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BRUCKMANN’SCHE BUCH - UND KUNSTDRUCKEREI MÜNCHEN
Dem Physiologen Hofrat Professor Doktor JULIUS WIESNER derzeit Rektor der Universität zu Wien in Verehrung und Dankbarkeit zugleich als Bekenntnis bestimmter wissenschaftlicher und philosophischer Überzeugungen zugeeignet.
Der Weisheitsliebende steht mitten inne zwischen dem Gelehrten und dem Ignoranten.(Plato. )
Den Charakter dieses Buches bedingt der Umstand, dass sein Verfasser ein ungelehrter Mann ist. Gerade in seiner Ungelehrtheit schöpfte er den Mut zu einem Unternehmen, vor welchem mancher bessere Mann erschrocken hätte zurückweichen müssen. Nur musste natürlich der Verfasser selber hierüber Klarheit besitzen: sein Wollen musste er nach seinem Können richten. Das that er, eingedenk des Goethe’schen Wortes: » der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertig - keiten bewegt «. Nicht einen Augenblick bildete er sich ein, seinem Buche komme wissenschaftlicher Wert zu. Hat er z. B. ziemlich viele Citate und Litteraturnachweise gegeben, so ist das teils zur Ergänzung allzu kurzer Ausführungen, teils als Anregung für ebenso ungelehrte Leser geschehen, manchmal auch als Stütze für Meinungen, die nicht Mode sind; noch eine Erwägung kam hinzu: ein Gelehrter, der über sein Specialfach schreibt — ein Treitschke, ein F. A. Lange, ein Huxley — kann auch ohne sich zu rechtfertigen Behauptungen aufstellen; hier durfte das nicht geschehen; erhält also an einigen Stellen das Buch durch die vielen Anmerkungen ein gelehrtes Aus - sehen, so wolle man darin nicht Anmassung sondern ihr Gegenteil erblicken. Ein Prunken mit Wissen und Belesenheit würde lächerlich bei einem Manne gewesen sein, dessen Wissen nicht aur die Quellen zurückgeht und dem stets als Ideal vorschwebte, nicht möglichst viel zu lesen, sondern so wenig wie nur irgend thunlich und bloss das Allerbeste.
Wer weiss, ob dem heute so verrufenen Dilettantismus nicht eine wichtige Aufgabe bevorsteht? Die Specialisation macht täglichVIIIVorwort.Fortschritte; das muss auch so sein. Wer diplomatische Geschichte schreibt, darf über wirtschaftliche Geschichte nicht mitreden, wer byzantinische Litteratur studiert, hat sich eine so anspruchsvolle Lebensaufgabe erwählt, dass er Schnitzer macht und von den be - treffenden Fachmännern zurechtgewiesen wird, sobald er auf frühere oder spätere Zeiten überzugreifen wagt, der Histolog ist heute nur in einem beschränkten, mehr oder weniger dilettantenhaften Sinne des Wortes Zoolog (und umgekehrt), der Systematiker vermag es nicht, wie früher, in der Physiologie etwas von Bedeutung zu leisten: mit einem Wort, die strengste Beschränkung ist jetzt das eiserne Gesetz aller exakten Wissenschaft. Wer sieht aber nicht ein, dass Wissen immer erst an den Grenzscheiden lebendiges Interesse gewinnt? Jedes Fachwissen ist an und für sich vollkommen gleichgültig; erst durch die Beziehung auf Anderes erhält es Bedeutung. Was sollten uns die zehntausend Thatsachen der Histologie, wenn sie nicht zu einer gedankenvolleren Auffassung der Anatomie und der Physiologie, zu einer sicherern Erkenntnis mancher Krankheitserscheinungen, zu psychologischen Beobachtungen und, im letzten Grunde, zu einer philosophischen Betrachtung allgemeiner Naturphänomene führten? Das trifft überall zu. Nie z. B. erwächst die Philologie zu so hoher Bedeutung für unser ganzes Denken und Thun, als wenn sie auf Probleme der Anthropologie und Ethnographie Anwendung findet und in unmittelbare Beziehung zur Prähistorie des Menschenge - schlechts, zur Rassenfrage, zur Psychologie der Sprache u. s. w. tritt; nirgends kann reine Naturwissenschaft gestaltend in das Leben der Gesellschaft eingreifen, ausser wo sie zu philosophischer Würde heranwächst, und da muss doch offenbar entweder der Philosoph nebenbei ein Naturforscher sein oder der Naturforscher philosophieren. Und so sehen wir denn die Fachmänner, obwohl sie es nach ihrer eigenen Lehre nicht dürften, obwohl sie nicht müde werden, das, was sie Dilettantismus heissen, mit dem höchsten Bann zu belegen, wir sehen sie überall ihre Grenzen überschreiten; wer recht auf - merksam nach allen Seiten hin beobachtet, wird die Überzeugung gewinnen, dass die gefährlichsten Dilettanten die Gelehrten selber sind. Zwar an eine mikrokosmische Zusammenfassung wagt sich heute Keiner von ihnen, auch die ihnen zunächst liegenden Fächer vermeiden sie ängstlich, in entfernte springen sie dagegen beherzt hinüber: Juristen sehen wir in der Philologie sich herumtummeln, Metaphysiker den Indologen Sanskrit lehren, Philologen über BotanikIXVorwort.und Zoologie mit beneidenswerter Nonchalance reden, Ärzte, deren Ordinationsstunden in urwäldlicher Ungestörtheit verlaufen, sich die Metaphysik zur Leichenschau vornehmen, Theologen über das Alter von Handschriften urteilen, wo man glauben sollte, nur ein historisch geübter Grapholog im Bunde mit einem Mikrochemiker besässe hierzu die Kompetenz, Psychologen, die in ihrem Leben keinen Seciersaal betraten, an die genaue Lokalisation der Gehirnfunktionen die interessantesten Hypothesen knüpfen — — — Ja, was sehen wir bei den Berühmtesten unserer Zeit? Ein Darwin musste nolens volens Philosoph werden, sogar ein wenig Theolog, ein Schopen - hauer hielt seine » Vergleichende Anatomie « für seine beste Schrift, Hegel schrieb eine Weltgeschichte, Grimm widmete seine besten Jahre juristischen Aufgaben, Jhering, der grosse Rechtslehrer, fühlte sich nirgends so wohl wie beim Aufbau etymologischer und archäologischer Luftschlösser! Kurz, die Reaktion gegen die enge Knechtschaft der Wissenschaft bricht sich gerade bei den Gelehrten Bahn; nur die Mittelmässigen unter ihnen halten es dauernd in der Kerkerluft aus, die Begabten sehnen sich nach dem Leben und fühlen, dass jegliches Wissen nur durch die Berührung mit einem andern Wissen Gestalt und Sinn gewinnt.
Sollte nun ein aufrichtiger, offen eingestandener Dilettantismus nicht gewisse Vorzüge vor dem versteckten haben? Wird nicht die Situation eine hellere sein, wenn der Verfasser gleich erklärt: ich bin auf keinem Felde ein Fachgelehrter? Ist es nicht möglich, dass eine umfassende Ungelehrtheit einem grossen Komplex von Erscheinungen eher gerecht werden, dass sie bei der künstlerischen Gestaltung sich freier bewegen wird als eine Gelehrsamkeit, welche durch intensiv und lebenslänglich betriebenes Fachstudium dem Denken bestimmte Furchen eingegraben hat? Wenn nur nicht alle methodischen Grund - lagen fehlen, wenn die Absicht eine edle, nützliche ist, das Ziel ein klares, die Hand am Steuerruder eine feste, welche das Schiff zwischen der steilen Scylla der reinen Wissenschaft (einzig den ihr Geweihten erreichbar) und der Charybdis der Verflachung sicher hindurchzusteuern vermag, wenn aufopferungsvoller Fleiss dem Ganzen den Stempel ehr - licher Arbeit aufdrückt, dann darf der ungelehrte Mann ohne Scheu eingestehen, was ihn beschränkt, und dennoch auf Anerkennung hoffen.
Ganz ohne wissenschaftliche Schulung ist der Verfasser dieses Buches nicht, und, hat ihn auch eine Fügung des Schicksals aus der er -XVorwort.wählten Laufbahn entfernt, so hat er sich doch, neben dem unvergäng - lichen Eindruck der Methodik und der unbedingten Achtung vor den Thatsachen, welche die Naturforschung ihren Jüngern einprägt, für alle Wissenschaft Verehrung und leidenschaftliche Liebe bewahrt. Jedoch er durfte und er musste sich sagen, dass es etwas giebt, höher und heiliger als alles Wissen: das ist das Leben selbst. Was hier ge - schrieben steht, ist erlebt. Manche thatsächliche Angabe mag ein überkommener Irrtum, manches Urteil ein Vorurteil, manche Schluss - folgerung ein Denkfehler sein, ganz unwahr ist nichts; denn die verwaiste Vernunft lügt häufig, das volle Leben nie: ein bloss Ge - dachtes kann ein luftiges Nichts, die Irrfahrt eines losgerissenen Individuums sein, dagegen wurzelt ein tief Gefühltes in Ausser - und Überpersönlichem, und mag auch Vorurteil und Ignoranz die Deutung manchmal fehlgestalten, ein Kern lebendiger Wahrheit muss darin liegen.
Als Wappeninschrift hat der Verfasser den Spruch geerbt:
Spes et Fides.
Er deutet ihn auf das Menschengeschlecht. So lange es noch echte Germanen auf der Welt giebt, so lange können und wollen wir hoffen und glauben. 1)Über die genaue Bedeutung, welche in diesem Buche dem Worte » Germane « beigelegt wird, siehe das sechste Kapitel.Dies die Grundüberzeugung, aus der das vorliegende Werk hervorgegangen ist.
Was hier vorliegt, ist der erste Band eines umfassender gedachten Werkes, wie das die allgemeine Einleitung meldet. Dieser Band bildet aber ein durchaus selbständiges Ganzes, welches die » Grundlagen « der Strömungen, Ideen, Gestaltungen unseres Jahrhunderts behandelt. Der zweite Band wird erst dann erscheinen, wenn die vielen fach - männischen Sammelwerke über das neunzehnte Jahrhundert vollendet vorliegen, so dass ein zusammenfassender Überblick möglich wird, ohne die Gefahr, Wesentliches übersehen zu haben. Inzwischen bildet dieser Band eine Ergänzung zu jenen Specialerörterungen, sowie zu jedem Überblick über die Geschichte des Jahrhunderts, eine Er - gänzung, welche hoffentlich Manchem ebenso sehr Bedürfnis sein wird, wie es dem Verfasser Bedürfnis war, sich gerade über diese Grundlagen Klarheit zu verschaffen.
XIVorwort.Es erübrigt noch festzustellen, dass dieses Buch sein Entstehen der Initiative des Verlegers, Herrn Hugo Bruckmann, verdankt. Kann er insofern von einer gewissen Verantwortlichkeit nicht freigesprochen werden, denn er hat dem Verfasser ein Ziel gesteckt, an das er sonst kaum zu denken gewagt hätte, so ist es Diesem zugleich ein Bedürfnis, seinem Freunde Bruckmann öffentlich für das Interesse und die Unterstützung zu danken, die er dem Werke in allen Stadien seiner Entstehung gewidmet hat. Warmen Dank schuldet der Ver - fasser ebenfalls seinem innig verehrten Freunde, Herrn Gymnasial - oberlehrer Otto Kuntze in Stettin, für die gewissenhafte Durchsicht des ganzen Manuskriptes, sowie für manchen wertvollen Wink.
Wien, im Herbst 1898.
Houston Stewart Chamberlain.
Vorwort.
Allgemeine Einleitung.
Plan des Werkes S. 3. — Der erste Band S. 6. — Der Angelpunkt S. 7. — Das Jahr 1200 S. 11. — Zweiteilung des ersten Bandes S. 16. — Der zweite Band S. 20. — Anonyme Kräfte S. 22. — Das Genie S. 26. — Verallgemeinerungen S. 27. — Das 19. Jahrhundert S. 30.
Das Menschwerden S. 53. — Tier und Mensch S. 56. — Homer S. 63. — Künstlerische Kultur S. 69. — Das Gestalten S. 75. — Plato S. 78. — Aristoteles S. 82. — Naturwissenschaft S. 83. — Oeffentliches Leben S. 89. — Geschichts - lügen S. 90. — Verfall der Religion S. 98. — Metaphysik S. 106. — Theologie S. 112. — Teleologie S. 115. — Schlusswort S. 117.
Disposition S. 121. — Römische Geschichte S. 123. — Römische Ideale S. 130. — Der Kampf gegen die Semiten S. 137. — Das kaiserliche Rom S. 146. — Staatsrechtliches Erbe S. 149.
Juristische Technik S. 156. — Naturrecht S. 159. — Römisches Recht S. 163. — Die Familie S. 172. — Die Ehe S. 176. — Das Weib S. 178. — Poesie und Sprache S. 181. — Zusammenfassung S. 185.
Einleitendes S. 189. — Die Religion der Erfahrung S. 191. — Buddha und Christus S. 195. — Buddha S. 197. — Christus S. 199.
Die Galiläer S. 209. — Religion S. 220. — Christus kein Jude S. 227. — Geschichtliche Religion S. 233. — Der Wille bei den Semiten S. 241. — Prophetismus S. 247. — Christus ein Jude S. 247. — Das 19. Jahrhundert S. 249.
Einleitendes.
S. 255.
Wissenschaftliche Wirrnis S. 263. — Bedeutung von Rasse S. 271. — Die fünf Grundgesetze S. 277. — Andere Einflüsse S. 288. — Die Nation S. 290. — Der Held S. 294. — Das rassenlose Chaos S. 296. — Lucian S. 298. — Augustinus S. 304. — Asketischer Wahn S. 308. — Heiligkeit reiner Rasse S. 310. — Die Germanen S. 313.
Die Judenfrage S. 323. — Das » fremde Volk « S. 329. — Historische Vogel - schau S. 332. — Consensus ingeniorum S. 335. — Fürsten und Adel S. 338. — Innere Berührung S. 341. — Wer ist der Jude? S. 342.
Gliederung der Untersuchung S. 345. — Entstehung des Israeliten S. 348. — Der echte Semit S. 355. — Der Syrier S. 357. — Der Amoriter S. 366. — Ver - gleichende Zahlen S. 370. — Rassenschuldbewusstsein S. 372. — Homo syriacus S. 375. — Homo europaeus S. 378. — Homo arabicus S. 379. — Homo judaeus S. 388. — Exkurs über semitische Religion S. 391. — Israel und Juda S. 415. — Das Werden des Juden S. 421. — Der neue Bund S. 435. — Die Propheten S. 436. — Die Rabbiner S. 441. — Der Messianismus S. 445. — Das Gesetz S. 451. — Die Thora S. 453. — Das Judentum S. 455.
Der Begriff » Germane « S. 463. — Erweiterung des Begriffes S. 466. — Der Keltogermane S. 467. — Der Slavogermane S. 471. — Die Reformation S. 477. — Beschränkung des Begriffes S. 482. — Das blonde Haar S. 486. — Die Gestalt des Schädels S. 489. — Rationelle Anthropologie S. 495. — Physiognomik S. 499. — Freiheit und Treue S. 502. — Ideal und Praxis S. 509. — Germane und Antigermane S. 511. — Ignatius von Loyola S. 521. — Rück - blick S. 528. — Ausblick S. 529.
Christus und Christentum S. 545. — Das religiöse Delirium S. 547. — Die zwei Grundpfeiler S. 548. — Arische Mythologie S. 553. — Aeussere Mythologie S. 553. — Entstellung der Mythen S. 556. — Innere Mythologie S. 559. — Der Kampf um die Mythologie S. 563. — Jüdische Weltchronik S. 568. — Der unlösbare Zwist S. 575. — Paulus und Augustinus S. 578. — Paulus S. 580. — Augustinus S. 593. — Die drei Hauptrichtungen S. 600. — Der » Osten « S. 601. — Der » Norden « S. 608. — Karl der Grosse S. 617. — Dante S. 619. — Religiöse Rasseninstinkte S. 623. — Rom S. 626. — Der Sieg des Völkerchaos S. 635. — Heutige Lage S. 644. — Oratio pro domo S. 647.
Das germanische Italien S. 693. — Der germanische Baumeister S. 700. — Die angebliche » Menschheit « S. 703. — Die angebliche » Renaissance « S. 712. — Fortschritt und Entartung S. 714. — Historisches Kriterium S. 720. — Innere Gegensätze S. 723. — Die germanische Welt S. 725. — Die Notbrücke S. 728. —
Die Elemente des sozialen Lebens S. 729. — Vergleichende Analysen S. 739. — Der Germane S. 747.
Die angeborene Befähigung S. 752. — Die treibenden Kräfte S. 755. — Die Natur als Lehrmeisterin S. 759. — Die hemmende Umgebung S. 762. — Die Einheit des Entdeckungswerkes S. 769. — Der Idealismus S. 775.
Unsere wissenschaftliche Methode S. 778. — Hellene und Germane S. 787. — Das Wesen unserer Systematik S. 789. — Idee und Theorie S. 794. — Das Ziel unserer Wissenschaft S. 806.
Vergänglichkeit aller Civilisation S. 808. — Autonomie unserer neuen Industrie S. 812. — Das Papier S. 815.
Kooperation und Monopol S. 821. — Innungen und Kapitalisten S. 824. — Bauer und Grossgrundbesitzer S. 829. — Syndikatswesen und Sozialismus S. 833. — Die Maschine S. 837.
Die Kirche S. 838. — Martin Luther S. 840. — Die französische Revolution S. 848. — Die Angelsachsen S. 854.
Die zwei Wege S. 858. — Der Weg der Wahrhaftigkeit S. 861. — Der Weg der Unwahrhaftigkeit S. 862. — Die Scholastik S. 864. — Rom und Anti - Rom S. 867. — Die vier Gruppen S. 870. — Die Theologen S. 870. — Die Mystiker S. 876. — Die Humanisten S. 891. — Die naturforschenden Philo - sophen S. 897. — Die Beobachtung der Natur S. 900. — Das exakte Nichtwissen S. 905. — Idealismus und Materialismus S. 913. — Das erste Dilemma S. 914. — Das metaphysische Problem S. 917. — Die Natur und das Ich S. 925. — Das zweite Dilemma S. 929. — Wissenschaft und Religion S. 932. — Die Religion S. 937. — Christus und Kant S. 942.
Der Begriff » Kunst « S. 946. — Kunst und Religion S. 950. — Der tonvermählte Dichter S. 955. — Kunst und Wissenschaft S. 961. — Die Kunst als ein Ganzes S. 971. — Das Primat der Poesie S. 974. — Die germanische Tonkunst S. 976. — Das Musikalische S. 987. — Der Naturalismus S. 989. — Der Kampf um die Eigenart S. 994. — Der innere Kampf S. 997. — Shakespeare und Beethoven S. 998. — Zusammenfassung S. 1001. — Schlusswort S. 1002.
Alles beruht auf Inhalt, Gehalt und Tüchtigkeit eines zuerst aufgestellten Grundsatzes und auf der Reinheit des Vorsatzes. Goethe.
Da das Werk, dessen erster Band hier vorliegt, nicht aus aneinander -Plan des Werkes. gereihten Bruchstücken bestehen soll, sondern gleich anfangs als eine organische Einheit concipiert und in allen seinen Teilen ausführlich entworfen wurde, muss es die vorzüglichste Aufgabe dieser allgemeinen Einleitung sein, Aufschluss über den Plan des vollständigen Werkes zu geben. Zwar bildet dieser erste Band ein abgeschlossenes Ganzes, doch wäre dieses Ganze nicht das, was es ist, wenn es nicht als Teil eines besonderen grösseren Gedankens entstanden wäre. Dieser Ge - danke muss also » dem Teil, der anfangs alles ist «, vorausgeschickt werden.
Welche Beschränkungen dem Einzelnen auferlegt werden, wenn er einer unübersehbaren Welt von Thatsachen allein entgegentritt, das bedarf nicht erst ausführlicher Erörterung. Wissenschaftlich lässt sich die Bewältigung einer derartigen Aufgabe gar nicht versuchen; einzig künstlerische Gestaltung vermag hier (im glücklichen Falle), getragen von jenen geheimen Parallelismen zwischen dem Geschauten und dem Gedachten, von jenem Gewebe, welches — äthergleich — die Welt nach jeder Richtung allverbindend durchzieht, ein Ganzes hervorzu - bringen, und zwar, trotzdem nur einiges Wenige, nur Bruchstücke ver - wendet werden. Gelingt dies dem Künstler, so war sein Werk nicht überflüssig; denn ein Unübersehbares ist nunmehr übersichtlich ge - worden, ein Ungestaltetes hat Gestalt gewonnen. Für diesen Zweck ist nun der Vereinzelte gegenüber einer Vereinigung selbst tüchtiger Männer insofern im Vorteil, als nur der Einzelne einheitlich formen kann. Diesen seinen einzigen Vorteil muss er zu benutzen wissen. — Kunst kann nur als Ganzes, Abgeschlossenes in die Erscheinung treten; Wissenschaft dagegen ist notwendigerweise Bruchstück. Kunst vereint, Wissenschaft trennt. Kunst gestaltet, Wissenschaft zergliedert Ge - stalten. Der Mann der Wissenschaft steht gewissermassen auf einem archimedischen Punkte ausserhalb der Welt: das ist seine Grösse, seine sogenannte » Objektivität «; das bildet aber auch seine offenbare1*4Allgemeine Einleitung.Schwäche, denn sobald er das Gebiet des thatsächlich Beobachteten verlässt, um die Mannigfaltigkeit der Erfahrung zur Einheit der Vor - stellung und des Begriffes zu reduzieren, hängt er in Wahrheit an Fäden der Abstraktion im leeren Raume. Dagegen steht der Künstler im Mittelpunkt der Welt (das heisst also seiner Welt), und so weit seine Sinne reichen, so weit reicht auch seine Gestaltungskraft; denn diese ist ja die Bethätigung seines individuellen Daseins in lebendiger Wechselwirkung mit der Umgebung. Deswegen darf man ihm aber auch aus seiner » Subjektivität « keinen Vorwurf machen, denn sie ist die Grundbedingung seines Schaffens. — Nun handelt es sich aber im vorliegenden Falle um einen historisch genau umschriebenen und ewig festgebannten Gegenstand. Unwahrheit wäre lächerlich, Will - kür unerträglich; der Verfasser darf also nicht mit Michelangelo sprechen: in dieses Blatt, in diesen Stein kommt kein Inhalt, den ich nicht hineinlege:
Im Gegenteil, unbedingte Achtung vor den Thatsachen muss sein Leitstern sein. Er darf nicht Künstler im Sinne des freischöpferischen Genies sein, sondern nur in dem beschränkten Verstande eines an die Methoden der Kunst sich Anlehnenden. Gestalten soll er, doch nur das, was da ist, nicht das, was seine Phantasie ihm etwa vorspiegelt. Geschichtsphilosophie ist eine Wüste, Geschichtsphantasie ein Narren - haus. Darum müssen wir von jenem künstlerischen Gestalter eine durchaus positive Geistesrichtung und ein streng wissenschaftliches Gewissen fordern. Ehe er meint, muss er wissen; ehe er gestaltet, muss er prüfen. Er darf sich nicht Herr wähnen, er ist Diener: Diener der Wahrheit.
Obige Bemerkungen reichen wohl hin, um über die allgemeinen Prinzipien zu orientieren, welche bei dem Entwurf des vorliegenden Werkes massgebend waren. Jetzt wollen wir aus den luftigen Höhen der philosophischen Grundsätze zur Erde niedersteigen. Ist die Ge - staltung des vorhandenen Materials in allen derartigen Fällen die einzige Aufgabe, die der Einzelne sich zutrauen darf, wie hat er hier, in diesem besonderen Falle, die Gestaltung zu versuchen?
Das neunzehnte Jahrhundert! Das Thema dünkt uner - schöpflich; ist es auch. Nur dadurch konnte es » gebändigt « werden, dass es weiter gefasst wurde. Das scheint paradox, ist aber wahr. Sobald5Allgemeine Einleitung.der Blick lange und liebend auf der Vergangenheit geruht hat, aus der unter so vielen Schmerzen die Gegenwart hervorgegangen ist, sobald das lebhafte Empfinden der grossen geschichtlichen Grundthat - sachen heftig widerstreitende Gefühle im Herzen in Bezug auf den heutigen Tag erregt hat: Furcht und Hoffnung, Empörung und Be - geisterung, alle in eine Zukunft hinausweisend, deren Gestaltung unser Werk sein muss und der wir nunmehr mit sehnsuchtsvoller Ungeduld entgegensehen, entgegenarbeiten — da schrumpft das grosse, unübersehbare neunzehnte Jahrhundert auf ein verhältnismässig Ge - ringes zusammen; wir haben gar nicht mehr die Zeit, uns bei Einzel - heiten aufzuhalten, nur die grossen Züge wollen wir fest und klar vor Augen haben, damit wir wissen, wer wir sind und wohin unser Weg geht. Nunmehr ist die Perspektive für das gesteckte Ziel günstig; nunmehr kann der Einzelne sich heranwagen. Der Grundriss seines Werkes ist ihm so deutlich vorgezeichnet, dass er ihn nur getreulich nachzuzeichnen braucht.
Der Grundriss meines Werkes ist nun folgender. In dem ersten vorliegenden Band behandle ich die vorangegangenen acht - zehn Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, wobei mancher Blick auch auf ferner zurückliegende Zeiten fällt; doch handelt es sich hierbei keineswegs um eine Geschichte der Vergangenheit, sondern einfach um jene Vergangenheit, welche heute noch lebendig ist; und zwar ist das so viel und die genaue, kritische Kenntnis davon ist für jedes Urteil über die Gegenwart so unentbehrlich, dass ich das Studium dieser » Grundlagen « unseres Säculums fast für das wichtigste Geschäft des ganzen Unternehmens halten möchte. Der zweite Band wäre dem 19. Jahrhundert gewidmet; natürlich kann es sich in einem derartigen Werk nur um die grossen leitenden Ideen handeln, und zwar wird diese Aufgabe durch den vorangegangenen ersten Band, in welchem das Auge immer wieder auf unser Jahrhundert gerichtet worden war, unendlich vereinfacht und erleichtert. Ein Anhang würde dem Versuch gelten, die Bedeutung des 19. Jahrhunderts an - nähernd zu bestimmen; dies kann nur durch den Vergleich geschehen, wozu wieder der erste Band den Boden bereitet hätte; hierdurch ent - steht aber ausserdem eine Art Ahnung der Zukunft, kein willkürliches Phantasiebild, sondern gleichsam ein Schatten, den die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit wirft. Jetzt erst stünde das Jahrhundert ganz plastisch vor unseren Augen — nicht in Gestalt einer Chronik oder eines Lexikons, sondern als ein lebendiges » körperhaftes « Gebilde.
6Allgemeine Einleitung.Soviel über den allgemeinen Grundriss. Damit er aber selber nicht so schattenhaft bleibe wie die Zukunft, muss ich jetzt einiges Nähere über die Ausführung mitteilen. Was allerdings die be - sonderen Ergebnisse meiner Methode anbelangt, so glaube ich sie nicht schon hier vorweg nehmen zu sollen, da sie nur im Zusammen - hang der ungekürzten Darlegung überzeugend wirken können.
In diesem ersten Band musste ich also die Grundlagen auf - zufinden suchen, auf welchen unser Jahrhundert ruht; dies dünkte mich, wie gesagt, die schwerste und wichtigste Pflicht des ganzen Vorhabens; darum widmete ich ihm einen vollen Band. Denn in der Geschichte heisst Verstehen: die Gegenwart aus der Vergangenheit sich entwickeln sehen; selbst wo wir vor einem weiter nicht zu Erklärenden stehen, was bei jeder hervorragenden Persönlichkeit, bei jeder neu ein - tretenden Volksindividualität der Fall, sehen wir diese an Vorangegangenes anknüpfen und finden dann selber auch nur dort den unentbehrlichen Anknüpfungspunkt für unser Urteil. Ziehen wir eine imaginäre Grenze zwischen unserem Jahrhundert und den vorangegangenen, so schwindet mit einem Schlage jede Möglichkeit eines kritischen Verständnisses. Das neunzehnte Jahrhundert ist nämlich nicht das Kind der früheren — denn ein Kind fängt das Leben von Neuem an — vielmehr ist es ihr unmittelbares Erzeugnis: mathematisch betrachtet eine Summe, physiologisch eine Altersstufe. Wir erbten eine Summe von Kennt - nissen, Fertigkeiten, Gedanken u. s. w., wir erbten eine bestimmte Verteilung der wirtschaftlichen Kräfte, wir erbten Irrtümer und Wahr - heiten, Vorstellungen, Ideale, Aberglauben: manches so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir wähnen, es könnte nicht anders sein, manches verkümmert, was früher viel verhiess, manches so ur - plötzlich in die Höhe geschossen, dass es den Zusammenhang mit dem Gesamtleben fast eingebüsst hat, und, während die Wurzeln dieser neuen Blumen in vergessene Jahrhunderte hinunterreichen, die phan - tastischen Blütenrispen für unerhört Neues gehalten werden. Vor Allem erbten wir das Blut und den Leib, durch die und in denen wir leben. Wer die Mahnung » Erkenne dich selbst « ernst nimmt, wird bald zur Erkenntnis gelangen, dass sein Selbst mindestens zu neun Zehnteln ihm nicht selber angehört. Und das gilt ebenso von dem Geist eines ganzen Jahrhunderts. Ja, der hervorragende Einzelne, der vermag es, indem er über seine physische Stellung in der Mensch -7Allgemeine Einleitung.heit sich klar wird und sein geistiges Erbe analytisch zergliedert, zu einer relativen Freiheit durchzudringen; so wird er sich seiner Be - dingtheit wenigstens bewusst und, kann er sich auch selber nicht um - wandeln, er kann wenigstens auf die Richtung der Weiterentwickelung Einfluss gewinnen; ein ganzes Jahrhundert dagegen eilt unbewusst wie es das Schicksal treibt: sein Menschenmaterial ist die Frucht dahingeschwundener Generationen, sein geistiger Schatz — Korn und Spreu, Gold, Silber, Erz und Thon — ist ein ererbter, seine Richtungen und Schwankungen ergeben sich mit mathematischer Notwendigkeit aus den vorhergegangenen Bewegungen. Nicht allein also der Ver - gleich, nicht allein die Feststellung der charakteristischen Merkmale, der speziellen Eigenschaften und Leistungen unseres Jahrhunderts ist ohne Kenntnis der vorangegangenen unmöglich, sondern wir vermögen es auch nicht, irgend etwas über dieses Jahrhundert an und für sich auszusagen, wenn wir nicht zunächst Klarheit erlangt haben über das Material, aus welchem wir leiblich und geistig aufgebaut sind. Dies ist, ich wiederhole es, das allerwichtigste Geschäft.
Da ich nun in diesem Buche an die Vergangenheit anknüpfe,Der Angelpunkt. war ich gezwungen, ein historisches Zeitschema zu entwerfen. Doch insofern meine Geschichte einem unmessbaren Augenblick — der Gegenwart — gilt, der keinen bestimmten zeitlichen Abschluss ge - stattet, bedarf sie ebensowenig eines zeitlich bestimmten Anfangs. Unser Jahrhundert weist hinaus in die Zukunft, es weist auch zurück in die Vergangenheit: in beiden Fällen ist eine Begrenzung nur der Bequemlichkeit halber zulässig, doch nicht in den Thatsachen gegeben. Im Allgemeinen habe ich das Jahr 1 der christlichen Zeitrechnung als den Anfang unserer Geschichte betrachtet und habe diese Auf - fassung in den einleitenden Worten zum ersten Abschnitt näher begründet; doch wird man sehen, dass ich mich nicht sklavisch an dieses Schema gehalten habe. Sollten wir jemals wirkliche Christen werden, dann allerdings wäre dasjenige, was hier nur angedeutet, nicht ausgeführt werden konnte, eine historische Wirklichkeit, denn das würde die Geburt eines neuen Geschlechtes bedeuten: vielleicht wird das vierundzwanzigste Jahrhundert, bis zu welchem etwa die Schatten des unsrigen in schmalen Streifen sich erstrecken, klarere Umrisse zeichnen können? Musste ich nun Anfang und Ende in eine unbegrenzte penombra sich verlaufen lassen, umso unumgänglicher bedurfte ich eines scharfgezogenen Mittelstriches, und zwar konnte ein beliebiges Datum hier nicht genügen, sondern es kam darauf an, den8Allgemeine Einleitung.Angelpunkt der Geschichte Europas zu bestimmen. Das Erwachen der Germanen zu ihrer welthistorischen Bestimmung als Begründer einer durchaus neuen Civilisation und einer durchaus neuen Kultur bildet diesen Angelpunkt; das Jahr 1200 kann als der mittlere Augen - blick dieses Erwachens bezeichnet werden.
Dass die nördlichen Europäer die Träger der Weltgeschichte geworden sind, wird wohl kaum jemand zu leugnen sich vermessen. Zwar standen sie zu keiner Zeit allein, weder früher noch heute; im Gegenteil, von Anfang an entwickelte sich ihre Eigenart im Kampfe gegen fremde Art, zunächst gegen das Völkerchaos des verfallenen römischen Imperiums, nach und nach gegen alle Rassen der Welt; es haben also auch Andere Einfluss — sogar grossen Einfluss — auf die Geschicke der Menschheit gewonnen, doch dann immer nur als Widersacher der Männer aus dem Norden. Was mit dem Schwert in der Hand ausgefochten wurde, war das Wenigste; der wahre Kampf war der Kampf um die Ideen, wie ich das in den Kapiteln 7 und 8 dieses ersten Bandes zu zeigen versucht habe; dieser Kampf dauert noch heute fort. Waren aber die Germanen bei der Gestaltung der Geschichte nicht die Einzigen, so waren sie doch die Unvergleichlichen: alle Männer, die vom 6. Jahrhundert ab als wahre Gestalter der Geschicke der Menschheit auftreten, sei es als Staatenbildner, sei es als Erfinder neuer Gedanken und origineller Kunst, gehören ihnen an. Was die Araber gründen, ist von kurzer Dauer; die Mongolen zerstören, aber schaffen nichts; die grossen Italiener des rinascimento stammen alle aus dem mit lombardischem, gotischem und fränkischem Blute durchsetzten Norden oder aus dem germano-hellenischen äussersten Süden; in Spanien bilden die West - goten das Lebenselement; die Juden erleben ihre heutige » Wieder - geburt «, indem sie sich auf jedem Gebiete möglichst genau an ger - manische Muster anschmiegen — — —. Von dem Augenblick ab, wo der Germane erwacht, ist also eine neue Welt im Entstehen, eine Welt, die allerdings nicht rein germanisch wird genannt werden können, eine Welt, in welcher gerade in unserem Jahrhundert neue Elemente aufgetreten sind, oder wenigstens Elemente, die früher bei dem Entwickelungsprozess weniger beteiligt waren, so z. B. die früher reingermanischen, nunmehr durch Blutmischungen fast durchwegs » ent - germanisierten « Slaven und die Juden, eine Welt, die vielleicht noch grosse Rassenkomplexe sich assimilieren und mithin entsprechende, abweichende Einflüsse in sich aufnehmen wird, jedenfalls aber eine9Allgemeine Einleitung.neue Welt und eine neue Civilisation, grundverschieden von der helleno-römischen, der turanischen, der ägyptischen, der chinesischen und allen andern früheren oder zeitgenössischen. — Als den Anfang dieser neuen Civilisation, d. h. als den Augenblick, wo sie begann, der Welt ihren besonderen Stempel aufzudrücken, können wir, glaube ich, das 13. Jahrhundert bestimmen. Zwar hatten Einzelne schon weit früher germanische Eigenart in kultureller Thätigkeit be - währt — wie König Alfred, Karl der Grosse, Scotus Erigena u. s. w. — doch nicht Einzelne, sondern Gesamtheiten machen Geschichte; diese Einzelnen waren nur Vorbereiter gewesen; um eine civilisatorische Gewalt zu werden, musste der Germane in breiten Schichten zur Be - thätigung seines Eigenwillens im Gegensatz zu dem ihm aufgedrungenen fremden Willen erwachen und erstarken. Das geschah nicht auf ein - mal, es geschah auch nicht auf allen Lebensgebieten zugleich; insofern ist die Wahl des Jahres 1200 als Grenze eine willkürliche, doch glaube ich sie in folgendem rechtfertigen zu können und habe alles gewonnen, wenn es mir hierdurch gelingt, jene beiden Undinge — die Be - griffe eines Mittelalters und einer Renaissance — zu beseitigen, durch welche mehr als durch irgend etwas anderes das Verständnis unserer Gegenwart nicht allein verdunkelt, sondern geradezu unmög - lich gemacht wird. An die Stelle dieser Schemen, welche Irrtümer ohne Ende erzeugen, wird dann die einfache und klare Erkenntnis treten, dass unsere gesamte heutige Civilisation und Kultur das Werk einer bestimmten Menschenart ist: des Germanen. 1)Unter diesem Namen fasse ich die verschiedenen Glieder der einen grossen nordeuropäischen Rasse zusammen, gleichviel ob Germanen im engeren, taciteischen Sinne des Wortes oder Kelten oder echte Slaven — worüber alles Nähere im sechsten Kapitel nachzusehen ist.Es ist unwahr, dass der germanische Barbar die sogenannte » Nacht des Mittelalters « herauf - beschwor; diese Nacht folgt vielmehr auf den intellektuellen und moralischen Bankrott des durch das untergehende römische Imperium grossgezogenen rassenlosen Menschenchaos; ohne den Germanen hätte sich ewige Nacht über die Welt gesenkt; ohne den unaufhörlichen Widerstand der Nichtgermanen, ohne den unablässigen Krieg, der heute noch aus dem Herzen des nie ausgetilgten Völkerchaos gegen alles Germanische geführt wird, hätten wir eine ganz andere Kulturstufe erreicht als diejenige, deren Zeuge das 19. Jahrhundert war. Ebenso unwahr ist es, dass unsere Kultur eine Wiedergeburt der hellenischen und der römischen ist: erst durch die Geburt des Germanen wurde die10Allgemeine Einleitung.Wiedergeburt vergangener Grossthaten möglich, nicht umgekehrt; und dieser rinascimento, dem wir ohne Frage für die Bereicherung unseres Lebens ewigen Dank schuldig sind, wirkte dennoch mindestens ebenso hemmend wie fördernd und warf uns auf lange Zeit aus unserer gesunden Bahn heraus. Die mächtigsten Schöpfer jener Epoche — ein Shakespeare, ein Michelangelo — können kein Wort griechisch oder lateinisch. Die wirtschaftliche Entwicklung — die Grundlage unserer Civilisation — findet im Gegensatz zu klassischen Traditionen und im blutigen Kampfe gegen imperiale Irrlehren statt. Der grösste aller Irrtümer ist aber die Annahme, dass unsere Civilisation und Kultur der Ausdruck eines allgemeinen Fortschrittes der Menschheit sei; es zeugt keine einzige Thatsache der Geschichte für diese so beliebte Deutung (wie ich das im neunten Kapitel dieses Buches unwiderleglich dargethan zu haben glaube); inzwischen schlägt uns diese hohle Phrase mit Blindheit und wir sehen nicht ein — was doch klar vor Aller Augen liegt — dass unsere Civilisation und Kultur, wie jede frühere und jede andere zeitgenössische, das Werk einer bestimmten, individuellen Menschenart ist, einer Menschenart, die hohe Gaben, doch auch enge unübersteigbare Schranken, wie alles Individuelle, besitzt. Und so schwärmen unsere Gedanken in einem Grenzenlosen, in einer hypothetischen » Menschheit « herum, achten aber dabei des konkret Gegebenen und des in der Geschichte einzig Wirksamen, nämlich des bestimmten Individuums, gar nicht. Daher die Unklarheit unserer geschichtlichen Gliederungen. Denn, zieht man einen Strich durch das Jahr 500, einen zweiten durch das Jahr 1500, und nennt diese tausend Jahre das Mittelalter, so hat man den organischen Körper der Geschichte nicht zerlegt wie ein kundiger Anatom, sondern zerhackt wie ein Fleischer. Die Einnahme Roms durch Odoaker und durch Dietrich von Bern sind nur Episoden in jenem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte, die ein Jahrtausend gewährt hat; das Ent - scheidende, nämlich die Idee des unnationalen Weltimperiums, hörte hiermit so wenig auf zu sein, dass sie im Gegenteil aus der Dazwischen - kunft der Germanen auf lange hinaus neues Leben schöpfte. Während also das Jahr 1, als (ungefähres) Geburtsjahr Christi, ein für die Geschichte des Menschengeschlechts und auch für die blosse Historie ewig denkwürdiges Datum festhält, besagt das Jahr 500 garnichts. Noch schlimmer steht es um das Jahr 1500; denn ziehen wir hier einen Strich, so ziehen wir ihn mitten durch alle bewussten und unbewussten Bestrebungen und Entwickelungen — wirtschaft -11Allgemeine Einleitung.liche, politische, künstlerische, wissenschaftliche — die auch heute unser Leben ausfüllen und einem noch fernen Ziele zueilen. Will man durchaus den Begriff » Mittelalter « festhalten, so lässt sich leicht Rat schaffen: dazu genügt die Einsicht, dass wir Germanen selber, mitsamt unserem stolzen 19. Jahrhundert, in einer » mittleren Zeit « (wie die alten Historiker zu schreiben pflegten), ja, in einem echten Mittelalter mittendrin stecken. Denn das Vorwalten des Provisorischen, des Übergangsstadiums, der fast gänzliche Mangel an Definitivem, Vollendetem, Ausgeglichenem ist ein Kennzeichen unserer Zeit; wir sind in der » Mitte « einer Entwickelung, fern schon vom Anfangspunkte, vermutlich noch fern vom Endpunkte.
Einstweilen möge das Gesagte zur Abweisung anderer Ein - teilungen genügen; die Überzeugung, dass hier nicht willkürliches Gutdünken, sondern die Anerkennung der einen, grossen, grund - legenden Thatsache aller neueren Geschichte vorliegt, wird sich aus dem Studium des ganzen Werkes ergeben. Doch kann ich nicht um - hin, meine Wahl des Jahres 1200 als eines mittleren bequemen Datums noch kurz zu motivieren.
Fragen wir uns nämlich, wo die ersten sicheren Anzeichen sichDas Jahr 1200. bemerkbar machen, dass etwas Neues im Entstehen begriffen ist, eine neue Gestalt der Welt an Stelle der alten, zertrümmerten und an Stelle des herrschenden Chaos, so werden wir sagen müssen, diese charakteristischen Anzeichen sind schon vielerorten im 12. Jahrhundert (in Norditalien bereits im 11.) anzutreffen, sie mehren sich schnell im 13. — dem » glorreichen Jahrhundert «, wie es Fiske nennt — er - reichen im 14. und 15. eine herrliche Frühblüte auf dem sozialen und industriellen Gebiete, in der Kunst im 15. und 16., in der Wissenschaft im 16. und 17., in der Philosophie im 17. und 18. Jahr - hundert. Diese Bewegung geht nicht geradlinig; in Staat und Kirche bekämpfen sich die grundlegenden Prinzipien, und auf den anderen Gebieten des Lebens herrscht viel zu viel Unbewusstsein, als dass nicht die Menschen oft in die Irre laufen sollten; doch der prinzipielle Unterschied besteht darin, ob nur Interessen aufeinander stossen, oder ob ideale, durch bestimmte Eigenart eingegebene Ziele der Menschheit vorschweben: diese Ziele besitzen wir nun seit dem 13. Jahrhundert (etwa); wir haben sie aber noch immer nicht er - reicht, sie schweben in weiter Ferne vor uns, und darauf beruht die Empfindung, dass wir des moralischen Gleichgewichts und der ästhe - tischen Harmonie der Alten noch so sehr ermangeln, zugleich aber12Allgemeine Einleitung.auch die Hoffnung auf Besseres. Der Blick zurück berechtigt in der That zu grossen Hoffnungen. Und, ich wiederhole es, forscht dieser Blick, wo der erste Schimmer dieser Hoffnungsstrahlen deutlich be - merkbar wird, so findet er die Zeit um das Jahr 1200 herum. In Italien hatte schon im 11. Jahrhundert die städtische Bewegung be - gonnen, jene Bewegung, welche zugleich die Hebung von Handel und Industrie und die Gewährung weitgehender Freiheitsrechte an ganze Klassen der Bevölkerung, die bisher unter der zwiefachen Knecht - schaft von Kirche und Staat geschmachtet hatten, erstrebte; im 12. Jahr - hundert war dieses Erstarken des Kernes der europäischen Be - völkerung an Ausdehnung und Kraft dermassen gewachsen, dass zu Beginn des 13. die mächtige Hansa und der rheinische Städte - bund gegründet werden konnten. Über diese Bewegung schreibt Ranke (Weltgeschichte IV, 238): » Es ist eine prächtige, lebensvolle Entwickelung, die sich damit anbahnt — — — — die Städte kon - stituieren eine Weltmacht, an welche die bürgerliche Freiheit und die grossen Staatsbildungen anknüpfen. « Noch vor der endgültigen Grün - dung der Hansa war aber in England, im Jahre 1215, die Magna Charta erlassen worden, eine feierliche Verkündigung der Unantast - barkeit des grossen Prinzipes von der persönlichen Freiheit und der persönlichen Sicherheit. » Keiner darf verurteilt werden anders als den Gesetzen des Landes gemäss. Recht und Gerechtigkeit dürfen nicht verkauft und nicht verweigert werden. « In einigen Ländern Europas ist diese erste Bürgschaft für die Würde des Menschen noch heute nicht Gesetz; seit jenem 15. Juni 1215 ist aber nach und nach daraus ein allgemeines Gewissensgesetz geworden, und wer dagegen verstösst, ist ein Verbrecher, trüge er auch eine Krone. Und noch ein Wichtiges, wodurch die germanische Civilisation sich als von allen anderen dem Wesen nach verschieden erwies: im Verlauf des 13. Jahr - hunderts schwand die Sklaverei und der Sklavenhandel aus Europa (mit Ausnahme von Spanien). Im 13. Jahrhundert beginnt der Über - gang von der Naturalienwirtschaft zur Geldwirtschaft; fast genau im Jahre 1200 beginnt in Europa die Fabrikation des Papiers — ohne Frage die folgenschwerste Errungenschaft der Industrie bis zur Er - findung der Lokomotive. — Man würde aber weit fehl gehen, wollte man allein in dem Aufschwung des Handels und in der Regung freiheitlicher Triebe die Dämmerung eines neuen Tages erblicken. Vielleicht ist die grosse Bewegung des religiösen Gemütes, welche in Franz von Assisi (geb. 1181) ihren mächtigsten Ausdruck ge -13Allgemeine Einleitung.winnt, ein Faktor von noch tiefer eingreifender Wirksamkeit; hierin tritt eine unverfälscht demokratische Regung zu Tage; der Glaube und das Leben solcher Menschen verleugnen sowohl die Despotie der Kirche wie die Despotie des Staates, und sie vernichten die Despotie des Geldes. » Diese Bewegung «, schreibt einer der genauesten Kenner des Franz von Assisi,1)Thode: Franz von Assisi, S. 4. » schenkt der Menschheit die erste Vorahnung allgemeiner Denkfreiheit. « Im selben Augenblick erwuchs zum ersten - mal im westlichen Europa eine ausgesprochene antirömische Bewegung, die der Albigenser, zu drohender Bedeutung. Auch wurden zu gleicher Zeit auf einem anderen Gebiete des religiösen Lebens einige ebenso folgenschwere Schritte gethan: nachdem Peter Abälard († 1142), namentlich durch seine Betonung der Bildlichkeit aller religiösen Vorstellungen, die indoeuropäische Auffassung der Religion gegen die semitische unbewusst verfochten hatte, machten im 13. Jahr - hundert zwei orthodoxe Scholastiker, Thomas von Aquin und Duns Scotus ein für das Kirchendogma ebenso gefährliches Ge - ständnis, indem sie, sonst Gegner, beide übereinstimmend einer von der Theologie unterschiedenen Philosophie das Recht des Daseins einräumten. Und während hier das theoretische Denken sich zu regen begann, legten andere Gelehrte, unter denen vor allen Albertus Magnus (geb. 1193) und Roger Bacon (geb. 1214) hervorragen, die Fundamente der modernen Naturwissenschaft, indem sie die Auf - merksamkeit der Menschen von den Vernunftstreitigkeiten hinweg auf Mathematik, Physik, Astronomie und Chemie lenkten. Auch Dante, ebenfalls ein Kind des 13. Jahrhunderts, ist hier zu nennen, und zwar in hervorragender Weise. » Nel mezzo del cammin di nostra vita «, heisst der erste Vers seiner grossen Dichtung, und er selber, das erste künstlerische Weltgenie der neuen, germanischen Kulturepoche, ist die typische Gestalt für diesen Wendepunkt der Ge - schichte, für den Punkt, wo sie » die Hälfte ihres Weges « zurückge - legt, und nunmehr, nachdem sie jahrhundertelang in rasender Eile bergab geführt hatte, sich anschickte, den steilen, schwierigen Weg auf der gegenüberliegenden Bergwand anzutreten. Manche Anschau - ungen Dante’s in seiner Divina Commedia und in seinem Tractatus de monarchia muten uns an wie der sehnsuchtsvolle Blick eines viel - erfahrenen Mannes aus dem gesellschaftlichen und politischen Chaos, das ihn umgab, hinaus in eine harmonisch gestaltete Welt; dass dieser14Allgemeine Einleitung.Blick gethan werden konnte, ist ein deutliches Zeichen der schon be - gonnenen Bewegung; das Auge des Genies leuchtet den Anderen voran. 1)Ich habe hier nicht das Einzelne seiner scholastisch gefärbten Beweis führungen im Sinne, sondern solche Dinge wie seine Betrachtungen über das Verhältnis der Menschen zu einander (Monarchia, Buch I, Kap. 3 u. 4) oder über die Föderation der Staaten, von denen ein jeder seine eigene Individualität, seine eigene Gesetzgebung beibehalten, der Kaiser aber als » Friedensstifter « und als Richter über das » allen Gemeinsame, allen Gebührende « das einigende Band her - stellen soll (Buch I, Kap. 14). Im Übrigen ist gerade Dante, als echte » Mittel - gestalt «, sehr befangen in den Vorstellungen seiner Zeit und in dichterischen Utopien, worüber im siebenten und namentlich in der Einleitung zum achten Kapitel dieses Buches manches Nähere zu finden ist.Doch, lange vor Dante — das übersehe man nicht — hatte im Herzen des echtesten Germanentums, im Norden, eine poetische Schöpferkraft sich kundgethan, welche allein schon beweist, wie wenig wir einer klassischen Renaissance bedurften, um künstlerisch Unver - gleichliches zu leisten: in dem Jahre 1200 dichteten Chrestien de Troyes, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Gottfried von Strassburg! und ich nenne nur einige der bekanntesten Namen, denn, wie Gottfried sagt: » der Nachtigallen sind noch viel «. Und noch hatte die bedenkliche Scheidung zwischen Dichtkunst und Tonkunst (hervor - gegangen aus dem Kultus der toten Buchstaben) nicht stattgefunden: der Dichter war zugleich Sänger; erfand er das » Wort «, so erfand er dazu den eigenen » Ton « und die eigene » Weise «. Und so sehen wir denn auch die Musik, die ureigenste Kunst der neuen Kultur, zugleich mit den ersten Anzeichen des besonderen Wesens dieser Kultur in durchaus neuer Gestalt, als vielstimmige, harmonische Kunst entstehen. Der erste Meister von Bedeutung in der Behandlung des Kontrapunktes ist der Dichter und Dramatiker Adam de la Halle, geboren 1240. Mit ihm — also mit einem echt germanischen Wort - und Tondichter — beginnt die Entwicklung der eigentlichen Tonkunst, so dass der Musikgelehrte Gevaert schreiben kann: » Désormais l’on peut considérer ce XIIIe siècle, si décrié jadis, comme le siècle initiateur de tout l’art moderne «. Ebenfalls im dreizehnten Jahrhundert entfalteten jene begnadeten Künstler — Nicolo Pisano, Cimabue, Giotto — ihre Talente, denen wir in erster Reihe nicht allein die » Wiedergeburt « der bildenden Künste, sondern vor allem die Geburt einer durchaus neuen Kunst, der modernen Malerei, verdanken. Gerade im 13. Jahrhundert kam auch die gotische Architektur auf (der » ger -15Allgemeine Einleitung.manische Stil «, wie ihn Rumohr mit Recht benennen wollte): fast alle Meisterwerke der Kirchenbaukunst, deren unvergleichliche Schönheit wir heute nur anstaunen, nicht nachahmen können, sind aus jenem einen Säculum. Inzwischen war (kurz vor dem Jahre 1200) in Bologna die erste rein weltliche Universität entstanden, an der nur Jurisprudenz, Philo - sophie und Medizin gelehrt wurden. 1)Die theologische Fakultät wurde erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts errichtet (Savigny).— — — — Man sieht, in wie mannigfaltiger Weise sich ein neues Leben um das Jahr 1200 herum kundzuthun begann. Ein paar Namen würden nichts beweisen; dass aber eine Bewegung alle Länder und alle Kreise erfasst, dass die widersprechendsten Erscheinungen alle auf eine ähnliche Ursache zurück -, und auf ein gemeinsames Ziel hinweisen, das gerade zeigt, dass es sich hier nicht um Zufälliges und Individuelles, sondern um einen grossen, allgemeinen, mit unbewusster Notwendigkeit sich voll - ziehenden Vorgang im innersten Herzen der Gesellschaft handelt. Auch jener eigentümliche » Verfall des historischen Sinnes und ge - schichtlichen Verständnisses um die Mitte des 13. Jahrhunderts «, auf den verschiedene Gelehrte mit Verwunderung aufmerksam machen,2)Siehe z. B. Döllinger: Das Kaisertum Karl’s des Grossen (Akad. Vor - träge III, 156). scheint mir hierher zu gehören: die Menschheit hat eben unter Führung der Germanen ein neues Leben begonnen, sie ist gewisser - massen auf ihrem Wege um eine Ecke gebogen und verliert plötz - lich selbst die letzte Vergangenheit aus den Augen; nunmehr gehört sie der Zukunft an.
Höchst überraschend ist es festzustellen, dass gerade in diesem Augenblick, wo die neue europäische Welt aus dem Chaos zu ent - stehen begann, auch jene Entdeckung der übrigen Erde ihren Anfang nahm, ohne welche unsere aufblühende germanische Kultur die einzig ihr eigentümliche Expansionskraft niemals hätte entwickeln können: in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts führte Marco Polo seine Entdeckungsreisen aus und legte dadurch den Grund zu unserer noch nicht ganz vollendeten Kenntnis der Oberfläche unseres Planeten. Was hiemit gewonnen wird, ist zunächst, und abgesehen von der Erweiterung des Gesichtskreises, die Fähigkeit der Ausdehnung; jedoch diese bedeutet nur etwas Relatives; das Entscheidende ist, dass euro - päische Kraft die gesamte Erde in absehbarer Zeit zu umspannen hoffen darf und somit den alles dahinraffenden Einfällen ungeahnter16Allgemeine Einleitung.und ungebändigter Barbarenkräfte nicht, wie frühere Civilisationen, unterworfen sein wird.
Soviel zur Begründung meiner Wahl des 13. Jahrhunderts als Grenzscheide.
Dass einer derartigen Wahl dennoch etwas Künstliches an - haftet, habe ich gleich anfangs eingestanden und wiederhole es jetzt; namentlich darf man nicht glauben, dass ich dem Jahre 1200 irgend eine besondere fatidistische Bedeutung zuerkenne: die Gährung der ersten zwölf Jahrhunderte unserer Zeitrechnung hat ja noch heute nicht aufgehört, sie trübt noch tausende und abertausende von Ge - hirnen, und andrerseits darf man getrost behaupten, dass die neue harmonische Welt in einzelnen Köpfen schon lange vor 1200 zu dämmern begann. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines derartigen Schemas zeigt sich erst beim Gebrauche. Wie Goethe sagt: » Alles kommt auf das Grundwahre an, dessen Entwicklung sich nicht so leicht in der Spekulation als in der Praxis zeigt: denn diese ist der Prüf - stein des vom Geist Empfangenen. «
Infolge dieser Bestimmung des Angelpunktes unserer Geschichte zerfällt dieser die Zeit bis zum Jahre 1800 behandelnde Band natur - gemäss in zwei Teile: der eine behandelt die Zeit vor dem Jahre 1200, der andere die Zeit nach diesem Jahre.
In dem ersten Teil — Die Ursprünge — habe ich zuerst das Erbe der alten Welt, sodann die Erben, zuletzt den Kampf der Erben um das Erbe besprochen. Da jedes Neue an ein schon Vor - handenes, Älteres anknüpft, ist die erste der grundlegenden Fragen: welche Bestandteile unseres geistigen Kapitals sind ererbt? Die zweite, nicht minder wichtige Grundfrage lautet: wer sind » wir «? Führt uns auch die Beantwortung dieser Fragen in ferne Vergangenheit zurück, das Interesse bleibt stets ein » aktuelles « (wie man im heutigen Jargon sagt), da sowohl bei der Gesamtanlage jedes Kapitels wie auch bei jeder Einzelheit der Besprechung die eine einzige Rücksicht auf unser 19. Jahrhundert bestimmend bleibt. Das Erbe der alten Welt bildet noch immer einen bedeutenden — oft recht unverdauten — Bestandteil der allerneuesten Welt; die verschieden gearteten Erben stehen einander noch immer gegenüber wie vor tausend Jahren; der Kampf ist heute ebenso erbittert, dabei ebenso konfus wie je: diese Untersuchung der Vergangenheit bedeutet also zugleich eine Sichtung des überreichen Stoffes der Gegenwart. Nur darf Niemand in meinen Betrachtungen über hellenische Kunst und Philosophie, über17Allgemeine Einleitung.römische Geschichte und römisches Recht, über die Lehre Christi, oder wiederum über Germanen und Juden u. s. w. selbständige akademische Abhandlungen erblicken und den entsprechenden Mass - stab an sie anlegen wollen. Nicht als Gelehrter bin ich an diese Gegenstände herangetreten, sondern als ein Kind der Gegenwart, das seine lebendige Gegenwart verstehen lernen will; und nicht aus dem Wolkenkuckucksheim einer übermenschlichen Objektivität habe ich meine Urteile gefasst, sondern von dem Standpunkt eines bewussten Germanen, den Goethe nicht umsonst gewarnt hat:
Was euch nicht angehört, Müsset ihr meiden; Was euch das Inn’re stört, Dürft ihr nicht leiden!
Vor Gott mögen alle Menschen, ja, alle Wesen gleich sein: doch das göttliche Gesetz des Einzelnen ist, seine Eigenart zu wahren und zu wehren. Den Begriff des Germanentums habe ich so weit, und das heisst in diesem Falle so weitherzig wie nur möglich gefasst und keinem irgendwie gearteten Partikularismus das Wort geredet; dagegen bin ich überall dem Ungermanischen scharf zu Leibe gerückt, doch — wie ich hoffe — nirgends in unritterlicher Weise.
Eine Erläuterung erfordert vielleicht der Umstand, dass das Kapitel über den Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte so stark geworden ist. Für den Gegenstand dieses Bandes wäre eine so breite Behandlung nicht nötig gewesen; die hervorragende Stellung der Juden in unserem Jahrhundert aber, sowie die grosse Bedeutung der philo - und der antisemitischen Strömungen und Kontroverse für die Geschichte unserer Zeit erforderten unbedingt eine Beantwortung der Frage: wer ist der Jude? Ich fand nirgends eine klare, erschöpfende Be - antwortung dieser Frage; darum war ich gezwungen, sie selber zu suchen und zu geben. Der Kernpunkt ist hier die Frage nach der Religion; darum habe ich gerade diesen Punkt nicht allein hier im fünften, sondern auch im dritten und im siebenten Kapitel eingehend behandelt. Denn ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die übliche Behandlung der » Judenfrage « sich durchwegs an der Oberfläche bewegt: der Jude ist kein Feind germanischer Civilisation und Kultur; Herder mag wohl mit seiner Behauptung recht haben, der Jude sei uns ewig fremd, und folglich wir ihm ebenfalls, und Niemand wird leugnen, dass hieraus grosse Schädigung unseres Kulturwerkes stattfinden kann; doch glaubeChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 218Allgemeine Einleitung.ich, dass wir geneigt sind, unsere eigenen Kräfte in dieser Beziehung sehr zu unterschätzen und den jüdischen Einfluss sehr zu überschätzen. Hand in Hand damit geht die geradezu lächerliche und empörende Neigung, den Juden zum allgemeinen Sündenbock für alle Laster unserer Zeit zu machen. In Wahrheit liegt die » jüdische Gefahr « viel tiefer; der Jude trägt keine Verantwortung für sie; wir haben sie selbst erzeugt und müssen sie selbst überwinden. Keine Seelen dürsten mehr nach Religion als die der Slaven, der Kelten und der Teutonen: ihre Geschichte beweist es; an dem Mangel einer wahren Religion krankt unsere ganze germanische Kultur (wie ich das im neunten Kapitel zeige), daran wird sie noch, wenn nicht bei Zeiten Hilfe kommt, zu Grunde gehen. Den in unserem eigenen Herzen sprudelnden Quell haben wir nun verstopft und uns abhängig gemacht von dem spärlichen, brackigen Wasser, das die Wüstenbeduinen aus ihren Brunnen ziehen. Keine Menschen der Welt sind so bettelarm an echter Religion wie die Semiten und wie speziell ihre Halbbrüder, die Juden; und wir, die wir auserkoren waren, die tiefste und erhabenste religiöse Weltanschauung als Licht und Leben und atmende Luft unserer gesamten Kultur zu entwickeln, wir haben uns mit eigenen Händen die Lebensader unterbunden und hinken als verkrüppelte Judenknechte hinter Jahve’s Bundeslade her! — Daher die Ausführlichkeit meines Kapitels über die Juden; es handelte sich darum, eine breite und sichere Grundlage für diese folgenschwere Erkenntnis zu gewinnen.
Der zweite Teil — Die allmähliche Entstehung einer neuen Welt — hat in diesem ersten Band nur ein einziges Kapitel: » Vom Jahre 1200 bis zum Jahre 1800 «. Hier befand ich mich auf einem selbst dem ungelehrten Leser ziemlich geläufigen Gebiete, und es wäre durchaus überflüssig gewesen, aus politischen Geschichten und Kulturgeschichten, die Jedem zugänglich sind, abzuschreiben. Meine Aufgabe beschränkte sich also darauf, den so überreichlich vorhandenen Stoff, den ich — eben als » Stoff « — als bekannt voraussetzen durfte, übersichtlicher zu gestalten, als dies gewöhnlich geschieht, und zwar natürlich, wiederum mit einziger Berücksichtigung des Gegenstandes dieses Werkes, nämlich des 19. Jahrhunderts. Dieses Kapitel steht auf der Grenze zwischen den beiden Bänden des Werkes: Manches, was in den vorangehenden Kapiteln nur angedeutet, nicht systematisch ausgeführt werden konnte, so z. B. die prinzipielle Bedeutung des Germanentums für unsere neue Welt und der Wert der Vorstel - lungen des Fortschrittes und der Entartung für das Verständnis der Ge -19Allgemeine Einleitung.schichte, findet hier eine abschliessende Besprechung; dagegen eilt die kurze Skizze der Entwickelung auf den verschiedenen Gebieten des Lebens dem 19. Jahrhundert zu, und die Übersichtstafel über Wissen, Civilisation und Kultur und ihre verschiedenen Elemente deutet bereits auf das Vergleichungswerk des geplanten Anhangs hin und giebt auch jetzt schon zu mancher sehr belehrenden Parallele Anlass: im selben Augenblick, wo wir den Germanen in seiner vollen Kraft aufblühen sehen, als sei ihm nichts verwehrt, als eile er einem Grenzenlosen entgegen, erblicken wir hierdurch zugleich seine Beschränkungen; und das ist sehr wichtig, denn erst durch diese letzten Züge erhält er volle Individualität.
Gewissen Voreingenommenheiten gegenüber werde ich mich wohl dafür rechtfertigen müssen, dass ich in diesem Kapitel Staat und Kirche nur als Nebensache behandelt habe — richtiger gesagt, nur als eine Erscheinung unter anderen, und nicht als die wichtigste. Staat und Kirche bilden nunmehr gewissermassen nur den Knochenbau: die Kirche ist ein inneres Knochengerüst, in welchem, wie üblich, mit zunehmendem Alter eine immer stärkere Disposition zu chronischer Ankylosis sich zeigt; der Staat entwickelt sich mehr und mehr zu jenem, in der Zoologie häufig vorkommenden, peripherischen Knochen - panzer, dem sogenannten Dermoskelett, seine Struktur wird immer massiger, er dehnt sich immer mehr über alle » Weichteile « aus, bis er zuletzt, in unserem Jahrhundert, zu wahrhaft megalotherischen Dimensionen angewachsen, einen bisher unerhört grossen Prozentsatz der wirksamen Kräfte der Menschheit als Militär - und Civilbeamte aus dem eigentlichen Lebensprozess ausscheidet und, wenn ich so sagen darf, » verknöchert «. Das soll nicht eine Kritik sein; die knochen - und wirbellosen Tiere haben es bekanntlich in der Welt nicht weit gebracht; es liegt mir überhaupt fern, in diesem Buche moralisieren zu wollen, ich musste nur erklären, warum ich mich in der zweiten Abteilung nicht bemüssigt fand, ein besonderes Gewicht auf die fernere Entwickelung von Staat und Kirche zu legen. Der Impuls zu ihrer seitherigen Entwickelung war ja schon im 13. Jahrhundert vollkommen ausgebildet; der Nationalismus hatte über den Imperialismus ge - siegt, dieser brütete auf Wiedergewinnung des Verlorenen; prinzipiell Neues kam nicht mehr hinzu; auch die Bewegungen gegen die überhandnehmende Vergewaltigung der individuellen Freiheit durch Kirche und Staat hatten damals bereits begonnen, sich sehr häufig und energisch fühlbar zu machen. Kirche und Staat geben, wie gesagt,2*20Allgemeine Einleitung.von nun ab das — hin und wieder an Bein - und Armbrüchen leidende, jedoch feste — Skelett ab, haben aber an der all - mählichen Entstehung einer neuen Welt verhältnismässig wenig An - teil; fortan folgen sie mehr als dass sie führen. Dagegen entsteht in allen Ländern Europas auf den verschiedensten Gebieten freier menschlicher Thätigkeit von etwa dem Jahre 1200 an eine wirklich neuschöpferische Bewegung. Das kirchliche Schisma und die Auf - lehnung gegen staatliche Verordnungen sind eigentlich mehr nur die mechanische Seite dieser Bewegung, sie entspringen aus dem Lebens - bedürfnis der neu sich regenden Kräfte, sich Raum zu schaffen; das eigentlich Schöpferische ist an anderen Orten zu suchen. Wo, habe ich schon oben angedeutet, als ich meine Wahl des Jahres 1200 als Grenzpfahl zu rechtfertigen suchte: das Aufblühen von Technik und Industrie, die Begründung des Grosshandels auf der echt germanischen Grundlage makelloser Ehrenhaftigkeit, das Emporkommen emsiger Städte, die Entdeckung der Erde (wie wir kühn sagen dürfen), die schüchtern beginnende, bald aber ihren Horizont über den gesamten Kosmos ausdehnende Naturforschung, der Gang in die tiefsten Tiefen des menschlichen Denkens, von Roger Bacon bis Kant, das Himmel - wärtsstreben des Geistes, von Dante bis Beethoven: das alles ist es, worin wir eine neue Welt im Entstehen erkennen dürfen.
Mit dieser Betrachtung des allmählichen Entstehens einer neuen Welt, etwa vom Jahre 1200 bis zum Jahre 1800, schliesst der erste Band. Der ausführliche Entwurf zum zweiten liegt vor mir. In ihm weiche ich jeder künstlichen Schematisierung, auch jedem Versuch, in tendenziöser Weise an den vorangehenden Teil anzuknüpfen, sorgfältig aus. Es genügt nämlich zunächst vollkommen, dass die erläuternde Untersuchung der ersten achtzehnhundert Jahre vorausgeschickt wurde; ohne dass häufig ausdrücklich darauf zurückzukommen wäre, wird sie sich als unerlässliche Einführung bewähren; die vergleichende Wert - schätzung und Parallelisierung folgt dann im Anhang. Hier begnüge ich mich also damit, die verschiedenen wichtigsten Erscheinungen des Jahrhunderts nacheinander zu betrachten: die Hauptzüge der politischen, religiösen und sozialen Gestaltung, den Entwicklungsgang der Technik, der Industrie und des Handels, die Fortschritte der Naturwissenschaft und der Humanitäten, zuletzt die Geschichte des menschlichen Geistes in seinem Denken und Schaffen, indem überall natürlich nur die Haupt - strömungen hervorgehoben und einzig die Gipfelpunkte berührt werden.
21Allgemeine Einleitung.Ein Kapitel schicke ich jedoch diesen Betrachtungen voraus, ein Kapitel über die » neuen Kräfte «, welche sich in diesem Jahr - hundert geltend gemacht und ihm seine charakteristische Physiognomie verliehen haben, die aber in dem Rahmen eines der allgemeinen Kapitel nicht zur rechten Geltung kommen können. Die Presse zum Beispiel ist zugleich eine politische und eine soziale Macht aller - ersten Ranges; ihre riesige Entwickelung in unserem Jahrhundert hängt jedoch auf das allerengste mit Industrie und Technik zusammen, nicht so sehr, meine ich, in Bezug auf die Herstellung der Zeitungen durch schnell arbeitende Maschinen u. s. w., als vielmehr durch die elektrische Telegraphie, welche den Blättern die Nachrichten bringt, und die Eisenbahnen, welche die gedruckte Nachricht überallhin verbreiten; die Presse ist der mächtigste Bundesgenosse des Kapitalismus; auf Kunst, Philosophie und Wissenschaft kann sie zwar nicht im letzten Grund bestimmenden Einfluss ausüben, sie vermag es aber auch hier, beschleunigend oder retardierend und somit in hohem Masse auf die Zeit gestaltend zu wirken. Es ist dies eine Kraft, welche die früheren Jahrhunderte nicht gekannt haben. Gleicher Weise hat eine neue Technik, die Erfindung und Vervollkommnung der Eisenbahn und des Dampfschiffes, sowie der elektrischen Telegraphie, einen schwer abzuschätzenden Einfluss auf fast alle Gebiete mensch - licher Thätigkeit ausgeübt und die Physiognomie und Lebensbe - dingungen unserer Erde tief umgestaltet: ganz direkt ist hier die Wirkung auf die Strategik und dadurch auf die gesamte Politik, sowie auch auf den Handel und auf die Industrie; indirekt werden aber sogar Wissenschaft und Kunst davon betroffen: mit leichter Mühe begeben sich die Astronomen aller Länder an das Nordkap oder nach den Fidschiinseln, um eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten, und die deutschen Bühnenfestspiele in Bayreuth sind gegen Schluss des Jahrhunderts, dank der Eisenbahn und dem Dampfschiff, zu einem lebendigen Mittelpunkt der dramatischen Kunst für die ganze Welt geworden. Ebenfalls hierhin rechne ich die Emanzipation der Juden. Wie jede neu entfesselte Kraft, wie die Presse und der Schnellverkehr, hat wohl dieser plötzliche Einbruch der Juden in das Leben der die Weltgeschichte tragenden europäischen Völker nicht bloss Gutes im Gefolge gehabt; die sogenannte klassische Renaissance war doch bloss eine Wiedergeburt von Ideen, die jüdische Renaissance ist dagegen die Wiederauferstehung eines längst totgeglaubten Lazarus, welcher Sitten und Denkarten der antiken Welt in die neue hinein -22Allgemeine Einleitung.trägt und dabei einen ähnlichen Aufschwung nimmt wie einst die Reblaus, die in Amerika das wenig beachtete Dasein eines unschuldigen Käferchens geführt hatte, nach Europa übergeführt jedoch plötzlich zu einem nicht ganz unbedenklichen Weltruhme gelangte. Wir dürfen aber wohl hoffen und glauben, dass die Juden, wie die Amerikaner, uns nicht bloss eine neue Laus, sondern auch eine neue Rebe mit - gebracht haben. Gewiss ist, dass sie unserem Jahrhundert ein be - sonderes Gepräge aufgedrückt haben und dass die im Entstehen be - griffene » neue Welt « für das Werk der Assimilation dieses Stückes » alter Welt « einen bedeutenden Kraftaufwand benötigen wird. Es giebt noch andere » neue Kräfte «, die an Ort und Stelle zu behandeln sein werden, so z. B. ward die Begründung der modernen Chemie der Ausgangspunkt für eine neue Naturwissenschaft, und die Vollendung einer neuen künstlerischen Sprache durch Beethoven ist ohne Frage eine der folgenreichsten Thaten auf dem Gebiete der Kunst seit den Tagen des Homer: sie schenkte dem Menschen ein neues Sprach - organ, d. h. eine neue Kraft.
Der Anhang soll, wie gesagt, dem Vergleichungswerk zwischen dem ersten und dem zweiten Band dienen. Diese Parallelisierung führe ich Punkt für Punkt, mit Benützung des Schemas des ersten Teiles, in mehreren Kapiteln durch; man wird, glaube ich, finden, dass diese Betrachtungsweise zu vielen und inter - essanten Anregungen und Einsichten führt. Ausserdem bereitet sie ganz vorzüglich auf den etwas gewagten, aber unentbehrlichen Blick in die Zukunft vor, ohne welchen die volle Plastizität der Vorstellung nicht zu erwirken wäre; erst dann kann man auch hoffen, unser Jahrhundert mit der nötigen, vollkommenen Objektivität beurteilen und, sozusagen, aus der Vogelperspektive erschauen zu können, womit zugleich meine Aufgabe zu Ende geführt sein wird.
Dies also die höchst einfache, ungekünstelte Anlage des zweiten Bandes. Es handelt sich da um ein Vorhaben, dessen Ausführung ich vielleicht nicht erleben werde, doch musste ich es hier erwähnen, da es die Gestaltung des vorliegenden Buches wesentlich beeinflusst hat.
Über einige prinzipiell wichtige Punkte muss ich mich noch hier in der allgemeinen Einleitung kurz aussprechen, damit wir nicht später, an unpassendem Orte, durch theoretische Erörterungen aufgehalten werden!
Fast alle Menschen sind von Natur » Heldenverehrer «; gegen diesen gesunden Instinkt lässt sich nichts Stichhaltiges einwenden. 23Allgemeine Einleitung.Einmal ist die Vereinfachung ein unabweisliches Bedürfnis des Menschen - geistes, so dass wir unwillkürlich dazu gedrängt werden, an die Stelle der vielen Namen, welche Träger irgend einer Bewegung waren, einen einzigen Namen zu setzen; weiterhin ist die Person etwas Gegebenes, Individuelles, Abgegrenztes, während alles, was weiter liegt, bereits eine Abstraktion und einen Begriffskreis von schwankendem Umfang bedeutet. Man könnte darum die Geschichte eines Jahrhunderts aus lauter Namen zusammensetzen; ich weiss aber nicht, ob ein anderes Verfahren nicht geeigneter ist, das wahrhaft Wesentliche zum Aus - druck zu bringen. Es ist nämlich auffallend, wie unendlich wenig die einzelnen Individualitäten sich im Allgemeinen von einander abheben. Die Menschen bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten eine atomistische, nichtsdestoweniger aber eine sehr homogene Masse. Neigte sich ein grosser Geist von den Sternen aus beschaulich über unsere Erde und wäre er im Stande, nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Seelen zu erblicken, so würde ihm sicherlich die Menschheit irgend eines Weltteiles so einförmig dünken, wie uns ein Ameisenhaufen: er würde wohl Krieger, Arbeiter, Faulenzer und Monarchen unterscheiden, er würde bemerken, dass die einen hierhin, die anderen dorthin rennen, im Grossen und Ganzen aber würde er doch den Eindruck erhalten, dass sämtliche Individuen einem gemeinsamen, unpersönlichen Impuls gehorchen, und gehorchen müssen. Nicht nur der Willkür, sondern ebenfalls dem Einfluss der grossen Persönlichkeit sind äusserst enge Schranken gesetzt. Alle grossen und dauernden Umwälzungen im Leben der Gesellschaft haben » blind « stattgefunden. Eine ausser - ordentliche Persönlichkeit, wie z. B. in unserem Jahrhundert die Napoleon’s, kann hierüber irreführen, und doch erscheint gerade sie, bei näherer Betrachtung, als ein blind waltendes Fatum. Ihre Mög - lichkeit entsteht aus früheren Vorgängen: ohne Richelieu, ohne Ludwig XIV., ohne Ludwig XV., ohne Voltaire und Rousseau, ohne französische Revolution, kein Napoleon! Wie eng verwachsen ist ausserdem die Lebensthat eines solchen Mannes mit dem National - charakter des gesamten Volkes, mit seinen Eigenschaften und seinen Fehlern: ohne ein französisches Volk, kein Napoleon! Die Thätig - keit dieses Feldherrn ist aber vor Allem eine Thätigkeit nach aussen, und da müssen wir wieder sagen: ohne die Unschlüssigkeit Friedrich Wilhelms III., ohne die Gesinnungslosigkeit des Hauses Habsburg, ohne die Wirren in Spanien, ohne das vorangegangene Verbrechen gegen Polen, kein Napoleon! Und suchen wir nun, um vollends24Allgemeine Einleitung.über diesen Punkt klar zu werden, in den Lebensschilderungen und in der Korrespondenz Napoleons, was er gewollt und erträumt hat, so sehen wir, dass er nichts davon erreichte, und dass er in die un - unterschiedliche homogene Masse zurücksank, wie Wolken nach einem Gewitter sich auflösen, sobald die Gesamtheit sich gegen das Vor - herrschen individuellen Wollens erhob. Dagegen hat die gründ - liche, durch keine Gewalt der Erde rückgängig zu machende Ver - wandlung unserer gesamten wirtschaftlichen Lebensverhältnisse, der Übergang eines bedeutenden Teiles des Vermögens der Nationen in neue Hände, und ausserdem die durchgreifendste Umbildung des Ver - hältnisses aller Erdteile und somit auch aller Menschen zu einander, von der die Weltgeschichte zu erzählen weiss, im Laufe dieses Jahr - hunderts durch eine Reihe von technischen Erfindungen auf dem Gebiete des Schnellverkehrs und der Industrie stattgefunden, ohne dass irgend jemand die Bedeutung dieser Neuerungen auch nur ge - ahnt hätte. Man lese nur in Bezug hierauf die meisterliche Darlegung im fünften Band von Treitschke’s Deutscher Geschichte. Die Ent - wertung des Grundbesitzes, die progressive Verarmung des Bauern, der Aufschwung der Industrie, die Entstehung eines unabsehbaren Heeres von gewerblichen Proletariern und somit auch einer neuen Gestaltung des Sozialismus, eine tiefgreifende Umwälzung aller politischen Verhältnisse: alles das ist eine Folge der veränderten Verkehrs - bedingungen, und alles das ist, wenn ich so sagen darf, anonym ge - schehen, wie der Bau eines Ameisennestes, bei welchem jede Ameise nur die einzelnen Körnchen sieht, die sie mühsam herbeischleppt. — Ähnliches gilt aber auch von Ideen: sie ergreifen die Menschheit mit gebieterischer Macht, sie umspannen das Denken wie ein Raubvogel seine Beute, Keiner kann sich ihrer erwehren; solange eine solche be - sondere Vorstellung herrscht, kann nichts Erfolgreiches ausserhalb ihres Bannkreises geleistet werden; wer nicht in dieser Weise zu empfinden vermag, ist zur Sterilität verdammt und sei er noch so begabt. So ging es in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts mit der Entwickelungs - theorie Darwin’s. Schon im vorigen Jahrhundert dämmerte diese Idee auf, als natürliche Reaktion gegen die alte, durch Linnäus zur formellen Vollendung gelangte Anschauung von der Unveränderlichkeit der Arten. Bei Herder, bei Kant und bei Goethe treffen wir den Evolutionsgedanken in charakteristischer Färbung an; es ist ein Abschütteln des Dogmas seitens hervorragender Geister: seitens des einen, weil er, dem Zuge germanischer Weltanschauung folgend, die Entwickelung des Begriffes25Allgemeine Einleitung.» Natur « zu einem den Menschen umfassenden Ganzen erstrebte, seitens des anderen, weil er als Metaphysiker und Moralist sich die Vor - stellung der Perfektibilität nicht konnte rauben lassen, während der Dritte mit dem Auge des Poeten auf allen Seiten Züge entdeckte, die ihm auf Wesensverwandtschaft aller lebenden Organismen zu weisen schienen, und er fürchten musste, seine tiefe Einsicht in ein abstraktes Nichts sich verflüchtigen zu sehen, sobald diese Verwandtschaft nicht als eine auf unmittelbarer Abstammung beruhende aufgefasst würde. Das sind die Anfänge solcher Gedanken. In Geistern so phänome - nalen Umfanges wie Goethe, Herder und Kant ist für sehr verschiedene Anschauungen nebeneinander Platz; sie sind dem Gotte Spinoza’s zu vergleichen, dessen eine Substanz sich zu gleicher Zeit in verschiedenen Formen äussert; in ihren Ideen über Metamorphose, Homologien und Entwickelung kann ich keinen Widerspruch mit anderen Einsichten finden und ich glaube, sie hätten unser heutiges Evolutionsdogma ebenso verworfen wie dasjenige der Unveränderlichkeit. 1)Man vergleiche hierzu die klassisch vollendete Ausführung Kant’s, welcher den Schlussabsatz des Abschnittes » Von dem regulativen Gebrauche der Ideen der reinen Vernunft « in der Kritik der reinen Vernunft bildet. Der grosse Denker weist hier darauf hin, wie so die Annahme einer » kontinuierlichen Stufen - leiter der Geschöpfe « aus einem Interesse der Vernunft, doch nie und nimmer aus der Beobachtung hervorgehe. » Die Sprossen einer solchen Leiter, so wie sie uns Erfahrung angeben kann, stehen viel zu weit auseinander, und unsere vermeintlich kleinen Unterschiede sind gemeiniglich in der Natur selbst so weite Klüfte, dass auf solche Beobachtungen (vornehmlich bei einer grossen Mannigfaltigkeit von Dingen, da es immer leicht sein muss, gewisse Ähn - lichkeiten und Annäherungen zu finden), als Absichten der Natur gar nichts zu rechnen ist « u. s. w. In seinen Recensionen über Herder wirft er der Evolutions - hypothese vor, sie sei eine jener Ideen, » bei denen sich gar nichts denken lässt «. Kant, den selbst ein Haeckel » den bedeutendsten Vorläufer « Darwin’s nennt, hatte also zugleich das Antidot gegen den dogmatischen Missbrauch einer derartigen Hypothese gereicht.Ich komme an anderem Orte hierauf zurück. Die überwiegende Mehrzahl der ameisenartig emsigen Menschen ist nun gänzlich unfähig, sich zu solcher genialen Anschauungsweise zu erheben; produktive Kraft kann in weiten Schichten nur durch die Einfachheit gesunder Einseitigkeit er - zeugt werden. Ein handgreiflich unhaltbares System wie dasjenige Darwin’s übt eine weit mächtigere Wirkung aus als die tiefsten Speku - lationen, und zwar gerade seiner » Handgreiflichkeit « wegen. Und so haben wir den Entwickelungsgedanken sich selbst » entwickeln « sehen, bis er sich von der Biologie und Geologie aus auf alle Gebiete des26Allgemeine Einleitung.Denkens und des Forschens erstreckt hat und, von seinen Erfolgen berauscht, eine derartige Tyrannei ausübte, dass, wer nicht bedingungs - los zu ihm schwor, als totgeboren zu erachten war. — Die Philo - sophie aller dieser Erscheinungen geht mich hier nichts an; ich zweifle nicht, dass der Geist der Gesamtheit in zweckmässiger Weise sich äussert. Ich darf aber Goethe’s Worte mir zu eigen machen: » Was sich mir vor Allem aufdringt, ist das Volk, eine grosse Masse, ein notwendiges, unwillkürliches Dasein «, und hierdurch meine Über - zeugung begründen und erklären, dass grosse Männer wohl die Blüten der Geschichte sind, jedoch nicht ihre Wurzeln. Darum halte ich es für geboten, ein Jahrhundert weniger durch die Aufzählung seiner bedeutendsten Männer, als durch Hervorhebung der anonymen Strö - mungen zu schildern, welche auf den verschiedensten Gebieten des sozialen, des industriellen und des wissenschaftlichen Lebens dem Jahr - hundert ein besonderes, eigenartiges Gepräge verliehen haben.
Jedoch es giebt eine Ausnahme. Sobald nicht mehr die bloss beobachtende, vergleichende, berechnende, oder die bloss erfindende, industrielle, den Kampf ums Leben führende Geistesthätigkeit, sondern die rein schöpferische in Betracht kommt, da gilt die Persönlich - keit allein. Die Geschichte der Kunst und der Philosophie ist die Geschichte einzelner Männer, nämlich der wirklich schöpferischen Genies. Alles Übrige zählt hier nicht. Was innerhalb des Rahmens der Philosophie sonst geleistet wird, und es wird da Vieles und Be - deutendes geleistet, gehört zur » Wissenschaft «; in der Kunst gehört es zum Kunstgewerbe, also zur Industrie.
Ich lege umsomehr Gewicht hierauf, als eine bedauerliche Kon - fusion heute gerade in dieser Beziehung herrscht. Der Begriff und damit auch das Wort Genie kamen im vorigen Jahrhundert auf; sie entsprangen aus dem Bedürfnis, für die spezifisch schöpferischen Geister einen besonderen, kennzeichnenden Ausdruck zu besitzen. Nun macht aber kein geringerer als Kant darauf aufmerksam, dass » der grösste Erfinder im Wissenschaftlichen sich nur dem Grade nach vom gewöhnlichen Menschen unterscheidet, das Genie dagegen spezifisch «. Diese Bemerkung Kant’s ist zweifellos richtig, unter dem einen Vor - behalt, dass wir — was auch unerlässlich ist — den Begriff des Genialen auf jede Schöpfung ausdehnen, in welcher die Phantasie eine gestaltende, vorwiegende Rolle spielt, und in dieser Beziehung verdient das philosophische Genie denselben Platz wie das dichterische oder plastische; wobei ich das Wort Philosophie in seiner alten27Allgemeine Einleitung.weiten Bedeutung verstanden wissen will, welche nicht allein die abstrakte Vernunftphilosophie, sondern die Naturphilosophie, die Religionsphilosophie und jedes andere zu der Höhe einer Weltanschauung sich erhebende Denken begriff. Soll das Wort Genie einen Sinn be - halten, so dürfen wir es nur auf Männer anwenden, die unser geistiges Besitztum durch schöpferische Erfindungen ihrer Phantasie dauernd be - reichert haben; dafür aber auf alle solche. Nicht allein die Ilias und der gefesselte Prometheus, nicht allein die Andacht zum Kreuze und Hamlet, auch Plato’s Ideenwelt und Demokrit’s Welt der Atome, Chandogya’s tat-tvam-asi und das System des Himmels des Kopernikus sind Werke des unvergänglichen Genies; denn ebenso unzerstörbar wie Stoff und wie Kraft sind die Blitzstrahlen, welche aus dem Gehirn der mit Schöpferkraft begabten Männer hervorleuchten; die Generationen und die Völker spiegeln sie sich fortwährend gegenseitig zu, und, ver - blassen sie auch manchmal vorübergehend, von Neuem leuchten sie hell auf, sobald sie wieder auf ein schöpferisches Auge fallen. In unserem Jahrhundert hat man entdeckt, dass es in jenen Meerestiefen, zu denen das Sonnenlicht nicht dringt, Fische giebt, welche diese nächtige Welt auf elektrischem Wege erleuchten; ebenso wird die dunkle Nacht unserer menschlichen Erkenntnis durch die Fackel des Genies erhellt. Goethe zündete uns mit seinem Faust eine Fackel an, Kant eine andere mit seiner Vorstellung von der trans - cendentalen Idealität von Zeit und Raum: beide waren phantasie - mächtige Schöpfer, beide Genies. Der Schulstreit über den Königs - berger Denker, die Schlachten zwischen Kantianern und Antikantianern, dünken mich ebenso belangreich wie der Eifer der Faustkritiker: was sollen denn hier die logischen Tüfteleien? was bedeutet hier » Recht haben «? Selig diejenigen, welche Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben! Erfüllt uns das Studium des Gesteines, des Mooses, des mikroskopischen Infusoriums mit staunender Bewunderung, mit welcher Ehrfurcht müssen wir da nicht zu jenem höchsten Phänomen hinauf - blicken, welches die Natur uns darbietet, zum Genie!
Noch eine prinzipiell nicht unwichtige Bemerkung muss ich hierVerall - gemeinerungen. anknüpfen. Sollen uns auch die allgemeinen Tendenzen, nicht die Er - eignisse und die Personen vorzüglich beschäftigen, so darf dabei die Gefahr zu weit gehender Verallgemeinerungen nicht aus dem Auge verloren werden. Zu einem voreiligen Summieren sind wir nur allzu geneigt. Das zeigt sich in der Art und Weise, wie man unserem Jahrhundert eine Etikette um den Hals zu hängen pflegt, wogegen es28Allgemeine Einleitung.gewiss unmöglich ist, durch ein einziges Wort uns selber und der Vergangenheit gerecht zu werden. Eine derartige fixe Idee genügt, um das Verständnis des geschichtlichen Werdens unmöglich zu machen.
Ganz allgemein wird z. B. das 19. Jahrhundert das » Jahr - hundert der Naturwissenschaft « genannt. Wer nun sich ver - gegenwärtigt, was das 16., 17. und 18. Jahrhundert gerade auf diesem Gebiete geleistet haben, wird sich wohl bedenken, ehe er so ohne Weiteres dem unseren den Titel: » das naturwissenschaftliche Jahr - hundert « verleiht. Wir haben nur weiter ausgebaut und durch Fleiss gar vieles entdeckt; ob wir aber auf einen Kopernikus und einen Galileo, auf einen Kepler und einen Newton, auf einen Lavoisier und einen Bichat1)Er starb 1802. hinweisen können, erscheint mir mindestens zweifelhaft. Cuvier’s Thätigkeit erreicht freilich die Würde philosophischer Bedeutung, und die Beobachtungs - und Erfindungsgabe von Männern wie Bunsen (der Chemiker) und Pasteur streift an das Geniale; man wird aber mindestens zugeben müssen, dass ihre Leistungen die ihrer Vorgänger nicht übertreffen. Vor etlichen Jahren sagte mir ein sowohl durch theoretische wie durch praktische Arbeiten rühmlichst bekannter Hochschullehrer der medizinischen Fakultät: » Bei uns Gelehrten kommt es nunmehr viel weniger auf die Gehirnwindungen an als auf das Sitzfleisch. « Es hiesse nun wirklich zu bescheiden sein und den Nachdruck auf das Nebensächliche legen, wenn wir unser Jahrhundert als das Jahrhundert des Sitzfleisches bezeichnen wollten! Um so mehr, als die Benennung als Jahrhundert des rollenden Rades jedenfalls mindestens ebenso berechtigt wäre für eine Zeit, welche die Eisenbahn und das Zweirad hervorgebracht hat. Besser wäre jedenfalls der allgemein gehaltene Name: Jahrhundert der Wissenschaft, worunter man zu verstehen hätte, dass der Geist exakter Forschung, von Roger Bacon zuerst kategorisch gefordert, nun - nunmehr alle Disziplinen unterjocht hat. Dieser Geist hat aber, wohl betrachtet, zu weniger überraschenden Resultaten auf dem Gebiete der Naturwissenschaft geführt, wo ja seit uralten Zeiten die exakte Beob - achtung der Gestirne die Grundlage alles Wissens bildete, als auf anderen Gebieten, wo bisher die Willkür ziemlich unumschränkt geherrscht hatte. Vielleicht hiesse es etwas sehr Wahres, für unser Jahrhundert speziell Kennzeichnendes sagen, zugleich etwas den meisten Gebildeten nicht recht Bewusstes, wenn man von einem Jahrhundert der Philo -29Allgemeine Einleitung.logie spräche. Gegen Schluss des vorigen Jahrhunderts, von solchen Männern wie Jones, Anquetil du Perron, den Gebrüdern Schlegel und Grimm, Karadžič und anderen zuerst ins Leben gerufen, hat die vergleichende Philologie im Laufe eines einzigen Jahrhunderts eine unvergleichliche Bahn durchschritten. Den Organismus und die Ge - schichte der Sprache ergründen, heisst nicht allein Licht auf Anthro - pologie, Ethnologie und Geschichte werfen, sondern geradezu das menschliche Denken zu neuen Thaten stärken. Und während so die Philologie unseres Jahrhunderts für die Zukunft arbeitete, hob sie verschüttete Schätze der Vergangenheit, die fortan zu den kostbarsten Gütern der Menschheit gehören. Man braucht nicht Sympathie für den pseudobuddhistischen Sport halbgebildeter Müssiggänger zu em - pfinden, um klar zu erkennen, dass die Entdeckung der altindischen Erkenntnis-Theologie eine der grössten Thaten dieses Jahrhunderts ist, bestimmt, eine nachhaltige Wirkung auf ferne Zeiten auszuüben. Dazu kam die Kenntnis altgermanischer Dichtung und Mythologie. Jede Kräftigung der echten Eigenart ist ein wahrer Rettungsanker. Die glänzende Reihe der Germanisten und ebenso die der Indologen hat, halb unbewusst, eine grosse That im rechten Augenblick voll - bracht; jetzt besitzen auch wir unsere » heiligen Bücher «, und was sie lehren, ist schöner und edler als was das alte Testament berichtet. Der Glaube an unsere Kraft, den wir aus der Geschichte von 19 Jahrhunderten schöpfen, hat eine unermesslich wertvolle Bereiche - rung durch diese Entdeckung unserer selbständigen Fähigkeit zu vielem Höchsten erfahren, in Bezug auf welches wir bisher in einer Art Lehnverhältnis standen: namentlich ist die Fabel von der beson - deren Befähigung der Juden für die Religion endgültig vernichtet; hierfür werden spätere Geschlechter unserem Jahrhundert dankbar sein. Diese Thatsache ist eine der grossen, weitestreichenden Erfolge unserer Zeit, daher hätte die Benennung Jahrhundert der Philologie eine ge - wisse Berechtigung. Hiermit haben wir nun auch eine andere der charakteristischen Erscheinungen unseres Jahrhunderts erwähnt. Ranke hatte vorausgesagt, unser Jahrhundert werde ein Jahrhundert der Nationalität sein; das war ein zutreffendes politisches Prognostikon, denn niemals zuvor haben sich die Nationen so sehr als fest abge - schlossene, feindliche Einheiten einander gegenüber gestanden. Es ist aber auch ein Jahrhundert der Rassen geworden, und zwar ist das zunächst eine notwendige und unmittelbare Folge der Wissen - schaft und des wissenschaftlichen Denkens. Ich habe schon zu Be -30Allgemeine Einleitung.ginn dieser Einleitung behauptet, dass die Wissenschaft nicht eine, sondern trenne; das hat sich auch hier bewährt. Die wissenschaftliche Anatomie hat die Existenz von physischen, unterscheidenden Merk - malen zwischen den Rassen erwiesen, sodass sie nicht mehr geleugnet werden können, die wissenschaftliche Philologie hat zwischen den ver - schiedenen Sprachen prinzipielle Abweichungen aufgedeckt, die nicht zu überbrücken sind, die wissenschaftliche Geschichtsforschung hat in ihren verschiedenen Zweigen zu ähnlichen Resultaten geführt, nament - lich durch die genaue Feststellung der Religionsgeschichte einer jeden Rasse, wo nur die allerallgemeinsten Ideen den täuschenden Schein der Gleichmässigkeit erwecken, die Weiterentwickelung aber stets nach bestimmten, scharf voneinander abweichenden Richtungen stattgefunden hat, und noch immer stattfindet. Die sogenannte » Einheit der mensch - lichen Rasse « bleibt zwar als Hypothese noch in Ehren, jedoch nur als eine jeder materiellen Grundlage entbehrende, persönliche, sub - jektive Überzeugung. Im Gegensatz zu den gewiss sehr edlen, aus reinster Sentimentalität hervorgequollenen Weltverbrüderungsideen des 18. Jahrhunderts, in welchen die Sozialisten als Hintertreffen noch heute nachhinken, hat sich allmählich die starre Wirklichkeit als not - wendiges Ergebnis der Ereignisse und der Forschungen unseres Jahr - hunderts erhoben. Manche andere Benennung könnte vieles zu ihrer Rechtfertigung anführen: Rousseau hatte schon prophetisch von einem » Siècle des Révolutions « gesprochen, Andere reden wohl von einem Jahrhundert der Judenemanzipation, Jahrhundert der Elektrizität, Jahr - hundert der Volksarmeen, Jahrhundert der Kolonien, Jahrhundert der Musik, Jahrhundert der Reklame, Jahrhundert der Unfehlbarkeits - erklärung, — — — Kürzlich fand ich in einem englischen Buche unser Jahrhundert als the religious century bezeichnet und konnte dem Manne nicht ganz Unrecht geben; für Beer, den Verfasser der Geschichte des Welthandels, ist das 19. Jahrhundert » das öko - nomische «, wogegen Prof. Paulsen es in seiner Geschichte des ge - lehrten Unterrichts (2. Aufl. II, 206), das saeculum historicum im Gegensatz zu dem vorausgegangenen saeculum philosophicum nennt, und Goethe’s Ausdruck » ein aberweises Jahrhundert « sich auf das unsrige ebenso gut wie auf das vorige anwenden liesse. Einen ernst - lichen Wert besitzt aber gar keine solche Verallgemeinerung.
Hiermit gelange ich zum Schlusse dieser allgemeinen Einleitung. Ehe ich aber den Schlussstrich ziehe, möchte ich mich noch, einer31Allgemeine Einleitung.alten Gewohnheit gemäss, unter den Schutz hochverehrter Männer stellen.
Lessing schreibt in seinen Briefen, die neueste Litteratur be - treffend, die Geschichte solle sich » nicht bei unwichtigen Thatsachen aufhalten, nicht das Gedächtnis beschweren, sondern den Ver - stand erleuchten «. In dieser Allgemeinheit besagt wohl der Satz zu viel. Für ein Buch aber, welches sich nicht an Historiker, sondern an die gebildete Laienwelt wendet, gilt er uneingeschränkt. Den Ver - stand erleuchten, nicht eigentlich belehren, sondern anregend wirken, Gedanken und Entschlüsse wecken, das wäre es, was ich gern leisten möchte.
Goethe fasst die Aufgabe der Geschichtsschreibung etwas ab - weichend von Lessing auf; er sagt: » Das Beste, was wir aus der Ge - schichte gewinnen, ist der Enthusiasmus «. Auch dieser Worte bin ich bei meiner Arbeit eingedenk geblieben; denn ich bin der Über - zeugung, dass Verstand, und sei er noch so hell erleuchtet, wenig ausrichtet, ist er nicht mit Enthusiasmus gepaart. Der Verstand ist die Maschine; je vollkommener jede Einzelheit an ihr, je zielbewusster alle Teile in einander greifen, um so leistungsfähiger wird sie sein, — aber doch nur virtualiter, denn, um getrieben zu werden, bedarf sie noch der treibenden Kraft, und diese ist die Begeisterung. Es dürfte nun zunächst schwer fallen, dem Winke Goethe’s folgend, sich für unser 19. Jahrhundert speziell zu erwärmen, schon deswegen, weil die Eigenliebe etwas so Verächtliches ist; wir wollen uns streng prüfen und uns lieber unter - als überschätzen; mag die Zukunft milder ur - teilen. Ich finde es auch deswegen schwer, mich dafür zu begeistern, weil das Stoffliche in unserem Jahrhundert so sehr vorwiegt. Genau so wie unsere Schlachten zumeist nicht mehr durch die persönliche Vortrefflichkeit Einzelner, sondern durch die Zahl der Soldaten, oder noch einfacher gesagt, durch die Menge des Kanonenfutters gewonnen worden sind, genau ebenso hat man Schätze an Gold und Wissen und Erfindungen zusammengetragen. Alles ist immer zahlreicher, massiger, vollständiger, unübersichtlicher geworden, man hat gesammelt, aber nicht gesichtet; d. h., es ist dies die allgemeine Tendenz gewesen. Unser Jahrhundert ist wesentlich ein Jahrhundert des Anhäufens von Material, des Durchgangsstadiums, des Provisorischen; in anderen Be - ziehungen ist es weder Fisch noch Fleisch, es pendelt zwischen Empirismus und Spiritismus, zwischen dem Liberalismus vulgaris, wie man es witzig genannt hat, und den impotenten Versuchen seniler32Allgemeine Einleitung.Reaktionsgelüste, zwischen Autokratie und Anarchismus, zwischen Un - fehlbarkeitserklärungen und stupidestem Materialismus, zwischen Juden - anbetung und Antisemitismus, zwischen raffinierten Meyerbeerschen Opern und urnaiver Volksmelodienmanie, zwischen Millionärwirtschaft und Proletarierpolitik. Nicht die Ideen sind in unserem Jahrhundert das Charakteristische, sondern die materiellen Errungenschaften. Die grossen Gedanken, die hier und da sich geregt haben, die gewaltigen Kunstschöpfungen, die von Faust’s zweitem Teil bis Parsifal dem deutschen Volk zu ewigem Ruhme entstanden sind, strebten hinaus in künftige Zeiten. Nach grossen, sozialen Umwälzungen und nach grossen geistigen Errungenschaften (am Abend des vorigen und am frühen Morgen dieses Jahrhunderts) musste wieder Stoff gesammelt werden zu weiterer Entwickelung. Hierbei — bei dieser vorwiegenden Be - fangenheit im Stofflichen — schwand das Schöne aus unserem Leben fast ganz; es existiert vielleicht in diesem Augenblick kein wildes, jedenfalls kein halbcivilisiertes Volk, welches nicht mehr Schönes in seiner Umgebung und mehr Harmonie in seinem Gesamtdasein be - sässe als die grosse Masse der sogenannten kultivierten Europäer. In der enthusiastischen Bewunderung des 19. Jahrhunderts ist es darum, glaube ich, geboten, Mass zu halten. Leicht ist es dagegen, den von Goethe empfohlenen Enthusiasmus zu empfinden, sobald der Blick nicht auf dem einen Jahrhundert allein ruhen bleibt, sondern die ge - samte Entwickelung der seit einigen Jahrhunderten im Entstehen be - griffenen » neuen Welt « umfasst. Gewiss ist der landläufige Begriff des » Fortschrittes « kein philosophisch wohl begründeter; unter dieser Flagge segelt fast die ganze Bafelware unseres Jahrhunderts; Goethe, der nicht müde wird, auf die Begeisterung als das treibende Element in unserer Natur hinzuweisen, spricht es nichtsdestoweniger als seine Überzeugung aus: » Klüger und einsichtiger werden die Menschen, aber besser, glücklicher und thatkräftiger nicht, oder nur auf Epochen. « 1)Eckermann: 23. Oktober 1828.Was für ein erhebenderes Gefühl kann es aber geben, als das, mit Bewusstsein einer solchen Epoche entgegenzuarbeiten, in welcher, wenn auch nur vorübergehend, die Menschen besser, glücklicher und that - kräftiger sein werden? Und wenn man unser Jahrhundert nicht isoliert betrachtet, sondern als einen Bestandteil eines weit grösseren Zeitlaufs, so entdeckt man bald, dass aus der Barbarei, welche auf den Zu - sammensturz der alten Welt folgte, und aus der wilden Gährung, die33Allgemeine Einleitung.der Zusammenstoss einander widerstrebender Kräfte hervorrief, sich vor etlichen Jahrhunderten eine vollkommen neue Gestaltung der menschlichen Gesellschaft zu entwickeln begann, und dass unsere heutige Welt — weit entfernt, den Gipfel dieser Evolution zu bedeuten — einfach ein Durchgangsstadium, eine » mittlere Zeit «, auf dem weiten und mühsamen Wege darstellt. Wäre unser Jahr - hundert wirklich ein Gipfelpunkt, dann wäre die pessimistische An - sicht die einzig berechtigte: nach allen grossen Errungenschaften auf geistigem und materiellem Gebiete die bestialische Bosheit noch so verbreitet und das Elend vertausendfacht zu sehen, das könnte uns nur veranlassen, Jean Jacques Rousseau’s Gebet nachzusprechen: » All - mächtiger Gott, erlöse uns von den Wissenschaften und verderben - bringenden Künsten unserer Väter! gieb uns wieder die Unwissenheit, die Unschuld und die Armut, als die einzigen Güter aus welchen Glück uns entstehen kann und welche vor deinem Angesichte Wert besitzen! « Erblicken wir dagegen, wie gesagt, in unserem Jahrhundert nur eine Etappe, lassen wir uns ausserdem von keinen Wahnbildern » goldener Zeitalter «, ebensowenig von Zukunfts - wie von Vergangen - heitswahnbildern blenden, noch von utopischen Vorstellungen einer prinzipiellen Besserung der gesamten Menschheit und ideal funktio - nierender Staatsmaschinen in unserem gesunden Urteile irreführen, dann dürfen wir wohl hoffen und zu erkennen glauben, dass wir Germanen und die Völker, die unter unserem Einfluss stehen, einer neuen harmonischen Kultur entgegenreifen, unvergleichlich schöner als irgend eine der früheren, von denen die Geschichte zu erzählen weiss, einer Kultur, in der die Menschen wirklich » besser und glück - licher « sein werden, als sie es jetzt sind. Vielleicht ist die Tendenz der modernen Schulbildung, den Blick so beständig auf die Vergangen - heit zu richten, eine bedauerliche; sie hat aber insoferne ihr Gutes, als man kein Schiller zu sein braucht, um mit diesem zu empfinden, dass » kein einzelner Neuerer mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit streiten « könne;1)Dieser berühmte Satz ist nur sehr bedingt wahr; ich habe ihn im Schluss - kapitel einer gründlichen Kritik unterzogen, worauf ich zur Vermeidung von Miss - verständnissen hier verweise. darum richten wir nun unseren Blick auf die Zukunft, auf jene Zukunft, deren Gestaltung wir aus dem Bewusstsein dessen, was die Gegenwart der letzten siebenhundert Jahre zu bedeuten hat, allmählich zu ahnen beginnen. Wir wollen es mit dem Athenienser aufnehmen! wir wollen eineChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 334Allgemeine Einleitung.Welt gestalten, in welcher die Schönheit und die Harmonie des Da - seins nicht wie bei Jenen auf Sklaven -, Eunuchen - und Kemenaten - Wirtschaft ruht! wir dürfen es zuversichtlich wollen, denn wir sehen diese Welt langsam und mühevoll um unsere kurze Spanne Lebens entstehen. Und dass sie unbewusst entsteht, thut nichts zur Sache; schon der halb fabelhafte phönizische Geschichtsschreiber Sanchuniathon meldet im ersten Absatz seines ersten Buches, wo er von der Welt - schöpfung spricht: » Die Dinge selbst aber wussten nichts von ihrem eigenen Entstehen «; auch in dieser Beziehung ist Alles beim Alten geblieben; die Geschichte bildet ein unerschöpfliches Illustrations - material zu Mephisto’s: » Du glaubst zu schieben und du wirst ge - schoben. « Darum empfinden wir, wenn wir auf unser 19. Jahrhundert zurückblicken, welches sicherlich mehr geschoben wurde, als es selbst schob, welches in den allermeisten Dingen auf fast lächerliche Weise in ganz andere Wege geriet, als es einzuschlagen gedacht hatte, doch einen Schauer der aufrichtigen Bewunderung, fast der Begeisterung. In diesem Jahrhundert ist enorm gearbeitet worden, und das ist die Grundlage alles » Besser - und Glücklicherwerdens «; es war das die » Moralität « unserer Zeit, wenn ich mich so ausdrücken darf. Und während die Werkstätte der grossen, gestaltenden Ideen ruhte, wurden die Methoden der Arbeit in bisher ungeahnter Weise vervollkommnet.
Unser Jahrhundert ist der Triumph der Methodik. Hierin mehr als in irgend einer politischen Gestaltung ist ein Sieg des demokratischen Prinzips zu erblicken. Die Gesamtheit rückte hierdurch höher hinauf, sie wurde leistungsfähiger. In frühen Jahrhunderten konnten nur geniale Menschen, später nur zumindest hochbegabte Wertvolles leisten; jetzt kann es ein Jeder, dank der Methode! Durch den obligatorischen Schulunterricht, gefolgt vom obligatorischen Kampf ums Dasein, be - sitzen heute Tausende die » Methode «, um ohne jede besondere Be - gabung oder Veranlagung als Techniker, Industrielle, Naturforscher, Philologen, Historiker, Mathematiker, Psychologen u. s. w. an der gemeinsamen Arbeit des Menschengeschlechts teilzunehmen. Sonst wäre die Bewältigung eines so kolossalen Materials in einem so kurzen Zeitraum gar nicht denkbar. Man vergegenwärtige sich nur, was vor hundert Jahren unter » Philologie « verstanden wurde! man frage sich, ob es wahre » Geschichtsforschung « gab! Genau diesem selben Geist begegnen wir aber auf von der Wissenschaft weit ab - liegenden Gebieten: die Volksarmeen sind die universellste, einfachste Anwendung der Methodik und die Hohenzollern insofern die tonan -35Allgemeine Einleitung.gebenden Demokraten unseres Jahrhunderts: Methodik der Arm - und Beinbewegungen, aber zugleich Methodik der Willenserziehung, des Gehorsams, der Pflicht, der Verantwortlichkeit. Die Geschicklichkeit und die Gewissenhaftigkeit haben infolgedessen — leider nicht überall, aber doch auf weiten Gebieten des Lebens — entschieden sehr zu - genommen: man fordert mehr von sich und von Anderen als zuvor; es hat gewissermassen eine allgemeine technische Vervollkommnung stattgefunden, die bis in die Denkgewohnheiten der Menschen sich er - streckt. Diese Vervollkommnung kann aber schwer ohne Rückwirkung auf das Reinmoralische bleiben: die Abschaffung des menschlichen Sklaventums auch ausserhalb Europas, wenigstens in seiner offiziell anerkannten Gültigkeit, und der Beginn einer Bewegung zum Schutze der tierischen Sklaven sind vielbedeutende Anzeichen.
Und so glaube ich, dass trotz aller Bedenken eine gerechte und liebevolle Betrachtung des 19. Jahrhunderts sowohl zur » Erleuchtung des Verstandes «, wie auch zur » Erweckung des Enthusiasmus « führen muss.
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Goethe.
Das Edelste, was wir besitzen, haben wir nicht von uns selbst; unser Verstand mit seinen Kräften, die Form in welcher wir denken, handeln und sind, ist auf uns gleichsam herabgeerbet. Herder.
» Die Welt «, sagt Dr. Martin Luther, » wird von Gott durchHistorische Grundsätze. etliche wenige Helden und fürtreffliche Leute regieret. « Die mächtigsten dieser regierenden Helden sind die Geistesfürsten, die Männer, welche ohne Waffengewalt und diplomatische Sanktionen, ohne Gesetzeszwang und Polizei, bestimmend und umbildend auf das Denken und Fühlen zahlreicher Geschlechter wirken; diese Männer, von denen man sagen kann, dass sie um so gewaltiger sind, je weniger Gewalt sie haben, besteigen aber selten, vielleicht nie, ihren Thron während ihres Lebens; ihre Herrschaft währt lange, beginnt aber spät, oft sehr spät, nament - lich wenn wir von dem Einfluss, den sie auf Einzelne ausüben, ab - sehen und jenen Augenblick in Betracht ziehen, wo das, was ihr Leben ausmachte, auf das Leben ganzer Völker gestaltend sich zu bethätigen beginnt. Mehr als zwei Jahrhunderte vergingen, bis die neue Anschauung des Kosmos, welche wir Kopernikus verdanken, und welche tief umgestaltend auf alles menschliche Denken wirken musste, Gemeingut geworden war. So bedeutende Männer unter seinen Zeitgenossen wie Luther, urteilten über Kopernikus, er sei » ein Narr, der die ganze Kunst Astronomiä umkehre «. Trotzdem sein Weltsystem im Altertum schon gelehrt, trotzdem durch die Arbeiten seiner unmittelbaren Vorgänger, Regiomontanus und Anderer, alles vorbereitet worden war, was die neuerliche Entdeckung bedingte, so dass man wohl sagen darf, bis auf den Funken der Inspiration im Gehirn des » Fürtrefflichsten «, lag das Kopernikanische System genau bedingt vor, — trotzdem es sich hier nicht um schwer fassliche metaphysische und moralische Dinge handelte, sondern um42Das Erbe der alten Welt.eine einfache und dazu beweisbare Anschauung, — trotzdem gar kein materielles Interesse durch die neue Lehre tangiert wurde, er - forderte es geraume Zeit, bis diese in so mannigfacher und wesent - licher Beziehung umbildende Vorstellung aus dem einen Gehirn in das einzelner anderer bevorzugter Männer hinüberzog und, immer weiter um sich greifend, zuletzt die gesamte Menschheit beherrschte. Wie Voltaire in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für die Anerkennung der grossen Trias — Kopernikus, Kepler, Newton — kämpfte, ist allbekannt, aber noch im Jahre 1779 sah sich der vor - treffliche Georg Christoph Lichtenberg genötigt, im Göttingischen Taschenbuche gegen die » Tychonianer « zu Felde zu ziehen, und erst im Jahre des Heiles ein tausend acht hundert und zwei und zwanzig gestattete die Kongregation des Index den Druck von Büchern, welche die Bewegung der Erde lehren!
Diese Bemerkung schicke ich voraus, um begreiflich zu machen, in welchem Sinne das Jahr 1 zum Ausgangspunkt unserer Zeit hier gewählt wird. Es geschieht nicht zufällig, etwa aus Bequemlichkeits - rücksichten, ebensowenig aber, weil der äussere Gang der politischen Geschehnisse dieses Jahr zu einem besonders auffälligen gestempelt hätte, sondern weil die einfachste Logik uns nötigt, eine neue Kraft bis auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen. Wie schnell oder wie langsam sie zur wirkenden Kraft heranwächst, gehört schon zur » Geschichte «; die lebendige Quelle jeder späteren Wirkung ist und bleibt das thatsächliche Leben des Helden.
Die Geburt Jesu Christi ist nun das wichtigste Datum der ge - samten Geschichte der Menschheit. 1)Dass diese Geburt nicht im Jahre 1 stattfand, sondern aller Wahrschein - lichkeit nach einige Jahre früher, ist für uns hier belanglos.Keine Schlacht, kein Regierungs - antritt, kein Naturphänomen, keine Entdeckung besitzt eine Bedeutung, welche mit dem kurzen Erdenleben des Galiläers verglichen werden könnte; eine fast zweitausendjährige Geschichte beweist es, und noch immer haben wir kaum die Schwelle des Christentums betreten. Es ist tief innerlich berechtigt, wenn wir jenes Jahr das erste nennen, und wenn wir von ihm aus unsere Zeit rechnen. Ja, in einem gewissen Sinne dürfte man wohl sagen, eigentliche » Geschichte « beginne erst mit Christi Geburt. Die Völker, die heute noch nicht zum Christentume gehören — die Chinesen, die Inder, die Türken u. s. w. — haben alle heute noch keine wahre Geschichte, sondern kennen43Einleitendes.auf der einen Seite nur eine Chronik von Herrscherhäusern, Metzeleien und dergleichen, auf der anderen nur das stille, ergebene, fast tier - mässig glückliche Hinleben ungezählter Millionen, die spurlos in der Nacht der Zeiten untergehen. Ob das Reich der Pharaonen im Jahre 3285 vor Christo oder im Jahre 32850 gegründet wurde, ist an und für sich belanglos; Ägypten unter einem Ramses zu kennen, ist dasselbe, als kennte man es unter allen 15 Ramessiden. Ebenso verhält es sich mit den anderen vorchristlichen Völkern (mit Aus - nahme jener drei, die zu unserer christlichen Epoche in organischer Beziehung stehen, und von denen ich gleich reden werde): ihre Kultur, ihre Kunst, ihre Religion, kurz ihr Zustand mögen uns interessieren, ja, Errungenschaften ihres Geistes oder ihrer Industrie können zu wertvollen Bestandteilen unseres eigenen Lebens geworden sein, wie das z. B. für indisches Denken, babylonische Wissenschaft und chinesische Erfindungen der Fall ist; ihrer Geschichte jedoch, rein als solcher, fehlt das Moment der moralischen Grösse, jenes Moment, heisst das, durch welches der einzelne Mensch veranlasst wird, sich seiner Individualität im Gegensatz zur umgebenden Welt bewusst zu werden, um dann wieder — wie Ebbe und Flut — die Welt, die er in der eigenen Brust entdeckt hat, zur Gestaltung jener äusseren zu verwenden. Der arische Inder z. B., in metaphysischer Beziehung unstreitig der begabteste Mensch, den es je gegeben, und allen heutigen Völkern in dieser Beziehung weit überlegen, bleibt bei der inneren Erleuchtung stehen: er gestaltet nicht, er ist nicht Künstler, er ist nicht Reformator, es genügt ihm, ruhig zu leben und erlöst zu sterben — er hat keine Geschichte. Ebensowenig hat sein Antipode, der Chinese, dieses unübertroffene Muster des Positivisten und des Kollektivisten, eine Geschichte; was unsere historischen Werke unter diesem Titel geben, ist weiter nichts als eine Auf - zählung der verschiedenen Räuberbanden, von denen das geduldige, kluge und seelenlose Volk, ohne ein Jota von seiner Eigenart preis - zugeben, sich hat regieren lassen; das alles ist kriminalistische Statistik, nicht Geschichte, wenigstens für uns nicht: Handlungen, die in unserer Brust kein Echo finden, können wir nicht wirklich beurteilen.
Ein Beispiel. Während diese Zeilen geschrieben werden, tobt die gesamte gesittete Welt gegen die Türkei; die europäischen Mächte werden durch die Stimme der öffentlichen Meinung gezwungen, zum Schutze der Armenier und Kretenser einzuschreiten; die endgültige Ausrottung der türkischen Macht scheint nur noch eine Frage der44Das Erbe der alten Welt.Zeit. Das hat gewiss seine Berechtigung; es musste so kommen; nichtsdestoweniger ist es eine Thatsache, dass die Türkei das letzte Stückchen von Europa ist, wo eine ganze Bevölkerung in ungestörtem Glück und Wohlbehagen lebt, eine Bevölkerung, die von sozialen Fragen, vom bittern Kampf ums Dasein und dergleichen nichts weiss, wo es keine grossen Vermögen giebt und buchstäblich gar keinen Pauperismus, wo Alle eine einzige brüderliche Familie bilden und Keiner auf Kosten des Anderen nach Reichtum strebt. Ich rede nicht das nach, was Zeitungen und Bücher berichten, sondern ich bezeug