PRIMS Full-text transcription (HTML)
EINE BESONDERE ART DER WORTBLINDHEIT (DYSLEXIE).
Mit einer Tafel.
WIESBADEN. VERLAG VON J. F. BERGMANN. 1887.
EINE BESONDERE ART DER WORTBLINDHEIT (DYSLEXIE).
Mit einer Tafel.
WIESBADEN. VERLAG VON J. F. BERGMANN. 1887.
[1]

Mit Nachstehendem erlaube ich mir, den Fach - genossen meine, inzwischen erweiterten, Beobachtungen über ein eigenartiges Krankheitsbild zu unterbreiten, auf welches ich schon vor einigen Jahren in Kürze aufmerk - sam gemacht habe. *)Vgl. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Bd. XV, Seite 276 und Medicinisches Correspondenzblatt des Württem - bergischen ärztlichen Landesvereins. Bd. LIII, Seite 209.

Dasselbe gehört zu der Gruppe der Aphasien im weiteren Sinne; es ist der Alexie oder der Wort - blindheit Kussmaul’s**)Die Störungen der Sprache. S. 102 u. f. nahe verwandt und wahr - scheinlich sogar nur gradweise von derselben unterschieden.

Dasjenige Symptom, welches dem in Rede stehenden Krankheitsbilde die Signatur aufdrückt, habe ich vorge - schlagen Dyslexie zu nennen. Dieser Ausdruck schliesst sich den gebräuchlichen Bezeichnungen Alexie und Para - lexie an; er soll sagen, dass das characteristische Symptom in einer Erschwerung des Lesens besteht und zugleich darauf hinweisen, dass die Ursache dieser Störung, ebenso wie bei der Alexie und Paralexie in einer materiellen Er - krankung des Gehirns zu suchen ist.

Die genannten Bezeichnungen haben allerdings ihre etwas bedenkliche etymologische Seite. Wenn ich ihnen trotzdem das Wort Dyslexie nachgebildet habe, so that ich es lediglich aus dem Grunde, weil sich dieselben nun einmal in der internationalen medicinischen Litteratur ein -Berlin, Dyslexie (Wortblindheit). 12gebürgert haben, und ich deshalb für den sich an sie an - lehnenden Ausdruck auf allgemeines Verständniss rechnen durfte. Ich lege indessen auf den Namen selbst nur inso - fern einen Werth, als derselbe kurz und präcis, allerdings mit einem, durch den Usus halb und halb sanctionirten, philologischen Fehler, das für das Krankheitsbild characte - ristische Symptom kennzeichnet. Sollte Jemand eine Be - zeichnung finden, welche philologisch mehr befriedigt, ohne das medicinische Verständniss zu erschweren, so bin ich von vornherein einverstanden. In diesem Sinne habe ich mich von Anfang an ausgesprochen. *)S. l. c. Vgl. ferner: Rabbas, Ueber Störungen in der Fähigkeit des Lesens bei progressiver Paralyse. Allgemeine Zeit - schrift für Psychiatrie etc. Bd. 41. Separatabdruck, S. 8 und Rieger, Zur Kenntniss der progressiven Paralyse. Aus den Sitzungs - berichten der physikalisch-medicinischen Gesellschaft zu Würzburg. Sitzung vom 13. December 1884. Separatabdruck. Seite 24. Siehe auch unten.

Anstatt einer theoretischen Abstraction des Krank - heitsbildes will ich zuvörderst einen Abriss meiner Beob - achtungen geben:

I. Am 4. März 1863 stellte sich Herr B., ein 66 - jähriger Verwaltungsbeamter aus U., mit der Klage bei mir vor, dass er seit Kurzem seinem Berufe nicht mehr nachkommen könne, da ihm das Lesen von Geschriebenem und Gedrucktem ausserordentlich schwer falle. Er bringt einen Brief von seinem Arzte mit, in welchem derselbe anfragt, ob Patient etwa am grauen Staar leide.

Ich gab dem Kranken die Jäger’schen Schriftproben hin und zwar zufällig die zweite Seite. Er las von No. 7 correct die ersten 4 bis 5 Worte; dann gab er mir das Buch mit dem Bemerken zurück, dass er nicht weiter lesen könne. Nach einer kurzen Pause veranlasste ich ihn, es wieder zu versuchen; er konnte lesen, aber er brachte es wiederum nur auf einige Worte. So ging es nach jeder Ruhepause.

3

Es zeigte sich nun, dass dieser eigenthümlichen Störung nicht etwa eine Abnahme der Sehkraft zu Grunde lag; denn er las ebenso gut oder ebenso schlecht den kleinsten wie den grössten Druck, ja von dem grösseren eher weniger Worte als von dem kleinen.

Den Grund, warum er nicht weiter lesen konnte, wusste er nicht zu präcisiren. Es war kein Schmerz im Auge oder um dasselbe herum vorhanden; die Buchstaben verschwammen auch nicht untereinander; er konnte eben einfach nicht weiter lesen. Der Versuch dazu schien ihm allerdings unbequem zu sein, denn er pflegte, nachdem er die wenigen Worte schnell und ohne Fehler ge - lesen hatte, das Buch in einer Art weg zu legen oder mir hinzuhalten, als wenn er sich von etwas Unange - nehmem befreien wollte.

Die weitere Untersuchung ergab, dass er auf jedem Auge mit Concav 9 No. 20 der Jäger’schen Schrift - proben auf 6 Fuss Entfernung sicher erkannte, was einer Myopie von ca. 5 D mit gutem Sehvermögen entspricht. Die Snellen’schen Tafeln existirten damals noch nicht; Untersuchungen auf Farbenperception waren ebenfalls noch nicht an der Tagesordnung. Die Gesichtsfelder boten weder einen Ausfall noch eine Einschränkung. In der Nähe wurde jederseits No. 1 auf ca. 5 Zoll erkannt. Wenn auch zugegeben werden darf, dass die Schrift bei dieser Annäherung vielleicht mit Zerstreuungskreisen ge - lesen wurde, so war doch jede pathologische Beschränkung der Accommodation auszuschliessen.

Die Pupillen waren von normaler Weite und Be - weglichkeit. In den Bewegungen der Augen zeigten sich keinerlei Anomalien, namentlich war keine Insufficienz der Musculi recti interni vorhanden; die durchsichtigen Medien, speciell die Linsen waren klar; jederseits war ein mässiger sclerectatischer Bügel vorhanden, sonst zeigte der Augenspiegel nichts Abnormes.

1*4

Aphasische Störungen waren nicht vorhanden. Die Untersuchung der übrigen körperlichen Verhältnisse er - gab ebenfalls nichts Krankhaftes.

Ich wusste dem Patienten unter den gegebenen Um - ständen keine speciellen therapeutischen Maassregeln vor - zuschlagen, sondern beschränkte mich darauf, ihm körper - liche und geistige Ruhe zu empfehlen. Seinem Arzte schrieb ich, dass kein Cataract vorhanden sei, dass ich vielmehr die so schnell aufgetretene Lesestörung in An - betracht der Abwesenheit irgendwelcher Erkrankungen des Auges, sowie aller bekannten muskulären oder ner - vösen Ursachen von Asthenopie auf eine cerebrale Affection zurückführen zu müssen glaube, über deren Natur ich mir freilich kein hinreichendes Bild zu machen im Stande sei.

Ich habe den Patienten nicht wiedergesehen, allein etwa ein halbes Jahr später erfuhr ich durch den ver - storbenen Professor Niemeyer, welcher damals als Kli - niker in Tübingen fungirte, dass meine Vermuthung sich bestätigt habe. Herr B. hatte ihn, bald nach seinem Besuche bei mir, wegen verschiedener cerebraler Symp - tome, deren ich mich nicht mehr entsinne, consultirt und sei einige Monate darauf an einem apoplectischen Anfalle zu Grunde gegangen.

II. Am 23. August 1879 consultirte mich Herr K. aus Stuttgart wegen einer eigenthümlichen Sehstörung, welche ihn seit Kurzem befallen habe. Dieselbe war nach seiner Ansicht die Folge einer, vor wenigen Wochen in der Schweiz unternommenen Bergparthie, welche den da - mals 59 jährigen, zur Corpulenz neigenden und an der - artige Anstrengungen garnicht gewöhnten Mann sehr an - gegriffen und ihm namentlich heftige Herzpalpitationen und Athembeschwerden verursacht hatte. Am Tage nach dieser Tour will er vorübergehende Verdunkelungen vor den Augen bemerkt und später doppelt gesehen haben. Die Obscurationen existiren jetzt nicht mehr, aber er fühlt5 sich im Gebrauche seiner Augen gestört, was er auf das angegebene Doppeltsehen zurückführen zu müssen glaubt.

Die Untersuchung ergab indessen auch mittelst ge - färbter Gläser im ganzen Gebiete des Sehfeldes keinerlei Doppelbilder; dagegen ist Patient nicht im Stande, eine Zeile zu Ende vorzulesen; nach wenigen Worten hört er auf und erklärt, er könne nicht weiter. Dieselbe Unfähig - keit trat ein, wenn er für sich las und machte es ihm vollkommen unmöglich, sich litterarisch zu beschäftigen, was den ohnehin sehr aufgeregten Patienten ganz ausser - ordentlich afficirte. Die Aufregung trug auch wohl dazu bei, dass er gegen jede eingehende Untersuchung meiner - seits eine so grosse Abneigung an den Tag legte, dass es mir nur mit Mühe und nach wiederholten Besuchen gelang, den Status präsens festzustellen. Ich fand jeder - seits volle Sehschärfe bei mittlerer Myopie, keinerlei Stör - ung der Farbenperception, keine Anomalien des Gesichts - feldes, keine Beeinträchtigungen der Motilität, brechende Medien und Augenhintergrund normal. Eine einmalige, mühsam durchgesetzte, Untersuchung des Urins ergab, dass derselbe frei von Eiweis und Zucker war.

Im Verlaufe von einigen Wochen besserte sich die Lesestörung bei körperlicher Ruhe etwas, nach Verfluss von ca. einem Monat begann Patient die Zeitung zu lesen und bald darauf konnte er seinen Beruf auch wieder aufnehmen.

Ich habe ihn seitdem ärztlich nicht wieder gesehen, verdanke aber seinem späteren Hausarzte Herrn Dr. Reuss sen. einen ausführlichen Bericht über seine nachträgliche Erkrankung, welchem ich das Folgende entnehme:

Im Jahre 1878 litt K. etwa ¼ Jahr lang an Schlaf - losigkeit und hypochondrischer Verstimmung, welche so weit ging, dass er fürchtete geisteskrank zu werden. Im Jahre 1881 stellte sich, angeblich nach einer diphthe - ritischen Angina, welche der Arzt nicht selber beobachtete,6 eine grosse Erschöpfung und Kraftlosigkeit ein, jedoch waren keine Lähmungen, weder an den Extremitäten noch am Gaumen, an der Zunge oder an den Augen vorhan - den; nur hie und da ein leichtes Verschlucken beim Trin - ken und zuweilen beim Sprechen eine leichte Undeutlich - keit in den letzten Silben eines Satzes. Die Temporal - arterien zeigten starkes, nicht verknöchertes Atherom, der Puls härtlich und gross. Das Herz war nicht vergrössert nachzuweisen, aber über allen Ostien hörte man ein systoli - sches Hauchen; Urin, zweimal untersucht, erwies sich frei von Zucker und Eiweis; Appetit, Verdauung, Stuhl - gang ungestört.

Hinsichtlich der eigenthümlichen Abneigung des Pa - tienten, sich untersuchen zu lassen, hat der Hausarzt augenscheinlich dieselben Erfahrungen gemacht, wie Ver - fasser, denn er fügt, sich quasi entschuldigend, hinzu: Ein für alle Male sei hier bemerkt, dass Patient einer öfteren und eingehenden Untersuchung einen solchen Widerwillen entgegensetzte, dass nicht Alles so genau, wie wünschenswerth, erhoben werden konnte.

Das Jahr 1882 verlief im Allgemeinen befriedigend. Patient hatte seine Berufsthätigkeit aufgegeben und bei ruhigerer Lebensweise stärkten sich seine Kräfte etwas; er konnte sich auch geistig und schriftstellerisch beschäf - tigen, was wesentlich zur Hebung seines Lebensmuthes beitrug.

Im Sommer 1883 stellte sich im Gefolge einer un - bedeutenden Störung der Darmfunction wieder eine tiefe und andauernde hypochondrische Verstimmung ein und bald darauf wiederholte ohnmachtsähnliche, apoplecti-epi - leptiforme Anfälle. Mit oder ohne vorhergehendes Unbe - hagen, zuweilen nach vorausgegangener Confusion der Gedanken trat Bewusstlosigkeit ein, stertoröser Athem, theilweis Schaum vor dem Mund, Zuckungen der Gesichts - muskeln, Gliederstarre, Schüttelkrämpfe, Verdrehung der7 Augen nach oben, Erweiterung und Trägheit der Pupillen und einmal unwillkürlicher Abgang von Urin. Unmittel - bar nach dem Anfall hängende Gesichtszüge, einmal be - ständiges Drehen des Körpers nach links; etwas später eine Zeitlang Schwerbesinnlichkeit, namentlich kann Pa - tient öfter die rechten Worte nicht finden, schreibt auch einmal confus, während er alle Buchstaben richtig erkennt. Nach einer, bis einigen Stunden sind in der Regel sämmt - liche Folgen eines solchen Anfalls vorüber; nie blieb nach demselben eine Spur einer Lähmung oder einseitigen Schwäche zurück.

Diese Anfälle wiederholten sich im Jahre 1883 und besonders 1884 ziemlich häufig. Sie hinterliessen eine mehr und mehr sich steigernde körperliche Schwäche und auch die Stimmung wurde eine äusserst gedrückte und reizbare. Die Intelligenz blieb im Ganzen merkwürdig erhalten. Nachdem am 30. August 1884 wieder ein An - fall eingetreten war, welcher wie die früheren ohne un - mittelbare Folgen vorüberging, starb Patient am 1. Sep - tember apoplectisch.

Zufällig war der Hausarzt um diese Zeit verreist und den stellvertretenden Aerzten Herrn Dr. R. Elben und Herrn Dr. Reuss junior war meine frühere Behandlung des Kranken unbekannt geblieben. Aus diesem Grunde wurde ich, zu ihrem nachträglichen Bedauern, nicht auf - gefordert, der Section beizuwohnen, jedoch stellten sie mir das Protocoll bereitwilligst zur Verfügung. Das - selbe lautet:

Dura mater am Schädeldach sehr fest anhängend, Längsblutleiter leer, weiche Gehirnhäute normal; hie und da unter denselben (linkerseits) Blutsuffusionen durch - scheinend. Gehirnwindungen abgeflacht. Gehirnsubstanz sehr matsch (Fäulniss?), reisst beim Herausnehmen ein und es ergiesst sich aus dem in den Ventrikel führenden Riss flüssiges dunkles Blut. Ventrikel beiderseits hoch -8 gradig dilatirt, mit Blut erfüllt. Das Dach des linken Ventrikels ist nur 2 cm dick und macerirt, entlang der Gefässe erstreckt sich die Blutung in das Lumen der Gehirnmasse hinein. Ausserdem besonders in der linken Hemisphäre, namentlich in der Gegend der Arteria fossae Sylvii nach vorn und hinten Blutungen in die Substanz des Gehirnes. Aeltere Heerde sind keine (mehr?) zu finden. Im Pons eine stärkere Blutung, welche sich nach rechts abwärts beinahe bleistiftdick fortsetzt, aber die Mittellinie kaum überschreitet.

Gefässe stark atheromatös; in der Arteria cerebri posterior und Communicans posterior lin - kerseits ein alter organisirter Thrombus.

Herz vergrössert; mit vielem Fett bedeckt; linker - seits sind die Wandungen stark verdickt. Zwei der Aortenklappen verwachsen und deutlich verdickt; Aorten - wand stark atheromatös.

III. Herr N., höherer Justizbeamter, 75 Jahre alt, ein Mann von Mittelgrösse und mittlerem Ernährungs - zustande, war nach den anamnestischen Mittheilungen seines Arztes, Herrn Dr. Reuss sen., mit Ausnahme zeit - weiligen Erbrechens mit Diarrhöe stets gesund gewesen. Im Sommer 1877 stellte sich langanhaltendes Kopfweh ein mit wechselndem Sitze; er bezeichnet dasselbe als inneren Druck. Dabei war der Kopf kühl und blass, der Puls schwach; etwas Nachlass des Gedächtnisses bei sonstiger Integrität der Intelligenz. Dazu kam Uebelkeit, häufiges Schwächegefühl und das Bedürfniss, tief aufzu - athmen. Das Schwächegefühl übermannte ihn, besonders Nachts oft so, dass er aufstehen musste, um etwas zu essen. Herz normal. Auf Arsenik verliert sich das Kopf - weh nach einigen Monaten dauernd, dagegen hält das Schwächegefühl an.

Am 11. September 1878 fühlt er sich plötzlich un - wohl und bekommt gleichzeitig ein Gefühl von Pelzigsein9 und Kälte in beiden unteren Extremitäten. Dabei ist die Bewegung vollkommen ungestört; weder Kopfweh noch Schwindel. Am nächsten Tage stellt sich ein leichter Grad von Aphasie ein, der Kranke findet nicht die rechten Worte für das, was er sagen will, oder verwechselt die Worte und dies versetzt ihn in eine sehr ärgerliche, reiz - bare Stimmung. Dabei ist die Aussprache vollkommen deutlich, auch sind keinerlei Bewegungsstörungen in der Muskulatur der Zunge oder des Gesichts vorhanden. Der Druck der Hand ist jederseits von normaler Stärke, aber es besteht eine gewisse Unruhe in den Armen und den Beinen. Ausserdem beklagt sich Patient über eine acut entstandene Sehstörung, so zwar, dass er schwieriger liest als sonst; auch schreibt er zittrig und mit veränderter Handschrift. Puls und Herz normal, kein Eiweis im Urin.

Der Zustand hatte sich bis zum 14. September, an welchem Tage ich den Kranken zum ersten Male sah, wenig verändert, nur hatte sich die Aphasie beträchtlich gebessert, während sich von neuem Pelzigsein und zwar diesmal nur des rechten Beines, sowie eine Art Ungeschick - lichkeit der rechten Hand eingestellt hatte.

Die augenärztliche Untersuchung ergab: Cornea, Cammenwasser, Iris und Pupillen beiderseits normal; die beiden Linsen im Zustande beginnender cataractöser Trü - bung, doch konnte links noch Jäger No. 6, rechts Nr. 14 gelesen werden.

Beim Lesen mit beiden Augen zeigte sich nun fol - gende Erscheinung: Patient las correct einige Worte, dann gab er das Buch fort, entweder schweigend oder mit der Bemerkung, dass er nicht weiter lesen könne. Nach einer kurzen Pause ging es wieder mit dem Lesen, aber er brachte, ebenso wie im Anfang, immer nur wenige Worte hintereinander heraus.

Es fragte sich nun, ob die eigenthümliche Lese - störung in diesem Falle nicht lediglich auf die Aphasie10 zurückzuführen sei? Wir konnten uns indessen über - zeugen, dass dies wohl nicht anzunehmen war; denn der Kranke gab, wenn er nicht mehr weiter lesen konnte, dennoch unmittelbar darnach auf unsere Fragen jeglichen mündlichen Bescheid und zwar mit den unbedeutendsten aphasischen Störungen, da sich sein Zustand, wie oben schon hervorgehoben wurde, in dieser Richtung entschieden gebessert hatte.

Aber es bestand noch ein anderes Symptom, welches die pathogenetische Beurtheilung der Lesestörung er - schwerte, das war eine beiderseitige rechtsseitige Hemia - nopsie. Die präcise Aufnahme der Form und der Grenze der Gesichtsfeldsbeschränkung war bei dem angegriffenen und etwas reizbaren Kranken einigermaassen erschwert, aber ich konnte doch feststellen, dass die innere Grenze des Defectes ziemlich weit von der Mitte des Gesichts - feldes entfernt blieb. Dies war namentlich auf dem linken, schtüchtigeren Auge der Fall. Die Gesichtsbeschränkung begann hier, auf ca. 1 Fuss gemessen, eine gute Hand breit nach aussen vom Fixirpunkte. Ich glaube deshalb annehmen zu dürfen, dass die Gesichtsfeldsbeschränkung ebenfalls nicht bei dem Leseacte in störender Weise zur Geltung kam. Dies wäre vorauszusetzen gewesen, wenn dieselbe in unmittelbarer Nähe vom Fixirpunkte begonnen hätte; in unserem Falle aber war die Breite der intacten Gesichtsfeldszone so ausgedehnt, dass der perceptions - fähige Rest der linken Retinahälften von dem Bilde der wenigen, im Zusammenhange hintereinander gelesenen Worte nicht einmal zur Hälfte ausgefüllt, geschweige denn überragt werden konnte.

Die übrigen Krankheitserscheinungen, die Linsen - trübungen, die Gesichtsbeschränkungen, die Aphasie, namentlich aber das allgemeine Schwächegefühl compli - cirten allerdings den Zustand in einer Weise, dass die Möglichkeit einer Betheiligung derselben an der Lese -11 störung nicht ganz von der Hand zu weisen war; immer - hin trat dieselbe auch in diesem Falle in so prägnanter Form hervor, dass ich in Berücksichtigung der früheren Beobachtungen die Vermuthung aussprach, es handele sich doch vielleicht um ein Symptom sui generis mit selbst - ständiger pathologisch-anatomischer Grundlage.

Für die Diagnose unseres Falles war diese Frage zunächst ohne practische Bedeutung. Wir stimmten darin überein, dass es sich entweder um eine Apoplexie oder um einen embolischen Process im Gebiete der links - seitigen Arteria fossae Sylvii handele. Hinsichtlich der Therapie, so beschränkten wir uns im Wesentlichen auf diätetische Maassnahmen.

Im Laufe des folgenden Monates besserten sich sämmtliche Krankheitserscheinungen, die Aphasie hörte auf, ebenso die Dyslexie , die Gesichtsfeldbeschränkung verschwand, Patient fühlte kein Pelzigsein mehr in den Extremitäten, nur das Elendigkeitsgefühl mit der Nöthigung, öfter zu essen, blieb bestehen. Nach Verfluss eines wei - teren Monates constatirte der Hausarzt eine Vergrösserung des rechten Herzens, die Dämpfung erstreckte sich bis zum rechten Sternalrande. Kein Geräusch, kein Eiweis im Urin.

Nachdem sich Patient, einige scheinbar völlig un - vermittelte Anfälle von Brechdurchfall abgerechnet, über ein volles Jahr hindurch eines günstigen Gesundheits - zustandes erfreut hatte, erkrankte er im December 1878 an einem kleinen Furunkel in der Nasenspitze mit nach - folgendem Erysipelas faciei, an dessen Folgen er nach 8 tägigem Krankenlager zu Grunde ging. Während dieser Krankheit war trotz der niederen Fiebertemperatur, welche 39° nie überstieg, das Sensorium von Anfang an stark in Mitleidenschaft gezogen. Indessen gab der Patient auf Anreden stets die richtige Antwort, und wenn ihm auch hie und da das rechte Wort mangelte, so zeigte er12 doch keine Spur von Aphasie, von Beweglichkeitsstörung der Zunge oder sonst irgend welcher Muskellähmung.

Bei der Section fanden wir, soweit es uns hier inte - ressirt, Folgendes: Schädeldach mässig dick, mit der Dura mater ziemlich verwachsen, weiche Hirnhäute blass, leicht serös infiltrirt, namentlich zwischen den Gyris. Die Sulci beiderseits auffallend tief, so dass die Windungen stark von einander abstehen und dadurch einen ausgesprochen atrophischen Eindruck machen. Die Hirnrinde, auf das Sorgfältigste untersucht, namentlich was die Gegend der Broca’schen Stelle und des linken corticalen Sehcentrums angeht, zeigt makroscopisch nirgends eine Spur eines hämorrhagischen, entzündlichen oder eines Erweichungsheerdes, überhaupt weder hinsicht - lich der Farbe oder der Consistenz irgendwo etwas Bemerkenswerthes. Höchstens wäre zu erwähnen, dass die mittleren Abschnitte der die linke Fossa Sylvii nach vorn und nach hinten begränzenden Gyri (hintere Centralwindung und 1. Schläfenwindung) bei der Betastung mit dem Finger sich ein wenig weicher anfühlten als die übrige Corticalis. Bei dem Mangel jeglicher Farbenver - änderung und in Anbetracht des Umstandes, dass seit dem Eintritt des Todes schon 36 Stunden verflossen waren, glaubten wir diesen Befund als Leichenerscheinung deuten zu müssen. Die grossen Ganglien, das Cerebellum und die Medulla oblongata waren normal, die Ventrikel ein wenig erweitert. Die beiden Sehnerven machten auf dem Durchschnitt den Eindruck, als wenn sie in der Richtung von oben nach unten ein wenig abgeflacht wären. Die Arteria basilaris zeigte Spuren von Atherom, die linke Arteria fossae Sylvii dagegen war bis in ihre kleinsten Ausläufer hochgradig atheromatös, doch war es nicht möglich, makroscopisch irgend eine Spur von Thromben nachzuweisen. Beide Lungen hinten unten hypostatisch hyperämisch, oben stark ödematös. Das Herz13 etwas vergrössert, besonders der rechte Ventrikel mit Verdünnung der Wandung. Endocardium und Klappen normal.

IV. Herr S. aus Stuttgart, 29 Jahre alt, besuchte mich am 21. April 1881, um meinen Rath einzuholen wegen ganz eigenthümlicher kurzer, aber häufig wiederkehrender Obscurationen, welche ihn seit einigen Tagen belästigten. Die Untersuchung ergab jederseits minimale Myopie (0,5 D) bei Sehschärfe $$\frac {15} {12}$$ . Gesichtsfelder, Farbenperception, Be - schaffenheit der brechenden Medien und des Augenhinter - grundes in jeder Beziehung normal. Im Allgemeinbefin - den waren keinerlei Störungen nachzuweisen; seine Le - bensweise war eine durchaus geregelte und in derselben keine ätiologischen Momente für die vorübergehenden Verdunklungen aufzufinden, wenn man nicht, trotz fehlen - der Farbenscotome dem Umstande eine Schuld beimessen wollte, dass Patient ziemlich stark rauchte.

Vor 7 Jahren hatte ich ihn an einer linksseitigen Iritis behandelt. Dieselbe bot freilich keine specifische Form, indessen wurde damals eine vorausgegangene sy - philitische Infection zugegeben und die Entzündung selbst ging auf Quecksilberbehandlung relativ rasch und voll - ständig zurück. Ausserdem soll sich etwa ein Jahr später eine Psoriasis gezeigt haben, welche ich aber nicht selbst beobachtete.

Etwa 14 Tage nach unserer ersten Unterredung sah ich den Kranken wieder; sein Zustand war wesentlich schlechter geworden. Zunächst hatte sich, sehr plötzlich, ein anhaltender Kopfschmerz eingestellt und ausserdem machte sich eine gewisse Langsamkeit der Sprache gel - tend; namentlich aber hatte sich, nach seiner Angabe aus den Obscurationen, eine Sehstörung entwickelt, welche es dem Kranken unmöglich machte, sich geistig zu beschäf - tigen, da dieselbe ihn verhinderte, andauernd zu lesen. Bei der von Neuem vorgenommenen Prüfung war keine14 Abnahme der Sehschärfe nachzuweisen, dagegen zeigten sich beim Lesen die in den vorstehenden Beobachtungen constatirten Erscheinungen der Dyslexie in characte - ristischer Form. Patient las jeglichen Druck, war er gross oder klein, in der beschriebenen Weise ganz correct, je - doch immer nur wenige Worte, es war ihm unmöglich, mehr hintereinander herauszubringen, aber nach kurzer Unterbrechung ging es wieder, wie im Anfang. Die Unter - suchungen auf etwaiges Vorhandensein von Anomalien des Gesichtsfeldes, Insufficienz der Musculi recti interni, Accommodationsbeschränkung etc. hatten alle, wie bei der ersten Untersuchung ein negatives Resultat.

Bei der Erörterung der Diagnose musste ich mir die Frage vorlegen, ob nicht die Verlangsamung der Sprache in diesem Falle allein die Ursache der sogenannten dys - lectischen Erscheinungen sei. Dagegen sprachen aber zwei triftige Gründe. Einmal trat die Sprachstörung bei der mündlichen Unterhaltung keineswegs in derselben Form, mehr oder weniger regelmässiger, aber längerer Unter - brechung auf, wie beim Lesen, sondern sie machte sich als eine gleichmässig langsame, hie und da etwas häsi - tirende Sprechweise geltend, welche dabei völlig exact war und in dieser Form längere Zeit fortgesetzt werden konnte. Zweitens war die Lesestörung unabhängig vom Sprechen, denn sie bestand in gleicher Weise, wenn der Patient für sich las, als wenn er laut las.

Aus diesen Gründen mussten wir annehmen, dass wir es in dem vorliegenden Falle mit zwei verschiedenen Symptomen zu thun hatten, welche allerdings wahrschein - lich auf eine gemeinschaftliche pathologisch-anatomische Ursache zurückzuführen, aber sonst von einander unab - hängig waren.

Nach den Erfahrungen, welche ich bis dahin über Dyslexie gemacht hatte, konnte ich nur voraussetzen, dass es sich um eine cerebrale Erkrankung handelte, dafür15 sprach auch das Kopfweh, namentlich aber die Sprach - verlangsamung. Ueber die Form der zu Grunde liegenden anatomischen Veränderung konnten wir uns natürlich keine genügende Vorstellung machen, aber wir nahmen an, dass dieselbe mit der vorausgegangenen Infection im Zusammen - hang stehe. Hierauf setzten wir auch unsere therapeu - tischen Hoffnungen und leiteten eine Inunctionscur ein.

Trotzdem dieselbe mit Energie betrieben, durch Jod - kalium unterbrochen und wiederholt von Neuem auf - genommen wurde, so hatte sie doch nicht den aller - geringsten Erfolg. Im Gegentheil; es stellte sich binnen Kurzem eine vorübergehende linksseitige Mydriasis ein und nicht lange darauf begannen die unzweideutigsten Symptome der progressiven Paralyse. Ich unterlasse es, den weiteren Verlauf der Erkrankung zu schildern, weil derselbe für die uns hier beschäftigenden Fragen kein besonderes Interesse bietet; ich will nur bemerken, dass der Kranke am 20. April 1882, also grade ein Jahr nach dem Auftreten der ersten Krankheitserscheinungen, seinen, durch Geruchs -, Gehörs - und Gesichtshalucinationen auf das Qualvollste gesteigerten Leiden erlegen ist. Ich selbst habe den unglücklichen Patienten, welchen ich nur in den ersten Wochen seiner Erkrankung beobachtete, später nicht wiedergesehen. Auch der Section konnte ich nicht beiwohnen, weil ich zufällig während dieser Zeit von Stuttgart abwesend war; dagegen verdanke ich dem Vorstande des hiesigen Catharinenhospitals, Herrn Dr. Landenberger die Mittheilung des Sectionsprotocolls, sowie die Ueberlassung der aufbewahrten Gehirntheile, welche Herr Professor Ziegler in Tübingen die Güte hatte, mikroscopisch zu untersuchen. Aus dem Obductions - protocolle ist folgendes hervorzuheben:

Section 24 Stunden post mortem. Schädeldach be - trächtlich verdickt, fast nur aus compacter Substanz be - stehend; an der Innenseite diffuse periostitische Auflage -16 rungen und Exostosen. Die Dura mater verdickt, nicht durchscheinend, unter derselben viel seröse Flüssigkeit. Das Gehirn in toto verhältnissmässig klein; die beiden Hemisphären erschienen abgeflacht, die Stirnlappen beider - seits verschmälert und nach vorn abfallend. Die Pia ist mit ihrer Unterlage verwachsen, stark verdickt, leder - artig derb und weisslich getrübt, besonders entlang der Gefässe. Die Windungen sind verschmälert, abgeplattet, die Furchen zwischen denselben verbreitert. Die Gehirn - substanz fühlt sich überall derb an und leistet dem schnei - denden Messer erheblichen Widerstand. Die Rindensub - stanz erscheint überall, stellenweise sehr bedeutend ver - dünnt. In sämmtlichen Ventrikeln findet sich viel seröser Erguss. Das dieselben auskleidende Ependyma erscheint hypertrophisch und hat eine fein granulirte Oberfläche, welche man stellenweise als solche mit dem Finger fühlen kann. Die grossen arteriellen Gefässe an der Basis, be - sonders die Arteria basilaris zeigen starre Wandungen, klaffendes Lumen und weissliche Einlagerungen in die Gefässwand. Der Blutgehalt des Gehirns ist im Allge - meinen ein mässiger, überall findet sich dagegen Oedem. Diagnose: Paralysis progressiva.

Die mir zur Verfügung gestellten Theile des Gehirns stammten wahrscheinlich aus den hinteren Theilen beider Seitenlappen, genau konnte dies nachträglich nicht mehr festgestellt werden. Das Resultat der mikroscopischen Untersuchung lautet nach Professor Ziegler’s gefälliger Mittheilung:

Wie Sie bereits in Ihrem Briefe angegeben haben, handelt es sich um eine chronische Meningitis, welche ihren Sitz hauptsächlich in der Pia (im engeren Sinne) hat. Von da greift die Entzündung längs der in das Gehirn sich einsenkenden Gefässe auch auf die Binde - substanz über Meningo-Encephalitis. Die Rindensub - stanz selbst ist in den übersandten Stücken noch wenig17 verändert, doch lässt sich da und dort eine beginnende Atrophie der äusseren Schichten nachweisen und es scheint danach die Stützsubstanz in den äussersten Schichten etwas stärker entwickelt als in normaler Hirnrinde. Es ist dies ein Befund, wie er bei progressiver Paralyse sehr oft beobachtet wird. Vielleicht, dass an anderen Stellen die Rindensubstanz hochgradigere Veränderungen gezeigt haben würde. Es ist indessen zu bemerken, dass bei tödlich verlaufenen Paralysen sehr oft die entzünd - lichen Gewebsinfiltrationen fast die einzige erkennbare Veränderung bildet.

V. Am 15. Mai 1881 consultirte mich Mrs. L. A. aus New-York wegen einer seit einigen Tagen bestehen - den Sehstörung, welche es ihr unmöglich machte, sich mit etwelcher Lectüre oder mit Schreiben zu beschäftigen. Bis dahin hatte die 63jährige etwas corpulente Dame keiner Gläser für die Nähe bedurft. Ueber eine Abnahme des Sehens in die Ferne klagte sie nicht. Vor 7 Tagen war sie Nachts an heftigem Kopfweh erwacht; ausserdem klagte sie über Schwindel und zwar stellte sich derselbe besonders dann ein, wenn sie ein mit Menschen gefülltes Zimmer betrat. Zugleich litt sie schon bei ganz mässiger Körperanstrengung an Athemnoth. Der behandelnde Arzt, Herr Dr. Deahna, fand eine Dilatation des Herzens ohne Geräusch und einen geringgradigen Eiweisgehalt des Urins, welcher schon früher einige Mal constatirt worden sein soll. Es war ihm von besonderem Werth, den Augenspiegelbefund zu kennen, da er wegen des Albumenbefundes an Retinitis ex morbo Brightii denken musste.

Patientin las mit blossem Auge nur Jäger No. 3, sie konnte es aber, gleichgültig ob sie No. 3, No. 6, No. 7 oder noch grösseren Druck las, immer nur auf wenige Worte bringen. Nachdem sie dieselben schnell und correct gelesen hatte, gab sie mir das Buch in derBerlin, Dyslexie (Wortblindheit). 218oben beschriebenen eigenthümlichen Weise zurück, als wenn sie sich von demselben befreien wollte; wenn ich es ihr nach wenigen Augenblicken wiedergab, las sie wiederum 3 bis 4 Worte, aber nicht mehr. Mit Convex 1,5 D erkannte sie Jäger No. 1, aber eine Verbesserung der Ausdauer im Lesen wurde durch die Gläser nicht erzielt; der Modus der Leistung blieb immer derselbe.

Die weitere Untersuchung der Augen ergab mit Con - cav 2 D jederseits Sehschärfe $$\frac {15} {30}$$ . Die Ursache dieser Herabsetzung war ein myopischer Astigmatismus, auf des - sen genaue Specifizirung ich wegen der schnell eintreten - den Ermüdung verzichten musste. Ich durfte dies um so eher thun, als Patientin mit Bestimmtheit eine Ab - nahme ihrer Sehkraft für die Ferne in Abrede stellte. Etwelche Anomalien der Gesichtsfelder waren nicht vor - handen. Die Farbenperception, mit den Pflüger’schen Tafeln geprüft, erwies sich als tadellos. Keine patholo - gische Beschränkung der Accommodationsbreite, keine Insufficienz und überhaupt keine Beweglichkeitsstörung der Augen. Der Augenspiegel ergab keinerlei patholo - gische Veränderung der Retina oder der Sehnerven.

In Anbetracht dieses negativen Befundes verlor die Deutung der Symptome als urämische oder überhaupt von Nierenerkrankung abhängige wesentlich an Boden. Ich glaubte mich vielmehr auf Grund der früheren Er - fahrungen bei Dyslexie mit Bestimmtheit dahin aus - sprechen zu dürfen, dass wir eine materielle Erkrankung des Gehirns annehmen müssten. Hierfür sprach auch das Schwindelgefühl und ausserdem zwei weitere Ercheinungen, welche die Kranke darbot, nämlich ein häufiges, mit wechselnder Lebhaftigkeit auftretendes Zucken der rech - ten Gesichtshälfte, sowie ein Ringgefühl am rechten kleinen Finger.

Hinsichtlich der anatomischen Natur, so characterisirte die Plötzlichkeit, mit welcher die Krankheit auftrat, die -19 selbe als einen apoplectischen Anfall und es konnte sich nach unserer Ansicht nur um Embolie oder Hirnblutung handeln. Die Therapie bestand in Verordnung leichter Kost, Aufenthalt im Freien, ohne zu gehen (Fahrstuhl), Regulirung des Stuhlganges und ausserdem Digitalis. Von mir aus wurde ein schwaches Convexglas verschrieben.

Ich habe die Patientin nur 2 mal wiedergesehen, das erste Mal nach 8 Tagen. Damals war das Kopfweh und der Schwindel entschieden gebessert, aber die Lesestö - rung bestand unverändert fort. Ich will hier bemerken, dass ich mich sowohl das erste Mal als auch bei der zwei - ten Consultation auf das Eingehendste bemüht habe, zu eruiren, welch einen Einfluss etwa die geistige Ermüdung auf die Lesestörung habe, resp. ob überhaupt eine schnelle Ermüdung der geistigen Fähigkeiten eintrete. Ich habe mich bis zu einer halben Stunde mit der Patientin unter - halten und zwar über Gegenstände, welche Nachdenken von ihrer Seite erforderten. Aber, obgleich sie gern und fleissig sprach, so waren keinerlei Zeichen von Nachlass ihrer geistigen Energie zu entdecken, vor Allem bestand während der mündlichen Unterhaltung keinerlei Störung im Sprechen; dieselbe war nur immer bei den Lesever - suchen vorhanden, die Lesestörung bestand aber, wie ich aussdrücklich hervorhebe, ebensowohl wenn die Patientin für sich lesen wollte, als wenn sie vorlas und zeigte stets dieselbe Form und Intensität.

Herr Dr. Deahna erhielt unabhängig von mir hin - sichtlich der Untersuchung auf etwaige Ermüdung beim Sprechen dieselben negativen Resultate. Drei Wochen nach dem Auftreten der Erkrankung sah ich die Kranke zum letzten Male, aber nur ganz flüchtig. Ich erfuhr von ihr, dass das Lesen etwas besser gehe, konnte indessen keine genügende Untersuchung über den Grad und die Art dieser Besserung anstellen, da sie im Begriff stand, zu verreisen.

2*20

Was das Allgemeinbefinden anging, so hatte sich das Kopfweh und der Schwindel vollständig gebessert, der Albumingehalt des Urins, welcher überhaupt nur gering gewesen war, war in letzterer Zeit ganz verschwunden, dagegen bestanden die Beschwerden von Seiten des Her - zens fort, wenn auch in etwas vermindertem Grade.

Von Zeit zu Zeit bekam ich durch die Anverwandten befriedigende Nachrichten über sie, namentlich erfuhr ich, dass die Lesestörung sich nach und nach vollständig ge - bessert habe. Selbst habe ich die Patientin leider nicht wieder gesehen. Zum Winteraufenthalt ging sie nach Meran, wo sie schon im October ernstlich erkrankte und um Weihnachten 1881 einen schweren Schlaganfall erlitt. Ueber den Verlauf dieser Erkrankung erhielt ich durch die Güte des Herrn Dr. Prünster, folgende aus - führliche Mittheilungen:

Am 23. October 1881 wurde ich erstmals zu Mrs. L. A. gerufen. Ich traf die Dame in ziemlich starken klonischen Krämpfen. Seltene Athemzüge bewegten eine geringe Menge schäumigen Speichels zwischen den halb - geöffneten Lippen, der Puls war verlangsamt. Die Con - vulsionen gingen auf Anwendung von Sinapismen schnell vorüber, die Athmung wurde bald ruhiger und freier, aber die Bewusstlosigkeit hielt länger an. Die Krämpfe dürften im Ganzen 25 bis 30 Minuten, der Zustand der Bewusstlosigkeit Stunden gedauert haben. Darauf stellte sich Schlaf ein, aus welchem Patientin nach einer halben Stunde erwachte. Sie klagte darnach wohl noch über Abgeschlagenheit der Glieder und grosse Müdigkeit, aber am Nachmittage war sie schon ganz bei klaren Sinnen und im Laufe der nächsten Tage erholte sie sich vollkommen.

Der Urin wurde täglich von 2 Apothekern und mir auf Eiweis untersucht. Wir fanden nie eine Spur, während Professor Friedreich einige Wochen vorher Eiweis gefunden hatte.

21

Durch volle zwei Monate war dann das Befinden der Mrs. L. A. ein recht befriedigendes. Wohl bemerkte ich an ihrem Gesichte zuweilen besonders nach Brief - schreiben und längeren Besuchen etc. ein eigenthüm - liches Zittern am Mundwinkel und an den Augenlidern linkerseits, welches ich, in höherem Grade oscillirende Krämpfe nennen würde. Appetit und Schlaf waren sehr gut. Patientin fuhr regelmässig im Rollwagen und ging auch im Monate December schon länger, als ich zu er - lauben wagte, zu Fuss. Nachdem sie sich mehrere Tage hintereinander mit Einkaufen von Christgeschenken ganz besonders abgehetzt hatte, erfolgte in der Nacht vom 23. auf den 24. December eine Apoplexie cerebri mit vollständiger motorischer Lähmung der linksseitigen oberen und unteren Extremitäten. Anfangs war auch die Sensi - bilität fast ganz aufgehoben, dieselbe bildete sich aber sehr rasch wieder aus. Einige Wochen nach dem Anfalle wurde in vorsichtiger Weise Electricität angewendet. Nach 8 10 Tagen konnte Patientin schon wieder Finger und Zehen, nach einigen Wochen Arm und Fuss bewegen und nach 5 Monaten allein im Zimmer umhergehen. In der Zwischenzeit hatte sie 3 oder 4 Anfälle von Con - vulsionen mit Bewusstlosigkeit, welche gewöhnlich durch Ruhe, Senfteig und Klystire schnell beseitigt wurden.

Ende Mai 1882 begleitete Herr Dr. Prünster die Patientin in ihre Heimath nach New-York. Inzwischen hatten wir über das Befinden derselben keine weitere Nachricht erhalten. Im September 1883 ist sie einem weiteren Schlaganfalle innerhalb 24 Stunden erlegen. Nähere Détails fehlen.

VI. Herr B., 43 Jahre alt, Handelsmann in Stuttgart, bemerkte um Ostern 1882, während er eine Zeitung zur Hand nahm, plötzlich, dass er nicht mehr ordentlich lesen konnte. Obgleich er nur auf dem linken Auge sah das rechte war in Folge früherer Entzündungen22 so gut wie erblindet so hatte er doch bis dahin nie - mals irgend einen Mangel in der Leistungsfähigkeit seiner Sehkraft weder für die Ferne noch für die Nähe empfun - den. Inzwischen consultirte der damals auf der Reise befindliche Patient mehrere auswärtige Aerzte, deren Namen er leider nicht mehr anzugeben wusste, und erst am 21. Juni hatte ich Gelegenheit, ihn zu untersuchen. Der Grund, weshalb er meinen Rath einholte, war aber jene Lesestörung, welche er erstmals vor 3 Monaten bemerkt hatte. Ich constatirte rechterseits eine fast totale Hornhauttrübung, als Residuum einer sclerosirenden Episcleritis; das Sehvermögen war auf Fingerzählen in unmittelbarer Nähe beschränkt. Links zeigte sich eine geringgradige, subconjunctivale Injection, welche übrigens sowohl dem Patienten als seiner Umgebung entgangen war; sonst konnte an dem Auge weder bei äusserer Be - trachtung noch mit dem Augenspiegel etwas Pathologisches wahrgenommen werden. Indessen, wenn er versuchte zu lesen, so brachte er von mittlerem Druck 3 bis 4, von Jäger No. 3 sogar 5 Worte heraus; darnach trat jene characteristische Unfähigkeit, weiter zu lesen ein, welche wir in den vorhergehenden Krankheitsgeschichten als Dyslexie beschrieben haben. Die Sehschärfe betrug $$\frac {15} {20}$$ , der Bau des Auges war emmetropisch, die Accom - modationsbreite seinen Jahren entsprechend. Er entzifferte Jäger No. 1 ebenso gut wie die grossen Drucke, keine Anomalien des Gesichtsfeldes. Das einzig Pathologische in der Sehfunction war eine vollkommene Rothgrünblind - heit mit gleichzeitiger Herabsetzung der Perception für Gelb und Blau. Früher will Patient die Farbe gut er - kannt haben (?).

Aus den anamnestischen Angaben ging hervor, dass er vor ca. 4 Jahren inficirt worden war, ohne jedoch, so viel er weiss, je an secundären Erscheinungen gelitten zu haben, vor 13 Jahren enstand eine Entzündung des23 rechten Auges, welche häufig recidivirte und allmählig zu fast völliger Erblindung desselben führte. Seit Jahren hat er viel an Kopfweh gelitten, namentlich aber seit März 1882 und seit dieser Zeit auch an Schwindel. Das Kopfweh nahm weniger eine Seite, als mit Vorliebe den ganzen Hinterkopf ein. Es hatte nicht den eigentlichen Typus der Ciliarneurose, welche Regenbogenhautentzün - dungen zu begleiten pflegt, während solche doch, nach den ausgiebigen hinteren Synechien im rechten Auge zu schliessen, wiederholt vorhanden gewesen sein mussten. Es war deshalb schwer, festzustellen, welche Bedeutung diesem subjectiven Symptome zukam und dasselbe blieb für sich ein diagnostisch kaum verwerthbares Zeichen. Ebenso war es mit dem Schwindelgefühl, dessen Deutung noch dadurch um so unsicherer wurde, als man später eine Perforation des rechten Trommelfells entdeckte, deren Existenzdauer nicht mehr eruirt werden konnte.

Allein im Vereine mit der Dyslexie glaubte ich jenen Symptomen doch einen grösseren Werth beilegen zu sollen und nahm auf Grund meiner früheren Erfahrungen eine materielle Veränderung des Gehirns an, ohne mir freilich über die anatomische Natur derselben eine specielle Vor - stellung machen zu können.

Patient besuchte mich in den ersten 14 Tagen regel - mässig und ich benutzte wiederholt die Gelegenheit, be - freundeten Collegen die characteristische Lesestörung zu demonstriren. Bald aber war dies nicht mehr möglich, denn es stellte sich auch auf dem linken Auge eine Epis - cleritis mit diffuser Trübung der Hornhaut ein, welche das Sehvermögen erheblich beeinträchtigte.

Während der Behandlung dieser Augenerkrankung verschwand der Kranke aus meiner Sprechstunde. Nach einem Zeitraum von fast 7 Monaten kehrte er wieder und ich erfuhr nun durch ihn und seinen Arzt, Herrn Dr. Faber, den Grund seines Ausbleibens. Er hatte24 nämlich im Laufe des Monats Juli, das letzte Mal am 24., mehrere heftige Schlaganfälle erlitten, welche ihn für längere Zeit, einmal für 3 bis 4 Tage bewusstlos gemacht und ein Pelzigsein, sowie eine vorübergehende motorische Lähmung der rechten oberen und unteren Extremität hervorgerufen hatten. Derartige Anfälle wiederholten sich im Laufe des Herbstes 1882 häufiger, das letzte Mal Ende November mit Zuckungen im rechten Arm und Aphasie. Ich übergehe die Détails dieser Anfälle und will nur er - wähnen, dass Herr Dr. Faber einmal ein Abweichen der hervorgestreckten Zunge nach rechts constatirte, während die Moula nach links abgelenkt war. Derselbe stellte, laut einem mir unterm 1. März 1883 gefälligst zugesandten schriftlichen Krankenbericht, damals die Diagnose auf Endarteritis syphilitica und leitete dementsprechend eine antisyphilitische Therapie ein, bestehend in wieder - holten Inunctionen mit nachfolgender Jodkaliumbehand - lung. Diese Cur erzielte eine wesentliche Besserung aller Symptome, auch der inzwischen hochgradig gesteigerten entzündlichen Hornhauttrübung des linken Auges. Nur blieben häufige Schwindelanfälle, öfteres äusserst heftiges Kopfweh, welches meistentheils den Hinterkopf einnahm, Pelzigsein und muskuläre Schwäche der rechten oberen und unteren Extremität zurück, sowie ein leichter Grad von Aphasie, welchen Patient selbst treffend als Armuth der Sprache bezeichnete.

In diesem Zustande also bekam ich den Kranken Mitte Januar 1883 von Neuem wegen beiderseitiger diffuser Keratitis in Behandlung. Das Sehvermögen war um diese Zeit sehr beeinträchtigt, Patient konnte mittelst Convex 5 D mit dem besseren, linken Auge nur Jäger Nr. 14 lesen; aber bei diesem Versuche stellte sich heraus, dass keine Spur von Dyslexie mehr vorhanden war; er las den ganzen Absatz ohne Unterbrechung hintereinander laut vor, wobei höchstens ein noch bestehender Rest von25 Aphasie, d. h. hie und da eine Verwechselung oder ein undeutliches Aussprechen kleinerer Worte oder einzelner Silben sich geltend machte. Dies letztere Symptom war zum Theil wohl auf eine geringgradige Beweglichkeits - störung der rechtsseitigen Lippenmuskulatur zurückzu - führen, welche sich als eine leicht flatternde Bewegung der rechten Lippenhälften beim Sprechen und einen dem - entsprechenden Timbre der Sprache, sowie durch eine Erschwerung des Pfeifens kund gab. Ein ausgesprochenes Tieferstehen des rechten Mundwinkels war nicht vor - handen, jedoch hatte die ganze rechte Gesichtshälfte einen steiferen Ausdruck. Die Motilitität der Zunge war in keiner Weise beeinträchtigt.

In Anbetracht des günstigen Erfolges, welchen Herr Dr. Faber auch in Bezug auf die Hornhauttrübung durch die Inunctionscur erzielt hatte, glaubte ich, noch einmal eine solche versuchen zu sollen und liess täglich 2 mal je 1 gr ungt. einer. einreiben. Nachdem wir diese Be - handlung mit einigen, durch intercurrirende Stomatitis bedingten Unterbrechungen 5 Wochen lang fortgesetzt und im Ganzen ca. 60 gr verbraucht hatten, konnten wir eine wesentliche Verbesserung nicht nur der Augen, son - dern auch des Allgemeinbefindens constatiren. Das Pelzig - sein des rechten Armes verschwand, die motorische Schwäche desselben besserte sich, Kopfweh und Schwindel hörten fast ganz auf und es blieb nur ein gewisser Grad von Verlangsamung der Sprache und eine aphasische Ermü - dung bei längerem und schnellerem Sprechen zurück. Die entzündliche Trübung beider Hornhäute klärte sich in beträchtlichem Grade auf, so dass das Sehvermögen des rechten Auges auf $$\frac {1} {70}$$ , des linken auf $$\frac {15} {50}$$ stieg. Die Störung der Farbenperception blieb dieselbe wie früher. Die Verbesserung des Sehvermögens und der motorischen Leistungsfähigkeit der rechten oberen Extremität setzte den Patienten in den Stand, wieder etwas zu arbeiten26 und zwar beschäftigte er sich damit, Wäscheklammern zu schnitzen, worin er es zu einer gewissen, sogar finan - ziell verwerthbaren, Fertigkeit brachte.

Später sah ich den Kranken nur in grossen Zwischen - räumen, da seine Seleritis nur selten und in geringem Grade recidivirte. Auch sein übriger Zustand blieb sich im Grossen und Ganzen scheinbar ziemlich gleich, allein es liess sich doch eine langsame, aber stetig fortschrei - tende Abnahme seiner körperlichen und geistigen Kräfte nicht verkennen.

Im Herbste 1885 erkrankte er von Neuem und zwar unter so ernsten Symptomen, dass ein baldiger lethaler Ausgang nicht mehr zweifelhaft erschien. Er war in - zwischen in die Behandlung des Herrn Dr. H. Gärttner übergegangen, welchem ich die folgenden Notizen verdanke:

Anfangs November (85) wurde ich zu Herrn B. gerufen. Ich fand den Patienten ziemlich abgemagert und von gelblicher Gesichtsfarbe. Er klagte über Athem - beschwerden, welche ihm das Liegen im Bette unmöglich machten, sodass er Tag und Nacht auf einem Stuhle sitzend zubringen musste. Dabei trockener Husten; auf der Lunge nichts Pathologisches nachweisbar als zahlreiche feuchte Rasselgeräusche und Ronchi. Anhaltende hartnäckige Schlaflosigkeit und häufige Klage über Kopfschmerz; na - mentlich giebt Patient eine Stelle am Hinterkopfe an, etwas links von der Protuberantia occipitalis externa, welche auf Druck und beim Liegen ausserordentlich schmerz - haft ist. Die Sprache ist schleppend und langsam, aber deutlich. Dabei Appetitlosigkeit und heftiger Durst; sehr träger Stuhlgang. Der Harn enthält ziemlich viel Eiweis, aber es sind keinerlei hydropische Erscheinungen vor - handen.

Vom 6. December an zeigte sich häufiges Erbrechen, und am 10. war Patient vollständig aphasisch. Dabei war das Bewusstsein erhalten, keine Symptome halbsei -27 tiger Lähmung, weder im Gesicht noch an den Extremi - täten. Er kann, wenn auch mit Mühe, selbst Urin lassen; derselbe ist spärlich, sehr concentrirt und eiweishaltig; abendliche Fiebererscheinungen. Nach 5 6 Tagen können wieder einzelne Worte, wie ja und nein gesprochen werden.

Am 28. December wird der Kranke in das Catharinen - hospital verbracht, der damals aufgenommene Status präsens erweist Folgendes: Facialis nicht gelähmt; Zungen - spitze weicht nach rechts ab; durch Zeichen kann Patient sich einigermassen verständlich machen, scheint das Ge - sprochene auch zu verstehen. Sensibilität und Beweglich - keit der Extremitäten beiderseits abgeschwächt, jedoch nicht aufgehoben. An der Herzspitze systolisches und diastolisches Geräusch, zweiter Pulmonalaterienton ver - stärkt; auf der Lunge grossblasiges starkes Rasseln.

5. I. 86. Patient nicht bei Bewusstsein, sehr un - ruhig, stöhnt und schreit viel.

9. I. Ausgeprägtes Cheyne-Stokes’sches Phänomen; Athempausen von 10 20 Secunden. Abends ist das Phänomen verschwunden.

10. I. erfolgte der Tod.

Section 11. I. durch Herrn Dr. Rembold, welchem ich die Mittheilung des Protocolls und den Schluss der Krankengeschichte verdanke; das Gehirn habe ich selbst mit untersucht. Ich gebe den Sectionsbefund in Extenso:

Herz in allen Theilen, namentlich aber in seiner linken Hälfte stark vergrössert; Herzkammern erweitert, Wandungen verdickt, Herzfleisch blass und brüchig; Mitralis am Rande verdickt, Coronararterien atheromatös, Aorta ascendens fleckig.

In der rechten Pleurahöhle Fibringerinsel, seröser Erguss.

Rechte Lunge: Unterlappen schlaff, luftleer; Schnitt - fläche dunkelroth; auf Druck fliesst eine trübe, braun - rothe, schaumlose Flüssigkeit ab.

28

Linke Lunge lufthaltig, auf der Schnittfläche fliesst reichlich schaumige Flüssigkeit von röthlicher Farbe ab.

Milz etwa doppelt so gross als normal; Kapsel stellen - weise fibrös verdickt; Parenchym derb zu schneiden, fest, dunkelbraunroth.

Nieren beide klein, durch mehrfache fibröse Ein - zichungen grob gelappt, Capsel glatt abziehbar; mehrfache gelbweisse Keile von Erbsen - bis Haselnussgrösse, von einem schmalen Hofe umgeben, welcher dunkelroth ge - färbt, scharf von der helleren, an den nicht einge - zogenen Stellen nichts Besonderes zeigenden Rinde ab - sticht. Wandungen der Arteria renalis und ihrer Aeste bedeutend verdickt.

Blase stark gefüllt, zeigt sonst, wie Magen und Darmkanal nichts Abnormes.

Schädeldach dünn; Dura mater fest mit dem - selben verwachsen. Pia mater an der Convexität leicht ödematös, lässt sich von der Oberfläche im Allgemeinen leicht abziehen, verklebt aber in der Gegend des untern Endes der beiden linken Centralwindungen und des hintern Theils der dritten Stirnwindung stellenweise mit Fetzen erweichter Hirnsubstanz.

Ventrikel von normaler Grösse; Windungen reich - lich, schmal, Sulci tief. Im rechten Nucleus lenti - formis ungefähr gerade in der Mitte eine linsengrosse, mit klarer Flüssigkeit gefüllte Cyste. In den Wandungen sämmtlicher an der Basis befindlichen Arterien zahlreiche fibröse Einlagerungen, wodurch dieselben verdickt er - scheinen.

Die graue Substanz der Rinde im Bereich des unteren Randes der Centralfurche und der vorderen Grenze der Fossa Sylvii erweicht; weisse Substanz unter denselben normal.

In der dritten linken Schläfe-Windung, etwas nach hinten, von der Fossa Sylvii beginnend, ein die Basis29 der linken Hemisphäre durchsetzender gelber Erweichungs - heerd, welcher die graue Substanz daselbst in einer Breite von ca. 3 cm zerstört hat und sich ungefähr 2 cm tief in die weisse Substanz hineinerstreckt.

Die ganze untere Hälfte der linken Kleinhirnhemi - sphäre ist in einen grossen Eiterheerd verwandelt.

Versuchen wir nun, das vorliegende Material zu annalysiren; es umfasst nicht mehr als 6 Fälle, gesammelt in einem Zeitraum von 23 Jahren.

Wenn wir einen Blick auf die einzelnen Kranken - geschichten werfen, so erhellt sofort, dass ich selbst die Mehrzahl der Patienten nur vorübergehend beobachtete. Es ist das kein blosser Zufall, sondern beruht auf der Natur der zu Grunde liegenden Gesammterkrankung, die gewöhnlich nur im Anfange das Bedürfniss einer specia - listischen Fürsorge wachrief, während dasselbe später, entweder durch Aufhören der betreffenden Erscheinungen oder durch Vorschlagen anderer und zwar meist direct gefahrbringender Symptome in den Hintergrund gedrängt wurde. Auf diese Weise gingen manche Kranke für die weitere augenärztliche Beobachtung verloren und es kostete, trotz des lebhaften Interesses und des bereitwilligsten Entgegenkommens der Herrn Collegen oft nicht wenig Mühe sie bei der durchschnittlichen Länge der Krank - heitsdauer nicht vollends aus den Augen zu verlieren. Es ist deshalb nicht zu verwundern, wenn einzelne Be - obachtungen empfindliche Lücken zeigen und ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich keineswegs in der Lage bin, etwas völlig Abgeschlossenes zu bieten. Aber trotz der aus dieser Erkenntniss entspringenden Bedenken glaube ich doch die Veröffentlichung der bisher vorliegenden, an sich so seltenen, Fälle nicht unterlassen zu sollen, weil dieselben immerhin, sowohl nach der klinischen als nach der anatomischen Seite genug Gemeinsames und Constan -30 tes aufweisen, um eine brauchbare Basis für weitere Beobachtungen abzugeben.

Was zunächst die Form des Lesestörung angeht, so bestand sie in allen Fällen gleichmässig darin, dass Patient nur wenige Worte, von mittlerem Druck etwa 3 bis 5, hintereinander laut lesen konnte. Diese wenigen Worte wurden ganz correct wiedergegeben, nie kam eine Verdrehung oder Verstümmelung eines der - selben zu Tage. Die gleiche Unfähigkeit, weiter zu lesen, trat aber auch ein, wenn der Kranke für sich las. Nach einer Pause von einigen Secunden konnte er wieder, wie vorher, von jedem Druck einige Worte herausbringen, es war ihm indessen nicht möglich, aus diesen kleinen unterbrochenen Leistungen eine grössere, wirkliche Ge - sammtleistung zusammen zu setzen. Dabei war die Sprache bei mündlicher Unterhaltung in jeder Richtung intact.

Diese Störung des Lesens hat auf den ersten Blick eine grosse Ähnlichkeit mit derjenigen Störung der Nahe - arbeit, welche wir unter dem Namen der Hebetudo visus, Asthenopie oder Kopiopie, bei Presbyopischen, Hyper - metropischen, bei Insufficienz der Musculi recti interni und externi, bei Accommodationskrampf und bei Hysterie etc. zu beobachten gewohnt sind. Sie trägt bei allen den genannten Krankheitsformen das Gepräge der vermin - derten Ausdauer, hat aber durchgängig andere, mehr oder weniger characteristische Formen, welche dem Patien - ten selber in der Regel als Verschwimmen der Buch - staben oder als Schmerzen im Auge oder um dasselbe herum zum Bewusstsein kommen.

Von derartigen subjectiven Symptomen, welche das Unvermögen, weiter zu lesen eingeleitet, oder hervorge - rufen hätten, war hier indessen nicht die Rede; das Un - vermögen war nach dem Lesen weniger Worte mit einem Male da und nur die Gebärden, mit welchen die Kranken das Buch zurückgaben oder wegzulegen pflegten, verriethen31 eine unangenehme Empfindung, eine Art von Unlustgefühl, dessen sie sich aber nicht deutlich genug bewusst wurden, um es näher beschreiben zu können.

Auch in der Zeitdauer, welche zwischen dem Be - ginne des Lesens und dem Eintritt der Störunngen ver - fliesst, unterscheidet sich die Dyslexie wesentlich von allen den genannten Formen der Hebetudo visus. Während bei diesen letzteren meistentheils eine gewisse Arbeits - leistung von wenigstens einigen Minuten, gewöhnlich aber eine wesentlich längere erforderlich ist, um die Ermüdungs - phänomen auszulösen, so tritt die Unfähigkeit, weiter zu lesen bei jenem schon in einem Zeitraume ein, welcher die Dauer einer Secunde kaum erreicht, oder sie höchstens um ein Minimum überschreitet; er dauert aber nicht länger als das Zeitmass, welches der Patient benöthigt, um die 3 bis 5 Worte zu erkennen, also im wahren Sinne des Wortes um einen Augenblick .

Ferner ist die Intensität der Lesestörung in un - seren Fällen eine grössere als bei den bekannten Formen der Hebetudo, das heisst, sie ist in dem Momente, wenn sie auftritt, eine absolute, durch keine momentane Con - centration des Willens oder irgend welche optische Hülfs - mittel zu überwindende, gleichgültig, ob wir dem Auge kleinen oder grossen Druck darbieten.

Vor Allem aber ist es wichtig, dass die sorgfäl - tigste augenärztliche Untersuchung die Abwesen - heit aller jener bekannten Ursachen verminderter Ausdauer nachweist.

Wenn überhaupt pathologische Veränderungen an den Augen unserer Patienten vorhanden, was wir einige Male beobachteten, so stellten sich dieselben stets als zufällige, mit der Dyslexie in keinem Zusammenhange stehende Complicationen heraus. So war es mit der beginnenden Staarbildung in Fall 3, mit dem myopischen Astigmatis - mus in Fall 5 und der einseitigen leucomatösen Horn -32 hauttrübung in Fall 6. Bis zu einem gewissen Grade müssen wir diese Frage allerdings hinsichtlich der im Fall 3 constatirten Hemianopsie offen lassen. Im Fall 1, 2 und 4 dagegen hatte die eingehendste specialistische Untersuchung keinerlei Defect des Sehorgans nachweisen können.

Diese vollständige Unabhängigkeit der Dyslexie von etwelchen Erkrankungen des Auges und seiner Adnexa deutet schon von vorn herein darauf hin, dass wir die Ursache derselben in einer Erkrankung des Gehirns zu suchen haben.

Ich betone den Ausdruck Erkrankung , um sogleich auf den Unterschied hinzuweisen, welcher zwischen der uns hier beschäftigenden Form der Aphasie und der - jenigen besteht, welche wir bei vorübergehender Er - nährungsstörung des Gehirns in Folge allgemeiner Ina - nition durch vorausgegangene schwächende Krankheiten beobachten. Auf eine derartige passagere Ernährungs - störung der Centralorgane können unsere Fälle nicht zurückgeführt werden, denn keiner der Patienten hatte unmittelbar vorher eine fieberhafte oder sonst eine den Körper schwächende Krankheit durchgemacht; vielmehr hatte die plötzlich entstandene Lesestörung sie inmitten relativ ungestörten Wohlseins betroffen und es waren dieselben theils gar keine, theils nur unbedeutende Be - einträchtigungen des Allgemeinbefindens, wie Schwindel, Kopfweh etc. vorausgegangen. Ausserdem aber trat die dysphasische Störung lediglich beim Lesen auf, während bei mündlicher Unterhaltung in den uncomplicirten Fällen überhaupt keine Beeinträchtigung des Sprechens nachzu - weisen war. Die in Fall 3 vorhandene gleichzeitige Aphasie war ebenfalls nicht das Product einer allgemeinen Schwäche; auch übte sie keinerlei Einfluss auf die Lesestörung.

Eine der Dyslexie sehr ähnliche mangelhafte Aus - dauer beim Lesen habe ich auch einige Male bei chro -33 nischem Alcoholismus und, acut entstanden, nach grösseren Gaben von Salicyl, sowie bei fieberhaften Krankheiten beobachtet. Es konnten nur wenige Worte hintereinander gelesen werden, und ein Zusammenfassen des Inhaltes, selbst der kleinsten Abschnitte, war ausserordentlich er - schwert, auf die Dauer sogar unmöglich. Es handelte sich hier zweifelsohne ebenfalls um eine allgemeine Er - nährungsstörung der Centralorgane unter dem Einflusse des Alcohols, des Salicyls und des Fiebers, resp. der das - selbe bedingenden Infection, nicht um eine Erkrankung derselben im anatomischem Sinne, und man könnte diese Form vielleicht toxische Dyslexie nennen.

Hervorstechend ist der symptomatische Unterschied zwischen unseren Fällen und der Alexie oder Wort - blindheit.

Wenn ein bis dahin gesunder Mensch plötzlich nichts Gedrucktes oder Geschriebenes mehr erkennt, mögen die Buchstaben auch noch so gross sein; oder wenn er gar die Anfangsbuchstaben der Wörter, selbst vom kleinsten Druck entziffert, ohne dass er im Stande ist, ein Wort zusammen zu setzen, so kann auch der Nichtspecialist keinen Augenblick im Zweifel sein, dass er es nicht mit einer Erkrankung des Auges, sondern des Gehirns zu thun hat. Ebenso ist es mit der Paralexie, deren characte - ristische Symptomatologie, die Verdrehung oder Verstüm - melung einzelner Worte, sofort die centrale Natur des Leidens verräth.

Nicht so bei der Dyslexie. Es handelte sich hier weder um eine falsche Wiedergabe von Worten, noch um Wortblindheit im eigentlichen Sinne. Nicht allein jedes einzelne Wort wird richtig gelesen, sondern sogar eine ganze Reihe von Worten. Die Form der Störung unterscheidet sich freilich, wie wir gesehen haben, durch die Kürze der Leistung, die Intensität der Hemmung, die Abwesenheit von subjectiven Beschwerden etc. vonBerlin, Dyslexie (Wortblindheit). 334den bekannten Formen der Hebetudo visus, allein die Aehnlichkeit mit der letzteren ist doch so gross, dass es im einzelnen Falle stets des augenärztlichen Nachweises von der Abwesenheit aller bekannten Ursachen der Hebetudo bedarf, um das so un - scheinbare Symptom der Lesestörung richtig wür - digen zu können.

Erst in diesem Lichte gewinnen dann auch die be - gleitenden, scheinbar nebensächlichen Symptome ihre diagnostische Bedeutung. Ich meine in erster Linie die Plötzlichkeit, mit welcher die Dyslexie in die Er - scheinung zu treten pflegt und ferner die an und für sich etwas vagen Erscheinungen, welche dieselbe zuweilen be - gleiten, das Kopfweh und der Schwindel. Im Vereine mit einer plötzlich aufgetretenen Dyslexie sprechen die - selben schon mit einem unverkennbar hohen Grade von Wahrscheinlichkeit für die centrale Ursache der letzteren, wie wir beispielsweise in Fall 5 zu erproben Gelegenheit hatten.

Die centrale Natur des Leidens wird aber zweifellos, wenn wir die übrigen Symptome berücksichtigen, welche der Lesestörung theils vorausgingen, theils gleichzeitig mit ihr oder im Verlaufe des Krankheitsbildes hervor - traten. Dieselben bestehen in deutlich characterisirten Symptomen von Heerderkrankungen. Als solche con - statirten wir: Hemianopsie, Aphasie, Sensibilitäts - und Motilitätsstörungen der Extremitäten, einseitige Zuckungen der Gesichtsmuskulatur etc. und zwar traten dieselben grösstentheils in Form von apoplectischen Anfällen auf, welche mehrere Male zu längerer Bewusstlosigkeit, drei Mal sogar zum Tode führten.

Diese Thatsachen sind von besonderer Bedeutung für die weitere Frage, ob der als central gedeuteten Lese - störung eine bestimmte Localaffection des Gehirns zu Grunde liegt oder nicht.

35

Für diese Auffassung fällt in erster Linie die Oert - lichkeit derjenigen Symptome ins Gewicht, welche gleich - zeitig mit der Dyslexie auftreten. Durchmustern wir in dieser Richtung die vorliegenden Beobachtungen, so finden wir zunächst, dass in denjenigen beiden Fällen, in welchen die Dyslexie von anderweitigen localen Functionsstörungen begleitet war, dieselben ausschliesslich die rechte Körper - hälfte betrafen.

So beobachteten wir in Fall 3 Pelzigsein des rechten Beines, Ungeschicklichkeit der rechten Hand und rechts - seitige Hemianopsie, im Fall 5 Zuckungen der rechts - seitigen Gesichtsmuskulatur und Ringgefühl am rechten Kleinfinger. In Fall 3 bestand ausserdem, als weiteres Zeichen linksseitiger Heerderkrankung, Aphasie.

Diejenigen localen Symptome, welche sich im Ver - laufe der Erkrankung entwickelten, waren in Fall 6 eben - falls rechtsseitige Motilitäts - und Sensibilitäts-Paresen beider Extremitäten. Nur in Fall 5 stellte sich, allerdings nach - träglich, Zucken der linken Gesichtshälfte und Lähmung der linksseitigen Extremitäten ein; dies ist aber für die Localisation der ursprünglichen Läsion ohne Bedeutung, da hier, wie wir gesehen haben, die die Dyslexie beglei - tenden, resp. das Krankheitsbild einleitenden Symp - tome ebenfalls rechtsseitige gewesen waren.

Wenn wir diese übereinstimmende Rechtsseitigkeit der Functionsstörungen und dazu die in drei Fällen con - statirten Aphasien berücksichtigen, welche, wie ich aus - drücklich bemerken will, lauter rechtshändige Individuen befallen hatten, so können wir darüber nicht im Zweifel sein, dass wir es in allen diesen Fällen überhaupt mit linksseitigen Erkrankungen des Gehirns zu thun haben und ich halte mich deshalb für berechtigt, anzunehmen, dass auch dem Symptomencomplex der Dyslexie, immer Rechtshändigkeit vorausgesetzt, eine linksseitige cere - brale Läsion zu Grunde liegt.

3*36

Bevor ich auf diese Frage näher eingehe, möchte ich die Stellung erörtern, welche die Dyslexie in den schematischen Systemen der aphasischen Störungen ein - zunehmen hat. Ich habe oben hervorgehoben, dass die - selbe der Wortblindheit nahe stände und zwar meine ich diejenige Form, bei welcher sonst sämmtliche Sprach - bahnen intact sind, die sogenannte isolirte Wort - oder Schriftblindheit. Bei der Dyslexie functioniren eben - falls sämmtliche übrigen Sprachbahnen normal; hinsicht - lich des Lesens besteht aber der Unterschied, dass die Erinnerung für das Schriftbild des Wortes keineswegs, wie es bei der Alexie der Fall zu sein pflegt, ausgelöscht ist, sondern es werden noch einige Worte hinter einander richtig gelesen. Aber es macht vom klinischen Stand - punkt aus den Eindruck, als handele es sich doch um eine gradweise von der letzteren verschiedene Functions - störung; denn auch bei der Alexie sind ja zuweilen die Erinnerungsbilder für kürzere Worte oder für Bruchstücke von Worten, häufig wenigstens für deren constituirende Theile, die einzelnen Buchstaben erhalten. *)Ich spreche hier nur von denjenigen Formen der Alexie, welche nicht durch hemianopische Gesichtsfeldsbeschränkung her - vorgerufen wurden.

Demnach dürften wir die Dyslexie als einen ge - ringeren Grad von Wortblindheit ansehen und wir müssen dieselbe, wenn wir ihr die entsprechende Stellung in den theoretischen Systemen der aphasischen Störungen an - weisen wollen, als unvollkommene isolirte Wort - blindheit bezeichnen.

Folgerichtig hätten wir bei der Dyslexie die Unter - brechung der Sprachbahnen auch an derselben Stelle zu suchen, wie bei der Alexie. Wernicke**)Der aphasische Symptomencomplex, S. 25 u. f. vermuthet dieselbe für diejenigen Formen, welche mit der Aphasie37 eigentlich nichts zu schaffen hätten, in den optischen Rin - dengebieten, Kussmaul*)l. c. pag. 186. hält bei der Wortblindheit mit erhaltenem Vermögen, spontan und Dictirtes zu schreiben, die von ihm statuirte directe Verbindung vom sensorischen Centrum der Wortbilder zu dem ideagenen Begriffs-Centrum für ausgeschaltet, während Lichtheim**)Ueber Aphasie. Deutsches Archiv für klin. Medicin. Bd. XXXVI., S. 265. die Unter - brechung in die Verbindungsbahn zwischen Schriftbild - Centrum und Klangbild-Centrum verlegt.

In dem Grashey’schen***)Archiv f. Psychiatrie etc. XVI., S. 654 u. f. Schema hätten wir die - selbe ebenfalls in der Bahn vom Symbol für geschriebene und gedruckte Buchstaben zum Centrum für die Klang - bilder zu suchen.

Bei allen diesen Voraussetzungen wären die eigent - lichen Sprachbahnen frei und dies würde auch für das klinische Bild der Dyslexie zutreffen; wir würden also den Ort der Unterbrechung, welches Schema wir auch zu Grunde legen wollen, an derselben Stelle zu suchen haben, wie bei der isolirten Wortblindheit, mit dem Unter - schiede, dass wir diese Leitungsstörung nicht als eine vollständige, sondern nur als eine quantitative anzusehen hätten. Die Leistungsfähigkeit der betroffenen Bahn ist aber nur eine minimale Es werden nicht mehr Worte percipirt oder geleitet, als das Auge, wie es scheint, mit einem einzigen Blick erfassen kann; dann tritt die Ermüdung derselben mit vorübergehender absoluter Lei - tungsfähigkeit ein.

Halten wir uns an das Lichtheim’sche Schema und denken uns eine Unterbrechung der Bahn von der Stätte der Erinnerungsbilder der optischen Schriftzeichen (O) nach dem Centrum für die Klangbilder (A), so wären die Bahnen von dem letzteren Centrum zur Bildungsstätte der38 Begriffe (B), von da zum Centrum der Bewegungsbilder für die Worte (M), und von hier wieder zum Klangbild-Centrum, also die ganze Bahn A-B-M-A frei; ausserdem aber auch sämmtliche Bahnen für das Schreiben: für das willkür - liche, für das Dictat-Schreiben, und, wenn wir mit L. eine directe Verbindung zwischen dem Schriftbild-Centrum und demjenigen für die Schreibbewegungen der rechten Hand (OE) annahmen, auch für das Schreiben nach Vorlage.

In dieser Richtung muss ich eine Lücke in meinen Beobachtungen constatiren; doch möchte ich darauf hin - weisen, dass dieselben sämmtlich älter sind als die Publi - cation des Lichtheim’schen Schema’s, welches allerdings durch seine Uebersichtlichkeit mit besonderer Klarheit die Postulate für die klinische Untersuchung präcisirt. Uebrigens habe ich seiner Zeit die Untersuchung auf etwaige Störungen im Schreiben nicht einfach ignorirt, sondern ich habe es aus zwei Gründen unterlassen, darauf hin zu prüfen. Einmal, weil ich aus den Aussagen ein - zelner Kranken den Eindruck gewann, dass die von ihnen spontan angegebene Erschwerung im Schreiben positiv auf das erschwerte Lesen des von ihnen Geschriebenen zurückzuführen sei, und ferner weil ich es in anderen Fällen für kaum ausführbar hielt, zu unterscheiden, ob eine vorübergehende Unfähigkeit, im Schreiben fortzu - fahren, durch eine Störung des Schreibactes als solchen, oder durch eine Störung der gleichzeitig dabei statt - findenden Lesearbeit hervorgerufen werde. Ich bin bei dieser Erwägung freilich von der Voraussetzung aus - gegangen, dass eine eventuelle Störung im Schreiben bei der Dyslexie denselben Character der verminderten Aus - dauer tragen würde, wie dies beim Lesen der Fall ist. Es wäre indessen ja nicht undenkbar, dass, falls über - haupt eine Schreibestörung bei der Dyslexie vorkäme, dieselbe unter dem Bilde der Paragraphie aufträte. Jeden - falls werde ich nicht versäumen, gegebenen Falles, diesen39 Punkt im Sinne des Lichtheim’schen Schema’s zu prüfen. Das Ergebniss dürfte, wie es auch ausfallen mag, nicht sowohl die klinische Stellung der Dyslexie präcisiren, als auch zur Controle der practischen Brauchbarkeit der gang - baren Sprachbahnschemata dienen.

Den Schematen, sowohl dem von Kussmaul, dem Lichtheim’schen als dem Grashey’schen nach, würde also die Dyslexie eine Leitungsstörung darstellen. Mit dieser Auffassung soll aber der anatomischen Locali - sation der zu Grunde liegenden Läsion in keiner Weise präjudicirt werden.

Der oben hervorgehobene Umstand, dass die mit der Dyslexie gleichzeitig aufgetretenen Lähmungs - oder Reizungssymptome: Facialiszuckungen, Ringfingergefühl, Unsicherheit der rechten oberen Extremität, Hemianopsie, jedesmal rechtsseitige waren, wies schon von vornherein darauf hin, dass der Heerd für die dyslectische Störung in der linken Gehirnhälfte liegen werde. Diese Voraus - setzung findet in den 4 zur Section gekommenen Fällen ihre Bestätigung, insofern, als die linke Hemisphäre ausnahmslos der Sitz ausgesprochener pathologisch-ana - tomischer Veränderungen war. Dieselben zeigten aller - dings sehr verschiedene Formen und Grade und nicht immer waren sie auf die linke Seite beschränkt.

In dem ersten Sectionsfalle (Beobachtung 3) fand sich in der Gehirnsubstanz selbst keine Veränderung, weder in der Rindenschicht, noch im Marklager, noch in den grossen Ganglien, dagegen erwies sich die linke Arteria fossae Sylvii, und zwar die linke allein, bis in sämmtliche mit blossem Auge erkennbaren Verzweigungen hochgradig atheromatös. Dieser Befund ist wohl geeignet, die während des Lebens beobachteten vorübergehenden Ge - hirnerscheinungen, die Hemianopsie, Paraphasie, Dyslexie und die Schwäche des rechten Armes zu erklären. Es steht der Annahme nichts entgegen, dass den vorüber -40 gehenden Gehirnsymptomen eine Circulationsstörung im Bereiche der so hochgradig atheromatös erkrankten links - seitigen Arteria fossae Sylvii zu Grunde gelegen habe, welche sich in relativ kurzer Zeit wieder ausglich. Die Schnelligkeit und Vollständigkeit, mit welcher die klinischen Symptome verschwanden, ist vielmehr ein gewichtiges Argument für diese Annahme.

Im 2. Sectionsfalle (Beobachtung 4), welcher während des Lebens die Erscheinungen der progressiven Paralyse bot, fand sich eine über die ganze Hirnoberfläche ver - breitete, also diffuse Erkrankung und zwar eine Ent - zündung der Pia mater (im engeren Sinne) mit entzünd - licher Theilnahme der gesammten grauen Substanz, welche stellenweise schon zu beginnender Atrophie der äussersten Schichten geführt hatte (Meningo Encephalitis). Auch diesen Veränderungen lag wahrscheinlich eine primäre Erkrankung der Arterien zu Grunde und zwar vermuth - lich eine syphilitische. Leider enthält das Sectionsprotocoll über diesen Punkt nichts Näheres, es heisst nur: Die grossen arteriellen Gefässe an der Basis, besonders die Arteria basilaris zeigen starre Wandungen, klaffendes Lumen und weissliche Einlagerungen in der Gefässwand, während die mikroscopische Untersuchung (Ziegler) den Uebergang der Entzündung von der Pia längs der in das Gehirn sich einsondernden Gefässe auch auf die Binde - substanz nachwies.

Wir haben es also auch in diesem Falle mit einer linksseitigen Erkrankung des Gehirns, in specie der grauen Substanz zu thun, freilich mit gleichzeitiger und gleich - artiger Erkrankung der rechten Hemisphäre. Es fragt sich nur, ob wir berechtigt sind, hier überhaupt eine Heerd - erkrankung als Ursache der Dyslexie anzunehmen, und, falls wir diese Frage bejahen, ob wir weiter berechtigt sind, diesen Heerd in der linken Gehirnhälfte zu suchen.

In Bezug auf die erste Frage bieten die Beob -41 achtungen von Paralexie, welche Rieger*)l. c. und Rabbas**)l. c. bei einzelnen Paralytikern machten, ein besonderes Inter - esse. Der Schwerpunkt derselben scheint mir, wie auch Rieger hervorhebt, darin zu liegen, dass diese Lesestörung nur bei Paralyse, also bei einer organischen Hirnerkrankung gefunden wurde, während sie bei anderen Formen der Geistesstörung, bei reinem Blödsinn, Verrücktheit und Tobsucht fehlte. Die Section ergab freilich bei den von Rabbas beobachteten Fällen keine Abweichung von den gewöhnlichen Befunden bei Paralyse, immer nur die be - kannten diffusen Veränderungen der Hirnrinde, nirgends eine durch besonders intensive Erkrankung ausgezeichnete Stelle, die den Eindruck einer Heerderkrankung hätte machen können . Indessen angesichts der Erwägung, dass die vorliegende Störung im Lesen nicht blos der den Paralytikern eigenen Kritiklosigkeit zugeschrieben werden könne, glaubt Rieger doch an etwas denken zu müssen, was sie verwandt erscheinen lässt mit soge - nannten aphasischen Störungen, die ja bekanntlich in der Regel als Heerdsymptome auftreten .

Ich möchte mich dieser Auffassung anschliessen, da der Befund einer diffusen Erkrankung der Gehirnrinde, wie er der Paralyse eigen ist, ein hinlängliches anatomi - sches Substrat für die, allerdings mit grosser Zurückhal - tung ausgesprochene, Hypothese Rieger’s abgiebt.

Trotz der scheinbar gleichmässigen Vertheilung der anatomischen Veränderungen über die ganze Hirnober - fläche, ergiebt doch die genauere mikroscopische Unter - suchung unzweifelhaft beträchtliche locale Differenzen in der Intensität der Erkrankung, und zwar sowohl, was die entzündliche als was die atrophische Form angeht. Es wäre daher keineswegs undenkbar, dass bei gewissen42 Fällen von Paralyse, oder in gewissen Stadien derselben heerdartige Theile den Corticalis in besonders hohen Inten - sitätsgraden pathologisch afficirt wären und dass eine der - artige heerdartige Prävalenz des Krankheitsprocesses die anatomische Grundlage jener paralectischen Störungen abgäbe.

Noch mehr Gründe sprechen in unserem Falle für die Annahme einer Heerderkrankung. Die Anhaltspunkte für diese Auffassung liegen nicht in der Form der Stö - rung denn in dieser Beziehung dürfte sich die Dyslexie und die Paralexie wohl ziemlich gleich stehen als vielmehr in dem Entwicklungsgange des gesammten Krank - heitsbildes. In demselben trat nämlich die Dyslexie als eines der Initialsymptome auf und zwar zu einer Zeit, als noch keinerlei Erscheinungen diffuser Gehirnerkrankung vorlagen; es waren nur vorübergehende Obscurationen, eine mässige Verlangsamung der Sprache und Kopfweh vorausgegangen. Während die beiden letzten Symptome anatomisch schwer zu deuten waren und jedenfalls für sich noch keineswegs zur Annahme einer diffusen Er - krankung zwangen, müssen die Obscurationen zweifellos als Heerderkrankungen aufgefasst werden. Aus ihnen hatte sich, nach den Aussagen des höchst intelligenten und ophthalmologisch geschulten Patienten die Dyslexie ent - wickelt und ich glaube nicht zu weit zu gehen, wenn ich auch topographisch eine nahe, ich möchte sagen, nachbar - liche Beziehung zwischen den anatomischen Veränderungen constatire, welche jenen beiden Symptomen zu Grunde lagen.

Dürfen wir nach Alledem die Dyslexie in dem vor - liegenden Falle mit einem hohen Grade von Wahrschein - lichkeit als das Symptom einer Heerderkrankung ansehen, so fehlt es uns freilich an positiven Anhaltspunkten dafür, dass wir den Heerd diesmal auch in der linken Hemis - phäre zu suchen hätten; jedenfalls widerspricht aber der43 anatomische Befund einer gleichzeitigen Erkrankung beider Gehirnhälften der Annahme eines solchen pathogenetischen Zusammenhanges nicht.

In ausgesprochener Weise finden wir bei der 3. Sec - tion (Beobachtung 2) die pathologisch-anatomischen Ver - änderungen auf die linke Seite beschränkt und zwar so - wohl die frischen Blutungen, als namentlich, was für unsere Frage von Wichtigkeit ist, die alten Processe. Die letz - teren bestanden der Hauptsache nach in Verdünnung des linken Ventrikeldaches nebst Thrombosirung der linken Arteria posterior und communicans posterior. Auch in diesem Falle lag wieder eine ausgebreitete, nicht blos bei der Autopsie, sondern schon während des Lebens nach - gewiesene Atheromatose der Gehirnarterien vor. In dem Protocoll heisst es, dass keine älteren Heerde im Gehirn (mehr?) zu finden gewesen seien, allein die mir befreun - deten Collegen, welche die Section ausführten, gaben in mündlicher Ergänzung desselben zu, dass sie, ohne Kennt - niss der früheren Krankheitssymptome, diesem Punkt vielleicht nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Wie dem auch sei, der von ihnen constatirte Befund der Thrombosirung der linksseitigen Arteria cerebri posterior und communicans posterior ist, auch ohne blei - bende Spur in Form von Erweichungsheerden zu hinter - lassen, sehr wohl geeignet, durch den intensiven Eingriff, welchen die Gefässverschliessungen in die Circulation des hinteren Hemisphären-Abschnittes hervorrufen mussten, die vorübergehenden Symptome der Dyslexie und der ihr auch in diesem Falle vorausgegangenen Obscurationen ana - tomisch zu erklären.

Der 4. Obduction (Beobachtung 6) hatte ich Ge - legenheit, wenigstens, soweit sie das Gehirn betrifft, selbst beizuwohnen. Zunächst will ich hervorheben, dass wieder - um eine verbreitete Atheromatose constatirt wurde, und dass namentlich die Gehirnarterien in hohem Grade er -44 griffen waren. Dieser Befund bestätigt die schon 3 Jahre vor dem Tode durch Herrn Dr. Faber gestellte Diagnose: Endarteritis, und zwar hatte derselbe auf Grund der Anamnese die Gefässerkrankung als eine syphilitische be - zeichnet. Wenn auch die Section für dieses ätiologische Moment keine weiteren Anhaltspunkte bot, so darf doch aus der prompten und jahrelang anhaltenden Wirkung der Inunctionscuren auf die Richtigkeit dieser Auffassung geschlossen werden.

Ich übergehe die in dem Protocoll erwähnten Be - funde an den übrigen Organen und beschränke mich auf die Besprechung der cerebralen Veränderungen. Hier war es zunächst der fast den ganzen oberen Rand der Fossa Sylvii einnehmende Erweichungsheerd, welcher unser In - teresse fesselte.

In meiner ersten Mittheilung über diesen selben Fall hatte ich mich hinsichtlich der präsumtiven Oertlichkeit, an welcher das anatomische Substrat der Lesestörung etwa zu suchen sei, folgendermaassen geäussert*)l. c. S. resp. S. 210.: Diese be - gleitenden Symptome (Hemiplegie, Hemianopsie, Aphasie etc.) mit Hinzurechnung der einmal constatirten rechts - seitigen Gesichtsmuskelzuckungen weisen darauf hin, dass wir im gegebenen Falle unser Augenmerk auf diejenigen Theile der Rindenschicht zu richten haben dürften, welche zwischen der Broca’schen Windung, Facialis-Centrum und Bewegungs-Centrum der rechten Extremitäten einer - seits und dem Seh-Centrum andererseits gelegen sind. Ich habe dann diese Stelle in einer schematischen Scizze genauer bezeichnet und die letztere nach dem Vortrage herumgegeben. Wenn man dieselbe (Fig. I, a) mit dem vorliegenden Befunde (Fig. II, a) vergleicht, so frappirt zunächst die Uebereinstimmung der hypothetischen Oert - lichkeit mit der wirklich erkrankten. Die erstere nimmt45 den grössten Theil des unteren Parietalwulstes ein, vom unteren Ende der Centralfurche bis an die Gegend des Gyrus angularis; während der Erweichungsheerd an dem aufsteigenden Ast der Fossa Sylvii beginnt, den vor dem - selben belegenen Theil der 3. Stirnwindung noch einige Millimeter breit betheiligend und sich bis zum hinteren Ende der Sylvi’schen Grube erstreckt. Die Breite der erkrankten Stelle (in der Richtung von oben nach unten) betrug durchschnittlich etwas über einen Centimeter.

In unserem Falle überragt also die erkrankte Parthie den muthmasslichen Heerd der Dyslexie nach vorn um ein Wesentliches und zwar gerade soweit, um die eigent - liche Broca’sche Stelle noch mit einzuschliessen. Dieser letztere Befund würde sich mit der klinischen Beobach - tung in befriedigenster Weise decken, insofern während des Lebens schon im Beginne der Krankheit motorische Aphasie constatirt worden war.

In der Richtung nach hinten bleibt der Erweichungs - heerd von der äusseren Grenze des supponirten Er - krankungsbezirkes nicht unwesentlich zurück. In diesem Falle waren aber weder Obscurationen noch Hemianopsie vorhanden gewesen; überhaupt keine Symptome, welche auf eine gleichzeitige Betheiligung des corticalen Seh - centrums gedeutet hätten.

Was die obere Grenze des Erweichungsheerdes an - geht, so greift dieselbe in ihrem mittleren Theile ziemlich weit in das Hitzig’sche Facialis-Centrum (Fig. II, f) hinein, während sie sich in ihrem hinteren Abschnitte den Centren für die oberen und unteren Extremitäten (Figur II, d und e) eng anschliesst. Die klinische Be - theiligung der diesen Heerden entsprechenden Functions - gebiete sprach sich in deutlichen Paresen der rechtsseitigen Gesichtsmuskulatur, sowie in Paresen der rechten oberen und unteren Extremitäten aus.

Obgleich die den beiden letzteren entsprechenden46 corticalen Centren selbst nicht makroscopisch nachweisbar erkrankt waren, so legt doch die topographische Beziehung derselben zu dem Erweichungsheerde ihre materielle Be - theiligung an dem pathologisch-anatomischen Processe, wenn auch primär nur in Form von Circulations - und Ernährungs-Störungen, ausserordentlich nahe.

Leider ist das Präparat, welches der Sammlung des hiesigen Catharinen-Hospitals angehörte, durch einen un - glücklichen Zufall verloren gegangen, und ich bin dadurch der Möglichkeit beraubt, über die mikroscopische Be - schaffenheit des dem corticalen Erweichungsheerde un - mittelbar angrenzenden Marklagers, resp. über die Aus - dehnung der Betheiligung dieser makroscopisch scheinbar intacten Theile Auskunft zu geben.

Im Allgemeinen aber scheint der vorliegende Befund wohl geeignet, die Hypothese zu unterstützen, dass der anatomische Heerd der dyslectischen Störung im unteren Parietalwulst der linken Hemisphäre zu suchen sei. Diese Annahme findet scheinbar eine weitere Begründung in der Thatsache, dass wiederholt bei einer verwandten, nach unserer Ansicht sogar nur gradweise von der Dyslexie unterschiedenen Störung, der Alexie, in dem hinteren Ab - schnitt desselben Wulstes pathologische Veränderungen constatirt worden sind. *)Vgl. Sepilli, La sordità verbale od afasia sensoriale. La Rivista sperimentale di Frenatria, pag. 94, cit. nach Virchow - Hirsch 1884, II. S. 79 und Lichtheim l. c. S.

Allein ich möchte dennoch davor warnen**)In diesem Sinne habe ich mich auch auf der jüngsten, XI. Versammlung südwestdeutscher Neurologen und Irrenärzte ausge - sprochen. Vgl. Münchener med. Wochenschrift 1886, S. 434., in dieser Richtung allgemein gültige Schlüsse hinsichtlich der ana - tomischen Localdiagnose aus unserem Falle zu ziehen. Zunächst sind ja die ganzen topographischen Anschauungen über die Functionen der Gehirnrinde, auf welchen unsere47 vorherbesprochenen Deductionen beruhen, noch immer Gegenstand der lebhaftesten Discussion, wenngleich in letzterer Zeit die Ansichten der bisher oppositionellen Forscher sich bis zu einem gewissen Grade der Locali - sationstheorie zu nähern scheinen. Andererseits sind die klinischen Erfahrungen, so sehr sie zu einer topo - graphischen Auffassung der Rindenfunctionen hindrängen, lange noch nicht reif, um in dieser complicirten Frage ein Ausschlag gebendes Urtheil zu gestatten.

Was aber unseren speciellen Fall angeht, so bildet der Erweichungsheerd der unteren Scheitelwindung ja nicht einmal den einzigen anatomischen Befund; vielmehr bestanden noch 3 weitere cerebrale Erkrankungsheerde, je im rechten Corpus striatum, im linken Kleinhirn und in der 3. Schläfen-Windung derselben Seite.

Hinsichtlich der Veränderung im Corpus striatum, so betraf dieselbe den rechtsseitigen Linsenkern allein und zwar war sie auf den mittleren Theil derselben beschränkt. Es handelte sich um eine kleine Cyste, deren Inhalt aus klarer Flüssigkeit bestand. Die Natur der pathologischen Veränderung beweist, dass sie älteren Datums war und es stände von dieser Seite der Möglichkeit nichts entgegen, dass sie schon im Beginne der Krankheit entstanden, resp. ebenso alt sei, wie das erste Auftreten der Dyslexie. Dass sie aber diese letztere hervorrufen könne, glaube ich entschieden in Abrede stellen zu müssen. Ohne hier auf die controversen Resultate der experimentellen Forschung einzugehen, begnüge ich mich, darauf hinzuweisen, was Kussmaul*)l. c. S. 95. in seinem vortrefflichen Buche hinsichtlich der klinischen Erfahrungen über die Function der Streifen - hügel ausgesprochen hat. Nach ihm steht nur soviel fest, dass Läsionen der Streifenhügel die Articulation bis zur Unverständlichkeit stammelnd machen oder ganz vernichten48 können und dass diese Störungen um so sicherer und beträchtlicher sich zeigen, je ausgebreiteter die Läsionen namentlich das Gebiet des linken Streifenhügels ein - nehmen .

Dem gegenüber möchte ich hervorheben, dass unser Patient im Beginne der Erkrankung überhaupt keine Articulationsstörung gezeigt hat. Um diese Zeit litt er nur an dyslectischer Lesestörung; dieselbe trat aber eben - sowohl beim Laut-Lesen ein, als wenn er für sich las, ja, er hatte sie gerade bei dieser letzteren Art des Lesens zuerst bemerkt. Die Sprache als solche war damals noch nicht im aller Geringsten alterirt. Erst mehrere Monate später constatirte der Hausarzt nach wiederholten Schlag - anfällen Sprachstörung in Form von Aphasie und ich selbst fand (etwa ¾ Jahre nach dem Auftreten der Dys - lexie) einen Rest von atactischer Aphasie, welcher ein gewisser Grad von Articulationsstörung beigemischt war. Ich glaubte damals diese letztere auf eine gleichzeitige leichte Bewegungsstörung der Lippen zurückführen zu müssen. Lassen wir es aber dahingestellt, ob die Articu - lationsstörung nicht durch die Läsion des Streifenhügels verschuldet gewesen sein konnte, wenn gleich die Läsion die rechte Seite betraf; jedenfalls konnte sie an der, die Sprache als solche gar nicht tangirenden Dyslexie, nach dem was wir bis dahin über die Function der Streifen - hügel wissen, keinen Antheil haben.

Vielleicht erklärt sich die von Herrn Dr. Faber mitgetheilte Beobachtung aus ihr, nämlich die vorüber - gehende Ablenkung der herausgestreckten Zunge nach rechts. Die linksseitige Beweglichkeits-Störung der Zungen - muskulatur würde wenigstens mit der Rechtsseitigkeit des anatomischen Heerdes übereinstimmen.

Der Befund im Kleinhirn (Fig. II, c) bestand darin, dass die ganze untere Hälfte der linken Kleinhirnhemisphäre in einen grossen Erweichungsheerd verwandelt war. Auch49 hier haben wir uns die Frage vorzulegen, welchen Ein - fluss diese umfangreiche Zerstörung, sowohl der grauen Substanz als des Marklagers, auf die während des Lebens constatirte Sprachstörung gehabt haben mag.

Man hat dem Kleinhirn allerdings eine wichtige Rolle bei der Articulation der Laute zuschreiben wollen,*)Kussmaul, l. c. S. 81. doch sind die klinischen Beobachtungen nicht geeig - net, hierüber Aufschluss zu gewähren . Verfasser möchte den wenigen einschlägigen Beobachtungen eine weitere hinzufügen, welche trotz ihrer aphoristischen Kürze einen verwerthbaren Beitrag zu der Lehre von dem Ein - fluss des Kleinhirns auf die Sprechfunctionen liefern dürfte, wenn auch freilich in negativem Sinne:

Am 12. Februar 1882 consultirte mich Herr Dr. B. Fetzer wegen der 6 jährigen A. K. von Stuttgart. Die - selbe litt seit Jahr und Tag an multipler Caries, besonders der Finger und der Unterschenkel und hatte auch schon vor ca. ½ Jahr eine chronische Peritonitis durchgemacht. Seit einigen Wochen hatte das Sehvermögen in rapider Weise abgenommen; der Arzt hatte Amaurose constatirt, und zugleich Hydrocephalus. Das Kind war ausserordent - lich aufgeweckt und von liebenswürdiger Geduld in seinem schweren Leiden. Es sprach gern und viel, aber niemals haben die Angehörigen oder der Arzt, bis in die letzten Stunden hinein, eine Spur irgend einer Sprachstörung be - merkt. Die augenärztliche Untersuchung ergab: Erweite - rung und Starrheit beider Pupillen, keine Lichtempfindung, Augenspiegelbefund normal.

Ich habe die Kranke seitdem nicht wiedergesehen. Am 4. April 1882 erfolgte der Tod. Die Section, zu welcher Herr Dr. Fetzer mich freundlichst einlud, ergab in Kurzem Folgendes: Kopf sehr ausgedehnt, Schädel - knochen äusserst dünn, Hirnhäute normal bis auf dieBerlin, Dyslexie (Wortblindheit). 450Gegend des Kleinhirns, wo die Pia in ihrem ganzen Um - fange verdickt und trübe erschien. Beim Abziehen der weichen Gehirnhäute von dem ausserordentlich ausgedehnt erscheinenden Grosshirn reisst das Dach des linken Ven - trikels ein; dasselbe ist kaum ½ cm dick und aus der artificiellen Oeffnung ergiesst sich eine grosse Menge klarer Flüssigkeit. Sämmtliche Ventrikel erweisen sich in hohem Grade ausgedehnt.

Die beiden Hälften des Kleinhirns sind je durch einen umfangreichen sogenannten Tuberkel zerstört, so - wohl das Marklager, der Nucleus dentatus, wie die Rinden - schicht. Nur hinten oben und aussen besteht jederseits noch ein kleiner Rest normaler Corticalis je von ver - schiedener Ausdehnung.

Man darf unbedingt behaupten, dass beide Hälften des Kleinhirns in diesem Falle so gut wie gänzlich ver - nichtet, wenigstens dass seine Function vollständig aus - geschaltet war und dennoch ist während des Lebens nicht die geringste Andeutung einer Sprachstörung be - obachtet worden.

In Anbetracht dieser Erfahrung glaube ich, dass für unsern Fall keinerlei Grund vorliegt, in der Läsion des linken Kleinhirns das anatomische Substrat der in vivo beobachteten Sprachstörung zu suchen, umsoweniger, als ja die, wenn ich so sagen darf, klassische Localität für die atactische Aphasie, die Broca’sche Stelle, ebenfalls erkrankt war. Ebenso wenig Grund haben wir die Dys - lexie mit den Veränderungen des Kleinhirns in ursächliche Beziehung zu bringen. Auch die Amaurose ist unab - hängig von denselben, sie erklärt sich zur Genüge aus dem hochgradigen Hydrocephalus internus und so bliebe eigentlich weiter kein Symptom übrig, als die exorbitanten linksseitigen Hinterhauptschmerzen, deren Genese man den Veränderungen im linken Kleinhirn zuschreiben könnte.

51

Die 4. Stelle, welche in unserm Falle erkrankt war, ist auf der Scizze (Fig. II, b) nur zum Theil sichtbar. Es handelt sich um einen Erweichungsheerd, welcher in der 3. Schläfenwindung, etwas nach hinten vom vorderen Ende der Fossa Sylvii begann und sich von da, die Basis der linken Hemisphäre in querer Richtung durchsetzend, fast bis zur Mitte des Gehirns erstreckte. Die Breite der erkrankten Stelle (in der Richtung von vorn nach hinten) betrug ca. 3 cm; sie begriff nicht nur die graue Substanz in sich, sondern drang noch ca. 2 cm tief in das Mark - lager hinein. Der Umfang dieser ganzen pathologischen Veränderung war zu ausgedehnt, als dass wir ihr das blosse Symptom der Lesestörung hätten zur Last legen können. Immerhin ist diese Eigenschaft des Erkrankungs - heerdes doch nicht genügend, um die Möglichkeit aus - zuschliessen, dass nicht wenigstens ein Theil desselben das anatomische Substrat der Dyslexie gewesen sei. Diese Erwägung gewinnt an Boden, wenn wir eine Beobachtung von Broadbent*)Citirt nach Kussmaul, l. c., S. 179. berücksichtigen, in welcher vollständige Wortblindheit, mit erhaltener Fähigkeit, Dictirtes und spontan zu schreiben, bestand. Bei der Section fand man, abgesehen von einer grossen Hämorrhagie, welche den Tod herbeigeführt hatte, zwei alte Hämorrhagien, eine in der unteren Randwindung des linken Schläfe - lappens und eine andere grössere, welche eine Erweichung der benachbarten Hirnsubstanz bewirkt hatte, in der Gegend zwischen dem unteren Ende der Fossa Sylvii und dem Ventrikel an der Abgangsstelle des absteigenden Horns.

Bis hierher war ich mit der Ausarbeitung meines Manuscriptes gekommen, als ich von Herrn Dr. A. Nieden in Bochum die Mittheilung erhielt, dass er einen Pa - tienten in Behandlung habe, welcher die von mir beschrie -4*52bene und als Dyslexie bezeichnete Lesestörung in charac - teristischer Form darböte. Schon nach kurzer Zeit folgte die weitere Nachricht, dass auch dieser Fall, wie die übrigen sämmtlich, lethal verlaufen sei.

Diese Beobachtung ist nach den meinigen die erste, welche als Dyslexie diagnosticirt wurde, und sie schien mir wichtig genug, um die Veröffentlichung meiner Arbeit bis nach erfolgter Publication jener aufzuschieben. Nach - dem dies geschehen*)Nachdem Nieden auf der diesjährigen Versammlung deut - scher Naturforscher und Aerzte (vgl. Tagblatt No. V, S. 156) ein kurzes Referat über den Fall gegeben, hat er denselben im Archiv f. Augenheilkunde. Bd. XVII, pag. 162 u. f. in extenso beschrieben und mir vor der allgemeinen Edition einen Separatabdruck zur Ver - fügung gestellt., gebe ich einen kurzen Auszug aus derselben:

Am 12. Juli d. J. wurde N. zu einem Kranken gerufen, welcher nach zwei voraufgegangenen eclampti - schen Anfällen mit Hinterlassung einer hochgradigen Pro - stration der Kräfte nicht mehr im Stande war, andauernd zu lesen. Im Uebrigen waren durchaus keine pathologi - schen Erscheinungen, weder in den geistigen noch in den körperlichen Functionen zurückgeblieben, ausser einer Neigung zu Ohnmachten bei jeglicher Art von Anstrengung. Puls auf 60 Schläge gesunken, sonst voll und kräftig.

N. constatirte bei normalen äusseren Verhältnissen beider Augen regelmässige Muskelbewegungen derselben, gute Reaction der Pupillen, hypermetropischer Bau von 1,0 D. Die brechenden Medien durchaus klar; der Seh - nerveneintritt zeigte in keiner Weise eine Abweichung von der Norm; über Hyperaesthesie bei greller Beleuch - tung wurde nicht geklagt. S für die Ferne $$\frac {20} {20}$$ , die ein - zelnen Buchstaben werden rasch und leicht entziffert.

Bei der Prüfung für die Nähe liest Patient die ersten vier Worte von No. 1 prompt und richtig, wendet aber53 dann plötzlich mit einem Ausdrucke des Unwillens den Blick von dem Buche fort und behauptet nicht weiter lesen zu können. Aufgefordert, doch wieder den Versuch zu machen, geht er bereitwillig darauf ein, liest wieder 4 Worte, um dann dieselbe abwehrende Kopfbewegung zu machen, bei gleichem Gesichtsausdruck wie zuvor. Es war ein solches Gefühl des Unwillens, der Scheu, weiter zu lesen, dass der erste Eindruck, den N. davon empfing, der gleiche war, den er wiederholt bei Hydrophobischen bekam, wenn man ihnen Getränk darreicht.

Drang er in den Patienten mit Bitten ein, weiter zu lesen, wobei es gleichgültig war, ob von grossem oder kleinem Druck etc., so that er sich zuweilen sichtlich Zwang an, brachte 1 2 Worte weiter heraus, gerieth aber durch diese Willensanstrengung stets in eine Art Ohnmachtsanfall.

Das Vorgelesene konnte er beliebig lange nach - sprechen, überhaupt war nicht die geringste Sprachstörung vorhanden; auch konnte er leicht und fliessend Dictirtes schreiben, ohne je zu stocken.

Die Prüfung des Gesichtsfeldes und der Farbenper - ception ergab dieselben normalen Verhältnisse in beiden Augen, auch trat bei diesen durch Viertelstunden dauern - den Anstrengungen ausser allgemeinen Ermüdungserschei - nungen nicht jenes eigenthümliche Unvermögen der Weiter - arbeit ein, wie es bei Leseübungen stattfand.

Die Anamnese ergab nichts weiter, als dass Patient vor 14 Jahren einmal einen eclamptischen Anfall gehabt hatte. Erst im letzten halben Jahre war der Frau des - selben ein verändertes Wesen, etwas Unstätes in seinem Benehmen aufgefallen, was sie dem ausgedehnten Geschäfts - betriebe zuschreiben zu müssen glaubte.

Nach einem dreiwöchentlichen Aufenthalte in einer Sommerfrische kehrte der Kranke scheinbar völlig genesen zurück. Nur das eine Symptom, die Unlust zum Lesen54 war noch nicht gewichen; wenigstens stellte sich dieselbe regelmässig nach dem Lesen einiger Zeilen, höchstens eines kurzen Abschnittes in intensivster Form ein.

Wenige Tage nach der Rückkehr am 2. August, erkrankte Patient an Magencatarrh mit grosser Abnahme der Kräfte, Kopfweh, Schlafsucht. Als örtliche Affectionen zeigte sich bald: Erweiterung der linken Pupille, vorüber - gehende Parese des Detrusor, des rechten Facialis und der rechtsseitigen Extremitäten; Sopor, erneute paretische Erscheinungen der rechten Gesichtshälfte und der rechten Extremitäten und am 21. August erfolgte der Tod im tiefen Sopor.

Bei der Section, 15 Stunden post mortem, erweist sich das linke Corpus striatum von drei apoplec - tischen Heerden durchsetzt.

Der grösste von ca. Wallnussdicke, im vordersten Theil des Corpus striatum gelegen hatte das gesammte Marklager, welches sich nach vorn bis zur Rinde der unteren Frontalgyri erstreckte in das Bereich der Zer - störung (durch gelbe Erweichung) hinein gezogen; die graue Rinde fand sich aber an keiner Stelle mitafficirt, die Grenze des Erkranktseins schnitt genau mit der hin - teren Rindengrenze ab.

Die 2. Apoplexie schloss sich genau nach oben und hinten an diesen Erweichungsheerd an; sie war von kleinerer Dimension, ca. die Grösse eines Haselnusskernes einnehmend und nach Consistenz und Farbe entschieden einem späteren Entstehungszeitpunkte zuzuschreiben.

Der dritte Heerd war offenbar jüngeren Datums; er nahm die Mitte des Nucleus lenticularis ein, war von Erbsendicke und setzte sich aus zwei frischen Blutgerin - seln zusammen. Die Centralgebilde des Nucleus waren zerstört, die Umgebung oedematös infiltrirt.

Der Nucleus caudatus indessen und die Capsula in - terna waren ausser einer geringen Verschiebung (durch55 die zweiterwähnte Blutung) intact, im Ganzen aber etwas röthlich tingirt.

Der mittlere Heerd wurde von einem ca. 1 cm langen thrombosirten Gefässrohre durchzogen, welches eine Ver - zweigung der Arteria lenticulo-striata darstellt.

Die mikroscopische Untersuchung der Wandungen dieses und der Gefässe der Plexus choroid., sowie der grösseren Arterienstämme der Basis ergaben keine wesent - lichen pathologischen Veränderungen, sondern zeigten ziem - lich normale Structur.

Auch die andern Theile des Gehirns, namentlich die rechte Hemisphäre zeigte nichts Abnormes.

Von der Section der übrigen Körperorgane wurde Abstand genommen, da die wiederholte Untersuchung niemals, auch nicht am Herzen, krankhafte Veränderungen hatte entdecken lassen.

Diese Beobachtung schliesst sich den meinigen auf das Engste an, nicht allein was die Art der Lesestörung betrifft, sondern auch in Bezug auf die Gruppirung der Symptome und den Gesammtverlauf des Krankheitsbildes. Letzterer war freilich ein ausnahmsweis rapider.

Aber sie modificirt und vervollständigt zugleich die meinigen.

Zunächst möchte ich erwähnen, dass Nieden seine Kranken auch hinsichtlich des Schreibens und zwar des Dictat-Schreibens untersucht und in dieser Richtung keiner - lei Verminderung der Leistungsfähigkeit gefunden hat. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass man, was ich selbst leider ebenfalls verabsäumte, ausserdem auch auf das Spontan - Schreiben und namentlich das Schreiben nach Vorlage prüfen solle.

Ferner hat N. constatiren können, in welchem Mo - dus die Besserung der Lesestörung eintrat, wozu sich mir keine Gelegenheit bot, indem er fand, dass Patient 3 Wochen nach der ersten Untersuchung nicht blos 4 bis56 5 Worte, sondern sogar einige Zeilen oder einen kurzen Abschnitt herausbringen konnte, ehe die Lesescheu in der früheren Intensität auftrat.

Was nun diese Lesescheu angeht, so möchte ich betonen, dass ich dieselbe niemals in dem hohen Grade beobachtet habe, wie Nieden sie in seinem Falle be - schreibt. Auch meine Patienten legten häufig das Buch mit einer Gebärde fort, welche eine unangenehme Em - pfindung, eine Art Unlustgefühl verrieth, aber keiner zeigte einen so hochgradigen Abscheu, welcher an die Wasserscheu Hydrophobischer erinnert hätte. Ich habe gerade den Ausdruck Unlustgefühl gewählt, um damit die durchschnittliche milde Form der Abneigung zu kennzeichnen, welche sie an den Tag legten, und glaube, annehmen zu müssen, dass der hochgradige unangenehme Eindruck, welchen das Lesen auf das Allgemeingefühl des Nieden’schen Patienten ausübte, als eine ungewöhn - liche, individuelle Steigerung des Unlustgefühls aufzufassen ist. Eine abnorm gesteigerte Reaction des Allgemeingefühls sprach sich ja auch sonst bei diesen Kranken in un - zweifelhafter Weise darin aus, dass er nicht nur bei for - cirtem Leseversuche eine Neigung zu Ohnmachtsanfällen zeigte, sondern sobald er eine kräftige Muskelbewegung ausführen wollte oder durch einen geschäftlichen oder familiären Vorfall erregt wurde.

Im Anschluss an einen Vortrag, welchen Verf. am 1. April vorigen Jahres im Stuttgarter ärztlichen Vereine über den fraglichen Gegenstand hielt,*)Vgl. No. 13, Band 66 des Medicin. Correspondenzblattes des Württemberg. ärztlichen Landesvereins, Seite 103. theilte Herr Dr. Steiner mehrere Fälle mit, in welchen während des Lebens aphasische Störungen vorhanden gewesen und post mortem Veränderungen in der Gegend der Broca - schen Stelle gefunden wurden. Im Verlaufe der Discussion57 berichtete Herr Dr. Königshöfer über eine frühere Be - obachtung von ihm aus dem Jahre 1880, in welcher er der Dyslexie ähnliche Functionsstörungen gefunden hatte. Es ergiebt sich bei dieser Gelegenheit, dass sein Fall mit einem der Steiner’schen identisch war und ich er - laube mir hiermit, den wesentlichen Inhalt der mir von beiden Herrn zur Verfügung gestellten Krankheits - resp. Sections-Berichte, welche in dem Sitzungs-Referate nur andeutungsweise mitgetheilt sind, in authentischer Form wiederzugeben:

Am 5. December 1880 stellte sich Herrn Dr. Königs - höfer eine 54 jährige Dame vor, mit der Angabe, dass sie seit einiger Zeit eine Zunahme ihrer Myopie auf dem linken Auge bemerkt habe, gleichzeitig seien auch Con - gestionen zum Kopf und Anfälle von Bewusstlosigkeit mit Krämpfen eingetreten. Sonst sei ihr körperliches Be - finden gut, nur die Menses, vor welchen die Anfälle be - sonders stark auftraten, seien unregelmässig; die Um - gebung der Kranken sagt aus, dass sie geistig nicht mehr ganz so rege sei, wie früher.

Die Untersuchung der Augen ergiebt: Rechts Myopie 5,5 bis 6 D, S = bis $$\frac {1} {1}$$ ; links Myopie 4,5 D, S = . Gesichtsfeld und Farbenperception normal; der Augen - spiegel erweist beiderseits grosse ringförmige Sclerectasien.

Beim Lesen zeigt sich, dass Patientin mit dem lin - ken Auge Snellen 0,5 auffallend zögernd liest. Ver - suche mit grösseren Druckproben ergaben dasselbe. Daraus wird geschlossen, dass es sich bei der Patientin nicht um einen Mangel der Perceptionsfähigkeit, sondern um einen Mangel in der Leitung handelte.

Im Laufe der weiteren Beobachtungen war vor Allem auffallend, dass die Myopie auf dem rechten Auge binnen 3 Wochen auf 7,0 D stieg, ohne, dass das Sehvermögen nennenswert beeinträchtigt wurde. Links blieb Sehver - mögen und Myopie gleich.

58

Am 25. Januar 1881 hatte K. Gelegenheit, selbst einen der erwähnten Krampfanfälle zu beobachten. Wäh - rend desselben reagirt die Kranke auf Anreden nicht; dann erwacht sie plötzlich, wie aus einem tiefen Schlaf, versucht zu sprechen, aber findet die Worte nicht. Gleich - zeitig wird der Körper wie in einem heftigen Schüttel - frost erschüttert, was sich mit vollkommen ruhigen, se - cundenlangen Intervallen wiederholt, bis der Anfall, nach ca. 10 Minuten, vorüber ist.

Von der ganzen Sache weiss die Kranke nachher nur, dass sie sprechen wollte, aber die Worte nicht fand.

Unmittelbar nach dem Anfalle ist die Sehschärfe des rechten Auges auf ½ gesunken. Eine zwei Tage später vorgenommene Untersuchung ergiebt nun mehr eine Roth - Grünblindheit des linken Auges.

Am 2. Februar liest Patienten links Snellen 0,5 mit + 1,5 D in 15 cm. Gleichzeitig wird ein geringer Grad von Strabismus divergens beobachtet, welcher früher nicht vorhanden war.

Eine am 11. Februar vorgenomme Untersuchung er - giebt wieder rechterseits Myopie 5,5 D, S = 1, während links Refraction und Sehschärfe gleichgeblieben sind. Da - bei wurde rechterseits Snellen No. 0,5 fliessend gelesen, links dagegen No. 0,6 nur zögernd und in grossen Absätzen. Gläser bessern nicht.

Bis zum 18. März wurde keine besondere Veränderung beobachtet, an welchem Tage sich die Myopie rechter - seits auf 4,5 zurückgegangen erwies, bei unveränderter Sehschärfe, während links die Refraction unverändert ge - blieben, aber die Sehschärfe auf zurückgegangen war.

Gleichzeitig fällt auf, dass nunmehr auch rechts nur zögernd und mit grossen Pausen je einige Worte gelesen werden. Farbenperception an diesem Tage auffallender Weise beiderseits normal.

59

Patientin gibt an, dass, obgleich ihr auch rechts das Lesen schwer falle, das Schreiben wie gewöhnlich gehe. Ein kurze Zeit nachher an K. gerichtetes Billet zeigt nicht die geringste Abnormität.

Am 27. findet sich links die Myopie auf 4,5 D zurückgegangen; Snellen 0,5 wird an diesem Tage rechts wieder leicht, mit dem linken Auge Snellen 0,6 zögernd gelesen. Gleichzeitig findet sich links wieder Herab - setzung für Roth und Grün.

Am 3. Mai tritt zum ersten Male die Erscheinung auf, dass Patientin sich auf Thatsachen nicht gut besinnen kann, und ihre Umgebung nicht mehr erkennt.

Am 5. Mai findet eine Consultation mit einem aus - wärtigen Special-Collegen statt, welcher die Affection als Gefässneurose auffasst.

Vom 31. Mai bis zum 30. August war die Kranke auf dem Lande. Nach ihrer Rückkehr erzählt sie, dass sie sich während ihres Landaufenthaltes successive wohler gefühlt habe, nur sei einige Zeit hindurch die Erscheinung wieder aufgetreten, dass sie nicht lesen konnte, ohne im Schreiben gehindert zu sein.

Eine am 30. August 1881 vorgenommene Unter - suchung ergab:

Jederseits Myopie 4,5 D, rechts S = bis 1, links S = ¼ bis . In der Nähe wird rechts Sn 0,5, links Sn 1,3 fliessend gelesen. Farbenperception rechts normal, links Herabsetzung für Roth und Grün. Augenmuskulatur normal. Die ganze linke Gesichtshälfte hyperästhetisch. Von da an wurden keine Beobachtungen mehr gemacht.

Es lässt sich nicht verkennen, dass die mitgetheilte Krankengeschichte manches von der, in den vorausge - gangenen Beobachtungen beschriebenen, Dyslexieform Ab - weichende enthält; besonders möchte ich die vorwaltende Einseitigkeit der Störung hervorheben. Auch passt der wechselnde Accommodationskrampf und die wechselnde60 Störung der Farbenperception nicht recht in das Bild einer stetig fortschreitenden Gehirnerkrankung; es könnte sich ja aber möglicherweise um eine anfängliche Complication gehandelt haben. Wie dem auch sei, in Anbetracht der Neuheit und Seltenheit der Beobachtungen glaube ich doch, dass wir den fraglichen Fall, ohne freilich ganz auf die Kritik zu verzichten, in den Rahmen unserer Lesestörung aufnehmen dürfen.

Dafür spricht namentlich der weitere Verlauf und der später constatirte anatomische Befund, welche ihn den unsrigen wieder näher rücken.

In dieser Richtung kann ich freilich nur Weniges berichten, da Herr Dr. Steiner sich selbst eine aus - führliche Mittheilung vorbehält.

Er sah die Patientin etwa zwei Jahre nach den be - schriebenen Krankheitserscheinungen zum ersten Male, ohne über dieselbe etwas Näheres zu erfahren, und beobachtete sie nur kurze Zeit, d. h. bis zu ihrem, wenige Wochen später erfolgenden Tode. Anamnestisch brachte er heraus, dass sie früher an einer Störung im Lesen und an wieder - holten epileptiformen Anfällen von wechselnder Intensität gelitten habe. Der Status praesens ergab, der Haupt - sache nach eine rechtsseitige Lähmung der oberen und unteren Extremität und eine sensorielle Aphasie.

Aus diesem letzteren Symptome diagnosticirte St. eine Erkrankung im linken Schläfelappen und zwar schloss er aus dem Verlauf, dass es sich um einen Tumor han - deln dürfte. Die Section bestätigte die Diagnose; sie ergab ein hühnereigrosses Carcinom im linken Schläfelappen, welches den letzteren fast ganz zerstört und auch die 3. Stirnwindung durch den von ihm ausgeübten Druck in beträchtlichem Grade in Mitleidenschaft gezogen hatte.

Ueberblicken wir die pathologisch-anatomischen Be - funde vom Standpunkte der Localisation, so haben wir Folgendes zu constatiren:

61

Zunächst finden wir ausnahmslos eine Erkrankung im Bereiche der linken Hemisphäre. In der Mehrzahl der Fälle ist sie auf diese allein beschränkt, so in un - serem Fall 2 und 3, in dem Königshöfer-Steiner’schen Falle, wenn wir diesen hierher rechnen wollen, und in der Nieden’schen Beobachtung. Im Fall 6 war aller - dings auch eine minimale Veränderung im rechten Corpus striatum vorhanden, allein dieselbe trat ganz in den Hinter - grund vor den ausgedehnten linksseitigen Erweichungs - heerden und stand nach unserer Auffassung mit der Dys - lexie in keinem Zusammenhange; während im Falle 4 eine beiderseitige verbreitete Encephalo-Meningitis, also ebenfalls eine linksseitige Affection vorlag.

Auch in unserem 5. Falle, über dessen Sections - befund wir nichts in Erfahrung bringen konnten, deuteten, wie schon hervorgehoben wurde, die mit der Lesestörung gleichzeitig aufgetretenen rechtsseitigen Motilitäts - und Sensibilitätsstörungen zweifellos auf eine linksseitige Cere - bralaffection im Beginne der Erkrankung hin; über unseren ersten Fall haben wir leider auch hinsichtlich der Sympto - matologie der dem Tode vorausgegangenen Gehirnerschei - nungen nichts Näheres mehr eruiren können.

Aber es ist nicht die Linksseitigkeit allein, welche die anatomischen Veränderungen in unseren Beobachtungen characterisirt, sondern ich möchte noch einen zweiten Punkt hervorheben, welcher eine weitere Etappe in der Localisation des uns beschäftigenden Heerdsymptoms dar - stellt, nämlich die Thatsache, dass in sämmtlichen Fällen unzweifelhaft nahe topographische Beziehungen der betroffenen Gehirntheile zu der Broca’schen Stelle nachweisbar waren.

Am evidentesten tritt dies hervor in Fall 6, in welchem der Erweichungsheerd des unteren Parietalwulstes sich unmittelbar in die Broca’sche Stelle fortsetzte; der von Steiner demonstrirte Tumor, welcher die Schläfenlappen62 einnahm, berührte und comprimirte zugleich die 3. Stirn - windung und in dem Nieden’schen Falle erstreckte sich die Erweichung bis an die Grenze der den unteren Frontal - gyris angehörigen Rindensubstanz.

Im Fall 2 finden wir freilich keine makroscopischen Veränderungen in der Gehirnsubstanz selbst, aber die linke Arteria fossae Sylvii war in ihrer gesammten Ausdehnung hochgradig atheromatös und dieser Befund berechtigt uns zu der oben näher ausgeführten Voraussetzung, dass es sich bei der cerebralen Erkrankung um eine vorüber - gehende Störung der Circulation innerhalb ihres Bereiches gehandelt habe. Dass der Gehirnbezirk, welcher dieser acuten Circulationsstörung unterlag, mit der Broca’schen Stelle in directen anatomischen Beziehungen gestanden hat, kann um so weniger einem Zweifel unterliegen, als gleichzeitig mit der Lesestörung, aber unabhängig von ihr, atactische Aphasie bestand.

Der Sectionsbericht in Fall 2 ist allerdings nicht ganz vollständig, aber er enthält einen, gerade in Bezug auf die vorliegende Frage, sehr wichtigen positiven Befund, das ist die Thrombose der Arteria cerebri posterior und communicans posterior. Diese Thrombose wird von den Aerzten, welche, wie bemerkt, von der vorausgegangenen Erkrankung nichts wussten, speciell als eine alte und organisirte bezeichnet, während sonst die Abwesenheit älterer Heerde besonders betont wird. Jedenfalls ist dies der einzige alte Befund, welcher in die Augen fiel und wir thun den Thatsachen wohl keinen Zwang an, wenn wir denselben als diejenige pathologisch-anatomische Ver - änderung auffassen, welche den ersten, nach jener starken körperlichen Anstrengung aufgetretenen, cerebralen Symp - tomen und somit auch der Dyslexie zu Grunde lag. Dass aber die durch sie hervorgerufene Circulationsstörung nicht blos eine intensive, sondern auch eine räumlich sehr aus - gedehnte gewesen sein muss, ist gewiss nicht zu be -63 zweifeln, und der Schluss, dass die durch dieselbe bedingte, wenn auch vorübergehende Nutritionstörung Gehirnbezirke betheiligen musste, welche zu der Broca’schen Stelle wenigstens in nahen functionellen Beziehungen standen, ist anatomisch durchaus gerechtfertigt.

In unserem 4. Falle war die gesammte Hirnoberfläche betheiligt, also jedenfalls auch die Broca’sche Stelle und ihre Umgebung, während im Fall 5, welcher nicht zur Section kam, die gleichzeitig mit der Dyslexie aufge - tretenen rechtsseitigen Gesichtsmuskelzuckungen auf die unmittelbare Nachbarschaft derselben, auf das Facialis - centrum, deuteten.

Mit diesem Hinweis auf die Oertlichkeit der patho - logisch-anatomischen Veränderungen, glaube ich mich be - gnügen zu sollen: Es ist als ein entschieden positives Resultat zu verzeichnen, dass in allen sechs zur Obduction gekommenen Fällen anatomische - sionen in der linken Gehirnhemisphäre gefunden wurden und zwar an solchen Stellen, welche in der Nähe der 3. Stirnwinduug lagen.

Ob uns spätere Beobachtungen weiter führen, ob sie etwa ein für die functionelle Topographie der Gehirn - rinde in dem Sinne verwerthbares Material zu Tage fördern werden, dass man von einem wirklichen Lese - centrum im anatomischen Sinne wird sprechen dürfen, das müssen wir vorläufig dahingestellt sein lassen. Immer - hin ist man, wie auch die Antwort ausfallen mag, be - rechtigt, in dieser Richtung weiter zu forschen.

Ich für mein Theil bin der Meinung, dass bei Jedem von uns diejenige psychische Thätigkeit, welche in der Umsetzung der gesehenen Schriftzeichen im Begriffe und dieser wiederum in gesprochene oder geschriebene Worte besteht, in Folge von Einübung an eine bestimmte Region der Gehirnrinde gebunden ist. In diesem Sinne, glaube ich, besitzt Jedermann sein individuelles Lesecentrum.

64

Dasselbe steht in directer functioneller Verbindung mit dem Sehcentrum, dem Centrum für die Bewegungs - bilder der Worte, dem motorischen Centrum für die schrei - bende Hand und dem, sowohl beim Laut - als beim Für - sich-Lesen stets betheiligten Klangbild-Centrum.

Die engen functionellen Beziehungen dieser Centren untereinander, welche sich beim Leseact geltend machen, rechtfertigen die Vermuthung, dass auch ihre topogra - phische Lage eine nachbarliche ist und wir werden des - halb, Rechtshändigkeit vorausgesetzt, unser Lesecentrum wohl generell in der Rindenschicht der linken Gehirn - hemisphäre zu suchen haben und zwar in der Nähe der 3. Stirnwindung, des oberen Parietalwulstes, des Gyrus angularis und der oberen Temporalwindung.

Diese Betrachtung führt uns wieder auf die untere Scheitelwindung und es ist höchst verführerisch, sich vorzustellen, dass in ihr der Sitz des Lesecentrums sei. Diese Hypothese würde in einigen der oben angeführten Sectionsbefunde bei Alexie, sowie in unserem Falle 6 eine positive Stütze finden.

Wenn ich mich trotzdem für verpflichtet hielt, in Betreff der Sicherheit etwa zu stellender Localdiagnosen zu warnen, so that ich dies aus 2 triftigen Gründen. Einmal sind ja jene anatomischen Centren, in deren Nähe wir uns das Lesecentrum zu denken hätten, selbst, weder in ihrer Lage, noch in ihren Grenzen genau genug bekannt, um sichere topographische Anhaltspunkte zu bieten; es ist vielmehr als erwiesen anzusehen, dass sie gar keine fest bestimmten Grenzen besitzen, sondern dass sie allmählich, im Exner’schen Sinne, in ihre Umgebung abklingen. Derselben Verschwommenheit der Ausdehnung und Begrenzung würde auch das Lesecentrum unter - liegen und daraus ergiebt sich, welch ein unsicherer topographischer Begriff dasselbe schon unter normalen Verhältnissen sein würde.

65

Wenn wir ferner bedenken, in welchen Grenzen die anatomischen Läsionen liegen können, welche geeignet wären, die Functionen des Lesecentrums zu beeinträch - tigen, so ist dieses Gebiet noch viel ausgedehnter, denn eine Störung im Lesen wird nicht blos dann eintreten, wenn das Centrum selbst getroffen ist, sondern ebenso - wohl, wenn seine Verbindungen mit den übrigen Centren gelitten haben. Es wird sich also nicht allein um corti - cale, sondern auch um Leitungsstörungen im anatomischen Sinne handeln können. Wo aber diese Leitungen zu suchen sind, das wissen wir vorläufig noch nicht.

Der Nieden’sche Fall ist ein schlagender Beweis, wie begründet meine Warnung war. Ob es sich aber bei demselben um eine Leitungsstörung oder um eine corticale Affection gehandelt hat, können wir nicht ent - scheiden. Die scheinbare makroscopische Integrität der an den Erweichungsheerd angrenzenden Rindenparthien ist für die Beurtheilung dieser Frage nicht hinreichend. Die enge Nachbarschaft der necrotischen Hirntheile, resp. die der Necrose zu Grunde liegende gewaltige Circulations - störung, würde selbst bei negativem mikroscopischen Unter - suchungsresultate, nicht blos die Möglichkeit, sondern sogar die Wahrscheinlichkeit einer wenigstens vorüber - gehenden Ernährungsstörung des betreffenden Corticalab - schnittes nahe legen.

Wenn wir nach all edem das Ergebniss der vor - liegenden Beobachtungen über Dyslexie in physiologischer Beziehung als sehr bescheiden bezeichnen müssen, so dürfen wir ihnen wenigstens doch die Bedeutung bei - messen, dass sie für die Localisation der Sprach - functionen im Broca’schen Sinne weiteres posi - tives Beweismaterial beibringen.

Fassen wir das klinische Bild der Erkrankung ins Auge, so bietet dasselbe eine bestimmt characterisirte Form dar: Bei sonst meistentheils gesunden, erwachsenenBerlin, Dyslexie (Wortblindheit). 566Individuen, überwiegend beim männlichen Geschlechte, tritt plötzlich eine eigenthümliche Störung im Lesen auf, welche darin besteht, dass der Patient nur wenige Worte hintereinander herausbringen kann, wodurch seine Arbeits - fähigkeit in dieser Richtung vernichtet ist. Die Lese - störung ist unabhängig von etwelchen Affectionen des Sehorgans und unterscheidet sich von den bekannten, unter dem Bilde der Hebetudo visus auftretenden Beein - trächtigungen der Nahearbeit auch subjectiv dadurch, dass weder ein Verschwimmen der Buchstaben, noch etwelche Form des körperlichen Schmerzes dabei empfunden wird; nur ein gewisser, individuell verschiedener Grad von Un - behagen macht sich geltend, eine Art von Unlustgefühl, welche durch den forcirten Versuch, weiter zn lesen, ge - steigert wird.

In einer Reihe von Fällen tritt diese eigenthümliche Lesestörung, wie gesagt, ohne Vorboten ein; in anderen Fällen gehen ihr Kopfweh, Schwindel, manchmal sogar epileptiforme Anfälle voraus; manchmal auch vorüber - gehende Obscurationen. Zuweilen verbinden sich mit denselben schon von Anfang an rechtsseitige Innervations - störungen, wie Zuckungen im Gebiete der Facialis, Par - ästhesien der oberen und unteren Extremität etc.

In der Regel nimmt nun die Lesestörung einen günstigen Verlauf und zwar meistentheils in relativ kurzer Zeit, so zwar, dass in 3 bis 4 Wochen schon mehrere Zeilen oder kurze Sätze gelesen werden. Wenn dies zunächst auch nur mit Anstrengung geschieht, so erstarkt doch nach und nach die wiedergewonnene Leistungs - fähigkeit und pflegt anscheinend das frühere Maass wieder zu erreichen. Einmal habe ich die Dyslexie allerdings noch 3 Monate nach ihrem Auftreten in ungemindertem Grade bestehen sehen, allein auch in diesem Falle war sie nach 7 weiteren Monaten verschwunden. Mit dieser Besserung der Dyslexie ist aber das Krankheitsbild nicht67 erschöpft; im Gegentheil, es stellt sich bald heraus, dass dieselbe nur der Vorläufer oder die Theilerscheinung eines schweren Gehirnleidens war. Binnen kurz oder lang treten apoplectiforme oder epileptiforme Anfälle auf, welche häufig Paraplegien der rechten Körperhälfte, Aphasien etc. hinter - lassen; diese Anfälle wiederholen sich unter mannichfachen Nüancirungen und schliesslich führen sie nach Monaten oder Jahren den Tod des Individuums herbei. Dies ist der durchschnittliche, aus den vorliegenden Beobachtungen zu ziehende Verlauf. In einem Falle ging der Kranke an einem intercurrirenden Gesichts-Erysipel zu Grunde.

Die sympto matische Stellung der Dyslexie liegt also darin, dass sie trotz der scheinbaren Unbedeutendheit der durch sie verursachten Functionsstörung ein Heerd - symptom ist, welches eine materielle Veränderung im Bereiche der linken Gehirnhälfte und zwar in der Nähe der Broca’schen Windung anzeigt.

Ihre diagnostische Bedeutung gipfelt in dem Um - stande, dass sie stets im Anfange*)Kussmaul theilt allerdings Fälle mit (l. c. pag. 179), in welchen kurze ein - und zweisilbige Worte oder Bruchstücke von Worten gelesen wurden, und auch Jolly erwähnte bei Gelegenheit der ersten Mittheilung des Verfassers über diesen Gegenstand (l. c.) ähnlicher Beobachtungen. Alle diese Fälle betrafen aber Personen, bei welchen Alexie vorausgegangen war, und welche sich nun im Reconvalescenz-Stadium der letzteren befanden. Es handelte sich also um keine primäre Dyslexie. der Erkrankung auf - tritt, häufig als das erste, jedesmal als eines der Initial - symptome einer schweren Gehirnaffection.

Ihr prognostischer Werth hat seinen Schwerpunkt in der Thatsache, dass sämmtliche Patienten an der - jenigen Gehirnerkrankung, als deren Initialsymptom die Dyslexie auftritt, zu Grunde zu gehen pflegen.

Was die pathologisch-anatomische Natur der Gehirn - erkrankungen angeht, welche in den 6 zur Autopsie ge -5*68langten Fällen gefunden wurden, so waren es in der über - wiegenden Mehrzahl, nämlich 5 mal, Circulationsstörungen; einmal ein Tumor. Die Circulationsstörung manifestirte sich theils in Apoplexien, theils in Erweichungsheerden, welche ihrerseits entweder sog. capillären Apoplexien oder einer Thrombose ihren Ursprung verdankten. Einige Male hatten die Letzteren nicht zu necrotischer Zerstörung von Gehirnsubstanz geführt, sondern die acute Hemmung des Blutlaufes hatte sich auf collateralem Wege ausge - glichen. Bis dies geschehen, war aber jedenfalls eine intensive, wenn auch vorübergehende, Beeinträchtigung der Ernährung vorhanden gewesen, welche die Unter - brechung der Function verschuldet hatte.

Die primäre anatomische Veränderung, welche den Ausgangspunkt der Gehirnaffection gebildet hatte, war in denjenigen unter meiner eigenen Beobachtung gestan - denen Fällen, welche zur Section gekommen waren, aus - nahmslos eine verbreitete Erkrankung der Gefässwan - dungen gewesen. Ob die Gefässwandungen in dem Nie - den’schen Falle wirklich ganz intact gewesen sind, geht aus der Beschreibung nicht mit absoluter Sicherheit her - vor. N. drückt sich in dieser Richtung etwas zurück - haltend aus, indem er von der thrombotischen Arteria lenticulo-striata, den Gefässen der Plexus choroidei und einzelner grösseren Arterienstämme der Basis sagt, dass die mikroscopische Untersuchung ihrer Wandungen keine wesentlichen pathologischen Veränderungen ergeben hätte, sondern dass dieselben ziemlich normale Structur gezeigt hätten.

In zweien dieser Fälle mit Gefässerkrankung war Syphilis vorausgegangen. Einer derselben war von dem behandelnden Arzte (Faber) als Endarteritis syphilitica während des Lebens erkannt worden.

Niemals habe ich die Dyslexie in Alexie übergehen sehen, sondern es tritt, wie schon hervorgehoben wurde,69 in der Regel eine Besserung, ja völlige Restitution der dyslectischen Lesestörung ein.

Es erscheint mir nicht unwahrscheinlich, dass diese Besserung, da wo sie sehr rasch, d. h. in 3 bis 4 Wochen, von Statten ging, auf einer directen Entlastung derjenigen Gehirntheile beruhte, deren Ausser-Dienststellung die Dys - lexie hervorgerufen hatte. In denjenigen Fällen, in wel - chen die Lesestörung monatelang unverändert besteht und sich dann erst nach und nach verliert, dürfte die Heilung nur eine functionelle sein und auf vicariirender Einübung anderer Gehirntheile beruhen, während ein integrirender Theil des ursprünglichen Lesecentrums definitiv zerstört bleibt.

Diese Fälle stehen vermuthlich der Alexie oder Wort - blindheit anatomisch näher als die leichteren Formen. Ich habe oben darauf hingewiesen, dass die Dyslexie sich von der Alexie, den Schematen nach, nur quantitativ unter - scheide. Vielleicht ist dies auch im anatomischen Sinne zutreffend. Nicht, dass ich meinte, das absolute Gebiet der erkrankten Hirnparthie sei grösser bei der Alexie; sondern ich möchte annehmen, dass bei der ersteren ein grösserer Theil des Lesecentrums betroffen sei. Daher kommt es vielleicht auch, dass die Alexie keineswegs jene durchnittliche Tendenz zur schnellen Heilung zeigt; vermuthlich geht bei ihr die functionelle Reparation stets nur auf dem Wege des Vicariirens vor sich.

Wenden wir uns jetzt dem Verlaufe des Gesammt - erkrankungsbildes zu, so ist der Eindruck auf den ersten Anblick allerdings ein sehr ungünstiger. Nicht blos in den von mir beobachteten 6 Fällen, sondern auch in den beiden neu hinzugekommenen war der Ausgang ein le - thaler. So scheint es dann, dass der Erwerb, welchem die Diagnose durch eine eingehende Würdigung der dys - lectischen Lesestörung zuwächst, wohl dem ärztlichen Er - kennen, aber nicht unserem therapeutischen Können zu70 Gute kommt, dass dieses Symptom uns nur lehrt, wir haben es mit einer, vor der Hand noch beschränkten, aber, soweit die Erfahrung reicht, ausnahmslos fortschrei - tenden und zum Tode führenden Gehirnkrankheit zu thun.

Fassen wir indessen die einzelnen Beobachtungen in ihren Détails ins Auge, so werden wir zu der Ueber - zeugung gelangen, dass die Therapie doch nicht so ganz aussichtslos ist. Von dem Falle mit Gehirntumor sehe ich natürlich ab. Diejenigen mit ausgesprochener Erkrankung der Gefässwandungen scheiden sich zunächst in zwei Gruppen, in solche, in welchen Syphilis vorausgegangen und in solche, in welchen jede Infection auszuschliessen war.

In dem einen der ersteren Gruppe, Fall 6, hatte eine energische antisyphilitische Behandlung, mittelst Inunction und nachfolgender Anwendung von Jodkalium, wiederholt einen günstigen Einfluss, selbst auf die schwersten Ge - hirnerscheinungen geäussert. Ich glaube, nicht zuweit zu gehen, wenn ich annehme, dass derselbe in Verbindung mit einer mehrmonatlichen Verpflegung in meiner Klinik der Erfolg zuzuschreiben ist, dass Patient sich für Jahr und Tag einer relativen Gesundheit erfreute, welche ihm sogar eine mittlere Arbeitsfähigkeit wiedergab. Zu diesem Erfolge hatte ohne Zweifel die geregelte Ernährung, sowie das körperliche und geistige Ausruhen während des Aufent - haltes der Anstalt mitbeigetragen; denn der erste ernstere Rückfall trat nach einer heftigen Gemüthsbewegung in Folge häuslicher Scenen ein, vor welchen man ihn, nach - dem er aus der Behandlung entlassen war, nicht mehr bewahren konnte. Dererlei Einflüsse, Nahrungssorgen, Anstrengung, mangelhafte Kost etc., deren Einwirkung man in der Lage gewesen wäre, zu mildern, wenn er sich nicht der ärztlichen Fürsorge zu lange entzogen hätte, haben jedenfalls zur Enstehung der späteren An - fälle, welchen der Kranke schliesslich erlag, mitgewirkt. Vielleicht wäre auch noch ein rechtzeitiger therapeutischer71 Eingriff in Form einer weiteren Inunctionscur von Nutzen gewesen; allein als er sich schliesslich wieder in Behand - lung begab, stand er schon am Anfang des Endes.

Im Falle 4 war trotz der nachgewiesenen Infection die Behandlung vollständig erfolglos geblieben. Es ist leider zur Genüge bekannt, dass uns selbst die energischste Quecksilberbehandlung nicht selten bei der Syphilis der Centralorgane vollständig im Stiche lässt. War aber nicht in diesem Falle vielleicht der Umstand an dem Miss - erfolge Schuld, dass die Behandlung nicht früh genug installirt worden war? Wir haben dieselbe freilich sofort begonnen, nachdem wir uns von der intracraniellen Natur der Erkrankung überzeugt hatten. Aber dennoch kann es de facto zu spät gewesen sein, denn nachträglich er - fuhren wir durch die Freunde des Verstorbenen, dass ihnen schon lange, wenigstens ein halbes Jahr vor seiner eigentlichen Erkrankung, eine tiefe Erschlaffung und De - pression seines ganzen Wesens aufgefallen sei. Wäre es nicht denkbar gewesen, dass wir bei rechtzeitiger Kennt - niss dieses Zustandes durch einen frühzeitigen Eingriff günstigeren Erfolg erzielt hätten? Jedenfalls können wir aus solchen Erwägungen für künftige Fälle Nutzen ziehen.

Bei unseren anderen Patienten wäre freilich eine directe medicamentöse Einwirkung auf die ursprüngliche Gefässerkrankung nicht möglich gewesen, allein wir können immerhin, geleitet durch die rechtzeitige Erkenntniss von der Bedeutung der dyslectischen Störung, noch manches Gute stiften. Wir werden einen solchen Patienten nicht einfach als überarbeitet ansehen und ihm etwa eine zer - streuende Erholung anrathen, sondern wir werden zunächst dafür Sorge tragen, dass er jede körperliche oder geistige Anstrengung auf das Entschiedenste vermeidet und dann durch Regelung seiner Diät im weitesten Sinne, neuen Anfällen vorzubeugen suchen. Auf diese Weise wird es uns sicherlich manchmal gelingen, dem Kranken auf Jahre72 hinaus eine relative Gesundheit zu erhalten, welche ihm noch eine gewisse Arbeitsfähigkeit und einen mässigen Lebensgenuss gestattet.

Zum Schlusse komme ich noch einmal auf die Be - nennung unserer Lesestörung zurück, da inzwischen statt des Wortes Dyslexie zwei neue Bezeichnungen, Lese - scheu und Dysanagnosie in Vorschlag gebracht worden sind. Die erstere stammt von Hirschberg*)S. Centralblatt für pract. Augenheilkunde, September-October - Heft 1886, Seite 277, Anmerkung. und ist auch von Nieden**)l. c. S. 162 u. f. acceptirt worden.

Den Grund für die Einführung des Ausdruckes Lese - scheu hatte ich aus der kurzen Motivirung Hirsch - berg’s nicht ersehen; erst nach Einsicht der Nieden’schen Arbeit gewann ich das Verständniss hierfür durch die Parallele, welche Letzterer zwischen der Wasserscheu und der Lesescheu zieht. In seinem Falle war allerdings der Widerwille, welchen der Kranke gegen das Lesen an den Tag legte, so prononcirt, dass von einem Ver - gleiche mit der Wasserscheu füglich die Rede sein konnte, und wenn dies durchschnittlich bei allen Patienten der Fall gewesen wäre, so würde der Name Lesescheu un - bedingt als klar und richtig zu bezeichnen sein. Ich habe aber schon betont, dass dies in meinen 6 Fällen keineswegs zutraf, sondern dass der Grad der Abneigung gegen den Leseversuch, welchen die Kranken zum Aus - druck brachten, im Durchschnitt mehr den milden Cha - racter eines blossen Unlustgefühles trug. Ich glaube nicht, dass wir das Richtige treffen, wenn wir zur Benennung eines bis dahin noch nicht allgemein gekannten Symptoms eine ausnahmsweise gesteigerte Form desselben zu Grunde legen. Wer einen solchen Fall noch nicht gesehen hat, könnte auf die Weise durch die irrthümlich hohe Vor -73 stellung, welche er sich von der subjectiven Seite der in Rede stehenden Lesestörung macht, leicht dahin kommen, das Symptom gar nicht zu bemerken, wie es gewiss in manchen Fällen, angesichts seiner flüchtigen Natur, that - sächlich übersehen worden ist.

Was den Ausdruck Dysanagnosie betrifft, so hat schon Rabbas*)l. c. S. 8. darauf hingewiesen, dass das im Griechischen für lesen gebräuchliche Wort ᾽αναγιγνώςκω zu schwerfällig zur Bildung eines terminus technicus sei. Ich schliesse mich dieser Ansicht vollkommen an. Wir könnten auch nicht bei der Einführung des Wortes Dys - anagnosie stehen bleiben, sondern müssten für Alexie und Paralexie Ananagnosie und Paranagnosie vorschlagen. Diese Ausdrücke sind aber nicht blos schwerfällig, sondern sie haben für das Ohr des klassisch geschulten Philologen einen nahezu barbarischen Klang.

Warum sollen wir denn aber die Bezeichnungen Alexie, Paralexie und Dyslexie nicht beibehalten? Weil λέγω nicht lesen , sondern sprechen heisst, ist der gleichlau - tende Einwurf der Gegner. Einige meinen sogar, dass diese Namen sogenannte voces hibridae seien, halb aus dem Griechischen, halb aus dem Lateinischen stammend. Um dies beurtheilen zu können, müssten wir vor allen Dingen wissen, in welchem Sinne der Urheber des Wortes Alexie dasselbe gebraucht hat. Es ist mir bis jetzt unmöglich gewesen, dieses Beides herauszubringen. Aber müssen wir denn durchaus annehmen, dass der Vater dieses Wortes dasselbe in einem so fehlerhaften Sinne gebraucht hat? Λέγω**)S. Griechisch-Deutsches Handwörterbuch von Pape. Bd. II, S. 21. heisst doch im Griechischen nicht blos reden oder sagen , sondern auch legen und es wird in der klassischen Litteratur vielfach in der übertragenen Be -74 deutung zusammenlegen oder sammeln angewendet. Wenn wir nun z. B. den Ausdruck Dyslexie ebenfalls in diesem Sinne verstehen, so würden wir uns vielleicht einer etwas gezwungenen Anwendung des Wortes λέγω, aber keineswegs eines eigentlichen groben Fehlers schuldig machen. Die Dyslexie würde hiernach eine Krankheit bedeuten, bei welcher es dem Patienten schwer wird, die Schriftzeichen zusammen zu fassen. Damit würden wir gerade das Pathognomische des klinischen Symptoms aus - drücken. Auch die Bezeichnungen Alexie und Paralexie würden in diesem Sinne annehmbar sein, ohne das Sprach - gewissen eines noch so zartfühlenden Mediciners allzusehr zu belasten.

[75]
Berlin, Dyslexie.
Fig. 1.
Fig. 2.
[76]
[77]

About this transcription

TextEine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie)
Author Rudolf Berlin
Extent82 images; 19153 tokens; 4777 types; 141835 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationEine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie) Rudolf Berlin. . 74 S. BergmannWiesbaden1887.

Identification

SUB Göttingen SUB Göttingen, 8 MED PRACT 408/27

Physical description

Antiqua

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Medizin; Wissenschaft; Medizin; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:29:03Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibrarySUB Göttingen
ShelfmarkSUB Göttingen, 8 MED PRACT 408/27
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.