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Volkswirthschaftliche Zeitfragen, Vorträge und Abhandlungen herausgegeben von der Volkswirthschaftlichen Gesellschaft in Berlin und der ständigen Deputation des Kongresses Deutscher Volkswirthe.
Heft 36. (Jahrgang 5, Heft 4.)
DIE VAGABUNDENFRAGE.
Vortrag gehalten in der Berliner Volkswirthschaftlichen Gesellschaft.
BERLIN. VERLAG VON LEONHARD SIMION. 1883.
Jährlich erscheinen 8 Hefte zum Abonnementspreise von 6 Mark. Einzelpreis für jedes Heft 1 Mark.
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DIE VAGABUNDEN-FRAGE.
VORTRAG gehalten in der Berliner volkswirthschaftlichen Gesellschaft
BERLIN1883. Verlag von Leonhard Simion.
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LITERATUR.

A.

  • 1. David Barthel, « Jura Vagabundorum. » Lipsiae, 1672.
  • 2. R. Lammers, « Die Bettelplage. » Berlin, 1879.
  • 3. P. Chuchul, Staatsanwalt, « Zum Kampf gegen Landstreicher und Bettler. Kassel, 1881.
  • 4. A. de la Chevallerie, Amtmann, « Zur Bekämpfung der Bettelei und Vaga - bondage. » Münster i / W., 1882.
  • 5. Karl Fulda, Landgerichtsrath a. D., « Das Verbrecherthum. » Heidelberg, 1883.
  • 6. Rudolf Elvers, Landrath in Wernigerode, « Zur Vagabundenfrage. » Berlin, 1883.
  • 7. Huzel, Oberamtmann in Blaubeuern, « Das System der communalen Natural - verpflegung. » Stuttgart, 1883.

B. (Zur Geschichte des Bettler - und Vagabundenwesens.)

  • 1. Knebel, « Chronik aus der Zeit des Burgunder-Kriegs. » Basel, 1851.
  • 2. Jos. Baaders, Archiv-Coservator in Nürnberg, « Nürnberger Polizei-Verord - nungen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert. » Stuttgart, 1861.
  • 3. Avé-Lallemant, « Das Deutsche Gaunerthum. » Leipzig, 1858.
  • 4. B. Becker, « Die Räuberbanden an beiden Ufern des Rheins. » Köln, 1804.
  • 5. Pfister, « Geschichte der Räuberbanden am Main, im Spessart und im Oden - walde. » Heidelberg, 1812.
  • 6. Gustav Klemm, « Die Kulturgeschichte des christlichen Europa. » Leipzig, 1851.
  • 7. H. A. Fregier, « Les classes dangereuses. » Paris, 1838.
  • 8. Alfred Lagrésille, « Du Vagabondage. » Nancy, 1881.

Meine Herren! Der Gegenstand, über den wir uns heute Abend unterhalten wollen, ist auf der Tagesordnung bezeichnet: « die Vagabundenfrage ».

Dieser Ausdruck ist in einem besonderen Sinne aufzufassen. Die Vagabunden sind eigentlich keine Frage, sondern eine That - sache, keine angenehme, vielmehr eine recht « brutale » That - sache.

Freilich hat man es verstanden aus den Vagabunden eine « Frage » zu machen, und zwar eine Frage in dem Sinne, daß man, wie das heut zu Tage so häufig geschieht, in Unkenntniß14oder wenigstens unter theilweiser Ignorirung und Verleugnung von Thatsachen irgend einen Gegenstand willkürlich aufbauscht und aus ihm Klagen gegen die liberale Gesetzgebung seit der Existenz des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches zu formuliren versucht.

Insofern ist es allerdings eine Frage, und zwar eine solche, die uns lebhaft erinnert an die Recriminationen, wie sie statt - gefunden haben im 17. Jahrhundert, während des dreißigjährigen Krieges und nach demselben, wo Deutschland in einem eminent höheren Grade von dem Uebel der Vagabondage zu leiden hatte, und wo auch die verschiedenen Parteien sich die Schuld gegen - seitig in die Schuhe zu schieben versuchten.

Ich kann dabei die Bemerkung nicht unterdrücken, daß, wenn wir die Bestrebungen unserer heutigen rückschrittlichen Parteien vergleichen mit denen des 17. Jahrhunderts, sich zu - weilen eine Aehnlichkeit zeigt, die Einen bedenklich machen könnte, wenn nicht die zwischenzeitige Culturentwickelung solche Fortschritte gemacht hätte, daß wir sicher sein können, auch diese Uebel und Irrthümer, die eigentlich blos eine schlechte neue Auflage vergangenen alten Unsinns sind, zu überwinden. Insofern verdient der Gegenstand allerdings als eine « Frage » be - zeichnet und behandelt zu werden.

Jedenfalls fordert er unsere Aufmerksamkeit in sofern heraus, als das plötzliche Ueberhandnehmen der Vagabondage, welche einen Theil unserer Mitbürger bis zu einem gewissen Grade der Beunruhigung und Vergewaltigung schutzlos preisgiebt, die öffent - liche Meinung aufregt; und es daher einer allseitigen Unter - suchung und Prüfung des Gegenstandes bedarf, um zunächst die Ansichten zu sammeln und zu klären, und sodann zu erwägen, welche Stellung sowohl die Einzelnen, als auch der Staat und die bürgerliche Gesellschaft gegenüber diesem Phänomen, das allerdings nicht zum ersten Male unter uns auftritt, einzunehmen haben.

Ich werde zuerst sprechen von dem Begriff Vagabondage und den Mitteln derselben zu steuern, und dann von den Contro - versen, die sich in der letzten Zeit über die Vagabondage er - hoben haben, namentlich von den parlamentarisch-dogmatischen Controversen.

Ich habe bei verschiedenen Gelegenheiten die Wahrnehmung5 gemacht, daß die Parteien, welche für die politische und wirth - schaftliche Reaction eintreten, uns unterschieben, als sähen wir das Vagabundenthum mit besonders milden und gleichsam pro - tegirenden Augen an. Das ist ein Irrthum, der sich nur mit der Ignoranz entschuldigen läßt. Denn die Partei der wirthschaft - lichen Freiheit ist ja darüber einig, daß das Vagabundenthum ein Uebel ist, namentlich ein wirthschaftliches Uebel.

Nach der Definition unserer Gesetze sind die Vagabunden Menschen, die « mittel - und erwerbslos umherschweifen ». Will man aber die Definition nicht juristisch, sondern wirthschaftlich und ad hominem formuliren, so muß man sagen: « Ein Vaga - bund ist ein Mensch, der unter dem Vorwande Arbeit zu suchen, der Arbeit mit Sorgfalt, Geflissenheit, Dreistigkeit und List aus dem Wege geht. » Ich glaube diese wirthschaftliche Definition ist richtiger als die juristische.

Die Vagabondage ist eine Landplage, und sie ist es von jeher gewesen, und zwar, weil sie absolut unwirthschaftlich ist, und weil sie eine Pflanzschule ist für Bettelei, für Raub, für Stehler und Hehler. Das Alles grenzt ja sehr nahe aneinander. Das Betteln legt ja schon, wenn es mit einer gewissen Energie betrieben wird, dem Angebettelten einen gewissen moralischen Zwang auf; namentlich wenn es von mehreren Personen gemein - sam verübt wird, grenzt es dicht an Erpressung, Nöthigung, Raub. Ebenso entwickeln sich aus der Vagabondage leicht Räuber - banden; denn wenn man mit der Güte nicht ausreicht, so pflegt man überzugehen zu den Mitteln der Gewalt. Es ist dann eine Art von Requisitionswesen im Frieden.

Nun hat man in neuerer Zeit, auch in unseren Parlamenten, namentlich im preußischen Abgeordnetenhause sich den Kopf darüber zerbrochen, welches die Ursachen des Zunehmens der Vagabondage seien (ich sage des angeblichen Zunehmens), und welches die besten Mittel zu deren Beseitigung seien. Man ist gleichsam wie auf Verabredung ausgegangen von der Vor - aussetzung, daß die gegenwärtigen Gesetze schlecht sind und nicht ausreichen, dem Uebel zu steuern. Da möchte ich nun doch erst einmal bitten, den Inhalt der gegenwärtig bestehenden Strafgesetze ins Auge zu fassen und zu sehen, ob dieselben denn in einer erschöpfenden Weise angewendet worden sind. Denn die Regierung hat die Verpflichtung, die bestehenden Gesetze zu6 vollziehen, nicht aber von vornherein zu sagen, die bestehenden Gesetze, die ich noch gar nicht bis an die Grenze der Macht - vollkommenheit, die man mir gewährt, erschöpft habe, genügen mir nicht, und ich klage also die bestehende Gesetzgebung an.

Ich habe unsere bestehende strafrechtliche Gesetzgebung verglichen mit der der übrigen europäischen Culturstaaten und habe gefunden, daß diese verschiedenen Legislationen sich alle ungefähr auf gleichem Niveau bewegen, und daß unsere deutsche Gesetzgebung nicht eigentlich zu den mildesten gehört. Unsere Gesetze bestimmen ganz genau, wie auf die Vagabunden ge - fahndet werden kann, wie sie anzuzeigen sind, wie der Rückfall bestraft werden soll, wie es mit dem Strafvollzug gehalten werden soll. In allen diesen Dingen finden wir bei der Execution, welche der Regierung obliegt, allerlei Mängel, und diese Mängel werden kaum noch bestritten.

Unsere Verwaltungs - und Polizeibehörden, sie mögen Staats - oder Selbstverwaltungsorgane sein, genügen in dem Fahnden und der Anklage der Vagabunden keineswegs allen denjenigen Vorschriften, die das Gesetz außtellt. Es wird namentlich nicht ausreichend gesorgt dafür, daß die Identität der Person der Vagabunden festgestellt wird, und das ist ja das einzige Mittel, um die Rückfälligkeit festzustellen, worauf so außerordentlich viel ankommt.

Ebenso ist der eigentliche Strafvollzug ein außerordentlich mangelhafter.

Es ist für bestrafte, namentlich für rückfällige Vagabunden ein ganz anderer Strafvollzug nöthig, als für andere Bestrafte und für Verbrecher. Man muß die Vagabunden wieder an die Arbeit gewöhnen, man muß ihnen ihre Willenskraft, ihre mo - ralische Individualität wiedergeben, ihnen Mittel an die Hand geben, sich aus dieser Indolenz, aus dieser Versunkenheit, aus diesem Schlaraffenleben, aus diesem willen - und thatlosen Sichgehnlassen wieder herauszureißen. Dafür geschieht aber in unserem gegen - wärtigen Strafvollzug wenig oder gar nichts.

Bevor man also Anklagen gegen die volkswirthschaftliche Gesetzgebung erhebt, sollte vor allen Dingen die Volksvertretung wie die Regierung einmal prüfen, ob die letztere diejenigen Mittel, die ihr das Gesetz an die Hand giebt, in erschöpfender Weise anwendet. Davon ist in unseren parlamentarischen Ver -7 handlungen, namentlich in denjenigen des Abgeordnetenhauses, leider keine Rede gewesen. Statt dessen hat man sich in aller - hand phantastischen Ansichten herumbewegt, die keine thatsäch - liche Grundlage haben.

Ich will nun zunächst einige derjenigen Mittel erörtern, die man im Gegensatze zu jenen Phantasieen, als realistische und bis zu einem gewissen Grade als wirksame betrachten kann.

Da komme ich in erster Linie auf die vernünftige Ordnung der Mildthätigkeit, auf die rationelle Regelung der Reichnisse, die von der Privatmildthätigkeit denjenigen Personen gemacht werden, die sich der Vagabondage und des Bettelns befleißigen. Ich bin in der glücklichen Lage, ein Beispiel anführen zu können, welches im preußischen Abgeordnetenhaus wie es scheint gar nicht erwähnt worden ist. Es ist das die Regelung der Reich - nisse an Bettler und Vagabunden, oder an Handwerksburschen oder andere wandernde mittellose Menschen, Reisende in gutem oder bösem Sinn, wie sie in Württemberg organisirt ist.

Ich verweise die geehrten Herren, welche sich über diesen Gegenstand genauere Information, als ich solche in der mir knapp zugemessenen Zeit zu geben im Stande bin, verschaffen wollen, auf die klare und erschöpfende Darstellung, welche uns Herr Huzel, Königl. Württembergischer Oberamtmann in Blaubeuren gegeben hat in seiner höchst lesenswerthen Schrift: « Das System der kommunalen Naturalverpflegung armer Reisender, zur Be - kämpfung der Wanderbettelei, nach den bisherigen Erfahrungen in Württemberg dargestellt » (Stuttgart, Kohlhammer, 1883).

Dort werden Sie Alles finden, was Sie zu wissen nöthig haben.

Hier und für heute muß ich mich auf folgende Umrisse und Bemerkungen beschränken:

In Württemberg haben sich die Gemeinden, zum Theil gemeindeweise, oder oberamtsweise in der Art zusammengethan, daß sie sich verpflichten, diese Reichnisse zu regeln mit gemein - samen Mitteln, die entweder auf dem Wege der Steuer auf - gebracht werden oder durch freiwillige Beiträge, auf der prin - cipiellen Grundlage, daß baar Geld an die sog. « armen Reisenden » unter keinen Umständen verabfolgt wird. Wenn die Leute kommen, so kriegen sie eine kräftige Suppe und ein Nacht - quartier und vielleicht auch am andern Morgen noch etwas zu8 essen, und dann müssen sie wieder fort. Zur Noth bekommen sie auch ein abgelegtes Kleidungsstück oder dergleichen. Die Privatmildthätigkeit auf diesem Gebiete aber ist absolut inhibirt; der Hausbettel darf nicht mehr stattfinden. Die Einwohner des Ortes oder des Verbandes verpflichten sich, die fahrenden Leute an diese Behörde zu verweisen. Diese Einrichtung hat die besten Folgen gehabt; ich muß jedoch bemerken, sie kann solche nur dann haben, wenn das System unterstützt wird durch die Selbst - thätigkeit und gewissenhafte Beihülfe Seitens der Privaten und Verbände, die ja insoweit es leicht haben dem Hausbettel zu steuern, als sie die Leute an diejenige Stelle verweisen können, wo diese Verabreichung stattfindet. Mir liegen außer der bereits empfohlenen Schrift des Herrn Huzel noch verschiedene Num - mern der Württembergischen Blätter für das Armenwesen, heraus - gegeben von der Centralleitung der Wohlthätigkeitsvereine in Württemberg, vor. Auch darin wird diese Einrichtung des Näheren geschildert, und es ist nicht zu leugnen, daß danach in denjenigen Oberamtsbezirken, wo diese Einrichtung besteht und es ist das die Mehrzahl die Wirkung eine außer - ordentlich vortheilhafte ist. Wenn früher täglich wenigstens acht solcher « armen Reisenden » in einer Gemeinde « vorsprachen », so ist es jetzt höchstens noch einer.

Aber es steht der vollständigen Entfaltung dieser wohl - thätigen Einrichtung noch der Umstand im Wege, daß sie nicht allgemeine Geltung hat, daß sie auf dem guten Willen und nicht auf irgend einer gesetzlichen Anordnung beruht. So geschieht es denn, daß die Bettler und Vagabunden zuerst den Bezirk ab - grasen, wo eine solche Einrichtung nicht besteht und da Geld « zusammenfechten » und nachdem sie dieß zusammengebettelte Geld vertrunken haben, dann in diejenigen Orte gehen, wo sie zu essen bekommen. Dies wird auch in dem Bericht der Würt - temberger Commission eingestanden. Es heißt dort ungefähr so:

Aus allen denjenigen Oberamtsbezirken, deren Nachbar - bezirke sich noch nicht zur Einführung des Systems der Natural - verpflegung entschlossen haben, und ganz besonders aus den - jenigen Bezirken, welche an die Nachbarländer Baden, Bayern und Hohenzollern (Preußen) grenzen, kommt einstimmig die Klage, daß die Vaganten in den angrenzenden Bezirken, die keine Naturalverpflegung haben, den Tag über betteln und das9 Erbettelte verzehren und dann Abends schaarenweise in die Ort - schaften derjenigen Bezirke, welche sich auf Naturalverpflegung beschränken, einfallen, um freies Nachtquartier und Frühstück zu erhalten und alsdann am anderen Tage wieder in die dem freien Bettel offen stehenden und Aussicht auf zu « erfechtendes » Geld gewährenden Gebiete zurückkehren und so diese angenehme Abwechslung zwischen Natural - und Geld-Reichnissen, wie der Dichter in seinem berühmten Kukuks-Liede sagt, « mit Grazie in infinitum » fortzusetzen beflissen sind.

Hierdurch wird in solchen Grenzorten der Erfolg des Systems der Naturalverpflegung gefährdet, ja geradezu illusorisch gemacht; und es ist daher nicht zu verwundern, wenn dadurch den Ge - meinden und Bezirken, auf welche in der geschilderten Weise Seitens ihrer Nachbarn so große Lasten ab - und übergewälzt werden, der Muth geraubt wird, den durch das Verhalten ihrer Nachbarn erschwerten, ja fast aussichtslos gemachten Kampf gegen das übermächtige Vagantenthum fortzusetzen.

Dieser Mittheilung der württembergischen « Blätter für das Armenwesen » (Num. 41 vom 14. October 1881, Seite 171), welche mir von württembergischen Reichstagsabgeordneten bestätigt wird und auch für die Gegenwart noch vollkommen zutrifft, kann ich nicht umhin, schon an dieser Stelle die Bemerkung hinzuzu - fügen, daß die von allen Seiten anerkannte Schwierigkeit, dieser gesellschaftlichen Krankheit zu steuern, ihren Grund zum Theil auch darin hat, daß Deutschland in so und so viele einzelne Länder und Territorien zersplittert ist, und daß Jeder zunächst nur für sich sorgt, ohne eine allgemeine Verpflichtung dem Ganzen gegenüber auf allen Gebieten der Verwaltung in dem Maaße anzuerkennen, in welchem es wünschenswerth wäre.

Wenn ich mich nach dieser Andeutung wieder der Betrach - tung des Württembergischen Systems der Naturalverpflegung zuwende, so habe ich noch Folgendes hervorzuheben:

Immerhin ist diese Leistung an Naturalien billiger und ersprießlicher, als die Hingabe von Geld. Wie hoch sich die letztere in einem Bezirke beläuft, entzieht sich jeder Berech - nung, da weder der Geber noch der Empfänger geneigt oder im Stande ist, wahrheitsgemäße und zuverläßige Angaben dar - über zu machen. Der letztere schon deshalb nicht, weil er sonst wegen Bettelns bestraft wird.

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Jedenfalls aber ist das Geldalmosen mehr geeignet, zur Fort - setzung der Bettelei zu reizen und zu ermuntern, als den Bedarf des Bettlers zu decken. Denn es ist gewiß, daß die einzelne Gabe so wenig für ihn leistet, daß der Empfänger trotz der - selben noch auf weiteren Bettel angewiesen sein wird und muß.

Es steht fest, daß das Geldalmosen den Bettel erzeugt und befördert, und daß es unmöglich ist, bezüglich desselben irgend eine Controle oder Ordnung einzuführen. Anders ist dies hin - sichtlich der Naturalunterstützung. In Württemberg z. B. hat man, als es sich zeigte, daß öfters solch ein Mensch von Ort zu Ort ging und so an verschiedenen Orten an einem Morgen mehrmals frühstückte und Naturalverpflegung in Anspruch nahm also in mehreren verschiedenen Gemeinden hintereinander an einem und dem nämlichen Tage, die Bestimmung getroffen, daß in allen Gemeinden des Bezirks nur zu gleichen Stunden die Ver - abreichung stattfindet, daß also überall zu einer und derselben bestimmten Stunde Frühstück, zu einer andern Mittagessen, wieder zu einer dritten Nachtessen und in der Zwischenzeit nur Brot abgegeben wird. Das hat sich als sehr zweckmäßig erwiesen.

Diese Württembergische Einrichtung, welche die Geld - almosen ausschließt und die Naturalverpflegung gleichmäßig und einheitlich regelt, gehört also zu denjenigen Mitteln, die man bei der Erörterung der Abstellung der Vagabondage in Betracht ziehen könnte und müßte.

Eine zweite Einrichtung ist die Strafhaft.

Unsere jetzige Strafhaft, welcher die Vagabunden unter - worfen werden, entspricht gar nicht den Zwecken der Heilung. Sie entspricht, wie ich bereits angedeutet habe, namentlich nicht dem Zweck, die Leute aus ihrer Verthierung, aus ihrem Stumpf - und Starrsinn, aus ihrer Indifferenz herauszureißen und die Willenskraft wieder in ihnen wachzurufen.

Damit, daß man den Leuten eine rein äußerliche Fröm - melei, welche die individuelle Wiedererstarkung mehr beein - trächtigt als fördert, aufzwingt, wird das Ziel schwerlich erreicht werden. Man müßte über die zweckmäßigste Art des Strafvoll - zugs gegen Vagabunden Gutachten einsichtsvoller und menschen - freundlicher Strafanstaltsdirectoren erheben, wie wir ja deren in Deutschland besitzen. Zur Heilung des krankhaften Hanges zum Vagabundiren, namentlich bei rückfälligen und alteingewöhnten11 Vagabunden dürfte freilich eine kurze Strafzeit in der Regel nicht ausreichen. Für diese verhängt das Strafgesetz zwar Freiheits - strafen von längerer Dauer. Allein auch in dieser Beziehung wird das bestehende Gesetz in der Regel nur mangelhaft oder beinahe gar nicht vollzogen.

In dieser Beziehung kann ich mich ebenfalls auf die bereits erwähnten Württembergischen « Blätter für das Armenwesen » (Jahrgang 1882, Seite 172) berufen.

Sie klagen über die bei den Amtsgerichten vielfach ein - gerissene Praxis, es sich bei der Untersuchung und Bestrafung der Fälle von Vagabondage so leicht und bequem wie möglich zu machen. (Dieselbe Praxis findet sich übrigens auch in an - dern Ländern.)

Statt bei jedem Vagabunden, welcher eingeliefert wird, selbst auf die Gefahr hin, daß dadurch eine Untersuchungshaft, welche sich bei hartnäckiger Verweigerung wahrheitsgemäßer Auskunft Seitens des Angeschuldigten zu verlängern droht, noth - wendig wird, eine genaue Fesstellung der Person, sowie die nöthigen Erhebungen über seine Vergangenheit und über die von ihm bereits erlittenen Strafen, aus welchen sich das Vorhandensein des Rückfalls und des wiederholten Rückfalls und somit die Noth - wendigkeit höherer Strafen ergiebt, eintreten zu lassen, begnügt sich der Richter damit, in summarischer fast möchte man sagen: standrechtlicher Weise den Delinquenten auf ein Paar Tage einzustecken, welche schnell verbüßt sind und so wenig geeignet, etwas an der wirklichen Lage der Dinge zu ändern, daß sich vielmehr der Bestrafte beeilt, nach deren Ablaufe die Lebensweise, wegen deren er verurtheilt wurde, alsbald mit ge - stärkten Kräften wieder von vorn anzufangen.

Bei einem solchen Verfahren wird dann auch die in unseren Gesetzen vorgeschriebene Ueberweisung des gewohnheitsmäßigen Landstreichers an die Landespolizeibehörde, sowie die so außer - ordentlich wirksame und unter Umständen absolut nothwendige Einweisung in das Arbeitshaus gänzlich vereitelt, ein neuer Beweis, wie ein Fehler im Vollzug eine ganze Reihe von Miß - ständen erzeugt, und daß, wie ich bereits bemerkt habe, es besser wäre, wenn man zunächst einmal sich bemühte, die be - stehenden Gesetze in dem Sinne, in welchem sie gegeben sind, genau und vollständig zu vollziehen, statt über den mangelhaften12 Zustand unserer Gesetzgebung zu klagen und sich in phantasti - schen und utopistischen Declamationen und Projecten zu er - schöpfen, welche schwerlich etwas dazu beitragen, die öffentliche Autorität zu befestigen und zu stärken.

In der Literatur anderer Länder, welche zur Zeit ebenfalls an der Vagabunden-Plage leiden, namentlich in der französi - schen, wird die Deportation empfohlen, « la transportation », und zwar auf Lebenszeit wie in England. Ich will über den Gegen - stand mich nicht weiter verbreiten, sondern nur auf die betreffende Literatur verweisen, namentlich auf die Schrift von Alfred Lagré - sille, « du Vagababondage et de la transportation », (Nancy, 1881), in welcher es heißt:

Für die Deportation erhebt sich in Frankreich zur Zeit die öffentliche Meinung, welche angeregt ist einestheils durch die Erfahrungen, welche man in England mit diesem Aus - kunftsmittel gemacht hat, anderntheils durch den Gesetzentwurf, mit welchem sich unsere Regierung beschäftigt und der die An - wendung der Deportation (transportation) in Vorschlag bringt für Rückfällige und für Vagabunden.

Wie ich die Frage auffasse, würde die Deportation nicht eigentlich als « Strafe » zu behandeln sein. Sie würde vielmehr erst nach der Strafe kommen und den Zweck haben, die öffent - liche Sicherheit zu befestigen und den Verurtheilten, nachdem er die Bestrafung erlitten, zu heilen.

Die Deportation in diesem Sinne wäre von den Gerichten zu verhängen. Denn nur durch richterliche Entscheidung kann ein so schwerer Eingriff in die bürgerliche Freiheit des Einzelnen gerechtfertigt werden.

Das Gericht würde die Ermächtigung haben, die Deportation zu verhängen wider einen überführten Vagabunden, welcher vor - her schon zweimal Bestrafungen wegen desselben Vergehens er - litten. Der zweifache Rückfall würde in der Regel genügen, die Vermuthung zu begründen, daß diese fehlerhafte Art zu existiren bei diesem Manne zu einer eingerosteten Lebensgewohnheit ge - worden, aus welcher ihn herauszureißen selbst wiederholte Straf - verbüßung nicht vermocht hat. Die ordentliche Strafe hat sich sonach bei ihm als gänzlich unwirksam erwiesen, sie muß also durch eine außerordentliche Maaßregel ersetzt werden. Diese13 kann in nichts anderem bestehen, als in der Ueberweisung des Verurtheilten in eine coloniale Besitzung.

In der letzteren würden die Verurtheilten weder consignirt oder internirt, noch der Zwangsarbeit unterworfen werden. Sie würden nachdem man sie dort eingesetzt hat, im Uebrigen ihrer Selbstbestimmung überlassen werden, gerade so, wie auch frei - willige Colonisten, nur mit dem Unterschied, daß sie einer fort - währenden polizeilichen Ueberwachung unterworfen wären, wel - cher als Hauptaufgabe obliegt, die Einschiffung und Entweichung zu verhindern.

Die Deportation muß eine solche auf Lebenszeit sein.

Es würde keinen vernünftigen Zweck haben, nach einem gewissen Zeitablauf den Deportirten zurückkehren zu lassen. Denn seine Mittellosigkeit würde ihn in das alte verderbliche Geleise zurückführen und die Hoffnung auf die demnächstige Rückkehr würde ihn verführen, die Gründung einer neuen Existenz in der Colonie nur lässig zu betreiben.

Diese Deportation wäre ein unbestreitbare Wohlthat für die bürgerliche Gesellschaft und die einzige Möglichkeit einer Rettung und Besserung für diese verkommene und unglückliche Klasse der Bevölkerung.

Sie würde dem in beunruhigender Weise sich steigernden Wachsthum der Vagabondage und des Rückfalls und der damit in Verbindung stehenden sonstigen Vergehen und Verbrechen unübersteigliche Schranken setzen.

Die bürgerliche Gesellschaft würde berechtigt sein, zu diesem Mittel zu greifen. Denn sie ist nicht verpflichtet, in ihrem Schooße Diejenigen zu dulden, zu hegen und zu pflegen, welche in offener Rebellion gegen die sociale und wirthschaftliche Ord - nung beharren und sich darauf steifen, ihr Leben lang auf Kosten ihrer Mitbürger zu leben, ohne durch Arbeit oder sonstwie irgend Etwas zum Gemeinwohl beizutragen.

Soweit Lagrésille.

Man hat ja bei uns kürzlich einen Verein für Colonisation gegründet; nun das wollen wir mit Geduld abwarten, um je nach dem Erfolge auf die Frage der Deportation wieder zurück zu kommen.

Jedenfalls ist der Hauptsitz der materies peccans in dieser Frage meines Erachtens zu suchen in einer Thatsache, die bis -14 her, ich weiß nicht, ob mit gutem Bedacht, oder aus Gleich - giltigkeit, in unseren öffentlichen Verhandlungen noch nicht her - vorgehoben worden ist, das ist nämlich unsere frühere Viel - und Kleinstaaterei in Deutschland. Das Uebel hat sich ja sehr wesent - lich gebessert; wir sind nicht mehr in dem Zustand wie vor 100 Jahren, wo wir noch 3 400 Souveräne in Deutschland hatten, sehr komische zum Theil, nicht blos weltliche, sondern auch geistliche, Bischöfe, Aebte und dergleichen « kleine » Herren, die sich aber gleichwohl alle für außerordentlich souverän hielten und nichts weniger duldeten, als einen Eingriff in ihre vermeint - liche Machtvollkommenheit oder in ihr Gebiet. Da war die Brut - stätte der eigentlichen Vagabondage. Denn schließt sich ein Territorium gegen das andere ab, ist Niemand die Niederlassung erlaubt, umgiebt sich jede Stadt mit einer chinesischen Mauer dem Anziehenden gegenüber, kann Niemand an die Stelle ge - langen, wo er seine geistigen und körperlichen Kräfte zu ent - wickeln und zu bethätigen und sich eine bleibende und gesicherte Existenz zu begründen im Stande ist, so muß sich daraus noth - wendig die Vagabondage entwickeln. Gewiß ist die große Mehr - zahl der Menschen weit mehr geneigt, sich in Ruhe und Behag - lichkeit niederzulassen, als ohne Aufhören mit dem Aufenthalte zu wechseln. Jeder will lieber sitzen, als schweifen.

Wenn es aber dem Menschen nicht erlaubt, sich zu setzen, so schweift er, und so wird er ein Vagabund.

Zugleich aber erschwert das territorial zersplitterte und im Gemenge liegende Land die Ergreifung und Verfolgung der Vagabunden und damit die Unterdrückung der Vagabondage.

Die Züchtung von Vagabunden durch einen die Zug -, Niederlassungs -, Verehelichungs - und Gewerbefreiheit ausschließen - den Zustand der Staats - und Gemeinde-Verfassung und der son - stigen Gesetzgebung einerseits, und die der Unterdrückung der Vagabondage durch die weltliche und geistliche Kleinstaaterei erwachsenden Schwierigkeiten andererseits, finden ihre beste Illustration in den Zuständen Deutschlands am Ende des acht - zehnten Jahrhunderts.

Diese Mißstände zeigten sich da am schreiendsten, wo die Territorialgrenzen am tollsten durch einander liefen, also in Oberschwaben und in den fränkischen Landen.

Um eine Probe jener Zustände zu geben, verweise ich auf15 Schlözer’s « Staatsanzeigen », Band XIV, Heft 56, wo sich eine sehr interessante Beschreibung, Charakteristik und Kritik des Verhaltens der so zahlreichen Klöster in der Wetterau findet, wie dieselben durch zweck - und planlose Verabreichung von Al - mosen an Jeden den Müßiggang gefördert und nicht nur ein - heimische Bettler großgezogen, sondern auch fremde Vagabunden angelockt und in ihren « heiligen Schutz » genommen haben. Gleichwohl haben wir heute wieder Staatsweise, welche die Rück - kehr zu jenem Zustande der Gebundenheit und der Absperrung als unfehlbares Mittel gegen die Vagabondage empfehlen.

Wenn wir in unserem heutigen Deutschland wirklich in dem Sinne, wie es in einheitlichen Staaten der Fall ist, eine einheit - liche und generelle Landespolizei hätten, dann hätten wir schon lange nicht mehr den Grad von Vagabondage, den wir gegenwärtig beklagen. Man könnte dann in einem und dem - selben Tage oder in einer Nacht unvermutheter Weise eine Generalstreife über und durch ganz Deutschland machen, etwa unter der Centralleitung der Berliner Polizei, und ähnlich wie im Kleinen bei einer Razzia im Berliner Thiergarten, im Großen alle das fahrende Volk aufbringen, welches der öffentlichen Sicher - heit gefährlich ist.

Wenn, wie die Dinge heute stehen, eine solche durch - greifende Maaßregel zur energischen Repression der Vagabon - dage unmöglich erscheint, so ist das eine Thatsache, die viel - leicht zu bedauern, die aber mit unseren jetzigen Zuständen un - trennbar verbunden ist, und für die man gewiß am allerwenig - sten die wirthschaftlich-freisinnige Bundes - und Reichs-Gesetz - gebung der Jahre 1867 1876 verantwortlich machen kann.

Endlich wäre noch zu erörtern die Frage der Arbeits - häuser, d. h. der Zwangsarbeitsanstalten. Ich weiß, daß bei uns in Deutschland viele weichherzige Seelen dieses Institut nicht sehr goutiren. Aber ist es denn am Ende so unvernünftig, daß der Staat oder der Communalverband zu einem Menschen, der den öffentlichen Fonds, sei es der Staatsfonds oder der Commu - nalfonds, zwingt ihn zu ernähren, sagt: « Du zwingst mich, dich zu ernähren, und deswegen zwinge ich dich, für mich zu arbeiten? » Warum soll denn der öffentliche Verband, mag es Staat oder Gemeinde sein, dem Vagabunden gegenüber, der, trotz - dem er Gelegenheit zur Arbeit hat, sich darauf capricirt zu faul -16 lenzen und auf Kosten der Gemeinschaft zu leben, diese Conse - quenz der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortlichkeit nicht ziehen dürfen? Ein anerkannter schweizerischer Schriftsteller J. J. Vogt (von Thun), welcher Gelegenheit hatte, reichliche praktische Erfahrungen über das Armen -, Bettel - und Vaga - bunden-Wesen zu machen, sagt in seinem Buche « Das Armen - wesen. Beleuchtung der Armutszustände und Vorschläge zu einer gründlichen Armen-Reform. Ein Beitrag zur glücklichen Lösung gesellschaftlicher Lebensfragen » (Zwei Bände, Bern 1856): « Wenn Jemand aus beharrlicher Mißachtung der ihm obliegenden persönlichen Selbsterhaltungspflicht die zur Ausübung derselben vorhandenen Möglichkeiten und Gelegenheiten verschmäht und ohne Gegenleistung auf Kosten der Gemeinheit zu leben begehrt, und wenn eine dem Gemeinwohl Schädigung drohende Anhäu - fung solcher Selbsterhaltungs-Verweigerungsfälle eintritt, dann ist die öffentliche Zwangs-Arbeits-Anstalt eine Nothwendigkeit, viel - leicht eine traurige Nothwendigkeit, oder ein nothwendiges Uebel. Ihre Aufgabe ist, die ihr übergebenen Individuen auf dem Wege der bessernden Zucht und der (nöthigenfalls zu erzwingenden) Arbeit zur freien Selbsterhaltung zurückzuführen durch Beseiti - gung der obwaltenden Ursachen der Nichterfüllung dieser Pflicht. Diese Ursachen finden sich vorzugsweise im gewerbsmäßigen Betteln und Vagabundiren. Arme solchen Schlags sind nur schwer und selten auf gewöhnlichem Wege zu bessern. Sie werden auf so lange mit aller Gewißheit in ihr altes Unwesen zurückfallen, bis sie eine andere Lebensanschauung gewonnen und in ihnen, auf Grund des wieder gewonnenen Selbstvertrauens und Hoffens ein geistiger Neubau oder Wiederaufbau bewirkt ist. »

So J. J. Vogt.

Was nun die Zustände in Deutschland anlangt, so ist die Armengesetzgebung zur Zeit noch Sache der einzelnen Staaten, wodurch die Ausführung durchgreifender einheitlicher Maßregeln erschwert wird.

In Betreff der Einrichtung von Zwangsarbeitshäusern besteht eine ziemlich buntscheckige Gesetzgebung. Es wäre daher in einem jedem Einzelstaate die Frage der Arbeitshäuser an sich und die ihrer Verwendbarkeit zur Repression und zur Heilung der Vagabondage zu untersuchen.

Es fragt sich also, ob unsere Arbeitshäuser, wo solche17 bestehen, dem oben aufgestellten strengen Grundsatze ent - sprechen, und ob die betreffenden Gesetzgebungen, soweit sie demselben wirklich entsprechen, auch in einer diesem Ideal an - gemessenen Weise gehandhabt werden.

Wenn ich bisher die Mittel gegen die Vagabondage erörtert habe, die theils innerhalb des jetzigen Zustandes unserer Gesetz - gebung angewendet werden können, theils auf dem Wege der Gesetzgebung zu realisiren sind, so will ich nun zuletzt, aber nicht am Geringsten, gedenken einer Anstalt, die viel besprochen worden ist und die, ohne irgend wie den Beistand der öffentlichen Gewalt, des Staats oder der Gesetzgebung anzurufen, hervor - gegangen aus der Einsicht, der Willenskraft und der Menschen - liebe eines einzelnen hochbegabten Mannes, uns den Weg gezeigt hat, wie ohne jede staatssocialistische Beimischung und unter Verschmähung eines jeglichen Zwanges die Vagabundenfrage zu lösen. Ich spreche von der Privatanstalt des Pastor Bodel - schwingh in Westphalen, die bei allen Parteien, ohne Unter - schied der politischen und religiösen Gesinnung, allgemeine An - erkennung findet, und dem Uebel in einer Weise entgegen - getreten ist, daß dessen Beseitigung wenigstens innerhalb einer gewissen Möglichkeit liegt. Ich halte es für überflüssig, Ihnen die Einrichtung dieser Anstalt zu beschreiben. Sie kennen die - selbe ohne Zweifel. Sie hat in vielen Theilen unseres Vater - landes nicht nur Anerkennung, sondern auch Nachahmung ge - funden. Ich fürchte nur, es wird nicht lange dauern, so wird man den Versuch machen, auch sie zu « verstaatlichen »; denn heutzutage wird ja alles verstaatlicht. Ich für meine Person glaube, daß man die Ausübung der Mildthätigkeit, der Menschen - freundlichkeit, der Humanität, der Moral, des wahren Christen - thums, oder wie man heute zu sagen liebt, des « praktischen Christenthums » nicht verstaatlichen kann, weil sie sonst aufhört zu existiren. Insofern bekenne ich mich auch hier zu dem laissez faire, wobei ich aber den Ton lege auf das « faire »; das heißt, ich sage, man soll niemand hindern etwas Gutes zu thun. Unsere großen academischen staatssocialistischen Propheten und Weltverbesserer freilich, die so sehr gegen den Grundsatz des laisssez faire declamiren, scheinen dabei das « faire » gar nicht im Auge zu haben, d. h. das handeln. Sie reden viel und thun garnichts. Sie machen Projecte und haben keine Mittel sie zu218verwirklichen; und wenn sie einen Drang der Wohlthätigkeit und Menschenfreundlichkeit in sich fühlen, so denken sie auch hier nicht an das eigene « faire » aus eigenen Mitteln, sondern verweisen diejenigen, welchen sie Wohlthaten erwiesen zu sehen wünschen, auf die Mittel anderer Personen, sie ziehen Wechsel auf das « Patrimonium der Enterbten », oder wie man das nennen will, was erst gebildet werden soll.

Dadurch, daß man blühende Industriezweige ruinirt oder monopolisirt, um aus deren Ertrage das gedachte phantastische « Patrimonium » zu bilden, glaube man doch ja nicht seinen volkswirthschaftlichen Beruf zur socialen Reform bethätigen zu können. Ich glaube vielmehr, der Pastor Bodelschwingh, der selbständig und aus eigenen Mitteln hilft, ist auf einem richtigeren Wege als diejenigen, welche uns vertrösten auf ein « Patrimonium der Enterbten », welches nirgends existirt und nirgends existiren wird, so lange nicht die Grundlagen unsrer wirthschaftlichen Gesellschaftsordnung umgestürzt werden.

Nun m. H.! komme ich zum zweiten Theil, nämlich zu der parlamentarisch-dogmatischen Beurtheilung der Frage, welcher Theil ja am meisten actuelles Tagesinteresse hat. Ich lehne mich dabei möglichst genau an an die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses vom 28. November vorigen Jahres, in welchen das Thema der Vagabondage sehr ergiebig erörtert worden ist.

Ich hoffe, Sie werden es gerechtfertigt finden, wenn ich die fraglichen Debatten vor Ihnen noch einmal Revue passiren lasse und da, wo ich die Auffassung für eine irrthümliche halte, einige kurze Randglossen hinzufüge.

Wenn die von den Oberpräsidenten der preußischen Mon - archie über den gegenwärtigen Stand des Vagabunden-Wesens an den Minister des Innern erstatteten Berichte bereits der Oeffent - lichkeit übergeben wären, so würde ich der Erörterung eines solchen schätzbaren Materials den Vorzug einräumen. Allein dasselbe liegt der Oeffentlichkeit immer noch nicht vor. In Er - mangelung dessen halten wir uns an die Debatten der Landes - vertretung, welche den gegenwärtigen Stand der öffentlichen Meinung, natürlich auch mit Inbegriff der Irrthümer derselben, einigermaaßen wiederspiegelt.

In der Debatte vom 28. November 1882 hat zunächst der19 Abg. Graf Posadowski die jetzigen Mißstände erörtert. Die Opfer, welche sie der Bevölkerung auferlegen, die Frage, ob die Vagabondage eine vorübergehende oder bleibende Calamität ist, hat er in vollständig objectiver und leidenschaftsloser Weise be - handelt.

Ueber die Bekämpfung der Vagabondage auf dem Wege des Vereinswesens bemerkt er, solche Vereine könnten nur dann erfolgreich wirken, wenn sie über die ganze Monarchie verbreitet würden; andernfalls, wenn dieselben nur sporadisch existirten, so dienten sie nur dazu, die Etappenstraße der Vagabunden zu ver - legen. « Auch der Eifer der Vereine pflegt, sobald man sieht, daß die Sache schwierig und undankbar ist, und daß man nur halben Erfolg hat, sehr bald zu erkalten, sie pflegen wieder ein - zuschlafen, und auf dem Lande, wo die Leute sich schutzlos fühlen, giebt der Bauer seinen Tribut, da er sonst für Haus und Hof zu fürchten hat.

Es ist also zu prüfen, ob die bestehenden gesetzlichen und administrativen Bestimmungen ausreichend sind, die Landescala - mität zu bekämpfen. »

Das ist in der That ein vernünftiger, objectiver, praktischer Standpunkt, daß man zuerst untersucht, ob man nicht auf dem Wege des Vollzugs der bestehenden Gesetze des Uebels Herr werden kann.

Nach dieser einleitenden Auseinandersetzung hat der Mi - nister des Innern, Herr v. Puttkamer das Wort ergriffen. Zu - nächst hat er hervorgehoben eine Thatsache, die Beachtung ver - dient, daß nämlich die Vagabundenfrage in verschiedenen Pro - vinzen ganz verschieden liegt, indem es am wenigsten Vaga - bunden giebt in denjenigen Provinzen, die schon lange, d. h. seit Anfang des Jahrhunderts, wie das bei der Mehrzahl der altpreußi - schen Provinzen der Fall ist, sich der Freizügigkeit erfreuen, daß dagegen die meisten Vagabunden sich vorfinden in denjenigen Lan - destheilen (also namentlich den neuen Provinzen), wo erst durch die neuere Gesetzgebung die Freizügigkeit eingeführt worden ist, also in denjenigen Territorien, die sich zur Zeit noch in einem Uebergangsstadium befinden. Er hat namentlich erwähnt die Provinz Schleswig-Holstein, wo der Bauer noch, wie er sagt, « aus Gutmüthigkeit » sich nicht dem Schicksal entzieht, dem Vaga - bunden tributpflichtig zu sein. Er hat ferner angeführt, daß er,2*20der Minister des Innern, Berichte von den Oberpräsidenten ein - gefordert habe, daß diese Berichte nunmehr vollständig einge - gangen sind und einer näheren Erwägung und Beachtung unter - zogen werden sollen. Es wäre sehr zweckmäßig, wenn man diese Berichte so bald wie möglich der Oeffentlichkeit übergäbe, damit wir Alle mit theilnehmen können an der Prüfung der Frage, wie man diesem Landschaden steuern kann. Denn gerade nach der Behauptung, vor allem der conservativen Redner, existirt der Mißstand schon 10 Jahre, und kein Mensch kann be - haupten, daß die Regierung und insbesondere das Ministerium innerhalb dieser 10 Jahre etwas durchgreifendes gethan hat, um dem Landschaden zu steuern, insbesondere, daß es die beste - henden Gesetze in derjenigen Ausdehnung und mit allen den Mitteln angewendet und gehandhabt hat, wie ihr solche zur Verfügung stehen. Denn ehe man klagt, daß die bestehende Gesetzgebung schlecht sei, muß man doch erst einmal sehen, ob man mit dieser bestehenden Gesetzgebung nicht ausreichen kann, wenn man dieselbe nach allen Richtungen hin erschöpfend zur Anwendung bringt.

Dieser Versuch ist bis jetzt nicht in einem Maße gemacht worden wie es erforderlich gewesen wäre. Man findet das heut - zutage gar zu oft: Die Beamten sagen, das Gesetz giebt uns keine Mittel. Ich sage: Erst wollen wir doch einmal prüfen, welche Machtmittel die Gesetze gestatten, und welcher Gebrauch davon gemacht wird. Ich glaube aber bereits nachgewiesen zu haben, daß die Gesetze gegen Vagabondage bis jetzt in dem größeren Theile von Deutschland eine correcte und erschöpfende Anwendung nicht gefunden haben, namentlich nicht in Bezug auf die Ermittelung und Bestrafung des Rückfalls.

Der Rückfall aber bildet den Brennpunkt der Frage, soweit es sich um die Thätigkeit der Polizei und der Gerichte handelt.

Ich habe mich für diese Auffassung bereits auf eine deutsche und auf eine französische Autorität berufen.

Ich kann diesen Beiden auch noch eine englische hinzu - fügen. Ich meine den kürzlich erschienenen Bericht einer Com - mission der Howard-Association, jener verdienstvollen Gesell - schaft, welche, von Lord Brougham gegründet, sich die Ermitte - lung und Förderung der besten Methoden, die Verbrechen zu verhindern und zu bestrafen, zur Aufgabe gesetzt hat. Der Be -21 richt führt den Titel « Vagrancy and Mendicancy, a report based on a general inquiry instituted by the committee of the Howard Association ».

Auch Nordamerika bietet uns in seiner Presse vielfach Aus - kunft über die Vagabondage, welche dort durch die Vielstaaterei des Ostens gefördert wird; denn die « tramps » treiben sich dort an einem einzigen Tage in drei verschiedenen Staaten umher.

Ich bitte mir diese Abschweifung zu verzeihen. Ich bin zu derselben veranlaßt durch die sich mir immer mehr auf - drängende Ueberzeugung, daß in Deutschland die Vagabunden - frage sehr einseitig behandelt wird, und daß Minister und Ab - geordnete wohl daran thun würden, auch von der Literatur anderer Länder Kenntniß zu nehmen, welche ebenfalls unter der Vagabundenfrage leiden. Ich kehre nunmehr zurück zu den Auseinandersetzungen des Herrn Ministers des Innern. Er ist weiter auf die Vermehrung der Gensdarmen zurückgekommen.

Ich will mich über diesen Punkt nicht weiter verbreiten. Wir behandeln hier die Frage vom volkswirthschaftlichen Stand - punkt. Die Erörterung des Thema’s « Vermehrung der Gens - darmerie » aber ist nur zu geeignet, uns zu Excursen auf das Gebiet der Politik zu verleiten, welche ich im Interesse der Wahrung des rein wissenschaftlichen Charakters unserer Gesell - schaft vermieden zu sehn wünsche. Der Inhalt meines Vortrags wird indessen, wie ich hoffe, meinen verehrten Herren Zuhörern nicht schwer machen, zu erkennen, daß ich von der « Vermehrung der Gensdarmerie » weder allein noch vorzugsweise eine Heilung dieser Krankheit des Vagantenthums erwarte.

Nach dem preußischen Minister des Innern ergreift das Wort der vormalige Justizminister von Hannover, der Herr Abg. Windthorst-Meppen.

Nach seiner Versicherung ist früher in Hannover alles vor - trefflich gewesen, aber jetzt geht es auch dort schief, namentlich auch in Betreff der Vagabondage. Zunächst kommt Herr Dr. Windthorst auf eine Lieblingsidee zurück, die er schon bei ver - schiedenen Gelegenheiten geäußert hat, namentlich auch neuer - dings im deutschen Reichstag. Er sagt, die Vagabondage hat ihren Grund in dem starken Anwachsen der Bevölkerung, in der « Uebervölkerung », welche eine der Ursachen ist, warum es so viele gewerbs - und hilfslose Menschen in der Welt giebt. 22Nun, der berühmte Thomas Morus hat schon i. J. 1500, oder etwas später, eine sehr gelehrte und gründliche Abhandlung geschrieben, worin er zu dem Resultat kommt, daß damals in England eine solche Uebervölkerung herrschte, daß es nicht mehr zehn Jahre so fort gehn oder andauern könnte, dann würden die Menschen einander auffressen. Seitdem ist die Be - völkerung in England auf das Sechsfache gewachsen, und die Leute fressen sich noch immer nicht gegenseitig auf, im Gegen - theil, diese sechsfache Zahl von Menschen lebt weit besser, ver - gnüglicher und auskömmlicher als damals das eine Sechstel. Woher kommt das? Das kommt von dem allgemeinen Cultur - fortschritt, von der Weiterentwicklung, durch welche die Men - schen immer mehr Herr werden über die Natur, und durch welche sie im Stande sind, eine immer intensivere Wirthschaft zu entfalten und immer mehr Mittel zur Befriedigung der Be - dürfnisse auch einer wachsenden Bevölkerung zu beschaffen. Das hat nicht nur England gezeigt, sondern auch alle anderen Länder, in welchen ein gleicher Culturfortschritt stattfindet und die Menschen nicht durch eine zurückgebliebene Gesetzgebung gehindert werden, ihre wirthschaftlichen Kräfte zu entfalten. Ich weiß ja, daß in Deutschland diese Uebervölkerungsangst auch in verschiedenen Staaten, in welchen man sich darin gefiel, der Cultur-Entwickelung allerlei künstliche Hindernisse entgegen zu stellen, grassirt hat; und vielleicht wird, bei wachsender volks - wirthschaftlicher Reaction dieses Gespenst auf einige Zeit wieder - kehren und den Menschen eine ungerechtfertigte Angst einflößen. Predigt ja doch schon heute ein großer Gelehrter, der die Häupter seiner Lieben nach Halbdutzend zählt, die « Zwei - Kinderwirthschaft. »

Haben ja doch im Laufe des letzten Menschenalters, na - mentlich während der Reactionszeit von 1850 bis 1858 ver - schiedene deutsche Staaten auf ihre oder der Gemeinde Kosten ganze Gemeinden nach Amerika spedirt. Sie haben aus Angst vor der Uebervölkerung fleißige, brauchbare, tüchtige Menschen und deren Vermögen über den atlantischen Ocean geschafft. Das geschah damals namentlich in Nassau, Hessen-Darmstadt und einigen ähnlichen Ländern. Es ist doch wunderbar, daß die Staaten an Uebervölkerung nur bei diesen fleißigen Menschen23 dachten, bei dem damals schier zahllosen Heer von Beamten aber nicht.

Weiter kommt Hr. Dr. Windhorst auf eine zweite Lieblings - idee, indem er sagt, die Hauptursache des Vagabondenthums ist die ungemein leichte Weise, mit welcher Heirathen ge - schlossen werden, die Männer heirathen jetzt schon im 20., die Mädchen sogar im 16. Jahre, daraus entsteht diese Uebervölke - rung, und daraus dann wieder die Unzahl Vagabonden.

Auf was läuft das hinaus? Auf die bekannte Malthus’sche Theorie, die heutzutage, abgesehen von einem gelehrten Quer - kopfe in England, im Großen und Ganzen wohl für einen über - wundenen Standpunkt gelten darf, für die man allerdings vor 30, 40 Jahren schwärmte. Ich erinnere mich, daß damals ein sächsischer Schriftsteller vorschlug, daß bezüglich der Menschen weiblichen Geschlechts eine ähnliche Vorrichtung gemacht werden solle, wie sie bei weiblichen Schafen stattzufinden pflegt. Sie ist den Landwirthen in unserer Mitte wohlbekannt und ich darf mich daher wohl enthalten, sie zu schildern. Ich habe nicht ge - hört, daß man heutzutage auf diesen wahrhaft empörenden Vor - schlag wieder zurückgekommen wäre. Möglich ist es immerhin bei der heute in gewissen Regionen herrschenden social-phan - tastischen und gewaltthätigen Richtung.

Gewiß stimme ich darin dem Herrn Abg. Dr. Windthorst bei, daß es besser wäre, wenn unsere Bevölkerung ähnlich, wie es in anderen Ländern, wie z. B. in der Schweiz, der Fall ist, in Betreff der Verheirathung jenen Grad der Vorsicht und Zurück - haltung bethätigte, welcher den Eheschluß auf ein etwas reiferes Alter hinausschiebt, und wenn sie überhaupt etwas mehr Selbst - beherrschung an den Tag legte.

Allein dergleichen läßt sich durch Ge - und Verbote, durch Polizeimaaßregeln und dergl. nicht erzwingen. Auch vermag die Erschwerung der Eheschließung, namentlich das der weniger bemittelten Klasse von der Polizei und Verwaltungsbehörde auf - erlegte Zwangscölibat, einen Einfluß in jener sittlichen Richtung nicht auszuüben. Wir haben ja früher solche Einrichtungen in einer großen Zahl deutscher Staaten besessen und dadurch Ge - legenheit gehabt, vergleichende Studien zu machen. Die Er - fahrung hat uns gelehrt, daß jene Beschränkungen keineswegs die Zahl der Geburten vermindern, sondern nur die der unehe -24 lichen Kinder im Verhältniß zu der Zahl der ehelichen ver - mehren, oder mit anderen Worten den Procentsatz der unehe - lichen Geburten erhöhen. Je stärker die Beschränkungen des Ver - ehelichungsrechtes waren, desto größer war die Zahl der unehe - lichen Kinder im Verhältniß zu den ehelichen. In Mecklenburg, wo die Beschränkung am größten war, war auch die Zahl der außerehelichen Geburten am größten. Daß jene veralteten In - stitutionen auch heute, nachdem sie schon abgeschafft sind, immer noch unheilvolle Einwirkungen und eine, nur allmählich schwindende Verschlechterung der sittlichen Haltung des Volks hinterlassen haben, beweist Ihnen die officielle Statistik des Deutschen Reichs. Nehmen Sie z. B. das von dem Kaiserlichen Statistischen Amt herausgegebene « Statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich », neuester, vierter Jahrgang, 1883 zur Hand und werfen Sie nur einen Blick auf die letzte der demselben bei - gegebenen graphisch-statistischen Karten, welche die unehelichen Geburten im Verhältnisse zu der Gesammtzahl der Geburten für das ganze Deutsche Reich in den Jahren von 1872 bis 1880 dar - stellt. Da sind diejenigen Kreise, in welchen der Procentsatz der unehelichen Geburten sechszehn und darüber beträgt, am dunkelsten schattirt; und diese dunkelsten Schatten finden wir in Mecklenburger, Württemberger und Bayrischen Kreisen, d. h. also in denjenigen Ländern, in welchen das « Zwangscölibat für Unbemittelte » am längsten sein durchaus unberechtigtes Dasein gefristet.

Alle diese Heirathsbeschränkungen haben nur dahin ge - wirkt, daß die ehrlichen Väter, welche die Absicht hatten, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, die gar nicht einen ausschweifenden sexuellen Wandel führten, sondern in einer regelmäßigen mono - gamen Gemeinschaft lebten, der nur die Sanction des öffentlichen und kirchlichen Rechtes fehlte, verhindert wurden, sich officiell als Ehemänner und Väter zu geriren, und daß der Frau die Rechte eines ehelichen Weibes und der Nachkommenschaft die Rechte ehelicher Kinder durch ein Gesetz von sinnloser Grausam - keit vorenthalten wurden.

Die Folge war also, daß vormals die Zahl der unehelichen Geburten die der ehelichen erreichte, wenn nicht gar überstieg! Man störte die von der Natur angeordnete Reihenfolge der Dinge; man machte Kinder, die in einer regelmäßigen Gemeinschaft25 erzeugt waren, künstlich zu unehelichen; man prägte ihnen un - gerechtfertigtermaaßen den Stempel von « Spuriis » oder « Vul - goquäsitis » auf; man beraubte sie ihres natürlichen Ernährers und stieß sie dadurch gerade in die Armuth, in das Elend, in den Bettel und die Vagabondage; ja man hat vielfach (nament - lich in Mecklenburg war dies der Fall) schließlich die Menschen zur Auswanderung getrieben, wenn sie ehrlich genug waren, die - jenigen Verpflichtungen, die ihnen gegenüber dem weiblichen Wesen ihrer Wahl und gegenüber ihren mit ihm erzeugten Kin - dern oblagen, erfüllen zu wollen. Also zu solchen Mitteln, die einer bösen Vergangenheit angehören, wollen wir nicht zurück greifen. Diese Arznei ist schlimmer als die Krankheit.

Dann sagt Herr Dr. Windthorst wörtlich: « Im Zusammen - hang damit ist sehr zu erwägen, ob nicht die absolute Freizügig - keit auf die Förderung des Vagabondenthums wesentlich einge - wirkt hat. » Nun, in Preußen haben wir die Freizügigkeit schon seit einer schönen Reihe von Jahren, seit beinahe einem Jahr - hundert. Mißstände sind nicht zu Tage getreten. Was man aber unter « absoluter » Freizügigkeit versteht, ob man auch nur halbe oder drei Viertel Freizügigkeit kennt, weiß ich nicht.

Dann kommt, was man bei Herrn Windthorst zu erwarten berechtigt ist: nämlich die Hauptsache des Vagabundenwesens liege in dem kirchenpolitischen Streit. Ich sage:

Damit hat die Vagabundenfrage gar keinen Zusammenhang. Es hat vielmehr gerade zu der Zeit, wo die Kirche absolut herrschte, die meisten Vagabunden gegeben. Ich berufe mich auf den italienischen Autor Genovesi, welcher sich s. Z. an - heischig machte (siehe Schlözer, « Staats-Anzeigen » Band XIV Heft 59), aus dem Königreich Neapel 60 000 Landstreicher, aus Toscana 10 000 und aus dem Kirchenstaate 20 000 zu liefern. Alle diese Dinge, welche der Herr Abg. Windthorst als die Ur - sachen der heutigen Vagabondage bezeichnet, haben damals in den genannten drei italienischen Staaten durchaus nicht bestanden, am allerwenigsten in Rom und in dem Kirchenstaat, wo doch gewiß auch ein « Culturkampf » niemals geherrscht hat.

Dann kommt Herr Windthorst zu der Hauptanklage; und diese ist natürlich gegen die « liberale Gesetzgebung » gerichtet. Er sagt:

« Daß diese mit der Vagabondage im Wechselverhältniß26 steht, ist nicht zu leugnen, Sie werden das freilich bestreiten; denn Sie müssen ihr Kind vertreten. »

Dieser Redensart sind wir schon oft begegnet. Aber ich bemerke, daß für diese ganze Gesetzgebung, insbesondere auch für die Gewerbeordnung von 1869, die Conservativen und Cleri - calen ebensogut gestimmt haben wie die Liberalen. Der Unter - schied ist nur der, daß allerdings wir unser Werk nicht verleugnen und noch fortwährend für gut halten, während bei den Andern das Gegentheil der Fall ist.

« Damit », sagt Herr Windthorst, « hängt die Entwickelung des Vagabundenthums wesentlich zusammen, daß die kirchliche Autorität und Zucht entschieden abgenommen hat. »

Nun, Vagabunden gab es, wie gezeigt, schon als jene Zucht und Autorität größer war als jemals.

Er wendet sich dann gegen die socialistischen Projecte, welche den Zwangsstaat unter schwarzweißer Fahne einführen wollen.

Ja, entweder muß man ein Anhänger der wirthschaftlichen Freiheit sein, oder ein Anhänger des Socialismus. Zu gleicher Zeit die wirthschaftliche Freiheit bekämpfen und auch den sozia - listischen Zwangsstaat, das wird doch auf die Dauer nicht durch - zuführen sein.

Der Herr Abg. Windthorst hatte also die bestehende Gesetz - gebung auf das Aeußerste angegriffen. Der Minister des Innern, der unmittelbar nach ihm das Wort ergriff, hat sie mit keinem Worte vertheidigt, sondern Herrn Windthorst seiner « Werth - schätzung » versichert.

Dann kommt ein Wettrennen zwischen den Herren Abge - ordneten v. Schorlemer-Alst und Hansen, die sich darüber streiten, ob die Provinz Schleswig-Holstein oder die Provinz Westfalen mehr von den Vagabunden heimgesucht sei. In beiden genann - ten Provinzen ist die « Heimsuchung » ziemlich leicht zu begreifen. Schleswig-Holstein war ja früher von Deutschland getrennt. Gegen Deutschland bestand eine beinahe unübersteigliche Grenze. Es kamen die Leute von Dänemark, aber nicht als Vagabunden sondern als Herrscher, oder wie man damals sagte, als « Ty - rannen ». Jetzt kommen die Leute auch aus dem übrigen Deutsch - land. Das gefällt den Herren nicht. Ob sie lieber die Dänen wieder haben wollen, weiß ich nicht. Ich glaube es nicht. 27Das Uebel, über welches sie klagen, ist eine Folge des Ueber - gangszustandes, in welchem sie sich befinden. Man hat dort die wirthschaftliche Freiheit nicht zu früh, sondern zu spät ein - geführt.

Daß Westfalen unter der Fluctuirung der Arbeiterbevöl - kerung zu leiden hat, ergiebt sich daraus, daß es eine große Industrie besitzt und daß in Folge der wirthschaftlichen Krisis eine Verschiebung der Bevölkerung theils von Westen nach Osten und theils von Osten nach Westen stattgefunden hat, die ihre Passage durch und nach Westfalen genommen, eine Ver - schiebung, die u. A. auch gefördert worden ist durch die Zoll - gesetzgebung, namentlich durch die Schutzzölle, die an Stelle einer gesunden auswärtigen Concurrenz eine ungesunde Concur - renz im Innern setzten, eine Concurrenz, die allerdings unter Um - ständen sehr unangenehm und empfindlich werden musste.

Es heißt dann weiter: « Der Unterstützungswohnsitz, das ist der Hauptfehler, der bedroht Alles. » Ja, m. H.! was ist der Unterstützungswohnsitz? Sein Princip lautet: « Wo der Mann arbeitet, soll er auch unterstützt werden. » Ehe man den Unter - stützungswohnsitz hatte, wurde der Mann zurückgeschoben an den Ort, wo er her war, wo er sein heimaths - und Domicilrecht hatte, wo er aber lange fremd geworden. War das gerecht?

Dann sagt Hr. v. Schorlemer-Alst: « Die Vagabunden müssen zuerst gereinigt und gespeist werden, aber vor Allem ist es nöthig, daß sie eine tüchtige Tracht Prügel zum Willkomm bekommen. »

Ja, mit der Tracht Prügel ist es ein eigenthümliches Ding. Wenn man wüßte, daß sie immer an den richtigen Mann gelangt, so könnte man im Grunde genommen nicht so viel dagegen haben. Aber das ist ja eben das Schlimme, daß mit solchen extremen Mitteln in der Regel ein schreiender Mißbrauch ge - trieben wird. Ich weiß nicht, ob Hr. v. Schorlemer die schöne Erzählung von Schiller gelesen hat: « Der Verbrecher aus ver - lorener Ehre »; dann wüsste er vielleicht, wie unter Umständen solche drastischen Mittel zu wirken pflegen, und wie namentlich auf dem Gebiete, von welchem wir sprechen, die unzeitige An - wendung von Prügeln den letzten Rest von Ehrgefühl erstickt und die Leute für immer der Landstreicherei in die Arme wirft,28 um jene Klasse der « Rückfälligen » zu vermehren, welche den Behörden die meisten Schwierigkeiten bereitet.

Der Herr Abg. Hansen klagt dann über die Gefängnisse. Er sagt, die Leute würden da zu gut behandelt, » ja sie haben in den Gefängnissen alle Erfordernisse des Comforts, sogar Badezimmer, nur Kegelbahnen und Billards fehlen noch. »

Ich weiß nicht, woher dieser kulturfeindliche Haß gegen die Reinlichkeit kommt. Er ist sonst nur bei den Vagabunden herkömmlich, die es sehr übel vermerken, wenn sie gereinigt werden in der Anstalt. Sie haben die süße Gewohnheit des Daseins in der Schweinerei und pflegen sich der Reinigung auf das Aeußerste zu widersetzen. Das ist aber grade ein specifisches Kurmittel. Wenn erst der Mensch so weit ist, daß er sich regel - mäßig wäscht, so ist er zur Hälfte für die Cultur gewonnen.

Nun folgt eine Rede des Herrn Abg. Strosser, die Wahres und Falsches vermischt enthält. Er sagt, « wenn man nach allen Berechnungen die Jahr aus Jahr ein das deutsche Vaterland durchziehenden Vagabunden auf 200 000 berechnet, so kommt ein Kostenaufwand heraus von 100 Millionen Mark ».

Ja, m. H.! Das sind so phantastische Rechnungen. Die Rechnung ist so gemacht worden: In irgend einem Bezirk, der stark unter der Vagabondage leidet, hat man gesagt: « Wir haben für Vagabunden so und so viel ausgegeben in einem Jahre, wir haben 100 000 Einwohner, das deutsche Reich hat 46 Millionen, folglich verhält sich die Gesammtausgabe wie 100 000 zu 46 000 000, und so ermitteln wir die Gesammtausgabe des deutschen Reichs. So hat man sich das Exempel zurecht gemacht. Daß das nicht richtig, nicht zuverlässig sein kann, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung. Wir lieben es über - haupt heut zu Tage, uns an großen phantastischen Ziffern zu berauschen. Aber nachweisbar sind diese Ziffern niemals, weil es ihnen an jeder zuverlässigen factischen Unterlage gebricht; und im Hinblick hierauf kann man kaum widersprechen, wenn ein geistreicher Schriftsteller, Herr W. H. Riehl, in einer kultur - wissenschaftlichen Skizze behauptet, wir litten gegenwärtig an einer neuen Krankheit, an dem « Morbus statisticus », an der statistischen Krankheit.

Dann sagt Hr. Strosser, « wir müssen diese Frage discutiren,29 wenn wir auch diese späte Nachmittagsstunde vollständig dafür ausnutzen sollten ».

Ich erinnere mich einer sehr lebhaften Berathung im Jahre 1848, wo eins der Mitglieder sagte: M. H.! wir müssen die sociale Frage lösen, und wenn wir die ganze Nacht hindurch sitzen sollten bis zum Morgen.

Dann wird gesagt, eine Ursache des Zunehmens der Vaga - bondage liege darin, daß die Innungen aufgehört haben und keine feste Ordnung im Handwerk sei u. s. w.

Niemals aber war die Vagabondage größer, als zur Zeit der mit prohibitiven Rechten ausgestatteten Zünfte, welche die Leute am Zuzug und am Arbeiten hinderten, und dadurch zwangen, zu « vaciren ». Die Zünfte, diese so viel bewunderte ständische oder corporative Gliederung, für die ja heutzutage die sogenannten « staatserhaltenden Kräfte » schwärmen, konnten nicht allein die Vagabondage nicht hindern, sondern im Gegen - theil, die Vagabunden gründeten selbst auch eine Zunft, nämlich die Zunft der « fahrenden Leute ». Sie organisirten sich ebenfalls, und die Zünfte der « unehrlichen » Leute hatten ebenso ihre Cor - porative Verfassung wie die Zünfte der sogenannten « ehrlichen » Leute.

Ich verweise Sie auf das ebenso lehrreiche als unterhaltende Büchlein von Dr. Otto Beneke in Hamburg « Von unehrlichen Leuten, culturhistorische Studien und Geschichten aus vergange - nen Tagen deutscher Gewerbe und Dienste », (Hamburg 1863).

Niemals waren die vacirenden, vagirenden und vagabun - direnden Handwerksburschen auf Straßen und Herbergen zahl - reicher, als zur Zeit der dem Untergange geweihten Zünfte. Man denke nur an das schöne Lied:

« Was das Fechten gewinnt
Durch die Gurgel rinnt. »
etc. etc.

aus dem « Lumpacivagabundus », das bekanntlich noch aus der « guten alten Zeit » stammt, wo die Gebundenheit und Unfreiheit florirte und man von der « liberalen Gesetzgebung » noch nichts wußte.

Dann macht Hr. Strosser vortreffliche Bemerkungen über das Institut des Pastors Bodelschwingh, dessen ich bereits in ver - dienten Ehren gedacht habe.

30

Endlich kommt aber auch er auf die Prügel zurück, « Prügel, Prügel und immer Prügel », die heute das Universalmittel sein sollen gegen alle gesellschaftlichen Krankheiten. Herr Strosser unterläßt aber als ehrlicher Mann nicht, hinzuzufügen, daß er mit seinem Prügel-Antrage durchgefallen ist in einer Conferenz der Beamten deutscher Strafanstalten, die in Stuttgart statt - gefunden hat, daß die Majorität sich gegen diese seine Auf - fassung erklärt hat, mit dem Anfügen, daß ein solches Mittel schlimmer sei als die Krankheit, und daß ein einsichtiger Straf - anstaltsdirector auch ohne solche Mittel im Stande sein müsse, diese Krankheit zu heilen.

Ich komme nun noch zurück auf das Echo, welches diese Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses gefunden haben in der Sitzung des deutschen Reichstages vom 1. Fe - bruar 1883.

In dieser Sitzung versuchte das verehrliche Mitglied Herr Stöcker eine Rede zu halten beim Kapitel Oberpostdirectoren, eine Rede nicht über die Oberpostdirectoren, sondern über die Sonntagsfeier, was ihm nicht ganz gelang, weil es ja nicht in Uebereinstimmung war mit der Tagesordnung, und der Präsident Freiherr v. Frankenstein ihn hindern mußte in dem vollen Erguß seiner oratorischen Talente. Er sprach nicht blos von der Sonn - tagsfeier, er machte auch einen Abstecher auf den Unterstützungs - wohnsitz. Er sagte: « Können wir leugnen, daß eine Menge von Gesetzen, die in den letzten Jahrzehnten gegeben sind, unseren Volksgeist verwirrt hat, daß der Unterstützungswohnsitz die Vagabondage beförderte, können wir das leugnen? »

Sie sehen also, daß diese Dinge sich bereits zu einem Dogma, zu einem Glaubensbekenntniß verdichtet haben, daß kein Mensch sie leugnen darf, ohne aufzuhören, ich will nicht sagen ein Mensch, aber doch wenigstens ein « frommer Mensch » zu sein. Ja, weiß man denn nicht, daß die Freizügigkeit schon unter Friedrich dem Großen eingeführt werden sollte durch Ab - schaffung der Leibeigenschaft? Friedrich II. hatte schon den Befehl gegeben, daß in Pommern die Leibeigenschaft aufgehoben werden sollte. Da hat ihm die pommersche Ritterschaft Vorstel - lungen gemacht und gesagt: Majestät, das geht nicht, dann haben wir keine billigen Arbeitskräfte mehr, wir müssen diese Bauern, sowie deren Buben und Mädchen haben, die für 3 Thaler per Jahr31 arbeiten, und wenn wir sie nicht mehr an die Scholle fesseln, so laufen sie fort, unser Land, so lautet der Ausdruck, wird « de - peuplirt » werden; dann haben wir keine Bauern mehr, und Majestät haben keine Soldaten. Das that eine gute Wirkung. Der König nahm Abstand von dieser Reform. Friedrich Wil - helm III. aber hat sie durchgeführt und darüber nicht allein ein Gesetz erlassen am 25. März 1809, sondern ihm auch eine sehr schöne Begründung beigefügt, indem er sagte:

« Die Rittergutsbesitzer haben sich der Freizügigkeit widersetzt und die Besorgniß geäußert, die Unterthanen würden, sobald sie die natürliche Freiheit wieder erlangt hätten, Mißbrauch damit treiben und

  • 1. sich von dem Landbau entfernen und alle nach den Städten gehen,
  • 2. lieber als Tagelöhner wie als Gesinde arbeiten,
  • 3. übermäßigen Lohn und bessere Kost fordern,
  • 4. sich dem Müßiggange ergeben und vagabundiren etc.

Diese Einwendungen der Rittergutsbesitzer widerlegt nun König Friedrich Wilhelm III., indem er bemerkt:

  • Zu 1. es sei nicht abzusehen, wie der Hang der Landbe - wohner, in die Städte zu ziehen, dadurch vermehrt werden könne, daß ihnen der Aufenthalt auf dem Lande durch Erlangung der persönlichen Freiheit an - genehmer gemacht wird; es stehe vielmehr zu erwarten, daß mehr städtische Arbeitsleute auf das Land ziehen werden, wenn auf dem Lande die bisher so abschreckend wirkenden Beschränkungen der persönlichen Freiheit aufgehoben sind;
  • Zu 2. durch Aufhebung des Dienstzwanges werde die Lage des Gesindes verbessert, es werden daher weniger, als bisher Veranlassung haben, das Dienen gegen Tage - löhnerei zu vertauschen;
  • Zu 3. freilich werde und müsse da, wo man dem Zwangs - Gesinde so wenig gereicht hat, daß es ohne Beistand der Eltern nicht bestehen konnte, einige billige Er - höhung eintreten; jedenfalls aber würde durch die per - sönliche Freiheit die Concurrenz in heilsamer Weise ver - mehrt; und da freie Leute im Gegensatz zum Zwangs - gesinde mit mehr gutem Willen arbeiten, werde mehr32 Arbeit mit weniger Händen verrichtet werden, als vormals;
  • Zu 4 aber sagt der König wörtlich, indem er sich an seine Beamten wendet:
  • « Es ist eine durchaus unrichtige Behauptung, daß der Mensch, welcher sich freier und glücklicher fühlt, mehr Neigung zur Unsittlichkeit, zum Müßiggange und zum Vagabundiren habe, als der, welcher in der Knecht - schaft lebt.
  • Im Gegentheil ist größere Sittlichkeit und erhöhter Fleiß eben grade in den Provinzen zu finden, in wel - chen der gemeine Mann wohlhabend und frei ist.
  • Diejenigen Unglücklichen aber, welche, durch knechtische Behandlung und Mangel verwildert, An - fangs die erlangte Freiheit mißbrauchen sollten, werdet Ihr durch gesetzliche Zwangsmittel in die Schranken der Ordnung zurückzuweisen, Euch angelegen sein lassen. »
(Rabe, Sammlung der Preuß. Edicte und Verord -

nungen. Bd. X, Seite 60 62).

In dem Edict vom 27. October 1810 sagt der König:

« Wir wollen Gewerbefreiheit », und in dem Edict vom 7. September 1811 fügt er hinzu:

« Die Grundlagen, auf welchen die neuere Gesetzgebung beruht Gleichheit vor dem Gesetz Eigenthum des Grundes und Bodens freie Benutzung desselben und freie Verfügung über denselben Gewerbefreiheit Aufhören der Zwangs - und Bann-Gerechtigkeiten und der Monopole Tragung der Abgaben nach gleichen Grundsätzen von Jedermann Vereinfachung derselben und ihrer Erhebung wollen wir nicht verlassen. Wir wollen den Zweck auf einem langsamen aber sichern Wege erreichen und sind entschlossen, gegen Diejenigen mit Ernst und Nachdruck zu verfahren, die sich aus bloßem Privatinteresse Un - sern landesväterlichen Ansichten entgegensetzen möchten. »

So sprach Friedrich Wilhelm III., als er die Gesetze erließ und die Einrichtungen schuf, welche die Wiedergeburt Preußens nach der schweren Niederlage von 1806 begründet und später durch Aufrichtung und Ausdehnung des Zollvereins den Wohl -33 stand Deutschlands herbeigeführt und die politische Einheit des - selben vorbereitet haben.

Dann aber ist die Freizügigkeit weiter ausgebaut worden durch das Gesetz Friedrich Wilhelms IV. über die Aufnahme neu anziehender Personen, und der Unterstützungswohnsitz und durch das Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege vom 31. De - cember 1842, also zu einer Zeit, wo es weder einen preußischen Landtag gab noch einen deutschen Reichstag, sondern wo der König aus eigener Initiative die Gesetzgebung regelte.

Wenn man nun sagt, « wer wird es leugnen, daß die Gesetz - gebung in den letzten Jahrzehnten, also seit 1865 den Volksgeist verwirrt hat und daß das Unterstützungswohnsitzgesetz die Vaga - bondage befördert hat », so scheint man nicht zu wissen, daß das Unterstützungswohnsitzgesetz für Preußen nach seinem wesent - lichen Inhalt schon seit 1842 besteht.

Doch ich will diesen Gegenstand nicht weiter verfolgen.

Ich möchte meine Ausführungen dadurch ergänzen, daß ich Ihnen die Geschichte der Vagabondage in Deutschland, zu der ich ein reichliches Material gesammelt habe, im Umriß vor - führe. Allein die Zeit erlaubt es nicht. Ich werde daher diese historische Skizze in der « Vierteljahrsschrift für Volkswirthschaft und Kulturgeschichte » publiciren, worauf ich Sie im Voraus zu verweisen mir hierdurch erlaube.

Hier will ich mich auf folgende Bemerkungen beschränken:

Die Geschichte lehrt uns, daß die Vagabondage periodisch steigt und fällt, daß sie in Deutschland in früheren Jahrhunderten weit schlimmer grassirt hat als gegenwärtig, und daß sie über - haupt mit der steigenden Kultur-Entwickelung immer mehr ab - nimmt, unbeschadet jedoch der bereits erwähnten periodischen wellenförmigen Bewegung des Steigens und Fallens innerhalb dieser im Ganzen von Jahrhundert zu Jahrhundert sinkenden Scala.

Die Geschichte zeigt uns ferner, daß eine Anzahl von Er - eignissen und Zuständen geeignet sind, die Vagabondage jedes Mal zu steigern. Dahin gehören: Wirthschaftliche Krisen, große politische und religiöse Exaltationen, durchgreifende Aenderungen der Gesetzgebung, welche gewisse Schwierigkeiten für das un - vermeidliche Uebergangsstadium herbeiführen, Hin - und Her -334schwanken, Vorwärts - und Rückwärts-Gehen in der Wirthschafts - Politik und dergleichen.

Vor Allem aber zeigt sich ein unverkennbarer Einfluß des Krieges.

Wir sehen eine große Steigerung der Vagabondage während des dreißigjährigen Krieges und nach demselben.

Desgleichen nach dem siebenjährigen Kriege.

In den Kriegsjahren zu Ende des vorigen Jahrhunderts bilden sich, namentlich in dem südlichen und westlichen Deutsch - land, große Vagabunden - und Räuberbanden; und erst der ganzen Energie der französischen Verwaltung gelingt es, dieselben einiger - maßen zu unterdrücken.

Als aber dort die Viel - und Kleinstaaterei wiederhergestellt war, begann das Unwesen sein Haupt wieder zu erheben, namentlich von den Theuerungsjahren ab, welche dadurch noch eine Verschärfung erhielten, daß damals in Deutschland noch die Zwischenzölle bestanden, so daß das Getreide in Posen nur halb so viel kostete wie in der Rheinprovinz, aber nicht hin - geführt wurde, weil die Zwischenzölle bestanden, die erst später, 1818, ganz beseitigt worden sind. Wenn Hr. v. Rauchhaupt im Abgeordnetenhause sagt, daß die Vagabondage nicht von dem Kriege herrühren könne, denn 1870 / 71 habe kein fremder Fuß deutschen Boden betreten, so kann ich ihm als Exempel anfüh - ren das Jahr 1859; da hat auch kein fremder Fuß deutschen Boden betreten, gleichwohl hatten wir in Süd - und Westdeutsch - land eine so grimmige Vagabondage, wie wir sie vorher und nachher lange Zeit nicht erlebt haben, das kam eben von dem italienischen Kriege, der seinen Wellenschlag bis dahin erstreckte.

Wir sehen also, daß die Ursachen der Vagabondage ganz andere sind, als wie die Herren glauben, die sich darüber im Abgeordnetenhause geäußert haben. Ich habe da noch eine Menge Notizen über die gegenwärtige Vagabondage in Frank - reich, sowie über die Schriftsteller, die sich darüber verbreitet haben, die allgemein constatiren, daß seit 1871 dort die Vaga - bondage sich verzehnfacht hat und die ehrlich genug sind, zu sagen, das rührt von dem Krieg her. Sie schieben die Vaga - bondage auch nicht ihrer Gesetzgebung in die Schuhe, sondern leiten sie theils von dem Krieg und theils von der wirthschaft - lichen Krisis ab; und wenn wir ehrlich sein wollen, so müssen35 wir von Deutschland dasselbe sagen. Der Krieg verwildert, dann entsteht eine wirthschaftliche Krisis, und diese fördert das Vagabundenthum. Daß in dieser wirthschaftlichen Krisis mitunter Menschen « entgleisen », um ein Eisenbahnbild zu gebrauchen, und dann Mühe haben, wieder in’s Geleise zu kommen, das ver - steht sich eigentlich von selbst.

Ich habe mir Mühe gegeben, Ihnen thatsächliches Material zu bringen, damit Sie in den Stand gesetzt werden, auf Grund desselben zu urtheilen, was von den Behauptungen, die ich Ihnen vorgeführt habe, zu halten ist. Ich glaube, daß es vor Allem gilt, sich nicht in öde, zweck - und ziellose Phantastereien einzu - lassen, nicht die Verfassung, die bürgerliche Gesellschaft auf den Kopf zu stellen und nicht die Geschichte sich nach willkürlichen Voraussetzungen zu construiren, sondern die Thatsachen zu er - forschen und festzustellen und die ihnen zu Grunde liegenden Gesetze zu erkennen. Nur wenn wir das thun, werden wir der Wissenschaft und zugleich auch dem Vaterland dienen.

(Lebhafter Beifall.)

Druck von Leonhard Simion, Berlin SW.

About this transcription

TextDie Vagabundenfrage
Author Karl Braun
Extent37 images; 10214 tokens; 3239 types; 73961 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDie Vagabundenfrage Vortrag gehalten in der Berliner volkswirthschaftlichen Gesellschaft Karl Braun. . 35 S. SimionBerlin1883.

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SUB Göttingen SUB Göttingen, 8 POL III, 3962/m:36

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LanguageGerman
ClassificationFachtext; Politik; Wissenschaft; Politik; core; ready; china

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ShelfmarkSUB Göttingen, 8 POL III, 3962/m:36
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