderte hienieden lebende erhabene Prophet und Hoheprieſter, der ſechs Patriarchen zu Lehrern gehabt hat . So zahlreiche höchſtZöckler, Urſtand. 450I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.gottloſe Menſchen damals ſchon auf Erden vorhanden waren: immer - hin war dieſes vorſintfluthliche Zeitalter während deſſen ja auch das Paradies, freilich verſchloſſen für die Menſchen, ſich immer noch auf der Erde befand noch ein beſſeres als alle folgenden Zeit - alter der menſchlichen Geſchichte. Es war jenes goldne Zeitalter, deſſen die alten Dichter, ohne Zweifel belehrt aus der Ueberlieferung der Erzväter, gedenken; auf es zunächſt iſt dann die verderben - bringende Waſſerwelt der Sündfluth gefolgt, hierauf die bleichgelbe Welt der Götzendienerei und der Gottfeindlichkeit, in welcher wir noch leben; das letzte in dieſer Reihe wird die verzehrende Feuer - welt des jüngſten Gerichtes ſein. Kurz, dieß iſt die abſteigende Stufenfolge dieſer Weltalter: zuerſt jene urſprünglichſte beſte und heiligſte Welt, der die köſtlichſten Edelſteine des Menſchengeſchlechts (nobilissimae gemmae totius generis humani) angehörten; dann die Zeit nach der Fluth, wo auch noch etliche herrliche und große Patriarchen, Könige und Propeten gelebt und Chriſtum herbeigeſehnt haben (Luk. 10, 24), die freilich jenen erſten und älteſten Patriarchen nicht gleich ſind; endlich unſere Zeit des Neuen Bundes, die, ob - ſchon Chriſtus in ihr erſchienen, doch gleichſam den Kehricht und Bodenſatz der Welt (velut putamen et faex mundi) bildet, da ſie Chriſtum in eben dem Grade gering achtet, als jene erſte Welt nichts Köſtlicheres kannte und begehrte, denn ihn. 1)Enarrat. in Genes. c. 5, p. 84 s.; 96 107; 110 116.

Noch im 17. Jahrhundert und darüber hinaus, bei Joh. Gerhard, Calov, Sebaſtian Schmid, Starke ꝛc. ſind die Einwirk - ungen dieſer eigenthümlich kühnen und naiv-genialen Betrachtungen Luthers über die vorſintfluthliche Patriarchenzeit als eine Art modi - ficirter Fortdauer des paradieſiſchen Urſtands wahrzunehmen2)Siehe beſ. Chrph. Starke’s Synopſis, zu Gen. 5, 1 ff., woſelbſt auch einzelnes über Luthern Hinausgehende: z. B. Adam habe inmitten ſeiner Kindes - kinder den erſten Monarchen vorgeſtellet , freilich aber ſein Regiment wohl immer nur in Liebe und Gerechtigkeit geführt; er ſei öffentlich, im Beiſein vieler Menſchen, begraben worden ob gerade auf dem Berge Calvariä, ſei ungewiß u. ſ. f.. Erſt51I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.ſeit dem pietiſtiſchen Zeitalter wurde man auf dieſem Punkte ängſt - licher; und die ſupranaturaliſtiſche und rationaliſtiſche Exegeſe gefiel ſich vorzugsweiſe in jenen Verſuchen zur künſtlichen Reduction oder willkürlichen Hinwegerklärung der patriarchaliſchen hohen Menſchen - alter, über welche wir ſpäter noch zu berichten haben werden. Die zunehmend laxeren Vorſtellungen vom Urſtande, welche unter dem Einfluſſe der naturaliſtiſchen Lehren franzöſiſcher und engliſcher Auf - klärungsphiloſophen auch in theologiſche Kreiſe eindrangen, rückten den Gedanken eines langſamen Herabſinkens der Menſchheit von Stufe zu Stufe in immer größere Ferne, ſodaß allgemach zuſammen mit der Geſchichtlichkeit einer paradieſiſchen Urvollkommenheit auch die eines noch halb und halb paradieſiſchen Geſchlechts älteſter Erz - väter vor der Fluth preisgegeben wurde. Jmmerhin verdient es hier in Erinnerung gebracht zu werden, daß noch mitten im Zeit - alter des Rationalismus, und zwar zum Theil bei geſchichtsphilo - ſophiſchen Denkern, deren Standpunkt nichts weniger als bibliſch oder kirchlich befangen genannt werden kann, gewiſſe entferntere Anklänge an Luthers Patriarchen-Speculationen wahrzunehmen ge - weſen ſind. Es gilt dieß insbeſondere von dem älteren Fichte, deſſen Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804) eine Ueber - ſicht über den irdiſchen Entwicklungsgang der Menſchheit bieten, welche auf die allererſte Epoche, den Stand der Unſchuld oder des Herrſchens der Vernunft in der Urform des Jnſtincts, eine zweite Epoche folgen läßt, die als Stand der anhebenden Sünde bezeichnet wird. Dieſe zweite urgeſchichtliche Epoche Fichte’s erinnert in der Art, wie ſie den über die Erde zerſtreut wohnenden rohen Wilden, dieſen Urvätern oder Vorgängern der heutigen Naturvölker, ein gewiſſes Normalvolk als ſiegreichen Träger des Vernunft - und Culturprincips gegenübertreten läßt, theilweiſe wenigſtens an Luthers kraftvolle Contraſtirung der Kainiten mit den frommen Sethiten-Patriarchen. Erſt die Einwirkung dieſes Normalvolks, das durch ſein bloßes Daſein, ohne alle Wiſſenſchaft oder Kunſt, ſich im Zuſtande der vollkommenſten Vernunftcultur befunden , habe4*52I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.das rohe Volk der erdgeborenen Wilden dazu vermocht, ſich zur Vernunft bilden zu laſſen, ꝛc. Das Entwicklungs ziel der Epoche erſcheint hier allerdings als ein ganz anderes, ja entgegengeſetztes wie dasjenige der vorſintfluthlichen Makrobierzeit; aber in der Schilderung des eigenthümlich getheilten Zuſtands der Menſchheit und ſeines Urſprungs berühren ſie ſich unverkennbar, die bibliſch normirte Speculation des Reformators und die moderner geartete des Philoſophen. Schellings Darſtellung der Anfänge des Cultur - lebens in der Einleitung in die Philoſophie der Mythologie er - ſcheint als eine Fortbildung des Grundgedankens dieſer Fichteſchen Conceptionen, wobei die mythiſche Figur eines idealen anderen Adams oder Chriſtus der Urzeit an die Stelle des Normalvolks getreten iſt und deſſen culturfördernde und veredelnde Aufgabe gegenüber den thierähnlich rohen Naturvölkern übertragen bekommen hat. Auch in ſpäteren geſchichtsphiloſophiſchen Syſtemen bis herab in die jüngſte Zeit iſt der Gegenſatz zwiſchen activer und paſ - ſiver Menſchheit auf ähnliche Weiſe ſchon in die Urzeit zurück - getragen und damit eine gewiſſe moderne Parallele zu jener luther - ſchen Contraſtirung der ſethitiſchen Makrobier mit den Kainiten geliefert worden. So u. a. von Ernſt von Bunſen und beſonders von Konr. Hermann in Leipzig, deſſen hellfarbige und culturfähigere Race hochaſiatiſchen Urſprungs einer dunklen und paſſiven Race afrikaniſchen Urſprungs auf ähnliche Weiſe gegenübertritt, wie Fichte’s Normalvolk dem Geſchlechte der Urwilden. 1)J. G. Fichte, Vorl. über d. Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804. 5). Schelling, Einleitung in die Philoſ. der Mythologie (Werke, II. Abth. Bd. I, 1856). E. v. Bunſen, Die Einheit der Religionen, Bd. I, 1868. Konr. Hermann, Philoſ. der Geſchichte, 1870. Vgl. die kurzen kritiſchen Darſtellungen bei Rocholl, S. 100 f., 113 f., 352 f., ſowie m. Abhdlg.: Peyrere’s Präadamiten-Hypotheſe nach ihren Beziehungen zu den anthropolog. Fragen der Gegeuwart , in der Zeitſchr. f. d. geſ. luth. Theol., 1878, S. 41 ff.

Naturalismus bildet den Hintergrund dieſer Speculationen mit ihrer die Ureinheit unſres Geſchlechts preisgebenden co - oder53I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.auch präadamitiſchen Tendenz. Ein noch extremerer Naturalismus freilich charakteriſirt die Mehrzahl der ſeit etwa einem Jahrhundert beliebt gewordnen Darſtellungen der Anfänge der Menſchheits - geſchichte, die mit ihrer Vorausſetzung eines Thierurſprungs des Menſchen deſſen unmittelbare göttliche Erſchaffung und Gottbildlich - keit thatſächlich oder auch ausdrücklich leugnen. Aus dem Kreiſe deſſen, was die kirchliche Ueberlieferung über den Urſtand lehrt, fällt dieſe Reproduction altheidniſcher Vorſtellungen ſelbſtverſtändlich hinaus. Wir werden ihre Entſtehung und ihren bisherigen Verlauf erſt ſpäter in Betracht nehmen können, nachdem die nun vor Allem erforderliche directe Prüfung der Schriftausſagen über unſren Gegen - ſtand erledigt ſein wird.

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II. Die Schriftlehre vom Arſtande.

Wozu das bisherige lange Verweilen bei den kirchlichen Lehr - meinungen über unſren Gegenſtand? Warum in den trüben Ge - wäſſern der Tradition lange herumrühren, wenn der Zutritt zum lauteren Brunnen der Schrift freiſteht? Es ſind nicht blos die principiellen Traditionsfeinde unter unſern Leſern, die Vertreter eines einſeitigen Biblicismus, die ſo fragen werden. Auch bei manchem Leſer kirchlichen Standpunktes iſt vielleicht einige Ermüdung entſtanden ob unſerer Umſtändlichkeit im Aufzählen von theils flüchtig hingeworfenen Meinungsäußerungen, theils ausgebildeteren Hypotheſen, um welche ſich längſt Niemand mehr kümmert, die wenigſtens beträchtlicher Umbildungen, Modificationen und Reduc - tionen bedürftig erſcheinen, falls ſie Gegenſtand ernſthafter wiſſen - ſchaftlicher Erörterung werden ſollen.

Wir geſtehen dieſen Bedenken principiell eine gewiſſe Berech - tigung zu, glauben aber dennoch nichts Ueberflüſſiges gethan zu haben, wenn wir den aus dem Schriftgrunde im Lauf der Jahr - hunderte hervorgeſproßten und theilweiſe zu üppigem Buſchwerk und Geſtrüppe emporgewucherten Aeußerungen und Muthmaaßungen kirch - licher Lehrer und Schriftſteller über unſer Gebiet einige Aufmerkſam - keit widmeten. Dem durch die labyrinthiſchen Jrrgänge menſchlicher Speculationen Ermüdeten mundet das friſche Quellwaſſer der bib - liſchen Wahrheit deſto erquicklicher. Es ſind aber nicht einmal ſchlechtweg Labyrinthe oder verworrene und verwickelte Lehrſätze,55II. Die Schriftlehre vom Urſtande.was die kirchliche Ueberlieferung auf dem Grunde der bibliſchen Ausſagen aufgebaut hat. Ein gewiſſer gemeinſamer Grundzug geht durch ſie alle. Jn dem Einen Hauptpunkte ſind ſie alle, die den paradieſiſchen Urſtand ſelbſt betreffenden wie die auf das nachpara - dieſiſche Zeitalter bezüglichen, gleich klar und beſtimmt: ſie halten feſt an der göttlichen und gottbildlichen Erſchaffung der Menſchheit als eines von Sünde uranfänglich nicht inficirten, zu ſündlos reiner Entwicklung beſtimmten Geſchlechts. Beides zumal, die Ur-Einheit und die urſprüngliche Reinheit des Menſchengeſchlechts als einer unmittelbar göttlichen und gotteswürdigen Schöpfung bildet die Grundſubſtanz und den Kern aller jener Meinungsäußerungen. Die willkürlichen einander theilweiſe widerſprechenden oder ins Phan - taſtiſche ausſchweifenden Zuthaten zu dieſem Kern werden durch die nunmehr uns obliegende Betrachtung der Schriftgrundlage des ganzen Lehrſtückes ſich von ſelbſt richten.

Die bibliſchen Ausſagen über unſren Gegenſtand heben an mit der Erklärung, daß der Menſch geſchaffen ſei zum Bilde Gottes, oder was daſſelbe: nach, gemäß dem Bilde Gottes (im Grundtexte eigentlich: im Bilde Gottes ). Gott ſprach: Laſſet uns Menſchen machen, ein Bild das uns gleich ſei (wörtl. : ein Bild wie unſer Gleichniß), die da herrſchen über die Fiſche im Meer ꝛc. .... Und Gott ſchuf den Menſchen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes ſchuf er ihn; und er ſchuf ſie, ein Männlein und ein Fräulein (wörtl. : Mann und Weib ſchuf er ſie: 1 Moſe 1, 26. 27). Dieſer grundlegenden Ausſage der erſten oder elohiſtiſchen Schöpfungsurkunde folgt zunächſt der Jehoviſt oder zweite Schöpfungshiſtoriker mit ſeiner eigenthüm - lichen Umſchreibung des Begriffs der gottebenbildlichen Erſchaffung: Und Gott der Herr (Jehova Elohim) machte den Menſchen aus einem Erdenkloß (wörtl. : bildete den Menſchen als Staub von der Erde) und blies ihm ein den lebendigen Odem (wörtl. : Odem des Lebens) in ſeine Raſe; und alſo ward der Menſch eine lebendige Seele (1 Moſe 2, 17). Woran56II. Die Schriftlehre vom Urſtande.ſich dann die ergänzenden Berichte über des Neugeſchaffenen Ver - ſetzung in den Garten Eden, über ſeine Einweiſung in die Herr - ſchaft über Pflanzen und Thiere dieſes Gartens, ſowie über die Bildung des Weibes als ſeiner Lebensgefährtin (wörtl. : ſeiner ihm entſprechenden Hilfe ; Luth.: Gehülfin, die um ihn ſei ) zunächſt anreihen (1 Moſe 2, 8 25). Nach Zwiſcheneintritt der Er - zählung vom Sündenfalle und deſſen nächſten Nachwirkungen folgt dann, wieder in einem elohiſtiſchen Abſchnitte, eine erſte Rückver - weiſung auf die Erſchaffung nach Gottes Bilde: (an dem Tage) da Gott den Menſchen ſchuf, machte er ihn nach dem Gleichniß Gottes; und ſchuf ſie ein Männlein und ein Fräulein (Mann und Weib erſchuf er ſie) und ſegnete ſie, und hieß ihren Namen Menſch (Adam) zur Zeit, da ſie geſchaffen wurden (1 Moſe 5, 1. 2). Eine nochmalige Zurück - weiſung auf die gottbildliche Schöpfung läßt gleichfalls der elohiſtiſche Erzähler bald nach dem Sintfluth-Berichte folgen, da wo es ſich um Feſtſtellung der allgemeinen Rechtsſatzungen und ſittlichen Lebens - ordnungen der nachſintfluthlichen Menſchheit handelt. Der Grundſatz, daß das Vergießen von Menſchenblut mit dem Blute des Mörders beſtraft werden ſolle, wird hier durch den Hinweis begründet: Denn Gott hat den Menſchen zu (in) ſeinem Bilde gemacht (1 Moſe 9, 6), woran ſich eine Wiederholung des ſegnenden Gebotes, fruchtbar zu ſein und die Erde zu füllen, das auch ſchon die erſte Erwähnung des Gottesbildes im Schöpfungs - berichte begleitet hatte, anſchließt. Spätere Anklänge an den Begriff des Gottesbildes bietet das kanoniſche Alte Teſtament hauptſächlich noch im 8. Pſalm: Und du haſt ihn um Weniges geringer gemacht als Gott,1)Luther (fehlerhaft der einſeitig meſſianiſchen Deutung des Pſalms zu Liebe): Du wirſt ihn laſſen eine kleine Zeit von Gott verlaſſen ſein, aber ꝛc. Ohne Grund im Texte auch die alex. Verſion, das Targum ꝛc. : Du haſt ihn ein Weniges unter die Engel erniedriget ꝛc. Vgl. unten. und mit Ehre und Herr - lichkeit ihn gekrönt; haſt ihn zum Herrſcher gemacht57II Die Schriftlehre vom Urſtandeüber die Werke deiner Hände: Alles haſt du unter ſeine Füße gethan (Pſ. 8, 6 f.), ſowie im Prediger Salomo, wo in unverkennbarer Anſpielung auf die urſprüngliche Unſchuld und Jntegrität des Menſchen, ſowie im Gegenſatze zu deren vielfacher Beeinträchtigung und Gefährdung durch die Thorheit, Bosheit und Ränkeſucht des jüngeren Geſchlechts ausgerufen wird: Allein ſchau, das habe ich gefunden, daß Gott die Menſchen hat rechtſchaffen gemacht ꝛc. 1)Luther, dem hebr. jāschār minder genau entſprechend: aufrichtig .(Pred. 7, 30). Als apo - kryphiſche Bezeugungen der Gottebenbildlichkeit, denen freilich kein ſelbſtändiger Werth neben den zu Grunde liegenden Ausſprüchen der Geneſis zukommt, ſind hervorzuheben Sir. 17, 1 4: Gott ſchuf aus der Erde den Menſchen und machte ihn wieder zur Erde und gab ihnen Macht über die Dinge auf derſelben, und bekleidete ſie, ein Jedes für ſich, mit Stärke und machte ſie nach ſeinem Bilde; ſeine Furcht erſtreckte er über alles Fleiſch und (ließ ſie) herrſchen über Thiere und Vögel ꝛc., ſowie Weish. 2, 23: Denn Gott hat den Menſchen geſchaffen zum ewigen Leben (wörtl. : zur Unvergänglichkeit), und hat ihn zum Bilde ſeiner eignen Weſenheit gemacht. 2)So gemäß der beſtbezeugten Lesart:〈…〉〈…〉 -〈…〉〈…〉. Luther ( und hat ihn gemacht zum Bilde, daß er gleich ſein ſoll, wie er iſt ) legt, wie ſchon die alte lat. und ſyr. Ueberſ., die Lesart〈…〉〈…〉 ſt. 〈…〉〈…〉zu Grunde. Vgl. Fritzſche, Libri apocr. V. Testamenti, p. 526.

Das Neue Teſtament ſtimmt dieſen vielfältigen altteſtament - lichen Zeugniſſen für die gottebenbildliche Würde des Menſchen wiederholt zu. Jakobus drückt ſeinen Abſcheu über das ſündige Treiben der menſchlichen Zunge, dieſes unruhigen Uebels voll tödtlichen Giftes , damit aus, daß er ihr vorwirft, durch ſie erfolge Beides: die Lobpreißung Gottes des Vaters und das Fluchen auf die Menſchen, nach Gottes Bilde (wörtl. : Gleichniß, oder Aehnlichkeit) gemacht (Jak. 3, 9). Paulus ermahnt da, wo er58II. Die Schriftlehre vom Urſtande.vom rechten Verhalten beim Gebete redet: Der Mann ſoll das Haupt nicht bedecken, ſintemal er iſt Gottes Bild und Ehre (wörtl. Glorie, Abglanz ); das Weib aber iſt des Mannes Ehre (w. Glorie ); denn der Mann iſt nicht vom Weibe, ſondern das Weib iſt vom Manne, und der Mann iſt nicht geſchaffen um des Weibes, ſondern das Weib um des Mannes willen (1. Cor. 11, 7 9). Ohne Rückſichtnahme auf dieſen aus 1. Moſ. 2 ſich ergebenden Unterſchied zwiſchen unmittelbarer Gottbildlichkeit des Mannes und mittelbar gottbildlicher Erſchaffung des Weibes be - zeichnet der Apoſtel den durch Chriſtum Wiedergeborenen und ſich Heiligenden als den neuen Menſchen, der ſich erneuert zur Er - kenntniß nach dem Bilde deß, der ihn geſchaffen hat (Col. 3, 9), oder auch: der nach Gott (gemäß Gott) geſchaffen iſt in Gerechtigkeit und Heiligkeit der Wahrheit (Eph. 4, 26). Die ihres Entſtammtſeins aus der Gottheit ſich rühmenden Philoſophen Athens nimmt er beim Wort; übereinſtimmend mit ihnen bezeugt er: Wir ſind göttlichen Geſchlechts (Apg. 17, 28 f.). Auch der Verfaſſer des Hebräerbriefes drückt den Begriff der Gottbildlichkeit einmal auf annähernde Weiſe aus, mittelſt Anführung jener Verſe des 8. Pſalms, die er freilich in ihrem Anfange gemäß der Deutung der Septuaginta verändert: Du haſt ihn um ein Weniges unter die Engel erniedriget (Hebr. 2, 8). Luther, ſchwerlich richtig, jedenfalls mißverſtändlich: Du haſt ihn eine kleine Zeit der Engel mangeln laſſen.

Jn großartiger Uebereinſtimmung drücken dieſe alt - und neu - teſtamentlichen Schriftzeugniſſe betreffend die Gottbildlichkeit eben dasjenige als die Grundſubſtanz dieſes Begriffes aus, was wir als das Gemeinſame auch der kirchlichen Lehrſätze über dieſen Gegenſtand kennen lernten: die Ur-Einheit und die Ur-Reinheit des von Gott zur Darſtellung ſeines Ebenbildes in Beherrſchung der niederen Erdenwelt geſchaffenen Menſchengeſchlechts. Es ſind mehrere un - gemein wichtige Wahrheiten, die es als hierin beſchloſſen zu be - achten gilt.

59II. Die Schriftlehre vom Urſtande.

I. Belanglos iſt die Differenz zwiſchen elohiſti - ſcher und jehoviſtiſcher Faſſung des Begriffs der Gott - bildlichkeit. Was in Gen. 1, 26 f. direct und in gedrängter Kürze ausgeſagt wird, daß das Menſchengeſchlecht nach des heiligen Gottes Bilde geſchaffen ſei, eben dieß erſcheint in Gen. 2, 7 ff. indirect ausgeſagt und umſtändlicher in ſeine einzelnen Momente zerlegt. Die freie, geiſtesmächtige Perſönlichkeit des Menſchen, ſeine gottähnliche Herrſcherwürde im Gegenſatze zum un - freien, ihm unterworfenen Creaturenleben, bildet das Gemeinſame beider Schilderungen. Es thut nichts zur Sache, daß der zweite Erzähler ſich der Namen Bild Gottes , oder Gleichniß (zelem, d’mut) nicht bedient. Wenn er den Menſchen durch unmittelbare Schöpferthätigkeit Gottes, als Seiner Hände Werk, ſein Daſein empfangen läßt, und zwar nicht wie die übrigen Creaturen durch bloß äußerliche Erſchaffung oder Bildung, ſondern mittelſt innerlichen Eingehens in ſeinen Weſensbeſtand, mittelſt Einhauchung Seines göttlichen Lebensodems und Bildung einer lebendigen Seele: ſo beſagt er damit weſentlich daſſelbe wie ſein Vorgänger in Kap. 1 mit Hervorhebung des Geſchaffenſeins in Gottes Bilde und Gleichniß; denn freies Herrſchen über die niedere Creaturenwelt nach Gottes - weiſe, nach dem Muſter des himmliſchen Weltherrſchers, wird ja als Jnhalt dieſer Gottbildlichkeit angegeben. Erſcheint doch auch nach dem zweiten Erzähler das Herrſchen über die belebten Creaturen der Erde, als ein weſentlicher Ausfluß und Hauptzweck der vom Schöpfer dem Menſchen verliehenen Stellung; ſoll doch der geiſt - durchhauchte Erdenkloß ebenſo gut königlicher Beherrſcher der Erde ſein, wie der nach Gottes Bilde Geſchaffene! Soll doch ferner der Eine wie der Andere dieſe ſeine Herrſcherſtellung nicht in abſtracter Vereinzelung verwirklichen, ſondern gleich der göttlichen Urperſönlichkeit in liebendem Gemeinſchaftsleben und thätigem Geiſtesverkehr mit Seinesgleichen, ebendamit aber aus der Ureinheit ſich entwickelnd zur Familie und alſo die Erde erfüllend! Soll doch endlich nach der einen wie der anderen Darſtellung Sünde ausgeſchloſſen ſein von60II. Die Schriftlehre vom Urſtande.dieſer Berufserfüllung, die Entwicklung zur allſeitig durchgeführten Erdherrſchaft alſo in lauterem kindlichen Gehorſam gegen Gottes Gebote ſowie unter Gottes Segen (ſ. K. 1, 28 f.; 2, 16 ff. ) vor ſich gehen: eine heilige Lebensentwicklung, gleichwie der Schöpfer heiliges Leben lebt (vgl. 3. Moſ. 11, 44; 1. Petr. 1, 15.), ein Leben nicht nach Fleiſches Weiſe ſondern nach dem Geſetze des Geiſtes, des von Gott uns eingehauchten heiligen Lebensodems (vgl. Hi. 33, 4; Sach. 12, 1; Pred. 12, 7), kurz ein Leben aus Gott und zu Gott, ein rechtſchaffenes Leben (jāschār: Pred. 7, 30), ein Leben in Gerechtigkeit und Heiligkeit der Wahrheit (Eph. 4, 24). Wollte man ſo ſpröde ſein, die weſentliche Einheit des in Gen. 1, 26 f. direct ausgedrückten und des in Gen. 2, 7 beſchriebenen Gottbildlichkeitsbegriffes nicht anzuerkennen, die Jdee des göttlichen Ebenbildes alſo, weil der betr. Ausdruck im Paradieſes - und Sündenfallsberichte nicht vorkommt, als dem Urheber dieſes Berichts gänzlich fremd darzuſtellen und das geiſtdurchhauchte Erdengebilde mit lebendiger Seele für ein total anderes Weſen zu erklären als das nach dem Bilde und Gleichniß Gottes geſchaffene Menſchenpaar: wunderlich genug und ungeheuerlich, wie ſolche Meinung an ſich ſchon wäre, würde ſie durch die neuteſtamentlichen Parallelen auf das Beſtimmteſte wiederlegt werden. Das Neue Teſtament geht durchweg von der Vorausſetzung einer vollſtändigen Harmonie von Gen. 1 mit Gen. 2 aus. Das nach Eph. 4, 24; Col. 3, 9 wieder zu erlangende Gottesbild iſt kein anderes als das ſeinem göttlichen Urſprunge nach in Gen. 2, 7 ff., ſeinem Verluſte durch den Sündenfall nach in Gen. 3 beſchriebene, auch von〈…〉〈…〉 ſelbſt einmal durch den Begriff des Gottentſprungenſeins oder göttlichen Geſchlechts-Seins (Apg. 17, 29) ausgedrückt. Die Stelle 1. Cor. 11, 7 ff. verſchmilzt die beiden moſaiſchen Relationen über die Menſchenſchöpfung vollſtändig in Eine. Der Mann zuvörderſt, um ſeinetwillen aber auch das aus ihm gebildete Weib, das Bein von ſeinem Beine und Fleiſch von ſeinem Fleiſche (1. Moſ. 2, 23), ſie61II. Die Schriftlehre vom Urſtande.Beide ſind nach Gottes Bilde gemacht und Gottes Abglanz, jener unmittelbarer, dieſe mittelbarer Weiſe.

II. Der Gott, nach deſſen Bilde der Menſch ge - ſchaffen, iſt der Gott der h. Schrift, der im Alten Teſtamente unvollſtändiger, im Neuen vollkommner geoffenbarte Dreieinige. Es iſt weder ein ins Unbeſtimmte zerfließender unperſönlicher Allgeiſt, noch ein in abſtracter Jenſeitigkeit verharrender Weltſchöpfer ohne kräftiges Eingreifen in die Welt - geſchicke, der mit der Erſchaffung eines ihm ebenbildlichen Menſchen ſein Schöpfungswerk zum Abſchluſſe bringt. Weder einen ohn - mächtigen Deiſtengott hoch oben jenſeits der Sterne, noch einen pantheiſtiſch gedachten, in ſeiner Creatur ganz und gar aufgehenden Univerſalgeiſt ſpiegelt der gottbildliche Herrſcher über die niedere Erdenwelt ab. Dem als freie Perſönlichkeit ſeinen materiellen Leibesorganismus regierenden und mittelſt deſſelben ſeine Herrſcher - würde über die irdiſch geſchöpfliche Welt ausübenden Menſchen wird zwar nicht ein körperlicher, äußerlich ſicht - und greifbarer Gott als Urbild entſprechen, aber doch ein ſolches göttliches Geiſtweſen, deſſen unſichtbare Geiſtigkeit keine abſtracte, ſondern eine concrete, in ſich beſtimmte und kräftig abgeſchloſſene, und ebendarum zur Verſicht - barung an ihre Geſchöpfe fähige iſt. Ein höheres Analogon zur menſchlichen Leiblichkeit muß auch in Gott vorhanden ſein, eine göttliche Natur oder Organiſation als Abdruck und Entfaltung der im verborgnen Urgrunde der Gottheit ruhenden Weſensfülle; ein Wort, dadurch Gott zu ſeinen Geſchöpfen redet, ein Sohn Gottes, in welchem die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnet. Der in ſeinem Sohn, dem ewigen Ebenbilde ſeines Weſens und dem Ausſtrahl ſeiner Herrlichkeit (Hebr. 1, 3) offenbar gewordne Gott iſt unſer Urbild; wir ſind nicht nach einer abſtracten Monas ohne inneres geiſtig-perſönliches Leben gebildet, ſondern nach dem Gotte des Neuen Bundes, der ſich in der Sendung ſeines Sohnes und der Spendung ſeines heiligen Geiſtes als den Gott der höchſten ewigen Liebe geoffenbaret hat. Unſer göttlich-ſchöpferiſches Urbild iſt die Liebe62II. Die Schriftlehre vom Urſtande.ſelber, und ebendarum kein einſamer Gott, ſondern ein von Ewigkeit her ſeine Liebesfülle in ſeinen Sohn ausgießender und ſeinen heiligen Geiſt mit dieſem zuſammen aushauchender dreifaltiger Gott, der erſt als Vater Jeſu Chriſti und als Geber des Geiſtes die ganze Fülle ſeines göttlichen Weſens erſchloſſen und bekannt gegeben hat. Es iſt in der That etwas Wahres und Berechtigtes an jenen Verſuchen der älteren kirchlichen Dogmatik, welche Gott ſchon in ſeinem welt - ſchöpferiſchen Thun und zumal da, wo er den Menſchen nach ſeinem Bilde ſchafft, als Dreieinigen begreifen wollen. Anders freilich als im Lichte des Neuen Teſtaments läßt ſich ſein dreieiniges Weſen aus den Schöpfungsberichten nicht erkennen. Es heißt eine exegetiſche Gewaltthat verüben, wenn man, wie viele ältere Ausleger der Kirche thaten, das Laſſet uns Menſchen machen 1. Moſ. 1, 26 als eine Berathſchlagung zwiſchen Vater und Sohn faßt, oder das ein Bild, das uns gleich ſei (Bild wie unſer Gleichniß) in ent - ſprechendem Sinne, als auf die Perſonen der Trinität hinweiſend deutet. Eine innere göttliche Weſensfülle, eine unendliche Mannig - faltigkeit ewiger Lebenskräfte in Gott mag man in dieſen pluraliſchen Ausdrücken angedeutet finden: trinitariſch im neuteſtamentlichen oder gar im kirchlichen Sinne können ſie nicht gemeint ſein. Eher ſchon darf in der Angabe des zweiten Schöpfungsberichtes, daß der Menſch durch Einhauchung göttlichen Odems in irdiſches Staubgebilde zur lebendigen Seele geworden ſei, eine Hindeutung auf das trinitariſche Weſen des göttlichen Urbilds erblickt werden, doch bedarf auch dieſe Deutung vorſichtiger Umgrenzung und Reſtriction. Drei Weſens - factoren des Menſchen werden in Gen. 2, 7 allerdings genannt: der Staub der Erde, aus welchem er gebildet wird, der Geiſt, der ihm von Gott eingehaucht wird, die lebende Seele, welche er in Folge deſſen iſt; allein dieſe Factoren, geſchöpflich bedingter und beſchränkter Art wie ſie nun einmal ſind, conſtituiren keine derartige Einheit wie die drei Perſonen des göttlichen Weſens. Sie ergeben keine Trinität, ſondern lediglich eine Trichotomie; nicht eine ewig untheilbare und abſolut unauflösliche Dreieinigkeit ſtellt das menſch -63II. Die Schriftlehre vom Urſtande.liche Weſen dar, ſondern eine irdiſch-creatürliche, ihrer Natur nach auflösbare Dreiheit oder Dreifaltigkeit. Wie denn allerdings nicht nothwendigerweiſe oder uranfänglicher göttlicher Beſtimmung gemäß, aber doch thatſächlicherweiſe in Folge der Sünde der Staub wieder zur Erde kommen muß, wie er geweſen iſt, der Geiſt aber zu Gott, der ihn gegeben hat (Pred. 12, 7); die Verbindung der beiden unſichtbaren Weſensbeſtandtheile mit dem ſichtbaren iſt hienieden keine bleibende, ſie ſoll erſt dereinſt nach der Auferſtehung zur bleibenden und unlösbaren werden. Auch rückſichtlich der Selb - ſtändigkeit und der harmoniſchen Weſensentfaltung ſeiner einzelnen Factoren erſcheint das dreifaltige Abbild ungleich ſeinem dreieinigen Urbilde; die beiden unſichtbaren Factoren erſcheinen vielfach beein - trächtigt und in ihrer Entfaltung gehemmt durch den ſichtbaren; und zumal der innerlichſte und edelſte Factor, das eigentliche Geiſtes - leben (Pneuma) im Unterſchiede vom bloßen Seelenleben (Pſyche), blüht nur ſelten hienieden in rechter Fülle und Kräftigkeit aus ſeiner pſychiſchen Grundlage hervor, weßhalb es Vielen als nur relativ, nicht weſentlich, von dieſer unterſchieden gilt. Daß auch dieſe Ent - fremdung des Abbilds von ſeinem Urbilde keine gottgewollte und normale iſt, ſondern der Sünde ihren Urſprung dankt und der - einſtiger Wiederaufhebung und harmoniſcher Ausgleichung harrt, bezeugt die neuteſtamentliche Offenbarung überall da, wo ſie vom Eingehen des durch Chriſtum erlöſten und im Geiſte geheiligten Menſchen in ſeiner wiederhergeſtellten gottbildlichen Jntegrität zum ſeligen Vollendungszuſtande handelt. Unſer Geiſt ganz in ſeiner Ganzheit, als〈…〉〈…〉 ſammt Seele und Leib, ſoll behalten werden unſträflich auf den Tag Jeſu Chriſti (1 Theſſ. 5, 23). Seele und Geiſt ſollen ſie erfahren, die kraftvolle, ſcharf ſcheidende und zer - theilende Wirkung des Gottesworts (Hebr. 4, 12); als Seelen nicht bloß, nein als vom Geiſte geborene und nach dem Geiſte wandelnde Geiſter (vgl. Joh. 3, 6; Röm. 8, 1. 16 f.), als Geiſt - durchdrungene und vom Geiſt Verklärte nach dem Vorbilde Chriſti, des geiſtlichen Menſchen vom Himmel (1 Cor. 15, 46), kurz als64II. Die Schriftlehre vom Urſtande. Geiſter vollendeter Gerechter (Hebr. 12, 23), ſollen wir einſt des ewigen Lebens theilhaftig werden. Von dieſem Entwickluns ziele aus begreift ſich der Entwicklungs anfang des menſchlichen Weſens, wie er in Gen. 2, 7 angedeutet iſt. Gleichwie der göttliche Schöpfer von Ewigkeit her ſeine unergründliche Weſensfülle in den drei Exiſtenzformen und Heilsgründen: als Vater, als Sohn und als Geiſt, zur Darſtellung bringt, ſo ſoll auch das menſchliche Ebenbild des Schöpfers, wenn es dereinſt vollſtändig gereinigt ſein wird von den Trübungen und Störungen der Sünde, ſich in ſeiner aner - ſchaffenen Jntegrität (Holoklerie) darſtellen: als ſeeliſches und leib - liches Weſen nicht nur, ſondern vor allem als geiſtliches. Der Menſch als Gottes Bild iſt Seele, er hat einen Leib, er ſoll Geiſt werden; Geiſt, göttlich eingegebner Lebensodem, iſt der tiefſte Grund ſeines Weſens, aber auch das hehre Ziel, zu welchem er, genährt und gelehrt vom heiligen Gottesgeiſte, heranwachſen und ſich bilden ſoll1)Vgl. Schöberlein, Die Geheimniſſe des Glaubens, (Heidelberg 1872), S. 303: Der Leib iſt das Subſtrat des menſchlichen Lebens, der Geiſt das Princip, von welchem die Kraft des Lebens ausgeht, und die Seele das Leben ſelbſt, welches ein ebenſo leibgetragenes als geiſtgewirktes iſt ꝛc. Aehnlich J. P. Lange, Poſit. Dogmatik, S. 298 ff., beſonders 301: Der Menſch als Leiblichkeit wird irdiſch geboren, der Menſch als Seele wird himmliſch geſchaffen; der Menſch als Geiſt wird von Gott gehaucht und von Gott geſandt. Der Geiſt bildet ein Jenſeits für die Natur, mithin auch für die Form des Werdens; in dem Begriff des werdenden Geiſtes iſt der Begriff des Geiſtes nicht ganz erreicht , u. ſ. f.

III. Nicht als individuelle Einzelperſon, ſondern als Vielheit menſchlicher Jndividuen, als Menſch - heitsfamilie, ſoll der Menſch die Gottheit abbildlich darſtellen. Der Gottesſegen, welcher ihn auf Gemeinſchaftsbildung, auf Vermehrung bis zu völliger Füllung ſeiner irdiſchen Wohnſtätte hinweiſt, begleitet ihn vom erſten Beginn ſeines Erdendaſeins an. Seine Erſchaffung iſt erſt da vollendet, wo die ihm entſprechende Lebensgefährtin als Mutter der Lebendigen , ihm zugeſellt worden. 65II. Die Schriftlehre vom Urſtande.Nur eine trüb ascetiſireude und unklar theoſophirende Betrachtungs - weiſe kann es verſuchen, in der Bildung des Weibes einen erſten Anfang der ſündigen Entwicklung des Menſchengeſchlechts nachweiſen zu wollen und jenen tiefen Schlaf Adams, während deſſen Bil - dung vor ſich gieng, dem klaren Schrifttext entgegen als erſtes Merkzeichen des beginnenden Herabſinkens von der urſprünglichen gottebenbildlichen Höhe geltend zu machen. Gott ſchuf ſie ein Männlein und ein Fräulein dieſem Satze des erſten Schöpfungs - berichts entſprechen Geiſt und Tendenz des zweiten Berichts ganz und gar, mag immerhin der Eine Schöpfungsact von ihm zu zweien Scenen auseinandergelegt werden. Auch das Es iſt nicht gut, daß der Menſch allein ſei , iſt ein in den urſprünglichen Schöpfungs - rathſchlag Gottes hineingehöriger Ausſpruch, keine Aeußerung gött - licher Verlegenheit oder Selbſtcorrectur als hätten erſt gewiſſe Erfahrungen mit dem Verhalten und den Schickſalen des Neu - erſchaffenen Gott darüber belehren gemußt, daß derſelbe nun auch noch einer Gehilfin bedürfe! Zum Leben in der Gemeinſchaft, in liebendem Verkehr mit Seinesgleichen iſt der Menſch gleich ur - anfänglich vom Schöpfer beſtimmt worden, weil der Schöpfer ſelbſt kein einſames Leben führt, ſondern ein Leben in der Liebe, ein Leben in liebender innertrinitariſcher Gemeinſchaft von Ewigkeit her, und ein Leben in liebender Offenbarung und Selbſtmittheilung vom Beginn der Welt an. Gott lebt ſo wenig nur ſich ſelber, nur ſeinem Jch, als der Menſch lediglich ſeinem Jch zu leben beſtimmt iſt. Je mehr Jchheit, deſto kleiner, nichtiger; je weniger Jchheit, um ſo mehr ſelbſtändige Größe, um ſo mehr Perſönlichkeit! 1)Glaubensbekenntniß eines unmodernen Culturforſchers, Gotha 1879, S. 24. Vgl. überhaupt die hier gebotenen, theilweiſe ſehr wahren und beherzigens - werthen Bemerkungen. Gegen das freilich, was dieſer Autor über den Urſtand ſagt, werden wir uns weiter unten noch zu äußern haben.Der Menſch ſoll vor allem darin Gotte, der ewigen Urperſönlichkeit, gleichen, daß er nicht ſich, ſondern Anderen lebe, daß ſein Dichten und Trachten nicht aufs Nehmen gerichtet ſei, ſondern aufs Geben,Zöckler, Urſtand. 566II. Die Schriftlehre vom Urſtande.nicht aufs Genießen, ſondern aufs Opfern, nicht aufs Herrſchen, ſondern aufs Dienen. Ebendarum hat Gott, der allwaltende und allliebende Lebensſpender, gemacht, daß von Einem Blute aller Menſchen Geſchlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen ſollen (Apg. 17, 26). Der hehre Liebhaber des Lebens, der da Aller ſchonet, und deß unvergänglicher Geiſt in Allen iſt (Weish. 11, 27; 12, 1), hat die auserwählten Lieblinge unter ſeinen zahlloſen Lebeweſen als ein einheitliches, Einer Wurzel entſproßtes und bluts - verwandtſchaftlich verbundenes Geſchlecht in’s Daſein treten laſſen, auf daß ſie nach Seinem ewigen Vorbilde heilige Liebe und herz - liches Erbarmen zu üben lerneten und aus einer heiligen Familie heranwüchſen zu einem heiligen Reiche in der Liebe und Wahrheit.

IV. Weder in der freien geiſtigen Perſönlichkeit allein, noch in der Naturbeherrſchung allein, ſondern in Beidem zumal liegt das Weſen der Gottbildlichkeit und die Erfüllung ihrer Aufgabe. Die Beſtimmung zur Herrſchaft über die niederen Naturgenoſſen verflechten beide ſchöpfungs - geſchichtliche Urkunden aufs Engſte mit ihren Ausſagen über die gottbildliche Erſchaffung des Menſchen. Beim Elohiſten bildet das Herrſchen über die Fiſche im Meere und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf der Erde kriechet geradezu die Zweckangabe zur Aeußerung des göttlichen Entſchluſſes, Menſchen nach Gottes Bilde zu ſchaffen. Und beim Jehoviſten folgt ſofort auf die Er - ſchaffung des gottbegeiſteten Menſchen deſſen Verſetzung ins Paradies zum Zweck der Bauung und Bewahrung dieſes Gottesgartens, verbunden mit einer Anleitung zu gottgemäßem Schalten und Walten mit beiden, den Gewächſen und den thieriſchen Bewohnern dieſes Gartens. Ja dieſe Einführung in ſeine naturbeherrſchende Stellung erſcheint hier mitten hinein genommen in die Geſchichte von ſeiner Erſchaffung; Gebote, die ſich auf das Verhältniß zu den niederen Naturgenoſſen beziehen, empfängt Adam ſchon bevor ihm das Weib als Gehilfin und Theilhaberin an ſeiner Herrſcherſtellung gegeben67II. Die Schriftlehre vom Urſtande.worden. Es kann nicht Wunder nehmen, daß dieſe ſo ſtarke Be - tonung des Moments der Naturbeherrſchung, dem man auch in Pſ. 8, 6 ff. ſowie in Hebr. 2, 8 f. begegnet, in der kirchlichen Aus - legung mehrfach die Annahme, als ob die Gottebenbildlichkeit weſent - lich und hauptſächlich in dieſer Herrſchaft beſtehe, hervorgerufen hat. Den Socinianismus ſahen wir, im Zuſammenhange mit ſeiner pela - gianiſirenden Abneigung gegen jede Statuirung höherer geiſtig-ſitt - licher Vollkommenheiten im Urmenſchen, dieſer flachen Auffaſſung vom Gottesbilde als weſentlich nur beſtehend im dominium crea - turarum huldigen. Jhn haben einige rationaliſtiſche Theologen der Neuzeit hierin noch überboten; denn während jener immerhin doch die menſchliche Vernunft, als einen Vorzug geiſtiger Art, der Natur - beherrſchung zu Grunde liegen ließ, ſtellen ein Wegſcheider, v. Bohlen, W. Grimm ꝛc. die körperliche Gleichgeſtaltung mit Gott , den auf - rechten Gang und himmelwärts gerichteten Blick, kurz alles das was den Menſchen äußerlich als über die Thierwelt Erhabnen und zum Herrſcher über ſie Berufenen charakteriſirt, als die Grundlage oder gar als das Weſen ſeiner naturbeherrſchenden Würde dar. 1)Wegſcheider Institutt. dogm. § 99 (Ed. III, p. 240 s.). P. v. Bohlen, Geneſis S. 15. Willib. Grimm, Instit. theol. dogm., ed. II, p. 289 sq. Eine ſo weit gehende Jdentificirung der Form mit dem Jnhalt, des äußeren Zeichens mit dem Weſen der Sache, hat im bibliſchen Texte keinen Grund. Die Gottbildlichkeit iſt nach Beiden, dem Elohiſten wie dem Jehoviſten, in erſter Linie und vornehmlich ein religiös-ethiſches Verhältniß, dem jene phyſiſche Prärogative des Herrſchens über die niedere Creaturwelt zum Ausdruck und äußeren Wahrzeichen dient. Will man die religiös-ſittliche Seite im elohiſtiſchen Schöpfungsberichte Gen. 1 mehr nur indirect und nicht ſehr ausdrücklich hervorgehoben finden: in den ſpäteren Stellen K. 5, 1 13 und beſonders K. 9, 6 tritt ſie um ſo ſtärker hervor; vom Berufe zur Naturbeherrſchung iſt daſelbſt gar nicht die Rede,68II. Die Schriftlehre vom Urſtande.ſondern lediglich von der inneren Seite der Sache. Mit dem jeho - viſtiſchen Berichte vollends iſt jene Beſchränkung des Moments der Gottbildlichkeit auf des Menſchen äußere Naturſtellung gänzlich un - vereinbar. Ein ethiſches Gebot Gottes erſcheint hier mit der Ein - ſetzung des Menſchen in die naturbeherrſchende Würde unmittelbar verknüpft; und ſofort nach Uebertretung dieſes Gebots verliert der Menſch die concentrirtere und idealere Form ſeines Regierens über die Erdenſchöpfung, die ihm als Paradieſesbeherrſcher verliehen ge - weſen war; die Naturbeherrſchung im engeren Sinne hört auf, um ſogar einer theilweiſen Knechtung, Gefährdung und Vergewaltigung des menſchlichen Daſeins durch feindliche Elemente und Potenzen der nachparadieſiſchen Erdennatur Platz zu machen. Jene ſocinianiſch - rationaliſtiſche Beſchränkung der Gottbildlichkeit auf die äußere Na - turſtellung des Menſchen erſcheint alſo als unzuläſſig. Jmmerhin verdient das Gewicht, welches beide ſchöpfungsgeſchichtliche Urkunden, und mit ihnen einhellig die poetiſche Schilderung in Pſalm 8, auf die naturbeherrſchende Würde und Aufgabe unſres Geſchlechts legen, wohl beachtet zu werden. Das Herrſchen über die niederen Crea - turen iſt offenbar nicht als etwas phyſiſch-Aeußerliches gedacht, ſon - dern als ein Stück ethiſcher Berufserfüllung, ja als der vornehmſten religiös-ethiſchen Aufgaben und Pflichten eine. Die gottbildliche und gottverwandte Menſchheitsfamilie ſoll eben darin ihrem göttlichen Urheber gleichen, daß ſie wie dieſer über das ganze Weltall, ſo über ihre beſondere Wohnſtätte, die Erde herrſcht. Der Himmel allenthalben iſt des HErn: aber die Erde hat er den Menſchen - kindern gegeben (Pſ. 113, 16). Daſſelbe liebreiche und erbar - mungsvolle Herrſcherwalten, das Gott in Bezug auf alle Schöpfungs - bereiche insgeſammt bethätigt, ſoll die Menſchheit an der Erde und den irdiſchen Naturgenoſſen üben lernen. Wie einſt der Garten Eden durch Adam, ſo ſoll der ganze Erdball durch Adams Geſchlecht bebauet und bewahret werden, bis daß alle Reiche dieſer Welt unſres Herrn und ſeines Chriſtus geworden ſind. Der Anfang weiſt hier, trotz des Zwiſcheneinkommens der Sünde, mit zwingen -69II. Die Schriftlehre vom Urſtande.der Gewalt auf das Ende hin; wie denn der Brief an die Hebräer in Anlehnung an jene Worte des 8. Pſalms mit Recht argumentirt: Jn dem, daß er ihm alles untergethan, hat er nichts gelaſſen, das ihm nicht unterthan ſei; jetzt aber ſehen wir noch nicht, daß ihm alles unterthan ſei (Hebr. 2, 8). Was jetzt noch nicht iſt, ſoll um ſo gewiſſer in Zukunft werden, und zwar durch den wer - den, in deß perſönlicher Erſcheinung das Gottebenbildliche, oder wie jener Pſalm ſagt, das nahezu Gottgleiche (Septuag. und Hebr. - Brief: nahezu Engelgleiche ) des menſchlichen Weſens zu urbildlich vollendeter Ausprägung gelangt iſt und der durch ſein erlöſendes Todesleiden ſeinen menſchlichen Brüdern den Weg zum gleichen Ziele vollendeter Gottbildlichkeit erſchloſſen hat (Hebr. 2, 9 ff.).

V. Zwiſchen einem göttlichen Ebenbilde im en - geren Sinne, das um der Sünde willen verloren iſt, und einem trotz der Sünde unverlorenen Gottesbilde muß nothwendig unterſchieden werden. Die paradieſiſche Gottbildlichkeit oder Jntegrität des Menſchen iſt in Folge der Sünde verloren ſogar unwiderbringlich verloren, da die einmal verderbte, verſcherzte und zerſtörte Unſchuld des heiligen Entwick - lungsanfanges niemals unmittelbar als ſolche zurückgeführt, ſondern nur durch eine gnadenweiſe geſchenkte neue Gerechtigkeit erſetzt wer - den kann. Nichts deſtoweniger iſt der Menſch, auch als in Sünde Gefallener, in gewiſſem Sinne Gottes Bild geblieben. Die Schrift würde weder Seths Erzeugung durch Adam und Eva als einen Act der Fortpflanzung oder Reproduction der eignen Gottbildlichkeit dieſes Urpaares darſtellen, noch das Verbot des Vergießens von Menſchenblut mit der Hinweiſung auf des Menſchen gottbildliche Erſchaffung motiviren, gäbe es nicht ein ſolches auch nach dem Sün - denfalle gebliebenes, nachparadieſiſches Gottesbild daſſelbe, von welchem auch der Sänger des 8. Pſalms mit ſeinen Betrachtungen ausgeht, und daſſelbe nicht minder, das Paulus im Auge hat, wenn er den Mann als Gottes Bild und Ehre bezeichnet (1 Cor. 11, 7), deßgleichen Jakobus, wenn er der gottlos wider den gottbildlichen70II. Die Schriftlehre vom Urſtande.Menſchen läſternden und fluchenden Zunge flucht. (Jak. 3, 9). Das bibliſch Correcte und Wohlbezeugte dieſer Diſtinction zwiſchen para - dieſiſchem und nachparadieſiſchem, verlorenem und noch vorhandenem, ſpeciellerem und allgemeinerem Gottesbilde ſteht unwiderſprechlich feſt. Ebenſo feſt ſteht auf der anderen Seite das exegetiſch Un - gegründete, willkürlich Eintragende jenes patriſtiſch-ſcholaſtiſchen Kunſt - griffs, wonach Bild Gottes und Aehnlichkeit (Gleichniß) Gottes im Schöpfungsberichte etwas Verſchiednes bezeichnen und jener Aus - druck das jetzt noch vorhandne natürliche Gottesbild, dieſer das dem Menſchen raſch wieder entzogene Gnadengeſchenk der Gottebenbild - lichkeit im höheren und engeren Sinne bezeichnen ſoll. Es heißt, die Geſetze des hebräiſchen Sprachgeiſtes gründlich verkennen, wenn man dieſe künſtliche Unterſcheidung von imago und similitudo Dei etwa aus Gen. 1, 26 begründen will. zelem und d’mut, paral - leliſtiſch nebeneinander geſtellt, bedeuten ganz daſſelbe, ſie ſind ſo wenig verſchiednen Sinnes, als das im folgenden Verſe zweimal unmittelbar hintereinandergeſetzte zelem. Sollte d’mut Gleichniß, Aehnlichkeit etwa jene bald verlorene höhere Gottähnlichkeit be - zeichnen: warum wird denn da in Kap. 5, 1 3, wo notoriſch das noch vorhandene, natürliche Gottesbild in Rede ſteht, zuerſt Adam als im d’mut Gottes erſchaffen , und alsdann ſein Sohn Seth als in ſeinem (Adams) d’mut und gemäß ſeinem zelem geboren bezeichnet? Oder warum bedient ſich zwar Paulus in jener vom jetzt noch vorhandnen Gottesbilde handelnden Korintherſtelle (1 Kor. 11, 7) des Ausdruck’s〈…〉〈…〉 - zelem, Jakobus dagegen an ent - ſprechender Stelle vielmehr des Namens〈…〉〈…〉 - d’mut? Die exegetiſche Unhaltbarkeit jener Diſtinction könnte nicht ſchlagender dargethan werden, als durch dieſe wiederholte Vertauſchung der bei - den fraglichen Ausdrücke in ſpäteren Stellen ſowohl des Alten als des Neuen Teſtaments. Jmmerhin liegt darin eine gewiſſe Wahr - heit der altkirchlichen und römiſchen Lehre von einer Entziehung der uranfänglich von uns beſeſſenen similitudo Dei um der Sünde willen und von ihrer Wiedergewinnung durch die Heiligung in Chriſto,71II. Die Schriftlehre vom Urſtande.daß allerdings ein Verluſt der urſprünglich beſeſſenen concentrirteren Gottbildlichkeit des Paradieſes zugleich mit dem Verlorengehen des Paradieſes ſelbſt ſtattgefunden hat und daß nur eine in ihrer Energie und Lebensfülle weſentlich herabgeminderte Gottbildlichkeit, ein ſchwächerer Reſt der uranfänglichen Glorie dem Menſchen verblieben iſt. Gegen die Annahme, daß das verloren gegangene Plus gott - bildlicher Lebenskräfte nichts Natürliches, dem Menſchen als ſolchem von Gott Anerſchaffenes, ſondern nur ein übernatürliches Gnaden - geſchenk, eine zu baldiger Wiederentziehung beſtimmte Doxa jen - ſeitigen Urſprungs geweſen ſei, muß im Jntereſſe eines geſunden Schriftverſtändniſſes entſchieden proteſtirt werden. Weder dieſe ge - künſtelte Hinaufrückung des Verlierbaren am paradieſiſchen Gottes - bilde in ein myſtiſches Jenſeits, noch die damit zuſammenhängende, übrigens auch unabhängig von dem betreffenden ſcholaſtiſchen Dogma von Vielen verſuchte und noch bei der Mehrzahl unſerer Refor - matoren eine Hauptrolle ſpielende Steigerung der leiblichen Ver - mögen und der Verſtandeskräfte des noch nicht Gefallenen in’s Wunderbare fußen auf ächtem Schriftgrunde. Was verloren iſt vom Gottesbilde muß nothwendig analog gedacht werden dem, was davon noch vorhanden iſt. Erſcheint dermalen unſer Denken und Erkennen auf organiſch-natürlichen Grundlagen erwachſen und überall an gewiſſe Vorbedingungen geknüpft, ſo muß dieß auch vor dem Falle ſo geweſen ſein; iſt gegenwärtig der Jnbegriff unſrer Leibes - und Seelenfunctionen ein dem Cauſalzuſammenhange des irdiſchen Naturlebens unterworfener, ſo wird er das auch damals ſchon ge - weſen ſein. Der Text der Paradieſesgeſchichte deutet nichts davon an, daß es ſich vor dem Sündenfalle weſentlich anders hiermit ver - halten habe, als nach demſelben. Eine viel reichere Fülle von äußeren Naturgütern als die nachmalige läßt er den noch ungefallen Menſchen freilich umgeben; aber davon daß Adam dieſen Natur - ſchätzen des Paradieſes gegenüber eine etwaige höhere Wundermacht in phyſiſcher oder intellectueller Hinſicht bethätigt, ſteht nichts zu leſen. Seine Beziehungen zur Thierwelt, die ihm unterthan ſein,72II. Die Schriftlehre vom Urſtande.zur Pflanzenwelt, die ſeine Speiſe bilden ſoll, werden (Gen. 1, 28 30; vgl. 2, 15 ff. ) weſentlich ſo geregelt, wie ſie jetzt noch ſind; etwas myſtiſch-Uebernatürliches ſpielt in dieſe Beſtimmungen nicht hinein. Selbſt ein Verbot thieriſcher Nahrung kann aus Gen. 1, 29, wo offenbar nur die hauptſächliche Nahrungsquelle für den Menſchen namhaft gemacht iſt, ſchwerlich herausgeleſen werden. Auch das Namengeben der Thiere Gen. 2, 17 f. wird unverkennbar nicht als ein Beweis wunderhaft pozentirter Erkenntniß oder mehr als ſalomoniſcher Weisheit des erſten Menſchen erzählt, ſondern lediglich als eine Bethätigung von deſſen Naturſtellung zur Thier - welt. Und wenn Gott als den Paradieſesbewohnern Segensſprüche oder Gebote ertheilend und ſonſt nach menſchlich-väterlicher Weiſe mit ihnen verkehrend dargeſtellt wird, ſo erſcheint dieſes gnadenvolle Gemeinſchaftsleben des Schöpfers mit ſeinen Geſchöpfen höchſtens gradnell, aber nicht ſpecifiſch verſchieden von demjenigem der nach - paradieſiſchen Patriarchenzeit. Die Form der Theophanie verbleibt auch noch für dieſe letztere die vorherrſchende Offenbarungsweiſe der Gottheit; daß der Sündenfall eine gänzlich umgeſtaltende Einwir - kung auf dieſen Verkehr Gottes mit der noch kindlichen Menſchheit geübt hätte, iſt aus den bibliſchen Berichten nicht zu erſehen. Mit Recht hat man gegen die überſpannt ſupranaturaliſtiſche Faſſung. der Gottbildlichkeit, wie jenes ſcholaſtiſche Dogma vom bald wieder verlorenen Gnadengeſchenke der ſimilitudo Dei ſie ausdrückt, auch Gen. 1, 31 geltend gemacht: Gott ſah an Alles, was er gemacht hatte, und ſiehe da, es war ſehr gut . Eine ſehr gute Beſchaffen - heit der urſprünglichen Menſchennatur ſchloß die Nothwendigkeit irgendwelchen außerordentlichen Gnadengeſchenks, als wodurch etwaige Mängel, Blößen oder Unvollkommenheiten jener Natur zuzudecken geweſen ſein würden, ſelbſtverſtändlich aus. Verſchiedne ältere Dog - matiker des Proteſtantismus haben dieſe Unvereinbarkeit des Worts von der ſehr guten Erſchaffung aller Dinge mit dem römiſch - ſcholaſtiſchen donum ſupernaturale ganz richtig betont, find ſich aber hierbei freilich nicht gehörig conſequent geblieben, da ſie ſonſt73II. Die Schriſtlehre vom Urſtande.auch die außerordentliche Naturbegabung Adams und ſeine wunderbar geſteigerte Jntelligenz nicht lehren gedurft hätten. Ja Einige, wie Gerhard, Calov und Quenſtedt haben das im Uebrigen ver - worfene natürliche Gnadengeſchenk der römiſchen Scholaſtik wenig - ſtens in Einem Punkte: als gratiosa trinitatis inhabitatio nem - lich, für die Zeit vor dem Falle in Geltung belaſſen; ein Rückfall in jenen dem ſchlichten Schrifttexte Gewalt anthuenden Scholaſticis - mus, welchen Andere wie Hollaz ꝛc. mit Recht gerügt haben. 1)Vgl. überhaupt H. Schmid. Die Dogmatik der evang. -luth. Kirche, 6. Aufl. S. 165. Gegen die myſtiſch-magiſche Supranaturaliſirungstendenz der hier in Rede ſtehenden Theorien überhaupt läßt auch noch der Schlußvers der Paradieſesgeſchichte ſich anführen: Und ſie waren beide nackt , und ſchämten ſich nicht (Gen. 2, 24). Jm Sinne des bibliſchen Erzählers kann dieſe Hervorhebung der urſprünglichen Nacktheit der Menſchen unmöglich etwas Anderes bezwecken, als eine Hinweiſung auf die höchſt einfachen und dennoch gottgemäßen, alſo ſehr guten Naturverhältniſſe, von welchen die Entwicklung unſres Geſchlechts ihren Ausgang nahm. An höheres Wiſſen ſammt wun - derbaren Kräften, die dem Nackten etwa den Kleidergebrauch ent - behrlich gemacht haben ſollten, hat der Schreiber jener Worte jeden - falls ebenſowenig gedacht, wie an ein unſichtbares Himmelskleid gnadenweiſe geſchenkter Gottähnlichkeit, womit die angeblichen pura naturalia bis zum Eintritte des Sündenfalles etwa geheimnißvoll umfloſſen geweſen wären. Kindlich unſchuldig, und dabei gleich ent - wicklungsfähig wie entwicklungsbedürftig, wird er unſer Stammeltern - paar gedacht haben: ein Mehreres läßt ſich aus der betr. Schluß - angabe ſeiner Schilderung nicht herausleſen.

VI. Jn der nachparadieſiſchen Entwicklung des älteſten Menſchengeſchlechts ſpielt den bibliſchen Berichten zufolge Beides ineinander: reichliche Nachwirkungen und Ueberreſte der verlorenen gottbildlichen Jntegrität, und die Anfänge einer mühſam zu neuer Höhe emporklimmenden Ent -74II. Die Schriftlehre vom Urſtande.wicklung des in Schuld und Elend gefallenen Menſchen. Mit anderen Worten: der Fall trat nicht in jäher Plötz - lichkeit ein; die paradieſiſche Gottbildlichkeit wurde dem Menſchengeſchlechte nicht mit Einem Male in ihrer Totalität entzogen. Wäre das Letztere geſchehen: die Menſch - heit hätte ſich nie wieder von ihrem Falle erheben gekonnt; die furchtbare Wucht des Falles würde ſie der Möglichkeit einer Rück - kehr zur Gottgemeinſchaft und Gottähnlichkeit für immer beraubt haben. Verbannung in die Tiefen ewiger Gottentfremdung würde ihr Loos geweſen, es würde ihr ergangen ſein wie der aus ihrer urſprünglichen Herrſchaft entfallenen böſen Engelwelt. Mit ſolcher oder ähnlicher Betrachtung mag man den nur allmählig und ſtufen - weiſe eingetretenen Verluſt des göttlichen Ebenbildes geſchichtlich zu begreifen und in ſeiner Nothwendigkeit darzuthun ſuchen. Specu - lationen dieſer Art, deren ſtets nur hypothetiſcher Charakter ſelbſt - verſtändlich iſt, haben in dogmatiſchen oder religionsphiloſophiſchen Syſtemen ihr gutes Recht. Was uns am gegenwärtigen Orte allein obliegt, iſt der Nachweis, daß die h. Schrift thatſächlich die All - mähligkeit des betr. Entkleidungs - oder Entäußerungsproceſſes lehrt, daß das langſame Verlorengehen und Erbleichen der einſtigen Para - dieſesglorie und das Von vorn anfangen und Sich wieder empor - ringen des gefallenen Geſchlechts laut ihrer Darſtellung in einander verflochten vor ſich giengen. Dieſer Nachweis läßt ſich auf befrie - digende Weiſe erbringen.

Was vor allem in den bibliſch-urgeſchichtlichen Berichten klar hervortritt, iſt das allmählige Sinken der dem Paradieſe entſtam - menden menſchlichen Urkraft und Lebens-Jntegrität in Hinſicht auf die erreichte Lebensdauer. Die an den Genuß der verbotenen Paradieſesfrucht geknüpfte göttliche Drohung: Welches Tages du davon iſſeſt, wirſt du des Todes ſterben , tritt, nachdem das betr. Verbot übertreten und die Paradieſesunſchuld verloren iſt, bei dem Stammelternpaare ſowohl wie bei ſämmtlichen Nachkommen in Kraft; aber ſie tritt wenigſtens im Geſchlechte der an der Ge -75II. Die Schriftlehre vom Urſtande.meinſchaft mit dem göttlichen Schöpfer relativ Feſthaltenden nur allmählig in Kraft; das Rad des Lebens (Jak. 3, 6) dreht ſich für die nächſten Generationen nach der Paradieſeszeit noch langſam, erreichte die gegenwärtige ſauſende, Rad und Wagen in Flammen ſetzende Umdrehungsgeſchwindigkeit erſt nach und nach im Laufe der Jahrtauſende. Zwiſchen Adam und Noah, während eines mindeſtens anderthalbtauſendjährigen Zeitraums, bleibt die durchſchnittliche Le - bensdauer der vor Gott wandelnden Frommen noch zwiſchen 1000 und 700 Jahren ſtehen. Es ſind im Einzelnen die Zahlen 930, 912, 905, 910, 895, 962, 365, 969, 777 und 950, welche die Lebensalter der zehn Erzväter dieſer Periode bezeichnen, wobei die Eine Ausnahme vom Oscilliren zwiſchen 700 und 1000 Jahren diejenige des überhaupt nicht geſtorbenen, ſondern zu Gott hinauf - genommenen Henoch iſt. Von Noah bis auf Abraham, während eines nur nach halbtauſendjährigen Zeitraums, halten ſich die höch - ſten Lebensalter der noachidiſchen Erzväter noch zwiſchen 600 und 175 Jahren, und zwar mittelſt eines ziemlich ſtetigen Herabſinkens, wie das die Reihe 600 (Sem), 438, 433, 464, 239, 239, 230, 148, 205, 175 im Einzelnen zeigt; die Eine Ausnahme iſt hier diejenige Nahors, des Vaters Tharahs, der es nur bis zu 148 Jahren brachte, alſo ſowohl hinter ſeinem noch über 2 Jahrhunderte alt gewordnen Sohne, wie hinter ſeinem wenigſtens zu Jahr - hunderten gelangten Enkel zurückblieb. Eine dritte und letzte Stufe des Herabſinkens bezeichnet das israelitiſche Patriarchenzeitalter, die etwa ein halbes Jahrtauſend umfaſſende Periode von Abraham bis auf Moſen. Bei ihrem Beginn ſteht die Altersgrenze, wie Jſaaks um fünf Jahre höher als die ſeines Vaters Abraham gekommene Lebensdauer zeigt, noch auf 180 Jahren; bei ihrem Schluſſe iſt ſie nahezu beim einfachen Jahrhundert angelangt, wie die ſtetig ab - ſteigende Zahlenreihe: 147 (Jakob), 137 (Jsmael, Levi und Amram), 133 (Kahath), 123 (Aaron), 120 (Moſe), 110 (Joſeph) darthut. 1)Als Belegſtellen für dieſe Angaben vergleiche man: 1 Moſ. 25, 7 (Abraham); 35, 28 (Jſaak); 47, 28 (Jakob); 25, 17 (Jsmael); 2 Moſ. 6,76II. Die Schriftlehre vom Urſtande.Es folgt hierauf, zuſammenfallend mit der heilsgeſchichtlichen Ent - wicklung ſeit Ertheilung des Geſetzes, die Lebensordnung der Gegen - wart, mit dem Jahrhundert als höchſt ſelten überſchrittener äußerſter Grenze, ſowie mit 70 80 Jahren als günſtigſten Normaldauern des menſchlichen Jndividuallebens (Pſ. 90, 10). Die Beſtimmt - heit des in dieſen Ziffern ſich ausprägenden Geſetzes einer all - mähligen Degradation, Abſchwächung oder Herabminderung der urſprünglich unſrem Geſchlechte verliehen geweſenen Lebenskraft läßt nichts zu wünſchen übrig. Wollte man vielleicht bezweifeln, ob das ſtufenmäßige Geringerwerden der Lebensdauern wirklich einen Be - ſtandtheil des Pragmatismus der bibliſchen Urgeſchichte bilde und als ein dem Gange der Heilsgeſchichte in härirendes Geſetz gedacht ſei, ſo genügt es, ſich Jakobs Ausſpruch an Pharao zu vergegen - wärtigen: Die Zeit meiner Wallfahrt iſt 130 Jahre; wenig und böſe iſt die Zeit meines Lebens, und langet nicht an die Zeit meiner Väter in ihrer Wallfahrt (1 Moſ. 47, 9). Un - ſicher iſts, ob vielleicht auch ſchon das Wort des über die Frevel der vorſintfluthlichen Menſchen zürnenden Gottes in 1 Moſ. 6, 3 mit ſeiner Erwähnung einer 120jährigen Zeitdauer als directes Zeugniß für ein nach beſtimmten Geſetzen ſtattfindendes allmähliges Sinken der Lebensalter aufzufaſſen iſt. Wäre dieſer Ausſpruch etwa (mit Geſenius, Ewald, Baumgarten, auch Tuch ꝛc. ) zu überſetzen: Nicht ſoll auf immer erniedrigt ſein mein Geiſt im Menſchen, dieweil dieſer Fleiſch iſt: und es ſollen (fortan) ſeine Tage ſein 120 Jahre! , oder auch mit Knobel: Nicht ſoll herrſchen mein Geiſt im Menſchen für ewig; (ſondern) dieweil auch er Fleiſch, ſo ſollen ſeine Tage 120 Jahre ſein , ſo würde allerdings ein ſehr beſtimmter und nachdrücklicher göttlicher Urtheilsſpruch im Sinne1)16 20 (Levi, Kahath und Amram); 4 Moſ. 33, 39 (Aaron); 5 Moſ. 34, 7 (Moſe); 1 Moſ. 50, 26 (Joſeph). Die Belegſtellen für die vorhergehenden Zahlen - reihen entnehme man einfach aus Kap. 5 u. 11 der Geneſis. Ueber eine merkwürdige, von Trebell. Pollio aufbewahrte jüdiſche Sage, welche Moſen nicht 120, ſondern 125 Jahre alt werden läßt, ſ. unten Nr. IX, 1.77II. Die Schriftlehre vom Urſtande.jenes durch die ſündige Corruption bedingten Degradationsgeſetzes in der Stelle enthalten ſein. Allein gegen dieſe neuere Deutung, als deren theilweiſe Vorgänger im Alterthum Philo und Joſephus aufgeführt werden können, ſprechen verſchiedne Gründe, vor allem der eigenthümliche Zeitpunkt des Ausſpruches. Als ſtrafende Lebens - verkürzungs-Sentenz würde derſelbe entweder unmittelbar vor der Fluth, oder auch gleich nach derſelben am Platze geweſen ſein, vorausgeſetzt daß wirklich alsbald nach der Fluth 120 Jahre Lebens - zeit als menſchliche Altersgrenze feſtgeſetzt worden wäre. Allein abgeſehen davon, daß eine ſo weit gehende Herabſetzung ja erſt reichlich ein Jahrtauſend nach der Fluth in Kraft trat, fällt auch der Ausſpruch laut 1 Moſ 5, 32 (wo Noahs Alter um den Zeit - punkt ſeines Ergehens auf erſt 500 Jahre beſtimmt wird, während die Sintfluth erſt in deſſen 600. Jahre ſich ereignete) ungefähr ein Jahrhundert vor den Eintritt des Fluthgerichts. Deßhalb bleibt wie auch immer die ſchwierige erſte Hälfte des Verſes zu er - klären ſein möge, ob von einem Richten , oder Herrſchen , oder Wohnen des göttlichen Geiſtes im Menſchen für die Schluß - worte immerhin die von Luther nach dem Vorgange des chaldäiſchen Paraphraſen und andrer alter Ueberſetzer erwählte Deutung die beſſer geſicherte: Jch will ihnen noch geben 120 Jahre , bis zur Fluth nemlich. Das Wort ſcheint eher Ankündigung einer letzten Gnadenfriſt zu ſein, als degradirender Richterſpruch. 1)Siehe namentlich Delitzſch z. d. St., dem Keil, J. P. Lange, Tiele, Bibl. Chronologie, 1839), A. Köhler (Bibl. Geſchichte I, 56 f.), über - haupt die meiſten poſitiven Exegeten neuerer Zeit zuſtimmen; vgl. jedoch auch Roſenmüller z. d. St.Wäre es aber auch im letzteren Sinne zu faſſen: man bedürſte ſeiner nicht einmal zur Feſtſtellung des heilsgeſchichtlichen Geſetzes eines lang - ſamen Sichverminderns der menſchlichen Lebensjahre in Folge der zunehmenden Corruption; die obige Zahlenzuſammenſtellung in Ver - bindung mit der Klage des gealterten Jakob ergibt einen voll - ſtändig ausreichenden Schriftbeweis für deſſen thatſächliches Beſtehen.

78II. Die Schriftlehre vom Urſtande.

Als wichtiges degradationiſtiſches Moment muß neben dieſer Lebensalter-Abnahme, und zwar als mit ihr eng verflochten und ihr ſtetes Fortſchreiten bedingend, das allmählige Verſinken der Menſchheit in rohes Laſterleben und in Götzendienſt wahr - genommen werden. Für die vorſintfluthliche Periode ſtellt das Alte Teſtament dieſen Verſchlechterungsproceß weniger noch als religiöſen, denn als ethiſchen dar; doch trägt das wilde Naturleben der Nachkommen Kains man denke an Lamech, den Begründer polygamiſcher Sitten und blutiger Kriegführung mehr oder weniger auch ſchon den Charakter eigentlichen Naturdienſtes. Und vollends in den Ehen der Gottesſöhne mit den Menſchentöchtern 1 Moſ. 6, 1 4 tritt götzendieneriſches Treiben mit ſeinen greuel - vollen Früchten offen zu Tage. Beſtimmter laſſen alsdann der Thurmbau zu Babel und die Völkerzerſtreuung, ſowie das Scheiden Abrahams aus dem Kreiſe der Nahoriden in Haran das Umſich - greifen der Götzendienerei erkennen wiewohl noch mit Abraham auch nicht-götzendieneriſche Stämme, repräſentirt durch Melchiſedek, den königlichen Prieſter des höchſten Gottes zu Salem, in Kanaan zuſammen wohnten (1 Moſ. 14). Von der genannten meſopota - miſchen Familie aus dringt das Uebel der Hausgötzen-Anbetung bis in Jakobs erzväterliche Zeit ein (1 Moſ. 31, 19 ff. ); der Sohn eben der Lieblingsgattin, die ſich und ihn mit dieſer Schuld be - fleckte, heirathet nachmals eines ägyptiſchen Prieſters Tochter (1 Moſ. 41, 45); das aus Aegypten nach Kanaan zurückkehrende Gottesvolk erſcheint von götzendieneriſchen Gelüſten ſo ganz erfüllt und ver - giftet, daß Moſis geſammtes Wirken als ein anhaltender Kampf mit dieſem Heidenthum in Herzen und Leben ſeines Volkes ver - laufen muß (vgl. Am. 5, 25; Apg. 7, 35 43) und Joſuas Teſtament die Perſpective auf noch viele Jahrhunderte lang währende innere Kämpfe ähnlicher Art eröffnet, Joſ. 24. Das Neue Teſta - ment hat die äußeren Umriſſe dieſes Fortſchreitens in der Richtung auf immer ärgere götzendieneriſche Entartung zu mehreren Malen auf lehrreiche Weiſe gezeichnet, beſonders Apg. 7; auch Hebr. 11,79II. Die Schriftlehre vom Urſtande.8 ff. Vornehmlich aber hat daſſelbe, im 1. Kapitel des Römer - briefs (V. 18 32), vom Entſtehungsproceſſe des Götzendienſts nach ſeiner inneren Seite und nach ſeinem Zuſammenhange mit den viel - fältigen, von Geſchlecht zu Geſchlecht ſich ſteigernden zuerſt natür - lichen, dann immer unnatürlicheren Laſtern des Heidenthums ein ebenſo lebensgetreues als erſchütterndes Bild entworfen.

Dieſen bibliſchen Gemälden von der abſteigenden Entwicklung der älteſten Menſchheit in biologiſcher wie in religiös-ethiſcher Hin - ſicht erſcheinen aber zugleich bedeutſame Züge einverleibt, welche ein Aufwärtsſteigen ebenderſelben zu allmähliger Erfüllung ihrer Cultur - aufgaben trotz eingeriſſener ſittlicher Corruption andeuten. Denn darin bleibt ja der Menſch Gottes Bild, trotz ſündiger Abirrung von ſeinen Wegen, daß er ſich als Beherrſcher der irdiſchen Natur und ihrer Kräfte je mehr und mehr geltend macht; das Bauen und Bewahren bleibt ſeine Aufgabe, auch wenn ſie in hartem Ringen mit dem rauhen Geſtein und Geſtrüpp dorn - und diſtel - bewachſener Aecker, ſtatt getragen vom milden Himmelsſegen des Paradieſes vorwärtsſchreiten muß. Die h. Schrift hat dieſen äußeren Culturfortſchritten der nachparadieſiſchen Menſchheitsgeſchichte zwar keine hervorragende, aber immerhin doch einige Aufmerkſamkeit gewidmet. Ein früheſter Anfang deſſen, was die zur Zeit ihres Falles noch nackte Menſchheit an ſolchen Fortſchritten zu erlernen hat, die Bekleidung mit Thierfellen, wird als noch in die Para - dieſeszeit ſelbſt zurückreichend dargeſtellt (1 Moſ. 3, 22). Sofort nach dem Verluſte der ſeligen Wohnſtätte der Urzeit treten bei Kain und Abel die beiden Grundformen natürlicher Lebensökonomie: Ackerbau und Viehzucht, nebeneinander hervor (1 Moſ. 4, 2). Der dieſen beiden gemäß moderner culturgeſchichtlicher Speculation gern zugeſellten und für ihre naturgemäße Grundlage und Vorgängerin erklärten Jägerei geſchieht erſt an viel ſpäterer Stelle Erwähnung, und zwar keineswegs ſo, daß dieſelbe als zu den primitiven und vor allen nothwendigen Grundäußerungen des Culturlebens gehörig dargeſtellt würde (1 Moſ. 10, 8 f.). Wie denn hiemit die neueſte80II. Die Schriftlehre vom Urſtande.anthropologiſche Forſchung auf merkwürdige Weiſe übereinkommt, ſofern ſie die Annahme, als ob aus wilden Jagdvölkern von ſelbſt, d. h. ohne die civiliſirende Beihilfe höherſtehender Völker, jemals ſeßhafte Ackerbaubetreiber oder auch friedliche Nomaden geworden ſeien, mehr und mehr als irrthümlich und durch keinerlei geſchicht - liches Beiſpiel bezeugt erkennt. 1)Ueber die ethnologiſche Unbeweisbarkeit der herkömmlich angenommenen Entwicklungsreihe: Jäger, Hirten, Ackerbauer ſ. unten, am Schluſſe des die ſprach - religions - und culturgeſchichtlichen Jnſtanzen behandelnden Abſchnitts. Was von ferneren civiliſato - riſchen Fortſchritten der Menſchheit in der moſaiſchen Urgeſchichte angedeutet wird, hält ſich zunächſt für das vorſintfluthliche Zeitalter überwiegend innerhalb des Bereichs jener frühzeitig zu gottloſem Treiben entarteten Kainiten, deren Genealogie das 4. Kapitel der Geneſis bietet. Gerade dieſem vornoachiſchen Ur-Heidenthum werden mehrere vorzugsweiſe wichtige Errungenſchaften des älteſten cul - turellen Strebens zugeſchrieben. Kain ſammt ſeinem Sohne Hanoch erſcheint als älteſter Städteerbauer, Lamech als Erfinder des Waffenhandwerks und Kriegsrechts in ſeinen früheſten rohen An - fängen. Von Lamechs Söhnen wird Jabal als Urheber des noma - diſchen Zelt - und Wanderlebens genannt, Jubal als Erfinder der älteſten Muſikinſtrumente, Thubalkain als Meiſter in allerlei Erz - und Eiſenwerk , d. h. als Erfinder der Metallgeräthe und des Schmiedehandwerks. Treten als Objecte dieſer vom Lamech-Sohne erfundenen Schmiedekunſt bedeutſamerweiſe ſchon beide Hauptwerk - metalle: Erz und Eiſen nebeneinander, nicht etwa (gemäß neueren archäologiſchen Phantaſieen) zuerſt bloß das Erſtere, hervor:2)Wegen der Unhaltbarkeit der faſt ein Menſchenalter hindurch verbreitet geweſenen Stein -, Bronze - und Eiſentheorie ſ. die unten, im vorletzten Abſchnitte folgenden Mittheilungen. ſo ſcheint im Namen, der Schweſter dieſes bibliſchen Vulkanus: Naama, die Liebliche , eine Hinweiſung anf die frühzeitige Ver - werthung der metallbereitenden Kunſt zur Bereitung auch zierlicher Schmuckſachen zur Hebung menſchlicher Schönheit zu liegen (vgl. 81II. Die Schriftlehre vom Urſtande.überhaupt 1 Moſ. 4, 17 22). Die Durchſichtigkeit der hebräi - ſchen Namenbildungen reizt dazu, auch in der ſethitiſchen Patriarchen - reihe etwelche derartige Anſpielungen auf Culturanfänge und - Fort - ſchritte zu muthmaaßen; wie es denn geradezu verſucht worden iſt, mittelſt ſolcher etymologiſcher Deutungen in den Erzvätern zwiſchen Seth und Noah bedeutungsvolle Embleme culturgeſchichtlicher Ent - wicklungsmomente nachzuweiſen. 1)So beiſpielsweiſe Böttcher, De inferis etc. (Dresden 1846), § 245, und Ewald, in 23. I ſeiner Geſchichte Jsraels. Vgl. dagegen Delitzſch, Geneſis, 4. A., S. 184.Wiſſenſchaftlich undurchführbar, wie dieſer Verſuch jedenfalls iſt, ſchließt er doch wohl einzelne Wahr - heitsmomente in ſich; es kann immerhin als bedeutſam gelten, daß der Name Kenan’s (Gen. 5, 9) ſ. v. a. Handel, Erwerb beſagt, oder daß Thubalkains ſethitiſcher Zeitgenoſſe, der Längſtlebende aller Makrobier, Metuſchelach, d. i. Mann des Geſchoſſes heißt (5, 21). Auf jeden Fall tritt, als Reſultat der ſethitiſch-erzväterlichen Ent - wicklung, ſtatt etwaiger Unwiſſenheit und roher Barbarei im Archen - baue Noahs ein nicht unbeträchtliches Fortgeſchrittenſein in kunſt - vollen techniſchen Verrichtungen zu Tage (6, 14 ff.). Und alsbald nach der Fluth geſellt ſich eine Reihe weiterer cultureller Fortſchritte hinzu, anhebend mit Noahs Pflanzung und Pflege des Weinſtocks (9, 20) und beſonders im Kreiſe der hamitiſchen Völker ausgedehnte und vielſeitig bedeutſame Erfolge erzielend (1 Moſ. 10, 8 12). Wie denn auch ſchon das große Unternehmen des Thurmbaus in der Ebene Sinear hauptſächlich auf Rechnung von Angehörigen dieſes Menſchheitsaſtes gekommen ſein dürfte (1 Moſ. 11, 1 9).

Es unterliegt nach dem Allem keinem Zweifel, daß die Bibel beiderlei Vorſtellungsweiſen zugleich begünſtigt, die degradationiſtiſche und die progreſſiſtiſche. Sie lehrt außer dem langſamen Herabſinken in phyſiſch-ſittlicher Hinſicht auch ein langſames Aufſteigen in ökono - miſcher und gewerblicher Hinſicht. Entdeckungen der modernenZöckler, Urſtand. 682II. Die Schriftlehre vom Urſtande.hiſtoriſch-anthropologiſchen Forſchung wie die, daß eine Steinzeit der Epoche der Metallverarbeitung überall vorausgegangen, oder auch wie die jüngſt von einem Vertreter jener Wiſſenſchaft als beſonders brillante und einleuchtende Ergebniſſe derſelben gerühmten: daß das Muſik-Jnſtrument aus der ſchwirrenden Saite entſtanden iſt, die den Pfeil abſchoß, und daß ein durchbohrter Röhrenknochen die erſte Flöte war ,1)Schaaffhauſen, in ſ. Eröffnungsrede bei der Kieler Anthropologen - Verſammlung. 1878 (ſ. die Verh., herausg. von J. Ranke, S. 86). ſind dem, was die Bibel von den Anfängen menſchlichen Culturlebens lehrt, keineswegs principiell entgegen. Ja Manches von dem in ihr über ſolche Dinge Ueberlieferten nimmt ſich innerlich glaubwürdiger und geſünder aus, als gewiſſe traditio - nelle Lieblingsannahmen moderner Archäologen, z. B. als jene Bronze - und Eiſenalter-Speculationen der ſkandinaviſchen Forſcher, deren Einfluſſe erſt neueſtens die deutſche Wiſſenſchaft ſich zu ent - winden begonnen hat. Jmmerhin finden ſich der Erinnerungen an dieſe urgeſchichtlichen Momente verhältnißmäßig nur wenige in das bibliſche Gemälde von den Anfängen menſchlicher Geſchichte mit aufgenommen. Die Rückſchau auf den verlornen Unſchuldsſtand überwiegt naturgemäß das Jntereſſe an der vorwärts ſtrebenden Entwicklung auf den äußeren Lebensgebieten; die h. Schrift iſt Ur - kunde nicht der allgemeinen Culturgeſchichte, ſondern der religiöſen Offenbarungsgeſchichte.

Kann aber dieſes ſo ſtark in ihr vorwaltende degradationiſtiſche Element vor den Enthüllungen der neueren Wiſſenſchaft beſtehen? Sind wir angeſichts der Fülle von ſteinernen und verſteinerten, von ehernen, eiſernen, thönernen, hölzernen Belegen für die aus - ſchließliche Herrſchaft evolutioniſtiſcher Lebensgeſetze in der Urzeit, welche unſre Archäologen und Ethnologen vor uns ausbreiten, genöthigt, unſren Glauben an eine untergegangene Paradieſesglorie und an einen noch lange ſichtbar geweſenen patriarchaliſchen Nach - glanz derſelben als einen ſchönen Jugendtraum preiszugeben? Müſſen wir uns, gezwungen durch jene Evidenzen, zur Mythen -83II. Die Schriftlehre vom Urſtande.theorie bekehren? Bevor wir zur unmittelbaren Unterſuchung dieſer Frage übergehen, muß das im vorigen Abſchnitte begonnene Verhör außerbibliſcher Zeugen über den Gegenſtand fortgeführt und beendigt werden. Den Zeugen kirchlichen Standpunkts, deren Aus - ſagen ſich im Allgemeinen wie ein phantaſievoll erweitertes, hie und da auch ins Craſſe und Grelle verzerrtes Abbild des bibliſchen Urbildes ausnahmen, haben zunächſt die aus dem älteren und neueren Heidenthum zu folgen. Die bibliſche Ueberlieferung vom Urſtand, die man uns jetzt vielfach zum Mythus zu degradiren räth, iſt mit den ebendarauf bezüglichen Ueberlieferungen, deren Mythencharakter allgemein zugeſtanden wird, näher zu vergleichen.

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III. Die Traditionen des Heidenthums.

Die Geſammtheit der den bibliſch-urgeſchichtlichen Ueberlieferungen zur Seite gehenden mythiſchen Parallelberichte des älteren und neueren Heidenthums kann hier nicht behandelt werden. Wollten wir ſo weit greifen, wir würden unſre Darſtellung unnöthigerweiſe belaſten und den Hauptpunkt, um den es ſich handelt, vielmehr verdunkeln, ſtatt helleres Licht über ihn zu verbreiten. Die mythiſchen Tra - ditionen betreffend die Weltſchöpfung, den Sündenfall, die Sintfluth und den Thurmbau ſind zwar von mittelbarem Belang für unſre Frage, ſofern ſie im Allgemeinen ein gewiſſes Zeugniß für die Ur - ſprünglichkeit der bibliſchen Berichte und für eine Ureinheit des Menſchengeſchlechts ablegen. Wichtiger indeſſen für unſre Aufgabe ſind die auf den paradieſiſchen Unſchuldsſtand, die abſteigende Stufenreihe der Weltalter mit ihren allmählig ſich verkürzenden Lebensdauern, ſowie die in dieſen Degradationsproceß verflochtenen früheſten Culturfortſchritte im Bereiche der Erfindungen und Künſte bezüglichen heidniſchen Sagen. Wir folgen bei ihrer Aufzählung einem geographiſchen Eintheilungsprincip, anhebend mit dem fernen Oſten und ſchließend mit der helleniſch-römiſchen Cultur - welt und dem auf ſie gefolgten neueren europäiſchen Völkerleben. Den ſehr verſchiednen Werth der einzelnen Ueberlieferungen, ihr bald hoch hinaufreichendes, bald ziemlich junges Alter geben wir von vornherein zu. Wir glauben aber trotz dieſer theilweiſen kritiſchen Anfechtbarkeit des zuſammenzuſtellenden Materials eine Unabhängigkeit85III. Die Traditionen des Heidenthums.deſſelben in ſeinem größeren Theile von den heil. Schriften der Juden und Chriſten behaupten zu dürfen, da die Annahme eines Entlehntſeins aus dieſen in den meiſten Fällen an weit größeren Schwierigkeiten leidet, als die Vorausſetzung des Gegentheils.

Alte Sagen der Chineſen reden von einem Urzuſtande der großen Einigkeit, wo der Menſch noch mitten unter den Thieren wohnte, auf einer Erde, die Alles von ſelbſt wachſen, alle Früchte von ſelbſt dem Boden entkeimen ließ; wo man die Tugend übte ohne Hilfe der Wiſſenſchaft und in Unſchuld lebte, ohne die Rei - zungen des Fleiſches zu fühlen . Erſt die unmäßige Begier nach Wiſſenſchaft hat (nach Hoai-man-tſe) den Menſchen in’s Verderben geſtürzt . Nachdem der Menſch verderbt worden , ſagt Lo-pi, führten die wilden Thiere, die Vögel, die Jnſecten und Schlangen Krieg mit ihm; kaum hatte er die Wiſſenſchaft erlangt, als alle Geſchöpfe ihm feind wurden; in wenigen Stunden veränderte ſich der Himmel, und der Menſch war nicht mehr derſelbe . Eine andre Verſion der Sage läßt Fo-hi (Pao-hi), den erſten Menſchen, durch einen der Tiefe entſtiegenen Drachen in die Wiſſenſchaft des Jn und Yang, d. h. ins Geheimniß der Männlichkeit und Weiblichkeit eingeweiht und ſo zu Fall gebracht werden1)Wir folgen hier, natürlich mit aller Reſerve, der Darſtellung H. Lüken’s (Die Traditionen des Menſchengeſchlechts ꝛc., 2. Aufl., 1869) S. 96 ff., der ſich ſeinerſeits hauptſächlich auf T. I der Mémoires concernant les Chinois ſtützt. Wir halten das Lükenſche Werk ſammt manchen ähnlichen Verſuchen (z. B. Stiefelhagen, Theologie des Heidenthums, 1858; E. L. Fiſcher, Heidenthum und Offenbarung (ſ. u.), Lipſchütz, De communi hum. gen. origine, 1864, ꝛc., für daukenswerthe Vorarbeiten zur Apologetik, verlangen aber natürlich ſtrenge Prüfung ihrer Angaben am Lichte der beſtändig fortſchreitenden religionsgeſchichtlichen Forſchung.. Die Tradition über die von dieſem Urmenſchen Fo-hi oder Pao-hi bis auf Jao, den chineſiſchen Noah oder Sintfluth-Ableiter, ſich gefolgten Urkaiſer oder Heroen erinnert theils an die ſethitiſche Patriarchenreihe in Gen. 5, theils und mehr noch an die kainitiſche bis auf Lamech; dieß be - ſonders durch die mancherlei Fortſchritte in Erfindungen und Künſte,86III. Die Traditionen des Heidenthums.welche ſie durch dieſe Heroen bewirkt werden läßt. Schon Pao-hi ſelbſt ſoll einiges Wichtige, nemlich die Buchſtaben (die Figuren des Y-king ) und den Fiſchfang erfunden haben. Sein Nachfolger Schin-ming (oder Schin-mung), d. h. der Ackermann, ſoll Ackerbau, Handel und Märkte erfunden haben; deßgleichen ſoll er, der chineſiſche Zeitgenoſſe oder Doppelgänger Kains und Abels, zuerſt Opfer dar - gebracht haben, bis der böſe Rieſe Tſchi-Yu ihn tödtete. Dieſes böſe Ungeheuer Tſchi-Yu (oder Tſchi-Yeu) beſiegte und tödtete dann Hoang-ti, der dritte Urkaiſer, eine beſonders wichtige Figur der mythiſchen Urgeſchichte China’s. Als Städte - und Paläſte - Erbauer entſpricht derſelbe merkwürdig dem Kainiten Hanoch, als auf leuchtender Wolke gen Himmel hinaufgenommener aber gleich - zeitig dem ſethitiſchen Henoch. Eine Sage läßt bereits unter ihm, durch Ling-lün, die Muſik erfunden und in ihren Grundgeſetzen ausgebildet werden, während eine andre Ueberlieferung erſt den fünften Urkaiſer Schum-hio als Erfinder der Muſik ſowie auch der Himmelskunde nennt. Zwiſchen dieſem fünften Kaiſer und Hoang-ti ſoll Schao-hao oder Kiven-hao regiert haben, der chineſiſche Thubal - kain, Erfinder der Metallwerkzeuge, aber angeblich auch böſer Zau - berkünſte und das Dämonencultus. Vom ſechſten Kaiſer Ti-ku heißt es, er habe zuerſt zwei Weiber genommen, vgl. den bibliſchen Lamech. Der Dritte ſeiner drei Söhne Ki, Si und Jao, iſt der chineſiſche Sinfluthpatriarch, zugleich aber auch der Vervollkommner der aſtronomiſchen Forſchung; während ſeiner angeblich 100jährigen Regierung ſoll der erſte Komet in China genauer beobachtet worden ſein1)Mädler, Geſchichte der Himmelskunde I, 3 ff. Vgl. im Uebrigen Ebrard, Apologetik, II, 288 f., ſowie Lüken, S. 155 158 (woſelbſt auch einige Quellenangaben).. Die hie und da gemachten Verſuche, dieſe älteſten chineſiſchen Heroen vom erſten Menſchen bis zur Fluth genau auf eine Zehnzahl zu bringen,2)So u. a. Lüken a. a. O., S. 157. erſcheinen gekünſtelt und entſprechen der Mehrzahl der alten Berichte nicht. Auch darin beſteht keine Concordanz zwiſchen87III. Die Traditionen des Heidenthums.der chineſiſchen und der bibliſchen Patriarchengeſchichte, daß die erſtere von ſo hohen Lebensaltern ihrer Helden wie die der bibliſchen Ma - krobier nichts meldet. Kainitiſche und ſethitiſche Reminiſcenzen ſcheinen in ihr ineinander zu ſpielen; dabei kehrt ſich, bezeichnend für den werkheiligen und induſtriellen Nationalgeiſt des Chineſenthums, das Jntereſſe ihrer Erzähler weit mehr der aufſteigenden Cultur - entwicklung zu, als der abſteigenden Entwicklung in ethiſcher Hinſicht.

Die mongoliſchen und japaneſiſchen Urgeſchichtsſagen mit ihren wild-naturaliſtiſchen Phantaſien, worin die Himmelskörper Sonne und Mond ſowie die vier oder fünf Elemente eine Haupt - rolle ſpielen, bieten geringere Anklänge an die heil. Schrift dar. Jmmerhin iſt es bemerkenswerth, daß die Kalmücken vier Weltalter annehmen, das erſte mit 80000jähriger Lebensdauer der in ihm lebenden und mit beſonderer Heiligkeit begabten Menſchen, jedes folgende dann kürzer, ſchlechter und mit geringeren Lebensaltern. Deßgleichen erſcheint bei den Japaneſen es als eine Berührung mit der bibliſchen Weltalterfolge, daß eine Reihe von ſechs Geiſtern gelehrt wird, die im Proceſſe des Weltwerdens (jeder 1 200 000 Millionen Jahre lang!) nacheinander geherrſcht haben ſollen, nemlich zuerſt ein erhabener Himmelsgeiſt, der Verehrungswürdige des ewigen Reichs, nach ihm dann ein Waſſergeiſt, dann ein Feuergeiſt, hierauf ein Holzgeiſt, ein Metallgeiſt und ein Erdgeiſt, wonach dann Jſa-ma-gi gekommen ſei, der Schöpfer der gegenwärtigen Welt mit den japaniſchen Jnſeln und mit Sonne und Mond als ihren Beherrſchern1)Ebrard II, 294.. Vier Weltalter oder Sonnen , den vier Ele - menten entſprechend, ſollen die alten Mexikaner gelehrt haben. Jhr großes Weltjahr, nach Humboldts Berechnung 18,028 Jahre betragend, nach Andern freilich kürzer, zerfiel in die vier Zeitalter: Sonne des Waſſers, bis zur Sintfluth; Sonne der Erde, bis zu einem großen, die alten Rieſen vertilgenden Erdbeben; Sonne der Luft, bis zu einem das Menſchengeſchlecht hinwegfegenden ungeheuren88III. Die Traditionen des Heidenthums.Sturme; Sonne des Feuers, mit dem einſtigen Weltbrande endigend. Ob die theilweiſen Anklänge an jene oſtaſiatiſchen Kosmogonien zu Gunſten des von Manchen behaupteten buddhiſtiſchen Urſprungs der mexikaniſchen Religion und Cultur verwerthet werden dürfen, laſſen wir dahin geſtellt. 1)Ebr. II, 480, tritt entſchieden für dieſe buddhiſtiſche Herkunft der betr. Sagen ein Anders Müller, Amerik. Urreligionen, S. 509 ff., ſowie Lüken, 284 f.

Zur mongoliſchen Völkerſchicht iſt auch jener merkwürdige hinter - indiſche Stamm der Karenen zu rechnen, deſſen Sagen über Welt - und Menſchenſchöpfung, Sündenfall, Fluth und Völkerzerſtreuung durch ihr auffallend genaues Zuſammenſtimmen mit den bibliſchen Urüberlieferungen das gerechte Erſtaunen der evangeliſchen Miſſionare erregten, welche in unſrem Jahrhundert ſie zuerſt kennen lernten. Die Uebereinſtimmung erſtreckt ſich hier bis zur Bezeichnung Gottes mit dem Namen Y’wah, bis zur Bildung des Weibes aus der Rippe des erſten Mannes, der genaueſten Wiedergabe faſt aller ein - zelnen Umſtände der Verführung zuerſt des Weibs, dann des Mannes zum Eſſen der verbotenen Frucht, der Darſtellung einer neuen dämoniſchen Maſſenverführung der Menſchheit (vgl. Gen. 6, 2 4) als Urſache des Sintfluthgerichts, u. ſ. f. Da die betr. Sagen nur mündlich überliefert ſind, ſo muß ihr jüngerer Urſprung faſt als gewiß gelten. Die Annahme ihres Herrührens von jüdiſchen Einflüſſen leidet allerdings an der Schwierigkeit, daß keinerlei Reſte israelitiſcher Ceremonien, wie Beſchneidung ꝛc. bei dem Volke vor - handen ſind; ſie darf auch keinenfalls bis dahin ausgedehnt werden, daß man etwa die verlornen zehn Stämme hier, im Jrawady - Stromgebiete wiederzufinden meinte. Doch ſteht der Annahme eines ſpäteren Gelangens jüdiſcher oder auch chriſtlicher Traditionen zum Karenenvolke nichts Triftiges im Wege.

Aehnlich wie über dieſe nur mündlich überlieferten religiöſen Sagen der Karenen dürfte über die der malaio-polyneſiſchen Stämme zu urtheilen ſein. Aus dem wilden Gewirr und Gewimmel89III. Die Traditionen des Heidenthums.dieſer oceaniſchen Sagen mit ihrer die Momente der Schöpfung, Sintfluth und früheſten Culturentwicklung unklar ineinander wirrenden Tendenz mag, außer jenem merkwürdigen Seitenſtück zur Erzählung von Kains Brudermord, welches eine von Wilhelm v. Humboldt mitgetheilte Sage der Tonga-Jnſulaner darbietet, noch eine zur Zeit ihrer Entdeckung angeblich auf zahlreichen Südſeeinſeln verbreitete Ueberlieferung betreffs eines allmählichen Kürzerwerdens der menſch - lichen Lebensalter um der zunehmenden Sünde willen hervorgehoben werden. Sie meinen , berichtete darüber ein Forſcher aus dem Anfang unſres Jahrhunderts,1)Faber, Horae Mosaicae, or adissertation on the credibility and theology of the Pentateuch (2. Edition, Lond. 1818), vgl. I, p. 92. Vgl. was die Karenen betrifft: Eppler, Die Karenen und ihre Bekehrung zum Chriſtenth, Allgem. Miſſions-Zeitſchrift, 1879, S. 57 ff. das Alter der Menſchen ſei nicht ſtets daſſelbe geweſen wie jetzt und werde auch nicht ſtets daſſelbe bleiben, ſondern es werde je nach Tugend und Verdienſten der Menſchen verlängert oder verkürzt. Sie ſagen, gemäß dieſer Theorie, das Leben des erſten Menſchen habe ſich noch bis zu faſt unermeß - licher Länge erſtreckt, ſeine Kinder und Enkelkinder aber hätten langſam und allmählich immer kürzere Lebensdauern erhalten, in dem Maaße als ſie immer weniger tugendhaft wurden ꝛc.

An der Spitze der hieher gehörigen Sagen der alten Jndier ſteht, was über den mitten im Weltmeere ſtehenden und in den Himmel hineinragenden Götterberg Meru, den Sitz Wiſchnu’s oder das Paradies erzählt wird. Auf ihm wächſt der den Trank der Unſterblichkeit ſpendende Lebensbaum Soma (oder mehrere ſolcher ewig blühender Lebensbäume); tief unter ihm aber, in der Unter - welt, ruht die Weltſchlange. Jn den den Kampf dieſer Weltſchlange mit dem hehren Lichtgotte Jndra betreffenden Sagen erſcheint die Reminiſcenz an den Sündenfall und den Verluſt des Paradieſes ſtark getrübt und in’s phantaſtiſch-Unklare verzerrt. Dagegen erſcheinen an die nachparadieſiſchen Stadien der Urgeſchichte einige deutlichere Erinnerungen bewahrt. Die Sage von der Aufeinanderfolge der90III. Die Traditionen des Heidenthums.Weltalter kehrt hier in verſchiednen Abwandlungen wieder. Schon zu Alexanders des Großen Zeit wurde dem Cyniker Oneſikritos durch den indiſchen Büßer Kalanos eine üppige Schilderung vom goldnen Zeitalter und der an ſeine Stelle getretenen ſchlechteren Folgezeit mitgetheilt: Vor Alters war Alles voll Waizen - und Gerſtenmehl, wie jetzt voll Staub; die Quellen floſſen, etliche von Waſſer, etliche von Milch, andere von Honig, Wein oder Oel. Ueberſättigt von dieſen Gütern fielen die Menſchen in Uebermuth, und Zeus, den Zuſtand haſſend, vernichtete Alles und wies ihnen ein Leben voll Mühſal an . 1)Strabo, Geogr. XV, 8.Ausgebildeter Art und das Eigenthümliche der indiſchen Weltanſicht noch kräftiger ausprägend erſcheint die brah - miniſche Legende von den vier Zeitaltern der Erde oder Jugas. Das erſte war das Krita - oder Satja-Juga, das Zeitalter der Wahrheit, wo die Tugend auf den vier Füßen der Wahrheit, Buße, Liebe und Mildthätigkeit gieng und die Menſchen glückſelig lebten. Das zweite oder Tretajuga Zeitalter der drei Opferfeuer , entzog der Tugend bereits einen ihrer vier Füße. Jm dritten oder Dwa - parajuda, dem Zeitalter des Zweifels, geht die Tugend, da der Geiſt der Buße erliſcht, nur noch auf zweien Füßen. Das Kali - juga oder Zeitalter der Sünde, wo die Tugend nur auf dem Einen Fuße des Almoſengebens ſteht, dauert noch jetzt an; es wird, nachdem es bisher bereits einige Jahrtauſende gewährt, im Ganzen 432 000 Jahre dauern, und dann mit dem Weltbrande endigen. Auch in der Sage von den zehn frommen Pitri’s oder Patriarchen der Urzeit, welche Viradſch-Manu als früheſte Beherrſcher der Menſchen hervorbrachte und deren zehnter Manu, der indiſche Sintfluthpatriarch war, ſind bemerkenswerthe Anklänge an die bibliſche Urgeſchichte enthalten, denen ſchwerlich eine directe Bekanntſchaft mit dieſer zu Grunde liegt. Das Geſetzbuch des Manu nennt die neun Erſten dieſer Zehnzahl oder die Vorgänger Manus ſelber: Maritſchi, Atri, Angiras, Pulaſtya, Pulaga, Cratu, Prachetas oder Dakſcha, Brigu und Narada. Nachrichten über die zunehmende religiös -91III. Die Traditionen des Heidenthums.ſittliche Entartung ſowie über die Erfindung verſchiedener Künſte und Gewerbe werden auf ähnliche Weiſe mit ihrer Geſchichte verflochten, wie im oben erwähnten chineſiſchen Parallelberichte. Jnsbeſondere wird Pulaſtya als Erfinder dämoniſcher Zauberkünſte, Atri als von Gott gelehrter frommer Beter (vgl. Henoch), Dakſcha als Stammvater von Rieſen und Verüber von Freveln beim Opfer, der deßhalb getödtet wird, Brigu als Verfaſſer eines heiligen Geſetz - buchs, und Narada als ascetiſch lebender Büßer, der ſich des Kinderzeugens enthalten habe, dargeſtellt. 1)Vgl. Geſetzb. des Manu (Manawadharmasâstra) I, 33; III, 192 198. Lüken a. a. O., 152 ff., auch daſelbſt 86 ff., und Fonſeca, Mytho - logie des alten Jndien, S. 25 f.

Dieſen indiſchen Sagen ſtehen die der alten Eranier un - mittelbar nahe, kommen aber zugleich in ihrer Behandlung der Paradieſes - und Sündenfallsgeſchichte noch näher mit der altteſta - mentlichen Ueberlieferung überein. Das Paradies, die Schöpfung der Anmuth , der erſte und beſte der Plätze wurde von Ahura - mazda geſchaffen durch die Macht ſeines Verſtands und ſeiner Weis - heit. Jnmitten ſeiner vielen heilſamen Bäume wuchs Gaokerena, der weiße Haoma oder Baum des Lebens, deß Genuß unſterblich macht. Die erſten Menſchen lebten hier, unter Jima’s, des Schönen und Reinen, patriarchaliſcher Herrſchaft, frei vom Tode; ſie konnten in die Sonne ſehen, ohne geblendet zu werden; es gab bei ihnen weder Tod noch Alter noch Sünde, bis endlich Jima durch Stolz und Selbſtüberhebung lügneriſcher Rede ſich hingab, in Sünde verfiel und, von Ahuramazda verlaſſen, der Sterblichkeit überliefert wurde, worauf auch für ſein Geſchlecht, das von ihm die ſündige Kunſt des Fleiſcheſſens erlernte, der paradieſche Urſitz verloren ging. Mit dem Verluſte deſſelben erſcheint hier der Eintritt des von den himmliſchen Göttern in Geſtalt eines furchtbaren Winters oder Regenwetters verhängten Gerichts der Sintfluth unmittelbar ver - flochten; denn Jima ſelbſt, der Menſchheitsſtammvater, erlebt dieſe Fluth noch und baut die rettende Arche. So ſchon der Vendidad92III. Die Traditionen des Heidenthums.oder Grundbeſtandtheil des Aveſta. 1)Die ſpecielleren Belege ſ. bei Engelb. Lorenz Fiſcher, Heidenthum und Offenbarung. Religionsgeſchichtliche Studien über die Berührungspunkte der älteſten heil. Schriften der Jnder, Perſer, Babylonier, Aſſyrer und Aegypter mit der Bibel. Mainz 1878, S. 133 142.Spätere Quellen des Par - ſismus kennen auch die zehn Urpatriarchen oder Pûſchdadih, die Menſchen vom alten Geſetze , welche alle noch vegetarianiſch, ohne Fleiſchgenuß, vom reinen todzerſtörenden Haoma lebten, und deren einer, angeblich der Vierte, jener Jima war, der zuerſt mit goldnem Pfluge die Erde ſpaltete. Desgleichen die vier Weltalter, jedes zu 3 Jahrtauſenden: 1) das des Paradieſes unter Ahuramazdas, bezw. Jima’s Herrſchaft; 2) das des beginnenden Kampfs mit Ahriman und der anfangenden Unſitte des Fleiſcheſſens der Menſchen; 3) die Zeit der Getheiltheit zwiſchen Ormuzd und Ahriman, oder nachſint - fluthliche Periode, bezeichnet durch die Erfindung des Feuers, des Eiſens ꝛc. ; 4) die Zeit des ſcheinbaren Siegs Ahrimans bis zu ſeiner endlichen Beſiegung und Vertilgung im großen Weltbrande. Bei dieſen letzten Angaben, ſowie bei den Nachrichten des muham - medaniſchen Annaliſten Hamza über die früheſten perſiſchen Könige und deren theilweiſe exorbitant lange Regierungszeiten (bis zu 500, 746, ja 1000 Jahren), iſt die Möglichkeit jüdiſcher, oder gar ur - chriſtlicher Einflüſſe auf die betr. Traditionsbildung nicht ganz aus - geſchloſſen. 2)Jmmerhin geht, was die betr. Quelle, der vielleicht erſt nach der Saſ - ſanidenzeit aufgezeichnete Bundeheſch, über Weltſchöpfung, Weltalter und Welt - brand berichtet, auf alte Traditionen zurück, vgl. Vendid. Farg. 1 u. 2; Izeschne, Ha. 9 u. 32; Spiegel, Art. Parſismus in Herzogs R. -E.

Unbeſtimmterer Art ſind die Anklänge der ägyptiſchen Sage an die bibliſche Urgeſchichte. Namentlich die vier Weltalter mit ihrer allmähligen Degradation fehlen hier ganz; auch ſind in den neun Halbgöttern, welche Manethos zwiſchen Oſiris und zwiſchen dem erſten menſchlichen Könige Menes über Aegypten herrſchen läßt, die zehn Patriarchen zwiſchen Adam und Noah kaum wiederzuer -93III. Die Traditionen des Heidenthums.kennen; eher dürften die Pharaonen der erſten drei oder vier Dy - naſtien von Menes bis auf Cheops als eine ägyptiſche Parallele zur ſethitiſchen Erzväterreihe zu betrachten ſein (vgl. unten, IX, 1). Jmmerhin war auch für die altägyptiſche Geſchichtsanſicht der Aus - gangspunkt aller Entwicklung ein Paradies oder goldnes Zeitalter, wo Oſiris und Jſis zu Nyſa in Arabien über eine vom Strome Triton umfloſſene, mit ewig blühenden Bäumen bepflanzte und heilbringende Ströme nach den vier Weltgegenden hin entſendende, glückſelige Landſchaft herrſchten, bis der böſe Dämon Set-Typhon durch Tödtung ſeines Bruders Oſiris dieſer goldnen Urzeit ein Ende machte. 1)Diod. Sic. I, 15; III, 68. Vgl. Todtenb. I, 18, ſowie überhaupt Lüken, S. 115 ff. 158 f.; Fiſcher, 323 f.Auch eine Erſchaffung des Menſchen nach göttlichem Ebenbilde lehrte die Religion der alten Aegypter. Das erſte Buch des Todten-Papyrus ſingt: Lob und Preis dem Baumeiſter, der die Welt zur Heimath des Menſchen, des Ebenbildes des Schöpfers, machte.

Wenigſtens in Einer Hinſicht näherten ſich die urgeſchichtlichen Sagen auch der Phönicier, ſoweit wir ſie genauer kennen, den bibliſchen. Mehrere alte Geſchichtsſchreiber dieſes Volks, welche Joſephus anführt: Mochus, Heſtiäus, Hiromus (Hieronymus?), ſollen über die hohen Menſchenalter der älteſten Patriarchen aus phöniciſchen Traditionen Aehnliches überliefert haben, wie die Ge - neſis. Auch Xenophon im Periplus wußte nach einer derartigen Nationalſage mitzutheilen: der Jnſelkönig von Tyrus habe nahezu 600, ſein Sohn 800 Jahre gelebt. Als eine einigermaßen ver - waſchene Erinnerung an den Sündenfall ſowie an Kains Bruder - mord dürfte vielleicht gedeutet werden, was der alte, freilich ziemlich verdächtige Sanchuniathon von den erſten ſterblichen Menſchen Aeon und Protogonos, deren Jeuer die Speiſe von den Bäumen fand , ſowie weiterhin von der Entzweiung zwiſchen den Brüdern Uſoos und Hypſuranios berichtet haben ſoll. Der Erſtere dieſer feindlichen94III. Die Traditionen des Heidenthums.Brüder wird als Erfinder des Feuers (aus Anlaß eines Wald - brands), der Thieropfer und auch ſchon der Schifffahrt dargeſtellt. 1)Joſephus, Antt. I, 3, 9; Plinius, H. N. VII, 49; Sanchu - niath ed. Orelli c, 3. Vgl. Ebrard, Apologet. II, 176, ſowie das weiter unten von uns über Sanchuniathon Bemerkte.

Den Babyloniern hat man neuerdings auf Grund ver - meinter Ausſagen ihrer Keilſchrift-Monumente eine ſehr genaue Uebereinſtimmung mit der altteſtamentlichen Paradieſes - und Sünden - fallsgeſchichte zuſchreiben zu dürfen geglaubt. Man hat hierin freilich geirrt; namentlich die angebliche Abbildung vom erſten Menſchen - paare im Paradieſe ſammt der ſie verführenden Schlange, welche George Smith entdeckt haben wollte, iſt durch die franzöſiſchen Aſſyriologen (Ménant, Oppert ꝛc. ) als weſentlich nur in der Phan - taſie jenes Forſchers exiſtirend erwieſen worden. 2)S. Oppert in den Gött. Gel. -Anzeigen 1878, St. 34. Der Smithſchen Deutung von kirkir tikamtiv = Seeſchlange, große Schlange ſtellt hier Oppert ſeine Erklärung des fraglichen Namens durch Wirbel des Meeres gegenüber. Zugleich mit dieſer Beſeitigung der Schlange aus dem betr. Be - richte erklärt er, unter Berufung auf Ménant, es für einen Jrrthum, daß die bekannte von Smith mitgetheilte Abbildung das erſte Menſchenpaar zu beiden Seiten der verführenden Schlange darſtelle. Die betreffenden menſchlichen Figuren ſeien in Wahrheit nicht Mann und Frau, ſondern zwei Männer; die angebliche Schlange zwiſchen Beiden ſei ein theilender Strich, u. ſ. f. Vgl. auch ſchon v. Gutſchmids Zweifel an der Haltbarkeit der Smithſchen Sündenfalls-Deu - tungen: Neue Beiträge zur Geſch. des alten Orients ꝛc., S 147. Trotzdem iſt erſt jüngſt wieder Fiſcher a. a. O., S. 208 f. den Annahmen Smiths ohne jede kritiſche Reſerve gefolgt.Jndeſſen ſpielt unzweifelhaft der paradieſiſche Lebensbaum, das Aequivalent des perſiſch-indiſchen Soma, eine wichtige Rolle auf den Denkmälern und in den Traditionen der Euphratvölker. Und jedenfalls iſt betreffs der 10 vorſintfluthlichen Patriarchen, ebenſo wie auch betreffs der Fluth ſelbſt, die Uebereinſtimmung der chaldäiſchen Berichte mit den bibliſchen eine merkwürdig durchgreifende. Nach Beroſus re - gierten bis zum Sintfluthpatriarchen Xiſuthros (keilinſchriftl. Khaſi -95III. Die Traditionen des Heidenthums.ſadra) neun Urkönige der Babylonier, die er Aloros, Alaparos, Ammenon, Amelon, Amelagoros, Daon, Andorachos (Edoranchos), Amempſinos, Otiartes nennt, und auf welche er Xiſuthros als zehnten Herrſcher folgen läßt. Von dieſen Herrſchern läßt er, die bibliſchen Alterszahlen der Makrobier ins Ungeheuerliche ſteigernd, drei (den 5., 7. und 10.) je 64 800 Jahre, drei (den 1., 6. u. 8.) 36 000 Jahre ꝛc. regieren; dem zweiten als dem kurzlebigſten gibt er wenigſtens 10 800 Jahre. Die ganze Reihe läßt er 120 babyl. Saren (zu 3600 Jahren) = 432 000 Jahre lang regieren. Trotz dieſer maaßloſen mythiſchen Verzerrung deſſen, was im A. T. ein - facher erzählt wird, bleibt die Concordanz dieſes Stücks altbaby - loniſcher Urgeſchichte mit dem entſprechenden bibliſchen bedeutſam genug. 1)Beroſus bei Euſeb. Chron. armen. I, 11 16. 46 48. Vgl. Beroſ. ed. Richt. p. 53 55. Ueber das Verhältniß der ſchwindelhaft hohen Alterszahlen bei Beroſus zu den bibliſchen Makrobierjahren kann erſt weiter unten gehandelt werden.Gleichwie auch die babyloniſche Fluthſage, beides nach Beroſus wie nach den ſeine Angaben theils beſtätigenden theils ergänzenden Keilſchrifturkunden, der entſprechenden altteſtamentlichen Erzählung näher ſteht als irgendſonſtwelcher außerbibliſche Bericht.

Betreten wir das Gebiet der abendländiſchen Sagenwelt, ſo erſcheint zunächſt die urgeſchichtliche Tradition der alten Etrusker, ſoweit die über ſie vorhandnen fragmentariſchen und theilweiſe erſt durch ſpäte Zeugen mitgetheilten Sagen dieß zu erkennen geben, als theils der perſiſchen, theils der chaldäiſch-babyloniſchen und eben - damit auch der bibliſchen Ueberlieferung ziemlich nahe verwandt. Mit den Perſern hatten, Suidas zufolge, die Tyrrhenier die Lehre von den 12 Jahrtauſenden gemein, welche die Welt dauern werde und von welchen die ſechs erſten die Epochen der Weltſchöpfung geweſen ſeien. An die chaldäiſche und bibliſche Makrobier-Sage erinnert die den Auguren der alten Etrusker wie der Römer zugeſchriebene Ueberlieferung von acht Generationen der erſten Menſchen, deren96III. Die Traditionen des Heidenthums.jede 750 Jahre gedauert habe. 1)Suid. Lex. s. v. 〈…〉〈…〉. Vgl. Rocholl, Philoſ. der Geſchichte, S. 18. Von den durch römiſche Berichterſtatter überlieferten urgeſchichtlichen Sagen gehört vor allen die vom Saturniſchen goldnen Zeitalter hieher. Jn der bekannten ſpäteren Faſſung, welche Vergil im 8. Buche ſeiner Aeneide dieſer Sage ertheilt hat, ſpielt ein an die evolutioniſtiſchen Speculationen eines Lucrez ꝛc. erinnernder Zug roh-naturaliſtiſcher Art in das überwiegend degradationiſtiſch gehaltene Gemälde von den guten alten Zeiten hinein: ungeſchlachte und unwiſſende Urmenſchen, aus Baumſtämmen und hartem Holze gewachſen, ſind es, welche der vom Olymp ausgeſtoßene Fremdling Saturnus ſammelt, an beſſere Sitten gewöhnt und während des goldnen Zeitalters in Latium friedlich regiert

Bis, jenes Glanzes beraubt (decolor), ein ſchlechteres Weltalter folgte,
Mit ihm des Krieges Wuth und die leidige Gier nach dem Haben .

Der Kern dieſer Sage iſt jedenfalls altitaliſchen Urſprungs; wie denn insbeſondere auch das Moment der langen Lebensdauer in der glückſeligen Urzeit ſchon im älteſten Sagengute der Römer vorhanden geweſen ſein muß, da bereits Varro und ſpäter Plinius durch die vielhundertjährigen Alter der urzeitlichen Tradition zu ihren rationaliſtiſchen Verſuchen, die betreffenden Jahre auf Zehntels - jahre oder auch auf Vierteljahre zu reduciren, veranlaßt wurden. 2)Vergil. Aen. VIII, 315 327. Vgl. den Scholiaſten Servius z. d St., ſowie Plin. H. N. VII, 49.

Wohl erſt ziemlich ſpäten Urſprungs und außer durch römiſche und griechiſche vielleicht auch durch chriſtliche Quellen in ihrem Ent - ſtehen beeinflußt, ſind die germaniſchen Sagen vom Urſtande in der jüngeren Edda. Sie laſſen inmitten der Stadt Asgard, des nordiſchen Paradieſes, einen großen Saal, inwendig und auswendig vom lauterſten Gold, gebaut werden, genannt Gladsheim (Freuden - land) und verbunden mit Wingolf, der ſchönen Wohnſtätte für die Göttinnen. Jn dieſer köſtlichſten und größten Wohnung auf dem97III. Die Traditionen des Heidenthums.weiten Erdenrund legten die als Verwalter Alfadurs ſie regierenden Richter oder Erzväter jene Schmiede an, darauf das Metall, welches Gold heißt , geſchmiedet wurde. Alles Hausgeräthe und Pferdegeſchirr war da von Gold. Dieſe Zeit heißt das Goldalter, welches wurde verderbt durch die Ankunft von Weibern, die da kamen aus Jotunheim ꝛc. Hohe Lebensalter, ſowie obendrein eine Zehnzahl vorſintfluthlicher Patriarchen ſpielen gleichfalls eine Rolle in dem nordiſchen und germaniſchen Sagenkreiſe. Halfdan, der erſte Menſch und König nach der Edda, ſoll 300 Jahre alt geworden ſein; ihm folgen neun Könige als Stammväter eben ſo vieler alter Heldengeſchlechter, wie der Hildinger, der Niflunger, der Audlinger ꝛc. Von Sigar, dem zehnten derſelben an, einer Art von nordiſcher Parallele zu Noah, ſpaltet ſich die nordiſche Menſchheit in drei Aeſte, die Geſchlechter der Skioldunger, Wolſunger und Skelfinger. Ganz ähnlich die angelſächſiſche Sage; ſie läßt dem Sintfluth - patriarchen Finn-Godwulf oder Burri (dem nordiſchen Börr, Vater Odin’s, Wile’s und We’s) neun Urmenſchen vorhergehen; mit Finn-Godwulf als dem Zehnten beginnt die Dreitheilung der Menſchen in Nachkommen Fridhuwulfs (= Odin’s), Frithalafs und Fridhuwalds. Jn die an die Tödtung des Rieſen Ymir durch Odin angeknüpfte Fluthſage dieſer nordiſchen Stämme wird übrigens auch wieder eine eigenthümliche neue Menſchenſchöpfungsſage ein - geflochten; Odin bildet nach der Fluth das Menſchengeſchlecht neu aus Eſche und Erle ꝛc. 1)S. das Nähere mit den nöthigen Belegen zufammengeſtellt bei Lüken, S. 110 f. 159 f.

Jn Griechenlands urzeitlichem Mythenſchatze fehlt, wie ſich erwarten läßt, kein weſentliches dieſer Elemente, weder die Erinner - ung an ein verlorenes goldnes Zeitalter, noch die abſteigende Welt - alterfolge, noch die Nachrichten über hohe Lebensalter in der Urzeit. Wir haben die Erwähnung der helleniſchen Sagen hierüber bis zum Schluſſe unſrer Aufzählung verſpart, weil gerade ſie, ins -Zöckler, Urſtand. 798III. Die Traditionen des Heidenthums.beſondre in der dichteriſch verklärten Geſtalt, welche ſie ſchon ziemlich frühzeitig durch Heſiodos erhielten, eine ſehr durchgreifende, viele merkwürdige Einzelheiten in ſich ſchließende Parallele zur Darſtellung der Weltalter im Alten Teſtament darbieten. Heſiod’s Faſſung der Weltalter-Sage vereinigt in der That faſt alles Charakteriſtiſche in ſich, was auch die Bibel in die früheſte Menſchheitsgeſchichte zwiſchen Adam und Noah verlegt, ohne doch ihr ſpecifiſch Helleniſches und alt-Epiſches, ihre poetiſche Freiheit und Selbſtändigkeit irgendwie zu verleugnen. 1)Heſiod,〈…〉〈…〉, v. 109 201.Sie hebt an mit einer Schilderung der urſprüng - lichen Unſchuld und Glückſeligkeit der Menſchen, während der Zeit, da Pandora, das helleniſche Gegenbild der Eva, noch nicht durch Oeffnung ihres unheilſpendenden Gefäßes zahlloſe unſägliche Uebel über die Erde ausgebreitet hatte. Jn dieſer goldnen Urzeit ein wahrſcheinlich von ſpäterer Hand eingeſchobner Vers bezeichnet die - ſelbe als die der Herrſchaft des Kronos lebten die Menſchen gleich Göttern ohne Sorge, Kummer und Arbeit auf Erden, unge - plagt von des trägen Alters Ermattung.

Wie vom Schlafe bezwungen, ſo ſtarben ſie. Trefflich war Alles
Dieſem Geſchlecht: Frucht brachte die nahrung-ſproſſende Erde
Ganz von ſelbſt in reichlicher Füll; und willig die Menſchen
Wirkten ihr Werk in Frieden, von der Güter Fülle getragen .

Viel geringer ſchon war die Herrlichkeit des hierauf gefolgten ſilbernen Zeitalters; die urſprüngliche Fülle menſchlicher Lebenskraft beginnt in ihm ſchon zu weichen. Doch wachſen in ihm noch hundertjährige Knaben heran unter ihrer Mütter ſorgſamer Pflege, welche dann freilich nach erreichtem Mannesalter raſch wieder hin - welken in Folge ihrer Thorheit. Denn den unſterblichen Göttern wollten ſie nicht dienen, noch die gebührenden Opfer ihnen bringen; deßhalb verbarg Zeus der Kronide ſchon bald ſie im Zorne unter der Erde und machte aus ihnen das Geſchlecht der Unterirdiſchen , der ſeligen Todten zweiten Rangs. Es folgte das eherne Zeitalter des aus harten Eſchen gemachten kriegeriſchen und ge -99III. Die Traditionen des Heidenthums.waltigen Geſchlechts, dem nur des Ares blutiges Handwerk am ſtahlharten Herzen lag und das ſich nicht mehr ernährte von den Früchten der Erde, ſondern voll unerſättlicher Gier war. Eherne Waffen, eherne Häuſer und ehernes Geräth hatten dieſe Menſchen, noch nichts von Eiſen. Durch ihrer Hände Blutthat gebändigt, ſtiegen ſie ruhmlos hinab in des Hades finſtere Behauſung. Daß bei dieſem ihrem Untergange das Gericht einer großen Fluth wirkſam gedacht iſt, erhellt nicht beſtimmt aus Heſiods Schilderung, wohl aber aus den Parallelberichten andrer mythologiſcher Quellen, welche das eherne Zeitalter durch die Deukalioniſche Fluth beendigt werden laſſen. 1)Vgl. Heſiod, l. c. 152 155 mit Apollodor, Biblioth. I, 7, 2; auch Ovid, Metam. I, 151 ff. Das nun folgende Zeitalter der Heroen unterbricht auf eigenthümliche Weiſe die abſteigende Stufenleiter der immer geringer und härter werdenden Metalle. Als kriegeriſch wird auch dieſes Geſchlecht dargeſtellt; die Kämpfe um das ſiebenthorige Theben und um Troja waren ſein Werk. Aber es war doch gerechter und edler, als die Menſchen der vorhergehenden Zeit, ein halbgöttliches Heldengeſchlecht auf der Erde, das zum Theil zwar dem Tode anheimfiel, zum Theil aber noch ein ſeliges Daſein unter des Kronos mildem Scepter auf den fernen Jnſeln der Seligen im Okeanos fortführte. Erſt das fünfte Zeitalter iſt das gegen - wärtige, dem anzugehören keiner ſich rühmen noch ſich wünſchen ſoll:

Denn ein Geſchlecht von Eiſen lebt jetzt; nicht ruht es bei Tage,
Auch nicht bei Nacht, ſich ſelbſt zu verderben mit Mühſal und Jammer.
Nicht iſt der Vater ähnlich dem Kind, noch das Kind ſeinem Vater:
Freund iſt nicht dem Wirthe der Gaſt, noch zweier Gefährten
Einer dem Anderen ſo, wie ſichs ziemt und wie es zuvor war.

Mit ſo düſteren Farben wird das Elend dieſer letzten Zeit gemalt, daß der Verdacht einiger Kritiker, denen eine in die Schilderung ver - flochtene Hindeutung auf einiges dem Schlimmen doch immer noch beige - mengte Gute, als ſpäteres Einſchiebſel gilt,2)So Lehrs (Quaestt. epicae) u. Göttling; vgl. d. Letzt. zu Opp. et dies, v. 179. faſt gerechtfertigt erſcheint.

7*100III. Die Traditionen des Heidenthums.

Auch in der durch Heſiods Theogonie in älteſter Faſſung über - lieferten Sage von den Titanen ſind bedeutſame Anklänge an die altteſtamentliche Ueberlieferung über die Zeit vor der Sintfluth, und zwar ſpeciell an die kainitiſche Patriarchenreihe mit ihren Cultur - beſtrebungen und Erfindungen enthalten. Zu dieſen rieſenhaften Söhnen der Erde und Empörern gegen den Himmel gehören außer Kronos, dem Könige des goldnen Zeitalters und außer Japetos, deſſen Name dem des dritten Noahſohnes entſpricht, der Feuerfinder Prometheus, der Sündfluth-Ableiter und zweite Menſchheitsſtamm - vater Deukalion, der als Erfinder der Aſtronomie und Verfertiger der erſten Himmelskugel geltende Atlas. Nahe ſtehen dieſer Gruppe mythiſcher Figuren die blitzeſchmiedenden Kyklopen, des Schmiede - gottes Hephaiſtos Gehilfen, ſowie das uralte (nach Ovid durch die Sintfluth vertilgte) Zauberprieſtergeſchlecht der Telchinen, durch welches die Sage der Rhodier die Erz - und Eiſenbereitung ſammt allerlei magiſchen Künſten erfunden werden läßt. 1)Heſiod, Theog. 133 ss. Diodor, V, 56. Ovid, Metam. VII, 367 ss. Ungewöhnlich lange Lebensalter werden für dieſe mythiſchen Urgeſchlechter ſelbſt - verſtändlich vorausgeſetzt, hie und da auch ausdrücklich erwähnt. Von dem Volke der Arkadier, das ſich mit beſonderem Stolze ſeines Autochthonenthums oder ſeiner vormondlichen Abkunft (als〈…〉〈…〉 -) 〈…〉〈…〉) rühmte, wiſſen Cenſorinus und Sergius der Vergilcom - mentator zu erzählen, daß bei ſeinen früheſten Königen ein mehr als 300jähriges Lebensalter einſt das Gewöhnliche geweſen ſei. Andere, ſchon früherer Zeit angehörige griechiſche Gewährsmänner für ein Makrobierthum der Urzeit waren Akuſilaus, Hellanikus, Ephorus, Hekatäus und Nikolaus von Damaskus. 2)Dieſe größtentheils ſchon von Grotius, De veritate religionis Christianae I, 33 (neben Manetho und den Phönikiern Mochus ꝛc. ) als heid - niſche Zeugen für die Thatſächlichkeit außerordentlich langer Lebensdauer in der Urzeit aufgeführt. Vgl. Cenſorinus De die nat. 17, 3; Servius zu Aen. VIII, 315 ss.

101III. Die Traditionen des Heidenthums.

Wir begnügen uns mit dieſer Aufzählung, die ſich leicht durch noch andre nationale Sagen aus dem älteren wie neueren Heiden - thum hätte vermehren laſſen. Das von uns Zuſammengeſtellte reicht dazu hin, die Erinnerung an eine urſprüngliche Zeit gewal - tigerer Urkraft, reinerer Unſchuld, größerer Langlebigkeit und unge - ſtörterer Glückſeligkeit der Menſchen als ein Gemeingut ſämmtlicher älterer Culturnationen darzuthun. Mehr oder minder craß natu - raliſtiſche Züge erſcheinen dieſen heidniſchen Parallelen zu den Kapiteln 2 11 des erſten Buchs der Bibel ſtellenweiſe allerdings beigemengt. Namentlich das Autochthonenthum, die Jdee einer Erdgeburt der Menſchen oder ihres Entwickeltſeins aus Bäumen u. dgl., ſpielt auf verſchiednen Punkten in das betrachtete Sagen - gewirre hinein. So wird weiter unten (Nr. VIII) auch gewiſſer bei einzelnen Völkern eine Rolle ſpielender Affen-Mythen zu ge - denken ſein. Doch kommt dieſen evolutioniſtiſchen Gedanken, ver - glichen mit dem weit ſtärker vertretnen degradationiſtiſchen Element, durchweg eine untergeordnete Bedeutung zu. Und namentlich im claſſiſchen Heidenthum hat diejenige Faſſung der naturaliſtiſchen Geſchichtsphiloſophie und Lehre vom Menſchen, welche dieſen als bloßes Entwicklungsproduct der Materie denkt und jeder Annahme eines urſprünglichen Vollkommenheitszuſtands fern bleibt, entſchieden als Product einer ſpäteren philoſophiſchen Reflexion zu gelten, die niemals Volksglaube war noch werden konnte, deren Gegenſatz zu jener der bibliſchen Geſchichtsanſicht näher ſtehenden älteren und verbreiteren Tradition alſo von keiner Bedeutung iſt. Die meiſten dieſer Speculationen helleniſcher Philoſophen über den rein natürlich gedachten Urſprung des Menſchengeſchlechts und ſeiner Cultur, in welchen theils der Materialismus theils der Darwinismus unſerer Tage gern ihre Vorläufer erblicken, erſcheinen als die Einfälle ein - zelner, mehr oder minder iſolirt ſtehender Köpfe von geringem Einfluſſe auf das Ganze der Volksmeinung. Was kümmerte es die große Menge, ob Anaximander den Menſchen aus Thieren von andren Formen als die heutigen , und zwar zunächſt aus102III. Die Traditionen des Heidenthums.waſſerbewohnenden Thieren, hervorgehen ließ, oder ob Empedokles Strauchwerk, Vogel und meerbewohnenden Fiſch als die unſrem Geſchlechte vorausgegangene Ahnenreihe nannte und ächt-darwiniſtiſch von einer Ausbildung des menſchlichen Gebiſſes mit ſeinen Schneide -, Eck - und Backenzähnen durch fortſchreitende Kau - und Beiß-Uebungen fabelte, oder ob der ſpäte Philo von Byblus dem angeblich uralten phönikiſchen Chroniſten Sanchuniathon gewiſſe confuſe Nachrichten über einen uranfänglichen Baumcultus der Menſchen (dem zunächſt Sonnenanbetung, dann Feuer - und Wind-Vergötterung, Pfeiler - Anbetung, zuletzt Menſchen - und Götterverehrung gefolgt ſei) an - dichtete! 1)Anaximander, b. Plutarch Placita philosophor. V, 19; Empe - dokles b. Ariſtoteles Phys. II, 8 (vgl. Zeller, Ueber gewiſſe griech. Vor - läufer Darwins, in dem Sitzungsber. der Berl. Akad. Oct. 1878), ſowie in den bekannten Hexametern (Fragm., v. 469 s.):〈…〉〈…〉. Sauchuniath. (Philo v. Byblus) b. Euſeb., Praep. evang. I, 6 (Ueber die Fingirtheit dieſes Sanchuniathon vgl. Movers und W. Baudiſſin).Selbſt die materialiſtiſchen Lehren Epikurs von einem rein nur durch natürliche Uebung und Gewöhnung bewirkten lang - ſamen Werden aller menſchlichen Sitten haben nie eine weit und tief greifende Wirkung geübt; ebenſo wenig ſeines Jüngers Lucretius Verſuche zu poetiſcher Verklärung dieſer Anſchauungen in Verſen wie jene von unſren Bronzezeit - und Pfahlbautenforſchern viel - bewunderten:

Hände waren die Waffen der Alten, und Krallen und Zähne;
Steine ſodann und Aeſte, von Bäumen des Waldes gebrochen;
Später erſt wurde erkannt die Stärke des Eiſeus und Erzes;
Aber des Erzes Gebrauch war früher, als jener des Eiſens.
2)De nat. rerum V, 1281 ss.
2)

Mochten einzelne naturphiloſophiſche Richtungen an ſolchen Betrachtungen Gefallen finden; mochte dem Stoicismus wieder eine andre Art evolutioniſtiſcher Geſchichtsbetrachtung, die beiſpielsweiſe103III. Die Traditionen des Heidenthums.bei Seneca und Florus eine Rolle ſpielende Verwendung der menſch - lichen Lebensalter, Kindheit, Jugend, Mannheit, Greiſenalter zur Periodiſirung der Geſammtgeſchichte, beſſer zuſagen:1)Seneca b. Lactanz, Instit. VII, 15. Florus, Epit., Prooem. auf die alt - hergebrachten religiöſen Volksvorſtellungen vom Urſprung und der Urzeit unſres Geſchlechts hat das alles doch nur geringen Einfluß geübt. Noch zu Pauli Zeit lebt die Erinnerung an das einſtige Wandeln der Götter unter den Menſchenkindern auf Erden bei den Lykaoniern zu Lyſtra in voller Stärke fort, ſteht aber auch bei Athens Philoſophen das Dichterwort vom Zeus-Urſprung oder göttlichen Geſchlechte der Menſchen in Ehren (Apg. 14, 11 f. ; 17, 28). Später noch ſieht man einen Plutarch über die Empe - dokleiſchen Fiſchurſprungslehren bitter ſpotten, und andre Philoſophen in ihren Bemühungen um Rettung und Stärkung des alten Volks - glaubens noch viel weiter gehn. 2)Plut. (Sympos. VIII, 8). Vgl. Maximus v. Tyrus, Aelian ꝛc.

Die Bekräftigung der bibliſchen Urſtandslehre in ihren allge - meinen Umriſſen durch das Zeugniß der heidniſchen Mythen und auch vieler angeſehener Philoſophen (argumentum e consensu gentium et philosophorum potiorum) läßt in der That wenig zu wünſchen übrig. Die zurückbleibenden Discrepanzen ſind in der Hauptſache nur ſolche, die ſich jeweilig aus der Grundrichtung der betr. Nationalreligionen ſowie aus dem bedingenden Einfluſſe ört - licher Ueberlieferungen mit Nothwendigkeit ergeben, ohne den Kern der Sache zu berühren. Ein goldnes Zeitalter mit darauf gefolgtem allmähligem Herabſinken zur Dürftigkeit und Kümmerlichkeit heutiger Zuſtände, eine Paradieſes - ſonne mit langſam erbleichendem Glanze iſt in der That Gemeinbeſitz der Traditionen aller älteren Völker. Darf dieſes Ergebniß als ſo ganz bedeutungslos auf Seite gelegt werden?

Man hat der Thatſache durch mehrerlei Betrachtungen ihr104III. Die Traditionen des Heidenthums.apologetiſches Gewicht zu nehmen geſucht. Die bibliſche Urſtands - lehre iſt eben einfach die Quelle aller jener mit ihr überein - ſtimmenden Sagen des Heidenthums, hat man geſagt; auf zum Theil nicht mehr nachweisbaren Wegen haben hebräiſch-jüdiſche oder auch erſt chriſtliche Einflüſſe die betr. Nachrichten dem Sagenſchatze der Völker in Nah und Fern übermittelt , u. ſ. f. Unmöglich, wird jeder unbefangene Geſchichtskundige mit uns antworten. Gerade die dem altteſtamentlichen Volke Gottes zunächſt wohnenden Völker des Orients wie des Abendlands weiſen ihre Parallelen zur bib - liſchen Ueberlieferung in Urkunden auf, deren hohes Alter den Ge - danken an ihre Unſelbſtändigkeit gegenüber jener nicht aufkommen läßt. Wenn ferner wohnende oder ihrem Culturleben nach jüngere Stämme, wie manche Völker Oſtaſiens und Afrikas, die Südſee - völker, die Germanen Nordeuropa’s, den Gedanken an eine Ent - lehnung gewiſſer Elemente ihrer Sagen aus bibliſcher Quelle ſchon eher zulaſſen, ſo betrifft das entweder nur die jüngſte Faſſung und Einkleidung ihrer Berichte, während deren Kern als alt und ur - ſprünglich in Geltung belaſſen werden muß; oder die Thatſache der Entlehnung bleibt, als mehr oder minder vereinzelte (wie in dem Falle der wahrſcheinlich entweder jüdiſch oder chriſtlich verurſachten Karenen-Sagen vom Sündenfalle ꝛc. ), gegenüber der Fülle ſonſtiger beſtätigenden Zeugniſſe von ſelbſtändigem Werthe unerheblich und belanglos.

Andere haben geſagt: Die bibliſche Sage iſt eine Sage wie viele andre Sagen der Völker, eine Mythenbildung des hebräiſchen Volksgeiſtes, gleichwie die Titanenſage ꝛc. mythiſches Produkt der griechiſchen Stämme, die Oſirisſage ägyptiſcher, die Jima-Sage perſiſcher, die Fohi-Sage chineſiſcher Nationalmythus ſind; darum tragen die mancherlei, meiſt doch nur entfernten Anklänge außer - bibliſcher Traditionen an den Jnhalt der Eingangskapitel der Bibel eher zur Herabſetzung als zur Hebung des Anſehens dieſer letzteren bei. Dieſe modern-rationaliſtiſche Mythentheorie ſchließt mehrerlei Proben von oberflächlichem Räſonnement und Gedankenloſigkeit in105III. Die Traditionen des Heidenthums.ſich. Sie verkennt erſtlich das Durchgreifende der ſtattfindenden Uebereinſtimmungen, welche nicht etwa bloß das einſtige Zeitalter des Glücks und der Unſchuld, ſondern auch ſeine nur ſtück - und ſchrittweiſe ſtattgehabte Entziehung und dazu ſo manche beſondere Umſtände, wie die langen Lebensalter, das Fortſchreiten in Kriegs - und Friedenskünſten, die Fluthkataſtrophe ꝛc. betreffen. Sie würdigt ferner nicht nach Gebühr den Umſtand, daß es Völker der ver - ſchiedenſten Art, Repräſentanten weit auseinandergehender Aeſte des Menſchheitsſtammes, ſemitiſche und indoeuropäiſche, dazu turaniſche, malaiſche u. a. Völker ſind, bei welchen ſich die fraglichen Ueber - lieferungen als Zeugniſſe nicht bloß für ihren gemeinſamen Urſprung, ſondern auch für ihren Urmonotheismus vorfinden. Sie überſieht nicht minder den Charakter heiliger Reinheit, Urſprünglichkeit und Nichtentſtellung durch naturaliſtiſch mythiſche Zuthaten ſowie nament - lich durch Züge eitlen Nationalſtolzes und hochmüthiger Barbaren - Verachtung, welcher der bibliſchen Faſſung der Urſtandstradition als unwiderſprechliches Zeugniß ihres höheren Urſprungs, ihres wirklichen Geoffenbartſeins, ihres Herrührens aus göttlich über - machten Erlebniſſen, Erinnerungen und Ueberlieferungen eigen iſt. 1)Vgl. Ebrard, Apolog. II, 86: Die Gemeinſamkeit der Sage zwingt zu dem Schluſſe auf die Gemeinſamkeit und Einheit ihres Urſprungs .... Von den gemeinſamen Vorvätern der ſemitiſchen Jsraeliten und der indogermaniſchen Eranier uud Jnder iſt jene Tradition auf dieſe verſchiednen Völker vererbt wor - den ... Bei dieſer Annahme kommen wir über die Thatſache nicht hinaus, daß die gemeinſamen Vorfahren der Semiten und der Jndogermanen ſchon die Erkenntniß des Einen lebendigen heiligen Gottes und den Glauben an ihn be - ſaßen; denn dieſer Glaube bildet ja die Grundlage und den Jnhalt jener gemein - ſamen Urſage oder Tradition , ꝛc.

Eine noch modernere ſkeptiſche Betrachtungsweiſe ſucht die viel - fachen Uebereinſtimmungen, um die es ſich handelt, völkerpſycho - logiſch zu erklären: die allen Menſchen überhaupt gemeinſame Neigung, die guten alten Zeiten zu loben, die Zuſtände der Gegen - wart aber herabzuſetzen und möglichſt ſchlecht zu machen, habe die Paradieſestraditionen hier wie dort, bei Semiten wie bei Ariern,106III. Die Traditionen des Heidenthums.im Oſten wie im Weſten erzeugt; das gemeinſame Sagengut vom goldnen Zeitalter ſei den vielen Völkern mit derſelben Naturnoth - wendigkeit gemeinſam, wie das Gold ſelbſt; die metallene Weltalter - folge ſei nichts als ein zufällig manche überraſchende Gleichklänge ergebender Reflex der im Schooße der Länder verborgenen mancherlei Metallſchätze innerhalb der mythendichtenden Phantaſie , u. ſ. f.1)Siehe beſ. Ed m. Pfleiderer, Die Jdee des goldnen Zeitalters ꝛc., S. 13: Es würde ſich nur darum handeln, genauer zu zeigen, wie unſre Phantaſie in der That die Fähigkeit, ja den unwiderſtehlichen Drang hat, eine derartige Vergoldung des Morgenhorizonts der Menſchheit aus ſich ſelbſt hervorzuzaubern. Wer lennt ſie nicht von täglicher Erfahrung her, die far - benreiche Poëtin oder die ſchöpferiſche Künſtlerin, welche den ſonſt matt gewordenen Greis, und nicht blos ihn, ſo eifrig und beredt macht in lobpreiſender Aus - malung der Zuſtände, wie ſie früher waren? Damals kam der Frühling bäl - der und war üppiger in ſeiner Blüthenpracht, der Sommer aber that gleichfalls noch ſeine ihm obliegende Schuldigkeit und zeitigte ſeine Gaben unter kräftiger Sonne; darum war damals auch der Herbſt noch ganz etwas anderes als jetzt ꝛc. ꝛc. .... Was aber die Hauptſache iſt, auch die Menſchen waren viel beſſer, viel ehrlicher und gerader, viel friſcher und geſünder, als das jetzige ver - derbte und verkommene Geſchlecht ꝛc. Alſo der Peſſimismus, dieſer der Menſchheit aller Zonen ge - meinſame Grundzug (!?), ſoll die Verantwortung für jene zahlreichen merkwürdigen Uebereinſtimmungen tragen! Das Paradies der Urzeit ſoll, wo es uns nur begegnet, ein naturwüchſiges Product peſſimi - ſtiſcher Gemüthsſtimmung ſein, ähnlich wie das Paradies der Zu - kunft, wie jede meſſianiſche Znkunftshoffnung, jede chialiſtiſche oder dem Chiliasmus verwandte Erwartung, jedes hoffende Ausſchauen auf wiederkehrende Davide oder Friederiche oder Sebaſtiane ꝛc., eine Frucht optimiſtiſcher Phantaſien ſein ſoll. Glaube, wer’s kann! Auch bei dieſer Meinung wird es mit den ebenſo durchgreifenden als im Einzelnen überraſchenden Congruenzen der bibliſchen mit der außerbibliſchen Ueberlieferung ſonderbar leicht genommen. Dieſes conſtante Wiederkehren der Erinnerungen an ein Paradies mit ſei - nem Lebensbaume, an höhere Lebensalter und größere Kraft der107III. Die Traditionen des Heidenthums.früheſten Geſchlechter, an eine abſteigende Folge der Zeitalter, eine große Fluth ꝛc. kann ſchwerlich ſo beurtheilt werden, wie das Vor - kommen grünlicher und gelblicher Nephrit - und Jadeït-Werkzeuge bei den Völkern faſt aller Welttheile, oder wie die ähnlichen Phänomene einer Jdentität gewiſſer Lieblingsgeräthe, abergläubiger Sitten, Cere - monien ꝛc. bei Stämmen der verſchiedenſten Art. Jene mythologi - ſchen Parallelen mit ihren auffallend beſtimmten Anklängen an die bibliſche Urgeſchichte haben denn doch etwas Anderes zu bedeuten, als das gleichzeitige und wohl von einander unabhängige Vorkommen heiliger Steinkreiſe (Cromlechs), Felſentiſche (Dolmen) und Stein - pfeiler (Menhirs) im celtiſchen Weſteuropa, in Nordafrika und in Hinterindien; oder als die analoge ſporadiſche Wiederkehr ſolcher Gebräuche wie das Nägeleinſchlagen in Unglücksbäume und ſonſtige Beſchwörungs - und Behexungsriten, das ſitzende Begraben der Todten, das Trinken aus Schädelbechern, das Spitzfeilen der Zähne u. dgl. m. Die Vorliebe für diejenige Auffaſſung dieſer ethnographiſchen Pa - rallelen , welche dieſelben als völlig unabhängig voneinander ent - ſtanden denkt, unter möglichſtem Ausſchluſſe jeder Entlehnungs - Hypotheſe , iſt dermalen weit genug verbreitet;1)Vgl. beſonders Rich. Andree, Ethnographiſche Parallelen und Ver - gleiche. Stuttgart 1878. Auch verſchiedne Aufſätze im Globus , z. B. 1879, S. 288. es mag ihr auch, abgeſehen von einer Reihe von Fällen, wo ſie ſich notoriſch einer Competenz-Ueberſchreitung ſchuldig macht (vgl. darüber unten) eine gewiſſe beſchränkte Wahrheit zuzugeſtehen ſein, namentlich betreffs ſolcher Sitten wie die zuletzerwähnten. Dagegen jedoch, daß man dieſe Betrachtungsweiſe ohne Weiteres auch auf den uns beſchäfti - genden Complex urzeitlicher Sagen ausdehne, müſſen wir, und zwar nicht blos auf Grund unſres Glaubens an die Schrift ſondern auch aus wiſſenſchaftlichen Gründen, entſchieden proteſtiren. Es handelt ſich hier nicht um bloße Geſchichten oder Schwänke, gleich den nordamerikaniſchen Jndianermythen über Schöpfung ꝛc. oder gleich ſonſtigen Einfällen mäßigen Phantaſirens roher Naturvölker; auch108III. Die Traditionen des Heidenthums.ſind es ja nicht einzelne abgeriſſene Reminiſcenzen oder veriſolirte Mythen-Bruchſtücke, die wir hie und da, bei Völkern der verſchie - denſten Zonen und Zungen wiederkehren ſahen. Es ſind ganze Sagen-Complexe, deren Wiederkehr unter den verſchiedenſten Um - ſtänden und bei Culturnationen faſt aller Himmelsſtriche wir zu beobachten hatten. Sagen-Complexe ſind es, deren einzelne Elemente allerdings mehrfach verworfen oder ſeltſam ineinander gewirrt er - ſcheinen, die auch durch Einmengung fremdartiger polytheiſtiſcher Vorſtellungen theilweiſe entſtellt oder in Folge ähnlicher Einflüſſe hie und da verſtümmelt auftreten, aber immerhin doch Sagen-Com - plexe, deren Zurückgehen auf einen gemeinſamen Urſprung nach allen Regeln geſunder und unbefangener Geſchichtsforſchung mit Entſchie - denheit behauptet werden muß, und zwar unter Ausſchluß jener oben berührten ſchlechten Entlehnungshypotheſe, die alle die vielen natio - nalen Ausprägungen der Sage direct aus der Bibel ſelbſt herleiten will, als einer geſchichtlich unmöglichen Annahme. Es verdient als lehrreich hervorgehoben zu werden, daß ein principieller Gönner der hier beſtrittenen völkerpſychologiſchen Betrachtungsweiſe mit ihrem Verſuche zur Natürlicherklärung des in Rede ſtehenden Phänomens am Schluſſe ſeiner Prüfung des Sachverhalts doch zu dem Reſultate gelangt: eine gewiſſe geſchichtlich-thatſächliche Grundſubſtanz der mancherlei Urſtands-Sagen müſſe denn doch wohl angenommen wer - den. Es gelte in der vergoldeten Schaale den wahren Kern anzu - erkennen, nur freilich nicht ſo, daß man dieſe als mehr bloß ideal - wahre reinere und glücklichere Urzeit bis in die erſte Kindheit unſres Geſchlechts zurückſchiebe, ſondern vielmehr ſo daß man ſie als auf einen thierartig rohen allerfrüheſten Urzuſtand erſt etwas ſpäter gefolgt denke. 1)So, wie bereits oben im erſten Abſchnitte von uns erwähnt, Pfleiderer a. a. O., S. 24 f.So hätte denn die Römerſage von Saturn als dem Lehrmeiſter der ungeſchlachten Baum - und Klotzmenſchen der erſten Aboriginerzeit das allein Richtige getroffen! Vergils Schil - derung im achten Buche der Aeneide wäre der Wahrheit am Näch -109III. Die Traditionen des Heidenthums.ſten gekommen; die übrigen meiſt älteren Faſſungen der Sage ver - dienten keinen Glauben! Auf eine ernſthafte Widerlegung dieſer Annahme brauchen wir uns wohl nicht einzulaſſen. Es iſt eben Geſchmacksſache, ob man einer einzelnen Verſion des vielgeſtaltigen Sagenkreiſes den Vorzug ertheilen, alle übrigen aber als unzurech - nungsfähig bei Seite laſſen will. Poëtenwillkür iſt es, welche dort epikuriſch-lukretianiſche Phantaſien mit der älteren Grundgeſtalt der Sage verſchmilzt, und Philoſophenwillkür iſt es, welche hier einen realen Kern der Urſtandsſagen zwar ſtatuirt, ihm aber einen mo - dernen Unterbau à la Darwin gibt.

Noch eine letzte Modification derjenigen neueren Theorien, mittelſt deren man das Gewicht der zahlreichen mythologiſchen Pa - rallelen zur bibliſchen Urſtandsgeſchichte zu entkräften ſucht, muß hier erwähnt werden. Es iſt die vornehme Betrachtungsweiſe einer ju - gendlich kühn emporſtehenden altteſtamentlichen Kritikerſchule, welche das Gleichartige der bibliſchen Urſtandsſagen mit den außerbibliſchen einfach ſo erklärt, daß ſie ein Eindringen dieſer letzteren in die als erſt ſpät entſtanden gedachten bibliſchen Quellen behauptet. Die bibliſchen Schriftſteller haben abſichtlich die Ur - und Vorgeſchichte Jsraels ſo componirt, daß ſie den Urtraditionen der übrigen orien - taliſchen Nationen, ſo weit als der ſchriftſtelleriſche Plan dieß zuließ, conform geſtaltet wurde. Die Harmonie der Sagen, um welche es ſich handelt, iſt weder ein Werk des Zufalls, noch ein Produkt pro - videntieller Veranſtaltung oder ein Ergebniß göttlich geleiteter Ent - wicklung der Völker aus Einem Urgrunde: ſie iſt ein Tendenz - machwerk, abſichtlich und überlegterweiſe herbeigeführt durch die Redaktoren der pentateuchiſchen Urkunden . Man ſieht, hier wird jene oben zuerſt betrachtete ältere Entlehnungshypotheſe umgekehrt und auf den Kopf geſtellt. Statt eines bibliſchen Urſprungs der heidniſchen Sagen, wird ſozuſagen ein heidniſcher Urſprung der bib - liſchen behauptet. Dabei bringt es aber dieſe Betrachtungsweiſe über eine gewiſſe Halbheit ihres Verfahrens doch nicht hinaus. Die elohiſtiſchen Beſtandtheile des Pentateuchs, alſo die Schöpfungs -110III. Die Traditionen des Heidenthums.geſchichte, die Genealogie der Patriarchen von Seth bis Noah, die Grundlage des Sintfluthberichts ꝛc., gelten ihr als erſt nachexiliſchen Urſprungs, alles Jehoviſtiſche aber als ſchon älter. Jm Paradieſes - und Sündenfallsbericht ſteckt nach ihr alſo älteres Sagengut aus der Prophetenzeit; die Schöpfungsgeſchichte u. ſ. f. ſind Producte jüngerer und freierer, ſich nicht an alte Mythen des Orients (ins - beſondere der Euphratvölker) anlehnender ſchriftſtelleriſcher Reflexion. Reflexionsproducte ſind ſie freilich beide; auch ſchon der jeho - viſtiſche Erzähler iſt eifrig darauf ausgeweſen, von den Sagenſtoffen, die er den mythiſchen Traditionen von Jſraels Nachbarvölkern ent - nahm, das eigentlich Mythiſche und Grobheidniſche möglichſt abzu - ſtreifen, was ihm natürlich minder vollkommen gelang, als dem auf ſeinem ſtreng monotheiſtiſchem und abſtract-theologiſchen Standpunkte faſt völlig frei dichtenden prieſterlichen Urheber der Elohim-Urkunde. 1)Näheres ſ. bei Wellhauſen, Geſchichte Jsraels I, 339 352, beſon - ders S. 347. Es gehören feine Spürnaſen dazu, die Richtigkeit ſolcher Aperçu’s nachzuempfinden; nicht Jedermann beſitzt ſie. Wir an unſrem be - ſcheidnen Theile können, wie aus dem vorigen Abſchnitte erhellt, den Unterſchied des elohiſtiſchen und jehoviſtiſchen Standpunkts in Be - handlung der Urgeſchichte nicht ſo groß finden, daß wir dem erſteren die Beeinfluſſung durch die gemeinſame religiöſe Urtradition Vorder - aſiens, welchen man dem Jehoviſten in reichlichem Maße zuſchreibt, abzuſprechen für nöthig hielten. Wir meinen: ſie ſchöpften Beide aus jenem uralten religiöſen Sagenſchatze der für uns freilich kein mythiſcher, ſondern ein der Uroffenbarung Gottes an das Men - ſchengeſchlecht entſtammender iſt; und was ſie aus ihm über des Menſchen urſprüngliches Verhältniß zu Gott, ſein allmähliges Ab - weichen von ſeinen Wegen und Entfallen aus ſeiner Gemeinſchaft, ꝛc. mittheilen, ſieht ſich nicht gar ſo unähnlich, daß darum eine Kluft von Jahrhunderten zwiſchen ihren beiderſeitigen Aufzeichnungen be - feſtigt werden müßte. Die großen Grundwahrheiten der altteſta - mentlichen Religion, welche Gen. 1 umſchließt: des heiligen und gei -111III. Die Traditionen des Heidenthums.ſtigen Schöpfergottes weltſchöpferiſches Walten und ſeine Erſchaffung des Menſchen nach ſeinem heiligen Bilde: ſie bilden ebenſo gut die unumgängliche Vorausſetzung zur Exiſtenz der Prophetie, dieſer treuen Wächterin und Jnterpretin der Grundſubſtanz der Offenbarung, wie das was, ſachlich mit jenen Wahrheiten übereinſtimmend wenn - ſchon in theilweiſe andre Formen gekleidet, in den folgenden Kapiteln zur Ausſage gelangt, als deren Urheber man ſich gern einen der Propheten des eigentlichen Propheten-Zeitalters denkt. Vorexiliſch können und müſſen ſie beide ſein, die erſte wie die zweite Urkunde; eine unbefangene, von moderner Blaſirtheit freie Betrachtungsweiſe wird auch ferner nicht umhin können, gerade in der elohiſtiſchen Tra - dition die, weil einfachere, darum ältere und urſprünglichere Ueber - lieferung zu erblicken. Wollte man der perſiſchen und ſeleucidiſchen Epoche der israelitiſchen Volksgeſchichte überhaupt eine ſo bedeutende theologiſche Productionskraft wie die des Verfaſſers der pentateuchi - ſchen Grundſchrift, dieſes großen Unbekannten der Esra-Zeit, zu - ſchreiben: warum dann lieber nicht noch weiter gehen, warum den Jahrhunderten zwiſchen Cyrus und Herodes nicht noch mehr große Unbekannte zuweiſen? Was hindert’s doch, mit dem ſcharfſinnigen Franzoſen Erneſt Havet1)Les Origines du Christianisme. Vol. III: Le Iudaisme. Paris 1878. die tendenzkritiſchen Operationen auf die äußerſte Spitze zu treiben und auch die ganze Prophetenliteratur, mithin auch die jehoviſchen Abſchnitte der Thora, erſt in dieſe ſpäten Zeiten, die man früher für nachhebräiſch und nachkanoniſch zu halten pflegte, zu verlegen? Raum genug iſt ja vorhanden: man ſetze nur, wie Havet dieß wirklich thut, die Grundſchrift des Pentateuchs in Esras Zeit, dann die prophetiſche Literatur ins Makkabäerzeitalter, das Danielbuch aber nebſt einem großen Theil der Pſalmen unter Herodes! Speculative Köpfe jüdiſcher Nation wie Zunz, Gräz u. AA. haben ja hiezu ſo ſchön den Weg gebahnt. Wahrhaft conſequent können wir in der That das Verfahren erſt dieſer Ultras der tendenz - kritiſchen Richtung finden. Erſt durch ſie wird das Zerſtörungswerk vollſtändig gethan, um das es ſich hier handelt.

112III. Die Traditionen des Heidenthums.

Laſſen wir ſie ſich austoben, die Wogen eines kritiſchen Ueber - muths, der dem friſchen Brunnquell göttlicher Wahrheit und Lebens - kraft ſelber doch nichts anhaben kann! Eins vermag keiner der im Bisherigen betrachteten Verſuche zur Entwerthung der bibliſchen Ur - geſchichte und zur Erſchütterung ihrer Glaubwürdigkeit: die Parallelen der heidniſchen religiöſen Tradition von ihr loszureißen, ſie ihres hohen Zeugenwerthes zu berauben und als lediglich zufällige oder ſcheinbare Anklänge an das bibliſch Ueberlieferte darzuthun. Was das Alte Teſtament vom Urſtande unſres Geſchlechts und ſeinem allmähligen Verlorengehen bei gleichzeitigem Aufkeimen der Anfänge einer vorwärtsſtrebenden Culturentwicklung überliefert und was die Sagen ſämmtlicher Haupt-Culturvölker in weſentlichen Einklange damit berichten, das gehört unabtrennbar zuſammen und bleibt als Ein Ganzes, Ein Grundſtock urzeitlicher Reminiſcenzen der Völker - welt, feſt miteinander verbunden, wie immer man im Einzelnen das Verhältniß beider Theile zu einander ſich denken möge. Um die bibliſche Urgeſchichte als den Kern der Feſtung gruppiren ſich die an Alter mit der muthmaaßlichen Entſtehungszeit der bibliſchen Ur - kunden großentheils wetteifernden altheidniſchen Traditionen ähnlichen Jnhalts als eine Reihe verſtärkender Bollwerke herum. Beide ſtehen und fallen miteinander. Man kann nicht die Außenwerke preisgeben, ohne den Kern mit zu überliefern; unmöglicher noch iſt’s, unter Verlaſſung des Kernes ſich in dieſen oder jenen Theil der Außen - werke flüchten und nur ihn als feſt und angeblich uneinnehmbar behaupten zu wollen. Mit einer ſolchen halben Uebergabe wie die hier angedeutete gibt der moderne Unglaube ſich auch keineswegs zufrieden. Er will das Ganze niederwerfen; mit Stumpf und Stiel ſoll hinweggemäht werden, was nur von Glauben an eine einſtige rei - nere und glücklichere Urbeſchaffenheit unſres Geſchlechts aus alter Zeit her überliefert iſt. Vergegenwärtigen wir uns zunächſt, vor näherem Eingehen auf die Gründe dieſer Gegner, das allmählige Zuſtandekom - men ihrer radikalen Oppoſition, mittelſt überſichtlicher Betrachtung des betr. Entwicklungsganges ſeit dem Reformationsjahrhundert.

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IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.

Es währte ziemlich lange, ehe das neubelebte claſſiſche Heiden - thum des Humanismus ſich mit der kirchlichen Urſtandslehre zu entzweien begann. Das goldne Zeitalter der antiken Mythologie und Poeſie erſchien den meiſten Jüngern dieſer Geiſtesrichtung als ein hinreichendes Aequivalent des bibliſchen Paradieſes. Der in ihren Kreiſen meiſt vorherrſchende Platonismus nöthigte nicht gerade dazu, dieſe ideale Vorſtellung von den Anfängen der menſchlichen Entwicklung aufzugeben. Der ſtrengeren Ariſtoteliker aber oder der Anhänger Epikurs und Lukrez’s gab es verhältnißmäßig nur wenige, und insbeſondere den Erſteren lag es nahe, ihren Zwieſpalt mit der Kirchenlehre in der vorſichtigen Weiſe eines Pomponazzo durch Unterſcheidung des philoſophiſch - vom theologiſch-Wahren zu ver - bergen.

Der franzöſiſche Skeptiker und freigeiſtige Politiker Jean Bodin ( 1597) iſt einer der früheſten Repräſentanten des modernen Heiden - thums, die das Dogma vom heiligen Urſtande der Menſchheit direct angriffen und über Bord warfen. Jn ſeiner 1566 geſchriebnen Einleitung in die Geſchichtswiſſenſchaft1)Methodus ad facilem historiarum cognitionem, Par. 1566. verwirft er die altherkömm - liche degradationiſtiſche Behandlung der Weltgeſchichte nach dem Schema der Danieliſchen vier Monarchien als einen eingewurzelten Jrrthum . Es gebe kein goldnes Zeitalter; je weiter man in der menſchlichen Geſchichte zurückgehe, deſto geringer erſcheine die Cultur,Zöckler, Urſtand. 8114IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.deſto größer die Barbarei. Den Urzuſtand müſſe ein Zeitalter thieriſcher Wildheit gebildet haben, wo die in Wald und Feld zer - ſtreut lebenden Menſchen gleich reißenden Thieren nur eben das erwarben und beſaßen, was ſie mit Gewalt an ſich geriſſen . 1) quibus homines ferarum more in agris ac silvis dispersi tantum haberent, quantum per vim et nefas retinere possent. Nicht ein zunehmender Verfall der Menſchheit ſei zu lehren, ſondern ein ſtetiges Fortſchreiten durch Erfindungen, Künſte, Wiſſenſchaften ꝛc. Auch ſei die Geſchichte nicht nothwendig in den knappen Rahmen von ſechs Jahrtauſenden einzupreſſen; es ſei einerlei, ob man ſechs - tauſend Jahre mit darauf folgendem Sabbath-Jahrtauſend annehme, oder neunundvierzig Tauſend nebſt darauf folgendem Jubel-Jahr - tauſend, u. ſ. f. Montaigne empfahl dieſe Schrift ſeines Zeit - genoſſen und Geiſtesverwandten; die Annahme eines Zuſtands urſprünglicher Wildheit der Menſchen war auch ihm vertraut. Er gefiel ſich in thierpſychologiſchen Vergleichen, meinte, die Thiere zeigten ſo viel und oft mehr Vernunft als die Menſchen. Auch bei den Naturrechts-Lehrern Alberich Gentilis ( 1608) und Hugo Gro - tius ( 1645) ſieht man die Bodinſchen Anſchauungen weitere Pflege und Verarbeitung erfahren. Doch ſtrebt der Letztere nach Aus - gleichung mit der Kirchenlehre; goldnes Zeitalter oder Paradies ſammt den hohen Lebensaltern der älteſten Patriarchen werden in ſeinem apologetiſchen Büchlein Von der Wahrheit der chriſtlichen Religion mittelſt Zuſammenſtellung zahlreicher Zeugniſſe aus dem Heidenthum angelegentlich vertheidigt. 2)Vgl. oben, S. 100.

Viel weiter in Naturaliſirung des Urſtandes als alle bisher Genannten ging Hobbes. Sein roher Senſualismus läßt über - haupt alles Geiſtige im Sinnlichen wurzeln; es gibt keinen Begriff im Geiſte des Menſchen, der nicht vorher ganz oder zum Theil aus den Sinnesorganen erzeugt worden wäre . So iſt denn auch fürs Geſammtleben der Menſchheit ein wilder Naturzuſtand das Ur - ſprüngliche; ein Krieg Aller gegen Alle , ein Zuſtand, wo jeder115IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.Menſch dem Anderen Wolf iſt (homo homini lupus). 1)De cive I, 1, 3. 11. Epist. dedicat. Vgl. Leviath. c. 1, 59.Alle Menſchen ſind in dieſem Zuſtande an Stärke, Verſtand ꝛc. einander ungefähr gleich, auch gleich frei, einander zuzufügen was ſie wollen. Gegenſeitige Furcht, Verſuche ſich gegen die Feinde zu ſchützen, Ab - ſchluß von Verträgen, zuletzt die Aufrichtung einer Alleinherrſchaft, der die Einzelnen ſich unterwerfen und durch welche die anfängliche Freiheit in allgemeine Knechtſchaft verwandelt wird, ſind die noth - wendige Folge jenes wolfsmäßigen Urzuſtandes. Man ſieht hier die anarchiſchen Zuſtände des engliſchen Revolutionszeitalters zurück - datirt in die Anfänge unſres Geſchlechts; es iſt nicht hiſtoriſches Studium der Urzeit, ſondern Beobachtung der unmittelbaren Gegen - wart, was dieſem Philoſophen die Farben zu ſeinem düſteren, von grellen Effecten durchzuckten Gemälde lieferte. 2)Vgl. E. Pfleiderer, a. a. O., S. 22. Maaßvoller hielt ſich der als ſenſualiſtiſcher Pſychologe und Leugner des Angeboren - ſeins unſrer Jdeen ihm gleichgeſinnte Locke. Er ließ ein gewiſſes phyſiſches Wohlſein und Glück durch den Sündenfall verloren gehen, wurde übrigens durch ſeine naturaliſtiſchen Grundſätze auf pädago - giſchem Gebiete und durch ſeinen politiſchen Conſtitutionalismus zum Vorläufer der franzöſiſchen Aufklärungsphiloſophen des vorigen Jahrhunderts, und inaugurirte durch den Eifer, womit er aus Be - ſchreibungen von Reiſen unter wilden Völkern u. dgl. Belege für ſeinen Lieblingsſatz vom Nichtangeborenſein ſittlicher Jdeen (beſtehend in Beiſpielen roheſten Kannibalenthums, geſchichtlicher Unſitten u. ſ. f.) zu ſammeln pflegte, eine gewiſſe wohlfeile Beweisführungsmethode moderner Naturaliſten, über welche wir weiter unten noch zu han - deln haben werden.

Jn Montesquieus Geiſt und Geſetze (1745) ſieht man ähn - liche Anſchauungen naturrechtlicher Art zum Ausgangspunkte poli - tiſcher Speculation gemacht, wie die eines Bodin und Hobbes, nur gemildert und humaniſtiſch veredelt. Aecht naturaliſtiſch iſt aber auch bei ihm die Art, wie jedes Volk als Product ſeiner eigen -8*116IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.thümlichen Naturbedingungen und ſeines Klima aufgefaßt wird, mag er immerhin dieſe Betrachtungsweiſe noch nicht ſo auf die Spitze treiben, wie neuerdings Buckle. Weiter ſchon geht Vol - taire. Jhm ſind die älteſten Traditionen der Völker, ſowohl die theogoniſchen des Heidenthums, als die bibliſchen, ſammt und ſon - ders nichts als Narrheit; das bibliſche Paradies kritiſirt er nach Yemen im glücklichen Arabien hin. Den von ſeinem Zeitgenoſſen Rouſſeau gelehrten rohen Naturzuſtand verſpottet er zwar, aber nur ſoweit derſelbe eine ungeſellige Jſolirung und ein thieriſches Auf allen Vieren gehen der Urmenſchen behauptete. Er zieht es vor, ein heerdenweiſes Entſtandenſein unſres Geſchlechts in verſchiednen Erdtheilen anzunehmen. Das Vorkommen von Urbewohnern Ame - rikas däucht ihm ſo wenig verwunderlich, wie daß es dort, ſo gut wie in der alten Welt, Fliegen gibt; die Menſchheit gehört nach ihm zur oberſten Gattung der geſellig lebenden Thiere (animaux qui vivent en troupe), wie etwa die Biber und Schafe. Zur Verbreitung des Polygenismus in der modernen anthropologiſchen Betrachtungsweiſe hat ſeine Geſchichtsanſicht, ſeicht und oberflächlich wie ſie iſt, ziemlich viel beigetragen. 1)Siehe beſ. den Essai sur les moeurs et l’esprit des nations, 1756. Vgl. Rocholl, S. 62 f.Wieder in andrer Art hat Rouſſeau2)Contrat social, 1762. Vgl. Rocholl, S. 67. ſich zum Problem des Urſtands geſtellt. Er eifert gegen die kannibaliſchen Zuſtände, womit Hobbes die Geſchichte beginnen ließ; aber ſein iſolirter Urmenſch, der grundſätzliche Gegner aller Civiliſation und höheren Geſittung, iſt doch auch nur ein Wilder, ein ungeleckter Bär, den die beſtehende Geſellſchaft nothwendig mit Entſetzen von ſich ausſtößt, ein Anarchiſt und Egoiſt im abſoluteſten Sinn des Worts und ebendarum vom gottbildlich erſchaffnen erſten Menſchen der hl. Schrift nicht minder weit entfernt, als die Hobbesſchen reißenden Wölfe . Für eine gewiſſe Religiöſität gilt er ihm als empfänglich, aber nur für eine ganz ſelbſtiſch geartete, im ſubjectiven Genuß eines gewiſſen Gottesgefühls aufgehende. 117IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.Auch als vervollkommnungsfähig ſtellt er ihn an und für ſich dar, aber er fordert nichtsdeſtoweniger ſein Verharren im thierartig wilden Naturſtande, weil ja die Civiliſation nothwendig ſein Verderben werden müßte. Rouſſeau leugnet alſo nicht die Thätigkeit eines einſtigen Urſtands oder Unſchuldsſtands an der Spitze der menſch - licher Entwicklung, aber er läßt dieſen Urſtand noch jetzt überall da, wo ächte Naturmenſchen leben, fortdauern. Er idealiſirt die Wilden, als ſeien ſie die wahren Normalmenſchen, zeigt aber eben damit, daß er von der wahren, gottbildlich heiligen und naturbeherrſchenden Würde der Menſchheit keine Ahnung hat. Es mangelt ihm jede ernſtere Erkenntniß des Gegenſatzes zwiſchen Gut und Böſe; Un - ſchuld und Schuld, vorſündiger und ſündiger Zuſtand fließen bei ihm ununterſchieden ineinander. Seine Weltanſicht iſt zwar, im Gegenſatz zum groben Materialismus vieler ſeiner philoſophiſchen Zeitgenoſſen, eine idealiſtiſche; aber es iſt nur der unklare und un - lautere Jdealismus des Revolutionsgeiſtes, dem er huldigt.

Rouſſeau hat ungeachtet des cyniſch Rohen und phantaſtiſch Ueberſchwenglichen ſeiner Weltanſicht einen weitgreifenden Einfluß geübt. Nur wenige der an ihn anknüpfenden geſchichtsphiloſophiſchen Denker des ausgehenden 18. Jahrhunderts haben ihn in der Weiſe zu idealiſiren geſucht, wie beiſpielsweiſe der Basler Jſelin (1768), der ſtatt thieriſcher Rohheit vielmehr Kindeseinfalt an die Spitze der Menſchheitsentwicklung ſetzte und dieſe dann weiter die Stadien des Knaben -, Jünglings - und Mannesalter zurücklegen ließ, oder wie der dieſe Entwicklungsſtufen auf ähnliche Weiſe, nur mit noch enge - rem Anſchluſſe an die bibliſche Urgeſchichte lehrende Univerſalhiſtoriker Gatterer. 1)Jſelin, Ueber die Geſchichte der Menſchheit , 2 Bde. Zürich 1768. Gatterer, Handb. der Univerſalhiſtorie, 1785, I, S. 155 f.Für Leſſings Erziehung des Menſchengeſchlechts (1780) iſt der Ausgangspunkt der gleichfalls durch die Stufen des Knaben -, Jünglingsalters ꝛc. ſich hindurchbewegenden Geſchichtsſpeculation die Annahme eines Urzuſtands von ähnlicher rein natürlicher Art wie118IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.die Rouſſeauſche Urmenſchheit; nur daß dieſer Urzuſtand hier ent - wicklungsfähiger gedacht und überhaupt auf die allmählige Annähe - rung an das zukünftige goldne Zeitalter viel größeres Gewicht gelegt wird, als auf die Rückerinnerung an das in hypothetiſcher Unbe - ſtimmtheit belaſſene goldne Zeitalter der Vergangenheit. 1)Vgl. Dilthey, in den Preuß. Jahrbb. 1867; Rocholl, S. 79 ff.Aehnlicher noch als die Leſſingſche ſieht die Herderſche Auffaſſung des Urſtandes derjenigen Rouſſeaus. Es iſt bekannt, daß Herder in manchen ſeiner Ausſprüche über die Urbeſchaffenheit unſres Geſchlechts in dem Grade naturaliſirt und die Aehnlichkeit der Thiere, dieſer unſrer älteren Brüder , mit uns Menſchen ſo ſtark hervorhebt, daß man ihn für einen Hauptvorläufer Darwins glaubte ausgeben zu können. Jeden - falls ſind ſeine hieher gehörigen Speculationen vielfach der Art, daß man mit einem gewiſſen Rechte von ihm ſagen kann, er feiere den Triumph der phyſiſchen Natur über die Menſchheit . 2)So der belgiſche Geſchichtsphiloſoph Laurent. Vgl. Rocholl, S. 88, der noch weiter geht und Herdern vorwirft, er habe mit der theologiſchen Be - trachtung der Geſchichte ganz gebrochen. S. dagegen de Rougemont, Les deux Cités, etc. II, 204. ss. Die einfachen Verhältniſſe der Natur, in denen die Menſchen noch glücklicher leben, weil ſie noch nicht in die Maſchine des Staats wie auf Jxions Rad geflochten ſind , ſpielen bei ihm eine große Rolle; und Hand in Hand mit dieſen ſehr an Rouſſeau erinnernden Betrachtungen geht ſeine Mythiſirung des bibliſchen Berichts vom Paradieſe, dieſem Fabellande, wohin die Nationen der alten Welt ihre ſchönſten Zauberideen, das goldne Vließ, die goldnen Aepfel, das Gewächs der Unſterblichkeit ꝛc. ſetzten. Jmmerhin hat Herder, wo er dieſes Gebiet berührt, den Einfluß ſeines ſchriftgläubig-reali - ſtiſchen Lehrmeiſters Hamann niemals ganz verleugnet. Eine ein - ſeitig perfectioniſtiſche Geſchichtsbetrachtung in der Weiſe des heutigen Monismus iſt nicht bei ihm zu finden; und manches flüchtig hin - geworfene Wort im Sinne der naturaliſtiſchen Lieblingsideen eines Theils ſeiner Zeitgenoſſen empfing ſeine Correctur durch das ſonſtige119IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.überwiegend conſervativ geartete Verhalten des Mannes, welchen viel eher die tiefer gerichteten Geiſter der Zeit als einen Leucht - thurm bei anbrechender Nacht den Jhrigen nennen, als die ordi - nären Aufklärer für ſich beanſpruchen durften. 1)Vgl. m. Geſchichte der Beziehungen ꝛc. II, 226 ff. 242. Den Ver - gleich mit dem Leuchtthurm ꝛc. ſ. bei G. H. v. Schubert, Selbſtbiographie. I, 278 f. Näher ſchon ſtand Goethe dem eigentlichen Naturalismus des Zeitalters, wenn er das Menſchheitsbewußtſein ſich durch die vier Stadien der kindlich naiven Poeſie, der mythenbildenden und Götter (Dämonen) dichten - den volksthümlichen Theologie, der den Volksglauben künſtlich deu - tenden Philoſophie, und letztlich der alle dieſe Jdeale zerſtörenden kalten und nüchternen Proſa hindurch entwickeln ließ. Doch huldigte auch er keiner einſeitig fortſchrittlichen Geſchichtsanſicht; nur in intellectueller, nicht auch in ethiſcher Hinſicht, ließ er ein unaus - geſetztes Aufſteigen der Entwicklung unſres Geſchlechts ſtattfinden. Ungefähr ſo wie Herders Stellung zu den Rouſſeauſchen Jdeen nimmt diejenige Kants ſich aus, obſchon derſelbe der plump-phan - taſtiſchen Fiction eines unſchuldigen Naturzuſtands der Völker mit kritiſcher Schärfe entgegen trat. Kant wollte vom Rouſſeauſchen Abderitismus ſo wenig etwas wiſſen, als vom einſeitigen Eudä - monismus oder der fanatiſch-chiliaſtiſchen Fortſchrittsphiloſophie andrer Aufklärer ſeines Zeitalters. Ebenſo beſtimmt freilich wider - ſprach er auch jeglichem Terrorismus , d. h. jeder einſeitig peſſi - miſtiſchen Geſchichtsbetrachtung; und überwiegend ſuchte doch auch er das Jdeal menſchheitlicher Entwicklung erſt in der Zukunft. Ja als Vorgänger des Darwinismus könnte er um mancher Anklänge an den modernen Deſcendenzgedanken willen, die ſich beſonders in ſeinen ſpäteren Schriften finden, faſt mit noch größerem Rechte als Herder gelten. 2)Ueber Kants Kritik des Rouſſeauſchen Contrat social (in ſeiner Jdee zu einer allgem. Geſchichte in weltbürgerlicher Abſicht , 1784, u. ſ. f.) f. beſ. K. Dietrich, Kant und Rouſſeau 1876, S. 39 ff. Vgl. deſſelben Kant und Newton , 1876, S. 279 ff. Von ſeinen großen dichteriſchen Zeitgenoſſen120IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.gleicht der durch ſeine philoſophiſchen Jdeen ſtark beeinflußte Schiller, was die Auffaſſung der Uranfänge menſchlicher Natur - und Geiſtes - entwicklung betrifft, dem revolutionären Philoſophen von Genf in ziemlichem Grade, während gleichzeitig Fichtes und Hegels Theorie vom Sündenfalle als einem weſentlichen Fortſchritte der menſchlichen Vernunftentwicklung bei ihm keimt. 1)Vgl. das oben, Nr. I z. Ende über Fichte Bemerkte.Den Maaßſtab für die frühe - ſten, vorgeſchichtlichen Zuſtände des Menſchengeſchlechts glaubt er der Beſchaffenheit jener wildeſten Völkerſchaften, die man auf ent - legenen Küſten und Jnſeln entdeckt hat, entlehnen zu dürfen; aus dieſem Spiegel wähnt er den verlorenen Anfang unſres Geſchlechts wiederherſtellen zu können. Wie beſchämend und traurig , ruft er, iſt das Bild, das uns dieſe Völker von unſrer Kindheit geben! und doch iſt es nicht einmal die erſte Stufe mehr, auf der wir ſie erblicken. Der Menſch fing noch verächtlicher an. Wir finden jene doch ſchon als Völker, als politiſche Körper, aber der Menſch mußte ſich erſt durch außerordentliche Anſtrengung zur politiſchen Geſell - ſchaft erheben. 2)Was heißt und wozu ſtudirt man Univerſalgeſchichte? (Akad. Antritts - rede, 1789).Jn ſeiner Vorleſung Ueber die erſte Menſchen - geſellſchaft hat Schiller nicht ohne eine gewiſſe Anlehnung an die moſaiſche Urkunde, aber im Ganzen ſich doch wenig an dieſelbe bindend die früheſten Anfänge der menſchlichen Cultur, anhebend mit jener Zeit, wo die erſte Mutter ihre nothwendigſte Mutter - pflicht von den Thieren erlernte , zu ſchildern verſucht. An dem - ſelben Leitbande des Jnſtincts , woran noch jetzt das vernunftloſe Thier von der Vorſehung gehalten wird, ſei da der Menſch geleitet worden. Ein Zeitalter wollüſtig ſchlaffer Kindheit, in ſtetem Wechſel zwiſchen Genuß und Ruhe, verlebte er da. Er mußte aus dieſer Winterzeit heraustreten, ſollte er anders mündig werden, mußte aus einer bloßen Creatur des Jnſtincts mit pflanzenartigem Daſein ein freier, vernünftiger Geiſt werden. Sein ſogen. Sünden - fall, als Abfall vom Jnſtincte, war demnach ohne Widerſpruch121IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.die glücklichſte und größte Begebenheit in der Menſchengeſchichte; von dieſem Augenblicke her ſchreibt ſich ſeine Freiheit, hier wurde zu ſeiner Moralität der erſte entfernte Grundſtein gelegt. Mag der Volkslehrer recht haben, die Begebenheit als einen Fall des erſten Menſchen zu behandeln: der Philoſoph hat ebenſo recht, ſie einen Rieſenſchritt der Menſchheit zu nennen. Denn der Menſch wurde dadurch aus einem Sklaven des Naturtriebs ein frei han - delndes Geſchöpf, aus einem Automat ein ſittliches Weſen, und mit dieſem Schritte trat er zuerſt auf die Leiter, die ihn nach Verlauf von vielen Jahrtauſenden zur Selbſtherrſchaft führen wird. Schon bald begann dem in den harten Kampf ums Daſein Eingetretenen die Natur an Freuden des Geiſtes zu erſetzen, was ſie ihm an Pflanzengenüſſen genommen hatte .... Der Schlaf beſchlich ihn nach der ermüdenden Arbeit und unter ſelbſtgebautem Dache ſüßer, als in der trägen Ruhe ſeines Paradieſes. Ja, er war jetzt für das Paradies ſchon zu edel, und er kannte ſich ſelbſt nicht, wenn er im Drange der Noth und unter der Laſt der Sorgen ſich in daſſelbe zurückwünſchte . 1)Etwas über die erſte Menſchengeſellſchaft nach dem Leitfaden der moſai - ſchen Urkunde (1790). Ein gewiſſer Verſuch, den Kern der bibliſchen Urſtandslehre ſpeculativ zu erfaſſen und zu begründen, erſcheint hier wirklich gemacht, aber ein ſehr einſeitiger. Bei Aus - malung ſowohl des urſprünglichen Jnſtinct-Zeitalters als der darauf folgenden harten Arbeitszeit ſpielt die Phantaſie eine große Rolle; und der gewaltige Ernſt des ſündig Böſen wird, ähnlich wie dieß von Rouſſeau geſchieht, wenn auch mit theilweiſe andersartiger Wen - dung und Wirkung, von ihm verkannt.

Man ſieht: theils eine gewiſſe Anhänglichkeit an die Tradi - tionen der h. Schrift, theils eine ſelbſtſtändige philoſophiſch-kritiſche Haltung läßt das Volk der Denker vorläufig, ſoweit ſeine Geiſtes - entwicklung bis um den Anfang des 19. Jahrhunderts in Betracht kommt, die von Frankreich herüber gedrungenen naturaliſtiſchen Jdeen122IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.doch nur ziemlich bedingter Weiſe aufnehmen und weiter bilden. Gelehrigere Schüler fanden ſowohl Voltaire mit ſeiner plump ne - girenden, als Rouſſeau mit ſeiner phantaſtiſch idealiſirenden Manier, bei den Angehörigen ihrer eigenen Nation ſowie bei den ſpäteren Ausläufern des britiſchen Naturalismus. Wir heben als charakteri - ſtiſch für die betr. Denk - und Lehrweiſe der Franzoſen um die Zeit ihrer erſten großen Revolution beiſpielsweiſe Condorcets Gemälde der Fortſchritte des menſchlichen Geiſtes (1793) hervor. Darin werden im Ganzen zehn Zeitalter der aufſteigenden Vernunft - und Freiheitsentwicklung ſtatuirt; im erſten entwickelt ſich die mit thieri - ſcher Roheit beginnende, ihre jugendlichen Kräfte mittelſt Jagd und Krieg übende Menſchheit bis zur Stufe des Familienlebens, im zweiten bis zur Erlernung von Viehzucht und Ackerbau,1)Ueber die Unhaltbarkeit dieſer Vorausſetzung, als ſeien Viehzucht und Ackerbau auf ein urſprüngliches Jagdleben der Menſchen erſt gefolgt, ſ. oben: II, geg. E. im dritten bis zur Begründung großer Deſpotieen mit ihren Kaſten, ihrem Erbadel, Prieſterſtand, ihrer Sklaverei, u. ſ. f. Engliſcherſeits ſei hier Gibbon in Erinnerung gebracht, deſſen 1787 vollendetes großes Geſchichtswerk über Sinken und Fall des Römerreichs dem Gedanken, daß für unſre Vorſtellungen von den früheſten Zuſtänden des Menſchengeſchlechts die heutigen wilden Völker maaßgebend ſein müßten, einen beſonders kräftigen Ausdruck gegeben hat. Die Entdeckungen alter und neuer Seefahrer, ſowie die nationalen Ueber - lieferungen der Völker ſtellen den wilden Menſchen nackt dar an Leib und Seele, ohne Geſetze, Künſte, Begriffe, ja faſt ohne Sprache. Aus dieſer kläglichen Lage, wohl dem urſprünglich allgemeinen Zu - ſtande des Menſchen, hat ſich derſelbe allmählig zur Herrſchaft über die Thiere, zur Urbarmachung der Erde, Durchſchiffung des Meeres und Ausmeſſung des Himmels erhoben. Seine Fortſchritte in Aus - bildung und Uebung ſeiner geiſtigen und körperlichen Kräfte ſind unregelmäßig und verſchiedenartig geweſen: unendlich langſam im Anfange und ſtufenweiſe mit beſchleunigter Geſchwindigkeit vorwärts123IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.ſtrebend; auf Jahrhunderte mühſamen Aufſteigens folgte (hie und da) ein Augenblick reißenden Niederſturzes, und die verſchiedenſten Klimate der Erde haben den Wechſel des Lichts und der Finſterniß erfahren. Die Erfahrung von vier Jahrtauſenden ſollte jedoch unſre Hoffnungen mehren und unſre Beſorgniſſe mindern. Wir können nicht beſtimmen, zu welcher Höhe das Menſchengeſchlecht in ſeinen Fortſchritten zur Vollkommenheit gelangen möge, dürfen aber mit Zuverſicht annehmen, daß kein Volk, es ſei denn das Antlitz der Natur erführe eine gänzliche Umgeſtaltung, wieder in ſeine urſprüng - liche Barbarei zurückfallen werde .... Seitdem die erſte Erfin - dung der Künſte, ſeitdem Krieg, Handel und Religionseifer unter den Wilden der alten und neuen Welt dieſe unſchätzbaren Gaben verbreitet haben, ſind ſie ununterbrochen fortgepflanzt worden und können nie wieder verloren gehen. Wir mögen uns daher mit der frohen Gewißheit beruhigen, daß jedes Zeitalter der Welt den wirk - lichen Reichthum, das Glück, die Kenntniſſe und vielleicht auch die Tugend (!) des menſchlichen Geſchlechts vermehrt habe und noch fort - während vermehre . 1)Gibbon, Geſchichte des allmäligen Sinkens und endlichen Unterganges des römiſchen Weltreichs. A. d. Engl. von Sporſchil (4. A. 1863), Kap. 38. Je beſſer der optimiſtiſche Grundton ſolcher Betrachtungen zum allgemeinen Fortſchrittsſtreben des Zeitalters paßte und eine Stimmung ſtolzer Zufriedenheit in Bezug auf die errungenen Fortſchritte begünſtigte, deſto einflußreicher mußte die Stimme des vielbewunderten Hiſtorikers auch auf dem in Rede ſtehenden beſondren Gebiete wirken.

Das 19. Jahrhundert hat eine zunehmende Erweiterung und Befeſtigung der zwiſchen den naturaliſtiſchen Anſichten von der Ur - beſchaffenheit unſres Geſchlechts und der kirchlichen Urſtandslehre vorhandenen Kluft gebracht. Die Oppoſition nimmt eine immer radikalere Haltung an. Jhre Angriffe gewinnen an Heftigkeit, an124IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.ſyſtematiſcher Conſequenz und an ſcheinbarer Unwiderleglichkeit beſon - ders dadurch, daß mehrere ganz neue, früher in ſelbſtändiger Exiſtenz nicht vorhanden geweſene Wiſſenſchaften durch die im Chor geeinigten Stimmen ihrer angeſeheneren Vertreter Zeugniß zu Gunſten der naturaliſtiſchen Auffaſſung abzulegen anfangen. Die allgemeine vergleichende Religionswiſſenſchaft thut dieß, beſonders ſofern die ſ. g. Fetiſchismus-Hypotheſe oder die Annahme eines Hervorgegan - genſeins ſämmtlicher poſitiven Religionen aus urſprünglichem Fetiſch - dienſte bei Vielen ihrer Vertreter Platz greift. Viele linguiſtiſche Forſcher und Sprachphiloſophen operiren in ähnlicher Richtung auf Grund ihrer Vorausſetzung eines Entſprungenſeins der ausgebil - deteren Sprachen aus thierartig rohen und elementaren naturnach - ahmenden Lauten, alſo vermöge ihrer Wau-wau - oder Päh-päh - Theorien . Die ethnologiſch-archäologiſche und culturhiſtoriſche Forſch - ung reicht Waffen gegen die kirchliche Anſicht in Geſtalt einer unüberſehbaren Reihe von Geräthſchaften, Zierrathen, Ceremonien, Sitten und Gebräuchen der Völker dar, deren vergleichende Be - trachtung eher poly - als monogeniſtiſche Speculationen zu begünſtigen und zugleich mit der Ur-Einheit auch die Ur-Vollkommenheit und urſprüngliche Unſchuld des menſchlichen Geſchlechts in Frage zu ſtellen ſcheint. Und vollends die durch Cuviers comparativ-anato - miſche und paläontologiſche Entdeckungen angebahnte, nachgerade freilich in Widerſpruch mit den Annahmen dieſes großen Forſchers getretene vorhiſtoriſche Anthropologie, das jüngſte Kind des in Aus - geſtaltung immer neuer Wiſſensfächer unermüdlichen und unerſchöpf - lichen Forſchungsdranges unſres Jahrhunderts, ſcheint den Glauben an einen Urſtand in früherer Faſſung auf gefahrdrohende Weiſe zu erſchüttern. Der prähiſtoriſche Menſch, in Geſtalt foſſiler Skelet - fragmente und Schädeltrümmer aus ſeit Jahrtauſenden verſchütteten Gebirgshöhlen mühſam zu Tage gefördert, mit geſchnitzten Mammuth - zähnen oder Renthierknochen roh-phantaſtiſch geſchmückt und mit derben Kieſeläxten bewehrt, ſcheint der bibliſchen Paradieſes-Tradition ein ſteinerner Gaſt werden und das Feſthalten an den heiligen125IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.Sagen der Urzeit endgültig unmöglich machen zu ſollen. Auf der anderen Seite wird auch von den Vertheidigern der älteren Ueberlieferung mannhaft geſtritten. Gerade das Gegentheil deſſen, was die negativen Kritiker aus ihren wirklichen oder vermeintlichen Monumenten der Urzeit herauszuleſen ſuchen, wird von ihnen, gleichfalls auf Grund tief eindringender antiquariſcher, paläontolo - giſcher, ſprach -, cultur - und religionsgeſchichtlicher Forſchungen, be - hauptet. Die Arſenale der neuen Wiſſenſchaften bieten ihnen nicht minder ſchneidige Waffen zur Vertheidigung, wie Jenen zur Be - kämpfung des kirchlichen Standpunkts oder wenigſtens des Kernes der kirchlichen Ueberlieferung dar. Und jedenfalls wird es ihnen leicht, die vielfache Beeinfluſſung ihrer Gegner durch vorgefaßte Meinungen und Lieblingstheorien nachzuweiſen und eine unbefangnere Jnterpretation der prähiſtoriſchen Monumente ſowie eine gründlichere Sichtung der ſonſtigen für die Urwildheits-Hypotheſe ins Feld geführten Beweisinſtanzen als nothwendig darzuthun.

Eine ziemlich acute Geſtalt gewann der unſre Frage betreffende Conflict ſchon in der erſten Hälfte des Jahrhunderts in Folge des ſtreng reactionären Auftretens einer Anzahl von Romantikern, ins - beſondere römiſch-katholiſcher, denen die naturaliſtiſche Richtung ſich mit entſprechender Heftigkeit widerſetzte. Jn Deutſchland ſowohl wie in Frankreich wurden die betreffenden Verhandlungen zunächſt auf ziemlich unwiſſenſchaftliche Weiſe geführt, jedenfalls ohne An - wendung einer derartigen exacten Unterſuchungsmethode, wie die moderne Naturforſchung ſie fordert. Graf Joſeph de Maiſtre bekämpfte die revolutionäre Fortſchrittstheorie Condorcets und ſeiner Geiſtesverwandten als den Lieblingstraum, Mutter-Jrrthum und die Urlüge unſres Jahrhunderts . Jn ſeinen St. Petersburger Soiréen (1821) ſtellte er ihr eine ſehr decidirte Entartungstheorie gegenüber. Eine zwar nicht vollſtändig civiliſirte, aber doch geiſtig hochſtehende und im Beſitze ſchon mancher wichtiger Künſte und Kentniſſe befindliche Urmenſchheit ſei das erſte geweſen. Von ihr aus ſei die menſchliche Entwicklung einerſeits vorwärts geſchritten126IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.zur Erzeugung höherer Cultur, andrerſeits aber auch rückwärts zur Entſtehung barbariſcher Nationen. Die heutigen Wilden aller Erd - theile ſeien die zerſtreuten Trümmer jener viel höherſtehenden ein - heitlichen Urrace unſres Geſchlechts. 1)Soirées de St. -Petersbourg, 1821, II, p. 150. Die geiſtvoll und geſchickt begründete Theorie gewann den Beifall weiterer Kreiſe. Für Deutſchland kam ihr die principielle Zuſtimmung mehrerer bedeu - tender Hiſtoriker des anhebenden neuen Jahrhunderts zu Gute, und zwar nicht bloß eines Joh. v. Müller, deſſen Standpunkt überhaupt weſentlich der chriſtliche war, ſondern auch eines Niebuhr, der ſchon ein Jahrzehnt vor de Maiſtre den Philoſophen, welche völlige Wild - heit als den Ausgangspunkt aller Völkergeſchichte betrachten, vor - geworfen hatte: ſie überſähen, daß kein einziges Beiſpiel von einem wirklich wilden Volke aufzuweiſen iſt, welches frei zur Cultur über - gegangen wäre, und daß, wo dieſe von außen aufgedrängt wurde, phyſiſches Abſterben des Stammes die Folge war . 2)Römiſche Geſchichte, Bd. I, 1811, S. 88.Daher denn hier nicht bloß katholiſche Romantiker für den Grundgedanken der de Maiſtreſchen Degradationslehre eintraten, wie beiſpielsweiſe F. v. Schlegel, deſſen Geſchichtsphiloſophie (1828) Wiederherſtellung des durch den Sündenfall verlorenen göttlichen Ebenbilds für die Aufgabe der geſammten geſchichtlichen Entwicklung erklärte, oder wie J. v. Görres, der ſogar die altkirchliche Betrachtungsweiſe zu er - neuern ſuchte und eine typiſche Sechszahl von Hauptperioden der Geſchichte, gemäß dem moſaiſchen Hexaëmeron lehrte, oder wie die theilweiſe in ihrem Gefolge auftretenden Theoſophen Molitor, Leop. Schmid, Baader, v. Laſaulx ꝛc.,3)F. v. Schlegel, Vorleſungen über Philoſ. der Geſchichte, 1828. J. v. Görres, Europa und die Revolution, 1821. Wegen Molitors Annahme einer paradieſiſchen Urreligion in Geſtalt eines heiligen magiſchen Naturcultus ſowie eines allmähligen Sichlosreißens der noch im Kindesalter ſtehenden vorſintfluthlichen Menſchheit von dieſem gemeinſamen Urherd ihrer Entwicklung; deßgleichen wegen der noch ſtrenger bibliſchen Betrachtungsweiſe ſammt den Neu-Scholaſtikern des127IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.jüngſten Ultramontanismus, wie Kleutgen, Scheeben ꝛc. 1)Kleutgen, Die Theologie der Vorzeit, II, 595. Scheeben, Die Myſterien des Chriſtenthums, S. 204 ff.Auch außerhalb dieſer römiſch-kirchlichen Kreiſe erhielt die Entartungs - theorie theils in ſtrengerer theils in irgendwie gemilderter Faſſung eine Reihe namhafter Vertreter. Kein Geringerer als der große Geograph C. Ritter huldigte mit Begeiſterung der Annahme eines einſtigen Ur-Monotheismus als gemeinſamen Ausgangspunkts für die Entwicklung aller heidniſchen Culte und Mythen, wie er dieß ſchon in ſeiner etwas phantaſtiſch angelegten Vorhalle europäiſcher Völkergeſchichte vor Herodot (1818) darzulegen verſuchte, aber auch ſpäter noch mit Entſchiedenheit vertrat. Ein nicht minder energiſcher Vertheidiger der Degradationslehre war bis zu ſeinem Tode der berühmte Braſilienforſcher und Botaniker Martius ( 1868), der König im Reiche der Palmen . 2)Wegen Ritters vgl. G. Kramer, Carl Ritter; ein Lebensbild ꝛc. Halle 1864, I, 290. 415 ff. 443 ff. ; wegen Martius ſ. Biographie von Hugo Schramm 1869, ſowie Ausland 1869, Nr. 38.Bei G. H. v. Schubert wirkte Beides, der nachwirkende Einfluß Schellingſcher Naturphiloſophie und eine ſtreng bibelgläubige Haltung, dahin zuſammen, ihn zu einem eifrigen Vertreter der Annahme eines ſündloſen Urſtands und Gegner der Naturmenſchen-Hypotheſe Rouſſeau’s und ſeiner Schule zu machen. 3)Siehe beſ. die Ausführungen in ſeiner Selbſtbiographie, I, S. 178 ff.Aber auch manche nicht-orthodoxe Schellingianer hielten, gleich ihrem Meiſter ſelbſt, der trotz ſeiner Bevorzugung poly - geniſtiſcher Vorſtellungen doch ſtets einen Urmonotheismus lehrte und den Satz vertheidigte: es gebe keinen Zuſtand der Barbarei, der nicht aus einer untergegangenen Cultur hervorgegangen wäre am Grundgedanken einer reineren Urbeſchaffenheit und monotheiſtiſchen Religioſität der erſten Menſchen feſt. So der Panentheiſt Krauſe,3)Baaders, ſowie derjenigen Laſaulx’s ſ. Rocholl, S. 158 163. Ueber Leop. Schmid als anfänglichen Jünger des Molitorſchen Kabbalismus in ſeinem myſtiſchen Geneſis-Commentar (1834) ſ. m. Geſchichte der Beziehungen ꝛc. II, 527.128IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.deſſen geiſtreiches geſchichtsphiloſophiſches Syſtem die Menſchheits - geſchichte nicht mit thieriſch rohen Urzuſtänden, ſondern einem Keim - lebenalter oder halbbewußten goldnen Kindheitsalter beginnen, darauf dann das Wachs-Lebensalter (vom allmähligen Uebergange vom Monotheismus zum Polytheismus an, bis auf Chriſtum) und endlich das noch jetzt andauernde Reif-Lebensalter folgen läßt, unter ſehr beſtimmter Verwerfung jener Wilden-Theorie, welche die rohen Völker der Jetztzeit verkehrterweiſe mit Urvölkern verwechsle. 1)Krauſe, Allgemeine Lebenslehre, herausgeg. von Leonhardi, 1843. Vgl. Schelling, Vorleſungen über die Methode des akademiſchen Studiums, 1803. Einen ſehr beträchtlichen Anhang fanden die degradationiſtiſchen Lehren de Maiſtre’s auch im katholiſchen Frankreich, wo der Um - ſtand, daß angeſehene Naturforſcher erſten Ranges wie Cuvier, Ampère, Biot ꝛc. als mehr oder minder entſchiedne Bekenner des Glaubens an die bibliſch-urgeſchichtlichen Traditionen eintraten, be - günſtigend für ſie wirkte. Buchez in ſeiner Einleitung in die Geſchichtswiſſenſchaft (1833) legt einen entſchieden theiſtiſchen und monogeniſtiſchen Grund; ſeine der ſocialiſtiſchen Geſchichtsſpeculation St. -Simons nachgebildete Periodeneintheilung der vorchriſtlichen Zeit behandelt Adam, Noah, Abraham, Moſes als die Anfangspunkte immer neuer Stufen göttlicher Offenbarung an die Menſchheit. Aehnlich der beſonders an Vico anknüpfende Ballanche, der ultra - montan begeiſterte Roux-Lavergne, Veuillots und Montalemberts Kampfgenoſſe, der ſtupend gelehrte Religions - und Alterthumsforſcher Baron d’Eckſtein u. AA. Selbſt der phantaſtiſche Socialiſt Fourier konnte ſich dem weitgreifenden Einfluſſe dieſer Richtung nicht ent - ziehen. Er ſtellt in ſeinem Nouveau monde industriel (1829) an die Spitze der Menſchheitsgeſchichte, die er fünf Jahrtauſende betragen läßt, eine paradieſiſche Urzeit, Edenismus genannt, der er zunächſt eine Zeit der Wildheit, dann ein patriarchaliſches Zeit - alter folgen läßt, u. ſ. f. Unter den ähnlich gerichteten Denkern der romaniſchen Nachbarländer Frankreichs iſt namentlich der ſtreng129IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.katholiſche Geſchichtsphiloſoph Rosmini, Jtaliens Leibniz, zu nennen. Seine Theodicee (1827) läßt die menſchliche Entwicklung von einem zwar noch unciviliſirten, aber ſowohl unſchuldigen als glück - ſeligen Zuſtande ausgehen; ſie ſchließt ſich in den meiſten Einzel - heiten eng an den römiſchen Katechismus an. 1)Ueber die meiſten hier Genannten handelt Rocholl, S. 232 240; vgl. S. 216. Von v. Eckſtein gehört hieher beſ. ſeine Schrift: Geſchicht - liches über die Askeſis der alten heidn. u. jüd. Welt ꝛc. (Freiburg 1862).

Geringer, wenn nicht an Zahl doch an nachhaltigem wiſſen - ſchaftlichem Einfluſſe blieben bis um die Mitte unſres Jahrhunderts die radikalen Gegner der Annahme eines Standes urſprünglicher Jntegrität des Menſchengeſchlechts. Aber ſie erſetzten, was ihnen an exacter Schärfe und Fülle von Argumenten für ihren einſeitigen Evolutionismus abgieng, durch die Heftigkeit ihrer Polemik oder auch durch vornehme Jgnorirung der Theorieen ihrer Gegner. Jn Frankreich war es beſonders Auguſte Comte, der vielgefeierte Begründer des modernen Poſitivismus, der die antidegradationiſtiſche Denkweiſe in ein für weitere Kreiſe maaßgebend gewordnes Syſtem brachte. Seine auf Vico und Campanella zurückgehende Gliederung alles menſchlichen Geiſteslebens nach den drei Hauptſtufen oder Zeitaltern der theologiſchen Fiction, der metaphyſiſchen Abſtraction und des poſitiven Wiſſens ſchließt, was die erſte oder theologiſche Stufe betrifft, das berühmte Schema: Fetiſchismus, Polytheismus, Monotheismus in ſich. Beſonders Comte, auf religionshiſtoriſchem Gebiete ein Schriftſteller ohne allen wiſſenſchaftlichen Beruf, hat dieſe grundverkehrte Annahme, als ob die früheſte Form aller Religioſität der Fetiſchdienſt, die abergläubige Verehrung von Holz - ſtücken oder Steinblöcken, geweſen ſei und als ob man erſt ganz zuletzt, nach vielhundertjährigem Umherirren in den Jrrgängen des Polytheismus, zu monotheiſtiſchen Gottesvorſtellungen gelangt ſei, zuerſt angelegentlich cultivirt und in Umlauf geſetzt. 2)Ganz anders noch als Comte hatte C. de Broſſes, der erſte Bahn - brecher für die religions-wiſſenſchaftliche Erforſchung der feliſchiſtiſchen Culte (inDie ZahlZöckler, Urſtand. 9130IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.der ſeinen ebenſo ſeichten als kecken Conſtructionen ſich anſchließenden popularphiloſophiſchen Denker und Schriftſteller erſcheint bis auf den heutigen Tag als recht beträchtlich, beſonders in den Ländern romaniſcher und engliſcher Zunge, weniger in Deutſchland. Er hat dem Darwinismus auf dieſem Gebiete ſehr weſentlich vorgearbeitet; viele der ſpäter unter deſſen Zeichen ſtreitenden Natur -, Religions -, Sprach - und Geſchichtsphiloſophen ſind von Haus aus Comteſche Poſitiviſten geweſen; ſo in Frankreich Littré, Eugène Véron, Edgar Quinet, Taine, Renan ꝛc., in Jtalien Villari, Trezza, Omboni, Quadri ꝛc. Deutſchland hat zwar dem eigentlichen Poſitivismus niemals Aufnahme gewährt, darum aber doch der ähnlich wie er über die Anfänge menſchlicher Cultur - und Religionsentwicklung denkenden Forſcher und Schriftſteller eine reichliche Zahl geliefert. Vor dem Eindringen der darwiniſtiſchen Lehren war es beſonders die machtvolle Autorität Alexanders v. Humboldt (geſt. 1859, im Jahre des Erſcheinens von Darwins erſtem Hauptwerke), welche dieſer Denkweiſe Vorſchub leiſtete. Obſchon nicht unbedingt Poly - geniſt, neigte derſelbe doch überwiegend derjenigen geſchichtlichen Be - trachtungsweiſe zu, welche das menſchliche Culturleben von mehreren Urherden aus ſich entwickeln läßt und einen eigentlichen Status integritatis in Frage ſtellt. Die Geſchichte, ſoweit ſie durch menſchliche Zeugniſſe überliefert iſt, kennt kein Urvolk, keinen einzigen erſten Sitz der Cultur, keine Urphyſik oder Naturweisheit, deren Glanz durch die ſündige Barbarei ſpäterer Jahrhunderte verdunkelt worden wäre. Der Geſchichtsforſcher durchbricht die vielen über - einander gelagerten Nebelſchichten ſymboliſirender Mythen, um auf den feſten Boden zu gelangen, wo ſich die erſten Keime menſchlicher Geſittung nach natürlichen Geſetzen entwickelt haben. 1)Kosmos, II, 146. Jmmerhin2)ſeinem Werke Du culte des dieux fétiches, 1760) über Weſen und Urſprung derſelben geurtheilt. Seine Theorie war eine weſentlich degradationiſtiſche. Erſt mit der Sündfluth ließ er die Zeiten der Wildheit im alten Völkerleben beginnen. Vgl. E. Tylor, Die Anfänge der Cultur ꝛc., I, 36; II, 144.131IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.verfuhr Humboldt auf dieſem Gebiete behutſam. Wenn er es unentſchieden gelaſſen wiſſen wollte, ob die Volksſtämme, die wir gegenwärtig Wilde nennen, alle im Zuſtande urſprünglich natürlicher Rohheit ſind, ob nicht viele von ihnen, wie der Bau ihrer Sprachen es oft vermuthen läßt, verwilderte Stämme, gleichſam zerſtreute Trümmer aus den Schiffbrüchen einer früh untergegangenen Cultur ſind , ſo trug er damit den Anſichten ſeiner Freunde Ritter und Martius theilweiſe Rechnung; wie er denn auch den ſprachphilo - ſophiſchen Jdeen ſeines Bruders Wilhelm, dem die menſchliche Sprache nicht als bloßes Naturproduct oder Schöpfung der Völker, ſondern als eine ihnen durch ihr inneres Geſchick zugefallene Gabe galt, niemals widerſprochen hat. Jn beſtimmteren Gegenſatz zur Annahme eines höheren Urſprungs des menſchlichen Geiſteslebens traten vom ſprachgeſchichtlichen Standpunkte aus Jakob Grimm und Steinthal, vom anthropologiſch-ethnologiſchen aus Waitz, vom phy - ſiologiſchen und paläontologiſchen aus K. Vogt, Schleiden, Cotta, Burmeiſter, Giebel ꝛc. ; wobei es verhältnißmäßig untergeordnete Differenzen blieben, welche einen Theil der Letztgenannten (Vogt, Schleiden, Cotta) nachmals dem Darwinismus zuführten, einen andren Theil (Burmeiſter, Giebel) als eifrige Polygeniſten zu deſſen Gegnern machten. 1)Jak. Grimm, Geſchichte der deutſchen Sprache, 1848. Vgl. im Uebrigen den von den letzten Vorgängern des Darwinismus handelnden Abſchnitt meiner Geſchichte der Beziehungen ꝛc., Bd. II, S. 612 ff.Eine ziemlich eifrige Pflege erfuhr die Urwild - heitstheorie, meiſt im Zuſammenhange mit der, die Ureinheit des Menſchengeſchlechts preisgebenden Autochthonenhypotheſe, auch ſeitens verſchiedner Ausläufer der Hegelſchen Philoſophenſchule. Wie ſchon Hegel ein Paradies nur als Begriff oder Princip, nicht als ein - zelnen concreten Zuſtand zu begreifen vermocht hatte, ſo ließ L. Michelet den Menſchen, das halbthieriſche Product der Erde, erſt durch die Sünde in eine menſchlich bewußte Stellung gelan - gen , und vertheidigte Strauß die alte Autochthonentheorie in roheſter Form: zu Tauſenden ſeien die Menſchen durch einen Ur -9*132IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.zeugungsproceß des Erdplaneten ins Daſein gezeugt worden. Aber auch Schopenhauer, der ingrimmige Gegner des Hegelianismus, den die große Kunſt eines Modephiloſophen allerneueſter Zeit mit dieſem Syſtem zuſammengekuppelt hat, ſpottete bitter über den Adam-Mythus der Chriſten; ſeiner Sünde der Geburt geht keine Zeit, da die Menſchheit unſündlich geboren worden wäre, vorher. Er lehrt etwas wie eine Erbſünde, aber er verlacht die Annahme einer gottbildlichen Erſchaffung unſres Geſchlechts, der er vielmehr, wie dem göttlichen Schaffen überhaupt, gewiſſe heterogene Schöpfungsacte des blinden Willens ſubſtituirt. 1)K. L. Michelet, Ueber Perſönlichkeit Gottes und menſchl. Unſterblichkeit, 1841, S. 241. D. Fr. Strauß, Dogmatik, II, 681. A. Schopen - hauer, Parerga und Paralipomena (1850).

Engliſche Natur - und Culturforſcher hatten ſich an dieſen die Uranfänge des menſchlichen Daſeins betreffenden Speculationen bis um die Mitte unſres Jahrhunderts zwar auch mehrfach be - theiligt, aber ohne jene Angelegentlichkeit und radikale Verwegenheit, welche ihre gegenwärtige Theilnahme an denſelben charakteriſirt. Die leitende Rolle im Gange der hieher gehörigen Unterſuchungen über - nahm England erſt ſeit den 50er Jahren, und zwar in Folge der Conflicte des von Frankreich herüber eingedrungenen und durch die Traditionen der ſchottiſchen Philoſophenſchule begünſtigten Poſitivis - mus mit der kirchlich rechtgläubigen Richtung, welche Conflicte ſeit dem Hervortreten Darwins und ſeiner Anhänger (anfangs der 60er Jahre) nach und nach in die große Deſcendenz-Streitfrage der Ge - genwart einmündeten. Bei den britiſchen Repräſentanten der Po - ſitiviſtenſchule, wie Mill, Lewes, Buckle, bildet eine ſchroffe Ver - werfung alles und jedes Supranaturalismus im Punkte der den Urſtand betreffenden Speculationen ganz ebenſo die Baſis der ge - ſammten Geſchichtsbetrachtung, wie bei denjenigen Frankreichs. Sie denken ſämmtlich die Urbeſchaffenheit unſres Geſchlechts wenn nicht ſchlechthin thiermäßig, doch ſehr thierähnlich. Die Wilden der Ge - genwart bilden ihnen den Maaßſtab für die civiliſatoriſchen Zu -133IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.ſtände der Menſchheit in ihrer früheſten Kindheitsepoche. Sie finden es ganz in der Ordnung, daß Charles Darwin, auch ein Ange - höriger ihrer Richtung, ſchon als ein junger Mann, als ſeine be - rühmte Reiſe um die Welt ihm u. a. den Anblick des hilfloſen Elends und wilden Trotzes der Bewohner des Feuerlandes vor - führte, unwillkürlich gemäß jener Betrachtungsweiſe in den Ruf ausbrach: So waren auch unſre Vorfahren! Die Entſtehung der Religion ſuchen ſie entweder gemäß der Fetiſchismus-Hypotheſe zu begreifen, oder einfacher noch nach dem Recepte des alten Lukrez. Furcht habe überall den Wahn vom Daſein der Götter oder auch der Einen Gottheit erzeugt, meint Buckle; mit unglaublicher Flach - heit ſucht er überall da, wo Erdbeben und Orkane die Einbildungs - kraft der Menſchen aufregen, Herde des religiöſen Lebens nachzu - weiſen, in den vulkaniſchen Diſtricten Amerikas, Südaſiens, Afrikas, Südeuropas; genau da herrſche von jeher eine glühende Religioſität, wo elementare Naturereigniſſe der bezeichneten Art dem Menſchen Furcht und Zittern einjagen und ihn ins Gebet treiben; in ge - mäßigteren Gegenden und unter dem Eindruck eines gleichmäßigeren, ruhigeren Naturverlaufs habe ſich das religiöſe Leben nie in ſolchem Maaße entwickeln gekonnt, u. ſ. f. 1)Th. H. Buckle, Geſchichte der Civiliſation in England, 1857, 2 Bde. Deſſelben Kritik von J Stuart Mills Schrift über die Freiheit, 1859 (vgl. Rocholl, S. 250 f.).

Erzbiſchof Whately von Dublin ( 1863) überhaupt ein feiner und glücklicher Apologet, der früher (in ſeinen Hiſtoriſchen Zweifeln in Bezug auf Napoleon Bonoparte , 1819) auch ſchon den Hu - meſchen Scopticismus mit treffender Wirkung perſifflirt hatte, trat dieſen Urwildheitsphantaſien der Poſitiviſten energiſch gegenüber. Jn einer 1854 vor einem chriſtlichen Jünglingsvereine gehaltenen Vorleſung Ueber den Urſprung der Civiliſation 2)Aufgenommen auch in ſeine Miscellaneous Lectures and Reviews, 1861, p. 26. behauptete er mit Nachdruck den übernatürlichen, d. h. auf göttlicher Veranſtaltung,134IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.Leitung und Mithilfe beruhenden Urſprung der menſchlichen Cultur. Die meiſten Völker ſeien im Laufe ihrer geſchichtlichen Entwicklung von einer urſprünglich inne gehabten höheren Civiliſationsſtufe all - mählich herabgeſunken. Beweis hiefür ſei die Erfahrungsthatſache, daß keine menſchliche Gemeinſchaft jemals anders, als durch den Beiſtand fremder Hilfe, aus dem Zuſtande völliger Barbarei zu einer mit Recht ſo zu nennenden Civiliſation emporgeſtiegen ſei. Weſentlich übereinſtimmend mit dem oben erwähnten ähnlichen Satze Niebuhrs erklärte er: Es gibt nachweislich keinen Fall, wo eigent - liche Wilde von jener aufs Tiefſte geſunkenen Art, welche unſre Reiſenden uns kennen lehren, irgendwo und irgendwann einmal durch eigne Kraft, ohne Unterweiſung oder Beihilfe von bereits civiliſirten Völkern, ſich in einen Zuſtand der Civiliſation erhoben hätten . Dieſem auch ſonſt in Whatelys Schriften1)Vgl. z. B. ſeine Political Economy, p. 68. ausgeſprochnen und an - gelegentlich vertheidigten Satze, der in der Negation ſelbſtändiger Civiliſationsfähigkeit der ſündigen Menſchheit faſt zu weit geht und mit der bibliſch-urgeſchichtlichen Darſtellung (1 Moſ. 4, 17 ff. ) in Conflict zu gerathen droht, trat einige Zeit nach dem Tode des Erzbiſchofs, als bereits Darwin’s und Wallace’s Lehre von einem einheitlichen Urſprunge oder einer Blutsverwandtſchaft ſämmtlicher thieriſcher Organismen auf die engliſchen Naturforſcherkreiſe ihre Einwirkung zu üben begonnen hatte, der gelehrte Jnſectenforſcher und Archäologe Sir John Lubbock öffentlich gegenüber. Jn einem vor der Britiſchen Naturforſcherverſammlung zu Dundee 1867 ge - haltnen Vortrage über den Urſprung der menſchlichen Civiliſation ſuchte er Whatelys Theſe zu entkräften, indem er ihr 1) Beiſpiele von einem ſelbſtändigen Sichemporarbeiten wilder Racen zu culti - virteren Zuſtänden (die Peruvianer als Cultivatoren des Llama, die Cherokeſen, Mandans und andere nordamerikaniſche Jndianer - ſtämme, die Auſtralier als Erfinder des Bumerang ꝛc. ), 2) Spuren urſprünglicher Wildheit bei jetzigen Culturnationen (z. B. den ger - maniſchen Völkern, ꝛc. ) und 3) Beweiſe für ein Stehengebliebenſein135IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.der heutigen Wilden auf ihrem urſprünglichen Geſittungsniveau, alſo poſitive Gegenbeweiſe wider die Entartungstheorie, gegenüber - ſtellte. Er erndtete ziemlichen Beifall ſeitens der genannten Ver - ſammlung; Mr. John Hunt, der Vorſitzende der Londoner anthro - pologiſchen Geſellſchaft, erklärte: die vorgebrachten Facta ſeien unbedingt abſchließender Art und unwiderleglich, ſodaß es unnütz ſein würde noch irgend ein Wort über die Streitfrage zu verlieren; der Ethnologe J. Crawfurd drückte ſeine lebhafte Freude über die Lubbock’ſche Widerlegung des abominablen Paradoxon des Dubliner Erzbiſchofs aus und meinte, derſelbe ſei jetzt tüchtig auf den Rücken gelegt worden, wie man eine Schildkröte auf den Rücken legt.

Lubbock’s Ausführungen in dem genannten Vortrage ſowie in der um dieſelbe Zeit erſchienenen Schrift über Vorgeſchichtliche Zeiten , (Prehistoric Times, 1867) erfuhren im folgenden Jahre eine auf mehreren Punkten glückliche Zurückweiſung durch den Herzog von Argyll in dem geiſtvollen Schriftchen: Der urzeitliche Menſch; eine Kritik gewiſſer neuerer Speculationen . 1)Primeval Man: an examination of some recent speculations. London 1869 (vorher in N. Macleod’s Good Words , März Juni 1868 erſchieuen)Daß die Whatelyſche Theſe, wonach ein ſelbſtändiges Sichemporarbeiten von Wilden un - nachweisbar ſei, etwas zu weit greife und nur bedingterweiſe wahr ſei, räumte dieſer Vertheidiger der Entartungstheorie bereitwillig ein, that dagegen das Unhaltbare verſchiedner der von Lubbock für ſeine Urwildheitstheorie beigebrachten Argumente auf treffende Weiſe dar. Als unwiderſprechliche Belege für die Annahme einer wirk - lichen Degradation, eines thatſächlichen Herabgeſunkenſeins gewiſſer Stämme von früher innegehabter höherer Stufe ihres phyſiſchen wie ſittlichen Daſeins hob er insbeſondere die Eskimo im eiſigen Norden, und, die Feuerländer im äußerſten Süden Amerika’s her - vor. Beide Stämme ſeien unverkennbar, durch die überhand neh - mende Bevölkerung des Continents hinausgedrängt und von den ſie vertreibenden kräftigeren Racen in ihre unwirthbaren Einöden ver -136IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.wieſen worden, wo ſie nothwendigerweiſe verkümmern und von Stufe zu Stufe tiefer hätten ſinken müſſen. Die Annahme beſonderer Stammväter dieſer Stämme, eines Eskimo-Adam hier und eines Peſcheräh-Adam dort, leide an den unbeſiegbarſten Schwierigkeiten. Nicht einmal der extravaganteſte Vertreter des Polygenismus werde annehmen wollen, daß es wirklich einen Eskimo-Adam gegeben habe, daß alſo in den eiſigen Polarländern Menſchen, ſei es durch Er - ſchaffung, ſei es durch urſprüngliche ſpontane Entwicklung, ins Daſein getreten ſeien; die Auffaſſung ſolcher tiefſtehender Stämme als degradirter Auswürflinge der übrigen Menſchheit, ſei nicht bloße Glaubensmeinung, ſondern wiſſenſchaftliche Nothwendigkeit. 1)A. a. O., p. 164 sq. Nicht anders aber werde es ſich mit den Buſchmännern der ſüdafrikaniſchen Wüſten, den Van-Diemensländern, den Papuas und anderen auſtra - liſchen Wilden, auch wohl den einſtigen Urbewohnern Mitteleuropas zur Renthierzeit, deren Steingeräthſchaften und ſonſtige Reſte man jüngſt aus den Kiesbetten des Sommethals, aus belgiſchen Höhlen ꝛc. zu Tage gefördert habe, verhalten. Die Annahme einer Verdräng - ung, Ausſtoßung und Entartung liege in allen dieſen Fällen viel näher, als die einer uranfänglichen Wildheit der betr. Stämme. Was ferner die von Lubbock als allgemeine Grundlage der reli - giöſen Entwicklung des Menſchengeſchlechts behauptete abſolute Re - ligionsloſigkeit betrifft, ſo laſſe ſich ein ſolcher Zuſtand, geſetzt er exiſtirte wirklich bei dieſen oder jenen heutigen Wilden, nimmermehr als etwas Urſprüngliches, ſondern lediglich als Degradationsproduct, als Wirkung eines Abfalles der betr. Völker von ihren urſprünglich gehabten religiöſen Vorſtellungen und Gebräuchen begreifen. Die vergleichende Religionswiſſenſchaft lehre für alle Religionen ein Her - abſinken von ihrer anfänglichen relativen Reinheit als natürliches Entwicklungsgeſetz kennen. Es könne nichts Widerſinnigeres gedacht werden, als daß Teufelsdienſt, Menſchenopfer, religiös geweihter Kannibalismus, ſammt ſo manchen anderen gräßlichen Formen des Aberglaubens roher Naturvölker, den Ausgangspunkt oder die nor -137IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.male Vorſtufe zur Entwicklung höherer Religionsformen gebildet haben ſollten, während ſie augenſcheinlich nichts als Corruptionen und Verfallproducte einſtiger reinerer Vorſtellungsweiſen und Sitten ſeien. Manche dieſer Einwürfe waren offenbar ſchlagender Art, obſchon ſie eine reichlichere Exemplification vermiſſen ließen und theilweiſe nur in kurzen Andeutungen beſtanden. Das über die Eskimo als gen Norden gedrängte Auswürflinge der einſtigen Jn - dianerbevölkerung Nordamerikas faſt nur vermuthungsweiſe Geſagte haben neuere Forſchungen über die nationalen Ueberlieferungen der Grönländer ꝛc. ſozuſagen experimental und aufs Kräftigſte beſtätigt (ſ. unten). Deßgleichen iſt die Hypotheſe einer urſprünglichen abſo - luten Religionsloſigkeit mehr und mehr als unhaltbar erwieſen, alſo auch auf dieſem Punkte das Argyllſche Räſonnement als richtig be - währt worden. Jmmerhin war die Oppoſition des edlen ſchottiſchen Peer gegen den Lubbockismus in mancher Hinſicht eine ſchwächliche; ſie räumte auf einigen Punkten, z. B. betreffs der Frage des Alters der Menſchheit, wo der Herzog der gefeierten Autorität eines Lyell weichend die bibliſchen Anſchauungen preisgab, dem Gegner mehr als nöthig ein. Auch ließ ſie durch die Fülle gelehrter ethnologiſcher und archäologiſcher Beweisinſtanzen, womit Lubbock in ſeiner fol - genden Schrift: Ueber den Urſprung der Civiliſation (1870) ſeine Poſition zu decken und jeden Widerſpruch zu Boden zu ſchlagen ſuchte,1)On the origin of civilisation and the primitive condition of man. Mental and social condition of savages. 2. edit., London 1870. ſich unnöthig raſch zum Schweigen bringen. Lubbock brachte in dieſem neuen Werke keine weſentlich neue Behauptung vor; nur die Exemplificirung ſeiner die angebliche Urwildheit betreffenden Theſen erſcheint als eine nach mehreren Seiten hin reichere und ge - ſchickter gruppirte als früher. Er vertheilt ſein Material unter die Kapitel: Kunſtthätigkeit und Verzierungen; Eheſchließung und Ver - wandtſchaft; Religion; Moral; Sprache; Geſetzgebung. Bei den drei mittleren Materien verweilt er mit beſonderer Angelegentlich - keit: bei den Eheſitten, um als Ausgangspunkt von deren Entwick -138IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.lung einen rohen Hetärismus oder eine völlige Weibergemeinſchaft als angebliche Urſitte aller Völker zu behaupten; bei der Religion, um ein gewiſſes, ſehr künſtliches ſiebenſtufiges Schema: Atheismus, Fetiſchismus, Totemismus (Sinnbilderdienſt), Schamanismus, Jdo - lolatrismus (oder Anthropomorphismus), Anbetung naturbeherr - ſchender geiſtiger Mächte und ethiſirte Gottheitsidee, als den Stufen - gang, welchen weſentlich alle Völker auf dem Wege zur Religioſität zu durchlaufen pflegten, darzuthun; bei der Moral, um ihr erſt ſehr ſpätes Jnverbindungtreten mit religiöſen Vorſtellungen durch Citirung einer Reihe von Beiſpielen aus dem Leben verſchiedner Wilden wahrſcheinlich zu machen. Denn, ſo führt er betreffs des letztgenannten Punkts aus: bei ſämmtlichen wilden Völkern erſcheinen religiöſe Vorſtellungen und moraliſche Eindrücke oder Motive gänzlich voneinander getrennt; dieſelben zeigen niemals Reue wegen einer Sünde; ihrem Glauben an ein Jenſeits und eine Geiſterwelt wohnt nie die Erwartung einer ſittlichen Vergeltung bei; die Mehrzahl ihrer Götter ſind nicht gute, ſondern ſchlimme, ja diaboliſche Weſen, u. ſ. f. Es ſei ihm ſelbſt, fügt er gewiſſermaaßen entſchuldigend hier bei, ſchwer genug gefallen, ſich dieſe ungünſtige Vorſtellung vom natürlichen Charakter der Menſchen anzueignen; er habe urſprünglich eine weit beſſere Meinung in dieſem Betreff gehegt, die ihn indeſſen ſein fortgeſetztes Studium der Wilden aufzugeben genöthigt hätte. 1)p. 301 370. Der Rückſchluß vom gegenwärtigen Sein und Denken der Natur - völker auf ihre urſprünglichen Zuſtände wird hiebei bis zum Er - müden oft gemacht, ohne Rückſicht darauf, ob das Gegenwärtige wirklich als Maaßſtab für Vergangenes und zudem für Urzeitliches dienen könne oder nicht. Bei Conſtruction jener ſiebenſtufigen Scala, welche das angebliche Emporſteigen von urſprünglichem Atheismus zu ethiſirter Religioſität veranſchaulichen ſoll, werden die heterogenſten Dinge aus allen Weltgegenden zuſammengebracht und ſo ein angeb - liches Entwicklungsgeſetz aufgebaut, für welches gewiß auch kein Schatten von thatſächlicher Begründung aus dem wirklichen Leben139IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.der Völker beigebracht werden kann. Der Einfluß darwiniſtiſcher Speculation und Spencerſcher evolutioniſtiſcher Natur - und Social - philoſophie iſt überall aufs Stärkſte wahrzunehmen, obſchon der Satz vom Affenurſprung des Menſchen nicht gerade beſtimmt und ausdrücklich an die Spitze der Darlegungen geſtellt wird womit ohnehin eine Anticipation einer bis dahin von Darwin ſelbſt noch nicht öffentlich aus ſeiner Theorie gezogenen Conſeqnenz ſtattgefunden haben würde.

Jhren gefährlichſten Gegner erhielt die Whately-Argyll’ſche De - gradationstheorie weder an Lubbock, noch an Darwin, der im Ein - gange ſeines Werkes über die Abſtammung des Menſchen (1871) ſich im Weſentlichen zuſtimmend zu den Lubbock’ſchen Argumenten für die Urwildheit erklärte, da dieſelben ja ſeiner Beſchreibung unſres Urſtammvaters als eines ſchmalnaſigen Chimpanſe - oder Gorilla - Vetters, behaart, mit Schwanz und Spitzohren verſehen, auf allen Vieren gehend und wahrſcheinlich baumkletternd (arboreal), aufs Trefflichſte ſich anpaſſen,1)The Descent of Man etc., I, ch. V, p. 180 s. Vgl. II, ch. XXI, p. 385. noch an Lyell, der ſchon früher, in ſei - nem Buche über das Alter des Menſchengeſchlechts (1864), der Annahme einer urſprünglichen höheren Cultur mit ſarkaſtiſchem Spott gegenübergetreten war,2)Das Alter des Menſchengeſchlechts, a. d. Engl. von L. Büchner, Kap. XIX. Die Art, wie hier die Annahme perſifflirt wird, daß eine angebliche höhere Geſittung der älteſten Menſchheit auch einen ungewöhnlich hohen Grad von techniſcher Meiſterſchaft und induſtrieller Vollkommenheit bedingt habe, ( ſodaß die prähiſtoriſche Forſchung ſtatt roher Töpferarbeit und Steinwerkzeugen eigentlich Bildhauerwerke von größerer Vollendung als die eines Phidias und Praxiteles, dazu Teleſkope und Mikroſkope, elektriſche Telegraphen, Eiſenbahnen, Luftſchiffe ꝛc. zu Tage fördern müſſe ), erinnert einigermaßen an Don Quixote’s Kampf mit den Windmühlen. Kein wiſſenſchaftlicher Gegner der Urwildheits-Theorie ſtellt die behauptete höhere Geſittung und Jntegrität an der Spitze der Menſch - heitsentwicklung in der geſchilderten Weiſe, als einen hochgradigen Culturzuſtand von der Art der antiken oder gar der modernen Civiliſation dar! noch an Walter Bagehot, dem darwini - ſtiſchen Socialpolitiker, oder an M’Lennan, dem eifrigen Erforſcher140IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.urzeitlicher Eheſitten und Vertheidiger der Annahme eines allmäh - ligen Hervorgehens geſitteter Eheverhältniſſe aus urſprünglicher Po - lyandrie der Weiber. 1)W. Bagehot, Physics and Politics. London 1874. M’Lennan, Primitive Marriage , in ſeinen Studies in ancient History , Lond. 1876.Dieſe Alle ſind, was reichhaltige Zuſammen - ſtellung und geſchickte Entwicklung von Gründen für die Hypotheſe des Savagismus oder der Urwildheit betrifft, übertroffen worden durch Edward B. Tylor, den eigentlichen König dieſes Forſchungs - bereichs, ſoweit daſſelbe von Gelehrten engliſcher Zunge bisher an - gebaut worden. Die hieher gehörigen Schriften Tylor’s, insbeſondere ſeine 1871 erſchienenen Anfänge der Cultur müſſen als die wahren standard work’s der naturaliſtiſchen Richtung auf unſrem Gebiete gelten. Jhre Ausführungen imponiren um ſo mehr, da ſie bei Zu - rückweiſung der gegneriſchen Anſichten eine gewiſſe vorſichtige Mäßi - gung beobachten, ihre Polemik faſt mehr nur gegen die Uebertrei - bungen Whately’s als gegen das degradationiſtiſche Princip an ſich zu richten ſcheinen, und manche Fälle ſtattgehabter Entartung von früher höherſtehenden Völkern als thatſächlich zugeben. 2)Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom. London, 1871. 2 vols (deutſch durch Spengel und Poske: Die Anfänge der Cultur ꝛc. Leipzig 1873; 2 Bde.). Einige Jahr zuvor waren erſchienen ſeine: Researches into the early Hist. of Mankind. London 1865, (deutſch von H. Müller u. d. Tit.: Urgeſchichte der Meuſchheit ꝛc.).Tylor wirft dem bekannten Whatelyſchen Satze von der Unnachweisbarkeit eines ſelbſtändigen Emporſteigens wilder Völker zu höherer Cultur mit Recht eine gewiſſe Einſeitigkeit vor. Er ſtellt ihm die Frage ent - gegen: ob es denn umgekehrt für das unabhängig und von ſelbſt erfolgte Verſinken civiliſirter Völker in einen Zuſtand der Barbarei einen geſchichtlichen Nachweis gebe? Und dafür, daß ſolche Fälle vorhanden ſeien, ſtellt er eine Reihe beachtenswerther Beiſpiele zu - ſammen: die unglückliche Colonie Tomi am ſchwarzen Meere laut Ovids Schilderung,3)Ex Ponto Ep. III, 8. die Meuterer des Schiffes Bounty auf der141IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.Pitcairn-Jnſel, die portugieſiſchen Miſchlingsracen in Afrika und Jn - dien, die Gauchos der Pampas, die Jrokeſen, Cheyenne-Jndianer und Algonkins in Nordamerika, die Kamtſchadalen. Bei manchen Stämmen, beſonders in Nordamerika ſei es ungewiß, ob man ſie für verwildert oder für von äußerſter Wildheitsſtufe ſchon zu einem gewiſſen niederen Culturgrad emporgeſtiegen zu halten habe, u. ſ. f. Für die fernſte Urzeit ſei übrigens ein Zuſtand äußerſter Rohheit und Uncultur das geſchichtlich allein Bezeugte; ja es gebe kaum eine Landſchaft der Erde, von der ſich nicht mit Beſtimmtheit be - haupten laſſe, daß dort einſt Wilde gewohnt haben . Ueberall wo man prähiſtoriſch forſche, ſtoße man auf die Spuren einer allem Metall - gebrauch vorausgegangenen Steinzeit; Stein, Bronze, Eiſen ſei die ſchon von Lucrez bezeugte Stufenfolge, durch welche alle induſtrielle Entwicklung hindurchgegangen ſei. Was die religionshiſtoriſchen Gründe der Vertheidiger der Urwildheitslehre betrifft, ſo urtheilt Tylor auch über ſie ziemlich maaßvoll und umſichtig vermittelnd. Er warnt davor, Argumente von ſo zweifelhafter Haltbarkeit ins Feld zu führen, wie die von der angeblichen abſoluten Religions - loſigkeit gewiſſer dermaliger Völker hergenommenen, die ſich ſchon ſo mauchmal bei tieferem Eindringen der betr. Forſchung in ihr Ge - gentheil verkehrt hätten. 1)II, 418 sq. Dennoch ſetzt er alsdann wieder voraus, daß alle Religion etwas natürlicherweiſe Gewordenes, ein Entwick - lungsproduct der Cultur ſei. Wie befangen in ſeiner naturaliſtiſchen Vorſtellungsweiſe er iſt, zeigen Sätze wie beiſpielsweiſe dieſer: Wäre es mit Beſtimmtheit erwieſen, daß religionsloſe Wilde exiſtiren oder exiſtirt haben, ſo könnte man dieſe, wahrſcheinlich wenigſtens, als Repräſentanten des Zuſtandes der Menſchen betrachten, ehe er die religiöſe Stufe der Cultur erreichte . Auch ſonſt erweiſt er ſich, ungeachtet ſeines Strebens nach Unbefangenheit und Unparteilichkeit, als feſtgefahren in den Speculationen poſitiviſtiſcher Weltanſicht. Seine vielgerühmte Theorie vom Animismus als der bei allen Völkern tief eingewurzelten Vorſtellung von geiſtigen Weſen, welche142IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.die Naturgegenſtände beſeelten, iſt eine ganz und gar poſitiviſtiſche. Die Art, wie er die ſpiritualiſtiſchen Lehren entwickelterer Religions - ſyſteme bis hinauf zum chriſtlichen Unſterblichkeitsglauben auf der - artigen Animismus zurückzuführen und als höhere Entwicklungs - producte deſſelben darzuſtellen ſucht, lautet ächt materialiſtiſch. Nicht minder geben ſeine in die Schlußbetrachtungen verflochtenen Urtheile über das anglikaniſche und die übrigen kirchlichen Glaubensſyſteme den Jünger Spencers und Darwins zu erkennen. Das allgemeine Studium der Ethnographie der Religion , meint er, ſcheint, wenn es über die ganze unendliche Stufenfolge ausgedehnt wird, eine we - ſentliche Stütze für die Entwicklungstheorie in ihrem höchſten und weiteſten Sinne abzugeben . 1)II, 452 ss.

Die Einſchränkungen, welche Tylor dem extremen Sava - gismus Lubbocks angedeihen läßt, haben hie und da Nachachtung bei den urgeſchichtlich-archäologiſchen Forſchern ſeiner Nation gefunden. Man darf dermalen faſt von einer Tylorſchen Schule reden, welche den Speculationen über die erſte Urzeit unſres Geſchlechts ein ge - wiſſes degradationiſtiſches Element einverleibt und von jenen Ein - ſeitigkeiten des Lubbockismus nichts wiſſen will. Alfr. R. Wallace gehört dahin, der Mitentdecker der Deſcendenzlehre; er will aus derartigen uralten Cultur-Denkmälern wie die Pyramiden Aegyptens, die koloſſalen Mounds des Ohio-Thales, die rieſengroßen Stein - figuren der Oſterinſel ꝛc., den Schluß gezogen wiſſen: es ſei wahr - ſcheinlich, daß die meiſten, wonicht gar alle jetzigen Wilden die Nachkommen höherſtehender Racen ſeien und daß da und dort einſtmals beträchtlich hohe Culturen beſtanden hätten, welchen ſpäter barbariſche Völkerſtrömungen den Untergang bereiteten. 2)Wallace, Präſtdential-Anſprache an die biolog. Section der Brit. Aſſociation zu Glasgow, 1876.Aehnlich hatte ſchon früher Max Müller vom vergleichend-mythologiſchen Standpunkte aus den Satz vertheidigt: nicht allenthalben und aus -143IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.nahmslos habe die Menſchheit ſich aus abſoluter Urwildheit empor - gearbeitet; z. B. ſei dieß von den Griechen Homers geradezu undenkbar. Sir Herbert Spencer verbietet es gleichfalls, überall und ausnahmslos in den heutigen Sitten und Anſchauungen der Wilden z. B. in ihren fetiſchiſtiſchen Religionsvorſtellungen, ohne Weiteres die wahre Urbeſchaffenheit unſres Geſchlechts erblicken zu wollen. Aehnlich Arthur Mitchell, Secretär der ſchottiſchen Alter - thumsvereine, der beſonders darauf dringt, daß man die Elemente der Civiliſation nicht überſehe und nicht überſchätze, die faſt überall das Leben und die Gebräuche der wilden Völker durchſetzen ꝛc. 1)Max Müller, Oxford Essays: on comparative Mythology (1856) Deſſelben Hibbert Lectures (on the| growth and origin of religion etc., Lond. 1879), Lect. III, p. 65 ss. Arthur Mitchell, in den Rhind Lectures on Archeology , 1878. Auf der andern Seite freilich erſcheint auch der radikale Lubbockismus nach wie vor mit eifrigen Anhängern begabt, die wie Baring Gould auf ächt-poſitiviſtiſche Weiſe Fetiſchismus, Polytheismus, Monotheis - mus als die nothwendigen Entwicklungsſtadien der Religion darzuthun ſuchen, oder wie Ray Lankeſter und andre darwiniſtiſche Ultras die von Häckel in ſeiner Natürlichen Schöpfungsgeſchichte und Anthro - pogenie dargebotenen Jnſtanzen für einen Thierurſprung unſres Geſchlechts willkommen heißen und entgegen den Warnungen beſonnener Forſcher wie Huxley ꝛc. ohne Weiteres als baare Münze hinnehmen2)Baring Gould, The origin and development of religious belief. Lond. 1869. E. Ray Lankeſter, Notes on embryology and classifica - tion, etc. Lond. 1877., oder wie Lewis H. Morgan ſich in einem peinlich genauen Schematiſiren, behufs Aufzeigung des ſtufenmäßigen Fortſchritts der Urwilden bis zur Erreichung einer gewiſſen bar - bariſchen Halbcultur gefallen3)Lewis H. Morgan, Ancient Society ss.: Researches into the human progress from Savagery through Barbarism to Civilisation. Lond. 1878.. Die Geſammtgeſchichte unſres Geſchlechts ſoll nach dieſem letztgenannten Forſcher viele Myriaden144VI. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.von Jahren umfaſſen und wahrſcheinlich bis jenſeits der großen Eiszeit zurückreichen. An Vorſtufen einer ſolchen halben Civiliſation, wie etwa die der Griechen zu Homers Zeiten war, ſoll daſſelbe nicht weniger als ſechs zurückgelegt haben: drei Stufen eigentlicher Wildheit (savagery), nemlich niederſte Wildheit (lower s.) bis zur Erfindung des Feuers und Einführung der Fiſchkoſt, mittlere Wildheit bis zur Erfindung von Pfeilen, Bogen, Bumerangs und derartiger Waffen, und höhere Wildheit, endigend mit der Erfin - dung der Töpferkunſt; und ſodann drei Stufen der Barbarei oder Halbwildheit, nemlich tiefſte Barbarei , endigend mit Zähmung der Hausthiere auf der öſtlichen, und mit Einführung der Mais - cultur auf der weſtlichen Halbkugel; mittlere Barbarei, bis zur Erfindung phonetiſcher Alphabete, und höhere Barbarei bis zur Production einer ſolchen Cultur wie die der Homeriſchen Helden. Mit Recht hat Tylor das übermäßig Künſtliche und Phantaſievolle dieſer Morganſchen Periodeneintheilung gerügt und hinreichende Be - gründung der ſtatuirten Zeiträume mit concreten Thatſachen vermißt1)Academy, 20. Aug. 1878..

Ein ähnliches Nebeneinander von bald extrem bald gemäßigt evolutioniſtiſchen und von degradationiſtiſchen Theorien wie die engliſche, ſtellt die modern franzöſiſche Literatur über unſer Thema uns vor Augen. Für die Zutageförderung thatſächlicher Beweiſe für die Exiſtenz abſolut roher Urmenſchen an der Spitze der heutigen europäiſchen Cultur hat keine Nation eifrigere Anſtrengungen gemacht als die franzöſiſche. Auf franzöſiſchem Boden wurde, dank dem unermüdlichen Forſchen und Ringen des Märtyrers der paläonto - logiſchen Wiſſenſchaft Boucher de Perthes ( 1868), der vieljährige Streit über die Exiſtenz oder Nichtexiſtenz foſſiler Menſchen endlich im J. 1863 endgiltig entſchieden. Der Kiefer von Moulin Quignon wurde durch eine internationale Jury, gebildet aus franzöſiſchen und britiſchen Gelehrten wie Milne-Edwards, Busk, Preſtwich ꝛc., als der quaternären Zeit angehörig beſtimmt. Eine lange Reihe ähn -145IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.licher Funde ſchloß ſich an, welche die Poſition der hartnäckigen dogmatiſchen Leugner foſſiler Menſchenreſte aus Cuviers Schule mehr und mehr unhaltbar machten1)S. beſonders Meunier, Les ancêtres d Adam. Histoire de l’homme fossile. Paris 1875. Vgl. m. Geſchichte der Beziehungen ꝛc. II, 759 f.. Nirgends iſt ſeitdem mit größerem Enthuſiasmus der prähiſtoriſchen Wiſſenſchaft gehuldigt worden, nirgends hat das aus Dänemark ſtammende Schema der drei Zeit - alter (Stein -, Bronze und Eiſenzeit) bereitwilligere Gläubige gefunden, nirgends iſt man raſcher und unbedachtſamer vom Glauben an den quaternären zu dem an den tertiären Foſſilmenſchen fortgeſchritten! Mit dem homme tertiaire wird hier in alterthumsforſchenden Kreiſen vielfach ein faſt abgöttiſcher Cultus getrieben; es gibt Fanatiker dieſes Cultus (de Mortillet ꝛc. ), welche für die Annahme halb affen - halb menſchenartiger Bewohner Europas zur Pliocän - oder gar ſchon zur Miocänzeit wie für ein neues Evangelium Pro - paganda machen und bald die techniſchen Fertigkeiten bald die Geſchlechtsſitten dieſer ſprachloſen précurseurs de l’homme mit lebhafter Phantaſie auszumalen ſuchen2)Gabr. de Mortillet, Le précurseur de l’homme. Lyon 1873. Giraud-Teulon, Les origines de la famille. Par. 1874, u. ſ. f.. An beſonneneren Gegnern dieſer Extravaganzen fehlt es nicht. Noch proteſtirt de Quatre - fages dagegen, daß man aus den Skeletreſten und Artafacten von angeblich tertiärem Urſprung für den Darwinismus Capital ſchlage; noch erklärt eine bedeutende anatomiſche Autorität wie Broca den Tertiärmenſchen für ein einſtweilen noch unbewieſenes Problem3)J. Broca, Anſprache an die franz. Association Scientifique zu Havre, 1877. Vgl. A. de Quatrefages, das Menſchengeſchlecht ꝛc. Leipzig 1878.. Auch entſchiednere Vertreter der Entartungstheorie, die in der Weiſe wie früher der edle franzöſiſche Schweizer de Rougemont die bibliſche Urgeſchichte mit archäologiſcher und religionshiſtoriſcher Gelehrſamkeit vertheidigen, hat das heutige Frankreich immer noch aufzuweiſen. Andre huldigen einer vermittelnden Richtung, indem ſie zwar betreffs der Altersfrage von der bibliſchen Autorität abweichen, ſonſt aberZöckler, Urſtand. 10146IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.dieſe zu halten ſuchen, alſo an der Annahme einer gottbildlichen Erſchaffung der Menſchheit und eines nur allmählig in Folge der Sünde eingetretenen Verwilderungsproceſſes feſthalten. 1)So z. B. der Marquis de Nadaillac, L’ancienneté de l’homme. Par. 1870. Biſchof Meignan v. Chalons: Le monde et l’homme selon la Bible, Par. 1869. F. Lenormant, Les premières civilisations, Par. 1874, T. I, p. 53. 58.

Aehnlich ſteht es dermalen in Deutſchland. Die unbedingte Gegnerſchaft gegen jedwede Entartungstheorie erſcheint ſeit dem Ueberhandnehmen darwiniſtiſcher Speculationen als der beſonders auf allen Naturforſcher - und Archäologen-Congreſſen dominirende Factor. Schon bei einer Archäologen-Verſammlung zu Bonn 1868 fand ein die Urgeſchichte der Menſchheit im Sinne des einſeitigſten Evolutionismus behandelnder Vortrag des jüdiſchen Sprachgelehrten Lazar Geiger faſt nur Einen Gegner (v. Quaſt), deſſen Einwürfe der Vorſitzende Schaaffhauſen unter ziemlich allgemeinem Beifalle als Producte dogmatiſcher Befangenheit zurückwies. Allerdings haben ſpätere Verſammlungen dieſer Art auch manches beſonnenere Urtheil zur Geltung gebracht. Der franzöſiſch-belgiſchen Schwärmerei für pliocäne oder miocäne Urmenſchen iſt bisher noch ziemlich regelmäßig deutſcherſeits widerſprochen worden; ja auf dem Anthropologencongreß zu Dresden 1874 wagte der Vorſitzende Oscar Fraas den Tertiär - menſchen dieſes ſprachloſe, feuerſteinſchlagende Geſchöpf franzöſiſcher Einbildungskraft, halb Frühgeburt halb Mißgeburt ohne Weiteres feierlich zu begraben2)Vgl. E. aus’m Weerth, Der internationale Congreß für Alterthums - kunde und Geſchichte zu Bonn im Sept. 1868, ſowie H. v. Jhering, Der deutſche Anthropologen-Congreß zu Dresden 1874 (S. 57).. Auch ſind die ſchwindelhaften Altersberech - nungen, welche ſchweizeriſche und franzöſiſche Forſcher auf Grund der Pfahlbautenfunde ſeit Mitte der 50er Jahre verſucht hatten, gerade durch deutſche Unterſuchungen nüchternerer Art widerlegt worden. Den eine ähnliche Tendenz verfolgenden Bronze - und Eiſenalter - Speculationen der Skandinavier ſammt den mit ihnen zuſammen -147IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.hängenden fabelhaften Leiſtungen der Steinzeit-Archäologen im Periodiſiren ihres Bereichs (als zerfallend in eine paläolithiſche und eine neolithiſche Zeit, wovon die letztere wieder eine ältere und eine jüngere Epoche, und dieſe letztgenannte wieder ein megalithiſches und ein kryptolithiſches Zeitalter in ſich begreifen ſoll, u. ſ. f.),1)Siehe v. Maacks Antiquar. Unterſuchungen, im Archiv f. Anthropologie 1869, H. III, S. 266 ff. (ſowie zur Kritik ſeiner übermäßig künſtlichen Theorie. Lindenſchmitt, ebendaſ. 1870, IV, 43). nicht minder auch der ſeitens franzöſiſcher Paläontologen ausgeklügelten Diſtinction zwiſchen einer Mammuthperiode und einer Renthier - periode (vgl. unten) droht neuerdings, wiederum in Folge tiefer eindringender und gründlicherer deutſcher Forſchung, ein ähnliches Schickſal. Jmmerhin erſcheint diejenige Betrachtungsweiſe, welche von der Vorausſetzung einer uranfänglichen Rohheit unſres Geſchlechts ausgeht und jedwede ſupranaturaliſtiſche Faſſung des Urſtandsbegriffes preisgibt, bei den natur - und ſprachwiſſenſchaftlichen Forſchern unſrer Nation dermalen als vorzugsweiſe beliebt. Ein großer Theil der nicht darwiniſtiſch gerichteten Zoologen und Anthropologen denkt hierin übereinſtimmend mit den Darwinianern; und von dieſen wird theilweiſe Aehnliches geleiſtet wie von ihren Geſinnungsgenoſſen im Auslande. Moriz Wagner ſchildert mit vieler Phantaſie den Kampf mit den Schrecken der Eiszeit, der unſre affenmenſchlichen Voreltern in ihren mitteleuropäiſchen Urſitzen zum allmähligen Fortſchreiten in der Cultur geſtählt und aus noch ſprachloſen Simiaden in intelligente Menſchen umgewandelt habe. Häckels Schöpfungsgeſchichte wagt einmal, gegen ihr Ende hin, die kühne Behauptung: es gebe immer noch gewiſſe äußerſt wilde Stämme im ſüdlichen Aſien und öſtlichen Afrika, welche von der erſten Grundlage aller Geſittung noch keinen Begriff haben, in Heerden beiſammen leben wie die Affen, größten - theils auf Bäumen kletternd (!) und Früchte verzehrend, noch ohne Kenntniß des Feuers, als Waffen nur Steine und Knüppel ge - brauchend, wie es auch die höheren Affen thun ! 2)Moriz Wagner, Neue Beiträge zu den Streitfragen des Darwinismus,Andre begeiſterte10*148IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.Vertreter des Monismus vertiefen ſich, wetteifernd mit jenen Forſchern des Auslandes wie M’Lennan, Giraud-Teulon ꝛc., in geiſtreiche Studien über die früheſten Anfänge der ehelichen Verhältniſſe oder über die geſchlechtliche Zuchtwahl beim Menſchen in der Urzeit. Oder man ſucht Menſchenfreſſerei als allgemein verbreitete Sitte der Urmenſchheit zu erweiſen, rohen Fetiſchdienſt als die nothwendige Grundform und Urgeſtalt aller Religion darzuthun, u. ſ. f. 1)M. Kuliſcher, Die geſchlechtl. Zuchtwahl ꝛc. in d. Urzeit Zeitſchr. f. Ethnologie 1876, II, 140 ff. (vgl. ebend. 1878, III, 190 ff. ) Schaaff - hauſen, im Archiv f. Anthropologie 1867, II, 1870 H. IV. Vgl. unten, den folg. Abſchnitt.Eine Zuſammenfaſſung dieſer verſchiednen radikal-antibibliſchen und anti - theiſtiſchen Beſtrebungen auf dem Gebiete urgeſchichtlicher Speculation hat O. Caspari in ſeiner zweibändigen Urgeſchichte der Menſchheit verſucht. Darin wird, ächt dogmatiſch, die Thierabſtammung des Menſchen als nunmehr wiſſenſchaftlich erwieſene Thatſache vorausgeſetzt, auch in engem Anſchluß an Häckel ein untergegangenes ſüdindiſches Feſtland Lemuria als einſtiger Schauplatz der Fortentwicklung der Halbaffen zu Menſchen gelehrt. Die Frage nach dem Urſprung der Religion als einer allgemeinen Grundeigenthümlichkeit unſrer Race wird, weſentlich übereinſtimmend mit Darwin, dahin beantwortet, daß auch ſchon die Thierwelt, wenigſtens die höhere, eine Anlage zur Religioſität ſowie Spuren religiöſer Gefühle und Triebe kund - gebe; ſeien die zu dieſer Thierreligion hinüberreichenden Fäden allerdings ſchwer zu finden (!), ſo ſei es wiſſenſchaftlich um ſo wichtiger, denſelben nachzuſpüren. Auch die Sprachentwicklung unſres Geſchlechts wird in engem Zuſammenhange mit der Thier - insbeſondre der Vogelſprache betrachtet, übrigens eine angeblich ſchon früher ſtattgehabte höhere Ausbildung der Handgeſchicklichkeit ſammt2)im Ausland 1871, Nr. 24. Häckel, Nat. Schöpfungsgeſchichte, 3. Aufl. S. 653 (Jn neueren Auflagen, z. B. der 1879 erſchienenen ſiebenten, S. 676, ſind einige der kühnſten Zuthaten dieſer Schilderung, wie das Baumklettern und die Unkenntniß des Feuers, verſchwunden).149IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.dadurch herbeigeführtem Aufrechtgehen unter den ihr allmähliges Fort - ſchreiten bedingenden Faktoren genannt ꝛc. 1)O. Caspari, Die Urgeſchichte der Menſchheit mit Rückſicht auf die natürliche Entwicklung des früheſten Geiſteslebens. 2 Bde. Zweite Aufl. Leipzig 1877 f. (beſ. I, 12 f., 150 ff., 299 ff.).

Die ſehr mannigfaltig gearteten Gegenkundgebungen aus dem antidarwinianiſchen Heerlager mit ihrer bald conſequenteren, bald mehr nur bedingten und gewiſſe Conceſſionen (z. B. hinſichtlich der Altersfrage) machenden Zurückweiſung dieſer naturaliſtiſchen Specu - lationen werden, ſo weit ſie belangreich ſind, in den folgenden Ab - ſchnitten zur Sprache kommen. Vorläufig ſei in ihrem Betreff nur ſo viel bemerkt, daß ſie ein zahlreiche Poſitionen und Schattirungen umfaſſendes Meinungsbereich darſtellen, innerhalb deſſen ebenſowohl die reactionärſten Standpunkte und die unverholenſten Zweifel an der Berechtigung einer ſ. g. prähiſtoriſchen Wiſſenſchaft überhaupt, wie ein möglichſt weitgehendes Entgegenkommen zum Deſcendenz - ſtandpunkte hin repräſentirt erſchienen. Wenn einerſeits der berühmte Aegyptologe Brugſch aller prähiſtoriſchen Wiſſenſchaft überhaupt, als einer Pyramide ſcharfſinniger Hypotheſen, auf deren Spitze in nebelhafter Höhe das Bild des Menſchen-Affen als letztes Schluß - tableau thront, den Krieg erklärt und ihre Tendenz, unſer Geſchlecht auf die Fratze des Affenthums zurückzuführen und ſo dem Zufalle anzurechnen was Ausfluß der höchſten Weisheit iſt, aufs ſchärfſte tadelt,2)H. Brugſch-Bey, Die prähiſtor. Wiſſenſchaft und der Menſch-Affe . Wiener Preſſe vom 4. Sept. 1872. ſo haben andrerſeits ſelbſt Theologen, wenn nicht von ſtreng poſitiver doch von vermittelnder Haltung, der Thierurſprungs - Hypotheſe, falls ſie nur eine gewiſſe religiöſe Wendung oder Deutung erfahre, die Hand der Verſöhnung dargeboten. Rud. Schmid meint, die Bibel ſei der Annahme ſolcher Mittelurſachen bei der Erſchaffung des Menſchen, wie die im Darwinſchen Syſtem ihre Rolle ſpielenden, keineswegs ganz entgegen. Er verweiſt auf 1. Moſ. 2, 7 und behauptet: Vom idealen Geſichtspunkte aus gehört die Staubnatur150IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.ſo nothwendig zum Weſen des Menſchen, daß die Frage, ob der Zuſammenhang dieſes Menſchen, der Staub von der Erde iſt, mit dieſer Erde, durch die Form eines vorausgegangenen thieriſchen Organismus vermittelt iſt oder nicht, gar keine Bedeutung mehr hat. Das Sichſträuben gegen eine thieriſche Ahnenſchaft des Menſchen erſcheint ihm als gegenſtandslos, als durch die Bibel keineswegs geboten; auch verlange ja die bibliſche Urgeſchichts-Ueberlieferung durchaus nicht die Annahme einer allmähligen Depravation unſres Geſchlechts. 1)R. Schmid, Die darwinſchen Theorien ꝛc., Stuttgart 1876, S. 304.Ein andrer evangeliſch-theologiſcher Conciliator von Bibel und Darwinismus iſt in dem zuletzt berührten Punkte noch weiter gegangen und hat kühnlich behauptet: die Depravations - hypotheſe habe ſogar weniger Boden in der Bibel, als die entgegen - geſetzte Annahme ! 2)Guſtav Zart, Naturwiſſenſchaft und Bibel ꝛc., 1878, S. 76.

Muß man wirklich ſo weitgehende Zugeſtändniſſe machen? Muß in der That, modernen wiſſenſchaftlichen Entdeckungen zulieb, die Ausſage der Schrift dermaßen einſeitig aufgefaßt und umgedeutet werden, daß ſie überwiegend gegen die Annahme eines Herab - geſunkenſeins unſres Geſchlechts von einem höheren und beſſeren Urzuſtande lautete, ſtatt, wie unſre frühere Betrachtung dieß gelehrt hat, vielmehr überwiegend für dieſe Annahme zu zeugen? Sind es auch wirkliche Entdeckungen der Wiſſenſchaft, die zu einem ſolchen Verlaſſen des Schriftgrundes denn darauf liefe jene Umdeutung eigentlich hinaus nöthigen? Jſt es in der That, um mit Brugſch zu reden, eine breite Grundlage von Thatſachen , auf welcher jene Hypotheſen-Pyramide mit dem Bilde des Menſchen - Affen auf nebelumhüllter Spitze ſich aufbaut? Oder ſind ſie beide gleich nebelhaft: die Spitze der Pyramide wie ihr Grund, die that - ſächlichen Prämiſſen wie das aus ihnen Gefolgerte?

Die zunächſt folgenden Abſchnitte werden dieſe Fragen zu beant - worten haben. Vor allem ſind diejenigen Thatſachen der modernen151IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.Wiſſenſchaft prüfend ins Auge zu faſſen, welche für die früheſte Epoche der Menſchheitsgeſchichte den angeblichen Nachweis ihres Verflochtenſeins in die letzten Stadien vormenſchlicher Thier geſchichte liefern ſollen. Könnte irgendetwas die Theſe von der Urwildheit unſres geſammten Geſchlechts dauerhaft ſtützen und den Paradieſes - glauben definitiv entwerthen und entwurzeln, es müßten dieſe ſteinernen und verſteinerten Monumente aus einer Zeit vor aller bekannten Geſchichte ſein; denn keines der ſonſt noch gegen unſre Annahme ins Feld geführten Argumente, ſei es religionshiſtoriſcher, ſei es ſprach - wiſſenſchaftlicher oder archäologiſcher Art, ſcheint in eine gleich fern - liegende Vergangenheit zurückzureichen. Mit dieſen am weitſten gehenden Gegenanträgen gegen die bibliſch-kirchliche Poſition haben wir uns alſo vor allen Dingen abzufinden.

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V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen (pa - läontologiſchen) Gegeninſtanzen.

Es hat eine Steinzeit am Anfange menſchlicher Geſchichte gegeben. Es ſind foſſile Reſte der dieſer früheſten und roheſten Culturperiode angehörigen Menſchen zu Tage gefördert worden. Seit nahezu zwei Jahrzehnten iſt der Widerſpruch der Paläontologen aus Cuviers Schule, welche dieſe Thatſachen leugneten, zum Verſtummen gebracht worden. Wenn nicht ganze Skelete, ſo doch erhebliche Skeletbruchſtücke von Steinzeit-Menſchen ſind in ziemlicher Zahl aus - gegraben worden. Durch die jenem Moulin-Quignon-Kiefer theils ſchon vorangegangenen theils gefolgten Funde von Aurignac, Nau - lette, Cromagnon, Schuſſenried, Solutré, Thayngen ꝛc. iſt der Menſch als einſtiger Zeitgenoſſe der einſt die großentheils noch ver - eiſten Länder Mitteleuropas bevölkernden Renthiere, ja vielleicht gar der noch älteren Mammuthe und anderer untergegangener urwelt - licher Thiere unſres Continents erwieſen. Die lediglich auf Stein - werkzeuge, roh bearbeitete Knochen und primitives Töpfergeräth ſich beſchränkende Jnduſtrie dieſer älteſten Repräſentanten unſeres Ge - ſchlechts ſteht in zahlreichen ihrer Producte anſchaulich vor unſren Blicken; Lukrez’s bekannte Schilderung, ſoweit ſie einer Metallwaffen - Epoche eine Zeit bloßer Steingeräthe vorausgehen läßt, erſcheint geſchichtlich beſtätigt. Die naturaliſtiſche Oppoſition wider die bib - liſche Urſtandslehre beſitzt an dieſen Monumenten aus der Steinzeit jedenfalls ihre werthvollſten, ihre ſolideſten und gewichtigſten Waffen. Einen wiſſenſchaftlich ſoliden, wenn auch noch nicht gerade exacten. 153Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.Character tragen ihre Einwürfe in der That erſt, ſeitdem ſie dieſe Waffenſtücke ins Feld zu führen begonnen hat. Erſt ſeit Lyell, Lubbock und Tylor hat die antibibliſche Urſtands-Speculation ihre frühere, einſeitig theoretiſche und vielfach ſchwindelhaft phantaſtiſche Argumentationsweiſe allmälig fahren gelaſſen. Sie iſt erſt ſeitdem ein Factor geworden, mit dem man wiſſenſchaftlich zu rechnen hat, wenn man der in unſrem Problem beſchloſſenen Wahrheit auf den Grund kommen will.

Aber kommt denn dieſe Waffe, deren ſoliden Werth wir berei - willig zugeſtehen, auch wirklich der Oppoſition gegen den bibliſchen Urſtandsbegriff ausſchließlich zu Gute? Jſt es in der That die prä - hiſtoriſche Wiſſenſchaft als bib elfeindliche, als mit der Urge - ſchichte der Geneſis ſchlechthin nicht auszuſöhnende, die damit geſtützt wird? Muß der Glaube an eine paradieſiſche Hoheit und Reinheit des Ausgangspunktes der menſchlichen Entwicklung an jenen Stein - und Knochengeräthen der Quaternärzeit zerſchellen und zu Schanden werden?

Wir beſtreiten das mit aller Beſtimmtheit, und zwar zuvörderſt aus dem exegetiſchen und bibliſch-hiſtoriſchen Grunde, den das vierte Kapitel der Geneſis uns ſchon früher vor Augen geſtellt hat. Auch die moſaiſche Urkunde kennt eine Steinzeit als der Stufe der Metallbearbeitung vorhergegangen. Die Baumäſte und Steine, welche der römiſche Dichter als früheſtes Waffenmaterial dem Erz und Eiſen vorausgehen läßt, ſtimmen ebenſo gut mit der bibliſchen Darſtellung wie mit dem Zeugniſſe der prähiſtoriſchen Forſchung überein. Von Kain dem erſten Todtſchläger, bis auf Thubalkain den erſten Waffenſchmied herrſcht Steincultur, mit dem letzteren beginnt Erz - und Eiſencultur; wo bleibt da die Discrepanz zwiſchen Bibel und Prähiſtorie? Und muß denn nothwendig gerade nur der früheſten Urzeit die Steincultur als ſpecifiſch Eigenthümliches reſervirt werden? Fordert die Bibel, daß man ein ſofortiges und allgemeines Uebergehen aller Stämme zum Gebrauche der Erfin - dungen der Söhne Lamechs vorausſetze? daß man die nachſint -154Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.fluthliche Menſchheit als von vornherein ausnahmslos auf der Stufe der Metallcultur ſtehend denke? daß man ein auch noch ſpä - teres ſporadiſches Vorkommen von Steinmenſchen ſich aus dem Sinne ſchlage? Wenn ſie aber dieß alles nicht fordert, viel - mehr beſtimmte Andeutungen betreffs eines Hineinreichens einzelner Nachwirkungen der urſprünglichen Steincultur bis in die bekanntere hiſtoriſche Zeit hinein darbietet man denke nur an Zippora’s, an Joſua’s ſteinerm Beſchneidungsmeſſer, Exod. 4, 25; Joſ. 5, 2 harmonirt ſie nicht auch hierin weſentlich mit dem bisher durch die vorhiſtoriſche wie hiſtoriſche Archäologie Ermittelten? Ein mehrfaches örtlich bedingtes Hineinragen der Stein - in die Metallculturzeit lehrt ja auch dieſe. Jm hohen Norden Sibiriens, bei den Papuas der Humboldt-Bai und verſchiednen andren Stämmen Neuguinea’s, bei den Eingeborenen Neucaledoniens und den Bewohnern der Ad - miralitätsinſeln (die dem Zeugniſſe der Challenger-Reiſenden zufolge lediglich gewiſſe mit Obſidianſpitzen verſehene Lanzen als Waffen gebrauchen) ſowie auf einigen andren Punkten iſt die Steinzeit als noch gegenwärtig fortbeſtehend erwieſen worden. Bis in die neuere Zeit hinein ſcheint dieſelbe bei den Aïnos der Japaneſiſchen Jnſeln gedauert zu haben, bis ins 11. Jahrhundert unſrer Zeitrechnung bei den Bewohnern der öſtlichen Mandſchurei, deßgleichen wie es ſcheint bis ins Mittelalter hinein oder noch länger bei mehreren andren Stämmen Aſiens und wohl auch Europas. 1)Vgl. Ztſchr. f. Ethnologie 1878, IV, 465; Archiv f. Anthropol. Bd. 8, 250; Bd. 9, 99 ff. ; Globus Bd. XX, 16, 255; Bd. XXVI, Nr. 20. Beim ſechſten urgeſchichtl. -anthropol. Congreß zu Brüſſel 1876 einigten ſich ſämmtliche Archäologen dahin, ein mehrfaches lokales Fortbeſtehen der Steinzeit anzu - nehmen (Correſp. -Bl. ꝛc., 1872, S. 91).Mit Stein - äxten läßt ja noch das alte Hildebrandslied die Helden Hildebrand und Hadubrand ihren Streit ausfechten; auf bloßen Steinwaffen - gebrauch beſchränkte Völker kannten noch verſchiedne Hiſtoriker des claſſiſchen Alterthums. Und was hindert’s doch, auf Grund der neuerdings viel erörterten Feuerſtein-Artafacte der libyſchen und der155V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.arabiſchen Wüſte ein Fortdauern der Steinzeit in dieſer nächſten Nachbarſchaft des frühzeitig halbcultivirten Nilthals bis in die hiſto - riſche Zeit hinein anzunehmen, oder auch, wie Andre wollen, etwas wie eine förmliche Steinzeit für Aegypten zu ſtatuiren und für dieſe Annahme gleichfalls wieder jene Stellen Exod. 4, 25; Joſ. 5, 2 als indirecte Belege geltend zu machen? Die ungeheure Maſſenhaf - tigkeit der betr. Steinſplitter ſchien vielen Forſchern die Auffaſſung derſelben als wirklicher Kunſtproducte zu erſchweren: man meinte eher durch atmoſphäriſche Wirkungen, z. B. ſtarke Hitze mit plötzlich darauf gefolgtem Regen, hervorgebrachte Naturphänomenen, als etwa Reſte oder Trümmerhaufen uralter Steinwaffen-Fabriken, in ihnen erblicken zu müſſen. Und doch ſcheint die neueſte paläontologiſche Unter - ſuchung des Gegenſtandes die letztere Annahme überwiegend zu be - günſtigen, ſodaß die bisher beſonders ſeitens ägyptologiſcher Antori - täten wie Lepſius, Ebers, Chabas, Brugſch ꝛc. ihr entgegengebrachte Abneigung wohl bald einer zuſtimmenden Haltung auch von dieſer Seite her Platz machen dürfte. 1)Der zuerſt durch die Franzoſen Hamy und Lenormant (1869) ver - tretnen Auffaſſung der ägyptiſchen Feuerſteinſchichten als uralter Waffenfabriken (wogegen beſonders Lepſius im Correſp. -Blatt der deutſchen Geſellſch. für An - thropol., 1871, Nr. 5 und Ebers in der Ztſchr. f. ägypt. Sprache 1871, I. u. II auftraten) haben nach und nach zugeſtimmt: Zittel (Briefe aus der lib. Wüſte 1875, S. 45), Rohlfs (Drei Monate in der lib. Wüſte, 1875, S. 160), Much (Mittheilungen der Wiener anthropol. Geſellſch. 1876, Nr. 4), Robert Hartmann (Die Nigritier, Thl. I, 1876), Fraas (Aus dem Orient, II: Geol. Beobachtungen am Liban., 1868), jüngſt auch der längere Zeit ſkeptiſch urthei - lende G. Schweinfurth (nach Mook’s Vortr. über die Steinzeit in Aegyten bei der deutſchen Anthrop. -Verſ. zu Kiel 1878), ſowie früher ſchon die Aegypto - logen Lauth (Correſ. -Bl. ꝛc. 1873, Nr. 2) und Mariette (ſ. d. folg. Note).Aber über die Frage wegen des Alters der betr. Steinwerkzeuge würde damit noch keineswegs eine Entſcheidung getroffen ſein,2)Mariette (ſ. Academy, March 20, 1875) hat gegen den künſtlichen Ur - ſprung der äg. Feuerſteinſplitter nichts einzuwenden, will dieſelben aber nicht einer vorgeſchichtlichen, ſondern erſt der geſchichtlichen Zeit zugewieſen wiſſen. Ueber ſowenig wie die Kieſeläxte und ſonſtigen156V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.rohen Stein - und Knochenwerkzeuge der belgiſchen, franzöſiſchen und deutſchen Höhlenfunde, darum weil man ſie Menſchen der ſ. g. Ren - thierperiode beizulegen genöthigt iſt, hinſichtlich der Zeit, aus welcher ſie herrühren, ſchon ſicher fixirt genannt werden können. Dieſe Alters - frage, über welche erſt weiter unten ſpecieller zu handeln ſein wird, iſt für den Hauptpunkt, um welchen es ſich hier handelt, von min - der weſentlichem Belange. Es liegen übrigens, ſo viel mag ſchon jetzt vorläufig conſtatirt werden, durchaus keine zwingenden Gründe für die Annahme eines etwa nach Zehntauſenden von Jahren zu meſſenden Alters der betreffenden Geräthe und der mit ihnen bei - ſammen gefundenen menſchlichen Skeletreſte vor. Die Zurückführung dieſer Funde auf eine der bibliſchen Sintfluth entweder um einige Jahrhunderte vorausgehende, oder auch ihr erſt gefolgte Epoche, mithin in eine Zeit wo theilweiſe und in andren Gegenden ſchon vorgerücktere Culturzuſtände herrſchten, leidet an keinen weſentlichen Schwierigkeiten. Europas Steinzeit kann ſehr wohl eine nur re - lativ vorhiſtoriſche geweſen, ſie kann ſehr leicht mit einer ſchon mehr oder minder fortgeſchrittenen Metallcultur ſüdlicherer und öſt - licherer Länder gleichzeitig verlaufen ſein. 1)Ueber Fraas und andere Vertheidiger eines Hineinreichens der ſ. g. Ren - thierperiode Frankreichs und Deutſchlands, ſowie überhaupt des Schlußſtadiums der Eiszeit, in unſere geſchichtliche Periode; deßgleichen über die neueren Gegner der franzöfiſchen Diſtinction einer Mammuth - und einer Renthierzeit (Nehring, Zittel, Ratzel ꝛc. ) ſ. weiter unten, ſowie den Abſchnitt über das Alter des Men - ſchengeſchlechts.

Es beſteht kein wirklicher Widerſpruch zwiſchen der durch die neuere Forſchung erhärteten Annahme einer urſprünglichen Stein - cultur und zwiſchen den Angaben der bibliſchen Urgeſchichte. Nicht die Kieſeläxte der prähiſtoriſchen Menſchheit drohen dem Para -2)die Frage wegen des Alters und Urſprungs der mancherlei in Syrien und Pa - läſtina aufgefundnen Silex-Werkzeuge, insbeſondere jener von Gilgal, worin Guérin (Description de la Paléstine, II, 1874) unmittelbar die Beſchnei - dungsmeſſer Joſua’s wiederkennen wollte, ſ. beſonders Socin in Kautzſch und Socin: Die Aechtheit der moabiliſchen Alterthümer, 1876, S. 21 ff.157V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.dieſesglauben Verderben, aber vielleicht Geſtalt und Aus - ſehen dieſer prähiſtoriſchen Menſchheit ſelbſt? Sind es in der That ganze oder halbe Affenmenſchen geweſen, die jene Aexte ſchwangen? Sind es gorilla-artige Schädel, die aus den Gräbern der Quaternär -, oder wie Manche lieber wollen der Tertiär-Zeit uns entgegengrinſen?

Gemäß darwiniſtiſcher Theorie müßte dieß jedenfalls ſo ſein; der thatſächliche Befund ſpricht jedoch keineswegs zu Gunſten der Annahme. Man ſollte im Jntereſſe des Deſcendenzglaubens erwarten und wünſchen, daß gegen die Zeit des erſten Auftretens menſchlicher Foſſilreſte auch beſonders zahlreiche Reſte menſchähnlicher Affen in den paläontologiſchen Fundſtätten ſich einſtellten. Gerade das Ge - gentheil iſt der Fall! Ein angeſehener Vertreter jenes Glaubens be - merkt mit Recht: Ein nothwendiges Poſtulat der Deſcendenztheorie wäre die Exiſtenz zahlloſer foſſiler Uebergangsformen, wodurch alle früheren und jetzigen Arten zu einer vollkommen geſchloſſenen Kette vereinigt würden. Das iſt nun keineswegs der Fall. Wenn uns auch die Paläontologie außerordentlich viele Lücken in den bio - logiſchen Syſtemen ausfüllt, ſo ſind wir doch weit entfernt, den Stammbaum auch nur einer einzigen Claſſe vollſtändig herſtellen zu können. 1)K. Zittel, Aus der Urzeit, München 1871 f., S. 585 (vgl. 483. 487 u. ö.).Dieſes hier im Allgemeinen behauptete Fehlen foſſiler Uebergangsglieder iſt gerade da, wo es ſich um den Nachweis der Hervorbildung des Menſchen aus den Simiaden oder auch aus den Lemuriden handelt, ein ganz beſonders auffallendes und peinliches. Das Nicht-Vorkommen oder Kaum-Vorkommen foſſiler Affenarten, zumal dem menſchlichen Typus nachſtehender, bildet für die Paläon - tologen darwiniſtiſcher Schule ein wahres Kreuz. Es hat zur Auf - ſtellung von mancherlei wunderlichen Hypotheſen geführt. Die ſchon ziemlich alte, nicht etwa erſt vom britiſchen Zoologen Sclater oder von Häckel, ſondern bereits vom ſchellingianiſirenden Naturphiloſophen Link (1821) ausgebildete Hypotheſe einer verſunkenen Atlantis des158V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.Südoſtens, eines einſt die Brücke zwiſchen Madagaskar und Süd - indien oder Neuholland bildenden Continents Lemuria , hat als bequemes Auskunftsmittel aus dieſer Verlegenheit neuerdings ziem - lichen Anhang gefunden, obſchon kritiſch gerichtete Thiergeographen und Geologen ihr fort und fort widerſprechen. 1)Siehe beſ. Wallace, Tropical Nature and other Essays, London 1876, wo die Annahme eines Lemurien als eine jener Hypotheſen charak - teriſirt wird, welche nützen, indem ſie die Aufmerkſamkeit auf eine Kette ano - maler Thatſachen lenken, welche aber im Verlaufe eingehenderer Unterſuchung ſich als überflüſſig herausſtellen und in Wegfall kommen (vgl. Spen - gel, Die Fortſchritte des Darwinismus, III, 1879, S. 92).Einer ihrer Gegner, der das Drama der Verwandlung von Affe in Menſch lieber in kälteren und uns nähergelegenen Gegenden ſpielen läßt, hat mittelſt ſcharfſinniger Deduction zu zeigen verſucht, warum der affenähn - liche Urerzeuger unſres Geſchlechts jedenfalls nur in wenigen Exem - plaren vorhanden geweſen ſein werde: dieſer geheimnißvolle Ahnherr könne unmöglich als ein kosmopolitiſches Weſen von weiter Ver - breitung exiſtirt haben, er könne lediglich Bewohner eines ſehr be - ſchränkten Verbreitungsbezirks geweſen ſein, und ebendeßhalb ſei die Wahrſcheinlichkeit ſeines gänzlichen Untergegangenſeins weit größer als jede entgegengeſetzte. 2)Moriz Wagner, a. a. O. (Ausl. 1871), Nr. 23, S. 540.Andere verweiſen tröſtend auf zukünftige Entdeckungen; ſo meint Rütimeyer: Gerade foſſile Orangs und Gorillas müßten für die hier beſprochne Frage noch größeres Jn - tereſſe bieten, als die lebenden; um ſo mehr iſt es zu beklagen, daß ſolche Ueberreſte einſtweilen ſo ſpärlich und unvollſtändig ſind, daß wir ſie hier nicht mit in den Vergleich aufnehmen können. Jmmerhin iſt ſchon das genug, um uns zu warnen, die Unterſuchung etwa zu früh als abgeſchloſſen zu erklären: ein einziger glücklicher Fund auf dieſem Boden kann den Streit neu anfachen und vielleicht mit vollkommen neuem Lichte erhellen ꝛc. 3)Rütimeyer, Die Grenzen der Thierwelt ꝛc., Baſel 1868, S. 46.

Der erwünſchte Fund iſt bis jetzt noch nicht gethan worden. 159V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.Aber auch das bisher von foſſilen Menſchenſkeleten Aufgefundene bringt dem Ziele einer wirklichen Ueberbrückung der Kluft zwiſchen Menſch und Affe nicht näher. Das älteſte Fundſtück dieſer Art, der ſchon 1833 von Schmerling aus einer belgiſchen Höhle zu Tage geförderte Engis-Schädel, mag, entgegen den in Bezug auf ihn ge - hegten Zweifeln, wirklich für quaternären Urſprungs zu halten ſein. Boyd Dawkins, der bewährte Höhlenforſcher, der ſein palätioliſches Alter nicht einräumen will, mag ſich im Unrecht befinden. 1)Boyd Dawkins, Cave Hunting, 1875. Vgl. Dawſon, Natur und Bibel (1877), S. 165.Auf jeden Fall iſt es kein Affenmenſch-Schädel, ſondern ein Schädel wie unzählige andre Menſchenſchädel auch, ein guter mittlerer Schädel nach Huxley’s Urtheil , der einem Philoſophen angehört haben, oder auch das Gehirn eines gedankenloſen Wilden, gleich den heutigen Auſtraliern etwa, enthalten haben kann. Nicht eben beſſer ſteht es um das zweitälteſte Reliquienſtück dieſer Art, den famoſen Nean - derthal-Schädel (entdeckt 1856, zuerſt unterſucht und beſchrieben von Fuhlrott 1857). Ueber ihn urtheilte ſelbſt Lyell, er bezeuge keinen - falls einen einſtigen Uebergang zwiſchen Affe und Menſch, zumal ſein Alter höchſt ungewiß ſei. Huxley fand ihn gleichfalls unge - nügend zur Conſtatirung der Annahme einer Affendeſcendenz. Rudolf Wagner fand ihn ziemlich ähnlich dem Schädel eines alten Hollän - ders von der Jnſel Marken in der Zuyderſee in der Blumenbach - ſchen Sammlung. Welcker verſicherte, daß nicht bloß der Schädel des Blumenbachſchen Holländers, ſondern noch ein Paar andre Schädel in ſeiner Sammlung die größte Aehnlichkeit mit dem Nean - derthaler hätten. Quenſtedt rief elegiſch ſcherzend über ihn aus: Neanderſchädel unverdienten Rufes! Was iſt aus dir gemacht , und fand ſelbſt die Zurückdatirung des Fundſtückes auf die alten Sueven zu Cäſars Zeit bedenklich: das ſtarke Ankleben der Knochen an der Zunge ſcheine faſt zu dem Schluß zu nöthigen, dieſelben ſeien nicht foſſil, ſondern jung! , des Franzoſen Gervais Urtheil über ſein Alter als ein nicht mit Sicherheit beſtimmbares ſei daher160V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen. noch rückſichtsvoll! Aeby konnte nichts als eine pathologiſche Miß - bildung in dem mit auffallend niedriger zurückliegender Stirn ſowie mit hochgewölbten Augenbraunenbogen begabten Schädel erblicken. Virchow charakteriſirte den Schädel ſammt den mit ihm gefundnen rachitiſch inficirten Skeletknochen als einen evident pathologiſchen Fund , deſſen Benützung zur Racenbeſtimmung unthunlich ſei. Zittel ſchwankt zwiſchen einem Jdioten und einem Menſchen von ſehr tiefſtehender affenähnlicher Race als einſtigem Jnhaber des Schädels, warnt aber jedenfalls davor, weitgehende Schlüſſe auf ihn zu bauen . Noch Schaaffhauſens jüngſter Vortrag über den Gegen - ſtand (bei der Anthropologen-Verſammlung zu Kiel, 1878) trat nur mit bedeutenden Reſtrictionen als Vertheidiger eines gewiſſen wiſſen - ſchaftlichen Werthes des Schädels auf; man dürfe denſelben ſammt den zugehörigen Skeletknochen nicht für in dem Grade rachitiſch halten, wie Virchow dieß thue, u. ſ. f. 1)Lyell, Alter des Menſchengeſchl. ꝛc., S. 54; Huxley, Stellung des Menſchen in der Natur, 1863; R. Wagner in den Abſch. der Geſellſch. der Wiſſenſch. zu Göttingen, 5. März 1864; Welcker, bei Ulrici, Gott und die Natur, 2. Aufl., S. 411; Quenſtedt, Klar und Wahr ꝛc. 1872, S. 163 f.; Aeby, Die Schädelformen des Menſchen und der Affen, 1867; Virchow, bei Ratzel, Vorgeſchichte des europä. Menſchen, 1874, S. 95; Zittel, Aus der Urzeit, S. 521; Schaaffhauſen, im Bericht über die Kieler Anthropol. - Verſ., redig. von Joh. Ranke, 1879.Jn der außerordentlichen Schwäche und Gebrechlichkeit dieſes foſſilen Belegs für die Thier - ähnlichkeit der älteſten Menſchen ſtimmen faſt ſämmtliche Beurtheiler überein; dennoch wollen immer noch Einige, leidiger Syſtematiſir - ſucht zulieb, den Typus einer gewiſſen urzeitlichen Race in ihm er - blicken, die ſie entweder die neanderthaloïde Race (Spengel) oder die Race von Cannſtatt (Broca, Quatrefages) nennen. 2)J. W. Spengel, im Archiv f. Anthropol. Bd. VIII, 1875, S. 49 ff. Broca, Instructions craniologiques et craniométriques de la Société d’Anthropol. de Paris, 1876. A. de Quatrefages, Das Menſchengeſchlecht, II, S. 20 ff. Vgl. die unten, am Schluſſe dieſes Abſchnittes mitzutheilende Stelle aus dem letzt. Werke. Eine161V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.weitere Stütze der Pithekoiden-Theorie, von welcher wenigſtens eine Zeitlang viel die Rede war, der bei Brüx in Böhmen 1871 aus - gegrabene Brüxer Schädel, wurde von einer Autorität wie Roki - tanski ganz ähnlich beurtheilt, wie der Neanderthaler Schädel von Virchow u. AA., als eine pathologiſche Mißbildung nemlich. Die übereinſtimmenden Angaben derer, die ihn wiſſenſchaftlich unterſucht, bezeichnen ihn als einem knochenkranken, vielleicht ſyphilitiſchen Men - ſchen angehörig. Jn den neueſten Erörterungen über unſer Thema wird er, offenbar wegen Mißtrauens gegen ſeine Verwerthbarkeit, ſchon kaum mehr genannt. 1)Vgl. v. Hellwald, im Ausl. 1872, S. 1124; Ratzel, Vorgeſchichte ꝛc. S. 96.Ein Schädel von Cannſtatt, einer von Gibraltar, ein im Löß bei Colmar aufgefundener, ein durch Piette in der Grotte von Gurdon entdeckter, ſind ſämmtlich ſo defect, nem - lich des Geſichtstheils gänzlich beraubt, daß auf ihre Beſchaffenheit gebauten Schlüſſe nothwendig als höchſt precär gelten müſſen. Eben dieß gilt von dem berüchtigten Unterkiefer von la Naulette, der einem Menſchen mit nur ſehr ſchwach hervortretenden Kinne angehört zu haben ſcheint. 2)Schaaffhauſen u. einige AA. wollen dieſen Naulette-Unterkiefer als einen beſonders thieriſch-artigen, dem Affentypus ſich nähernden betrachtet wiſſen. Quatrefages a. a. O., II, 22 geht nicht ſo weit, obſchon er das ſtarke Zurück - treten des Kinnes gleichfalls hervorhebt.Wollte man die von Broca und Quatrefages verſuchte Zuſammenfaſſung dieſer letztgenannten Schädel als zu Einer urweltlichen Race von beſonders wildem Charakter, der ſ. g. Canſtatt - Race, gehörig gelten laſſen, ſo würde doch immer noch Mehreres ganz unſicher und problematiſch bleiben, insbeſondere das Alter der einzelnen Specimina, die unter ſehr verſchiednen Verhältniſſen und an ziemlich weit voneinander entfernten Orten aufgefunden lediglich dem Syſtem zulieb als der früheſten Quaternärzeit oder ſ. g. Mam - muthperiode entſtammend beſtimmt werden, während unbefangene Forſchung die ihre Zeitbeſtimmung betreffenden Verſuche im Ein - zelnen von den größten Schwierigkeiten umgeben ſieht und überhauptZöckler Urſtand. 11162V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.eine ſtrenge Einheitlichkeit der Merkmale der verſchiednen unter jener Rubrik zuſammenbefaßten Foſſilreſte vermißt. Auch geben gerade die genannten Urheber und Hauptvertreter jener Claſſification zwar einen ſehr wilden, aber keineswegs einen völlig affenmenſchlichen Charakter der Race, welcher dieſe Schädelbruchſtücke angehört haben ſollen, zu. Quatrefages iſt ſogar ein entſchiedner Gegner darwini - ſtiſcher Speculationen und neigt ſichtlich dazu, ſeine Cannſtatt-Men - ſchen wir gebrauchen dieſen Ausdruck mit der größtmöglichen Reſerve als verwilderte und herabgekommene, nicht als urſprün - liche Typen unſres Geſchlechts zu betrachten. Was ſonſt noch von jüngſtentdeckten foſſilen Skelet - und Schädelfunden durch die genannten franzöſiſchen Anthropologen claſſificirt worden iſt: die dolichocephale Cro-Magnon-Race und die brachycephale Furfooz-Race (die Letztere wieder in mehrere untergeordnete Gruppen zerfallend), ſchließt über - haupt gar nichts weſentlich von den heutigen Racentypen wilder Völker Abweichendes in ſich. Der als Typus zur Charakteriſtik jener erſteren Race verwendete Schädel aus der Höhle Cro-Magnon im Périgord wird als ein langköpfiger Schädel von beträchtlicher Capacität beſchrieben; ſeine Capacitätsziffer von 1590 Cubik-Centi - meter übertrifft weit den Mittelwerth der von Broca für die jetzigen Pariſer ermittelten Schädelcapacität (!). Aehnliches ſcheint von den mehrfach als Seitenſtück zum Cro-Magnon-Funde betrachteten Skelet - reſten aus der Höhle von Mentone (entdeckt 1872), zu gelten, deren Alter übrigens competenten Forſchern wie z. B. Dawkins als gänz - lich unſicher gilt. Den einſtigen Beſitzern dieſer und ähnlicher Köpfe fehlte überhaupt nichts von dem, was im Allgemeinen als Zeichen einer höheren intellectuellen Entwicklung gilt. Aber auch die Furfooz - Schädel, ſeit 1867 durch Dupont und AA. aus belgiſchen Höhlen zu Tage gefördert, nebſt den aus Kiesgruben der Umgebung von Paris ausgegrabenen Reſten einer Abart dieſer belgiſchen Urein - wohner, der ſ. g. Grenelle-Race, verrathen zwar eine etwas kleine Körperſtatur, aber nichts von irgendwie thieriſchem Charakter. Jhre Jnhaber dürften derartigen brachycephalen Stämmen, wie die heutigen163V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.Lappen ſind, ziemlich ähnlich geweſen ſein; neben den Renthieren mit welchen zuſammen ſie gegen das Ende einer längeren Vereiſungs - periode das weſtliche Europa bewohnten, hat ihre Erſcheinung ſo wenig etwas Auffallendes, zur Hypotheſe eines Thierurſprungs Zwin - gendes, wie die der ähnlich gearteten jetzigen Bewohner des höchſten europäiſchen Nordens. 1)Vgl. Broca’s Vortrag vor der Association scientifique zu Havre, 1877, ſowie Quatrefages, II, 29 ff. 58 ff. ; auch Zittel, a. a. O., 521 ff. Von den deutſchen Zeitgenoſſen dieſer belgiſchen und franzöſiſchen Renthiermenſchen, den Renthier-Schwaben von Schuſſenried, dem Hohlefels, Thayngen ꝛc., läßt ſich mit Be - ſtimmtheit muthmaaßen, daß ſie, ungeachtet ihres Zuſammenlebens nicht nur mit Renthieren, ſondern vielleicht auch noch mit Höhlen - bären, Höhlenlöwen ꝛc., doch unſrer hiſtoriſchen Zeit keineswegs ſehr fern ſtanden. Man iſt übrigens betreffs der Feſtſtellung des Eigen - thümlichen dieſer oberdeutſchen Race faſt ganz auf den indirecten Weg des Folgerns aus Kunſtreſten, und zwar aus bis jetzt nur ſpärlich vorhandenen, angewieſen.

Dieſer Umſtand legt es nahe, überhaupt von der Kunſt der in Rede ſtehenden Urbewohner unſres Erdtheils, ſowie was dabei unvermeidlich von der in Betreff ihrer vorgekommenen Fälſchungen und Betrügereien, ein Wort zu ſagen. Die bekannten, erſt vor Kurzem bei Ausgrabung des Keſſlerlochs von Thayngen unweit Schaffhauſen (1875) zu Tage getretenen Schwindeleien, beſtehend in Einmiſchung zierlich auf Knochen geſchnitzter moderner Reliefbilder verſchiedner Thiere unter den foſſilen Jnhalt der Höhle, zuſammen mit mehreren früheren Fälſchungsgeſchichten ähnlicher Art aus Frankreich, Nordamerika ꝛc., machen es zu einer Nothwendigkeit, zwiſchen der Annahme eines ziemlich hohen Grades von Geſchicklich - keit und edlem Kunſtgeſchmack jener Urmenſchen einerſeits und der eines Untergeſchobenſeins der betreffenden, oft auffallend ſchönen Kunſtleiſtungen zu wählen. Ja ein drittes Mittleres zwiſchen Beiden ſcheint nicht ſelten angenommen werden zu müſſen, ein aus kritiſcher11*164V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.Ausſcheidung eines Theils und Anerkennung der Aechtheit eines andren Theils der fraglichen Bildwerke gemiſchtes Verfahren! So haben Fraas und einige andre Paläontologen den durch jene Thaynger Funde verurſachten Streit zu ſchlichten verſucht: die bild - lichen Darſtellungen des Bären und Fuchſes haben ſie als nach dem Modell Leutemann’ſcher Zeichnungen in einem beliebten O. Spa - merſchen Kinderbuche durch irgend einen Schalk gefälſcht preisgegeben, die übrigen Thierbilder dagegen, als ohnehin nicht etwa auf neuere Knochen, ſondern auf alte Renthier-Geweihſtücke eingegraben, den einſtigen Anwohnern des Oberrheins in der Renthierzeit vindicirt. Dieß freilich unter der Vorausſetzung eines keineswegs ſehr hohen Alters der fraglichen Artefacte, welche jedenfalls in die uns bekannte hiſtoriſche Zeit hinein zu verlegen, ja vielleicht gar ſo meint Hofrath Ecker in Freiburg als durch griechiſche Künſtler gefertigt zu betrachten ſeien. 1)Vgl. Ecker im Archiv f. Anthropol. 1878, I, 135 144; Fraas, in der Zeitſchr. f. Ethnol. 1878, IV, 241 ff.Auf ähnliche Weiſe ſcheint noch in mehreren anderen Fällen geurtheilt werden zu müſſen. Den Renthiermenſchen Belgiens und Frankreichs kann, auf Grund ziemlich zahlreicher Schnitzbilder, deren Aechtheit feſtſteht und welche Renthiere, Stein - böcke, Fiſche u. dgl. mit großer Naturtreue abbilden, ein eigen - thümliches Kunſtgeſchick, dergleichen man auch ſonſt bei Jäger - völkern findet, wohl ſchwerlich abgeſprochen werden. Dennoch regen ſich auch hier ſelbſt beim Leichtgläubigen unwillkührlich manche Zweifel. Das bekannte, neuerdings oft abgebildete Elfenbeinſtück aus der Höhle von La Madeleine mit der überraſchend naturgetreuen Zeichnung eines Mammuth, kann es wirklich vorhiſtoriſchen Ur - ſprungs ſein? Setzen ſeine fein geſchwungenen, mit ſichrer Hand gezognen Linien nicht am Ende ſchon Metallwerkzeuge voraus? Wenn aber dieß nicht: kann die ſchön gezeichnete Figur Copie eines lebenden Rieſenelephanten der Urzeit geweſen ſein? Muß nicht vielleicht eher ein nach Art der ſibiriſchen Mammuthe ins Eis der165V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.großen Eiszeit eingefrorener Mammuth-Cadaver als einſtiges Modell des prähiſtoriſchen Künſtlers gedacht werden? Wie man auch dieſen Schwierigkeiten abzuhelfen ſuche, auf jeden Fall iſt nichts unmöglicher als die Annahme eines ganz niedrigen und primitiven Culturgrads der in ſolcher Weiſe kunſtbegabten Urmenſchen. Direct aus dem Schooße von Affenmenſchen gekommen könnten dieſe urzeitlichen Naturkinder nimmermehr ſo bedeutende Kunſtleiſtungen producirt haben! Es fragt ſich aber gerade, ob man Beide, die Renthiere ſammt den Renthiermenſchen, überhaupt ſo ungeheuer weit in die nebelgraue Urzeit hinein zurückzuſchieben hat, wie dieß die Phantaſie franzöſiſcher Paläontologen unabänderlich zu thun pflegt, ob nicht auch hier eine maaßvollere Berechnungsweiſe, ähnlich jener von Fraas und Ecker, Platz greifen darf. Zu Gunſten einer ſolchen ſpricht doch ſehr der Umſtand, daß noch jetzt manche Naturvölker als im Beſitze einer ähnlichen Kunſtfertigkeit wie die der franzöſiſch - belgiſch-ſüddeutſchen Renthiermenſchen befindlich erſcheinen. So die Bewohner der Aleuten-Jnſeln, eine Art von modernen Renthier - menſchen des hohen Nordens, deren zierlich geſchnitzte Walroßzahn - bilder von Robben, Fiſchen, Walfiſchen, Bären ꝛc., lebhaft an die franzöſiſch-belgiſchen Renthierknochen-Schnitzereien erinnern; aber auch die Buſchmänner Südafrika’s, deren Kunſtleiſtungen (Abbildungen z. B. von Elephanten, Nashörnern, Antilopen, Kühen ꝛc. ) nach dem Zeugniſſe von Fritſch und andren Afrikareiſenden ſich auf an - nähernd ähnlicher Stufe halten. 1)Ratzel, Vorgeſchichte ꝛc., S. 72; Guſt. Fritſch, Die Eingebornen Südafrika’s, Bresl. 1872, S. 426 (nebſt dazugehöriger Tafel, 50 Abbildungen von Thierbildern der obigen Art enthaltend).Dieſe beiden neueren Parallelen zu unſren weſteuropäiſchen Renthier-Künſtlern gehören aller Wahr - ſcheinlichkeit nach zur Claſſe der notoriſch degradirten, von einſt höherer Culturſtufe herabgeſunkenen Stämme, ſcheinen Auswürflinge eines relativ höher ſtehenden Völkerlebens zu ſein. Könnte es mit jenen |kunſtfertigen Stämmen der europäiſchen Vorzeit ſich nicht ähnlich verhalten haben? Auf jeden Fall paßt der Renthier -166V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.menſch, von dieſer Eigenthümlichkeit her ins Auge gefaßt, herzlich ſchlecht in ein Syſtem urgeſchichtlicher Speculation, das der bibliſchen Urgeſchichte den Krieg erklärt. Sind jene Knochenſchnitzereien ächt, und das ſcheint betreffs eines ziemlichen Theils von ihnen doch angenommen werden zu müſſen, ſo iſt die Renthiercultur, alſo die ſpätere Steinzeit überhaupt, ſehr wenig dazu geeignet, Deſcendenz - phantaſieen zur Stütze zu dienen oder in polemiſcher Abſicht gegen - über dem status integritatis verwerthet zu werden.

Die frühere und früheſte Steinzeit (paläolithiſche Zeit) aber auch Mammuthperiode, wenn man dieß vorzieht, oder Zeit der Canſtatt-Race, oder ſchließlich gar Neanderthaloïd-Zeit, u. ſ. f. kann ſie wirklich als ſo ganz und gar vernichtend für den bibliſchen Urſtandsglauben gelten, wie der moderne Naturalismus dieß an - nimmt? Sie läßt ſich ja kaum irgendwo ſcharf und beſtimmt von der ſpäteren Stein - oder Renthierzeit abgrenzen; foſſile Mam - muthknochen, Höhlenbären -, Höhlenhyänenknochen u. ſ. f. erſcheinen oft genug denjenigen der Thierwelt, die für die Renthierperiode als charakteriſtiſch gilt, ſowie den menſchlichen Spuren aus dieſer Zeit, in reichlicher Fülle beigemengt. 1)So z. B. in der Räuberhöhle bei Etterzhauſen in der Oberpfalz (aus - gegraben von Fraas und Zittel 1871), im Trou du Frontal in Belgien, auch in mehreren engliſchen Höhlen, wie der Kents-Höhle bei Torquay, der Brixham - Höhle ꝛc.Der ganze fragliche Zeitraum hat etwas nebelhaft Unbeſtimmtes, Zerfloſſenes, weder nach vorne noch nach hinten ſcharf Abgeſondertes; die deutſche paläontologiſche Forſchung neigt überwiegend dazu, die Diſtinction zwiſchen ihm und der Renthierzeit überhaupt als belanglos fallen zu laſſen. 2)Siehe namentlich Alfred Nehring, Die quaternären Faunen von Thiede und Weſteregeln, im Archiv für Anthropol. 1878, S. 1 25. Vgl. Ratzel Vorgeſch. S. 117 ff. ; Zittel, Aus d. Urzeit, S. 521 ff.Sta - tuirt man eine beſondre Mammuthperiode, wofür immerhin manche Gründe geltend zu machen ſein mögen, ſo wären ihr conſequenter - weiſe wohl auch ſolche Kunſtwerke, wie das Elfenbeinſtück von La167V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.Madeleine zu vindiciren. Mit dem abſolut rohen thierähnlichen Charakter der Menſchheit dieſer früheſten Vorzeit wäre es dann doch auch wieder nichts. Und Menſchen vom Naulette - oder vom Neanderthal-Schädeltypus müßten dann, gerade um des Herrührens ſo bedeutender Kunſtleiſtungen aus ihr willen, jedenfalls als bloße Ausnahmen von der Regel, als vereinzelte Abnormitäten, dergleichen auch die Jetztzeit noch gar manche aufweiſt (vgl. unten), betrachtet werden. Wir bewegen uns hier, wo aus Schädeltrümmern vom defecteſten Charakter ſowie aus Artefacten theils der primitivſten theils der zweifelhafteſten Art der Stoff zur vollſtändigen Charak - teriſtik einer angeblich nach Jahrtauſenden zu meſſenden Culturperiode geſammelt werden ſoll, auf einem mehr als bloß ſchlüpfrigen Boden. Täuſchungen der verſchiedenſten Art bilden hier geradezu die Regel, nicht eine Ausnahme. Läßt die Renthierzeit um des oben angege - benen Grundes willen ſich mit einem gewiſſen Rechte als ein Gebiet der Fälſchungen bezeichnen, dann die Mammuth - oder ältere Steinzeit ſicherlich mit noch viel größerem Rechte als ein Gebiet der Täuſchungen. Es gehört der heißblütige Enthuſiasmus franzöſiſcher Archäologen, es gehört eine de Mortillet’ſche Phantaſie dazu, dieß nicht einſehen zu wollen oder zu können. 1)Bei der jüngſten Pariſer Weltausſtellung hatte dieſer Archäologe eine Anzahl von angeblichen Feuerſtein-Artefacten des Tertiärmenſchen, oder wie er ihn nannte des Anthropopithekus , (gefunden theils bei Beauce, theils bei Aurillac im Dep. Cantal) ausgeſtellt. Die meiſten dieſer Splitter ſtießen hin - ſichtlich ihres wirklichen Artefact-Charakters auf ſo erhebliche und gerechte Zweifel, daß ein deutſcher Kritiker ſich zu der Bemerkung veranlaßt ſah: So gut uns der quaternäre Menſch durch ſeine Reſte bewieſen ſcheint, ſo unſichen ſteht es noch mit ſeinem Collegen, dem Mortilletſchen Menſchenaffen; denn nach den in Paris aufgeſtellten Feuerſteinſplittern vermögen wir uns denſelben noch nicht zu conſtruiren . Es ſind da kräftigere Beweiſe nöthig, als Feuerſteinſplitter, bei denen bereits ſo viele Täuſchungen unterliefen. Und welche arge Streiche werden doch den Forſchern auf dieſem Gebiete nicht immer wiederholt durch die allzu hitzigen und kühnen Operationen168V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.ihres Scharfſinnes geſpielt! Vor etlichen Jahren ſollte ein zu - geſpitzter verkohlter Tannenholzſtab aus der Schieferkohle von Wetzi - kon in der Schweiz nach Rütimeyer u. AA. als ſichre Spur für eine ſchon pliocäne Exiſtenz des Menſchen in der genannten Gegend gelten, während eine nüchternere Kritik dieſe Wetzikon-Kohlenſpitze für das Endſtück eines von Bibern benagten Baumaſtes (!), oder auch für durch die abreibende, ſchleifende und polirende Wirkung heftig bewegten Sandes zugeſpitzt erklärte. 1)Arch. f. Anthropol. 1875, II, 133 f.; 1876, IX, 77 f. 105. 229 ff. Ausland 1878, Nr. 18.Jüngſt wollten britiſche Paläontologen ausgemacht haben, gewiſſe Kerben oder Einſchnitte in Geweihſtücken des foſſilen Rieſenhirſches (Cervus megaceros) im Dubliner Muſeum ſeien von Menſchenhand hervorgebracht. Ein deutſcher Kritiker wies mit überlegenem Scharfſinne nach, die frag - lichen Kerben ſeien vielmehr durch Reibung des hin und herbewegten aufliegenden Geweihknochens hervorgebracht worden, und zwar habe das fragliche Hinundherbewegtwerden ſeinen Grund im abwechſelnden Aufſteigen und Niederſinken des die Knochen bedeckenden Torfmoores unter Einwirkung bald winterlicher Näſſe bald ſommerlicher Trocken - heit gehabt. 2)Arch. f. Anthropol. 1878, III, 285.Den Paläontologen Nordamerikas paſſiren derartige Täuſchungen, neben Fällen ſchlauer Betrügerei (forgery, trickery) und luſtigen Humbugs, in ſo überreichlicher Zahl, daß die Mehrzahl ihrer europäiſchen Mitforſcher ſich faſt durchaus ſkeptiſch gegenüber ihren Angaben verhält. Das Rieſenſkelet des Dr. P. Snell aus Tuolumne-County in California (angeblich in einer Tiefe von 314 F. unter Granitfelſen ausgegraben und einem urweltlichen Rieſen von 9 F. Länge angehörig!), der rieſengroße foſſile Knochen aus Jndiana, das Collierſche Skelet von Quebeck und noch verſchiedenes andre Derartige iſt ebenſogut als Schwindel entlarvt worden, wie der berüchtigte 10 11 Fuß hohe ſteinerne Onondaga-Rieſe von Syrakus und andere angebliche Phönicier - oder Normanen-Denk -169V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.male. 1)Vgl. Ausland 1865, Nr. 31. Globus, Bd. XVI, 1869, S. 207. Archw f. Anthropol. 1872, II, 155 ff. und 1874, III, 267 ff. Ztſchr. f. Eih - nologie 1878, III, 183 ff.Auch den mancherlei amerikaniſchen Skelet - und Schädel - funden aus angeblicher Tertiärzeit bringen beſonnene Forſcher der Alten Welt fortwährend ein wohlgerechtfertigtes Mißtrauen entgegen. Wenigſtens halten ſie die amerikaniſcherſeits auf ſolche Funde ge - ſtützten Altersberechnungen und Schlüſſe betreffs des Racencharakters und Culturgrades der betr. Menſchen in der Regel für reviſions - bedürftig.

Doch halt! bezüglich Eines wichtigen Punktes ſcheinen ſie ja wohl einig zu ſein, die amerikaniſchen und die europäiſchen Paläontologen. Der Kannibalismus, das einſtige allgemeine Menſchenfreſſerthum unſrer Vorväter ſoll für beide Erdhälften ziemlich widerſpruchslos mittelſt uralter Monumente feſtgeſtellt ſein. Die vielerörterten Küchen-Abfälle, die Kjökkenmöddinger der däniſchen Küſten, ſammt den Sambaquis oder Muſchelhügeln von Braſilien und ähnlichen Schutthaufen andrer Gegenden der Neuen Welt, ſollen unabänderlich Reſte von Kannibalen-Mahlzeiten in ſich ſchließen, zum Zeichen deſſen daß der Daſeinskampf in den früheſten Jahrtauſenden das Fleiſch der Nebenmenſchen unter allen Himmels - ſtrichen ſchmackhaft zu machen vermochte! Leider müſſen wir auch dieſe ſchöne Jlluſion zerſtören. Weder enthalten die Küchenabfälle jedesmal Spuren von Menſchenfleiſch-Mahlzeiten, noch ſind ſie ſonderlich alt; es läßt ſich bezweifeln, ob auch nur Einer dieſer Schutthügel in die vorhiſtoriſche Zeit zurückreicht. Daß Dänemarks Kjökkenmöddinger, die theilweiſe über tauſend Fuß langen, meiſt drei bis fünf, zuweilen auch faſt zehn Fuß dicken Bänke von Muſchelſchaalen, Knochenreſten ꝛc. an der Oſt - und Nordküſte Jüt - lands, neben andren Ueberbleibſeln gaſtronomiſcher Thätigkeit der alten Bewohner dieſer Gegenden auch Spuren von Menſchengebeinen in ſich ſchlöſſen, iſt früher mehrfach, z. B. von ihrem erſten Er -170V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.forſcher Steenſtrup (ſeit 1847) angenommen worden. 1)Vgl. Ausland 1870, S. 167; auch noch die unkritiſche Schrift von Wilh. Baer, Der vorgeſchichtl. Menſch, Leipzig 1874, I, 185.Aber neuer - dings widerſprechen ſämmtliche competente Forſcher dieſer Annahme auf das Beſtimmteſte; ſie leugnen es, daß die vereinzelt in den betr. Schutthügeln vorkommenden zerſchlagenen oder aufgeſpaltenen Menſchenknochen als ſichre Spuren von Kannibalenmahlzeiten be - trachtet werden können. Virchow, Hellwald, Quatrefages, Zittel, K. Vogt, Baſtian ꝛc. nehmen die Kjökkenmöddinger von der Zahl der Orte, wo etwaige Spuren alter Anthropophagie angetroffen worden wären, entweder ſtillſchweigend oder ausdrücklich aus. Ja Virchow geht hierin wohl weiter greifend als nöthig und einzelne notoriſche Thatſachen, z. B. die von Spring in der belgiſchen Höhle von Chauvaux wahrgenommenen überſehend ſo weit, die ſämmt - lichen Beiſpiele eines ureuropäiſchen Kannibalismus, auf die man hie und da verwieſen hatte, für hinfällig zu erklären und demgemäß überhaupt dabei ſtehen zu bleiben, daß die Anthropophagie kein nothwendiges Entwicklungsglied der Menſchheit geweſen ſei . 2)Virchow, Rede bei der Wiesbadener Naturforſcher-Verſ. 1873, ſ. das Tageblatt über dieſe Verſ. (Wiesbaden 1873), S. 206. Vgl. ſonſt v. Hell - wald, Culturgeſchichte, S. 26; Zittel, Aus d. Urzeit, S. 530; Quatre - fages, D. Menſchengeſchlecht I, 154 ff. ; Baſtian, in der Zeitſchr. f. Ethnol., Bd. I, S. 386.So - fern er dabei jene däniſchen Fundſtätten mit im Auge hat, befindet er ſich, wie jeder Unterrichtete dermalen weiß, unzweifelhaft im Rechte. Und für ein nur ſehr mäßiges Alter derſelben, das nicht bis in die Stein - oder Renthierzeit zurückreiche ſondern wahrſcheinlich zwiſchen dieſe und die Periode der europäiſchen Pfahlbauten zu ſetzen ſei, hat ſogar K. Vogt ſich ausgeſprochen. 3)K. Vogt, Vorleſungen über den Menſchen, Gießen 1863, II, 112 ff., ſowie: Ein Blick auf die Urzeiten des Menſchengeſchlechts , im Archiv f. An - thropol. Bd. I, 1867, S. 39.Was ſonſt von Küchen - abfall-Hügeln an verſchiednen Küſten Europa’s unterſucht worden iſt (in England, Schottland, Norwegen, Weſtfrankreich) iſt keinenfalls171V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.älter als jene däniſchen und entbehrt der auf menſchliche Thätigkeit zurückweiſenden Spuren meiſt ganz. Wirkliche Kannibalen-Kjökken - möddinger ſollen die von Eſſequibo in Guyana ſein; man will in ihnen zahlreiche zerbrochne Menſchenknochen gefunden haben. Aber gerade für ſie ſcheint ein höheres Alter als das der Entdeckungszeit Mittel - und Südamerika’s wo ja Columbus ein in üppiger Blüthe ſtehendes Kannibalenthum antraf ſchwerlich nachweisbar! Und mehrere andre Muſchelhügel oder Sambaquis der Neuen Welt, ſie alle entweder keine, oder keine irgendwie ſichren Spuren von Menſchenknochen enthaltend, ſind von den ſie unterſuchenden Ge - lehrten ſogar noch für jünger erklärt worden. Der braſilianiſche Telegraphendirector Capanema hält die Sambaquis der Küſte Braſiliens für nicht viel älter als 2 300 Jahre; etwas weiter geht Profeſſor White zu Brunswick im Staate Maine in ſeinen die Küchenabfälle im Miſſiſſippithal betreffenden Erörterungen, doch will auch er betreffs einzelner dieſer Fundſtätten nur ein etwa 200 - jähriges Alter ſtatuirt wiſſen. Gewiſſe ſüdcaliforniſche Muſchel - abfälle hat P. Schumacher in San Francisco einer entfernteren Urzeit zuzuweiſen verſucht, jedoch unter Widerſpruch von andrer Seite her. 1)S. Petermann’s Geogr. Mittheilungen 1874, VI, 228; Ausland 1873, Nr. 47, S. 956 f., ſowie Schumacher im Arch. f. Anthrop. 1876 (Bd. VIII), H. 3, S. 217 ff. (nebſt dem ſeinen Ausführungen widerſprechenden Redactions-Bermerk); auch denſelben in den Mittheilungen der Anthropolog. Geſellſch. zu Wien 1876, Nr. 10, ſowie in der Ztſchr. f. Ethnologie 1878, H. III, S. 183.Von etwaigen Jndicien einſtigen Kannibalenthums iſt bei den Verhandlungen über dieſe nordamerikaniſchen Küchenabfälle überhaupt nicht die Rede. Es gibt immer noch einzelne Ver - theidiger der Annahme einer urſprünglichen Allgemeinheit des Menſchenfreſſerthums (Wojedowski, Schaaffhauſen, Caspari, Karſten ꝛc.). 2)Vgl. beſ. Leop. Wojedowski (Prof. zu Odeſſa), in den Aufzeichnungen der neuruſſ. Univerſität daſelbſt, 1874 u. 1875 (Magaz. f. Lit. des Auslands 1878, Nr. 15).Die Küchenabfälle ſpielen in ihren Argumentationen keine172V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.Rolle mehr. Jhre Exempel ſind meiſt modernen Zeiten und Zu - ſtänden entnommen oberflächlich abgeſchöpfte Analogien und übereilte Rückſchlüſſe von Wahrnehmungen am Leben dermaliger Wilder auf die Urzeit. Daß der Kannibalismus in älteren Zeiten des Menſchengeſchlechts hie und da verbreiteter war, als er es jetzt iſt, mag vielleicht anzunehmen ſein. Die Behauptung, daß er die Urform menſchlicher Ernährung gebildet habe, iſt eine Ungeheuerlich - keit und ein Attentat auf die Würde unſres Geſchlechts (vgl. auch unten VI, 3).

Es würde hienächſt eingehender von den ſoeben bereits beiläufig erwähnten Pfahlbauten und deren Bewohnern zu handeln ſein. Wir behalten uns ihre nähere Beſprechung für den auf die Alters - frage bezüglichen Abſchnitt vor, indem wir vorläufig nur dieß con - ſtatiren, daß dieſelben in ein von paläontologiſchen Thatſachen han - delndes Kapitel überhaupt gar nicht gehören. Die Zeiten ſind vorüber, wo man genöthigt war, unter den Monumenten früheſter Vergangenheit und roheſter Urbarbarei unſres Geſchlechts namentlich auch dieſe immerhin intereſſanten Ausgrabungsproducte unſres emſig forſchenden Zeitalters zu beſprechen. Der Frage wegen eines etwaigen Kannibalenthums der Urmenſchen bleibt, was bisher aus ihnen zu Tag gefördert worden, völlig fern; ebenſo der wegen eines etwaigen Affenmenſchenthums unſrer früheſten Vorfahren oder wegen ſonſtiger Annahmen aus dem Bereiche der Deſcendenzlehre. Man leſe, was ein in keiner Weiſe orthodox befangener Schriftſteller über Ur - geſchichte erſt jüngſt über die anthropologiſche Ausbeute, welche die Pfahlbauten Europas bisher gewährt, urtheilt: Wenn wir auf die Skeletreſte des Menſchen, die aus Pfahlbauten erhoben wurden, ganz zuletzt zu ſprechen kommen, ſo iſt der Grund hievon nichts anderes, als die Unbedeutendheit alles deſſen, was bis heute in dieſer Richtung gefunden wurde. Der Funde ſind es wenig; die Gewißheit, daß ſie nicht etwa einem ſpäter Ertrunknen angehören oder durch ſonſt einen Zufall an den Ort kamen, dem ſie enthoben wurden, iſt bei der geringen Zahl nicht vorauszuſetzen und wäre173V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.wohl ohnedies nur von den im Torf begrabnen Pfahlbauten vor - auszuſetzen; ſo muß denn die Deutung hier vor Allem mit der größten Vorſicht vorgehen. Was bis heute über die Schädel ver - lautet, die man aus Pfahlbauten erhoben, läßt vermuthen, daß ſie alle keine Merkmale tragen, die ſie entſchieden von denen der heut an gleichen Orten lebenden Menſchen unterſchieden. Jedenfalls ſcheint das Eine gewiß, daß die Pfahlbauer ihre Todten nicht in den See warfen, über dem ſie wohnten, ſondern daß ſie dieſelben am Lande beſtatteten1)Ratzel, a. a. O., 198 f. .

Was die Monumente der Vorzeit nirgends darbieten wollen: klare, unzweideutige Jndicien unſres Thierurſprunges, das hat man ſchließlich mit um ſo größerem Eifer dem anthropologiſch-ethnolo - giſchen Forſchungsbereiche der Gegenwart zu entnehmen verſucht. Wir überſchreiten im Grunde unſer eigentliches Unterſuchungsgebiet, wenn wir auch dieſem Gegenſtande hier noch eine flüchtige Be - trachtung widmen; doch darf dieſelbe, damit wir unſre Auseinander - ſetzung mit unſren Gegnern darwiniſtiſchen Standpunkts zu voll - ſtändigem Abſchluſſe bringen, hier nicht fehlen. Man hat, da Skeletbau, Hirn - und Schädelbildung der jetzigen anthropoïden Affenarten (Orang, Chimpanſe, Gorilla) bei genauerer Vergleichung mit denen des Menſchen nie andre als negative Reſultate ergeben und ein Zwiſchenglied zwiſchen beiden Theilen auf das Empfindlichſte vermiſſen laſſen, dieſes fehlende Zwiſchenglied auf allerlei Wegen herbeizuſchaffen verſucht. Die angeblichen Waldmenſchen ver - ſchiedner Tropenländer, d. h. von Wurzeln, Beeren oder Baum - früchten lebende, viehiſch rohe und abſolut culturfeindliche Wilde, ſind verſchiedentlich zur Ausfüllung der klaffenden Lücke zu verwerthen geſucht worden. Allein die ihnen angedichteten affengleichen Schädel oder thierähnlichen Schnauzen ſind bei nüchterner anatomiſcher Unter - ſuchung noch jedesmal als Phantaſiegebilde entlarvt worden. Des Amerikaners Bond Waldmenſchenpaar aus den Bergjungles der174V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.weſtlichen Ghats in Vorderindien erwies ſich als bloßer Humbug. Die von Stanley auf ſeiner großen Congo-Reiſe erbeuteten Schädel von Sokos , d. h. von centralafrikaniſchen Waldmenſchen, erkannte Huxley nicht etwa als Affenmenſch-Schädel, ſondern als regelrechte Negerſchädel, deren Träger ſ. Zeit den kanibaliſchen Gelüſten ihrer ſiegreichen Nachbarn als Opfer gefallen waren. Häckels oben er - wähnte Schilderung gewiſſer heerdenweiſe beiſammenlebender und affenartig auf Bäumen hauſender Wilden ohne Kenntniß und Ge - brauch des Feuers ꝛc. ermangelte des beſtätigenden Zeugniſſes irgendwelcher Reiſenden und behauptete obendrein anatomiſch und phyſiologiſch unmögliche Dinge, weßhalb der phantaſievolle Schrift - ſteller ſie nachgerade ſehr zu modificiren gezwungen wurde. Ein Kletterleben auf Bäumen vermag der Menſch weder iſolirt noch in Heerden zu führen; und mangelnde Kenntniß der Feuerbereitung oder der damit zuſammenhängenden Fertigkeiten, Geräthſchaften, Waffen ꝛc. iſt noch bei keinen, auch nicht den verwildertſten Stäm - men beobachtet worden. Ganz ins Bereich der Sage gehören die hie und da von neueren Reiſenden, z. B. vom Amerikaner Winwood Reade, bezeugten Schwanzmenſchen. Soweit nicht, wie mehrfach unter den Stämmen Centralafrikas, eine bloße, durch Abſonderlichkeiten der Tracht (Verzierung der betr. Körpertheile mit Thierſchwänzen ꝛc. ) bewirkte optiſche Täuſchung den betr. Gerüchten zu Grunde liegt, handelt es ſich hier lediglich um eine pathologiſche Mißbildung, beſtehend in gewiſſen ſchwanzähnlichen Geſchwülſten bei einzelnen Jndividuen. Einen wirklichen Schwanz nach Wirbelthierart erklären die Unterſuchungen des in dieſer Frage ſowohl als Jndien - Reiſender wie als pathologiſch-anatomiſcher Forſcher competenten Mohnike für durchaus unvereinbar mit dem für aufrechten Gang beſtimmten und demgemäß eingerichteten Baue des menſchlichen Körpers . Aehnlich verhält es ſich mit den am ganzen Körper behaarten, den Haarmenſchen, einer auch inmitten civiliſirter Völker gelegentlich vorkommenden Abnormität, welche man aus der Perſiſtenz und Weiterentwicklung des Haarkleides, das der Fötus175V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.im 5. Monate trägt, zu erklären verſucht hat, ohne damit irgend - welche reelle und allgemeinere Annäherung des Menſchen - an den Affentypus erweiſen zu können. Eine nicht bloß iſolirt, bei wenigen Jndividuen oder Familien, ſondern bei ganzen Stämmen auftretende Abnormität iſt die der Zwerg menſchen, wie z. B. der Akka und der Abongo in Afrika. Aber dieſe gleichfalls zuweilen im Jntereſſe der Deſcendenzlehre verwertheten Zwergvölker zeigen nichts irgendwie Affenartiges in ihrem wohlproportionirten Körper - bau; ſie ſind höchſtwahrſcheinlich verſprengte und verkümmerte Reſte von früherhin höherſtehenden Racen, wie die Buſchmänner, Eskimo ꝛc. Die Kleinheit ihres Wuchſes hat nichts ſehr Auffallendes; als Ueber - bleibſel einer etwaigen, zwiſchen Thier und Menſch mitteninne ſtehenden Urrace können ſie um ſo weniger gelten, da die bereits erwähnten foſſilen Skeletreſte aus der Diluvialzeit keinerlei Spur von beſonders kleinem Körperbau zu erkennen geben; jene auffallend kleinen Bronzeſchwerter aus alten Celtengräbern und Kupferſchwerter aus Tſchudengräbern, die man zum Theil als Belege für einen Zwergcharakter der älteren Menſchheit geltend zu machen verſucht hat, ſind längſt, auf Grund der noch jetzt im Gebrauche befindlichen ähnlichen kleinen Werkzeuge ſibiriſcher Stämme, als Spateln zum Ausgraben von Zwiebeln, Wurzeln u. dgl. erkannt worden. 1)Bgl. Schaaffhauſen, Bericht über die neueſten Unternehmungen ꝛc. auf dem Geb. der authropol. Forſchung, im Archiv f. Anthropol. Bd. IV, H. 3, S. 359 (mit lehrreichen Verweiſungen auf v. Baer, Guſtav Radde ꝛc.). Auch der aus der Hirnbildung von Jdioten oder Mikroce - phalen entnommene Beweis für einen affenähnlichen Typus der Urmenſchheit, in deſſen Betonung K. Vogt ſich eine Zeitlang gefiel und der noch immer von Häckel und einigen andren extremen Dar - winiſten aufrechtzuerhalten verſucht wird, iſt längſt als nichtig dar - gethan worden. Die Hirnbildung der Mikrocephalen iſt nach den Unterſuchungen v. Luſchka’s, Eckers, Biſchoffs, Aeby’s, Virchow’s ꝛc. ein ganz und gar krankhaftes Phänomen ohne irgendwelche nennens - werthe Annäherung an die Conſtruction des Affenhirnes. Das176V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.Seelenleben der Mikrocephalen gibt gleichfalls nichts Derartiges wie einen Rückfall in Lebenseigenthümlichkeiten der Affen als unſrer angeblichen Urahnen zu erkennen. Und was dieſe Atavismen-Hypo - theſe vollends unmöglich macht, iſt das Nichtvorkommen fortzeugungs - fähiger idiotiſcher Jndividuen, die Undenkbarkeit, daß es jemals eine dauerhafte, entwicklungsfähige Race ſolcher unglücklicher Geſchöpfe gegeben habe oder geben könne. Es bliebe ſonach in der That nichts als die Analogie zwiſchen thieriſchem und menſchlichem Fötal - leben, der berühmte embryologiſche Beweis der Häckelſchen Anthropogenie, als einigermaßen plauſibler Beweis für einen ein - ſtigen Thierurſprung unſres Geſchlechts zurück. Aber freilich was für ein Beweis! Weil die menſchliche Leibesfrucht ſich durch ver - ſchiedne ähnliche Stadien hindurch entwickelt, wie diejenige höherer Thier-Embryen, ſoll der Menſch überhaupt ein Entwicklungsproduct der Thierwelt ſein; die Fötal-Entwicklung ſoll als eine raſche Durch - laufung unſrer thieriſchen Ahnenreihe, die Keimesgeſchichte (Ontogeneſe) überhaupt als eine Recapitulation der Stammesgeſchichte (Phylo - geneſe) gelten. Es iſt alſo, in Ermangelung concreter Erfahrungs - beweiſe, ein Dogma, ein naturphiloſophiſcher Glaubensſatz, der hier ins Feld geführt wird! Und zwar ein Dogma, dem gerade der Altmeiſter und Begründer der embryologiſchen Wiſſenſchaft, K. E. v. Baer (1876) unter Zuſtimmung von deren angeſehenſten noch jetzt lebenden Vertretern (Biſchoff, Kölliker, His, Götte, Henke ꝛc. ), jede Gültigkeit abſprach, da es immer nur Aehnlichkeiten, nicht Gleich - heiten ſeien, was die menſchlichen mit den thieriſchen Embryonal - zuſtänden verbinde, ein eigentliches Durchlaufen thieriſcher Lebens - Stadien alſo nicht ſtattfinde! Es iſt bekannt, mittelſt welcher Künſte Häckel ſeinen Lieblingsſatz plauſibler zu machen und die viel - fachen Differenzen zwiſchen den beiden verglichenen Entwicklungs - reihen zu verkleinern geſucht hat. Statt der erforderlichen empi - riſchen Jnſtanzen ſind bisher immer nur blendende Scheingründe von ihm beigebracht worden; nur ſeichte Cirkelſchlüſſe, kecke dog - matiſche Deductionen haben da, wo jeder Jnductionsbeweis, jeder177V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.ächte hiſtoriſche Beleg nothwendig mangelt und immer mangeln wird, die Kluft zwiſchen Theorie und thatſächlichem Befund zu überbrücken geſucht. 1)Vgl. überhaupt meine Geſchichte der Beziehungen ꝛc. II, 675 ff. 739 ff., nebſt zugehörigen Noten, woſelbſt die Belege für das Obige zu finden ſind.

Es verhält ſich mit dem ganzen hier betrachteten Gebiete nicht anders: die Theorie muß vorhalten, da wo die ausreichenden That - ſachenbelege mangeln! Die einzigen einigermaaßen directen Jndicien für eine einſtige größere Affenähnlichkeit unſres Geſchlechts als die dermalige, alſo für einen möglichen genealogiſchen Urzuſammenhang zwiſchen Menſch und Affe, ſind ein paar dürftige, annähernd thier - ähnlich geſtaltete Schädelbruchſtücke aus wahrſcheinlich ungeſtörten Quaternärſchichten, denen eine überwältigende Mehrheit von Schädeln oder Schädelbruchſtücken von normaler, nichts Affenähnliches ver - rathender Bildung aus eben ſolchen Schichten gegenüberſteht! Wie es um die Beweiskraft jener vereinzelten approximativ-thierähnlichen Schädel für die Theſe des Darwinismus ſteht, darüber wollen wir hier noch einen Anthropologen erſten Ranges ſich äußern laſſen. A. de Quatrefages in ſeinem neuſten Hauptwerke2)Das Menſchengeſchlecht, II, 38. erklärt den öfters gezognen Schluß: mit der thieriſch-artigen Form eines ſolchen Schädels, wie der Neanderthaler, müſſe nothwendigerweiſe eine geringe intellectuelle und moraliſche Ausbildung gepaart ſein , für einen durchaus irrigen und voreiligen. Er erinnert zum Beweiſe dafür an einige Fälle von merkwürdigem Contraſt zwiſchen thieriſch - ähnlicher Schädelbildung und hohem Jntelligenzgrade bei lebenden oder der Geſchichte angehörigen Perſonen. Auf dem anthropolog. Congreſſe in Paris gedachte K. Vogt eines Freundes, deſſen Kopf durchaus an den Neanderthal-Schädel erinnert, der aber gleichwohl ein tüchtiger Pſychiater iſt. Jm Kopenhagener Muſeum fiel mir ein Schädel auf, der mich ganz an den Neanderthal-Schädel er - innerte; er gehörte dem däniſchen Edelmanne Kay Lykke an, derZöckler, Urſtand. 12178V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.im 17. Jahrhundert eine Rolle geſpielt hat. Godron hat den Schädel des hl. Manſuy, der im 4. Jahrhundert Biſchof in Toul war, abgebildet; die charakteriſtiſchen Eigenthümlichkeiten des Neander - thal-Schädels ſind an ihm theilweiſe ſelbſt in einem noch höheren Grade ausgebildet, denn die Stirne wendet ſich ſtärker rückwärts, das Schädeldach ſenkt ſich mehr und der Schädel iſt ſo verlängert, daß der Schädelindex bis auf 69,41 herabgeht. Auch der Schädel des ſchottiſchen Helden Bruce erinnert an den Canſtatt-Typus, ꝛc. Erwägt man, daß dieſe Parallelen ein foſſiles Reliquienſtück von ſo äußerſt problematiſchem Charakter wie jenes vielleicht gar nicht einmal verſteinerte Düſſeldorfer Fundſtück vom Jahre 1856 betreffen, ſo kommt das ganz und gar Unerhebliche deſſen, was an paläontologiſchen Beweis-Jnſtanzen für den Affenurſprung bisher zu Tage gefördert worden, in voller Stärke zum Vorſchein.

Wie es aber jetzt um dieſen Punkt ſteht, ſo dürfte es aller Vorausſicht nach auch in Zukunft bleiben. Man mag immerhin bei weiterem Durchſuchen quaternärer (oder vielleicht auch tertiärer) Höhlen noch auf das eine oder andre ähnliche Beiſpiel ſcheinbarer Annäherung an den geſuchten Affenmenſchen-Typus, wie der Neander - ſchädel oder der Kiefer von la Naulette, ſtoßen. Unwahrſcheinlich iſt dies keineswegs, ſowenig wie die Vermehrung des bisher ge - fundnen Vorraths an Cro-Magnon - und an Furfooz-Schädeln um einige weitere Dutzende unwahrſcheinlich genannt werden kann. Was würde daraus reſultiren? Nichts, als eine geringe Vermehrung des foſſilen Beweismaterials für, neben einer weit ſtärkeren Ver - mehrung des Beweismaterials gegen die Deſcendenz-Hypotheſe. Und wenn die Canſtatt-Race früher oder ſpäter aus ihrer Nebelhaftigkeit heraustreten, wenn ihr Typus als ein in der That vorwiegend niedriger und dem Jdeal des Pithekoidenthums nahe kommender durch eine beträchtliche Zahl von unanfechtbaren Exem - peln erwieſen werden würde: zur Erhärtung deſſen, worauf es dem modernen Naturalismus ankommen muß, der Annahme einer all - gemeinen und ausnahmsloſen Thierähnlichkeit der älteſten Menſchheit179V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.wäre damit doch noch nichts Entſcheidendes geſchehen. Der Zurück - führung jener, einſtweilen noch ganz problematiſchen, einigermaßen affenähnlichen Menſchenrace Weſteuropas auf eine beſonders tief - geſunkene und entartete Völkergruppe etwa der letzten vorſintfluth - lichen Zeit ſtünde nichts Weſentliches in Wege. Erſt ein ganz allgemeiner, auf Durchſuchung ſämmtlicher Quaternär - und Tertiär - ſchichten der alten wie neuen Welt gegründeter Nachweis von ent - ſchieden pithekoiden Repräſentanten unſres Geſchlechts als früheſter menſchlicher Bevölkerung der Erde würde als eine wirklich kräftige Jnſtanz für die Theſe unſrer Gegner gelten können und erheblichere Modificationen unſrer gemäß bibliſcher Ueberlieferung geſtalteten Vorſtellungen von den Anfängen der Menſchheit bedingen.

12*[180]

VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.

1. Was die Schädel nicht leiſten wollen, hat man den Functionen des Kehlkopfs zuzuweiſen verſucht. Bären brummen, Katzen miauen, Rinder brüllen, Hühner gackern, Enten ſchnattern, Droſſeln ſingen: warum ſollte nicht das vornehmſte der Wirbelthiere durch Zuſammen - faſſung dieſer verſchiednen Kunſtleiſtungen es zur Production ſeiner Sprache gebracht haben? Klingt nicht die Sprache ähnlich den Lauten einer höher entwickelten Thierſtimme? Können nicht Vögel mit hochdifferenziirtem Kehlkopfe, wie namentlich die Papageyen, ein ganz und gar menſchenähnliches Sprechen erlernen, u. ſ. f.?

Das Problem, den Entwicklungsgedanken auch an dieſem Gegen - ſtande zum Vollzuge zu bringen, leidet bekanntlich an ganz beſonders großen Schwierigkeiten. Auf keinem Punkte hat Darwin unſicherere Schritte gethan, als da wo er dieſer Klippe des abſoluten Gegen - ſatzes zwiſchen Menſchenſprache und Thierſtimmen zu entrinnen ver - ſuchte. Kein Umſtand thut den Huxleyſchen Satz vom angeblichen Vorhandenſein eines geringeren Abſtandes zwiſchen Menſchen und höchſten Affen als zwiſchen höheren und niederen Affen ſchlagender in ſeiner Nichtigkeit dar, als die Thatſache unſres Sprechens und deſſen abſoluter Unerlernbarkeit durch irgendwelchen Simiaden. Warum nähert überhaupt nicht ein einziges Säugethier in Hinſicht auf Bildung und Klang ſeiner Stimme ſich dem Menſchen auch nur einigermaaßen? Warum muß man bis in die zweite Wirbel - thierclaſſe zurückgreifen, da wo es ſich um Beiſpiele von Nachahmung181VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.artikulirter Stimmlaute des Menſchen handelt? Und warum gedeihen ſolche Nachahmungen doch immer nur in der Form mühſam und äußerlich anerlernter Fertigkeiten, ähnlich den Kunſtſtücken des dreſſirten Hundes, von deren Vererbung auf Nachkommen niemals die Rede ſein kann? Das Thier lernt nie wirklich ſprechen, weil es nie wirklich denkt, weil all ſein Vorſtellen, Empfinden, inſtinctmäßiges Thun ꝛc. durch eine ewig unausfüllbare Kluft von unſrer Vernunftthätigkeit getrennt bleibt. Sein Nichtdenken iſt Urſache auch ſeines Nicht - ſprechens, gleichwie umgekehrt beim Menſchen die Kraft ſeiner Reflexion auch Urſache ſeines Sprechens iſt. Die Sprache hat ihren Grund darin, daß der Menſchengeiſt ein Weſen von höherer Rangſtufe als die Thierſeele iſt, ſie beruht auf der höheren Sub - jectivität des Menſchen, die über jeden Jnhalt, von dem ſie erfüllt iſt, ſich zu erheben und ihn, ja ſich ſelbſt, zum Gegen - ſtande ihres geiſtigen Betrachtens zu machen vermag. 1)Vgl. Joh. Huber, Zur Kritik moderner Schöpfungslehren, München 1875, S. 52 55, ſowie die daſelbſt gebotenen Verweiſungen auf Steinthal, Whitney, Peſchel, ꝛc.Die Sprache iſt und bleibt die wahre Schranke zwiſchen Menſch und Thier , ſie iſt unſer Rubikon, den kein Thier je zu überſchreiten wagen wird. 2)Max Müller, Vorleſungen über die Wiſſenſchaft der Sprache, 1863, I, S. 303, und: Contemp. Review 1874, Jan, p. 305 ss. (wo er eine ſpäter zu publicirende anti-darwiniſtiſche Schrift: Language as the true barrier between Man and Beast in Ausſicht ſtellt).Schon Rouſſeau legte gegenüber den rohnatura - liſtiſchen Sprachtheorien eines Maupertuis, de Broſſes ꝛc., das Geſtändniß ab, an einer rein natürlichen Erklärung des Urſprungs der Sprache müſſe man verzweifeln. Und ſelbſt der für den Gedanken eines Affenurſprungs der Menſchen ziemlich eingenommene Lord Monboddo, einer der unzweifelhafteſten Vorgänger des Darwinismus im vorigen Jahrhundert, vermochte über die Annahme einer über - natürlichen Mithilfe, deren unſre noch orangähnlich in Heerden182VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.zuſammenlebenden Vorfahren behufs Ausbildung ihres Sprach - Jnſtincts bedurft hätten, nicht hinwegzukommen. 1)J. J. Rouſſeau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, 1754. Vgl. Th. Benfey, Geſchichte der Sprachwiſſenſchaft ꝛc., S. 292.

Mit der Stelle im bibliſchen Schöpfungsbericht, welche eine erſte Ausübung des Sprachvermögens ſeitens des Menſchen gemäß göttlicher Weiſung ſtattfinden läßt (1. Moſ. 2, 19. 20), iſt von jeher viel Mißbrauch getrieben worden. Eine Theorie vom Urſprung der Sprache will dieſe Stelle ganz gewiß nicht geben. Hermann v. d. Hardt hatte ganz Recht, wenn er gegenüber der weitverbreiteten Unſitte ſeiner ſchriftgelehrten Zeitgenoſſen, hier irgendwelche Sprach - Urſprungstheorie (und zwar obendrein eine ſolche, wonach das Hebräiſche die Urſprache unſres Geſchlechts geweſen wäre!) zu finden, die Benamung der Thiere lediglich als vorbereitendes Moment für das Folgende: die Aufſuchung einer paſſenden Lebensgefährtin für Adam, gefaßt wiſſen wollte. 2)Herm. v. d. Hardt: In Mosis, severissimi morum censoris historiam Gen. 2, 18 20 de vocatis ab Adamo animalibus, in Bochartum, Helm - stad. 1705. Jhn beſtritt dann vom orthodoxen Standpunkte aus Lilienthal in ſ. Selecta historica et literaria, Regiomont. 1715, p. 258 ss.; Haupt - zweck jener Namengebung ſei geweſen excolendi linguam, qua uteretur primus homo, et inveniendi vocabula rebus exprimendis apta. Auch ſei die Sprache, deren ſich Adam hiebei bediente, keine untergegangene Urſprache, ſondern das Hebr. geweſen, ꝛc.Die Beziehung auf die Bethä - tigung der Sprachfähigkeit des erſten Menſchen, welche der Bericht enthält, iſt jedenfalls nur eine indirecte und nebenſächliche. Jmmerhin liegt eine ſolche Beziehung thatſächlich vor, und gewiß eine nicht unwichtige. Das Sprechen des Menſchen erſcheint laut der Stelle als ein bis in die Paradieſeszeit zurückreichendes, mit dem Schöpfungs - acte ſelbſt verflochtenes, in gewiſſem Sinne anerſchaffenes Moment menſchlicher Lebensbethätigung, als eine Urform der menſchlicherſeits nach Gottes Bilde über die niedere Naturwelt auszuübenden Herrſchaft. 183VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Will man in dem, was Adam als Urheber der Namen der Thiere thut, eine erſte Uebung und Ausbildung des Sprachvermögen’s erblicken, ſo darf dieß jedenfalls nur in dem Sinne geſchehen, daß man das Ganze als göttlicher Anleitung und Beeinfluſſung unter - ſtellt denkt. 1)So ungefähr Erzbiſchof Trench, On the Study of Words, 6. edit. p. 16 ss., ſowie der ihm weſentlich zuſtimmende M Causland, Adam and the Adamite, 3. ed. Lond. 1872, p. 180.Ein ſupranaturaler Urſprung der menſchlichen Sprache, eine Zugehörigkeit derſelben zur uranfänglichen geiſtleiblichen Aus - rüſtung des Menſchen als göttlichen Geſchöpfs, wird ohne Zweifel in der Stelle vorausgeſetzt. Als ſprechendes, nicht als ſtummes Geſchöpf erſcheint der Menſch laut Kap. 2 der Geneſis vom aller - erſten Anfange ſeines geſchichtlichen Daſeins an. Ackerbau, Viehzucht, Metallbereitungskunſt, Muſik ꝛc. ſind Errungenſchaften ſeiner nach - paradiſchen Entwicklung: als Sprachbegabter war er ſchon in’s Paradies eingetreten.

Entbehrt dieſe bibliſche Darſtellung etwa des beſtätigenden Zeugniſſes des paläontologiſchen und archäalogiſchen Forſchung, ſoweit dieſelbe das Problem der früheſten Anfänge der Sprache betrifft? Man weiſe eine Zeit nach, wo irgendwelchen Jndicien zufolge die Menſchheit als noch nicht ſprachbegabte, als noch auf der Stufe affenartig rohen und wilden Kreiſchens ſtehende exiſtirt hätte! Sehen jene kunſtſinnig geſchnitzten Thierbilder aus der Renthierperiode vielleicht danach aus, als ob ſolche Affenmenſchen ſie verfertigt hätten? Nicht einmal für die ganz rohen Steinmeſſer, Aexte, oder Pfeilſpitzen der paläolithiſchen Zeit laſſen Alalen ſich als Urheber denken. Allen, auch den primitivſten Erfindungen muß vernünftige Ueberlegung, muß Denken, muß Meinungsaustauſch des Gedachten durch Worte vorausgegangen ſein. Jene Caspariſche Annahme, daß erſt eine gewiſſe Handgeſchicklichkeit in Verbindung mit allmähligem Aufrechtgehenlernen auch das Sprechenlernen der erſten Menſchen bedingt und verbreitet habe, iſt müßige Speculation, für welche ſich nie empiriſche Belege werden beibringen laſſen.

184VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.

Die hiſtoriſche Sprachwiſſenſchaft ſelbſt aber, weiß ſie etwas von einer Hervorbildung irgendwelcher Sprache aus thieriſch unarti - kulirten Lauten? Empiriſches und Poſitives jedenfalls nicht. Wo derartige Sprach-Urſprungstheorien angenommen werden, geſchieht es aus Gründen nicht der Beobachtung, ſondern der Speculation. Die vergleichende Wurzelforſchung hat bisher noch keine Beſtätigung weder der Wau-wau - noch der Päh-päh-Theorie geliefert; jeder Verſuch einer Zurückführung bekannter Jdiome auf die Grundlage möglichſt einfacher roher Naturlaute iſt ein bloßes Poſtulat, deſſen wiſſenſchaftliche Realiſirung Schritt für Schritt auf die unüberwind - lichſten Hinderniſſe ſtößt. Nicht einmal um die Annahme, daß von den bekannten drei Hauptgruppen menſchlicher Sprachen überhaupt, den einſilbigen, agglutinirenden und flectirenden, die erſtgenannte ſich zuerſt entwickelt hätte und daß als deren nächſtes Entwicklungs - product dann die Agglutinationsſprachen zu gelten hätten, die Flexionsſprachen aber das letzte und höchſte Endziel des ganzen Bildungsproceſſes bezeichneten, nicht einmal um dieſe Annahme iſt es ſonderlich glänzend beſtellt, was beſtätigende Thatſachen betrifft. Es wäre ſo bequem, ſo willkommen für’s evolutioniſtiſche Jntereſſe, könnte man die angeführte Reihe als eine Parallele zur Stufenfolge etwa der drei Hauptgruppen des Gewächsreiches, der Kryptogamen, Mono - und Dicotyledonen anſehen und ein Hervorgegangenſein der beiden höheren und complicirter gebildeten Sprachgruppen aus urſprünglicher allgemeiner Aſyntheſie oder Einſilbigkeit behaupten. Aber an concreten Belegen hiefür mangelt es ſehr. Sowohl die aſynthetiſch-einſilbigen, als die polyſynthetiſchen oder agglutinirenden Sprachen jene von im Ganzen ungefähr 400 oder 500 Millionen, dieſe von etwa 100 Millionen Menſchen geſprochen gleichen in vieler Hinſicht eher Zertrümmerungs - oder Verweſungsproducten, als jugendfriſch emporſtrebenden Originaltypen; man vergleiche nur eine faktiſch beinahe einſilbig klingende und flexionsloſe Sprache wie Engliſch mit den ihm zu Grunde liegenden Jdiomen der alten Ger - manen einerſeits und der alten Römer andrerſeits! Daß ſpeciell der185VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Flexion einſtmalige Agglutination als rohere Urform vorangegangen ſei, der Arier alſo früher ſeine ſprachlichen Bildungen in der einver - leibenden Manier der Turanier vollzogen hätte, dieſe ſ. Z. von Bunſen, Max Müller ꝛc. angelegentlich vertretene Meinung iſt längſt als unhaltbar dargethan1)So früher ſchon durch Pott, die Ungleichheit der menſchlichen Racen, S. 202. 242 ff. ; weiterhin durch Fick, de Sauſſure, Brugman, Sayce ꝛc. Vgl. den Letzteren in der Academy , 21. June 1879, p. 545.. Der Arier iſt kein Tatar mit ſchlechtem Gedächtniß; die Sprachen der höchſtcultivirten und auch am mäch - tigſten ausgebreiteten Stämme 5 600 Millionen Menſchen umfaſſend und ſowohl Jndo-Europäer als Semiten und Hamiten oder Nord-Afrikaner in ſich ſchließend reichen bis ins graueſte Dunkel der geſchichtlichen Vergangenheit zurück, ohne eine ſichre Spur des Vorhergegangenſeins niedrigerer Formen erkennen zu geben. Jhr großentheils ſo reichgegliederter Bau mit ſeiner üppigen Form - fülle und ſeinen ausgebildeten Flexionsgeſetzen nimmt ſich ganz wie eine originale Schöpfung aus. Es könnte vielleicht eher ein Hervor - gegangenſein derartiger einſilbiger Jdiome wie das Chineſiſche oder wie die Sprachen Hinterindiens aus ſolchen vollkommnen Bildungen wie Sanscrit, Zend, Altgriechiſch, Gothiſch, behauptet und mit ein - leuchtenden Beiſpielen belegt werden, als der umgekehrte Vorgang einer Entwicklung jener zu dieſen. Uebrigens iſt ſpeciell das Chineſiſche, wenn auch eine einſilbige, doch keineswegs eine beſonders primitive, aus rohen Naturlauten gebildete Sprache, ſteht vielmehr, entſprechend dem uralten hohen Culturgrad des chineſiſchen Volks, ſeinem ganzen Charakter nach höher, als die meiſten der ſ. g. agglutinirenden Sprachen. 2)Vgl. die neueren Verſuche zur Erweiſung einer Ureinheit des Chineſiſchen mit den ariſchen Sprachen; ſo von Joſ. Edkins (China’s place in philology Lond. 1872), von Guſtav Schlegel (Sinico-Aryaca, Batavie 1872), von Waſſiliew u. AA. (Ausland 1873, Nr. 32; Gött. Gel. -Anz. 1877, St. 11 S. 321 ff.).Gerade dieſe letzteren repräſentiren in vieler Hinſicht die geiſtig am tiefſten ſtehende Stufe und gemahnen beſonders ſtark an Verwitterungs - oder Verweſungsproducte.

186VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.

Wahr iſt’s: die ſprachvergleichende Wiſſenſchaft hat bis jetzt zur Erweiſung einer allgemeinen Verwandtſchaft und genealogiſchen Ureinheit der Sprachen nichts Entſcheidendes beizutragen vermocht. Jene Muthmaaßung, daß die aſynthetiſchen, oder jedenfalls die poly - ſynthetiſchen Jdiome degradirte oder gleichſam verwitterte Flexions - ſprachen ſeien, iſt weſentlich nur Poſtulat, allerdings wahrſcheinlicher und durch reichlichere Analogien gedeckt, als die umgekehrte Hypotheſe, aber immerhin der directen wiſſenſchaftlichen Begründung entbehrend. Ja ſelbſt innerhalb jener drei Hauptſprachgruppen gibt es der Fälle eines gänzlichen Mangels von Spuren genealogiſchen Zuſammenhangs der Sprachen oder Sprachſtämme miteinander zahlreichere als der - jenigen des Gegentheils. Die zahlreichen Familien des theils in Amerika, theils in Aſien und Oſteuropa mächtig ausgebreiteten agglutinirenden Sprachengeſchlechts auf eine Ureinheit zurückzuführen, ſcheint ſchlechthin unmöglich; und ſelbſt innerhalb der flectirenden Sprachengruppe gelten die Kluft zwiſchen ariſchen und ſemitiſchen, oder auch die zwiſchen hamitiſchen und ariſchen Jdiomen manchen Linguiſten für unausfüllbar, die einzelnen Beiſpiele von Wurzel - verwandtſchaften zwiſchen denſelben, die man geſammelt hat, für nichts beweiſend. Man hat dieß vielfach zu Ungunſten der Annahme eines einheitlichen Urſprungs unſeres Geſchlechts zu ver - werthen geſucht und würde, falls der Einwurf in der That gegründet und zwingend zu nennen wäre, ebendamit auch dem Glauben an einen paradieſiſchen Urſtand ernſtliche Schwierigkeiten bereiten. Doch fehlt viel daran, daß jenes Unvermögen der Sprachforſchung, die verſchiednen Sprachſtämme als urverwandt darzuthun, irgendwie als entſcheidendes Zeugniß gegen den einheitlichen Urſprung der Menſchheit gelten könnte. Und beliefen ſich die iſolirt ſtehenden, gegenüber jedem Genealogiſirungsſtreben ſich abſolut ſpröde verhaltenden Sprachſtämme in der That auf die hohe Zahl von nicht weniger als 78, welche eine der eifrigſten Darwiniſten unter den modernen Sprachgelehrten angibt:1)Friedr. Müller, Grundriß der allgemeinen Sprachwiſſenſchaft, Bd. I, Wien 1876.187VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.gegen die Annahme einer Ureinheit unſrer Race würde auch damit kein durchſchlagender Gegengrund aufgebracht ſein. Mangelnde Sprachverwandtſchaft gilt beſonnener wiſſenſchaftlicher Forſchung längſt nicht mehr als gleichbedeutend mit mangelnder Stamm - verwandtſchaft. Es verhält ſich mit der Gruppirung der Stämme nach ihren Sprachen anerkanntermaaßen wie mit der Claſſification nach Schädelformen: das eine dieſer Verwandtſchaftsmerkmale iſt ſo unzuverläſſig wie das andre; beide Maaßſtäbe ſind durchaus veränderlicher Art. Der Beiſpiele für einen thatſächlich ſtattgehabten Sprachenaustauſch, kraft deſſen kleinere oder mächtigere Stämme ihr anererbtes Jdiom mehr oder minder vollſtändig preisgaben, um das eines höher cultivirten Nachbarvolks dafür einzutauſchen, ſind aus älterer wie neuerer Zeit von den ſemitiſirten Phönikern an bis zu den walayſirten Bulgaren, den arabiſirten Berbern Marokko’s und den analyſirten Chineſen auf Borneo zahlreiche nachgewieſen worden. Nicht minder wird der Fall, daß der Wortvorrath mancher Sprachen durch Despotenlaune oder ſonſtige tyranniſche Willkür (wie die Tepi oder Sprach-Umwandlung auf Tahiti und andres Aehnliche auf den Südſeeinſeln) binnen Kurzem die erheblichſten Umgeſtaltungen erfährt, durch eine ziemliche Zahl von Beiſpielen illuſtrirt. Noch reichlichere Fälle einerſeits vom Hervorgehen neuer Sprachen aus rothwelſch-artigen Miſchdialecten oder Jargons (wie die jetzige Zi - geunerſprache, das Pirſchen-Engliſch in China und Britiſch-Columbia, der Oregon-Jargon, der franco-anglo-chineſiſche Jargon auf Neu - caledonien ꝛc. ), andrerſeits von der Ausbildung eigenthümlicher Jdiome in Folge vielhundertjähriger Jſolirung kleinerer Stämme (wie z. B. in den Gebirgsthälern der Pyrenäen und Alpen, ſowie mehr noch in denen des Kaukaſus, des Himalaya ꝛc. ), ſind durch die hiſtoriſche Sprachforſchung conſtatirt worden. Ganz ſo gut, wie die unter den Einflüſſen theils des Klima theils gewiſſer conventioneller Unſitten: künſtlicher Umformungen, Plattdrückungen, Einſchnürungen ꝛc., wech - ſelnden Schädeltypen, ja wohl noch in höherem Grade als ſie, bilden die Spracheigenthümlichkeiten ein veränderliches, unſichres, als Mittel188VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.zur Fixirung von Racentypen unbrauchbares Kriterium. 1)Vgl. einerſeits, was die Unerheblichkeit des kraniologiſchen Moments für jedweden Verſuch zur Racen-Eintheilung betrifft: Peſchel (Ansl. 1872, Nr. 10), H. v. Jhering (Ztſchr. f. Ethnol. 1873, S. 121. 163 ff.); Virchow (Rede beim Wiesbadener Anthropologen-Congr. 1873); E. Zuckerkandl (Cranien der Novara-Sammlung, Wien 1875, S. 48); auch G. Retzius, Henle u. AA., andrerſeits was die Belangloſigkeit des linguiſtiſchen Ein - theiluugsprincips betrifft: Baſtian (Ztſchr. f. Ethnologie, I, H. IV, S. 279); Max Müller (Vorl. üb. d. Wiſſenſch. d. Sprache); v. Hellwald (in Bär - Hellwald, Der vorgeſchichtliche Menſch, S. 523 f.); ferner Fr. Müller, A. de Quatrefages, F. Kanitz ꝛc.Wird darum die Ureinheit des Menſchengeſchlechts bezweifelt, ſo geſchieht dieß nicht wiſſenſchaftlichen Thatſachen oder zwingenden Analogien, ſondern vorgefaßten Meinungen zulieb. Der Polygenismus unſrer Sprachgelehrten und Ethnologen iſt Dogma, nicht aus linguiſtiſchen Thatſachen mit Nothwendigkeit reſultirende wiſſenſchaftliche Ueber - zeugung.

2. Mit der vergleichenden Religionswiſſenſchaft verhält es ſich nicht weſentlich anders. Was von ihrem Standpunkte aus gegen die Ureinheit und Jntegrität des Menſchengeſchlechts vor - gebracht wird, trägt regelmäßig die Geſtalt nicht inductiv ſondern deductiv erbrachter Lehrſätze. Wo man es verſucht hat, mittelſt Zurückgehens hinter jede concrete Erſcheinungsform der Religion die allererſten Regungen religiöſen Empfindens und Vorſtellens genetiſch zu erklären, da hat, wenn naturaliſtiſche Leugnung der bibliſchen Lehre vom gottbildlichen Urſtande und der paradieſiſchen Urgemeinſchaft mit Gott reſultirte, jederzeit das Feſthalten an gewiſſen dogmatiſchen Vorausſetzungen älterer oder jüngerer glaubensfeindlicher Speculation den Spruch dictirt. So erklären ſich insbeſondere die bekannten Verſuche Spencers, Darwins, Lubbocks und ihrer Geiſtesverwandten, die Religion überhaupt als etwas dem Menſchen mit den Thieren relativ Gemeinſames darzuſtellen, das ſich nur dem Grade, nicht der189VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Art nach, von den ähnlichen Empfindungen und Vorſtellungen des Thierlebens unterſcheide. Wohlfeile Philoſopheme epikuriſch-lucrezi - ſchen Urſprungs, in zeitgemäßer Reproduction durch allerhand Bei - ſpiele aus der Thierpſychologie illuſtrirt und geſtützt, ſpielen hier eine Hauptrolle. Gleich dem ſittlichen Gefühl (moral sense), dieſem nach Darwin mittelſt natürlicher Zuchtwahl aus ſocialen Trieben und Jnſtincten , wie ſie auch der Thierwelt eignen, gewordnen Entwicklungsproduct, ſowie ferner gleich ſolchen Seelenvorgängen wie Neugierde, Aufmerkſamkeit, Gedächtniß, Phantaſie, Selbſtbewußtſein, Schönheitsſinn ꝛc., ſoll auch der Glaube an Gott in ſeiner Urform nichts als ein verfeinerter und veredelter Jnſtinct ſein. Schreckhafte Träume und auch das Thier träumt ja, Hunde bellen im Traum ꝛc. erzeugten zuerſt jenes unbeſtimmte Gefühl der Furcht vor böſen Geiſtesmächten, das den Urgrund und Ausgangspunkt alles religiöſen Vorſtellens bildet (!). Braubach habe Recht, meint Darwin, ſchon beim Hunde Empfindungen religiöſer Art wahrzunehmen; der Hund blicke in der That auf ſeinen Herrn mit ähnlicher Verehrung wie der Menſch auf Gott! Bis in’s Bereich der Jnſecten hinein hat Lubbock, der muthige Ameiſen-Forſcher, den erſten Wurzeln religiöſen Gefühls und Handelns nachzuſpüren verſucht, unter Zuſtimmung Huxley’s, Häckels und Andrer. Auch die bekannte Lubbockſche Stufenleiter: Atheismus, Fetiſchismus, Totemismus, Schamanismus, Jdololatrie, Naturpotenzen-Anbetung und ethiſirte Gottesverehrung gilt den Forſchern dieſer Schule principiell als richtig conſtruirt, mögen ſie immerhin in Einzelheiten den betr. Fortſchritt ſich anders denken. Und zuſammen mit der abſoluten Jrreligioſität wird die vollſtändige Jmmoralität als Anfangszuſtand menſchlicher Entwicklung ſtatuirt. Ohne Ehe, überhaupt ohne wahre Liebe des Mannes zum Weib und umgekehrt, in wildeſtem Weibercommunismus, ohne eine Spur vom zuſammenhaltenden Bande der Familiengemeinſchaft, ſollen die erſten Menſchen gelebt haben. 1)Lubbock, Orig. of Civilis. p. 58: The lowest races have no in - stitution of marriage; true lowe is almost unknown among them; mar -Dieſer von Lubbock dictirte190VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Kanon gilt zwar betreffs mancher Einzelheiten ſeiner Ausführung den Mitforſchern nicht durchweg als normgebend: im Großen und Ganzen jedoch halten ſie alle, ſoweit ſie überhaupt ähnlichen natu - raliſtiſchen Grundanſchauungen huldigen, an ihm feſt.

Offenbar ſind alle dieſe Annahmen nichts als nothwendige Conſequenzen aus dem Dogma vom Thier-Urſprunge des Menſchen - geſchlechts. Es fragt ſich aber eben darum, ob ſie einer ins Ein - zelne eingehenden Widerlegung werth ſind. Vieles in dieſem - ſonnement iſt doch gar zu ſeicht und oberflächlich, zu ſehr aller, auch der erſten Elemente religiöſen Verſtändniſſes und religiöſer Erfahrung baar. Und in welches Neſt von Widerſprüchen müſſen ſie ſich nicht hineinwühlen, die Vertheidiger ſolcher Anſchauungen! Spuren reli - giöſer Empfindung ſoll ſchon die Thierwelt verſchiedner Stufen und Claſſen in Verbindung mit ihren ſocialen Jnſtincten kundgeben, und doch ſoll eine Nacht des ſchwärzeſten Atheismus, der abſoluteſten Sittenloſigkeit allüberall den Ausgangspunkt religiös-ſittlicher Ent - wicklung der Menſchheit gebildet haben! Vom Affen ſollen wir die Körperform, Schädelbildung, auch wohl einiges Pſychiſche, wie den Nachahmungstrieb ꝛc. überkommen haben aber um die Vorläufer unſrer religiöſen Regungen nachzuweiſen, muß bis zum Hunde, wo nicht gar bis zu den Ameiſen zurückgegangen werden! Betreffs der Art, wie die einzelnen Stufen der Religioſität und Sittlichkeit ſich auseinander und aus dem gemeinſamen Urgrunde abſoluteſter Rohheit entwickelt haben ſollen, herrſcht die allergrößte Meinungsverſchiedenheit. Die Geſchlechtsverhältniſſe der früheſten Urzeit denkt faſt Jeder ſich anders als der Andre; namenlich beſteht zwiſchen M’Lennan als Vertheidiger der Annahme einer urſprünglichen Polyandrie und zwiſchen Lubbock, Giraud-Teulon, v. Hellwald und Andren als Vertretern der Hypotheſe eines urſprünglichen Weibercommunismus oder ſchrankenloſen Hetärismus ein unverſöhnlicher Gegenſatz. Der Anſicht, daß ſolchen ſcheußlichen Geſchlechtsſitten der Urzeit auch die1)riage in its lowest phases is by no means a matter of affection and companionship , etc. 191VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.früheſte Form des Gottesbegriffs, ein wilder Lingam - oder Phallus - cult, werde entſprochen haben, wagen Einige zu huldigen,1)Baiſſac (Les origines de la religion, 2 vols., Paris 1876); Jules Soury (Études historiques sur les religions, les arts, etc. Par. 1877), Kuliſcher (a. a. O.) u. AA. während Andre vor der Ziehung dieſer Conſequenz zurückſchrecken. Es iſt eine ſeltſame Concordia discors, ein wildes Babel widerſtreitender Mei - nungen, das ſich hier aufthut. Die Gründe aber, auf denen die verſchiednen Theorien fußen, ſind wie überall auf dieſem Gebiete nichts als übereilte Verallgemeinerungen, voreilige Rückſchlüſſe von modernem Beobachtungsmaterial auf vermeintliche Urzuſtände, kühne Geſchichtsconſtructionen und willkürliche Einfälle der bodenloſeſten Art.

Nur bei zweien dieſer Argumente mag hier etwas verweilt werden, weil gerade auf ſie von Vielen unſrer Gegner ein Haupt - gewicht gelegt worden iſt, während doch präciſere Feſtſtellung der That - ſachen, auf welche ſie ſich beziehen, ſehr entſchieden gegen ihre Verwerth - barkeit für naturaliſtiſchen Theorien vom Urſprunge der Religion ſpricht.

Eine Hauptrolle ſpielt im Räſonnement Lubbocks und ſeiner Geiſtesverwandten, wozu wir namentlich auch einige deutſche Vor - kämpfer des Deſcendenzglaubens wie Büchner, Vogt, Oscar Schmidt, Moritz Wagner ꝛc. rechnen müſſen, die Behauptung vom Vorkommen völlig religionsloſer Völker, nebſt der daraus gezogenen Folgerung eines abſoluten Atheismus als der Urgrundlage aller religionsgeſchichtlichen Entwicklung. Die Menſchheit ſoll den Proceß ihres religiös-ethiſchen Vorſtellens und Bildens als vollſtändige tabula rasa begonnen haben; das altübliche dogmatiſche Argument vom Conſenſus aller Völker ſoll null und nichtig ſein, weil that - ſächlich eine Reihe von neuerdings beobachteten wilden Stämmen jeder Spur von religiöſen Begriffen, Ueberlieferungen und Ge - bräuchen entbehre. 2)Speciellere Nachweiſe ſowohl über dieſe Behauptungen Lubbocks, Büch - ners, Vogts ꝛc. als über das im Folgendenden dawider zu Bemerkende bietet meine Schrift: Das Kreuz Chriſti ꝛc. 1875, (Excurs V: Wider die Be - hauptung einer völligen Religionsloſigkeit gewiſſer Völker , S. 416 ff.). Hier iſt Beides gleich ſehr unerwieſen und192VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.aus der Luft gegriffen: die Behauptung, daß es religionsloſe Völker gebe, und die Vorausſetzung, daß wenn ſolche Völker jetzt nach - gewieſen würden, ſich daraus ein Rückſchluß auf die Urzeit unſres Geſchlechts ziehen ließe.

Von wie vielen Völkern iſt nicht ſchon auf Grund flüchtiger Beobachtung ſeitens Reiſender, die nicht einmal ſich zuverläſſige Kenntniß ihrer Sprache verſchafft hatten, behauptet worden, ſie ent - behrten jedweder Vorſtellung von Gott, Jenſeits, Vergeltung, aller religiöſen Gebräuche u. ſ. w., während tieferes Eindringen in den Schatz ihrer Sprache, Sitten und Ueberlieferungen jedesmal das Gegentheil an den Tag brachte! Von verſchiednen Eingeborenen - Stämmen Neuhollands iſt behauptet worden, es fehle ihnen jedes Element religiöſen Glaubens und Handelns. Aber Schritt für Schritt hat genauere Erforſchung widerlegende Jnſtanzen hiegegen zu Tage gefördert, vom böſen Schlangengeiſte Budyah der Queenslander an, bis zu dem Schöpfergotte Bhaiami der Kamilarois in Neuſüd - wales und den Waldfeen und Waſſernixen (Balumbals und Wan - guls) eines ihnen benachbarten Stammes, den man auch eine Zeitlang für abſolut atheiſtiſch ausgegeben hatte. Jn Bezug auf die kopf - abſchneidenden Dayacks auf Borneo hatte der Radſcha James Brooke längere Zeit gemeint, ſie ſeien völlig religionslos, bis genauere Kenntniß ihn dieſe Meinung zu widerrufen nöthigte. Bezüglich der Kolhs-Stämme in Bengalen hatte Miſſionar Jellinghaus, überein - ſtimmend mit einer weit verbreiteten Anſicht, angenommen, es mangle ihnen jede Spur von Religion; tieferes Eindringen ins Studium ihrer Sprachen und Sitten belehrte ihn jedoch dahin: nicht ſowohl Gottesleugnung, als vielmehr Jgnorirung Gottes (Röm. 1, 28 31) , bei gleichzeitiger Verehrung von Naturkräften und geheimnißvollen dämoniſchen Mächten durch Zauberei und zauberiſche Opfer , ſei das Weſen des Heidenthums dieſer Stämme. Auch den Hotten - totten und verſchiednen Kaffernſtämmen Südafrikas hatten manche der anfänglich unter ihnen wirkenden Miſſionare, wie Campbell, van der Kemp, theilweiſe auch Moffat, alle beſtimmter lautende religiöſe193VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Ueberlieferung, insbeſondere jede eigentliche Gottesidee abgeſprochen; ihre ſpäteren Nachfolger jedoch, darunter Livingſtone, Merensky und andre Berliner Miſſionare ſowie neueſtens beſonders Dr. Callaway in ſeinem auf die Religion der Zulu bezüglichen Werke Ukulunkulu , lehrten auf Grund tieferen Eindringens das Gegentheil als wahr kennen. Mehrere centralafrikaniſche Negervölker der oberen Nilregion, wie die Dinkas, Schilluks, Nuehrs ꝛc. wurden von Sir Samuel Baker als ſchlechthinige Atheiſten geſchildert; daß ſeine Beobachtungen in ihrem Betreff oberflächlicher Art geweſen waren, wurde durch ſpätere Reiſeforſcher wie G. Schweinfurth, Ernſt Marno, u. AA. dargethan; insbeſondere bezüglich der Nuehrs zeigte Marno, daß ſie nicht bloß einen böſen Geiſt Nyeledit verehren, ſondern auch Regen - macherei, Zauberei ꝛc. ganz wie viele andre Negervölker treiben. Die früher von Don Felix de Azara den Payagua’s, ſpäter durch Burmeiſter, Bates, Wallace, Moriz Wagner verſchiednen anderen ſüdamerikaniſchen Stämmen, beſonders des Amazonas-Gebietes nach - geſagte völlige Religionsloſigkeit hat ſich in jedem einzelnen Falle als auf einſeitiger und nicht hinreichend gründlicher Beobachtung beruhend erwieſen. Einen gewiſſen Glauben an überſinnliche Mächte fand der Braſilien-Reiſende Prinz Max von Wied auch bei den roheſten Stämmen, die er beſuchte; was v. Martius an Spuren eines annähernden Atheismus bei einigen dieſer Eingeborenen Bra - ſiliens wahrnahm, war jedenfalls von der Art, daß es ihn in ſeiner Annahme einer ſtattgehabten Degradation derſelben beſtärkte, nicht etwa die entgegenſtehende Anſicht ihm nahelegte. Ein Donner - oder Regengott, ſowie gewiſſe Spuren von Unſterblichkeitshoffnung, ſind bis jetzt noch bei jedem amerikaniſchen Jndianerſtamme entdeckt worden.

So ſteht es um das empiriſche Material, womit vielfach zu Gunſten der Theſe von einem Ur-Atheismus der Menſchheit operirt worden iſt. Aber geſetzt auch, es würden wirklich etwelche abſolut religionsloſe Stämme in der Gegenwart mit Sicherheit nachgewieſen: welches Recht hätte man zu einem Rückſchluſſe von da aus auf denZöckler, Urſtand 13194VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.allgemeinen Urzuſtand? Geſtatten die vereinzelt in jeder größern Stadt vorkommenden Jndividuen von gänzlich verthiertem, jeder beßeren Gewiſſensregung und religiöſen Empfindung baarem Charakter irgendwelchen Rückſchluß auf ihre Vorfahren? Und wird es mit ganzen Völkern von ähnlichen Eigenſchaften ſich anders verhalten? Könnte das erratiſche Vorkommen atheiſtiſcher Stämme und nur ein ſolches würde günſtigſten Falles conſtatirt werden können1)Vgl. A. de Quatrefages, Das Menſchengeſchlecht, II, Buch X, S. 227. irgend etwas für den Atheismus als einſt durchgängig vorhanden geweſene Anfangsſtufe menſchlicher Cultur - und Religionsentwicklung beweiſen? Es ſteht in jeder Hinſicht ſehr kümmerlich um dieſe auf die angebliche Religionsloſigkeit heutiger Wilder ſich ſtützende Ar - gumentation, faſt ſo kümmerlich wie um Sir John Lubbocks Schlußfolgerung, wonach aus dem Umſtande, daß die Sprachen einiger nordamerikaniſchen Amerikaner, wie der Alonquins und der Tinnés, kein beſonderes Wort für die Begriffe Liebe, geliebt ꝛc. enthalten, ein urſprüngliches Fehlen aller Erweiſungen von Gatten - und Kindesliebe bei den Vorfahren dieſer Stämme, oder gar über - haupt bei den Urwilden, ſich ergeben ſoll! 2)Lubbock, Orig. of Civilis., p. 58 s. Vgl. ſchon oben.Viele entſchieden naturaliſtiſch gerichtete Culturforſcher, darunter auch mehrere erklärte Anhänger des Darwinismus, verzichten daher ganz oder faſt ganz auf jenes Argument. Tylor leugnet mit aller Beſtimmtheit, daß Völker, ohne jenes Minimum von Religioſität, welches nach ihm Animismus (Glaube an geiſtige Weſen) zu nennen iſt, ſchon irgendwo nachgewieſen worden ſeinen; die theologiſche Wiſſenſchaft zwinge zu dem Zugeſtändniß, daß der Glaube an geiſtige Weſen bei allen niederen Racen ſich findet, mit denen wir genau genug bekannt geworden ſind, während die Behauptung, daß ein ſolcher Glaube nicht vorhanden ſei, auf alte oder mehr oder minder un - vollſtändig beſchriebne moderne Stämme ſich beſchränke ; ſo wenig die Erzählungen von Volksſtämmen, welche weder die Sprache, noch den Gebrauch des Feuers kennen ſollen, die Probe der Kritik be -195VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.ſtehen, ebenſowenig ſeien die auf gänzlich religionsloſe Stämme be - züglichen Angaben glaubhaft. 1)Anfänge der Cultur, I, 411 419. Ueber eine von Tylor an dieſe im Ganzen ſo richtigen Betrachtungen geknüpfte falſche Folgerung, worin ſich doch wieder ſein Rückfall in den ordinären Naturalismus auf unſrem Gebiete vollzieht, ſ. oben, III, gegen Ende.Weſentlich auf dieſem Standpunkte, wonach ein gewiſſes Minimum von Religion in Form des ſ. g. Animismus überall, auch bei den tiefſt ſtehenden Stämmen, anzu - treffen wäre, hält ſich ſelbſt Darwin. 2)Abſtammung des Menſchen I, 55.Und von unſren deutſchen Darwiniſten argumentirt beiſpielweiſe Caspari mehr gegen als für die Annahme, daß es abſolut religionsloſe Völker gebe; die von ihm aus den Sitten und Traditionen auſtraliſcher, braſilianiſcher, ſüdafrikaniſcher Völker in reichlicher Fülle beigebrachten Beiſpiele widerſprechen der Hypotheſe eines allgemeinen Ur-Atheismus auf das Beſtimmteſte. Aehnlich v. Hellwald: gegen die Behauptung von Reiſenden, daß ein Volk keine Religion habe, gelte es ſich ſtets mit möglicher Vorſicht zu wappnen; ein religionsloſes Volk ſei eigentlich ein Unding, ebenſo wie die von Manchen geträumte religionsloſe Zukunft ; ſo lange ihre Sprache nicht genau erſchloſſen, müſſe man ſehr auf der Hut ſein, an ſ. g. atheiſtiſche Völker zu glauben ; ja die Völkerkunde lehre, daß die Exiſtenz religionsloſer Völker faſt mit poſitiver Gewißheit zu verneinen ſei. 3)O. Caspari, Urgeſchichte der Menſchheit II, 157 ff. F. v. Hell - wald, Culturgeſchichte S. 24. 32 ; Ausland 1870, S. 1038; 1875, S. 100.Daß Forſcher von noch mehr vermittelnder, mit dem Darwinismus überhaupt nicht oder nur theilweiſe engagirter Haltung wie Waitz und ſein Fort - ſetzer Gerland, Max Müller, Peſchel ꝛc. ähnlich urtheilen, verſteht ſich von ſelbſt. Von antidarwiniſtiſch gerichteten Naturforſchern und Philoſophen, die ſich mehr oder minder eingehend und nachdrücklich wider das in Rede ſtehende naturaliſtiſche Axiom erklärt haben, ſeien hier nur M’Cosh, de Quatrefages, Robet Flint, Ad. Baſtian, A. Wigand, Ulrici, K. Ch. Plank, J. B. Meyer, Frohſchammer13*196VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.und beſonders Joh. Huber (als Gegner Moriz Wagner’s in mehreren Artikeln der Augsburger allgemeinen Zeitung 1873) genannt. 1)Siehe überhaupt den ſchon cit. Excurs in meinem Kreuz Chriſti. Den daſelbſt angeführten Gegnern der Uratheismus-Lehre fügen wir außer Quatre - fages a. a. O., S. 216) und Rob. Flint (Anti - Theistic Theories, Edinb. 1878, Lect. VII) hier noch hinzu: Paul Rob. Schuſter, Gibt es unbewußte und ererbte Vorſtellungen? (herausg. von Zöllner, Leipz. 1879), S. 77; M. Fairbairn (Academy, 1878, 20. Jul. p. 54), ſowie die gekrönte Preis - ſchrift von Jul. Happel: Die Anlage des Menſchen zur Religion, vom gegen - wärtigen Standpunkte der Völkerkunde aus unterſucht, Harlem 1877.

Bietet ſchon dieſer Verſuch, vom angeblichen Vorhandenſein religionsloſer Völker aus das Dogma von der abſoluten Urwildheit am Anfange der menſchlichen Geſchichte zu ſtützen, eigentlich ein Ar - muthszeugniß für die modern-naturaliſtiſche Geſchichtsbetrachtung dar, ſo gilt das von einer zweiten Lieblingstheſe unſere Lubbockiſten im Jn - und Auslande in noch höherem Grade. Der Fetiſchdienſt ſoll die Urform alles ausgebildeteren religiöſen Vorſtellens und Handelns ſein! Dieſes rohe, unſäglich viel Abſurdes und Läppiſches in ſich ſchließende Product des Cauſalitätsdranges der kindiſchen Urmenſchheit, kraft deſſen das Göttliche unter gewiſſen beliebigen, ganz willkürlich herausgegriffenen und jeder ſymboliſchen Bedeut - ſamkeit baaren ſinnlichen Objecten verehrt wird, ſoll auf den Ur - zuſtand völligſter Religionsloſigkeit zunächſt gefolgt ſein, oder, falls es einen ſolchen atheiſtiſchen Urzuſtand nicht gab, doch jedenfalls allen Formen edlerer geiſtigerer Gottesverehrung vorausgegangen ſein. Polytheismus ſowohl, als Monotheismus, ſollen erſt Ent - wicklungsproducte des die Urgeſtalt aller Religioſität bildenden Fe - tiſchismus ſein, ſei es nun daß man ſie mit Comte und ſeiner Schule für Wirkungen eines allmähligen Herabſinkens von der Stufe des Fetiſchcults, dieſes wahren Höhepuncts aller Religion (!) halte, oder daß man dieſer phantaſtiſch-abenteuerlichen Degradations - theorie des Franzoſen eine evolutioniſtiſche Auffaſſung des betr. Pro - ceſſes entgegenſtelle, alſo die verſchiedenen geiſtigeren Formen des197VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Gottesbegriffs, wie Polytheismus, Mono - und Pantheismus als Producte des aufwärtsſtrebenden, nach Vervollkommnung ſeiner Be - griffe und Vorſtellungen ſtrebenden Cauſalitätsdranges zu begreifen ſuche. Das Letztere thut im Weſentlichen Lubbock als Urheber der bereits mehrmals erwähnten ſiebenſtufigen Scala: Atheismus, Fe - tiſchismus, Totemismus ꝛc. ; deßgleichen, nur in etwas vorſichtiger gefaßter und philoſophiſcher vermittelter Weiſe Tylor, Monier Wil - liams, Baring Gould1)A. Comte, Philosophie positive, vol. V, p. 101. Lubbock und Tylor, a. a. O. Baring Gould, Origin and developement of re - ligious belief, vol. I, Lond. 1869. Monier Williams, Progress of Indian religions thought (im Contemp. Rev., Sept. 1878, p. 267 s.). ꝛc. Von deutſchen Forſchern gehören hieher Fritz Schultze, F. Spiegel, K. Tweſten, F. v. Hellwald, Carus Sterne, Richard Pietſchmann,2)Fritz Schultze, Der Fetiſchismus. Ein Beitrag zur Anthropologie und Religionsgeſchichte, 1870. F. Spiegel, Zur vergleichenden Religions - wiſſenſchaft (Ausland 1872, Nr. 1), K. Tweſten a. a. O. (oben, S. 3, Note). Hellwald, Culturgeſch., S. 25. 30 ff. Carus Sterne, Werden und Vergehen ꝛc. Richard Pietſchmann, Der ägypt. Fetiſchdienſt und Götterglaube (Ztſchr. f. Ethnol. 1878, II, 153 182). ſowie in etwas behutſamerer Faſſung Theod. Waitz, H. Spencer, Caspari, H. Paret. Die beſſer abge - grenzte und kritiſch geläuterte Geſtalt, welche die Letzteren der Fe - tiſchismus-Hypotheſe zu ertheilen verſucht haben, beſteht theils darin, daß dem Fetiſchdienſte nicht geradezu völlige Religionsloſigkeit, ſon - dern ein ganz roher ſyſtemloſer Polytheismus (ſo Waitz) oder auch etwas wie Geiſter - oder Ahnen - oder Patriarchen-Cultus (ſo Spencer, Caspari) vorausgegangen ſein ſoll; theils darin, daß neben dem primitiven Fetiſchismus als denkbar niedrigſter Religionsſtufe auch ein aus höheren Religionsformen als Degradations - oder Ent - artungsproduct entſtandener Fetiſch-Aberglaube jüngeren Urſprungs nachzuweiſen verſucht wird (ſo Paret; ähnlich auch Monier Wil - liams). 3)Herb. Spencer, The origin of animal worship (in ſ. geſammelten Essays, vol. III, London 1874) läßt den Fetiſchismus ſpeciell aus dem Cultus

198VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.

Es befinden ſich einige achtunggebietende Namen in dieſer Reihe von Vertretern der Fetiſchismus-Hypotheſe. Dennoch iſt die ganze Annahme, zu welcher beſondren Faſſung ſie auch ausgeprägt werden möge, eine irrthümliche und unhaltbare. Der Fetiſch-Aberglaube gehört nicht an den Anfang, ſondern entſchieden erſt an das Ende der Religionsentwicklung, ſei es einzelner Völker ſei es der Menſch - heit im Ganzen; er iſt weſentlich Fäulnißproduct, Frucht eines religiöſen Entartungsproceſſes von ähnlicher Art. Wie der dem Reliquienaberglauben des Katholicismus und andrer Religionen zu Grunde liegende. An die Spitze der zahlreichen gewichtigen Gründe, welche für dieſe Auffaſſung entſcheiden, iſt ſchon der Name Fetiſch zu ſtellen. Dieſes dem früheſten Fetiſchismusforſcher C. de Broſſes (um 1760) durch franzöſiſche Handelsleute zugeführte, aus dem por - tugieſiſchen fetisso vererbte Wort iſt herzuleiten nicht etwa von fatum, ſondern von facere; es entſpricht dem lateiniſchen (deus) factitius, bezeichnet alſo einen gemachten Gott, einen zum Zweck des Zauberns willkürlich gebildeten Götzen, ein Zaubermittel oder Object abergläubiger Andacht. Jrgendwelche Gottesvorſtellung muß nothwendig ſchon dageweſen ſein, wo zum Machen eines ſolchen Zaubergötzen geſchritten wird; der Stein, Klotz, Knochen, Lappen ꝛc., welcher dem Reger als Fetiſch dient, iſt ein einem längſt vorhan - denen, wenn auch höchſt rohen und unbeſtimmten Gottesbegriffe willkürlich angepaßtes Jdol, dem das ſonſtige Jdole empfehlende Moment der Sinnbildlichkeit, der relativen Uebereinſtimmung zwiſchen unſichtbarem Urbild und ſinnlichem Abbild fehlt. Dieſe Willkürlich - keit des Verfahrens beim Fetiſchmachen könnte nun allerdings als3)der Ahnen, und zwar vermittelſt des ſ. z. Totemismus oder heraldiſchen Thier - bilderdienſts, hervorgehen. Aehnlich Caspari, Urgeſchichte ꝛc., I, 263 ff. Anders Waitz, Anthropologie der Naturvölker, I, 323 f. (auch II, 174 u. ö.); H. Paret, Art. Fetiſchismus in der Herzogſchen Real-Encyklop. f. prot. Theol., Bd., IV, S. 395. (Mit Recht iſt dieſer an ziemlichen Unklarheiten und inneren Widerſprüchen leidende Aufſatz in die zweite Anfl. der Real-Encykl. nicht mit übergegangen).199VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzeu.Hinweis auf eine noch ſehr urſprüngliche, kindiſch unvollkommne und rohe Verſtellungsweiſe der betreffenden Völker gelten; und demgemäß iſt denn öfter argumentirt worden. So meinte Lubbock, in den Fetiſchen der Neger u. ſ. f. etwas derartiges wie Kinderſpielzeuge, Puppen oder dergleichen erblicken zu dürfen; die Puppe ſelbſt, ſagt er, iſt eine Art von Baſtardbildung aus Kind und Fetiſch (a hy - brid between the baby and the fetish); gleich den Fetiſchen ſeien die ihre Verehrung oft begleitenden Raſſeln, Trommeln, Tänze ꝛc. deutliche Belege für den kindiſchen Charakter der ſich mit ſolchen Dingen abgebenden Wilden, u. ſ. f. 1)Lubbock, Orig. of civil., p. 406.Hier wird und das iſt ein zweiter Hauptgrund gegen die Fetiſchismushypotheſe kindiſches mit kindlichem, jugendlich aufſtrebendem und entwicklungsfähigem Weſen verwechſelt. Werden nicht auch Greiſe oft wieder kindiſch? Verſinken nicht Kranke, zumal geiſtig Erkrankte, Blödſinnige ꝛc., oft genug in einen ganz und gar kindiſchen Zuſtand, wo ſie am läppiſchſten Spielwerk, an den ſinnloſeſten Vergnügungen Gefallen finden? Und was eine Hauptſache iſt: pflegt nicht ein kindiſcher Zuſtand dieſer letzteren Art völlig unheilbar zu ſein? kündigt ſich in ihm nicht die allmählige Auflöſung des geſammten Organismus als in größerer oder geringerer Nähe bevorſtehend an ganz wie es entweder im Hinſterben begriffene oder ſozuſagen unheilbar geiſtes - kranke, ſelbſtverſchuldeter roher Stupidität verfallene Stämme ſind, bei welchen der eigentliche Fetiſchcult in voller Blüthe zu ſtehen pflegt. Die Analogie des Reliquiendienſts und andrer Formen des Aberglaubens (theilweiſe auch des Hexenglaubens, des Kalender - aberglaubens oder der Wettermacherei, ꝛc. ) im Buddhismus, Jslam, Katholicismus und andren Religionen bildet eine weitere wichtige Gegeninſtanz gegen die Annahme einer Urſprünglichkeit der fetiſchi - ſtiſchen Religionsform. So gut wie die Verehrung der Ueberbleibſel von Heiligen eine ins Sinken und Ausarten gerathene höhere Weiſe der Gottesverehrung vorausſetzt, ſo gut wie die Amulete der alten Griechen, Römer und vieler neuerer Völker Reminiſcenzen an gewiſſe200VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.untergegangene Religionsvorſtellungen oft recht complicirter Art in ſich ſchließen, ſo gut wie den Talismanen des Jslam im Mittelalter aſtrologiſche Geheimweisheit zu Grunde lag: ganz ähnlich verhält es ſich mit dem Fetiſchdienſte, wo und in welcher ſpeciellen Form er auch auftreten mag. Es iſt übrigens bei derartigen Vergleichungen die geſammte Geiſteseigenthümlichkeit und Culturſtufe der betreffenden Völker wohl im Auge zu behalten. Der Reliquiendienſt des römiſch - katholiſchen Mittelalters bildete doch eine weit höhere und edlere Form der Verehrung ſinnlicher Objecte, als der ordinäre Neger - fetiſchismus; gleichwie die Bilderanbetung in mancher Hinſicht als eine noch edlere Weiſe der Verſinnlichung des Gottesdienſts zu gelten hat zur Reliquienverehrung in demſelben Verhältniſſe ſtehend, wie das Spielen geiſtig geförderter Kinder mit zierlich geſtalteten Glieder - und Kleiderpuppen zum Spiel armer Straßenkinder mit rohen Thonfiguren ohne Glieder und menſchenähnliches Antlitz. Geiſtiges Entartungsſymptom oder Zeichen eines Rückfalls in Kin - diſchkeit iſt das eine dieſer cultiſchen Puppenſpiele (damit wir jenen Lubbockſchen Vergleich beibehalten, zugleich aber auch recti - ficiren) ſo gut wie das andre. Es kommt nur eben darauf an, welche Stufe die Religion erreicht hatte, aus welcher ſich das Fetiſch - machen als Verweſungsproduct hervorbildet. Und damit hängt un - mittelbar die weitere Frage zuſammen, ob das Uebel heilbar oder unheilbar zu nennen, ob die betr. Religion zur Ausſtoßung der Krankheitsſtoffe und Regeneration ihres Organismus auf Grund der noch unverdorbnen Elemente deſſelben fähig erſcheint, oder ob dieß nicht der Fall iſt. 1)Eine einſeitig harte Beurtheilung, welche dem hier Angedeuteten in keiner Weiſe genügend Rechnung trägt, läßt Happel (a. a. O.) von ſeinem prote - ſtantenvereinlich liberalen Standpunkte aus dem Fetiſchismusartigen im Katho - licismus widerſahren. Er rechnet dazu außer dem Reliquienweſen ohne Weiteres auch die Sacramente. Ja er behandelt ſogar den kirchlichen Trinitätsbegriff unter einem ähnlichen Geſichtspunkte, ihn für ein heidniſches Ueberlebſel er - klärend, mit Zauberei und Geſpenſterglauben zuſammenſtellend, überhaupt ähnlich über ihn urtheilend wie über Marien -, Heiligen - und Papfteultus. Uebrigens iſt und das bildet ein201VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.weiteres Moment zur Widerlegung jeder nicht-degradationiſtiſchen Theorie vom Fetiſchismus in nicht wenigen Fällen eine Ein - miſchung fetiſchmäßiger Trümmerſtücke von ſinkenden Religionen höherer Art in ſolche von Religionen niederer Art beobachtet worden. So bei den Stämmen der weſtafrikaniſchen Loangoküſte, deren gegen - wärtiger Fetiſchaberglaube nach A. Baſtian’s Beobachtungen ein Miſchproduct aus älterem afrikaniſchem Naturdienſt und aus dem eine Zeitlang durch Portugieſen dieſen Völkern nahegebrachten und aufgenöthigten Katholicismus iſt. 1)Ad. Baſtian, Die deutſche Expedition an der Loango-Küſte, Jena 1874, Bd. I, 54 ff. 204 ff., und beſ. Bd. II, 154 ff. (auch: Zeitſchr. f. Ethnologie, 1874, I, 1 ff.).Aehnlich bei amerikaniſchen Jndianer - wie Neger-Stämmen, ja in gewiſſer Weiſe auch ſchon bei unſren germaniſchen Vorfahren im Mittelalter, deren Volksaber - glaube, ſoweit er ſich fetiſchiſtiſchem Unweſen näherte oder in ein - zelnen Reſten noch immer ihm naheſteht, gleichfalls eine Miſchung urheidniſcher mit römiſch-kirchlichen Elementen hervortreten läßt. Directe Beobachtung religiöſer Depravationsproceſſe mit dem End - ergebniſſe des Herabſinkens zum Fetiſchismus hat überhaupt oft genug ſtattgefunden. Was man aber noch nie und nirgends beob - achtet hat, iſt die entgegengeſetzte Erſcheinung eines Hervorgehens reinerer und geiſtigerer, insbeſondere monotheiſtiſcher Gottesvor - ſtellungen aus urſprünglichem rohem Fetiſchdienſte. Mit Recht fragt Victor v. Strauß:2)Eſſays zur allgemeinen Religionswiſſenſchaft, von V. v. Strauß und Torney (Heidelberg 1879), S. 42 f. Vgl. auch S. 17 dieſer überhaupt unge - mein gehaltreichen Schrift. Wie kommt es, daß wir wohl beobachten können, daß die Menge der mythologiſchen Gottheiten zunimmt, nirgends aber finden, daß ſich aus einer Religion, die man als fetiſchiſtiſch-polytheiſtiſch bezeichnen will, je ein Monotheismus ent - wickelt habe? Welche in geſchichtlicher Zeit entſtandene monotheiſtiſche Religion iſt denn aus einer fetiſchiſtiſch-polytheiſtiſchen hervorgegan - gen? Mit Recht hält ebenderſelbe der Behauptung, die Religion202VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.der Chineſen ſei nur die höchſte Stufe des Fetiſchismus, die Aus - ſagen der älteſten chineſiſchen Geſchichtsurkunden und religiöſen Lieder über das höchſte Weſen, genannt bald der höchſte Herr , bald der Himmel , entgegen, zum Erweiſe deſſen, daß es abſolut un - möglich ſei die Verehrung und Anrufung dieſes unleugbar mono - theiſtiſch gedachten Weſens Fetiſchismus zu nennen. Mit Recht widerſpricht dieſer Religionsforſcher überhaupt der Annahme, als habe der Fetiſchismus bei den niedrigſten Dingen angefangen, ſich zu immer größeren und höheren erhoben, und ſei ſo zuletzt bei der Verehrung des Himmels angelangt , als einer wiſſenſchaftlich un - haltbaren, durch keine geſunde Analogie beſtätigten Theorie.

Die Fetiſchismus-Hypotheſe erſcheint dem allem zufolge ſo gänz - lich entblößt von allen beſtätigenden Momenten, daß die neueſtens ſelbſt bei Vertretern des religiöſen Liberalismus hervortretende Ab - neigung gegen ſie wohlbegreiflich erſcheint. Wie ſchon Max Müller die Annahme, daß Fetiſchcult als eine Urform religiöſen Vorſtellens und Lebens gelten könne, wiederholt bekämpft hatte, ſo beſtimmt Julius Happel das Weſen des Fetiſch als beſtehend in einer ge - wiſſen willkürlich feſtgeſtellten Beziehung eines beliebigen ſinnlichen Dinges zur Gottheit, betrachtet mithin den Fetiſch als vom reli - giöſen Menſchen ſich angeeignetes numen , als Conductor himm - liſcher Kräfte in der Welt und vergleicht damit zwar Reliquien, Zaubermittel u. dgl., aber nicht eigentliche Objecte göttlicher Dar - ſtellung oder Verehrung. Aehnlich O. Pfleiderer, der zwar weder eigentlichen Monotheismus, noch eine ſonſtige geiſtige Gottesidee an die Spitze der religiöſen Entwicklung der Menſchheit ſetzt ( die früheſte religiöſe Regung, meint er, hätte wohl ein gewiſſes äſthe - tiſches Fühlen, deſſen allgemeines Object durch den Himmel reprä - ſentirt geweſen , gebildet, es gebe alſo wohl eine Urmythologie, aber keine eigentliche Urreligion ) immerhin aber den Fetiſchismus nicht als eine irgendwie frühe hervorgetretene Religionsform, ſondern als eine Entartung und Zerſtückelung erhabener Allgemeinvorſtellun - gen betrachtet und über die Ausführungen Happels das aner -203VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.kennende Urtheil fällt, derſelbe habe der Fetiſchismus-Hypotheſe den definitiven Todesſtoß verſetzt . 1)Max Müller, Lectures on the growth and origin of religion as illustrated by the religions of India (Lond. 1879) beſ. Lect. III, p. 65 ss. Jul. Happel, Die Anlage des M. zur Religion ꝛc. S. 135 ff. O. Pfleiderer, Zur Frage nach Anfang und Entwicklung der Religion (Jahrbb. f. prot. Theol. 1875, S. 65 ff. ), ſowie: Religionsphiloſophie, Berl. 1878, S. 318 ff. 742 f. Selbſtverſtändlich verwerfen die Vertreter poſitiverer Standpunkte die betr. Anſchauungsweiſe mit noch größerer Entſchiedenheit; ſo früher ſchon Fuſtel de Coulanges, Maine de Biran, Wuttke, de Rougemont, Mackay, Ferguſſon, der Herzog v. Argyll, neueſtens Carrau, Ebrard, Graf W. Baudiſſin, Chr. Baumſtark, Zahn, ſowie der ſchon genannte Victor v. Strauß. 2)Ueber die früheren Bekämpfer der Fetiſchismushypotheſe ſ. beſ. F. de Rou - gemont, Les deux Cités II, 615; vgl. Ferguſſon, Tree - and serpent - worship, 1868, ſowie Argyll, Primeval Man. Sodann Carrau, in der Rev. des deux Mondes 1876, 1. April; Ebrard, Die Anfänge des Men - ſchengeſchlechts S. 21 ff. ; Graf Baudiſſin, im Allg. lit. Anzeiger 1873, S. 63 f.; Chr. Ed. Baumſtark, Chriſtl. Apologetik, Bd. II, 1878, S. 175 ff. ; Zahn, Jſt Fetiſchismus eine urſprüngl. Form der Religion? (in War - necks Allg. Miſſ. -Ztſchr. 1879, Mai, S. 219 ff).

Die Fetiſchismus-Hypotheſe dürfte nach dem Allem ihre Rolle auf religionswiſſenſchaftlichem Gebiete demnächſt ausgeſpielt haben. Wir ſagen ſchwerlich zu viel, wenn wir ſie ſowohl, als jene An - nahme eines urſprünglichen Atheismus, die man aus der vermeinten Religionsloſigkeit heutiger Völker erſchließen wollte, als Meinungen bezeichnen, die keine Zukunft mehr haben, ſondern in den Augen unbefangener wiſſenſchaftlicher Forſcher bereits als abgethan gelten. Der Fetiſchdienſt iſt wirklich ein Entartungsproduct; überall wo er nur auftritt, ſind reinere und edlere Religionsformen ſei es mono - ſei es polytheiſtiſcher Art ihm vorausgegangen. Und ferner: bis in eine Zeit, wo die Menſchheit etwa ganz ohne Religion gelebt hätte, reicht keine geſchichtliche Forſchung zurück. Das Ergebniß iſt wichtig genug; es kommt204VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.ihm eine umſo höhere Bedeutung zu, da von dem feſten Grunde aus, welchen es legt, auf verſchiedne ſonſtige religions - und cultur - geſchichtliche Thatſachen ein lehrreiches Licht fällt, das uns unſrer Aufgabe, die Spuren und Beweisgründe für eine reinere und glück - lichere Urbeſchaffenheit unſres Geſchlechts möglichſt vollſtändig zu ſammeln, noch näher bringt.

3. Wir glauben außer den fetiſchiſtiſchen Religionsbildungen noch mehrere cultur - und religionsgeſchichtliche Phänomene nachweiſen zu können, die nur dann richtig erklärt werden, wenn man zurück - weiſende Spuren oder Reſte einer einſtigen reineren und normaleren Beſchaffenheit der betr. Völker in religiös-ethiſcher Hinſicht in ihnen erblickt. Zu dieſen ferneren Verfall - und Entartungsſymptomen oder ſonſtigen thatſächlichen Belegen für unſere degradationiſtiſche Betrachtungsweiſe als allein richtig, gehört eine Anzahl von Ueber - lieferungen und Gebräuchen bei weit voneinander entfernten Stämmen verſchiedner Welttheile, in welchen ſich eine dunkle Erinnerung an eine der Gottheit gegenüber zu ſühnende Schuld auszudrücken ſcheint. Wir rechnen zu dieſen indirecten Sündenfalls-Reminiſcenzen und Sühngebräuchen vor allem die ſchon den älteſten Religionen zahl - reicher Völker eignen Opfer - und Gebetsſitten, welche auf ein Verſühnen der erzürnten göttlichen Mächte abzwecken und durch ſehr beſtimmt dieſen Zweck ausdrückende Namen (wie bei den Griechen durch〈…〉〈…〉, bei den alten Jndiern in den Vedas durch ähnliche Wörter ꝛc. ) bezeichnet werden. Spuren von Opfermahlzeiten (ſpeciell von Todtenopfern), wollten phantaſievolle Alterthumsforſcher wie Lartet, Dupont, de Mortillet, ſchon in Höhlen der früheſten Quaternärzeit, wie in der berühmten Todtengrotte von Aurignac, der Höhle von Solutré ꝛc. wahrgenommen haben. Wunder nehmen dürften ſolche Wahrnehmungen, wenn ſie ſich einſt - mals beſtätigen ſollten, keineswegs. Auch die bibliſche Urgeſchichte rückt die Anfänge der Opferſitten bis in die nächſte Zeit nach dem205VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Sündenfalle, bis zu Abel und Enos hinauf. 1)Vgl. d’Eckſtein, Geſchichtliches über die Askeſis ꝛc. (Freiburg 1862), S 55 173 ff. Allgem. ev. -luth. Kirchenzeitung 1871, Nr. 15, S. 264. Die Beſchnei - dung, ausgeübt nicht nur bei Aegyptern, Kolchiern, Phönikiern und verſchiednen ſemitiſchen Völkern des alten Orients, ſondern auch bei den Madagaſſen, Kaffern, Congo-Negern und andern ſüdafrika - niſchen Stämmen, bei Mexikanern, ſüdamerikaniſchen Jndianern und Südſee-Jnſulanern, dürfte gleichfalls nur dann richtig beurtheilt werden, wenn zwar nicht ohne Weiteres ein blutiges Sühnopfer, aber doch ein ſpecifiſch religiöſer Reinigungsact in ihr nach ihrer urſprünglichen Bedeutung erblickt wird. 2)Riehm, Handwörterb. des bibl. Altersthums, Art Beſchneidung .Mit der ungemein weit verbreiteten Sitte der Tätowirung wird es ſich kaum anders verhalten. Dieſe ſchon bei einzelnen Völkern des Alterthums vor - kommende, dermalen von den Badagas auf den Nilagiri und einigen anderen indiſchen Stämmen, ferner von faſt allen Südſeeinſulanern ꝛc. ausgeübte Sitte eines Sichdecorirens auf höchſt ſchmerzhaftem ſelbſt - quäleriſchem Wege hatte urſprünglich, wo ſie nur vorkam, unzweifel - haft eine religiöſe Bedeutung; erſt im Laufe der Zeit ſcheint ſie mehr zu einer eitlen Modeſitte herabgeſunken zu ſein, welchen Cha - rakter ſie indeſſen doch keineswegs überall da, wo ſie noch in Uebung beſindlich, trägt. 3)Wuttke, Die Entſtehung der Schrift, Leipz. 1872, Bd. I. Waitz - Gerland, Anthropologie der Naturvölker, Bd. VI (Oceanien). F. Jagor, Ueber die Badaga’s, in den Sitzungsberichteu der Berl. Geſellſch. f. Anthropol., Ethnologie ꝛc., 1876, S. 195.Ob über mehrere andre gewaltthätige Mode - gebräuche von weiter Verbreitung, z. B. die theils afrikaniſche theils polyneſiſche Formirung der Haare zu gewiſſen abenteuerlichen Wülſten, die chineſiſche Einſchnürung der Frauenfüße, die durch alle Erdtheile gehende (bei Südfranzoſen, Oeſterreichern, vereinzelten deutſchen Stämmen, Skandinaviern, Bewohnern der Krim, Abchaſen, Armeniern, Turkomanen öſtl. vom Kaspi-See, Kamtſchadalen, Phi - lippinen-Jnſulanern, Arabern, Mauren, Peruanern und vielen andren206VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Völkern Amerikas vorkommende) Unſitte der künſtlichen Schädel - umformung ꝛc. ähnlich zu urtheilen iſt, mag zweifelhaft ſein: für die Annahme, daß ſelbſt dieſen ſeltſamen Sitten, wenigſtens der letztgenannten, irgend ein uraltes religiöſes Vorurtheil zu Grunde liege, ſcheinen immerhin einige Anhaltspunkte vorzuliegen. 1)J. v. Lenhoſſek, Die künſtlichen Schädelverbildungen ꝛc., Budapeſt 1878. Archiv f. Anthropol. Bd. XI, 1879, S. 363 f.Ganz ſicher aber gehört hierher die höchſt merkwürdige Sitte der Cou - vade oder des Mannes-Kindbetts, ausgeübt von Familien - vätern nicht bloß der ſüdfranzöſiſchen Provinz Béarn (von woher der Name: faire la couvade), von baskiſchen Pyrenäenbewohnern und Corſikanern, ſondern auch von Grönländern, Kamtſchadalen, Chineſen der Provinzen Weſt-Yünnan und Kuei-tſchau, von Dayacken auf Borneo, von Abiponern, Coroados, Karaiben und andern ſüd - amerikaniſchen Stämmen, von Negerſtämmen am Congo und in Caſſange, u. ſ. f. Ueberall unter den hier genannten Völkern wird oder wurde im Falle ſtattgehabter Vermehrung der Familie nicht die eben entbundene Mutter, ſondern der Vater in ein 4 - bis 6wöchentliches Kindbett gelegt, zu Faſten und Enthaltung von ge - wiſſen Speiſen verurtheilt, überhaupt als krank behandelt. Können die albernen Erklärungen, welche einzelne wilde Stämme in Bezug auf dieſen ſeltſamen Brauch geben, z. B. die der Abiponer, welche vom Fleiſcheſſen des Vaters während der betr. Wochen ein Ueber - gehen der Fehler oder Laſter der von ihm gegeſſenen Thiere auf das Kind befürchteten, können derartige unſäglich läppiſche Deutungen das Richtige treffen? 2)Lubbock, Origin etc. p. 15 billigt die durch Debritzhofer, Laſitau ꝛc. überlieferte Erklärungsweiſe der Abiponer, wonach Fleiſcheſſen des Vaters feroit mal à l’enfant, et que cet enfant participeroit à tous les défauts na - turels des animaux dont le père auroit mangé! Als ob ein derartiger notoriſcher Lokal-Aberglaube für die faſt unzähligen Fälle ſonſtigen Vorkommens der Sitte maaßgebend genannt werden könnte!Oder ſollte gar Max Müllers Annahme, daß das Ganze in ſchwiegermütterlicher Chikane, in tyranniſcher207VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Behandlung des armen Ehegatten durch ſeine weiblichen Verwandten ſeinen urſprünglichen Grund gehabt habe, die wahre Löſung des Räthſels bieten? 1)M. Müller, Chips from a German workshop, II, 281.Glaube, wer’s kann! Uns ſcheint der alte Lafitau richtiger geurtheilt zu haben, wenn er eine dunkle Erinnerung an die gemeinſame Urſchuld und - ſünde unſres Geſchlechts als dem Ge - brauche zugrundliegend bezeichnete, denſelben alſo unter die auf ge - ſchlechtliche Verhältniſſe bezüglichen uralten Reinigungsſitten claſſi - ficirte, deren ſich ſo zahlreiche Beiſpiele in älteren Religionen nachweiſen laſſen. 2)Lafitau, Moeurs des sauvages Américains, I, 259. Vgl. über die Couvade ſonſt noch Labat, Nouveau voyage aux îsles de l’Amérique, 1724, II, 123; Boulanger, L’antiquité dévoilée par ses usages, Am - sterdam 1766 (I, 372, wo ganz ähnlich über den Urſprung der Sitte genrtheilt iſt, wie bei Lafitau, l. c.); Waitz, Anthropol. der Naturvölker, I, 295; Aca - demy, 20. June 1874, p. 696; F. v. Hellwald, Culturgeſch. S. 37 ff. ; Baſtian, Die deutſche Expedit. u. der Eoango-Küſte, II, 44 f. ; W. Hertz, Note zu Aucaſſin u. Nicolette; altfranzöſ. Roman ꝛc. (Wien 1865), S. 73 ff. Mit gewiſſen weitverbreiteten Faſtenſitten und ascetiſchen Bräuchen wird es ſich ſchwerlich anders ver - halten. Es iſt unnöthig, für dieſe bei Völkern der verſchiedenſten Art und in faſt allen Religionen vorkommenden Gebräuche, die namentlich vor dem Empfang gewiſſer Weihen, wie der Krieger -, der Häuptlings -, der Zauberprieſterweihe, oder auch als Vorberei - tung auf den Beſchneidungsact, als regelmäßig wiederkehrender Act bei religiöſen Jahresfeſten, bei Myſterienfeiern ꝛc. ihre Rolle ſpielen, hier beſondre Beiſpiele zuſammenzuſtellen. 3)Waitz, Anthropol. II, 412; III, 82; 118. 148 ff. ; 206; 328 ff. ; Tylor, Anfänge der Cultur II, 302. 439 ; II, 411 ff. ; Zöckler, Kirt. Geſch. der Askeſe, S. 131 135.Es gibt nur Eine ver - nünftige Deutung für dieſe bis ins höchſte Alterthum zurückreichenden Sitten: ein wenn auch oft höchſt unklares ethiſches Schuldgefühl, eine dunkle Ahnung von einem durch die betr. Kaſteiung zu ſüh - nenden ſündhaften Zuſtande, einer nur durch ernſte Büßungen hin - wegzureinigenden Geſchlechtsſchuld, wird ihnen überall, unter welchen208VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Himmelsſtrichen ſie auch auftreten mögen, als urſprünglichſtes Motiv zu Grunde liegen.

Bis in die finſterſten Tiefen wildheidniſcher Gottentfremdung und gleich gott - wie naturwidriger Befriedigung des religiöſen Triebes hinein laſſen ſich Spuren des Entartungsproceſſes, um welchen es ſich hier handelt, oder Reſte einer gewiſſen Erinnerung an eine Urſchuld des Geſchlechts, an das Eingedrungenſein einer unheimlichen verderbenden Macht in die von reineren Urſprüngen ausgegangene Menſchheitsentwicklung, nachweiſen. Wir rechnen dahin die Haupt - formen des Dämonendienſts, insbeſondere des Schlangencultus. Verehrung einer gleich ſehr verabſcheuten wie gefürchteten dämoniſchen Macht unter dem Bilde großer, tückiſch lauernder, unheimlich gli - tzernder und ſich ringelnder Reptilien, bildet unfraglich die Grund - form und das wahre Weſen alles Schlangendienſts, welche beſondre Modification derſelbe auch nachgerade angenommen haben möge. Gegen Ferguſſons Auffaſſung des weitverbreiteten und vielgeſtaltigen religiöſen Phänomens als einer von Hauſe aus nur der turaniſchen Menſchheit eignen und für deren niederen Jntelligenzgrad charak - teriſtiſchen Unſitte läßt ſich ebenſo Triftiges einwenden, wie gegen Lubbocks Verſuch, daſſelbe auf Totemismus oder heraldiſchen Thier - bildercult zurückzuführen, mithin es als eine beſondere Form von Ahnendienſt darzuſtellen. Turaniſche Stämme mögen in beſonders großer Zahl und vorzugsweiſe eifrig ſich der unheimlichen Religions - form gewidmet haben wiewohl nicht einmal dieſe Behauptung ſich genügend rechtfertigen läßt und totemiſtiſche Deutungen mögen frühzeitig einen weitwirkenden Einfluß auf die Ausbildung des grauenhaften Unweſens geübt haben: als Ur - und Grundmotiv der traurigen Wahnvorſtellung und der ſie begleitenden oft unſitt - lichen oder grauſamen Ceremonien kann unmöglich etwas Andres als die Furcht vor einer feindſeligen unſichtbaren Macht, die in der Schlange ſinnbildlich abgeſchattet oder verkörpert ſei, betrachtet werden. Als böſes Weſen, als Kakodämon, wird die Schlange oder der Drache überall zuerſt aufgefaßt und mit gewiſſen religiöſen Riten209VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.bedient worden ſein, und nur hie und da mögen beſondere Umſtände oder Ueberlieferungen im Laufe der Zeit ihre Umwandlung in ein als harmlos oder gar (wie bei den Aegyptern, Phönikiern und Griechen) als heilkräftig betrachtetes Weſen bewirkt haben. War aber die kakodämoniſche Bedeutung des auf dem Bauche kriechenden Gottes die urſprüngliche, ſo läßt ſein Urzuſammenhang mit der ver - führenden Macht, welche den Sündenfall und Verluſt des Paradieſes herbeiführte, ſich kaum in Abrede ſtellen. Auf jeden Fall ſpielen dunkle Erinnerungen an ſchreckhafte Ereigniſſe der Urzeit und die Furcht vor einer tyranniſchen böſen Geiſtesmacht, der man ſich unter - worfen wußte, eine Hauptrolle in der Entwicklungsgeſchichte dieſes uralten Schlangen - und Drachenaberglaubens. 1)Vgl. einerſeits Ferguſſon, On tree and serpent worship (1868); Lubbock, Origin etc. p. 186 ss.; audererſeits Trotter’s Kritik des Fer - guſſonſchen Werks im Contemp. Review, Sept. 1869; J. G. Müller, Die Semiten in ihrem Verh. zu Hamiten und Japhetiten, Gotha 1872, S. 145 152 (deſſen Zurückführung alles Schlangendienſts auf Vergötterung der bald ver - derbenden bald heilenden und ſegnenden Naturkraft des Waſſers jedenfalls ein - ſeitig genannt werden muß). Auch Mähly. Die Schlange in Mythus und Cultus der claſſiſchen Völker, Leipzig 1867, und W. Baudiſſin, Studien zur ſemit. Religionsgeſchichte, I, Nr. 4. Noch ſo manches andre Phänomen der Nachtſeite des menſchlichen Völkerlebens mag ähnlich aufzufaſſen ſein; in die Raſereien und wild-enthuſiaſtiſchen Künſte des Schamanenthums oder Zauberprieſterweſens zahlreiche Länder ſcheinen ähnliche Reminiſcenzen ſich zu verflechten. Auch in der entſetzlichen Cultusſitte der Menſchenopfer läßt ſich nichts Anderes als ein gellender Nothſchrei des Sündebewußtſeins und ein dunkler Drang nach wirkſamer Beſchwichtigung des Grimms der beleidigten göttlichen Mächte erblicken. Die Sitte ſelbſt ſowohl, als das bei vielen Völkern aus ihr hervorgebildete Kannibalenthum mag verhältnißmäßig ſpäten Urſprungs ſein: als ein ſpecifiſch religiöſes Symptom, beruhend auf gewiſſen die menſchliche Schuld und den Zorn der Götter betreffenden alten Ueberlieferungen, hat ſie jeden - falls zu gelten. Dem Verſuche, Menſchenfreſſerei als etwas derZöckler, Urſtand. 14210VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.menſchlichen Natur Ureignens darzuthun, mußten wir ſchon oben als eine Gedankenloſigkeit widerſprechen. Der Menſch iſt von Haus aus kein reißendes Thier ſchlimmſter Art; gerade als einem Entwicklungs - product des Affen würde nichts ihm ferner gelegen haben, als ein Auffreſſen von Seinesgleichen! Nur durch den Hereintritt eines ſtörenden und depravirenden Princips in ſeine Entwicklung können widernatürliche Religionsgebräuche der bezeichneten Art, in welchen der Menſch oft eine ärgere und raffinirtere Grauſamkeit bethätigt als das Raubthier, nach und nach zur Ausbildung gelangt ſein. Und als Religionsgebrauch wird auch die Anthropophagie ihrem wahren Urſprunge nach unzweifelhaft aufgefaßt werden müſſen, ſo gewiß als gelegentliches Verzehren Einzelner wegen Hungersnoth noch ſtets auf vorübergehende Fälle beſchränkt geblieben iſt und als die gewohnheits - und überlieferungsgemäß anthropophager Sitte ergebnen Stämme keineswegs die allerroheſten ſind, ſondern in der Regel eine höhere Geſittungsſtufe einnehmen, als ihre nicht kannibaliſchen Nachbarn1)So mit Recht O. Peſchel in ſ. Völkerkunde , unter Verweiſung z. B. auf die Monbuttu und Niam-Niam Schweinfurths. Höher noch cultivirt als dieſe, und gleichzeitig noch ſchenßlicheren Kannibalenſitten ergeben, fand Stanley die Anwohner des mittleren Congo (Durch den dunklen Welttheil II)..

Wir legen den hier aufgezählten theils religiöſen, theils ethiſch - culturellen Verfalls - und Entartungsſymptomen ein größeres Gewicht zu Gunften der von uns behaupteten Thatſächlichkeit eines einſtigen Jntegritätszuſtandes bei, als dem was ſonſt noch von einzelnen Forſchern als Zeichen eines frühzeitigen hohen Culturgrads der Menſchheit oder wenigſtens einzelner Stämme derſelben hervorgehoben worden iſt: den Pyramidenbauten ägyptiſcher Pharaonen des 3. oder gar 4. Jahrtauſend vor Chriſto, den in Stein gehauenen menſchlichen Koloſſalfiguren auf der Oſterinſel in der Südſee, den rieſengroßen Erdwällen und Hügeln der ſ. g. Moundbuilders, dieſer einſtigen relaltiv civiliſirten Bewohner des Miſſiſſippi-Thales.2)Auf dieſe Gegenſtände iſt namentlich von Tylor (Anfänge der Cult., I, 56) und von A. R. Wallace (Academy, 17. Jan. 1874, ſowie Anſprache Die211VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.Zeit der Entſtehung dieſer Monumente iſt eine ſehr ungewiſſe, theil - weiſe auf jeden Fall ziemlich junge; über ihre culturgeſchichtliche oder auch religiöſe Bedeutung können ſehr verſchiedne Anſichten unter - halten werden; bei ihrer Wertſchätzung in techniſcher und künſtleriſcher Hinſicht kann man leicht das Erforderniß gehöriger Nüchternheit ver - abſäumen und in allerhand Ueberſchwenglichkeiten verfallen. 1)Wie dieß namentlich dem ſchottiſchen Pyramidenforſcher Piazzi Smyth (The antiquity of intell. man u. aa. Schriften) begegnet iſt, unter theilweiſer Zuſtimmung von Wallace, l. c. Wir verzichten daher auf Verwerthung auch dieſer culturgeſchichtlichen Thatſachen für unſre Theſe, und zwar dieß um ſo lieber, da ſofern es ſich überhaupt um geſicherte Belege für die Thatſache eines Herab - ſinkens der Menſchheit handelt, dieſe in Geſtalt unmittelbar beobacht - barer und lebendiger Zeugniſſe in reicher Fülle gewonnen werden können.

Es gibt lebende Degradationsproducte der Menſchheit, die viel beredter und kräftiger als jene monumentalen für die Thatſache zeugen, daß es eine abſteigende Culturbewegung unſres Geſchlechts gegeben hat und noch gibt. Wir meinen jene in Wüſten, unwirth - bare circumpolare Zonen oder auf ferne und öde Klippeninſeln des Oceans verſcheuchten Auswürflinge des Völkerlebens, deren einige ſchon der Herzog von Argyll den Lubbockſchen Urwildheits - phantaſien als treffende Gegenbelege entgegenhielt und deren dann Tylor eine beträchtlich größere Zahl zuſammenſtellte. Das Regiſter dieſer degradirten Stämme an den Grenzen des civiliſirten Völker - lebens empfängt noch von Jahr zu Jahr theils abſolute Ver - mehrungen ſeines Repertoirs, theils Beſtätigungen hinſichtlich der früher in es eingetragenen Beiſpiele. Daß die grönländiſchen Eskimo ganz richtig und treffend von Argyll gegenüber Lubbock beurtheilt worden waren, haben die auf ihren ziemlich reichen Sagenſchatz be -2)an die biolog. Section der Brit. Association zu Glasgow, 1876) Gewicht ge - legt worden. Vgl. auch den amerikan. Archäologen J. D. Baldwin, in ſ. Notes on American Archeology, Newyork 1872.14*212VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.züglichen Forſchungen des däniſchen Handelsamts-Directors Henrik Rink, dieſer größten jetztlebenden Autorität in grönländiſchen Dingen, wider jeden ferneren Zweifel ſichergeſtellt; die Traditionen des Volks gedenken u. a. wiederholt der feſten und großen Häuſer (kashim), welche in früheren Zeiten ſtatt der gegenwärtigen traurigen Schnee - hütten von ihm errichtet worden ſeien. 1)H. Rink, Tales and traditions of the Eskimo, Lond. 1875, und: Danish Greenland, 1877. Vgl. auch Dawſon, Nature and the Bible, p. 201.Als durch die Ermittlungen von Reiſenden wie G. Fritſch, Schweinfurth, Baſtian ꝛc. ebenderſelben Claſſe der degradirten und verkümmerten Stämme zugewieſen lernten wir ſchon oben in theilweiſe andrem Zuſammenhange auch die Buſch - männer Südafrika’s ſowie die zwergartig kleinen Akka und Abongo kennen. Als ein weiteres hiehergehöriges Beiſpiel hat vor kurzem Franz v. Löher die Guanchen (Wantſchen) der kanariſchen Jnſeln, Abkömmlinge der Vandalen Nordafrikas, welche bei der Wieder - entdeckung ihrer Jnſelgruppe im 14. Jahrhundert in faſt gänzlich verwildertem Zuſtande getroffen wurden, kennen gelehrt. 2)Franz v. Löher, in den Sitzungsberichten der Münchener Akad. der Wiſſenſchaften, 1876.Es mag ſein, daß keines dieſer Völker, bevor es in den dermaligen Zuſtand von Elend und Uncultur verſank, eine beſonders hohe Stufe der Civiliſation erklommen hatte, und daß man auch in ſolchen Stämmen wie die Zigeuner, die Mainotten des Peloponnes, die Albaneſen, die heutigen Abeſſinier, manche Gebirgsvölker des Kaukaſus, die Jrokeſen, Algonkins und Cheyenne-Jndianer Nordamerika’s ꝛc., zwar notoriſche Verwilderungsproducte, aber doch nicht nothwendig von ſehr hochſtehenden Vorfahren entſtammte Wildlinge zu erblicken hat. Jmmerhin iſt die durch eine ſo beträchtliche Zahl von Bei - ſpielen beſtätigte Thatſache eines Verkommens und Herabſinkens urſprünglich höher geſitteter Stämme wichtig genug; die Geſchichts - anſicht der einſeitigen Evolutioniſten oder Sagagiſten läßt ſich nimmer - mehr damit vereinigen. Erinnerungen an eine ſowohl in religiöſer213VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.wie in ſittlicher und cultureller Hinſicht beſſere Vergangenheit ſpielen überhaupt im Sagenkreiſe ſo zahlreicher Völker aller Erdtheile eine Rolle, daß es kaum als ein übereilter Schluß erſcheint, wenn man ſchon allein auf Grund dieſer nationalen Ueberlieferungen das Phänomen der Wildheit im Allgemeinen als ein nicht-urſprüngliches bezeichnet. Nicht urſprüngliche Wildheit, ſondern Verwilderung iſt das Weſen der heutigen ſ. g. Naturvölker. Dieſelben ſind wahr - ſcheinlich ohne Ausnahme Repräſentanten nicht jugendlicher Urkraft ſondern greiſenhafter Verkommenheit und zugleich räubermäßiger Ent - artung unſeres Geſchlechts. 1)Treffend ſagt J. P. Lange (Ueber die Riſſe und Zerklüftungen der heutigen Geſellſchaft, 1872, S. 25): Die Wilden machen ſich untereinander zum bloßen Wild, und das iſt der Untergung der Menſchheit, nimmermehr ihr Auf - gang. Auf jeden Fall iſt es eine total un - berechtigte und unwiſſenſchaftliche Verallgemeinerung, deren ſich die - jenigen ſchuldig machen, welche bei Betrachtung dieſes oder jenes heutigen Naturvolks ohne Weiteres in Darwins bekannte Voraus - ſetzung von der Gleichartigkeit der heutigen Feuerländer mit den einſtigen Urbewohnern der britiſchen Jnſeln einſtimmen. Das Problem iſt ein viel zu complicirtes, als daß es mit ſo wohlfeilen, von der Oberfläche abgeſchöpften Analogien erledigt werden könnte; und vor - ſichtigere Vertreter des naturaliſtiſchen Standpunkts, wie z. B. Darwin’s Freund und philoſophiſcher Lehrmeiſter Herbert Spencer, haben wohlweislich davor gewarnt, den gegenwärtigen Zuſtand wilder Völker unbedachtſamerweiſe als Maaßſtab für die allgemeine Ur - beſchaffenheit der Menſchheit zu gebrauchen. 2)Vgl. Max Müller in den Hibbert Lectures , l. c. (III, 65), der dieſe Spencerſche Mahnung zur Vorſicht ganz und gar billigt und an ſeinem Theile unterſtützt.

Schließlich iſt, was ſchon früher über die thatſächliche Unnach - weisbarkeit irgend eines Falles von ſelbſtändigem Sichemporſchwingen wilder Jägerſtämme zur Stufe von Hirten - oder Ackerbau-Völkern geſagt wurde, hier nochmals in Erinnerung zu bringen. So zahl -214VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.reiche und ſolide geſchichtliche Belege für ein Herabſinken ſeßhafter Völker oder halbciviliſirter Nomadenſtämme zur Stufe wilder, bloß von Jagd oder Fiſcherei lebender Horden beigebracht werden können, ſo wenig iſt je ein Beiſpiel vom Gegentheil, nemlich vom ſelb - ſtändig und ohne Zwang vollzogenem Fortſchritt von wilder zu ſeß - hafter Lebensſitte beobachtet worden. 1)Vgl. beſonders M. Much, Ueber den Ackerbau der Germanen, in den Mittheilungen der anthropol. Geſellſchaft zu Wien , Bd. VIII, 1879, Nr. 7 9.Die Culturfortſchritts-Stufen - leiter: Jäger (Fiſcher), Nomaden, Ackerbauer exiſtirt nur in der Phantaſie gewiſſer Hiſtoriker und Archäologen. Es iſt der reine Schwindel, wenn Lubbock jüngſt ſie durch gewiſſe Erſcheinungen aus dem Leben der Ameiſen (!) zu ſtützen verſucht hat. Sie hat eben - ſowenig einen Grund in wirklichen Thatſachen der Völkerkunde, wie jenes andre dreiſtufige Schema: Stein -, Bronze -, Eiſenzeit durch ſichere archäologiſche Thatſachen geſtützt wird (vgl. unten). Nord - amerikaniſche Jndianerſtämme wie die Jrokeſen, Cherokeſen, Semi - nolen, Sioux u. AA. mögen neuerdings nach und nach von früheren ausſchließlichen Jagdbetrieb zu ſeßhaftem und geordnetem Ackerbauer - leben übergegangen ſein:2)Siehe beſ. G. Gerland, Die Zukunft der Jndianer Nordamerika’s, im Globus 1879, Nr. XV. XXI. XXII. daß dieß lediglich unter Einwirkung des angloamerikaniſchen chriſtlichen Culturlebens, alſo zwangsweiſe und nicht etwa aus eigener Jnitiative der Stämme, geſchehen iſt, ſteht ganz ebenſo feſt, wie die ähnlichen Thatſachen civiliſirender Ein - wirkung der modernen chriſtlichen Völkerwelt auf polyneſiſche, indiſche, ſüd - und weſtafrikaniſche Stämme. Der Satz des Erzbiſchof Whately bleibt, ſoweit er nur dieſen ſpeciellen Punkt, das Uebergehen von bloßer Jägerei zu gerregelteren Lebensſitten betrifft, ganz zu Rechte beſtehen, mag man ihm immerhin ſonſt, beſonders was einzelne techniſche Fortſchritte ꝛc. angeht, manche Einſchränkung angedeihen zu laſſen haben.

Notoriſche Beiſpiele von Degradation und Entartung haben wir ſonach einem jeden der hier betrachteten Gebiete: der Sprach -215VI. Sprach -, religions - und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.der Religionsforſchung und der Culturgeſchichte, in ziemlicher Zahl entnehmen gedurft. Mögen nicht alle in dem Grade unmittelbar überzeugend und unwiderſprechlich genannt werden können, wie das des Fetiſchismus, ſo haben wir doch gerade an dieſem Vermoderungs - producte ausgeblühter und dahinſterbender Religionen einen feſten Stützpunkt für unſre Anſchauungsweiſe gewonnen, von wo aus ein beträchtlicher Theil auch der übrigen ins Auge gefaßten Thatſachen als beſſer mit unſrer überwiegend degradationiſtiſchen denn mit der einſeitig evolutioniſtiſchen Theorie zuſammenſtimmend erkannt wird.

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VII. Der Arſitz des Menſchengeſchlechts: wo gelegen?, ob einer?, ob mehrere?

Die Frage nach dem Schauplatze der Menſchheitsgeſchichte während ihres ſeligen Urzuſtandes oder nach der Lage des Paradieſes iſt zwar von nur mittelbarem Belange für unſer Problem, kann in - deſſen doch nicht ganz unerörtert bleiben. Sie hier wenigſtens kurz abzuhandeln ſind wir ſchon deßhalb genöthigt, weil erſt im Zuſammen - hange mit ihr die ſchon mehrmals im Obigen berührte Frage wegen der Einheitlichkeit des Urſprungs unſres Geſchlechts zum Austrage gebracht werden kann. Geht man nemlich, unter Beiſeitlaſſung alles Sonſtigen was die Paradieſesſage in ſich ſchließt: ihren Beziehungen zur Welt - und Menſchenſchöpfung einerſeits und zum Sündenfalle andrerſeits, ihren Bäumen, Naturproducten u. ſ. f., hauptſächlich nur dem in ihr enthaltenen geographiſchen Problem nach; fragt man, geſtützt auf bibliſche Andeutungen, auf das Zeugniß der Mythen des Heidenthums und auf die neuere anthropologiſch-natur - wiſſenſchaftliche Forſchung: wo der Urſitz der Menſchheit wahrſchein - licherweiſe zu ſuchen ſei?, ſo ſcheinen aus dem wirren Widerſtreit der Meinungen älteren und jüngeren Datums mehrere Oertlichkeiten mit gegründeten Anſprüchen darauf, einſt Sitz des Paradieſes geweſen zu ſein, hervorzutauchen. Die Unterſuchung über die regio Paradisi ſcheint wenigſtens iſt dieß neuerdings mehrfach angenommen worden vom Feſthalten an der Einheitlichkeit des Menſchheits - urſprungs abzuführen und irgendwelche Form des Polygenismus zu217VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.begünſtigen. Daß dieß nur unter der Vorausſetzung eines Sich - losſagens vom bibliſchen Grunde der Fall iſt, verſteht ſich von ſelbſt. Jmmerhin nöthigen theils die Mehrdeutigkeiten des bibliſchen Berichts, theils die manchen neueren Annahmen ſcheinbar zu Gute kommenden wiſſenſchaftlichen Evidenzen zu einer näheren Prüfung des Sach - verhalts.

Aller Streit würde als unmöglich in Wegfall kommen, wenn die heil. Schrift außer der öſtlichen Lage des Gartens in Eden (1 Moſ. 2, 8: mikkédem, gegen den Morgen) auch die denſelben bewäſſernden vier Flüſſe (V. 10 14) beſtimmt und unmißverſtändlich bezeichnete. Dieß iſt nun aber nicht der Fall; der Phrat und Chiddekel ſind bekannte, der Piſon (Pīſchon) und (Gihon) aber unbekannte Größen. Auch laſſen ſich über den Sinn des Ausgehens des Stromes aus Eden und ſeines Sichtheilens in vier Häupter (rāschim; Luth. Hauptwaſſer ) verſchiedne Meinungen hegeu; wenigſtens ſtößt man allemal, wenn man dieſe Ausdrücke auf beſtimmte Theilſtröme oder einander benachbarte Flüſſe orientaliſcher Länder anwenden will, auf beträchtliche geographiſche Schwierig - keiten. Es iſt eine wahre Danaïdenarbeit, die aus der Stelle gefloſſenen oder oft höchſt willkürlicherweiſe an ſie heran - gebrachten und in ſie hineingetragenen Deutungen auch nur ihrer Mehrzahl nach zu claſſifiziren und kritiſch zu ſichten. Wir beſchränken uns, da das dogmenhiſtoriſche oder auslegunsgeſchichtliche Jntereſſe an der Sache uns hier ferner liegt, auf eine Prüfung nur der hauptſächlichſten und für unſre Frage wichtigſten älteren und neueren Meinungen. 1)Ausführlicheres, namentlich in Betreff der Literatur, ſiehe in m. Kreuz Chriſti, Exc. IV: Das Paradies nach älteren und ueueren Meinungen (S. 406 416), ſowie Geſchichte der Beziehungen ꝛc. I, 128 f. II, 779 ff.

Die Kirchenväter ſowie die Scholaſtiker und Myſtiker des Mittelalter’s kamen überhaupt nicht auf den Gedanken, nach beſtimm - terer Fixirung der Lage des Paradieſes mittelſt geographiſcher218VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.Forſchung oder Speculation zu ſtreben. Jhnen floß irdiſches und himmliſches Paradies, einſtige Wohnſtätte Adams und Ort der zukünftigen Seligkeit unterſchiedslos ineinander. Wurde auch nicht, gemäß alexandriniſch-ſpiritualiſtiſcher Deutung, das Paradies als die reine Erde im reinen Himmel ganz ins Jenſeits verlegt und ſeinen vier Flüſſen eine allegoriſche Beziehung auf die vier Cardinaltugenden ertheilt (Origenes; ähnl. Ambroſius ꝛc. ); wurde es nicht als ein völlig jenſeitiges Behältniß ſeliger Geiſter, durch eine Feuerzone von unſrer Erde getrennt, vorgeſtellt (Tertullian): immerhin überwog bei Beſchreibung ſeiner Lage und Beſchaffenheit das myſtiſch-ſupra - naturale über das concrete geographiſch-hiſtoriſche Moment. Die Lage gen Oſten ſtand auf Grund von Gen. 2, 8 feſt; ihre nähere Beſtimmung blieb frommer Einbildungskraft überlaſſen. Theophilus von Antiochia, Ephräm, Euſebius von Emeſa, Severian, Chryſo - ſtomus ꝛc. rücken das ſelige Paradieſesland bis in die Mitte zwiſchen Himmel und Erde empor, theilweiſe mit der näheren Beſtimmung, daß drei Stufen oder Stockwerke des bis in den höchſten Himmel hineinragenden geheimnißvollen Aufenthaltsortes zu unterſcheiden ſeien, ferner mit der Angabe, daß die Sintfluthgewäſſer auch ſchon nur bis zur unterſten Stufe, dem einſtigen Sitze Adams, nicht hinanzureichen vermocht hätten, endlich mit mancherlei wunderlichen Muthmaaßungen betreffs der Namen und des Laufs der vier Flüſſe. Dieſe wurden in der Regel, übereinſtimmend mit Flav. Joſephus, auf Euphrat, Tigris, Nil (Gihon) und Ganges (Piſon) gedeutet, während Ephräm und Severian dem Ganges ſeltſamerweiſe den fern im Weſten ſtrömenden Jſter ſubſtituirten und die Verbindung der vier weit von einander entfernten Flüſſe mit ihrem gemeinſamen Quellſtrome auf unterirdiſchem Wege, durch hoch von oben zur Erde herabkommende unſichtbare Canäle vermittelt ſein ließen. Von dieſen Syrern, deren wahrſcheinlich durch altorientaliſchen Götter - berg-Sagen mit beeinflußte phantaſievolle Annahmen leicht die Zuſtim - mung Auguſtins und ſeiner Schule fanden, gieng das Weſentliche der Speculation, insbeſondere die Vorſtellung von einer faſt mond -219VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.hohen Lage des Paradieſes und einem unterirdiſchen Communiciren der vier irdiſchen Paradieſesſtröme mit ihrem himmliſchen Quellfluſſe, auf die abendländiſch-kirchliche Tradition des Mittelalters über. Nur verſchwand bei derſelben die Donau aus der Reihe der vier Ströme; Gihon und Piſon wurden auf Ril und Ganges gedeutet, und die Quelle Jenes (ſeit Beda dem Ehrwürdigen) ins Atlasgebirge, die des Letzteren in den Kaukaſus verlegt. Die Geſammtvorſtellung war ſo eine möglichſt ungeographiſche, das ohnehin ſchon ſchwer Voll - ziehbare der bibliſchen Schilderung bis zur Naturwidrigkeit ſteigernde geworden! Die abweichenden Meinungen Einzelner, z. B. der hie und da auftauchende ſpiritualiſtiſche Gedanke: die ganze Erdoberfläche ſei einſt das Paradies geweſen, bis die ſchrecklichen Wirkungen zuerſt des Sündenfalls dann der Sündfluth die Herrlichkeit dieſer urſprüng - lichen Wohnſtätte unſres Geſchlechts bis zur Unkenntlichkeit verwiſcht und vertilgt hätten, blieben unberückſichtigt. Hugo v. St. Victor verwirft die letztere Meinung beſtimmt und ausdrücklich.

Das Reformationszeitalter ließ zwar einige neue Vertreter dieſer den Paradieſesſchauplatz kühn über den ganzen Erdkreis aus - dehnenden Speculation erſtehen; ſo den St. Gallener Reformator Vadianus in ſeinem Abriß der drei Erdtheile (1534), den My - ſtiker Valentin Weigel, ſpäter im 17. Jahrhundert den ſpaniſchen Calatrava-Ritter Gonzalez de Sala und den Engländer Thomas Burnet; doch blieben dieſe Alle ſehr in der Minorität. Luther beſtritt dieſe Theorie, daß das Paradies der ganze Erdboden wäre, obſchon ihn eine gewiſſe natürliche Neigung zu ihr hinzog. Dem Texte, wonach es ein ſonderlich Ort und Raum ſei , wußte er nicht zu widerſprechen, bethätigte übrigens ein gewiſſes Streben nach Beſeitigung des überſchwenglich ſupranaturaliſtiſchen Charakters der kirchlich-traditionellen Theorie. Es galt ihm offenbar darum, die Lage Edens unſrem wiſſenſchaftlichen Begreifen näher zu rücken und geographiſch vorſtellbarer zu machen, wenn er es in den beglückteſten Gegenden des Morgenlandes, in Syrien oder Arabien etwa, oder vielleicht nach alter Sage auf dem Gebiete von Damaskus 220VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.ſuchte. Der Schwierigkeit wegen des gemeinſamen Urſprungs der vier Paradieſesflüſſe Euphrat, Tigris, Ganges und Nil, begegnete er durch die Auskunft: der Lauf dieſer Flüſſe erſcheine jetzt, wegen Zerſtörung der einſtigen Paradieſesgegend durch die grauſam ver - heerenden Waſſer der Sintfluth, gänzlich verändert, ihre früheren Quellorte und Betten nicht mehr erkennbar. Für die orthodoxe Ueberlieferung des Lutherthums wurden dieſe Annahmen Luthers in ſeinem großen Geneſis-Commentare auf lange hin maaßgebend; auch einzelne reformirte Schriftausleger, wie Sebaſtian Münſter, Wolfgang Musculus, ſchloſſen ſich ihnen an. Ein gewiſſes myſtiſch-ſupranatu - raliſtiſches Element, hervortretend namentlich in der geradezu geheim - nißvollen und wunderſamen Wirkung welche die Fluthgewäſſer bethätigt haben ſollen, erſcheint bei dieſer lutheriſchen Theorie offenbar noch in Kraft befindlich. Es kommt keinem ihrer Vertreter in den Sinn, daß es eine durch geographiſche Gelehrſamkeit und exegetiſchen Scharfſinn bedingte wiſſenſchaftliche Löſung des Problems der vier Flüſſe geben könne, wodurch das Paradies ganz in den Kreis be - kannter orientaliſcher Länder hereingezogen werde.

Einer ſolchen geographiſch realiſtiſchen Anſchauungsweiſe begegnet man zum erſten Male bei einem gleichzeitig myſtiſch und humaniſtiſch angeregten katholiſchen Ausleger der Reformationszeit, dem Auguſtinus Steuchus aus Gubbio (daher Eugubinus), päpſtlichem Bibliothekar und Titularbiſchof von Chiſamo auf Kandia ( 1550). Seine 1535 zu Lyon erſchienene Kosmopöia , eine Auslegung der drei Eingangskapitel der Geneſis, entwickelt zum erſten Male die von da an allmählig zu bedeutendem Einfluß gelangte ſ. g. Paſitigris - Deutung (Schat-el-Arab-Deutung) der Paradieſesflüſſe: dieſe ſeien als Mündungen eines größeren Stromes gedacht, und da das Goldland Chavila auf Arabien hindeute, müſſe dieſer Strom der vereinigte Euphrat und Tigris bis zu ſeiner Mündung in den perſiſchen Golf ſein; Piſon und Gihon ſeien als zwei beſondere Arme des mächtigen Stromes zu denken. Trotz der mehrfachen Unklarheit, woran dieſe Eugubinſche Theorie litt denn ſie wies nicht näher221VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.nach, welche Paſitigris-Arme (oder auch welche Zuflüſſe zu dem großen Strome) mit dem Piſon und Gihon gemeint ſeien, blieb auch den Nachweis dafür, daß gerade der an den Paſitigris an - ſtoßende Theil Arabiens den Namen Chavila geführt habe, ſchuldig fand ſie doch bald bei Auslegern verſchiedner Confeſſionen und Richtungen Anklang. 1)Das Nähere ſiehe in meiner Geſchichte der Beziehungen ꝛc. I, 634 ff., wo dieſe früher vielfach (z. B. bei W. Preſſel in dem ſonſt ſehr gründlich gearbeiteten Artikel Paradies in der Herzog’ſchen Realenc. ) verkannten Ver - hältniſſe zum erſten Male eine genauere Darſtellung erfahren haben.Durch die ſprachgelehrten Annotationen des Franz Vatablus (1545) bahute ſie ſich zu Calvin ihren Weg, deſſen gewaltige Autorität ſie bald zur herrſchenden Annahme in den reformirt-orthodoxen Kreiſen machte. Doch folgten ihr auch die an - geſeheneren Exegeten des Katholicismus (wie Pererius, Cornelius Janſen, Corn. a Lapide, Petavius, Merſenne), und ſelbſt einzelne Lutheraner ſchloſſen ſich ihr an; ſo Joh. Gerhard wenigſtens bedingter - weiſe, der Stettiner Gymnaſialrector Micrälius aber mit voller Entſchiedenheit. Der Letztere machte auch einen bemerkenswerthen Verſuch, das was Eugubin betreffs der beiden Paſitigris-Arme un - beſtimmt gelaſſen hatte, genauer zu präciſiren, indem er den Piſon für den Baſilius-Arm, den Gihon für den Maarſares-Arm (nach Ptolemäus) erklärte. Es geſchah dieß um dieſelbe Zeit, wo auf reformirter Seite Coccejus der betr. Schwierigkeit durch Aufſtellung der Conjectur zu begegnen ſuchte: Gihon und Piſon ſeien als beſon - dere Schat-el-Arab-Arme jetzt nicht mehr erkennbar, weil ſie im Laufe der Jahrtauſende allmählig den perſiſchen Golf ausgehöhlt und ſo den früheren mehrarmigen Strom zu einem mächtigen Meer - buſen erweitert und vertieft hätten.

Gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts trat dieſer Paſitigris - Hypotheſe, welche den Garten Erden als eine flache Stromdelta - Landſchaft dachte, eine neue Theorie concurrirend zur Seite, welche vielmehr aus dem Paradieſe eine hochgelegene Berglandſchaft zu machen ſucht, ſofern ſie es in die Quellgegend des Euphrat und222VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.Tigris verlegt, den Gihon und Piſon aber in zweien irgendwo am Kaukaſus oder im armeniſchen Hochlande entſpringenden Flüſſen nahe dieſem oberen Laufe des meſopotamiſchen Doppelſtroms nach - weiſen will. Ein früheſter Keim dieſer Armenien-Hypotheſe war ſchon während der erſten Jahre der Reformationszeit bei dem gelehrten Züricher Konrad Pellicanus (1533) hervorgetreten, deſſen Muthmaßung, es möchten Gihon und Piſon wohl armeniſche Flüſſe ſein, übrigens noch an einer gewiſſen Unſicherheit litt. Beſtimmter verlegte der jeſuitiſche Geograph J. Fournier (um 1640) das Pa - radies in die Gegend um den Ararat oder auch nahe dem Süd - ende des kaspiſchen Meers. Jhm ſchloſſen zunächſt ſein Ordens - genoſſe Athanaſius Kircher (1656) und der lutheriſche Carteſianer Sam. Reyher in Kiel (1679) ſich an. Zu größerer wiſſenſchaftlicher Schärfe ſortgebildet erſcheint die Armenien-Hypotheſe zuerſt bei dem berühmten Utrechter bibliſchen Geographen und Archäologen Hadrian Reland (1706). Er deutete den Piſon beſtimmt auf den Paſis, den Gihon auf den Araxes, das Goldland Chavila aber auf Kolchis. Mit dieſer durch theilweiſe Gleichklänge der Namen begünſtigten Löſung eines alten Räthſels fand er ungemein vielen Beifall, zumal da die zu ſeiner Zeit ausgeführten Reiſen des Botanikers Tournefort nach Hocharmenien unwiderſprechliche Beweiſe dafür, daß nur hier, in der reich geſegneten Gegend zwiſchen Erzerum und Tiflis etwa, das Paradies gelegen haben könne, zu erbringen ſchienen. Scheuchzers Physica sacra verbreitete die ſo fortgebildete Theorie in reformirten, Calmets großer Bibelcommentar in römiſch-katholiſchen Kreiſen. Neuerdings haben auch viele lutheriſche Schriftforſcher von Anſehen ſich für dieſe Armenien-Hypotheſe als die annehmbarſte ausgeſprochen (Karl v. Raumer, Kurtz, Baumgarten, Keil, Franz Delitzſch), ſo daß ſie, da fortwährend auch gewichtige reformirte Stimmen für ſie eintraten (Zahn, J. P. Lange, von Rougemont) längere Zeit als Siegerin über die rivaliſirende Paſitigris-Deutung gelten konnte.

Jmmerhin hat auch die letztere bis in die neueſte Zeit hinein ihre Anhänger behalten (Rask, W. Preſſel, M Causland, Sayce,223VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.Vivien de St. Martin ꝛc.). Und in der That erſcheint die eine wie die andre dieſer beiden Theorien durch manche Umſtände begünſtigt, durch andre erſchwert, ſodaß man ſehr wohl zwiſchen ihnen zu ſchwanken veranlaßt werden kann. Nationale Sagen ſowohl der Armenier, als der Babylonier beanſpruchen das Paradies für ihre Heimathgegend; jene wollen, daß daſſelbe bei Edſchmiazin, dieſe daß es da, wo jetzt die Stadt Kornah liegt, unmittelbar am Zuſammen - fluſſe von Euphrat und Tigris, ſich befunden habe. 1)Ueber die Kurnah-Sage ſ. das jüngſt erſchienene Reiſewerk des engliſchen Publiciſten Grattan Geary: Through Asiatic Turkey, London 1879.Hätten nun die Aſſyriologen H. Rawlinſon, A. H. Sayce und Friedrich Delitzſch Recht, welche auf verſchiednen Wegen zur Vertretung eben dieſer Paſitigris - Theorie geführt wurden und auch keilinſchriftliche Beſtätigungen für die - ſelbe gewonnen haben wollen2)Auf Keilinſchriften des Brit. Muſeums behauptet Friedr. Delitzſch (laut ſ. Vortrag in der Leipz. Geſellſchaft f. Erdkunde am 28. Jan. 1878) die Namen Pisan und Guchan als Beziehung zweier Schat-el-Arab-Arme aufgefunden zu haben. Und zwar entſpreche der Name Pisan dem Pallakopas-Canal, der zu Alexanders d. Gr. Zeit dem Euphrat ſüdlich parallel lief, u. ſ. f. H. Raw - linſon identificirt Gan-Eden mit der keilinſchriftlich bezeugten babyloniſchen Land - ſchaft Kardunijas (Südchaldäa), als deren vier Flüſſe er den Euphrat, Tigris, Surappi und Ukni bezeichnet (vgl. Schrader, D. Keilinſchriften u. das A. T., S. 221 f.). Sayce ſucht, hierin wie es ſcheint einer ähnlichen Hypotheſe des franzöſ. Geographen Vivien de St. Martin folgend, einen jetzt vertrockneten weſtlichen Nebenfluß des Euphrat, der einſt aus Central-Arabien kam (entdeckt von Conſul Wetſtein 1865), als den Gihon der Geneſis zu erweiſen, während der Piſon = dem Paſitigris, d. i. dem Euläus ſei (Academy 1875, 20. March.), ſo wäre die Sache endgiltig entſchieden und jeder weitere Streit um ſie überflüſſig gemacht. Doch bleiben immer noch einzelne Bedenken zurück, vor allem die jetzige Beſchaffen - heit der Schat-el-Arab-Gegend, welche die Vorſtellung, daß hier einſt ein üppig reicher Naturſegen von der Art des im bibliſchen Paradieſesberichte geſchilderten ausgegoſſen geweſen ſei, zu erſchweren ſcheint; deßgleichen auch die Schwierigkeit, gerade vier ungefähr von Einem Punkte ausgehende Flußarme, wie ſie doch der bibliſche Text224VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.deutlich genug fordert, nachzuweiſen. Sowohl der verbindenden Canäle zwiſchen Euphrat und Tigris von Sippara an abwärts, als auch der bedeutenderen Nebenflüſſe bis hinab zum Ulai (Euläus) ſind mehr, als daß im Falle ihrer Zuſammenfaſſung mit den beiden Hauptſtrömen ſelbſt lediglich eine Vierzahl reſultirte. Gegen die Armenien-Hypotheſe in der Relandſchen Faſſung ſpricht, daß die Flüſſe Phaſis und Araxes-Cyrus, wenn ſie mit dem Piſon und Gihon gemeint ſein ſollten, weder nahe genug beim Quellorte von Euphrat und Tigris entſpringen, noch in Hinſicht auf Größe und ſonſtige Bedeutung denſelben irgendwie nahe kommen. Ferner fällt gegen dieſe Hypotheſe der meiſt nicht genügend beachtete Umſtand ins Gewicht, daß die nordarmeniſche Umgebung von Erzerum kaum noch als öſtlich (mikkédem, Gen. 2, 8) vom Standpunkte des bibliſchen Berichterſtatters gelegen betrachtet werden kann; Syrien, Meſopo - tamien, ſelbſt Aſſur-Babel (vgl. Jerem. 1, 23; 6, 22; 16, 15; Sach. 2, 10) gelten ſonſt den hebräiſchen Schriftſtellern als Länder nicht des Oſtens, ſondern des Nordens. Daß von der Ararat - gegend auch die zweite Ausbreitung des Menſchengeſchlechts, nach der Noachiſchen Fluth, ſtattfand, involvirt keinen Grund für die Annahme eines Ausgegangenſeins auch ſchon der vorſintfluthlichen Menſchheit von jener Gegend aus. Und ein ferner von vielen Vertheidigern der Armenien-Hypotheſe geltend gemachter Umſtand, daß nemlich unſre Hausthiere und Getreideſorten in jenen Gegenden ſüdlich vom Kaukaſus urſprünglich zu Hauſe ſeien, ſchließt eine thatſächliche Un - richtigkeit in ſich; nicht die obere Euphratgegend, ſondern die oberen und mittleren Umgebungen des Jndus dürften als Heimathland unſrer meiſten Hausthiere und beſonders unſrer Cerealien zu betrachten ſein.

Angeſichts dieſer Schwierigkeiten erſcheint es begreiflich, daß Verſuche zur Verlegung des Urſitzes der Menſchheit in irgendwelche vom Schauplatze der beiden bisher betrachteten geographiſchen Deu - tungsverſuche mehr oder minder entfernte Regionen neuerdings ver - ſchiedentlich gemacht worden ſind. Die bibliſche Grundlage wird bei dieſen Verſuchen, denen Erwägungen von bald mehr naturphilo -225VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.ſophiſcher, bald mehr geographiſch-ethnographiſcher Art zu Grunde zu liegen pflegen, vielfach ganz verlaſſen; jedenfalls wird ein theil - weiſe ſagenhafter, wonicht ein gänzlich mythiſcher Charakter des Berichts der moſaiſchen Urkunde vorausgeſetzt. Einige dieſer Spe - culationen tragen den Charakter bloßer Einfälle, die einer ernſthaften Beurtheilung ſich entziehen; ſo Haſſe’s ſeltſame, auf das Bdellium (Gen. 2, 12) geſtützte Begründung von Preußens Anſprüchen, als Bernſteinland das Paradies der Alten geweſen zu ſein. (Königsberg 1779); Credner’s Verſetzung des Paradieſes auf die kanariſchen Jnſeln mit ihren goldnen Hesperiden-Aepfeln; auch die auf das ſüdöſtliche Syrien und Nordoſt-Paläſtina, die Umgebung von Damaskus, lautende Hypotheſe, welche neuerdings, in An - lehnung an alte ſyrophöniciſche Sagen ſowie an die Vota früherer Gelehrten wie Clericus und Hardouin, hauptſächlich an L. Noack ſowie bedingterweiſe an J. Sepp Vertheidiger gefunden hat. 1)L. Noack, Von Eden nach Golgatha, 1868; S. 20 ff. J. Sepp, Meerfahrt nach Tyrus ꝛc. 1878, S. 107 ff.An - ſprüche darauf, als irgendwie bibliſch begründet zu gelten, kann dieſe Syrien-Hypotheſe unmöglich erheben; ſubſtituirt doch auch ſie der öſtlichen Lage Edens eine nahezu nördliche und den vier Paradieſes - flüſſen die ſyriſchen Gewäſſer des Jordan, Orontes, Chryſorrhoas und Leontes!

Einige neuere Deutungsverſuche halten die bibliſchen Angaben wenigſtens zum Theil als hiſtoriſch feſt, ſuchen aber den durch die vier Flüſſe, durch die Erwähnung von Kuſch, Chavila ꝛc. bezeichneten Schauplatz des Menſchheitsurſprungs nach irgend einer Richtung zu erweitern. So hatte Jul. Braun der auf Armenien kautenden Hypotheſe eine Erweiterung nach Weſten hin zu ertheilen verſucht, indem er neben Euphrat, Tigris und Araxes den Halys als vierten Paradieſesfluß bezeichnete;2)Jul. Braun, Ueber die älteſten bibl. Sagen; III: Vom Paradies, im Ausland 1861, S. 966 ff. damit wurde freilich geographiſch Un - mögliches und ethnologiſch ſehr Unwahrſcheinliches behauptet, zumalZöckler, Urſtand. 15226VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.es doch die Babylonier geweſen ſein ſollten, welche dieſe den Schwer - punkt des menſchlichen Urſitzes nach Weſten zu rückende Ueber - lieferung ausgebildet hätten. Ernſtlichere Erwägung verdient der bis auf J. D. Michaelis (1769) zurückgehende, durch Wahl, Hart - mann, Sickler, Hammer, Knobel, Bunſen ꝛc. aufgenommene und ver - ſchiedentlich weiter gebildete Verſuch, dem Paradieſesſchauplatz, wie Reland denſelben beſtimmt hatte, eine beträchtliche Erweiterung nach Oſten hin zu geben, und zwar dieß durch Beſtimmung des Fluſſes Gihon als des Oxus, deſſen arabiſcher Name in der That Dſchai - hun lautet, ſowie eventuell des Piſon als des Jndus oder auch als des Jaxartes. Bei der coloſſalen Ausdehnung des durch dieſe Beſtimmungen umſpannten Areals muß allerdings der ſtreng ge - ſchichtliche Charakter der bibliſchen Schilderung preisgegeben und ent - weder eine mehr nur ideale Geltung oder eine Beeinfluſſung der - ſelben durch ſagenhafte Vorſtellungen angenommen werden; wie denn auch mehrere Vertreter der Annahme (Buttmann, Ewald, Grill ꝛc. ) ein Wandern der Sage von Oſten nach Weſten zu be - haupten, das ſich in der angeblich ſpäteren Hinzugeſellung des Euphrat und Tigris zum Gihon und Piſon, d. h. zum Ganges und Jndus, verrathe. So gewagt dieſe letztere Annahme nun auch ſein mag: an manchen begünſtigenden Momenten fehlt es der Hypo - theſe im Ganzen nicht. Die Schönheit und üppige Fruchtbarkeit einer Gegend wie die von Kaſchmir legt von ſelbſt den Gedanken, daß hier der Garten Eden geweſen ſein müſſe, nahe; für einige Namen wie Piſon (Hyphaſis?), Chavila (Kapila?), Kuſch (Kuça) laſſen ſich überraſchende indiſche Gleichklänge nachweiſen. Jedenfalls würde, wenn man dieſe Ausdehnung des Paradieſes über das ganze ſüdliche Hochaſien von den Euphratquellen bis nach Vorderindien hin annehmen will, eine Lieblingsvorſtellung neuer Geographen zu vermeiden ſein: die nemlich, wonach ſpeciell das Pamer-Plateau, das ſ. g. Dach der Welt zwiſchen den Bergketten Belur Tagh und Hindukuh, für die Wiege der Menſchheit zu erklären wäre (Obry, Renan, E. v. Bunſen, Plank, Scharling, O. Wolff, Gordon, Se -227VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.menow, v. Kremer, Maspéro, v. Richthofen ꝛc.). Die Lage dieſes Hochlands iſt zwar eine ſehr centrale, aber doch viel zu hoch und zu unwirthbar kalt, als daß anders als bei gleichzeitiger Voraus - ſetzung des bedeutendſten klimatiſchen Wechſels ein Ausgegangenſein der Menſchheit von hier aus behauptet werden könnte. 1)Einen ſolchen Klima-Wechſel ſtatuiren freilich mehrere Vertreter der betr. Annahme. A. de Quatrefages (Das Menſchengeſchlecht, I, 205) treibt die For - derung, daß ein derartiger Wechſel vorausgeſetzt werde, ſo weit, daß er geradezu eine Region Nordaſiens, ſei es die Mongolei, ſei es Sibirien in der Mammuth - periode, als das muthmaaßliche Schöpfungscentrum der Menſchheit zu bezeichnen wagt.Auch iſt die Pamer-Hochebene Quellgegend nur Eines beträchtlicheren Fluſſes, des Oxus, und man verwirrt ſich in Abenteuerlichkeiten, wenn man dieſe oder jene kleineren in der Nähe entſpringenden Flüſſe mit herbei ziehen will. 2)Wie der Ruſſiſche Gelehrte Semenow das verſuchte, indem er Oxus, Talas, Sarafſchan und Varſaminar als die vier dem Pamer-Paradieſe ent - ſtrömenden Flüſſe betrachtet wiſſen wollte! Vgl. Globus, 1873, S. 349.Weiter nach Süden zu wird man ohnehin durch jene indiſchen Namen-Anklänge gewieſen; und was vor Allem auch für Vorderindien, die mittlere Jndus - und Ganges-Gegend oder die Länder ſüdl. und ſüdweſtl. vom Himalaya ſpricht, iſt der ſchon oben berührte Umſtand, daß gerade dieſe reichgeſegnete Gegend als Urſitz unſrer meiſten Culturpflanzen, insbeſondere der Cerealien, dieſer vornehmſten Hebel menſchlicher Culturentwicklung zu gelten haben dürfte. 3)Siehe hiefür beſonders G. Gerland, Anthropologiſche Beiträge, Halle 1874, I, S. 100 ff; S. 131 ff. Man kann, wenn man dieſe geographiſchen und natur - hiſtoriſchen Erwägungen als entſcheidend zu Gunſten einer vorder - indiſchen Lage des Paradieſes anſehen will, immerhin zu jener Butt - mann-Ewaldſchen Hypotheſe, wonach die früher am Jndus ꝛc. haftende Paradieſesvorſtellung mit ihren ſemitiſchen Trägern nach den Euphrat - gegenden übergewandert und dort theilweiſe ungebildet worden wäre, zurückgreifen, und zwar dieß möglicherweiſe auch ſo, daß man die15*228VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.ſüdlicheren Euphratländer oder Babylonien als den Heerd, wo die Sage ihre letzte Ausbildung erhalten hätte, betrachtete, ſomit alſo die Jndien-Hypotheſe mit der Schat-el-Arab-Hypotheſe com - binirte. 1)So im Weſentlichen der Orientaliſt Fr. Hommel in ſeinem beim Orientaliſtencongreß zu Florenz 1878 gehaltenen Vortrage über die urſprüngl. Wohnſitze der Semiten (Augsb. allg. Ztg. 20. Septbr. 1878). Nur daß der - ſelbe nicht eigentlich Jndien, ſondern (unter Berufung auf A. v. Kremer’s Semitiſche Culturentlehnungen , Stuttgart 1875) die nordweſtlich von da gelegenen Gebirgsländer, etwa die Pamer-Hochebene, für den einſtigen Sitz der noch ungetrennten ariſch-ſemitiſchen Menſchheit hält, von wo aus dann der ſemitiſche Zweig durch Modien und die Gebirgsſchlucht von Holwân in die Eu - phrat-Tigris-Ebene gezogen ſei.

Auf jeden Fall wird bei dieſer oder einer ähnlichen Annahme der Connex mit dem bibliſch Ueberlieferten auf richtigere Weiſe ge - wahrt, als wenn man mit den Vertretern dieſer oder jener Mythen - hypotheſe die Lokalitäten, deren der bibliſche Bericht gedenkt, überhaupt ganz ins Fabelhafte verflüchtigt, Chavila irgend ein ſagen - haftes Goldland im Norden, den Gihon aber den Nil bedeuten läßt ꝛc., und ſo überhaupt die Abſurdität des Jnhalts der Sage, wie ſie jetzt lautet, darzuthun ſucht (Paulus, Eichhorn, Geſenius, Tuch, Bertheau, Schrader, Kuhl ꝛc.). Eine andere Weiſe des will - kürlichen Abgeheus von der Schriftgrundlage repräſentiren jene Speculationen neuerer Anthropologen oder Linguiſten über den Urſitz des Menſchengeſchlechts, welche in ihren darauf bezüglichen Muthmaaßungen ſich ausſchließlich durch ethnologiſche oder ſprach - geſchichtliche Wahrſcheinlichkeitsgründe zu Gunſten dieſer oder jener Region der jetzigen oder einer früheren bewohnten Erdoberfläche beſtimmen laſſen und dabei auf die, ohnehin als mythiſch betrachtete, bibliſche Ueberlieferung gar keine Rückſicht nehmen. Dahin gehört die Meinung derer, welche bald aus dieſem bald aus jenem be - ſonderen Grunde Amerika für die Urheimath des menſchlichen Ge - ſchlechts halten; ſo als einer der Erſten Bernard Romans ( 1784),229VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.dann Klaproth, de Gobineau, George Browne,1)Jn der phantaſtiſch abenteuerlichen, vielleicht ſcherzhaft gemeinten Schrift: Paläorama; oceaniſch-amerikaniſche Unterſuchungeu und Aufklärungen zur bibl. Urgeſchichte , Erlangen 1867. ſowie der jüngſt verſtorbene radikale Berliner Naturphiloſoph Ph. Spiller, der ſich darin gefiel, ſpeciell Grönland für den wahrſcheinlichen Entſtehungsort der Menſchheit zu erklären, weil die Hochgebirge und die Polar - gegenden nach einer hinreichenden Abkühlung des Erdkörpers zuerſt bewohnbar geweſen ſeien. Ferner gehört hieher die auf Europa, als den Erdtheil wo der ſtupide Affe ſich zuerſt (im Kampf mit den Unbilden eines kalten Klima) zum denkenden Menſchen fort - gebildet hätte, lautende Hypotheſe Mor. Wagners, ſammt ihren verſchiednen Abwandlungen, welche bald Steiermark zur Zeit der Braunkohlenbildung (Unger), bald Deutſchland (L. Geiger), bald Skythien oder Südrußland (J. G. Cuno, Spiegel), bald die aus - gedehnte weſtpreußiſche Sumpfregion zwiſchen Dniepr und Niemen (Poeſche), bald Mitteleuropa ohne nähere Beſtimmung (Latham, Benfey, Whitney ꝛc. ) als muthmaaßliche Urheimath wenn nicht unſres Geſchlechts überhaupt ſo doch der dominirenden indogermaniſchen Race anſehen. Aehnlich ſind die auf Afrika als Urſitz der Menſch - heit rathenden Speculationen Mehrerer zu beurtheilen, z. B. Dar - wins und Huxleys, wegen ihrer Herleitung des menſchlichen Stamm - baumes von den ſchmalnaſigen Affen Gorilla und Chimpanſe; auch Osc. Peſchels, Leo Reiniſch und Robert Hartmann’s. 2)Vgl. O. Peſchel, Neue Probleme der vergl. Erdkunde 1869 (wo zwiſchen Centralafrika und Hinterindien als menſchl. Urſitze die Wahl gelaſſen iſt); Leo Reiniſch, Der einheitliche Urſprung der Sprachen der alten Welt, ꝛc. Wien 1873; Rob. Hartmann, Die Nigritier, Bd. I, 1876 die beiden Letzteren theils aus linguiſtiſchen theils aus ethnologiſchen Gründen für Centralafrika. Unter den der Deſcendenzlehre ergebenen Zoologen und Ethnologen hat jüngſt die Lemurien-Hypotheſe (ſ. oben, Nr. IV) beſonders ſtarken Anhang gefunden (Häckel, Osc. Schmidt, v. Hellwald, Alb. Heim, Thomaſſen, ꝛc. ꝛc.). Einiges Geologiſche, Thier - und Pflanzengeo -230VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.graphiſche ꝛc. mag dieſes moderne Seitenſtück zur alten Sage von der verſunkenen Atlantis allerdings zu begünſtigen ſcheinen; die Pa - puas auf Neu-Seeland zeigen Aehnlichkeiten mit den Negern Afrikas, die Schmetterlingsfauna der oſtafrikaniſchen Küſtenländer ſcheint faſt dieſelbe zu ſein wie die oſtindiſche; auch der botaniſchen Berührungen zwiſchen Südindien und Auſtralien einerſeits und zwiſchen Mada - daskar und Südafrika andrerſeits liegen manche vor. Dennoch ent - ſcheidet das Urtheil des bedeutendſten Zoographen (Wallace, ſiehe a. a. O.) gegen die Hypotheſe als eine überflüſſige und unnöthige. Ein unklarer mythiſcher Nebel lagert über dieſem angeblich ſeit dem Ende der Tertiärzeit verſunkenen ſüdindiſch-afrikaniſchen Continent, der ſchon bei alten Geographen (Ariſtoteles, Seleucus, Hipparch?) ſowie dann bis tief in die neuere Entdeckungsgeſchichte hinein als ein geſpenſterhaftes Auſtralland ſpuckte, ohne doch je verificirt wer - den zu können. Wollte man der Häckelſchen Annahme, daß hier im tertiären Zeitalter die Umwandlung der anthropoiden Affen in Men - ſchen ſich vollzogen hätte, etwa mit gewiſſen auf einſtige Menſchheits - ſtammväter lautenden Sagen der alten Jnder zu Hilfe kommen, ſo iſt einzuwenden, daß dieſe Sagen, ſoweit ſie ſich nicht ins Bereich ganz und gar poetiſcher Fictionen verlieren, höchſtwahrſcheinlich die in Thierfelle gehüllten Urbewohner Jndiens unter dem Bilde von Affen (Hanuman mit ſeinem Heere) verſpotten ſollten, ſowie ferner, daß Affenmenſch-Mythen ſich keineswegs bloß in der näheren Um - gebung des hypothetiſchen Urfeſtlandes Lemuria, ſondern theilweiſe recht weit davon entfernt, bei centralamerikaniſchen Stämmen, im buddhiſtiſchen Tibet ꝛc. finden. 1)Vgl. überhaupt Tylor, Anfänge der Cultur, I, 370 377, wo eine reichhaltige Zuſammenftellung von Nachrichten über dieſe verſchiednen Affenmenſch - Sagen Afiens, Afrika’s und Amerika’s gegeben iſt.Confuſe Sagen dieſer Art können überhaupt um ſo weniger im Dienſte darwiniſtiſcher Doctrinen ver - werthet werden, da ihre Tendenzen verſchiedner Art ſind; etwa die Hälfte von ihnen läßt die Menſchen veredelte und vervollkommnete231VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.Affen ſein, die andre Hälfte aber ſtellt die Affen als entartete oder verwilderte Menſchen dar. 1)Tylor, a. a. O; auch A. Baſtian, Die Völker des öſtl. Aſiens, III, 435, und: Die deutſche Exped. an der Loangoküſte II, S. 185.

Schon in mehreren der bisher aufgezählten Hypotheſen wird an die Annahme eines doppelten oder mehrfachen Urſitzes des Menſchengeſchlechts geſtreift; ſo wenn Peſchel zwiſchen Afrika und Hinterindien als gleicherweiſe möglichen Ausgangspunkten menſch - licher Entwicklung ſchwankt, oder wenn Andre theils die Jndus - theils die Euphratlande als Urheerde der Culturbewegungen be - trachten und daher ein Ueberwandern der Sage aus den erſteren nach den letzteren ſtatuiren. Es iſt nur Ein Schritt von hier bis zur völligen Preisgebung der Ureinheit des Geſchlechts oder zur Statuirung zweier mehr oder minder von einander entlegener Urſitze. Der Coadamitismus iſt fertig, ſobald man bis zu einer ſolchen Annahme fortſchreitet; tritt aber obendrein die Vorausſetzung, daß das eine der beiden Adamitengeſchlechter eine geraume Zeit vor dem andren ins Daſein getreten ſei, noch hinzu, ſo ſteigert ſich das Ab - weichen von der bibliſchen Grundlage bis zum Präadamitismus, oder gar, falls eine Vielheit von Menſchenarten, nicht bloß Eine, als dem bibliſchen Adamsgeſchlecht vorausgehend gedacht wird, bis zum Polygenismus (polygeniſtiſchen Präadamitismus) oder Au - tochthonismus.

Es liegt nicht in unſrer Abſicht, auf die Geſchichte und Literatur dieſer neuen Reihe unbibliſcher Speculationen, wovon ſchon im Mittelalter einzelne Vorläufer auftraten und deren dann ſeit Theo - phraſtus Paracelſus, Cäſalpin und Jſaac de la Peyrère (1655) eine große Zahl und Mannigfaltigkeit ſich ausgebildet hat, hier näher einzugehen. 2)Siehe meinen Vortrag: Peyrère’s Präadamiten-Hypotheſe , in der Ztſchr. für die geſ. luth. Theol. und Kirche 1878, I, 28 ff, und: Geſch. der Bezie - hungen ꝛc. passim (beſ. I, 545 ff; II 768 ff.).Nur diejenigen neueren Theorien dieſer Art, welche auf den bibliſchen Bericht über Adam und das Paradies232VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.irgendwelche nähere Rückſicht nehmen und ſich der Urgeſchichte der h. Schrift ſoviel als dieß möglich anzupaſſen ſuchen, mögen hier noch kurz beſprochen werden.

Einige dieſer Condamiten - oder Präadamiten-Theorien wir können die beiden Namen unbedenklich als gleichbedeutend gebrauchen, weil faſt ſtets zwiſchen den verſchiednen Adamitengeſchlechtern, die man annimmt, auch ein Altersunterſchied ſtatuirt zu werden pflegt begnügen ſich mit Verdopplung des Menſchheits-Stammelternpaars, laſſen alſo ſämmtliche Racen des Menſchengeſchlechts von zwei Ur - racen, und zwar die hellfarbige kaukaſiſche (ariſch-ſemitiſche oder mittelländiſche) Race vom Adam der h. Schrift, die Geſammtheit der dunkelfarbigen Menſchheitstypen aber von einem älteren Stamm - vater herrühren. Es findet dabei Anlehnung ſtatt einerſeits an das 4. Kapitel der Geneſis, wo angeblich ſchon Spuren vom Bewohnt - ſein eines Theils der Erde durch Menſchen vor-adamiſcher Abkunft zu Kains Zeit enthalten ſein ſollen, andrerſeits an jenes bekannte Lieblingsdogma neuerer Ethnologen, wonach alle Menſchen cultur - geſchichtlich betrachtet in zwei Racen zerfallen: eine dunkelfarbige paſſive, welche zu höheren Culturfortſchritten abſolut unfähig ſei und die ſ. g. Aboriginer der meiſten Länder in ſich ſchließe, und eine active civiliſationsfähige Race, beſtehend in den verſchiednen Zweigen der kaukaſiſchen Menſchheit. 1)Erſte Begründung dieſer Lehre von einer activen und einer paſſiven Race bei Peyroux de la Cordonniere, Mémoires sur les sept espèces des hommes, Paris 1814. Jhm folgten dann Graf Gobineau, Klemm, Waitz, H. Wuttke u. ſ. f.Ein Hauptvertreter dieſer monoge - niſtiſchen Form des Präadamitismus iſt der anonyme Verfaſſer einer 1860 erſchienenen Urgeſchichte (Genesis) der Erde und des Menſchen , welche der gelehrte Reginald Stuart Poole bevorwortete und herausgab. Er läßt die paſſive Menſchheit, beſtehend in Ne - gern, Negritos, Papuas, überhaupt in den dunklen Urbewohnern aller Länder, mehrere Jahrtauſende vor der weißen oder activen Race im äquatorialen Afrika durch einen ſchwarzen Ur-Adam ihren233VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.Anfang nehmen, den bibliſchen Adam aber in der Quellgegend von Euphrat, Tigris ꝛc., mithin als Urkaukaſier ins Daſein treten. Die meiſten dermaligen Völker, insbeſondere alle vom mongoloiden und malayſchen Typus, betrachtet er als Miſchungsproducte aus jenem dunklen Wurzelſtocke der Menſchheit und aus der helleren Race, welche als edleres gottbildliches Propfreis demſelben ſpäter auf - gepfropft wurde. Die Bibel läßt er in Stellen wie Gen. 3, 16; 4, 1 ff; Pſ. 49, 1 f; 62, 9; Jeſ. 2, 9 den Unterſchied zwiſchen der dunklen Urrace und der von Adam entſtammten, durch die Be - nennungen īsch und ādām (d. i. paſſive und active Menſchheit ) andeuten. Später meinte er, unter Berufung auf H. Rawlinſon und G. Smith, auch in babyloniſchen Keilinſchrifttexten eine Hin - weiſung auf den betr. Gegenſatz entdeckt zu haben; die dunkle Race werde auf denſelben durch den Namen adamu, die hellere durch sarku bezeichnet. 1)The Genesis of the Earth and of Man etc. Edited by R. St. Poole. Sec. Edition, Lond. and Edinb. 1860. Vgl. den auf die angeb - lichen adamu und sarku babyloniſcher Keiltexte bezüglichen Artikel deſſelben Verfaſſers im Athenaeum 1876, 8. Jan., p. 55.Jn etwas abweichender Art geſtaltet ſich die An - nahme eines Doppel-Urſprungs der Menſchheit bei Ernſt v. Bunſen, deſſen abenteuerliches Buch Die Einheit der Religionen (1868) von der Vorausſetzung aus, daß in dem bibliſchen Adam und ſeiner Nachkommenſchaft eine hamitiſche (kuſchitiſche) und eine japhetiſche Urrace zuſammengefloſſen ſeien, geſchrieben iſt; ferner bei dem Leip - ziger Geſchichtsphiloſophen Konrad Hermann (1870), welcher zwei Urſitze der Menſchheit, einen in Hochaſien für die hellfarbige active Urrace, und einen im ſüdlichen Hochafrika für die ſchwarze paſſive Urrace annimmt. 2)E. v. Bunſen, Die Einheit der Religionen ꝛc. I, 1898. K. Her - mann, Philoſophie der Geſchichte, Leipzig 1870.Wieder anders der engliſche mythologiſche For - ſcher C. F. Keary (1878), der zunächſt nur aus den Paradieſes - ſagen des[M]ittelalters die Wahrſcheinlichkeit eines doppelten Para - dieſes: eines öſtlichen hochaſiatiſchen und eines weſtlichen oder234VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.transatlantiſchen, zu gewinnen ſucht; die chriſtlich-kirchliche Sage verlege ihr Paradies in den fernen Oſten, eine urheidniſch-mytholo - giſche celtiſchen oder iberiſchen Urſprungs aber das ihrige (die Wonne-Jnſel Flathinnis mit ihrem ewigen Frühling, oder auch die Atlantis griechiſcher Sagen) in den fernen Weſten, in den Schooß des atlantiſchen Oceans. 1)Ueber Keary’s Vortrag: On the earthly Paradise of European Mythology, vgl. Academy, 7. Dec. 1878, p. 547. Ueber alte Sagen von einem Weſt-Paradieſe ſ. auch Tylor II, 61. 63 ff. Zahlreicher, obſchon auch unter ſich keineswegs ganz einig, ſind die Vertreter des polygeniſtiſchen Präadamitismns, welche etwa mit Schelling vier getrennte vor - adamiſche Urracen: die der Neger, Mongolen, Amerikaner und Malayen ſetzen und dieſen alsdann den bibliſchen Adam als idealen Urmenſchen, der die zerſtreuten Menſchheitselemente in ſich als höherer geiſtiger Einheit geſammelt habe, folgen laſſen; oder welche mit der nordamerikaniſchen Anthropologenſchule von Morton, Nott und Gliddon die Zahl der radikal verſchiednen menſchlichen Familien, die dem kaukaſiſchen Adamsgeſchlecht vorausgegangen ſei, auf minde - ſtens 30, wo nicht gar auf über 100 ſteigern; oder welche mit dem maaßvoller und in etwas ſtrengerem Auſchluß an die Bibel ſpeculi - renden Dominick M’Causland (1864) drei Hauptracen oder - Arten von Menſchen: Mongolen, Neger, Kaukaſier, daneben aber noch einige andre, minder bedeutende autochthone Racen ſtatuiren. 2)Siehe beſonders Dom. M’Causland, Adam and the Adamite, or the Harmony between Scripture and Ethnology (London 1864; 3. edit. 1872, und vgl., was deſſen Vorgänger (Schelling, Philoſ. der Mythologie; Morton, Nott ꝛc. ) ſowie ſeine Nachfolger wie W. Woods Smyth (1874) u AA. betrifft, meine oben angeführten Schriften.

Von irgendwelcher bibliſchen Begründung ſolcher Theorien kann im Grunde nicht die Rede ſein, mag immerhin die Geſchichte Kains, insbeſondere deſſen Furcht vor Todtſchlägern und Heirath im Lande Nod (Gen. 4, 14 ff), einen gewiſſen Anhaltspunkt für ſie zu bieten ſcheinen. Die h. Schrift will offenbar dieſe Tendenz gibt ſie235VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.im Schöpfungsbericht, und ſtärker faſt noch in der Sintfluther - zählung, aufs Nachdrücklichſte zu erkennen alle Völker und Ge - ſchlechter der Erde von Einem Urſprunge herleiten und als Eine große Familie darſtellen (vgl. oben III). Nicht erſt Paulus ſetzt Ein Blut als gemeinſamen Urgrund und Ausgangspunkt aller Menſchengeſchlechter, nicht erſt er ſtellt dem Einen Chriſtus Einen Adam, dem Einen Menſchheitsretter Einen Menſchheits-Vater und zugleich - Verderber gegenüber. Chriſti Stellung zur bibliſchen Ur - geſchichte iſt, wie aus ſeiner Erwähnung des Blutes Abels (Matth. 23, 35) und aus Stellen wie Joh. 3, 6; 10, 16; 17, 24 ſich ergibt, durchaus keine andre, als diejenige Pauli. Die bibliſche Urgeſchichte aber kennt, trotz der Doppelheit der ſie zuſammenſetzen - den Urkunden, der elohiſtiſchen und der jehoviſtiſchen, doch ſchlechter - dings nur Einen Menſchheitsurſprung, nur Ein Paradies, nur Eine allvertilgende Fluth, nur Eine Familie ſethitiſcher Abkunft als durch die Fluth hindurch gerettete Wiederherſtellerin des Menſchengeſchlechts. Es ſind höchſt wunderliche exegetiſche Experimente, wodurch der zahmere Präadamitismus, z. B. des St. Poole’ſchen Anonymus oder der M’Causlandſche, den Ruf der Orthodoxie zu wahren ſuchen. So jene Speculation über īsch und ādām als die paſſive und die active Menſchheit bedeutend; ſo die Beſchränkung des Er - ſchaffenwerdens nach Gottes Bilde Gen. 1, 26 auf den jüngeren oder weißen Menſchheitsſtammvaters Adam, während die früheren Stammväter nicht gottbildlich erſchaffen ſeien; ſo die Faſſung der Sintfluth als eines lediglich über die Adamiten ergangenen Straf - gerichts, die Deutung des pauliniſchen Ausdrucks von Einem Blute (Apg. 17, 26) auf die allmählig eingetretenen Miſchungen oder Kreuzungen adamitiſcher mit präadamitiſchen Geſchlechtern, u. dgl. m. Richten ſich derartige bibliſche Beweisführungen ſchon von ſelbſt, ohne nähere Widerlegung, ſo hat auch das zu fernerer Beſtätigung herbeigezogene Zeugniß der babyloniſch-aſſyriſchen Keilinſchriften bereits gewichtigen Widerſpruch von aſſyriologiſcher Seite erfahren. Friedr. Delitzſch, Oppert ꝛc. bezeichnen die Deutung der adamu236VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.und sarku auf eine dunkle und weiße Race als etwas höchſt Pre - cäres. 1)Friedr. Delitzſch, in ſeiner deutſchen Bearbeitung von G. Smith’s Chaldä. Geneſis, Leipz. 1876, S. 301 f. Was aber vor Allem die hier in Rede ſtehenden Theo - rien als gewagte Combinationen charakteriſirt, das iſt ihre unzu - reichende Begründung in ethnologiſcher Hinſicht. Es iſt eine Halbheit, wenn man ſämmtliche nichtweiße Menſchheitstypen der kaukaſiſchen oder japetiſchen Race gegenüber zu nur Einer Race zuſammenfaßt; die Kriterien der Sprache, des Haarwuchſes, der Hautfarbe, Schädel - bildung fordern gebieteriſch ein viel weitergehendes Theilungsver - fahren. Jſt demnach der dualiſtiſche Standpunkt jenes Anonymus und der übrigen monogeniſtiſchen Präadamiſten nothwendig als un - haltbar preiszugeben, ſo genügt es doch M’Causland ſelbſt geſteht dieß ja zu noch lange nicht, zur Annahme dreier Urpaare, eines afrikaniſchen, eines mongoliſchen und eines kaukaſiſchen, fortzu - ſchreiten. Auch die Blumenbachſche Fünfzahl von Racen, mit welcher Schelling auszukommen gedachte, iſt durch die neuere ethnologiſche Forſchung als unzureichend dargethan. Und daß weder Prichard’s Siebenzahl von Racen, noch die Achtzahl von Culturmittelpuncten, welche ein geiſtreicher Eſſayiſt im Auslande vor einiger Zeit an - nehmen wollte, als allen Anforderungen eines ſtreng wiſſenſchaftlichen Claſſificationsverfahrens entſprechend gelten können, das ergibt ſich wenn auch nicht aus der willkürlich zuſammengeſchichteten Unzahl von Menſchenſpecies in Mortons Crania Americana oder in den Types of Mankind , ꝛc. doch aus den Nachweiſungen des Wiener Sprachgelehrten Fr. Müller, der, wie ſchon früher bemerkt wurde, die Unterſcheidung von nicht weniger als 78 Sprachſtämmen für nothwendig erklärt, oder des nach ähnlichen Geſichtspunkten ein - theilenden Häckel, deſſen Schöpfungsgeſchichte in ihren letzten Auf - lagen bekanntlich 12 Menſchenſpecies, und zwar dieſe als in 36 Racen zerfallend, annimmt. 2)Häckel, Natürl. Schöpfungsgeſchichte, Vortr. XXIII z. E. (Syſtemat. Ueberſ. der 12 Menſchenſpecies nebſt ihren 36 Raſſ en).

237VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.

Und dennoch läßt gerade der letztgenannte Forſcher alle dieſe weit auseinander gehenden Gruppen oder Aeſte der Menſchheit auf einen gemeinſamen Urſprung, nähmlich ſeinen darwiniſtiſchen Vor - ausſetzungen gemäß auf ein im hypothetiſchen Lemurien zur Tertiär - zeit aus anthropoiden Affen entwickeltes Geſchlecht von noch ſtummen Urmenſchen (Alalen, Pithekanthropen) zurückgehen! Jm engeren Sinne alſo leugnet er, im weiteren Sinne aber behauptet er die Einheitlichkeit des Menſchheitsurſprunges! Aehnlich müſſen im Grunde alle darwiniſtiſchen Anthropologen urtheilen, falls ſie con - ſequent im Sinne ihrer Grundanſchauung verfahren wollen. Es iſt zwar eine bei den Vertretern dieſer naturphiloſophiſchen Schule keineswegs ſeltne, aber doch eine ungeheuerliche Combination, wenn Beides miteinander behauptet wird, die Deſcendenz des Menſchen vom Affen und der artlich getrennte Urſprung der Neger, Ameri - kaner, Europäer, Malayen ꝛc., ſo daß demnach die Metamorphoſe der Menſchenaffen in Affenmenſchen wie durch ein geſteigertes Zufalls - wunder auf verſchiednen Schauplätzen zumal ſich zugetragen hätte! 1)Ueber Vogt, Schaaffhauſen, Caspari, v. Jhering, Fr. Müller u. AA. als Vertreter dieſer Combination von Darwinismus und Polygenismus ſ. m. Geſch. der Bez., II, 773 f.Da, wo ſonſt alles Gewicht auf das Moment der Abſtammung und Vererbung gelegt, wo in unbegrenztem Genealogiſirungstriebe auch das einander Unähnlichſte und am weiteſten voneinander Ent - legene auf Einen Stamm zurückgeführt wird, wird doch die An - nahme eines mehrfachen Menſchheitsurſprungs für nöthig erklärt und zum Agaſſiz’ſchen Gleichniſſe von den wälderweiſe entſtandenen Fichten, bankweiſe entſtandenen Häringen, heerdenweiſe entſtandenen Büffeln, rudelweiſe entſtandenen Hirſchen ꝛc. zurückgegriffen! Es iſt kaum nöthig, die arge Jnconſequenz und Verkehrtheit eines ſolchen Verfahrens näher darzuthun. Gerade die angeſehenſten Vertreter der Schule, außer Häckel z. B. Darwin ſelbſt, Huxley, Wallace ꝛc. hüten ſich daher auch vor demſelben und halten das Ausgegangen -238VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.ſein ſämmtlicher Menſchenracen von Einem Urſitze, wenn auch nicht gerade von Einem Urpaare, für das überwiegend Wahrſcheinliche.

Die Leugner des einheitlichen Urſprungs verkennen hauptſächlich zwei Thatſachen von der höchſten Wichtigkeit, eine phyſiologiſch - entwicklungsgeſchichtliche und eine pſychologiſch-ethiſche. Sie ver - kennen, daß die Menſchheit aller Racen, Stämme und Völker das Vermögen einer fruchtbaren Kreuzung ihrer Repräſentanten unter - einander in unbeſchränktem Maaße beſitzt, alſo mit dem untrüg - lichſten aller Merkzeichen der Arteinheit ausgeſtattet iſt, wozu noch mehrere weitere wichtige Einheitskriterien phyſiologiſcher Art, als: gleichartige Skeletconſtruction aller Racen, gleiche Dauer der Schwangerſchaft, gleiche mittlere Pulsfrequenz, gleiche mittlere Normaltemperatur des Körpers, gleiche Erkrankungsfähigkeit, ſowie weſentlich gleiche mittlere Lebensdauer hinzukommen. Sie verkennen aber nicht minder auch die ſeeliſchgeiſtige Gleichartigkeit der Menſchen aller Racen, ihre ausnahmsloſe Zugehörigkeit zum Menſchheits - Reiche als einer ſolidariſchen Einheit höherer Beſtrebungen und idealer Jntereſſen. Das Gewicht dieſes letzteren Umſtands iſt manchen Ethnologen trotz ihres Studiums der vielfältigen und tief - greifenden Racendifferenzen und trotz ihrer polygeniſtiſchen Grund - anſicht doch als ein ſo erhebliches erſchienen, daß ſie bei Preisgebung der einheitlichen Abſtammung nichtsdeſtoweniger eine Art-Einheit unſres Geſchlechts behauptet haben (Waitz, Baſtian ꝛc.). Die Be - fähigung zur Theilnahme an jenen höheren geiſtigen Jntereſſen der Geſammtmenſchheit, zur Mitarbeit an den Aufgaben des Reiches des Geiſtes, iſt in der That durchgreifender Art; ſie fehlt ſelbſt da nicht, wo eine Jahrhunderte oder Jahrtauſende alte Verwilderung der Stämme den Lichtfunten gottebenbildlicher Würde faſt ganz verlöſchen gemacht hat. Manche dieſer zu thierähnlicher Rohheit herabgeſunkenen Naturvölker mögen, in Folge vielleicht eines uralten auf ihnen laſtenden Fluches, nicht mehr dazu beſtimmt ſein, vor ihrem Dahinſterben zur Theilnahme an den Segnungen chriſt - licher Heilsgemeinſchaft zu gelangen, die rettenden Bemühungen239VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.chriſtlicher Miſſionsthätigkeit mögen bei ihnen zu ſpät kommen. Daß es aber eine leichtfertigte Uebereilung iſt, im Allgemeinen von einer Unciviliſirbarkeit und religiöſen Erziehungsunfähigkeit der ſ. g. wilden Stämme zu reden, zeigt das ſchon oben hervorgehobne Bei - ſpiel der durch chriſtliche Einflüſſe neuerdings gezähmten und ge - hobnen Jndianerſtämme Nordamerika’s (VII, z. E.), zeigen ſolche glänzende Bekehrungsreſultate der Miſſion, wie die unter den ein - ſtigen Kannibalen der Fidſchi-Jnſeln, unter den Kolhs in Bengalen, unter den Negern auf Sierra Leone. Nathanaël Pepper, der 1860 getaufte Erſtling eines der verkommenſten jetzt aber bekehrten Ein - geborenen-Stämme der Victoria-Colonie in Neuholland; Ko-thabhyu, der einſtige Räuber, dann im Segen an der Chriſtianiſirung ſeines Volks arbeitende Karenen-Apoſtel; Tijo-Soga, der reichbegabte Kaffernprediger und Bibelüberſetzer; Samuel Crowther, der ſchwarze Biſchof und apoſtoliſche Held der Yoruba-Miſſion; Jakob Wain - wright, der aufopfernd treue Diener Livingſtones und Ueberbringer ſeiner ſterblichen Reſte nach Europa; die vier bekehrten jungen Feuer - länder, durch deren Vorführung Miſſionsbiſchof Stirling jüngſt ſelbſt bei Lubbock und Darwin einen lebendigen Eindruck von der Macht des Chriſtenthums hervorbrachte das ſind nur ſo einige der zahlreichen ſprechenden und unwiderſprechlichen Zeugniſſe, an welchen die bekannten Zweifel Gobineau’s und Andrer an der civi - liſatoriſchen Kraft des Chriſtenthums gegenüber den ſ. g. niederen Racen zu Schanden werden.

Es iſt ſtets nur Mißachtung der durch ſolche Thatſachen be - zeugten höheren Würde und Beſtimmung unſres Geſchlechts, was die ethnologiſchen Forſcher zu Zweiflern an der Einheitlichkeit ſeines Urſprungs macht. Man ſieht einſeitig auf das Aeußere, Sinnliche, mit Nothwendigkeit Zerſtückte und Getheilte, vergißt aber der all - umfaſſenden Einheit, der ebenſo untheilbaren wie unvergänglichen Geiſteskraft deſſen, was den Menſchen erſt wahrhaft zum Menſchen macht. Ein ſeit Jahrtauſenden im Schooße unſrer Entwicklung wirkſam gewordenes Princip der feindſeligen Differenzirung, der zu -240VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.nehmenden Zerklüftung und Zerſpaltung hat, was ohne die Ein - wirkung dieſes zerrüttenden Factors in Geſtalt harmoniſcher Unter - ſchiede ähnlich den Zweigen eines wohlgewachſenen Baumes oder den Gliedmaaßen eines wohlgebauten Leibes hervorgetreten ſein würde, zu ſchroffen Gegenſätzen geſteigert, welche eine Zurückführung auf die gemeinſame Ur - und Grundwurzel in vielen Fällen erſchweren, in manchen faſt unmöglich machen. Nur ſo kommt es, daß die Linguiſtik die oft zwiſchen notoriſch racenverwandten Stämmen klaffenden Sprachdifferenzen vielfach nicht auszugleichen vermag, daß der Schädelforſchung hundertfältige Schwierigkeiten ähnlicher Art ſich entgegenſtellen, daß die vergleichende Religionswiſſenſchaft, die Archäo - logie, die Völkerpſychologie immer wieder neuen Räthſeln begegnen, auf Grund deren die Menſchheit ſich in Atome zu zerſplittern droht. Die Sprachforſchung für ſich allein vermag dieſe den Menſchheits - körper dermalen zerſpaltenden Riſſe und Klüfte nicht auszufüllen, die vergleichende Anatomie für ſich allein ebenſowenig, die Völker - pſychologie und Religionsforſchung für ſich allein ebenſo wenig. Aber müſſen, können, dürfen denn dieſe Wiſſenſchaften jede abſtract für ſich und losgetrennt von den übrigen operiren? Steht irgend einer von ihnen, ſofern ſie auf ihre Hilfsmittel allein und aus - ſchließlich angewieſen iſt, ein Recht zu entſcheidenden Urtheilsſprüchen in einer ſo complicirten Frage wie die nach dem Urſprung unſres ſeit Jahrtauſenden über dieſe Erde ausgebreiteten Geſchlechts zu? Sahen wir nicht vielmehr ſchon im vorigen Abſchnitte an einer Reihe lehrreicher Beiſpiele, wie ſofort wenn die erforderliche Wechſel - wirkung eintritt, die ſcheinbare Verbindungsloſigkeit der Racen oder Stämme untereinander durch Gegeninſtanzen widerlegt zu werden beginnt, wie die Klüfte, welche das einſeitige Zuwerkegehen nur Einer jener Wiſſenſchaften aufzeigt, überbrückt und ausgefüllt werden? Eine Reihe uralter Opfergebräuche, Faſtenſitten und ſonſtiger Kaſteiungsweiſen, dazu die Beſchneidung, die Tätowirung, die Cou - vade, vielerlei weitverbreitete Formen des Aberglaubens, zahlreiche bei weit voneinander entlegenen Völkern übereinſtimmende Kunſt -241VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.traditionen, zeigen da einen genetiſchen Zuſammenhang auf, wo entweder die Sprachforſchung oder die Schädelforſchung für ſich allein rathlos vor unüberſteiglich ſcheinenden Abgründen ſtehen. Und gerade jenes dunkle Sündebewußtſein, jene unheimliche Dämonen - furcht, die ſich in mehreren der bedeutſamſten jener Gebräuche aus - drücken, geben die wahre Urſache zu erkennen, worauf der dermalige zerriſſene und zerſtückte Zuſtand der Menſchheit in letzter Jnſtanz beruht, weiſen alſo ebendahin zurück, wo die bibliſche Ueberlieferung mit ihren Berichten vom verlorenen Paradies, ſowie weiterhin von der Sintfluth und Sprachentrennung den Proceß des ſichausbreiten - den Völkerlebens beginnen läßt.

Steht es aber ſo um die Einheitsfrage, ſo iſt auch die Frage wegen des Urſitzes im Allgemeinen entſchieden. Darf die Bibel uns als Autorität gelten, wenn wir den Widerſtreit der Meinungen über Zahl und Urſprung der Menſchheitsracen im monogeniſtiſchen Sinne ſchlichten, ſo darf ihr Zeugniß uns auch maaßgebend für unſre Beſtimmung des Urſitzes dieſer Racen ſein. Daß dieſer Urſitz ein oſtwärts vom Heimathlande des Buchs der Offenbarung, irgendwo im ſüdlichen Aſien gelegener war, beſtätigen auch die erheblichſten ethnologiſchen und naturwiſſenſchaftlichen Jnſtanzen. Weder Südafrika noch Amerika, weder eine mythiſche Atlantis noch ein tertiäres Lemuria haben auch nur halb ſo gute Anſprüche darauf als Ausgangspunkt beider zuſammen, unſres Geſchlechts und der ihm überallhin folgenden Hausthiere und Cerealien, zu gelten, als das vom Euphrat weſtlich, vom Jndus oder Ganges öſtlich begrenzte Gebiet. Die Doppelparadieſe mittelalterlicher Sagen und neuerer geſchichtsphiloſophiſcher Speculation können kein Gewicht in die Wagſchaale werfen, ſo wenig wie jene individuellen Sagen einzelner älterer oder neuerer Völker, welche dieſe oder jene beſondere Gegend oder Stadt ihres Bereichs als einſtige Geburts - ſtätte der Menſchheit bezeichnen, irgendwie maaßgebend genannt werden können. Wollte man dieſe Ausgeburten des nationalſtolzen Autochthonenaberglaubens hier mitberückſichtigen, ſo würde das zuZöckler, Urſtand. 16242VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.unterſuchende Material ſich ins Unüberſehbare vervielfältigen; außer den obengenannten Paradieſesſagen und - hypotheſen wäre dann auch die Memphis für den Urſitz der Menſchheit erklärende ägyptiſche Sage zu beſprechen geweſen; ferner die Tyrus-Sage der Phönikier, die Hebron-Sage der Edomiter und eines Theils der ſpäteren Juden,1)Vgl. Joſ. 14, 25 Vulg., ſowie Hieronymus im Onom s. v. Arboch; ſonſt auch Lüken, S. 74; Sepp, Meerfahrt n. Tyrus, S. 107 f. die auf Arkadien oder Athen oder Delphi lautenden Sagen der Griechen, u. ſ. f. Die bibliſche Erzählung hat ſchon das für ſich, daß ſie nicht das Mindeſte von einer derartigen partikulariſti - ſchen Tendenz verräth. Jhrer oſtwärts weiſenden Haltung liegt nichts Andres zu Grunde als eine treue Stammesüberlieferung, die mit den nordwärts oder beziehungsweiſe nordoſtwärts weiſenden Angaben der indiſchen und der perſiſchen Paradieſesſage (vom Götterberge Meru oder Hara-Berezaiti [Albordſch], d. h. wohl dem Himalaya), ſachlich übereinkommt, und die überhaupt eine Erinnerung an die gemeinſamen Urzuſtände und Urſchickſale der geſammten ariſchen Menſchheit iſt. 2)Vgl. auch den Verſuch von S. Lipſchütz, gerade aus dem Zuſammen - ſtimmen vieler heidniſcher Sagen einen gemeinſamen Urſprung und Urſitz der Menſchheit zu erweiſen: De communi et simplici humani generis origine. Genus hum. uno ortum esse auctore communemque habuisse patriam ex diversorum populorum fabulis inter se consentaneis demonstrare conatus est. Hamburg. 1864.Beſtimmtere Fixirung der Stätte, von wo dieſe Erinnerung urſprünglich ausgegangen, iſt freilich unmöglich; weder die Angaben der Schrift ſelbſt noch irgendwelche außerbibliſche Jndicien reichen dazu die Mittel dar. Als Eden (Gen. 2, 8. 15) mag jenes ganze, mächtig weite Gebiet zwiſchen Ganges und Euphrat immerhin zu bezeichnen ſein: auf Beſtimmung der Lage des Gartens in Eden muß verzichtet werden. Die Annahme eines Wanderns der ſpeciellen Züge der Ueberlieferung von Oſten nach Weſten ſcheint manches für ſich zu haben; ſie würde aber weit beſtimmterer Anhaltspunkte als die zur Zeit vorliegenden bedürfen,243VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.um einen ſichren Aufſchluß auch nur darüber zu |gewähren, ob ihre letzte Ausbildung nahe der Quellgegend oder nahe den Mündungen des Euphrat erfolgte. Möglicherweiſe verhilft dieſe oder jene aſſyriologiſche Entdeckung zur endlichen Ueberwindung dieſes letzteren Dilemma; die im Uebrigen über der ganzen Schilderung des Para - dieſesgartens lagernde geheimnißvolle Unbeſtimmtheit, ihr auch durch die beiden Bäume, das Wandeln Gottes im Garten, die redende Schlange, die bewachenden Cherubim angedeuteter myſtiſch - ſupranaturaler Charakter würde aber damit doch nicht gehoben werden. Man laſſe ſich daran genügen, daß wenn nicht der Garten, doch die Landſchaft Eden hinreichend ſcharf umriſſen vor uns liegt. Luther traf auch in dieſer Frage den Nagel auf den Kopf: Darumb wollt ich alſo ſagen, daß der Luſtgarten irgend ein Ort ſei gegen dem Morgen, der nu verborgen oder vielleicht zuriſſen iſt, das Gott wohl weiß. Es muß aber faſt ein weiter Raum geweſen ſein, denn die Waſſer liegen mächtig weit von einander, ja ſchier gegen - einander. Darumb will ich meine Vernunft gefangen geben und dabei bleiben, daß es ein rechter natürlicher Garten ſei geweſen, wie noch möcht ein Luſtgarten ſein . 1)Erl. Ausg., Bd. 33, 73 f.

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VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen als Nachglanz der Paradieſesherrlichkeit.

Die heil. Schrift meint es ernſt mit ihrer Vorausſetzung einer urſprünglichen Unſterblichkeit des Menſchen, d. h. einer Beſtimmung deſſelben zu immerwährendem Leben in der Gemeinſchaft mit Gott. Sie läßt den durch die Sünde verwirkten Tod nur langſam den mächtigen phyſiſchen Widerhalt der urſprünglichen Menſchennatur durchbrechen. Nur allmählig im Laufe zweier Jahrtauſende läßt ſie die unheimliche Macht des Todes die gewaltige, zäh ausdauernde Urkraft menſchlichen Lebens bändigen, bis zu dem gegenwärtig er - reichten Zuſtande, wo unſer Leben währet ſiebenzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, ſo ſind’s achtzig Jahre, und wenn’s köſtlich geweſen iſt, ſo iſts Mühe und Arbeit geweſen . Wir haben die Daten, woraus die Thatſache dieſes bibliſch-urgeſchichtlich bezeugten allmähligen Depotenzirungsproceſſes ſich ergibt, bereits früher (II) überſichtlich zuſammengeſtellt. Drei Abſtufungen ſinkender Langlebigkeit führen vom paradieſiſchen Urſtande zur traurigen Gegenwart herunter. Die vorſintfluthlichen Makrobier halten ſich noch auf der Höhe von 1000 700 Jahren, die nächſten nach der Fluth noch auf der von von 600 180 Jahren, die Patriarchen Jsraels von Abraham bis auf Moſen bilden die letzte Reihe von Ultracentenariern. Wir werden der Kürze halber die Repräſentanten der erſten Stufe als Sethiten, die der zweiten als Noachiden, die der dritten als Abrahamiden bezeichnen.

Das in jenen ſtetig ſich mindernden Altersziffern ſeinen Aus -245VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.druck findende Geſetz iſt ein unerbittliches. Hie und da findet ein Uebergreifen der charakteriſtiſchen Ziffern der einen Reihe in die der andern, und zwar der zunächſt angrenzenden, ſtatt; aber erheblichere Ausnahmen kommen nicht vor. Kein Noachide erhebt ſich zum ſethitiſchen Minimalalter von 777 Jahren; kein Abrahamide erreicht die Normalgrenze von 200 Jahren, bis zu welcher (mit Ausnahme zweier Fälle) die Lebensdauer der Noachiden herabgemindert erſcheint. Jmmerhin ſcheint die zwiſchen 110 und 180 Jahren ſchwankende Altersgrenze der Abrahamiden vom Erzähler der Geneſis un - zweifelhaft als eine für die damalige Zeit noch vorherrſchend giltige Durchſchnittsziffer aufgefaßt in der jetzt noch andauernden Periode menſchlicher Geſchichte als ſeltener Ausnahmefall noch zeit - weilig in Kraft zu treten. Man hat dieß Jahrhunderte lang in aller Unbefangenheit angenommen und als wiſſenſchaftlich con - ſtatirten Erfahrungsſatz feſtgehalten. Neueſtens freilich ſind medi - ciniſcherſeits und hiſtoriſch-kritiſcherſeits Zweifel an der Thatſache, daß noch ſo beträchtlich hoch hinausgehende Ueberſchreitungen des hundertſten Lebensjahrs ſtattfänden, ausgeſprochen woden. Es bleibe, haben die Skeptiker behauptet, in Wahrheit ſchlechtweg bei jenem Worte des 90. Pſalmes, oder dem ähnlichen bei Jeſus Sirach 18, 9; das Corpus juris behalte vollkommen Recht mit ſeinem Grundſatze: Vivere usque ad centum annos quilibet prae - sumitur, nisi probatur mortuus ; nur ganz unerhebliche Ueber - ſchreitungen der darin gezogenen Altersgrenze ſeien wirklich conſtatirt. Da es nicht unwichtig erſcheint, daß das thatſächliche Verhältniß zwiſchen der Jetztzeit und den vormoſaiſchen Epochen beſtimmt feſt - geſtellt werde, werden wir vorerſt dieſe Zweifel mit dem vorher allgemein Angenommenen etwas genauer confrontiren. Alsdann erſt werden wir uns zur Beurtheilung der Frage nach der Glaub - würdigkeit jener ſtaunenswerth hohen Altersziffern der Urzeit ſowie ihrer wahrſcheinlichen Urſachen und heilsgeſchichtlichen Bedeutung wenden.

1. Als ungefährer äußerſter Zielpunkt menſchlicher Lebenslänge246VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.galt gerade den mediciniſchen Autoritäten der beiden letzten Jahr - hunderte bis vor Kurzem das 170ſte oder 180ſte Lebensjahr, alſo die abrahamidiſche Altersgrenze. Unter den Beiſpielen dafür figu - rirten regelmäßig in erſter Linie zwei im 17. Jahrhundert verſtorbene Greiſe Englands: Henry Jenkins aus Ellerton in Yorkſhire, geb. 1501, geſt. 1670, alſo 169 Jahre alt geworden, und Thomas Parr aus Winnigton in Shropſhire, geb. im Geburtsjahre Luthers und Rafaels 1483, geſt. 1635, 152 Jahre und 9 Monate alt. Als Gewährsmann für das vom Letzteren erreichte Alter ſtand kein Geringerer da, als William Harvey, der Entdecker des Blutkreis - laufs und größte Phyſiologe ſeines Zeitalters, der auf Befehl König Karls I. die Leiche des Verſtorbenen anatomiſch unterſuchte. Jenkins 169jähriges Alter bezeugte u. a. Dr. Tancred Robinſon, Mitglied des Collegs der Aerzte und der Royal Society zu London, in einem auf ihn bezüglichen Berichte in den Philoſophical Transactions . Dieſe beiden Fälle citirte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Albrecht v. Haller in ſeinem Adversaria als glaubwürdig über - lieferte Beiſpiele der äußerſten Grenze, bis zu welcher menſchliches Leben ſich etwa erſtrecken könne, unter Hinzufügung von ſechs ihm bekannt gewordenen Fällen eines 140 150jährigen Alters, ferner von fünfzehn Fällen 130 140jährigen, neunundzwanzig Fällen 120 130jährigen, ſechzig Fällen 110 120jährigen und über tauſend Fällen 100 110jährigen Alters. Ganz ähnlich wie Haller äußerte ſein Zeitgenoſſe Buffon ſich über unſern Gegenſtand; ſeine Natur - geſchichte gedenkt u. a. des durch einen Schweden erreichten Alters von 161 Jahren. 1)Buffon Histoire naturelle III, 443.Auf dem Standpunkte dieſer Annahmen ver - harrten Prichard in der Naturgeſchichte des Menſchen (1840), Balentin im Lehrbuch der Phyſiologie (1845), Flourens in ſeiner Abhandlung über die menſchliche Longävität (1855), Hufeland in der Makrobiotik , und zwar auch noch in deren ſpäteren Auflagen (z. B. der 8. von 1860), Friedreich in ſeinen bibliſch-mediciniſchen Unterſuchungen ( Zur Bibel , I. 1848) u. AA. Die Letzgenannten247VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.wagten ſogar einzelne noch über Jenkins hinausgehende Fälle von abnormer Lebenslänge anzuführen, ohne Skepſis dawider zu be - thätigen. So citirte Hufeland den im J. 1724 verſtorbenen Un - garn Pietraßz Czarten als 185 Jahre alt geworden. Friedreich fügte dem noch etliche weitere Fälle von mehr als 170jährigem Alter hinzu; ein Ungar zu Temesvar, welcher 1726 noch lebte, ſei 172 (ſeine gleichfalls noch lebende Frau 165) Jahre alt geweſen; ferner ein 1797 zu Friedrichsſtadt in Nordamerika verſtorbener Mulatte 180 Jahre; der 1738 verſtorbene Portugieſe Taveira de Lima ſogar 198 Jahre; endlich ſollten dem Zeugniſſe Riley’s zu - folge unter den Arabern in der Wüſte nahe an 200jährige Menſchen vorkommen . Uebereinſtimmend mit dieſen letzteren Angaben be - ſtimmte Flourens in jener Schrift, auf Grund gewiſſer angeblicher Verknöcherungsproceſſe in den Röhrenknochen, 100 Jahre als die gewöhnliche, 200 Jahre als die außergewöhnliche Lebensgrenze des Menſchen, und bekannte der Vegetarianer Eduard Baltzer in einem vor wenigen Monaten in 2. Auflage veröffentlichten Buche ſeinen Glauben an Beiſpiele, welche zeigen daß wir 150 bis 200 Jahre alt werden können, ohne unſre weſentliche Lebenskraft zu verlieren. 1)Hufeland, Makrobiotik, 8. Aufl., 1860, S. 89 ff. ; 128 ff. J B. Friedreich, Zur Bibel, I, 172 f. Flourens, De la longévité humaine et de la quantité de la vie sur le Globe. Paris 1855, p. 84. Ed. Bal - tzer, Gott, Welt und Menſch, 2. Aufl., Leipzig 1879, S. 255.

Vereinzelte Zweifel an der Richtigkeit ſolcher Annahmen waren ſchon früher hie und da in mediciniſch-naturwiſſenſchen Kreiſen laut geworden. So hatte der erwähnte Flourensſche Verſuch, ein feſtes phyſiologiſches Geſetz als den gelegentlich bis zu 200 Jahren ſich erſtreckenden Lebensdauern der Menſchen zu Grunde liegend nach - zuweiſen, ſeitens mediciniſcher Kritiker Widerſpruch gefunden, die ſich dabei auf Quetelets Meſſungen der menſchlichen Wachsthumsverhält - niſſe beriefen. 2)Siehe z. B. Jul. Wallach (Arzt zu Frankfurt a. M.), Das Leben des Menſchen in ſeinen körperlichen Beziehungen ꝛc., 2. Aufl. 1869, S. 503.Mit kritiſcher Schärfe nahm das ganze Thema248VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.zuerſt der engliſche Anatom Prof. Richard Owen in Angriff. Seinem in Fraſer’s Magazine 1872 erſchienenen Artikel über den Gegen - ſtand folgte im nächſten Jahre der gelehrte Bibliothekar des Houſe of Lords, William J. Thoms mit einer ausführlichen Monographie, die den Namen Owens auf dem Widmungsblatte und den Spruch Sir. 8, 9: Wenn er lange lebt, ſo wird er hundert Jahre alt als Motto auf dem Titelblatte trägt. 1)Human longevity; its facts and its fictions. By W. J. Thoms, Deputy Librarian, House of Lords. London 1873. 2. Edition 1879.Für die behufs genauerer Unterſuchung der Fragen wegen wirklich erreichter hoher Lebensalter anzuwendende Methode darf dieſe Thomsſche Arbeit jedenfalls als bahnbrechend bezeichnet werden. Sie ſtellt den maſſenhaften Berichten der Zeitungen über angeblich 110 130jährig verſtorbene Leute von vornherein die keckſte Skepſis entgegen. Jn der Regel ſei, je be - ſtimmter ein ſo hohes Alter behauptet werde, deſto weniger poſitive Begründung dafür vorhanden; die ſtatiſtiſchen Lebensalter-Tabellen, die Berichte der Lebensverſicherungsgeſellſchaften ꝛc. weiſen niemals Derartiges auf; vergebens frage man nach den Geburtsſcheinen der Perſonen, welche ſo hoch über das hundertſte Lebensjahr hinaus gekommen ſein ſollten, u. ſ. f.

Zu beſtimmterer Motivirung dieſer Zweifel hebt Thoms u. A. Folgendes hervor. Es ſei als etwas ſehr Gewöhnliches bezeugt, daß Leute, die einmal über 80 Jahre hinaus gelebt, wie in einer Art von Ungeduld die Uhr ihres Lebens vorzurücken , d. h. ſich für älter als ſie wirklich ſeien auszugeben liebten. Daß in ärmeren Volksklaſſen mehr als hundertjährige Lebensalter häufiger vorkämen, als bei wohlhabenden, dieſe oft gehörte Angabe ſei thatſächlich un - richtig; eher ſcheine das Gegentheil wahr zu ſein. Nicht einmal die Taufſcheine pflegten in Betreff des Geburtsdatums ſteinalter Leute eine völlige Gewißheit zu ergeben; ſie ſeien oft ganz unzuver - läſſige Zeugniſſe, wegen der naheliegenden Möglichkeit einer Ver - wechslung gleichnamiger Perſonen. So ſei 1863 eine angeblich über 112 Jahre alt gewordene Miß Mary Billinge in Liverpool ge -249VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.ſtorben, als deren Geburtsjahr man ſo lange das Jahr 1751 an - genommen habe, bis genauere Nachforſchungen in den Geburts - und Taufregiſtern jener Stadt ergaben, daß allerdings auch 1751, am 24. Mai, eine Mary Billinge dort zur Welt gekommen war, nicht minder aber auch eine Perſon gleichen Namens am 6. Nov. 1772 in Liverpool das Licht der Welt erblickt hatte, und daß dieſe Letztere die 1863 Verſtorbene war! Ganz ähnlich wie in dieſem Falle eine nur 91jährige Perſon zur Ultracentenarierin geſtempelt worden war, ſei es nachweislich noch in gar manchem andren Falle ergangen. 1)Vgl. zu p. 34 37 (über die Billinge) noch den p. 43 erzählten ähn - lichen Fall.Was ferner Grabinſchriften betreffe, ſo ſeien dieſelben ſehr leicht Fälſchungen unterworfen, welche entweder der Sculptor ſelbſt oder die Hand eines Andren, und zwar bald leichtfertigerweiſe, bald aus böſer Abſicht vornehme; wofür gleichfalls einige Beiſpiele angeführt werden. Nicht minder ſeien die directen Zeugniſſe der Nachkommen hochbetagter Leute, z. B. ihrer Urenkel oder Ururenkel, betreffs des angeblichen Alters ihrer Ahnen, meiſt völlig unzuverläſſig. Vollends unzurechnungsfähig und meiſt den ſtärkſten Täuſchungen unterworfen ſeien die früheſten Kindheitserinnerungen der abnorm hochbetagten Leute ſelbſt. Nicht einmal den Volkszählungsregiſtern könne ohne Weiteres Vertrauen geſchenkt werden; denn dieſelben pflegten weder gewöhnliche noch exorbitant lautende Altersangaben jemals mit Do - kumenten zu belegen. Die eigenen Angaben der Leute ſelbſt genügten ihnen, wie dieß der Report über den britiſchen Cenſus vom J. 1851 offen eingeſtehe; von den 111 Männern und 208 Frauen, die man damals. als Repräſentanten eines Alters von 100 119 Jahren in ganz Großbritanien aufgenommen habe, ſei nicht ein einziger doku - mentariſcher Beweis für die thatſächliche Richtigkeit ihres angeblichen Alters beigebracht worden.

Nach dieſen Betrachtungen, welche allerdings ſehr zur Vorſicht auf dem in Rede ſtehenden Gebiete zu mahnen geeignet erſcheinen, läßt Thoms dann kritiſche Einzelunterſuchungen über eine längere250VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.Reihe von Fällen angeblichen Ultracentenariats folgen. Er hebt an mit den 169jährigen Jenkins, deſſen ſo hoch hinaufgehendes Alter er als in der That durch ſehr unzureichende Zeugniſſe geſtützt dar - thut; die Grabſchrift nenne ihn vorſichtigerweiſe a very aged and poor man , und eine acht Jahr vor ſeinem Tode in Betreff ſeines exceſſiv hohen Alters abgegebene Verſicherung einer Lady Savile erſcheine keineswegs geſtützt durch irgendwelche juriſtiſch unanfechtbare dokumentariſche Belege. Um den angeblich faſt 153 Jahre alt ge - wordnen Parr ſtehe es kaum beſſer, trotz der poetiſchen Lebens - beſchreibung, welche gleich nach ſeinem Tode ihm von John Taylor unter dem Titel The old, old, very old man gewidmet wurde, und trotz Harveys Sectionsbericht. 1)Beide Dokumente theilt Thoms im Anhang zu ſ. Werke, p. 291 ss., 308 sq., mit.Dieſer letztere habe doch nur den anatomiſchen Thatbeſtand beſchrieben, aber keinerlei hiſtoriſche oder gar juriſtiſche Forſchungen angeſtellt. Die Angabe jenes Bio - graphen, wonach Parr 80 Jahre alt zum erſten Male geheirathet, und über 100 Jahre alt einmal öffentliche Kirchenbuße wegen Er - zeugung eines unehelichen Kindes gethan habe, zieht Thoms als innerlich unwahrſcheinlich in Zweifel. Hätte nicht, fragt er, wenn der Mann eine ſo ſtarke Sinnlichkeit hatte, dieſe ſchon viel früher hervorbrechen müſſen? Jn ähnlicher Weiſe macht der Kritiker Ein - würfe gegen das 140jährige Alter des nächſtfolgenden Hauptbeiſpiels britiſcher Langlebigkeit, der im J. 1604 verſtorbenen Gräfin Des - mond. Hier zeigt er mit wirklich ſehr triftigen Gründen, daß die betr. Angaben auf durchaus unſolidem Grunde ruhten; die genannte Gräfin ſei das Product einer Vermiſchung mehrerer Ladies ihres Ramens, wovon die älteſte nur etwa 100 Jahre alt wurde. Es folgen ähnliche Nachweiſe über den nicht 104, ſondern bloß 80 Jahre alt verſtorbenen Jonathan Reeves; über die nicht 106, ſondern bloß 100 Jahre alt gewordene Mary Downton; über Joſeph Miller (nicht 111, ſondern bloß 90 JJ. ), Rev. George Fletcher (nicht 108,251VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.ſonder bloß 92 JJ. ), G. Smith (nicht 105, ſondern 95 JJ. ), Edward Couch (nicht 110, ſondern 95 JJ. ), u. ſ. f. Auch Richard Purſer, der 1868 verſtorbene angeblich älteſte Mann in England , hätte jedenfalls nicht das Alter von 112 Jahren, das man ihm bei - legte, erreicht. Von ein paar ganz ſicher conſtatirten Fällen von Ultracentenariern aus den letzten Jahrzehnten überſchreite kaum einer das 104. Lebensjahr als äußerſte Grenze; denn es ſei zweifelhaft, ob die 1868 verſtorbene Peggy Longmire wirklich nach vollendetem 104., und ob die 1872 geſtorbene Elizabeth Puckle in der That nach erreichtem 106. Lebensjahre aus dem Leben geſchieden ſei. 1)Die kürzlich erſchienene zweite Aufl. des Thomsſchen Buches bietet keine Erweiterung des in der 1. Aufl. gegebenen Verzeichniſſes von Beiſpielen, ſtellt jedoch eine beſondere Schrift Centenariana in Ausſicht, worin noch eine größere Zahl von Fällen angeblich 100jährigen oder höheren Alters beſprochen werden ſollen.

Einem Theil der Ergebniſſe dieſes Kritikers wird man zu - ſtimmen müſſen. Jenkins und die Gräfin Desmond haben jedenfalls aus der Reihe ſicher bezeugter Exempel eines ungefähr anderthalb - hundertjährigen Lebensalters fortan zu verſchwinden. Auch betreffs Parrs hat Thoms die Forderung ſorgfältiger Prüfung des her - kömmlich Ueberlieferten mit gutem Grunde erhoben, obſchon er ſeine Skepſis bezüglich dieſes Falles, namentlich was die Zeugungsfähigkeit des Centenariers betrifft, wohl zu weit treibt. Seine Warnungen vor Verwechslung homonymer Perſonen, vor Leichtgläubigkeit gegen - über den Ausſagen ſowohl der Hochbetagten ſelbſt als ihrer Um - gebung oder Nachkommenſchaft u. ſ. f. ſind jedenfalls wohl angebracht daß je höher über 100 Jahre hinaus das angeblich erreichte Alter fortſchreitet, deſto größere Vorſicht in Beurtheilung der betr. Fälle nöthig iſt, lehren ſeine Unterſuchungen ſehr beſtimmt. Nichts deſtoweniger kann er vom Vorwurfe hyperkritiſcher Anwandlungen ſchwerlich freigeſprochen werden, und iſt ihm der Verſuch, ſämmtliche Fälle von Langlebigkeit, welche die Grenze von etwa 105 Jahren überſchreiten, als ins Bereich der Erdichtung gehörig zu erweiſen,252VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.keineswegs geglückt. Sein Geſichtskreis iſt ein viel zu enger; daß er grundſätzlich nur britiſche Beiſpiele anführt und kritiſch beſpricht, ſcheint an und für ſich recht zweckmäßig, fördert ihn jedoch in der Sicherheit ſeines Urtheils nicht. Nur auf einen möglichſt umfaſſenden Apparat geſtützt, laſſen ſich über Fragen, wie die in Rede ſtehende, kritiſch zuverläſſige Urtheile fällen. Hätte er jenen von Hufeland in der Makrobiotik hervorgehobenen, höchſt merkwürdigen und in keiner Weiſe ſchlecht bezeugten Fall des 116jährigen Greiſen zu Rechingen, Oberamt Bamberg, welcher in ſo hohem Alter, vier Jahre vor ſeinem 1791 erfolgten Tode, noch einmal einen Zahn - wechſel (mit acht neuen Zähnen) zu beſtehen bekam, mit in Unter - ſuchung gezogen, ſo hätte er über den Fall des nach dem 100. Jahre noch zeugungsfähigen Parr ſchwerlich ſo wegwerfend, wie er dieß thut, urtheilen gekonnt. Dabei zieht er aber nicht einmal die ſämmt - lichen Beiſpiele exceſſiv hohen Alters aus Großbritanien ſelbſt mit der nöthigen Sorgfalt in Rechnung, ſchweigt z. B. ganz von jenem ſchottiſchen Fiſcher Lawrence, der nach Rob. Sibbalds Prodromus einer Naturbeſchreibung Schottlands noch im 100. Jahre ein Weib genommen und bis gegen ſein 140. Jahr, wo er ſtarb, faſt täglich fiſchen gefahren ſein ſoll. Mag es dem Kritiker am nöthigen Material zu genauerer Prüfung dieſes Falles gefehlt haben: ſchweigen durfte er doch von ihm ſo wenig, wie von den ähnlichen, die ſonſt noch nur allein aus ſchottiſchen und engliſchen Quellen zu erbringen ge - weſen wären. Namentlich vermißt man ungern eine Berichterſtattung und kritiſche Erörterung über jenen von Hebel im Schatzkäſtlein unnachahmlich ſchön erzählten Fall aus Schottland, wo ein Reiſender vor einer Hütte dieſes Landes einen 62jährigen Sohn antrifft wei - nend, ob der Ohrfeige, die ſein 96jähriger Vater ihm wegen ſeiner Ungeſchicklichkeit beim Heben des 130jährigen Großvaters ins Bett gegeben hat. Auch des 1757 geſtorbnen, angeblich 144 Jahre alt gewordnen Soldaten Effingham aus Cornwallis; ferner des John Weeks, der 106 Jahr alt ſeine zehnte Frau geehelicht haben und 114 Jahr alt geſtorben ſein ſoll, geſchieht bei unſerm Kritiker keine253VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.Erwähnung, ohne daß man den Grund erführe, weßhalb er dieſe Perſonen mit Stillſchweigen übergieng. 1)Vgl. bezüglich des letzten dieſer Fälle und mehrerer andrer den Aufſ. im Ausland 1868, Nr. 9: Beiſpiele hohen Lebensalters in Großbritanien (auf Grund eines Eſſay im Quarterly Review).

Stellen wir uns auf den Standpunkt nicht britiſch-inſularer, ſondern europäiſch-continentaler und überhaupt univerſaler Beob - achtung, ſo werden wir unmöglich leugnen können, daß der hin - reichend gut bezeugten Beiſpiele von ungefähr 120 130jährigem Lebensalter mehrere aus den letzten Jahrhunderten vorliegen, ja daß einige wenige Berichte über ein noch höher gediehenes Alter Glauben zu verdienen ſcheinen. Wir geben gerne die Fälle eines mehr als 200jährigen Alters preis, welche wenig zuverläſſige Be - richte aus dem Mittelalter oder theilweiſe noch aus dem 16. Jahr - hundert bezeugen. So den 361jährigen Johann von Zîten (Joh. de Temporibus), der dem Auctarium Cremifanenſe zufolge im J. 1138 unter Konrad III. geſtorben ſein ſoll, nachdem er in ſeiner Jugend Karls des Großen Waffenträger (armiger) geweſen wäre! So ferner den Bengaleſen, der nach dem Zeugniſſe des Maffei ſich eines 335jährigen Alters rühmte; die 300jährigen Leute, welche Laudonnier auf ſeiner Reiſe nach Florida in dieſem Lande gefunden haben wollte; den mehr als 300jährigen Eingeborenen der Jnſel Diu, von welchem der portugieſiſche Schriftſteller Foria erzählt; den 210 Jahre alt gewordnen Biſchof Auden Evendſon von Sta - vanger in Pontoppidan’s Natürlicher Hiſtorie von Norwegen . 2)Auctarium Cremifan. ad an. 1138. John Ray, L’existence et la sagesse de Dieu, etc., Utrecht 1714, p. 232. Pontoppidan, Natürl. Hiſtorie von Norwegen, Kopenhagen 1753, II, 473.Jn manchem dieſer Fälle mag, was ſich überhaupt wohl öfter zu - trug und noch zuträgt, vorgekommen ſein: daß nämlich Vater und Sohn, oder wohl gar Vater, Sohn und Enkel wegen Gleichheit des Namens, Wohnorts und Berufs zuſammen geworfen und ſo identificirt wurden. Es ſpricht Manches dafür, daß bei mehreren254VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.der aus Rußland erzählten Fälle exorbitanten Alters Derartiges der Fall war; ſo bei dem um 1794 unweit Polocz lebenden 164 - jährigen Ruſſen, der ſeit ſeiner Geburt (1630) zehn Regentenwechſel erlebt und mit dreien Frauen 132 Abkömmlinge erzeugt haben ſollte; deßgleichen bei dem ungefähr 200jährigen Eſthländer, den man im J. 1818 dem Kaiſer Alexander I. als einſtigen Zeugen des 30jährigen Kriegs und Troßjungen im Heere Guſtav Adolphs von Schweden (!) vorſtellte. 1)Beide hier erwähnte Fälle aus Petri: Eſthland und die Eſthen ꝛc. Vgl. Volksblatt f. Stadt und Land 1862, Nr. 68, S. 1095.Sind ſolche Fälle eines angeblich zwiſchen 150 - und 200jährigen, oder gar über 200jährigen Alters wohl als unhaltbar preiszugeben und ermangeln andere wie wohl auch der jenes 185jährigen Ungarn Czarten, oder wie der eines andren 185jährigen Namens Kentigen ( 1781), oder wie der jenes 198jährigen Taveira de Lima (ſ. o.) überhaupt der näheren Controlirbarkeit: ſo ſieht man doch nicht ein, warum die aus faſt allen Himmelsſtrichen und Völkern ziemlich reichlich be - zeugten Vertreter eines etwa 120 - oder auch 130jährigen Lebens - alters, deren ſchon Haller über vierzig zuſammenbrachte, ſämmtlich Producte mythiſcher Uebertreibung ſein ſollten. Während Alexander v. Humboldt um den Anfang unſres Jahrhunderts in Lima ver - weilte, ſtarb dort der Jndianer Hilario Pari in einem Alter von 143 Jahren, nachdem er 90 Jahre lang mit einer Frau ſeines Stammes, die ein Alter von 117 Jahren erreichte, vermählt geweſen war. Wie Humboldt dieſen Fall ohne Kundgebung von Mißtrauen berichtet, ſo erzählt ein etwas ſpäter in denſelben Ländern gereiſter Schriftſteller, Stevenſon, von der Beerdigung zweier perua - niſcher Jndianer, Bewohner eines und deſſelben Dorfs, welcher er beigewohnt habe; der eine dieſer Greiſe ſei 109, der andre 127 Jahre alt geworden, beide hätten bis zu ihrem Tode einer voll - kommnen Geſundheit genoſſen. 2)A. v. Humboldt, Polit. Verſuch über Neuſpanien ꝛc. Stevenſon, Reiſen in Arauco, Chile, Peru und Columbia in den JJ. 1804 23 (Weimar 1826), I, 267.Nimmt man hiezu die den ver -255VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.ſchiedenſten ſonſtigen Nationen der alten und neuen Welt angehörigen Beiſpiele eines ähnlich hohen Alters: den Franzoſen Lahaye (120 Jahre alt), den venetianiſchen Conſul Hupazoli in Smyrna ( 1702, 115 Jahre alt), den Polen Jacob Mulinowski, der noch 1805, angeblich 138 Jahre alt, lebte, die 120 130jährigen Armenier, über welche Kolenati berichtet, die von Prichard geſammelten Bei - ſpiele weit über 100 Jahre hinausgehenden Alters ſowohl bei Negern als bei Lappländern:1)Friedreich, a. a. O. Prichard, Naturgeſch. d. Menſchen ꝛc. I, 162. 164. Rauch, Die Einheit des Menſchengeſchlechts, Augsburg 1873, S. 69 f. ſo dürfte jene von Haller aufgeſtellte Klimax, wonach Hunderte von Beiſpielen eines Alters von 100 110 Jahren, mindeſtens ein halbes Hundert von Beiſpielen 110 120 - jähriger Greiſe, etwa dreißig Beiſpiele von 120 130jährigen, und immer noch fünfzehn Beiſpiele von über 130jährigen Perſonen zu Gebote ſtehen, als keineswegs imaginär oder werthlos zu betrachten ſein. Die Möglichkeit, daß in höchſt ſeltenen Fällen, in jedem Jahrhundert vielleicht einmal ein anderthalbhundertjähriges Alter erreicht werde, ſcheint uns nicht wohl beſtritten werden zu können; der Engländer B. van Oven (1854) hat im Ganzen 17 Beiſpiele eines ſo hoch hinaufgehenden Lebensalters zuſammengeſtellt und der noch reichhaltigere alphabetiſche Katalog hochbetagter Leute in Thomas Bailey’s Records of Longevity (1856) ergibt ungefähr ebenſo viele Anderthalbhundertjährige. Beſtimmte ſchon Plinius in ſeiner Naturgeſchichte auf Grund eines von Vespaſian abgehaltenen Cenſus in Oberitalien, abweichend von jenem ſpäter im Corpus Juris auf - geſtellten Grundſatze, die wahre äußerſte Altersgrenze des Menſchen auf 130 150, ſtatt auf blos 100 Jahre, und gedenkt Trebellius Pollio zu Anfang ſeines Lebens des Kaiſers Claudius einer Tra - dition der gelehrten Naturforſcher (mathematici), wonach 120 Jahre das höchſte den Menſchen verliehene Altersziel (welches nur. Moſe, der jüdiſche Geſetzgeber noch um 5 Jahre überſchritten habe) 256VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.ſein ſolle:1)Plinius, H. nat., VII, 48 (Zur Beurtheilung der hier gebotenen Angaben vgl. den Aufſatz Human Longevity , im Edinb. Review 1857, Jan., p. 60). Sodaun Trebell. Pollio, Vit. Claudii c. 1: Doctis - simi mathematicorum centum et viginti annos homini ad vivendum datos judicant, neque amplius cuiquam jactitant esse concessum: etiam illud addentes, Mosen solum, Dei (ut Judaeorum libri loquuntur) |fami - liarem, CXXV annos vixisse, etc. Vgl. z. d. St. E. Neſtle, in der Zeit - ſchrift der deutſchen morgenl. Geſellſch. 1879 (Bd. 33), S. 509. ſo hat ein neuerer mediciuiſcher Schriftſteller doch wohl nicht ganz unrecht, wenn er gerade wegen der außerordentlichen Seltenheit der Fälle eines ſo extrem hohen Alters annimmt, daß dieſelben der öffentlichen Aufmerkſamkeit nicht wohl zu entgehen vermöchten , daß demnach entſprechend der Abnormität der That - ſachen in gewiſſer Weiſe auch ihre Glaubwürdigkeit wachſe. 2)So Medicinalrath Dr. Wald, im Daheim 1866, S. 129.Neben den oben angeführten mancherlei Cautelen des engliſchen Hyper - kritikers ſcheint uns doch auch dieſe Maxime einige Beachtung zu verdienen. Beide Grundſätze laſſen ſich ſehr wohl in Verbindung miteinander anwenden: der eben zuletzt beſprochene als Mittel zur Conſtatirung des jeweiligen Falls im Allgemeinen, und jener früher gutgeheißene, wonach die größtmöglichſte Vorſicht nach allen Seiten hin anzuwenden, als kritiſches Correctiv, wodurch zuweilen eine Reduction der angegebnen hohen Ziffern nöthig gemacht werden kann, ohne daß darum das Außerordentliche des Falles jedesmal ganz und gar beſeitigt werden müßte. Wenn demnach jüngſt, im Januar 1879, den Zeitungen zufolge ein Bürger Brombergs Namens Bagnewsky 117 Jahre alt verſtorben ſein ſoll, und wenn vor drei Jahren die zu Prag verſtorbene Hamburgerin Thereſe Fiedler v. Hülſenſtein, einſtige Hofdame bei Maria Thereſia, 1757 geboren ſein, alſo ein Alter von 119 Jahren erreicht haben ſoll: ſo mag die eine wie die andre dieſer Nachrichten durch exactere Unterſuchung des Thatbeſtandes vielleicht etwelche Correctur erfahren können. Aber daß die Herabminderung der Altersziffern, welche möglicherweiſe ſo reſultirt, ſelten eine ſehr beträchtliche zu ſein pflegt,257VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.zeigen grade die Thomsſchen Ergebniſſe, welche ohnehin oft genug ſtatt klarer Nichtigkeitsbeweiſe bloße Vielleicht oder Möglichkeiten oder ſubjective Verdächtigungen zum Ausdruck gelangen laſſen. Wir empfehlen ſtatt ſolcher unverbeſſerlichen Skepſis à tout prix unſer umſichtigeres Verfahren, wonach Bereitſchaft zur Anerkennung ſeltenerer und wenig beobachteter, aber immerhin doch möglicher Vorgänge mit ſcharfer Kritik zuſammenzuwirken hat. Das Reſultat einer ſolchen Verfahrungsweiſe wird im Allgemeinen ſchwerlich anders lauten können als unſre obige Behauptung, wonach ein ungefähr 120jähriges Lebensalter immer noch in manchen Fällen, ein nahezu 150jähriges zwar höchſt ſelten, aber doch auch immer noch gelegent - lich von der heutigen Menſchheit erreicht wird. Oder bibliſch ge - ſprochen: zum Alter eines Moſe und Aaron dringen immer noch einzelne Perſonen empor; als Ausnahme ſeltenſter Art mag dann und wann auch wohl noch ein Alter ähnlich demjenigen Jakobs beobachtet werden.

Der Contraſt iſt grell genug Vom Durchſchnittsalter der Noachiden trennen unſer höchſtes Alter ſchon Jahrhunderte; von dem der Sethiten mehr als ein halbes Jahrtauſend. Man hat allerdings zu wenig behauptet, wenn man auf eine Million Menſchen des heutigen Europa nur einen einzigen Hundertjährigen kommen laſſen wollte;1)So C. E. Fürer, Die Lebensalter des Menſchen in den verſchiednen Geſchichtsperioden der Erde und der Menſchheit, Beweis d. Glaubens 1868, S. 184. vielmehr dürfen ſehr wahrſcheinlich auf eine Million noch mindeſtens zehn Centenarier gerechnet werden, denn eine auf Volkszählungsergebniſſe geſtützte ſtatiſtiſche Berechnung von Waldſtein ergab jüngſt allein für Oeſterreich-Ungarn die Ziffer von 100 Frauen und 86 Männern im hundertſten Lebensjahre, ferner 41 Frauen und 37 Männer von hundertundeinjährigem, ſowie 83 Frauen und 60 Männer von noch höherem Alter.2)Max Waldſtein, Die höchſten Altersklaſſen der menſchlichen Bevölkerung. Wien 1879 (vgl. Ausland 1879, Nr. 28). JmmerhinZöckler, Urſtand. 17258VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.erſcheinen auch ſo die Beiſpiele von bis in ſolche Höhe hinaufreichenden Altern dünn genug geſäet. Und zur Spärlichkeit der Fälle hinzu geſellt ſich ihre ſchwierige Conſtatirbarkeit, das Precäre, faſt jedesmal den Verdacht ſtattgehabter Jrrthümer oder Täuſchungen Nahelegende der ſie betreffenden Nachrichten. Auch die eben angeführten Wald - ſteinſchen Ziffern dürften jedenfalls ſehr reducirbar ſein. Ja jener Nordamerikaner Dr. Lambert, welcher vor einigen Jahren (wohl aus Anlaß der Thomsſchen kritiſchen Forſchungen) auf Erbringung eines vollgiltigen juriſtiſchen Beweiſes für ein zurückgelegtes 105. Lebensjahr den Preis von 500 Dollars, auf einen entſprechenden Beweis für ein überſchrittenes 110. Lebensjahr aber den doppelt ſo hohen Preis ausgeſetzt hat, dürfte wahrſcheinlich lange warten müſſen, bis er die eine oder die andre verwettete Summe los wird.

2. So der Gegenſatz zwiſchen Sonſt und Jetzt. Einem nur ſehr ſelten noch hoch über ſeculäre Länge emporſteigenden Alters - maximum der heutigen Menſchheit entſprach während ihrer erſten anderthalb tauſend Jahre eine ununterbrochene Reihe von Lebens - altern zwiſchen 700 und 1000 Jahren. Wenigſtens die ſethitiſche Patriarchenfamilie zeigt dieſes Durchſchnittsalter von etwa 912 Jahren. Urahnherrn und Urenkel leben hier Jahrtauſende hindurch nebeneinander, in wunderbar verſchlungenem Geben und Nehmen, Zeugen und Gezeugtwerden faſt ein annäherndes creatürliches Abbild jenes ewigen immergöttlichen Lebensſpendungsactes zwiſchen Vater und Sohn darbietend! Wie hat man ſich abgemüht, das für uns kaum mehr Vorſtellbare faßlicher und begreiflicher zu machen; wie haben von alters her exegetiſcher und mehr noch unexegetiſcher Scharfſinn mit Reductions - und Ausgleichungsverſuchen der ver - ſchiedenſten Art ſich abgemartert, um entweder die Geſammtſumme, die Länge der ganzen 1656jährigen Periode von Adam bis zur Fluth, ſo oder ſo zu modificiren, oder um die einzelnen Lebens - dauern auf ein knapperes, unſren Erfahrungen näher kommendes259VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.Maaß zu bringen! Angeſichts der unleugbar feſtgehaltenen Abſicht des bibliſchen Erzählers, durch die überlieferten Ziffern im Weſent - lichen ein langſames Herabſteigen menſchlicher Lebenslänge bis zum niederen Maaße der Jetztzeit zur anſchaulichen Darſtellung zu bringen, tragen alle derartigen Verſuche das Gepräge größerer oder gerin - gerer Willkürlichkeit. Wir könnten füglich ganz von ihnen Umgang nehmen, wollen indeſſen doch gerade deßhalb, weil die ſchlechthinige Nothwendigkeit des einfachen Beharrens bei der Darſtellung des Grundtexts aus ihnen erhellt, hier eine kurze Ueberſicht über ſie geben.

Schon die beiden früheſten Aenderungsverſuche, von welchen wenigſtens der eine zugleich theilweiſer Kürzungsverſuch iſt, lehren auf bemerkenswerthe Weiſe das Unantaſtbare, von uralters her Sicherſtehende dieſer vielhundertjährigen Altersangaben. Jn der ſamaritaniſchen Verſion des Pentateuchs einerſeits und in der alexan - driniſchen Bibelüberſetzung andrerſeits erſcheint nämlich die geſammte Zahlenreihe von Adam bis Noah derart umgeſtaltet, daß jene Summe von 1656 Jahren dort um faſt 350 Jahre verkürzt, hier um 586 Jahre verlängert wird. Nichtsdeſtoweniger bleiben die Angaben über die Lebenslänge der einzelnen zehn Patriarchen in der einen wie in der andren Verſion größtentheils unangetaſtet; die vorgenommenen Aenderungen betreffen in der Hauptſache nur das jeweilige Jahr, in welchem der Erzvater ſeinen Sohn und Stammhalter zeugte, bei Adam alſo das 130., bei Seth das 125. Lebensjahr u. ſ. f. Der Samariter ſcheint ſeine Herabminderung der Zahl 1656 auf 1307 weſentlich in der Abſicht, eine gleich - mäßigere Abnahme der Lebensalter ſtattfinden zu laſſen, vorgenom - men zu haben, hat jedoch dieſer Tendenz zulieb nur drei Lebens - alter: das des Jared (bei ihm nur 847 Jahre ſtatt 962), das des Methuſalah (bei ihm 720 Jahre ſtatt 969) und das des Lamech (653 Jahre ſtatt 777) verkürzt, die ſieben übrigen dagegen ſo wie ſie der Urtext bietet belaſſen. Die Septuaginta ſcheinen ihre be - trächtliche Steigerung der Diſtanz zwiſchen Adam und der Sintfluth17*260VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.zum Zwecke einer Annäherung der bibliſchen an die altägyptiſche Zeitrechnung vorgenommen zu haben;1)Dieß jedenfalls bei weitem die wahrſcheinlichſte Annahme. Auf ihre ſpeciellen Modificationen (bei Böckh, M. v. Niebuhr ꝛc) näher einzugehen, iſt für unſren Zweck unnöthig. Vgl. Röſch, Art. Zeitrechnung in Herzogs Real-Enchklop., Bd. 18, S. 426 f. zu dieſem Ende haben ſie die Jahre des Söhnezeugens der Erzväter faſt ſämmtlich um ein Namhaftes hinaufgerückt (Adam ſoll nach ihnen erſt 230, nicht 130 Jahre alt den Seth gezengt haben; Seth nicht 105, ſondern erſt 205 Jahre alt den Enos; dieſer nicht 90, ſondern erſt 190 Jahre alt den Kenan u. ſ. f.); aber bezüglich der Lebensdauern haben ſie ſich ihrem chronologiſchen Syſtem zulieb nur eine einzige kürzende Abänderung erlaubt, beſtehend in den 753 Jahren, welche ſie dem Vater Noahs Lamech ſtatt der 777 Jahre des Grundtexts geben. Für die Annahme, daß die Alterszahlen der zehn Makrobier - Patriarchen auf uralter Ueberlieferung im Volke Gottes beruhen, legt dieſe hinſichtlich der Mehrzahl aller Daten übereinſtimmende Haltung der drei Parallelberichte auf jeden Fall ein ſehr gewichtiges Zeugniß ab; einige Jahrhunderte vor dem Beginn der chriſtlichen Zeitrechnung muß die Zahlenreihe weſentlich ſchon ſo wie jetzt ge - lautet haben. Für unſer Vorhaben hat ebendeshalb der alte Streit darüber, welcher der drei Texte als der urſprüngliche zu gelten habe, keine Wichtigkeit. Erſt bei Erörterung der Frage nach dem Alter des Menſchengeſchlechts wird dieſer Controverſe nochmals kurz zu gedenken ſein.

Zu einſchneidenderen Wirkungen bringt es eine zweite Gruppe von Aenderungsverſuchen. Man hat den Jahren der Erzväter - Genealogien eine andre Bedeutung als die ſonſt gewöhnliche bei - gelegt und ſo die gewünſchte Verkürzung der hohen Lebensalter zu bewirken geſucht. Schon Auguſtin wußte von chronologiſchen Künſt - lern zu berichten, welche die Jahre der Erzväter als bloße Zentels - jahre darzuthun verſuchten; ſchon er gedenkt, unter Berufung auf Plinius u. A., ägyptiſcher Jahre von nur 4monatlicher Dauer,261VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.oder auch arkadiſcher von nur 3monatlicher, oder akarnaniſcher von 6monatlicher Geltung, als weiterer Hilfsmittel, wodurch ſich mög - licherweiſe Reductionen der überaus hohen Alterszahlen in Gen. 5 erzielen ließen. 1)Auguſtin, De civ. Dei, XII, 9; XV, 12 ss. Vgl. Plinius, H. nat. VII, 48; G. Sprotta, De patriarcharum langaevitate, Lips. 1668; Elend, Dissert. de annis patriarcharum antidiluvianorum. Aegyptiſche Jahre von kürzerer Dauer als unſre Sonnenjahre waren es denn auch, welche die byzantiniſchen Mönche Anianus und Panodorus bei ihren Verſuchen zur Conciliation des ſamaritaniſchen mit dem griechiſchen Texte in Anwendung brachten. Von Neueren ſind beſonders Hensler in Kiel (1791), der Däne Rasmus Rask (1836) und der Franzoſe Leſueur (1858) auf ähn - liche Auskunftsmittel verfallen. Hensler (dem Gelpke ſich anſchloß) meinte durch die Annahme, für die älteſten Zeiten bis auf Abraham rechne die Bibel nach bloßen Jahreszeiten von dreimonatlicher Dauer oder Vierteljahren, für die Zeit von Abraham bis auf Joſeph nach Jahren zu je 8 Monaten, und erſt für die Zeit von Joſeph an nach gewöhnlichen 12monatlichen Jahren. 2)C. G. Hensler, Bemerkungen über Stellen aus den Pſalmen und der Geneſis, Kiel 1791. Aehnlich C. F. Gelpke, Ueber das Urvolk der Erde, Braunſchweig 1820.Rask ließ das Wort ſchānāh Jahr für die Zeit bis auf Noah lediglich einen Monat, für die Zeit von Sem bis Serug 2 Monate, für die Zeit von Nahor bis Tarah 4 Monate, und für die Zeit von Abraham bis Amram 6 Monate bedeuten! Nach Leſueur ſollen die Jahreszahlen der Septuaginta, wenn man ſie auf 60tägige chaldäiſche Soſſen reducirt, die wahren Lebensalter, zu welchen die vorabrahamiſchen Erzväter gelangt ſeien, bezeichnen. 3)R. Rask, in Jllgen’s Ztſchr. f. hiſtor. Theol. 1836, S. 19 ff. Leſueur, Recherches sur la date de la fondation de la tour de Bable, in der Revue archéologique 1858, p. 65. Vgl. auch Joh. Raska, Die Chronologie der Bibel im Einklang mit der Zeitrechnung der Aegypter und Aſſyrier, Wien 1878, S. 145 ff., wo die Möglichkeit, daß für die vormoſaiſcheVon exegetiſcher Zuläſſigkeit262VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.irgendeiner dieſer Verkürzungsmethoden kann ſelbſtverſtändlich nicht die Rede ſein. Was ſchānāh einmal in der bibliſchen Geſchichte bedeutet, muß es immer wieder bedeuten. Wenn für den Begriff Tag dann und wann ein veränderlicher Maaßſtab angewendet wird, ſo bieten die prophetiſche oder die poëtiſche Bilderſprache des A. Ts. hinreichend deutliche Aufſchlüſſe über dieſen Bedeutungswechſel dar; ähnlich verhält es ſich mit dem Ausdruck Woche-Jahrwoche in der Sprache der Apokalyptiker. Für eine ähnliche Mehrdeutigkeit des Begriffs Jahr in der älteſten Geſchichtsurkunde fehlt jeglicher Anhaltspunkt. Auch müßten Mahaleel und Henoch, geſetzt die ihnen beigelegten Altersjahre wären etwa als bloße Vierteljahre zu ver - ſtehen, in einem für die Patriarchenzeit unerhört jungen Alter zu zeugen begonnen haben; wären Monate gemeint, ſo müſſen ſie vollends ſchon als Kinder zu Vätern geworden ſein; ein ſchon von Auguſtin zur Erweiſung derartiger Aushilfen als unmöglich und abſurd hervorgehobner Umſtand.

Eine weitere Claſſe von Auskunftsmitteln ſucht nicht die Jahre, ſondern die Perſonen der Erzväter begrifflich zu alteriren. Es ſeien, meinte Rau (1847), die in den Patriarchen-Genealogien vor - kommenden Namen weſentlich nur annähernde bildliche Bezeichnungen der einzelnen Stämme ; die Geſchlechtsregiſter dieſer älteſten bib - liſchen Urkunden ſeien lediglich ein nach morgenländiſcher Weiſe in das Gewand eines Bildes gekleideter Verſuch, die älteſten Völker - wanderungen Mittel - und Hochaſiens ſowie die Abſtammung der verſchiednen Stämme aus einem großen Urvolke darzuthun . 1)Rau, Geſchichte des A. u. N. Bds. (Heidelberg 1847) I, 63.Aehn - lich hatte ſchon früher der Univerſalhiſtoriker Gatterer die Patri - archen als Bezeichnungen ganzer Stämme oder Völker gefaßt, und meinten dann wieder Roſenmüller und Friedreich: daß man mit dieſen Namen und Zahlen nur große geſchichtliche Perioden auszu -3)Zeit kürzere Jahre als unſre Sonnenjahre (nämlich die altägyptiſchen Wandel - jahre zu je 360 Tagen) für Zeitangaben zu Grunde gelegt ſeien, wenigſtens angedeutet iſt.263VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.füllen ſuchte, ſodaß in dieſer Urgeſchichte die Perſonennamen ganze Perioden bezeichneten. 1)Gatterer, Weltgeſchichte (Götting. 1785) I, 9. Aehnlich auch Enkel - mann in Henke’s Muſeum, II, 565 ff. Sodann Roſenmüller, Schol - ad Gen. 5, 5; Friedreich, Zur Bibel I, 170 f. Auch dieſe Deutung ſcheitert an unüber - windlichen exegetiſchen Schwierigkeiten. Offenbar werden die Erz - väter, die ſethitiſchen ſogut wie die zwiſchen Noah und Abraham, als concrete Einzelperſonen geſchildert, die zu einem beſtimmten Zeitpunkte Kinder zu zeugen anfangen, theilweiſe auch ſo Enos, Henoch, Noah individuelle heilsgeſchichtlich bedeutſame Schickſale erleben. Oder könnte da, wo von irgendwelchem Völkerleben noch keine Rede iſt, wo die Menſchheit aufs deutlichſte als nur erſt in Geſtalt der Familie ſich entwickelnd geſchildert wird, von Derartigem wie von einander ablöſenden Herrſcherſtämmen oder gar Dynaſtien berichtet werden? Jſt es denkbar, daß die Namen Adam, Seth, Enos, Kenan ꝛc. etwas Aehnliches bedeuten ſollten wie Koreiſchiten, Ommajaden, Abbaſſiden, oder wie Karolinger, Sachſen, Salier, Hohenſtaufen?

Die letzte Claſſe von Verſuchen zur Alterirung der geſchicht - lichen Faſſung der in Rede ſtehenden Patriarchenreihen verlauft unvermerkt in’s Bereich der Mythendeutung. Die hohen Jahres - ſummen 930, 912, 905, 910, 892, 962, 365, 969, 777, 950 ſollen, ebenſo wie auch die nachſintfluthlichen 600, 438, 433, 464, 239, 239, 230, 148, 205, nicht eigentlich, ſondern cykliſch ge - meint ſein. Als Anhaltspunkt für dieſe Annahme ſcheint beſonders die gerade 365 Jahre betragende Lebenszeit Henochs, des Erfinders der Aſtrologie nach alter Sage, dienen zu können. Bertheau (1845) meinte deßhalb in den Patriarchenreihen des hebr., ſamar. und griech. Textes drei verſchiedne cykliſch berechnete Ergänzungen der fehlenden hiſtoriſchen Chronologie erblicken zu dürfen. Einſeitig an die Relation der Septuaginta hielt ſich Böckh, wenn er in deren 2242 Jahren zwiſchen Adam und der Fluth eine Reduction von 19 Hundsſternperioden der ägyptiſchen Vorgeſchichte oder von 27 759264VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.ägyptiſchen Jahren nachzuweiſen ſuchte. Dagegen bevorzugte Lepſius in ſeiner cykliſchen Berechnung vielmehr den ſamaritaniſchen Text. Bunſen endlich hielt ſich an den hebräiſchen Text als den allein urſprünglichen; ſeine Perſonennamen deutete er auf geſchichtliche Culturperioden, denen man ein Syſtem ungeſchichtlicher cykliſcher Zahlen angepaßt habe; den Schlüſſel zu dieſem Syſtem bilde das chaldäiſche Weltjahr von je 600 Sonnenjahren oder 618⅓ Mond - jahren. 1)Die näheren Nachweiſe über dieſe viererlei cykliſchen Deutungsverſuche und über noch einige Meinungen von theilweiſe ähnlicher Art (von Schubert, M. v. Niebuhr, J. G. Röſch) ſ. bei Röſch in Herzogs R. -E., a. a. O.Auch Delitzſch hat es als möglich zugeſtanden, daß die Jahresſummen der zehn erſten Erzväter irgendwie eine cykliſche Be - deutung hätten; es ſpreche dafür die Analogie der 432 000 Jahre, welche Beroſus den 10 babyloniſchen Urkönigen bis auf Xiſuthros zuſchreibe und welche wahrſcheinlich gleich Tagen eines 360tägigen Jahres, alſo ſ. v. a. 1200 Jahre oder 120 babyloniſche Saren (Jahres-Dekaden) ſeien. Auf einen beſtimmten Nachweis der den Zahlen der Geneſis möglich erweiſe zu Grund liegenden cykliſchen Conſtruction verzichtet freilich Delitzſch; ähnlich der franzöſiſche Ge - lehrte F. Vigouroux, der die Frage offen läßt, ob babyloniſche Saren zu 3600 Jahren (nach Beroſus, Abydenus, Euſebius ꝛc. ) oder ſolche zu 18½ Jahren (nach Suidas) in die Rechnung ver - arbeitet ſeien, übrigens aber mehr zur letzteren Annahme neigt, weil 120 Saren zu je 18½ Jahren ungefähr dieſelbe Jahresſumme wie die von den Septuaginta für die Zeit von Adam bis zur Fluth angegebne, nemlich 2221 Jahre (bl os 21 weniger als nach den Sept.), ergäben, ſo daß alſo hienach Beroſus und der alexandrin. Text weſentlich übereinſtimmten. 2)Dclitzſch, zu Gen., 4. Aufl. S. 183. F. Vigouroux, La Bible et les découvertes modernes en Egypte et en Assyrie (Paris 1877), I, 168 172.Dagegen hat der Aſſyriologe Jules Oppert jüngſt einen ſehr energiſch und ſcharfſinnig durch - geführten cykliſchen Berechnungsverſuch angeſtellt. Jhm gelten die265VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.432 000 Jahre des Beroſus direct als identiſch mit den 1656 der Bibel, die letzteren demnach als eine Zuſammenziehung jener enorm hohen Zahl. Beide Zahlen nemlich ſeien dividirbar durch 72, ver - hielten ſich alſo zueinander wie 6000 zu 23, oder wenn man die Reduction weiter fortſetze, wie 5 Jahre zu 1 Woche; die Summe von 86 400 Wochen, welche die Geneſis den neun Patriarchen von Seth bis zur Fluth beilege, entſpreche den 86 400 chaldäiſchen Luſtra, in welche die 432 000 Jahre des Beroſus zerfallen, u. ſ. f.1)J. Oppert, La chronologie de la Genèse. Paris 1878. Was dieſe cykliſchen Deutungen ſämmtlich unſicher macht, iſt das Fehlen irgendwelcher Regelmäßigkeit in der Gruppirung der Zahlen, die man als Reductionen größerer Zeiträume der chaldäiſchen oder ägyptiſchen mythiſchen Urgeſchichte zu faſſen ſucht. Jene einiger - maaßen ſtetige Abnahme, welche der ſamarit. Text bietet, iſt ohne Zweifel eine künſtlich gemachte, nicht-urſprüngliche. So, wie die Ziffern in der Patriarchenreihe des allein urſprünglichen Grundtexts ſtehen, in ihrer zwiſchen Hoch und Niedrig ſchwankenden bunten Mannigfaltigkeit, erſcheinen dieſelben wenig geeignet zum Anknüpfen cykliſcher Berechnung. 2)Vgl. Köhler, Bibl. Geſchichte des Alten Teſtaments, I, 55.Und ſelbſt wo derartige abenteuerliche Künſte - leien wie die bei Schubert, Bunſen, v. Niebuhr ꝛc. vermieden werden, liegt doch die behauptete Coincidenz der hebräiſchen kleineren mit den außerbibliſchen größeren Zahlenangaben viel zu wenig offen - kundig zu Tage. Auch gegen Opperts Ausgleichungsverſuch, der von allen hier in Rede ſtehenden Combinationen am meiſten an - ſpricht, muß eingewendet werden, daß zwar die Geſammtzahlen der beiden verglichenen Reihen, aber nicht ihre einzelnen Poſten in einem gewiſſen homologen Verhältniſſe zueinander ſtehen. Das Auf - und Abſteigen der babyloniſchen Zahlen: 36 000 für Aloros, 10 800 für Alaparos, 46 800 für Ammenon, 43 200 für Amelon, 64 800 für Amegaloros u. ſ. f. (vgl. oben, S. 95) ergibt doch eine ganz andre Curve, als die parallele bibliſche Zahlenreihe 930, 912, 905, 910, 892 u. ſ. f., oder auch als die Zeugungsjahre der betr. Pa -266VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.triarchen 130, 105, 90, 70, 65, ꝛc. Und dafür, daß die kleineren Zahlen der Bibel aus den ſchwindelhaft großen der Chaldäer nach einem gewiſſen cykliſchen Princip zuſammengezogen ſeien, ſcheinen doch weniger Wahrſcheinlichkeitsgründe vorzuliegen, als für die um - gekehrte Annahme einer mythiſchen Steigerung von urſprünglich viel kleiner lautenden Angaben durch Jene. Der Vorzug ihrer größeren Einfachheit begünſtigt entſchieden die Vorausſetzung einer verhältniß - mäßigen Originalität und Unverdorbenheit der bibliſchen Zahlenreihe mehr als die entgegengeſetzte Hypotheſe. Die chaldäiſchen Zahlen nähern ſich nur allzuſehr jenem alles vernünftige Maaß überſteigenden Zahlengeflunker, dem man in der mythiſchen Urgeſchichte ſolcher Völker wie die Jndier, Agypter, Chineſen, Japaneſen ꝛc. begegnet. Sie legen den Verdacht nur allzu nahe, daß tendenziös dichtende Archäomanie, das bekannte Grund - und Erdübel aller heidniſch ge - ſchichtlichen Ueberlieferung, bei ihrer Entſtehung ſehr weſentlich mit - gewirkt habe. Sie verrathen ſich nur zu deutlich als Kunſtſtücke eines in aſtronomiſchen Rechnungen vielgeübten Geiſtes , als orien - taliſche Phantaſiegebilde, die unbekümmert um geſchichtliche Wirklich - keit oder Wahrſcheinlichkeit, nur auf möglichſte Annäherung an die eingebildete Dauer von Götterjahren ausgiengen. 1)Schubert, Das Weltgebäude ꝛc., S. 642; auch: Ahndungen einer allgemeinen Geſchichte des Lebens, II, 2, S. 90 ff. Keerl, Der Menſch, das Ebenbild Gottes ꝛc. I, 115.

Oder dürfte man unſre bibliſchen Erzväterliſten ſelbſt ohne Weiteres dem Bereiche ſolcher Mythengebilde zuweiſen? Es geſchieht dieß allerdings ſeitens der ganzen kritiſchen Ausleger-Schule neuerer Zeit, ſei es nun, daß man eine gewiſſe Planmäßigkeit des Verfah - rens bei Bemeſſung der einzelnen Lebensalter ſtatuirt (Kelle), ſei es daß man nur in der abſteigenden Folge der vier Weltalter etwas Planmäßiges, in den einzelnen Altersangaben aber pure Willkür er - blickt (Bredow, v. Bohlen, Winer, Knobel, Tuch, Ewald, Fürſt ꝛc.). 2)Vgl. eiuerſeits Kelle, Würdigung der moſaiſchen Schriften ꝛc. III, 26 ff. ; andrerſeits Bredow, Unterſuchungen über alte Geſchichte und Geo -267VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.Jm Grunde erſcheint eben dieſe Mythendeutung auch der Mehrzahl der oben beſprochnen cykliſchen Zahlentheorien beigemengt, deßgleichen jenen Verſuchen von Roſenmüller und Friedreich, die Patriarchen - namen als mehr oder weniger ungeſchickt gehandhabte Mittel zur Ausfüllung leerer Zeiträume der älteſten Geſchichte zu erweiſen. Gemeinſamer Grund für alle dieſe Annahmen iſt die Scheu vor dem Zugeſtändniſſe, daß die individuellen menſchlichen Lebensalter in jener Urzeit Jahrhunderte mehr als jetzt betragen haben ſollten, während doch die Geſammtdauer der betr. geſchichtlichen Zeiträume eine beträchtlich viel kürzere geweſen ſei, als nach den meiſten Tradi - tionen des Heidenthums und zumal nach der Darſtellung moderner Geologen und Archäologen. Die einzelnen Lebensalter erſcheinen zu bedenklich lang, der ganze Zeitraum von Adam bis Abraham aber zu bedenklich kurz: daher denn die Vorliebe ſei es für cykliſche, ſei es für mythiſche Auffaſſung des ganzen Abſchnitts. Wie aber, wenn in dieſer doppelten Vorausſetzung ein principieller Grund - irrthum, ein grundlegender, das ganze Hypotheſennetz der Mythen - theorie als überflüſſig erweiſender Rechenfehler enthalten wäre? Wenn ſowohl die phyſiologiſche Wiſſenſchaft mit ihrer Feſtſtellung eines unveränderlichen menſchlichen Lebensmaximums für alle Perioden der irdiſchen Geſchichte, als auch die paläontologiſche Wiſſenſchaft mit ihrer Uebertragung von Erdbildungsgeſetzen auf menſchheitliche Entwicklungen ſich im Unrecht befänden? Wenn auch hier Auguſtins Grundſatz: Distingue tempora etc. Anwendung zu finden hätte? Uns will in der That Beides als voreilig behauptet vorkommen: daß in allen Zeiten rückwärts keine andre Altersgrenze für unſer Leben als die jetzige exiſtirt haben könne, und daß das Kindesalter unſres Geſchlechts in vieltauſendjährigen Zeiträumen verlaufen ſein müſſe. Unſeren Widerſpruch gegen die letztere Annahme wird der folgende Abſchnitt zu begründen haben. Hier handelt es ſich noch2)graphie, I, 9 ff. ; Hartmann, v. Bohlen, Tuch, Knobel in ihren Geneſis - commentaren; Winer, Realwörterb., A. Patriarchen ; Ewald, Geſch. des Volks Jsr. I, 314 ff. ; Fürſt, Geſch. der bibl. Lit., I, 84.268VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.um Motivirung unſrer Einſprache gegen das Axiom von einer Un - veränderlichkeit der durchſchnittlichen Lebenslänge des Menſchen durch alle Epochen ſeiner Geſchichte.

3. Die Langlebigkeit der Patriarchen iſt eine Erſcheinung, die nicht blindlings verworfen, nicht ſtumpfſinnig und intereſſelos ge - glaubt, nicht grübelnd hinweggedeutelt, wohl aber geſchichtlich erklärt ſein will. Der Erklärungsgründe haben die orthodoxen Ausleger von jeher nur allzuviele angegeben. Mit dem Einen zuſammen - faſſenden Argument, das Johannes von Salisbury einmal hervor - hebt: die Patriarchen hätten wahrhaft naturgemäß gelebt,1)Policraticus VIII, 17: Patres et patriarchae vivendi ducem opti - mam naturam secuti sunt. Aehnliches bei R. Baco, Op. maj. p. 38 ed. Jebb. iſt eigentlich mehr geſagt, als mit den vielerlei Muthmaaßungen und Wahrſcheinlichkeiten, in deren Zuſammenſchichtung exegetiſcher Scharfſinn von jeher bei Behandlung des Themas ſich gefallen hat. Pererius gab nicht weniger als ſieben Gründe an: höhere Vortreff - lichkeit der Leibesbeſchaffenheit (bonitas constitutionis et tempe - rationis humani corporis); Maaßhalten in Speiſe und Trank (sobrietas et continentia in victu et potu); Vorzüglichkeit der Lebensmittel, darauf beruhend daß die ſalzigen Gewäſſer der Sint - fluth dem Erdboden ſeine urſprüngliche Fruchtbarkeit noch nicht ge - raubt hatten (alimentorum praestantia); Bekanntſchaft Adams und ſeiner durch ihn belehrten Nachkommen mit den edelſten und heil - kräftigſten, zur Lebensverlängerung aufs beſte geeigneten Kräutern, Früchten, Metallen und Steinen (scientia virium herbarum etc.); günſtigere Einflüſſe des Himmels und ſeiner Geſtirne, insbeſondre der ſ. g. achten Sphäre, durch deren Bewegungen Tod und Leben der Erdengeſchöpfe namentlich bedingt ſind (caelorum influentia); die göttliche Abſicht, durch längeres Leben der Stammeltern die Vermehrung des Menſchengeſchlechts möglichſt zu fördern (generis269VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.humani multiplicatio); endlich die fernere Abſicht Gottes, die Er - findung ſo mancher nützlicher Künſte und Wiſſenſchaften, zu deren Ausbildung lange Zeiträume erforderlich waren, zu fördern (artium inventio). 1)Bened. Pererius, Comment. et disputatt. in Genes., l. VII, c. 1, qu. 3.Die Mehrzahl dieſer Gründe verdankt einer ins apo - kryphiſch-Mythiſche ausſchweifenden Phantaſie ihren Urſprung. Ledig - lich die beiden erſten und der vorletzte ſtreifen an das, was gemäß bibliſcher Ueberlieferung vor allem und hauptſächlich die Urſache der patriarchalen Langlebigkeit gebildet haben wird und was wir dem - gemäß hier näher in Betracht zu ziehen haben werden. Der Einmiſchung von ſo mancherlei äußerlichen Erklärungsmomenten prekärer und phantaſtiſch erträumter Art enthielt ſich allerdings Luther, der, wie früher gezeigt wurde, das ethiſche Moment beſon - ders hervorhob und die ſethitiſchen Frommen zwar als erhabene Helden, aber doch nicht als frei von vielerlei Leiden und geiſtlichen Anfechtungen (ſeitens der gottloſen Kainiten) ſchilderte. Aber ſpätere Evangeliſche haben doch mancherlei Phantaſtiſches und dem ſchlichten Wortlaute des Berichts Gewalt Anthuendes ausgeklügelt. So meinte der Chiliaſt Thomas Burnet, wegen noch nicht vorhandner Schiefe der Ekliptik hätte bis zur Sintfluth noch kein Jahreszeiten - wechſel ſtattgefunden, ſondern ein ewiger Frühling, die gleichzeitige Urſache höchſter Fruchtbarkeit des ganzen Erdbodens und vielhundert - jähriger Länge des Menſchenlebens geherrſcht. Die Kometomanen Whiſton und Clüver ließen zwar die Achſendrehung der Erde nebſt dem Jahreszeitenwechſel ſchon gleich nach dem Sündenfalle beginnen, nahmen jedoch bis zur Fluth eine weit größere mittlere Wärme des - Klimas der Erde, als beruhend auf einer noch unmittelbareren Nähe und kräftigeren Wirkung des Centralfeuers an. 2)Burnet, Telluris theoria sacra l. II, London (1682). W. Whiſton, A new theory of the earth etc., Lond. 1696. Noch in neueſter Zeit hat man neben anderen auch derartige Gründe, wie dieſe letzt - genannten geltend zu machen verſucht. So J. N. Tiele (1839),270VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.welcher die ganz andersartigen klimatiſchen Verhältniſſe der Erde vor der Sintfluth beſonders betont, und G. A. Wimmer (1863), welcher ſogar die Burnetſche Theorie von einer noch geraden Stel - lung der Erdaxe vor der Fluth und einem erſt ſeit dieſer ein - getretenen Jahreszeiten-Wechſel von Neuem vorträgt. 1)J. N. Tiele, Bibliſche Chronologie, Bremen 1839. G. A. Wimmer, Adam und ſein Geſchlecht, Verſuch einer Geſchichte der Menſchheit aus ihrer älteſten Urkunde (Bremen 1863), S. 179.Aehnlich C. E. Fürer (1868), der mehrere äußere Naturverhältniſſe als den höheren Lebensaltern der Urzeit wahrſcheinlich zu Grunde liegend andeutet. 2)C. E. Fürer, Das Lebensalter des Menſchen in den verſchiednen Geſchichtsperioden der Erde und der Menſchheit Beweis d. Glaubens 1868, S. 97 f.; 184 ff.Vor allem ſtatuirt auch er für die Urzeit eine weit höhere Temperatur, bezeugt durch die rieſigen Palmen, die man im Eiſe der Polargegenden noch finde, und beruhend auf höherer und gleichmäßigerer Erdwärme als die jetzige iſt. Die Sonnenwärme habe damals noch nicht ſo glutvoll einzuwirken nöthig gehabt, der Unterſchied der Jahreszeiten ſei in Bezug auf die Luftwärme noch ein verſchwindender geweſen; der Wind, das Reſultat der jetzigen Ungleichmäßigkeit in der Luftwärme, ſei noch ſo gut wie ganz in Wegfall gekommen. Ferner habe, laut 1 Moſ. 2, 6, bloßer Nebel, der von der Erde aufſtieg, den Boden befeuchtet; des Regens werde ja erſt ſeit der Sintfluth-Epoche gedacht. Für die einer ſtärkeren Feuchtigkeit bedürftigen Feldpflanzen hätte Gott in dieſen noch regen - loſen Jahrhunderten durch kräftig bewäſſernde Ströme, wie damals die des Paradieſes und heute noch der Nil Aegyptens geſorgt. Sogar eine etwas andersartige Miſchung der atmoſphäriſchen Luft, als die heutige iſt, könne für jene glücklicheren Urzeiten vielleicht gemuthmaaßt und ſo die um Vieles länger dauernde Widerſtands - kraft der menſchlichen Lunge gegen die aufzehrende Wirkung der Atmoſphäre begreiflich gemacht werden. Dieß die äußeren Natur - bedingungen des Zeitalters der Makrobier nach den Annahmen271VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.dieſes Schriftſtellers. Als dem Bereiche des diätetiſchen und ethi - ſchen Verhaltens der Menſchen angehörige lebenverlängernde Um - ſtände fügt er hauptſächlich drei hinzu. 1) Pflanzenkoſt ſtatt Fleiſchkoſt, wenigſtens innerhalb der erzväterlichen Familien; nach 1 Moſ. 1, 29; 9, 3 ſei es höchſt unwahrſcheinlich, ja nicht denkbar, daß die frommen ſethitiſchen Urväter eigenmächtig die Fleiſchnahrung an ſich geriſſen hätten; auch der Wein könne vor der Fluth noch nicht bekannt geweſen ſein; kein Gewürz reizte die Nerven, kein Rauſch - trank hetzte die Pulſe zu wildem Laufe ꝛc. 2) Trotz der nach 1 Moſ. 3, 17 ff. ſchon zu thuenden ſauren Schweißesarbeit ſei doch das auf den Menſchen laſtende Arbeitsjoch noch ein weit leich - teres geweſen als heute; die unendliche Einfachheit aller ſocialen Verhältniſſe bildete den wohlthuendſten Gegenſatz zur Gehetztheit, die ſich jetzt aller Berufsclaſſen nach und nach faſt mit Nothwendig - keit bemächtigte, und hielt vom menſchlichen Organismus noch alle die ſchädlich aufregenden und aufreibenden Einflüſſe unſres modernen Culturlebens fern. 3) Als gewichtigſter Erklärungsgrund ſei endlich die Frömmigkeit der ſethitiſchen Patriarchen in Betracht zu ziehen, bezeugt zwar nur in wenigen Anzeichen und aufbewahrten Aeuße - rungen bei Gelegenheit beſondrer Lebenserfahrungen, entſprechend dem majeſtätiſchen Lapidarſtil jener Urzeit , aber durch den Jn - begriff der ſie betreffenden Nachrichten doch feſtſtehend gleich den Felsblöcken der Cyklopenmauern , gipfelnd in dem wunderbaren Tode des der Verweſung entnommenen Henoch, und auf treffende Weiſe verewigt durch den Ehrennamen Kinder Gottes , womit dieſe ganze Erzväterlinie ſchon geſchmückt zu werden pflege. Uebrigens ſeien, meint Fürer im Zuſammenhang mit dieſer ſchließ - lichen Betonung der perſönlich-individuellen Frömmigkeit als des hauptſächlichſten Erklärungsgrundes, ſchon für die in Rede ſtehende Urzeit ſelbſt die enorm hohen Lebensdauern von 770 970 Jahren wohl nur als Ausnahmen zu denken. Die Mehrheit der Ange - hörigen des ſethitiſchen Familienkreiſes von den Kainiten ganz zu geſchweigen habe ſich zu ſo hohem Alter nicht mehr erhoben,272VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.ja vielleicht ein Durchſchnittsalter von 150 230 Jahren, ähnlich dem gegen die abrahamidiſche Zeit hin in der Patriarchenlinie zur Gel - tung gelangenden nicht mehr überſchritten.

Die Kühnheit der Behauptungen dieſes Apologeten fordert auf manchen Punkten gewiß ſehr zum Widerſpruche heraus. Dennoch ſchließen ſeine Annahmen mehrere theils durch die bibliſche Dar - ſtellung ſelbſt theils durch phyſiologiſche und culturgeſchichtliche That - ſachen nahe gelegte Geſichtspunkte in ſich, die wir nothwendig in genauere Erwägung nehmen müſſen. Auf das Gebiet jener vor Allem von ihm aufgezählten andersartigen äußeren Naturbedingungen um die Geburts - und Kindheitszeit des Menſchengeſchlechts wagen wir ihm kaum zu folgen. Ob die erſten Menſchen zu denjenigen Zeiten lebten, wo wegen größerer Erdwärme, d. i. wegen noch ſtärkerer Wirkung des Centralfeuers, eine höhere und gleichmäßiger warme Temperatur über die Oberfläche des Planeten verbreitet war, dürfte ſehr zweifelhaft ſein. Dieſe Zeiten liegen jedenfalls weit jenſeits der Anfänge unſrer Geſchichte zurück; auch jene Wärme - periode des Miocän, auf welche die Palmen im Polareiſe zurück - zuführen ſind, kann als viel zu entlegen für irgendwelche auf die Epochen der Menſchheitsgeſchichte bezügliche Speculation nicht benutzt werden. Die innerhalb der heutigen Geologie herrſchende Strömung verlegt das erſte Auftreten des Menſchen lieber in die große Eiszeit oder doch unmittelbar ans Ende derſelben. Jſt irgendetwas Rich - tiges an dieſer Zeitbeſtimmung, ſo kann eine derartige Gleichmäßig - keit der Temperatur, ein ſo wenig ſchroffer Jahreszeitenwechſel, wie unſer Apologet ihn annimmt, nirgendwo auf der Erde geherrſcht haben, auch nicht in der äquatorialen Zone, wo oder nahe bei welcher muthmaaßlich der Urſitz der Menſchen ſich befand. Winde und Stürme müſſen ebenſo gut damals vorgekommen ſein, wie jetzt; nicht minder müſſen ſchon Regenniederſchläge ſtattgefunden haben. Für eine angebliche Regenloſigkeit der vorſintfluthlichen Epoche kann weder 1 Moſ. 2, 6 angeführt werden, welche Stelle ſich doch wohl bloß auf Zeit und Zuſtand des Paradieſes bezieht, noch die Erzäh -273VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.lung von der Aufrichtung des Regenbogens als Bundes - und Friedenszeichens nach der Fluth, womit ebenſo wenig wie mit der Angabe vom Sichaufthun der Fenſter des Himmels ꝛc. (1 Moſ. 7, 11 f.) ein erſtes Auftreten der betr. Naturbegebenheiten gemeldet werden ſoll. Daß die Menſchheitsgeſchichte während des Zeit - alters der ſethitiſchen Erzväter auf einem durch Klima und ſonſtige Naturverhältniſſe beſonders begünſtigten Schauplatze ſich abſpielte, geben auch wir zu, wie aus dem vorhergehenden Abſchnitte erhellt. Aber zur Erklärung des ungewöhnlich langen Lebens jener Väter wagen wir dieſe Annahme, ſo wahrſcheinlich ſie uns dünkt, doch nur ganz nebenſächlicherweiſe zu benutzen. Von einer günſtigeren Zu - ſammenſetzung der atmoſphäriſchen Luft während jener Zeiten kann vollends nicht die Rede ſein. Durch welche Mittel chemiſcher For - ſchung ſollte wohl auch nur von fernher etwas Derartiges wie viel - leicht ein ſchwächerer, oder gar ein ſtärkerer Ozongehalt der dama - ligen Luft nachzuweiſen ſein!

Viel ſtärker fallen die dem diätetiſchen und religiös-ethiſchen Bereiche entnommenen Wahrſcheinlichkeitsgründe ins Gewicht. Hier feſſelt vor Allem die Hinweiſung auf die Wahrſcheinlichkeit eines Beſchränktbleibens der Erzväter auf bloße Pflanzennahrung unſre Aufmerkſamkeit. Exegetiſch zuläſſig, durch einige Andeutungen im Schrifttexte begünſtigt, muß eine ſolche Annahme auf jeden Fall genannt werden. Das Schöpferwort Gen. 1, 29 f. enthält aller - dings nicht gerade ein Fleiſchverbot, gedenkt aber doch unter den der Menſchheit zur Speiſe angewieſenen Dingen lediglich des allerlei Kraut und der allerlei fruchtbaren und ſamentragenden Bäume . Und erſt nach der Sintfluth heißt es ausdrücklich: Alles was ſich lebet und reget, das ſei eure Speiſe; wie das grüne Kraut habe ich es euch Alles gegeben (Gen. 9, 3). Da nun zwar der Thierfelle als Bekleidungsmittels ſchon fürs erſte Paar, aber nicht als Nebenproducts von Thiermahlzeiten gedacht wird (Gen. 3, 21), und da ferner zwar von Opfern aber nicht von Opfermahlzeiten der Söhne Adams die iſt, (Gen. 4, 14), ſo ſcheint thatſächlich eineZöckler, Urſtand. 18274VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.gewiſſe Begünſtigung der Annahme einer blos vegetarianiſchen Le - bensſitte der vornoachiſchen Patriarchen durch die h. Schrift ſtatt - zufinden. Die betr. Annahme ſcheint dem Sinne der bibliſchen Erzählung mehr, als ihr Gegentheil, die Vorausſetzung eines unter - ſchiedsloſen Genoſſenwerdens ſowohl von Fleiſch als von Feldfrüchten durch die Erzväter, oder gar von vorwiegender Fleiſchnahrung der - ſelben, zu entſprechen. Kam nun dieſer wahrſcheinlichen vor - herrſchenden Pflanzendiät der Makrobier eine bloß nebenſächliche Geltung für ihre Langlebigkeit zu, oder hat man in ihr einen Haupt - grund, vielleicht gar den Hauptgrund für dieſelbe zu erblicken? Beſtand etwa gerade in ihr jene vollkommne Naturgemäßheit der patriarchalen Lebensweiſe, welche wie ſchon oben bemerkt jedenfalls angenommen werden muß?

Es beſteht ein ziemlich alter Widerſtreit der Meinungen über dieſen Punkt. Altclaſſiſche Philoſophen (Pythagoras, Plato, Plutarch) und Dichter (Heſiod, Ovid) waren es nicht allein, welche in ein - facher Pflanzenkoſt das Urſprüngliche, allein Naturgemäße und Gott - gemäße erblickten; und nicht bloß Tatians Enkratitenſecte und der Manichäismus meinten gemäß ſolcher vom Orient her, aus der Zendreligion, vielleicht ſelbſt aus dem Buddhismus, frühzeitig auch ins Chriſtenthum eindringender Anſchauungsweiſe ihre Lebensſitte regeln zu müſſen. Seit dem Anfkommen des Mönchthums mit ſeiner beſtändigen Abſtinenzdiät wurde die Vorſtellung von einer ſelbſtverſtändlich ſtreng vegetarianiſchen Koſt der Urväter zur herr - ſchenden in der Kirche. Hieronymus führte u. a. auch ſie wider Jovinians Herabſetzung des Werths der kirchlichen Faſten ins Feld; Chryſoſtomus, Theodoret, Beda und andre einflußreiche Geneſis - Ausleger entwickelten ähnliche Anſichten. Theils von dieſen patri - ſtiſchen Vorgängern, theils von gelehrten Rabbinen wie Jbn Esra, Raſchi, Rabbi Jehuda, Albo ꝛc. überkam das ſpätere Mittelalter die gleiche Theorie. Daß Fleiſcheſſen vor der Fluth noch etwas Gottwidriges und Verbotenes war, daß höchſtens die gottloſe kaini - tiſche Menſchheit von der allgemeinen Regel des bloßen Fruchteſſens275VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.abgewichen ſei, ſtand ſolchen Auslegern wie Thomas Aquin (laut ſ. Comment. zu Röm. 14, 2), Lyra, Toſtatus, Dionyſius Carthu - ſianus unbedingt feſt. Als Cardinal Cajetan die Zeit, wo man durch göttliches Gebot ſtreng vegetarianiſch zu leben verpflichtet geweſen, auf das Paradies zu beſchränken wagte, begieng er eine kühne Neuer - ung, die ihm ſeitens der folgenden römiſchen Exegeten manchen Tadel zuzog. 1)Doch folgten ihm einige ſeiner Confeſſionsverwandten, wie Domingo de Soto und Victoria; bedingterweiſe auch Pererins, deſſen oben mitgetheiltes Regiſter der Gründe für die höhere Langlebigkeit der Patriarchen jedenfalls nicht ausdrückliches Gewicht auf bloße Kräuterkoſt legt. Vgl. meine Geſchichte der Beziehungen ꝛc., I, 627 (wo übrigens ſonſt, namentlich betreffs Luthers und ſeiner Nachfolger, einige ungenaue, nach der vorl. Darſtellung zu berichtigende Angaben mit eingefloſſen ſind). Selbſt in die evangeliſche Lehrtradition drang die An - nahme, welche ein gewiſſes Fleiſchverbot gemäß 1 Moſ. 1, 29; 9, 3 bis zum Schluſſe der vorſintfluthlichen Zeit erſtrecken zu müſſen meinte, frühzeitig ein. Selbſt Luther ließ dieſes Fleiſchverbot erſt durch jenes Wort Gottes an Noah und ſeine Söhne aufgehoben werden, und zwar auch da nur mit Bezug auf die reinen Thiere; das Eſſen unreiner Thiere, als Schlangen, Wölfe, Raben, Mäuſe ꝛc. ſei ſelbſtverſtändlich auch ferner noch verboten geblieben; nur die zum Opfern geeigneten Thiere ſeien der Menſchheit ſeit der Fluth als Speiſe geſtattet worden. Jedenfalls erſcheine dieſe Macht, Fleiſch zu eſſen, als eine neue Gabe ; vor der Fluth galt noch nicht das Wort: Euer Furcht und Schrecken ſei über alle Thiere auf Erden, über alle Vögel unter dem Himmel ꝛc. und zwar aus dem ein - fachen Grunde nicht, weil die Thiere damals zum Getödtet - und Gegeſſenwerden durch den Menſchen noch nicht beſtimmt waren, weil der Menſch ihnen noch als friedlicher Hausherr, nicht als Tödter oder Vertilger gegenüberſtand. 2) fuit homo tanquam civilis dominus bestiarum, non fuit occisor aut vorator (Comm. in Genes., tom. II, p. 280; vgl. die Pred. über 1 Moſe, zu Gen. 9, 1 f. (S. 203).Die meiſten angeſeheneren luthe -18*276VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.riſchen Ausleger im 16. und 17. Jahrhundert ſchloſſen ſich dem Reformator hierin an (Brenz, Chriſtian Chemnitz, Gerhard, Seba - ſtian Schmid, Calov). Und entgegen dem die Erlaubtheit des Fleiſcheſſens auch ſchon für die vorfluthliche Menſchheit beſtimmt behauptenden Calvin welchem hauptſächlich nur Andreas Rivet in Leiden und I. H. Heidegger in Zürich ſich anſchloſſen1)Calvin, Comm. in Genes., Genev. 1563; A. Rivet, Exercitatt. theoll. et scholastt. in l. 1 Mos., qui Genesis inscribitur, Roterod. 1651; I. H. Heidegger, De libertate christianorum a re cibaria, Amstelod. 1662, ſowie: Exercitatt. selectae de hist. patriarcharum, ib. 1667. hielt auch die Mehrheit der Reformirten bis ins 18. Jahrhundert hinein an der Annahme ſtreng vegetarianiſcher Sitte der Frommen in vor - noachiſcher Zeit feſt (Zwingli, Musculus, Petr. Martyr, Junius, Piscator, Lightfoot). Beſonders angelegentlich vertheidigten die armi - nianiſchen Exegeten (Grotius, Clericus ꝛc. ) dieſe Auffaſſung; einer derſelben führte ſowohl Ovids poëtiſche Schilderung der unſchul - digen Menſchheit des goldnen Zeitalters, als die Vorliebe kleiner Kinder für den Genuß von Obſt und Früchten als Beſtätigungs - gründe dafür an, daß die Erzväter Fruchteſſer geweſen ſein müßten, dehnte dabei auch das Blutverbot 1 Moſ. 9, 4 rückwärts auf die vornoachiſche Zeit aus und behauptete obendrein die Giltigkeit dieſes Verbots auch noch für die Chriſtenheit. 2)So Stephan Curcelläus: Diatribe de esu sanguinis inter Christianos, Amstelod. 1659 gegen welche Schrift dann Heidegger in der angeführten Abth. De libertate ꝛc. auftrat. Claſſikerparallelen und ſonſtige außerbibliſche Zeugniſſe für eine abstinentia ab esu animalium bei den älteſten Menſchen führte auch Gerh. Joh. Voſſius De relig. gentilium ſehr angelegent - lich an.Dieſen ascetiſirenden Anwandlungen begann man erſt gegen das 18. Jahrhundert ſich allgemeiner zu entwinden. Nachdem Einzelne in Vertheidigung der - artiger mittlerer Anſichten wie: bloß unreine Thiere ſeien den vor - fluthlichen Menſchen von Gott verboten geweſen (Hoſemann), oder: bei der in Wolluſt erſoffenen kainitiſchen Race habe allerdings ſchon reichlicher Fleiſchgenuß ſtattgehabt (Gerh. I. Voſſius; Delany277VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.u. AA. ), oder: nicht ſowohl abſolute Fleiſch-Abſtinenz, als vielmehr Vermeidung ſtarker Getränke oder gar zu gut ſchmackhafter und delicater Speiſen , bei gleichzeitigem fleißigem Eſſen von Safran und Honig, (!), Salben des Leibs mit Oele, Tragen warmer Klei - der ꝛc. habe dem langen Leben der frommen Sethiten zu Grunde gelegen (Hakewill), ſich verſucht hatten:1)Vgl. Sig. Hofemann, Notae ad Lightfootii observationes in Ge - nesin, p. 153; Gerh. I. Boſſius, a. a. O.; Patrick Delany, Auffrichtige Unterſuchung der Offenbahrung ꝛc. (a. d. Engl. v. Lemcker, Lüneburg 1738), S. 224 u. 286 ( ähnlich auch ſchon Piscator und der Katholik Cornelius a Lapide in ihren Geneſiscommentaren ); Hackewill, Apology of the Providence, p. 181, angeführt von Derham in ſ. Phyſikotheologie , Hamb. 1750, S. 345. trat beſonders der Je - nenſer Philologe I. And. Danz als kräftiger Vorkämpfer der ſchon vor der Sintfluth erlaubten Kreophagie auf. Jhm folgten dann Lemcker und andre lutheriſche Vertheidiger dieſer Annahme2)Joh. Andreas Danz, Disputatio de creophagia ante diluvium licita. Jenae 1709. C. H. Lemcker, in Zuſatz VI zu ſeiner eben cit. Ueberſ. von Delany’s Auffricht. Unterſuchung ꝛc., S. 453 ff., wäh - rend für die reformirte Theologie namentlich die wiederholten Auf - lagen der Patriarchengeſchichte jenes Heidegger ſammt andren Autoritäten ihren Einfluß zu Gunſten der Meinung Calvins geltend machten. Dieß freilich ohne die entgegengeſetzte Auffaſſung ganz verdrängen zu können, die auch noch unter den neueſten Auslegern und bibliſchen Hiſtorikern beider Bekenntniſſe hie und da wieder - kehrt. 3)So bei Delitzſch und Keil in ihren Commentaren zu Gen. 1 u. 9, bei Wimmer, Adam u. ſ. Geſchlecht ꝛc., S. 223, u. ſ. f. natürlich auch bei allen modernen Begetarianern, vgl. u. a. Joh. Ant. Gleïzés, Die Ent - hüllung des Chriſtenthums oder die Glaubenseinheit für alle Chriſten; a. d. Franzöſ. von Ed Baltzer, Leipz. 1879, S. 2 f.

Wer hat nun Recht? Was die exegetiſche Seite des Prob - lems betrifft, ſo befinden doch wohl die Gegner der Annahme eines unbedingten Vegetarianismus der Erzväter ſich allein im Rechte. 278VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.Ein eigentliches Fleiſchverbot für die Zeiten vor der Fluth kann ebenſowenig im bibliſchen Texte nachgewieſen werden, wie eine that - ſächliche völlige Abſtinenz der Sethiten vom Fleiſchgenuſſe bei gleich - zeitiger carnivorer Praxis der Kainiten. Davon vollends, daß Jenen ihre muthmaaßliche Beſchränkung auf Pflanzenkoſt vom bib - liſchen Erzähler zum beſonderen Lobe angerechnet werde, während derſelbe andrerſeits den angeblichen frühen Uebergang der Kainiten zum Tödten und Eſſen von Thieren als ein Symptom ihrer zuneh - menden Frevelhaftigkeit behandle, iſt auch nicht die leiſeſte Spur im Texte wahrzunehmen. Viel eher laſſen ſich demſelben gewiſſe Anzeichen zu Gunſten der Annahme eines nicht abſoluten ſondern nur relativen, gewiſſe Ausnahmen zulaſſenden Sichbindens der ſethi - ſchen Erzväter an pflanzliche Koſt entnehmen. Was ſchon Danz, Lemcker ꝛc. an die Spitze ihrer antivegetarianiſchen Auseinander - ſetzungen ſtellten: daß weder Abels Hüten der Heerde und Opfern, noch die Bekleidung der Protoplaſten und ihrer Nachkommen mit Thierfellen, ohne die ergänzende Annahme auch des Eſſens vom Fleiſche der gelegentlich getödteten Thiere einen vernünftigen Sinn und Zweck ergebe, iſt vollkommen richtig. Thieropfer ohne beglei - tende Opfermahlzeiten ſind etwas Unerhörtes in der Geſchichte; auch ſetzt die Erwähnung der von Abel ausgeſonderten Fettſtücke ſowie der (gleichfalls nach jehoviſtiſcher Angabe, Gen. 7, 2) bereits vor der Fluth zur Ausbildung gelangte Unterſchied zwiſchen Rein und Unrein, das Geſchlachtet - und Genoſſenwerden von Thieren als etwas längſt Beſtehendes voraus. Hören läßt ſich auch das weitere von jenen Vertheidigern der vorfluthlichen Kreophagie geltend ge - machte Argument: daß es frühzeitig zur Nothwendigkeit werden mußte, Thiere zu ſchlachten, um die ungeheuer ſtarke Vermehrung der Thierwelt zu dämpfen. Nicht minder jener weitere Grund: die im göttlichen Schöpfungsſegen Gen. 1, 28 f. enthaltene Mit - erwähnung der Fiſche im Meere als der Menſchheit gleichfalls unterworfen, bleibe ohne vernünftigen Sinn, wenn nicht bereits hier an Fiſchfang und Fiſchkoſt gedacht ſei; denn nur als Speiſe ver -279VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.möchten die thieriſchen Bewohner des wäſſrigen Elements dem Men - ſchen zu nützen. Wir möchten übrigens bei Betrachtung der den Menſchen in ſeine Herrſchaft über die Thiere einſetzenden Worte des Schöpfers noch einen Schritt weiter gehen und fragen: ob nicht ſelbſt die Vögel weſentlich nur als Gegenſtände des Jagens und Verzehrens genannt ſein können? Oder falls man dieß im Wider - ſpruche mit dem zu eurer Speiſe (1, 29) ſtehend findet: ob denn überhaupt dieſes göttliche Segenswort ſeine Bedeutung darin habe, daß es dem Menſchen dieſe oder jene Claſſe von Nahrungsmitteln zuweiſe, und nicht vielmehr darin, daß es den Vorzug des Menſchen vor ſeinen Naturgenoſſen, den Thieren, nach einer beſonderen Seite hin betonen will? ob nicht ſein contextgemäßer Sinn eigentlich dieſer iſt: ſoweit Menſch und Thier ihre Nahrung dem Gewächsreiche ent - nehmen, ſoll der Menſch als das Haupt der Schöpfung vor den gleich ihm nahrungsbedürftigen Thieren den Vorzug haben, daß nur die edelſten Theile der höchſt organiſirten Pflanzen die ihm ent - ſprechende Nahrung bilden, während zur Nahrung der Thiere auch die geringeren Beſtandtheile der Pflanzenwelt ausreichend ſein ſollen . 1)So mit Recht A. Köhler, Bibl. Geſchichte des A. Bds., I, 33 f. Man ſieht, wie wenig die Pflanzenkoſt-Hypotheſe vor - hält, wenn man ihr in ſtrengerer exegetiſcher Unterſuchung auf den Grund geht. Und nützt denn wirklich dieſe Hypotheſe ſo Bedeu - tendes zur Erklärung deſſen, was ſie erklären ſoll? Sind phyſiolo - giſcher Erfahrung zufolge ausſchließliche Pflanzennahrung und unge - wöhnlich hohes Lebensalter ſolidariſch verbundene Dinge?

Gerade hier würden nun concrete Beiſpiele, ſei es aus dem Völkerleben der Buddhiſten oder der alten Perſer ꝛc., ſei es aus der Geſchichte chriſtlicher Mönche und Asketen, werthvollen Aufſchluß bieten können. Dem materialiſtiſchen Phyſiologen Moleſchott, der nur auf Grund unmittelbar vorliegenden der Gegenwart entnomme - nen empiriſchen Materials urtheilt, wenn er die Beſtimmung des Menſchen zu gemiſchter Koſt als etwas apodictiſch Gewiſſes, als280VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.eine ſchlechthinige Naturbedingtheit darſtellt,1)Moleſchott, Phyſiologie der Nahrungsmittel (2. Aufl. Gießen 1859), S. 231: Der Menſch gehorcht alſo einer Naturbedingtheit, wenn er gemiſchte Koſt genießt. Die Natur habe ihn zum gleichzeitig carnivoren wie herbivoren Weſen beſtimmt; Erſchwerung der Blutbereitung, Herabſinken des Körpers zu bloßem Vegetiren, Ueberfüllung des Darmkanals mit ungelöſten Stoffen, alſo beſtändige Verſtopfung, Trägheit und Unluſt zum Arbeiten ꝛc. ſeien die unaus - bleiblichen Folgen einer Ernährung durch bloße Pflanzenkoſt ꝛc. Daß andere mediciniſch-naturwiſſenſchaftliche Autoritäten dieſer Anſicht keineswegs in allen Punkten zuſtimmen, ſ. unten. würden wir in der That hier weniger trauen, als wohlgeſicherten hiſtoriſchen Exempeln, falls nur ſolche in genügender Zahl erbracht werden könnten. Aber gerade darum iſt es recht dürftig beſtellt, wie ein Blick auf das immerhin uns noch näher liegende und, verglichen mit den überall ins Fabelhafte verlaufenden Nachrichten von jenen Völkern des Orients, relativ wohlbeglaubigte Gebiet der chriſtlichen Heiligen - und Mönchsgeſchichte lehrt. Von ganz apokryphiſchen Legenden wie die von den ſieben Schläfern zu Epheſus (nach Gregor vom Tours aus 197 jährigem Schlafe ſeit der Decianiſchen Chriſtenverfolgung geſund wieder erwacht 447!), oder die vom Ciſtercienſermönche Heron in Gallizien um 1167, den ein von Gott geſandter lieblicher Vogel 300 Jahre lang in einer Einöde umhergeführt haben ſoll, um ihm einen Begriff von der Ewigkeit zu geben,2)Annales Cistercc., ad ann. 1167, cap. 7. Hieher könnten auch die Fabeln mittelalterlicher Aerzte von der Kraft gewiſſer Elixire (nach Rog. Baco in einem Falle mit der Wirkung einer Lebenverlängerung bis zu 900 Jahren) u. dgl. m. gezogen werden. ſehen wir ſelbſt - verſtändlich ganz ab, zumal dieſelben kaum indirecterweiſe für die Annahme einer lebenverlängernden Kraft des Ascetismus, bezw. des Vegetarianismus verwerthet werden könnten. Halten wir uns an bekannte und im Ganzen ſicher bezeugte Beiſpiele aus der chriſtlichen Kirchen - und Mönchsgeſchichte: was nehmen wir wahr? Die hart arbeitenden Knechte im Weinberge Chriſti, ſoweit ſie nicht durch frühzeitigen Märtyrertod gleich Jakobus, Paulus, Petrus dahin281VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.gerafft werden, dringen großentheils noch nicht einmal zu jener im 90. Pſalm beſtimmten normalen Altersgrenze von 70 Jahren vor; man denke an Baſilius d. Gr., Chryſoſtomus, Gregor d. Gr., Bernhard, Franziscus und Dominicus, u. ſ. f. Zum (angeblich, nach Prospers Chronik) 90 jährigen Alter des Hieronymus, des Schutzpatrons der gelehrten Mönche und Prälaten, ſind mehrere berühmte Kirchenlichter und Helden der Askeſe emporgedrungen, ſei es in vollreichlichem Maaße, ſei es wenigſtens annähernd; wir nennen beiſpielshalber von ſeinen Zeitgenoſſen Epiphanius (etwa 93 I.) und Didymus den Blinden (93) I.), ferner Caſſiodorius (95 I.), Gallus (95 I.), Nilus von Gaëta (95 I.), Albert d. Gr. (88 I.) Ruysbrock (88 I.), Thomas v. Kempen (91 I.), Franz v. Paula (91 I.), Honorius von Cintra (95 I.). Ueber hundert Jahre läßt die urchriſtliche Sage den Apoſtel Johannes leben. Von ſpäteren Ultracentenariern verdienen Hervorhebung der ägyptiſche Mönchspatriarch Antonius (105 I.), der große Dogmatiker Jo - hannes Damaſcenus, (nach freilich erſt ziemlich ſpäter Sage über 100 Jahre alt geworden), Großfürſtin Helena-Olga, die Bekehrerin der Ruſſen (geſt. 970, angeblich über 100 I. alt), Biſchof Alde - brand von Foſſombrone in Umbrien im 12. Jahrhundert (über 100 I.), Guilbert von Sempringham, der Stifter des Guilber - tinerordens (106 I.), ein nicht genannter Greis in Rom unter Bo - nifaz VIII., auf deſſen Ausſage hin dieſer Papſt das Jubeljahr für d. I. 1300 anordnete (angeblich 107 I.), ꝛc. Bis zu dem abnorm hohen Alter von ungefähr 126 Jahren ſollen es gebracht haben: Biſchof Symeon von Jeruſalem, des Klopas Sohn, Märtyrer unter Kaiſer Trajan (120 I.), Romuald von Arezzo, der Stifter des Camaldulenſerordens, geſt. 1018 (120 I., nach anderen Nachrichten jedoch nur etwa 76 Jahre), der Eremit Gregorius Celli aus Ver - ruchio, geſt. 1343 (118 Jahre), endlich, wie es ſcheint, der große Gottesfreund auf der Brüderalp am Entlebuch, zu welchem im Jahre 1421 ein römiſcher Cardinal als zu einem Wunder von Heilig - keit und hohem Alter eine Reiſe machte und der das hundertſte282VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.Lebensjahr weit überſchritten haben ſoll. 1)Lütolf, Der Gottesfreund im Oberland Jahrb. für ſchweizer. Ge - ſchichte, I, (Zürich 1876), S. 1 ff.Aus der neueren Cultur - geſchichte des Orients mag hier nochmals erwähnt werden, daß nach dem Reiſenden Kolenati manche armeniſche Chriſten, Mönche und Nichtmönche, trotz ihrer häufigen 40tägigen Faſten bei Brot und bloßem Malvengemüſe, doch ein Alter von über 120 Jahren erreichen ſollen. Für die Frage, ob vegetarianiſche oder doch weſentlich vegetarianiſche Diät eine beträchtlich lebenverlängernde Wirkung zu üben vermöge, liefert das Ergebniß dieſer flüchtigen Ueberſchan offen - bar einen Gewinn von nur problematiſchem Werthe. Eigentliche Vegetarianer ſind ſicherlich nur die allerwenigſten der genannten Heiligen und Asketen geweſen. Jm ſtrengſten Sinn des Worts kann vielleicht nur Franz von Paula als ein alle Fleiſchkoſt be - harrlich meidender Asket betrachtet werden; doch geſtattet ſelbſt ſeine über die Maaßen ſtrenge Regel für den Fall von Reiſen und er machte deren bekanntlich gar manche ein Abgehen von der rigoroſen Faſtendiät! Wollte man nun trotzdem für die meiſten Genannten eine gewiſſe relativ-vegetarianiſche Lebensweiſe voraus - ſetzen, und wollte man ferner die ungefähre Richtigkeit der für ſie angegebenen Altersdaten annehmen (in Bezug worauf freilich auch die größte kritiſche Vorſicht zu wahren ſein wird): ein irgendwie erheblicher lebenverlängernder Einfluß ſtreng-asketiſcher oder vegeta - rianiſcher Diät könnte nimmermehr aus dieſen ſpärlichen Beiſpielen von nahezu 100jährigem und mehr als 100 jährigem Alter er - ſchloſſen werden. Jn Anbetracht des faſt 2000 jährigen Zeitraums, dem unſre Exempelſammlung entnommen; in Anbetracht ferner der nach Hunderttaufenden zählenden Menge asketiſch lebender Chriſten, die es nicht zu ähnlich langer Lebensdauer gebracht; in Anbetracht endlich der überaus zahlreichen Fälle aus dem nicht-asketiſchen Profan - leben, welche die Erreichung ähnlich hoher Altersziffern uns vor Augen ſtellen, muß das Ergebniß unſrer flüchtig vorgenommenen283VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.Prüfung faſt gleich Null angenommen werden. Eine gründlicher eingehende und erſchöpfendere Prüfung der Fälle hohen Lebensalters bei Asketen würde ſchwerlich etwas Weſentliches an dieſem Reſultate ändern. Es bleibt bei dem alten Erfahrungsſatze, daß ungewöhn - liche Strenge des Sichkaſteiens mit Faſten u. dgl. des Lebens Länge eher verringert als ſteigert, und daß der aus dem Fruchteſſerthum reſultirende Gewinn in makrobiotiſcher Hinſicht als ein durchaus problematiſcher, jedenfalls geſchichtlich nicht beſtimmt nachweisbarer daſteht. Mit dem Verſuche, den Nichtgebrauch von Wein, ge - brannten Waſſern, Taback und ſonſtigen narkotiſchen Genußmitteln, Kaffee, Thee und ſonſtigen alkaloidhaltigen Getränken ꝛc. auf die Frage wegen ſeiner eventuellen makrobiotiſchen Wirkung geſchichtlich zu prüfen, würden wir, wie immer das Ergebniß lauten möchte, überhaupt nichts auch nur mittelbarerweiſe für unſer Thema Be - langreiches erzielen. Die Dauer der Menſchenleben war in’s Sinken gerathen, lange bevor Noah Weinberge zu pflanzen begann; ſie ſank fort und fort bis zum jetzigen Durchſchnittsalter herab, lange bevor Kaffe, Taback u. dgl. m. entdeckt waren; es iſt deßhalb ſehr überflüſſig, den phyſiologiſchen Wahrſcheinlichkeitsgründen für die Langlebigkeit der Sethiten auch Hinweiſungen auf die Abweſen - heit ſolcher Genüſſe beizufügen. 1)Wie Fürer dieß thut, a. a. O. S. 105.Erwähnt werden mag übrigens bei dieſer Gelegenheit, daß nach Harvey’s Zeugniß old Parr bis zu ſeinem Lebensende gelegentlich ſein Glas Ale und Cider zu trinken pflegte, und daß jener angeblich noch 33 Jahre älter als Parr ge - wordene Ungar Czarten nach Hufeland u. AA. bis zuletzt ein ſtarker Raucher geweſen ſein ſoll.

Weder Fruchteſſerthum noch Temperanzlerthum fördern uns in unſrer Frage. Es ſoll aber aus dem lediglich negativen Ergebniſſe, das dieſe Gebiete liefern, doch noch nicht der Schluß gezogen werden, daß die phyſiologiſche Wiſſenſchaft und eine nach ihren Vorſchriften geregelte diätetiſche Praxis für alle Zukunft unfähig zur Beſchaffung284VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.irgendwelcher Analogiebeweiſe für die Thatſachen des Makrobierthums der Urzeit bleiben würden. Vielleicht erbringt die zukünftige medi - ciniſche Makrobiotik noch einmal wirklich ſolide Erklärungsgründe für das uns beſchäftigende Phänomen, zu deſſen phyſiologiſcher Be - greiflichmachung alles bisher Beigebrachte ſich als unzureichend erwieſen hat. Auf jeden Fall behaupten nicht alle wiſſenſchaftlichen Autoritäten der Gegenwart mit gleicher Schroffheit wie der Materialiſt Moleſchott die abſolute Unverträglichkeit vegetarianiſcher Lebensweiſe mit vollkommen geſundem und arbeitskräftigem Zuſtande des Menſchen. Es iſt kein Geringerer als Charles Darwin, der, wie er ſchon früher in Bezug auf die möglichen Leiſtungen der fortſchreitenden medi - ciniſchen Wiſſenſchaft außerordentlich hohe Erwartungen ausdrückte, ſo ſpeciell über die vegetarianiſche Frage jüngſt ſich dahin erklärte, daß er dieſelbe noch für eine durchaus offene, durch genauere ſtati - ſtiſche Unterſuchung bisher in keiner Weiſe genügend aufgehellte halte. 1)Siehe ſeinen Brief an einen Begetarianer (K. H.) im Ausland 1879, Nr. 23. Vgl. ſeine Abſtammung des Menſchen II, 348.Zukünftige Forſchung kann möglicherweiſe hier noch lehrreiche Auf - ſchlüſſe bringen. Vorläufig muß es dabei bleiben, daß das von der phyſiologiſchen Wiſſenſchaft bisher verarbeitete empiriſche Material zur Ausfüllung der weiten Kluft zwiſchen einſtiger und heutiger Langlebigkeit der Menſchen wenig oder nichts beiträgt.

Nur die beiden letzten jener von Fürer angegebnen Erklärungs - gründe erſcheinen nach dem Allem wahrhaft triftig und ſtichhaltig. Einerſeits in der auf das Beſtimmteſte und Unzweideutigſte bibliſch bezeugten perſönlichen Frömmigkeit der Patriarchen, ſowie andrerſeits in der nicht minder vollſtändig den Vorausſetzungen des bibliſchen Berichts entſprechenden unendlichen Einfachheit der urzeitlichen ſocialen Verhältniſſe hat man ohne Zweifel die wichtigſten, ja die allein durchſchlagenden Momente, woraus jene außerordentlich hohen Lebensalter ſich erklären, zu erblicken. Dem Glauben an eine göttlich-heilsgeſchichtliche Führung und Beſtimmung285VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.der menſchlichen Geſchicke genügen dieſe beiden Gründe eigentlich vollſtändig. Sie ſind thatſächlich nur Ein Grund; in der dem chriſtlichen Offenbarungsglauben gewiſſen Thatſache eines Ausgegan - genſeins aller religiös-ſittlichen Entwicklung unſres Geſchlechts von einem ſchuldloſen Urzuſtande iſt die weitere Thatſache eines nur allmähligen Herabſinkens einerſeits in immer ſündigere und andrer - ſeits in immer complicirtere, geſellig verwickeltere und culturell fort - geſchrittenere Zuſtände als ſchlechthin unausweichliche Conſequenz enthalten. Hieng der Verluſt der urſprünglich beſeſſenen unver - gänglichen Lebensdauer als unmittelbare Folge am Verluſte der ur - ſprünglichen Unſchuld, und gieng dieſe Unſchuld nicht mit Einem Male ganz, ſondern wie durch einen organiſchen Proceß nur ſchrittweiſe und allmählig verloren, ſo kann das Verlorengehen auch der einſtigen Unvergänglichkeit des Lebens nur ſchrittweiſe und langſam erfolgt ſein. Gleich der Urreinheit leiſtete auch die Urkraft der Menſchennatur dem Umſichgreifen des mit dämoniſcher Gewalt über ſie gekommenen Verderbens zähen Widerſtand. Da wenigſtens, wo die urſprüngliche Reinheit und Widerſtandskraft gegen die Sünde vorzugsweiſe intact blieb, in der Familie der frommen Nachkommen Seths ſchwerlich auch in den übrigen Geſchlechtern, über deren Lebensdauern der bibliſche Bericht bedeutſamerweiſe ſchweigt und hin - ſichtlich deren deßhalb ein Stehenbleiben bei kürzeren Lebenszielen wohl gemuthmaßt werden darf1)Zu beſtimmteren Muthmaaßungen, wie etwa jene oben angeführte von Fürer, der das gewöhnliche Alter der Menſchen in der Makrobierzeit auf 150 230 Jahre zu beſtimmen wagt, gebricht es im Text an den nöthigen Anhalts - punkten. muß das Vermögen des Wider - ſtands auch gegen die auflöſende Macht des Todes als ein ungemein kräftiges Generationen hindurch erblich geblieben ſein. Das Phänomen dieſes noch nach Jahrhunderten zählenden, eine lange Folge von Nachkommengeſchlechtern nicht etwa bloß begründenden ſondern um - ſpannenden Lebens der frommen Erzväter will vor Allem unter dem286VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.Geſichtspunkte einer alles jetzt Bekannte und Mögliche weit über - ſteigenden Aeußerung menſchlicher Lebenskraft aufgefaßt ſein. Unter dieſem Geſichtspunkte ſtellt es ſich uns beſonders auch in - ſofern dar, als das bis in ein für uns unerhört hohes Alter währende Zeugungs vermögen eine phyſiſche Kraft der außerordent - lichſten Art verräth.

Der heutigen mediciniſchen Empirie erſcheint eine ſolche inner - halb mehrerer Jahrhunderte nicht ermattende Zeugungsfähigkeit als ein abſolutes Wunder: für die auf dem Glauben an einen ſchuldloſen Urſtand fußende heilsgeſchichtliche Betrachtungsweiſe des Theologen iſt ſie eine hiſtoriſche Nothwendigkeit. Wäre über dieſe Jahrhunderte umfaſſende Zeugungs - und Lebensthätigkeit der frommen und kraftvollen Normalmenſchen jener Urzeit bibliſch nichts überliefert, man müßte ſie muthmaaßen; natur - wie menſch - heitsgeſchichtliche Analogien nöthigen dazu. Was im Leben der Pflanzendecke unſrer Erde jene wunderſame Triebkraft der erſten Monate nach wiedergekehrtem Frühjahre iſt, welche Büſche und Bäume zauberhaft ſchnell mit üppigem Blätterſchmuck und dichtem Blüthenſchauer überdeckt, um dann einer viel ruhigeren und unmerk - licheren Entwicklung Platz zu machen, die das ſchließliche Wiederhin - welken und Abſterben ankündigt, das waren im Leben der Geſammt - menſchheit jene zwei erſten Jahrtauſende einer nur langſam nach - laſſenden ſchöpferiſch zeugenden Urkraft des Erzvätergeſchlechts. Auch das individuelle Völkerleben weiſt überall, wo es bis zu ſeinen früheſten Wurzeln zurückverfolgt werden kann, Zeiten der Urkraft und des erſten üppigen Blühens und Gedeihens auf, die dann langſam ins Sinken und Welken übergehen. Jnsbeſondere die linguiſtiſche Forſchung zeigt dieſes Phänomen in Geſtalt eines raſch und reich aufblühenden, dann aber nach und nach wieder abblühenden Sprachen - frühlings an der Spitze unſres indoeuropäiſchen Völkerlebens und zu Anfang der Entwicklung noch andrer großer Stämme des Menſchengeſchlechts. Und ſollte ferner nicht auch im früheſten Jugend - leben des Einzelmenſchen Analoges zu vergleichen ſein? Das Kind287VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.verfügt über gewaltigere Kräfte des Gedächtniſſes, der Einbildungs - kraft, der Combinirfähigkeit, des leichten und ſichren Fortſchreitens im Sprechen, in Handgeſchicklichkeiten und techniſchen Fertigkeiten aller Art, welche ſämmtlich in ſpäteren Jahren eine namhafte Ver - ringerung erfahren. Es lernt in ſeinen erſten acht Jahren verhält - nißmäßig mehr, als nachher in achtzigen; es macht in jenem ſeinem Lebensfrühling nach ſeinen Körper - wie Geiſteskräften eine größere Entwicklung durch, als in allen folgenden Entwicklungsſtadien. Sollte nicht gerade in dieſen kräftigen körperlichen und geiſtigen Wachs - thumsphänomenen des Menſchen im Kindheitsſtadium ein mikrokos - miſches Abbild jener gewaltigen phyſiſchen Zeugungs - und Lebenskraft unſres geſammten Geſchlechts während ſeines früheren Jugendalters zu erblicken ſein? Der Vergleich ſcheint inſofern wenig zutreffend, als dort greiſe Patriarchen, durch eine Reihe von Jahrhunderten hindurchgegangen und umgeben von Urenkeln und Ururenkeln, hier der raſch verfliegende goldne Lebensmorgen eines von der Mutter - liebe zarten Sorgen bewachten Kindleins, eine Epoche von kaum ſo viel Jahren als dort Jahrhunderte, in Betracht gezogen werden. Aber nicht die lange Lebensdauer, ſondern die auf langhin unver - wüſtliche Lebensfriſche und Zeugungskraft jener Urväter bildet unſren Vergleichspunkt, bildet das eigentlich Bewundernswerthe, das heils - und weltgeſchichtlich vor Allem Bedeutſame in jenem grundlegenden Abſchnitte der Menſchheitsgeſchichte! Zur Kürze des Kindheitsſtadiums fehlt es dabei keineswegs am entſprechenden Gegenbilde, denn ſo wunderbar lang die Einzelleben, ſo kurz erſcheint die Geſammtreihe der Makrobier. Sie greifen gewaltig weit und tief ineinander über, dieſe gigantiſchen Quadern des bibliſch urzeitlichen Fundaments der Menſchheitsgeſchichte, und doch bedeckt das feſtgefügte Mauerwerk einen verhältnißmäßig nur ſo wenig ausgedehnten Raum!

Jſt’s denkbar, daß die Geſchichte des Völkerlebens ſeit dem Beginn der hiſtoriſchen Zeit aus einem zwar ſo ſtarken, aber doch ſo concentrirten und wenig weitverzweigten vorhiſtoriſchen Wurzelſtock erwachſen ſein ſollte? Genügt die Folge von nur zehn ineinander288VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.verſchlungenen Urväter-Generationen, durch welche kaum zwei Jahr - tauſende bedeckt werden, als Zwiſchenglied zur Ausfüllung des zwiſchen der paradieſiſchen Geburtszeit unſres Geſchlechts und ſeiner geſchichtlich bekannten Entwicklung gelegenen Zeitraumes kindlichen Unbewußtſeins? Es iſt das die letzte Frage, die wir aufzuwerfen haben und auf welche uns die folgende Unterſuchung antworten wird.

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IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.

Wie weit liegt die paradieſiſche Urzeit ſammt dem Makrobier - thum im Hauſe Seths als ihrer Abendröthe jetzt hinter uns? Sind die Angaben des bibliſchen Berichts, aus welchen ſich das Verſtrichen - ſein von etwa ſechs Jahrtauſenden ſeit jener und von 5 Jahr - tauſenden ſeit dieſer ergibt, als genau zu betrachten, oder hat man darin Lücken zu muthmaaßen, ja vielleicht gar ihren mythiſchen Charakter anzunehmen? Hat man mit Chalmers, Prichard, de Sacy, le Hir, Hamy, Lenormant, Malet und andren zwar bibelfreundlichen, zugleich aber auch der modernen Naturforſchung Rechnung tragenden Gelehrten ſich bei dem Satze zu beruhigen: daß die Bibel ein be - ſtimmtes chronologiſches Syſtem nicht habe und daß deßhalb ein An - ſchluß an die neuerdings beliebten Altersſchätzungen dem ſchriftgläubigen Chriſten durch Nichts verwehrt ſei? 1) Il n’y a pas de chronologie biblique , pflegte der berühmte Orien - taliſt Sylveſtre de Sacy zu ſagen; ähnlich le Hir: La chronologie biblique flotte indécise; c’est aux sciences humaines qu’il appartient de retrouver la date de la création de notre espèce. Weſentlich ſo ſchon Chalmers in ſeiner Kritik von Cuviers Erdbildungstheorie (1814): The sacred writings do not fix the antiquity of the Globe . Ferner Prichard in ſeiner Natürl. Geſchichte des Menſchengeſchlechts , ſowie neuerdings Hamy und Lenormant in des Letzteren Les premières civilisations (Par. 1874). I, 53; auch der bibliſche Jeſuit Bellynck, Études religieuses, 4. Série, I, 1868, ſowie der Engländer H. P. Malet, The age of the earth (im Lond. Geogr. Magazine, Febr. 1877).Oder iſt bei den 4004 JahrenZöckler, Urſtand. 19290IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.des Erzbiſchofs Uſher als der verbreitetſten bibliſch-orthodoxen Abſchätzung des Zeitraums zwiſchen Adams Erſchaffung und Chriſti Geburt ſtehen zu bleiben, oder auch die rabbiniſch-jüdiſche Ziffer von 5640 Jahren als ſeit Erſchaffung der Welt verſtrichen blindlings zu adoptiren?

Die vollſtändige Erledigung der Frage mit Allem, was ſie in ſich ſchließt, würde ein beſondres Buch erfordern. Glücklicherweiſe liegt das Altersproblem als ſolches nicht unmittelbar am Wege der uns beſchäftigenden Unterſuchung. Wir übergehen zunächſt alle der - artige Vorfragen, wie die ob die eben genannte jüdiſche Weltära des Rabbi Hillel ha Raſſi (um 350) Anſprüche auf hervorragende Geltung habe, oder ob jener Uſherſchen Fixirung des Zwiſchenraums zwiſchen Adam und Chriſtus auf 4004 Jahre eine der vielen mit ihr rivaliſirenden andrer neuerer Chronologen vorzuziehen ſei, z. B. die des Scaliger und Calviſius (3950 II. ), oder Keplers und Petau’s (3984), oder Bengels (3943), oder Jdeler’s (4006)? Das ungefähre Uebereinkommen aller auf die Baſis des hebräiſchen Textes gegründeter Berechnungen bei der runden Summe von 4000 Jahren genügt uns. Eine völlig exakte Uebereinſtimmung läßt ſich bei den mancherlei Unbeſtimmtheiten der bibliſchen Angaben und dem wieder - holten Vorkommen unbekannter Größen in der Reihe der von ihnen umſpannten Zeiträume ſchlechterdings nicht erwarten; das mehr oder weniger Unbeſtimmte der bibliſchen Geſchlechtsregiſter überhaupt eignet ſelbſtverſtändlich auch den Patriarchen-Genealogieen (vgl. unten). Jn der etwa anderthalb Jahrtauſende Verlängerung für die Zwiſchenzeit zwiſchen dem Paradies und der Erlöſung ergebenden Aera der alexandriniſchen Bibel können wir keine derartige Berich - tigung der Angaben des Grundtextes erblicken, welche aus hiſtoriſch - kritiſchen Gründen, oder auch wegen größerer Annäherung an die Altersberechnungen der modernen Wiſſenſchaft, bevorzugt zu werden verdiente. Ein ſtarkes Schwanken zwiſchen höheren und niederen Ziffern findet ja auch überall da, wo dieſe Septuaginta-Chronologie zu Grunde gelegt wird, ſtatt; man vergleiche nur die 5624 Jahre291IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.bei Clemens Alexandrinus mit den 5500 bei Julius Africanus, den 5200 des Euſebius, den 5492 des Anianus und Panodarus, ſowie den 5872, welche Seyffarth als neueſter Apologet der Siebenzig Dolmetſcher herausgerechnet hat! Daß die Abweichungen dieſes Texts vom hebräiſchen bei Beſtimmung der Makrobier-Alter in Geneſis 5 und 11 aller Wahrſcheinlichkeit nach auf einer beſtimmten Tendenz ſeiner Urheber beruhen, und daß dieſelben in Verbindung mit den wieder anders gearteten Abweichungen im ſamaritaniſchen Texte die Ziffern der hebräiſchen Ueberlieferung als die urſprünglichen erweiſen, wurde bereits oben gezeigt (VIII, 2). Vergebens hat man jüngſt gerade auf Seiten der letzteren ein Plagiat nachzuweiſen geſucht: die urſprünglich mit den höheren Angaben des Septuagintatextes harmonirenden Lebensalter der Patriarchen im Grundtexte verdankten erſt einem Gewaltſtreiche der Hohenprieſter Hannas und Kaiphas ihren heutigen Wortlaut; dieſe Beiden hätten, um die Erſcheinung des Meſſias leugnen und den Juden die Zeit ſeines Kommens als noch nicht vorhanden bezeichnen zu können, volle tauſend Jahre vom Leben der Patriarchen aus dem Texte der Geneſis weg ge - nommen! Die dieſe merkwürdige Nachricht überliefernde Einleitung zu einer in Leiden handſchriftlich aufbewahrten arabiſchen Penta - teuchsverſion iſt ganz ſpäten Urſprungs und verdient nicht den mindeſten Glauben. 1)Gegen Lagardes Verſuch, das betr. Märlein als glaubwürdig dar - zuſtellen, ſiehe A. Kuenen: Les origines du texte masorétique de l’Ancien Testament, Par. 1875; Himpel, in der Tüb. Theol. Quartalſchr. 1876, I, 135 ff. ; G. Bickell, Kritik von Lagarde’s Symmikta , in der Junsbrucker Vierteljahrsſchr. f. kath. Theol., 1879, II, 392.Es bleibt bei der durch die neuere bibliſche Wiſſenſchaft nahezu einſtimmig angenommenen Priorität des hebräiſchen Texts als des urſprünglichen und allein glaubwürdigen, mit welchem erſt das conciliatoriſche Streben alexandriniſcher Schriftforſcher der Ptolemäerzeit gewiſſe Aenderungen zum Zwecke ſeiner Annäherung an die hochgegriffenen Altersangaben der ägyptiſchen Nationalüber - lieferung vornahm, und zwar Aenderungen, welche die nach dem19*292IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.Grundtexte ohnehin ſchon hohen Zeugungsjahre der Erzväter in faſt unſinniger, gedankenlos fabulirender Weiſe zu naturwidriger Höhe hinaufſchraubten.

Man muß mit den ungefähr vier Jahrtauſenden des altteſta - mentlichen Grundtexts auszukommen ſuchen. Der Gewinn von etwa anderthalb tauſend Jahren, welchen der Anſchluß an die Septua - ginta, geſetzt er wäre erlaubt oder geboten, bringen würde, wäre ohnehin ein nur illuſoriſcher. 1)Ueber und weſentlich gegen den Verſuch des Biſchofs Meignan v. Chalons (Le monde et l’homme primitif selon la Bible, Paris 1869), der maſorethiſchen Chronologie die der LXX vorzuziehen, f. Reuſch, Bibel und Natur, 4. Aufl. S. 514 f.Den mit Zehntauſenden oder gar Hunderttauſenden von Jahren um ſich werfenden modernen Natur - und Alterthumsforſchern geſchähe mit einer Verlängerung der Ge - ſammtdauer menſchlicher Geſchichte bis zu etwa 7000 oder 7500 Jahren noch keineswegs Genüge. Es fragt ſich freilich, ob jene vielen Myriaden von Jahren in der That auf Grund ſolider wiſſen - ſchaftlicher Jnſtanzen als ſeit dem erſten Auftreten menſchlicher Be - wohner der Erde verſtrichen erfordert werden? Von einer wenigſtens ſummariſchen Prüfung dieſer Frage wird umſo weniger hier Abſtand genommen werden können, da allerdings, wenn die Zuſtimmung zu ſo hoch hinaufgehenden Forderungen eine Nothwendigkeit wäre, alles bisher von uns zu Gunſten des Kerns der bibliſchen Urſtandslehre Ausgeführte hinfällig und die Auffaſſung der Menſchheit als eines rein natürlichen Entwicklungsproducts der ſeit Hunderttauſenden von Jahren unſren Planeten bewohnenden Thierwelt faſt unvermeidlich werden würde.

Die chronologiſchen Grundlagen, von welchen die heutige natu - raliſtiſche Geſchichtsanſicht bei ihren Verſuchen zur Beſtimmung des Alters unſres Geſchlechts ausgeht, ſind theils direct-hiſtoriſcher oder monumentaler, theils aſtronomiſcher, theils geologiſch-paläontologiſcher Art, d. h. die betreffenden Berechnungen oder Altersſchätzungen werden293IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.geſtützt entweder auf die Ausſagen angeblich uralter Urkunden natio - naler Ueberlieferung, oder auf gewiſſe Vorgänge der Himmelswelt nach ihren Beziehungen zum organiſchen Leben auf der Erdoberfläche, oder endlich auf gewiſſe aus den Gebirgsſchichten, aus Höhlen, Fluß - und Seenbetten ꝛc. durch die geologiſche und archäologiſche Forſchung zu Tage geförderte Jndicien betreffend das Alter der darin be - ſchloſſenen organiſchen Reſte oder menſchlichen Kunſtſachen. Ver - einigten ſich die Ausſagen dieſer drei Claſſen von Zeugen in ungefähr gleicher Stärke zu Ungunſten deſſen, was die Bibel vom Alter der Menſchheit lehrt, ſo ſtünde es allerdings hierum bedenklich. Die Uebereinſtimmung der fraglichen Gegeninſtanzen exiſtirt aber weſentlich nur in den vorgefaßten Meinungen und Poſtulaten der modernen Chronologen. Eine wiſſenſchaftlich feſte und ſichre Baſis hat die die Menſchheitsgeſchichte in ihren früheſten Anfangsepochen nach Myriaden von Jahren abſchätzende Betrachtungsweiſe bisher noch durch keine jener Methoden gewonnen.

1. Aller Streit wäre überflüſſig, wenn man irgendwelchen das Menſchheitsalter bis weit jenſeits des Jahrs 4000 v. Chr. zurück - datirenden geſchichtlichen Berichten alter Völker Glauben ſchenken dürfte. Glaubwürdige Berichte ſolcher Art ſind aber bis jetzt nirgends nachgewieſen worden. Wo nur immer die wiſſenſchaftliche Kritik den betreffenden Traditionen näher getreten iſt, hat ſich ent - weder ein rein mythiſcher oder ein cykliſch vergrößernder oder ein tendenziös erdichteter Charakter der auf viele Tauſende oder gar Hunderttauſende von Jahren lautenden Zahlenangaben herausgeſtellt. Die brahminiſch-indiſche Zeiteintheilung nach Kalpa’s oder Lebens - tagen Brahmas zu je 432 Millionen Jahren und nach Yugas oder Erdzeitaltern in der Länge von zwiſchen 2 Mill. und 130 000 Jahren iſt ein üppiges Phantaſieproduct ſpäten Urſprungs. Aehn - liches gilt von den Sagen der Japaneſen betreffend die ¼ Million Jahre währende Herrſchaft der Sonnengöttin und die zuſammen über 2 Mill. Jahre betragenden Regierungszeiten der auf ſie ge - folgten Halbgötter; deßgleichen von den ähnlichen Angaben der294IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.chineſiſchen, der kalmukiſchen, der mongoliſchen, auch der eraniſchen Mythologie von welchen die letztgenannte mit ihrer Geſammt - dauer der Welt von nur 12 Jahrtauſenden (6000 Jahre vor, und 6000 nach der Fluth) den beſcheidenſten Charakter trägt und der bibliſchen Chronologie am nächſten ſteht. Beſtimmte geſchichtliche Erinnerungen reichen bei keinem dieſer aſiatiſchen Völker bis jenſeits des Jahrs 2000 v. Chr. zurück, auch nicht bei den Chineſen, deren Schu-king zwar ſchon um 2350 v. Chr. die erſte chineſiſche Dynaſtie durch Yao gegründet werden läßt, damit aber unzweifelhaft ganz Unſichres und Sagenhaftes berichtet; denn erſt ſeit 841 v. Chr. iſt die Zeitrechnung der chineſiſchen Kaiſergeſchlechter eine wohlgeſicherte, und von den vielgerühmten aſtronomiſchen Aufzeichnungen der alten Chineſen reicht auch keine in eine höhere Vergangenheit zurück; die früheſte ſichre Beobachtung einer Sonnenfinſterniß iſt aus dem J. 720 vor Chriſto. Nur bei den Aegyptern greifen wirkliche geſchichtliche Erinnerungen bis tief ins 3., wonicht ins 4. Jahr - tauſend vor unſrer Zeitrechnung zurück. Aber irgendwelche Sicherheit kann den chronologiſchen Verhältniſſen der ägyptiſchen Dynaſtien - geſchichte vor Scheſchonk (Siſak) dem Zeitgenoſſen Rehabeams, alſo jenſeits dem erſten Jahrtauſend v. Chr., nicht beigelegt werden. Das Nacheinander der Königsgeſchlechter jener früheren Perioden in Manethos Darſtellung muß, nach dem einſtimmigen Urtheil aller neueren Aegyptologen, auf verſchiednen Punkten in ein Nebenein - ander verwandelt werden, wodurch die ganze Reihe auf das Erheb - lichſte verkürzt wird. Aber über das Wie und Wieviel dieſer mittelſt Statuirung von Parallel-Dynaſtien herbeizuführenden Verkürzungen lehrt weder der Turiner Königs-Papyrus, noch was ſonſt an monu - mentalen Parallelberichten zu Manethos Werk aufgefunden worden, irgend etwas Zuverläſſiges. Wenn deßhalb einzelne bibelfeindlich - naturaliſtiſche Forſcher triumphirend von glänzender Beſtätigung der Manethoniſchen Geſchichtsdarſtellung durch die hieroglyphiſchen Monumente geredet haben,1)So z. B. auch Proſ. Owen in einem Vortrage vor der ethnologiſchen ſo klagt dagegen der neueſte und295IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.quellenkundigſte Geſchichtſchreiber des Pharaonenreichs, H. Brugſch - Bey: Ungeachtet aller Entdeckungen auf dieſem Gebiete befinden ſich dennoch die Zahlen in einem beklagenswerthen Zuſtande. Es ſei, meint derſelbe, was die Chronologie der Zeit vor der 26. Dynaſtie (alſo vor Pſamtik, 666 v. Chr.!) betrifft, noch Alles zu thun übrig; anſtatt ſich zu vermindern, haben die Schwierigkeiten bei Beſtimmung der Zeitverhältniſſe ſich von Tag zu Tag vermehrt. Die Denkmäler fangen nach und nach an, die Manethoniſchen Zahlen zu entwerthen; will man nicht die elaſtiſche Dehnbarkeit dieſer Liſten ungebührlich anſpannen, ſo bleibt eben nichts weiter übrig, als zu warten, bis irgend ein glücklicher Fund uns dieſes gefähr - lichen Experiments überhebt. 1)H. Brugſch-Bey, Geſchichte Aegyptens unter den Pharaonen, Leipzig 1877, S. XI, S. 40. 765 ff.Brugſch gibt daher für die ſämmt - lichen Königshäuſer vor jener 26. Dynaſtie nur ganz runde, all - gemein und ungefähr gehaltene Zahlen als Zeitbeſtimmungen. Mißtrauiſcher noch verhält ſich ein andrer Aegyptologe der Gegen - wart, G. Maspéro, der den Pharaonen vor Scheſchonk überhaupt gar keine Jahreszahlen beizuſetzen wagt. Andre adoptiren zwar die Zeitbeſtimmungen Lepſius als des erſten bahnbrechenden Forſchers auf dieſem Gebiete, mahnen aber zu großer Vorſicht in weiterer Verwerthung der Angaben und weiſen ausdrücklich auf die beträcht - lichen Differenzen der einzelnen chronologiſchen Syſteme hin. 2)Maspéro, Geſch. der morgenländ. Völker im Alterthum, Leipzig 1877. G. Ebers in Baedekers Aegypten; Handbuch für Reiſende ꝛc. I, S. 100 ff.Wer könnte auch dem, was hier gemuthmaaßt und combinirt wird, irgend - welches feſtere Vertrauen ſchenken, wenn Menes, der erſte geſchicht - liche König des Nilreichs nach Manethos, beiſpielsweiſe von Böckh 5702 v. Chr. geſetzt wird, dagegen von Unger 5613, von Mariette 5004, von Brugſch (in früheren Arbeiten) 4455, von Lauth 4157,1)Section des zweiten internationalen Orientaliſtencongreſſes zu London, vgl. Academy 1874, Nr. 125).296IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.von v. Peſſl 3917, von Lepſius und Ebers 3892, von Bunſen 3623, von Seyffarth und Uhlemann 2782, von Wilkinſon um 2700 u. ſ. f.! Von den letzten dieſer Angaben darf aller Wahr - ſcheinlichkeit nach eher angenommen werden, daß ſie der geſchichtlichen Wahrheit nahe kommen, als von den erſteren. Wäre aber auch eine der mittleren Zahlen als die ungefähr richtige feſtzuhalten, ſo würde damit immer noch nichts der bibliſchen Chronologie zum Umſturz Gereichendes aufgeſtellt ſein. Denn als hiſtoriſch im ſtrengen Sinne des Worts kann die Perſönlichkeit des Urpharao Menes, der bei ſolcher Annahme als Zeitgenoſſe des bibliſchen Adam erſcheinen würde, unmöglich betrachtet werden; er ſowohl wie ſeine Nachfolger aus der erſten und den heiden folgenden Dynaſtien, ſind von halbmythiſchem Helldunkel umgeben, das erſt etwa 800 Jahre nach Menes, unter den pyramidenerbauenden Herrſchern der 4. Dynaſtie, hellerem geſchichtlichem Lichte zu weichen beginnt. Man wird die Königsreihe von Menes bis auf Snefru den Begründer der 4. Dynaſtie und Vorgänger des erſten Pyramidenerbauers Chufu (Cheops), etwa als ägyptiſche Zeitgenoſſen der Makrobierpatriarchen zwiſchen Adam und Noah, oder wenigſtens eines Theils derſelben, denken dürfen. Mehrere Umſtände ſcheinen für dieſe Combination zu ſprechen; ſo die an Henochs 365 Jahre erinnernde Einführung des 365tägigen Sonnenjahrs unter Toſorthros, einem Könige der 3. Dynaſtie, welcher außerdem auch als Erfinder der Heilkunſt und der Schreibkunſt geprieſen wurde; ſo die Andeutungen bei Manethos, Ammianus Martellinus und Andren, wonach verſchiedne Urkunden und Baudenkmäler (Königsgräber, Pyramiden) des älteſten Aegypten die Sintfluth überdauert hätten ꝛc. ; ſo auch manche Anklänge dieſer ſagenhaften Urtraditionen des Nilvolks an das, was Beroſus über die babyloniſchen Urkönige von Aloros bis auf Xiſuthros über - liefert. Geht demzufolge das halbmythiſche Zeitalter der ägyp - tiſchen Geſchichte jene vor-pyramidale Epoche, von der wir lediglich halb Mähr halb Wahres (Brugſch) wiſſen erſt gegen 3000 v. Chr. oder auch noch etwas ſpäter zu Ende, ſo erſcheint es297IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.in der That bemerkenswerth, daß die nächſt der ägyptiſchen bisjetzt am Sorgſältigſten und Zuverläſſigſten monumental erforſchte natio - nale Ueberlieferung eines andern altorientaliſchen Culturvolks, der den Aegyptern in mehrfacher Hinſicht naheſtehenden Babylonier, an einem gleichfalls nicht viel ſpäteren Zeitpunkte, nemlich um 2500 v. Chr., ihr mythiſches Gewand zuerſt abzuſtreifen und etwas ſolidere Formen anzunehmen beginnt. Oppert glaubt das Jahr 2517 oder das Datum der erſten mediſchen Occupation Babylons als den Ausgangspunkt der beglaubigten Geſchichte Altchaldäa’s betrachten zu dürfen, während er alles Frühere jene theils noch nachſint - fluthlichen theils vorſintfluthlichen grauen Urzeiten, welche Beroſus mit dem wildphantaſtiſchen Netze ſeiner cykliſchen Saren-Epochen bedeckt als mythiſch preisgibt. Sehr geſichert ſcheint dieſe Oppertſche Zeitbeſtimmung freilich nicht zu ſein; Schrader will vom J. 2517 als einem feſten Ausgangspunkte babyloniſcher Geſchichte nichts wiſſen; George Smith und Maspéro ſetzen den Zeitpunkt jener Jnvaſion, womit die ſ. g. endliche Dynaſtie des Beroſos begann, erſt ſpäter als Oppert, nemlich früheſtens 2450 oder erſt gegen 2300; Friedr. Delitzſch aber bezeichnet auch dieß letztere Datum als ein ganz unſichres wie denn überhaupt erſt das um 1800 v. Chr. anhebende altaſſyriſche Reich der Mehrzahl beſonnener Forſcher auf dieſem Gebiete als monumental wohlgeſicherter hiſtoriſcher Boden gilt. 1)Vgl. einerſeits Opperts Vortrag bei jenem Londoner Orientaliſten - congreß 1874 (Report etc., pag. 7, andrerſeits Schrader in der Jen. Lit. -Ztg. 1874, S. 824, ſowie Keilinſchriften und Geſchichtsforſchung, 1878, S. 461; ferner G. Smith, Chaldä. Geneſis, S. 164, ſowie Friedr. Delitzſch ebendaſ., S. 312; Maspéro, a. a. O., S. 167. 284. Demnach reicht alſo Altägyptens Geſchichte wahrſcheinlich, und die der Euphratreiche vielleicht bis jenſeits des zweiten vor - chriſtlichen Jahrtauſends zurück. Was hierin Bedenkliches oder gar Erſchütterndes für die Glaubwürdigkeit der bibliſchen Zeitrechnung enthalten ſein ſollte, iſt ſchwer einzuſehen. Denn längere prä - hiſtoriſche Vorbereitungszeiten, wie z. B. jene angebliche Steinzeit298IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.der früheſten Nilthalbewohner (Nr. VI z. Anf.), werden nur eben gemuthmaaßt; mag die Thatſächlichkeit einer einſtigen noch vor - metalliſchen Culturepoche für dieſelben vielleicht als monumental erwieſen gelten können, ſo iſt doch die enorme Länge, welche man dieſer Epoche gern beilegen möchte, nichts als vage Vermuthung. Und weniger noch als die ſolchen modernen Hypotheſen zulieb ſtatuirten Jahrtauſende oder Jahrzehntauſende, dürfen die mythiſchen Götter - oder Halbgötterjahre prieſterlicher Chroniſten aus alexan - driniſcher Zeit dem nach wiſſenſchaftlichen Grundſätzen verfahrenden Geſchichtsforſcher imponiren. Hätte eine jener Ziffern mittleren Werthes für die Zeit des Menes, etwa die 3892 Jahre nach Lepſius, Anſpruch auf eine gewiſſe hiſtoriſche Geltung, oder könnte jene Oppertſche Zahl 2517 für den wirklichen ungefähren Anfangspunkt der babyloniſchen Geſchichte gelten: ſo müßte allerdings ein Zurück - reichen der Erinnerung dieſer Völker bis jenſeits des bibliſchen Datums der Sintfluth angenommen werden. Aber bei der bekannten weiten Verbreitung nationaler Erinnerungen an die große Fluth ſelbſt hat ein ſolches Zurückgreifen beſtimmterer und mehr als rein - mythiſcher Traditionen bis über dieſe Kataſtrophe hinaus ganz und gar nichts Auffälliges, zumal nicht bei Völkern, welche die Geneſis beſtimmt genug als Nachkommen Hams charakteriſirt. Es fragt ſich obendrein, ob eine derartige allvertilgende Univerſalität der Fluth, wodurch die Continuität geſchichtlicher Entwicklung unbedingt für alle Völker der Erde mit alleiniger Ausnahme des Noachidenge - ſchlechts durchſchnitten worden wäre, nothwendig behauptet werden muß. Kann der Annahme eines nur partikulären Charakters jenes Vertilgunsgerichts auch von ſchriftgläubiger Seite her nichts Gegrün - detes entgegengeſtellt werden, da zur hyperboliſchen Faſſung ſolcher Ausdrücke wie alle Berge, alle Thiere ꝛc. (Gen. 7, 20 ff. ) der exegetiſchen Parallelen gar manche ſich beibringen laſſen, ſo ſieht man nicht ein, warum ein Entnommenbleiben auch einzelner vorſint - fluthlicher Zweige des Menſchengeſchlechts (trotz 1 Petr. 3, 20 und 2 Petr. 2, 5) von den zerſtörenden Wirkungen der Gewäſſer als299IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.ſchlechthin unvollziehbarer Gedanke von der Hand zu weiſen ſein ſollte. 1)Sehr beſtimmt hat von neueren Geneſis-Auslegern Knobel den vorſint - fluthlichen Urſprung der Chineſen und andrer oſtaſiatiſcher Völker mongoliſchen Stammes als angeblicher Nachkommen Kains behauptet. Aehnliche Annahmen begünſtigte Cuvier und vertreten neuerdings C. Schoebel (1858), d’Omalius d’Halloy (1866), bedingterweiſe auch der Jeſuit Bellynck (1868) und C. Güttler: Naturforſchung und Bibel in ihrer Stellung zur Schöpfung, Freiburg 1878, S. 274 ff. Weſentlich alle wilden Naturvölker der Gegenwart (Neger, Papuas, Polyneſier, Jndianer ꝛc. ) ſucht A. v. H. (von Harnier) in dem nur als Manuſcript gedruckten Schriftchen: Gewißheiten des Glaubens und Vermuthungen der Wiſſenſchaft (Frankfurt 1879) als Ablömmlinge derjenigen gottloſen Ge - ſchlechter zur Zeit Noahs, welche nicht in der Fluth umkamen, zu erweiſen.Wir bemerken dieß hier mehr nur beiläufig, da wie bereits angedeutet das eventuelle Zurückreichen der älteſten geſchichtlichen Erinnerungen ſolcher vorzugsweiſe alter Völker wie die Aegypter und Chaldäer über die Fluth hinaus an und für ſich nichts Bedenk - liches haben würde. Der Hauptpunkt, um welchen es ſich uns handelt, ſteht jedenfalls feſt und wird gerade auch durch die über alle Erdtheile verbreiteten Fluthſagen der Völker noch vollſtändiger erhärtet: das Jahr 4000 v. Chr., dieſen ungefähren Grenzpunkt der bibliſchen Chronologie berührt keine irgendwie geſchichtlich zu nennende Ueberlieferung der Völker; die allermeiſten derſelben erreichen kaum das J. 2000; lediglich bei einigen urverwandten Nachbarvölkern des bibliſchen Gottesvolks ſcheint ein Hinaufreichen ihrer hiſtoriſchen Reminiſcenzen bis nahe an 3000 oder bis in ein entſchieden vorſintfluthliches Zeitalter ſtattzufinden.

2. Was directe geſchichtliche Nachrichten alter Völker nicht leiſten, die Erweiſung eines mehr als 6000jährigen Alters der Menſchheit, würde um ſo gewiſſer durch aſtronomiſche Thatſachen bewirkt werden können, wenn ſich nur irgendwo ein Eingreifen ſolcher That - ſachen in die Geſchicke unſeres Geſchlechts in weit entlegener Ver - gangenheit mit Sicherheit nachweiſen ließe. Aber am Vorhandenſein ſolcher Nachweiſe fehlt viel. Verſchiedne ſpeculative Köpfe ſeit An -300IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.fang unſres Jahrhunderts haben eine Beeinfluſſung der Zuſtände der irdiſchen Organismenwelt überhaupt, nicht bloß der menſchlichen, durch große aſtronomiſche Revolutionen, beziehungsweiſe durch die von denſelben bewirkten Wechſel des Klima’s darzuthun verſucht. Lamarck in ſeiner Hydrogeologie (1801) ließ durch den Mond ein langſames Vorrücken der größten Waſſermaſſen von Oſten nach Weſten zu, und ebendadurch eine chroniſche Verſetzung des Erd - ſchwerpunkts verbunden mit entſprechenden Einwirkungen auf das Organismenleben bewirkt werden. Bertrand hatte kurz zuvor (1799) ähnliche Veränderungen, beſtehend in abwechſelndem Ueberſchwemmt - werden beider Erdhälften innerhalb gewiſſer langer Perioden, durch die Einwirkung eines Kometen auf den Erdmagnetismus hervor - gebracht werden laſſen. Auguſt de Bergh aus Hamburg, Schiffs - kapitän in engliſchen Dienſten und aſtronomiſcher Gelehrter ( 1864), lehrte eine allmählige Veränderung der Apſidenlinie der Erdbahn als Urſache gewiſſer ſeculärer Umwälzungen der Niveauverhältniſſe unſres Planeten ſowie ſeiner klimatiſchen Zuſtände. Das Weſent - liche ſeiner Theorie bildeten ſeit Anfang der 40er Jahre der fran - zöſiſche Mathematiker Adhémar und der engliſche Geologe James Croll zu ihren vielbeſprochenen Verſuchen einer Erklärung des geo - logiſchen Phänomens der Eiszeiten fort. Nach dem Erſteren findet, in Folge periodiſcher Aenderungen der Excentrizität der Erdbahn, abwechſelnd für die Nordhälfte und dann für die Südhälfte des Planeten eine Zeit vermehrter Waſſerbedeckung und ſtärkerer Ver - eiſung der Pole ſtatt, und zwar wechſeln dieſe Zuſtände nach ihm ungefähr von 10 000 zu 10 000 Jahren; vor etlichen hundert Jahren hatte die ſüdliche Hemiſphäre ihre größte Vereiſungsphaſe, in etwa 9900 Jahren wird für die Nordhälfte der Zeitpunkt ſtärkſter Ver - eiſung gekommen ſein. Croll that tiefere Griffe in den Schatz aſtro - nomiſcher Unendlichkeiten; ſowohl die Zwiſchenzeiten zwiſchen den verſchiednen Eisperioden als die Länge von dieſen ſelbſt ſuchte er nach vielen Myriaden Jahren zu berechnen; ſo gab er der großen, angeblich eine Reihe von Schwankungen zwiſchen Epochen höchſter301IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.Kälte und milderen Zeichen in ſich ſchließenden Eiszeit eine Dauer von 160 000 bis 200 000 Jahren und ließ ſeit ihrem Ende bereits 80 000 Jahre verfloſſen ſein. Angeſehene Geologen aus der quietiſtiſchen Schule Lyells, wie Lyell ſelbſt, Cotta, Geikie, Skertchley, auch Naturphiloſophen wie H. Spencer, ꝛc., haben dieſer Crollſchen Hypotheſe mehr oder minder unbedingt zugeſtimmt; andre wie Car - penter, Pilar ꝛc., haben ſie bekämpft oder zu berichtigen geſucht. Nach J. H. Schmick (1869 ff. ) wäre es nicht ſowohl die Excen - tricität der Erdbahn als vielmehr eine ſeculäre Umſetzung der Meere durch Sonnenanziehung , worauf die wechſelnden Verhältniſſe des Waſſerſtands und Temperaturminimums, und zwar wechſelnd in Perioden von 10500jähriger Länge, beruhen ſollen. Wieder anders K. v. Marſchall, der vielmehr einen Wechſel in der Schiefe der Ekliptik als Urſache der zeitweiligen Vergletſcherungsperioden geltend zu machen ſucht, und nochmals anders Oswald Heer, der berühmte Züricher Botaniker, (1867), der, zurückgehend auf eine früher ſchon von dem Mathematiker Poiſſon aufgeſtellte Hypotheſe, die Erde ſammt dem ganzen Sonnenſyſtem abwechſelnd wärmere und kältere Regionen des Weltraums durchlaufen und ſo die großen Schwan - kungen des Klima im Laufe geologiſcher Perioden hervorgebracht werden läßt. 1)Vgl. die eingehenderen Ueberſichten über die hier in Rede ſtehenden Hypo - theſen bei S. Günther, Studien zur Geſchichte der mathemat. und phyſikal. Geographie, H. III, (Halle 1878); auch Ausland 1872; Nr. 26 30: Die verſchiednen Theorien der Eiszeit, ſowie meine Geſchichte der Beziehungen ꝛc. II, 583 ff. Die eine oder andre dieſer Theorien mag falls ſich die Richtigkeit des mathematiſchen Calculs, worauf ſie fußen, vorausſetzen läßt vielleicht einleuchtend oder gar beſtechend genannt werden können: zu irgendwelcher Beſtimmung menſchheits - geſchichtlicher Zeiträume iſt keine von ihnen zu gebrauchen. Nimmt man nach Adhémars Theorie, als einer wiſſenſchaftlich vervollkomm - neten Reproduction des alten aſtronomiſchen Dogmas vom großen platoniſchen Jahre, einen Jahreszeitenwechſel in großem Maaßſtabe302IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.an, ſtatuirt man für unſer Sonnenſyſtem als Ganzes einen äoniſchen Wechſel von Winterszeiten und Sommerszeiten, ſo leuchtet es ja allerdings ein, daß dann im Zuſammenhange mit dieſem ſeculären Periodenwechſel auch ein Kommen und Gehen von Lebens - und Wachsthums-Zeitaltern für unſre ganze irdiſche Organismenwelt ſtattfinden muß, und die Annahme legt ſich nahe, daß ſpeciell auch die Menſchheit gegen Ende oder nach erfolgtem Abſchluſſe einer ſolchen ſeculären Winterszeit den Anfang ihres Daſeins genommen haben werde. Aber wer beſtimmt uns die Länge dieſes Weltenfrühlings als muthmaaßlicher Geburtszeit unſres Geſchlechts? Haben Adhémar und Schmick Recht, mit ihrer Annahme einer 10 11000jährigen Dauer jeder großen Hauptperiode, oder verdient Croll Glauben mit ſeinen Weltzeiten von mindeſtens 200 000jähriger Länge? Man lebe ſo lange, und man wird die Antwort haben! Mit empiriſcher Sicherheit wird vor dem Zuendegehen wenigſtens Einer ſolchen Welt - periode nicht darüber entſchieden werden können, innerhalb welcher Epochen die Bedingungen zum Aufblühen menſchlichen Lebens auf unſrem Planeten wiederkehren. Gegen die Haltbarkeit der Voraus - ſetzungen, worauf die Adhémarſchen wie die Crollſchen Berechnungen fußen, haben Aſtronomen wie Mädler und Klein ſowie Mathematiker wie Günther u. AA. ſich in höchſtem Grade ſkeptiſch geäußert. 1)Siehe Günther, a. a. O., S. 194 ff.Und ferner wer fügt uns den Anfangspunkt menſchlicher Entwicklung mit Sicherheit ein in jene coloſſalen Zeitläufe? wer ſagt uns, ob der Weltenwinter ſchon lange vorüber war, als unſre Geſchichte begann, oder ob eben beim erſten Frühlingswehen, als unſre ge - mäßigten Zonen noch über und über von Polareis bedeckt waren und nur ein ſchmaler Tropengürtel paradieſiſches Klima genoß, das Stammelternpaar ins Daſein trat? Hier bleibt eben noch Alles zu erforſchen. Das Problem iſt ein ungeheures, Hunderte von beſondren Unterſuchungen in ſich ſchließend. Der Rahme iſt einſt - weilen noch viel zu lang und breit für das in ihn einzufügende303IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.kleine Bild einer lediglich während vier Jahrtauſenden mit einiger Sicherheit bekannten Geſchichte. Was immer man verſuchen möge, um dieſe Spanne Zeit in das Dahinrollen der Ewigkeitszeiträume unſres Sonnenſyſtemlaufs beſtimmt anzugliedern, es kann nur hypo - thetiſche Reſultate ergeben. Schon die babyloniſchen Weltjahre und die Sothisperioden der Aegypter waren derartige hypothetiſche Be - rechnungsverſuche, denen es eben nur in noch höherem Grade an ſichrer aſtronomiſcher Baſis gebrach als jenen neueren Berechnungs - weiſen. Wenn nur wenigſtens die bekannten Daten der Geſchichte der genannten Völker ſich zuverläſſig mit den Ausgangspunkten ſolcher Epochen der älteren aſtronomiſchen Zeitrechnungskunſt ver - knüpfen ließen, damit man ſo eine ungefähre Antwort darauf gewönne, ſeit wann aſtronomiſch zu beobachten und zu rechnen ange - fangen worden, oder wie weit etwa wiſſenſchaftliche Zeitbeobachtung der Menſchheit zurückreicht! Allein auch auf dieſem Punkte bleibt doch Alles höchſt ungewiß. Woher ſonſt die oben berührten ſtarken Differenzen der heutigen ägyptiſchen Chronologen überhaupt? woher der geringe Glaube, den Lauth und v. Peſſl mit ihren auf die Sothisjahre 138 n. Chr. und 1323 v. Chr. als feſte Ausgangs - punkte geſtützten Verſuchen zum Nachweiſe noch mehrerer früherer Sothisperioden von 1461jähriger Länge als hiſtoriſch ſcharf um - riſſener Zeiträume der altägyptiſchen Geſchichte bei ihren Fachgenoſſen bisher gefunden haben? Warum differiren auch gerade dieſe beiden Chronologen unter ſich, ſofern das zweite Sothisjahr vor 1323, alſo 4245 v. Chr., nach Lauth der Regierungszeit des Menes, nach v. Peſſl aber der eines mythiſchen Vorgängers des Menes, namens Ubienthis oder Bytis entſprechen ſoll? 1)Vgl. einerſeits J. Lauths Aegyptiſche Chronologie , Straßburg 1877, andrerſeits H. v. Peſſls Schrift: Das chronologiſche Syſtem Manetho’s, Leipzig, 1878.Feſten chronologiſchen Boden hat man bei dieſen Annahmen, je weiter ſie rückwärts in die vor - chriſtlichen Jahrtauſende hinein greifen, deſto weniger unter ſeinen304IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.Füßen. Sie liefern doch höchſtens nur relativ zuverläſſigere Er - gebniſſe als jene ſchwindelhaften Verſuche franzöſiſcher Gelehrter zu Anfang unſres Jahrhunderts, die aus dem Thierkreiszeichen von Dendera ein mindeſtens 17 000jähriges Alter der ägyptiſchen Geſchichte herausleſen zu können meinten, oder als die ſonſtigen neueren Ver - ſuche zur aſtronomiſchen Bewahrheitung jener mehr als 10 000jäh - rigen Dauer dieſer Geſchichte, von welcher die Prieſter der Perſerzeit dem Herodot vorfabelten.

3. Weder die urkundlich bezeugte Geſchichte noch die Aſtronomie reichen den Chronometer dar, mittelſt deſſen ein höheres als 6000jäh - riges Alter der Menſchheit wiſſenſchaftlich feſtgeſtellt werden ſoll. Vielleicht thut dieß aber die geologiſch-paläontologiſche For - ſchung? An tiefem Eindringen in den dunklen Erdenſchooß hat es dieſe ja gewiß nicht fehlen laſſen und die Thatſache, mittelſt deren ſie das Alter ſowohl der vormenſchlichen Schöpfungsepochen als der Menſchheitsgeſchichte zu fixiren ſucht, zählen nach Hunderten, ja Tau - ſenden? Aber freilich wie ſteht es um die Sicherheit dieſer Evidenzen? Gibt es in der That ſchon eine geologiſche Chronologie von einigem wiſſenſchaftlichen Werthe und innerhalb ihrer eine Altersberechnung des Menſchengeſchlechts, auf die man ſich einigermaaßen verlaſſen könnte?

Wir ſahen ſchon oben, wie höchſt zweifelhafter Art die angeb - lichen Zeugniſſe des ſ. g. Steinzeitalters für ein nach Myriaden von Jahren zählendes Menſchheitsalters genannt werden müſſen, und in welchen mythiſchen Nebel insbeſondere der belgiſch-franzöſiſche Tertiärmenſch ſich verliert. Daß vielleicht noch einmal unwiderſprechliche Belege für ein Vorkommen menſchlicher Foſſilreſte und Artefacte in älteren als blos quaternären Schichten gewonnen werden, ſoll keines - wegs für unmoglich erklärt werden. Es fragt ſich nur, ob damit in der That etwas Triftiges gegenüber den bibliſchen ſechs Jahr - tauſenden feſtgeſtellt wäre. Die Tertiärzeit muß als ein lang wäh - render geologiſcher Zeitraum betrachtet werden; die Unterperioden des Eocän, Miocän ꝛc. welche ſie in ſich ſchließt, mögen in ihrer305IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.Geſammtheit auch nicht unter hunderttauſend Jahren zu ſchätzen ſein. Folgt daraus ſchon ſofort, daß der Abſchluß dieſer Periode bereits Myriaden von Jahren hinter uns liegt? Wir glauben die Be - rechtigung der Geologie zum Dictiren feſter Ziffern, welche die Länge dieſer oder irgendwelcher früherer Erdbildungsepochen ausdrücken ſollen, ſchon principiell negiren zu dürfen. Wir beſtreiten ihre Competenz zum Fällen rechtskräftiger Urtheile über urzeitliche chronologiſche Fragen.

Als einziges Mittel zur Zeitbeſtimmung bietet dem Geologen die Analogie der heute an der Erdoberfläche vor ſich gehenden Ver - änderungen, insbeſondere der durch vulkaniſche Kräfte ſowie der durch Eroſionswirkungen und Niederſchläge des Waſſers von Meeren, Seen und Flüſſen geſchehenden, ſich dar. Aber das ganze Gebiet dieſer Analogiebeweiſe leidet an Unzuverläſſigkeiten und trügeriſchen Scheinphänomenen der ärgſten Art. Was für etliche Jahrzehnte Geſetz geweſen, wird durch dieſe oder jene plötzlich eintretende Störung durchbrochen und über den Haufen geworfen. Es gibt keinen un - abänderlich feſten Zeitmeſſer, weder für Tropfſteinbildungen in Höhlen, noch für Kalkſinter-Ablagerungen außerhalb ſolcher; weder für das Anſetzen von Jahresringen der Bäume, noch für Torf -, Braunkohlen - oder Steinkohlenbildungen. Scheint die Verwandlung abgeſtorbener und verſunkener Vegetabilien in Kohle dermalen gewiſſe längere Zeiträume zu erfordern, ſo muß bei einigem Nachdenken es ſich doch als ganz und gar unthunlich herausſtellen, von ſolchen Vorgängen der Gegenwart aus irgendwelche chronologiſche Rückſchlüſſe auf die Kohlenbildungsproceſſe der Urzeit zu machen. Daß an den Stein - kohlenbildungen der Flözformation eine weit höhere Temperatur als die jetzt auf der Erde herrſchende ſowie eine an Kohlenſäure reichere Zuſammenſetzung der Atmoſphäre Antheil gehabt haben muß, kann nicht dem geringſten Zweifel unterliegen. Die Ergebniſſe der be - kannten Verſuche Göpperts in Breslau, der durch Waſſerdämpfe und hochgradig erhitztes Waſſer verſchiedne vegetabiliſche Stoffe binnen zwei Jahren in Braunkohle und binnen ſechs Jahren in glänzendZöckler, Urſtand. 20306IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.ſchwarze Steinkohle verwandelte: deßgleichen die ähnlichen Reſultate, welche Daubrée in Plombières mittelſt Verſuchen zur Anthracit - bildung u. dgl. m. erreichte, zeigen unwiderleglich, daß die klimatiſchen Naturbedingungen der Jetztzeit keinerlei Maaßſtab für Vorgänge der Urzeit wie die in Rede ſtehenden abgeben können. Mit den eigentlichen Eroſions - oder Waſſerniederſchlags-Proceſſen verhält es ſich ähnlich. Weder an Meeres-noch an Binnenſee-Küſten findet ein ungeſtört regelmäßig Steigen oder Fallen des Waſſerſpiegels ſtatt. Die Spiegel des Kaspi-Sees zeigt gewöhnlich ein durchſchnittliches Steigen und Fallen von etwa 2 Fuß innerhalb Eines Jahres, ſtieg jedoch vor 12 Jahren (1867) ausnahmsweiſe um Fuß höher. Stärker noch ſchwankt der Höhen - und Tiefenſtand des Aral-Sees. Wie es ſich auch mit der bekannten Annahme eines einſtigen Ein - ſtrömens des Oxusfluſſes nicht in dieſen letzteren, ſondern in den Kaspiſchen See verhalten, ob ſie gegründet ſein mag, oder nicht: auf jeden Fall zeigen die Mündungsregionen großer Ströme in allen Welttheilen eine Neigung zu oft ſehr beträchtlichen Verände - rungen ihrer Geſtalt und Lage. Der Hoangho hat chineſiſchen Be - richten zufolge ſeinen unteren Lauf während der letzten 1200 Jahre bereits neunmal dergeſtalt geändert, daß die Mündung um mehrere Breitegrade bald nördlicher bald ſüdlicher lag. Von der Wolga ſowohl wie von der Weichſel, dem Po und andren in ihrem Unter - laufe durch ſehr flache Gegenden ſtrömenden Flüſſen iſt Aehnliches bekannt. Die auf die Schlamm - und Sand-Ablagerungen an den Deltas der Flüſſe gegründeten Verſuche zu Altersberechnungen ſind durchweg ganz unzuverläſſiger Art. Was während mehrerer Jahr - hunderte durch langſame und ſtetige Anſchwemmung geworden, kann durch einen Sturm oder eine Springfluth während einer einzigen Nacht zerſtört werden, ſo daß alle nach uniformitariſchem Princip an jene gewöhnlichen Veränderungen geknüpften Berechnungen, ſobald ſie auf Perioden von größerer Länge erſtreckt werden, nothwendig illuſoriſchen Charakter annehmen. Jm unteren Aegypten kann der Fellah, der einen Damm um das Unterende ſeines Feldes zieht, in307IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.einem einzigen Jahre ein paar Jahrtauſende mehr in die ſcharf - ſinnigen Berechnungen eines europäiſchen Gelehrten hinein ſchwem - men. 1)Max Eyth, Wanderbuch eines deutſchen Jngenieurs, Bd. I, Heidelberg 1871.Weder die Nichtſchlamm-Ablagerungen alſo, noch die Miſſiſſippi-Anſchwemmungen, noch die der Oder oder des Rhein, noch die der Rhone oder der Tinière am Genfer See, bieten irgend - welche auch nur annähernd ſichere Chronometer dar. Von den durch die aushöhlende Thätigkeit mächtiger Waſſerfälle bewirkten Weg - ſpülungen gilt Aehnliches. Die ſ. Z. von Lyell und andren Geo - logen verſuchte Berechnung des allmähligen Zurückweichens des Niagara-Falles um angeblich Einen Fuß jährlich, wurde hinfällig, als plötzlich im Winter 1868 / 69 ein mächtiger Geſteins-Einſturz den ungeheuren Fall um mehr als 30 Fuß auf Einmal zurückweichen machte und ſo das frühere Hufeiſen in ein Dreieck umwandelte! Bei denjenigen Veränderungen, die man an langſam ſich hebenden oder ſenkenden Meeres - oder Seeküſten beobachtet, tragen ſich nicht ſelten ähnliche plötzliche oder ruckweiſe Kataſtrophen zu, welche alle Berechnungen im Sinne des Uniformitarismus oder Quietismus zu Schanden machen. Die Neuhebriden-Jnſel Tanna ergab, während ihr Bodenniveau vorher in unmerklich langſamer Veränderung be - griffen war, im vorigen Jahre in Folge eines Erdbebens mit Einem Male eine Hebung ihres Bodens um 20 Fuß. Man denke auch an die berühmte Fiſcherhütte von Södertelgte am Mälar-See, die, wie man jetzt allgemein annimmt, einſt durch einen plötzlichen Berg - rutſch verſchüttet wurde, während der unzeitgemäße Scharfſinn früherer Unterſucher für ſie ein Alter von 80 000 Jahren herauszurechnen verſucht hatte. 2)Vgl. Karſten, in den Sitzungsberichten der Berliner Geſellſch. f. An - thropologie, Ethnologie ꝛc. 1876, S. 75 f.

Dieſer Stand der Dinge läßt überhaupt die Zahlenbeſtimmungen der geologiſchen Chronologen als etwas höchſt Prekäres und Werth - loſes erſcheinen. Die Abweichungen der einzelnen Berechnungs -20*308IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.verſuche von einander ſind in der That koloſſal; ſie ergeben ver - hältnißmäßig weit grellere Differenzen als jene auf das Zeitalter des Menes bezüglichen Altersbeſtimmungen der Aegyptologen. Und zwar gilt das von den Verſuchen zur Beſtimmung des Alters der geſammten irdiſchen Organismenwelt ganz ebenſo wie von den die Anfänge der Menſchheitsgeſchichte betreffenden. Wenn Häckel und Tyndall für die Zeit ſeit dem Beginn organiſchen Lebens auf der Erde ungezählte Milliarden, Huxley und Wallace weit über 100 Millionen, W. Thomſon wenigſtens ungefähr 100 Millionen, Helm - holtz 68 70 Millionen, Young und Tait aber nur 10 15 Mil - lionen von Jahren erfordern; oder wenn nach Arago 313 600, nach Guſtav Biſchofs niedrigſter Schätzung 1300 000, nach deſſelben höchſter Schätzung aber 9 Millionen Jahre ſeit Entſtehung der Steinkohlenflötze verſtrichen ſein ſollen: ſo ſtellt uns das Alles ein nicht minder wirres und tolles Babel von Meinungen vor Augen wie wenn aus den Auswaſchungen des Sonnen-Thals bei Abbeville für die einſt da lebenden Steinmenſchen ein Alter bald bis zu meh - reren Zehntauſenden von Jahren, bald bis zu 100 000 Jahren (ſo ſelbſt Lyell) oder darüber herausgerechnet wurde; oder wenn man aus den Nil-Anſchwemmungen bald ein 12 000 -, bald ein 30 000 -, bald ein 74 000jähriges Alter des ägyptiſchen Culturlebens zu folgern ſuchte, oder wenn man das Alter des Miſſiſſippi-Deltas und ſeiner Bewohner je nach den verſchiednen in Anwendung kommenden Me - thoden auf 4400 (Humphreys), oder auf 33 000 (v. Kloeden) oder auf 67 000 (Lyell) oder auf 100 000 126 000 Jahre (ſo einige von K. Vogt citirte Gewährsmänner) beſtimmte. Die Menſchen - gebeine einer Knochenhöhle in Kent ſollten nach Vivian 260 000 Jahre alt ſein; ein in Florida ausgegrabener Menſchenkiefer nach Agaſſiz 135 000 Jahre, gewiſſe umweit der Dardanellen aus quar - tärem Drift zu Tage geförderte rohe Kunſtreſte nach Frank Calvert ungefähr 100 000 Jahre, ein am Miſſiſſippi-Ufer bei New-Orleans inmitten verſunkener Cypreſſen-Wälder entdeckter Jndianer-Schädel nach George Dowler 57 000 Jahre, die 1854 bei Heliopolis im309IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.Nilſchlamme in einer Tiefe von 72 F. aufgefundnen Thonſcherben nach Horner 24 000 Jahre, die däniſchen Küchenabfälle wegen der in ihnen vorkommenden Knochenreſte vom Auerhahn nach Steenſtrup u. AA. mindeſtens 4 000 Jahre, oder nach Lyell gar 16 000 Jahre lauter gleich willkürliche Schätzungen, denen jetzt ſchon kein be - ſonnener Forſcher mehr irgendwelchen Werth beilegt. 1)Vgl. überhaupt Reuſch, Bibel und Ratur, 4. Aufl., S. 590 f.; Güttler, a. a. O., S. 279 ff., u. m. Geſch. der Beziehungen ꝛc., II, 587 ff.

Wohl der ärgſte Schwindel auf dem hier in Rede ſtehenden Gebiete iſt eine Zeitlang mit den Pfahlbauten und den an ſie geknüpften Berechnungen des Alters der mitteleuropäiſchen Cultur - völker getrieben worden. Mehrere der erſten Erforſcher dieſer zuerſt 1854 im Züricher See, dann bald in den meiſten übrigen Schweizer - ſeen, vielen Seen Oberitaliens, Oeſterreichs, Deutſchlands ꝛc. entdeckten merkwürdigen Waſſerwohnungen aus ſcheinbar vorhiſtoriſcher Zeit ver - ſtiegen ſich zu maaßlos hohen Schätzungen des Alters ihrer ein - ſtigen Erbauer und Bewohner und fanden dafür Glauben in weiteren Kreiſen. Ferdinand Keller in Zürich, der eigentliche Begründer dieſes archäologiſchen Forſchungsbereichs, legte dem unterſten, ſeinem Jnhalte nach anſcheinend noch der Steinzeit angehörigen Stockwerke der Pfahlbauten von Robenhauſen ein Alter von 6720 Jahren bei. Morlot ſuchte aus Anſchwemmungen der Tinière bei ihrer Mündung in den Genferſee für die Pfahlbauten in den Umgebungen dieſes Sees ein Alter von 10 13 000 Jahren herauszurechnen. Etwas vorſichtiger verfuhr Troyon in Lauſanne ſowie Gillièron, welcher Letztere einer Pfahlwohnung zwiſchen dem Neuchateler und Bieler See ein Alter von 6750 Jahren ertheilte. Für weit jenſeits aller hiſtoriſchen Zeit entſtanden wurden die mitteleuropäiſchen Pfahlbauten während des erſten Jahrzehnis nach ihrer Entdeckung auch von vielen ſonſt be - ſonnenen Alterthumsforſchern gehalten. Namentlich auch für die in Mecklenburg und andern Oſtſeeländern entdeckten Seewohnungen dieſer Art meinten Liſch und Virchow, übereinſtimmend mit der310IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.ſkandinaviſchen Archäologenſchule, eine Zeitlang ein bis tief in die nordeuropäiſche Steinzeit, alſo bis jenſeits des erſten oder gar des zweiten vorchriſtlichen Jahrtauſends hinaufreichendes Alter poſtuliren zu müſſen. Man iſt längſt von dieſen Uebertreibungen zurück - gekommen; weiter als bis um das J. 1000 v. Chr. verlegt der - malen kein competententer Beurtheiler mehr die Entſtehungszeit der älteſten Pfahlniederlaſſungen europäiſcher Binnengewäſſer. Was Herodot (V, 16) über ein befeſtigtes Pfahldorf der thrakiſchen P[h]o - nier im Praſiasſee und über ſeine Vertheidigung wider den Perſer - feldherrn Megabazus unter Darius Hystaspis um 510 v. Chr. berichtet, führt uns ungefähr mitten in die Zeit hinein, wo dieſe Art von Anſiedlungen bei der mitteleuropäiſchen Bevölkerung üblich waren. Ja es ſcheint Manches dafür zu ſprechen, daß die Blüte - zeit der Pfahlbautencultur Europa’s ſogar noch etwas ſpäter, nemlich mit Pallmann erſt um 200 oder 300 v. Chr. zu ſetzen iſt. 1)Reinhold Pallmann, Die Pfahlbauten und ihre Bewohner, Greifs - wald 1866. Aehnlich im Ganzen auch F. Ratzel (ſ. unten).Von der Frage nach Zweck und Beſtimmung der Pfahlbauten ob ſie durchgängig gleich jenen päoniſchen des Praſiasſee’s oder gleich den von Cäſar gelegentlich ſeiner Kämpfe mit den alten Briten an der Themſe beſchriebenen2)De bello Gall. V, 18. Zufluchtsſtätten für Kriegszeiten, gleichſam feſte Waſſerburgen waren, oder ob man einen Theil von ihnen für Handelsniederlaſſungen phönikiſcher oder maſſaliotiſcher, alſo celtiſch - griechiſcher, oder philiſtäiſch-phereſitiſcher oder etruskiſcher Kaufleute im ſ. g. Bronze-Zeitalter (nach den betr. Hypotheſen von Franz Maurer, Pallmann, de Rougemont, Wiberg u. AA. ) zu halten hat wird die Altersbeſtimmung der vielumſtrittenen Monumente kaum in weſentlicher Weiſe berührt. Denn welches der genannten tauſch - handeltreibenden Völker es auch geweſen ſein ſollte, das die in den Pfahlbauten vorgefundenen Kunſtgegenſtände aus ſüdlicheren Ländern dem mittleren und nördlicheren Europa zuführte: auf eine frühere Zeit als etwa die Homeriſche wird man durch keine der ſie be -311IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.treffenden Hypotheſen zurückzugehen genöthigt. Die Zeit um 12 bis 1500 v. Chr. dürfte im alleräußerſten Falle als die, wo die erſten dieſer Bauten in unſrem Erdtheil entſtanden, zu betrachten ſein. Daß viele Seewohnungen ähnlicher Art erſt innerhalb der chriſtlichen Geſchichte ihren Urſprung genommen haben, ja noch jetzt bei manchen Völkern andrer Welttheile im Gebrauche ſind, ſteht außerdem feſt. Ueber die Crannoges oder Pfahl-Jnſeln Jrlands als noch bewohnte Niederlaſſungen haben wir Nachrichten aus dem 9. bis 17. Jahr - hundert; über ein zu Fiſcherzwecken angelegtes Pfahldorf bei Laufen - burg am Oberrhein ſolche aus dem J. 1293; über die Pfahlbauten mittelafrikaniſcher Neger im Benue-Fluß ziemlich neue durch Gerhard Rohlfs; über die der Nikobaren-Jnſulaner ſolche durch Hermann Vogel; über die der Orinoko-Anwohner und der Nachbarn des Maracaibo-Sees durch Franz Engel; über die der Dayacken Bor - neo’s und noch andrer Naturvölker der Gegenwart durch andre neuere Reiſende. 1)Vgl. wegen der hier nöthigen Belege meine Urgeſchichte der Erde und des Menſchen (1868), S. 152 ff. ; Güttler, S. 302 ff. ; F. Ratzel, Vor - geſchichte des europ. Menſchen, S. 150 212; H. Kraffert, Zur Pfahlbauten - frage im Ausland 1879, Nr. 30.

Durchaus nicht weiter als durch die Pfahlbauten-Alterthümer unſrer europäiſcher Seen, werden wir durch einen andren Lieblings - gegenſtand moderner archäologiſcher Forſchung: die verſchiednen Grabſtätten, als Felſen - und Hügelgräber, Steinkammern, - nenbetten, Dolmen ꝛc. in die Vergangenheit des menſchlichen Cultur - lebens zurückgeführt. Selbſt die leidenſchaftlichſten franzöſiſchen Ver - fechter der Annahme eines beſonderen angeblich von Skandinavien aus über Mitteleuropa und Spanien nach Nordafrika eingewan - derten Dolmenvolkes , auf welches die bekannten Felspfeiler-Tiſche dieſes Länderbezirks zurückzuführen ſein ſollen (ſo General Faidherbe, Cartailhac u. AA. ), wiſſen dieſem Dolmenvolke kein höheres Alter zuzuſchreiben, als etwa die Mitte des zweiten Jahrtauſends vor Chriſto. Mit Recht aber verwirft die größte Mehrzahl aller be -312IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.ſonnenen Forſcher ſowohl dieſe neuere Dolmenvolks-Hypotheſe als jene ältere, welche alle dolmenartigen Denkmäler den Kelten zuzu - ſchreiben liebte, als leere Phantaſiegebilde, unter Hinweiſung auf das Vorkommen von monumentalen Steintiſchen und Felspfeilern bei roheren Völkern aller Erdtheile auch noch in neuerer Zeit. 1)Gegen Faidherbe, Cartailhac als Vertreter jener modernen Dol - menvolk-Hypotheſe erklärten ſich beim Brüſſeler Archäologen-Congreß 1872 ſelbſt Worſaae, Hildebrand und andre ſkandinaviſche Gelehrte. Vgl. ſonſt Ratzel, a. a. O., S. 262 ff.Auch was man über Skythen oder über Gothen als angebliche Ur - heber der zahlreichen Hügelgräber Oſteuropa’s gemuthmaßt hat, mag es nun gegründet ſein oder nicht, führt keinesfalls über bekanntere geſchichtliche Epochen hinauf. Der Steinzeit angehörige Hügelgräber und Grabkammern ſind neben den jedenfalls viel zahlreichern Grabſtätten dieſer Art, welche bereits Metallgeräthe enthalten, aller - dings ziemlich viele geöffnet worden. Aber nicht einmal ſie bezeugen ein in eigentlichem Sinne des Worts vorhiſtoriſches Zeitalter der in ihnen Beſtatteten. Birchows anatomiſche Unterſuchungen der Schädel ſteinzeitlicher Hügelgräber Dänemarks lehren, daß es ganz dieſelben Bewohner dieſes unſres Nachbarlands wie die heutigen waren, welche darin beerdigt wurden, und daß man weder lappiſche oder finniſche, noch eſthniſche oder ſonſtige Vorgänger der heutigen Dänen als einſt dort wohnend anzunehmen nöthig hat. 2)Ratzel, S. 261. Wie gering, auch abgeſehen von dieſen Gräberforſchungen, der Werth des von den Archäologen Dänemarks über ethnologiſche Verhältniſſe und Altersfragen ihrer Vorzeit Gemuthmaaßten im Allgemeinen anzu - ſchlagen iſt, zeigen die bekannten Torfmoor-Berechnungen ſammt den ſie begleitenden merkwürdigen Enttäuſchungen. Nach ſeiner Lagerung unter mehreren dicken Torfſchichten zu urtheilen, hätte ein 1859 bei Weſterſchnaabeck im Sundewitt an der Schleswigſchen Oſtküſte aus - gegrabenes altſkandinaviſches Schiff mit Waffen, Pferdegerippen, Geräthſchaften ꝛc. als viele Jahrtauſende alt gelten müſſen, rührte313IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.aber in Wirklichkeit wie die darin gefundnen römiſchen Münzen aus der Zeit Kaiſer Antonins des Frommen nebſt andren Jndicien zeigten, früheſten aus dem 3. oder 4. Jahrhundert unſrer chriſtlichen Zeitrechnung her. Als nur wenig älter erwieſen ſich zwei andre, in einem Torfmoore bei Flensburg aufgefundene Boote, bei denen gleichfalls die in ihnen vorfindlichen römiſchen Kaiſermünzen den durch die Dicke der Torfſchicht erzeugten Schein zu zerſtören dienten. 1)M. Urgeſchichte der Erde ꝛc., S. 143 (nebſt Note 12).

Jn die hier betrachteten Unterſuchungsgebiete, insbeſondere die Pfahlbauten - und die Gräberforſchung eng hineinverflochten iſt die berühmte Hypotheſe der drei Culturperioden: des Stein -, Bronze - und Eiſenzeitalters, deren bereits früher gelegentlich gedacht werden mußte. Auch dieſes Fündlein moderner paläontologiſcher Weisheit ausgedacht zuerſt um die Mitte der 40er Jahre durch den Etatsrath Thomſen ( 1865), den Begründer des in ſeiner Art vortrefflichen Muſeums nordiſcher Alterthümer zu Kopenhagen, und weiterhin durch ihn, Worſaae, Nilsſon, Hildebrand, Müller und andre verdiente Alterthumsforſcher der ſkandinaviſchen Länder in weiteren Kreiſen zu Ehren gebracht2)Vgl. das bekannte, als Führer durch jenes Muſeum dienende Schriftchen: Das Muſeum für nordiſche Alterthümer in Kopenhagen (1876), S. 11 ff. iſt vielfach als Rüſt - kammer zur Schmiedung von Waffen gegen die bibliſche Zeitrechnung benutzt oder doch mitbenutzt worden, hat jedoch ſeine Rolle nach dieſer Seite hin bereits völlig ausgeſpielt. Das Dreiperioden - Syſtem, ſoweit es zunächſt als maaßgebend für Mittel - und Nord - europas Culturentwicklung durch jene Forſcher aufgeſtellt worden, iſt während des letzten Jahrzehnts den wuchtigen Streichen einer Reihe deutſcher Kritiker wie Hoſtmann, Ecker, Lindenſchmitt, Graf Wurm - brand ꝛc., gänzlich erlegen. Trotz des verzweifelten Widerſtands ſeiner däniſchen Urheber beginnt es neueſtens bei unbefangneren Autoritäten auch des Auslands wie dem franzöſiſchen Archäologen Alexandre Bertrand, dem engliſchen Metallurgen Percy, bei St. John Day ꝛc. ſeinen Credit zu verlieren. Man iſt an maßgebender314IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.Stelle jetzt weſentlich darüber einig, daß den Begriffen Steinzeit, Bronzezeit, Eiſenzeit lediglich eine relative Geltung zukommen kann; daß man ſtatt dieſer Ausdrücke wegen der notoriſchen Gleichzeitigkeit des Vorkommens der Steingeräthe gewiſſer Länder neben Bronze - geräthen ꝛc. andrer Länder, beſſer die Namen Stein -, Bronze -, Eiſen - ſtufe zu gebrauchen hätte; daß endlich ein Vorausgehen der Bronze - fabrikation vor der Eiſenfabrikation in Wirklichkeit gar nicht nach - zuweiſen ſei, vielmehr die Kunſt des Zuſammenſchmelzens von Kupfer mit Zinn oder Zink zu Bronze das Vorhandenſein einer Kunſt der Eiſenverarbeitung ſchon vorausſetzt. Es iſt nur ein Phantaſieproduct nordiſcher Archäologen, auf den bekannten dichteriſchen Schilderungen Heſiods und Lukrez’s beruhend und begünſtigt durch den Umſtand, daß eine Zeitlang vorzugsweiſe Bronzegegenſtände, ſpäter dann erſt Eiſenwaaren, durch den Tauſchhandel etruskiſcher oder griechiſcher Kaufleute nach dem Norden hin verbreitet wurden: lediglich ein ſolches Wahngebilde iſt es, das den Alterthumsforſchern Skandina - viens wie durch eine optiſche Täuſchung als angebliches Bronze - Zeitalter ſich vorgeſpiegelt hat. 1)Siehe überhaupt die Verhandlungen im Archiv für Anthropologie ſeit Hoſtmanns einſchneidender Kritik der Hildebrand’ſchen Schrift: Das heidniſche Zeitalter in Schweden (Archiv f. Anthropol. Bd. VIII, 1875, S. 278 ff.). Vgl. auch St. John B. Day, The prehistoric use of iron and steel, Lond. 1877, ſowie die Beſprechung dieſer Schrift von Beck im Archiv f. Anthropol., Bd. XI, S. 494 ff.Auch für Nordamerikas ältere Zeit hatte man etwas Aehnliches wie jene Dreiperioden-Folge, nem - lich die Aufeinanderfolge einer Steincultur, dann einer Kupfer -, einer Bronze - und endlich einer Eiſen-Cultur nachzuweiſen verſucht. Neueſte gründlichere Forſchung hat aber auch für dieſen Welttheil das Fehlen irgendwelcher beſonderer Bronzeſtufe, ebenſo wie das irgendwelcher vor die Einwanderung der Europäer fallenden Eiſen - fabrikation dargethan. 2)Gegen Birchow (Verhandlungen der Berl. Geſellſch. f. Authropol. und Ethnol. 1877, S. 143 ff. ) und Emil Schmidt (Archiv für Authropol. Bd. XI,Steinzeit und Metallzeit ſind in Wahrheit315IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.die beiden einzigen Culturſtufen, welche ſich für die alte Welt ſowohl wie für die neue hiſtoriſch unterſcheiden laſſen. Und auch ſie greifen, wie ſchon früher (VI) bemerkt worden, vielfach tief ineinander; daß die erſtere überall Jahrtauſende weit hinter der letzteren zurückliege, wird immer gründlicher als ein aus übertriebener Alterthümelei oder Archäomanie der antiquariſchen Forſcher entſpringendes Vor - urtheil ohne allſeitige reale Begründung erkannt.

Wie ſehr die neueſte paläontologiſche und archäologiſche Wiſſen - ſchaft mit den traditionellen Jrrthümern des geologiſchen Quietis - mus oder Uniformitarismus zu brechen begonnen hat und beſcheid - nere Schätzungen bevorzugt, dafür erlauben wir uns zum Schluſſe noch einige Ausſprüche namhafter Natur - und Alterthumsforſcher anzuführen. Oscar Fraas, überhaupt einer der behutſamſten und conſervativſten Geologen, was chronologiſche Fragen betrifft, und dabei vielleicht ein zu heftiger Gegner der bekannten franzöſiſchen Tertiärmenſchen-Hypotheſe, der er allen und jeden Grund abſpricht, wirft in verſchiednen ſeiner Schriften die Frage auf: warum doch die Eiszeit, gegen deren Ende die früheſten Spuren menſchlicher Exiſtenz auftreten, nothwendig ſo ungeheuer weit, wie die landläufige geologiſche Zeitrechnung dieß gern thut, über die hiſtoriſche Zeit hinauf verlegt werden müſſe, und ferner: warum die Nachrichten mittelalterlicher und vormittelalterlicher Quellen wie z. B. das Nibelungenlied, die Geſetze Karls des Großen, Tacitus, Cäſar ꝛc., mit ihren Hindeutungen auf gewaltige ſeitdem ſtattgehabte Ver - änderungen in der Thierwelt, nicht gehörig benutzt würden, wenn es das Verhältniß der Mammuth - und der Renthierperiode zur Jetztzeit zu beſtimmen gelte? Drei bis vier Jahrtauſende, die hinter uns liegen , meint er, ſind ſchon an ſich ſchwindelnde Größen,2)S. 65 ff. ) als Vertheidiger einer beſondren Kupferzeit für Nordamerika ſ. beſon - ders Ratzel, Die Vereinigten Staaten ꝛc. I: Phyſikaliſche Geographie und Naturcharakter, München 1878.316IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.wenn man auf dem mühevollen Pfade der Forſchung ſich hindurch arbeiten ſoll. Bis jetzt hat es noch kein Naturforſcher vermocht, auch nur Ein Jahrtauſend in der Art zu bewältigen, daß er die Veränderungen der Thier - und Pflanzenwelt nachzuweiſen im Stande wäre, welche von heute ab bis zurück zu Karl dem Großen vor ſich giengen. Warum doch , fragt er tadelnd, ungeheure Zeiträume abſtecken, zu deren Ausfüllung es dann an concretem geſchichtlichem Material gebricht? Jn ähnlicher Weiſe behauptet Quenſtedt in Tübingen, nach Beſprechung der Adhémarſchen Eiszeitentheorie, der er eine gewiſſe Wahrſcheinlichkeit zuzugeſtehen bereit iſt: Gienge aber die größte Herrſchaft der Gletſcher blos 11 000 Jahre zurück, dann dürften wir, da der Anfang unſres Geſchlechts doch dieſſeits zu liegen ſcheint, an die alten uns ſo theuer gewordenen Ueber - lieferungen anknüpfen, dürften wieder jene Ueberzeugungen heraus - kehren, die wir in kindlicher Einfalt ſchon mit der Muttermilch ein - ſogen. Ein guter Kämpfer gibt nicht leichtfertig ſeine Poſition auf, ſondern weicht nur, ſofern er weichen muß. Denn wir müſſen nicht meinen, daß in der Vorwelt Alles nur Entwicklung ſei, ſon - dern von Zeit zu Zeit fällt wenigſtens ſcheinbar plötzlich die Frucht reif zu Boden ꝛc. Beſtimmter noch urtheilt Fr. Pfaff, der Erlanger Mineraloge, am Schluſſe ſeiner kritiſchen Ueberſicht über die modernen geologiſchen Altersberechnungen, ſoweit ſie die Menſch - heitsgeſchichte betreffen: Alle Zahlen, welche von natürlichen Zeit - maaßen hergenommen für das Alter des Menſchengeſchlechts ange - geben werden, ſind höchſt unſicher; die zuverläſſigſten gehen nicht über 5000 7000 Jahre hinaus. Und ferner, was geologiſche Zeitbeſtimmungsverſuche überhaupt betrifft: Schwerlich möchte man irgendeine andre Ausſage hinſichtlich der geologiſchen Chronologie als ſicher bezeichnen dürfen, als die unbeſtimmte und dehnbare, daß die Erde ſehr alt ſei und ſchon lange Zeiten hindurch ſehr bedeuten - den Veränderungen ausgeſetzt geweſen ſei. Auch auf dieſem Puncte finden wir das Reſultat, das ſich in die Worte zuſammen - faſſen läßt: Viel Unſichres, wenig Sicheres . Der Canadenſiſche317IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.Geologe Dawſon, bekannt durch ſeine Forſchungen über das ſ. g. Eozoon, vindicirt zwar dieſem angeblichen Erſtling der Organismen - welt der übrigens unter der Hand der neueſten Forſcher aus einem Urthier, Eozoon, vielmehr eine Urpflanze, Eophyllon, wer - den zu ſollen ſcheint alſo überhaupt dem organiſchen Leben auf unſrem Planeten, ein nach Millionen von Jahren zählendes Alter, erklärt aber mit Bezug auf die Verſuche, das Alter der früheſteu Spuren des Menſchengeſchlechts aus Eroſionserſcheinungen u. dgl. muthmaaßlich zu beſtimmen: Das Alles (die Aushöhlung von Flußthälern, Ablagerung von Sand und Erde in Höhlen, Tropf - ſteinbildung ꝛc. ) iſt ſo veränderlich und ungewiß, daß, obſchon man ſagen mag, es bleibe ein Eindruck von hohem Alter über die Zeit unſrer Geſchichtskenntniß hinaus im Geiſte unſrer Geologen zurück, doch kein abſolutes Alter als wahrſcheinlich bewieſen worden iſt; und während Einige auf Grund des angeblich Klargeſtellten das Alter des Menſchen auf eine halbe Million von Jahren ausdehnen möchten, ſcheinen dennoch die älteſten Ueberreſte unſre herkömmlichen 6000 Jahre nicht zu überſchreiten . Mit ſpecieller Rückſicht auf Amerika ſagt eben dieſer Gelehrte, in beſtimmtem Gegenſatze zu den extravagant hohen Altersbeſtimmungen gewiſſer nordamerikaniſchen Geologen und Schädelforſcher: Die wirkliche amerikaniſche Race, obgleich in Form und Geſichtsbildung den paläokosmiſchen Menſchen (Europa’s) nahe verwandt, kann keinen Anſpruch auf hohes Alter - thum machen; ſelbſt ihre älteſten Glieder, die Dammerbauer (mound - builders) des Ohio und Miſſiſſippi, ruhen im modernen Alluvium der Flüſſe und können kein geologiſches Alter in Anſpruch nehmen. 1)Osc. Fraas, Beiträge zur Culturgeſchichte, aus ſchwäbiſchen Höhlen entnommen (Archiv f. Anthrop. V, 172 ff.). Quenſtedt, Klar und Wahr, S. 161 f. Pfaff, Die neueſten Forſchungen u. Theorien auf dem Gebiet der Schöpfungsgeſchichte, S. 76, ſowie: Allgemeine Geologie (Leipz. 1873), S. 285 f. Dawſon, Natur und Bibel (Gütersloh 1877), S. 104 ff.

Selbſt eine Reihe von Forſchern, denen ſich irgend Etwas wie religiös motivirter Conſervatismus oder bibelgläubige Befangenheit318IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.in keiner Weiſe vorwerfen läßt, hat über die beliebten Berechnungs - reſultate der quietiſtiſchen Geologenſchule theilweiſe principiell ver - werfende Urtheile gefällt. E. B. Tylor, obſchon im Allgemeinen darwiniſtiſchen Anſchauungen ſtark zugeneigt und in keiner Weiſe ein Vertheidiger der bibliſch-urgeſchichtlichen Ueberlieferung, tadelt es doch einmal, daß der vorhiſtoriſche Archäologe allzugroße Neigung be - thätige, in liberaler und wohl etwas ſorgloſer Weiſe in Tauſenden von Jahren, wie ein Financier in Tauſenden von Pfunden zu ſchwär - men . Schaaffhauſen, ein noch entſchiednerer Darwiniſt als Tylor, auch Vertheidiger der Möglichkeit einer einſtigen wiſſenſchaft - lichen Erweiſung von Tertiärmenſchen gegenüber Fraas (zu Dresden 1874), hat ſich doch des Oefteren ſehr beſtimmt gegen eine blind - gläubige Annahme der geologiſchen Altersberechnungen erklärt. Man darf es nicht verſchweigen, daß die von einigen namhaften Forſchern verſuchten Schätzungen des Alters gewiſſer Funde ꝛc. einen wiſſen - ſchaftlichen Werth durchaus nicht beſitzen. Ein ſichres Chronometer, die Zeiten zu meſſen, fehlt uns;. daß die Auswaſchung des Sommethals, welche 200 Fuß beträgt, ein Alter von 100 000 bis 240 000 Jahren gehabt haben ſoll, iſt eine höchſt unſichre Schätzung Zu den werthloſeſten Altersbeſtimmungen gehören die der Tropf - ſteinbildung, die von der Menge der im Waſſer vorhandnen Kohlen - ſäure, der Temperatur und der Größe der Verdunſtung abhängen wird , ꝛc. Aehnliche und zum Theil noch kräftigere Mahnungen zur Vorſicht und Proteſte gegen Leichtgläubigkeit laſſen ſich ſogar aus Schriften K. Vogts zuſammenſtellen; ferner aus ſolchen von Zittel, Ratzel, und beſonders aus dem verdienſtvollen Werke G. R. Credners über die Delta’s (1878), worin bezüglich der Unzuverläſſigkeit ſämmtlicher auf die Anſchwemmungen der Flüſſe gegründeter Altersſchätzungen die umfaſſendſten Zugeſtändniſſe gemacht werden. 1)Tylor, Anfänge der Cultur I, 56; Schaaffhauſen im Archiv f. Anthropol. V, 1, 118 ff. ; VIII, 3, 270; K. Vogt, Handb. der Geologie A. de Quatrefages erklärt einerſeits Forels auf319IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.die Anſchwemmungen am Genfer See ſich ſtützende Veranſchlagung der gegenwärtigen geologiſchen Epoche auf hunderttauſend Jahre für viel zu hoch gegriffen; andrerſeits wirft er der auf Eroſions - vorgänge am Saône-Ufer geſtützten Berechnung Arcelin’s, welcher dieſelbe Epoche mindeſtens 6720 Jahre alt denkt, vor, daß ſie bei zu niedrigen Annahmen ſtehen bleibe. Er meint: daß der Beginn der jetzigen geologiſchen Periode entſchieden über 7 8000 Jahre zurückliegt , verwirft aber zugleich die exorbitanten Schätzungen mancher moderner Zeitrechnungsmillionäre und erklärt, insbeſondere die Darwiniſten ſeien bei ihren Unterſuchungen ziemlich leichtfertig mit der Zeit umgeſprungen . Der Aſtronom Hermann J. Klein findet, daß ſich in den paar Fällen, wo ſich eine einigermaaßen exacte Methode anwenden läßt, für das Alter des Menſchengeſchlechts mäßige Zahlen herausſtellen, daß aber die meiſten übrigen Schätzungen nicht den geringſten Werth beanſpruchen können . Die letzten Jahre der Eiszeit können vor 20 000 Jahren ihr Ende erreicht haben, ſie können aber auch, wie Osc. Fraas will, bis zur Blüthe des babyloniſchen Reichs herabſteigen; ja die von Lartet ſo genannte Renthier-Epoche reicht, wie viele Thatſachen andeuten, gewiß in die hiſtoriſche Periode hinein ꝛc. Rütimeyer ſtimmt Fraas darin zu, daß er ein Hineinreichen der Eiszeit bis in unſre bekannteren hiſtoriſchen Zeiten für wahrſcheinlich hält; er denkt die Menſchheit als bei noch währender Eisperiode entſtanden und meint, mit Hin - weiſung auf die Gletſcher der Alpen: daß jene Periode immer noch aus einer Entfernung von wenigen Stunden von den Gipfeln der Berge herüber ſchimmert und daß wir uns jetzt in Wahrheit noch in den Nachmittagsſtunden jenes kalten Tags unſres Planeten be - finden wobei er freilich eine wohl nach Zehntauſenden von Jahren zu meſſende Dauer des Eis - oder Wintertags vorausſetzt. Anklingend an Quenſtedts oben mitgetheilte Aeußerung betont der1)und Petrefactenkunde, II, 311. 337. Zittel, Die Urwelt, S. 162, 331. Ratzel, Vorgeſchichte ꝛc., S. 29 ff. Credner, Die Delta’s, ihre Morpho - logie, geogr. Verbreitung und Eutſtehungsbedingungen, Gotha 1878, S. 33 ff.320IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.jüngſt verſtorbene K. E. v. Baer die Nothwendigkeit, für die Ent - ſtehungszeit des organiſchen Lebens auf unſrem Planeten eher eine ſprungweiſe als ſchrittweiſe Entwicklung anzunehmen. Neubildung und Umgeſtaltung wirkten früher, im Jugendzuſtande der Erde, viel mächtiger als jetzt. Wenn einige Naturforſcher neueſter Zeit dem Menſchengeſchlechte ſogar ein Alter von Hunderttauſenden oder Millionen von Jahren geben wollten, ſo entbehrt dieſe Meinung aller Gründe Jch ſchließe, daß das Alter des Menſchengeſchlechts nicht ſehr viel größer ſein mag, als man nach den bibliſchen Nach - richten gerechnet hat. 1)Quatrefages, Das Menſchengeſchlecht, I, 162 166. Herm. J. Klein, im Globus Bd. XV, H. 11, u. 12, ſowie in der Vierteljährlichen Revue der Naturw., 1873, S. 83 ff. Rütimeyer, Die Veränderungen der Thierwelt in der Schweiz ſeit Anweſenheit des Menſchen, Baſel 1876, S. 82 ff. K. E. v. Baer, Studien ꝛc. II, S. 410. 430. 436. Vgl. auch noch A. Wigand, Der Darwinismus ꝛc. I, 284 ff., ſowie den engliſchen Kritiker The Verifier: Scepticism. in Geology etc., London 1877.

Der letztgenannte große Naturforſcher beſtimmt ſein eben citirtes Votum: nicht ſehr viel größer, als nach den bibliſchen Nach - richten ꝛc. im weiteren Verlaufe ſeiner Ausführung noch näher dahin: Man wird daher nicht wohl umhin können, ein paar Jahrtauſende zuzugeben. Dieſe Altersbeſtimmung, welche alſo ſtatt der bibliſchen 6000 Jahre deren etwa 8 10 000 ſetzt, kommt ſachlich mit den Annahmen von de Quatrefages, Quenſtedt, auch wohl Rütimeyer ungefähr überein, entfernt ſich auch nicht eben weit von den 7000 Jahren, welche Pfaff als Aeußerſtes, das mit einiger Zuverläſſigkeit betreffs des Alters unſres Geſchlechts ſeitens der neueren Forſchung ermittelt worden ſei, zugeſtanden hat. Es darf eine ſolche relative Uebereinſtimmung mehrerer angeſehener Geologen von beſonnener Haltung immerhin als bemerkenswerth bezeichnet werden, und die Frage tritt demgemäß an uns heran: hat der Vertreter des bibliſchen Standpunkts zu ſolchen Annahmen der conſervativer gerichteten Forſchung ſich entgegenkommend zu ver -321IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.halten? geſtattet vielleicht die Chronologie des A. T’s., falls ſie einer unbefangenen, ſchärfer eindringenden Prüfung unterzogen wird, die von v. Baer erforderten paar Jahrtauſende in der That zuzugeben?

Daß mit Adoptirung der alexandriniſchen Chronologie hier nichts genützt wäre, ſahen wir ſchon Eingangs dieſes Abſchnitts. Die 7000 bis 7500 Jahre der Septuaginta können nicht die rettende Planke für den nach Ausgleichung ſeiner Annahmen mit denen der modernen Geologie trachtenden wiſſenſchaftlich erleuchteten Schrift - glauben bilden, aus dem einfachen Grunde nicht, weil ſie in hiſtoriſch-kritiſcher Hinſicht viel zu morſch und wurmſtichig erſcheinen. Es könnte indeſſen ſehr wohl auch durch die Annahme, daß das Pa - triarchenregiſter in Gen. 5 ſowie vielleicht auch das in Gen. 11 uns weder durch den Grundtext noch durch die alten Verſionen lückenlos überliefert ſei, die erforderliche Erweiterung des bibliſch-chronologiſchen Syſtems bewirkt werden. Das Symboliſche der Zehnzahl beider Erzväterliſten könnte hiefür geltend gemacht werden; nicht minder das Vorkommen noch andrer Fälle von Auslaſſungen oder Ueber - gehungen einzelner Zwiſchenglieder in fortlaufenden Berichten ſowohl der alt - als ſelbſt der neuteſtamentlichen Geſchichte. Man denke nur, was altteſtamentliche Analogien betrifft, an die Jahre des Aufenthalts Jſraels in Aegypten ſowie an die der Richterperiode, die jenachdem die einen oder die andren Anhaltspunkte für die Rechnung benutzt werden, beträchtlich längere oder erheblich kürzere Geſammtzeiten ergeben; deßgleichen und vor Allem an die Geſchlechts - regiſter der Chronik (1 Chr. 1 9), deren vielfach nur andeutende Kürze und unverkennbar fragmentariſcher Charakter eine beſonders lehrreiche Parallele zum genealogiſchen Jnhalte von Gen. 5 und 11 bildet. Oder man vergleiche auf neuteſtamentlichem Gebiete die Geſchlechtsregiſter bei Matthäus und Lukas, die laut den drei erſten Evangelien ſcheinbar nur einjährige, laut Johannes aber mindeſtens drei - bis vierjährige Dauer des öffentlichen Lehrens Jeſu; oder die ſcheinbar ſo kurzen, in Wahrheit aber doch nach Jahren zu ſchätzen -Zöckler, Urſtand. 21322IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.den Zeiträume, welche der Apoſtelgeſchichtſchreiber für das grund - legende Wirken der Apoſtel und Evangeliſten im Petriniſchen Zeit - alter, oder für Pauli erſte Miſſionsreiſe (Apg. 13 u. 14) auswirft. Zieht man die aus ſolchen Beiſpielen erhellende Unbeſtimmtheit der h. Schrift in Zeitrechnungsfragen nach Gebühr in Erwägung, ſo verlieren jene auf die Makrobierjahre geſtützten Diſtanzberechnungen für die Zeit zwiſchen Adam und Chriſtus von Uſher, Calviſius ꝛc., auch ſchon ohne daß man ihr Differiren unter ſich ſelbſt in Anſchlag bringt, ziemlich viel von ihrem Anſehen. Man gelangt zur Einſicht, daß an jener Behauptung vom Nichtvorhandenſein eines feſten und förmlichen chronologiſchen Syſtems in der Bibel in der That doch etwas Wahres iſt. Man lernt der Eventualität, daß doch noch einmal ſogenannte Tertiärmenſchen, d. h. nach maaßvollerer geolo - giſcher Schätzung ziemlich tief in die letzte Eiszeit, ziemlich weit jenſeits des ſ. g. Diluviums zurückreichende Foſſilreſte und Actefacte von Menſchen aufgefunden und wiſſenſchaftlich conſtatirt würden, man lernt einer ſolchen Eventualität ruhiger entgegenſehen. Und man blickt nicht minder mit größerem Vertrauen auf den Fortgang der aſſyriologiſchen und ägyptologiſchen Forſchung hin, erkennt es gern als möglich an, daß Manetho’s Königsreihe mit ihren 3555 Jahren angeblicher Zwiſchenzeit zwiſchen Menes und Nectanebis II. doch noch einmal durch ſpätere Denkmal-Entzifferungen als geſchicht - lich correct beſtätigt werden dürfte, ſo daß alſo die auf dieſem Felde zuverſichtlicher auftretenden Hiſtoriker wie Mariette, Lauth, Baſil Cooper ꝛc. gegenüber den ſkeptiſcher gerichteten wie Brugſch, Mas - péro ſchließlich Recht behielten.

Jn dieſem Sinne und mit dieſen Beſchränkungen hat denn auch eine Anzahl neuerer Apologeten des bibelgläubigen Standpunkts eine Verlängerung des durch die Patriarchenregiſter abgeſteckten Zeitraums altteſtamentlicher Geſchichte und Chronologie hypothetiſcher - weiſe zu vollziehen geſucht. Delitzſch nimmt die Lepſius-Ebersſche Fixirung des J. 3893 als erſten Regierungsjahrs des Menes als möglicherweiſe richtig an und meint, weſentlich übereinſtimmend mit323IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.dem eben von uns Dargelegten: der complexe Charakter der bibliſchen Geſchichtsſchreibung geſtatte nöthigenfalls eine Deduction des chronologiſchen Netzes. Grau urtheilt ähnlich; er ſetzt un - bedenklich den Anfang des ägyptiſchen Einheitsſtaats unter Menes um mindeſtens 2000 Jahre früher als Abraham. Der franzöſiſche Proteſtant Cazalis de Fondouce erklärt ſich bereit zu einem be - trächtlichen Hinausgehen über die 7000 Jahre, zu welchen man bei Zugrundelegung der Manethoniſchen Chronologie gelange. Aehnlich der Herzog v. Argyll, der ſein Abgehen von den knappen Maaßen der bibliſchen Zeitrechnung insbeſondre damit motivirt, daß bei An - nahme eines höheren Alters der Menſchheit die dem Feſthalten an der Vorausſetzung ihres einheitlichen Urſprungs entgegenſtehenden Bedenken ſich leichter beſeitigen ließen. Mehrere katholiſche Apolo - geten wie der Oratorianer de Valroger, die Jeſuiten Bellyuck und Knabenbauer, der Altkatholik Reuſch ſprechen (auch ohne wie Biſchof Meignan die Ziffern der Septuaginta zu bevorzugen) ſich für die Annahme einer gewiſſen Unzuverläſſigkeit und Lücken - haftigkeit, eventuell auch einer theilweiſen kritiſchen Corruption der altteſt. Zahlen, alſo überhaupt im Sinne des Kanons vom Nicht - vorhandenſein eines feſten bibliſch-chronologiſchen Syſtems aus. 1)Delitzſch, Geneſis, 4. A., S. 184. Grau, Urſprünge und Ziele unſrer Culturentwicklung, S. 10. Cazalis de Fondouce, Quel - ques notes sur l’antiquité de l’homme, in der Montaubaner Revue théo - logique, Juillet 1875, p. 67. Argyll, Primeval man, ch. 2 (vgl. oben, IV).Ja einer der neueſten Darſteller der Schöpfungsgeſchichte vom - miſch-orthodoxen Standpunkte aus, C. Güttler, meint ſogar: Wer überzeugt iſt, daß die anthropologiſch-archäologiſchen Beob - achtungen der Neuzeit bereits zu dem negativen Ergebniſſe geführt haben, daß der Menſch älter iſt als 6000 Jahre, der kann ruhig die Zeitrechnung der Bibel als eine irrige bezeichnen, ohne deßhalb ihren autoritativen Charakter überhaupt angreifen zu müſſen (?). 21*324IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.Die Zahlen des Alten Teſtaments dürfen unbeſchadet der Jnſpiration abgeändert (!) werden. 1)Güttler, Naturf. u. Bibel, S. 309 317 woſelbſt auch über die oben im Texte genannten übrigen kath. Gelehrten die näheren Nachweiſe gegeben ſind. Jn ähnlicher Weiſe unbefangen, und dabei freier von ſcholaſtiſirenden Anwandlungen, behandelt noch ein andrer Katholik, Engelb. Lor. Fiſcher (Die Urgeſchichte des Menſchen und die Bibel, Würzburg 1878, beſ. S. 11 ff. ) unſren Gegenſtand.

Die unbefangene Beurtheilung unſres Gegenſtands im Anſchluß an dieſe und andre, ähnlich ſich äußernde Apologeten gewährt eine feſtere Baſis der Vertheidigung gegen die bekannten Schwindeleien der landläufigen paläontologiſchen Chronologie als ein allzu ängſt - liches Sichanklammern an den Buchſtaben der bibliſchen oder gar der jüdiſchen und altkirchlichen Ueberlieferung ſie darreichen würde. Wo wirklich nach geſunder wiſſenſchaftlicher Methode auf Grund der vorhandnen urzeitlichen Spuren vom Menſchen über den Zeitpunkt von deſſen erſtem Auftreten geforſcht wird, da werden ſich niemals ſehr weit über die bibliſchen Angaben hinausgehende Reſultate heraus - ſtellen. Die bis zu 20 oder 50 oder gar 100 Jahrtauſenden hinaufſteigenden Schätzungen aber richten ſich ſelbſt, ſchon durch die enormen Widerſprüche, welche ſie unter ſich ſelbſt ergeben, ferner durch das lediglich Subjective und Phantaſtiſche des ihnen zu Grunde liegenden Schlußverfahrens, endlich durch den grellen Con - traſt mit dem allgemeinen Grundgeſetze alles organiſchen Werdens und Wachſens, welchen ſie ergeben. Es iſt doch die reine Gedanken - loſigkeit, wenn für das erſte kräftige Wachsthum eines jeden Pilzes, Grashalms, Baums, Thiers oder Einzelmenſchen eine vier - bis ſechsmal kürzere Zeit erfordert wird als für die ſpätere Weiter - entwicklung, das geſammte Menſchengeſchlecht aber Hunderttauſende von Jahren dazu bedurft haben ſoll, auch nur bis an die Schwelle ſeines eigentlichen bisjetzt etwa 4000 Jahre alten Culturlebens zu gelangen! Das Geſetz des ſprungweiſe fortſchreitenden und mit Einem Male fertig daſtehenden Werdens neuer großer Erſcheinungen325IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.ſoll zwar überall ſonſt im Natur - und Geiſtesleben, aber nur nicht da wo das Menſchengeſchlecht zuerſt ins Daſein trat, Giltigkeit haben! Wahrſcheinlich bedurfte der Uebergang vom Jntelligenzgrade unſrer Urahnen, der ſchmalnaſigen anthropoïden Affen, zum Geiſtesniveau der älteſten Menſchen oder Anthropopitheken einer ſo exceſſiv lang - wierigen Entwicklung! Verſtöße der Art gegen alles was logiſch zuläſſig und naturwiſſenſchaftlich wahrſcheinlich iſt, laſſen ſich doch wahrlich kaum anders claſſificiren, denn als Verirrungen in die bekannte geiſtige Krankheitsform der Archäomanie oder Alterswüthig - keit, welche in der cultur - und religionsgeſchichtlichen Ueberlieferung ſchon ſo manches Volks von uraltersher Verwirrung angerichtet hat. Schon Schubert hat zur Charakteriſtik dieſes traurigen Phänomens, durch das noch ſo viele Gebildete und Halbgebildete unſrer Zeit in unbegreiflicher Weiſe ſich berücken laſſen, das treffende Wort ge - ſprochen: Es ſcheint ein faſt unwiderſtehliches Gelüſte, gleich jenem Drange, der den Kometen faſt von der Sonne hinwegtreibt, den armen, der Eitelkeit dienſtbaren Menſchenwitz vom Licht der Wahr - heit hinwegzuführen, wenn er ohne Aufhören Jahrtauſende um Jahrtauſende, gleich Steinen einer Cheopiſchen Pyramide, aufzu - thürmen ſucht. 1)G. H. v. Schubert, Selbſtbiographie, III, S. 496.Wer ihm immer noch folgt, dieſem neuerdings doch auch von ſo vielen Trägern ächter Wiſſenſchaftlichkeit in ſeiner Verkehrtheit und Verderblichkeit erkannten Drange, der ſchädigt für - wahr nicht blos ſein religiöſes Erkenntnißorgan, ſondern in gleichem Maaße auch ſeine wiſſenſchaftliche Urtheilsfähigkeit und ſein Ver - mögen zu unbefangener und correcter Auffaſſung geſchichtlicher Wahr - heiten.

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X. Schlutz: Die richtig gefaßte Theorie vom Kindesalter der Menſch - heit als Löſung des Räthſels der Urſtandsfrage.

Blicken wir zurück auf den Gang unſrer Unterſuchung.

1. Die ältere kirchlich-dogmatiſche Ueberlieferung konnte vom Vorwurfe ungeſunder Spielereien und Ueberſchwenglich - keiten im Sinne eines abſtracten Supranaturalismns nicht frei geſprochen werden, obſchon ſelbſt ſie neben der Betonung des all - mähligen Herabſinkens von der urſprünglich inne gehabten Höhe reiner Gottbildlichkeit ein gewiſſes evolutioniſtiſches Moment der Betrachtung in ſich ſchloß.

2. Jn der von den üppigen Auswüchſen kirchlicher Speculation noch freien Schriftlehre vom Urſtande, auf welche unter allen Umſtänden bei jedem neueren Verſuche zu theologiſcher Fortbildung des Lehrſtücks anzuknüpfen iſt, nahmen wir ein verhältnißmäßig noch ſtärkeres Hervortreten des evolutioniſtiſchen, d. h. des vom Niederen zum Höheren emporſtrebenden Factors der Entwicklung wahr. Wir ſahen übrigens zugleich die altüberlieferte Kunde von einer Nachwirkung der verlorenen gottbildlichen Lebensfülle und Urkraft im Makrobierthum der frommen Patriarchen eine bedeutſame Rolle ſpielen und erkannten die Nothwendigkeit, dieſe bibliſchen Traditionen in engeren Zuſammenhang mit der Lehre vom Urſtande ſelbſt zu bringen, als die kirchlichen Tradition im Allgemeinen Luther und ſeine unmittelbaren Nachfolger etwa ausgenommen dieß gethan hatte.

327Schluß.

3. Auch in den auf den Urſtand bezüglichen Traditionen des Heidenthums nahmen wir neben einer reichen Fülle mehr oder minder confuſer Anklänge an die bibliſche Paradieſeserzählung ziemlich bedeutſame Reminiſcenzen an eine langſam abſteigende Folge patriarchaler Weltalter, zum Theil auch ausgeſtattet mit dem At - tribut einer allmählig ſchwindenden Langlebigkeit, wahr. Die Noth - wendigkeit, auch dieſen außerbibliſchen Parallelen zum Schriftbericht über das allmählige Erbleichen und Verdunkeltwerden des Urſtands - glanzes, trotz ihres mythiſch getrübten Charakters einen gewiſſen hiſtoriſchen Zeugenwerth beizulegen, trat uns in dem Maaße ent - gegen, als die Uebereinſtimmung ſich als vielſeitige und auf vielen Punkten bedeutſame zu erkennen gab.

4. Jn der ſeit zwei Jahrhunderten zu wachſendem Einfluſſe gelangten ſkeptiſchen Oppoſition des Naturalismus wird Beides zumal: der einſtige Urſtand oder die uranfängliche religiös - ethiſche Reinheit des Menſchendaſeins, und die das Leben der frommen Erzväter verklärende Abendſonne dieſes untergegangenen Schöpfungsglanzes in zunehmendem Maaße verkannt. Der Annahme eines Gottesbilds als Grund - und Urmerkmals des Menſchen wird mit zunehmender Entſchiedenheit die des Thierbilds ſubſtituirt. Statt einer göttlichen Erſchaffung unſres Geſchlechts wird ſeine ſpontane Entwicklung aus affenartigen Vorgängern und demgemäß ſeine ur - ſprüngliche thieriſche Wildheit behauptet.

5. Die angeblichen paläontologiſchen Beweisinſtanzen für dieſe Urwildheitstheorie, beſtehend in foſſilen Skelettrümmern und Kunſtreſten aus der Steinzeit, erweiſen ſich unbefangener näherer Prüfung als bloße Scheinbelege, die ebenſo gut auch zu Ungunſten des betr. naturphiloſophiſchen Dogma’s gedeutet werden können und dabei vielfach, wegen mancherlei mit unterlaufender Täuſchungen, eines wahren Beweiswerthes entbehren.

6. Aehnliches gilt von den der Sprach -, Religions - und älterer Culturgeſchichte entnommenen Beweismomenten, von welchen namentlich die religionsgeſchichtlichen, wie u. a. der wahre328Schluß.Sachverhalt in den auf den vermeinten Atheismus mancher Stämme ſowie auf den Fetiſchismus bezüglichen Controverſen, weit mehr der Degradations - als der Urwildheitslehre zur Stütze gereichen.

7. Die Unterſuchung über den Schauplatz des einſtigen Lebens im Urſtande, oder über den Urſitz des Menſchengeſchlechts lehrt, weſentlich übereinſtimmend mit dem in der Schrift Angedeuteten, eine oſtwärts gelegne, vom Euphrat einerſeits und vom Jndus andrerſeits umſchloſſene Gegend als den Ausgangspunkt kennen, von wo das geſammte menſchliche Culturleben, und zwar ſowohl der höherſtehenden wie der geſunkenen und entarteteren Racen, ſich allmählig über die Erde verbreitet hat. Das vielſeitig Bezeugte dieſer im Allgemeinen auf das ſüdliche Hochaſien hinweiſenden Pa - radieſestradition vereinigt ſich mit andren wichtigen Jndicien zu nachdrücklicher Beſtätigung des einheitlichen Urſprungs der Menſchheit, worin auch wieder ein die Urwildheits-Phantaſien wider - legendes Moment von nicht geringer Bedeutung enthalten iſt.

8. Jn den durch bibliſche wie außerbibliſche Tradition be - zeugten hohen Lebensaltern der frommen Erzväter aus Seths und Noahs Geſchlecht hat man, da aus der ganzen Zeit ſeit Moſe, alſo aus den letzten drei bis vier Jahrtauſenden, keine Bei - ſpiele einer auch nur annähernd ſo hoch hinaufgehenden Langlebigkeit nachzuweiſen ſind, ein auf göttlich normirtem Entwicklungsgeſetze beruhendes Uebergangsſtadium vom Urſtande zum ſündigen Stande der Menſchheitsgeſchichte zu erblicken. Die dieſem Phänomen zu Grunde liegende außerordentliche Zeugungskraft der Urväter beſitzt im menſchlichen Einzelleben ihr wahres Analogon an der friſchen geiſtigen wie körperlichen Jugendkraft und geſteigerten Lernfähigkeit eines relativ unverdorbenen Kindes. Beide Male, bei dieſem lachenden Lebensfrühling des Jndividuallebens, wie bei jener üppig ſproſſenden und blühenden Frühlingszeit des geſammten Menſchen - geſchlechts, erklärt ſich das allmählige Dahinſchwinden der eine Zeit - lang bethätigten höheren Lebenskraft aus der unaufhaltſam um ſich greifenden Einwirkung des in unſre Entwicklung eingedrungenen und329Schluß.eine zunehmende Ausdehnung der Herrſchaft des Todes bedingenden Sündeprincips.

9. Was die Altersfrage oder die Frage nach der Ge - ſammtdauer der Menſchheitsgeſchichte betrifft, ſo ergibt das weite und tiefe Jneinandergreiſen der wenigen langlebigen Erz - väter-Generationen dem bibliſchen Berichte zufolge allerdings eine kaum zwei Jahrtauſende umfaſſende Geſammtlänge des den gegen - wärtigen kurzlebigen Geſchlechtern vorausgegangenen Makrobierthums, und ſomit eine nur etwa ſechstauſendjährige Länge des ſeit dem Urſprunge der Menſchheit verſtrichenen Zeitraums. Aber bibliſch - exegetiſche und hiſtoriſche Analogien erleichtern die Vorausſetzung eines theilweiſe fragmentariſchen Charakters der beiden Geſchlechts - tafeln der Geneſis mit ihren zweimal zehn Patriarchenleben von Adam bis Abraham, ſo daß eine Ausgleichung der Chronologie der Bibel mit derjenigen einer nüchtern zu Werke gehenden Natur -, Geſchichts - und Alterthumsforſchung als keineswegs unmöglich, ja nicht einmal als ſehr ſchwierig erſcheint. Uebrigens tritt uns in dem bei jedem menſchlichen Jndividualleben wiederkehrenden Ver - hältniſſe zwiſchen dem raſchen Verlaufe des Kindesalters und dem weit langſameren Gange der ſpäteren Lebensſtufen eine höchſt be - deutſame Analogie zur menſchheitlichen Geſammtentwicklung entgegen, durch welche die exorbitanten Altersſchätzungen einer dem Schrift - glauben entfremdeten Natur - und Geſchichtsphiloſophie als nicht bloß mit der geoffenbarten Wahrheit, ſondern auch mit den Forderungen ächter Wiſſenſchaft ſtreitend erwieſen werden.

Es iſt dem Allem zufolge der richtig gefaßte Begriff eines einſtigen Kindesalters der Menſchheit, in welchem wir den Schlüſſel zum wahren harmoniſchen Verſtändniſſe deſſen, was die religiöſe Ueberlieferung in ſcheinbarem Widerſpruche mit der moder - nen Forſchung über die früheſten religiös-ſittlichen wie phyſiſchen Zuſtände unſres Geſchlechts ſagt, gefunden zu haben glauben. Als ein noch völlig ſchuldfreies, ſittlich und phyſiſch intactes, zu abſolut krankheitsfreier und normaler Entwicklung befähigtes Kindlein nach330X. Schluß.Gottes Bilde erwachte unſer Stammelternpaar in der Fülle der Naturgüter jenes herrlichen paradieſiſchen Urſitzes zum Daſein auf dieſem Planeten. Die durch das Eingreifen einer gottfeindlichen verderbenden Macht ſchon bald nach der Erſchaffung erfolgte Ver - giftung ſeiner edelſten religiös-ſittlichen Lebenskeime übte ihre ſtören - den und langſam zerſtörenden Wirkungen auch ſchon auf das Kind - heitsſtadium unſres Geſchlechts, ließ das von Jugendauf böſe Dichten und Trachten des Menſchenherzens ſomit deſſen verderb - lichen Folgen für Seele, Leib und Geiſt bereits frühzeitig hervor - treten. Aber dieß allerdings nur in langſamer Allmähligkeit, ſodaß die eigentlichen Kindheitsjahre, der goldne Lebensmorgen unſrer Altvordern, wenn auch ſchon vor den Pforten des Gartens Eden, doch noch beſtrahlt vom nachſcheinenden Glanze der Paradieſesſonne und getragen von mannigfachen Paradieſeskräften, verlaufen konnten. Die dunklen Schatten, welche das bei einem Theile der Menſchheit jäh einreißende und von den Kainiten her auch die ſethitiſche Race mehr und mehr inficirende Sündenverderben um ſich her verbreitete, vermochten dem helleren Lichte, worin die ächten Träger der Menſch - heitsidee aus Seths Hauſe nach wie vor während einer Reihe von Jahrhunderten erglänzten, nichts anzuhaben. Sie dienten vielmehr, vor wie nach der großen Kriſe der Sintfluth, zu nur um ſo ſtärkerer Hervorhebung jenes nachwirkenden Urſtandsglanzes, deſſen letztes Erbleichen erſt mit der Epoche der Geſetzgebung des Alten Bundes zuſammenfällt, womit für einen auserwählten Theil der vorchriſt - lichen Menſchheit die harte Schulzeit eröffnet wurde, ohne welche die in Chriſto dem Sohne Gottes vorherverſehene Lebensverneue - rung der zum Mannesalter heranreifenden Geſammtmenſchheit nicht eingeleitet werden konnte.

Dieß in ſeinen allgemeinſten Umriſſen das Bild vom Kindes - alter unſres Geſchlechts, das wir den Andeutungen der hl. Schrift zufolge, unter gleichzeitiger Berückſichtigung deſſen, was die Natur - und Alterthumsforſchung über die Anfänge des Menſchheitsdaſeins lehrt, zu entwerfen haben. Zur modernen Naturweisheit, welche331X. Schluß.das Axiom feſthält: Je weiter rückwärts in der Entwicklung unſres Geſchlechts, deſto roher, brutaler und unreiner hat man ſich daſſelbe zu denken , befindet dieſe unſre Auffaſſungsweiſe ſich in einem aus - geſprochnen Gegenſatze, obſchon auch wir ein ſtetiges Emporſteigen des Culturlebens zu vollkommneren Zuſtänden annehmen und die altkirchlich-ſcholaſtiſche Steigerung der ethiſch-religiöſen Urvollkommen - heit Adams zu einer auch intellectuellen ebenſo entſchieden verwerfen, wie die überſchwenglichen Phantaſien einzelner neuerer Apologeten, welche von einer hohen Civiliſationsſtufe der erſten Erzväter träu - men und beiſpielsweiſe gleich der menſchlichen Sprache auch die Schrift, irgendwelches älteſte Ur - oder Mutter-Alphabet alſo, bereits aus dem Paradieſe herzuleiten und als ein Geſchenk göttlicher Ur - offenbarung an Adam darzuſtellen ſuchen. 1)So G. A. Wimmer in der ſchon einige Male citirten Schrift: Adam und ſein Geſchlecht (1863), S. 79, wo alles Ernſtes behauptet wird, Gott habe Adam im Paradieſe wie das Sprechen, ſo auch ſchon das Schreiben gelehrt; was mit der Frage motivirt wird: Kann uns die Geſchichte eine Zeit nach - weiſen, in welcher nicht geſchrieben wurde? Vgl. auch daſ., S. 98.Auch ohne ſo weit zu gehen, ſtehen wir doch in tiefgreifendem Gegenſatze zur Urſtandslehre des modernen Naturalismus, weil dieſem alle und jede Erkenntniß von der gewaltigen Bedeutung der Sünde als ſtörenden Factors der ſündefrei und gottbildlich rein begonnenen Entwicklung unſres Geſchlechts abgeht. Die Parallele der individuellen mit den geſammt - menſchheitlichen Lebensſtufen, alſo die Auffaſſung der früheſten Anfänge menſchlicher Geſchichte als eines Kindesalters, iſt ja den Vertretern auch dieſes Standpunktes keineswegs fremd. Häckels vielgeprieſenes biogenetiſches Grundgeſetz legt ſie den darwiniſtiſch Gerichteten unter ihnen gleichſam von ſelbſt nahe; und ſchon Rouſ - ſeau’s phantaſtiſch idealiſirter Naturmenſch, der ja hie und da immer noch in den Köpfen unſrer Gebildeten ſpukt, trägt einige Züge vom Leben und Bewußtſein eines Kindes an ſich. Aber wir müſſen proteſtiren gegen dieſe Kindheitstheorie mit ihren durchaus ſchiefen und einſeitigen Anſchauungen und ihrer totalen Verkennung einerſeits332X. Schluß.des wahrhaft Guten oder Gottbildlichen im Kindesleben, anderer - ſeits der darin ſich regenden Keime des Böſen. Lubbock, der das Gleichniß vom Kindesalter gern und ziemlich oft gebraucht, ver - wendet daſſelbe doch in grundverkehrter Weiſe und gelangt mittelſt ſeiner zu den widerſinnigſten Annahmen, wie daß Adam ein ächter typiſcher Wilder (!) geweſen ſei,1)Orig. of civilization etc. p. 409: Adam was a typical savage . Vgl. auch p. 402 s., 408 s. oder wie jene Theorie vom Feti - ſchismus als der Urform aller Religionsübung (vgl. VI, 2). Es iſt eine grundſätzliche Jgnorirung deſſen, was das ſündig Böſe für die menſchliche Entwicklung zu bedeuten hat, und eine naturgemäß eben hieraus entſpringende Unfähigkeit zur Conception der Jdee eines noch ſündefreien Anfangs unſrer Stammesgeſchichte, was dieſen und ſo manchen ähnlichen Verkehrtheiten zu Grunde liegt. Eine Verſtändigung über dieſe in jeder Hinſicht fundamentale Meinungs - verſchiedenheit, in welcher der alte Gegenſatz zwiſchen Pelagianismus und Auguſtinismus, und zwar verſchärft durch Hineinnahme eines manichäiſchen Elements in das moderne Analogon des Pelagianis - mus, wieder auflebt, läßt ſich ſelbſtverſtändlich nicht gewinnen. Weder für unſre Annahme eines ſündloſen Lebensanfangs unſres Geſchlechts noch für unſer Feſthalten an der bibliſchen Darſtellung von der heutigen Lebenslänge der Menſchen als einer nur allmählig durch Herabſinken von einem früheren weit höheren Maaße gewor - denen dürfen wir irgendwelche Anerkennung auf jener Seite erwarten. Die dem materiellen Culturleben angehörigen Beweisſtücke, die ein - zigen für welche unſre Gegner Sinn und Verſtändniß haben, lehren ihrer Natur nach nichts über den ſündloſen Anfang der menſchlichen Geſchichte. Wo nur auf ſie Rückſicht genommen und dagegen das Zeugniß der Offenbarungsurkuude für Nichts geachtet wird, kann eine Theorie der Menſchheitsanfänge, welche ſich gleicherweiſe auf dieß letztere Zeugniß und auf jene materiellen urzeitlichen Cultur - denkmale ſtützt, niemals zu ihrem Rechte kommen. Daher unſre Hoffnungsloſigkeit gegenüber den Vertretern jener principiell unbib -333X. Schluß.liſchen oder gar bibelfeindlichen Geſchichtsanſicht, mögen ſie nun das Gleichniß vom Kindesalter mit in Anwendung bringen oder nicht.

Anders ſtehen wir dagegen zur Behandlung der Urſtandslehre bei den Vertretern der poſitiv offenbarungsgläubigen Theologie unſrer Zeit. So weit dieſe nicht abſtract-ſupranaturaliſtiſchen Extra - vaganzen gleich der vorhin beiſpielshalber hervorgehobenen huldigen, oder wie ein Theil der ultramontanen Dogmatiker ſich in Repro - duction ſcholaſtiſcher Dogmen, z. B. der ſcotiſtiſchen Lehre von den pura naturalia, oder auch in Erneuerung typiſcher Deutungskünſte u. dgl. gefallen,1)Von Verirrungen der erſteren Art gewähren u. a. die Schriften von Kleutgen (Die Theol. der Vorzeit II, 595 ff. ) und Scheeben (Die Myſterien des Chriſtenthums S. 204 ff. ) mit ihrer wider Kuhns milden Auguſtinismus auf dem Gebiete der Urſtandslehre gekehrten ſchroffen Polemik warnende Bei - ſpiele. Ungeſundes Typologiſiren in der Weiſe der Weltalterſpeculationen patri - ſtiſcher Hexaëmeron-Ausleger findet man z. B. bei Schlegel, J. v. Görres, bei Karl vom hl. Aloys ( Die Menſchengeſchichte ꝛc., Würzburg 1861). befinden wir uns mit ihnen in ſachlichem Ein - klang betreffs aller Hauptpunkte des Lehrſtücks. Namentlich darin, daß wir von der Gottbildlichkeit des paradieſiſchen Urſtands alle Erdichtungen hoher intellectueller oder phyſiſcher Vorzüge ausſchließen und auch die religiös-ethiſche Vollkommenheit (im Sinne des aut certe rectitudinem et vim etc. der Apologie der Auguſtana) nicht als etwas abſolut Abgeſchloſſenes, ſondern vielmehr als eine lebenskräftige Anlage und ein ungetrübt reines zukunftsvolles Ver - mögen denken, namentlich in dieſer relativen und vorſichtig ver - mittelnden Faſſung der urſprünglichen Gerechtigkeit ſtimmen wir mit der größten Mehrzahl aller heutigen evangeliſchen Vertreter der Urſtandslehre überein. 2)Vgl. namentlich Jul. Müller, Lehre von der Sünde. 5. Auflage, II, 437 ff. ; Beck, Chriſtl. Lehrwiſſenſchaft I, 194; Schmieder, Präliminarien zu einer bibl. Urgeſchichte, Naumburg 1837; J. P. Lange, Poſit. Dogmatik S. 395 ff. ; Sell, Die Gottbildlichkeit des Menſchen, Friedberg 1856; W. Engel - hardt, Die Lehre von der Gottbildlichkeit des Menſchen, Jahrbb. f. deutſche Theol. 1870, S. 44 f.; Cremer, Art. Gerechtigkeit des Menſchen , in Her -Auch in der Anwendung des Gleichniſſes334X. Schluß.vom Kindesalter und ſeiner relativen Unſchuld und friſchen Urkraft auf das Menſchheitsganze beim Beginne ſeiner religiös-ethiſchen Entwicklung begegnen wir uns mit nicht Wenigen der neueren poſitiv-evangeliſchen Dogmatiker. Wir unterſchreiben insbeſondere mit vollem Beifall das von Philippi, einem Hauptvertreter dieſer Anſchauungsweiſe, über das Geheimnißvolle und ſchwer Vorſtellbare des reinen Kindheitsbewußtſeins des Menſchheitsſtammvaters während ſeines Paradieſeslebens Ausgeführte: Der Menſch, wie er aus Gottes Hand hervorging, ſtellt uns nur die erſte Stufe, nämlich den Kindheitszuſtand der gottgeſchaffenen Menſchheit dar. Nun ſind wir nicht einmal im Stande, uns klar in das Sein, das Leben und Weben, das Anſchauen, Thun und Empfinden der uns um - gebenden Kinderwelt hinein und zurückzuverſetzen, obgleich wir es doch ſelbſt durchgemacht und ſtets zur Betrachtung gegenwärtig vor unſren Augen haben. Wie viel ſchwerer wird dieß in Bezug auf den Urſtand ſein, den wir ſelbſt nicht durchlebt und der uns nicht zur Anſchauung vorliegt ..... Wir werden daher den Urzuſtand mehr nur in der Form der begrifflichen Conſtruction, als in der Weiſe der erfahrungsmäßigen Anſchauung und lebendigen Vergegen - wärtigung uns vorſtellig machen können . Auch darin, daß dieſe Vorſtelligmachung des verlorenen Urzuſtands im Gegenſatze zum jetzigen, ſündig verderbten ſich an den Zuſtand der Wiederherſtellung durch die Gnade zu halten, jenen alſo in gewiſſer Weiſe als dieſem parallel zu denken habe, ſtimmen wir mit dem Roſtocker Dogmatiker im Weſentlichen überein. 1)Vgl. überhaupt Philippi, Glaubenslehre, 2. Aufl., Bd. II, S. 337 ff. Uebrigens ſcheint das S. 355 f. über die nicht bloß keimartige, ſondern aus - gebildete Geſtalt der urſprünglichen Gerechtigkeit Adams von Philippi Bemerkte uns zu weit zu gehen. Vgl. Dorner, S. 519. Was jedoch unſere Vor - und Dar - ſtellung des Jntegritätsſtandes von derjenigen Philippi’s und der meiſten neueren Dogmatiker unterſcheidet, iſt der Verſuch das Kindes -2)zogs Real. -Enchklop., 2. Aufl. ; Dorner, Syſtem der chr. Glaubenslehre, I (1879), S. 517 ff.335X. Schluß.alter der Menſchheit als durchaus nicht blos auf die Paradieſeszeit beſchränkt, ſondern als dieſelbe, wenn auch nicht mehr in voller Reinheit und Urfriſche, überdauernd und während des ganzen Patri - archenzeitalters fortdauernd zu faſſen. Wir ſchließen das Kapitel vom Urſtande noch nicht mit Gen. 3, ziehen vielmehr auch Gen. 5 und 11 mit in ſeine Darſtellung hinein. Das geſammte Kindesalter der Menſchheit, oder was trotz des entgegengeſetzt klingenden Namens damit gleichbedeutend, das ganze Patriarchenzeitalter (aetas patri - archalis = aetas infantilis), zerfällt uns in zwei Stadien von ungleicher Länge: eine Zeit früheſter und noch abſolut reiner Kind - heit, und eine Zeit fortgeſchrittener, nur noch relativ reiner Kindheit, die aber immer noch Kindheit iſt. Wir unterſcheiden einen eigent - lichen Jntegritätsſtand und ein Uebergangsſtadium, während deſſen ſich das langſame Herabſinken aus der Jntegrität in den dermaligen Zuſtand ſittlicher und phyſiſcher Corruption vollzogen hat. Jn dieſes letztere Stadium verlegen wir jene durch den Sündenfall herbeigeführten großen Veränderungen ſowohl der terreſtriſchen Lebensbedingungen als unſrer eignen Organiſation (Philippi), welche die kirchlich dogmatiſche Tradition gewiß mit Recht und auf Grund unleugbarer Schriftzeugniſſe lehrt, welche aber freilich weder als außerhalb des Menſchen, in niederen Naturſphären vor ſich gegangene, noch als mit Einem Schlage und plötzlich erfolgte Ver - änderungen gedacht werden dürfen. Vielmehr werden dieſe in der Naturbeſchaffenheit und Naturſtellung des Menſchen ſich offenbarenden Strafwirkungen des Falles, worin Gottes Fluch (Gen. 3, 14 19) ſich erfüllte, als nur langſam im Laufe vieler Jahrhunderte ſich auswirkende und zum Vollzug gelangende zu denken ſein. Das Lebensgebiet, worin ihr zunehmend ſtärkeres Wirkſamwerden zu Tage trat, wird vor Allem das der menſchlichen Zeugungsthätigkeit ſammt dem ihm entſprechenden des Abſterbens unſres irdiſchen Organismus geweſen ſein; das Werden und Vergehen, das Zeugen und Sterben der Menſchheit wird als die Sphäre zu denken ſein, in welcher jenes allmählige Durchdringen des Todes zu allen Menſchen (Röm. 336X. Schluß.5, 12), jenes Hineingezogenwerden Aller, zuletzt auch der frömmſten und heiligſten Nachkommen Adams in die Herrſchaft des Todes, nach und nach erſichtlich wurde und ſich bis zu dem ſeit nun drei Jahrtauſenden herrſchenden Grad der Stärke ſteigerte. Das geheim - nißvolle Jneinander dieſer langſam abſteigenden, ſowie der in ſie verflochtenen intellectuell und culturell aufſteigenden Entwicklung der Menſchheit zwiſchen Adam und Moſe iſt es, was die Patriarchen - geſchichte der Bibel uns zur Anſchauung bringt. Sie iſt eben darum Patriarchengeſchichte, weil Kindheitsgeſchichte der Menſchheit. Und umgekehrt: weil es das Kindesalter unſres Geſchlechtes iſt, deſſen Entfaltung und allmähligen Uebergang in das Knabenalter oder die vorgerücktere Jugendzeit die bibliſche Patriarchengeſchichte berichtet, darum hat ſie es mit einer Reihe ehrwürdiger Erzvätergeſtalten von lange ſich hinziehenden und erſt allmählich verkürzten Lebens - dauern zu thun. Sie hat einen zwar letztlich mit Niederlage endigenden, aber langdauernden und von zäher Widerſtandskraft der Streiter zeugenden Kampf wider die endlich zu voller Herrſchaft über unſer Geſchlecht gelangte Macht des Todes zu beſchreiben.

Es läge nahe, unſreu Betrachtungen über das Makrobierthum der Urzeit ſolche über ein Makrobierthum der Zukunft , das viel - leicht als letzte abſchließende Segensgabe der lebenverjüngenden Wirkungen Chriſti und des Chriſtenthums vor dem Abſchluſſe der irdiſchen Geſchichte erhofft werden dürfte, hinzuzufügen. Schließen ja doch auch unſre Geſchichts - und Religionsphiloſophen, da wo ſie vom goldenen Zeitalter der Vergangenheit gehandelt haben, gern Erörterungen über das goldene Zeitalter der Zukunft an, bei welchen ſie dann meiſt eingehender und mit mehr Vorliebe verweilen, als bei jenem! Einer der wenigen neueren Dogmatiker, welche im Zuſammenhange mit Urſtand und Sündenfall auch dem Geſchichts - inhalte von Gen. 5 und 11 einige Aufmerkſamkeit gewidmet haben, J. P. Lange, hat in ſeiner geiſtreichen Weiſe ſich über die Makro - bier der letzten Zeiten verbreitet, hat außer dem altteſtamentlichen Prophetenwort Jeſaj. 65, 20 ff. die pauliniſchen Ausſprüche vom337X. Schluß.Ueberkleidetwerden und der Verwandlung (2 Cor. 5, 1 5; 1 Cor. 15, 51) herbeigezogen, hat als letzte ſieghafte Wirkung der Auf - erſtehung Chriſti die Wiederherſtellung einer neuen leiblichen Ver - wandlungsfähigkeit am Weltende zu weiſſagen gewagt und von einem Gegenſatze der wieder zunehmenden Makrobiotik am Welt - ende zur abnehmenden Makrobiotik in der Urzeit geredet. 1)Poſit. Dogmatik a. a. O., deßgleichen Theol. -homilet. Commentar zur Geneſis, S. LXIX f. und S. 123.Wir verkennen nicht den Reichthum fruchtbarer Gedanken, der in dieſem Thema beſchloſſen liegt, geſtehen auch gern das Reizvolle ſolcher Betrachtungen zu, die uns allerdings mitten in den Chiliasmus hineinführen, immer aber doch einem Chiliasmus bibliſch funda - mentirter Art angehören und in der Sphäre berechtigter chriſtlicher Hoffnungen verbleiben würden. Aber ſchon die Rückſicht auf den für unſre Unterſuchung beſtimmten Raum verbietet uns näheres Eingehen auf dieſen Gegenſtand. Wir müſſen uns damit begnügen, unſre dogmatiſch-apologetiſche Erörterung der Lehre vom Urſtand an der Spitze der Heilsentwicklung, nebſt der eigenthümlichen Er - weiterung, die wir dieſer Lehre durch Herbeiziehung der Patriarchen - geſchichte zu ertheilen hatten, der Prüfung unſrer Leſer zu unter - breiten. Möge es uns gelungen ſein, den einen oder andren Mitforſcher im Buche des Lebens zu tieferem Eindringen in den Gegenſtand anzuregen.

About this transcription

TextDie Lehre vom Urstand des Menschen
Author Otto Zöckler
Extent348 images; 95004 tokens; 20250 types; 741922 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Lehre vom Urstand des Menschen geschichtlich und dogmatisch-apologetisch untersucht Otto Zöckler. . 337 S. BertelsmannGütersloh1879.

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SUB Göttingen SUB Göttingen, 8 POL I, 8840-j

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Gesellschaft; Wissenschaft; Gesellschaft; core; ready; china

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ShelfmarkSUB Göttingen, 8 POL I, 8840-j
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