PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
DIE GRUNDLAGEN DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS
I. HÄLFTE
[II][III]
DIE GRUNDLAGEN DES Neunzehnten Jahrhunderts
I. HÄLFTE
Wir bekennen uns zu dem Geschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt. (GOETHE. )
[figure]
MÜNCHENVERLAGSANSTALT F. BRUCKMANN A. -G. 1899
[IV]

BRUCKMANN’SCHE BUCH - UND KUNSTDRUCKEREI MÜNCHEN

[V]

Dem Physiologen Hofrat Professor Doktor JULIUS WIESNER derzeit Rektor der Universität zu Wien in Verehrung und Dankbarkeit zugleich als Bekenntnis bestimmter wissenschaftlicher und philosophischer Überzeugungen zugeeignet.

[VI][VII]

VORWORT

Der Weisheitsliebende steht mitten inne zwischen dem Gelehrten und dem Ignoranten.
(Plato. )

Den Charakter dieses Buches bedingt der Umstand, dass sein Verfasser ein ungelehrter Mann ist. Gerade in seiner Ungelehrtheit schöpfte er den Mut zu einem Unternehmen, vor welchem mancher bessere Mann erschrocken hätte zurückweichen müssen. Nur musste natürlich der Verfasser selber hierüber Klarheit besitzen: sein Wollen musste er nach seinem Können richten. Das that er, eingedenk des Goethe’schen Wortes: » der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertig - keiten bewegt «. Nicht einen Augenblick bildete er sich ein, seinem Buche komme wissenschaftlicher Wert zu. Hat er z. B. ziemlich viele Citate und Litteraturnachweise gegeben, so ist das teils zur Ergänzung allzu kurzer Ausführungen, teils als Anregung für ebenso ungelehrte Leser geschehen, manchmal auch als Stütze für Meinungen, die nicht Mode sind; noch eine Erwägung kam hinzu: ein Gelehrter, der über sein Specialfach schreibt ein Treitschke, ein F. A. Lange, ein Huxley kann auch ohne sich zu rechtfertigen Behauptungen aufstellen; hier durfte das nicht geschehen; erhält also an einigen Stellen das Buch durch die vielen Anmerkungen ein gelehrtes Aus - sehen, so wolle man darin nicht Anmassung sondern ihr Gegenteil erblicken. Ein Prunken mit Wissen und Belesenheit würde lächerlich bei einem Manne gewesen sein, dessen Wissen nicht aur die Quellen zurückgeht und dem stets als Ideal vorschwebte, nicht möglichst viel zu lesen, sondern so wenig wie nur irgend thunlich und bloss das Allerbeste.

Wer weiss, ob dem heute so verrufenen Dilettantismus nicht eine wichtige Aufgabe bevorsteht? Die Specialisation macht täglichVIIIVorwort.Fortschritte; das muss auch so sein. Wer diplomatische Geschichte schreibt, darf über wirtschaftliche Geschichte nicht mitreden, wer byzantinische Litteratur studiert, hat sich eine so anspruchsvolle Lebensaufgabe erwählt, dass er Schnitzer macht und von den be - treffenden Fachmännern zurechtgewiesen wird, sobald er auf frühere oder spätere Zeiten überzugreifen wagt, der Histolog ist heute nur in einem beschränkten, mehr oder weniger dilettantenhaften Sinne des Wortes Zoolog (und umgekehrt), der Systematiker vermag es nicht, wie früher, in der Physiologie etwas von Bedeutung zu leisten: mit einem Wort, die strengste Beschränkung ist jetzt das eiserne Gesetz aller exakten Wissenschaft. Wer sieht aber nicht ein, dass Wissen immer erst an den Grenzscheiden lebendiges Interesse gewinnt? Jedes Fachwissen ist an und für sich vollkommen gleichgültig; erst durch die Beziehung auf Anderes erhält es Bedeutung. Was sollten uns die zehntausend Thatsachen der Histologie, wenn sie nicht zu einer gedankenvolleren Auffassung der Anatomie und der Physiologie, zu einer sicherern Erkenntnis mancher Krankheitserscheinungen, zu psychologischen Beobachtungen und, im letzten Grunde, zu einer philosophischen Betrachtung allgemeiner Naturphänomene führten? Das trifft überall zu. Nie z. B. erwächst die Philologie zu so hoher Bedeutung für unser ganzes Denken und Thun, als wenn sie auf Probleme der Anthropologie und Ethnographie Anwendung findet und in unmittelbare Beziehung zur Prähistorie des Menschenge - schlechts, zur Rassenfrage, zur Psychologie der Sprache u. s. w. tritt; nirgends kann reine Naturwissenschaft gestaltend in das Leben der Gesellschaft eingreifen, ausser wo sie zu philosophischer Würde heranwächst, und da muss doch offenbar entweder der Philosoph nebenbei ein Naturforscher sein oder der Naturforscher philosophieren. Und so sehen wir denn die Fachmänner, obwohl sie es nach ihrer eigenen Lehre nicht dürften, obwohl sie nicht müde werden, das, was sie Dilettantismus heissen, mit dem höchsten Bann zu belegen, wir sehen sie überall ihre Grenzen überschreiten; wer recht auf - merksam nach allen Seiten hin beobachtet, wird die Überzeugung gewinnen, dass die gefährlichsten Dilettanten die Gelehrten selber sind. Zwar an eine mikrokosmische Zusammenfassung wagt sich heute Keiner von ihnen, auch die ihnen zunächst liegenden Fächer vermeiden sie ängstlich, in entfernte springen sie dagegen beherzt hinüber: Juristen sehen wir in der Philologie sich herumtummeln, Metaphysiker den Indologen Sanskrit lehren, Philologen über BotanikIXVorwort.und Zoologie mit beneidenswerter Nonchalance reden, Ärzte, deren Ordinationsstunden in urwäldlicher Ungestörtheit verlaufen, sich die Metaphysik zur Leichenschau vornehmen, Theologen über das Alter von Handschriften urteilen, wo man glauben sollte, nur ein historisch geübter Grapholog im Bunde mit einem Mikrochemiker besässe hierzu die Kompetenz, Psychologen, die in ihrem Leben keinen Seciersaal betraten, an die genaue Lokalisation der Gehirnfunktionen die interessantesten Hypothesen knüpfen Ja, was sehen wir bei den Berühmtesten unserer Zeit? Ein Darwin musste nolens volens Philosoph werden, sogar ein wenig Theolog, ein Schopen - hauer hielt seine » Vergleichende Anatomie « für seine beste Schrift, Hegel schrieb eine Weltgeschichte, Grimm widmete seine besten Jahre juristischen Aufgaben, Jhering, der grosse Rechtslehrer, fühlte sich nirgends so wohl wie beim Aufbau etymologischer und archäologischer Luftschlösser! Kurz, die Reaktion gegen die enge Knechtschaft der Wissenschaft bricht sich gerade bei den Gelehrten Bahn; nur die Mittelmässigen unter ihnen halten es dauernd in der Kerkerluft aus, die Begabten sehnen sich nach dem Leben und fühlen, dass jegliches Wissen nur durch die Berührung mit einem andern Wissen Gestalt und Sinn gewinnt.

Sollte nun ein aufrichtiger, offen eingestandener Dilettantismus nicht gewisse Vorzüge vor dem versteckten haben? Wird nicht die Situation eine hellere sein, wenn der Verfasser gleich erklärt: ich bin auf keinem Felde ein Fachgelehrter? Ist es nicht möglich, dass eine umfassende Ungelehrtheit einem grossen Komplex von Erscheinungen eher gerecht werden, dass sie bei der künstlerischen Gestaltung sich freier bewegen wird als eine Gelehrsamkeit, welche durch intensiv und lebenslänglich betriebenes Fachstudium dem Denken bestimmte Furchen eingegraben hat? Wenn nur nicht alle methodischen Grund - lagen fehlen, wenn die Absicht eine edle, nützliche ist, das Ziel ein klares, die Hand am Steuerruder eine feste, welche das Schiff zwischen der steilen Scylla der reinen Wissenschaft (einzig den ihr Geweihten erreichbar) und der Charybdis der Verflachung sicher hindurchzusteuern vermag, wenn aufopferungsvoller Fleiss dem Ganzen den Stempel ehr - licher Arbeit aufdrückt, dann darf der ungelehrte Mann ohne Scheu eingestehen, was ihn beschränkt, und dennoch auf Anerkennung hoffen.

Ganz ohne wissenschaftliche Schulung ist der Verfasser dieses Buches nicht, und, hat ihn auch eine Fügung des Schicksals aus der er -XVorwort.wählten Laufbahn entfernt, so hat er sich doch, neben dem unvergäng - lichen Eindruck der Methodik und der unbedingten Achtung vor den Thatsachen, welche die Naturforschung ihren Jüngern einprägt, für alle Wissenschaft Verehrung und leidenschaftliche Liebe bewahrt. Jedoch er durfte und er musste sich sagen, dass es etwas giebt, höher und heiliger als alles Wissen: das ist das Leben selbst. Was hier ge - schrieben steht, ist erlebt. Manche thatsächliche Angabe mag ein überkommener Irrtum, manches Urteil ein Vorurteil, manche Schluss - folgerung ein Denkfehler sein, ganz unwahr ist nichts; denn die verwaiste Vernunft lügt häufig, das volle Leben nie: ein bloss Ge - dachtes kann ein luftiges Nichts, die Irrfahrt eines losgerissenen Individuums sein, dagegen wurzelt ein tief Gefühltes in Ausser - und Überpersönlichem, und mag auch Vorurteil und Ignoranz die Deutung manchmal fehlgestalten, ein Kern lebendiger Wahrheit muss darin liegen.

Als Wappeninschrift hat der Verfasser den Spruch geerbt:

Spes et Fides.

Er deutet ihn auf das Menschengeschlecht. So lange es noch echte Germanen auf der Welt giebt, so lange können und wollen wir hoffen und glauben. 1)Über die genaue Bedeutung, welche in diesem Buche dem Worte » Germane « beigelegt wird, siehe das sechste Kapitel.Dies die Grundüberzeugung, aus der das vorliegende Werk hervorgegangen ist.

Was hier vorliegt, ist der erste Band eines umfassender gedachten Werkes, wie das die allgemeine Einleitung meldet. Dieser Band bildet aber ein durchaus selbständiges Ganzes, welches die » Grundlagen « der Strömungen, Ideen, Gestaltungen unseres Jahrhunderts behandelt. Der zweite Band wird erst dann erscheinen, wenn die vielen fach - männischen Sammelwerke über das neunzehnte Jahrhundert vollendet vorliegen, so dass ein zusammenfassender Überblick möglich wird, ohne die Gefahr, Wesentliches übersehen zu haben. Inzwischen bildet dieser Band eine Ergänzung zu jenen Specialerörterungen, sowie zu jedem Überblick über die Geschichte des Jahrhunderts, eine Er - gänzung, welche hoffentlich Manchem ebenso sehr Bedürfnis sein wird, wie es dem Verfasser Bedürfnis war, sich gerade über diese Grundlagen Klarheit zu verschaffen.

XIVorwort.

Es erübrigt noch festzustellen, dass dieses Buch sein Entstehen der Initiative des Verlegers, Herrn Hugo Bruckmann, verdankt. Kann er insofern von einer gewissen Verantwortlichkeit nicht freigesprochen werden, denn er hat dem Verfasser ein Ziel gesteckt, an das er sonst kaum zu denken gewagt hätte, so ist es Diesem zugleich ein Bedürfnis, seinem Freunde Bruckmann öffentlich für das Interesse und die Unterstützung zu danken, die er dem Werke in allen Stadien seiner Entstehung gewidmet hat. Warmen Dank schuldet der Ver - fasser ebenfalls seinem innig verehrten Freunde, Herrn Gymnasial - oberlehrer Otto Kuntze in Stettin, für die gewissenhafte Durchsicht des ganzen Manuskriptes, sowie für manchen wertvollen Wink.

Wien, im Herbst 1898.

Houston Stewart Chamberlain.

[XII][XIII]

INHALTSÜBERSICHT

Vorwort.

Allgemeine Einleitung.

Plan des Werkes S. 3. Der erste Band S. 6. Der Angelpunkt S. 7. Das Jahr 1200 S. 11. Zweiteilung des ersten Bandes S. 16. Der zweite Band S. 20. Anonyme Kräfte S. 22. Das Genie S. 26. Verallgemeinerungen S. 27. Das 19. Jahrhundert S. 30.

Erster Teil: Die Ursprünge. ABSCHNITT I: DAS ERBE DER ALTEN WELT.

Einleitendes. Historische Grundsätze S. 41. Hellas, Rom, Judäa S. 45. Geschichts - philosophie S. 48.

Erstes Kapitel: Hellenische Kunst und Philosophie.

Das Menschwerden S. 53. Tier und Mensch S. 56. Homer S. 63. Künstlerische Kultur S. 69. Das Gestalten S. 75. Plato S. 78. Aristoteles S. 82. Naturwissenschaft S. 83. Oeffentliches Leben S. 89. Geschichts - lügen S. 90. Verfall der Religion S. 98. Metaphysik S. 106. Theologie S. 112. Teleologie S. 115. Schlusswort S. 117.

Zweites Kapitel: Römisches Recht.

Disposition S. 121. Römische Geschichte S. 123. Römische Ideale S. 130. Der Kampf gegen die Semiten S. 137. Das kaiserliche Rom S. 146. Staatsrechtliches Erbe S. 149.

Juristische Technik S. 156. Naturrecht S. 159. Römisches Recht S. 163. Die Familie S. 172. Die Ehe S. 176. Das Weib S. 178. Poesie und Sprache S. 181. Zusammenfassung S. 185.

XIVInhaltsübersicht.

Drittes Kapitel: Die Erscheinung Christi.

Einleitendes S. 189. Die Religion der Erfahrung S. 191. Buddha und Christus S. 195. Buddha S. 197. Christus S. 199.

Die Galiläer S. 209. Religion S. 220. Christus kein Jude S. 227. Geschichtliche Religion S. 233. Der Wille bei den Semiten S. 241. Prophetismus S. 247. Christus ein Jude S. 247. Das 19. Jahrhundert S. 249.

ABSCHNITT II: DIE ERBEN.

Einleitendes.

S. 255.

Viertes Kapitel: Das Völkerchaos.

Wissenschaftliche Wirrnis S. 263. Bedeutung von Rasse S. 271. Die fünf Grundgesetze S. 277. Andere Einflüsse S. 288. Die Nation S. 290. Der Held S. 294. Das rassenlose Chaos S. 296. Lucian S. 298. Augustinus S. 304. Asketischer Wahn S. 308. Heiligkeit reiner Rasse S. 310. Die Germanen S. 313.

Fünftes Kapitel: Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.

Die Judenfrage S. 323. Das » fremde Volk « S. 329. Historische Vogel - schau S. 332. Consensus ingeniorum S. 335. Fürsten und Adel S. 338. Innere Berührung S. 341. Wer ist der Jude? S. 342.

Gliederung der Untersuchung S. 345. Entstehung des Israeliten S. 348. Der echte Semit S. 355. Der Syrier S. 357. Der Amoriter S. 366. Ver - gleichende Zahlen S. 370. Rassenschuldbewusstsein S. 372. Homo syriacus S. 375. Homo europaeus S. 378. Homo arabicus S. 379. Homo judaeus S. 388. Exkurs über semitische Religion S. 391. Israel und Juda S. 415. Das Werden des Juden S. 421. Der neue Bund S. 435. Die Propheten S. 436. Die Rabbiner S. 441. Der Messianismus S. 445. Das Gesetz S. 451. Die Thora S. 453. Das Judentum S. 455.

Sechstes Kapitel: Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.

Der Begriff » Germane « S. 463. Erweiterung des Begriffes S. 466. Der Keltogermane S. 467. Der Slavogermane S. 471. Die Reformation S. 477. Beschränkung des Begriffes S. 482. Das blonde Haar S. 486. Die Gestalt des Schädels S. 489. Rationelle Anthropologie S. 495. Physiognomik S. 499. Freiheit und Treue S. 502. Ideal und Praxis S. 509. Germane und Antigermane S. 511. Ignatius von Loyola S. 521. Rück - blick S. 528. Ausblick S. 529.

XVInhaltsübersicht.

ABSCHNITT III: DER KAMPF.

Einleitendes.

Leitende Grundsätze S. 535. Die Anarchie S. 536. Religion und Staat S. 539.

Siebentes Kapitel: Religion.

Christus und Christentum S. 545. Das religiöse Delirium S. 547. Die zwei Grundpfeiler S. 548. Arische Mythologie S. 553. Aeussere Mythologie S. 553. Entstellung der Mythen S. 556. Innere Mythologie S. 559. Der Kampf um die Mythologie S. 563. Jüdische Weltchronik S. 568. Der unlösbare Zwist S. 575. Paulus und Augustinus S. 578. Paulus S. 580. Augustinus S. 593. Die drei Hauptrichtungen S. 600. Der » Osten « S. 601. Der » Norden « S. 608. Karl der Grosse S. 617. Dante S. 619. Religiöse Rasseninstinkte S. 623. Rom S. 626. Der Sieg des Völkerchaos S. 635. Heutige Lage S. 644. Oratio pro domo S. 647.

Achtes Kapitel: Staat.

Kaiser und Papst S. 651. Die duplex potestas S. 654. Universalismus gegen Nationalismus S. 659. Das Gesetz der Begrenzung S. 662. Der Kampf um den Staat S. 668. Der Wahn des Unbegrenzten S. 678. Die grundsätzliche Begrenzung S. 684.

Zweiter Teil: Die Entstehung einer neuen Welt.

Neuntes Kapitel: Vom Jahre 1200 bis zum Jahre 1800.

A) DIE GERMANEN ALS SCHÖPFER EINER NEUEN KULTUR.

Das germanische Italien S. 693. Der germanische Baumeister S. 700. Die angebliche » Menschheit « S. 703. Die angebliche » Renaissance « S. 712. Fortschritt und Entartung S. 714. Historisches Kriterium S. 720. Innere Gegensätze S. 723. Die germanische Welt S. 725. Die Notbrücke S. 728.

B) GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK.

Die Elemente des sozialen Lebens S. 729. Vergleichende Analysen S. 739. Der Germane S. 747.

1. Entdeckung (von Marco Polo bis Galvani).

Die angeborene Befähigung S. 752. Die treibenden Kräfte S. 755. Die Natur als Lehrmeisterin S. 759. Die hemmende Umgebung S. 762. Die Einheit des Entdeckungswerkes S. 769. Der Idealismus S. 775.

XVIInhaltsübersicht.
2. Wissenschaft (von Roger Bacon bis Lavoisier).

Unsere wissenschaftliche Methode S. 778. Hellene und Germane S. 787. Das Wesen unserer Systematik S. 789. Idee und Theorie S. 794. Das Ziel unserer Wissenschaft S. 806.

3. Industrie (von der Einführung des Papieres bis zu Watt’s Dampfmaschine).

Vergänglichkeit aller Civilisation S. 808. Autonomie unserer neuen Industrie S. 812. Das Papier S. 815.

4. Wirtschaft (vom Lombardischen Städtebund bis zu Robert Owen, dem Begründer der Kooperation).

Kooperation und Monopol S. 821. Innungen und Kapitalisten S. 824. Bauer und Grossgrundbesitzer S. 829. Syndikatswesen und Sozialismus S. 833. Die Maschine S. 837.

5. Politik und Kirche (von der Einführung des Beichtzwanges, 1215, bis zur französischen Revolution).

Die Kirche S. 838. Martin Luther S. 840. Die französische Revolution S. 848. Die Angelsachsen S. 854.

6. Weltanschauung und Religion (von Franz von Assisi bis zu Immanuel Kant).

Die zwei Wege S. 858. Der Weg der Wahrhaftigkeit S. 861. Der Weg der Unwahrhaftigkeit S. 862. Die Scholastik S. 864. Rom und Anti - Rom S. 867. Die vier Gruppen S. 870. Die Theologen S. 870. Die Mystiker S. 876. Die Humanisten S. 891. Die naturforschenden Philo - sophen S. 897. Die Beobachtung der Natur S. 900. Das exakte Nichtwissen S. 905. Idealismus und Materialismus S. 913. Das erste Dilemma S. 914. Das metaphysische Problem S. 917. Die Natur und das Ich S. 925. Das zweite Dilemma S. 929. Wissenschaft und Religion S. 932. Die Religion S. 937. Christus und Kant S. 942.

7. Kunst (von Giotto bis Goethe).

Der Begriff » Kunst « S. 946. Kunst und Religion S. 950. Der tonvermählte Dichter S. 955. Kunst und Wissenschaft S. 961. Die Kunst als ein Ganzes S. 971. Das Primat der Poesie S. 974. Die germanische Tonkunst S. 976. Das Musikalische S. 987. Der Naturalismus S. 989. Der Kampf um die Eigenart S. 994. Der innere Kampf S. 997. Shakespeare und Beethoven S. 998. Zusammenfassung S. 1001. Schlusswort S. 1002.

Register.

[1]

ALLGEMEINE EINLEITUNG

Alles beruht auf Inhalt, Gehalt und Tüchtigkeit eines zuerst aufgestellten Grundsatzes und auf der Reinheit des Vorsatzes. Goethe.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 1[2][3]

Da das Werk, dessen erster Band hier vorliegt, nicht aus aneinander -Plan des Werkes. gereihten Bruchstücken bestehen soll, sondern gleich anfangs als eine organische Einheit concipiert und in allen seinen Teilen ausführlich entworfen wurde, muss es die vorzüglichste Aufgabe dieser allgemeinen Einleitung sein, Aufschluss über den Plan des vollständigen Werkes zu geben. Zwar bildet dieser erste Band ein abgeschlossenes Ganzes, doch wäre dieses Ganze nicht das, was es ist, wenn es nicht als Teil eines besonderen grösseren Gedankens entstanden wäre. Dieser Ge - danke muss also » dem Teil, der anfangs alles ist «, vorausgeschickt werden.

Welche Beschränkungen dem Einzelnen auferlegt werden, wenn er einer unübersehbaren Welt von Thatsachen allein entgegentritt, das bedarf nicht erst ausführlicher Erörterung. Wissenschaftlich lässt sich die Bewältigung einer derartigen Aufgabe gar nicht versuchen; einzig künstlerische Gestaltung vermag hier (im glücklichen Falle), getragen von jenen geheimen Parallelismen zwischen dem Geschauten und dem Gedachten, von jenem Gewebe, welches äthergleich die Welt nach jeder Richtung allverbindend durchzieht, ein Ganzes hervorzu - bringen, und zwar, trotzdem nur einiges Wenige, nur Bruchstücke ver - wendet werden. Gelingt dies dem Künstler, so war sein Werk nicht überflüssig; denn ein Unübersehbares ist nunmehr übersichtlich ge - worden, ein Ungestaltetes hat Gestalt gewonnen. Für diesen Zweck ist nun der Vereinzelte gegenüber einer Vereinigung selbst tüchtiger Männer insofern im Vorteil, als nur der Einzelne einheitlich formen kann. Diesen seinen einzigen Vorteil muss er zu benutzen wissen. Kunst kann nur als Ganzes, Abgeschlossenes in die Erscheinung treten; Wissenschaft dagegen ist notwendigerweise Bruchstück. Kunst vereint, Wissenschaft trennt. Kunst gestaltet, Wissenschaft zergliedert Ge - stalten. Der Mann der Wissenschaft steht gewissermassen auf einem archimedischen Punkte ausserhalb der Welt: das ist seine Grösse, seine sogenannte » Objektivität «; das bildet aber auch seine offenbare1*4Allgemeine Einleitung.Schwäche, denn sobald er das Gebiet des thatsächlich Beobachteten verlässt, um die Mannigfaltigkeit der Erfahrung zur Einheit der Vor - stellung und des Begriffes zu reduzieren, hängt er in Wahrheit an Fäden der Abstraktion im leeren Raume. Dagegen steht der Künstler im Mittelpunkt der Welt (das heisst also seiner Welt), und so weit seine Sinne reichen, so weit reicht auch seine Gestaltungskraft; denn diese ist ja die Bethätigung seines individuellen Daseins in lebendiger Wechselwirkung mit der Umgebung. Deswegen darf man ihm aber auch aus seiner » Subjektivität « keinen Vorwurf machen, denn sie ist die Grundbedingung seines Schaffens. Nun handelt es sich aber im vorliegenden Falle um einen historisch genau umschriebenen und ewig festgebannten Gegenstand. Unwahrheit wäre lächerlich, Will - kür unerträglich; der Verfasser darf also nicht mit Michelangelo sprechen: in dieses Blatt, in diesen Stein kommt kein Inhalt, den ich nicht hineinlege:

in pietra od in candido foglio Che nulla ha dentro, et evvi ci ch’io voglio!

Im Gegenteil, unbedingte Achtung vor den Thatsachen muss sein Leitstern sein. Er darf nicht Künstler im Sinne des freischöpferischen Genies sein, sondern nur in dem beschränkten Verstande eines an die Methoden der Kunst sich Anlehnenden. Gestalten soll er, doch nur das, was da ist, nicht das, was seine Phantasie ihm etwa vorspiegelt. Geschichtsphilosophie ist eine Wüste, Geschichtsphantasie ein Narren - haus. Darum müssen wir von jenem künstlerischen Gestalter eine durchaus positive Geistesrichtung und ein streng wissenschaftliches Gewissen fordern. Ehe er meint, muss er wissen; ehe er gestaltet, muss er prüfen. Er darf sich nicht Herr wähnen, er ist Diener: Diener der Wahrheit.

Obige Bemerkungen reichen wohl hin, um über die allgemeinen Prinzipien zu orientieren, welche bei dem Entwurf des vorliegenden Werkes massgebend waren. Jetzt wollen wir aus den luftigen Höhen der philosophischen Grundsätze zur Erde niedersteigen. Ist die Ge - staltung des vorhandenen Materials in allen derartigen Fällen die einzige Aufgabe, die der Einzelne sich zutrauen darf, wie hat er hier, in diesem besonderen Falle, die Gestaltung zu versuchen?

Das neunzehnte Jahrhundert! Das Thema dünkt uner - schöpflich; ist es auch. Nur dadurch konnte es » gebändigt « werden, dass es weiter gefasst wurde. Das scheint paradox, ist aber wahr. Sobald5Allgemeine Einleitung.der Blick lange und liebend auf der Vergangenheit geruht hat, aus der unter so vielen Schmerzen die Gegenwart hervorgegangen ist, sobald das lebhafte Empfinden der grossen geschichtlichen Grundthat - sachen heftig widerstreitende Gefühle im Herzen in Bezug auf den heutigen Tag erregt hat: Furcht und Hoffnung, Empörung und Be - geisterung, alle in eine Zukunft hinausweisend, deren Gestaltung unser Werk sein muss und der wir nunmehr mit sehnsuchtsvoller Ungeduld entgegensehen, entgegenarbeiten da schrumpft das grosse, unübersehbare neunzehnte Jahrhundert auf ein verhältnismässig Ge - ringes zusammen; wir haben gar nicht mehr die Zeit, uns bei Einzel - heiten aufzuhalten, nur die grossen Züge wollen wir fest und klar vor Augen haben, damit wir wissen, wer wir sind und wohin unser Weg geht. Nunmehr ist die Perspektive für das gesteckte Ziel günstig; nunmehr kann der Einzelne sich heranwagen. Der Grundriss seines Werkes ist ihm so deutlich vorgezeichnet, dass er ihn nur getreulich nachzuzeichnen braucht.

Der Grundriss meines Werkes ist nun folgender. In dem ersten vorliegenden Band behandle ich die vorangegangenen acht - zehn Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, wobei mancher Blick auch auf ferner zurückliegende Zeiten fällt; doch handelt es sich hierbei keineswegs um eine Geschichte der Vergangenheit, sondern einfach um jene Vergangenheit, welche heute noch lebendig ist; und zwar ist das so viel und die genaue, kritische Kenntnis davon ist für jedes Urteil über die Gegenwart so unentbehrlich, dass ich das Studium dieser » Grundlagen « unseres Säculums fast für das wichtigste Geschäft des ganzen Unternehmens halten möchte. Der zweite Band wäre dem 19. Jahrhundert gewidmet; natürlich kann es sich in einem derartigen Werk nur um die grossen leitenden Ideen handeln, und zwar wird diese Aufgabe durch den vorangegangenen ersten Band, in welchem das Auge immer wieder auf unser Jahrhundert gerichtet worden war, unendlich vereinfacht und erleichtert. Ein Anhang würde dem Versuch gelten, die Bedeutung des 19. Jahrhunderts an - nähernd zu bestimmen; dies kann nur durch den Vergleich geschehen, wozu wieder der erste Band den Boden bereitet hätte; hierdurch ent - steht aber ausserdem eine Art Ahnung der Zukunft, kein willkürliches Phantasiebild, sondern gleichsam ein Schatten, den die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit wirft. Jetzt erst stünde das Jahrhundert ganz plastisch vor unseren Augen nicht in Gestalt einer Chronik oder eines Lexikons, sondern als ein lebendiges » körperhaftes « Gebilde.

6Allgemeine Einleitung.

Soviel über den allgemeinen Grundriss. Damit er aber selber nicht so schattenhaft bleibe wie die Zukunft, muss ich jetzt einiges Nähere über die Ausführung mitteilen. Was allerdings die be - sonderen Ergebnisse meiner Methode anbelangt, so glaube ich sie nicht schon hier vorweg nehmen zu sollen, da sie nur im Zusammen - hang der ungekürzten Darlegung überzeugend wirken können.

Der erste Band.

In diesem ersten Band musste ich also die Grundlagen auf - zufinden suchen, auf welchen unser Jahrhundert ruht; dies dünkte mich, wie gesagt, die schwerste und wichtigste Pflicht des ganzen Vorhabens; darum widmete ich ihm einen vollen Band. Denn in der Geschichte heisst Verstehen: die Gegenwart aus der Vergangenheit sich entwickeln sehen; selbst wo wir vor einem weiter nicht zu Erklärenden stehen, was bei jeder hervorragenden Persönlichkeit, bei jeder neu ein - tretenden Volksindividualität der Fall, sehen wir diese an Vorangegangenes anknüpfen und finden dann selber auch nur dort den unentbehrlichen Anknüpfungspunkt für unser Urteil. Ziehen wir eine imaginäre Grenze zwischen unserem Jahrhundert und den vorangegangenen, so schwindet mit einem Schlage jede Möglichkeit eines kritischen Verständnisses. Das neunzehnte Jahrhundert ist nämlich nicht das Kind der früheren denn ein Kind fängt das Leben von Neuem an vielmehr ist es ihr unmittelbares Erzeugnis: mathematisch betrachtet eine Summe, physiologisch eine Altersstufe. Wir erbten eine Summe von Kennt - nissen, Fertigkeiten, Gedanken u. s. w., wir erbten eine bestimmte Verteilung der wirtschaftlichen Kräfte, wir erbten Irrtümer und Wahr - heiten, Vorstellungen, Ideale, Aberglauben: manches so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir wähnen, es könnte nicht anders sein, manches verkümmert, was früher viel verhiess, manches so ur - plötzlich in die Höhe geschossen, dass es den Zusammenhang mit dem Gesamtleben fast eingebüsst hat, und, während die Wurzeln dieser neuen Blumen in vergessene Jahrhunderte hinunterreichen, die phan - tastischen Blütenrispen für unerhört Neues gehalten werden. Vor Allem erbten wir das Blut und den Leib, durch die und in denen wir leben. Wer die Mahnung » Erkenne dich selbst « ernst nimmt, wird bald zur Erkenntnis gelangen, dass sein Selbst mindestens zu neun Zehnteln ihm nicht selber angehört. Und das gilt ebenso von dem Geist eines ganzen Jahrhunderts. Ja, der hervorragende Einzelne, der vermag es, indem er über seine physische Stellung in der Mensch -7Allgemeine Einleitung.heit sich klar wird und sein geistiges Erbe analytisch zergliedert, zu einer relativen Freiheit durchzudringen; so wird er sich seiner Be - dingtheit wenigstens bewusst und, kann er sich auch selber nicht um - wandeln, er kann wenigstens auf die Richtung der Weiterentwickelung Einfluss gewinnen; ein ganzes Jahrhundert dagegen eilt unbewusst wie es das Schicksal treibt: sein Menschenmaterial ist die Frucht dahingeschwundener Generationen, sein geistiger Schatz Korn und Spreu, Gold, Silber, Erz und Thon ist ein ererbter, seine Richtungen und Schwankungen ergeben sich mit mathematischer Notwendigkeit aus den vorhergegangenen Bewegungen. Nicht allein also der Ver - gleich, nicht allein die Feststellung der charakteristischen Merkmale, der speziellen Eigenschaften und Leistungen unseres Jahrhunderts ist ohne Kenntnis der vorangegangenen unmöglich, sondern wir vermögen es auch nicht, irgend etwas über dieses Jahrhundert an und für sich auszusagen, wenn wir nicht zunächst Klarheit erlangt haben über das Material, aus welchem wir leiblich und geistig aufgebaut sind. Dies ist, ich wiederhole es, das allerwichtigste Geschäft.

Da ich nun in diesem Buche an die Vergangenheit anknüpfe,Der Angelpunkt. war ich gezwungen, ein historisches Zeitschema zu entwerfen. Doch insofern meine Geschichte einem unmessbaren Augenblick der Gegenwart gilt, der keinen bestimmten zeitlichen Abschluss ge - stattet, bedarf sie ebensowenig eines zeitlich bestimmten Anfangs. Unser Jahrhundert weist hinaus in die Zukunft, es weist auch zurück in die Vergangenheit: in beiden Fällen ist eine Begrenzung nur der Bequemlichkeit halber zulässig, doch nicht in den Thatsachen gegeben. Im Allgemeinen habe ich das Jahr 1 der christlichen Zeitrechnung als den Anfang unserer Geschichte betrachtet und habe diese Auf - fassung in den einleitenden Worten zum ersten Abschnitt näher begründet; doch wird man sehen, dass ich mich nicht sklavisch an dieses Schema gehalten habe. Sollten wir jemals wirkliche Christen werden, dann allerdings wäre dasjenige, was hier nur angedeutet, nicht ausgeführt werden konnte, eine historische Wirklichkeit, denn das würde die Geburt eines neuen Geschlechtes bedeuten: vielleicht wird das vierundzwanzigste Jahrhundert, bis zu welchem etwa die Schatten des unsrigen in schmalen Streifen sich erstrecken, klarere Umrisse zeichnen können? Musste ich nun Anfang und Ende in eine unbegrenzte penombra sich verlaufen lassen, umso unumgänglicher bedurfte ich eines scharfgezogenen Mittelstriches, und zwar konnte ein beliebiges Datum hier nicht genügen, sondern es kam darauf an, den8Allgemeine Einleitung.Angelpunkt der Geschichte Europas zu bestimmen. Das Erwachen der Germanen zu ihrer welthistorischen Bestimmung als Begründer einer durchaus neuen Civilisation und einer durchaus neuen Kultur bildet diesen Angelpunkt; das Jahr 1200 kann als der mittlere Augen - blick dieses Erwachens bezeichnet werden.

Dass die nördlichen Europäer die Träger der Weltgeschichte geworden sind, wird wohl kaum jemand zu leugnen sich vermessen. Zwar standen sie zu keiner Zeit allein, weder früher noch heute; im Gegenteil, von Anfang an entwickelte sich ihre Eigenart im Kampfe gegen fremde Art, zunächst gegen das Völkerchaos des verfallenen römischen Imperiums, nach und nach gegen alle Rassen der Welt; es haben also auch Andere Einfluss sogar grossen Einfluss auf die Geschicke der Menschheit gewonnen, doch dann immer nur als Widersacher der Männer aus dem Norden. Was mit dem Schwert in der Hand ausgefochten wurde, war das Wenigste; der wahre Kampf war der Kampf um die Ideen, wie ich das in den Kapiteln 7 und 8 dieses ersten Bandes zu zeigen versucht habe; dieser Kampf dauert noch heute fort. Waren aber die Germanen bei der Gestaltung der Geschichte nicht die Einzigen, so waren sie doch die Unvergleichlichen: alle Männer, die vom 6. Jahrhundert ab als wahre Gestalter der Geschicke der Menschheit auftreten, sei es als Staatenbildner, sei es als Erfinder neuer Gedanken und origineller Kunst, gehören ihnen an. Was die Araber gründen, ist von kurzer Dauer; die Mongolen zerstören, aber schaffen nichts; die grossen Italiener des rinascimento stammen alle aus dem mit lombardischem, gotischem und fränkischem Blute durchsetzten Norden oder aus dem germano-hellenischen äussersten Süden; in Spanien bilden die West - goten das Lebenselement; die Juden erleben ihre heutige » Wieder - geburt «, indem sie sich auf jedem Gebiete möglichst genau an ger - manische Muster anschmiegen . Von dem Augenblick ab, wo der Germane erwacht, ist also eine neue Welt im Entstehen, eine Welt, die allerdings nicht rein germanisch wird genannt werden können, eine Welt, in welcher gerade in unserem Jahrhundert neue Elemente aufgetreten sind, oder wenigstens Elemente, die früher bei dem Entwickelungsprozess weniger beteiligt waren, so z. B. die früher reingermanischen, nunmehr durch Blutmischungen fast durchwegs » ent - germanisierten « Slaven und die Juden, eine Welt, die vielleicht noch grosse Rassenkomplexe sich assimilieren und mithin entsprechende, abweichende Einflüsse in sich aufnehmen wird, jedenfalls aber eine9Allgemeine Einleitung.neue Welt und eine neue Civilisation, grundverschieden von der helleno-römischen, der turanischen, der ägyptischen, der chinesischen und allen andern früheren oder zeitgenössischen. Als den Anfang dieser neuen Civilisation, d. h. als den Augenblick, wo sie begann, der Welt ihren besonderen Stempel aufzudrücken, können wir, glaube ich, das 13. Jahrhundert bestimmen. Zwar hatten Einzelne schon weit früher germanische Eigenart in kultureller Thätigkeit be - währt wie König Alfred, Karl der Grosse, Scotus Erigena u. s. w. doch nicht Einzelne, sondern Gesamtheiten machen Geschichte; diese Einzelnen waren nur Vorbereiter gewesen; um eine civilisatorische Gewalt zu werden, musste der Germane in breiten Schichten zur Be - thätigung seines Eigenwillens im Gegensatz zu dem ihm aufgedrungenen fremden Willen erwachen und erstarken. Das geschah nicht auf ein - mal, es geschah auch nicht auf allen Lebensgebieten zugleich; insofern ist die Wahl des Jahres 1200 als Grenze eine willkürliche, doch glaube ich sie in folgendem rechtfertigen zu können und habe alles gewonnen, wenn es mir hierdurch gelingt, jene beiden Undinge die Be - griffe eines Mittelalters und einer Renaissance zu beseitigen, durch welche mehr als durch irgend etwas anderes das Verständnis unserer Gegenwart nicht allein verdunkelt, sondern geradezu unmög - lich gemacht wird. An die Stelle dieser Schemen, welche Irrtümer ohne Ende erzeugen, wird dann die einfache und klare Erkenntnis treten, dass unsere gesamte heutige Civilisation und Kultur das Werk einer bestimmten Menschenart ist: des Germanen. 1)Unter diesem Namen fasse ich die verschiedenen Glieder der einen grossen nordeuropäischen Rasse zusammen, gleichviel ob Germanen im engeren, taciteischen Sinne des Wortes oder Kelten oder echte Slaven worüber alles Nähere im sechsten Kapitel nachzusehen ist.Es ist unwahr, dass der germanische Barbar die sogenannte » Nacht des Mittelalters « herauf - beschwor; diese Nacht folgt vielmehr auf den intellektuellen und moralischen Bankrott des durch das untergehende römische Imperium grossgezogenen rassenlosen Menschenchaos; ohne den Germanen hätte sich ewige Nacht über die Welt gesenkt; ohne den unaufhörlichen Widerstand der Nichtgermanen, ohne den unablässigen Krieg, der heute noch aus dem Herzen des nie ausgetilgten Völkerchaos gegen alles Germanische geführt wird, hätten wir eine ganz andere Kulturstufe erreicht als diejenige, deren Zeuge das 19. Jahrhundert war. Ebenso unwahr ist es, dass unsere Kultur eine Wiedergeburt der hellenischen und der römischen ist: erst durch die Geburt des Germanen wurde die10Allgemeine Einleitung.Wiedergeburt vergangener Grossthaten möglich, nicht umgekehrt; und dieser rinascimento, dem wir ohne Frage für die Bereicherung unseres Lebens ewigen Dank schuldig sind, wirkte dennoch mindestens ebenso hemmend wie fördernd und warf uns auf lange Zeit aus unserer gesunden Bahn heraus. Die mächtigsten Schöpfer jener Epoche ein Shakespeare, ein Michelangelo können kein Wort griechisch oder lateinisch. Die wirtschaftliche Entwicklung die Grundlage unserer Civilisation findet im Gegensatz zu klassischen Traditionen und im blutigen Kampfe gegen imperiale Irrlehren statt. Der grösste aller Irrtümer ist aber die Annahme, dass unsere Civilisation und Kultur der Ausdruck eines allgemeinen Fortschrittes der Menschheit sei; es zeugt keine einzige Thatsache der Geschichte für diese so beliebte Deutung (wie ich das im neunten Kapitel dieses Buches unwiderleglich dargethan zu haben glaube); inzwischen schlägt uns diese hohle Phrase mit Blindheit und wir sehen nicht ein was doch klar vor Aller Augen liegt dass unsere Civilisation und Kultur, wie jede frühere und jede andere zeitgenössische, das Werk einer bestimmten, individuellen Menschenart ist, einer Menschenart, die hohe Gaben, doch auch enge unübersteigbare Schranken, wie alles Individuelle, besitzt. Und so schwärmen unsere Gedanken in einem Grenzenlosen, in einer hypothetischen » Menschheit « herum, achten aber dabei des konkret Gegebenen und des in der Geschichte einzig Wirksamen, nämlich des bestimmten Individuums, gar nicht. Daher die Unklarheit unserer geschichtlichen Gliederungen. Denn, zieht man einen Strich durch das Jahr 500, einen zweiten durch das Jahr 1500, und nennt diese tausend Jahre das Mittelalter, so hat man den organischen Körper der Geschichte nicht zerlegt wie ein kundiger Anatom, sondern zerhackt wie ein Fleischer. Die Einnahme Roms durch Odoaker und durch Dietrich von Bern sind nur Episoden in jenem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte, die ein Jahrtausend gewährt hat; das Ent - scheidende, nämlich die Idee des unnationalen Weltimperiums, hörte hiermit so wenig auf zu sein, dass sie im Gegenteil aus der Dazwischen - kunft der Germanen auf lange hinaus neues Leben schöpfte. Während also das Jahr 1, als (ungefähres) Geburtsjahr Christi, ein für die Geschichte des Menschengeschlechts und auch für die blosse Historie ewig denkwürdiges Datum festhält, besagt das Jahr 500 garnichts. Noch schlimmer steht es um das Jahr 1500; denn ziehen wir hier einen Strich, so ziehen wir ihn mitten durch alle bewussten und unbewussten Bestrebungen und Entwickelungen wirtschaft -11Allgemeine Einleitung.liche, politische, künstlerische, wissenschaftliche die auch heute unser Leben ausfüllen und einem noch fernen Ziele zueilen. Will man durchaus den Begriff » Mittelalter « festhalten, so lässt sich leicht Rat schaffen: dazu genügt die Einsicht, dass wir Germanen selber, mitsamt unserem stolzen 19. Jahrhundert, in einer » mittleren Zeit « (wie die alten Historiker zu schreiben pflegten), ja, in einem echten Mittelalter mittendrin stecken. Denn das Vorwalten des Provisorischen, des Übergangsstadiums, der fast gänzliche Mangel an Definitivem, Vollendetem, Ausgeglichenem ist ein Kennzeichen unserer Zeit; wir sind in der » Mitte « einer Entwickelung, fern schon vom Anfangspunkte, vermutlich noch fern vom Endpunkte.

Einstweilen möge das Gesagte zur Abweisung anderer Ein - teilungen genügen; die Überzeugung, dass hier nicht willkürliches Gutdünken, sondern die Anerkennung der einen, grossen, grund - legenden Thatsache aller neueren Geschichte vorliegt, wird sich aus dem Studium des ganzen Werkes ergeben. Doch kann ich nicht um - hin, meine Wahl des Jahres 1200 als eines mittleren bequemen Datums noch kurz zu motivieren.

Fragen wir uns nämlich, wo die ersten sicheren Anzeichen sichDas Jahr 1200. bemerkbar machen, dass etwas Neues im Entstehen begriffen ist, eine neue Gestalt der Welt an Stelle der alten, zertrümmerten und an Stelle des herrschenden Chaos, so werden wir sagen müssen, diese charakteristischen Anzeichen sind schon vielerorten im 12. Jahrhundert (in Norditalien bereits im 11.) anzutreffen, sie mehren sich schnell im 13. dem » glorreichen Jahrhundert «, wie es Fiske nennt er - reichen im 14. und 15. eine herrliche Frühblüte auf dem sozialen und industriellen Gebiete, in der Kunst im 15. und 16., in der Wissenschaft im 16. und 17., in der Philosophie im 17. und 18. Jahr - hundert. Diese Bewegung geht nicht geradlinig; in Staat und Kirche bekämpfen sich die grundlegenden Prinzipien, und auf den anderen Gebieten des Lebens herrscht viel zu viel Unbewusstsein, als dass nicht die Menschen oft in die Irre laufen sollten; doch der prinzipielle Unterschied besteht darin, ob nur Interessen aufeinander stossen, oder ob ideale, durch bestimmte Eigenart eingegebene Ziele der Menschheit vorschweben: diese Ziele besitzen wir nun seit dem 13. Jahrhundert (etwa); wir haben sie aber noch immer nicht er - reicht, sie schweben in weiter Ferne vor uns, und darauf beruht die Empfindung, dass wir des moralischen Gleichgewichts und der ästhe - tischen Harmonie der Alten noch so sehr ermangeln, zugleich aber12Allgemeine Einleitung.auch die Hoffnung auf Besseres. Der Blick zurück berechtigt in der That zu grossen Hoffnungen. Und, ich wiederhole es, forscht dieser Blick, wo der erste Schimmer dieser Hoffnungsstrahlen deutlich be - merkbar wird, so findet er die Zeit um das Jahr 1200 herum. In Italien hatte schon im 11. Jahrhundert die städtische Bewegung be - gonnen, jene Bewegung, welche zugleich die Hebung von Handel und Industrie und die Gewährung weitgehender Freiheitsrechte an ganze Klassen der Bevölkerung, die bisher unter der zwiefachen Knecht - schaft von Kirche und Staat geschmachtet hatten, erstrebte; im 12. Jahr - hundert war dieses Erstarken des Kernes der europäischen Be - völkerung an Ausdehnung und Kraft dermassen gewachsen, dass zu Beginn des 13. die mächtige Hansa und der rheinische Städte - bund gegründet werden konnten. Über diese Bewegung schreibt Ranke (Weltgeschichte IV, 238): » Es ist eine prächtige, lebensvolle Entwickelung, die sich damit anbahnt die Städte kon - stituieren eine Weltmacht, an welche die bürgerliche Freiheit und die grossen Staatsbildungen anknüpfen. « Noch vor der endgültigen Grün - dung der Hansa war aber in England, im Jahre 1215, die Magna Charta erlassen worden, eine feierliche Verkündigung der Unantast - barkeit des grossen Prinzipes von der persönlichen Freiheit und der persönlichen Sicherheit. » Keiner darf verurteilt werden anders als den Gesetzen des Landes gemäss. Recht und Gerechtigkeit dürfen nicht verkauft und nicht verweigert werden. « In einigen Ländern Europas ist diese erste Bürgschaft für die Würde des Menschen noch heute nicht Gesetz; seit jenem 15. Juni 1215 ist aber nach und nach daraus ein allgemeines Gewissensgesetz geworden, und wer dagegen verstösst, ist ein Verbrecher, trüge er auch eine Krone. Und noch ein Wichtiges, wodurch die germanische Civilisation sich als von allen anderen dem Wesen nach verschieden erwies: im Verlauf des 13. Jahr - hunderts schwand die Sklaverei und der Sklavenhandel aus Europa (mit Ausnahme von Spanien). Im 13. Jahrhundert beginnt der Über - gang von der Naturalienwirtschaft zur Geldwirtschaft; fast genau im Jahre 1200 beginnt in Europa die Fabrikation des Papiers ohne Frage die folgenschwerste Errungenschaft der Industrie bis zur Er - findung der Lokomotive. Man würde aber weit fehl gehen, wollte man allein in dem Aufschwung des Handels und in der Regung freiheitlicher Triebe die Dämmerung eines neuen Tages erblicken. Vielleicht ist die grosse Bewegung des religiösen Gemütes, welche in Franz von Assisi (geb. 1181) ihren mächtigsten Ausdruck ge -13Allgemeine Einleitung.winnt, ein Faktor von noch tiefer eingreifender Wirksamkeit; hierin tritt eine unverfälscht demokratische Regung zu Tage; der Glaube und das Leben solcher Menschen verleugnen sowohl die Despotie der Kirche wie die Despotie des Staates, und sie vernichten die Despotie des Geldes. » Diese Bewegung «, schreibt einer der genauesten Kenner des Franz von Assisi,1)Thode: Franz von Assisi, S. 4. » schenkt der Menschheit die erste Vorahnung allgemeiner Denkfreiheit. « Im selben Augenblick erwuchs zum ersten - mal im westlichen Europa eine ausgesprochene antirömische Bewegung, die der Albigenser, zu drohender Bedeutung. Auch wurden zu gleicher Zeit auf einem anderen Gebiete des religiösen Lebens einige ebenso folgenschwere Schritte gethan: nachdem Peter Abälard ( 1142), namentlich durch seine Betonung der Bildlichkeit aller religiösen Vorstellungen, die indoeuropäische Auffassung der Religion gegen die semitische unbewusst verfochten hatte, machten im 13. Jahr - hundert zwei orthodoxe Scholastiker, Thomas von Aquin und Duns Scotus ein für das Kirchendogma ebenso gefährliches Ge - ständnis, indem sie, sonst Gegner, beide übereinstimmend einer von der Theologie unterschiedenen Philosophie das Recht des Daseins einräumten. Und während hier das theoretische Denken sich zu regen begann, legten andere Gelehrte, unter denen vor allen Albertus Magnus (geb. 1193) und Roger Bacon (geb. 1214) hervorragen, die Fundamente der modernen Naturwissenschaft, indem sie die Auf - merksamkeit der Menschen von den Vernunftstreitigkeiten hinweg auf Mathematik, Physik, Astronomie und Chemie lenkten. Auch Dante, ebenfalls ein Kind des 13. Jahrhunderts, ist hier zu nennen, und zwar in hervorragender Weise. » Nel mezzo del cammin di nostra vita «, heisst der erste Vers seiner grossen Dichtung, und er selber, das erste künstlerische Weltgenie der neuen, germanischen Kulturepoche, ist die typische Gestalt für diesen Wendepunkt der Ge - schichte, für den Punkt, wo sie » die Hälfte ihres Weges « zurückge - legt, und nunmehr, nachdem sie jahrhundertelang in rasender Eile bergab geführt hatte, sich anschickte, den steilen, schwierigen Weg auf der gegenüberliegenden Bergwand anzutreten. Manche Anschau - ungen Dante’s in seiner Divina Commedia und in seinem Tractatus de monarchia muten uns an wie der sehnsuchtsvolle Blick eines viel - erfahrenen Mannes aus dem gesellschaftlichen und politischen Chaos, das ihn umgab, hinaus in eine harmonisch gestaltete Welt; dass dieser14Allgemeine Einleitung.Blick gethan werden konnte, ist ein deutliches Zeichen der schon be - gonnenen Bewegung; das Auge des Genies leuchtet den Anderen voran. 1)Ich habe hier nicht das Einzelne seiner scholastisch gefärbten Beweis führungen im Sinne, sondern solche Dinge wie seine Betrachtungen über das Verhältnis der Menschen zu einander (Monarchia, Buch I, Kap. 3 u. 4) oder über die Föderation der Staaten, von denen ein jeder seine eigene Individualität, seine eigene Gesetzgebung beibehalten, der Kaiser aber als » Friedensstifter « und als Richter über das » allen Gemeinsame, allen Gebührende « das einigende Band her - stellen soll (Buch I, Kap. 14). Im Übrigen ist gerade Dante, als echte » Mittel - gestalt «, sehr befangen in den Vorstellungen seiner Zeit und in dichterischen Utopien, worüber im siebenten und namentlich in der Einleitung zum achten Kapitel dieses Buches manches Nähere zu finden ist.Doch, lange vor Dante das übersehe man nicht hatte im Herzen des echtesten Germanentums, im Norden, eine poetische Schöpferkraft sich kundgethan, welche allein schon beweist, wie wenig wir einer klassischen Renaissance bedurften, um künstlerisch Unver - gleichliches zu leisten: in dem Jahre 1200 dichteten Chrestien de Troyes, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Gottfried von Strassburg! und ich nenne nur einige der bekanntesten Namen, denn, wie Gottfried sagt: » der Nachtigallen sind noch viel «. Und noch hatte die bedenkliche Scheidung zwischen Dichtkunst und Tonkunst (hervor - gegangen aus dem Kultus der toten Buchstaben) nicht stattgefunden: der Dichter war zugleich Sänger; erfand er das » Wort «, so erfand er dazu den eigenen » Ton « und die eigene » Weise «. Und so sehen wir denn auch die Musik, die ureigenste Kunst der neuen Kultur, zugleich mit den ersten Anzeichen des besonderen Wesens dieser Kultur in durchaus neuer Gestalt, als vielstimmige, harmonische Kunst entstehen. Der erste Meister von Bedeutung in der Behandlung des Kontrapunktes ist der Dichter und Dramatiker Adam de la Halle, geboren 1240. Mit ihm also mit einem echt germanischen Wort - und Tondichter beginnt die Entwicklung der eigentlichen Tonkunst, so dass der Musikgelehrte Gevaert schreiben kann: » Désormais l’on peut considérer ce XIIIe siècle, si décrié jadis, comme le siècle initiateur de tout l’art moderne «. Ebenfalls im dreizehnten Jahrhundert entfalteten jene begnadeten Künstler Nicolo Pisano, Cimabue, Giotto ihre Talente, denen wir in erster Reihe nicht allein die » Wiedergeburt « der bildenden Künste, sondern vor allem die Geburt einer durchaus neuen Kunst, der modernen Malerei, verdanken. Gerade im 13. Jahrhundert kam auch die gotische Architektur auf (der » ger -15Allgemeine Einleitung.manische Stil «, wie ihn Rumohr mit Recht benennen wollte): fast alle Meisterwerke der Kirchenbaukunst, deren unvergleichliche Schönheit wir heute nur anstaunen, nicht nachahmen können, sind aus jenem einen Säculum. Inzwischen war (kurz vor dem Jahre 1200) in Bologna die erste rein weltliche Universität entstanden, an der nur Jurisprudenz, Philo - sophie und Medizin gelehrt wurden. 1)Die theologische Fakultät wurde erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts errichtet (Savigny). Man sieht, in wie mannigfaltiger Weise sich ein neues Leben um das Jahr 1200 herum kundzuthun begann. Ein paar Namen würden nichts beweisen; dass aber eine Bewegung alle Länder und alle Kreise erfasst, dass die widersprechendsten Erscheinungen alle auf eine ähnliche Ursache zurück -, und auf ein gemeinsames Ziel hinweisen, das gerade zeigt, dass es sich hier nicht um Zufälliges und Individuelles, sondern um einen grossen, allgemeinen, mit unbewusster Notwendigkeit sich voll - ziehenden Vorgang im innersten Herzen der Gesellschaft handelt. Auch jener eigentümliche » Verfall des historischen Sinnes und ge - schichtlichen Verständnisses um die Mitte des 13. Jahrhunderts «, auf den verschiedene Gelehrte mit Verwunderung aufmerksam machen,2)Siehe z. B. Döllinger: Das Kaisertum Karl’s des Grossen (Akad. Vor - träge III, 156). scheint mir hierher zu gehören: die Menschheit hat eben unter Führung der Germanen ein neues Leben begonnen, sie ist gewisser - massen auf ihrem Wege um eine Ecke gebogen und verliert plötz - lich selbst die letzte Vergangenheit aus den Augen; nunmehr gehört sie der Zukunft an.

Höchst überraschend ist es festzustellen, dass gerade in diesem Augenblick, wo die neue europäische Welt aus dem Chaos zu ent - stehen begann, auch jene Entdeckung der übrigen Erde ihren Anfang nahm, ohne welche unsere aufblühende germanische Kultur die einzig ihr eigentümliche Expansionskraft niemals hätte entwickeln können: in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts führte Marco Polo seine Entdeckungsreisen aus und legte dadurch den Grund zu unserer noch nicht ganz vollendeten Kenntnis der Oberfläche unseres Planeten. Was hiemit gewonnen wird, ist zunächst, und abgesehen von der Erweiterung des Gesichtskreises, die Fähigkeit der Ausdehnung; jedoch diese bedeutet nur etwas Relatives; das Entscheidende ist, dass euro - päische Kraft die gesamte Erde in absehbarer Zeit zu umspannen hoffen darf und somit den alles dahinraffenden Einfällen ungeahnter16Allgemeine Einleitung.und ungebändigter Barbarenkräfte nicht, wie frühere Civilisationen, unterworfen sein wird.

Soviel zur Begründung meiner Wahl des 13. Jahrhunderts als Grenzscheide.

Dass einer derartigen Wahl dennoch etwas Künstliches an - haftet, habe ich gleich anfangs eingestanden und wiederhole es jetzt; namentlich darf man nicht glauben, dass ich dem Jahre 1200 irgend eine besondere fatidistische Bedeutung zuerkenne: die Gährung der ersten zwölf Jahrhunderte unserer Zeitrechnung hat ja noch heute nicht aufgehört, sie trübt noch tausende und abertausende von Ge - hirnen, und andrerseits darf man getrost behaupten, dass die neue harmonische Welt in einzelnen Köpfen schon lange vor 1200 zu dämmern begann. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines derartigen Schemas zeigt sich erst beim Gebrauche. Wie Goethe sagt: » Alles kommt auf das Grundwahre an, dessen Entwicklung sich nicht so leicht in der Spekulation als in der Praxis zeigt: denn diese ist der Prüf - stein des vom Geist Empfangenen. «

Zweiteilung des ersten Bandes.
5

Infolge dieser Bestimmung des Angelpunktes unserer Geschichte zerfällt dieser die Zeit bis zum Jahre 1800 behandelnde Band natur - gemäss in zwei Teile: der eine behandelt die Zeit vor dem Jahre 1200, der andere die Zeit nach diesem Jahre.

In dem ersten Teil Die Ursprünge habe ich zuerst das Erbe der alten Welt, sodann die Erben, zuletzt den Kampf der Erben um das Erbe besprochen. Da jedes Neue an ein schon Vor - handenes, Älteres anknüpft, ist die erste der grundlegenden Fragen: welche Bestandteile unseres geistigen Kapitals sind ererbt? Die zweite, nicht minder wichtige Grundfrage lautet: wer sind » wir «? Führt uns auch die Beantwortung dieser Fragen in ferne Vergangenheit zurück, das Interesse bleibt stets ein » aktuelles « (wie man im heutigen Jargon sagt), da sowohl bei der Gesamtanlage jedes Kapitels wie auch bei jeder Einzelheit der Besprechung die eine einzige Rücksicht auf unser 19. Jahrhundert bestimmend bleibt. Das Erbe der alten Welt bildet noch immer einen bedeutenden oft recht unverdauten Bestandteil der allerneuesten Welt; die verschieden gearteten Erben stehen einander noch immer gegenüber wie vor tausend Jahren; der Kampf ist heute ebenso erbittert, dabei ebenso konfus wie je: diese Untersuchung der Vergangenheit bedeutet also zugleich eine Sichtung des überreichen Stoffes der Gegenwart. Nur darf Niemand in meinen Betrachtungen über hellenische Kunst und Philosophie, über17Allgemeine Einleitung.römische Geschichte und römisches Recht, über die Lehre Christi, oder wiederum über Germanen und Juden u. s. w. selbständige akademische Abhandlungen erblicken und den entsprechenden Mass - stab an sie anlegen wollen. Nicht als Gelehrter bin ich an diese Gegenstände herangetreten, sondern als ein Kind der Gegenwart, das seine lebendige Gegenwart verstehen lernen will; und nicht aus dem Wolkenkuckucksheim einer übermenschlichen Objektivität habe ich meine Urteile gefasst, sondern von dem Standpunkt eines bewussten Germanen, den Goethe nicht umsonst gewarnt hat:

Was euch nicht angehört, Müsset ihr meiden; Was euch das Inn’re stört, Dürft ihr nicht leiden!

Vor Gott mögen alle Menschen, ja, alle Wesen gleich sein: doch das göttliche Gesetz des Einzelnen ist, seine Eigenart zu wahren und zu wehren. Den Begriff des Germanentums habe ich so weit, und das heisst in diesem Falle so weitherzig wie nur möglich gefasst und keinem irgendwie gearteten Partikularismus das Wort geredet; dagegen bin ich überall dem Ungermanischen scharf zu Leibe gerückt, doch wie ich hoffe nirgends in unritterlicher Weise.

Eine Erläuterung erfordert vielleicht der Umstand, dass das Kapitel über den Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte so stark geworden ist. Für den Gegenstand dieses Bandes wäre eine so breite Behandlung nicht nötig gewesen; die hervorragende Stellung der Juden in unserem Jahrhundert aber, sowie die grosse Bedeutung der philo - und der antisemitischen Strömungen und Kontroverse für die Geschichte unserer Zeit erforderten unbedingt eine Beantwortung der Frage: wer ist der Jude? Ich fand nirgends eine klare, erschöpfende Be - antwortung dieser Frage; darum war ich gezwungen, sie selber zu suchen und zu geben. Der Kernpunkt ist hier die Frage nach der Religion; darum habe ich gerade diesen Punkt nicht allein hier im fünften, sondern auch im dritten und im siebenten Kapitel eingehend behandelt. Denn ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die übliche Behandlung der » Judenfrage « sich durchwegs an der Oberfläche bewegt: der Jude ist kein Feind germanischer Civilisation und Kultur; Herder mag wohl mit seiner Behauptung recht haben, der Jude sei uns ewig fremd, und folglich wir ihm ebenfalls, und Niemand wird leugnen, dass hieraus grosse Schädigung unseres Kulturwerkes stattfinden kann; doch glaubeChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 218Allgemeine Einleitung.ich, dass wir geneigt sind, unsere eigenen Kräfte in dieser Beziehung sehr zu unterschätzen und den jüdischen Einfluss sehr zu überschätzen. Hand in Hand damit geht die geradezu lächerliche und empörende Neigung, den Juden zum allgemeinen Sündenbock für alle Laster unserer Zeit zu machen. In Wahrheit liegt die » jüdische Gefahr « viel tiefer; der Jude trägt keine Verantwortung für sie; wir haben sie selbst erzeugt und müssen sie selbst überwinden. Keine Seelen dürsten mehr nach Religion als die der Slaven, der Kelten und der Teutonen: ihre Geschichte beweist es; an dem Mangel einer wahren Religion krankt unsere ganze germanische Kultur (wie ich das im neunten Kapitel zeige), daran wird sie noch, wenn nicht bei Zeiten Hilfe kommt, zu Grunde gehen. Den in unserem eigenen Herzen sprudelnden Quell haben wir nun verstopft und uns abhängig gemacht von dem spärlichen, brackigen Wasser, das die Wüstenbeduinen aus ihren Brunnen ziehen. Keine Menschen der Welt sind so bettelarm an echter Religion wie die Semiten und wie speziell ihre Halbbrüder, die Juden; und wir, die wir auserkoren waren, die tiefste und erhabenste religiöse Weltanschauung als Licht und Leben und atmende Luft unserer gesamten Kultur zu entwickeln, wir haben uns mit eigenen Händen die Lebensader unterbunden und hinken als verkrüppelte Judenknechte hinter Jahve’s Bundeslade her! Daher die Ausführlichkeit meines Kapitels über die Juden; es handelte sich darum, eine breite und sichere Grundlage für diese folgenschwere Erkenntnis zu gewinnen.

Der zweite Teil Die allmähliche Entstehung einer neuen Welt hat in diesem ersten Band nur ein einziges Kapitel: » Vom Jahre 1200 bis zum Jahre 1800 «. Hier befand ich mich auf einem selbst dem ungelehrten Leser ziemlich geläufigen Gebiete, und es wäre durchaus überflüssig gewesen, aus politischen Geschichten und Kulturgeschichten, die Jedem zugänglich sind, abzuschreiben. Meine Aufgabe beschränkte sich also darauf, den so überreichlich vorhandenen Stoff, den ich eben als » Stoff « als bekannt voraussetzen durfte, übersichtlicher zu gestalten, als dies gewöhnlich geschieht, und zwar natürlich, wiederum mit einziger Berücksichtigung des Gegenstandes dieses Werkes, nämlich des 19. Jahrhunderts. Dieses Kapitel steht auf der Grenze zwischen den beiden Bänden des Werkes: Manches, was in den vorangehenden Kapiteln nur angedeutet, nicht systematisch ausgeführt werden konnte, so z. B. die prinzipielle Bedeutung des Germanentums für unsere neue Welt und der Wert der Vorstel - lungen des Fortschrittes und der Entartung für das Verständnis der Ge -19Allgemeine Einleitung.schichte, findet hier eine abschliessende Besprechung; dagegen eilt die kurze Skizze der Entwickelung auf den verschiedenen Gebieten des Lebens dem 19. Jahrhundert zu, und die Übersichtstafel über Wissen, Civilisation und Kultur und ihre verschiedenen Elemente deutet bereits auf das Vergleichungswerk des geplanten Anhangs hin und giebt auch jetzt schon zu mancher sehr belehrenden Parallele Anlass: im selben Augenblick, wo wir den Germanen in seiner vollen Kraft aufblühen sehen, als sei ihm nichts verwehrt, als eile er einem Grenzenlosen entgegen, erblicken wir hierdurch zugleich seine Beschränkungen; und das ist sehr wichtig, denn erst durch diese letzten Züge erhält er volle Individualität.

Gewissen Voreingenommenheiten gegenüber werde ich mich wohl dafür rechtfertigen müssen, dass ich in diesem Kapitel Staat und Kirche nur als Nebensache behandelt habe richtiger gesagt, nur als eine Erscheinung unter anderen, und nicht als die wichtigste. Staat und Kirche bilden nunmehr gewissermassen nur den Knochenbau: die Kirche ist ein inneres Knochengerüst, in welchem, wie üblich, mit zunehmendem Alter eine immer stärkere Disposition zu chronischer Ankylosis sich zeigt; der Staat entwickelt sich mehr und mehr zu jenem, in der Zoologie häufig vorkommenden, peripherischen Knochen - panzer, dem sogenannten Dermoskelett, seine Struktur wird immer massiger, er dehnt sich immer mehr über alle » Weichteile « aus, bis er zuletzt, in unserem Jahrhundert, zu wahrhaft megalotherischen Dimensionen angewachsen, einen bisher unerhört grossen Prozentsatz der wirksamen Kräfte der Menschheit als Militär - und Civilbeamte aus dem eigentlichen Lebensprozess ausscheidet und, wenn ich so sagen darf, » verknöchert «. Das soll nicht eine Kritik sein; die knochen - und wirbellosen Tiere haben es bekanntlich in der Welt nicht weit gebracht; es liegt mir überhaupt fern, in diesem Buche moralisieren zu wollen, ich musste nur erklären, warum ich mich in der zweiten Abteilung nicht bemüssigt fand, ein besonderes Gewicht auf die fernere Entwickelung von Staat und Kirche zu legen. Der Impuls zu ihrer seitherigen Entwickelung war ja schon im 13. Jahrhundert vollkommen ausgebildet; der Nationalismus hatte über den Imperialismus ge - siegt, dieser brütete auf Wiedergewinnung des Verlorenen; prinzipiell Neues kam nicht mehr hinzu; auch die Bewegungen gegen die überhandnehmende Vergewaltigung der individuellen Freiheit durch Kirche und Staat hatten damals bereits begonnen, sich sehr häufig und energisch fühlbar zu machen. Kirche und Staat geben, wie gesagt,2*20Allgemeine Einleitung.von nun ab das hin und wieder an Bein - und Armbrüchen leidende, jedoch feste Skelett ab, haben aber an der all - mählichen Entstehung einer neuen Welt verhältnismässig wenig An - teil; fortan folgen sie mehr als dass sie führen. Dagegen entsteht in allen Ländern Europas auf den verschiedensten Gebieten freier menschlicher Thätigkeit von etwa dem Jahre 1200 an eine wirklich neuschöpferische Bewegung. Das kirchliche Schisma und die Auf - lehnung gegen staatliche Verordnungen sind eigentlich mehr nur die mechanische Seite dieser Bewegung, sie entspringen aus dem Lebens - bedürfnis der neu sich regenden Kräfte, sich Raum zu schaffen; das eigentlich Schöpferische ist an anderen Orten zu suchen. Wo, habe ich schon oben angedeutet, als ich meine Wahl des Jahres 1200 als Grenzpfahl zu rechtfertigen suchte: das Aufblühen von Technik und Industrie, die Begründung des Grosshandels auf der echt germanischen Grundlage makelloser Ehrenhaftigkeit, das Emporkommen emsiger Städte, die Entdeckung der Erde (wie wir kühn sagen dürfen), die schüchtern beginnende, bald aber ihren Horizont über den gesamten Kosmos ausdehnende Naturforschung, der Gang in die tiefsten Tiefen des menschlichen Denkens, von Roger Bacon bis Kant, das Himmel - wärtsstreben des Geistes, von Dante bis Beethoven: das alles ist es, worin wir eine neue Welt im Entstehen erkennen dürfen.

Der zweite Band.
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Mit dieser Betrachtung des allmählichen Entstehens einer neuen Welt, etwa vom Jahre 1200 bis zum Jahre 1800, schliesst der erste Band. Der ausführliche Entwurf zum zweiten liegt vor mir. In ihm weiche ich jeder künstlichen Schematisierung, auch jedem Versuch, in tendenziöser Weise an den vorangehenden Teil anzuknüpfen, sorgfältig aus. Es genügt nämlich zunächst vollkommen, dass die erläuternde Untersuchung der ersten achtzehnhundert Jahre vorausgeschickt wurde; ohne dass häufig ausdrücklich darauf zurückzukommen wäre, wird sie sich als unerlässliche Einführung bewähren; die vergleichende Wert - schätzung und Parallelisierung folgt dann im Anhang. Hier begnüge ich mich also damit, die verschiedenen wichtigsten Erscheinungen des Jahrhunderts nacheinander zu betrachten: die Hauptzüge der politischen, religiösen und sozialen Gestaltung, den Entwicklungsgang der Technik, der Industrie und des Handels, die Fortschritte der Naturwissenschaft und der Humanitäten, zuletzt die Geschichte des menschlichen Geistes in seinem Denken und Schaffen, indem überall natürlich nur die Haupt - strömungen hervorgehoben und einzig die Gipfelpunkte berührt werden.

21Allgemeine Einleitung.

Ein Kapitel schicke ich jedoch diesen Betrachtungen voraus, ein Kapitel über die » neuen Kräfte «, welche sich in diesem Jahr - hundert geltend gemacht und ihm seine charakteristische Physiognomie verliehen haben, die aber in dem Rahmen eines der allgemeinen Kapitel nicht zur rechten Geltung kommen können. Die Presse zum Beispiel ist zugleich eine politische und eine soziale Macht aller - ersten Ranges; ihre riesige Entwickelung in unserem Jahrhundert hängt jedoch auf das allerengste mit Industrie und Technik zusammen, nicht so sehr, meine ich, in Bezug auf die Herstellung der Zeitungen durch schnell arbeitende Maschinen u. s. w., als vielmehr durch die elektrische Telegraphie, welche den Blättern die Nachrichten bringt, und die Eisenbahnen, welche die gedruckte Nachricht überallhin verbreiten; die Presse ist der mächtigste Bundesgenosse des Kapitalismus; auf Kunst, Philosophie und Wissenschaft kann sie zwar nicht im letzten Grund bestimmenden Einfluss ausüben, sie vermag es aber auch hier, beschleunigend oder retardierend und somit in hohem Masse auf die Zeit gestaltend zu wirken. Es ist dies eine Kraft, welche die früheren Jahrhunderte nicht gekannt haben. Gleicher Weise hat eine neue Technik, die Erfindung und Vervollkommnung der Eisenbahn und des Dampfschiffes, sowie der elektrischen Telegraphie, einen schwer abzuschätzenden Einfluss auf fast alle Gebiete mensch - licher Thätigkeit ausgeübt und die Physiognomie und Lebensbe - dingungen unserer Erde tief umgestaltet: ganz direkt ist hier die Wirkung auf die Strategik und dadurch auf die gesamte Politik, sowie auch auf den Handel und auf die Industrie; indirekt werden aber sogar Wissenschaft und Kunst davon betroffen: mit leichter Mühe begeben sich die Astronomen aller Länder an das Nordkap oder nach den Fidschiinseln, um eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten, und die deutschen Bühnenfestspiele in Bayreuth sind gegen Schluss des Jahrhunderts, dank der Eisenbahn und dem Dampfschiff, zu einem lebendigen Mittelpunkt der dramatischen Kunst für die ganze Welt geworden. Ebenfalls hierhin rechne ich die Emanzipation der Juden. Wie jede neu entfesselte Kraft, wie die Presse und der Schnellverkehr, hat wohl dieser plötzliche Einbruch der Juden in das Leben der die Weltgeschichte tragenden europäischen Völker nicht bloss Gutes im Gefolge gehabt; die sogenannte klassische Renaissance war doch bloss eine Wiedergeburt von Ideen, die jüdische Renaissance ist dagegen die Wiederauferstehung eines längst totgeglaubten Lazarus, welcher Sitten und Denkarten der antiken Welt in die neue hinein -22Allgemeine Einleitung.trägt und dabei einen ähnlichen Aufschwung nimmt wie einst die Reblaus, die in Amerika das wenig beachtete Dasein eines unschuldigen Käferchens geführt hatte, nach Europa übergeführt jedoch plötzlich zu einem nicht ganz unbedenklichen Weltruhme gelangte. Wir dürfen aber wohl hoffen und glauben, dass die Juden, wie die Amerikaner, uns nicht bloss eine neue Laus, sondern auch eine neue Rebe mit - gebracht haben. Gewiss ist, dass sie unserem Jahrhundert ein be - sonderes Gepräge aufgedrückt haben und dass die im Entstehen be - griffene » neue Welt « für das Werk der Assimilation dieses Stückes » alter Welt « einen bedeutenden Kraftaufwand benötigen wird. Es giebt noch andere » neue Kräfte «, die an Ort und Stelle zu behandeln sein werden, so z. B. ward die Begründung der modernen Chemie der Ausgangspunkt für eine neue Naturwissenschaft, und die Vollendung einer neuen künstlerischen Sprache durch Beethoven ist ohne Frage eine der folgenreichsten Thaten auf dem Gebiete der Kunst seit den Tagen des Homer: sie schenkte dem Menschen ein neues Sprach - organ, d. h. eine neue Kraft.

Der Anhang soll, wie gesagt, dem Vergleichungswerk zwischen dem ersten und dem zweiten Band dienen. Diese Parallelisierung führe ich Punkt für Punkt, mit Benützung des Schemas des ersten Teiles, in mehreren Kapiteln durch; man wird, glaube ich, finden, dass diese Betrachtungsweise zu vielen und inter - essanten Anregungen und Einsichten führt. Ausserdem bereitet sie ganz vorzüglich auf den etwas gewagten, aber unentbehrlichen Blick in die Zukunft vor, ohne welchen die volle Plastizität der Vorstellung nicht zu erwirken wäre; erst dann kann man auch hoffen, unser Jahrhundert mit der nötigen, vollkommenen Objektivität beurteilen und, sozusagen, aus der Vogelperspektive erschauen zu können, womit zugleich meine Aufgabe zu Ende geführt sein wird.

Dies also die höchst einfache, ungekünstelte Anlage des zweiten Bandes. Es handelt sich da um ein Vorhaben, dessen Ausführung ich vielleicht nicht erleben werde, doch musste ich es hier erwähnen, da es die Gestaltung des vorliegenden Buches wesentlich beeinflusst hat.

Über einige prinzipiell wichtige Punkte muss ich mich noch hier in der allgemeinen Einleitung kurz aussprechen, damit wir nicht später, an unpassendem Orte, durch theoretische Erörterungen aufgehalten werden!

Anonyme Kräfte.
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Fast alle Menschen sind von Natur » Heldenverehrer «; gegen diesen gesunden Instinkt lässt sich nichts Stichhaltiges einwenden. 23Allgemeine Einleitung.Einmal ist die Vereinfachung ein unabweisliches Bedürfnis des Menschen - geistes, so dass wir unwillkürlich dazu gedrängt werden, an die Stelle der vielen Namen, welche Träger irgend einer Bewegung waren, einen einzigen Namen zu setzen; weiterhin ist die Person etwas Gegebenes, Individuelles, Abgegrenztes, während alles, was weiter liegt, bereits eine Abstraktion und einen Begriffskreis von schwankendem Umfang bedeutet. Man könnte darum die Geschichte eines Jahrhunderts aus lauter Namen zusammensetzen; ich weiss aber nicht, ob ein anderes Verfahren nicht geeigneter ist, das wahrhaft Wesentliche zum Aus - druck zu bringen. Es ist nämlich auffallend, wie unendlich wenig die einzelnen Individualitäten sich im Allgemeinen von einander abheben. Die Menschen bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten eine atomistische, nichtsdestoweniger aber eine sehr homogene Masse. Neigte sich ein grosser Geist von den Sternen aus beschaulich über unsere Erde und wäre er im Stande, nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Seelen zu erblicken, so würde ihm sicherlich die Menschheit irgend eines Weltteiles so einförmig dünken, wie uns ein Ameisenhaufen: er würde wohl Krieger, Arbeiter, Faulenzer und Monarchen unterscheiden, er würde bemerken, dass die einen hierhin, die anderen dorthin rennen, im Grossen und Ganzen aber würde er doch den Eindruck erhalten, dass sämtliche Individuen einem gemeinsamen, unpersönlichen Impuls gehorchen, und gehorchen müssen. Nicht nur der Willkür, sondern ebenfalls dem Einfluss der grossen Persönlichkeit sind äusserst enge Schranken gesetzt. Alle grossen und dauernden Umwälzungen im Leben der Gesellschaft haben » blind « stattgefunden. Eine ausser - ordentliche Persönlichkeit, wie z. B. in unserem Jahrhundert die Napoleon’s, kann hierüber irreführen, und doch erscheint gerade sie, bei näherer Betrachtung, als ein blind waltendes Fatum. Ihre Mög - lichkeit entsteht aus früheren Vorgängen: ohne Richelieu, ohne Ludwig XIV., ohne Ludwig XV., ohne Voltaire und Rousseau, ohne französische Revolution, kein Napoleon! Wie eng verwachsen ist ausserdem die Lebensthat eines solchen Mannes mit dem National - charakter des gesamten Volkes, mit seinen Eigenschaften und seinen Fehlern: ohne ein französisches Volk, kein Napoleon! Die Thätig - keit dieses Feldherrn ist aber vor Allem eine Thätigkeit nach aussen, und da müssen wir wieder sagen: ohne die Unschlüssigkeit Friedrich Wilhelms III., ohne die Gesinnungslosigkeit des Hauses Habsburg, ohne die Wirren in Spanien, ohne das vorangegangene Verbrechen gegen Polen, kein Napoleon! Und suchen wir nun, um vollends24Allgemeine Einleitung.über diesen Punkt klar zu werden, in den Lebensschilderungen und in der Korrespondenz Napoleons, was er gewollt und erträumt hat, so sehen wir, dass er nichts davon erreichte, und dass er in die un - unterschiedliche homogene Masse zurücksank, wie Wolken nach einem Gewitter sich auflösen, sobald die Gesamtheit sich gegen das Vor - herrschen individuellen Wollens erhob. Dagegen hat die gründ - liche, durch keine Gewalt der Erde rückgängig zu machende Ver - wandlung unserer gesamten wirtschaftlichen Lebensverhältnisse, der Übergang eines bedeutenden Teiles des Vermögens der Nationen in neue Hände, und ausserdem die durchgreifendste Umbildung des Ver - hältnisses aller Erdteile und somit auch aller Menschen zu einander, von der die Weltgeschichte zu erzählen weiss, im Laufe dieses Jahr - hunderts durch eine Reihe von technischen Erfindungen auf dem Gebiete des Schnellverkehrs und der Industrie stattgefunden, ohne dass irgend jemand die Bedeutung dieser Neuerungen auch nur ge - ahnt hätte. Man lese nur in Bezug hierauf die meisterliche Darlegung im fünften Band von Treitschke’s Deutscher Geschichte. Die Ent - wertung des Grundbesitzes, die progressive Verarmung des Bauern, der Aufschwung der Industrie, die Entstehung eines unabsehbaren Heeres von gewerblichen Proletariern und somit auch einer neuen Gestaltung des Sozialismus, eine tiefgreifende Umwälzung aller politischen Verhältnisse: alles das ist eine Folge der veränderten Verkehrs - bedingungen, und alles das ist, wenn ich so sagen darf, anonym ge - schehen, wie der Bau eines Ameisennestes, bei welchem jede Ameise nur die einzelnen Körnchen sieht, die sie mühsam herbeischleppt. Ähnliches gilt aber auch von Ideen: sie ergreifen die Menschheit mit gebieterischer Macht, sie umspannen das Denken wie ein Raubvogel seine Beute, Keiner kann sich ihrer erwehren; solange eine solche be - sondere Vorstellung herrscht, kann nichts Erfolgreiches ausserhalb ihres Bannkreises geleistet werden; wer nicht in dieser Weise zu empfinden vermag, ist zur Sterilität verdammt und sei er noch so begabt. So ging es in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts mit der Entwickelungs - theorie Darwin’s. Schon im vorigen Jahrhundert dämmerte diese Idee auf, als natürliche Reaktion gegen die alte, durch Linnäus zur formellen Vollendung gelangte Anschauung von der Unveränderlichkeit der Arten. Bei Herder, bei Kant und bei Goethe treffen wir den Evolutionsgedanken in charakteristischer Färbung an; es ist ein Abschütteln des Dogmas seitens hervorragender Geister: seitens des einen, weil er, dem Zuge germanischer Weltanschauung folgend, die Entwickelung des Begriffes25Allgemeine Einleitung.» Natur « zu einem den Menschen umfassenden Ganzen erstrebte, seitens des anderen, weil er als Metaphysiker und Moralist sich die Vor - stellung der Perfektibilität nicht konnte rauben lassen, während der Dritte mit dem Auge des Poeten auf allen Seiten Züge entdeckte, die ihm auf Wesensverwandtschaft aller lebenden Organismen zu weisen schienen, und er fürchten musste, seine tiefe Einsicht in ein abstraktes Nichts sich verflüchtigen zu sehen, sobald diese Verwandtschaft nicht als eine auf unmittelbarer Abstammung beruhende aufgefasst würde. Das sind die Anfänge solcher Gedanken. In Geistern so phänome - nalen Umfanges wie Goethe, Herder und Kant ist für sehr verschiedene Anschauungen nebeneinander Platz; sie sind dem Gotte Spinoza’s zu vergleichen, dessen eine Substanz sich zu gleicher Zeit in verschiedenen Formen äussert; in ihren Ideen über Metamorphose, Homologien und Entwickelung kann ich keinen Widerspruch mit anderen Einsichten finden und ich glaube, sie hätten unser heutiges Evolutionsdogma ebenso verworfen wie dasjenige der Unveränderlichkeit. 1)Man vergleiche hierzu die klassisch vollendete Ausführung Kant’s, welcher den Schlussabsatz des Abschnittes » Von dem regulativen Gebrauche der Ideen der reinen Vernunft « in der Kritik der reinen Vernunft bildet. Der grosse Denker weist hier darauf hin, wie so die Annahme einer » kontinuierlichen Stufen - leiter der Geschöpfe « aus einem Interesse der Vernunft, doch nie und nimmer aus der Beobachtung hervorgehe. » Die Sprossen einer solchen Leiter, so wie sie uns Erfahrung angeben kann, stehen viel zu weit auseinander, und unsere vermeintlich kleinen Unterschiede sind gemeiniglich in der Natur selbst so weite Klüfte, dass auf solche Beobachtungen (vornehmlich bei einer grossen Mannigfaltigkeit von Dingen, da es immer leicht sein muss, gewisse Ähn - lichkeiten und Annäherungen zu finden), als Absichten der Natur gar nichts zu rechnen ist « u. s. w. In seinen Recensionen über Herder wirft er der Evolutions - hypothese vor, sie sei eine jener Ideen, » bei denen sich gar nichts denken lässt «. Kant, den selbst ein Haeckel » den bedeutendsten Vorläufer « Darwin’s nennt, hatte also zugleich das Antidot gegen den dogmatischen Missbrauch einer derartigen Hypothese gereicht.Ich komme an anderem Orte hierauf zurück. Die überwiegende Mehrzahl der ameisenartig emsigen Menschen ist nun gänzlich unfähig, sich zu solcher genialen Anschauungsweise zu erheben; produktive Kraft kann in weiten Schichten nur durch die Einfachheit gesunder Einseitigkeit er - zeugt werden. Ein handgreiflich unhaltbares System wie dasjenige Darwin’s übt eine weit mächtigere Wirkung aus als die tiefsten Speku - lationen, und zwar gerade seiner » Handgreiflichkeit « wegen. Und so haben wir den Entwickelungsgedanken sich selbst » entwickeln « sehen, bis er sich von der Biologie und Geologie aus auf alle Gebiete des26Allgemeine Einleitung.Denkens und des Forschens erstreckt hat und, von seinen Erfolgen berauscht, eine derartige Tyrannei ausübte, dass, wer nicht bedingungs - los zu ihm schwor, als totgeboren zu erachten war. Die Philo - sophie aller dieser Erscheinungen geht mich hier nichts an; ich zweifle nicht, dass der Geist der Gesamtheit in zweckmässiger Weise sich äussert. Ich darf aber Goethe’s Worte mir zu eigen machen: » Was sich mir vor Allem aufdringt, ist das Volk, eine grosse Masse, ein notwendiges, unwillkürliches Dasein «, und hierdurch meine Über - zeugung begründen und erklären, dass grosse Männer wohl die Blüten der Geschichte sind, jedoch nicht ihre Wurzeln. Darum halte ich es für geboten, ein Jahrhundert weniger durch die Aufzählung seiner bedeutendsten Männer, als durch Hervorhebung der anonymen Strö - mungen zu schildern, welche auf den verschiedensten Gebieten des sozialen, des industriellen und des wissenschaftlichen Lebens dem Jahr - hundert ein besonderes, eigenartiges Gepräge verliehen haben.

Das Genie.
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Jedoch es giebt eine Ausnahme. Sobald nicht mehr die bloss beobachtende, vergleichende, berechnende, oder die bloss erfindende, industrielle, den Kampf ums Leben führende Geistesthätigkeit, sondern die rein schöpferische in Betracht kommt, da gilt die Persönlich - keit allein. Die Geschichte der Kunst und der Philosophie ist die Geschichte einzelner Männer, nämlich der wirklich schöpferischen Genies. Alles Übrige zählt hier nicht. Was innerhalb des Rahmens der Philosophie sonst geleistet wird, und es wird da Vieles und Be - deutendes geleistet, gehört zur » Wissenschaft «; in der Kunst gehört es zum Kunstgewerbe, also zur Industrie.

Ich lege umsomehr Gewicht hierauf, als eine bedauerliche Kon - fusion heute gerade in dieser Beziehung herrscht. Der Begriff und damit auch das Wort Genie kamen im vorigen Jahrhundert auf; sie entsprangen aus dem Bedürfnis, für die spezifisch schöpferischen Geister einen besonderen, kennzeichnenden Ausdruck zu besitzen. Nun macht aber kein geringerer als Kant darauf aufmerksam, dass » der grösste Erfinder im Wissenschaftlichen sich nur dem Grade nach vom gewöhnlichen Menschen unterscheidet, das Genie dagegen spezifisch «. Diese Bemerkung Kant’s ist zweifellos richtig, unter dem einen Vor - behalt, dass wir was auch unerlässlich ist den Begriff des Genialen auf jede Schöpfung ausdehnen, in welcher die Phantasie eine gestaltende, vorwiegende Rolle spielt, und in dieser Beziehung verdient das philosophische Genie denselben Platz wie das dichterische oder plastische; wobei ich das Wort Philosophie in seiner alten27Allgemeine Einleitung.weiten Bedeutung verstanden wissen will, welche nicht allein die abstrakte Vernunftphilosophie, sondern die Naturphilosophie, die Religionsphilosophie und jedes andere zu der Höhe einer Weltanschauung sich erhebende Denken begriff. Soll das Wort Genie einen Sinn be - halten, so dürfen wir es nur auf Männer anwenden, die unser geistiges Besitztum durch schöpferische Erfindungen ihrer Phantasie dauernd be - reichert haben; dafür aber auf alle solche. Nicht allein die Ilias und der gefesselte Prometheus, nicht allein die Andacht zum Kreuze und Hamlet, auch Plato’s Ideenwelt und Demokrit’s Welt der Atome, Chandogya’s tat-tvam-asi und das System des Himmels des Kopernikus sind Werke des unvergänglichen Genies; denn ebenso unzerstörbar wie Stoff und wie Kraft sind die Blitzstrahlen, welche aus dem Gehirn der mit Schöpferkraft begabten Männer hervorleuchten; die Generationen und die Völker spiegeln sie sich fortwährend gegenseitig zu, und, ver - blassen sie auch manchmal vorübergehend, von Neuem leuchten sie hell auf, sobald sie wieder auf ein schöpferisches Auge fallen. In unserem Jahrhundert hat man entdeckt, dass es in jenen Meerestiefen, zu denen das Sonnenlicht nicht dringt, Fische giebt, welche diese nächtige Welt auf elektrischem Wege erleuchten; ebenso wird die dunkle Nacht unserer menschlichen Erkenntnis durch die Fackel des Genies erhellt. Goethe zündete uns mit seinem Faust eine Fackel an, Kant eine andere mit seiner Vorstellung von der trans - cendentalen Idealität von Zeit und Raum: beide waren phantasie - mächtige Schöpfer, beide Genies. Der Schulstreit über den Königs - berger Denker, die Schlachten zwischen Kantianern und Antikantianern, dünken mich ebenso belangreich wie der Eifer der Faustkritiker: was sollen denn hier die logischen Tüfteleien? was bedeutet hier » Recht haben «? Selig diejenigen, welche Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben! Erfüllt uns das Studium des Gesteines, des Mooses, des mikroskopischen Infusoriums mit staunender Bewunderung, mit welcher Ehrfurcht müssen wir da nicht zu jenem höchsten Phänomen hinauf - blicken, welches die Natur uns darbietet, zum Genie!

Noch eine prinzipiell nicht unwichtige Bemerkung muss ich hierVerall - gemeinerungen. anknüpfen. Sollen uns auch die allgemeinen Tendenzen, nicht die Er - eignisse und die Personen vorzüglich beschäftigen, so darf dabei die Gefahr zu weit gehender Verallgemeinerungen nicht aus dem Auge verloren werden. Zu einem voreiligen Summieren sind wir nur allzu geneigt. Das zeigt sich in der Art und Weise, wie man unserem Jahrhundert eine Etikette um den Hals zu hängen pflegt, wogegen es28Allgemeine Einleitung.gewiss unmöglich ist, durch ein einziges Wort uns selber und der Vergangenheit gerecht zu werden. Eine derartige fixe Idee genügt, um das Verständnis des geschichtlichen Werdens unmöglich zu machen.

Ganz allgemein wird z. B. das 19. Jahrhundert das » Jahr - hundert der Naturwissenschaft « genannt. Wer nun sich ver - gegenwärtigt, was das 16., 17. und 18. Jahrhundert gerade auf diesem Gebiete geleistet haben, wird sich wohl bedenken, ehe er so ohne Weiteres dem unseren den Titel: » das naturwissenschaftliche Jahr - hundert « verleiht. Wir haben nur weiter ausgebaut und durch Fleiss gar vieles entdeckt; ob wir aber auf einen Kopernikus und einen Galileo, auf einen Kepler und einen Newton, auf einen Lavoisier und einen Bichat1)Er starb 1802. hinweisen können, erscheint mir mindestens zweifelhaft. Cuvier’s Thätigkeit erreicht freilich die Würde philosophischer Bedeutung, und die Beobachtungs - und Erfindungsgabe von Männern wie Bunsen (der Chemiker) und Pasteur streift an das Geniale; man wird aber mindestens zugeben müssen, dass ihre Leistungen die ihrer Vorgänger nicht übertreffen. Vor etlichen Jahren sagte mir ein sowohl durch theoretische wie durch praktische Arbeiten rühmlichst bekannter Hochschullehrer der medizinischen Fakultät: » Bei uns Gelehrten kommt es nunmehr viel weniger auf die Gehirnwindungen an als auf das Sitzfleisch. « Es hiesse nun wirklich zu bescheiden sein und den Nachdruck auf das Nebensächliche legen, wenn wir unser Jahrhundert als das Jahrhundert des Sitzfleisches bezeichnen wollten! Um so mehr, als die Benennung als Jahrhundert des rollenden Rades jedenfalls mindestens ebenso berechtigt wäre für eine Zeit, welche die Eisenbahn und das Zweirad hervorgebracht hat. Besser wäre jedenfalls der allgemein gehaltene Name: Jahrhundert der Wissenschaft, worunter man zu verstehen hätte, dass der Geist exakter Forschung, von Roger Bacon zuerst kategorisch gefordert, nun - nunmehr alle Disziplinen unterjocht hat. Dieser Geist hat aber, wohl betrachtet, zu weniger überraschenden Resultaten auf dem Gebiete der Naturwissenschaft geführt, wo ja seit uralten Zeiten die exakte Beob - achtung der Gestirne die Grundlage alles Wissens bildete, als auf anderen Gebieten, wo bisher die Willkür ziemlich unumschränkt geherrscht hatte. Vielleicht hiesse es etwas sehr Wahres, für unser Jahrhundert speziell Kennzeichnendes sagen, zugleich etwas den meisten Gebildeten nicht recht Bewusstes, wenn man von einem Jahrhundert der Philo -29Allgemeine Einleitung.logie spräche. Gegen Schluss des vorigen Jahrhunderts, von solchen Männern wie Jones, Anquetil du Perron, den Gebrüdern Schlegel und Grimm, Karadžič und anderen zuerst ins Leben gerufen, hat die vergleichende Philologie im Laufe eines einzigen Jahrhunderts eine unvergleichliche Bahn durchschritten. Den Organismus und die Ge - schichte der Sprache ergründen, heisst nicht allein Licht auf Anthro - pologie, Ethnologie und Geschichte werfen, sondern geradezu das menschliche Denken zu neuen Thaten stärken. Und während so die Philologie unseres Jahrhunderts für die Zukunft arbeitete, hob sie verschüttete Schätze der Vergangenheit, die fortan zu den kostbarsten Gütern der Menschheit gehören. Man braucht nicht Sympathie für den pseudobuddhistischen Sport halbgebildeter Müssiggänger zu em - pfinden, um klar zu erkennen, dass die Entdeckung der altindischen Erkenntnis-Theologie eine der grössten Thaten dieses Jahrhunderts ist, bestimmt, eine nachhaltige Wirkung auf ferne Zeiten auszuüben. Dazu kam die Kenntnis altgermanischer Dichtung und Mythologie. Jede Kräftigung der echten Eigenart ist ein wahrer Rettungsanker. Die glänzende Reihe der Germanisten und ebenso die der Indologen hat, halb unbewusst, eine grosse That im rechten Augenblick voll - bracht; jetzt besitzen auch wir unsere » heiligen Bücher «, und was sie lehren, ist schöner und edler als was das alte Testament berichtet. Der Glaube an unsere Kraft, den wir aus der Geschichte von 19 Jahrhunderten schöpfen, hat eine unermesslich wertvolle Bereiche - rung durch diese Entdeckung unserer selbständigen Fähigkeit zu vielem Höchsten erfahren, in Bezug auf welches wir bisher in einer Art Lehnverhältnis standen: namentlich ist die Fabel von der beson - deren Befähigung der Juden für die Religion endgültig vernichtet; hierfür werden spätere Geschlechter unserem Jahrhundert dankbar sein. Diese Thatsache ist eine der grossen, weitestreichenden Erfolge unserer Zeit, daher hätte die Benennung Jahrhundert der Philologie eine ge - wisse Berechtigung. Hiermit haben wir nun auch eine andere der charakteristischen Erscheinungen unseres Jahrhunderts erwähnt. Ranke hatte vorausgesagt, unser Jahrhundert werde ein Jahrhundert der Nationalität sein; das war ein zutreffendes politisches Prognostikon, denn niemals zuvor haben sich die Nationen so sehr als fest abge - schlossene, feindliche Einheiten einander gegenüber gestanden. Es ist aber auch ein Jahrhundert der Rassen geworden, und zwar ist das zunächst eine notwendige und unmittelbare Folge der Wissen - schaft und des wissenschaftlichen Denkens. Ich habe schon zu Be -30Allgemeine Einleitung.ginn dieser Einleitung behauptet, dass die Wissenschaft nicht eine, sondern trenne; das hat sich auch hier bewährt. Die wissenschaftliche Anatomie hat die Existenz von physischen, unterscheidenden Merk - malen zwischen den Rassen erwiesen, sodass sie nicht mehr geleugnet werden können, die wissenschaftliche Philologie hat zwischen den ver - schiedenen Sprachen prinzipielle Abweichungen aufgedeckt, die nicht zu überbrücken sind, die wissenschaftliche Geschichtsforschung hat in ihren verschiedenen Zweigen zu ähnlichen Resultaten geführt, nament - lich durch die genaue Feststellung der Religionsgeschichte einer jeden Rasse, wo nur die allerallgemeinsten Ideen den täuschenden Schein der Gleichmässigkeit erwecken, die Weiterentwickelung aber stets nach bestimmten, scharf voneinander abweichenden Richtungen stattgefunden hat, und noch immer stattfindet. Die sogenannte » Einheit der mensch - lichen Rasse « bleibt zwar als Hypothese noch in Ehren, jedoch nur als eine jeder materiellen Grundlage entbehrende, persönliche, sub - jektive Überzeugung. Im Gegensatz zu den gewiss sehr edlen, aus reinster Sentimentalität hervorgequollenen Weltverbrüderungsideen des 18. Jahrhunderts, in welchen die Sozialisten als Hintertreffen noch heute nachhinken, hat sich allmählich die starre Wirklichkeit als not - wendiges Ergebnis der Ereignisse und der Forschungen unseres Jahr - hunderts erhoben. Manche andere Benennung könnte vieles zu ihrer Rechtfertigung anführen: Rousseau hatte schon prophetisch von einem » Siècle des Révolutions « gesprochen, Andere reden wohl von einem Jahrhundert der Judenemanzipation, Jahrhundert der Elektrizität, Jahr - hundert der Volksarmeen, Jahrhundert der Kolonien, Jahrhundert der Musik, Jahrhundert der Reklame, Jahrhundert der Unfehlbarkeits - erklärung, Kürzlich fand ich in einem englischen Buche unser Jahrhundert als the religious century bezeichnet und konnte dem Manne nicht ganz Unrecht geben; für Beer, den Verfasser der Geschichte des Welthandels, ist das 19. Jahrhundert » das öko - nomische «, wogegen Prof. Paulsen es in seiner Geschichte des ge - lehrten Unterrichts (2. Aufl. II, 206), das saeculum historicum im Gegensatz zu dem vorausgegangenen saeculum philosophicum nennt, und Goethe’s Ausdruck » ein aberweises Jahrhundert « sich auf das unsrige ebenso gut wie auf das vorige anwenden liesse. Einen ernst - lichen Wert besitzt aber gar keine solche Verallgemeinerung.

Das 19. Jahr - hundert.
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Hiermit gelange ich zum Schlusse dieser allgemeinen Einleitung. Ehe ich aber den Schlussstrich ziehe, möchte ich mich noch, einer31Allgemeine Einleitung.alten Gewohnheit gemäss, unter den Schutz hochverehrter Männer stellen.

Lessing schreibt in seinen Briefen, die neueste Litteratur be - treffend, die Geschichte solle sich » nicht bei unwichtigen Thatsachen aufhalten, nicht das Gedächtnis beschweren, sondern den Ver - stand erleuchten «. In dieser Allgemeinheit besagt wohl der Satz zu viel. Für ein Buch aber, welches sich nicht an Historiker, sondern an die gebildete Laienwelt wendet, gilt er uneingeschränkt. Den Ver - stand erleuchten, nicht eigentlich belehren, sondern anregend wirken, Gedanken und Entschlüsse wecken, das wäre es, was ich gern leisten möchte.

Goethe fasst die Aufgabe der Geschichtsschreibung etwas ab - weichend von Lessing auf; er sagt: » Das Beste, was wir aus der Ge - schichte gewinnen, ist der Enthusiasmus «. Auch dieser Worte bin ich bei meiner Arbeit eingedenk geblieben; denn ich bin der Über - zeugung, dass Verstand, und sei er noch so hell erleuchtet, wenig ausrichtet, ist er nicht mit Enthusiasmus gepaart. Der Verstand ist die Maschine; je vollkommener jede Einzelheit an ihr, je zielbewusster alle Teile in einander greifen, um so leistungsfähiger wird sie sein, aber doch nur virtualiter, denn, um getrieben zu werden, bedarf sie noch der treibenden Kraft, und diese ist die Begeisterung. Es dürfte nun zunächst schwer fallen, dem Winke Goethe’s folgend, sich für unser 19. Jahrhundert speziell zu erwärmen, schon deswegen, weil die Eigenliebe etwas so Verächtliches ist; wir wollen uns streng prüfen und uns lieber unter - als überschätzen; mag die Zukunft milder ur - teilen. Ich finde es auch deswegen schwer, mich dafür zu begeistern, weil das Stoffliche in unserem Jahrhundert so sehr vorwiegt. Genau so wie unsere Schlachten zumeist nicht mehr durch die persönliche Vortrefflichkeit Einzelner, sondern durch die Zahl der Soldaten, oder noch einfacher gesagt, durch die Menge des Kanonenfutters gewonnen worden sind, genau ebenso hat man Schätze an Gold und Wissen und Erfindungen zusammengetragen. Alles ist immer zahlreicher, massiger, vollständiger, unübersichtlicher geworden, man hat gesammelt, aber nicht gesichtet; d. h., es ist dies die allgemeine Tendenz gewesen. Unser Jahrhundert ist wesentlich ein Jahrhundert des Anhäufens von Material, des Durchgangsstadiums, des Provisorischen; in anderen Be - ziehungen ist es weder Fisch noch Fleisch, es pendelt zwischen Empirismus und Spiritismus, zwischen dem Liberalismus vulgaris, wie man es witzig genannt hat, und den impotenten Versuchen seniler32Allgemeine Einleitung.Reaktionsgelüste, zwischen Autokratie und Anarchismus, zwischen Un - fehlbarkeitserklärungen und stupidestem Materialismus, zwischen Juden - anbetung und Antisemitismus, zwischen raffinierten Meyerbeerschen Opern und urnaiver Volksmelodienmanie, zwischen Millionärwirtschaft und Proletarierpolitik. Nicht die Ideen sind in unserem Jahrhundert das Charakteristische, sondern die materiellen Errungenschaften. Die grossen Gedanken, die hier und da sich geregt haben, die gewaltigen Kunstschöpfungen, die von Faust’s zweitem Teil bis Parsifal dem deutschen Volk zu ewigem Ruhme entstanden sind, strebten hinaus in künftige Zeiten. Nach grossen, sozialen Umwälzungen und nach grossen geistigen Errungenschaften (am Abend des vorigen und am frühen Morgen dieses Jahrhunderts) musste wieder Stoff gesammelt werden zu weiterer Entwickelung. Hierbei bei dieser vorwiegenden Be - fangenheit im Stofflichen schwand das Schöne aus unserem Leben fast ganz; es existiert vielleicht in diesem Augenblick kein wildes, jedenfalls kein halbcivilisiertes Volk, welches nicht mehr Schönes in seiner Umgebung und mehr Harmonie in seinem Gesamtdasein be - sässe als die grosse Masse der sogenannten kultivierten Europäer. In der enthusiastischen Bewunderung des 19. Jahrhunderts ist es darum, glaube ich, geboten, Mass zu halten. Leicht ist es dagegen, den von Goethe empfohlenen Enthusiasmus zu empfinden, sobald der Blick nicht auf dem einen Jahrhundert allein ruhen bleibt, sondern die ge - samte Entwickelung der seit einigen Jahrhunderten im Entstehen be - griffenen » neuen Welt « umfasst. Gewiss ist der landläufige Begriff des » Fortschrittes « kein philosophisch wohl begründeter; unter dieser Flagge segelt fast die ganze Bafelware unseres Jahrhunderts; Goethe, der nicht müde wird, auf die Begeisterung als das treibende Element in unserer Natur hinzuweisen, spricht es nichtsdestoweniger als seine Überzeugung aus: » Klüger und einsichtiger werden die Menschen, aber besser, glücklicher und thatkräftiger nicht, oder nur auf Epochen. « 1)Eckermann: 23. Oktober 1828.Was für ein erhebenderes Gefühl kann es aber geben, als das, mit Bewusstsein einer solchen Epoche entgegenzuarbeiten, in welcher, wenn auch nur vorübergehend, die Menschen besser, glücklicher und that - kräftiger sein werden? Und wenn man unser Jahrhundert nicht isoliert betrachtet, sondern als einen Bestandteil eines weit grösseren Zeitlaufs, so entdeckt man bald, dass aus der Barbarei, welche auf den Zu - sammensturz der alten Welt folgte, und aus der wilden Gährung, die33Allgemeine Einleitung.der Zusammenstoss einander widerstrebender Kräfte hervorrief, sich vor etlichen Jahrhunderten eine vollkommen neue Gestaltung der menschlichen Gesellschaft zu entwickeln begann, und dass unsere heutige Welt weit entfernt, den Gipfel dieser Evolution zu bedeuten einfach ein Durchgangsstadium, eine » mittlere Zeit «, auf dem weiten und mühsamen Wege darstellt. Wäre unser Jahr - hundert wirklich ein Gipfelpunkt, dann wäre die pessimistische An - sicht die einzig berechtigte: nach allen grossen Errungenschaften auf geistigem und materiellem Gebiete die bestialische Bosheit noch so verbreitet und das Elend vertausendfacht zu sehen, das könnte uns nur veranlassen, Jean Jacques Rousseau’s Gebet nachzusprechen: » All - mächtiger Gott, erlöse uns von den Wissenschaften und verderben - bringenden Künsten unserer Väter! gieb uns wieder die Unwissenheit, die Unschuld und die Armut, als die einzigen Güter aus welchen Glück uns entstehen kann und welche vor deinem Angesichte Wert besitzen! « Erblicken wir dagegen, wie gesagt, in unserem Jahrhundert nur eine Etappe, lassen wir uns ausserdem von keinen Wahnbildern » goldener Zeitalter «, ebensowenig von Zukunfts - wie von Vergangen - heitswahnbildern blenden, noch von utopischen Vorstellungen einer prinzipiellen Besserung der gesamten Menschheit und ideal funktio - nierender Staatsmaschinen in unserem gesunden Urteile irreführen, dann dürfen wir wohl hoffen und zu erkennen glauben, dass wir Germanen und die Völker, die unter unserem Einfluss stehen, einer neuen harmonischen Kultur entgegenreifen, unvergleichlich schöner als irgend eine der früheren, von denen die Geschichte zu erzählen weiss, einer Kultur, in der die Menschen wirklich » besser und glück - licher « sein werden, als sie es jetzt sind. Vielleicht ist die Tendenz der modernen Schulbildung, den Blick so beständig auf die Vergangen - heit zu richten, eine bedauerliche; sie hat aber insoferne ihr Gutes, als man kein Schiller zu sein braucht, um mit diesem zu empfinden, dass » kein einzelner Neuerer mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit streiten « könne;1)Dieser berühmte Satz ist nur sehr bedingt wahr; ich habe ihn im Schluss - kapitel einer gründlichen Kritik unterzogen, worauf ich zur Vermeidung von Miss - verständnissen hier verweise. darum richten wir nun unseren Blick auf die Zukunft, auf jene Zukunft, deren Gestaltung wir aus dem Bewusstsein dessen, was die Gegenwart der letzten siebenhundert Jahre zu bedeuten hat, allmählich zu ahnen beginnen. Wir wollen es mit dem Athenienser aufnehmen! wir wollen eineChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 334Allgemeine Einleitung.Welt gestalten, in welcher die Schönheit und die Harmonie des Da - seins nicht wie bei Jenen auf Sklaven -, Eunuchen - und Kemenaten - Wirtschaft ruht! wir dürfen es zuversichtlich wollen, denn wir sehen diese Welt langsam und mühevoll um unsere kurze Spanne Lebens entstehen. Und dass sie unbewusst entsteht, thut nichts zur Sache; schon der halb fabelhafte phönizische Geschichtsschreiber Sanchuniathon meldet im ersten Absatz seines ersten Buches, wo er von der Welt - schöpfung spricht: » Die Dinge selbst aber wussten nichts von ihrem eigenen Entstehen «; auch in dieser Beziehung ist Alles beim Alten geblieben; die Geschichte bildet ein unerschöpfliches Illustrations - material zu Mephisto’s: » Du glaubst zu schieben und du wirst ge - schoben. « Darum empfinden wir, wenn wir auf unser 19. Jahrhundert zurückblicken, welches sicherlich mehr geschoben wurde, als es selbst schob, welches in den allermeisten Dingen auf fast lächerliche Weise in ganz andere Wege geriet, als es einzuschlagen gedacht hatte, doch einen Schauer der aufrichtigen Bewunderung, fast der Begeisterung. In diesem Jahrhundert ist enorm gearbeitet worden, und das ist die Grundlage alles » Besser - und Glücklicherwerdens «; es war das die » Moralität « unserer Zeit, wenn ich mich so ausdrücken darf. Und während die Werkstätte der grossen, gestaltenden Ideen ruhte, wurden die Methoden der Arbeit in bisher ungeahnter Weise vervollkommnet.

Unser Jahrhundert ist der Triumph der Methodik. Hierin mehr als in irgend einer politischen Gestaltung ist ein Sieg des demokratischen Prinzips zu erblicken. Die Gesamtheit rückte hierdurch höher hinauf, sie wurde leistungsfähiger. In frühen Jahrhunderten konnten nur geniale Menschen, später nur zumindest hochbegabte Wertvolles leisten; jetzt kann es ein Jeder, dank der Methode! Durch den obligatorischen Schulunterricht, gefolgt vom obligatorischen Kampf ums Dasein, be - sitzen heute Tausende die » Methode «, um ohne jede besondere Be - gabung oder Veranlagung als Techniker, Industrielle, Naturforscher, Philologen, Historiker, Mathematiker, Psychologen u. s. w. an der gemeinsamen Arbeit des Menschengeschlechts teilzunehmen. Sonst wäre die Bewältigung eines so kolossalen Materials in einem so kurzen Zeitraum gar nicht denkbar. Man vergegenwärtige sich nur, was vor hundert Jahren unter » Philologie « verstanden wurde! man frage sich, ob es wahre » Geschichtsforschung « gab! Genau diesem selben Geist begegnen wir aber auf von der Wissenschaft weit ab - liegenden Gebieten: die Volksarmeen sind die universellste, einfachste Anwendung der Methodik und die Hohenzollern insofern die tonan -35Allgemeine Einleitung.gebenden Demokraten unseres Jahrhunderts: Methodik der Arm - und Beinbewegungen, aber zugleich Methodik der Willenserziehung, des Gehorsams, der Pflicht, der Verantwortlichkeit. Die Geschicklichkeit und die Gewissenhaftigkeit haben infolgedessen leider nicht überall, aber doch auf weiten Gebieten des Lebens entschieden sehr zu - genommen: man fordert mehr von sich und von Anderen als zuvor; es hat gewissermassen eine allgemeine technische Vervollkommnung stattgefunden, die bis in die Denkgewohnheiten der Menschen sich er - streckt. Diese Vervollkommnung kann aber schwer ohne Rückwirkung auf das Reinmoralische bleiben: die Abschaffung des menschlichen Sklaventums auch ausserhalb Europas, wenigstens in seiner offiziell anerkannten Gültigkeit, und der Beginn einer Bewegung zum Schutze der tierischen Sklaven sind vielbedeutende Anzeichen.

Und so glaube ich, dass trotz aller Bedenken eine gerechte und liebevolle Betrachtung des 19. Jahrhunderts sowohl zur » Erleuchtung des Verstandes «, wie auch zur » Erweckung des Enthusiasmus « führen muss.

3*[36][37]

ERSTER TEIL DIE URSPRÜNGE

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Goethe.
[38][39]

ABSCHNITT I

DAS ERBE DER ALTEN WELT

Das Edelste, was wir besitzen, haben wir nicht von uns selbst; unser Verstand mit seinen Kräften, die Form in welcher wir denken, handeln und sind, ist auf uns gleichsam herabgeerbet. Herder.
[40][41]

EINLEITENDES.

» Die Welt «, sagt Dr. Martin Luther, » wird von Gott durchHistorische Grundsätze. etliche wenige Helden und fürtreffliche Leute regieret. « Die mächtigsten dieser regierenden Helden sind die Geistesfürsten, die Männer, welche ohne Waffengewalt und diplomatische Sanktionen, ohne Gesetzeszwang und Polizei, bestimmend und umbildend auf das Denken und Fühlen zahlreicher Geschlechter wirken; diese Männer, von denen man sagen kann, dass sie um so gewaltiger sind, je weniger Gewalt sie haben, besteigen aber selten, vielleicht nie, ihren Thron während ihres Lebens; ihre Herrschaft währt lange, beginnt aber spät, oft sehr spät, nament - lich wenn wir von dem Einfluss, den sie auf Einzelne ausüben, ab - sehen und jenen Augenblick in Betracht ziehen, wo das, was ihr Leben ausmachte, auf das Leben ganzer Völker gestaltend sich zu bethätigen beginnt. Mehr als zwei Jahrhunderte vergingen, bis die neue Anschauung des Kosmos, welche wir Kopernikus verdanken, und welche tief umgestaltend auf alles menschliche Denken wirken musste, Gemeingut geworden war. So bedeutende Männer unter seinen Zeitgenossen wie Luther, urteilten über Kopernikus, er sei » ein Narr, der die ganze Kunst Astronomiä umkehre «. Trotzdem sein Weltsystem im Altertum schon gelehrt, trotzdem durch die Arbeiten seiner unmittelbaren Vorgänger, Regiomontanus und Anderer, alles vorbereitet worden war, was die neuerliche Entdeckung bedingte, so dass man wohl sagen darf, bis auf den Funken der Inspiration im Gehirn des » Fürtrefflichsten «, lag das Kopernikanische System genau bedingt vor, trotzdem es sich hier nicht um schwer fassliche metaphysische und moralische Dinge handelte, sondern um42Das Erbe der alten Welt.eine einfache und dazu beweisbare Anschauung, trotzdem gar kein materielles Interesse durch die neue Lehre tangiert wurde, er - forderte es geraume Zeit, bis diese in so mannigfacher und wesent - licher Beziehung umbildende Vorstellung aus dem einen Gehirn in das einzelner anderer bevorzugter Männer hinüberzog und, immer weiter um sich greifend, zuletzt die gesamte Menschheit beherrschte. Wie Voltaire in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für die Anerkennung der grossen Trias Kopernikus, Kepler, Newton kämpfte, ist allbekannt, aber noch im Jahre 1779 sah sich der vor - treffliche Georg Christoph Lichtenberg genötigt, im Göttingischen Taschenbuche gegen die » Tychonianer « zu Felde zu ziehen, und erst im Jahre des Heiles ein tausend acht hundert und zwei und zwanzig gestattete die Kongregation des Index den Druck von Büchern, welche die Bewegung der Erde lehren!

Diese Bemerkung schicke ich voraus, um begreiflich zu machen, in welchem Sinne das Jahr 1 zum Ausgangspunkt unserer Zeit hier gewählt wird. Es geschieht nicht zufällig, etwa aus Bequemlichkeits - rücksichten, ebensowenig aber, weil der äussere Gang der politischen Geschehnisse dieses Jahr zu einem besonders auffälligen gestempelt hätte, sondern weil die einfachste Logik uns nötigt, eine neue Kraft bis auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen. Wie schnell oder wie langsam sie zur wirkenden Kraft heranwächst, gehört schon zur » Geschichte «; die lebendige Quelle jeder späteren Wirkung ist und bleibt das thatsächliche Leben des Helden.

Die Geburt Jesu Christi ist nun das wichtigste Datum der ge - samten Geschichte der Menschheit. 1)Dass diese Geburt nicht im Jahre 1 stattfand, sondern aller Wahrschein - lichkeit nach einige Jahre früher, ist für uns hier belanglos.Keine Schlacht, kein Regierungs - antritt, kein Naturphänomen, keine Entdeckung besitzt eine Bedeutung, welche mit dem kurzen Erdenleben des Galiläers verglichen werden könnte; eine fast zweitausendjährige Geschichte beweist es, und noch immer haben wir kaum die Schwelle des Christentums betreten. Es ist tief innerlich berechtigt, wenn wir jenes Jahr das erste nennen, und wenn wir von ihm aus unsere Zeit rechnen. Ja, in einem gewissen Sinne dürfte man wohl sagen, eigentliche » Geschichte « beginne erst mit Christi Geburt. Die Völker, die heute noch nicht zum Christentume gehören die Chinesen, die Inder, die Türken u. s. w. haben alle heute noch keine wahre Geschichte, sondern kennen43Einleitendes.auf der einen Seite nur eine Chronik von Herrscherhäusern, Metzeleien und dergleichen, auf der anderen nur das stille, ergebene, fast tier - mässig glückliche Hinleben ungezählter Millionen, die spurlos in der Nacht der Zeiten untergehen. Ob das Reich der Pharaonen im Jahre 3285 vor Christo oder im Jahre 32850 gegründet wurde, ist an und für sich belanglos; Ägypten unter einem Ramses zu kennen, ist dasselbe, als kennte man es unter allen 15 Ramessiden. Ebenso verhält es sich mit den anderen vorchristlichen Völkern (mit Aus - nahme jener drei, die zu unserer christlichen Epoche in organischer Beziehung stehen, und von denen ich gleich reden werde): ihre Kultur, ihre Kunst, ihre Religion, kurz ihr Zustand mögen uns interessieren, ja, Errungenschaften ihres Geistes oder ihrer Industrie können zu wertvollen Bestandteilen unseres eigenen Lebens geworden sein, wie das z. B. für indisches Denken, babylonische Wissenschaft und chinesische Erfindungen der Fall ist; ihrer Geschichte jedoch, rein als solcher, fehlt das Moment der moralischen Grösse, jenes Moment, heisst das, durch welches der einzelne Mensch veranlasst wird, sich seiner Individualität im Gegensatz zur umgebenden Welt bewusst zu werden, um dann wieder wie Ebbe und Flut die Welt, die er in der eigenen Brust entdeckt hat, zur Gestaltung jener äusseren zu verwenden. Der arische Inder z. B., in metaphysischer Beziehung unstreitig der begabteste Mensch, den es je gegeben, und allen heutigen Völkern in dieser Beziehung weit überlegen, bleibt bei der inneren Erleuchtung stehen: er gestaltet nicht, er ist nicht Künstler, er ist nicht Reformator, es genügt ihm, ruhig zu leben und erlöst zu sterben er hat keine Geschichte. Ebensowenig hat sein Antipode, der Chinese, dieses unübertroffene Muster des Positivisten und des Kollektivisten, eine Geschichte; was unsere historischen Werke unter diesem Titel geben, ist weiter nichts als eine Auf - zählung der verschiedenen Räuberbanden, von denen das geduldige, kluge und seelenlose Volk, ohne ein Jota von seiner Eigenart preis - zugeben, sich hat regieren lassen; das alles ist kriminalistische Statistik, nicht Geschichte, wenigstens für uns nicht: Handlungen, die in unserer Brust kein Echo finden, können wir nicht wirklich beurteilen.

Ein Beispiel. Während diese Zeilen geschrieben werden, tobt die gesamte gesittete Welt gegen die Türkei; die europäischen Mächte werden durch die Stimme der öffentlichen Meinung gezwungen, zum Schutze der Armenier und Kretenser einzuschreiten; die endgültige Ausrottung der türkischen Macht scheint nur noch eine Frage der44Das Erbe der alten Welt.Zeit. Das hat gewiss seine Berechtigung; es musste so kommen; nichtsdestoweniger ist es eine Thatsache, dass die Türkei das letzte Stückchen von Europa ist, wo eine ganze Bevölkerung in ungestörtem Glück und Wohlbehagen lebt, eine Bevölkerung, die von sozialen Fragen, vom bittern Kampf ums Dasein und dergleichen nichts weiss, wo es keine grossen Vermögen giebt und buchstäblich gar keinen Pauperismus, wo Alle eine einzige brüderliche Familie bilden und Keiner auf Kosten des Anderen nach Reichtum strebt. Ich rede nicht das nach, was Zeitungen und Bücher berichten, sondern ich bezeuge, was ich aus eigener Anschauung weiss. Hätte der Mohammedaner nicht Toleranz zu einer Zeit geübt, wo dieser Begriff im übrigen Europa unbekannt war, es würde jetzt in den Balkanländern und in Kleinasien idyllischer Frieden herrschen. Der Christ ist es, der hier die Hefe des Zwistes hineinwirft; und mit der Grausamkeit einer gedankenlos rückwirkenden Naturmacht erhebt sich der sonst humane Moslemite und vertilgt den Störenfried. Dem Christen behagt eben weder der weise Fatalismus des Mohammedaners, noch der kluge Indifferentismus des Chinesen. » Ich bin nicht gekommen, den Frieden, sondern das Schwert zu senden «, sagte Christus selber. Die christ - liche Idee kann, in einem gewissen Sinne, geradezu als eine anti - soziale bezeichnet werden. Zum Bewusstsein einer sonst nie geahnten persönlichen Würde erwacht, genügt dem Christen der einfache tierische Instinkt des Zusammenlebens nicht mehr; er will nicht mehr des Glückes der Bienen und der Ameisen teilhaftig sein. Bezeichnet man das Christentum kurzweg als die Religion der Liebe, so hat man seine Bedeutung für die Geschichte der Menschheit nur ober - flächlich gestreift. Das Wesentliche ist hier vielmehr dieses: durch das Christentum erhielt jeder Einzelne einen bisher nie geahnten, unmessbaren Wert (sogar » die Haare auf seinem Haupte sind von Gott alle gezählet «, Matth. X., 30); diesem inneren Wert entspricht das äussere Schicksal nicht, hierdurch ist das Leben tragisch geworden, und erst durch die Tragik erhält Geschichte einen rein menschlichen Inhalt. Denn kein Vorgang ist an und für sich historisch-tragisch; er wird es erst durch den Sinn derer, die ihn erleben; sonst bleibt das, was die Menschheit betrifft, ebenso erhaben gleichgültig, wie alle anderen Naturphänomene. Auf die christliche Idee komme ich bald zurück. Hier sollte nur angedeutet werden, erstens, wie tief und wie sichtbar das Christentum umgestaltend auf das menschliche Fühlen und Thun wirkt wofür wir noch die lebendigen Beweise dicht45Einleitendes.vor unseren Augen haben,1)Es ist durchaus falsch, wenn man solche Wirkungen nicht dem erwachten Seelenleben, sondern lediglich der Rasse zuschreiben zu müssen glaubt; der Bosniak rein serbischer Abstammung und der Makedonier aus der hellenischen Verwandtschaft sind, als Mohammedaner, ebenso fatalistisch und antiindividualistisch in ihrer Gesinnung wie nur irgend ein Osmane. zweitens, in welchem Sinne die nicht - christlichen Völker keine wahre Geschichte, sondern lediglich Annalen haben.

Geschichte, im höheren Sinne des Wortes, ist einzig jene Ver -Hellas, Rom, Judäa. gangenheit, welche noch gegenwärtig im Bewusstsein des Menschen gestaltend weiterlebt. Aus der vorchristlichen Zeit gewinnt darum Geschichte nur dort ein nicht allein wissenschaftliches, sondern ein allgemein menschliches Interesse, wo sie Völker betrifft, die jener sitt - lichen Neugeburt, welche wir als Christentum bezeichnen, entgegen - eilen. Hellas, Rom und Judäa: sie allein von den Völkern des Alter - tums sind für das lebendige Bewusstsein der Menschen des 19. Jahr - hunderts geschichtlich wichtig.

Vom hellenischen Boden ist uns jeder Zoll heilig, und mit Recht. Drüben, im asiatischen Osten, hatten und haben nicht einmal die Menschen Persönlichkeit, hier, in Hellas, ist jeder Fluss, jeder Stein belebt, individualisiert, die stumme Natur erwacht zum Be - wusstsein ihrer selbst. Und die Männer, durch welche dieses Wunder geschah, stehen vor uns, von den halb fabelhaften Zeiten des troja - nischen Krieges an bis zu der Herrschaft Roms, ein Jeder mit seiner eigenen, unvergleichlichen Physiognomie: Helden, Herrscher, Krieger, Denker, Dichter, Bildner. Hier wurde der Mensch geboren: jener Mensch, fähig ein Christ zu werden. Rom ist in mancher Beziehung der grellste Kontrast zu Griechenland; es ist nicht allein geographisch, sondern auch seelisch von Asien, d. h. von semitischen, babylonischen und ägyptischen Einflüssen entfernter; es ist nicht so heiter und genügsam, nicht so flatterhaft; besitzen will das Volk, besitzen will der Einzelne. Vom Erhaben-anschaulichen der Kunst und der Philosophie wendet sich hier der Geist zur Verstandesarbeit der Organisation. Hatte dort ein einzelner Solon, ein einzelner Lykurg, gewissermassen als Dilettant, nämlich aus rein individueller Über - zeugung vom Richtigen, Staatsgrundgesetze geschaffen, hatte später ein ganzes Volk von schwatzenden Dilettanten die Herrschaft an sich gerissen, so entstand in Rom ein langlebiges Gemeinwesen von nüch - ternen, ernsten Gesetzgebern, und während der äussere Horizont, das46Das Erbe der alten Welt.römische Reich und seine Interessen, sich beständig erweiterte, ver - engerte sich in bedenklichster Weise der Horizont der inneren Inter - essen. Sittlich jedoch steht Rom in vielen Beziehungen höher als Hellas: der Grieche war von jeher, was er noch heute ist, untreu, unpatriotisch, eigensüchtig; Selbstbeherrschung war ihm fremd, darum hat er es nie verstanden, andere zu beherrschen, noch sich selber mit würdigem Stolze beherrschen zu lassen. Dagegen weist das Wachstum und die zähe Lebensdauer des römischen Staates auf den klugen, kraftvollen, bewussten politischen Geist der Bürger hin. Die Familie und das sie schützende Gesetz sind die Schöpfungen Roms. Und zwar gilt das ebensowohl von der Familie im engeren, jede höhere Sittlichkeit begründenden Sinne, wie auch in der erweiterten Bedeutung einer die Gesamtheit der Bürger zu einem festen, wider - standsfähigen Staate verbindenden Gewalt; nur aus der Familie konnte ein dauerhafter Staat entstehen, nur durch den Staat konnte das, was wir heute Civilisation nennen, ein entwickelungsfähiges Prinzip der Gesellschaft werden. Sämtliche Staaten Europas sind Pfropfreiser auf dem römischen Stamme. Und mochte noch so häufig, damals wie heute, Gewalt über Recht siegen, die Idee des Rechtes ward uns fortan zu eigen. Indes, ebenso wie der Tag die Nacht erfordert (die heilige Nacht, die unserem Auge das Geheimnis anderer Welten enthüllt, Welten über uns am Himmelsgewölbe und Welten in uns selber, in den Tiefen des schweigenden Innern), ebenso erforderte das herrliche positive Werk der Griechen und Römer eine negative Ergänzung; durch Israel wurde sie gegeben. Um die Sterne zu erblicken, muss das Tageslicht gelöscht werden; um ganz gross zu werden, um jene tragische Grösse zu gewinnen, von welcher ich vorhin sagte, dass sie allein der Geschichte einen lebensvollen Inhalt verleihe, musste der Mensch sich nicht allein seiner Kraft, sondern auch seiner Schwäche bewusst werden. Erst durch die klare Er - kenntnis und die schonungslose Betonung der Gerinfügigkeit alles menschlichen Thuns, der Erbärmlichkeit der himmelanstrebenden Ver - nunft, der allgemeinen Niederträchtigkeit menschlicher Gesinnungen und staatlicher Motive, fasste das Denken Fuss auf einem durchaus neuen Boden, von wo aus es im Menschenherzen Anlagen und Fähigkeiten entdecken sollte, die ihn zu der Erkenntnis eines Er - habensten führten; niemals hätten Griechen und Römer auf ihrem Wege dieses Erhabenste erreicht, niemals wäre es ihnen beigekommen, dem Leben des einzelnen Individuums eine so hohe Bedeutung bei -47Einleitendes.zulegen, mit anderen Worten, sie ihm zu verleihen. Betrachten wir die äussere Geschichte des Volkes Israel, so bietet sie uns beim ersten Anblick gewiss wenig Anziehendes; ausser einigen wenigen sym - pathischen Zügen scheint alle Niederträchtigkeit, deren Menschen fähig sind, in diesem einen Völkchen verdichtet; nicht als wären die Juden im Grunde genommen noch schändlicher als die anderen Menschen gewesen, die Fratze des Lasters aber glotzt einen aus ihrer Geschichte in unverhüllter Nacktheit an: kein grosser politischer Sinn entschuldigt hier das Ungerechte, keine Kunst, keine Philosophie ver - söhnt mit den Greueln des Kampfes ums Dasein. Hier nun entstand die Verneinung der Dinge dieser Welt und damit die Ahnung einer höheren ausserweltlichen Bestimmung des Menschen. Hier wagten es Männer mitten aus dem Volke, die Fürsten dieser Erde als » Diebs - gesellen « zu brandmarken, und wehe zu rufen über die Reichen, » die ein Haus an das andere ziehen und einen Acker zum anderen bringen, bis dass sie allein das Land besitzen! « Das war eine andere Auf - fassung des Rechtes als die der Römer, denen nichts heiliger dünkte als der Besitz. Der Fluch galt jedoch nicht bloss den Mächtigen, sondern auch » denen, die bei sich selbst weise sind und halten sich selbst für klug «, und ebenfalls den frohen Helden, die » Wein saufen « und die Welt zum Tummelplatz sich auserkoren haben. So redet bereits im 8. Jahrhundert vor Christi Geburt ein Jesaia. 1)Siehe Jesaia, Kap. 1 und 5.Diese erste Auflehnung gegen das radikal Böse im Menschen und in der mensch - lichen Gesellschaft erklingt aber immer mächtiger im Laufe der fol - genden Jahrhunderte aus der Seele dieses merkwürdigen Volkes; sie wird immer innerlicher, bis Jeremias ausruft: » Wehe mir, o Mutter, dass du mich geboren hast! «, und bis zuletzt die Verneinung zu einem positiven Prinzip wird und ein erhabenster Prophet sich aus Liebe ans Kreuz schlagen lässt. Mag man sich nun auf den Standpunkt eines gläubigen Christen stellen oder einfach auf den des objektiven Historikers, gleichviel, sicher ist, dass man, um die Gestalt Christi deutlich zu erkennen, das Volk kennen muss, das ihn kreuzigte. Freilich muss eines wohl beachtet werden: bei den Griechen und Römern waren die Thaten dieser Völker die positive Errungenschaft, dasjenige, was weiterlebte; bei den Juden dagegen war die Ver - neinung der Thaten dieses Volkes die einzige positive Errungenschaft für die Menschheit. Diese Verneinung ist aber ebenfalls eine historische,48Das Erbe der alten Welt.und zwar eine historisch gewachsene Thatsache. Selbst wenn Jesus Christus, wie mit grösster Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dem jüdischen Volke nicht entstammt sein sollte, nur der oberflächlichste Parteigeist kann die Thatsache leugnen, dass diese grosse und gött - liche Gestalt auf das Unzertrennlichste mit dem historischen Ent - wickelungsgang jenes Volkes verwoben ist. 1)Für den Nachweis, dass Christus kein Jude war (im Sinne der Rassen - angehörigkeit), sowie für die Darlegung seines innigen Verhältnisses zu dem moralischen Leben des echten jüdischen Volkes, siehe Kap. 3; Näheres über das jüdische Volk bringt dann Kap. 5.

Wer könnte es bezweifeln? Die Geschichte von Hellas, die von Rom und die von Judäa, sie haben gestaltend auf alle Jahrhunderte unserer Zeitrechnung weitergewirkt, sie wirkten lebendig weiter in unserem 19. Jahrhundert. Ja, sie wirkten nicht allein lebendig, sondern auch lebenhemmend, indem sie die freie Aussicht in das rein mensch - liche Gebiet nach vielen Richtungen hin mit einem mannshohen Zaun umgaben. Das ist des Menschen unentrinnbares Schicksal: was ihn fördert, fesselt ihn zugleich. Darum muss die Geschichte dieser Völker von Demjenigen wohl beachtet werden, der von unserem 19. Jahrhundert zu reden unternimmt.

In dem vorliegenden Werk nun sind die rein historischen Kennt - nisse, die Chronologie der Weltgeschichte, als bekannt vorausgesetzt. Nur eines darf hier versucht werden, nämlich in möglichst gedrängter Kürze zu bestimmen, welches die wesentlichsten, unterscheidenden Merkmale dieses » Erbes der alten Welt « sind. Das soll in drei Kapiteln geschehen, von denen das erste hellenische Kunst und Philosophie, das zweite römisches Recht und das dritte die Erscheinung Jesu Christi behandelt.

Geschichts - philosophie.
13

Ehe ich diese einleitenden Worte beschliesse, noch eine Ver - wahrung. Der Ausdruck: dieses oder jenes » musste « geschehen, entfuhr oben meiner Feder; vielleicht kehrt er im folgenden wieder. Damit soll keineswegs einem geschichtsphilosophischen Dogma - tisieren das Existenzrecht eingeräumt werden. Der Rückblick von der Gegenwart aus auf die Vergangenheit zurück gestattet den logischen Schluss, dass gewisse Vorgänge damals geschehen mussten, damit das Heute so würde, wie es geworden ist. Ob der Lauf der Geschichte ein andrer hätte sein können, als er war, diese subtile Frage gehört nicht hierher. Von dem wüsten Lärm einer angeb - lichen » Wissenschaftlichkeit « eingeschüchtert, sind manche heutige49Einleitendes.Historiker in dieser Beziehung sehr ängstlich geworden. Und dennoch ist es klar, dass die Gegenwart nur dann einen leuchtenden Sinn erhält, wenn sie sub specie necessitatis betrachtet wird. Vere scire est per causas scire, sagt Bacon; diese Anschauungsweise allein ist eine wissenschaftliche; wie soll sie aber durchgeführt werden, wenn nicht überall die Notwendigkeit anerkannt wird? Das Wort » muss « bringt die notwendige Verkettung von Ursache und Folge zum Aus - druck, weiter nichts; mit derlei Einsichten vergolden wir Menschen die Riegelbalken unseres engumzirkten geistigen Spielraums, ohne uns deswegen einzubilden, wir wären ins Freie hinausgeflogen. Nun beachte man aber noch folgendes: gestaltet die Notwendigkeit, so bilden sich um diesen Mittelpunkt immer weitere Kreise, und Keiner darf uns verwehren wo unser Ziel es erheischt den weiten, umständlichen Weg auf einem äussersten Kreis zu vermeiden, um unsern Standpunkt so nahe wie möglich an der bewegenden, selber kaum bewegten Achse einzunehmen, dort wo die scheinbare Willkür mit der nicht abzuleugnenden Notwendigkeit fast verschmilzt.

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 4[50][51]

ERSTES KAPITEL HELLENISCHE KUNST UND PHILOSOPHIE

Nur durch den Menschen tritt der Mensch in das Tageslicht des Lebens ein. Jean Paul Friedrich Richter.
4*[52][53]

Viel Geistvolles ist gesagt worden, um den Unterschied zwischenDas Menschwerden. Mensch und Tier drastisch zu kennzeichnen; wichtiger, weil eine bedeutungsvollere Erkenntnis anbahnend, dünkt mich die Unter - scheidung zwischen Mensch und Mensch. In dem Augenblick, wo der Mensch zum Bewusstsein freischöpferischer Kraft erwacht, über - schreitet er einen bestimmten Grenzkreis und zerstört den Bann, der ihn, trotz aller seiner Begabung und allen seinen Leistungen, in engster auch geistiger Zugehörigkeit zu den übrigen Lebewesen erscheinen liess. Durch die Kunst tritt ein neues Element, eine neue Daseinsform in den Kosmos ein.

Mit diesem Ausspruch stelle ich mich auf denselben Boden wie etliche der grössten unter Deutschlands Söhnen. Diese Anschauung von der Bedeutung der Kunst entspricht auch, wenn ich nicht irre, einer spezifischen Anlage des deutschen Geistes, wenigstens dürfte eine so klare, scharfe Formulierung jenes Gedankens, wie wir sie bei Lessing und Winckelmann, bei Schiller und Goethe, bei Hölderlin, Jean Paul und Novalis, bei Beethoven und Richard Wagner finden, bei den anderen Mitgliedern der verwandten indogermanischen Völker - gruppe kaum anzutreffen sein. Um dem Gedanken gerecht zu werden, muss man zunächst genau wissen, was hier unter » Kunst « zu ver - stehen ist. Wenn Schiller schreibt: » Die Natur hat nur Geschöpfe, die Kunst hat Menschen gemacht «, wird man doch nicht glauben, er habe hier das Flötenspielen oder das Verseschreiben im Sinne? Wer Schiller’s Schriften (vor allen natürlich seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen) sorgfältig und wiederholt liest, wird immer mehr einsehen, dass der Begriff » Kunst « für den Dichter-Philosophen ein sehr lebendiger, ihn gewissermassen durch - glühender, dennoch aber ein recht subtiler ist, der sich schwer in eine kurze Definition einzwängen lässt. Nur wer sie nicht verstanden hat, kann eine derartige Einsicht überwunden zu haben wähnen. Man höre, was Schiller sagt, denn für den Zweck des vorliegenden54Das Erbe der alten Welt.Kapitels, sowie des ganzen Buches ist ein Verständnis dieses Grund - begriffes unentbehrlich. Er schreibt: » Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freie Intelligenz noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, dass er bei dem nicht stille steht, was die blosse Natur aus ihm machte, sondern die Fähig - keit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm anticipierte, durch Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Not in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen, und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben «. Zunächst bezeichnet also das Drängen nach Freiheit den künstlerischen Zustand für Schiller: der Not kann der Mensch nicht entrinnen, er » schafft sie aber um «; indem er das thut, bewährt er sich als Künstler. Als solcher benutzt er die Elemente, die ihm die Natur bietet, um sich eine neue Welt des Scheins zu errichten; jedoch hieraus ergiebt sich ein Zweites, und gerade dieses Zweite darf unter keiner Bedingung übersehen werden: indem der Mensch » in seinem ästhetischen Stande « sich gewissermassen » ausser der Welt stellt und sie betrachtet «, findet es sich, dass er diese Welt, die Welt ausser ihm, zum erstenmal deutlich erblickt! Freilich war es ein Wahn gewesen, sich aus dem Schosse der Natur losringen zu wollen, gerade dieser Wahn aber leitet ihn nunmehr dazu, sich der Natur völlig und richtig bewusst zu werden: » denn der Mensch kann den Schein nicht von der Wirklichkeit reinigen, ohne zugleich die Wirklichkeit von dem Scheine frei zu machen «. Erst wenn er zu dichten begonnen hat, beginnt der Mensch auch bewusst zu denken; erst wenn er selber baut, wird er auf die Architektonik des Weltgebäudes aufmerksam. Wirklichkeit und Schein sind anfangs in seinem Bewusstsein vermengt; die be - wusste, freischöpferische Beschäftigung mit dem Schein ist der erste Schritt, um zu einer möglichst freien, reinen Erkenntnis der Wirklich - keit zu gelangen. Wahre Wissenschaft, d. h. eine nicht bloss messende, registrierende, sondern eine anschauende, erkennende, ent - steht also, nach Schiller, unter dem unmittelbaren Einfluss des künst - lerischen Strebens der Menschen. Und jetzt erst kann im Menschen - geist auch Philosophie auftreten; denn sie schwebt zwischen beiden Welten. Philosophie fusst zugleich auf Kunst und auf Wissenschaft; sie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, die neuerliche, künstlerische Bearbeitung jener gesonderten, gereinigten Wirklichkeit. Damit ist aber die Bedeutung der Vorstellung » Kunst « für Schiller noch immer55Hellenische Kunst und Philosophie.nicht erschöpft. Denn die » Schönheit « (jene frei umgeschaffene, neue Welt) ist nicht allein ein Gegenstand; in ihr spiegelt sich viel - mehr auch » ein Zustand unseres Subjekts « wieder: » Die Schönheit ist zwar Form, weil wir sie betrachten; zugleich aber ist sie Leben, weil wir sie fühlen. Mit einem Wort: sie ist zugleich unser Zustand und unsere That «. 1)Vergl. Ästhetische Erziehung, Bf. 3, 25, 26. Näheres hier, Kap. 9, Abschn. 7.Künstlerisch zu empfinden, künstlerisch zu denken bezeichnet also einen besonderen Zustand des Menschen überhaupt; es ist eine Stimmung, oder vielmehr eine Gesinnung noch besser vielleicht ein latenter Kraftvorrat, der sich im Leben des einzelnen Menschen wie auch im Leben eines ganzen Volkes überall, auch dort, wo Kunst und Wissenschaft und Philosophie nicht un - mittelbar beteiligt sind, » befreiend «, » umschaffend «, » reinigend « bethätigen muss. Oder auch, um uns dieses Verhältnis von einer anderen Seite aus vorzuführen, können wir und zwar wiederum mit Schiller2)Vergl. Etwas über die erste Menschengesellschaft, Abschnitt 1. sagen: » Aus einem glücklichen Instrumente wurde der Mensch ein unglücklicher Künstler «. Das ist jene Tragik, von der ich in den einleitenden Worten sprach.

Man wird, glaube ich, zugeben müssen, dass diese deutsche Auffassung des » Menschwerdens « tiefer geht, dass sie mehr umfasst und ein helleres Licht auf die zu erstrebende Zukunft der Mensch - heit wirft, als jede engwissenschaftliche oder rein utilitaristische. Wie dem auch sei, Eines ist sicher: ob einer solchen Auffassung unbedingte Gültigkeit zukomme, oder nur bedingte, für eine Be - trachtung der hellenischen Welt und die sichere Aufdeckung ihres Lebensprinzips, thut sie unvergleichliche Dienste; denn, mag sie auch in dieser bewussten Formulierung eine charakteristisch-deutsche Auf - fassung sein, im letzten Grunde führt sie auf hellenische Kunst und auf hellenische Philosophie (welche die Naturwissenschaft umschloss) zurück, sie bezeugt, dass das Hellenentum nicht allein äusserlich und geschichtlich, sondern auch innerlich und Zukunft gestaltend in unserem Jahrhundert noch weiter lebte. 3)Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich erwähnen, dass ich hier am Anfang meines Buches mich des einfacheren Verständnisses halber ohne weitere Kritik an Schiller angeschlossen habe; erst im Schlusskapitel kann ich meine Anschauung begründen, dass bei uns Germanen, im Unterschied von den Hellenen, der Angelpunkt des » Menschwerdens « nicht in der Kunst, sondern in der Religion zu suchen ist was aber Schiller’s Auffassung von Kunst gegen - über nicht eine Abweichung, sondern nur eine Schattierung bedeutet.

56Das Erbe der alten Welt.
Tier und Mensch.
16

Nicht jede künstliche Bethätigung ist Kunst. Zahlreiche Tiere führen äusserst kunstvolle Bauten auf; der Gesang der Nachtigall wetteifert erfolgreich mit dem Naturgesang wilder Menschen; will - kürliche Nachahmung treffen wir hochentwickelt im Tierreich an, und zwar auf den verschiedensten Gebieten Nachahmung der Thätigkeit, des Lautes, der Form wobei noch zu bedenken ist, dass wir bis jetzt so gut wie gar nichts von dem Leben der höheren Affen wissen;1)Siehe jedoch die Beobachtungen des J. G. Romanes an einem weib - lichen Schimpansen, am ausführlichsten in der Zeitschrift Nature, Band XL, S. 160 ff., kürzer in den Büchern desselben Verfassers. In kurzer Zeit lernte dieser Affe mit unfehlbarer Sicherheit bis sieben zählen. Dagegen vermögen die Bakairi (südamerikanische Indianer) nur bis sechs, und zwar sehr mühsam, zu zählen! (Siehe Karl von Steinen: Unter den Naturvölkern Brasiliens.) die Sprache, d. h. also die Mitteilung von Empfindungen und Urteilen durch ein Individuum an ein anderes, ist durch das ganze Reich der Animalität weit verbreitet und verfügt oftmals über so unbegreiflich sichere Mittel, dass nicht allein Anthropologen, sondern auch Philologen2)Siehe z. B. Whitney: Das Leben der Sprache (französische Ausgabe, S. 238 f.). die Warnung nicht für überflüssig halten, man dürfe nicht einzig das Erzittern menschlicher Stimmbänder, überhaupt nicht bloss den Laut für Sprache halten;3)Vergl. namentlich die lichtvollen Ausführungen von Topinard in seiner Anthropologie S. 159 162. Interessant ist es, festzustellen, dass ein so be - deutender und zugleich so ausserordentlich vorsichtiger, jeder Phantasterei be - sonders abholder Naturforscher wie Adolf Bastian den Gliedertieren (mit ihren sich gegenseitig berührenden Fühlhörnern) eine ihrem Wesen nach der unsrigen analoge Sprache vindiziert; siehe: Das Beständige in den Menschenrassen, S. VIII des Vorwortes. In Darwin: Descent of Man, Kap. III, findet man eine besonders interessante Zusammenstellung der hierher gehörigen Thatsachen und eine ener - gische Zurückweisung der Paradoxen Max Müller’s und Anderer. u. s. w. Durch die instinkt - mässige Zusammenfügung zu staatlichen Organisationen, und seien sie noch so vielästig verwickelt, erzielt das menschliche Geschlecht ebenfalls keinen prinzipiellen Fortschritt über die unendlich kom - plizierten Tierstaaten; neuere Soziologen bringen sogar die Entstehung der menschlichen Gesellschaft in engorganische Beziehung zu der Ent - wicklung der sozialen Instinkte im umgebenden Tierreich.4)Siehe z. B. des amerikanischen Professors Franklin H. Giddings: Prin - zipien der Soziologie (französische Ausgabe 1897, S. 189): « les bases de l’empire de l’homme furent posées sur les associations zoogéniques des plus humbles formes de la vie consciente ». Betrachtet57Hellenische Kunst und Philosophie.man das staatliche Leben der Ameisen zum Beispiel und sieht man, durch welche kühne Raffinements die praktische Bewährung des ge - sellschaftlichen Getriebes und das fehlerlose Ineinandergreifen aller Teile bei ihnen bewirkt wird als Beispiel will ich einzig die Ab - schaffung des unheilschwangeren Geschlechtstriebes bei einem grossen Prozentsatz der Bevölkerung nennen, und zwar nicht durch Ver - stümmelung, wie bei unserem elenden Notbehelf der Kastrierung, sondern durch kluge Manipulation der befruchteten Keime, so muss man gestehen, der staatliche Instinkt steht bei uns auf keiner hohen Stufe; im Verhältnis zu manchen Tiergattungen sind wir politische Pfuscher. 1)Siehe Carl Vogt’s amüsante: Untersuchungen über die Tierstaaten (1851). In Brehm: Vom Nordpol zum Äquator (1890) findet man sehr bemerkens - werte Mitteilungen über die Kriegsführung der Paviane; ihre Taktik wechselt je nach der Bodenbeschaffenheit, sie verteilen sich in bestimmte Gruppen: Vorder - treffen, Hintertreffen u. s. w., mehrere arbeiten zusammen, um einen grossen Fels - block auf den Feind hinabzurollen, und vieles dergleichen mehr. Vielleicht das staunenswerteste Gesellschaftsleben ist das der Gärtnerameisen aus Südamerika, über die zuerst Belt: Naturalist in Nicaragua berichtete, dann der Deutsche Alfred Möller; jetzt kann man diese Tiere im zoologischen Garten in London beob - achten, wobei namentlich die Thätigkeit der grossköpfigen » Aufseher « leicht zu verfolgen ist, wie sie sobald ein » Arbeiter « faulenzen will herzulaufen, und ihn aufrütteln!Selbst in der besonderen Bethätigung der Ver - nunft kann man wohl ein eigenartiges spezifisches Merkmal des Menschen, kaum aber ein prinzipiell neues Naturphänomen erkennen. Der Mensch im Naturzustand benützt seine überlegene Vernunft genau so wie der Hirsch seine Schnellfüssigkeit, der Tiger seine Kraft, der Elefant seine Schwere: sie ist ihm die vorzüglichste Waffe im Kampf ums Dasein, sie ersetzt ihm Behendigkeit, Körpergrösse und so manches andere, was ihm fehlt. Die Zeiten sind vorbei, wo man den Tieren Vernunft abzusprechen sich erdreistete; nicht allein zeigen Affe, Hund und alle höheren Tiere bewusste Überlegung und treffsicheres Urteil, sondern dasselbe ist bei Insekten experimental nachgewiesen worden: eine Bienenkolonie z. B. in ungewohnte, noch nie dagewesene Ver - hältnisse versetzt, trifft neue Vorkehrungen, versucht dieses und jenes, bis sie das Richtige gefunden hat. 2)Vergl. Huber: Nouvelles observations sur les Abeilles, II. 198, u. s. W. Die beste kürzeste neuere Zusammenfassung der entscheidendsten, hierher gehörigen Thatsachen ist wohl die von J. G. Romanes: Essays on Instinct 1897; auch dieser hervorragende Schüler Darwin’s ist freilich immer wieder genötigt, auf die Beobachtungsreihen der beiden Huber als auf die sinnreichsten und zuverlässigstenKein Zweifel, dass, wenn wir das58Das Erbe der alten Welt.bis jetzt uns fast gänzlich unbekannte psychische Leben der Tiere2)zurückzugreifen; allzuwenig bekannt ist jedoch das Werk von J. Traherne Moggridge: Beobachtungen über die Speicherameisen und die Fallthürspinnen (in englischer Sprache, 1873, bei Reeve in London); überhaupt sollten die Psycho - logen des Tierreiches ihre Aufmerksamkeit den Spinnen mehr widmen, welche unzweifelhaft zu den begabtesten aller Wesen zählen. (Siehe jedoch H. C. Mac - Cook: American Spiders, Philadelphia, 1889.) Unter älteren Schriften ist von un - vergänglichem Wert Kirby: History, Habits und Instincts of Animals. Von den mehr philosophischen Schriften will ich hier besonders auf Wundt’s: Vorlesungen über die Menschen - und Tierseele, und auf Fritz Schultze’s: Vergleichende Seelen - kunde (zweiter Teil, Die Psychologie der Tiere und Pflanzen, 1897) aufmerk - sam machen. In dieser Anmerkung möchte ich zugleich eine ausdrückliche Verwahrung einlegen, nämlich, dass ich hier und im Folgenden die tiefe Kluft zwischen dem Geiste des denkenden Menschen und dem des Tieres durchaus nicht verkenne; es war hohe Zeit, dass ein Wundt mit seiner ganzen Geistes - schärfe gegen unsere fast unausrottbare Neigung zu anthropomorphistischen Deutungen auftrat; mich dünkt aber, Wundt selber, und mit ihm Schultze, Lubbock und andere verfallen in den umgekehrten Fehler: gegen die kritiklose Über - schätzung des Gedankenlebens der Tiere legen sie gerechte Verwahrung ein, da - gegen scheinen diese hochgelehrten, in unaufhörlichem Denken und Spekulieren aufgewachsenen Männer nicht zu ahnen, mit wie unendlich wenig Bewusstsein und Reflexion die Menschheit in ihrer Gesamtheit lebt und recht gut aus - kommt; sie sind überhaupt geneigt, dem » Bewusstsein « und der » Reflexion « ein übermässiges Gewicht beizulegen; das zeigt sich bei ihren Abhandlungen über die elementaren Zustände der menschlichen Psyche und vielleicht noch deut - licher bei ihrer geringen Fähigkeit, die Natur des eigentlichen Aktes schöpfe - rischer Genialität (Kunst und Philosophie) zu deuten. Nachdem der eine Wundt die Schätzung der tierischen Intelligenz auf ihr richtiges Niveau herabgeführt hat, brauchten wir jetzt einen zweiten, der unsere Neigung, uns selber ungeheuer zu überschätzen, aufdeckte. Auch scheint mir folgender Punkt niemals gehörig betont worden zu sein: dass wir nämlich bei unseren Beobachtungen an Tieren auch beim besten Willen Anthropomorphen bleiben; denn wir können uns ja nicht einmal einen Sinn (ich meine ein physisches Werkzeug zur Erkenntnis der umgebenden Welt) vorstellen, wenn wir ihn nicht selber besitzen, und wir müssen notwendigerweise ewig blind und taub für alle Gemüts - und Ver - standesäusserungen bleiben, welche in unserem eigenen geistigen Leben kein unmittelbares Echo antreffen. Herr Wundt hat gut warnen vor » schlechten Analogien «: auf diesem ganzen Gebiete sind gar keine Schlüsse ausser Analogie - schlüssen möglich. Wie Clifford ausführlich dargethan hat (vergl. Seeing and Thinking), können wir hier weder rein objektiv noch rein subjektiv vorgehen; diese gemischte Art der Erkenntnis hat er deswegen eine » ejektive « genannt. Wir schätzen diejenigen Tiere als die intelligentesten, deren Intelligenz der unsrigen am ähnlichsten ist und die wir deswegen am besten verstehen; ist das aber einem kosmischen Problem wie demjenigen des Geistes gegenüber nicht unendlich naiv und unüberlegt? Ist das nicht verkappter Anthropomorphismus? Sicherlich. Wenn also Wundt behauptet: » auf diesem Gebiete ist das Experiment59Hellenische Kunst und Philosophie.aus entfernten Klassen näher und einsichtsvoller untersuchen, wir2)in hohem Masse der blossen Beobachtung überlegen «, so kann man ihm nur sehr bedingt beipflichten; denn das Experiment ist von Haus aus ein Reflex unserer rein menschlichen Vorstellungen, wogegen die liebevolle Beobachtung eines gänz - lich anders gearteten Wesens in seinen eigenen, möglichst normalen Verhältnissen und zwar mit dem Wunsche, nicht seine Leistungen zu kritisieren, sondern sie soweit unser menschlicher, engumschränkter geistiger Horizont es erlaubt zu begreifen, wohl zu manchen überraschenden Einsichten führen müsste. Darum hat uns auch der alte, blinde Huber über die Bienen weit mehr gelehrt als Lubbock in seinem trotzdem bewundernswerten Buche Ants, Bees and Wasps (1883); darum erzielen die rohen » Dresseurs « solche unglaubliche Erfolge, denn sie verlangen von jedem Tier nur solche Leistungen, welche sie auf Grund - lage täglicher Beobachtung seiner Anlagen von ihm erwarten dürfen. Hier, wie anderwärts, steckt unsere heutige Wissenschaft noch tief in helleno-jüdischem Anthropomorphismus, und nicht am wenigsten gerade dort, wo sie davor warnt. Seitdem obige Bemerkung geschrieben, ist das Aufsehen erregende Buch, Bethe: Dürfen wir Ameisen und Bienen psychische Qualitäten zuschreiben? er - schienen, welches in seiner ganzen Argumentation ein geradezu klassisches Beispiel des verkappten Anthropomorphismus ist. Durch sinnreiche (obwohl meiner An - sicht nach durchaus nicht abschliessende) Versuche, hat Herr Bethe die Über - zeugung gewonnen, die Ameisen erkennten sich als zum selben Nest gehörig durch den Geruchssinn, auch ihr Wegefinden beruhe auf der Ausscheidung eines chemischen Stoffes u. s. w. Das ganze sei » Chemoreflex «, das gesamte Leben dieser Tiere » rein mechanisch «. Man staunt über einen solchen Abgrund philo - sophischer Roheit. Ja, ist denn das gesamte Sinnenleben als solches nicht not - wendigerweise mechanisch? Kann Herr Bethe seinen eigenen Vater ohne Zuhilfe - nahme eines Mechanismus erkennen? Erkennt der Hund seinen Herrn nicht fast lediglich durch den Geruchssinn? Sollen denn Descartes Automaten immer von neuem aufleben, als hätten Wissenschaft und Philospie seit 300 Jahren still - gestanden? Hier, bei solchen Männern wie Bethe und seinem Vorgänger, dem Jesuiten E. Wasmann, steckt der wirkliche und unausrottbare Anthropomorphismus. Bei Vertebraten lässt die strenge Analogie mit unserer eigenen Struktur Schlüsse auch auf die psychologischen Vorgänge zu; im Insekt dagegen steht ein total fremdes Wesen vor uns, aufgebaut nach einem Plane, der so tief von dem unseres Körpers abweicht, dass wir nicht einmal im Stande sind, die rein mecha - nische Funktionierung der Sinneswerkzeuge mit Sicherheit zu deuten (siehe Gegenbaur: Vergl. Anatomie) und folglich gar nicht wissen, welche uns Menschen gänzlich verschlossene Welt von Sinneseindrücken, von Mitteilungs - möglichkeiten u. s. w. diese Wesen umgeben mag. Das nicht einzusehen, ist » ameisenmässig « naiv. (Nachtrag: In der Eröffnungsrede des vierten internationalen Zoologenkongresses, am 23. August 1898, griff Sir John Lubbock die Automaten - theorie heftig an und sagte u. a.: » Viele Tiere besitzen Sinnesorgane, deren Be - deutung uns Menschen unerforschlich ist. Sie vernehmen Geräusche, die uns unhör - bar, sie sehen Dinge, die uns unsichtbar bleiben, sie empfangen Sinneseindrücke, die ausserhalb des Bereiches unserer Vorstellungskraft liegen. Die uns so wohl - bekannte umgebende Welt muss für sie eine durchaus andere Physiognomie besitzen. «)60Das Erbe der alten Welt.überall ähnliches finden. Die im Verhältnis enorme Entwicklung des menschlichen Gehirns1)Bekanntlich hat Aristoteles sich hier, wie so oft, gründlich geirrt: der Mensch besitzt weder absolut noch relativ (d. h. im Verhältnis zum Körpergewicht) das grösste Gehirn; die Überlegenheit dieses Apparates bei ihm ist in anderen Dingen begründet (siehe Ranke: Der Mensch, zweite Ausgabe I., S. 551 und S. 542 f.). bildet also für uns doch nur eine relative Überlegenheit. Nicht als ein Gott wandelt der Mensch auf Erden, sondern als ein Geschöpf unter anderen Geschöpfen, vielleicht wäre es kaum Übertreibung, zu sagen, als ein primus inter pares, denn es ist schwer einzusehen, warum höhere Differenzierung, mit ihren zahllosen Nachteilen, ohne weiteres als höhere » Vollkommenheit « be - trachtet werden sollte; die relative Vollkommenheit eines Organismus wäre, dünkt mich, durch seine Angemessenheit für gegebene Ver - hältnisse zu bestimmen. Durch alle Fasern seines Wesens hängt der Mensch organisch mit seiner Umgebung eng zusammen; das alles ist Blut von seinem Blut; denkt man ihn hinweg aus der Natur, so ist er ein Bruchstück, ein Torso, ein entwurzelter Stamm.

Was zeichnet nun den Menschen vor den anderen Wesen aus? Mancher wird antworten: seine Erfindungskraft; das Werkzeug ist es, wodurch er sich als Fürst unter den Tieren dokumentiert. Er bleibt jedoch damit noch immer ein Tier unter Tieren: nicht bloss der Anthropoid, auch der gewöhnliche Affe erfindet einfachere Werk - zeuge, (worüber Jeder sich in Brehm’s Tierleben informieren kann), und der Elephant ist, wenn vielleicht nicht in der Erfindung, so doch im Gebrauch der Werkzeuge ein wahrer Meister (siehe Romanes: Die geistige Entwickelung im Tierreich, S. 389 u. s. w.). Die sinnreichste Dynamomaschine erhebt den Menschen nicht um einen Zoll über die allen Wesen gemeinsame Erdoberfläche; alles derartige bedeutet ledig - lich eine neue Ansammlung von Kraft in dem Kampf ums Dasein; der Mensch wird dadurch gewissermassen ein höher potenziertes Tier. Er beleuchtet sich mit Talgkerzen oder mit Öl, oder mit Gas, oder elektrisch, anstatt schlafen zu gehen; damit gewinnt er Zeit und das heisst Leistungsfähigkeit; es giebt aber ebenfalls zahllose Tiere, die sich beleuchten, manche durch Phosphorescenz, andere (namentlich die Tiefseefische) elektrisch2)Emin Pascha und Stanley berichten über Schimpansen, welche nachts mit Fackeln auf ihre Raubzüge ausziehen! Mit Romanes wird man gut thun, bis auf weiteres diese Thatsache zu bezweifeln: Stanley hat es nicht selbst gesehen und Emin Pascha war überaus kurzsichtig. Sollten die Affen wirklich die Kunst,; wir reisen auf dem Zweirad, mit der61Hellenische Kunst und Philosophie.Eisenbahn, bald vielleicht im Luftschiff, der Zugvogel und der Meeresbewohner hatten das Reisen schon längst in Mode gebracht, und, genau wie sie, reist der Mensch, um sich Subsistenzmittel zu verschaffen. Die unermessliche Überlegenheit des Menschen zeigt sich freilich darin, dass er das alles vernünftig zu erfinden und in fort - schreitender » Kumulation « anzuwenden versteht. Der Nachahmungs - trieb und die Assimilationsfähigkeit, die man wohl bei allen Säuge - tieren antrifft, erreichen bei ihm einen so hohen Grad, dass dieselbe Sache gewissermassen doch eine andere wird; in analoger Weise sehen wir bei chemischen Stoffen, dass häufig der Hinzutritt eines einzigen wesensgleichen Atoms, also ein einfaches numerisches Hinzuthun, die Qualitäten des betreffenden Stoffes gründlich umwandelt; wenn man zu Sauerstoff Sauerstoff hinzuthut, entsteht Ozon, ein neuer Körper (O2 + O1 = O3). Man übersehe jedoch nicht, dass alle menschlichen Erfindungen dennoch auf Assimilation und Nachahmung beruhen; der Mensch er findet das, was da vorliegt und einzig seines Kommens harrte, genau so wie er dasjenige ent deckt, was ihm bisher ver - schleiert war; die Natur spielt » Versteckens « und » blinde Kuh « mit ihm. Quod invenitur, fuit: sagt Tertullian. Dass er das versteht, dass er nach dem Verborgenen sucht und nach und nach so vieles aufdeckt und findet, das bezeugt freilich den Besitz von Gaben ohne - gleichen; besässe er sie aber nicht, so wäre er ja das elendeste aller Wesen denn ohne Waffen, ohne Kraft, ohne Flügel, ohne alles steht er da: die bitterste Not ist seine Triebfeder, das Erfindungs - vermögen sein Heil.

Was den Menschen nun zum wahren Menschen macht, zu einem von allen, auch den menschlichen Tieren verschiedenen Wesen, das ist, wenn er dazu gelangt, ohne Not zu erfinden, seine unver - gleichliche Befähigung nicht im Dienste eines Naturzwanges, sondern frei zu bethätigen, oder um für das selbe einen tieferen, ent - sprechenderen Ausdruck zu gebrauchen wenn die Not, welche ihn zum Erfinden treibt, nicht mehr von aussen, sondern von innen in sein Bewusstsein tritt; wenn das, was sein Heil war, nunmehr sein Heiligtum wird. Entscheidend ist der Augenblick, wo die freie Erfindung bewusst auftritt, das heisst also der Augenblick, wo der2)das Feuer zu erzeugen, erfunden haben, uns Menschen bliebe doch die Erfindung der Gestalt des Prometheus, und dass dieses, nicht jenes es ist, was den Menschen zum Menschen macht, bildet gerade den Inhalt meiner Ausführungen.62Das Erbe der alten Welt.Mensch zum Künstler wird. Beobachtungen in Betreff der umgebenden Natur (z. B. des gestirnten Himmels) können schon weit gediehen und ein mannigfaltiger Götter - und Dämonenkultus entstanden sein, ohne dass damit ein prinzipiell Neues in die Welt getreten wäre. Das alles bezeugt eine schlummernde Fähigkeit, ist aber seinem Wesen nach nichts weiter als die halbunbewusste Bethätigung eines Instinktes. Erst wenn ein einzelner Mensch, wie Homer, frei nach seinem eigenen Willen, die Götter erdichtet, wie er sie haben will, wenn ein Natur - beobachter, wie Demokrit, aus freier Schöpferkraft die Vorstellung des Atoms erfindet, wenn ein sinnender Seher, wie Plato, mit der Mutwilligkeit des weltüberlegenen Genies die ganze sichtbare Natur über Bord wirft und das menschenerschaffene Reich der Ideen an ihre Stelle setzt, wenn ein erhabenster Lehrer ausruft: » Sehet, das Himmelreich ist inwendig in euch! «: dann erst ist ein durchaus neues Geschöpf geboren, jenes Wesen, von dem Plato sagt: » Er hat Zeugungs - kraft in der Seele viel mehr als im Leibe «, dann erst enthält der Makrokosmos einen Mikrokosmos. Was Kultur zu heissen einzig ver - dient, ist die Tochter solcher schöpferischen Freiheit, sagen wir kurz der Kunst, mit welch letzterer Philosophie echte, schöpferische Philosophie und Wissenschaft so eng verwandt ist, dass beide als zwei Seiten desselben Wesens erkannt werden müssen; jeder grosse Dichter war Philosoph, jeder geniale Philosoph ist Dichter. Was ausserhalb dieses mikrokosmischen Kulturlebens steht, ist lediglich » Civilisation «, das heisst, ein beständig höher potenziertes, zunehmend emsigeres, bequemeres und unfreieres Ameisenstaatendasein, gewiss reich an Segen und insofern wünschenswert, eine Gabe der Zeiten jedoch, bei welcher es häufig überaus fraglich bleibt, ob das Menschen - geschlecht nicht mehr dafür bezahlt als erhält. Civilisation ist an und für sich nichts, denn es bezeichnet nur ein Relatives; eine höhere Civilisation dürfte nur dann als ein positiver Gewinn (als ein » Fort - schritt «) betrachtet werden, wenn sie zu einer zunehmend intensiven geistigen und künstlerischen Gestaltung des Lebens und zu einer innerlichen moralischen Klärung führte. Weil ihm das bei uns nicht der Fall zu sein schien, darum durfte Goethe als berufenster Zeuge das melancholische Geständnis machen: » Diese Zeiten sind schlechter als man denkt «. Dagegen beruht die unvergängliche Bedeutung des Hellenentums darauf, dass es verstanden hat, sich eine Zeit zu schaffen, besser, als wir sie uns irgend vorzustellen vermögen, eine unvergleich - lich bessere Zeit, als seine eigene, so sehr rückständige Civilisation sie63Hellenische Kunst und Philosophie.verdiente, wenn ich mich so ausdrücken darf. Heutzutage unter - scheiden alle Ethnographen und Anthropologen scharf zwischen Moral und Religion, und erkennen an, dass beide in einem gewissen Sinne von einander unabhängig sind; es wäre ebenso nützlich, wenn man zwischen Kultur und Civilisation scharf zu unterscheiden lernte. Eine hochentwickelte Civilisation ist mit einer rudimentären Kultur verein - bar: Rom zum Beispiel zeigt eine bewundernswerte Civilisation bei sehr geringer, durchaus unorigineller Kultur. Athen dagegen weist (bei seinen freien Bürgern) eine Kulturstufe auf, gegen welche wir Europäer des 19. Jahrhunderts in mancher Beziehung noch immer Barbaren sind, verbunden mit einer Civilisation, welche wir vollauf berechtigt sind, als eine im Verhältnis zu der unsrigen wirklich barbarische zu bezeichnen. 1)Ein treffliches Beispiel liefern die Indoarier in ihrer Urheimat, wo die Ausbildung einer » alle anderen übertreffenden, vollendet einheitlichen, wunderbar durchgebildeten Sprache «, abgesehen von anderen geistigen Thaten, eine hohe Kultur bedeutete, diese Menschen aber nichtsdestoweniger ein fast nackend ein - hergehendes Hirtenvolk waren, das weder Städte noch Metall kannte! (Siehe namentlich Jhering: Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 2.) Für eine genaue Unterscheidung zwischen Wissen, Civilisation und Kultur verweise ich auf das neunte Kapitel meines vorliegenden Werkes und auf die darin enthaltene Über - sichtstafel.Verglichen mit allen anderen Erscheinungen der Geschichte, stellt das Griechentum eine überschwänglich reiche Blüte des Menschengeistes dar, und die Ursache davon ist, dass seine gesamte Kultur auf einer künstlerischen Grundlage ruht. Das freischöpferische Werk menschlicher Phantasie war bei den Hellenen der Ausgangspunkt ihres so unendlich reichen Lebens: Sprache, Religion, Politik, Philosophie, Wissenschaft (selbst Mathematik!), Geschichtsschreibung und Erdkunde, alle Formen der Dichtung in Worten und in Tönen, das ganze öffentliche Leben und das ganze innere Leben des Einzelnen Alles strahlt von diesem Werk aus, und Alles findet sich in ihm wie in einem zugleich figürlichen und organischen Mittelpunkt wieder, einem Mittelpunkt, der das Fremdartigste an Charakteren, Interessen, Bestrebungen zu einer lebendigen, bewussten Einheit verknüpft. In diesem Mittelpunkt steht Homer.

Dass man an dem Dasein des Dichters Homer hat zweifelnHomer. können, wird späteren Geschlechtern keine sehr günstige Vorstellung von der geistigen Schärfe unserer Epoche geben. Es sind gerade64Das Erbe der alten Welt.100 Jahre her, dass F. A. Wolf seine Hypothese in die Welt setzte; seitdem haben unsere Neoalexandriner wacker weiter geschnüffelt und geschaufelt, bis sie herausbekamen, Homer sei lediglich eine pseudo - mythische Kollektivbezeichnung, und Ilias und Odyssee nichts weiter als eine geschickte Zusammenkleisterung und Neuredigierung von allerhand Liedern aus verschiedenen Zeiten und von allerhand Dichtern Von wem zusammengekleistert? und so überaus schön redigiert? Nun, natürlich von gelehrten Philologen, von den Vor - fahren der jetzigen! Man wundert sich nur, dass, da wir wieder einmal im Besitze eines so geistvollen Kritikergeschlechtes sind, diese Herren sich nicht die Mühe genommen haben, uns Armen eine neue Ilias zusammenzukleistern: an Liedern fehlt es doch wahrlich nicht, auch nicht an echten, schönen Volksliedern, sollte es vielleicht an Pappe, etwa gar an Gehirnpappe fehlen? Die kompetentesten Richter in einer derartigen Frage sind offenbar die Dichter, die grossen Dichter; der Philologe klebt an der Schale, welche der Willkür von Jahrhunderten ausgesetzt war, des Dichters kongenialer Blick dringt dagegen bis zum Kern vor und überblickt den individuellen Schaffens - prozess. Schiller nun, mit der unfehlbaren Sicherheit seines Instinkts, erklärte sofort, die Ansicht, Ilias und Odyssee seien nicht in allen Hauptzügen ihrer Gestaltung das Werk eines einzigen gottbegnadeten Mannes, für » einfach barbarisch «. Ja, in seiner Erregung schiesst er so weit über das Ziel hinaus, dass er Wolf einen » dummen Teufel « nennt! Fast noch interessanter ist das Urteil Goethe’s. Seine viel - gerühmte Objektivität äusserte sich unter anderem auch darin, dass er sich gern widerstandslos einem Eindruck hingab; Wolf’s grosse philologische Verdienste und die Menge des Richtigen, welche seine Ausführungen enthielten, bestrickten den grossen Mann; er fühlte sich überzeugt und erklärte es auch öffentlich. Später aber, als Goethe sich wieder eingehend mit den Homerischen Dichtungen zu beschäftigen die Gelegenheit hatte und diese Werke nicht mehr vom philologisch-historischen, sondern vom rein dichterischen Stand - punkt aus betrachtete da widerrief er seine voreilige Zustimmung zu dem » subjektiven Krame « (wie er es nunmehr nannte), denn jetzt wusste er genau: hinter diesen Werken steht eine » herrliche Einheit, ein einziger, höherer Dichtersinn «. 1)Siehe z. B. die kleine Schrift: Homer noch einmal, aus dem Jahre 1826.Aber auch die Philologen sind, auf ihren notwendigen Umwegen, zu derselben Einsicht gelangt, und65Hellenische Kunst und Philosophie.Homer tritt grösser als je in das 20. Jahrhundert, in das vierte Jahr - tausend seines Ruhmes ein. 1)Es muss mir daran liegen, auch den geringsten Schein einer Gelehr - samkeit, die ich nicht besitze, von mir abzuwehren; ein Mann in meiner Lage kann ja nur von den Ergebnissen gelehrter Forschungen Kenntnis nehmen; an diese Ergebnisse hat er aber das Recht und die Pflicht als freier Mann und im Besitze einer vollwertigen Urteilskraft heranzutreten, und zwar muss er vor allem, dünkt mich, seine Urteilskraft in derselben Art benützen wie ein Monarch, dessen Weisheit sich namentlich in der Wahl seiner Ratgeber zu bewähren hat; über den Wert gelehrter Argumente kann der Laie nicht zu Gericht sitzen, dagegen vermag er es sehr gut, aus Stil, Sprache und Gedankenführung sich ein Urteil über den einzelnen Gelehrten zu bilden und zwischen Maurer und Architekten zu unterscheiden. Nicht also im Sinne einer materiellen Beweisführung, sondern lediglich damit der Leser über meine Urteilsfähigkeit im angedeuteten Sinne selber frei zu urteilen vermöge, weise ich hin und wieder in diesen Anmerkungen auf meine » Autoritäten « hin. Wie im Texte ausgeführt, halte ich es zunächst in dieser Frage mit Sokrates: über Flötenspiel haben Musiker das beste Urteil, über Dichtwerke Dichter. Die Meinung Goethe’s ist mir in Bezug auf Homer mehr wert als die sämtlicher Philologen, die seit Beginn der Welt gelebt haben. Über diese letztere habe ich mich jedoch, so weit das ein Laie kann, orientiert, was namentlich bei einer so ungemein verwickelten Frage sehr von - nöten. Die zusammenfassenden Darstellungen von Niese: Die Entwickelung der Homerischen Poesie, 1882 und von Jebb: Homer, 1888, lassen Einen den Gang der Diskussion bis in die Neuzeit verfolgen; mehr aber auch nicht. Dagegen wandert man mit Bergk: Griechische Litteraturgeschichte, 1872 84, an der Hand eines sicheren Führers. Dass Bergk ein Hellenist allerersten Ranges war, geben alle Fachmänner zu, dem Nichtfachmann fällt ausserdem die umfassende und durchdringende Beschaffenheit seines Wissens auf, gepaart mit einer Mässig - keit, die an Nüchternheit grenzt; Bergk ist nicht ein Feuergeist, er bildet bei der Beurteilung dieser Frage die Ergänzung zur blitzschnellen Intuition eines Schiller. Man lese nicht allein das Kapitel: » Homer eine historische Persönlichkeit «, sondern namentlich auch in dem späteren Abschnitt » Homer bei den Neueren « die Ausführungen über die Liedertheorie, von der Bergk sagt: » Die allgemeinen

Denn neben den vielen philologisierenden Insekten hat Deutsch - land ein unverwüstliches Geschlecht wahrhaft grosser Sprach - und Litteraturforscher hervorgebracht; F. A. Wolf gehörte selber dazu; niemals hat er sich bis zu der späteren wahnwitzigen Vorstellung verstiegen, ein grosses Kunstwerk könnte aus der Zusammenwirkung vieler kleiner Männer oder unmittelbar aus dem dunklen Bewusstsein der Masse hervorgehen, und er wäre der erste, der von dem endlichen Erfolg der langwierigen wissenschaftlichen Untersuchungen mit Be - friedigung Kenntnis nehmen würde. Selbst in dem Falle, ein ebenso grosses Genie wie Homer hätte sich mit Reparatur - und Ausschmück -Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 566Das Erbe der alten Welt.ungsarbeiten an dessen Werken abgegeben was eine fast wider - sinnige Annahme wäre so lehrt uns die Geschichte aller Kunst, dass echte Persönlichkeit jeder Nachahmung trotzt; je weiter aber die kritischen Untersuchungen dieses Jahrhunderts gediehen, umsomehr musste jeder fähige Forscher einsehen, dass selbst die bedeutendsten Nachahmer, Ergänzer, Wiederhersteller der Epen des Homer sich alle von ihm dadurch unterschieden, dass kein einziger an sein überragendes Genie auch nur entfernt heranreichte. Verunstaltet durch zahllose Missverständnisse, Schreibfehler, noch mehr durch die vermeintlichen Verbesserungen des unausrottbaren Geschlechtes der Besserwisser und durch die Interpolationen gutmeinender Epigonen, zeugten diese Ge - dichte, gerade je deutlicher die Buntscheckigkeit ihrer heutigen Gestalt1)Voraussetzungen, von denen die Vertreter der Liedertheorie ausgehen, erweisen sich bei näherer Prüfung, namentlich wenn man die Homerischen Gedichte im Zusammenhange mit der gesamten Entwickelung der epischen Poesie betrachtet, als durchaus unhaltbar. Diese Theorie konnte nur von denen aufgestellt werden, welche das Homerische Epos ganz gesondert von seiner Umgebung und ohne alle Rücksicht auf die Geschichte der griechischen Litteratur ihrer zersetzenden Kritik unterwarfen « (I, 525). Man lese auch namentlich seinen Nachweis, dass der Gebrauch der Schrift zu Homer’s Zeiten üblich war, und dass sowohl innere wie äussere Gründe dafür zeugen, dass Homer seine Dichtungen auch thatsächlich schriftlich hinterlassen hat (I, 527 ff.). Dass es gerade den Kritikern häufig an Kritik fehlt und zwar bereits seit der alexandrinischen Zeit, zeigt Bergk überzeugend; ihre Thätigkeit gipfelt nach ihm in » unheilvoller Verwirrung «. Und da möchte ich noch aus einem anderen streng philologischen Werke, Flach: Geschichte der griechischen Lyrik, eine treffliche, hierher gehörige Be - merkung anführen: » Hiermit hängt wieder eine moderne Zweifelsucht zu - sammen, welche die Aufgabe der Philologie den alten Überlieferungen gegenüber in die Worte zu kleiden scheint: Ich glaube es nicht. Es versteht sich von selbst, dass bei einem Verfahren dieser Art nichts Positives gewonnen wird, sondern dass es im Gegenteil nur den Beweis einer gewissen geistigen Impotenz liefert, welche sich damit begnügt, destruktive Tendenzen zu verfolgen und der heutigen wissenschaftlichen Richtung ihren deutlichen Stempel aufgeprägt hat « (II, S. v). Um so eifriger suchen wir in der Masse der mehr oder weniger Impotenten nach den hervorragenden Geistern, gleichviel welcher Schule sie angehören. Und da möchte ich um diese all zu lange Anmerkung nicht noch länger hinauszuziehen vor allem auf Erwin Rohde verweisen, dessen Bücher Der griechische Roman (1876) und Psyche (1894), zu jener Gattung rein gelehrter, philologischer Werke gehören, welche jedem, auch dem Ungelehrten, eine reiche Ernte bieten, da sie ähnlich wie z. B. die Werke Grimm’s, Burnouf’s und Earle’s, durch ihre überall durchschimmernde, oft auch hindurchbrechende innere Bedeutung das fachliche Interesse zu einem sachlichen umwandeln; dies ist der Prüfstein wahrer Bedeutung.67Hellenische Kunst und Philosophie.durch die Polierarbeit der Forschung hervortrat, immer mehr von der unvergleichlichen, göttlichen Gestaltungskraft des ursprünglichen Bildners. Welche unerhörte Macht der Schönheit musste nicht Werken zu eigen sein, welche Jahrhunderte hindurch wildbewegten sozialen Verhältnissen, und während noch längerer Zeit dem entweihenden Ansturm von Beschränktheit, Mittelmässigkeit und Pseudogenialität so erfolgreich trotzen konnten, dass noch heute aus diesen Trümmern der ewig-jugendliche Zauber künstlerischer Vollendung als die gute Fee unserer eigenen Kultur uns entgegentritt! Zugleich führten auch andere Forschungen, die ihren eigenen, unabhängigen Weg gegangen waren die geschichtlichen und mythologischen Studien zu dem sichern Ergebnis, Homer müsse eine historische Persönlichkeit gewesen sein. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass sowohl Sage wie Mythe sehr frei und nach bestimmten Prinzipien bewusster künstlerischer Ge - staltung in diesen Dichtungen behandelt worden sind. Um das Wesent - lichste nur zu nennen: Homer war ein Vereinfacher ohne gleichen, er entwirrte den Knäuel populärer Mythen, und aus dem planlosen Durcheinander volksmässiger Sagen, die von Gau zu Gau anders lauteten, wob er einige wenige bestimmte Gestalten, in denen alle Hellenen sich und ihre Götter erkannten, obwohl gerade diese Darstellung ihnen durchaus neu war. Was wir jetzt so mühevoll entdeckt haben, wussten die Alten sehr gut; ich erinnere an die merkwürdige Stelle bei Herodot: » Von den Pelasgern haben die Hellenen die Götter angenommen. Woher aber ein jeglicher der Götter stammt, und ob sie alle immer da waren und von welcher Gestalt sie sind, das wissen wir Hellenen so zu sagen erst seit gestern. Denn Hesiod und Homer sind es zunächst, welche den Griechen ihr Göttergeschlecht geschaffen, den Göttern ihre Namen gegeben, sowie Ehren und Künste unter sie verteilt und ihre Gestalten bezeichnet haben. Die Dichter aber, welche angeblich vor diesen beiden Männern gelebt haben sollen, sind, nach meiner Meinung wenigstens, erst nach ihnen aufgetreten. « (Buch II, Abschn. 53.) Hesiod hat etwa ein Jahr - hundert nach Homer gelebt und stand unter seinem unmittelbaren Einfluss; bis auf diesen geringen Irrtum enthält der einfache naive Satz Herodot’s alles, was die kritische Riesenarbeit eines Jahrhunderts ans Licht gefördert hat. Dass die Dichter, welche nach der priester - lichen Tradition vor Homer gelebt haben sollten wie z. B. Orpheus, Musaeos, Eumolpos aus dem thrakischen, oder Olen und andere aus dem delischen Kreise in Wirklichkeit nach ihm lebten, ist er -5*68Das Erbe der alten Welt.wiesen;1)Siehe namentlich Flach: Geschichte der griechischen Lyrik nach den Quellen dargestellt, I. S. 45 ff., 90 ff. und ebenfalls erwiesen ist es, dass die religiösen Vorstellungen der Griechen aus sehr verschiedenen Quellen gespeist worden sind; den Grundstock bildet die indoeuropäische Erbschaft, dazu kommen aber allerhand bunte, orientalische Einflüsse (wie Herodot das ebenfalls in dem Abschnitt, der dem angeführten vorausgeht, schon dargelegt hatte): in dies Wirrnis greift nun der eine unvergleichliche Mann mit der souveränen Machtvollkommenheit des freischöpferischen, dichterischen Genies und gestaltet daraus auf künstlerischem Wege eine neue Welt; wie Herodot sagt: er schafft den Griechen ihr Göttergeschlecht.

Man gestatte mir, hier die Worte eines der anerkannt gelehrtesten unter den lebenden Hellenisten, Erwin Rohde’s,2)Inzwischen hat die deutsche Wissenschaft den Tod des ausserordent - lichen Mannes zu beklagen gehabt. anzuführen: » Volks - dichtung ist das Homerische Epos nur darum zu nennen, weil es so geartet ist, dass das Volk, das gesamte Volk griechischer Zunge es willig aufnahm und in sein Eigentum verwandeln konnte, nicht weil in irgend einer mystischen Weise das Volk bei seiner Hervor - bringung beteiligt gewesen wäre. Viele Hände sind an den beiden Gedichten thätig gewesen, alle aber in der Richtung und in dem Sinne, die ihnen nicht das Volk oder die Sage , wie man wohl versichern hört, sondern die Gewalt des grössten Dichtergenius der Griechen und wohl der Menschheit angab. In Homer’s Spiegel scheint Griechenland einig und einheitlich im Götter - glauben, wie im Dialekt, in Verfassungszuständen, in Sitte und Sitt - lichkeit. In Wirklichkeit kann das darf man kühn behaupten diese Einheit nicht vorhanden gewesen sein; die Grundzüge des panhellenischen Wesens waren zweifellos vorhanden, aber gesammelt und verschmolzen zu einem nur vorgestellten Ganzen hat sie einzig der Genius des Dichters. « (Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, S. 35, 36). Bergk, dessen ganzes reiches Gelehrten - leben dem Studium der griechischen Poesie gewidmet war, urteilt: » Homer schöpft wesentlich aus sich selbst, aus dem eigenen Inneren; er ist ein wahrhaft originaler Geist, nicht Nachahmer, und er übt seine Kunst mit vollem Bewusstsein « (a. a. O., S. 527). Auch Duncker, der Historiker, bemerkt, dass, was den Nachfolgern Homer’s fehlte was diesen Einzigen also auszeichnete » der zusammenschauende Blick des Genius « war (Gesch. des Altertums, V, 566). Und um69Hellenische Kunst und Philosophie.diese Citate würdig zu schliessen, berufe ich mich noch auf Aristoteles, dem man, was kritische Schärfe anbelangt, doch einige Kompetenz zuerkennen wird. Es ist auffallend und wohlthuend zu sehen, dass auch er in Homer’s Blick das unterscheidende Kennzeichen entdeckt; im 8. Kapitel seiner Poetik (er redet von den Eigenschaften einer dichterischen Handlung) meint er: » Homer aber, wie er sich auch in anderen Dingen unterscheidet, scheint auch hierin richtig gesehen zu haben, entweder durch Kunst, oder durch Natur. « Ein tiefes Wort! welches uns auf den überraschenden Begeisterungsschrei im 23. Kapitel der Poetik vorbereitet: Homer ist vor allen anderen Dichtern göttlich.

Dies musste zunächst, und selbst um den Preis einiger Aus -Künstlerische Kultur. führlichkeit, festgestellt werden; nicht etwa weil es für den Gegen - stand dieses Buches von Belang ist zu wissen, ob gerade ein Mann Namens Homer die Ilias geschrieben hat, oder inwiefern die Dichtung, welche heute unter diesem Titel bekannt ist, dem ursprünglichen Gedicht entsprechen mag; nein, der spezielle Nachweis war Neben - sache: wesentlich dagegen für mein ganzes Buch ist die Hervor - hebung der unvergleichlichen Bedeutung der Persönlichkeit überhaupt; wesentlich ebenfalls die Erkenntnis, dass jedes Werk der Kunst immer und ausnahmslos eine stark individuelle Persönlichkeit voraussetzt, ein grosses Kunstwerk eine Persönlichkeit allerersten Ranges, ein Genie; wesentlich schliesslich die Einsicht, dass das Geheimnis der hellenischen Zaubergewalt in dem Begriff » Persönlichkeit « eingeschlossen liegt. Denn in der That, will man begreifen, was hellenische Kunst und hellenisches Denken für unser Jahrhundert bedeutet haben, will man das Geheimnis einer so zähen Lebenskraft begreifen, so muss man vor allem sich klar machen, dass, was noch heute aus jener ver - schwundenen Welt mit Jugendfrische weiterwirkt, die Macht grosser Persönlichkeiten ist.

Höchstes Glück der Erdenkinder Ist nur die Persönlichkeit,

sagt Goethe; dieses höchste Glück besassen die Griechen wie nie ein Volk, und das gerade macht das Sonnige, Strahlende an ihrer Er - scheinung aus. Ihre grossen Dichtungen, ihre grossen Gedanken sind nicht das Werk anonymer Aktiengesellschaften, wie die sogenannte Kunst und die sogenannte Weisheit der Ägypter, Assyrier, Chinesen70Das Erbe der alten Welt.e tutti quanti; das Heldentum ist das Lebensprinzip dieses Volkes; der einzelne Mann tritt einzeln hervor, kühn überschreitet er den Bann - kreis des allen Gemeinsamen, der instinktiv, unbewusst, nutzlos sich accumulierenden Civilisation, furchtlos haut er sich eine Lichtung in dem immer dunkler werdenden Urwald der gehäuften Superstitionen: er wagt es, Genie zu haben! Und aus diesem Wagestück entsteht ein neuer Begriff des Menschlichen; jetzt erst ist der Mensch » in das Tageslicht des Lebens eingetreten «.

Der Vereinzelte vermöchte das jedoch nicht. Persönlichkeiten können nur in einer Umgebung von Persönlichkeiten sich als solche bemerkbar machen; Aktion gewinnt erst durch Reaktion ein bewusstes Dasein; das Genie kann einzig in einer Atmosphäre der » Genialität « atmen. Haben wir uns also unzweifelhaft eine einzige, überragend grosse, unvergleichlich schöpferische Persönlichkeit als das bestimmende und durchaus unerlässliche primum mobile der gesamten griechischen Kultur zu denken, so müssen wir als das zweite charakteristische Moment dieser Kultur die Thatsache erkennen, dass die Umgebung sich einer so ausserordentlichen Persönlichkeit würdig erwies. Das Bleibende am Hellenentum, dasjenige, was es noch heute am Leben erhält und dazu befähigte, so vielen der Besten in unserem Jahr - hundert ein leuchtendes Ideal zu sein, ein Trost und eine Hoffnung, das kann man in einem einzigen Wort zusammenfassen: es ist seine Genialität. Was hätte ein Homer in Ägypten oder in Phönizien gefrommt? Die einen hätten ihn unbeachtet gelassen, die anderen ihn gekreuzigt; ja, selbst in Rom hier haben wir übrigens den Experimentalbeweis vor Augen. Ist es denn der gesamten griechischen Dichtkunst gelungen, auch nur einen einzigen Funken aus diesen nüchternen, unkünstlerischen Herzen zu schlagen? Giebt es unter den Römern ein einziges wahres Dichtergenie? Ist es nicht ein Jammer, dass unsere Schulmeister sich verpflichtet fühlen, unsere frischen Kinderjahre durch die obligate Bewunderung dieser rhetorischen, gedrechselten, seelenlosen, erlogenen Nachahmungen echter Poesie zu vergällen? Und denn auf ein paar Dichter mehr oder weniger kommt es wahrlich nicht an merkt man nicht an diesem einen Beispiel, wie die gesamte Kultur mit der Kunst zusammenhängt? Was sagt man zu einer Geschichte, die mehr als 1200 Jahre umfasst und nicht einen einzigen Philosophen aufweist, ja, nicht einmal das kleinste Philosöphchen? zu einem Volk, das seine in dieser Beziehung wahrhaftig bescheidenen Ansprüche durch den Import der letzten71Hellenische Kunst und Philosophie.abgemarterten, blutärmsten Griechen decken muss, die aber nicht einmal Philosophen, sondern lediglich ziemlich platte Moralisten sind? Wie weit muss es mit der Ungenialität gekommen sein, wenn ein guter Kaiser, der in seinen Mussestunden Maximen aufgeschrieben hat, als » Denker « der Verehrung kommender Geschlechter anem - pfohlen wird! 1)Lucretius könnte man allenfalls nennen, sowohl als Denker wie als Dichter gewiss ein bewundernswerter Mann; die Gedanken sind aber überall eingestandenermassen griechische, und auch der ganze poetische Apparat ist ein griechischer. Und dabei liegt doch auf seiner grossen Dichtung der tötliche Schatten jenes Skepticismus, der über kurz oder lang zur Unproduktivität führt, und der sorgfältig zu unterscheiden ist von der tiefen Erkenntnis wahrhaft religiöser Gemüter, die das Bildliche an ihren Vorstellungen gewahr werden, ohne deswegen an der erhabenen Wahrheit des innerlich Geahnten, Unerforschlichen zu zweifeln; wie wenn z. B. der Vedische Weise plötzlich ausruft:» Doch wem ist auszuforschen es gelungen, Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen? Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen! Wer sagt es also, wo sie hergekommen? « (Rigveda X, 129.)oder wie Herodot in der vor wenigen Seiten angeführten Stelle, wo er meint, der Dichter habe die Götter geschaffen. Und Epikur selber, der » Gottesleugner «, der Mann, den Lucretius als den Grössten aller Sterblichen bezeichnet, der Mann, von dem er seine ganze Lehre entnimmt! erfahren wir nicht gerade über Epikur, dass bei ihm » Religiosität gleichsam ein angeborenes Gefühl gewesen sein muss « (siehe die von Goethe empfohlene Lebensskizze Epikur’s von K. L. von Knebel)? » Nie, rief Diokles aus, als er Epikur einstmals im Tempel fand, nie habe ich Zeus grösser gesehen, als da Epikur zu seinen Füssen lag! « Der Lateiner glaubte das letzte Wort der Weisheit mit seinem Primus in orbe deos fecit timor gesprochen zu haben; der Grieche dagegen kniete als aufgeklärter Mann noch inbrünstiger als ehedem vor dem herrlichen Gottesbilde nieder, welches Heldenmut sich frei erschaffen hatte, und bezeugte hiermit sein Genie.Wo ist ein grosser, schöpferischer Naturforscher unter den Römern? Doch nicht etwa der fleissige Konversationslexikons - redakteur Plinius? Wo ein Mathematiker von Bedeutung? Wo ein Meteorolog, ein Geograph, ein Astronom? Alles, was unter Roms Herrschaft in diesen und anderen Wissenschaften geleistet wurde, alles ohne Ausnahme stammt von Griechen. Der poetische Urborn war aber versiegt, und so versiegte nach und nach auch bei den Griechen des Römertums das schöpferische Denken, die schöpferische Beobachtung. Der belebende Hauch des Genies war verweht; weder in Rom noch in Alexandrien war von dieser Himmelsnahrung des menschlichen Geistes für die noch immer aufwärts strebenden Hellenen72Das Erbe der alten Welt.etwas zu finden; in der einen Stadt erstickte der Nützlichkeitsaber - glaube, in der anderen die wissenschaftliche Elephantiasis nach und nach jede Lebensregung. Zwar wurde die Gelehrsamkeit immer grösser, die Anzahl bekannter Thatsachen vermehrte sich unaufhörlich, die treibende Kraft jedoch nahm ab, anstatt zuzunehmen (welch letzteres nötig gewesen wäre), und so erlebte die europäische Welt, bei enormer Steigerung der Civilisation, einen progressiven Niedergang der Kultur bis zur nackten Bestialität. Nichts dürfte für das Menschen - geschlecht gefährlicher sein als Wissenschaft ohne Poesie, Civilisation ohne Kultur. 1)Vergl. in Kap. 9 die Ausführungen über China u. s. w.

Bei den Hellenen war der Verlauf ein ganz anderer. Solange die Kunst unter ihnen blühte, schlug die Leuchte des Geistes auf allen Gebieten hoch zum Himmel empor. Die Kraft, welche sich in Homer bis zu einer gewaltigsten Individualität durchgerungen hatte, lernte nun an ihm ihre Bestimmung erkennen, und zwar zunächst im engeren Sinne der rein künstlerischen Gestaltung einer Welt des schönen Scheines. Um den strahlenden Mittelpunkt herum entstand ein unabsehbares Heer von Dichtern und eine reiche Skala von Dicht - arten. Originalität bildete gleich von Homer an das Kenn - zeichen griechischen Schaffens. Natürlich richteten sich untergeordnete Kräfte nach den hervorragenderen; es gab aber so viele hervorragende, und diese hatten so unendlich mannigfaltige Gattungen erfunden, dass hierdurch auch die geringere Begabung in die Lage versetzt wurde, das ihr genau Angemessene zu erwählen und ihr Höchstes zu leisten. Ich rede nicht allein von der tonvermählten Wortdichtung, sondern ebenfalls von jener unerreichten Blüte der Dichtung für das Auge, welche im engsten Anschluss an jene, wie ein vielgeliebtes, jüngeres Ge - schwister aufwuchs. Architektur, Plastik, Malerei, sie alle waren, gleich - wie Epik, Lyrik, Dramatik, wie Hymnendichtung, Dithyrambik, Ode, Roman und Epigramm, Strahlen von jenem selben Licht der Kunstsonne, nur je nach dem einzelnen Auge verschieden gebrochen. Gewiss ist es lächerlich, wenn Schulmänner zwischen Bildung und Ballast nicht zu unterscheiden wissen und uns mit endlosen Aufzählungen un - bedeutender griechischer Dichter und Bildhauer belästigen; die Em - pörung hiergegen, welche am Schluss unseres Jahrhunderts sich mit wachsender Ungeduld zu rühren beginnt, soll uns willkommen sein; ehe wir aber die vielen überflüssigen Namen der verdienten Ver -73Hellenische Kunst und Philosophie.gessenheit übergeben, wollen wir doch das Phänomen in seiner Ge - samtheit bewundern; es bezeugt eine ewig begehrenswerte Herrschaft des guten Geschmacks, eine Feinheit des Urteils, wie sie bisher nicht wiederkehrte, und einen weitverbreiteten, schöpferischen Drang. Die griechische Kunst war ein wahrhaft lebendiges Wesen, darum lebt sie noch heute: was lebt, ist unsterblich. Sie besass einen festen, organischen Mittelpunkt und sie gehorchte einem unwillkürlichen und darum unfehlbaren Gestaltungstrieb, der die üppigste Mannigfaltigkeit, sogar die tollsten Auswüchse und die mindest bedeutenden Bruchteile zu einem Ganzen verknüpfte. Kurz und wenn man mir die schein - bare Tautologie verzeiht hellenische Kunst war eine künstlerische Kunst, etwas, was kein Einzelner, auch nicht ein Homer bewirken kann, sondern welches aus der Mitwirkung einer Gesamtheit entsteht. Seither hat sich derartiges nie wieder ereignet, und deswegen lebt griechische Kunst nicht allein noch jetzt bildend und ermahnend in unserer Mitte, sondern die grössten unserer Künstler (unserer Dichter in Handlungen, Tönen, Worten, Gestalten) haben, wie in den früheren Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, so auch noch in diesem Jahr - hundert sich zu Griechenland hingezogen gefühlt wie zu einer Heimat. Der Mann aus dem Volk weiss allerdings bei uns von griechischer Kunst nur indirekt; für ihn haben die Götter nicht, wie für Epikur, einen noch höheren Olymp bestiegen; von roher asiatischer Skepsis und rohem asiatischem Aberglauben wurden sie herabgestürzt und sie zerschellten; er begegnet ihnen aber auf unseren Brunnen und Theater - vorhängen, im Park, wo er Sonntags frische Luft schöpft, und in den Museen (wo die Plastik auf die Menge immer mehr Anziehung ausübt als die Malerei). Der » Gebildete « trägt Brocken von dieser Kunst als unverdauten Bildungsstoff im Kopfe: mehr Namen, als lebendige Vorstellungen; jedoch begegnet er ihr zu viel auf Schritt und Tritt, als dass er sie je ganz aus den Augen verlieren könnte; sie hat an dem Aufbaue seines Geistesgerüstes oft mehr Anteil als er selber weiss. Der Künstler aber und hiermit will ich jedes künstlerische Gemüt bezeichnen kann nicht anders als voller Sehn - sucht die Augen auf Griechenland richten, und zwar nicht allein wegen der einzelnen dort entstandenen Werke seit dem Jahre 1200 ist auch bei uns manches Herrliche geboren: Dante steht allein, Shakespeare ist grösser und reicher als Sophokles, die Kunst eines Bach hat kein Grieche auch nur ahnen können nein, was der Künstler dort findet und was ihm bei uns fehlt, das ist das künstlerische74Das Erbe der alten Welt.Element, die künstlerische Kultur. Die Grundlage des europäischen Lebens war seit den Römern eine politische; jetzt geht sie nach und nach in eine wirtschaftliche über. Bei den Griechen durfte kein freier Mann Handel treiben, bei uns ist jeder Künstler ein geborener Sklave; die Kunst ist für uns ein Luxus, ein Reich der Willkür, sie ist unserem Staat kein Bedürfnis und unserem öffentlichen Leben nicht der Gesetzgeber eines alles durchdringenden Schönheitsgefühls. Schon in Rom war es. die Laune eines einzelnen Maecenas, welche die Blüte der Dichtkunst hervorrief; seither hingen die höchsten Thaten der herrlichsten Geister zumeist von der Baulust eines Papstes, der Eitelkeit eines klassisch gebildeten Fürsten, der Prachtliebe einer prunk - süchtigen Kaufmannschaft ab, oder hin und wieder wehte ein be - lebender Hauch aus höheren Regionen, wie die von dem grossen und heiligen Franziskus versuchte religiöse Wiedergeburt, welche zu unserer neuen Kunst der Malerei den ersten Anstoss gab, oder wie das allmähliche Erwachen des deutschen Gemütes, dem wir die herr - liche neue Kunst, die deutsche Musik, verdanken. Was ist aber aus den Bildern geworden? Die Wandgemälde überkalkte man, weil man sie hässlich fand; die Tafelbilder entriss man den geheiligten Stätten der Andacht und hing sie alle nebeneinander an den Wänden der Museen auf; und dann weil man sonst die » Entwickelung « bis zu diesen gepriesensten Meisterwerken nicht wissenschaftlich hätte auseinandersetzen können kratzte man dort den Kalk ab, so gut und so schlecht es ging, warf die frommen Mönche hinaus und machte aus Klöstern und campi santi eine zweite Klasse von Museen. Mit der Musik ging es nicht viel anders; ich habe selber in einer noch dazu wegen ihres geläuterten Musiksinnes be - sonders gerühmten Hauptstadt Europas eine Konzertaufführung von J. S. Bach’s Matthäuspassion erlebt, in welcher nach jeder » Nummer « geklatscht und der Choral » O Haupt voll Blut und Wunden! « sogar da capo verlangt wurde! Wir haben vieles, was die Griechen nicht hatten, solche Beispiele lassen aber deutlich und schmerzlich empfinden, was uns abgeht und was jene besassen. Man begreift, dass Hölderlin dem heutigen Künstler zurufen konnte:

Stirb! du suchst auf diesem Erdenrunde, Edler Geist, umsonst dein Element!

Es ist nicht Mangel an innerer Kraft, an Originalität, was des heutigen Künstlers Herz nach Griechenland zieht, wohl aber das Bewusstsein75Hellenische Kunst und Philosophie.und die Erfahrung, dass der Einzelne, Vereinzelte gar nicht wirklich original sein kann. Originalität ist nämlich etwas ganz anderes als Willkür; Originalität ist im Gegenteil die freie Befolgung des von der besonderen Natur der betreffenden Persönlichkeit unwillkürlich ihr vorgezeichneten Weges; gerade die Freiheit hierzu besteht aber für den Künstler nur in dem Element einer durch und durch künst - lerischen Kultur; eine solche findet er heute nicht. Zwar wäre es durchaus ungerecht, unserer heutigen europäischen Welt künstlerische Regungen abzusprechen: in dem Interesse für Musik macht sich eine ganz gewaltige Gährung der Geister bemerkbar, und das für moderne Malerei greift zwar nur in bestimmte, aber doch in weite Kreise, und erregt eine fast unheimliche Leidenschaftlichkeit; das alles bleibt jedoch ausserhalb des Lebens der Völker, es bildet eine Zugabe, eine Zugabe für Mussestunden und müssige Menschen; daher herrschen Mode und Laune und mannigfaltige Lüge, und die Atmosphäre, die den echten Künstler umgiebt, entbehrt jeglicher Elastizität. Selbst das kräftigste Genie ist bei uns gebunden, gehemmt, von vielen Seiten zurück - gestossen. Und so lebt denn hellenische Kunst als ein verlorenes, wieder zu erstrebendes Ideal in unserer Mitte fort.

Unter einem fröhlicheren Sterne geniessen hellenische Philo -Das Gestalten. sophie und hellenische Naturforschung bei uns Kindern des 19. Jahr - hunderts ein gern und dankbar gewährtes Gastrecht. Auch hier handelt es sich nicht um blosse lares und feiern wir nicht lediglich einen Ahnenkultus; hellenische Philosophie ist im Gegenteil äusserst lebendig unter uns und hellenische Wissenschaft, so unbeholfen auf der einen Seite und so unbegreiflich intuitionskräftig auf der anderen, nötigt uns nicht allein ein historisches, sondern auch ein gegenwärtiges Interesse ab. Die reine Freude, die wir bei der Betrachtung helleni - schen Denkens empfinden, dürfte zum Teil von dem Bewusstsein herkommen, dass wir hier über unsere grossen Vorfahren weiter hinausgeschritten sind. Unsere Philosophie ist philosophischer, unsere Wissenschaft wissenschaftlicher geworden: eine Progression, wie sie auf dem Gebiete der Kunst leider nicht stattgefunden hat. In Bezug auf Philosophie und Wissenschaft hat sich unsere neue Kultur ihres hellenischen Ursprunges würdig erwiesen; wir haben ein gutes Gewissen.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier Beziehungen nachzu - weisen, die jedem Gebildeten bekannt sein müssen: streng genetische was die Philosophie anbelangt, da unser Denken erst bei der Be -76Das Erbe der alten Welt.rührung mit dem Griechischen erwachte und es selbst die zuletzt gereifte Kraft des Widerspruches und der Selbständigkeit aus ihm sog, streng genetische ebenfalls, insoferne die Grundlage aller exakten Wissenschaft in Betracht gezogen wird, die Mathematik, minder genetische und in früheren Jahren eher hemmend als fördernd, was die beobachtenden Wissenschaften betrifft. 1)Zu diesem letzten Punkt muss jedoch bemerkt werden, dass manche glänzendste Leistung des hellenischen Geistes auf diesem Gebiete uns bis vor kurzem unbekannt war.Mir liegt nur das eine ob, in wenigen Worten zu sagen, welche heimliche Kraft diesen alten Gedanken so zähen Lebensgeist schenkte.

Wie vieles Seitherige ist inzwischen zu ewiger Vergessenheit untergegangen, während Plato und Aristoteles, Demokrit, Euklid und Archimedes in unserer Mitte anregend und belehrend weiterleben, und die halbfabelhafte Gestalt des Pythagoras mit jedem Jahrhundert grösser wird! 2)Was die Rückkehr zu einer früheren Einsicht bedeutet. Als ein Orakel den Römern befohlen hatte, dem weisesten der Hellenen ein Standbild zu errichten, stellten sie die Statue des Pythagoras auf. (Plutarch: Numa, Kap. XI.)Bei Dichtungen und sonstigen Kunstwerken sagen Manche: die Erzeugnisse der Phantasie sind nicht an Ort und Zeit gebunden, in ihnen kommt ein Absolutes zum Ausdruck, sie gehören allen Jahrhunderten an. In dieser Fassung ist der Gedanke durchaus falsch: nichts altert im Allgemeinen schneller als Kunst; einzig die unbedingteste Genialität, oder aber zufällige historische Bedeutung (wie bei Juvenal u. a.) verbürgen hier Fortdauer; nur wenige Romane, nur sehr vereinzelte Gedichte können nach 100 Jahren zu wirklichem vollen Genusse gelesen werden, Bühnendichtungen, Malerei, Musik das alles wird in unglaublich kurzer Zeit altbacken; vor Canova’s und Thorwaldsen’s Werken vermögen schon vor Schluss des Jahr - hunderts keine Selbstgalvanisierungsversuche Begeisterung zu erwecken. Ausserdem lehrt auch die Erfahrung, dass hellenisches Denken mindestens eben so lebenskräftig ist wie hellenisches Dichten. Und ich meine: was dem Denken eines Demokrit, eines Plato, eines Euklid, eines Aristarch3)Aristarch von Samos, der Entdecker des sogenannten Kopernikanischen Weltsystems. ewige Jugend verleiht, das ist genau der selbe Geist, die selbe Geisteskraft, welche Homer und Phidias unsterblich jung macht: es ist das Schöpferische und in einem weitesten Sinn des Wortes recht eigentlich Künstlerische. Es kommt77Hellenische Kunst und Philosophie.nämlich darauf an, dass die Vorstellung, durch welche der Mensch die innere Welt seines Ich’s oder die äussere Welt zu bewältigen, sie seinem Wesen zu assimilieren sucht, fest gezeichnet und durch und durch klar gestaltet werde. Blicken wir auf eine etwa dreitausend - jährige Geschichte zurück, so sehen wir, dass der menschliche Geist sich durch die Kenntnis neuer Thatsachen allerdings erweitert hat, bereichert dagegen einzig durch neue Ideen, d. h. durch neue Vor - stellungen. Dies ist jene » schöpferische Kraft «, von der Goethe in den Wanderjahren redet, welche » die Natur verherrlicht « und ohne welche, wie er meint, » das Äussere kalt und leblos bliebe «. 1)Man sieht, nach Goethe bedarf es eines schöpferischen Aktes des Menschengeistes, damit das Leben selber » belebt « werde!Dauer - haftes aber schafft sie nur, wenn ihre Gebilde schön und durchsichtig sind, also künstlerisch.

As imagination bodies forth The forms of things unknown, the poet’s pen Turns them to shapes. (Shakespeare.)

Auf deutsch: während die Phantasie die Vorstellung unerforsch - licher Dinge hinausprojiziert, bildet sie des Dichters Griffel zu Gestalten um. Jene Vorstellungen allein, welche zu Gestalten umgebildet werden, machen einen dauernden Besitz des menschlichen Bewusst - seins aus. Der Vorrat an Thatsachen ist ein sehr wechselnder, wo - durch auch der Schwerpunkt des Thatsächlichen (wenn ich mich so ausdrücken darf) einer beständigen Verschiebung unterliegt; ausserdem ist etwa die Hälfte unseres Wissens, oder noch mehr, ein Provisorium: was gestern als wahr galt, ist heute falsch, und an diesem Ver - hältnis wird auch die Zukunft schwerlich etwas ändern, da die Er - weiterung des Wissensmaterials mit der Erweiterung des Wissens Schritt hält. 2)Ein allgemeines Lehrbuch der Botanik oder der Zoologie aus dem Jahre 1875 ist z. B. am Schlusse unseres Jahrhunderts nicht mehr zu gebrauchen und zwar nicht allein und nicht hauptsächlich wegen des neu hinzugekommenen Materials, sondern weil thatsächliche Verhältnisse anders aufgefasst und exakte Beobachtungen durch noch exaktere umgestossen werden. Man verfolge als Beispiel das Imbibitionsdogma mit seinen endlosen Beobachtungsreihen, von seinem ersten Auftreten im Jahre 1838, bis zu seiner höchsten Blüte, etwa 1868; dann beginnt bald die Contremine, und im Jahre 1898 erfährt der wissbegierige Schüler gar nichts mehr davon.Was dagegen der Mensch als Künstler geformt, die Gestalt, der er Lebensatem eingehaucht hat, geht nicht unter. Ich78Das Erbe der alten Welt.muss wiederholen, was ich oben schon sagte: was lebt, stirbt nicht. Man weiss, dass heute die meisten Zoologen die Unsterblichkeit die physische Unsterblichkeit des Keimplasmas lehren; die Kluft zwischen organischer und unorganischer, das heisst zwischen belebter und unbelebter Natur, die man am Anfang unseres Jahrhunderts über - brückt zu haben wähnte, wird täglich tiefer;1)Siehe z. B. das massgebende Werk des amerikanischen Zoologen E. B. Wilson (Professor in Columbia): The cell in Development and Inheritance, 1896, wo wir lesen: » Die Erforschung der Zellenthätigkeit hat im ganzen die gewaltige Kluft, welche selbst die allerniedrigsten Formen des Lebens von den Erscheinungen der unorganischen Welt trennt, eher weiter aufgerissen als verengert. « Die unbe - dingte Richtigkeit dieser Aussage vom rein naturwissenschaftlichen Standpunkt aus bezeugte mir vor kurzem Herr Hofrat Wiesner. hier ist zu einer Dis - kussion darüber nicht der Platz; ich führe diese Thatsache nur analogisch an, um mich zu rechtfertigen, wenn ich auch auf geistigem Gebiete zwischen organisierten und unorganisierten Vorstellungen streng unterscheide und wenn ich meine Überzeugung ausspreche, dass etwas, was des Dichters Griffel zu einer lebendigen Gestalt geformt hat, noch niemals gestorben ist. Kataklysmen können derartige Gebilde verschütten, sie entsteigen aber nach Jahrhunderten ewig jung dem vermeintlichen Grabe; gar häufig kommt es auch vor, dass die Kinder des Gedankens, wie ihre Geschwister, die marmornen Standbilder, verstümmelt, zerstückelt oder ganz und gar zertrümmert werden; das ist aber eine mechanische Vernichtung, nicht Tod. Und so war denn die mehr als tausend Jahre alte Ideenlehre Plato’s ein lebendiger Bestandteil des Geisteslebens unseres Jahrhunderts, ein » Ursprung « gar vieler Gedanken; fast jede philosophische Spekulation von Be - deutung hat wohl an einer oder der andern Seite bei ihr angeknüpft! Inzwischen beherrschte Demokrit’s Geist die Naturwissenschaft: mag seine geniale Erdichtung der Atome, um dem heutigen Wissens - material angepasst zu werden, noch so tiefe Umgestaltungen haben erfahren müssen, er bleibt doch der Erfinder, der Künstler, er ist es, der (um mit Shakespeare zu reden) das Unerforschliche durch die Kraft seiner Phantasie hinausprojiziert und diese Vorstellung dann gestaltet hat.

Plato.
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Beispiele der Weise, in welcher hellenische Gestaltungskraft den Gedanken Leben und Wirksamkeit verliehen, sind leicht zu nennen. Man nehme Plato’s Philosophie. Sein Material ist kein neues; er setzt sich nicht hin, wie etwa Spinoza, um aus den Tiefen des eigenen79Hellenische Kunst und Philosophie.Bewusstseins ein logisches Weltsystem herauszukalkulieren; ebenso - wenig greift er mit der grossartigen Unbefangenheit (ingenuitas) des Descartes der Natur in die Eingeweide, in dem Wahn, dort als Welt - erklärung ein Räderwerk zu entdecken; vielmehr nimmt er hier und dort, was ihm das beste dünkt bei den Eleaten, bei Heraklit, bei den Pythagoräern, bei Sokrates und gestaltet daraus kein eigentlich logisches, wohl aber ein künstlerisches Ganzes. Die Stellung Plato’s zu den früheren Philosophen Griechenlands ist derjenigen Homer’s zu den vorangegangenen und zeitgenössischen Sängern durchaus nicht unähnlich. Auch Homer » erfand « wahrscheinlich nichts (ebensowenig wie später Shakespeare); er griff aber aus verschiedenen Quellen das - jenige heraus, was zu seinem Zwecke passte, und fügte es zu einem neuen Ganzen zusammen, zu etwas durchaus Individuellem, begabt mit den unvergleichlichen Eigenschaften des lebendigen Individuums, behaftet mit den von dem Wesen des Individuums nicht zu trennenden engen Grenzen, Lücken, Eigenheiten, denn jegliches Individuum spricht mit dem Gott der ägyptischen Mysterien: » Ich bin, der ich bin, « und steht als ein neues Unerforschliches, nicht zu Ergründendes da. 1)» Ein echtes Kunstwerk bleibt wie ein Naturwerk für unsern Verstand immer unendlich: es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden. « (Goethe.)Ähnlich Plato’s Weltanschauung. Professor Zeller, der berühmte Geschichtsschreiber der griechischen Philosophie, meint: » Plato ist zu sehr Dichter, um ganz Philosoph zu sein. « Es dürfte schwer fallen, dieser Kritik irgend einen bestimmten Sinn abzugewinnen. Gott weiss, was ein » Philosoph « in abstracto sein mag; Plato war er selber, kein andrer; und an ihm erkennen wir, wie ein Geist gestaltet sein musste, um griechisches Denken zu seiner höchsten Blüte zu führen. Er ist der Homer dieses Denkens. Wenn ein Mann, der die nötige Kompetenz besässe, die Lehre Plato’s derartig zergliederte, dass man deutlich gewahr würde, welche Bestandteile nicht durch den Vorgang des genialen Wiedergebärens allein, sondern als ganz neue Erfindungen ureigenes Eigentum des grossen Denkers sind, so würde das Dichterische seines Verfahrens gewiss besonders klar werden. Montesquieu nennt Plato denn auch (in seinen Pensées) einen der vier grossen Dichter der Menschheit! Namentlich würde dasjenige, was man als widerspruchsvoll, als nicht Zusammenzureimendes tadelt, sich als künstlerische Notwendigkeit erweisen. Das80Das Erbe der alten Welt.Leben ist an und für sich ein Widerspruch; la vie est l’ensemble des fonctions qui résistent à la mort sagte der grosse Bichat; jedes Lebendige hat darum zugleich etwas Fragmentarisches und etwas gewissermassen Willkürliches an sich; einzig durch die freie, poetische doch nur bedingt gültige Zuthat des Menschen gelingt es, die beiden Enden des magischen Gürtels an einander zu knüpfen; Kunst - werke bilden keine Ausnahme; Homer’s Ilias ist ein grossartiges Bei - spiel hiervon, Plato’s Weltanschauung ein zweites, Demokrit’s Welt - theorie ein ebenso bedeutendes. Und während die prächtig » logisch « ausgemeisselten Philosophien und Theorien eine nach der anderen in dem Abgrund der Zeit verschwinden, reihen sich jene alten Ideen noch jugendfrisch an unsere neuesten an. Man sieht: nicht die » objektive Wahrheit « ist das Ausschlaggebende, sondern die Art der Gestaltung, l’ensemble des fonctions würde Bichat sagen.

Noch eine Bemerkung in Bezug auf Plato; wiederum nur eine Andeutung denn zu jeder Ausführung fehlt mir der Raum genug aber, hoffe ich, damit nichts unklar bleibt. Dass indisches Denken einen geradezu bestimmenden Einfluss auf die griechische Philosophie ausgeübt hat, steht nunmehr fest; unsere Hellenisten und Philosophen haben sich zwar lange mit dem wütenden Eigensinn vorurteilsvoller Gelehrten dagegen gesträubt: alles sollte in Hellas autochthon entstanden sein, höchstens die Ägypter und die Semiten hätten bildend gewirkt wobei allerdings für die Philosophie wenig zu profitieren gewesen wäre; die neueren Indologen haben jedoch das bestätigt gefunden, was die ältesten (namentlich der geniale Sir William Jones) sofort vermutet hatten. Insbesondere ist für Pytha - goras der Nachweis einer eingehenden Bekanntschaft mit indischen Lehren ausführlich dargebracht worden,1)Vergl. hierüber namentlich Schroeder: Pythagoras und die Inder (1884). und da Pythagoras immer deutlicher als der Stammvater des griechischen Denkens hervortritt, ist das schon viel. Ausserdem ist eine unmittelbare Beeinflussung der Eleaten, des Heraklit, des Anaxagoras, des Demokrit u. s. w., höchst wahrscheinlich gemacht worden. 2)Die beste mir bekannte Zusammenstellung aus letzterer Zeit ist die von Garbe in seiner Sâmkhya-Philosophie (1894), S. 85 fg. ; dort findet man auch die wichtigste Litteratur erwähnt.Unter diesen Bedingungen kann es nicht wunder nehmen, wenn ein so hoher Geist wie Plato durch manche unverständige Zugabe hindurchdrang und namentlich betreffs etlicher Kernpunkte aller echten Methaphysik mit den81Hellenische Kunst und Philosophie.erhabensten Anschauungen der indischen Denker genau übereinstimmt. 1)Für den Vergleich zwischen Plato und den Indern in Bezug auf die Erkenntnis der empirischen Realität und transcendentalen Idealität der Erfahrung siehe namentlich Max Müller: Three lectures on the Vedânta Philosophy (1894), S. 128 fg. Plato’s Stellung den Eleaten gegenüber wird hierdurch eigentlich erst ganz klar. Umfassenderes in Deussen’s Werken, namentlich in seinem Vortrag: » Über die Philosophie des Vedânta in ihrem Verhältnis zu den methaphysischen Lehren des Westens « in englischer Sprache gehalten und in Bombay (1893) er - schienen. (Eine deutsche Übersetzung aus meiner Feder brachten die Bayreuther Blätter, Jahrgang 1895, S. 125 fg.)Man vergleiche aber Plato und die Inder, seine Werke und ihre Werke! Da wird man nicht länger im Zweifel sein, warum Plato lebt und wirkt, die indischen Weisen dagegen zwar auch noch leben, ohne aber auf die weite Welt, auf die werdende Menschheit unmittelbar zu wirken. Das indische Denken ist, was Tiefe und umfassende Viel - seitigkeit anbelangt, unerreicht; meinte aber Herr Zeller, Plato sei » zu sehr Dichter, um ganz Philosoph zu sein «, so ersehen wir aus dem Beispiel der Inder, was aus einer Weltanschauung wird, wenn ein Denker zu ganz Philosoph ist, um noch zugleich ein bisschen Dichter zu sein! Dieses reine Denken der Inder entbehrt aller Mit - teilbarkeit, was einen zugleich naiven und tiefen Ausdruck darin findet, dass nach den indischen Büchern, die höchste, letzte Weisheit einzig durch Schweigen gelehrt werden kann. 2)» Als Bâhva von dem Vâshkali befragt wurde, da erklärte ihm dieser das Brahman dadurch, dass er schwieg. Und Vâshkali sprach: lehre mir, o Ehr - würdiger, das Brahman! Jener aber schwieg stille. Als nun der andere zum zweitenmale oder drittenmale fragte, da sprach er: ich lehre dich es ja, du aber verstehst es nicht; dieses Brahman ist Schweigen. « (Çankara in den Sûtra’s des Vedânta, III, 2, 17). Und in der Taittirîya-Upanishad lesen wir (II, 4): » Vor der Wonne der Erkenntnis kehrt alle Sprache um, auch die Gedanken, unfähig sie zu erreichen. «Ganz anders der Grieche! Koste, was es wolle, er muss » die Vorstellung unerforsch - licher Dinge hinausprojizieren und gestalten «. Man lese in diesem Zusammenhang die mühsame Auseinandersetzung in Plato’s Theaitetos, wo Sokrates zuletzt zugiebt, es könne einer im Besitz der Wahrheit sein, ohne dass er sie zu erklären vermöge, das sei aber noch keine Erkenntnis; was Erkenntnis sei, bleibt allerdings zum Schluss (ein Beweis von Plato’s Tiefsinnigkeit) unentschieden; im kulminierenden Punkte des Dialogs jedoch wird sie als » richtige Vorstellung « be - zeichnet, und gesagt, über richtige Vorstellung müsse man » Rede stehen und Erklärung geben können «; ebenfalls hierher gehörtChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 682Das Erbe der alten Welt.die berühmte Stelle im Timäos, wo der Kosmos mit einem » leben - digen Tiere « verglichen wird. Es muss vorgestellt und gestaltet werden: das ist das Geheimnis des Griechen von Homer bis Archi - medes. Plato’s Ideenlehre verhält sich zur Metaphysik genau ebenso wie Demokrit’s Atomenlehre zur physischen Welt: es sind Werke einer freischöpferischen, gestaltenden Kraft und in ihnen quillt, wie in allen echten Kunstwerken, ein unerschöpflicher Born symbolischer Wahrheit. Derartige Schöpfungen verhalten sich zu materiellen Thatsachen wie die Sonne zu den Blumen. Nicht Segen allein empfingen wir von den Hellenen; im Gegenteil, einiges, was von ihnen sich herleitet, bedrückt noch wie ein banger Alp unsere aufstrebende Kultur; was wir aber Gutes von ihnen erbten, war vor allem solcher Blüten treibender Sonnenschein.

Aristoteles.
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Unter dem unmittelbaren Einfluss Plato’s schiesst einer der kräftigsten Stämme in die Höhe, welche die Welt jemals erblickte: Aristoteles. Dass Aristoteles sich in gewissen Beziehungen als Gegensatz zu Plato entwickelte, ist in der Natur seines Intellektes begründet; ohne Plato wäre er überhaupt kein Philosoph, wenigstens kein Metaphysiker geworden. Eine kritische Würdigung dieses grossen Mannes, wenn auch nur in Bezug auf den bestimmten Gegenstand dieses Kapitels, ist mir unmöglich; sie würde zu weit führen. Ich konnte ihn aber nicht ungenannt lassen, und ich darf wohl voraus - setzen, dass die Gestaltungskraft, welche in seinem logischen » Organon «, in seiner » Tiergeschichte «, in seiner » Poetik «, u. s. w., sich verkündet und durch alle seitherigen Jahrhunderte sich bewährt hat, Keinem entgehen kann. Um mir ein Wort des Scotus Erigena anzueignen: die naturalium rerum discretionis war das Gebiet auf dem er Uner - reichtes schuf, die fernsten Geschlechter zu Dank verpflichtend. Nicht dass er Recht hatte, war Aristoteles Grösse kein Mann ersten Ranges hat sich öfter und flagranter geirrt als er , sondern dass er keine Ruhe kannte, bis er auf allen Gebieten des menschlichen Lebens » gestaltet « und Ordnung im Chaos geschaffen hatte. Insofern ist er ein echter Hellene. Freilich haben wir diese » Ordnung « teuer bezahlt. Aristoteles war weniger Dichter als vielleicht irgend ein anderer unter den bedeutenden Philosophen Griechenlands; Herder sagt von ihm, er sei » vielleicht der trockenste Geist, der je den Griffel geführt «1)Ideen zur Geschichte der Menschheit, Buch XIII, Kap. 5.; er muss, glaube ich, selbst Herrn Professor Zeller83Hellenische Kunst und Philosophie.genug » ganz Philosoph « sein; jedenfalls war er es genug, um dank seiner hellenischen Gestaltungskraft mehr hartnäckigen Irrtum in die Welt zu säen, als jemals ein Mann vor ihm oder nach ihm. Die Naturwissenschaften waren bis vor kurzem an allen Ecken und Enden durch ihn gehemmt; die Philosophie, und namentlich die Metaphysik, hat ihn noch nicht abgeschüttelt; unsere Theologie ist ja, wie soll ich sagen? sie ist sein uneheliches Kind: wahrlich dieses grosse und bedeutende Erbe der alten Welt war ein zwei - schneidiges Schwert. Ich komme gleich in einem anderen Zusammen - hang auf Aristoteles und die griechische Philosophie zurück; hier will ich nur noch hinzufügen, dass die Griechen allerdings eines Aristoteles sehr bedurften, der auf empirische Methoden den Nach - druck legte und in allen Dingen den goldenen Mittelweg empfahl; in ihrem genialen Übermute und Schaffensdrange waren sie geneigt, hinaus und hinauf zu stürmen mit einer leichtfertigen Missachtung des ernsten Bodens der Realität, die mit der Zeit Unheil schaffen musste; charakteristisch ist jedoch, dass Aristoteles, so ganz Hellene er auch war, auf die Entwickelung des griechischen Geisteslebens zunächst von verhältnismässig geringem Einfluss blieb; der gesunde Instinkt des schaffensfreudigen Volkes empörte sich gegen eine so tötlich heftige Reaktion und empfand vielleicht dunkel, dass dieser angebliche Empiriker als Heilmittel das Gift des Dogmas mit sich führte. Aristoteles war nämlich von Beruf Arzt, er gab das grosse Beispiel des Arztes, der seinen Patienten umbringt, um ihn zu heilen. Doch jener erste Patient war widerspenstig; er rettete sich lieber in die Arme des neoplatonischen Quacksalbers. Wir armen Spätgeborenen erbten nun Arzt und Quacksalber zugleich, die beide unseren gesunden Körper mit ihren Droguen tränkten. Gott stehe uns bei!

Ein Wort noch über hellenische Wissenschaft. Es ist nur natür -Natur - wissenschaft. lich, dass die wissenschaftlichen Errungenschaften der Griechen für uns kaum mehr als ein historisches Interesse besitzen; sie sind längst überholt. Was uns jedoch nicht gleichgültig lassen kann, ist die Wahrnehmung des unglaublichen Aufschwunges, den die richtige Deutung der Natur unter dem Einflusse der Entfaltung neuentdeckter künstlerischer Fähigkeiten nahm. Unwillkürlich wird man an Schiller’s Behauptung erinnert: man könne den Schein von der Wirklichkeit nicht sondern, ohne zugleich die Wirklichkeit von dem Scheine zu reinigen.

Wenn es ein Gebiet giebt, auf welchem man weniger als nichts von den Hellenen erwarten würde, so ist es das der Erdkunde. 6*84Das Erbe der alten Welt.Was wir in ihren Dichtungen gelesen zu haben uns erinnern die Irrfahrten des Odysseus und der Io u. s. w. schien gar verwirrt und wurde durch die sich widersprechenden Kommentare nur noch verwirrter. Bis zu Alexander’s Zeiten sind die Griechen ausserdem nicht weit in der Welt herumgekommen. Man nehme aber Dr. Hugo Berger’s: Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen zur Hand, ein streng wissenschaftliches Werk, und man wird aus dem Staunen nicht herauskommen. Auf der Schule erfahren wir zumeist nur von Ptolemäus etwas, und seine geographische Karte mutet uns fast ebenso sonderbar an, wie seine ineinander geschachtelten Himmels - sphären; das ist jedoch alles das Ergebnis einer Zeit des Verfalles, einer zwar unendlich vervollkommneten, dabei aber intuitionsschwach gewordenen Wissenschaft, der Wissenschaft eines rassenlosen Völker - chaos; dagegen lasse man sich über die geographischen Vorstellungen der echten Griechen unterrichten, von Anaximander an bis zu Eratho - stenes, und dann wird man Berger’s Behauptung verstehen: » Die Leistungen des wunderbar begabten Griechenvolkes auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Erdkunde sind der Arbeit wahrlich wert. Noch heute begegnen wir ihren Spuren auf Schritt und Tritt und können die von ihnen geschaffenen Grundlagen nicht entbehren « (I, S. VI). Besonders auffallend sind die verhältnismässig ausgebreiteten Kenntnisse und gesunde Vorstellungskraft der alten Ionier. Später erfolgten be - denkliche Rückschritte und zwar vornehmlich durch den Einfluss » der Verächter der Physik, Meteorologie und Mathematik, durch die vor - sichtigen Leute, die nur dem eigenen Auge, oder der von Augen - zeugen eigens erworbenen, glaubhaften Kunde trauen wollten « (I, 139). Noch später gesellten sich dann so kräftige wissenschaftliche Vorurteile dazu, dass die Reisen des » ersten Nordpolfahrers «, Pytheas (ein Zeit - genosse des Aristoteles) mit ihren genauen Beschreibungen der Küsten Galliens und Britanniens, ihren Erzählungen vom Eismeer, ihren so entscheidenden Beobachtungen über die Tag - und Nachtlänge in nördlichen Breiten, von allen Gelehrten des Altertums für Lügen erklärt wurden (III, 7, dazu das heutige Urteil III, 36). Philipp Paulitschke macht ebenfalls in seinem Werke: Die geographische Erforschung des afrikanischen Kontinents (zweite Ausgabe, S. 9) darauf aufmerksam, dass Herodot eine weit richtigere Vorstellung der Umrisse von Afrika besessen habe als Ptolemäus. Dieser galt aber als » Autorität «. Es hat ein eigenes Bewenden mit diesen allverehrten » Autoritäten «; und mit aufrichtigem Bedauern konstatiere ich, dass wir von den85Hellenische Kunst und Philosophie.Hellenen nicht allein die Ergebnisse ihrer nach Berger » wunder - baren Begabung «, sondern auch ihre Autoritätenzüchtung und ihren Autoritätenglauben geerbt haben. Eigentümlich lehrreich ist in dieser Beziehung die Geschichte der Petrefaktenkunde. Mit der vollen Naivetät der unverdorbenen Anschauungskraft hatten die alten Griechen, lange vor Plato und Aristoteles, die Muscheln auf den Bergesspitzen und sogar die Abdrücke von Fischen für das erkannt, was sie sind; Männer wie Xenophanes und Empedokles hatten darauf geocyklische und entwickelungsgeschichtliche Lehren gegründet. Die Autoritäten erklärten jedoch diese Annahme für unsinnig; als die Thatsachen sich häuften, wurden sie durch die herrliche Theorie der vis plastica aus der Welt geschafft1)Nach Quenstedt stammt diese Hypothese von Avicenna; sie ist aber auf Aristoteles zurückzuführen und wurde von Theophrast ausdrücklich gelehrt (siehe Lyell: Principles of Geology, 12. Ausg., I, 20)., und erst im Jahre 1517 wagte es ein Mann, die alte Meinung wieder auszusprechen, die Bergesspitzen hätten einst auf dem Meeresboden gelegen: » Im Jahre der Reformation war man also, nach anderthalb Jahrtausenden, wieder auf dem Punkte des klassischen Altertums angekommen «. 2)Quenstedt: Handbuch der Petrefaktenkunde, 2. Aufl., S. 2.Fracastorius blieb aber mit seiner Anschauung ziemlich vereinzelt, und, will man ermessen was heute nach den Fortschritten der Wissenschaften wirklich sehr schwer fällt eine wie grosse, verehrungswürdige Kraft der Wahrheit in dem Auge dieser alten Poeten lag (Xenophanes und Empedokles waren beide in erster Reihe Dichter und Sänger), so empfehle ich, in den Schriften des Freigeistes Voltaire nachzulesen und zu sehen, mit welchem Spott die Paläontologen noch im Jahre 1768 von ihm überhäuft werden. 3)Siehe namentlich: Des singularités de la Nature, Kap. XII bis XVIII, und L’homme aux quarante écus, Kap. VI, beide Schriften aus dem Jahre 1768. Ähnliches in seinen Briefen.Ebenso belustigend sind die krampfhaften Ver - suche seines Skepticismus, sich gegen die Evidenz zu wehren. Man hatte Austern auf dem Mont Cenis gefunden: Voltaire meint, sie seien von den Hüten der Rompilger abgefallen! Hippopotamus - knochen waren unweit Paris aufgegraben worden: Voltaire meint: un curieux a eu autrefois dans son cabinet le squelette d’un hippopotame! Man sieht, die Skepsis genügt nicht, um scharf - sichtig zu machen. 4)Dieser selbe Voltaire scheute sich nicht, die grossartigen astronomischen Spekulationen der Pythagoreer als » galimatias « zu bezeichnen, wozu der berühmteDagegen liefern uns die ältesten Dichtungen86Das Erbe der alten Welt.Beispiele eines eigentümlichen Scharfblickes. Schon in der Ilias z. B. heisst Poseidon der » Erderschütterer «; dieser Gott, d. h. also das Wasser und namentlich das Meer, wird immer als Ursache der Erd - beben genannt: das stimmt mit den Ergebnissen der modernsten Wissenschaft genau überein! Jedoch will ich auf solche Züge nur als Kontrast zu der Beschränktheit jener Helden einer angeblichen » Aufklärung « hingewiesen haben. Weit auffallenderen Beispielen der Reinigung der Wirklichkeit von dem Scheine begegnen wir auf dem Gebiete der Astrophysik, namentlich in der Schule des Pytha - goras. Die Lehre von der Kugelgestalt der Erde findet sich schon bei den frühesten Adepten, und selbst das viele Phantastische, was den Vorstellungen dieser Ältesten noch anhaftete, ist äusserst lehrreich, weil es das zukünftige Richtige gewissermassen in nuce enthält. 1)Zeller: Die Philosophie der Griechen, 3. Aufl., S. 369. Mehr technisch aber ungemein lichtvoll auseinandergesetzt in der Schrift von Schiaparelli: Die Vorläufer des Kopernikus im Altertum (nach dem italienischen Original ins Deutsche übertragen vom Verfasser und M. Curtze, erschienen in der Altpreussischen Monats - schrift, Jahrgang 1876). » Wir sind in der Lage, konstatieren zu können, dass die Entwickelung der physischen Prinzipien dieser Schule durch logische Ver - kettung der Ideen zur Theorie der Bewegung der Erde führen musste «. (S. 5 fg.) Viel Ausführlicheres über » die geradezu revolutionäre Anschauung, dass nicht die Erde den Mittelpunkt des Universums einnehme « in dem vor kurzem erschienenen Buch von Wilhelm Bauer: Der ältere Pythagoreismus (1897), S. 54 fg., 64 fg. u. s. w.Und so gesellte sich denn bei den Pythagoreern mit der Zeit zu der Lehre von der Kugelgestalt der Erde und von der Neigung der Erdbahn auch die der Achsendrehung sowie der Bewegung um einen Mittelpunkt im Raume, verbürgt von Philolaus an, einem Zeitgenossen des Demokrit; eine Generation nachher war auch das hypothetische » Centralfeuer « durch die Sonne ersetzt. Nicht als Philosoph freilich, sondern als Astronom hat dann später (etwa 250 v. Chr.) Aristarchos das heliozentrische System klar begründet, die Entfernung von Sonne und Mond zu berechnen unternommen und in der Sonne (1900 Jahre vor Giordano Bruno) einen der zahllosen Fixsterne erkannt.2)» Aristarchos stellt die Sonne unter die Zahl der Fixsterne und lässt die Erde sich durch den Sonnenkreis (d. h. die Ekliptik) bewegen und sagt, sie werde je nach ihrer Neigung beschattet «, berichtet Plutarch. Für dieses und die anderen Welche4)Astronom Schiaparelli mit Recht bemerkt: » Solche Männer sind nicht wert zu verstehen, welche gewaltige spekulative Kraft nötig war, um zu der Idee von der Kugelgestalt der Erde, ihres freien Schwebens im Raume und ihrer Beweglichkeit zu gelangen: Ideen, ohne welche wir weder einen Kopernikus, noch einen Kepler, einen Galilei, einen Newton gehabt hätten « (im unten citierten Werke, S. 16).87Hellenische Kunst und Philosophie.Kraft der Phantasie, des Shakespeare’schen » Hinausprojizierens «, dies voraussetzt, hat die Folge gezeigt: Bruno büsste seine Vorstellungs - kraft mit dem Leben, Galilei mit der Freiheit, erst in unserem hochgelobten 19. Jahrhundert (im Jahre 1822) hat die katholische Kirche die Erlaubnis erteilt, an das 2100 Jahre früher von den Griechen gelehrte heliozentrische System zu glauben! Auch darf nie übersehen werden, dass diese geniale Reinigung der Wirk - lichkeit vom Scheine von den als Mystagogen verschrieenen Pytha - goreern ausging, und an dem Idealisten Plato, namentlich gegen Schluss seines Lebens, eine Stütze fand, während der Verkünder der alleinseligmachenden Induction, Aristoteles, mit der ganzen Wucht seiner Empirie gegen die Lehre von einer Bewegung der Erde herzog: » die Pythagoreer «, schreibt er mit Bezug auf die von ihm geleugnete Achsendrehung der Erde, » leiten Gründe und Ursachen nicht aus den beobachteten Erscheinungen ab, sondern sind bestrebt, die Er - scheinungen mit etlichen eigenen Ansichten und Voraussetzungen zu vereinigen, auf diese Art versuchen sie in die Weltbildung einzu - greifen « (De coelo, II, 13). Diese Gegenüberstellung sollte wohl manchem Sohne unseres Jahrhunderts zu denken geben, denn an aristotelisierenden Naturforschern fehlt es uns nicht, und in unseren neuesten wissenschaftlichen Lehren steckt nicht weniger halsstarriger Dogmatismus als in denen der aristotelico-semito-christlichen Kirche.1)Was der englische Physiker John Tyndall in seiner bekannten Rede in Belfast, 1874, sagte: » Aristoteles setzte Worte an die Stelle der Dinge; er predigte Induktion, ohne sie auszuüben «, wird eine spätere Zeit von manchem Ernst Haeckel unseres Jahrhunderts urteilen. Nebenbei verdient erwähnt zu 2)Zeugnisse in Bezug auf Aristarchos vergl. die genannte Schrift des Schiaparelli (S. 121 fg. und 219). Übrigens ist dieser Astronom überzeugt, dass Aristarch nur lehrte, was schon zu Lebzeiten des Aristoteles entdeckt war (S. 117), und auch hier zeigt er, wie auf dem von den Pythagoreern eingeschlagenen Wege das Richtige herauskommen musste. Ohne Aristoteles und ohne den Neoplatonismus wäre das heliozentrische System schon bei der Geburt Christi allgemein als wahr anerkannt gewesen; wahrlich, der Stagyrit hat seine Stellung als offizieller Philo - soph der orthodoxen Kirche redlich verdient! Dagegen hat sich die Märe, dass schon die Ägypter irgend etwas zu der Lösung des astrophysischen Problems beigetragen hätten, wie so manche andere ägyptische Märe, als gänzlich unhaltbar erwiesen (Schiaparelli, S. 105 6). Übrigens meldet Kopernikus selber in seiner Vorrede an Papst Paul III. : » Ich fand zuerst bei Cicero, dass Nicetus geglaubt habe, die Erde bewege sich. Nachher fand ich auch bei Plutarch, dass einige andere ebenfalls dieser Meinung gewesen seien. Hiervon also Veranlassung nehmend, fing auch ich an, über die Beweglichkeit der Erde nachzudenken .... «88Das Erbe der alten Welt.Ein ganz anders geartetes Beispiel des lebenspendenden Einflusses griechischer Gestaltungskraft geben uns die Fortschritte der Mathematik, speziell der Geometrie. Pythagoras ist der Begründer der wissen - schaftlichen Mathematik in Europa; dass er seine Kenntnisse, namentlich den sogenannten » pythagoreischen Lehrsatz «, den Begriff der irrationalen Grössen, und höchst wahrscheinlich auch seine Arithmetik den Indern verdankt, ist allerdings erwiesen,1)Siehe Schröder: Pythagoras und die Inder, S. 39 fg. und von der abstrakten Zahlen - rechnung, deren angeblich » arabische Ziffern « wir den arischen Indern verdanken, sagt Cantor: » Die Algebra entwickelte sich bei den Indern in einer Höhe, die sie in Griechenland niemals zu erreichen vermocht hat. « 2)Cantor: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, 511. (Citiert nach Schröder S. 56.)Man sehe aber, zu welcher durchsichtigen Voll - kommenheit die Griechen die Mathematik der Anschauung, die Geometrie, gebracht haben! In der Schule Plato’s war jener Euklid gebildet, dessen » Elemente der Geometrie « ein so vollkommenes Kunstwerk sind, dass es wirklich sehr zu bedauern wäre, wenn die Einführung neuerer erleichterter Lehrmethoden einen solchen Edelstein aus dem Gesichtskreis der meisten Gebildeten entfernen sollte. Vielleicht gäbe ich meiner Vorliebe für Mathematik einen zu naiven Ausdruck, wenn ich gestünde, Euklid’s Elemente dünken mich fast eben so schön wie Homer’s Ilias? Jedenfalls darf ich es als keinen Zufall betrachten, wenn der unvergleichliche Geometer zugleich ein be - geisterter Tonkünstler war, dessen » Elemente der Musik «, wenn wir sie in der ursprünglichen Gestalt besässen, vielleicht ein würdiges Gegenstück zu seinen » Elementen der Geometrie « bilden würden. Und ich darf hierin den stammverwandten poetischen Geist erkennen, jene Kraft des Hinausprojizierens und des künstlerischen Gestaltens der Vorstellungen. Auch dieser Sonnenstrahl wird nicht bald er - löschen! In Beziehung hierauf kann man noch eine für unsern Gegenstand höchst wichtige Bemerkung machen: reine, ja fast rein poetische Zahlentheorie und Geometrie waren es, welche die Griechen später dahin führten, die Begründer der wissenschaft - lichen Mechanik zu werden! Wie bei allem Hellenischen hat auch hier das Sinnen von Vielen in dem Lebenswerk eines einzelnen1)werden, dass auch das System des Tycho de Brahe hellenischen Ursprungs ist, worüber das Nähere bei Schiaparelli (a. a. O., S. 107 fg. und namentlich S. 1152); dem Reichtum dieser Phantasie entging eben keine mögliche Kombination.89Hellenische Kunst und Philosophie.übermächtigen Genius Gestalt und Lebenskraft gewonnen: das » mechanische Jahrhundert « hätte allen Grund, in Archimedes seinen Vater zu verehren.

Da die Leistungen und die Eigenart der Griechen mich hierÖffentliches Leben. nur insofern angehen, als sie wichtige Faktoren unserer neuen Kultur und lebendige Bestandteile unseres Jahrhundertes waren, muss manches übergangen werden, was es sonst verlockend gewesen wäre, im An - schluss an das Gesagte näher auszuführen. Wie die schöpferische Kunst das einigende Moment für ganz Hellas wurde, sagte uns oben Rohde. Dann sahen wir die Kunst allmählich zu Philosophie und Wissen - schaft sich erweiternd die Fundamente einer Harmonie des Denkens und des Empfindens und des Erkennens begründen. Das dehnte sich denn auch auf das Gebiet des öffentlichen Lebens aus. Die unend - liche Sorgfalt, welche auf die Ausbildung schöner kräftiger Körper verwendet wurde, gehorchte künstlerischen Normen; der Dichter hatte die Ideale geschaffen, nach deren Verwirklichung man nunmehr strebte. Welche Bedeutung der Tonkunst für die Erziehung bei - gelegt wurde, ist bekannt; selbst in dem rauhen Sparta wurde Musik hochgeehrt und gepflegt. Die grossen Staatsmänner stehen alle in unmittelbarer Beziehung zur Kunst oder zur Philosophie: Thales, der Politiker, der Mann der Praxis, wird zugleich als der früheste Philosoph, der erste Mathematiker und Astronom gerühmt; Empedokles, der kühne Revolutionär, welcher die Herrschaft der Aristokratie in seiner Vaterstadt bricht, der Erfinder der öffentlichen Redekunst (wie Aristoteles berichtet) ist Dichter, Mystiker, Philosoph, Naturforscher, Entwickelungs - theoretiker; Solon ist von Hause aus Dichter und Sänger, Lykurgus sammelte die homerischen Dichtungen als erster und zwar » im Interesse des Staates und der Sitten «,1)Nach Plutarch, Leben Lykurg’s, Kap. 4. Pisistratus that ein Gleiches, der Schöpfer der Ideenlehre ist Staatsmann und Reformator, Cimon verschafft dem Polygnot den entsprechenden Wirkungskreis, Perikles dem Phidias, . In dem Worte Hesiod’s: » Das Recht (Dike) ist die jungfräuliche Tochter des Zeus «,2)Werke und Tage, 256. kommt eine bestimmte, alle staatlichen Verhältnisse umfassende Weltanschauung zum Ausdruck und zwar eine, wenn auch religiöse, so doch vor allem künstlerische Anschauung, wovon auch alle Schriften, selbst die abstrusesten des Aristoteles zeugen, ebenfalls solche Äusserungen wie die des Xenophanes90Das Erbe der alten Welt.(allerdings tadelnd gemeint): die Griechen pflegten ihre ganze Bildung aus dem Homer zu schöpfen. 1)Fragment 4 (nach Flach: Geschichte der griechischen Lyrik, II, 419).In Ägypten, in Judäa, später in Rom sehen wir den Gesetzgeber die Normen der Religion und des Kultus feststellen, bei den Germanen dekretiert der König, was sein Volk glauben soll;2)Der zur Zeit der Reformation eingeführte Grundsatz » cujus est regio, illius est religio « bringt eigentlich nur einen von Alters her bestehenden Rechts - zustand zum Ausdruck. in Hellas ist es umgekehrt: der Dichter, welcher » das Göttergeschlecht erschafft «, der dichterische Philosoph (Anaxagoras, Plato u. s. w.), ist es, der zu gedankentiefen Auffassungen des Gött - lichen und des Sittlichen hinzuleiten versteht. Und diejenigen Männer, welche dem Lande zu seiner Blütezeit Gesetze geben, sind in der Schule jener Dichter und Philosophen erzogen worden. Wenn Herodot jedes einzelne Buch seiner Historie mit dem Namen einer Muse belegt, wenn Plato, den Sokrates seine schönsten Reden nur an dem schönsten, von Nymphen bewohnten Orte halten und dialektische Auseinandersetzungen mit einer Anrufung des Pan beschliessen lässt » O! verleihet mir, schön zu sein im Innern, und dass, was ich Äusseres habe, dem Inneren befreundet sei! « , wenn das Orakel zu Thespiä Denjenigen » ein von Früchten strotzendes Ackerland « verheisst, die den landwirtschaftlichen » Lehren des Dichters Hesiod gehorchen «3)Französische Ausgrabung des Jahres 1890 (siehe Peppmüller: Hesiodos 1896, S. 152). Man beachte auch solche Stellen wie Aristophanes: Die Frösche, Vers 1037 fg. so deuten solche Züge, denen wir auf Schritt und Tritt begegnen, auf eine das ganze Leben durchdringende künst - lerische Atmosphäre: die Erinnerung daran erbte sich auf uns herab und färbte manches Ideal unserer Zeit.

Geschichts - lügen.
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Bisher habe ich fast nur von einer positiven, förderlichen Erb - schaft geredet. Es wäre jedoch durchaus einseitig und wahrheitswidrig, wollte ich es dabei bewenden lassen. Unser Leben ist durchdrungen von hellenischen Anregungen und Ergebnissen, und ich fürchte, wir haben uns das Unheilvolle mehr angeeignet als das Heilbringende. Sind wir durch griechische Geistesthaten in das Tageslicht des mensch - lichen Lebens eingetreten, so haben wiederum gerade griechische Thaten Dank vielleicht der künstlerischen Gestaltungskraft dieses merk - würdigen Volkes viel dazu beigetragen, das Tageslicht wieder ab -91Hellenische Kunst und Philosophie.zudämpfen und unsren Himmel dauernd mit sonnenfeindlichen Wolken zu überziehen. Auf Einiges, was wir von der hellenischen Erbschaft in diesem Jahrhundert noch mitschleppen und was wir gut und gern hätten entbehren können, wäre erst im zweiten Band dieses Buches einzugehen; einiges Andere muss gleich hier erörtert werden. Zu - nächst, was an der Oberfläche des griechischen Lebens liegt.

Dass wir z. B. heute noch, wo so viel Grosses und Wichtiges unsere Aufmerksamkeit vollauf beanspruchen müsste, wo sich inzwischen endlose Schätze des Denkens, des Dichtens und vor allem des Wissens aufgestapelt haben, von welchen die weisesten Hellenen nicht das Geringste ahnten und an welchen teilzunehmen das angeborene Recht jedes Kindes sein müsste, dass wir da noch immer verpflichtet werden, kostbare Zeit auf die Erlernung aller Einzelheiten der erbärmlichen Geschichte der Griechen zu verwenden, unser armes Gehirn mit endlosen Namenregistern ruhmrediger Herren auf ades, atos, enes, eiton, u. s. w. vollzupfropfen und uns womöglich für die politischen Schicksale dieser grausamen, kurzsichtigen, von Selbstliebe geblendeten, auf Sklavenwirtschaft und Müssiggängerei beruhenden Demokratien zu begeistern das ist ein hartes Schicksal, an dem jedoch, wohl über - legt, nicht die Griechen die Schuld tragen, sondern unsere eigene Borniertheit. 1)Ich sagte » grausam «, und in der That ist dieser Zug einer der am meisten charakteristischen für die Hellenen, ihnen mit den Semiten gemeinsam. Humanität, Milde, Vergebung waren ihnen ebenso unbekannt wie Wahrheitsliebe. Als sie bei den Persern zum erstenmal diesen Tugenden begegnen, berichten die griechischen Historiker erstaunt und fast verlegen darüber: Gefangene schonen, einen besiegten Fürsten königlich aufnehmen, Gesandte des Feindes bewirten und beschenken, anstatt sie (wie die Lakedämonier und die Athener, siehe Herodot VII, 133) zu töten, Nachsicht gegen Verbrecher, Grossmut sogar gegen Spione, die Zumutung, die erste Pflicht eines jeden Menschen sei es, die Wahrheit zu reden, die Undankbarkeit ein vom Staat bestraftes Verbrechen, das alles dünkt einem Herodot, einem Xenophon u. s. w. fast eben so lächerlich wie die persische Sitte, nicht in Gegenwart anderer zu spucken, sowie sonstige auf den Anstand bezügliche Vorschriften (siehe z. B. Herodot I, 133 u. 138). Wie ist es nun im Angesicht einer solchen Masse von unbezweifelbaren Thatsachen möglich, dass unsere Historiker unentwegt fortfahren dürfen, Geschichte prinzipiell zu fälschen? Leopold von Ranke zum Beispiel erzählt in seiner Weltgeschichte (Text - Ausgabe I, 129) die bekannte Anekdote von der schmachvollen Behandlung der Leiche des Leonidas, und wie Pausanias den Vorschlag abwies, sich durch eine ähnliche Versündigung an der Leiche des persischen Feldherrn Mardonius zu rächen, und fährt dann fort: » Eine Welt von Gedanken knüpft sich an diese Weigerung. Der Gegensatz zwischen Orient und Occident spricht sich darin aufGewiss gaben die Hellenen häufig häufig allerdings92Das Erbe der alten Welt.auch nicht das Beispiel des Heldenmutes; Mut ist aber die ver - breitetste aller menschlichen Tugenden und die Konstitution eines Staates wie des lakedämonischen liesse eher darauf schliessen, dass die Hellenen zum Mute gezwungen werden mussten, als dass sie von Natur die stolze Todesverachtung besessen hätten, die jeden gallischen Zirkusfechter, jeden spanischen Toreador, jeden türkischen Baschi-Bosuk auszeichnet1)Feinsinnig bemerkt Helvetius (De l’Esprit, ed. 1772, II, 52): » La législation de Lycurgue métamorphosait les hommes en héros «.. » Die griechische Geschichte «, sagt Goethe, » bietet wenig Erfreuliches zudem ist die unserer eigenen Tage durchaus gross und bedeutend; die Schlachten von Leipzig und Waterloo ragen so gewaltig hervor, dass jene von Marathon und ähnliche andere nachgerade verdunkelt werden. Auch sind unsere eigenen Helden nicht zurückgeblieben: die französischen Marschälle und Blücher und Wellington sind denen des Alterthums völlig an die Seite zu setzen. « 2)Gespräche mit Eckermann, 24. II. 1824.Damit hat Goethe aber lange nicht genug gesagt. Die traditionelle griechische Geschichte ist, in manchen Stücken, eine ungeheure Mysti - fikation: das sieht man täglich deutlicher ein; und zwar haben unsere1)eine Weise aus, wie er fortan geltend bleiben sollte «. Und dabei erfüllt doch die Verstümmelung nicht allein von Leichen, sondern auch von Lebendigen, die Folterung, sowie jegliche Grausamkeit, jede Lüge, jeder Verrat die ganze griechische Geschichte! Also, um eine tönende, hohle Phrase anzubringen, um der alten ab - geschmackten Redensart eines Gegensatzes zwischen Orient und Occident (wie lächerlich auf einer sphärischen Welt!) treu zu bleiben, um nur ja die erbgesessenen Vorurteile festzuhalten und noch fester einzubohren, werden von einem ersten Historiker unseres Jahrhunderts sämtliche Thatsachen der Geschichte einfach bei - seite geschoben Thatsachen, über die selbst der Ungelehrteste sich bei Duncker: Geschichte des Altertums, Gobineau: Histoire des Perses, Maspero: Les premières Mêlées des peuples u. s. w. unterrichten kann und dem glaubensseligen Wiss - begierigen wird, auf Grundlage einer zweifelhaften Anekdote, ein offenbares falsum betreffs des moralischen Charakters der verschiedenen Menschenstämme aufgenötigt! Eine so gewissenlose Perfidie kann bei einem solchen Manne einzig durch die Annahme einer das Urteil lahmlegenden » Suggestion « erklärt werden. Aus Indien und aus Persien stammt die eine Gattung der Menschlichkeit und der Milde und der Wahrheitsliebe, aus Judäa und Arabien die andere (aus Reaktion entstandene), keine aber aus Griechenland, noch aus Rom, d. h. also, keine aus dem » Occident «. Wie erhaben steht Herodot neben solcher tendenziös entstellender Geschichtsmethode! denn, als er von der Verstümmelung des Leonidas erzählt hat, fährt er fort: » eine derartige Behandlung ist sonst bei den Persern nicht Sitte, bei ihnen, mehr als bei allen anderen Völkern, pflegt man tapfere Kriegsmänner zu ehren (VII, 238).93Hellenische Kunst und Philosophie.modernen Lehrer unter dem Einflusse einer ihre Ehrlichkeit vollkommen lahmlegenden Suggestion sie ärger gefälscht als die Griechen selber. Von der Schlacht bei Marathon z. B. giebt Herodot ganz redlich zu, dass die Griechen dort, wo Perser, nicht Hellenen ihnen gegenüberstanden, in die Flucht geschlagen wurden (VI, 113); wie wird diese Thatsache bei uns immer wegerklärt! Und mit welcher kindlich frommen Glaubensseligkeit obwohl wir sonst recht gut wissen, wie durchaus unzuverlässig griechische Zahlen sind schreiben fast alle unsere Geschichtsschreiber noch heutigen Tages aus den alten Mären die 6400 Perserleichen und die 192 tapfer gefallenen Hopliten ab, verschweigen aber, dass Herodot im selben Kapitel (VI, 117) mit seiner unnachahmlichen Naivetät erzählt, wie ein Athener in jener Schlacht vor Furcht blind wurde! In Wahrheit war dieser » glorreiche Sieg « ein belangloses Scharmützel, bei welchem die Griechen eher im Nachteil als im Vorteil blieben1)Seitdem diese Zeilen geschrieben wurden, bekam ich des berühmten amerikanischen Hellenisten Professor Mahaffy’s: A Survey of Greek Civilisation (1897) zu Gesicht, worin er die Schlacht bei Marathon » a very unimportant skirmish « nennt!; die Perser, die nicht aus eigenem Antriebe, sondern von Griechen gerufen, auf ionischen Schiffen her - gekommen waren, kehrten, da diese stets wankelmütigen Bundes - genossen den Augenblick für ungünstig hielten, mit mehreren tausend Gefangenen und reicher Beute (siehe Herodot VI, 118) in aller Seelen - ruhe nach Ionien zurück. 2)Siehe Gobineau: Histoire des Perses II, 138 142.In gleicher Weise ist auch die ganze Darstellung des späteren Kampfes zwischen Hellas und dem persischen Reiche gefälscht,3)Namentlich die berühmte Schlacht bei Salamis, von der man eine er - frischende Darstellung in dem genannten Werk des Grafen Gobineau findet (II, 205 211). « C’est quand les derniers bataillons de l’arrière-garde de Xerxès eurent disparu dans la direction de la Béotie et que toute sa flotte fut partie, que les Grecs prirent d’eux-mêmes et de ce qu’ils venaient de faire et de ce qu’ils pouvaient en dire l’opinion que la poésie a si heureusement mise en œuvre. Encore fallut-il que les alliés apprissent que la flotte ennemie ne s’était pas arrêtée à Phalère pour qu’ils osassent se mettre en mouvement. Ne sachant elle allait ils restaient comme éperdus. Ils se hasardèrent enfin à sortir de la baie de Salamine, et se risquèrent jusqu’à la hauteur d’Andros. C’est ce qu’ils appelèrent plus tard avoir poursuivi les Perses! Ils se gardèrent cependant d’essayer de les joindre, et rebroussant chemin, ils retournèrent chacun dans leurs patries respectives » (p. 208). An einer anderen Stelle (II, 360) bezeichnet Gobineau die griechische Geschichte als: « la plus élaborée des fictions du plus artiste des peuples ». was man den Griechen eigentlich gar nicht so sehr übel nehmen kann, da dieselbe Neigung stets bei allen Nationen sich94Das Erbe der alten Welt.bethätigt hat und noch heute sich bethätigt. 1)Die Hauptsache ist offenbar nicht, was in gelehrten Büchern steht, sondern was in der Schule gelehrt wird, und da kann ich aus Erfahrung sprechen, denn ich war zuerst in einem französischen » Lycée «, dann in einem englischen » college «, später erhielt ich Unterricht von den Lehrkräften einer Schweizer Privatschule, zuletzt von einem gelehrten Preussen. Ich bezeuge, dass in diesen verschiedenen Ländern selbst die best verbürgte Geschichte, die der letzten drei Jahrhunderte (seit der Reformation) so gänzlich verschieden dargestellt wird, dass ich ohne Übertreibung behaupten darf, das Prinzip des geschichtlichen Unterrichtes ist noch heute überall bei uns in Europa die systematische Entstellung. Indem die eigenen Leistungen immer hervorgehoben, die Errungenschaften der Anderen ver - schwiegen oder vertuscht, gewisse Dinge immer ins hellste Licht gestellt, andere im tiefsten Schatten gelassen werden, entsteht ein Gesamtbild, welches in manchen Teilen nur für das subtilste Auge von der nackten Lüge sich unterscheidet. Die Grundlage aller echten Wahrheit: die gänzlich uninteressierte Gerechtigkeitsliebe fehlt fast überall; daraus kann man erkennen, dass wir noch Barbaren sind.Jedoch soll hellenische Geschichte wirklich den Geist und das Urteil bilden, so möchte man glauben, dies müsste eine wahre, gerechte, die Begebenheiten aus ihren tiefsten Wurzeln erfassende, den organischen Zusammenhang aufdeckende Darstellung sein, nicht die Verewigung von halberdichteten Anekdoten und von Urteilen, welche einzig die Bitterkeit des Kampfes ums Dasein und die krasse Unwissenheit und Verblendung der Hellenen entschuldigen konnte. Herrlich ist die dichterische Kraft, mit welcher dort auserlesene Männer einem wankelmütigen, treulosen, käuflichen, zu panischem Schrecken geneigten Volke Vaterlandsliebe und Helden - haftigkeit einzuflössen suchten und wo die Zucht streng genug war, wie in Sparta auch thatsächlich einflössten. Auch hier wieder sehen wir die Kunst als belebendes, treibendes Element. Dass wir aber die patriotischen Lügen der Griechen unseren Kindern als Wahr - heit einpfropfen, und nicht allein unseren Kindern, sondern in Werken wie Grote’s dem Urteil gesunder Männer als Dogmen aufzwingen, und sie sogar zu einem massgebenden Faktor in der Politik unseres neunzehnten Jahrhunderts werden lassen, das ist doch ein arger Missbrauch der hellenischen Erbschaft, eintausendachthundert Jahre, nachdem schon Juvenal gespottet hatte: » creditur quidquid Graecia mendax audet in historia «. Noch schlimmer dünkt mich jedoch die uns aufgenötigte Bewunderung für politische Ver - hältnisse, die eher als abschreckendes Beispiel zu dienen hätten. Ich habe hier nicht Partei zu nehmen, weder für Grossgriechenland noch für Kleingriechenland, weder für Sparta noch für Athen, weder (mit Mitford und Curtius) für den Adel, noch (mit Grote) für den Demos;95Hellenische Kunst und Philosophie.wo die politischen Charaktere, sowohl einzeln wie in Klassen be - trachtet, so jämmerlich sind, da kann gewiss keine grosse Politik ge - blüht haben. Dass wir gar den Begriff der Freiheit von den Hellenen geerbt haben sollen, das ist ein untergeschobenes Wahnbild; denn zur Freiheit gehört vor allem Vaterlandsliebe, Würde, Pflichtgefühl, Aufopferungsfähigkeit, dagegen hören die hellenischen Staaten, vom Beginn ihrer Geschichte an bis zu ihrer Unterdrückung durch Rom, niemals auf, die Feinde ihres gemeinsamen Vaterlandes gegen die eigenen Brüder herbeizurufen, ja, innerhalb der einzelnen Stadt - regierungen, sobald ein Staatsmann gestürzt ist, eilt er fort, sei es zu anderen Hellenen, sei es zu Persern oder Ägyptern, später zu den Römern, um mit ihrer Hilfe seine eigene Stadt zu Grunde zu richten. Man klagt vielfach, das Alte Testament sei unmoralisch; mich dünkt die Geschichte Griechenlands reichlich ebenso unmoralisch; denn bei den Israeliten finden wir, selbst im Verbrechen, Charakter und Be - harrlichkeit, sowie Treue gegen das eigene Volk, hier nicht. Sogar ein Solon geht zuletzt zu Pisistratus über, das Werk seines Lebens verläugnend, und ein Themistokles, der » Held von Salamis «, ver - handelt kurz vor der Schlacht über den Preis, für den er Athen ver - raten würde, und lebt später thatsächlich am Hofe des Artaxerxes als » erklärter Feind der Griechen «, von den Persern jedoch mit Recht als » listige griechische Schlange « gering geschätzt; bei Alcibiades war Verrat so sehr Lebensprinzip geworden, dass Plutarch lächelnd von ihm behaupten kann, er hätte die Farbe » schneller als ein Chamäleon « gewechselt! Das war alles bei den Hellenen so selbstverständlich, dass ihre Historiker sich gar nicht darüber empören, ebenso wie Herodot mit grösster Seelenruhe erzählt, Miltiades habe die Schlacht bei Marathon dadurch erzwungen, dass er den Oberbefehlshaber darauf aufmerksam machte, die athenischen Truppen seien gewillt, zu den Persern überzugehen, man müsse daher schleunigst angreifen, damit dieser » schlimme Gedanke « nicht Zeit habe, in die That umgesetzt zu werden: eine halbe Stunde später, und die » Helden von Marathon « wären mit den Persern zusammen gen Athen marschiert! Mir ist Ähnliches aus der jüdischen Geschichte nicht erinnerlich. Auf einem derartigen Boden konnte offenbar kein bewundernswürdiges Staaten - system aufblühen. » Die Griechen «, sagt wiederum Goethe » waren Freunde der Freiheit, ja! aber ein jeder nur seiner eigenen; daher stak in jedem Griechen ein Tyrannos ». Wer durch den Urwald der im Laufe von Jahrhunderten üppig aufgewucherten Vorurteile und96Das Erbe der alten Welt.Phrasen und Lügen sich ins Licht durcharbeiten will, dem empfehle ich dringend das Studium des monumentalen Werkes von Julius Schvarcz: Die Demokratie von Athen, wo ein sowohl theoretisch wie praktisch gebildeter Staatsmann, der zugleich Philologe ist, ein für allemal dargethan hat, was von dieser Legende zu halten ist. Die Schlussworte dieser ausführlichen, streng wissenschaftlichen Dar - legung lauten: » Die induktive Staatswissenschaft muss schon heute erkennen, dass der Demokratie von Athen nicht die Stelle gebührt, welche der Wahn der Jahrhunderte derselben in der Geschichte der Menschheit einzuräumen liebte « (S. 589). 1)Es ist der (1877 erschienene) erste Teil eines grösseren Werkes: Die Demokratie, dessen Fortsetzung aber bisher ausgeblieben ist.

Ein einziger Zug genügt übrigens, um die gesamte staatliche Wirtschaft der Griechen zu charakterisieren: dass nämlich Sokrates sich veranlasst sah, des Weiten und des Breiten nachzuweisen, um ein Staatsmann zu sein, müsse man auch etwas von Staatsgeschäften verstehen. Weil er diese einfache Elementarwahrheit predigte, wurde er zum Tode verurteilt. » Der Giftbecher ward einzig und allein dem politischen Reformer gereicht «,2)Schvarcz: a. a. O., S. 394 fg. nicht dem Götterleugner. Diese ewig schwatzenden Athener vereinigten eben in sich den schlimmsten Dünkel eines ahnenstolzen Junkertums mit der leiden - schaftlichen Gehässigkeit eines unwissenden frechen Pöbels. Zugleich besassen sie die Flatterhaftigkeit eines orientalischen Despoten. Als kurz nach dem Tode des Sokrates, so erzählt man, das Trauerspiel » Palamedes « aufgeführt wurde, brachen die versammelten Zuschauer in Thränen aus wegen der Hinrichtung des edlen weisen Helden; das tyrannische Volk beweinte seinen niedrigen Racheakt. 3)Nach Gomperz: Griechische Denker, II, 95, ist diese Anekdote » leere Fabelei «; doch liegt in allen solchen Erfindungen, wie in dem eppur si muove u. s. w., ein Kern höherer Wahrheit.Es horchte aber deswegen nicht um ein Jota mehr auf Aristoteles und andere weise Männer, sondern verbannte sie. Und diese weisen Männer! Aristoteles ist erstaunlich scharfsinnig und als Staatsphilosoph gewiss ebenso bewundernswert, wie die grossen Hellenen es überall sind, sobald sie zu künstlerisch-philosophischer Anschauung sich erheben; als Staatsmann trat er jedoch gar nicht erst auf, sondern erlebte gelassen und zufrieden die Philippinischen Thaten, die sein Vaterland zu Grunde richteten, ihm aber die Skelette und Häute seltener Tiere97Hellenische Kunst und Philosophie.verschafften; Plato erntete als Staatsmann den Erfolg, den man aus seinen abenteuerlichen Konstruktionen erwarten musste. Und auch die wirklichen Staatsmänner ein Drako, ein Solon, ein Lykurgus, ja, selbst ein Perikles dünken mich, wie ich schon in den ein - leitenden Worten zu diesem Kapitel sagte, eher geistvolle Dilettanten als irgendwie grundlegende Politiker. Schiller bezeichnet irgendwo den Drako als einen » Anfänger « und die Verfassung Lykurg’s als » schüler - haft «. Entscheidender ist das Urteil des grossen Lehrers der ver - gleichenden Rechtsgeschichte, B. W. Leist: » Der Grieche glaubte, ohne Verständnis für die das Völkerleben beherrschenden historischen Mächte, völliger Herr der Gegenwart zu sein. Die Gegenwart des Staates hielt man im edelsten Streben für ein Objekt, an dem der Weise frei seine Theorie verwirklichen könne, in das er von dem historisch Gegebenen nur das in diese Theorie Passende aufzunehmen brauche. « 1)Graeco-italische Rechtsgeschichte, S. 589, 595 u. s. w.Es fehlt bei den Griechen auf diesem Gebiete alle Konsequenz, alle Selbstbeherrschung; kein Mensch ist massloser als dieser die Mässigkeit (Sophrosyne) und den » goldenen Mittelweg « predigende Hellene; wir sehen seine verschiedenen Staaten hin - und her - pendeln zwischen hyperphantastischen Vollkommenheits-Systemen und der blödsichtigen Befangenheit in den Interessen des unmittelbar gegenwärtigen Augenblicks. Schon Anacharsis klagte: » Bei den Beratungen der Griechen sind es die Narren, welche entscheiden. « Und so ersehen wir, dass unsere Bewunderung und Nacheiferung in Wahrheit nicht der griechischen Geschichte, sondern den griechischen Geschichtsschreibern, nicht den griechischen Heldenthaten die überall ihresgleichen finden sondern der künstlerischen Ver - herrlichung dieser Thaten gelten sollte. Es ist durchaus nicht nötig, von Orient und Occident zu faseln, als könnte der » Mensch « nur auf einem bestimmten Längengrade entstehen; die Griechen standen mit einem Fusse in Asien, mit dem anderen in Europa: die meisten ihrer grossen Männer sind Jonier oder Sicilianer; es ist lächerlich, ihre Fiktionen mit den Waffen ernster Wissenschaftlichkeit verfechten und unsere Kinder mit Phrasen erziehen zu wollen: da - gegen werden wir in Herodot ewig Grazie und Natürlichkeit, eine höhere Wahrhaftigkeit und den siegenden Blick des echten Künstlers bewundern und anstreben lernen. Die Griechen gingen unter, ihre erbärmlichen Eigenschaften richteten sie zu Grunde, das moralischeChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 798Das Erbe der alten Welt.Wesen an ihnen war schon zu alt, zu raffiniert und verdorben, um mit der Erleuchtung ihres Geistes Schritt zu halten; der hellenische Geist jedoch errang einen Sieg, wie nie ein anderer; durch ihn und erst durch ihn » trat der Mensch in das Tageslicht des Lebens ein «; die Freiheit, die der Grieche hierdurch dem Menschengeschlecht erfocht, war nicht die politische er war und blieb ein Tyrann und ein Sklavenhändler sondern die Freiheit der nicht bloss instinktiven, sondern schöpferischen Gestaltung, die Freiheit zu dichten. Das ist jene Freiheit von der Schiller sprach, ein kostbarstes Geschenk, für welches den Hellenen ewige Dankbarkeit gebührt, würdig einer weit höheren Civilisation als der ihrigen und einer weit lauteren als der unserigen.

Dies Alles nur als eine nicht zu entbehrende Andeutung, welche uns zu einer letzten Betrachtung hinübergeleiten soll.

Verfall der Religion.
76

Erkennen wir deutlich, dass der Schulmann die Macht besitzt, Leichen wieder zu beleben und einem rührigen, arbeitsamen Jahr - hundert Mumien als Muster aufzudrängen, so müssen wir bei ge - nauerem Untersuchen gewahr werden, dass Andere das in noch höherem Masse vermögen, da zu den lebendigsten Teilen der helleni - schen Erbschaft ein recht bedeutender Teil unseres kirchlichen Glaubens gehört, nicht jedoch die Lichtseite desselben, sondern der tiefe Schatten krauser und krasser Aberglauben, sowie der dürre, aller Blätter und Blüten der Poesie entkleidete Dornenstrauch scholastischer Vernünftelei. Die Engel und die Teufel, die grause Vorstellung der Hölle, die Gespenster der Abgeschiedenen (die gerade in unserem angeblich auf - geklärten Jahrhundert unsere Tische mit Klopfen und Drehen so viel in Bewegung setzten!), den ekstatisch-religiösen Wahnsinn, die Hypo - stasen des Demiurgos, des Logos, die Definition des Göttlichen, die Vorstellung von der Trinität überhaupt den ganzen eigentlichen Untergrund unserer Dogmatik verdanken wir zum grossen Teil den Hellenen; zugleich verdanken wir ihnen die spitzfindige Behandlung dieser Dinge: Aristoteles mit seiner Seelen - und Gottlehre ist der erste und grösste aller Scholastiker; sein Prophet, Thomas von Aquin, ist gegen Schluss unseres neunzehnten Jahrhunderts (1879) vom unfehlbaren Papste zum offiziellen Philosophen der katholischen Kirche ernannt worden; zugleich griff auf Aristoteles ein grosser Teil der logisierenden Freigeister zurück, der Feinde aller Metaphysik und Ver - künder einer » Vernunftreligion «, wie John Stuart Mill und David Strauss. Hier handelt es sich, wie man sieht, um eine recht lebendige99Hellenische Kunst und Philosophie.Erbschaft, und sie mahnt uns, von den Fortschritten unserer Zeit nur mit Demut zu reden.

Der Gegenstand ist ein ungemein verwickelter; habe ich mich in diesem ganzen Kapitel mit blossen Andeutungen begnügen müssen, so werde ich mich hier auf das Andeuten von Andeutungen zu be - schränken haben. Gerade hier jedoch wäre auf Verhältnisse hinzu - weisen, die meines Wissens noch niemals in ihrem richtigen Zusammen - hange aufgedeckt worden sind. Das möge hier in aller Bescheidenheit, gleichwohl mit voller Bestimmtheit geschehen.

Ganz allgemein wird die religiöse Entwickelung der Hellenen so dargestellt, als ob ein volksmässiger Götterwahnglaube sich nach und nach in dem Bewusstsein einzelner hervorragender Männer zu einem immer reineren, immer mehr vergeistigten Glauben an einen einzigen Gott verklärt habe: so sei der Menschengeist aus der Finsternis in immer helleres Licht geschritten. Unsere Vernunft liebt die Verein - fachungen: dieses langsame Emporsteigen des griechischen Geistes, bis er dann reif war für eine höhere Offenbarung, kommt der angeborenen Gedankenträgheit sehr zu statten. In Wahrheit ist diese Vorstellung eine durch und durch falsche und gefälschte: der Götter - glaube, wie wir ihm bei Homer begegnen, ist die erhabenste und geläutertste Erscheinung griechischer Religion; vielseitig bedingt und beschränkt, wie alles Menschliche, dem Wissen, Denken und Empfinden einer bestimmten Civilisationsstufe angepasst, dürfte diese religiöse Weltanschauung doch so schön, so edel, so frei gewesen sein, wie nur irgend eine, von welcher wir Kunde besitzen. Das Kennzeich - nende des homerischen Glaubens ist seine geistige und moralische Freiheit ja, wie Rhode sagt, » fast Freigeistigkeit « ; diese Religion ist der durch künstlerische Intuition und Analogie (also auf rein genialem Wege) gewonnene Glaube an eine kosmische Welt - ordnung, die überall wahrgenommen wird, ohne jemals ausgedacht, ohne jemals umfasst werden zu können, weil wir doch selber Bestand - teile dieses Kosmos sind, eine Ordnung, die sich aber notwendiger - weise in Allem wiederspiegelt und die darum im Kunstwerk an - schaulich und unmittelbar überzeugend wird. Die im Volke vor - handenen Vorstellungen, hervorgegangen aus der poetischen, symboli - sierenden Anlage jedes einfachen, noch nicht bis zur Dialektik fortgeschrittenen Gemütes, sind hier zur unmittelbarsten Anschaulich - keit verdichtet, und zwar von hohen Geistern, die noch gläubig genug sind, um die wärmste Innigkeit zu besitzen, und zugleich frei gen ug,7*100Das Erbe der alten Welt.um nach eigenem souverän-künstlerischen Urteil zu gestalten. Diese Religion ist jeglichem Spuk - und Gespensterglauben, jeglichem pfäffi - schen Formelwesen abhold; alles, was in Ilias und Odyssee vom populären Seelenkult und dergleichen vorkommt, ist wunderbar ge - klärt, des Schreckhaften entkleidet, zur ewigen Wahrheit eines Symbo - lischen geadelt; ebenso feind ist diese Religion aller Vernünftelei, allen müssigen Fragen nach Ursache und Zweck, jener rationalistischen Richtung also, welche sich in der Folge als die blosse Kehrseite des Aberglaubens entpuppt hat. So lange jene Vorstellungen, welche in Homer und einigen anderen grossen Dichtern ihren vollendetsten Ausdruck gefunden hatten, im Volke noch wirklich lebten, und inso - fern sie noch lebten, hat die griechische Religion ein ideales Element besessen; später (namentlich in Alexandrien und Rom) war sie ein Amalgam von pyrrhonischer, spöttischer Universalskepsis, krassem Zauber-Aberglauben und spitzfindigem Scholasticismus. Untergraben wurde das schöne Gebäude von zwei verschiedenen Richtungen aus, von Männern, die wenig Gemeinsames zu besitzen schienen, die sich später aber doch brüderlich die Hand reichten, als der homerische Parthenon (d. h. » Tempel der Jungfrau «) ein Trümmerhaufe geworden und darinnen eine philologische Steinschleiferei errichtet worden war: diese zwei Parteien waren die, welche bei Homer keine Gnade ge - funden hatten: der pfäffische Aberglaube und die vernünftelnde Kausalitätsjägerei. 1)Dass es zu Homer’s Zeiten keine Philosophen gegeben haben mag, thut nichts zur Sache; die Thatsache, dass bei ihm nichts » erklärt « wird, dass nicht der geringste Versuch einer Kosmogonie vorliegt, deutet die Richtung seines Geistes genügend an. Hesiod ist schon ein offenbarer Rückschritt, noch immer aber zu grossartig symbolisch, um bei irgend einem Rationalisten Gnade zu finden.

Die Ergebnisse der Anthropologie und Ethnographie erlauben es, glaube ich, zwischen Aberglauben und Religion zu unterscheiden. Den Aberglauben finden wir überall, auf der ganzen Erde, und zwar in bestimmten, an allen Orten und bei den verschiedensten Menschen - stämmen sehr ähnlichen, einem nachweisbaren Entwickelungsgesetze unterworfenen Formen; im Grunde genommen ist er unausrottbar. Die Religion dagegen, als ein der Phantasie vorschwebendes Gesamt - bild der Weltordnung, wechselt unendlich mit den Zeiten und den Völkern; manche Stämme (z. B. die Chinesen) haben wenig oder gar kein religiöses Bedürfnis, andere ein sehr ausgesprochenes; die Religion kann metaphysisch, materialistisch, symbolistisch sein, immer auch101Hellenische Kunst und Philosophie.wo ihre Elemente alle erborgt sind tritt sie, je nach Zeit und Land, in einer durchaus neuen, individuellen Erscheinung auf, und eine jede ihrer Erscheinungen ist, wie die Geschichte lehrt, durchaus vergänglich. Die Religion hat etwas Passives an sich, sie spiegelt (so lange sie lebendig ist) einen Kulturzustand wieder; zugleich enthält sie willkürliche Momente von unabsehbarer Tragweite: wie viel Frei - heit bekundeten die hellenischen Poeten in ihrer Behandlung des Glaubensstoffes! wie sehr hingen die Beschlüsse des Tridentinischen Konzils über das, was die Christenheit glauben oder nicht glauben sollte, von diplomatischen Schachzügen und von Waffenglück ab! Von dem Aberglauben kann das nicht behauptet werden; an seiner Gewalt bricht sich die Macht des Papstes und der Poeten; er schleicht auf tausend verborgenen Wegen, schlummert unbewusst in jeder Brust und ist alle Augenblicke bereit, aufzuflammen; er besitzt, wie Lippert sagt: » eine Lebenszähigkeit, die er vor jeder Religion voraus hat «;1)Christentum, Volksglaube und Volksbrauch, S. 379. In dem zweiten Teil dieses Buches findet man eine lehrreiche Zusammenstellung der in Europa noch bestehenden Gebräuche und Aberglauben aus vorchristlicher Zeit. er ist zugleich ein Kitt für jede neue Religion und ein stets lauernder Feind jeder alten. An seiner Religion zweifelt fast jeder Mensch, an seinem Aberglauben Keiner; herausgedrängt aus dem unmittelbaren Bewusstsein der sogenannten » gebildeten « Menschen, nistet er sich in den innersten Falten ihres Gehirnes ein und treibt dort umso ausgelassener seinen Schabernack, als er in der Vermummung der authentischen Gelehrsamkeit oder des spektakulösesten Freisinns her - vortritt. Dies alles zu beobachten, haben wir in unserem Jahrhundert der Notre-Dame-de-Lourdes, der » Shakers «, der Phrenologie, des Ods, der spiritistischen Photographien, des wissenschaftlichen Materialismus, des » medizinischen Pfaffentums «2)F. A. Lange gebraucht den Ausdruck irgendwo in seiner Geschichte des Materialismus. u. s. w. reichlich Gelegenheit ge - habt. 3)» Selbst die civilisiertesten Nationen schütteln den Glauben an Zauberei nicht leicht ab «, bezeugt Sir John Lubbock: Die vorgeschichtliche Zeit, deutsche Ausg., II., 278.Um die hellenische Erbschaft recht zu begreifen, müssen wir auch dort zu unterscheiden lernen. Thun wir das, so werden wir gewahr werden, dass in Hellas auch zur Blütezeit der herrlichen kunst - beseelten Religion, ein Unterstrom ganz und gar anders gearteter Aberglauben und Kulte niemals zu fliessen aufgehört hatte, der dann102Das Erbe der alten Welt.später, als der griechische Geist zur Neige ging, und der Götterglaube nur noch Formelwesen war, mächtig angeschwollen hervorbrach und sich mit dem inzwischen aus verschiedenen Quellen reichlich gespeisten rationalistischen Scholasticismus vereinte, um schliesslich im pseudo - semitischen Neoplatonismus das grinsende Zerrbild hoher, freier Geistes - thaten zu geben. Jener Strom des Volksglaubens, gebändigt in dem durch die Tragödie zur höchsten künstlerischen Vollkommenheit ge - langten Dionysischen Kult, floss unterirdisch weiter über Delphi und Eleusis; seine erste, reichste Quelle bildete der uralte Seelenkult, das furchtsame und ehrfürchtige Gedenken an die Toten; daran knüpfte sich, durch eine unvermeidliche Progression, nach und nach (und in verschiedenen Formen) der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele. Zweifellos hatten die Hellenen den Grundstock zu ihren verschiedenen Aberglauben aus der früheren Heimat mitgebracht; neue Elemente kamen aber immer wieder hinzu, teils als semitische Einfuhr von den kleinasiatischen Küsten und Inseln,1)Es scheint nicht, dass die semitischen Völker in alter Zeit an die Unsterb - lichkeit der individuellen Seele geglaubt hätten; ihre Kulte boten aber für den Hellenen, sobald er jenen Gedanken erfasste, wichtige Anregungen. Das phönizische Göttersystem der Kabirim (d. h. der sieben Gewaltigen) fanden z. B. die Griechen auf Lemnos, Rhodos und anderen Inseln vor, und Duncker schreibt darüber (Geschichte des Altertums, I4, 279): » Der Mythos von Melkart und der Astarte, die in den Kreis dieser Götter aufgenommen war, Melkart, der die verschwundene Mondgöttin im Lande der Dunkelheit wiederfindet und aus diesem mit ihr zu neuem Licht und Leben zurückkehrt gewährte den Griechen Anlass, die Vorstellungen vom Leben nach dem Tode, welche sich seit dem Anfang des 6. Jahr - hunderts bei ihnen ausbildeten, auch an den Geheimdienst der Kabiren zu knüpfen. « noch nachhaltiger und auf - wühlender jedoch aus jenem Norden, den die Griechen zu verachten wähnten. Nicht Dichter waren die Verkünder dieser heiligen » er - lösenden « Mysterien, sondern Sibyllen, Bakiden, pythische Orakel - sprecherinnen; der ekstatische Wahnsinn ergriff oft einen Gau nach dem anderen, ganze Bevölkerungen wurden toll, die Söhne der Helden, die vor Troja gekämpft hatten, schwangen sich im Kreise herum, wie die heutigen Derwische, Mütter erwürgten mit eigenen Händen ihre Kinder Diese Leute aber waren es, welche den eigent - lichen Seelenglauben gross zogen, und auch der Glaube an die Un - sterblichkeit der Seele drang durch sie aus Thrakien in Griechenland ein. 2)Dass dieser Glaube (nach Herodot, IV, 93) im indoeuropäischen Stamme der Geten lebendig war und von dort aus nach Griechenland eindrang, ist nichtIm bacchantischen Wirbeltanz hatte sich also (für das Volk der103Hellenische Kunst und Philosophie.Hellenen) zum erstenmale die Seele vom Körper losgetrennt, jene selbe Seele, über die dann Aristoteles aus der Stille seiner Studierstube so viel Erbauliches zu melden wusste; in der dionysischen Verzücktheit fühlte sich der Mensch eins mit den unsterblichen Göttern und folgerte daraus, dass auch seine individuelle, menschliche Seele unsterblich sein müsse, was dann wiederum später Aristoteles und andere scharfsinnig zu begründen suchten. 1)Über diesen äusserst wichtigen Punkt, die Genese des Unsterblichkeits - glaubens bei den Griechen betreffend, vergl. namentlich Rhode|: Psyche, S. 296.Mich dünkt, es wirbelt uns noch immer ein wenig im Kopf herum! Trotzdem wollen wir versuchen, über diese uns so zäh anhaftende Erbschaft ein wenig zur Besinnung zu kommen.

Zu diesem Seelenglauben hat die hellenische Dichtkunst als solche nichts beigetragen; sie schickte sich ehrfurchsvoll in das Übliche die feierliche Bestattung des Patroklos z. B., der vor der - selben zur letzten Ruhe nicht eingehen konnte, die Vollführung der nötigen Weiheakte durch Antigone an der Leiche ihres Bruders weiter nichts. Dem Unsterblichkeitsglauben hat sie allerdings unbewusst Vor - schub geleistet, indem sie die Götter zwar nicht als unerschaffen, doch aber zu ihrer grösseren Verherrlichung als unsterblich auffassen zu müssen glaubte was z. B. bei den arischen Indern nicht der Fall war. 2)Ich citierte schon oben (S. 71) ein altes Vedalied, nach welchem » die Götter diesseits der Schöpfung entstanden sind «; in ihrer Eigenschaft als Indivi - duen können sie aber nach indischer Überzeugung die » Sempiternität « ebenfalls nicht besitzen, und Çankara sagt in den Vendânta-Sûtra’s, von den einzelnen Göttern redend: » Solche Worte wie Indra u. s. w. bedeuten, ähnlich wie z. B. das Wort General , nur das Innehaben eines bestimmten Postens. Wer also geradeDer Begriff der Sempiternität, d. h. der Unsterblich -2)zu verwundern; es war altes Stammgut; sehr auffallend ist dagegen, dass der Hellene in der Blütezeit seiner Kraft diesen Glauben verloren hatte, oder vielmehr sich vollkommen indifferent dagegen verhielt. » Ein endloses Weiterleben der Seele wird auf diesem (homerischen) Standpunkte weder behauptet noch geleugnet; dieser Gedanke fällt hier überhaupt gar nicht in den Kreis der Betrachtung « (Rhode, Psyche, S. 195). Eine merkwürdige Bestätigung von Schiller’s Behauptung, dass der ästhetische Mensch, d. h. Derjenige, in dem das Sinnliche und Moralische einander nicht feindlich entgegen streben, » keine Unsterblichkeit brauche, um sich zu stützen und zu halten « (Brief an Goethe vom 9. 7. 1796). Ob die Geten Goten und folglich Germanen waren, wie Jakob Grimm behauptete, oder nicht, kann uns hier gleichgültig sein; eine erschöpfende Diskussion dieser übrigens sehr interessanten Frage findet man in Wietersheim-Dalm: Geschichte der Völker - wanderung, I, 597 fg. ; das Ergebnis fällt gegen Grimm’s Ansicht aus. Die Märe, dass der Getenkönig Zalmoxis die Unsterblichkeitslehre von Pythagoras gelernt habe, bezeichnet Rhode als » eine absurde pragmatisierende Fabel « (Psyche, S. 320).104Das Erbe der alten Welt.keit eines in der Zeit entstandenen Individuums, war in Folge dessen den Griechen als eine Eigenschaft ihrer Götter geläufig; die Dicht - kunst hat ihn wahrscheinlich schon vorgefunden, jedenfalls aber durch die Macht der poetischen Vorstellungskraft zu einer bestimmten Wirklichkeit erst erhoben. Weiter reicht die Beteiligung der Kunst nicht. Wir sehen sie im Gegenteil bestrebt, jenen » überall als ur - sprünglich vorauszusetzenden Dämonenglauben «,1)Deussen: Allgemeine Geschichte der Philosophie, I, 39; siehe auch Tylor. die Vorstellung einer » Unterwelt «, die Erzählung von » Inseln der Seligen « kurz, alle jene Elemente, welche aus dem Untergrund des Aberglaubens aufwachsend, sich der menschlichen Phantasie aufzwingen, möglichst zu entfernen, zu mildern, auf ein Geringes zurückzuführen, um für die gegebenen Thatsachen der Welt und des Lebens, und für ihre poetisch-religiöse, schöpferische Bearbeitung freies, offenes Feld zu ge - winnen. Anders der Volksglaube, der, wie wir soeben sahen, an einer so hohen künstlerischen Religion nicht Genüge fand und sich lieber von rohen Thrakiern unterweisen liess. Anders auch die Philosophie, welche neben einer solchen Poesie ein Untergeordnetes blieb, bis der Tag kam, wo sie sich im Stande wähnte, der Fabel Geschichte, dem Symbol aus - führliche Erkenntnis entgegenzustellen: die Anregung jedoch hierzu schöpfte die Philosophie nicht aus sich selbst, auch nicht aus den Resultaten der empirischen Wissenschaft, die nirgends auf Seelen, Entelechieen, Unsterblichkeit u. s. w. gestossen war, sondern sie er - hielt sie aus dem Volke, teilweise aus Asien (durch Pythagoras), teilweise aus dem nördlichen Europa (als orphischen, resp. dionysischen Kult). Die Lehre von einer vom lebendigen Körper ablösbaren, mehr oder weniger unabhängigen Seele, die daraus leicht gefolgerte Lehre von körperlosen und doch lebendigen Seelen, z. B. der Gestorbenen, nunmehr als blosse Seelen weiterlebend, sowie auch von einem » seelen - haften « göttlichen Prinzip (ganz analog dem Nus des Anaxagoras, d. h. der vom Stoff unterschiedenen Kraft), ferner die Lehre von der Unsterblichkeit dieser Seele: das sind also zunächst nicht Ergebnisse eines gesteigerten philosophischen Denkens, ebensowenig bilden sie in irgend einem Sinne eine evolutive Fortentwickelung, eine Verklärung jener hellenischen Nationalreligion, die in den Dichtern ihren höchsten Ausdruck gefunden hatte; vielmehr stellen sich hier Volk und Denker in Gegensatz zu Dichter und Religion. Und gehorchen sie auch ver -2)den betreffenden Posten bekleidet, der führt den Titel Indra « (I, 3, 28; S. 170 der Übersetzung Deussen’s).105Hellenische Kunst und Philosophie.schiedenen Impulsen, so arbeiten Volk und Denker doch einander in die Hand; zusammen richteten sie denn auch Dichtkunst und Religion zu Grunde. Und als die hierdurch hervorgerufene Krise vorbei war, fand es sich, dass jetzt die Philosophen als Religionsverkünder an die Stelle der Künstler getreten waren! Im Grunde hatten ja beide, Dichter und Philosophen, ihr Material im Volke geschöpft; wer aber von beiden, frage ich, hat es besser verwaltet und weiser? Wer hat die Wege zu Freiheit und Schönheit, wer dagegen die zu Knecht - schaft und Unschönheit gewiesen? Wer hat gesunde, empirische Wissenschaft angebahnt, und wer Wissenschaft fast zwei Jahrtausende gehemmt? Wenn nicht inzwischen aus einer ganz anderen Himmels - richtung her, aus der Mitte eines Volkes, das weder Kunst noch Philosophie besass, eine religiöse Macht in die Welt getreten wäre, so stark, dass sie den zum Vernunftsystem erhobenen Wirbeltanz - wahnsinn tragen konnte, ohne zusammenzubrechen, so lichtvoll, dass selbst die finstere Nacht der anschauungsbaren Logik ihren Glanz niemals ganz zu löschen vermochte, eine religiöse Macht schon durch ihren Ursprung berufen, eher civilisatorisch als kulturell zu wirken, wenn das nicht gewesen wäre, da hätte sich dieses angebliche Empor - steigen zu höheren Idealen gar jämmerlich bewährt, oder vielmehr, seine thatsächliche Jämmerlichkeit wäre nicht verdeckt geblieben. Wer dies bezweifelt, der sehe sich in der Litteratur der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung um, wo die vom Staate besoldeten, antichrist - lichen Philosophen ihre Wissenschaftslehre » Theologie « betitelten (Plotin, Proklos u. s. w.), er sehe, wie diese Herren in den Mussestunden, die ihnen das Zerpflücken des Homer, das Kommentieren des Aristoteles, das Aufbauen von Trinitäten, die Diskussion darüber, ob Gott ausser dem Sein auch das Leben zukomme, und über dergleichen subtile Fragen mehr übrig liessen, er sehe, wie sie in ihren Mussestunden von einem Ort zum andern wandern, um sich in Mysterien ein - weihen, oder sich von orphischen Genossenschaften als Hierophanten aufnehmen zu lassen, die ersten Denker dem krassesten Zauberglauben ergeben. Oder, wenn eine derartige Lektüre erschreckt, so nehme man den witzigen Heinrich Heine des zweiten Jahrhunderts, Lucian, zur Hand, und ergänze seine Mitteilungen durch die ernsteren und ebenso unterhaltenden Schriften seines Zeitgenossen Apulejus,1)Siehe namentlich im 11. Buch des Goldenen Esels die Einweihung in die Mysterien der Isis, des Osiris, des Serapis und die Aufnahme in das Kollegium der Pastophori. Man lese auch die Schrift Plutarch’s: Über Isis und Osiris. und dann106Das Erbe der alten Welt.sage man, wo mehr Religion und wo mehr Aberglaube, wo freie, gesunde, schöpferische Menschenkraft und wo unfruchtbare, unsaubere, im Kreise sich herumdrehende Tretmühlerei anzutreffen ist. Und doch dünken uns die Männer, die in jenem homerischen Kreise stehen, kindlich fromm und abergläubisch, diese dagegen aufgeklärte Denker! 1)Bussell: The School of Plato, 1896, S. 345, schreibt von dieser philo - sophischen Periode: » Die Dämonen monopolisieren eine Andacht, die einer blossen Idee nicht gewidmet werden kann, und die Philosophie haucht ihre Seele aus an den Stufen rauchender Opferaltäre und unter den Beschwörungsformeln und Wahngebilden der Wahrsagung und der Zauberei «.

Metaphysik.
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Nun muss man allerdings zwischen Philosophie und Philosophie unterscheiden, und ich glaube oben meiner Bewunderung für die hellenische Philosophie der grossen Epoche warmen Ausdruck ver - liehen zu haben, namentlich insofern sie als eine der Dichtkunst stammverwandte, schöpferische Bethätigung des Menschengeistes auftrat in welchem Bezug Plato’s Ideenlehre und Demokrit’s atomistische Hypothese alles überstrahlt, während Aristoteles mir als Analytiker und Methodiker unvergleichlich gross, als Philosoph aber, im ange - gebenen Sinne, der eigentliche Urheber der décadence des hellenischen Geistes erscheint. Hier wie anderwärts muss man sich jedoch vor zu weit gehender Vereinfachung hüten; man darf nicht einem einzigen Manne zuschreiben, was seinem Volke eigentümlich war und in ihm nur den bestimmtesten Ausdruck fand. In Wahrheit steckt in der griechischen Philosophie von allem Anfang an der Keim zu ihrer späteren verhängnisvollen Entwickelung; die Erbschaft, die noch immer schwer auf uns lastet, reicht fast bis auf die Zeit Homer’s zurück. Denn die alten Hylozoisten zeigen sich, wohl überlegt, den Neoplatonikern stammverwandt: wer mit Thales die Welt so ohne Weiteres als aus dem Wasser entstanden » erklärt «, der wird später auch Gott zu » erklären « wissen; sein nächster Nach - folger, Anaximander, stellt als Prinzip » das Unendliche « (das Apeiron), das » in allen Veränderungen Unveränderliche « auf: da stecken wir eigentlich schon im unverfälschten Scholasticismus mitten drin und können gelassen warten, bis das Rad der Zeit Ramon Lull und Thomas von Aquin auf der Erdoberfläche abgesetzt hat. Dass diese ältesten unter den bekannten griechischen Denkern an die Gegenwart zahlloser Dämonen glaubten, dabei aber von Anfang an2)Verbürgt wenigstens von Xenophanes und Heraklit an. über die107Hellenische Kunst und Philosophie.Götter der Volksreligion und über die Dichter herzogen den Homer hätte Heraklit gern » mit Ruten gepeitscht «1)Ich citiere nach Gomperz: Griechische Denker I, 50; nach Zeller’s Darstellung schiene eine so heftige Äusserung unwahrscheinlich. Wenn ich mich recht entsinne, ist es Xenophanes, der diese Worte dem Heraklit in den Mund legt. , dient nur, das Bild zu vervollständigen. Noch eins muss aber gesagt werden: ein Mann wie Anaximander, so untergeordnet als Denker, war ein Naturforscher und Theoretiker allerersten Ranges, ein Begründer der wissenschaftlichen Geographie, ein Förderer der Astronomie; uns werden alle diese Leute als Philosophen vorgeführt, in Wahrheit war aber das Philosophieren für sie eine Nebensache; man würde wohl doch nicht den Agnosticismus des Charles Darwin oder das Glaubens - bekenntnis des Claude Bernard zu den philosophischen Leistungen unseres Jahrhunderts rechnen? Das ist so eine von den vielen traditionellen, geheiligten Konfusionen; den Namen eines Çankara, (vielleicht der grösste Metaphysiker, der je gelebt) finden wir in keiner Geschichte der Philosophie, dagegen muss der brave Olivenbauer Thales als » erster Philosoph « unausgesetzt herhalten. Und genau besehen, befinden sich alle, oder fast alle sogenannte Philosophen der hellenischen Blütezeit in einer ähnlichen Lage: Pythagoras gründet so weit man aus widersprechenden Nachrichten schliessen kann nicht eine philosophische Schule, sondern einen politischen, sozialen, diätetischen und religiösen Bund; Plato selber, der Metaphysiker, ist Staatsmann, Moralist, praktischer Reformator; Aristoteles ist Metho - dolog und Encyklopädist, und die Einheit seiner Weltanschauung liegt viel mehr in seinem Charakter, als in seiner forcierten, halb - überkommenen, widerspruchsvollen Metaphysik begründet. Ohne also die Grossthaten der griechischen Denker irgendwie zu verkennen, werden wir wohl doch, um der Konfusion ein Ende zu machen, behaupten dürfen: diese Männer haben unserer Wissenschaft (ein - schliesslich der Logik und der Ethik) vorgearbeitet, sie haben unserer Theologie vorgearbeitet, ihr poetisch-schöpferisches Genie hat Ströme von Licht über die Wege ausgegossen, die spätere Spekulation und Geistesforschung wandeln sollte, als Metaphysiker im eigentlichen engeren Sinne des Wortes waren sie von verhältnismässig weit ge - ringerer Bedeutung.

Damit bei einer so wichtigen, in die Tiefen unseres heutigen Lebens eingreifenden Erkenntnis nichts unklar bleibe, möchte ich108Das Erbe der alten Welt.kurz darauf hindeuten, dass wir in der Person des grossen Leonardo da Vinci ein unserem heutigen Denken und Fühlen nahe verwandtes Beispiel der tiefen Kluft besitzen, welche poetische Erkenntnis von abstrakter Erkenntnis trennt, Religion von theologisierender Philo - sophie. Leonardo brandmarkt die Geisteswissenschaften als » lüg - nerische « (le bugiarde scientie mentali); » alles Wissen «, sagt er, » ist eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Sinneserfahrung, der Mutter aller Gewissheit, zur Welt gebracht wird «; besonders zuwider sind ihm die Dispute und Nachweise über die Wesenheit Gottes und der Seele; er meint, gegen diese Vorstellungen » lehnen sich unsere Sinne auf «, deswegen sollen wir uns nicht bethören lassen: » wo Vernunftsgründe und klares Recht fehlen, vertritt Geschrei deren Stelle; bei sicheren Dingen kommt dies dagegen nicht vor «; und somit gelangt er zum Schluss: » dove si grida non è vera scientia «, wo man Geschrei macht, da ist kein wahrhaftiges Wissen. (Libro di pittura, 1. Teil, Abschnitt 33, Ausgabe von Heinrich Ludwig.) Das ist Leonardo’s Theologie! Dieser selbe Mann ist es jedoch, der wohl einzig unter allen, die grössten nicht ausgenommen einen Christus malt, der einer Offenbarung gleichkommt, » ganz Gott und zugleich ganz Mensch « (wie es im Athanasischen Glaubensbekenntnis heisst). Hier liegt tiefe Wesensverwandtschaft mit Homer vor: alles Wissen aus Sinneserfahrung geschöpft, und hieraus dann das Göttliche nicht durch Vernunftserwägungen nachgewiesen, sondern unter Zu - grundelegung des Volksglaubens freischöpferisch gestaltet: ein ewig Wahres. Gerade diese Anlage war nun in Griechenland, dank be - sonderen Umständen und besonderen Begabungen, dank vor allem dem Auftreten der einzig Leben spendenden grossen Genies zu einer so intensiven Ausbildung gelangt, dass die Erfahrungswissenschaften (wie später bei uns durch Leonardo) eine noch niemals früher dagewesene Anregung erhielten, wogegen die Reaktion der philosophierenden Abstraktion sich niemals frei und natürlich zu entwickeln vermochte, sondern entweder in Scholasticismus oder in Phantasterei verfiel. Der hellenische Künstler erwachte zum Leben in einem Element, welches ihm zugleich persönliche Freiheit und das erhebende Be - wusstsein, von Allen verstanden zu werden, schenkte; der hellenische Philosoph (sobald er den Weg der logischen Abstraktion wandelte) nicht; dieser war im Gegenteil von allen Seiten gehemmt, äusserlich durch Sitte, Glauben und Staatseinrichtungen, innerlich durch seine ganze eigene, vorwiegend künstlerische Bildung, durch alles was ihn109Hellenische Kunst und Philosophie.sein Leben lang umgab, durch alle Eindrücke, die Auge und Ohr ihm übermittelten; er war nicht frei; in Folge seiner grossen Be - gabung leistete er gewiss Grosses, nichts aber, was wie seine Kunst höchsten Anforderungen der Harmonie, der Wahrheit, der Allgemeingültigkeit entspräche. Bei der griechischen Kunst wirkt das Nationale wie Schwingen, welche den Geist zu Höhen emportragen, wo » alle Menschen Brüder werden «, wo das Trennende der Zeiten und Völker den Reiz eher erhöht als abstumpft; hellenische Philo - sophie ist im Gegenteil im beengenden Sinne des Wortes an ein bestimmtes nationales Leben gekettet und durch dasselbe allseitig beschränkt.

Ungemein schwer ist es, mit einer solchen Einsicht gegen das Vorurteil von Jahrhunderten aufzukommen. Selbst ein solcher Mann wie Rhode nennt die Griechen » das gedankenreichste der Völker « und behauptet, ihre Philosophen hätten » der ganzen Menschheit vor - gedacht «;1)Psyche, S. 104. Leopold von Ranke, der für die homerische Religion kein anderes Epitheton kennt als » Götzendienst « (!), schreibt: » Was Aristoteles über den Unterschied der thätigen und leidenden Vernunft ausspricht, von denen jedoch nur die erste die wahre ist, autonom und gottverwandt, also auch unsterblich, möchte ich für das Beste er - klären, was über den menschlichen Geist gesagt werden konnte, vor - behalten die Offenbarung. Dasselbe darf man, wenn ich nicht irre, von der Seelenlehre Plato’s sagen. « 2)Weltgeschichte (Text-Ausgabe) I, 230. Dieser Weisheitsspruch erinnert bedenklich an die bekannte Anekdote aus der Kinderstube: » Wen liebst du am meisten, Papa oder Mama? Beide! « denn wenn auch Aristoteles von Plato ausgegangen ist, etwas vom Grund aus Verschiedeneres als ihre Seelenlehren (sowie ihre ganze Metaphysik) lässt sich kaum denken. Wie können denn beide zugleich » das Beste « gesagt haben? Schopenhauer hat richtig und bündig geurteilt: » der radikale Gegensatz des Aristoteles ist Plato «.Ranke belehrt uns weiter, die Aufgabe der griechischen Philosophie sei es gewesen: » den alten Glauben von dem götzendienerischen Element zu reinigen, rationelle und religiöse Wahrheit zu vereinbaren «; die Demokratie aber habe dieses edle Bestreben vereitelt, denn sie » hielt an dem Götzendienste fest « (I, 230)3)O vierundzwanzigstes Jahrhundert! was sagst du dazu? Ich für mein Teil schweige wenigstens über Persönlichkeiten und folge dem Beispiele des weisen Sokrates, indem ich den Götzen meines Jahrhunderts einen Hahn opfere!. Diese Beispiele mögen genügen; man könnte zahlreiche anführen. Nach meiner Überzeugung ist das Alles Illusion,110Das Erbe der alten Welt.und zwar verderbliche Illusion, und in wesentlichen Hauptstücken das genaue Gegenteil von der Wahrheit. Es ist nicht wahr, dass die Griechen der ganzen Welt vorgedacht haben: vor ihnen, neben ihnen, nach ihnen hat man tiefer, schärfer, richtiger gedacht. Es ist nicht wahr, dass die geheimrätliche Theologie des Aristoteles ad usum der Stützen der Gesellschaft das Beste ist, was gesagt werden konnte: diese jesuitische, scholastische Sophisterei ist die schwarze Pest der Philosophie geworden. Es ist nicht wahr, dass die griechischen Denker die alte Religion gereinigt haben: vielmehr haben sie gerade dasjenige an ihr angegriffen, was ewige Bewunderung verdiente, nämlich ihre freie, rein künstlerische Schönheit; und indem sie vorgaben, rationelle Wahrheit an die Stelle der symbolischen zu setzen, griffen sie in Wirklichkeit nur zum Volksaberglauben und setzten diesen, in logische Lumpen gehüllt, auf den Thron, von dem sie im Verein mit dem Pöbel die ein ewig Wahres verkündende Poesie herab - gestürzt hatten.

Was das angebliche » Vordenken « anbelangt, so genügt es, auf zwei Umstände aufmerksam zu machen, um die Irrtümlichkeit dieser Behauptung darzuthun: erstens haben die Inder früher als die Griechen zu denken begonnen, sie haben tiefer und konsequenter gedacht, und sie haben in ihren verschiedenen Systemen mehr Möglichkeiten er - schöpft als die Griechen, zweitens hat unser eigenes westeuropäisches Denken erst an dem Tage begonnen, als ein grosser Mann gesagt hatte: » man muss zugeben, die Philosophie, die wir von den Griechen überkommen haben, ist kindisch, oder mindestens eher eine Beförderin des Schwatzens als schöpferisch anregend. « 1)Bacon von Verulam: Instauratio Magna, Vorwort. » Et de utilitate aperte dicendum est: sapientiam istam, quam a Graecis potissimum hausimus, pueritiam quandam scientiae videri, atque habere quod proprium est puerorum; ut ad garriendum prompta, ad generandum invalida et immatura sit. Controversiarum enim ferare, operum effoeta est. «Behaupten zu wollen, dass Locke, Gassendi, Hume, Descartes, Kant u. s. w. Wiederkäuer griechischer Philosophie seien, ist eine arge Versündigung hellenistischen Grössenwahnsinns gegen unsere neue Kultur. Ein schlagendes Bei - spiel in Bezug auf das hellenische Denken bietet uns gleich Pythagoras, ihr erster grosser Weiser. Von seinen Orientreisen brachte er aller - hand zurück, grosses und kleines, von dem Begriffe der Erlösung an bis zu der Vorstellung des Äthers und bis zu dem Verbot des Bohnenessens: es war alles indisches Erbgut. Eine Lehre insbesondere111Hellenische Kunst und Philosophie.wurde nun der Mittelpunkt des Pythagoreismus, sein religiöser Hebel, wenn ich so sagen darf: es war dies die geheim gehaltene Lehre von der Seelenwanderung. Durch Plato wurde sie dann später des mystischen Nimbus entkleidet und in die öffentliche Philosophie hineingetragen. Nun bildete bei den Indern (schon lange vor Pythagoras) der Glaube an die Seelenwanderung die Grundlage der ganzen Ethik; politisch, religiös, philosophisch vielfach geteilt und in offener Gegnerschaft lebend, glaubte dort das ganze Volk an die end - lose Reihe der Wiedergeburten. » Ob eine Wanderung der Seele stattfindet, wird (in Indien) nirgends gefragt; sie wird allgemein und unumstösslich geglaubt. « 1)Schröder: Indiens Litteratur und Kultur, S. 252.Aber es gab dort doch eine Klasse, eine kleine, welche an die Seelenwanderung insofern nicht glaubte, als sie diese Vorstellung für eine symbolische hielt, für eine Vorstellung, welche den im Weltenwahn Befangenen eine höhere, nur durch tiefes metaphysisches Denken richtiger zu erfassende Wahrheit alle - gorisch vermittelt: diese kleine Klasse war (und ist noch heute) die der Philosophen. » Das Wandrersein der Seele beruht auf dem Nicht - wissen, während die Seele im Sinne der höchsten Realität keine wandernde ist, « lehrt der indische Denker. 2)Çankara: Sûtra’s des Vedânta I, 2, 11. Zwar hat Çankara selber viel später als Pythagoras gelebt (etwa im 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung), seine Lehre ist aber streng orthodox, er wagt keine Behauptung, die sich nicht auf alte, kanonische Upanishaden stützt. Dass eine thatsächliche » Wanderung « schon nach den ältesten Upanishaden für den wahrhaft Erkennenden eine nur populären Zwecken dienende Vorstellung war, ist offenbar. Weitere diesbezügliche Nach - weise findet man bei Çankara in der Einleitung zu den Sûtra’s und in I, 1, 4, vor allem aber in der herrlichen Stelle II, 1, 22, wo der Samsâra, mitsamt der ganzen Schöpfung, als eine Täuschung bezeichnet wird, » welche ebenso wie der Wahn der Spaltungen und Trennungen durch Geburt und Tod im Sinne der höchsten Realität nicht existiert «.Eine eigentliche » Ge - heimlehre «, wie sie die Griechen nach ägyptischem Muster so liebten, haben die Inder nie gekannt, Männer aus allen Kasten, auch Weiber konnten zur höchsten Erkenntnis vordringen; nur wussten diese tief - sinnigen Weisen sehr gut, dass metaphysisches Denken besondere An - lagen und besondere Ausbildung dieser Anlagen erfordert; daher liessen sie das Bildliche bestehen. Und dieses Bildliche, diese gross - artige, für die Moral vielleicht unersetzliche, schliesslich aber doch nur volksmässige Vorstellung der Seelenwanderung, welche in Indien für das gesamte Volk, von oben bis unten, mit einziger Aus -112Das Erbe der alten Welt.nahme der Denker galt, das wurde in Griechenland die er - habenste » Geheimlehre « ihres ersten grossen Philosophen, verschwand auch niemals wieder ganz aus den höchsten Regionen ihrer philo - sophischen Anschauungen, und gewann durch Plato den bestrickenden Reiz poetischer Gestaltung! Das sind die Leute, die uns Allen angeb - lich vorgedacht haben sollen, » das gedankenreichste der Völker «! Nein, die Griechen waren keine grossen Metaphysiker.

Theologie.
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Sie waren aber ebensowenig grosse Moralisten und Theologen. Auch hier nur ein Beispiel statt vieler. Der Dämonenglaube findet sich allerorten; die Vorstellung eines besonderen Zwischenreiches der Dämonen (zwischen den Göttern im Himmel und den Menschen auf Erden) haben die Griechen höchst wahrscheinlich ebenfalls aus Indien (über Persien) entnommen,1)Colebrooke: Miscellaneons Essays, p. 442. das bleibt sich jedoch gleich; in der Philosophie, oder wenn man will, in der » rationellen Religion « fanden diese Gebilde des Aberglaubens erst durch Plato Aufahme. Rhode schreibt:2)In einer kleinen zusammenfassenden Schrift Die Religion der Griechen, er schienen 1895 in den Bayreuther Blättern. » Plato zuerst, als Vorgänger vieler Anderen, redet von einem ganzen Zwischenreich von Dämonen, denen alles zugetraut wird, was an Wirkungen unsichtbarer Mächte der hohen Götter unwürdig erscheint. So wird die Gottheit selbst alles Bösen und Niederziehenden entlastet. « Also mit vollem Bewusstsein und aus dem » rationellen «, flagrant anthropomorphischen Grunde, Gott dessen, was uns Menschen böse dünkt, zu » entlasten «, wird derjenige Aberglaube, der den Hellenen mit Buschmännern und Australnegern gemeinsam war, mit einer philosophischen und theologischen Aureole geschmückt, den edelsten Geistern von einem edelsten Geist empfohlen, und allen künftigen Jahrhunderten als Erbschaft vermacht. Die glücklichen Inder hatten ihren Dämonenglauben schon längst abgeschüttelt; er galt nur für das gänzlich unkultivierte Volk; der Philosoph war bei ihnen sogar zu keinerlei religiöser Handlung mehr verpflichtet, denn ohne sie zu leugnen, wie der flache Xenophanes, hatte er die Götter als Symbole einer höheren, von den Sinnen nicht zu fassenden Wahrheit erkennen gelernt, was sollten Dämonen noch solchen Leuten? Homer war aber auf demselben Wege gewesen, das merke man wohl! Freilich hemmt die Hand der Athene den voreilig erhobenen Arm des Achilleus, und flösst Here dem schwankenden Diomedes Mut ein: so göttlich frei deutet der Dichter, alle Zeiten zu poetischen Gedanken anregend;113Hellenische Kunst und Philosophie.der eigentliche Aberglaube spielt jedoch bei ihm eine sehr unter - geordnete Rolle und wird durch » göttliche « Deutung dem Bereiche des eigentlichen Dämonentums enthoben; sein Weg war sonniger, schöner als der des Indoariers; anstatt wie dieser in grübelnder Metaphysik sich zu ergehen, heiligte er die empirische Welt und führte dadurch den Menschen einer herrlichen Bestimmung entgegen. 1)Siehe z. B. im XXIV. Gesang der Ilias (Vers 300 fg. ) die Erscheinung des Gutes vorbedeutenden Adlers » rechts einher «. Äusserst bezeichnend sind im selben Gesang die Worte des Priamos über ein ihm zu Teil gewordenes Gesicht (Vers 220 fg. ): » Hätt es ein Anderer mir der Erdenbewohner geboten, Etwa ein Zeichendeuter, ein Opferprophet und ein Priester, Lug wohl nennten wir solches, und wendeten uns mit Verachtung. « Prächtig ist ebenfalls bei Hesiod, wiewohl er dem Volksaberglauben viel näher steht als Homer, die Auffassung der » Geister «: (Werke und Tage, 124 fg.) » Und sie wahren das Recht und wehren frevelnden Werken: Überall über die Erde hinwandelnd, in Nebel gehüllet, Spenden sie Segen: dies ist das Königsamt, das sie erhielten. «Da kam der alte abergläubische, von pythischen Orakeln beratene, von Priesterinnen belehrte, von Dämonen besessene Sokrates, und nach ihm Plato und die anderen. O Hellenen! wäret ihr doch der Religion des Homer und der durch sie begründeten künstlerischen Kultur treu geblieben! Hättet ihr auf eure Heraklit und Xenophanes und Sokrates und Plato, und wie sie alle noch heissen, nicht gehört, sondern euren göttlichen Dichtern vertraut! Wehe uns, die wir durch diesen zur geheiligten Orthodoxie erhobenen Dämonenglauben Jahrhunderte hin - durch unsäglichen Jammer gelitten haben, die wir durch ihn in unserer gesamten geistigen Entwickelung gehindert wurden, und die wir noch heute wähnen müssen, von thrakischen Bauern umringt zu leben! 2)Döllinger nennt den » systematischen Dämonenglauben « eins der » Danaer-Geschenke griechischen Wahnes « (Akad. Vorträge, I, 182).

Nicht eine Spur besser steht es mit jenem hellenischen Denken, welches nicht mystische Wege wandelt, noch poetischen Eingebungen folgt, sondern eingestandenermassen an Naturwissenschaft anknüpft und es mit Hilfe der Physiologie und der rationellen Psychologie unternimmt, den grossen Problemen des Daseins beizukommen. Da schlägt der griechische Geist sofort in Scholasticismus um, wie schon oben angedeutet. » Worte, Worte, nichts als Worte! « Hier würden nähere Auseinandersetzungen leider über den Rahmen dieses Buches hinausführen. Wer aber vor höherer Philosophie sich scheut,Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 8114Das Erbe der alten Welt.der nehme einen Katechismus zur Hand, es steckt viel Aristoteles darin. Wenn man mit einem solchen unphilosophischen Manne von der Gottheit spricht und ihm sagt, sie sei: » ungeworden, unerschaffen, von je bestehend, unvergänglich «, so wird er glauben, man recitiere ein ökumenisches Glaubensbekenntnis, es ist aber ein Citat aus Aristoteles! Und wenn man ihm ferner sagt, Gott sei: » eine ewige, vollkommene, unbedingte Wesenheit, mit Dasein begabt, jedoch ohne Grösse, die in ewiger Aktualität sich selbst denkt, denn (dies dient zur Erklärung) das Denken wird sich gegenständlich durch Denken des Gedachten, so dass Denken und Gedachtes identisch werden «, so wird der arme Mann glauben, man lese ihm aus Thomas von Aquin oder allenfalls aus Georg Wilhelm Friedrich Hegel vor, wiederum ist es aber ein Citat aus Aristoteles. 1)Metaphysik, Buch XII, Kap. 7.Die vernunftgemässe Lehre von Gott, die vernunftgemässe Lehre von der Seele, vor allem dann noch die Lehre von einer der menschlichen Vernunft gemässen Zweckordnung der Welt, oder Teleologie (durch welche Aristoteles, nebenbei gesagt, so groteske Irrtümer in seine Naturwissenschaft ein - führte), das war auf diesem Gebiete die Erbschaft! Wie viele Jahr - hunderte hat es gedauert, bis ein mutiger Mann kam, der diesen Ballast über Bord warf und darthat, man könne das Dasein Gottes nicht beweisen, wie Aristoteles es zwei Jahrtausenden vorgelogen hatte? Bis ein Mann kam, der es wagte, die Worte zu schreiben: » Wir sind weder durch Erfahrung, noch durch Schlüsse der Vernunft hinreichend darüber belehrt, ob der Mensch eine Seele (als in ihm wohnende, vom Körper unterschiedene und von diesem unabhängig zu denken vermögende d. i. geistige Substanz) enthalte, oder ob nicht vielmehr das Leben eine Eigenschaft der Materie sein möge? « 2)Kant: Ethische Elementarlehre, § 4.Und wie tief steckte dieser grosse Mann selber noch in dem scholastischen, forma - listischen Sumpf!

Doch genug. Ich glaube mit ausreichender Deutlichkeit dar - gethan zu haben, dass hellenische Philosophie nur dann wahrhaft gross ist, wenn man das Wort im weitesten Sinne nimmt, etwa dem eng - lischen Sprachgebrauch gemäss, nach welchem ein Newton und ein Cuvier, oder wieder ein Jean Jacques Rousseau und ein Goethe » Philo - sophen « heissen. Sobald der Grieche das Gebiet der Anschaulichkeit verliess und zwar gleich von Thales an wurde er verhängnis -115Hellenische Kunst und Philosophie.voll; er wurde um so verhängnisvoller, als er dann seine unvergleich - liche Gestaltungskraft (welche dem metaphysischen Inder so auffallend fehlt) zur verführerisch klaren Gestaltung schattenhafter Trugbilder und zur Verflachung und Verballhornung tiefer Einsichten und Ahnungen, welche jeder Analyse unzugänglich sind, benützte. Nicht dass er mystische Anlagen und ein ausgesprochenes metaphysisches Be - dürfnis besass, mache ich ihm zum Vorwurf, wohl aber, dass er Mystik anders als künstlerisch-mythisch zu gestalten suchte, und dass er an dem Kernpunkt aller Metaphysik stets blind vorbeiging und die Lösung transcendenter Fragen auf platt-empirischem Wege ver - suchte. Hätte der Grieche auf der einen Seite rein poetisch, auf der anderen rein empirisch seine Anlagen weiter entwickelt, dann wäre er für die Menschheit ein ungeteilter, unsagbarer Segen geworden; so aber wurde jener selbe Grieche, der in Poesie und Wissenschaft das Beispiel der frei-schöpferischen Gestaltung und somit des eigentlichen Menschwerdens gegeben hatte, später vielfach ein erstarrendes, hemmen - des Element in der Entwickelung des Menschengeistes.

In welchem bedingten Sinne dies verstanden werden muss,Teleologie. leuchtet nach allem Gesagten von selbst ein: gerade hellenisches Denken (Plato) hat seit etwa einem Jahrhundert in mancher Beziehung unserer Philosophie Anregung gewährt, und umgekehrt, kann nicht geleugnet werden, dass griechische Kunst nicht allein fördernd, sondern zugleich hemmend auf uns gewirkt hat, so dass höchste schöpferische Gestaltung fast nur dort stattfand (Malerei, Musik), wo kein helle - nisches Ideal unseren Künstlern hindernd im Wege stand. Nichts auf der Welt ist einfach, alles ist unendlich bedingt; dem Schriftsteller muss es genügen, wenn er anregt; vor Kühnheit darf er daher nicht zurückschrecken. Wer Widersprüche in meiner Darstellung wittert, der merke gütigst noch Folgendes: gerade unser falsches Verhältnis zum hellenischen Denken, unsere Knechtschaft ihm gegenüber, hat uns, bei aller lauten Bewunderung für griechische Kunst, doch in ein durchaus schiefes Verhältnis zu ihr gebracht. Wir haben kein rechtes Gefühl für ihre Schönheit; wir kleben an der Oberfläche, wir schwatzen von » klassischem Ideal «, und zugleich von » Götzendienst «, wo es manchmal viel richtiger wäre, von klassischem Frohndienst und zu Götzen erhobenen Idealen zu reden; die Narrenkappe des Entwickelungs - dogmas sitzt uns so fest auf dem Kopfe, dass wir ohne Weiteres voraussetzen, was die alten Philosophen lehrten, müsse notwendiger - weise viel richtiger und schöner sein, als was die noch älteren unge -8*116Das Erbe der alten Welt.lehrten Poeten gesungen hatten; das ist Alles Mummerei auch eine » Erbschaft «, aber eine traurige. In Wahrheit waren, ich kann es nicht oft genug wiederholen, die Poeten der Hellenen bedeutend tiefer als ihre Denker. 1)Und zu den Poeten haben wir, wie man weiss, solche Männer wie Plato und Demokrit im besten Teil ihres Lebenswerkes zu rechnen!Noch ein letztes Beispiel. Wir pflegen nach altem Her - kommen Aristoteles für nichts wärmer zu beloben als für seine teleo - logische Begründung des Weltalls, wogegen wir Homer seinen Anthropo - morphismus vorwerfen. Litten wir nicht an künstlich anerzogener Gehirnstarre, so müssten wir die Absurdität solcher Urteile einsehen. Die Teleologie, d. h. die Zweckmässigkeitslehre nach Massgabe der menschlichen Vernunft, ist Anthropomorphismus in seiner gesteigertsten Potenz. Wenn der Mensch den Plan des Kosmos fassen, wenn er sagen kann, woher die Welt kommt, wohin sie geht und die Zweck - mässigkeit eines jeglichen Dinges ist ihm offenbar, so ist er eigentlich selber Gott, und die gesamte Welt ist » menschlich «: das sagen auch ausdrücklich die Orphiker und Aristoteles. Ganz anders der Poet. Man citiert überall, schon zu den Zeiten Heraklit’s, und von da an bis auf Ranke, den Vorwurf des Xenophanes gegen Homer: er bilde die Götter wie Hellenen, die Neger würden aber einen schwarzen Zeus sich erdichten und die Pferde sich die Götter als Pferde denken. Verständnisloser und oberflächlicher kann man gar nicht sein. Der Vorwurf ist nicht einmal faktisch richtig, da die Götter bei Homer in allen möglichen Gestalten vorkommen. Wie K. Lehrs in seinem schönen, leider fast vergessenen Buche Ethik und Religion der Griechen (S. 136 / 7) sagt: » Die griechischen Götter sind gar nicht Nachbilder der Menschen, sondern Gegenbilder. Sie sind keine kos - mischen Potenzen (was sie erst für die Philosophen wurden), ebenso - wenig erhöhte Menschen! Häufig kommen sie in Tiergestalt vor, und tragen nur die menschliche für gewöhnlich als die schönste und edelste und geeignetste, aber an und für sich ist ihnen jede andere Gestalt eben so natürlich. « Unvergleichlich wichtiger ist jedoch die Thatsache, dass bei Homer und den anderen grossen Poeten jegliche Teleologie fehlt; denn erst mit diesem Begriff tritt unableugbarer Anthropomorphismus auf. Warum soll ich die Götter nicht in Menschen - gestalt darstellen? Soll ich sie etwa als Schafe oder Mistkäfer in mein Gedicht einführen? Haben Raphael und Michelangelo es nicht genau so gehalten wie Homer? Hat die christliche Religion nicht117Hellenische Kunst und Philosophie.angenommen, Gott sei in Menschengestalt erschienen? Ist der Jahve der Israeliten nicht ein Prototyp des edlen und dabei doch zank - und rachsüchtigen Juden? Es wäre wohl doch nicht ratsam, die aristote - lische » Wesenheit ohne Grösse, die das Gedachte denkt « der künst - lerischen Anschauung zu empfehlen. Dagegen erkühnt sich die poetische Religion der Griechen nicht über » Unerschaffenes « Auskunft zu geben und Zukünftiges » vernunftgemäss zu erklären «. Sie giebt ein Bild der Welt wie in einem Hohlspiegel und glaubt dadurch den Menschengeist zu erquicken und zu läutern; weiter nichts. Lehrs führt in dem genannten Buche aus, wie der Begriff der Teleologie durch die Philosophen, von Sokrates bis Cicero, eingeführt wurde, dagegen in hellenischer Poesie keinen Eingang gefunden habe. » Der Begriff der schönen Ordnung «, sagt er (S. 117), » der Harmonie, des Kosmos, der tief die griechische Religion durchzieht, ist ein viel höherer als jener der Teleologie, der in jeder Beziehung etwas Kümmer - liches hat «. Um die Sache uns recht nahe zu bringen, frage ich: wer ist der Anthropomorphist, Homer oder Byron? Homer, an dessen persönlichem Dasein man hat zweifeln können, oder Byron, der so mächtig in die Saiten griff und die Poesie unseres Jahrhunderts auf die Tonart stimmte, in welcher Alpen und Ocean, Vergangenheit und Gegenwart des Menschengeschlechtes nur dienen, das eigene Ich wiederzuspiegeln und einzurahmen? Es dürfte vielleicht für jeden modernen Menschen unmöglich sein, sich menschlichen Handlungen gegenüber, und von der Ahnung einer Weltordnung durchdrungen, so wenig |anthropomorphistisch, so sehr » objektiv « zu verhalten wie Homer.

In ähnlicher Weise hätte eine Anzahl unserer Urteile eine gründ - liche Revision zu erfahren, soll endlich Licht in die grosse Masse des reichen, überreichen, durcheinander gewürfelten hellenischen Erbteils eindringen und uns eine bewusste Aneignung und ein ebenso bewusstes Verwerfen und gründliches Abschütteln ermöglichen.

Vielleicht habe ich mit diesen letzten Ausführungen ein wenigSchlusswort. in das Bereich eines späteren Teiles dieses Buches eingegriffen. Ich wusste mir nicht anders zu helfen; denn, spielte die hellenische Erb - schaft eine grosse Rolle in unserem Jahrhundert, wie in allen voran - gegangenen, so herrschte doch in Bezug auf sie eine heillose Konfusion und ein hochgradiges » Unbewusstsein «, und diese Geistesverfassung der Erben musste im Interesse alles Folgenden ebenso klar hervor -118Das Erbe der alten Welt.gehoben werden, wie die vielseitige, verwickelte Eigenart der Erbschaft selber.

Vor einer Zusammenfassung scheue ich zurück. Was ich über unsere reiche, in unser geistiges Leben so tief eingreifende hellenische Erbschaft vorgebracht habe, ist ja schon an und für sich ein blosser Auszug, eine blosse Andeutung; wird ein derartiges Verfahren noch weiter getrieben, so wird zuletzt jeder konkrete Inhalt sublimiert, die geschwungenen Linien des Lebens schrumpfen zu Geraden zusammen, es bleibt eine geometrische Figur zurück, eine Konstruktion des Geistes, nicht ein Abbild der mannigfaltigen, alle Widersprüche in sich ver - einigenden Wahrheit. Die Geschichtsphilosophie selbst der bedeutendsten Männer als Beispiel will ich einzig Herder nennen regt immer eher zu Widerspruch als zu richtigen Erkenntnissen an. Ausserdem ist diesem Werke ein näheres Ziel gesteckt: nicht das Hellenentum hatte hier beurteilt oder geschichtlich erklärt zu werden, sondern es genügte, unserem Bewusstsein nahezubringen, wie unendlich viel von ihm auf uns übergegangen ist und noch heute gestaltend auf unser Dichten, Denken, Glauben, Forschen wirkt. In Ermangelung von Vollständigkeit suchte ich Lebendigkeit und Wahrheit. Ich kann dem Leser jedoch nicht die Mühe ersparen, meine Ausführungen von Anfang bis Ende durchzulesen.

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ZWEITES KAPITEL RÖMISCHES RECHT

Von Jugend auf ist mir Anarchie ver - driesslicher gewesen als der Tod. Goethe.
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Gewiss ist es unmöglich, begrifflich klar zu bestimmen, wasDisposition. wir von Rom geerbt haben, was aus dieser ungeheuren Werkstatt menschlicher Geschicke noch heute lebendig weiter wirkt, wenn wir nicht eine klare Vorstellung davon besitzen, was Rom war. Selbst das römische Recht im engern Sinne des Wortes (das Privatrecht), von dem ein Jeder weiss, dass es den Grundstoff bildet, an dem noch heute alles juristische Denken grossgezogen wird, und dass es noch immer die thatsächliche Grundlage abgiebt, selbst für die freiesten, am weitesten abweichenden, neueren Rechtssysteme, kann unmöglich in der Eigenartigkeit seines Wertes recht beurteilt werden, wenn es ein - fach als eine Art Laienbibel angesehen wird, als ein Kanon, der nun einmal da ist, geheiligt durch die Jahrtausende. Ist das blinde Fest - halten an römischen Rechtssätzen die Folge einer oberflächlichen historischen Auffassung, so gilt das nicht minder von der weit über das Ziel hinausschiessenden Reaktion gegen das römische Recht. Wer dieses Recht und sein langsames, mühsames Entstehen, und sei es auch nur in den allgemeinsten Umrissen studiert, wird gewiss anders urteilen. Denn dann wird er sehen, wie die indoeuropäischen Stämme1)Auf die schwierige Frage der Rassen werde ich an anderer Stelle zurückzukommen haben (siehe Kap. 4). Hier will ich nur eine sehr wichtige Be - merkung einschalten: Während von verschiedenen Seiten die Existenz einer arischen Rasse in Frage gezogen wird, indem manche Philologen die Stichhaltigkeit des sprachlichen Kriteriums in Frage ziehen (siehe Salomon Reinach: L’origine des Aryens) und einzelne Anthropologen auf die chaotischen Ergebnisse der Schädel - messungen hinweisen (z. B. Topinard und Ratzel), gebrauchen die Forscher auf dem Gebiete der Rechtsgeschichte einmütig den Ausdruck Arier, resp. Indo - europäer, weil sie eine bestimmte rechtliche Auffassung in der Gruppe dieser sprachlich verwandten Völker finden, welche sich vom ersten Beginn an und durch alle Verzweigungen einer vielfältigen Entwickelung prinzipiell von gewissen ebenso unausrottbaren, rechtlichen Anschauungen bei Semiten, Hamiten u. s. w. unterscheiden. (Man sehe die Werke von Savigny, Mommsen, Jhering und schon in den ältesten Zeiten einige scharf ausgesprochene,122Das Erbe der alten Welt.rechtliche Grundüberzeugungen besassen, die in den verschiedenen Stämmen sich verschieden entwickelten, ohne es aber jemals zu einer wahren Blüte bringen zu können; er wird einsehen, dass sie es des - wegen nicht konnten, weil es keinem Zweig gelingen wollte, einen freien und zugleich dauernden Staat zu gründen; dann wird er mit Staunen gewahr werden, wie dieses eine kleine Volk von charakter - starken Männern, die Römer, beides zu Stande bringt: Staat und Recht, den Staat dadurch, dass Jeder das Recht (sein persönliches Recht) sich dauernd sichern will, das Recht dadurch, dass Jeder die Selbst - beherrschung besitzt, dem Gemeinwesen die nötigen Opfer zu bringen und bedingungslose Treue zu widmen; und wer das erkannt hat, der wird gewiss nie anders, als mit grösster Verehrung vom römischen Recht als einem der kostbarsten Besitztümer der Menschheit reden. Zugleich freilich wird er einsehen, dass die höchste und nachahmungs - würdigste Eigenschaft dieses Rechtes seine genaue Anpassung an be - stimmte Lebensumstände ist. Einem Solchen aber kann es nicht ver - schlossen bleiben, dass Staat und Recht beides Erzeugnisse des » geborenen Rechtsvolkes «1)Jhering: Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, S. 81. Eine umso bemerkenswertere Äusserung, als gerade dieser grosse Rechtslehrer stets energisch zu verneinen pflegt, dass einem Volke irgend etwas angeboren sei; er versteigt sich sogar (Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 270) zu der ungeheuerlichen Be - hauptung, die angeerbte, physische (und mit dieser zugleich die moralische) Struktur des Menschen denn das ist wohl doch, was der Begriff Rasse bezeichnen soll habe gar keinen Einfluss auf seinen Charakter, sondern einzig die geographische Umgebung, so dass der Arier, nach Mesopotamien verpflanzt, eo ipso Semit geworden wäre, und umgekehrt. Da ist Haeckel’s pseudowissenschaftliches Phantasiebild der verschiedenen Affen, von denen je eine Menschenrasse abstammen soll, im Vergleich noch vernünftig. Freilich darf man nicht vergessen, dass Jhering gegen das mystische Dogma eines » angeborenen corpus juris « sein Leben lang hart hatte kämpfen müssen, und dass es sein grosses Verdienst ist, der echten Wissenschaft hier freie Bahn geschaffen zu haben; das erklärt seine Übertreibungen im umge - kehrten Sinne. bei den Römern unzertrennlich zusammengehören und dass wir weder diesen Staat, noch dieses Recht wirklich verstehen können, wenn wir nicht eine klare Vorstellung von dem römischen Volke und seiner Geschichte besitzen. Das ist1)Leist). Keine Schädelmessungen und philologischen Tüfteleien können diese ein - fache, grosse Thatsache ein Ergebnis peinlich genauer, juristischer Forschung aus der Welt schaffen, und durch sie wird das Dasein eines moralischen Arier - tums (im Gegensatz zu einem moralischen Nicht-Ariertum) dargethan, und wären die Völker dieser Gruppe aus noch so bunten Bestandteilen zusammengesetzt.123Römisches Recht.umso nötiger, als wir sowohl vom römischen Staatsgedanken als vom römischen Privatrecht gar Vieles noch heute Wirksame geerbt haben, ganz abgesehen von den durch den römischen Staatsgedanken that - sächlich geschaffenen, politischen Verhältnissen, denen wir Europäer die Möglichkeit unseres Daseins als gesittete Nationen überhaupt ver - danken. Daher mag es zweckmässig sein, uns zuerst zu fragen: was für ein Volk war dieses römische? was hat es als Gesamterscheinung für die Geschichte zu bedeuten? Es kann sich hier nur um einen flüchtigsten Umriss handeln; er wird aber hoffentlich genügen, um uns eine klare Vorstellung von dem politischen Wirken dieses grossen Volkes in seinen Hauptlinien zu geben, zugleich um die etwas ver - wickelte Natur der auf unser Jahrhundert überkommenen, politischen und staatsrechtlichen Erbschaft deutlich zu kennzeichnen. Dann erst wird eine Betrachtung unserer privatrechtlichen Erbschaft durchführbar und nützlich sein.

Man sollte meinen, da die lateinische Sprache und die GeschichteRömische Geschichte. Roms eine so grosse Rolle in unseren Schulen spielen, müsse jeder gebildete Mann wenigstens eine deutliche Gesamtvorstellung von dem Werden und Schaffen des römischen Volkes besitzen. Das ist aber nicht der Fall, ist auch nach den üblichen Unterrichtsmethoden gar nicht möglich. Zwar ist jeder Gebildete in der römischen Geschichte bis zu einem gewissen Grade zu Hause: der sagenhafte Romulus, Numa Pompilius, Brutus, die Horatier und die Curatier, die Gracchen, Marius, Sulla, Caesar, Pompejus, Trajan, Diocletian und unzählige Andere, sie alle sind uns mindestens ebenso vertraut (d. h. dem Namen und den Daten nach), wie unsere eigenen grossen Männer; ein Jüng - ling, der über den zweiten punischen Krieg nicht Auskunft geben könnte, oder der die verschiedenen Scipione untereinander verwechselte, stünde ebenso beschämt da, als wenn er die Vorzüge der römischen Legiones und Manipuli vor der makedonischen Phalanx nicht aus - einanderzusetzen vermöchte. Man muss auch zugeben, die römische Geschichte in der üblichen Darstellung ist ein ungemein reichhaltiges Magazin interessanter Anekdoten; aus ihrer Kenntnis ergiebt sich jedoch ein einseitiges und durchaus mangelhaftes Verständnis. Fast gewinnt die gesamte Geschichte Roms den Anschein eines grossen und grau - samen Sports, gespielt von Politikern und Feldherren, die zum Zeit - vertreib die Welt erobern, wobei sie in der Kunst der systematischen Unterdrückung der fremden Völker und der Aufhetzung des eigenen124Das Erbe der alten Welt.Volkes, sowie in der ebenso edeln Kunst der Erfindung neuer Kriegs - strategeme und ihrer taktischen Verwertung durch möglichst massenhaftes Menschenvieh viel Anerkennungswertes leisten. Etwas Wahres liegt auch unstreitig in dieser Auffassung. Es kam in Rom eine Zeit, wo die sich vornehm dünkenden Leute mit Kriegswesen und Politik sich nicht bloss, wo es not that, abgaben, sondern sie als Lebensbeschäftigung erwählten. Wie bei uns, bis vor Kurzem, ein » hochgeborner Mensch « nur Offizier, Diplomat oder Verwaltungsbeamter werden durfte, so gab es auch für die » oberen Zehntausend « im späteren Rom nur drei Be - rufe, durch die sie ihrer Stellung nichts vergaben: die res militaris, die juris scientia und die eloquentia. 1)Vergl. Savigny: Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter, Kap. I.Und da die Welt noch jung und die Wissenschaften übersehbar waren, konnte ein tüchtiger Mann leicht alle drei beherrschen; hatte er dazu noch recht viel Geld, dann war er ein fertiger Politiker. Man lese nur immer wieder die Briefe Cicero’s, wenn man durch die naiven Geständnisse eines in den Ideen seiner Zeit befangenen, nicht viel weiter als seine Nase hinausschauenden Mannes lernen will, wie das grosse Rom und seine Geschicke der Spielball eitler Müssiggänger wurden, und mit wie grossem Recht man behaupten kann, dass seine Politiker Rom nicht gemacht, sondern viel - mehr es zu Grunde gerichtet haben. Es hat überhaupt mit der Politik auch ausserhalb Roms sein eigenes Bewenden. Von Alexander an bis Napoleon: schwer wäre es, die Macht der frevelhaften Willkür in den rein politischen Helden zu hoch zu schätzen! Eine kurze Ver - ständigung hierüber ist umsomehr in diesem Kapitel am Platze, als gerade Rom mit Recht für einen spezifisch politischen Staat gilt, und wir folglich von ihm zu erfahren hoffen dürfen, wie und von wem grosse, erfolgreiche Politik gemacht wird.

Was Gibbon von den Königen im Allgemeinen sagt: » ihre Macht ist am wirksamsten in der Zerstörung «, das gilt von fast allen Politikern sobald sie hinreichende Macht besitzen. Ich weiss nicht, ob es nicht der weise Solon war, der eine gedeihliche Entwickelung des atheniensischen Staates für alle Zeiten unmöglich machte, indem er den historisch gegebenen Bestand der Bevölkerung aus verschiedenen Stämmen aufhob und eine künstliche Einteilung in Klassen nach dem Vermögensstand einführte. Diese sogenannte Timokratie (Ehre dem, der Geld hat) stellt sich zwar von selbst überall mehr oder weniger ein, und Solon hat wenigstens dafür gesorgt, dass die Pflichten mit125Römisches Recht.dem Reichtum zunahmen; nichtsdestoweniger hat er mit seiner Ver - fassung die Axt an die Wurzel gelegt, aus der und wenn auch noch so mühsam der atheniensische Staat erwachsen war. 1)Manchem wird die Verfassung Lykurg’s noch willkürlicher dünken, jedoch mit Unrecht. Denn Lykurg rüttelt gar nicht an den durch die historische Entwickelung gegebenen Grundlagen, im Gegenteil, er befestigt sie: die Völker, die nacheinander nach Lakedämon gezogen waren, schichteten sich übereinander, das zuletzt angekommene zu oberst und so liess es Lykurg bestehen. Dass die Pelasger (Heloten) das Land bebauten, die Achäer (Periöken) Handel und Gewerbe trieben, die Dorier (Spartiaten) Krieg führten und folglich auch regierten, das war keine künstliche Rollenverteilung, sondern die Feststellung eines thatsächlich vor - handenen Verhältnisses. Ich bin auch überzeugt, dass das Leben in Lakedämon lange Zeiten hindurch glücklicher war, als in irgend einem anderen Teile Griechen - lands: der Sklavenhandel war verboten, die Heloten waren Erbpächter und, wenn auch nicht auf Rosen gebettet, so genossen sie doch eine weitgehende Unabhängig - keit, die Periöken bewegten sich frei, sogar ihr beschränkter Militärdienst wurde ihnen im Interesse ihrer in den einzelnen Familien erblichen Gewerbe häufig nach - gesehen, für die Spartiaten endlich war das Prinzip des ganzen Lebens die Ge - selligkeit und in den Sälen, wo sie zu ihren einfachen Mahlen zusammentraten, prangte als Schutzgeist ein einziges Standbild, der Gott des Lachens (Plutarch: Lykurg XXXVII). Was man Lykurg zum Vorwurf machen muss, ist erstens, dass er diese gegebenen und insofern gesunden Verhältnisse für die Ewigkeit festzu - bannen trachtete, hierdurch aber dem lebendigen Organismus die nötige Elastizität raubte, zweitens, dass er auf dem widerstandsfähigen Untergrund ein in mancher Beziehung gar phantastisches Gebäude aufführte; da tritt eben wieder der theore - tisierende Politiker hervor, der Mann, der auf rationellem Wege festzustellen unter - nimmt, wie die Dinge sein müssten, während in Wahrheit der logisierenden Vernunft einzig eine registrierende, nicht eine schöpferische Funktion zukommt. Dass Lykurg aber trotz alledem die historischen Thatsachen zum Ausgangspunkt nahm, das war es, was seiner Verfassung unter allen griechischen die weitaus grösste Kraft und Dauer sicherte.Ein minder bedeutender Mann hätte es nicht gewagt, so tief umbildend in den natürlichen Gang der Entwickelung einzugreifen, und das wäre sehr wahrscheinlich ein Segen gewesen. Und können wir anders über Julius Caesar urteilen? Von den berühmten Feldherren der Weltgeschichte war er vielleicht als Politiker der bedeutendste; auf den verschiedensten Gebieten (man denke nur an die Verbesserung des Kalenders, an die Inangriffnahme eines allgemeinen Gesetzbuches, an die Begründung der afrikanischen Kolonie) bekundete er einen durchgreifenden Verstand; als organisatorisches Genie wäre er wohl, bei gleich günstigen Umständen, nicht hinter Napoleon zurückgeblieben dabei mit dem unermesslichen Vorzug, dass er nicht ein aus - ländischer Condottiere, wie dieser oder wie Diocletian, sondern ein126Das Erbe der alten Welt.echter, rechter Römer war, im angestammten Vaterlande fest einge - wurzelt, somit seine individuelle Willkür (wie bei Lykurg) sicherlich von der Richtschnur des seiner Nation Angemessenen nie allzuweit abgeirrt wäre. Und doch ist es gerade dieser Mann, und kein anderer, der den zähen Lebensbaum der römischen Verfassung knickte und einem unausbleiblichen Siechtum und Niedergang weihte. Denn das Erstaunliche im vorcaesarischen Rom ist nicht, dass die Stadt so viele heftige Stürme im Innern zu durchleben hatte bei einem so un - vergleichlich elastischen Gebilde ist das natürlich, der Zusammenstoss der Interessen und der nie und nirgends rastende Ehrgeiz der Politiker von Fach sorgte dort wie allerorten dafür nein, was uns mit Ver - wunderung und mit Bewunderung erfüllt, ist vielmehr die Lebens - kraft dieser Verfassung. Patrizier und Plebejer konnten periodisch gegeneinander wüten: eine unsichtbare Macht hielt sie doch aneinander - gekettet; sobald neuen Verhältnissen durch einen neuen Ausgleich Rechnung getragen worden war, stand der römische Staat wieder da, stärker als ehedem. 1)Der Ausdruck » Aristokratie und Plebs «, den Ranke für Patrizier und Plebejer beliebt, ist, Laien gegenüber, so irreführend wie nur möglich. Schon Niebuhr hat gegen die Verwechslung von Plebs und Pöbel Einspruch erhoben. Patrizier und Plebejer sind vielmehr wie zwei Mächte in dem einen Staate, die eine freilich vielfach politisch bevorzugt, die andere vielfach politisch zurückgesetzt (wenigstens in früherer Zeit), beide aber doch aus freien, unabhängigen, durchaus selbständigen Landsassen zusammengesetzt. Und darum kann Sallust selbst von den alten Zeiten schreiben: » die höchste Autorität lag wohl bei den Patriziern, die Kraft jedoch ganz gewiss bei den Plebejern « (Bf. an Caesar I, 5); auch sehen wir von jeher die Plebejer eine grosse Rolle im Staate spielen und ihre Familien sich vielfach mit den patrizischen verbinden. Der ungelehrte Mann unter uns wird also durchaus irregeführt, wenn er die Vorstellung empfängt, es habe sich in Rom um eine Aristokratie und einen Pöbel gehandelt. Die Eigentümlichkeit, das merk - würdig Lebensvolle des römischen Staates hat seinen Grund darin, dass er von Anfang an zwei unterschiedliche Teile enthielt (die manche Analogie in der politischen Wirksamkeit mit Whigs und Tories zeigen, nur dass es sich um » ge - borene Parteien « handelt), die aber beide durch genau dieselben Interessen des Besitzes, des Rechtes und der Freiheit mit dem Staate gleichmässig verwachsen waren: daher beständig frisches Leben im Innern, daher beständig eiserne Ein - mütigkeit nach aussen. Von den plebejischen Bestandteilen des Heeres berichtet Cato, sie seien: » viri fortissimi et milites strenuissimi «; es waren eben freie Männer, die für eigenes Heim und eigenen Herd kämpften; im alten Rom durften über - haupt nur Grundbesitzer den Heerdienst leisten, und Plebejer bekleideten Offiziers - stellen ebenso gut wie Patrizier! (siehe Mommsen: Abriss des römischen Staats - rechtes, 1893, S. 258 und Esmarch: Römische Rechtsgeschichte, 3. Aufl., S. 28 ff.).Caesar wurde inmitten einer dieser schweren Krisen127Römisches Recht.geboren; vielleicht erscheint sie uns aber nur darum schlimmer als alle früheren, weil sie uns in der Zeit näher steht; wir daher am ausführlichsten über sie benachrichtigt sind, auch weil wir den von Caesar herbeigeführten Ausgang kennen. Ich meinesteils halte aber die geschichtsphilosophische Auslegung dieser Vorfälle für ein pures Gedankending. Weder die rauhe Faust des ungestümen, von der Leidenschaft hingerissenen Plebejers Marius, noch die tigermässige Grausamkeit des kühl berechnenden Patriziers Sulla hätten der römischen Verfassung tötliche Wunden beigebracht. Selbst das Allerbedenklichste: die Befreiung vieler Tausende von Sklaven und die Verleihung der Bürgerwürde an viele Tausende von Freigesprochenen (und zwar aus politischen, unmoralischen Gründen) hätte Rom in kurzer Zeit über - wunden. Rom besass die Lebenskraft, das Sklavenblut zu adeln, das heisst, ihm den bestimmten römischen Charakter mitzuteilen. Einzig eine ganz gewaltige Persönlichkeit, einer jener abnormen Willenshelden, wie die Welt sie in einem Jahrtausend kaum einmal hervorbringt, vermochte es, einen solchen Staat zu Grunde zu richten. Man sagt, Caesar sei ein Retter Roms gewesen, nur zu früh hinweggerafft, ehe er sein Werk vollenden konnte: das ist falsch. Als der grosse Mann mit seinem Heere an den Ufern des Rubicon angelangt war, soll er unentschlossen Halt geboten und die Tragweite seines Thuns noch einmal sich überlegt haben: setze er nicht hinüber, so gerate er selber in Gefahr, überschreite er die ihm vom heiligen Gesetz gesteckte Grenze, so rufe er Gefahr herauf über die ganze Welt (d. h. über den römischen Staat); er entschied für seinen Ehrgeiz und gegen Rom. Die Anekdote mag erfunden sein, Caesar wenigstens lässt uns in seinem » Bürgerkrieg « keinen derartigen inneren Gewissenskampf schauen; die Situation aber wird dadurch genau bezeichnet. Ein Mann kann noch so gross sein, frei ist er nie, seine Vergangenheit schreibt seiner Gegenwart gebieterisch die Richtung vor; hat er einmal das Schlechtere erwählt, so muss er fortan schaden, er mag wollen oder nicht, und schwingt er sich auch zum Alleinherrscher auf, im Wahne nunmehr lauter Gutes wirken zu können, so wird er an sich selber erfahren, dass » die Macht der Könige am wirksamsten in der Zerstörung ist. « An Pompejus hatte Caesar noch von Ariminum aus geschrieben: das Interesse der Republik liege ihm mehr am Herzen als das eigene Leben;1)De bello civili, I, 9. Nebenbei gesagt, echt römisch, in einem solchen Augenblick einen so platten Ausdruck zu gebrauchen! noch nicht lange jedoch war Caesar Gutes128Das Erbe der alten Welt.zu wirken allmächtig, als Sallust, sein treuer Freund, ihn schon fragen musste: ob er denn eigentlich die Republik gerettet oder ge - raubt habe? 1)Zweiter Brief an Caesar.Im besten Falle hatte er sie gerettet wie Virginius seine Tochter. Pompejus, erzählen mehrere zeitgenössische Schrift - steller, wollte keinen neben sich, Caesar keinen über sich dulden. Man stelle sich vor, was aus Rom noch hätte werden können, wenn zwei solche Männer, anstatt Politiker zu sein, als Diener des Vaterlandes gehandelt hätten, wie das bisher römische Art gewesen war!

Es kann nicht meine Aufgabe sein, das hier flüchtig Angedeutete näher auszuführen; mir lag einzig daran, fühlbar zu machen, wie wenig man das Wesentliche an einem Volk erkennt, wenn man sich einzig und allein mit der Geschichte seiner Politiker und Feldherren abgiebt. Ganz besonders ist das bei Rom der Fall. Wer Rom lediglich von diesem Standpunkt aus betrachtet, und hielte er dabei auch noch so fleissig historische und pragmatisierende Umschau, kann gewiss zu keinem anderen Ergebnis als Herder gelangen, dessen Darstellung darum auch klassisch bleiben wird. Für diesen genialen Mann ist römische Geschichte » Dämonengeschichte «, Rom eine » Räuberhöhle «; was die Römer der Welt schenken, ist, » verwüstende Nacht «, ihre » grossen, edlen Seelen, Scipionen und Caesar « bringen ihr Leben mit Morden zu, je mehr Menschen sie in ihren Kriegszügen hingeschlachtet haben, umso feuriger das Lob, das ihnen gespendet wird 2)Ideen zur Geschichte der Menschheit, Buch 14. Das ist von einem gewissen Standpunkt aus voll - kommen richtig; doch haben die Forschungen der Niebuhr, Duruy und Mommsen (besonders die des zuletzt genannten), zugleich mit denen der glänzenden » romanistischen « Rechtshistoriker unseres Jahr - hunderts, Savigny, Jhering und vieler anderer, zugleich ein anderes Rom aufgedeckt, auf dessen Dasein zuerst Montesquieu die Auf - merksamkeit gelenkt hatte. Hier galt es, dasjenige aufzufinden und ins rechte Licht zu stellen, was die alten römischen Geschichtsschreiber, beschäftigt, Schlachten zu feiern, Verschwörungen zu schildern, gut zahlenden Politikern zu schmeicheln, Feinde zu verleumden, gar nicht bemerkt oder wenigstens niemals nach Verdienst gewürdigt hatten. Eine Nation wird nicht, was Rom in der Geschichte der Menschheit geworden ist, durch Raub und Mord, sondern trotz Raub und Mord; kein Volk bringt Staatsmänner und Krieger von so129Römisches Recht.bewunderungswürdig starkem Charakter hervor wie Rom, wenn es nicht selber eine breite, feste und gesunde Grundlage für Charakter - stärke abgiebt. Was Herder, und mit ihm so viele, Rom nennen, kann also nur ein Teil von Rom sein, und zwar nicht der wichtigste. Viel treffender finde ich die Ausführungen des Augustinus in dem fünften Buch seines De civitate Dei; er macht hier besonders auf die Abwesenheit der Habgier und des Eigennutzes bei den Römern auf - merksam und wie so ihr ganzes Wollen sich in dem einen Entschluss kundgegeben habe: » entweder frei zu leben, oder tapfer zu Grunde zu gehen « (aut fortiter emori, aut liberos vivere); die Grösse der römischen Macht und ihre Dauer schreibt Augustinus dieser moralischen Grösse zu.

In der allgemeinen Einleitung zu diesem Buche sprach ich von anonymen Kräften, welche das Leben der Völker gestalten; davon haben wir in Rom ein leuchtendes Beispiel. Ich glaube, man könnte ohne zu übertreiben sagen, Roms ganze wahre Grösse war eine solche anonyme » Volksgrösse «. Schlug bei den Athenern der Geist in die Krone, so schlug er hier in Stamm und Wurzeln; Rom war das wurzelhafteste aller Völker. Daher trotzte es auch so vielen Stürmen, und die Weltgeschichte bedurfte fast eines halben Jahrtausends, um den morschen Stamm auszurotten. Daher aber auch das eigentümliche Grau in Grau dieser Geschichte. Bei dem römischen Baum schoss alles ins Holz, wie die Gärtner sagen; er trug wenig Blätter, noch weniger Blüten, der Stamm war aber unvergleichlich stark; an ihm schlangen sich spätere Völker in die Höhe. Der Dichter und der Philosoph konnten in dieser Atmosphäre nicht gedeihen, dieses Volk liebte nur jene Persönlichkeiten, in denen es sich selbst erkannte, jedes Ungewöhnliche erweckte sein Misstrauen; » wer anders sein wollte als die Genossen, hiess in Rom ein schlechter Bürger. « 1)Mommsen: Römische Geschichte, 8. Aufl., I, 24.Das Volk hatte Recht; der beste Staatsmann für Rom war derjenige, der sich nicht eine Haaresbreite von dem entfernte, was die Allgemeinheit wollte, ein Mann, der es verstand, einmal hier, einmal dort das Sicherheitsventil zu öffnen, den wachsenden Kräften durch verlängerte Kolben, durch die Einrichtung entsprechender Centrifugalkugeln und Drosselklappen zu begegnen, bis die Staatsmaschine sich quasi auto - matisch erweitert und administrativ ergänzt hatte, kurz, ein zuver - lässiger Maschinist: das war der Idealpolitiker für dieses starke, be -Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 9130Das Erbe der alten Welt.wusste, durchaus nur den praktischen Lebensinteressen zugewandte Volk. Sobald Einer über dieses Mass hinaus wollte, wurde er, not - gedrungen, Verbrecher am Gemeinwesen.

Rom, ich wiederhole es, denn dies ist die Grunderkenntnis, aus der jede andere erst entfliesst, Rom ist nicht die Schöpfung einzelner Männer, sondern eines ganzen Volkes; im Gegensatz zu Hellas ist hier alles wahrhaft Grosse » anonym «; keiner seiner grossen Männer ragt an die Grösse des gesamten römischen Volkes heran. Sehr richtig und beherzigenswert ist darum, was Cicero sagt (Republik, II, 1): » Aus folgendem Grunde ist die Verfassung unseres Staates anderen Staaten überlegen: anderwärts waren es einzelne Männer, welche durch Gesetze und Institute die Staatsordnung begründeten, wie z. B. auf Kreta Minos, in Lakedämonien Lykurg, in Athen (wo gar häufiger Wechsel stattfand) das eine Mal Theseus, das andere Mal Drako, dann wieder Solon, Kleisthenes und noch viele andere; dagegen gründet sich unser römisches Gemeinwesen auf das Genie nicht eines einzelnen Mannes, sondern vieler Männer, noch genügte zu seiner Errichtung die Spanne eines flüchtigen Menschenlebens, sondern es ist das Werk von Jahrhunderten und von aufeinander folgenden Gene - rationen. « Selbst der Feldherr brauchte in Rom nur die Tugenden, die seine ganze Armee besass, frei gewähren zu lassen Geduld, Ausdauer, Selbstlosigkeit, Todesverachtung, den praktischen Sinn, vor allem das hohe Bewusstsein der staatlichen Verantwortlichkeit und er war des Sieges sicher, wenn nicht heute, dann morgen. Ebenso wie die Truppen aus Bürgern bestanden, waren ihre Befehls - haber Magistrate, die nur vorübergehend das Amt eines Administrators oder eines Gesetzberaters und Rechtssprechers mit dem eines Feld - herrn vertauschten; im allgemeinen machte es auch wenig Unterschied, wenn im regelmässigen Wechsel der Ämter der eine Beamte den anderen im Kommando ablöste; der Begriff » Soldat « kam erst in der Zeit des Verfalles auf. Nicht als Abenteurer, als die sesshaftesten aller Bürger und Bauern haben die Römer die Welt erobert.

Römische Ideale.
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Ja, hier drängt sich die Frage auf: ist es überhaupt zulässig, bei den Römern von » Eroberern « zu reden? Ich glaube kaum. Er - oberer waren die Germanen, die Araber, die Türken; die Römer dagegen, von dem Tag an, wo sie in die Geschichte als individuell gesonderte Nation eintreten, zeichnen sich durch ihre fanatische, warmherzige und wenn man will, engherzige Liebe für ihr Vaterland aus; sie sind an diesen Fleck Erde kein hervorragend gesunder,131Römisches Recht.kein ungewöhnlich reicher durch unzerreissbare Herzensbande ge - kettet, und was sie in den Krieg treibt, was ihnen die unbezwingbare Macht verleiht, das ist zunächst und vor allem die Liebe zur Heimat, der verzweifelte Entschluss, den unabhängigen Besitz dieser Scholle nur mit dem Leben aufzugeben. Dass dieses Prinzip zur allmählichen Erweiterung des Staates führen musste, bezeugt nicht Eroberungslust, sondern es war eine Zwangslage. Selbst heute ist die Macht der wichtigste Faktor im internationalen Völkerrecht, und wir sahen, dass in unserem Jahrhundert die friedfertigsten Nationen, wie Deutschland, ihren Waffenstand unaufhörlich vergrössern mussten, doch einzig im Interesse ihrer Unabhängigkeit. Wie viel schwieriger war die Lage Roms, umringt von einem konfusen Durcheinander von Völkchen und Völkern, in nächster Nähe die Menge der verwandten, ewig sich bekämpfenden Stämme, im weiteren Kreise das unerforschte, gewitterschwangere Chaos der Barbaren, der Asiaten und der Afrikaner! Verteidigung genügte nicht; wollte Rom Ruhe geniessen, so musste es das Friedenswerk der Organisation und Verwaltung von einem Land zum andern ausdehnen. Wohin unter den Zeitgenossen Roms jene kleinen Völker es brachten, die keinen politischen Blick be - sassen, das sehen wir an der Geschichte aller hellenischen Staaten; Rom dagegen besass diesen Blick wie nie ein Volk vor ihm oder nach ihm. Seine Leiter handelten nicht nach theoretischen Einsichten, wie wir beim Anblick einer so streng logischen Entwickelung heute fast glauben möchten; vielmehr folgten sie einem fast unfehlbaren Instinkte; dies ist aber auch der sicherste aller Kompasse, wohl dem, der ihn besitzt! Nun hören wir viel von römischer Härte, römischem Eigennutz, römischer Gier; ja! war es denn möglich, inmitten einer solchen Welt für Unabhängigkeit und Freiheit zu streiten, ohne hart zu sein? kann man im Kampf ums Leben seinen Platz behaupten, ohne in erster Linie an sich selbst zu denken? ist nicht Besitz Kraft? Was man aber wenig oder gar nicht beachtet, ist, dass der beispiellose Erfolg der Römer nicht als ein Erfolg der Härte, des Eigennutzes, der Gier aufgefasst werden kann diese wüteten ringsherum in einem mindestens eben so hohen Grade wie unter den Römern, auch heute ist es nicht viel anders geworden , nein, die Erfolge der Römer beruhen auf einer geistigen und sittlichen Überlegenheit. Freilich eine einseitige Überlegenheit; was ist aber auf dieser Welt nicht einseitig? Und es kann nicht geleugnet werden, dass in gewissen Beziehungen die Römer tiefer empfunden und9*132Das Erbe der alten Welt.schärfer gedacht haben, als jemals andere Menschen, wozu die Eigen - tümlichkeit kam, dass bei ihnen das Fühlen und das Denken ergänzend zusammenwirkten.

Ich nannte schon ihre Liebe zur Heimat. Das war ein Grund - zug des altrömischen Wesens. Es war nicht die rein intellektuelle Liebe der Hellenen, sangeslustig und überschäumend, doch leicht den verräterischen Eingebungen des Eigennutzes erliegend, auch nicht die wortreiche der Juden: man weiss, wie die Juden die » babylonische Gefangenschaft « so rührend besingen, von dem grossherzigen Darius aber mit Schätzen in die Heimat zurückgeschickt, lieber Geldopfer bringen und bloss die Ärmsten zur Rückkehr zwingen, als dass sie das fremde Land, wo es ihnen so gut geht, verlassen; nein, bei den Römern war es eine treue, wortkarge, durchaus unsentimentale, dabei aber zu jedem Opfer bereite Liebe; kein Mann und kein Weib unter ihnen zögerte je, das Leben für das Vaterland zu opfern. Wie erklärt man nun eine so übermässige Liebe? Rom war (in alten Zeiten) keine reiche Stadt; ohne die Grenzen Italiens zu überschreiten, konnte man weit fruchtreichere Gegenden sehen. Was Rom aber gab und sicherte, das war ein in sittlicher Beziehung menschenwürdiges Dasein. Die Römer haben nicht die Ehe erfunden, sie haben nicht das Recht erfunden, sie haben nicht den geordneten, Freiheit gewährenden Staat erfunden: das alles erwächst aus der menschlichen Natur und findet sich überall in irgend einer Form |und in irgend einem Grade; was aber die arischen Stämme unter diesen Begriffen als Grundlagen aller Sittlichkeit und Kultur sich vorstellten, hatte bis auf die Römer nirgends festen Fuss gefasst. 1)Für die arischen Stämme speziell vergl. Leist’s vortreffliche: Gräco - italische Rechtsgeschichte (1884) und sein noch nicht beendetes Altarisches Jus civile, auch Jherings: Vorgeschichte der Indoeuropäer. Die ethnischen Forschungen der letzten Jahre haben aber mehr und mehr gezeigt, dass Ehe, Recht und Staat in irgend einer Form überall, auch bei den geistig zumindest entwickelten Wilden bestehen. Und das muss scharf betont werden, denn die Entwickelungsmanie und der pseudowissenschaftliche Dogmatismus unseres Jahrhunderts haben in die meisten populären Bücher durchaus erfundene Darstellungen hineingebracht, die, trotz der sicheren Resultate genauer Forschungen, gar nicht mehr hinauszubringen sind; diese Darstellungen dringen ausserdem von dort aus in wertvolle ernste Werke ein. In Lamprecht’s vielgenannter Deutscher Geschichte, Band I, z. B. finden wir eine angebliche Schilderung der gesellschaftlichen Zustände der alten Germanen, entworfen » unter den Auspizien der vergleichenden Völkerkunde «; hier wird von einer Zeit berichtet, in der bei den Germanen » eine durch keinerlei UnterschiedeWaren die Hellenen zu nahe an Asien133Römisches Recht.geraten, zu plötzlich civilisiert worden? Hatten die fast ebenso feurig begabten Kelten im wilden Norden sich selber so verwildert, dass sie darum nichts mehr bilden, nichts mehr organisieren, keinen Staat mehr1)begrenzte Geschlechtsgemeinschaft herrschte, alle Geschwister untereinander Gatten waren, alle ihre Kinder untereinander Brüder und Schwestern u. s. w. «; daraus soll sich dann im weiteren Verlauf der Zeiten das sogenannte Matriarchat, das Mutterrecht, als erster Fortschritt herausgebildet haben und so geht das Märchen seitenlang weiter; man glaubt dem ersten Stottern einer neuen Mythologie zu lauschen. Was das Mutterrecht anbelangt (d. h. Familiennamen und Erbrecht nach der Mutter, da die Vaterschaft stets eine gemeinschaftliche war), so hat Jhering überzeugend dargethan, dass es schon den ältesten Ariern, noch vor der Ablösung eines Germanenstammes, » gänzlich fremd « war (Vorgeschichte, S. 61 ff); und die urältesten Bestandteile der arischen Sprache deuten schon auf » die Herren - stellung des Gatten und Hausvaters « (Leist: Gräco-ital. Rechtsgeschichte, S. 58); jene Annahme entbehrt folglich jeder wissenschaftlichen Grundlage. Wichtiger noch ist es, festzustellen, dass die von Lamprecht angerufene » vergleichende Völkerkunde « nirgends auf der ganzen Welt Geschlechtsgemeinschaft unter Menschen gefunden hat. Im Jahre 1896 ist ein kleines Werk erschienen, welches in streng objektiver Weise alle hierher gehörigen Forschungen zusammenfasst, Ernst Grosse’s: Die Formen der Familie und die Formen der Wirtschaft, und da sieht man, wie die angeblich empirischen Philosophen, Herbert Spencer an der Spitze, und die angeblich streng empirischen, als » Autoritäten « verehrten Anthropologen und Ethnologen (mit rühmlichen Ausnahmen, wie Lubbock) einfach von der a priori Voraussetzung ausgingen, es müsse bei einfacheren Völkern Geschlechtsgemeinschaft geben, da die Entwickelungslehre es erfordere, und wie sie dann überall Bestätigungen fanden. Jetzt aber ergeben genauere und unvoreingenommene Studien für einen Stamm nach dem anderen, dass die Ge - schlechtsgemeinschaft dort nicht existiert, und Grosse darf die apodiktische Be - hauptung aufstellen: » Es giebt schlechterdings kein einziges primitives Volk, dessen Geschlechtsverhältnisse sich einem Zustande von Promiscuität näherten oder auch nur auf ihn hindeuteten. Die festgefügte Einzelfamilie ist keineswegs erst eine späte Errungenschaft der Civilisation, sondern sie besteht schon auf der untersten Kulturstufe als Regel ohne Ausnahme « (S. 42). Die genauen Belege findet man bei Grosse; im übrigen bezeugen alle anthropologischen und ethnologischen Berichte der letzten Jahre, wie sehr wir die sogenanten Wilden unterschätzt, wie oberflächlich wir beobachtet, wie unbesonnen wir auf Urzustände geschlossen hatten, von denen wir nicht das Geringste sicher wissen. Da dieser Gegenstand prinzipiell ungemein wichtig ist und auch auf die wissenschaftliche Denkkraft und Denkmethode unsers Jahrhunderts ein eigentümliches, sehr be - merkenswertes Streiflicht wirft, so möchte ich noch ein lehrreiches Beispiel be - sonders anführen. Die Urbewohner von Zentralaustralien sollen bekanntlich zu den geistig zurückgebliebensten aller Menschen gehören; Lubbock nennt sie: » elende Wilde, die nicht ihre eigenen Finger, selbst nicht einmal die an einer Hand, zählen können «. (Die vorgeschichtliche Zeit, deutsche Üb., II, 151). Man kann sich denken, mit welcher Geringschätzung der Reisende Eyre über die » höchst134Das Erbe der alten Welt.gründen konnten? 1)Thierry, Mommsen etc.Oder wirkten nicht vielmehr in Rom Blut - mischungen innerhalb des gemeinsamen Mutterstammes, zugleich mit der durch geographische und historische Verhältnisse bedingten Zucht - wahl zur Hervorbringung abnormer Begabungen (natürlich mit be -1)eigentümlichen Eheverbote « dieser elenden Rasse berichtete, wo » ein Mann kein Weib heiraten darf, die denselben Namen trägt wie er, und sei sie mit ihm auch gar nicht verwandt «. Merkwürdig! Und wie konnten diese Menschen, deren Pflicht es nach der Evolutionstheorie gewesen wäre, in unbeschränktester Geschlechts - gemeinschaft zu leben, sich so unerklärliche Grillen gestatten? Nunmehr haben zwei englische Beamte, die jahrelang unter diesen wilden Völkern lebten und ihr Vertrauen sich erwarben, uns ausführlich über sie berichtet (Royal Society of Victoria, April 1897, Auszug in » Nature « vom 10. Juni 1897) und es stellt sich heraus, dass ihr ganzes geistiges Leben, ihr » Vorstellungsleben « (wenn ich so sagen darf), von einer so fabelhaften Kompliziertheit ist, dass unsereiner ihm schwer folgen kann. So haben z. B. diese Menschen, die angeblich nicht bis 5 zählen können, einen verwickelteren Seelenwanderungsglauben als Plato und dieser Glaube giebt die Grundlage ihrer Religion ab! Nun aber ihre Ehegesetze. In der besonderen Gegend, von der hier die Rede ist, wohnt ein ethnisch ein - heitlicher Stamm, die Aruntas. Jede eheliche Verbindung mit fremden Stämmen ist verboten; dadurch wird also die Rasse rein erhalten. Den so äusserst schäd - lichen Folgen einer langanhaltenden Inzucht aber (Lamprecht’s Germanen wären ja längst, ehe sie in die Geschichte eintraten, alle Cretins gewesen!) begegnen die Australneger durch folgende sinnreiche Kombination: den ganzen Stamm teilen sie (in Gedanken) in vier Gruppen ein; ich bezeichne sie zur Vereinfachung als a, b, c und d. Ein Jüngling aus der Gruppe a darf nur ein Mädchen aus der Gruppe d heiraten, der männliche b nur die weibliche c, der männliche c nur die weibliche b, der männliche d nur die weibliche a. Die Kinder von a und d bilden wiederum die Gruppe b, die von b und c die Gruppe a, die von c und b die Gruppe d, die von d und a die Gruppe c. Ich vereinfache sehr und gebe nur das Gerippe, denn ich fürchte, mein europäischer Leser käme sonst bald in die Lage, ebenfalls nicht bis 5 zählen zu können. Dass die Rechte des Herzens bedeutende Einschränkungen nach diesem System sich gefallen lassen müssen, das lässt sich nicht leugnen, aber ich frage, wie hätte ein wissenschaftlich gebildeter Züchter etwas Sinnreicheres erdenken können, um den beiden, auf strenger Be - obachtung fussenden Grundgesetzen der Züchtung zu entsprechen, die da sind: 1. die Rasse ist rein zu bewahren; 2. andauernde Inzucht ist zu vermeiden? (siehe Kap. 4). Eine derartige Erscheinung fordert Ehrfurcht und Schweigen. Bei ihrem Anblick schweigt man auch gern über solche Konstruktionen wie die vorhin genannten aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Wie jedoch, wenn man von den so unendlich mühsamen Versuchen dieser guten australischen Aruntas den Blick auf Rom wirft und hier aus dem Herzen des Volkes (erst viel später in eherne Tafeln gesetzlich eingegraben) die Heiligkeit der Ehe, die Rechtlichkeit der Familie, die Freiheit des Hausherrn inmitten einer entsetzlichen Welt ent - stehen sieht?135Römisches Recht.gleitendenden Rückbildungserscheinungen)? 1)Bis vor Kurzem war es sehr beliebt, die Bevölkerung Roms als eine Art von Plaid nebeneinander lebender Völkerschaften darzustellen: von hellenischen Bestandteilen hätte sie ihre Traditionen, von etruskischen ihre Verwaltung, von sabinischen ihr Recht, von samenitischen ihren Geist u. s. w. Rom wäre gewisser - massen also ein blosses Wort gewesen, ein Name, die gemeinsame Bezeichnung für ein internationales Stelldichein. Auch diese Seifenblase, aufgestiegen aus dem Gehirnschaum blasser Gelehrten, ist, wie so manche andere, in Mommsen’s Händen zerplatzt. Thatsachen und Vernunft, beide beweisen die Widersinnigkeit einer derartigen Hypothese, » die sich bemüht, das Volk, das wie wenig andere seine Sprache, seinen Staat und seine Religion rein und volkstümlich entwickelt hat, in ein wüstes Gerölle etruskischer und sabinischer, hellenischer und leider sogar pelasgischer Trümmer zu verwandeln « (Röm. Gesch. I, 43). Dass aber dieses durch - aus einheitliche, eigenartige Volk aus einer ursprünglichen Kreuzung verschiedener verwandter Stämme hervorging, ist sicher und wird von Mommsen selber klar entwickelt; er nimmt zwei latinische und einen sabellischen Stamm an; später trat noch allerhand dazu, aber erst, als der römische Nationalcharakter fest ausgebildet war, so dass er sich das Fremde assimilierte. Es wäre jedoch lächerlich, » Rom darum den Mischvölkern beizuzählen « (a. a. O., S. 44). Etwas ganz anderes ist es, festzustellen, dass die ausserordentlichsten, individuellsten Begabungen und die stämmigste Kraft aus Kreuzungen hervorgehen: Athen war ein glänzendes Beispiel, Rom ein zweites, das Italien und Spanien des Mittelalters weitere, wie es heute Preussen und England sind. (Näheres bringt Kap. 4.) In dieser Beziehung ist wohl die hellenische Mythe, die Latiner entstammten einer Verbindung zwischen Hercules und einem hyperboräischen Mädchen, sehr bemerkenswert, als einer jener unbegreiflichen Züge angeborener Weisheit; wogegen die verzweifelten Versuche des Dionysius von Halikarnass (der zur Zeit von Christi Geburt lebte), die Abstammung der Römer von Hellenen nachzuweisen, » da sie doch unmöglich barbarischen Ursprungs sein könnten «, in recht rührend naiver Art zeigen, wie gefährlich eine Verbindung von grosser Gelehrsamkeit mit vorgefassten Meinungen und Vernunftschlüssen werden kann!Ich weiss es nicht. Sicher ist aber, dass es vor der römischen keine heilige, würdige und zugleich praktische Regelung der Ehe - und Familienverhältnisse gab; ebensowenig ein rationelles Recht auf sicherer, ausbildungsfähiger Grund - lage ruhend, und eine den Stürmen einer chaotischen Zeit gewachsene staatliche Organisation. Mochte das einfach gezimmerte Räderwerk des alten römischen Staates häufig noch unbeholfen arbeiten und gründliche Reparaturen erfordern, es war ein prächtiges, zeit - und zweckgemässes Gebäude. Das Recht war dort von Anfang an un - endlich fein empfunden und gedacht, und seine Beschränkung ent - sprach den Verhältnissen. Und endlich die Familie! die gab es einzig und allein in Rom, und zwar so schön, wie sie die Welt nie wieder gesehen hat! Jeder römische Bürger, gleichviel ob Patrizier oder Plebejer,136Das Erbe der alten Welt.war Herr, ja König in seinem Hause: sein Wille reichte über den Tod hinaus durch die unbedingte Freiheit des Testierens und die Heiligkeit des Testaments; sein Heim war gegen behördliche Ein - mischung durch festere Rechte geschützt als das unsere; im Gegensatz zum semitischen Patriarchat hatte er das Prinzip der Agnation1)Die Familie auf Vaterverwandtschaft allein beruhend, so dass nur die Ab - stammung von der Vaterseite durch Mannspersonen eine rechtliche Verwandtschaft begründet, dagegen nicht die von der Mutterseite. Nur eine in den richtigen Formen geschlossene Ehe erzeugt Kinder, die zur agnatischen Familie gehören. ein - geführt und dadurch die ganze Schwiegermutter - und überhaupt Weiber - wirtschaft von vornherein abgeschafft; dagegen wurde die mater familias wie eine Königin geehrt, geschätzt, geliebt! Wo sah man Ähn - liches in der damaligen Welt? Jenseits der Civilisation vielleicht; inner - halb ihrer nirgends. Und darum liebte der Römer seine Heimat mit so zäher Liebe und vergoss er für sie sein Herzensblut. Rom war für ihn die Familie und das Recht, ein ragender Fels der Menschenwürde inmitten wilder Brandung.

Man glaube doch nicht, dass irgend etwas Grosses auf dieser Welt vollbracht werden könne, ohne dass eine rein ideale Kraft mit - wirke. Die Idee allein wird es freilich nicht thun; ein handgreifliches Interesse muss ebenfalls dabei sein, und wäre es auch nur, wie bei den Glaubensmärtyrern, ein jenseitiges Interesse; ohne ideale Beigabe besitzt jedoch der Kampf, bloss um Gewinn, wenig Widerstandskraft; höhere Leistungsfähigkeit giebt einzig ein Glaube, und das eben nenne ich, im Gegensatz zum unmittelbaren Interesse des Augenblickes sei es Gelüste, Besitz oder was noch einen idealen Trieb. Wie Dionysius von den alten Römern sagt: » Sie dachten gross von sich selbst und durften daher nichts ihrer Voreltern Unwürdiges thun « (I, 6); mit anderen Worten, sie hielten sich ein Ideal von sich selbst vor. Ich meine das Wort » Ideal « nicht in dem verkommenen, ver - schwommenen Sinne der romantischen » blauen Blume «, sondern in dem Sinne jener Kraft, welche den hellenischen Bildner dazu antrieb, aus dem Steine heraus den Gott zu bilden, und welche den Römer lehrte, seine Freiheit, seine Rechte, seine Verbindung mit einem Weibe zur Ehe, seine Verbindung mit anderen Männern zu einem Gemein - wesen als etwas Heiliges zu betrachten, als das Kostbarste, was das Leben schenken kann. Ein Fels, sagte ich, nicht ein Wolkenkuckucks - heim. Als Traum bestand das ja mehr oder weniger bei allen Indo - europäern: die heilige Scheu, den heiligen Ernst treffen wir in ver -137Römisches Recht.schiedenen Gestaltungen bei allen Mitgliedern dieser Familie an; die hartnäckige Kraft der Verwirklichung auf praktischem Gebiete war aber Keinem so gegeben, wie den Römern. Man glaube doch nicht, dass » Räuber « die Thaten vollbringen können, welche der römische Staat, der Welt zum Heil, vollbrachte. Und wenn man die Absurdität einer solchen Auffassung erst eingesehen hat, dann suche man tiefer, und man wird finden, dass diese Römer eine civilisatorische Macht ohnegleichen waren, und dass sie das nur sein konnten, weil sie, neben grossen Fehlern und auffallenden intellektuellen Lücken, hohe geistige und sittliche Eigenschaften besassen.

Mommsen erzählt (I, 321) von dem Bündnis zwischen denDer Kampf gegen die Semiten. Babyloniern und den Phöniziern, um Griechenland und Italien zu unter - werfen, und meint: » mit einem Schlag wäre die Freiheit und die Civilisation vom Angesicht der Erde vertilgt gewesen «. Man über - lege sich recht, was diese Worte in dem Mund eines Mannes, der wie kein zweiter den gesamten Stoff übersieht, bedeuten; die Freiheit und die Civilisation (ich würde eher die Kultur gesagt haben, denn wie kann man den Babyloniern und den Phöniziern oder auch den Chinesen Civilisation absprechen?) wären vertilgt, also auf ewig ver - tilgt gewesen! Und dann nehme man die Bücher zur Hand, die eine ausführliche, wissenschaftliche Beschreibung der phönizischen und babylonischen Civilisation geben, damit man sich klar werde, worauf ein Urteil von dieser Tragweite sich gründet. Man wird bald ein - sehen, was eine hellenische » Kolonie « von einer phönizischen » Faktorei « unterscheidet; man wird auch bald an dem Unterschied zwischen Rom und Karthago erkennen lernen, was das ist, eine ideale Kraft, selbst auf dem Gebiete der trockensten, eigensüchtigsten Interessen - politik. Wie viel giebt uns z. B. Jhering zu denken, wenn er (Vorgeschichte S. 176) uns lehrt, zwischen den » Handelsstrassen « der Semiten und den » Heeresstrassen « der Römer zu unterscheiden: jene dem Hang nach Ausdehnung und Besitz, diese dem Bedürfnis nach Kon - zentration und Verteidigung der Heimat entsprungen. Man wird auch unterscheiden lernen zwischen authentischen » Räubern «, die nur insofern civilisieren, als sie mit beneidenswerter Intelligenz alle praktisch ver - wertbaren Erfindungen aufzugreifen und zu verarbeiten, und bei fremden Völkern im Interesse ihres Handels künstliche Bedürfnisse grosszuziehen verstehen, sonst aber selbst ihren nächsten Stammesangehörigen jedes menschliche Recht rauben, die nirgends etwas organisieren, ausser Steuern und unbedingte Knechtschaft, die überhaupt, gleichviel wo sie138Das Erbe der alten Welt.auch Fuss fassen, niemals ein ganzes Land ordnend zu beherrschen trachten, sondern stets nur auf Handelsobjekte fahnden, sonst aber alles so barbarisch lassen, wie es ist: man wird, sage ich, von solchen echten Räubern die Römer zu unterscheiden lernen, die um den unverrück - baren heimatlichen Mittelpunkt herum langsam und notgedrungen, um sich die Segnungen ihrer eigenen Ordnung daheim zu bewahren, ihren ordnenden, klärenden Einfluss auch nach aussen ausbreiten müssen, niemals eigentlich erobernd (wenn sie es vermeiden können), jede Eigenart mit Verehrung schonend, dabei aber so vorzüglich organi - sierend, dass Völker mit der Bitte zu ihnen kommen, an dem Segen dieser Ordnung teilnehmen zu dürfen,1)Eines der letzten Beispiele sind die Juden, welche mit der flehenden Bitte nach Rom kamen (um das Jahr 1) sie von ihrem semitischen Königtum zu erlösen und als römische Provinz aufzunehmen. Welche Dankbarkeit sie dem mild und nachsichtig regierenden Rom später bewiesen, ist bekannt. ihr eigenes, vortreffliches, » römisches Recht « in liberalster Weise vielen, nach und nach immer zahlreicheren zugänglich machend, zugleich die verschiedenen fremden Rechte mit Zugrundelegung des römischen zu einem allmählich sich klärenden » allgemeinen Weltrecht «2)Über das häufig sehr unklar entwickelte und definierte » jus gentium « schreibt Esmarch in seiner » Römischen Rechtsgeschichte «, 3. Aufl., S. 185: » Dieses Recht ist im römischen Sinne weder als ein aus der Vergleichung der bei allen den Römern bekannten Völkern geltenden Rechte gewonnenes Aggregat zufällig gemeinsamer Rechtssätze, noch als ein objektiv bestehendes, vom römischen Staate anerkanntes und rezipiertes Handelsrecht, sondern seiner wesentlichen Substanz nach als eine dem Kerne des römischen Volksbewusstseins ent - sprungene Ordnung für die internationalen privatrechtlichen Beziehungen auf - zufassen. « Innerhalb der einzelnen Länder blieben die Rechtsverhältnisse von den Römern möglichst unangetastet, einer der überraschendsten Beweise von dem grossen Respekt, den sie jeder Eigenart zollten. vereinigend: das alles ist doch wahrlich kein Räuberhandwerk! Vielmehr haben wir darin die Vor - arbeiten zu erblicken für die dauernde Einführung indoeuropäischer Freiheits - und Civilisationsideale. Mit Recht sagt Livius: » Nicht unsere Waffen allein, auch die römische Gesetzgebung eroberte uns weithinreichenden Einfluss «.

Man sieht, die übliche Auffassung Roms, als der erobernden Nation par excellence, ist eine durchaus falsche. Sogar als es sich selber untreu geworden oder vielmehr, als das römische Volk eigent - lich von der Erde ganz und gar verschwunden war und nur die Idee desselben noch über seinem Grabe schwebte, sogar dann noch konnte es von diesem grossen Prinzip seines Lebens nicht weit ab -139Römisches Recht.weichen: selbst die rohen Soldatenkaiser vermochten es nicht, diese Tradition zu brechen. Darum kommt auch der wahre Schlachtenheld als einzelne Erscheinung unter den Römern gar nicht vor. Ich will nicht erst Alexander, Karl XII. oder Napoleon zum Vergleich heran - ziehen, ich frage aber, ob nicht der eine Hannibal als erfindungsreicher, verwegener, eigenmächtiger Kriegsfürst mehr eigentliche Genialität an den Tag gelegt hat, als alle römische Imperatoren zusammen?

Dass Rom nicht für ein zukünftiges Europa, dass es nicht im Interesse einer fernhinreichenden Kulturaufgabe, sondern für sich selbst gekämpft hat, das braucht kaum gesagt zu werden; gerade dadurch aber, dass es seine eigenen Interessen mit der rücksichtslosen Energie eines moralisch starken Volkes verfocht, hat es jene » geistige Entwickelung der Menschheit, die auf dem indogermanischen Stamm beruht «, vor sicherem Untergang bewahrt. Das sieht man am besten in dem entscheidensten aller seiner Kämpfe, dem mit Karthago. Wäre Roms politische Entwickelung nicht bis dahin so streng logisch gewesen, hätte es nicht bei Zeiten das übrige Italien sich unterordnet und diszipliniert, so wäre jener vorhin genannte tötliche Schlag auf Freiheit und Civilisation von den verbündeten Asiaten und Puniern noch ausgeführt worden. Und wie wenig ein einzelner Held solchen weltgeschichtlichen Lagen gegenüber vermag, trotzdem er allein sie vielleicht überblickt, zeigt uns das Schicksal Alexander’s, der Tyrus vernichtet hatte und gegen Karthago zu ziehen gedachte, bei seinem frühen Tode aber nichts hinterliess, als die Erinnerung an sein Genie. Das langlebige römische Volk dagegen war jener grossen Aufgabe gewachsen, welche es zuletzt in die lapidaren Worte zusammenfasste: delenda est Carthago.

Wie viel hat man nicht über die Vertilgung Karthagos durch die Römer gewehklagt und moralisiert, von Polybius bis zu Mommsen! Erfrischend wirkt es, wenn man einmal einem Schriftsteller begegnet, der, wie Bossuet, einfach meldet: » Karthago wurde eingenommen und vertilgt von Scipio, der sich hierin würdig seines grossen Ahnen erwies «, ohne jede moralische Entrüstung, ohne die übliche Phrase: aller Jammer, der später über Rom hereinbrach, sei eine Vergeltung für diese Missethat. Ich schreibe nicht eine Geschichte Roms und habe folglich auch nicht über die Römer zu Gericht zu sitzen; Eines aber ist so klar wie die Sonne am Mittag: wäre das phönicische Volk nicht ausgerottet, wären seine Überreste nicht durch die spurlose Vertilgung seiner letzten Hauptstadt eines Vereinigungspunktes beraubt140Das Erbe der alten Welt.und zum Aufgehen in andere Nationen gezwungen worden, so hätte die Menschheit dieses 19. Jahrhundert, auf welches wir jetzt, bei aller demütigen Anerkennung unserer Schwächen und Narrheiten, doch mit Stolz und zu Hoffnungen berechtigt zurückblicken, niemals erlebt. Bei der unvergleichlichen Zähigkeit der Semiten hätte die geringste Schonung genügt, damit die phönicische Nation von neuem wieder entstehe; in einem nur halbverbrannten Karthago hätte ihre Lebens - fackel unter der Asche weiter geglimmt, um, sobald das römische Kaiserreich seiner Auflösung entgegenging, von Neuem hell aufzulodern. Mit den Arabern, die unsere Existenz lange arg bedrohten, sind wir bis heute noch nicht fertig geworden,1)Der Kampf, der in den letzten Jahren in Zentralafrika zwischen dem Congo-Freistaat und den Arabern wütete (ohne das er in Europa viel Beachtung gefunden hätte), ist ein neues Kapitel in dem alten Krieg zwischen Semiten und Indoeuropäern um die Weltherrschaft. Erst seit etwa 50 Jahren sind die Araber von der Ostküste Afrikas aus weit ins Innere und bis nahe an den atlantischen Ozean vorgedrungen; der berühmte Hamed ben Mohammed ben Juna, genannt Tippu-Tib, war lange Zeit unumschränkter Herrscher über ein gewaltiges Reich, welches fast quer durch ganz Afrika in einer Breite von etwa 20 Grad reichte. Zahllose Völkerschaften, die noch Livingstone glücklich und friedliebend angetroffen hatte, sind inzwischen teils gänzlich vernichtet da der Sklavenhandel nach aussen der Haupterwerb der Araber ist und niemals im Laufe der Geschichte der Menschheit in einem solchen Masse betrieben wurde wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts , teils haben die Eingeborenen durch den Kontakt mit den semitischen Herrschern eine merkwürdige moralische Umwandlung durchgemacht: sie sind Menschenfresser geworden und damit zugleich aus grossen dummen Kindern zu wilden Bestien. Bemerkenswert ist es, dass die Araber nichtsdesto - weniger dort, wo sie es für lohnend fanden, als gebildete, kenntnisreiche, kluge Leute grossartige Kulturen angelegt haben, so dass es Teile vom Congo-Fluss - gebiete giebt, die fast so schön bebaut sein sollen, wie ein elsässisches Gut. In Kassongo, der Hauptstadt dieser reichen Gegend, fanden die belgischen Truppen grossartige arabische Häuser mit seidenen Vorhängen, Bettdecken von Atlas, prächtig geschnitzten Möbeln, Silbergeschirr u. s. w.; die Ureinwohner dieser selben Gebiete sind aber inzwischen hinabgesunken zu Sklaven und zu Menschenfressern. Ein recht handgreifliches Beispiel des Unterschiedes zwischen civilisieren und Kultur spenden! (Siehe namentlich Dr. Hinde: The fall of the Congo Arabs, 1897, S. 66 ff., 184 ff. etc.) und ihre Schöpfung, der Mohammedanismus, bildet ein Hindernis, wie kein zweites, für jeden Fortschritt der Civilisation und hängt in Europa, Asien und Afrika als Damoklesschwert über unserer mühsam aufstrebenden Kultur; die Juden stehen sittlich so hoch über allen anderen Semiten, dass man sie kaum mit jenen (von jeher übrigens ihre Erbfeinde) zugleich nennen141Römisches Recht.mag, und doch müsste man blind oder unehrlich sein, wollte man nicht bekennen, dass das Problem des Judentums in unserer Mitte zu den schwierigsten und gefährlichsten der Gegenwart gehört; nun denke man sich dazu noch eine phönicische Nation, von frühester Zeit an alle Häfen besetzt haltend, allen Handel monopolisierend, im Besitze der reichsten Metropole der Welt und einer uralten nationalen Religion (gewissermassen Juden, die niemals Propheten gekannt hätten) ! Es ist kein phantastisches Geschichtsphilosophieren, sondern eine objektiv beweisbare Thatsache, dass unter solchen Be - dingungen das, was wir heute Europa nennen, niemals hätte entstehen können. Von Neuem verweise ich auf die gelehrten Werke über die Phöni - cier, vor Allem aber, weil Jedermann zugänglich, auf die meisterhafte Zusammenfassung in Mommsen’s Römische Geschichte, drittes Buch, Kapitel I » Karthago «. Die geistige Unfruchtbarkeit dieses Volkes war geradezu entsetzenerregend. Trotzdem das Schicksal die Phönicier zu Maklern der Civilisation gemacht, hat sie dies nie dazu angeregt, auch nur das Geringste selber zu erfinden; die Civilisation blieb überhaupt für sie etwas ganz Äusserliches; was wir » Kultur « nennen, haben sie bis zuletzt nie geahnt: in den herrlichsten Stoffen gekleidet, von Kunstwerken umgeben, im Besitze alles Wissens ihrer Zeit, trieben sie nach wie vor Zauberei, brachten Menschenopfer, und lebten in einem solchen Pfuhl unnennbarer Laster, dass die verdorbensten Orien - talen sich mit Abscheu von ihnen abwandten. Über ihr Wirken zur Verbreitung der Civilisation urteilt Mommsen: » Das haben sie mehr wie der Vogel das Samenkorn,1)Jeder Leser weiss wohl, durch welchen automatischen Prozess der Vogel unwissend zur Verbreitung der Pflanzen beiträgt? als wie der Ackersmann die Saat ausgestreut. Die Kraft, die bildungsfähigen Völker, mit denen sie sich berührten, zu civilisieren und sich zu assimilieren, wie sie die Hellenen und selbst die Italiker besitzen, fehlt den Phönikern gänzlich. Im Eroberungsgebiet der Römer sind vor der romanischen Zunge die iberischen und die keltischen Sprachen verschollen; die Berbern Afrikas reden heute noch dieselbe Sprache wie zu den Zeiten der Hannos und der Barkiden. Aber vor Allem mangelt den Phönikern, wie allen aramäischen Nationen im Gegensatz zu den indogermanischen, der staatenbildende Trieb, der geniale Gedanke der sich selber regierenden Freiheit. « Wo die Phönicier sich niederliessen, war ihre Verfassung im letzten Grunde einfach » ein Kapitalistenregiment, bestehend142Das Erbe der alten Welt.einerseits aus einer besitzlosen, von der Hand in den Mund lebenden städtischen Menge (auf dem Lande die unterworfenen, als rechtloses Sklavenvieh behandelten Völker), andrerseits aus Grosshändlern, Plan - tagenbesitzern und vornehmen Vögten. « Das sind die Menschen, das ist der verhängnisvolle Zweig aus der semitischen Verwandtschaft, vor dem wir durch das brutale delenda est Carthago gerettet worden sind. Und sollte es wahr sein, dass die Römer in diesem Falle, mehr als sonst bei ihnen üblich, den niedrigeren Ein - gebungen der Rache, vielleicht sogar der Eifersucht gefolgt sind, so muss ich umsomehr die unfehlbare Sicherheit des Instinktes bewundern, welche sie, selbst dort, wo sie von bösen Leidenschaften verblendet waren, dasjenige treffen liess, was nur irgend ein kühl berechnender, mit prophetischem Blick begabter Politiker zum Heil der Menschheit von ihnen hätte fordern müssen. 1)Mommsen, der das römische Verfahren gegen Karthago streng verurteilen zu müssen glaubt, giebt doch an einer späteren Stelle (V, 623) zu, dass weder Herrsch - noch Habsucht es bestimmt habe, sondern, meint er, Furcht und Neid. Für die prinzipielle Auffassung der Rolle Roms in der Weltgeschichte ist gerade diese Unterscheidung von Wichtigkeit. Kann man inmitten einer Welt, welche als Norm für das internationale Recht einzig die Macht anerkennt, von einem starken Volk feststellen, es sei nicht habsüchtig und nicht herrschsüchtig, so hat man, dünkt mich, seinem sittlichen Charakter ein Zeugnis ausgestellt, wodurch es über alle zeitgenössischen Völker erhaben emporragt. Was die » Furcht « jedoch anbelangt, so war sie durchaus berechtigt, und es ist wohl gestattet, zu meinen, dass der römische Senat die Situation richtiger beurteilt hat, als Herr Mommsen. Caesar, der eigenmächtige, von dem selbst sein eifriger Freund Celius sagen muss, er opfere die Interessen des Staates seinen persönlichen Plänen, baute ja später Karthago wieder auf; und was wurde daraus? Die berüchtigtste Lasterhöhle der Welt, in der alle, die ihr Schicksal dahin warf, Römer, Griechen, Vandalen, bis auf das Mark der Knochen verkamen; solche verheerende Zauberkraft besass noch, auf der Stätte, wo ein halbes Jahrtausend lang phönicische Greuel gewaltet hatten, der auf ihm lastende Fluch! Dass aus seinen Lupanaren ein mächtiger Schrei der Empörung gegen alles, was Civilisation hiess, hervorging: Tertullian und Augustinus, das ist das Einzige, was wir der kurzsichtigen und kurzlebigen Schöpfung Caesar’s als Verdienst anrechnen können. Zur Charakterisierung des 19. Jahr - hunderts sei das Urteil seines angeblich grössten Historikers angeführt. Herr Leopold von Ranke urteilt: » Das phönicische Element hat durch Handel, Kolonisation undzuletzt auch durch Krieg einen doch in der Hauptsache belebenden Einfluss auf den Occident ausgeübt. « (Weltgeschichte I, 542.)

Ein zweites römisches delenda hat für die Weltgeschichte eine vielleicht ebenso unermessliche Bedeutung: das delenda est Hierosolyma. Ohne diese That (welche wir allerdings den ewig gegen jede Staats -143Römisches Recht.Ordnung sich auflehnenden Juden mehr als den langmütigen Römern zu verdanken haben), hätte das Christentum sich schwerlich jemals vom Judentum losgerissen, sondern wäre zunächst eine Sekte unter Sekten geblieben. Die Gewalt der religiösen Idee hätte aber gesiegt, das kann gar nicht in Frage gezogen werden; die enorme und zu - nehmende Ausbreitung der jüdischen Diaspora vor Christi Zeiten be - zeugt es; wir hätten also ein durch christliche Anregung reformiertes, weltbeherrschendes Judentum erhalten. 1)Die Diaspora nennt man die erweiterte jüdische Gemeinde. Ursprünglich verstand man darunter diejenigen Juden, die es vorgezogen hatten, aus der baby - lonischen » Gefangenschaft « nicht heimzukehren, weil es ihnen dort viel besser ging, als in ihrer Heimat. Bald war keine wohlhabende Stadt der Welt ohne jüdische Gemeinde; nichts ist falscher als die verbreitete Vorstellung, erst die Zer - störung Jerusalems habe die Juden über die Welt zerstreut. In Alexandrien und Umgebung allein rechnete man unter den ersten römischen Kaisern eine Million Juden, und schon Kaiser Tiberius erkannte diesen theokratischen Staat inmitten des Rechtsstaates für eine grosse Gefahr. Die Diaspora machte eifrig und mit grossem Erfolge Propaganda, wobei die Liberalität, mit der sie Männer als » Halbjuden « mit Nachsicht der peinlichen Einweihungszeremonie aufnahmen, ihr sehr zu statten kam; ausserdem sprachen noch materielle Vorteile mit, da die Juden ihre Religion be - nutzt hatten, um vom Militärdienst und von einer Reihe anderer lästiger, bürger - licher Pflichten sich freisprechen zu lassen; den grössten Erfolg hatten jedoch die hebräischen Missionäre bei den Weibern. Bemerkenswert ist nun vor allem die Thatsache, dass diese internationale Gemeinde, welche Hebräer und Nichthebräer enthielt und in der alle Schattierungen des Glaubens vertreten waren, vom bigottesten Pharisäertum bis zur offen höhnenden Irreligion, wie ein Mann zusammenhielt, sobald es um die Privilegien und die Interessen der gemeinsamen Judenschaft ging: der jüdische Freidenker hätte um nichts in der Welt es versäumt, seinen jährlichen Beitrag für die Tempelopfer nach Jerusalem einzusenden; Philon, der berühmte Neoplatoniker, der an Jahve ebensowenig glaubte wie an Jupiter, vertrat dennoch die jüdische Gemeinde von Alexandrien in Rom, zu Gunsten der durch Caligula bedrohten Synagogen; Poppaea Sabina, die Geliebte und später die Gemahlin Nero’s, keine Hebräerin, aber ein eifriges Mitglied der jüdischen Diaspora, unter - stützte die Bitten von Nero’s Liebling, dem jüdischen Schauspieler Alityrus, die Sekte der Christen auszurotten, und wurde dadurch höchst wahrscheinlich die moralische Urheberin jener grässlichen Verfolgung des Jahres 64, bei welcher an. geblich auch die Apostel Peter und Paul ihr Ende fanden. Die Thatsache, dass die Römer, die sonst zu jener Zeit Christen von orthodoxen Juden nicht zu trennen wussten, sie bei dieser Gelegenheit ganz genau unterschieden, betrachtet Renan als endgültige Bestätigung dieser Anklage, die schon im 1. Jahrhundert gegen die Diaspora erhoben wurde (in Tertullian’s Apologeticus, Kap. XXI z. B. etwas verblümt, aber doch deutlich, siehe auch Renan: L’Antéchrist, ch. VII). Neuere zwingende Beweise, dass bis zu Domitian, also bis lange nach Nero’s Tod, die Römer die Christen als jüdische Sekte betrachteten, findet man in Neumann’s:Vielleicht wendet man ein:144Das Erbe der alten Welt.das sei ja eingetreten, das sei ja unsere christliche Kirche. Gewiss, zum Teil ist der Einwand berechtigt; kein gerecht denkender Mann wird den Anteil leugnen wollen, der dem Judentum an ihr zufällt. Wenn man aber sieht, wie in der frühesten Zeit die Anhänger Christi die strenge Befolgung des jüdischen » Gesetzes « forderten, wie sie sogar, weniger liberal als die Juden der Diaspora, keine » Heiden « in ihre Gemeinschaft aufnahmen, die nicht das allen Semiten gemeinsame Mal der circumcisio sich hatten aufdrücken lassen, wenn man die Kämpfe bedenkt, die der Apostel Paulus (der Heiden-Apostel) bis an seinen Tod gegen die Juden-Christen zu bestehen hatte, und dass selbst noch viel später, in der Offenbarung Johannis (III, 9) er und die Seinen geschmäht werden als: » die aus Satanas Schule, die da sagen, sie sind Juden und sind es nicht, sondern lügen «, wenn man die Autorität Jerusalems und seines Tempels auch innerhalb des paulinischen Christentums als ein - fach unüberwindbar weiter bestehen sieht, solange beide überhaupt noch standen,1)Vergl. hierüber z. B. Graetz: Volksth. Geschichte der Juden, I, 653. so kann man nicht bezweifeln, dass die Religion der civilisierten Welt unter dem rein jüdischen Primat der Stadt Jerusalem geschmachtet hätte, wäre Jerusalem nicht von den Römern vernichtet worden. Ernest Renan, gewiss kein Feind der Juden, hat in seinen Origines du Christianisme (Band IV, Kap. 20) in beredten Worten ge - zeigt, welche » immense Gefahr « darin gelegen hätte. 2)In seinen Discours et Conférences, 3e ed. p. 350 nennt er die Zerstörung Jerusalems: » un immense bonheur «.Schlimmer noch als das Handelsmonopol der Phönicier wäre das Religionsmonopol der Juden gewesen; unter dem bleiernen Druck dieser geborenen Dogmatiker und Fanatiker wäre jede Denk - und Glaubensfreiheit aus der Welt entschwunden; die platt-materialistische Auffassung Gottes wäre unsere Religion, die Rabulistik unsere Philosophie gewesen. Auch dies ist kein Phantasiebild, es reden hier nur zu viele That - sachen; denn was ist jenes starre, engherzige, geistig beschränkte Dog - matisieren der christlichen Kirche, desgleichen kein arisches Volk sich jemals austräumte, was ist jener alle Jahrhunderte bis auf unser 19. hinab schändende blutgierige Fanatismus, jener der Religion der1)Der römische Staat und die allgemeine Kirche (1890) S. 5 ff. und 14 ff. Dass Tacitus genau zwischen Juden und Christen unterschied, beweist in dieser Sache offenbar gar nichts, da er 50 Jahre nach Nero’s Verfolgung schrieb, und das Wissen einer späteren Zeit in seiner Erzählung auf die frühere übertrug. Siehe auch über die » jüdische Eifersucht « Paul Allard: Le Christianisme et l’Empire romain de Néron à Théodose, ch. I.145Römisches Recht.Liebe von Anfang an anhaftende Fluch des Hasses, von denen Grieche und Römer, Inder und Chinese, Perser und Germane schaudernd sich abwenden? was denn, wenn nicht der Schatten jenes Tempels, in welchem dem Gott des Zornes und der Rache geopfert wurde, ein dunkler Schatten, hingeworfen über das jugendliche Heldengeschlecht, » das aus dem Dunkeln ins Helle strebt? «

Ohne Rom, das ist sicher, wäre Europa eine blosse Fortsetzung des asiatischen Chaos geblieben. Griechenland hat stets nach Asien gravitiert, bis Rom es losriss. Dass der Schwerpunkt der Kultur end - gültig nach Westen verlegt, dass der semitisch-asiatische Bann gebrochen und wenigstens teilweise abgeworfen wurde, dass das vorwiegend indogermanische Europa nunmehr das schlagende Herz und das sinnende Hirn der ganzen Menschheit wurde, das ist das Werk Roms. Indem dieser Staat sein eigenes praktisches (aber, wie wir sahen, durchaus nicht unideales) Interesse, rücksichtslos eigennützig, oft grausam, immer hart, selten unedel verfocht, hat es das Haus bereitet, die starke Burg, in welchem sich dieses Geschlecht nach langen, ziellosen Wanderungen niederlassen und zum Heil der Menschheit organisieren sollte.

Zu diesem Werke Roms waren so viele Jahrhunderte vonnöten und ein so hoher Grad jenes unfehlbaren, eigensinnigen Instinktes, der das Richtige trifft, auch wo es das Unvernünftige scheinen muss, der Gutes schafft selbst dort, wo es Böses will, dass hier nicht das flüchtige Dasein hervorragender Individuen, sondern die widerstands - fähige und fast wie eine Naturmacht wirkende Einheit eines hartgestählten Volkes das Richtige und einzig Wirksame war. Darum ist die sogenannte » politische Geschichtsschreibung «, diejenige, heisst das, welche aus den Biographien vielgenannter Männer, den Kriegsannalen und den diplo - matischen Archiven das Leben eines Volkes aufzubauen unternimmt, für Rom so besonders wenig am Platze; sie verzerrt hier nicht allein, sondern das Wesentliche enthüllt sie dem Blicke überhaupt nicht. Denn was wir heute, zurückblickend und philosophierend, als das Amt oder als die Aufgabe Roms in der Weltgeschichte auffassen, ist doch nichts weiter, als ein Ausdruck für das aus der Vogelschau gewonnene Bild des Gesamtcharakters dieses Volkes. Und da müssen wir wohl sagen, die Politik Roms bewegt sich in einer geraden und wie spätere Zeiten gezeigt haben durchaus richtigen Linie, so lange sie nicht von fachmässigen Politikern getrieben wird. Die Periode um Caesar herum ist die verworrenste und unheilvollste; jetzt starb beides: Volk und Instinkt; das Werk blieb aber einstweilen bestehen und, inChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 10146Das Erbe der alten Welt.ihm verkörpert, die Idee des Werkes, doch nirgends als Formel herausschälbar und für künftige Handlungen eine Norm, und zwar darum nicht, weil das Werk nicht ein vernünftiges, überlegtes, bewusstes, sondern ein unbewusstes, aus Not vollbrachtes gewesen war.

Das kaiser - liche Rom.
129

Nach dem Untergang des echten römischen Volkes, lebte nun diese Idee die Idee des römischen Staates in den Hirnen ver - schiedener einzelner zu Macht berufener Männer sehr verschieden wieder auf. Augustus z. B. scheint wirklich der Meinung gewesen zu sein, dass er die römische Republik wieder hergestellt habe, sonst würde Horaz sich sicher nicht gestattet haben, ihn dafür zu loben. Tiberius, der die schon früher bestrafte Beleidigung der Majestät des römischen Volkes (das crimen majestatis) zu dem Begriff eines ganz neuen Verbrechens, der Majestätsbeleidigung seiner caesarischen Person umwandelte, machte hiermit einen gewaltigen Schritt weiter auf dem Wege zur Verflüchtigung des thatsächlichen, durch das Volk Roms erschaffenen freien Staates zu einer blossen Idee, (einen Schritt, von dem wir im 19. Jahrhundert noch nicht zurückgekommen sind). So fest sass aber dennoch in allen Herzen der römische Gedanke, dass ein Nero sich selbst tötete, weil der Senat ihn als » Feind der Republik « gebrandmarkt hatte. Bald jedoch fand sich die stolze Patrizierversammlung Männern gegenüber, die vor dem magischen Worte senatus populusque romanus nicht erblassten: die Soldaten wählten den Träger des römischen Imperiums; es währte nicht lange und die Römer, sowie überhaupt die Italer, waren auf ewig von dieser Würde ausgeschlossen: Spanier, Gallier, Afrikaner, Syrier, Goten, Araber, Illyrier folgten einander; nicht Einer wahrscheinlich war auch nur entfernt mit jenen Männern verwandt, die mit sicherem Instinkte den römischen Staat geschaffen. Und doch, die Idee lebte weiter. In dem Spanier Trajan erreichte sie sogar einen Höhepunkt des Glanzes und wirkte unter ihm und seinen unmittelbaren Nachfolgern so nachdrücklich im Sinne einer ordnenden, civilisierenden Macht, die nur dort erobernd sich ausdehnt, wo die Konsolidierung des Friedens es unbedingt erheischt, dass man wohl sagen kann, während des antoninischen Jahrhunderts sei der römische Weltgedanke der im früheren Volke nur als Trieb, nicht als Absicht gelebt hatte zum Bewusstsein seiner selbst gekommen, und zwar in einer Art, wie das nur im Geiste edeldenkender Aus - länder möglich war, die sich einem Fremden gegenüber fanden, welches sie nunmehr mit voller Objektivität auffassten, um es mit Treue und Verstand ins Werk zu setzen. Für alle Zukunft hatte147Römisches Recht.diese Zeit einen grossen Einfluss; wo immer in edler Absicht an die Idee eines römischen Reiches später angeknüpft wurde, geschah es fortan unter dem Eindruck und in Nachahmung von Trajan, Hadrian, Antoninus Pius und Marc Aurel. Und doch liegt eine eigentümliche Seelenlosigkeit in dieser ganzen Periode. Es waltet hier die Herr - schaft des Verstandes, das Herz schweigt; der leidenschaftslose Mechanis - mus greift bis in die Seele hinein, die nicht aus Liebe, sondern aus Vernunft das Rechte thut: Marc Aurel’s » Selbstgespräche « sind das Spiegelbild dieser Geistesverfassung, Faustina’s, seiner Gemahlin, sinn - liche Verirrungen die unausbleibliche Reaktion. Die Wurzel Roms, die leidenschaftliche Liebe der Familie, des Heims, war ausgerottet; nicht einmal das berühmte Gesetz gegen die Junggesellen, mit Prämien für Kindererzeugung (Lex Julia et Papia Poppaea), hatte die Ehe wieder beliebt machen können. Wo das Herz nicht gebietet, ist nichts von Bestand. Und nun ergriffen andere Ausländer die Gewalt, diesmal freilich leidenschaftsvolle, aber ohne Verstand, afrikanische Mestizen, Soldatenkaiser, die in dem römischen Staatsgedanken vor allem eine riesige Weltkaserne erblickten und nicht begriffen, warum gerade Rom das permanente Hauptquartier sein sollte. Gleich der zweite von ihnen, Caracalla, verlieh das römische Bürgerrecht an sämtliche Einwohner des Reiches: hierdurch hörte Rom auf, Rom zu sein. Genau tausend Jahre lang hatten die Bürger Roms (denen nach und nach auch die der übrigen Städte Italiens und anderer besonders verdienter Städte gleichgestellt worden waren) gewisse Vorrechte genossen, sie hatten sie aber durch die Last der Verantwortlichkeit, sowie durch rastlose, unvergleichlich erfolgreiche, harte Arbeit verdient; von nun an war Rom überall, das heisst nirgends. Wo der Kaiser sich gerade befand, da war der Mittelpunkt des römischen Reiches. Diocletian verlegte denn auch seine Residenz nach Sirmium, Konstantin nach Byzanz, und selbst als ein getrenntes » weströmisches Reich « später entstand, war die Hauptstadt Ravenna oder Mailand, Paris, Aachen, Wien, nie mehr Rom. Die Verleihung des Bürgerrechtes an alle hatte noch eine zweite Folge: es gab nun überhaupt gar keine Bürger mehr. Man hat Caracalla, die mörderische, pseudo-punische Bestie, für seine That früher gepriesen, es kommt sogar heute noch vor (siehe Leopold von Ranke, Weltgeschichte II, 195); in Wahrheit hatte er, indem er den letzten Faden der historischen Tradition, mit anderen Worten der geschichtlichen Wahrheit zerschnitt, auch die letzte Spur jener Freiheit vertilgt, deren unbändige, aufopferungsvolle, durch und durch10*148Das Erbe der alten Welt.ideale Kraft die Stadt Rom und mit ihr Europa geschaffen hatte. Das politische Recht war freilich nunmehr für alle gleich geworden; es war die Gleichheit der absoluten Rechtlosigkeit. Das Wort civis (Bürger) wich jetzt dem Ausdruck subjectus (Unterthan): umso be - merkenswerter, als allen Zweigen der Indoeuropäer der Begriff des Unterthanenseins ebenso fremd war, wie der des Grosskönigtums, so dass wir schon in dieser einen Umwandlung des Rechtsbegriffes den unwiderlegbaren Beweis semitischen Einflusses besitzen (nach Leist: Gräco-italische Rechtsgeschichte, S. 106 u. 108). Der römische Ge - danke bestand allerdings noch immer, er hatte sich aber in einer einzigen Person, dem Kaiser, konzentriert oder, wenn man will, sich in sie verflüchtigt; die Privilegien Roms und ihre Machtvoll - kommenheiten waren nicht etwa aus der Welt entschwunden, sie waren aber alle auf einen einzigen Mann übergegangen: das ist der Verlauf von Augustus bis Diocletian und Konstantin. Der erste Caesar hatte sich begnügt, alle wichtigsten Staatsämter in seinen Händen zu. vereinen1)Augustus war zugleich: 1. Princeps, das heisst erster Bürger, damals eigentlich nur ein Ehrentitel, 2. Imperator, oberster Kriegsherr, 3. lebenslänglicher Volkstribun, 4. Pontifex maximus, das höchste, religiöse, von jeher lebenslängliche Amt, 5. zwar nicht lebenslänglicher Consul, doch im dauernden Besitz der kon - sularischen Gewalt, 6. desgleichen der prokonsularischen, welche die Regierung sämtlicher Provinzen umfasste, 7. desgleichen der censorischen, welche die Sittenkontrolle und die Befugnis, Senatoren, Ritter u. s. w. zu ernennen und zu kassieren, umfasste., und das war ihm nur zu einem bestimmten, zeitlich be - schränkten Zweck bewilligt worden, zur Wiederherstellung der recht - lichen Ordnung in der civilisierten Welt (restauratio orbis); innerhalb dreier Jahrhunderte war man nun auf diesem Wege dahin gekommen, nicht allein alle Ämter, sondern auch alle Rechte sämtlicher Bürger einem einzigen zu verleihen. Wie schon in frühen Zeiten (bei dem. ersten Nachfolger des Augustus) die Majestät vom Volk auf den einen übergegangen war, so nach und nach alle und jede Gewalt, alles und jedes Recht. Augustus hatte noch, wie jeder andere Bürger, in den Komitien seine Stimme abgegeben; jetzt sitzt auf dem Thron ein Monarch, dem man nur auf den Knieen » anbetend « nahen darf, und vor ihm sind alle Menschen gleich, denn alle, vom ersten Staats - minister bis zum letzten Bauern, sind seine Unterthanen. Und während so der » Grosskönig « und mit ihm alles, was zu seinem Hofe gehörte, an Reichtum und Würden immer höher stieg, sanken alle übrigen149Römisches Recht.immer tiefer: der Bürger durfte sich nicht einmal seinen Beruf mehr wählen, der Bauer, früher freier Besitzer seines Erbgutes, war Leib - eigener eines Herrn und an die Scholle gebunden; der Tod jedoch löst alle Bande, und es kam ein Tag, wo die Steuereinnehmer die ehedem blühendsten Gegenden des Reiches in ihren Berichten auf - führen mussten als agri deserti.

Es ist nicht meine Absicht, die Idee des römischen Staates hier historisch weiter zu verfolgen; Einiges wird in einem späteren Kapitel noch darüber zu sagen sein; ich begnüge mich, daran zu erinnern, dass ein römisches Reich dem Begriffe nach eine unmittelbare Fort - setzung des alten bis zum 6. August 1806 zu Recht bestand, und dass das allerälteste schon von Numa bekleidete römische Amt, das des Pontifex maximus, noch heute besteht; das Papsttum ist das letzte Bruchstück der uralten heidnischen vergangenen Welt, welches sich bis in die Gegenwart lebendig erhalten hat. 1)Hierüber Ausführliches im 7. Kapitel.Wenn ich aber Allbekanntes zusammenfassend andeutete, so geschah es in der Hoff - nung, dass ich die eigentümlich verwickelte Form der politischen Erbschaft, die unser Jahrhundert von Rom übernahm, hierdurch leb - hafter und anregender entwickeln könnte, als durch theoretische Auseinandersetzungen. Hier, wie in den anderen Teilen dieses Buches, handelt es sich nicht um gelehrte Betrachtungen, diese findet man in Geschichten des Staatsrechtes, sondern um allgemeine Ein - sichten, die Jedem zugänglich und auch für Jeden förderlich sind. In rein politischer Hinsicht erbten wir nun von Rom nicht eine ein - fache Idee, nicht einmal etwas so Einfaches, wie das, was z. B. in dem Wort » hellenische Kunst «, wie reichhaltig das Wort auch sein mag, zusammengefasst wird, sondern wir erbten ein merkwürdiges Gemisch von allerrealstem Besitz: Civilisation, Recht, Organisation, Verwaltung u. s. w., und zugleich von unfassbaren und dennoch übermächtigen Ideen, von Begriffen, denen kein Mensch beikommen kann und die nichtsdestoweniger, zum Guten und zum Schlimmen, auch heute noch unser öffentliches Leben beeinflussen. Sicherlich können wir unser eigenes Jahrhundert nicht gründlich und kritisch begreifen, wenn wir nicht über diese doppelte politische Erbschaft klare Vorstellungen besitzen.

Nachdem wir also jetzt das im engeren Sinn Politische be -Staatsrecht - liches Erbe. sprochen haben, werfen wir nun einen Blick auf das allgemein Staats -150Das Erbe der alten Welt.rechtliche und Ideelle, ehe wir zu der Betrachtung des Privatrechts übergehen.

So lange Rom positiv schöpferisch wirksam war über ein halbes Jahrtausend bis zu Caesar, und dann noch über ein Jahrhundert in der Agonie1)Der Erlass des Edictum perpetuum durch Hadrian ist vielleicht die letzte grosse schöpferische Wohlthat? könnte es uns als gänzlich ideenlos erscheinen; es schafft nur, es denkt nicht. Es schafft Europa, und es vernichtet, so weit möglich, die nächsten und gefährlichsten Feinde Europas. Das ist die positive Erbschaft dieser Zeit. Auch die Länder, die Rom niemals unterjocht hat, wie z. B. der grösste Teil Germaniens, haben doch alle Keime staatlicher Ordnung als Grundbedingung jeder Civilisation von ihm empfangen. Unsere Sprachen zeigen noch heute, wie alle Verwaltung auf römische Belehrung oder Anregung zurückgeht. Wir leben heute in so fest geordneten Zuständen, dass wir uns kaum vorstellen können, es sei jemals anders gewesen; nicht ein Mensch von zehntausend unter uns hat die geringste Ahnung von der Organisation der Staatsmaschine; alles dünkt uns notwendig und angeboren: das Recht, die Moral, die Religion, im Grunde auch der Staat. Und doch war der geordnete, feste und zugleich freier Menschen würdige Staat die gesamte Geschichte der Menschheit beweist es das schwierigste aller Werke zu erfinden und durchzuführen; die herrlichste Religion hatte man in Indien, eine vollendete Kunst in Athen, erstaunliche Civilisation in Babylonien, alles, ohne dass es gelungen wäre, einen freien und zugleich stabilen, rechtliche Zustände verbürgenden Staat zu gründen; für diese Heraklesarbeit reichte nicht ein einzelner Held, nur ein ganzes Volk von Helden konnte sie voll - bringen, ein jeder stark genug zum befehlen, ein jeder stolz genug zum gehorchen, alle einig im Wollen, ein jeder sein eigenes persön - liches Recht verfechtend. Lese ich römische Geschichte, so muss ich schaudernd mich abwenden; betrachte ich die zwei unvergleichlichen Schöpfungen dieses Volkes, den geordneten Staat und das Privatrecht, so kann ich nur in stummer Verehrung mich vor einer solchen geistigen Grösse verneigen.

Dieses Heldenvolk jedoch starb aus, und nach seinem gänzlichen Erlöschen kam, wie wir sahen, eine zweite Periode römischer Politik. Fremde Herrscher regierten und fremde Rechtsgelehrte bemächtigten sich, wie des unvergleichlichen, lebendig gewachsenen Privatrechts151Römisches Recht.(das sie in Spiritus thaten in der weisen Einsicht, dass es nunmehr nicht weiter sich vervollkommnen liess, sondern höchstens hätte entarten können), so auch des öffentlichen und des Staatsrechtes. Diese Ratgeber der Krone waren zumeist Kleinasiaten, Griechen und Semiten, also die anerkannten Meister in der Handhabung abstrakter Gedankendinge und juristischer Tüfteleien. Und nun entstand eine Auffassung des römischen Staates, in der nichts ganz neu erfunden, das Meiste aber umgedeutet, zu Prinzipien sublimiert und dann zu starren Dogmen krystallisiert wurde. Der Vorgang ist dem im Ab - schnitt über hellenische Kunst und Philosophie beschriebenen sehr analog. Die römische Republik war ein lebendiger Organismus ge - wesen, an dem das Volk ununterbrochen arbeitete und änderte; niemals war die formale Frage nach leitenden » Prinzipien « aufgetaucht, nie hatte der gegenwärtige Augenblick die Zukunft bannen wollen. Das ging sogar so weit, dass die höchsten Gerichtsbeamten, die Prätoren, auf ein Jahr ernannt, beim Antritt ihres Amtes, ein jeder ein sogenanntes » prätorisches Edict « erliess, in welchem er die Grund - sätze kundmachte, welchen er in der Rechtspflege zu folgen gedachte; dadurch war es möglich gewesen, wechselnden Zeiten und Umständen gerecht zu werden. Und in ähnlicher Weise war in diesem Staate alles elastisch, blieb alles in Fühlung mit den Bedürfnissen des Lebens. Genau aber wie die poetischen Eingebungen der griechischen Philo - sophen und ihre mystischen Deutungen des Unerkennbaren im helleno - semitischen Alexandrien zu Glaubensdogmen umgearbeitet wurden, so wurden auch hier Staat und Recht zu Dogmen, und ungefähr durch dieselben Leute. Diese Dogmen erbten wir, und es ist für uns nicht unwichtig, zu wissen, woher sie kommen und wie sie entstanden.

Ein Beispiel. Unser Begriff des Monarchen stammt weder von den Germanen, noch von den orientalischen Despoten, sondern von den gelehrten Juristen, die im Dienste des illyrischen Schafhirten Diocletian, des illyrischen Rinderhirten Galerius, des illyrischen Schweine - hirten Maximinus u. s. w. standen, und ist eine direkte Parodie wenn ich die Wahrheit reden darf der grössten römischen Staatsgedanken. » Der Staatsbegriff der Römer «, schreibt Mommsen, » beruht auf der idealen Übertragung der Handlungsfähigkeit des Einzelnen auf die Gesamtheit, die Bürgerschaft, den populus, und auf der Unter - ordnung des Einzelwillens aller der Gesamtheit angehörigen, physischen Personen unter diesen Gesamtwillen. Die Aufhebung der individuellen Selbständigkeit gegenüber dem Gesamtwillen ist das152Das Erbe der alten Welt.Kriterium der staatlichen Gemeinschaft «. 1)Ich citiere nach der gekürzten Ausgabe des Römischen Staatsrechts in Binding’s Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft, S. 81 ff.Um sich vorzustellen, was es mit dieser » Übertragung «, mit dieser » Aufhebung der individuellen Selbständigkeit « auf sich hat, muss man sich die unbändige individuelle Freiheitsliebe des einzelnen Römers ins Gedächtnis zurückrufen. Von dem ältesten rechtlichen Monument der Römer, den berühmten zwölf ehernen Tafeln (450 vor Chr.) sagt Esmarch: » Was zum präg - nantesten Ausdruck darin kommt, sind die Gewährleistungen der privatrechtlichen Selbstherrlichkeit der römischen Bürger «,2)Römische Rechtsgeschichte, 3. Aufl., S. 218. und als 350 Jahre später das erste ausführliche Rechtssystem in schriftlicher Form verfasst wurde, da hatten alle Stürme der Zwischenzeit in diesem einen Punkte keinen Unterschied veranlasst. 3)Allerdings bildeten gewisse Beschränkungen der Freiheit des Testierens ein erstes Anzeichen künftiger Zeiten.Als freier, » selbstherr - licher « Mann überträgt also der Römer an den Gesamtwillen, dessen selbstthätiges Glied er ist, so viel von seiner Freiheit, als zur Ver - teidigung dieser Freiheit vonnöten ist. » Der Gesamtwille ist nun an sich, wenn es gestattet ist, einen Ausdruck des römischen Privatrechts darauf anzuwenden, eine staatsrechtliche Fiktion. Thatsächlich wird dafür Vertretung erfordert. Als Willenshandlung der Gesamtheit gilt staatsrechtlich diejenige eines in dem bestimmten Fall für sie ein - tretenden Mannes. Immer ist die staatliche Willenshandlung in Rom die Handlung eines einzelnen Mannes, da das Wollen und Handeln an sich unteilbar ist; Gemeindehandlung durch Majoritäts - beschluss ist nach römischer Auffassung ein Widerspruch im Beisatz. « In jedem Satz dieses römischen Staatsrechtes sieht man ein Volk von starken, freien Männern: die Vertretung der ge - meinsamen Sache, d. h. des Staates, wird einzelnen Männern (Konsuln, Prätoren, Censoren u. s. w.) auf bestimmte Zeit anvertraut, sie haben dabei grösste Vollmacht und tragen volle Verantwortlichkeit. Im Not - falle geht diese Vollmachtserteilung so weit, dass sich die Bürger einen Diktator ernennen; alles im Interesse des Gemeinwesens und damit die Freiheit eines jeden unverletzt bleibe. Die späteren Kaiser nun, oder vielmehr ihre Ratgeber, haben nicht etwa diesen Staatsbegriff umgestossen; nein, auf ihn haben sie die monarchische Allgewalt rechtlich gegründet, was in der Geschichte der Welt noch niemals geschehen war. Anderwärts hatten einige Despoten als Götter -153Römisches Recht.söhne regiert, wie z. B. die ägyptischen und heute noch die japanischen, einige, früher und noch heute, als Vertreter Gottes, ich nenne nur die jüdischen Könige und die Kalifen, wieder andere durch das so - genannte jus gladii, das Recht des Schwertes. Dagegen gründeten die Soldaten, die sich des weiland römischen Reiches bemächtigt hatten, ihre Ansprüche, als absolute Autokraten zu herrschen, auf das römische Staatsrecht! Nicht wie ein griechischer Tyrann hätten sie die Gewalt usurpiert und die rechtmässige Ordnung gestürzt; im Gegenteil, der allgewaltige Monarch sei die Blüte, die Vollendung der ganzen recht - lichen Entwickelung Roms: das hatten die orientalischen Rechtslehrer herausgeklügelt. Mit Hilfe der soeben erläuterten Übertragungs - theorie war das Taschenkunststück vollbracht worden und zwar (den Hauptlinien nach) folgendermassen. Eine der Tragsäulen des römischen Staatsrechtes ist, dass keine Verordnung Gesetzeskraft hat, wenn sie nicht vom Volke genehmigt wird. Unter den ersten Kaisern bleibt auch der Schein in dieser Beziehung bewahrt. Nach Caracalla war aber » Rom « die ganze civilisierte Welt geworden. Und da wurden alle Rechte des Volkes zur Mitwirkung bei der Erlassung neuer Gesetze u. s. w. an den Senat » übertragen «. Es heisst im Corpus juris: » Da das römische Volk dermassen angewachsen ist, dass es schwer wäre, es an einen Ort zusammenzuberufen behufs Bestätigung der Gesetze, wurde es für gerecht erachtet, den Senat an Stelle des Volkes zu befragen. « Wie wir heute von einem Vice - könig reden, so hiess der Senat nunmehr vice populi. War auch die Zustimmung des Senats ebenfalls eine reine Formsache geworden, einmal im Besitze eines so schönen abstrakten Prinzips, konnte man nicht auf halbem Wege stehen bleiben; und darum heisst es dann auch weiter: » Aber auch das, was dem Fürsten anzuordnen gefällt, hat Gesetzeskraft, denn das Volk hat ihm seine ganze Machtfülle und alle seine Rechte übertragen. « 1)§ 5 und § 6 J. de jure naturali I, 2. Die letzten Worte des zweiten Auszuges habe ich einigermassen frei übersetzen müssen; es heisst im Original: omne suum imperium et potestatem; wie schwer es ist, diese Worte im genauen juristischen Sinne des alten Roms wiederzugeben, kann man bei Mommsen sehen, S. 85. Das imperium heisst ursprünglich » die Kundgebung des Gemeinde - willens «; daher der Träger dieses absoluten Gemeindewillens imperator hiess; beschränkter und mehr das Gebiet des Privatrechts bezeichnend ist das Wort potestas. Daher übersetzte ich durch Machtfülle und Rechte, und glaube damit den Sinn getroffen zu haben.Wir haben also hier die streng rechtliche Ableitung einer absoluten Monarchie, und zwar wie sie154Das Erbe der alten Welt.gewiss einzig aus der römischen Verfassung mit ihrer Ablehnung des Majoritätsprinzips und mit ihrem System, Vollmachten an einzelne Männer zu übertragen entwickelt werden konnte. 1)Als nicht unwichtig sei nebenbei bemerkt, dass eine Regierung durch Majoritätsbeschlüsse ebenso wenig hellenisch und germanisch, wie römisch war (worüber namentlich Leist: Gräco-italische Rechtsgeschichte S. 129, 133 ff., 727).Und dieses römische » Principat « (wie man es nennt, den Titel König hat kein Caesar getragen) bildet bis zum heutigen Tage die Grundlage alles europäischen Königtums! Durch die Einführung des Konstitutionalismus, noch mehr durch die Handhabung des Rechtes, findet allerdings in vielen Ländern jetzt eine Bewegung statt, zurück auf den freiheitlichen Standpunkt der alten Römer; prinzipiell ist aber der Monarch überall noch das, was die Rechtsautoritäten des verfallenden römischen Staates aus ihm gemacht hatten, ein Gebilde, heisst das, welches dem wahren Geiste des echten Römertums direkt widerspricht. Die Armee ist bei uns heute noch immer nicht das Volksheer, das seine Heimat ver - teidigt, sondern sie ist überall (selbst in England) des Königs Armee; die Beamten sind nicht Erwählte und Bevollmächtigte des Gesamt - willens, sondern Diener des Königs u. s. w., u. s. w. Das ist alles römisch, aber, wie gesagt, römisches aus der Rinder -, Schaf - und Schweinehirtenzeit. Ich kann das leider hier nicht näher ausführen, verweise aber zur Bestätigung auf die klassischen Werke von Savigny: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, und Sybel: Ent - stehung des deutschen Königtums, sowie auch auf Schulte: Deutsche Reichs - und Rechtsgeschichte. Überall bei uns ist die absolute Monarchie erst durch die Berührung mit dem römischen Reich entstanden. Überall hatten früher die germanischen Könige sehr beschränkte Rechte; die Majestätsbeleidigung (dieser Prüfstein) wurde entweder gar nicht als Verbrechen anerkannt oder durch ein einfaches » Wehrgeld « bestraft (Sybel, 2. Aufl. S. 352); die Ernennung der Grafen als Beamte des Königs kommt erst nach der Eroberung römischer Länder vor, ja, es giebt eine lange Zeit, wo die germanischen Könige grössere Rechte gegen ihre römischen Unterthanen, als gegen ihre freien Franken besitzen (Savigny I, Kap. IV, Abt. 3). Vor Allem ist der Begriff eines Unterthanen, des römischen subjectus, eine uns noch fest anhaftende Erbschaft, die uns recht deutlich empfinden lassen müsste, was uns noch alles mit dem römischen Reiche in der Zeit seines Verfalles verknüpft, und was uns noch alles von dem echten Heldenvolk der Römer scheidet.

155Römisches Recht.

Hiermit will ich aber keineswegs tendenziös moralisieren. Die altrömischen Regierungsformen wären für neue Verhältnisse und neue Menschen nicht verwendbar gewesen, reichten sie doch schon für das erweiterte Rom nicht mehr aus. Dazu war das Christentum gekommen, und mit ihm die Abschaffung der Sklaverei ein offen - bares Gebot geworden. Das alles machte ein starkes Königtum nötig. Ohne die Könige wäre das Sklaventum niemals in Europa abgeschafft worden, nie hätte der Adel seine Sklaven freigegeben, vielmehr machte er die freigeborenen Männer zu Leibeigenen. Das Erstarken des Königtums ist seit tausend Jahren überall eine Vorbedingung für das Erstarken geordneter gesellschaftlicher Verhältnisse und bürgerlicher Freiheit gewesen, und auch heute würde vielleicht in keinem einzigen Lande Europas ein ganz freies Plebiscit eine andere Regierungsform denn die monarchische als Gesamtwillen kundgeben. Immer klarer erfasst auch das öffentliche Bewusstsein durch die trügerischen Um - hüllungen hindurch, welche Rabulisten und Sophisten ihm umhingen, den echten Rechtsgehalt des Königtumes, nämlich die alte römische Auffassung eines obersten Staatsbeamten, vermehrt jedoch um ein Element, welches die Juristen ein » sacrales « nennen, und welches einen nicht unpassenden mystischen Ausdruck in den Worten findet: von Gottes Gnaden. Manches was wir in unserm lieben neunzehnten Jahrhundert um uns her beobachteten, berechtigt wohl zur Über - zeugung, dass wir ohne Königtum und ohne eine besondere Gnade Gottes uns noch heute nicht zu regieren verstehen würden. Dazu gehörten vielleicht nicht allein die Tugenden der Römer, sondern auch ihre Mängel, vor allem ihre übergrosse geistige Nüchternheit.

Wie dem auch sei, man sieht, das von Rom auf uns über - kommene politische und staatsrechtliche Erbe bildet eine ziemlich ver - wickelte und verworrene Masse, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen: erstens, weil Rom anstatt wie Athen kurz zu blühen und dann ganz zu verschwinden, 2500 Jahre lang bestand, zunächst als weltbeherrschender Staat, später als mächtige Staatsidee, wodurch die Einheit des Impulses sich in eine ganze Reihe von Anstössen auflöste, die sich häufig gegenseitig aufhoben; zweitens, weil das Werk eines unvergleichlich thatkräftigen, indoeuropäischen Volkes später von den subtilsten Geistern der westasiatischen Mischvölker bearbeitet und gehandhabt wurde, was abermals die Einheit des Charakters verwischte.

Ich hoffe, meine spärlichen Andeutungen über ungemein ver - wickelte weltgeschichtliche Verhältnisse werden genügt haben, um156Das Erbe der alten Welt.dem Leser als Richtungspfeile zu dienen. Damit man klar denke und deutlich vorstelle, ist es vor Allem nötig, richtig zu trennen und richtig zu verbinden. Das war mein Bestreben; darauf musste ich mich beschränken.

Juristische Technik.
137

Neben dieser mehr oder weniger unbewusst fortgeführten Erb - schaft besitzen wir Europäer ein Vermächtnis Roms, das wie kein zweites aus dem Altertum zu einem wesentlichen Bestandteil unseres Lebens und unserer Wissenschaft geworden ist: das römische Recht. Darunter ist sowohl das öffentliche Recht (jus publicum), wie auch das Privatrecht (jus privatum) zu verstehen. 1)Dass das öffentliche Recht der Römer auf uns Spätere nicht denselben Einfluss ausübt wie das Privatrecht, gestattet doch nicht, es ungenannt zu lassen, da ein mustergültiges Privatrecht nicht ohne ein vortreffliches öffentliches Recht entstehen konnte.Hierüber zu berichten, ist insofern ein Leichtes, als dieses Recht uns in einer sehr späten zusammenfassenden Kodifikation, der des Kaisers Justinian, aus der Mitte des 6. Jahrhunderts nach Christus, vorliegt und es ausserdem den Bemühungen der Juristen und Historiker gelungen ist, den Spuren des allmählichen Werdens dieses Rechtes bis weit hinauf nachzugehen, in letzter Zeit sogar, den Zusammenhang seiner Ursprünge mit dem altarischen Recht darzuthun, andrerseits die Schicksale dieses Rechtes in den verschiedenen Ländern Europas durch die Jahrhunderte der dunkeln Gährung hindurch bis auf den heutigen Tag zu verfolgen. Hier liegt also ein bestimmtes, klar gesichtetes Material vor und der Rechtsgelehrte kann leicht nachweisen, wie viel römisches Recht in den Gesetzbüchern unserer heutigen Staaten enthalten ist; leicht muss ihm der Nachweis auch fallen, dass die genaue Kenntnis des römischen Rechtes auf unabsehbare Zeiten hin die hohe Schule alles streng juridischen Denkens bleiben wird. Auch hier wieder ist in dem römischen Erbe ein doppeltes zu unterscheiden: thatsächliche Rechts - sätze, die Jahrhunderte lang bestanden haben und zum Teil noch heute bestehen, ausserdem aber ein Schatz an Ideen und Methoden. Das alles kann der Rechtsgelehrte leicht auseinandersetzen; jedoch nur, wenn er zu Rechtskundigen redet. Nun bin ich aber kein Rechtsgelehrter (wenn ich auch mit Fleiss und Liebe die Grund - prinzipien des Rechtes und den allgemeinen Gang seiner Geschichte studiert habe), noch darf ich Rechtskunde bei meinem Leser voraus -157Römisches Recht.setzen; meine Aufgabe ist also eine andere, durch den Zweck dieses Buches genau bestimmte. Nur von einem umfassenden, allgemein menschlichen Standpunkt aus darf ich kurz andeuten, wie so das römische Recht in der Geschichte der indoeuropäischen Völker eine so unvergleichliche Erscheinung war, dass sie bis auf den heutigen Tag ein Bestandteil unserer Kultur geblieben ist.

Warum ist es ganz unmöglich, über Jurisprudenz zu berichten, wenn der Hörer nicht über eine grosse Masse technischen juristischen Wissens verfügt? Diese vorläufige Frage wird uns gleich in medias res führen und zu einer, wenn nicht ausführlichen, so doch genauen Zergliederung dessen, was die Römer auf diesem Felde geleistet haben, den Weg weisen.

Die Jurisprudenz ist eine Technik: hierin liegt die Antwort eingeschlossen. Der Medizin vergleichbar, ist sie weder reine Wissen - schaft, noch reine Kunst; und während jede Wissenschaft in ihren Ergebnissen, jede Kunst durch ihre Wirkung allen begabten Menschen mitteilbar, in ihrem wesentlichsten Teile mithin Gemeingut ist, bleibt eine Technik einzig dem Techniker zugänglich. Freilich vergleicht Cicero die Jurisprudenz mit der Astronomie und der Geometrie, und meint: » alle diese Studien gelten der Erforschung der Wahr - heit «:1)De officiis I, 6. doch ist dies das Muster eines logisch falschen Vergleichs! Denn die Astronomie und die Geometrie erforschen thatsächliche, feste, unverrückbare Verhältnisse, die einen ausserhalb, die anderen innerhalb unseres Geistes,2)Dies sage ich ohne metaphysischen Hintergedanken; ob die mathematischen Begriffe Urteile a priori sind (wie Kant es behauptet) oder nicht, Jeder wird zu - geben, dass Geometrie eine rein formelle Bethätigung unseres Geistes ist, im Gegen - satz zur Erforschung der Himmelsräume. wogegen Rechtssätze zunächst aus der Beobachtung von wechselnden, widersprechenden, nirgends fest abzu - grenzenden Anlagen, Gewohnheiten, Sitten und Meinungen gewonnen werden, und die Jurisprudenz als Disziplin sich der Natur der Dinge nach darauf beschränken muss, das Vorhandene fester zu formulieren, genauer zu fassen, durch Zusammenstellung übersichtlich zu gestalten, und vor allem durch feinste Analyse genau zu gliedern und praktischen Bedürfnissen anzupassen. Das Recht ist, wie der Staat, eine menschliche, künstliche Schöpfung, eine neue systematische An - ordnung der durch die Natur des Menschen und durch seine gesell - schaftlichen Instinkte gegebenen Bedingungen. Die Fortschritte der158Das Erbe der alten Welt.Jurisprudenz bedeuten also keineswegs eine Zunahme des Wissens (was eine Wissenschaft doch bewirken muss), sondern lediglich eine Vervollkommnung der Technik; das ist aber sehr viel und kann hohe Gaben voraussetzen. Ein in grossen Mengen vorhandener Stoff wird nunmehr in konsequenter Weise und mit steigender Kunstfertigkeit vom menschlichen Willen dem menschlichen Lebenszweck gewidmet.

Zur grösseren Deutlichkeit ein Vergleich.

Wie sehr bedingt und darum wenig treffend wäre es, wenn man behaupten wollte: der Gott, der Eisen wachsen liess, habe auch die Schmiede wachsen lassen! In einem gewissen Sinne wäre die Aussage unleugbar richtig: ohne bestimmte Anlagen, die ihn trieben, ewig weiter zu forschen, ohne bestimmte Fähigkeiten zum Erfinden und zum Handhaben, wäre der Mensch niemals dazu gelangt, Eisen zu schmieden; er hat auch lange auf Erden gelebt, ehe er es soweit brachte. Durch Scharfsinn und Geduld gelang es ihm endlich; das harte Metall wusste er sich geschmeidig und dienstbar zu machen. Hierbei handelte es sich jedoch offenbar nicht um die Auffindung irgend einer ewigen Wahrheit, wie bei der Astronomie und bei jeder echten Wissenschaft, sondern einerseits um Scharfsinn und Geschick, andrerseits um An - gemessenheit dem praktischen Zwecke gegenüber; kurz, das Schmieden ist keine Wissenschaft, sondern im wahren Sinn des griechischen Wortes eine Technik, d. h. eine Geschicklichkeit. Und die Bedingungen dieser Technik, da sie vom menschlichen Willen abhängen (hier die Verwandtschaft mit Kunst), wechseln mit den Zeiten, mit den An - lagen und Gewohnheiten der Völker, sowie sie auch andrerseits von den Fortschritten des Wissens beeinflusst werden (hier die Verwandt - schaft mit Wissenschaft). In unserm Jahrhundert z. B. hat das Stahl - schmieden grosse Umwälzungen erfahren, die ohne die Fortschritte der Chemie, der Physik, der Mechanik und der Mathematik nicht denkbar gewesen wären; insofern kann es auch vorkommen, dass eine Technik vielfache wissenschaftliche Kenntnisse von ihren Beflissenen fordert, sie hört aber darum nicht auf, eine Technik zu sein. Und weil sie eine Technik ist, bleibt sie jedem noch so unbegabten Menschen erlernbar, wenn er nur einiges Geschick besitzt, enthält aber nichts, was selbst dem Begabtesten mitteilbar wäre, wenn dieser sich nicht eingehend mit ihren Methoden beschäftigt hat. Denn während Wissenschaft und Kunst durch ihren Inhalt selber jedem intelligenten Menschen Interesse bieten, ist eine Technik lediglich eine Methode, ein Verfahren, eine Handhabung, ein Künstliches, nicht ein159Römisches Recht.Künstlerisches, eine Anwendung des Wissens, nicht eigentlich selbst ein Wissen, ein Können, nicht ein Schaffen, und daher kann erst das von ihr Erzeugte allgemeines Interesse fordern, der fertige Gegenstand, heisst das, von dem sich die Technik nunmehr zurückgezogen hat.

Genau ebenso verhält es sich mit der Jurisprudenz, bis auf den Unterschied, dass der zu bearbeitende Stoff ein rein geistiger ist. Prinzipiell ist und bleibt die Jurisprudenz eine Technik, und manches fast unausrottbare Missverständnis wäre vermieden worden, wenn auch die Fachgelehrten diese einfache Grundwahrheit nicht aus den Augen verloren hätten. Von Cicero an bis zum heutigen Tage1)Siehe z. B. Holland: Jurisprudence, 6. Aufl., S. 5. haben tüchtige Juristen nur zu oft es für ihre Pflicht gehalten, ihrem Fach, koste was es wolle, die Bezeichnung » Wissenschaft « zu sichern; sie scheinen eine Herabsetzung zu fürchten, wenn man die Nichtigkeit ihrer Ansprüche behauptet. Natürlich wird man fortfahren, von einer » Rechtswissenschaft « zu reden; nur aber im abgeleiteten Sinne; die Masse des Materials über Recht, Rechtsgeschichte u. s. w. ist so riesig gross, dass sie gewissermassen eine kleine Welt für sich bildet, in welcher geforscht wird, und diese Forschung heisst dann Wissenschaft. Offenbar ist dies jedoch ein uneigentlicher Gebrauch des Wortes. Die Wurzel » vid « bedeutet im Sanskrit finden; soll die Sprache nicht zu farbloser Mehrdeutigkeit verblassen, so müssen wir dafür sorgen, dass ein Wissen immer ein Finden bezeichne. Ein Finden setzt nun zweierlei voraus: erstens einen Gegenstand, der da ist und besteht, ehe wir ihn finden, zweitens die Thatsache, dass dieser Gegenstand noch nicht gefunden und aufgedeckt wurde; beides trifft für die Jurisprudenz nicht zu; denn » Recht « giebt es erst, wenn die Menschen es machen, es existiert nicht als Gegenstand ausserhalb unseres Be - wusstseins, ausserdem deckt die Rechtswissenschaft nichts anderes auf, findet sie nichts anderes, als sich selbst. Daher hatten diejenigen unter den Alten vollkommen Recht, die anstatt von einer juris scientia zu reden, lieber juris notitia, juris peritia, juris prudentia sagten, also etwa: Kenntnisse, Geschick, Erfahrung in der Handhabung des Rechtes.

Diese Unterscheidung ist von grosser Tragweite. Denn erstNaturrecht. wenn man sich Klarheit darüber verschafft hat, was Recht seiner Natur nach ist, kann man mit Verständnis dessen Geschichte verfolgen und begreifen, welche Rolle Rom in der Entwickelung dieser Technik gespielt hat. Jetzt erst kann man jenen gordischen Knoten, die Frage160Das Erbe der alten Welt.nach einem Naturrecht (oder natürlichen Recht) nicht zerhauen, sondern lösen. Diese grosse Frage, über welche seit Jahrhunderten gestritten wird, entsteht überhaupt lediglich aus dem Missverständnis über die Natur des Rechtes; ob man sie dann mit ja oder mit nein beantwortet, man kommt nie aus der Verwirrung heraus. Crcero hat, in der ihm eigentümlichen konfusen Art, allerhand oratorische Floskeln über diesen Gegenstand gemacht; das eine Mal schreibt er: um das Recht zu erklären, müsse man die Natur des Menschen unter - suchen, da schien er auf der rechten Spur zu sein; gleich darauf heisst es, das Recht sei » eine allerhöchste Vernunft «, die ausserhalb von uns existiere und uns » eingepflanzt « werde; dann hören wir wieder, das Recht » gehe aus der Natur der Dinge hervor «; schliess - lich, es sei » zugleich mit Gott geboren, älter als die Menschen «. 1)De legibus I, 5 u. 6, II, 4 u. s. w.Warum man überall diese rechtsanwältlichen Platitüden citiert, weiss ich nicht; ich thue es bloss, um dem Vorwurf vorzubeugen, dass ich unaufmerksam an solchem berühmten Weisheitsborn vorübergegangen wäre; im übrigen errinnere ich an Mommsen’s Urteil: » Cicero war eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes, an Worten, wie er selber sagt, überreich, an Gedanken über alle Begriffe arm «. 2)Römische Geschichte, III, 620.Schlimmer war es, als ihre asiatische Vorliebe für Prinzipien - reiterei und Dogmatik die hochbedeutenden Rechtslehrer der soge - nannten » klassischen Jurisprudenz « dazu bestimmte, den durchaus unrömischen Begriff eines Naturrechtes klar zu formulieren und grund - sätzlich einzuführen. Ulpian nennt das Naturrecht dasjenige, » welches Tieren und Menschen gemeinsam ist «. Ein monströser Gedanke! Nicht einzig in der Kunst ist der Mensch ein freier Schöpfer, auch im Recht bewährt er sich als herrlicher Erfinder, als unvergleichlich geschickter, besonnener Werkmann, als seines Glückes Schmied. Das römische Recht ist eine ebenso charakteristische Schöpfung des einen einzigen menschlichen Geistes, wie die hellenische Kunst. Was würde das heissen, wenn ich von einer » natürlichen Kunst « sprechen, und somit irgend eine, wenn auch noch so entfernte Parallele zwischen dem naturnotwendigen Zirpen eines Vogels und einer Tragödie des Sophokles ziehen wollte? Weil die Juristen eine technische Gilde bilden, haben viele von ihnen solchen Unsinn, ohne dass die Welt es merkte, Jahrhunderte lang reden dürfen. Gaius, eine andere161Römisches Recht.klassische Autorität, den die Juden als Landsmann beanspruchen, und von dem die Geschichtswerke berichten, er sei » nicht tief, aber sehr beliebt « gewesen, giebt eine minder extravagante, aber ebenso wenig stichhaltige Definition des Naturrechtes: er identifiziert es mit dem sogenannten jus gentium, d. h. mit dem aus den Rechten der ver - schiedenen Völker der römischen Provinzen entstandenen » gemein - samen Recht «; in zweideutigen Worten setzt er auseinander, dieses Recht sei » allen Völkern der Erde « gemeinsam: eine haarsträubende Behauptung, da das jus gentium ebenso das Werk Roms ist, wie dessen eigenes jus civile und nur das Ergebnis der ordnenden Thätig - keit römischer Jurisprudenz inmitten des Wirrwarrs widersprechender und widerstreitender Rechte darstellt. 1)Siehe S. 138.Gerade das Dasein des jus gentium neben und im Gegensatz zu dem römischen jus civile, sowie die bunte Entstehungsgeschichte dieses » Rechts der Völker « hätte dem blödesten Auge zeigen müssen, dass es nicht ein Recht giebt, sondern viele; auch dass das Recht nicht eine Entität ist, die wissen - schaftlich erforscht wird, sondern ein Erzeugnis der menschlichen Geschicklichkeit, welches in sehr verschiedener Weise aufgefasst und durchgeführt werden kann. Das natürliche Recht spukt aber in den meisten Köpfen lustig weiter; so fern auseinandergehende Rechts - theoretiker wie Hobbes und Rousseau z. B. finden sich in dieser einen Annahme zusammen; das Höchste leistete der berühmte Hugo Grotius mit seiner Einteilung in natürliches, historisches und gött - liches Recht, bei welcher man sich fragt, ob denn das göttliche Recht ein unnatürliches sei? oder das natürliche ein Werk des Teufels? Man musste den leuchtenden Geist und die freiheitliebende Keckheit eines Voltaire besitzen, um schreiben zu dürfen: rien ne contribue peut - être plus à rendre un esprit faux, obscur, confus, incertain, que la lecture de Grotius et de Puffendorf . 2)Dictionnaire philosophique. Auch J. J. Rousseau nennt Grotius: » un enfant, et, que pis est, un enfant de mauvaise foi «. (Emile V.)Im unserem Jahrhundert jedoch ist man dem blassen Gedankending scharf auf den Leib ge - rückt; die Historiker des Rechtes und mit ihnen der geniale Theoretiker Jhering haben ihm den Garaus gemacht. Hierzu genügt aber eben - falls die blosse Einsicht, dass das Recht eine Technik ist.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet, begreift man nämlich: dass in Wahrheit der Begriff » Naturrecht « (jus naturae) eine flagrante contradictio in adjecto enthält. Sobald es zwischen Menschen ein recht -Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 11162Das Erbe der alten Welt.liches Abkommen giebt es braucht durchaus kein schriftliches zu sein, eine mündliche oder auch eine stillschweigende Konvention ist prinzipiell dasselbe, wie ein dickleibiges bürgerliches Gesetzbuch so hat der Naturzustand aufgehört; herrscht aber der reine Natur - trieb, so giebt es eo ipso kein Recht. Denn lebten auch solche Natur - menschen in Gruppen zusammen, und wären sie gegeneinander mild und human, das wäre noch immer kein Recht, kein jus; es wäre genau ebensowenig ein Recht, wie wenn die brutale Faustgewalt bei ihnen allein den Ausschlag gäbe. Recht ist eine künstlich geordnete und zwangsweise von der Gesamtheit dem Einzelnen auferlegte Regelung seiner Beziehungen zu Anderen. Es ist eine Nutzbarmachung jener Instinkte, welche den Menschen zum gesellschaftlichen Zusammenleben treiben, zugleich jener Not, welche ihn nolens volens zwingt, mit seinesgleichen sich zu verbinden: Liebe und Furcht, Geselligkeit und Feindseligkeit. Lesen wir bei den dogmatischen Metaphysikern: » Das Recht ist der abstrakte Ausdruck des allgemeinen, an und für sich seienden Willens «,1)Hegel: Propädeutik, Kursus I, § 26. so fühlen wir, dass man uns Luft statt Brot zu essen giebt; sagt uns der grosse Kant: » Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des Einen mit der Willkür des Anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann «,2)Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung, § B. so müssen wir gleich einsehen: das ist die Definition eines Ideals, die Definition eines möglichen, oder wenigstens denkbaren Rechtszustandes, nicht aber eine umfassende Definition des Rechtes im allgemeinen, wie es uns vor Augen liegt; ausserdem ent - hält sie einen bedenklichen Irrtum. Es ist nämlich ein eigentümlicher Denkfehler, die Willkür in die Seele des Einzelnen zu verlegen und das Recht als eine Gegenwirkung hiergegen herauszukonstruieren; vielmehr handelt offenbar jedes Individuum nach der Notwendigkeit seiner Natur und tritt das Element der Willkür erst mit den Ver - fügungen ein, wodurch dieses natürliche Handeln eingedämmt wird; nicht der Naturmensch ist willkürlich, der Rechtsmensch ist es. Wollten wir eine Definition mit Zugrundelegung von Kant’s Begriffen versuchen, wir müssten sagen: Recht ist der Inbegriff der willkür - lichen Bedingungen, welche in eine menschliche Gesellschaft einge - führt werden, damit das notwendige Handeln des Einen mit dem notwendigen Handeln des Anderen ausgeglichen und zu einem mög -163Römisches Recht.lichen Masse der Freiheit vereinigt werde. Die einfachste Begriffs - formulierung wäre: Willkür an Stelle von Instinkt in den Beziehungen zwischen den Menschen ist Recht. Wozu erläuternd hinzugefügt werden müsste, das non plus ultra der Willkür bestehe darin, dass man eine willkürlich festgesetzte Form (für Strafe, Kauf, Ehe, Testieren u. s. w.) für nunmehr ewig unveränderlich er - klärt, so dass alle betreffenden Handlungen ungültig und ohne recht - lichen Schutz sind, sobald die vorgeschriebene Form nicht innege - halten wurde. Recht ist also die dauernde Herrschaft bestimmter willkürlicher Beziehungen zwischen den Menschen. Wir brauchen übrigens nicht über gänzlich unbekannte Vorzeiten Spekulationen an - zustellen, um Jus in einfachen Gestaltungen zu erblicken, wo dann dieses zentrale Element der Willkür deutlich hervortritt; man sehe nur die heutigen Bewohner des Kongogebietes an. Jedes Völkchen hat seinen Häuptling; er allein entscheidet unwiderruflich über alle Rechts - fälle; diese sind bei so einfachen Verhältnissen sehr einfacher Natur, sie betreffen zumeist Vergehen am Leben oder am Eigentum; die Strafe ist Tod, selten Sklaverei; hat der Häuptling durch eine Hand - bewegung das Urteil gegen den Angeklagten gefällt, so wird dieser von den Umstehenden in hundert Stücke zerhackt und aufgegessen. Die Rechtsbegriffe sind, wie man sieht, am Kongo sehr elementar; dennoch sind es Rechtsbegriffe; der natürliche Mensch, d. h. der un - willkürlich handelnde, würde den vermeintlichen Mörder oder Dieb selber umbringen; hier thut er das nicht, der Verbrecher wird zum Hauptort geschleppt und gerichtet. Ebenso entscheidet der Häuptling über Erbschaftsstreitigkeiten und Grenzregulierungen. Die unbe - schränkte Willkür des Häuptlings ist also das » Recht « des Landes,1)Dass auch dort gewisse Sätze durch den Gebrauch geheiligt und insofern auch für den Häuptling bindend sind, bezweifle ich nicht, juristisch ist er aber voll - kommen frei; nur die Furcht, selber gebraten und aufgegessen zu werden, kann ihn von jeder beliebigen Willkür abhalten. ist der Kitt, wodurch die Gesellschaft zusammengehalten wird, anstatt dass sie in einem regellosen Naturzustand auseinanderstiebe. Der Fort - schritt des Rechtes besteht in dem praktischen Ausbau und in der sittlichen Verklärung dieses willkürlichen Elementes.

Jetzt haben wir, glaube ich, alles beisammen, was nötig ist, umRömisches Recht. ohne technische Erörterungen und zugleich ohne Phrasenmacherei die besonderen Verdienste des römischen Volkes um das Recht zu ver -11*164Das Erbe der alten Welt.stehen, wenigstens die besondere Art dieser Verdienste; zugleich wird damit die Natur der Erbschaft genau bezeichnet.

Ist das Recht nicht ein eingeborenes Prinzip, nicht eine erforsch - bare, sichere Wissenschaft, sondern eine zweckdienliche Verwendung menschlicher Anlagen zum Ausbau einer civilisationsfähigen Gesell - schaft, so ist es von vornherein klar, dass es sehr verschiedenwertige Rechte geben wird und muss. Im letzten Grunde wird ein Recht hauptsächlich von zwei Dingen beeinflusst werden, und somit von ihnen seine bezeichnende Farbe erhalten: von dem moralischen Charakter des Volkes, in welchem es entsteht, und von dessen analytischem Scharfsinn. Aus einem glücklichen Gemisch beider, wie es bisher nur einmal in der Weltgeschichte vorkam,1)Die Behauptung, die Geschichte wiederhole sich stets, gehört zu den unzähligen Unwahrheiten, die als Weisheit unter uns » Nonocentisten « im Umlauf sind. Nie hat sich in der Geschichte etwas wiederholt, niemals! Wo ist die Wiederholung von Athen und Sparta? von Rom? von Ägypten? wo hat der zweite Alexander geblüht? wo ein neuer Homer? Weder die Völker, noch ihre grossen Männer kehren wieder. Darum wird auch die Menschheit nicht » aus Erfahrung « weiser; für die Gegenwart besitzt sie in der Vergangenheit kein Paradigma, an dem sie ihr Urteil bilden könnte; besser oder schlechter, weiser oder dümmer wird sie einzig durch das, was auf ihren Geist und ihren Charakter gewirkt hat. Gutzkow’s Ben Akiba täuschte sich gründlich mit seinem berühmten: » Alles schon dagewesen! « so ein Esel wie er selber war noch nicht da, und wird hoffentlich nie wiederkommen. Und wenn auch, es wäre nur die Wiederholung des Individuums, das unter neuen Verhältnissen andere Dummheiten zum Besten geben würde. ergab sich für das römische Volk die Möglichkeit, ein rechtliches Gebäude von grosser Vollkommenheit aufzuführen. Der blosse Egoismus, die Gier nach Besitz, wird niemals hinreichen, um ein dauerhaftes Recht zu be - gründen; vielmehr haben wir durch die Römer erfahren, dass die unverbrüchliche Achtung vor den Ansprüchen Anderer auf Freiheit und Besitz die moralische Grundlage ist, auf der allein für die Ewigkeit gebaut werden kann. Einer der bedeutendsten Kenner des römischen Rechtes und Volkes, Karl Esmarch, schreibt: » Das Gewissen für Recht und Unrecht ist bei den italischen Ariern ein starkes, un - verfälschtes; in der Selbstbeherrschung und, wenn es sein muss, Selbstaufopferung gipfelt sich ihre innerem Drang entquellende und durch innerstes Wesen getragene Tugend «. Dadurch, dass er sich selbst zu beherrschen wusste, war der Römer berufen, die Welt zu beherrschen und die Idee des Staates kraftvoll zu entwickeln;165Römisches Recht.dadurch, dass er sein eigenes dem allgemeinen Wohl zu opfern wusste, bewies er seine Befähigung, über die Rechte des Privat - eigentums und der individuellen Freiheit gültige Grundsätze auf - zustellen. Zu den hohen moralischen Eigenschaften mussten aber auch ungewöhnliche geistige hinzutreten. Der Römer, als Philosoph ohne jegliche Bedeutung, war der grösste Meister in der Abstraktion fester Prinzipien aus den Erfahrungen des Lebens, eine Meister - schaft, die besonders durch den Vergleich mit anderen Völkern her - vortritt, z. B. mit den Athenern, welche, so fabelhaft begabt, so grosse Liebhaber der Rechtshändel und der sophistischen Rechtsrätsel sie auch waren, doch gerade in diesem Punkte ewig Stümper blieben. 1)Vergl. Leist: Gräco-ital. Rechtsgeschichte, S. 694, und für das folgende Citat S. 682.Diese eigentümliche Fähigkeit, bestimmte praktische Verhältnisse zu fest umschriebenen » Begriffen « zu erheben, bedeutet eine grosse Geistesthat; jetzt erst kommt Ordnung und Übersichtlichkeit in die gesellschaftlichen Verhältnisse, ähnlich wie erst durch die Bildung abstrakter Sammelworte die Sprache ein höheres, geordnetes Denken ermöglicht hatte. Jetzt handelt es sich nicht mehr um dunkle Instinkte, auch nicht um unklare, wechselnde Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, sondern in klaren » Gattungen « geordnet stehen die Verhältnisse alle vor unseren Augen, welche durch die Erfindung neuer Rechtsnormen oder den weiteren Ausbau schon vorhandener geregelt werden sollen. Und da das Leben die Erfahrung allmählich mehrt oder selber verwickeltere Formen annimmt, entdeckt der römische Scharfsinn nach und nach innerhalb der einzelnen Gattungen die » Arten «. » In Betreff feiner durchdachter Rechtsbegriffe ist das römische Recht der immerwährende Lehrmeister für die civilisierte Welt und wird es bleiben «, sagt Professor Leist, also gerade der Mann, der mehr als irgend ein anderer gethan hat, um nachzuweisen, dass die Hochschulen den jetzigen einseitig römischen Standpunkt der Rechtsgeschichte aufgeben und römisches Recht als ein Glied in der Kette zu erkennen lehren sollten, als eine der Stufen, » die der arische Geist in der Klärung der Rechtsbegriffe erstiegen hat «. Je genauer man die zahlreichen Versuche zu einer Rechtsbildung vor und neben dem römischen studiert, um so mehr sieht man eben die unvergleichlichen Verdienste des römischen ein und lernt erkennen, dass es nicht vom Himmel fiel, sondern von prächtigen, wackeren166Das Erbe der alten Welt.Männern als Schöpfung ihres eigenen Geistes geschaffen wurde. Denn das darf nicht übergangen werden: zu den Fähigkeiten der Selbst - beherrschung, der Abstraktion und der feinsten Analyse kommt als drittes bei den Römern eine besondere Gabe der plastischen Gestaltung. Hierin zeigt sich die Verwandtschaft mit dem Hellenentum, nach der man sonst vergeblich Umschau hält. Auch der Römer ist ein ge - staltungsmächtiger Künstler: er ist es in der klaren, plastischen Ge - staltung der verwickelten Staatsmaschine kein Theoretiker der Welt hätte sich einen solchen Staatsorganismus erdacht, der vielleicht eher als Kunstwerk, denn als Werk der Vernunft zu deuten wäre; er ist noch mehr Künstler in der plastischen Ausbildung seiner Rechts - begriffe. Und höchst charakteristisch ist ebenfalls die Art, wie der Römer darnach strebt, seiner Begriffsplastik auch in den rechtlichen Handlungen sichtbaren Ausdruck zu geben, überall » die innerliche Verschiedenheit äusserlich darzustellen, das Innere gewissermassen an die Oberfläche zu rücken «. 1)Behufs Beispiele lese man den prächtigen Abschnitt » Plastik des Rechtes « in Jhering’s: Geist des römischen Rechtes § 23. Von dem modernen undramatischen Rechtsleben meint Jhering: » Man hätte unserer Justiz statt des Schwertes eine Feder zum Attribut geben mögen, denn einem Vogel waren die Federn kaum nötiger als ihr, nur dass sie bei ihr die entgegengesetzten Wirkungen hervor - brachten, die Schnelligkeit im umgekehrten Verhältnis zum Federnaufwand stand. «Das ist ein ausgesprochen künstlerischer Instinkt, der Ausfluss spezifisch indoeuropäischer Anlagen. In diesem künstlerischen Element liegt auch die magische Kraft der römischen Erbschaft; das ist das Unverwüstliche und das ewig Unvergleichliche.

Denn darüber müssen wir uns klar werden: römisches Recht ist ebenso unvergleichlich und unnachahmlich, wie hellenische Kunst. Daran wird die lächerliche Deutschtümelei nichts ändern. Man erzählt Wunder von einem » deutschen Recht «, welches uns durch die Ein - führung des römischen geraubt worden sei; es hat aber nie ein deutsches Recht gegeben, sondern lediglich ein Chaos von wider - streitenden, rohen Rechten, ein besonderes für jeden Stamm. Es ist auch durchaus ungenau, wenn man von einer » Recipierung « des römischen Rechtes zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert spricht, denn die Germanen haben von ihrer ersten Berührung mit dem römischen Reich an ununterbrochen » recipiert «. Bur - gunder und Ostgoten haben bereits im 5. christlichen Jahrhundert (oder ganz zu Anfang des 6.) Bearbeitungen (Verrohungen) des167Römisches Recht.römischen Rechtes eingeführt1)Savigny: Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter, Kap. 1. und die ältesten Quellen zu sächsischem, fränkischem, bayerischem, alemannischem Recht u. s. w. sind so ge - spickt mit lateinischen Wörtern und halbverstandenen Begriffen, dass das Bedürfnis nach vernünftigerer Rechtsgestaltung sich in ihnen deutlich ausspricht. Wohl könnte man ein deutsches Recht als Ideal in die Zukunft verlegen, es aber in der Vergangenheit suchen, ist unredliches Geschwätz. 2)Ich weiss keinen schlagenderen Beweis von der ursprünglichen Unfähig - keit der Germanen, in Rechtsfragen scharf zu urteilen, als dass noch ein solcher Mann, wie Otto der Grosse, die prinzipielle Frage, ob Enkel erben oder nicht, nicht anders als durch einen Waffenkampf zu entscheiden wusste; dieses Gottes - urteil wurde dann durch ein pactum sempiternum ins bleibende Recht aufgenommen! (Siehe Grimm: Rechtsaltertümer, 3. Ausg., S. 471). Ein anderes Hindernis für die gerechte Würdigung des römischen Rechtes bietet der Taumel des Entwicke - lungsdogmas, der in unserm Jahrhundert die Begriffe so arg verwirrte. Der Sinn für das Individuelle, die Einsicht, dass das Individuelle allein ewige Bedeutung besitzt, ist hierdurch sehr beeinträchtigt worden. Obwohl die Geschichte uns als wirkende Mächte lauter durch und durch individualisierte Völker und grosse, nie wiederkehrende Persön - lichkeiten zeigt, führt die Evolutionstheorie zu der Vorstellung, die Anlagen und Anfänge seien überall identische, und es müssten sich aus diesen selben Keimen wesentlich analoge Gebilde » entwickeln «. Dass das nirgends geschieht und dass z. B. römisches Recht nur ein einziges Mal entstand, geniert unsere Dogmatiker nicht im Geringsten. Damit hängt die weitere Vorstellung der unaufhörlichen » Vervoll - kommnung « zusammen, in Folge welcher unser Recht ohne weiteres das römische überragen muss, weil es ein späteres ist, und doch bietet die Natur nirgends ein Beispiel dafür, dass an irgend etwas Lebendigem eine Entwickelung stattfände, ohne durch entsprechende Einbusse erkauft zu werden. 3)Den ausführlichen Beweis, dass den Begriffen eines Fortschrittes und eines Verfalles der Menschheit keine konkrete Bedeutung zukomme, bringt das neunte Kapitel.Unsere Civilisation steht hoch über der römischen; in Bezug auf lebendiges Rechtsgefühl kann sich dagegen ein gebildeter Mann des 19. Jahrhunderts mit einem römischen Bauern aus dem Jahre 500 vor Christus gewiss nicht vergleichen. Keiner, der Denk - kraft und Wissen besitzt, wird das in Abrede stellen. Ich sagte in Bezug auf Recht, nicht auf Gerechtigkeit. Wenn Leist schreibt: » Der unbefangen Prüfende wird nicht finden, als habe unsere Gegen -168Das Erbe der alten Welt.wart es gegenüber der Römerzeit in der Übung oder auch nur Er - kennung der wirklichen Gerechtigkeit schon gar herrlich weit ge - bracht «,1)Gräco-italische Rechtsgeschichte S. 441. so spricht er etwas Beherzigenswertes aus; ich citiere aber diese Worte, um recht fühlbar zu machen, dass ich an dieser Stelle nicht von Gerechtigkeit spreche, sondern von Recht, und damit der Unterschied klar hervortrete. Unsere edle Vorstellung der Pflichten der Humanität bedeutet doch wohl eine Klärung der Vorstellungen in Bezug auf Gerechtigkeit; das juristische Rechtsgefühl ist dagegen ein ganz anderes Ding und wird auch durch den Besitz der vervoll - kommnetsten, doch importierten Rechtssysteme weder bewährt noch gefördert.

Um die Unvergleichlichkeit der römischen Leistung zu begreifen, darf allerdings ein Umstand nicht übersehen werden: das uns geläufige justinianische corpus juris ist nur die einbalsamierte Leiche des römischen Rechtes. 2)Wie sehr das corpus juris des Justinian dem echten römischen Recht nachsteht, hebt schon Francis Bacon hervor und tadelt es, dass eine so » dunkle Zeit « sich gestattet habe, an das Werk einer so » glänzenden Zeit « verbessernd die Hand anzulegen (siehe die Widmung der Law Tracts).Jahrhundertelang wurde sie von geschickten Fachmännern auf galvanischem Wege im Scheinleben erhalten; jetzt haben sich alle gesitteten Völker ein eigenes Recht ausgearbeitet; ohne das römische wäre das aber nicht möglich gewesen, uns allen geht die nötige Be - gabung ab. Eine einzige Beobachtung genügt, um den Abstand fühl - bar zu machen: das römische Recht der echten Heldenzeit, fest wie ein Fels, war nichtsdestoweniger unglaublich elastisch, » unglaublich « meine ich, für unsere modernen, ängstlichen Vorstellungen, denn wir haben jenem Rechte alles entnommen, nur nicht seinen lebensvollen Charakter. Das römische Recht war ein unaufhörlich » Werdendes «, durch besondere, geniale Einrichtungen befähigt, den wechselnden Bedürfnissen der Zeiten sich anzupassen. Das Recht, welches im 5. Jahrhundert vor Christus von den dazu ernannten Decemvirn seinen allgemeinen Umrissen nach in eherne Tafeln eingegraben wurde, war nicht ein neues, improvisiertes, von nun an unbewegliches, sondern im Wesentlichen eine Kodifikation des schon vorhandenen, historisch ge - wachsenen; die Römer wussten sich Mittel und Wege zu ersinnen, damit es auch dann nicht krystallisiere. An den zwölf Tafeln z. B. machte sich zunächst der » interpretierende « Scharfsinn der Beamten verdient, nicht um das Gesetz zu verdrehen, sondern um es erweiterten169Römisches Recht.Verhältnissen halbautomatisch anzupassen; geniale Erfindungen, wie z. B. die der juristischen » Fiktion «, wodurch ein Mittel gefunden war (wenn ich mich laienhaft ausdrücken darf), um fehlende Rechtsnormen durch vorhandene zu ersetzen; staatliche Einrichtungen, wie diejenige der Prätoren, durch welche dem in einem lebendigen Organismus so nötigen Gewohnheitsrecht ein Platz gesichert wurde, bis aus der Praxis das beste Recht sich ergeben hatte, durch welche auch das jus gentium nach und nach in naher Fühlung mit dem engeren römischen jus civile entstand das alles bewirkte ein frisches, pulsierendes Rechts - leben, wie Keiner es sich vorstellen kann, der Jurisprudenz nicht studiert hat, denn um uns herum giebt es nichts derartiges, gar nichts. 1)Namentlich von den Jahresedikten der Prätoren sagt Leist, sie seien » das Hauptmoment in der feineren Ausbildung des römischen Rechtes geworden « (a. a. O., S. 622).Nun bedenke man aber noch, um den Abstand zwischen uns und den Römern zu ermessen, dass eigentliche gelernte und gelehrte Juristen erst sehr spät, gegen Ende der Republik aufkamen, und dass dieses herrliche, in den meisten Teilen unendlich fein ciselierte Erzeugnis rechtlicher Technik das Werk eines Volkes von Bauern und rauhen Kriegern ist! Man versuche es doch, einem heutigen Durchschnitts - philister den juristischen Unterschied zwischen Eigentum und Besitz klar zu machen, ihm beizubringen, der Dieb sei der juristische Be - sitzer der gestohlenen Sache und geniesse als solcher rechtlichen Be - sitzesschutz, der Pfandgläubiger ebenfalls und auch der Erbpächter; es wird nicht gelingen, ich weiss es aus Erfahrung. Und ich wähle absichtlich ein einfaches Beispiel. Der römische Bauer dagegen, der weder schreiben noch lesen konnte, wusste das alles ganz genau schon ein halbes Jahrtausend vor Christo. 2)Siehe die scharfe Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz, Tafel VII, Satz 11.Er wusste allerdings nicht viel mehr, sein Recht aber kannte und handhabte er mit ebenso genauer Sachkenntnis wie seinen Pflug und seine Ochsen; und indem er es kannte und darüber nachdachte,3)Noch zu Cicero’s Zeiten lernte jeder Knabe die zwölf Tafeln auswendig. indem er für sich und das Seine und die Seinigen immer festeren, bestimmteren Rechtsschutz erstrebte, er - richtete er thatsächlich jenes Rechtsgebäude, in welchem spätere Völker in schwierigsten Zeiten Schutz fanden, und welches wir jetzt mit mehr oder weniger Glück, mit mehr oder weniger Veränderungen nach - bauen, ausbauen, zu vervollkommnen trachten. Es von selbst erfinden170Das Erbe der alten Welt.und aufführen, das hätte kein anderes Volk vermocht, denn nirgends war die nötige Verbindung von Charaktereigenschaften und Geistes - gaben vorhanden, und dieses Recht musste gelebt werden, ehe es gedacht wurde, ehe die Herren kamen, welche von einem » natürlichen Recht « so erbauliches zu melden wussten und vermeinten, es sei der Geometrie vergleichbar, die der einsame Gelehrte in seiner Kammer ausklügelt.

Später haben sich Hellenen und Semiten als Dogmatiker und Advokaten grosse Verdienste erworben, Italiener als Rechtslehrer, Franzosen als Systematiker, Deutsche als Historiker; bei keinem der genannten Volksstämme wäre jedoch der Boden zu finden gewesen, fähig jenen Baum zur Reife zu bringen. Bei den Semiten z. B. fehlte der moralische Untergrund, bei den Deutschen der Scharfsinn. Die Semiten haben grosse moralische Eigenschaften, nicht aber diejenigen, aus denen ein Recht für civilisierte Völker hätte hervorgehen können. Denn die Missachtung der rechtlichen Ansprüche und der Freiheit Anderer ist ein in allen mit semitischem Blute stark durchsetzten Völkern wiederkehrender Zug. Schon im uralten Babylonien hatten sie ein feinausgearbeitetes Handels - und Obligationsrecht; aber selbst auf diesem beschränkten Gebiet geschah nichts, um dem grässlichen Zins - wucher zu steuern, und an die Wahrung menschlicher Rechte, etwa der Freiheit, hat man dort nie auch nur gedacht. 1)Vergleiche die sehr eingehenden Mitteilungen in Jhering’s Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 233 ff. Der gewöhnliche Zinssatz betrug in Babylon 20 % bis 25 %. Jhering behauptet, die Zinsen seien eine babylonische, semitische (nicht turanische) Erfindung; er sagt: » Alle anderen Völker verdanken ihre Bekanntschaft damit den Babyloniern «. Ehre wem Ehre gebührt! Auch die raffiniertesten Formen des Wuchers, z. B. der noch heute beliebte Ausweg, Geld ohne Zinsen zu leihen, sie dafür aber gleich vom Kapital abzuziehen, waren im alten Babylon, noch ehe Homer Verse zu dichten begonnen hatte, wohl bekannt. Wann wird man uns denn endlich mit der alten erlogenen Märe in Ruhe lassen, die Semiten seien erst in den letzten Jahrhunderten infolge christlicher Bedrückungen zu Zinswucherern geworden?Aber auch unter günstigeren Bedingungen, z. B. bei den Juden, hat sich nie auch nur ein Ansatz zu einer echten Rechtsbildung gezeigt; das scheint sonderbar; ein einziger Blick auf die Rechtssätze des grössten jüdischen Denkers, Spinoza, löst das Rätsel. Im politischen Traktat (II, 4 und 8) lesen wir: » Ein Jeder hat soviel Recht, als er Macht besitzt «: hier könnte man allenfalls glauben, es handle sich lediglich um eine Fest - stellung thatsächlicher Verhältnisse, denn dieses zweite Kapitel ist über -171Römisches Recht.schrieben » Vom Naturrechte «. 1)Was für Augen hätten Cicero und Seneca, Scaevola und Papinian zu einer derartigen Auffassung des Naturrechtes gemacht!In der Ethik jedoch (T. IV, Anhang, 8) steht schwarz auf weiss: » Nach dem höchsten Recht der Natur ist einem jeden Menschen unbeschränkt das zu thun gestattet, was nach seinem Urteil zu seinem Nutzen gereichen wird «; und in der Ab - handlung Von der wahren Freiheit heisst es: » Um das, was wir zu unsrem Heil und zu unserer Ruhe fordern, zu erlangen, bedürfen wir keiner anderen Grundsätze, als allein, dass wir das beherzigen, was zu unsrem eigenen Vorteil gereicht «. 2)Die Ähnlichkeit zwischen den Prinzipien (nicht den Folgerungen) Spinoza’s und Nietzsche’s ist auffallend genug, um die Aufmerksamkeit zu erregen.Dass ein so edler Mann nicht verlegen ist, auf derartigen Grundlagen eine reine Morallehre aufzubauen, stellt seinen angeborenen kasuistischen Gaben das schönste Zeugnis aus; man sieht aber, auf jüdischem Boden hätte römisches Recht nicht wachsen können, sondern höchstens ein simplifiziertes Gesetz - buch, wie es etwa König Tippu Tib am Kongo brauchen mag. 3)Vor wenigen Jahren traf ich in Gesellschaft einen gebildeten Juden, Besitzer von Petroleumquellen und Mitglied des verruchten Petroleumringes; kein Argument vermochte es, den ehrenhaften Mann, der keine Fliege getötet hätte, von der moralischen Verwerflichkeit eines solchen Ringes zu überzeugen; seine beständige Antwort war: » ich kann’s, folglich darf ich es! « Buchstäblich Spinoza, wie man sieht. Hiermit hängt jene schwere Frage zusammen, ob es in germa - nischen Ländern gestattet sein sollte, Männer jüdischen Stammes zu Richtern zu ernennen. Ohne jede Leidenschaftlichkeit und Voreingenommenheit, ohne das Wissen und die fleckenlose Ehrenhaftigkeit der Betreffenden anzuzweifeln, sollte man sich auf Grund historischer und ethischer Ergebnisse fragen, ob es denn vorauszusetzen sei, dass jene Männer die Fähigkeit besitzen, eine Rechtsauffassung sich vollkommen zu assimilieren, die ihren eingeborenen Anlagen so tief wider - spricht? ob sie dieses Recht, welches sie meisterhaft handhaben, auch wirklich verstehen und fühlen? Wer die scharf ausgesprochene Individualität der verschiedenen Menschenrassen erkennen gelernt hat, kann im tiefsten Ernst und ohne jede Ge - hässigkeit eine derartige Frage aufwerfen.Erst auf der Grundlage eines von Indoeuropäern erfundenen und bis ins Einzelne ausgeführten Rechtes konnte der Jude seine staunens - werten juristischen Fähigkeiten entdecken. Ganz anders verhält es sich mit den Deutschen. Die Selbstaufopferung, der Drang, » von innen nach aussen zu bauen «, die Betonung des ethischen Momentes, der unbändige Freiheitssinn, kurz, die moralischen Eigenschaften hätten sie schon in reicher Fülle besessen. Nicht dagegen die geistigen. Der Scharfsinn war nie ein Nationalbesitz der Teutonen; das liegt so172Das Erbe der alten Welt.offenbar vor aller Augen, dass jeder Nachweis überflüssig ist. Schopen - hauer behauptet: » Der wahre Nationalcharakter der Deutschen ist Schwerfälligkeit «. Dem deutschen Geist stehen für die Rechtsbildung seine grosse Gaben ebenfalls im Wege: seine unvergleichliche Phantasie (im Gegensatz zur platten Empirie der römischen Vorstellungswelt), die schöpferische Leidenschaftlichkeit seines Gemütes (im Gegensatz zur kühlen Nüchternheit des Römers), seine wissenschaftliche Tiefe (im Gegensatz zu den praktisch politischen Tendenzen des geborenen Rechtsvolkes), sein lebhaftes Gefühl für Billigkeit (immer in gesell - schaftlicher Beziehung ein schwankes Rohr im Vergleich zur streng - rechtlichen Auffassung der Römer). Nein, dieses Volk wäre nicht befähigt gewesen, die Technik des Rechtes zu hoher Vollkommenheit auszubilden; es gleicht zu sehr den alten Indoariern, deren » gänzlicher Mangel des juristischen Unterscheidungsvermögens « von Jhering in seiner Vorgeschichte der Indoeuropäer, § 15, dargethan wird.

Die Familie.
163

Noch einen solchen nationalen Vergleich in Bezug auf Rechts - bildung möchte ich anstellen, den zwischen Hellenen und Römern. Er deckt den Kernpunkt des römischen Rechtes auf, den einzigen, auf den ich hier, in diesem Buche, die besondere Aufmerksamkeit lenken darf, was aber schon genügen wird, um fühlbar zu machen, wie tief innerlich unsere Civilisation der römischen Erbschaft ver - pflichtet ist. Zugleich wird diese kurze Betrachtung, die bei den Ur - anfängen anknüpft, uns in die brennenden Fragen unsrer unmittel - baren Gegenwart hineinführen.

Jeder Gebildete weiss, dass die Griechen nicht allein grosse Politiker, sondern ebenfalls grosse Rechtstheoretiker waren. Der » Prozess um des Esels Schatten «1)Ein Athener mietet einen Esel, um sein Gepäck nach Megara zu tragen; bei einer Rast setzt er sich in des Esels Schatten nieder; der Eseltreiber will es ohne Extrabezahlung nicht zugeben, er habe den Esel, nicht aber des Esels Schatten vermietet. ist ein uralter attischer Witz, der die Vorliebe dieses leichtsinnigen, händelsüchtigen Volkes für gericht - liche Klagen trefflich verhöhnt; ich erinnere auch an die Wespen des Aristophanes mit den herzzerreissenden Bitten des von seinem Sohne eingeschlossenen Philokleon: » Lasst mich hinaus, lasst mich hinaus zum Richten! « Man sehe sich aber noch weiter um. Homer lässt auf dem Schilde des Achilleus eine Gerichtsszene ab - gebildet sein (Ilias, XVIII, Vers 497 ff. ), Plato’s umfangreichste Werke sind politische und rechtstheoretische (Die Republik und die Ge -173Römisches Recht.setze), die Rhetorik des Aristoteles ist stellenweise einfach ein Hand - buch für angehende Rechtsanwälte, man sehe z. B., wie er im 15. Kapitel des ersten Buches eine ausführliche Theorie betrügerischer Sophistik für Winkeladvokaten aufstellt, ihnen Andeutungen giebt, wie sie das Gesetz zum Vorteil ihres Klienten verdrehen können, und ihnen rät, vor Gericht, sobald es Vorteil bringt, falsche Eide schwören zu lassen. 1)Dies gehört, nach dem grossen Philosophen, zu den » ausserhalb der Kunst liegenden Überzeugungsmitteln «. Man sieht, ausserhalb Spartas (wo es nach Plutarch’s Versicherung gar keine Prozesse gegeben haben soll) war die hellenische Luft von Rechtsfragen geschwängert. Die Römer, stets bereit, fremdes Verdienst anzuerkennen, wandten sich behufs Ratschläge für den Ausbau ihres Rechtes seit Alters her an die Griechen, namentlich an die Athener. Schon als sie das erste Mal ihre rechtlichen Grundprinzipien schriftlich fixieren wollten (in den zwölf Tafeln), entsandten sie eine Kommission nach Griechenland, und bei der endgültigen Redaktion dieses frühesten Monumentes soll ein aus seiner Vaterstadt verbannter Ephesier, Hermodorus, wesentliche Dienste geleistet haben. Hieran änderte die Zeit nichts. Die grossen Rechtsautoritäten, ein Mucius Scaevola, ein Servius Sulpicius sind genaue Kenner hellenischer Rechtseinrichtungen; Cicero und was alles an diesem Namen drum und dran hängt, zieht seine un - klaren Äusserungen über göttliche Gerechtigkeit, natürliches Recht u. s. w. aus griechischen Philosophen: in dem pseudo-platonischen Minos hatte er lesen können, das Recht sei die Entdeckung eines ausserhalb Liegenden, nicht eine menschliche Erfindung, und von Aristoteles citiert er die Worte: » das allgemeine Gesetz, weil es das natürliche ist, wechselt nie, dagegen geschieht das oft beim geschriebenen «;2)Noch bis zum heutigen Tage findet man diese Stelle in juristischen Werken citiert, jedoch mit wenig Recht, da Aristoteles hier bloss einen rhetorischen Kniff zum Gebrauch vor Gericht angiebt und auf der nächsten Seite die An - wendung der gegenteiligen Behauptung lehrt. Noch weniger zur Sache ist die Stelle aus der Nikomachischen Ethik V, 7, die in dem Satze gipfelt: » Das Recht ist die Mitte zwischen einem gewissen Vorteil und einem gewissen Nachteil «. Wie gross erscheint nicht hier wie immer Demokrit mit seiner klaren Einsicht: die Gesetze seien Früchte menschlichen Sinnens im Gegensatze zu den Dingen der Natur (Diogenes Laer. IX, 45)! in der späteren Zeit kaiserlicher Dekadenz, als das römische Volk von der Erdfläche verschwunden war, wird die sogenannte » klassische Jurisprudenz « fast ausschliesslich von Griechen (mehr oder weniger174Das Erbe der alten Welt.semitischer Abstammung) begründet und durchgeführt. Es herrscht merkwürdiges Dunkel über Herkunft und Geschichte der berühmtesten Rechtslehrer der späteren römischen Zeit; sie sind auf einmal da, in Amt und Würden, niemand weiss, woher sie kamen. Wahrhaft er - greifend ist aber am Beginn des kaiserlichen Regimentes und seines unausbleiblichen Einflusses auf das Rechtsleben der leidenschaftliche Kampf zwischen Labeo, dem unbändig freien Altplebejer, und Capito, dem nach Geld und Ehren strebenden Neuling, der Kampf für organische freie Weiterentwickelung gegen Autoritätenglauben und Dogma. Das Dogma siegte, wie auf religiösem, so auch auf rechtlichem Gebiete. Inzwischen hatten aber, wie gesagt, die praktischen Römer gar viel in Griechenland gelernt, namentlich von Solon, der als Staatenbildner wenig Dauerhaftes geleistet hatte, umsomehr aber auf dem Gebiete des Rechtes. Ob Solon die schriftliche Rechtsgesetzgebung und das folgenreiche Prinzip der actiones (der Einteilung der Klagen nach be - stimmten Grundsätzen) erfunden oder ob er sie nur systematisiert und fixiert hat, weiss ich nicht, jedenfalls stammt beides aus Athen. 1)Leist: Gräco-italische Rechtsgeschichte, S. 585.Dies nur als Beispiel der grossen Bedeutung Griechenland’s für den Ausbau des römischen Rechtes. Später, als alle hellenischen Länder unter römischer Verwaltung standen, trugen die griechischen Städte zur Ausbildung des jus gentium (und somit auch zur Vervoll - kommnung des römischen Rechtes) das Meiste bei. Und da fragt man sich: wie kommt es denn, dass die Hellenen, den Römern geistig so sehr überlegen, nichts Dauerhaftes und auch nichts Vollendetes auf diesem Gebiete schufen, sondern lediglich durch Vermittelung der Römer an dem grossen Civilisationswerke der Ausgestaltung des Rechtes teilnahmen?

Hier lag ein einziger, jedoch ein folgenschwerer Fehler zu Grunde: der Römer ging von der Familie aus, auf Grundlage der Familie errichtete er Staat und Recht; der Grieche dagegen nahm als Ausgangspunkt den Staat, immer ist die Organisation der » Polis « sein Ideal, ihm bleiben Familie und Recht untergeordnet. Die ge - samte griechische Geschichte und Litteratur beweist die Richtigkeit dieser Behauptung, und die Thatsache, dass der grösste aller Hellenen nachhomerischer Zeiten, Plato, die gänzliche Abschaffung der Familie in den leitenden Kreisen) für ein erstrebenswertes Ziel erachtete, zeigt, zu welchen heillosen Verirrungen ein solcher Fundamentalirrtum175Römisches Recht.mit der Zeit führen musste. Mit vollem Recht sagt einmal Giordano Bruno (wo, ist mir entfallen): » Der allergeringste Irrtum in der Art und Weise, eine Sache anzufassen, verursacht schliesslich die erheb - lichsten irrtümlichen Abweichungen; da kann das kleinste Versehen in der Verzweigung des Gedankenganges heranwachsen, wie eine Eichel zur Eiche. « Und das war hier kein » allergeringster Irrtum «, sondern ein gewaltiger; hier liegt alles Elend der hellenischen Völker eingeschlossen; hier ist der Grund zu suchen, warum sie weder Staat noch Recht in dauerhafter, mustergültiger Weise auszubauen ver - mochten. Nimmt man eine sorgfältige Einzeldarstellung zur Hand, z. B. die vor wenigen Jahren aufgefundene Schrift des Aristoteles: Vom Staatswesen der Athener, man wird von dieser Aufeinanderfolge verschiedener Verfassungen, die jede einen wesentlich verschiedenen Geist atmen, schwindlig: die vordrakonische Verfassung, die Ver - fassungen Drako’s, Solon’s, des Kleisthenes, des Aristeides, des Perikles, der Vierhundert u. s. w., u. s. w., alles innerhalb zwei - einhalb Jahrhunderte! Bei festgefügtem Familienleben wäre das un - denkbar gewesen. Ohne dieses gelangten die Hellenen leicht zu ihrer so charakteristisch unhistorischen Auffassung: das Recht sei ein Gegenstand der freien Spekulation; und so verloren sie das Gefühl dafür, dass es, um leben zu können, aus thatsächlichen Verhältnissen hervorwachsen muss. 1)Trefflich ist in dieser Beziehung eine Bemerkung Jean Jacques Rousseau’s: » Si quelquefois les lois influent sur les moeurs, c’est quand elles en tirent leur force « (Lettre à d’Alembert). Und wie auffallend ist es, dass gerade die wichtigsten Fragen des Familienrechtes als ein Nebensächliches be - handelt werden, Solon z. B., der bedeutendste Athenienser auf recht - lichem Gebiet, das Erbrecht so dunkel lässt, dass die Auslegung der Willkür der Gerichte überlassen bleibt (Aristoteles, a. a. O., Ab - schnitt 9). Ganz anders Rom. Der starke Drang nach Disciplin findet einen Ausdruck hier zunächst in der festen Organisation der Familie. Die Söhne bleiben nicht bloss bis zum 14. Lebensjahre, wie bei den Griechen, unter väterlicher Gewalt, sondern bis zum Tod des Vaters; durch Ausschliessung der Verwandtschaft auf mütter - licher Seite, durch rechtliche Anerkennung der unbegrenzten Gewalt des Paterfamilias, selbst über Leben und Tod der Seinigen (und wäre sein Sohn inzwischen auch zu den höchsten Staatsämtern hinauf - gestiegen), durch grösste Freiheit und genaueste Einzelbestimmungen in Bezug auf das Testier - und das Erbrecht, durch striktesten Schutz176Das Erbe der alten Welt.aller Eigentums - und Forderungsrechte des Hausvaters (welcher allein ein Vermögensrecht besass und eine persona sui juris, d. h. eine freie, juristische Person war) durch alle diese Dinge und noch manche andere, wurde in Rom die Familie zu einer unerschütter - lich festen, unzersetzlichen Einheit, und diese Einheiten sind es, denen man im letzten Grunde die besondere Gestaltung des römischen Staates und des römischen Rechtes zu verdanken hat. Man begreift unschwer, wie eine so strenge Auffassung der Familie auf das gesamte Leben zurückwirken musste: auf die Moral der Männer, auf die Beschaffen - heit der Kinder, auf die Sorge, das Erworbene zu erhalten und zu vererben, auf die Vaterlandsliebe, die nicht, wie in Griechenland, künstlich geschürt zu werden brauchte, kämpfte doch der Bürger für das dauernd gesicherte Eigene, für sein heiliges Heim, für Frieden und Ordnung.

Die Ehe.
168

Hiermit hängt natürlich die innerliche Auffassung der Ehe und die Stellung des Weibes in der Gesellschaft zusammen: dies ist offenbar das positive Element in der Gestaltung der römischen Familie, dasjenige, welches nicht durch Gesetze bestimmt werden konnte, welches dagegen die Gesetze bestimmt hat. Schon bei den alten Ariern wurde die Ehe als » eine göttliche Einrichtung « betrachtet, und wenn die junge Frau die Schwelle des neuen Heims betrat, wurde ihr zugerufen: » Ziehe hin ins Haus des Gatten, dass du Haus - herrin heissest; als Gebieterin schalte daselbst! « 1)Zimmer: Indisches Leben, S. 313 ff.Gerade in diesem Punkte zweigten Hellenen und Römer, sonst so vielfach verwandt, von einander ab. Zu Homer’s Zeiten sehen wir allerdings das Weih von den Griechen noch hochgeachtet, die Genossin des Mannes; die nach Kleinasien ausgewanderten Ionier nahmen jedoch fremde Frauen, » die den hellenischen Mann nicht bei seinem Namen, sondern nur Herr nennen durften, diese Entartung der kleinasiatischen Ionier hat auf Athen zurückgewirkt «. 2)Etfried Müller: Dorier, 2. Ausg. I, 78, II, 282 (nach Leist citiert).Der Römer dagegen » be - trachtete die Frau als seine ebenbürtige Genossin, seine Lebensgefährtin, die Alles mit ihm zu teilen hat: Göttliches wie Menschliches Die Ehefrau hat aber diese Stellung in Rom, nicht weil sie Ehefrau, sondern weil sie Weib ist, d. h. wegen der Achtung, welche der Römer dem weiblichen Geschlecht als solchem zollt. In allen Be - ziehungen, wo nicht der natürliche Unterschied des Geschlechts eine177Römisches Recht.Verschiedenheit bedingt, stellt der Römer das Weib mit sich auf eine Linie. Es giebt keinen schlagenderen Beleg dafür, als das altrömische Erbrecht, welches zwischen beiden Geschlechtern gar keinen Unter - schied macht: die Tochter hat genau dasselbe wie der Sohn, die Agnatin wie der Agnat; sind keine Kinder da, so erhält die Witwe den ganzen Nachlass und schliesst den Mannesstamm aus, ebenso, wenn auch sie nicht vorhanden ist, die Schwester. Man muss die Zurücksetzung, welche das weibliche Geschlecht in den Rechten so vieler anderer Völker erfahren hat, kennen, um die Bedeutsamkeit dieses Punktes einzusehen; in Griechenland z. B. schloss der nähere männliche Verwandte das Weib gänzlich aus, und das Los einer Erb - tochter war ein geradezu beklagenswertes, der nächste männliche Ver - wandte konnte sie ihrem Ehemann entziehen. « 1)Jhering: Entwickelungsgeschichte des römischen Rechts, S. 55. Bei den Germanen sah es nicht besser aus. » Das Erbrecht ist allen Weibern nach den ältesten deutschen Gesetzen entweder versagt oder beschränkt «, meldet Grimm: Deutsche Rechtsaltertümer, 3. Ausg., S. 407. Die Milderungen, die nach und nach eintraten, sind auf römischen Einfluss zurückzuführen; wo dieser nicht oder wenig hinreichte, enthalten noch im Mittelalter die deutschen Rechtsbücher » völlige Hintansetzung «; ganz im Norden, in Skandinavien und im ältesten Friesland, konnte ein weibliches Wesen überhaupt nichts erben, weder fahrendes, noch liegendes Gut: » der Mann geht zum Erbe, das Weib davon «; erst im 13. Jahr - hundert wurde letzterem dort ein beschränktes Erbrecht zugestanden. (Grimm, S. 473.) Das sind die Rechtsverhältnisse, nach denen die Deutschtümler sich zurücksehnen!Als Fürstin, princeps familiae, wurde die römische Ehefrau im Hause verehrt, und das römische Gesetz spricht von der matronarum sanctitas, der Heiligkeit der mit Kindern gesegneten Frauen. Kinder, die sich irgendwie gegen ihre Eltern vergingen, traf die » Sacertät «, d. h. die Ächtung vor Göttern und Menschen; auf dem Vatermord lag keine Strafe, weil (so erzählt Plutarch) man dieses Verbrechen für undenkbar hielt, in der That währte es über ein halbes Jahrtausend, bis das erste Parricidium begangen wurde. 2)(Romulus, XXIX.) Zum Kontrast diene, dass es bei den Deutschen bis zur Einführung des Christentums (bei den Wenden sogar bis zum 17. Jahrhundert) Sitte war, alte, schwache Eltern zu erschlagen! (siehe Grimm: Rechtsaltertümer, S. 486 490).Um sich diese altrömische Familie richtig vorzustellen, muss man sich noch eines gegenwärtig machen: dass nämlich im römischen Leben das sakrale Element, d. h. die Achtung vor göttlichen Geboten, eine grosse Rolle spielte. War der Paterfamilias dem menschlichen Rechte nach ein unbeschränkter DespotChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 12178Das Erbe der alten Welt.in seinem Hause, so verwehrte ihm das göttliche Gebot, dieses Recht zu missbrauchen. 1)Ausserdem unterlag er der » censorischen Rüge «, sowohl für zu grosse Strenge in der Ausübung seiner väterlichen Rechte wie auch für Nachlässigkeit; siehe Jhering: Geist des römischen Rechtes, § 32.Das Familienhaus war ja ein Heiligtum, sein Herd einem Altar gleichwertig; und wenn es auch für unser heutiges Gefühl etwas Grauenhaftes hat, davon zu hören, dass bei sehr grosser Armut Eltern bisweilen ihre Kinder in die Sklaverei verkauften, so wird man doch aus allen Rechtsgeschichten die Überzeugung ge - winnen, dass irgend eine Grausamkeit (nach damaligen Begriffen) gegen Frau oder Kinder fast oder ganz unbekannt war. Zwar ist die Gattin ihrem Manne gegenüber juristisch filiae loco (einer Tochter gleich), ihren eigenen Kindern gegenüber sororis loco (einer Schwester gleich): das geschieht aber im Interesse der Einheit der Familie und damit, sowohl in staatsrechtlicher wie in privatrechtlicher Beziehung, die Familie als scharf abgegrenztes, von einer einzigen Person juristisch vertretenes, autonomes, organisches Gebilde auftrete, nicht als ein mehr oder minder festes Konglomerat von lauter einzelnen Frag - menten. Schon im politischen Teile dieses Abschnittes sahen wir, dass der Römer es liebte, die Gewalt einzelnen Männern zu übergeben, vertrauend, dass aus Freiheit gepaart mit Verantwortlichkeit, beides im Brennpunkt einer ihrer Individualität bewussten Persönlichkeit vereint, massvolle und zugleich energische, weise Handlung hervor - gehen würde. So auch hier. Später entartete dieses Familienleben; es wurden schlaue Mittel ersonnen, um Surrogate für die wahre Ehe aufzubringen, damit die Frau nicht mehr in die juristische Gewalt des Mannes käme; » die Ehe wurde zu einem Geldgeschäft wie jedes andere; nicht um Familien zu gründen, sondern um die zerrütteten Vermögensverhältnisse durch Heiratsgüter aufzubessern, wurden Ehen geschlossen, und geschlossene getrennt, um neue zu schliessen «;2)Esmarch: Römische Rechtsgeschichte, S. 317. aber trotzdem konnte noch zu Caesar’s Zeiten Publius Syrus als römische Auffassung der Ehe die Zeile schreiben:

Perenne animus conjugium, non corpus facit.

Die Seele, nicht der Körper, macht die Ehe zu einer immerwährenden.

Das Weib.
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Das ist der Mittelpunkt des römischen Rechtes; der Kontrast mit Griechenland (und mit Deutschland) lässt die Bedeutung eines solchen organischen Mittelpunktes ahnen. Auch hier wieder bewährt sich der Römer, wenn auch als durchaus unsentimentaler, fast peinlich179Römisches Recht.phantasieloser, so doch nichts weniger als unidealer Mensch. Er besitzt sogar eine so grosse Macht der Idee, dass dasjenige, was er recht von Herzen wollte, nie wieder ganz verschwand. Wir sahen es schon im vorigen Abschnitt: Ideen sind unsterblich. Der römische Staat wurde zu Grunde gerichtet, seine Idee lebte aber, mächtig gestaltend, durch die Säcula weiter; am Schlusse des 19. Jahrhunderts schmücken sich vier mächtige Monarchen Europas mit dem Patrony - mikon Julius Caesar’s, und der Begriff der Res publica gestaltet den grössten Staat der neuen Welt. Das römische Recht aber lebt nicht allein als justinianische Mumie, nicht allein als technisches Ge - heimnis, nur den Technikern zugänglich, weiter; nein, ich glaube, dass auch der lebenbildende Kern, aus dem jenes Recht im letzten Grunde erwachsen war, doch, trotz der Finsternis schmachvollst un - heiliger Jahrhunderte und trotz der auflösenden Gährung, die ihnen folgte, niemals zu Grunde ging, und dass er in uns als ein kost - barstes Gut weiterlebt. Wir reden noch heute von der Heiligkeit der Familie; wer sie, wie gewisse Sozialisten, leugnet, der wird aus der Liste urteilsfähiger Politiker gestrichen, und selbst wer kein gläubiger Katholik ist, wird sich hundertmal lieber mit der Vorstellung befreunden, die Ehe sei ein religiöses Sakrament (wie es ja im alten Rom war; hier wie an so vielen Orten fusst das Papsttum unmittelbar auf altrömischem Pontifikalrecht und bewährt sich als letzter offizieller Vertreter des Heidentums), als dass er zugeben wird, die Ehe sei, wie der gelehrte Anarchistenführer Elisée Reclus geschmackvoll sagt: » lediglich legale Prostitution «. Dass wir so fühlen, ist römische Erbschaft. Auch die hochgeachtete Stellung des Weibes, wodurch unsere Civilisation sich von der hellenischen und von den ver - schiedenen Abarten der semitischen und asiatischen so vorteilhaft unterscheidet, ist nicht, wie Schopenhauer und manche Andere ge - lehrt haben, » eine christlich-germanische Schöpfung «, sondern eine römische Schöpfung. So weit man urteilen kann, müssen die alten Germanen ihre Weiber nicht besonders gut behandelt haben, und hier scheint römischer Einfluss zu allererst gewirkt zu haben; die ältesten deutschen Rechtsbücher sind in Bezug auf die rechtliche Stellung der Frau voller wörtlicher Entlehnungen aus römischem Recht (siehe Grimm: Deutsche Rechtsaltertümer II, Kap. 1, B 7 u. ff.). Dass das Weib in Europa eine feste, sichere, rechtliche Stellung erlangte, das war römisches Werk. Besungen wurde das » schöne Geschlecht « aller - dings erst von Deutschen, Italienern, Franzosen, Engländern, Spaniern;12*180Das Erbe der alten Welt.daran hatten freilich die Römer nie gedacht. 1)Ich rede von dem treuen, keuschen Weibe; denn die Ehebrecherin und die Hetäre wurden von den namhaftesten Dichtern des verfallenden Roms, allen voran Catull und Virgil, hoch gefeiert.Ich frage mich aber, ob wir ohne den Scharfblick und den Gerechtigkeitssinn, vor allem ohne den unvergleichlichen staatenbildenden Instinkt der Römer jemals dahin gelangt wären, das Weib als vollgültige Genossin unseres Lebens, als Eckstein der Familie in unser politisches System auf - zunehmen? Ich glaube es bestimmt verneinen zu dürfen. Das Christentum bedeutet durchaus keine Stärkung der Idee der Familie. Im Gegenteil, sein eigentliches Wesen ist, dass es alle politischen und rechtlichen Bande zerreisst und jedes einzelne Individuum auf sich selbst stellt. Den Gnadenstoss erhielt auch die römische Familie von dem christlichen Kaiser Constantin, der die Souveränität des paterfamilias aufhob. Als Ausfluss des Judentums ist ausserdem das Christentum von Hause aus eine anarchische Macht, eine anti - politische. Dass die katholische Kirche ganz andere Wege ging und eine politische Macht erster Grösse wurde, ist einfach dem Umstand zuzuschreiben, dass sie die klare Lehre Christi verleugnete, und dafür die römische Staatsidee wieder aufgriff wenn auch nur die Idee des verkommenen römischen Staates. Für die Erhaltung des römischen Rechtes that die Kirche mehr als irgend Jemand;2)Siehe namentlich Savigny: Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter, Kap. 3, 15, 22 u. s. w. Papst Gregor IX .. zum Beispiel geizte einzig nach dem Titel eines » Justinian der Kirche «, mehr als Seligsprechung lag diese Anerkennung seiner juristischen Verdienste ihm am Herzen. 3)Bryce: Das heilige römische Reich, franz. Ausg., S. 131.Waren nun auch die Gründe, welche die Kirche und die Könige trieb, das römische Recht in seiner byzantinischen Aftergestalt zu erhalten und zwangsweise einzuführen, durchaus nicht immer besonders edle, das konnte doch nicht ver - hindern, dass manches Edelste an römischen Gedanken zugleich mit gerettet wurde. Und ebenso wie die Tradition des römischen Rechtes niemals aufhörte, schwand auch die römische Auffassung der Würde des Weibes und der politischen Bedeutung der Familie nie wieder ganz aus dem Bewusstsein der Menschen. Seit etlichen Jahrhunderten (hier wie an so manchen Orten bildet das 13. Jahrhundert mit Petrus Lombardus die fast mathematische Scheidelinie) sind wir der altrömischen Auffassung immer näher gekommen, namentlich181Römisches Recht.seitdem das Tridentiner Konzil und Martin Luther zu gleicher Zeit die Heiligkeit der Ehe betonten. Dass diese Annäherung in mancher Beziehung eine rein ideelle ist, thut nichts zur Sache; eine durch und durch neue Civilisation kann sich gar nicht zu gründlich von alten Formen frei machen; ohnehin giessen wir gar zu viel neuen Wein in alte Schläuche; ich glaube aber nicht, dass irgend ein vor - urteilsloser Mann leugnen wird, die römische Familie sei eine der herrlichsten Errungenschaften des Menschengeistes, einer jener Gipfel, der nicht zweimal erklommen werden kann, und zu dem noch die fernsten Jahrhunderte hinaufblicken werden voll Bewunderung, zu - gleich auch, um sicher zu sein, dass sie selber nicht zu weit von der Wahrheit abirren. Bei jedem Studium unseres Jahrhunderts, z. B. bei der Besprechung der brennenden Frauenemanzipationsfrage, wird dieser ragende Gipfel unschätzbare Dienste leisten; ebenso bei der Beurteilung jener sozialistischen Theorien, welche, im Gegensatz zu Rom, auf die Formel hinauslaufen: keine Familie, alles Staat.

Ich habe hier etwas Schwieriges versucht: über einen technischenPoesie und Sprache. Gegenstand nicht-technisch zu reden. Ich musste mich darauf be - schränken, die besondere Befähigung der Römer für die Ausbildung gerade dieser Technik nachzuweisen; was ich sodann als den weitest reichenden Erfolg für die menschliche Gesellschaft hervorzuheben be - müht war, die felsenfelste, rechtliche Begründung der Familie, das ist, wie man bemerkt haben wird, wesensgleich mit der ursprünglichen, treibenden Kraft, aus welcher die technische Meisterschaft allmählich heraufgewachsen war. Alles was dazwischen liegt, d. h. die gesamte eigentliche Technik, musste beiseite gelassen werden, ebenso wie eine Erörterung über die Vorteile und die Nachteile des vorwiegenden Einflusses des römischen Rechtes in unserm Jahrhundert in rein tech - nischer Beziehung. Auch ohne solch gefährlichen Sandboden zu be - treten, gab es für uns Laien genug anregende Betrachtungen.

Mit Absicht habe ich mich auf Politik und Recht beschränkt. Was nicht auf uns vererbt wurde, fällt nicht in den Gesichtskreis dieses Buches, und Manches, was sich erhalten hat, wie z. B. die Werke lateinischer Dichter, bildet eine Beschäftigung für Liebhaber und Ge - lehrte, nicht aber einen lebendigen Teil unseres Lebens. Griechische Poesie und lateinische Poesie zusammenthun zu dem einen Begriff » klassische Litteratur «, ist ein Beweis von unglaublicher Geschmacks - barbarei und von einer bedauerlichen Unkenntnis des Wesens und182Das Erbe der alten Welt.Wertes genialer Kunst. Wo römische Dichtung das Erhabene an - strebt, wie bei Virgil und Ovid, schliesst sie sich möglichst sklavisch an griechische Muster an im richtigen Gefühl ihrer rettungslosen Un - originalität. Wie Treitschke sagt: » Die römische Litteratur ist eine griechische, die mit lateinischen Worten geschrieben wird «. 1)Über den grossen Lucrez als Ausnahme, vergl. das S. 71, Anm. Gesagte.Was sollen unsere unseligen Knaben denken, wenn ihnen früh die Ilias des grössten dichterischen Schöpfers aller Zeiten erklärt wird, nach - mittags die auf kaiserlichen Befehl ausgearbeitete Tendenzepopöe, die Aeneis: beides als klassische Muster? Das Echte und das Unechte, das glorreiche, freie Schaffen aus höchster schöpferischer Not und die feingebildete Technik im Dienste des Goldes und des Dilettantismus, das Genie und das Talent: vorgeführt als zwei auf demselben Stock gewachsene Blumen, nur wenig unterschieden! So lange jenes blasse Gedankenunding, der Begriff der » klassischen Litteratur «, unter uns als Dogma weiterlebt, solange umfängt uns noch die Nacht des Völker - chaos, so lange sind unsere Schulen Sterilisierungsanstalten zur Ver - tilgung jeder schöpferischen Regung. Hellenische Dichtung war ein Anfang, eine Morgendämmerung, sie erschuf ein Volk, sie schenkte ihm aus verschwenderischem Herzen alles, was höchste Schönheit geben kann, um das Leben zu heiligen, alles was Poesie vermag, um arme, geplagte Menschenseelen zu verklären und mit der Ahnung unsicht - barer, freundlicher Mächte zu erfüllen, und unversiegbar quillt nunmehr dieser Lebensborn, ein Jahrhundert nach dem andern labt sich an ihm, ein Volk nach dem andern schöpft aus seinen Fluten die Begeisterungskraft, selber Schönes zu schaffen; denn das Genie ist wie Gott: zwar offenbart es sich in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen, seinem Wesen nach ist es aber unbe - dingt, was Anderen zu Ketten wird, daraus schmiedet es sich Flügel, es entsteigt der Zeit und ihrem Todesschatten und geht lebendig ein in die Ewigkeit. In Rom dagegen, man darf es kühn behaupten, war das Genie überhaupt verboten! Rom hat keinerlei Dichtung, bis es in Verwesung kommt. Erst bei hereinbrechender Nacht, als kein Volk mehr da ist, um sie zu hören, erheben seine Sänger ihre Stimmen; Nachtfalter sind es; sie schreiben für die Boudoirs lasciver Frauen, für die Zerstreuung feingebildeter Lebemänner und für den Hof. Ob - wohl Hellenen in nächster Nähe lebten und von den frühesten Zeiten an die Samen hellenischer Kunst und Philosophie und Wissenschaft183Römisches Recht.ausstreuten (denn alle Bildung war in Rom von jeher griechisch), kein einziges Samenkorn ging auf. 500 Jahre vor Christo sandten schon die Römer nach Athen, um genaue Nachricht über griechisches Recht zu erhalten; ihre Gesandten trafen den Aischylos in der Fülle seiner Kraft, Sophokles schon schöpferisch thätig an; welche künstlerische Blüte hätte bei solcher Lebensenergie in Rom nach dieser Berührung aufgehen müssen, wenn nur die geringste Beanlagung vorhanden ge - wesen wäre. Das war aber nicht der Fall. Wie Mommsen sagt: » die Entwickelung der musischen Künste in Latium war mehr ein Ein - trocknen als ein Aufblühen «. Die Lateiner hatten vor dem Verfall überhaupt kein Wort für Dichter, der Begriff war ihnen fremd! Wenn ihre Dichter nun ohne Ausnahme ungenial waren, worin be - stand die Bedeutung derjenigen unter ihnen, die, wie Horaz und Juvenal, stets die Bewunderung der Sprachkünstler erregt haben? Offenbar, wie alles, was aus Rom stammt, in der Technik. Die Römer waren grossartige Baumeister von Kloaken und Aquädukten,1)Doch auch hier nicht Erfinder; siehe Hueppe’s Untersuchungen über die Wassertechnik der alten Griechen: Rassenhygiene der Griechen, S. 37. grossartige Maler von Zimmerdekorationen, grossartige Fabrikanten kunstgewerblicher Gegenstände; in ihren Circussen kämpften bezahlte Techniker des Fechtens und fuhren berufsmässige Wagenlenker. Der Römer konnte Virtuos werden, nicht Künstler; jede Virtuosität inter - essierte ihn, keine Kunst. Die Gedichte des Horaz sind technische Meisterstücke. Abgesehen vom historisch-pittoresken Interesse als Schilderungen eines entschwundenen Lebens, fesselt uns bei diesen Dichtungen lediglich die Virtuosität. Die » Lebensweisheit «, wirft man mir ein? Ja, wenn eine so alltägliche, nüchterne Weisheit nur nicht überall besser am Platze wäre, als im Zauberreich der Kunst, deren weit offene Kindesaugen aus jedem hellenischen Dichtwerk eine so ganz andere Weisheit künden als die, welche dem Horaz und seinen Freunden zwischen Käse und Obst einfällt. Eine der echtesten Dichternaturen, die je gelebt, Byron, sagt von Horaz:

It is a curse
To understand, not feel thy lyric flow,
To comprehend, but never love thy verse. 2)Ein Fluch ist es, deinen lyrischen Erguss mit dem Verstand allein, nicht mit dem Gefühl aufzufassen, deine Verse zwar begreifen, doch niemals lieben zu können.
184Das Erbe der alten Welt.

Was ist das für eine Kunst, die nur zum Verstand, nie zum Herzen redet? Es kann nur eine künstliche Kunst sein, eine Technik; käme sie von Herzen, sie würde auch zu Herzen gehen. In Wahrheit stehen wir hier noch unter französischer Vormundschaft, und die Franzosen unter syrisch-jüdischer (Boileau-Pseudolonginus); und ist auch wenig von dieser Erbschaft ins moderne Leben eingedrungen, wir sollten sie endlich einmal ganz abwerfen zu Gunsten unserer eigenen Dichter in Worten und in Tönen, gottbegnadeter Männer, deren Werke himmelhoch alles überragen, was auf dem Schutte des verfallenden Rom wie etiolierte Pflanzen, in ungesunder Hast, wurzel - und saftlos in die Höhe schoss.

In den Händen des Fachmannes, d. h. des Philologen, wird die lateinische Poesie ebenso sicher und zweckentsprechend aufgehoben sein, wie das corpus juris bei den Rechtsforschern. Will man aber die lateinische Sprache als allgemeines Bildungsmittel durchaus bei - behalten (anstatt dass man die griechische allein, dafür aber gründlicher, lehrte), so zeige man sie dort am Werke, wo sie Unvergleichliches leistet, wo sie, in Übereinstimmung mit der besonderen Anlage des römischen Volkes und mit seiner historischen Entwickelung das vollbringt, was nie eine andere Sprache gekonnt hat, noch können wird: beim plastischen Ausbau rechtlicher Begriffe. Man sagt, die lateinische Sprache bilde den logischen Sinn; ich will es glauben, wenn ich auch nicht umhin kann zu bemerken, dass man gerade in dieser Sprache während der scholastischen Jahrhunderte, trotz aller Logik, mehr Unsinn geschrieben hat, als je in einer anderen; wodurch hat aber die lateinische Sprache einen Charakter von so grosser, wortkarger Bestimmtheit erlangt? Dadurch, dass sie ausschliesslich als Geschäfts - und Verwaltungs - und Rechtssprache ausgebildet wurde. Diese unpoetischste aller Sprachen ist ein grossartiges Monument des folgenschweren Kampfes freier Menschen um ein gesichertes Recht. Dort zeige man sie unseren Jünglingen am Werke. Die grossen Rechtslehrer Roms haben eo ipso das schönste Lateinisch geschrieben; dazu (und nicht zum Verseschreiben) war ja diese Sprache da; die makellos durchsichtige, jede Missdeutung ausschliessende Satzbildung war ein wichtigstes Instrument juristischer Technik; aus dem Rechtsstudium allein hat Cicero seine stilistischen Vorzüge geschöpft. Schon von den ältesten Dokumenten der Ge - schäfts - und Gerichtssprache sagt Mommsen, sie zeichneten sich aus » durch Schärfe und Bestimmtheit «,1)Römische Geschichte 1, 471. und von der Sprache Papinian’s,185Römisches Recht.eines der letzten der grossen Rechtslehrer (unter Marc Aurel) berichten philologisch geschulte Männer, sie sei: » die höchste Steigerung der Fähigkeit, stets den der Tiefe und Klarheit des Gedankens vollkommen entsprechenden Ausdruck zu finden «; wie aus Marmor gemeisselt stünden seine Sätze: » kein Wort zu viel, keins zu wenig, jedes Wort am unbedingt rechten Platz, so weit es der Sprache möglich ist, jeden Doppelsinn ausschliessend «. 1)Esmarch: Römische Rechtsgeschichte, S. 400.Ein Verkehr mit derartigen Menschen wäre wirklich ein kostbarer Beitrag zu unserer Bildung. Und mich dünkt, wenn jeder römische Knabe die zwölf Tafeln auswendig wusste, unseren Jünglingen könnte es auch nur dienlich und geistig förderlich sein, wenn sie die Schule nicht lediglich als dumme gelehrte subjecti, sondern mit einigen genauen Begriffen rechtlicher und staatsrechtlicher Dinge, nicht allein formell logisch, sondern auch vernünftig und praktisch denkend, gestählt gegen hohle Schwärmerei für » deutsches Recht « und dergleichen verliessen. Inzwischen liegt in unserm Verhalten zur lateinischen Sprache eine schlecht verwaltete und darum ziemlich sterile Erbschaft vor.

Wir Männer des 19. Jahrhunderts, wir wären nicht was wir sind,Zusammen - fassung. wenn wir nicht aus diesen beiden Kulturen, der hellenischen und der römischen, ein reiches Vermächtnis angetreten hätten. Darum können wir auch unmöglich beurteilen, was wir in Wahrheit sind, und mit Bescheidenheit eingestehen, wie wenig das ist, wenn wir uns nicht eine durchaus deutliche Vorstellung von der Beschaffenheit dieser Erbstücke machen. Ich hoffe, mein Bestreben wird nach dieser Richtung hin nicht ganz ohne Erfolg gewesen sein, auch hoffe ich, dass der Leser namentlich bemerkt haben wird, wie das römische Erbe sich von Grund und Boden aus vom hellenischen unterscheidet.

In Hellas war die geniale Persönlichkeit das ausschlaggebende Moment gewesen: gleichviel ob diesseits oder jenseits des adriatischen und des ägäischen Meeres, die Griechen waren gross, so lange sie grosse Männer besassen. In Rom hat es dagegen nur insofern und nur so lange bedeutende Individualitäten gegeben, als das Volk gross war, und gross war es, so lange es physisch und moralisch unver - fälscht römisch blieb. Rom ist das extremste Beispiel einer grossen anonymen Volksmacht, die unbewusst, dafür aber um so sicherer schafft. Darum aber ist es weniger anziehend als Hellas, und darum186Das Erbe der alten Welt.wird auch die Leistung Roms für unsere Civilisation selten gerecht beurteilt. Und doch fordert Rom Bewunderung und Dankbarkeit; seine Gaben waren moralische, nicht intellektuelle; gerade dadurch jedoch war es befähigt, Grosses zu leisten. Nicht der Tod des Leoni - das konnte die asiatische Gefahr von Europa abwenden und mit der Menschenfreiheit die Menschenwürde erretten, sie künftigen Zeiten zu friedvollerer Pflege und festerem Bestand übermachend; das ver - mochte einzig ein langlebiger Staat von eiserner, unerbittlicher, politischer Konsequenz. Nicht Theorie aber, und eben so wenig Schwärmerei und Spekulation konnten diesen langlebigen Staat erschaffen; er musste in dem Charakter der Bürger wurzeln. Dieser Charakter war hart und eigensüchtig, gross jedoch durch sein hohes Pflichtgefühl, durch seine Aufopferungsfähigkeit und durch seinen Familiensinn. Indem der Römer inmitten des Chaos der damaligen Staatsversuche seinen Staat errichtete, errichtete er den Staat für alle Zeiten. Indem er sein Recht zu einer unerhörten technischen Vollkommenheit ausarbeitete, begründete er das Recht für alle Menschen. Indem er die Familie, seinem Herzensdrang folgend, zum Mittelpunkt von Recht und Staat machte und diesem Begriffe fast exorbitanten Ausdruck verlieh, hob er das Weib zu sich hinauf und schuf die Verbindung der Geschlechter um zur Heiligkeit der Ehe. Geht unsere künstlerische und wissen - schaftliche Kultur in vielen wesentlichen Momenten auf Griechenland zurück, so führt unsere gesellschaftliche Kultur auf Rom. Ich rede hier nicht von der materiellen Civilisation, die aus allerhand Ländern und Epochen, und vornehmlich aus dem Erfindungsfleiss der letzten Jahrhunderte stammt, sondern von den sicheren moralischen Grundlagen eines würdigen gesellschaftlichen Lebens; sie zu legen war eine grosse Kulturarbeit.

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DRITTES KAPITEL DIE ERSCHEINUNG CHRISTI

Durch Eines Tugend sind Alle zum wahren Heile gekommen. Mahâbhârata.
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Vor unseren Augen steht eine bestimmte, unvergleichliche Er -Einleitendes. scheinung; dieses erschaute Bild ist das Erbe, das wir von unseren Vätern überkommen haben. Die historische Bedeutung des Christen - tums kann man ohne die genaue Kenntnis dieser Erscheinung nicht ermessen und richtig beurteilen; dagegen gilt das Umgekehrte nicht, und die Gestalt Jesu Christi ist heute durch die geschichtliche Ent - wickelung der Kirchen eher verdunkelt und ferngerückt als unserem klarschauenden Auge enthüllt. Einzig durch eine örtlich und zeitlich beschränkte Kirchenlehre diese Gestalt erblicken, heisst sich freiwillig Scheuklappen auf binden und sich die Aussicht in das göttlich Ewige auf ein kleines Mass beschränken. Durch die Kirchendogmen wird ohnehin gerade die Erscheinung Christi kaum berührt; sie alle sind so abstrakt, dass sie weder dem Verstand noch dem Gefühl einen An - haltspunkt bieten; es gilt von ihnen im Allgemeinen, was ein unver - fänglicher Zeuge, der heilige Augustinus, von dem Dogma der Drei - einigkeit sagt: » Wir reden also von drei Personen, nicht weil wir wähnen, hiermit etwas ausgesagt zu haben, sondern lediglich, weil wir nicht schweigen können «. 1)» Dictum est tarnen tres personae, non ut aliquid diceretur, sed ne taceretur. « De Trinitate, lib. V, c. 9.Gewiss ist es keine Verletzung der schuldigen Ehrfurcht, wenn wir sagen: nicht die Kirchen bilden die Macht des Christentums, sondern diese bildet einzig und allein jener Quell, aus dem die Kirchen selber alle Kraft schöpfen: der Anblick des gekreuzigten Menschensohns.

Trennen wir also die Erscheinung Christi auf Erden von allem historischen Christentum.

Was sind denn auch unsere 19 Jahrhunderte für die bewusste Aufnahme eines derartigen Erlebnisses, für die alle Schichten der Menschheit durchdringende Umwandlung durch eine von Grund aus neue Weltanschauung? Man bedenke doch, dass es über zwei Jahr -190Das Erbe der alten Welt.tausende gewährt hat, ehe die mathematisch beweisbare, sinnfällig vor - stellbare Struktur des Kosmos ein fester, allgemeiner Besitz des mensch - lichen Wissens wurde! 1)Siehe S. 86.Ist nicht der Verstand mit seinen Augen und mit seinem unfehlbaren Brevier von 2 mal 2 ist 4 leichter zu modeln als das blinde, ewig durch Eigensucht bethörte Herz? Nun wird ein Mann geboren und lebt ein Leben, durch welches die Auffassung von der sittlichen Bedeutung des Menschen, die gesamte » moralische Weltanschauung « eine völlige Umwandlung erleiden wodurch zugleich das Verhältnis des Individuums zu sich selbst, sein Verhältnis zu Anderen und sein Verhältnis zur umgebenden Natur eine früher ungeahnte Beleuchtung erhalten muss, so dass alle Handlungsmotive und Ideale, alle Herzensbegehr und Hoffnung nunmehr umzugestalten und vom Fundament aus neu aufzubauen sind! Und man glaubt, das könne das Werk einiger Jahrhunderte sein? Man glaubt, das könne durch Missverständnisse und Lügen, durch politische Intriguen und ökumenische Konzilien, durch den Befehl ehrgeiztoller Könige und habgieriger Pfaffen, durch dreitausend Bände scholastischer Beweis - führung, durch den Glaubensfanatismus beschränkter Bauernseelen und den edlen Eifer vereinzelter » Fürtrefflichsten «, durch Krieg, Mord und Scheiterhaufen, durch bürgerliche Gesetzbücher und gesellschaft - liche Intoleranz bewirkt werden? Ich für mein Teil glaube es nicht. Ich glaube vielmehr, dass wir noch fern, sehr fern von dem Moment sind, wo die umbildende Macht der Erscheinung Christi sich in ihrem vollen Umfang auf die gesittete Menschheit geltend machen wird. Sollten unsere Kirchen in ihrer bisherigen Gestalt auch zu Grunde gehen, die christliche Idee wird nur umso machtvoller hervortreten. Im 9. Kapitel werde ich zeigen, wie unsere neue germanische Welt - anschauung dahin drängt. Das Christentum geht noch auf Kinder - füssen, kaum dämmert seine Mannesreife unserem blöden Blicke. Wer weiss, ob nicht ein Tag kommt, wo man die blutige Kirchen - geschichte der ersten 18 christlichen Jahrhunderte als die Geschichte der bösen Kinderkrankheiten des Christentums betrachtet?

Lassen wir uns also bei der Betrachtung der Erscheinung Christi durch keinerlei historische Vorspiegelungen und ebensowenig durch die vorübergehenden Ansichten unseres Jahrhunderts das Urteil trüben. Seien wir überzeugt, dass wir gerade von dieser einen Erbschaft bis heute nur den kleinsten Teil angetreten haben, und, wollen wir wissen,191Die Erscheinung Christi.was sie für uns Alle zu bedeuten hat gleichviel, ob wir Christen oder Juden, Gläubige oder Ungläubige, gleichviel, ob wir uns dessen be - wusst sind oder nicht so verstopfen wir uns vorläufig die Ohren gegen das Chaos der Glaubensbekenntnisse und der die Menschheit schändenden Blasphemieen, und richten wir zunächst den Blick hinauf zu der unvergleichlichsten Erscheinung aller Zeiten.

In diesem Abschnitt werde ich nicht umhin können, Manches, was die » Verstandesgrundlage « verschiedener Religionen bildet, kritisch prüfend zu betrachten. Da ich aber das, was ich selber als Heiligtum im Herzen berge, unangetastet lasse, so hoffe ich auch keinem andren vernünftigen Menschen verletzend nahe zu treten. Die historische Erscheinung Jesu Christi kann man ebenso gut von jeder ihr innewohnenden, übernatürlichen Bedeutung trennen, wie man Physik auf rein materialistischer Grundlage treiben kann und muss, ohne darum zu wähnen, man habe die Metaphysik von ihrem Throne ge - stürzt. Von Christus freilich kann man schwerlich reden, ohne hin und wieder das jenseitige Gebiet zu streifen; jedoch der Glaube, als solcher, braucht nicht berührt zu werden, und wenn ich als Historiker logisch und überzeugend verfahre, so lasse ich mir gern die einzelnen Widerlegungen gefallen, die der Leser nicht aus seinem Verstand, sondern aus seinem Gemüth schöpft. In diesem Bewusstsein werde ich im folgenden Abschnitt ebenso freimütig reden, wie in den vorangegangenen.

Der religiöse Glaube von mehr als zwei Dritteln der gesamtenDie Religion der Erfahrung. Bewohner der Erde knüpft heute an das irdische Dasein zweier Männer an: Christus und Buddha; Männer, die vor nur wenigen Jahrhunderten lebten und von denen es historisch nachgewiesen ist, dass sie that - sächlich gelebt haben und dass die Traditionen, die von ihnen be - richten wie viel sie auch an Erdichtetem, Schwankendem, Un - klarem, Widersprechendem enthalten mögen dennoch die Haupt - züge ihres wirklichen Lebens getreu wiedergeben. Auch ohne dieses sichere Ergebnis der wissenschaftlichen Forschungen unseres Jahr - hunderts1)Die Existenz Christi war nämlich bereits im 2. Jahrhundert unsrer Aera geleugnet worden, und Buddha wurde bis vor 25 Jahren von vielen Fachgelehrten für eine mythische Gestalt gehalten. Siehe z. B. die Bücher von Sénart und Kern. werden gesund und scharfsichtig urteilende Männer niemals192Das Erbe der alten Welt.an dem wirklichen Dasein dieser grossen moralischen Helden ge - zweifelt haben: denn ist das historisch-chronologische Material über sie auch äusserst dürftig und lückenhaft, so steht doch ihre sittliche und geistige Individualität so leuchtend klar vor Augen, und diese Individualität ist eine so unvergleichliche, dass sie nicht erfunden werden konnte. Die Erfindungsgabe des Menschen ist eng beschränkt; das schöpferische Gemüt kann nur mit Gegebenem arbeiten: Homer muss Menschen auf dem Olympos inthronisieren, denn was er sah und erlebte, zieht seiner Gestaltungskraft die unübersteigbare Grenze; dass er seine Götter so ganz menschlich darstellt, dass er seiner Phantasie nicht gestattet, sich ins Ungeheuerliche, Unvorstellbare (weil nie Gesehene) zu verirren, dass er sie vielmehr bändigt, um ihre ungeteilte Kraft zu einer sichtbaren Dichtung zu verwerten, das ist ein Beweis unter tausenden, und nicht der geringste, von seiner geistigen Überlegenheit. Wir vermögen es nicht einmal, eine Pflanzen - oder eine Tiergestalt zu erfinden; höchstens stellen wir bei derartigen Versuchen eine aus Bruchteilen allerhand bekannter Wesen zusammen - gestoppelte Monstruosität zusammen. Die Natur dagegen, die uner - schöpflich erfindungsreiche, zeigt uns Neues, wann es ihr beliebt; und dieses Neue ist nunmehr für unser Bewusstsein ebenso unver - tilgbar wie es ehedem unerfindbar war. Einen Buddha, geschweige einen Jesus Christus, konnte keine dichterische Menschenkraft, weder die eines Einzelnen, noch die eines Volkes, erfinden; nirgends ent - decken wir auch nur den geringsten Ansatz dazu. Weder Dichter, noch Philosophen, noch Propheten haben sich ein derartiges Phänomen erträumen können. Oft redet man freilich, anknüpfend an Jesus Christus, von Plato; ganze Bücher giebt es über das angebliche Verhältnis zwischen diesen beiden; es sei nämlich der griechische Philosoph ein Vorverkündiger der neuen Heilslehre gewesen. Ja, halten uns die gelehrten Herren denn für Narren? Wird nicht der hellenische Rationalismus öder, je höher er sich versteigt? War man jemals ent - fernter von aller Religion, von aller Möglichkeit, veredelnd auf das Leben zu wirken als in dem Augenblick, wo die Besten des begabtesten Volkes über die notwendigen Eigenschaften der Seele stritten (autonom, gottverwandt u. s. w., siehe S. 114), als sie den Menschen als Ideal die » Idee des Guten «, welche identisch sei mit der » Idee des Schönen « vorhielten und endlosen ebensolchen Firlefanz einer tollgewordenen, weil Unmögliches erstrebenden Vernunft? Sieht denn nicht Jeder ein, dass Plato dort am grössten ist, wo er das Leben berührt, in seinem193Die Erscheinung Christi.Phaidros, seinem Gastmahl, seinem Phaedon? Und nun gar Sokrates! Der kluge Urheber der Grammatik und der Logik, der biedere Ver - künder einer Philistermoral, der edle Schwätzer der atheniensischen Gymnasien, ist er nicht in allem der Gegenpart zu dem göttlichen Verkünder eines Himmelreichs der » Armen an Geist «? Ebensowenig hat man in Indien die Gestalt eines Buddha im Voraus geahnt oder durch die Sehnsucht herbeigezaubert. Alle solche Behauptungen ge - hören dem weiten Gebiete des nachträglich konstruierenden, ge - schichtsphilosophischen Irrwahnes an. Wären Christus und das Christentum eine historische Notwendigkeit gewesen, wie der Neo - scholastiker Hegel behauptet, so hätten wir nicht einen Christus, sondern tausend entstehen sehen müssen; ich möchte wirklich wissen, in welchem Jahrhundert ein Jesus nicht ebenso » notwendig « gewesen wäre wie das liebe Brot? 1)Über Christus schreibt Hegel (Philosophie der Geschichte, Th. III, A. 3. Kap. 2): » Er wurde als ein dieser Mensch geboren, in abstrakter Subjektivität, aber so, dass umgekehrt die Endlichkeit nur die Form seiner Erscheinung ist, deren Wesen und Inhalt vielmehr die Unendlichkeit, das absolute Fürsichsein aus - macht. Die Natur Gottes, reiner Geist zu sein, wird dem Menschen in der christlichen Religion offenbar. Was ist aber der Geist? Er ist das Eine, sich selbst gleiche Unendliche, die reine Identität, welche zweitens sich von sich trennt, als das Andere ihrer selbst, als das Fürsich - und Insichsein gegen das Allgemeine. Diese Trennung ist aber dadurch aufgehoben, dass die atomistische Subjektivität, als die einfache Beziehung auf sich, selbst das Allgemeine, mit sich Identische ist. « Was wohl zukünftige Jahrhunderte zu diesem Wortschwall sagen werden? Während zwei Dritteln des unsrigen wurde er für höchste Weisheit gehalten.Verwerfen wir also solche von Gedanken - blässe angekränkelte Betrachtungen, die alle den einzigen Erfolg haben, das allein Ausschlaggebende und Produktive, nämlich die Bedeutung der lebendigen, individuellen, unvergleichlichen Persönlichkeit zu verwischen. Immer wieder muss man Goethe’s grosses Wort anführen:

Höchstes Gut der Erdenkinder Ist nur die Persönlichkeit!

Wohl wird die Umgebung der Persönlichkeit, die Kenntnis ihrer allgemeinen Bedingtheit in Zeit und Raum wertvolle Beiträge liefern zu ihrer klaren Erkenntnis; durch ein solches Wissen werden wir Wichtiges von Unwichtigem, charakteristisch Individuelles von örtlich Konventionellem zu unterscheiden lernen; das heisst also, wir werden die Persönlichkeit immer klarer erblicken. Sie jedoch erklären, sie als eine logische Notwendigkeit darthun wollen, ist ein müssiges, albernesChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 13194Das Erbe der alten Welt.Beginnen; jede Gestalt auch die eines Käfers ist für den Menschenverstand ein » Wunder «, die menschliche Persönlichkeit aber ist das mysterium magnum des Daseins, und je mehr die Kritik eine grosse Persönlichkeit von den Zuthaten der Legendenbildung reinigt, je mehr es ihr gelingt, fast einen jeden ihrer Schritte als ein Be - dingtes, als ein gewissermassen durch die Natur der Dinge Gebotenes hinzustellen, umso unbegreiflicher wird das Wunder. Das ist auch das Endresultat der Kritik, welche in unserem Jahrhundert am Leben Jesu geübt wurde. Man nennt unser Jahrhundert ein unreligiöses; noch niemals jedoch (seit den ersten christlichen Jahrhunderten) hat sich das Interesse der Menschen in so leidenschaftlicher Weise auf die Person Jesu Christi konzentriert, wie in den letzten 70 Jahren; die Werke Darwin’s, wie weit verbreitet sie auch waren, wurden nicht ein Zehntel soviel gekauft, wie die von Strauss und Renan. Und das Endergebnis ist, dass das thatsächliche Erdenleben Jesu Christi eine immer konkretere Gestalt gewonnen und man immer deutlicher hat einsehen müssen, die Entstehung der christlichen Religion sei im letzten Grund auf den schier beispiellosen Eindruck zurückzuführen, den diese eine Persönlichkeit auf ihre Umgebung gemacht und hinterlassen hatte. Bestimmter als je, und darum auch unergründlicher als je steht heute diese Erscheinung vor unseren Augen.

Das musste zunächst festgestellt werden. Die ganze Richtung unserer Zeit bringt es mit sich, dass wir uns nur für das Konkrete, Lebendige erwärmen können. Am Beginn des Jahrhunderts war es anders; die Romantik warf ihre Schatten nach allen Seiten, und so war es auch Mode geworden, Alles und Jedes » mythisch « zu erklären. Im Jahre 1835 folgte David Strauss dem ihm von allen Seiten ge - gebenen Beispiel und bot als » Schlüssel « (!) der Evangelien » den Be - griff des Mythus «! 1)Siehe erste Ausg. I, 72 fg. und Volksausgabe, 9. Aufl., S. 191 fg. Dass Strauss niemals geahnt hat, was ein Mythus ist, was Mythologie bedeutet, wie aus seinem Durcheinanderwerfen von Volksmythen, von Dichtungen und von Legenden hervorgeht, das ist wieder eine Sache für sich. Eine spätere Zeit wird überhaupt den Erfolg solcher öden, zwar gelehrten, doch jeder tieferen Einsichts - kraft, jedes schöpferischen Hauches baren Produkte wie Straussens nicht begreifen können. Es scheint als ob, ähnlich wie die Bienen und Ameisen ganzer Kohorten geschlechtsloser Arbeiter in ihren Staaten bedürfen, auch wir Menschen ohne den Fleiss und die auf kurze Zeit weit hinreichende Wirkung solcher mit dem Stempel der Sterilität gezeichneten Geister (wie sie um die Mitte unseres Jahrhunderts so üppig blühten) nicht auskommen könnten. Der Fortgang der historisch-kritischenHeute sieht ein Jeder ein, dass dieser angebliche195Die Erscheinung Christi.Schlüssel nichts weiter war, als eine neue, nebelhafte Umschreibung des ungelöst bleibenden Problems, und dass nicht ein » Begriff «, sondern einzig ein thatsächlich gelebtes Leben, einzig der mit nichts zu ver - gleichende Eindruck einer Persönlichkeit, wie sie die Welt noch niemals erlebt hatte, den » Schlüssel « giebt zur Entstehung des Christen - tums. Je mehr Ballast aufgedeckt wurde, einerseits in Gestalt pseudo - mythischer (richtiger gesprochen pseudo-historischer) Legendenbildung, andererseits in der Form philosophisch-dogmatischer Spekulation, um - somehr Lebenskraft und Widerstandsfähigkeit musste dem ursprüng - lichen, treibenden und gestaltenden Moment zuerkannt werden. Die allerneueste, streng-philologische Kritik hat das ungeahnt hohe Alter der Evangelien und die weitreichende Authenticität der uns vorliegenden Handschriften nachgewiesen; es ist nunmehr gelungen, gerade die allerfrüheste Geschichte des Christentums1)Später tritt eine noch unaufgeklärte dunkle Periode ein. streng historisch, fast Schritt für Schritt zu verfolgen; doch ist das Alles vom allgemein mensch - lichen Standpunkt aus betrachtet weit weniger belangreich als die eine Thatsache, dass in Folge dieser Ergebnisse die Erscheinung des einen göttlichen Mannes in den Vordergrund gerückt worden ist, so dass Ungläubige sowohl wie Gläubige nicht mehr umhin können, sie als Mittelpunkt und Quelle alles Christentums (dies Wort in dem denkbar umfassendsten Sinne genommen) anzuerkennen.

Buddha und Christus wurden von mir vorhin zusammengestellt. Buddha und Christus.Der Kern religiöser Vorstellungen bei allen begabteren Menschenrassen (mit einziger Ausnahme der kleinen Familie der Juden auf der einen Seite und ihrer Antipoden, der Brahmanischen Inder auf der andern) beruht seit den letzten Jahrtausenden nicht auf dem Bedürfnis einer Welterklärung, auch nicht auf mythologischer Natursymbolik, noch auf grübelndem Transcendentismus, sondern auf der Erfahrung grosser Charaktere. Wohl spukt noch unter uns das Wahngebilde einer1)Untersuchungen auf der einen Seite, auf der anderen die zunehmende Neigung, das Augenmerk nicht auf das Theologische und Nebensächliche, sondern auf das Lebendige und Bestimmende zu richten, lässt heute den Strauss’schen mythologischen Standpunkt als einen so totgeborenen empfinden, dass man in den Schriften dieses ehrlichen Mannes nicht blättern kann, ohne laut zu gähnen. Und doch muss man zugeben, dass solche Männer, wie er und wie Renan (zwei Hohlspiegel, der eine alle Linien in die Länge, der andere in die Fläche verzerrend) ein wichtiges Werk vollbracht haben, indem sie die Aufmerksamkeit von Tausenden auf das grosse Wunder der Erscheinung Christi richteten und somit für gründlichere Denker und einsichtsvollere Männer eine Zuhörerschaft bereiteten.13*196Das Erbe der alten Welt.» vernünftigen Religion «, auch war manchmal in den letzten Jahren von einem » Ersatz der Religion durch Höheres « die Rede und auf den Bergesspitzen gewisser deutscher Gaue opferten zur Zeit der Sonnen - wende neuerstandene » Wotansanbeter «; keiner dieser Bewegungen eignete jedoch bisher die geringste weltgestaltende Kraft. Ideen sind eben unsterblich; ich sagte es schon öfters und werde es immer wiederholen müssen; und in solchen Gestalten wie Buddha und Christus: erreicht eine Idee nämlich eine bestimmte Vorstellung des Menschen - daseins eine so lebendige Verkörperung, diese Idee wird so voll - kommen durchgelebt, so klar vor Aller Augen hingestellt, dass sie nie mehr aus dem menschlichen Bewusstsein entschwinden kann. Mancher mag den Gekreuzigten niemals erblickt haben, mancher kann an dieser Erscheinung stets gänzlich achtlos vorübergegangen sein, Tausenden von Menschen, auch unter uns, fehlt das, was man den inneren Sinn nennen könnte, um ihrer überhaupt gewahr zu werden, dagegen kann man nicht Jesum einmal erblickt haben, auch nur mit halbverschleierten Augen, und ihn dann wieder vergessen; es liegt nicht in unserer Macht, Erfahrenes aus unserer Vorstellung auszurotten. Man ist nicht Christ, weil man in dieser oder jener Kirche auferzogen wurde, weil man Christ sein will, sondern ist man Christ, so ist man es, weil man es sein muss, weil kein Chaos des Weltgetriebes, kein Delirium der Eigensucht, keine Dressur des Denkens die einmal gesehene Gestalt des Schmerzensreichen auszulöschen vermag. Christus, am Vorabend seines Todes von seinen Jüngern über die Bedeutung einer seiner Handlungen befragt, antwortete: » Ein Beispiel habe ich euch gegeben. « Das ist die Bedeutung nicht bloss der einen Handlung, sondern seines ganzen Lebens und Sterbens. Selbst ein so streng kirchlicher Mann wie Martin Luther schreibt: » Des Herrn Christi Beispiel ist zugleich ein Sakrament, es ist in uns kräftig, und lehret nicht allein, wie die Exempel der Väter thun, sonden wirket auch das, so es lehret, giebt das Leben, die Auferstehung und Erlösung vom Tode. « In Ähnlichem liegt die Weltmacht Buddha’s begründet. Der wahre Quell aller Religion ist, ich wiederhole es, bei der über - wiegenden Mehrzahl aller jetzt lebenden Menschen nicht eine Lehre, sondern ein Leben. In wiefern wir im Stande sind, dem Beispiel mit schwachen Kräften zu folgen, in wiefern nicht, das ist eine ganz andere Frage; das Ideal ist da, deutlich, unverkennbar, und es wirkt seit Jahrhunderten mit einer Gewalt ohnegleichen auf die Ge - danken und Handlungen der Menschen, auch der ungläubigen.

197Die Erscheinung Christi.

Hierauf komme ich in einem anderen Zusammenhange später zurück. Wenn ich nun an dieser Stelle, wo einzig die Erscheinung Christi mich beschäftigt, Buddha herangezogen habe, so geschah das besonders deswegen, weil nichts eine Gestalt so deutlich hervortreten lässt wie der Vergleich. Nur darf der Vergleich kein ungereimter sein, und ich wüsste nicht, wen die Weltgeschichte ausser Buddha als geeignet zu einem Vergleich mit Christus bietet. Beiden gemeinsam ist der göttliche Ernst; beiden gemeinsam ist die Sehnsucht, der ganzen Menschheit den Weg der Erlösung zu weisen; beiden ist eine un - erhörte Macht der Persönlichkeit eigen. Und dennoch, stellt man diese beiden Gestalten nebeneinander, so kann es nicht sein, um eine Parallele zwischen ihnen zu ziehen, sondern nur um den Kon - trast zu betonen. Christus und Buddha sind Gegensätze. Was sie einigt, ist die Erhabenheit der Gesinnung; aus dieser ging ein Leben ohne Gleichen hervor, und aus dem Leben eine weitreichende Wirkung, wie sie die Welt noch nicht erfahren hatte. Sonst aber trennt sie fast alles, und der Neobuddhismus, der sich in den letzten Jahren in gewissen Gesellschaftsschichten Europas breitmacht, angeblich im engsten Anschluss an das Christentum und über dieses hinausschreitend, ist nur ein neuer Beweis von der weitverbreiteten Oberflächlichkeit im Denken. Buddha’s Denken und Leben bildet nämlich das genaue Gegenteil von Christi Denken und Leben, das, was der Logiker die Antithese, der Physiker den Gegenpol nennt.

Buddha bedeutet den greisenhaften Ausgang einer an der GrenzeBuddha. ihres Könnens angelangten Kultur. Ein hochgebildeter, mit reicher Machtfülle begabter Fürst erkennt die Nichtigkeit seiner Bildung und seiner Macht; was Allen das Höchste dünkt, besitzt er, doch vor dem Blick des Wahrhaftigen schmilzt dieser Besitz zu einem Nichts zu - sammen. Die indische Kultur, aus der nachdenklichen Beschaulichkeit eines Hirtenlebens hervorgegangen, hatte sich mit aller Wucht einer hohen Begabung auf die Ausbildung der einen menschlichen Anlage, der kombinierenden Vernunft, geworfen; dabei verkümmerte die Ver - bindung mit der umgebenden Welt die kindliche Beobachtung, die praktisch-geschäftige Nutzbarmachung wenigstens bei den Ge - bildeteren fast völlig; Alles war systematisch auf die Entwickelung des Denkvermögens angelegt; jeder gebildete Jüngling wusste auswendig, Wort für Wort, eine ganze Litteratur von so subtilem Gedankengehalt, dass wenige Europäer heutzutage überhaupt fähig sind, demselben zu folgen; selbst die abstrakteste Vorstellungsart der konkreten Welt, die198Das Erbe der alten Welt.Geometrie, war den Indern zu handgreiflich, und sie schwelgten dafür in einer Arithmetik, welche über alle Vorstellbarkeit hinausgeht; wer hier im Ernste sich über seinen Lebenszweck befragte, wem es von Natur gegeben war, einem höchsten Ziele nachzustreben, der fand auf der einen Seite ein religiöses System, in welchem die Symbolik zu so wahnsinnigen Dimensionen angewachsen war, dass man etwa 30 Jahre brauchte, um sich darin zurecht zu finden, auf der andern, eine Philosophie, die zu so schwindligen Höhen emporführte, dass wer die letzten Sprossen dieser Himmelsleiter erklettern wollte, sich auf ewig aus der Welt in die Tiefen des lautlosen Urwaldes zurück - ziehen musste. Hier hatten offenbar das Auge und das Herz keine Rechte mehr. Wie ein sengender Wüstenwind hatte der Geist der Abstraktion über alle andern Anlagen der reichen Menschennatur, alles verdorrend, hinweggeweht. Sinne gab es freilich noch, tropisch heisse Gelüste; auf der andern Seite aber die Verleugnung der ganzen Sinnenwelt; dazwischen nichts, kein Ausgleich, nur Krieg, Krieg zwischen menschlicher Erkenntnis und menschlicher Natur, zwischen Denken und Sein. Und so musste Buddha hassen, was er liebte: Kinder, Eltern, Weib, alles Schöne und Freudenvolle, denn das waren lauter Schleier vor der Erkenntnis, Schlingen, die ihn an ein erträumtes, lügenhaftes Mayaleben ketteten. Und was sollte ihm die ganze Brah - manische Weisheit? Opferzeremonieen, die kein Mensch verstand und welche die Priester selber als lediglich symbolisch, für den Wissenden nichtig erklärten; dazu eine » Erlösung durch Erkenntnis «, die kaum Einem in hunderttausend zugänglich war? So warf denn Buddha nicht allein sein Reich und sein Wissen von sich, er riss sich alles aus dem Herzen, was ihn noch als Menschen unter Menschen fesselte, alle Liebe, alles Hoffen, zugleich zertrümmerte er den Glauben seiner Väter, entgötterte das Weltgebäude und verwarf als müssiges Wahngebilde selbst jenen höchsten Gedanken indischer Metaphysik, den an einen all-einigen Gott, unbeschreibbar, unvor - stellbar, raumlos, zeitlos, dem Denken folglich unzugänglich, doch von ihm geahnt. Nichts giebt es dies war Buddha’s Erlebnis und folglich auch seine Lehre nichts giebt es im Leben ausser » dem Leiden «; das einzig Erstrebenswerte ist » die Erlösung vom Leiden «; diese Erlösung ist der Tod, das Eingehen in das Nichts. Nun glaubte aber jeder Inder wie an eine offenkundige, nicht erst in Frage zu ziehende Sache, an die Seelenwanderung, d. h. an die unaufhörliche Neugeburt derselben Individuen. Die » Erlösung « also199Die Erscheinung Christi.spendet nicht der gewöhnliche Tod, sondern nur derjenige Tod, auf den keine Neugeburt folgt; und dieser erlösende Tod kann einzig dadurch gewonnen werden, dass der Mensch schon im Leben, also aus freien Stücken, stirbt; d. h., dass er alles, was ihn an das Leben fesselt, alle Liebe, alles Hoffen, alles Wünschen, alles Haben ab - schneidet und vernichtet, kurz, wie wir heute mit Schopenhauer sagen würden, dass er den Willen zum Leben verneint. Lebt der Mensch auf diese Weise, macht er sich selbst zur wandelnden Leiche ehe er stirbt, dann erntet der Schnitter Tod keinen Samen zur Neu - geburt. Lebend sterben: das ist die Essenz des Buddhismus. Man kann Buddha’s Leben als den gelebten Selbstmord bezeichnen. Es ist der Selbstmord in seiner denkbar höchsten Potenz: denn Buddha lebt einzig und allein, um zu sterben, um endgültig und ohne Widerruf tot zu sein, um einzugehen in das Nirwana, das Nichts.

Welchen grösseren Gegensatz kann es zu dieser ErscheinungChristus. geben, als diejenige Christi, dessen Tod den Eingang ins ewige Leben bedeutet? In der ganzen Welt erblickt Christus göttliche Vorsehung; kein Sperling fällt zur Erde, kein Haar auf eines Menschen Haupt kann gekrümmt werden, ohne dass der himmlische Vater es erlaubt. Und weit entfernt, dass dieses irdische Dasein, gelebt durch den Willen und unter dem Auge Gottes, ihm verhasst sei, preist es Christus als den Eingang in die Ewigkeit, als die enge Pforte, durch die wir ins Himmelreich eintreten. Und dieses Himmelreich, was ist es? ein Nirwana? ein erträumtes Paradies? eine zu erkaufende zukünftige Be - lohnung für hienieden vollbrachte Werke? Die Antwort giebt Christus in einem Wort, welches uns unzweifelhaft authentisch aufbewahrt worden ist, denn es war noch niemals gesprochen worden, und es wurde offenbar von keinem seiner Jünger verstanden, vielweniger er - funden, ja, es eilte der langsamen Entfaltung der menschlichen Er - kenntnis mit so mächtigem Flügelschlag voraus, dass es bis heute nur Wenigen seinen Sinn enthüllt ich sagte es schon, unser Christentum geht noch auf Kinderfüssen; Christus antwortet: » Das Reich Gottes kommt nicht mit äusserlichen Geberden. Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch. « Dies ist, was Christus selber » das Geheimnis « nennt; es lässt sich nicht in Worte fassen, es lässt sich nicht begrifflich darthun; und immer wieder sucht der Heiland diese seine grosse Heilsbotschaft durch Gleichnisse seinen Zuhörern nahezulegen: das Himmelreich ist wie ein Senfkorn auf200Das Erbe der alten Welt.dem Acker, » das kleinste unter allen Samen «, wird es aber vom Landmann gepflegt, so wächst es aus zu einem Baume, » dass die Vögel unter dem Himmel kommen, und wohnen unter seinen Zweigen «; das Himmelreich ist wie der Sauerteig unter dem Mehl, nimmt das Weib auch nur ein wenig, es durchsetzt das Ganze; am deutlichsten jedoch redet folgendes Bild: » das Himmelreich ist gleich einem verborgenen Schatz im Acker «. Dass der Acker die Welt bedeutet, sagt Christus ausdrücklich (siehe Matthäus XIII, 38); in dieser Welt, d. h. also in diesem Leben, liegt der Schatz verborgen; vergraben ist das Himmel - reich inwendig in uns! Das ist » das Geheimnis des Himmelreiches «, wie Christus sagt; zugleich ist es das Geheimnis seines eigenen Lebens, das Geheimnis seiner Persönlichkeit. Eine Abwendung vom Leben (wie bei Buddha) findet bei Christus durchaus nicht statt, dagegen eine Umkehrung der Lebensrichtung, wenn ich so sagen darf; wie denn Christus zu seinen Jüngern spricht: » Wahrlich, ich sage euch, es sei denn, dass ihr euch umkehret, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen «. 1)Der Nachdruck liegt offenbar nicht auf dem Nachsatz » und werdet wie die Kinder «; vielmehr ist dies eine Erläuterung zur Umkehr. Was zeichnet denn die Kinder aus? Die unbedingte Lebenslust und die ungeschmälerte Kraft, das Leben durch eigene Gesinnung zu verklären.Später erhielt dann vielleicht von fremder Hand diese so handgreiflich fassliche » Umkehrung « den mehr mystischen Ausdruck: » Es sei denn, dass Jemand von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen «. Auf den Wortlaut kommt es nicht an, sondern einzig auf die zu Grunde liegende Vor - stellung, und diese Vorstellung steht leuchtend klar vor uns, denn sie gestaltete das ganze Leben Christi. Hier finden wir nicht, (wie bei Buddha) eine Lehre mit eins, zwei, drei, logisch auseinander ent - wickelt; noch findet, wie die Oberflächlichkeit so häufig behauptet hat, irgend eine organische Berührung mit jüdischer Weisheit statt: man lese nur Jesus Sirach, den am häufigsten zum Vergleich heran - gezogenen, und frage sich, ob das Geist vom selben Geiste ist? bei Sirach redet ein jüdischer Marc Aurel, und selbst seine schönsten Sprüche, wie: » Strebet nach der Wahrheit bis zum Tode, und Gott wird für dich kämpfen «, oder » Das Herz des Narren liegt ihm auf der Zunge, doch des Weisen Zunge wohnet ihm im Herzen « klingen wie aus einer andern Welt, wenn man sie neben die Sprüche Christi hält: » Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erd - reich besitzen; selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden201Die Erscheinung Christi.Gott schauen; nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen, denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht «. So hatte noch Keiner gesprochen; so sprach seitdem Keiner mehr. Diese Reden Christi haben aber, wie man sieht, nie den Charakter einer Lehre, sondern, so wie der Ton einer Stimme das, was wir aus den Gesichtszügen und den Handlungen eines Menschen über ihn wissen, durch ein geheimnisvoll Unsagbares, durch das Persönlichste seiner Persönlichkeit ergänzt, so meinen wir in diesen Reden Christi seine Stimme zu hören; was er genau sagte, wissen wir nicht, doch ein unmissverständlicher, unvergesslicher Ton schlägt an unser Ohr und dringt von dort aus in das Herz. Und da schlagen wir die Augen auf und erblicken diese Gestalt, dieses Leben! Über die Jahrtausende hinweg vernehmen wir die Worte: » Lernet von mir! « und verstehen jetzt, was das heissen soll: sein wie Christus war, leben wie Christus lebte, sterben wie Christus starb, das ist das Himmelreich, das ist das ewige Leben.

In unserem Jahrhundert, wo die Begriffe Pessimismus und Ver - neinung des Willens sehr geläufig geworden sind, hat man sie viel - fach auf Christus angewandt; sie passen aber nur für Buddha und für gewisse Erscheinungen der christlichen Kirchen und ihrer Dogmen, Christi Leben ist ihre Verleugnung. Wenn das Reich Gottes in uns wohnt, wenn der Himmel wie ein verborgener Schatz in diesem Leben einbegriffen liegt, was soll der Pessimismus? 1)Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass ich hier den so vieler Auffassungen fähigen Begriff des Pessimismus in dem populären, oberflächlichen Sinne nehme, welcher nicht eine philosophische Erkenntnis, sondern eine moralische Stimmung bezeichnet.Wie kann der Mensch ein elendes, nur zu Jammer geborenes Wesen sein, wenn seine Brust das Göttliche birgt? wie diese Welt die schlechteste, die noch gerade möglich war (siehe Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Kap. 46), wenn sie den Himmel einschliesst? Für Christus waren das alles Trugschlüsse; wehe rief er über die Gelehrten: » die ihr das Himmelreich zuschliesst vor den Menschen; ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen «, und er pries Gott, dass er » den Unmündigen geoffenbart, was er den Weisen und Klugen verborgen habe «. Christus, wie einer der grössten Männer unseres Jahrhunderts gesagt hat, » war nicht weise, sondern göttlich «;2)Auch Diderot, dem man Rechtgläubigkeit nicht imputieren kann, sagt in der Encyclopédie: » Christ ne fut point un philosophe, ce fut un Dieu. « das ist ein ge -202Das Erbe der alten Welt.waltiger Unterschied; und weil er göttlich war, wandte sich Christus nicht hinweg vom Leben, sondern zum Leben hin. Dies findet ein beredtes Zeugnis in dem Eindruck, den Christus auf seine Umgebung zurückliess; sie nennt ihn: den Baum des Lebens, das Brod des Lebens, das Wasser des Lebens, das Licht des Lebens, das Licht der Welt, ein Licht von oben, denen als Leuchte gesandt, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, Christus ist für sie der Fels, der Grund, auf welchem wir unser Leben aufbauen sollen u. s. w., u. s. w. Alles positiv, alles konstruktiv, alles bejahend. Ob Christus die Todten wirklich auferweckte, mag Jeder bezweifeln, der will; umso höher muss er jedoch dann den lebenspendenden Eindruck anschlagen, der von dieser Erscheinung ausstrahlte, denn wo Christus ging, glaubte man die Toten auferstehen, die Kranken geheilt von ihren Lagern sich erheben zu sehen. Überall suchte er die Leidenden, die Armen, die Schmerzbeladenen auf, rief ihnen zu: » Weinet nicht! «, und schenkte ihnen Worte des Lebens. Aus Innerasien kommend, wo es der Buddhismus zwar nicht erfunden, ihm aber den gewaltigsten Vorschub geleistet hatte, war das Ideal des weltflüchtigen Kloster - lebens (wie es später das Christentum mit genauer Befolgung ägyptischer Muster nachahmte), bereits bis in die unmittelbare Nähe des Galiläers vorgedrungen; wo sieht man aber, dass Christus monastische, welt - feindliche Lehren gepredigt hätte? Viele Religionsstifter haben in der Nahrung sich und ihren Jüngern Kasteiungen auferlegt; Christus nicht; er betont sogar ausdrücklich, dass er nicht wie Johannes ge - fastet, sondern so gelebt habe, dass ihn die Menschen » einen Fresser und einen Säufer « nannten. Alle folgende uns aus der Bibel so ge - läufigen Ausdrücke: die Gedanken der Menschen sind eitel, des Menschen Leben ist Eitelkeit, es fährt dahin wie ein Schatten, des Menschen Wirken ist eitel, es ist alles ganz eitel sie stammen aus dem alten, nicht aus dem neuen Testament. Ja, solche Worte wie z. B. die des Predigers Salomo: » Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt ewiglich «, entstammen einer Weltanschauung, die derjenigen Christi direkt widerspricht; denn für diese sind Himmel und Erde durchaus vergänglich, während die Menschenbrust in ihrer Tiefe das einzige Ewige birgt. Zwar giebt uns Jesus Christus das Beispiel einer absoluten Abwendung von Vielem, was das Leben der Meisten ausfüllt; es geschieht aber um des Lebens willen; diese Abwendung ist jene » Umkehr «, von der gesagt wurde, sie führe ins Himmelreich, und sie ist durchaus keine äussere, sondern203Die Erscheinung Christi.eine rein innere. Was Buddha lehrt, ist gewissermassen ein physischer Vorgang, es ist die thatsächliche Abtötung des leiblichen und geistigen Menschen; wer erlöst werden will, muss die drei Gelübde der Keusch - heit, der Armut und des Gehorsams ablegen. Bei Christus finden wir nichts Ähnliches: er wohnt Hochzeitsfesten bei, die Ehe erklärt er für eine heilige Stiftung Gottes und auch die Verirrungen des Fleisches beurteilt er so nachsichtig, dass er selbst für die Ehebrecherin kein Wort der Verdammung hat; zwar bezeichnet er Reichtum als einen erschwerenden Umstand für jene Umkehr der Willensrichtung, der Reiche, sagt er, wird schwerer in jenes Reich Gottes, welches inwendig in uns liegt, hineingelangen, als ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen, fügt aber sofort hinzu und dies ist das Charakte - ristische und Entscheidende » was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich «. Dies ist wieder eine jener Stellen, die nicht erfunden sein können, denn nirgends in der ganzen Welt finden wir Ähnliches. Diatriben gegen den Reichtum hatte es schon früher in Hülle und Fülle gegeben (man lese nur die jüdischen Propheten), sie wurden später wiederholt (man lese z. B. die Epistel Jakobi, Kap. II); für Christus dagegen ist Reichtum etwas ganz Äusser - liches, sein Besitz kann hinderlich sein, oder auch nicht, denn ihm kommt es einzig und allein auf eine innere Umwandlung an; was gerade für diesen Fall der weitaus bedeutendste Apostel später so schön ausführt: denn hatte Christus dem reichen Jüngling geraten, » verkaufe was du hast, und gieb es den Armen «, so ergänzt Paulus diesen Ausspruch durch die Bemerkung: » und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und hätte der Liebe nicht, so wäre mir es nichts nütze «. Wer auf den Tod lossteuert, mag sich mit Armut, Keuschheit und Gehorsam begnügen, wer das Leben erwählt, hat ganz andere Dinge im Sinne.

Und da ist es nötig, auf noch einen Punkt aufmerksam zu machen, in welchem das Lebensvolle an Christi Erscheinung und Beispiel frisch und überzeugend sich kund thut: ich meine die Kampfes - lust. Die Sprüche Christi über die Demut, die Geduld, seine Er - mahnung, unsere Feinde zu lieben und diejenigen zu segnen, die uns fluchen, finden fast gleichwertige Gegenstücke bei Buddha; sie ent - springen jedoch einem durchaus anderen Motiv. Für Buddha ist jedes erduldete Unrecht eine Abtötung, für Christus ein Mittel, um die neue Anschauung des Lebens zu befördern: » Selig sind, die um Ge - rechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr «204Das Erbe der alten Welt.(jenes Himmelreich, welches wie ein Schatz im Lebensacker vergraben liegt). Treten wir aber auf das innere Gebiet über, wird jene einzige Fundamentalfrage der Willensrichtung aufgeworfen, da vernehmen wir ganz andere Worte: » Meinet ihr, dass ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht! Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins sein, drei wider zwei, und zwei wider drei. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater, und die Tochter wider ihre Mutter, und die Schnur wider ihre Schwieger; und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. « Nicht Frieden, sondern das Schwert: das ist ein Ton, den man nicht überhören darf, will man die Erscheinung Christi begreifen. Das Leben Jesu Christi ist eine offene Kriegserklärung, nicht gegen die Formen der Civilisation, der Kultur und der Religion, die er um sich her fand er beob - achtet das jüdische Religionsgesetz und lehrt: gebet Caesar was Caesar’s wohl aber gegen den inneren Geist der Menschen, gegen die Beweggründe, aus welchen ihre Handlungen hervorgehen, gegen das Ziel (auch das jenseitige), welches sie sich stecken. Die Erscheinung Jesu Christi bedeutet, vom welthistorischen Standpunkt aus, die Er - scheinung einer neuen Menschenart. Linnaeus unterschied so viele Menschenarten als es Hautfärbungen giebt; eine neue Färbung des Willens greift wahrlich tiefer in den Organismus ein, als ein Unterschied im Pigment der Epidermis! Und der Herr dieser Menschen - art, der » neue Adam «, wie ihn die Schrift so treffend nennt, will nichts von Paktieren wissen; er stellt die Wahl: Gott oder Mammon. Wer die Umkehr erwählt, wer Christi Mahnung vernimmt: » folget mir nach! «, der muss auch, wenn es notthut, Vater und Mutter, Weib und Kind verlassen; nicht aber wie Buddha’s Jünger verlässt er sie, um den Tod, sondern um das Leben zu finden. An diesem Punkte hört das Mitleid gänzlich auf; wer verloren ist, ist verloren; und mit der antiken Härte heldenhafter Gesinnung wird den Verlorenen keine Thräne nachgeweint: » lasset die Toten ihre Toten begraben «. Nicht Jeder ist fähig, das Wort Christi zu verstehen, er sagt es ja: » viele sind berufen, aber wenige sind auserwählet «, und auch hier wieder hat Paulus dieser Erkenntnis drastischen Ausdruck verliehen: » Das Wort vom Kreuz ist eine Thorheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es eine Gottes-Kraft «. Äusserlich nimmt Christus mit jeder vorhandenen Form fürlieb, was aber die Willensrichtung anbelangt, ob sie auf das Ewige oder auf das Zeit -205Die Erscheinung Christi.liche gerichtet ist, ob sie die Entfaltung der unermesslichen Lebens - macht in des Menschen Innern fördert oder hemmt, ob sie auf Ver - lebendigung jenes » Reich Gottes inwendig in uns « hinzielt, oder im Gegenteil diesen einzigen Schatz » derjenigen, die erwählet sind «, auf ewig zuschüttet da ist bei ihm von Duldsamkeit keine Rede, und kann auch keine sein. Gerade in dieser Beziehung ist seit dem vorigen Jahrhundert viel geschehen, um das hohe Antlitz des Menschensohnes aller kraftvollen Züge zu berauben. Man hat, ich weiss nicht welches Trugbild einer unbeschränkten Duldsamkeit, einer allgemein wohl - wollenden Passivität uns als Christentum hingemalt, so eine Milch - und Wasser-Religion; in den allerletzten Jahren erlebten wir sogar » interkonfessionelle Religionskongresse «, wo alle Pfaffen der Welt sich brüderlich die Hand reichten und viele Christen begrüssten das als besonders » christlich «. Kirchlich mag es sein, es mag auch recht und gut sein, Christus aber hätte zu einem derartigen Kongress keinen Apostel entsandt. Entweder ist das Wort vom Kreuz eine Thorheit oder es ist eine Gottes-Kraft; zwischen beiden hat Christus selber die gähnende Kluft der » Zwietracht « aufgerissen, und um jede Über - brückung zu vereiteln, das flammende » Schwert « gezogen. Wer die Erscheinung Christi begreift, kann sich darüber nicht wundern. Die Duldsamkeit Christi ist die eines Geistes, der himmelhoch über allen Formen schwebt, welche die Welt trennen; eine Verschmelzung dieser Formen könnte für ihn nicht die geringste Bedeutung haben sie wäre einfach die Entstehung einer neuen Form; ihm aber kommt es einzig auf » den Geist und die Wahrheit « an. Und wenn Christus lehrt: » so dir Jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar; und so Jemand deinen Rock nimmt, dem lass auch deinen Mantel « eine Lehre, der sein Beispiel am Kreuze ewige Bedeutung gab , wer sieht nicht ein, dass dies eng mit dem Folgenden zusammenhängt: » Liebet eure Feinde, thut wohl, denen, die euch hassen «, und dass hier jene innerliche » Umkehr « zum Ausdruck kommt, nicht aber passiv, sondern in der denkbar höchsten Form des lebendigen Handelns? Biete ich dem frechen Schläger meinen linken Backen, so geschieht es nicht seinetwegen; liebe ich meinen Feind und erweise ich ihm Wohlthaten, so geschieht es nicht seinetwegen; nach der Umkehr des Willens ist es mir nicht anders möglich, darum thue ich es. Das alte Gesetz: Aug um Auge, Hass um Hass ist eine ebenso natürliche Reflexbewegung, wie die, welche die Beine selbst eines schon toten Frosches beim Anreizen der Nerven206Das Erbe der alten Welt.zum Ausschlagen bringt. Wahrlich, es muss ein » neuer Adam « sein, der so Herr seines » alten Adam « geworden ist, dass er diesem Zwange nicht gehorcht. Blosse Selbstbeherrschung ist es jedoch nicht denn bildet Buddha den einen Gegenpol zu Christus, so bildet der Stoiker den anderen , jene Umkehr des Willens aber, jener Eintritt in das verborgene Reich Gottes, jenes von Neuem geboren werden, welches die Summe von Christi Beispiel ausmacht, bedingt ohne Weiteres eine völlige Umkehr der Empfindungen. Das ist eben das Neue. Bis auf Christus war die Blutrache das heilige Gesetz aller Menschen der verschiedensten Rassen; der Gekreuzigte aber rief: » Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun «. Wer nun hier die göttliche Stimme des Mitleids für schwächlichen Humanitarismus nimmt, der hat keinen einzigen Zug an der Erscheinung Christi verstanden. Die Stimme, die hier redet, ertönt aus jenem Reich Gottes inwendig in uns; Schmerz und Tod haben die Gewalt über sie verloren; sie reichen ebensowenig an einen Wiedergeborenen heran, wie jener Backen - streich und jene diebische Entblössung; an diesem Willen bricht sich wie eitler Meeresschaum an einem granitnen Felsen alles, was den menschlichen Halbaffen treibt und drängt und nötigt: die Selbstsucht, der Aberglaube, das Vorurteil, der Neid, der Hass; im Angesicht des Todes (d. h. für diesen Göttlichen der Ewigkeit) achtet er kaum des eigenen Schmerzes und der Angst, er sieht nur, dass die Menschen das Göttliche in ihnen ans Kreuz schlagen, dass sie den Samen des Himmelreichs zertreten, den Schatz im Acker verschütten, und voll Mitleid ruft er: sie wissen nicht was sie thun! Man durchsuche die Weltgeschichte und sehe, ob man ein Wort finde, das diesem gleich - käme an hochsinnigem Stolz! Hier redet eine Erkenntnis, die weiter geschaut hat als die indische, zugleich redet hier der stärkste Wille, das sicherste Selbstbewusstsein.

Ähnlich wie wir Letztgeborene eine Kraft, welche nur von Zeit zu Zeit in flüchtigen Wolken als Blitz aufzuckte, nunmehr in der ganzen Welt entdeckt haben, verborgen, unsichtbar, von keinem Sinne wahr - genommen, durch keine Hypothese zu erklären, doch allgegenwärtig und allgewaltig, und wie wir nunmehr im Begriff sind, von dieser Kraft die völlige Umgestaltung unserer äusseren Lebensbedingungen herzuleiten, so wies Christus auf eine verborgene Kraft hin, drinnen in der unerforschten und unerforschlichen Welt des Menschen - innern, eine Kraft, fähig den Menschen selber völlig umzugestalten, fähig, aus einem elenden, leidbedrückten Wesen, ein mächtiges, seliges207Die Erscheinung Christi.zu machen. Der Blitz war sonst lediglich ein Zerstörer gewesen, die Kraft, die er uns entdecken lehrte, dient nunmehr der friedlichen Arbeit und dem Wohlbehagen; ebenso war der menschliche Wille von jeher die Saat alles Unheils und Elends, das über das Menschen - geschlecht niederging, jetzt sollte er zur Wiedergeburt dieses Geschlechtes dienen, zur Entstehung einer neuen Menschenart. Daher, wie ich bereits in der Einleitung zu diesem Buche ausführte, die un - vergleichliche weltgeschichtliche Bedeutung des Lebens Christi. Keine politische Revolution kann dieser gleichkommen.

Weltgeschichtlich aufgefasst haben wir allen Grund, die That Christi mit den Thaten der Hellenen in Parallele zu stellen. Ich habe im ersten Kapitel ausgeführt, inwiefern Homer, Demokrit, Plato u. s. w. als wirkliche » Schöpfer « zu betrachten sind, und ich fügte hinzu: » dann erst ist ein durchaus neues Geschöpf geboren, dann erst enthält der Makrokosmos einen Mikrokosmos. Was Kultur zu heissen einzig verdient, ist die Tochter solcher schöpferischen Freiheit «. 1)Siehe S. 62.Was das Griechentum für den Intellekt, das that Christus für das sittliche Leben: eine sittliche Kultur hat die Menschheit erst durch ihn gewonnen. Vielmehr müsste ich sagen: die Mög - lichkeit einer sittlichen Kultur; denn das kulturelle Moment ist jener innere, schöpferische Vorgang, die freiwillige, herrische Umkehr des Willens, und gerade dieses Moment blieb mit wenigen Ausnahmen gänzlich unbeachtet; das Christentum wurde eine durchaus historische Religion und an den Altären seiner Kirchen fanden alle Aberglauben des Altertums und des Judentums eine geweihte Zufluchtsstätte. Dennoch bleibt die Erscheinung Christi die alleinzige Grundlage aller sittlichen Kultur, und in dem Masse, in welchem diese Erscheinung mehr oder weniger deutlich hindurchzudringen vermag, ist auch die sittliche Kultur unserer Nationen eine grössere oder geringere.

Gerade in diesem Zusammenhange können wir nun mit Recht behaupten, die Erscheinung Christi auf Erden habe die Menschheit in zwei Klassen gespalten. Sie erst schuf wahren Adel, und zwar echten Geburtsadel, denn nur, wer erwählt ist, kann Christ sein. Sie senkte aber zugleich in die Herzen ihrer Auserwählten den Keim zu neuem, bitterem Leid: sie schied sie von Vater und Mutter, sie liess sie einsam wandeln unter Menschen, die sie nicht verstanden, sie stempelte sie zu Märtyrern. Und wer ist denn ganz Herr? wer hat seine Sklaven -208Das Erbe der alten Welt.instinkte ganz überwunden? Die Zwietracht zerriss fortan die eigene Seele. Und während dem Einzelnen, der bisher im Taumel des Lebenskampfes kaum zum Bewusstsein seines » Ich « gekommen war, eine ungeahnt hohe Vorstellung seiner Würde, seiner inneren Bedeutung und Machtfülle vorgehalten wurde, wie oft musste er nicht innerlich zusammenstürzen in dem Gefühl seiner Schwäche und seiner Un - würde? Jetzt erst wurde das Leben wahrhaft tragisch. Die freie That des Menschen, der sich gegen seine eigene animalische Natur erhob, hatte das vollbracht. » Aus einem vollkommenen Zögling der Natur wurde der Mensch ein unvollkommenes moralisches Wesen, aus einem glücklichen Instrumente ein unglücklicher Künstler «, sagt Schiller. Der Mensch will aber nicht mehr ein Instrument sein; und hatte Homer sich Götter geschaffen, wie er sie wollte, so empörte sich jetzt der Mensch gegen die moralische Tyrannei der Natur und schuf sich eine erhabene Moral, wie er sie wollte; nicht mehr den blinden Trieben, und wären sie noch so schön durch Gesetzesparagraphen ein - gedämmt und eingezwängt, will er gehorchen, sondern einzig seinem eigenen Sittengesetz. In Christus erwacht der Mensch zum Bewusstsein seines moralischen Berufs, dadurch aber zugleich zur Notwendigkeit eines nach Jahrtausenden zählenden Krieges. Im Abschnitt » Weltanschauung « des neunten Kapitels werde ich zeigen, dass wir endlich, mit Kant, genau dieselbe Bahn betreten haben nach vielhundertjähriger antichristlicher Unterbrechung. » Rückkehr zur Natur «, meinten die christoabgewandten, humanitären Deisten des vergangenen Jahrhunderts: o nein! Emanzi - pierung von der Natur, ohne die wir zwar nichts können, die wir aber entschlossen sind, uns zu unterwerfen. In Kunst und Philosophie wird sich der Mensch als intellektuelles Wesen, in der Ehe und im Recht als gesellschaftliches Wesen, in Christus als sittliches Wesen seiner selbst im Gegensatz zur Natur bewusst. Er nimmt einen Kampf auf. Und da genügt nicht die Demut; wer Christo folgen will, braucht vor allem Mut, Mut in seiner geläutertsten Form, jenen täglich von Neuem geglühten und gehärteten inneren Mut, der nicht allein im sinnenberauschenden Schlachtgetöse sich bewährt, sondern im Dulden und Tragen, und in dem wortlosen, lautlosen Kampf jeder Stunde gegen die Sklaveninstinkte in der eigenen Brust. Das Beispiel ist gegeben. Denn in der Erscheinung Christi finden wir das hehrste Beispiel des Heldenmutes. Die moralische Heldenhaftigkeit ist hier so erhaben, dass wir fast achtlos an dem sonst bei Helden so viel ge - priesenen physischen Mute vorbeigehen; gewisslich können nur Helden -209Die Erscheinung Christi.gemüter Christen im wahren Sinne des Wortes sein, nur » Herren «. Und sagt Christus, » ich bin sanftmütig «, so verstehen wir wohl, das ist die Sanftmut des siegessicheren Helden; und sagt er, » ich bin von Herzen demütig «, so wissen wir, dass das nicht die Demut des Sklaven ist, sondern die Demut des Herrn, der aus der Fülle seiner Kraft sich hinabbeugt zu den Schwachen.

Als Jesus einmal nicht einfach als Herr oder Meister, sondern als » guter Meister « angerufen wurde, wies er die Bezeichnung zurück: » Was heissest du mich gut? Niemand ist gut. « Das sollte wohl zu denken geben, und sollte uns überzeugen, dass jede Darstellung Christi eine verfehlte ist, wo die himmlische Güte und die Demut und die Langmut in den Vordergrund des Charakters gedrängt werden; sie bilden nicht dessen Grundlage, sondern sind wie duftende Blumen an einem starken Baume. Was begründete die Weltmacht Buddha’s? Nicht seine Lehre, sondern sein Beispiel, seine heldenmütige That; diese war es, diese Kundgebung einer schier übermenschlichen Willenskraft, welche Millionen bannte und noch bis heute bannt. In Christus jedoch offenbarte sich ein noch höherer Wille: er brauchte nicht vor der Welt zu flüchten, das Schöne mied er nicht, den Gebrauch des Kost - baren das seine Jünger » Unrat « hiessen lobte er; nicht in die Wüste zog er sich zurück, sondern aus der Wüste heraus trat er in das Leben ein, ein Sieger, der eine frohe Botschaft zu verkünden hatte nicht Tod, sondern Erlösung! Ich sagte, Buddha bedeute den greisenhaften Ausgang einer ausgelebten, auf Irrwege geratenen Kultur; Christus dagegen bedeutet den Morgen eines neuen Tages; er gewann der alten Menschheit eine neue Jugend ab und so wurde er auch der Gott der jungen, lebensfrischen Indoeuropäer und unter dem Zeichen seines Kreuzes richtete sich auf den Trümmern der alten Welt eine neue Kultur langsam auf, an der wir noch lange zu arbeiten haben, soll sie einmal in einer fernen Zukunft den Namen » christlich « verdienen.

Dürfte ich dem eigenen Herzensdrang folgen, ich zöge hier denDie Galiläer. Schlusstrich zu diesem Kapitel. Doch ist es im Interesse vieler späterer Ausführungen geboten, die Erscheinung Christi nicht allein in ihrer aus aller Umgebung losgelösten Reine zu betrachten, sondern auch in ihrem Verhältnis zu dieser Umgebung. Viele wichtige Erscheinungen aus Vergangenheit und Gegenwart bleiben sonst unverständlich. EsChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 14210Das Erbe der alten Welt.ist durchaus nicht gleichgültig, ob wir durch eine scharfe Analyse ge - naue Begriffe davon bekommen haben, was in dieser Gestalt jüdisch ist, was nicht. Hierüber herrscht von den Anfängen der christlichen Ära bis zum heutigen Tage und von den Niederungen der intellektuellen Welt bis zu ihren höchsten Höhen eine heillose Konfusion. Nicht allein war eine so hohe Gestalt für keinen Menschen leicht zu erfassen und in ihren organischen Beziehungen zur Mitwelt zu überblicken, sondern es traf alles zusammen um ihre wahren Züge zu verwischen und zu fälschen: jüdische religiöse Eigenart, syrischer Mysticismus, ägyptische Askese, hellenische Metaphysik, bald auch römische Staats - und Pontifikaltraditionen, dazu die Aberglauben der Barbaren: jeder Missverstand und jeder Unverstand beteiligten sich an dem Werke. In unserem Jahrhundert hat man sich nun viel mit der Entwirrung dieser Frage abgegeben, doch, so viel mir bekannt, ohne dass es irgend Einem gelungen wäre, die wenigen Hauptpunkte aus der Thatsachenmasse herauszuscheiden und vor aller Augen klar hinzustellen. Gegen Vor - urteil und Voreingenommenheit schützt eben selbst ehrliche Gelehr - samkeit nicht. Wir wollen hier versuchen, zwar leider ohne Gelehr - samkeit, doch auch ohne Vorurteil, zu erforschen, in wiefern Christus zu seiner Umgebung gehörte und ihrer Anschauungsformen sich be - diente, inwiefern er sich von ihr unterschied und sich himmelhoch über sie erhob; nur auf diese Art kann es gelingen, die Persönlichkeit in ihrer vollen autonomen Würde aus allen Zufälligkeiten heraus - zulösen.

Fragen wir uns also zunächst: war Christus ein Jude, der Stammesangehörigkeit nach?

Diese Frage hat im ersten Augenblick etwas Kleinliches. Vor einer derartigen Erscheinung schrumpfen die Eigentümlichkeiten der Rassen zu einem Nichts zusammen. Ein Jesaia, ja! wie sehr er seine Zeitgenossen auch überragen mag, er bleibt Jude durch und durch; kein Wort, das nicht aus der Geschichte und aus dem Geiste seines Volkes hervorquölle; auch dort, wo er das charakteristisch Jüdische erbarmungslos blosslegt und verdammt, bewährt er sich gerade darin als Jude: bei Christus ist hiervon keine Spur. Oder wieder ein Homer! Dieser erweckt als erster das hellenische Volk zum Be - wusstsein seiner selbst; um das zu können, musste er die Quintessenz alles Griechentums im eigenen Busen bergen. Wo aber ist das Volk, welches, von Christus zum Leben erweckt, sich dadurch das kostbare Recht erworben hätte und wohnte es auch an den Antipoden Christum211Die Erscheinung Christi.als den Seinigen zu bezeichnen? Jedenfalls nicht in Judäa! Für den Gläubigen ist Jesus der Sohn Gottes, nicht eines Menschen; für den Ungläubigen wird es schwer werden, eine Formel zu finden, welche die unleugbar vorliegende Thatsache dieser unvergleichlichen Persönlichkeit in ihrer Unerklärlichkeit so knapp und vielsagend be - zeichnet. Es giebt eben Erscheinungen, die in den Vorstellungs - komplex des Verstandes gar nicht ohne Symbol eingereiht werden können. Soviel über die prinzipielle Frage, und um jeden Verdacht von mir abzuwehren, als segelte ich im Schlepptau jener flachen » historischen « Schule, welche das Unerklärliche zu erklären unter - nimmt. Ein anderes ist es, uns über die historisch gewordene Um - gebung der Persönlichkeit zu belehren, lediglich damit wir diese noch deutlicher erschauen. Thun wir das, so ist die Antwort auf die Frage: war Christus ein Jude? keinesfalls eine einfache. Der Religion und der Erziehung nach war er es unzweifelhaft; der Rasse nach im engeren und eigentlichen Sinne des Wortes » Jude « höchst wahr - scheinlich nicht.

Der Name Galiläa (von Gelil haggoyim) bedeutet » Heidengau «. Es scheint, als ob dieser Landesteil, so sehr entfernt vom geistigen Mittelpunkt, sich nie ganz rein erhalten hätte, selbst in den alten Zeiten nicht, als Israel noch stark und einig dastand, und es den Stämmen Naphtali und Sebulon als Heimat diente. Vom Stamme Naphtali wird gemeldet, er sei von Hause aus » sehr gemischter Herkunft «, und, blieb auch die nicht-israelitische Urbevölkerung im ganzen Bereich Palästina’s bestehen, so geschah das » nirgendswo in so starken Massen wie in den nördlichen Marken «. 1)Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, 3. Ausg. 1897, S. 16 u. 47. Vergl. ausserdem Richter I, 30 und 33 und hier weiter unten, Kap. 5.Dazu kam noch ein fernerer Um - stand. Während das übrige Palästina durch seine geographische Lage von der Welt gleichsam abgesondert ist, führte schon, als die Israeliten das Land besetzten, eine Strasse vom See Genesareth nach Damaskus, und Tyr und Sidon waren schneller als Jerusalem von dorther zu erreichen. So sehen wir denn auch Salomon ein beträchtliches Stück dieses Heidengaues (wie es schon damals hiess, I Könige IX, 11) mit zwanzig Städten dem König von Tyrus als Bezahlung für seine Lieferungen an Cedern und Tannenbäumen und für die 120 Zentner Gold abtreten, die jener für den Tempelbau geliefert hatte; so wenig lag dieses halb von Fremden bewohnte Land dem König Judäa’s am14*212Das Erbe der alten Welt.Herzen. Der tyrische König Hiram muss es überhaupt wenig be - völkert gefunden haben, da er die Gelegenheit benutzte, um verschiedene fremde Völkerschaften in Galiläa anzusiedeln. 1)Graetz: Volkstümliche Geschichte der Juden, I, 88.Dann kam, wie Jeder weiss, die Scheidung in zwei Reiche, und seit jener Zeit, d. h. seit tausend Jahren vor Christus (!) hat nur vorübergehend, hin und wieder, eine innigere, politische Verbindung zwischen Galiläa und Judäa überhaupt stattgefunden, und diese allein, nicht eine Gemein - samkeit des religiösen Glaubens, fördert eine Verschmelzung der Völker. Auch zu Christi Zeiten war Galiläa von Judäa politisch gänzlich ge - trennt, so dass es zu diesem » im Verhältnis des Auslands « stand. 2)Graetz: a. a. O., I, 567. Galiläa und Peräa hatten zusammen einen eigenen, selbständig regierenden Tetrarchen, während Judäa, Samaria und Idumäa einem römischen Prokurator unterstanden. Graetz fügt an dieser Stelle hinzu: » Durch die Feindseligkeit der Samaritaner, deren Land als Keil zwischen Judäa und Galiläa mitten um (sic) lag, war der Verkehr zwischen beiden losgetrennten Landes - teilen noch mehr gehemmt «. Dass man ausserdem kein Recht hat, die echten » Israeliten « des Nordens mit den eigentlichen » Juden « des Südens zu identifizieren, habe ich der Einfachheit halber hier unerwähnt gelassen; vergl. jedoch Kap. 5.Inzwischen war aber etwas geschehen, was den israelitischen Charakter dieses nördlichen Landstriches wohl auf alle Zeiten fast ganz vertilgt haben muss: 720 Jahre vor Christo (also etwa anderthalb Jahrhunderte vor der babylonischen Gefangenschaft der Juden) wurde das nördliche Reich Israel von den Assyriern verwüstet und seine Bevölkerung angeblich in ihrer Gesamtheit, jedenfalls zum grossen Teile deportiert, und zwar in verschiedene und entfernte Teile des Reiches, wo sie in kurzer Zeit mit den übrigen Einwohnern verschmolz und in Folge dessen gänzlich verschwand. 3)So gänzlich verschwand, dass manche Theologen, die über Musse ver - fügten, sich auch in unserem Jahrhundert den Kopf zerbrachen, was aus den Israeliten geworden sei, da sie nicht annehmen konnten, fünf Sechstel des Volkes, dem Jahve die ganze Erde versprochen hatte, sollten einfach verschwunden sein. Ein findiger Kopf brachte sogar heraus, die verloren geglaubten zehn Stämme seien die heutigen Engländer! Er war auch um die Moral dieser Entdeckung nicht verlegen: daher gehören den Briten von Rechts wegen fünf Sechstel der gesamten Erdoberfläche; das übrige Sechstel den Juden. Vergl. H. L.: Lost Israel, where are they to be found? (Edinburgh, 6. Aufl. 1877). In dieser Broschüre wird ein anderes Werk genannt, Wilson: Our Israelitish Origin. Es giebt sogar, nach diesen Autoritäten, brave Angelsachsen, die ihre Genealogie bis auf Moses zurück - geführt haben! Welchen Unsinn hätte unser liebes Neunzehnte nicht gezeitigt? (Wer es geschickt anfinge, könnte bei Späteren den Eindruck hervorbringen, das ganze Säculum sei fürs Tollhaus reif gewesen!)Zugleich wurden aus entlegenen213Die Erscheinung Christi.Gegenden fremde Stämme zur Ansiedlung nach Palästina übergeführt. Die Gelehrten vermuten freilich (ohne Gewähr dafür geben zu können), dass ein bedeutender Bruchteil der früheren gemischt-israelitischen Be - völkerung im Lande verblieben war; jedenfalls hielt sich aber dieser Rest nicht von den Fremden getrennt, sondern ging in ihre gemischte Volksart auf. 1)Wie sehr » der unterscheidende Charakter der israelitischen Nation ver - loren war « berichtet Robertson Smith: The prophets of Israel (1895), p. 153.Das Schicksal dieser Länder war also ein ganz anderes als das Judäas. Denn als später auch die Juden weggeführt wurden, blieb ihr Land sozusagen leer, nämlich nur von wenigen, dazu jüdischen Bauern be - wohnt, so dass bei der Rückkehr aus der babylonischen Gefangen - schaft, in welcher sie ausserdem ihre Stammeseinheit bewahrt hatten, die Juden diese Reinheit unschwer auch weiter aufrecht erhalten konnten. Galiläa dagegen und die angrenzenden Länder waren, wie gesagt, von den Assyriern systematisch kolonisiert worden und, wie es nach dem biblischen Berichte scheint, aus sehr verschiedenen Teilen des riesigen Reiches, unter anderm aus dem nördlichen ge - birgigen Syrien. In den Jahrhunderten vor Christi Geburt sollen nun ausserdem viele Phönicier und auch viele Griechen eingewandert sein. 2)Albert Réville: Jésus de Nazareth I, 416. Man vergesse auch nicht, dass Alexander der Grosse nach der Empörung des Jahres 331 das nahe Samarien mit Macedoniern bevölkert hatte.Es ist nach dieser letzten Thatsache wahrscheinlich, dass auch rein - arisches Blut dorthin verpflanzt wurde; sicher ist aber, dass ein kunterbuntes Durcheinander der verschiedensten Rassen stattfand, und dass die Ausländer sich am zahlreichsten in dem zugänglicheren und dazu fruchtbareren Galiläa niedergelassen haben werden. Das alte Testament selbst erzählt mit bestrickender Naivetät, wie diese Fremden ursprünglich dazu kamen, den Kultus des Jahve kennen zu lernen (II Kön. XVII, 24 fg. ): in dem entvölkerten Lande vermehrten sich die Raubtiere; man hielt diese Plage für eine Rache des vernach - lässigten » Landesgottes « (Vers 26); es war aber Niemad mehr da, der gewusst hätte, wie dieser verehrt werden wolle; und so sandten die Kolonisten zum König von Assyrien und baten sich einen israelitischen Priester aus der Gefangenschaft aus, und dieser kam, und » lehrte sie die Weise des Landesgottes «. Auf diese Art wurden die Bewohner des nördlichen Palästina, von Samaria ab, Juden dem Glauben nach, auch diejenigen unter ihnen, die keinen Tropfen israelitischen Blutes in den Adern hatten. In späteren Zeiten mögen sich allerdings214Das Erbe der alten Welt.manche echte Juden dort niedergelassen haben; aber wohl doch nur als Fremde in den grösseren Städten; denn eine der bewunderns - wertesten Eigenschaften der Juden namentlich seit ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft, wo auch zuerst der scharf umschriebene Begriff » Jude « als Bezeichnung für eine Religion auftritt (siehe Zacharias VIII, 23) war ihre Sorge, die Rasse reinzuerhalten; eine Ehe zwischen Jude und Galiläer war undenkbar. Jedoch, auch diese jüdischen Bestand - teile inmitten der fremden Bevölkerung wurden aus Galiläa nicht sehr lange vor Christi Geburt gänzlich ausgeschieden. Simon Tharsi, einer der Makkabäer, war es, der, nach einem erfolgreichen Feldzug in Galiläa gegen die Syrer: » die dort wohnenden Juden sammelte und sie bestimmte, auszuwandern und sich samt und sonders in Judäa niederzulassen «. 1)Graetz a. a. O. I, 400.Das Vorurteil gegen Galiläa blieb denn auch so gross bei den Juden, dass, als Herodes Antipas während der Jugend Christi die Stadt Tiberias gebaut hatte und auch Juden veranlassen wollte, sich dort niederzulassen, ihm dies weder durch Versprechungen noch durch Gewalt gelang. 2)Graetz a. a. O. I, 568. Es liegt also, wie man sieht, nicht die geringste Veranlassung zu der Annahme vor, die Eltern Jesu Christi seien, der Rasse nach, Juden gewesen.

Im ferneren Lauf der historischen Entwickelung fand nun etwas statt, wofür man manche Analogie in der Geschichte aufweisen könnte: bei den Bewohnern des südlicher gelegenen, unmittelbar an Judäa an - stossenden Samaria, die ohne Frage durch Blut und Verkehr den eigentlichen Juden viel näher standen als die Galiläer, erhielt sich die Tradition des nordisraelitischen Widerwillens und der Eifersucht gegen die Juden; die Samaritaner erkannten die kirchliche Suprematie Jerusalems nicht an und waren daher den Juden als » Irrgläubige « so verhasst, dass keinerlei Verkehr mit ihnen gestattet war; nicht ein Stück Brot durfte der Rechtgläubige aus ihren Händen nehmen, dies galt, als hätte er Schweinefleisch gegessen. 3)Aus der Mischna citiert von Renan, Vie de Jésus, 23. Aufl., S. 242.Die Galiläer dagegen, die den Juden ohne weiteres als » Ausländer « galten, und als solche allerdings verachtet und von manchen religiösen Handlungen ausge - schlossen wurden, waren dennoch streng rechtgläubige und (häufig sogar) fanatische » Juden «. Darin aber einen Beweis ihrer Abstammung erblicken zu wollen, ist einfach lächerlich. Es ist ganz genau dasselbe, als wollte man die unverfälscht slavische Bevölkerung Bosniens oder215Die Erscheinung Christi.die reinsten Indoarier Afghanistans ethnologisch mit den » Türken « identifizieren, weil sie strenggläubige Mohammedaner sind, viel frommer und viel fanatischer als die echten Osmanen. Der Ausdruck Jude bezeichnet eine bestimmte, erstaunlich rein erhaltene Menschenrasse, nur in zweiter Reihe und uneigentlich die Bekenner einer Religion. Es geht auch durchaus nicht an, den Begriff » Jude «, wie das in letzter Zeit viel geschieht, mit dem Begriff » Semit « gleichzustellen; der Nationalcharakter der Araber z. B. ist ein durchaus anderer als der der Juden. Darauf komme ich im fünften Kapitel zurück; einst - weilen mache ich darauf aufmerksam, dass auch der Nationalcharakter der Galiläer wesentlich von dem der Juden abstach. Man schlage welche Geschichte der Juden man will auf, Ewald’s oder Graetzens oder Renan’s, überall wird man finden, dass die Galiläer durch ihren Charakter sich von den anderen Bewohnern Palästinas unterschieden: sie werden als Hitzköpfe bezeichnet, als energische Idealisten, als Männer der That. In den langen Wirren mit Rom, vor und nach Christi Zeit, sind Galiläer meistens das treibende Element und das - jenige, welches der Tod allein besiegte. Während die grossen Kolonien unverfälschter Juden in Rom und Alexandrien auf vorzüglichem Fuss mit dem heidnischen Kaiserreich lebten, wo sie als Traumdeuter,1)Juvenal erzählt: Aere minuto Qualiacunque voles Judaei somnia vendunt. Trödler, Hausierer, Geldleiher, Schauspieler, Rechtsberater, Handels - herren, Gelehrte u. s. w. es sich gut gehen liessen, wagte es im fernen Galiläa, noch zu Lebzeiten Caesar’s, Ezekia der Galiläer, die Fahne der religiösen Empörung zu erheben! Auf ihn folgte der berühmte Judas der Galiläer, mit dem Spruch: » Gott allein ist Herr, der Tod gleichgültig, die Freiheit eines und alles! « 2)Mommsen: Römische Geschichte V, 515.Dann bildete sich in Galiläa die Partei der Sicarier (d. h. Messermänner), den heutigen indischen Thugs nicht unähnlich; ihr bedeutendster Führer, der Galiläer Menahem, vernichtete zu Nero’s Zeiten die römische Garnison Jerusalems und wurde zum Dank, unter dem Vorwurfe, er habe sich für den Messias ausgeben wollen, von den Juden selbst hingerichtet; auch die Söhne des Judas wurden als staatsgefährliche Aufwiegler ans Kreuz ge - schlagen (und zwar von einem jüdischen Prokurator); Johannes von Gischala, einer Stadt an der äussersten Nordgrenze Galiläas, leitete die verzweifelte Verteidigung Jerusalems gegen Titus und216Das Erbe der alten Welt.die Reihe der galiläischen Helden wurde durch Eleasar geschlossen, der noch Jahre lang nach der Zerstörung Jerusalems mit einer kleinen Truppe im Gebirge sich verschanzt hielt, wo er und seine Anhänger, als die letzte Hoffnung verloren war, erst ihre Frauen und Kinder, dann sich selbst töteten1)Auch später noch bildeten die Bewohner Galiläas eine besondere, durch Kraft und Mut ausgezeichnete Rasse, wie das ihre Teilnahme an dem Feldzug unter dem Perser Scharbarza und an der Einnahme Jerusalems beweist, im Jahre 614.. In diesen Dingen tritt, das wird wohl Jeder zugeben, ein besonderer, unterschiedlicher Nationalcharakter zu Tage. Vielfach wird auch über die Frauen Galiläas berichtet, sie hätten eine nur ihnen eigentümliche Schönheit besessen; die Christen der ersten Jahrhunderte erzählen ausserdem von ihrer grossen Güte und ihrem Entgegenkommen Andersgläubigen gegenüber, im Gegensatz zu der hochmütig verachtungsvollen Behandlung, die ihnen von den echten Jüdinnen zu Teil wurde. Dieser besondere Nationalcharakter fand aber noch einen anderen, unfehlbaren Ausdruck: die Sprache. In Judäa und den angrenzenden Ländern redete man zu den Zeiten Christi aramäisch; das Hebräische war bereits eine tote Sprache, die einzig in den heiligen Schriften weiterlebte. Es wird nun berichtet, die Galiläer hätten einen so eigentümlichen, fremdartigen Dialekt des Aramäischen gesprochen, dass man sie gleich am ersten Worte er - kannte; » deine Sprache verrät dich «, rufen die Diener des Hohen - priesters dem Petrus zu. Das Hebräische sollen sie überhaupt nicht im Stande gewesen sein zu erlernen, namentlich die Kehllaute bildeten für sie ein unübersteigliches Hindernis, so dass man Galiläer z. B. zum Vorbeten nicht zulassen konnte, da » ihre verwahrloste Aussprache Lachen erregte «. 2)Vergl. z. B. Graetz a. a. O., I, 575. Über die Eigentümlichkeit der Sprache der Galiläer und deren Unfähigkeit, die semitischen Kehllaute richtig aus - zusprechen vergl. namentlich Renan: Langues sémitiques, 5e éd., p. 230.Diese Thatsache beweist eine physische Abweichung im Bau des Kehlkopfes und liesse sogar vermuten, dass wirklich eine starke Beimischung nicht-semitischen Blutes stattgefunden habe; denn der Reichtum an Kehllauten und die Virtuosität in ihrer Behandlung ist ein allen Semiten gemeinsamer Zug. 3)Man sehe z. B. die vergleichende Tafel bei Max Müller: Science of Language, 9. Aufl., S. 169 und in jedem einzelnen Bande der Sacred Books of the East. Die Sanskritsprache kennt nur sechs echte » Gutturales «, die hebräische zehn; am auffallendsten ist jedoch der Unterschied bei dem gutturalen Hauchlaut, dem h, für welches die indogermanischen Sprachen seit jeher nur einen einzigen Laut gekannt haben, die semitischen dagegen fünf verschiedene. Dagegen

217Die Erscheinung Christi.

Auf diese Frage war Christus ein Jude der Rasse nach? habe ich geglaubt mit einiger Ausführlichkeit eingehen zu müssen, weil ich in keinem einzigen Werke die hierhergehörigen Thatsachen klar zusammengetragen gefunden habe. Selbst in einem objektiv - wissenschaftlichen, von keinen theologischen Absichten beeinflussten Werke, wie das Albert Réville’s,1)Jésus de Nazareth, études critiques sur les antécédents de l’histoire évangélique et la vie de Jésus, 2. vol. 1897. des bekannten Professors der ver - gleichenden Religionsforschung am Collège de France, wird das Wort Jude bisweilen für die jüdische Rasse, bisweilen für die jüdische Religion gebraucht. Wir lesen z. B. (I, 416): » Galiläa war zum grössten Teil von Juden bewohnt, doch gab es auch syrische, phönicische und griechische Heiden «. Hier also bedeutet Jude Einer, der den Landesgott Judäas verehrt, gleichviel, welcher Abstammung er sich rühmt. Auf der nächstfolgenden Seite jedoch ist von einer » arischen Rasse « die Rede, als Gegensatz zu einer » jüdischen Nation «; hier bezeichnet folglich Jude einen bestimmten, engbegrenzten, seit Jahrhunderten rein erhaltenen Menschenstamm. Und nun folgt die tiefsinnige Bemerkung: » Die Frage, ob Christus arischer Herkunft sei, ist müssig. Ein Mann gehört der Nation an, in deren Mitte er auf - gewachsen ist. « Das nannte man » Wissenschaft « im Jahre des Heils 1896! Am Schlusse des 19. Jahrhunderts durfte ein Gelehrter noch nicht wissen, dass die Form des Kopfes und die Struktur des Gehirns auf die Form und Struktur der Gedanken von ganz entscheidendem Ein - fluss sind, so dass der Einfluss der Umgebung, wenn er noch so gross angeschlagen wird, doch durch diese Initialthatsache der physischen Anlagen an bestimmte Fähigkeiten und Möglichkeiten gebunden, mit anderen Worten, bestimmte Wege gewiesen wird; er durfte nicht wissen, dass gerade die Gestalt des Schädels zu jenen Charakteren gehört, welche mit unausrottbarer Hartnäckigkeit vererbt werden, so dass durch kraniologische Messungen Rassen unterschieden und aus ge - mischten noch nach Jahrhunderten die atavistisch auftretenden ursprüng - lichen Bestandteile dem Forscher offenbart werden; er durfte glauben, dass die sogenannte Seele ausserhalb des Körpers ihren Sitz habe, und3)findet man im Sanskrit sieben verschiedene Zungenlaute, im Hebräischen nur zwei. Wie ungeheuer schwer es ist, solche vererbte sprachliche Rassenmerkmale ganz zu verwischen, ist uns Allen durch das Beispiel der unter uns lebenden Juden gut bekannt; die vollkommen fehlerlose Beherrschung unserer Zungenlaute ist ihnen ebenso unmöglich, wie uns die Meisterschaft der Kehllaute.218Das Erbe der alten Welt.ihn wie eine Puppe an der Nase herumführe! O Mittelalter! wann wird deine Macht von uns weichen? Wann werden die Menschen es begreifen, dass Gestalt nicht ein gleichgültiger Zufall ist, sondern ein Ausdruck des innersten Wesens? dass gerade hier, an diesem Punkte, die zwei Welten des Inneren und des Äusseren, des Sicht - baren und des Unsichtbaren sich berühren? Ich nannte die mensch - liche Persönlichkeit das mysterium magnum des Daseins; in ihrer sichtbaren Gestalt stellt sich nun dieses unergründliche Wunder dem Auge und dem forschenden Verstande dar. Und genau so wie die möglichen Gestalten eines Gebäudes durch die Natur des Baumateriales in wesentlichen Punkten bestimmt und beschränkt sind, ebenso ist die mögliche Gestalt eines Menschen, seine innere und seine äussere, durch die vererbten Bausteine, aus denen diese neue Persönlichkeit zusammengestellt wird, in Punkten von durchgreifender Wesentlichkeit bestimmt. Gewiss kann es vorkommen, dass man auf den Begriff der Rasse zu viel Gewicht legt: damit thut man der Autonomie der Persönlichkeit Abbruch und läuft Gefahr, die grosse Macht der Ideen zu unterschätzen; ausserdem ist diese ganze Frage der Rassen unendlich viel verwickelter als der Laie glaubt, sie gehört ganz und gar in das Gebiet der anatomischen Anthropologie und kann durch keine Dikta der Sprach - und Geschichtsforscher gelöst werden. Es geht aber dennoch nicht an, die Rasse als » quantité négligeable « einfach bei Seite zu lassen; noch weniger geht es an, etwas direkt Falsches über die Rasse auszusagen und eine derartige Geschichtslüge zu einem unbe - streitbaren Dogma sich krystallisieren zu lassen. Wer die Behauptung aufstellt, Christus sei ein Jude gewesen, sagt entweder eine Dummheit oder eine Lüge: eine Dummheit, wenn er Religion und Rasse un - wissend durcheinanderwirft, eine Lüge, wenn er die Geschichte Galiläas kennt und den höchst verwickelten Thatbestand zu Gunsten seiner religiösen Vorurteile oder gar, um sich dem mächtigen Judentum gefällig zu erzeigen, halb verschweigt, halb entstellt. 1)Wie soll man es z. B. erklären, dass Renan, der in seinem 1863 er - schienenen Vie de Jésus sagt, es sei unmöglich, auch nur Vermutungen aufzu - stellen über die Rasse, der Christus durch sein Blut angehörte (siehe Kap. II), in dem 1891 vollendeten fünften Band seiner Histoire du Peuple d’Israël die kategorische Behauptung aufstellt: » Jésus était un Juif «, und mit ungewohnter Heftigkeit über die Leute herfällt, die das zu bezweifeln wagen? Sollte nicht die Alliance Israëlite, mit der Renan in seinen letzten Lebensjahren in so eifrigem Verkehr stand, hier ein Wort mitgeredet haben? In unserem Jahrhundert haben wir so viel SchönesDie Wahrschein -219Die Erscheinung Christi.lichkeit, dass Christus kein Jude war, dass er keinen Tropfen echt jüdischen Blutes in den Adern hatte, ist so gross, dass sie einer Ge - wissheit fast gleichkommt. Welcher Rasse gehörte er an? Darauf lässt sich gar keine Antwort geben. Da das Land zwischen Phönicien und dem in seinem südwestlichen Teile mit semitischem Blute durch - tränkten Syrien lag, dazu vielleicht von seiner früheren gemischt-israeli - tischen (doch zu keiner Zeit jüdischen) Bevölkerung nicht ganz gesäubert war, ist die Wahrscheinlichkeit eines vorwiegend semitischen Stamm - baumes gross. Wer aber nur den geringsten Einblick in das Rassenbabel des assyrischen Reiches gethan hat,1)Vergl. namentlich Sayce: The races of the Old Testament. und wer dann erfährt, dass aus den verschiedensten Teilen dieses Reiches Kolonisten in jene frühere Heim - statt Israels übersiedelten, wird nicht schnell bei der Hand mit einer Antwort sein. Es ist ja möglich, dass in einigen dieser Kolonisten - gruppen eine Tradition herrschte, untereinander zu heiraten, wo - durch dann ein Stamm sich rein erhalten hätte; dass das aber über ein halbes Jahrtausend durchgeführt worden sei, ist fast undenkbar; gerade durch den Übertritt zum jüdischen Kultus verwischten sich nach und nach die Stammesunterschiede, die zuerst (II Könige XVII, 29) durch heimatliche Religionsgebräuche aufrecht erhalten worden waren. In späteren Zeiten wanderten nun ausserdem, wie wir hörten, Griechen ein; jedenfalls gehörten sie zu den ärmsten Klassen, und nahmen natürlich sofort den » Landesgott « an! Nur eine Behauptung können wir also auf gesunder historischer Grundlage aufstellen: in jenem ganzen Welt - teile gab es eine einzige reine Rasse, eine Rasse, die durch pein - liche Vorschriften sich vor jeder Vermengung mit anderen Völker - schaften schützte die jüdische; dass Jesus Christus ihr nicht ange - hörte, kann als sicher betrachtet werden. Jede weitere Behauptung ist hypothetisch.

Dieses Ergebnis, wenngleich rein negativ, ist von grossem Werte; es bedeutet einen wichtigen Beitrag zur richtigen Erkenntnis der Er - scheinung Christi, somit auch zum Verständnis ihrer Wirksamkeit bis auf den heutigen Tag und zur Entwirrung des wild verhedderten Knäuels1)über die Freiheit der Rede, die Freiheit der Wissenschaft u. s. w. gehört; in Wahr - heit sind wir aber ärger geknechtet gewesen als im 18. Jahrhundert; denn zu den früheren Gewalthabern, die nie in Wirklichkeit entwaffneten, kamen neue, schlimmere hinzu. Der frühere Zwang konnte, bei allem bittern Unrecht, den Charakter stärken, der neue, der nur von Geld ausgeht und nur auf Geld hinzielt, entwürdigt zur niedrigsten Sklaverei.220Das Erbe der alten Welt.widersprechender Begriffe und falscher Vorstellungen, das sich um die einfache, durchsichtige Wahrheit geschlungen hat. Nunmehr jedoch müssen wir tiefer greifen. Die äussere Zusammengehörigkeit ist weniger wichtig als die innere; jetzt erst langen wir bei der ent - scheidenden Frage an: inwiefern gehört Christus als moralische Erscheinung zum Judentum, inwiefern nicht? Um das ein für alle Mal festzustellen, werden wir eine Reihe wichtiger Unterscheidungen durchführen müssen, für die ich mir die vollste Aufmerksamkeit des Lesers erbitte.

Religion.
212

Ganz allgemein, ja, vielleicht ohne Ausnahme, wird das Ver - hältnis so dargestellt, als sei Christus der Vollender des Judentums, das heisst also, der religiösen Ideen der Juden. 1)Eine rühmliche Ausnahme macht der grosse Rechtslehrer Jhering, der in seiner Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 300, schreibt: » Dem Boden seines Volkes war Christi Lehre nicht entsprossen, das Christentum bezeichnet im Gegenteil eine Überwindung des Judentums, es steckt bereits bei seinem ersten Ursprung etwas vom Arier in ihm. «Selbst die orthodoxen Juden, wenn sie in ihm auch nicht gerade den Vollender verehren können, sehen doch in ihm einen Seitenast an ihrem Baume und be - trachten mit Stolz das ganze Christentum als einen Anhang des Juden - tums. Das ist ein Irrtum, dessen bin ich tief überzeugt; es ist eine angeerbte Wahnvorstellung, eine von jenen Meinungen, die wir mit der Muttermilch einsaugen und über die in Folge dessen der Frei - denkende eben so wenig zur Besinnung kommt wie der orthodox kirchlich Gesinnte. Gewiss stand Christus in einem unmittelbaren Verhältnis zum Judentum, und der Einfluss des Judentums zunächst auf die Gestaltung seiner Persönlichkeit, in noch weit höherem Masse auf die Entstehung und die Geschichte des Christentums ist ein so grosser, bestimmter und wesentlicher, dass jeder Versuch, ihn abzuleugnen, zu Widersinnigkeiten führen müsste; dieser Einfluss ist jedoch nur zum kleinsten Teil ein religiöser. Da liegt des Irr - tums Kern.

Wir sind gewohnt, das jüdische Volk als das religiöse Volk par excellence zu betrachten: in Wahrheit ist es ein (im Verhältnis zu den indoeuropäischen Rassen) religiös durchaus verkümmertes. In dieser Beziehung hat bei den Juden das stattgefunden, was Darwin » arrest of development « nennt, eine Verkümmerung der Anlagen, ein Absterben in der Knospe. Übrigens waren alle Zweige des semitischen221Die Erscheinung Christi.Stammes, sonst in mancher Beziehung reich begabt, von jeher erstaun - lich arm an religiösem Instinkt; es ist das jene » Hartherzigkeit «, über welche die bedeutenderen Männer unter ihnen stets klagten. 1)» Die Semiten haben viel Aberglauben, doch wenig Religion «, bezeugt eine der grössten Autoritäten, Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 33.Wie anders der Arier! Schon nach dem Zeugnis der ältesten Urkunden (die weit über alle jüdischen zurückreichen) sehen wir ihn beschäftigt, einem dunkeln Drange zu folgen, der ihn antreibt, im eigenen Herzen zu forschen. Dieser Mensch ist lustig, lebenstoll, ehrgeizig, leicht - sinnig, er trinkt und er spielt, er jagt und er raubt; plötzlich aber besinnt er sich: das grosse Rätsel des Daseins nimmt ihn ganz ge - fangen, nicht jedoch als ein rein rationalistisches Problem woher ist diese Welt? woher stamme ich? worauf eine rein vernünftige (und darum unzureichende) Antwort zu geben wäre, sondern als ein unmittelbares, zwingendes Lebensbedürfnis. Nicht verstehen, sondern sein: das ist, wohin es ihn drängt. Nicht die Vergangenheit mit ihrer Litanei von Ursache und Wirkung, sondern die Gegenwart, die ewigwährende Gegenwart fesselt sein staunendes Sinnen. Und nur, das fühlt er, wenn er zu allem, was ihn umgiebt, Brücken hinüber geschlagen hat, wenn er sich, das einzige, was er unmittelbar weiss, in jedem Phänomen wieder erkennt, jedes Phänomen in sich wieder findet, nur wenn er, so zu sagen, sich und die Welt in Einklang ge - setzt hat, dann darf er hoffen, das Weben des ewigen Werkes mit eigenem Ohre zu belauschen, die geheimnisvolle Musik des Daseins im eigenen Herzen zu vernehmen. Und damit er diesen Einklang finde, singt er selber hinaus, versucht es in allen Tönen, übt sich in allen Weisen; dann lauscht er andächtig. Nicht unbeantwortet bleibt sein Ruf; geheimnisvolle Stimmen vernimmt er; die ganze Natur be - lebt sich, überall regt sich in ihr das Menschenverwandte. Anbetend sinkt er auf die Kniee, wähnt nicht, dass er weise sei, glaubt nicht den Ursprung und den Endzweck der Welt zu kennen, ahnt aber eine höhere Bestimmung, entdeckt in sich den Keim zu unermesslichen Geschicken, » den Samen der Unsterblichkeit «. Dies ist jedoch keine blosse Träumerei, sondern eine lebendige Überzeugung, ein Glaube, und, wie alles Lebende, erzeugt es wieder Leben. Die Helden seines Stammes und seine heiligen Männer erblickt er als » Übermenschen « (wie Goethe sagt) hoch über der Erde schweben; ihnen will er gleichen, denn auch ihn zieht es hinan, und jetzt weiss er, aus welch tief222Das Erbe der alten Welt.innerem Brunnen sie die Kraft schöpften, gross zu sein Dieser Blick in die unerforschlichen Tiefen des eigenen Innern, diese Sehn - sucht nach oben: das ist Religion. Religion hat zunächst weder mit Aberglauben noch mit Moral etwas zu thun; sie ist ein Zustand des Gemütes. Und weil der religiöse Mensch in unmittelbarem Kontakt mit einer Welt jenseits der Vernunft steht, so ist er Dichter und Denker: er tritt bewusst schöpferisch auf; ohne Ende arbeitet er an dem edlen Sisyphus-Werke, das Unsichtbare sichtbar, das Undenkbare denkbar zu gestalten;1)Schön sagt Herder: » Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich das unausgebildetste in seiner eigenen neuen Anlage Er stellt also zwo Welten auf einmal dar, und das macht die anscheinende Duplicität seines Wesens « (Ideen zur Geschichte der Menschheit, Teil I, Buch V, Abschnitt 6). nie finden wir bei ihm eine abgeschlossene, chronologische Kosmogonie und Theogonie, dazu erbte er eine zu lebendige Empfindung des Unendlichen; seine Vorstellungen bleiben im Flusse, erstarren niemals; alte werden durch neue ersetzt, Götter, in einem Jahrhundert hochgeehrt, sind im anderen kaum dem Namen nach gekannt. Und doch bleiben die grossen Erkenntnisse fest er - worben und gehen nie mehr verloren, obenan unter allen die grund - legende, welche Jahrtausende vor Christo der Rigveda folgendermassen auszusprechen suchte: » Die Wurzelung des Seienden fanden die Weisen im Herzen «, eine Überzeugung, welche in unserem Jahrhundert durch Goethe’s Mund fast identischen Ausdruck fand:

Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?

Das ist Religion! Gerade diese Anlage nun, dieser Gemütszustand, dieser Instinkt, den Kern der Natur im Herzen zu suchen, mangelt den Juden in auffallendem Masse. Sie sind geborene Rationalisten. Die Vernunft ist bei ihnen stark, der Wille enorm entwickelt, dagegen ist ihre Kraft der Phantasie und der Gestaltung eine eigentümlich be - schränkte. Ihre spärlichen mythisch-religiösen Vorstellungen, ja, sogar ihre Gebote und Gebräuche und ihre Kultusvorschriften entlehnten sie ausnahmslos fremden Völkern, reduzierten alles auf ein Minimum2)Alles nähere Kap. 5. und bewahrten es starr unverändert; das schöpferische Element, das eigentlich innere Leben fehlt hier fast gänzlich; im besten Falle ver - hält es sich zu dem so unendlich reichen religiösen Leben der Arier223Die Erscheinung Christi.(welches alles höchste Denken und Dichten dieser Völker einschliesst) wie die vorhin genannten Zungenlaute, nämlich wie 2 zu 7. Man sehe doch, welche üppigste Blüte herrlichster religiöser Vorstellungen und Begriffe, und dazu, welche Kunst und welche Philosophie, dank den Griechen und Germanen, auf dem Boden des Christentums empor - schoss, und frage sich dann, um welche Bilder und Gedanken das angeblich religiöse Volk der Juden die Menschheit inzwischen bereichert hat! Spinoza’s » geometrische Ethik « (eine falsche, totgeborene An - wendung eines genialen und schöpferisch produktiven Gedankens von Descartes) dünkt mich in Wirklichkeit die blutigste Ironisierung der Talmudmoral und hat jedenfalls noch weniger als die wahrscheinlich den Ägyptern entlehnten1)Siehe das Kapitel 125 des Totenbuches. zehn Gebote des Moses mit Religion gemein. Nein, die Achtung gebietende Kraft des Judentums liegt auf einem ganz anderen Felde; ich komme gleich darauf zu sprechen.

Wie war es denn aber möglich, unsere Urteilsfähigkeit so zu umnebeln, dass wir die Juden für ein religiöses Volk halten konnten?

Zunächst waren es die Juden selber, die seit jeher mit äusserster Vehemenz und Volubilität versicherten, sie seien » das Volk Gottes «; selbst ein freisinniger Jude wie der Philosoph Philo, stellt die kühne Behauptung auf, einzig die Israeliten seien » Menschen im wahren Sinne «;2)Von Graetz a. a. O. I, 634 ohne nähere Angabe des Ortes citiert. die guten dummen Indogermanen glaubten es ihnen! Wie schwer es diesen aber wurde, beweist der Gang der Geschichte und die Aussprüche aller ihrer bedeutendsten Männer. Ermöglicht wurde diese Glaubensseligkeit einzig durch die christlichen Schriftausleger, welche die gesamte Geschichte Judas zu einer Theodicee umbauten, in welcher die Kreuzigung Christi den Endpunkt bedeutet. Sogar Schiller (Die Sendung Moses) deutet an: die Vorsehung habe die jüdische Nation zerbrochen, sobald sie geleistet hatte, was sie sollte! Dabei übersahen diese Gelehrten die fatale Thatsache, dass das Judentum dem Dasein Christi nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt hat, dass seine älteren Historiker den Namen nicht einmal nennen; wozu heute die Wahrnehmung kommt, dass die Geschichte dieses eigenartigen Volkes nach zwei Jahrtausenden weiterlebt und von hoher Blüte zeugt; niemals, selbst in Alexandrien nicht, ist das Schicksal der Juden ein so glänzendes gewesen wie heute. Schliesslich wirkte noch ein drittes Vorurteil mit, welches im letzten Grunde aus den philo -224Das Erbe der alten Welt.sophischen Werkstätten Griechenlands stammte, und wonach der Monotheismus, d. h. die Vorstellung eines einzigen unteilbaren Gottes, das Symptom einer höheren Religion sein sollte; das ist eine durchaus rationalistische Schlussfolgerung; die Arithmetik hat mit Religion gar nichts gemeinsam; der Monotheismus kann ebenso gut eine Ver - armung wie eine Veredelung des religiösen Lebens bedeuten. Ausser - dem ist auf dieses verhängnisvolle Vorurteil, welches vielleicht mehr als irgend etwas anderes zu der Wahnvorstellung einer religiösen Superiorität der Juden beigetragen hat, zweierlei zu entgegnen: erstens, dass die Juden, solange sie eine Nation bildeten und ihre Religion noch einen Funken frischen Lebens besass, nicht Mono -, sondern Polytheisten waren, für die jedes Ländchen und jedes Stämmchen seinen eigenen Gott hatte; zweitens, dass die Arier auf ihrem rein religiösen Wege zu viel grossartigeren Vorstellungen eines alleinigen Göttlichen gelangt waren, als die kümmerlich verschrumpfte des jüdischen Weltschöpfers. 1)Belege für den Polytheismus der Juden brauche ich nicht zu geben; man findet sie in jedem wissenschaftlichen Werke, ausserdem auf jeder dritten Seite des alten Testaments; siehe auch hier, Kap. 5. Sogar in den Psalmen werden » alle Götter « aufgefordert, Jahve anzubeten; Jahve ist nur insofern für die späteren Juden der » einzige Gott «, als auch die Juden (wie uns Philo soeben mitteilte) » die einzigen Menschen im wahren Sinne « sind. Robertson Smith, dessen Religion of the Semites als ein wissenschaftlich grundlegendes Werk gilt, bezeugt, dass der Mono - theismus nicht aus einer ursprünglichen religiösen Anlage des semitischen Geistes hervorgehe, sondern im Wesentlichen ein politisches Ergebnis sei!! (Siehe das genannte Werk, S. 74). In Bezug auf den Monotheismus der Indoeuropäer bemerke ich kurz Folgendes. Das Brahman der indischen Weisen ist ohne Frage der gewaltigste religiöse Gedanke, der je gedacht wurde; der griechische Bildner war aber auf demselben Wege, Ernst Curtius bezeugt es in einem Brief, geschrieben kurz vor seinem Tode; er arbeitete damals an seiner Geschichte von Olympia und sagt: » Ich habe viel Neues gelernt, namentlich welche Burg monotheistischer Gottesanschauung Olympia und welche sittliche Weltmacht der Zeus des Phidias gewesen ist « (Bf. an Gelzer vom 1. Jan. 1896, veröffentlicht in der Deutschen Revue, 1897, S. 241). Übrigens, man kann sich hier auf die unverdächtigsten aller Zeugen berufen. Der Apostel Paulus sagt (Römer I, 21): » die Römer wussten, dass Ein Gott ist «; und der Kirchenvater Augustinus führt aus, im elften Kapitel des vierten Buches seines De civitate Dei, wie, nach den Ansichten der gebildeten Römer seiner Zeit, der » magni doctores paganorum «, Jupiter der einige, einzige Gott sei, alle übrigen Gottheiten nur einzelne seiner » virtutes « veranschaulichten. Augustinus benutzt diese schon vorhandene Anschauung, um den Heiden klar zu machen, es würde ihnen keine Mühe kosten, zum Glauben an den einigen Gott überzugehen und die übrigen Gestalten aufzugeben. » Haec si ita sint, quid perderent, si unum Deum colerent prudentiore compendio? « (Die Empfehlung des Glaubens

225Die Erscheinung Christi.

Auf diese Fragen werde ich noch öfters Gelegenheit haben, zurückzukommen, namentlich in den Abschnitten über den Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte und über die Entstehung der christlichen Kirche. Vorderhand möchte ich hoffen, dass es mir gelungen ist, die vorgefasste Ansicht von der besonderen Religiosität des Judentums wenigstens zu erschüttern. Ich hoffe, der Leser des orthodox christlichen Neander wird fortan skeptisch den Kopf schütteln, wenn er die Behauptung findet: die Erscheinung Christi bilde » den Mittelpunkt « des religiösen Lebens der Juden, sie sei » in dem ganzen Organismus dieser Religion und Volksgeschichte mit innerer Not - wendigkeit angelegt worden «, u. s. w.;1)Allgemeine Geschichte der christlichen Religion, 4. Aufl., I, 46. über die oratorischen Floskeln des Freidenkers Renan: » Le Christianisme est le chef-d’oeuvre du1)an den einen Gott als » abgekürztes Verfahren « ist übrigens ein rührender Zug aus den goldenen Kindertagen der christlichen Kirche!) Und was Augustinus für die gelehrten Heiden ausführt, das bezeugt Tertullian für das ungelehrte Volk im Allgemeinen; alle Welt glaube, sagt er, in Wahrheit nur an einen einigen Gott, und man höre nie die Götter in der Mehrzahl anrufen, sondern immer nur: » Grosser Gott! Guter Gott! Wie Gott will! Gott befohlen! Gott vergelt’s! « Dies betrachtet Tertullian als das Zeugnis einer von Hause aus monotheistischen Seele. » O testimonium animae naturaliter Christianae! « (Apologeticus, XVII). Damit in dieser so wichtigen Frage nichts undeutlich bleibe, muss ich hinzufügen, dass Curtius, Paulus, Augustinus und Tertullian sich alle vier gründlich täuschen, wenn sie in diesen Dingen den Beweis eines Monotheismus im Sinne des semitischen Materialismus erblicken; ihr Urteil ist hier durch den Einfluss christlicher Begriffe umnebelt. Die Vor - stellung » das Göttliche «, welches wir in dem Sanskrit Neutrum Brahman und in dem griechischer Neutrum ϑεῖον, sowie auch in dem deutschen Neutrum Gott, welches erst in späteren Zeiten, in Folge christlichen Einflusses als Masculinum auf - gefasst wurde (siehe Kluge’s Etymol. Wörterbuch) darf durchaus nicht mit dem persönlichen Weltschöpfer der Juden identifiziert werden. Hier gilt für alle von semitischem Geist noch nicht berührten Arier, was Prof. Erwin Rohde für die Hellenen ausführt: » Es beruht auf irrtümlicher Auffassung, wenn man meint, der Grieche habe einen Zug zum Monotheismus (im jüdischen Sinne) gehabt. Nicht einer Einheit der göttlichen Person, wohl aber einer Einheitlichkeit göttlichen Wesens, einer in vielen Göttern gleichmässig lebendigen Gottheit, einem allgemeinen Göttlichen sieht sich der Grieche gegenübergestellt, wo er in religiöse Beziehung zu den Göttern tritt « (Die Religion der Griechen in den Bayreuther Blättern, Jahrgang 1895, S. 213). Höchst charakteristisch sind in dieser Beziehung die Worte Luther’s: » In der Schöpfung und in den Werken (von aussen gegen der Kreatur zu rechnen) sind wir Christen mit den Türken eins; da sagen wir denn auch, dass nicht mehr denn ein einiger Gott sei. Aber wir sagen, solches sei nicht genug, dass wir allein glauben, dass ein einiger Gott sei «.Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 15226Das Erbe der alten Welt.judaïsme, sa gloire, le résumé de son évolution Jésus est tout entier dans Isaïe « u. s. w., wird er mit einigem Unwillen lächeln;1)Histoire du Peuple d’Israël V, 415, II, 539 u. s. w. Die Enormität der Be - hauptung Jesaia betreffend erhellt namentlich daraus, dass Renan selber diesen Propheten als einen » littérateur « und » journaliste « bezeichnet und lobt, und dass er ausführlich nachweist, welche rein-politische Rolle dieser bedeutende Mann ge - spielt hat: » Nicht eine Zeile aus seiner Feder, die nicht einer Tagesfrage, die nicht dem Interesse des Augenblickes gedient habe « (II, 481). Und gerade in diesem Manne soll die ganze Persönlichkeit Jesu Christi enthalten sein? Unverantwortlich ist ebenfalls (leider nicht allein bei Renan) die Verwendung einzelner Verse aus Jesaia, um den Schein zu erregen, als hätte das Judentum auf eine Universal - religion hingezielt. So wird z. B. XLIX, 6 angeführt, wo Jahve zu Israel spricht: » Ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an der Welt Ende «; dabei verschweigt man, dass im weiteren Verlauf des Kapitels erklärt wird, die Heiden sollen die Sklaven der Juden werden und ihre Könige und Fürstinnen sollen vor ihnen auf das Angesicht fallen und » ihrer Füsse Staub lecken. « Und das soll eine erhabene Universalreligion sein! Ebenso verhält es sich mit dem stets angeführten Kap. LX; wo zuerst steht: » die Heiden werden in deinem Lichte wandeln «, später aber mit dankenswerter Aufrichtigkeit: » Welche Heiden oder Königreiche dir nicht dienen wollen, die sollen umkommen und verwüstet werden! « Des weiteren werden die Heiden hier angewiesen, alles Gold und alle Schätze nach Jerusalem zu bringen, denn die Juden sollen » das Erdreich ewiglich besitzen «. Und solche politische Hetzpamphlete wagt man mit der Erscheinung Christi in Parallelle zu bringen! und ich fürchte, er bricht in homerisches Gelächter aus, wenn der orthodoxe Jude Graetz ihm versichert, die Erscheinung Christi sei » die alte jüdische Lehre im neuen Gewande «, es sei damals » die Zeit gekommen, in welcher die Grundwahrheiten des Judentums die Fülle hehrer Gedanken von Gott und einem heiligen Leben für den Einzelnen, wie für den Staat in die Leerheit anderer Völker überströmen und ihnen einen reichen Inhalt bringen sollte «. 2)A. a. O. I, 570. Man hat öfters behauptet, die Juden hätten wenig Sinn für Humor; das scheint wahr zu sein, wenigstens in Bezug auf Einzelne: man denke sich die » Fülle « dieser krass-ignoranten, phantasiebaren Schriftgelehrten, und die » Leerheit « der Hellenen! Von der Persönlichkeit Christi hält Graetz wenig; die höchste Anerkennung, zu welcher er sich versteigt, ist folgende: » Jesus mag auch ein sympathisches, herzgewinnendes Wesen gehabt haben, wodurch sein Wort einen Eindruck machen konnte « (I, 576). Die Kreuzigung hält der gelehrte Breslauer Professor für die Folge eines » Missverständnisses «! Von den Juden, die später zum Christentum übertraten, meint Graetz, das sei der materiellen Vorteile wegen geschehen, und weil sie den Glauben an den Gekreuzigten » als etwas Unwesent - iches in den Kauf nahmen « (II, 30). Ob das noch heute gilt? Dass der » Bund « mit Jahve ein Kontrakt mit beiderseitiger Verpflichtung war, wussten wir aus

227Die Erscheinung Christi.

Wer Christi Erscheinung erblicken will, der reisse sich also diesenChristus kein Jude. dunkelsten Schleier energisch von den Augen hinweg. Diese Er - scheinung ist nicht die Vollendung der jüdischen Religion, sondern ihre Verneinung. Dort gerade, wo das Gemüt den geringsten Platz in den religiösen Vorstellungen einnahm, dort trat ein neues Religions - ideal auf, welches im Unterschied von anderen grossen Versuchen das innere Leben, sei es in Gedanken, sei es in Bildern, zu erfassen das ganze Gewicht dieses » Lebens im Geist und in der Wahrheit « in das Gemüt legte. Das Verhältnis zur jüdischen Religion könnte höchstens als eine Reaktion aufgefasst werden; das Gemüt ist, wie wir sahen, der Urquell aller echten Religion; gerade dieser Quell war den Juden durch ihren Formalismus und durch ihren hartherzigen Rationalismus fast zugeschüttet; auf ihn greift nun Christus zurück. Wenige Dinge lassen so tief in das göttliche Herz Christi blicken wie sein Verhalten den jüdischen Religionsgesetzen gegenüber. Er beob - achtet sie, doch ohne Eifer und ohne irgend einen Nachdruck darauf zu legen, sind sie doch im besten Falle nur ein Gefäss, das, ohne Inhalt, leer bliebe; und sobald ein Gesetz den Weg versperrt, den er zu gehen hat, da knickt er es ohne die geringste Rücksicht, jedoch ebenfalls ruhig und ohne Zorn: was hat denn das alles mit Religion zu thun! » Der Mensch1)Folgende Belehrung über den Ausdruck » Menschensohn « ist wichtig: » Die messianische Deutung des Ausdrucks Menschensohn stammt erst von den griechischen Übersetzern des Evangeliums. Da Jesus aramäisch gesprochen hat, so hat er nicht υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου gesagt, sondern barnascha. Das bedeutet aber der Mensch und nichts weiter, die Aramäer haben keinen anderen Ausdruck für den Begriff « (Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, 3. Ausg., S. 381). ist ein Herr, auch über den Sabbath «: für den Juden freilich war einzig Jahve ein Herr gewesen, der Mensch sein Knecht. Über die jüdischen Speisegesetze (ein so wichtiger Punkt ihrer Religion, dass der Streit über ihre Verbindlichkeit sich noch in das frühe Christentum fortpflanzte) urteilt Christus: » Was zum Munde eingehet, das verunreiniget den Menschen nicht; sondern was zum Munde ausgehet, das verunreiniget den Menschen. Denn was zum Munde herausgehet, das kommt aus dem Herzen und das verunreiniget den Menschen. « 2)» Ist der Mensch unrein, so ist er es, weil er die Unwahrheit redet «, sagten die Opfervorschriften der arischen Inder, schon 1000 Jahre vor Christo (Satapatha-Brâhmana, erster Vers der ersten Abteilung des ersten Buches).Dahin gehört auch die Verwendung der Schrift2)dem alten Testament; was es aber bei Christus zu kaufen giebt, ist mir unklar, da sein Beispiel einzig und allein eine innere Umkehr lehrt.15*228Das Erbe der alten Welt.bei Christus. Mit Verehrung, doch ohne Fanatismus spricht er von ihr. Wie er die Schrift seinem Zwecke dienstbar macht, ist sogar sehr merkwürdig; auch über sie fühlt er sich » Herr « und verwandelt sie, wo es Not thut, in ihr Gegenteil. Das » ganze Gesetz und die Propheten « könne man, meint er, in dem einen Gebot aussprechen: liebe Gott und deinen Nächsten. Das hört sich fast wie erhabene Ironie an, namentlich wenn wir bedenken, dass Christus hier die Furcht vor Gott, welche doch (und nicht die Liebe zu ihm) die Grundlage der ganzen jüdischen Religion abgiebt, mit keiner Silbe erwähnt. » Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang «, singt der Psalmist. » Verbirg dich in der Erde vor der Furcht des Herrn und vor seiner Majestät «, ruft Jesaia den Israeliten zu, und selbst Jeremia schien vergessen zu haben, dass es ein Gesetz giebt wonach man Gott » von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt lieben soll «1)Im fünften Buche Mose (Deuteronomium VI, 5) finden sich allerdings ähnliche Worte wie diese von Christus angeführten (aus Matthäus XXII, 37), aber man übersehe doch nicht den Zusammenhang! Vor dem Gebot zu lieben (für unser Gefühl schon eine eigentümliche Vorstellung: auf Befehl lieben) steht als erstes und wichtigstes Gebot (Vers 2): » Du sollst den Herrn, deinen Gott, fürchten und alle seine Rechte und Gebote halten «; das Gebot der Liebe ist nur ein Gebot unter anderen, die der Jude halten soll; und gleich darauf kommt die Belohnung für diese Liebe (Vers 10 fg. ): » Ich werde dir grosse und feine Städte geben, die du nicht gebauet hast, und Häuser alles Gutes voll, die du nicht gefüllet hast, und ausgehauene Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölberge, die du nicht gepflanzt hast u. s. w. « Das ist eine Art von Liebe wie die, welche heute so manche Ehe stiftet! Jedenfalls erschiene die » Liebe zum Nächsten « in einem eigen - tümlichen Licht, wenn man nicht wüsste, dass nach dem jüdischen Gesetz nur der Jude dem Juden ein » Nächster « ist; wie es denn am selben Ort, Kap. VII, 16 heisst: » Du wirst alle Völker fressen, die der Herr, dein Gott, dir geben wird! « Dieser Kommentar zum Gebot der Nächstenliebe macht jede weitere Bemerkung überflüssig. Damit aber Niemand im Unklaren bleibe, was die Juden auch später unter diesem Befehl, Gott von Herzen zu lieben, verstanden, will ich noch den Kommentar des Talmud (Jomah, Abschn. 8) zu jener Stelle des Gesetzes, Deuter. VI, 5 anführen: » Hierin wird gelehrt: dein Betragen soll so beschaffen sein, dass der Name Gottes durch dich geliebt werde; der Mensch soll nämlich mit der Er - forschung der heiligen Schrift und der Mischnah sich beschäftigen und Umgang pflegen mit gelehrten und weisen Männern; seine Sprache sei sanft, sein sonstiges Verhalten angemessen und im Handel und Verkehre mit seinen Mitmenschen be - fleissige er sich der Ehrlichkeit und Redlichkeit. Was werden da die Leute sagen? Heil diesem Menschen, der sich mit der Erforschung der heiligen Lehre beschäftigt hat! « (Nach der Verdeutschung des Juden Seligmann Grünwald in der Jüdischen Universal-Bibliothek, Heft 34, 35, S. 86). Im Buche Sota des jerusalemischen Talmuds und hatte Jahve zu seinem229Die Erscheinung Christi.Volke sprechen lassen: » Ich will ihnen meine Furcht ins Herz geben, dass sie nicht von mir weichen; sie sollen mich fürchten ihr Lebenlang «; nur wenn die Juden ihn fürchten, will er » nicht ablassen, ihnen Gutes zu thun «, u. s. w. Ähnliche Umwandlungen der Schriftworte finden wir bei Christus an vielen Stellen. Und sehen wir nun auf der einen Seite einen Gott der Barmherzigkeit, auf der anderen einen Gott der Hartherzigkeit,1)Der orthodoxe Jude Montefiore: Religion of the ancient Hebrews (1893), p. 442, giebt zu, dass der Gedanke » Gott ist die Liebe « in keinem rein-hebräischen Werk irgend einer Zeit vorkomme. auf der einen Seite die Lehre, man solle den » himmlischen Vater « von ganzem Herzen lieben, auf der anderen » Knechte «, denen die Furcht vor dem » Herrn « als erste Pflicht eingeschärft wird:2)Montefiore und andere Autoren bestreiten, dass das Verhältnis Israels zu Jahve das von Knechten zu ihrem Herrn gewesen sei, doch spricht die Schrift es an vielen Orten unzweideutig aus, so z. B. Lev. XXV, 55: » Knechte sind die Kinder Israels mir, meine Knechte, die ich aus Ägyptenland geführt habe «; und die wörtliche Übersetzung des hebräischen Textes wäre Sklave! (vergl. die wört - liche Übersetzung von Louis Segond). da dürfen wir wohl fragen, was das heissen soll, wenn man die eine Weltanschauung als das Werk, als die Vollendung der anderen bezeichnet? Sophismus ist das, nicht Wahrheit. Christus selber hat es mit schlichten Worten gesagt: » Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich «; keine Er - scheinung der Welt ist so genau » wider ihn «, wie die jüdische Religion, wie überhaupt die ganze Auffassung der Religion seitens der Juden von den Anfängen an bis auf den heutigen Tag.

Und doch hat in einer Beziehung gerade die jüdische Religion einen so trefflichen Boden für ein neues Religionsideal abgegeben wie sonst keine: nämlich, für eine neue Vorstellung von Gott.

Was für Andere Armut bedeutete, wurde eben für Christus eine Quelle der reichsten Gaben. Die entsetzliche, für uns fast un - vorstellbare Öde des jüdischen Lebens z. B. ohne Kunst, ohne Philosophie, ohne Wissenschaft , aus der die begabteren Juden in hellen Scharen nach dem Ausland flüchteten, sie war ein durchaus unentbehrliches Element für sein einfaches, heiliges Dasein. Dem Gemüte bot jenes Leben fast rein garnichts, nichts ausser dem1)(V, 5) findet man einen etwas vernünftigeren, doch ebenso nüchternen Kommentar. Das ist die orthodox jüdische Erläuterung des Gebotes: Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen! Ist es nicht das unwürdigste Spiel mit Worten, wenn man hier behauptet, Christus habe dasselbe wie die Thora gelehrt?230Das Erbe der alten Welt.Familienleben. Und so konnte das reichste Gemüt, das je gelebt, sich ganz in sich selbst versenken, in den Tiefen des eigenen Innern allein Nahrung suchen. » Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr. « Vielleicht war es nur in dieser öden Um - gebung möglich, jene » Umkehr « des Willens als Vorstufe zu einem neuen Menschheitsideal zu entdecken; nur dort wo der » Gott der Heerscharen « erbarmungslos herrschte, möglich, die himmlische Ahnung zur Gewissheit zu erheben: » Gott ist die Liebe «.

In diesem Zusammenhang ist jedoch Folgendes das wichtigste.

Die besondere Geistesanlage der Juden, ihre durch die tyrannische Vorherrschaft des Willens herbeigeführte Phantasielosigkeit, hatte sie zu einem sehr eigentümlichen abstrakten Materialismus geführt. Den Juden, als Materialisten, lag, wie allen Semiten, der krasse Götzen - dienst am nächsten; immer wieder sehen wir sie sich Bildnisse schaffen und anbetend vor ihnen niederfallen; der jahrhundertelang währende moralische Kampf, den ihre grossen Männer hiergegen führten, ist ein Heldenblatt in der Geschichte der menschlichen Willensmacht. Der phantasielose Wille schoss jedoch, wie bei ihm üblich, weit über das Ziel hinaus; jedes Bildniss, ja häufig alles, was überhaupt » der Hände Werk « ist, birgt für die alttestamentlichen Juden die Gefahr, ein an - gebetetes Götzenbild zu werden. Nicht einmal die Münzen dürfen einen menschlichen Kopf oder eine allegorische Figur, nicht einmal die Fahnen ein Emblem tragen. Alle Nichtjuden sind denn auch für die Juden » Götzenanbeter «. Und daraus wieder hat sich, nebenbei gesagt, eine christliche Konfusion hergeleitet, die bis in die letzten Jahre unseres Säculums reichte und auch jetzt nur für die Wissenschaft, noch nicht für die Masse der Gebildeten aufgeklärt ist. In Wahrheit nämlich sind die Semiten wahrscheinlich die einzigen Menschen auf der ganzen Erde, die überhaupt jemals echte Götzenanbeter waren und sein konnten. In keinem Zweig der indoeuropäischen Familie hat es zu irgend einer Zeit Götzendienst gegeben. Die unverfälschten arischen Inder, wie auch die Eranier, hatten niemals weder Bild noch Tempel, sie wären unfähig gewesen, den krass-materialistischen Nieder - schlag aus dem semitischen Götzenglauben in der jüdischen Bundeslade mit ihren ägyptischen Sphinxen überhaupt zu begreifen; weder die Ger - manen, noch die Kelten, noch die Slaven beteten Bilder an; und wo lebte der hellenische Zeus? wo die Athene? in den Gedichten, in der Phantasie, oben auf dem wolkenumflossenen Olymp; doch nie und nimmer in diesem und jenem Tempel. Dem Gotte zu Ehren231Die Erscheinung Christi.bildete Phidias sein unsterbliches Werk, den Göttern zu Ehren wurden die unzähligen kleinen Bildnisse hergestellt, die jedes Haus schmückten und mit der lebendigen Vorstellung höherer Wesen erfüllten. Den Juden aber dünkten das Götzen! Bei der Vorherrschaft des Willens sahen sie sich jedes Ding nur auf den Nutzen an; dass man sich etwas Schönes vor Augen stellt, um sich daran zu erheben und zu laben, um dem Gemüt Nahrung zuzuführen, um den religiösen Sinn zu wecken: das war ihnen unerfasslich. Ebenso haben dann später die Christen Buddha - bildnisse für Götzen angesehen: die Buddhisten erkennen aber gar keinen Gott an, viel weniger einen Götzen; diese Statuen sollen zur Kontemplation und zur Abwendung von der Welt anregen. Ja, in letzter Zeit beginnen die Ethnographen stark zu bezweifeln, ob es irgend ein noch so primitives Volk gäbe, welches seine sogenannten Fetische wirklich als Götzen anbetet. Früher wurde das ohne Weiteres vorausgesetzt; jetzt entdeckt man in immer mehr Fällen, dass diese Naturkinder höchst komplizierte symbolische Vorstellungen mit ihren Fetischen verknüpfen. Es scheint als ob unter allen Menschen einzig die Semiten es fertig gebracht hätten, goldene Kälber, eherne Schlangen u. s. w. zu fabrizieren und sie dann anzubeten. 1)Ich brauche kaum darauf aufmerksam zu machen, wie rein symbolisch die Kultusformen der Ägypter und der Syrier waren, denen die Juden die Anregung zu diesen besonderen Gestalten des Stiers und der Schlange entnommen hatten.Und da die Israeliten schon damals geistig viel entwickelter waren als heutzutage die Austral - neger es sind, so entnehmen wir daraus, dass hier nicht die noch mangelnde Unterscheidungsfähigkeit der Grund zu solchen Verirrungen sein konnte, sondern irgend eine Einseitigkeit des Geistes: diese Ein - seitigkeit war das abnorme Vorwiegen des Willens. Dem Willen als solchem fehlt nicht allein jede Phantasie, sondern jede Überlegung; ihm ist nur ein Einziges natürlich: sich auf das Gegenwärtige zu stürzen und es zu erfassen. Darum wurde es nie einem Volke so schwer wie dem israelitischen, sich zu einem hohen Begriff des Göttlichen zu erheben, und nie wurde es einem Volke so schwer, sich diesen Begriff rein zu wahren. Doch im Kampfe stählen sich die Kräfte: das un - religiöseste Volk der Erde schuf in seiner Not die Grundlage zu einem neuen und erhabensten Gottesbegriff, zu einem Begriff, der Gemeingut der ganzen gesitteten Menschheit wurde. Denn auf dieser Grundlage baute Christus; er konnte es, dank jenem » abstrakten Materialismus « den er um sich fand. Anderswo erstickten die Religionen in dem Reich - tum ihrer Mythologieen; hier gab es gar keine Mythologie. Anderswo232Das Erbe der alten Welt.besass jeder Gott eine so ausgeprägte Physiognomie, er war durch Dich - tung und Bildnerei etwas so ganz Individuelles geworden, dass Keiner es vermocht hätte, ihn über Nacht zu verwandeln; oder aber (wie Brah - man in Indien) die Vorstellung von ihm war nach und nach so sublimiert worden, dass zu einer lebensvollen Neugestaltung nichts übrig blieb. Bei den Juden war beides nicht der Fall: zwar war Jahve eine ungemein konkrete, ja, eine durchaus historische Vorstellung, insofern eine weit greifbarere Gestalt als sie je der phantasievolle Arier besessen; zugleich durfte er aber gar nicht vorgestellt werden, weder im Bilde noch durch das Wort. 1)Als in sehr später Zeit die Juden dem Drange nach Vorstellung doch nicht ganz widerstehen konnten, suchten sie den Mangel an Gestaltungskraft durch orientalischen Wortschwall zu verdecken, wovon man in Hesekiel, Kap. I, ein Beispiel sehen kann.Das religiöse Genie der Menschheit fand also hier tabula rasa. Den historischen Jahve brauchte Christus ebensowenig zu vernichten wie das jüdische » Gesetz «; weder der Eine noch das Andere haben einen unmittelbaren Bezug auf echte Religion; ebenso aber wie er durch jene innere » Umkehr « das sogenannte Gesetz in der That von Grund und Boden aus zu einem neuen Gesetz umbaute, ebenso benutzte er die konkrete Abstraktion des jüdischen Gottes, um der Welt eine durchaus neue Vorstellung von Gott zu geben. Man redet von Anthropomorphismus! Kann denn der Mensch anders handeln und denken als wie ein Anthropos? Diese neue Vorstellung der Gottheit unterschied sich jedoch von anderen erhabenen Intuitionen dadurch, dass das Bild weder mit den schil - lernden Farben des Symbolismus, noch mit dem ätzenden Griffel des Gedankens hingemalt, sondern gewissermassen auf einem Spiegel im innersten Gemüte aufgefangen wurde, Jedem der Augen hat zu sehen, fortan ein unmittelbar eigenes Erlebnis. Sicherlich hätte dieses neue Ideal an keinem anderen Orte aufgestellt werden können, als an jenem einzigen, wo der Gottesgedanke fanatisch festgehalten und zugleich gänzlich unausgebildet geblieben war.

Bisher haben wir das Augenmerk auf dasjenige gerichtet, was Christus vom Judentum trennt oder wenigstens unterscheidet; es wäre einseitig, wollten wir es dabei bewenden lassen. Sowohl sein Schicksal, wie auch die Hauptrichtung seines Denkens ist eng mit echt jüdischem Leben und Charakter verwachsen. Er überragt seine Umgebung, gehört ihr aber doch an. Hier kommen namentlich zwei Grundzüge233Die Erscheinung Christi.des jüdischen Nationalcharakters in Betracht: die geschichtliche Auffassung der Religion und das Vorwiegen des Willens. Diese zwei Züge stehen zu einander in genetischem Zusammenhang, wie wir gleich sehen werden. Der erste hat namentlich das Lebens - schicksal Christi und das Schicksal seines Angedenkens tief beeinflusst, im letzteren wurzelt seine Sittenlehre. Wer an diesen Dingen nicht achtlos vorübergeht, wird Aufschluss über manche der tiefsten und schwierigsten Fragen in der Geschichte des Christentums und über manche der unlösbaren inneren Widersprüche unserer religiösen Tendenzen bis auf den heutigen Tag erhalten.

Von den vielen semitischen Völkerschaften hat eine einzige sichGeschichtliche Religion. als nationale Einheit erhalten, und zwar eine der kleinsten und politisch ohnmächtigsten; dieses kleine Volk hat allen Stürmen ge - trotzt und steht heute als Unikum unter den Menschen da: ohne Vaterland, ohne Oberhaupt, durch die ganze Welt zerstreut, den ver - schiedensten Nationalitäten eingereiht, und dennoch einig und einheits - bewusst. Dieses Wunder ist das Werk eines Buches, der Thora (mit allem was sich im Laufe der Zeit bis hinunter zu unseren Tagen ergänzend hinzufügte). Dieses Buch aber muss als das Erzeugnis einer ganz eigenartigen Volksseele betrachtet werden, welche in einem kritischen Augenblicke von einzelnen zielbewussten, bedeutenden Männern diesen bestimmten Weg gewiesen wurde. In dem zweit - nächsten Kapitel werde ich auf die Entstehung und Bedeutung dieser kanonischen Schriften näher einzugehen haben. Vorderhand will ich einzig darauf die Aufmerksamkeit lenken, dass das Alte Testament ein rein geschichtliches Werk ist. Wenn man von einzelnen späten und im Grunde genommen durchaus unwesentlichen Beigaben, wie den sogenannten Sprüchen Salomo’s, absieht, ist jeder Satz dieser Bücher geschichtlich; auch die ganze Gesetzgebung, die sie enthalten, wird geschichtlich begründet oder knüpft mindestens in chronistischer Weise an geschilderte Vorgänge an: » der Herr redete mit Mose «, Aaron’s Brandopfer wird vom Herrn verzehrt, Aaron’s Söhne werden während der Gesetzesverkündigung getötet u. s. w., u. s. w.; und gilt es etwas zu erfinden, so knüpft der Schreiber entweder an eine romanhafte Erzählung an, wie im Buche Hiob, oder an eine kühne Geschichtsfälschung, wie im Buche Esther. Durch dieses Vor - walten des chronistischen Elementes unterscheidet sich die Bibel von allen anderen bekannten heiligen Büchern. Was es an Religion ent - hält, tritt als Bestandteil einer historischen Erzählung auf, nicht um -234Das Erbe der alten Welt.gekehrt; seine sittlichen Gebote wachsen nicht mit innerer Not - wendigkeit aus den Tiefen des Menschenherzens empor, sondern sind » Gesetze «, die unter bestimmten Bedingungen, an bestimmten Tagen erlassen wurden und jeden Augenblick widerrufen werden konnten. Man werfe einen vergleichenden Blick auf die arischen Inder: oft stiessen ihnen Fragen über den Ursprung der Welt auf, über das Woher und Wohin, nicht jedoch als ein wesentlicher Bestandteil ihrer Seelenerhebung zu Gott; diese Frage nach den Ursachen hat mit ihrer Religion gar nichts zu thun, und anstatt darauf viel Gewicht zu legen, rufen die Hymnensänger fast ironisch aus:

» Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen? Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht, Der sie gemacht hat oder nicht gemacht, Der weiss es! oder weiss auch er es nicht? «1)Rigveda X, 129, 7.

Genau dieselbe Auffassung bekundete Goethe den man den » grossen Heiden « manchmal nennt, mit grösserem Recht jedoch den grossen Arier heissen würde als er die Worte sprach: » Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit «. Ähnlich der deutsche Naturforscher des heutigen Tages: » Im Unendlichen kann kein neues Ende gesucht werden, kein Anfang. So weit wir auch die Ent - stehung zurückschieben mögen, stets bleibt die Frage nach dem Ersten des Ersten, nach dem Anfang des Anfangs offen «. 2)Adolf Bastian, der hervorragende Ethnolog, in seinem Werk: Das Beständige in den Menschenrassen (1868), S. 28.Ganz anders empfand der Jude. Er wusste über die Schöpfung der Welt so genau Bescheid wie heutzutage die wilden Indianer von Südamerika, oder die Australneger. Nicht aber wie bei diesen war es eine Folge der mangelnden Aufklärung, sondern das einsichtstiefe, melancholische Fragezeichen der arischen Hirten durfte niemals einen Platz in seiner Litteratur besitzen; der herrische Wille war es, der es verbot, und der den Skepticismus, der bei einem so hochbegabten Volke nicht ausbleiben konnte (siehe den Koheleth oder Buch des Predigers), sofort durch fanatischen Dogmatismus zurückdrängte. Wer das Heute ganz besitzen will, muss auch das Gestern, aus dem es herauswuchs, umspannen. Der Materialismus scheitert, sobald er nicht konsequent ist; dem Juden lehrte dies ein unfehlbarer Instinkt; und ebenso genau235Die Erscheinung Christi.wie unsere heutigen Materialisten wissen, wie aus Bewegungen der Atome das Denken entsteht, wusste jener, wie Gott die Welt, und dass er aus einem Erdenkloss den Menschen gemacht hatte. Die Schöpfung ist aber das Wenigste; der Jude nahm die Mythologieen, die er auf seinen Reisen kennen lernte, entkleidete sie nach Thunlich - keit des Mythologischen und stutzte sie zu möglichst konkret historischen Geschehnissen zu. 1)» Les mythologies étrangères se transforment entre les mains des Sémites en récits platement historiques « (Renan: Israël, I, 49).Dann erst kommt aber sein Meisterstück: aus dem dürftigen Material, das allen Semiten gemeinsam war,2)Vergl. die Schöpfungsgeschichte des Phöniciers Sanchuniathon. konstruierte der Jude eine ganze Weltgeschichte und brachte sich selbst gleich in den Mittelpunkt; und von diesem Augenblick an, d. h. von dem Augenblick an, wo Jahve mit Abraham den Bund schliesst, bildet das Schicksal Israels die Weltgeschichte, ja, die Geschichte des ganzen Kosmos, das einzige, worum sich der Weltschöpfer kümmert. Es ist, als ob die Kreise immer enger würden; zuletzt bleibt nur der Mittelpunkt, das » ich «; der Wille hat gesiegt. Das war auch in der That nicht das Werk eines Tages; es geschah allmählich; das eigent - liche Judentum, d. h. das Alte Testament in seiner jetzigen Gestalt, hat sich erst bei der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft endgültig geformt und befestigt. 3)Siehe Kap. 5. Als Anhaltspunkt und um die Verschiedenheiten der Anlagen recht drastisch hervortreten zu lassen: etwa 300 Jahre nach Homer, kaum ein Jahrhundert vor Herodot.Und nun wurde, was früher mit unbewusster Genialität geschehen war, bewusst angewandt und aus - gebildet: die Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit der Gegenwart, dergestalt, dass jeder einzelne Augenblick ein Zentrum bildete auf dem schnurgeraden Wege, den das jüdische Volk zu wandeln hatte und von dem es fortan weder nach rechts noch nach links abweichen konnte. In der Vergangenheit göttliche Wunder - thaten zu Gunsten der Juden und in der Zukunft Messiaserwartung und Weltherrschaft, das waren die beiden einander ergänzenden Elemente dieser Geschichtsauffassung. Der vergängliche Augenblick erhielt eine eigentümlich lebendige Bedeutung dadurch, dass man ihn aus der Vergangenheit herauswachsen sah, als Lohn oder als Bestrafung, und ihn in Prophezeiungen genau vorhergesagt glaubte. Hierdurch gewann nun auch die Zukunft eine unerhörte Realität: man schien sie mit Händen zu halten. Waren auch unzählige Ver -236Das Erbe der alten Welt.sprechungen und Vorhersagungen nicht eingetroffen,1)Zum Beispiel gleich als erstes das Versprechen an Abraham: » das Land Canaan will ich dir zu ewiger Besitzung geben. « das konnte immer leicht erklärt werden; der Wille ist nicht einsichtsvoll, er lässt nicht locker was seine Hand hält, und wäre es auch nur ein Phantom; je weniger bisher eingetroffen war, um so reicher erschien die Zukunft; und so Vieles hatte man schwarz auf weiss (namentlich in der Legende des Exodus), dass der Zweifel nicht aufkommen konnte. Was man den Buchstabenglauben der Juden nennt, ist doch ein ganz anderes Ding als der dogmatische Glaube der Christen: es ist nicht ein Glaube an abstrakte, unvorstellbare Mysterien und an allerhand mythologische Vorstellungen, sondern etwas durchaus Konkretes, Ge - schichtliches. Das Verhältnis der Juden zu ihrem Gott ist von Beginn an ein politisches. 2)Vergl. hierzu Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 70 und 133.Jahve verspricht ihnen die Herrschaft der Welt unter gewissen Bedingungen; und ihr Geschichtswerk ist ein solches Wunder kunstreicher Struktur, dass die Juden, trotz des elendesten, jämmerlichsten Schicksals (als Volk), von dem die Welt - annalen zu berichten wissen kaum dass sie ein einziges Mal, unter David und Salomon, ein halbes Jahrhundert relativen Wohlstandes und geordneter Verhältnisse genossen dennoch ihre Vergangenheit in den glühendsten Farben erblicken, überall die schützende Hand Gottes wahrnehmen, ausgebreitet über sein auserwähltes Volk, über die » einzigen Menschen im wahren Sinne «; überall also historische Beweise für die Wahrheit ihres Glaubens, woraus sie dann die Zu - versicht schöpfen, dass das vor vielen Jahrtausenden dem Abraham Verheissene im vollen Umfang noch eintreffen wird. Die göttliche Verheissung aber war, wie gesagt, an Bedingungen geknüpft. Man konnte nicht im Hause herumgehen, nicht essen und trinken, nicht im Felde spazieren, ohne hundert Gebote zu gedenken, von deren Erfüllung das Schicksal der Nation abhing. Wie der Psalmist vom Juden singt (Psalm I, 2):

Jahve’s Gebote sind seine Lust, Bei Tag und bei Nacht sein Gedenken. 3)In der Sippurim betitelten Sammlung jüdischer Volkssagen und Erzählungen wird öfters erwähnt, dass der gewöhnliche (ungelehrte) Jude ausser den zehn Geboten, noch sechshundert und dreizehn Gesetze auswendig zu lernen hat. Der Talmud aber lehrt dreizehntausend sechshundert Gesetze, deren Befolgung göttliches Gebot ist! (siehe Dr. Emanuel Schreiber: Der Talmud vom Standpunkte des modernen Judentums).
237Die Erscheinung Christi.

Unsereiner wirft alle paar Jahre einmal einen Wahlzettel in die Urne; dass sein Leben auch sonst eine nationale Bedeutung besitzt, weiss er kaum oder gar nicht; der Jude konnte es nie vergessen. Sein Gott hatte ihm versprochen: » kein Volk wird dir widerstehen, bis du es vertilgest «, gleich aber hinzugefügt: » Alle Gebote, die ich dir gebiete, sollst du halten! « So war denn Gott dem Bewusstsein ewig gegenwärtig. Ausser materiellem Besitz war dem Juden eigentlich alles verboten; auf Besitz allein war daher sein Sinn gerichtet; und Gott war es, von dem er den Besitz zu erhoffen hatte. Wer nun über die hier nur flüchtig skizzierten Verhältnisse noch niemals nach - gedacht hat, wird sich schwer vorstellen können, welche ungeahnte Lebhaftigkeit der Gedanke an Gott unter diesen Bedingungen gewann. Zwar durfte der Jude sich Gott nicht vorstellen; sein Wirken aber, sein thatsächliches, tägliches Eingreifen in die Geschicke der Welt war gewissermassen eine Sache der Erfahrung; die ganze Nation lebte ja davon; darüber nachzudenken war (wenn nicht in der Diaspora, so doch in Palästina) ihre einzige geistige Beschäftigung.

In dieser Umgebung wuchs Christus auf; aus dieser Umgebung trat er niemals heraus. Dank diesem eigentümlichen historischen Sinn der Juden erwachte er zum Bewusstsein so fern wie möglich dem all - umfassenden arischen Naturkultus und seinem Bekenntnis tat-tvam-asi (das bist auch du), am Herde des eigentlichen Anthropomorphismus, wo die ganze Schöpfung nur für den Menschen da war, und alle Menschen nur für dieses eine auserwählte Volk, also in der unmittel - barsten Gegenwart Gottes und göttlicher Vorsehung. Er fand hier, was er sonst nirgends auf der Welt gefunden hätte: ein vollständiges, fertiges Gerüst innerhalb dessen sein durchaus neuer Gottes - und Religionsgedanke aufgebaut werden konnte. Von dem eigentlichen jüdischen Gedanken blieb, nachdem Jesus gelebt hatte, nichts mehr übrig; wie nach vollendetem Tempelbau, konnte das Gerüst abge - tragen werden. Es hatte aber gedient, und der Bau wäre ohne das Gerüst undenkbar. Der Gott, den man um das tägliche Brot bittet, konnte nur dort gedacht werden, wo ein Gott Einem die Dinge dieser Welt verheissen hatte; um Schuldvergebung konnte man nur den an - flehen, der bestimmte Gebote erlassen hatte Fast befürchte ich aber missverstanden zu werden, wenn ich an dieser Stelle mich auf Einzelnheiten einlasse; es genügt, wenn ich die allgemeine Vor - stellung der so ganz eigenartigen Atmosphäre Judäa’s geweckt habe, woraus dann die Einsicht sich ergeben wird, dass die idealste Religion238Das Erbe der alten Welt.nicht die selbe Lebenskraft besässe, hätte sie nicht an die realste, mate - riellste, ja, wir dürfen ruhig sagen, am meisten materialistische der Welt angeknüpft. Hierdurch, und nicht in Folge seiner angeblich höheren Religiosität, ist das Judentum eine Weltmacht geworden.

Noch deutlicher wird die Sache, sobald man den Einfluss dieses geschichtlichen Glaubens auf das Schicksal Christi betrachtet.

Die gewaltigste Persönlichkeit kann nur dann wirken, wenn sie verstanden wird. Mag dieses Verständnis noch so lückenhaft, mag es sogar häufig direktes Missverständnis sein, irgend eine Gemeinsam - keit des Fühlens und Denkens muss als Verbindungsmittel dienen zwischen dem vereinzelten Grossen und der Menge. Die Tausende, die der Bergpredigt lauschten, verstanden Christum ganz gewiss nicht, wie wäre das denn möglich gewesen? es war ein armes, von ewigem Krieg und Aufruhr schwer bedrücktes, von seinen Priestern systematisch verdummtes Volk; die Macht seines Wortes erweckte aber in den Herzen der Begabteren unter ihnen einen Ton, der sonst an keinem Ort der Erde erklungen wäre: sollte Dieser der Messias sein, der verheissene Erlöser aus unserem Jammer und Elend? Welche uner - messliche Kraft lag nicht in der Möglichkeit einer solchen Vorstellung! Sofort war die flüchtige, unscheinbare Gegenwart mit der fernsten Vergangenheit und mit der unzweifelbarsten Zukunft verknüpft, wo - durch der jetzige Augenblick unvergängliche Bedeutung erhielt. Dass der Messias, den die Juden erwarteten, durchaus nicht den Charakter hatte, noch haben konnte, den wir diesem Begriff beilegen, ist neben - sächlich;1)Selbst ein so orthodox kirchlicher Forscher wie Stanton giebt zu, dass der jüdische Messiasgedanke ein durchaus politischer war (siehe The Jewish and the Christian Messiah, 1886 S. 122 fg., 128 fg., u. s. w.). Man weiss, dass die Theologie sich in letzter Zeit viel mit der Geschichte der Messiasvorstellungen beschäftigt hat. Das Facit für uns Laien ist hauptsächlich der Nachweis, dass die Christen, durch specifisch galiläische und samaritanische Irrlehren dazu verleitet, der Erwartung eines Messias eine Auffassung untergeschoben haben, die sie in Wahrheit für die Juden nie besass. Über die gewaltsamen Deutungen der alten Propheten waren die jüdischen Schriftgelehrten von jeher empört; jetzt wird aber auch von christlicher Seite zuge - geben, dass mindestens die vorexilischen Propheten (und das sind die grössten) von der Erwartung eines Messias nichts wussten (siehe z. B. Paul Volz: Die vorexilische Jahveprophetie und der Messias 1897, als letzte Zusammenfassung); das Alte Testament kennt nicht einmal das Wort, und einer der bedeutenden Theo - logen unserer Zeit, Paul de Lagarde (Deutsche Schriften, S. 53), macht darauf auf - merksam, dass der Ausdruck mâschîach überhaupt kein ursprünglich hebräischer, sondern ein erst spät aus Assyrien oder Babylonien erborgter ist. Besonders auf - der Gedanke war da, der geschichtlich motivierte Glaube,239Die Erscheinung Christi.dass jeden Augenblick ein Retter vom Himmel erscheinen könnte und müsste. An keinem anderen Ort der Erde hätte ein einziger Mensch diese, wenn auch noch so missverständnisvolle Ahnung von der Welt - bedeutung Christi haben können. Der Heiland wäre ein Mensch unter Menschen geblieben. Und insofern finde ich, dass die Tausende, die bald nachher » Kreuzige ihn, kreuzige ihn « schrieen, ebensoviel Ver - ständnis bewiesen, wie diejenigen, die der Bergpredigt andächtig ge - lauscht hatten. Pilatus, sonst ein harter, grausamer Richter, konnte keine Schuld an Christus finden;1)Tertullian macht dazu die reizend naive Bemerkung: » Pilatus war bereits im Herzen Christ! « (Apologeticus, XXI). in Hellas und in Rom wäre dieser als ein heiliger Mann verehrt worden. Der Jude dagegen, der einzig in der Geschichte lebte, dem der » heidnische « Begriff der Sittlich - keit und Heiligkeit fremd war, da er nur ein » Gesetz « kannte, und1)fallend ist denn auch, wie diese Messiaserwartung, wo sie überhaupt vorhanden war, beständig die Gestalt wechselte: ein Mal sollte ein zweiter König David kommen, ein andres Mal zielte die Vorstellung nur auf jüdische Weltherrschaft im Allge - meinen, dann wieder ist es Gott selber mit seinem himmlischen Gericht, » der den bisherigen Gewalthabern auf einen Schlag ein Ende macht und dem Volk Israel unvergängliche Herrschaft, ein allumfassendes Reich giebt, an dem auch die wieder - erweckten Gerechten früherer Zeiten teilnehmen, während die Abtrünnigen zu ewiger Schmach verurteilt werden « (vergl. Karl Müller: Kirchengeschichte, 1, 15) andere Juden wieder streiten, ob der Messias ein Ben-David oder ein Ben-Joseph sein werde, Manche glauben, es würden ihrer Zwei sein, noch Andre sind der An - sicht, er werde in der römischen Diaspora geboren werden; nie und nirgends findet sich aber der Gedanke an einen leidenden, durch seinen Tod erlösenden Messias (siehe Stanton, S. 122 124). Die besten, die gebildetsten und die frömmsten Juden haben sich überhaupt niemals auf derartige apokalyptische Wahn - vorstellungen eingelassen. Im Talmud lesen wir (Sabbath, Abschn. 6): » Es ist zwischen der gegenwärtigen und der messianischen Zeit kein Unterschied, als dass der Druck, unter dem Israel bis dahin schmachtet, aufhört. « (Dagegen sehe man im Traktat Sanhedrin des babylonischen Talmuds, fol. 966 ff., das wüste Durcheinander und die durchgängige Puerilität der messianischen Vorstellungen). Ich meine nun in meinen obigen Ausführungen den Kern der Frage getroffen zu haben: bei einer durchaus historischen Religion wie die jüdische, ist der sichere Besitz der Zukunft eine ebenso unabweisbare Notwendigkeit wie der sichere Besitz der Vergangen - heit; von den frühesten Zeiten an sehen wir diesen Gedanken an die Zukunft die Juden beseelen, er beseelt sie noch heute; je nach den Einflüssen der Umgebung verlieh das phantasiearme Volk seinen Erwartungen verschiedene Formen, wesent - lich ist einzig die felsenfeste Überzeugung, die sie niemals verliess, die Juden würden einmal die Welt beherrschen. Dies ist eben ein Bestandteil ihres Charakters, die sichtbare Hinausprojicierung ihres innersten Wesens. Es ist ihr Ersatz für Mythologie.240Das Erbe der alten Welt.dieses Gesetz wiederum aus ganz praktischen Gründen, nämlich, um Gottes Zorn nicht auf sich zu laden und um seine historische Zu - kunft zu sichern, befolgte, der Jude beurteilte eine Erscheinung wie die Christi rein geschichtlich, und musste mit Recht rasend werden, wenn das ihm verheissene Königreich, um dessen Erhaltung er Jahr - hunderte lang gelitten und geduldet, um dessen Besitz er sich von allen Menschen der Erde geschieden hatte und allen verhasst und ver - ächtlich geworden war, wenn dieses Königreich, wo er alle Nationen in Ketten und alle Fürsten auf den Knieen » staubleckend « vor sich zu erblicken hoffte, nun auf einmal aus einem irdischen umgewandelt werden sollte in ein Reich » nicht von dieser Welt «. Jahve hatte seinem Volke oft versprochen, er werde es » nicht betrügen «; dem Juden musste das aber Betrug dünken. Nicht Einen bloss, Viele haben sie hingerichtet, weil sie für den versprochenen Messias gehalten wurden, oder sich dafür ausgaben. Und mit Recht, denn der Zukunftsglaube war eben so sehr eine Säule ihrer Volksidee wie der Vergangenheitsglaube. Und nun gar diese galiläische Irrlehre! Auf der altgeweihten Stätte des hartnäckigsten Materialismus die Fahne des Idealismus aufzupflanzen! den Gott der Rache und des Krieges in einen Gott der Liebe und des Friedens umzuzaubern! dem stürmischen Willen, der beide Hände nach allem Gold der Erde ausstreckte, zu lehren, er solle das, was er besitze, wegwerfen und im eigenen Innern den vergrabenen Schatz suchen! Das jüdische Synedrium hat tiefer geblickt als Pilatus (und als viele Tausende von christlichen Theologen). Mit vollem Bewusstsein nicht, gewiss nicht, aber mit jenem unfehlbaren Instinkt, den reine Rasse verleiht, ergriff es den, der die historische Grundlage des jüdischen Lebens untergrub, indem er lehrte: » Sorget nicht für den morgigen Tag «, der in einem jeden seiner Worte und Thaten das Judentum in sein Gegenteil verklärte, und liess es ihn nicht wieder aus den Händen, bis er seine Seele aus - gehaucht hatte. Und so nur, durch den Tod, war das Schicksal er - füllt, das Beispiel gegeben. Durch Lehren konnte kein neuer Glaube gestiftet werden; an edlen weisen Sittenlehrern fehlte es damals nicht, keiner hat über die Menschen etwas vermocht; es musste ein Leben gelebt, und dieses Leben sofort als weltgeschichtliche That in die grosse bestehende Weltgeschichte eingereiht werden. Einzig eine jüdische Umgebung entsprach diesen Bedingungen. Und gerade so wie das Leben Christi nur mit Zuhilfenahme des Judentums gelebt werden konnte, trotzdem es seine Verleugnung war, ebenso entwickelte die241Die Erscheinung Christi.junge christliche Kirche eine Reihe von uralten arischen Vorstellungen von der Sünde, der Erlösung, der Wiedergeburt, der Gnade u. s. w. (lauter Dinge, die den Juden gänzlich unbekannt waren und blieben) nunmehr zu klarer und sichtbarer Gestalt, indem sie dieselben in das jüdische historische Schema einfügte. 1)Der Mythus des Sündenfalles steht zwar gleich am Beginn des ersten Buches Mose, jedoch offenbar als Lehngut, da die Juden ihn nie verstanden und er in ihrem System keine Verwendung fand. Wer das Gesetz nicht übertritt, ist nach ihrer Auffassung sündenlos. Ebensowenig hat ihre Erwartung eines Messias irgend etwas mit unserer Vorstellung der » Erlösung « zu thun. Näheres in den Kap. 5 u. 7.Es wird nie gelingen, die Erscheinung Christi von diesem jüdischen Grundgewebe ganz abzu - lösen; versucht wurde es gleich in den ersten christlichen Jahrhunderten, doch ohne Erfolg, da dadurch die tausend Züge, in denen die Persön - lichkeit ihre Eigenart geoffenbart hatte, verwischt wurden und nur eine Abstraktion zurückblieb. 2)Das ist die Tendenz der Gnosis überhaupt; den vollkommen durchdachten, edelsten Ausdruck findet diese Richtung, soweit ich mir ein Urteil zutrauen darf, in Marcion (Mitte des 2. Jahrhunderts), der von dem durchaus neuen des christlichen Ideals so durchdrungen war wie vielleicht kein Religionslehrer seit ihm; gerade an einem solchen Beispiel lernt man aber am deutlichsten einsehen, wie verhängnis - voll es ist, das geschichtlich Gegebene ignorieren zu wollen. (Vergl. jede beliebige Kirchengeschichte. Dagegen muss ich den Wissbegierigen ausdrücklich warnen, dass die drei Zeilen, die Herr Ranke diesem wahrhaft grossen Manne widmet, Weltgeschichte II, 171, nicht ein einziges Wort von dem enthalten, was hier zu sagen war.)

Noch tiefer greift der Einfluss des zweiten Charakterzuges.

Wir haben gesehen, dass das, was ich den historischen InstinktDer Wille bei den Semiten. der Juden nannte, im letzten Grund auf dem Besitz eines abnorm ent - wickelten Willens beruht. Der Wille erreicht beim Juden eine solche Überlegenheit, dass er die übrigen Anlagen bezwingt und beherrscht. Dadurch entsteht nun auf der einen Seite Ausserordentliches, Leist - ungen, wie sie anderen Menschen kaum möglich wären, andrerseits aber eigentümliche Beschränkungen. Gleichviel; sicher ist, dass wir diese selbe Vorherrschaft des Willens bei Christus überall antreffen: häufig unjüdisch in den einzelnen Äusserungen, ganz jüdisch, insofern der Wille fast ausschliesslich betont wird. Dieser Zug greift ungemein tief und verzweigt sich tausendfach, wie ein Aderngeäst, bis in jedes einzelne Wort, bis in jede einzelne Vorstellung. Durch einen Ver - gleich hoffe ich das Gemeinte klar fasslich hinstellen zu können.

Man betrachte die hellenische Vorstellung des Göttlichen und Menschlichen und ihres Verhältnisses zu einander. Einige Götter kämpfenChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 16242Das Erbe der alten Welt.für Troja, andere für die Achaier; indem ich einen Teil der Gottheit mir befreunde, befremde ich mir den andren; das Leben ist ein Kampf, ein Spiel, der Edelste kann zu Grunde gehen, der Jämmerlichste siegen; die Sittlichkeit ist gewissermassen eine persönliche Angelegenheit, seines eigensten Innern ist der Mensch Herr, nicht seines Schicksals; eine sorgende, strafende und belohnende Vorsehung giebt es nicht. Sind doch auch die Götter nicht frei; Zeus selber muss dem Geschicke sich beugen. » Dem bestimmten Verhängnis zu entgehen, ist selbst einem Gotte nicht möglich «, schreibt Herodot. Ein Volk, welches die Ilias erzeugt, wird später grosse Naturforscher und grosse Denker hervor - bringen. Denn wer die Natur mit offenen, durch keine Selbstsucht verblendeten Augen ansieht, wird überall in ihr das Walten des Ge - setzes entdecken; die Gesetzlichkeit auf moralischem Gebiete heisst Schicksal für den Künstler und Prädestination für den Philosophen. Für den treuen Beobachter der Natur ist der Gedanke an Willkür zunächst einfach unfassbar; selbst einem Gotte kann er sich nicht entschliessen, anzudichten, er thue, was er wolle, sondern was er müsse. Schönen Ausdruck verleiht dieser Weltauffassung Here in Goethe’s Achillëis - Fragment:

Willkür bleibet ewig verhasst den Göttern und Menschen, Wenn sie in Thaten sich zeigt, auch nur in Worten sich kundgiebt. Denn so hoch wir auch stehen, so ist der ewigen Götter Ewigste Themis1)Die Themis ist bei uns Modernen zu einer Allegorie der unparteiischen Gerichtspflege herabgesunken, d. h. also eines durchaus willkürlichen Überein - kommens, und wird, bezeichnender Weise, mit verbundenen Augen dargestellt; als die Mythologie noch lebte, bezeichnete sie das Walten des Gesetzes in der gesamten Natur, und die antiken Bildner geben ihr besonders grosse, weit offene Augen! allein, und diese muss dauern und walten.

Dagegen kann der jüdische Jahve als die Inkarnation der Willkür bezeichnet werden. Gewiss tritt uns dieser Gottesbegriff in den Psalmen und in Jesaia überaus grossartig entgegen; er ist auch für sein auserwähltes Volk eine Quelle hoher und ernster Moral. Was Jahve ist, ist er aber, weil er so sein will; er steht über aller Natur, über jedem Gesetz, der absolute, unbeschränkte Autokrat. Gefällt es ihm, ein kleines Völkchen aus der Menschheit herauszuwählen und ihm allein seine Gnade zu erweisen, so thut er es; will er es quälen, so schickt er es in Sklaverei; will er dagegen ihm Häuser schenken,243Die Erscheinung Christi.die es nicht gebaut, Weinberge, die es nicht gepflanzt hat, so thut er es und vernichtet die unschuldigen Besitzer; eine Themis giebt es nicht. Ebenso die göttliche Gesetzgebung. Neben moralischen Ge - boten, die zum Teil hohe Sittlichkeit und Menschlichkeit atmen, stehen direkt unsittliche und unmenschliche,1)Neben den unzähligen göttlich befohlenen Raubzügen mit Massenmord, wo auch » die Köpfe der Kinder gegen die Steine zerschellt « werden sollten, bemerke man die Fälle, wo geboten wird » den Bruder, Freund und Nächsten « meuchelmörderisch zu überfallen (2. Mose XXXII, 27), und auch die Ekel erregenden Befehle, wie Hesekiel IV, 12 15. andere wiederum be - stimmen die trivialsten Dinge: was man essen und was man nicht essen darf, wie man sich waschen soll u. s. w., kurz, überall die unbeschränkte Willkür. Wer tiefer blickt, wird nicht umhin können, hier die Verwandtschaft zwischen dem ursemitischen Götzenkultus und dem Jahveglauben zu erblicken. Von dem indoeuropäischen Standpunkt aus betrachtet, wäre Jahve eigentlich eher ein idealisierter Götze, oder wenn man will, ein Anti-Götze zu nennen als ein Gott. Dafür enthält jedoch diese Gottesauffassung etwas, was ebensowenig wie die Willkür aus der Beobachtung der Natur zu entnehmen war: den Ge - danken an eine Vorsehung! Nach Renan ist » der übertriebene Glaube an eine besondere Vorsehung die Basis der ganzen jüdischen Religion «. 2)Histoire du peuple d’Israël II, S. 111.Ausserdem hängt mit jener Freiheit des Gottes eine andere eng zusammen: die Freiheit des menschlichen Willens. Das liberum arbitrium ist entschieden eine semitische, und in seiner vollen Ausbildung speziell eine jüdische Vorstellung; sie hängt mit der besonderen Gottesidee unzertrennlich zusammen. 3)Mit welchem sehr logischen Fanatismus die Rabbiner bis heute die unbedingte und nicht etwa metaphysisch zu deutende Freiheit des Willens ver - fechten, kann man in jeder Geschichte |des Judentums verfolgen. Diderot sagt: » Les Juifs sont si jaloux de cette liberté d’indifférence, qu’ils s’imaginent qu’il est im - possible de penser sur cette matière autrement qu’eux «. Und wie genau dieser Begriff mit der Freiheit Gottes und mit der Vorsehung zusammenhängt, erhellt aus dem Sturm, den es hervorrief, als Maimonides die göttliche Vorsehung auf die Mensch - heit beschränken wollte und behauptete, nicht jedes Blatt werde durch sie bewegt, nicht jeder Wurm durch ihren Willen erzeugt. Von den sog. » Grundsentenzen « des berühmten Talmudisten Rabbi Akiba lauten die beiden ersten: 1. Alles und Jedes ist von Gottes Vorsehung beaufsichtigt; 2. die Willensfreiheit ist gesetzt (Hirsch Graetz: Gnosticismus und Judentum, 1846, S. 91).Die Freiheit des Willens bedeutet nicht weniger als ewig wiederholte Schöpfungsakte; bedenkt man das, so begreift man, dass diese Annahme (sobald sie16*244Das Erbe der alten Welt.die Welt der Erscheinung betrifft) nicht allein aller physischen Wissen - schaft, sondern auch aller Metaphysik widerspricht und eine Ver - leugnung jeder transcendenten Religion bedeutet. Hier stehen Er - kenntnis und Wille sich schroff gegenüber. Überall nun, wo wir Einschränkungen dieses Freiheitsbegriffes begegnen: bei Augustinus, bei Luther, bei Voltaire, bei Kant, bei Goethe , können wir sicher sein, dass hier eine indoeuropäische Reaktion gegen semitischen Geist stattfindet. So z. B. wenn Calderon in der Grossen Zenobia den wilden, eigenmächtigen Aurelian spotten lässt über Denjenigen

Der den Willen frei genannt.

Denn muss man sich gewiss auch sehr hüten mit derartigen formelhaften Vereinfachungen Missbrauch zu treiben man kann doch die Behauptung aufstellen: der Begriff der Notwendigkeit ist ein in allen indoeuropäischen Rassen besonders stark ausgeprägter, dem man bei ihnen auf den verschiedensten Gebieten immer wieder begegnet: er deutet auf hohe leidenschaftslose Erkenntniskraft; dagegen ist der Begriff der Willkür, d. h. einer unbeschränkten Herrschaft des Willens, für den Juden specifisch charakteristisch: er verrät eine im Verhältnis zum Willen sehr beschränkte Intelligenz. Es handelt sich hier nicht um abstrakte Verallgemeinerungen, sondern um thatsächliche Eigenschaften, die wir noch heute täglich beobachten können; in dem einen Falle wiegt der Gedanke vor, in dem andern der Wille.

Man gestatte mir ein handgreifliches Beispiel aus der Gegenwart. Ich kannte einen jüdischen Gelehrten, der, da in seiner Branche die Konkurrenz wenig Geld verdienen liess, Seifenfabrikant wurde, und zwar mit grossem Erfolg; als aber später auch hier wieder ausländische Konkurrenz ihm den Boden unter den Füssen wegschnitt, da wurde er auf einmal, als Mann in reiferen Jahren, Theaterdichter und Belletrist und erwarb sich dabei ein Vermögen. Von Universalgenie konnte in diesem Falle gar nicht die Rede sein; die intellektuelle Begabung war mässig und jeglicher Orginalität bar; mit diesem Intellekt machte aber der Wille, was er wollte.

Der abnorm entwickelte Wille der Semiten kann zu zwei Extremen führen: in dem einen Fall zur Erstarrung, wie beim Mohammedaner, wo der Gedanke an die unbeschränkte göttliche Willkür vorwiegt; im anderen, wie beim Juden, zur phänomenalen Elasticität, was durch die Vorstellung der eigenen menschlichen Willkür hervorgebracht wird. Dem Indoeuropäer sind beide Wege245Die Erscheinung Christi.versperrt. In der Natur beobachtet er überall Gesetzmässigkeit, und von sich selbst weiss er, dass er nur dann sein Höchstes leisten kann, wenn er der inneren Not gehorcht. Freilich kann auch bei ihm der Wille Heldenthaten vollbringen, nur aber wenn seine Erkenntnis irgend eine Idee erfasst hat eine künstlerische, religiöse, philosophische, oder auch auf Eroberung, Beherrschung, Bereicherung, vielleicht auf Verbrechen hinzielende, gleichviel, bei ihm gehorcht der Wille, er befiehlt nicht. Darum ist auch der Indoeuropäer bei mässiger Be - gabung so eigentümlich charakterlos im Vergleich zum unbegabtesten Juden. Aus eigenen Kräften wären wir gewiss nie zu der Vorstellung eines freien allmächtigen Gottes und einer sozusagen » willkürlichen Vorsehung « gekommen, einer Vorsehung nämlich, die eine Sache so bestimmen kann, und dann, durch Gebete oder andere Beweggründe veranlasst, wieder anders. 1)Nie sind bei Indoeuropäern die Götter » Weltschöpfer «; wo das Göttliche als Schöpfer aufgefasst wird, wie beim Brahman der Inder, so bezieht sich das auf eine rein metaphysische Erkenntnis, nicht auf einen historisch-mechanischen Vorgang, wie in Genesis I; sonst entstehen die Götter » diesseits der Schöpfung «, man redet von ihrer Geburt und von ihrem Tode.Wir sehen nicht, dass man ausserhalb des Judentums auf den Gedanken einer ganz intimen und beständigen persönlichen Beziehung zwischen Gott und Mensch gekommen sei, auf den Gedanken eines Gottes, der, wenn ich so sagen darf, lediglich der Menschen wegen da zu sein scheint. Zwar sind die alten indo - arischen Götter wohlwollende, freundliche, fast gutmütig zu nennende Mächte; der Mensch ist ihr Kind, nicht ihr Knecht; ohne Furcht naht er sich ihnen; beim Opfern » ergreift er des Gottes rechte Hand «;2)Oldenberg: Die Religion des Veda, S. 310. der Mangel an Demut der Gottheit gegenüber hat sogar Manchen entsetzt; doch findet man, wie gesagt, nirgendwo die Vorstellung der willkürlichen Allmacht; und damit hängt eine auffallende Untreue zusammen: man betet bald Diesen, bald Jenen an, oder, wird das Göttliche als ein einheitliches Prinzip aufgefasst, so denkt es sich die eine Schule so, die andere anders (ich erinnere an die sechs grossen philosophisch-religiösen Systeme Indiens, die alle sechs als orthodox galten); das Gehirn arbeitet eben unaufhaltsam weiter, neue Bilder, neue Gestalten erzeugend, das Unbegrenzte ist seine Heimat, die Freiheit sein Element, die Schöpferkraft seine Freude. Man betrachte doch folgenden Anfang eines Hymnus aus dem Rigveda (6, 9):

246Das Erbe der alten Welt.
Das Ohr geht auf, es öffnet sich mein Auge, Das Licht in meinem Herzen wird lebendig! Der Geist in weite Fernen suchend ziehet: Was soll ich sagen? und was soll ich dichten?

und vergleiche ihn mit den ersten Versen irgend eines Psalmes, z. B. des sechsundsiebzigsten:

Gott ist in Juda bekannt, In Israel ist sein Name herrlich; Zu Salem1)Abkürzung für Jerusalem. ist sein Gezelt Und seine Wohnung zu Zion.

Man sieht, welch wichtiges Element des Glaubens der Wille ist. Während der erkenntnisreiche Arier » in weite Fernen suchend ziehet «, lässt der willensstarke Jude Gott sein Gezelt ein für alle Mal in seiner Nähe aufschlagen. Die Wucht seines Willens zum Leben hat dem Juden nicht allein einen Glaubensanker geschmiedet, der ihn festkettet an den Boden der historischen Überlieferung, sondern sie hat ihm auch das unerschütterliche Vertrauen eingeflösst zu einem persönlichen, unmittelbar gegenwärtigen Gott, der allmächtig ist zu geben und zu verderben, und sie hat ihn, den Menschen, in ein moralisches Verhältnis zu diesem Gott gebracht, indem der Gott in seiner Allmacht Gebote erliess, die der Mensch frei ist zu befolgen oder nicht zu befolgen. 2)Wäre hier der Ort dazu, ich würde gern noch näher nachweisen, wie diese jüdische Vorstellung des allmächtigen, als freie Vorsehung waltenden Gottes die historische Auffassung dieses Gottes unabweislich bedingt, und wie so gerade hiergegen immer wieder und immer wieder jede echt arische Erkenntnis sich sträubt. So ist z. B. das ganze tragische Gedankenleben Peter Abälard’s dadurch bedingt, dass er, trotz der heissesten Sehnsucht nach Rechtgläubigkeit, seinen Geist dem jüdischen Religionsmaterialismus nicht anbequemen kann. Immer wieder z. B. kommt er zum Schluss, Gott thue, was er thue, mit Notwendigkeit (wobei er sich auf die früheren Schriften des Augustinus berufen konnte, namentlich auf sein De libero arbitrio): das ist geistiger Antisemitismus in seiner höchsten Potenz! Er leugnet auch jede Handlung, jede Bewegung bei Gott; das Wirken Gottes ist für ihn das Ein - treffen einer ewigen Willensbestimmung; » bei Gott giebt es keine Zeitfolge «! (siehe A. Hausrath: Peter Abälard, S. 201 fg.) Damit verschwindet die Vor - sehung. Übrigens, wozu gelehrte Belege erst suchen; der edle Don Quixote setzt mit rührender Naivetät seinem treuen Sancho auseinander: » für Gott giebt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern alles ist Gegenwart « (Buch IX, Kap. 8): damit bezeichnet der ewig grosse Cervantes kurz und bündig den un - historischen Standpunkt aller Nichtsemiten.

247Die Erscheinung Christi.

Und noch Eins darf in diesem Zusammenhang nicht übergangenProphetismus. werden: die einseitige Vorherrschaft des Willens macht die Chroniken des jüdischen Volkes im Allgemeinen öde und hässlich; in dieser Atmosphäre erwuchs jedoch eine Reihe bedeutender Männer, deren originelle Grösse sie jedem Vergleich mit anderen Geistesheroen ent - zieht. Ich habe dieser » Verneiner « des jüdischen Wesens, die dabei selber so jüdisch von der Sohle bis zum Haupte blieben, dass sie mehr als alles andere zur Ausbildung des starrsten Hebraismus beitrugen, schon in der Einleitung zu diesem Abschnitt gedacht1)S. 47. und komme im zweitnächsten Kapitel auf sie zurück; nur so viel muss hier ge - sagt werden: indem diese Männer den religiösen Materialismus von seiner abstraktesten Seite erfassten, erhoben sie ihn in moralischer Be - ziehung auf eine sehr hohe Stufe; ihr Wirken hat der Auffassung Christi in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in wesentlichen Punkten historisch vorgearbeitet. Ausserdem spricht sich bei ihnen ein wichtiger Zug am deutlichsten aus, der ganz und gar im Wesen des Judentums begründet liegt: die historische Religion dieses Volkes legt den Nachdruck nicht auf den Einzelnen, sondern auf die ganze Nation; der Einzelne kann der Gesamtheit nützen oder schaden, sonst aber ist er unwichtig; daraus folgte mit Notwendigkeit ein ausgesprochen sozialistischer Zug, der in den Propheten oft gewaltigen Ausdruck findet. Der Einzelne, der zu Glück und Reich - tum gelangt, während seine Brüder darben, ist von Gott verflucht. Wenn nun Christus in einer Beziehung das genau entgegengesetzte Prinzip vertritt, dasjenige nämlich des extremen Individualismus, der Erlösung des Einzelnen durch Wiedergeburt, so deutet andrerseits sein Leben und sein Lehren unverkennbar auf einen Zustand, der nur durch die Gemeinsamkeit verwirklicht werden kann. Der Kommunis - mus des » Eine Herde und Ein Hirt « ist gewiss ein andrer als der ganz und gar politisch gefärbte, theokratische Kommunismus der Propheten; wiederum ist jedoch der Untergrund ein ausschliesslich und charakteristisch jüdischer.

Mag man nun über diese verschiedenen jüdischen VorstellungenChristus ein Jude. denken wie man will, Grösse wird ihnen Niemand absprechen, noch die Fähigkeit auf die Gestaltung des menschlichen Lebens eine fast unermessliche Wirkung auszuüben. Es wird auch Niemand leugnen, dass der Glaube an die göttliche Allmacht, an die göttliche Vorsehung,248Das Erbe der alten Welt.und auch an die Freiheit des menschlichen Willens,1)Letzterer allerdings, wie es scheint, mit bedeutenden Einschränkungen, da der arische Gedanke der Gnade bei Christus mehr als einmal deutlich auftritt. sowie die fast ausschliessliche Betonung der moralischen Natur der Menschen und ihrer Gleichheit vor Gott (» die Letzten werden die Ersten sein «), Grundpfeiler der Persönlichkeit Christi bilden. Weit mehr als das Anknüpfen an die Propheten, weit mehr auch als seine Achtung vor den jüdischen Gesetzesvorschriften, lassen uns diese Grundanschauungen Christum als moralisch zu den Juden gehörig erkennen. Ja, wenn wir sehr tief hinabsteigen, bis zu jenem Mittelpunkt der Erscheinung Christi, der Umkehr des Willens, so müssen wir erkennen und ich habe es am Anfang dieses Kapitels in dem Vergleich mit Buddha schon angedeutet dass hier ein Jüdisches vorliegt, im Gegensatz zur arischen Verneinung des Willens. Letztere ist eine Frucht der Erkenntnis, der übergrossen Erkenntnis; Christus dagegen wendet sich an Menschen, bei denen der Wille übermächtig ist, nicht der Gedanke; was er um sich erblickt, ist der unersättliche, ewig gierige, ewig beide Hände nach aussen ausstreckende jüdische Wille, er erkennt die Macht dieses Willens und gebietet ihm nicht Schweigen, sondern eine andere, neue Richtung. Hier muss man sagen: Christus ist ein Jude, und seine Erscheinung kann nur ver - standen werden, wenn wir diese speziell jüdischen Anschauungen, die er vorfand und sich zu eigen machte, kritisch begreifen gelernt haben.

Ich sagte soeben, Christus gehöre » moralisch « zu den Juden. Dieses ziemlich zweideutige Wort » Moral « muss hier in einer engeren Bedeutung gefasst werden. Denn gerade in der moralischen An - wendung dieser Vorstellungen von Gottes Allmacht und Vorsehung, von den daraus folgenden unmittelbaren Beziehungen zwischen dem Menschen und der Gottheit und von dem Gebrauch des freien mensch - lichen Willens wich der Heiland in toto von den Lehren des Judentums ab; das liegt Jedem offen dar und ich habe es ausserdem im Vorher - gehenden deutlich fühlbar zu machen gesucht; die Vorstellungen selbst aber, der Rahmen, in welchen die moralische Persönlichkeit sich ein - fügte und aus welchem sie nicht herausgelöst werden kann, die fraglose Annahme dieser Voraussetzungen, Gott und den Menschen betreffend, welche dem menschlichen Geist durchaus nicht ohne Weiteres zu eigen sind, sondern im Gegenteil die ganz individuelle Errungenschaft eines249Die Erscheinung Christi.bestimmten Volkes im Laufe einer Jahrhunderte währenden geschicht - lichen Entwickelung darstellen: das ist das Jüdische in Christus. Schon in den Kapiteln über hellenische Kunst und römisches Recht machte ich auf die Macht der Ideen aufmerksam; hier haben wir wieder ein leuchtendes Beispiel davon. Wer in der jüdischen Ge - dankenwelt lebte, konnte sich der Macht jüdischer Ideen nicht ent - ziehen. Und brachte er auch der Welt eine ganz neue Botschaft, wirkte auch sein Leben wie das Anbrechen eines neuen Morgens, war seine Persönlichkeit auch eine so göttlich grosse, dass sie uns eine Kraft im menschlichen Innern entdeckte, fähig wenn das je begriffen würde die Menschheit völlig umzuwandeln: so waren doch nichtsdestoweniger die Persönlichkeit, das Leben und die Botschaft an die grundlegenden Ideen des Judentums gebunden; nur in diesen konnten sie sich offenbaren, bethätigen und kundthun.

Ich hoffe, mein Zweck wird erreicht sein. Von der BetrachtungDas 19. Jahr - hundert. der Persönlichkeit in ihrer individuellen, autonomen Bedeutung aus - gehend, habe ich nach und nach den Kreis erweitert, um die Lebens - fäden aufzuzeigen, die sie mit der Umgebung verbinden. Hierbei war eine gewisse Ausführlichkeit unentbehrlich; den einzigen Gegenstand dieses Buches, die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, habe ich jedoch nicht einen Moment aus den Augen verloren. Denn wie sollte ich, Einzelner, mich chronistisch oder encyklopädisch an unser Säculum heranwagen? Die Musen mögen mich vor einem derartigen Wahn - witz bewahren! Dagegen soll ich versuchen, den leitenden Ideen, den bildenden Gedanken unserer Zeit soweit möglich auf die Spur zu kommen; diese Ideen fallen aber nicht vom Himmel herab, sondern knüpfen an Vergangenes an; neuer Wein wird gar oft in alte Schläuche gegossen, und uralter, sauerer Wein, den kein Mensch kosten würde, wenn er dessen Ursprung kennte, in funkelnagelneue; überhaupt lastet auf einer so spätgeborenen Kultur wie der unseren, noch dazu in einer Zeit der atemlosen Hast, wo die Menschen zu viel lernen müssen, um viel denken zu können, der Fluch der Konfusion. Wollen wir Klarheit über uns selber gewinnen, so müssen wir vor allem in den Grundgedanken und - Vorstellungen klar sehen, die wir von den Alt - vordern geerbt haben. Wie äusserst verwickelt das hellenische Erbe, wie eigentümlich widerspruchsvoll das römische, zugleich wie tief ein - greifend in unser heutiges Leben und Denken, hoffe ich recht fühlbar250Das Erbe der alten Welt.gemacht zu haben. Jetzt sahen wir, dass auch die Erscheinung Christi, welche auf der Schwelle zwischen Alt - und Neuzeit steht, durchaus nicht in so einfacher Gestalt unserem ferngerückten Auge sich bietet, dass wir sie leicht aus dem Labyrinth der Vorurteile und Lügen und Irrtümer herausschälen könnten. Und doch ist nichts nötiger, als gerade diese Erscheinung deutlich und wahrheitstreu zu erblicken. Denn wie unwürdig wir uns dessen auch erweisen mögen unsere gesamte Kultur steht, gottlob! noch unter dem Zeichen des Kreuzes auf Golgatha. Wir sehen wohl dieses Kreuz; wer aber sieht den Gekreuzigten? Er aber, und Er allein, ist der lebendige Born alles Christentums, sowohl des intolerant Dogmatischsten wie auch des durchaus ungläubig sich Gebenden. Dass man das hat bezweifeln können, dass unser Jahrhundert sich von Büchern genährt hat, in denen dargethan wurde, das Christentum sei so von ungefähr ent - standen, aus Zufall, als mythologische Anwandlung, als » dialektische Antithese «, was weiss ich alles, oder wiederum als notwendiges Erzeugnis des Judentums u. s. w., das wird späteren Zeiten ein beredtes Zeugnis für die Kindlichkeit unseres Urteils abgeben. Die Bedeutung des Genies kann gar nicht hoch genug geschätzt werden: wer erkühnt sich, den Einfluss Homer’s auf den Menschengeist zu berechnen? Christus aber war grösser. Und wie das » ewige Hausfeuer « der Arier, kann auch die Wahrheitsleuchte, die Er uns anzündete, nie mehr ver - löschen; mag auch zu Zeiten ein Schatten der Nacht die Menschheit weithin umfinstern, es genügt ein einziges glühendes Herz, damit von Neuem Tausende und Millionen taghell aufflammen. Hier jedoch gerade kann man mit Christus fragen: » Wenn aber das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie gross wird dann die Finsternis selber sein? « Schon die Entstehung der christlichen Kirche führt uns in tiefste Finsternis hinein, und ihre weitere Geschichte macht uns mehr den Eindruck eines Herumtappens im Dunkeln als eines sonnigen Sehens. Wie sollen wir also unterscheiden können, was in dem sogenannten Christentum Geist von Christi Geist ist und was dagegen als hellenische, jüdische, römische, ägyptische Zuthat hinzukam, wenn wir nie gelernt haben, diese Erscheinung selbst in ihrer erhabenen Einfachheit zu erblicken? Wie sollen wir über das Christliche in unseren heutigen Konfessionen, in unseren Litteraturen und Künsten, in unserer Philo - sophie und Politik, in unseren sozialen Einrichtungen und Idealen reden, wie sollen wir Christliches von Antichristlichem trennen, und mit Sicherheit beurteilen können, was in den Bewegungen unseres251Die Erscheinung Christi.Jahrhunderts auf Christus zurückzuführen ist, was nicht, oder auch inwiefern es christlich ist, ob in der blossen Form oder auch dem Inhalt nach, oder vielleicht dem Inhalt, d. h. der allgemeinen Tendenz nach, nicht aber in Bezug auf die charakteristische jüdische Form, wie sollen wir vor allem dieses für unseren Geist so drohend gefähr - liche, spezifisch Jüdische von dem » Brot des Lebens « zu sondern und zu sichten verstehen, wenn nicht die Erscheinung Christi in ihren allgemeinen Umrissen uns klar vor Augen steht, und wenn wir nicht imstande sind, an diesem Bilde das rein Persönliche von dem Historisch - bedingten deutlich zu unterscheiden? Gewiss ist das eine wichtigste, unentbehrlichste Grundlage für viele Urteile und Einsichten.

Das in bescheidenem Masse anzubahnen, war der Zweck dieses Kapitels.

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ABSCHNITT II DIE ERBEN

Der hohe Sinn, das Rühmliche Von dem Gerühmten rein zu unterscheiden. Goethe.
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EINLEITENDES.

Wer trat das Erbe des Altertums an? Diese Frage ist mindestens ebenso gewichtig wie die nach der Erbschaft selbst und womöglich noch verwickelter. Denn sie führt uns in das Studium der Rassen - probleme hinein, Probleme, welche die Wissenschaft des letzten Vierteljahrhunderts nicht gelöst, sondern im Gegenteil in ihrer vollen Unentwirrbarkeit aufgedeckt hat. Und doch hängt jedes wahre Ver - ständnis unseres Jahrhunderts von der klaren Beantwortung dieser Frage ab. Hier heisst es also zugleich kühn und vorsichtig sein, wollen wir der Mahnung meines Vorwortes eingedenk bleiben und zwischen jener Scylla einer fast unerreichbaren und in ihren bis - herigen Ergebnissen höchst problematischen Wissenschaft und der Charybdis unstatthafter, grundloser Verallgemeinerungen sicher hin - durchsteuern. Die Not zwingt uns, das Wagnis zu unternehmen.

Rom hatte den Schwerpunkt der Civilisation nach Westen verlegt. Dies erwies sich als eine jener unbewusst vollzogenen welt - historischen Thaten, die durch keine Gewalt rückgängig gemacht werden können. Der von Asien abgewandte Westen Europas sollte der Herd aller ferneren Civilisation und Kultur sein. Das geschah aber nur nach und nach. Zunächst war es lediglich die Politik, die sich immer mehr nach Westen und nach Norden wandte; geistig blieb Rom selbst lange in starker Abhängigkeit vom früheren östlichen Kulturzentrum. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung kommt ausser Rom nur was südlich und östlich von ihm gelegen ist, in geistiger Beziehung in Betracht: Alexandria, Ephesus, Antiochia, überhaupt Syrien, dann Griechenland mit Byzanz, sowie Karthago und die übrigen Städte aus der Africa vetus, das sind die Gegenden, wo die Erbschaft angetreten und lange verwaltet wurde, deren Einwohner sie späteren Zeiten und anderen Völkern übermittelten. Und gerade256Die Erben.diese Länder waren damals wie Rom selbst nicht mehr von irgend einem bestimmten Volke bewohnt, sondern von einem unentwirrbaren Durcheinander der verschiedensten Rassen und Völker. Es ist ein Chaos. Und dieses Chaos ist nicht etwa später vernichtet worden. An vielen Orten durch vordringende reine Rassen zurückgedrängt, an anderen durch seine eigene Charakterlosigkeit und Untüchtigkeit aus den Reihen der Mitzurechnenden herausgefallen, hat sich zweifels - ohne dieses chaotische Element doch im Süden und Osten erhalten; durch neue Mischungen wurde es ausserdem häufig wieder gestärkt. Das ist ein erster Punkt von weittragender Wichtigkeit. Man bedenke zum Beispiel, dass alle Grundlagen zur historischen Gestaltung des Christentums von dieser Mestizenbevölkerung gelegt und ausgebaut wurden! Mit Ausnahme einiger Griechen (die aber auch alle, Origenes an der Spitze, höchst unorthodoxe, direkt anti-jüdische Lehren ver - breiteten, mit denen sie nicht durchdrangen),1)Origenes zum Beispiel war ausgesprochener Pessimist (im metaphysischen Sinne des Wortes), wodurch allein schon er seine indoeuropäische Rasse dokumentiert; er sah in der Welt überall Leiden, und zog daraus den Schluss, ihr Hauptzweck sei nicht der Genuss eines gottgeschenkten Glückes, sondern die Abwendung eines Übels (man denke an die Hauptlehre Christi von der » Umwendung des Willens «, vergl. S. 200). Augustinus, der afrikanische Mestize, hatte leichtes Spiel, ihn zu widerlegen; er berief sich auf das erste Kapitel des ersten Buches der jüdischen Thora, um unwiderlegbar darzuthun, alles sei gut und » die Welt bestehe aus keinem anderen Grunde, als weil es einem guten Gotte gefallen habe, das absolut Gute zu schaffen «. (Man sehe die höchst lehrreiche Auseinandersetzung im De civitate Dei, Buch XI, Kap. 23.) Augustinus führt hier triumphierend noch ein zweites Argument an: wenn Origenes Recht hätte, so müssten die sündhaftesten Wesen die schwersten Körper besitzen und die Teufel müssten sichtbar sein, nun haben aber die Teufel luftartige, unsichtbare Körper, folglich u. s. w. So siegten Gedanken des Chaos über metaphysische Religion! (Ganz buchstäblich dieselben Argumente findet man in dem Führer der Irrenden des Juden Maimuni.) könnte man von kaum einem Kirchenvater auch nur vermuten, welchem Volksstamme er der Hauptsache nach angehörte. Dasselbe gilt für das corpus juris; auch hier war es das Chaos (nach hellenischer Vorstellung die Mutter des Erebos und der Nyx, der Finsternis und der Nacht), welchem die Aufgabe zufiel, das lebendige Werk eines lebendigen Volkes zu einem internationalen Dogma aus - und umzuarbeiten. Unter dem nämlichen Einfluss wurde die Kunst immer mehr des persönlichen freischöpferischen Momentes beraubt und zu einer hieratisch-formel - haften Übung umgewandelt, und an die Stelle der hohen, philo - sophischen Spekulation der Hellenen schob man deren Nachäffung,257Einleitendes.den kabbalistischen Spuk der Demiurgen und Engel und Dämonen, lauter Vorstellungen, die man im besten Falle als » luftigen Materialismus « bezeichnen könnte. 1)» Luftiges Gesindel «, sagt Bürger in seiner » Leonore «.Jenem Völkerchaos müssen wir also zunächst unsere Aufmerksamkeit schenken.

In seiner Mitte ragt, wie ein scharfgeschnittener Fels aus gestalt - losem Meere, ein einziges Volk empor, ein ganz kleines Völkchen, die Juden. Dieser eine einzige Stamm hat als Grundgesetz die Reinheit der Rasse aufgestellt; er allein besitzt daher Physiognomie und Charakter. Blickt man auf jene südlichen und östlichen Kultur - stätten des in Auflösung begriffenen Weltreiches, lässt man das prüfende Auge durch keine Sympathien und Antipathien irre - geleitet werden, so muss man sagen, als Nation verdient damals die jüdische allein Achtung. Wohl mögen wir auf dieses Volk das Wort Goethe’s anwenden: » Glaube weit, eng der Gedanke «. Im Ver - hältnis zu Rom und gar erst zu Hellas erscheint uns sein geistiger Horizont so eng, seine geistigen Fähigkeiten so beschränkt, dass wir eine durchaus andere Wesensgattung vor uns zu haben wähnen; was jedoch dem Gedanken an Weite und an schöpferischer Befähigung abgehen mag, wird durch die Gewalt des Glaubens reichlich auf - gewogen, eines Glaubens, den man zunächst sehr einfach bestimmen könnte: es ist der Glaube an sich. Und da dieser Glaube an sich den Glauben an ein höheres Wesen einschloss, so entbehrte er nicht einer ethischen Bedeutung. Wie armselig das jüdische » Gesetz « sich auch ausnehmen mag, wenn man es mit den religiösen Schöpfungen der verschiedenen indoeuropäischen Völker vergleicht, einen Vorzug besass es im damaligen verfallenen römischen Reich ganz allein: es war eben ein Gesetz; ein Gesetz, dem Menschen demütig gehorchten, und gerade dieser Gehorsam musste in einer Welt der Zügellosigkeit ethisch von grosser Wirkung sein. Hier wie überall werden wir finden, dass der Einfluss des Juden zum Guten und zum Bösen in seinem Charakter, nicht in seinen geistigen Leistungen begründet liegt. 2)Siehe S. 241 fg.Gewisse Historiker unseres Jahrhunderts, sogar ein geistig so bedeutender wie Graf Gobineau, haben die Ansicht vertreten, das Judentum wirke stets lediglich auflösend auf alle Völker. Ich kann diese Überzeugung nicht teilen. Zwar, wo die Juden in einem fremden Lande sich stark vermehren, da mögen sie es sich angelegen seinChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 17258Die Erben.lassen, die Verheissungen ihrer Propheten zu erfüllen, und nach bestem Wissen und Gewissen » die fremden Völker zu fressen «; sagten sie doch schon zu Lebzeiten des Moses von sich selbst, sie seien » als wie die Heuschrecken «; man muss aber das Judentum von den Juden trennen und zugeben, dass das Judentum, als Idee, zu den konservativsten Gedanken der Welt gehört. Der Begriff der physischen Rasseneinheit und - reinheit, welcher den Kern des Judentums aus - macht, bedeutet die Anerkennung einer grundlegenden physiologischen Thatsache des Lebens; wo immer wir auch Leben beobachten, vom Schimmelpilz bis zum edlen Rosse, bemerken wir die Bedeutung der » Rasse «: das Judentum heiligte dieses Naturgesetz. Darum drang es auch in jenem kritischen Augenblick der Weltgeschichte, wo eine reiche Erbschaft ohne würdige Erben dastand, siegreich durch. Es beförderte nicht die allgemeine Auflösung, im Gegenteil, es gebot ihr Einhalt. Das jüdische Dogma war wie eine scharfe Säure, die man in eine in Zersetzung geratene Flüssigkeit giesst, um sie zu klären und vor dem weiteren Verfaulen zu bewahren. Mag auch diese Säure nicht Jedem munden, sie hat in der Geschichte der Kulturepoche, zu der wir gehören, eine so entscheidende Rolle ge - spielt, dass wir dem Spender Dankbarkeit schulden und anstatt un - willig zu sein, besser thun werden, uns Klarheit zu verschaffen über die Bedeutung dieses Eintrittes der Juden in die abendländische Geschichte für unsere ganze noch im Werden begriffene Kultur jedenfalls ein Ereignis von unmessbarer Tragweite.

Ein Wort noch zur Erläuterung. Ich rede von Juden, nicht von Semiten im Allgemeinen; nicht weil ich die Rolle der Letzteren in der Weltgeschichte verkenne, sondern weil meine Aufgabe zeitlich und räumlich beschränkt ist. Zwar hatten schon seit vielen Jahr - hunderten andere Zweige der semitischen Rasse mächtige Reiche an den Süd - und Ostküsten des Mittelländischen Meeres und Handels - niederlassungen bis an die Küsten des Atlantischen Ozeans gegründet; zweifelsohne hatten sie auch manche Anregungen vermittelt und manche Kenntnisse und Fertigkeiten verbreitet; zu einer näheren geistigen Berührung zwischen ihnen und den übrigen Einwohnern des zukünftigen Europa war es jedoch nirgends gekommen. Das geschah erst durch die Juden; nicht aber durch die Millionen von Juden, die in der Diaspora lebten, sondern erst durch die christliche Idee. Erst als die Juden Christum an das Kreuz schlugen, brachen sie, unwissend, den Bann, der sie bisher in ignorantem Hochmut259Einleitendes.isoliert hatte. Später freilich stürzte noch einmal eine semitische Flut über die europäische, asiatische und afrikanische Welt, eine Flut, wie sie, ohne die Vernichtung Karthagos durch Rom, schon tausend Jahre früher und dann auf immer entscheidend Europa überschwemmt haben würde. 1)Siehe S. 137.Auch hier wieder bewährte sich die semitische » Idee « Glaube weit, eng der Gedanke als viel mächtiger denn ihre Träger; die Araber wurden nach und nach zurückgeworfen, im Gegensatz zu den Juden verblieb kein einziger auf europäischem Boden; doch wo ihr abstrakter Götzendienst2)Siehe S. 243. Fuss gefasst hatte, schwand jede Möglichkeit einer Kultur; edle Menschenrassen wurden durch das semitische Dogma des Materialismus, das sich in diesem Falle, und im Gegensatz zum Christentum, frei von allen arischen Beimischungen erhalten hatte, für immer entseelt und aus dem » ins Helle strebenden Geschlecht « ausgeschlossen. Von den Semiten haben, wie man sieht, einzig die Juden an unserer Kultur positiv mitgearbeitet und auch, so weit ihr sehr assimilationsfähiger Geist es ihnen erlaubte, sich als Erben an dem Vermächtnis des Altertums beteiligt.

Den Widerpart zu der Verbreitung dieses winzigen und doch so einflussreichen Völkchens bildet der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. Auch hier sehen wir, was reine Rasse zu bedeuten hat, zugleich aber auch, was Verschiedenheit der Rassen ist jenes grosse Naturprinzip der Vielfältigkeit, sowie der Un - gleichheit in den Anlagen, welches heute fade, feile und ignorante Schwätzer wegleugnen möchten, dem Völkerchaos entsprossene Sklaven - seelen, denen einzig im Urbrei der Charakter - und Individualitätlosigkeit wohl zu Mute ist. Noch immer stehen sich diese beiden Mächte Juden und Germanen dort, wo das neuerliche Umsichgreifen des Chaos ihre Züge nicht verwischt hat, bald freundlich, bald feindlich, stets fremd gegenüber.

Ich verstehe in diesem Buche unter dem Wort » Germanen « die verschiedenen nordeuropäischen Völkerschaften, die als Kelten, Germanen und Slaven in der Geschichte auftreten und aus denen meist in unentwirrbarer Vermengung die Völker des modernen Europa entstanden sind. Dass sie ursprünglich einer einzigen Familie entstammten, ist sicher, ich werde im sechsten Kapitel den Nachweis17 *260Die Erben.führen; doch hat sich der Germane im engeren, taciteischen Sinne des Wortes so sehr als geistig, sittlich und physisch unter seinen Ver - wandten hervorragend bewährt, dass wir berechtigt sind, seinen Namen als Inbegriff der ganzen Familie hinzustellen. Der Germane ist die Seele unserer Kultur. Das heutige Europa, weithin über den Erdball verzweigt, stellt das bunte Ergebnis einer unendlich mannig - faltigen Vermischung dar: was uns alle aneinander bindet und zu einer organischen Einheit verknüpft, das ist germanisches Blut. Blicken wir heute umher, wir sehen, dass die Bedeutung einer jeden Nation als lebendige Kraft von dem Verhältnis des echt germanischen Blutes in seiner Bevölkerung abhängt. Nur Germanen sitzen auf den Thronen Europas. Was in der Weltgeschichte voranging, sind für uns Prolegomena; wahre Geschichte, die Geschichte, welche heute noch den Rhythmus unseres Herzens beherrscht und in unseren eigenen Adern zu fernerem Hoffen und Schaffen kreist, beginnt in dem Augenblick, wo der Germane das Erbe des Altertums mit kraft - strotzender Hand ergriff.

[261]

VIERTES KAPITEL DAS VÖLKERCHAOS

So viel ist wohl mit Wahrscheinlichkeit zu urteilen: dass die Vermischung der Stämme, welche nach und nach die Charaktere auslöscht, dem Menschen - geschlecht, alles vorgeblichen Philanthro - pismus ungeachtet, nicht zuträglich sei. Immanuel Kant.
[262][263]

Zur allgemeinen Einführung in dieses Kapitel über das Völker -Wissenschaft - liche Wirrnis. chaos des untergehenden römischen Imperiums werden die Worte genügen, die ich dem Gegenstand desselben in der Einleitung zum zweiten Abschnitt gewidmet habe; sie erklären, was ich räumlich und zeitlich als Völkerchaos bezeichne. Die historischen Kenntnisse setze ich, mindestens in den allgemeinsten Umrissen, hier wie überall, voraus, und da ich nun ausserdem in diesem ganzen Buche kein Wort schreiben möchte, das nicht aus dem Bedürfnis entspränge, unser 19. Jahrhundert besser zu begreifen und zu beurteilen, so glaube ich den vorliegenden Gegenstand vor Allem zu der Prüfung und Beantwortung der wichtigsten Frage benützen zu sollen: ist Nation, ist Rasse ein blosses Wort? Soll, wie der Ethnograph Ratzel es beteuert, die Verschmelzung aller Menschen in eine Einheit als » Ziel und Aufgabe, Hoffnung und Wunsch « uns vorschweben? oder entnehmen wir nicht vielmehr aus dem Beispiel, einerseits von Hellas und Rom, anderseits vom pseudorömischen Imperium, sowie aus manchen anderen Beispielen der Geschichte, dass nur innerhalb jener Abgrenzungen, in denen scharf ausgeprägte, individuelle Volks - charaktere entstehen, der Mensch sein höchstes Mass erreicht? Ist wirklich unser jetziger Zustand in Europa, mit unseren vielen, durch - gebildeten Idiomen, ein jedes mit seiner eigenen, eigenartigen Poesie und Litteratur, ein jedes der Ausdruck einer bestimmten, charakteristischen Volksseele, ist dieser Zustand ein Rückschritt gegenüber der Zeit, wo Lateinisch und Griechisch als eine Art Zwillingsvolapük die vaterlandslosen, römischen Unterthanen alle miteinander verbanden? Ist Blutsgemeinschaft nichts? kann Gemeinsamkeit der Erinnerung und des Glaubens durch abstrakte Ideale ersetzt werden? Vor allem, ist dies Alles eine Sache des persönlichen Gutdünkens, und liegt kein deutlich erkennbares Naturgetz vor, nach welchem unser Urteil sich richten muss? Lehren uns nicht die biologischen Wissenschaften, dass im gesamten Tier - und Pflanzenreich, ausnehmend edle Ge -264Die Erben.schlechter das heisst also, Geschlechter mit ungewöhnlichen Leibes - und Geisteskräften begabt nur unter bestimmten, die Zeugung neuer Individuen beschränkenden Bedingungen entstehen? Ist es nicht unter Berücksichtigung dieser sämtlichen, menschlichen und ausser - menschlichen Phänomene möglich, eine klare Antwort auf die Frage zu erhalten: Was ist Rasse? und wird sich nicht aus dem Bewusstsein dessen, was Rasse ist, dann ohne Weiteres ergeben, was das Fehlen bestimmter Rassen für die Geschichte bedeuten muss? Zu allen diesen Fragen regt der Anblick jener unmittelbaren Erben des grossen Vermächtnisses lebhaft an. Fragen wir zunächst nach Rassen ganz im Allgemeinen; daran erst wird sich eine nutzbringende Betrachtung der hier speziell vorliegenden Verhältnisse und ihrer Bedeutung im Gange der Geschichte, somit auch für unser Jahrhundert knüpfen.

Vielleicht giebt es keine Frage, über die selbst bei hochgebildeten, ja gelehrten Männern eine so mitternächtliche Unwissenheit herrscht, wie über das Wesen und die Bedeutung des Begriffes » Rasse «. Was sind reine Rassen? woher kommen sie? haben sie geschichtlich etwas zu bedeuten? Ist der Begriff weit oder eng zu nehmen? Weiss man etwas darüber oder nichts? Wie verhalten sich die Begriffe Rasse und Nation zu einander? Ich gestehe, mein Leben lang über alle diese Dinge lauter Unzusammenhängendes, Widerspruchsvolles gehört und gelesen zu haben, ausser von einigen Specialisten unter den Natur - forschern, die aber nur in den seltensten Fällen ihr klares, ausführliches Wissen auf das Menschengeschlecht anwenden. Kein Jahr vergeht, ohne dass uns auf internationalen Kongressen von tonangebenden National - ökonomen, Ministern, Bischöfen, Naturforschern, versichert werde, es gäbe zwischen den Völkern keinen Unterschied, keine Ungleichheit. Germanen, die auf das Moment der Rassenverwandtschaft Nachdruck legen, Juden, die unter uns sich fremd fühlen und in ihre asiatische Heimat sich zurücksehnen, pflegen gerade von Männern der Wissen - schaft mit Tadel und Hohn überschüttet zu werden. Professor Virchow zum Beispiel sagt1)Der Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter, Rektoratsrede 1893, S. 30 fg. Ich wähle dieses eine Beispiel aus hunderten, weil Virchow als einer der fleissigsten Anthropologen und Ethnographen unseres Jahrhunderts, auch sonst ein vielerfahrener und gelehrter Mann, hier eigentlich hätte Bescheid wissen müssen. von den Regungen des Stammesbewusstseins unter uns, sie seien nur durch den » Verlust des gesunden Menschenverstandes « zu erklären; im Übrigen stünde man » ratlos vor einem Rätsel, von265Das Völkerchaos.dem Niemand weiss, was es eigentlich soll in dieser Zeit der Rechts - gleichheit! « Nichtsdestoweniger schliesst der gelehrte Mann seinen Vortrag mit dem Wunsche nach » in sich selbst ruhenden, schönen Persön - lichkeiten! « Als ob die gesamte Geschichte nicht da wäre, um uns zu zeigen, wie Persönlichkeit und Rasse auf das Engste zusammenhängen, wie die Art der Persönlichkeit durch die Art ihrer Rasse bestimmt wird, und die Macht der Persönlichkeit an gewisse Bedingungen ihres Blutes geknüpft ist! Und als ob die wissenschaftliche Tier - und Pflanzenzüchtung uns nicht ein ungeheuer reiches und zuverlässiges Material böte, an dem wir sowohl die Bedingungen wie auch die Bedeutung von » Rasse « kennen lernen. Entstehen die sogenannten (und mit Recht so genannten) » edlen « Tierrassen, die Zugpferde vom Limousin, die amerikanischen Traber, die irischen Renner, die absolut zuverlässigen Jagdhunde durch Zufall und Promiscuität? Entstehen sie, indem man den Tieren Rechtsgleichheit gewährt, ihnen dasselbe Futter vorwirft und über sie die nämliche Rute schwingt? Nein, sie ent - stehen durch geschlechtliche Zuchtwahl und durch strenge Reinhaltung der Rasse. Und zwar bieten uns die Pferde, namentlich aber die Hunde, jede Gelegenheit zu der Beobachtung, dass die geistigen Gaben Hand in Hand mit den physischen gehen; speziell gilt dies von den mora - lischen Anlagen: ein Bastardhund ist nicht selten sehr klug, jedoch niemals zuverlässig, sittlich ist er stets ein Lump. Andauernde Promis - cuität unter zwei hervorragenden Tierrassen führt ausnahmslos zur Vernichtung der hervorragenden Merkmale von beiden! 1)Siehe namentlich Darwin: Animals and Plants under Domestication, Kap. XV und XIX. » Free crossing obliterates characters. « Über » die abergläubische Sorgfalt, mit welcher die Araber ihre Pferderasse rein erhalten «, findet man interessante Angaben in Gibbon’s Roman Empire, Kap. 50.Warum sollte die Menschheit eine Ausnahme bilden? Ein Kirchen - vater mochte das wohl wähnen; steht es aber einem hochangesehenen Naturforscher gut an, das Gewicht seines grossen Einflusses in die Wagschale mittelalterlichen Aberglaubens und Unwissens zu werfen? Wahrlich, man möchte unseren philosophisch so verwahrlosten natur - wissenschaftlichen Autoritäten einen logischen Kursus beim Thomas von Aquin wünschen; er könnte ihnen nur heilsam sein! In Wahr - heit sind die Menschenrassen, trotz des breiten, gemeinsamen Unter - grundes, von einander in Bezug auf Charakter, auf Anlagen, und vor Allem in Bezug auf den Grad der einzelnen Befähigungen so verschieden wie Windhund, Bulldogge, Pudel und Neufundländer. Die Ungleich -266Die Erben.heit ist ein Zustand, auf den die Natur überall hinarbeitet; nichts Ausserordentliches entsteht ohne » Specialisation «; beim Menschen, genau so wie beim Tier, ist es die Specialisation, welche edle Rassen hervorbringt; die Geschichte und die Ethnologie sind da, um dem blödesten Auge dieses Geheimnis zu enthüllen. Hat nicht jede echte Rasse ihre eigene Physiognomie, herrlich, unvergleichlich? Wie wäre hellenische Kunst ohne Hellenen entstanden? Wie bald hat nicht die eifersüchtige Feindschaft zwischen den einzelnen Städten des kleinen Griechenland jedem Teilchen seine eigene scharfausgeprägte Individualität innerhalb des eigenen Familientypus gespendet! Wie schnell war das wieder verwischt als Makedonier und Römer mit ihrer nivellierenden Hand über das Land hinwegfuhren! Und wie entfloh nach und nach alles, was dem Wort » hellenisch « ewigen Sinn verliehen hatte, als von Norden, von Osten und von Westen immer neue Scharen unver - wandter Völker ins Land zogen und mit echten Hellenen sich ver - mengten! Die Gleichheit, vor der Herr Virchow seinen Bonzendienst verrichtet, war jetzt da, alle Wälle waren geschleift, alle Grenzen be - deutungslos; auch war die Philosophie, gegen die sich Herr Virchow im selben Vortrag so sehr ereifert, ausgetilgt und durch den aller - gesündesten » Menschenverstand « ersetzt; die schöne Persönlichkeit jedoch, ohne die wir alle noch heute nur mehr oder weniger civilisierte Barbaren wären, sie war verschwunden, auf ewig verschwunden. » Crossing obliterates characters. «

Wenn nun die Männer, die über Wesen und Bedeutung der Rassen am genauesten Bescheid wissen sollten, einen so unglaublichen Mangel an Urteil an den Tag legen, wenn sie dort, wo reichste An - schauung sicherste Erkenntnis giebt, ihr hohle politische Phrasen entgegenstellen, wer soll sich denn wundern, dass ungelehrte Menschen viel Unsinn reden, selbst dann, wenn ihr Instinkt sie den richtigen Weg weist? Denn das Interesse für diesen Gegenstand ist in weiten Schichten geweckt, und da der Gelehrte kläglich versagt, sucht der Ungelehrte sich allein zu helfen. Als Graf Gobineau in den fünfziger Jahren sein geniales Werk über die Ungleichheit der menschlichen Rassen veröffentlichte, blieb es unbeachtet; kein Mensch wusste, was eine solche Betrachtung sollte; man stand, wie der arme Virchow, » ratlos vor einem Rätsel «. Jetzt, am Ausgang unseres Jahrhunderts, ist es anders geworden: der leidenschaftlichere, treibende Teil der Nationen schenkt gerade dieser Frage viel Aufmerksamkeit. Aber in welchem Wirrwarr von Widersprüchen, von Irrtümern, von Wahn -267Das Völkerchaos.gebilden bewegt sich die öffentliche Meinung! Man sehe doch wie Gobineau seine Darlegung so erstaunlich reich an später bestätigten intuitiven Ahnungen und an historischem Wissen auf die dog - matische Annahme gründet, die Welt sei von Sem, Ham und Japhet bevölkert worden; ein solch klaffender Riss in dem Urteilsvermögen genügt, um ein derartiges Werk, trotz aller dokumentarischen Be - gründung, in die hybride Gattung der » wissenschaftlichen Phantasma - gorieen « zu verweisen. Damit hängt dann Gobineau’s weitere Wahn - vorstellung zusammen, die von Hause aus » reinen « edlen Rassen vermischten sich im Verlauf der Geschichte und würden mit jeder Vermischung unwiederbringlich unreiner und unedler, woraus sich dann notwendigerweise eine trostlos pessimistische Ansicht über die Zukunft des Menschengeschlechtes ergeben muss. Die erwähnte An - nahme beruht jedoch auf einer gänzlichen Unkenntnis der physio - logischen Bedeutung dessen, was man unter » Rasse « zu verstehen hat. Eine edle Rasse fällt nicht vom Himmel herab, sondern sie wird nach und nach edel, genau so wie die Obstbäume, und dieser Werdeprozess kann jeden Augenblick von Neuem beginnen, sobald ein geographisch-historischer Zufall oder (wie bei den Juden) ein fester Plan die Bedingungen schafft. Ähnlichen Widersinnigkeiten begegnen wir überall auf Schritt und Tritt. Wir haben z. B. eine mächtige antisemitische Bewegung: ja, sind denn die Juden und die übrigen Semiten identisch? Haben sich nicht die Juden gerade durch ihre Entwickelung zu einer besonderen, reinen Rasse tief differenziert? Ist es sicher, dass der Entstehung dieses Volkes nicht eine wichtige Kreuzung voranging? Und was ist ein Arier? Wir hören so Vieles und Bestimmtes darüber aussagen. Dem Semiten, unter dem wir im gewöhnlichen Leben lediglich den Juden verstehen (was doch wenigstens eine durchaus konkrete, auf Erfahrung beruhende Vorstellung bedeutet), stellen wir den » Arier « entgegen. Was ist das aber für ein Mensch? Welcher konkreten Vorstellung entspricht er? Nur wer nichts von Ethnographie weiss, kann eine bestimmte Antwort auf diese Frage wagen. Sobald man diesen Ausdruck nicht auf die zweifelsohne mit - einander verwandten Indo-Eranier beschränkt, gerät man in das Gebiet der ungewissesten Hypothesen. 1)Selbst mit dieser, so sehr eingeschränkten Behauptung, die ich aus den besten mir bekannten Büchern schöpfte, scheine ich mehr vorausgesetzt zu haben, als die Wissenschaft mit Sicherheit behaupten kann; denn ich lese in einer Special - arbeit: Les Aryens au nord et au sud de l’Hindou-Kousch von Charles de UjfalviPhysisch weichen die Völker, die268Die Erben.wir unter dem Namen » Arier « zusammenzufassen gelernt haben, weit von einander ab; sie weisen den verschiedensten Schädelbau auf, auch verschiedene Farbe der Haut, der Augen und des Haares; und gesetzt, es habe eine gemeinsame indoeuropäische Urrasse gegeben, was kann man gegen das sich täglich anhäufende Material anführen, welches wahrscheinlich macht, dass auch andere, ganz unverwandte Typen von jeher in unseren heutigen sog. arischen Nationen reichlich ver - treten sind, wonach man höchstens von einzelnen Individuen, nimmer von einem ganzen Volk sagen dürfte, es sei » arisch «? Sprachliche Verwandtschaft liefert keinen zwingenden Beweis für Gemeinschaft des Blutes; die auf sehr geringe Indizien hin vorausgesetzte Ein - wanderung der sogenannten Indoeuropäer aus Asien stösst auf die grosse Schwierigkeit, dass die Forschung immer mehr Gründe zu der Annahme findet, die Bevölkerung, welche wir als europäische Arier zu bezeichnen pflegen, sei seit undenklichen Zeiten in Europa an - sässig;1)G. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeschichte), der die Frage mehr vom rein linguistischen Standpunkt aus studiert hat, gelangt zu dem Schluss: » die uralte Ansässigkeit der Indogermanen in Europa ist erwiesen «; Johannes Ranke (Der Mensch) meint, es sei nunmehr erhärtet, dass wenigstens ein grosser Teil der Bevölkerung Europas schon zur Steinzeit » Arier gewesen sind «; und Virchow, dessen Autorität auf anthropologischem Gebiete um so grösser ist, als er un - bedingten Respekt für Thatsachen beweist, und nicht wie Huxley und manche Andere darwinistische Luftschlösser aufbaut, Virchow meint, man könne nach dem anatomischen Befund die Behauptung aufstellen: » Die ältesten Troglodyten Europas seien von arischem Stamme gewesen! « (nach Ranke II, 578 citiert). für die umgekehrte Hypothese einer Kolonisation Indiens von Europa aus finden sich nicht die geringsten Anhaltspunkte kurz, es ist diese Frage das, was die Bergleute ein » schwimmendes Land « nennen; wer die Gefahr kennt, wagt sich möglichst wenig darauf. Je mehr man sich bei den Fachmännern erkundigt, um so weniger kennt man sich aus. Ursprünglich waren es die Sprachforscher, die den Kollektivbegriff » Arier « aufstellten. Dann kamen die anatomischen Anthropologen; die Unzulässigkeit der Schlüsse aus blosser Sprachen - kunde wurde dargethan, und nun ging es ans Schädelmessen; die Craniometrie wurde ein Beruf, sie lieferte auch eine Menge enorm interessanten Materials; neuerdings aber ereilt diese sog. » somatische Anthropologie « dasselbe Schicksal wie seiner Zeit die Linguistik: die1)(Paris 1896, S. 15): » Le terme d’aryen est de pure convention; les peuples éraniens au nord et les tribus hindoues au sud du Caucase indien, diffèrent absolument comme type et descendent, sans aucun doute, de deux races différentes. «269Das Völkerchaos.Ethnographen haben zu reisen und wissenschaftlich-planmässige Be - obachtungen am lebenden Menschen zu unternehmen begonnen und dabei dargethan, dass der Knochenmessung durchaus nicht die Wichtigkeit zukommt, die man ihr beizulegen pflegte; einer der be - deutendsten Schüler Virchow’s ist zu der Überzeugung gelangt: der Gedanke, durch Schädelmessungen Probleme der Völkerkunde zu lösen, ist unfruchtbar. 1)Ehrenreich: Anthropologische Studien über die Urbewohner Brasiliens (1897).Diese ganze Entwickelung hat in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts stattgefunden; wer weiss, was man im Jahre 1950 über den » Arier « lehrt? Heute jedenfalls, ich wiederhole es, kann der Laie nur schweigen. 2)Wenn ich in diesem Buche das Wort Arier gebrauche, so thue ich es in dem Sinne des ursprünglichen Sanskritwortes ârya = » zu den Freunden gehörig «, ohne mich zu irgend einer Hypothese zu verpflichten. Die Verwandtschaft im Denken und im Fühlen bedeutet auf alle Fälle eine Zusammengehörigkeit. (Vgl. das S. 121, Anmerk. 1 Gesagte).Schlägt er aber bei einem der anerkannten Fachmänner nach, so wird er belehrt, die Arier » seien eine Erfindung der Studierstube und kein Urvolk «,3)R. Hartmann: Die Negritier (1876) S. 185. Ähnlich Luschan und viele Forscher. Salomon Reinach z. B. (L’origine des Aryens, 1892, S. 90) schreibt: » Parler d’une race aryenne d’il y a trois mille ans, c’est émettre une hypothèse gratuite: en parler comme si elle existait encore aujourd’hui, c’est dire tout simplement une absurdité «. erkundigt er sich bei einem anderen, so wird ihm geantwortet, die gemeinsamen Merkmale der Indoeuropäer, vom Atlantischen Ozean bis nach Indien, seien genügend, um die thatsächliche Blutsverwandtschaft ausser allen Zweifel zu stellen. 4)Friedrich Ratzel, Johannes Ranke, Paul Ehrenreich u. s. w. Überhaupt die neueren, vielgereisten Ethnographen. Jedoch geschieht das mit vielen Schwankungen, da die Verwandtschaft nicht notwendigerweise auf gemeinsamen Ursprung, sondern auch auf Kreuzung beruhen könnte. Ratzel z. B., der an einer Stelle die Ein - heitlichkeit der gesamten indoeuropäischen arischen Rasse positiv behauptet (siehe Litterarisches Centralblatt, 1897, S. 1295) sagt an einer anderen (Völkerkunde, 1895, II., 751): » die Annahme, dass alle diese Völker einerlei Ursprungs seien, ist nicht notwendig oder wahrscheinlich «. Sehr bemerkenswert ist es, dass auch die Leugner der arischen Rasse nichtsdestoweniger immerfort von ihr sprechen; als » working hypothesis « können sie sie nicht entbehren. Selbst Reinach redet, nachdem er nachgewiesen hat, eine arische Rasse habe es niemals gegeben, später doch in einem unvorsichtigen Augenblick von dem » gemeinsamen Ursprung der Semiten und der Arier « (a. a. O., S. 98).

Ich hoffe in diesen zwei Absätzen die grosse Konfusion ver - anschaulicht zu haben, welche unter uns heute in Bezug auf den Begriff » Rasse « besteht. Diese Konfusion ist nicht nötig, d. h., bei270Die Erben.uns praktischen, handelnden, dem Leben angehörigen Männern nicht. Und zwar darum nicht, weil wir, um die Lehren der Geschichte zu deuten und um, im Zusammenhang hiermit, unsere Gegenwart zu begreifen, gar nicht nach verborgenen Ursprüngen und Ursachen zu forschen brauchen. Schon im vorigen Abschnitt habe ich Goethe’s Worte angeführt: » Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit «. Was klar vor Aller Augen liegt, genügt schon, wenn nicht für die Wissenschaft, so doch für das Leben. Die Wissenschaft freilich muss ihren dornigen, doch ewig reizvollen Weg weiterwandeln; sie gleicht einem Bergsteiger, der jeden Augenblick die höchste Kuppe zu erreichen wähnt, sobald er sie aber betritt, eine noch höhere ent - deckt. Doch ist das Leben an diesen wechselnden Hypothesen nur ganz indirekt beteiligt. Eine der verhängnisvollsten Verirrungen unserer Zeit ist die, welche uns dazu treibt, den sogenannten » Ergebnissen « der Wissenschaft ein Übergewicht in unseren Urteilen einzuräumen. Gewiss kann Wissen aufklärend wirken, das ist aber nicht immer der Fall, namentlich deswegen nicht, weil dieses Wissen ewig auf schwanken Füssen steht. Wie können denn einsichtsvolle Menschen bezweifeln, dass vieles, was wir heute zu wissen wähnen, in 100, 200, 500 Jahren als krasse Ignoranz belächelt werden wird? Manche Thatsachen mögen freilich schon heute als endgültig sichergestellt betrachtet werden; neues Wissen rückt aber dieselben Thatsachen in ein ganz neues Licht, verbindet sie zu früher nicht geahnten Figuren, verrückt sie in der Perspektive; das Urteil nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft richten, ist dasselbe als wenn ein Maler die Welt durch ein durchsichtiges, ewig wechselndes Kaleidoskop, statt mit dem blossen Auge betrachten wollte. Reine Wissenschaft (im Gegen - satz zur industriellen) ist ein edles Spielzeug; ihr grosser, geistiger und sittlicher Wert beruht zum nicht geringen Teil gerade darauf, dass sie nichts » nützt «; in dieser Beziehung ist sie der Kunst durch - aus analog, sie bedeutet das nach aussen gewandte Sinnen; und da die Natur unerschöpflich reich ist, führt sie dadurch dem Inneren immer neues Material zu, bereichert dessen Inventar an Vorstellungen, und bereitet der Phantasie eine neue Traumwelt als Ersatz für die allmählich verblassende alte. 1)In ähnlicher Weise äussert sich der Physiker Lichtenberg: » Die Natur - lehre ist, für mich wenigstens, eine Art von sinking fund (Tilgungsfond) für die Religion, wenn die vorwitzige Vernunft Schulden macht. « (Fragmentarische Be - merkungen über physikalische Gegenstände, 15.)Das Leben dagegen, rein als solches,271Das Völkerchaos.ist ein anderes Wesen als das systematisierte Wissen, ein weit stabileres, fester gegründetes, umfassenderes; es ist eben der Inbegriff aller Wirklichkeit, während selbst die präziseste Wissenschaft schon das verdünnte, verallgemeinerte, nicht mehr unmittelbare Wirkliche dar - stellt. Ich verstehe hier unter Leben, was man sonst wohl auch » Natur « nennt, wie wenn zum Beispiel die moderne Medizin lehrt: durch das Fieber befördert die Natur den Stoffwechsel und verteidigt den Menschen gegen die Krankheit, die ihn beschlichen hatte. Die Natur ist eben, was man » selbstwirkend « nennt; ihre Wurzeln reichen unendlich tiefer hinunter, als bis wohin das Wissen wird jemals gelangen können. Und so meine ich nun, dass wir, die wir als denkende, vielwissende, kühn träumende und forschende Wesen, doch gewiss eben solche integrierende Bestandteile der Natur sind wie alle anderen Wesen und Dinge und wie unser eigener Leib, mit grosser Zuversicht uns dieser Natur, diesem Leben anvertrauen dürfen. Wenn auch die Wissenschaft uns an gar vielen Stellen im Stiche lässt, wenn sie, wetterwendisch wie ein moderner Parlamentspolitiker, heute ver - lacht, was sie gestern als ewige Wahrheit lehrte, das darf uns nicht erschrecken; so viel wir zum Leben brauchen, werden wir schon erfahren. Überhaupt ist die Wissenschaft eine zwar herrliche, doch nicht ungefährliche Freundin, sie ist eine grosse Gauklerin und ver - führt den Geist leicht zu toller Schwärmerei; Wissenschaft und Kunst sind wie die Rosse an Plato’s Seelenwagen, der » gesunde Menschen - verstand « (um dessen Verlust Professor Virchow klagte) bewährt sich nicht zum wenigsten darin, dass er die Zügel straff spannt und diesen edlen Tieren nicht gestattet, mit seinem natürlichen, gesunden Urteil durchzugehen. Einfach vermöge unserer Eigenschaft als lebendige Wesen steckt in uns eine unendlich reiche und sichere Fähigkeit, dort, wo es Not thut, auch ohne Gelehrsamkeit das Richtige zu treffen. Wer unbefangen und mit lauterem Sinn die Natur befragt » die Mütter «, wie sie die alten Mythen nannten kann sicher sein, eine Antwort zu erhalten, wie sie eine Mutter ihrem Sohne giebt, nicht immer logisch untadelhaft, doch wesentlich richtig, verständlich und auf das Beste des Sohnes mit sicherem Instinkte gerichtet. So auch in der Frage, was Rasse zu bedeuten habe: eine der wichtigsten, vielleicht die allerwichtigste Lebensfrage, die an den Menschen heran - treten kann.

Unmittelbar überzeugend wie nichts anderes ist der Besitz vonBedeutung von Rasse. » Rasse « im eigenen Bewusstsein. Wer einer ausgesprochenen,272Die Erben.reinen Rasse angehört, empfindet es täglich. Die Tyche seines Stammes weicht nicht von seiner Seite: sie trägt ihn, wo sein Fuss wankt, sie warnt ihn, wie der Sokratische Daimon, wo er im Begriffe steht, auf Irrwege zu geraten, sie fordert Gehorsam und zwingt ihn oft zu Handlungen, die er, weil er ihre Möglichkeit nicht begriff, niemals zu unternehmen gewagt hätte. Schwach und fehlervoll wie alles Menschliche, erkennt ein solcher Mann sich selbst (und wird von guten Beobachtern erkannt) an der Sicherheit seines Charakters, sowie daran, dass seinem Thun eine eigenartige, einfache Grösse zu eigen ist, die in dem bestimmt Typischen, Überpersönlichen ihre Er - klärung findet. Rasse hebt eben einen Menschen über sich selbst hinaus, sie verleiht ihm ausserordentliche, fast möchte ich sagen über - natürliche Fähigkeiten, so sehr zeichnen sie ihn vor dem aus einem chaotischen Mischmasch von allerhand Völkern hervorgegangenen Individuum aus; und ist nun dieser edelgezüchtete Mann zufällig ungewöhnlich begabt, so stärkt und hebt ihn die Rassenangehörigkeit von allen Seiten, und er wird ein die gesamte Menschheit überragendes Genie, nicht weil er wie ein flammendes Meteor durch eine Laune der Natur auf die Erde herabgeworfen wurde, sondern weil er wie ein aus tausend und abertausend Wurzeln genährter Baum, stark, schlank und gerade zum Himmel emporwächst kein vereinzeltes Individuum, sondern die lebendige Summe ungezählter, gleichgerichteter Seelen. Wer nur ein offenes Auge hat, erkennt ja bei Tieren » Rasse « sofort. Sie zeigt sich an dem ganzen Habitus und bekundet sich in hundert Einzelheiten, die sich der Analyse entziehen; ausserdem be - währt sie sich in den Leistungen, denn ihr Besitz führt immer zu etwas Excessivem, Ungewöhnlichem, ja, wenn man will, zu Über - triebenem und Einseitigem. Man kennt Goethe’s Behauptung: Einzig das Überschwängliche mache die Grösse;1)Materalien zur Geschichte der Farbenlehre, Abschnitt über Newton’s Persönlichkeit. das ist es, was eine aus vorzüglichem Material gezüchtete Rasse den Individuen verleiht: ein Überschwängliches. Und wahrlich, was jedes Rennpferd, jeder rein gezüchtete Fuchsterrier, jedes Cochinchinahuhn uns lehrt, das lehrt uns die Geschichte unseres eigenen Geschlechtes mit beredter Zunge! Ist nicht die Blüte des hellenischen Volkes ein Überschwängliches sondergleichen? Und sehen wir dieses Überschwängliche nicht erst entstehen, als die Zuzüge aus dem Norden aufgehört haben und die273Das Völkerchaos.verschiedenen kräftigen Stämme auf der Halbinsel nunmehr ab - geschlossen zu einer neuen Rasse verschmelzen, reicher und schillernder dort, wo das verwandte Blut aus verschiedenen Quellen zusammen - floss, wie in Athen, einfacher und widerstandsfähiger, wo selbst dieser Vermischung ein Riegel vorgeschoben worden war, wie in Lake - dämon? Wird die Rasse nicht wie ausgelöscht, sobald das Schicksal das Land aus seiner stolzen Exklusivität losreisst und es einem grösseren Ganzen einverleibt? 1)Dass dieses Auslöschen nur allmählich geschah, und zwar trotz einer politischen Situation die eigentlich, wenn hier nicht Rassenanlagen bestimmend gewesen wären, das Hellenische sofort hätte aus der Welt austilgen müssen, ist bekannt. Bis weit in die christliche Zeit hinein blieb Athen der Mittelpunkt des geistigen Lebens der Menschheit; Alexandrien machte zwar mehr von sich reden, dafür sorgte das starke semitische Kontingent; wer aber ernstlich studieren wollte, reiste nach Athen, bis christliche Beschränktheit im Jahre 529 die dortigen Schulen auf immer schloss, und wir erfahren, dass noch damals selbst der Mann aus dem Volke sich in Athen » durch die Lebhaftigkeit seines Geistes, die Korrektheit der Sprache, und die Sicherheit des Geschmackes auszeichnete «. (Gibbon, Kap. 40.) Eine ausführliche und in ihrer Klarheit höchst fesselnde Darlegung der allmählichen Vernichtung der hellenischen Rasse durch fremde Einwanderung findet man in George Finlay: Medieval Greece, ch. I. Nacheinander waren römische Soldaten - kolonien aus allen Teilen des Imperiums, dann Kelten, Germanen, Slavonier, Bulgaren, Wallachen, Albanesen u. s. w. in das Land gezogen und hatten sich mit der ursprünglichen Bevölkerung vermischt. Die Zakonen, die noch im 15. Jahr - hundert zahlreich waren, jetzt aber fast ganz ausgestorben sind, sollen die einzigen reinen Hellenen sein.Lehrt nicht Rom dasselbe? Sehen wir nicht auch hier aus einer besonderen Blutmischung2)Vergl. S. 135, Anm. eine durchaus neue Rasse hervorgehen, keiner späteren in Anlagen und Fähigkeiten ähnlich, mit überschwänglicher Kraft begabt? Und vollbringt nicht hier der Sieg, was dort die Niederlage vollbrachte, nur noch viel schneller? Wie ein Katarakt stürzt das fremde Blut in das fast ent - völkerte Rom und alsbald haben die Römer aufgehört zu sein. Wäre von allen Semiten ein einziges winziges Völkchen zu einer die Welt umspannenden Macht geworden, wenn nicht die Reinheit der Rasse sein unerschütterliches Grundgesetz gebildet hätte? In Tagen, wo so viel Unsinn über diese Frage geredet wird, lasse man sich von Disraeli belehren, wie die ganze Bedeutung des Judentums in der Reinheit seiner Rasse liege, diese allein verleihe ihm Kraft und Bestand, und wie es die Völker des Altertums überlebt habe, soChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 18274Die Erben.werde es, dank seiner Kenntnis dieses Naturgesetzes, die sich ewig vermischenden Stämme der Gegenwart überleben. 1)Siehe die Romane Tancred und Coningsby. In letzterem sagt Sidonia: » Rasse ist alles; es giebt keine andere Wahrheit. Und jede Rasse muss zu Grunde gehen, die ihr Blut sorglos Vermischungen hingiebt «.

Was sollen uns die weitläufigen wissenschaftlichen Unter - suchungen, ob es unterschiedliche Rassen gebe? ob Rasse einen Wert habe? wie das möglich sei und so weiter? Wir kehren den Spiess um und sagen: dass es welche giebt, ist evident; dass die Qualität der Rasse entscheidende Wichtigkeit besitzt, ist eine That - sache der unmittelbaren Erfahrung; Euch kommt nur zu, das Wie und das Warum zu erforschen, nicht Eurer Unwissenheit zu Lieb die Thatsachen selbst abzuleugnen. Einer der bedeutendsten Ethno - logen des heutigen Tages, Adolf Bastian, bezeugt: » Was wir in der Geschichte bemerken, ist keine Umwandlung, kein Übergehen der Rassen ineinander, sondern es sind neue und vollkommene Schöpfungen, die die ewig junge Produktionskraft der Natur aus dem Unsichtbaren des Hades hervortreten lässt «. 2)Das Beständige in den Menschenrassen und die Spielweite ihrer Ver - änderlichkeit, 1868, S. 26.Wer die kleine Strecke von Calais nach Dover zurückgelegt hat, glaubt sich auf einem anderen Gestirn angekommen, so tief ist der Unterschied zwischen den doch so vielfach verwandten Engländern und Franzosen. Zugleich kann der Beobachter an diesem Beispiel den Wert der reineren » Inzüchtung « kennen lernen. England ist durch seine Insellage so gut wie ab - geschnitten; die letzte (nicht sehr zahlreiche) Invasion fand vor 800 Jahren statt, seitdem sind nur einige Tausend Niederländer, später einige Tausend Hugenotten hinübergesiedelt (alles Stammes - verwandte), und so ist die augenblicklich unzweifelhaft stärkste Rasse Europas gezüchtet worden. 3)Hier wäre auch Japan zu nennen, wo ebenfalls eine glückliche Ver - mischung, und nachher inselhafte Abgeschiedenheit zur Bildung einer sehr merk - würdigen Rasse geführt hat, viel stärker und (innerhalb der mongoloiden Möglich - keitssphäre) viel tiefer beanlagt als die meisten Europäer es ahnen. Vielleicht die einzigen Bücher, in denen man die japanische Seele kennen lernt, sind die des Lafcadio Hearn: Kokoro, hints and echoes of Japanese inner life; Gleanings in Buddha fields; u. A.

Die unmittelbare Erfahrung bietet uns aber eine Reihe ganz andersgearteter Beobachtungen über Rasse, durch die wir nach und nach unser Wissen erweitern und bestimmter gestalten können. Im275Das Völkerchaos.Gegensatz zu der neuen, werdenden, angelsächsischen Rasse, sehe man sich zum Beispiel die Sephardim an, die sogenannten » spanischen Juden «; hier erfährt man, wie eine edle Rasse sich durch Reinheit Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch edel erhalten kann, zugleich aber, wie sehr es not thut, zwischen den wirklich edel gezüchteten Teilen eines Volkes und den übrigen zu unterscheiden. In England, Holland und Italien giebt es noch echte Sephardim, wenige aber, da sie der Vermengung mit den Aschkenazim (den sogenannten » deutschen Juden «) kaum mehr ausweichen können. So haben zum Beispiel die Montefiores der jetzigen Generation alle ohne Ausnahme deutsche Jüdinnen geheiratet. Jeder aber, der im Osten von Europa gereist ist, wo die unverfälschten Sephardim noch heute jeglichem Verkehr mit deutschen Juden, vor denen sie einen fast komischen Abscheu an den Tag legen, möglichst aus dem Wege gehen, wird mir bei - stimmen, wenn ich sage, dass man erst durch den Anblick und den Verkehr mit diesen Männern die Bedeutung des Judentums in der Weltgeschichte begreifen lernt. Das ist Adel im vollsten Sinne des Wortes, echter Rassenadel! Schöne Gestalten, edle Köpfe, Würde im Reden und Gebahren. Der Typus ist » semitisch « in demselben Sinne wie der gewisser, vornehmer syrischer oder arabischer Männer. Dass aus solcher Leute Mitte Propheten und Psalmisten hervorgehen konnten, das verstand ich beim ersten Anblick, was mir, aufrichtig gestanden, selbst bei der genauesten Betrachtung der vielen hundert Bochers in der Friedrichstrasse zu Berlin nie hatte gelingen wollen. Wenn wir in den heiligen Büchern der Juden Umschau halten, so sehen wir auch, dass die Umbildung des Monopolytheismus dieses Volkes zu der immerhin grossartigen (wenn auch für unser Gefühl zu mechanisch-materialistischen) Vorstellung eines wirklichen kos - mischen Monotheismus das Werk nicht der Gesamtheit sondern eines ganz kleinen Bruchteiles der Bevölkerung ist; ja, diese Minorität hat einen unaufhörlichen Kampf gegen jene Majorität zu führen, und sie muss ihr die edlere Lebensauffassung mit Macht aufzwingen, d. h. mit der höchsten menschlichen Gewalt, der Macht der Persönlichkeit. Die übrige Bevölkerung macht den Eindruck einer ungewöhnlich gemeinen, jeder höheren Regung baren Masse, die Reichen hart und ungläubig, die Armen wankelhaft und stets voll der Sehnsucht, sich dem erbärmlichsten, schmutzigsten Götzendienst in die Arme zu werfen oder es müssten die Propheten stark übertrieben haben. Der Gang der jüdischen Geschichte hat nun für eine eigentümliche18 *276Die Erben.Zuchtwahl der moralisch höher Stehenden gesorgt: durch die Exile, durch die fortwährende Ausscheidung in die Diaspora, welche eine Folge der Armut des Landes und der bedrängten Lage war, blieben (von den besseren Klassen) nur die gesinnungstreuesten zurück, und diese perhorrescierten jegliche eheliche Verbindung auch mit Juden! in welcher nicht beide Teile die ungetrübt reine Ab - stammung aus einem der Stämme Israels darthun konnten und deren strenge Orthodoxie nicht über jeden Zweifel erhaben war. 1)Uneheliche Kinder werden bei gläubigen Juden gar nicht in die Gemeinde aufgenommen. Bei den heutigen Sephardim im Osten Europas, wird ein Mädchen, von welchem es ruchbar wird, dass sie gefehlt hat, sofort von Bevollmächtigten der Gemeinde in irgend ein fremdes Land geführt und dort untergebracht; weder sie noch ihr Kind darf je wieder etwas von sich hören lassen, sie gelten als ge - storben. Auf diese Art wird dafür gesorgt, dass auch die blinde Liebe nicht fremdes Blut in den Stamm hineinbringe.Da blieb denn keine sehr grosse Auswahl; denn die nächsten Nachbarn, die Samaritaner, waren heterodox, und in den ferneren Landesteilen war, ausser bei den getrennt sich haltenden Leviten, die Bevölkerung vielfach stark gemischt. Auf diese Art wurde dort Rasse gezüchtet. Und als nun die endliche Zerstreuung kam, wurden diese einzigen echten Juden alle, oder fast alle, nach Spanien übergeführt. Da die klugen Römer nämlich sehr wohl zu unterscheiden wussten, versetzten sie diese gefährlichen Fanatiker, diese stolzen Männer, deren blosser Blick Gehorsam von der Menge erzwang, aus ihrer östlichen Heimat in den fernsten Westen,2)Siehe z. B. Graetz: a. a. O., Kap. 9. » Der diasporische Zeitraum «. wogegen sie das jüdische Volk ausserhalb des engeren Judäa nicht mehr belästigten als die Juden der Diaspora. 3)In Tiberias z. B. bestand jahrhundertelang eine tonangebende Rabbiner - schule. Da haben wir nun wieder einen höchst interessanten Anschauungs - unterricht über Entstehung und Wert einer » Rasse «! Denn von allen den Menschen, die wir gewohnt sind als Juden zu bezeichnen, stammen verhältnismässig wenige von jenen echten, grossen Hebräern, vielmehr sind es die Nachkommen der Juden aus der Diaspora, Juden, die nicht die letzten grossen Kämpfe, ja, zum grossen Teil nicht einmal die Makkabäerzeit mitgemacht hatten; diese und dann das arme, in Palästina zurückgebliebene Landvolk, das später in christlichen Zeiten vertrieben wurde oder flüchtete, das sind die Leute, von denen » unsere Juden « abstammen. Wer nun durch den Augenschein kennen lernen will, was edle Rasse ist und was nicht, der lasse sich aus277Das Völkerchaos.Salonichi oder Sarajevo den ärmsten der Sephardim holen (grosse Reichtümer sind unter diesen Leuten sehr selten, denn sie sind makellos ehrenhaft) und stelle ihn neben einen beliebigen Baron Rothschild oder Hirsch hin: dann wird er den Unterschied gewahr werden zwischen dem von einem Monarchen oktroyierten Adel und dem durch Rasse verliehenen.

Weitere Beispiele liessen sich in Hülle und Fülle beibringen. Die fünf Grundgesetze.Ich glaube aber, wir haben schon jetzt alles beisammen, was nötig ist, um unser Wissen über Rasse systematisch zu analysieren und so die Grundprinzipien zu einem bewussten, sachgemässen Urteil zu gewinnen. Wir schliessen hier nicht von hypothetischen Urzuständen auf mögliche Folgen, sondern wir schreiten von sicheren Thatsachen auf ihre unmittelbaren Ursachen zurück. Die Ungleichheit der An - lagen selbst zwischen offenbar nahe verwandten Stämmen ist evident; ausserdem ist aber für Jeden, der genauer beobachtet, ebenso evident, dass hier und dort, während längerer oder kürzerer Zeit ein Stamm von den anderen nicht allein sich unterscheidet, sondern sie mächtig überragt, dass in ihm ein Überschwängliches an Begabung und Leistungsfähigkeit sich kundgiebt. Dass dies auf Rassenzüchtung be - ruht, habe ich durch die vorangehenden Beispiele anschaulich zu machen versucht. Was sich aus diesen Beispielen (die Jeder beliebig vermehren mag) ergiebt, gestattet nun die Entstehung solcher edler Rassen als von fünf Naturgesetzen abhängig zu erkennen.

1. Die erste, grundlegende Bedingung ist unstreitig das Vor - handensein vortrefflichen Materials. Wo es nichts giebt, verliert der König seine Rechte. Wenn Jemand aber fragt, woher kommt dieses Material? so antworte ich, ich weiss es nicht, ich bin in dieser Beziehung ebenso ignorant als wäre ich der grösste aller Gelehrten, und ich verweise den Frager auf die Worte des grossen Weltweisen unseres Jahrhunderts, Goethe: » Was nicht mehr entsteht, können wir uns als entstehend nicht denken. Das Entstandene begreifen wir nicht. « Soweit unser Blick zurückreicht, sehen wir Menschen, sehen, dass sie grundverschieden in ihrer Anlage sind und sehen, dass Einige kräftigere Wachstumskeime zeigen, als Andere. Nur Eines kann man, ohne den Boden historischer Beobachtung zu verlassen, behaupten: hohe Vortrefflichkeit tritt nur durch die Veranlassung besonderer Umstände nach und nach in die Erscheinung, sie wächst durch erzwungene Bethätigung; andere Umstände können sie gänzlich verkümmern lassen. Der Kampf an dem ein von Hause aus schwaches278Die Erben.Menschenmaterial zu Grunde geht, stählt das starke; ausserdem stärkt der Kampf ums Leben dieses Starke durch Ausscheidung der schwächeren Elemente. Die Kindheit grosser Rassen sehen wir stets von Krieg umtobt, selbst die der metaphysischen Inder.

2. Das Vorhandensein wackerer Menschen giebt jedoch noch lange kein Überschwängliches; solche Rassen wie die Griechen, die Römer, die Franken, die Schwaben, die Italiener und Spanier der Glanzzeit, die Mauren, die Engländer, solche abnorme Erscheinungen wie die arischen Inder und die Juden entstehen nur durch fortgesetzte Inzucht. Sie entstehen und sie vergehen vor unseren Augen. Inzucht nennt man die Erzeugung von Nachkommenschaft aus - schliesslich im Kreise der engeren Stammesgenossen, mit Vermeidung jeder fremden Blutmischung. Schlagende Beispiele habe ich schon oben genannt.

3. Jedoch die Inzucht pure et simple reicht zu dem Werke nicht hin; mit der Inzucht muss Auswahl oder wie die Fachmänner sagen » Zuchtwahl « Hand in Hand gehen. Am besten begreift man dieses Gesetz, wenn man die Prinzipien der künstlichen Züchtung im Pflanzen - und Tierreich studiert; das möchte ich auch Jedem an - empfehlen, denn es giebt wenige Dinge, welche unsere Vorstellungen von den plastischen Möglichkeiten des Lebens so bereichern. 1)Die Litteratur ist enorm; wegen der Einfachheit, Verständlichkeit und um - fassenden Vielseitigkeit sei jedem Laien vor Allem Darwin’s: Animals and Plants under Domestication empfohlen. Im Origin of Species ist über dasselbe Thema etwas zu kurz und tendenziös berichtet.Hat man nun einsehen gelernt, welche Wunder die Wahl vollbringt, wie ein Rennpferd oder ein Dachshund oder ein » überschwängliches « Chrysanthemum nach und nach durch sorgfältige Ausscheidung alles Minderwertigen erzeugt wird, dann wird man dasselbe Phänomen auch im Menschengeschlecht als wirksam erkennen, wenngleich es hier natürlich nie mit der Klarheit und Bestimmtheit wie dort auf - treten kann. Als Beispiel führte ich vorhin die Juden an; das Aus - setzen schwächlicher Kinder ist ein weiteres und war jedenfalls eines der segenvollsten Gesetze der Griechen, Römer und Germanen; harte Zeiten, welche nur der stämmige Mann, das ausdauernde Weib über - lebt, wirken in ähnlichem Sinne. 2)Wie zum Beispiel die viele Jahrhunderte umfassende Epoche der Wanderung im Sinne einer zunehmend veredelnden Zuchtwahl auf die Germanen hat wirken müssen, veranschaulicht Jhering mit besonderer Klarheit (Vorgeschichte, S. 462 fg.).

279Das Völkerchaos.

4. Wenig beachtet wurde bisher ein weiteres Grundgesetz, welches mir mit voller Sicherheit aus der Geschichte hervorzugehen scheint, ebenso wie es eine Erfahrungsthatsache der Tierzüchtung ist: dem Entstehen ausserordentlicher Rassen geht ausnahmslos eine Blutmischung voraus. Wie der grosse amerikanische Denker, Emerson, sagt: » We are piqued with pure descent, but nature loves inoculation «. Von den arischen Indern können wir freilich in dieser Beziehung nichts aussagen, ihre Vorgeschichte verliert sich in zu nebelhaften Fernen; dagegen liegen betreffs der Juden, Hellenen und Römer die Thatsachen vollkommen klar vor Augen, nicht minder klar in Betreff aller Nationen Europas, die sich durch Gesamtleistungen und durch die Hervorbringung einer grossen Zahl » überschwänglich « begabter Individuen ausgezeichnet haben. Bezüglich der Juden ver - weise ich auf das folgende Kapitel, bezüglich der Griechen, der Römer und der Engländer habe ich schon öfters auf diese Thatsache hin - gedeutet,1)Siehe namentlich S. 135, 273 und weiter unten S. 286 u. 292. jedoch, ich möchte den Leser ersuchen, es sich die Mühe nicht verdriessen zu lassen, in Curtius und in Mommsen jene Kapitel am Anfang, die man wegen der vielen Namen und des wirren Durcheinanders gewöhnlich mehr durchblättert als studiert, doch einmal aufmerksam zu lesen. Nie hat eine so gründliche und günstige Vermischung stattgefunden wie in Griechenland: aus einem gemein - samen Urstock hervorgegangen, bilden sich in durch Berge oder Meere getrennten Ebenen charakteristisch unterschiedene Stämme, jagende, friedlich Ackerbautreibende, seefahrende u. s. w.; und nun findet unter diesen differenzierten Bestandteilen ein Durcheinanderschieben, eine Vermengung statt, wie sie ein künstlich züchtender Verstand sich nicht vollkommener ausgerechnet haben könnte. Wir haben zunächst Wanderungen von Osten nach Westen, später umgekehrt von Westen nach Osten über das Ägäische Meer hinüber; inzwischen sind aber die Stämme des äussersten Nordens (in erster Reihe die Dorier) bis nach dem äussersten Süden vorgedrungen, wobei sie viele der Edelsten, die sich nicht unterjochen lassen wollten, aus diesem Süden nach jenem Norden, aus dem sie selbst eben gekommen waren, oder auch über das Meer auf die Inseln und nach der hellenischen Küste Asiens hinüberdrängten. Eine jede dieser Verschiebungen be - dingte aber Blutmischung. So zogen zum Beispiel die Dorier nicht alle nach dem Peloponnes, sondern Teile von ihnen blieben an jeder280Die Erben.Station ihrer langsamen Wanderung haften und verschmolzen dort mit den früheren Einwohnern. Ja, diese ursprünglichen Dorier selber, die uns als ein besonders einheitliches Ganzes vorschweben, wussten in alter Zeit, dass sie aus drei verschiedenen Stämmen zusammen - gesetzt waren, von denen der eine ausserdem der Stamm der Pam - phylen hiess, d. h., » der Stamm der Leute von allerlei Herkunft «. Wo die glücklichste Mischung vor sich ging, da entstand die über - schwänglichste Begabung: in Neu-Ionien und in Attika. In Neu - Ionien » kamen Griechen zu Griechen, es kamen Ionier in ihre alte Heimat, aber sie kamen so umgewandelt, dass aus der neuen Ver - einigung des ursprünglich Verwandten eine durchaus nationale, aber zugleich ungemein gesteigerte, reiche und in ihrem Ergebnisse voll - ständig neue Entwickelung in dem alten Ionierlande anhob «. Am lehrreichsten ist aber die Entstehungsgeschichte des attischen, speziell des atheniensischen Volkes. Gerade in Attika (wie sonst einzig in Arkadien) blieb die ursprüngliche pelasgische Bevölkerung festhaften, » sie wurde niemals von fremder Gewalt ausgetrieben «. Das zum Inselmeer gehörige Küstenland lud aber zur Einwanderung; diese kam auch von allen Seiten; und während die fremden Phönicier nur auf den benachbarten Inseln Handelsstationen gründeten, drangen die stammverwandten Griechen von diesseits und jenseits des Meeres ins Innere ein und vermischten sich nach und nach mit den früheren Einwohnern. Nun kam die Zeit der vorhin erwähnten dorischen Völkerwanderung und der grossen, langanhaltenden Umwälzungen; Attika allein blieb verschont; und da flüchteten neuerdings aus allen Himmelsrichtungen viele dorthin aus Böotien, Achaja und Messenien, aus Argos und Ägina u. s. w.; diese neuen Einwanderer stellten aber nicht ganze Bevölkerungen dar, sondern waren in der überwiegenden Mehrzahl ausgewählte Männer, Männer aus erlauchtem, oft königlichem Geschlecht. Durch sie fand eine ungewöhnliche Bereicherung des einen kleinen Landes an echtem, gezüchtetem Rassenadel statt. Dann erst, also erst aus einer bunten Vermischung, entstand jenes Athen, welchem die Menschheit mehr verdankt als je auszurechnen wäre.1)Siehe Curtius: Griechische Geschichte, Buch I, Kap. 4 und Buch II, Kap. 1 und 2. Dass Graf Gobineau lehrt, die ausserordentliche geistige und nament - lich künstlerische Begabung der Griechen sei auf eine Infiltration semitischen Blutes zurückzuführen, zeigt, zu welchen unsinnigen Annahmen man durch falsche, künstliche, der Geschichte und der Naturbeobachtung widersprechende Grund - hypothesen gedrängt wird. 281Das Völkerchaos.Die geringste Überlegung wird nun zeigen, wie dasselbe Gesetz sich bei Deutschen, Franzosen, Italienern und Spaniern bewährt. Die einzelnen germanischen Stämme zum Beispiel sind wie eine rein brutale Natur - kraft, bis sie miteinander sich zu vermengen beginnen; man sehe, wie das an bedeutenden Männern reiche Burgund durch ein inniges Gemisch des germanischen mit dem romanischen Element seine ihm eigen - tümliche Bevölkerung erhält, und in Folge der lang anhaltenden politischen Isolierung zur charakteristischen Individualität ausbildet;1)Diese innige Vermischung fand dadurch statt, dass die Burgunder im ganzen Lande einzeln angesiedelt und jeder von ihnen der » Hospes « eines früheren Einwohners wurde, von dessen bebautem Land er zwei Drittel, von dessen Hof und Garten er die Hälfte zueigen erhielt, während Wälder und Weideplätze ge - meinschaftlich blieben. Mochte nun zunächst gewiss keine grosse Sympathie zwischen dem Eingedrungenen und seinem Wirt bestehen, sie lebten doch Thür an Thür und waren miteinander solidarisch bei Grenzstreitigkeiten und ähnlichen auf den Besitz sich beziehenden Rechtsfragen; da konnte die Verschmelzung nicht lange ausbleiben. (Vergl. namentlich Savigny: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, Kap. 5, Abschn. 1). die Franken erwachsen zu voller Kraft und schenken der Welt einen neuen Typus des Menschlichen dort, wo sie mit den vorangegangenen germanischen Stämmen und mit Galloromanen verschmelzen, oder aber dort, wo sie, wie in Franken, gerade den Vereinigungspunkt der verschiedensten deutschen und slavischen Elemente bilden; Schwaben, das Vaterland Goethe’s und Schiller’s, ist von einem halbkeltischen Stamme bewohnt; Sachsen, welches dem deutschen Volke so viele seiner grössten Männer geschenkt hat, enthält eine fast durchwegs mit slavischem Blute verquickte Bevölkerung; und hat Europa es nicht innerhalb der letzten drei Jahrhunderte erlebt, dass eine erst neu entstandene Nation, bei welcher die Blutmischung eine noch viel gründlichere war, die preussische, sich durch ihre hervorragende Kraft zum Führer des gesamten deutschen Reiches aufgeschwungen hat? Es kann natürlich an diesem Orte nicht meine Aufgabe sein, das hier Angedeutete ausführlich zu begründen; da ich jedoch gerade die hohe Bedeutung von reingezüchteten Rassen verfechte, so muss es mir besonders am Herzen liegen, die Notwendigkeit, oder zum Mindesten Nützlichkeit der Blutmischung zu betonen, und zwar nicht allein um dem Vorwurf der Einseitigkeit und der apriorischen Vor - eingenommenheit zu begegnen, sondern weil ich glaube, die Vertreter dieser Sache haben gerade durch die Verkennung des wichtigen282Die Erben.Gesetzes der Vermischung ihr sehr geschadet. Sie geraten dann auf den mystischen Begriff einer an und für sich » reinen Rasse «, welcher ein luftiges Gedankending ist und, anstatt zu fördern, nur hemmt. Weder die Geschichte, noch die Experimentalbiologie spricht zu Gunsten einer derartigen Auffassung. Die Rasse der englischen Vollblutpferde ist durch die Kreuzung arabischer Hengste mit gewöhnlichen (natürlich ausgesuchten) englischen Stuten erzeugt worden, gefolgt von Inzucht, jedoch so, dass neuerliche Kreuzung zwischen Varietäten von geringer Abweichung, oder auch mit Arabern, von Zeit zu Zeit ratsam ist; eines der edelsten Wesen, welche die Natur überhaupt aufweisen kann, der sogenannte » echte « Neufundländer, ist ursprünglich aus der Kreuzung zwischen dem Eskimohund und einem französischen Hetzhund entstanden, sodann, in Folge der abgeschiedenen Lage der Insel, durch andauernde Inzucht fest und » rein « geworden, zuletzt, als Exemplare dieser Rasse von Liebhabern nach Europa gebracht wurden, durch Zuchtwahl zur höchsten Veredlung ausgebildet worden. Vielleicht lächelt mancher Leser, wenn ich immer wieder von Tier - züchtung spreche? Sicherlich sind aber die Gesetze des Lebens grosse, einfache Gesetze, welche alles Lebende umfassen und gestalten; wir haben nicht die geringste Veranlassung, das Menschengeschlecht als eine Ausnahme zu betrachten; und da wir gerade in Bezug auf Rassenzüchtung leider nicht in der Lage sind, Experimente mit Menschen anzustellen, so müssen wir die an Tieren und Pflanzen gemachten Versuche zu Rate ziehen. Ich darf jedoch die Besprechung des vierten Gesetzes nicht abschliessen, ohne eine andere Seite dieses Vermischungsgesetzes hervorgehoben zu haben: fortgesetzte Inzucht innerhalb eines sehr kleinen Kreises, das, was man » Engzucht « nennen könnte, führt mit der Zeit zu Entartung und namentlich zu Sterilität. Zahllose Erfahrungen der Tierzucht beweisen das. Es genügt dann bisweilen eine einzige Kreuzung, nur an einzelnen Mitgliedern einer Meute zum Beispiel vorgenommen, damit die geschwächte Rasse wieder aufblühe und die geschlechtliche Fruchtbarkeit sich wieder einstelle. Bei Menschen sorgt schon der Schalk Eros so ausgiebig für diese Auffrischung, dass wir nur in hochadeligen Kreisen und bei einigen königlichen Familien1)Siehe die Angaben bei Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte (Vorl. 8). Weit ausführlichere Angaben in einem Buche von P. Jacoby: Études sur la sélection dans ses rapports avec l’hérédité chez l’homme, das ich leider nicht vor Augen habe. zunehmenden Verfall der geistigen und283Das Völkerchaos.physischen Anlagen in Folge von » Engzucht « beobachten können. 1)Hierher gehören allerdings auch die allbekannten schlimmen Folgen der Ehen zwischen Nächstverwandten; die Sinnesorgane (sowie überhaupt das Nerven - system) und die Geschlechtsorgane haben am häufigsten darunter zu leiden. (Siehe George H. Darwin’s Vorträge: Die Ehen zwischen Geschwisterkindern und ihre Folgen, Leipzig 1876.)Die geringste Entfernung im Verwandtschaftsgrade der sich ehelich Verbindenden (auch innerhalb genau desselben Typus) genügt, um die hohen Vorzüge der Inzucht mit Ausschluss dieser Nachteile zu sichern. Doch sieht Jeder, dass hier irgend ein geheimnisvolles Lebensgesetz sich kund thut, ein so dringendes Lebensgesetz, dass im Pflanzenreich, wo die Befruchtung innerhalb einer und derselben Blüte auf den ersten Blick das Natürliche und Unvermeidliche dünkt, meistens die kompliziertesten Einrichtungen getroffen sind, um dies zu verhindern und um zugleich dafür zu sorgen, dass, wenn der männliche Pollen - staub nicht im Winde fliegt, er durch Insekten von einem Individuum zum anderen getragen werde. 2)Die leider noch zahlreichen Menschen, die der Naturforschung fernstehen, mache ich auf Christian Konrad Sprengel’s: Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen, 1793, aufmerksam. Dieses Werk sollte ein Stolz der ganzen deutschen Nation sein; es liegt seit 1893 in einem Facsimile - druck (Berlin bei Mayer & Müller) vor und kann vom Ungelehrtesten gelesen werden. Von neueren Publikationen ist namentlich Hermann Müller’s: Alpen - blumen, ihre Befruchtung durch Insekten und ihre Anpassungen an dieselben (Engel - mann 1881) anregend, durch die vielen Illustrationen anschaulich, auch vollständig. Zusammenfassend und die aussereuropäischen Pflanzen berücksichtigend ist desselben Verfassers: Blumen und Insekten in der Trewendt’schen Encyklopädie der Natur - wissenschaften. Es giebt wohl wenige Betrachtungen, die uns auf so kurzem Wege unmittelbar in die geheimnisvollsten Wunder der Natur hineinführen wie diese Aufdeckung der gegenseitigen Lebensbeziehungen zwischen Pflanzen - und Tierwelt. Was heisst unser Wissen, was bedeuten unsere Hypothesen solchen Erscheinungen gegenüber? Diese lehren uns treu beobachten und uns im Kreise des Erreichbaren bescheiden. (Während der Drucklegung dieses Buches hat Knuth’s: Handbuch der Blütenbiologie bei Engelmann zu erscheinen begonnen.)Die Einsicht in ein offenbar so grundlegendes Naturgesetz lässt vermuten, dass die Entstehung aus - gezeichnetster Rassen aus einer ursprünglichen Durchdringung ver - schiedener Stämme, wie wir sie in der Geschichte beobachteten, nicht ein Zufall war; vielmehr bilden diese historischen Thatsachen weitere Belege dafür, dass Blutvermischung für die Entstehung edler Rassen besonders günstige physiologische Bedingungen schafft.

5. Noch ein fünftes Gesetz muss namhaft gemacht werden, wenngleich es eigentlich mehr einschränkend und erläuternd ist, als284Die Erben.dass es ein neues Element zur Rassenfrage beibrächte. Nur ganz bestimmte, beschränkte Blutmischungen sind für die Ver - edelung einer Rasse, resp. für die Entstehung einer neuen, förderlich. Auch hier wieder liefert uns die Tierzüchtung die klarsten, unzwei - deutigsten Beispiele. Die Blutmischung muss zeitlich streng beschränkt, ausserdem muss sie eine zweckmässige sein; nicht alle beliebigen Ver - mischungen, sondern nur bestimmte können die Grundlage zur Ver - edelung abgeben. Mit zeitlicher Beschränkung will ich sagen, dass die Zufuhr neuen Blutes möglichst schnell vor sich gehen und dann aufhören muss; fortdauernde Blutmischung richtet die stärkste Rasse zu Grunde. Um ein extremes Beispiel zu nehmen, die berühmteste Windhundmeute Englands wurde ein einziges Mal mit Bulldoggen gekreuzt, wodurch sie an Mut und Ausdauer gewann; dagegen lehren weitere Experimente, dass bei Fortsetzung einer derartigen Kreuzung die Charaktere beider Rassen verschwinden und gänzlich charakterlose Bastarde übrig bleiben. 1)Darwin: Animals and Plants, Kap. 15.Crossing obliterates characters. Die bestimmt zweckmässige Beschränkung bezieht sich darauf, dass nur gewisse Kreuzungen, nicht alle, veredeln. Es giebt Mischungen, die, weit entfernt veredelnd zu wirken, beide Rassen verderben, und es kommt ausserdem recht häufig vor, dass die bestimmten, wertvollen Charaktere zweier verschiedener Typen sich gar nicht miteinander zu verschmelzen vermögen; in letzterem Falle richtet sich ein Teil der Nachkommen - schaft nach dem einen Elternteil, der andere nach dem andern, aber natürlich mit verwischten Zügen, oder aber es kommen die eigent - lichen echten Bastarde zum Vorschein, Wesen, deren Körper den Eindruck macht, als sei er aus unzusammengehörenden Teilen zu - sammengeschraubt, und deren geistige Beschaffenheit der körperlichen entspricht. 2)Auch hierfür findet man bei Darwin zahlreiche Beispiele. Was speziell die Hunde betrifft, so sind Beispiele Jedem gegenwärtig.Wobei noch ausserdem zu bemerken ist, dass die Ver - bindung von Bastard mit Bastard den vollkommenen Niedergang aller und jeder hervorragenden Rasseneigenschaft mit rasender Schnelligkeit vollbringt. Man darf also durchaus nicht glauben, dass Blutvermischung zwischen verschiedenen Stämmen die Rasse unter allen Umständen veredelt, und als Bereicherung ihrer Anlagen durch fremde Anlagen wirkt. Das ist nur unter seltenen, bestimmten Bedingungen und strengen Einschränkungen der Fall; als Regel führt Blutvermischung zur Entartung. Es zeigt sich namentlich das Eine recht deutlich: dass285Das Völkerchaos.Vermischung zweier sehr fremdartiger Wesen nur dann zur Bildung einer edlen Rasse führt, wenn sie höchst selten stattfindet und von strenger Inzucht gefolgt wird (wie beim englischen Vollblutpferd und beim Neufundländer), dagegen sonst Vermischung nur, wo sie zwischen nahen Verwandten, zwischen Angehörigen desselben Grundtypus vor - kommt, von Erfolg ist. Auch hier wiederum kann Keiner, der die ausführlichen Ergebnisse der Tierzucht kennt, im Zweifel sein, dass die Menschengeschichte vor uns und um uns herum demselben Gesetze gehorcht. Natürlich tritt es hier zunächst nicht mit der gleichen Deutlichkeit auf wie dort; wir sind nicht in der Lage, eine Anzahl Menschen einzuhegen und durch etliche Generationen hindurch Ver - suche mit ihnen anzustellen; ausserdem, was dem Pferde die Schnellig - keit, was dem Hunde die merkwürdig plastisch bewegliche Gestalt ist, das ist dem Menschen der Geist: hier drängt bei ihm alle Lebens - kraft hin, hier konzentriert sich darum seine Variabilität, und gerade diese Unterschiede in Charakter und Intelligenz sind dem Auge nicht sichtbar. 1)Nur darf nicht übersehen werden, dass wenn man in der Lage wäre, künstliche Menschenzüchtungen anzustellen, man sicherlich auch körperlich die ungeheuersten Unterschiede erzielen würde in Bezug auf Grösse, Behaarung, Proportionen u. s. w. Man stelle nur einen Zwerg aus den Urwäldern am mittleren Congo, wenig über einen Meter hoch, den ganzen Körper mit Haarflaum bedeckt, neben einen preussischen Gardegrenadier: man wird sehen, welche plastische Möglichkeiten in der menschlichen Körperbildung schlummern. Was den Hund anbelangt, so ist noch daran zu erinnern, dass seine verschiedenen Rassen » sicherlich von mehr als einer wilden Stammart herzuleiten sind «. (Claus: Zoo - logie, 4. Aufl. II, 458); daher seine fast beängstigende Polymorphie.Doch hat die Geschichte Experimente im grossen Stil durchgeführt, und Jeder, dessen Auge nicht an Einzelheiten kleben bleibt, sondern grosse Komplexe zu übersehen gelernt hat, Jeder, der das Seelenleben der Völker verfolgt, wird Bestätigungen für das hier ge - nannte Gesetz in Hülle und Fülle entdecken. Entstehen z. B. die über - schwänglich begabte attische und die unerhört kluge und starke römische Rasse durch die Vermengung mehrerer Stämme, so sind dies mit - einander nahe verwandte und edle, reine Stämme, und diese Elemente werden durch die Staatenbildung dann Jahrhunderte lang von aussen abgeschlossen, so dass sie Zeit haben, sich zu einem neuen festen Ge - bilde zu amalgamieren; als dagegen diese Staaten jedem Fremden auf - gerissen werden, geht die Rasse zu Grunde, und zwar in Athen langsam, weil dort in Folge der politischen Lage nichts Besonderes zu holen war, die Vermengung folglich nur nach und nach und dann noch286Die Erben.zum grössten Teil mit indoeuropäischen Völkern stattfand,1)Wogegen die Beobachtung höchst lehrreich ist, dass in Ionien der Hellene, den buntesten Bastardierungen ausgesetzt, viel schneller verschwand. in Rom mit furchtbarer Schnelligkeit, nachdem Marius und Sulla die Blüte der echten Römer ermordet, den Urquell edlen Blutes also eingedämmt und im selben Augenblick durch die Freisprechung der Sklaven wahre Fluten afrikanischen und asiatischen Blutes ins Volk gebracht hatten und bald darauf Rom das Stelldichein aller Mestizen der Welt, die cloaca gentium geworden war. Ähnliches bemerken wir auf allen Seiten. Wir sehen die Engländer aus einer gegenseitigen Durch - dringung getrennter, doch nahe verwandter, germanischer Stämme hervorgehen; die normannische Invasion giebt hier gewissermassen die letzte Würze, den letzten Glanz; dagegen haben es die historisch - geographischen Bedingungen mit sich gebracht, dass die verwandt - schaftlich etwas ferner stehenden Kelten bei Seite blieben und selbst heute noch nur nach und nach mit der herrschenden Rasse ver - schmelzen. Wie offenbar anregend und auffrischend wirkt auf die Be - völkerung Berlins (noch bis heute) die Einwanderung der französischen Hugenotten, fremd genug, um das Leben durch Neues zu bereichern, freund genug, um mit ihren preussischen Wirten nicht zusammen - geschraubte Bastarde, sondern charakterstarke Männer von seltener Be - gabung zu zeugen. Um das Entgegengesetzte zu erblicken, brauchen wir nur nach Südamerika hinüberzuschauen. Giebt es einen jammer - volleren Anblick als den der südamerikanischen Mestizenstaaten? Die sogenannten Wilden von Zentralaustralien führen ein weit harmoni - scheres, menschenwürdigeres, sagen wir ein » heiligeres « Dasein, als diese unseligen Peruaner, Paraguayaner u. s. w., Blendlinge aus zwei (und oft aus mehr) unvereinbaren Rassen, aus zwei Kulturen, denen nichts ge - meinsam war, aus zwei Entwickelungsstufen, zu verschieden an Alter und Gestalt, um eine Ehe eingehen zu können, Kinder einer natur - widrigen Unzucht. Wer sich ernstlich über die Bedeutung von Rasse belehren will, kann recht viel an diesen Staaten lernen; er nehme nur die Statistiken zur Hand; er wird die verschiedensten Verhältnisse finden zwischen der rein europäischen resp. rein indianischen Bevölkerung und der halbschlächtigen, und er wird sehen, dass die relative Entartung mit der Blutvermischung genau Schritt hält. Ich nehme die zwei extremen Fälle, Chile und Peru. In Chile, dem einzigen dieser Staaten2)Im portugiesischen Brasilien herrschen wesentlich andere Verhältnisse., der einigen, bescheidenen Anspruch auf wahre Kultur erheben kann und287Das Völkerchaos.der auch verhältnismässig geordnete politische Zustände aufweist, sind gegen 30 Prozent der Bewohner noch rein spanischer Herkunft, und dieses Drittel genügt schon, um die moralische Auflösung hintanzuhalten; dagegen giebt es in Peru, das bekanntlich den anderen Republiken mit dem Beispiel des totalen moralischen nnd materiellen Bankerotts vorangegangen ist, fast gar keine Indoeuropäer reiner Rasse mehr; mit Ausnahme der noch uncivilisierten Indianer des Inneren besteht dort die gesamte Bevölkerung aus Cholos, Musties, Fusties, Terceronen, Quarteronen u. s. w., Kreuzungen zwischen Indianern und Spaniern, zwischen Indianern und Negern, Spaniern und Negern, weiter zwischen den verschiedenen Rassen und jenen Mestizen oder Kreuzungen der Mestizenarten untereinander; in letzterer Zeit sind viele Tausende von Chinesen hinzugekommen .... Da sehen wir die von Virchow und Ratzel ersehnte Promiscuität am Werke und wir sehen, was dabei herauskommt! Freilich ist es ein sehr extremes Beispiel, aber um so lehrreicher. Wenn nicht die enorme Macht der umgebenden Civilisation einen solchen Staat von allen Seiten künstlich unterstützte, wenn er z. B. durch einen Zufall abgeschnitten und sich selbst überlassen bliebe, er würde in kurzer Zeit in völlige Barbarei verfallen, nicht in eine menschliche, nein, in eine tierische Barbarei. Einem ähnlichen Schicksal gehen alle diese Staaten entgegen. 1)Bekanntlich herrschen sehr ähnliche Verhältnisse in den spanischen Kolonien. Eine einzige Ausnahme bildet die Insel Porto-Rico; hier wurden nämlich die eingeborenen Kariben gänzlich ausgerottet, und die Folge ist eine rein indoeuropäische Bevölkerung, welche sich durch Fleiss, Klugheit und Ordnungs - sinn auszeichnet: ein eklatantes Beispiel von der Bedeutung von Rasse! Auch hier überlasse ich dem Leser das weitere Nachdenken und Belegesammeln bezüglich dieses fünften Naturgesetzes, welches uns zeigt, dass jede Blutmischung eine gefährliche Sache ist und nur unter Beobachtung bestimmter Kautelen zur Veredelung der Rasse beitragen kann, sowie dass viele mögliche Kreuzungen unbedingt schädlich und zerstörend wirken; sind dem Leser die Augen erst geöffnet, so wird er für dieses Gesetz wie für die anderen vier in Gegenwart und Vergangenheit überall Belege finden.

Das sind also die fünf Prinzipien, die mir grundlegend erscheinen: die Qualität des Materials, die Inzucht, die Zuchtwahl, die Notwendig - keit von Blutmischungen, die Notwendigkeit, dass diese Blutmischungen in der Wahl und in der Zeit streng beschränkt seien. Aus diesen Prinzipien ergiebt sich dann des Weiteren als Korollarium, dass die Entstehung einer hochedlen Menschenrasse unter Anderem auch von288Die Erben.bestimmten historisch-geographischen Bedingungen abhängt; diese sind es, welche die Veredelung des Grundmaterials, sowie die Inzucht und die Zuchtwahl unbewusst vollbringen, sie auch wenn ein guter Stern über der Geburtsstätte eines neuen Volkes waltet führen die glücklichen Stammesehen herbei und wenden die Prostitution des Edlen in den Armen des Unedlen ab. Dass es in unserem Jahr - hundert eine Zeit gab, wo gelehrte Forscher (Buckle an der Spitze) lehren konnten, die geographischen Verhältnisse erzeugten die Rassen, des dürfen wir heute füglich mit der kargen Ehre einer Paralipse ge - denken; jene Lehre bedeutet einen Schlag ins Gesicht aller Geschichte und aller Beobachtung. Dagegen lässt jedes einzelne der aufgezählten Gesetze, dazu namentlich die Beispiele aus Rom, Griechenland, England, Judäa und Südamerika so deutlich begreifen, inwiefern die historisch - geographischen Bedingungen zu dem Entstehen und zu dem Vergehen eines Stammes nicht nur beitragen, sondern geradezu ein entscheidendes Moment dabei bilden, dass ich hier von weiteren Ausführungen ab - sehen kann. 1)Wäre z. B., wie man häufig behauptet, das Klima von Attica das aus - schlaggebende gewesen, so wäre nicht einzusehen, warum die Genialität seiner Einwohner nur unter gewissen Rassenbedingungen entstand und nach ihrer Auf - hebung auf ewig verschwand; ganz klar wird dagegen die Bedeutung der historisch - geographischen Verhältnisse, sobald wir gewahr werden, dass sie Attica während Jahrhunderte von den endlosen Umwälzungen der Völkerwanderung abschieden, zugleich aber dazu dienten, ihr eine ausgewählte edle Bevölkerung aus ver - schiedenen doch stammverwandten Volkszweigen zuzuführen, die nun miteinander zu einer neuen Rasse verschmolzen.

Andere Einflüsse.
294

Ist hiermit die Rassenfrage erschöpft? Weit entfernt davon! Diese biologischen Probleme sind von enormer Komplexität. Sie um - fassen z. B. die noch so geheimnisvolle Thatsache der Vererbung, über deren Grundprinzipien die bedeutendsten Fachleute alle Tage uneiniger werden. 2)Eine interessante Zusammenfassung der verschiedenen Meinungen aus neuester Zeit findet der Leser in Friedrich Rohde’s: Entstehung und Vererbung indivi - dueller Eigenschaften, 1895.Ausserdem wären noch allerhand andere Um - stände in Betracht zu ziehen, die ein eingehendes Studium zu Tage fördert. Die Natur ist eben ein Unerschöpfliches; wir mögen das Lotblei noch so tief senken, den Boden erreichen wir niemals. Wer über diese Dinge nachdenken will, wird z. B. nicht übersehen dürfen, dass geringe Zahlen fremder Elemente von einer starken Rasse in kurzer Zeit ganz und gar absorbiert zu werden pflegen, dass es aber289Das Völkerchaos.hierfür, wie die Chemiker sagen, eine bestimmte Kapazität, das heisst, ein bestimmtes Aufnahmevermögen giebt, über welches hinaus das Blut getrübt wird, was durch die Abnahme des Charakteristischen sich kundthut. Italien, in welchem die stolzleidenschaftlichen, überaus genialen Geschlechter kraftvoller Germanen, welche bis ins 14. Jahr - hundert ihr Blut rein erhalten hatten, sich später, nach und nach, mit gründlich bastardierten Italikern und Italioten vermengten, und so aus der Welt verschwanden, liefert ein Beispiel (siehe Kap. 6 und 9): crossing obliterates characters. Der sorgfältig Beobachtende wird ferner entdecken, dass bei Kreuzungen zwischen Menschenstämmen, die mit - einander nicht nächstverwandt sind, die relative Zeugungskraft ein Faktor ist, der noch nach Jahrhunderten durchdringen und den Nieder - gang des edleren Bestandteiles eines gemischten Volkes nach und nach herbeiführen kann, weil nämlich die relative Zeugungskraft häufig im umgekehrten Verhältnis zum Rassenadel steht. 1)Das S. 282 Gesagte deutet diesen Sachverhalt schon an.Hierfür erleben wir ein Beispiel im heutigen Europa, wo die kurzen, runden Schädel immerwährend an Zahl zunehmen und somit langsam die langen » Dolichocephalen « verdrängen, aus denen, nach übereinstimmenden Gräberbefunden, fast die Gesamtzahl der echten alten Germanen, Slaven und Kelten bestand; man erblickt darin das Überhandnehmen einer von den Indogermanen besiegten fremdartigen Rasse (der » präkeltischen «, wie Virchow sie nennt), welche durch animalische Kraft den geistig Überlegeneren allmählich überwindet. 2)Eine klare leichtverständliche Zusammenfassung bei Johannes Ranke: Der Mensch, II, 296 fg. Gründlicher, aber darum auch viel schwieriger, ist die Besprechung aller dieser Fragen im zweiten Teil von Topinard’s: L’Anthro - pologie. Merkwürdig ist bei letzterem nur die Anwendung des Wortes » Rasse « für eine hypothetische Wesenheit, deren thatsächliches Dasein zu keiner Zeit nach - gewiesen werden kann. » Il n’y a plus de races pures «; wer beweist, dass es in diesem apriorischen Sinne anthropologischer Voraussetzungen jemals welche gab? Reine Tierrassen werden nur durch Züchtung und mit Zugrundelegung von Blut - mischungen erzielt; warum sollte beim Menschen das Umgekehrte gelten? Übrigens ist diese ganze » präkeltische « Hypothese, wie alle diese Dinge, ein noch sehr luftiges Gedankenbild. Näheres über diese Fragen weiter unten, im Kap. 6.Hierher gehört vielleicht auch die eigentümliche Thatsache des zunehmenden Übergewichtes der dunklen Augen vor den grauen und blauen, indem bei Ehen zwischen Menschen mit verschieden gefärbten Augen, die dunklen fast aus - nahmslos weit zahlreicher in der Nachkommenschaft vertreten sind. 3)Alphonse De Candolle: Histoire des sciences et des savandets puis deux siècles, 2e éd; pag. 576.

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 19290Die Erben.

Wollte ich hier fortfahren, wir kämen in eines der dornigsten Gebiete der heutigen Wissenschaft hinein. Es ist aber für meinen Zweck durchaus unnötig. Ohne mich um eine Definition zu kümmern, habe ich Rasse im eigenen Busen, in den Hochthaten der Genies, auf den glänzendsten Blättern der Menschengeschichte nachgewiesen; dann habe ich auf die wichtigsten Bedingungen aufmerksam gemacht, welche die wissenschaftliche Beobachtung uns als grundlegend für die Entstehung edler Rassen zeigten. Dass aus dem Eintritt entgegen - gesetzter Bedingungen, Entartung oder zum Mindesten die Hintan - haltung in der Ausbildung edler Anlagen folgen muss, scheint höchst wahrscheinlich und dürfte durch Vergangenheit und Gegenwart vielfach belegt werden. Ich war absichtlich vorsichtig und zurückhaltend; durch solche labyrinthisch verwickelte Fragen führt der engste Pfad am sichersten: mir lag einzig daran, eine recht lebhafte Vorstellung dessen zu wecken, was reingezüchtete Rasse ist, was sie für das Menschengeschlecht bedeutet hat und noch heute bedeutet.

Die Nation.
298

Eine sehr wichtige Einsicht habe ich noch nicht ausdrücklich formuliert, sie ergiebt sich aus allem Gesagten von selbst: der Begriff Rasse hat nur dann einen Inhalt, wenn wir ihn nicht möglichst weit, sondern möglichst eng nehmen; folgen wir dem herrschenden Ge - brauch und bezeichnen wir mit diesem Wort möglichst weit zurück - liegende, hypothetische Geschlechter, so wird es zuletzt kaum mehr als ein blasses Synonym für » Menschheit « überhaupt, womöglich mit Einschluss der lang - und der kurzschwänzigen Affen; Rasse heisst nur dann etwas, wenn es sich auf Erfahrungen der Vergangenheit und auf Erlebnisse der Gegenwart bezieht.

Hier lernen wir nun einsehen, was Nation für Rasse zu be - deuten hat. Fast immer ist es die Nation, als politisches Gebilde, welche die Bedingungen zur Rassenbildung schafft oder wenigstens zu den höchsten, individuellsten Bethätigungen der Rasse führt. Wo, wie in Indien, die Bildung von Nationen ausbleibt, da verkümmert der durch Rasse angesammelte Kraftvorrat. Die Konfusion aber, welche unter uns in Bezug auf den Begriff Rasse herrscht, verhindert selbst die Gelehrtesten diese hohe Bedeutung der Nationen einzusehen, wodurch zugleich das Verständnis für die grundlegenden Thatsachen der Geschichte verschlossen bleibt. Denn in der That, was lehren uns unsere heutigen Historiker über das Verhältnis zwischen Rasse und Nation?

Ich nehme ein beliebiges Buch zur Hand Renan’s Rede » Was ist eine Nation? « in Hunderten von anderen begegnet man den291Das Völkerchaos.gleichen Lehren. Die These ist bei Renan deutlich formuliert: » Die Thatsache der Rasse «, schreibt er, » ursprünglich von entscheidender Wichtigkeit, verliert täglich an Bedeutung «. 1)Renan: Discours et Conférences, 3e éd., p. 297: » Le fait de la race, capital à l’origine, va donc toujours perdant de son importance «.Wie wird diese Behaup - tung begründet? Durch den Hinweis auf die Thatsache, dass die tüchtig - sten Nationen Europas aus gemischtem Blute entstanden sind! Welch eine Menge Trugschlüsse birgt nicht dieser eine Satz, welche Unfähig - keit, sich durch Anschauung belehren zu lassen! Die Natur und die Ge - schichte zeigen uns kein einziges Beispiel hervorragend edler, physiog - nomisch individueller Rassen, welche nicht aus einer Vermischung her - vorgegangen wären; und jetzt soll eine Nation von so ausgesprochener Individualität wie die englische keine Rasse darstellen, weil sie » aus der Vermengung von Angelsachsen, Dänen und Normannen « (noch dazu eng verwandte Stämme) hervorgegangen ist! Die klarste Evidenz, die mir den Engländer als ein mindestens ebenso ausgeprägtes Sonder - wesen wie den Griechen und den Römer der Glanzepochen zeigt, muss ich leugnen; leugnen zu Gunsten eines willkürlichen, in alle Ewigkeit unbeweisbaren Gedankendinges, zu Gunsten der voraus - gesetzten, ursprünglichen » reinen Rasse «. Zwei Seiten früher hatte Renan selber auf Grund der anthropologischen Befunde festgestellt, dass bei den ältesten Ariern, Semiten, Turaniern (» les groupes aryen primitif, sémitique primitif, touranien primitif «) man Menschen von sehr verschiedenem Körperbau antrifft, langschädelige und kurz schädelige, also, auch sie hätten keine » gemeinsame physiologische Einheit « besessen. Gott, welche Wahngebilde entstehen nicht, sobald der Mensch nach angeblichen » Ursprüngen « forscht! Immer wieder muss ich Goethe’s grosses Wort anführen: » Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit «. Anstatt das Gegebene, das Erforschbare so zu nehmen wie es ist, und uns mit der Erkenntnis der nächsten, nachweisbaren Bedingungen zu begnügen, glauben wir immer wieder von möglichst weit zurückliegenden, gänzlich hypo - thetischen Ursachen und Annahmen ausgehen zu müssen, denen wir das Gegenwärtige, Zweifellose ohne Scheu opfern. So sind unsere » Em - piriker « beschaffen. Dass sie nicht weiter als ihre eigene Nase sehen, das glauben wir ihnen gern aufs blosse Wort, leider sehen sie aber nicht einmal so weit, sondern rennen mit besagter Nase gegen faustdicke Thatsachen an und klagen dann über die betreffenden Thatsachen,19*292Die Erben.nicht über ihre eigene Kurzsichtigkeit. Was für ein Ding ist das denn, diese ursprünglich » physiologisch einheitliche Rasse «, von der Renan redet? Vermutlich ein naher Verwandter von Häckel’s Menschen - affen. Und dieser hypothetischen Bestie zulieb soll ich leugnen, dass das englische Volk, das preussische Volk, das spanische Volk einen bestimmten, ganz und gar individuellen Charakter besitzt! Herr Renan vermisst die physiologische Einheit: ja, sieht er denn nicht ein, dass diese physiologische Einheit durch die Ehe herbeigeführt wird? Wer sagt ihm denn, dass die hypothetischen Urarier nicht auch geworden waren? Wir wissen allesammt nichts davon; was wir aber wissen, lässt es analogisch vermuten. Es gab unter ihnen schmale Köpfe und breite Köpfe: wer weiss, ob diese Mischung nicht nötig war, um eine edelste Rasse hervorzubringen? Das gemeine englische Pferd und das (zweifellos ursprünglich selber aus einer Mischung hervorgegangene) arabische Pferd waren » physiologisch « ebenfalls sehr verschieden, und aus ihrer Verbindung erzeugte sich doch im Laufe der Zeit die physiologisch einheitlichste und edelste Tierrasse der Welt, das englische Vollblut. Nun sieht der grosse Gelehrte Renan das englische Menschenvollblut gewissermassen vor seinen Augen, nämlich in historischen Zeiten entstehen. Was folgert er daraus? Er sagt: da der heutige Engländer weder der Kelte aus Cäsar’s Zeiten, noch der Angelsachse des Hengist, noch der Däne des Knut, noch der Normanne des Eroberers, sondern das Ergebnis einer Durchdringung aller vier sei, so könne man von einer englischen Rasse überhaupt nicht sprechen. Also, weil die englische Rasse eine geschichtlich gewordene ist (wie alle, von denen wir sichere Kunde besitzen), weil sie etwas durchaus neues, eigenartiges ist: darum existiert sie gar nicht! Wahrhaftig, es geht nichts über Gelehrtenlogik!

» Was ihr nicht rechnet,
Glaubt ihr, sei nicht wahr «.

Wir werden über die Bedeutung der Nationen für Rassenbildung ganz anders urteilen. Das römische Reich in seiner Imperiumzeit war die Verkörperung des antinationalen Prinzips; dieses Prinzip führte zur Rassenlosigkeit und zugleich zum geistigen und moralischen Chaos; die Errettung aus dem Chaos geschah durch die zunehmend scharfe Aus - bildung des entgegengesetzten Prinzips der Nationen. 1)Dies bildet den Gegenstand des achten Kapitels.Nicht immer293Das Völkerchaos.hat die politische Nationalität bei der Erzeugung individueller Rassen dieselbe Rolle gespielt wie in unserer neueren Kultur; ich brauche nur auf Indien, Griechenland und auf die Israeliten zu verweisen; jedoch schöner, folgenreicher, und, wie es scheint, dauerhafter wurde das Problem nie gelöst als bei uns Germanen. Als hätte man sie aus dem Boden gestampft, ist in diesem kleinen europäischen Weltteil eine Reihe durchaus neuer, unterschiedener Gebilde hervorgegangen. Herr Renan meint, nur in der alten Polis hätte es Rasse gegeben, weil allein dort die numerische Beschränktheit Blutgemeinschaft gestattet habe; das ist ganz falsch; man braucht nur wenige Jahrhunderte zurück - zurechnen und jeder Mensch zählt Hunderttausende von Voreltern; was also in dem engen Gebiet Athens in verhältnismässig kurzer Zeit geschah, die physiologische Aneinanderknüpfung, das geschah bei uns im Laufe etlicher Jahrhunderte und setzt sich heute noch fort. Weit entfernt, dass die Bedeutung der Rasse in unseren Nationen abnähme, nimmt sie notwendiger Weise täglich zu. Je länger ein bestimmter Länderkomplex politisch vereinigt bleibt, um so inniger wird jene geforderte » physiologische Einheit «, um so schneller und gründlicher saugt sie fremde Elemente auf. Unsere Anthropologen und Historiker setzen ohne weiteres voraus, in ihren hypothetischen Urrassen seien die spezifischen, unterscheidenden Charakteristika hoch entwickelt gewesen, jetzt jedoch befänden sie sich in progressiver Abnahme; es fände also ein Fortgang aus ursprünglicher Mannig - faltigkeit zu zunehmender Einfältigkeit statt. Diese Annahme wider - spricht aller Erfahrung, welche uns vielmehr lehrt, dass Individuali - sierung eine Frucht wachsender Differentiierung und Absonderung ist. Gegen die Voraussetzung, ein organisches Wesen trete zuerst mit scharf ausgesprochenen Kennzeichen auf, die sich dann allmählich verwischen, spricht die gesamte biologische Wissenschaft; diese zwingt uns geradezu die umgekehrte Hypothese auf: dass das frühe Menschen - geschlecht ein bewegliches, verhältnismässig farbloses Aggregat war, aus welchem heraus die einzelnen Typen in zunehmender Divergenz und zunehmend scharfer Individualität hervorgewachsen sind; eine Hypothese, welche durch alle Geschichte bestätigt wird. Nicht also aus Rassentum zur Rassenlosigkeit ist der normale, gesunde Ent - wickelungsgang der Menschheit, sondern im Gegenteil, aus der Rassenlosigkeit zur immer schärferen Ausprägung der Rasse. Die Bereicherung des Lebens durch neue Individualitäten scheint überall ein höchstes Gesetz der unerforschlichen Natur zu sein. Hier spielt294Die Erben.nun bei uns Menschen die Nation, welche fast immer Vermischung, gefolgt von Inzucht bewirkt, eine ausschlaggebende Rolle. Ganz Europa beweist es. Herr Renan zeigt, wie viele Slaven mit den Germanen verschmolzen sind, und stellt ziemlich hämisch die Frage, ob man überhaupt berechtigt sei, die heutigen Deutschen » Germanen « zu nennen: nun, mich dünkt, über Namen braucht man in solchen Fällen nicht zu streiten, was die heutigen Deutschen sind, hat Herr Renan im Jahre 1870 erfahren können; er erfuhr es ausserdem durch die Gelehrten, deren Fleiss er neun Zehntel seines Wissens verdankt. Das ist der Erfolg von Rassenerzeugung durch Nationen - bildung. Und da Rasse nicht bloss ein Wort ist, sondern ein organisches, lebendiges Wesen, so folgt ohne weiteres, dass sie nie stehen bleibt: sie veredelt sich, oder sie entartet, sie entwickelt sich nach dieser oder jener Richtung und lässt andere Anlagen verkümmern. Das ist ein Gesetz alles individuellen Lebens. Der feste nationale Verband ist aber das sicherste Schutzmittel gegen Verirrung; er bedeutet gemeinsame Erinnerung, gemeinsame Hoffnung, gemeinsame geistige Nahrung; er festet das bestehende Blutband und treibt an, es immer enger zu schliessen.

Der Held.
300

Ebenso wichtig wie die klare Erkenntnis des organischen Verhält - nisses zwischen Rasse und Nation, ist die des organischen Verhält - hältnisses zwischen der Rasse und ihrer Quintessenz, dem Helden, oder Genie. Gemeiniglich glauben wir wählen zu müssen zwischen Heldenanbetung und Heldengeringschätzung. Beides ist gleich falsch. Was ich schon in der allgemeinen Einleitung ausgeführt habe, braucht nicht wiederholt zu werden; hier aber, wo die Rassen - frage im Vordergrund steht, tritt uns dieses Problem in einer besonders klaren Fassung entgegen und bei einiger Kraft der An - schauung müssen wir doch einsehen: der Einfluss der geistig hervor - ragenden Individuen in einem Geschlecht, wie das menschliche, dessen Eigenheit auf der Ausbildung seiner geistigen Fähigkeiten beruht, ist unermesslich, zum Guten und auch zum Bösen; diese Individuen sind die tragenden Füsse, die bildenden Hände jedes Volkes, sie sind das Antlitz, welches wir Andere erblicken, sie sind das Auge, welches selber die übrige Welt in einer bestimmten Weise erschaut und dem übrigen Organismus mitteilt. Hervorgebracht werden sie jedoch vom gesamten Körper; nur durch dessen Lebensthätigkeit können sie ent - stehen, nur an ihm und in ihm gewinnen sie Bedeutung. Was soll mir die Hand, wenn sie nicht aus einem kräftigen Arm als ein Stück,295Das Völkerchaos.ein Teil davon herauswächst? was soll mir das Auge, wenn die strahlenden Gestalten, die es erschaute, sich nicht weiterspiegeln in einer dahinter liegenden dunklen, fast amorphen Gehirnmasse? Er - scheinungen erhalten erst dadurch Bedeutung, dass sie mit anderen Erscheinungen in Verbindung stehen. Je reicher das Blut unsichtbar in den Adern kreist, umso üppiger werden die Blüten des Lebens hervorsprossen. Die Behauptung, Homer habe Griechenland geschaffen, spricht zwar buchstäbliche Wahrheit aus, bleibt aber einseitig und irre - leitend, solange nicht hinzugefügt wird: nur ein unvergleichliches Volk, nur eine ganz bestimmte, geadelte Rasse konnte diesen Mann hervor - bringen, nur eine Rasse, bei der das sehende und gestaltende Auge in überschwänglichster Weise zur Ausbildung gelangt war. 1)Wer von der ungeheueren Kraft dieser Geschlechter, fähig einem Homer als Grundlage zu dienen, sich eine lebendige Vorstellung machen will, der lese die Beschreibungen der Burgen von Tiryns und Mykenä, aus atridischer Zeit, wie sie heute noch, nach Jahrtausenden, dastehen.Ohne Homer wäre Griechenland nicht Griechenland geworden, ohne Hellenen wäre Homer nie geboren. Die Rasse, die den grossen Seher der Gestalten gebar, gebar auch den erfindungsreichen Seher der Figuren, Euklid, den luchsäugigen Ordner der Begriffe, Aristoteles, den Mann, der das System des Kosmos zuerst durchschaute, Aristarchos u. s. w. ad infinitum. Die Natur ist nicht so einfach, wie die Schulweisheit es sich träumt: ist grosse Persönlichkeit unser » höchstes Glück «, so ist doch gemeinschaftliche Grösse der einzige Boden, auf dem sie er - wachsen kann. Die ganze Rasse z. B. ist es, welche die Sprache schafft, damit zugleich bestimmte künstlerische, philosophische, religiöse, ja sogar praktische Möglichkeiten, aber auch unübersteigliche Schranken. Auf hebräischem Boden konnte niemals ein Philosoph entstehen, weil der Geist der hebräischen Sprache die Verdolmetschung metaphysischer Gedanken absolut unmöglich macht; aus demselben Grunde konnte kein semitisches Volk eine Mythologie im gleichen Sinne wie die Inder und die Germanen besitzen. Man sieht, welche bestimmte Wege auch die grössten Männer durch die gemeinsamen Leistungen der ganzen Rasse gewiesen werden. 2)Nach Renan (Israel, I, 102) vermag die hebräische Sprache: weder einen philosophischen Gedanken, noch eine mythologische Vorstellung, noch das Gefühl des Unendlichen, noch die Regungen des menschlichen Innern, noch die reine Naturbetrachtung überhaupt zum Ausdruck zu bringen.Die Sprache ist es aber nicht allein. Homer musste die Mythen vorfinden, um sie gestalten zu können;296Die Erben.Shakespeare brachte auf die Bühne die Geschichte, die das englische Volk gelebt hatte; Bach und Beethoven entspriessen Stämmen, die schon den Alten durch ihr Singen aufgefallen waren. Und Mohammed? Hätte er die Araber zu einer Weltmacht erheben können, wenn sie nicht als eine der reinst gezüchteten Rassen der Erde bestimmte » über - schwängliche « Eigenschaften besessen hätten? Hätte ohne den neuen Stamm der Preussen der Grosse Kurfürst das Gebäude begründen, der grosse Friedrich ausbauen, der grosse Wilhelm vollenden können, welches jetzt Deutschland umfasst?

Das rassenlose Chaos.
302

Hiermit ist unsere erste Aufgabe in diesem Kapitel erledigt: wir haben eine deutliche, konkrete Vorstellung davon bekommen, was Rasse ist und was sie für das Menschengeschlecht zu bedeuten hat; wir haben auch an einigen Beispielen der Gegenwart gesehen, wie verhängnisvoll die Abwesenheit von Rasse, d. h. also das Chaos un - individualisierter, artenloser Menschenagglomerate wirkt. Wer das nun alles einsieht und darüber nachsinnt, wird allmählich erkennen lernen, was es für unsere germanische Kultur bedeuten mag, dass die auf sie herabgeerbte Kultur des Altertums, welche an wichtigen Punkten noch immer nicht allein ihre Grundlage, sondern auch ihr Gemäuer bildet, ihr nicht durch ein bestimmtes Volk vermittelt wurde, sondern durch ein nationloses, physiognomiebares Gemenge, in welchem die Bastarde das grosse Wort führten, nämlich, durch das Völkerchaos des untergehenden römischen Imperiums. Unsere gesamte geistige Entwickelung steht noch heute unter dem Fluche dieser unseligen Zwischenstufe; sie ist es, welche noch im 19. Jahrhundert den anti - nationalen, rassenfeindlichen Mächten die Waffen in die Hand giebt.

Schon vor Julius Cäsar beginnt das Chaos zu entstehen; durch Caracalla wird es zum offiziellen Prinzip des römischen Reiches er - hoben. 1)Siehe S. 147.So weit das Imperium reichte, so weit hat gründliche Blut - vermischung stattgefunden, doch so, dass die eigentliche Bastardierung, das heisst, wie wir jetzt wissen, die Kreuzung zwischen unverwandten oder zwischen edlen und unedlen Rassen fast ausschliesslich im süd - lichsten und im östlichsten Teil vorkam, dort, wo die Semiten mit den Indoeuropäern zusammentrafen also in den Hauptstädten Rom und Konstantinopel, dann an der Nordküste Afrikas ganz entlang (sowie auch an den Küsten Spaniens und Galliens), vor Allem in Ägypten, Syrien und Kleinasien.

297Das Völkerchaos.

Es ist ebenso leicht als wichtig, sich den Umfang dieses Länder - komplexes vorzustellen. Die Donau und der Rhein treffen an ihrem Ursprung fast zusammen; die beiden Flussgebiete greifen so genau in einander über, dass es in der Nähe des Albulapasses einen kleinen See giebt, der bei hohem Wasserstande, so wird versichert, auf der einen Seite in die Albula und den Rhein, auf der anderen in den Inn und die Donau abfliesst. Verfolgt man nun den Lauf dieser Flüsse von der Mündung des Rheins in die Nordsee, bei Rotterdam, den Rhein hinauf und die Donau hinunter bis zu ihrer Mündung in das Schwarze Meer, so erhält man eine ununterbrochene Linie, welche den europä - ischen Kontinent in der Richtung von Nordwesten nach Südosten durchkreuzt; sie bildet die durchschnittliche Nordgrenze des römischen Reiches während langer Zeit; ausser in Teilen von Dacien (im heutigen Rumänien) haben sich die Römer niemals nördlich und östlich von dieser Grenze dauernd behauptet. 1)Das römische Grenzwallsystem schnitt allerdings ein ziemliches Stück nördlich von der Donau und östlich vom Rhein ab, indem der Limes oberhalb Regensburg nach Westen abzweigte, bis in die Nähe von Stuttgart, von dort wieder nach Norden, bis er westlich von Würzburg den Main traf. Doch wurde dieses sog. » Zehntland « nicht von Italern, sondern, wie Tacitus erzählt, von » den Leichtfertigsten der Gallier « bezogen. (Vgl. Wietersheim: Völkerwanderung I, 161 ff.)Diese Linie teilt Europa (wenn man den asiatischen und afrikanischen Besitz Roms dazurechnet) in zwei fast gleiche Teile. In dem südlichen Teile hat nun die grosse Bluttransfusion (wie die Ärzte die Einspritzung fremden Blutes in einen Organismus nennen) stattgefunden. Betitelt Maspero in seiner Geschichte der Völker des klassischen Orients den einen Band » das erste Durcheinander der Völker «, so könnte man hier von einem zweiten Durcheinander reden. In Britannien, sowie in Rhätien, im allernördlichsten Gallien u. s. w. scheint es freilich trotz der römischen Herrschaft zu keiner eigentlichen Durchdringung gekommen zu sein; auch im übrigen Gallien, sowie in Hispanien hatten wenigstens die aus Rom importierten neuen Ele - mente etliche Jahrhunderte verhältnismässiger Abgeschiedenheit zur Verschmelzung mit den früheren Einwohnern, ehe andere nachkamen, ein Umstand, welcher die Ausbildung einer neuen, sehr charakteristischen Rasse, der gallorömischen, ermöglichte. Im Südosten dagegen, und namentlich an allen Kulturzentren (die, wie bereits hervorgehoben, einzig im Süden und Osten lagen) ergab sich ein um so gründlicheres, verderblicheres Durcheinander, als die aus dem Orient Hinzuströmenden selber lauter halbschlächtige Menschen waren. Unter damaligen Syriern298Die Erben.z. B. darf man sich nicht eine bestimmte Nation, irgend ein Volk, eine Rasse vorstellen, sondern vielmehr eine bunte Agglomeration pseudohethitischer, pseudosemitischer, pseudohellenischer, pseudoper - sischer, pseudoskythischer Bankerte. Leichte Begabung, oft auch eigen - tümliche Schönheit, das, was die Franzosen un charme troublant nennen, ist Bastarden häufig zu eigen; man kann dies heutzutage in Städten, wo, wie in Wien, die verschiedensten Völker sich begegnen, täglich beobachten; zugleich aber kann man auch die eigentümliche Haltlosigkeit, die geringe Widerstandskraft, den Mangel an Charakter, kurz, die moralische Entartung solcher Menschen wahrnehmen. Den Syrier mache ich darum namhaft, weil ich nicht durch wortreiche Aufzählungen, sondern durch Beispiele reden möchte; er aber war das Muster des aus allem völklichen Zusammenhang losgerissenen Bastards; gerade deswegen hat er bis zum Einbruch der Germanen (und noch darüber hinaus) eine grosse Rolle gespielt. Wir finden Syrier auf dem kaiserlichen Throne, Caracalla gehört zu ihnen, und das in Seide und Gold gekleidete, wie eine Tänzerin geschmückte Monstrum, Heliogabalus, wurde direkt aus Syrien importiert; wir finden sie in allen Verwaltungen und Präfekturen; sie, sowie ihr Seitenstück, die afrikanischen Bastarde, reden ein grosses Wort bei der Kodifikation des Rechtes mit und ein geradezu ausschlaggebendes bei der Ausbildung der römischen Universalkirche. Schauen wir uns einen dieser Männer näher an; wir bekommen dadurch sofort ein lebhaftes Bild des damaligen civilisierten Bruchteils Europas und seiner ge - schäftigsten Kulturträger und erhalten somit einen Einblick in die Seele des Völkerchaos.

Lucian.
304

Der Schriftsteller Lucian ist wohl Jedem, wenigstens dem Namen nach bekannt; seine ungewöhnliche Begabung zieht unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf ihn. Geboren an den Ufern des Euphrat, unfern der ersten Ausläufer des taurischen Gebirges (in denen noch energische Stämme indoeuropäischer Herkunft wohnten), lernt der Knabe neben der syrischen Landessprache auch griechisch radebrechen. Er zeigt Talent für Zeichnen und Bildhauerei und wird zu einem Bildhauer in die Lehre ge - geben, doch erst, nachdem ein Familienconcilium stattgefunden hat, um zu beraten, wie der Junge am schnellsten zu recht viel Geld kommen könne. Diese Sorge ums Geld bleibt fortan das ganze Leben hindurch, trotz der später angehäuften Reichtümer, der Leitstern nein, das wäre zu schön gesagt, der treibende Impuls dieses begabten Syriers; in seiner Schrift Nigrinus gesteht er mit beneidenswerter299Das Völkerchaos.Ungeniertheit, das Liebste auf der Welt sei ihm Geld und Ruhm, und noch als alter Mann schreibt er ausdrücklich, er nehme die ihm von Commodus (dem Gladiatorenkaiser) angebotene hohe Beamten - stelle des Geldes wegen an. Doch mit der Kunst wird’s nichts. In einer hochberühmten, doch meines Wissens bisher von keinem Historiker nach ihrem wahren Inhalt gewürdigten Schrift, » der Traum «, sagt uns Lucian, weswegen er die Kunst aufgab und es vorzog, Jurist und Litterat zu werden. Im Traume waren ihm zwei Weiber erschienen: die eine » sah nach Arbeit aus « (!), hatte schwielige Hände, das Gewand über und über von Gips befleckt, die andere war elegant angezogen und stand gelassen da; die eine war die Kunst, die andere wer es nicht schon weiss, wird es nie erraten, die andere war die Bildung! 1)So wird, und wohl mit Recht, das griechische Wort παιδεία von den besten Übersetzern hier verdeutscht; um Kindererziehung handelt es sich nicht und » Wissenschaft « würde zu viel besagen. Dem etwaigen Einwurf, dass die erste Frau sich zunächst nicht als die » Kunst « kurzweg, sondern als » die Kunst, Hermen zu schnitzen « vorstellt, ist zu entgegnen, dass sie doch später einfach als Τέϰνη bezeichnet wird, und dass die Berufung auf Phidias und andere Künstler keinem Zweifel über die Absicht Raum lässt.Die arme Kunst bemüht sich, durch das Beispiel von Phidias und Polyklet, Myron und Praxiteles ihren neuen Jünger anzueifern, doch vergeblich; denn die Bildung thut überzeugend dar, die Kunst sei eine » unedle Beschäftigung « (!); den ganzen Tag bleibe der Künstler in einem schmutzigen Kittel über seine Arbeit gebückt, wie ein Sklave; selbst Phidias sei nur » ein gemeiner Handwerker « gewesen, der » von seiner Hände Arbeit lebte «; wer dagegen statt Kunst die » Bildung « erwähle, dem stünden Reichtum und hohe Ämter in Aussicht, und wenn er auf der Strasse spazieren gehe, dann würden sich die Leute anstossen und sagen: » Schau, da geht der berühmte Mann! « 2)Das leise Echo vernahmen wir in unserem Jahrhundert: » Nennt man die besten Namen, So wird auch der meine genannt! «Schnell entschlossen springt Lucian auf: » das unschöne, arbeitsvolle Leben verliess ich und trat zur Bildung über «. Heute Bildhauer, morgen Advokat; wer ohne Bestimmung geboren ist, kann alles erwählen;3)Vergl. S. 244. weı nach Geld und Ruhm geht, braucht nicht in die Höhe zu schauen und riskiert also nicht, wie der Held des deutschen Kindermärchens, in den Brunnen zu fallen. Man glaube nicht, jener » Traum « sei etwa eine Satire; als Rede gab ihn Lucian in300Die Erben.seiner Vaterstadt zum Besten, als er sie später einmal, mit Gold und Lorbeeren bedeckt, besuchte; der Jugend von Samosata hielt er er selber sagt es seinen Lebenslauf als Beispiel vor. Welche bittere Satire ihr ganzes Schicksal auf das Leben der wahrhaft Grossen bedeutet, verstehen solche Menschen, sonst so geistvoll, niemals; wie hätte sonst ein Heine sich in eine Linie mit einem Goethe stellen können? Nun, Lucian hatte die Bildung erwählt; um sie zu erwerben, begab er sich nach Antiochien. Athen war freilich noch immer die wahre hohe Schule des Wissens und des Ge - schmackes, galt aber für altmodisch; das syrische Antiochien und das angeblich hellenische, doch bereits im 2. Jahrhundert mit fremden Elementen durch und durch getränkte Ephesus übten eine weit stärkere Anziehung auf die internationale Jugend des römischen Reiches aus. Dort studierte Lucian das Recht und die Beredsamkeit. Doch als intelligenter Mensch empfand er peinlich die Misshandlung der griechischen Sprache seitens seiner Lehrer; er erriet den Wert eines reinen Stiles und setzte nach Athen hinüber. Bezeichnend ist es, dass er nach kurzen Studien daselbst als Anwalt und Redner aufzutreten sich erkühnte; alles hatte er inzwischen gelernt, nur nicht, was sich schickt; die Athener brachten es ihm bei, sie lachten über den » Barbaren « mit seinen angelernten Fetzen fremder Bildung und gaben ihm damit einen Wink vom Himmel: er entwich nach einem Ort, wo man es mit dem Geschmack nicht so genau nahm, nach Massilia. Diese phönicisch-diasporische Hafenstadt hatte soeben durch die Ankunft Tausender von palästinischen Juden ein so ausgesprochenes Gepräge erhalten, dass sie einfach » die Judenstadt « hiess, doch kamen hier Gallier, Römer, Spanier, Ligurier, alles Er - denkliche zusammen. Hier, in Neuathen, wie ihre Einwohner mit zarter Anerkennung ihres eigenen Geisteswertes Massilia zu nennen beliebten, lebte Lucian viele Jahre und wurde ein reicher Mann; die Advokatur gab er auf, dazu hätte er lateinisch gründlich studieren müssen; ausserdem war die Konkurrenz gross, und schon in An - tiochien hatte er als Jurist keinen besondern Erfolg gehabt; was diese reich gewordenen Leute am nötigsten brauchten war Bildung, » moderne « Bildung und Anstandslehre. War nicht gerade » Bildung « Lucian’s Ideal, sein Traum gewesen? Hatte er nicht in Antiochien studiert und sogar in Athen » öffentlich geredet «? Er hielt also Vorträge; die Zuhörer verhöhnten ihn aber nicht wie in Athen, sondern zahlten jedes Honorar, das er zu fordern beliebte. Ausserdem reiste er in301Das Völkerchaos.ganz Gallien als bestellter Prunkredner herum, damals ein sehr ein - trägliches Geschäft: heute die Tugenden eines Verblichenen feiernd, den man niemals im Leben sah, morgen zur Verherrlichung eines religiösen Festes beitragend, das zu Ehren irgend einer lokalen gallo - römischen Divinität gegeben wurde, deren Namen ein Syrier nicht ein - mal aussprechen konnte. Wer sich von dieser Rednerei eine Vorstellung machen will, sehe sich die Florida des gleichzeitigen, aber afri - kanischen Mestizen Apulejus an;1)Apulejus rühmt sich ausdrücklich seiner gemischten Herkunft. Übrigens hat auch er in Syrien und Ägypten studiert und ist in Griechenland gereist, hat also ungefähr denselben Bildungsgang wie Lucian gehabt. es ist dies eine Sammlung kürzerer und längerer oratorischer Effektstücke, geeignet in jede beliebige Rede eingeschoben zu werden, um dann, als scheinbar plötzliche Ein - gebung, die ganze Versammlung durch den Reichtum des Wissens, den Witz, die Empfindungstiefe des Redners zu verblüffen und hinzu - reissen; es liegt da alles nebeneinander » auf Lager «: das Gedanken - tiefe, das fein Pointierte, die geistreiche Anekdote, das devot Unter - thänige, das von Freiheitsgelüsten Strotzende, ja, die Entschuldigung, nichts vorbereitet zu haben und der Dank für die Standbilder, mit welchen man den Redner überraschen könnte! Gerade solche Dinge malen einen Menschen, und ihn nicht allein, sondern eine ganze Kultur, oder, um mit Lucian zu sprechen, eine ganze » Bildung «. Wer den Fürsten Bismarck in einer seiner grossen Reden hat mühsam nach dem Worte ringen gehört, wird mich schon verstehen. Mit 40 Jahren kehrt Lucian Gallien den Rücken; sich in einem be - stimmten Orte niederlassen, sein Geschick mit dem irgend eines Landes dauernd verbinden, das kommt ihm nicht bei; Nationen gab es ausserdem keine; kehrt Lucian jetzt vorübergehend in seine Heimat zurück, so geschieht das ebenfalls nicht aus einem Herzensbedürfnis, sondern, wie er selber aufrichtig gesteht, » um sich denen, die ihn arm gekannt hatten, reich und schön gekleidet zu zeigen «. 2)Die Fliegenden Blätter 1896 haben ein Bild, welches einen Kommerzien - rat und seine Frau soeben in ihren Wagen eingestiegen zeigt: Sie: Wo fahren wir denn heute hin? Er: Na, natürlich durch die Stadt; lassen uns von den Leuten beneiden! Das ist genau die nämliche Kulturstufe.Dann richtet er sich auf längere Zeit in Athen ein; schweigt aber diesmal still, studiert fleissig Philosophie und Wissenschaft in dem redlichen Be - mühen, endlich herauszufinden, was sich wohl hinter dieser ganzen302Die Erben.vielgerühmten hellenischen Kultur verberge. Dass dieser Mann, der 20 Jahre lang » hellenische Bildung « gelehrt und dabei Reichtum und Ehren eingeheimst hat, plötzlich merkt, er habe niemals auch nur das erste Wort von dieser Bildung verstanden, das ist ein fast rührender Zug und ein Beweis ungewöhnlicher Begabung. Daher habe ich gerade ihn herausgewählt. In seinen Schriften findet man auch neben den Wortwitzeleien und den vielen guten Spässen, und ausser dem Talent, flott zu erzählen, manche scharfe, bisweilen schmerz - durchzuckte Bemerkung. Was konnte aber bei diesem Studium heraus - kommen? Wenig oder nichts. Wir Menschen sind eben nicht Brettsteine; man wurde in Athen ebensowenig ein Anderer durch gelehrten Unterricht, als man heute in Berlin, wie es Herr Virchow von dem Einfluss der dortigen Universität erhofft, eine » schöne Persön - lichkeit « wird, wenn man nicht bei der Immatrikulation schon eine war. Das Wissen des Menschen ist an nichts so eng geknüpft wie an sein Sein, mit anderen Worten, an seine bestimmte Art zu sein, seine bestimmte Organisation. Plato meinte: Wissen sei Erinnerung; die heutige Biologie deutet dieses Wort ein wenig um, giebt dem Philosophen jedoch Recht. In einem durchaus inhaltreichen Sinne darf man behaupten, jeder Mensch kann nur wissen, was er ist. Lucian empfand selber, alles was er bisher gelernt und gelehrt habe, sei blosses Flitterwerk: That-sachen, nicht die Seele, aus welcher diese Thaten erwuchsen, die Hülle, doch ohne den Leib, die Schale, doch ohne den Kern. Und als er nun endlich das einsah und die Schale aufbrach, was fand er? Nichts. Natürlich nichts. Erst bringt die Natur den Kern hervor, die Schale ist eine spätere Accrescenz; erst wird der Leib geboren, dann hüllt man ihn ein; erst schlägt ein Heldenherz, dann werden die Heldenthaten vollbracht. Lucian konnte als Kern nur sich selbst finden: sobald er sich die Fetzen römischen Rechtes und hellenischer Poesie vom Leibe riss, entdeckte er einen begabten syrischen Mestizen, einen Bastard aus fünfzig ungeklärten Blutmischungen, denselben, der mit dem sichern Instinkt der Jugend Phidias als einen Handwerker verachtet und für sich das erwählt hatte, was bei möglichst wenig Mühe möglichst viel Geld und die Bewunderung des gemeinen Trosses einbrächte. Alle Philologen der Welt mögen mir versichern, Lucian’s Bemerkungen über Religion und Philosophie seien tief, er sei ein kühner Kämpfer gegen Aber - glauben u. s. w., nie werde ich es ihnen glauben. Lucian war ja unfähig zu wissen, was Religion, was Philosophie überhaupt sind. 303Das Völkerchaos.In vielen seiner Schriften führt er alle mögliche » Systeme « nach - einander auf, z. B. im Ikaromenippus, im Verkauf der philosophischen Charaktere, etc.; immer ist es das Alleräusserlichste, was er ergreift, das formelle Moment, ohne welches die Kundgebung eines Gedankens nicht möglich ist, das aber wahrlich mit dem Gedanken selber nicht verwechselt werden darf. Ebenso in Betreff der Religion. Aristophanes hatte gespottet wie später Voltaire; bei diesen beiden Männern ging aber die Satire aus einem positiven, konstruktiven Gedanken hervor und überall leuchtet die fanatische Liebe zur eignen Volksart durch, zu dieser festen, bestimmten Blutgemeinde, die einen Jeden von ihnen mit ihren Traditionen, ihrem Glauben, ihren grossen Männern, umfing und trug; Lucian dagegen spottet wie Heine,1)Nur hinkt dieser zweite Vergleich einigermassen, da Heine doch einem bestimmten Volk angehörte und in Folge dessen eine viel bestimmtere Physiognomie besass. es ist kein edles Ziel, keine tiefe Überzeugung, kein gründliches Verstehen vorhanden; wie ein Wrack auf dem Ocean treibt er ziellos herum, nirgends daheim, nicht ohne edle Regung, doch ohne einen Gegenstand, dem er sich hätte opfern können, hochgelehrt, doch ein Muster jener Bildungs - ungeheuer, von denen Calderon sagt, dass sie

Alles wissen, nichts erfahren.

Eines aber verstand er, und das macht auch seinen ganzen Wert als Schriftsteller für uns aus: er verstand den Geist, dem er glich, nämlich die ganze bastardierte, verkommene, entartete Welt um ihn herum; er schildert sie und geisselt sie, wie das nur einer konnte, der selber dazu gehörte, der ihre Motive und ihre Methoden aus eigener Erfahrung kannte. Hier fehlte der Kern nicht. Daher die köstlichen Satiren auf die Homerkritiker, auf den bis auf das Mark der Knochen verderbten Gelehrtenstand, auf die religiösen Schwindler, auf die aufgeblasenen roh-ignoranten Millionäre, auf die ärztlichen Quacksalber u. s. w. Hier wirkten sein Talent und seine Welt - erfahrung zusammen, um Ausserordentliches zu stande zu bringen. Und damit ich meine Schilderung nicht unvollendet lasse, will ich noch hinzufügen, dass jener zweite Aufenthalt in Athen, wenn er den Lucian auch nicht lehrte, was Mythologie und Metaphysik, noch was heldenhafte Gesinnung sei, doch für ihn die Quelle neuer Einnahmen wurde. Dort wandte er sich nämlich fleissig der Schrift - stellerei zu, schrieb seine Göttergespräche, seine Totengespräche,304Die Erben.wahrscheinlich überhaupt die meisten seiner besten Sachen. Er erfand eine leichte dialogische Form (wofür er sich den Ehrentitel » Prome - theus der Schriftsteller « beilegte!); im Grunde genommen sind es gute Feuilletons, so wie man sie früh zum Kaffee noch jetzt gern liest. Sie brachten ihm, als er sich nun wieder auf Reisen begab, und sie öffentlich vortrug, Unsummen ein. Doch auch diese Mode ging vorbei, oder vielleicht hatte der ältere Mann das Nomadisieren satt. Er liess das eine Erbe, hellenische Kunst und Philosophie, liegen, und wandte sich zum andern, zum römischen Recht: er wurde Staatsanwalt (sagen die Einen), Gerichtspräsident (sagen die Andern) in Ägypten und starb in diesem Amte.

Ich glaube, eine einzige solche Laufbahn führt uns das seelische Chaos, welches damals unter dem einförmigen Gewand des streng verwaltenden römischen Imperiums verborgen lag, deutlicher zu Gemüt, als manche gelehrte Auseinandersetzung. Man kann von einem Manne wie Lucian nicht sagen, er sei unmoralisch gewesen; nein, was man an einem solchen Beispiel einsehen lernt, ist, dass Moral und Willkür zwei sich widersprechende Begriffe sind. Menschen, die nicht mit ihrem Blute bestimmte Ideale erben, sind weder moralisch noch unmoralisch, sondern einfach » amoralisch «. Wenn ich mir ein Modewort für meinen Zweck zurechtlegen darf: sie sind diesseits von Gut und Böse. Sie sind auch diesseits von schön und hässlich, diesseits von tief und flach. Der Einzelne vermag es eben nicht, sich ein Lebensideal und ein moralisches Gesetz zu er - schaffen; gerade diese Dinge können nur bestehen, wenn sie ge - wachsen sind. Darum war es auch sehr weise von Lucian, dass er es trotz seines Talentes zeitig aufgab, dem Phidias nachzueifern. Ein Schönredner für die Marseilleser konnte er werden, auch ein Gerichtspräsident für die Ägypter, ja, selbst ein Feuilletonist für alle Zeiten, ein Künstler aber nie, ein Denker ebensowenig.

Augustinus.
310

Nun könnte man freilich einwerfen, es seien aus dem damaligen Völkerchaos sehr bedeutende Männer hervorgegangen, die in einem tiefer eindringenden Sinne als Lucian auf die zukünftigen Geschlechter bis heute hinab gewirkt haben. Hierdurch wird die unwiderlegbare Erkenntnis von der Bedeutung der Rasse für das Menschengeschlecht durchaus nicht aufgehoben. Mitten in einem Chaos können einzelne Individuen noch ganz reiner Rasse sein, oder wenn das nicht, doch vorwiegend einer bestimmten Rasse angehören. Ein solcher Mann, wie Ambrosius z. B., ist ganz gewiss aus echtem, edlem Stamme, aus305Das Völkerchaos.ener starken Rasse, die Roms Grösse gemacht hatte; zwar kann ich es nicht beweisen, denn in jener chaotischen Zeit weiss die Ge - schichte von keinem bedeutenden Manne genau anzugeben, woher er stammte; es kann aber auch Niemand das Gegenteil beweisen und so muss es seine Persönlichkeit entscheiden. Ausserdem darf nicht übersehen werden, dass, wenn die planlose Vermischung nicht ganz wild vor sich geht, die Eigenschaften einer prädominierenden Rasse noch während Generationen vorhalten, wenn auch noch so geschwächt, und dass sie in einzelnen Individuen atavistisch von Neuem aufflammen können. Dafür bietet die Tierzüchtung experimentelle Beweise in Hülle und Fülle. Man nehme ein Stück Papier und zeichne sich einen Stammbaum; man wird sehen, dass, wenn man nur vier Generationen zurücksteigt, ein Individuum schon dreissig Voreltern zählt, dreissig Menschen, deren Blut in seinen Adern fliesst. Nimmt man nun zwei Rassen, A und B, an, so wird eine solche Tafel deutlich machen, wie verschiedengradige Bastardierung bei einer Völkermischung vor - kommen muss, von dem direkt aus A und B zusammengesetzten Voll - bastard, bis zu dem Individuum, bei welchem nur einer der sechzehn Urahnen ein Bastard war u. s. w. Ausserdem entstehen gerade durch Kreuzung, wie es die Erfahrung täglich lehrt, häufig ungewöhnlich schöne und begabte Menschen; es kommt aber, wie ich gezeigt habe, nicht allein auf das Individuum an, sondern auf dessen Verhältnis zu anderen Individuen, zu einem einheitlichen Komplex; kommt dieser einzelne Bastard in eine bestimmte Rassenumgebung hinein, so kann er sehr auffrischend auf sie wirken, gerät er in einen Menschenhaufen, so ist er, wie Lucian, ein Span unter Spänen, nicht ein Zweig an einem lebendigen Baume. Auch die unermessliche Macht der Ideen muss in Anschlag gebracht werden. Zwar werden sie von unechten Erben missdeutet, misshandelt, missbraucht wie wir das beim pseudorömischen Recht und bei der platonischen Philosophie sahen doch wirken sie gestaltend weiter. Was hielt denn diese Völkeragglomeration noch zusammen bis zur erlösenden Ankunft des starken Dietrich von Bern, wenn nicht die Agonie des alten, echten Imperiumgedankens? Woraus schöpften jene Menschen des Völker - chaos Gedanken und Religion? Aus sich selbst nicht, nur von Juden und Hellenen. Und so war denn alles Bindende, Leben Erhaltende, der Erbschaft grosser Rassen entnommen. Man nehme irgend einen der Grössten aus dem Völkerschaos, z. B. den ehrwürdigen, durch Temperament und Gaben gleich ausgezeichneten Augustinus. Um ohneChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 20306Die Erben.Voreingenommenheit zu urteilen, wolle man vom eignen reinreligiösen Standpunkt absehen, und dann frage man sich, ob es in diesem so eminenten Kopfe nicht heillos chaotisch zuging? Jüdischer Jahveglaube, hellenische Mythologie, alexandrinischer Neoplatonismus, römische Hieratik, paulinische Theophanie, der Blick auf den Gekreuzigten .... alles das ist in seiner Vorstellungswelt durcheinander geworfen. Manche ungleich höherstehenden weil eben reinen, rassenechten religiösen Gedanken eines Origenes muss Augustinus des hebräischen Materialismus wegen verwerfen, zugleich führt aber gerade er die urarische Vorstellung von der Notwendigkeit als Prädestination in die Theologie ein, wodurch das Urdogma alles Judentums, die unbedingte Willkür des Willens, in die Brüche geht. 1)Zwar ist Augustinus so vorsichtig wie nur möglich; so sagt er z. B. von dem Vorherwissen Gottes und dem dieser Annahme widersprechenden freien Willen des Menschen: » Wir umarmen beide Überzeugungen, wir bekennen uns zu beiden, treu und wahrhaftig; zu jener, damit wir rechtgläubig seien, zu dieser, damit wir tugendhaft leben « (illud, ut bene credamus; hoc, ut bene vivamus); vergl. De civ. Dei V. 10. Hiermit hängt dann jene weitere Frage eng zusammen, ob Gott selber » frei « sei oder unter dem Gesetz stehe; der Intellekt neigt bei Augus - tinus offenbar zu letzterer Annahme, sein dogmatisches Glaubensbekenntnis zu ersterer. Ist eine Handlung schlecht, weil Gott sie verboten hat, oder musste sie Gott verbieten, weil sie schlecht ist? In seinem Contra mendacium, c. 15, spricht sich Augustinus für die zweite Alternative aus; in anderen Schriften für die erste.Zwölf Jahre schreibt er an einem Buche gegen die heidnischen Götter, glaubt jedoch selber an ihre Existenz in einem so handgreiflichen, fetischistischen Sinne wie seit tausend Jahren vor ihm kein kultivierter Grieche; er hält sie nämlich für Dämonen und als solche für Geschöpfe Gottes; man dürfe nur nicht, meint er, sie für Schöpfer halten (» immundos spiritus esse et perniciosa daemonia, vel certe creaturas non Creatorem, veritas christiana convincit «). In seinem Hauptwerk De civitate Dei streitet Augustinus Kapitel lang mit seinem Landsmann Apulejus über die Natur der Dämonen und sonstiger guter und schlechter Geister, bestrebt, sie, wenn auch nicht zu leugnen, so doch zu einem gering - fügigen einflusslosen Element herabzudrücken und somit wüsten Aber - glauben durch echte Religion zu ersetzen; nichtsdestoweniger neigt er allen Ernstes zu der Ansicht, Apulejus selber sei durch die Salbe der thessalischen Hexe in einen Esel verwandelt worden! was um so komischer wirkt, als Apulejus zwar Manches über Dämonen geschrieben, niemals aber daran gedacht hatte, diese Verwandlung für eine wahre Begebenheit auszugeben, als er seinen Roman: Die Metamorphosen307Das Völkerchaos.oder der Goldene Esel verfasste. 1)Diese Erzählung scheint damals kursiert zu haben, denn auch Lucian hat einen: Lucius oder der bezauberte Esel, der allerdings so aussieht, als wäre er aus Bruchstücken des Apulejischen übersetzt. Augustinus meint von der Verwandlung » aut finxit, aut indicavit «, neigt aber offenbar zu letzterer Annahme.Auf diesen Gegenstand kann ich mich natürlich hier nicht näher einlassen, das würde mich viel zu weit führen; er verdiente ein ganzes Buch für sich; und doch wäre die ausführliche Kennzeichnung des geistigen Zustandes der Edlen unter diesen Söhnen des Chaos die rechte Ergänzung zu der Skizze des leichtsinnigen Lucian. 2)Über die unvereinbaren Widersprüche im religiösen Denken und Fühlen des Augustinus habe ich im 7. Kapitel ausführlich gesprochen und somit die hier gefühlte Lücke ausgefüllt.Man würde sehen, dass überall das Gleich - gewicht gestört ist; hier, bei Lucian, redet der entfesselte Intellekt das grosse Wort und der Mangel an moralischer Kraft richtet die schönsten Anlagen zu Grunde, dort, bei Augustinus, ringt der Charakter in einem verzweifelten Kampfe und ruht nicht eher, bis er sein Denken zu Boden geworfen und in Fesseln geschlagen hat.

So sahen die Menschen aus, durch welche uns Neueren das Erbe des Altertums übermacht wurde. Durch ihre Hände gingen Philosophie und Recht, die Begriffe über Staat, Freiheit, Menschen - würde, sie waren es, welche den früher nur im ignorantesten Ab - schaum der Bevölkerung lebenden Aberglauben (Dämonenglauben, Hexenwesen u. s. w.) zu der Würde allerkannter Dogmen erhoben, sie waren es, welche aus den disparatesten Elementen eine neue Religion zusammenschmiedeten und welche die Welt mit der römischen Kirche beschenkten, einer Art Wechselbalg des römischen Imperiumgedankens; zugleich waren sie es, die mit der Wut der Schwachen alles Schöne aus der Vergangenheit, wo sie nur die Hand darauf legen konnten, jede Erinnerung an grosse Geschlechter zerstörten. Hass und Ver - achtung wurde gegen jede Errungenschaft der reinen Rassen gelehrt: ein Lucian verspottet die grossen Denker, ein Augustinus schmäht die Helden aus Roms heroischer Zeit, ein Tertullian schimpft Homer » einen Lügner «. Sobald die orthodoxen Kaiser Constantius, Theo - dosius u. s. w. auf den Thron kommen (ohne Ausnahme Rassen - bastarde, der grosse Diocletian war der letzte Kaiser aus reinem Blute,3)Vergl. auch das S. 150 fg. Ausgeführte. wird mit der systematischen Vernichtung aller Monumente des Alter - tums begonnen. Zugleich wird die bewusste Lüge zur angeb -20*308Die Erben.lichen Beförderung der Wahrheit eingeführt: so grosse Kirchenväter wie Hieronymus und Chrysostomus ermutigen die » pia fraus «, den frommen Betrug; bald darauf kommt die Begründung von Macht und Recht des römischen Stuhles anstatt durch Mannesmut und Sieg durch grossartig betriebene Dokumentenfälschung; ein so ehrwürdiger Historiker wie Eusebius hat die einer besseren Sache würdige Naivetät, einzu - gestehen, er modele Geschichte um, überall, wo dadurch der » guten Sache « Vorschub geleistet werde. Dieses aus der Rassenvermischung und dem antinationalen Universalwahn hervorgegangene Chaos ist ein grauenvoller Anblick!

Asketischer Wahn.
314

Vielleicht hat man noch nie ich wenigstens wüsste nicht wo darauf hingewiesen, wie jene plötzlich über die damalige Welt hereingebrochene Epidemie der Asketik unmittelbar mit dem Ekel vor jener entsetzlichen Welt zusammenhing; Einige wollen darin einen unerhörten religiösen Aufschwung, Andere eine religiöse Krankheit er - blicken; das heisst aber die Thatsachen allegorisch deuten, denn Religion und Askese hängen nicht notwendig zusammen. Nichts in dem Bei - spiel Christi konnte zur Askese anregen; den frühen echten Christen war sie gänzlich unbekannt; noch 200 Jahre nach Christus schrieb Tertullian: » Wir Christen gleichen nicht den Brahmanen und Gymno - sophisten Indiens, wir leben nicht in Wäldern, noch verbannt aus der Gesellschaft der Menschen: wir fühlen, dass wir Gott, dem Herrn und Schöpfer für Alles Dank schulden und von keinem seiner Werke verbieten wir den Genuss; nur mässigen wir uns, damit wir dieser Dinge nicht mehr als zuträglich geniessen oder einen schlechten Ge - brauch davon machen « (Apologeticus, Kap. 42). Warum drang nun auf einmal unchristliche Askese in das Christentum ein? Ich meinesteils glaube, hier liegen physische Ursachen zu Grunde. Aus dem durch und durch bastardierten Ägypten und Syrien war die Askese schon vor der Geburt Christi hervorgegangen; überall dort, wo das Blut am ge - mischtesten war, hatte sie Fuss gefasst. Pachomius, der Gründer des ersten christlichen Klosters, der Urheber der ersten Mönchsregel, ist ein oberägyptischer Serapisdiener, der das, was er in den Genossen - schaften der fastenden und sich kasteienden Serapisasketen gelernt hatte, ins Christliche übertrug. 1)Vergl. Otto Zöckler: Askese und Mönchtum, 1897, I, 193 fg.Wer in jener Welt des unnationalen Chaos noch einen Funken edler Regung besass, musste eben vor sich selber Widerwillen empfinden. Nirgends, wo gesunde Verhältnisse309Das Völkerchaos.herrschten, ist die unbedingte Keuschheit gepredigt worden; im Gegen - teil, alle alten Völker Arier, Semiten, Mongolen durch einen wunderbaren Instinkt geleitet, stimmen in diesem einen Punkte überein, dass sie das Erzeugen von Kindern als eine der heiligsten Pflichten betrachten; wer ohne Sohn starb, war ein Fluchbeladener. Freilich kannte das alte Indien Asketen; diese durften aber nicht eher in die Einsamkeit der Wälder scheiden, als bis des Sohnes Sohn geboren war; was hier als Idee und Absicht zu Grunde liegt, ist also der syrisch-christlichen Asketik fast diametral entgegengesetzt. Heute ver - stehen wir das; denn wir sehen, dass nur eines zur Veredelung des Menschen führt: die Zeugung reiner Rassen, die Begründung be - stimmter Nationen. Söhne zu zeugen, die rechten Söhne, ist also unfraglich die heiligste Pflicht des Individuums der Gesellschaft gegen - über; was er auch sonst leisten mag, nichts wird von so dauerndem, unauslöschbarem Einfluss sein wie der Beitrag zur progressiven Ver - edelung der Rasse. Von dem beschränkten, falschen Standpunkt Gobineau’s aus ist es allerdings ziemlich gleichgültig, denn wir können nur schneller oder langsamer zu Grunde gehen; noch weniger Recht haben Diejenigen, welche ihm zu widersprechen scheinen, dabei aber dieselbe hypothetische Annahme ursprünglich reiner Rassen machen; wer aber belehrt ist, wie edle Rasse in Wahrheit entsteht, weiss, dass sie jeden Augenblick von Neuem entstehen kann; das hängt von uns ab; hier hat die Natur uns eine hohe Pflicht deutlich gewiesen. Jene Männer aus dem Chaos also, welche die Zeugung für eine Sünde und die gänzliche Enthaltung von ihr für die höchste aller Tugenden hielten, sie begingen ein Verbrechen gegen das heiligste Gesetz der Natur, sie suchten durchzusetzen, dass alle guten, edlen Männer und Frauen ohne Nach - kommenschaft blieben und nur die bösen sich vermehrten, d. h. sie thaten, was an ihnen lag, um die Verschlechterung des Menschen - geschlechtes herbeizuführen. Ein Schopenhauer mag die Aussprüche gegen die Ehe aus den Kirchenvätern freudig zusammentragen und darin eine Bestätigung seines Pessimismus erblicken; für mich ist der Zusammenhang ein ganz anderer: dieser plötzliche Abscheu gegen die natürlichsten Triebe des Menschen, ihre Umwandlung aus heiligster Pflicht in schmählichste Sünde, hat eine tiefere Begründung in jenen unerforschlichen Urquellen unseres Wesens, wo das Physische und das Metaphysische noch nicht auseinander getreten sind. Nach Kriegen und Pesten, sagt die Statistik, mehren sich die Geburten in anormaler Weise die Natur hilft sich selber; in jenem Chaos, welches aller310Die Erben.Kultur mit ewigem Niedergange drohte, mussten die Geburten möglichst hintangehalten werden; mit Abscheu wandten sich die Edlen von jener Lasterwelt hinweg, vergruben sich in die Wüsteneien, verbargen sich in die Felsenhöhlen, stellten sich hinauf auf hohe Säulen, kasteiten sich und thaten Busse. Kinderlos schwanden sie dahin. 1)Im vierten Jahrhundert zählte das römische Imperium Hunderttausende von Mönchen und Nonnen. Dass ein Abt 10 000 Mönche in einem Kloster ver - einigte, war nicht selten, und im Jahre 373 zählte die eine einzige ägyptische Stadt, Oxyrynchus, 20 000 Nonnen und 10 000 Mönche! Nun bedenke man die damaligen Gesamtbevölkerungszahlen, und man wird sehen, welchen grossen Einfluss diese asketische Epidemie für das Nichtvermehren der Bastardengeschlechter haben musste. (Nähere Angaben, siehe bei Lecky: History of European Morals, 11th edition II, 105 fg.)Selbst wo die menschliche Gesellschaft in Auflösung begriffen ist, sehen wir eben einen grossen Zusammenhang; was der Einzelne denkt und thut, lässt allemal eine zwiefache Deutung zu: die individuelle und die Deutung in Bezug auf das Allgemeine.

Heiligkeit reiner Rasse.
316

Hier berühren wir nun eine tiefe Erkenntnis; wir sind nahe daran, das gewichtigste Geheimnis aller menschlichen Geschichte zu erschliessen. Dass der Mensch nur im Zusammenhang mit dem Menschen im wahren Sinne des Wortes überhaupt » Mensch « wird, das sieht wohl Jeder ein. Manche haben auch das tiefe Wort Jean Paul’s, das ich einem früheren Kapitel als Motto voranstellte, be - griffen: » Nur durch den Menschen tritt der Mensch in das Tages - licht des Lebens ein «; Wenige aber sind bisher zu der Erkenntnis vorgedrungen, dass dieses Menschwerden und dieses » ins Tageslicht des Lebens eintreten « dem Grade nach von bestimmten organischen Bedingungen abhängt, Bedingungen, die früher vom Instinkt unbewusst geachtet wurden, die es aber jetzt wo durch die Vermehrung des Wissens und die Ausbildung des Denkens die instinktiven Regungen an Kraft verloren haben an uns wäre, bewusst anzuerkennen und zu achten. Aus dieser Betrachtung des römischen Völkerchaos ersehen wir nämlich, dass Rasse und die die Rassenbildung ermöglichende Nation nicht allein eine physisch-geistige, sondern auch eine moralische Bedeutung besitzt. Hier liegt etwas vor, was man als heiliges Ge - setz bezeichnen kann, das heilige Gesetz des Menschwerdens: ein » Gesetz «, da es in der ganzen Natur angetroffen wird; » heilig «, in - sofern es bei uns Menschen unserm freien Willen anheimgegeben bleibt, ob wir uns veredeln oder entarten wollen. Dieses Gesetz lehrt311Das Völkerchaos.uns nun die physische Beschaffenheit als die Grundlage jeder Ver - edelung erkennen. Was ist denn auch ein vom Physischen getrenntes Moralische? was wäre eine Seele ohne Leib? Ich weiss es nicht. Birgt unser Busen ein unsterbliches Teil, reichen wir Menschen mit unseren Gedanken bis an ein Transcendentes, welches wir, wie ein Blinder, mit sehnsuchtsvollen Händen betasten, ohne es je erschauen zu können, ist unser Herz der Kampfplatz zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, so muss auch die Beschaffenheit dieses Leibes der Busen, das Hirn, das Herz von unermesslicher Tragweite sein. » Wie auch immer der gewaltige, dunkle Hintergrund der Dinge in Wahr - heit beschaffen sein mag, der Zugang zu ihm steht uns einzig in eben diesem unserem armen Leben offen, und also schliesst auch unser vergängliches Thun diese ernste, tiefe und unentrinnbare Bedeutung ein «, sagt Solon in dem schönen Dialog Heinrich’s von Stein. 1)Helden und Welt: dramatische Bilder (Chemnitz 1883).» Einzig in diesem Leben! « Womit leben wir aber, wenn nicht mit unserem Leibe? Ja, hier brauchen wir gar nicht in irgend ein Jenseits, (welches Manchem problematisch erscheinen wird) hinüberzuschauen, wie es Stein’s Solon in der angeführten Stelle thut: der Zugang auch zu diesem irdischen Leben steht uns doch offenbar einzig und allein durch unsern Leib offen, und dieses Leben wird für uns arm oder reich, hässlich oder schön, schal oder kostbar sein, je nach der Be - schaffenheit dieses unseres einzigen allumfassenden Lebensorganes. Nun habe ich aber oben an Beispielen aus der methodischen Tier - züchtung, sowie an Beispielen aus der menschlichen Geschichte deut - lich gemacht, wie Rasse entsteht und progressiv veredelt wird, auch wie sie anderseits vergeht; was ist nun diese Rasse, wenn nicht ein Kollektivbegriff für eine Reihe einzelner Leiber? Es ist jedoch kein willkürlicher Begriff, kein Gedankending, sondern diese Individualitäten sind durch eine unsichtbare, dabei aber durchaus reelle, auf materiellen Thatsachen beruhende Macht miteinander verkettet. Freilich besteht die Rasse aus Individuen; doch das Individuum selbst kann nur innerhalb bestimmter Bedingungen, welche in dem Wort » Rasse « zusammengefasst werden, zu der vollen, edelsten Entfaltung seiner Anlagen gelangen. Zu Grunde liegt ein zwar einfaches Gesetz, das jedoch nach zwei Seiten zugleich hindeutet. Die gesamte organische Natur, die vegetabilische sowohl wie die animalische beweist, dass die Wahl der miteinander Zeugenden von entscheidendstem Einfluss auf312Die Erben.das neugezeugte Individuum ist; ausserdem beweist sie aber, dass das hier waltende Prinzip ein kollektives und progressives ist, indem zuerst ein gemeinsamer Grundstock nach und nach gebildet werden muss, woraus dann, ebenfalls nach und nach, Individuen von durchschnittlich höherem Werte hervorgehen als es ausserhalb eines solchen Verbandes der Fall ist, und unter diesen wieder zahlreiche Indi - viduen mit geradezu » überschwänglichen « Eigenschaften entstehen. Das ist eine Thatsache der Natur, genau im selben Sinne wie irgend eine andere, nur sind wir hier, wie bei allen Phänomenen des Lebens, weit entfernt, sie analysieren und ausdeuten zu können. Was man nun beim Menschengeschlecht nicht übersehen darf, ist der Umstand, dass hier das Schwergewicht auf das Moralische und Geistige fällt. Darum be - deutet für uns Menschen der Mangel an organischem Rassenzusammen - hang vor allem moralische und geistige Zerfahrenheit. Wer nirgends herkommt, geht auch nirgends hin. Das einzelne Leben ist zu kurz, um ein Ziel ins Auge zu fassen und zu erreichen. Das Leben eines ganzen Volkes wäre ebenfalls zu kurz, wenn nicht Rasseneinheit ihm einen bestimmten, beschränkten Charakter aufprägte, wenn nicht die überschwänglichste Blüte vielseitiger und abweichender Begabungen doch durch Stammeseinheit zusammengefasst würde, was ein allmähliches Reifen, eine allmähliche Ausbildung nach bestimmten Richtungen ge - stattet, und wodurch das begabteste Individuum schliesslich doch einem überindividuellen Zwecke lebt.

Man könnte die Rasse, wie sie in Zeit und Raum entsteht und besteht, mit dem sogenannten Kraftfeld eines Magneten vergleichen. Nähert man einen Magnet einem Haufen von Eisenfeilspänen, so nehmen diese bestimmte Richtungen an, so dass eine Figur entsteht, mit einem deutlich markierten Mittelpunkt, von wo aus nach allen Richtungen Linien ausstrahlen; je näher man den Magneten rückt, um so fester und mathematischer erscheint die Zeichnung; nur wenige Spänchen haben sich in genau die gleiche Richtung gelagert, alle aber sind durch den Besitz des gemeinsamen Mittelpunktes und dadurch, dass die relative Lage jedes Individuums zu allen anderen keine will - kürliche, sondern eine gesetzmässige ist, zu einer thatsächlichen und zugleich zu einer idealischen Einheit verknüpft. Das ist jetzt kein Haufen mehr, sondern eine Gestalt. So unterscheidet sich eine Menschen - rasse, eine echte Nation von einem Menschenhaufen. Dem Näher - rücken des Magneten gleicht der durch reine Zucht immer fester sich ausprägende Rassencharakter. Die einzelnen Mitglieder der Nation313Das Völkerchaos.mögen noch so verschieden beanlagt sein, nach noch so verschiedenen Richtungen in ihren Bethätigungen auseinanderstrahlen, zusammen bilden sie eine gestaltete Einheit und die Kraft oder sagen wir lieber die Bedeutung jedes Einzelnen ist durch seinen organischen Zusammenhang mit zahllosen anderen vertausendfacht.

Wir sahen vorhin den hochbegabten Lucian sein Leben schier vergeuden; wir sahen den edlen Augustinus zwischen den erhabensten Gedanken und dem krassesten, dümmsten Aberglauben ratlos hin - und herpendeln: solche, aus aller notwendigen Angehörigkeit losge - rissene Menschen, solche arme Bastarde unter Bastarden, befinden sich in einer fast ebenso naturwidrigen Lage, wie eine unselige Ameise, die man zehn Meilen weit von ihrem Neste trüge und dort hinsetzte. Diese wäre doch wenigstens nur durch äussere Verhältnisse verunglückt, jene aber sind durch ihre eigene innere Beschaffenheit aus jeder echten Zusammengehörigkeit verbannt. Man lernt eben bei dieser Betrachtung einsehen, dass, was man auch über die causa finalis des Daseins denken mag, das menschliche Individuum jedenfalls nicht als ver - einzeltes Individuum, nicht als beliebig austauschbarer Brettstein, son - dern nur als Teil eines organischen Ganzen, eines besonderen Ge - schlechtes, seine höchste Bestimmung erfüllen kann. 1)» Die Individuen und die Gesamtheit sind identisch « hatten die indischen Denker gelehrt! (siehe Garbe’s Sâmkhya-Philosophie, S. 158).

Kein Zweifel! das rassen - und nationalitätlose Völkerchaos desDie Germanen. spätrömischen Imperiums bedeutete einen unheilvollen, Verderbnis bringenden Zustand, eine Versündigung gegen die Natur. Nur ein Lichtstrahl glänzte über jene entartete Welt. Er kam aus dem Norden. Ex septentrione Lux! Nimmt man eine Karte zur Hand, so scheint freilich auf den ersten Blick das Europa des 4. Jahr - hunderts auch nördlich der Imperium-Grenzen ziemlich chaotisch; gar viele Völker stehen da nebeneinander und verschieben sich un - aufhörlich: die Alemannen, die Marcomannen, die Sachsen, die Franken, die Burgunder, die Goten, die Vandalen, die Slaven, die Hunnen und noch manche andere. Chaotisch sind jedoch dort nur die politischen Verhältnisse; die Völker sind echte, reingezüchtete Rassen, Männer, die ihren Adel als einzige Habe dorthin tragen, wohin das Schicksal sie treibt. In einem der nächsten Kapitel werde ich von ihnen zu reden haben. Den weniger Belesenen möchte ich vorläufig nur warnen, dass er sich die Sache nicht etwa so vorstelle, als seien die » Barbaren «314Die Erben.plötzlich in das hochcivilisierte römische Reich » eingebrochen «. Diese in weiten Schichten der oberflächlich Gebildeten verbreitete Vor - stellung entspricht den Thatsachen ebenso wenig wie die fernere, dass dann in Folge dieses Einbruches die » Nacht des Mittelalters « herab - gesunken sei. Durch diese Geschichtslüge wird uns die vernichtende Wirkung jener nationlosen Zeit verhüllt, und aus dem Erretter, aus dem Töter des nächtlichen Wurms, ein Zerstörer gemacht. Während Jahrhunderte waren schon die Germanen ins römische Reich ein - gedrungen, und wenn auch manchmal mit feindlicher Gewalt, so doch im Ganzen als das einzige Prinzip des Lebens und der Kraft. Ihr allmähliches Eindringen in das Imperium, ihr allmähliches Auf - steigen zu einer ausschlaggebenden Macht hatte seitdem nach und nach stattgefunden, ebenso wie ihre allmähliche Civilisation;1)Hermann ist ein römischer Kavalier, spricht fliessend lateinisch und hat römische Verwaltungskunst eingehend studiert. Ähnlich die meisten anderen Ger - manenfürsten. Auch ihre Truppen waren im ganzen römischen Imperium zu Hause und dadurch mit den Sitten sog. civilisierter Menschen bekannt, lange ehe sie mit Kind und Kegel in diese Länder einzogen. bereits im 4. Jahrhundert zählte man zahlreiche Soldatenkolonien aus den ver - schiedensten germanischen Stämmen (Batavier, Franken, Suevier u. s. w. im ganzen europäischen Bereich des römischen Imperiums;2)Zusammenfassung bei Gobineau: Ungleichheit der menschlichen Rassen, Buch VI, Kap. 4. in Spanien, in Gallien, in Italien, in Thracien, ja, selbst oft in Kleinasien, sind es der Hauptsache nach zuletzt Germanen, die gegen Germanen die Schlachten schlagen. Germanen waren es, welche immer wieder die asiatische Gefahr vom östlichen Reiche heldenmütig abwehrten; Ger - manen retteten vor hunnischer Verwüstung auf den catalaunischen Gefilden das westliche Reich. Schon früh im 3. Jahrhundert war ein kühner gotischer Hirt zum Imperator ausgerufen worden. Man braucht nur eine Karte vom Ausgang des 5. Jahrhunderts anzuschauen, um sofort zu erblicken, welche einzig segensvolle Kraft der Gestaltung hier einzugreifen begonnen hatte. Sehr auffallend ist ebenfalls der Unterschied, der sich hier in hundert Dingen kundthut zwischen dem angeborenen Anstand, dem Geschmack, der Intuition rauher aber reiner, edler Rassen und der Seelenbarbarei der civilisierten Mestizen. Theo - dosius, seine Helfershelfer (die christlichen Fanatiker) und seine Nach - folger hatten ihr Möglichstes gethan, um die Monumente der Kunst zu vernichten; dagegen war die erste Sorge Theodorich’s, des Ost -315Das Völkerchaos.goten, umfassende Massregeln zum Schutz und zur Ausbesserung der römischen Denkmäler zu treffen. Dieser Mann konnte nicht schreiben, seine Unterschrift musste er durch eine Metallschablone durchzeichnen, das Schöne aber, an welchem die einzig mit ihrer » Bildung «, ihrer Jagd nach Ämtern und Auszeichnungen, ihrer Goldgier beschäftigten Bastardenseelen achtlos vorübergingen, das Schöne, welches den edleren Geistern des Völkerchaos als ein Werk des Teufels verhasst war, der Gote verstand sofort es zu schätzen; die Bildwerke Roms erregten dermassen seine Bewunderung, dass er einen besonderen Beamten zu ihrem Schutze ernannte. Auch die religiöse Toleranz blitzte vorübergehend überall dort auf, wo der noch unverdorbene Germane Herr wurde. Bald traten auch die grossen christlichen Bekehrer auf, alles Männer aus dem hohen Norden, Männer, die nicht durch » fromme Lügen «, sondern durch die Reinheit ihrer Herzen überzeugten.

Lediglich der falsche Begriff eines Mittelalters ist es, im Bunde mit der Unwissenheit in Bezug auf die Bedeutung von Rasse, der zu der bedauerlichen Vorstellung führt: der Eintritt der rauhen Germanen bedeute das Einbrechen einer tiefen Nacht über Europa. Es ist un - begreiflich, wie solche Hallucinationen so lange vorhalten können. Will man wissen, wohin die imperiale Afterkultur noch hätte führen können, so schaue man sich um in der Geschichte, in der Litteratur und in der Wissenschaft des späteren Byzanz, an denen unsere Historiker gerade heute mit einer Ausdauer arbeiten, einer besseren Sache würdig. Es ist ein jämmerliches Schauspiel. Dagegen wirkt die Besitznahme des west - römischen Reiches durch die Barbaren wie das: Es werde Licht! der Bibel. Freilich musste ihr Wirken zunächst der politischen, nicht der civilisatorischen Gestaltung gelten, und das war ein schwieriges Werk, welches heute noch nicht ganz beendet ist. War das aber ein Ge - ringes? Wodurch hat denn Europa Physiognomie und Bedeutung, wodurch seine geistigmoralische Präponderanz erhalten, wenn nicht durch die Begründung und Ausbildung von Nationen? Gerade dieses Werk war die Erlösung aus dem Chaos. Wenn wir heute etwas sind, wenn wir hoffen dürfen, vielleicht noch etwas mehr zu werden, so verdanken wir es in erster Reihe jener politischen Um - gestaltung, welche im 5. Jahrhundert (nach langen Vorbereitungen) begann, und aus der im Laufe der Zeit neue grosse Volksrassen, herrliche neue Sprachen, eine neue, zu den kühnsten Hoffnungen verlockende Kultur entsprangen. Dietrich von Bern, der starke und316Die Erben.weise, der ungelehrte Freund von Kunst und Wissenschaft, der tolerante Vertreter der Gewissensfreiheit inmitten einer Welt, wo Christen wie Hyänen sich gegenseitig zerfleischten, ist uns wie ein erstes Pfand, dass es doch wieder einmal Tag werden könne auf dieser armen Erde. Und wenn in der nun folgenden Zeit des wilden Kampfes, in jenem Fieber, durch welches allein die europäische Menschheit genesen und aus dem bösen Traum der entarteten, fluchbeladenen Jahrhunderte des scheinbar geordneten Chaos zu frischem, gesundem, stürmisch pulsierendem, nationalem Leben erwachen sollte, wenn da Gelehrsamkeit und Kunst, sowie auch das Flitterwerk angeblicher Civilisation, unbeachtet, fast vergessen blieben, so bedeutet das, bei Gott, keine Nacht, sondern den Anbruch des Tages. Ich weiss nicht, woher die Herren vom Gänsekiel die Berechtigung nehmen, nur ihre eigenen Waffen zu ehren; unsere europäische Welt ist zunächst und zuvörderst das Werk nicht von Philosophen und Bücherschreibern und Bildermalern, sondern es ist das Werk der grossen germanischen Fürsten, das Werk der Krieger und Staatsmänner. Derjenige Ent - wickelungsgang, aus dem unsere heutigen Nationen hervorgegangen sind und das ist doch offenbar der politische ist der grundlegende, entscheidende. Man übersehe jedoch nicht, dass wir auch alles andere, was zu besitzen wert war, diesen echten, edlen Menschen verdanken. Jedes jener Jahrhunderte, das 7., das 8., das 9., hat grosse Gelehrte; wer sie beschützt und ermutigt, sind die Fürsten. Man pflegt zu sagen, die Kirche sei die Retterin des Wissens, der Kultur gewesen: das ist nur in einem sehr bedingten Sinne wahr. Man muss was ich im folgenden Abschnitte dieses ersten Teiles zeigen werde lernen, die frühe christliche Kirche nicht als einen einfachen, einheit - lichen Organismus zu betrachten, selbst nicht innerhalb des west - europäischen römischen Verbandes; die Zentralisierung und der blinde Gehorsam gegen Rom, die wir heute erleben, waren in frühen Jahr - hunderten gänzlich unbekannt. Freilich gehörte fast jede Gelehr - samkeit und Kunst der Kirche an; ihre Klöster und Schulen waren die Schutz - und Pflegestätten, wohin friedliche Gedankenarbeit in jenen rauhen Zeiten sich flüchtete; doch bedeutete damals der Eintritt in die Kirche als Mönch oder Weltgeistlicher kaum mehr als die Auf - nahme in einen privilegierten, besonderen Schutz geniessenden Stand, welche den so Bevorzugten kaum nennenswerte Verpflichtungen als Gegenleistung auferlegte; jeder gebildete Mensch, jeder Lehrer und Student, jeder Arzt und Rechtskundige gehörte bis zum 13. Jahr -317Das Völkerchaos.hundert der Klerisei an, doch handelt es sich hierbei um eine rein formelle Sache, die ihren Grund lediglich in gewissen Rechts - verhältnissen findet; und gerade aus diesem Stand heraus, das heisst aus der Mitte jener Männer, welche die Kirche genau kannten, ist alle Empörung gegen sie hervorgegangen, gerade die Universitäten wurden die Hochschulen der Befreiung der Nationen. Die Fürsten haben die Kirche beschützt, die gelehrten Kleriker haben sie befehdet. Desswegen hat aber auch die Kirche ununterbrochen gegen die grossen Geister, die sich, um in Ruhe zu arbeiten, in ihren Schutz begeben hatten, Krieg geführt; hätte es an ihr gelegen, so wären Wissen und Kultur nie wieder flügge geworden! Doch dieselben Fürsten, welche die Kirche beschützten, beschützten die von ihr verfolgten Gelehrten. Schon im 9. Jahrhundert taucht im fernen Norden (aus den schon damals an bedeutenden Männern reichen Schulen Englands hervorgegangen) der grosse Scotus Erigena auf: die Kirche that, was sie konnte, um dieses hellglänzende Licht auszulöschen, doch Karl der Kahle (derselbe, welcher angeblich dem römischen Papste grosse Schenkungen gemacht haben sollte) streckte seine fürstliche Hand über Scotus aus; als dieser Schutz nicht mehr hinreichte, lud ihn Alfred nach England ein, wo er die Schule von Oxford zu hoher Blüte trieb, bis er im Auftrag der kirchlichen Zentralgewalt von Mönchen erdolcht wurde. Vom 9. bis zum 19. Jahrhundert von der Ermordung des Scotus bis zum Erlass des Syllabus blieb das Verhältnis unverändert. In letzter Instanz ist die geistige Wiedergeburt das Werk der Rasse im Gegen - satz zur rassenlosen Universalkirche, das Werk germanischen Wissens - durstes und germanischen, nationalen Freiheitsdranges. Aus dem Schosse der katholischen Religion sind ununterbrochen grosse Männer hervorgegangen; Männer, welche, wie man anerkennen muss, der spezifisch katholische Gedanke, mit seiner umfassenden Grösse, seinem harmonischen Aufbau, seiner symbolischen Reichhaltigkeit und Schön - heit getragen und grösser gemacht hat, als sie ohne ihn geworden wären: die römische Kirche aber, rein als solche, d. h. als organisierte, weltliche Theocratie, hat stets als Tochter des verfallenden Imperiums, als letzte Vertreterin des universalen, antinationalen Prinzips gehandelt. Mehr als alle Mönche der Welt hat der eine Karl der Grosse für die Ver - breitung von Unterricht und Wissen gethan. Er hatte eine voll - ständige Sammlung der Nationalpoesie der Germanen anlegen lassen: die Kirche vernichtete sie. Ich nannte auch vorhin Alfred! Wo hat ein Kirchenfürst, wo hat ein Scholastiker für die Erweckung318Die Erben.neuer Geisteskräfte, für die Klärung lebender Idiome, für die damals doch einzig dringende Förderung nationalen Bewusstseins so viel ge - than, wie dieser eine Fürst? Der bedeutendste neuere Historiker Englands hat die Persönlichkeit dieses grossen Germanen in dem einen Wort zusammengefasst: » er war ein echter Künstler «. 1)Green: History of the English People, Buch I, Kap. 3.Von wem aus dem Völkerchaos könnte man dasselbe sagen? In jenen angeblich dunklen Jahrhunderten sehen wir ein um so regeres geistiges Leben, je weiter wir nach Norden gehen, d. h. je mehr wir uns von dem Herd der verderblichen » Bildung « entfernen, und je un - gemischter die Rassen sind, die uns entgegentreten. Die grossartigste Litteratur entfaltet sich nebst menschenwürdiger Freiheit und Ordnung vom 9. bis zum 13. Jahrhundert in der fernen Republik Island; ebenso finden wir im abseits gelegenen England im 7., 8. und 9. Jahrhundert eine Blüte echter Volkspoesie, wie seither nur selten. 2)Oliver F. Emerson: History of the English Language, S. 54.Die leidenschaftliche Liebe zur Musik, die hier zu Tage tritt, berührt uns, als vernähmen wir den Flügelschlag eines vom Himmel sich langsam herabsenkenden Schutzengels, eines Engels, der künftige Zeiten ver - kündet: hören wir König Alfred in seinem auserwählten Sängerchor selber mitsingen, sehen wir ein Jahrhundert später den wildleiden - schaftlichen Gelehrten und Staatsmann Dunstan niemals, weder auf dem Pferde noch im Rate, die Harfe aus der Hand geben, dann gedenken wir dessen, dass auch bei den Griechen Harmonia die Tochter des Kriegsgottes Ares war. Krieg an Stelle scheinbarer Ordnung brachten unsere rauhen Väter, zugleich aber Schöpferkraft an Stelle öder Sterilität. Und in der That, in allen bedeutenderen Fürsten jener Zeit begegnen wir einer eigentümlich ausgebildeten Vorstellungskraft; sie sind eben Gestalter. Man hätte alles Recht, was Karl der Grosse an der Grenze des 8. und 9. Jahrhunderts war und that, mit dem zu vergleichen, was Goethe an der Grenze des 18. und 19. war und that. Beide waren Ritter im Kampfe gegen die Mächte des Chaos, beide Ge - stalter; beide » bekannten sich zu dem Geschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt «.

Nein und tausendmal nein! Die Vernichtung jenes Undinges eines unnationalen Staates, jener Form ohne Inhalt, jenes seelenlosen Menschenhaufens, jener Vereinigung der nur durch gleiche Steuern und gleichen Aberglauben, nicht durch gleiche Herkunft und gleichen319Das Völkerchaos.Herzschlag aneinandergeknüpften Bastarde, jener Versündigung an dem Geschlechte der Menschen, die wir in dem Worte Völkerchaos zusammengefasst haben sie bedeutete nicht das Niedersinken der Nacht, sondern das Entreissen eines grossen Erbes aus unwürdigen Händen, das Anbrechen eines neuen Tages.

Doch bis heute ist es uns noch nicht gelungen, alle Gifte jenes Chaos aus unserem Blute zu entfernen. Auf weiten Gebieten behielt schliesslich das Chaos doch die Oberhand. Überall wo der Germane nicht so zahlreich auftrat, um physisch die übrigen Einwohner durch Assimilation zu überwinden, also namentlich im Süden, machte sich das chaotische Element immer mehr geltend. Ein Blick auf unseren heutigen Zustand zeigt, wo Kraft ist, wo nicht, und wie dies von der Zusammensetzung der Rassen abhängt. Ich weiss nicht, ob man schon bemerkt hat, wie eigentümlich genau die heutige Grenze der römischen Universalkirche mit der früher bezeichneten durchschnittlichen Grenze des römischen Imperiums zusammenfällt, also mit der Grenze der chaotischen Bastardierung? Der östliche Teil fällt freilich weg, weil hier (in Serbien, Bosnien u. s. w.) die slavischen Einwanderer des 8. Jahrhunderts und die Bulgaren alles Fremde niedermachten; in wenigen Gegenden des heutigen Europa ist die Rasse so ungemischt, und reine Slaven haben niemals die römische Kirche angenommen. Auch an anderen Stellen giebt es hier und da ein Hinüber - und ein Herübergreifen über die frühere Grenzlinie, doch nur um ein Weniges, das überdies leicht durch politische Verhältnisse zu erklären wäre. Im Ganzen ist die Übereinstimmung auffallend genug, um zu ernsten Gedanken anzuregen: Hispanien, Italien, Gallien, die Rheingegenden, die Länder südlich von der Donau! Noch ist es erst Morgen und immer wieder strecken die Mächte der Finsternis ihre Polypenarme aus, saugen sich an hundert Orten an uns fest und suchen uns in das Dunkel, aus dem wir hinausstrebten, zurückzuziehen. Ein Urteil über diese scheinbar höchst verwickelten, in Wahrheit durchsichtigen Verhältnisse erlangen wir weniger durch ausführliches chronistisches Detailwissen, als durch die klare Erkenntnis der in diesem Kapitel vorgetragenen geschichtlichen Grundthatsachen.

[320][321]

FÜNFTES KAPITEL DER EINTRITT DER JUDEN IN DIE ABEND - LÄNDISCHE GESCHICHTE

Vergessen wir, woher wir stammen! Nichts mehr von » deutschen « Juden, nichts mehr von » Portugiesen «! Über den Erd - boden zerstreut, bilden wir doch nur ein einziges Volk! Rabbiner Salomon Lipmann-Cerfberr. (Eröffnungsrede gehalten am 26. Juli 1806 bei der vorbereitenden Versammlung für das von Napoleon zusammenberufene Synedrium des Jahres 1807.)
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 21[322][323]

Hätte ich vor hundert Jahren geschrieben, so würde ich michDie Judenfrage. kaum veranlasst gefühlt haben, an dieser Stelle dem Eintritt der Juden in die europäische Geschichte ein besonderes Kapitel zu widmen. Allerdings hätte ihre Beteiligung an der Entstehung des Christentums, wegen des von dort aus infiltrierten besonderen und durchaus unarischen Geistes, die volle Aufmerksamkeit verdient, sodann auch ihre wirt - schaftliche Rolle in allen christlichen Jahrhunderten; doch hätte eine gelegentliche Erwähnung dieser Dinge genügt, mehr wäre ein Zuviel gewesen. Herder schrieb denn auch damals: » Die jüdische Geschichte nimmt mehr Platz in unserer Historie und Aufmerksamkeit ein, als sie an sich verdienen möchte. « 1)Von den deutsch-orientalischen Dichtern, Abschn. 2.Inzwischen jedoch ist eine grosse Änderung vorgegangen: die Juden spielen in Europa, und überall, wo europäische Hände hinreichen, eine andere Rolle heute als vor hundert Jahren; mag man über ihre vergangene Historie denken wie man will, ihre gegenwärtige nimmt thatsächlich so viel Platz in unserer eigenen Geschichte ein, dass wir ihr unmöglich die Aufmerksamkeit entziehen können. Herder hatte trotz seines ausgesprochenen Humanismus doch gemeint: » Das Volk der Juden ist und bleibt auch in Europa ein unserem Weltteil fremdes, asiatisches Volk, an jenes alte, unter einem entfernten Himmelsstrich ihm gegebene und nach eigenem Geständnis von ihm unauflösbare Gesetz gebunden. « 2)Bekehrung der Juden. Abschnitt 7 der Unternehmungen des vergangenen Jahrhunderts zur Beförderung eines geistigen Reiches. Ganz richtig. Dieses fremde Volk aber, ewig fremd, weil wie Herder so richtig bemerkt an ein fremdes, allen anderen Völkern feindliches Gesetz unauflösbar gebunden, dieses fremde Volk ist gerade im Laufe unseres Jahrhunderts ein unverhältnismässig wichtiger, auf manchen Gebieten geradezu ausschlaggebender Bestandteil unseres Lebens geworden. Schon vor hundert Jahren durfte jener selbe Zeuge mit Wehmut gestehen, die » roheren Nationen Europas « seien » freiwillige Sklaven21*324Die Erben.des jüdischen Wuchers «;1)Ideen zur Geschichte der Menschheit, Th. III, Buch 12, Abt. 3. heute könnte er dasselbe von dem weitaus grössten Teil der civilisierten Welt überhaupt sagen. Der Geldbesitz an und für sich ist aber das Wenigste; unsere Regierungen, unsere Justizpflege, unsere Wissenschaft, unser Handel, unsere Litteratur, unsere Kunst so ziemlich alle Lebenszweige sind mehr oder weniger freiwillige Sklaven der Juden geworden und schleppen die Frohnkette, wenn auch noch nicht an beiden Füssen, so doch an einem. Dabei ist jenes von Herder betonte » Fremde « immer stärker hervorgetreten: vor hundert Jahren hatte man es doch mehr nur geahnt; jetzt hat es sich bethätigt und bewährt, sich dem Unaufmerksamsten aufgedrängt. Von idealen Beweggründen bestimmt, öffnete der Indoeuropäer in Freundschaft die Thore: wie ein Feind stürzte der Jude hinein, stürmte alle Positionen und pflanzte ich will nicht sagen auf den Trümmern, doch auf den Breschen unserer echten Eigenart die Fahne seines uns ewig fremden Wesens auf.

Sollen wir die Juden darob schmähen? Das wäre ebenso unedel, wie unwürdig und unvernünftig. Die Juden verdienen Bewunderung, denn sie haben mit absoluter Sicherheit nach der Logik und Wahrheit ihrer Eigenart gehandelt, und nie hat die Humanitätsduselei (welche die Juden nur insofern mitmachten, als sie ihnen selber zum Vorteil ge - reichte) sie auch nur für einen Augenblick die Heiligkeit der phy - sischen Gesetze vergessen lassen. Man sehe doch, mit welcher Meister - schaft sie das Gesetz des Blutes zur Ausbreitung ihrer Herrschaft benutzen: der Hauptstock bleibt fleckenlos, kein Tropfen fremden Blutes dringt hinein; heisst es doch in der Thora: » kein Bastard soll in die Gemeinde Jahve’s kommen, auch nicht nach zehn Generationen « (Deuteronomium XXIII, 2); inzwischen werden aber Tausende von Seiten - zweiglein abgeschnitten und zur Infizierung der Indoeuropäer mit jüdischem Blute benutzt! Ginge das ein paar Jahrhunderte so fort, es gäbe dann in Europa nur noch ein einziges rassenreines Volk, das der Juden, alles Übrige wäre eine Herde pseudohebräischer Mestizen, und zwar ein unzweifelhaft physisch, geistig und moralisch degeneriertes Volk. Denn selbst der grosse Judenfreund Ernest Renan gesteht: » Je suis le premier à reconnaître que la race sémitique, comparée à la race indo-européenne, représente réellement une combinaison in - férieure de la nature humaine. « 2)Histoire générale et système comparé des langues sémitiques, 5e éd., p. 4: » Ich gestehe aufrichtig, dass die semitische Rasse, verglichen mit der indo-euro -Und in einer seiner besten, doch325Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.leider wenig bekannten Schriften, sagt derselbe Gelehrte: » L’épouvantable simplicité de l’esprit sémitique retrécit le cerveau humain, le ferme à toute idée délicate, à tout sentiment fin, à toute recherche rationelle, pour le mettre en face d’une éternelle tautologie: Dieu est Dieu; «1)De la part des peuples sémitiques dans l’histoire de la civilisation, p. 39. » Die grauenhafte Einförmigkeit des semitischen Geistes schnürt das menschliche Gehirn zusammen, verschliesst es vor jeder zarteren Gedankenfassung, vor jeder feineren Empfindung, vor jeder rationellen Fragestellung, um es der einen ewigen Tautologie gegenüberzustellen: Gott ist Gott «. und er führt dann aus, für die Kultur gäbe es nur dann eine Zukunft, wenn die christliche Religion sich immer mehr » vom Geist des Juden - tums entfernte « und » das indoeuropäische Genie « auf allen Gebieten immer mehr zur Geltung käme. Diese Vermischung bedeutet also ganz ohne Zweifel eine Entartung: Entartung des Juden, dessen Charakter ein viel zu fremder, fester, starker ist, als dass er durch germanisches Blut aufgefrischt und veredelt werden könnte, Entartung des Europäers, der durch die Kreuzung mit einem » minderwertigen Typus « wofür ich lieber sagen möchte, mit einem so andersge - arteten Typus natürlich nur verlieren kann. Während die Ver - mischung vorgeht, bleibt aber der grosse Hauptstamm der reinen, un - vermischten Juden unangetastet. Als Napoleon, zu Beginn des Jahrhunderts, unzufrieden, dass die Juden, trotz ihrer Emanzipation, in hochmütiger Isolation verharrten, erzürnt, dass sie sein ganzes Elsass, obwohl nunmehr jede Laufbahn ihnen offen stand, mit schändlichstem Wucher aufzufressen fortfuhren, an den Rat ihrer Ältesten ein Ultimatum sandte und die rückhaltlose Verschmelzung der Juden mit der übrigen Nation forderte, nahmen die Delegierten der Juden Frankreichs alle ihnen vorgeschriebenen Artikel bis auf einen an: den, der die unbeschränkte Ehe mit Christen bezweckte. Ihre Töchter, ja, die dürften ausserhalb des israelitischen Volkes hei - raten, ihre Söhne nicht; der Diktator Europas musste nachgeben. 2)Über dieses berühmte Synedrium und sein kasuistisches Unterscheiden zwischen religiösem und civilem Gesetz eine Unterscheidung, welche weder Thora noch Talmud anerkennen Weiteres im Band II dieses Buches.Das ist jenes bewunderungswürdige Gesetz, durch welches das eigent - liche Judentum begründet wurde. Zwar gestattet das Gesetz in seiner strengsten Fassung gar keine Ehe zwischen Juden und Nichtjuden; im2)päischen, wirklich einen minderwertigen Typus der Menschheit darstellt «. Dass die Juden keine reine Semiten, sondern halbe Syrier sind (wie ich das gleich ausführen werde), wird an diesem Urteile wenig ändern.326Die Erben.fünften Buche Mose, VII, 3, lesen wir: » Eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen, und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen euren Söhnen «; doch wird im Allgemeinen nur auf die letzte Forderung Gewicht gelegt; z. B. im zweiten Buche Mose, XXXIV, 16, wird einzig den Söhnen verboten, fremde Töchter zu nehmen, nicht den Töchtern fremde Söhne, und in Nehemia (XIII), wird, nachdem das beiderseitige Verbot erfolgt ist, doch nur die Ehe des Sohnes mit einem fremden Weib als » eine Sünde gegen Gott « bezeichnet. Das ist auch eine vollkommen richtige Auffassung. Durch die Ehe der Tochter mit einem Goy wird die Reinheit des jüdischen Stammes in keiner Weise alteriert, während dieser Stamm dadurch Fuss fasst im fremden Lager; wogegen die Ehe des Sohnes mit einer Goya, wie das Buch Esra IX, 2 sich drastisch ausdrückt: » den heiligen Samen gemein macht. « 1)In der neuen wortgetreuen Übersetzung des Professor Louis Segond heisst es: » die heilige Rasse durch Vermischung mit fremden Völkern verun - reinigt «; in der Übersetzung De Wette’s lautet diese Stelle: » sie haben den heiligen Samen vermischt mit den Völkern der Erde «.Auch der etwaige Übertritt der betreffenden Goya zum Judentum würde nichts nützen: dem älteren Gesetz war der Begriff eines derartigen Übertritts mit Recht vollkommen fremd, handelt es sich doch um physische Verhältnisse der Abstammung, das neuere Gesetz sagt aber mit beneidenswerter Einsichtskraft: » Prose - lyten sind für das Judentum so schädlich, wie Geschwüre am gesunden Leibe. « 2)Aus dem Talmud, nach Döllinger: Vorträge, I., 237. An einer anderen Stelle nennt der Talmud die Proselyten eine » Last « (siehe des Juden Philippson: Israelitische Religionslehre, 1861, II, 189).So wurde und so wird noch heute die jüdische Rasse rein erhalten: Töchter aus dem Hause Rothschild haben Barone, Grafen, Herzöge, Fürsten geheiratet, sie lassen sich ohne Umstände taufen; kein Sohn hat je eine Europäerin geehelicht, thäte er es, er müsste aus dem Hause seiner Väter und aus der Gemeinschaft seines Volkes ausscheiden. 3)Wie rein die jüdische Rasse noch am heutigen Tage ist, hat Virchow’s grosse anthropologische Untersuchung sämtlicher Schulkinder Deutschlands ergeben; hierüber berichtet Ranke, Der Mensch II, 293: » Je reiner die Rasse, desto geringer ist die Zahl der Mischformen. In dieser Hinsicht ist es gewiss eine sehr wichtige Thatsache, dass bei den Juden die geringste Zahl der Mischlinge angetroffen wurde, woraus sich ihre entschiedene Absonderung als Rasse den Germanen gegenüber, unter denen sie wohnen, auf das deutlichste zu erkennen giebt. «

Durch diese Ausführungen falle ich gewissermassen mit der Thür ins Haus; eigentlich hätten sie an eine spätere Stelle des327Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Buches hingehört; mir lag jedoch daran, sofort und auf dem kürzesten Wege den Einwurf zu entkräften der leider noch immer von manchen Seiten zu gewärtigen ist es existiere gar keine » jüdische Frage «, woraus dann weiter zu folgern wäre, der Eintritt der Juden in unsere Geschichte habe nichts zu bedeuten. Gerade Renan z. B. liebte es in seinen alten Tagen, zu behaupten, es gebe gar keine Juden ein so frivoler Witz, dass er eine Widerlegung nicht ver - dient. 1)Man sehe z. B. die Rede: Le Judaïsme comme race et comme Religion. Als Belohnung für diesen am 27. Januar 1883 gehaltenen Vortrag wurde Renan sofort von der reinjüdischen, durch die Alliance Israëlite ins Leben gerufene Société des études juives aufgefordert, auch dort zu sprechen, was er, eingeführt durch Baron Alphonse de Rothschild, am 26. Mai desselben Jahres that, und zwar mit einer durch die speichelleckerische Schmeichelei, durch die Niedrigkeit der bekundeten, wahrheitswidrigen, seinem eigenen Lebenswerke direkt widersprechenden Ge - sinnung geradezu Ekel erregenden Rede: Identité originelle et séparation graduelle du Judaïsme et du Christianisme. Solche Erscheinungen gehören zu den charakte - ristischen Zügen für die zweite Hälfte unseres 19. Jahrhunderts.Andere wiederum reden von Religion: es handle sich, so sagen sie, lediglich um religiöse Differenzen. Wer das sagt, übersieht, dass es gar keine jüdische Religion gäbe, wenn keine jüdische Nation existierte. Diese existiert aber. Die jüdische Nomokratie (d. h. Herrschaft des Gesetzes) vereinigt die Juden, zerstreut wie sie auch sein mögen durch alle Länder der Welt, zu einem festen, einheitlichen, durchaus politischen Gebilde, in welchem die Gemeinsamkeit des Blutes die Gemeinsamkeit der Vergangenheit bezeugt und die Gemeinsamkeit der Zukunft verbürgt. Wenn auch manche Elemente nicht im engeren Sinne des Wortes reinjüdisch sind, so ist doch die Macht dieses Blutes, verbunden mit der unvergleichlichen Macht der jüdischen Idee, so gross, dass diese fremden Bestandteile schon längst assimiliert wurden; sind doch fast zwei Jahrtausende vergangen seit der Zeit, wo die Juden ihre vorübergehende Neigung zur Proselytenmacherei aufgaben. Freilich muss man, wie ich im vorigen Kapitel ausführte, zwischen Juden edler und Juden minder edler Abstammung unterscheiden; was aber die disparaten Teile aneinander kettet ist (ausser der allmählichen Verschmelzung) die zähe Existenz ihres nationalen Gedankens. Dieser Nationalgedanke gipfelt in der unerschütterlichen Hoffnung auf die von Jahve verheissene Weltherrschaft der Juden. Naive » Christgeborene « (wie Auerbach sich in seiner Lebensskizze Spinoza’s ausdrückt) wähnen, die Juden hätten jene Hoffnung aufgegeben, doch irren sie gewaltig; denn » die Existenz des Judentums ist von der Festhaltung der Messiashoffnung328Die Erben.bedingt « wie einer der sehr mässigen, liberalen unter ihnen unlängst schrieb. 1)Skreinka: Entwickelungsgeschichte der jüdischen Dogmen. S. 75.Die ganze jüdische Religion ist ja auf diese Hoffnung ge - gründet. Der jüdische Gottesglaube, das, was man bei diesem Volke » Religion « nennen kann und auch darf (denn er ist die Quelle einer achtungswerten Moralität geworden) ist ein Teil dieses National - gedankens, nicht umgekehrt. Zu behaupten, es gebe eine jüdische Religion, doch keine jüdische Nation, heisst darum einfach Unsinn reden. 2)Auf dem jüdischen Kongress, gehalten in Basel im Jahre 1898, erklärte Dr. Mandelstam, Professor an der Universität Kiew, in der Hauptrede der Sitzung vom 29. August, » dass die Juden das Aufgehen in die übrigen Nationalitäten mit aller Energie zurückweisen, und dass sie ihre historische Hoffnung (d. h. also auf Weltherrschaft) festhalten « (nach dem Bericht eines Teilnehmers am Kongress in der Pariser Zeitung Le Temps vom 2. September 1898).

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte bedeutet also ohne Frage den Eintritt eines bestimmten, von allen europäischen Völkern durchaus verschiedenen, ihnen gewissermassen gegensätzlichen Elements, eines Elements, welches, während die Nationen Europas die verschiedensten Phasen durchmachten, sich wesentlich gleichblieb, welches im Verlaufe einer oft harten und grausamen Geschichte niemals die Schwäche hatte, auf Verbrüderungsvorschläge einzugehen, sondern, im Besitze seiner nationalen Idee, seiner nationalen Vergangenheit, seiner nationalen Zukunft, die Berührung mit anderen Menschen wie eine Ver - unreinigung empfand und noch heute empfindet; welches, Dank der Sicherheit des Instinktes, die aus strenger Einheitlichkeit des National - empfindens entspringt, es stets vermochte, auf Andere tiefgreifenden Einfluss auszuüben, wogegen die Juden selber von unserer geistigen und kulturellen Entwickelung nur hauttief berührt wurden. Um diese höchst eigentümliche Situation vom Standpunkt des Europäers aus zu kennzeichnen, müssen wir mit Herder wiederholen: das Volk der Juden ist und bleibt ein unsrem Weltteil fremdes Volk; vom Standpunkt des Juden aus erhält dieselbe Erkenntnis eine etwas ab - weichende Formulierung, wir wissen aus einem früheren Kapitel, wie der grosse freisinnige Philosoph Philo sie fasste: » einzig die Israeliten sind Menschen im wahren Sinne des Wortes «. 3)Siehe S. 223.Was der Jude hier im intoleranten Ton des Rassenhochmuts vorbringt, genau dasselbe hat unser grosser Goethe in liebenswürdigerer Weise ausge -329Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.sprochen, indem er eine Gemeinsamkeit der Abstammung zwischen den Juden und den Indoeuropäern, und legte man sie noch so weit zurück, in Abrede stellt: » Dem auserwählten Volke wollen wir die Ehre seiner Abstammung von Adam keineswegs streitig machen. Wir andere aber hatten gewiss auch andere Urväter. «1)Eckermann’s Gespräche, 7. Oktober 1828. Dasselbe hatte Giordano Bruno gelehrt, welcher behauptete, einzig die Juden stammten von Adam und Eva ab, die übrigen Menschen von einer weit älteren Rasse (nach Diderot).

Aus diesen Erwägungen ergiebt sich für uns die BerechtigungDas » fremde Volk «. und die Verpflichtung, den Juden als ein besonderes und zwar als ein fremdes Element in unserer Mitte zu erkennen. Äusserlich erbte er dasselbe wie wir; innerlich erbte er einen grundverschiedenen Geist. Ein einziger Zug genügt, um die gähnende Kluft, welche hier Seele von Seele scheidet, in fast erschreckender Weise dem Bewusstsein zu enthüllen: die Erscheinung Christi ist für den Juden ohne Bedeutung! Ich rede hier gar nicht von frommer Rechtgläubigkeit. Man lese aber z. B. bei dem offenkundigen Freidenker Diderot die wundervollen Worte über den Gekreuzigten, man sehe, wie Diderot den Menschen in seinem höchsten Leid sich an den Göttlichen wenden und die christliche Religion als die einzige der Welt empfinden lässt. » Quelle profonde sagesse il y a dans ce que l’aveugle philosophie appelle la folie de la croix! Dans l’état j’étais, de quoi m’aurait servi l’image d’un législateur heureux et comblé de gloire? Je voyais l’innocent, le flanc percé, le front couronné d’épines, les mains et les pieds percés de clous, et expirant dans les souffrances; et je me disais: Voilà mon Dieu, et j’ose me plaindre! « Eine förmliche Bibliothek jüdischer Bücher habe ich durchgesucht in der Erwartung, ähnliche Worte zu finden nicht den Glauben an die Gottheit Christi natürlich, auch nicht den Begriff der Erlösung, sondern das rein menschliche Gefühl für die Bedeutung eines leidenden Heilands, doch vergebens. Ein Jude, der das fühlt, ist eben kein Jude mehr, sondern ein Verneiner des Judentums. Und während wir sogar in Mohammed’s Koran mindestens eine Ahnung von der Bedeutung Christi und eine tiefe Ehrfurcht vor seiner Erscheinung finden, nennt ein kultivierter, führender Jude unseres Jahrhunderts Christus: » die Neugeburt mit der Totenmaske «, die dem jüdischen Volke neue und schmerz - liche Wunden geschlagen hat; etwas Anderes vermag er in ihm nicht zu erblicken. 2)Graetz: Volkstümliche Geschichte der Juden, I, 591.Er versichert uns beim Anblick des Kreuzes: » Die330Die Erben.Juden brauchen gar nicht diese krampfhafte Erschütterung zur inneren Besserung «, und fügt hinzu: » namentlich nicht in den mittleren Klassen der Städtebewohner «! Weiter reicht das Verständnis nicht. In einer im Jahre 1880 neu verlegten (!) Schrift eines spanischen Juden (Mose de Leon) wird Jesus Christus ein » toter Hund « ge - nannt, der » in einem Düngerhaufen begraben « liege. Ausserdem haben die Juden gerade in den letzten Jahrzehnten unseres Säculums für mehrere Ausgaben (natürlich in hebräischer Sprache) der sogenannten » Censurstellen « aus dem Talmud gesorgt, nämlich, jener sonst aus - gelassenen Stellen, in denen Christus als » Narr «, als » Zauberer «, als » Gottloser «, als » Götzendiener «, als » Hund «, als » Bastard «, als » Kind der Wollust «, als » Hurensohn « u. s. w. dem Hohn und dem Hass preisgegeben und empfohlen wird; seine erhabene Mutter desgleichen. 1)Siehe Laible: Jesus Christus im Talmud, S. 2 fg. (Schriften des Institutum Judaicum in Berlin, Nr. 10; im Anhange sind die hebräischen Urtexte mitgeteilt). Dieser durchaus unparteiische, judenfreundliche Gelehrte bezeugt: » Der Hass und Hohn der Juden warf sich zunächst immer auf die Person Jesu selbst « (S. 25). » Der Jesushass der Juden ist eine feststehende Thatsache, nur wollen sie ihn möglichst wenig zur Schau gestellt wissen « (S. 3). Den Hass gegen Jesus be - zeichnet derselbe Gelehrte als » den nationalsten Zug des Judentums « (S. 86); er sagt: » bei Annäherung des Christentums erfasste je und je die Juden ein an Wahnsinn streifender Zorn und Hass « (S. 72). Noch heute darf kein gläubiger Jude den Namen Christi mündlich oder schriftlich aussprechen (S. 3 und 32); die üblichsten Kryptonymen sind » der Bastard « oder » der Hurensohn « oder » der Gehenkte «, häufig auch » Bileam «.Wir thun den Juden gewiss kein Unrecht, wenn wir sagen, dass ihnen die Erscheinung Christi einfach ein Unbegreifliches und ein Ärgernis ist. Obwohl sie scheinbar aus ihrer Mitte hervorging, ver - körpert sie dennoch die Verleugnung ihres ganzen Wesens wofür die Juden ein viel feineres Gefühl haben als wir. Diese Ver - anschaulichung der tiefen Kluft, welche uns Europäer vom Juden scheidet, gebe ich durchaus nicht, um das Schwergewicht auf den gefährlichen Boden religiöser Voreingenommenheit hinüberzuwälzen, sondern weil mich dünkt, dass das Gewahrwerden zweier so grund - verschiedener Gemütsanlagen einen wahren Abgrund aufdeckt; es thut gut, einmal in diesen Abgrund hinunterzuschauen, damit man nicht an anderen Orten, wo scheinbare Annäherung stattfindet, das tief Trennende übersehe.

Aber noch eine weitere Erwägung muss aus dem Gewahr - werden dieser Trennung sich uns ergeben. Der Jude versteht uns331Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.nicht, das ist sicher; können wir hoffen, ihn zu verstehen, ihm gerecht zu werden? Vielleicht; wenn wir ihm nämlich in der That geistig und moralisch überlegen sind, wie Renan in der vorhin angeführten Stelle behauptete und wie andere, vielleicht zuverlässigere Gelehrte ebenfalls gemeint haben. 1)Siehe namentlich die berühmte Stelle in Lassen’s: Indische Altertumskunde, wo der grosse Orientalist seine Überzeugung, dass die indoeuropäische Rasse » höher und vollständiger begabt «, dass in ihr allein » das harmonische Gleichmass aller Seelenkräfte « ausgebildet sei, ausführlich begründet. (I, 414, Ausgabe des Jahres 1847.)Wir müssten ihn aber dann wirklich auch von der Höhe unserer Überlegenheit aus beurteilen, nicht aus den Niederungen des Hasses und des Aberglaubens, noch weniger aus den Sümpfen des Missverständnisses, in denen unsere Religions - lehrer seit 2000 Jahren herumwaten. Dem Juden Gedanken zu - schreiben, die er niemals gedacht, ihn als den Träger der gross - artigsten religiösen Intuitionen verherrlichen, die ihm ferner als vielleicht irgend welchen Menschen auf Erden lagen und im allerbesten Falle nur hier und dort als ein Schrei der Empörung gegen die besondere Gemütshärte dieses Volkes in dem Herzen Vereinzelter sich regten und ihn dann dafür verdammen, dass er heute so ganz anders ist, als er nach diesen Erdichtungen sein sollte, das ist doch offenbar un - gerecht. Es ist nicht allein ungerecht, sondern für das öffentliche Gefühl bedauerlich irreleitend; denn durch das Verhältnis zu unserem religiösen Leben, welches wir dem Juden angedichtet haben, erscheint sein Haupt in einer Art Glorienschein, und wir sind dann höchlich empört, wenn aus dieser auréole postiche kein Heiliger uns ent - gegentritt. Wir stellen höhere Ansprüche an den Juden als an uns selber, blosse Heidensöhne. Da ist doch das jüdische Zeugnis ganz anders zutreffend; es spannt die Erwartungen so wenig hoch, dass wir über jeden edlen Zug, den wir später entdecken, über jede Er - klärung, die wir für jüdische Gebrechen finden, uns aufrichtig freuen. Jahve zum Beispiel wird nicht müde zu erklären: » Ich sehe, dass dies Volk ein halsstarriges Volk ist «,2)2 Mose XXXII, 9, XXXIV, 9, 5 Mose IX, 13 u. s. w. und Jeremia giebt von der moralischen Beschaffenheit der Juden eine Charakterisierung, wie sie Monsieur Édouard Drumont nicht farbenreicher wünschen könnte: » Ein Freund täuscht den andern und redet kein wahres Wort; sie fleissigen sich darauf, wie Einer den Anderen betrüge, und ist ihnen leid, dass sie es nicht ärger machen können «. 3)IX, 5.Kein Wunder,332Die Erben.nach dieser Schilderung, dass Jeremia die Juden » einen frechen Haufen « nennt und nur eine Sehnsucht kennt: » Ach, dass ich eine Herberge hätte in der Wüste! so wollte ich mein Volk verlassen und von ihnen ziehen! « Für die unglaubliche Unwissenheit über die Natur des Juden, die unter uns herrscht, sind wir also allein ver - antwortlich; nie hat ein Volk ein so umfassendes, aufrichtiges Bild seiner Persönlichkeit gegeben wie der Hebräer in seiner Bibel, ein Bild, welches (so weit ich nach Bruchstücken urteilen darf) durch den Talmud, wenn auch in verblasster Manier, noch ergänzt wird. Ohne also in Abrede zu stellen, wie schwer es uns » von anderen Urvätern Abgestammten « fallen muss, das » fremde, asiatische Volk « richtig zu beurteilen, müssen wir doch einsehen, dass die Juden von jeher alles Mögliche thaten, um dem Unvoreingenommenen Aufschluss über sich zu geben, ein Umstand, welcher wohl zu der Hoffnung berechtigt, grundlegende Einsichten über ihr Wesen gewinnen zu können. Eigentlich müssten die Vorgänge, die sich unter unseren Augen abspielen, zu besagtem Zwecke genügen. Ist es möglich, täglich Zeitungen zu lesen, ohne jüdische Sinnesart, jüdischen Ge - schmack, jüdische Moral, jüdische Ziele kennen zu lernen? Ein paar Jahrgänge der Archives israélites belehren ja mehr als eine ganze antisemitische Bibliothek; und zwar durchaus nicht bloss über die minder angenehmen, sondern auch über die vortrefflichen Charakter - züge der Juden. Doch hier, in diesem Kapitel, will ich die Gegen - wart nicht heranziehen. Sollen wir ein sachliches, vollgültiges Urteil darüber uns bilden, was der Jude als Miterbe und als Mitarbeiter in unserem Jahrhundert zu bedeuten hatte, so müssen wir vor allen Dingen uns darüber klar werden, was er ist. Aus dem, was ein Mensch von Natur ist, folgt mit strenger Notwendigkeit, was er unter gegebenen Bedingungen thun wird; der Philosoph sagt: operari sequitur esse; ein altes deutsches Sprichwort drückt dasselbe gemütlicher aus: » Nur was ein Mensch ist, kann man aus ihm herauskriegen «.

Historische Vogelschau.
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Reine Historie führt nun hier weder schnell noch sicher zum Ziel, ausserdem kann es nicht meine Aufgabe sein, eine Geschichte der Juden zu bieten. Wie in anderen Kapiteln, so auch hier perhorresziere ich das Abschreiben. Jedermann weiss ja, wie und wann die Juden in die abendländische Geschichte eintraten: erst durch die Diaspora, dann durch die Zerstreuung. Ihr wechselndes Schicksal in verschiedenen Ländern und Zeiten ist ebenfalls bekannt, wenn man auch freilich Manches weiss, was absolut unwahr ist und Manches333Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.nicht weiss, was zu wissen Not thäte. Keinem brauche ich aber erst mitzuteilen, dass durch alle christliche Jahrhunderte hindurch die Juden eine, wenn auch manchmal eng beschränkte, so doch wichtige Rolle spielten. Schon in den frühesten westgotischen Zeiten ver - standen sie es, als Sklavenhändler und Geldvermittler sich Einfluss und Macht zu verschaffen. Waren sie auch nicht allerorten, wie bei den spanischen Mauren, mächtige Staatsminister, die dem Beispiel Mardochai’s folgend, die einträglichsten Ämter mit » der Menge ihrer Brüder « füllten, brachten sie es auch nicht überall, wie im katholischen Spanien, zum Bischof und Erzbischof,1)Siehe das Buch des Juden David Mocatta: Die Juden in Spanien und Portugal, (deutsch von Kayserling 1878), wo ausführlich erzählt wird, wie in Spanien: » Geschlechter und Geschlechter von geheimen Juden lebten, vermischt mit allen Klassen der Gesellschaft, im Besitze jeder Stellung im Staate und be - sonders in der Kirche «! so war doch ihr Einfluss überall und immer ein grosser. Schon die Babenberg’schen Fürsten des 13. Jahrhunderts gaben ihren Nachfolgern das Beispiel, die Finanzen des Landes von Juden verwalten zu lassen und diese Ver - walter durch Ehrentitel auszuzeichnen;2)Graetz: a. a. O., II, 563. der grosse Papst Innocenz III. vergab wichtige Stellen in seinem Hofstaate an Juden;3)Israel Abrahams: Jewish Life in the Middle Ages. die Ritter Frankreichs mussten Gut und Habe an die Juden verpfänden, um an den Kreuzzügen teilnehmen zu können;4)André Réville: Les Paysans au Moyen-Age, 1896, p. 3. Rudolph von Habsburg be - günstigte die Juden in jeder Weise, er » vindizierte sie als Knechte seiner kaiserlichen Kammer «, und indem er sie der gewöhnlichen Gerichtsbarkeit entzog, machte er es sehr schwer, eine Klage gegen einen Juden überhaupt durchzuführen;5)Siehe u. A. Realis: Die Juden und die Judenstadt in Wien, 1846, S. 18 u. s. w. kurz: das, was ich den Ein - tritt der Juden in unsere europäische Geschichte nenne, hat nicht aufgehört, zu jeder Zeit und an jedem Orte sich fühlbar zu machen. Wer befähigt wäre, Geschichte mit dem einen Zweck zu studieren, den jüdischen Einfluss genau zu entwirren, würde, glaube ich, un - erwartete Ergebnisse zu Tage fördern. Ohne Detailforschung können wir diesen Einfluss nur dort deutlich und unzweifelhaft feststellen, wo die Juden in grösserer Zahl vorhanden waren. Im 2. Jahr - hundert z. B. sind die Juden auf der Insel Cypern in der Mehrzahl; sie beschliessen einen Nationalstaat zu gründen und befolgen zu diesem Zweck das aus dem Alten Testament bekannte Verfahren: sie er -334Die Erben.schlagen an einem Tage die sämtlichen übrigen Bewohner, 240 000 an der Zahl; und damit dieser Inselstaat nicht ohne einen sichern Rückhalt auf dem Festland bleibe, erschlagen sie zugleich die 220 000 nicht-jüdischen Bewohner der Stadt Cyrene. 1)Mommsen: Römische Geschichte, V, 543.In Spanien verfolgen sie denselben Zweck mit grösserer Vorsicht und erstaunlicher Beharr - lichkeit. Gerade unter der Regierung desjenigen Westgotenkönigs, der sie mit Wohlthaten überhäuft hatte, rufen sie die stammverwandten Araber aus Afrika herüber; ohne Hass, nur weil sie dabei zu profi - tieren hoffen, verraten sie ihren edlen Beschützer; unter den Kalifen bekommen sie dann nach und nach einen immer grösseren Anteil an der Regierung; » sie konzentrierten «, schreibt der durchaus juden - freundliche Geschichtsschreiber Heman, » sowohl die geistigen als die materiellen Kräfte vollständig in ihrer Hand «; dabei ging allerdings der blühende maurische Staat geistig und materiell zu Grunde, was aber den Juden gleichgültig war, da sie inzwischen im christlichen Staat der Spanier, berufen den maurischen zu ersetzen, eben so festen Fuss gefasst hatten. » Der bewegliche Reichtum des Landes lag hier ganz in ihren Händen; der Grundbesitz kam immer mehr in dieselben Hände durch Wucher und Aufkauf der verschuldeten Adelsgüter. Vom Staatssekretär und Finanzminister ab waren alle Beamtungen, die mit Steuer - und Geldsachen zu thun hatten, in jüdischen Händen. Durch Wucher war ihnen fast ganz Aragonien verpfändet. In den Städten bildeten sie die Majorität der begüterten Bevölkerung. « 2)Heman: Die historische Weltstellung der Juden 1882, S. 24 fg. Für eine anders gefärbte Darstellung, die aber im Thatsächlichen vollkommen überein - stimmt, siehe Graetz: Volksth. Gesch. d. Juden II, 344 fg.Ganz schlau waren sie aber, wie immer, auch dort nicht; ihre Macht hatten sie benutzt, um sich allerhand Privilegien zu erwirken, so z. B. genügte der Eid eines einzigen Juden, um Schuldforderungen gegen Christen zu beweisen (wie übrigens im Erzherzogtum Österreich und vielerorten), während das Zeugnis eines Christen vor Gericht gegen einen Juden nichts galt, und anderes dergleichen; diese Privilegien missbrauchten sie in so massloser Weise, dass endlich das Volk sich erhob. Nicht unähnlich wäre es in Deutschland ergangen, hätten nicht die Kirche und einsichtige Staatsmänner bei Zeiten dem Übel gesteuert. Karl der Grosse hatte sich Juden für die Verwaltung seiner Finanzen aus Italien verschrieben; bald sicherten sie sich aller - orten als Steuerpächter Reichtum und Einfluss und benutzten diese,335Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.um für ihre Nation wichtige Vorrechte auszumachen: Handels - privilegien, geringeres Strafmass bei Verbrechen u. s. w., ja, man zwang die gesamte Bevölkerung, ihre Märkte auf den Sonntag zu ver - legen, weil der bisher übliche Samstag den Juden ihres Sabbats wegen unangenehm war; es gehörte damals zum höfischen bon ton, die Synagogen zu besuchen! Doch hier trat die Reaktion ziemlich bald ein und kräftig, und zwar durchaus nicht allein, wie es die Historiker meistens darzustellen belieben, als Folge pfäffischen Auf - hetzens solche Erscheinungen gehören zur Schale nicht zum Kern der Geschichte sondern in erster Reihe darum, weil der Germane eben so sehr ein geborener Industrieller und Kaufmann, wie ein ge - borener Krieger ist, und er daher, sobald mit der Städtebildung diese Instinkte in ihm wach wurden, dem unlauteren Wettbewerber in sein Spiel sah und voll heftiger Empörung seine Entfernung forderte. Und so liesse sich, wenn das der Zweck dieses Kapitels wäre, Flut und Ebbe des jüdischen Einflusses bis heute hinab verfolgen, wo alle Kriege unseres Jahrhunderts in so eigentümlichem Konnex mit jüdischen Finanzoperationen stehen, von Napoleon’s russischem Feldzug und Nathan Rothschild’s Zuschauerrolle bei der Schlacht von Waterloo an, bis zu der Zuziehung der Herren Bleichröder deutscherseits und Alphonse Rothschild französischerseits zu den Friedensverhandlungen des Jahres 1871 und bis zur » Commune «, welche von Anfang an allen Einsichtigen eine jüdisch-napoleonistische Machination dünkte.

Dieser politisch-soziale Einfluss der Juden wurde nun sehr ver -Consensus ingeniorum. schieden beurteilt, doch von den grössten Politikern zu allen Zeiten für verderblich gehalten. Cicero z. B. (wenn auch kein grösster Politiker, so doch ein erfahrener Staatsmann) legt eine wahre Furcht vor den Juden an den Tag; wo eine gerichtliche Verhandlung ihre Interessen berührt, redet er so leise, dass die Richter allein ihn hören, denn er weiss, sagt er, wie alle Juden zusammenhalten und wie sie den zu verderben verstehen, der sich ihnen entgegenstellt; sonst, gegen Griechen, gegen Römer, gegen die mächtigsten Männer seiner Zeit, donnert er die ärgsten Beschuldigungen, den Juden gegenüber rät er Vorsicht, sie sind ihm eine unheimliche Macht, und mit möglichster Hast gleitet er hinweg über jene Hauptstadt » des Argwohns und der Verleumdung «, Jerusalem: so urteilte ein Cicero unter dem Konsulat eines Julius Caesar! 1)Siehe die Verteidigung des Lucius Flaccus, Abschn. XXVIII.Kaiser Tiberius, nach manchen Geschichts -336Die Erben.schreibern der tüchtigste Herrscher, den das römische Imperium be - sessen, erkannte in der Immigration der Juden (also ebenfalls schon vor der Zerstörung Jerusalems!) eine nationale Gefahr; Friedrich II., der Hohenstaufe, gewiss einer der genialsten Menschen, die je die Krone getragen und das Schwert geführt haben, ein freier denkender Mann als irgend ein Monarch unseres 19. Jahrhunderts, ein begeisterter Bewunderer des Morgenlandes und generöser Unterstützer hebräischer Gelehrten, hielt es dennoch für angezeigt (entgegen der Sitte seiner Zeitgenossen) die Juden von allen öffentlichen Ämtern auszuschliessen und wies warnend darauf hin, dass wo man auch den Juden zur Ge - walt zulässt, er sie missbraucht; genau dasselbe lehrte der andere grosse Friedrich II., der Hohenzollern, der jede Freiheit gewährte, nur nicht die der Juden; nicht unähnlich hat Fürst Bismarck, als er noch offen reden durfte, sich im Landtag (1847) geäussert, und der grosse Ge - schichtsforscher Mommsen spricht vom Judentum als von einem » Staat im Staate «. Was speziell den sozialen Einfluss betrifft, so will ich mich begnügen, zwei weise, gerechte Männer anzuführen, deren Urteil selbst den Juden nicht verdächtig sein kann, Herder und Goethe. Der Erste behauptet: » Ein Ministerium, bei dem der Jude Alles gilt, eine Haushaltung, in der ein Jude die Schlüssel zur Garderobe oder der ganzen Kasse des Hauses führt, ein Departement oder Kommissariat, in welchem die Juden die Hauptgeschäfte treiben sind unauszu - trocknende pontinische Sümpfe «; und er meint, die Gegenwart einer unbestimmten Menge Juden sei für einen europäischen Staat so ver - derblich, dass man sich » nicht durch allgemeine menschenfreundliche Grundsätze leiten lassen dürfe «, sondern es handle sich um eine Staatsfrage, und es sei Pflicht eines jeden Staates, festzustellen: » wie viele von diesem fremden Volke dürfen ohne Nachteil der Eingeborenen geduldet werden «. 1)Adrastea: Bekehrung der Juden. Goethe geht noch tiefer: » Wie sollten wir dem Juden den Anteil an der höchsten Kultur vergönnen, deren Ursprung und Herkommen er verleugnet? « 2)Wilhelm Meister’s Wanderjahre, Buch III, Kap. 11.Goethe und Herder urteilen also genau so wie der grosse Hohenstaufe, wie der grosse Hohenzollern, und wie alle grossen Männer vor und nach ihnen: ohne in aber - gläubischer Weise dem jüdischen Volk seine Eigenart zum Vorwurf zu machen, halten sie es für eine thatsächliche Gefahr für unsere Civilisation und für unsere Kultur; sie würden ihm einen thätigen337Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Anteil daran nicht vergönnen. Über einen derartigen consensus ingeniorum kann man doch nicht so ohne Weiteres zur Tagesordnung übergehen. Denn allen diesen wohlerwogenen, ernsten, aus der Fülle der Erfahrung und dem Scharfblick der bedeutendsten Geister hervorgegangenen Urteilen hat man weiter nichts entgegenzustellen, als die hohlen Phrasen des phrasenhaftesten Volkes in der phrasenreichsten Periode seiner mit Phrasen gepflasterten Geschichte, nichts als die droits de l’homme einen parlamentarischen Wisch. 1)Ich habe meine Citate mit Absicht beschränkt. Doch kann ich mich nicht enthalten, mindestens in einer Anmerkung den grossen Voltaire gegen die jetzt so ziemlich allerorten eingebürgerte Fabel in Schutz zu nehmen, als habe er so überaus günstig und » humanitär « flach, wie unser Jahrhundert es wünschen möchte, über den Einfluss der Juden auf unsere Kultur geurteilt. Selbst Juden von so um - fassender Bildung wie ein James Darmesteter (Peuple Juif, 2. éd. p. 17) drucken den Namen Voltaire in fetten Buchstaben und stellen ihn als einen der geistigen Urheber ihrer Emanzipation dar. Das Gegenteil ist wahr; mehr als einmal rät Voltaire, man solle die Juden nach Palästina zurückschicken. Voltaire gehört zu den Autoren, die ich am besten kenne, weil ich die kurzweiligen Bücher den langweiligen vor - ziehe, und ich glaube, ich könnte leicht hundert Citate aggressivster Art gegen die Juden zusammenstellen. In dem Aufsatz des Dictionnaire Philosophique (Ende von section I) sagt er: » Vous ne trouverez dans les Juifs qu’un peuple ignorant et barbare, qui joint depuis longtemps la plus sordide avarice à la plus détestable superstition et à la plus invincible haine pour tous les peuples qui les tolèrent et qui les enrichissent. « In Dieu et les hommes (ch. X) nennt er die Juden: » la plus haïssable et la plus honteuse des petites nations «. Mehr kann man wirklich kaum verlangen, um über seine Meinung ins Klare zu kommen! Doch diese Meinung sollte umso mehr Gewicht haben, als gerade Voltaire in vielen und umfangreichen Schriften sich eingehend mit jüdischer Geschichte und mit dem Studium des jüdischen Charakters abgegeben hat (so eingehend, dass der als » oberflächlicher Dilettant « Verachtete heutzutage gelegentlich von einem Fachgelehrten ersten Ranges wie Wellhausen citiert wird). Und so ist es beachtenswert, wenn er schreibt (Essai sur les Mœurs, ch. XLII): » La nation juive ose étaler une haine irréconciliable contre toutes les nations, elle se révolte contre tous ses maîtres; toujours superstitieuse, toujours avide du bien d’autrui, toujours barbare, rampante dans le malheur, et insolente dans la prospérité «. Auch über die geistigen Anlagen der Juden urteilt er kurz und apodiktisch; er behauptet: » Les Juifs n’ont jamais rien inventé « (La défense de mon oncle, ch. VII), und in dem Essai sur les Mœurs führt er in mehreren Kapiteln aus, die Juden hätten stets von anderen Nationen gelernt, niemals aber selber die anderen etwas gelehrt; selbst ihre Musik, sonst allgemein gelobt, kann Voltaire nicht ausstehen: » Retournez en Judée le plus tôt que vous pourrez vous y exécuteriez à plaisir dans votre détestable jargon votre détestable musique « (6me lettre du Dictionnaire). Diese eigentümliche geistige Sterilität der Juden erklärt er an anderen Orten durch die unmässige Gier nach Gold: » L’argent fut l’objet de leur conduite dans tous les temps «. (Dieu et les hommes, XXIX). An hundert Stellen spottet Voltaire über die Juden, z. B. in Zadig (ch. X), wo der

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 22338Die Erben.
Fürsten und Adel.
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Andererseits ist es sicher und muss wohl beachtet werden, dass wenn die Juden die Verantwortung für manche grauenhafte historische Entwickelung, für den Verfall mancher heldenmütiger, kraftstrotzender Völker trifft, diese Verantwortung noch schwerer auf den Häuptern jener Europäer lastet, welche die zersetzende Thätigkeit der Juden aus den schnödesten Gründen stets ermutigt, beschützt, gefördert haben, und das sind in erster Reihe die Fürsten und der Adel und zwar von dem ersten Säculum unserer Zeitrechnung an bis zum heutigen Tage. Man schlage die Geschichte welches europäischen Volkes man will, auf; überall wird man, sobald die Juden zahlreich sind und sich » zu fühlen « beginnen, bittere Klagen aus dem Volk, aus dem Kauf - mannsstand, aus den Kreisen der Gelehrten und der dichterischen Seher gegen sie erheben hören, und immer und überall sind es die Fürsten und der Adel, welche sie beschützen: die Fürsten, weil sie Geld zu ihren Kriegen brauchen, der Adel, weil er leichtsinnig lebt. Von Wilhelm dem Eroberer erzählt z. B. Edmund Burke1)An abridgment of English History, book III., ch. 2., dass, da die Einkommen aus » talliage « und aus allerhand anderen drückenden1)Jude einen feierlichen Dank zu Gott emporsendet für einen gelungenen Betrug; die beissendste Satire auf das Judentum, die es überhaupt giebt, ist ohne Frage die Schrift Un Chrétien contre six Juifs. Und doch haftete allen diesen Äusserungen eine gewisse Reserve an, da sie für die Veröffentlichung bestimmt waren; wogegen Voltaire in einem Brief an den Chevalier de Lisle vom 15. Dezember 1773 (also an seinem Lebensende, nicht in der Hitze der Jugend) seine Meinung ohne Zurück - haltung aussprechen durfte: » Que ces déprépucés d’Israël se disent de la tribu de Nephthali ou d’Issachar, cela est fort peu important; ils n’en sont pas moins les plus grands gueux qui aient jamais souillé la face du globe «. Man sieht, der feurige Franzose urteilt über die Juden wie nur irgend ein fanatischer Bischof; er unter - scheidet sich höchstens durch den Zusatz, den er hin und wieder seinen heftigsten Ausfällen anhängt: » Il ne faut pourtant pas les brûler «. Ein fernerer Unterschied liegt in der Thatsache, dass es ein humaner, toleranter und gelehrter Mann ist, der dieses überaus scharfe Urteil fällt. Doch wie erklärt man das Vorhandensein einer so erbarmungslos einseitigen, jede Hoffnung ausschliessenden Gesinnung bei einem so liberal denkenden Manne, einer Gesinnung, die in ihrer Masslosigkeit unvorteilhaft von den oben angeführten Worten der deutschen Weisen absticht? Hier könnte unsere Zeit viel lernen, wenn sie es wollte! Denn man sieht, dass diesem gallischen Drang nach Gleichheit und Freiheit nicht die Liebe zur Gerechtigkeit, nicht die Achtung vor der Individualität zu Grunde liegt; und man darf weiter folgern: nicht aus Prinzipien ergiebt sich Verständnis, nicht aus allgemeiner Menschen - freundlichkeit die Möglichkeit, in würdevollem Frieden nebeneinander zu leben, sondern einzig die rücksichtslose Anerkennung des Trennenden der eigenen Art und der eigenen Interessen kann gerecht machen gegen fremde Art und fremde Interessen.339Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Steuern ihm nicht genügten, er von Zeit zu Zeit den Juden ihre Schuldscheine entweder konfiszierte oder für ein Spottgeld abzwang, wodurch dann, da fast der gesamte anglo-normännische Adel des 11. Jahrhunderts in den Händen der jüdischen Wucherer lag, der König selber der erbarmungslos strenge Gläubiger seiner hervorragendsten Unterthanen wurde. Dabei beschützte er zugleich die Juden und ver - lieh ihnen Privilegien aller Art. Dieses eine Beispiel stehe für tausende und abertausende. 1)Der berühmte Nationalökonom Dr. W. Cunningham vergleicht in seinem Buche The Growth of English industry and commerce during the early and middle ages (3. Aufl., 1896, S. 201) die Wirksamkeit der Juden in England vom 10. Jahrhundert an mit einem Schwamme, der alle Wohlhabenheit des Landes aufsaugt und da - durch jede wirtschaftliche Entfaltung hintanhält. Interessant ist daselbst der Nachweis, dass schon zu jenen frühen Zeiten die Gesetzgebung sich alle Mühe gab, die Juden zu der Annahme anständiger Gewerbe und ehrlicher Arbeit zu veranlassen, und dadurch zugleich zur Amalgamierung mit der übrigen Bevölkerung, doch alles ohne Erfolg.Haben also die Juden einen grossen und historisch verderblichen Einfluss ausgeübt, so ist es nicht zum Wenigsten Dank der Komplizität jener beiden Elemente, die in geradezu niederträchtiger Weise die Juden zugleich verfolgten und ausnutzten. Und zwar dauert dies bis hinab in unser Jahrhundert: Graf Mirabeau steht schon vor der Revolution mit den Juden in engster Fühlung,2)Über Mirabeau’s Beeinflussung durch » die klugen Weiber aus der Juden - schaft « (wie Gentz sagt) und seine Zugehörigkeit zu wesentlich jüdischen geheimen Verbindungen, siehe, ausser Graetz: Volkst. Geschichte der Juden (III, 600, 610 fg. ) ganz besonders l’Abbé Lémann: L’entrée des Israélites dans la société française, Buch III, Kap. 7; als konvertierter Jude versteht dieser Autor, was andere nicht verstehen, und zugleich sagt er, was die jüdischen Autoren verschweigen. Vor Allem wichtig dürfte bei Mirabeau die Thatsache sein, dass er von Jugend auf stark verschuldet an die Juden war (Carlyle: Essay on Mirabeau). Fürst Talleyrand verficht in der Constituante ihre unbedingte Emanzipation gegen die Vertreter aus den bürgerlichen Ständen, Napoleon beschirmt sie, als nach so wenigen Jahren schon aus ganz Frankreich klagende Bitten um Schutz gegen sie bei der Regierung eingereicht werden, und zwar thut er es, obwohl er selber im Staatsrate ausgerufen hatte: » Heu - schrecken und Raupen sind diese Juden, sie fressen mein Frankreich auf «! er brauchte eben ihr Geld; Fürst Dalberg verkauft den Frank - furter Juden, der gesamten Bürgerschaft zum Trotz, die vollen Bürger - rechte für eine halbe Million Gulden (1811), die Hardenbergs und die Metternichs lassen sich beim Wiener Kongress vom Bankhaus Roth - schild umgarnen, und, entgegen den Stimmen sämtlicher Bundes - vertreter, verfechten sie den Nachteil der Deutschen und den Vorteil der22*340Die ErbenJuden und setzen schliesslich ihren Willen durch, ja, die beiden durch sie vertretenen konservativsten Staaten sind die ersten, welche diejenigen Mitglieder des » fremden, asiatischen Volkes «, die in den Jahren der allgemeinen Not und des Jammers auf unsauberem Wege zu unge - heueren Reichtümern gelangt waren, in den erblichen Adelsstand er - heben, was ehrlichen und verdienten Juden nie geschehen war. 1)Übrigens ist dies eine alte Gepflogenheit der Fürsten, die nicht den Juden allein zu Gute kommt; schon Martin Luther muss berichten: » Die Fürsten lassen die Diebe hängen, die einen Gulden oder einen halben gestohlen haben, und hand - thieren mit denen, die alle Welt berauben und stehlen mehr, denn alle Andern. « (Von Kaufhandlung und Wucher.) Waren also die Juden für uns eine verderbliche Nachbarschaft, so fordert doch die Gerechtigkeit das Geständnis, dass sie nach der Natur ihrer Instinkte und ihrer Gaben handelten, wobei sie zu - gleich ein wahrhaft bewunderungswürdiges Beispiel der Treue gegen sich selbst, gegen die eigene Nation, gegen den Glauben der Väter gaben; die Versucher und die Verräter waren nicht sie, sondern wir. Wir selber waren die verbrecherischen Helfershelfer der Juden, das war so und das ist noch heute so; und wir selber übten Verrat an dem was der erbärmlichste Bewohner des Ghetto heilig hielt, an der Reinheit des ererbten Blutes; auch das war schon früher so, und ist so heute mehr denn je. Einzig die christliche Kirche scheint unter den grossen Mächten im Ganzen gerecht und weise gehandelt zu haben (wobei man natürlich von jenen Bischöfen absehen muss, die eigentlich weltliche Fürsten waren, sowie von einzelnen Päpsten). Die Kirche hat die Juden im Zaum gehalten, sie als fremde Menschen behandelt, zugleich aber sie vor Verfolgung geschützt. Jede an - scheinend » kirchliche « Verfolgung wurzelt in Wahrheit in unerträglich gewordenen ökonomischen Zuständen; nirgends sieht man das deut - licher als in Spanien. Heute, wo die öffentliche Meinung so arg irre - geleitet wird, indem die Juden ihre unversöhnliche Feindschaft vor allem gegen jede Erscheinung des christlichen Glaubens bethätigen, mag es gut sein, daran zu erinnern, dass die letzte Handlung der vor - bereitenden Versammlung jenes ersten in unseren Zeiten zusammen - berufenen Synedriums des Jahres 1807 eine spontane Kundgebung des Dankes an die Geistlichen der verschiedenen christlichen Kirchen war, für ihren durch Jahrhunderte gewährten Schutz. 2)Diogène Tama: Collection des actes de l’Assemblée des Israélites de France et du royaume d’Italie (Paris 1807, p. 327, 328; der Verfasser ist Jude und war

341Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.

Doch genug dieser flüchtigen historischen Fragmente. Sie zeigen,Innere Berührung. dass » der Eintritt der Juden « auf den Gang der europäischen Geschichte seit dem 1. Jahrhundert einen nicht geringen und einen nach manchen Richtungen hin gewiss verhängnisvollen Einfluss ausgeübt hat. Damit ist aber über den Juden selber noch wenig ausgesagt; dass der nord - amerikanische Indianer an dem Kontakt des Indoeuropäers ausstirbt, beweist noch nicht, dass letzterer ein schlechter, verderbnisvoller Mensch sei; dass der Jude uns schadet oder nützt, ist eine zu viel - seitig bedingte Aussage, um ein sicheres Urteil über sein Wesen zu gestatten. Überhaupt steht der Jude seit 19 Jahrhunderten nicht bloss in äusserer Berührung mit unserer Kultur, als mehr oder weniger willkommener Hospitant, sondern auch in innerer Be - rührung. Aus seiner Mitte, wenn auch nicht aus seinem Stamm und seinem Geist, ging Jesus Christus, gingen die frühesten Bekenner der christlichen Religion hervor. Jüdische Geschichte, jüdische Vor - stellungen, jüdisches Denken und Dichten wurden zu wichtigen Bestandteilen unseres seelischen Lebens. Es geht wohl doch nicht an, jene äussere Reibung von dieser inneren Durchdringung ganz zu trennen. Hätten wir den Juden nicht feierlich zu unserem Ohm er - nannt, er wäre bei uns ebensowenig heimisch geworden wie der Sarazene oder wie jene übrigen Wracke halbsemitischer Völkerschaften, welche nur durch bedingungsloses Aufgehen in die Nationen Süd - europas ihr Leben doch nicht ihre Individualität retteten. Der Jude dagegen war ein gefeites Wesen; mochte er auch hin und wieder auf den Scheiterhaufen geschleppt werden, die blosse That - sache, dass er Jesum Christum gekreuzigt hatte, umgab ihn mit einem feierlichen, Furcht erregenden Nimbus. Und während das Volk auf diese Weise fasciniert wurde, studierten die Gelehrten und heiligen2)Sekretär des Abgesandten der Juden der Bouches-du-Rhône, M. Costantini). Nach einer ausführlichen Begründung schliesst das betr. Dokument: » Les députés israélites arrêtent: Que l’expression de ces sentiments sera consignée dans le procès-verbal de ce jour pour qu’elle demeure à jamais comme un témoignage authentique de la gratitude des Israélites de cette Assemblée pour les bienfaits que les générations qui les ont précédés ont reçus des ecclésiastiques des divers pays d’Europe. « Eingebracht wurde der Antrag von M. Isaac Samuel Avigdor, Vertreter der Juden in den Alpes-Maritimes. Tama setzt hinzu, die Rede des Avigdor sei mit Beifall aufgenommen und ihre Aufnahme in extenso ins Protokoll beschlossen worden. Die heutigen jüdischen Historiker melden kein Wort von dieser wichtigen Begebenheit. Nicht allein Graetz übergeht sie mit Stillschweigen, sondern auch Bédarride: Les Juifs en France (1859), der sich den Anschein giebt, als berichte er ausführlich protokollarisch.342Die Erben.Männer Tag und Nacht in den Büchern der Hebräer: von den Aus - sprüchen jüdischer Hirten wie Amos und Micha getroffen, fielen die Denkmäler einer Kunst, wie sie die Welt nie wieder erblickt hat; vor dem Hohn jüdischer Priester sank die Wissenschaft verachtet dahin; entvölkert wurden Olymp und Walhall, weil es die Juden so wollten; Jahve, der zu den Israeliten gesprochen hatte: » Ihr seid mein Volk und ich bin euer Gott «, wurde nun der Gott der Indo - europäer; von den Juden übernahmen wir die verhängnisvolle Lehre von der unbedingten religiösen Intoleranz. Zugleich aber übernahmen wir sehr grosse erhabene Seelenregungen; wir gingen bei Propheten in die Lehre, welche eine so herbe, reine Moral predigten, wie ihresgleichen nur auf dem fernen Boden Indiens zu finden gewesen wäre; wir lernten einen so lebendigen, Leben gestaltenden Glauben an eine höhere göttliche Macht kennen, dass er notwendigerweise unsere Seele umgestalten und ihr eine neue Richtung geben musste war auch Christus der grosse Baumeister, die Architektur entlehnten wir von den Juden. Jesaia, Jeremia, die Psalmisten wurden und sind noch lebendige Kräfte in unsrem seelischen Leben.

Wer ist der Jude?
360

Heute nun, wo diese innere Berührung schwächer zu werden beginnt, während jene früher genannte äussere Reibung täglich zunimmt, heute, wo wir der jüdischen Nähe gar nicht mehr aus - weichen können, darf es uns nicht genügen zu wissen, dass fast alle hervorragenden und freien Männer, von Tiberius an bis zu Bismarck, die Gegenwart des Juden in unsrer Mitte als eine politisch-soziale Gefahr betrachtet haben, sondern wir müssen im Stande sein, auf Grundlage ausreichender Sachkenntnis selber bestimmte Urteile zu fällen und darnach zu handeln. Man hat » Antisemitenkatechismen « herausgegeben, in denen hunderte von Aussagen bekannter Männer gesammelt sind; abgesehen davon aber, dass mancher Spruch, aus dem Zusammenhang gerissen, nicht ganz redlich die Absicht des Verfassers wiedergiebt, und dass aus manchem anderen ignorantes, blindes Vorurteil spricht, ist doch offenbar ein eigenes Urteil mehr wert, als zweihundert nachgeplapperte, und ich wüsste nicht, wie wir zu einem kompetenten Urteil gelangen könnten, wenn wir nicht einen höheren Standpunkt einnehmen lernen als den der bloss politi - schen Betrachtung, und ich wüsste nicht, wie dieser Standpunkt ge - wonnen werden könnte auf einem anderen Boden, als auf dem der Geschichte, nicht aber unserer modernen Geschichte, denn hier wären wir Richter und Partei zugleich, sondern der Geschichte von343Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.dem Werden des jüdischen Volkes. Dokumente liegen in Hülle und Fülle vor; gerade in unsrem Jahrhundert sind sie durch die hingebende Arbeit gelehrter Männer zumeist Deutscher, doch auch hervor - ragender Franzosen, Holländer und Engländer geprüft, kritisch ge - sichtet und historisch klassifiziert worden; viel bleibt noch zu thun, doch ist genug schon geschehen, damit wir eines der merkwürdigsten und dadurch fesselndsten Blätter menschlicher Historie im Grossen und Ganzen bereits deutlich überblicken können. Dieser Jude, der so ewig unveränderlich, so beharrlich, wie Goethe meinte, erscheint, er ist doch geworden, langsam geworden, ja, » künstlich « geworden! Sicherlich wird er auch, wie alles Gewordene, vergehen. Schon das bringt ihn uns menschlich näher. Was ein » Semit « ist, das vermag kein Mensch zu sagen. Vor hundert Jahren glaubte es die Wissenschaft zu wissen: Semiten waren die Söhne Sem’s; jetzt wird die Antwort immer unbestimmter; man hatte gewähnt, das sprachliche Kriterium sei entscheidend: ein gewaltiger Irrtum! Zwar bleibt der Begriff » Semit « unentbehrlich, weil durch ihn ein vielseitiger Komplex historischer Erscheinungen in seiner Zusammengehörigkeit bezeichnet wird; es fehlt jedoch jede feste Grenzlinie; an der Peripherie schmilzt diese ethnographische Vorstellung mit anderen zusammen. Schliesslich bleibt der » Semit «, als Begriff einer Urrasse, gleichwie der » Arier «, einer jener Rechenpfennige, ohne welche man sich nicht verständigen könnte, die man sich aber wohl hüten muss, für bare Münze zu halten. Die wirkliche bare Münze sind dagegen jene empirisch gegebenen, historisch gewordenen nationalen Individualitäten, von denen ich im vorigen Kapitel gesprochen habe, solche Individualitäten wie z. B. die Juden. Rasse ist nicht ein Urphänomen, sondern sie wird erzeugt: physiologisch durch charakteristische Blutmischung, gefolgt von Inzucht; psychisch, durch den Einfluss, welchen lang anhaltende, historisch-geographische Bedingungen auf jene besondere, spezifische, physiologische Anlage ausüben. 1)Vergl. S. 288.Wollen wir also (und das, meine ich, muss die Hauptaufgabe dieses Kapitels sein) den Juden fragen: wer bist du? so müssen wir zuerst erforschen, ob dieser so scharf ausgeprägten Individualität nicht eine Blutmischung zu Grunde liegt, und sodann wenn das Resultat ein bejahendes ist verfolgen, wie die hierdurch entstandene eigenartige Seele sich immer weiter differenzierte. Wie nirgends anderswo kann man344Die Erben.gerade beim Juden diesen Vorgang verfolgen, denn die gesamte jüdische Nationalgeschichte gleicht einem fortwährenden Ausscheidungs - verfahren; der Charakter des jüdischen Volkes wird immer individueller, immer ausgesprochener, immer einfacher; zuletzt bleibt gewisser - massen vom ganzen Wesen nur das mittlere Knochengerüst übrig; die langsam gereifte Frucht wird ihrer flaumigen, farbigen Hülle, ihres saftigen Fleisches beraubt, denn diese könnten von aussen befleckt und angefressen werden, einzig der steinigte Kern besteht weiter, zwar verschrumpft und dürr, der Zeit aber trotzend. Doch, wie gesagt, das war nicht immer so. Was aus den heiligen Büchern der Hebräer in die christliche Religion übergegangen ist, stammt nicht aus diesem Greisenalter des eigentlichen Judentums, sondern teils aus der Jugend des viel weiteren, phantasievolleren » israelitischen « Volkes, teils aus dem Mannesalter des kaum erst von Israel getrennten, noch nicht von den übrigen Nationen der Erde hochmütig sich scheidenden Judäers. Der Jude, den wir jetzt kennen und am Werke sehen, ist erst nach und nach Jude geworden; nicht jedoch, wie die historische Lüge noch immer zu behaupten beliebt, im Laufe des christlichen Mittelalters, sondern auf nationalem Boden, im Verlaufe seiner selbst - ständigen Geschichte; sein Schicksal schuf sich der Jude selber; in Jerusalem stand der erste Ghetto, die hohe Mauer, welche den Recht - gläubigen und Rechtgeborenen von den Goyim schied, diesen den Eintritt in die eigentliche Stadt verwehrend. Weder Jakob, noch Salomo, noch Jesaia würden in Rabbi Akiba (dem grossen Schrift - gelehrten des Talmud) ihren Enkel erkennen, geschweige ihren Ur - enkel in Baron Hirsch oder dem Diamanten-Barnato. 1)Für die messianische Zeit war der Traum der späteren Juden (im Gegensatz zu den freier denkenden Israeliten früherer Jahrhunderte), den Fremden den Eintritt in Jerusalem überhaupt zu verwehren; man schlage nur Joel III, 22 nach; und da dieser sehr späte Prophet aus der hellenischen Zeit zugleich sagt, Gott werde ewig in Jerusalem und nur in Jerusalem wohnen, so bedeutet jenes Verbot das Ausschliessen aller Völker von Gottes Gegenwart. Das war die Toleranz der Juden! Dass die meisten Rabbiner alle Nichtjuden vom Anteil an einer zukünftigen Welt ausschlossen, andere sie nur als eine verachtete Menge dort duldeten (siehe Traktat Gittin, fol. 57 a des Babylonischen Talmud, und Weber, System der altsynagogalen palästinischen Theologie, S. 372, nach Laible), ist schliesslich nur logisch; was dagegen komisch wirkt, ist die Behauptung der heutigen Juden, ihre Religion sei die Religion der Humanität!

Versuchen wir also auf dem kurzen Wege möglichster Verein - fachung uns die wesentlichen Züge dieser eigenartigen Volksseele, wie345Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.sie nach und nach immer schärfere und einseitigere Ausprägung ge - wannen, deutlich vorzuführen. Der Gelehrsamkeit bedarf es keineswegs; denn auf die Frage: wer bist du? erteilt, wie schon bemerkt, der Jude selber und gleichfalls sein Vorahne, der Israelit, von jeher die klarste Antwort; dazu kommt dann die Summe wissenschaftlicher Arbeit, von Ewald bis Wellhausen und Ramsay, von De Wette und Reuss bis Duhm und Cheyne; wir haben nur das Facit zu ziehen, wie es der praktische Mann braucht, der, inmitten des brausenden Weltgetriebes, sein Urteil auf bestimmte Einsichten will gründen können.

Nur noch zwei, rein methodische Bemerkungen. Da früher, namentlich in dem Kapitel über die Erscheinung Christi, schon ein - gehend von den Juden die Rede war und dieses Thema im zweiten Bande wieder auftauchen wird, so durfte sich der Verfasser hier auf die Kernfrage beschränken und im Übrigen für manche Ausführung auf bereits Gesagtes oder später zu Sagendes verweisen. Was andrerseits die benutzten Autoren anbelangt, so war es nicht zu umgehen, dass ausser der Bibel und einigen eingehend studierten neueren jüdischen Schriftstellern, auch viele christliche Gelehrte zu Rate gezogen wurden; für die Kenntnis der Propheten und für die richtige Auffassung ge - schichtlicher Vorgänge war das unentbehrlich; jedoch sind diese Ge - lehrten, selbst die freisinnigsten unter ihnen, lauter Männer, welche für das jüdische Volk mindestens in seiner früheren Gestalt eine grosse, vielleicht übertriebene Bewunderung an den Tag legen, und welche alle geneigt sind, dieses Volk als ein in irgend einem Sinne religiös » auserwähltes « zu betrachten. Dagegen blieben ausge - sprochene Antisemiten prinzipiell unberücksichtigt; es geschah im Interesse der Darstellung.

Über einen Gegenstand, der mir ausserordentlich wichtig dünkt,Gliederung der Untersuchung. hat die Wissenschaft der letzten Jahre viel Licht verbreitet, nämlich über die Anthropogenie der Israeliten, d. h. über die physische Entstehungsgeschichte dieser besonderen nationalen Rasse. Freilich giebt es hier wie überall eine ewig unerforschliche Vergangenheit, und ohne Zweifel wird auch Manches, was kühne Archäologen mehr eigentlich mit den Fühlhörnern ihres wunderbar geübten Instinktes abgetastet und erraten, als mit ihren Augen bis zur Evidenz erschaut haben, durch neuere Forschungen und Entdeckungen noch weitgehende Korrekturen erfahren. Doch das gilt uns hier gleich. Das Wichtige346Die Erben.und das, was eine feste Errungenschaft der Geschichte ausmacht, ist: erstens, dass das israelitische Volk das Produkt vielfältiger Mischungen darstellt, und zwar nicht Mischungen zwischen verwandten Typen (wie etwa die alten Griechen oder die heutigen Engländer), sondern zwischen physisch und moralisch durchaus von einander abweichenden Typen; zweitens, dass echt semitisches Blut (wenn dieser Notbegriff überhaupt einen Sinn behalten soll) wohl kaum die Hälfte dieses Ge - menges ausmacht. Das sind sichere Ergebnisse der exakten ana - tomischen Anthropologie und der Geschichtsforschung, zweier Wissens - zweige, welche sich hier gegenseitig helfend die Hand reichen. Eine dritte Einsicht ergänzt die genannten; wir verdanken sie den kritischen Bemühungen der biblischen Archäologie, durch welche in die höchst verwickelte Chronologie der aus den verschiedensten Jahr - hunderten stammenden und dann ganz willkürlich, doch nicht plan - los, zusammengestellten Schriften des Alten Testamentes endlich Licht gebracht worden ist: diese belehren uns, dass der eigentliche Jude nicht mit dem Israeliten im weiteren Sinne des Wortes zu identifi - zieren ist, dass das Haus Juda schon bei der Ansiedlung in Palästina sich von dem (die übrigen Stämme umfassenden) Hause Joseph durch Blutmischung und Anlagen in etlichen Punkten unterschied und zwar so, dass der Judäer zum Josephiten in einer Art geistiger Abhängigkeit stand, und dass er erst relativ sehr spät, nach der gewaltsamen Ab - sonderung von seinen Brüdern, eigene Wege die Wege, die zum Judentum führten zu wandeln begann, welche ihn dann bald durch seine zum religiösen Prinzip erhobene Inzucht von der ganzen Welt isolierten. Der Jude kann insofern ein Israelit genannt werden, als er ein Schössling aus jener Familie ist; der Israelit dagegen, auch der aus dem Stamme Juda, war zunächst kein Jude, sondern der Jude begann erst dann zu entstehen, als die kräftigeren Stämme des Nordens durch die Assyrer vernichtet worden waren. Um zu erfahren, wer der Jude ist, haben wir also zunächst festzustellen, wer der Israelit war, und sodann erst nachzufragen, wie der Israelit des Stammes Juda (und Benjamin) zum Juden wurde. Und da ist Vorsicht im Gebrauch der Quellen nötig. Erst nach der babylonischen Gefangenschaft künstelte man nämlich den spezifisch jüdischen Charakter in die Bibel hinein, indem ganze Bücher erfunden und dem Moses zugeschrieben wurden, und indem häufig Vers für Vers Interpolationen und Korrek - turen die freiere Anschauung Altisraels verwischten und durch den engen jerusalemitischen Jahvekultus ersetzten, als habe dieser von jeher347Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.in Folge göttlicher Satzung bestanden. Dies hat das Verständnis des allmählichen und durchaus menschlich-historischen Werdeganges des jüdischen Nationalcharakters lange verdunkelt. Nun endlich ist es auf diesem Gebiete ebenfalls hell geworden. Und auch hier können wir sagen: wir halten eine dauernde Errungenschaft wissenschaftlicher Forschung in der Hand. Ob spätere Untersuchungen diesen und jenen Satz des Hexateuchs, den man heute der » jahvistischen « Abfassung zuschreibt, als der » elohistischen « oder dem spätesten » Redaktor « an - gehörig nachweist, ob ein bestimmter Spruch von dem wirklichen Jesaia oder von dem sogenannten Deuterojesaia herrührt, das hat alles seine Wichtigkeit, wird aber niemals etwas an der Erkenntnis ändern, dass das eigentliche Judentum mit seinem besonderen Jahveglauben und seiner ausschliesslichen Herrschaft des priesterlichen Gesetzes das Ergebnis einer nachweisbaren und höchst eigentümlichen, historischen Verkettung und des Eingreifens einzelner zielbewusster Männer ist.

Diese drei Thatsachen sind zunächst für jede Erkenntnis jüdischen Wesens grundlegend; sie dürfen nicht der Besitz einer gelehrten Minderheit bleiben, sondern müssen dem Bewusstsein aller Gebildeten einverleibt werden. Ich wiederhole sie in präciserer Fassung:

  • 1. Das israelitische Volk ist aus der Bastardierung durchaus ver - schiedener Menschentypen hervorgegangen;
  • 2. das semitische Element mag wohl moralisch das kräftigere gewesen sein, physisch jedoch trug es kaum die Hälfte zur Zusammensetzung der neuen ethnologischen Individualität bei; es geht also nicht an, die Israeliten kurzweg » Semiten « zu nennen, sondern die Beteiligung der verschiedenen Menschen - typen an der Bildung der israelitischen Rasse erfordert eine besondere quantitative und qualitative Analyse;
  • 3. der eigentliche Jude entstand erst im Laufe der Jahrhunderte durch allmähliche physische Ausscheidung aus der übrigen israelitischen Familie, sowie durch progressive Ausbildung einzelner Geistesanlagen und systematische Verkümmerung anderer; er ist nicht das Ergebnis eines normalen nationalen Lebens, sondern gewissermassen ein künstliches Produkt, er - zeugt durch eine Priesterkaste, welche dem widerstrebenden Volke mit Hilfe fremder Herrscher eine priesterliche Gesetz - gebung und einen priesterlichen Glauben aufzwang.

Hierdurch ist die Gliederung für die folgende Darstellung ge - geben. Ich werde zunächst die Geschichte und die Anthropologie348Die Erben.befragen, damit wir erfahren, aus welchen Rassen die neue israeli - tische Rasse (als Grundlage der jüdischen) hervorging; sodann wird die Beteiligung dieser verschiedenen Menschentypen in ihrer physischen und namentlich in ihrer moralischen Bedeutung analysiert werden müssen, wobei unser Augenmerk sich natürlich ganz besonders auf die Auffassung der Religion bei ihnen richten wird, da die Grund - lage des Judentums der von ihm gelehrte Glaube ist und wir den Juden weder in der Geschichte noch heute in unserer Mitte richtig beurteilen können, wenn wir über seine Religion nicht vollständig im Klaren sind; zuletzt werde ich zu zeigen versuchen, wie unter dem Einfluss merkwürdiger historischer Begebenheiten das spezifische Judentum gegründet und dauernd in seiner besonderen unver - gleichlichen Eigenart befestigt wurde. Hiermit dürfte die Aufgabe dieses Kapitels, wie ich sie vorhin präcisierte, erledigt sein, denn die jüdische Rasse wenn sie auch zu gewissen Zeiten später manches fremde Element aufnahm blieb im Ganzen so rein wie sonst keine zweite, und die jüdische Nation ist von allem Anfang an eine wesentlich » ideale « gewesen, d. h. sie bestand in dem Glauben an eine bestimmte Nationalidee, nicht in dem Besitz eines eigenen freien Staates, noch in dem gemeinschaftlichen Zusammenleben und - wirken auf dessen Boden, und diese Idee ist dieselbe heute wie vor 2000 Jahren. Rasse und Ideal machen aber zusammen die Persönlichkeit des Menschen aus; sie beantworten die Frage: wer bist du?

Entstehung des Israeliten.
362

Die Israeliten1)Und nicht sie allein, sondern ihre Stammesgenossen, die Ammoniter, die Moabiter und die Edomiter, die mit ihnen zusammen die Familie der Hebräer ausmachen, ein Name, welcher mit Unrecht den Israeliten allein oder gar den blossen Juden beigelegt zu werden pflegt (siehe Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, 3. Ausg. S. 7); zu derselben Familie gehören ebenfalls die Midianiter und die Ismaeliter (Maspero: Histoire ancienne, éd. 1895, II, 65). sind aus der Kreuzung zwischen drei (vielleicht sogar vier) verschiedenen Menschentypen hervorgegangen: dem semi - tischen Typus, dem syrischen (richtiger gesagt hethitischen) und dem indoeuropäischen (möglicher Weise floss auch turanisches oder, wie man in Deutschland es häufiger nennt, sumero-akkadisches Blut in den Adern ihrer Urväter).

Damit dem Leser ganz klar werde, wie diese Mischung stattfand, muss ich eine flüchtige historische Skizze vorausschicken; sie soll nur dazu dienen, das Gedächtnis für allbekannte Thatsachen aufzufrischen und das Verständnis der Entstehungsgeschichte der jüdischen Rasse anzubahnen.

349Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.

Ist auch der Begriff » Semit «, insofern man darin eine von Ur - anfang existierende, reine, autonome Rasse, gleichsam eine besondere Schöpfung Gottes erblicken will, gewiss ein pures Gedankending, so steht es doch um diesen Begriff besser als um den des » Ariers «, denn es lebt noch heute, unter unseren Augen, ein Volk, welches angeblich den reinen, ungetrübten Typus des Ursemiten darstellt: der Wüstenbeduin Arabiens. 1)Dies scheint einstimmig von allen Autoren behauptet zu werden. Burck - hardt habe ich im weiteren Verlaufe des Kapitels angeführt. Hier will ich mich einzig auf eine neuere und allseitig anerkannte Autorität berufen: William Robertson Smith. In seinem Religion of the Semites (ed. 1894, S. 8.) sagt er: » Es kann als sicher angenommen werden, dass die Araber der Wüste seit unvordenklichen Zeiten eine ungemischte Rasse bilden. « Zugleich macht derselbe Autor darauf aufmerksam, wie unzulässig es sei, die Babylonier, Phönicier u. s. w. kurzweg als » Semiten « zu bezeichnen, da zunächst lediglich die Verwandtschaft der Sprachen feststehe, alle diese sogenannten » semitischen Nationen « aber aus einer starken Blutmischung hervorgegangen wären.Lassen wir den luftigen Ursemiten und halten wir uns an den Beduinen in Fleisch und Blut. Man nimmt an und man hat guten Grund zu dieser Annahme, dass, schon etliche Jahrtausende vor Christus, Menschen, den heutigen Wüstenbeduinen äusserst ähnlich, in einem fast ununterbrochenen Flusse von Arabien nach Osten und Norden in das Zweistromland auswanderten. Arabien ist gesund, daher vermehrt sich seine Bevölkerung; sein Boden ist äusserst arm, daher muss ein Teil seiner Einwohner an anderem Orte seine Nahrung suchen. Es scheint, als wären diese Exodien bis - weilen von grossen bewaffneten Mengen unternommen worden: der angestaute Menschenüberfluss wurde in solchen Fällen mit unüber - windlicher Macht aus der Heimat hinausgeschleudert und fiel erobernd in die benachbarten Länder ein; in anderen Fällen dagegen wanderten einzelne Sippen mit ihren Herden so friedlich wie möglich über die nirgends genau bestimmte Grenze von einem Weideplatz zum andern: bogen sie nicht, wie manche von ihnen thaten, bald nach Westen ab, so konnte es geschehen, dass sie bis an den Euphrat gelangten und, nach und nach, dem Strome folgend, bis hoch in den Norden hinauf. Von der vorerwähnten gewaltsamen Art, sich des Überschusses der Bevölkerung zu entladen, kennen wir denkwürdige Beispiele aus historischen Zeiten (unter den Römern und nach Mohammed);2)Das letzte Beispiel bot uns das Ende unseres eigenen Jahrhunderts, wo die Araber, die von jeher nicht allein nach Norden und Osten, sondern ebenfalls nach Westen und Süden ausgezogen waren, einen grossen Teil Innerafrikas gänzlich das350Die Erben.Werk einer gleichfalls durch grosse Massen bewirkten, doch friedlicheren Semitisierung erblicken wir in den grossen Kulturstaaten zwischen Tigris und Euphrat. Dort nämlich, wo, wie im Babylonischen Akkadien, die Semiten einer fertigen, starken, wehrhaften Kulturwelt begegneten, überwanden sie sie dadurch, dass sie mit ihr verschmolzen, ein Vor - gang, den man jetzt für Babylonien fast Schritt für Schritt verfolgen kann. 1)Über den verschwundenen Menschentypus der Akkadier oder Sumerier, der Schöpfer der grossartigen Babylonischen Kultur, und über ihre allmähliche Semitisierung, siehe Hommel, Sayce, Budge, Maspero.Dagegen wanderten die Beni Israel als einfache Hirten in kleinen Gruppen aus und mussten, um ihren Viehstand zu behaupten, jedem kriegerischen Unternehmen, für das ihre kleine Zahl sie ohne - hin untüchtig gemacht hätte, sorglich ausweichen. Natürlich giebt uns der biblische Bericht über die frühesten Wanderungen dieser Beduinenfamilie nur den matten Widerschein uralter mündlicher Traditionen, dazu vielfach gefälscht durch die Missverständnisse, Theorien und Absichten der spätgeborenen Skribenten; doch hat man keinen Grund die Richtigkeit der allgemeinen Angaben zu bezweifeln, und zwar um so weniger, als sie nichts Unwahrscheinliches enthalten. Freilich ist Alles in starker Verkürzung gesehen: ganze Familien sind zu einer einzigen Person verschmolzen (ein allgemeiner semitischer Brauch, » desgleichen es nur bei den Semiten gibt «, sagt Wellhausen); andere angebliche Vorahnen sind einfach die Namen der Ortschaften in deren Nähe sich die Israeliten lange Zeit aufgehalten hatten; Be - wegungen, welche das Leben mehrerer Geschlechter in Anspruch nahmen, werden von einem Einzelnen ausgeführt. Dieses Bedürfnis nach Vereinfachung des Vielfältigen, nach Zusammendrängung des Auseinanderliegenden ist dem Volke eben so angeboren wie dem be - wusst schaffenden Poeten. So lässt die Bibel z. B. Abraham als schon verheirateten Mann aus der Gegend von Ur, am untersten Laufe des Euphrat, bis in das nördliche Mesopotamien, am Fusse des armenischen Berglandes auswandern, in jenes Paddan-Aram, von dem das Buch Genesis so häufig redet und das jenseits des Euphrat, zwischen diesem2)verwüsteten. Immense Reiche, die im Jahre 1880 dicht bevölkert und über und über bebaut waren, sind inzwischen eine Wüstenei geworden. Von einem einzigen Araberhäuptling behauptet Stanley, er habe ein Gebiet von 2000 Quadratmeilen verwüstet! (Siehe die Bücher von Stanley, Wissmann, Hinde u. s. w. und die kurze Zusammenfassung in Ratzel: Völkerkunde, 2. Aufl., II, 430. Vergl. auch oben das Kapitel » Römisches Recht «, S. 140 Anm.)351Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.und dem Seitenfluss Khabur liegt (in gerader Linie etwa 600 Kilo - meter, dem Flussthal aber folgend und den Weideplätzen nachgehend, mindestens 1500 Kilometer von Ur entfernt); damit nicht genug, soll dieser selbe Abraham später von Paddan-Aram nach Süd-Westen, nach dem Lande Kanaan gezogen sein, von hier weiter nach Ägypten, und schliesslich (denn von seinen kleineren Zügen sehe ich ab) von Ägypten wieder nach Kanaan zurück, und das alles von so zahl - reichen Viehherden begleitet, dass er um genug Weideland für sie zu finden, gezwungen war, sich von seinen nächsten Anverwandten zu trennen (Gen. XIII). Trotz dieser Verkürzung birgt die alte hebräische Tradition alles, was zu wissen Not thut, namentlich an solchen Stellen, wo die älteste Tradition fast unverfälscht vorliegt, wie die Kritik das für Gen. XI, 27 32 nachgewiesen hat. 1)Vergl. Maspero: Historie ancienne, II. 65.Aus dieser Tradition ent - nehmen wir nun, dass die betreffende Beduinenfamilie zunächst bis in das Flussgebiet des südlichen Euphrat wanderte, und sich längere Zeit in der Umgegend der Stadt Ur aufhielt. Diese Stadt lag südlich vom grossen Fluss und bildete den äussersten Vorposten Chaldäas. Hier traten die Nomaden zum ersten mal in Berührung mit Civili - sation. Zwar konnten die Hirten nicht in deren eigentliches Gebiet eindringen, da prächtige Städte und ein hochentwickelter Bodenbau jeden Zoll Erde besetzt hielten, doch empfingen sie dort unvergäng - liche Eindrücke und Belehrungen, (auf die ich später zurückkomme); sogar solche Namen wie Abraham und Sarah haben sie dort erst kennen gelernt und erst später durch die von ihnen so beliebten Wortspiele ins Hebräische übertragen (Gen. XVII, 1 6). In der Nähe so hoher Kultur litt es sie jedoch nicht lange, oder vielleicht wurden sie von nachdringenden Wüstensöhnen weitergeschoben. Und so sehen wir sie immer weiter nach Norden ziehen,2)Die Richtung war ihnen vorgezeichnet, sie konnten von Ur aus keine andere wählen; denn während mehrerer hundert Kilometer läuft die Wüste parallel mit dem Euphrat, nur ein schmaler Saum bewässerten Bodens trennt sie von ihm; plötzlich aber, genau unter dem 35. Grad, hört die Wüste auf und es öffnet sich nach Westen, Süden und Norden das Land Syrien. Syrien reicht im Süden bis nach Ägypten, gegen Abend bis zum Mittelländischen Meere, gegen Norden bis zum Taurus, im Osten wird es heute vom Euphrat begrenzt, umschloss jedoch nach früheren Verhältnissen und Vorstellungen das jenseits des mittleren Euphrat gelegene Mesopotamien, in welchem die Kinder Abraham’s Jahrhunderte lang Auf - enthalt nahmen. (Vergl. die Kartenskizze auf S. 353.) bis in das damals spärlich352Die Erben.bevölkerte Paddan-Aram,1)Später war Mesopotamien lange Zeit hindurch eine künstlich bewässerte und in Folge dessen reich kultivierte Gegend; in früheren Zeiten jedoch war es, gleich wie heute, ein armes Land, wo nur nomadische Hirten ihr Auskommen finden konnten (vgl. Maspero: Histoire ancienne, I, 563). wo sie lange Zeit, mindestens etliche Jahr - hunderte, verweilt haben müssen. Als aber die Weideplätze Mesopo - tamiens für den an Menschenzahl und Viehstand gewachsenen Familien - verband nicht mehr ausreichten, da zog ein Teil aus jener nordöst - lichen Ecke Syriens, Paddan-Aram, nach der südwestlichen, Ägypten zunächst gelegenen Ecke, Kanaan, wo er in der Nähe eines ansässigen, ackerbauenden Volkes gastfreundliche Aufnahme fand und die Erlaubnis erhielt, seine Herden auf den Bergen zu weiden. Doch lebte Mesopo - tamien (Paddan-Aram) lange Zeit in dem Gedächtnis der Abrahamiden als ihre echte Heimat fort. Jahve selber nennt Paddan-Aram Abra - ham’s » Vaterland « (Gen. XII, 1), und der mythische Abraham redet, nachdem er schon lange in Kanaan sich niedergelassen hat, noch immer mit Sehnsucht von seinem fernen » Vaterland « und entsendet Boten in seine » Heimat « (Gen. XXIV, 4 und 7), um mit den dort zurückgebliebenen Verwandten wieder anzuknüpfen. Und so bleiben die Abrahamiden, obwohl schon in Kanaan ansässig, während jener langen Zeiten, welche zu den beiden pseudomythischen Namen Isaak und Jakob zusammengezogen worden sind, immerwährend halbe Mesopotamier; es ist ein ewiges Hin und Her; der südliche Zweig fühlt sich einem nördlichen Hauptstamm angehörig. 2)Diese Zeit, während welcher » der Vater Jakob sich zum Volke Israel ausbreitete « bezeichnet Wellhausen als » einen Jahrhunderte langen Zwischen - raum « (Israelitische und jüdische Geschichte, S. 11).Doch es kam der Augenblick, wo sie noch weiter nach Süden ziehen mussten; in dürren Jahren genügte das Weideland Kanaans nicht mehr, vielleicht waren sie auch durch grössere Zahl den Kanaanitern unbequem geworden; und so wanderten sie, unter der ihnen befreundeten Regierung der halbsemitischen Hyksos, nach dem zu Ägypten gehörigen Lande Gosen aus. Erst der lange Aufenthalt in Ägypten3)Nach Genesis XV vierhundert Jahre, was natürlich nicht buchstäblich zu nehmen ist, sondern als der Ausdruck einer fast undenklich langen Zeit. Die Zahl 40 war bei den Hebräern der Ausdruck für eine unbestimmte grosse Menge, 400 a fortiori. Renan meint, der Aufenthalt der Israeliten in Ägypten habe nicht über ein Jahrhundert gedauert, nur die (mit ihnen vielleicht nicht näher verwandte und stark mit ägyptischem Blute versetzte) Familie der Josephiten sei dort sehr lange ansässig gewesen (Histoire du peuple d’Israël, 13. éd. I, p. 112, 141, 142). unterbrach den Verkehr353Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.

Kartenskizze.

zwischen den Mitgliedern dieser Familie und ihren Verwandten, den übrigen Hebräern (durch ganz Syrien zerstreut), so dass, als die Israe - liten wieder nach Palästina zurückzogen, sie zwar in den Moabitern, Edomitern und anderen Hebräern entfernte Blutsangehörige noch er - kannten, doch Hass und Geringschätzung statt der früheren Liebe für sie empfanden, eine Gesinnung, die erfrischend naiven Ausdruck in den Genealogieen der Bibel fand, nach welchen einige dieser Ge - schlechter ihren Ursprung der Blutschande verdanken, andere von Kebsweibern herrühren sollten u. s. w.

Von Israeliten im historischen Sinne des Wortes können wir eigentlich erst von diesem Augenblick an reden, wo sie als nicht sehrChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 23354Die Erben.zahlreiches, doch fest gegliedertes Volk, auf der Flucht aus Ägypten, erobernd in Kanaan einfallen, um dort einen von wechselnden, meist recht traurigen Schicksalen heimgesuchten Staat zu bilden, der aber, trotzdem er (wie das übrige Syrien) gewissermassen zwischen Hammer und Ambos lag, nämlich mitten zwischen den sich bekämpfenden Grossmächten, es dennoch auf einen fast siebenhundertjährigen Bestand als unabhängiger Staat brachte. Dass diese Israeliten nicht sehr zahlreich waren, muss mit Nachdruck betont werden; es ist sowohl geschichtlich wie anthropologisch wichtig; denn diesem Umstande hat man es zu - zuschreiben, dass die frühere und eigentlich ansässige Einwohner - schaft Kanaans (ein Gemisch von Hethitern und von indoeuropäischen Amoritern) nie vertilgt wurde und stets den Grundstock der Bevölkerung bildete, sogar am heutigen Tage noch bildet! 1)Sayce: The races of the Old Testament, 2d ed., p. 76, 113. » Der Römer vertrieb den Juden aus dem Lande, das seine Väter erobert hatten, dagegen war es dem Juden nie gelungen, die echten Besitzer Kanaans herauszutreiben. Der Jude hielt Jerusalem und Hebron, sowie die umliegenden Städte und Dörfer, sonst bildete er (auch im eigentlichen Judäa) einen Bruchteil der Bevölkerung. So - bald der Jude sich entfernte, z. B. beim babylonischen Exil oder nach der Zer - störung Jerusalems durch die Römer, vermehrte sich die vom Druck befreite ursprüngliche Bevölkerung unter welchen die heutigen jüdischen Kolonien in Palästina eben solche Ausländer sind, wie etwa die deutschen Kolonien daselbst. «Die Rassenmischungen, von denen ich sogleich reden werde, und die sofort beim ersten Betreten syrischen Bodens begonnen hatten, setzten sich in Folge dessen auch im autonomen Staate Israel, d. h. in Palästina fort und nahmen erst nach dem babylonischen Exil und zwar einzig in Judäa durch ein neu eingeführtes Gesetz ein plötzliches Ende. Denn, dass von den übrigen Israeliten sich später die Juden als ethnologische Einheit schieden, ist lediglich die Folge davon, dass die Einwohner Judäas endlich dieser fortwährenden Blutvermengung durch energische Gesetze Einhalt ge - boten (siehe Esdras IX und X).

Diese vorausgesandte flüchtige Skizze mag der unkundige Wiss - begierige durch das Studium von Wellhausen’s so knapp gehaltener Israelitische und jüdische Geschichte, von Stade’s: Geschichte des Volkes Israel, durch Renan’s ausführliche, leichtflüssig geschriebene Histoire du peuple d’Israel, durch Maspero’s, einen weiten, um - fassenden Überblick gewährende, Histoire ancienne des peuples de l’Orient classique ergänzen;2)Ich nenne nur die neuesten, bedeutendsten und zuverlässigsten Bücher, von wahren Gelehrten geschrieben, doch Ungelehrten zugänglich. Von den älteren inzwischen genügt sie, damit die Anthro -355Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.pogenie des Israeliten in ihren grossen Linien klar dargelegt und der anscheinend verwickelte Sachverhalt in möglichst einfacher Form dem Gedächtnis eingeprägt werden könne. Das will ich jetzt versuchen; wir werden sehen, wie der ursprüngliche, reinsemitische Auswanderer durch Blutmischung zuerst ein Hebräer wurde, sodann ein Israelit.

Die vorstehende historische Skizze zeigte uns als AusgangspunktDer echte Semit. eine Beduinenfamilie. 1)Freilich, nach der jetzt fast überall herrschenden Anschauung, soll der Semit überhaupt, auch jener reinste Beduinentypus, von Hause aus der absoluteste Mischling sein, den man sich denken kann, die Frucht einer Kreuzung zwischen Neger und Weissen! Gobineau hatte das vor 50 Jahren gepredigt und war aus - gelacht worden; heute ist seine Meinung die orthodoxe; Ranke fasst sie in seiner Völkerkunde (II. 399) folgendermassen zusammen: » Die Semiten gehören zu den mulattenhaften Übergangsgliedern zwischen Weissen und Schwarzen. « Doch, ich meine, hier genügt die Mahnung nicht: passons au déluge; ob Noah, der Vater Sem’s, sich die langen Tage in der Arche durch die Gesellschaft einer Negerin kürzte, wollen wir nicht in die Erörterung einbeziehen. Was unter unseren Augen vorgeht, lässt jedenfalls kaum glauben, dass aus Mulatten ein fester, unveränderlicher, alle Stürme der Zeit überlebender Typus hervorgehen könnte; der Treibsand ist nicht beweglicher und unbeständiger als gerade dieser Bastard; hier müssten wir also der Erfahrung zum Trotz, voraussetzen, das Undenkbare, das nie Beobachtete sei bei den Beduinen geschehen.Stellen wir zunächst das Eine fest: dieser reine Semit, der ursprüngliche Auswanderer aus den Wüsten Arabiens, ist und bleibt die treibende Kraft, das Lebensprinzip, die Seele der durch vielfache Kreuzungen entstehenden neuen ethnischen Einheit der Israeliten. Mochten im Verlauf der Zeiten, nicht allein in Folge ihres Schicksals, sondern vor Allem in Folge der Blutmischung mit durchaus abweichenden Menschentypen seine Nachkommen sich noch so sehr, moralisch und physisch, von ihm, dem urväterlichen Beduinen unterscheiden, ihr spiritus rector blieb er doch in gar mancher Be - ziehung, sowohl im Guten, wie auch im Bösen. Von den zwei oder drei Seelen, die in der Brust der späteren Israeliten wohnten, war diese die aufdringlichste und zäheste. Zu der Blutmischung ist dieser Beduinenfamilie aber gewiss nur Glück zu wünschen, denn die hohen Eigenschaften des unverfälscht reinsemitischen Nomaden sollen einer Änderung der Lebensweise nicht stichhalten. Sayce, einer der judenfreundlichsten Gelehrten unseres Jahrhunderts, schreibt: » Erwählt der Wüstenbeduin das ansässige Leben, so vereint er in der Regel alle Laster des Nomaden und des Bauern. Faul, verräterisch, grausam,2)bleibt Duncker’s Geschichte des Altertums in vielen Beziehungen unerreicht, auch für die Geschichte Israels.23*356Die Erben.habgierig, feig, wird er mit Recht von allen Völkern als ein Auswurf der Menschheit betrachtet. « 1)The races of the Old Testament, p. 106.Lange ehe sie ansässig wurde, war zum Glück diese Beduinenfamilie, die Beni Israel, durch reichliche Kreuzung mit Nichtsemiten solch grausamem Schicksal entgangen!

Wir sahen die ursprüngliche Beduinenfamilie sich zunächst längere Zeit am südlichen Euphrat aufhalten in der Nähe der Stadt Ur: hat dort schon Blutmischung stattgefunden? Man hat es behauptet. Und da der Grundstock der Bevölkerung des babylonischen Reiches damals ver - mutlich aus ziemlich echten Sumero-Akkadiern bestand denn die Semiten hatten diesen Staat und seine hohe Civilisation bloss annektiert, sie leisteten weder die geistige Arbeit noch die manuelle2)Siehe namentlich Sayce: Assyria, S. 24 fg. und Social Life among the Assyrians and Babylonians (an vielen Orten). so hat man vorausgesetzt, der abrahamidische Stock sei durch sumero-akka - disches Blut aufgefrischt worden. Das Vorkommen solcher fremder Namen, wie Abraham (so hiess der fabelhafte Begründer und erste König Ur’s bei den Sumeriern) hat in dieser Ansicht bestärkt, ebenso wie die Brocken halbverstandener turanischer3)Das Wort » turanisch « ist meiner Feder entfahren, weil manche Autoren die Sumero-Akkadier für Turanier halten (siehe namentlich Hommel: Geschichte Babyloniens und Assyriens, S. 125, 244 fg.). Weisheit und Mythologie, aus welcher die ersten Kapitel der Genesis zusammengesetzt sind. Doch bleiben solche Annahmen durchaus hypothetisch und sind darum ernster Erwägung kaum wert. In diesem Falle spricht nicht einmal die Wahrscheinlichkeit dafür. Die armen Hirten haben kaum den Saum der Civilisation berührt; wer wird sich mit ihnen näher ein - gelassen haben? Und was die Aneignung so dürftiger kosmogonischer Vorstellungen, wie wir sie in der Bibel antreffen, anbelangt, so genügte dazu der Verkehr mit anderen Hebräern, denn sowohl die Mythologie wie die Wissenschaft und die Kultur der Turanier (an der wir noch heute durch den Gedanken der Schöpfung und des Sündenfalles, durch die Einteilung der Woche und des Jahres, durch die Grundlegung der Geometrie und die Erfindung der Schrift teilhaben) hatte sich weithin verbreitet; Ägypten war ihr Schüler4)Siehe Hommel: Der babylonische Ursprung der ägyptischen Kultur (1892). und der Semit, nicht fähig, so tief wie der Ägypter zu schauen, hatte längst, ehe die Beni Israel ihre Wanderungen begannen, sich so viel davon angeeignet, als ihm förderlich und praktisch schien, und hatte als geschäftiger Zwischenhändler es357Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.nach allen Himmelsrichtungen hinausgetragen. Die Blutmischung mit Sumero-Akkadiern ist also ebenso unwahrscheinlich wie unerwiesen.

Sicheren Boden betreten wir dagegen, sobald die Auswanderer nach Norden und nach Westen ziehen. Denn jetzt stehen sie im Herzen Syriens, um es (mit Ausnahme des vorübergehenden Aufent - halts im ägyptischen Grenzgebiet) nie wieder zu verlassen. Hier, in Syrien, hat sich unsere rein semitische Beduinenfamilie durch Blut - mischung verwandelt, hier sind ihre Mitglieder durch Vermengung mit einem durchaus anderen Menschentypus, dem syrischen, Hebräer geworden, wie schon so manche frühere und manche nachfolgende Beduinenkolonie. Später erfolgte die notgedrungene Auswanderung eines Teiles der Sippe aus dem in der nordöstlichen Ecke gelegenen Mesopotamien nach der äussersten südwestlichen Ecke, nach Kanaan, wo nun ähnliche rassenbildende Einflüsse in noch bestimmterer Weise und um ganz neue vermehrt sich geltend machten. Hier erst, in Kanaan, verwandelten sich die abrahamidischen Hebräer nach und nach in echte Israeliten. In dieses selbe Kanaan kehrten nach dem Aufenthalte in Ägypten die inzwischen an Zahl gewachsenen Israeliten erobernd zurück und erhielten jetzt, ausser dem neuen Zufluss fremden Blutes, eine fremde Kultur geschenkt, welche sie aus Nomaden zu an - sässigen Ackerbauern und Städtebewohnern umwandelte.

Wir können also, ohne fehl zu gehen, zwei anthropogenetische Einflussphären unterscheiden, die nacheinander wirkten: eine allge - meinere, durch den Eintritt in Syrien überhaupt und speziell durch den langen Aufenthalt in Mesopotamien gegebene, über die wir keine genaueren historischen Data besitzen, sondern auf die wir aus den jetzt bekannten ethnologischen Thatsachen schliessen dürfen und müssen; sodann eine speziellere kanaanitische, für welche wir uns auf das aus - führliche Zeugnis der Bibel berufen können. Reden wir zuerst von der allgemeineren Einflussphäre, sodann von der spezielleren.

Schlägt man irgend ein Lehrbuch der Geographie oder einDer Syrier. Konversationslexikon auf, so wird man die Angabe finden, die heutige Bevölkerung Syriens sei » grösstenteils semitisch «. Das ist falsch; ebenso falsch wie die Behauptung, welche man denselben Quellen entnehmen wird, die Armenier seien » Arier «. Es findet hier die so weit verbreitete Verwechselung statt zwischen Sprache und Rasse; man müsste logischer Weise dann lehren, die Neger der Vereinigten Staaten seien Angelsachsen. Die wissenschaftliche Anthropologie der letzten Jahre hat auf Grund eingehendster Forschungen an einem358Die Erben.geradezu enormen Material folgende Thatsache unwiderleglich fest - gestellt: die Grundbevölkerung Syriens ist seit den ältesten Zeiten, bis zu welchen prähistorische Funde hinaufreichen, von einem Menschen - typus gebildet, welcher physisch und moralisch von dem semitischen ganz und gar abweicht, ebenso wie von Allem, was man unter dem Begriff » Arier « zu subsummieren gewohnt ist. Und zwar nicht die Bevölkerung von Syrien allein, sondern auch von ganz Kleinasien sensu proprio, und von dem weiten Gebiet, das wir heute Armenien nennen. Es giebt Rassen, denen das unstäte Herumziehen angeboren ist (z. B. die Beduinen, die Lappländer u. s. w.), andere, die eine seltene Expansionskraft besitzen (z. B. die Germanen); dagegen scheint sich dieser syrisch-kleinasiatische Mensch durch zähes Festhalten an dem eigenen Boden und durch die unüberwindliche Macht grosser physischer Beharrlichkeit ausgezeichnet zu haben und noch heute aus - zuzeichnen. Sein Ursitz ein Tummelplatz der Völker, er selber fast immer der Unterlegene, auf dessen Rücken die Grossen dieser Welt ihre Kämpfe ausfochten und dennoch überlebte er sie alle und drang so erfolgreich durch mit seinem Blut, dass der syrische Semit heute mehr der Sprache als dem Stamme nach Semit zu nennen ist, und der angeblich arische Armenier, phrygischen Ursprungs, vielleicht nicht zehn Prozent indoeuropäischen Blutes in seinen Adern hat. Wogegen der heute sogenannte » Syrier «, der Jude und der Armenier kaum von einander zu unterscheiden sind, was leicht zu erklären, da die alle drei vereinigende Urrasse sie täglich mehr identifiziert. Von diesem syrischen Menschenstamme gilt im eminentesten Masse das Wort des Chores in Schiller’s Braut von Messina:

Die fremden Eroberer kommen und gehen;
Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen.

Diesem mächtigen ethnischen Einfluss blieb nun das Volk, welches als das der Israeliten später in die Geschichte tritt, lange Jahrhunderte hindurch, zum Mindesten weit über ein Jahrtausend, unterworfen. Das ist, was ich die allgemeine Einflussphäre nannte, durch welche unsere echt semitische Beduinenfamilie zu einer Gruppe der soge - nannten » Hebräer « wurde. Hebräer sind eben Bastarde zwischen Semiten und Syriern. Diese Mischung hat man sich nicht so vorzu - stellen, als hätten sich die Hirtennomaden sofort mit der fremden Rasse gekreuzt, sondern vielmehr in folgender Weise: einesteils fanden sie Viertel - und Halb-Hebräer in ziemlicher Anzahl vor, durch welche359Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.der Übergang vermittelt wurde, andernteils unterwarfen sie sich zweifel - los die Ureinwohner (wie die Herrschaft der semitischen Sprachen, des Hebräischen, des Aramäischen u. s. w. beweist), und zeugten mit ihren syrischen Sklavinnen Söhne und Töchter; später (in halbhistorischen Zeiten) sehen wir sie mit unabhängigen Sippen des fremden Volkes freiwillig Ehen schliessen, und ohne Zweifel war das inzwischen schon seit Jahrhunderten Sitte geworden. Doch, wie man sich auch den Vorgang der Vermischung vorstellen will, sicher ist, dass sie stattfand.

Um von jenem anderen syrischen Menschentypus sprechen zu können, wäre es bequem, einen Namen für ihn zu haben. Hommel, der berühmte Münchener Gelehrte, nennt ihn den der Alarodier;1)Er entlehnt den Namen einem von Herodot erwähnten, am Fusse des Ararat wohnenden Stamme. er glaubt ihm eine weite Verbreitung, auch über das südliche Europa zuschreiben zu dürfen, und will ihn in den Iberiern und in den heutigen Basken wiedererkennen. Doch müssen ungelehrte Menschen beim Gebrauch derartiger Hypothesen sehr vorsichtig sein; ehe die Druck - legung dieses Buches vollendet ist, können die Alarodier schon zum alten Eisen der Wissenschaft geworfen sein. Nachahmungswürdig erscheint das Beispiel des französischen Zoologen und Anthropologen G. de Lapouge, der den verschiedenen physischen Typen nach der Linnäischen Methode Namen giebt, ohne sich weiter um Geschichte und Ursprung zu kümmern: Homo europaeus, Homo Afer, Homo contractus u. s. w. Dieser kleinasiatische Typus würde sich mit Lapouge’s Homo alpinus, was die Schädelbildung anbelangt, ziemlich decken;2)Lapouge: La dépopulation de la France, Revue d’Anthropologie 1888, p. 79. F. von Luschan hat ausdrücklich auf die Ähnlichkeit des syrischen Menschen mit dem Savoyarden hingewiesen. doch wollen wir ihn hier, ohne uns weiter zu exponieren, einfach als den Homo Syriacus bezeichnen, den Ureinwohner Syriens. Und gerade so, wie wir für den semitischen Typus im Beduinen einen festen Anhaltspunkt gewannen, finden wir hier in dem zwar nicht mehr unter uns als nationale Individualität lebenden, doch aus der Geschichte und aus vielfachen Abbildungen täglich mehr bekannt werdenden Stamme der Hethiter einen besonders charakte - ristischen Vertreter des syrischen Menschentypus, noch dazu gerade denjenigen, mit dem die Israeliten in Palästina enge Beziehungen an - knüpften. Dieser syrische Mensch ist nun durch das Vorwalten eines bestimmten anatomischen Charakters ausgezeichnet: er ist ein360Die Erben.Rundkopf, oder wie die Naturforscher sagen » brachycephal «, d. h. mit breitem Schädel, einem Schädel, dessen Breite seiner Länge nahe - kommt. 1)Der ausgesprochene Langschädel beginnt, wenn das Verhältnis der Breite zur Länge nicht über 75 zu 100, der ausgesprochene Kurzschädel, wenn es 80 oder mehr zu 100 beträgt. Als ich Anthropologie bei Carl Vogt hörte, wurden an uns allen kraniometrische Messungen als Übung vorgenommen; bei dem einen Hörer wurde der seltene Index von 92 konstatiert, d. h. sein Kopf war fast kreis - rund; es war ein Armenier, ein typischer Repräsentant jener syrischen Schädelbildung!Der Beduin dagegen, und mit ihm jeder Semit, der nicht eine starke Vermischung mit fremdem Blut erfahren hat, ist ein ausgesprochener » Dolichocephal «. » Lange, schmale Köpfe «, schreibt von Luschan, » sind eine hervorragende Eigenschaft der heutigen Beduinen, die wir in gleichem Masse auch für die ältesten Araber in Anspruch nehmen müssten, selbst wenn dies nicht durch zahl - reiche Abbildungen bestätigt würde, die uns glücklicher Weise auf alten ägyptischen Denkmälern erhalten sind. « 2)F. von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden (Vortrag, ge - halten in der Allgem. Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft des Jahres 1892). Aus diesem Vortrag, der ausgedehnte Arbeiten kurz zusammen - fasst, werde ich auch im Folgenden mehreres anführen; man findet ihn im Cor - respondenzblatt der betreffenden Gesellschaft für 1892, Nr. 9 und 10.Natürlich bleibt es nicht bei diesem einen anatomischen Merkmal; dem runden Kopf entspricht eine gedrungene Gestalt; er ist der Ausdruck einer ganzen, besonderen physiologischen Anlage. Der Schädel ist aber bei der Beurteilung längst vergangener Menschenrassen das bequemste Stück des Knochengerüstes zu vergleichenden Studien, auch das vielsagendste,

Langschädel (dolichocephal).
Rundschädel (brachycephal).
(Nach de Mortillet.)

361Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.und bei unendlich reicher Abwechselung des Individuellen, bewahrt er typische Gestaltungen mit grosser Hartnäckigkeit. Doch noch ein anderes und viel auffallenderes anatomisches Merkmal kennzeichnete den Hethiter, zwar ein äusserst vergängliches, da nicht Knochen sondern Knorpel seine Grundlage bildet, doch auf Bildern prächtig aufbewahrt und uns aus lebendiger Anschauung wohlbekannt: die

Hethiter.

Nase. Die sogenannte » Judennase « ist ein hethitisches Erbstück! Der echte Araber, der unverfälschte Beduin hat gewöhnlich » eine kurze, kleine und wenig gebogene Nase « (ich berufe mich auf von Luschan und verweise auf die beigegebenen Typenbilder), und auch dort, wo die Nase bei ihm mehr adlerförmig auftritt, besitzt er niemals ein » Löschhorn « (wie Phillip von Zesen, der Sprachverbesserer, es nannte) von der spezifischen, un - verkennbaren jüdischen und armenischen Gestalt. Der Israelit hat nun durch die immerwährende Vermengung mit dem rundköpfigen Typus des fremden Volkes nach und nach seinen schmalen, langen Beduinenkopf ein - gebüsst und als Ersatz die sogenannte Judennase zum Geschenk bekommen. Gewiss kam der Langkopf noch vor, namentlich im Adel wird er sich länger erhalten haben; auch die heutigen Juden weisen einen geringen

Hethiter.

Prozentsatz echter Langköpfe auf; er verschwand aber immer mehr. Auf die Nase allein darf man sich bei der Diagnostik betreffs der Angehörigkeit zum jüdischen Stamm durchaus nicht verlassen; man sieht auch warum: dieses syrische Erbstück ist allen mit syrischem Blute vermengten Völkern gemeinsam. Bei diesem anthropologischen Befund handelt es sich um keine hypothetische Behauptung, wie solche uns in theologisch-kritischen und historischen Werken so überreich umranken, sondern er ist das sichere Ergebnis exakter wissen - schaftlicher Forschung an einem hinreichend grossen Material,1)Von Luschan’s Mitteilungen des Jahres 1892 stützen sich auf 60000 Mes - sungen! einem Material, welches von sehr alter Zeit bis zur Gegenwart reicht und welches durch die zahlreichen, in Ägypten und Syrien entdeckten und nach und nach genau datierten Abbildungen auf das Schönste unterstützt wird. 362Die Erben.Man kann auf den ägyptischen Denkmälern gewissermassen das » Jude - werden « der Israeliten verfolgen, wenn sie auch freilich selbst auf den allerältesten (die ja nicht sehr weit in die israelitische Geschichte hinaufreichen, da das Volk erst unter Salomo über seine Grenzen hinaus bekannt wurde) wenig vom unverfälschten semitischen Typus mehr zeigen. Wir sehen hier, als israelitische Soldaten abgebildet, echte Hethiter und Halbhethiter; nur die Führer man sehe z. B. das angebliche Porträt des Königs Rehabeam (Salomo’s Sohn) könnten allenfalls an Beduinenphysiognomien erinnern, gemahnen aber bisweilen noch mehr an gute europäische Gesichter.

Mit diesen letzten Bemerkungen treten wir aus der allgemeinen, prähistorischen Einflussphäre in die speziellere, kanaanitische über, die ebenfalls weit über ein Jahrtausend dauerte, und wo uns sichere That - sachen reichlich zur Verfügung stehen. Denn ehe den hebräischen Israeliten die Ehre der Verewigung durch die Kunst ägyptischer Maler zu Teil wurde, waren sie aus Mesopotamien nach Kanaan gezogen. Wir müssen zwischen dem ersten kanaanitischen Erscheinen und dem zweiten unterscheiden: beim ersten weilten sie dort als nomadisierende Hirten im besten Einvernehmen mit den rechtmässigen Einwohnern der Städte und der urbar gemachten Strecken, beim zweiten fielen sie als Eroberer ins Land. Das erste Mal waren sie eben wenig zahlreich, das zweite Mal ein ganzes Volk. Wie unsicher und umstritten manche historischen Detailfragen noch sein mögen, eine Thatsache ist sicher: beim allerersten Betreten des Landes fanden die Israeliten die Hethiter dort zu Hause, jene Hethiter, die einen wichtigsten Stamm des Homo syriacus bildeten. Abraham spricht zu den Einwohnern Hebrons, » den Kindern Heth’s «, wie er sie ausdrücklich nennt: » Ich bin ein Fremder, der unter euch wohnt « (Gen. XXIII, 4), und er bittet, wie nur ein geduldeter Gast bitten konnte, um ein Grab für sein Eheweib, Sarah. Isaak’s ältester Sohn, Esau, hat nur Hethiterinnen zu Frauen (Gen. XXVI, 34); der jüngere, Jakob, wird in das ferne Mesopotamien geschickt, damit er ein hebräisches Weib zur Ehe nehmen könne, woraus man schliessen muss, dass es in Palästina gar keines gab, kein hebräisches Mädchen wenigstens, welches dem Vermögen nach für ihn gepasst hätte. Isaak hätte nicht darauf gedrungen, ihm wäre eine wohlhabende Hethiterin recht gewesen, doch Rebekka, seine mesopotamische Frau, vertrug sich schlecht mit ihren hethitischen Schwiegertöchtern, den Frauen Esau’s, und meinte, sie würde lieber sterben, als mehr solche ins Haus bekommen (Gen. XXIII, 46). Unter Jakob’s Söhnen wiederum363Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.wird speziell von Juda berichtet, er habe Hethiterinnen geehlicht (I. Chron. II, 3). Aus diesen Volkserzählungen erhalten wir historische Belehrung: wir sehen, dass die Israeliten die deutliche Er - innerung besassen, als eine sehr kleine Anzahl von Hirten inmitten eines frem - den, kultivierten, städtebewohnenden und freundlichen Volkes gelebt zu haben; die reichen Sippenältesten konn -

Echter Beduin des heutigen Tages.

ten sich den Luxus bezahlen, für ihre Söhne Eheweiber aus der früheren Heimat holen zu lassen, doch selbst diese Söhne folgten lieber der unmittelbaren Neigung, als dem Prinzip der Exklusivität, sie heirateten die Mädchen, die sie um sich sahen es mussten denn gerade solche herzlose Geschäftsjobber sein wie der widerwärtige Jakob; für das ärmere Volk gilt selbstverständlich, dass es Weiber nahm wo es sie fand. Dazu kommt noch das Zeugen von Kindern mit Sklavinnen. Von Jakob’s zwölf Söhnen z. B. sind vier von Sklavinnen geboren und geniessen die selben Rechte wie die anderen. Dies Alles bezieht sich auf das früheste von der Bibel erwähnte Berühren mit den Hethitern Kanaans. Nun folgte, nach der Sage, der lange Aufenthalt an der Grenze Ägyptens, im Lande Gosen. Doch auch hier lebten die Israeliten von Hethitern umringt. Die Hethiter reichten nämlich bis an die Grenzen Ägyptens, wo gerade damals ihre Stammverwandten, die Hyksos, das Scepter führten; die Stadt Tanis, welche den Versammlungspunkt der Israeliten in Gosen bildete, war wesent - lich eine hethitische Stadt; seit jeher stand sie in engstem Verkehr mit Hebron; indem die Israeliten mit ihren Herden von Hebron nach der Gegend von Tanis zogen, blieben sie also in derselben ethnischen Um - gebung. 2)Vergl. Renan: Israël I, ch. 10.Und als sie später als Eroberer

Amoritischer Israelit angeblich ein Sohn Salomo’s.

nach Kanaan zurückkehrten, unterwarfen364Die Erben.sie zwar die Kanaaniter, die zum grössten Teil aus Hethitern be - standen, nach und nach, doch traten sie jetzt erst recht in ein enges Verhältnis zu ihnen. Denn wie ich schon früher hervorhob, der Kanaaniter verschwand nicht. Man lese nur das erste Kapitel des Buches der Richter. Wellhausen bezeugt denn auch: » Die Israeliten unterwarfen die ältere Bevölkerung nicht systematisch, sondern schoben sich zwischen sie ein .... Von einer vollständigen Eroberung des Landes (Palästina) war keine Rede «. Und über die Art, wie dieses fremde, nicht-semitische Blut immer mehr in das hebräische eindrang, berichtet derselbe Autor: » Der wichtigste Vorgang in der Richterperiode ging im Allgemeinen ziemlich geräuschlos vor sich, nämlich die Ver - schmelzung der neuen (israelitischen) Bevölkerung des Landes mit der alten. Die Israeliten der Königszeit hatten eine sehr starke Bei - mischung kanaanitischen Blutes; sie waren keineswegs reine Ab - kömmlinge derer, die einst aus Ägypten gezogen waren. .... Hätten die Israeliten die alteingesessenen Landeskinder vertilgt, so würden sie das Land zur Wüste gemacht und sich selbst um den Gewinn der Eroberung gebracht haben. Indem sie sie schonten und sich selber ihnen gleichsam aufpfropften, wuchsen sie zugleich in ihre Kultur hinein. In Häuser, die sie nicht gebaut, in Felder und Gärten, die sie nicht urbar gemacht und angelegt hatten, nisteten sie sich ein. Überall traten sie als glückliche Erben in den Genuss der Arbeit ihrer Vorgänger. So vollzog sich bei ihnen eine folgenreiche innere Umwandlung; sie wurden rasch ein Kulturvolk «. 1)Israelitische und jüdische Geschichte. S. 37, 46 u. 48.Schon früher hatten die Israeliten von den Hethitern das Schreiben gelernt (sei es in Hebron, sei es in Tanis;2)Renan: Israël I, 136. jetzt lernten sie von ihnen den Acker - und den Weinbau, sie lernten Städte errichten und verwalten, kurz, sie wurden durch ihre Vermittelung civilisierte Menschen. Durch sie auch wurden sie erst ein Staat. Nie hätten diese in ewiger Eifersucht, in argwöhnischer Isolierung hausenden verschiedenen Stämme sich zu einer Einheit zu verbinden verstanden, ohne das » staatverkittende Element « der Kanaaniter. Und damit nicht genug, auch ihre religiösen Vorstellungen erhielten von den Kanaanitern die besondere Farbe und die Organisation: Baal, der Gott des Acker - baues und der friedlichen Arbeit, verschmolz mit Jahve, dem Gott der Kriegsheere und der Raubzüge. Wie sehr Baal von den Israeliten365Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.verehrt wurde, ersehen wir (trotz aller späteren Korrekturen der Juden) aus solchen Thatsachen, wie dass der erste israelitische Held auf palästinischem Boden Jerubbaal heisst1)Eine Thatsache, welche die spätere Redaktion der Bibel zu vertuschen suchte (Richter VI, 32) während die ältere nicht daran gedacht hatte (I. Sam. XII, 11). (und ausserdem eine Hethiterin zur Frau nimmt), dass der erste König, Saul, einen seiner Söhne Isbaal nennt, David einen der seinigen Baaliada, Jonathan seinen einzigen Sohn Meribaal, u. s. w.. Auch das Prophetenwesen entlehnten die Israeliten den Kanaanitern und von ihnen übernahmen sie den ganzen äusseren Kultus, sowie die Tradition der heiligen Orte. 2)Vergl. hierzu Wellhausen: a. a. O., S. 49 fg., 102 fg. ; über die heiligen Orte, desselben Autors Prolegomena zur Geschichte Israels, 4. Aufl., S. 18 fg.Ich brauche hier nicht auszuführen, was Jeder in der Bibel finden wird (allerdings manchmal unter so vielen fremdklingenden Namen verhüllt, dass man ohne kundigen Führer nicht auskommt): welche grosse Rolle die Hethiter, sowie ihre Stammbrüder, die Philister, in der Geschichte Israels spielen. Bis die Verschmelzung sehr weit vor - gedrungen und dadurch die Unterscheidung der Namen verschwunden ist, finden wir diese überall wieder, namentlich unter den tüchtigsten Soldaten; und wie vieles gerade von diesen Angaben wird durch die spätere jüdische Redaktion der Bibel, die möglichst das Fremde aus - zutilgen und die Fiktion einer rein abrahamidischen Herkunft einzu - führen strebte, verschwunden sein! David’s Leibgarde ist, wenn nicht ausschliesslich, so doch zum grossen Teil aus Männern zusammen - gesetzt, die nicht zu Israel gehören: Hethiter und Gethiter bekleiden darin wichtige Offiziersposten; Krethi und Plethi, Philister und aller - hand anderes fremde Volk, teils syrisch, teils fast rein europäisch, einiges hellenisch, bilden die Masse. 3)Dazu kommen Araber, Hebräer nicht aus israelitischen Stämmen, Aramäer und allerlei pseudosemitische Fremde. Da es nach der (allerdings ungewöhnlich stark erlogenen) Volkszählung unter David 1 300000 kriegsfähige Männer in Israel und Juda gegeben haben soll (II. Samuel XXIV), so bekommen wir den Eindruck, dass die Israeliten selber wenig kriegerisch gesinnt waren. Siehe namentlich Renan: Israël II, livre 3, ch. I.David hat überhaupt den Thron nur mit Hilfe der Philister und wahrscheinlich als ihr Vasall4)Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, S. 58. erobert; er hat auch alles gethan, was an ihm lag, um die Verschmelzung der Israeliten mit ihren Nachbarn zu fördern und gab selber das Beispiel der Ehen mit den Töchtern aus syrischem und indoeuropäischem Stamme.

366Die Erben.
Der Amoriter.
393

Doch, da das Wort » indoeuropäisch « meiner Feder entfährt, will ich gleich hier eine Thatsache besprechen, der ich bisher kaum flüchtig Erwähnung that. Die Kanaaniter bestanden vorwiegend, doch nicht einzig aus Hethitern; mit ihnen eng verbunden, doch häufig in getrennten Gauen ansässig und dadurch ihren Stamm relativ rein er - haltend, lebten die Amoriter. Diese Amoriter waren grosse, blonde, blauäugige Menschen von lichter Hautfarbe; sie waren » aus dem Norden «, d. h. aus Europa eingedrungen, die Ägypter nannten sie daher Tamehu » das Volk der Nordländer «, und zwar scheinen sie (doch ist dies natürlich problematisch) Palästina nicht sehr lange vor der Rückkehr der Israeliten aus Ägypten erreicht zu haben. 1)Dass das Buch Genesis (XIV, 13) schon Abraham in friedlicher Bundes - genossenschaft mit drei Amoritern in der Ebene Hebrons leben lässt, hat natürlich auf historische Gültigkeit keinen Anspruch.Im Osten des Jordans hatten sie mächtige Reiche gegründet, mit denen die Israeliten später öfter Krieg führen mussten; ein anderer Teil war in Palästina eingedrungen, wo er in engster Freundschaft mit den Hethitern lebte,2)Siehe namentlich Sayce: Races of the Old Testament, S. 110 fg. wieder andere hatten sich zu den Philistern ge - schlagen, und zwar in so grosser Zahl (vermehrt vielleicht durch direkte Zuzüge aus dem bereits durch und durch hellenischen Westen), dass manche Geschichtsforscher die Philister als der Mehrzahl nach arisch-europäischen Stammes betrachtet haben. 3)Vergl. Renan: Israël II, livre 3, ch. 3. Über den hellenischen Ursprung eines bedeutenden Teils der Philister und die Einführung einer Anzahl griechischer Worte durch sie ins Hebräische, siehe auch Renan: Israël, Band I, S. 157 Anm.; und Maspero: II, S. 698. Übrigens ist die Frage nach dem Ursprung der Philister und der Amoriter eine noch viel umstrittene; wir können den Streit getrost den Historikern und Theologen überlassen; die anthropologischen Ergebnisse sind Ergebnisse einer exakten Wissenschaft und die Philologie muss sich darnach richten, nicht umgekehrt. Dass die Amoriter, sowie mindestens ein Teil der Philister, grosse, blonde, blauäugige Dolichocephalen waren, ist sicher: somit gehörten sie zum Typus Homo europaeus; uns Ungelehrten genügt das.Diese unsere eigenen Stammesbrüder sind jene Enakskinder, die » Leute von grosser Länge «, welche den Israeliten so schreckliche Angst einjagten, als diese sich das erste Mal kundschaftend ins südliche Palästina eingeschlichen hatten (IV Mose XIII); zu ihnen gehörte der tapfere Goliath, der die Israeliten zu einem ritterlichen Zweikampf auffordert und inzwischen dem tückisch geschleuderten Stein erliegt;4)Die Legende, welche diese feige That dem David zuschreibt, ist eine späte Interpolation; der ursprüngliche Bericht steht II Sam. XXI, 19 (vergl. Stade: zu ihnen auch jene367Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.» Rephaim «, welche riesige Speere und schwere eherne Rüstung tragen (I Sam. XVII, 5 ff., II Sam. XXI, 16 ff.). Und weiss die Bibel viel zu erzählen von den Heldenthaten der Israeliten gegen diese grossen blonden Männer, so konnte sie andrerseits nicht verschweigen, dass gerade aus ihnen (namentlich aus dem noch sehr wilden, unvermischt indoeuropäischen Stamm der Gethiter) David seine besten, zuverlässigsten Soldaten gewann. Nur durch die Philister wurden die Philister besiegt; nur durch die Amoriter die Amoriter. Die Gethiter

Amoriter.

z. B. waren nicht von David unterworfen, sondern folgten ihm freiwillig (II Sam. XV, 19 fg. ), aus Lust am Kriege; ihr Führer, Ithai, wurde zum Befehlshaber eines Drittels der israelitischen Armee ernannt (II Sam. XVIII, 2). Von diesem » arischen Truppenteil «, wie er ihn nennt, sagt Renan: » Er war eben so tapfer wie der Araber, und unterschied sich von diesem durch seine Treue; um etwas Dauerhaftes zu gründen, musste man sich auf ihn stützen. Er war es, welcher die verräterischen Anschläge des Absalom, des Sebah, des Adoniah vereitelte; er war es, welcher den bedrohten Thron Salomo’s rettete er hat den Kitt des israelitischen Königreiches abge - geben «. 1)Renan: Israël II, 30 32.Jedoch nicht allein tapfere und treue Soldaten waren diese Männer, sondern auch Städtebauer; ihre Städte waren die am besten gebauten und die festesten (Deuter. I, 28),2)Über Flinders Petrie’s neuerliche Ausgrabungen amoritischer Städte mit Mauern von zweiundeinhalb Meter Dicke, berichtet Sayce: Races of the Old Testament, p. 112. und namentlich eine ihrer Städte gewann Weltbedeutung: unweit der Hauptstadt ihrer hethitischen Freunde, Hebron, gründeten die Amoriter eine neue Stadt, Jerusalem. Der König von Jerusalem, der gegen Josua aus - zieht, ist ein Amoriter (Jos. X, 5), und wenn es auch heisst, er sei von diesem mit allen anderen Königen geschlagen und erschlagen worden, so wird man das, sowie das ganze Buch Josua, cum grano salis zu nehmen haben; denn in Wirklichkeit wurde die Eroberung Palästinas den Israeliten sehr schwer und ging äusserst langsam und4)Geschichte des Volkes Israel, I, 225 fg.). Für die Beurteilung des Charakters David’s ist es wichtig dies zu wissen (siehe unten, S. 369).368Die Erben.nur unter Zuziehung fremder Elemente vor sich;1)Siehe namentlich Wellhausen’s Prolegomena (an vielen Orten). jedenfalls blieb die Stadt Jerusalem bis zu David’s Zeiten eine amoritische, mit Bei - mischung vieler Hethiter (Jebusiter nennt die Bibel diese gemischte Bevölkerung), doch ohne Israeliten; erst im achten Jahre seiner Re - gierung eroberte David mit seinen fremden Söldnertruppen diese feste Burg und erwählte sie, ihrer starken Lage wegen, zu seiner Residenz. Die amoritisch-hethitische Bevölkerung blieb aber auch fernerhin durch Zahl und Stellung bedeutend2)Im Buche Josua XV, 63 lesen wir: » Die Jebusiter aber wohnten zu Jerusalem und die Kinder Juda’s konnten sie nicht vertreiben; also blieben die Jebusiter mit den Kindern Juda’s zu Jerusalem bis auf diesen Tag. «: von einem wohlhabenden Amoriter muss David den Boden kaufen, um darauf einen Altar zu errichten (II Sam. XXIV, 18 fg. ), und bei einem Gethiter, einem seiner ver - trauten Truppenführer, stellt er die heilige Bundeslade ein, als er sie nach Jerusalem übergeführt hat (II Sam. IV, 10). 3)Dass Obededom wirklich ein Gethiter war, wie die angeführte Stelle besagt und nicht, wie die spätere Version lautet (I. Chron. XVI, 18) ein Levit, zeigt Wellhausen: Prolegomena, S. 43.So lässt denn auch der Prophet Hesekiel (XVI) der Stadt Jerusalem von Gott zurufen: » Von Ursprung und von Geburt bist du eine Kanaaniterin; dein Vater war ein Amoriter, deine Mutter eine Hethiterin! « Und dann wirft er den israelitischen Bewohnern vor, wie sie sich mit diesen fremden Ele - menten vermengt hätten: » also triebest du Hurerei, dass du dich einem Jeglichen, wer vorüber ging, gemein machtest und thatest seinen Willen « eine Naivetät des frommen Juden, da die Grossen des Reiches mit dem Beispiel nicht gekargt hatten und er selber, als Jerusalemit, das Kind dieser dreifachen Bastardierung war; Hesekiel, dem eigentlichen Erfinder des spezifischen Judentums, schwebte eben schon jene paradoxe Idee eines aus reiner Rasse hervorgegangenen Juden vor, was eine contradictio in adjecto ist. Gerade der Judäer hat nun unter allen Israeliten am meisten amoritisches Blut in sich aufgenommen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Amoriter den Süden Palästinas, die Gebiete Simeon’s, Juda’s und Benjamin’s, ziemlich dicht bewohnten, während sie weiter nördlich spärlicher ver - treten waren. Die ägyptischen Denkmäler, auf welchen die verschiedenen Völker äusserst charakteristisch abgebildet sind, beweisen unwiderruflich, dass zur Zeit Salomo’s und seiner Nachfolger die Einwohner des südlichen Israels, besonders die Truppenanführer, sich durch das Vor -369Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.walten des ausgesprochenen amoritischen (indoeuropäischen) Typus auszeichneten. 1)Siehe Typenbild auf S. 363.

Ja, man hat sich bisweilen gefragt, ob nicht David selber halb oder dreiviertel Amoriter sei? Die Bibel legt an verschie - denen Orten besonderen Nachdruck auf seine Blondheit, und, wie Virchow durch unzählige Statistiken nachgewiesen hat, ist » die Haut mit ihrem Zubehör noch dauerhafter als der Schädel «; helle Haut und blondes Haar kam nun bei den Hebräern und den Menschen aus der syrischen Gruppe gar nie vor, sondern diese Charakteristika des Europäers wurden erst durch die Amoriter und Hellenen ins Land gebracht; darum fiel ja auch David’s Blondheit auf. 2)Luther hatte die bezüglichen Stellen (I Samuel XVI, 12, XVII, 42 u. s. w.) mit » bräunlicht « übersetzt; Gesenius verdeutscht dagegen in seinem Wörterbuch das betreffende hebräische Wort mit » rot « und räumt ein, dass es gewöhnlich sich auf das Haar beziehe, nur giebt er sich grosse Mühe, nachzuweisen, David müsse schwarzhaarig gewesen sein und das » rot « beziehe sich also hier auf die Gesichtsfarbe; die besten wissenschaftlichen Übersetzer der Gegenwart (z. B. Segond) fassen aber die Bezeichnung direkt als blond, d. h. also blondhaarig auf, und es scheint für sicher zu gelten, dass David ausgesprochen blond war.Unter diesen Umständen ist es wohl nicht allzukühn, wenn man vermutet, dass ein in Bethlehem (d. h. gerade in der von Amoritern am dichtesten be - völkerten Gegend) geborener Hirte eine Amoriterin zur Mutter gehabt haben mag. Sein Charakter, sowohl dessen grosse Fehler wie auch dessen herzgewinnende Eigenschaften, seine Kühnheit, seine Vorliebe für das Abenteuerliche, seine Sorglosigkeit, sein schwärmerischer Sinn, unterscheiden David wie mir scheint von allen Helden Israels, eben - falls sein Bestreben, das Reich zu organisieren, die verzettelten Stämme zu einer Einheit zusammenzufassen (was ihm ja den Hass der Israeliten zuzog). Auch seine ausgesprochene Vorliebe für die Philister (siehe z. B. II Sam. XXI, 3), unter denen er gern als Soldat gedient hatte, ist ein auffallender Zug, ebenso wie die bemerkenswerte Thatsache auf die Renan hinweist (Israël II, 35), dass er die Philister im Kriege edel behandelt, die hebräischen Völker dagegen mit furchtbarer Grau - samkeit, als seien sie ihm im Herzen zuwider. Sollte diese Ver - mutung der Wirklichkeit entsprechen, dann wäre allerdings Salomo kaum ein Israelit zu nennen; denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass seine Mutter Bathseba, das Eheweib des Hethiters Uria, eine Israelitin gewesen sei. 3)Renan: Israël II, 97.So würde sich die eigentümliche Inkompa -Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 24370Die Erben.tibilität zwischen Salomo’s Wesen und Streben, und dem Charakter Israel’s und Juda’s erklären. Renan sagt es rund heraus: » Salomon n’entendait rien à la vraie vocation de sa race «;1)idem, p. 174. er war ein Fremder mit allen seinen Wünschen und Zielen inmitten des Volkes, welches er gross zu machen wähnte. Und so wäre diese kurze Episode der Glanzzeit des israelitischen Volkes David, Salomo in Wirklichkeit nichts weiter als eben eine » Episode «, herbeigeführt durch die über - mütige Kraft eines durchaus verschiedenen Blutes, doch bald erstickt durch den unbezwingbaren Willen des Syro-Semiten, der nicht gesinnt war diese Wege zu wandeln, noch auch die Fähigkeit dazu besessen hätte.

Vergleichende Zahlen.
407

Über das, was ich oben die specielle Einflussphäre nannte, besitzen wir, wie man sieht, hinreichendes geschichtliches Material. Wenn unser Zweck nicht ein beschränkter wäre nämlich den Ursprung des Juden darzuthun so gäbe es gar vieles hinzuzufügen; z. B. dass die Josephiten, die begabtesten und energischsten unter allen Israeliten (ihnen entstammen Josua, Samuel, Jerubbaal u. s. w., sowie die grosse Dynastie der Omriden) halbe Ägypter waren (was in der verkürzten Art solcher Volksmärchen Genesis XLI, 45 erzählt, wo wir Joseph die Tochter eines Priesters aus Heliopolis heiraten sehen, die ihm Ephraim und Manasse gebärt) . Doch besitzt diese Thatsache für die Feststellung des jüdischen Stammbaumes wenig oder keine Bedeutung, denn Heiraten zwischen den ver - verschiedenen Stämmen Israels waren durch das Gesetz fast unmöglich gemacht, und bei der stets hervortretenden Antipathie der Josephiten gegen die Kinder Juda’s besonders unwahrscheinlich. Ebensowenig ist es nötig, hier von der Berührung mit manchen anderen hebräischen Sippen zu reden. Auch die viel später erfolgte Aufnahme von Negerblut seitens der Juden in der alexandrinischen Diaspora wofür mancher heutige Staatsbürger » mosaischer Konfession « den lebendigen Beweis liefert ist ganz nebensächlich. Das Gesagte ist ausführlich genug, damit sich Jeder die Anthropogenie des Juden in ihren grossen Linien klar vorstelle. Wir sahen: es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass der historische Israelit, aus welchem sich der eigent - liche » Jude « erst spät absonderte, das Produkt einer Mischung ist. Er tritt schon in die Geschichte als Mischling ein, nämlich als Hebräer; dieser Hebräer geht aber dann weitere Ehen mit fremden, nicht semitischen Menschen ein: erstens mit den Hethitern, einem371Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.besonderen Stamm des weit verbreiteten, fest charakterisierten Homo syriacus; zweitens mit den grossen, blonden, blauäugigen Amoritern aus der indoeuropäischen Gruppe. Nun kommt zu dem historischen Zeugnis das unwiderlegliche Zeugnis der exakten Wissenschaft hinzu. F. von Luschan fasst es in seinem schon mehrfach erwähnten Vortrag folgendermassen zusammen: » Die Juden sind zusammengesetzt: erstens, aus wirklichen Semiten, zweitens, aus arischen Amoritern, drittens und hauptsächlich aus den Nachkommen der alten Hethiter. Neben diesen drei wichtigsten Elementen des Judentums kommen andere Beimengungen gar nicht in Betracht. « Diese Diagnostik gilt das merke man wohl für die Juden zur Zeit, als sie von Israel losgetrennt wurden und sie gilt genau ebenso für heute; die Messungen haben sich auf altes Material und auf Allerneuestes be - zogen, und zwar mit dem Erfolg, dass die verschiedenen Aufnahmen von Fremden (Spaniern, Südfranzosen u. s. w.) in das Judentum, auf welche Feuilletonisten und salbungsvolle Moralisten vielen Nach - druck zu legen pflegen, gänzlich einflusslos geblieben sind: eine so charakteristisch zusammengesetzte und dann streng rein gezüchtete Rasse saugt dergleichen Wassertropfen sofort auf.

Und so wäre der Punkt eins erledigt: das israelitische Volk ist aus der Bastardierung durchaus verschiedener Menschentypen hervor - gegangen. Punkt zwei, in welchem das Verhältnis der verschiedenen Rassen zu einander besprochen werden sollte, wird, insofern er blosse Statistik bringt, einen einzigen Absatz beanspruchen; doch was sollten uns diese Zahlen, wenn wir nicht bestimmte Vorstellungen mit ihnen verknüpften? Es wäre das reine x, y, z der elementaren Algebralehre: die Rechnung stimmt, bedeutet aber nichts, da alle drei Grössen unbekannt; die Qualität der verschiedenen Rassen wird uns also länger als die Quantität aufhalten.

Was zunächst die quantitative Zusammensetzung des israelitischen Blutes anbelangt, so darf man nicht übersehen, dass selbst 60000 Mes - sungen wenig sind im Vergleich zu den Millionen, die seit Jahr - tausenden gelebt haben; es wäre unzulässig, sie auf das einzelne Individuum anzuwenden; die Massenstatistik vermag es nicht, auch nur den Saum zu lüften von dem Schleier, der die Persönlichkeit umgiebt. Jedoch, man bedenke auch dieses: ausser der Individualität des Einzelnen, giebt es die Individualität der Gesamtheit eines Volkes; auf diese abstraktere Persönlichkeit lassen sich Zahlen schon bedeutend besser anwenden. Was ein bestimmter Mann in einem bestimmten24*372Die Erben.Falle thun wird, kann ich aus seiner Rassenangehörigkeit nicht schliessen; wie aber z. B. eine zahlreiche Menge Italiener sich in diesem be - stimmten Falle als Kollektivität benehmen wird, wie dagegen eine gleiche Menge Norweger, das vermag ich mit grosser Wahrscheinlichkeit vorauszusagen. Für die Erkenntnis eines Volkscharakters können uns folglich anthropologische Zahlen von wirklichem Werte sein. Diese Zahlen nun besagen für den Juden (von damals und von heute, im Osten und im Westen von Europa verglichen): 50 Prozent der Juden zeigen den Typus des Homo syriacus (kurze Köpfe, charakteristische, sog. » jüdische « Nase, Neigung zur Fettleibigkeit u. s. w.) in ausge - sprochenem Masse; nur 5 Prozent weisen Züge und anatomische Bildung des echten Semiten (Wüstenbeduinen) auf; bei 10 Prozent trifft man eine Haut - und Haarfarbe, manchmal auch Gesichtszüge an, die auf den Amoriter indoeuropäischen Stammes weisen; 35 Prozent stellen undefinierbare Mischformen dar, etwa nach Art von Lombroso’s » kombinierten Photographien «, durch welche Gesichter zu Stande kommen, in denen ein Zug dem andern widerspricht: Schädel, die weder lang wie die der echten Semiten, noch halblang wie die der Amoriter, noch rund wie die der Syrier sind, Nasen, die weder hethitisch, noch arisch, noch semitisch genannt werden können, oder aber die syrische Nase ist da, doch ohne den dazu gehörigen Kopf u. s. w. ins Unendliche. Das Hauptergebnis des anatomischen Befundes ist, dass die jüdische Rasse zwar eine permanente ist, zugleich aber eine durch und durch bastardierte, welche diesen Bastardcharakter permanent bewahrt. Ich habe im vorigen Kapitel versucht, den Unterschied zwischen Mischungen und Bastardierungen klar zu machen. Alle historisch grosse Rassen und Nationen sind aus Mischungen hervor - gegangen; wo aber der Unterschied der Typen ein unüberbrückbar tiefer ist, da entstehen Bastarde. Das ist hier der Fall. Die Kreuzung zwischen Beduin und Syrier war anatomisch betrachtet wohl noch ärger als die zwischen Spanier und südamerikanischem Indianer. Dazu nun, in später Stunde, das Ferment eines europäisch-arischen Zusatzes!

Rassenschuld - bewusstsein.
407

Es ist durchaus geboten, hierauf grossen Nachdruck zu legen; denn ein derartiger Vorgang, so unbewusst er auch geschieht, ist ein blutschänderisches Verbrechen gegen die Natur; auf ihn kann nur ein elendes oder ein tragisches Schicksal erfolgen. Die übrigen Hebräer, und mit ihnen die Josephiten, gingen elend zu Grunde; wie die Familien der bedeutenderen pseudosemitischen Mestizen (die Phönizier, Babylonier u. s. w.) schwanden sie spurlos dahin; der Jude dagegen373Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.erwählte das tragische Schicksal: das beweist seine Grösse, und das ist seine Grösse. Ich werde bald auf dieses Thema zurückzukommen haben, denn dieser Entschluss bedeutet die Begründung des Juden - tumes; nur das Eine will ich gleich hier sagen, denn es gehört hier - her und wurde meines Wissens noch niemals gesagt: jenes tiefe Be - wusstsein der Sünde, welches das jüdische Volk (in seinen heroischen Tagen) so bedrückte1)» Seit dem Exil wurde (bei den Juden) das Sündenbewusstsein gewisser - massen permanent «, sagt Wellhausen: Prolegomena, S. 431. und in den Worten seiner auserwählten Männer ergreifenden Ausdruck fand, wurzelt in diesen physischen Ver - hältnissen. Natürlich legte es der Verstand und die uns allen an - geborene Eitelkeit wesentlich anders aus; doch der Instinkt griff tiefer als der Verstand, und sobald die Vertilgung der Israeliten und die eigene Gefangennahme das Gewissen des Juden geweckt hatten, war seine erste That, jener Blutschande (wie ich sie oben in wörtlicher Anlehnung an Hesekiel nannte) ein Ende zu machen durch das strenge Verbot jeder Vermischung, selbst mit nahverwandten Stämmen. Man hat einen unerklärlichen Widerspruch darin gefunden, dass es die Juden sind, welche in die heitere Welt die ewig drohende Vorstellung der Sünde brachten, und dass sie dennoch unter Sünde etwas ganz anderes ver - stehen als wir. Die Sünde ist nämlich für sie eine Nationalsache, wogegen der Einzelne » gerecht « ist, wenn er das » Gesetz « nicht über - tritt;2)Siehe Matthäus XIX, 20. Die Äusserung des reichen Mannes billigt noch heute der Jude Graetz vollkommen und bezeugt, die Aufforderung » die Sünden zu bereuen « habe für den Juden » gar keinen Sinn «. (Volkstümliche Geschichte der Juden, I, 577.) » die Erlösung ist nicht die moralische Erlösung des Individuums, sondern die Erlösung des Staates «:3)W. Robertson Smith: The Prophets of Israel and their place in history, Ausg. von 1895, S. 247. das ist für unser Verständnis schon eine Schwierigkeit. Dazu kommt aber eine andere, die unbe - wusst begangene Sünde gilt dem Juden einem bewussten Vergehen ganz gleich:4)idem, S. 102; Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, 2d éd., p. 558 (Anhang von Rabbi Schechter). » der Begriff der Sünde hat für den Juden keine not - wendige Beziehung zu dem Gewissen des Sünders, er schliesst nicht die Vorstellung einer moralischen Schlechtigkeit ein, sondern deutet auf eine gesetzliche Verantwortlichkeit «. 5)R. Smith, a. a. O., S. 103. Auch Montefiore bezeugt: » Sünde ist bei den Hebräern jede Handlung, durch welche man im Unrechten sich befindetMontefiore erklärt auch374Die Erben.ausdrücklich, dass nach der Auffassung der postexilischen Gesetzgeber: » Sünde betrachtet wurde, nicht als eine Befleckung der individuellen Seele, sondern als eine Befleckung der physischen Reinheit, eine Störung jenes ungetrübt reinen Zustandes des Landes und seiner Einwohner, welcher die Bedingung ausmacht, unter der allein Gott fortfahren kann, unter seinem Volke und in seinem Heiligtum zu wohnen « (a. a. O. S. 326). Ich bin, wie gesagt, überzeugt, der Schlüssel zu dieser merk - würdigen, widerspruchsvollen Vorstellung liegt in der physischen Ent - stehungsgeschichte dieser Rasse: ihr Dasein ist Sünde, ihr Dasein ist ein Verbrechen gegen die heiligen Gesetze des Lebens; so wenigstens wird sie vom Juden selber in den Augenblicken, wo das Schicksal hart an seine Pforte klopft, empfunden. Nicht das Individuum, sondern das ganze Volk müsste rein gewaschen werden, doch nicht von einem bewusst, sondern von einem unbewusst begangenen Vergehen; und das ist unmöglich: » wenn du dich gleich mit Lauge wüschest und nähmest viel Seife dazu, « wie Jeremia seinem Volke zuruft (II, 22). Und um das Unwiderbringliche der Vergangenheit auszulöschen, um es in die Gegenwart zu rücken, wo Einsicht und Willenskraft der Sünde eine Grenze stecken, der Reinheit eine Stätte schaffen konnten, musste die gesamte jüdische Geschichte von Anfang an gefälscht, die Juden als ein von Gott unter allen Völkern auserwähltes Volk von makellos reiner Rasse dargestellt und von nun an drakonische Gesetze eingeführt werden gegen jegliche Blutmischung. Wer das vollbracht hat, waren nicht Lügner, wie man wohl gemeint hat, sondern Männer, die unter dem Druck jener Not handelten, welche allein uns über uns selbst hinaushebt und zu unwissenden Werkzeugen grossartiger Schicksalswendungen macht. 1)Man hat Jeremia’s Worte: » Es ist doch eitel Lügen, was die Schrift - gelehrten setzen « (VIII, 8), auf die damals vor Kurzem geschehene Einführung des Deuteronomium und die begonnene Um - und Ausarbeitung des sogenannten mosaischen Gesetzes (von dessen Dasein keiner der Propheten etwas gewusst hatte) gedeutet und zwar wahrscheinlich mit Recht (nach der Behauptung des gläubigen Juden C. G. Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 201, 202).Wenn irgend etwas geeignet ist, uns aus der Blindheit unseres Jahrhunderts, uns von der Phrasenmacherei unserer Autoritäten2)Auch Herr von Luschan erblickt, wie man aus dem Schlusse seiner in rein statistischer Beziehung so wertvollen Arbeit über die ethnographische Stellung der Juden ersieht, das Heil in einem » völligen Ineinanderaufgehen und Ver - zu erretten, und unsere Augen dem Naturgesetz5)Jemandem gegenüber, der die Macht besitzt, das Vergehen zu bestrafen «! (a. a. O., S. 246).375Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.zu öffnen, dass grosse Völker nur durch Veredelung der Rasse ent - stehen, Veredelung der Rasse aber nur unter bestimmten Bedingungen stattfindet, deren Nichtbeachtung Verfall und Sterilität nach sich zieht, so ist es der Anblick dieses hochgedachten, verzweiflungsvollen Kampfes der ihrer Rassensünde bewusst gewordenen Juden.

Kehren wir jetzt zu den anthropogenetischen Zahlen zurück, soHomo syriacus. finden wir uns einem schwierigen Thema gegenüber; Schädel konnten wir messen und Nasen zählen, aber wie thun sich diese Ergebnisse im inneren Wesen des Juden kund? Den Schädelknochen halten wir in der Hand, er ist, was Carlyle » a hard fact « nennt, eine harte Thatsache. Freilich, dieser Schädel symbolisiert eine ganze Welt; wer seine Masse recht zu erwägen, wer seine Linien in ihrem gegenseitigen Verhältnis recht zu deuten verstünde, der könnte über das Individuum viel aussagen: Möglichkeiten würde er erblicken, welche der betreffenden Rasse selber erst nach Generationen zum Bewusstsein kommen, und Schranken, welche von vornherein einen Menschen vom andren trennen. Wer jene zwei Schädel auf S. 360 betrachtet, den langen und den runden, glaubt zwei Mikrokosmen zu erblicken. Doch jene Macht der Deutung ist uns nicht gegeben; wir beurteilen die Menschen nach ihren Thaten, eigentlich also auf indirektem Wege und nach einer fragmentarischen Methode, denn diese Thaten werden nur durch besondere Umstände veranlasst. Alles bleibt hier Stückwerk. Nun ist aber das Protoplasma einer einzelligen Alge ein so enorm kompliziertes Gebilde, dass die Chemiker noch immer nicht wissen, wie viele Atome sie sich im Molekül denken, und wie sie sie zu einer halbwegs annehmbaren symbolischen Formel vereinigen sollen; wer dürfte sich erkühnen, einen Menschen, ein ganzes Volk auf eine Formel zurückzuführen? 2)schmelzen « der verschiedenen Menschenrassen! Man traut seinen Augen und Ohren nicht, sobald diese Herren aus der Schule Virchow’s von Thatsachen zu Gedanken übergehen. Die gesamte Geschichte der Menschheit zeigt uns deren Fortschritt an progressive Differenzierung und Individualisierung gebunden; Leben und Streben finden wir nur dort, wo scharf charakterisierte Volkspersönlichkeiten im Kampfe nebeneinanderstehen (wie jetzt in Europa), die besten Anlagen ver - kümmern unter dem Einfluss der Uniformität der Rasse (wie z. B. in China), die Bastardierung gegensätzlicher Typen sehen wir auf allen Gebieten des Organischen zu Sterilität und Monstrosität führen und dennoch soll das » Ineinander - aufgehen « unser Ideal sein! Sehen denn die Herren nicht ein, dass Einerlei und Chaos synonyme Ausdrücke sind? » Ich liebte mir dafür das Ewigleere! «376Die Erben.Folgende Charakteristika der Hethiter, der Amoriter und der Semiten sollen also nur zur allgemeinsten Orientierung dienen.

Die Hethiter sehen auf den ägyptischen Bildern nichts weniger als geistreich aus. Die übertrieben » jüdische « Nase setzt sich nach oben in eine zurückweichende Stirn fort und unten schliesst sich ein bisweilen noch ärger zurücktretendes Kinn an. 1)Siehe namentlich die Figuren auf einem hethitischen Monument bei Aintab: (Sayce: Hittites, p. 62) und die Typenbilder nach ägyptischen Monumenten auf S. 361.Vielleicht hat sich wirklich der Homo syriacus im Allgemeinen nicht durch den Besitz grosser und feuriger Begabung ausgezeichnet; ich wüsste auch nicht, dass er heute, wo er angeblich wieder überhandnimmt, hiervon Be - weise gegeben habe. Doch besass er ohne Frage tüchtige Eigen - schaften. Dass seine Rasse in den verschiedenen Mischungen siegreich durchgedrungen ist und noch durchdringt, beweist grosse physische Kraft. Dieser Kraft entsprach Ausdauer und Fleiss. Klug muss er auch gewesen sein, nach den wenigen Bildern zu urteilen, sogar un - geheuer schlau (was ja mit Genialität nichts zu thun hat, im Gegenteil). Auch seine Geschichte zeigt ihn klug: er hat verstanden zu herrschen und er hat verstanden, sich unter möglichst günstigen Bedingungen der fremden Gewalt zu unterwerfen. Unwirtliche Gegenden machte er urbar und, als ihre Bevölkerung zunahm, baute er Städte und war ein so tüchtiger Kaufmann, dass im Alten Testament » Kaufmann « und » Kanaaniter « durch ein und dasselbe Wort ausgedrückt werden. Dass er als Krieger tapfer zu sterben wusste, bezeugt sein langer Kampf gegen Ägypten2)Die Hethiter scheinen lange Zeit hindurch ganz Syrien beherrscht zu haben und wahrscheinlich ganz Kleinasien; ihre Macht war eben so gross wie die Ägyptens in seiner Glanzzeit (siehe Wright; Empire of the Hittites, 1886, und Sayce: The Hittites, 1892). Doch ist Vorsicht am Platze, denn die hethitische Schrift ist noch nicht entziffert, und wenn auch hethitische Physiognomie, Tracht, Kunst und Schreibart bereits einen bestimmten Begriff für die Wissenschaft bilden, die Ge - schichte dieses Volkes, von dem man vor wenigen Jahren noch nichts wusste, ist bis jetzt sehr dunkel geblieben. und das Vorkommen solcher Charaktere wie Uria. 3)Man lese (II Sam. XI) wie prächtig und männlich sich Uria benimmt; neben dem verbrecherischen Leichtsinn David’s sticht diese srenge, wortkarge Pflichterfüllung angenehm ab.Ein Zug von Güte ist auf allen jenen sonst recht verschiedenen Por - träts zu lesen. Man stellt sich lebhaft vor, wie diese Menschen gleich fern von symbolischer Mythologie und von fanatischem Wüsten -377Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.wahn jenen ungekünstelten Kultus einführen konnten, den die Israe - liten in Palästina vorfanden und sich aneigneten: das Fest der Herbstlese (für sie zugleich Neujahr, von den Juden später Laubhüttenfest ge - nannt), das Fest des Frühlings (Ostern, von den Juden später zum Passah umgedichtet) mit Darbringung der Erstgeburten von Rindern und Schafen, das Fest des vollendeten Getreideschnitts (Pfingsten, von den Juden Wochenfest genannt), lauter fröhliche Feste eines schon seit langen Zeiten ansässigen, Ackerbau treibenden, nicht eines no - madischen Volkes, Feste ohne tiefere Beziehung auf das Innenleben des Menschen, eine einfache Naturreligion, wie sie für schlichte, fleissige, » leidlich redliche « Menschen gepasst haben mag und gewiss heute noch passen würde. 1)Vergl. die Ausführungen bei Wellhausen: Israelitische und jüd. Gesch., Kap. 6. Trotz der später vorgenommenen vorsichtigen Expurgierung sind doch hier und da in der Thora Erwähnungen dieses heiteren Naturkultus geblieben, so z. B. des im Gotteshaus zu Sichern gefeierten Weinlesefestes (Richter IX, 27). Siehe auch, wie die Bundeslade » mit Freuden und Jauchzen «, mit Musik, Gesang und Tanz von David nach Jerusalem geführt wird (2. Sam. VI, 12 15).Da wir Menschenopfer nur dort ein - gebürgert sehen, wo (wie in Phönicien) das semitische Element stark überwog2)Von Luschan hat durch zahlreiche Messungen festgestellt, dass der phönizische Typus sich » eng an den arabischen anschloss «., so dürfen wir voraussetzen, dass wo der kanaanitische Baalsdienst derartige Greuel in dem Fest gestattet, (wovon wir nur ausnahmsweise hören und wohl nur, wo fremde Fürstinnen durch Ehe ins Land gekommen sind), ein semitischer Brauch, nicht ein he - thitischer, sich kundgiebt3)Über den viel komplizierteren Kultus in der früheren Hauptstadt des hethitischen Reiches, Carchemisch (Mabog) siehe Sayce: The Hittites, ch. 6. Doch dünkt mich Lucian, auf den er sich beruft, ein sehr später und wenig zuverlässiger Zeuge. Interessant ist es dagegen zu sehen, wie weit die Phantasielosigkeit der Hebräer sich erstreckte. Selbst die Anlage des jüdischen Tempels, des äusseren und inneren Hofes, des Vorhangs vor dem Allerheiligsten, sowie das Privilegium des Hohenpriesters, diesen Raum zu betreten: das alles (angeblich Moses am Sinai von Gott vorgeschrieben!) sind genaue Nachahmungen des uralten hethi - tischen Ritus. Im Ganzen machen uns die Hethiter den Eindruck mehr von einer achtungswerten und hervorragend lebensfähigen Mittelmässigkeit als von irgend einer Anlage zu ausser - ordentlichen Leistungen, sie besitzen mehr Zähigkeit als Kraft. Goethe sagt einmal, ohne Überschwänglichkeit gäbe es keine Grösse; nach dieser Goethe’schen Definition dürften die Hethiter schwerlich auf Grösse Anspruch machen können.

378Die Erben.
Homo europaeus.
422

Dagegen scheint in jenen Amoritern, » hoch wie die Cedern und stark wie die Eichen « (Amos II, 9), mit ihren kecken Herausforderungen, ihrer unbändigen Abenteuerlust, ihrer wahnwitzigen Treue bis in den Tod gegen fremde, selbstgewählte Herren, ihren felsendicken Stadtmauern, aus denen sie so gern in die Berge hinausschweiften, in jenen Amoritern scheint mir das Überschwängliche recht sehr daheim. Ein wildes, grau - sames Überschwängliche war es noch, doch zu allem Höchsten fähig. Man glaubt ein anderes Wesen zu sehen, wenn man auf den ägyptischen Monumenten unter der Unzahl Physiognomien plötzlich dieses freimütige, charakterstarke, Intelligenz athmende Antlitz erblickt. Wie das Auge des Genies inmitten des gewöhnlichen Menschenhaufens, so muten uns diese Züge an unter der Menge der schlauen und schlechten und blöden und bösen Gesichter, unter diesem ganzen Gesindel von Babyloniern und Hebräern und Hethitern und Nubiern und wie sie alle heissen mögen. O Homo europaeus! wie konntest du dich in diese Gesellschaft verirren? Ja, wie ein Auge geöffnet in ein göttliches Jenseits muthest du mich an. Und ich möchte dir zurufen: folge nicht dem Rat der gelehrten Anthropologen, gehe nicht auf in jenem Haufen, vermenge dich nicht mit jener asiatischen Plebs, gehorche dem grossen Dichter deiner Rasse, bleibe dir selber treu Doch ich komme drei Jahrtausende zu spät. Der Hethiter blieb, der Amoriter schwand. Das ist, unter manchen andern, der eine Unterschied zwischen Edlem und Unedlem: jenes ist schwerer zu erhalten. Riesen an Gestalt, sind diese Menschen nichts - destoweniger in Bezug auf innere Organisation sehr zart. Kein Mensch entartet so schnell wie Lapouge’s Homo europaeus; wie schnell z. B. die Griechen Barbaren wurden, » in Syros, Parthos, Aegyptios degenerarunt «, bezeugt schon Livius (38, 17, 11). Er verliert seine Eigenheit gänzlich; dasjenige, was ihm allein zu Teil wurde, scheint er nicht weiter geben zu können, die Anderen besitzen das Gefäss nicht für diesen Inhalt; dagegen besitzt er selber eine verhängnisvolle Assimilationsfähigkeit für das Fremdartige. Zwar erzählt man uns von den blonden Syriern des heutigen Tages, auch hören wir von zehn Prozent blonder Juden; doch Virchow belehrte uns, die Haut und das Haar seien » dauerhafter als der Schädel «, der Schädel vermutlich also dauerhafter als das Hirn, ich weiss es nicht, doch glaube ich wirklich, der Europäer liess in Asien, wie ander - wärts, ausser der Erinnerung an seine Thaten, wenig mehr als Haut und Haar zurück! Ich habe ihn im Talmud gesucht, doch vergeblich. 1)Doch kommt ein thatsächlicher » Germane « dort vor (Traktat Schabbath, VI. 8, fol. 23a des Jerusalemischen Talmuds). Er ist der Sklave eines Juden. Be -

379Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.

Recht schwer dünkt es mich, über den Dritten in diesem Bunde,Homo arabicus. den echten Semiten, etwas auszusagen, denn es bildet geradezu ein Kennzeichen dieses Homo arabicus, dass er erst dann mitwirkend in die menschliche Geschichte eintritt, wenn er nicht mehr ein echter Semit ist. So lange er in seiner Wüste bleibt (und seiner Seelen - grösse und - Ruhe wegen sollte er stets da bleiben), gehört er eigent - lich der Geschichte gar nicht an; es ist auch sehr schwer, um nicht zu sagen unmöglich, Eingehendes über ihn dort zu erfahren; wir hören nur, er sei tapfer, gastfreundlich, fromm, auch rachsüchtig und grausam lauter Charaktereigenschaften, nichts, was uns über seine intellektuellen Anlagen Aufschluss gäbe. Burckhardt, der Jahre lang Arabien bereiste, schildert den Beduinen als geistig absolut müssig, sobald nicht Krieg oder Liebe den schlaffen Bogen dann allerdings sofort auf das Äusserste spannt. 1)Beduinen und Wahaby (Weimar 1831).Bricht er aber gewaltsam heraus in die Kulturwelt, so geschieht es, wie unter Abu Bekr und Omar, oder wie heute in Zentralafrika, um zu morden und zu brennen. 2)Man sehe doch, wie der berühmte maurische Geschichtsschreiber des 14. Jahr - hunderts, Mohammed Ibn Khaldun, von Vielen als der Begründer wissenschaft - licher Geschichte betrachtet, und selber ein halber Araber, urteilt: » Schaut euch um, betrachtet alle Länder, welche seit den ältesten Zeiten von den Einwohnern Arabiens besiegt wurden! Die Civilisation und die Bevölkerung schwanden aus ihnen, ja der Boden selber schien sich bei ihrer Berührung zu verwandeln und unfruchtbar zu werden « (Prolegomena zur Weltgeschichte, zweiter Teil; ich citiere nach Robert Flint: History of the philosophy of history, 1893, p. 166).Sobald er weithin alles verwüstet hat, verschwindet der echte Semit, wir hören nichts mehr von ihm; überall, wo er in der Kultur - geschichte wieder auftaucht, hat inzwischen Vermischung stattgefunden denn kein Menschentypus scheint sich schneller und erfolgreicher zu vermischen als gerade dieser in einer Jahrtausende währenden, ge - zwungenen Inzucht Gezeugte. Der edle Maure Spaniens ist nichts weniger als ein reiner Wüstenaraber, er ist zur Hälfte ein Berber (aus der arischen Verwandtschaft) und nimmt so reichlich gotisches Blut in seine Adern auf, dass noch heute vornehme Einwohner1)auftragt, Rabbi Hila, einen Freund seines Herrn, nach Hause zu begleiten, rettet er diesen vom Tode, indem er einen tollen Hund, der den Rabbi angefallen, auf sich selber reizt und von ihm den tödlichen Biss empfängt. Doch entlockt diese Treue dem frommen Juden nicht ein Wort der bewundernden Anerkennung, sondern er citiert bloss Jesaia XLIII, 4: » Weil du so wert bist, Israel, vor meinen Augen geachtet, musst du auch herrlich sein, und ich habe dich lieb, darum gebe ich Menschen an deine Statt und Völker für deine Seele «.380Die Erben.Maroccos ihre Genealogie bis zu germanischen Ahnen zurückverfolgen können; Harun-al-Raschid’s Regierung ist nur deswegen ein Glanz - punkt inmitten einer so traurigen Geschichte, weil die rein persische Familie der Barmekiden (welche der iranischen Religion des Zarathustra treu blieb),1)Renan: L’islamisme et la science (Discours et Conférences, 3e éd, p. 382). als civilisierendes und kulturelles Element dem Kalifen zur Seite steht. Kein Einziger der stets sogenannten » semitischen Kulturstaaten « des Altertums ist rein semitisch, kein einziger: weder der babylonische, noch der assyrische, noch der phönicische. Die Geschichte bezeugt es und die Anthropologie bestätigt es. Noch immer hören wir » Wunder und wilde Mär « über den reichen Segen, den wir dieser angeblich semitischen Kulturarbeit verdanken sollen; doch bei genauerem Zusehen finden wir den echten Semiten immer und überall dem wahrhaft schöpferischen Element nur » auf - gepfropft « (wie Wellhausen von den Israeliten sagte), und es ist in Folge dessen recht schwer zu entwirren, wie viel und was im Besonderen dem Semiten als solchem zuzuschreiben ist, was dagegen seinem Wirt. 2)Siehe Jhering’s anregende, aber allerdings hochphantastische Vorgeschichte der Indoeuropäer, wo die gesamte babylonische Kultur, trotzdem der Verfasser selber zugiebt, die Semiten hätten sie » überkommen «, trotzdem er uns die Sumero - Akkadier als lebendige Kraft noch in späten Zeiten am Werke zeigt (S. 133, 243 u. s. w.), einfach als » semitische Kultur « bezeichnet wird! Ähnlich von Luschan in dem erwähnten Vortrag, wo er sich bemüssigt fühlt, am Schlusse in die Posaune zu stossen zu Ehren der » Semiten «, in demselben Vortrag, in welchem er soeben nachgewiesen hat, die berühmtesten semitischen Völker ent - hielten nur wenig semitisches Blut o Logik der Naturforscher! Zum Schluss tischt er noch die alte Redensart von der » hohen Blüte der arabischen Wissen - schaft in Spanien « auf, wo wir alle in die Schule gegangen seien eine Märe, deren Nichtigkeit kein geringerer als Ernest Renan schon vor langen Jahren aufgedeckt hatte. » Der semitische Geist «, schreibt dieser, » ist von Hause aus antiphilosophisch und antiwissenschaftlich. Man redet viel von einer arabischen Wissenschaft und einer arabischen Philosophie, und allerdings, die Araber waren während einem oder zwei Jahrhunderte unsere Lehrmeister; doch geschah das nur, weil die griechischen Originalschriften verschüttet lagen. Diese ganze arabische Wissenschaft und Philosophie war weiter nichts, als eine arm - selige Verdolmetschung hellenischen Wissens und Denkens. Sobald das authentische Griechenland aus dem Schatten hervortritt, verfallen diese jämmerlichen Produkte in Nichts, und nicht ohne Grund unternehmen alle Gelehrten der Renaissance einen wahren Kreuzzug gegen sie. Übrigens, näher betrachtet, war selbst diese also beschaffene, arabische Wissenschaft in gar keiner Beziehung arabisch. Nicht allein war ihre Grundlage rein griechisch, sondern unter denen, welche sichHeute weiss man zum Beispiel, dass die Semiten die381Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Buchstabenschrift ebensowenig erfunden haben, wie sie die angeblich » arabischen Ziffern « erfunden hatten; von den Hethitern stammt die sogenannte » phönicische « oder überhaupt » semitische « Buchstaben - schrift1)Renan: Israël I, 134 suiv. und » die Legende von der Übermittlung des Alphabetes an die Arier durch die Phönicier ist nunmehr endgültig beseitigt «, da viel ältere Schriftzeichen als die ältesten pseudosemitischen aufgefunden wurden, Zeichen, die das Vorhandensein » einer urarischen-europäischen Schrift beweisen, die im Osten erst später von den asiatischen Schriften etwas beeinflusst wurde. «2)Professor Hueppe: Zur Rassen - und Sozialhygiene der Griechen (1897), S. 26. Dass die sogenannten » phönicischen « Schriftzeichen nicht eine Erfindung des semitischen Geistes sind, wird heute von allen Gelehrten zugegeben; Halévy ver - mutet einen ägyptischen, Hommel (mit grösserer Wahrscheinlichkeit) einen baby - lonischen d. h. also sumerischen Ursprung, Delitzsch glaubt, die syrischen Halb - semiten hätten aus zwei verschiedenen Alphabeten, einem ägyptischen und einem babylonischen, das ihre zusammengeschmolzen; der letzte Bearbeiter dieses Gegen - standes gelangt dagegen zu dem Schluss, das Alphabet sei überhaupt eine Er - findung der Europäer, erst durch die hellenischen Mykenier nach Asien gebracht (siehe H. Kluge: Die Schrift der Mykenier, 1897). Andererseits sehen wir, dass, wo der semitische Wille auf dem lauteren Gebiete der Religion (nicht des Besitzes) siegreich durchdrang, er die geistige Sterilität gebot und er - zwang: wir sehen es an dem Juden nach der babylonischen Gefangen - schaft (denn der Sieg der frommen Partei ist ohne Frage ein Sieg des semitischen Elements), wir sehen es am Mohammedanismus. » Das jüdische Leben war fortan (nach dem Exil) bar aller intellektuellen und geistigen Interessen mit einziger Ausnahme der religiösen. Der typische Jude interessierte sich weder für Politik, noch für Litteratur, noch für Philosophie, noch für Kunst. Die Bibel bildete2)der Einbürgerung des Wissens widmeten, gab es nicht einen einzigen echten Semiten; Spanier waren es und (in Bagdad) Perser, welche der herrschenden arabischen Sprache sich bedienten. Genau ebenso ver - hält es sich mit der philosophischen Rolle, welche man den Juden im Mittelalter zuschreibt; sie haben aus fremden Sprachen übersetzt, weiter nichts. Die jüdische Philosophie ist die arabische Philosophie; nicht ein neuer Gedanke kommt hinzu. Eine einzige Seite Roger Bacon’s besitzt mehr wahrhaft wissenschaftlichen Wert als diese gesamte erborgte jüdische Weisheit, die zwar Achtung verdient, doch ledig der Originalität ist. « (De la part des peuples sémitiques dans l’histoire de la civilisation, éd. 1875, p. 22 suiv). Dasselbe Thema behandelte Renan ausführlicher in seinem Vortrag des Jahres 1883 L’islamisme et la science. » Nicht allein sind diese Denker und Gelehrten nicht aus arabischem Stamme «, sagt er da, » sondern die Richtung ihres Geistes ist durchaus nicht arabisch. «382Die Erben.eigentlich die gesamte Litteratur der Juden, deren Studium ihr einziges geistiges und intellektuelles Interesse «: das sagt ein unverdächtiger Zeuge, der jüdische Gelehrte C. G. Montefiore (a. a. O., S. 419 u. 543). Ein ebenso unverdächtiger, Hirsch Graetz, citiert einen Ausspruch Rabbi Akiba’s: » Wer sich mit dem Lesen exoterischer Schriften (d. h. mit jedem Studium ausser dem der heiligen jüdischen Thora) beschäf - tigt, hat seinen Anteil an der zukünftigen Welt verwirkt. « 1)Gnosticismus und Judentum (Krotoschin 1846, S. 99). Der sonst in diesem Zusammenhang nicht recht einleuchtende Sinn des Wortes » exoterisch « wird durch die Herbeiziehung anderer Stellen erläutert, wo z. B. das Lesen griechischer Dichter eine » exoterische Beschäftigung « genannt wird (S. 62).Die Mischna lehrt: » seinen Sohn in griechischer Wissenschaft unterweisen lassen, ist genau ebenso fluchwürdig wie Schweinezucht betreiben. « 2)Citiert nach Renan: Origines du Christianisme, I, 35. Dass das Hethitertum, welches die Hälfte des jüdischen Blutes, wie wir gesehen haben, ausmacht, stets gegen derartige Lehren protestierte und sich mit Vorliebe allem » Exoterischen « zuwandte, ist eine Sache für sich; ich suche hier einzig den » Semiten « zu erfassen. Was den sterilisierenden Einfluss der echtesten semitischen Religion, der moham - medanischen, anlangt, so ist er zu offenbar, als dass ich ihn erst nach - zuweisen hätte. Wir stehen also hier zunächst vor einer Menge negativer Thatsachen und sehr wenigen positiven; wer sich nicht mit Phrasen begnügen will, wird eben finden, dass es schwer ist, sich die Persönlichkeit des echten Semiten vorzustellen, und doch ist es für unser jetziges Vorhaben für die Beantwortung der Frage: Wer ist der Jude? so wichtig, dass wir durchaus zur Klarheit der Vor - stellung durchdringen müssen. Rufen wir die Gelehrten zu Hilfe!

Schlage ich in dem Werk des bedeutendsten und darum zu - verlässigsten aller Ethnographen Deutschlands, Oskar Peschel, nach, so finde ich auf diese Frage gar keine Antwort; das war ein vorsichtiger Mann. Ratzel sagt folgendes: der Semit hat vor dem Hamiten und dem Indogermanen die grössere Energie, wenn man will, Einseitigkeit des religiösen Empfindens voraus; die Gewaltsamkeit und Ausschliesslich - keit, kurz der Fanatismus, zeichnet den Semiten aus; religiöse Aus - schweifungen, bis zum Menschenopfer, sind nirgends so verbreitet; noch der Feldherr des Mahdi (1883) liess Gefangene lebendig in Kesseln braten; der Semit ist Individualist, er hängt mehr am Glauben und der Familie als am Staat; da der Semit keinen guten Soldaten abgiebt, hatte er mit fremden Söldnern seine Siege zu erfechten; vielleicht383Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.haben die Semiten in den ältesten Zeiten Grosses für die Wissenschaft geleistet, möglich ist es aber, dass diese Leistungen fremden Ursprungs sind, später jedenfalls treten sie auf diesem Gebiete ganz zurück, ihre grössten Leistungen liegen auch hier auf dem religiösen Gebiet. 1)Völkerkunde II, 391; mit Benützung Ratzel’s eigener Worte zusammengefasst.Mir scheint diese Charakterisierung recht zerfasert, wenig sagend und nebenbei oft falsch. Es ist ja ganz schön und gut, seine Feinde in Kesseln lebendig zu braten von China bis zu den kunstbeflissenen Niederlanden des 16. Jahrhunderts, wo träfen wir Grausamkeit nicht an? darin aber eine höhere » Energie des religiösen Empfindens « zu erblicken, ist naiv, namentlich wenn man den Semiten in dieser Beziehung über den so tief religiösen und fabelhaft schöpferischen Ägypter stellt, und über den Indogermanen, dessen religiöse Litteratur bei weitem die grösste der Welt ist, und dessen » religiöses Empfinden « sich seit undenk - lichen Zeiten u. A. darin bekundet hat, dass Tausende und Millionen menschlicher Existenzen einzig und allein der Religion gewidmet und geopfert waren. Wenn der Brahmane in einem der ältesten Upanishads (mindestens 800 oder 1000 Jahre vor Christo)2)Vergl. Leopold von Schröder: Indiens Litteratur und Kultur (1887), 20. Vorlesung. lehrt: Das Einatmen und das Ausatmen beim Tage und auch im Schlafe solle der Mensch als ununterbrochenes Opfer an die Gottheit betrachten,3)Kaushîtaki-Upanishad II, 5. Deussen, die grösste lebende Autorität, giebt zu dieser Stelle folgende Glosse: der Brahmane will sagen, » nicht im äusseren Kultus soll die Religion bestehen, sondern darin, dass man das ganze Leben mit jedem Atemzuge in ihren Dienst stellt « (Sechzig Upanishad’s des Veda, S. 31). stellt das nicht die höchste » Energie des religiösen Empfindens « dar, wovon die Ge - schichte der Menschheit zu erzählen weiss? Und was soll das wieder heissen: der Semit ist Individualist? Soweit wir urteilen können, unterschied sich der Glaube, dort wo die Religion unter semitischen Einfluss geriet, dadurch vom indogermanischen (und vom ostasiatischen), dass er national wurde, dass das Individuum, ausser als Glied des Gemeinwesens, fast zu einer quantité négligeable zusammenschrumpfte (vgl. S. 247); und die pseudosemitischen Staaten haben ohne Ausnahme jegliche Freiheit des Individuums aufgehoben. Wahrer Individualismus scheint mir eher unter den Germanen daheim, als unter den semitischen Völkern; jedenfalls dürfte die Behauptung, » der Semit ist Individualist «, nur mit vielen einschränkenden Kautelen ausgesprochen werden. Viel tiefer geht der gründliche Christian Lassen, der mehr Seelen - als384Die Erben.Schädelkenner war. Trotzdem seine Beurteilung des Semiten aus den vierziger Jahren datiert, wo man die Halbsemiten von dem echten Stamm noch nicht deutlich zu unterscheiden gelernt hatte, greift seine Charakteristik Momente heraus, welche den intellektuellen Kern der semitischen Persönlichkeit blosslegen. Er schreibt: » Die Anschauungs - weise des Semiten ist subjektiv und egoistisch. Seine Poesie ist lyrisch, daher subjektiv, es spricht das Gemüt seine Freude und seinen Schmerz, seine Liebe und seinen Hass, seine Bewunderung und seine Verach - tung aus; das Epos, bei dem das Ich des Dichters vor dem Gegenstande zurücktritt, gelingt ihm nicht, noch weniger das Drama, welches eine noch vollständigere Abstreifung der eigenen Persönlich - keit bei dem Dichter erfordert. 1)Also doch Individualismus? Gewiss, doch in einem ganz anderen Sinne als beim Indogermanen. Beim Semiten steht, wie man diesen Ausführungen Lassen’s entnimmt, das Individuum sich selbst gewissermassen im Wege, daher sind seine wirklichen Leistungen nur kollektive, im Gegensatz zum Griechen zum Beispiel und zum Germanen, bei denen jedes Werk den Stempel einer bestimmten Persönlichkeit, eines Individuums trägt. Genau dieselbe Anschauung wie Lassen hegt auch Fr. von Schack: » Die ganze schaffende Thätigkeit der Araber trägt einen subjektiven Charakter. Überall sprechen sie vorzugsweise ihr Seelenleben aus, ziehen die Dinge der Aussenwelt in dasselbe hinein und zeigen wenig Neigung, der Wirklichkeit fest ins Auge zu sehen, um die Natur in scharfen und bestimmten Umrissen darzustellen, oder sich in die Individualität Anderer zu vertiefen und Menschen oder Lebensverhältnisse gegenständlich zu schildern. Hiernach mussten diejenigen Formen der Poesie, welche ein Heraustreten aus sich selbst und ge - staltende Kraft verlangen, ihnen am fernsten liegen « (Poesie und Kunst der Araber I, 99).Auch die Philosophie gehört den Semiten nicht; sie haben sich, und zwar nur die Araber, bei den Philosophen der Indogermanen eingemietet. Ihre Anschauungen und Vorstellungen beherrschen ihren Geist zu sehr, als dass sie sich zum Festhalten des reinen Gedankens richtig erheben und das Allgemeinere und Notwendige von ihrer eigenen Individualität und deren Zufällig - keiten trennen könnten. 2)Über Wissenschaft speziell schreibt Grau in seinem bekannten philo - semitischen Werke: Semiten und Indogermanen (2. Aufl., S. 33): » Die Hebräer, wie alle Semiten, sind viel zu subjektiv, als dass der reine Wissenstrieb eine Macht in ihnen werden könnte. Die Naturwissenschaft in dem objektiven Sinne, den sie bei den Indogermanen hat, mit welchem gegeben ist, dass die Natur nach ihrem eigenen Sinn und Wesen zur Geltung komme, der Mensch aber lediglich ihr Dolmetscher sei, kennen die Hebräer nicht «. S. 50 schreibt Grau: » den Semiten liegt alles Objektive fern «.In seiner Religion ist der Semit selbst - süchtig und ausschliessend; Jehovah ist nur der Gott der Hebräer, die385Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.ihn allein erkennen, alle anderen Götter sind absolut falsch und haben nicht den geringsten Anteil an der Wahrheit; wenn auch Allah nicht allein der Araber Gott sein will, sondern sich die ganze Welt unter - werfen soll, so ist sein Wesen ebenso egoistisch; auch er bestreitet jedem anderen Gott jedes Moment der Wahrheit und es hilft nichts, dass du den Allah anerkennst, du kannst ihm nur wahrhaft dienen in der ausschliesslichen Form, dass Muhammed sein Prophet ist. Ihrer Lehre nach mussten die Semiten intolerant und zum Fanatismus, wie zur starren Anhänglichkeit an ihr religiöses Gesetz geneigt sein. Die Toleranz tritt am deutlichsten bei den indogermanischen Völkern hervor; diese Toleranz entspringt aus einer grösseren Freiheit des Ge - dankens, der sich nicht an die Form ausschliesslich bindet. Die Eigenschaften des semitischen Geistes, das leidenschaftliche Gemüt, der hartnäckige Wille, der feste Glaube an ausschliessliche Berechtigung, das ganze egoistische Wesen musste seine Besitzer für grosse und kühne Thaten im höchsten Grade tüchtig machen. « 1)Indische Altertumskunde (ed. 1847), I, 414 416.Hier geht dann Lassen zu einer Betrachtung der pseudosemitischen Staaten über, von denen er meint, diese gross angelegten Gebilde seien alle daran zu Grunde gegangen, dass: » auch hier die unfügsame Willkür des starren selbst - süchtigen Willens störend eingriff. «2)Interessant und wichtig ist es, festzustellen, wie das Organ des Menschen - geistes, die Sprache, diesem besonderen semitischen Typus angepasst ist, und ihm als Ausdruck dient. Renan schreibt: » Ein Köcher voll stählerner Pfeile, ein fest gewundenes Ankertau, eine eherne Posaune, deren wenige, gellende Töne die Luft zerreisen: das ist die hebräische Sprache. Diese Sprache ist unfähig, einen philosophischen Gedanken, ein wissenschaftliches Ergebnis, einen Zweifel, oder auch die Empfindung des Unendlichen auszusprechen. Sie kann nur wenig sagen, doch was sie sagt, ist wie das Schlagen des Hammers auf den Amboss « (Israël, I, 102). Ist das nicht die Sprache des hartnäckigen Willens? Mit dieser Charakterisierung ist uns wirklich etwas gegeben, fast alles sogar; nur muss sie noch geschliffen und zugespitzt werden, soll sie als deutliche, allseitig durch - sichtige Vorstellung in unser Bewusstsein eindringen. Das will ich versuchen. Lassen zeigt uns den Willen als die vorherrschende Macht in der Seele des Semiten: das ist der Kern aller seiner Aus - führungen. Dieser Wille fördert, zugleich aber hemmt er. Er be - fähigt seinen Besitzer zu grossen und kühnen Thaten; er steht ihm im Wege überall wo der Geist zu höherer Bethätigung sich aufschwingt. Die Folge ist ein leidenschaftlicher, zu grossen Unternehmungen ge - neigter Charakter, gepaart mit einem Intellekt, welcher diesem An -Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 25386Die Erben.trieb keineswegs adäquat ist, da er vor dem Ungestüm des Willens niemals zur Entfaltung gelangen kann. In diesem Menschen steht der Wille obenan, dann kommt das Gemüt, zuunterst steht der Ver - stand. Lassen legt einen besonderen Nachdruck auf den Egoismus des Semiten, immer wieder kommt er darauf zurück; bei seiner Poesie, seiner Philosophie, seiner Religion, seiner Politik, überall erblickt er ein » egoistisches Wesen « am Werke. Das ist eine unausbleibliche Folge jener Hierarchie der Anlagen. Die Selbstsucht wurzelt im Willen; was sie vor Excessen bewahren kann, sind einzig die Gaben des Gemütes und des Verstandes ein warmes Herz, eine tiefe Er - kenntnis des Weltwesens, künstlerisch-schöpferisches Gestalten, der edle Wissensdurst. Doch, wie Lassen es andeutet, sobald der stürmische Wille mit seiner Eigensucht überwiegt, bleiben selbst schöne Anlagen verkümmert: die Religion entartet zum Fanatismus, das Denken ist Zauberei oder Willkür, die Kunst spricht nur die Liebe und den Hass des Augenblickes aus, sie ist Ausdruck, doch nicht Gestaltung, die Wissenschaft wird Industrie.

Dieser Semit wäre hiernach das rechte Gegenstück zum Hethiter: bei dem einen die schöne Harmonie eines allseitig massvoll entwickelten Wesens, zähe Beharrlichkeit des Willens vereint mit Klugheit und mit freundlicher Lebensauffassung, bei dem andern die Stimmung auf das Masslose, auf das Gewaltsame, ein Charakter mit gestörtem Gleichgewicht, in welchem die notwendigste und zugleich die ge - fährlichste Gabe des Menschen der Wille eine Ausbildung ins Ungeheuerliche erfahren hat. Wer nicht glaubt, dass die sogenannten » Rassen « fertig vom Himmel gefallen sind, wer mit mir sich weigert, dem Wahngebild angeblicher Uranfänge Beachtung zu schenken (da das Werden nur eine Erscheinung des Seins ist, nicht umgekehrt), wird vielleicht vermuten, diese beispiellose Entwickelung der einen Fähigkeit bei entsprechender Verkümmerung der anderen sei das Werk eines vieltausendjährigen Lebens in der Wüste, wo der Intellekt ohne jegliche Nahrung blieb, das Gemüt sich nur auf einen engen Kreis erstrecken konnte, der Wille dagegen der Wille dieses gänz - lich auf sich selbst gestellten, dieses inmitten des ununterbrochenen Schweigens der Natur dennoch Tag und Nacht von Feind und Ge - fahr umgebenen Individuums alle Säfte des Leibes erheischen, alle Kräfte des Geistes ununterbrochen auf das Äusserste spannen musste. Sei dem wie ihm wolle, jedenfalls schliesst ein solcher Charakter die Möglichkeit wahrer Grösse ein. Die Überschwänglichkeit, die wir bei387Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.den Hethitern vermissten, ist hier gegeben. Und zwar sind wir jetzt, wo wir die Analyse bis ins Innere fortgesetzt haben, im Stande, den Finger auf den Punkt zu legen, wo hier einzig Grösse zu erwarten ist: offenbar doch einzig auf dem Gebiete des Willens und bei allen jenen Leistungen, die aus einem Vorwalten des Willens über andere Fähigkeiten erfolgen können. Jener Ibn Khaldun, welcher behauptet, der Semit » habe nicht die geringste Fähigkeit, etwas Dauerhaftes zu gründen «, lobt als unvergleichlich die Einfachheit seiner Bedürfnisse (Mangel an Phantasie), den Instinkt, der ihn eng an die Seinen bindet, von Anderen ihn scheidend (verkümmertes Gemüt), die Leichtigkeit, mit der er sich von einem Propheten in das Delirium der Be - geisterung hinreissen lässt, in tiefster Demut dem göttlichen Gebote gehorchend (schlechte Urteilsfähigkeit infolge der Unentwickeltheit der Vernunft). Ich habe in diesem Satze zu jeder Behauptung Ibn Khaldun’s meinen Kommentar gemacht, doch nur um zu zeigen, dass eine jede der genannten Eigenschaften Bedürfnislosigkeit, Familien - sinn, Gottesglaube in diesem Falle einen Triumph des Willens bedeutet, nicht etwa, um den Wert der Genügsamkeit, der Treue gegen die Seinen und des Gehorsams gegen Gott herabzusetzen. Es kommt aber darauf an, zu unterscheiden das ist sogar überhaupt das wichtigste Geschäft des Denkens , und um recht zu verstehen, was ein echter Semit ist, muss man einsehen lernen: dass die Be - dürfnislosigkeit eines Omar, für den nichts auf der Welt Interesse bietet, nicht dieselbe ist, wie die eines Immanuel Kant, der nur darum keine äusserlichen Gaben begehrt, weil sein allumfassender Geist die ganze Welt besitzt; dass die Treue gegen das eigene Blut etwas durchaus anderes ist, als z. B. die Treue jener Amoriter gegen den selbstgewählten Herrn das eine ist lediglich eine instinktmässige Er - weiterung des egoistischen Willenskreises, das andere ist eine freie Selbstbestimmung des Individuums, eine Art gelebte Dichtung; vor allem muss man, oder vielmehr müsste man (denn ich darf nicht hoffen, es zu erleben) zwischen einem rasenden Gottesglauben und wahrer Religion unterscheiden lernen, und auch Monolatrie mit Monotheismus nicht verwechseln. Das hindert durchaus nicht, die spezifisch semitische Grösse anzuerkennen. Mag der Mohammedanismus auch die schlechteste aller Religionen sein, wie sie Schopenhauer ge - nannt hat, wen durchschauerte es nicht mit fast unheimlicher Be - wunderung, wenn er einen Mohammedaner in den Tod gehen sieht, so gelassen, als ginge er spazieren? Und diese Macht des semitischen25 *388Die Erben.Willens ist so gross, dass sie sich, wie im genannten Falle, Völkern aufzwingt, die nicht einen Tropfen arabischen Blutes in den Adern haben. Durch die Berührung dieses Willens wird der Mensch um - gewandelt; es liegt in ihm eine derartige Suggestionskraft, dass sie uns fasciniert wie das Auge der Schlange und wir auf ihr Gebot, wie der Vogel, das Singen und das Fliegen plötzlich verlernen. Und so wurde denn der Semit eine Macht ersten Ranges in der Weltgeschichte. Gleich einer blinden Naturkraft denn der Wille ist blind stürzte er sich auf andere Völker; er verschwand in ihnen, sie nahmen ihn auf; man sah wohl, was diese Völker ihm gegeben hatten, doch nicht was er ihnen; denn was er gegeben, besass keine Physiognomie, keine Gestalt, es war nur Wille: eine erhöhte Energie (was oft zu grossen Leistungen anregte), eine schwer zu beherrschende Erregbarkeit und einen unstillbaren Durst nach Besitz (was oft den Untergang herbei - führte), kurz, eine bestimmte Willensrichtung; überall wo er sich nieder - liess, hatte der Semit zunächst nur das Vorhandene angenommen und sich assimiliert, den Charakter der Völker hatte er aber ge - ändert.

Homo judaeus.
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Wie flüchtig dieser Versuch, einige unterscheidende Merkmale der Hethiter, der Amoriter und der Semiten scharf zu beleuchten, auch sein mag, ich glaube doch, dass er zu einer vernünftigen wahr - heitsgemässen Erkenntnis des israelitischen und jüdischen Charakters beitragen wird. An ein derartiges Beginnen darf man überhaupt nur mit Bescheidenheit und voller Entsagung gehen. Jedenfalls werden deutliche Bilder von lebendigen Menschen und ihren Thaten uns zu einer farbenreicheren Vorstellung verhelfen als Zahlen, und Zahlen sind schon besser als Phrasen. Mit jedem Schritt müssen wir aber behutsamer werden, und blicken wir jetzt auf jene Zahlen zurück, so werden wir nicht geneigt sein, den Israeliten nach Prozent - sätzen aus Semiten, Amoritern und Hethitern zu » konstruieren «, etwa wie die Hausfrau eine Mehlspeise nach einem Rezept macht; das wäre Kinderei. Dennoch rückt durch jene Betrachtung Manches unserem Verstande menschlich näher. Was z. B. unlösbarer Wider - spruch in einem Nationalcharakter ist und an solchen Widersprüchen ist das jüdische Volk reicher als irgend ein anderes wirkt zunächst verwirrend, oft geradezu beunruhigend; doch verliert sich dieser Ein - druck, wenn wir die organische Ursache des Widerspruchs kennen. So z. B. leuchtet es ohne Weiteres ein, wie so aus der Vermengung von Hebräern und Hethitern widerspruchsvolle Tendenzen erfolgen389Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.mussten; denn indem die Hebräer sich den Hethitern physisch auf - pfropften, wurde ihnen, den Hebräern, eine Kultur aufgepfropft, die ihnen moralisch und intellektuell nicht angehörte, die nicht organisch aus ihrer eigenen Not, aus der erfinderischen Fülle ihres eigenen Geistes hervorgegangen war; es war Besitzergreifung im Gegensatz zu organischer Angehörigkeit. Zwar erwarben sich die Hebräer einen wirklichen Be - sitztitel an dieser Kultur, indem sie das Blut des schöpferischen Hethiter - volkes in das ihre aufnahmen und Israeliten wurden; doch gerade hierdurch war fortan Gegensatz und innerer Zwist gegeben: die zwei Typen waren zu grundverschieden, um ganz ineinander aufgehen zu können, was besonders deutlich in dem bald hervortretenden Gegen - satz zwischen Juda und Israel sich kund that; im Norden nämlich prädominierte der syrische Mensch und war die Vermischung eine viel gründlichere und schnellere gewesen,1)Die Hethiter waren im Norden zahlreicher, die Amoriter im Süden (siehe Sayce: Hittites, p. 13 und 17). im Süden dagegen wogen die Amoriter vor und fand eine fast unaufhörliche Einsickerung echten semitischen Blutes aus Arabien statt. Was hier zwischen Stamm und Stamm sich ereignete, wiederholte sich innerhalb des engeren Ver - bandes: so lange Jerusalem stand, sehen wir ununterbrochen die matt - gläubigen weltsüchtigen Elemente ausscheiden, sie flüchten förmlich aus der Heimat des strengen Gesetzes und des schmucklosen Lebens. Dasselbe Phänomen währt heute noch, nur nicht so sichtbar. Ich glaube nicht, dass es Künstelei ist, wenn wir hierin den dauernden Einfluss, einerseits des Homo syriacus, anderseits des Homo arabicus erblicken.

Andere Betrachtungen dieser Art über die Beiträge der ver - schiedenen Typen zu der Bildung dieser besonderen Menschenrasse überlasse ich dem Leser und wende mich gleich dem wichtigsten Punkt zu dem Einfluss des semitischen Geistes auf die Religion. Offenbar ist das die Kernfrage, um die Entstehung des Judentums und dessen Charakter zu verstehen; und während die besondere Befähigung für Geschäfte vielleicht eher ein hethitisches als ein semitisches Erbstück ist, dürfte in religiöser Hinsicht das semitische Element stark vorwiegen. 2)Einen Beweis bezüglich des Geschäftlichen liefern uns die Armenier, in deren Adern das » alarodische « d. h. syrische Blut in bedeutend stärkerem Prozent - satz fliesst (etwa 80% nach |einer brieflichen Mitteilung des Herrn Professor Hueppe), sonst aber nur indoeuropäisches, phrygisches, nicht semitisches, und die ausserIch behandle diesen Gegenstand lieber390Die Erben.gleich hier und von dem allgemeinen Standpunkte aus, als später, wo die jüdische Religion als besondere Erscheinung uns beschäftigen wird; denn der weitere Horizont wird einen weiteren Überblick gestatten, und, fragen wir uns, wie wirkt überall und notwendiger Weise auf das religiöse Empfinden der Völker der besondere semitische Geist, dessen Wesen wir nunmehr in der Vorherrschaft des Willens erkannt haben, so wird die Antwort uns sowohl über den vorliegenden Fall Aufschluss geben, wie auch zugleich unsere weitere Aufgabe im Ver - lauf dieses ganzen Werkes ungemein erleichtern. Denn es handelt sich um eine noch heute in unserer Mitte wirkende Kraft, die ver - mutlich noch in künftigen, fernen Jahrhunderten ihren Einfluss geltend machen wird und die wir durch die alleinige Betrachtung des be - schränkten, spezifischen Judentums nicht ergründen können.

2)der charakteristischen » Judennase «, jenes hethitischen Erbstückes die selbe Hab - gier, die selbe geschäftliche Schlauheit und die selbe leidenschaftliche Vorliebe für Wucher wie die Juden an den Tag legen, nur alles in noch stärkerem Grade, so dass man in der Levante zu sagen pflegt: ein Armenier wiegt drei Juden auf. Interessante Mitteilungen über den Charakter der Armenier, namentlich auch über ihr Genie für das Intriguieren und Aufwiegeln, findet man aus neuester Zeit in David Hogarth: A wandering scholar in the Levant (1896 p. 147 fg.). Allerdings schildert Burckhardt in seinem berühmten Buche Ueber die Beduinen und Wa - haby (Weimar 1831) die echten Semiten ebenfalls als arge, überschlaue Geschäfts - leute: » In ihren Privatkäufen betrügen die Araber einander, so viel es nur immer gehen will «, sagt er; » auch Wucher treiben sie, wo es nur immer Gelegenheit dazu giebt « (S. 149, 154). Doch hat Burckhardt, als er noch weitere Jahre bei den Beduinen gelebt hatte, sein Urteil dahin präcisiert, dass zwar die » Gier nach Gewinn « einen Hauptzug ihres Charakters ausmache, doch die Neigung zum Be - trug erst durch die Berührung mit den Städten und der dort ansässigen Gauner - bevölkerung entstehe (S. 292). Wer lügt, hat bei ihnen die Ehre verloren (S. 296), und Burckhardt darf behaupten: » mit allen ihren Fehlern sind die Beduinen eine der edelsten Nationen, mit welchen ich je bekannt zu werden Gelegenheit hatte « (288). In Bezug auf diese nicht unwichtige Frage sind die neuesten Erfahrungen der Franzosen in Algier von Interesse: die Kabylen kehren gern zur Civilisation zurück, wogegen die rein arabischen Stämme für sie wenig empfänglich sind und von der Welt Freiheit fordern, weiter nichts; sie erweisen sich als ein durch und durch antikulturelles Element. Schenken ist ihnen lieber als Verkaufen, Rauben lieber als Erfeilschen, jedem Gesetz ziehen sie die Ungebundenheit vor. In allen diesen Dingen ist der Kontrast zu den Hethitern, wie sie in der Ge - schichte uns entgegentreten, sehr auffallend. Der masslose Wille des Semiten, jene Gier nach Gewinn, von welcher Burckhardt spricht, wird die syrische Anlage für kaufmännische Geschäfte sehr verschärft haben, nichtsdestoweniger scheint diese Anlage selbst ein syrisches, nicht ein semitisches Erbstück zu sein.

391Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.

Ich sagte, der Semit habe den Charakter der Völker geändert. Exkurs über semitische Religion.Die Veränderung des Charakters zeigt sich am deutlichsten auf dem Gebiete der Religion. Fällt es uns sonst schwer, die Beteiligung des spezifisch semitischen Geistes in den Mischvölkern herauszulösen, so sehen wir ihn hier unverkennbar deutlich am Werke; denn hier dehnt sich sein tyrannischer Wille zu kosmischen Dimensionen aus und ver - wandelt die ganze Auffassung von » Religion «. Schopenhauer sagt einmal: » Religion ist die Metaphysik des Volkes «; nun denke man sich, wie die Religion von Menschen aussehen mag, für die der absolute Mangel an jeder metaphysischen Regung, an jeder philo - sophischen Anlage ein grundlegendes Kennzeichen ist! 1)Renan, Histoire des langues sémitiques, p. 18: » L’abstraction est inconnue dans les langues sémitiques, la métaphysique impossible. «Dieser eine Satz enthüllt die tiefe Gegensätzlichkeit zwischen Semit und Indo - europäer. Es wäre unerklärlich, wie man im Semiten den religiösen Menschen katexochen erblicken kann, wenn wir nicht noch heute im dichten Nebel historisch ererbter Vorurteile und Aberglauben lebten; sicher ist jedenfalls, dass, wo semitischer Einfluss hindrang, die Auf - fassung dessen, was Religion ist, eine gänzliche Umwandlung erlitt. 2)Siehe S. 220 u. fg.Denn überall sonst auf der ganzen Welt, selbst bei den wilden Völkern, ist die Religion mit Geheimnisvollem durchwebt. Plato meint, die Seele werde im Jenseits » in ein Geheimnis geweiht, welches man wohl das allerseligste nennen könne «;3)Phaidros 250. Jesus Christus sagt von der Lehre, welche seine ganze Religion einbegreift, sie sei » ein Geheimnis «. 4)Siehe S. 199.Was hier den höchsten Ausdruck fand, treffen wir aber auf allen Stufen der menschlichen Hierarchie an, mit Ausnahme der semitischen. Schopenhauer nennt das, von seinem Standpunkt als Philosophen aus, » Metaphysik «; wir dürfen, glaube ich, einfach sagen, dass der Mensch überall auf unlösbare Widersprüche stösst (Widersprüche im Gemüts - leben ebenso wie im Denken); dadurch aufmerksam gemacht, ahnt er, dass sein Verstand nur einem Bruchteil des Seins adäquat ist, er ahnt, dass das, was seine fünf Sinne ihm vermitteln und was seine kom - binierende Logik daraus konstruiert, weder das Wesen der Welt ausser ihm, noch sein eigenes Wesen erschöpfe. Er errät neben dem wahr - nehmbaren Kosmos einen unwahrnehmbaren, neben dem denkbaren392Die Erben.einen undenkbaren, die einfache Welt erweitert sich zum » Doppelreich «. 1)Faust, zweiter Teil, 1. Akt, Faustens letzte Worte.Schon der Anblick des Todes weist ihn auf eine unbekannte Welt, und die Geburt mutet ihn an wie eine Botschaft aus demselben Reiche. Auf Schritt und Tritt begegnen wir nur » Wundern «; das grösste sind wir uns selber. Wie naiv der Wilde sich wundert und überall ein Ausserweltliches vermutet, ist von vielen Reisenden geschildert worden und daher allbekannt; von Goethe andrerseits, vielleicht dem feinst organisierten Gehirn, welches die Menschheit bisher hervorbrachte, sagt Carlyle: » vor seinem Auge liegt die ganze Welt ausgebreitet, durchsichtig, als wäre sie zu Glas zerschmolzen, doch allseitig um - geben vom Wunder, alles Natürliche in Wahrheit ein Übernatür - liches «;2)In dem Aufsatz Goethe’s Works, gegen Schluss. und Voltaire, der angebliche Spötter, beschliesst seine natur - wissenschaftlichen Untersuchungen mit den Worten: » Pour peu qu’on creuse, on trouve un abîme infini. « So reichen sich die Menschen die Hände von der untersten Stufe bis zur obersten: die lebendige Empfindung eines grossen Weltgeheimnisses, die Ahnung, dass das Natürliche » übernatürlich « sei, ist Allen gemeinsam, sie vereinigt den Australneger mit einem Newton und einem Goethe. Einzig der Semit steht abseits. Von dem Wüstenaraber sagt Renan: » Kein Mensch der Welt ist der Mystik so wenig zugänglich wie dieser, kein Mensch so wenig zur Betrachtung und zur Andacht gestimmt. Gott ist Schöpfer der Welt, er hat sie gemacht, das genügt ihm als Erklärung «. 3)L’islamisme et la science, p. 380. Hier liegt offenbar ein geistiges Manco vor, was auch Renan an anderer Stelle zugiebt, wo er berichtet: » Den semi - tischen Völkern geht die fragende Wissbegierde fast gänzlich ab; nichts erregt bei ihnen Staunen « (Langues sémitiques, p. 10). Nach Hume (Human Under - standing 4, 7) ist das Fehlen des Staunens das charakteristische Merkmal geringer intellektueller Begabung.Es ist dies der pure Materialismus im Gegensatz zu dem, was andere Menschen Religion nennen und worunter sie alle ein Unausdenkbares, Unaussprechbares verstehen. So rühmt denn auch Montefiore von der Religion seiner Väter, in welcher semitischer Religionsdrang seine höchste, durchgebildetste Form gefunden hat: sie enthalte nichts eso - terisches, nicht die geringste innere Unbegreiflichkeit; daher komme es, dass diese Religion, die weder Aberglauben noch Geheimnis kenne, die Lehrmeisterin der Völker geworden sei. 4)Vergl. Religion of the ancient Hebrews, p. 160.Derselbe jüdische Autor wird nicht müde, voll Bewunderung hervorzuheben, die Semiten hätten393Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.nie etwas von Sündenfall, von Rechtfertigung durch den Glauben, von Erlösung, von Gnade gewusst;1)A. a. O., namentlich S. 514, 524 und 544, aber auch an vielen anderen Orten. womit er jedoch nur zeigt, dass sie das, was die übrige Welt Religion nennt, kaum ahnen. In Dr. Ludwig Philippson’s Israelitischer Religionslehre (Leipzig 1861), einer orthodox jüdischen, » der Zukunft der israelitischen Religion « gewidmeten Dar - stellung, wird als eines der drei » unterscheidenden Merkmale « dieser Religion der Satz hingestellt: » Die israelitische Religion hat und kennt keine Geheimnisse, keine Mysterien « (I, 34). Ebenso gesteht einmal Renan in einer Anwandlung rücksichtsloser Aufrichtigkeit: » Der semi - tische Gottesglaube (Monotheismus) ist in Wirklichkeit die Frucht einer Menschenrasse, deren religiöse Bedürfnisse sehr gering sind. Er be - deutet ein Minimum an Religion «. 2)Nouvelles considérations sur les peuples sémitiques, (Journal Asiatique 1859, p. 254). Auch Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 33, bezeugt, der echte Semit habe » wenig Religion «.Ein grosses, wahres Wort, welches nur darum seine Wirkung verfehlte, weil Renan nicht zeigte, wieso und inwiefern und aus welchem zwingenden Grund der wegen der Glut seines Glaubens berühmte Semit dennoch nur ein Minimum an wahrer Religion besitzt. Die Erklärung liegt offen vor uns: wo Verstand und Phantasie vom blinden Willen unterjocht sind, da kann, da darf es kein Wunder geben, nichts Unerreichbares, keinen » Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende «,3)Oder wie die Brihadâranyaka Upanishad dieselbe Vorstellung wieder - giebt: » die Wegspur des Weltalls, der man nachzugehen hat, um aus dem Tei ins ganze Weltall zu gelangen «. (1, 4, 7.) nichts, was die Hand nicht ergreifen und der Augenblick (sei es auch nur als klar vorstellbare Hoffnung) nicht besitzen kann. Selbst ein so hoher Geist wie Deuterojesaia betrachtet den religiösen Glauben als etwas, was auf empirischer Grundlage ruhe und durch ein gewissermassen gericht - liches Verfahren geprüft werden könne: » Lasst die Heiden Zeugen stellen und beweisen, so wird man es hören und sagen: es ist die Wahrheit « (XLIII, 9). Genau dasselbe lesen wir in der zweiten Sura des Koran: » Rufet eure Zeugen, wenn ihr wahr sprechet «. Der oben angeführte heutige jüdische Religionslehrer, Philippson, legt ausführlich auseinander, der Jude glaube einzig und allein das, was er mit Augen gesehen habe, ein » blinder Glaube « sei ihm unbekannt, und in einer langen Anmerkung führt er sämtliche Stellen der Bibel an, in welchen von » Glauben an Gott « die Rede ist, und behauptet,394Die Erben.dieser Ausdruck komme ausnahmslos nur dort vor, wo » von vorauf - gegangenen sichtbaren Erweisen gehandelt ist «. 1)Philippson: Israelitische Religionslehre I, 35 fg.Immer also handelt es sich um äussere Erfahrung, nicht um innere; immer sind die Vor - stellungen durchaus konkrete, materielle; wie Montefiore uns versichert, selbst in der ausgebildeten jüdischen Religion giebt es nichts, was nicht der dümmste Mensch sofort verstünde und bis auf den Boden ausdenken könnte; sobald Einer ein Mysterium ahnt, sobald er z. B. in der Schöpfungsgeschichte Symbolik vermutet, ist er ein Ketzer und ver - fällt dem Henker;2)Siehe z. B. in Graetz: Gnosticismus und Judentum, den Abschnitt über Ben Soma. selbst die möglichst materialisierte Schöpfungs - geschichte des Buches Genesis ist ein so offenbar fremdes, entlehntes Gut, dass sie inmitten der israelitischen Tradition vollkommen isoliert und ohne wirkliche Beziehung auf sie bleibt. 3)Ausführlich behandelt von Renan: Langues sémitiques, p. 482 suiv., siehe auch die Anmerkung auf S. 485, und mein Citat aus Darmesteter S. 399, Anm. 2.Der Wille führt eben den Verstand und die Phantasie an kurzen Ketten. Daher schlägt der ungläubig gewordene Semit sofort in den Atheisten um; ein Geheimnis, ein Mysterium gab es ja ohnehin nicht: ist nicht Allah der Schöpfer, so ist es die Materie; als Welterklärung ist zwischen beiden Annahmen kaum der Schatten eines Unterschiedes, denn bei keiner von beiden fühlt sich der Semit in Gegenwart eines unlösbaren Rätsels, eines übermenschlichen Geheimnisses.

Wollen wir aber den Einfluss semitischen Wesens auf die Re - ligion überblicken, so dürfen wir nicht bloss von Verstehen und Nicht - verstehen, von der Empfindung und der Nichtempfindung des Geheim - nisses reden; des gestaltenden Einflusses der Phantasie, jener » allver - schwisternden Himmelsgenossin « (wie Novalis sie nennt) muss eben - falls gedacht werden. Die Phantasie ist die Magd der Religion, sie ist die grosse Vermittlerin; geboren, wie Shakespeare sagt, aus der Ehe des Kopfes und des Herzens, bewegt sie sich auf der Grenze des Goetheschen » Doppelreiches « und setzt somit die eine Hälfte mit der andern in Verbindung: ihre Gestalten bedeuten mehr als das blosse Auge daran erblickt, ihre Worte künden mehr als das blosse Ohr vernimmt. Sie vermag es nicht, das Unerschlossene zu erschliessen, doch stellt sie die Maja vor uns hin und überzeugt unsere Augen, dass ihr Schleier nicht gelüftet werden kann. Die Symbolik, als not - wendige Sprache des unaussprechbaren Weltgeheimnisses, ist ihr Werk;395Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Plato nennt diese Sprache ein Schwimmbrett, das uns den Lebens - strom hinunterträgt; sie ist ebenso allgemein verbreitet, wie die Em - pfindung dieses Geheimnisses, ihr Vokabularium so verschieden wie die Kulturstufen und die Himmelsstriche. So z. B. haben die Samoaner das unergründliche und doch von ihnen, wie man sieht, so unmittelbar empfundene Mysterium der Allgegenwart Gottes sich folgendermassen versinnbildlicht. Sie stellen sich den Körper ihres Gottes Saveasiuleo als aus zwei trennbaren Teilen bestehend vor; der obere, menschlich gestaltete Teil (der eigentliche Gott) verweilt im » Hause der Geister «, bei den Verstorbenen, der untere Teil ist ein ungeheuer langes, see - schlangenartiges Gebilde, das sich um alle Inseln des grossen Meeres schlingt, aufmerksam auf das, was die Menschen thun. 1)E. B. Tylor: Die Anfänge der Kultur, deutsch von Spengel und Poske, 1873, II, 309.Freilich ist es ein weiter Weg von einer verhältnismässig so rohen Phantasie bis zu der christlich-theologischen Vorstellung von der Allgegenwart Gottes, und noch weiter liegt sie von dem transcendentalen Idealismus, der einem Çankara zur Vorstellung desselben Geheimnisses dient, doch kann ich einen prinzipiellen Unterschied nicht erblicken. Ausserdem sehen wir an anderen Beispielen, wie diese Betätigung der Imagination bei religiösen Vorstellungen überall nach und nach zu sehr geklärten Ideen führt. Tylor, dieser so vorsichtige, zuverlässige Gelehrte, be - hauptet, dass es wahrscheinlich auf dem ganzen afrikanischen Kontinent, von den Hottentotten bis zu den Berbern, keinen Stamm gäbe, der nicht an eine oberste Gottheit glaube, und er zeigt, wie diese Auf - fassung aus dem einfachen Animismus sich allmählich herausbilde. Doch finden es die meisten, so z. B. die Neger der Goldküste, un - würdig, den grossen Weltgeist mit den geringfügigen irdischen An - gelegenheiten beschäftigt zu denken; nur selten, meinen sie, greife er in diese ein. Ein anderer Stamm, der der Yorubas (auf einer merklich höheren Kulturstufe stehende Neger von der Sklavenküste) lehrt: Nie - mand kann sich Gott direkt nähern, sondern der Allmächtige selbst hat Fürsprecher und Mittler zwischen ihm und dem Menschengeschlechte eingesetzt. Gott bringt man keine Opfer dar, weil er nichts bedarf, dagegen die Mittler, die den Menschen sehr ähnlich sind, werden durch Geschenke an Schafen, Tauben und anderen Dingen erfreut. 2)Tylor: a. a. O. S. 348, 349.Das dünkt mich schon eine recht hochgeartete » Volksmetaphysik «, eine Religion, die Achtung verdient. Andererseits wissen wir, wie396Die Erben.die reichste Mythologie der Welt, die der indischen Arier, schon in den urältesten Hymnen (vor der Einwanderung nach Indien) lehrte: » die vielen Götter sind ein einziges Wesen, das unter verschiedenen Namen verehrt wird «,1)Rigveda I, 164, 46 (citiert nach Barth: Religions de l’Inde, p. 23). und wie diese Mythologie später zur erhabensten Vor - stellung des Eingottes im Brahman führte, überhaupt zu einer unendlich erhabenen, wenn auch einseitigen und darum unterlegenen Religion. Wir wissen, wie aus der gemeinsamen Wurzel jener ewig blühende Garten des hellenischen Olymps hervorwuchs, sowie jene bewunderungs - würdige Sittenlehre des Avesta und des Zoroaster, und wir wissen, wie alle diese Dinge, vereint mit den daran geknüpften metaphysischen Spekulationen und mit der stets weiter gestaltenden Not unseres an - geborenen schöpferischen Triebes, das Christentum vor dem Schicksal retteten, ein blosser Annex des Judentums zu werden, wie sie ihm mythischen (d. h. unerschöpflichen) Inhalt und Augenzauber verliehen, wie sie es mit den tiefsten Symbolen indoeuropäischen Sinnens ver - quickten und zu einem geheiligten Gefäss für die Geheimnisse des Menschenherzens und des Menschenhirns gestalteten, zu einem » Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende «, zu einer » Wegspur des Weltalls «. 2)Über die Mythologie im Christentum, siehe Kap. 7.Über die Bedeutung der Phantasie für die Religion kann demnach kein Zweifel bestehen. Sollen wir nun sagen, der Semit besitze gar keine Phantasie? Alle solche absolute Behauptungen sind falsch; zwingt auch die notwendige Kürze des geschriebenen Gedankens häufig zu dieser Form, so darf wohl vorausgesetzt werden, dass der Leser die nötige Korrektur automatisch ausführt. Der Semit ist ein Mensch wie andere; es handelt sich lediglich um Gradunterschiede, die aber allerdings in diesem Falle, dank dem extremen Charakter dieses menschlichen Typus, der Grenze des absoluten Ja und Nein, des Sein oder Nichtsein nahekommen. Alle, die überhaupt das Recht haben, mitzureden, bezeugen nämlich einstimmig, dass der Mangel an Phantasie, oder sagen wir, die Armut der Phantasie, ein Grundzug des Semiten sei. Ich habe schon wichtige Belege gebracht, z. B. die Ausführungen Lassen’s, und könnte noch zahllose bringen, doch die Frage verdient keine Diskussion mehr: der Mohammedanismus und das Judentum sind genügende Beweise; was man uns vom Beduinen erzählt,3)Siehe S. 404. zeigt uns nur den Ursprung dieser Armut. Wie Renan sehr glücklich sagt: » le sémite a l’imagination comprimante «, d. h.,397Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.seine Phantasie wirkt beengend, einschnürend, verschmächtigend; ein grosser Gedanke, ein tief symbolisches Bild kommt klein und dünn, » plattgeschlagen «, der weithin reichenden Bedeutung beraubt, aus seinem Gehirn wieder heraus. » Unter den Händen der Semiten wurden die Mythologien, die sie fremden Völkern entlehnten, zu flachen historischen Berichten. « 1)Renan: Israël I, 49, 77, 78.» Die Entfärbung der Mythen ist gleichbedeutend mit ihrer Hebraisierung «, sagt Wellhausen. 2)Prolegomena, S. 321.Und nicht allein besassen die Semiten wenig schöpferische Phantasie, sondern sie unterdrückten systematisch jede derartige Regung. Ebenso wie der Mensch nicht denken, nicht sich wundern soll, ebenso soll er sich auch nichts vorstellen. Jeglicher Versuch, sich Übermenschliches vorzustellen, ist Götzendienst; der Saveasiuleo der Samoaner ist ein Götze, die Sixtinische Madonna Raffael’s ein Götze, das Symbol des Kreuzes ein Götze. 3)Dass das Kreuz den Götzen des Heidentums gleich zu achten sei, sagt Prof. Graetz ausdrücklich: Volkst. Geschichte der Juden II, 218.Ich werde hier nicht wiederholen, was ich in einem früheren Kapitel über diesen besonderen Gegenstand vorgebracht habe, ich bitte aber es nachzulesen. 4)Siehe S. 230.Dort habe ich versucht klar zu machen, warum der Semit diese Auffassung besitzen musste, wie die Glut und die besondere Art seines aus dem Willen entsprungenen Glaubens sie ihm aufzwang; ich wies auch darauf hin, wie der Semit überall, wo er diesem Gesetz seiner Natur trotzte (wie in Phönicien) der gräulichste Götzenanbeter selber wurde und vielleicht der einzige echte Götzenanbeter, von dem die Menschheit zu erzählen weiss. Denn während der Inder die Verneinung des Willens, Christus dessen » Umkehr « lehrte, ist für den Semiten ganz im Gegenteil Religion die Deification seines Willens, dessen glühendste, massloseste, rasendste Behauptung. Hätte er nicht diesen Glauben, der ihn zum Prota - gonisten der fanatischen Intoleranz und zugleich zum Muster aller Märtyrer macht, er hätte gar keine Religion, fast gar keine; daher die ewig wiederkehrende Mahnung seiner Gesetzgeber gegen » ge - gossene Götter «.

Aus diesen Ausführungen ergiebt sich zunächst Folgendes: der Semit verbannt aus der Religion das gedankenvolle Verwundern, jedes Gefühl eines übermenschlichen Geheimnisses, er verbannt eben - falls die schöpferische Phantasie; von beiden duldet er nur das398Die Erben.durchaus unentbehrliche Minimum, jenes » Minimum an Religion «, von dem Renan sprach. Wo also semitischer Einfluss sich geltend macht, sei es durch physische Vermengung (wie bei den Juden), sei es durch die blosse Macht der Idee (wie im Christentum), werden wir diesen beiden charakteristischen Bestrebungen begegnen. Beide kann man in einem einzigen Wort zusammenfassen: Materialismus. Einer der gewaltigsten Denker, die je gelebt, dessen Denken ausserdem eine symbolische Plastizität besass, die beispiellos, selbst von Plato un - erreicht dasteht, so dass seine Weltanschauung in mancher Beziehung mit Religion verwandt erscheint, Schopenhauer, hat als Metaphysiker den Satz aufgestellt: » die Materie ist die blosse Sichtbarkeit des Willens .... was in der Erscheinung, d. h. für die Vorstellung, Materie ist, das ist an sich selbst Wille. « 1)Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band, 2. Buch, Kap. 24. In gar keinem Zusammenhang hiermit, doch immerhin interessant als eine Widerspiegelung derselben Erkenntnis, ist die Lehre der Sâmkhya-Philosophie (des rationalistischen Systems der brahmanischen Inder), wonach das Wollen keine geistige, sondern eine physische Funktion sei! (vergl. Garbe: Die Sâmkhya-Philosophie, S. 251).Ich will hier keine Metaphysik treiben, auch nicht Schopenhauer’s spekulative Symbolik vertreten; auffallend aber ist es, wie auf dem Gebiete der rein empirischen Psychologie ein analoges Verhältnis sich unentrinnbar behauptet. Wo der Wille den fragenden Verstand und das phantasie - reiche Gemüt geknechtet hat, da kann es keine andere Lebens - anschauung und keine andere Weltanschauung geben, als die materialistische. Ich gebrauche das Wort nicht in einem weg - werfenden Sinne, ich leugne nicht die Vorteile des Materialismus, ich bestreite nicht, dass er mit Moral vereinbar sei: ich konstatiere einfach eine Thatsache. Unverfälschter Materialismus ist die religiöse Lehre des Arabers Mohammed, ebensowohl die augenblicklichen Vorgänge der Offenbarungen Gottes an ihn, wie sein Paradies mit Essen und Trinken und schönen Houris; unverfälschter Materialismus ist der Kontrakt, den Jakob mit Jahve (nach Gen. XXVIII 20 22) eingeht, in welchem Jakob fünf Bedingungen, oder, wie der Jurist sagen würde, Stipulationen festsetzt und dann schliesst: so du das thust, sollst du mein Gott sein. Die ganze Schöpfungsgeschichte der Genesis die in ähnlicher Fassung alle Hebräer, und, wie es scheint, alle syrischen Semiten, sowie auch die babylonischen besassen 2)Vergl. die Berichte von Sanchuniathon und Berosus. ist reiner Materialismus; sie war es ursprünglich nicht, sondern war399Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.die mythisch-symbolische Vorstellung eines mit Phantasie begabten Volkes (vermutlich der Sumero-Akkadier), doch, wie Renan uns soeben belehrte, der Mythus wird unter den Händen der Semiten zu historischer Chronik. 1)Von der hervorragenden Phantasie der Sumero-Akkadier zeugen ihre wissenschaftlichen Leistungen, ausserdem soll aber ihre Sprache auf eine ganz besondere Neigung zur Abstraktion schliessen lassen, denn sie ist reicher an abstrakten Begriffen als an nomina concreta (siehe Delitzsch: Die Entstehung des ältesten Schriftsystems 1898, S. 118). Ein direkterer Gegensatz zur semitischen An - lage ist undenkbar; man stellt sich leicht vor, welche Verballhornung die sumerischen Theorien der Schöpfung unter israelitischen Händen mögen erlitten haben.Von all den tiefen Ideen, welche sinnende und sinnige Gemüter in diese Erzählung hineingeheimnisst hatten, merkten die Semiten gar nichts, so rein gar nichts, dass die Juden z. B. die Vorstellung eines bösen Geistes, dem guten entgegengesetzt, erst während der babylonischen Gefangenschaft durch Zoroaster kennen lernten, bis dahin hatten sie in der Schlange ihrer Bibel eben lediglich eine Schlange erblickt! 2)Vergl. Montefiore a. a. O., S. 453. Wie tief im Organismus der Semiten diese Unfähigkeit begründet liegt, ersehen wir daraus, dass ein Mann wie James Darmesteter, einer der am meisten genannten Orientalisten unseres Jahrhunderts, ein Mann von universeller Gelehrsamkeit, im Jahre des Heiles 1882 schreiben konnte: » Die biblische Kosmogonie, aus fremder Quelle hastig entlehnt, sowie alle ihre Er - zählungen von Äpfeln und Schlangen, über welche die Geschlechter der Christen schlaflose Nächte verbrachten, haben unseren israelitischen Doktoren niemals die geringste Qual verursacht, noch ihr Denken beschäftigt «. Ein tieferes Verständnis hat seine Gelehrsamkeit diesem durchaus freidenkerischen Juden » einem ehr - lichen Juden «, wie Shakespeare gesagt hätte nicht geben können; und so dürfen wir wohl lächeln, wenn er uns, nachdem er die Äpfel abgethan hat, belehrt, das Kreuz sei schon » verfault « und das Christentum eine » abortierte « Religion. Doch die gähnende Kluft (S. 330) reisst sich tief auf vor unseren Augen bei dem Anblick so bodenlosen Unverstandes! (siehe Coup d’oeil sur l’histoire du peuple juif, p. 19 suiv).Was sage ich, sie hätten keine Vorstellung eines bösen Prinzips gehabt? Trotz ihres Buches der Genesis, Kap. 1 und 2, war den Israeliten auch die Idee eines Gottes, Schöpfers des Himmels und der Erde, bis zum babylonischen Exil gänzlich un - bekannt! Der Gedanke taucht zum ersten Mal im sogenannten Deutero-Jesaia auf. (Siehe Kap. XL bis LVI des Buches Jesaia.) Dem wirklichen Jesaia, sowie Jeremia, war die Vorstellung noch fremd. 3)Selbst der jüdische Gelehrte Montefiore giebt das ausdrücklich zu: Religion of the ancient Hebrews, p. 269. Für Näheres siehe weiter unten, S. 403.Die in der Genesis enthaltenen phantastisch-wissenschaftlichen Ideen über die Entstehung der organischen Welt, der tiefsinnige Mythus des400Die Erben.Sündenfalls, die Vermutungen über die Entwickelung der Menschheit bis zur ersten Organisierung der Gesellschaft .... das war jetzt alles » Geschichte «, wodurch es zugleich jede Bedeutung als religiösen Mythus verlor, denn der Mythus ist elastisch, unerschöpflich, wogegen hier eine einfache Chronik von Thatsachen, eine Aufzählung geschehener Begebnisse vorliegt. 1)Nähere Ausführungen über die Bibel als geschichtliches Werk und über die Bedeutung, die ihr als solches für das jüdische Volk zukommt, enthält das Kapitel über die Erscheinung Christi, S. 233 fg. Siehe auch weiter unten S. 453.Das ist Materialismus. Überall, wo semitischer Geist geweht hat, wird man diesem Materialismus begegnen. Sonst ist auf der ganzen Welt Religion eine idealistische Regung; Schopenhauer nannte sie » Volksmethaphysik «, ich möchte sie eher Volksidealismus nennen; auch bei dem Semiten beobachten wir dieses sehnsuchtsvolle Erwachen einer Empfindung des Übermenschlichen (man lese nur das Leben Mohammed’s), doch ergreift sofort der gebieterische Wille jedes Symbol, jede tiefe Ahnung des sinnenden Gedankens und wandelt sie zu harten, empirischen Thatsachen um. Und so kommt es denn, dass bei dieser Auffassung die Religion nur praktische Zwecke verfolgt, durchaus keine ideale: sie soll für das Wohlergehen auf dieser Welt sorgen und zielt namentlich auf Herrschaft und Besitz, ausserdem soll sie das Wohlergehen in der künftigen Welt verbürgen (dort wo der Begriff der Unsterblichkeit vorhanden ist, der in den israelitischen Glauben z. B. erst durch persischen Einfluss, in den arabischen durch das Christentum aufgenommen wurde). Nackter Materialismus! wie schon der Vergleich mit dem Saveasiuleo der Samoaner und dem grossen Weltgeist der Yorubas zeigt.

Das wäre ein negativer Einfluss des Judentums auf alle Religion: die Inficierung mit materialistischen Grundanschauungen. Jetzt müssen wir den positiven betrachten, der gemeiniglich einzig ins Auge gefasst wird. Nirgends das kann man, glaube ich, ohne jede Einschränkung behaupten nirgends auf der ganzen Welt trifft man den Glauben ähnlich an wie bei den Semiten, so glühend, so rückhaltslos, so un - erschütterlich. Vielleicht besässen wir ohne sie den Begriff des religiösen Glaubens, der fides gar nicht. Das deutsche Wort » Glaube « ist sehr zweideutig; von Hause aus schmeckt es eben so sehr nach Zweifeln wie nach Überzeugtsein; die Grundbedeutung ist ja ein blosses » Gut - heissen «. 2)Kluge: Etymologisches Wörterbuch. Wenn wir zum Lateinischen greifen, kommen wir auch nicht besser weg, denn in Wahrheit heisst fides Vertrauen, weiter401Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.gar nichts,1)Das griechische πίστις ebenfalls. die bona fides der rechtlichen Verträge zeigt das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung, die spätere fides salvifica ist ein pis-aller. Charakteristischer Weise zeichnet sich auch im Sanskrit das Wort craddhâ, der Glaube, durch schwankenden, farblosen Be - griffskreis aus; es deutet bisweilen Frömmigkeit, bisweilen gute Werke an, am ehesten fällt es mit der Definition des Glaubens nach der heutigen katholischen Dogmatik zusammen, als Gehorsam gegen die Lehrautorität der Kirche. Das ist Alles sehr blass im Vergleich zum semitischen Glauben; man erhält den Eindruck, den jeder forschende Blick über die Vorgänge der Geschichte bestätigen wird, dass es sich hier um zwei verschiedene Dinge handelt. Sehr häufig kann es ja vorkommen, dass eine Zunahme der Quantität die Qualität völlig umwandelt;2)Siehe S. 61. das scheint auch hier der Fall zu sein. Der echt semitische Glaube kann durch nichts zerstört, durch nichts auch nur angetastet werden, er widersteht jeder Erfahrung, jeder Evidenz. Hier triumphiert der Wille, und zwar das merke man wohl, denn da liegt der psychologische Kern der merkwürdigen Erscheinung triumphiert er nicht allein wegen seiner ungewöhnlichen Kraft, sondern zugleich in Folge der Verkümmerung von Verstand und Phantasie: einem Minimum von Religion gegenüber befindet sich ein Maximum von unbedingter, unerschütterlicher Glaubensfähigkeit, eines Glaubens - bedürfnisses, das wie eine gierige Hand sich ausstreckt und dem Gläubigen, aber auch ihm persönlich und allein, mit Ausschluss jedes Anderen, die ganze Welt zu eigen schenken will und muss. Charakte - ristisch für den Absolutismus dieses » Glaubenswillens « (wenn ich das Wort schmieden darf) ist es, dass ursprünglich jeder Stamm, jedes Stämmchen der Semiten, seinen eigenen Gott hat; nie würde der Semit mit einem Andern teilen wollen, sein Wille ist unbedingt, er allein muss Alles besitzen; und so unbegrenzt wie sein Wille ist sein Glaube; diese zwei Ausdrücke sind bei ihm fast synonym. Die Religion erscheint gewissermassen nicht als um ihrer selbst willen da, sondern als ein Mittel, als eine Handhabe, um das Gebiet des durch den Willen zu Erreichenden möglichst erweitern zu können.3)Dass die echten Wüstenbeduinen noch heute den kosmopolitischen Gott des Korans in Wahrheit nicht anerkennen, wird von vielen Autoren bezeugt. Robertson Smith: Religion of the Semites, p. 71, deutet an, der Mohammedanismus DieChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 26402Die Erben.Annahme, der Semit sei von Hause aus Monotheist, eine Annahme, zu der Renan’s berühmte Phrase: » le désert est monothéiste «1)Langues sémitiques, éd. 1878, p. 6 (diese Worte sprach Renan ursprüng - lich im Jahre 1855). viel beigetragen hatte, ist längst als irrig erwiesen;2)Man vergleiche Robertson Smith: Religion of the Semites (éd. 1894, p. 73 fg.). Welche eifrige Polytheisten viele pseudosemitische Nationen waren, ist bekannt; allerdings hat man nicht das Recht, ohne Weiteres Rückschlüsse zu ziehen auf die reinen Semiten. Auf diese fast niemals beobachtete Reserve hatte Renan gleich im Vorworte zu der ersten Ausgabe seiner Langues sémitiques grossen Nachdruck gelegt. wir sehen jeden kleinen Stamm der Hebräer seinen eigenen Gott besitzen, der nur über diese besondere Familie und innerhalb dieses besonderen Land - striches Gewalt übt; verlässt Einer den Familienverband, tritt er in ein anderes Gebiet, so gerät er unter die Botmässigkeit eines anderen Gottes: das ist doch kein Monotheismus. 3)David, von Saul aus Palästina vertrieben, kann nicht anders, als auf fremdem Boden » fremden Göttern dienen « (I Sam. XXVI, 19); vergl. hierzu nament - lich Robertson Smith: Prophets of Israel (ed. 1895, p. 44) und die Zusammen - stellung der charakteristischen Stellen aus welchen dieselbe Vorstellung erhellt, bei Wellhausen: Prolegomena, 4. Ausg., S. 22. Besonders naiv tritt der Polytheismus im Lobgesange Mosis auf: » Herr, wer ist dir gleich unter den Göttern? « (Ex. XV, 11). Im viel späteren Deuteronomium wird zwischen Jahve und den » fremden Göttern « als durchaus gleichnamigen Wesen unterschieden (XXXII, 12), und nur bei sehr feierlichen Gelegenheiten wird jener angerufen als » Gott aller Götter « (X. 17). Noch zur Zeit der Makkabäer (mehr als ein halbes Jahrtausend später) begegnen wir diesem selben Ausdruck » Gott aller Götter « im Buche Daniel XII, 1 und finden bei Jesus Sirach die Vorstellung von » Nebengöttern «, die im Auftrage Jahve’s über die verschiedenen Völker regieren (Eccles. XVII, 17).Ich halte den Gedanken der göttlichen Einheit für durch und durch unsemitisch, für geradezu antisemitisch, schon deswegen, weil er nur der Spekulation ent - springen kann: in dem überreichen Material, das die Phantasie an - gesammelt hat, schafft der Gedanke Ordnung und gelangt so zur Vor - stellung der Einheit; hier dagegen ist weder Phantasie noch Spekulation, sondern Geschichte und Wille: daraus konnte niemals der eine kos - mische Weltgeist der Inder, Perser, Hellenen und Christen entstehen, noch der » einigeine « Gott der Ägypter. 4)Über den ägyptischen Monotheismus wurde viel gestritten, doch mit Unrecht, denn es ist unmöglich, ihn in Zweifel zu ziehen, wenn man im Totenbuch liest: » Du bist der Eine, der Gott aus den Uranfängen der Zeit, der Erbe der Ewigkeit, selbsterzeugt und selbstgeboren; du schufest die Erde, du machtest dieIn das Judentum ist nach -3)sei gewissermassen eine städtische Religion im Gegensatz zur Religion der Wüste. Ähnlich Burckhardt: Beduinen, S. 156.403Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.weislich die Idee des einen Weltgottes nur in der spätesten post - exilischen Zeit langsam eingedrungen und ohne allen Zweifel unter fremdem, namentlich persischem Einfluss; wollten wir ganz wahr sprechen, wir müssten sagen: diese Idee drang niemals ein, denn heute noch, wie vor 3000 Jahren, ist Jahve nicht der Gott des kos - mischen Weltalls, sondern der Gott der Juden; er hat nur die übrigen Götter umgebracht, vertilgt, wie er auch die übrigen Völker noch vertilgen wird, mit Ausnahme derer, die den Juden als Sklaven dienen sollen. 1)Man sehe z. B. die Apokalypse des Baruch (LXXII), ein berühmtes jüdisches Werk aus dem Schluss des 1. Jahrhunderts nach Christo: » Die Männer aller Nationen sollen Israel unterthan sein, doch diejenigen, die über euch geherrscht haben, sollen durch das Schwert vertilgt werden « (citiert nach Stanton: The jewish and the christian Messiah, p. 316). Man sieht, wie engnational dieser angebliche Schöpfer des Himmels und der Erde geblieben ist. Das giebt auch Montefiore zu, indem er schreibt: » Jahve war freilich nach und nach zum einen Weltgott geworden, doch blieb dieser Gott noch immer Jahve. Trotzdem er nunmehr der unbeschränkte Beherrscher des Universums geworden, hörte er nicht auf, der Gott Israels zu sein « (a. a. O. S. 422). Robertson Smith, einer der ersten Autoritäten unserer Zeit in diesen Fragen, deutet Jesaia Kap. 2 als eine Prophezeiung, dass Jahve nach und nach durch die Anerkennung seiner Herrschertugenden sich zum Gott der ganzen Menschheit aufschwingen werde! Also selbst in den er - habensten Phasen der semitischen Religionsauffassung, selbst wo von Gott die Rede ist, das Vorwalten des rein historischen, flagrant anthropomorphischen, un - bedingt materialistischen Standpunktes!Das ist doch kein wirklicher Monotheismus, sondern, wie schon früher bemerkt, ungeschminkte Monolatrie!

Dagegen lehrt uns gerade diese Betrachtung einsehen, welche wichtige und eigentümliche Wahrheit unter den nur zu allgemein ge - haltenen Worten Renan’s steckte; wie so häufig hatte er richtig ge - sehen, aber äusserst oberflächlich analysiert. Er hatte geschrieben: » Die Wüste ist monotheistisch; das Erhabene ihrer unermesslichen Ein - förmigkeit offenbarte zum ersten Male den Menschen die Vorstellung des Unendlichen «. Wie falsch alles ist, was in diesem Satz dem Semikolon folgt, zeigen ja Renan’s eigene Ausführungen an anderem Orte, wo er darthut, gerade die semitischen Sprachen seien » unfähig, die Empfindung des Unendlichen zum Ausdruck zu bringen « (siehe S. 295). In den dunklen Urwäldern Indiens hat die Empfindung des4)Menschen, .... « (Einleitende Hymnen an ; siehe die vollständige Übersetzung des Totenbuches nach der Thebanischen Rezension von E. A. W. Budge, 1898.) Budge macht darauf aufmerksam (S. XCVIII), dass die Formel in Deuteronomium IV, 4: » Der Herr, unser Gott, ist ein einiger Gott «, eine buchstäbliche Nachahmung des Ägyptischen ist.26*404Die Erben.Unendlichen eine solche Intensität gewonnen, dass der Mensch sein eigenes Ich in das All sich auflösen fühlte, wogegen der Bewohner der sonnendurchglühten Wüste, geblendet vom Übermass des Lichtes, an Augenkraft verlor und nur sich selber erblickte; weit entfernt, das Unendliche zu empfinden, das sich uns nur in der Nacht oder durch die Millionen Stimmen des wimmelnden Lebens offenbart, fühlte er sich einsam, einsam und doch gefährdet, einsam und doch kaum im Stande, sich die nötigen Nahrungsmittel zu verschaffen, und gar nicht mehr im Stande, es zu thun, sobald eine andere Sippe sich der seinen hätte zugesellen wollen. Dieses Leben war ein Kampf, ein Kampf, in dem nur der rücksichtslose Egoismus bestehen konnte. Während der Inder, ganz in Denken versunken, die Hand nur nach den Bäumen auszustrecken brauchte, wenn ihn hungerte, stand der Beduine Tag und Nacht auf dem Qui-vive und hatte etwas anderes zu thun, als über das Unendliche nachzusinnen, wozu er ausserdem so gänzlich unfähig und unbeanlagt war, dass ihm seine Sprache nicht die mindeste Handhabe dazu bot. Dagegen können wir uns recht wohl vorstellen, wie die einförmige Armut der Umgebung zu der unvergleichlichen Armut mythologischer Vorstellungen führen konnte: der Mensch ist nämlich durchaus unfähig, seine Phantasie aus eigener Kraft zu speisen; sie wird, wie Shakespeare sagt, » im Auge geboren «; wo dem Auge lediglich Einförmigkeit geboten wird, wird sie zur Einförmigkeit verdorren. 1)Burckhardt, der Jahre lang in Arabien gelebt hat, bezeugt, dass die Ein - förmigkeit und der Mangel an jeglicher Beschäftigung des Wüstenlebens auf den Geist unerträglich drückt und ihn zuletzt völlig lahmlegt (Beduinen und Wahaby, S. 286).Und was wir ebenfalls verstehen können, ist, wie in einer solchen Umgebung sich jener durchaus egoistische Monotheismus entwickeln konnte, wo der eine Gott nicht der grosse überweltliche Geist ist, wie für die armen Neger der Sklavenküste, sondern ein harter, grausamer Herr, der nur für mich, den einen da ist, für mich und meine Kinder, der mir, wenn ich mich blind ihm unterwerfe, die Länder schenkt, die ich nicht urbar gemacht habe, voll Öl und Wein, die Häuser, die ich nicht gebaut, die Brunnen, die ich nicht gegraben alle jene Herrlichkeiten, die ich nur hin und wieder aus der Ferne erblickt habe, wenn ich, von Hunger ge - trieben, meine Wüste zu Streifzügen verliess; ja! und diese Menschen alle, die dort in Arbeit und Reichtum schwelgen und mit freudigem Tanz und Gesang und fetten Opfern Götter anbeten, welche ihnen alle diese Reichtümer schenken, sie will ich meinem Wüstengotte hin -405Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.schlachten, ihre Altäre umwerfen, nur mein Gott soll hinfürder Gott sein, nur ich allein auf Erden Herr! Dies ist der Monotheismus der Wüste; nicht aus der Idee des Unendlichen entspringt er, sondern aus der Ideenlosigkeit eines armen, hungrigen, gierigen Menschen, dessen Gedankenkreis sich kaum über die Vorstellung erhebt, dass Besitz und Macht höchste Wonne wäre.

Um die tiefgreifende Verwandlung der Gesinnung klar zu machen, die durch diese semitische Auffassung des Glaubens in dem menschlichen Gemüt bewirkt wird, kann ich nichts besseres thun als Goethe citieren. Überall und immer werden seine Worte angeführt: » Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt - und Menschen - geschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und des Glaubens. « 1)Noten zum West-Östlichen Divan (Israel in der Wüste).Doch weit bedeutender ist folgender Passus im vierten Buch von Wahrheit und Dichtung: » Die allgemeine, natürliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens: denn die Überzeugung, dass ein grosses, hervorbringendes, ordnendes und leitendes Wesen sich gleichsam hinter der Natur verberge, um sich uns fasslich zu machen, eine solche Überzeugung drängt sich einem Jeden auf, ja, wenn er auch den Faden derselben, der ihn durchs Leben führt, manchmal fahren liesse, so wird er ihn doch gleich und überall wieder aufnehmen können. Ganz anders verhält sich’s mit der besonderen Religion, die uns verkündigt, dass jenes grosse Wesen sich eines Einzelnen, eines Stammes, eines Volkes, einer Landschaft entschieden und vorzüglich annehme. Diese Religion ist auf den Glauben gegründet, der unerschütterlich sein muss, wenn er nicht sogleich von Grund aus zerstört werden soll. Jeder Zweifel gegen eine solche Religion ist ihr tödlich. Zur Überzeugung kann man zurückkehren, aber nicht zum Glauben. « Diese Betrachtung führt uns auf die richtige Spur, sie ermöglicht es uns, mit absoluter Präcision fest - zustellen, was der Semit hier der Welt geschenkt, oder, wenn man will, aufgezwungen hat; eine wichtige Untersuchung, denn hier liegt seine weltgeschichtliche Bedeutung als Einfluss auf Andere, und hier liegt auch die heutige von Herder und von so vielen grossen Geistern als » fremd « empfundene besondere Kraft des Judentums. Goethe hat den wesentlichsten Punkt gut erkannt und auch angedeutet, doch leider nicht in so ausführlicher Weise, dass jeder ihn so sieht, wie er: denn er unterscheidet zwischen einer natürlichen Religion und einer anderen,406Die Erben.also nicht natürlichen; nun ist aber nach Goethe’s Denkweise der Gegensatz des Natürlichen das Willkürliche, dasjenige, wo der Wille » kürt «, dasjenige, heisst das, wo der Wille, nicht die reine Erkenntnis, auch nicht der ungetrübt natürliche Instinkt den Ausschlag giebt. Und somit weist er uns nicht allein darauf hin, dass es zwischen Religion und Religion wesentliche Unterschiede giebt, so wesentliche, dass das - selbe Wort zwei verschiedene Dinge bezeichnen kann, sondern er sagt damit zugleich, worin dieser Unterschied seinen letzten Grund findet: jene Religion, welche er der natürlichen entgegenstellt, ist eben die Religion des Willens. Hingegen ist der Gebrauch des Wortes » Glaube « bei ihm unklar und irreführend; er hat zu sehr vereinfachen wollen. Goethe sagt: » die natürliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens; « doch wird in Wahrheit in den nicht-semitischen Religionen mehr geglaubt als in den semitischen; der Glaubensstoff, heisst das, ist reicher; auch wird » Glaube « ausdrücklich von ihnen gefordert. Wie verhält es sich nun hiermit? Die Natur des Glaubens ist eben hier und dort genau so verschieden wie die der Religion; dem Wort » Religion « giebt Goethe in der angeführten Stelle zwei Bedeutungen, dem Wort » Glauben « nur eine, daher das Missverständnis. In Wahrheit finden wir nirgends Religion ohne Glauben; ohne Glauben im spezifisch semitischen Sinne, allerdings, doch nicht ohne Glauben. Der Glaube ist überall die unsichtbare Seele, die Religion der sichtbare Leib. Wir müssen also weiter vordringen, wollen wir Goethe’s Satz bis zur vollen Anschaulichkeit entwickeln. Ich greife wieder zur Illustration.

Soweit mir bekannt, ist der Dogmatismus und der Begriff der Glaubensorthodoxie nirgends so ausgebildet wie bei den arischen Brah - manen; dennoch ist der Erfolg ein ganz anderer, als bei den Semiten. Die heiligen Veden der Inder galten als göttliche Offenbarung; jedes ihrer Worte war für alle Glaubenssachen autoritativ und unbestreitbar und trotzdem entblühten diesem einen Boden eines allseits als » un - fehlbar « anerkannten Schriftenkomplexes sechs durchaus verschiedene Weltanschauungen,1)Es gab noch mehr, doch lassen sich die anderen unter die sechs grossen Rubriken subsumieren. Systeme, in welchen (wie das dem indischen Geist eigen ist) Philosophie und Religion untrennbar verschlungen auf - wachsen, so dass die Auffassung von der Natur der Gottheit, von dem Verhältnis des Individuums zu ihr, von der Bedeutung der Erlösung u. s. w. in den einzelnen Systemen sehr verschieden ist, wodurch also407Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.nicht allein die Philosophie, sondern vor Allem die Religion des Be - kenners berührt wird: und alle diese Lehren, die sich in wesentlichen Punkten häufig direkt widersprechen, galten nichtsdestoweniger als orthodoxe, die eine ebenso wie die andere! Sie alle fussten ja auf denselben Schriften, gingen, mit anderen Worten, von den gleichen mythologischen Grundbildern der Hymnen aus und bekundeten dieselbe Verehrung für die tiefen Spekulationen der Kultusvorschriften und der Upanishad’s: das genügte. Geschichtliche Daten, eine Chronik der Weltschöpfung und der Geschlechter, an die man blind glauben müsse, gab es nicht; denn was es derartiges gab, war von vornherein lediglich als Bild, als Symbol gegeben. So sagt z. B. der streng orthodoxe Kommentator der heiligen Schriften, Çankara, über verschiedene auf die Weltschöpfung angewandte Bilder und Spekulationen: » Die Schrift hat gar nicht die Absicht, über die mit der Schöpfung beginnende Weltausbreitung eine Belehrung zu erteilen, weil weder ersichtlich ist, noch auch irgendwo gesagt wird oder auch denkbar ist, dass irgend etwas, worauf es für den Menschen ankommt, hiervon abhängig sei. « 1)Die Sûtra’s des Vedânta (von Paul Deussen übersetzt, Brockhaus 1887) I, 4, 14. Wer denkt da nicht an das grosse Wort Goethe’s: » Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit! « (siehe S. 234 und S. 270). Schön sagt Carlyle in seinem Aufsatz über Diderot: » jeder religiöse Glaube, der auf Ursprünge zurückgeht, ist unfruchtbar, unwirksam, unmöglich «.In derselben Weise war ein Jeder frei, über das Verhältnis zwischen Geist und Stoff zu denken, was er wollte. Der Monist war eben so orthodox wie der Dualist, der Idealist wie der Materialist. Man begreift, wie bei einer derartigen Auffassung der Religion und des Glaubens » in Indien zu allen Zeiten die absoluteste Gedankenfreiheit ge - herrscht hat «,2)Richard Garbe: Die Sâmkhya-Philosophie, S. 121. ich meine, wie es möglich war, Rechtgläubigkeit und unbehinderte metaphysische Spekulation nebeneinander bestehen zu lassen. Und doch nein! uns, die wir heute unter dem Einfluss der semitischen Glaubensauffassung leben, fällt es doch sehr schwer, diese Vorstellungen zusammenzureimen: die anerkannte Infallibilität heiliger Religionsbücher, und zugleich absoluteste Gedankenfreiheit! Nun merke man aber noch Folgendes wohl, denn erst hierdurch wird diese Illustration für die Frage über die Natur des Glaubens lehrreich: das Leben war in Indien weit religiöser als es bei uns jemals, selbst im kirchlichsten Zeitalter gewesen ist, und die indische Religion, als solche, hat Früchte ganz anderer Art getragen als z. B. das Judentum,408Die Erben.wo die Religion (wie ein jüdischer Autor uns vorhin mitteilte) Wissen - schaft, Kunst, Litteratur, alles (ausser Glauben und Gehorsam) aus dem Leben verbannte! 1)Siehe S. 381. Auch Spinoza, der in jedem seiner Gedanken so durch und durch Jude und Antiarier ist, schreibt: » Fidei scopus nihil est praeter obedientiam et pietatem « (Tract. theol. -pol. c. 14); dass Religion ein schöpferisches Lebenselement sein könne, ist eine Vorstellung, die diesem Gehirne völlig unzugänglich blieb.Denn die enorme geistige Thätigkeit des indischen Volkes, dessen poetische Litteratur allein an Umfang » die ganze klassische Litteratur von Griechenland und Italien zusammen - genommen übertrifft «,2)Max Müller: Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung (1884), S. 68. wurzelt in seinem Glauben; seine bedeutendsten Thaten, auch auf fernab liegenden Gebieten, strahlen von seiner tiefen Religiosität aus. Ein Beispiel. Pânini’s Grammatik der Sanskritsprache, vor 2500 Jahren geschrieben und zwar als Kulminationspunkt einer langen, Jahrhunderte zurückreichenden wissenschaftlichen Entwickelung, ist bekanntlich die grösste philologische Leistung der Menschheit; Benfey schreibt darüber: » eine so vollständige Grammatik hat keine Sprache der Welt aufzuweisen, selbst trotz der staunenswerten Grimm - schen Arbeiten unsere deutsche Muttersprache nicht «; Pânini bildet noch heute den Eckstein dieser Wissenschaft: nun, was hatte die indischen Denker zu so hohen wissenschaftlichen Thaten angeeifert? Die Sehn - sucht, die heiligen Lieder des Rigveda, die im Laufe der Jahrhunderte schwer verständlich geworden waren, zu neuem Leben zu erwecken! Nicht eine pure, ziellose Begeisterung für » Wissenschaft «, sondern religiöse Begeisterung hatte Benfey bezeugt es sie » zu dieser Kraft erstarkt «. 3)Geschichte der Sprachwissenschaft (1869), S. 77 und 55 (ich citiere nach Schroeder: Indiens Litteratur und Kultur, S. 704 und 708).Auch ihre so eminenten Leistungen auf dem Gebiete der Mathematik man weiss, dass die indischen Arier die Erfinder der sogenannten » arabischen Ziffern « sind nehmen ihren Ausgang von der Religion: die Lösung des bekannten geometrischen Problems, die bei uns als Ruhmestitel dem Pythagoras zugeschrieben wird, hatten die Inder vor undenklichen Zeiten gefunden, gewissermassen ohne es zu ahnen, als eine notwendige Folge der zu Opferzwecken vor - geschriebenen Messungen; hier, in diesen religiösen Berechnungen, war die Brutstätte, aus welcher die klare Erkenntnis der irrationalen Zahlen und später die höhere Algebra, die Zahlentheorie u. s. w. her - vorgingen. 4)Vergl. Schroeder: Pythagoras und die Inder, Kap. 3.In welchem Sinne kann Goethe nun von einer der -409Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.artigen Religion, von einer Religion, welche das ganze öffentliche Leben gestaltete und zugleich so mächtig eindringend auf Geist und Phantasie wirkte, sagen, sie bedürfe eigentlich keines Glaubens? Habe ich nicht Recht, wenn ich behaupte, in jener Goethe’schen Stelle beziehe sich das eine Wort » Glaube « auf zwei verschiedene Dinge? Gewiss; so verschieden wie die Menschen, deren Seelen sie widerspiegeln. Goethe geht eben von der semitischen Auffassung aus, und nach dieser Auffassung richtet sich (im Gegensatz zur indischen) der religiöse Glaube lediglich auf geschichtliche Daten und auf materielle Thatsachen: Gott ist hier durch geschichtlich bezeugte Theophanien (Erscheinungen) bekannt, nicht aus innerer Erfahrung postuliert, nicht aus Betrachtung der Natur erraten, nicht durch Kraft und Phantasie ahnend gestaltet; hier ist alles noch ein - facher als Herrn Ernst Haeckel’s Schöpfungsgeschichte. Das Einzige, was Not thut, ist blinder Glaube, und auf diesen Glauben konzentriert sich denn auch die ganze Kraft der grossen leitenden Geister und der verantwortlichen Hüter des Volkes: Strafen auf der einen Seite, Ver - sprechungen auf der anderen, dazu historische Beweise und naturwidrige Wunder. Man betrachte doch als Kontrast zu jedem unverfälscht semitischen Credo das sogenannte apostolische Glaubensbekenntnis der christlichen Kirche! Die Hälfte der Sätze besagt unvorstellbare Mysterien, von denen die Theologen selber zugeben: » der Laie kann sie nicht ver - stehen «; in Wahrheit ist aber von einem » Verstehen « in der logischen, sinnfällig fasslichen Bedeutung des Wortes überhaupt so wenig die Rede, dass man diesem einen kurzen Credo die verschiedensten, einander widersprechenden Lehren entnommen hat. 1)Vergl. z. B. Harnack: Dogmengeschichte (Grundriss, 2. Aufl. ), S. 63 fg.Und nun nehme man gar das Athanasische Symbolum! Hier besteht der Stoff des religiösen Glaubens ausschliesslich aus den abstraktesten Spekulationen des Menschenhirns. Wie sollte der Glaube, im semitischen Sinn, Begriffe auffassen können, mit denen nicht ein Mensch in einer Million auch nur die blasseste Vorstellung zu verbinden vermag? Schon Jesus Christus selber (und zwar gerade dort, wo er sagt: » derer, welche wie diese Kinder sind, ist das Himmelreich «) sprach dennoch: » Das Wort fasset nicht Jedermann, sondern denen es gegeben ist. Wer es fassen mag, der fasse es! « (Matth., XIX., 11, 12). 2)In der syrischen Übersetzung des ältesten bekannten Textes steht: » Jeder der die Kraft besitzt «, so dass die Deutung nicht zweifelhaft ist (siehe die Übersetzung der Palimpsesthandschrift von Adalbert Merx, 1897).Ganz anders der Semit410Die Erben.und darum auch ganz anders seine Glaubenskraft. Selbst der einfache Satz: Ich glaube an Gott, Schöpfer Himmels und der Erden, bildet keinen Teil seines Credos, dieses Umstandes wird im Koran nur beiläufig und in den gesamten heiligen Schriften der Juden kaum dreimal Erwähnung gethan. Dagegen lautet gleich das erste Gebot Moses: Ich bin der Herr, der dich aus Ägyptenland geführt habe! Der Glaube knüpft, wie man sieht, sofort an geschichtliche Thatsachen an, die das Volk für sicher bezeugt hält, und niemals erhebt er sich über das Niveau des gewöhnlichen Auges. Wie Montefiore uns vorhin belehrte: Die jüdische Religion kennt kein Geheimnis (siehe S. 392 fg.). Wenn man also von der unvergleichlichen Kraft des semitischen Glaubens spricht, so darf man nicht übersehen, dass dieser Glaube sich auf einen äusserst dürftigen, beschränkten Stoff richtet, dass er das grosse Weltwunder prinzipiell ausser Acht lässt und dass er durch die Auferlegung eines » Gesetzes « (im juristischen Sinn des Wortes) ebenfalls das innere Herzensleben auf ein Minimum reduziert, wer dem Gesetz gehorcht, ist ohne Sünde, weiter braucht er sich den Kopf nicht zu zerbrechen: Wiedergeburt, Gnade, Erlösung, das existiert alles nicht. Wir lernen also einsehen: dieser starke Glaube setzt als Gegenbedingung ein Minimum an Glaubensstoff, ein Minimum an Religion voraus. Moses Mendelssohn hat es einsichtsvoll und ehrlich ausgesprochen: » Das Judentum ist nicht geoffenbarte Religion, sondern geoffenbarte Gesetzgebung «. 1)Rettung der Juden, 1782. (Ich citiere nach Graetz: Volkst. Gesch. III, 578).

» Der Semit hat eigentlich wenig Religion «, seufzt der genaueste Kenner semitischer Religionsgeschichte, Robertson Smith; » ja, aber viel Glauben «, ruft Goethe zurück; und Renan liefert den Kommentar: » der Geist des Semiten vermag nur äusserst wenig zu umfassen, doch dieses Wenige umfasst er mit grosser Kraft. « 2)Renan: Langues sémitiques, p. 11.Ich glaube aber, wir fangen jetzt schon an, uns in der Konfusion zwischen Glauben und Glauben, Religion und Religion, besser als Smith, Goethe und Renan zurecht zu finden; bald werden wir bis auf den Boden sehen. Zur vollkommenen Aufklärung muss ich hier noch ein letztes Mal den Inder dem Semiten entgegenstellen.

Der arische Inder kann als Beispiel des extremen Gegenteils des Semiten gelten, eines Gegenteils aber, das bei allen semitenfreien Völkern, selbst bei den australischen Negern, deutlich hervortritt und in unser411Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.aller Herzen schlummert. Des Inders Geist umfasst enorm viel, zu viel für sein irdisches Glück; sein Gemüt ist innig und mitleidsvoll, sein Sinn fromm, sein Denken das metaphysisch tiefste der Welt, seine Phantasie ebenso üppig wie seine Urwälder, so kühn wie jenes höchste Gebirge der Erde, das sein Auge stets nach oben zieht. Zwei Dinge fehlen ihm indes fast ganz: er hat gar keinen geschichtlichen Sinn, alles hat dieses Volk hervorgebracht, nur keine Geschichte seines eigenen Lebenslaufes, nicht die Spur einer Chronik; das wäre das erste; das zweite, was ihm mangelt, ist die Fähigkeit, seine Phantasie zu zügeln, wodurch er, als Hyperidealist, den rechten Masstab für die Dinge dieser Welt und leider trotzdem kein todesmutigerer Mensch auf Erden lebt, zugleich seine Stellung als energischer Gestalter der Weltgeschichte verliert. Er war nicht Materialist genug. Weit entfernt, sich mit semitischem Hochmut für » den einzigen Menschen im wahren Sinne « zu halten, schätzte er die Menschheit überhaupt als eine Erscheinung des Lebens den anderen Erscheinungen gleichartig und lehrte als Grund - lage aller Weisheit und Religion das tat tvam asi: das bist auch du, d. h. der Mensch solle in allem Lebendigen sich selber wiederer - kennen. Da sind wir allerdings weit von dem auserwählten Völkchen, zu dessen Gunsten die Schöpfung des Kosmos unternommen wurde, zu dessen Vorteil allein die gesamte übrige Menschheit lebt und leidet, und es ist ohne Weiteres klar, dass die Gottheit, resp. Gottheiten, dieser Inder nicht solche sein werden, die man in einer Bundeslade herumträgt oder in einem Stein sich gegenwärtig denkt. Schon das eine tat tvam asi deutet auf eine kosmische Religion, und eine kos - mische Religion wiederum impliziert im Gegensatz zu einem Nationalglauben ein unmittelbares Verhältnis zwischen dem Indivi - duum und dem göttlich Übermenschlichen. Welchen anderen Sinn musste für diesen arischen Inder Religion und Glauben haben, als wie für den Semiten! » Eigentlich keinen Glauben, « sagte der deutsche Weise, und der Franzose echot mit parodistischer Oberflächlichkeit: » die indoeuropäischen Völker haben ihren Glauben nie für die absolute Wahrheit gehalten. « 1)Renan: Langues sémitiques, p. 7.Ach nein! das ist doch nicht möglich und es wird durch das Leben der Brahmanen in glänzendster Weise wider - legt. Denn auch die Indoarier » stellen ihre Zeugen «, wenngleich nicht ganz im selben Sinne wie Deuterojesaia und Mohammed es gemeint hatten. Wenn der Arier von Weib, Kindern und Kindes -412Die Erben.kindern Abschied nimmt, um nunmehr, von aller Habe entblösst, von Wurzeln sich nährend, nackt, in der Einsamkeit der Wälder, seine letzten Jahre der frommen Betrachtung und der Erlösung seiner Seele zu widmen, wenn er sein Grab mit eigenen Händen gräbt und beim Herannahen des Todes sich hineinlegt, um mit gefalteten Händen, er - geben und beglückt, zu sterben:1)Noch heute begegnet man frischen Gräbern dieser Art in den Waldes - tiefen. Ohne Krampf noch Kampf gehen diese heiligen Männer aus der Zeit in die Ewigkeit ein, so dass man beim Anblick ihrer Leichen glauben würde, es hätte die Hand der Liebe ihnen die Glieder zurecht gelegt und die Augen geschlossen. (Nach mündlichen Mitteilungen und Zeichnungen nach der Natur.) Wie lebendig und unverändert, einem ewig sich gleichbleibenden inneren Nährboden entspriessend, altarische Religion noch heute blüht, kann man aus Max Müller’s zu Weihnachten 1898 erschienen Lebensbericht über einen erst 1886 gestorbenen heiligen Mann aus brahmanischer Familie ersehen: Râmakrishna, his life and sayings. kann man da sagen, er habe » eigentlich keinen Glauben? « er » halte seinen Glauben nicht für die Wahrheit? « Nun, über Worte will ich nicht rechten, dieser Mann hat aber jeden - falls Religion, und zwar, wie mich dünkt, ein Maximum an Religion. In seiner Jugend hatte er die üppigste Mythologie kennen gelernt, die ganze Natur war für sein kindliches Auge belebt, beseelt, und zwar von grossen, freundlichen Gestalten belebt,2)Oldenberg: Religion des Veda, bezeugt, dass die Götter der arischen Inder, im Gegensatz zu anderen, lichte, wahre, wohlwollende Gestalten sind, ohne Tücke, Grausamkeit und Wortbruch (S. 30, 92, 302 etc.). an denen seine Phantasie sich unaufhörlich übte und durch die immer neuen Lieder, die er nach und nach zu hören bekam, immer neu angeregt wurde, sich zu üben. Wie Carlyle von Goethe rühmte, so sah sich dieser indische Jüngling » vom Wunder umgeben, alles Natürliche in Wahrheit ein Übernatür - liches «. Das ernste Mannesalter brachte Neues; jetzt wurde die Denk - fähigkeit an den schwierigsten Problemen geübt und gestärkt, zugleich eine allumfassende Symbolik durch die an die Opferzeremonien geknüpften Betrachtungen gelehrt, welche unser heutiges Vorstellungsvermögen fast übersteigt,3)Oldenberg: Religion des Veda: » die Inder sprachen die Verhältnisse des Opfers an als analoge, durch ein mystisches Band mit ihnen geeinte Verhältnisse des Universums repräsentirend «. Belege hierfür findet man auf jeder Seite des Satapatha-Brâhmana, jenes merkwürdigen Kodex für Opferzeremonien. deren Hauptergebnis wir aber aus dem Erfolg deutlich ent - nehmen. Mehr und mehr begriff der reifende Mann, nicht allein, dass jene mythologischen Gestalten nur in seinem Hirn Dasein besässen, nur für seinen besonderen, beschränkten Menschengeist überhaupt Sinn hätten, mit anderen Worten Symbole eines der Vernunft Unerreich -413Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.baren seien, sondern dass auch das ganze Leben die Welt, die ihm als Schauplatz dient, die Agierenden, die sich auf dieser Bühne bewegen, die Gedanken, die wir denken, die Liebe, die uns trunken macht, die Pflichten, die wir erfüllen lediglich als Symbol aufzufassen sei; er leugnete nicht die Wirklichkeit dieser Dinge, bestritt aber, dass ihre Bedeutung durch das empirisch Wahrnehmbare erschöpft werde: » Auf dem Standpunkt der höchsten Realität existiert das ganze empirische Treiben nicht «, lehren die heiligen Schriften der Inder,1)Çankara, Vedântasûtra’s II, 1, 14 (auch für das folgende Citat). eine Erkenntnis, die durch Goethe dauernden Ausdruck gefunden hat:

Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis.

Und je tiefer diese Überzeugung sich in sein Bewusstsein einsenkte, um so höher stieg die Vorstellung von der Tragweite seines indivi - duellen Lebens: dieses Leben gewann jetzt kosmische Bedeutung. Hatte doch die Schrift ihn gelehrt: » nur die Einheit allein ist im höchsten Sinne real, die Vielheit klafft nur aus einer falschen Er - kenntnis heraus «. Die guten Werke, die ihm früher als Teil des göttlichen Gebotes erschienen waren, galten jetzt nichts mehr: jetzt galt nur noch die innerste Absicht, d. h. also das innerste Leben, jede Regung des Gedankens, jede Zuckung des Herzens. Schaute das semitische Gesetz lediglich auf den Erfolg, gar nicht auf die Absicht, so war hier das andere Extrem erreicht: jeder Erfolg war ausgeschlossen und ohnehin gleichgültig. Es galt jetzt den höchsten, schöpferischen Akt zu vollbringen, das eigene Wesen umzugestalten, jede leiseste Regung der bethörten individuellen Selbstsucht nicht zu kasteien, das ist ein Geringes, sondern umzuwandeln, bis der Eine in das All aufging. Das war » Erlösung «. Doch glaube man nicht, hier einen rein philosophischen Vorgang erblicken zu dürfen, es war ein tief religiöser; denn eigene Kraft reichte nicht aus: das Sanskrit-Wort für die höchste, alleinige Gottheit ist Brahman, d. h. das » Gebet «; nur durch Gnade konnte der Mensch der Erlösung teilhaftig werden, und ehe man eine solche Gnade durch inbrünstiges Gebet erstreben durfte, musste man durch ein frommes Leben sich dessen würdig gezeigt haben. War aber dieser Punkt erreicht, dann glaubte der Einzelne nicht mehr für sich allein, sondern für die ganze Welt zu leben und zu sterben: daher das Gefühl der allumfassenden Verantwort -414Die Erben.lichkeit. Der Eine stand für Alle; sein Thun, welches der frühere Wahn der fast gleichgültigen Entscheidung seiner Willkür anheimzu - stellen schien, war jetzt von unvergänglicher Bedeutung; denn sowie das Natürliche in Wahrheit ein Übernatürliches ist, ebenso schliesst der Augenblick die Ewigkeit ein und ist nur deren Symbol. Das galt bei den arischen Indern als Religion, das verstanden sie unter Glauben.

Durch diesen Kontrast hoffe ich die ganz besondere und unter - scheidende Art der semitischen Auffassung von Religion und Glauben deutlich gemacht zu haben; ich glaube, gezeigt zu haben, worin ihre grosse zu mancher kühnen That und manchem aufopferungsvollen Gedanken befähigende Kraft lag, worin auch ihre Beschränkung; mehr ist hier nicht nötig; welche geschichtliche Bedeutung diese Kraft und diese Beschränkung erreichten, ist bekannt. Man wäre fast ge - neigt, das Paradoxon zu wagen: Religion und Glaube schliessen sich gegenseitig aus, oder wenigstens zu sagen: wenn eins von beiden zu - nimmt, nimmt das andere ab. Doch wäre das ein Spiel mit Worten, da offenbar Religion und Glaube für den Semiten einen ganz anderen Sinn besitzen, als für andere Menschen. Die Sache wird erst dort ver - wickelt, wo wir nicht mehr dem reinen Semiten oder, wie bei den Juden, dem einseitig starken Vorwalten des semitischen Geistes begegnen, sondern bloss einer Infiltration des semitischen Geistes, wie in unserer eigenen europäischen Geschichte seit dem Beginn unserer christlichen Zeitrechnung. Dadurch entsteht eine fast unentwirrbare Konfusion der Begriffe und darum habe ich mit einer gewissen Ausführlichkeit dieses Thema erörtern müssen; denn der folgenreichste » Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte « ist die Begründung der christlichen Kirche auf einer teilweise semitischen Grundlage, und die Einführung der Begriffe » Glaube « und » Religion « im semitischen Sinne des Wortes in eine Religion, welche, im Grunde genommen, und schon durch das Leben Christi, die direkte, unbedingte Leugnung der semitischen Auffassung war, und welche ausserdem, durch ihren weiteren mytho - logischen und philosophischen Ausbau, zu einem durchaus indoeuro - päischen, unsemitischen Gebilde wurde. Es ist unmöglich, den Ein - fluss des Judentums auf unsere ganze Geschichte vom Anfang an bis zum heutigen Tag klar herauszusondern, wenn man nicht über diese fundamentalen Begriffe » Religion « und » Glaube « bis zur vollen anschaulichen Deutlichkeit durchgedrungen ist. Ich gestehe, noch nie ein Werk gesehen zu haben, von welcher Art es auch immer sei, dem das nur annähernd gelungen wäre; meistens wird das Problem415Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.als solches gar nicht empfunden. Eine abstrakte Definition von Religion nützt uns wenig, sie klärt das Urteil gar nicht auf; auch die gelehrten und hochinteressanten Untersuchungen über den Ursprung der Religion und ihre Evolution haben für unseren jetzigen Zweck keinen Wert. Vielmehr kommt es darauf an, mit Augen zu sehen, was semitische (und speziell jüdische) Religion ist, welche Merkmale sie unterscheiden; nachher werden wir uns dann klar darüber werden, wie viel Semitisches in unser eigenes Denken übergegangen ist. Denn aus dem Charakter dieser Religion ergiebt sich notwendiger Weise die Art ihres Einflusses; und da andererseits die Heftigkeit des Willens ein besonderes Kennzeichen des Semiten ist, so dürfen wir erwarten, dass dieser Einfluss ein grosser sein werde. Der Materialismus der Anschauungen, die Hervorhebung des geschichtlichen Momentes dem idealen gegenüber, die starke Betonung der » Gerechtigkeit « im welt - lichen Sinne des Wortes, d. h. also des gesetzmässigen und moralischen Handelns und der Werkheiligkeit (im Gegensatz zu jedem Versuch innerer Umwandlung und zur Erlösung durch metaphysische Einsicht oder durch göttliche Gnade),1)Der indoeuropäischen Auffassung im Gegensatz zur semitischen verleiht an einer Stelle Zoroaster kräftigen Ausdruck: » Weltliche Gerechtigkeit, du Geiz - hals! du bildest die ganze Religion der bösen Geister und bist die Vernichtung der Religion Gottes! « (Dînkard VII, 4, 14). die Einschränkung der Phantasie, das Verbot der Gedankenfreiheit, die prinzipielle Intoleranz gegen andere Glauben, der glühende Fanatismus: das sind Erscheinungen, die wir überall in grösserem und geringerem Grade anzutreffen erwarten müssen, wo semitisches Blut oder semitische Ideen eingedrungen sind. Wir werden ihnen noch häufig im Verlaufe dieses Buches begegnen, sogar noch in den allermodernsten » freiesten « Anschauungen unseres Jahrhunderts, z. B. im doktrinären Sozialismus. Was speziell die Intoleranz anbetrifft, diese so gänzlich neue Erscheinung im Leben der indoeuropäischen Völker, so behalte ich mir das, was in dieser Beziehung über den » Eintritt der Juden « zu sagen ist, für das zweitnächste Kapitel vor, wo wir sehen werden, dass die ältesten Christen in beredten Worten die unbedingte religiöse Freiheit forderten, die späteren dagegen aus dem Alten Testament das göttliche Gebot der Intoleranz entnahmen.

Und so nehme ich den Faden wieder auf, dort, wo wir dieIsrael und Juda. Betrachtung über das Verhältnis der verschiedenen Typen im Blute der Israeliten, und über den möglichen Einfluss dieser Mischungen416Die Erben.auf ihren Charakter (bis auf die inzwischen erörterte religiöse Frage) beendet hatten. Dass in Bezug auf Religion innerhalb Israels das semitische Element mit der Zeit das hethitische besiegen musste, ist nach allem Gesagten klar; doch ward dieser Sieg schwer und langsam errungen und zwar nur im Süden, d. h. in Judäa (Juda und Benjamin), wo ein häufiger Zufluss von frischem arabischen (also fast rein - semitischen) Blut das Seinige dazu beigetragen haben mag. 1)Robertson Smith: The Prophets of Israel, legt grossen Nachdruck hierauf (p. 28); siehe auch Wellhausen: Prolegomena. In Israel (d. h. also im Norden des Landes) blieb der alte syrische Kultus bis zuletzt in Ehren: die Feste auf den Höhen, die Pilgerfahrten an heilige Orte, die Baalsbilder u. s. w.; selbst ein gegen » fremde Götter « so gestrenger Prophet wie Elias hatte gegen die Verehrung der goldenen Stiere nicht das Geringste einzuwenden,2)Ausführlicheres bei Wellhausen und Robertson Smith (z. B., Prophets of Israel, p. 63, 96). er verteidigte nur den » Gott in Israel « gegen die durch phönicische Königstöchter im - portierten, fremden Götter. Aus dem eigentlichen Israel wäre nie ein » Judentum « entstanden. Umso dringender ist es nötig, dass wir jetzt die jüdische Idee kennen lernen, die spezifisch jüdische im Gegensatz zu der des Volkes Israel. Und so gehe ich jetzt zu unserem dritten Punkt über, welcher besagte: der eigentliche Jude entstand erst im Laufe der Jahrhunderte durch allmähliche physische Ausscheidung aus der übrigen israelitischen Familie, sowie durch progressive Ausbildung einzelner Geistesanlagen und systematische Verkümmerung anderer; er ist nicht das Ergebnis eines normalen nationalen Lebens, sondern gewissermassen ein künstliches Produkt, erzeugt durch eine Priester - kaste, welche dem widersprechenden Volke mit Hilfe fremder Herrscher eine priesterliche Gesetzgebung und einen priesterlichen Glauben als von Gott gegeben aufzwang (S. 347).

Wie flüchtig meine Schilderung auch war, und trotzdem ich manche Thatsache, der Vereinfachung wegen, unerwähnt liess, glaube ich doch, dass der Leser eine ziemlich lebhafte und in ihren Grund - zügen durchaus zutreffende Vorstellung des mixtum compositum er - halten hat, aus welchem das israelitische Volk hervorging; er hat auch bemerkt, dass die Zusammensetzung des Blutes im Süden des Landes, wo Juda und Benjamin lagen,3)Die Grenzen Judas und Judäas (wozu seit David auch Benjamin gehörte) haben im Laufe der Zeiten sehr gewechselt: der ganze südliche Teil wurde nach schon von dem Augenblick417Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.der Ankunft in Palästina an, zum Teil anderen modifizierenden Ein - flüssen unterlag als weiter nördlich, und zwar nach der Richtung hin, dass das semitische Element im Süden fortwährend Zuwachs erfuhr. Wahrscheinlich reichte dieser Unterschied noch weiter zurück. Von Anfang an sehen wir die grossen, starken Stämme der Josephiten, Ephraim und Manasse, um die sich die meisten übrigen Stämme wie eine Familie gruppierten, mit einer gewissen Geringschätzung oder vielleicht mit Misstrauen auf Juda blicken. 1)Schon im Alten Testament wird in späterer Zeit zwischen Juda und Israel scharf unterschieden: » Und ich zerbrach meinen Stab genannt Einigkeit , dass ich aufhöbe die Brüderschaft zwischen Juda und Israel « (Sacharja XI, 14, siehe auch I. Sam. XVIII, 16); nicht selten wird auch Israel (d. h. die zehn Stämme ausser Juda und Benjamin) einfach als » das Haus Joseph’s « bezeichnet, im Gegen - satz zum » Haus Juda’s « (s. z. B. Sacharja X, 6).Der Auszug aus Ägypten und die Eroberung Palästinas geschieht unter der Führung der Josephiten: Moses gehört zu ihnen, nicht zu Juda (wenn er nicht überhaupt ein gänzlich unsemitischer Ägypter war);2)Renan meint: » il faut considérer Moïse presque comme un Égyptien « (Israël I, 220); sein Name soll ägyptischen, nicht hebräischen Ursprungs sein (idem p. 160). Nach der ägyptischen Tradition ist er ein entlaufener Priester aus Heliopolis, Namens Osarsyph (siehe Maspero: Histoire ancienne II, 449). Heute, als Reaktion gegen frühere Übertreibungen, ist es Mode, jeden Einfluss Ägyptens auf den israelitischen Kultus zu leugnen; diese Frage können nur Fachgelehrte ent - scheiden, namentlich insofern sie Zeremoniell, priesterliche Kleidung u s. w. betrifft; doch muss uns Ungelehrten das eine auffallen, dass die Kardinaltugenden der Ägypter Keuschheit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Demut (siehe Chantepie de la Saussaye: Religionsgeschichte I, 305), welche zu denen der Kanaaniter wenig stimmen, gerade diejenigen sind, welche das mosaische Gesetz ebenfalls am höchsten stellt. Josua gehört zu ihnen, Jerubbaal ebenfalls, überhaupt alle Männer von Bedeutung bis inklusive Samuel; Juda spielt in frühen Zeiten eine so unscheinbare Rolle, dass dieser Stamm in dem Triumphlied der Deborah z. B. überhaupt gar nicht genannt wird; wie Simeon und Levi, war auch Juda beim Betreten Palästinas fast vernichtet worden, so dass er » kaum mitgerechnet « wurde; von den drei Zweigen, aus dem er bestand, war ein einziger übriggeblieben und erst durch die Amalgamierung mit den angesessenen Hethitern und Amoritern erstarkte Juda nach und nach zu neuem Leben. 3)Wellhausen: Die Komposition des Hexateuchs, 2. Ausg., S. 320, 355.Mit David tritt er auch nur vorüber - gehend in den Vordergrund, und zwar nachdem der Benjamit Saul,3)dem Exil zu Idumäa geschlagen, dagegen dehnte sich das Gebiet durch die Annexionen des Judas Makkabäus später ein wenig nach Norden aus, in das frühere Ephraimitische.Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 27418Die Erben.aus der nächsten ephraimitischen Verwandtschaft, den Schwerpunkt ein wenig nach Süden verlegt hatte. Gleich nach Salomo’s Tod gerieten die Könige Judas in eine Art Vasallenverhältnis zu denen Israels, zum mindesten waren sie deren gezwungene und unter - geordnete Bundesgenossen. Doch handelt es sich hier nicht bloss um politische Eifersüchtelei; diese würde unsere Aufmerksamkeit nicht verdienen; sondern um einen tiefgehenden Unterschied in der Be - gabung und in der moralischen Veranlagung, um einen Unterschied, der in allen Geschichtswerken hervorgehoben wird, und der eine wichtigste Grundlage zu der späteren so eigentümlichen und durchaus antiisraelitischen Entwickelung des Judentums abgiebt. Später wurde ja Juda materiell von Israel durch die Gefangennahme und Ent - führung dieses letzteren isoliert und auf ewig geschieden (sieben Jahrhunderte vor Christo); Juda behielt aber von seinem Bruder ein geistiges Erbe: die Geschichte des Volkes, die Grundlagen seiner politischen Organisation, seiner Religion, seines Kultus, seines Gesetzes, seiner Poesie . Alles dies, d. h. also alles Schöpferische, ist in den wesentlichen Stücken israelitisches Werk, nicht das Werk Juda’s. Nun aber blieb Juda allein zurück und bearbeitete dieses Material seinem besonderen Geiste gemäss; daraus aus diesem Werk der bisher unmündigen, nunmehr plötzlich sich selbst über - lassenen Söhne Juda’s wurde das Judentum; und (wie aus der Henne das Ei und aus dem Ei die Henne) aus dem Judentum entsprang der Jude.

In dem Betonen der geistigen Überlegenheit des Hauses Joseph sind alle Autoren einig; einen einzigen will ich als Beleg anführen. Robertson Smith schreibt: » Das nördliche Reich war es, welches die Fahne Israels hochhielt: seine ganze Geschichte ist interessanter und reicher an heroischen Elementen; seine Kämpfe, seine Niederlagen und seine Ruhmesthaten, alles ist gewaltiger Das Leben im Norden war ruheloser, es war aber auch geistig regsamer und intensiver. Ephraim war der Führer nicht allein in Politik, auch in Litteratur und Religion. In Ephraim, viel mehr als in Juda, wurden die Überlieferungen der Vergangenheit heilig gehalten, zugleich aber fand gerade dort jene Entwickelung der Religion statt, welche zu neuen Problemen und somit zum Auftreten der Propheten führte. So lange das nördliche Reich stand, war Juda sein Schüler, der beides, Gutes und Übles, von ihm annahm. Es wäre leicht nachzuweisen, dass jede bedeutende Regung des Lebens und Denkens419Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.in Ephraim, im südlichen Reiche ein abgeschwächtes Echo hervor - rief. « 1)The Prophets of Israel, p. 192. Hier ist in anschaulicher Weise kurz zu - sammengefasst, was derselbe Gelehrte und andere an vielen Orten ausführlich be - gründet haben.Alles Geschichtliche, was das Alte Testament aus vorexilischer Zeit enthält, bis zu David, sowie auch manches spätere, stammt aus Israel, nicht aus Juda. Um das nachzuweisen, müsste ich die Resultate der biblischen Kritik mit einiger Ausführlichkeit analysieren, was zu weit führen würde; die klarste und kürzeste Zusammen - fassung findet der Laie in Renan’s Israël, Buch IV, Kap. 2 und 3; ungleich mehr Belehrung (wenn er die Mühe daran wenden will) und daher auch tiefere Einsicht, gewähren die kritischen Werke Dillmann’s, Wellhausen’s u. s. w. Das in IV Mose XXI, 14 genannte » Buch der Kriege Jahve’s « und andere verschwundene Quellen, aus denen nicht allein die geschichtlichen Teile des Hexateuch, sondern auch die Bücher Samuelis, der Könige u. s. w. später redigiert wurden, sind im Hause Joseph’s, dessen Ruhm sie singen, entstanden. Wo der Stamm Juda überhaupt genannt wird, geschieht es in der offenbaren Absicht, ihn herabzusetzen, z. B. Gen. XXXVII, wo Juda allein auf den niederträchtigen Einfall gerät, Joseph für Geld zu verkaufen, und noch mehr im folgenden Kapitel, wo dieser Stamm von Beginn an als ein sittenloser und aus Blutschande hervorgegangener dargestellt wird, worauf als Kontrast sofort die Geschichte des keuschen Joseph folgt. Dies lediglich als Beispiel. Auch das religiöse Gesetz stammt in seinen grossen grundlegenden Zügen aus Israel, nicht aus Juda. Über die zehn Gebote ist viel hin - und hergestritten worden, namentlich seit Goethe’s Entdeckung von Wellhausen aus der Vergessenheit entrissen und wissenschaftlich ausgeführt dass die urprünglichen zehn Gebote (Exodus XXXIV) durchaus anders lauteten, als die später interpolierten und sich lediglich auf Angelegenheiten des Kultus bezogen. 2)Goethe: Zwo wichtige, bisher unerörterte biblische Fragen, zum ersten Mal gründlich beantwortet. Erste Frage: Was stund auf den Tafeln des Bundes? Uns kann es genügen, dass auch der spätere Dekalog aus Exodus XX, der im christlichen Katechismus einen Platz gefunden hat, nach der Meinung eines so gelehrten und orthodoxen Rabbiners wie Salomon Schechter, das Werk eines Priesters aus dem nördlichen Reiche, nicht aus Judäa ist, eines Mannes, der etwa im 9. Jahrhundert gelebt haben dürfte, also mindestens 100 bis 150 Jahre nach Salomo, zur Zeit der grossen27*420Die Erben.Dynastie der Omriden. 1)Siehe Schechter’s Nachtrag zu Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 557.Diese Feststellung ist nicht allein interessant, sondern geradezu » pikant «, denn die späteren reinjüdischen Redakteure der heiligen Bücher haben sich alle erdenkliche Mühe gegeben, das israelitische Reich als ein abtrünniges, heidnisches hinzustellen, und nun kommt es heraus, dass die Grundlagen des religiösen Gesetzes gerade aus diesem verpönten Reich, nicht aus dem frommen Juda stammen. Für die genaue Umschreibung des spezifisch Jüdischen ist es wichtig, dies zu wissen: durch Schöpferkraft, selbst auf dem be - schränkten, religiös gesetzgeberischen Gebiet hat sich der Jude nie aus - gezeichnet; selbst sein Eigenstes ist entlehnt. Denn auch die grosse prophetische Bewegung, welche, wohl beachtet, die einzige Erscheinung des hebräischen Geistes ist, die dauernden inneren Wert besitzt, ent - stand im Norden. Elias, in mancher Beziehung die merkwürdigste, am meisten phantastische Erscheinung der gesamten israelitischen Ge - schichte, wirkt nur dort. Die Berichte über Elias sind so karg, dass Manche ihn überhaupt für eine erdichtete Persönlichkeit halten;2)Siehe namentlich Renan: Israël, II, 282 suiv. doch meine ich mit Wellhausen, dass dies historisch unmöglich sei, denn Elias ist der Mann, der den Stein ins Rollen bringt, der Erfinder ge - wissermassen der wahren Jahvereligion, der grosse Geist, der den mono - theistischen Kern, wenn er ihn auch noch nicht deutlich sieht, doch ahnt. Hier wirkt eine grosse Persönlichkeit, und um zu wirken, muss sie gelebt haben. Von besonderem Interesse ist die einzige genauere Nach - richt, die wir über ihn besitzen: darnach wäre er nämlich kein Israelit, sondern ein » halbberechtigter Einsasse « von jenseits des Jordans, von der äussersten Grenze des Landes, ein Mann also, in dessen Adern aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich reines arabisches Blut floss. 3)Siehe vor Allem Graetz: Geschichte der Juden I, 113; auch Maspero: Histoire ancienne II, 784.Das ist interessant, denn es zeigt das echte semitische Element am Werk, um sein Religionsideal zu retten, welches im Süden durch den Eklekticismus solcher halber Amoriter wie David und amoritischer Hethiter wie Salomo, im Norden durch die weltlich gesinnte Toleranz der vorwiegend kanaanitischen Bevölkerung arg bedroht war. Im Norden allein, der durch die Lage begünstigt war und dessen Bewohner sich wahrscheinlich auch durch grösseren Fleiss und Handelssinn aus - zeichneten, war nämlich schon Wohlstand und mit ihm Luxus und421Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Kunstsinn heimisch geworden; eine der Sünden, die Amos den Israeliten vorwirft, ist, dass sie » Lieder machen wie David «! Da empörte sich der anticivilisatorische Instinkt des echteren Semiten; der edel Gesinnte empfand instinktiv und gewaltig die Inkompatibilität zwischen der fremden Kultur und den geistigen Anlagen seines Volkes; er sah vor seinen Füssen die Grube sich öffnen, in die in der That alle bastardierten semitischen Reiche schnell und spurlos versunken sind, und, furchtlos wie der Beduin, erhob er sich zum Kampf. Sofort, von Elias an, gleicht diese Prophetenbewegung einem gesunden, trockenen Wüsten - wind, der, von fernher heranstürmend, die Blüten der Fäulnis doch zugleich auch die Knospen der Schönheit und der Kultur versengt. Auch Elisa, der Nachfolger des Elias, hat seinen Wohnort in Ephraim. Nun tritt aber der erste grosse Prophet auf, dessen Worte wir noch besitzen. Ich sage » gross «, wenn er auch wegen des geringen Um - fanges seiner Schriften zu den sogenannten » kleinen Propheten « ge - rechnet wird; denn Amos ist, was Tiefe des religiösen Gedankens, sowie Schärfe des politischen Blickes anbelangt, den grössten ebenbürtig. Dieser Prophet soll zwar aus Judäa stammen, doch wird dies von Vielen (z. B. von Graetz) bezweifelt;1)Auch von Neueren (z. B. Cheyne), seitdem nachgewiesen ist, dass die berühmte Stelle: » Der Herr wird aus Zion brüllen « (Amos I, 2) eine späte jüdische Interpolation ist. jedenfalls kennt er das josephitische Reich als wäre es seine Heimat und seine Ermahnungen gelten lediglich diesem Reiche. Der nächste grosse » kleine Prophet «, Hosea, eine ebenso einzige Erscheinung wie Amos, ist Ephraimiter; auch er geht auf in den Schicksalen des einen Hauses Joseph; mit ganzem Herzen hängt er an seinem geliebten Volk, und, wie das einmal Prophetenart ist, verkündigt er viele Dinge voraus, die nicht geschahen: die Er - rettung Israels durch den mitleidigen Jahve, und die ewige Herrschaft dieses Volkes. Hiermit schliesst die Reihe, hiermit endet der Einfluss Israels auf Juda; denn vermutlich noch zu Lebzeiten Hosea’s, jedenfalls bald nach seinem Tode, wird das ganze nördliche Volk von den Assyrern in die Gefangenschaft weggeschleppt und kehrt nie wieder.

Erst von diesem Augenblick, d. h. vom Jahre 721 vor ChristoDas Werden des Juden. an, konnte der eigentliche Jude zu entstehen beginnen; bis dahin, wie wir soeben gesehen, hatte Juda politisch, sozial und religiös im Schlepptau des offenbar viel begabteren Israel schwimmen müssen, jetzt stand dieser Stamm allein, auf eigenen Füssen. Die Lage war eine furchtbare. Mit Zittern und Entsetzen hatten die Juden dem422Die Erben.tragischen Schicksal ihrer Brüder zugesehen, welches sie selber ihres einzigen Schutzes beraubte; nunmehr schloss sich der Kreis der Feinde eng um das kleine Land; wie sollte es gegen Weltreiche bestehen? Zunächst fristete es sein Leben als des Assyrers freiwilliger Vasall und genoss dessen Schutz gegen seine nächsten Bedränger, die Damascener; dann benutzte es den Todeskampf des mächtigen Be - schützers, um sich von ihm freizumachen, es intriguierte mit Ägypten, söhnte sich wieder durch Bezahlung schwerer Sühne und Abtretung gewisser Länderstriche mit den neuen Herren Kleinasiens, den Chaldäern, aus kurz, das Königreich zog sein ziemlich kümmerliches Dasein noch etwa 120 Jahre hin, bis endlich, bei Gelegenheit eines neuerlichen Abfalles, Nebuchadrezzor die Geduld riss, und er den König samt zehntausend der angesehensten Leute nach Babylon in die Gefangenschaft führen liess; elf Jahre später, als die Intriguen noch immer nicht aufhören wollten, zerstörte er Jerusalem und den Tempel und liess die übrigen freien Männer Judäas mit ihren Familien ebenfalls nach Babylonien schleppen; einige (unter ihnen Jeremia) flohen nach Ägypten und gründeten die dortige Diaspora. Nach weiteren sechzig Jahren kehrte zwar ein Teil der Exulanten zurück, doch nur ein Teil; die Mehrzahl der Wohlhabenderen hatte es vorgezogen, in Babylon zurückzubleiben; über ein Jahrhundert dauerte es, bis die kleine heimgekehrte Kolonie, die eine unverhältnismässig grosse Anzahl Priester und Leviten enthielt, sich in Jerusalem und dem angrenzenden, sehr zusammengeschrumpften judäischen Gebiet organisiert, sowie einen Tempel und die Mauern der Stadt wieder aufgerichtet hatte; ohne den gnädigen Schutz der persischen Monarchen und ohne die Gaben der im Ausland schnell reich gewordenen Juden wäre es ihnen über - haupt nie gelungen. Ein Judäa und ein Jerusalem gab es also wieder, doch hat es von der Zeit an nie mehr einen unabhängigen, judäischen Staat gegeben. 1)Nur mit Hilfe der Syrier gelangten die Makkabäer zur Herrschaft, und auch die ihnen entsprungenen Fürsten des Hasmonäischen Hauses haben nur hin und wieder einen Schein von Unabhängigkeit inmitten der Wirren, die der römischen Herrschaft vorangingen, errungen.

Die Entwickelung aus dem Judäer zum eigentlichen Juden geschah also unter der Mitwirkung bestimmter historischer Bedingungen. Man pflegt zu sagen, die Geschichte wiederhole sich; sie wiederholt sich im Gegenteil nie;2)Vergl. S. 164 Anmerkung. der Jude ist eine ganz einzige Erscheinung, zu der423Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.keine Parallele aufgewiesen werden kann; ohne die bestimmten historischen Bedingungen aber wäre er das nicht geworden, was er wurde; die besondere ethnologische Mischung, aus der er hervor - gegangen und seine weitere Geschichte bis zu seiner Isolierung von Israel hätten nicht das anormale Phänomen des Judentums hervor - gebracht, wenn nicht eine Reihe merkwürdiger Umstände diese besondere Entwickelung begünstigt hätte. Diese Umstände sind leicht aufzuzählen; es sind ihrer fünf, die wie die Räder eines geschickt gebauten Uhrwerkes ineinandergreifen: die plötzliche Isolierung, die hundertjährige Frist zur Ausbildung der Eigenart, der Abbruch aller geschichtlichen Lokaltradition durch das Exil, die Wiederanknüpfung unter einer neuen, in der Fremde geborenen Generation, der Zustand politischer Abhängigkeit, in dem die Juden sich fortan befanden. Eine kurze Betrachtung dieser historisch nacheinander zur Geltung ge - kommenen Momente wird uns das Werden des Judentums vollendet klar veranschaulichen.

1. Die Männer Judas waren gewohnt gewesen (gewissermassen als Minderjährige), Anregung von dem älteren, stärkeren und begabteren Bruder zu erhalten: jetzt standen sie auf einmal allein, im Besitz einer wahrscheinlich nur fragmentarischen Tradition und genötigt, die weitere geistige Entwickelung selber zu leiten. Es war wie ein plötzlicher, gewaltsamer Ruck, auf welchen keine andere Reaktion erfolgen konnte als eine gewaltsame, wenig harmonische.

2. Wären die Assyrer sofort in Juda eingefallen und hätten die Einwohner zerstreut, so wären diese ohne Frage eben so spurlos wie die Israeliten verschwunden. Nun blieben die Judäer aber über ein Jahr - hundert verschont und zwar in einer Lage, welche sie geradezu zwang, die letzte Anregung, die sie von Israel erhalten, bis auf ihre äusserste, übertriebenste Konsequenz auszunutzen, und das war die von den Propheten Amos und Hosea ausgegangene: moralische Umkehr, Demüti - gung vor Gott, Vertrauen auf seine Allmacht. Das war auch wirklich der letzte Hoffnungsanker; an Sieg durch Menschenkraft gegen die heranrückende Weltmacht war nicht zu denken. Doch fassten die Juden die hohe Lehre des Amos rein materialistisch auf. In ihrer Not verstiegen sie sich bis zu dem wahnsinnigen Gedanken, Jerusalem sei uneinnehmbar, als Jahve’s Wohnort. 1)Siehe Jesaia, Kap. 37, namentlich die Verse 33 37.Die vernünftigen Leute schüttelten freilich skeptisch den Kopf, doch als Sennacherib’s Heer,424Die Erben.nachdem es das umliegende Land verwüstet und die Belagerung Jeru - salem’s begonnen hatte, plötzlich abrücken musste, da behielten die Propheten Recht; eine Pest war im Lager ausgebrochen, sagen die Einen, innere Wirren, sagen die Anderen, verursachten diesen Rück - zug;1)Vergl. über diese Frage Cheyne: Introduction to the Book of Isaiah, p. 231 fg. Interessant ist es, aus den assyrischen Berichten zu erfahren, dass Jerusalem durch ein arabisches Söldnerheer verteidigt war; durch den Mangel an militärischer Be - fähigung hat sich Juda von jeher ausgezeichnet. gleichviel: an jenem Morgen des Jahres 701 vor Christus, an dem die Bewohner Jerusalem’s die Armee Sennacherib’s nicht mehr unter ihren Mauern erblickten, ward der Jude geboren und mit ihm jener Jahve, den wir aus der Bibel kennen. Dieser Tag ist der Angelpunkt in der Geschichte Juda’s. Selbst die fremden Völker erblickten in der Errettung Jerusalem’s ein göttliches Wunder. Mit einem Schlag waren die bisher verhöhnten und verfolgten Pro - pheten Jesaia und Micha die Helden des Tages; der König musste zu ihrer Partei übertreten und die Reinigung des Landes von fremden Göttern beginnen. Der Glaube an die Vorsehung Jahve’s, die Meinung, dass alles Wohlergehen von dem passiven Gehorsam gegen seine Gebote abhänge, dass jedes nationale Unglück als Prüfung oder Strafe eintrete, die unerschütterliche Überzeugung, dass Juda das auserwählte Volk Gottes sei, wogegen die anderen Völker tief unter ihm stünden, kurz, der ganze Komplex von Vorstellungen, der die Seele des Judentums ausmachen sollte, entstand jetzt, entwickelte sich ziemlich rasch aus Keimen, die unter normalen Verhältnissen niemals solche Blüten her - vorgebracht hätten, schenkte grosse Widerstandskraft, erstickte dafür viel Vernünftiges, Gesundes, Natürliches, wurde zu einer idea fixa. Jetzt erst wurden jene folgenschweren Worte geschrieben: » Zu deinen Vätern allein hat Gott Lust gehabt, dass er sie liebte, und nach ihnen ist es ihr Same, den er allein unter allen Völkern auserwählt hat « (Deut. X, 15). Vom Jahre 701 bis zum Jahre 586, wo Jerusalem zerstört wurde, hatten die Juden über ein Jahrhundert Zeit zur Aus - bildung dieser Idee. Die Propheten und Priester, die jetzt das Heft in der Hand hielten, benützten die Frist gut. Trotz der liberalen Reaktion Manasse’s, haben sie es fertig gebracht, erst die anderen Götter zu vertreiben und sodann den genialen Wahngedanken einzu - führen, man könne Gott einzig und allein in Jerusalem verehren, weswegen König Josiah die » heiligen Höhen « und alle anderen heiligsten Altäre des Volkes zerstörte, die meisten Leviten dieser angeblich von425Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.den Patriarchen gegründeten, durch Theophanien geweihten Tempel um - brachte, die übrigen zu untergeordneten Dienern des jerusalemitischen Gotteshauses machte: jetzt gab es nur noch einen Gott, einen Altar, einen Hohenpriester; die Welt war um den Begriff (wenn auch noch nicht um das Wort) Kirche reicher, die Grundlage zur heutigen römi - schen, mit ihrem unfehlbaren Oberhaupt, war gelegt. Um das zu vollbringen, hatte man allerdings zu einer geschickten Fälschung greifen müssen, das Muster vieler späteren. Im Jahre 622 wurde bei einer Ausbesserung des Tempelgebäudes ein » Gesetzbuch « angeblich » ge - funden «;1)II Könige XXII. dass es erst damals geschrieben worden war, unterliegt heute nicht dem mindesten Zweifel. Das Deuteronomium oder fünfte Buch Mose (» eine ganz überflüssigste Ausbreitung der zehn Gebote «, urteilt Luther) gilt der Einführung eines Priesterregimentes, wie es in Israel und Juda zu keiner Zeit bestanden hatte, und ausserdem der gesetzlichen (zugleich, wie immer bei den Hebräern, historischen) Be - gründung der einzigen Berechtigung Jerusalems ein Gedanke, der so lange das nördliche Reich, Israel, bestand, niemals hätte gefasst werden können, und der selbst dem so fanatisch patriotischen und jerusalemitisch gesinnten Jesaia noch gänzlich fremd gewesen war. 2)R. Smith: Prophets of Israel p. 438. Im Deuteronomium wird der Grund - stein zum eigentlichen Judentum gelegt. Es bildet den Mittelpunkt des Alten Testamentes in seiner jetzigen Gestalt: » von welchem aus vor - und rückwärts, mit einiger Aussicht auf richtiges Verständnis des übrigen, geforscht werden kann und muss «, sagte schon vor vielen Jahren Reuss, in seiner grundlegenden Geschichte des Alten Testaments, § 286.Dies Alles nicht etwa aus schlechter, betrügerischer Absicht, sondern um den Kultus des rettenden Gottes, Jahve, fortan reinzuhalten, und zugleich als Beginn einer moralischen Regeneration. Hier taucht z. B. zum ersten Mal, schüchtern und verklauselt, das Gebot auf, man solle Gott den Herrn lieben; zugleich brachte dieses Buch die fanatisch - dogmatische Versicherung, dass die Juden allein Gottes Volk seien, und damit in Verbindung tritt das Verbot von Mischehen zum ersten Mal auf, sowie auch das Gebot, alle » Heiden «, dort wo Juden wohnen, » aus - zurotten «, und jeden Juden, Mann oder Weib, der nicht rechtgläubig sei, zu steinigen (XVII, 5); zwei Zeugen sollten genügen, um das Todesurteil zu sprechen: die Welt war um den Begriff der religiösen Intoleranz reicher. Wie neu dieser Gedankengang dem Volke war, und unter welchen besonderen Umständen allein er Fuss fassen426Die Erben.konnte nämlich inmitten stündlicher Gefahr und nach der wunder - baren Errettung Jerusalem’s aus Sennacherib’s Händen zeigt die stets wiederkehrende Formel: » der Herr hat geboten, dass wir ihn fürchten, auf dass es uns wohl gehe alle unsere Lebtage, wie es gehet heutiges Tages «. Furchtbare Strafen auf der einen, masslose Ver - heissungen auf der anderen Seite, dazu die ewig wiederkehrende Auf - zählung der Wunder, die Jahve zu Gunsten Israel’s gethan hat: das sind die Überzeugungsmittel des Buches Deuteronomium, der ersten selbst - ständigen That der Juden auf religiösem Gebiete. 1)Das Kapitel XXVIII (allerdings postexilisch) enthält die Segnungen, » so du nicht weichst von irgend einem Wort, das ich euch heute gebiete «, und darauf die Flüche, über hundert an der Zahl, alles Entsetzlichste enthaltend, was eine krank - hafte Phantasie sich ausdenken kann, » denn Gott wird sich freuen, dass er euch umbringe «.Sehr erhaben ist dieses religiöse Motiv nicht, das muss ich allen jüdischen und christ - lichen Kommentatoren zum Trotz behaupten; jedoch, von einem fanatischen Glauben erfasst, ist es ein unvergleichlich kräftiges. Der Erstarkung dieses Glaubens gelten fortan alle Bemühungen, wiederum von den Umständen merkwürdig begünstigt.

3. Man möchte meinen, die Zerstörung Jerusalems und das Exil müssten das Vertrauen auf Jahve erschüttert haben, doch der Vernichtungsschlag kam nicht auf einmal und die hinreissende Glaubens - kraft eines Jeremia hatte hinreichend Zeit, sich auf neue Verhältnisse zu stimmen. Schnell war inzwischen bei den Grossen des Reiches die moralische Regeneration in ihr Gegenteil umgeschlagen; ohne Furcht thaten sie Übles. Doch Jeremia sah die Zukunft anders: in dem Babylonier erblickte dieser Prophet die Geissel Gottes, gesandt, Juda für seine Sünden zu strafen; wie die Errettung aus der Liebe Jahve’s zu seinem auserwählten Volk hervorgegangen sei, ebenso sei jetzt die Züchtigung Liebe; und so weissagte Jeremia im Gegensatz zu Jesaia die Zerstörung Jerusalems und wurde dafür als Verräter, als ein Söldling der Babylonier verfolgt. Wiederum behielt aber der Prophet Recht, die klugen Weltmenschen Unrecht; denn diese Letzteren ver - liessen sich diesmal auf Jahve; hatte man sie denn nicht seit einem Jahrhundert gelehrt, Jerusalem sei uneinnehmbar? Und als die Zer - störung nun kam, sagte man: seht, der Prophet hat wahr gesprochen, das ist die Hand Jahve’s. Die hohe Bedeutung des Exils für die Weiter - entwickelung und Befestigung dieser Wahnvorstellung ist nun leicht ein - zusehen. Ohne die Verbannung wäre das echte, so erstaunlich abstrakte427Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Judentum nie zur Blüte gekommen. Die Könige Hiskia, Josia und Zedekia hatten die Altäre umwerfen und die heiligen Bäume abhauen können, doch das Volk liess sich seine Heiligtümer nicht rauben; jetzt aber war es mit einem Mal aus aller Tradition losgerissen; der sechzig - jährige Aufenthalt im babylonischen Reiche schnitt sozusagen den Faden der Geschichte entzwei; Keiner, der als urteilsfähiger Mann das Land seiner Väter verlassen hatte, kehrte wieder zurück. Wenn ein einzelner Mann sein Vaterland auf fünfzig Jahre verlässt, ja, nur auf zwanzig, kehrt er heim zu Verwandten und Freunden, ein Fremder unter Fremden; er vermag es nicht, sich in das spezielle organische Gesetz des individuellen Wachstums dieses besonderen Volkes wieder hineinzuleben, namentlich nicht, wenn er in früher Jugend das Heimatland verliess. Hier verliess eine ganze Nation die historische Heimat; die später Zurückkehrenden waren fast ausnahmslos in der Fremde geboren und gross geworden, viel - leicht lebte nicht Einer, der mit Bewusstsein sich Judäas entsann. Und inzwischen, in Babylon, während die segensreiche Verbindung mit der Vergangenheit (das Verhältnis des Kindes zur Mutter) abge - brochen war, brüteten die verbitterten Zeloten unter den Verbannten über ihr Schicksal und fassten Gedanken, die sie daheim nicht hätten denken können. Im Exil wurde das spezifische Judentum gegründet, und zwar von Hesekiel, einem Priester aus der hohenpriesterlichen Familie; den Stempel des Exils hat das Judentum daher von Anfang an getragen; sein Glaube ist nicht der Glaube eines gesunden, freien, um seine Existenz im ehrlichen Wettbewerb kämpfenden Volkes, sondern er atmet Ohnmacht und Rachsucht, und sucht über das Elend des Augenblickes durch Vorspiegelung einer unmöglichen Zu - kunft hinwegzutäuschen. Hesekiel’s Buch ist das furchtbarste der Bibel; durch Anwendung der äussersten Mittel der entsetzlichsten Drohungen und der frevelhaftesten Verheissungen wollte dieser gedankenarme, abstrakt formalistische, doch edle, patriotische Geist1)Besonders vortrefflich charakterisiert im zwölften Kapitel von Duhm’s: Theologie der Propheten. Eduard Meyer: Die Entstehung des Judentums, S. 219, giebt folgende Umrisszeichnung: » Hesekiel war offenbar eine ganz ehrliche Natur, aber ein bornierter, überdies in den engen Standesanschauungen des Priesters aufge - wachsener Mensch, nicht in einem Atem zu nennen neben den gewaltigen Ge - stalten, denen er sich durch Umhängung eines sehr fadenscheinigen Propheten - mantels an die Seite zu stellen unterfing. « den stark erschütterten Glauben seiner Brüder und mit ihm die Nation retten. Bis zu seiner Zeit war die israelitische Religion, gleichwie in428Die Erben.Rom, in Griechenland, in Ägypten, eine Erscheinung unter anderen des nationalen Lebens gewesen, und das Priestertum ein Glied in der staatlichen Organisation; Hesekiel lehrte: nein, Israel ist nicht auf der Welt, um wie andere Völker zu schaffen und zu kriegen, zu arbeiten und zu ersinnen, sondern um Jahve’s Heiligtum zu sein; beobachtet es Jahve’s Gesetz, so wird ihm Alles geschenkt werden; an Stelle des Staates sollte nunmehr die Herrschaft des religiösen Gesetzes treten, die sogenannte Nomokratie. Selbst das Deuteronomium hatte noch zuge - geben, dass andere Völker andere Götter hätten; Amos, als vereinzelter grosser Geist, hatte einen kosmischen Gott geahnt, der etwas mehr sei als der blosse politische deus ex machina eines besonderen Völkchens: Hesekiel verband nun die beiden Vorstellungen und schmiedete daraus den Jahve des Judentums, den Monotheismus in grässlich verzerrter Gestalt. Jawohl, Jahve ist der alleinige und allmächtige Gott, doch lebt er einzig seinem eigenen Ruhme; mitleidig gnädig gegen die Juden (denn durch sie will er seinen Ruhm verkünden und seine Macht zeigen unter der einen Bedingung, dass sie sich einzig und allein seinem Dienste widmen), doch allen anderen Völkern der Erde ein grausamer Gott, der sie » mit Pestilenz und Blut « heimsuchen will, » damit er herrlich, heilig und bekannt werde «! Alle diese anderen Völker sollen vernichtet werden und Jahve befiehlt seinem Propheten, die Vögel und die Tiere der Welt zusammenzurufen, » auf dass sie das Fleisch der Starken fressen und das Blut der Fürsten saufen sollen «. Nebenbei enthält das Buch den Entwurf zu der Organisation einer Hierokratie und zu einer neuen Kultuszwangsjacke: lauter Dinge, über die ein im Exil lebender Priester sich der ungezügelten Phantasie hingeben konnte, was unmöglich gewesen wäre, hätte er mitten in einem nationalen Leben gestanden, wo jede neue Verordnung gegen Sitte und Her - kommen anzukämpfen gehabt hätte. Doch nicht lange nach Hesekiel’s Tod eroberte der edle Perserkönig Cyrus die babylonischen Gebiete; mit der Naivetät des wenig gewitzigten Indoeuropäers gestattete er die Rückkehr der Juden und gewährte ihnen Unterstützung für den Wiederaufbau ihres Tempels; unter dem Schutz arischer Toleranz wurde der Herd aufgerichtet, aus dem semitische Intoleranz jahrtausendelang, allem Edelsten zum Fluche, dem Christentum zu ewiger Schmach, sich wie ein Gift über die Erde ergiessen sollte. Wer auf die Frage: wer ist der Jude? eine klare Antwort geben will, vergesse das Eine nie: dass der Jude, dank dem Hesekiel, der Lehrmeister aller Intoleranz, alles Glaubensfanatismus, alles Mordens um der Religion willen ist,429Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.dass er an die Duldsamkeit immer nur dann appellierte, wenn er sich bedrückt fühlte, dass er sie selber jedoch niemals übte noch üben durfte, denn sein Gesetz verbot es ihm und verbietet es ihm auch heute und morgen.

4. Hesekiel hatte geträumt, doch durch die Rückkehr wurde sein Traum zur Wirklichkeit; sein Buch nicht die Geschichte Israel’s, nicht die Stimmen der grossen Propheten war fortan das Ideal, nach welchem das Judentum organisiert wurde. Und dies wiederum konnte nur dank dem Umstande geschehen, dass der ge - schichtliche Prozess bei einer neuen Generation anknüpfte, bei einer Generation, in welcher selbst die Sprache der Väter vergessen worden war, und nur die Priester sie noch verstanden. 1)Bald darauf, mehr als 400 Jahre vor Christus, erlosch die hebräische Sprache überhaupt (Peschel: Völkerkunde, 2. Aufl., S. 532); ihre Wiederaufnahme viele Jahrhunderte später geschah künstlich, und einzig, um die Juden von ihren Gastgebern in europäischen Ländern zu scheiden, woraus dann solche Eigentüm - lichkeiten sich ergaben, wie dass heutzutage die französischen Bürger » israelitischer Konfession « in Algerien ihre Wahlzettel nur hebräisch schreiben können, während Judas Makkabäus das nicht vermocht hätte! Das verwahrloste Sprachgefühl unserer heutigen Juden kommt daher, dass sie seit Jahrhunderten in gar keiner Sprache heimisch sind, denn eine tote Sprache kann nicht auf Befehl wieder lebendig werden und das hebräische Idiom wird von ihnen ebenso gemisshandelt wie jedes andere.Einzig dank dem Zusammentreffen so ungewöhnlicher Umstände ward jetzt etwas möglich, wovon die Weltgeschichte kein zweites Beispiel auf - weist: dass von einzelnen zielbewussten Männern einem ganzen Volke eine durchaus erfundene, kunstgemäss erdachte, ungemein komplizierte Religions - und Kultusgeschichte als altgeheiligte Tradition aufgezwungen werden konnte! Der Vorgang ist ein ganz anderer als bei den christlichen Konzilien, wo beschlossen wurde, das und jenes müsse der Mensch glauben, denn es sei die ewige Wahrheit; dem Juden ist das Dogma in unserem Sinne fremd; für die materia - listische Auffassung, die überall vorwaltet, wo der semitische Geist, sei es auch nur, wie hier, als spiritus rector, herrscht, muss jede Überzeugung auf geschichtlicher Grundlage ruhen. Und so wurden denn hier der neue exklusive Jahve-Glaube, die neuen Verordnungen für den Tempelkultus, die vielen neuen Religionsgesetze2)Gesetz und Religion, man vergesse das nie, ist bei den Juden synonym siehe Moses Mendelssohn). als historische, in alten Zeiten von Gott befohlene, seitdem stets (ausser von ab - trünnigen Sündern) beobachtete Dinge eingeführt. Der Anfang war430Die Erben.ja schon vor dem Exil mit dem Deuteronomium gemacht worden; doch war das nur ein schüchterner Versuch gewesen und zwar dem damals noch lebendigen Volksbewusstsein gegenüber kein sehr erfolg - reicher. Jetzt war die Lage eine ganz andere. Erstens hatte das Exil, wie ich schon sagte, den historischen Faden durchschnitten, sodann bestanden die heimgekehrten Exulanten der überwiegenden Mehrzahl nach aus zwei Menschenklassen: einerseits aus den ärmsten, un - wissendsten, abhängigsten des Volkes, andererseits aus Priestern und Leviten. 1)Vergl. Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, S. 159. Derselbe Autor schreibt in seinen Prolegomena, S. 28: » Aus dem Exil kehrte nicht die Nation zurück, sondern eine religiöse Sekte «.Die reicheren, weltlich gesinnten Juden hatten es vor - gezogen, in der Fremde zu bleiben, sie fühlten sich dort wohler als im eigenen Gemeinwesen, doch blieben sie (wenigstens zum grossen Teil) Juden, teils ohne Zweifel, weil dieser Glaube ihnen entsprach, teils wohl auch wegen der Privilegien, die sie sich überall zu sichern wussten, zu denen in erster Reihe die Befreiung vom Militärdienst gehörte. 2)Geschichtsphilosophisch würde man wohl diese eigentümliche Vorliebe der Juden für den abhängigen, gewissermassen parasitären Zustand aus dem lang andauernden Abhängigkeitsverhältnis zu Israel erklären. Es ist übrigens höchst bemerkenswert, dass die Juden nicht erst auf das Exil (noch weniger auf die sog. Zerstreuung) warteten, um ihre Vorliebe für dieses Leben zu bethätigen. Man hat in einer Reihe von Städten an den Ufern des Tigris und des Euphrat jüdische Siegel aus älteren Epochen gefunden, und schon zur Zeit Sennacherib’s, also hundert Jahre vor der ersten Zerstörung Jerusalems, war das grösste Bankhaus Babylons ein jüdisches; diese Firma » Egibi Brüder « soll eine ähnliche Stellung im Orient eingenommen haben wie heute in Europa das Haus Rothschild. (Vergl. Sayce: Assyria, its princes, priests and people, p. 138.) Man lasse uns doch endlich einmal in Ruhe mit dem Ammenmärchen, die Juden seien » von Natur « Ackerbauer und nur im Laufe des Mittelalters, weil jede andere Beschäftigung ihnen ab - geschnitten war, à leur coeur défendant Geldverleiher geworden; man lese doch die Propheten etwas fleissiger, die immer über den Geldwucher klagen, der den Reichen als Mittel diene, die Bauern zu Grunde zu richten; man rufe sich die berühmte Talmudstelle ins Gedächtnis: » Wer hundert Gulden im Handel hat, kann alle Tage Fleisch essen und Wein trinken; wer hundert Gulden im Ackerwerk liegen hat, muss Kraut und Kohl essen, muss dazu graben, viel wachen und sich dazu Feinde machen. Wir aber sind erschaffen, dass wir Gott dienen sollen; ist es nun nicht billig, dass wir uns ohne Schmerzen nähren? « (Herder, dem ich das Citat entnehme, fügt hinzu: » Immerhin ohne Schmerzen! nur nicht durch Betrug und Überlistung «. Adrastea V, 7.) Man lese auch Nehemia, Kap. 5, und sehe, wie, als die Juden alles vernachlässigten, um den zerstörten Tempel wieder auf - zuhauen, die Ratsherren und die Priester den feierlich-ernsten Augenblick benutzten,Man begreift, wie die Priesterschaft nunmehr diese beiden431Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Elemente vollkommen in der Hand hatte: das unwissende, durch keine Tradition gebundene Kolonistenvolk, und die zwar gebildeten, doch vom einzigen Kultuszentrum entfernten Mitglieder der Diaspora. Und so errichtete sie denn das künstliche Gebäude: das Deuteronomium wurde ergänzt (namentlich um die elf ersten, so effektvollen historischen Kapitel); sodann entstand der sogen. » Priesterkodex « (das ganze Buch Leviticus, drei Viertel von Numeri, die Hälfte des Exodus und etwa elf Kapitel der Genesis umfassend);1)Vergl. Montefiore: Ancient Hebrews, p. 315, und für die ausführliche analytische Aufzählung Driver: Introd. to the Literature of the Old Testament (1892), p. 150 (abgedruckt in Montefiore S. 354). ausserdem wurden jetzt die ge - schichtlichen Bücher des Alten Testamentes in der Gestalt, in welcher sie auf uns gekommen sind, aus verschiedenen Quellen zusammen - getragen und aufgesetzt, natürlich erst, nachdem jene Quellen revidiert, expungiert, interpoliert worden waren, um der neuen Hierokratie und dem neuen Jahveglauben, sowie dem neuen » Gesetz «, unter dem die armen Juden fortan seufzen sollten, Vorschub zu leisten eine Arbeit jedoch, welche die Kraft des damaligen Bildungsgrades überstieg, so dass die Widersprüche an allen Ecken und Enden hervorplatzen und wir durch die Risse hindurch die fromme Willkür am Werke er - blicken. 2)Die alten Christen wussten sehr gut, dass das Alte Testament ein spätes und bearbeitetes Produkt sei. So beruft sich z. B. Abälard in seiner Beantwortung der einundvierzigsten Frage Heloisens auf den Kirchenhistoriker Beda, der zu Beginn des 8. Jahrhunderts schrieb und der gesagt haben soll: » Ipse Esdras, qui non solum legem, sed etiam, ut communis majorum fama est, omnem sacrae Scripturae seriem prout sibi videbatur legentibus sufficere, rescripsit .... « Was also die neueste, sowohl von den protestantischen wie von den katholischen Orthodoxen so sehr angefeindete » höhere Bibelkritik « zu Tage gefördert hat, ist nur die genaue wissenschaftliche Bestätigung einer Thatsache, die vor 1000 Jahren Besitz der communis fama war und an der die frömmste Seele keinen Anstoss nahm.Ergänzt wurde dann diese Thora (d. h. » Gesetz «) nach und2)um Wucher zu treiben, und sich » die Acker, Weinberge, Ölgärten und Häuser « ihrer ärmeren Volksgenossen einzuschachern. Nichts fällt den Juden bei den arischen Medern so sehr auf, wie dass sie » nicht nach Silber suchen noch nach Gold geizen « (Jesaia XIII, 17); und unter den schrecklichsten Flüchen, mit denen Jahve seinem Volke im Falle des Ungehorsams droht (Deut. XXVIII) lautet der eine: » dass der Jude dem Fremdling nicht mehr Geld leihen werde! « Man erinnere sich auch, wie im Buche Tobias (etwa 100 Jahre vor Christo geschrieben) ein Engel vom Himmel geschickt wird, um die Eintreibung von Geld, welches auf Zinseszins im Ausland angelegt ist, zu bewirken (Kap. V und IX). In diesem Zusammen - hang verdient es auch Erwähnung, dass bereits zur Zeit Salomo’s die Juden die Rosstäuscher für ganz Syrien waren! (Sayce: Hittites, p. 13).432Die Erben.nach durch Auswahlen aus der zum Teil sehr alten Spruchlitteratur und durch ebenfalls stark bearbeitete Sammlungen der prophetischen Bücher, bereichert um möglichst viele vaticinia ex eventibus, doch so verständnislos redigiert, dass es heute nur mit unsäglicher Mühe ge - lingt, die Absicht der Propheten herauszuschälen; noch später kamen etliche Romane hinzu, wie Esther, Hiob, Daniel, auch die Psalmen u. s. w. Noch lange Zeit nach Esra wirkte (nach jüdischer Tradition) ein Kollegium von 120 Schriftgelehrten, die » grosse Synagoge «, an der Vervollständigung und Redaktion des Kanons; die beiden Bücher der Chronica z. B. sind erst zwei Jahrhunderte später entstanden, » nach dem Untergange des persischen Reiches, schon mitten aus dem Judaismus heraus «. 1)Wellhausen: Prolegomena, S. 170. Eine gemeinverständliche Darstellung von der Entstehungsgeschichte des Alten Testaments, etwa nach Art von Well - hausen’s Israelitische und jüdische Geschichte, ist mir nicht bekannt. Das grund - legende Werk von Eduard Reuss: Gesch. der heil. Schriften alten Testaments ist für Gelehrte gedacht und geschrieben und Zittel: Die Entstehung der Bibel in Reclam’s Universal-Bibliothek entspricht dem Titel keineswegs und kann darum auch be - scheidenen Ansprüchen nicht genügen, so viel des Interessanten das Büchlein sonst auch enthält.Auf diese Religion Hesekiel’s werde ich gleich zurückzu - kommen haben; doch will ich vorher den fünften und letzten histori - schen Umstand besprechen, ohne welchen sie trotz alles Vorherge - gangenen nie dauernd hätte Fuss fassen können.

5. Nach dem babylonischen Exil bildeten die Juden nie mehr eine unabhängige Nation. Welchen tiefeingreifenden Einfluss diese Thatsache auf den Charakter des Volkes ausüben musste, hat Herder mit Recht hervorgehoben: » Das jüdische Volk verdarb in der Erziehung, weil es nie zur Reife einer politischen Kultur auf eigenem Boden, mithin auch nicht zum wahren Gefühl der Ehre und Freiheit gelangte «. 2)Ideen zur Geschichte der Menschheit, T. III, Buch 12, Abschn. 3.Man darf nicht behaupten, den Juden hätte von Hause aus, gewissermassen als eine organische Lücke, das Gefühl für Ehre und Freiheit gefehlt; auch ihr Schicksal hätte vielleicht nicht genügt, eine so weitgehende Atrophie dieser kostbarsten Güter herbeizuführen, wenn nicht jetzt jener Glaube hinzugekommen wäre, der dem Individuum jegliche Freiheit nahm und auch das » wahre Gefühl der Ehre « dadurch ausrottete, dass er anderen, höheren Völkern die Ehre absprach. Doch gerade diesen Glauben hätte sich das Volk aus dem Stamme Juda niemals auf - zwingen lassen, wenn nicht die politische Ohnmacht es als kleinen ge - duldeten Vasallenstaat an Händen und Füssen gebunden seinen Religions -433Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.lehrern ausgeliefert hätte. Solche kurze Episoden halber Selbständig - keit wie unter Simon Makkabäus genügen nur, um zu zeigen, dass beim Eintritt in das praktische, lebendige Leben dieser Glaube, als echter Volksglaube, sich tiefgehende Modifikationen hätte gefallen lassen müssen, kamen doch die Makkabäer ursprünglich dadurch auf, dass sie (die Kinder aus dem fernen Modin, im früher ephraimistischen Gebirge) eines der strengsten Gesetze, das des Sabbats verletzten. 1)I Makkabäer II, 41.Wie unmöglich es gewesen wäre, diesen Priesterglauben, diesen Priesterkultus, dieses Priestergesetz einem unabhängigen Volke aufzuzwingen, ersehen wir schon daraus, dass es selbst unter den gegebenen Bedingungen schwer genug fiel, und ohne die thatkräftige Unterstützung der Könige von Babylon nicht gelungen wäre. Denn waren die Juden auch aus allen Traditionen entwurzelt worden, so hatte dieses Schicksal doch nicht ihre Nachbarn getroffen und ebensowenig jene echtkanaanitische Stammbevölkerung, die in ziemlicher Anzahl in Judäa zurückgelassen worden war. Und so knüpften sich in der ersten Zeit nach der Rückkehr von allen Seiten wieder Beziehungen an. Die hethitisch - amoritischen Bauern wollten als Jahveanbeter wie früher am Opfer teilnehmen, sie ahnten nicht und wollten auch nicht zugeben, dass Jahve, ihr eigener Landesgott, fortan das Monopol der Juden sein sollte; andererseits gingen die begüterten unter den zurückgekehrten Israeliten wie früher Ehen mit den Nachbarvölkern ein, unbekümmert darum, ob diese Milkom, oder Moloch, oder Baal, oder irgend einen anderen Landesgott verehrten; wir erfahren, dass, gerade so wie bei uns der Adel, und sei er noch so antisemitisch, mit Vorliebe reiche Jüdinnen heiratet, ebenso die Mitglieder der hohenpriesterlichen Kaste die Ehe mit einer Ammoniterin oder Edomiterin für » standesgemäss « hielten, wenn nur das Mädchen genug Barschaft besass. Wie hätte unter solchen Bedingungen der Glaube, wie ihn Hesekiel lehrte, ein - geimpft und das neue Gesetz mit seinen unzähligen Vorschriften ein - geübt werden sollen? Nicht eine einzige Generation hätte es gewährt, bis die unnatürliche Frucht der überhitzten Priesterphantasie ad patres gelegt worden wäre. Die Juden bildeten aber keinen unabhängigen Staat. Nach Jerusalem waren sie unter Führung eines halbpersischen Landpflegers zurückgekehrt, der ohne Zweifel genaue Instruktionen hatte, den Pfaffen Vorschub zu leisten, dagegen jede Regung politischen Ehrgeizes zu unterdrücken. Als nun die fromme Partei das kaum be -Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 28434Die Erben.gonnene Werk dennoch durch die soeben erwähnten Vorgänge ge - fährdet sah, sandte sie nach Babylon um Hilfe. Zunächst schickte man ihr eine Verstärkung an Priestern und Schriftkundigen und zwar gerade diejenigen, welche, mit Esra » dem geschickten Schriftge - lehrten « an der Spitze, die Thora aufsetzen sollten; zugleich könig - liche Edikte und Geld. 1)An Geld allein brachte Esra ein Geschenk des Königs von mehr als fünf Millionen Mark! Die Echtheit (oder zum mindesten wesentliche Echtheit) der von Esra angeführten persischen Dokumente ist, entgegen der Ansicht von Well - hausen u. a., durch Eduard Meyer endgültig festgestellt worden: Die Entstehung des Judentums (1896), S. 1 71. Hiermit ist eine der wichtigsten Fragen der Ge - schichte entschieden. Wer das kleine, aber ungewöhnlich gehaltreiche Buch Meyer’s gelesen hat, wird seine Schlussworte begreifen: » Das Judentum ist im Namen des Perserkönigs und kraft der Autorität seines Reiches geschaffen worden, und so reichen die Wirkungen des Achämenidenreiches gewaltig, wie wenig Anderes noch unmittelbar in unsere Gegenwart hinein « (S. 243).Doch auch das genügte nicht; man brauchte einen Mann der That, und so wurde der Mundschenk des Königs Artaxerxes, Nehemia, mit diktatorischer Vollmacht ausgerüstet, nach Jerusalem entsandt. Jetzt ging es energisch zu. » Mit Abscheu « wurden diejenigen Jahveanbeter, die nicht offiziell zum jüdischen Volk gehörten, zurückgewiesen; nicht Glaube, sondern Genealogie sollte fortan den Ausschlag geben; alle Juden, die Nichtjüdinnen geheiratet hatten, mussten sich scheiden lassen oder auswandern; in den Leviticus schrieb man das Gesetz ein: » Ich habe euch abgesondert von den Völkern, dass ihr mein wäret « (XX, 26); fortan sollte nie mehr ein Jude ausser - halb seines Volkes heiraten, bei Todesstrafe; namentlich beging jeder Mann, der ein ausländisches Weib ehelichte, » eine Sünde gegen Gott «. 2)Nehemia XIII, 27. Vergl. das am Anfang dieses Kapitels Gesagte, S. 326.Hohe Mauern baute auch Nehemia um Jerusalem und versah die Eingänge mit festen Thoren; dann verwies er den Fremden den Eintritt überhaupt, auf dass das Volk » gereinigt sei von allem Aus - ländischen «. » Esra und Nehemia «, sagt Wellhausen mit Recht, » sind, durch die Gnade des Königs Artaxerxes, die definitiven Konstitutoren des Judentums geworden «. 3)Israelitische und jüdische Geschichte, S. 173.Was Hesekiel begründet, haben sie vollendet; sie haben den Juden das Judentum aufgezwungen.

Das also wären die fünf historischen Momente, durch welche die Entstehung des Judentums ermöglicht und gefördert wurde. Noch einmal fasse ich sie kurz zusammen, damit sie fest im Gedächtnis haften: die unerwartete, plötzliche Lostrennung von dem überlegenen435Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Israel; der hundertjährige Fortbestand des von allen Seiten bedrohten winzigen Staates, der einzig von einer übermenschlichen Macht Hilfe erhoffen konnte; das Durchreissen des geschichtlichen Fadens sowie aller örtlichen Traditionen durch die Fortführung des gesamten Volkes aus der Heimat in die Fremde; die Wiederanknüpfung unter einer im Ausland geborenen, selbst die Sprache der Väter kaum ver - stehenden Generation; der fortan dauernde Zustand politischer Ab - hängigkeit, aus welcher die Priesterherrschaft ihre dominierende Kraft sog.

Als Esra zum ersten Mal dem versammelten Volke aus demDer neue Bund. neuen Gesetz vorlas, welches das » Gesetz Mose « sein sollte, » da weinete alles Volk, da sie die Worte des Gesetzes höreten «; so be - richtet Nehemia, und wir glauben’s ihm. Doch es half ihnen nichts, denn der grosse Jahve » mächtig und schrecklich « hatte es befohlen;1)Nach dem Talmud beschäftigt sich Jahve am Sabbat selber mit Lesen in der Thora! (Wellhausen: Isr. Gesch., S. 297; Montefiore, p. 461.) und nun wurde der angebliche » alte Bund « erneuert, aber diesmal schriftlich, wie ein notarieller Kontrakt. Jeder Priester, Levit und Grosse des Landes setzte sein Siegel darunter, auch jeder Schriftkundige; sie und alle anderen Männer » samt ihren Weibern, Söhnen und Töch - tern « mussten sich » eidlich verpflichten zu wandeln im Gesetz Gottes, das durch Mose, den Knecht Gottes, gegeben ist. « 2)Siehe Nehemia, Kap. 8 10.Das war jetzt der » neue Bund «. Es ist wohl das erste und einzige Mal in der Weltgeschichte, dass eine Religion auf diese Weise entstand! Zum Glück lebte noch religiöser Instinkt in dem Volke, aus dessen Mitte ein Jeremia und ein Deuterojesaia vor kurzem hervorgegangen waren; die menschliche Natur lässt sich nicht bis auf die letzte Spur aus - stampfen und zerkneten; hier war jedoch das Mögliche nach dieser Richtung geschehen; und wenn die Juden in der Folge allen Völkern der Erde verhasst wurden, überall fremd, allen zuwider, so ist die Ursache davon einzig in diesem künstlich zugerichteten und mechanisch aufgezwungenen Glauben zu suchen, der sich nach und nach zu einer unausrottbaren nationalen Idee gestaltete, und in ihren Herzen das uns allen gemeinsame reinmenschliche Erbe erstickte. In dem kanaanitisch - israelitischen Naturkultus, verquickt mit semitischem Ernst und amo - ritischem Idealismus, muss es manche Keime zu schönsten Blüten ge - geben haben, wie sollten wir sonst eine derartige Entwickelung er -28*436Die Erben.blicken wie die, welche von dem orgiastischen Tanz um das Stierbild (in ganz Israel und Juda noch kurz vor dem Exil üblich) bis zum Gott des Amos führt, der » die Feiertage verachtet « und » keinen Gefallen am Brandopfer hat « (V, 21, 22), und bis zu Deuterojesaia, der jeden Tempelbau für Gottes unwürdig hält, dem Opfer und Weih - rauch » Greuel « sind, und der die fast indischen Worte schreibt: » Wer einen Ochsen schlachtet, ist eben als der einen Mann erschlüge « (Jesaia LXVI, 1 3). Fortan war jedoch alle Entwickelung abgebrochen. Und was ich tausend Mal wiederholen muss, denn Niemand sagt es und es ist doch das Einzige, was Not thut zu sagen, das Einzige, was auch die Stellung der Juden unter uns Kindern des neunzehnten Jahrhunderts begreiflich macht: diese sogenannte » Reform « Esra’s, welche in Wahr - heit die Begründung des Judentums bedeutet, diese Reform, welche aus dem Zusammentreffen der fünf von mir aufgezählten historischen Umstände die Möglichkeit ihres Daseins schöpfte, bedeutet nicht eine Stufe in der religiösen Entwickelung, sondern ist eine heftige Re - aktion gegen jegliche Entwickelung; sie lässt den Baum aufrecht, schneidet aber unterirdisch alle Wurzeln ab; nun mag er stehen und verdorren, ringsum von den sauber zugehauenen 13 600 Pfählen des Gesetzes unterstützt, auf dass er nicht umfalle. Wenn also selbst ein so bedeutender Gelehrter wie Delitzsch schreibt: » Die Thora spiegelt einen jahrtausendlangen Prozess der Fortbewegung des mosaischen Gesetzes in Bewusstsein und Praxis Israel’s «, so müssen wir dagegen einwenden, dass die Thora im Gegenteil alles thut, was sie nur irgend kann, um den Entwickelungsprozess der bis zu ihr stattgefunden hatte, zu maskieren; dass sie vor keiner Unwahrheit zurückscheut, um das Gesetz als ein absolut unbewegliches, von jeher da gewesenes hin - zustellen, nicht einmal vor solchen handgreiflichen Absurditäten wie die Mähre von der Stiftshütte und ihrer Einrichtung; und wir müssen behaupten, dass die Thora nicht allein gegen den angeblichen » Götzen - dienst « (aus dem der ganze jüdische Kultus hervorgegangen war) ge - richtet ist, sondern eben so sehr gegen den freien Geist echter Religion, der sich in den Propheten zu regen begonnen hatte. Kein einziger jener grossen Männer, weder Elias, noch Amos, noch Hosea, noch Micha, noch Jesaia, noch Jeremia, noch Deuterojesaia hätte sein Siegel unter jenes Dokument des neuen Bundes gesetzt er hätte ja erst seine eigenen Worte herunterschlucken müssen.

Die Propheten.
538

Einen Augenblick muss ich mich bei den soeben genannten Pro - pheten aufhalten. Denn gerade aus dem Kontrast zwischen dem,437Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.was sie erstrebten und lehrten und den Lehren der jerusalemitischen Hierokraten wird ersichtlich, wie sehr der Jude zum » Juden « erst gemacht wurde, künstlich gemacht (sozusagen), und zwar durch die bewusste, wohlberechnete religiöse Politik einzelner Männer und einzelner Kreise, und im Gegensatz zu jeder organischen Entwickelung. Für eine gerechte Beurteilung des israelitischen Charakters, der im Judentum gewissermassen strandete, ist es nötig, dies zu betonen. In dem neuen Bund stehen die Kultusobservanzen im Mittelpunkt; das Wort » Heilig - keit «, welches so oft vorkommt, bedeutet in erster Reihe durchaus nichts anderes als die strikte Observanz aller Verordnungen,1)Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 236. an eine Reinheit des Herzens wird dabei kaum gedacht,2)Robertson Smith: Prophets of Israels, p. 424. » die Reinheit der Haut und des Geschirrs ist wichtiger « (wie Reuss mit einiger Über - treibung sagt;3)Geschichte der heiligen Schriften Alten Testaments, § 379. und in der Mitte dieser Observanzen steht als Heiligstes ein ungemein kompliziertes Opferrituell. 4)Wer sich hiervon eine Vorstellung machen will, lese ausser den Büchern Leviticus, Numeri u. s. w., die elf Traktate der Opferangelegenheiten (Kodaschim) im babylonischen Talmud (deren haggadische Bestandteile den vierten Band von Wünsche’s einzig massgebender Übersetzung bilden). Man kann auch nicht be - haupten, dass die Juden seit der Zerstörung Jerusalems dieses Rituell losgeworden wären, denn sie studieren es nach wie vor und gewisse Dinge, z. B. das Schächten, gehören dazu, weswegen das von einem Nichtjuden geschlachtete Vieh den Juden als » Aas « gilt (siehe Traktat Chullin f. 13 b).Eine flagrantere Abweichung von prophetischer Lehre ist kaum denkbar. Man höre nur! Hosea hatte Gott sagen lassen: » Ich habe Lust an der Frömmigkeit und nicht am Opfer, und an der Erkenntnis Gottes, nicht am Brandopfer « (VI, 6). Amos habe ich schon citiert (S. 436). Micha schreibt: » Wo - mit soll ich den Herrn versöhnen? Mit Bücken vor dem hohen Gott? Soll ich mit Brandopfern und jährlichen Kälbern ihn versöhnen? .... Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gerechtigkeit üben, barmherzig sein und vor deinem Gott demütig « (VI, 8). Jesaia äussert sich genau ebenso, nur viel aus - führlicher, und wie durch ein Wunder ist ein Spruch von ihm ge - blieben, in welchem er erklärt, » Gott möge den Sabbat nicht « und » hasse in der Seele die Neumonde und festgesetzten Feiertage! « dagegen solle das Volk sich lieber mit anderen Dingen abgeben, » lernen Gutes thun, nach Recht trachten, dem Unterdrückten helfen, den Waisen Recht schaffen, der Witwe helfen « (I, 13 17). Jeremia438Die Erben.geht in der ihm eigenen heftigen Weise noch weiter; er stellt sich in dem Thorwege des Tempels zu Jerusalem auf, und ruft den Ein - tretenden zu: » Verlasst euch nicht auf die Lügen, wenn sie sagen Hier ist des Herrn Tempel! hier ist des Herrn Tempel!‘ sondern bessert euer Leben und Wesen, dass ihr Recht thut, Einer gegen den Andern, und den Fremdlingen, Waisen und Witwen keine Gewalt thut, und nicht unschuldig Blut vergiesst (d. h. nicht opfert) an diesem Ort « (VII, 4 6); selbst von der altgeheiligten Bundeslade will Jeremia nichts wissen, man solle ihrer » nicht mehr gedenken, noch davon predigen, noch sie besuchen, noch daselbst opfern « (III, 16). Auch in den Psalmen lesen wir: » Du hast nicht Lust zum Opfer, und Brand - opfer gefallen dir nicht. Das Opfer, das Gott gefällt, das ist ein zer - schlagener Geist. O Gott! du verachtest ein zerschlagenes, betrübtes Herz nicht! « (LI, 18 19). 1)Siehe auch XL, 7 und L, 13.Dass auf alle diese Äusserungen fanatisch - nationale folgen, wie: Jerusalem sei Gottes Thron, alle anderen Götter seien Götzen, u. s. w., zeigt eine den Zeiten gemässe Beschränkung,2)Nachgewiesenermassen sind ausserdem fast alle derartige Stellen Inter - polationen aus sehr später Zeit. hebt aber doch unmöglich die Thatsache auf, dass alle diese Männer eine progressive Vereinfachung des Kultus erstrebt, und die Speise - opfer ebenso wie die Yoruba-Neger an der Sklavenküste (siehe S. 395) für unsinnig erklärt, ja womöglich die Abschaffung jeglichen Tempel - dienstes gefordert hatten, wie jener grosse Ungenannte,3)Über den meist als Jesaia II oder Deuterojesaia bezeichneten Verfasser der Kapitel XL bis LV des Buches Jesaia (der Einzige, der hin und wieder an Christus gemahnt, und dessen Namen die Juden charakteristischer Weise, gleich nachdem er gelebt hatte, nicht mehr wussten, wo sie sonst die Genealogien ins hundertste Glied verfolgen) siehe namentlich Cheyne: Introduction to the Book of Isaiah (1895) und Duhm: Jesaia (1892). Deuterojesaia schrieb in der zweiten Hälfte des Exils, also anderthalb Jahrhunderte später als der historische Jesaia. Nach Cheyne sind die Kapitel LVI bis LXVI, die meistens dem Deuterojesaia zugeschrieben werden, wiederum von einem anderen, noch späteren Autor. bei welchem Gott spricht: » Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meine Fuss - bank; was ist es denn für ein Haus, das ihr mir bauen wollt? Oder welches ist die Stätte, da ich ruhen soll? Meine Augen richte ich auf andere Dinge: auf den Elenden und der zerbrochenen Geistes ist und auf den, der mein Wort fürchtet « (LXVI, 1, 2). Schärfer könnte der Kontrast zu dem bald darauf eingeführten Gesetz der Thora nicht sein. Namentlich auch weil die ganze Tendenz der Pro -439Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.pheten, wie man sieht, darauf hinausläuft, die Frömmigkeit ins Herz zu legen: nicht wer opfert, sondern wer Gutes thut, nicht wer Sabbate hält, sondern wer den Bedrückten beschützt, ist nach ihrer Auffassung fromm. Auch muss bemerkt werden, dass der Nationalismus bei den Propheten in keinem einzigen Fall (abgesehen von den nachträglichen Interpolationen) den dogmatischen und unmenschlichen Charakter des späteren offiziellen Glaubens zeigt. Amos, ein herrlicher Mann, den die grosse Synagoge arg zugerichtet hat, macht die einzige humoristische Bemerkung, welche vielleicht die gesamte biblische Litteratur auf - weisen kann: » Seid ihr Kinder Israels mir nicht gleich wie die Mohren, spricht der Herr? « (IX, 7). Und er meint des Weiteren, ebenso wie Gott die Israeliten aus Ägypten, desgleichen habe er auch die Philister aus Caphthor und die Syrier aus Kir geführt! Ähnlich tolerant schreibt Micha: » Ein jegliches Volk wird wandeln im Namen seines Gottes, aber wir werden wandeln im Namen unseres Gottes « (IV, 5). Deuterojesaia, der einzige wirkliche und bewusste Monotheist, sagt einfach: » Gott der ganzen Welt wird er geheissen « (LIV, 5). Auch hier ist also eine Richtung deutlich vorgezeichnet, die später gewaltsam abgeschnitten wurde. Damit zugleich war jene vielverheissende Neigung, waren jene tastenden Versuche nach einer minder historischen, echteren Religion, nach einer Religion der individuellen Seele im Gegensatz zum Glauben an Volksschicksale im Keime erstickt; natürlich lebte sie in vielen einzelnen Herzen immer wieder von Neuem auf, doch konnte sie dem durch den Priesterkodex erstarrten Organismus kein Leben mehr einflössen, denn für Entwickelung war kein Raum mehr. Und doch hatte Jeremia bedeutende Ansätze in diesem Sinne gemacht; er (oder irgend ein Anderer in seinem Namen) hatte Gott sagen lassen: » Ich kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und geben einem Jeglichen nach seinem Thun « (XVII, 10). Ja, man glaubt, in absolutem Widerspruch zur Werkheiligkeit des Judentums (von dem sie der Katholizismus übernommen hat) die Vorstellung der Gnade durchschimmern zu sehen, wenn Jeremia inbrünstig ausruft: » Heile du mich, Herr, so werde ich heil! Hilf du mir, so ist mir geholfen! « (XVII, 14). Und mit Deuterojesaia’s schönem Vers, in welchem Gott redet: » Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, « stehen wir an der Schwelle jener Ahnung eines transcendenten Geheimnisses, wo für die Inder und für Jesus Christus wahre Religion beginnt. Wie Recht hat der Theologe Duhm, wenn er schreibt, die Deuteronomiker und Hesekiel, und mit ihnen440Die Erben.das Judentum bis zum heutigen Tage stünden » in religiöser und sitt - licher Beziehung tief unter Jeremia «! 1)Duhm: Die Theologie der Propheten, S. 251. Jeremia’s Ahnung der » Gnade « verschwand sofort, um nie wiederzukehren; selbst die edelsten, begabtesten Juden, wie Jesus Sirach, lehren: » wer das Gesetz kennt, ist tugendhaft «; Gott hat den Menschen erschaffen und ihn dann » seinem eigenen Rate überlassen «; darauf folgt logischerweise die Lehre der absoluten Willensfreiheit, losgelöst von jedem göttlichen Beistand: » vor dem Menschen stehen Leben und Tod, was er will, erwählt er wenn du willst, so kannst du das Gesetz halten « (siehe z. B. Ecclesiasticus XV, 1, 12 15). Einzig die Essäer bilden eine Ausnahme, denn nach Josephus lehrten sie die Prädestination (Jüd. Altertümer, 520); diese Sekte wurde aber auch nie anerkannt, sondern verfolgt, und zählte vermutlich wenige echte Juden; sie bildet eine vorübergehende, einflusslose Erscheinung.

Ob aber bei den allgemeinen semitischen Anlagen, die sich auch in diesen Edelsten zeigen, sehr viel Religion in unsrem Sinne des Wortes herausgekommen wäre, dünkt mich mehr als zweifelhaft; denn wie diese Citate (mit Ausnahme der zwei allerletzten) beweisen, ist es immer Moral, welche die Propheten dem Kultus entgegenstellen, nicht ein neues oder reformiertes Religionsideal. 2)Noch mehr gilt das von solchen späteren Erscheinungen wie Jesus Sirach, die sich im Grunde genommen damit begnügen, sehr weise, edle Lebens - regeln zu geben: man solle nicht nach Reichtum streben, sondern nach Mild - thätigkeit, nicht nach Gelehrsamkeit, sondern nach Weisheit u. s. w. (XXIX, XXXI etc.). Der einzige (unter griechischem Einfluss unternommene) Versuch des jüdischen Religionsgeistes ins Metaphysische hinüberzugelangen, endete gar kläglich: der sog. » Prediger Salomo « weiss nichts Besseres zu empfehlen, als dass man für das Heute sorgen und sich seiner Werke freuen solle » es ist alles ganz eitel! «Die jüdischen Propheten (zu denen man einige Psalmisten rechnen muss) sind gross durch ihre moralische Grösse, nicht durch schöpferische Kraft; darin zeigen sie sich als wesentlich Semiten bei denen der Wille stets den Mittel - punkt bildet und ihr Wirken auf rein religiösem Gebiet ist zum grossen Teil lediglich eine Reaktion gegen den kanaanitischen (dem Mose zugeschriebenen) Kultus, ohne dass sie etwas anderes brächten, was an dessen Stelle zu setzen wäre. Zu glauben aber, man könne dem Volk den einen Kultus nehmen, ohne ihm dafür einen anderen zu geben, zeugt nicht von besonderer Einsicht in den menschlichen Charakter; ebensowenig wie es von religiösem Verständnis zeugt, wenn die Propheten wähnten, der Glaube an einen nie vorgestellten, nie dar - gestellten, eigentlich lediglich in den politischen Ereignissen sich offen - barenden Gott, dem man allein mit Rechtthun und Demut diene, könne selbst den allerbescheidensten Bedürfnissen der Phantasie ge -441Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.nügen. Gerade durch die Erhabenheit prophetischer Gesinnung, durch die Glut ihrer Worte ward zum ersten Mal einem jener materialistischen, an religiösen Vorstellungen besonders armen syrosemitischen Völker die Kluft zwischen Gott und Mensch aufgedeckt, und nun gähnte sie drohend, ohne dass der geringste Versuch zu ihrer Überbrückung unter - nommen worden wäre. Und doch, was anders macht das Wesen der Religion aus, wenn nicht gerade diese Überbrückung? Das Übrige ist Philosophie oder Moral. Daher sind wir berechtigt, die Mythologie Griechenlands eine Religion zu nennen, denn sie vermittelt Vorstel - lungen und die Nähe des Göttlichen. 1)Nicht unwichtig ist es, hier zu bemerken, wie viel mehr Einsicht in das Wesen des religiösen Bedürfnisses ein Sokrates zeigt, welcher ebenfalls lehrte, nicht das Opfer selbst, nicht seine Kostbarkeit errege das Wohlgefallen der Götter, sondern die innerste Herzensgesinnung des Opfernden, der aber nichtsdestoweniger die Darbringung der üblichen Opfer für eine Pflicht hielt (Xenophon: Memorabilia I, 3). Ähnlich Jesus Christus. Nicht der Gedanke an einen Gott, der Himmel und Erde ausgebreitet hat, sondern der Paraklet, der zwischen ihm und mir hin und her schwebt, bildet den wesent - lichsten Inhalt aller Religion: Mohammed ist kaum geringer als Allah, und Christus ist Gott selber zur Erde herabgestiegen. Und da müssen wir gestehen: Jesaia, der seine Prophezeiungen an den Strassenecken plakardiert, Jeremia, der scharfsichtigste Politiker seiner Zeit, Deutero - jesaia, die hehre liebreiche Gestalt aus dem babylonischen Exil, dazu Amos, der Gutsbesitzer, der in der Korruption der leitenden Stände eine nationale Gefahr erblickt, Hosea, der die Priester für noch ge - fährlicher hält, Micha, der sozialdemokratische Bauer, der alle Städte (samt Jerusalem) von der Erdfläche vertilgen will das sind prächtige Männer, in denen wir mit Entzücken gewahren, wie glaubens - stark und zugleich wie freimütig, wie edel, wie lebensvoll der israe - litische Geist sich bewegte, ehe ihm Handschellen und Maulknebel angelegt worden waren, doch religiöse Genies sind sie durchaus nicht. Hätten sie jene Kraft besessen, die sie nicht besassen, so wäre ihrem Volk sein herbes Schicksal erspart geblieben; es hätte nicht weinen müssen, » als es die Worte des Gesetzes vernahm «.

Was die Propheten nicht vermocht hatten, das vollbrachten dieDie Rabbiner Priester und Schriftgelehrten. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch stellten sie durch Fixierung einer fingierten, doch genauen historischen Tradition, durch Beibehaltung und weitere Ausbildung des Opferdienstes, und vor Allem durch das sogenannte » Gesetz « her,442Die Erben.d. h. durch Hunderte von Vorschriften, welche jeden Schritt des Menschen den ganzen Tag über umzäunten und ihn durch alle Jahres - zeiten auf dem Felde, daheim, im Schlafen und im Wachen, beim Essen und Trinken unausgesetzt begleiteten. Nach der talmudischen Tradition sind in den Tagen der Trauer um Moses Tod 3000 solcher Vorschriften in Vergessenheit geraten;1)Traktat Themura fol. 16a (Wünsche). das kennzeichnet die Richtung. Offenbarer Zweck war, den Gedanken an Gott in den Leuten ununter - brochen wachzuhalten, damit zugleich den Gedanken an ihre eigene Auserwähltheit und an ihre Zukunft. Unedel war der Zweck nicht, das kann kein unparteiisch Urteilender behaupten, auch mag es wohl sein, dass dieses drakonische Regiment ein gesitteteres Leben zur Folge hatte, und dass Tausende von guten Seelen in der Erfüllung des Gesetzes zufrieden und beglückt lebten; und doch: was hier geschah, war ein Gewaltstreich gegen die Natur. Naturwidrig ist es, jeden Schritt des Menschen zu hemmen, naturwidrig, ein ganzes Volk mit priesterlichen Tüfteleien zu quälen2)Nach dem Zeugnis eines zeitgenössischen Juden, Rubens: Der alte und der neue Glaube (Zürich 1878, S. 79) braucht der Jude, der streng nach den Vor - schriften lebt, » fast den halben Tag für die Religion allein «. Gott wollte, sagt Rabbi Chanania ben Akasiah, Israel Gelegenheit geben, sich Verdienst zu er - werben, deshalb überhäufte er es mit Satzungen und Observanzen! und jede gesunde, freie, geistige Nahrung ihm zu verbieten, naturwidrig, Hochmut und Hass und Abgeschieden - heit als die Grundlage sittlicher Verhältnisse mit seinen Mitmenschen zu lehren, naturwidrig, das ganze Trachten aus der Gegenwart in die Zukunft zu verlegen. Um das Judentum zu begründen, wurde eine Religion getötet und dann mumifiziert.

Ambrosius lobt an der Religionslehre der Juden ganz besonders » die Unterwerfung des Gefühles unter die Vernunft «. 3)In seiner Schrift Von den Pflichten der Kirchendiener I, 119.Das Wort Vernunft ist vielleicht nicht besonders glücklich gewählt, unter den » Willen « würde wohl eher das Richtige getroffen haben, doch mit der Unterwerfung des Gefühles hat er vollkommen Recht und er sagt damit in einfacher Form etwas von so grosser Tragweite, dass seine Worte mir weitläufige Erörterungen ersparen. Wer aber wissen will, wohin diese Unterwerfung des Gefühles in einer Religion führt, der lasse sich über die Geschichte des Rabbinertums belehren und ver - suche, sich durch einige Bruchstücke des Talmud hindurchzulesen. Edle Rabbiner wird er antreffen und im Talmud mehr lobenswerte443Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Regeln für Handel und Wandel (namentlich im Traktat Pirke Aboth, d. h. Sprüche der Väter) als er vielleicht vermutet, doch weist die gesamte Weltlitteratur nichts so trostlos ödes, so kindisch langweiliges, so gründlich von dem Wüstenstaub absolutester Sterilität zugeschüttetes auf, wie diese Sammlung der weisesten Diskussionen, die Jahrhunderte hindurch über die Thora unter Juden gepflegt wurden. 1)Beispiele lehren mehr als Meinungsäusserungen. Zum Glauben an Gottes Allmacht: » Rabbi Janai fürchtete sich so vor Ungeziefer, dass er vier Gefässe mit Wasser unter die Füsse seines Bettes stellte. Einmal streckte er seine Hand aus und fand Ungeziefer im Bett; da sprach er mit Hinweis auf Psalm CXVI, 6: Hebt das Bett von den Gefässen auf, ich verlasse mich auf die göttliche Obhut « (Traktat Terumoth VIII, 3, 30a). Zur biblischen Exegese: » Rabbi Ismael hat ge - lehrt es heisst Leviticus XIV, 9: Am siebenten Tage schere er all sein Haar, sein Haupt und seinen Bart, seine Augenbrauen und all sein Haar soll er cheren‘; all sein Haar, das ist generell; sein Haupt, sein Bart, seine Augen-s brauen, das ist speziell, und sein Haar, das ist wieder generell. Bei Gene - rellem, Speziellem und Generellem lautet die Norm, dass du bloss das erweisen kannst, was dem Speziellen ähnlich ist, d. h. sowie das Spezielle ein Ort ist, welcher eine Sammlung Haare in sich begreift, so muss auch das Generelle ein Ort sein, welcher eine solche Sammlung von Haaren in sich begreift « (Tr. Kidduschin, I, 2, 9a). Zum Gesetz: » Rabbi Pinchas kam an einen Ort, wo die Leute vor ihm klagten, dass die Mäuse ihr Getreide frässen. Er gewöhnte die Mäuse auf seinen Ruf zu hören; sie versammelten sich vor ihm und fingen an zu wispern. Versteht ihr, sprach der Rabbi zu den Leuten, was sie sprechen? Nein! war ihre Antwort. Sie sagen nämlich, dass ihr euer Getreide nicht verzehntet. Darauf sprachen die Leute, wir sind dir verpflichtet, dass du uns auf bessere Wege gebracht hast. Seitdem richteten die Mäuse keinen Schaden mehr an. « (Tr. Demai, I, 3, 3b). Zur Erkenntnis der Natur: » Nach Rabbi Juda beträgt die Dicke des Himmels einen Weg von 50 Jahren, und da ein Mensch von mittleren Kräften in einem Tage 40 Mil und bis die Sonne durch den Himmel bricht 4 Mil weit gehen kann, so folgt daraus, dass die Zeit des Durchbruches durch den Himmel den zehnten Teil von einem Tage beträgt. Wie dick aber der Himmel ist, so dick ist auch die Erde und der Abgrund. Der Beweis (!) wird aus Jesaia XL, 20, Hi. XXII, 14 und Prov. VIII, 27 genommen « (Tr. Berachoth I, 1, 4 b). Zum täglichen Leben: » Rabbi bar Huna frühstückte nicht, ehe er sein Kind in das Schulhaus geführt hatte « (Tr. Kidduschin, Abschn. I). Dass man inmitten des talmudischen Wustes manche schöne Sprüche findet, muss andrerseits hervorgehoben werden, aber mit dem Zusatz, dass diese Sprüche einzig auf Moral sich beziehen; schöne Gedanken enthalten diese Sammlungen nicht, überhaupt fast nichts, was mit einem Gedanken auch nur Familienähnlichkeit hätte. Und auch die schönen moralischen Sprüche gleichen gar zu oft den Gedichten Heine’s: das Ende verdirbt den Anfang. Ein Beispiel: » Ein Mensch vermehre den Frieden mit seinen Brüdern und Verwandten und mit jedem Menschen, selbst mit einem Fremdling auf der Strasse « bis hierher kann kein Pfarrer auf der Kanzel bessere Ratschläge geben; aber nun das Warum, da pflegt es bei den Juden zu hapern (siehe S. 426): » damit er beliebt sei oben und angenehm unten: « (TraktatUnd dieses444Die Erben.geistlose Produkt galt den späteren Juden als heiliger denn die Bibel (Traktat Pea II, 5)! Ja, sie erdreisten sich zu der Äusserung: » Die Worte der Ältesten sind wichtiger als die Worte der Propheten « (Traktat Berachoth I, 4)! So sicher hatte sie der neue Bund den Weg des religiösen Verfalles geführt! In dem » Meer ohne Ende «, wie sie1)Berachoth, fol. 17a). Oder wiederum lesen wir mit Freuden: » Nehme ein Mensch Bedacht auf die Ehre seines Weibes, denn der Segen wird in dem Hause eines Menschen nur wegen seines Weibes gefunden « zwar nicht ganz wahr, doch zeugen diese Worte von einer Gesinnung, die man gern vernimmt; aber jetzt wiederum der Schluss: » Ehret eure Weiber, damit ihr reich werdet! « (Traktat Baba Mezia f. 59a). Doch auch das darf nicht verschwiegen werden, dass es neben den schönen moralischen Sprüchen gar hässliche giebt, verabscheuungs - würdige; so z. B., dass ein Jude mit einer Nichtjüdin das siebente Gebot nicht übertreten kann: » denn ein Eheweib giebt es für die Heiden nicht, sie sind nicht wirklich ihre Weiber « (Traktat Sanhedrin, f. 52b. und f. 82a). Ich gebe absichtlich nur ein einziges Beispiel, damit der Leser den Ton sehe, das genügt: ab uno disce omnes. Zwar giebt es Rabbiner, die diese empörende Lehre bestreiten (da - selbst), doch, wo die Rabbiner sich widersprechen, darf der Jude frei wählen, und keine Kasuistik kann die Thatsache aus der Welt schaffen, dass die prinzipielle Verachtung der Nichtjuden zu den Grundlagen des jüdischen Glaubens gehört; sie folgt logisch aus der wahnsinnigen Überschätzung des eigenen Selbst; » ihr seid Götter! « lassen sich ja die Juden von Jahve zurufen (Psalmen LXXXII, 6). Auch andere Deutungen der zehn Gebote zeigen, wie der Begriff von Sittlichkeit nur hauttief in diese semitischen Hethiter eingedrungen war; so lehren die Rabbiner (Sanhedrin, f. 86a): » die Worte des achten Gebotes, du sollst nicht stehlen‘, be - ziehen sich nach der Schrift nur auf Menschendiebstahl «! und da eine andere von moralischer empfindenden Schriftgelehrten ins Feld geführte Belegstelle, » du sollst nicht stehlen «, aus Leviticus XIX, 11, sich ausdrücklich auf die Israeliten » Einer mit dem Andern « bezieht, so löst sich hier wieder das einfache sittliche Gebot in einen Ozean der Kasuistik auf; zwar lehrt der Talmud nicht (so viel ich aus den mir zu - gänglichen Fragmenten entdecken konnte): du darfst den Nichtjuden bestehlen, er lehrt aber nirgends das Gegenteil. Entsetzlich sind auch im Talmud die vielen Vorschriften über Verfolgung und Ausrottung der unorthodoxen Juden: wie die Einzelnen gesteinigt und die Menge mit dem Schwerte hingerichtet werden sollen, und noch entsetzlicher die Beschreibungen der Folterungen und Hin - richtungen, über welche sich dieses ebenso grauenhafte wie geistlose Werk mit Wohlgefallen auslässt; auch hier nur ein einziges Beispiel: » Man steckt den Ver - brecher in Mist bis an seine Kniee; dann legt man ein hartes Tuch in ein weiches und wickelt es ihm um den Hals; der eine Zeuge zieht das eine Ende an sich und der andere zieht das andere Ende an sich, bis der Verbrecher seinen Mund aufthut. Indessen macht man das Blei heiss und schüttet es ihm in den Mund, so dass es in seine Eingeweide hinuntergeht und dieselben verbrennt « (Sanhedrin, f. 52a). Über solche Dinge werden dann im Talmud gelehrte Diskussionen geführt; so meint z. B. der besonders fromme Rabbi Jehuda, es wäre mehr zu empfehlen, dem armen Manne den Mund mit einer Zange zu öffnen, und das Blei schnell hinunter -445Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.selber den babylonischen Talmud nennen, waren ihre edleren, religiösen Regungen auf ewig ertrunken. 1)Noch heute, am Ende des 19. Jahrhunderts, betrachtet jeder gläubige Jude die rabbinischen Anordnungen als göttliche und hält an dem talmudischen Satze fest: » wenn die Rabbiner rechts links und links rechts nennen, musst du es glauben « (siehe das Buch des antirabbinischen Juden Dr. William Rubens: a. a. O., S. 79). Die nahe Verwandtschaft mit dem Jesuitismus (worüber Näheres im folgenden Kapitel) tritt hierin, wie in so manchen anderen Dingen, klar zu Tage.

Das Alles stellt aber nur den gewissermassen negativen BestandteilDer Messianismus. dieser Begründung des Judentums dar: aus dem schönen Erbe der Väter naive lebensfrische Erinnerungen und Volksmären der Hebräer, eindrucksvolle Kultusvorrichtungen der Kanaaniter, sowie viele Sitten, die auf sumero-akkadischem Einfluss beruhten und allen Westasiaten gemeinsam waren, wie der Sabbat aus diesem Erbe hatten die Priester ein starres Gesetz gemacht, sie hatten durch Zauberkunst2)Man weiss, dass die Kabbalistik ein jüdisches Wort und ein jüdisches Ding ist. Die allen Menschen gemeinsame Regung, die bei uns zur Mystik führt, das warme1)zugiessen, sonst könne es vorkommen, dass er an der Strangulation schon sterbe, und in diesem Falle wäre seine Seele nicht mit verbrannt! Dahin kommt man mit der » Unterwerfung des Gefühles unter die Vernunft «! Eine vollständige Übersetzung des Talmud giebt es noch immer nicht. Manche haben daraus den Schluss gezogen, er müsse schreckliche, für die Goyim gefährliche Dinge enthalten; man behauptet, es seien die Juden, welche jeden Versuch einer lückenlosen Übertragung bisher hintertrieben, ein Verdacht, durch den die Betreffenden sich sehr geschmeichelt fühlen. Der Historiker Graetz er - eifert sich denn auch richtig gegen diejenigen seiner Landsleute, welche » die Blössen des Judentums vor den Augen christlicher Leser aufdecken «, und er munkelt Schreckliches über gewisse Schriften spanischer Juden, in denen » die Blössen der christlichen Glaubensartikel und Sakramente so offen dargestellt werden, dass man da, wo das Christentum herrschende Religion ist, nicht wagen darf, den Inhalt auseinanderzusetzen « (III, 8). Nun, wir sind nicht so keusch und so zartbesaitet, derlei » Entblössungen « genieren uns nicht im mindesten; halten die Juden mit ihren litterarischen Produkten hinter dem Berge, so ist das ihre Sache; tragischer Argwohn ist jedoch nicht am Platz, sondern es handelt sich um ein begreifliches Schamgefühl. (Alle oben citierten Stellen sind den einzig massgebenden, von zwei Rabbinern revidierten Übersetzungen von Dr. Aug. Wünsche entnommen: Der jerusalemische Talmud, Zürich 1880, Der babylonische Talmud, Leipzig 1886 1889; einzig das Citat über Rabbi bar Huna ist nach der von Seligmann Grünwald herausgegebenen Sammlung talmudischer Aussprüche in der jüdischen Universal-Bibliothek. Man vergl. übrigens Strack: Einleitung in den Talmud, Nr. 2 der Schriften des Institutum Judaicum in Berlin, wo man unter Anderem eine lückenlose Aufzählung aller übersetzten Fragmente findet, S. 106 fg. Viel klarer, bei minder gelehrtem Apparat, ist der Anhang über den Talmud in dem vortrefflichen Werkchen von William Rubens: Der alte und der neue Glaube im Judentum, 1878).446Die Erben.Blut in kaltes Metall verwandelt und daraus für die Seele einen Schraub - stock geschmiedet, eine Art eiserne Jungfrau wie die zu Nürnberg, sie hatten die Lebensader der unwillkürlichen Empfindung, oder wie Ambrosius sagt, des » Gefühles « unterbunden, die Lebensader der instink - tiven schöpferischen Thätigkeit eines Volkes, durch welche sein Glaube, seine Sitten, seine Gedanken sich den wechselnden Zeiten anpassen und durch neue Gestaltungen das ewig Wahre des Alten zu neuge - gebenem Leben erwecken; ihr Werk wäre jedoch ohne Bestand ge - wesen, wenn sie auf halbem Wege stehen geblieben und sich mit diesem Negativen begnügt hätten. Schneidet man bei physiologischen Experimenten die Verbindung zwischen Herz und Hirn ab, so muss man für künstliche Atmung sorgen, sonst hören die Lebensfunktionen auf; das thaten die priesterlichen Religionsgründer durch die Ein - führung des Messianischen Zukunftsreiches.

Ich habe schon mehrmals ausgeführt1)Siehe S. 234 fg., 246 Anm., 397, 409 fg., 415 etc. und will nicht wieder darauf zurückkommen, dass eine materialistische Weltanschauung eine geschichtliche Auffassung bedingt, und ausserdem, dass Geschichte, wo sie als Grundlage einer Religion dient, notwendigerweise ausser Vergangenheit und Gegenwart auch die Zukunft umfassen muss. Ohne Zweifel waren also Zukunftsgedanken ein uralter Bestandteil des hebräischen Erbes. Doch wie bescheiden, wie natürlich, wie ganz innerhalb der Grenzen des Möglichen und Thatsächlichen! Nur Kanaan schenkte Jahve den Israeliten, war er doch selber nur von Kanaan der Gott; abgesehen von vielen unvermeidlichen Fehden lebte der Stamm Juda, genau so wie die andern Stämme, bis zum Exil in bestem Einvernehmen mit seinen Nachbarn; man wandert ein und aus (siehe das Buch Ruth), man nimmt als etwas selbstverständliches den Gott des Landes an, in dem man sich niederlässt (Ruth I, 15, 16); der nationale Hochmut ist kaum grösser als der deutsche oder französische heutzutage. Freilich hatte bei den Propheten, im Einklang mit ihren übrigen Ideen, namentlich auch mit Rücksicht auf die äusserst ge - fährliche politische Lage (denn Propheten standen nur bei Gelegenheit politischer Krisen auf, niemals in Friedenszeiten)2)Wellhausen: (nach Montefiore p. 154). die Zukunft mehr Farbe erhalten; als Folie zu den sittlichen Ermahnungen und ange - drohten Strafen, die fast den gesamten Inhalt ihrer Kundgebungen2)führt beim Semiten zur Zauberei. Immer und überall die Vorherrschaft des blinden Willens!447Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.bilden, brauchten sie ein glänzendes Bild der Segnungen, die einem frommen, gottesfürchtigen Volk zu Teil werden würden, doch ist von Universalherrschaft und dergleichen in den echten Schriften der vor - exilischen Propheten niemals die Rede. Selbst Jesaia versteigt sich nicht weiter als bis zu dem Gedanken, dass Jerusalem uneinnehmbar sei und dass Strafe seine Feinde treffen werde; dann, in der » sicheren Wohnung « wird » Heil, Weisheit, Klugheit, Furcht des Herrn der Einwohner Schatz sein «, und als ein besonderer Segen schwebt dem grossen Mann noch vor, dass man zu jener Zeit » keine Schriftgelehrten sehen wird «! 1)Siehe z. B. das Kap. XXXIII.Ich kann mich auf die grösste lebende Autorität be - rufen, um apodiktisch zu behaupten, die Vorstellung einer besonderen Heiligkeit des jüdischen Volkes diejenige Vorstellung, welche der Religion des Judentums zu Grunde liegt sei dem Jesaia gänzlich unbekannt. 2)Cheyne; Introduction to Isaiah (ed. 1895) p. 27 und 53.Alle jene Stellen, wie z. B. Kap. IV, 3: » wer wird übrig sein zu Sion, der wird heilig heissen «, Kap. LXII, 12: » man wird sie nennen das heilige Volk «, u. s. w. sind nachgewiesenermassen spätere Interpolationen, d. h. das Werk der vorhin genannten grossen Synagoge; die Sprache eines viel späteren, das Hebräische nicht mehr frei beherrschenden Jahrhunderts hat die frommen Fälscher verraten. Ebenso gefälscht sind auch fast alle jene » trostreichen Anhänge «, die man nach den meisten Drohungen bei Amos, Hosea, Micha, Jesaia, etc. findet;3)Cheyne: in seiner Einleitung zu Robertson Smith: Prophets of Israel, p. XV fg. und ganz und gar gefälscht, vom ersten bis zum letzten Wort, sind solche Kapitel, wie Jesaia LX, jene berühmte messianische Prophezeiung, nach welcher alle Könige der Welt vor den Juden im Staube liegen, und die Thore Jerusalems Tag und Nacht offen bleiben werden, damit die Schätze4)Luther hat irrtümlicher Weise » Macht «. aller Völker hineingetragen werden. Der echte Jesaia hatte seinem Volke als Lohn » Weisheit und Klugheit « versprochen, der noch grössere Deuterojesaia (derjenige, der weder Opfer noch Tempel wollte) hatte sich als Herrlichstes gedacht, dass Juda » der Knecht Gottes « werden solle, berufen, allüberall den Müden, den Blinden, den Armen, den Schwerbedrückten Trost zu bringen; doch das war jetzt anders geworden: der Fluch Gottes soll fortan den - jenigen treffen, welcher behauptet » das Haus Juda ist ein Volk wie alle anderen Völker « (Ezekiel XXV, 8), denn es soll » ein Königreich448Die Erben.von Priestern sein « (Exodus XIX, 6). 1)Dass die Stelle XIX, 3 9 ein freier Zusatz aus post-deuteronomischer Zeit ist, zeigt Wellhausen: Composition des Hexateuchs, S. 93, und vergl. 97.Den Juden wurde nunmehr die Weltherrschaft und der Besitz aller Schätze der Welt versprochen, namentlich alles Goldes und alles Silbers. 2)Jesaia: das ganze sechzigste Kapitel. Siehe auch den nachexilischen Pro - pheten Haggai, der den Juden » aller Heiden Schätze « verheisst: » denn mein is beides, Silber und Gold, spricht der Herr Zebaoth « (II, 8, 9).» Dein Volk wird das Erdreich ewiglich besitzen « (Jesaia LX, 21): das ist nunmehr die Zukunft, welche dem Juden vorgespiegelt wird. In Demut soll er sich vor Gott beugen, nicht aber in jener inneren Demut, von der Christus spricht, sondern er beugt das Haupt vor Jahve, weil ihm verheissen wird, durch die Erfüllung dieser Bedingung werde er allen Völkern der Welt den Fuss auf den Nacken setzen, Herr und Be - sitzer der ganzen Erde werden. 3)Die Absurdität des Gedankens, diese Religion sei der Stamm des Christentums, das Christentum dessen Blüte, muss doch dem befangensten Menschen in die Augen springen.Diese eine Grundlage jüdischer Religion involviert also ein direktes verbrecherisches Attentat auf alle Völker der Erde, und zwar kann das Verbrechen nicht darum in Abrede gestellt werden, weil die Macht zur Ausführung bisher fehlte, denn die Hoffnung selbst ist es, die verbrecherisch ist und die das Herz des Juden vergiftet. 4)Die jüdischen Apologeten werfen ein, sie gehorchen dem Gesetz, nicht » weil « sie dadurch zur Herrschaft gelangen sollen, sondern weil Jahve es befiehlt; dass Jahve den Juden als dem heiligen Volk die Welt schenke, geschehe zu seinem eigenen, nicht zu ihrem Ruhm. Doch dünkt mich das pure Kasuistik, die eine Erwiderung nicht verdient. Ein unverdächtiger Autor, Montefiore, sagt buchstäblich: Ohne Frage bildet das Argument Gehorche dem Gesetz, denn es wird sich auszahlen‘ das zu Grunde liegende Hauptmotiv im Deuteronomium « (a. a. O., p. 531). Dass unzählige Juden fromme Menschen sind, die das Gesetz erfüllen, und ein reines edles Leben führen, ohne an Lohn zu denken, beweist nur, dass hier wie anderwärts Moral und Religion nicht zusammengehören, und dass es auf der ganzen Welt Menschen giebt, die unendlich viel besser als ihr Glaube sind. Noch heute aber schreiben selbst ziemlich freisinnige Juden: » Die Existenz des Juden - tums ist von der Festhaltung der Messiashoffnung bedingt « die bestimmte Er - wartung der Weltherrschaft bildet also noch immer die Seele des Judentums (vergl. oben S. 328). Zu den missverstandenen und ab - sichtlich gefälschten Propheten kamen auch andere Zukunftsträume, um die es aber nicht besser bestellt war. Von den Persern hatten die Juden während ihrer Gefangenschaft zum ersten Mal über die Unsterblichkeit und über ein künftiges Leben dunkle Kunde ver -449Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.nommen, auch über Engel und Teufel, über Himmel und Hölle. 1)Über die unmittelbare Entlehnung zoroastrischer (halbverstandener) Vor - stellungen durch die Begründer des Judentums, siehe Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 373, 429, 453 etc.Auf dieser Grundlage entstand nun eine unermessliche apokalyptische Litteratur (von der das Buch Daniel eine allzugünstige Vorstellung geben würde, trotz seiner sinnlosen Geheimthuerei), welche sich mit dem Ende der Welt, der Auferstehung der Gerechten, u. s. w. be - schäftigte, ohne dass aber dadurch die messianischen Hoffnungen irgendwie wesentlich idealisiert worden wären; im besten Fall handelt es sich um eine Wiederauferstehung des Leibes, welche der schwankenden Zuversicht aufhelfen soll: » heute musst du das Gesetz üben, später wirst du den Lohn erhalten « (Talmud, Trak. Erubin, Abschn. 2), und dieses jüdische » Reich Gottes « wird, wie einer der bedeutendsten israelitischen Denker, Saadia (10. Jahrhundert) versichert: » auf Erden vor sich gehen «. Das Citat aus der Apok. Baruch’s auf S. 403 zeigt, wie die Juden sich diese zukünftige Welt dachten; sie unterschied sich von der jetzigen fast lediglich durch die weltbeherrschende Stellung der jüdischen Nation. Von dieser Auffassung hat sich sogar eine interessante Spur in das Neue Testament hineinverirrt. Laut Matthäus werden die zwölf Apostel, auf zwölf Thronen sitzend, die zwölf Stämme Israels richten, was ohne Frage die Vorstellung einschliesst, dass keine andere Menschen als Juden in den Himmel aufgenommen werden. 2)Matthäus XIX, 28, Lukas XXII, 30. Dieser Christo in den Mund gelegten Behauptung widerspricht schnurstracks das Matthäus XX, 23 Gesagte. Auch das Festhalten an den zwölf Stämmen, trotzdem es seit mehr als einem halben Jahr - tausend nur noch zwei gab, ist echt rabbinisch. Von den Rabbinern wird ja aus - drücklich gelehrt, » die Nichtjuden sind als solche vom Anteil an der zukünftigen Welt ausgeschlossen « (vergl. Laible: Jesus Christus im Talmud, S. 53). Über die messianischen Erwartungen siehe auch die Ausführungen im dritten Kapitel, S. 238, Anm.

So wird die erdichtete, durch und durch verfälschte Vergangen - heit durch eine eben so erdichtete, utopische Zukunft ergänzt, und so schwebt der Jude, trotz des Materialismus seiner Religion, zwischen Träumen und Trugbildern. Die fata morgana der urväterlichen Wüste zaubert diesem Halbsemiten süssen Trost für die Tragik seines Schicksals vor, einen luftigen, gehaltlosen, betrügerischen Trost, doch durch die Gewalt des Willens genannt Glauben eine genügende, für Andere oft gar gefährliche Lebenskraft. Hier triumphiert die Macht der Idee in einer erschreckenden Weise: in einem gut beanlagten,Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 29450Die Erben.doch weder physisch noch geistig ungewöhnlich hervorragenden Volke erzeugt sie den Wahn einer besonderen Auserwähltheit, einer beson - deren Gottgefälligkeit, einer unvergleichlichen Zukunft, sie schliesst es in tollem Hochmut von sämtlichen Nationen der Erde ab, zwingt ihm ein geistloses, unvernünftiges, in der Praxis gar nicht durchzuführen - des Gesetz als ein gottgegebenes auf, nährt es mit erlogenen Erinne - rungen und wiegt es in verbrecherischen Hoffnungen und, während sie dieses Volk derart in seiner eigenen Einbildung zu babylonisch schwindligen Höhen emporhebt, drückt sie es in Wirklichkeit seelisch so tief herab, lastet so schwer auf seinen besten Anlagen, sondert es so gänzlich aus der leidenden, strebenden, schaffenden Menschheit, erstarrt es so hoffnungslos in den unseligsten fixen Ideen, macht es so offenbar in allen seinen Gestaltungen (von der äussersten Recht - gläubigkeit bis zum ausgesprochenen Freisinn) zu einem offenen oder versteckten Feind jedes anderen Menschen, zu einer Gefahr für jede Kultur, dass es zu allen Zeiten und an allen Orten den Hochbegabten das tiefste Misstrauen einflösste und dem sicheren Instinkt des Volkes Abscheu. Ich sagte soeben, Rechtgläubigkeit und Freisinn könnten uns hier gleich gelten, und in der That, es kommt weniger darauf an, was ein Jude heute glaubt, als (wenn man mir die paradoxe Gegenüberstellung erlaubt) darauf, was er glauben kann, was er zu glauben vermag. Die intellektuelle Begabung und die Moralität sind individuelle Anlagen; der Jude ist, wie andere Menschen, klug oder dumm, gut oder schlecht; wer das leugnet, ist nicht wert, dass man mit ihm rede; was dagegen nicht individuell ist, das sind les plis de la pensée, wie der Franzose sagt, die angeborenen Richtungen des Denkens und des Thuns, die bestimmten Falten, in die der Geist durch die Gewohnheiten von Generationen gelegt wird. 1)Die Generation mit 24 Jahren berechnet, was bei der Frühreife der Juden nicht übertrieben ist, steht der heutige Jude durchschnittlich in der hundertsten Generation seit der Rückkehr aus Babylon und der Begründung des Judentums. Das gilt natürlich nur für die männliche Folge; eine ununterbrochene weibliche Folge stünde jetzt etwa in der hundertundfünfzigsten Generation.Und so sehen wir denn heute jüdische Atheisten allermodernster Richtung, die, durch ihre Neigung, unsinnige Hypothesen oder blosse Notvorstellungen der Wissenschaft für materielle, bare Thatsachen zu halten, durch ihre totale Unfähigkeit, sich über den borniertesten historischen Standpunkt zu erheben, durch ihr Talent, unmögliche sozialistische und ökonomische Messiasreiche zu planen, unbekümmert, ob sie dabei unsere ganze,451Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.mühsam erworbene Civilisation und Kultur zu Grunde richten, durch ihren kindlichen Glauben, man könne mit Dekreten und Gesetzen die Seelen der Völker von heute auf morgen umwandeln, durch ihre weitreichende Verständnislosigkeit für alles wahrhaft Grosse ausserhalb der engen Grenzpfähle ihres eigenen Gedankenzirkus, und durch ihre lächerliche Überschätzung jeder liliputanischen Geistesthat, wenn sie nur einen Juden zum Urheber hat man sieht, sage ich, solche an - gebliche Freigeister, die sich viel gründlicher und auffallender als echte Produkte jener jüdischen Thora - und Talmudreligion erweisen, als mancher fromme Rabbiner, der die hohen Tugenden der Demut und der Gesetzestreue, verbunden mit Liebe zum Nächsten, Aufopferung für die Armen, Toleranz gegen Nichtjuden übt, und so lebt, dass er jedem Volk zur Ehre und jeder Religion zum Preise gereichen würde.

Was nun trotz alledem der spezifisch jüdischen AuffassungDas Gesetz. des Lebens Grösse giebt, das habe ich in einem früheren Teil dieses Kapitels bereits angedeutet (siehe S. 373 fg.). Wenn auch, wie Robertson Smith versichert, bei der folgenschweren Bestimmung der Zentralisierung des Kultus in dem einen einzigen Jerusalem, die rein pekuniären Interessen der priesterlichen Adelskaste und ihr politischer Ehrgeiz von Einfluss gewesen sein mögen,1)Prophets of Israel p. 365. so bin ich doch überzeugt, dass unproduktive, kritische Geister derartigen Erwägungen stets viel zu viel Gewicht beilegen. Durch pure egoistische Interessen - berechnung gründet man nicht eine Nation, welche die Zerstreuung überlebt; es ist ein Urteilsfehler, das zu glauben. 2)Ein wahrhaft klassisches Beispiel dieser angeblich kritischen, in Wahrheit ebenso kritiklosen wie verständnislosen Richtung bietet Prof. Hermann Oldenberg’s: Religion des Veda, wo die Symbolik und die Mystik der Inder durchwegs als priesterlicher Schwindel dargestellt werden!Wir sehen auch nicht, dass Hesekiel, Esra und Nehemia, welche die Last und die Gefahr getragen, persönlich irgend einen Vorteil davon gehabt hätten. Es gehörte überhaupt Idealismus dazu, um Jerusalem gegen Babylon einzutauschen; die bequemeren Weltlichgesinnten blieben in der Metro - polis am Euphrat zurück. Auch in der Folge war der Jude überall besser daran als daheim, und der Rabbiner, der sich durch Schustern und Schneidern seinen kümmerlichen Lebensunterhalt verdiente, um dann alle Mussestunden der Erforschung der Schrift, der Belehrung und der Diskussion zu widmen, war alles, was man will, nur nicht ein Mensch, der seinen pekuniären Interessen nachläuft. Ein Egoist,29*452Die Erben.ja freilich, ein rasender Egoist, nur aber für seine ganze Nation, nicht für sich persönlich. Hier also, wie überall, ist die ideale Gesinnung die einzige, welche Macht hat zu schaffen und zu erhalten, und selbst die Religion des Materialismus ruht auf ihr. Gefälscht haben diese Männer, das steht ausser Frage, und Geschichte fälschen ist in einem gewissen Sinne noch schlimmer als Wechsel fälschen, es kann von unermesslicher Tragweite sein; die vielen Millionen, die durch oder für das Christentum hingeschlachtet wurden,1)Voltaire giebt in seiner Schrift Dieu et les hommes eine ausführliche Be - rechnung, wonach zehn Millionen Menschen als Opfer der christlichen Kirchenlehre gefallen wären, doch hat er überall die Zahlen sehr reduziert, bisweilen auf die Hälfte, um nur ja nicht der Übertreibung beschuldigt zu werden. sowie die vielen für ihren Glauben gestorbenen Juden sind alle Opfer der Fälschungen des Esra und der grossen Synagoge; doch dürfen wir die Motive dieser Männer nicht verdächtigen. Sie handelten in der höchsten Verzweiflung; sie wollten das Unmögliche vollbringen: ihre Nation vor dem Untergang retten, gewiss ein edles Ziel; siegen konnten sie nur durch die sofortige Anwendung der äussersten Mittel; es war ein Wahn - gedanke, doch kein unedler, denn vor allem wollten sie ihrem Gott dienen. » An ihnen will ich erzeigen, dass ich heilig bin « (Hesekiel XXVIII, 25); » dies Volk habe ich mir zugerichtet, es soll meinen Ruhm erzählen « (Jesaia XLIII, 21, nachexilische Einschaltung). Ver - schwand das jüdische Volk, so blieb Jahve ohne Ehre zurück. Dass die Begründer des Judentums so rein und selbstlos dachten, dass sie die Augen zu einem Gott emporhoben, das war die Quelle ihrer Kraft. Der Gedanke, die Nation durch das strenge Verbot der Mischehen zu isolieren und aus dem hoffnungslos bastardierten Israeliten eine Edel - rasse zu züchten, ist geradezu genial; ebenso der Einfall, die Reinheit der Rasse als ein historisches Erbe, als das besondere, charakteristische Merkmal des Juden hinzustellen! Das gesamte Gesetz gehört ebenfalls hierher, denn durch dieses Gesetz erst gelang es, jeden anderen Ge - danken als den an Jahve zu verbannen, das Volk also wirklich zu einem » heiligen « (nach semitischen Begriffen) zu machen. Ein jüdischer Autor teilt uns mit: » für den Sabbat allein giebt es 39 Kapitel verbotener Be - schäftigungen, jedes Kapitel wieder mit Unterabteilungen ad infinitum «. 2)Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 504.365 Verbote und 248 Gebote sollen dem Moses auf dem Sinai gelehrt worden sein,3)Talmud: Traktat Makkoth, Abschn. 3 (nach Grünwald). und das giebt erst das vorläufige Gerüst ab für das aus -453Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.führliche » Gesetz «. Montefiore behauptet auch, die Befolgung des Ge - setzes sei bald so sehr der vorherrschende Gedanke des Juden geworden, dass sie für ihn das summum bonum, die beste, edelste und süsseste Be - schäftigung der Welt ausmachte. 1)Montefiore: a. a. O., S. 530. » Die ungeheure Anzahl zeremonieller Vorschriften ist das hohe Vorrecht Israels «, sagt der Talmud (Montefiore S. 535), und in den Klageliedern (fälschlich Jeremia zugeschrieben) lesen wir: » Es ist ein köstliches Ding einem Manne, dass er das Joch in seiner Jugend trage dass er seinen Mund in den Staub stecke und der Hoffnung erwarte « (III, 27, 29). Um die entgegengesetzte Auffassung kennen zu lernen, lese man die schönen Be - merkungen in Immanuel Kant’s: Anthropologie § 10a über religiöse Verpflichtungen, worin der grosse Denker die Meinung ausspricht, nichts sei für einen vernünftigen Menschen schwerer, » als Gebote einer geschäftigen Nichtsthuerei, dergleichen die waren, welche das Judentum begründete «.Während Gedächtnis und Geschmack auf diese Art mit Beschlag belegt wurden, erging es dem Urteilsver - mögen nicht besser, es wurde vom Gesetz einfach geknickt: eine arme Frau, die am Sabbat trockenes Holz fiir ihre Feuerung auflas, beging durch ihre Übertretung des Gesetzes ein genau ebenso grosses Verbrechen als hätte sie die Ehe gebrochen. 2)Nach dem Gesetz (siehe Num. XV, 32 36) muss sie mit dem Tode bestraft werden! Ich sage also, die Männer, die das Judentum gründeten, wurden nicht von bösen, eigensüchtigen Absichten geleitet, sondern von einer dämonischen Kraft, wie sie nur ehrlichen Fanatikern eigen sein kann, denn das furchtbare Werk, welches sie vollbrachten, ist in jedem Punkte vollkommen.

Das ewige Denkmal dieser Vollkommenheit ist ihre Thora, dieDie Thora. Bücher des Alten Testamentes. Hier gestaltet Geschichte wiederum Geschichte! Welches wissenschaftliche Werk könnte jemals hoffen, eine ähnliche Wirkung auf das Leben der Menschheit auszuüben? Man hat vielfach behauptet, den Juden fehle es an Gestaltungskraft; die Betrachtung dieses merkwürdigen Buches muss uns eines Besseren belehren; mindestens wurde ihnen in der höchsten Not diese Kraft zu Teil und schufen sie ein wahres Kunstwerk, namentlich darin ein Werk der Kunst, dass in dieser Weltgeschichte, welche mit der Er - schaffung des Himmels und der Erde beginnt, um mit dem zukünf - tigen Reich Gottes auf Erden zu enden, alle perspektivischen Ver - hältnisse die unvergleichliche Hervorhebung des einen einzigen Mittel - punktes des jüdischen Volkes bewirken. Und worin ruht die Kraft dieses Volkes, eine Lebenskraft, die jedem Schicksal bisher sieg - reich getrotzt hat, wo, wenn nicht in diesem Buche? Wir haben454Die Erben.erfahren, dass die Israeliten sich in früheren Zeiten in nichts von den zahlreichen anderen hebräischen Nachbarstämmen unterschieden, wir gewahrten in den syrischen Hethitern eine zwar ausserordentlich zähe, doch auffallend » anonyme «, physiognomielose Menschengattung, an der die Nase mehr auffiel als irgend etwas Anderes. Und die Judäer? Sie waren so wenig kriegerisch, so unzuverlässige Soldaten, dass ihr König fremden Söldnertruppen den Schutz des Landes und seiner Person anvertrauen musste, so wenig unternehmungslustig, dass der blosse Anblick des Meeres, auf welchem ihre Stammesvettern, die Phönicier, zu so glänzenden Geschicken aufblühten, sie erschreckte, so wenig industriell, dass man zu jedem Unternehmen die Künstler, die Werk - führer und für alle feineren Arbeiten auch die Handwerker aus den be - nachbarten Ländern verschreiben musste, so wenig zum Ackerbau befähigt, dass (wie aus vielen Stellen der Bibel und des Talmuds her - vorgeht) die Kanaaniter hierin nicht allein ihre Lehrmeister waren, sondern bis zuletzt die arbeitende Kraft des Landes blieben;1)Darum bildet es eine der schlimmsten Drohungen gegen die Juden, falls sie Jahve’s Gebote nicht hielten, würden sie » ihre Arbeiten selber verrichten müssen, anstatt sie durch Andere verrichten zu lassen « (Talmud, Traktat Berachoth, Kap. VI, nach Seligmann Grünwald). Die Vorstellung, dass » Ausländer die Acker - leute und Weingärtner seien «, findet man ebenfalls (als Prophezeiung) in Jesaia LXI, 5. ja, sogar in rein politischer Beziehung waren sie solche Gegner aller stabilen, geordneten Zustände, dass keine vernünftige Regierungsform bei ihnen Bestand hatte und sie von früh an stets unter dem Druck fremder Herrschaft sich am wohlsten fühlten, was sie jedoch nicht verhinderte, auch diese zu unterwühlen . Ein solches Volk scheint zum schnellen Verschwinden aus der Weltgeschichte wie prädestiniert, und in der That, von den übrigen, viel tüchtigeren halbsemitischen Stämmen Jener Zeit sind nur noch die Namen bekannt. Was schützte das kleine Volk der Juden vor demselben Schicksal? was hielt es noch fest zusammen, als es über die Erde zerstreut war? was machte es möglich, dass aus seiner Mitte heraus das neue Weltprinzip des Christen - tums hervorging? Einzig dieses Buch. Es würde zu weit führen, wollte man die Eigenschaften dieses für die Weltgeschichte so wichtigen Werkes analysieren. Goethe schreibt einmal: » Diese Schriften stehen so glücklich beisammen, dass aus den fremdesten Elementen ein täuschendes Ganzes entgegentritt. Sie sind vollständig genug, um zu befriedigen, fragmentarisch genug, um anzureizen, hinlänglich barbarisch, um aufzufordern, hinlänglich zart, um zu besänftigen. « Herder er -455Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.klärt die weite Wirkung des Alten Testaments vornehmlich daraus, dass es: » der menschlichen Wissbegierde angenehm war, über das Alter und die Schöpfung der Welt, über den Ursprung des Bösen u. s. f. aus diesen Büchern so populäre Antworten zu erhalten, die Jeder ver - stehen und fassen konnte «. So sehen wir dieses Buch den Anforde - rungen des geläuterten Geistes und des gemeinen Volkes genügen dem Einen, weil er in dem » täuschenden Ganzen « die kühne Willkür bewundert, dem Andern, weil das Mysterium des Daseins den Augen, wie Jahve hinter den Tempelvorhang, entrückt wird, und er auf alle Fragen » populäre Antworten « erhält. Dieses Buch bedeutet den Triumph der materialistischen Weltanschauung, wahrlich nichts Geringes! es be - deutet den Sieg des Willens über den Verstand und über jede fernere Regung der schöpferischen Phantasie! Ein solches Werk konnte nur aus frommer Gesinnung und dämonischer Kraft hervorgehen.

Man kann das Judentum und seine Macht, sowie seine unaus - rottbare Lebenszähigkeit nicht verstehen, man kann den Juden unter uns, seinen Charakter, seine Denkart nicht gerecht und treffend be - urteilen, solange man dieses Dämonisch-geniale in seinem Ursprung nicht erkannt hat. Es handelt sich hier wirklich um den Kampf Eines gegen Alle; dieser Eine hat jedes Opfer, jede Schmach auf sich genommen, um nur einmal, gleichviel wann, das messianische Welt - reich der Alleinherrschaft, Jahve zu ewigem Ruhme, anzutreten. Der Talmud sagt es: » Wie aus der Übertretung des Gesetzes deine Zer - tretung erfolgt, so wird Gehorsam gegen das Gebot dadurch belohnt, dass du selber gebieten wirst « (Aboth IV, 5; nach Montefiore).

Zum Schluss noch Eines. Auf die Frage: wer ist der Jude?Das Judentum. antwortete ich zunächst, indem ich seine Herkunft, das physische Substratum zeigte, sodann indem ich die leitende Idee des Judentums in ihrem Entstehen und ihrem Wesen hinzustellen suchte. Mehr kann ich nicht thun, denn die Persönlichkeit gehört dem einzelnen Individuum an, und nichts ist falscher als das verbreitete Verfahren, ein Volk nach Einzelnen zu beurteilen. Ich habe weder den » guten « Juden noch den » schlechten « Juden herangezogen; » Niemand ist gut «, sagte Jesus Christus, und wo ist ein Mensch so tief erbärmlich, dass wir ihn unbedingt schlecht schelten möchten? Vor mir liegen mehrere Gerichtsstatistiken: die einen wollen beweisen, die Juden seien die lammfrommsten Bürger Europas, die andern erhärten das456Die Erben.Gegenteil; wie sich Beides aus denselben Zahlen herausklügeln lässt, wundert mich, aber noch viel mehr wundert es mich, dass man auf diese Weise Völkerpsychologie zu treiben wähnt. Kein Mensch stiehlt zum Vergnügen, er sei denn ein Kleptoman. Ist wirklich der Mann, der durch Not oder in Folge üblen Beispiels ein Dieb wird, schlechter - dings ein böser Mann, und derjenige, der nicht die mindeste Veran - lassung dazu hat, ein guter? Luther sagt: » Wer dem Bäcker Brot vom Laden nimmt ohne Hungersnot, ist ein Dieb; thut er’s in Hungers - not, so thut er recht, denn man ist’s schuldig, ihm zu geben «. Man gebe mir eine Statistik, welche mir zeigt, wie viele Menschen, die in äusserster Not, Bedrängnis und Verlassenheit leben, nicht Verbrecher werden; hieraus könnte eventuell etwas geschlossen werden; und doch, nur wenig, sehr wenig. Waren nicht die Vorfahren unseres Feudal - adels Strassenräuber? und sind ihre Nachkommen nicht stolz darauf? Liessen die Päpste nicht Könige durch gedungene Mörder erschlagen? Gehört nicht in unserer heutigen gesitteten Gesellschaft Lügen und Prävarizieren einzig noch in der hohen Diplomatie zum guten Ton? Lassen wir also die Moralität bei Seite, ebenso wie die fast gleich schlüpfrige Frage nach der Begabung: dass es mehr jüdische als europäische Rechtsanwälte in einem Lande giebt, beweist doch zunächst nichts weiter, als dass es dort ein gutes Geschäft ist, Rechtsanwalt zu sein, eine besondere Begabung gehört nicht dazu . Bei allen diesen Dingen, namentlich sobald sie statistisch gebracht werden, kann man überhaupt beweisen, was man will. Dagegen sind jene beiden That - sachen: Rasse und Ideal durchaus grundlegend. Gute und schlechte Menschen giebt es nicht, für uns wenigstens nicht, nur vor Gott, denn das Wort » gut « bezieht sich hier auf eine moralische Wert - schätzung und diese wiederum hängt von einer Kenntnis der Motivation ab, die nie erschlossen werden kann; » wer kann das Herz ergründen? « rief schon Jeremia (XVII, 9);1)Wie Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft sagt (Erläut. der kosmol. Idee der Freiheit): » Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen «. dagegen giebt es recht wohl gute und schlechte Rassen, denn hier handelt es sich um physische Verhält - nisse, um allgemeine Gesetze der organischen Natur, die experimental untersucht worden sind, um Verhältnisse, wo im Gegensatz zu den oben genannten Zahlen unwiderlegliche Beweise erbringen, um Verhältnisse, über die uns die Geschichte der Menschheit reiche Be - lehrung bietet. Und kaum minder fassbar sind die leitenden Ideen. 457Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.In Bezug auf die Rasse sind diese ohne Frage zunächst als eine Folge zu betrachten, doch, man unterschätze diese unsichtbare innere Ana - tomie, diese rein geistige Dolichocephalie und Brachycephalie nicht, sie wirkt im weitesten Umfang auch als Ursache. Daher hat jede kräftige Nation eine so grosse Assimilationskraft. Der Eintritt in den neuen Verband ändert zunächst kein Jota an der physischen Struktur, und nur sehr langsam, im Laufe der Generationen, das Blut; doch viel schneller wirken die Ideen, indem sie fast sofort die ganze Persön - lichkeit in andere Bahnen lenken. Und die jüdische Nationalidee scheint eine ganz besonders mächtige Wirkung auszuüben, vielleicht gerade darum, weil in diesem Falle die Nation lediglich als Idee existiert und vom Anbeginn des Judentums an niemals eine normale » Nation « war, sondern vor allem ein Gedanke, eine Hoffnung. Darum ist es auch verkehrt, gerade bei Juden ein besonderes Gewicht auf die Aufnahme fremden Blutes, die von Zeit zu Zeit stattfand, zu legen, wie das z. B. von Renan mit grossem Nachdruck in seinen letzten Jahren geschah. Besser als jeder Andere wusste Renan, dass der Übertritt von Griechen und Römern zum Judentume eine durchaus belanglose Erscheinung war. Was waren diese » Hellenen « aus Antiochien, von denen er uns in seinem Vortrag » Judaïsme race ou religion? « erzählt, die angeblich haufenweise zum Judentum übertraten (für die That - sache besitzen wir nur das Zeugnis eines sehr unzuverlässigen Juden, des Josephus)? Hebräisch-syrische Bastarde, weiter nichts, in deren Adern wahrscheinlich nicht ein Tropfen griechischen Blutes floss! Und diese » Römer «, für die sich Renan auf Juvenal (Sat. XIV, 95 fg. ) beruft? die Hefe des aus entfesselten asiatischen und afrikanischen Sklaven zusammengesetzten Volkes! Er nenne uns den bedeutenden Römer, der Jude geworden wäre! Solche Behauptungen bedeuten eine absichtliche Irreführung des ungelehrten Publikums. Doch, wenn sie auch auf Wahrheit statt auf tendenziöser Fälschung beruhten, was würde daraus folgen? Sollte die jüdische Nationalidee nicht die Kraft besitzen, die allen anderen Nationen eignet? Im Gegenteil, sie ist, wie ich gezeigt habe, machtvoll wie keine zweite und schafft die Menschen um zu ihrem Ebenbilde. Man braucht nicht die authentische Hethiter - nase zu besitzen, um Jude zu sein, vielmehr bezeichnet dieses Wort vor Allem eine besondere Art zu fühlen und zu denken; ein Mensch kann sehr schnell, ohne Israelit zu sein, Jude werden; Mancher braucht nur fleissig bei Juden zu verkehren, jüdische Zeitungen zu lesen und an jüdische Lebensauffassung, Litteratur und Kunst sich zu gewöhnen. 458Die Erben.Andererseits ist es sinnlos, einen Israeliten echtester Abstammung, dem es gelungen ist, die Fesseln Esra’s und Nehemia’s abzuwerfen, in dessen Kopf das Gesetz Mose und in dessen Herzen die Verachtung Andrer keine Stätte mehr findet, einen » Juden « zu nennen. » Welche Aussicht wäre es «, ruft Herder aus, » die Juden in ihrer Denkart rein - humanisiert zu sehen! « 1)Adrastea V, 7, Abschnitt » Fortsetzung «.Ein reinhumanisierter Jude ist aber kein Jude mehr, weil er, indem er der Idee des Judentums entsagt, aus dieser Nationalität, deren Wesenheit lediglich in einem Komplex von Vorstellungen, in einem » Glauben « besteht, ipso facto ausgetreten ist. Mit dem Apostel Paulus müssen wir einsehen lernen: » Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, sondern das ist ein Jude, der inwendig verborgen ist «.

Derartige nationale oder religiöse Ideale können nun in zwie - facher Weise ihren umwandelnden Einfluss zur Geltung bringen, positiv und negativ. Wir sahen, wie bei den Juden ein paar Männer einem Volk, welches durchaus nicht willig darauf einging, eine bestimmte nationale Idee aufzwangen, und ihm den Stempel dieser Idee so tief eingruben, dass es den Anschein hat, als werde dieses Volk ihn nie mehr auslöschen können; dazu gehörte aber Konsanguinität und Kon - genialität: hier wirkte also die Idee positiv schöpferisch. Ein ebenso merkwürdiges Beispiel ist die plötzliche Umwandlung der blutgierigen, wilden Mongolen zu milden, frommen Menschen, von denen ein Dritteil im Mönchsstande lebt, durch die Annahme des buddhistischen Glaubens. 2)Vergl. hierüber Döllinger: Akademische Vorträge I, 8.Eine Idee kann aber auch rein negativ wirken, sie kann den Menschen aus seiner eigenen Bahn lenken, ohne ihm dafür eine andere seiner Rasse angemessene zu öffnen. Ein allbekanntes Beispiel ist die Wirkung des Mohammedanismus auf die Turkomannen: durch die Annahme der fatalistischen Weltanschauung versank das wild - energische Volk nach und nach in volle Passivität. Wenn der jüdische Einfluss auf geistigem und kulturellem Gebiete in Europa die Oberhand gewänne, so wären wir um ein weiteres Beispiel negativer, zerstörender Wirkung reicher.

Ich habe soeben die von mir befolgte Methode, sowie ihre Haupt - ergebnisse angedeutet; eine andere Zusammenfassung dieses Kapitels mag ich nicht geben. Organischen Erscheinungen gegenüber sind Formeln stets Phrasen. Man kennt die Anekdote des: Le voilà, le chameau! 459Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.Selbst dem Kamel gegenüber ist eine derartige Prätention lächerlich, und nie könnte es mir einfallen, diese Skizze mit formelhaften Ver - allgemeinerungen zu schliessen, als wollte ich sagen: Le voilà, le juif! Ist doch das Thema unerschöpflich und unergründlich, habe ich doch von meinen Aufzeichnungen und Notizen kaum den zwanzigsten Teil verwendet! Was ich dagegen bestimmt erwarte, ist, dass, wer dieses Kapitel 5 liest, sich befähigt fühlen wird, ein schärferes, klareres Urteil als vorher über das Judentum und sein Erzeugnis, den Juden, zu fällen. Aus diesem Urteil wird sich das Weitere über die Bedeutung des Eintritts der Juden in die abendländische Geschichte von selbst ergeben. Diesen Einfluss durch die Jahrhunderte zu verfolgen, ist nicht meine Aufgabe. Da aber der indirekte Einfluss des Judentums auf das Christentum ein grosser war und noch ist, und da ausserdem der direkte Einfluss des Judentums gerade in unserem Jahrhundert (und erst in unserem Jahrhundert) sich wie ein neues Element in der Kulturgeschichte fühlbar gemacht hat, so dass die » jüdische Frage « zu den brennenden unserer Zeit gehört, war ich verpflichtet, hier die Grundlage zu einem Urteil zu legen. Weder die leidenschaftlichen Behauptungen der Antisemiten, noch die dogmatischen Plattheiten der Menschheitsrechtler, selbst nicht die vielen gelehrten Bücher, aus denen ich in diesem Kapitel so reichlich geschöpft habe (die aber doch alle nur irgend eine besondere, meist die rein theologische oder die rein archäologische Seite beleuchten) können uns zum Ziel verhelfen. Dass ich diese Grundlegung unternahm, war tollkühn, ich weiss es und ich gestehe es; doch gehorchte ich dem Gebote der Not, und ich hoffe nach klaren, richtigen Vorstellungen nicht umsonst gerungen zu haben; denn jene Not ist eine allgemeine. Bei dieser Frage handelt es sicht nicht allein um unsere Gegenwart, sondern auch um unsere Zukunft.

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SECHSTES KAPITEL DER EINTRITT DER GERMANEN IN DIE WELTGESCHICHTE

Mon devoir est mon Dieu suprême. Friedrich der Groſſe. (Brief an Voltaire vom 12. Juni 1740.)
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Der Eintritt des Juden in die europäische Geschichte hatte (wieDer Begriff » Germane «. Herder sagte) den Eintritt eines fremden Elementes bedeutet fremd gegen das, was Europa damals bereits geleistet hatte, fremd gegen das, was es noch zu leisten berufen war; umgekehrt verhält es sich mit dem Germanen. Dieser Barbar, der am liebsten nackend in die Schlacht zieht, dieser Wilde, der plötzlich aus Wäldern und Sümpfen auftaucht, um über eine civilisierte und kultivierte Welt die Schrecken einer gewaltsamen, mit der blossen Faust erfochtenen Eroberung zu giessen, ist nichtsdestoweniger der rechtmässige Erbe des Hellenen und des Römers, Blut von ihrem Blut, und Geist von ihrem Geist. Sein Eigenes ist es, das er, unwissend, aus fremder Hand entreisst. Ohne ihn ging der Tag des Indoeuropäers zu Ende. Meuchelmörderisch hatte sich der asiatische und afrikanische Knecht bis zum Thron des römischen Imperiums hinaufgeschlichen, inzwischen der syrische Bastard sich des Gesetzeswerkes bemächtigte, der Jude die Bibliothek zu Alexandria benutzte, um hellenische Philosophie dem mosaischen Gesetze anzu - passen, der Ägypter, um die lebensvoll aufkeimende Naturkunde in den prunkvollen Pyramiden wissenschaftlicher Systematik auf unabsehbare Zeiten einbalsamiert zu begraben; bald sollte auch der Mongole die hehren Blüten des urarischen Lebens: indisches Denken, indisches Dichten unter seinem rohen, bluttriefenden Fusse zertreten, und der vom Wüstenwahnsinn bethörte Beduin jenen Edensgarten, in welchem Jahrtausende hindurch alle Symbolik der Welt gewachsen war, Eranien, zu ewiger Öde einäschern; Kunst gab es schon lange nicht mehr, sondern für die Reichen Schablonen und für das Volk Zirkusreiten: somit, nach dem Worte Schiller’s, das ich zu Beginn des ersten Kapitels anführte, eigentlich keine Menschen mehr, sondern nur Geschöpfe. Es war hohe Zeit, dass der Retter erschien. Zwar trat er nicht so in die Weltgeschichte ein wie sich die kombinierende, konstruierende Vernunft, um ihren Rat befragt, einen rettenden Engel, den Spender eines neuen Menschheitsmorgens gedacht hätte; doch können wir heute, wo uns der Rückblick auf Jahrhunderte die Weisheit leicht erwirbt, nur das Eine bedauern, dass der Germane überall, wohin sein siegender Arm464Die Erben.drang, nicht gründlicher vertilgte und dass in Folge dessen die sogenannte » Latinisierung «, d. h. die Vermählung mit dem Völkerchaos, weite Gebiete dem einzig erquickenden Einfluss reinen Blutes und unge - brochener Jugendkraft, dazu der Herrschaft höchster Begabung, nach und nach wieder raubte. Jedenfalls vermag nur schändliche Denk - faulheit oder schamlose Geschichtslüge in dem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte etwas anderes zu erblicken als die Errettung der agonisierenden Menschheit aus den Krallen des Ewig-Bestialischen.

Gebrauche ich hier das Wort » Germane «, so geschieht es, wie ich bereits in den einleitenden Zeilen zu diesem Abschnitt über die Erben bemerkte, der Vereinfachung wegen, einer Vereinfachung aller - dings, durch welche die Wahrheit, die sonst verschleiert bleibt, zum Ausdruck kommt. Einigermassen elastisch aber und insofern vielleicht unzulässig erscheint zunächst dieser Begriff, gleichviel ob man ihn weit oder eng fasst, und zwar namentlich, weil das Bewusstsein eines spezifisch » Germanischen « eine späte Errungenschaft ist, eine späte wenigstens bei uns Germanen. Nie hat es ein Volk gegeben, welches sich als » ger - manisch « bezeichnet hätte, und niemals von ihrem ersten Auftreten auf der weltgeschichtlichen Bühne bis zum heutigen Tage haben sich sämtliche Germanen gemeinsam und vereint den Nichtgermanen entgegengestellt; im Gegenteil, von Anfang an liegen sie in Fehde mit einander, gegen keinen Menschen so ereifert wie gegen das eigene Blut. Zu Lebzeiten Christi verrät Inguiomer seinen nächsten An - verwandten, den grossen Hermann, an die Markomannen und verhindert dadurch das einheitliche Vorgehen der nördlichen Stämme und die gänzliche Vernichtung des Römers; schon Tiberius durfte als sicherste Politik den Germanen gegenüber empfehlen: » Überlasst sie ihren eigenen inneren Zerwürfnissen «; alle grosse Kriege der Folgezeit waren, mit Ausnahme der Kreuzzüge, Kriege zwischen Germanen, zum mindesten zwischen germanischen Fürsten; unser 19. Jahrhundert zeigte in der Hauptsache dasselbe Schauspiel. Der Fremde hatte jedoch sofort die Einheitlichkeit dieses starken Stammes erkannt und für dessen üppiges Geäst an Stelle des unübersehbaren Namenbabels von Chatten, Chauken, Cheruskern, Gambriviern, Sueven, Vandalen, von Goten, Markomannen, Lugiern, Langobarden, Saxen, Frisen, Hermunduren, u. s. w. den umfassenden, einheitlichen Begriff der Germanen ge - schaffen, und zwar weil sein Auge die Zusammengehörigkeit auf den ersten Blick erschaut hatte. Tacitus, nachdem er müde geworden, Namen aufzuzählen, meint: » die Leibesbildung ist bei allen diesen465Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.Menschen die selbe «; das war die richtige empirische Grundlage für die weitere intuitiv richtige Einsicht: » Ich bin überzeugt, dass die ver - schiedenen Stämme Germaniens, unbefleckt durch Ehen mit fremden Völkern, seit jeher ein besonderes, unvermischtes Volk bilden, welches nur sich selber gleicht « (Germania, 4). So viel deutlicher als der zunächst Beteiligte erkennt manchmal der Fernstehende, dessen Auge nicht durch Einzelheiten beeinflusst und befangen wird, den grossen Zusammenhang der Erscheinungen!

Heute jedoch ist es nicht allein Befangenheit, welche uns hindert das Wort » Germanen « räumlich und phylogenetisch so einfach wie Tacitus anzuwenden: jene » verschiedenen Germanenstämme «, die er als unvermischtes, verhältnismässig einförmiges Volk erblickte, sind seitdem, wie früher die Hellenen, die mannigfachsten Vermischungen unter einander eingegangen und ausserdem blieb nur ein Bruchteil » unbefleckt durch Ehen mit fremden Völkern «; wozu dann, in Folge der grossen Wanderungen, die besonderen kulturellen Einflüsse kamen, die aus geographischer Lage, klimatischen Verhältnissen, Bildungsgrad der nächsten Nachbarn u. s. w. sich ergaben. Das allein hätte schon genügt, um die Einheit in eine Vielheit zu spalten. Doch noch weit verwickelter erscheint die Sachlage, wenn wir das, was die politische Geschichte lehrt, durch nähere vergleichende Untersuchungen auf den Gebieten der Volksseelenkunde, der Philosophie und der Kunstgeschichte, sowie auch andrerseits durch die Ergebnisse der prähistorischen und anthropologischen Forschungen der letzten fünfzig Jahre ergänzen. Denn dann gewinnen wir die Überzeugung, dass wir den Begriff der » Germanen « bedeutend weiter fassen dürfen und müssen als Tacitus, zugleich aber erblicken wir notwendige Beschränkungen, an die das unvollkommenere Wissen seiner Zeit nicht denken konnte. Um unsere Geschichte und unsere Gegenwart zu verstehen, müssen wir uns an Tacitus ein Beispiel nehmen und, wie er, zusammenfassen und ausscheiden, doch auf der breiteren Grundlage unseres heutigen Wissens. Nur durch die genaue Feststellung eines neuen Begriffes des » Ger - manischen « gewinnt die Betrachtung des Eintrittes der Germanen in die Weltgeschichte praktischen Wert. Zweck dieses Kapitels ist, eine solche beschreibende Definition in aller Kürze zu geben. Bis wohin reicht das Stammverwandte? wo treffen wir » Arya « (d. h. die zu den Freunden Gehörigen) an? wo beginnt das Fremde, welches wir nach Goethe’s Wort » nicht leiden dürfen «?

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 30466Die Erben.
Erweiterung des Begriffes.
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Ich sagte, der Begriff » Germane « wäre weiter und dennoch zu - gleich enger zu fassen, als es Tacitus that. Die Erweiterung ergiebt sich sowohl aus historischen, wie auch aus anthropologischen Erwägungen, die Verengerung ebenfalls.

Erweitert wird der Begriff durch die Einsicht, dass der » Germane « des Tacitus sich physisch und geistig weder von seinem Vorläufer in der Weltgeschichte, dem » Kelten «, noch von seinem Nachfolger, den wir mit noch verwegenerer Kühnheit zu dem Begriff » Slave « zu - sammenzufassen gewohnt sind, scharf scheiden lässt. Kein Natur - forscher würde zögern, diese drei Rassen nach den physischen Merk - malen als Spielarten eines gemeinsamen Stockes zu betrachten. Die Gallier, die im Jahre 389 vor Chr. Rom eroberten, entsprechen nach den Beschreibungen genau der Schilderung, die Tacitus von den Ger - manen giebt: » strahlende blaue Augen, rötliches Haar, hohe Gestalt «; und andrerseits haben die Schädelbefunde aus den Grabstätten der ältesten heroischen Slavenzeiten zum Erstaunen der gesamten gelehrten Welt gezeigt, dass die Slaven aus der Völkerwanderung ebenso aus - gesprochene Dolichocephalen (d. h. Langköpfe) und ebenso hochge - wachsene Männer waren wie die alten Germanen und wie die Ger - manen echteren Stammes noch am heutigen Tage. 1)Vergl. als Zusammenfassung Ranke: Der Mensch, 2. Ausgabe II, 297. Dass es sich etwa bei diesen Gräberfunden lediglich um normännische Waräger handle, ist ausgeschlossen, da die Untersuchungen Material aus den verschiedensten Fundorten umfassen, nicht allein auf russischem, sondern auch auf deutschem Boden.Ausserdem haben Virchow’s umfassende Untersuchungen über die Farbe des Haares und der Augen zu dem Ergebnis geführt, dass die Slaven von Haus aus ebenso blond waren (resp. in gewissen Gegenden noch sind) wie die Germanen. Ganz abgesehen also von der nur theoretisch und hypothetisch gewonnenen allgemeinen Vorstellung eines indoeuro - päischen Menschen, scheint es, dass wir allen Grund haben, den Begriff des Germanen, wie wir ihn von Tacitus überkommen haben und den wir seither, in Folge rein sprachlicher Erwägungen, immer enger ge - zogen haben, eher im Gegenteil bedeutend weiterzuziehen. 2)Bei den Anthropologen beginnt diese Erkenntnis durchzudringen, wie das die Aufstellung des Begriffes Homo europaeus (siehe S. 359), in einem viel genaueren Sinne als Linnaeus das Wort gebraucht hatte, beweist; doch ist eine derartige Begriffsbestimmung viel zu abstrakt für den Historiker, der darum auch bisher keine Notiz davon genommen hat. Um in weiten Kreisen Verständnis zu wecken, muss man die vorhandene, allbekannte Terminologie benutzen und sie neuen Bedürfnissen anpassen. Dies geschieht hier durch die Erweiterung der Vorstellung

467Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.

Sprechen wir zunächst vom Kelten.

Durch vorwiegend philologische Erwägungen dazu verleitet, daDer Keltogermane. die keltischen Sprachen angeblich mit den italischen und griechischen näher als mit den germanischen verwandt sein sollen, sind wir daran gewöhnt worden, das so entscheidende physische Moment und das noch entscheidendere moralische hier zu übersehen. 1)Schleicher z. B. vereint in seinem berühmten, überall nachgedruckten Stammbaum der indogermanischen Sprachen (vergl. Die deutsche Sprache, 1861, S. 82) die » italo-keltischen Sprachen « zu einer Gruppe, die sich schon in unvor - denklichen Zeiten von der » nordeuropäischen Grundsprache « getrennt hätte. Zwar ist dieser Stammbaum für die wissenschaftliche Philologie (wenn ich recht unter - richtet bin) schon längst den Weg alles Irdischen gegangen, doch wirkt er dank seiner fernhin reichenden Popularisierung noch nach; auch solche abweichende Auffassungen wie die bekannte » Wellentheorie « Johannes Schmidt’s, fahren fort, den Kelten so darzustellen, als wäre er von allen Indoeuropäern dem Germanen am entferntesten.Wir schlagen den Kelten zu den Gräcoitalern, während er doch offenbar mit ihnen nur entfernt, mit den Germanen dagegen innig nahe verwandt ist. Mag der gänzlich romanisierte Gallier sich tief von seinem Überwinder, dem Burgunder oder Franken, unterschieden haben, jener ursprüngliche Er - oberer Roms, ja, auch der spätere, seit Jahrhunderten schon in Nord - italien ansässige Gallier, den Florus noch immer als einen » Über - menschen « schildert (corpora plus quam humana erant, II, 4) gleicht offenbar physisch dem Germanen; doch nicht allein physisch, denn auch seine Wanderlust, seine Freude am Krieg, die ihn (wie später die Goten) bis nach Asien in den Dienst jedes Herrn führt, der ihm die Gelegenheit giebt, sich zu schlagen, seine Vorliebe für Gesang das Alles sind wesentliche Züge dieser selben Verwandtschaft, während man verlegen wäre, die italo-griechischen Berührungspunkte nachzu - weisen. Mit Kelten vermengt, von Kelten geführt, treten die Ger - manen im engeren, taciteischen Sinne des Wortes zum ersten Mal in die Weltgeschichte ein;2)Bei dem Zug der Kimbern und Teutonen, 114 Jahre vor Christus. das Wort » Germane « ist ein keltisches! Begegnen wir nicht heute noch jenen hohen Gestalten mit blauen Augen und rötlichem Haar in Nordwestschottland, in Wales u. s. w., und sind sie nicht einem Teutonen ähnlicher als einem Südeuropäer? sehen wir nicht heute noch die Bretonen als tollkühne Seefahrer den2)» Germane «, welche sich im ganzen ferneren Verlauf des Werkes Schritt für Schritt bewähren wird; erst hierdurch wird die Geschichte der letzten zwei Jahrtausende, sowie namentlich die unseres Jahrhunderts klar.30*468Die Erben.alten Normannen es gleichthun? Wie aber dieses wilde kelto - germanische Gemüt vielerorten nach und nach durch die Berührung mit römischer Civilisation verweiblicht (effeminatum) wurde, hat kein Geringerer als Julius Caesar im. ersten Absatz des ersten Buches seines Gallischen Krieges gemeldet. 1)Über die physische Identität zwischen Kelten und Germanen hat vor kurzem Professor Gabriel de Mortillet so umfassendes Material zusammengetragen, und zwar sowohl anthropologisches als auch die Zeugnisse der altrömischen Schrift - steller, dass ich mich begnügen kann, auf seine Formation de la nation française, 1897 (S. 114 fg. ) zu verweisen. Sein Schluss lautet: » La caractéristique des deux groupes est donc exactement la même et s’applique aussi bien au groupe qui a reçu le nom de Gaulois (mit Kelten synonym, siehe S. 92) qu’au groupe qui depuis les invasions des Cimbres a pris le nom de Germains «.

Noch auffallender und für meine These noch entscheidender ist die Verwandtschaft der tieferen geistigen Anlagen zwischen Kelten und Germanen, welche uns aus der Geschichte entgegenleuchtet, die Verwandtschaft jener feinen Züge, welche Individualität ausmachen. Glaubt man denn um gleich sehr tief zu greifen es sei Zufall, dass Paulus seine Epistel von der Erlösung durch den Glauben, von dem Evangelium der Freiheit (im Gegensatz zum » knechtischen Joch « des kirchlichen Gesetzes), von der Bedeutung der Religion als nicht in Werken liegend, sondern in der Wiedergeburt » zu einer neuen Kreatur «, glaubt man, es sei Zufall, dass gerade diese Schrift an die Galater, an jene fast rein keltisch gebliebenen » gallischen Griechen « Kleinasiens gerichtet ist, diese Schrift, in welcher man einen Martin Luther zu leicht zu bethörenden, doch für das Verständnis tiefster Mysterien unvergleichlich begabten Deutschen reden zu hören meint? 2)Dass Galatien » eine keltische Insel inmitten der Fluten der Ostvölker « war, in welcher sogar die keltische Sprache sich jahrhundertelang als Umgangs - sprache behauptete, bezeugt Mommsen: Römische Geschichte, 3. Auflage, V, 311 fg.Ich für mein Teil glaube nicht, dass bei derlei Dingen für Zufall Raum sei; ich glaube es hier um so weniger, weil ich sehe, welch andere Sprache derselbe Mann führt, welch endlose Umwege er wandelt, sobald er das gleiche Thema einer Gemeinde von Juden und von Kindern des Völkerchaos nahelegen will, wie in der Epistel an die Römer. Doch ruht unser Urteil nicht allein auf so hypothetischer Grundlage, auch nicht allein auf der Verwandtschaft zwischen alt - keltischer und altgermanischer mythischer Religion, sondern auf der Beobachtung der Verwandtschaft zwischen den geistigen Anlagen über - haupt, für welche die gesamte Kulturgeschichte Europas bis zum469Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.heutigen Tag den Beweis liefert überall dort liefert, wo der Kelte noch reines keltisches Blut bewahrt. So sehen wir z. B. aus den unverfälscht keltischen Teilen Irlands in früher Zeit (während des halben Jahrtausends, das von dem Kelten Scotus Erigena bis zu dem Kelten Duns Scotus führt) philosophisch hochbeanlagte Theologen her - vorgehen, deren unabhängige Geistesrichtung und kühner Forschungs - drang ihnen Verfolgung seitens der römischen Kirche zuzieht; im Herzen der Bretagne wird jener bahnbrechende Geist Petrus Abaielardus geboren und das merke man wohl was ihn gleichwie jene auszeichnet, ist durchaus nicht allein das selbständige, nach Freiheit dürstende Denken, sondern vor allem der heilige Ernst seines Lebens, eine durchaus » germanische « Eigenschaft. Diese kraftstrotzenden keltischen Geister aus früheren Jahrhunderten sind nicht bloss frei, auch nicht bloss fromm, ebensowenig wie der heutige bretonische Seefahrer, sondern sie sind zugleich fromm und frei, und gerade hierdurch wird das spezifisch » Germanische « ausgesprochen, wie wir es von Karl dem Grossen und König Alfred bis zu Cromwell und Königin Luise, von den kühnen antirömischen Troubadours und den politisch so un - abhängigen Minnesängern bis zu Schiller und Richard Wagner be - obachten. Und sehen wir z. B. den soeben genannten Abälard aus tiefer religiöser Überzeugung gegen den Sündenablass um Geld an - kämpfen (Theologia christiana), zu gleicher Zeit die Hellenen in jeder Beziehung weit über die Juden stellen, die Moral ihrer Philosophen als der jüdischen Gesetzesheiligkeit überlegen, Plato’s Weltanschauung als erhabener denn die des Moses betrachten, ja, sehen wir ihn sogar (Dialogus inter philosophum, Judaeum et Christianum) die Aner - kennung der transcendentalen Idealität der räumlichen Vorstellung dem religiösen Denken zu Grunde legen, so dass nicht durch den Eintritt in einen empirischen Himmel, sondern einzig durch eine innere Umkehr des Gemütes der Mensch unmittelbar vor Gottes An - gesicht stehe: müssen wir da nicht erkennen, diese Intelligenz sei nicht allein eine charakteristisch indoeuropäische im Gegensatz zu einer semitischen und zu einer spätrömischen, sondern hier bekunde sich eine Individualität, die in jedem einzelnen jener plis de la pensée (von denen ich im vorigen Kapitel sprach) die spezifisch germanische Eigenart verrät? Ich sagte nicht » deutsche « Eigenart, sondern ger - manische, ich rede auch nicht von heute, wo die Differentiation zu der Ausbildung äusserlich sehr scharf unterschiedener nationaler Charaktere geführt hat, sondern von einem Manne, der vor bald tausend Jahren470Die Erben.lebte; und ich behaupte, dieser Bretone hätte recht gut, was die ge - samte Richtung seines Denkens und Fühlens anbetrifft, im Herzen Germaniens geboren sein können: ein typischer Kelte in der düsteren Leidenschaftlichkeit seines Wesens, ein neuer Tristan in seinem Liebes - leben, ist er doch Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem teutonischen Blut; er ist ein Germane. Ebenso Germane wie jene soge - nannt » kerndeutsche « Bevölkerung Schwabens und des Schwarzwaldes, der Heimat Schiller’s, Goethe’s, Mozart’s und vieler anderer grössten » Deutschen «, welche ihren besonderen Charakter und ihre ungewöhn - liche poetische Veranlagung ohne Zweifel der starken Beimischung keltischen Blutes verdankt. 1)Wilhelm Henke: Der Typus des germanischen Menschen (Tübingen, 1895). Ähnlich Treitschke: Politik I, 279.Diesen selben Geist Abälard’s erkennen wir überall am Werke, wo Kelten nachweisbar in grossen Zahlen vor - handen waren, wie in der Heimat der unglücklichen Albigenser im Süden Frankreichs, oder es noch sind, wie in dem Geburtsland der Methodisten, Wales. Ja, wir erkennen ihn auch in der angeblich stockkatholischen Bretagne, denn Katholizismus und Protestantismus sind zunächst blosse Worte; die Religiosität der Bretonen ist echt, in Wahrheit aber ihrer Farbe nach eher » heidnisch « als christlich; hier lebt uralte Volks - religion unter katholischer Maske fort; ausserdem, wer erblickte nicht in der unentwurzelbaren Königstreue dieses Volkes einen ebenso gemein - germanischen Zug wie in der Kriegslust und Fahnentreue der Iren, die politisch gegen England schüren, zugleich aber drei Viertel der englischen Armee freiwillig stellen und für den fremden König, den sie zu Hause bekämpfen, in fernen Ländern sterben? Am auf - fallendsten tritt jedoch ohne Frage die Zusammengehörigkeit zwischen Kelten und Germanen (im engeren Sinne des Wortes) in ihrer Dichtung zu Tage. Von Beginn an sind fränkische, deutsche und englische Dichtung mit echt keltischer innig verwoben, nicht etwa als besässen jene nicht ebenfalls eigene Motive, sie nehmen aber die keltischen als urverwandte auf, denen ein gewisser Anstrich des Fremden, des nicht völlig Verstandenen, weil halb Vergessenen, eher erhöhten Reiz und kostbare Würze verleiht. Die keltische Poesie ist eine unvergleichlich tiefsinnige, an symbolischer Bedeutung unerschöpflich reiche, sie war offenbar an ihrem fernsten Ursprung mit der Seele unserer germanischen Dichtung, der Musik, innig verwoben. Wenn wir unter den grösseren Schöpfungen Musterung halten, welche bei dem Wiedererwachen des471Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.poetischen Triebes, an der Wende des 12. und 13. Jahrhunderts, in allen germanischen Ländern, vor allem aber in Franken ins Leben traten, wenn wir auf der einen Seite die Geste de Charlemagne, das Rolandslied, die Berte aus gratis piés, Ogier le Danois etc. betrachten, alles selbständige Versuche fränkischer Schaffenskraft, und auf der anderen Seite keltische Poesie wiederaufleben sehen in den Sagen von der Queste du Graal, von Artus Tafelrunde, von Tristan und Isolde, von Parsifal u. s. w., so können wir keinen Augenblick in Zweifel sein, wo die tiefere, reichere, echtere, poetisch unerschöpfliche Gestaltungs - und Bedeutungsfülle zu finden ist. Und dabei war diese keltische Poesie des 13. Jahrhunderts im Nachteil, da sie nicht in ihrer eigenen Gestalt auftrat, sondern der Flügel des Gesanges beraubt, zum Roman breitgetreten, mit ritterlichen, römischen und christlichen Anschauungen verquickt, ihr echter dichterischer Kern fast ebenso durch fremdes Beiwerk zugeschüttet wie die nordischen Mythen im deutschen Nibelungenliede. Je weiter wir zurückgreifen können, um so deut - licher erkennen wir bei allem individuell Trennenden die innige Verwandtschaft zwischen urkeltischer und urgermanischer dichterischer Anlage; von Stufe zu Stufe geht nach abwärts zu etwas verloren, so dass z. B., trotzdem Gottfried von Strassburg’s Tristan als voll - endetes Dichterwerk die französischen Bearbeitungen desselben Stoffes unfraglich übertrifft, doch mehrere der tiefsten und feinsten Züge, welche dieser unvergleichlichen, poetisch-mythisch-symbolischen Sage zu Grunde liegen bei ihm fehlen, während der altfranzösische Roman sie besitzt und Chrestien de Troyes sie mindestens noch angedeutet hatte; das Gleiche gilt für Wolfram’s Parzival. 1)An diesem Orte habe ich mir gestattet, das Ergebnis eigener Studien zu verwerten (vergl. Notes sur Parsifal und Notes sur Tristan in der Revue Wagnérienne, Jahrgang 1886 und 1887).Am überzeugendsten und ergreifendsten offenbart sich uns jedoch diese Verwandtschaft, wenn wir gewahr werden, dass in Wahrheit einzig deutsche Musik im Stande war, sowohl die urkeltische wie die urgermanische Poesie in ihrer ursprünglichen Absicht und Bedeutung zu neuem Leben zu erwecken; das lehrten uns die künstlerischen Grossthaten unseres Jahr - hunderts und deckten damit zugleich die innige Zusammengehörigkeit jener beiden Bronnen auf.

Über den echten Slaven lässt sich weniger berichten, da wir ver -Der Slavogermane. legen sind, wo wir ihn suchen sollen, und zunächst nur das Eine sicher472Die Erben.wissen, dass hier eine Verschiebung des Begriffes stattgefunden hat, in Folge deren das, was man heute für besonders charakteristisch » slavisch « hält wie z. B. gedrungene Gestalt, runde Köpfe, hohe Backen - knochen, dunkles Haar gewiss nicht Merkmale des Slaven waren, als dieser in die europäische Geschichte eintrat. Noch heute übrigens ist der blonde Typus im Norden und Osten des europäischen Russ - land vorherrschend, und auch der Pole unterscheidet sich von den südlichen Slaven durch die Hautfarbe (Virchow). In Bosnien fällt die ungewöhnliche Grösse der Männer, sowie die Häufigkeit des blonden Haares auf; den sogenannten slavischen, ins Mongolische hinüber - spielenden Typus habe ich bei einer mehrmonatlichen Reise quer durch dieses Land nicht ein einziges Mal angetroffen, ebensowenig das charakteristische » Kartoffelgesicht « des tschechischen Bauern; das - selbe gilt von dem herrlichen Stamm der Montenegriner. 1)Dagegen hat die Gestalt des Schädels eine progressive Veränderung erfahren: bei den heutigen Einwohnern Bosniens findet man nicht ganz Prozent Langköpfe, dagegen 84 Prozent ausgesprochene Rundköpfe, während die ältesten Gräber 29 Prozent Langköpfe und nur 34 Prozent Rundköpfe zeigen, und Gräber aus dem Mittelalter noch 21 Prozent Langköpfe aufweisen (siehe Weisbach: Alt - bosnische Schädel, in den Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien, 1897). Interessant ist die Bemerkung, dass die Gesichtsbildung, trotz dieser Schädeländerung, doch » leptoprosop «, d. h. länglich geblieben ist.Trotz des allgemein verbreiteten Vorurteils giebt es also, wie man sieht, noch jetzt physische Anzeichen genug, dass der Germane, als er in die Weltgeschichte eintrat, ausser seinem älteren Bruder im Westen, einen jüngeren, ihm nicht gar so unähnlichen, im Osten hatte. Sehr verwickelt und schwierig wird jedoch die Entwirrung des ursprünglich Slavischen durch die offenbare Thatsache, dass dieser Zweig der ger - manischen Familie sehr früh von anderen Menschenstämmen fast ganz verzehrt wurde, viel früher und gründlicher und auch rätselhafter als die Kelten; doch sollte uns das nicht abhalten, die verwandtschaftlichen Züge zu erkennen und anzuerkennen, sowie auch den Versuch zu unternehmen, sie aus jener fremden Masse auszuscheiden.

Dazu verhilft hier wiederum vor allem ein Eingreifen in die Tiefen der Seele. Wenn ich nach der einzigen slavischen Sprache, von welcher ich eine geringe Kenntnis besitze, der serbischen, urteilen darf, so möchte ich glauben, dass auch hier eine tiefgewurzelte Familien - ähnlichkeit mit den Kelten und Germanen in der poetischen Anlage nachgewiesen werden könnte. Der Heldencyklus, der jetzt an die473Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.grosse Schlacht auf dem Kossovopolje (1383) anschliesst, doch zweifels - ohne in seinen poetischen Motiven viel weiter zurückreicht, erinnert durch die bekundete Gesinnung die Treue bis in den Tod, den Heldenmut, die Heldenweiber, sowie die hohe Achtung, welche diese geniessen, die Geringschätzung aller Güter im Vergleich zur persön - lichen Ehre an keltische und an germanische lyrische und epische Poesie. Ich lese in Litteraturgeschichten, derlei Poesien und solche Heldengestalten wie Marco Kraljevich seien aller Volksdichtung ge - meinsam: das ist aber nicht wahr, und kann nur einem durch Über - fülle der Gelehrsamkeit für die Feinheiten der Individualität Blind - gewordenen so erscheinen. Rama ist ein wesentlich anders gearteter Held als Achilles und dieser wiederum anders als Siegfried, während da - gegen der keltische Tristan in vielen Zügen die unmittelbare Verwandt - schaft mit dem deutschen Siegfried verrät, und zwar nicht allein in jenen Äusserlichkeiten des Ritterromanes (Drachenkampf u. s. w.), die teilweise spätere Zuthat sein mögen, sondern vielmehr in jenen ältesten volkstümlichsten Gestaltungen, wo Tristan noch ein Hirt ist und Siegfried noch nicht ein Held am burgundischen Hofe: hier gerade sehen wir klar, dass ausser der ungeheueren Kraft, ausser dem Zauber der Unüberwindlichkeit und mehr dergleichen allgemeinsamen Helden - attributen, bestimmte Ideale der Dichtung zu Grunde liegen; und in diesen, nicht in jenen, spiegelt sich die Eigenart einer Volksseele ab. So hier z. B. bei Tristan und bei Siegfried: die Treue als Grundlage des Ehrbegriffes, die Bedeutung der Jungfräulichkeit, der Sieg im Untergang (mit anderen Worten, die Verlegung des eigent - lichen Heldentums in den inneren Vorgang, nicht in den äusseren Erfolg). Derlei Züge unterscheiden einen Siegfried, einen Tristan, einen Parsifal nicht allein von einem semitischen Simson, dessen Helden - kraft in den Haaren liegt, sondern ebenfalls von dem stammverwandten Achilles: den Griechen ist die Reinheit fremd, die Treue kein Prinzip der Ehre, sondern nur der Liebe (Patroklos), der Held trotzt dem Tode, er überwindet ihn nicht, wie wir das von jenen sagen können. Gerade solche Züge echter Verwandtschaft finde ich in der serbischen Poesie, trotz aller Abweichungen der Form. Schon dass ihr Heldencyklus sich um eine grosse Niederlage, nämlich um die für sie vernichtende Schlacht bei Kossovo, nicht um einen Sieg bildet, ist von grosser Be - deutung; denn die Serben haben Siege genug errungen und waren unter Stephan Duschan ein mächtiger Staat gewesen; hier liegt also ohne Frage eine besondere Anlage vor und wir dürfen mit Sicherheit474Die Erben.schliessen, dass die reiche Fülle poetischer Motive, welche alle auf Untergang, auf Tod, auf ewige Trennung der Liebenden gehen, nicht erst nach jener unglückseligen Schlacht, nicht erst unter dem ver - dummenden Regiment des Mohammedanismus entstand, sondern ein uraltes Erbstück ist, genau so wie der Nibelungen Not, » aller Leid Ende «, und nicht der Nibelungen Glück das deutsche Erbe war, und genau so wie keltische und fränkische Dichter hundert berühmte Sieger bei Seite liessen, um sich des obskuren besiegten Roland zu bemächtigen und an ihm uralte poetische Momente in halbhistorischer Verjüngung wieder aufleben zu lassen. Solche Dinge sind entscheidend. Und ebenso entscheidend ist die besondere Art, wie das Weib bei den Serben geschildert wird, so zart, mutig und keusch, auch die hervorragend grosse Rolle, welche die Dichtungen ihr zuweisen. Hin - gegen kann nur ein Fachgelehrter entscheiden, ob die beiden Raben, die am Ende der Schlacht bei Kossovo auffliegen, um dem serbischen Volk seinen Untergang zu künden, mit Wotan’s Raben verwandt sind, oder ob hier ein allgemeines indo-germanisches Motiv vorliegt, ein Überbleibsel der Naturmythen, eine Entlehnung, ein Zufall. Und so in Bezug au tausend Einzelheiten. Zum Glück liegt aber hier wie überall das wirklich Entscheidende jedem unbefangenen Auge offen. In der russischen Poesie findet man, wie es scheint, wenig mehr aus alter Zeit, ausser Sagen, Märchen und Liedern; doch auch hier zeigt die Melancholie einerseits und andrerseits das innige Ver - hältnis zur Natur, namentlich zur Tierwelt (Bodenstedt: Poetische Ukraine) Züge, die unverkennbar germanische Eigenart bekunden.

Es ist nicht meine Absicht, diese Untersuchung noch weiter auszudehnen, der Raum, sowie mein Zweck verbieten es; die Kritik möge die Wahrheit dessen nachweisen, was untrügliches Gefühl jedem poetisch Empfindenden offenbaren wird, das ist ihr Amt. Dagegen muss ich jener zweiten Kundgebung innersten Seelenwesens noch er - wähnen, durch welche das germanische Element im Slaven deutlich hervortritt: ich meine die Religion.

Wohin wir blicken, sehen wir Ernst und Unabhängigkeit in religiösen Dingen die Slaven auszeichnen, namentlich in alter Zeit. Ein hervorstechender Zug dieser Religiosität ist ihr Durchdrungensein von vaterländischen Gefühlen. Schon im 9. Jahrhundert, noch ehe das Schisma zwischen Ost und West unwiderruflich geworden, sehen wir die Bulgaren behufs dogmatischer Fragen mit Rom und mit Konstantinopel gleich freundlich verkehren; was sie fordern, ist einzig475Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.die Anerkennung ihrer kirchlichen Unabhängigkeit: Rom verweigert dies, Byzanz giebt es zu; und so entsteht in der ersten Hälfte des 10. Jahr - hunderts die erste ihrer Verfassung nach unabhängige christliche Kirche. 1)Vergl. Hergenröther: Photius II, 614.Die ungeheuere Wichtigkeit eines derartigen Vorganges dürfte Jedem sofort ersichtlich sein. Michael von Bulgarien war es durchaus nicht um Glaubensdifferenzen zu thun; er war Christ und bereit, Alles zu glauben, was die Priester als christliche Wahrheit ver - kündeten; für ihn handelte es sich lediglich um eine Verfassungsfrage: seine bulgarische Kirche wollte er von einem eigenen bulgarischen Patriarchen in vollkommener Unabhängigkeit verwaltet wissen, kein Kirchenoberhaupt in Rom oder Byzanz sollte sich darein mischen. Was Manchen eine bloss administrative Frage dünken möchte, ist in Wahrheit die Erhebung des germanischen Geistes der freien Indivi - dualität gegen die letzte Verkörperung des aus dem Völkerchaos ge - borenen und die politischen Interessen des antinationalen, antiindivi - duellen, nivellierenden Prinzips vertretenden Imperiums. Dies ist nicht der Augenblick, um näher auf diesen Gegenstand einzugehen, das kann erst in den zwei folgenden Kapiteln geschehen; doch wenn man dem selben Vorgang aller Orten unter den Slaven begegnet, so wird man seine symptomatische Bedeutung für die Beurteilung ihres ursprüng - lichen Charakters nicht leugnen können. Kaum waren z. B. die Serben zu einem Reich konstituiert, so schufen sie sich eine autonome Kirche und der grosse Zar Stephan Duschan verteidigte seinen Patri - archen gegen die oberherrlichen Prätentionen der byzantinischen Kirche und erzwang seine rechtliche Anerkennung. Auch hier keine Glaubens - sache; denn damals (Mitte des 14. Jahrhunderts) war das Schisma zwischen Rom und Konstantinopel eine längst vollendete Thatsache und die Serben waren schon, wie noch heute, fanatische Griechisch - Orthodoxe; doch wie die Bulgaren die Einmengung Roms, so wiesen die Serben die Einmengung Konstantinopels zurück. Das Prinzip ist dasselbe: die Wahrung der Nationalität. Die russische Kirche hat sich allerdings viel langsamer, sogar erst lange nach der Zerstörung des byzantinischen Reiches freigemacht, doch kann gerade Russland nur in einem sehr bedingten, ungermanischen Sinne ein slavisches Land geheissen werden, und heute besitzt es ja doch, neben England, allein von allen grösseren Nationen Europas eine durchaus nationale, autokephale Kirche. Besonders auffallend ist ferner in dieser Beziehung476Die Erben.die Thatsache, dass unter allen Christen einzig die Slaven (mit Aus - nahme der dem deutschen Einfluss unterlegenen Tschechen) niemals den Gottesdienst in einer anderen als ihrer heimatlichen Sprache ge - duldet haben! Schon die grossen » Slavenapostel «, Cyrillus und Methodius, hatten ihre Not hiermit; von den deutschen Prälaten, die an den » drei heiligen Sprachen « (griechisch, lateinisch, hebräisch) fest - hielten, verfolgt, dem römischen Papste als Ketzer denunziert, wussten sie dennoch diesen Punkt als ein besonderes Recht durchzusetzen: auch die streng römischkatholischen Slaven hatten alle ihre slavische Messe, und noch in den letzten Jahrzehnten unseres 19. Säculums gelang es Rom nicht, den Dalmatinern dieses Vorrecht zu entreissen. Das Alles bildet jedoch nur die eine Seite slavischer Religiosität, die äussere (wenn auch nicht äusserliche); die andere ist noch auffallender. Auch in Russland, dort wo die Bevölkerung den grössten echtslavischen Prozentsatz aufweist (in Kleinrussland nämlich, in der vorhin genannten Heimat der schönsten Dichtungen), bekundet sich noch heute durch die unaufhörliche Sektenbildung ein ähnlich intensives, inneres Religions - leben wie in England und in Skandinavien. Die Verwandtschaft ist auffallend. Dagegen existiert in den sog. » lateinischen « Ländern auch nicht eine Spur davon. In solchen Dingen spiegelt sich die innerste Seelenbeschaffenheit. Und auch hier handelt es sich um eine dauernde Eigenschaft, welche trotz aller Blutmischungen in allen Jahrhunderten sich kundthat. Schon die ungeheuere Mühe, die es kostete, die Slaven zum Christentum zu bekehren, bezeugt ihre tiefe Religiosität: Italer und Gallier hat man am leichtesten, Sachsen schon nur mit dem Schwert, die Slaven erst im Laufe langer Zeiten und durch furcht - bare Grausamkeiten von dem Glauben ihrer Väter abgebracht. 1)Wie schwer es wurde, die Wenden und die Polen zum Christentum zu bekehren, kann man im ersten Abschnitt des sechsten Bandes von Neander’s All - gemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche lesen.Die berüchtigten Heidenhetzen dauerten ja bis an das Jahrhundert von Gutenberg. Sehr bezeichnend ist hier wieder das Verhalten jener sehr echten, physisch noch heute wenig verfälschten Slaven in Bosnien und der Herzegowina. Früh schon nahm der führende Teil der Nation die Lehren Bogumil’s an (denen der Katharer oder Patarener verwandt), d. h. sie verwarfen alles Jüdische im Christentum und behielten neben dem Neuen Testament einzig die Propheten und die Psalmen, sie erkannten auch keine Sakramente und vor Allem keinerlei477Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.Priesterherrschaft an. Zu gleicher Zeit von zwei Seiten unaufhörlich bekämpft und bedrückt und zertreten von den orthodoxen Serben und von den stets jedem Wink des römischen Papstes gehorsamen Ungarn , die blutigen Opfer also eines ununterbrochenen zwiefachen Kreuzzuges, hielt dieses kleine Volk an seinem Glauben durch Jahr - hunderte fest; die Gräber seiner bogumilischen Helden zieren noch heute die Bergesspitzen, wohin die Leichen, der zu befürchtenden Schändung wegen, hinaufgetragen wurden. Erst der Mohammedaner hat durch erzwungene Bekehrungen mit dieser Sekte aufgeräumt. Der - selbe Geist, der hier auf einem abgelegenen Fleck Erde ein mutiges, doch unwissendes Volk belebte, trug an anderen Orten reichere Früchte, wobei der slavische Baum sich ebenso hervorthat wie die anderen aus der germanischen Verwandtschaft.

Das wichtigste geschichtliche Ereignis unserer neunzehn Jahr -Die Reformation. hunderte ist ohne Frage die sogenannte » Reformation «; ihr liegt ein doppeltes Prinzip zu Grunde, ein nationales und ein religiöses: beiden gemeinsam ist die Lossagung vom fremden Joch, das Abschütteln jener » toten Hand « des längst gestorbenen römischen Imperiums, welches nicht allein über Güter und Gelder, sondern über Denken und Fühlen und Glauben und Hoffen der Menschen sich ausbreitete. Nirgends bewährt sich die organische Einheit des Slavokeltogermanen - tums überzeugender als in dieser instinktiven Auflehnung gegen Rom. Um diese Bewegung vom Standpunkt der Völkerpsychologie aus zu begreifen, darf man zunächst keinerlei dogmatischen Glaubensstreitig - keiten Aufmerksamkeit schenken; nicht was man über die Natur des Abendmahls für wahr hält, ist entscheidend, sondern es stehen sich hier lediglich zwei sich direkt widersprechende Prinzipien gegenüber: Freiheit und Unfreiheit. Der grösste Reformator fährt, nachdem er ausgeführt hat, es handle sich für ihn nicht um politische Rechte, fort: » Aber im Geist und Gewissen sind wir die Allerfreiesten von aller Knechtschaft: da glauben wir Niemand, da vertrauen wir Niemand, da fürchten wir Niemand, ohne allein Christum «. Das bedeutet aber zugleich eine Lossagung des Individuums und der Nation. Und wenn wir so gelernt haben, die » Reformation « nicht als eine rein kirchliche Angelegenheit, sondern als eine Empörung des ganzen Wesens gegen Fremdherrschaft, als eine Empörung der germanischen Seele gegen ungermanische Seelentyrannei zu erkennen, so werden wir zugeben müssen, dass diese » Reform « begann, sobald Germanen durch Bildung und Musse zum Bewusstsein erwacht waren, und dass478Die Erben.sie noch heute fortfährt. 1)Der katholische Anthropolog Lapouge sagt in seiner rein naturwissen - schaftlichen Definition des Homo europaeus: » en religion il est protestant «. Siehe: Dépopulation de la France, p. 79.Scotus Erigena (im 9. Jahrhundert) ist ein Reformator, da er sich weigert, sich den Befehlen Roms zu fügen und lieber durch den Dolch der Mörder stirbt, als dass er ein Jota seiner » Geistes - und Gewissensfreiheit « aufgäbe; Abälard ist im 11. Jahr - hundert ein Reformator, da er bei aller Rechtgläubigkeit sich die Freiheit seiner religiösen Vorstellungen nicht rauben lässt und ausser - dem die Verwaltung der römischen Kirche, den Sündenablass u. s. w. angreift; ebenso sind aber solche Leuchten der katholischen Kirche wie Döllinger und Reusch in unserem Jahrhundert Reformatoren; keine einzige dogmatische Frage schied sie von Rom, ausser der einen: Freiheit. In dieser folgenschweren Bewegung thaten sich nun, neben den Germanen im engeren Sinne des Wortes, nicht allein die Kelten hervor, sondern ebenfalls die Slaven. Was ich im letzten Absatz meldete: wie sie die fremde Einmengung in ihre Kirchenverwaltung abwiesen und wie sie ihre Muttersprache als ihr heiligstes Erbgut hochhielten, gehört ja schon hierher, beides ist die Verleugnung der notwendigen Prinzipien Roms. Doch diese Bestrebungen hatten tiefere Wurzeln; im innersten Herzen handelte es sich um Religion, nicht lediglich um Nation. Und sobald die Reformation festen Fuss gefasst hatte was zuerst im fernen England geschah da strömten die slavischen Katholiken nach Oxford hin, angezogen durch eine offenbare Blutsverwandtschaft der heiligsten Gefühle. Ganz gewiss wäre die Reformation ohne den einen einzigen Martin Luther nicht das geworden, was sie geworden ist unsere modernsten Historiker mögen sagen, was sie wollen, die Natur kennt keine grössere Kraft als die eines gewaltig grossen Mannes doch der Boden, auf dem dieser deutsche Mann zu voller Kraft aufwachsen konnte, die Umgebung, in der er die belebende Luft zu seinem Kampfe fand, sie waren in allererster Reihe das Werk Böhmens und Englands. 2)Luther schreibt denn auch an Spalatin (Februar 1520): » Vide monstra, quaeso, in quae venimus sine duce et doctore Bohemico «.Schon hundert Jahre vor Luther’s Geburt war in England jeder dritte Mann ein Antipapist3)Fremantle: John Wyclif in dem Band Prophets of the Christian Faith, p. 106. und war Wyclif’s Übersetzung der Bibel im ganzen Lande verbreitet. Böhmen blieb nicht zurück; bereits im 13. Jahrhundert wurde das Neue Testament in tschechischer Sprache gelesen und zu Beginn des 15. Jahrhunderts revidierte Hus die voll -479Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.ständige Bibel in der Volkssprache. Doch die lebendigste Anregung war von Wyclif ausgegangen; er erst öffnete den Slaven die Augen für die evangelische Wahrheit, so dass Hieronymus von Prag von ihm sagen durfte: » Bisher hat man die Schale gehabt, erst Wyclif hat den Kern aufgedeckt «. 1)Neander: IX, 314.Man macht sich ein durchaus falsches Bild von der slavischen Reformationsbewegung, wenn man sein Augen - merk vornehmlich auf Hus und die hussitischen Kriege wirft; das Vorwalten der politischen Kombinationen, sowie des Hasses zwischen Tschechen und Deutschen, verwirrte von da an die Gemüter und verdunkelte das reine Streben, welches vorerst so hell geglänzt hatte. Schon hundert Jahre vor Hus lebte jener Milič, der, selber ein recht - gläubiger Katholik und allen Grübeleien über Dogmatik in Folge seines auf praktische Seelsorge gerichteten Sinnes überhaupt abhold, den Ausdruck Antichrist für die römische Kirche erfand; im Kerker zu Rom schrieb er seinen Traktat De Antichristo, worin er aus - führt, der Antichrist werde nicht erst in Zukunft kommen, er sei schon da, er häufe » geistliche « Reichtümer, er kaufe Prebenden, er verkaufe Sakramente. Von Mathias von Janow wird dieser Gedanke dann weiter ausgeführt und die eigentliche theologische Reformation angebahnt; freilich eifert er für die eine heilige Kirche, diese müsse aber von Grund aus gereinigt und neu aufgerichtet werden: » Es bleibt uns nun allein noch übrig, die Reformation durch die Zer - störung des Antichrist selbst zu wünschen; erheben wir unsere Häupter, denn schon ist die Erlösung nahe! « (1389). Auf ihn folgen Stanislaus von Znaim, welcher die 45 Sätze Wyclif’s vor der Universität Prags verteidigt, Hus, der das » Apostolische « vom » Päpstlichen « scharf scheidet und erklärt, dem Ersteren werde er gehorchen, dem Päpst - lichen jedoch nur insofern es mit dem Apostolischen übereinstimme, Nikolaus von Welenowič, der die Stellung der Priester als privilegierter Heilsvermittler leugnet, Hieronymus, jener herrliche Ritter und Märtyrer, der selbst einem Gleichgültigen, dem mehr um hellenische Litteratur als um Christentum besorgten, hauptsächlich als Sammler und Heraus - geber obscöner Anekdoten berühmten Poggio, päpstlichen Sekretär, die Worte entriss: » O welcher Mann, der ewiges Andenken verdient! « Und viele Andere. Man sieht, hier liegt nicht die That eines Ein - zelnen, vielleicht erratischen Geistes vor; es spricht im Gegenteil eine Volksseele, Alles wenigstens, was in dieser Volksseele echt und edel480Die Erben.war. Wie es diesem edlen Teil erging, wie er von der Erdoberfläche vertilgt wurde, ist bekannt: der Papst und die römischen Bischöfe hatten das internationale Söldnerheer bezahlt, von dem er den Todes - stoss am Weissen Berge empfing. 1)Döllinger: Das Haus Wittelsbach. Akad. Vorträge I, 38.Es handelt sich auch nicht etwa um eine tschechische Idiosynkrasie; die anderen katholischen Slaven verhielten sich genau ebenso. So z. B. wurden auf der ersten polnischen Druckpresse die Kirchenlieder Wyclif’s gedruckt; auf das Tridentiner Konzil entsandte Polen so ausgesprochen protestantisch gesinnte Bischöfe, dass der Papst sie beim König als unbedingte Häretiker verklagte. Doch der polnische Reichstag liess sich auch hierdurch nicht einschüchtern: er forderte vom König eine voll - kommene Reorganisation der polnischen Kirche unter einziger Zugrundelegung der Heiligen Schriften! Zugleich forderte er mirabile dictu! die » Gleichberechtigung aller Sekten «. Der Adel Polens und die gesamte geistige Aristokratie waren Protestanten. Doch die bald eingetretenen politischen Wirrnisse benutzten die Jesuiten, von Österreich und Frankreich unterstützt, um festen Fuss im Lande zu fassen; » blutig und schnell «, wie Canisius es verlangt hatte, ging es freilich nicht, doch immer härter wurden die Protestanten ver - folgt, zuletzt verbannt; mit der Religion sank auch die polnische Nation dahin. 2)Man lese das höchst interessante Werk des Grafen Valerian Krasinski: Geschichte des Ursprungs, Fortschritts und Verfalls der Reformation in Polen, Leipzig, 1841. Nirgends vielleicht findet man ein so vollständiges, reiches, überzeugendes, abgerundetes Material wie in Polen, um zu sehen, wie religiöse Unduldsamkeit und namentlich der Einfluss der Jesuiten ein blühendes Land, auf jedem geistigen und industriellen Gebiet einer glänzenden Zukunft entgegenreifend, vollständig zu Grunde richtet. Wie die Polen schon lange vor Luther zu Rom standen, geht am besten aus der Rede hervor, die Johann Ostrorog in der Ständeversammlung des Jahres 1459 hielt, in welcher er u. a. ausführte: » Es ist nichts dagegen ein - zuwenden, dieses Königreich dem Papste als ein katholisches Land zu empfehlen, es ziemt sich aber nicht, ihm einen unbeschränkten Gehorsam zu verheissen. Der König von Polen ist Niemand unterworfen und nur Gott steht über ihm; er ist nicht Roms Unterthan u. s. w.; « dann geisselt der Redner die schamlose Simonie des päpstlichen Stuhles, den Ablasskram, die Geldgier der Priester und Mönche (a. a. O., S. 36 fg.). Diese ganze polnische Bewegung ist, wie die böhmische, durch einen frischen Zug des unabhängigen Nationalitätenbewusstseins, bei gleich - zeitiger Geringschätzung dogmatischer Fragen (die Polen waren nicht einmal Utraquisten) ausgezeichnet; und (ebenfalls wie in Böhmen) geborene Deutsche sind es, die für Rom und gegen religiöse und politische Freiheit streiten und den

481Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.

Da diese Dinge nicht einem Jeden gegenwärtig sind, habe ich mit einiger Ausführlichkeit darauf Nachdruck legen müssen; genügend, hoffe ich, um der Überzeugung von einer ursprünglichen, innigen Ver - wandtschaft zwischen dem echten Germanen, dem echten Kelten und dem echten Slaven Bahn zu brechen. Hier stehen, im Augenblick wo diese Völker in die Geschichte eintreten, nicht drei ethnische Seelen nebeneinander, sondern eine einzige, einheitliche. Mögen die Kelten sich fast allerorten (doch, wie wir sahen, nicht überall) durch die Aufnahme von Virchow’s hypothetischen » Präkelten « und von Elementen aus dem lateinischen Völkerchaos physisch so verändert haben, dass man heute allgemein unter » keltisch « den Gegenpart des ursprünglichen keltischen Typus versteht; mag ein ähnliches Schicksal die grossen blonden Normannenähnlichen Slaven in vielleicht noch bedauerlicherem Masse ereilt haben: wir sahen doch durch die Jahrhunderte hindurch jenen unterschiedlichen, durchaus individuellen Geist am Werke, den ich ohne Zaudern den germanischen nenne, weil der echte Germane (im gewöhnlichen, beschränkteren Sinne des Wortes), trotz aller Bastardie - rungen, die ein grosser Teil seiner Söhne einging, ihn doch bei weitem am reinsten und daher am mächtigsten bewahrte. Es handelt sich hier nicht um müssige Wortklauberei, im Gegenteil, um historische Einsicht im weitesten Sinne; es fällt mir auch nicht ein, dem eigent - lichen Germanen, oder gar dem Deutschen, Thaten zu vindizieren, die er nicht vollbrachte, oder Ruhm zu schenken, der Anderen zu - kommt. Im Gegenteil, ich möchte das lebendige Gefühl der grossen nordischen Brüderschaft wachrufen, und zwar ohne mich irgend welchen anthropogenetischen oder prähistorischen Hypothesen zu verdingen, sondern indem ich mich auf das stütze, was allen Augen offen liegt. Ja, nicht einmal die Blutsverwandtschaft postuliere ich; zwar glaube ich an sie, doch bin ich mir der ungeheueren Verwickeltheit dieses Problemes zu wohl bewusst, ich sehe zu deutlich ein, dass der wahre Fortschritt2)Sieg erringen. Hosen (Kardinal Hosius) der Mann, der dem Kardinal de Guise ein Glückwunschschreiben zur Ermordung des Admirals Coligny sendet und der » dem Allmächtigen für das grosse Geschenk, das Frankreich durch die Bartholomäus - nacht erhalten hat, dankt, und betet, dass Gott auch Polen mit gleicher Barm - herzigkeit ansehen möge « dieser selbe Hosen steht an der Spitze der antinationalen Reaktion, er führt die Jesuiten ins Land ein, er verbietet das Lesen der heiligen Schrift, er lehrt, der Unterthan habe dem Fürsten gegenüber gar keine Rechte u. s. w. Wenn ein solcher ein Germane ist, jene Vorkämpfer für Freiheit nicht, dann ist dieser Name lediglich eine schimpfliche Bezeichnung.Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 31482Die Erben.der Wissenschaft hier vornehmlich in der Aufdeckung unserer unbe - schränkten Ignoranz und der Unzulänglichkeit aller bisherigen Hypo - thesen bestanden hat, als dass ich die geringste Lust verspürte, jetzt, wo jeder echte Gelehrte zu schweigen beginnt, nun meinerseits mit dem Aufbauen neuer Luftschlösser fortzufahren. » Alles ist einfacher, als man denken kann, zugleich verschränkter, als zu begreifen ist «, wie Goethe sagt. Inzwischen trafen wir verwandten Geist, verwandte Gesinnung, verwandte Körperbildung an: das darf uns genügen. Wir halten ein bestimmtes Etwas in der Hand, und da dieses Etwas nicht eine Definition ist, sondern aus lebendigen Menschen besteht, so weise ich auf diese Menschen hin, auf die echten Kelten, Germanen und Slaven, damit man erfahre, was das Germanische sei.

Beschränkung des Begriffes.
600

Hiermit hätte ich nun gezeigt, was unter der notwendigen Er - weiterung des Begriffes » Germane « zu verstehen ist; worin besteht aber die ebenfalls als notwendig von mir bezeichnete Beschränkung? Auch hier wird die Antwort eine zwiefache sein, auf physische Eigen - schaften einerseits und auf geistige andererseits sich beziehend; im Grunde genommen sind dies aber lediglich verschiedene Erscheinungs - arten desselben Dinges.

Das physische Moment darf nicht unterschätzt werden; es wäre vielleicht schwer, so weit zu gehen, dass man es überschätzte. Warum, das habe ich in der Abhandlung über die Rassenfrage im vorletzten Kapitel darzuthun versucht; ausserdem gehört diese Erkenntnis zu jenen, welche schon der blosse Instinkt, der dünnste Seidenfaden des Zusammen - hanges mit dem Gewebe der Natur unmittelbar empfinden lässt, auch ohne gelehrte Beweise. Denn wie die Ungleichheit der menschlichen Individuen auf ihren Physiognomieen, so ist ebenfalls die Ungleichheit der menschlichen Rassen in ihrem Knochenbau, in ihrer Hautfarbe, in ihrer Muskulatur, in den Verhältnissen ihres Schädels zu lesen; vielleicht giebt es keine einzige anatomische Thatsache des Körpers, auf welche die Rasse nicht ihren besonderen, unterscheidenden Stempel gedrückt hätte. Man weiss es ja, selbst die Nase, dieses bei uns Menschen zu so frostiger Unbeweglichkeit erstarrte Organ, welches, nach gewissen Schülern Darwin’s, einer noch weiter reichenden Monu - mentalisierung durch gänzliche Verknöcherung entgegengeht, selbst die Nase, in dem Städteleben unseres 19. Jahrhunderts eher eine Ver - mittlerin von Qualen als von Freuden, eine bloss lästige Zugabe, steht von der Wiege bis zum Grabe im Mittelpunkte unseres Antlitzes als Zeugin unsrer Rasse! Wir müssen also zunächst mit allem Nach -483Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.druck betonen, dass diese Nordeuropäer1)In neuester Zeit befestigt sich immer mehr bei den Gelehrten die Über - zeugung, dass die Germanen nicht aus Asien eingewandert sind, sondern seit undenklichen Zeiten in Europa daheim waren. (Siehe u. A. Penka: Die Herkunft der Arier, 1886, Schrader: Sprachvergleichung und Urgeschichte, 2. Auflage, 1890, von der ersten vielfach abweichend, Taylor: The Origin of the Aryans, 1890, u. s. w.) die Kelten, Germanen und Slaven als physisch unter den Indoeuropäern unterschiedene, in ihrem Körperbau von den Südeuropäern abweichende, » nur sich selbst gleichende « Menschen auftraten, woraus sich aber eine erste Be - schränkung ohne weiteres ergiebt: dass nämlich, wer diese physischen Merkmale nicht besitzt, und sei er noch so sehr im Herzen Germaniens geboren und rede von Kindheit auf eine germanische Sprache, doch nicht als ein Germane zu betrachten sei. Die Bedeutung dieses physischen Momentes lässt sich leichter an grossen Volkserscheinungen als am Individuum nachweisen, denn es kann vorkommen, dass ein ungewöhnlich begabter Einzelner sich eine fremde Kultur aneignet und dann, gerade infolge seiner innerlich abweichenden Eigenart, Neues und Erspriessliches zu Stande bringt; dagegen wird der be - sondere Wert der Rasse klar, sobald es sich um Gesamtleistungen handelt, was ich dem deutschen Leser gleich zu Herzen führe, wenn ich ihm in den Worten eines anerkannten Fachmannes mitteile, dass: » die bevorzugten grossen Staatsmänner und Heerführer der Gründungs - zeit des neuen Reiches meist von der reinsten germanischen Abstammung sind «, genau ebenso wie » die wetterfesten Seefahrer der Nordseeküste und die kühnen Gemsenjäger der Alpen «. 2)Henke: Der Typus des germanischen Menschen. S. 33.Das sind Thatsachen, über die man viel und lange nachdenken sollte. In ihrer Gegenwart schrumpfen die bekannten Phrasen der Herren Naturforscher, Parlamentsredner u. s. w. über die Gleichheit der Menschenrassen3)Siehe S. 264 fg., 374 Anm. 2, 493. zu einem so unsinnigen Gewäsch zusammen, dass man sich fast schämt, je auch nur mit einem einzigen Ohre auf sie hin - gehört zu haben. Sie lehren auch einsehen, in welchem genau be - dingten Sinne das bekannte Wort jenes echt germanischen Mannes, Paul de Lagarde, Geltung beanspruchen darf: » Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte «. Beim Einzelnen ja, da mag das Gemüt das Geblüt beherrschen, hier siegt die Idee, doch bei einer grossen Menge nicht. Und um die Bedeutung des Physischen, sowie die Beschränkung, die es mit sich führt, zu ermessen, bedenke man31*484Die Erben.ferner, dass das, was man » die germanische Idee « nennen kann, ein unendlich zartgebauter, reichgegliederter Organismus ist. Man braucht ja nur zum Vergleich auf die jüdische hinzusehen, diese enfance de l’art, deren ganze Kunst darin besteht, die menschliche Seele so zusammen zu schnüren, wie die chinesischen Damen ihre Füsse, nur dass diese Damen sich dann nicht mehr rühren können, wogegen eine halberdrosselte Seele sich leichter trägt und dem geschäftigen Körper weniger Umstände verursacht als eine vollentwickelte, traum - beladene. In Folge dessen ist es verhältnismässig leicht, » Jude zu werden «, dagegen fast bis zur Unmöglichkeit schwer, » Germane zu werden «. Gewiss liegt das Germanentum im Gemüte; wer sich als Germane bewährt, ist, stamme er, woher er wolle, Germane; hier wie überall thront die Macht der Idee: doch, man hüte sich, einem wahren Prinzip zu Liebe, den Zusammenhang der Naturerscheinungen zu übersehen. Je reicher das Gemüt, um so vielseitiger und fester hängt es mit dem Unterbau eines bestimmt gearteten Geblüts zusammen. Es ist evident und braucht nicht erst erwiesen zu werden, dass bei der Entfaltung menschlicher Anlagen, je weiter, je eigenartiger diese Entwickelung gediehen ist, um so höher die Differenzierung im phy - sischen Substratum unseres geistigen Lebens fortgeschritten sein muss, wobei das Gewebe zugleich umso zarter wird. So sahen wir denn auch im vorigen Kapitel, wie der edle Amoriter aus der Welt verschwand: in Folge von Vermischung mit unverwandten Rassen wurde seine Physiog - nomie wie weggewischt, seine gigantische Gestalt schrumpfte zusammen, sein Geist entflog; wogegen der simple Homo syriacus heute derselbe ist wie vor Jahrtausenden und der bastardierte Semit sich aus der Mischung zu seiner dauernden Zufriedenheit als » Jude « herauskrystalli - siert hat. Ähnlich ging’s allerorten. Welch ein herrliches Volk war nicht das spanische! Den Westgoten war während Jahrhunderte die Ehe mit » Römern « (wie man die übrigen Bewohner nannte) unbedingt verboten, woraus ein Gefühl von Rassenadel sich ent - wickelte, welches auch später, als von oben her die Verschmelzung der Völker mit Gewalt betrieben wurde, diese Verschmelzung lange hintanhielt; doch nach und nach wurden immer tiefere Breschen in den Damm gebrochen, und bei der dann erfolgten Vermischung mit Iberern, mit den zahlreichen Überresten des römischen Völkerchaos, mit Afrikanern verschiedenster Provenienz, Arabern und Juden, verlor sich das, was die Germanen gebracht hatten: die Kriegstüchtigkeit, die bedingungslose Treue (siehe Calderon!), das hohe religiöse Ideal,485Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.die organisatorische Befähigung, die reiche schöpferische Künstlerkraft; was dann übrig blieb, als das germanische » Geblüt «, als das physische Substratum vertilgt war, sehen wir heute. 1)Vergl. Savigny’s Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter, Bd. I, Kap. 3 und 5. Diese Reinhaltung der germanischen Rasse durch Jahrhunderte hindurch, mitten unter einer minderwertigen Bevölkerung, fand nicht allein in Spanien statt, auch in Oberitalien lebten Germanen nach getrenntem Recht bis ins 14. Jahrhundert, worüber Näheres weiter unten und im 9. Kapitel.Seien wir also nicht zu schnell bei der Hand mit der Behauptung, das Germanentum liege nicht im Geblüte; es liegt doch darin; nicht in dem Sinne, dass dieses Geblüt germanische Gesinnung und Befähigung verbürge, doch aber, dass es sie ermögliche.

Diese Beschränkung ist also zunächst eine sehr klare: Germane ist der Regel nach nur, wer von Germanen abstammt.

Doch muss ich gleich darauf aufmerksam machen, wie notwendig die vorangehende Erweiterung des Begriffes war, damit diese Be - schränkung mit Verstand zur Anwendung komme. Sonst stellen sich solche lustige Folgerungen ein, denen selbst Henke in der oben an - geführten Broschüre nicht ausweichen kann, wie dass Luther kein echter germanischer Mann war! und dass die Schwaben, die mit Recht in der ganzen Welt als hervorragende Vertreter des unverfälschtesten Germanentums gelten, ebenfalls nicht echte Germanen sind! Ein Mann, dessen Abstammung und dessen Gesichtsbildung ihn als das Ergebnis einer Mischung zwischen echtdeutschem und echtslavischem Blut bezeugen, wie dies Henke von Luther nachweist, ist ein echter germanischer Mann, aus glücklichster Mischung hervorgegangen, und ein Gleiches gilt von dem Volk der Schwaben, bei denen, wie ebenfalls Henke darthut, eine innige Vermengung von Kelten und Deutschen stattgefunden, welche zu reicher poetischer Begabung und ausnehmen - der Charakterfestigkeit führte. Über die hohen Vorteile der Kreu - zungen zwischen nahe verwandten Völkern berichtete ich im vierten Kapitel (S. 279 283); bei den germanischen Völkern bewährte sich dieses Gesetz überall: bei den Franzosen, wo die mannigfachsten Kreuzungen germanischer Typen zu einer Überfülle reicher Talente führte, und wo noch heute, in Folge des Vorhandenseins vieler Centren verschiedenartigster Rassenreinkulturen, reiches Leben sich kundthut, bei den Engländern, bei den Sachsen, den Preussen, u. s. w. Treitschke macht besonders darauf aufmerksam, dass die » staatsbildende Kraft Deutschlands « nie in den ungemischt deutschen Stämmen gelegen486Die Erben.habe! » Die eigentlichen Kulturträger und Bahnbrecher in Deutschland waren im Mittelalter das süddeutsche Volk, das keltisch gemischt ist; in der neueren Geschichte die slavisch gemischten Norddeutschen. « 1)Politik I, 279.Diese Ergebnisse sind zugleich ein Beweis für die enge verwandt - schaftliche Zusammengehörigkeit der Nordeuropäer, jenes Menschen - typus, den man mit Lapouge-Linnaeus den Homo europaeus nennen kann, noch besser und einfacher aber den Germanen. Jetzt, und jetzt erst, lernen wir in Bezug auf uns selber zwischen Kreuzung und Kreuzung unterscheiden. Durch Kreuzungen untereinander erleiden Germanen an ihrem Wesen keinen Eintrag, im Gegenteil; dagegen richten sie es durch Kreuzungen mit Anderen nach und nach zu Grunde.

Das blonde Haar.
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Leider ist diese Beschränkung aber, so klar in der allgemeinen Definition, doch sehr schwer im Einzelnen durchzuführen. Denn man wird fragen: an welchen physischen Merkmalen erkennt man den Germanen? Ist z. B. wirklich die Blondheit ein charakteristisches Merkmal aller Germanen? Es scheint dies ein Grunddogma zu bilden, nicht allein für die alten Historiker, sondern auch für die neuesten Anthropologen, und doch sind mir Thatsachen aufgefallen, die es mich stark bezweifeln lassen. Zunächst eine Thatsache, über die man natürlich bei Herrn Virchow und seinen Kollegen nicht die geringste Auskunft findet, da das politische Vorurteil ihnen den Blick trübt: ich meine die Häufigkeit der dunklen Farbe bei den Mitgliedern des echtesten altgermanischen Adels. Sie ist namentlich in England auffallend. Hochgewachsene, schlanke Körper, lange Schädel, lange Gesichter, der bekannte Moltketypus mit der grossen Nase und dem scharfgeschnittenen Profil (den auch Henke als den charakteristisch » rein germanischen « betrachtet), Stammbäume, die bis in die Normannenzeit zurückreichen, kurz, unzweifelhaft echte, physisch und historisch bezeugte Germanen aber schwarzes Haar. Bei Wellington fallen Eckermann die braunen Augen auf. 2)Gespräche mit Goethe, 16. 2. 1826.In Deutschland habe ich dasselbe in verschiedenen Familien altadeliger Herkunft bemerkt. Es ist mir ausserdem aufge - fallen, dass Dichter aus dem äussersten Norden Deutschlands das dunkle Haar nicht allein beim Adel, sondern auch als für das Volk bezeichnend ziemlich oft anführen; so haben z. B. in Theodor Storm’s Erzählung Hans und Heinz Kirch, jene echten, trotzigen germanischen Seefahrer, Hans und Heinz, beide » schwarzbraune Locken «, und auch von einer487Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.anderen, kecken Gestalt, dem Hasselfritz, heisst es, er habe braune Augen und braunes Haar; diese echtesten Germanen gleichen also dem Achilles mit seinem » bräunlichen Haupthaar «. 1)Ilias XXIII, 141.Wie oft kommen auch in den Volksliedern » schwarzbraune Äugelein « vor! Auch Burns, der schottische Bauerndichter, schwärmt für die » nut-brown maidens « seiner Heimat. Als ich nun einmal bei einer Reise in Norwegen nördlich vom 70. Grad zufällig nach einer Inselgruppe verschlagen wurde, wohin sonst kaum je ein Fremder kommt, fand ich zu meinem Erstaunen unter der sonst blonden Fischerbevölkerung einzelne jenem Typus genau entsprechende Gestalten: ausnehmend schön gewachsene Männer mit edlen, imponierenden Vikinger-Physiognomien, dazu fast rabenschwarze Haare. Später begegnete ich diesem Typus im Süd - osten von Europa, in den deutschen Kolonieen Slavoniens, die, seit Jahrhunderten dort ansässig, ihr Deutschtum inmitten der Slaven makellos rein erhalten haben: die Gestalt, der Moltketypus, (oder wie der Engländer sagt, das Wellingtongesicht) und das schwarze Haar zeichnen diese Leute vor ihrer meist blonden und physiognomisch durchaus unbedeutenden Umgebung aus. Übrigens brauchen wir nicht so weit zu gehen: wir finden diesen Typus als den fast vorherrschenden im deutschen Tirol, von dem Henke sagt, seine Bewohner stellen » den wahren Typus der jetzt lebenden Urgermanen dar «. Dass auch sie meist dunkles, oft schwarzes Haar haben, erklärt allerdings der genannte Gelehrte dadurch, dass » die Sonne sie dunkel gebrannt hat «, und meint dazu, die Farbe sei » die Eigenschaft, die sich am leichtesten mit der Zeit verändert «. Virchow’s Untersuchungen hatten aber schon längst das Gegenteil erwiesen (siehe S. 369), und wir könnten auf diese Behauptung mit der Frage antworten: warum war David blond? warum behielten die Juden von den Amoritern eine gewisse Neigung zu rotblondem Haar, weiter nichts? Welche Sonne hat dem englischen Adel und gar erst dem Norweger im fernsten Norden, wo die Sonne monatelang gar nicht gesehen wird, die Haare dunkel gebrannt? Nein, hier liegen gewiss andere Verhältnisse vor, die erst physiologisch werden aufgeklärt werden müssen, was bisher meines Wissens nicht geschah. 2)Wenigstens konnte ich weder in physiologischen Lehrbüchern, noch in solchen Specialschriften wie die Waldeyer’s etwas diesbezügliches finden.Ebenso wie gewisse rote Blumen an bestimmten Standorten, oder auch unter dem Einfluss von Bedingungen, die sich der menschlichen Be -488Die Erben.obachtung entziehen, blau auftreten (bisweilen dann rot und blau auf demselben Stamme), und ebenfalls schwarze Tiergattungen bekannt sind, die weisse Abarten erzeugen, ebenso ist es durchaus nicht un - denkbar, dass das Haarpigment innerhalb eines bestimmten Menschen - typus zwar der Regel nach hellgefärbt sein, doch unter Umständen auch dem entgegengesetzten Ende der Farbenskala sich zuneigen kann. Denn das Entscheidende ist hier, dass wir dieses dunkle Haar gerade bei Menschen finden, deren unverfälschtes Germanentum nicht allein in meinem weiteren, sondern in dem engeren taciteischen Sinne des Wortes verbürgt ist und deren ganzes äusseres und inneres Wesen es ausserdem erweist. Doch, sobald man sich weiter umschaut, wird man genau diesen selben Menschentypus hochgewachsen, schlank, dolichocephal, Moltke - physiognomie, dazu ein » germanisches Innere « an den Südabhängen der Seealpen z. B. antreffen; man braucht nur von dem vom Völkerchaos besetzten Cannes und Nizza sich zwei Stunden nördlich in abgelegenere Teile des Gebirges zu begeben; auch hier die schwarzen Haare. Sind es Kelten? sind es Goten? sind es Langobarden? Ich weiss es nicht; es sind jedenfalls die Brüder der früher Genannten. Auch in den Gebirgen des nördlichen Italien findet man sie, abwechselnd mit dem kleinen, rundköpfigen, unarischen Homo alpinus. Von den Kelten hat schon Virchow gesagt, er sei » nicht abgeneigt, anzunehmen, dass die ursprüngliche keltische Bevölkerung nicht blond-arisch, sondern brünett-arisch gewesen sei «; und gewappnet mit dieser kühnen » nicht abgeneigten Annahme « erklärt er dann alle dunklen Haare als keltische Beimischung. Doch werden uns von den Alten gerade die ursprüng - lichen Kelten als auffallend blond » rothaarig « beschrieben, und wir können sie mit eigenen Augen noch heute so sehen in Schottland und Wales; diese Hypothese steht also nur auf dem einen Beine, dass die Kelten, ausser blond, auch brünett oder vielmehr, was nicht ganz dasselbe ist, dunkelhaarig sein können, wofür wir an Ort und Stelle, unter den unvermischten Kelten, Belege genug finden. Es liegt hier folglich derselbe Fall vor wie bei den Germanen. Von den Slaven kann ich nur das Eine berichten, und ich thue es mit Vergnügen, dass selbst Herr Virchow erklärt, sie seien » ursprünglich blond gewesen «. Sie waren es auch nicht bloss, sondern sind es noch heute; man braucht nur ein bosnisches Regiment vorbeidefilieren zu sehen, um sich davon zu überzeugen. Die Karte nach Virchow’s Untersuchungen an Schulkindern zeigt, dass das ganze Posen, sowie Schlesien östlich der Elbe denselben geringen Prozentsatz dunkler489Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.Menschen aufweist (10 15 Prozent) wie die westlich gelegenen Länder; der grösste Prozentsatz von Brünetten findet sich in Gegenden, wohin nie ein Slave kam, nämlich in der Schweiz, im Elsass, im urdeutschen Salzkammergut! Ob es echte Slaven giebt, bei denen Melanismus des Haares vorkommt, wie bei den Germanen und Kelten, ist mir unbekannt.

Aus diesen Thatsachen geht unwiderlegbar hervor, dass dem Germanen nicht, wie es gewöhnlich geschieht, blondes Haar apo - diktisch zugesprochen werden kann; auch schwarzes Haar kann den echtesten Sprossen dieser Rasse eigen sein. Zwar wird das Vor - handensein blonden Haares immer auf Germanentum (in meinem weiten Sinne des Wortes) raten lassen, und sei es auch nur als ferne Beimengung, doch die Abwesenheit der hellen Färbung gestattet nicht den umgekehrten Schluss. Bei der Anwendung dieser Beschränkung muss man also vorsichtig sein; das Haar allein genügt als Kriterium nicht, sondern es müssen die übrigen physischen Charaktere mit in Betracht gezogen werden.

Somit gelangen wir zu der weiteren und wahrlich nicht minderDie Gestalt des Schädels. schwierigen Frage: nach der Schädelform. Hier scheint es, als müsse und könne eine Grenze gezogen werden. Denn, wie verwickelt die Verhältnisse auch heute liegen, sie lagen in alten Zeiten sehr einfach: die alten Germanen des Tacitus, sowie die alten Slaven waren beide der Mehrzahl nach ausgesprochene Langköpfe; der lange Schädel und darunter das lange Gesicht sind so sichere Merkmale der Rasse, dass man sich wohl fragen darf, ob, wer sie nicht besitzt, zu ihr gezählt werden dürfe. In den germanischen Gräbern der Völkerwanderungs - zeit findet man fast die Hälfte der Schädel dolichocephal, d. h. mit einer Breite, welche sich zur Länge wie 75 (oder noch weniger) zu 100 verhält und mit wenigen Ausnahmen nähern sich auch die übrigen Schädel dieser künstlich gewählten Verhältnisgrenze; wirkliche Rund - köpfe (siehe S. 360) kommen fast gar nicht vor. In den altslavischen Gräbern ist das Verhältnis noch mehr zu Gunsten der extremen Lang - köpfe. In Bezug auf die alten Kelten besitzt man wenige Angaben; doch lässt die Neigung zur Dolichocephalie bei den Gälen Nordschott - lands und den Kymren in Wales dasselbe voraussetzen. 1)Vergl. Ranke: Der Mensch, II, 298.Seitdem hat sich das sehr geändert, wenigstens in vielen Ländern. Zwar nicht hoch oben im Norden, in Skandinavien, im nördlichsten Deutschland (mit Ausschluss der Städte) und in England; im Gegenteil, die Dolicho -490Die Erben.cephalie scheint z. B. in Dänemark noch ausgesprochener als bei den Germanen der Völkerwanderungszeit: sechzig von hundert zählen dort die echten Langköpfe und nur sechs von hundert die Kurzköpfe. Doch die Slaven Russlands sollen heute (nach Kollmann) kaum noch drei Langköpfe auf hundert aufweisen, dagegen 72 ausgesprochene Kurzköpfe, der Rest Mittelformen, die zur Brachycephalie neigen. Und gar erst die Altbayern! Johannes Ranke hat hier 1000 Schädel Lebender gemessen, mit dem Ergebnis, dass nur einer von hundert den alt - germanischen Schädel besitzt, dagegen 95 echte Kurzköpfe sind! Auch vergleichende Messungen der hellenischen Schädel aus der klassischen Zeit und derjenigen heutiger Griechen haben zu ähnlichen Resultaten geführt; denn wog auch bei jenen die mittlere Kopfform vor, so be - sassen sie doch ein Drittel echter Langköpfe und in ihren Gräbern findet man noch weniger eigentliche Kurzköpfe als in den germanischen, während heute mehr als die Hälfte Kurzköpfe sind. Dass in diesen Erscheinungen die Infiltration einer ungermanischen Rasse vorliegt, einer Rasse, welche überhaupt nicht zum indoeuropäischen Verwandt - schaftskreise gehört, sowie ausserdem der chaotischen Rassenlosigkeit, kann wohl nicht bezweifelt werden. Zwar giebt man sich alle Mühe, dieser Folgerung möglichst auszuweichen. So hat z. B. namentlich Kollmann (Professor in Basel) das Hauptgewicht vom Schädel weg auf das Gesicht zu legen gesucht, auf die Unterscheidung zwischen Lang - gesichtern und Breitgesichtern1)Correspondenzblatt der deutschen anthropologischen Gesellschaft, 1883, Nr. II. und Johannes Ranke griff das auf und konstruierte als spezifisch germanischen Typus ein langes Gesicht unter einem kurzen Schädel; Henke wiederum möchte glauben, dass hier eine allmähliche Entwickelung stattgefunden hat, durch welche die Länge des Vorderkopfes eher zu als abgenommen hätte, dagegen der Hinterkopf immer kürzer geworden wäre; die Dolichocephalie sei also gewissermassen auch jetzt noch bei den kurzköpfigen Germanen vorhanden, nur versteckt u. s. w. Doch, wie beachtenswert alle diese Betrachtungen auch sein mögen, keine schafft die Thatsache aus der Welt, dass die Germanen dort, wo sie noch wenige oder gar keine Vermischungen eingegangen sind, im Norden nämlich, dolichocephal und blond (resp. schwarz) sind, während dieser Charakter verschwindet: erstens, je näher man den Alpen kommt, zweitens, dort, wo historisch nachweisbar viel Kreuzung mit Völkern aus dem Süden oder mit bereits entarteten Keltogermanen und Slavogermanen stattfand.

491Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.

Natürlich wirkten die historischen Kreuzungen am schnellsten (Italien, Spanien, Südfrankreich u. s. w. sind allbekannte Beispiele); doch neben diesen Vermengungen, und an solchen Orten, wo sie gar nicht stattfanden, ganz allein, wirkte eine andere Ursache, so glaubt man heute: nämlich, das Vorhandensein einer oder vielleicht auch mehrerer prähistorischer Rassen, die niemals (oder doch nur dunkel) als solche in der Geschichte auftraten, und die, auf einer tieferen Kulturstufe stehend, frühzeitig von den verschiedenen Zweigen der Indogermanen unterjocht und assimiliert wurden. Diese Ursache trägt wahrscheinlich noch heute nachhaltig zur Entgermanisierung bei. Bezüglich der Iberer z. B. hat schon Wilhelm von Humboldt die Vermutung aufgestellt, sie seien früher durch Europa weit verbreitet gewesen und diese Annahme ist neuer - dings von Hommel und Anderen vertreten worden. Rettete sich auch ein kleiner Teil in den fernsten Westen, dorthin, wo wir heute noch die Basken finden, starb auch vielleicht die Mehrzahl der Männer unter dem Feindesschwert, gänzliche Vernichtung des ganz Armen und Macht - losen kommt erfahrungsgemäss nie vor, man behält ihn als Sklaven, und man behält die Weiber. In den Alpen hat nun dieselbe oder vielleicht eine andere, aber ebenfalls ungermanische, nicht indoeuropäische Rasse gehaust, oder sich wenigstens dorthin als auf die letzte Zufluchtsstätte gerettet; man wird zu dieser Annahme durch die Beobachtung gedrängt, dass gerade die Alpen heute den Hauptausstrahlungspunkt des un - germanischen, kurzköpfigen, brünetten Typus abgeben, sowohl nach Norden wie nach Süden; die jetzt noch anthropologisch unterschiedene Rasse der Rhätier ist vielleicht ein ziemlich echtes Überbleibsel dieser einstigen Pfahlbauer und mit Virchow’s Präkelten vermutlich identisch. In den weiten Gebieten des östlichen Europa muss dann noch eine besondere, wahrscheinlich mongoloidartige Rasse vorausgesetzt werden, um die ganz spezifische Deformation zu erklären, welche so schnell aus den meisten Slavogermanen minderwertige » Slaven « machte. Wie kämen wir nun dazu, diejenigen Europäer, welche von diesen durch - aus ungermanischen Völkern abstammen, bloss weil sie eine indo - europäische Sprache sprechen und in indoeuropäische Kultur sich hineingelebt haben, als » Germanen « zu betrachten? Ich halte es im Gegenteil für eine wichtigste Pflicht, will man vergangene und gegen - wärtige Geschichte verstehen, hier recht klar zu scheiden. Indem wir die Menschen scheiden, lernen wir auch die Ideen in ihrer Be - sonderheit erkennen. Das ist umso nötiger, als wir unter uns Halb - germanen, Viertelgermanen, Sechzehntelgermanen u. s. w. zählen, und492Die Erben.in Folge dessen auch eine Menge Ideen, eine Menge Arten zu denken und zu handeln, die halb -, viertel -, sechzehntel-germanisch oder auch direkt antigermanisch sind. Einzig die Übung in der Unterscheidung des Reingermanischen und des absolut Ungermanischen kann lehren, sich in diesem angehenden Chaos zurecht zu finden. Überall ist das Chaos der gefährlichste Feind. Ihm gegenüber muss der Gedanke zu einer That werden; hierzu ist die Klarheit der Vorstellungen der erste unerlässliche Schritt; und auf dem Gebiet, welches wir augen - blicklich durchwandern, besteht die Klarheit zunächst in der Er - kenntnis, dass unser Germanentum heute eine grosse Menge un - germanischer Elemente enthält, und in dem Versuch, das Reine von dem mit fremden (in keinem Sinne germanischen) Bestandteilen Gemischten zu scheiden.

Doch, wie sehr zu diesem Behufe die Betonung des Anatomischen auch berechtigt sein mag, ich fürchte, allein wird dieses Anatomische nicht ausreichen; im Gegenteil, gerade hier wird augenblicklich die Wissenschaft auf einem Meer von Konfusionen und Irrtümern hin - und hergeworfen; wer sich von ihren Wahngebilden ergreifen lässt, muss sich dann zuletzt hineinstürzen. Denn das, was ich eben dar - legte von den verschiedenen Rassen, die aus vorarischen Zeiten in Europa übrig blieben, den Iberern, Rhätiern u. s. w., wenn auch entschieden richtig in den wesentlichsten Zügen, stellt nur die denkbar schlichteste Vereinfachung der Hypothesen dar, welche heute hundertfältig durch die Luft schwirren; und täglich wird die Sache komplizierter. So haben um dem Laien nur ein einziges Beispiel zu geben lange, sorgfältige Untersuchungen zu der Annahme ge - führt, dass es in Schottland in der ältesten Steinzeit eine langköpfige Menschenrasse gab, dass aber später, in der jüngeren Steinzeit, eine andere, ausserordentlich breitköpfige auftrat, welche dann, vermengt mit jener ersten und mit Mischformen, für die Bronzezeit bezeichnend wird; das alles spielte sich in unvordenklichen Zeiten ab, lange vor der Ankunft der Kelten; nun trafen die Kelten, als Vorhut der Germanen ein, und es ist wohl kaum zu zweifeln, dass sie durch den Kontakt mit dieser früher ansässigen Rasse Modifikationen er - litten, da noch heute, nachdem so viele und so starke Menschenwellen über jenes Land hinweggespült haben, man in vielen Individuen Merkmale findet, die (so sagt ein Fachgelehrter) unmittelbar und un - zweifelhaft auf jene schon aus der Vermengung von Lang - und Kurz - köpfen hervorgegangene prähistorische Rasse aus der Bronzezeit zurück -493Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.weisen! 1)Sir William Turner: Early Man in Scotland, Rede, gehalten in der Royal Institution in London am 13. Januar 1898.Wie soll man nun den kraniologischen Einfluss solcher alt - ansässiger Stämme auf die Germanen anatomisch entwirren, wenn sie selber bereits Langköpfe und Kurzköpfe und Mittelköpfe besassen? Und warum macht sich diese Wirkung heute nur nach der Kurzköpfigkeit zu geltend? Da kommen aber wieder andere Gelehrte und singen ein ganz anderes Lied: wir hätten keinen zwingenden Grund, an eine Einwanderung des Indoeuropäers zu glauben, er sei schon zur Steinzeit dagewesen, habe sich schon damals durch seinen Langkopf von einer anderen kurzköpfigen Rasse unterschieden und mit ihr um die Vorherrschaft gekämpft; jener Langkopf aus der älteren Steinzeit sei eben Niemand anders als der Germane! Virchow meint, auf ana - tomisches Material sich stützend, schon die ältesten Troglodyten Europas könnten von arischem Stamme gewesen sein, mindestens könne Niemand das Gegenteil beweisen. 2)Ranke: Der Mensch, II, 578.Vor der jüngeren Schule finden aber wiederum derlei vorsichtig abwartende Urteile keine Gnade; unter dem Vorwand streng wissenschaftlicher Vereinfachung schwenkt sie hoch die Fahne des Chaos und straft die gesamte Geschichte der Menschheit Lügen. Den klarsten Ausdruck haben diese neuesten Lehren durch Professor Kollmann gefunden. Er reduziert alle in Europa lebende Menschen auf vier Typen: lange Schädel mit langen, lange Schädel mit kurzen Gesichtern, kurze Schädel mit kurzen, kurze mit langen Gesichtern; diese vier Rassen hätten seit Jahrtausenden neben - und miteinander gelebt und das sei noch heute der Fall. Und nun kommt der Pferdehuf: Alles, was uns die Geschichte lehrt von Völker - wanderungen, von Nationalitäten, von Verschiedenheiten der Anlagen, von grossen schöpferischen Kulturwerken, die nur von einzelnen Volksindividualitäten ausgeführt, von anderen im besten Falle lediglich übernommen wurden, von dem noch unter uns sichtbaren Kampfe zwischen kulturförderlichen und kulturfeindlichen Elementen das Alles wird als Plunder bei Seite geschoben, und unser Glaube für folgendes Dogma gefordert: » Die Entwickelung der Kultur ist offenbar die gemeinsame That aller dieser Typen. Alle europäischen Rassen sind also, soweit wir bisher in das Geheimnis der Rassennatur ein - gedrungen sind, gleichbegabt für jede Aufgabe der Kultur «. 3)Allgemeine Versammlung der deutschen anthropolog. Gesellschaft, 1892.Gleichbegabt? man traut seinen Augen nicht! für » jede « Aufgabe494Die Erben.» gleichbegabt «! Hierauf werde ich bald zurückzukommen haben; doch wollte ich dieses Gebiet der Kraniometrie nicht verlassen ohne darauf hingewiesen zu haben: erstens, wie schwer es auch hier ist, durch blosse Formeln, durch Kompass und Metermass, das Germanische vom Ungermanischen zu scheiden; zweitens, welche gefährlichen Wege jene gelehrten Herren uns führen, welche plötzlich ihre Betrachtungen über » chamäprosope, platyrrhine, mesokonche, prognathe, proophryocephale, ooide, brachyklitometope, hypsistegobregmatische Dolichocephale « unter - brechen, um allgemeine Betrachtungen daran anzuknüpfen über Ge - schichte und Kultur. Der Laie versteht ja von dem Übrigen wenig oder nichts; hoffnungslos watet er in jenem barbarischen Jargon neo - scholastischer Naturwissenschaft herum; nur das Eine wandert dann durch alle Zeitungen als das sichtbare Ergebnis eines solchen Kon - gresses: die gelehrtesten Herren von Europa haben feierlich zu Protokoll gegeben, alle Rassen seien an der Entwickelung der Kultur gleich - beteiligt, alle seien zu jeder Aufgabe der Kultur gleichbegabt: Griechen hat es nie gegeben, Römer hat es nie gegeben, Germanen hat es nie gegeben, sondern seit jeher leben brüderlich nebeneinander, respektiv fressen sich gegenseitig auf leptoprosope Dolichocephalen, chamä - prosope Dolichocephalen, leptoprosope Brachycephalen, und chamä - prosope Brachycephalen, » alle miteinander an der Kultur arbeitend « (sic!). Man lächelt wohl? Doch sind Vergehen gegen die Geschichte eigentlich zu ernste Frevel, als dass sie mit blossem Lachen bestraft werden dürften; hier muss der gesunde Menschenverstand aller ein - sichtsvollen Männer mit kräftiger Hand bei Zeiten den Riegel vorschieben und jenen Herren zurufen: Schuster, bleib bei deinem Leisten! 1)Übrigens haben die wirklich grossen Anthropologen die Bedeutung der Rasse niemals verkannt; man vergl. nur den Ausspruch Adolf Bastian’s, oben S. 274.

Wie krass unwissenschaftlich ein solches Beginnen, wie dasjenige Kollmann’s ist, liegt ausserdem auf der Hand. Weitgehende Verein - fachung ist ein Gesetz des künstlerischen Schaffens, nicht aber ein Gesetz der Natur; im Gegenteil, hier ist endlose Mannigfaltigkeit das Bezeichnende. Was würde man zu einem Botaniker sagen, der die Pflanzen nach der Länge und Breite ihrer Blätter in Familien einteilen wollte, oder auch nach irgend einem anderen einzigen Charakter? Das Verfahren Kollmann’s bildet einen Rückschritt dem alten Theophrast gegenüber. So lange man künstliche Klassifikationen versuchte, rückte die systematische Kenntnis der Pflanzenwelt nicht um einen Schritt495Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.weiter; dann kamen aber geniale Männer von dem Schlage eines Ray, eines Jussieu, eines De Candolle, welche durch Beobachtung, gepaart mit schöpferischer Intuition, die Hauptfamilien der Pflanzen fest - stellten und dann erst die Charaktere entdeckten meistens sehr verborgene welche es gestatten, die Verwandtschaft auch anatomisch darzuthun. Ähnlich bei der Tierwelt. Jedes andere Verfahren ist durchaus künstlich und folglich blosse Spielerei. Darum dürfen wir auch beim Menschen nicht, wie Kollmann es thut, nach anatomischem Gutdünken ein System aufbauen, in welches sich die Thatsachen dann zu fügen haben, so gut und so schlecht es geht, sondern wir müssen zuerst feststellen, welche Gruppen als individualisierte, moralisch und intellektuell gekennzeichnete Rassen thatsächlich existieren, und sodann nachsehen, ob es anatomische Charaktere giebt, die zur Klassi - fikation verwertbar sind.

Ein solcher Exkurs in das Gebiet der anatomischen WissenschaftRationelle Anthropologie. hat nun zunächst das eine Gute, dass wir einsehen lernen, wie wenig sichere Hilfe, wie wenig nützliche, für das praktische Leben verwert - bare Belehrung wir von dorther zu erhoffen haben. Entweder wandeln wir auf sandigem, schwebendem Boden, oder auf morastigem, wo wir gleich bei den ersten Schritten einsinken und festkleben, oder aber wir müssen auf den nadelscharfen Spitzen der Dogmatik von einem Gipfel zum anderen springen und fallen heute oder morgen in den Abgrund hinunter. Dieser Exkurs hat aber doch noch andere, positivere Vorteile: er bereichert unser Wissensmaterial und lehrt uns schärfer sehen. Dass die Rassen ebenso wenig wie die Individuen gleich begabt sind, das bezeugen Geschichte und tägliche Erfahrung; die Anthropologie lehrt uns nun ausserdem (und trotz Professor Koll - mann), dass bei Rassen, welche bestimmte Thaten vollbrachten, eine bestimmte physische Gestaltung die vorherrschende war. Der Fehler ist der, dass man mit zufälligen Zahlen der Vergleichsobjekte operiert und nach willkürlich gewählten Verhältnissen misst. So wird z. B. fest - gesetzt, sobald die Breite eines Schädels zur Länge 75 zu 100 (oder weniger) betrage, sei dieser Schädel » dolichocephal «, mit 76 oder schon mit 75¼ ist er » mesocephal «, und von 80 ab » brachycephal «. Wer sagt das denn? warum soll gerade in der Zahl 75 eine besondere Magie liegen? eine andere Magie als die meiner Faulheit und Bequemlichkeit? Dass wir ohne termini technici und ohne Grenzen in der täglichen Praxis nicht auskommen können, begreife ich recht wohl, was ich aber nicht begreife, ist, dass ich sie für etwas anderes als willkürliche Grenzen496Die Erben.und willkürliche Worte halten soll. Dasselbe gilt natürlich wie für die langen und die breiten Schädel, auch für die hohen und die niedrigen Gesichter; überall handelt es sich um Verhältnisse, die gradweise in - einander übergehen. Nun ist es aber das Wesen des Lebens, plastisch beweglich zu sein; das lebendige Gestaltungsprinzip unterscheidet sich von Grund aus von dem krystallinischen dadurch, dass es nicht nach unabänderlichen Zahlenverhältnissen formt, sondern dass es, unter Be - obachtung des Gleichgewichts der Teile und Festhalten desjenigen Grundschemas, welches durch das Wesen selbst gegeben ist, gewisser - massen frei gestaltet. Nicht zwei Individuen sind sich gleich. Um die physische Struktur einer Rasse in irgend einem gegebenen Momente zu überblicken, müsste ich folglich die gesamten Vertreter dieser Rasse vor Augen haben und nun in diesem Komplex die einheitliche und vereinigende Idee, die vorwaltende spezifische Tendenz der physischen Gestaltung, welche dieser Rasse als Rasse eigen ist, heraus - suchen; ich würde sie ja mit Augen erschauen. Hätte ich nun, sagen wir zur Zeit des Tacitus, sämtliche Germanen vor Augen gehabt: die noch unvermischten Kelten, die Teutonen und die Germanoslaven, so hätte ich gewiss ein harmonisches Ganzes erblickt, in welchem ein bestimmtes Bildungsgesetz vorwaltete, um das sich die mannigfachsten, abweichendsten Gestaltungen herumgruppierten. Vermutlich hätte sich kein einziges Individuum gefunden, welches alle spezifischen Charaktere dieses plastischen Rassengedankens (denn so wäre es meinem sinnenden Hirn erschienen) in höchster Potenz, in vollendetem Gleichgewicht in sich vereinigt hätte: die grossen strahlenden Himmelsaugen, das goldene Haar, die Riesengestalt, das Ebenmass der Muskulatur, der längliche Schädel (den ein ewig schlagendes, von Sehnsucht gequältes Gehirn aus der Kreislinie des tierischen Wohlbehagens nach vorn hinaus - hämmert), das hohe Antlitz (von einem gesteigerten Seelenleben zum Sitze seines Ausdrucks gefordert) gewiss, kein Einzelner hätte das alles vereint besessen. War der eine Zug vollendet, so war der andere nur angedeutet. Hier und dort hatte auch die ewig versuchende, nie sich wiederholende Natur das Gleichgewichtsgesetz durchrissen: ein übermässiger Riese schwang seine Keule über blöden Augen, unter einem allzulang gezogenen Schädel sass ein unverhältnismässig kurzes Gesicht, herrliche Augen strahlten unter einer hohen Stirn hervor, doch getragen von einem auffallend kleinen Körper u. s. w. ad infinitum. In anderen Gruppen wiederum werden geheime Gesetze der Wachstums - korrelation zur Erscheinung gekommen sein: z. B. hier Familien mit497Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.schwarzem Haar, zugleich mit besonders grossen kühnen Adlernasen und schlankerem Körperbau, dort rotes Haar mit auffallend weisser, fleckiger Haut und etwas breiterem Gesicht im Oberteil denn jede geringste Änderung in der Gestaltung zieht andere nach sich. Noch viel zahlreicher werden freilich jene Gestaltungen gewesen sein, denen in ihrer durchschnittlichen Unauffälligkeit gar kein spezifisches Bildungsgesetz hätte entnommen werden können, wären sie nicht als Bestandteile eines grossen Ganzen aufgetreten, in welchem ihr Platz bestimmt bezeichnet war, so dass wir aus ihrer genauen Einfügung ersehen, dass sie doch organisch dazu gehören. Gerade Darwin, der sein Leben lang mit Kompass, Zollmass und Gewichtswage gearbeitet hat, macht immer wieder bei seinen Studien über künstliche Züchtungen darauf aufmerksam, dass der Blick des geborenen und geübten Züchters Dinge entdeckt, für welche die Ziffern nicht den geringsten Beleg liefern und die der Züchter selber meistens nicht in Worte fassen kann; er merkt, dass dies und jenes den einen Organismus vom anderen unterscheidet und richtet sich bei seinen Züchtungen darnach; es ist dies eine Intuition, geboren aus vielem unablässigen Schauen. Ein derartiges Schauen müssten wir uns nun anüben; dazu hätte jener Gesamtüberblick über alle Germanen zu Zeiten des Tacitus gedient. Gewiss hätten wir nicht gefunden, dass bei allen diesen Menschen sich die Breite des Kopfes zur Länge wie 75 zu 100 verhielte; die Natur kennt derartige Begrenzungen nicht; in der unbeschränkten Mannig - faltigkeit aller denkbaren Zwischenformen, sowie auch von Formen weiterer Entwickelung nach diesem und jenem Extrem hin, wären wir höchst wahrscheinlich hier und dort auf ausgesprochene Brachy - cephalen gestossen, die Gräberfunde lassen es vermuten, und warum sollte die Plastizität der gestaltenden Kräfte es nicht bewirkt haben? Wir hätten auch nicht lauter Riesen gesehen und erklären können: wer nicht 1,97½ m erreicht, ist kein Germane. Dagegen hätten wir uns ganz gut die paradox klingende Behauptung gestatten dürfen: die kleinen Männer dieser Gruppe sind gross, denn sie gehören einer hoch - gewachsenen Rasse an, und aus demselben Grunde sind jene Brachy - cephalen Langschädel; bei näherem Zusehen werdet ihr in ihrem Äussern und Innern die spezifischen Charaktere des Germanen schon entdecken. Die Hieroglyphen der Natursprache sind eben nicht so logisch mathematisch, so mechanisch deutbar wie mancher Forscher zu wähnen beliebt. Es gehört Leben dazu, um Leben zu verstehen. Und dabei fällt mir eine Geschichte ein, die gerade zur ErläuterungChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 32498Die Erben.dieses Punktes vorzügliche Dienste leisten wird. Herr Paul Leroy - Beaulieu, weit und breit als Ökonomiker, Soziolog, Mitarbeiter der Revue des Deux Mondes etc. bekannt, schrieb vor einigen Jahren ein Buch, betitelt Israël chez les nations, in welchem er ich glaube durch falsch verstandene Humanität dazu verleitet den Juden die Schmach anthat, zu behaupten, sie existierten gar nicht; sie hätten sich so früh, so unaufhörlich, so massenhaft mit allerhand Volk ver - mischt, dass ihre angebliche Nation jetzt nur noch eine Ollapodrida aller Menschengattungen sei. Ob Leroy-Beaulieu dies selber ernstlich glaubt, weiss ich nicht, denn er hatte vor Allem die Bekehrung blutdürstiger Antisemiten im Auge und wähnte offenbar, unser musi - kalisches, in Potpourris verliebtes Jahrhundert durch seine Schilderung zu bezaubern. Jedenfalls wurde er viel gelesen und viel citiert; die Meisten lasen ihn aber nur bis dahin, wo er dargethan hat, es gäbe keine Juden; eine weitere Bemühung hielten sie natürlich für über - flüssig. Schade, denn im folgenden Kapitel hätten sie eine reizende Anekdote gefunden, die Leroy-Beaulieu als unlösbares Problem zum Besten giebt:1)In dem aus Artikeln der Revue des Deux Mondes zusammengesetzten Buche ist es mir nicht gelungen, die Anekdote wiederzufinden; vielleicht hat sie der Autor inzwischen unterdrückt. wie nämlich seine Enkelin, eine junge Dame im vierten Lebensjahr, die also gewiss von Rassen und Religion nichts weiss, stets und ausnahmslos jämmerlich zu heulen anhebt, sobald im Jardin du Luxembourg ein Jude oder eine Jüdin in ihre Nähe kommt; und zwar sollen die gepflogenen Erhebungen zu der Überzeugung geführt haben, dass dieses an Erfahrung noch so bettelarme kleine Wesen sich nie täuscht! Herr Leroy-Beaulieu, der berühmte Gelehrte, weiss nicht einen Juden von einem Nichtjuden zu unterscheiden; das Kind, das kaum erst sprechen kann, weiss es. Ist das nicht eine trost - reiche Erfahrung? Mich dünkt, sie wiegt einen ganzen anthropo - logischen Kongress, oder zum mindesten einen ganzen Vortrag des Herrn Professor Kollmann auf. Es giebt doch noch etwas auf der Welt ausser Kompass und Metermass. Wo der Gelehrte mit seinen künstlichen Konstruktionen versagt, kann ein einziger unbefangener Blick die Wahrheit wie ein Sonnenstrahl aufhellen.

Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.
499Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.

Den Anthropologen wollen wir ihre chamäprosopen Kreise nicht länger als nötig stören, doch das durch ihren Fleiss zu Tage geförderte Material wollen wir ebensowenig geringschätzen, sondern es als wert - volle Bereicherung unserer Kenntnis des Germanen und als ernste Mahnung in Bezug auf das Vordringen des Nichtgermanen unter uns wohl zu benützen wissen.

Die so notwendige Beschränkung des Namens » Germane « auf diejenigen, welche wirklich Germanen oder zum Mindesten stark mit germanischem Blute durchsetzt sind, wird also niemals rein-mathe - matisch durchzuführen sein, sondern immer jenen Blick des Züchters und jenen Instinkt des Kindes erfordern. Viel wissen sollte freilich hierzu nur von Nutzen sein, doch viel sehen und viel fühlen sind noch unentbehrlicher. Und somit tritt unsere Untersuchung der notwendigen Beschränkungen des Begriffes Germane auf das geistige Gebiet über, wo die Geschichte uns auf jeder Seite lehrt, das Germanische vom Ungermanischen zu scheiden, zugleich auch das Physische daran zu erkennen und hochzuhalten.

Zugleich Geist und Körper, Seelenspiegel und anatomischesPhysiognomik. Faktum, fordert zunächst die Physiognomik unsere Aufmerksam - keit. Man betrachte z. B. das Antlitz Dante Alighieri’s; man wird eben soviel daraus lernen wie aus seinen Dichtungen. 1)Dass Dante ein Germane, nicht ein Kind des Völkerchaos ist, folgt nach meiner Überzeugung so evident aus seinem Wesen und Werke, dass ein Nachweis hierüber durchaus entbehrlich dünken muss. Doch ist es immerhin interessant zu wissen, dass der Name Alighieri ein gotischer ist, aus Aldiger korrumpiert; er gehört zu jenen deutschen Personennamen, denen wie Gerhard, Gertrud u. s. w. die Vorstellung gêr = Speer zu Grunde liegt (eine Thatsache, welche mit Hinblick auf Shake-spear den Phantasten viel hätte zu denken geben sollen!). Dieser Name kam der Familie durch Dante’s väterliche Grossmutter, eine Gotin aus Ferrara zu, die Aldigiero hiess. Über die Abstammung des väterlichen Gross - vaters sowie der Mutter weiss man heute nur das Eine, dass die versuchte An - knüpfung an römische Geschlechter eine pure Erfindung jener italienischen Bio - graphen ist, die es ruhmvoller fanden, Rom anzugehören als Germanien; da aber der Grossvater ein Krieger war, von Kaiser Konrad zum Ritter geschlagen, und Dante selbst angiebt, er gehöre zum kleinen Adel, so ist die Abstammung aus rein germanischem Stamme so gut als erwiesen. (Vergl. Franz Xaver Kraus: Dante, Berlin 1897, S. 21 25). Noch bis an die Grenze des 15. Jahrhunderts werden in den Urkunden viele Italiener als Alemannen, Langobarden u. s. w. be - zeichnet, ex alamanorum genere, legibus vivens Langobardorum etc. (und zwar trotzdem die meisten schon längst zum römischen Recht übergetreten waren, womit sonst die dokumentarische Sichtbarkeit ihrer Abstammung verschwand), so durch und durch war jenes Volk, in welchem die angebliche » romanische Kultur « heute ihren HerdDas ist ein32*500Die Erben.

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charakteristisch germanisches Gesicht! Kein Zug daran gemahnt an irgend einen bekannten hellenischen oder römischen Typus, ge - schweige an irgend eine der asiatischen und afrikanischen Physio - gnomien, welche die Pyramiden uns treu aufbewahrt haben. Ein neuer Mensch ist in die Weltgeschichte eingetreten! die Natur hat in der Fülle ihrer Kraft eine neue Seele erzeugt: schaut hin, dort spiegelt sie sich in einem noch nie erblickten Menschenantlitz wieder! » Über dem inneren Orkan, der im Antlitz Ausdruck fand, erhob sich kühn die friedliche Stirn und wölbte sich zur Marmorkuppel «. 1)Balzac: Les Proscrits. Ja, ja, Balzac hat Recht: Orkan und Marmorkuppel! Hätte er bloss gemeldet, Dante sei ein leptoprosoper Dolichocephal, es wäre damit nicht viel gesagt gewesen. Einen zweiten Dante wird man allerdings nicht finden, doch ein Gang durch die Büstensammlung des Berliner Museums wird überzeugen, wie sehr gerade dieser Typus sich in dem durch und durch von Goten, Langobarden und Franken germanisierten Norditalien1)erblicken will, mit rein germanischem Blut und zwar als dem einzig schöpferischen Element durchsetzt (siehe Savigny: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, I, Kap. 3).501Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.

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festgesetzt hatte; die nächste unzweifelhafte physiognomische Verwandt - schaft finden wir noch heute in jenen vorhin genannten deutschen Tirolern, sowie in Norwegen, und einzelne verwandte Züge überall, wo es echte Germanen giebt. Jedoch, betrachten wir die grössten germanischen Männer, so werden wir nicht eine, sondern zahlreiche physiognomische Gestaltungen finden; zwar wiegt die kühne, mächtig geschwungene Nase vor, doch finden wir fast alle denkbaren Kom - binationen bis zu jenem gewaltigen Kopfe, der in jedem Zug das Gegenstück zu Dante’s abgiebt, gerade in diesem Gegensatz die innige Verwandtschaft verratend: bis zu dem Kopf Martin Luther’s. Hier umweht jener Orkan, von dem Balzac sprach, Stirn und Augen und Nase, keine Marmorkuppel wölbt sich darüber; es ruht aber dieser Flammen speiende Vulkan von Energie und Gedankenfülle auf Mund und Kinn wie auf einem granitnen Felsen. Jeder kleinste Zug des gewaltigen Antlitzes zeugt von Thatendurst und Thatkraft; bei diesem Anblick steigen Einem die Worte Dante’s ins Gedächtnis

Colà dove si puote Ciò che si vuole!
502Die Erben.

Dieser Mann kann, was er will, und sein ganzes Wollen strebt hinaus zu grossen Thaten: in diesem Kopf wird nicht studiert, um gelehrt zu sein, sondern um Wahrheit zu erforschen, Wahrheit fürs Leben; er singt nicht um des Ohrenschmauses willen, sondern weil Gesang das Herz erhebt und kräftigt; er hätte es nicht wie Dante vermocht, stolz und verkannt abseits zu leben, seinen Ruhm künftigen Ge - schlechtern anvertrauend, was gilt diesem Antlitz Ruhm? » Die Liebe ist der Pulsschlag unseres Lebens «, sagte er. Und wo kräftige Liebe, da ist auch kräftiger Hass. Von einem derartigen Antlitz zu sagen, wie Henke, es repräsentiere den norddeutsch-slavischen Typus,1)A. a. O., S. 20. ist durchaus irrig. Eine so gewaltige Erscheinung ragt über derartige Spezifikationen weit hinaus; sie zeigt uns die äussere Ein - kleidung einer der erstaunlich reichsten Entwickelungsmöglichkeiten des germanischen Geistes in ihrer höchsten Fülle. Wie Dante’s, so gehört auch Luther’s Antlitz dem gesamten Germanentum an. Man findet diesen Typus in England, wohin nie ein Slave drang, man be - gegnet ihm unter den thatkräftigsten Politikern Frankreichs. Lebhaft stellt man sich diesen Mann 1500 Jahre früher vor, hoch zu Ross, die Streitaxt schwingend zum Schutze seiner geliebten nordischen Heimat, und dann wieder am trauten Herde inmitten der Kinder Schar, oder an der Männertafel, das Methorn bis auf den letzten Tropfen leerend und Heldenlieder den Ahnen zum Ruhme singend. Zwischen Dante und Luther bewegt sich die reiche physiognomische Skala grosser Germanen. Wie Tacitus sagte: sie gleichen nur sich. Jeder Versuch aber einer Lokalisierung der Typen, etwa nach Nord und Süd oder nach keltischem Westen und slavischem Osten, ist offenbar verfehlt, verfehlt wenigstens, sobald man die bedeutenderen und darum charakteristischeren Männer ins Auge fasst und von den Zufälligkeiten der Tracht, namentlich der Barttracht, absieht. Goethe z. B. könnte der Gesichtsbildung nach jedem germanischen Stamme entsprossen sein, Johann Sebastian Bach auch, Immanuel Kant ebenfalls.

Freiheit und Treue.
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Und nun wollen wir versuchen, einen Blick in die Tiefen der Seele zu werfen. Welche sind die spezifischen geistigen und moralischen Kennzeichen dieser germanischen Rasse? Gewisse Anthropologen hatten uns belehren wollen, alle Menschenrassen seien gleichbegabt: wir wiesen auf das Buch der Geschichte hin und antworteten, das lügt ihr! Die Rassen der Menschheit sind in der Art ihrer Befähigung, sowie in503Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.dem Masse ihrer Befähigung sehr ungleich begabt und die Germanen gehören zu jener Gruppe der Zuhöchstbegabten, die man als Arier zu bezeichnen pflegt. Ist diese Menschenfamilie eine durch Blutbande ge - einigte, einheitliche? entwachsen diese Stämme wirklich alle der selben Wurzel? ich weiss es nicht, es gilt mir auch gleich; keine Verwandt - schaft kettet inniger aneinander als Wahlverwandtschaft, und in diesem Sinne bilden ohne Frage die indoeuropäischen Arier eine Familie. In seiner Politik schreibt Aristoteles (I, 5): » Wenn es Menschen gäbe, die an Körpergrösse allein soweit hervorragten, wie die Bilder der Götter, so würde Jedermann gestehen, dass die übrigen von Rechtswegen sich diesen unterwerfen müssen. Ist aber dies in Beziehung auf den Körper wahr, so kann mit noch grösserem Rechte diese selbe Unter - scheidung zwischen hervorragenden Seelen und gewöhnlichen gemacht werden. « Körperlich und seelisch ragen die Arier unter allen Menschen empor; darum sind sie von Rechtswegen (wie der Stagirit sich aus - drückt) die Herren der Welt. Aristoteles fasst übrigens seinen Gedanken noch knapper zusammen und sagt: » Einige Menschen sind von Natur frei, Andere Sklaven «; damit trifft er den moralischen Kernpunkt. Denn die Freiheit ist durchaus nicht ein abstraktes Ding, auf welches jeder Mensch von Hause aus ein Anrecht hätte, sondern ein Recht auf Freiheit kann offenbar einzig aus der Befähigung zu ihr hervor - gehen, und diese wiederum setzt physische Kraft und geistige Kraft voraus. Man darf die Behauptung aufstellen, dass selbst die blosse Vorstellung der Freiheit den meisten Menschen gänzlich unbekannt ist. Sehen wir nicht den Homo syriacus sich genau eben so gut und glücklich entwickeln als Knecht wie als Herr? Bieten uns nicht die Chinesen ein grossartiges Beispiel der selben Gesinnung? Erzählen uns nicht alle Historiker, dass die Semiten und Halbsemiten trotz ihrer grossen Intelligenz niemals einen dauernden Staat zu bilden vermochten, und zwar weil stets Jeder die ganze Macht an sich zu reissen bestrebt war, somit zeigend, dass sie nur für Despotie und Anarchie, die beiden Gegensätze der Freiheit, Befähigung besassen? 1)Vergl. S. 385.Und da sehen wir gleich, welche grosse Gaben Einer besitzen muss, damit von ihm gesagt werden könne, er sei » von Natur frei «, denn die erste Be - dingung hierzu ist die Kraft der Gestaltung. Nur eine staatenbildende Rasse kann eine freie sein; die Begabung welche den Einzelnen zum Künstler und Philosophen macht ist wesentlich die selbe, welche, durch504Die Erben.die ganze Masse als Instinkt verbreitet, Staaten bildet und dem Einzelnen das schenkt, was der gesamten Natur bisher unbekannt geblieben war: die Idee der Freiheit. Sobald wir das einsehen, fällt die nahe Verwandt - schaft der Germanen mit den Hellenen und Römern auf, zugleich er - kennen wir das sie Unterscheidende. Bei den Griechen überwiegt das individualistisch Schöpferische sogar bis in die Staatenbildung; bei den Römern ist die kommunistische Kraft der die Freiheit verleihenden Gesetzgebung, der die Freiheit verteidigenden Kriegsgewalt das Vor - herrschende; den Germanen dagegen ist vielleicht eine geringere Ge - staltungskraft zu eigen, sowohl dem Einzelnen wie dem Gesamt - körper, doch besitzen sie eine Harmonie der Beanlagung, ein Gleich - gewicht zwischen dem Freiheitsdrang des Einzelnen, welcher in der freischöpferischen Kunst seinen höchsten Ausdruck findet,1)Siehe S. 53, 62, 69 u. s. w. und dem Freiheitsdrang der Gesamtheit, der den Staat schafft, durch welche sie sich den grössten Vorgängern ebenbürtig erweisen. Formvoll - endeteres vielleicht, doch nicht Gewaltigeres schuf je eine Kunst als die, welche zwischen der beschwingten Feder Shakespeare’s und dem Ätzgriffel Albrecht Dürer’s alles Menschliche einschliesst, und welche in ihrer ureigensten Sprache, der Musik, tiefer ins innerste Herz hinein - greift als jeder vorangegangene Versuch, aus Sterblichem Unsterbliches zu schaffen, Stoff zu Geist umzuwandeln. Und inzwischen bewährten sich die von Germanen gegründeten Staaten Europas, trotz ihres gewisser - massen improvisierten, ewig provisorischen, wechselreichen Charakters eher, sollte ich wohl sagen, dank diesem Charakter als die dauer - haftesten der Welt, auch als die machtvollsten. Trotz Kriegesstürmen, trotz der Bethörungen jenes Erbfeindes, des Völkerchaos, der das Gift bis in das Herz unserer Nationen hineintrug, blieben Freiheit und ihr Korrelat, der Staat, wenn auch manchmal das Gleichgewicht zwischen beiden arg gestört schien, doch durch alle Zeiten hindurch das ge - staltende und erhaltende Ideal: deutlicher als je erkennen wir das heute.

Damit das stattfinde, musste sich nun jener zu Grunde liegenden, gemeinsamen » arischen « Anlage zu freier Schöpfungskraft ein weiterer Zug beigesellen: die unvergleichliche und durchaus eigenartige ger - manische Treue. War jene geistige und körperliche Entwickelung, die bis zur Idee der Freiheit führt, und auf der einen Seite Kunst, Philosophie und Wissenschaft, auf der anderen Staaten (sowie Alles, was an Kulturerscheinungen unter diesem Begriff sich subsummieren505Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.lässt) erzeugt, den Germanen mit den Hellenen und Römern ge - meinsam, so ist dagegen die überschwängliche Auffassung der Treue ein spezifischer Charakterzug der Germanen. Wie der alte Johann Fischart singt:

Standhaft und treu, und treu und standhaft,
Die machen ein recht teutsch Verwandtschaft!

Julius Caesar hatte neben der kriegerischen Tüchtigkeit auch die beispiellose Treue der Germanen sofort erkannt und bei ihnen so viele Reiter gedungen, wie er nur bekommen konnte: in der für die Weltgeschichte so entscheidenden Schlacht bei Pharsalus schlugen sie sich für ihn; die romanisierten Gallier hatten den Imperator in der Stunde der Not verlassen, die Germanen dagegen bewährten sich als eben so treu wie tüchtig. Diese Treue gegen den aus freier Ent - schliessung, eigenmächtig erwählten Herrn ist der bedeutendste Zug im Charakter des Germanen; an ihm können wir sehen, ob reines germanisches Blut in den Adern fliesst oder nicht. Man hat viel gespottet über die deutschen Söldnerheere, doch gerade an ihnen zeigt sich das echte, kostbare Metall dieser Rasse. Gleich der erste römische Alleinherrscher, Augustus, bildete seine persönliche Leibgarde aus Germanen; wo hätte er sonst auf unbedingte Treue rechnen dürfen? Während der ganzen Dauer des römischen West - und Ostreiches wird dieser selbe Ehrenposten mit den selben Leuten besetzt, nur schickt man immer weiter nach Norden, da mit der sogenannten » lateinischen Kultur « die Pest der Treulosigkeit immer weiter in die Länder gedrungen war; zuletzt, ein Jahrtausend nach Augustus, sind es Angelsachsen und Normannen, die um den Thron von Byzanz Wache stehen. Der arme germanische Leibgardist! Von den politischen Prinzipien, welche die chaotische Welt zu einer scheinbaren Ordnung mit Gewalt zusammenschmiedeten, verstand er dazumal eben so wenig, wie von den Streitigkeiten über die Natur der Dreifaltigkeit, die ihm manchen Tropfen Blut kosteten; doch Eines verstand er: die Treue zu wahren dem selbsterwählten Herrn. Als unter Nero die friesischen Gesandten die hinteren Plätze, die man ihnen im Zirkus angewiesen hatte, verliessen und sich stolz auf die vordersten Bänke der Senatoren unter die reichgeschmückten Vertreter fremder Völker setzten, was gab den Besitzlosen, die nach Rom gekommen waren, um Land zum Ackerbau sich zu erbitten, ein so kühnes Selbstbewusstsein? wessen durften sie einzig sich rühmen? » Kein Mensch der Welt übertreffe506Die Erben.die Germanen an Treue! « 1)Tacitus: Annalen, XIII, 54.Über diesen grossen grundlegenden Charakterzug der Treue in seiner geschichtlichen Bedeutung hat Karl Lamprecht so schöne Worte geschrieben, dass ich mir einen Vorwurf daraus machen müsste, wollte ich sie hier nicht abschreiben. Er hat soeben von dem » Gefolge « gesprochen, welches in dem altdeutschen Staate seinem Häuptling Treue bis in den Tod schuldete und bewährte, und fährt dann fort: » Es ist einer der grossartigsten Züge spezifisch germanischer Lebensauffassung, welcher in der Bildung dieser Gefolge mitspricht, der Zug der Treue. Unverstanden dem Römer, unerlässlich dem Germanen, bestand es schon damals, jenes ewig wiederkehrende deutsche Bedürfnis engster persönlicher Aneinander - kettung, vollen Aufgehens ineinander, gänzlichen Austausches aller Strebungen und Schicksale: das Bedürfnis der Treue. Die Treue war unseren Altvordern nie eine besondere Tugend, sie war der Lebens - odem alles Guten und Grossen: auf ihr beruhte der Lehensstaat des früheren, auf ihr das Genossenschaftswesen des späteren Mittelalters, und wer wollte sich die militärische Monarchie der Gegenwart denken ohne Treue? Man sang nicht bloss von der Treue, man lebte in ihr. Das Gefolge der Frankenkönige, die Hofgesellschaft der grossen Karlinge, die staatsmännische und kriegerische Umgebung unserer mittelalterlichen Kaiser, das Personal der Zentralverwaltungen unserer Fürsten seit dem 14. und 15. Jahrhundert sind nichts als Umformungen des alten germanischen Gedankens. Denn darin beruhte die wundersame Lebenskraft der Einrichtung, dass sie nicht in wandel - bare politische oder auch moralische Grundlagen ihre Wurzeln senkte, sondern in dem Urgrund wurzelte germanischen Wesens selbst, in dem Bedürfnis der Treue «. 2)Deutsche Geschichte, 2. Auflage, I, 136.

Lamprecht hat, glaube ich, an dieser Stelle, so wahr und schön auch Alles ist, was er sagt, den » Urgrund « doch nicht vollkommen aufgedeckt. Die Treue, wenngleich sie einen unterscheidenden Zug den Mestizenvölkern gegenüber bildet, ist nicht ohne weiteres ein spezifisch germanischer Zug. Treue findet man bei fast allen rein - gezüchteten Rassen, nirgends mehr z. B. als bei Negern, und ich frage es welcher Mensch vermöchte in der Bewährung der Treue Höheres zu leisten als der edle Hund? Nein, um jenen » Urgrund germanischen Wesens « aufzudecken, muss man zeigen, welcher Art507Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.diese germanische Treue ist, was aber nur gelingen kann, wenn man vorher die Freiheit als den intellektuellen Untergrund des gesamten Wesens erfasst hat. Denn das Kennzeichen dieser Treue ist ihre freie Selbstbestimmung; das ist es, was sie unterscheidet. Ein menschlicher Charakter gleicht dem Wesen Gottes wie es die Theologen darstellen: mannigfaltig und doch ununterscheidbar, untrennbar einheitlich. Diese Treue und jene Freiheit wachsen nicht eine aus der anderen, sondern sind zwei Erscheinungsformen desselben Charakters, welcher sich uns einmal mehr von der intellektuellen, das andere Mal mehr von der moralischen Seite zeigt. Der Neger und der Hund dienen ihrem Herrn, wer er auch sei: das ist die Moral des Schwachen, oder wie Aristoteles sagt, des von Natur zum Sklaven geborenen; der Germane wählt sich seinen Herrn, und seine Treue ist daher Treue gegen sich selbst: das ist die Moral des Freigeborenen. Doch hatte sie die Welt noch niemals in der Art erblickt wie beim Germanen. Die Untreue des übermässig begabten Verkünders der poetischen und politischen Freiheit, nämlich des Hellenen, war von jeher sprich - wörtlich; der Römer war nur treu in der Verteidigung des Seinen, deutsche Treue blieb ihm, wie Lamprecht sagt, » unverstanden «; näher scheint hier (wie überhaupt auf moralischem Gebiete) die Verwandt - schaft mit den Indoeraniern, doch fehlte diesen so auffällig der künstlerische Zug ins Abenteuerliche, das Leben frei Gestaltende, dass auch ihre Treue jene schöpferische, weltgeschichtliche Bedeutung nicht erlangte, welche germanische Sinnesart ihr verlieh. Hier wieder, wie vorhin bei der Betrachtung des Freiheitsgefühles, finden wir bei dem Germanen eine höhere Harmonie des Charakters; daher dürfen wir sagen, dass auf dem Erdenrund kein Mensch, auch die grössten nicht, ihn übertroffen hat. Eines ist sicher: will man die geschichtliche Grösse des Germanen erklären, indem man sie in ein einziges Wort zusammenfasst immer ein bedenkliches Unternehmen, da alles Lebendige Proteus-artig ist so muss man seine Treue nennen. Das ist der Mittelpunkt, von wo aus der gesamte Charakter, oder besser die gesamte Persönlichkeit sich überblicken lässt. Nur muss man wohl verstehen, dass diese Treue nicht der Urgrund ist, wie Lamprecht meint, nicht die Wurzel, sondern die Blüte, die Frucht, an welcher wir den Baum erkennen. Daher ist gerade diese Treue der feinste Prüfstein, um echtes germanisches Wesen von unechtem zu scheiden, denn nicht an den Wurzeln, sondern an den Früchten erkennt man die Arten; doch bedenke man, dass bei schlechter508Die Erben.Witterung mancher Baum keine Blüten oder nur verkümmerte treibt, was bei den hartbedrängten Germanen auch manchmal sich traf. Die Wurzel des besonderen Charakters ist ohne allen Zweifel jene allen Ariern gemeinsame und ihnen allein eigentümliche, bei den Griechen am üppigsten in die Erscheinung tretende, freischöpferische Anlage, über die ich mich in dem Anfang des Kapitels über Hellenische Kunst und Philosophie ausgelassen habe (siehe S. 53 fg); alles leitet sich daher: Kunst, Philosophie, Politik, Wissenschaft; auch die Blüte der Treue finden wir durch diesen besonderen Saft gefärbt. Den Stamm bildet dann die positive Kraft, die physische und die intellektuelle (die voneinander gar nicht zu scheiden sind); bei den Römern, denen wir die festen Grundlagen von Familie und Staat verdanken, war gerade dieser Stamm mächtig entwickelt. Doch die wahren Blüten eines derartigen Baumes sind die, welche Gemüt und Gesinnung zeitigen. Freiheit ist eine Expansivkraft, welche die Menschen aus - einander sprengt, germanische Treue ist das Band, welches freie Menschen durch ihre innere Gewalt fester aneinander anschliesst als das Schwert des Tyrannen; Freiheit bedeutet Durst nach unmittel - barer, selbst entdeckter Wahrheit, Treue, die Ehrfurcht vor dem, was den Ahnen wahr dünkte; Freiheit schafft sich eine eigene Bestimmung, Treue hält unerschütterlich an dieser Bestimmung fest. Treue gegen die Geliebte, Treue gegen Freund und Eltern und Vaterland finden wir vielerorten; doch hier, beim Germanen, ist etwas hinzugekommen, wodurch der blosse Instinkt zu einer unendlich tiefen Seelenkraft, zu einem Lebensprinzip wird. Shakespeare lässt den Vater seinem Sohne als höchsten Ratschlag für seinen Lebensweg, als diejenige Mahnung, welche alle anderen in sich beschliesst, die Worte mitgeben:

Dies Eine über Alles sei dir selber treu!

Das Prinzip der germanischen Treue ist, wie man sieht, nicht das Bedürfnis der Aneinanderkettung, wie Lamprecht meint, sondern im Gegenteil, das Bedürfnis der Beharrlichkeit innerhalb des eigenen, autonomen Kreises; sie bezeugt die Selbstbestimmung, in ihr bewährt sich die Freiheit, durch sie behauptet der Lehensmann, der Innungs - genosse, der Beamte, der Offizier seine persönliche Unabhängigkeit. Für den freien Mann heisst Dienen sich selber befehlen. » Erst die Germanen brachten der Welt die Idee der persönlichen Freiheit «, be - zeugt Goethe. Was bei den Indern Metaphysik war und insofern not - wendiger Weise verneinend, weltabgewandt, ist hier als ein Ideal des509Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.Gemütes ins Leben übertragen, es ist » der Lebensodem alles Guten und Grossen «, in der Nacht ein Stern, dem Ermatteten ein Sporn, dem vom Sturm Gejagten ein Rettungsanker. 1)Der indischen Empfindung jedoch durchaus analog, insofern auch hier das regulative Prinzip ins innerste Herz verlegt wird.Bei der Charakter - anlage des Germanen ist Treue die notwendige Vollendung der Per - sönlichkeit, ohne welche sie auseinanderfällt. Immanuel Kant hat eine kühne, echt germanische Definition der Persönlichkeit gegeben: sie ist, sagt er, » die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanis - mus der ganzen Natur «; und was sie leistet, hat er folgendermassen geschildert: » Was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann und die zugleich die ganze Sinnen - welt unter sich hat, ist die Persönlichkeit «. Ohne die Treue wäre diese Erhebung aber eine Tod bringende; dank ihr allein kann der Freiheitsdrang sich entwickeln und Segen bringen statt Fluch. Treue in diesem germanischen Sinne kann ohne Freiheit nicht entstehen, doch ist nicht abzusehen, wie ein unbegrenzter, schöpfe - rischer Drang nach Freiheit ohne Treue bestehen könnte. Sie be - zeugt die kindliche Angehörigkeit zur Natur und gestattet gerade dadurch dem Menschen, sich über die Natur zu erheben, ohne dass er, wie der hellenische Phaëton, zerschmettert zur Erde falle. Damm schreibt Goethe: » Treue wahrt uns die Person! « Die germanische Treue ist der Gürtel, welcher dem vergänglichen Einzelnen unver - gängliche Schönheit verleiht, sie ist die Sonne, ohne welche kein Wissen zur Weisheit reifen kann, der Zauber, durch den allein das leidenschaftliche Thun des Freien zur bleibenden That gesegnet.

Mit diesem Wenigen, höchst Vereinfachten halten wir, glaubeIdeal und Praxis. ich, schon das wesentlich Unterscheidende an der geistigen und moralischen Veranlagung der Germanen. Die weitere Ausführung würde leicht ein ganzes Buch füllen, doch wäre es nur eine Aus - führung. Will man den Germanen von seinen nächsten Anverwandten klar unterscheiden, so greife man in das tiefste Wesen hinein und stelle z. B. einen Kant als Morallehrer einem Aristoteles gegenüber. Für Kant ist » die Autonomie des Willens das oberste Prinzip der Sittlichkeit «; eine » moralische Persönlichkeit « besteht für ihn erst von dem Augenblick an, wo » eine Person keinen anderen Gesetzen als die sie sich selbst giebt, unterworfen ist. « Und nach welchen Prin -510Die Erben.zipien soll diese autonome Persönlichkeit sich selbst Gesetze geben? nach der Annahme eines unbeweisbaren » Reiches der Zwecke: freilich nur ein Ideal! « Ein Ideal also soll das Leben bestimmen! Und in einer Anmerkung zu dieser selben Schrift (Grundlegung zur Meta - physik der Sitten) stellt Kant in wenigen Worten diese neue, spezifisch germanische Weltauffassung der hellenischen entgegen: » Dort ist das Reich der Zwecke eine theoretische Idee, zur Erklärung dessen, was da ist; hier (bei uns Germanen) ist es eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen wirklich werden kann, zu Stande zu bringen «. Welche Kühnheit, ein moralisches Reich, welches nicht da ist, durch unseren Willen er - schaffen, » wirklich « werden lassen! Eine wie gefährliche Kühnheit, wäre nicht jenes Prinzip der Treue am Werk, das für Kant’s eigene geistige Physiognomie so überaus charakteristisch ist! Und man merke wohl diese Gegenüberstellung: hier (beim Germanen) Ideal und zugleich Praxis, dort (beim Hellenen) das nüchtern Reale und als Geselle die Theorie. Der grosse Kapitän der Mächte des Chaos spottete über die deutschen » Ideologen «, wie er sie nannte: ein Beweis von Unver - ständnis, denn es waren praktischere Menschen als er selber. Nicht das Ideal sitzt in den Wolken, sondern die Theorie. Das Ideal ist, wie Kant es hier zu verstehen giebt, eine praktische Idee zum Unterschied von einer theoretischen Idee. Und was wir hier, auf den Höhen der Metaphysik, in scharfen Umrissen erblicken, wir finden es überall wieder: der Germane ist der idealste, doch zugleich der praktischste Mensch der Welt, und zwar, weil hier nicht Gegensätze vorliegen, sondern im Gegenteil Identität. Dieser Mensch schreibt die Kritik der reinen Vernunft, erfindet aber im selben Augenblick die Eisenbahn; das Jahrhundert Bessemer’s und Edison’s ist zugleich das Jahrhundert Beethoven’s und Richard Wagner’s. Wer hier die Einheit des Im - pulses nicht empfindet, wem es rätselhaft dünkt, dass der Astronom Newton seine mathematischen Forschungen unterbrechen konnte, um einen Kommentar zur Offenbarung Johannis zu schreiben, dass Crompton seine Spinnmaschine lediglich deswegen erfand, um mehr Musse für die ihm einzig teuere Musik zu gewinnen, und dass Bismarck, der Staatsmann von Blut und Eisen, sich in den entscheidenden Augen - blicken seines Lebens Beethoven’s Sonaten vorspielen lassen musste, der versteht noch gar nichts vom Wesen des Germanen und kann auch folglich dessen Rolle in Vergangenheit und Gegenwart der Welt - geschichte nicht richtig beurteilen.

511Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.

Darauf kommt es nun hier an. Wir haben gesehen, wer derGermane und Antigermane. Germane ist;1)Das ganze neunte Kapitel, indem es die germanische Civilisation und Kultur in ihren Hauptlinien zu schildern unternimmt, bildet eine Ergänzung zu dem hier mit möglichst wenig Strichen Skizzierten. sehen wir jetzt, wie sein Eintritt in die Geschichte sich gestaltete.

Ich bin weder fähig noch gewillt, in diesem Buche eine Geschichte der Germanen zu geben; doch können wir unser 19. Jahrhundert, weder insofern es ein Ergebnis der vorangegangenen ist, noch in seiner eigenen riesigen Expansivkraft begreifen und schätzen, wenn wir nicht klare Vorstellungen besitzen, nicht allein über das Wesen des Germanen, sondern auch über den Konflikt, der seit anderthalb Jahrtausenden zwischen ihm und dem Nicht-Germanen herrscht. Das Heute ist das Kind des Gestern; was wir haben, ist zum Teil das Erbe des vorgermanischen Altertums, was wir sind, ist ganz das Werk jener Urgermanen, die man uns als » Barbaren « hinzustellen beliebt, als wäre die Barbarei eine Frage der relativen Civilisation und als bezeichne sie nicht einzig eine Verwilderung des Gemütes. Treffend leuchtete Montesquieu schon vor 150 Jahren in diese Begriffsver - wirrung hinein; nachdem er ausgeführt hat, wie alle Staaten, die das heutige Europa ausmachen (Amerika, Afrika, Australien kamen damals noch nicht in Betracht), das Werk der plötzlich aus unbekannten Wildnissen aufgetauchten germanischen Barbaren seien, fährt er fort: » Doch eigentlich waren diese Völker keine Barbaren, da sie frei waren; Barbaren sind sie erst später geworden, als sie, der absoluten Macht unterworfen, der Freiheit verlustig gingen «. 2)Lettres persanes, CXXXVI.In diesen Worten ist sowohl der Charakter der Germanen ausgesprochen, wie auch das Schicksal, gegen welches sie unablässig anzukämpfen haben sollten. Denn es ist nicht abzusehen, welche einheitliche, in sich abgeschlossene Kultur auf einem reingermanischen Boden hätte entstehen können; statt dessen trat aber der Germane in eine schon fertig gestaltete Welt - geschichte ein, in eine Weltgeschichte, mit der er bisher in keine Berührung gekommen war. Sobald der nackte Kampf ums Dasein ihm Musse dazu liess, erfasste er mit Leidenschaft die beiden konstruk - tiven Gedanken, welche die in völliger Auflösung begriffene » alte Welt « noch in ihren Todeskämpfen auszubilden bestrebt war: das Kaisertum und das Christentum. War das ein Glück? Wer dürfte512Die Erben.die Frage bejahen? Keinen grossen Gedanken des Altertums überkam er in reiner Gestalt, sondern alle übermittelt durch die sterilen, schalen, lichtscheuen, freiheitsfeindlichen Geister des Völkerchaos. Doch dem Germanen blieb keine Wahl. Um zu leben, musste er die fremden Sitten, die fremden Gedanken sich zunächst so aneignen, wie sie ihm dargeboten wurden; er musste in die Lehre gehen bei einer Civilisation, die in Wahrheit nicht wert war, ihm die Schuhriemen aufzulösen; gerade das, was ihm am nächsten verwandt gewesen wäre, hellenischer Schaffensdrang, römische Volksgesetzgebung, die erhaben einfache Lehre Christi, wurde seinem Auge gänzlich entzogen, um erst nach vielen Jahrhunderten durch seinen eigenen Fleiss ausgegraben zu werden. Seine bedenkliche Assimilationsfähigkeit kam ihm bei der Aneignung des Fremden sehr zu statten, auch jene » Blödigkeit «, die Luther lobt als » ein sicher Zeichen eines frommen, gottesfürchtigen Herzens «, die aber in ihrer übertriebenen Schätzung fremden Verdienstes zu mancher Bethörung führt. Deswegen bedarf es aber auch eines scharfen, kritischen Auges, um in Motiven und Gedanken jener alten Helden - geschlechter das echt Germanische von dem aus seinem natürlichen Stromwege Abgeleiteten, bisweilen auf ewig Abgeleiteten, zu scheiden. So ist z. B. die absolute religiöse Toleranz der Goten, als sie Herren jenes römischen Reiches geworden waren, wo lange schon das Prinzip der Intoleranz herrschte, eben so charakteristisch für germanische Ge - sinnung wie der Schutz, den sie den Denkmälern der Kunst ge - währten. 1)Siehe oben S. 315 und vergl. Gibbon: Roman Empire, chapter XXXIX, und Clarac: Manuel de l’histoire de l’art chez les Anciens jusqu’à la fin du 6me siècle de notre ère, II, 857 suiv. Die Mestizenvölker zerstörten die Denkmäler, teils aus religiösem Fanatismus, teils weil die Statuen den besten Baukalk abgaben und die Tempel vortreffliche Quadern. Wo sind die wahren Barbaren?Wir sehen hier gleich jene beiden Züge: Freiheit und Treue. Charakteristisch ist auch die Beharrlichkeit, mit welcher die Goten den Arianismus festhielten. Gewiss hat Dahn Recht, wenn er sagt, es sei Zufall, dass die Goten der Sekte der Arianer zugeführt wurden, nicht der der Athanasier; doch der Zufall hört dort auf, wo die Treue anfängt. Dank dem grossen Wulfila besassen die Goten die ganze Bibel in ihrer heimatlichen Sprache und Dahn’s Spott über die geringe Beanlagung dieser rauhen Männer für theologische Dispute ist wenig am Platze der Thatsache gegenüber, dass die Quelle ihres religiösen Glaubens ihnen aus diesem lebendigen Buche floss, was513Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.nicht jeder Christ des 19. Jahrhunderts von sich behaupten könnte. 1)Wie charakteristisch gerade das Bibelstudium für die Goten war, kann man bei Neander: Kirchengeschichte, 4. Auflage, III, 199 lesen. Neander citiert u. a. einen Brief, in welchem Hieronymus sein Erstaunen darüber ausspricht, wie » die barbarische Zunge der Gothen nach dem reinen Sinne der hebräischen Ur - schrift forsche «, während man im Süden » sich gar nicht darum kümmere «. Das war schon im Jahre 403!Und nun kommt das wirklich Entscheidende nicht der öde Streit über Homousie und Homöusie, den schon Kaiser Constantin für » müssig « erklärt hatte sondern das treue Festhalten an dem einmal Erwählten und die Betonung der germanischen Eigenart und des Rechtes der Selbstbestimmung dem Fremden gegenüber. Wenn die Germanen wirklich solche willenlose Barbaren gewesen wären, wie Dahn sie darstellt, eben so bereit, den Osiriskult anzunehmen wie irgend einen anderen Glauben, wie kommt es, dass sie im 4. Jahr - hundert alle (Langobarden, Goten, Vandalen, Burgunder u. s. w.) den Arianismus annahmen und, während er anderswo kaum fünfzig Jahre sich behauptete, ihm, allein unter allen Menschen, Jahrhunderte lang treu blieben? Theologisches erblicke ich beileibe nicht darin, noch lege ich den geringsten Wert auf jene Spitzfindigkeiten, die man aus Allem und Jedem herausklügeln kann, um eine vorgefasste These durchzuführen, sondern mein Augenmerk richte ich einzig auf die ganz grossen Charakterthatsachen und ich sehe hier wiederum: Treue und Unabhängigkeit. Ich sehe hier die Germanen die Lossagung von Rom tausend Jahre vor Wyclif instinktiv durchführen, zu einer Zeit, wo Rom als Kirche sich vom Kaiseramte noch gar nicht klar geschieden hatte, und vermag in einer solchen Erscheinung weder einen Zufall, noch eine » Nebensache «2)Dahn: 2. Auflage von Wietersheim’s Völkerwanderung, II, 60. zu erblicken. Wie wenig nebensächlich diese religiöse Erscheinung ist, geht aus Karl Müller’s Darstellung hervor (Kirchengeschichte, 1892, I. 263), wo wir in Bezug auf die arianischen Germanen lesen: » Jedes Reich hat seine eigene Kirche. Kirchliche Verbände im Stil der katholischen Kirche giebt es nicht. Die neuen Priester sind Bestandteile der Stammes - und Volks - organisation gewesen. Der Bildungsstand des Klerus ist natürlich ein ganz anderer, als der des katholischen: rein national germanisch, ohne Berührung mit der kirchlichen und profanen Kultur der alten Welt. Dagegen steht nach allen christlichen Zeugnissen Sitte und Sittlichkeit der arischen Germanen unermesslich höher als die derChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 33514Die Erben.katholischen Romanen. Es ist die sittliche Reinheit eines noch un - verdorbenen Volkes gegenüber einer durch und durch faulen Kultur. « Tolerant, evangelisch, sittlich rein: so waren die Germanen ehe sie dem Einfluss Roms unterlagen.

Eigentümlich ist es nun, wie später gerade Germanen sich um - garnen und zu Rittern der antigermanischen Mächte machen Hessen; ich fürchte, es ist dies ebenfalls ein echt germanischer Zug, denn alles Lebende trägt in sich den Keim zu seinem eigenen Verderben und Tod. Zwar dachte Karl der Grosse nicht im Traume daran, dem römischen Bischof zu dienen, im Gegenteil, auch dessen Gewalt wollte er der seinen dienstbar machen; er behandelt den Papst, wie ein Herr seinen Unterthanen,1)Dass der Papst auch thatsächlich der Unterthan des Kaisers war, steht juristisch und staatsrechtlich fest, so dass die leidenschaftlichen Dissertationen für und wider zwecklos sind. (Siehe Savigny: Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter, I. Kap. 5.) er wird von seinen Zeitgenossen ein » Reformator « der Kirche genannt und setzt sogar in dogmatischen Dingen, wie in der Verehrung der Bilder, die er als echter Germane unbedingt verwarf, seinen Willen gegen den Roms durch. Doch ver - hindert das Alles nicht, dass gerade er das Papsttum aufrichtete, indem er ihm Macht und Ansehen verlieh und indem er jene Konfusion zwischen deutschem Königtum und römischem Christentum sanktionierte, von der bisher keine Rede gewesen war und die von nun an wie ein Alp auf Deutschland lastete. Man denke sich doch die Entwickelung der Dinge, wenn auch die Franken Arianer geworden wären, oder wenn sie als Katholiken sich früh, etwa unter Karl dem Grossen, von Rom losgesagt und national organisierte Kirchen gegründet hätten wie die meisten Slaven! Als die Päpste sich an Karl’s Vorgänger, Karl Martell und Pipin flehentlich um Hilfe wandten, war die Stellung Roms als Weltmacht verloren; die resolute Zurückweisung seiner Prätentionen hätte sie für alle Zeiten vernichtet. Ja, wenn nur Karl’s Versuche geglückt wären, sich die Kaiserkrone nicht von den Römern, sondern von Byzanz aus verleihen zu lassen, so wäre die kirchliche Unabhängigkeit der Germanen nie ernstlich gefährdet worden. Karl’s gesamte Lebensthätigkeit bezeugt eine so eminent deutsch-nationale Gesinnung in allen ihren Bestrebungen, dass man, allem Schein und auch manchen entgegengesetzten Folgen zum Trotz, die Germanisierung als sein Ziel erkennen muss, und nicht allein als sein Ziel, sondern auch als sein Werk; denn er ist der Gründer Deutschlands, derjenige,515Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.welcher, wie schon der alte Widukind sagt, zuerst aus den Deutschen quasi una gens gemacht hat, und insofern ist er der wahre Urheber des heutigen nicht mehr » heiligen römischen «, sondern » heiligen deutschen « Reiches. Die römische Kirche dagegen war von Hause aus und notwendiger Weise die Schild - und Waffenträgerin aller anti - germanischen Bestrebungen; sie war es von Anfang an, musste es aber täglich mehr und offener werden, und war es daher nie deut - licher als am heutigen Tage. Und dennoch verdankt sie ihre Existenz den Germanen! Ich rede hier gar nicht von Glaubensdingen, sondern von dem Papsttum als idealer Weltmacht; gläubige Katholiken, die ich im Herzen verehre, haben dasselbe eingesehen und ausgesprochen. Um nur ein einziges Beispiel zu geben, welches sich ausserdem an vor Kurzem Gesagtes anschliesst: wir sahen, dass die religiöse Toleranz dem Germanen, als einem freiheitlich gesinnten Manne, und als einem Manne, dem die Religion ein inneres Erlebnis bedeutet, von Hause aus natürlich ist; vor der Besitzergreifung des römischen Reiches durch die Goten war die Verfolgung an der Tagesordnung gewesen, dann aber unterblieb sie lange Zeit, denn die Germanen machten ihr ein Ende. Erst als die Lehren und die Leidenschaften des Völkerchaos den Germanen seinem eignen Selbst entfremdet hatten, begann der Franke den Sachsen das Christentum mit dem Schwerte zu predigen. Aus dem De civitate Dei entnahm Karl seine Pflicht zur gewaltsamen Bekehrung,1)Hodgkin: Charles the Great, 1897, p. 107, 248. wozu er von dem Papst, der ihm den Titel Christianissimus Rex verlieh, unaufhörlich angetrieben wurde; und so wütete jener erste Dreissigjährige Krieg unter germanischen Brüdern, verheerend, zerstörend, unauslöschbaren Hass säend, nicht aus eigenem Antrieb, sondern dank dem Einfluss Roms, genau ebenso, wie neunhundert Jahre später der zweite Dreissigjährige Krieg, den in manchen Teilen Deutschlands nur ein Fünfzigstel der Einwohner überlebte jeden - falls eine praktische Art, die Germanen los zu werden, sie unter einander sich vertilgen zu lassen! Und inzwischen war die Lehre des Augustinus, des afrikanischen Mestizen, das Dogma der prinzipiellen Intoleranz und der Bestrafung der Häresie mit dem Tode in die Kirche eingedrungen und wurde, sobald das germanische Element genügend geschwächt, das antigermanische Element genügend gestärkt war, feierlich zum Gesetz erklärt und während einem halben Jahr - tausend, inmitten einer sonst auf allen Gebieten fortschreitenden33 *516Die Erben.Kultur, der Menschheit zur ewigen Schmach, ins Werk gesetzt. Wie urteilt nun einer der hervorragendsten Katholiken unseres Jahrhunderts über diesen merkwürdigen Vorgang, über diese Verwilderung von Menschen, die sich früher, als angebliche Barbaren, so human gezeigt hatten? » Es war «, sagt er, » ein Sieg, welchen das altrömische Kaiser - recht über den germanischen Geist errang. «1)Döllinger: Die Geschichte der religiösen Freiheit (in seinen akademischen Vorträgen, III, 278).

Wollen wir nun die notwendige Beschränkung des Begriffes » Germane « durchführen, d. h. das Germanische von dem Ungermani - schen scheiden, so müssen wir erst, wie ich es im Anfang dieses Kapitels versuchte, klare Vorstellungen über die zu Grunde liegenden Charakter - und Geisteseigenschaften des Germanen zu gewinnen suchen und sodann, wie jetzt eben an einem Beispiel angedeutet, dem Gange der Geschichte mit kritischem Blicke folgen. Derlei » Siege über den germanischen Geist « wurden nämlich viele gewonnen, manche nur mit vorübergehendem Erfolg, manche so gründlich, dass edle Völker auf ewig aus dem germanischen Verbande schwanden und einem progressiven Verfall anheimfielen. Denn dieser unter so verwickelten, widerspruchsvollen, durch und durch verrotteten Verhältnissen in die Weltgeschichte eingetretene Germane ist sich selber entfremdet worden. Alles wurde ja in Bewegung gesetzt, um ihn zu bethören: nicht allein die Leidenschaften, die Habgier, die Herrschsucht, alle die schlimmen Untugenden, die ihm mit Anderen gemeinsam sind, nein, auch sein besseres Teil wurde zu diesem Zweck geschickt bearbeitet: seine mystischen Regungen, sein Wissensdurst, seine Glaubenskraft, sein Schaffensdrang, seine hohen organisatorischen und gestaltenden Eigenschaften, sein edler Ehrgeiz, sein Bedürfnis nach Idealen Alles wurde gegen ihn selber ausgebeutet. Zwar nicht als ein Barbar, wohl aber als ein Kind war der Germane in die Weltgeschichte ein - getreten, als ein Kind, das alten erfahrenen Wüstlingen in die Hände fällt. Daher kommt es, dass wir das Ungermanische in dem Herzen der besten Germanen eingenistet finden, wo es, dank germanischem Ernst und germanischer Treue, oft festere Wurzel fasste als sonst an irgend einem Ort; daher aber auch die grosse Schwierigkeit, unsere Geschichte zu enträtseln. Montesquieu sagte uns z. B. vorhin, der Germane sei durch den Verlust seiner Freiheit später Barbar geworden: doch wer raubte sie ihm? Das Völkerchaos im Bunde mit ihm selber. 517Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.Dietrich von Bern hatte den Titel und die Krone des Imperators von sich gewiesen; er war zu stolz, um mehr sein zu wollen als König der Ostgoten; späteren Germanen dagegen schillerte der kaiser - liche Purpur vor den Augen wie ein zaubergewaltiger Talisman, so ganz waren sie von ungermanischen Vorstellungen geblendet. Denn inzwischen waren die Jurisconsulti des poströmischen Afterrechtes gekommen und hatten den germanischen Fürsten Wunderdinge über königliche Gerechtsame ins Ohr geflüstert; und die römische Kirche, welche die mächtigste Verbreiterin des justinianischen Rechtes war,1)Savigny: Geschichte des römischen Rechts, I, Kap. 3. lehrte, dieses Recht sei ein heiliges, gottgegebenes;2)» Das Mittelalter stellte das römische Recht als geoffenbarte Vernunft in Dingen des Rechts (ratio scripta) dem Christentum als geoffenbarte Religion zur Seite « (Jhering: Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 302). nun trat der Papst hinzu und erklärte sich für den einzigen Herrn aller Kronen, er allein, als Vertreter Christi auf Erden, könne sie verleihen und abnehmen,3)Phillips: Lehrbuch des Kirchenrechtes, 1881 (!), § 102 u. s. w. und dem servus servorum sei der Kaiser als blosser rex regum unter - geordnet. Wenn aber der Papst die Kronen schenkte oder bestätigte, so war jeder König fortan König von Gottes Gnaden, und wenn der Rechtsgelehrte darthat, dem Träger der Krone sei von Rechtswegen das ganze Land zu eigen, sowie unbeschränkte Allmacht über seine Unterthanen, so war die Verwandlung fertig und an Stelle eines Volkes von freien Männern stand nun ein Volk von Knechten. Das nennt Montesquieu, und nicht mit Unrecht, Barbarei. Die germanischen Fürsten, die nicht allein aus Herrsch - und Habsucht, sondern auch in Folge der Verwirrung aller Begriffe auf diesen Pakt eingegangen waren, hatten sich unbewusst den feindlichen Mächten verdungen; nunmehr waren sie Stützen der antigermanischen Bestrebungen. Wieder war ein Sieg über den germanischen Geist errungen!

Weitere Beispiele davon, wie der Germane sich selber nach und nach entfremdet wurde, überlasse ich dem Sinnen des Lesers. Hatte er erst die Freiheit zu handeln und die Freiheit zu glauben ver - loren, so war die Grundlage seines besonderen, unvergleichlichen Wesens in einer Weise unterminiert, dass nur die heftigste Empörung ihn vor gänzlichem Untergang retten konnte. Wie frei und kühn war nicht das religiöse Denken der ersten nordischen Scholastiker gewesen, voll Persönlichkeit und Leben; wie geknechtet und geknebelt erscheint es nach Thomas von Aquin, der bis auf den heutigen Tag518Die Erben.allen katholischen Schulen als Gesetz gilt! 1)Dass Thomas von Aquin durch seine Mutter vom staufischen Hause abstammte und frühzeitig deutsches Wissen und Denken auf sich einwirken liess (Albertus Magnus), darf freilich auch nicht vergessen werden. Wo hätte das Chaos etwas Grosses ausgerichtet und Aquin’s geistige Leistung ist eine bewunderns - wert grosse, starke ohne die Hilfe von Germanen?Wie rührend ist es, die rauhen Goten im Besitze ihrer gotischen Bibel zu wissen, den Worten Christi mit staunendem Halbverständnis lauschend, als erklängen sie aus irgend einem uralten fast vergessenen Märchen, oder als dränge eine noch ferne Stimme an ihr Ohr, sie zu einer schönen, unvor - stellbaren Zukunft heranrufend, dann im einfach gezimmerten Gottes - hause oder im Kirchenzelt2)Siehe Hieronymus: Epist. ad Laetam. auf die Knie sinkend und wie die Kinder um das Allernächstliegende betend! Doch jetzt war das alles ent - schwunden: die Bibel sollte einzig und allein in der lateinischen Vulgata also nur von Gelehrten gelesen werden und war selbst Priestern und Mönchen bald so wenig bekannt, dass schon Karl der Grosse die Bischöfe ermahnen musste, sich ernstlicher mit der Erforschung der heiligen Schrift abzugeben;3)Döllinger: Das Kaisertum Karl’s des Grossen, in Akad. Vortr., III, 102. der heilige Gottes - dienst durfte fortan nur in einer Sprache gehalten werden, die kein Laie verstand. 4)Interessant ist es, in dieser Verbindung darauf aufmerksam zu machen, dass Papst Leo XIII. durch die Konstitution Officiorum numerum vom 25. Januar 1897 die Bestimmungen des Index verbotener Bücher » nicht unerheblich verschärft hat « (so sagt der orthodox-römische Kommentator Professor Hollweck: Das kirchliche Bücherverbot, 2. Auflage, 1897, S. 15). Der alte freiheitliche germanische Geist hatte sich nämlich auch unter den gläubigen Katholiken in Frankreich und Deutsch - land in unserem Jahrhundert zu regen begonnen; kirchliche Lehrer behaupteten, der Index gelte für diese Länder nicht, Bischöfe verlangten weitgehende Änderungen in freiheitlichem Sinne, Laien (Koblenz 1869) vereinigten sich zu Adressen, in denen sie die völlige Abschaffung des Index forderten (siehe a. a. O., S. 13, 14); da antwortete Rom mit einer Verschärfung des Bücherverbotes, über welche jeder Laie in der genannten bischöflich approbierten Schrift sich informieren kann. Nach diesem Gesetze ist dem gläubigen römischen Katholiken so ziemlich die gesamte Weltlitteratur verboten, und selbst solche Autoren wie Dante dürfte er nur in stark expungierten, » bischöflich approbierten « Ausgaben lesen. Besonders bemerkenswert ist aber, dass das Lesen der Bibel in der Volkssprache nach einer getreuen, voll - ständigen Ausgabe, auch wenn diese von Katholiken besorgt wird, » bei schwerer Sünde « verboten ist! Nur die besonders redigierten und mit Anmerkungen versehenen, vom heiligen Stuhl » approbierten « Ausgaben dürfen gelesen werden (a. a. O., S. 29). Übrigens kann diese Sorge nur für schon wankende Gemüter gelten, denn es wird im Religionsunterricht u. s. w. so eindringlich vor derWie leuchtend klar tritt schon zu Beginn des 13. Jahr -519Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.hunderts die Idee reiner Wissenschaft durch Roger Bacon zu Tage Naturbeobachtung, wissenschaftlich zu betreibende Philologie, Mathe - matik! Doch seine Werke werden von Rom verdammt und zerstört, er selber im besten Mannesalter in ein Kloster interniert, jede ernste Erforschung der Natur jahrhundertelang hintangehalten und dann Schritt für Schritt bekämpft. Dass solche Leuchten der Wissenschaft wie Copernicus und Galilei gute Katholiken waren, solche Vorboten neuer kosmologisch-philosophischer Vorstellungen wie Krebs (Nicolaus von Cusa), Bruno, Campanella und Gassendi gar Kardinäle, Mönche und Priester, beweist nur, dass es sich bei allen diesen Erscheinungen nicht um religiöse Glaubensdifferenzen handelt, sondern um den Kampf zwischen zwei Weltanschauungen, oder noch besser zwischen zwei menschlichen Naturen, der germanischen und der antigermanischen, was auch seinen deutlichen Ausdruck darin fand, dass die meisten dieser Männer verfolgt oder zum mindesten ihre Schriften verboten wurden. 1)Höchst bemerkenswert ist es, dass solche bahnbrechende, freisinnige Philosophen wie Bruno und Campanella aus dem äussersten Süden Italiens stammen, wo selbst noch heute, nach den anthropologischen Feststellungen, der indogermanische, ausgesprochene Dolichocephal-Typus auf der Halbinsel verhältnis - mässig am stärksten vertreten ist (siehe Ranke: Der Mensch, II, 299).Kardinal Nicolaus Cusanus, der Vertraute der Päpste, der das Glück hatte, vor der durch das tridentinische Konzil eingeleiteten retrograden Bewegung zu leben, bewährte sein echt germanisches Wesen dadurch, dass er als erster die Fälschung der Isidor’schen Dekretalien, der angeblichen Konstantin’schen Schenkung u. s. w. nachwies, und dass er als thätiger Reformator der Kirche zwar erfolglos doch unermüdet das erstrebte, was später auf anderem Wege erzwungen4)Lektüre der heiligen Schrift gewarnt, dass ich 20 Jahre in katholischen Ländern gelebt habe, ohne einen einzigen katholischen Laien anzutreffen, der jemals die vollständige Bibel auch nur in der Hand gehalten hätte; sonst findet der Index librorum prohibitorum wenig oder keine Geltung im praktischen Leben, als einziges wirklich gefährliches Buch für Rom wird eben mit unfehlbarem Blick jenes eine Buch betrachtet, aus welchem die schlichte Gestalt Christi uns entgegentritt. Vor dem tridentinischen Konzil, d. h. also zu der Zeit, wo der spätere » Protestant « noch nicht sichtbar vom späteren » Katholiken « sich losgetrennt hatte, stand es freilich in Deutschland anders; durch jenen Vorläufer der Reformation, die » deutsche Kunst « der Buchdruckerei, war in kurzer Zeit (und trotz des damals schon bestehenden ausdrücklichen kirchlichen Verbots) » die Bibel nach recht gemeinem Deutsch « das verbreitetste Buch im ganzen Land geworden. (Janssen: Geschichte des deutschen Volkes, I, 20.) Diesem Zustand machte aber das Tridentiner Konzil in seiner vierten Sitzung durch das Decretum de editione et usu sacrorum librorum ein für allemal ein Ende.520Die Erben.werden musste. Der Mann, welcher Fälschungen aufdeckt, kann unmöglich mit denen, welche die Fälschungen begehen, moralisch identisch sein. Und so dürfen wir denn ebensowenig nach Konfessionen wie nach Nationen trennen, um das echt Germanische vom Anti - germanischen zu scheiden. Nicht allein, dass man vor dem Tridentiner Konzil zwischen römischen Christen und anderen füglich nicht unter - scheiden kann, da ja manche grosse Kirchenlehrer, wie Origenes, und viele » katholische « Doktoren in Anschauungen und Lehren, die von da an als häretisch galten, bedeutend weiter gegangen waren als ein Luther oder gar ein Hus, sondern auch später, und bis auf den heutigen Tag, sehen wir hervorragend germanische Geister, aus tiefer Überzeugung, aus treuer Anhänglichkeit an die gewaltige Idee einer universellen Kirche, im Gehorsam gegen Rom verbleiben und denn - noch sich als echteste Germanen bewähren; während andrerseits jener Mann, in welchem die Empörung gegen die antigermanischen Mächte ihren gewaltigsten Ausdruck fand, Martin Luther, sich trotzdem auf Augustinus beruft, um die Fürsten zur Unduldsamkeit anzuhalten, und Calvin den grossen Arzt, Michel Servet, wegen seiner dogmatischen An - sichten verbrennt und dafür die Billigung des humanen Melanchthon erhält. Wir dürfen also nicht einmal einzelne Menschen ohne weiteres als Muster des Germanen hinstellen; sondern sobald sie dem nicht - germanischen Einfluss in Erziehung, Umgebung u. s. w. unterworfen gewesen sind und wer war das nicht während mindestens einem Jahrtausend? müssen wir sorgfältig unterscheiden lernen, zwischen dem, was aus der echten, reinen, eigenen Natur, sei es im Guten oder im Bösen, als lebendiger Bestandteil der Persönlichkeit hervor - wächst und dem, was dieser Persönlichkeit nur gewaltsam aufgepfropft oder gewaltsam amputiert wurde.

In einem gewissen Sinne kann man, wie man sieht, die geistige und moralische Geschichte Europas von dem Augenblick des Eintrittes der Germanen an bis auf den heutigen Tag, als einen Kampf zwischen Germanen und Nicht-Germanen, zwischen germanischer Gesinnung und antigermanischer Sinnesart betrachten, einen Kampf, der teils äusserlich, Weltanschauung gegen Weltanschauung, teils innerlich, im Busen des Germanen selbst, ausgefochten wird. Doch hiermit deute ich bereits auf den folgenden Abschnitt hin. Das in diesem Gesagte will ich zum Schluss zusammenfassen, indem ich auf den vollendetsten Typus des Antigermanen hinweise; es ist dies, glaube ich, die wertvollste Ergänzung zum positiven Bilde.

521Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.

Der Kampf gegen das Germanische hat sich in einem der ausserIgnatius von Loyola. ordentlichsten Männer der Geschichte gewissermassen verkörpert; hier wie anderwärts hat eine einzige grosse Persönlichkeit durch ihr Beispiel und durch die Summe von Lebenskraft, die sie in die Welt setzte, mehr vermocht als alle vielköpfigen Konzilien und alle feierlichen Be - schlüsse grosser Körperschaften. Und es ist gut, seinen Feind vor sich in einer Gestalt zu sehen, welche Achtung verdient, sonst kann Hass oder Geringschätzung das Urteil leicht trüben. Ich wüsste nicht, wer berechtigt wäre, Ignatius von Loyola aufrichtige Anerkennung zu ver - sagen. Er erträgt physische Schmerzen wie ein Held,1)Sein in einer Schlacht zerschmettertes Bein liess er zweimal nach voll - endeter Heilung wieder gewaltsam brechen, weil es kürzer als das andere geworden war und ihn somit zum Kriegsdienst untauglich machte. ist moralisch ebenso furchtlos, sein Wille ist eisern, sein Thun zielbewusst, sein Denken durch keine Gelehrsamkeit und Künstelei verdorben; er ist ein scharfsinniger, praktischer Mann, der nie über Kleinigkeiten stolpert und dennoch seiner Wirksamkeit gerade dadurch eine ferne Zukunft sichert, dass er stets die Bedürfnisse des Augenblicks als Grundlage seines Wirkens ergreift und ausnutzt; dazu selbstlos, ein Feind aller Phrasen, nicht eine Spur Komödiant; ein Soldat und ein Edelmann, der das Priestertum zu seinen Zwecken eher gebraucht, als ihm seinem Wesen nach jemals angehört. Dieser Mann nun war ein Baske; nicht allein war er in dem rein baskischen Teile Spaniens geboren, sondern seine Biographen versichern, er sei aus echtem, unvermischtem baskischen Stamme, d. h. also, er gehörte einer Menschenrasse an, die nicht allein ungermanisch ist, sondern in keinerlei Verwandtschaft zu der gesamten indoeuropäischen Gruppe steht. 2)Siehe Bastian: Das Beständige in den Menschenrassen, S. 110; Peschel: Völkerkunde, 7. Aufl., S. 539.In Spanien bildeten seit der keltischen Einwanderung die gemischten Keltiberer einen Grundteil der Bevölkerung, doch in gewissen nörd - lichen Teilen blieben bis auf den heutigen Tag die iberischen Basken unvermischt, und ein solches » echtes Kind des rätselhaften, ver - schlossenen, thatkräftigen und phantastischen Baskenstammes « soll Ignatius, eigentlich Iñigo, sein. 3)Gothein: Ignatius von Loyola und die Gegenreformation, 1895, S. 209.Es ist, nebenbei gesagt (als Illustration für die unvergleichliche Bedeutung von Rasse), höchst bemerkenswert, dass der Mann, dem die Erhaltung des spezifisch-römischen, anti - germanischen Einflusses auf Jahrhunderte hinaus zum grössten Teil522Die Erben.zugeschrieben werden muss, nicht selber ein Kind des Chaos war, sondern ein Mann von echtem, reinem Stamm. Daher die Einfachheit und Kraft, die uns so wunderbar anmuten, wenn wir inmitten des römischen Babels des 16. Jahrhunderts, wo beim Erlebnis der Wieder - geburt germanischen Selbstbewusstseins (die wahre Renaissance!) alle Stimmen erschrocken und ratlos durcheinander kreischen, diesen einen Mann erblicken, der abseits, geräuschlos, völlig unbekümmert um das, was Andere beschliessen und erstreben (ausser insofern es seine Pläne berührt), seinen eigenen Weg geht und ohne Hast, mit voller Be - herrschung seiner angeborenen Leidenschaftlichkeit, den Kriegsplan entwirft, die Taktik festsetzt, die Truppen eindrillt zu dem durch - dachtesten und daher gefährlichsten Ansturm, der je auf germanisches Wesen oder vielmehr auf arisches Wesen überhaupt unternommen wurde. Wer es für einen Zufall hält, dass diese Persönlichkeit ein Baske war, wer es für einen Zufall hält, dass dieser Baske, obwohl er bald fähige und ihm ganz ergebene Mitarbeiter von verschiedenen Nationali - täten gefunden hatte, auf der Höhe seines Wirkens nur mit einem einzigen Manne intim, fast unzertrennlich lebte, mit ihm allein berat - schlagte, durch ihn allein seinen Willen kundgab, und dass dieser Eine ein rassenechter, erst spät zum Christentum übergetretener Jude war (Polanco) wer, sage ich, an derlei Erscheinungen achtlos vorübergeht, hat kein Gefühl für die Majestät der Thatsachen. 1)Es verdient noch bemerkt zu werden, dass die zwei ersten Männer, welche sich dem Ignatius anschlossen und somit seinen Orden mitbegründeten, ebenfalls nicht Indoeuropäer waren: Franz Xavier war, wie Ignatius, ein echter Baske, Faber ein echter, krass abergläubischer Savoyard (siehe S. 359, Anm. 2).Gewinnt man zu dem innersten Geistesleben dieses merkwürdigen Mannes Zutritt, was durch seine Exercitia spiritualia (ein Grundlehrbuch der Jesuiten noch heute) leicht gelingt, so hat man den Eindruck, als träte man in eine voll - kommen fremde Welt ein. Zuerst fühlte ich mich in einer christlich ausstaffierten mohammedanischen Atmosphäre:2)Seitdem Obiges geschrieben wurde, ist ein Buch erschienen von Hermann Müller: Les origines de la compagnie de Jesus, in welchem nachgewiesen wird, Ignatius habe die Organisation der mohammedanischen Geheimbünde sehr genau studiert und folge auch in seinen Exercitien vielfach mohammedanischen Auf - fassungen. Wahrlich, dieser Mann ist der personifizierte Antigermane! der krasse Materialis - mus aller Vorstellungen dass man z. B. den Gestank der Hölle riechen, ihre Flammenglut fühlen solle, der Gedanke, dass Sünden Vergehen gegen ein » paragraphoses « Gesetz sind, so dass man darüber Buch führen kann und soll nach einem bestimmt angegebenen Schema,523Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.und anderes dergleichen gemahnen an semitische Religionen; doch thäte man letzteren sehr Unrecht, wollte man sie mit dem kaum übertünchten Fetischismus des Loyola identifizieren. Das Grundprinzip der Religion des Ignatius ist die Bekämpfung jeglicher Symbolik. Man hat ihn einen Mystiker genannt und mystische Einflüsse auf sein Denken nachzuweisen gesucht, doch ist dieser Kopf gänzlich unfähig, den Begriff der Mystik im indoeuropäischen Sinne auch nur zu fasssen; denn alle Mystik, von Yâjñavalkya bis Jakob Böhme, bedeutet den Versuch, die Schlacken der Empirie abzuwerfen, um unmittelbar in einer transcendenten, empirisch unvorstellbaren Urwahrheit aufzugehen,1)Siehe Kap. 9, Abschnitt » Weltanschauung «. während Loyola’s ganzes Bestreben im genauen Gegensatz zum Mysti - cismus darauf hinausgeht, alle Mysterien der Religion als konkrete, sinn - liche Thatsachen hinzustellen: wir sollen sie sehen, hören, schmecken, riechen, betasten! Seine Exercitia bedeuten nicht eine Anleitung zu mystischer Betrachtung, sondern vielmehr die systematische Aus - bildung der in uns allen vorhandenen hysterischen Anlagen. Das rein sinnliche Element der Phantasie wird auf Kosten der Vernunft, auf Kosten der Urteilskraft grossgezogen und bis zur äussersten Leistungs - fähigkeit getrieben; auf diese Weise siegt die animalische Natur über die intellektuelle, und nunmehr ist der Wille nicht gebrochen, wie man allgemein behauptet, wohl aber in Ketten geschlagen. Im normalen Menschen bildet die Erkenntnis das Gegengewicht zum Willen; Loyola’s Angriff richtet sich darum zunächst auf die Er - kenntnis als auf die Quelle der Freiheit und des Schaffensdranges; in einer seiner letzten Kundgebungen spricht er es knapp aus: er be - zeichnet » den Verzicht auf den eigenen Willen und die Verleugnung des eigenen Urteils « als » die Quelle der Tugenden. « 2)Siehe das letzte Schreiben an die Portugiesen, analysiert und citiert bei Gothein: a. a. O., S. 450.Auch in den Exercitien heisst die erste Regel der Orthodoxie: » die Vernichtung jedes eigenen Urteils « (siehe die Regulae ad sentiendum vere cum ecclesia, reg. 1). Hierdurch wird nun der Wille nicht gebrochen, im Gegenteil, nur von dem Gehorsam gegen seinen natürlichen Herrn, das Individuum, losgebunden; was ihn aber jetzt meistert, ist die Zuchtrute der Exercitia. Durch diese wird, genau so wie bei den Fakiren, nur in weit überlegterer und darum erfolgreicherer Weise, ein pathologischer Zustand der gesamten Individualität erzeugt (und durch jährliche und bei widerstandsfähigen Personen noch häufigere524Die Erben.Wiederholungen wird er immer von Neuem gestärkt), der genau so wirkt wie jede andere Hysterie. Die neuere Medizin fasst diese psycho - pathologischen Zustände unter der Bezeichnung » Zwangsneurose « zu - sammen und weiss recht wohl, dass der Erkrankte nicht seinen Willen, wohl aber (innerhalb des Kreises der Zwangsvorstellungen) die freie Verfügung über seinen Willen gänzlich verliert! Natürlich kann ich hier nicht näher auf diesen höchst verwickelten Gegenstand ein - gehen, der gerade in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts durch die Experimente Charcot’s und Anderer, sowie durch die wissen - schaftliche Psychologie teilweise aufgehellt wurde, so weit wenigstens aufgehellt, dass man das Problem jetzt klar erfasst und die entsetzliche Macht der Physis über die Psyche deutlich erkennt;1)Zu den interessantesten Zusammenfassungen aus letzterer Zeit gehören die Aufsätze des Dr. Siegmund Freud: Über die Ätiologie der Hysterie und Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen, in den Jahrgängen 1896 und 1898 der Wiener klinischen Rundschau. Nach meiner Überzeugung bedeutet jeder starke Anreiz der äusseren Sinnenthätigkeit aus rein innerer Erregung, auch wo er nicht in sexueller Gestalt auftritt, eine Exacerbation des Sinnenlebens, dessen Sitz im Gehirn ist, und bedingt eine entsprechende Lähmung. es genügt, wenn ich die Vernichtung der physischen Grundlage der Freiheit als Loyola’s erstes Ziel nachgewiesen habe. Dieser direkte Angriff auf den Leib des Menschen, nicht etwa, um den Leib dem Geist zu unter - werfen, sondern im Gegenteil, um durch Vermittlung des Leibes den Geist zu ergreifen und zu bemeistern, zeigt eine Gesinnung, die Allem, was wir Indoeuropäer jemals Religion genannt haben, widerspricht. Denn mit Askese hat Loyola’s System nichts gemein; im Gegenteil, er perhorresciert die Askese und verbietet sie, und zwar von seinem Standpunkte aus mit Recht: denn die Askese steigert die intellektuellen Fähigkeiten und gipfelt, wenn mit eiserner Konsequenz durchgeführt, in der vollen Bewältigung der Sinne; diese mögen dann immerhin weiter, gleichsam als Material für die Phantasie, der mystischen Andacht einer heiligen Theresa oder der mystischen Metaphysik eines Chândogya dienen, fortan sind es dem Willen dienstbar gemachte, durch die Gewalt des Gemütes gehobene und geläuterte Sinne, was der indische Religions - lehrer auszudrücken sucht, indem er schreibt: » der Wissende ist schon bei Lebzeiten körperlos «. 2)Çankara: Die Sûtra’s des Vedânta, I, 1, 4.Wogegen, wie gesagt, Loyola’s Methode geradezu eine Gymnastik der Sinnlichkeit vorschreibt, durch welche, wie er es selber als Ziel bezeichnet, der Wille und das Urteil geknechtet525Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.werden. Während wahre Askese nur wenigen Auserwählten möglich ist, da hier der moralische Entschluss offenbar zu Grunde liegen und fortwährend die Zügel führen muss, wird für diese sogenannten » geist - lichen Übungen « Loyola’s, die nie mehr als vier Wochen dauern dürfen (ausserdem aber nach der Anlage eines jeden Einzelnen vom Lehrer gekürzt und eingerichtet werden sollen) fast jeder Mensch, namentlich in jüngeren Jahren, ein eindrucksfähiges Subjekt abgeben. Die Suggestionskraft einer solchen krass mechanischen, mit unendlicher Kunst auf das Aufwühlen des ganzen Menschen angelegten Methode ist so gross, dass Niemand sich ihr ganz zu entziehen vermag. Auch ich fühle meine Sinne erzittern, wenn ich in diese Exercitien mich versenke; doch ist es nicht das anatomisch herausgeschnittene Herz Jesu, das ich erblicke (als ob der » Herz « genannte Muskelapparat mit göttlicher Liebe etwas gemeinsam hätte!), sondern ich sehe den Ursus spelaeus beutegierig lauern; und wenn Loyola von der Furcht vor Gott spricht und lehrt, nicht die » kindliche Furcht « dürfe uns genügen, sondern wir müssten erzittern » in jener anderen Furcht, genannt timor servilis «, d. h. in der schlotternden Angst hilfloser Sklaven,1)Regulae ad sentiendum cum ecclesia, Nr. 18. Höchst bemerkenswert in Bezug auf diese Grundlehre des Ignatius (und alles Jesuitismus), ist die Thatsache, dass der Kirchenvater Augustinus gerade die timor servilis für einen Beweis dafür hält, dass ein Mensch Gott nicht kenne! Von solchen Leuten sagt er: » sie fürchten Gott mit jener knechtischen Furcht, welche die Abwesenheit von Liebe beweist, denn vollkommene Liebe kennt keine Furcht «, quoniam timent quidem Deum, sed illo timore servili, qui non est in charitate, quia perfecta charitas foras mittit timorem (De civitate Dei XXI, 24). Was jedem Germanen in dieser Beziehung heiliges Gesetz sein sollte, hat Goethe in den Wanderjahren (Buch II, Kap. 1) klar aus - gesprochen: » Keine Religion, die sich auf Furcht gründet, wird unter uns geachtet «. da höre ich auch jenen gewaltigen Höhlenbären brüllen und fühle es nach, wie die armen, nackten, wehrlosen Menschen der Diluvialzeit, Tag und Nacht von Ge - fahr umgeben, bei dieser Stimme erzitterten. Die gesamte geistige Ver - fassung dieses Basken deutet auf ferne Jahrtausende zurück; von der geistigen Kulturarbeit der Menschheit hat er sich einiges Äusserliche als Material angeeignet, doch das innere Wachsen und Erstarken, jene grosse Emanzipation des Menschen von der Furcht, jenes allmähliche Abstreifen der Sinnestyrannei (die früher eine Existenzbedingung war und jede andere Anlage in ihrer Entwickelung hintanhielt), jener » Ein - tritt des Menschen in das Tageslicht des Lebens « mit dem Erwachen seiner freischöpferischen Kraft, jene Richtung auf Ideale, die man nicht erst riecht und schmeckt, um an sie zu glauben, sondern die man526Die Erben.» wirklich werden lässt «, weil der Mensch, zum moralischen Wesen ausgewachsen, es so will, jene göttliche Lehre, dass das Himmelreich nicht mit äusserlichen Geberden kommt, sondern inwendig in uns liegt wie ein verborgener Schatz1)Siehe S. 199, 200. alles das ist an diesem Manne spurlos vorübergegangen; abseits von jenen rastlos eilenden Gewässern, die zu dem grossen Strom des Ariertums zusammenfliessen, haben seine Vorfahren seit undenklichen Zeiten gelebt, stolz auf ihre Eigenart, organisch unfähig von jener anderen Art innerlich irgend etwas zu erfahren. Und man glaube nicht, dass Ignatius in dieser Beziehung eine vereinzelte Erscheinung sei! Europa zählt Hunderttausende von Menschen, die unsere indoeuropäischen Sprachen reden, unsere Kleider tragen, an unserem Leben sich beteiligen, sehr tüchtige Leute sind, doch von uns Germanen ebenso geschieden, als bewohnten sie ein anderes Gestirn; hier handelt es sich nicht um eine Kluft, wie die, welche uns in so vielen Beziehungen vom Juden scheidet, über die aber mancher Steg hinüber und herüber führt, sondern um eine Mauer, welche, unübersteigbar, ein Land vom anderen trennt. Die ausnehmende Bedeutung Loyola’s liegt in seiner hervorragenden Charaktergrösse; in einem solchen Manne erblicken wir darum das Ungermanische und das notwendiger Weise Antigermanische klar und gross, d. h. in bedeutender Gestalt, während es sonst, sei es durch scheinbare Geringfügigkeit, sei es durch die Unbestimmtheit eines Mestizenwesens leicht übersehen oder, wenn das nicht, doch schwer analysiert wird. Ich sagte » Charakter - grösse «, denn in der That, andere Grösse ist hier ausgeschlossen: wir bemerken bei Loyola weder philosophische noch künstlerische Gedanken und ebensowenig eigentliche Erfindungskraft; selbst seine Exercitia sind in ihrer Anlage früheren Klosterübungen entlehnt2)Siehe auch das oben Nachgetragene über den mohammedanischen Ein - fluss auf die Abfassung der Exercitia. und von ihm lediglich » materialisiert « worden, und sein grosses Grundprinzip des widerspruchslosen Gehorsams ist die von einem alten Soldaten durch - geführte, gedankenlos rohe Übertragung einer militärischen Nottugend auf geistiges Gebiet. Aus seiner organisatorischen und agitatorischen Thätigkeit spricht feinste Schlauheit und genaue Kenntnis mittlerer Menschencharaktere (sehr bedeutende oder originelle Leute schloss er prinzipiell aus dem Orden aus!), doch nirgends Tiefe. Um Missver - ständnisse und Missdeutungen abzuwenden, muss ich hinzufügen, dass ich nicht daran denke, ihm als Absicht das zuzuschreiben, was als527Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.Erfolg seines Thuns sich ergeben hat. Loyola hat nicht einmal seinen Orden mit dem Zweck, die Reformation zu bekämpfen, ins Leben gerufen so versichern wenigstens die Jesuiten , viel weniger wird er irgend eine bestimmte Vorstellung mit dem Wort Germanen ver - knüpft und den Krieg dagegen als Lebensziel gefasst haben. Man könnte fast ebenso gut behaupten, jene von den vordringenden Indo - europäern immer weiter verjagte, vertriebene, verfolgte fremde Rasse der Basken habe sich durch ihn an dem Sieger rächen wollen. Doch gerade in diesem Buche, wo uns nicht Chronik, sondern die Auffindung grundlegender Geschichtsthatsachen beschäftigt, wäre zu betonen, wie viel Wahrheit hinter solchen chronistisch unhaltbaren Aussagen sich birgt. Denn nicht in dem, was er hat thun wollen, sondern in dem, was er hat thun müssen, liegt die Grösse jedes ausserordentlichen Mannes. Pater Bernhard Duhr mag uns in erregtestem Tone ver - sichern,1)Siehe Jesuitenfabeln, 2. Auflage, S. 1 bis 11. die Begründung des Jesuitenordens habe mit der Bekämpfung des Protestantismus nichts zu thun, seine Thätigkeit gipfelte nichts - destoweniger von Anfang an so sichtbar und so erfolgreich in der Verfolgung dieses einen Zieles, dass schon die frühesten Biographen Loyola’s ihm den Ehrentitel » Antiluther « verliehen. Und wer Anti - luther sagt, sagt Antigermane gleichviel ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Was aber die Rassenrache anbelangt, so beschäftigt die Thatsache des Wiederauflebens und der Vermehrung jener fast, doch niemals ganz ausgerotteten, in die Berge zurückgedrängten, physisch kräftigen, doch geistig untergeordneten, ungermanischen Rassen immer mehr die Aufmerksamkeit, nicht der Schwärmer, sondern der ernstesten Naturforscher.

Mit Ignatius von Loyola stelle ich also vor den Leser den Typus des Antigermanen hin und glaube damit jener Definition des Germanen, jener notwendigen Beschränkung des im ersten Teil dieses Kapitels möglichst weit gefassten Begriffes gedient zu haben. Denn ich kann mir eine derartige Definition durchaus nicht als eine in Paragraphen vorgetragene denken wir sahen ja, dass das nicht einmal beim physischen Menschen gelingt sondern vielmehr als eine lebhaft vorgestellte, zu selbständigem Urteil befähigende. Hier noch mehr als anderwärts müssen wir uns hüten, den Begriff im Worte er - starren zu lassen. 2)Vergl. Goethe: Geschichte der Farbenlehre, unter Scaliger.Und derlei lebendige Begriffsbestimmungen sind528Die Erben.nicht wie die mathematischen: es genügt nicht, zu sagen, das und jenes ist so und so, sondern erst durch die negative Ergänzung: nicht so und nicht so, gewinnt die positive Schilderung Relief und wird der Begriff aus dem Worte erlöst.

Rückblick.
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Wir fanden in der Freiheit und der Treue die zwei Wurzeln des germanischen Wesens oder, wenn man will, die beiden Flügel, die es himmelwärts tragen. Nicht leere Worte waren das, sondern ein jedes umschloss einen weiten Komplex lebendiger Vorstellungen und Erfahrungen und geschichtlicher Thatsachen. Eine derartige Ver - einfachung war äusserlich nur dadurch gerechtfertigt, dass wir reiche Gaben als die unumgängliche Grundlage dieser Eigenschaften nach - wiesen: körperliche Gesundheit und Kraft, grosse Intelligenz, blühende Phantasie, unermüdlichen Schaffensdrang. Auch flossen Freiheit und Treue ineinander über wie alle wahren Naturkräfte: die spezifisch germanische Treue war eine Erscheinung der geläutertsten Freiheit, die Bewährung der Freiheit, Treue gegen das eigene Wesen. Hier erhellt ebenfalls die spezifisch germanische Bedeutung des Begriffes: Pflicht. Goethe sagt einmal er redet von Kunstgeschmack, es gilt aber auf allen Gebieten : » Uns auf der Höhe unserer barbarischen Vorteile mit Mut zu erhalten, ist unsere Pflicht. « 1)Anmerkungen zu Rameau’s Neffe. Das ist Shake - speare’s: sei dir selber treu! Das ist Nelson’s Signal am Morgen der Schlacht bei Trafalgar: » Das Vaterland erwartet, dass Jedermann seine Pflicht thue! « Seine Pflicht? Die Treue gegen sich selbst, die Be - währung seiner barbarischen Vorteile, d. h. (wie Montesquieu uns belehrte) der ihm angeborenen Freiheit. Im Gegensatz hierzu erblickten wir dann einen Mann, der die Vernichtung der Freiheit Freiheit des Willens, Freiheit des Erkennens, Freiheit des Schaffens als oberstes Gesetz verkündet, und der die Treue (welche ohne Freiheit bedeutungslos wäre) durch den Gehorsam ersetzt. Der Mensch soll werden so sagt Loyola buchstäblich in den Konstitutionen für seinen Orden » als ob er ein Leichnam wäre, der sich auf jede Seite wenden und auf jede Weise mit sich verfahren lässt, oder wie der Stab eines Greises, der dem, welcher ihn in der Hand hält, überall und immer dient, wie und wo er ihn gebrauchen will. « 2)» perinde ac si cadaver essent, quod quoquoversus ferri, et quacumque ratione tractare se sinit: vel similiter atque senis baculus, qui obicumque et quacumque in re velit eo uti, qui eum manu tenet, ei inservit «.Es wäre wohl unmöglich, den Gegensatz zu allem arischen Denken und Fühlen529Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.bestimmter auszusprechen als es in diesen Worten geschieht: dort sonnige, übermütige, tollkühne Schaffenslust, Menschen, welche un - erschrocken die rechte Hand des Gottes, zu dem sie beten, ergreifen (S. 245), hier ein Leichnam, dem » die Vernichtung jedes eigenen Urteils « als erste Lebensregel beigebracht worden und für den » die schlotternde, knechtische Furcht « die Grundlage aller Religion ist.

Manchmal empfinde ich es schmerzlich, dass der gute GeschmackAusblick. das Moralisieren in einem Buch wie dem vorliegenden verbietet. Denn sieht man jene prächtigen » Barbaren « jugendfrisch, frei, zu allem Höchsten befähigt in die Weltgeschichte eintreten, gewahrt man sodann, wie sie, die Sieger, die echten Freigeborenen des Aristoteles, ihr reines Blut mit dem unreinen der Knechtgeborenen vermengen, wie sie bei den unwürdigen Epigonen grosser Geschlechter in die Lehre gehen müssen und sich nur unter unsäglichen Mühsalen aus der Nacht dieses Chaos zu einem neuen Tage hindurchringen, muss man des Weiteren erkennen, dass zu den alten Feinden und Gefahren alle Tage neue hinzutreten, dass diese wie die früheren von den Germanen mit offenen Armen aufgenommen, die warnenden Stimmen mit leichtem Sinn belächelt werden, dass während jeder Feind unserer Rasse mit vollem Bewusstsein und vollendeter List seine Absichten verfolgt, wir noch immer grosse, harmlose Barbaren, das ganze Sinnen auf irdische und himmlische Ideale gerichtet, auf Besitz, auf Entdeckungen, auf Erfindungen, auf Bierbrauen, auf Kunst und Meta - physik, auf Liebe, und was weiss ich alles, doch jedes immer mit einem Stich ins Unmögliche, ins nie zu Vollendende, ins Jenseitige, denn sonst blieben wir lieber auf unseren Bärenhäuten liegen wer es beobachtet, sage ich, wie wir ohne Waffe, ohne Abwehr, ohne Be - wusstsein irgend einer Gefahr unseren Weg gehen, immer von Neuem bethört, immer bereit, das Fremde hochzuschätzen und das Eigene gering zu achten, die gelehrtesten aller Menschen und doch so wenig wissend über die uns zunächst umgebende Welt wie sonst keiner, die grössten Entdecker und doch mit chronischer Blindheit geschlagen: wer möchte da nicht moralisieren und etwa mit Ulrich von Hutten ausrufen: » O, freiwillig unglückliches Deutschland, der du mit sehenden Augen nicht siehst, und mit offenem Verstande nicht verstehst! « Doch ich werde es nicht thun; ich fühle, dass dieses Amt mir nicht zukommt, und diese hochmütige Nichtbeachtung, ich muss es gestehen, ist ein zuChamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 34530Die Erben.charakteristischer Zug, als dass ich ihn entbehren möchte. Der Germane ist nicht Pessimist wie der Inder, er ist auch kein guter Kritiker; eigentlich denkt er, im Vergleich mit anderen Ariern, überhaupt wenig; seine Gaben treiben ihn zum Handeln und zum Empfinden. Die Deutschen gar ein » Volk von Denkern « zu nennen, ist bitterer Spott; ein Volk von Soldaten und von Kaufleuten wäre jedenfalls richtiger, auch von Gelehrten und von Künstlern aber von Denkern? nein, diese sind spärlich gesäet. Darum konnte Luther die Deutschen geradezu » blinde Leute « nennen; die übrigen Germanen sind es kaum weniger; denn zum Sehen gehört analytisches Denken, und dazu wiederum gehört Anlage, Zeit, Übung. Der Germane ist mit anderen Dingen beschäftigt; er hat seinen » Eintritt in die Weltgeschichte « noch lange nicht beendet; er muss erst von der ganzen Erde Besitz ergriffen, die Natur nach allen Seiten erforscht, sich ihre Kräfte dienstbar gemacht, er muss erst die Ausdrucksmittel der Kunst auf einen nie geahnten Grad der allseitigen Vollkommenheit gebracht und ungeheures histo - risches Wissen als Material zusammengetragen haben dann vielleicht wird er Zeit finden, sich zu fragen, was unmittelbar um ihn herum vorgeht. Bis dahin wird er fortfahren, am Rande des Abgrundes mit derselben Gemütsruhe fortzuschreiten wie auf blumiger Wiese. Daran lässt sich nichts ändern, denn diese Sorglosigkeit gehört, wie gesagt, zum Charakter des Germanen. Griechen und Römer waren nicht unähnlich: die Einen dichteten und dachten, die Anderen eroberten emsig weiter, ohne dass sie (wie die Juden) über sich selber zur Be - sinnung gekommen wären, ohne dass sie auch nur bemerkt hätten, wie der Gang der Ereignisse sie von der Erdoberfläche austilgte; nicht wie andere Völker fielen sie tot hin, sondern langsam stiegen sie in den Hades hinab, bis zuletzt lebendig, bis zuletzt voll Kraft, sieges - bewusst und stolz. 1)Man denkt hierbei an das, was Goethe » ein für allemal das grossartigste Symbol « nannte: eine untergehende Sonne über einem Meere, mit der Legende Auch im Untergehen bleibt sie die selbe . (Unterhaltungen mit dem Kanzler von Müller, 24. März 1824.)

Und so muss es mir bescheidenem Historiker der ich auf den Gang der Ereignisse nicht einzuwirken vermag, noch die Gabe besitze, die Zukunft hell zu erschauen genügen, dem Zwecke dieses Buches gedient zu haben, indem ich das Germanische vom Ungermanischen schied. Dass der Germane eine der grössten Mächte, vielleicht die allergrösste, in der Geschichte der Menschheit war und531Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.ist, wird Keiner leugnen wollen; es war aber für die Beurteilung der Gegenwart nötig, genau festzustellen, wer als Germane betrachtet werden darf, wer nicht. Auch in unserem Jahrhundert, nur natürlich in sehr verschiedener Gruppierung und mit stets wechselnder Ver - teilung der relativen Kräfte, standen, wie in allen früheren Jahr - hunderten unserer Zeitrechnung, jene drei Erben in Europa neben einander: das Chaos der Mestizen aus dem früheren römischen Reich (dessen Germanisierung rückschreitet), die Juden, und die Germanen (deren Bastardierung mit jenen Mestizen und mit den Resten unarischer Urrassen fortschreitet). Kein humanitäres Gerede kann die Thatsache beseitigen, dass dies einen Kampf bedeutet. Wo der Kampf nicht mit Kanonenkugeln geführt wird, findet er geräuschlos im Herzen der Gesellschaft statt, durch Ehen, durch die Verringerung der Ent - fernungen, welche Vermischungen fördert, durch die verschiedene Resistenzkraft und Beharrlichkeit der verschiedenen Menschentypen, durch die Verschiebung der Vermögensverhältnisse, durch das Auf - tauchen neuer Einflüsse und das Verschwinden alter, u. s. w., u. s. w. Mehr als andere ist gerade dieser stumme Kampf ein Kampf auf Leben und Tod.

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About this transcription

TextDie Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts
Author Houston Stewart Chamberlain
Extent566 images; 191378 tokens; 26054 types; 1354041 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDie Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts I. Hälfte Houston Stewart Chamberlain. . 531 S. BruckmannMünchen1899.

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John P. Robarts Research Library - University of Toronto University of Toronto Libraries, CB83 .C45 1899 V.1http://go.utlib.ca/cat/3212518

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LanguageGerman
ClassificationFachtext; Gesellschaftswissenschaften; Wissenschaft; Gesellschaftswissenschaften; core; ready; china

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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ImprintBerlin 2019-12-09T17:29:49Z
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Holding LibraryJohn P. Robarts Research Library - University of Toronto
ShelfmarkUniversity of Toronto Libraries, CB83 .C45 1899 V.1
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