PRIMS Full-text transcription (HTML)
Pſyche oder Unterhaltungen uͤber die Seele.
Fuͤr Leſer und Leſerinnen
Halle,im Verlag der Waiſenhaus Buchhandlung. 1791.

Meinem kindlich geliebten Vater P. Schaumann Prediger in Saltzwedel.

Das weiß ich, theurer Vater, daß es, um Sie meiner Liebe zu verſichern, dieſer oͤffentlichen Verſicherung nicht beduͤrf - te; aber das fuͤhl 'ich, daß das lieberfuͤllte Herz des Sohnes nicht genug Gelegenheiten finden kann, um das Gefuͤhl, das ihm ſo unausſprechlich ſuͤß iſt, zu aͤußern.

Aeußern? ja, ſagen kann ich's Jh - nen, daß kindliche Liebe, kindliche Dankbar - keit mein Herz erwaͤrmen; aber dieſe Liebe, dieſe Dankbarkeit beſchreiben, o mein Vater, das kann ich erſt dann, wenn die Zunge nicht mehr die Gefuͤhle des Herzens in Worte zerbricht, wenn wir, ein Geiſt den andern, uns ſchauen im Schoos der* 3ewi -ewigen, geiſtigen, himmliſchen Liebe. Liebe, Wort, wodurch die Sprache das goͤttlichſte Gefuͤhl bezeichnet, o wie matt, wie ohne Kraft und Leben biſt du gegen das Gefuͤhl in dieſem Herzen, das durch alle Adern ſtroͤmt, vor aͤngſtlichem Verlangen, ſich zu ergießen, klopft und nichts bewirken kann, als das Zittern der Feder, die ihm Luft machen ſoll und nicht kann !

Sie gaben mir das Leben, theurer Vater, und, was mehr iſt, Sie lehrten mich die Kunſt, das Leben zu gebrauchen, mit vaͤterlicher Sorgfalt und unausloͤſchli - chem Eyfer. Sie bildeten meinen Geiſt durch weiſen Unterricht, und erzogen mein Herz durch Lehre und Beyſpiel. Jede Gluͤckſeligkeit, die Geiſtesthaͤtigkeit und Herzensgenuß mir gewaͤhren und gewaͤhr -ten,ten, verdank 'ich Jhnen, denn Sie ſuch - ten, ſelbſt unter den mannigfaltigſten, Zeit und Kraft erfodernden Berufsgeſchaͤften, jede meiner Anlagen auf, um ſie mit Weis - heit zu bilden und bemuͤhten ſich, ſchon fruͤh die Gefuͤhle meines Herzens durch Tugend und Religion zu heiligen.

Vergolten koͤnnen und wollen vaͤterli - che Wohlthaten nicht werden aber in dem Guten, Edlen, Vollkommnen, was ſie in und an dem Kinde hervorbringen, waͤchſt ihnen eine Frucht entgegen, die mehr als Vergeltung in ſich ſchließt. Auch ich, mein Vater, will aus dem guten Saamen, den Sie in meinen Geiſt und in mein Herz ſtreueten, dieſe Frucht zu erziehen mich be - ſtreben und o moͤchte doch mein Beſtreben nicht umſonſt ſeyn!

* 4Mein

Mein Herz iſt ſo voll, daß meine Feder nicht weiter im Stande iſt, das Wort des Herzens zu fuͤhren. Jeder Gedanke an Sie, theureſter Vater, regt ſo mancherley Gefuͤhle in mir auf, die mir alle ſo ſuͤß ſind, daß ich mich denſelben ganz hingeben muß und den Genuß, den ſie mir gewaͤhren, un - moͤglich dadurch unterbrechen kann, daß ich darauf denke, wie das Gefuͤhl meines Her - zens in Buchſtaben zu faſſen ſey: vorzuͤglich itzt, da ich die Annaͤherung des Augenblicks fuͤhle, wo ich an Jhr Vaterherz eilen und am demſelben Leben und Gluͤckſeligkeit fuͤr Sie, geliebter Vater, von dem Vater aller Menſchen, erflehen kann.

Vor -

Vorrede.

Dieſe Unterhaltungen (deren Titel Pſy - che ich in keiner andern Bedeutung zu nehmen bitte, als welche das Wort in Pſycho - logie hat) wuͤnſchen die Aufmerkſamkeit des - jenigen Theils des Publikums, der geneigt iſt, ſich durch richtige Kenntniß ſeines eigenen Menſchen und Andrer das Praͤdikat klug zu verdienen und dem Befehl des Gottes der Weisheit, deſſen Befolgung das ſine qua non aller gruͤndlichen, intellektuellen und morali - ſchen Bildung iſt, Gehorſam zu leiſten.

Dieſer Wunſch gruͤndet ſich indeß nicht auf der Meynung des Verfaſſers, daß die - ſe Unterhaltungen, die fuͤr jeden Leſer und jede Leſerin noͤthige Menſchen - und Selbſtkenntniß ſelbſt enthalten, ſondern auf dem Glauben, daß der in ihnen angeſtellte Verſuch, zum* 5Nach -XNachdenken uͤber ſich ſelbſt und die menſchliche Natur zu veranlaſſen und in demſel - ben zu leiten, nicht ganz mißlungen ſey.

Der Verfaſſer beabſichtigte bey die - ſem Verſuch vornehmlich folgende beſondere Punkte:

1) Er wollte ſeine Leſer und Leſerinnen auf die Beobachtung der Phaͤnomene ihres eigenen Jchs hinlenken und zur Aufſuchung der Urſa - chen derſelben reizen; wollte ihnen, ſo weit es ihm moͤglich war, den Weg zeigen, auf dem ſie richtige Vorſtellungen von der Natur und den Kraͤften der Seele erlangen, die Gruͤnde ihrer Neigungen und die Quelle ihrer Gefuͤhle auffinden koͤnnen.

2) Weil er die richtige Kenntniß der Urſa - chen, wodurch die großen und kleinen Hand - lungen, die Neigungen, die Affekten der Men - ſchen hervorgebracht werden, fuͤr die Grund - lage aller geſelligen Tugenden, z. B. der To - leranz im Handeln und Urtheilen, der Geduld mit Andern, der Nachſicht u. ſ. w. haͤlt, wuͤnſchte er auch zur Befoͤrderung dieſer Kenntniß mitwirken zu koͤnnen.

JnXI

Jn Hinſicht auf dieſe beyden Punkte hat er ſich bemuͤht, die Natur einzelner Seelenver - moͤgen richtig vorzuſtellen, dasjenige, was auf dieſelben Einfluß haben kann, anzugeben, ein - zelne Gemuͤthszuſtaͤnde und Gemuͤthsbewe - gungen nach der Wahrheit zu ſchildern und auf ihre letzten Urſachen zuruͤckzufuͤhren.

3) Wuͤnſcht der Verf. durch dieſen Ver - ſuch auch etwas dazu beyzutragen, daß die Lek - tuͤre guter Gedichte, Schauſpiele, Romane, Erzaͤhlungen, Geſchichten u. ſ. w. fuͤr den Le - ſenden noch nuͤtzlicher und fruchtbarer werde. Ein großer Theil des leſenden Publikums ſchenkt bey der Lektuͤre ſeine Aufmerkſamkeit nur der Fabel des Stuͤcks, welches er lieſt und naͤhrt auf dieſe Weiſe nichts, als ſeine Neugierde; uͤber das, was dem Schriftſteller die meiſte Muͤhe koſtete und Hauptſache ſchien, die Charaktere der handelnden Perſonen, die Motivirung ihrer Handlungen u. ſ. w. gleitet das Auge hinweg, und das Werk, welches, um Verſtand und Herz zu naͤhren, componirt war, hat fuͤr den Leſer keinen andern Nutzen, als die Feenmaͤhrchen fuͤr Kinder, und dieVadeXIIVade mecums fuͤr Muͤßiggaͤnger. Um zur Ausrottung dieſer Suͤnde wider verdienſtvolle Schriftſteller und eines jeden wider ſich ſelbſt, ſo viel an ihm iſt, mitzuwirken, hat der Verf. verſucht, einige, fuͤr ſeinen Zweck gehoͤrende Stellen aus den beſten Dichtern zu entwickeln, und auf ſein Raͤſonnement anzuwenden, damit ein jeder ſehe, was er in guten Gedichten, Ro - manen ꝛc. leſen und aus denſelben lernen koͤnne, wenn er Luſt hat, das Auge ſeiner Seele zu oͤfnen.

4) Jeder Unterricht uͤber die Seele iſt ſei - ner Natur nach, moraliſch, d. h. er enthaͤlt die Praͤmiſſen zu den Regeln der Bildung des Herzens nach den Zwecken der Vernunft. Auch dieſe moraliſche Nuͤtzlichkeit wuͤnſchte der Verf. ſeinem Verſuche zu geben. Zwar konnte er nur hin und wieder Winke geben, wie dieſe oder jene Seelenkraft zu bilden, dieſe oder jene Neigung zu lenken, dieſe oder jene Leidenſchaft zu behandeln ſey, um ſich den Zwecken der moraliſchen Vernunft zu fuͤgen; indeß glaubt er, daß der aufmerkſame LeſeroͤftereXIIIoͤftere Veranlaſſungen finden wird, dieſe mo - raliſche Anwendungen zu machen.

Wie weit die Kraft des V. ſeinem guten Willen nachgekommen ſey, uͤberlaͤßt er, wie billig, gerechten Kritikern zu entſcheiden. Daß ſein Verſuch manche Unvollkommenheit und manche Maͤngel habe, davon iſt keiner mehr uͤberzeugt, als der Verf. ſelbſt. Dieſe Ueber - zeugung nimmt ihm indeß den Glauben nicht, etwas Nuͤtzliches geſchrieben zu haben: denn ohne dieſen wuͤrde er ſich nicht erdreuſtet haben, ſeine Schrift dem Publikum anzubieten, weil er einen Schriftſteller, der ohne den, nicht auf egoiſtiſchen, ſondern auf gepruͤften Gruͤnden beruhenden Glauben, durch ſeine Schrift Nutzen zu ſtiften, aus ſeiner Studier - ſtube hervortritt, fuͤr einen Verbrecher des be - leidigten Publikums haͤlt.

Die angefuͤhrten Fakta, aus welchen das Raͤſonnement abgeleitet und mit welchen es belegt iſt, ſind aus glaubwuͤrdigen Quellen entlehnt. Daß manche derſelben Manchem bekannt ſind, daruͤber befuͤrchtet der Verf. keinen Vorwurf, weil er nicht blos fuͤr dieſeMan -XIVManche ſchrieb, ſondern auch fuͤr ſolche, denen die Schriften, aus welchen ſeine Fakta genom - men ſind, nicht ſo leicht in die Haͤnde kommen, und weil Manches nicht in der Abſicht ange - fuͤhrt iſt, um als Faktum bekannt zu werden, ſondern um als Beyſpiel zu erlaͤutern.

Es wuͤrde ein großer Gewinn fuͤr die ſo wichtige Wiſſenſchaft der Seele und des Men - ſchen uͤberhaupt ſeyn, wenn Jeder, der ſich dazu geſchickt fuͤhlte, fuͤr ſich ein Magazin der Erfahrungs-Seelenkunde anlegte, in welches er die Beobachtungen, die er uͤber ſich ſelbſt und die Mitglieder ſeiner Familie zu machen Gelegenheit hat, niederlegte. Wenn dieſes von mehreren Einwohnern einer Stadt oder nicht zu entfernt von einander liegenden Oerter geſchaͤhe, und dieſe ihre geſammelten Beobach - tungen und Erfahrungen, Einem, oder mehre - ren dazu geſchickten Maͤnnern uͤbermachten, damit das Wichtige ausgeleſen und allgemein bekannt wuͤrde; ſo wuͤrde der Philoſoph zur Dankbarkeit fuͤr dieſes Werk manche neue Entdeckung uͤber die Natur der Seele liefern, manches unzulaͤngliche Geſetz verbeſſern undallge -XVallgemeiner machen, manchen Aufſchluß von wichtigen, praktiſchen Folgen geben koͤnnen. Es muͤſte aber dieſes Magazin nicht blos oder vorzuͤglich außerordentliche Erſcheinun - gen enthalten; ſondern ſolche hauptſaͤchlich auf - nehmen, die ſich oͤfters zeigen; weil die Regel der Natur nur aus dieſen erkannt werden kann, und das Außerordentliche unter die ſchein - baren Ausnahmen gehoͤrt.

Vorzuͤglich wichtige Beytraͤge hiezu koͤnn - te man von praktiſchen Erziehern erwarten, denen es ihr Beruf ſchon zur erſten Pflicht macht, die, welche ihnen anvertraut ſind, zu beobachten, um ſie kennen zu lernen und dar - nach die Manier ihrer Erziehung beſtimmen zu koͤnnen. Moͤchten doch alle diejenigen, welche die wichtigſte aller Pflichten, die Pflicht, Menſchen zu bilden, auf ſich genommen haben, die Wichtigkeit dieſer Verpflichtung fuͤhlen und daher auf das Studium des Menſchen, deſſen Kenntniß ſie allein geſchickt macht, ihren Beruf zu erfuͤllen, ihren ganzen Fleiß verwen - den. Ein Erzieher ohne Menſchenkenntniß iſt ein blinder Gaͤrtner. Das Unkrautſchießt,XVIſchießt, von ihm unbemerkt, in die Hoͤhe und erſtickt die zarten Pflanzen, die er nicht ſelbſt ſchon in ſeiner Blindheit zertreten hat. Statt Harmonie in den Charakter zu bringen, macht er denſelben disharmoniſch, geht vor den Sei - ten, auf welchen er einen Eingang in das Herz ſeines Zoͤglings finden koͤnnte, voruͤber, und ſucht von der Seite an denſelben zu gelangen, wo die Natur ihn nicht zulaͤßt.

Manche Gegenſtaͤnde ſind in dieſen Un - terhaltungen mehr beruͤhrt, als ausgefuͤhrt worden, wovon die Urſach theils darin liegt, daß manche Ausfuͤhrungen auf Unterſuchungen gefuͤhrt haben wuͤrden, die den Verf. genoͤthigt haͤtten, uͤber die Grenzen, welche er ſich durch die Beſtimmung dieſer Verſuche fuͤr den gebil - deten, oder nach Bildung ſtrebenden Theil des Publikums, geſteckt hatte, hinauszugehen: theils aber in dem Vorſatze des Verf., manche der hier nur beruͤhrten Gegenſtaͤnde in beſon - dern Verſuchen umſtaͤndlicher zu behandeln.

Halle, den 3ten April 1791. S.

Jnhalt.XVII

Jnhalt.

  • Erſter Theil.
    • 1. Unterhaltung. Von der Seele uͤberhaupt S. 1 bis 12 Anhang uͤber die phyſiologiſche Beſchaffen - heit des Gehirns und den Mechanis - mus der Empfindungbis 16
    • 2. Von den Hauptvermoͤgen der Seele 20
    • 3. Vom Bewußtſeyn und der Aufmerkſamkeit 35
    • 4. Von der Einbildungskraft 62
    • 5. Ueber die Wirkſamkeit der Einbildungs - kraft in Traumerſcheinungen 87
    • 6. Ueber den Zuſammenhang der Traͤume mit wirklichen Begebenheiten 98
    • 7. Ueber koͤrperliche und geiſtige Handlungen im Traume 118
    • 8. Von dem Gedaͤchtniß und der Erinne - rungskraft 136
    • 9. Vom Verſtande oder dem Vermoͤgen zu denken 160
    • 10. Von der Verruͤcktheit 179
    • 11. Ueber die Urſachen der Verruͤcktheit 193
    • 12. Ueber die Raſerey des Koͤnigs Lear in Shakeſpears Trauerſpiel: Leben und Tod des Koͤnigs Lear 208
    • Fragment eines Briefes; enthaltend eine Beſchreibung des Celliſchen Jrrenhauſes 234
    • 13. Von der Schwaͤrmerey 264
    • 14. Ueber die Bildung der Einbildungskraft und des Denkvermoͤgens 294
  • Zweyter Theil. Unterhaltungen uͤber das Begehrungsvermoͤgen.
    • 1. Unterhaltung. Allgemeine Bemerkungen uͤber das menſchliche HerzS. 297 306
    • 2. Ueber die Selbſtliebe 310
    • 3. Ueber die Liebe zum Leben 329
    • XVIII
    • 4. Unterhaltung. Ueber den Trieb zur Thaͤ - tigkeitbis S. 338
    • 5. Ueber den Trieb zur Veraͤnderung 344
    • 6. Ueber den Trieb der Nachahmung 363
    • 7. Ueber den Trieb in die Zukunft zu ſehen 373
    • 8. Ueber den Trieb nach Freyheit und Unab - haͤngigkeit 382
    • 9. Ueber den Trieb nach Ehre 393
    • 10. Ueber die Gruͤnde des Ehrtriebes 399
    • 11. Ueber den Stolz und die verſchiedenen Ar - ten deſſelben 426
    • 12. Ueber die Verſchiedenheiten des Stolzes in Ruͤckſicht auf die verſchiedenen Ar - ten ſeiner Gegenſtaͤnde 448
    • 13. Ueber die Verſchiedenheiten des Stolzes in Ruͤckſicht ſeiner Aeußerungen 464
    • 14. Ueber die Herrſchbegierde 469
    • 15. Ueber den Nachruhm 472
    • 16. Ueber die Neigung zum aͤußern Eigen - thum 488
    • 17. Ueber die Neigung zum Guten 498 Nachtrag zu dieſer Unterhaltung 515
    • 18. Ueber die Sympathie 532
    • 19. Ueber die Liebe 557
    • 20. Ueber die Liebe der Blutsverwandten 566
    • 21. Ueber den Haß 573
    • 22. Ueber den Enthuſiasmus und Muth 584
    • 23. Ueber die Ruͤhrung 592
    • 24. Ueber die Affekten der Verwunderung und Bewunderung 597
    • 25. Ueber die Freude 603
    • 26. Ueber die Traurigkeit 609
    • 27. Ueber die Furcht 615
    • 28. Ueber den Affekt der Schaam 624
    • 29. Ueber Verdruß, Aergerniß, Kraͤnkung 629
    • 30. Ueber den Zorn 640
Pſyche.

Pſyche. Erſter Theil. Unterhaltungen uͤber das Erkaͤnntnißvermoͤgen.

[1]

Erſte Unterhaltung. Von der Seele uͤberhaupt.

Jns Jnnre der Natur dringt kein Erſchaffner Geiſt.

Von Thales dem Mileſier an bis auf den heu - tigen Tag iſt die Unterſuchung uͤber den Urſprung und die Natur der Seele eine Haupt - beſchaͤfftigung der Philoſophen geweſen. Jch wuͤrde durch Folianten ermuͤden muͤſſen, wenn ich alle verſchiedne Meinungen hieruͤber mit den Beweiſen, welche ſie unterſtuͤtzen ſollen, nur hi - ſtoriſch anfuͤhren wollte. Jedes der vier Ele - mente iſt von irgend einem fuͤr den Urſtoff der Seele gehalten, ja, wenn es wahr iſt, was Ari - ſtoteles ſagt, ſo ſoll Empedokles ſie gar aus allen vier Elementen zuſammengeſetzt haben. Dieſer ließ ſie mit dem Koͤrper entſtehn und vergehn, je - ner nach dem Tode in einen andern Koͤrper ziehn, und ein andrer ſie vom Hermes, dem Geleits - mann der Seelen (ψυχοπομπος) ins Elyſium oder zum Tartarus fuͤhren und leben. DochAich2ich wollte ja nicht die verſchiednen Meinungen, die ich zum Theil mit Cicero's Epikureer deliran - tium ſomnia nennen koͤnnte, erzaͤhlen; allein das Reſultat dieſer ſo viel tauſend Jahre fortgeſetz - ten Unterſuchungen werden meine Leſer mit Recht von mir fodern.

Wir wiſſen von dem, was das Weſen der Seele iſt, nichts, dies iſt das Reſultat, welches ſich aus jeder Unterſuchung, die daruͤber angeſtellt iſt, ergiebt, und bey jeder wiederholten Betrachtung und Pruͤfung beſtaͤtigt. Dies iſt das Reſultat, worauf man laͤngſt gekommen waͤ - re, wenn man vor der Unterſuchung gefragt haͤt - te, was man denn eigentlich ergruͤnden wolle, und ob dazu das menſchliche Ergruͤndungs - vermoͤgen geſchickt ſey.

Wozu denn, hoͤr 'ich hier von vielen Seiten, Betrachtungen uͤber die Seele, wenn ſie ſich doch nicht von uns erkennen laͤßt?

Nur noch das Endurtheil ein wenig aufgehal - ten, Freund. Wenn ich behaupte, daß das Weſen unſrer Seele nicht fuͤr uns erkennbar iſt, heißt das, wir koͤnnen nichts von ihr erkennen? Wo iſt der Chymiker, der uns die Grundſubſtanz des Goldes lehren koͤnnte, erkennt er darum von dem Golde nichts? Wir ſind es uns bewußt, daß wir empfinden, denken, wollen; und daßdaher3daher in uns ein Grund des Wollens, Denkens und Empfindens ſey.

Dasjenige in uns, welches dieſen Grund ent - haͤlt, nennen wir Seele, und unterſcheiden es vom Koͤrper, weil wir in dem, was wir von ihm und ſeiner Einrichtung erkennen, den Grund jener Aeußerungen nicht finden, aus ihm ſie nicht erklaͤren koͤnnen. Dieſe Seelenwirkungen koͤnnen wir wahrnehmen, dieſe koͤnnen wir beob - achten und daraus die Geſetze ziehen, nach wel - chen ſie geſchehen. Und ſiehe da, genug fuͤr un - ſern Zweck ein weites, weites Feld fuͤr frucht - bare Unterſuchungen, fruchtbarer als alle De - duktionen, der Materialitaͤt oder Jmmaterialitaͤt, Einfachheit oder Zuſammengeſetztheit der menſch - lichen Seele. *)Es iſt ein ſonderbar ſcheinendes, aber ganz na - tuͤrlich zu erklaͤrendes Phaͤnomen in der Geſchichte des menſchlichen Verſtandes, daß die erſten Unter - ſuchungen ſich auf die am entfernteſten liegenden Gegenſtaͤnde bezogen. Der erſte Urſprung der Din - ge, die Natur der Goͤtter, das Weſen der Seele, die Groͤße und Ordnung der himmliſchen Koͤrper, dieſe und aͤhnliche Dinge waren es, welche die Auf - merkſamkeit der Weiſen in den fruͤheſten Zeiten auf ſich zogen. Hiſtoriſche Beweiſe hievon finden ſich in Meiners Geſchichte des Urſprungs, Fortgangsund

A 2Aber4

Aber wenn es denn unausgemacht iſt und bleiben muß, ob die Seele einfach und nicht ma - teriell iſt, wo bleiben denn die Beweiſe fuͤr die Unſterblichkeit der Seele? die dem Menſchen ſo noͤthig, ſo wichtig ſind.

Unſterblichkeit der Seele bedarf zur Stuͤtze der Beweiſe dieſer metaphyſiſchen Dogmen nicht; ſie gruͤndet ſich auf feſtre Fundamente. Kein Menſch, in dem die Vernunft ſich nur etwas mehr als in dem Jchtyophagen gebildet hat, kann ſich von der Verpflichtung zur Tugend, welche ihm die Vernunft durch das nothwendigſte Geſetz auf - legt, losſagen. Uebt er gleich das nicht, wasihm*)und Verfalls der Wiſſenſchaften in Griechenland und Rom, Lemgo 1781. 1ſter Band, S. 145. ff. und in der Geſchichte jedes einzelnen Volks und Mannes. Der in der Natur des menſchlichen Ver - ſtandes liegende Grund davon iſt dieſer: Je weni - ger man noch das ganze Feld und den eigentlichen Zweck der Erkenntniß uͤberſieht und verſteht, deſto leichter gleitet das Auge uͤber das, was am naͤchſten liegt, weg; weil man dies genau genug zu kennen glaubt, und jenſeits der in die Sinne fallenden Na - tur, die Phantaſie, die ſich am fruͤhſten wirkſam zeigt, einen freiern Spielraum hat, da hingegen dieſſeits ihr durch die Erfahrung oͤfters widerſpro - chen wird, welche Widerſpruͤche der Verſtand zu loͤſen, noch zu ungeuͤbt iſt. 5ihm die Vernunft gebeut, er iſt ſich's doch be - wußt, daß er es uͤben ſollte. Nun kann Ver - nunft ſich ſelbſt nicht widerſtreiten. Sie gebeut aber ebenfalls dem Menſchen, ſich das hoͤchſte Gut zum Zweck zu machen; es muß daher auch jenes Geſetz der Sittlichkeit hierauf ſich beziehen, zur Erlangung des hoͤchſten Guts fuͤhren. Allein in dieſem Leben kann ichs nicht erlangen; wohl das eine Jngredienz deſſelben, nemlich das Bewußt - ſeyn einer dauerhaften Gluͤckſeligkeit wuͤrdig zu ſeyn; aber noch nicht die dauerhafte Gluͤckſeligkeit ſelbſt.

Soll alſo das Gebot der Sittlichkeit vernuͤnf - tig ſeyn, wie es ſo uͤberzeugend iſt, ſo muß ich auch nach dieſem Leben ein andres hoffen, wo der Gott der Tugend, Tugend und Gluͤckſeligkeit in Uebereinſtimmung und Verbindung bringen wird. So wenig ich alſo meine Ueberzeu - gung von der nothwendigen Verpflichtung zur Tu - gend verlieren werde; ſo wenig darf ich auch fuͤrchten, daß der Glaube an Unſterblichkeit mir je entriſſen werden koͤnne.

Es iſt mir, werthe Leſer und Leſerinnen, als koͤnnt 'ich nun mit mehr Muth weiter gehn, da ich nicht mehr fuͤrchten darf, daß meine obige Erklaͤrung unſrer Unwiſſenheit uͤber das Weſen der Seele Sie mistrauiſch gegen mich gemacht habe: da ich aufs neue meine UeberzeugungA 3von6von einer Wahrheit erklaͤrt habe, an welche meine ſchwache Tugend ſich ſo oft, ſo oft gehalten hat. Jch lenke nun auf meinen vorgeſetzten Weg.

Wir denken, wollen und empfinden; den Grund der Moͤglichkeit hievon ſetzen wir in die Seele, den vorzuͤglichſten Theil der Menſchennatur: aber doch mit dem andern Theile derſelben, dem Koͤrper, in der innigſten Verbindung. Der Koͤrper uns ſichtbar, die Seele unſern Augen verborgen, und wie es uns vorkommt, von dem Koͤrper umgeben und in dem Koͤrper wirk - ſam. Wo iſt denn ihre Werkſtatt? welches iſt der Theil des Koͤrpers, den ſie zu ihrem Sitz erwaͤhlte, oder hat ſie ganz zu ihrer Wohnung ihn genommen? Fuͤr das eine ſo gut als fuͤr das andere ſind Beweiſe da, beyde gleich buͤn - dig und uͤberzeugend: das ſicherſte Merkmal, daß ſich uͤber den Ort der Seele nichts beſtimmen laͤßt, wenn gleich vom Kopfe bis zu den Zehen am Fuß faſt kein Fleck des Koͤrpers iſt, der nicht von dem einen oder dem andern, aͤltern oder neuern Phi - loſophen fuͤr das Haus der Seele angenommen waͤre. *)Die Meinungen uͤber den Ort der Seele ſind vom Anfang an ſehr verſchieden geweſen, und dieſe Verſchiedenheit hieng theils von der Vorſtellung ab, welche man ſich von der Natur und den EigenſchaftenderOrt7Ort iſt eine Stelle im Raum. Es kann mithin nur ſolchen Dingen ein Ort gegeben wer - den, welche ſich im Raum befinden, koͤrperlich, materiell ſind. Da wir nun dies von der Seele nicht behaupten koͤnnen, im Gegentheil mehr Gruͤnde zu der Vermuthung haben, daß ſie von dem, was Koͤrper heißt, verſchieden ſey; ſo iſt ſchon hieraus klar, daß wir im eigentlichen Sinne nicht von einem Ort der Seele reden koͤnnen. Fragen wir indeß darnach, ſo kann die FrageA 4nichts*)der Seele machte, theils davon, welchen Theil des Koͤr - pers man fuͤr den zum Leben und Empfinden noth - wendigſten hielt. Mehrere Philoſophen z. B. Py - thagoras und Plato unterſchieden in der Seele meh - rere Theile z. B. den vernuͤnftigen und thieriſchen Theil, von welchen ſie jenen in den Kopf, dieſen in das Herz oder andre Theile ſetzten. Strato von Lampſakus gab ihr die Erhabenheit zwiſchen den Augenbraunen zum Thron, damit ſie von dort aus den Menſchen und ſeine Handlungen beobachten koͤn - ne. Andre ſetzten ſie ins Zwergfell, andre in die Fingerſpitzen. Carteſius ſchraͤnkte ſie aufs Gehirn ein, und zwar in demſelben auf die Zirbel - druͤſe (glandula pinea). Andre ſetzen ſie mit Bon - net in die Hirnſchwuͤle, oder das corpus calloſum, und thun wohl, wenn ſie noch koͤrperlicher denken, hinzu, daß ſie aus der Hirnſchwuͤle zuweilen in die unter derſelben liegende Schleimdruͤſe ſpatziere, um ſich da ihres Unraths zu entledigen.8nichts anders bedeuten, als, mit welchem Theil des Koͤrpers ſcheint die Seele in der naͤchſten Verbindung und Beziehung zu ſtehen. So die Frage gefaßt, erhaͤlt ſie einen Sinn, und die Ant - wort: mit dem Gehirn. Wir ſchließen hiedurch keinesweges die uͤbrigen Theile des Koͤrpers von aller Beziehung auf die Seele aus; ſondern ſagen nur, das Gehirn iſt die Bedingung, ohne welche alle Gemeinſchaft der Seele mit dem Koͤrper un - moͤglich iſt, und ſtuͤtzen uns auf die Erfahrung, welche lehrt, daß, ſobald das Gehirn in ſeinem Jnnern zerſtoͤrt iſt, Leben, Empfinden und Denken zu Ende geht. Jch kenne nichts Scharfſinnigeres uͤber die Beſtimmung des Sitzes der Seele im Koͤrper, als was Herr Kant*)Traͤume eines Geiſterſehers erlaͤutert durch Traͤu - me der Metaphyſik. Riga und Mietau, 1766. S. 19. ff. daruͤber in den Traͤumen eines Geiſterſehers ſagt. Es iſt die Pflicht des Schriftſtellers, ſeinen Leſern das beſte, was er hat und weiß, zu geben; ich gebe daher dieſe kantiſchen Gedanken.

Wenn man bewieſen haͤtte, ſagt Herr Kant am angefuͤhrten Ort, die Seele des Menſchen ſey ein Geiſt, ſo wuͤrde die naͤchſte Frage, die man thun koͤnnte, eben dieſe ſeyn: Wo iſt der Ort dieſer menſchlichen Seele in der Koͤrperwelt? Jch9Jch wuͤrde antworten: Derjenige Koͤrper, deſſen Veraͤnderungen meine Veraͤnderungen ſind, iſt mein Koͤrper, und der Ort deſſelben iſt zugleich mein Ort. Setzet man die Frage weiter fort, wo iſt denn dein Ort (der Seele) in dieſem Koͤr - per? ſo wuͤrde ich etwas Verfaͤngliches in dieſer Frage vermuthen. Denn man bemerkt leicht, daß darin etwas ſchon vorausgeſetzt werde, was nicht durch Erfahrung bekannt iſt, ſondern vielleicht auf eingebildeten Schluͤſſen beruht; nemlich, daß mein denkendes Jch in einem Orte ſey, der von den Oertern andrer Theile desjenigen Koͤrpers, die zu meinem Selbſt gehoͤren, unterſchieden waͤre. Niemand aber iſt ſich eines beſondern Orts in ſei - nem Koͤrper unmittelbar bewußt, ſondern desje - nigen, den er als Menſch in Anſehung der Welt umher einnimmt. Jch wuͤrde mich alſo an der gemeinen Erfahrung halten und vorlaͤufig ſagen: wo ich empfinde, da bin ich. Jch bin eben ſo unmittelbar in der Fingerſpitze wie in dem Kopfe. Jch bin es ſelbſt, der in der Ferſe leidet und wel - chem das Herz im Affekte klopft. Jch fuͤhle den ſchmerzhaften Eindruck nicht an einer Gehirnner - ve, wenn mich mein Leichdorn peinigt, ſondern am Ende meiner Zehen. Keine Erfahrung lehrt mich einige Theile meiner Empfindung, von mir fuͤr entfernt zu halten, mein untheilbares Jch in ein mikroſkopiſch kleines Plaͤtzchen des GehirnesA 5zu10zu verſperren, um von da aus den Hebezeug mei - ner Koͤrpermaſchine in Bewegung zu ſetzen oder dadurch ſelbſt getroffen zu werden. Daher wuͤrde ich einen ſtrengen Beweis verlangen, um dasje - nige ungereimt zu finden, was die Schullehrer ſagten: Meine Seele iſt ganz im ganzen Koͤrper, und ganz in jedem ſeiner Theile. Der Einwurf wuͤrde mich auch nicht irre machen, wenn man ſagte, daß ich auf ſolche Art die Seele ausgedehnt und durch den ganzen Koͤrper verbreitet gedaͤchte, ſo ohngefehr wie ſie den Kindern in der gemahlten Welt abgebildet wird. Denn ich wuͤrde dieſes Hinderniß dadurch wegraͤumen, daß ich bemerkte: Die unmittelbare Gegenwart in einem ganzen Raume beweiſe nur eine Sphaͤre der aͤußern Wirkſamkeit, aber nicht eine Vielheit innerer Theile, mithin auch keine Ausdehnung oder Fi - gur, als welche nur ſtatt finden, wenn in einem Weſen vor ſich allein geſetzt ein Raum iſt, d. i. Theile anzutreffen ſind, die ſich außerhalb ein - ander befinden.

Das hier Beygebrachte ſcheint mir zur Wi - derlegung der Meinung, daß die Seele ſich in einem beſtimmten Theile des Koͤrpers eingeſchloſ - ſen befinde, vollkommen hinreichend zu ſeyn; wie man aber insbeſondere darauf gekommen ſeyn moͤ - ge, unter dieſem Theil das Gehirn zu verſtehen, erklaͤrt derſelbe Schriftſteller in einer Anmerkungauf11auf der 22ſten Seite des angefuͤhrten Buches, wie mich duͤnkt, ſehr ſcharfſinnig und ſinnreich folgendermaßen: Alles Nachſinnen erfodert die Vermittlung der Zeichen fuͤr die zu erweckenden Jdeen, um in deren Begleitung und Unterſtuͤtzung denſelben den erfoderlichen Grad der Klarheit zu geben. Die Zeichen unſrer Vorſtellungen aber ſind vornehmlich ſolche, die entweder durchs Ge - hoͤr oder das Geſicht empfangen ſind, welche beyde Sinne durch die Eindruͤcke im Gehirn bewegt werden, indem ihre Organe auch dieſem Theile am naͤchſten liegen. Wenn nun die Erweckung dieſer Zeichen, welche Carteſius ideas materiales nennt, eigentlich eine Reizung der Nerven zu ei - ner aͤhnlichen Bewegung mit derjenigen iſt, wel - che die Empfindung ehedem hervorbrachte, ſo wird das Gewebe des Gehirns im Nachdenken vornemlich genoͤthiget werden mit vormaligen Ein - druͤcken harmoniſch zu beben und dadurch ermuͤdet zu werden. Denn wenn das Denken zugleich affektvoll iſt, ſo empfindet man nicht allein An - ſtrengungen des Gehirnes, ſondern zugleich An - griffe der reizbaren Theile, welche ſonſt mit den Vorſtellungen der in Leidenſchaft verſetzten Seele in Sympathie ſtehen.

Ob wir nun aber gleich die Seele nicht in das Gehirn, wie die Spinne in den Mittelpunkt ihres Gewebes einſchließen duͤrfen; ſo muͤſſen wirdoch12doch dieſen Theil des Koͤrpers, wie ſchon oben er - innert worden, als die nothwendige Bedingung der Gemeinſchaft zwiſchen Seele und Koͤrper an - ſehen.

Anhang zur erſten Unterhaltung uͤber die phyſiologiſche Beſchaffenheit des Gehirns und den Mechanismus der Empfindung.

Das Gehirn, welches wir eben als denjenigen Theil des Koͤrpers kennen gelernt haben, ohne welchen die Seele in dem Menſchen nicht wirkſam ſeyn kann, iſt ein unter der Hirnſchaale einge - ſchloſſenes, markigtes und unelaſtiſches Eingewei - de, das ſich außer andern hier nicht ſo merkwuͤr - digen Eintheilungen in die gelbliche, roͤthliche oder aſchfarbige Rinde, welche ſehr weich und zart iſt, und in das Mark theilt, welches beym neugebor - nen Kinde roͤthlich, ſonſt aber weiß, mit vielen arterioͤſen, einfachen und gradlinichten Gefaͤßen durchwirkt, und feſter, auch an Maſſe ſtaͤrker, als die Rinde iſt. Eine Fortſetzung des Gehirn - marks iſt das Ruͤckenmark, eine ſehr weiche, mar -kigte13kigte Schnur, die bis zum zweyten Wirbelbein der Lende herabſteigt.

Aus dem Gehirnmark werden die Nerven ge - bildet, welches parallele außerhalb des Gehirns mit den Haͤuten der Hirnſchaale uͤberzogne Faſern ſind, welche ſich paarweiſe bilden, in ihrem Fort - gang ſich in Aeſte und Zweige theilen, und ſich entweder unter der Haut verlieren, oder an den Muſkeln und in die Eingeweide, Lunge u. ſ. w. hinlaufen.

Dieſe Nerven nun ſind es, welche die Eindruͤcke, die die Dinge auf den Menſchen machen, aufneh - men, und dieſelben nach der gemeinſten Meinung vermittelſt des Nervenſafts, einer ſehr feinen, un - ſichtbaren, aber, wie es ſcheint, mit der elektriſchen und magnetiſchen Materie verwandten Fluͤſſig - keit, bis zum Gehirn fortfuͤhren, von wo ihn die Seele auf eine uns natuͤrlich unbekannte Weiſe empfaͤngt.

Andre wollen mit Hartley, Prieſtley u. a. m. die Nerven durch Elaſticitaͤt wirken laſſen. Jch uͤbergehe die Gruͤnde, die dieſe und jene fuͤr ihre Meinung beybringen, ſo wie die Auseinan - derſetzung der Meinungen ſelbſt. Denn die Pſy - chologie gewinnt durch alle Nervenerklaͤrungen, und wenn ſie auch noch ſo kuͤnſtlich ſind, nichts. Die Nerven leiten die Jmpreſſionen von außen bis ins Gehirn, das laͤßt ſich leicht begreifen undnach -14nachſagen; aber wie nimmt denn nun die Seele dieſe Jmpreſſionen aus dem Gehirn auf und wie macht ſie dieſelben zu Vorſtellungen? Davon ſagen uns die Nervenhypotheſen ſo wenig, als irgend eine andre.

Das Vermoͤgen der Seele, nach welchem ſie Eindruͤcke von Dingen aufnehmen kann, iſt die Sinnlichkeit, welche in ſo fern die auf den Men - ſchen wirkende Dinge außerhalb ſeines Jchs ſich befinden, aͤußerer Sinn genannt wird, im Gegenſatz des innern Sinnes oder des Vermoͤ - gens, ſeine eignen Veraͤnderungen wahrzunehmen.

Wir koͤnnen aber vermittelſt des aͤußern Sin - nes auf fuͤnf verſchiedne Arten afficirt werden, da - her zaͤhlet man fuͤnf Sinne.

Von dieſen giebt man dem Geſicht und Ge - hoͤr den Namen der feinern und edlen Sinne, weil durch ſie das Herz vorzuͤglich zu feinen Ge - fuͤhlen geweckt wird, und ſie uͤberhaupt mit dem edelſten Theil des Menſchen, der Seele, im ge - naueſten Zuſammenhange ſtehen. Durch das Auge erfreut uns die Natur, erfuͤllt uns die Schoͤnheit mit Wohlgefallen und Liebe, und die Erhabenheit mit Bewundrung und Erſtaunen. Durch das Ohr dringt die harmoniereiche Spra - che der Muſik zu unſerm Herzen und bewegt uns und Auge und Ohr machen es moͤglich, was un -moͤg -15moͤglich ſcheint, unſichtbare Dinge, die Gedan - ken des Menſchen, zu empfangen.

Die uͤbrigen Sinne, welche mehr mit der thieriſchen Natur des Menſchen zuſammen haͤn - gen, der Geruch, der Geſchmack und das Ge - fuͤhl, heißen im Gegenſatz jener, die groͤbern, die niedrigen Sinne.

Jeder dieſer fuͤnf Sinne hat ſein Werkzeug, oder ſeine Werkzeuge, durch welche er die ihm zugehoͤrenden Eindruͤcke aufnimmt. Das Organ des Geſichts, Gehoͤrs, Geruchs und Geſchmacks iſt jedermann bekannt, die Organe des Gefuͤhls, (welches einige, um es von der Faͤhigkeit zu em - pfinden oder afficirt zu werden, zu unterſcheiden, den Tact oder den Sinn des Betaſtens nennen,) ſind die ſogenannten Gefuͤhlswaͤrzchen, oder die kleinen durch ein Vergroͤßrungsglas auf der Ober - flaͤche des Koͤrpers leicht zu bemerkende Erhoͤhun - gen.

Außer den durch Huͤlfe der fuͤnf Sinnen be - wirkten und empfundenen Veraͤnderungen giebt es noch andre allgemeine und auf beſondre Theile des Koͤrpers angewieſene Empfindungen, von denen ich, weil ſie alle bekannt ſind, hier nur des Hun - gers und Durſtes und des Geſchlechtstriebes ge - denke.

Hun -16

Hunger und Durſt beziehn ſich auf die Er - haltung des Jndividuums. Der Geſchlechtstrieb auf die Erhaltung des Geſchlechts.

Wer kann die weiſen Winke der Natur in der Staͤrke und oͤftern Wiederkehr dieſer Em - pfindungen verkennen? Hunger und Durſt ſind nicht zu unterdruͤcken und werden alltaͤglich empfunden; der Geſchlechtstrieb kann unterdruͤckt werden, und wird, wenn man der Natur nicht vorgreift, nur ſelten ſo ſtark, als jene, ſich regen. Jene mußten ſo ſtark ſeyn und ſo ofte empfunden werden, weil die koͤrperliche Maſchine nie ohne Nahrung ſeyn kann; dieſer konnte und mußte ſeltner und leichter zu unterdruͤcken ſeyn, weil ei - ne zu haͤufige Regung und Befriedigung deſſelben den Zweck der Natur die Erhaltung des Ge - ſchlechts nicht erfuͤllen und die Kraͤfte des Jndivi - duums zerſtoͤren wuͤrde.

Wohl dem, der auch in dieſem Stuͤck dem ſtoiſchen Grundſatz gemaͤß lebt: Folge der Na - tur!

Zweyte
17

Zweyte Unterhaltung. Von den Hauptvermoͤgen der Seele.

Jch ging an einem heitern Winterabend durch die ſtillen Straßen meiner Vaterſtadt am Arm meiner Freundin. Ein hellfunkelnder Stern zieht mein Auge an. Das iſt, ſagte meine Begleiterin, die Aehre der gefluͤgelten Jungfrau, welche Jm feſtlichen Schmuck ſchwebt und Halm 'in der Hand traͤgt und des Weines Laub. Jch dankte meiner Freundin fuͤr dieſe Vermehrung meiner Erkenntniß. Jch bin mit dem Dank nicht zufrieden, antwortete ſie; Sie muͤſſen er - wiedern. Jch habe Jhre Erkenntniß vermeh - ret, ſagen Sie? So hab' ich auf etwas gewirkt, wovon ich den deutlichen Begriff von Jhnen hoͤ - ren will. Was iſt Erkenntniß, Freund? Jtzt wagte ich es wieder die Augen aufzuſchlagen, welche mich das Andenken an Fontenelles Unter - redungen mit der Markiſe beſchaͤmt niederſchla - gen hieß. So hat doch, erwiederte ich, die Lan - geweile, welche mich geſtern im Schauſpielhauſe zu L. uͤberfiel, beſſer fuͤr mich geſorgt, als ich glaubte. Weil weder Schauſpiel noch Schau -Bſpieler18ſpieler mich intereſſiren wollten, ſuchte ich die lee - ren Augenblicke mit Nachdenken uͤber meine Lieb - lingsgedanken zu fuͤllen, und gerieth da, nachdem ich manche Gegenſtaͤnde der Erkenntniß durchlau - fen hatte, auf den Begriff der Erkenntniß ſelbſt. Hoͤren Sie meine Erklaͤrung.

Sie haben meine Erkenntniß vermehrt, in - dem Sie die Urſache ſind, daß ich nun eine Vor - ſtellung von jenem Sternbild des Zodiakus habe; daß ich es mir bewußt bin, daß eine Vorſtellung (Sternbild der Jungfrau) in meinem Gemuͤthe iſt, welche auf dieſen am Himmel glaͤnzenden Stern geht. So ſuche ich Jhnen eine Erkennt - niß von dem, was man Erkenntniß heißt, zu ge - ben, weil ich Jhnen eine Vorſtellung verſchaffen will, von welcher Sie, wenn Sie an Erkennt - niß denken, es ſich bewußt ſeyn koͤnnen, daß ſie den von ihr unterſchiednen Gegenſtand (Erkennt - niß) in Jhrem Gemuͤthe ausdruͤckt.

Laſſen Sie mich, fuhr ich zu meiner Freun - din fort, da ich einmal beym Entwickeln bin, noch einen pſychologiſchen Begriff durch ein Beyſpiel zu erlaͤutern ſuchen. Misgluͤckt es mir, ſo den - ken Sie an die Stunde, wo ich mir dieſe Er - laͤuterung machte und ein feindſeliger Daͤmon uͤber mir waltete.

Philophron wird aus dem Kreis der Freund - ſchaft, wo er treu und redlich, ſo viel er konnte,in19in der Stille nuͤtzte, auf einen groͤßern Schau - platz gerufen, um fuͤr ſeinen edlen Eifer lauten Ruhm zu erndten. Doch, denkt er mit dem Dichter ja wohl,

Reizvoll klinget des Ruhms lockender Silberton
Jn das ſchlagende Herz, und die Unſterblichkeit
Jſt ein großer Gedanke
Jſt des Schweißes der Edlen werth.
Aber ſuͤßer iſts noch, ſchoͤner und reizender
Jn dem Arme des Freundes wiſſen ein Freund
zu ſeyn.
So das Leben genießen
Nicht unwuͤrdig der Ewigkeit.

Er beſtimmt ſich, im ſtillern Kreiſe der Freund - ſchaft zu bleiben will nicht, fern von ihr, den lauteſten Ruhm.

Jch habe, meine Leſer und Leſerinnen, dieſe Unterredung aus meinem Gedaͤchtniſſe abgeſchrie - ben, um die beyden Hauptaͤußerungen der Seele, Erkennen und Wollen, zu erlaͤutern. Die Seele erkennt, d. h. ſie hat Vorſtellungen, welche ſie mit Bewußtſeyn auf einen von den Vorſtellun - gen verſchiednen Gegenſtand bezieht, und ſie will, d. h. ſie beſtimmt ſich, was ihr als gut vorkommt, zu waͤhlen, was ihr als nicht gut vorkommt, nicht zu waͤhlen. Sie muß alſo auch, da dieſe Aeuße -B 2rungen20rungen wirklich ſind, ein Vermoͤgen, ſich auf dieſe Weiſe zu aͤußern habe, ein Erkenntniß - und Wil - lensvermoͤgen. Jenes ſetzt das Vermoͤgen der Vor - ſtellungen voraus, iſt die Vorſtellung auch bey dieſem nothwendig? Jch ſetze: Der Kaiſer von China bietet mir Pecking oder Nanking an. Jch weiß nicht, was ich waͤhlen ſoll, ich kann mich nicht beſtimmen. Jch frage einen meiner Freunde nach den beyden Staͤdten, er beſchreibt ſie mir. Jch hoͤre von ihm, daß in Pecking eine aſtronomiſche Geſellſchaft und in Nanking die groͤßte Glocke in der Welt iſt. Nun kann ich mich beſtimmen, und waͤhle Pecking, weil mich Aſtronomie, ſey's auch ſineſiſche, doch mehr noch intereſſirt, als eine große Glocke. Warum konnt 'ich mich itzt beſtimmen, Pecking zu waͤhlen, und Nanking nicht zu waͤhlen? Weil ich nun von beyden eine Vorſtellung hatte und nach derſelben beurtheilen konnte, welche beſſer als die andre ſey.

Alſo ſowohl das Erkenntnißvermoͤgen, als das Willensvermoͤgen ſetzt das Vermoͤgen der Vor - ſtellungen voraus, welches wir daher der Seele als ihr Grundvermoͤgen beylegen.

Dritte21

Dritte Unterhaltung. Vom Bewußtſeyn und der Aufmerkſamkeit.

Jch weiß, daß ich es bin, der itzo ſeine Ge - danken uͤber das Bewußtſeyn und die Aufmerk - ſamkeit niederſchreiben will, weiß, daß itzt Vorſtellungen in meiner Seele ſind, die mir ge - hoͤren, und auf die Gegenſtaͤnde, die ich eben nannte, ſich beziehn ich bin mir meiner be - wußt. Denn, wenn der Menſch ſeine Vorſtel - lungen auf ſich, als ihren Urheber und zugleich auf ihren Gegenſtand bezieht; ſo ſchreibt man ihm Bewußtſeyn zu. Wo alſo kein Bewußtſeyn iſt, da iſt auch keine Vorſtellung, und wo keine Vor - ſtellung iſt, da iſt auch kein Bewußtſeyn. Be - wußtloſe Vorſtellungen finden alſo eben ſo wenig ſtatt, als Bewußtloſigkeit bey noch daſeyenden Vorſtellungen. Nicht immer aber iſt das Be - wußtſeyn in gleichem Grade klar, und bald ſticht das Bewußtſeyn der Perſon, die Vorſtellungen hat; bald das, der Vorſtellung und des Gegen - ſtandes, worauf die Vorſtellungen gehn, hervor.

Die Regeln, nach welchen dieſe Erſcheinun - gen ſich richten, ſcheinen mir folgende zu ſeyn:

B 31. Re -22

1. Regel des Bewußtſeyns und der Klarheit deſſelben uͤberhaupt.

Nur in dem Zuſtande, wo der Menſch der Vorſtellungen faͤhig iſt, findet das Bewußt - ſeyn ſtatt. Je faͤhiger der Menſch zu Vor - ſtellungen uͤberhaupt iſt, und je leichter er dieſelben faſſen und von einander ſondern kann, deſto klarer iſt ſein Bewußtſeyn uͤber - haupt.

Denn nur dann iſt das Bewußtſeyn moͤglich, wenn die Seele wirkſam iſt, und ihr Wirken wahrnimmt. Nun kann nur in jenem Zuſtande des Menſchen, den ich in der Regel nannte, die Seele wirkſam ſeyn, mithin findet auch in dieſem nur das Bewußtſeyn ſtatt. *)Eben ſo wird auch der Beweis fuͤr den Grad der Klarheit das Bewußtſeyn uͤberhaupt gefuͤhrt.

Daher fehlt im Schlaf und Ohnmacht, bey betaͤubendem Schmerz, Tod, das Bewußtſeyn ganz.

Daher verliert es ſich, wenn wir irgend et - was ſehn oder hoͤren, oder uͤberhaupt wahrneh - men, welches auf unſre Seele ſo viele oder große, oder neue Eindruͤcke macht, daß ſie dieſelben nicht ſogleich und auf einmal unter Vorſtellungen brin -gen23gen und faſſen kann. So ſtand gewiß der uͤppi - ge Polemo, als er vom naͤchtlichen Schmauſe kommend, in die offne Thuͤr der Akademie ging, und Xenokrates, der ihn erblickte, ſein Thema ver - ließ, und von Maͤßigkeit und Sittſamkeit redete, mehrere Augenblicke bewußtlos da, bis endlich ſeine Seele von der Menge der Eindruͤcke, unter wel - chen ſie erdruͤckt wurde, einige zu Vorſtellungen verklaͤrte, und nun Polemo die Kraͤnze des Ba - chus vom Haupt riß, und ſeine nackten Arme un - ter dem Mantel verbarg.

So blieb Aeneas, als der Goͤtterbote, der mit einemmale erſchien, (inuadit) von ihm ſchied, (medio ſermone reliquit) und ihm den Willen Jupiters verkuͤndete, von der geliebten Dido ſich zu trennen, in bewußtloſer Betaͤubung zuruͤck (adſpectu obmutuit amens) denn der Gedanke an die Beleidigung der Goͤtter und die Liebe zur Koͤ - nigin Carthagos unterdruͤckten ſeine Seele.

So brach gewiß manches Leſers Bewußtſeyn auf einige Momente ab, mit den ſtarken Worten des Dichters der Meſſiade, in welchen er den Tod des Erloͤſers ſchildert

Vater, (ſprach er) in deine Haͤnde befehl 'ich meine Seele! Drauf (Gott, Mittler, erbarme dich unſer!) Es iſt vollendet Und er neigte ſein Haupt, und ſtarb.
B 4Jn24

Jn Betaͤubung und Bewußtloſigkeit waͤre auch wohl ein andrer Koͤnig, als Ludwig der Sech - zehnte, gekommen, wenn er in die Situation ver - ſetzt worden waͤre, in welche dieſen ſeine erſte Reiſe, nach dem merkwuͤrdigen vierzehnten Julius, von Verſailles nach Paris verſetzte. Der Koͤnig der Franzoſen, als er durch die Straßen von Paris fuhr, ſo ſchildert ihn ein Meiſter in der Kunſt zu ſchildern*)Herr Rath Schulze in ſeiner Geſchichte der großen Revolution in Frankreich, S. 190., war blaß, ſichtbar un - ruhig, und ſahe, ohne den Kopf zu wenden, be - ſtaͤndig nach der rechten Seite in die Hoͤhe und uͤber die Gewehre und Stangen hinweg. Jn ſeinen Minen war kein beſtimmtes Gefuͤhl zu le - ſen; aber wohl eine Art von Betaͤubung, in die er durch das zahlloſe Gewimmel von Men - ſchen, durch das Geraͤuſch der Janitſcharen - muſik, durch das Geſchrey vieler Tauſende, durch den Anblick ſo vieler und ſo mannigfach bewaffneter Buͤrger, durch die Erinnerung an die blutigen Auftritte der vorigen Tage, und an das, was ſie veranlaßt hatte, ver - ſenkt worden war.

Wer wuͤrde es verhuͤten koͤnnen, wenigſtens auf einige Momente betaͤubt und bewußtlos zu werden, wenn er in den Saal des Coffeehauſesauf25auf den alten Boulewards traͤte, den derſelbe Schriftſteller alſo ſchildert:*)Ueber Paris und die Pariſer. Fuͤnfter Brief.

Denken Sie ſich einen langen Saal, an deſ - ſen Einem Ende ein foͤrmliches Orcheſter fuͤr Vo - kal - und Jnſtrumental-Muſik angebracht iſt; denken Sie ſich funfzig kleine Tiſche mit Marmor - platten belegt und mit Seſſeln ohne Lehnen um - pflanzt, auf welchen Alt und Jung, Klein und Groß bey einander ſitzt und lacht und weint, und ſchmaͤhlt und liebelt; denken Sie ſich das ſeltſame Geheul, Gewinſel, Gelaͤchter und Geziſch von zweyhundert jungen und alten lebhaften Gaͤſten, und nun laſſen Sie Heerpauken dazwiſchen don - nern, Trompeten ſchmettern, unreine Geigen kraͤchzen, Floͤten ziſchen, Baͤſſe grunzen und ble - cherne Kehlen dazwiſchen kraͤhen oder miauen; laſſen Sie dies ganze chaotiſche Geheul - und Ge - ſchrey - und Donner-Conzert von der niedrigen Decke des Zimmers zuruͤckprallen und Jhnen beym Eintritte toͤſend entgegen ſchlagen: ſo haben Sie eine hoͤr - und fuͤhlbare Schilderung dieſes ſeltſa - men Saals und Sie werden ſich damit begnuͤgen. Dies iſt ein Caffé à Concert.

Schon dieſe Schilderung iſt ſo trefflich, daß ſie betaͤubt und die Seele nicht ſogleich eine ganze Vorſtellung hervorbringen kann; was muß der Saal ſelbſt fuͤr Wirkung haben?

B 52. Re -26

2. Regel der Klarheit des Bewußtſeyns der vorſtellenden Perſon.

Das Bewußtſeyn der Perſon ſticht in verhaͤltnißmaͤßigen Gedanken hervor, wenn die in der Seele lebenden Vorſtellungen ſich auf Empfindungen des Subjekts beziehn, den Fall abgerechnet, wo die Empfindung zu ſtark iſt. (ſ. 1. Regel.)

Denn Empfindung iſt eine angenehme oder unangenehme Veraͤnderung des Zuſtandes der vor - ſtellenden Perſon; bey Empfindungsvorſtellungen alſo wird ganz natuͤrlich das Vermoͤgen des Be - wußtſeyns mehr auf die empfindende Perſon, als den Gegenſtand der Empfindung gerichtet wer - den, das Bewußtſeyn der Perſon mithin klarer ſeyn, als das, des Vorſtellungsgegenſtandes.

Daher iſt der Leidende gemeinhin ſeiner ſich nur gar zu gut bewußt, und des Gegenſtandes, der ſein Leiden wirkte, nur in ſo fern er in ihm zur Empfindung wird.

Als die liebende Dido von Aeneas Abreiſe hoͤrt, ſieht ſie nur ſich und iſt ſich nur deſſen be - wußt, was ihr Ungluͤck werden kann.

Ha, deinetwegen haſſen Lybiens Voͤlker mich und der Numidier Tyrannen die Tyrier ſindmir27mir feind ach deinet, deinetwegen loͤſcht 'ich Schaam und Keuſchheit aus, und meines Na - mens Ruhm, mit dem ich zu den Sternen ging. Wem uͤberlaͤßſt du mich, die Sterbende denn ſollt' ich weilen, bis Pygmalion mein Bruder meine Mauern in Ruinen wirft und bis der Gaͤtuler Jarbas mich in Feſſeln fuͤhrt?

*)Te propter Libycae gentes Nomadumque ty - ranni Odere; infenſi Tyrii: te propter eundem Exſtinctus pudor, et, qua ſola ſidera adibam, Fama prior. Cui me moribundam deſeris, hoſpes? Hoc ſolum nomen quoniam de conjuge reſtat. Quid moror? an mea Pygmalion dum moeni[ſ]frater Deſtruat, aut captam ducat Gaetulus Jarbas?

So wie ſie im Taumel der Freude uͤber Aeneas Ankunft und Liebe nur ſich, die Gluͤckliche ſah, und alles aus ihrem Bewußtſeyn ſcheuchte, was nicht zur freudigen Empfindung werden wollte. Auch ihren Fall bedeckte ſie mit dem beruhigenden Namen des Ehebundes.

Neo jam furtiuum Dido meditatur amorem Conjugium vocat; hoc praetexit nomine culpam.
So28

So iſt der wohlluͤſtige Trinker mit ganzer Seele auf ſeinem Gaum. Er verſchließt ſeine Augen; denn ſelbſt das labende Glas verlangt er nicht zu ſehn biegt den Kopf zwiſchen den Schultern und iſt, wie der feine Menſchenkenner Engel*)Engels Mimik 1. Th. S. 177. 178. ſagt, ganz in der Einen Empfindung beyſammen. **)Es iſt darum kein Wunder, daß die Perſonen, welche ſich den Magnetiſeurs uͤbergeben, in einen ſie von allem, was da iſt, nur nicht von ſich ſelbſt und ihrer magnetiſchen Empfindung, abtrennenden Schlaf uͤbergehn. Dieſe Art von Schlaf, wo vor dem Gegenſtande der Empfindung die Augen des Leibes und der Seele zuſammengekniffen oder verdreht werden, um ſich nur ſeiner einzigen Em - pfindung bewußt zu ſeyn, zeigt ſich bey jedem hohen Grade jeder Wohlluſt.

Eben daher kommt es, daß Perſonen bey ſchweren Krankheiten oft etwas thun oder reden, wovon ſie hernach durchaus nichts wiſſen. Die Vorſtellung von ſich und ihrem ſchmerzhaften Zu - ſtand, iſt ſo ganz allein in ihrem Bewußtſeyn, daß ſie auf die aͤußern Verhaͤltniſſe, in welchen ſie ſich befinden, daß ſie ſelbſt auf das, was ſie thun oder reden, gar nicht merken. Ja ſie koͤnnen oft nachher ſich nicht auf ſich ſelbſt und ihren Schmerz beſinnen, weil ihr nur auf den leidenden Theilihrer29ihrer Perſon eingeengtes Bewußtſeyn ſie in eine ſo eigne Situation verſetzt, daß wenn nachher das Bewußtſeyn aller ihrer aͤußern Verhaͤltniſſe wieder kommt, ſie ſich fuͤr jene nicht orientiren und die Vorſtellung derſelben alſo nicht wieder vor ihre Seele fuͤhren koͤnnen.

Als der Koͤnig der Franzoſen auf dem Thron im Hotel de Ville in Paris ſaß, und von allen Seiten Beweiſe der Umkehrung ſeines bisherigen Verhaͤltniſſes erhielt, lebte er einzig und allein in dem neuen Gefuͤhl, der erſte Diener ſeiner Na - tion zu ſeyn. Wie klar wird dieſes aus folgender vom Hrn. R. Schultz erzaͤhlten Anecdote. *)Geſchichte der großen Revolution in Frankreich, S. 194.Der Maire von Paris uͤberreichte dem auf dem Thron ſitzenden Koͤnig die National-Kokarde. Der Koͤnig nahm ſie in die Hand und hob ſie empor, um ſie dem Volke zu zeigen. Dieſes antwortete mit einem Geſchrey der Begeiſterung und des Dankes darauf. Er beſtrebte ſich, durch Haͤnde - klatſchen ſeine Freude zu bezeigen, da ihm aber die Kokarde in der einen Hand und der Hut unter dem andern Arm, dabey im Wege waren, ließ er letztern fallen und nahm erſtre in den Mund, ſtand auf und klatſchte in die Haͤnde.

3. Re -30

3. Regel der Klarheit des Bewußtſeyns des vorgeſtellten Gegenſtandes.

Das Bewußtſeyn des vorgeſtellten Ge - genſtandes ſticht in verhaͤltnißmaͤßigen Gra - den hervor, wenn die in der Seele lebenden Vorſtellungen ſich auf Erkenntniß des Sub - jekts beziehen, den Fall abgerechnet, wo der zu erkennende Gegenſtand fuͤr die Er - kenntnißfaͤhigkeit zu groß iſt. *)Jn der Sprache des gemeinen Lebens ſagt man in ſolchem Fall das iſt mir zu hoch das kann ich nicht begreifen das macht mich ſchwindeln. So z. B. wenn man ſich die Ewigkeit ausdenken will: man geraͤth an die Graͤnze der Endlichkeit, ver - liert alles und ſich ſelbſt, und wenn man ſich be - ſinnt, hat man gar keinen Gedanken gehabt.

Denn, wenn es um Erkenntniß zu thun iſt, verlangt man nicht ſeine Perſon, ſeinen actuellen Zuſtand, ſondern den Gegenſtand der Erkenntniß mit ſeiner Vorſtellung zu vergleichen: umfaßt da - her mit dem Bewußtſeyn inniger dieſen Gegen - ſtand, als ſich und es iſt daher in dieſem Fall das Bewußtſeyn des vorgeſtellten Gegenſtandes klarer, als das, ſeiner Perſon. **)Bey dem Denken (Erkennen) muß man ſich aus ſeiner perſoͤnlichen Jndividualitaͤt heraus verſetzen. Die Empfindung ſchließt uns in dieſelbe ein.

Darum31

Darum ſagte der im Sande zeichnende Ar - chimedes zu dem Soldaten, der ihn zu morden kam, nichts, als ein verwirre meine Kreiſe nicht denn ſein Bewußtſeyn war in dieſem Au - genblick in dieſen Kreiſen eingeſchloſſen.

Darum mußte ſich Tycho de Brahe, der ſich im Fahren nach dem Stand der Sterne richten wollte, von ſeinem Kutſcher einen klugen Mann im Himmel, aber einen Narren auf Erden ſchel - ten laſſen.

Darum ſieht man tief Nachdenkende ſehr oft Bewegungen und Geberden machen, welche das Lachen derer, die um ſie ſind, erregen, ohne daß ſie, weil ſie ſich ihres individuellen Verhaͤltniſſes zu Ort und Zeit und andern Perſonen nicht be - wußt ſind, etwas davon wahrnehmen, bis ſie entweder ausgedacht haben oder ein Geſtus, der zu ſtark mit dem, was gewoͤhnlich iſt, kontra - ſtirt, in ihre Empfindung greift, ſie erſchreckt und das Bewußtſeyn ihrer Perſon zuruͤckruft.

Fuͤrchten Sie nicht, werthe Leſer und Leſerin - nen, daß ich Sie oft mit Regeln, welche immer etwas trocken ſind, ermuͤden werde. Sind Sie uͤber die hier vorgelegten unzufrieden, ſo verzeihen Sie meinem Unvermoͤgen, die Gedanken anders einzukleiden, ohne dunkel und unbeſtimmt zu wer - den, und meiner Vorſtellung, die ich hierbey hatte, daß nemlich auch die trockenſte Regel, durchdas32das eigne Nachdenken befruchtet und intereſſant werden koͤnne.

Derjenige Zuſtand der Seele, wo dieſelbe ihre Thaͤtigkeit auf etwas richtet, um ſich Vor - ſtellungen davon zu verſchaffen, heißt Aufmerk - ſamkeit. Je faͤhiger und williger die Seele zur Thaͤtigkeit iſt, und je geſchickter die Ge - genſtaͤnde ſind, dieſelbe zu wecken, deſto groͤßer wird die Aufmerkſamkeit ſeyn.

Darum kann man aufmerkſam ſeyn, wenn die Seele frey, ihre Kraft nicht erſchoͤpft, oder von zu großer Anſtrengung oder koͤrperlicher Traͤg - heit gelaͤhmt iſt; und wird ſeine Aufmerkſamkeit auf dasjenige richten, was ſich vor andern Ge - genſtaͤnden hervordraͤngt, oder auf irgend eine Weiſe intereſſant zu ſeyn ſcheint.

Jch habe des Tages Laſt und Hitze getragen und Geiſt und Koͤrper ermuͤdet, ſelbſt Wielands Oberon kann mich nicht feſthalten, meine Seele iſt nicht vermoͤgend, noch thaͤtig zu ſeyn.

Coronatus koͤmmt vom Bachusfeſte zu Hauſe. Seine Gattin erzaͤhlt ihm die Geſchichte der Stun - den ihres Alleinſeyns. Er kann nicht aufmerken. Die Wallungen des Blutes im Fleiſch erlauben dem Geiſte nicht, ſich in Thaͤtigkeit zu ſetzen.

Craſſus ſitzt im Ruheſtuhl, ſeines Leibes zu pflegen. Sein Sohn recitirt ihm das, was er heute in der Schule lernte. Er hoͤrt nur Toͤneund33und gaͤhnt. Seine Seele hat nicht Luſt, ſich um Geiſtesſachen zu muͤhen, der weite Umfang ihres Tempels iſt hinreichend zu ihrer Weide.

Die fleißige Hausfrau ſitzt am Naͤhrahmen und arbeitet fuͤr die Familie. Ein ſtarker Knall, ſie horchet auf. Noch einmal, ſie ſieht aus dem Fenſter. Nun will ſie ſich nicht weiter darum kuͤmmern; denn ſie hat zu thun. Es ſchallt noch einmal, und ſie horcht doch wieder auf: denn ſtarke Eindruͤcke erzwingen die Aufmerkſamkeit.

Ferdinand koͤmmt aus einer frohen, ihn in - tereſſirenden Geſellſchaft auf ſein Zimmer. Er nimmt ſeinen Euclid, um dem Beweiſe weiter nachzudenken, den er noch nicht gefaßt hatte: und will ganz darauf merken. Allein zwiſchen jedem Satz der Demonſtration blitzt die Vorſtel - lung von dem genoßnen Vergnuͤgen auf, und trifft ihn er muß auf ſie merken.

Sorgfaͤltig merkt der Reiſende auf die Schoͤn - heiten der Stadt, welche er zum erſtenmal ſieht; indeß die Buͤrger derſelben unaufmerkſam vor - uͤbergehn. Jenem ſind ſie neu und regen daher die Begierde ſeiner Seele an, durch ihre Erkennt - niß die Summe der Vorſtellungen, welche ſie umfaßt, zu vermehren: Dieſe haben ſie ſchon oft geſehen, und indem ſie glauben, die Merkwuͤr - digkeiten ihres Wohnorts zu kennen, halten ſieCes34es der Muͤhe nicht werth, ihre Aufmerkſamkeit auf dieſelben zu richten.

Menſchen und Voͤlker, deren Erkenntniß - kreis noch ſehr eingeſchraͤnkt iſt, merken daher auf alles, was dem Ausgebildeten unwichtig und klein vorkoͤmmt. Wenn der Landmann, der noch nie die Stadt, und was in ihr ſich findet, ſah, zum erſtenmal zur Stadt koͤmmt, bleibt er allenthal - ben ſtehen und richtet Auge und Ohr mit großer Aufmerkſamkeit auf alles, was ſich ihm darbietet. Als der engliſche Kapitain Wilſon, in dem Poſt - ſchiff der engliſchen oſtindiſchen Kompagnie, an den Pelew-Jnſeln in der Weſtgegend des ſtillen Oce - ans Schiffbruch litt, zog er und ſeine Gefaͤhrten, und alles, was ſie bey ſich fuͤhrten, die groͤßte Aufmerkſamkeit der Pelewaner, die noch nie et - was Aehnliches geſehen hatten, auf ſich. Sie konnten ſich nicht ſaͤttigen an dem Anblick der weißen und bekleideten Englaͤnder, der auf dem Schiff befindlichen Hunde, des Schießgewehrs und der exercirenden Soldaten. Raakuk, der Bruder des Koͤnigs dieſer Jnſeln, welcher einige Tage vor dieſem ſchon mit den Englaͤndern umgegangen war, machte den Koͤnig auf die klein - ſten Gegenſtaͤnde aufmerkſam. Ein Schleif - ſtein, die ſehr aͤrmliche Kuͤchengeraͤthſchaft, ein Blaſebalg und der Koch ſelbſt wurden lange und aͤußerſt aufmerkſam angeſehn und betrachtet.

Jch35

Jch werde, wenn ich von Verwundrung und Bewundrung zu reden habe, noch einmal auf dieſe und aͤhnliche Erſcheinungen zuruͤckkommen, und ausfuͤhrlicher von denſelben reden.

Vierte Unterhaltung. Von der Einbildungskraft.

Ein froher Tag geht nicht mit der untergehenden Sonne voruͤber und die truͤben Stunden des Kummers werden nicht von dem Mondenlicht der Nacht fuͤr die empfindende Seele erhellet. Freu - de und Leid ſetzt ſich uͤber die wirkliche Empfindung hinaus fort oft in dieſer Fortſetzung eben ſo ſtark, als in der Wirklichkeit ſelbſt.*)Ja ſehr oft noch ſtaͤrker: denn in der Regel ſtellt man ſich eine Freude vorher oder hinterher noch groͤßer vor, als ſie wirklich iſt. Bey der Vorſtellung der Freude, bey dem ſogenannten Den - ken daran, liegen blos die Merkmale derſelben, an welchen Luſt haͤngt, in dem Horizont der Seele; allein bey dem wirklichen Genuß thut das Jndivi - duelle, Lokale, durchaus Beſtimmte allerley andre Dinge hinzu, welche ſelten durchaus mit Luſt fuͤr jedes Subjekt verknuͤpft ſind. Wenn man diePhan - EineC 2ange -36angenehme Reiſe wird nach der Zuruͤckkunft noch oft der Stoff der Unterhaltungen, und uͤber denVer -*)Phantaſie allein wirken laͤßt, ſo mahlt ſie ſich ihre Bilder mit den grelleſten Farben und voͤllig einarti - gen Zuͤgen; die unangenehmen fuͤrchterlich, die an - genehmen reizend: alles was ſeyn koͤnnte, ſtellt ſie als wirklich vor; entfernt alles, was nicht mit der Grundfarbe ihrer Vorſtellungen zuſammenſtimmt, und mahlt alles nach den Neigungen, Launen und Wuͤnſchen des Subjekts aus. Es iſt daher den Truͤb - ſinnigen und Melancholiſchen das beſtaͤndige Allein - ſeyn ſehr gefaͤhrlich, weil da nichts ſo leicht ihre Einbildungskraft von den Bildern, die ihre Trau - rigkeit und Schwermuth erſchafft, abziehen kann. Es iſt daher kein Verfuͤhrer gluͤcklicher als derjenige, welcher den Gegenſtand, fuͤr den er jemand gewin - nen will, nicht mit Augen ſehen, ſondern von der Phantaſie errathen und ausmahlen laͤßt.Nach dieſer Theorie verfahren die Pariſer Kupp - lerinnen, um in ihrem Geſchaͤffte deſto gluͤcklicher zu ſeyn. Herr Rath Schultze, welcher in ſeinen vortrefflichen Werken, womit er uns beſchenkt hat, ſo viele wichtige Beytraͤge zur Pſychologie (die uͤber - haupt nicht aus Compendien, wie ſie bis itzt wenig - ſtens waren, ſondern aus Erfahrung und Geſchichte erlernt werden muß) liefert, erzaͤhlt die Verfah - rungsart dieſer Verfuͤhrerinnen, in dem ſechsten Briefe ſeines Meiſterwerks uͤber Paris und die Pa - riſer:Sie37Verluſt eines Freundes wohl Jahre lang ge - trauert.

C 3Seine

*)Sie wiſſen, ſchreibt er ſeinem Freund, daß ge - wiſſe Dinge durch die Phantaſie ſchoͤner aufgemahlt werden, als man ſie in der Wirklichkeit vor ſich ſieht, und daß oft Neugier, mit den Taſchenſpieler, ſtreichen der Einbildungskraft verbunden, heftiger draͤngt, als ſinnlicher, durch Auge oder Gefuͤhl auf - geregter Reiz. Haͤtten Sie wohl geglaubt, daß nach dieſer Theorie die Sinnlichkeit hier verfolgt und oft gefangen wird? Als ich ein wenig vor dem geſchminkten Affen, (der vor der Bude eines Taſchenſpielers ſtand, um fuͤr dieſen Zuſchauer an - zuwerben) ſtill ſtand, trat eine aͤltliche Frau von der Seite zu mir, deren Weſen, wie ich mit halben Blicken unterſchied, etwas Scheues, aber nichts Furchtſames zeigte, und ſagte halb laut, halb leiſe, die Augen andaͤchtig auf den Affen und ſeinen Herrn gerichtet, folgendes hinter meinem Ruͤcken: Mon - ſieur, vous n' étes pas curieux de voir un joli enfant? Elle n' a que quatorze ans! Elle debu - te elle a peur de paroitre elle eſt bien près d'ici etc. Das betete ſie, wie auswen - dig gelernt, her. Da ſie wollte, daß niemand ihr Gewerbe merken ſollte, ſo ſchuͤttelte ich voll Scho - nung und ohne mich umzuſehen mit dem Kopf. Die Stimme von neuen: Monſieur, vous ſeriez bien content elle ſera elle ſera elle a elle eſt und hinter jedem dieſer Abſaͤtze Lobes -erhe -

38

Seinen Jupiter bildet der Bildner aus ſei - ner Seele, und die Goͤtter Griechenlands *)Ein vortreffliches Gedicht von Schiller. Deutſcher Merkur Maͤrz 1788. S. 250. erſchuf der begeiſterte Dichter.

Marc-Aurel iſt ſchon als Knabe die Hof - nung der Roͤmer, welche, Patriotismus im Her - zen, das Vaterland unter dem eiſernen Scepter verblendeter Hadriane ſehn und Antonin genießt ſchon im Leben die Freude uͤber den Segen, wel - chen jeder Edle ſpaͤterer Jahrhunderte uͤber dem Menſchenfreund ausſpricht.

Es

*)erhebungen deſſen, was einen Gimpel erwartet haͤtte, wenn er ihr gefolgt waͤre. Jch hatte mich an dem Affen ſatt geſehen und an der Stimme von hinten ſatt gehoͤrt, wandte mich kurz um und ging weiter. Laſſen Sie, ſetzt der Menſchenkenner hinzu, dies einem jungen Menſchen ohne Erfahrung ſagen, der das Abenteuerliche liebt, und welchen Aufforderun - gen und Beſchreibungen dieſer Art, ſtatt durch ihre Zudringlichkeit und Nacktheit abzuſchrecken, erhitzen: und Sie werden ſehen, wie bald er der Kupplerin folgen und einem joli enfant von dreyßig Jahren in die Arme rennen wird, das, wie er nachher mit Schmerzen bekennen mag, ſchon laͤngſt debuͤtirt hatte.

39

Es hat alſo die Seele ein Vermoͤgen, auch das, was ſie nicht als gegenwaͤrtig empfindet, ſich vorzubilden, fuͤr die angenehme Empfindung ein Aequivalent, fuͤr die unangenehme einen quaͤ - lenden Schatten, ein Nichts im Etwas zu ge - ben das Vermoͤgen, etwas was nicht gegen - waͤrtig iſt, in Seelenbildern zu repraͤſentiren. Das iſt's, was man Einbildungskraft, Jma - gination, Phantaſie heißt. *)Jch brauche dieſe drey Worte voͤllig ſynonymiſch da ſie Bezeichnungen eines und deſſelben Gegenſtan - des und nur als Worte verſchiedner Sprachen ver - ſchieden ſind.Sie zeigt dem Schwaͤrmer ſeine Chimaͤren, dem Traͤumenden ſeine Geſichter, dem Wachenden ſeine gehabten Empfindungen, oder das, was ſie aus ihnen zu - ſammentrug. Jhren Stoff nimmt ſie aus der Empfindung. Wie koͤnnte ſich auch die Seele ein Bild von einem Gegenſtande machen, der nie, weder ganz noch nach den einzelnen Theilen, aus wel - chen er zuſammengeſetzt iſt, von ihr wahrgenom - men waͤre? Auch zu den Abbildungen der Ge - genſtaͤnde, welche das Auge nie ſah und das Ohr nicht hoͤrte, entlehnt ſie die Farben aus ihren Em - pfindungen. Der Bewohner eines ebnen Landes bildet die Vorſtellungen von den Alpen aus ſeinen kleinen Huͤgeln: der Nachbar des Brockens aus dieſem. Kriegeriſche Nationen erwarten auch nachC 4dem40dem Tode ein Schlachtfeld und Feinde. Der wolluͤſtige Orientaler hingegen, volle Saͤttigung ſeiner Begierden in den Armen der Huris. Die Groͤnlaͤnder hoffen, auch kuͤnftig in einem Groͤnland zu leben, und Seehunde, Wallfiſche und Rennthiere, wie in ihrem itzigen Lande, nur mit leichtrer Muͤhe, zu fangen. Alles, was die Griechen im Leben genoſſen und thaten, hofften ſie auch jenſeit des Stix thun und genießen zu koͤnnen.

Seine Freuden traf der frohe Schatten
Jn Elyſiens Haynen wieder an;
Treue Liebe fand den treuen Gatten
Und der Wagenlenker ſeine Bahn;
Orpheus Spiel toͤnt die gewohnten Lieder,
Jn Alceſtens Arme ſinkt Admet.
Seinen Freund erkennt Oreſtes wieder,
Seine Waffen Philoktet.

Weil aber die Phantaſie nur aus der Schaale der Empfindung die Farben zu ihren Bildern ent - lehnen kann, erreicht ſie auch nur ſolche Gegen - ſtaͤnde, die fuͤr die Sinne gemacht ſind; und ſchwingt vergebens ihre Fluͤgel, um Jdeen ihr Bild abzuſtehlen. Gott im Bilde iſt ein Goͤtze, und der Geſetzgeber der Jſraeliten gab mit Recht ſeinem Volke die Lehre: Von Jehovah muͤßt ihr euch kein Bild oder Gleichniß machen. Darum41Darum ſtand uͤber dem Tempel der Jſis eine Auf - ſchrift, die die Hand eines Mannes verraͤth, der mehr, als ein Goͤtzendiener, war. Jch bin alles, was da iſt, was da war und was da ſeyn wird, und meinen Schleyer hat kein Sterblicher aufgedeckt.

Die Geſetze, nach welchen die Phantaſie ihre Bilder vor die Seele fuͤhrt, ſind die, nach wel - chen ſich Vorſtellungen uͤberhaupt mit einander verketten. Es verknuͤpfen ſich aber ſolche Vor - ſtellungen mit einander, welche entweder inner - lich oder aͤußerlich verbunden ſind. Jnnerlich verbunden ſind die, welche den Grund ihres An - einanderhangens in ſich enthalten; aͤußerlich aber die, welchen das, was ſie zuſammenhaͤngt, nicht weſentlich zugehoͤrt, ſondern außer ihnen liegt. Aehnlichkeit, urſachlicher Zuſammenhang, Kon - traſt u. dergl. gehoͤren zu den innerlichen Verbin - dungen, Zuſammenhang im Raum, oder in der Zeit zu den aͤußerlichen.

Saladin in Nathan dem Weiſen, dem Stolz der deutſchen Muſe, vergegenwaͤrtigt ſich das Bild ſeines verlornen Bruders Aſſad, weil er in dem Geſicht des gefangnen Tempelherrn Zuͤge ent - deckt, die denen ſeines Aſſad aͤhnlich waren.

Der Dichter des hohen Liedes von der Einzi - gen hoͤrt in der Begeiſterung alles toͤnen, was das Ohr reizen kann, und gebeut allem Schwei -C 5gen,42gen, weil nur ſein ſchoͤnſtes Lied toͤnen und ge - hoͤrt werden ſoll.

Schweig 'o Chor der Nachtigallen
Mir nur lauſche jedes Ohr.
Murmelbach! hoͤr 'auf zu wallen!
Winde laßt die Fluͤgel fallen,
Raſſelt nicht durch Laub und Rohr!
Halt' in jedem Elemente,
Halt 'in Garten, Hayn und Flur,
Jeden Laut, der irgend nur
Meine Feier ſtoͤren koͤnnte,
Halt' den Odem an, Natur.

Der klagende Orpheus fuͤhrt den Liebling der roͤmiſchen Muſe zu der klagenden Nachtigall, in den herrlichen Verſen:

Wie voll Schmerz Philomel 'in gruͤnender
Pappelumſchattung
Jhre verlohrenen Kinder betraurt, die ein grau -
ſamer Landmann
Spaͤhend dem Neſt entriß, die Federloſen; doch
jene
Weint in die Nacht und erneu't vielfaͤltige Toͤne
des Jammers
Sitzend im Laub' und ringsum erfuͤllt Wehklage
die Gegend.
Qualis43
Qualis populea moerens philomela ſub um -
bra
Amiſſos queritur fetus, quos durus arator
Obſervans nido implumes detraxit: at illa
Flet noctem ramoque ſedens miſerabile car -
men
Integrat et moeſtis late loca quaeſtibus im -
plet.
*)So knuͤpfen ſich der Aehnlichkeit wegen in der Seele des Traurigen nur traurige Bilder zuſam - men und laſſen troͤſtende Vorſtellungen nicht ein; bis dieſe nach und nach, ſo wie ſich die Wolken der Schwermuth zertheilen, Gelegenheit finden, ſich in den hellen Zwiſchenraͤumen feſtzuſetzen. Drum muß die Zeit das Beſte bey der Troͤſtung thun.
*)

Der Gedanke an das Schoͤpferwort Jeho - vah's: Es werde Licht gebahr in Pope's Phantaſie Newtons erhabne Grafſchrift:

All Nature and his Works ware hid in
Night;
God ſaid, Let Newton be! and all was Light.
Da die Natur noch tief in Nacht gewickelt
lag,
Sprach Gott einſt: Newton ſey! Er ward
und es war Tag.

Kain entflieht vor dem Angeſicht ſeiner Ver - wandten, weil er das fuͤrchterliche Bild des er -mor -44mordeten Bruders und mit demſelben Rache gegen den Moͤrder in ihrer Seele erweckt.

Der Niederlaͤnder ſieht oft noch das Bild ſeines Wilhelmus von Naſſawen, als den Genius ſeiner Freiheit und ſingt ihm: und der Name Preuße weckt in der Seele des Kriegers das lebendige An - denken an den Einzigen Koͤnig und die griechiſchen Schlachten, welche den Namen Preußen zum Namen unuͤberwindlicher Helden machten.

Die Nerone und Domitiane, die ihre Zepter zu Henkersbeilen und ihre Unterthanen zu Skla - ven machten, erinnern an die gluͤcklichen Jahre der Freiheit und Ruhe. Die Zeiten des Fre - vels, welche die Goͤtter von der Erde vertrieben, zeigen dem Dichter die goldne Zeit, wo unter Menſchen Goͤtter wandelten. Die erbitterte Juno will den Acheron erregen, weil ſie des Olympus Bewohner nicht beugen kann. Flectere ſi nequeo ſuperos, Acheronta mouebo.

Jch will meinen Leſern das Vergnuͤgen nicht rauben, den angefuͤhrten Beyſpielen, aus dem Schatz der ihrigen, noch mehrere zuzugeſellen. Nur noch einige zur Erlaͤuterung des Satzes: daß auch aͤußerliche Verbindungen die Vorſtellun - gen zuſammen verknuͤpfen.

So oft Marc-Aurel die Appiſche Straße be - tritt, lebt in ſeiner Jmagination das Bild ſeinesLehrers45Lehrers Euphorion auf, der ihn hier bey den Graͤ - bern ſeiner edlen Vaͤter der Tugend und dem Pa - triotismus weihte.

Der Name der Oder ruft das dankbar trau - rige Andenken an Herzog Leopold, den Menſchen zuruͤck, und bey dem Anblick des heiligen Grabes fuͤllen die Leiden und der Tod ſeines Erloͤſers die andaͤchtige Seele des Pilgers.

Der vierzehnte Tag des Julius rief die fran - zoͤſiſche Nation zum Feſt der Freiheit zuſammen, und oft werden noch die Vaͤter mit ihren Kindern des Tages gedenken, wo Leopold und Friedrich Wil - helm ihren Unterthanen den Frieden ſchenkten. *)Hier nur ſo viel uͤber die Aſſociation der Vorſtel - lungen, weil ich hier keine Theorie derſelben zu geben geſonnen bin, ſondern ſie nur, ſo fern ſie auf die Einbildungskraft Einfluß hat, betrachte. Ueber die Wirkung derſelben auf das Begehrungs - vermoͤgen, an ſeinem Ort.

Nicht immer ſchweben die Bilder der Jma - gination mit gleicher Klarheit und Lebhaftigkeit uͤber dem Geſichtskreis der Seele. Je ſtaͤrker und eingreifender die ſinnliche Jmpreſſion war, aus welcher die Phantaſie ihr Bild ſich erzog, und je ſchwaͤcher die Eindruͤcke gegenwaͤrtiger Gegenſtaͤnde, je geringer die Zerſtreuungen ſind, deſto klarer, deſto leb - hafter die imaginariſchen Vorſtellungen.

Mit46

Mit unausloͤſchlichen Zuͤgen praͤgte ſich das Bild des ſtolzen Tarquins, der die roͤmiſche Frei - heit entheiligte, und eine roͤmiſche Matrone ſchaͤn - dete, in das Herz des patriotiſchen Buͤrgers; indeß neben demſelben, eben ſo unausloͤſchlich, eines Bru - tus Gerechtigkeit glaͤnzte.

Nur mit matten Farben mahlt ſich in dem Buͤrger Deutſchlands das Erdbeben, welches Laͤnder und Staͤdte in Ruinen zuſammen warf; indeß der ungluͤckliche Calabreſe noch oft vor dem - ſelben ſchaudert.

Was man ſieht, praͤgt ſich tiefer ein, als was von den uͤbrigen Sinnen vernommen wird; darum haͤlt die Jmagination das Bild des ewigen Vaters von Angelo noch, wenn ihr ein Haͤndel - ſches Meiſterconcert ſchon lange entſchluͤpft iſt.

Nichts iſt dem, welcher ſich in dem Lande der Traͤume am beſten gefaͤllt, erwuͤnſchter, als Dunkelheit und Stille. Da ſtoͤrt ihn nichts in ſeiner chimaͤriſchen Wirkſamkeit: da laͤßt kein Sonnenſtrahl ſeine Juno in Nebel zergehen: da ſtraft kein Laut eines wirklichen Menſchen ſeine gauckleriſche Einbildungskraft Luͤgen. Daß Geſpenſter und Teufel nur im Finſtern herum - ſchleichen duͤrften, iſt eine eitle Erdichtung; ſie haben das Recht am Mittag ſo gut, als in der Mitternachtsſtunde zu ſpuken; nur daß, ſobald der Hahn zu kraͤhen anfaͤngt, das Geklirr ihrerKetten47Ketten und der dumpfe Ton ihrer Stimme nicht mehr gehoͤrt werden kann.

Die Regſamkeit der Jmagination und die Art der Vorſtellungen, mit welchen ſie am haͤu - figſten ſpielt, haͤngt von mancherley Urſachen ab, aus welchen ich nur die wichtigſten ausheben will.

Taͤndelnd und ſpieleriſch und feurig iſt die Einbildungskraft im Knaben und Juͤngling geſetzter im Manne, gelaͤhmt in dem Greiſe. Jedes Vergnuͤgen mahlt ſich die Jugend mit den reizendſten Farben. An der Spitze ſeiner Ge - ſpielen zaubert die Phantaſie den Knaben zum Jmperator der Welt, und die Schaar, die er fuͤhrt, zu Rittern der Vorzeit. Wie der Knabe uͤber ſein Steckenpferd und ſeinen hoͤlzernen Degen, freut ſich das Maͤdchen uͤber einen neuen Habit, ein Weihnachtsgeſchenk, eine Puppe. Der lie - bende Juͤngling ſchließt nicht ein Maͤdchen aus der wirklichen Welt in ſeinen Arm, er ent - ſchwingt ſich der Erde, um Engelsgefuͤhle mit ei - nem Engel zu fuͤhlen.

Il ne voit plus, que le paradis, les anges, les vertus des Saints, les deliçes du ſejour celeſte.

Der Freund, an deſſen Buſen er ſich draͤngt, iſt nicht ein Freund aus dem achtzehnten Jahr -hun -48hundert, es iſt ein Jonathan, ein Pylades, ein Damon.

Leicht, wie ſein Blut durch die Adern rollt, rollen die Vorſtellungen vor ſeiner Seele voruͤber: nur die angenehmen haͤlt er feſt. Seine Nerven ſind reizbar, ſein Gefuͤhl iſt gewaltig und uͤber - wiſcht die Bilder ſeiner Phantaſie mit den grelle - ſten Farben. Er ſieht noch nicht durch das Mikroſcop des verwickelten Jntereſſe die mannig - faltigen, verſchiednen, entgegengeſetzten Bezie - hungen der Dinge: was die Seite derſelben, welche ſein Auge grade trifft, ihm verheißt, nimmt er zutraulich und leichtglaͤubig an, bis eine min - der gefaͤllige Seite ſeinen Blicken entgegenſpringt, er ſich umwendet und durch das helle Fernrohr ſeiner jugendlichen Munterkeit nach einer neuen Freudenblume umherſchaut. Nicht ſo der Mann. Verſtand und Erfahrung thun in ihm der Jma - gination oͤfteren Einſpruch; ſein Koͤrper iſt weni - ger reizbar; ſein Blut nicht ſo feurig. Das Cen - trum ſeiner Gedanken iſt nicht, wie bey dem Juͤng - ling, das Vergnuͤgen, ſondern der Nutzen, der vom Phantaſiren nichts haͤlt. Er laͤßt ſich durch die erſte Anſicht der Dinge nicht taͤuſchen, ſon - dern beſchaut alle Seiten derſelben; und haſcht auf dieſe Weiſe zwar manche Freude weniger; aber haͤlt die ergriffenen feſter: und wird auch auf der andern Seite nicht ſo oft von Phantomen ge -ſchreckt,49ſchreckt, welche die fruchtbare und allzeit fertige Jmagination des Juͤnglings, wenn gleich nur auf Augenblicke erzeugt.

Klopſtock und Gleim errichteten ſich nicht im Alter ihre poetiſchen Monumente. Horaz ver - tauſchte in ſeinen ſpaͤtern Jahren den Dichter mit dem Philoſophen.

Spectatum fatis, & donatum jam rude, quaeris Maecenas, iterum antiquo me includere ludo. Non eadem eſt aetas, non mens Eſt mihi purgatam crebro qui perſonet aurem; Solue ſeneſcentem mature ſanus equum, ne Peccet ad extremum ridendus, et ilia ducat. Nunc itaque et verſus et cetera ludicra pono: Quid verum atque decens, curo et rogo, et omnis in hoc ſum.

*)Warum, Maͤcen, mich, den man lange ſchon genug geſehn und fernern Dienſts entlaſſen, von neuem zu dem alten Spiel zuruͤck zu noͤthigen? Jch bin an Jahren und an Sinnesart nicht mehr der Vorige. Auch mir, Maͤcen, raunt oft, ich weiß nicht welche Stimm 'ins Ohr:DSey

Un -50

Unverkennbar iſt die Einwirkung des Klima auf die Bildung des Menſchen uͤberhaupt und ſei - ne Einbildungskraft insbeſondre. Von ihm haͤngt zum Theil mit die Staͤrke oder Feinheit der Fibern, die Raſchheit oder Traͤgheit des Nervenſafts und des Bluts, die Staͤrke oder Schwaͤche der Mus - keln, u. ſ. w. mithin die Beſchaffenheit der Quelle ab, aus welcher die Einbildungskraft ſchoͤpft. Langſam fließt das dicke Blut in den Adern der Bewohner des rauhen Nordens, ſeine Nerven ſind hart, feſt und zaͤhe, daher weniger reiz - bar und empfindlich. Arm, wie die Natur in ſeinem Lande, iſt ſeine Phantaſie an Vorſtel - lungen. Seine Nahrung und was dazu ge - hoͤrt, ſein Brandtwein, ſeine Huͤtte, ſein Feuer und ſeine Ruhe ſind die verſchiednen Scenen auf der Buͤhne ſeiner Einbildungskraft: zwiſchen welchen zu Zeiten noch Goͤtter und Geiſter herumſchwaͤr -men,*)Sey klug und ſpann den alten Klepper noch in Zeiten aus, bevor er auf der Bahn, wo einſt der Sieg ihn kroͤnte, lahm und keuchend nicht weiter kann und zum Gelaͤchter wird. Gehorſam dieſer Warnung hab 'ich nun der Verſe mich und alles andern Spielwerks entſchlagen, und, was Wahr und Schoͤn, beſchaͤfftigt mich ganz und gar; ich leb' und webe drinn.Horaz, 1. Brief. 1. Buchs, nach der vortreff - lichen Wielandſchen Ueberſetzung.51men, die ſein Aberglaube ihn als die Urheber ſei - nes Gluͤcks oder Ungluͤcks anſehen laͤßt. Das heißeſte Klima iſt in ſeinen Wirkungen dem kaͤlte - ſten aͤhnlich. Hier macht die Derbheit der Ner - ven, dort die Schlaffheit derſelben den Menſchen unempfindlich. Der Nordpol ſtaͤhlt ihn, der heißeſte Suͤden ſchlaͤfert ihn ein. Er thut und denkt, hier ſo wenig, als dort, mehr, als noͤthig iſt, ihn nicht verhungern zu laſſen: und wo die Natur auch dies fuͤr ihn thut, iſt ſein ganzes Leben ein unthaͤtiger Schlummer. Die gedankenleere Mi - ne der Suͤdamerikaner, ſagt Robertſon in ſeiner vortrefflichen Geſchichte von Amerika, ihr ſtarrer, unbedeutender Blick, ihre lebloſe Unachtſamkeit, und ihre gaͤnzliche Unwiſſenheit in Dingen, wo - mit die Gedanken vernuͤnftiger Weſen ſich am er - ſten beſchaͤfftigen ſollten, machten auf die Spa - nier, als ſie dieſe rohen Leute zum erſtenmal ſahen, einen ſolchen Eindruck, daß ſie dieſelben fuͤr Thiere einer niedrigen Art hielten, und nicht glauben konnten, daß ſie zum Menſchengeſchlechte gehoͤr - ten. Man mußte das Anſehn einer paͤbſtlichen Bulle anwenden, um dieſen Wahn zu tilgen, und die Spanier davon zu uͤberzeugen, daß die Ame - rikaner zu den Geſchaͤfften der Menſchheit faͤhig und zu ihren Privilegien berechtigt ſeyen. Der klarſte Beweis von der ſehr geringen Regſamkeit und Traͤgheit der Jmagination in den rohen Ein -D 2woh -52wohnern heißer und mit allem, was zur Nahrung und Nothdurft gehoͤrt, verſehenen Laͤnder, iſt ihr tagelanges Stillſitzen in einer Poſitur. Ganze Tage uͤber, ſagt der vorhin angefuͤhrte Schrift - ſteller, bleiben manche Amerikaniſche Wilden in ihren Haͤngebetten ausgeſtreckt liegen oder voll - kommen muͤßig auf der Erde ſitzen, ohne ihre Poſitur zu aͤndern, ihre Augen von der Erde em - porzuheben, oder auch nur ein einziges Wort zu ſprechen. Eine ſo lange Unveraͤnderlichkeit laͤßt die Phantaſie, wo ſie ihr Spiel treibt, nicht zu. Zwar liegt auch zuweilen der Europaͤer mit der verzaͤrtelten, oder wie man es lieber nennt, cultivirten Sinnlichkeit in ſchlaffer Traͤgheit auf ſeinem Sopha und laͤßt ſich von ſeiner Einbil - dungskraft Traͤume uͤber Traͤume eingeben, ohne Hand und Fuß zu bewegen; aber dieſe Kunſt ver - ſteht der rohe Menſch noch nicht. Auch iſt unſer cultivirter Landsmann ſo muͤßig nicht, als jener. Man ſehe nur ſein hin und her gedrehtes, ge - ſchloßnes oder halbgebrochnes Auge und ſeine ſchmachtende Mine, und man wird bald gewahr werden, daß er ſich, wenn gleich nicht zum Thun, doch zum Genießen, verpflichtet glaubt. Beſſer kann der muͤßige Wilde mit unſerm Bauer ver - glichen werden, welcher ebenfalls halbe Sonntage ſitzen kann, ohne daß ſeine Einbildungskraft ſich mit etwas anderm beſchaͤfftigte, als etwa Geiſter -artige53artige Figuren aus dem Rauch ſeiner Tabacks - pfeife zu bilden.

Wenn aber durch andre Urſachen, als Regie - rungsform, Religion, Nahrung, beſonders Ge - traͤnke, der Bewohner der heißen Zonen einmal zum Phantaſiren angereizt wird; da wird er ganz Phantaſie; denn ſein Verſtand hat nicht Kraft genug, ſein Recht gegen dieſelbe auszuuͤben und ſie ſeinen Geſetzen zu unterwerfen. Er erſchafft Ungeheuer und Carrikaturen, belebt Steine und Holz, und giebt allen Geſchoͤpfen die Menſchheit. Die Jndianer bilden ſich Menſchen mit doppelten Leibern und verdoppelten Gliedmaßen. Die Sia - meſen halten es fuͤr unrecht, den Saamen und Kern einer Frucht zu verzehren, weil ſie in dem - ſelben eine lebendige Seele vermuthen; die Voͤl - ker der philippiniſchen Jnſeln ſehn in dem Croco - dil ihren Großvater und die Weiber einiger Staͤm - me in Paraguay laſſen mutterloſe Menſchenkin - der verhungern, um verlaßne Thiere mit ihren Bruͤſten zu naͤhren.

So wie in den gemaͤßigten Himmelsſtrichen die Natur ſelber im Gleichgewicht iſt; ſind es auch die verſchiednen Seelenvermoͤgen der unter denſel - ben wohnenden Menſchen.

Unter Joniens mildem Himmel ſang Ana - creon und mahlte Apelles nur auf attiſchemD 3Boden54Boden konnten die unſterblichen Werke griechiſcher Kuͤnſte gedeihen.

Aber nicht auf die Kaͤlte oder Hitze in einem Lande allein kommt es bey der Einwirkung des Klima auf die Einbildungskraft an. Auch die Beſchaffenheit des Bodens, die allgemeinſten Nahrungsmittel, die Luft beſonders muͤſſen mit in Erwaͤgung gezogen werden, wenn man die verſchiedne Beſchaffenheit der Einbildungskraft bey Voͤlkern, die gleich weit vom Aequator wohnen, erklaͤren will. Ueberhaupt aber muß man ſich huͤten, aus dem Klima oder jeder andern einzelnen Urſache zu viel erklaͤren zu wollen: da ſo viele andre Urſachen, die Wirkungen der einen faſt ganz zernichten koͤnnen. Jch bin daher auch bey der Aufzaͤhlung der einzelnen auf die Phantaſie wirkenden Dinge nur kurz; weil es mir unmoͤg - lich ſcheint, genau anzugeben, wie viel dies oder jenes zur Modifikation des Menſchen beytrage; da uns keiner gegeben werden kann, auf welchen nur eine der moͤglichen Urſachen allein gewirkt haͤtte.

Wie die Seele empfinden und was ſie fuͤr Vorſtellungen haben ſoll, haͤngt großentheils auch von dem Koͤrper und den koͤrperlichen Organen ab, aus welchen die Seele die Empfindungen aufnimmt: denn die Freundſchaft, ſagt Saladin ſo ſchoͤn im Moͤnch von Libanon,

Die55
Die Freundſchaft zwiſchen Den beyden iſt zu treu, als daß der eine Nicht ſpielen ſollte nach des andern Stimmung.

Daher iſt auch der Einfluß des Koͤrpers auf die Einbildungskraft nicht zu leugnen. Ein Koͤrper mit feſten Nerven, geſunden Saͤften und einem regelmaͤßigen Blutumlauf iſt nicht ſo reizbar, als der vollbluͤtige, kraͤnkliche und ſchwache. Daher auch bey jenem die Einbildungskraft regelmaͤßig und geſetzt, bey dieſem unordentlich und aus - ſchweifend. Allenthalben ſieht der Hypochondriſt Geſpenſter und Schreckbilder. Wenn ein hypo - chondriſcher Wind, laͤßt Buttler ſeinen Hudibras ſagen, in den Eingeweiden tobt; ſo kommt es darauf an, welche Richtung er nimmt; geht er abwaͤrts, ſo wird daraus der Ton, mit welchem Democrit das Gerede des Poͤbels vergleicht; ſteigt er aber aufwaͤrts, ſo iſt es eine Erſcheinung.

Boerhave, Tiſſot, Zimmermann und meh - rere Aerzte erzaͤhlen merkwuͤrdige Beyſpiele von den Wirkungen des Koͤrpers auf die Phantaſie, die ich hier nicht anfuͤhren will, da ſie ſchon von vielen nacherzaͤhlt ſind und ich alſo die Bekannt - ſchaft des Leſers mit ihnen vorausſetzen kann.

Auch Speiſe und Trank und uͤberhaupt Diaͤt wirken auf das itzt von uns betrachtete Ver - moͤgen der Seele. Denn aus der Nahrung be -D 4reitet56reitet ſich das Blut und aus dieſem die geiſtigen Saͤfte, welche das Gehirn und die Nerven durch - ſtroͤmen. Kalte und trockne Speiſen geben ein langſames und mattes Blut, welches die Einbil - dungskraft traͤge macht; daher man es den Dich - tern und uͤberhaupt den Virtuoſen in irgend einer ſchoͤnen Kunſt nicht verdenken darf, wenn ſie gern an wohlbeſetzten Tafeln erſcheinen und mit den Muſen zugleich den Gott des Weins verehren. Denn hitzige Getraͤnke haben bekanntlich die vor - zuͤgliche Kraft, die Phantaſie anzuregen und mit lebhaften Bildern zu erfuͤllen. Saltat Milonius, ſagt Horaz, der an Maͤcenas Tafel mit den Wir - kungen des Weins ſehr bekannt werden konnte, ut ſemel icto acceſſit furor capiti numerusque lucernis.

Die ſchwaͤrmende Einbildungskraft bey vielen orientaliſchen Voͤlkern iſt vorzuͤglich von dem haͤu - figen Gebrauch des Opiums herzuleiten; ob ich gleich auch mit Herrn von Pauw einſtimmig bin, welcher glaubt, daß die große Lebhaftigkeit und Unruhe der Phantaſie in einigen Orientalern in dem kurzen Schlaf, zum Theil wenigſtens, ihren Grund habe. Daß dies ſehr wahrſcheinlich ſey, wird ein jeder geſtehen, der auf ſich acht gegeben hat, wie ſonderbare Geſichter und monſtroͤſe Ge - ſtalten in ſchlafloſen Naͤchten in ſeiner Jmagina - tion geſehen werden.

Wenn57

Wenn eine Leidenſchaft, welcher Art ſie auch ſey, in dem Herzen iſt, ſo nimmt dieſe die Einbildungskraft gleichſam fuͤr ſich allein in Be - ſchlag, und laͤßt ſie in allem ein Bild ihres Gegen - ſtandes finden. Allenthalben traͤgt die Jmagina - tion dem Liebenden ſeine Geliebte nach:

Wenn ich beten und nachdenken wollte, ſagt Angelo bey Shakeſpear, ſo dachte und betete ich ganz verſchiedne Sachen; der Himmel hatte meine leeren Worte, indeß mein Gedanke, ohne ſich an meine Zunge zu kehren, an Jſabellen feſthieng. Der Himmel war in meinem Munde; als wenn ich blos ſeinen Namen verſchlingen wollte; aber in meinem Herzen war das ſtarke immer wachſende Uebel meiner Leidenſchaft.

Die uͤber den Tod ihres geliebten Kindes traurende Mutter wird allenthalben und durch al - les an ihr verlornes Kleinod erinnert. Bey jedem Tritt denkt ſie daran, daß ihr Kind nicht neben ihr wandelt, bey jeder Freude ſeufzt ſie, weil ſie dieſelbe mit dem, was ihr ſo lieb war, nicht theilen kann.

Wochen und Monate und Jahre begleitet der Schatten der Geliebten den verlaßnen Lieben - den auf allen ſeinen Wegen.

D 5Septem58
Septem illum (Orphea) totos perhibent ex ordine menſes Rupe ſub aëria deſerti ad Strymonis undam Fleviſſe, et gelidis haec evoluiſſe ſub antris.
*)Sieben Mond 'auf einander, erzaͤhlt man, hab' er (Orpheus) beſtaͤndig Unter dem luftigen Fels an Strymons oͤdem Ge - waͤſſer Thraͤnenvoll ſein Loos in den kalten Grotten durch - jammert.
*)

Furcht und Beſorgniß finden in jedem Ge - genſtand einen lauernden Feind, eine Quelle des Schreckens. Unaufhoͤrlich aͤngſtigten Philipp von Spanien die Geſpenſter ſeines eiferſuͤchtigen Arg - wohns.

Reiß't mir den Scorpion von meinem Kuͤßen Schlaf? Schlaf find 'ich in Eskurial So lange der Koͤnig ſchlaͤft, iſt er um ſeine Krone, der Mann um ſeines Weibes Herz.

Der von ſeinen Toͤchtern ſchrecklich gemis - handelte und bis zur Raſerey erzuͤrnte Lear ſieht, wo er geht und ſteht, nur Toͤchter. Er kommt mit Kent in die Huͤtte, in welcher der junge Ed - gar, als ein Raſender verkleidet, ſich befindet. Das erſte, was Lear fragt, iſt: Haſt du etwadeinen59deinen Toͤchtern alles gegeben, und biſt nun ſo weit gekommen? Wie? haben ſeine Toͤch - ter ihn ſo weit gebracht? Konnteſt du nichts fuͤr dich behalten? gabſt du ihnen alles? Nun! alle die raͤchenden Plagen, die in der herabhaͤngen - den Luft uͤber menſchlichen Uebelthaten ſchweben, fallen auf deine Toͤchter hinab!

Frankreich verdankt der Liebe ſeinen Corneil - le, und England derſelben Leidenſchaft ſeinen Ho - garth.

Ehrbegierde machte Moliere zu einem großen Theater-Dichter. Er lebte nemlich, wie Helve - tius erzaͤhlt, bey ſeinem Großvater, welcher ihn oft mit ſich ins Schauſpielhaus nahm. Sei - nem Vater misfiel es, daß durch dieſe Zerſtreu - ungen ſein Sohn von ſeinem Handwerk abgezo - gen und traͤge gemacht wurde. Er fragte daher ſehr erzuͤrnt, ob man denn ſeinen Sohn zu einem Comoͤdianten machen wollte: Plût à Dieu, ant - wortete der Großvater, qu'il fût auſſi bon acteur que Montroſe. (Wollte Gott, er wuͤrde ein ſo guter Schauſpieler, als Montroſe). Dieſe Worte frappirten den jungen Moliere: von nun an war der herrliche Schauſpieler Montroſe die Puppe ſeiner Phantaſie, ſein Handwerk ward ihm unertraͤglich, ſein einziger Eifer, Comoͤdien zu machen.

Mehr60

Mehr aber, als alles, was vorher genannt iſt, und mehr als alles, was noch genannt wer - den koͤnnte, z. B. Religion, Regierungsform, Geſellſchaft u. ſ. w. wirkt Gewohnheit und Uebung, oder, moͤchte ich lieber ſagen, alles was die uͤbrigen Urſachen auf die Einbildungs - kraft wirken, koͤmmt nur durch ihre Vermitte - lung zu Stande. *)Gewoͤhnung iſt es, welche in dem von Deſpo - tism gedruͤckten Orientaler die Neigung und Fertig - keit zu Allegorien erſchafft. Weil nemlich in einem Lande, wo man nach der Willkuͤhr des Tyrannen reden, denken und glauben muß, die Wahrheit nicht unbekleidet dargeſtellt werden darf; verſchafft man ſich unvermerkt die Fertigkeit alles in Allegorien zu kleiden. C 'eſt à la forme de leur gouvernement, ſagt Helvetius ſehr wahr, que les Orientaux doi - vent ce génie allégorique, qui fait et qui doit réellement ſaire le caractere diſtinctif de leurs ouvrages. Dans les pays les ſciences ont été cultivées, l'on conſerve encore le deſir d'écrire, l'on eſt cependant foumis au pou - voir arbitraire, par conſequent la vérité ne peut ſe préſenter que ſous quelque emblême, il eſt certain que les auteurs doivent inſenſi - blement contracter l'habitude de ne penſer qu'en allégorie. Ce fut auſſi pour faire ſentir à je ne ſais quel tyran l'injuſtice de ſes vexa -tions,Denn diejenigen Vorſtellun -gen,61gen, die man oͤfters gehabt hat, und welche da - her der Seele gelaͤufig geworden ſind, ſchließen ſich leicht an alles an, finden bald eine Aehn - lichkeit auch in den ſehr von ihnen verſchieden ſchei - nenden Gegenſtaͤnden. Daſſelbe Wort, wie ver - ſchiedne Vorſtellungen erweckt es in verſchiednen Subjekten? Derſelbe Gegenſtand, wie verſchied - ne Bilder bringt er hervor? Der Kloſter - bruder ſieht im Mond eine Glocke, die ſchmach - tende Dame ein Paar Liebende in trauter Umar - mung. Der Deutſche ſieht den Tod unter der Geſtalt eines ſcheuslichen Gerippes mit einer toͤd - tenden Senſe; der Grieche ſah 'ihn unter dem Bilde eines ſchoͤnen Juͤnglings mit umgekehrter Fackel. Man fuͤhre, ſagt Herr Richerz in einer Abhandlung zu Muratori's Schrift uͤber die Ein - bildungskraft, einen Krieger, einen Landmann und einen Mahler auf einerley Feld. Der Sol -dat*)tions, la dureté avec laquelle il traitoit ſes ſu - jets et la dépendance reciproque et néceſſaire qui unit les peuples et les Souverains, qu'un Philoſophe Indien inventa, dit-on, le jeu des échecs. Il en donna des leçons au tyran; lui fit remarquer que, ſi dans ce jeu les pièces de - venoient inutiles après la perte du roi, le roi, aprés la priſe de ſes pièces, ſe trouvoit dans l'impuiſſance de ſe défendre, et que dans l'un et l'autre cas la partie étoit également perdue. 62dat wird darauf achten, ob ſich Kriegsheere gut darauf in Schlachtordnung ſtellen laſſen. Der Landmann wird den Ertrag der Fruͤchte, den es geben koͤnnte, berechnen. Der Mahler wird be - merken, wie vortheilhaft ſich eine Zeichnung davon ausnehmen muͤſſe. Kurz, an jedem Objekte wer - den verſchiedne Menſchen auch verſchiedne Ver - haͤltniſſe zu andern ihnen gewoͤhnlich gegenwaͤrti - gen Objekten bemerken, ſo entfernt auch dieſelben zuweilen ſeyn moͤgen. Ganz die nemliche Bege - benheit werden der Knabe, der Juͤngling, der Mann, das Maͤdchen, welche insgeſamt Zeugen davon waren, auf eine ſo eigne Art erzaͤhlen, daß man glauben moͤchte, nur aͤhnliche, aber in der That doch verſchiedne Dinge von jedem unter ih - nen zu hoͤren.

Hier haben Sie, meine Leſer und Leſerinnen, einige Bemerkungen uͤber die Dinge, deren Ein - wirkung die Einbildungskraft unterworfen iſt. Jch fuͤge nichts weiter hinzu; weil es, wie ich ſchon oben bemerkte, unmoͤglich iſt, im Allgemeinen die Art und den Grad des Einfluſſes der verſchiede - nen moͤglichen Urſachen genau zu beſtimmen. Jn - deß werden dieſe Winke hinreichend ſeyn, auf das - jenige aufmerkſam zu machen, was bey einem ein - zelnen Subjekte die Einbildungskraft ſo und nicht anders modificirte.

Fuͤnfte63

Fuͤnfte Unterhaltung. Ueber die Wirkſamkeit der Einbildungskraft in Traumerſcheinungen.

Ob die Seele in dem Zuſtande des tiefen Schla - fes uͤberhaupt Vorſtellungen habe; und wenn die - ſes ſtatt faͤnde, ob dieſelben dunkler oder klarer, als beym Wachen ſeyen, iſt eine Frage, welche ſchon oft ſehr verſchieden beantwortet, aber, wie mich wenigſtens duͤnkt, doch noch nicht entſchie - den iſt, und ſich vielleicht gar nicht entſcheiden laͤßt. Jch habe mich zwar ſelbſt in einer Abhand - lung uͤber die Traͤume*)Philoſoph. Blicke ꝛc. von H. und V. 2tes Stuͤck. fuͤr die Meinung er - klaͤrt, nach welcher die Vorſtellungen im Schlafe viel klarer ſind, als im Wachen, weil die Seele von den ſie zerſtreuenden Empfindungen der aͤußern Sinne in ihrer Thaͤtigkeit nicht geſtoͤrt wird, und alſo ihre ganze Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt an - wenden kann. Allein bey fernerem Nachdenken hieruͤber, iſt es mir vorgekommen, als wenn ſich dies doch nicht ſo feſt behaupten ließe. Denn ein auf ſichre Erfahrungen geſtuͤtzter Beweis iſt unmoͤglich. Kein Bewußtſeyn geſetzt auch,es64es faͤnde im Schlafe ſtatt reicht uͤber den Schlaf hinaus: der Schlafende kann ſich nicht ſelbſt beobachten, und ein andrer ſeine Vorſtellun - gen noch weniger wahrnehmen. Hernach aber ſetzt dieſe Behauptung voraus, daß die Seele auch ohne den Koͤrper thaͤtig ſeyn koͤnne, welches mir doch nicht bewieſen werden zu koͤnnen ſcheint;*)Jch folgte, wie auch in meiner angefuͤhrten Ab - handlung bemerkt iſt, in der Behauptung, daß die Seele im Schlafe Vorſtellungen, ja klarere Vorſtel - lungen, als im Wachen habe, Herrn Kant, welcher ſich in ſeinen Traͤumen eines Geiſterſehers erlaͤutert durch Traͤume der Metaphyſik, daruͤber alſo er - klaͤrt. S. 49. Anmerk. Gewiſſe Philoſophen glau - ben, ſich ohne den mindeſten beſorglichen Einſpruch auf den Zuſtand des feſten Schlafes berufen zu koͤn - nen, wenn ſie die Wirklichkeit dunkler Vorſtellun - gen beweiſen wollen; da ſich doch nichts weiter hie - von mit Sicherheit ſagen laͤßt, als daß wir uns im Wachen keiner von denjenigen erinnern, die wir im feſten Schlaf etwa mochten gehabt haben, und dar - aus nur ſo viel folgt, daß ſie beym Erwachen nicht klar vorgeſtellt worden, nicht aber, daß ſie auch damals, als wir ſchliefen, dunkel waren. Jch vermuthe vielmehr, daß dieſelben klarer und aus - gebreiteter ſeyn moͤgen, als ſelbſt die klareſten im Wachen; weil dieſes bey der voͤlligen Ruhe aͤußerer Sinne von einem ſo thaͤtigen Weſen, als die Seeleiſt,wenn65wenn man ſich nicht etwa auf die Gottheit, als ein ohne Koͤrper ewig wirkendes Weſen, berufen will; wogegen ich nur dies erinnern zu muͤſſenglaube,*)iſt, zu erwarten iſt, wiewohl, da der Koͤrper des Menſchen zu der Zeit nicht mit empfunden iſt, beym Erwachen die begleitende Jdee deſſelben ermangelt, welche den vorigen Zuſtand der Gedanken, als zu eben derſelben Perſon gehoͤrig, zum Bewußtſeyn verhelfen koͤnnte. Die Handlungen einiger Schlaf - wandler, welche bisweilen in ſolchem Zuſtande mehr Verſtand zeigen als ſonſt, ob ſie ſich gleich nichts davon beym Erwachen erinnern, beſtaͤtigt die Moͤg - lichkeit deſſen, was ich vom feſten Schlafe vermuthe. Die Traͤume dagegen, das iſt, die Vorſtellungen des Schlafenden, deren er ſich beym Erwachen er - innert, gehoͤren nicht hierher. Denn alsdenn ſchlaͤft der Menſch nicht voͤllig; er empfindet in einem ge - wiſſen Grade klar, und webt ſeine Geiſteshandlun - gen in die Eindruͤcke der aͤußeren Sinne. Daher er ſich ihrer zum Theil nachhero erinnert; aber auch an ihnen lauter wilde und abgeſchmackte Chi - maͤren antrifft, wie ſie es denn nothwendig ſeyn muͤſſen, da in ihnen Jdeen der Phantaſie und die, der aͤußern Empfindung unter einander geworfen werden. Jch habe dieſe Stelle abgeſchrieben, um den Leſer, indem ihm hier die beſten Gruͤnde dieſer Mei - nung vorgelegt ſind, in den Stand zu ſetzen, ſie genau zu pruͤfen.E66glaube, daß uns die Art und die Geſetze der goͤtt - lichen Wirkſamkeit an ſich ſelbſt unbekannt ſind, und daher eine Vergleichung zwiſchen derſelben und unſrer Seele nicht gut moͤglich ſeyn moͤchte.

So wie ich itzt die Sache anſehe, ſcheint mir vielmehr die Meinung wahrſcheinlicher zu ſeyn, nach welcher die Seele im tiefen, ruhigen Schlaf, d. h. demjenigen Zuſtand, wo alle Or - gane des aͤußern und innern Sinnes unbewegt ruhen, ohne Vorſtellungen iſt. Denn es iſt keine einzige Erfahrung, welche das Gegentheil unwiderleglich bewieſe; hingegen mehrere, welche die Meinung wahrſcheinlich machen, daß zur Her - vorbringung vollkommner Vorſtellungen in dem Menſchen die Seele die Empfindungswerkzeuge des Koͤrpers, gleichſam als Traͤger oder Ablieferer ihrer Vorſtellungen, noͤthig habe. Sobald man anfaͤngt zu ermuͤden, mithin die Sinnesorgane zum Dienſt der Seele traͤger werden, fangen auch die Vorſtellungen an matter und unmerkbarer zu werden: und von dem Augenblick des Einſchla - fens weiß man nichts, auch wenn man ſich noch ſo feſt vornahm, ihn zu bemerken. Jn einem betaͤubenden Schmerze, wo man alle Sin - ne verſchließt, um auf keinem Wege etwas einzulaſſen, weil man von allem Vermehrung der Pein fuͤrchtet, weiß man nichts von ſich, weder in dem gegenwaͤrtigen Augenblicke, noch nachher. Ja67Ja man kann ſich auch willkuͤhrlich durch ein en - ges Zuſammenſchließen des Koͤrpers, beſonders ein Zuſammenkneifen der Augen und Verſtopfen der Ohren, auf eine kurze Zeit in eine voͤllige Vor - ſtellungsloſigkeit verſetzen. Ein Menſch mit traͤgen Sinnen und gefuͤhlloſen Nerven hat we - nig Jdeen; wer lebhaft empfindet und reizbar iſt, viel. *)Wollte man mir hier die Schlafwandrer und Schlaf - redner entgegenſtellen, ſo wuͤrde ich antworten, daß dieſe ſich nicht in einem ruhigen und feſten Schlafe befinden. Denn was jene betrifft, ſo iſt durch die Erfahrung bewieſen,1) daß ihr Schlaf keine Ruhe iſt, da ſie ſich nach dem Paroxismus gewoͤhnlich ſehr ermattet fuͤhlen;2) daß nicht alle Wege der Empfindung ver - ſchloſſen ſind: beſonders das Gefuͤhl ſehr lebendig iſt;3) daß manche ſich an das, was ſie bey ihren Schlafwandrungen vornehmen, erinnern koͤnnen. Richerz Ueberſetzung von Muratori uͤber die Einbild. 1. 354. ff.Was aber das Sprechen im Schlafe betrifft, ſo bemerke ich dabey folgendes:1) Wenn ich Perſonen, von welchen ich ſicher vorausſetzen konnte, daß ſie feſt ſchliefen, hoͤrte; ſo waren es nicht zuſammenhaͤngende, ganze Worte,die

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Dieſer feſte und ruhige Schlaf aber, in welchem ich eine Vorſtellungsloſigkeit in der Seele vermuthe, und den ich allein den Bruder des Todes nenne, dau - ert ſelbſt bey den geſundeſten Perſonen nicht lange, und kraͤnkliche kennen ihn gar nicht. Sobald die von der Arbeit des Tages ermatteten Nerven ſichwieder*)die ſie von ſich gaben; ſondern zerbrochene, geſtam - melte Toͤne, die durchaus nicht zu verſtehen waren. Sie redeten nicht, wozu freylich Vorſtellungen ge - hoͤren; ſie gaben nur Toͤne von ſich, die nicht noth - wendig Vorſtellungen vorausſetzen. 2) Wenn jemand aber auch im Schlafe wirklich redet, ſo bezieht ſich ſeine Rede gewoͤhnlich auf das, woran er mit Leidenſchaft denkt, oder wodurch er ſehr heftig afficirt wurde. Einer meiner Freunde z. B. macht, ſo oft er ſich mit jemand, der ihn intereſſirt, erzuͤrnt hat, im Schlafe ſeine Apologie. Derſelbe ſpricht, wenn er am Abend ſeinem geliebte - ſten Freunde ſchrieb, faſt jedesmal im Bette von oder zu demſelben mit vieler Waͤrme.Leidenſchaft und Affekt aber laſſen nicht ruhig ſchlafen.3) Sehr vieles nimmt man fuͤr Sprechen im feſten Schlafe an; welches doch mit ganzem oder halbem Bewußtſeyn geſchah.4) Der Schlafende endlich ſowohl als der Schlaf - wandrer erwacht leicht, ſobald man ſeinen Namen nennt; ein ſichrer Beweis, daß weder der eine noch der andre ſehr feſt ſchlafen koͤnne. 69wieder geſtaͤrkt haben; oder irgend etwas von den vielen Dingen, die ſelbſt in der Nacht den Schla - fenden ſtoͤren koͤnnen, ſie aufreizt, ſobald nur ein Organ der Empfindung erwacht; faͤngt die Seele ihr Tagewerk wieder an. Bey Vielen kommt ſie nie zur voͤlligen Ruhe; weil entweder das Gelaͤrm 'der Leidenſchaften, oder das Ge - ſeufze des kraͤnklichen Koͤrpers ſie ſtoͤrt.

Jn dieſem Zuſtande nun, wo entweder die koͤrperlichen Geſchaͤfftstraͤger der Seele gar nicht zur Ruhe gegangen oder zum Theil*)Jch ſage zum Theil. Denn wenn alle Sinne wach ſind und die Urtheilskraft, durch ſie benachrich - tigt, dem Menſchen ſagt, wer er ſey und in welchem Verhaͤltniſſe er lebe; ſo wacht der Menſch. Frey - lich kann man auch wachend traͤumen; wenn man nemlich entweder ſeine wirkliche Perſon und ihre Verhaͤltniſſe nicht ſehen will; weil man ſich im Reiche der Phantaſie beſſer gefaͤllt; oder, wenn man der Stumpfheit und Kraͤnklichkeit der Sinne oder der Dummheit des Verſtandes wegen, ſich nicht ſehen kann. wieder er - wacht ſind, iſt es, wo der Menſch traͤumt. Traum, ſagen mehrere Pſychologen und Phyſio - logen, iſt ein Mittelſtand zwiſchen Wachen und Schlafen; ich glaube indeß, daß er jenem naͤher, als dieſem iſt und nenne ihn daher mit Herrn Plat - ner ſehr gern ein unvollkommnes Wachen.

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Wenn nemlich durch irgend eine von den unzaͤhligen moͤglichen, innern oder aͤußern Sen - ſationen, die Seele an ihr Daſeyn erinnert wird, eilt ſie auch ſogleich an ihr Geſchaͤfft, in Vorſtel - lungen thaͤtig zu ſeyn. Die Vorſtellungen aber, welche ſich ihr am erſten vergegenwaͤrtigen, ſind entweder ſolche, welche in ihr am gelaͤufigſten, lebhafteſten, neu'ſten ſind, oder ſolche, welche mit den Senſationen, wodurch ſie geweckt wur - de, Zuſammenhang haben. Wird z. B. das Ge - hoͤr afficirt, ſo geht die Einbildungskraft im Traum von einem Gehoͤrsgegenſtand aus; und faͤllt von einem brennenden Lichte ein Strahl in des Schlafenden Auge, ſo wird eine Geſichtsvor - ſtellung das Schauſpiel des Traums eroͤffnen.

Wenn man immer genau wuͤßte, was fuͤr Gegenſtaͤnde im Schlaf auf unſre Empfindung wirkten, ſo wuͤrden ſehr viele Traͤume erklaͤrbar ſeyn, welche man itzt unerklaͤrt laſſen muß. Oef - ters koͤnnte man wohl dieſelben auffinden, wenn man nur nicht aus Verachtung der aberglaͤubi - ſchen Traumdeuterey alles Traumdeuten fuͤr un - nuͤtz hielte.

Ein bekannter Gelehrter, welcher eine Zeit - lang viel von der Hypochondrie litt, traͤumte meh - rere Naͤchte hintereinander von nichts, als Ertrin - ken, Schwimmen und uͤberhaupt von ſolchen Be - gebenheiten und Handlungen, welche nur aufdem71dem Waſſer geſchehen koͤnnen. Er dachte viel uͤber die Urſache dieſes Waſſertraums nach, und wußte ſie im Anfange durchaus nicht zu finden. Endlich faͤllt ihm, da er von ohngefehr ans Fen - ſter tritt, ein Waſſerbehaͤlter in die Augen, aus welchem das Waſſer mit einem ziemlichen Ge - raͤuſch in ein unter demſelben befindliches Baſſin hinabſtuͤrzte, und ſiehe da, er hatte die Quelle ſeines Traumes gefunden. Weil ihn nemlich die Hypochondrie nicht ganz feſt ſchlafen ließ, ſo konnte bey der Stille der Nacht das Geraͤuſch des Waſſers wohl zu ſeinem Ohre dringen und ihn zu jenen Traͤumen veranlaſſen. Ein An - drer traͤumte einmal von Ohrenſchmerzen und wußte gar nicht, wie er grade auf dieſe hatte kommen koͤnnen. Die Urſache ergab ſich aber ſehr bald. Es ſchlief nemlich in einem Zimmer mit ihm eine Perſon, welcher ſchon oͤfter der Ohrenzwang eine ſchlafloſe Nacht gemacht und laute Seufzer ausgepreßt hatte. Dies war auch in dieſer Nacht der Fall geweſen. Das Wim - mern des Kranken war in das Ohr des Traͤu - menden gedrungen, ob dieſer gleich, weil er ziem - lich feſt ſchlief, es ſich nicht bewußt war, und hatte alſo den Traum von Ohrenſchmerzen leicht erzeugen koͤnnen.

Weil nun aber die Urtheilskraft im Traum, da nicht alle Empfindungswege offen ſind, nurE 4ein -72einſeitige Nachricht von dem, was auf ihren treuen Gefaͤhrten den Koͤrper wirkt, erhaͤlt, und ſie mithin nicht im Stande iſt, was eigentlich die Empfindung ausmache, zu erkennen; ſo hat die Phantaſie volle Freyheit, aus den wirklichen Senſationen zu machen, was ſie will; und knuͤpft daher an dieſelben ſolche Bilder, die ihr entweder uͤberhaupt am liebſten und gelaͤufigſten ſind oder kurz zuvor am lebhafteſten in ihr waren. Der Fuͤhrer eines Kriegsheers traͤumt am oͤfterſten von Schlachten und Ueberfaͤllen; der Jaͤger ver - folgt auch im Traume Hirſche und Haſen; der ſpie - lende Knabe treibt den Kraͤuſel oder ſchlaͤgt den Volanten, und die fuͤr die Toilette geborne Dame, nutzt auch die Stunden des Schlafes zum Putzen. Die Sorge und das boͤſe Gewiſſen folgen dem un - gluͤcklichen Gegenſtande ihrer nagenden Pein nicht blos aufs Pferd und in's Schiff, auch auf ſein Lager folgen ſie ihm: er ſucht Ruhe und kann ſie nicht finden.

Meiſterhaft erlogen war Kaiphas Traum in dem vierten Geſange der Meſſiade, wenn er ihn nicht wirklich gehabt hatte. Alle Vorſtellungen, die den Hohenprieſter wachend am meiſten be - ſchaͤfftigten, finden wir in demſelben: die Vor - ſtellungen ſeines Amts, ſeiner Religion, ſeiner prieſterlichen Plane. So laͤßt ihn der vortreff -liche73liche Dichter ſein naͤchtliches Geſicht dem ver - ſammleten Volke erzaͤhlen:

Jch lag zur Mitternachtsſtunde Sorgenvoll auf dem Lager, und dachte dem end - lichen Ausgang Dieſer neuen Empoͤrungen nach. So dacht 'ich und ſchlief itzt Unentſchloſſen und kummervoll ein. Da war ich im Traume Jn dem Tempel, und eilte, mit Gott das Volk zu verſoͤhnen. Schon floß Blut der Opfer vor mir; ich ging anbetend Schon ins Allerheiligſte Gottes; ich hatte den Vorhang Schon eroͤffnet; da ſah ich (noch beben mir alle Gebeine! Noch faͤllt Gottes Schreckniß auf mich, wie toͤd - tend, herunter!) Aron ſah ich im heiligen Schmuck, mit drohender Stirne, Gegen mich kommen[.]Sein Auge voll Feuer, von goͤttlichem Grimm voll Toͤdtete! Sein Bruſtbild voll ernſter gewaltiger Strahlen Blitzte, gleich Horeb, auf mich! Der Cherubim Fittige rauſchtenE 5Fuͤrch -74Fuͤrchterlich auf der Lade des Bundes! Auf ein - mal entfiel mir Rauſchend mein Hoherprieſtergewand, wie Aſche, zur Erde. Fleuch, rief Aron mit ſchreckendem Ton, du des Prieſterthums Schande Fleuch! Elender, dir ſag 'ich, daß du die heilige Staͤtte Kuͤnftig nicht mehr als Prieſter des Herrn, ver - wegen entheiligſt. Biſt du es nicht? (Hier ſah er mich grimmig mit toͤdtendem Blick an Wie man auf einen Todfeind herabblickt, und lie - ber ihn wuͤrgte). Biſt du es nicht? Unwuͤrdiger! Du, der jenen Verruchten, Jenen entſetzlichen Mann, ungeſtraft das Heilig - thum laͤſtern, Meinen Bruder, Moſes und mich, und Abra - ham ſchmaͤhen Und die Sabbathe Gottes mit ſtrafbarer Traͤgheit entweihn ſieht! Geh, Elender, damit dich nicht ſchnell, wenn du ferner verweileſt, Dieſer Gnadenſtuhl Gottes mit heiligem Feuer verzehre. Alſo ſagt' er. Jch floh und kam mit zerfliegenden HaarenUnd75Und mit Aſch 'auf dem Haupte, gewandlos, ent - ſtellt und verwildert Unter das Volk. Da ſtuͤrmte das Volk und wollte mich toͤdten. Drauf erwacht' ich.

Wie wahr, wie natuͤrlich iſt die Schilderung des Zuſtandes, in welchen dieſer ſchreckende Traum den Hohenprieſter verſetzt hatte welches Gleich - niß macht denſelben anſchaulicher, als das, deſſen ſich der Dichter bedient?

Kaiphas aber lag noch nach Satans dunklem Geſichte Voller Angſt auf dem Lager, von dem die Ruhe geflohn war; Schlief bald Augenblicke, dann wacht 'er wieder und warf ſich Ungeſtuͤm, und voll Gedanken herum. Wie tief in der Feldſchlacht Sterbend ein Gottesleugner ſich waͤlzt; der kom - mende Sieger Und das baͤumende Roß, der rauſchenden Panzer Getoͤſe Und das Geſchrey und der Toͤdtenden Wuth und der donnernde Himmel Stuͤrmen auf ihn; er liegt und ſinkt mit geſpal - tenem Haupte Dumm und gedankenlos unter die Todten und glaubt zu vergehen. Drauf76Drauf erhebt er ſich wieder, und iſt noch, und denkt noch und fluchet, Daß er noch iſt, und ſpritzt mit bleichen, ſterben - den Haͤnden Himmelan Blut, Gott flucht er und wollt 'ihn gerne noch leugnen. Alſo betaͤubt ſprang Kaiphas auf

Ganz aus der Seele ſeines Helden, hat der Dichter des einzigen Romans, den Traum deſ - ſelben geſchrieben. Agathon hat zu Delphi und Athen ſein Herz zu vertraut mit der Tugend und der Liebe zu ſeiner tugendhaften Pſyche gemacht, als daß die Ueppigkeiten des aſiatiſchen Sitzes der Wolluſt, ſelbſt der volle Genuß der Liebe der ſchoͤnſten Danae etwas mehr vermogt haͤtten, als die Gedanken an Tugend und Pſyche auf eine Zeitlang in Schatten zu ſtellen. Es bedurfte nur eines einzigen Strahls aus der Sonne ſeiner vor - maligen Vernunft, denſelben wieder Licht zu geben, und dieſer wohlthaͤtige Strahl verlangte nur einen Schlag an die zarteſte Seite ſeines Herzens, um wie ein Cherubim mit flammendem Schwerdte her - vorzuſpringen, und tief in die Seele Agathons ſeine Erſcheinung einzugraben. Und dies geſchah grade an dem Tage, als ſein Verfuͤhrer Hippias glaubte, ſich ſeines Siegs uͤber ihn er - freuen zu koͤnnen.

Hip -77

Hippias nemlich lud Danaen und ihren Aga - thon zu einem Feſte ein, welches er alle Jahr zu feiern pflegte. Agathon erſchien und ſcherzte bey der Tafel ſo ſehr nach dem Wunſche des Hippias, daß dieſer ihm ſagte: Jch bin erfreut, daß du einer von den unſrigen worden biſt. Dieſe Worte trafen das Herz des jungen Mannes von der empfindlichſten Seite. Was muß aus mir geworden ſeyn? ſagte er, daß der, den meine Seele verabſcheut, mich den Seinigen nennt? Jndeß, der Gedanke an Danaen bezauberte von neuem ſeine Vernunft, daß ſie ſeine Leidenſchaft mit der Vorzuͤglichkeit des Gegen - ſtandes derſelben entſchuldigte. Doch waren die Ergoͤtzlichkeiten dieſes Feſtes, beſonders die pantomimiſchen Taͤnze, zu ſehr gegen ſeinen ehe - maligen ſittlichen Geſchmack, als daß nicht mit - ten unter den fluͤchtigen Vergnuͤgungen, womit ſie gleichſam uͤber die Oberflaͤche ſeiner Seele hin - glitſcheten, ein geheimes Gefuͤhl ſeiner Erniedri - gung ſeine Wangen mit Schamroͤthe vor ſich ſelbſt, dem Vorboten der wiederkehrenden Tugend, haͤtte uͤberziehn ſollen.

Er hatte nun keine Ruhe, bis er Danaen bewog, ſich mit ihm aus dieſem Hauſe zu ſchlei - chen, und unterhielt auf der Ruͤckkehr ſeine Goͤt - tin mit einer ſcharfen Beurtheilung des verdorbe - nen Geſchmacks des Sophiſten, denn einenandern78andern Namen wagte er im Angeſicht der Danae und des jetzigen Agathons nicht zu gebrauchen. Jn dieſer Stimmung ſeiner Seele legte er ſich zur Ruhe und hatte den Traum, von dem ich vorhin ſagte, daß er ganz aus der Seele des Juͤnglings geſchrieben ſey.

Jhn daͤuchte, ſo erzaͤhlt der Verfaſſer des Agathons, daß er in einer Geſellſchaft von Nym - phen und Liebesgoͤttern auf einer anmuthigen Ebe - ne ſich erluſtige. Danae war unter ihnen. Mit zauberiſchem Laͤcheln reichte ſie ihm, wie Ariadne ihrem Bachus, eine Schaale voll Nektars, wel - chen er, an ihren Blicken hangend, mit wolluͤſti - gen Zuͤgen hinunterſchluͤrfte. Auf einmal fing alles um ihn her zu tanzen an. Er tanzte mit. Ein Nebel von ſuͤßen Duͤften ſchien rings um ihn her die wahre Geſtalt der Dinge zu verbergen; tauſend liebliche Geſtalten, welche wie Seifen - blaſen eben ſo ſchnell zerfloſſen als entſtanden, gau - kelten vor ſeiner Stirne. Jn dieſem Taumel huͤpfte er eine Zeitlang fort, bis auf einmal der Nebel und ſeine ganze froͤhliche Geſellſchaft ver - ſchwand. Jhm war, als ob er aus einem tiefen Schlaf erwachte; und da er die Augen aufſchlug, ſah er ſich an der Spitze eines jaͤhen Felſen, unter welchem ein reißender Strom ſeine beſchaͤumten Wellen fortwaͤlzte. Gegen ihn uͤber auf dem andern Ufer des Fluſſes, ſtand Pſyche. Ein ſchnee -weißes79weißes Gewand floß zu ihren Fuͤßen herab, ganz einſam und traurig ſtand ſie, und heftete Blicke auf ihn, die ihm das Herz durchbohrten. Ohne ſich einen Augenblick zu beſinnen, ſtuͤrzte er ſich den Fluß hinab, arbeitete ſich ans andre Ufer hinuͤber, und eilte, ſeiner Pſyche zu Fuͤßen ſich zu werfen. Aber ſie entſchluͤpfte ihm, wie ein Schat - ten, er ſtrebte ihr mit ausgebreiteten Armen nach, aber vergebens! Es war ihm unmoͤglich, den kleinen Zwiſchenraum zuruͤckzulegen, der ihn von ihr trennte. Noch immer heftete ſie ihre Blicke auf ihn; ernſte Traurigkeit ſprach aus ihrem Ge - ſicht und ihre rechte Hand wies in die Ferne, wo er die goldnen Thuͤrme und die heiligen Hayne des delphiſchen Tempels ganz deutlich zu unterſcheiden glaubte. Thraͤnen liefen bey dieſem Anblick uͤber ſeine Wangen herab. Er ſtreckte ſeine Arme fle - hend und von unausſprechlichen Empfindungen be - klemmt, nach der geliebten Pſyche aus. Aber ſie floh eilends von ihm weg, einer Bildſaͤule der Tu - gend zu, welche unter den Truͤmmern eines ver - fallnen Tempels, einſam und unverſehrt in ma - jeſtaͤtiſcher Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus ſtand. Pſyche umarmte dieſe Bildſaͤule, warf noch einen tiefſinnigen Blick auf ihn und ver - ſchwand. Verzweifelnd wollte er ihr nacheilen, als er ſich ploͤtzlich in einem tiefen Schlamme ver - ſenket ſah; und die Beſtrebung, die er anwen -dete,80dete, ſich herauszuarbeiten, war ſo heftig, daß er davon erwachte.

Wenn alſo in der Regel die Vorſtellungen von der Einbildungskraft im Traume zuerſt er - griffen werden, mit welchen die Seele am bekann - teſten iſt, oder welche ſich am tiefſten eingepraͤgt haben; ſo wird man daraus leicht die Folge her - leiten koͤnnen, daß man nicht ohne Herrſchaft uͤber ſeine Traͤume ſey. Jch bin zwar nicht der Mei - nung, daß die Handlungen der Traͤumenden, als ſolche, nach den Geſetzen der Sittlichkeit zu rich - ten ſind; allein ganz liegt doch auch die Urſach der Beſchaffenheit derſelben nicht außerhalb der Sphaͤ - re des Traͤumenden. Die Erfahrung lehrt es, und aus den Geſetzen der Wirkſamkeit der Phan - taſie iſt es erklaͤrbar, daß man ſich von gewiſſen Traͤumen befreyen kann, wenn man bemuͤht iſt, die Vorſtellungen, welche den Jnhalt der - ſelben machen, zu verbannen. Jch kenne einen liebenswuͤrdigen Juͤngling, welcher ſehr oft von ſchaͤndlichen Traͤumen beunruhigt wurde. Er hatte freylich durch wolluͤſtige Ausſchweifungen ſchmutzige Bilder ſeiner Phantaſie ſehr gewoͤhnlich gemacht; aber er war itzt durch Belehrungen und den Gedanken an das Elend, welches er ſich be - reite, auf den Weg der Tugend zuruͤckgekehrt. Nur wollte ſich ſeine Phantaſie noch nicht, ſobald ſie im Traum die Alleingewalt hatte, jener ihrgewoͤhn -81gewoͤhnlichen Bilder entwoͤhnen. Aber nachdem die Zeit der erſten Reue voruͤber war, wo ſich freylich noch oͤfters Gedanken an ſeinen vorherigen ungluͤcklichen Zuſtand einfinden mußten; nachdem die Vorſtellungen von der Wuͤrde und dem Se - gen der Tugend lebhafter in ihm wurden, als die von dem Elend des Laſters; da wurde er nur ſel - ten noch von ſolchen Traͤumen beunruhigt, und endlich hoͤrten ſie ganz auf. Weſſen Phantaſie alſo oft ſeinen Schlaf durch unreine oder ſchaͤnd - liche Traumbilder ſtoͤrt, der ſpreche ſich wegen derſelben doch ja nicht eher von aller Schuld frey, als bis er ſich das Zeugniß geben kann, daß er im Zuſtande der Beſonnenheit ſolche Vorſtellungen von Herzen verabſcheue, und ſich aus allen Kraͤften beſtrebe, dieſelben aus ſeiner Seele zu verbannen.

Oft bedarf es nur des Arztes, um ſich von beunruhigenden Traumgeſichten zu befreyen. Ein gelehrter Theologe gerieth, beſonders wenn er den Tag uͤber ſehr angeſtrengt ſtudirt hatte, ſehr oft des Nachts mit dem Teufel in Streit. Koͤrper und Geiſt litten bey dieſem ungleichen Kampfe un - ausſprechlich. Er konnte es endlich nicht laͤnger erdulden, und brach ſein Studiren ab, um ſich dadurch zu retten. Aber auch das verſchaffte ihm noch nicht die voͤllige Ruhe. Endlich entdeckte er ſich dem Arzte. Dieſer merkte bald, wo derFFeind82Feind ſteckte, verordnete reinigende Arzneyen, und trieb auf dieſe Weiſe den Teufel aus.

So wie man ſich aber von gewiſſen Traͤumen befreyen kann, eben ſo kann man ſich zu andern vorbereiten; wenn man das, wovon man zu traͤumen wuͤnſcht, auch wachend oft und lebhaft denkt. Jmmer freylich wird unſer Wille doch nicht erfuͤllt werden, weil ſehr oft Senſationen, welche dem gewuͤnſchten Traume durchaus zu - wider ſind, die Phantaſie anderswohin lenken; daß es indeß wirklich geſchehen koͤnne, ergiebt ſich durch leichte Folgerungen aus den vorhin gemach - ten Bemerkungen, und weiß mancher vielleicht ſchon aus eigenen Erfahrungen.

Ob die Traͤume angenehm, oder unangenehm ſind, haͤngt von der Beſchaffenheit der Empfin - dung, welche ſie veranlaßte, und von den Vor - ſtellungen, welche durch dieſelbe geweckt werden, ab. Ein im Schlafe dunkel vernommener Knall, duͤnkt den, welcher ſich vor dem Gewitter fuͤrchtet, und daher oft daran denkt, die Stimme des Donners zu ſeyn, und verſetzt ihn in Furcht und Bangigkeit; indeß der Kanonier dadurch an ſeine Kanone gefuͤhrt wird. Die Biſſe jener ſchwar - zen Liebhaber des Menſchenbluts laſſen den eifer - ſuͤchtigen Jtaliener von Banditen traͤumen, wel - che ihn mit ihren Dolchen ermorden wollen; da hingegen das zaͤrtliche Maͤdchen bey derſelben Ver -an -83anlaſſung jammern wird, daß ſie eine Nadel ver - wunde, oder der Dornſtrauch ihr feines Geſicht - chen zerfetze. Das Geſumſe der Muͤcken um das naͤchtliche Lager laͤßt den Capellmeiſter von Concerten, den Krieger von Trompeten - und Paukenſchall traͤumen, und Jndigeſtionen oder Druͤcken des Magens und Herzens den furchtſa - men Hypochondriſten von Erdroſſeln und Erſti - cken, und das aberglaͤubiſche Muͤtterchen vom Druͤcken des unfoͤrmlichen Alps.

Weil aber die Empfindungen ſich leicht ver - aͤndern, und den angenehmen unangenehme und umgekehrt folgen; ſo koͤnnen auch die Traͤume bald veraͤndert werden. So kann zum Beyſpiel die durch irgend eine Urſach gehemmte Cirkulation des Bluts uns im Traume in die Feſſeln unſrer Feinde verſetzen, und mit gewaltiger Angſt er - fuͤllen. Es wird dieſes Uebel weggeraͤumt, und ſiehe, unſer Traum wird leichter, wir glauben den Feſſeln unſrer Feinde entwiſcht und in Si - cherheit zu ſeyn. Ein Wohlbehagen des Koͤr - pers und der freye und raſche Umlauf des Bluts laͤßt uns im Traume fliegen; irgend etwas hemmt denſelben, und wir traͤumen von Niederfallen und erſchrecken.

Ritter Huͤon in dem Meiſterſtuͤck Wielands, dem Oberon,

legt ſich nach einem ritterlichenF 2Schmau -84Schmauſe, bey dem frohe Gaſconiſche Lieder ge - ſungen, und der Becher, aus dem mit wolluſtvoller Hitze ein neuer Lebensgeiſt durch alle Adern blitzt, oͤfters geleert worden, zur Ruhe auf den Polſtern, die, wie beſeelt von innerlichem Leben bey jedem Druck ſanftblaͤhend ſich erheben. Als er da liegt, zwiſchen Schlaf und Wa - chen, da toͤnt es, als ob ringsum auf jedem Baum ein jedes Blatt zur Kehle worden waͤre. Und Mara's Engelston, der Zauber aller Seelen, Erſchallte tauſendfach aus allen dieſen Kehlen. Er ſchlaͤft ein, und gegen Morgen ſteht auf einmal vor ſeinen Augen ein goͤttergleiches Weib im großen Auge des Himmels reinſte Milde. Der Liebe Reitz um ihren ganzen Leib.

Die Entzuͤckung, die er bey dieſem Anblicke fuͤhlt, iſt ihm zu neu, zu gewaltig, als daß ſie ihm ein reines Luſtgefuͤhl gewaͤhren ſollte.

Bald wird das Uebermaaß der Luſt zum Schmerz.

Die Farbe ſeines Traums aͤndert ſich: aus Tag wird ſchwarzgewoͤlkte Nacht.

Von85
Von unſichtbarer Macht wird ſchnell aus ſeinem Arm Jm Wirbelwind die Nymphe fortgeriſſen, Und in die Fluth des nahen Stroms geſchmiſ - ſen.

Nun empfindet der Ritter die Angſt, die Hoͤllenpein, die ſich beym Traͤumen einſtellt, wenn man, um ein großes Gut zu retten, um Huͤlfe ſchreyen, ſich loßreißen will, und nicht kann; welche der Dichter der Natur ſo wahr ſchildert:

Er hoͤrt ihr aͤngſtlich Schreyn, will nach o Hoͤllenpein, Und kann nicht! Steht entſeelt vor Schrecken Als wie ein Bild auf einem Leichenſtein. Vergebens ſtrebt er, keucht, und ficht mit Arm und Bein, Er glaubt in Eis bis an den Hals zu ſtecken, Sieht aus den Wellen ſie die Arme bittend ſtrecken, Und kann nicht ſchreyn, nicht, wie der Liebe Wuth Jhn ſpornt, zu ihr ſich ſtuͤrzen in die Fluth.

Der treue und erfahrne Gefaͤhrte des Rit - ters, Scherasmin genannt, bemuͤht ſich ſeinen Herrn, der ſelbſt wachend ſeinen Traum noch fuͤr mehr als Traum hielt, wenigſtens davon zu uͤber - zeugen, daß der Strom, der Wirbelwind, die Schrauben an Hand und Fuß, welcheF 3der86der Ritter empfunden hatte, vom Traum hinzu - gethan waͤren, und erzaͤhlt ihm in dieſer Abſicht einige Erfahrungen, die er an ſich ſelbſt gemacht haben will.

Mir ſelbſt iſt oft, ſo ſpricht er, in meinen juͤngern Jahren Wenn mich der Alp gedruͤckt, dergleichen wider - fahren. Da, zum Exempel, laͤuft ein ſchwarzer Zot - telbaͤr Jndem ich wandeln geh, der Himmel weiß wo - her, Mir in den Weg; ich greif im Schrecken nach den Degen Und zieh, und zieh umſonſt! Ein ploͤtz - lich Unvermoͤgen Strickt jede Sehne mir in allen Gliedern los; Zuſehends wird der Baͤr noch ſiebenmal ſo groß, Sperrt einen Rachen auf, ſo graͤßlich wie die Hoͤlle: Jch flieh und aͤngſtge mich, und kann nicht von der Stelle. Ein andermal, wenn ihr von einem Abend - ſchmaus Nach Haus zu gehen traͤumt, bey einem alten Gaden Vorbey; auf einmal knarrt ein kleiner Fenſter - laden, Und eine Naſe guckt heraus,So87So lang, als euer Arm. Jhr ſucht, halbſtarr von Schrecken, Jhr zu entfliehn, und vorn und hinten ſtehn Geſpenſter da, die ins Geſicht euch ſehn Und feurge Zungen weit aus langen Haͤlſen recken. Jhr druͤckt in Todesangſt euch ſeitwaͤrts an die Wand, Die gegenuͤber ſteht, und eine duͤrre Hand Faͤhrt durch ein rundes Loch euch eiskalt uͤbern Ruͤcken, Und ſucht an euch herum, euch da und dort zu zwicken. Ein jedes Haar auf eurem Kopfe kehrt Die Spitz empor, zur Flucht iſt jeder Weg ver - wehrt, Die Gaſſe wird zuſehends immer enger, Stets froſtiger die Hand, die Naſe immer laͤnger. Dergleichen, wie geſagt, begegnet oft und viel. Allein am End iſts doch ein bloßes Poſſenſpiel, Das Nachtgeſpenſter ſich in unſerm Schaͤdel machen; Die Naſe ſamt der Angſt verſchwindet im Er - wachen.
F 4Sechſte88

Sechſte Unterhaltung. Ueber den Zuſammenhang der Traͤume mit wirklichen Begebenheiten.

Practica eſt multiplex, ſagt ein altes Spruͤch - wort, und einen Beytrag zur Beſtaͤtigung deſſel - ben geben auch die Traͤume. Auch mit dieſen hat man praktiſirt, und kann ſich zuweilen unter dem gemeinen Haufen noch viel Geld oder Anſehn damit verdienen. Wer hat wohl nicht von Traum - deutern und Wahrſagern, welche unter Griechen und Roͤmern, Juden und Chriſten ihr Weſen getrieben haben, gehoͤrt? Noch itzt gehn unter dem Poͤbel im allgemeinſten Sinne des Worts viel mehr Traumbuͤcher herum, als ſich in unſern ſogenannten erleuchteten Zeiten er - warten ließe. Aber ſollte es denn wirklich keine prophetiſche Traͤume geben? Allerdings giebt es deren, ſo wahr es weiſſagende Zigeunerinnen und untruͤgliche Nativitaͤtſteller giebt. Unter hundert trift einmal einer von ohngefaͤhr zu ergo quid contra? Doch weg mit der Jronie. Alle meine Leſer und Leſerinnen haben vielleicht ſchon Traͤume gehabt, die wirklich in Erfuͤllung gegangen ſind: ſollte dies wohl natuͤrlich zugehnkoͤn -89koͤnnen? So natuͤrlich, als es natuͤrlich iſt, daß unſre Erwartungen zuweilen eintreffen. Alle zukuͤnftige Begebenheiten haben ihren Grund im Vorhergehenden, und vieles von dem, was ganz zufaͤllig zu ſeyn ſcheint, laͤßt ſich ſchon im voraus wahrſcheinlich beſtimmen. Allezeit laͤßt ſich freylich aus dem Gegenwaͤrtigen nicht einſehen, was ſich in der Folge zutragen wird; aber zuwei - len wenn in uns oder den uns bekannten Verhaͤltniſſen Andrer zu uns der Grund davon liegt koͤnnen wir es doch ziemlich genau berech - nen, wenigſtens muthmaßen; und es waͤre gewiß ein groͤßeres Wunder, wenn unſre Muthmaßun - gen nie eintraͤfen, als daß ſie zuweilen zur Wirk - lichkeit kommen. Manche Vorſtellungen ſind ſo ſchwach und dunkel, daß ſie kaum zu unſerm Be - wußtſeyn gelangen, oder wenigſtens ſo voruͤber - gehend ſind, daß wir uns derſelben nicht wieder erinnern; indeß tragen dieſelben doch das Jhrige mit zu den Urtheilen und Schluͤſſen bey, welche wir hernach ohne einen Verbindungsgrund der Begriffe und ohne Praͤmiſſen gemacht zu haben ſcheinen. So geht es auch im Traume. Es bleiben einige Vorſtellungen gleichſam auf der Oberflaͤche der Seele, irgend eine Urſach regt dieſelben an, und ſiehe, die Phantaſie macht ſich ein Bild aus ihnen, und zeigt dem Traͤumenden et - was, was ſich hernach auch wirklich ſo zutraͤgt. F 5So90So kann es zum Beyſpiel wohl treffen, daß je - mand von ſeinem Todestage traͤumt, und zu der getraͤumten Zeit auch ſtirbt. Jeder weiß, daß er ſterben wird, und denkt zuweilen daran. Nun hat er vielleicht einmal dieſen Gedanken vorzuͤglich lebhaft gedacht; die Phantaſie zieht ihn bey der erſten Veranlaſſung im Traume hervor, und macht Zuſaͤtze dazu von dem Tage und der Stunde ſei - nes Sterbens, welche zuweilen Folgerungen aus einer wahren Empfindung ſeiner koͤrperlichen Ge - ſundheit ſeyn koͤnnen; zuweilen ganz zufaͤllig ſind. Er erinnert ſich dieſes Traums; dieſe Erinnerung erſchreckt ihn, und dies wird die Urſach, daß er wirk - lich zu der getraͤumten Zeit ſtirbt. Denn je naͤ - her die Zeit kommt, deſto groͤßer wird die Furcht, und iſt der entſcheidende Augenblick da, ſo wird die Angſt am gewaltigſten, und kann gar leicht den wirklichen Tod zur Folge haben.

Muratori erzaͤhlt in ſeiner Schrift uͤber die Einbildungskraft*)Ueberſ. von Richerz, 1. Th. 212. S. u. ff. ein Beyſpiel von einem wahr - ſagenden Traum der Mutter des Cardinals Bem - bo. Es hatte derſelbe eine Streitigkeit mit einem ſeiner Verwandten, und war, weil er fuͤr ſich nicht mit demſelben einig werden konnte, ge - zwungen, den Gerichten eine Anklage wider ihn zu uͤbergeben. Ehe er an dem fuͤr die Behand -lung91lung dieſes Proceſſes angeſetzten Morgen auf das Gerichtshaus geht, ſieht er, wie gewoͤhnlich, ſei - ne Mutter, um ſich von ihrem Befinden zu un - terrichten: und wie ſie ihn fragt, wo er hingehn wolle, antwortet er: Zu den Richtern. Kaum vernimmt die zaͤrtliche Mutter dies, als ſie ihn aufs angelegentlichſte bittet, heute doch nicht aus dem Hauſe zu gehn, weil ſie ihn im Traume mit ſeinem Widerſacher in Wortwechſel und von dem - ſelben verwundet geſehn habe. Bembo laͤchelt uͤber die Aengſtlichkeit ſeiner zu zaͤrtlichen Mutter, ſucht ſie moͤglichſt zu beruhigen, laͤßt ſich aber in ſeinem Entſchluß nicht irre machen. Er geht fort, nach dem Gerichtshaus zu; ſtoͤßt wirklich unterwegs auf ſeinen Gegner, geraͤth mit demſel - ben in Zank, und wird, weil es von Worten zu Thaͤtlichkeiten kommt, zuletzt auch verwundet. Es traf alſo der Traum der Mutter des Cardi - nals ein; wie laͤßt ſich dies Wunder erklaͤren? Die Mutter, ſagt Muratori, kannte unſtreitig den mit ihrem Sohne in Streit verwickelten Ver - wandten, als einen ſehr hitzigen und unbeſonne - nen Mann, der ſich vielleicht dadurch ſehr belei - digt glaubte, daß Bembo ihn angeklagt hatte. Sie gerieth alſo daruͤber in Beſorgniß, und legte ſich mit derſelben am Abend nieder. Die zaͤrtli - che Liebe zu ihrem Sohne machte die Beſorgniß ſehr ſtark, und die Vorſtellungen von dem, wasihrem92ihrem Sohne vielleicht begegnen konnte, ſehr leb - haft; daher denn die Phantaſie, ohne durch ein Wunder dazu geſchickt gemacht zu ſeyn, ihr im Traum den angegriffenen und verwundeten Sohn vorſtellen konnte.

Ohne zu traͤumen haͤtte die Mutter bey die - ſen Umſtaͤnden daſſelbe vermuthen und ziemlich gewiß vorausſagen koͤnnen: auch den Tag, weil ſie natuͤrlich von dem Tage am meiſten zu fuͤrchten hatte, wo die beiden erbitterten Feinde leicht auf einander ſtoßen konnten.

Es ſey mir erlaubt, zum Beweiſe und zur Erlaͤuterung deſſen, was ich vorhin von den Traͤu - men uͤberhaupt, und der Art und Weiſe, wie ſie zuweilen eintreffen koͤnnen, bemerkt habe, ein offenherzig erzaͤhltes[Be]yſpiel von mir ſelbſt anzu - fuͤhren: wobey ich beſſer, als bey fremden Erfah - rungen im Stande ſeyn werde, die Urſachen der Traumerſcheinung beſtimmt anzugeben.

Jch war an einem Abend in der Geſellſchaft mehrerer Freunde bey einem Glaſe Punſch und angenehmen Unterhaltungen uͤber meine vaterlaͤn - diſchen Verhaͤltniſſe ſehr vergnuͤgt geweſen. Mit der heiterſten Laune legte ich mich nieder, und ſchlief bis nach Mitternacht, ohne das geringſte Gefuͤhl von meinem Daſeyn zu haben. Mit einemmal aber vernahm ich im Traume das Bla - ſen eines Poſtillions, welches mich aufmerkſammachte,93machte, und einige meiner Freunde, unter wel - chen ich mich zu befinden glaubte, fragen ließ, was dieſe Extrapoſt wohl bringen moͤchte? Geſellſchaft, die Sie intereſſirt, war ihre Antwort, und kaum hatte ich dieſelbe vernommen, als ich in den Ar - men eines meiner vertrauteſten Freunde und einer meiner liebſten Verwandtinnen war. Das Ploͤtz - liche dieſer Erſcheinung und der damit verknuͤpften Freude betaͤubte mich, und die Betaͤubung war im Traume ſo ſtark, als ich ſie kaum jemals wa - chend empfunden habe. Nach und nach kam ich wieder zu mir ſelbſt, und befand mich an den Haͤnden dieſer geliebten Perſonen, unter einer zahl - reichen Geſellſchaft in einem praͤchtig erleuchteten Gartenhauſe zu L., wo eine ſchoͤne Muſik mein Ohr und eine wohlbeſetzte Tafel mein Auge, aber nicht meinen Gaumen ergoͤtzte. Nach dem Abendeſſen fuͤhrte uns der mir noch immer unbekannte Wirth in einen mit vielen Kronleuch - tern erhellten Saal, in welchem ich vorzuͤglich deutlich vier ziemlich große vergoldete Spiegel, die alabaſternen Buͤſten der Goͤttin Mnemoſyne und ihrer neun Toͤchter, und in einer Ecke einen roͤ - miſchen Praͤtor mit einem Edikt in der Hand, und mit der Phyſiognomie Friedrichs des Zweyten erblickte. Man fing an zu tanzen, und ich tanzte mit meiner Freundin meine Lieblingsquadrille. Gegen Morgen fuhren wir wieder in die Stadt,wo -94woſelbſt meine Freunde noch bis zum andern Tag blieben. Als ſie wegfuhren, ſetzte ich mich mit in den Wagen, und mein Freund ritt ein mir ſehr wohl bekanntes Pferd. Nachdem ich eine Strecke gefahren war, mußte ich umkehren, nahm Abſchied, und ſetzte mich auf das Pferd, welches meinen Freund getragen hatte, um wie - der nach Hauſe zu reiten.

So weit war ich in meinem Traume, als man mich weckte. Jch brauchte, wider meine Ge - wohnheit, lange Zeit, um mich ermuntern zu koͤnnen, ſtand indeß auf und fuͤhlte mich noch ganz beſonders heiter. Jch uͤberdachte meinen Traum, aber vergaß ihn bald, weil meine Ge - ſchaͤfte mich riefen, und ich an die Moͤglichkeit der Erfuͤllung deſſelben nicht glauben konnte. Nach Mittag war's aus einem dunkeln An - triebe des Traums, oder einer andern gewoͤhnli - chen Urſach, ſetzte ich mich zu Pferde, um zu ei - nem benachbarten Freunde zu reiten. Kaum war ich angekommen, ſo gab mir dieſer einen Brief von denſelben Perſonen, die mich im Traume beſchaͤftigt hatten. Schon dies machte mich ſtutzen. Noch mehr aber ſtutzte ich, als ich den Brief las, in welchem ich erſucht wurde, nach L. zu kommen, um ſie daſelbſt zu ſprechen. Jch reiſte hin, wurde mit ihnen zu einem mir unbekannten Manne, aber ihrem Freunde, aufſein95ſein Gartenhaus eingeladen. Man , muſi - cirte und tanzte in einem Saal, in welchem aber außer den Spiegeln nichts befindlich war, wel - ches mit meinen Traͤumereyen uͤbereinkam. Am folgenden Tag fuhren meine Freunde wieder ab; ich begleitete ſie und ritt hernach auf dem Pferde, welches ich im Traum geſehen hatte, nach Haus. Auf meinen Ruͤckweg beſchaͤftigte ich mich nun außer dem Andenken an die genoßne Freude, auch mit meinem Traume, und fand fol - gende Urſachen ſeiner Entſtehung und propheti - ſchen Beſchaffenheit.

Jch pflege, meiner Vollbluͤtigkeit wegen, zu - weilen, beſonders wenn ich etwas Erhitzendes ge - trunken habe, ein Brauſen vor den Ohren zu empfinden. Dieſes ſcheint meine Phantaſie dies - mal mit dem Blaſen eines Poſtillions verwechſelt zu haben, welches mich denn leicht auf die An - kunft meiner Freunde bringen konnte; beſonders da ich den vorhergehenden Abend viel von ihnen geſprochen und vor einiger Zeit erfahren hatte, daß ſie vielleicht eine Familienſache nach L. fuͤhren wuͤrde. An das Unvermuthete dieſer ſehnlichſt gewuͤnſchten Erſcheinung hing ſich denn die Be - taͤubung als eine natuͤrliche Folge. Wie ich aber von einem Gartenhauſe, Muſik und Tanz hatte traͤumen koͤnnen, war mir ſchwer zu ergruͤnden. Jndeß kam ich auch dieſem gluͤcklich auf die Spur. Jch96Jch war vierzehn Tage zuvor durch einen ſehr launigen Brief, in welchem auch namentlich des Balls Erwaͤhnung geſchah, zu einer Familien - hochzeit eingeladen worden; und mein Freund, welcher mich einlud, hatte vor der Stadt ein Gartenhaus, in welchem ich ſchon oͤfters in Ge - ſellſchaft der Perſonen, von welchen ich traͤum - te, getanzt hatte.

Da ſich dieſes nun mir vergegenwaͤrtigte, und meine Phantaſie ſeit jener Einladung ſich oft mit Hochzeitsfeyerlichkeiten beſchaͤftigt hatte; ſo konn - ten jene Bilder ſich ſehr leicht zuſammenfinden, und weil ich einmal vom Tanzen traͤumte, mußte ich wohl am natuͤrlichſten, da meine Tanzkunde ſehr eingeſchraͤnkt iſt, auf jene Quadrille kommen, welche mir die bekannteſte und liebſte war.

Aber woher die Buͤſten der Mnemoſyne und ihrer Toͤchter? woher der roͤmiſche Praͤtor mit ſeinem Edikt, in der Geſtalt Friedrichs des Zwey - ten? Hier haͤſitirte ich eine Weile, ohne die mindeſte Verbindung entdecken zu koͤnnen, und waͤre beynahe muͤde geworden, weiter zu forſchen. Endlich fiel mir ein, daß ich einige Zeit vorher in Plutarchs Tiſchproblemen unter andern auch das geleſen hatte, welches die neun Muſen zum Ge - genſtand hat. Jch ſprach uͤber den Jnhalt deſſel - ben mit einigen andern, und praͤgte es mir da - durch noch feſter ein. Durch dieſe Entdeckungnun97nun fand ich auch den Grund der praͤtoriſchen Erſcheinung. Leibnitz in ſeinen nouveaux Eſſays ſur l'entendement humain ſagt unter andern in dem Avant-propos, um ſeinen Begriff von an - gebornen Jdeen zu erlaͤutern: Il eſt vrai, qu'il ne faut point ſ'imaginer, qu'on puiſſe lire dans l'Ame ces eternelles loix de la raiſon à livre ouvert comme l'Edit du Preteur ſe lit ſur ſon album &c. Dieſe letztern Worte hatte ich mir, ich weiß nicht warum, ganz unwillkuͤhrlich oft wiederholt, und uͤberhaupt die ganze Stelle zu einem gewiſſen Zweck mir angemerkt. So fand alſo die Jmagination die Vorſtellung des Praͤtors mit ſeinem Album in meinem Jdeenvorrathe, und ſtellte ihn in jenen Saal hin. Aber warum in dieſer praͤtoriſchen Form Friedrich der Zweyte? Als ich hierauf kam, waͤre ich beynahe uͤber die Unordentlichkeit meiner Einbildungskraft unwillig geworden; allein ich fand zum Gluͤck zu ihrer Entſchuldigung Folgendes:

Jch hatte irgendwo ich meyne im Ham - burger politiſchen Journal ſchon vor langer Zeit geleſen, der Kaiſer von China wuͤnſche den Koͤnig Friedrich zu ſeinem Sergeanten zu haben. Dies war mir wegen des ſeltſamen Contraſtes ſehr auffallend und laͤcherlich geweſen. Nun hatte freylich meine Einbildungskraft die antiqua - riſche Suͤnde begangen, und einen roͤmiſchenGPraͤtor98Praͤtor fuͤr einen chineſiſchen Sergeanten genom - men; indeß konnte ich ihr auch dies verzeihen, da ich in meinen fruͤhern Jahren ſehr oft den Praͤtor mit einem Corporal oder Sergeanten hatte verglei - chen hoͤren. Die andern Traͤumereyen vom Nach - hauſefahren u. ſ. w. konnten ſich an das Vorher - gehende leicht anhaͤngen; daß ich aber gerade von dem Pferde traͤumte, kam daher, weil ich mich zu der Zeit deſſelben gewoͤhnlich zum Reiten be - diente.

So konnte alſo die Einbildungskraft aus gu - ten Gruͤnden etwas im Traume zum Bewußtſeyn bringen, welches nachher zum Theil auch geſchah: da ſie alle Materialien zu den noͤthigen Saͤtzen und alle Praͤmiſſen zu den gemachten Schluͤſſen in der Seele vorfand. Daß mein Traum mit - hin uͤberhaupt eintraf, war ſehr natuͤrlich; daß er ſogleich nachher realiſirt wurde, hoͤchſt zufaͤllig. Hundertmal kann man aͤhnliche Traumerſcheinun - gen haben, und ſie werden bleiben, was ſie ſind Schattenſpiele der Einbildungskraft.

Siebente99

Siebente Unterhaltung. Ueber koͤrperliche und geiſtige Handlungen im Traume.

Die Erfahrung lehrt es allgemein, daß es im Traume nicht allemal bey Vorſtellungen bleibt, ſondern aus dieſen auch wohl koͤrperliche Bewe - gungen entſpringen z. B. ein Schlagen oder Stoßen mit Hand und Fuß, Singen, Reden u. ſ. w.

Es wird dies aber, wie ich glaube, in der Regel alsdann geſchehen, wenn die Traumidee entweder mit einer dem Traͤumenden ſehr mechani - ſchen Bewegung zuſammenhaͤngt, oder durch ihre Verbindung mit einem, mit koͤrperlichen Ausdruͤcken verſchlungenen Affekt des Traͤumenden, ſehr viel Leben und Staͤrke erhaͤlt. Jn dem erſten Fall bedarf es nur einer geringen Anregung, um die Bewegung hervorzubringen, und im zweyten iſt die Anregung zu ſtark, als daß ſie die durch den Schlaf bewirkte Traͤgheit der Nerven und Seh - nen nicht uͤberwinden ſollte.

Der auf dem Pferde ſchlafende Fuhrmann macht mit ſeiner Peitſche dieſelben Bewegungen, die er wachend macht, und der das Holz zer -G 2ſchnei -100ſchneidende Tagloͤhner unterlaͤßt auch im Schlafe nicht ſeinen Arm zum Saͤgen zu bewegen*)Diejenigen Bewegungen, welche die geringſte Anſtren - gung, und beſonders keine Aufrichtung des ganzen Koͤrpers erfordern, werden am erſten erfolgen. Denn der Schlaf macht immer den Koͤrper ſchwer und traͤge, wenn er gleich einigen Gliedmaßen mehr Leichtigkeit und Regſamkeit laͤßt. So wird man z. B. wohl oͤfters im Schlafe Holz ſaͤgen ſehn; aber nicht Holz hacken..

Wer im Traume denjenigen, mit welchem er ſich am Tage zankte, gewahr wird, wiederholt oft mit Hand und Mund die Bewegungen, wel - che er beym Zank machte, und wer eine fuͤrch - terliche Geſtalt erblickt, welche ihn zu ergreifen droht, ſchreyt, um Huͤlfe zu rufen, oder droht in der Furcht mit Mienen und Haͤnden, um ſie zuruͤckzuſchrecken.

Jſt nun der Schlaf in den Gliedern, welche der ſchreckende Affekt zur Thaͤtigkeit auffordert, doch zu ſtark und zu ſchwer, als daß dieſelben ge - regt werden koͤnnten, dann entſteht die unbeſchreib - liche Angſt und Beklommenheit, welche man oͤf - ters im Schlafe empfindet, wenn man um Huͤlfe ſchreyen, fliehen, ſich loßwinden will und nicht kann.

Was insbeſondere noch das Sprechen im Schlafe betrifft, welches man auf mancherleyWeiſe101Weiſe zu erklaͤren verſucht hat, ſo ſcheint mir dies nach meinem vorhin aufgeſtellten Satze ent - weder ſehr reizbare Sprachorgane, oder eine Traumerſcheinung, welche mit Gegenſtaͤnden zu - ſammenhaͤngt, bey denen die traͤumende Perſon ſehr leicht in Sprachthaͤtigkeit verſetzt zu werden pflegt*)Z. B. Wenn jemand die Gewohnheit hat, im Affekt der Verwunderung ſehr zu ſchreyen und viel zu plappern; ſo wird auch, wenn er ſich im Traume verwundert, dies erfolgen wer beym Meditiren laut und angeſtrengt zu ſprechen gewohnt iſt, kann auch, wenn er traͤumt, dies thun., vorauszuſetzen. Weder das eine noch das andere iſt allein zur Erklaͤrung hinreichend; denn die Erfahrung lehrt, daß es ſowohl Men - ſchen giebt, welche wachend viel ſchwatzen, und im Schlafe doch ſtumm ſind; als auch ſolche, die zwar wachend nicht viel ſprechen, im Schlafe aber oͤfters gehoͤrt werden.

Auch nimmt man zuweilen bey den Schla - fenden Geiſteshandlungen wahr; ſie diſputiren, dichten und denken, und ſollen ſogar auch mit fremden Zungen reden koͤnnen. So wenig nun dies letztere moͤglich ſeyn kann, ohne daß die Zunge wirklich zu der Sprache, welche ſie ſpricht, gebildet iſt; ſo natuͤrlich und gewiß iſt das erſte - re: denn, ſobald die Seele einmal in Thaͤtigkeit geſetzt iſt, bleibt Verſtand und Urtheilskraft nichtG 3muͤßig;102muͤßig; weil die Kraͤfte in der Seele ſelbſt nicht ſo getrennt ſind, wie ſie der Pſychologe trennen muß, um ihre Geſetze zu erforſchen; ſondern zur Hervorbringung einer Seelenwirkung die ganze Seele, d. h. alle in derſelben zu unterſcheidende Vermoͤgen mitwirken. Daß aber bey (ſehr weni - gen) Perſonen, die im Traume verfertigten Gei - ſtesarbeiten vorzuͤglicher ſind, als die, welche von den Wachenden hervorgebracht werden, darf nie - mand befremden, der nur bedenkt, daß innere und aͤußere Stille und Entfernung deſſen, was zerſtreuen kann, den Operationen des Verſtandes ſehr guͤnſtig ſind, indem ſie ihm erlauben, ſeine Kraft zu concentriren, welche im wachenden Zu - ſtande durch hundert Urſachen zerſtreuet werden kann.

Herr Richerz erzaͤhlt in der ſchon angefuͤhr - ten Schrift ein merkwuͤrdiges Beyſpiel von Be - ſonnenheit und Urtheil im Schlafe, deſſen Wahr - heit um ſo weniger bezweifelt werden kann, da es ihm von einem Manne mitgetheilt iſt, der es an ſich ſelbſt erfahren hat, und von anerkannter Wahrhaftigkeit war. Jch theile daſſelbe ſeiner Merkwuͤrdigkeit wegen nach Hrn. Richerz Erzaͤh - lung hier mit.

Der als Weimarſcher Hofrath und Leibme - dikus in Eiſenach verſtorbene Doctor Oſann, war zur Zeit der vor mehrern Jahren herrſchendenEpi -103Epidemie, der ſogenannten Jnfluenza, in Goͤt - tingen, und ſo ſehr mit Geſchaͤfften uͤberhaͤuft, daß er ſchon einige Abende, ſtatt ſchlafen zu gehn, ſich aufs Pferd hatte ſetzen muͤſſen, um Patien - ten außerhalb der Stadt zu beſorgen, von wel - cher er ſich bey Tage, wegen vieler Kranken nicht hatte entfernen duͤrfen. Am Abend eines folgen - ges Tages fand er ſich nun ſo ganz außerordent - lich entkraͤftet, daß er beym Schlafengehn aufs nachdruͤcklichſte befahl, ihn, um keiner Urſache willen, es ſchicke auch wer da wolle, aufzuwe - cken. Kaum lag er im beſten Schlafe, ſo kam ein Bote mit einem Briefe und zweyen Pferden, in der Abſicht, ihn abzuholen, vor ſeine Thuͤr. Sein Bedienter, welcher die menſchenfreundlichen Geſinnungen ſeines Herrn kannte, weckte ihn, ungeachtet des vorhergegangenen Verbots. Die - ſer war wider ſeine ganze bisherige Gewohnheit erſchrecklich unwillig daruͤber, berief ſich auf ſein Verbot, und wiederholte in einem Athem, daß, da alle andre Menſchen itzo ſchliefen, er fuͤr ſei - ne Perſon auch der Ruhe genießen wolle. Der Bediente ließ ihm ein Licht, in dem Gedanken, daß ſein Herr, wie er ſonſt pflegte, nun ſchon von ſelbſt aufſtehen wuͤrde. Wie er merkte, daß dies nicht geſchaͤhe, ging er wieder auf ſeines Herrn Kammer, und fand ihn in tiefem Schlafe. Er weckte ihn noch einmal. Der Arzt ließ ſichG 4das104das Licht zum Bette bringen, las den Brief, ſagte ſogleich: O das hat nichts zu bedeuten! ſchrieb im Bette die Antwort und ein Recept, und befahl, daß man ihm das eine Pferd am Morgen um ſieben Uhr wieder vor das Haus fuͤhren ſollte. Mit allem dieſen vergingen etwa drey Viertelſtun - den. Er verſank ſogleich wieder in den tiefſten Schlaf. Am Morgen beym Aufſtehen kam ihm kein Gedanke an das Vorgefallne ein. Und nie hat er ſich auf das geringſte davon beſinnen koͤn - nen. Er war durch den heilſamen Schlaf gleich - ſam neu gebohren, und fuͤhlte keinen Druck uͤber den Augen, den er jedesmal, wenn er die Nacht vorher geweckt war, zu fuͤhlen pflegte. Er klei - dete ſich, wie gewoͤhnlich, das heißt nicht reiter - maͤßig, an, und war im Begriff Hut und Stock zu nehmen, um ſeine Patienten in der Stadt zu beſuchen, als ſein Bedienter eben hereintrat, und ihm ſeine Befremdung uͤber den erwaͤhnten Anzug zu erkennen gab, da er doch verſprochen haͤtte, um ſieben Uhr auszureiten, und das Pferd ſo - gleich vor der Thuͤr ſeyn wuͤrde. Der Bediente betheuert, wie ſein Herr meynt, daß er ihm et - was vortraͤume, die Wahrheit ſeines Vorge - bens, und beruft ſich auf den geſchriebenen Brief und das Recept. Auf die Frage, wo dieſes hin - gekommen ſey, antwortet er: Nach der Apo - theke. Ohne Zeitverluſt laͤuft der Arzt zu dieſerhin,105hin, und erfaͤhrt, daß wirklich in der letzten Nacht ein von ihm verſchriebenes Medikament fuͤr den und den auswaͤrtigen Kranken verfertigt worden ſey. Aber von ſeiner Beſorgniß, etwas Unzweck - maͤßiges oder Schaͤdliches verſchrieben zu haben, wird er hier nicht befreyt. Man hatte leider diesmal keine Abſchrift von dem Recepte genom - men, und der Bote nahm es mit ſich hinweg. Alles, was man zum Troſt des aͤußerſt beunru - higten Mannes ſagen konnte, war, daß er eine Mixtur verſchrieben haͤtte. Jn der groͤßten Eile kleidet er ſich alſo um, und ſetzt ſich aufs Pferd. Außer Athem kommt er an den Ort, wohin er geladen war. Wie befindet ſich der Patient? fragt er, und hoͤrt zu ſeinem Erſtaunen: beſſer als vorher. Beſonders that die verordnete Aderlaͤſſe gute Dienſte. Noch mehr Urſach zur Verwunderung. Er geht zu dem Kranken ſelbſt, findet ihn ertraͤglich, ſagt alſo, aus weiſer Beſorgniß, jemanden zu beunruhigen, von dem aͤußerſt ſonderbaren Vorfall nichts. Die Neugier laͤßt ihn indeß bald einen Vorwand erfinden, ſich ſeinen Brief auszubitten. Er erhaͤlt ihn, und bewundert, daß dieſer Brief zwar etwas ſkoptiſch, aber doch mit dem vollkommenſten Verſtande von ihm geſchrieben war.

Eine ſo vollkommne Empfindung, Ueberle - gung und Beſonnenheit laͤßt mich indeß vermu -G 5then,106then, daß der genannte Arzt die hier erzaͤhlten Handlungen nicht im eigentlichen Traume, ſondern vielmehr wirklich wachend vorgenommen, und ſich derſelben, wegen ſeines vorhergegangenen, und gleich darauf fortgeſetzten tiefen Schlafes, nur nicht habe erinnern koͤnnen. Es iſt bey ſehr ermuͤde - ten und daher feſt ſchlafenden Perſonen dies oft der Fall, daß ſie geweckt werden, mit andern ſprechen, wohl gar aufſtehen, am Morgen aber nichts davon wiſſen: weil die gar zu große Be - gierde zu ſchlafen, ſelbſt mitten unter dem, was ſie vornehmen, ihre Gedanken fuͤllt; ſie daher ſo gar nicht auf daſſelbe aufmerken, und ſich deswe - gen am Morgen oft gar nicht daran erinnern. Es geht ſo mit allem dem, was man ſo hin thut, indem man mit ſeinen Gedanken bey ganz andern Gegenſtaͤnden iſt; man vergißt es, und glaubt nachher kaum, daß man es gethan haben koͤnne.

So ſtelle ich mir den Zuſtand des ſeligen Oſann vor. Er hatte mehrere Naͤchte ohne Schlaf zubringen muͤſſen, war daher ganz er - ſchoͤpft, und befahl ausdruͤcklich, ihn dieſe Nacht nicht aufzuwecken. Mit dem Gedanken und dem Wunſche alſo, endlich einmal wieder ungeſtoͤrt ru - hen zu koͤnnen, legte er ſich zu Bette, und wurde doch geweckt. Daß er nun hiedurch auch wirklich aufgeweckt worden ſey, ſchließ ich einmal aus dem deutlichen Bewußtſeyn, daß es itzt Nachtſey,107ſey, und dem, aus der Erinnerung an ſein Ver - bot, entſtandenen Unwillen; ferner aus ſeiner Faͤhigkeit, die Krankheit des Patienten zu beur - theilen und zweckmaͤßige Heilmittel zu verordnen, und endlich aus der Offenheit, wenigſtens der drey Sinne des Geſichts, des Gehoͤrs und des Gefuͤhls. Aber weil er mit großer Unluſt han - delte, und die Sache, die er vornahm, beſon - ders itzt als alltaͤgliches Geſchaͤft, ihm ganz me - chaniſch ſeyn mußte, ſo ließen die damit zuſam - menhaͤngenden Vorſtellungen wenig oder gar keine Spuren zuruͤck, und der gleich darauf wieder ſich einſtellende feſte Schlaf verhinderte es vollends ganz, daß ſie ſich eindruͤcklich machen, und von der Erinnerung wiederholt werden konnten*)H. Richerz fuͤhrt S. 246. im erſten Theil der an - gefuͤhrten Schrift einen dreyfachen Grund an, war - um er den Zuſtand des D. Oſann fuͤr kein eigentli - ches Wachen halten koͤnne.1) Der Mann zeigt ſich hier von einer Laune beherrſcht, die er, der gefaͤlligſte, menſchenfreund - lichſte Menſch, wachend nie hatte.2) Er konnte ſich an dieſen Vorfall nicht im geringſten erinnern.3) Er fuͤhlte von ſeiner naͤchtlichen Beunruhi - gung nicht die Beſchwerde, welche ihn ſonſt, wenn er ganz geweckt wurde, darnach zu befallen pflegte.Jch.

Eins108

Eins der ſonderbarſten und in der Erklaͤrung mit den meiſten Schwierigkeiten verwickelten Phaͤ - nomene, iſt das ſogenannte Nacht - oder eigentli - cher Schlafwandeln, oder derjenige Zuſtand, in welchem der Menſch nicht eigentlich und voll - kommen wacht, aber doch Handlungen allerley Art vornimmt, welche ſonſt nur im Wachen moͤglich zu ſeyn ſcheinen.

Jch halte daſſelbe fuͤr eine Art von Verruͤckt - heit, welche ſich beym vollkommnen Wachen nur darum nicht aͤußert, weil da die wirklichen Em - pfindungen mit hinlaͤnglicher Klarheit in die See - le kommen, um dieſelbe von allen Verhaͤltniſſen ihrer Perſon benachrichtigen, und wenigſtensHand -*)Jch glaube auf den erſten und letzten Grund (denn der zweyte iſt ſchon oben beruͤhrt) Folgendes antworten zu koͤnnen:1) Auch der gefaͤlligſte und menſchenfreund - lichſte Mann kann verdrießlich werden, wenn er zu oft beunruhigt wird; beſonders im Anfange, ehe ſeine Tugend ſeiner unangenehmen Empfindung Herr wird.2) Daß er die gewoͤhnliche Beſchwerden nicht fuͤhlte, kam vielleicht daher, weil der nachherige ſehr ruhige Schlaf ſeine Nerven wieder gnug ſtaͤrkte, um nicht den Druck, den er ſonſt empfand, zu fuͤh - len, vielleicht war auch etwas anderes Urſach hie - von, welches ich um ſo weniger angeben kann, da ich kein Arzt bin.109Handlungen verhuͤten zu koͤnnen, welche mit dieſen im Widerſpruch ſind.

Alle Erfahrungen, welche hieruͤber gemacht ſind, beweiſen es einſtimmig, daß die Schlaf - wandrer einen kraͤnklichen Koͤrper, verdorbne Saͤfte, ein unruhiges Blut und Hang zur Me - lancholie haben; Beweiſe genug, daß dieſer Zu - ſtand Urſachen vorausſetzt, welche Koͤrper und Seele nicht geſund ſeyn laſſen.

Nicht bey allen Schlafwandrern ſind dieſelben Sinne geoͤffnet; nur das Gefuͤhl iſt bey allen lebendig. Doch nehmen ſie Handlungen vor, welche den voͤlligen Gebrauch, wenigſtens der vorzuͤglichen Sinne, vorauszuſetzen ſcheinen Handlungen ſelbſt, welche ſie im wachenden Zu - ſtande nicht vornehmen wuͤrden, und vor welchen ſie, wenn ſie waͤhrend oder nach denſelben erwa - chen, ſelbſt erſchrecken und zittern.

Ein gewiſſer Johann Ferraud ſtand, wie Muratori aus Gaſſendis Phyſik erzaͤhlt, des Nachts im Schlafe auf, legte ſeine Kleidung, aber meiſtens blos das Hemd, an, eroͤffnete die Thuͤr, ſtieg hinab in den Keller, um Wein vom Faſſe zu ziehn, und nahm noch andre aͤhnliche Verrichtungen vor. Zuweilen ſchrieb er ſogar; und ob er ſich gleich immer im Dunkeln befand, ſahe er doch eben ſo deutlich, als am Tage. Wenn ihn ſeine Frau um etwas fragte, antwortete erihr110ihr beſtimmt. Erwachte er im Keller oder auf der Straße voͤllig aus ſeinem Schlafe, ſo wußte er doch immer, wo er war, und begab ſich tap - pend auf ſeine Stube, oder in ſein Bette zuruͤck. Jmmer uͤberfiel ihn indeß beym Erwachen ein Herzklopfen und heftiges Zittern an allen Glie - dern.

Ein gewiſſer Ripertus ging im Schlafe mit Stelzen uͤber einen Bach, der in einem nahgele - genen Thale floß, und ziemlich angeſchwollen war; aber beym Erwachen am jenſeitigen Ufer hatte er nicht das Herz, zuruͤckzukehren, bevor es Tag ward und das Waſſer ſich einigermaßen verlief.

Ein Bedienter, erzaͤhlt derſelbe Schriftſteller, ward an einem Morgen allenthalben vermißt, bis man ihn ſchlafend auf dem Kranz oben an der Kirchmauer fand. Man war klug genug, ihn nicht aufzuwecken, weil dies gewoͤhnlich ſolchen Perſonen, wenn ſie ſich in einer gefaͤhrlichen Lage befinden, das Leben zu koſten pflegt. Wirklich erzaͤhlt man von einem Nachtwandler, der in ei - nem Fluſſe ſchwimmend gefunden ward, und wie man ihn durch Zurufen aufweckte, vor Furcht ertrank.

Es laͤßt ſich die Kuͤhnheit und Unerſchrocken - heit der Schlafwandrer aus ihrem nicht von voͤlli - gem Bewußtſeyn und vollkommner Beſonnenheitbe -111begleitetem Zuſtande ſehr leicht begreifen. Von den Vorſtellungen ihrer Jmagination geblendet, ſehen ſie die Gefahren nicht, welche mit ihren Un - ternehmungen verknuͤpft ſind, und koͤnnen ſich alſo auch vor denſelben nicht fuͤrchten, welche Furcht - loſigkeit ihnen einen deſto ungehindertern Gebrauch ihrer Kraͤfte erlaubt, und ſie da ſicher gehen und ſteigen laͤßt, wo ſie wachend furchtſam ſeyn, und daher gewiß fallen wuͤrden.

Die Geſchichten des Johann Baptiſta Ne - gretti und des italiaͤniſchen Edelmanns, Signor Auguſtin Forari, ſind zu bekannt, als daß ich ſie hier noch einmal erzaͤhlen duͤrfte. Jch begnuͤ - ge mich damit, die Beſchreibung der Schlafhand - lungen eines Seilers aus der Richerzſchen Ab - handlung vom Schlafwandern hieher zu ſetzen, welche zugleich einen Beweis meiner Meynung abgeben kann, daß die Schlafwanderer eine Art Verruͤckter ſind; weil es von dieſem Manne be - kannt iſt, daß er auch im wachenden Zuſtande Spuren der Verruͤcktheit ſehen ließ.

Einen Seiler, heißt es in der angefuͤhrten Abhandlung, (in welche dieſe Geſchichte aus dem Aufſatz eines glaubwuͤrdigen Mannes, des Weima - riſchen Raths und Oberleibarztes, D. Johann Caſpar Muͤllers aufgenommen iſt,) welcher drey und zwanzig Jahr alt und eines melancholiſchen Temperaments iſt, uͤberfaͤllt bey Tage oft einSchlaf112Schlaf mitten unter ſeiner Handthierung beym Sitzen, Stehen oder Gehn. Wenn es ihm an - koͤmmt, zieht es ihm etlichemal die Stirn und Augen zuſammen, bis dieſe veſt zubleiben. Und ſogleich hoͤrt der Gebrauch aller aͤußerlichen Sin - ne auf, hingegen faͤngt er ſchlafend an, dasjeni - ge zu thun, was er denſelben ganzen Tag vom Morgen an, bis da ihn der Paroxiſmus uͤberfiel, gethan hatte. Er betet z. B. den Morgenſegen ganz andaͤchtig, thut, als ob er Schuhe, Struͤm - pfe und Kleider anzoͤge und ſich wuͤſche, ſinget ein Morgenlied in gehoͤriger Melodie, und alle Verſe in ihrer Ordnung, und das ganz vernehm - lich; wiederholet dann nach und nach alle Reden mit eben den Worten, womit er ſie wachend aus - geſprochen, und druͤcket alle Geberden und Mi - nen ſowohl im Geſicht als den uͤbrigen Theilen des Leibes ganz natuͤrlich aus. Er bleibt in dem Zim - mer, worin ihm ſein Zufall begegnet, und wenn er wachend vorher gegangen war, geht er nun im Zimmer hin und her, ohne die Waͤnde oder den Tiſch darin zu beruͤhren. Das Auf - und Abſteigen von Treppen druͤckt er ſo aus, daß er die Schenkel einen um den andern, und zwar ziemlich derbe, ſo oft erhebt, als etwa Stufen in der Treppe geweſen ſeyn moͤgen. War es eine Wen - deltreppe, ſo geht er krumm herum, bey einer graden oder gebrochenen aber gerade oder winkelmaͤßig.

Wenn113

Wenn ihn indeß der Schlaf beym Gehn uͤber Land uͤberfaͤllt, ſo bleibt er nicht ſtehen, ſondern geht faſt geſchwinder, als wachend fort, ohne des rechten Weges zu verfehlen, oder ohne uͤber et - was im Wege liegendes zu ſtolpern. Mehr als einmal ging er ſchlafend nach Naumburg, und wie ihm einſt in einer Gaſſe Bauholz im Wege lag, ſtieg er ohne allen Anſtoß, wie ein Wa - chender, daruͤber hinweg. Wenn es ihm unter ſeiner Arbeit im Spinnen anwandelt, ſpinnt er gleichfalls fort, und macht die Faͤden ſo gut, als wenn er gewacht haͤtte. Auf einem Ritte nach Weimar fiel er einſt bey dem naͤchſten Dorfe vor Weimar in den Schlaf, ritt aber fort, und traf den Weg auch durch ein klein Gehoͤlz, ohne das Geſicht vom Geſtraͤuche zu verletzen, ritt durch die Jlme, traͤnkte ſein Pferd darin, pfiff demſelben dazu, zog die Beine in die Hoͤhe, damit ſie nicht naß wuͤrden, ritt hernach (noch immer im Schla - fe) uͤber den grade mit Leuten, Buden und Kar - ren ganz erfuͤllten Markt ſo gluͤcklich und behut - ſam, daß er ohne jemandes Beſchaͤdigung vor dem Hauſe, wohin er gedachte, ankam, wo er abſtieg, das Pferd an einen Rinken band, in die Stube und nach wenigen daſelbſt geſpro - chenen Worten unter dem Vorwande heraus - ging, er muͤſſe auf die Hochfuͤrſtliche Regie - rung gehen. Er erwachte auch erſt, nachdemHer114er von daher in dieſes Haus zuruͤckgekommen war.

Beym Erwachen zieht es ihm eben ſo, als beym Einſchlafen in der Stirne und den Augen, daß er dieſelben runzelt und zuſammenzieht. Dar - auf koͤmmt er zu ſich ſelbſt, ſchaͤmet und entſchul - diget ſich gegen die Anweſenden. Jm Paroxiſmus iſt er ganz unempfindlich, man mag ihn ſtechen, kneipen, raufen, ſtoßen, oder auch bey ſeinem Namen rufen. Er riecht die allerfluͤchtigſten Spiritus nicht, ſieht nicht, wenn man ihm gleich die Augenlieder von einander zerrt, hat auch nicht gehoͤrt, als eine Piſtole einſt ganz nahe an ihm losgeſchoſſen ward.

Der allerſeltſamſte Auftritt, von welchem aber der vorhin angefuͤhrte Arzt nicht Augenzeuge geweſen zu ſeyn ſcheint, iſt folgender.

An eben dem Tage, wo er nach Weimar ge - ritten war, beſuchte er dort, und zwar nach uͤber - ſtandnem Paroxiſmus, alſo voͤllig wachend, einen Mann, welchem Doktor Muͤller in ſeinem Be - richt den Namen Sempronius giebt. Mit die - ſem unterhielt er ſich ungefehr eine Stunde lang, wo er aufs neue in den Schlaf fiel, und auf fol - gende Art, alles, was den Tag uͤber mit ihm vorgegangen war, wiederholte.

Zuerſt ermahnte er ſowohl ſich als ſeine Frau zum Aufſtehen, alsdann betete er, forderte ſeinerFrau115Frau ein Hemd ab, gebehrdete ſich, als ob er daſſelbe anzoͤge, ſtieg darauf aus dem Bette, ſetzte ſich hin, und machte ſolche Gebehrden, als wenn er Struͤmpfe und Schuh anzoͤge, ſang aber da - bey mit heller und vernehmlicher Stimme das Morgenlied: Jch dank dir, lieber Herr! Als er einen Vers davon ausgeſungen hatte, fiel ihm ein, daß er ſich noch nicht gewaſchen haͤtte. Er ſtund alſo vom Stuhl auf, ging in einen Win - kel der Stube, und that, als wenn er ſich wuͤſche und kaͤmmte. Dabey gab er ſeiner Frau Befehl, zum Nachbarn zu gehn, und denſelben zu bitten, daß er ſein Pferd zurecht machen moͤchte, worauf er von Sulze nach Weimar reiten wollte. Nach dieſem ſagte er, er waͤre nun allein, ging darauf in eine andere Ecke der Stube, und verrichtete kniend ſein Gebet. Als er hievon aufgeſtanden war, fing er das zuvor angeſtimmte Morgenlied bey dem zweyten Vers und in dem nemlichen Ton wieder an, und ſang es unverruͤckt bis zum Ende deſſelben. Hierauf redete er mit ſeiner Frau Un - terſchiedenes, vertroͤſtete dieſelbe, den andern Abend wiederzukommen, machte allerhand Ab - ſchiedszeichen, und that, als ob er in des Nach - barn Haus ginge, denſelben gruͤßte, das Pferd aus dem Stalle holte, ſich darauf ſetzte, und zum Thor hinausritte. Nun blieb er ungefehr eine Stunde lang auf einer Stelle ſtehn, und machteH 2mit116mit der linken Hand und dem Leibe ſolche Bewe - gungen, als ein Reitender zu machen pflegt. Unterdeß er einen Reuter vorſtellte, nahm er ver - ſchiednemal die Muͤtze ab, und gruͤßte die ihm Begegnenden. Als er eine Weile geritten war, fing er das Lied an: Von Gott will ich nicht laſſen. Er ſang es unverſtuͤmmelt ganz zu Ende, doch ſo, daß er zuweilen laut, zuweilen ganz leiſe ſang, vielleicht weil er ſeinen Geſang die ihm Be - gegnenden nicht wollte hoͤren laſſen. Nach En - digung des Liedes hatte er den ganzen uͤbrigen Weg lauter gute Gedanken, welche er insgeſammt ſchlafend herſagte. Er hielt auch einmal ſtille, und forderte ein Maaß Bier, trank zweymal da - von, und gab den Krug wiederum zuruͤck, mit der Frage, ob das Bier einen Dreyer gaͤlte, griff darauf in die Taſche, nahm verſchiedne Stuͤcke Geld heraus, und aus dieſen einen Dreyer, den er, als wenn er ihn dem Wirthe gaͤbe, aus der Hand fallen ließ. Dann gebehrdete er ſich wieder als ein Reitender, hielt darauf noch einmal ſtille, ſtieg vom Pferde, und that, als ob er den los - gegangnen Sattel wieder veſt guͤrtete, ſetzte ſich wieder auf, und ritt weiter. Ungeachtet er nun, wie bereits erzaͤhlt iſt, bey ſeinem wirklichen Ritte ſchon in den Schlaf gefallen war, ſo machte er doch in ſeinem zweyten Paroxiſmus alles nach, was er waͤhrend des erſten gethan hatte. Wieer117er ſich vorſtellte, in der Jlme zu ſeyn, zog er die Fuͤße an ſich, und ſagte dabey, das Waſſer waͤre tief. Wie er ſich ſeinen Aufenthalt in Weimar vorſtellte, that er, als ob er ſeiner Ge - ſchaͤffte wegen in verſchiedne Haͤuſer ginge, und dieſelben dort ausrichtete. Er kam dann endlich auch in Gedanken zum Sempronius, bey wel - chem er in dieſen zweyten Paroxiſmus gefallen war. Er redete alle die Worte, und machte alle die Gebehrden, die er gegen die Magd gere - det und gemacht hatte, welche ihm des Sempro - nius Stube hatte zeigen muͤſſen; ſtieg ſo viele Stufen, als ſich an der Treppe befanden, klopfte an die Thuͤr, und wiederholte eben die Worte, welche er beym Eintritt zum Sempronius geſpro - chen hatte. Bisher hatte er immer geſtanden und gewandelt, nun fand er im Schlafe eben den Stuhl, auf welchem ihn Sempronius hatte Platz nehmen heißen, ungeachtet dieſer Stuhl et - liche Schritte vor ihm ſtand: ging mit veſt ver - ſchloſſenen Augen, welche auch nicht die geringſte Bewegung von dem daran gehaltnen Licht mach - ten, durch die dazwiſchen ſtehenden Leute weg, ſetzte ſich nieder, und ſagte alles nach einander wieder her, was er wachend dem Sempronius auf deſſen Fragen zur Antwort gegeben hatte. Als er dies alles hergeſagt hatte, wachte er auf, und bezeugte, daß alles, was er da ſchlafend ge -H 3than118than hatte, ob er ſich gleich nichts, ſo fern es nemlich im Schlafe geſchehen, davon zu beſinnen wuͤßte, denſelben Tag ſo mit ihm vorgegangen waͤre.

Was mir, ſo oft ich dieſe Erzaͤhlung uͤber - dacht habe, eingefallen iſt, faͤllt mir auch itzt, da ich ſie niedergeſchrieben habe, aufs neue ein: ſollte ſie wohl ganz zuverlaͤßig ſeyn? An der Wahrheit des Erzaͤhlers will ich nicht zweifeln, weil Herr Richerz ihn, als einen anerkannt zuverlaͤßi - gen Mann ſchildert; aber ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß der Seiler viel - leicht ſich etwas verſtellt habe. Aus allem ſeinen Thun und Handeln leuchtet ein ſo froͤm - melndes und geiſtliches Weſen hervor, mit dem ſich Heucheley und Verſtellung gern zu verbinden pflegen. Doch iſt dies nur meine Meynung: vielleicht kann irgend jemand genauere Auskunft uͤber dieſen ſingulaͤren Mann und dieſes ſingulaͤre Factum geben. Es waͤre der Muͤhe werth, es genauer zu unterſuchen.

Achte119

Achte Unterhaltung. Von dem Gedaͤchtniß und der Erinnerungskraft.

Außer der Einbildungskraft oder dem Vermoͤgen ſich abweſende Dinge zu repraͤſentiren, hat die Seele noch eine Kraft, ehemals gehabte Ge - danken, ſo wie ſie dieſelben hatte, zu behalten, und wieder zu ihrem Bewußtſeyn zu bringen das Gedaͤchtniß und die Erinnerungskraft welche ſich von der Einbildungskraft vorzuͤglich durch ihre gebundenere Thaͤtigkeit und den ge - ringern Grad von Lebhaftigkeit zu unterſchei - den ſcheinen. Die Phantaſie haͤlt die abweſen - den Gegenſtaͤnde der Seele gleichſam im Bilde vor: man glaubt, ſie, wie Schatten, vor ſich ſchweben zu ſehen, und Eindruͤcke zu fuͤhlen, die denen aͤhnlich oder gleich ſind, welche gegenwaͤr - tige Gegenſtaͤnde auf uns machten oder machen koͤnnen. Das Gedaͤchtniß bewahrt und reprodu - cirt nur die Gedanken oder Gedankenzeichen, wel - che die gegenwaͤrtigen Dinge in uns legten, und liefert zu der Repraͤſentation gleichſam den Umriß, welchen die Phantaſie alsdann mit lebendigen Far - ben ausmahlt. Wenn der aus dem Feldzuge zu - ruͤckgekommene Krieger die Geſchichte deſſelbenH 4den120den Buͤrgern ſeiner Vaterſtadt erzaͤhlt, liefert ihm ſein Gedaͤchtniß die Namen der Oerter, durch welche er zog, die Gedanken, in welchen die Be - gebenheiten des Krieges ſich an ſeine uͤbrigen Vor - ſtellungen reih'ten, die Zahl des Heeres, mit wel - chem er focht, und der Feinde, welche getoͤdtet wurden; ſeine Jmagination aber fuͤhrt ihn zuruͤck in die Staͤdte und Flecken, welche er ſah; und laͤßt alle Schauſpiele des Kriegs noch einmal vor ihm auffuͤhren.

Friedrich der Große, erzaͤhlt der Geſchicht - ſchreiber aus dem Gedaͤchtniß, entwarf vor der Schlacht bey Roßbach einen ſo meiſterhaften Plan, daß das feindliche Heer voͤllig geſchlagen wurde; indeß die Phantaſie des Dichters das, was jener erzaͤhlte, auf dieſe Weiſe veranſchau - licht.

Vom ſternenvollen Himmel ſahn
Schwerin und Winterfeld
Bewundernd den gemachten Plan,
Gedankenvoll den Held.
Gott aber wog, bey Sternenklang,
Der beyden Heere Krieg;
Er wog und Preußens Schaale ſank
Und Oeſtreichs Schaale ſtieg.
Was121

Was wir bey jener Erzaͤhlung als vergangen uns denken, glauben wir bey dieſer Schilderung gegenwaͤrtig zu ſehn.

Wenn der wirkliche Grenadier nach der Schlacht bey Lowoſitz ſeinen zuruͤckgebliebenen Com - militonen erzaͤhlt, wie ihr koͤniglicher Heerfuͤhrer die Schlachtordnung eingerichtet, und wo er ge - ſtanden habe; ſo redet der dichteriſche alſo:

Frey, wie ein Gott, von Furcht und Graus
Voll menſchlichen Gefuͤhls,
Steht er und theilt die Rollen aus
Des großen Trauerſpiels.
Dort, ſpricht er, ſtehe Reuterey,
Hier Fußvolk! Alles ſteht
Jn großer Ordnung ſchreckenfrey,
Jndem die Sonn 'aufgeht.
So ſtand, als Gott der Herr erſchuf
Das Heer der Sterne da;
Gehorſam ſtand es ſeinem Ruf
Jn großer Ordnung da.

Die Ruſſen, lieſ't man in der Geſchichte des Jahrs 1758, richteten in Pommern und der Neumark ſchreckliche Verwuͤſtungen an. Der feindliche Schwarm zog, ſo ſingt der Dichter,

langſam ſo daher, Wie durch fruchtbares Feld in AfrikaH 5Gift -122Giftvoller großer Schlangen Heere ziehn; Da ſteht auf beyden Seiten ihres Zugs Erſtorbnes Gras, da ſteht, ſo weit umher Als ihre Baͤuche kriechen, alles todt. Von Memel bis Kuͤſtrin ſtand Friedrichs Land So da, verwuͤſtet, oͤde, traurig, todt.

Weil alſo die Einbildungskraft, wie aus den angefuͤhrten Beyſpielen klar ſeyn kann, das Abwe - ſende und Vergangene ſo vergegenwaͤrtigen kann, daß man vergißt, daß es abweſend iſt, und eine gegenwaͤrtige Sache zu ſehen glaubt; bey dem hin - gegen, was das Gedaͤchtniß reproducirt, das klare Bewußtſeyn, daß es etwas Vergangnes ſey, ſtatt findet; ſo kann man jene von dieſem durch den groͤßern Grad von Lebhaftigkeit, mit welcher ſie vorſtellt, unterſcheiden.

Das zweyte characteriſtiſche Unterſcheidungs - merkmal dieſer beyden Seelenvermoͤgen glaub 'ich in der freyern Thaͤtigkeit der Phantaſie und der gebundenern des Gedaͤchtniſſes zu finden.

Dieſes liefert nur ſolche Vorſtellungen, die ſchon einmal oder oͤfter in der Seele waren, und liefert dieſelben, ſo, wie ſie damals waren. Jene aber iſt nicht blos hierauf eingeſchraͤnkt; ſie nimmt zwar, wie oben bemerkt iſt, die Farben zu ihren Bildern aus wirklich da geweſenen Empfindungen; aber miſcht dieſelben oft ſo untereinander, daß das, was ſie hervorbringt, etwas ganz Neues, niemalsWahr -123Wahrgenommnes zu ſeyn ſcheint. Sie bindet ſich an keine aͤngſtliche Ordnung, und laͤßt die Gegenſtaͤnde nicht, wie ſie ſind oder waren; ſon - dern laͤßt aus, oder macht Zuſaͤtze, wie es ihr gerade am beſten gefaͤllt. Das Gedaͤchtniß wie - derhohlt die Empfindungen, oder die von ihnen in der Seele zuruͤckgebliebnen Spuren in derſelben Form und Ordnung, in welcher man ſie gehabt hat; die Einbildungskraft trennt oder ſetzt ſie zu - ſammen*)Garvens vermiſchte Abhandlungen, S. 28.. Plato vergleicht daher, wie mich duͤnkt, ſehr gut jene Kraft mit einem Schreiber, welcher, ſo wie es ihm vorgeſagt wird, nach - ſchreibt: dieſe mit einem Mahler, welcher ſich ſeine Pinſelſtriche nicht, ſo wie jener, vor - ſchreiben laͤßt.

Wenn mich mein Freund um den mir be - kannten Weg nach einer Stadt fragt, ſo ſchreib ich ihm aus dem Gedaͤchtniß nach der Reihe die Oerter auf, zu welchen ihn ſeine Straße fuͤhrt; aber, wenn er ſich erkundigt, ob es, und was mir auf der Reiſe dahin gefallen habe, ſchildre ich ihm, ohne mich an eine feſte Ordnung zu binden, die Gegenſtaͤnde meines Wohlgefallens, wie ſie mir meine Einbildungskraft vorhaͤlt.

Jn dem Tagebuch der großen Ueberſchwem - mungen von den Jahren 1770 und 1771 ſind dieBe -124Begebenheiten jedes Tages, ſo wie ſie erfolgten, und der angerichtete Schaden, ſo wie er war, an - gegeben. Ohne ſich um die genaue Erzaͤhlung der wirklich vorkommenden Umſtaͤnde zu bekuͤmmern, mahlt der vortrefliche Kleiſt eine große Ueber - ſchwemmung alſo:

Schnell glitten Berge von Schnee die drohen - den Klippen herunter, Die Quellen empfingen ſie, blaͤhten ſich auf; die geborſtenen Stroͤme, Voll ſchwimmender Jnſeln, die ſich mit hohlem Getoͤſe zerſchellten, Durchriſſen wuͤhlend den Damm; verſchlangen gefraͤßig ihr Ufer: Thal, Wald und Wieſe ward Meer. Kaum ſahn die wankenden Wipfel Zerſtreuter Ulmen hervor. Gefleckte Taͤucher und Enten Verſchwanden, ſchoſſen herauf, und irrten unter den Zweigen, Wo ſonſt vor Schmerzen der Lieb 'im Laube die Nachtigall ſeufzte. Der Hirſch von Wellen verfolgt, ſtrich uͤber un - wirthbare Felſen, Die traurig die Fluth uͤberſahn. Ergriffne Baͤ - ren durchſtuͤrzten Das anfangs ſeichte Gewaͤſſer voll Wuth: ſie ſchuͤttelten brummendDie125Die gießenden Zoten; bald ſank der falſche Bo - den: ſie ſchwammen Zum nahen Walde mit Schnauben, umklam - merten Tannen und Fichten Und huben ſich traͤufelnd empor. Der Buͤſche verſammelte Saͤnger Betrachteten traurig und ſtumm, vom duͤrren Arme der Linde, Das vormals gluͤckliche Thal, allwo ſie den fle - henden Jungen Jm Dornſtrauch Speiſe vertheilt. Die fruͤh ge - reiſete Lerche, Sich aufwaͤrts ſchwingend, beſchaute die Waſ - ſerwuͤſte von oben, Und kehrete wieder zuruͤck. Es floſſen Hecken und Huͤtten, Und Daͤcher und Scheuren umher. Aus Gie - beln und gleitenden Kaͤhnen Verſah der bekuͤmmerte Hirt ſich einer Suͤnd - fluth, die vormals Die Welt umrollte, daß Gemſen in ſchlagenden Wogen verſanken.

Wenn Brutus die Geſchichte des jungen Tar - quins und der edlen Lukretia den verſammelten Quiritern erzaͤhlt; ſo fodern ſie von ihm eine ſim - ple, treue, wahrhafte Darſtellung der Sache. Tarquin, ihr Quiritier, ſpricht er, hat Colla -tinus126tinus Gemahlin, eine Roͤmerin geſchaͤndet; ſie, die unſchuldige, hat ſich des Lebens forthin nicht werth geachtet; wie viel mehr muͤſſen wir den Schuldigen ſtrafen?

So redet Brutus; der Dichter laͤßt ſeine Einbildungskraft alſo ſprechen:*)Gotters Gedichte. 1. Th. 32. f.

Einſt war ein ſchoͤnes Weib, genannt
Lukrezia, die Keuſche.
Tarquin, ein Prinz in ihrem Land,
War ſchoͤn, wie ſie; doch ſein Verſtand
Macht eben kein Geraͤuſche.
Gefuͤhlvoll war Lukrezia,
Wenn Pflichten ſie nicht banden;
Tarquin entbrannt ', als er ſie ſah;
Nur war's ein Ungluͤck, ſiehe da!
Daß ſie ſich nicht verſtanden.
Von Liebe heiß, berauſcht von Wein,
Geſalbt wie Nachttiſchhelden,
Drang er einſt in ihr Zimmer ein;
Vorzimmer pflegten nicht zu ſeyn,
Auch ließ man ſich nicht melden.
Sie ſtutzt, ſetzt ſich in Poſitur,
Und eilt mit ſtolzem Schritte
Nach ihrer Klingel; haͤtte nur
Der Schalk nicht insgeheim die Schnur,
Aus Vorſicht, abgeſchnitten.
Er127
Er ſchwoͤrt ihr unverfaͤlſchte Treu,
Er ſtellt ſich fromm und ehrlich,
Und ſinkt auf ſeine Knie dabey;
Man ſagt in ſolcher Stellung ſey
Ein Juͤngling ſehr gefaͤhrlich.
Jetzt trotzt er ihrem Ach und Weh,
Trotzt auf der Thuͤre Riegel;
Sie faͤllt im Kampf aufs Kanapee,
So ſchwer iſt's, daß man ſicher ſteh '
Auf Boden, glatt wie Spiegel.
Wenn wir die Ehrfurcht ſo entweihn
Schweigt nie ein Weibchen ſtille;
Doch der muß doppelt ſtrafbar ſeyn,
Den ihre Blicke nicht verzeihn
Jn des Vergnuͤgens Fuͤlle.
Lukrezia, zu treugeſinnt,
Jſt ihrer Wuth nicht Meiſter.
Sie bringt ſich um vor Schaam, das Kind.
Heil unſrer Zeit! die Damen ſind
Nicht mehr ſo ſchwache Geiſter.

Der Dichter giebt uns den Tarquin und die Lukretia ſeiner Phantaſie. Brutus ſo, wie ſie wirklich ſind. Dieſer muß hiſtoriſche Wahrheit ſagen jenem genuͤgt es, aͤſthetiſch wahr zu reden.

Ob ſich nun gleich dieſe beyden Seelenkraͤfte durch die angegebnen Merkmale unterſcheiden; ſoiſt128iſt doch ihre gemeinſchaftliche Wirkſamkeit und die gegenſeitige Unterſtuͤtzung, welche ſie ſich leiſten, nicht zu verkennen. Ueberhaupt muß ich hier ein fuͤr allemal die Bemerkung machen, daß man die Unterſcheidung der Begriffe der Seelenvermoͤ - gen nicht fuͤr eine Trennung der Seelenvermoͤ - gen ſelbſt halte, welche ſich (wie ſollte dies ge - ſchehen koͤnnen?) nicht von einander abſondern laſſen, ſondern jede Seelenhandlung als ihr ge - meinſchaftliches Reſultat hervorbringen. Wir ſondern ſie indeß in Begriffen von einander ab, um auf dieſe Weiſe leichter die Art und die Ge - ſetze ihrer Activitaͤt erforſchen zu koͤnnen, welches uns ohnedieß bey einem ſo zuſammengeſetzten Spiel unmoͤglich ſeyn wuͤrde. Beym Nachden - ken, ſagt Herr Moritz in ſeiner bekannten Ab - handlung uͤber die bildende Nachahmung des Schoͤnen, kommt es blos aufs Unterſcheiden an; und muͤſſen, ſo wie auf dem Globus gewiſſe feſte Grenzlinien, die in der Natur ſelbſt nicht ſtatt finden, gezogen werden, wenn die Begriffe ſich nicht wiederum eben ſo, wie ihre Gegenſtaͤnde, unmerklich in einander verlieren und verſchwim - men ſollen.

Wenn man durch das Gedaͤchtniß etwas re - produciren will, iſt die Einbildungskraft beſchaͤf - tigt, alle die einzelnen Umſtaͤnde, unter welchen das zu reproducirende aufgefaßt wurde, zu ſamm -len,129len, um es auf dieſe Weiſe leichter zum Bewußt - ſeyn zu bringen. Finden ſich in dem Gedaͤchtniſſe Luͤcken, ſo fuͤllt die Phantaſie dieſelben aus, in - dem ſie ſich aus ihrem Vorrath diejenigen Vor - ſtellungen vergegenwaͤrtigt, welche mit den im Gedaͤchtniſſe befindlichen Aehnlichkeit und Zuſam - menhang haben, und ergaͤnzt auf dieſe Weiſe zu - weilen zwar unrichtig, oͤfters aber auch richtig.

Wenn zum Beyſpiel jemand aus einer zahl - reichen Geſellſchaft zuruͤckkoͤmmt, und man fraͤgt ihn nach der Kleidung dieſer oder jener Perſon, ſo wird ſein Gedaͤchtniß ihm dieſelbe nicht immer wiederſagen koͤnnen; aber die Phantaſie ſtellt ihm nun dieſelbe Perſon bey aͤhnlichen Gelegenheiten und mehrere Kleidungsarten vor, ſo daß dadurch ſein Gedaͤchtniß auch die ſchwachen Vorſtellungen von derjenigen, nach welcher itzo gefragt wird, wieder entdeckt. Der Landſchaftsmahler er - innert ſich ſchwerlich aller der einzelnen Zuͤge ei - ner von ihm geſehenen und itzt darzuſtellenden Landſchaft; ſeine Einbildungskraft muß die ihm entfallenen erſetzen, um eine aͤhnliche Zeichnung liefern zu koͤnnen.

Auf der andern Seite aber koͤmmt auch das Gedaͤchtniß der Jmagination zu Huͤlfe: weil ſich da, wo viel Materialien geſammelt ſind, auch leichter allerley verſchiedne Zuſammenſetzungen vornehmen laſſen.

JBey130

Bey keinem Seelenvermoͤgen iſt der Einfluß des Gehirns auf die Seelenaͤußerungen bemerk - barer, als bey dieſem. Verletzungen des Ge - hirns, Ausſchweifungen in der Wolluſt, Trun - kenheit, Schwindel und alle Krankheiten, wel - che das Gehirn vorzuͤglich angreifen, ſind auch dem Gedaͤchtniſſe ſchaͤdlich. Doch muß man ſich auch hier huͤten, alles aus koͤrperlichen Ur - ſachen zu erklaͤren, was ſich eben ſo gut aus pſy - chologiſchen Gruͤnden begreifen laͤßt. Daß z. B. das junge Kind und der Greis nicht ſo gut das, was ſie wahrgenommen haben, behalten, als der erwachſene Juͤngling und der Mann, liegt nicht blos in dem zu weichem oder zu hartem Gehirne je - ner; ſondern vornehmlich auch mit darin, daß das zarte Kind ſo wenig, als der ſchwache Greis des zur Feſthaltung der Gedanken nothwendigen Grades von Aufmerkſamkeit faͤhig iſt.

Sowohl in der Fertigkeit zu behalten, als auch in dem, was behalten wird, findet eine gro - ße Verſchiedenheit unter den Gedaͤchtniſſen ſtatt. Jenes giebt das gute oder ſchlechte dieſes das ſogenannte Zeichen - oder Sachgedaͤchtniß.

Einige nemlich behalten die Zeichen der Vor - ſtellungen (den Buchſtaben) leichter, und dieſen ſchreibt man jene Art des Gedaͤchtniſſes zu: an - deren praͤgt ſich mehr der Jnhalt (der Geiſt) der - ſelben ein, dieſe haben ein Sachgedaͤchtniß. Jene131Jene geben die Erzaͤhlung eines Andern mit eben ſo viel Worten wieder, koͤnnen Zahlen und Na - men ſehr leicht behalten. Wem es daher darum zu thun iſt, etwas genau, ſo wie er es hoͤrte oder las, ſich wieder ins Gedaͤchtniß zu rufen, wie z. B. dem Hiſtoriker und Chronologen, der muß ein Zeichengedaͤchtniß haben. Bey dem Sach - gedaͤchtniß iſt ſchon mehr Selbſtthaͤtigkeit des Ver - ſtandes; denn man muß ſich, um den Geiſt der Vorſtellung zu faſſen, dieſelben nach ihren we - ſentlichen Merkmalen verdeutlichen, welches ein Geſchaͤft des Verſtandes iſt. Dieſes iſt es, was Herr Garve in ſeiner vortreflichen Abhandlung uͤber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten das raiſonniren - de Gedaͤchtniß nennt, und wovon er ſagt, daß es ein ſehr ſicher Kennzeichen, oder vielmehr ein Theil des Verſtandes ſelbſt ſey.

Aus dieſer Unterſcheidung wird nun auch die Frage beantwortet werden koͤnnen, ob es wahr ſey, was man ſo haͤufig hoͤren muß, daß ein gu - tes Gedaͤchtniß das Zeichen eines ſchlechten, me - chaniſchen Kopfes ſey?

Wo ſich blos eine Fertigkeit zeigt, Gedan - kenzeichen zu behalten, die etwas Willkuͤhrliches, und einmal Feſtgeſetztes ſind; da kann man aller - dings einen ſehr guten Verſtand nicht erwarten; denn da hat dieſe keiner Gelegenheit, ſich durch Uebung zu ſchaͤrfen. Aber wo ſich ein gutesJ 2Sach -132Sachgedaͤchtniß zeigt, da koͤnnen, ja muͤſſen auch Verſtandesvollkommenheiten ſich finden, wie man aus den oben angegebnen Kennzeichen deſſelben leicht begreifen wird.

Soll irgend etwas im Gedaͤchtniß behalten werden, ſo iſt nothwendig, daß man auf daſſel - be ſeine Aufmerkſamkeit richte, durch welche Hand - lung der Seele ein Gegenſtand unter die uͤbrigen Vorſtellungen aufgenommen wird. Was man nur obenhin hoͤrte, woruͤber man leicht hinweg - glitt, wobey man zerſtreut war, das vergißt man ſehr bald wieder. Aber was einem wichtig, merk - wuͤrdig, intereſſant war, und alſo die ganze Auf - merkſamkeit der Seele auf ſich hinlenkte, das praͤgt ſich tief ins Gedaͤchtniß.

Um das, was behalten iſt, wieder zum Be - wußtſeyn zu bringen, muß eine Vorſtellung ge - weckt werden, welche jenem aͤhnlich oder auf ir - gend eine Weiſe mit ihm verbunden war. Dieſe fuͤhrt alsdann jene nach dem Geſetz der Jdeenaſſo - ciation aus dem Gedaͤchtniß hervor. Je mehr und vorzuͤglich je frappantere aͤhnliche Vorſtellun - gen man alſo mit dem, was man ſich zuruͤckzurufen wuͤnſcht, verknuͤpft, deſto leichter wird das Zu - ruͤckrufen werden. Daher wird es dem Knaben leichter Worte einer fremden Sprache zu lernen, wenn ihm mit denſelben zugleich das Bild der Sache, die durch jene bezeichnet iſt, vorgelegtwird.133wird. Daher machten ſich die Alten, wie der Kuͤchenphiloſoph Catius in Horazens Satyren, wenn ſie etwas nicht vergeſſen wollten, ſinnli - che Merkmale an der Wand oder einem andern Orte, damit bey Erblickung dieſer auch jene wie - der ins Gedaͤchtniß zuruͤckgerufen wuͤrden.

Bey dem Zeichengedaͤchtniß verhilft vorzuͤg - lich die Ordnung zum leichtern Behalten und Erinnern. daher manche Perſonen, z. B. Dienſtboten, denen von ihrer Herrſchaft Com - plimentsbeſtellungen, die ſie nicht verſtehen, ge - macht werden, wenn ſie das Ungluͤck haben, her - auszukommen, wie man es nennt, von vorne wieder anfangen muͤſſen; weil es ihnen ſchlechter - dings unmoͤglich iſt, das Aufgetragne anders, als in den Worten und der Folge, wie es ihnen ge - geben iſt, wiederzugeben.

Oft iſt man bey aller Anſtrengung nicht ver - moͤgend ſich einer ins Gedaͤchtniß niedergelegten Vorſtellung deutlich wieder bewußt zu werden, wenn man auch ſehr viele Merkmale hat, an wel - chen man ſie feſthalten wollte; ſo lange nemlich noch dasjenige fehlt, an welches wir die zu be - haltende Vorſtellung zunaͤchſt angeſchloſſen hatten. Es ſchwebt mir auf der Zunge, ſagt man als - dann, aber ich kann es nicht herausbringen. Je heftiger und eifriger man in dieſem Fall iſt, dieJ 3Ge -134Gedaͤchtnißidee zu erforſchen, deſtoweniger pflegt es zu gelingen; denn eben der heftige Eifer, die Begierde macht das Gemuͤth unruhig, und zer - ſtreuet es.

Mancher gewoͤhnt ſich, bey der Hererzaͤhlung ſeiner Gedanken aus dem Gedaͤchtniſſe, oder uͤber - haupt bey dem Vortrage, eine beſondere Handlung vorzunehmen, oder ſich auf beſondere Gegenſtaͤnde zu fixiren. Hieran kann ſich das Gedaͤchtniß ſo eigenſinnig gewoͤhnen, daß, wenn die Handlung verhindert oder der Gegenſtand entfernt wird, durchaus nichts hervorgebracht werden kann: weil die Gewoͤhnung dieſe Dinge zu nothwendigen Be - duͤrfniſſen macht, welche, wenn ſie ihre Befrie - digung nicht finden, ein Gefuͤhl der Unluſt bewir - ken und das Gemuͤth verhindern, ſeine Aufmerk - ſamkeit auf die zu reproducirenden Vorſtellungen zu richten. Gerard erzaͤhlt davon in ſeinem Verſuch uͤber das Genie, aus dem Schwaͤtzer und Zu - ſchauer, zwey engliſchen Zeitſchriften, folgende Beyſpiele.

Jch ſaß neulich, ſagt der Schwaͤtzer, bey einem vortreflichen Hiſtorienerzaͤhler. Mitten in der Erzaͤhlung merkte ich, daß er zerſtreut wurde, und etwas mit den Augen ſuchte; ich wurde gewahr, daß es ſeine Schnupftabacksdoſe war, die in einiger Entfernung von ihm ſtand; und be -deckte135deckte ſie ganz leiſe mit meiner Hand. Jndeß kehrte er wieder zu ſeiner Erzaͤhlung, und indem er ſich immer nach ſeiner Doſe umſah, ſagte er lauter, als das Uebrige: Und ſo alſo, dann nach einer Pauſe, die ohngefaͤhr ſo groß war, daß er in derſelben eine Priſe haͤtte nehmen koͤnnen: Ja, was wollte ich denn ſagen: hat denn niemand meine Doſe geſehen? Sein Freund erſuchte ihn ſeine Geſchichte zu en - digen. Er fuhr fort: Und ſo alſo Wo mag denn meine Doſe ſeyn? Dann kehrte er ſich zu mir: Haben Sie doch die Guͤte, mir zu ſagen, ob Sie meine Doſe nicht geſehen haben? Ja, mein Herr, ſagte ich; ich nahm ſie, um zu ſehen, wie lange Sie ohne dieſelbe leben koͤnnten. Er nahm dar - auf den Faden ſeiner Erzaͤhlung wieder auf, und ich bemerkte, daß er nunmehr mit viel mehr Fer - tigkeit und Gelaͤufigkeit ſprach, als zuvor.

Jch erinnere mich, ſagt Addiſon im Zu - ſchauer, da ich noch ein junger Menſch war, und Weſtmuͤnſter-Hall beſuchte, daß ein gewiſſer Advocat niemals anders, als mit einem Bind - faden in der Hand vor Gerichte erſchien; den er, ſo lange als ſein Vortrag dauerte, um den Dau - men oder einen andern Finger herumwickelte. Die witzigen Koͤpfe ſeiner Zeit nannten das den FadenJ 4ſeiner136ſeiner Rede; denn ohne denſelben war er nicht im Stande ein Wort hervorzubringen. Einer ſeiner Clienten, der mehr luſtig, als klug war, ſtahl ihm eines Tages ſeinen Faden weg, eben da er vor Gericht treten ſollte. Die Folge ſeines Scherzes war, daß er ſeinen Proceß verlor.

Wenn man das Gedaͤchtniß von dem Erinne - rungsvermoͤgen unterſcheiden will; ſo geſchieht dies durch die Recognition oder die Wiedererken - nung eines ſchon ehemals vorgeſtellten Gegenſtan - des, als ſolchen. Hierzu iſt alſo erforderlich, daß man gewiſſe Merkmale an dem Gegenſtande entdeckt, wodurch ſich die gegenwaͤrtige Vorſtel - lung deſſelben von der ehemaligen unterſcheidet. Dieſe Merkmale indeß, wodurch ich denſelben ge - genwaͤrtigen Gegenſtand, von dem ehemals ſchon vorgeſtellten unterſcheide, duͤrfen nicht weſent - liche ſeyn, weil ſonſt der Gegenſtand nicht der - ſelbe ſeyn koͤnnte, ſondern zufaͤllige; ſolche z. B. welche aus Ort -, Zeit - oder andern zufaͤlligen Verhaͤltniſſen hergenommen ſind.

Neunte
137

Neunte Unterhaltung. Vom Verſtande oder dem Vermoͤgen zu denken.

Außer den bisher betrachteten Vermoͤgen der Seele, der Empfindung, der Einbildungskraft und dem Gedaͤchtniß, legen wir ihr noch den Verſtand oder das Denkvermoͤgen bey, wel - ches den Hauptvorzug des Menſchen vor der uͤbri - gen thieriſchen Schoͤpfung ausmacht, weil es bey ihm in einem ſo auffallend hoͤhern Grade ſich findet, daß ſelbſt die Philoſophen, welche die Thiere gern an allen Vollkommenheiten der Menſchen Theil nehmen laſſen moͤchten, ihnen doch nicht mehr als ein Analogon des Verſtandes oder et - was dem Verſtande aͤhnliches beyzulegen gewagt haben.

Alle Operationen dieſes Seelenvermoͤgens laſſen ſich unter dem Worte Denken begreifen, welches eine Thaͤtigkeit der Seele bezeichnet, die durch die Vergleichung der Vorſtellungen unter ein - ander auf Einſicht abzweckt. Zu dieſem allge - meinen Geſchaͤfte des Verſtandes werden drey be - ſondere Handlungen deſſelben erfordert, nach wel -J 5chen138chen man in ihm ſelbſt drey beſondere Vermoͤgen unterſcheidet.

Zuerſt hebt der Verſtand aus der unzaͤhlba - ren Summe der einzelnen Empfindungen diejeni - gen aus, welche gleiche Merkmale haben, und faßt ſie unter Vorſtellungen zuſammen, welchen, weil ſie mehrere einzelne unter ſich begreifen, der Name Begriffe ertheilt iſt. Dieſes Vermoͤgen, Begriffe zu bilden, iſt es, was man ſonſt auch Verſtand im engſten Sinne des Worts zu nennen pflegt, und ohne welches es der Seele unmoͤglich ſeyn wuͤrde, die unendliche Menge von Vor - ſtellungen, welche in der Empfindung und Ein - bildung liegen, zu uͤberſchauen und ſich klar zu machen.

Dieſe Begriffe vergleicht alsdann die Ur - theilskraft nach ihren eigenthuͤmlichen Merkma - len mit einander um aus dieſer Vergleichung ihre Uebereinſtimmung oder Nichtuͤbereinſtim - mung zu erkennen; und verſchaft der Seele da - durch eine Einſicht in die Eigenſchaften, Verhaͤlt - niſſe, Beſchaffenheiten der Gegenſtaͤnde, auf welche ſich die Begriffe beziehen.

Weil nun die unmittelbare Vergleichung der Vorſtellungen unter einander nicht immer ſtatt finden kann; ſo bedurfte die Seele, um in dem Geſchaͤfte des Denkens dadurch nicht unaufhoͤrlich geſtoͤrt zu werden, noch des Vermoͤgens, Be -griffe139griffe auch mittelbar zu vergleichen, der Schließ - kraft, oder Vernunft. Dieſe iſt es, welche es dem Menſchen moͤglich macht, uͤber Dinge, die er nie wahrnahm, nach den Geſetzen der Aehn - lichkeit zu urtheilen, die ſchaffende Natur in ih - rer Werkſtaͤtte zu belauſchen, und ſelbſt in den vor dem Auge des Sterblichen in Dunkel gehuͤll - ten Regionen der uͤberſinnlichen Natur ſo viel Licht anzuzuͤnden, als genug iſt, ihm ſeinen Zu - ſammenhang mit derſelben zu entdecken. Von ihr ſingt der philoſophiſche Dichter in ſeinem Ver - ſuch uͤber die Vernunft:

Sie zaͤhmte durch den Pflug den ſtarren Schoos der Erden, Hieß Haynen fruchtbar ſeyn, Gewaͤſſern zinsbar werden: Und ſich! der Sommer goß den reichen Schoos voll Korn, Der Herbſt, ihr huldigend, ſein fruchtgefuͤlltes Horn, Der Genius des Meers, die Schaͤtze ſeiner Wellen, Der Minen Stein und Gold vor des Pallaſtes Schwellen, Worin auf ſeinem Thron, von dir, Vernunft, geſtuͤtzt Der koͤnigliche Menſch, die Welt beherrſchend, ſitzt,Be -140Bemuͤht, den großen Plan, entworfen von den Haͤnden Der zeichnenden Natur, mit Farben zu vollen - den. Sie zwingt Die Parce, die nicht will, den Faden auszu - ſpinnen; Entdeckt mit Menſchenlieb 'in Minern Heilungs - kraft Kocht fuͤr den Sterbenden aus Kraͤutern Lebens - ſaft; Verjuͤngt den ſchwachen Greis, der Jahre Laſt zu tragen, Gebeut dem kalten Puls, der ſtockte, fortzu - ſchlagen. Giebt den der Braut zuruͤck, um der ihr Auge weint, Der Mutter ihren Sohn, dem Freunde ſeinen Freund. Durch ſie ſucht der Weiſe der Dinge Grund, durchſchauet alle Raͤder, Spuͤrt der Bewegung nach und dringt bis an die Feder. Geht der Natur zur Hand, und ſieht, mit ihr vertraut, Der großen Schoͤpfung zu, wie ſie zerſtoͤrt und baut. Sieht,141Sieht, wie ſie ſchoͤpferiſch, des Lenzes Morgen - ſtrahlen, Das Roſenangeſicht Aurorens auszumahlen, Jn Gluth den Pinſel taucht; wie ſie zum bunten Kreis Der Jris, Edelſtein aus Thau zu ſchmelzen weiß. Wie ſie den blauen Schley'r, worin der Erdball ſchwebet, Aus Faͤden ſchwarzer Nacht und lichten Aethers webet: Steigt, voll von Lehrbegier, bald in der Erden Herz, Bald legt er Fluͤgel an und ſchwingt ſich himmel - waͤrts. Geht unerſchrocken nach ins Ruͤſthaus ihrer Waf - fen, Und ſieht ſie Hagel, Schnee, Sturm, Blitz und Donner ſchaffen: Durchſchauet dann die Welt, wie alles voll, ge - draͤngt, Geordnet, Glied an Glied, eins an dem andern haͤngt. Sieht, wie im weiten Raum, an unſichtbaren Seilen, Jn unverruͤcktem Schwung die Mond 'und Son - nen eilen. Folgt142Folgt den Planeten nach und ſieht in ſeinem Gang, Den Grund, warum der Tag bald kurz iſt und bald lang; Den Grund, warum der Mond, in ſeinem Wechſelgange, Bald nur die halbe faͤrbt, und bald die ganze Wange; Schießt durchs Unendliche, behorchet, was nur ſie, Vernunft allein vernimmt, der Sphaͤren Har - monie; Sieht ihr zahlloſes Heer ſich nach Geſetzen dre - hen Und in der Jrrbahn ſelbſt Kometen richtig gehen.

Das allgemeine Geſetz, nach welchem ſich das Denkvermoͤgen in ſeinen Operationen richtet, iſt der von den Philoſophen ſo genannte Satz des Widerſpruchs, welcher in dieſer Formel enthalten iſt: Jedem Gegenſtande kommt das Merkmal zu, welches ihm nicht widerſpricht.

Nach dieſen Geſetzen vergleicht der Verſtand ſeine Begriffe mit einander, um zu dem Ziele al - les Denkens, der richtigen Einſicht in die Dinge zu gelangen; denn dieſe findet nur alsdann ſtatt, wenn die Vorſtellungen von den Dingen wahr ſind, das heißt, wenn dieſelben mit den Dingenſelbſt143ſelbſt uͤbereinkommen. Um alſo den Zweck des Denkens zu erreichen, oder zur Erkenntniß der Wahrheit zu kommen, iſt noͤthig, daß ein Ge - genſtand da ſey, daß man in ihm Merkmale wahr - nehme, und zwar richtig wahrnehme, mithin ge - ſunde Sinnen habe, und daß endlich der Verſtand dieſe Wahrnehmungen richtig unter Begriffe brin - ge und mit einander vergleiche. Wo einer von dieſen Bedingungen oder allen nicht Genuͤge geſchieht, da denkt, urtheilt und ſchließt der Menſch nicht richtig; er wird getaͤuſcht, ver - blendet, geirrt.

Den ſchwaͤrmeriſchen Swedenborg taͤuſchte ſeine Einbildungskraft, indem ſie ihm Geiſter vorgaukelte, die der Nichtſchwaͤrmende fuͤr ein Nichts haͤlt.

Der ungluͤckliche Agathon, den ein wohlthaͤ - tiger Traum zur richtigen Erkenntniß ſeiner ſelbſt zuruͤckbringen, und den kranken Zuſtand ſeiner Seele zeigen wollte, laͤßt ſich von dem Feuer ſei - ner leidenſchaftlichen Liebe zur Danae verblenden, ſein Herz fuͤr ruhig und ſeine Seele fuͤr geſund zu halten; ſo wie der Kranke das verzehrende Feuer des Fiebers auf ſeinen Wangen fuͤr die Roͤthe der Geſundheit haͤlt.

Um die Begriffe, welche der Verſtand in ſich erzeugt, merken und feſthalten, und um ſeine Gedanken und Empfindungen Andern mittheilenzu144zu koͤnnen, bedurfte es gewiſſer ſinnlicher Zeichen, deren Jnbegrif man die Sprache nennt. So mancherley Zeichen es fuͤr das, was in dem Denk - oder Empfindungsvermoͤgen des Menſchen vor - geht, geben kann, ſo mancherley Sprachen giebt es. Zu Tibulls und Ovidius Zeiten kannten die Verliebten ſchon die Augen -, Minen - und Gebehr - denſprache. Venus docet, ſagt jener, viro coram nutus conferre loquaces Biandaque compoſitis abdere verba notis.*)Tibulli carmm. lib. r. el. 2. Die Goͤttin der Liebe lehrt in Beyſeyn des Mannes ſich durch geſpraͤchige Minen verſtehn, und liebkoſende Worte in verabredeten Zeichen verſtecken. und Helena ſchreibt an ihren Paris in den He - roiden Ovidius:

Ah, quoties digitis, quoties ego tecta notavi Signa ſupercilio paene loquenti dari. **)

Ovid. Heroidd. ep. XVII.

O wie ofte ſah 'ich mir heimliche Zeichen geben, durch das Spiel deiner Finger und deiner redenden Augen.

Bathyllus und Pylades ſind aus den alten Zeiten, als Meiſter in der Pantomime bekannt; die damals, beſonders zu den Zeiten der erſtern roͤmiſchen Kayſer zu einem ziemlich hohen Grad der Vollkommenheit gediehen ſeyn mußte, wennman145man der Erzaͤhlung trauen darf, daß ein koͤnig - licher Prinz aus Pontus ſich vom Nero einen Pantomimen ausgebeten habe, um der Dollmet - ſcher entbehren zu koͤnnen; und auf mehrere das anwendbar geweſen iſt, was der cyniſche Philo - ſoph Demetrius beym Lucian zu einem ſolchen Ge - behrdenredner ſagt: Jch hoͤre, mein Freund, was du thuſt, und ſehe es nicht nur; denn du ſcheinſt mit den Haͤnden ſelbſt zu ſprechen.

Auch itzt noch finden ſich ganze Nationen und einzelne Menſchen, welche durch Gebehrden einander ihre Jdeen und Empfindungen mitzuthei - len verſtehen. Charlevoix in ſeiner Geſchichte von Neu-Frankreich erzaͤhlt, daß die wilden Amerikaner durch allerley Geſticulationen, die unter dem Namen der Kriegstaͤnze bekannt ſind, einander einen ganzen Feldzug beſchreiben. Der Taͤnzer, ſo erzaͤhlt er, ſtellt den Ausmarſch der Truppen, ihren Marſch, ihre Lagerungen vor; er recognoſcirt, macht den Angriff, macht Halt, wie um Odem zu ſchoͤpfen; dann kommt er mit einmal in Wuth, daß man meynen ſollte, er wollte alles ermorden. Jſt dieſer Paroxiſinus voruͤber, ſo ergreift er einen von der Verſamm - lung, als wolle er ihn zum Gefangenen machen; ſtellt ſich, als ſpalte er einem andern den Kopf, legt wieder einen dritten ſein Schießgewehr an, und faͤngt endlich an zu laufen, ſo ſchnell alsKer146er kann. Hernach ſteht er ſtill und beſinnt ſich wieder; das iſt der Ruͤckzug, der zuerſt ſehr ha - ſtig und uͤbereilt, hernach bedaͤchtiger iſt. Dann druͤckt er durch verſchiedne Toͤne die verſchiedenen Stimmungen ſeines Herzens in dem letzten Feld - zuge aus, und endigt mit einer Erzaͤhlung ſeiner Thaten im Kriege.

Auch unter den Sicilianern, wie der Graf von Borch in ſeinen Briefen uͤber Sicilien und Malta erzaͤhlt, bedient man ſich haͤufig der Spra - che durch Minen und Zeichen, und viele bringen es darinn zu einer ſehr großen Fertigkeit. Mitten unter einer zahlreichen Geſellſchaft und in ziemli - cher Entfernung koͤnnen ſich auf dieſe Weiſe Per - ſonen mit einander unterhalten, ohne den Mund zu bewegen. Schon die juͤngſten Knaben ver - abreden mit ihren Cameraden eine ſolche blos ih - nen verſtaͤndliche Sprache und eine und die - ſelbe Perſon verſteht oft mehrere Arten derſelben, wie z. B. ein Frauenzimmer gewoͤhnlich drey ver - ſchiedene Sprachen zu haben pflegt, eine fuͤr ih - ren Mann, die andre fuͤr ihren Geliebten, und die dritte fuͤr ihre Freundinnen.

Jndeß kann ſelbſt die vollkommenſte Gebehrden - ſprache niemals ſo vollkommen werden, daß der Verſtand ſie zum Magazin ſeiner Begriffe ge - brauchen, und man durch ſie alle ſeine Empfin - dungen und Gedanken mit ihren mannigfaltig -ſten147ſten Nuͤancen andern mittheilen koͤnnte. Fuͤr den Verſtand iſt ſie zu koͤrperlich und nicht bieg - ſam genug, und fuͤr die Mittheilung zu ſchwan - kend, zu vieldeutig. Man muß ſich ſchon ziem - lich verſtehen, wenn man einander durch Gebehr - den und Minen beſtimmte Situationen mittheilen will, und wird ungewoͤhnliche und unbekannte Begebenheiten, hiſtoriſche Fakta, ſelbſt ſeinem andern Jch auf dieſe Weiſe nie mittheilen koͤnnen; denn ſelbſt das vollkommenſte Gebehrdenſpiel kann, wie der vortrefliche Engel in ſeiner Mimik*)Jdeen zu einer Mimik. 2. Th. 29. Br. 32. S. er - innert, nur auf ſo oder ſo eine Situation herumrathen, aber nichts mit Deutlichkeit, nichts mit Gewißheit erkennen laſſen.

Hierzu bedurfte es einer Wortſprache, einer Sprache durch artikulirte, mit beſtimmten Vor - ſtellungen verknuͤpften Toͤne, deren Erfindung unter die groͤßten Wohlthaten, welche der Menſch dem Menſchengeſchlechte geleiſtet hat, zu zaͤhlen iſt, wie der Dichter ſo ſchoͤn und dichteriſch beweiſt.

Heil dir! unſichtbar Kind des Menſchen - hauchs Der Engel Schweſter, ſuͤße Sprache du! Ohn 'deren treuen Dienſt das volle Herz Erlaͤge unter der Empfindung Laſt. Kein Lied von Alters her beſuchte je Ein menſchlich Ohr; die Vorwelt waͤre ſtumm:K 2Ver -148Verhallt des Menſchen, wie des Thieres Tritt: Des Weiſen Herz, auch ſeiner Lieder Grab.
*)Herders Geiſt der ebraͤiſchen Poeſie. 1. Th. 37. S.
*)

Schon die natuͤrliche Sprache, der Geſang der Voͤgel, die mannigfaltigen Stimmen der Thiere, die aus jedweder ſtaͤrkern Empfindung des Vergnuͤgens oder Schmerzes ſich erzeugenden Toͤne, mußten den Menſchen bald auf die Be - merkung fuͤhren, daß ſich die unſichtbaren Ver - aͤnderungen in ſeinem Jnnern an Toͤnen wahrneh - men, und durch ſie mittheilen ließen; aus wel - cher Bemerkung ſich leicht die allgemeinere Folge - rung ergeben mußte, daß man einen Gegenſtand durch Zeichen, die nicht mit ihm einerley Art waͤren, nicht fuͤr denſelben Sinn gehoͤrten, be - zeichnen koͤnnte. Das Beduͤrfniß, welches der Menſch fuͤhlte, ſich Andern mitzutheilen, und der in dem Kinder-Menſchen, ſo wie in dem Kinde ſehr rege Trieb nachzuahmen, legte in dieſe Wahr - nehmungen einen ſcharfen Sporn zu practiſchen, auf ſie gebauten Verſuchen.

Die erſten Ton-Ausdruͤcke koͤnnen natuͤrlich nicht ſeiner geweſen ſeyn, als der Menſch ſelbſt war: er mußte ſich im Anfang damit begnuͤgen, nur ganze, allgemeine Empfindungen auszu - druͤcken, deren Nuͤancirungen und verſchiedneGe -149Gegenſtaͤnde er durch Gebehrden und Minen zu beſtimmen ſuchen mußte. So hatte er fuͤr den Schmerz wahrſcheinlich nur einen allgemeinen Ton; um die beſondern Arten deſſelben auszudruͤ - cken, konnte er die bey dem Schmerze ſelbſt vor - gekommenen Verziehungen ſeines Geſichts oder eines andern Theils des Koͤrpers, wiederholen, und den Gegenſtand zeigte er entweder, wenn derſelbe oder ein aͤhnlicher gegenwaͤrtig war; oder zeichnete ihn, ſo gut er konnte, wenn er ſich nicht mehr vor ſeinen Augen befand.

Sobald man nur erſt durch Verſuche die Moͤglichkeit eingeſehn hatte, Gegenſtaͤnde durch hoͤrbare Zeichen darzuſtellen, und fuͤr ſich ſelber zu merken; ſo mußte Ein Verſuch von ſelbſt ſchon den Andern herbeyfuͤhren, man mußte nun bald darauf kommen, die verſchiednen Grade der Empfindungen und ſolche Gegenſtaͤnde, welche fuͤr das Ohr wahrnehmbare Merkmale hatten, durch Toͤne zu unterſcheiden. Den verſchiednen Grad der Empfindung konnte die Hoͤhe oder Tie - fe, die Staͤrke oder Schwaͤche des Tones bezeich - nen: die auch fuͤr das Gehoͤr exiſtirenden Natur - dinge, diejenigen Laute, welche von ihnen gehoͤrt wurden. So druͤckt das Kind, dem die Spra - che noch ihre Dienſte verſagt, den Ochſen durch ein Bu und das Schaaf durch ein Baͤ aus.

K 3Nun150

Nun ging man weiter, und trug die Be - zeichnungsart durch Toͤne auch auf ſtumme Ge - genſtaͤnde der Sinne uͤber, wozu die Aehnlichkeit derſelben mit toͤnenden oder die von ihnen gewirkte Empfindung die leichte Veranlaſſung werden konn - te und mußte. Hierbey bedurfte es nun freylich eines gemeinſchaftlichen Uebereinkommens, welches auch bey den erſten Menſchen nicht viel Schwie - rigkeiten hatte, da ihre Anzahl noch nicht ſo groß, und ihre moraliſchen und geiſtigen Verſchiedenhei - ten noch nicht ſo merklich ſeyn konnten, daß da - durch die Vereinigung haͤtte aufgehalten werden koͤnnen.

Jtzt mußte die Wahrnehmung der großen Bequemlichkeit dieſer hoͤrbaren Zeichen fuͤr die Verdeutlichung und Darſtellung ſeiner Vorſtellun - gen, und der durch die Verbreitung dieſer Be - zeichnungskunſt geweckte Wetteifer, das Werk immer weiter treiben. So wie der Verſtand ſich mehr entwickelte, mehr Vorſtellungen ſammelte, und die Kunſt, die Vorſtellungen von einander zu ſcheiden, beſſer lernte, mußte auch der Schatz der Sprache vermehrt und verbeſſert werden. Einer theilte nun ſeine Zeichen, die itzt ſchon den Na - men der Worte verdienten, dem andern nebſt ih - rer Bedeutung mit; durch welche Tradition von einem zum andern zuſammt der nachherigen Tren - nung der Menſchen und der verſchiednen Beſchaf -fen -151fenheit ihres Charakters, ihrer Sitten und Sprach - organe, ſich die verſchiednen Mundarten bildeten. Jn der Folge der Zeit uͤbernahm das Genie die Sache des Verſtandes, und bildete entweder die noch rohe Sprache aus, oder ſchuf eine ganz neue.

So gab der Verſtand der Sprache ihr Da - ſeyn; und ſie unterſtuͤtzte denſelben dagegen dank - bar bey dem Geſchaͤft ſeiner Entwicklung, um noch ferner ſeiner Wohlthaten zu ihrer Erhaltung und Bildung zu genießen.

Wenn man die verſchiedenen Voͤlker des Erd - bodens in Hinſicht des Verſtandes mit einander vergleicht, welch ein Unterſchied? wem faͤllt nicht, wenn er einen Newton, den ſein Verſtand der Gottheit naͤhert, mit dem Karaiben, welchem zum Thier nur die Geſtalt zu fehlen ſcheint, ver - gleicht, der Zweifel ein, ob dieſe beyden wirklich Geſchoͤpfe einer Art ſeyn koͤnnen?

Die Natur giebt dem Menſchen die Anlagen zum verſtaͤndigen Menſchen, und die Faͤhigkeit ſich ſelbſt dazu zu bilden. Wo dieſe Faͤhigkeit nicht genutzt wird oder nicht genutzt werden kann, da bleibt der Verſtand in ſeiner Rohheit, und der Menſch in ſeinem Leben und Handeln dem Thiere naͤher, als dem Menſchen.

Wie das Thier keine Gluͤckſeligkeit kennt, als diejenige, welche dem Magen und Gaumen fuͤhl -K 4bar152bar iſt, und nicht ſo viel ißt und trinkt, als ge - nug iſt, ſondern ſo viel, als es hat und faſſen kann; ſo ſetzen auch mehrere rohe Nationen im Eſſen und Trinken ihr vorzuͤgliches Vergnuͤgen, ihre Ehre und Tugend.

Wenn der Contaiſchu (Fuͤrſt) der Calmyken ein Vergnuͤgen haben will, laͤßt er eine Anzahl geſchickter Freſſer verſammlen, und ſie mit klein - gehacktem Fleiſche bedienen.

Die Camtſchadalen bedauren die alten Zeiten nicht, weil da mehr Treue und Glauben ge - weſen ſeyn ſoll ſondern weil ihnen damals die Suͤndfluth des Magens die Knoͤchel benetzte, da ſie itzt dieſelbe nur bis an die Fußſolen empfinden.

Ein Baſchkire verzehrt in einer Mahlzeit funfzehn Pfund Fleiſch und acht Maaß Kumys, ein Getraͤnke aus Pferdemilch; und vier Kirgiſen ein Schaaf, deſſen Schwanz allein zwanzig bis dreyßig Pfund aufwiegt.

Bey den Malabaren bringt das Gaſtmahl dem Wirthe den meiſten Ruhm, wo viele gebor - ſten ſind, und in Tunkin werden nur die vorzuͤg - lichſten Freſſer zu der Ehre erkohren, die Leibtra - banten des Fuͤrſten zu ſeyn*)Jch erzaͤhle dieſe und mehrere der folgenden Nach - richten, aus den Abhandlungen des H. H. Meiners in dem inhaltvollen Goͤttingiſchen hiſtoriſchen Ma - gazin..

Den153

Dem rohen Verſtande fehlt die Faͤhigkeit die innern und feinern Verhaͤltniſſe der Dinge zu be - urtheilen; die Sinnlichkeit, die nur fuͤr das Aeuße - re Empfaͤnglichkeit hat, iſt die Fuͤhrerin, der er folgt, und giebt ihm die Richtſchnur an, nach welcher er alles beurtheilt. Daher entſpringen die falſchen Begriffe von Ehre, die ſie vorzuͤglich nur in thieriſche Vollkommenheiten ſetzen: daher der Mangel ſeiner Empfindungen und moraliſcher Gefuͤhle.

Die Verachtung des weiblichen Geſchlechts unter mehrern rohen Nationen, iſt bekannt. Staͤrke des Koͤrpers iſt die Haupttugend in der Meynung des Wilden; daher er glaubt, das Geſchlecht nicht achten zu duͤrfen, welches derſel - ben nicht faͤhig zu ſeyn ſcheint. Die Sibi - riſchen Wilden handeln mit Weibern, wie mit Thieren, und der Mann verborgt, gegen die Entrichtung der Gebuͤhr, ſeine Frau ſo gut, als ſeinen Hund oder Schlitten. Die ungluͤck - lichen Geſchoͤpfe muͤſſen alle Laſten des geſellſchaft - lichen Lebens tragen, ohne die Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten deſſelben genießen zu duͤrfen; ſo gar iſt es ihnen in Peru und einigen andern Gegenden nicht einmal erlaubt, das Vergnuͤgen des Putzes zu genießen. Beſonders bedauerns - wuͤrdig, ſagt Robertſon*)Geſchichte v. Amerika, 1. Th. 368. S., iſt ihr Zuſtand inK 5Ame -154Amerika, und ihre Unterdruͤckung ſo vollſtaͤndig, daß Sclaverey ein gelinder Name iſt, der zur Abſchilderung ihres Elends bey weitem nicht hin - reicht. Unter den meiſten amerikaniſchen Staͤm - men iſt ein Weib ein Laſtthier, dem jede noch ſo ſchwere und harte Arbeit aufgebuͤrdet wird. Wenn die Maͤnner den Tag mit Muͤſſiggehen oder mit Zeitvertreiben verſchlendern, ſind die Weiber zu unablaͤſſiger Arbeit verdammt. Jhre Arbeiten werden ihnen ohne Barmherzigkeit aufgelegt, und ihre Dienſte ohne Wohlgefallen und ohne Dank angenommen. Jeder Umſtand erinnert die Wei - ber an dieſe kraͤnkende Unterdruͤckung. Sie muͤſ - ſen ſich ihren Herren mit Ehrfurcht naͤhern, die - ſelben als hoͤhere Weſen ehren, und duͤrfen nicht einmal in ihrer Gegenwart eſſen. Jn Amerika giebt es Gegenden, wo dieſe Herrſchaft ſo ſtren - ge, ſo entſetzlich iſt, und ſo ſchmerzlich empfun - den wird, daß manche Weiber in einer wilden Aufwallung muͤtterlicher Zaͤrtlichkeit ihre Toͤchter in ihrer Kindheit umgebracht haben, blos um ſie vor der unertraͤglichen Sclaverey, die auf ſie wartete, zu ſichern.

So wie ſie den Werth des Menſchen nur in das ſetzen, was ſeinen thieriſchen Theil angeht, ſo berechnen ſie auch die Anerkennung deſſelben von andern nur nach dem, was in die Sinne faͤllt. Bey den Siameſen iſt es ein Zeichen derHoheit,155Hoheit, wenn man in dem obern Theil des Hau - ſes wohnt, die Bewohnung der untern Theile deſſel - ben wird als ein Zeichen der Niedrigkeit angeſe - hen. Darum war es eine vorzuͤgliche Sorge der nach Frankreich geſchickten ſiameſiſchen Geſandten, daß die Briefe ihres Koͤnigs im Schiffe uͤber ih - rem Haupte lagen, und ein gewaltiger Schreck fuͤr ſie, da ſie vernahmen, daß ſie in Frankreich uͤber denſelben wohnten; weil ſie dadurch ein Ver - brechen der beleidigten Majeſtaͤt begangen zu ha - ben glaubten.

Alle Begriffe von Gegenſtaͤnden, welche Na - tionen ſich bilden, werden nach den Dingen ge - formt, welche ſie zunaͤchſt umgeben, und tragen das deutliche Gepraͤge ihrer ſehr materiellen Ent - ſtehung. Dies zeigt ſich vorzuͤglich in den Vor - ſtellungen von den Goͤttern und dem Verhaͤltniß, in welchem ſie gegen dieſelben zu ſtehen glauben. Alle ihre Goͤtter ſind nichts weiter, als nach Menſchen geformte Goͤtzen, mit allen menſchli - chen Launen, Neigungen und Begierden, und ſo wie ſie gegen ihres Gleichen nur ſo lange gutgeſinnt und freundlich ſind, als dieſe mit ihrem Willen uͤbereinſtimmen, ſo ſind ſie es auch nicht laͤnger gegen ihre Goͤtzen. Denn, wenn das nicht in Er - fuͤllung geht, was ihre traͤge Dummheit von den Goͤttern erwartet, ſo mißhandeln ſie dieſelben auf die haͤrteſte und ſchimpflichſte Weiſe.

Wenn156

Wenn die Aegyptier von einem Ungluͤck heim - geſucht wurden, ſo drohten ſie dem Gott des Boͤ - ſen, dem Typhon, ſich an ſeinen Lieblingen, den Eſeln, zu raͤchen, wenn er demſelben nicht ein Ende machen wuͤrde: ſo fern nun dieſe Drohun - gen nichts halfen, geißelten ſie den Goͤtzen, und ſtuͤrzten einen Eſel vom Felſen herunter.

Wenn die Sineſen und andere ſuͤdliche Aſiaten Urſache zur Unzufriedenheit uͤber einen ihrer Goͤtter zu haben glaubten; ſo ſchalten ſie ihn in folgenden Worten: Du Hund von Gott! wir haben dir einen Tempel gebau't und dich ver - goldet; und du biſt ſo undankbar. Dann ban - den ſie ihn mit Stricken, ſchleppten ihn durch die Gaſſen und warfen Koth auf ihn. Eben ſo ver - aͤchtlich denken die heidniſchen Hindus und Ceylo - neſen von ihren Goͤttern: denn, wenn irgend ei - ner ſich uͤber die Unfreundlichkeit ſeines Goͤtzen be - ſchwert, geben ſie ihm den unuͤberſetzbaren Rath: Give him no ſacrifice, but ſhit in his mouth, what a God is he.

Vornehmlich fehlt dem ungebildeten Verſtan - de die nur durch Uebung zu erlangende Scharf - ſichtigkeit, die Dinge von einander zu unterſchei - den. Er ſchließt von Aehnlichkeit auf Gleichheit, vom Beſondern aufs Allgemeine. Zauberey und Aberglauben finden daher bey rohen Nationen die guͤnſtigſte Aufnahme; denn es faͤllt ihnen nichtein,157ein, den Urſachen der Begebenheiten und Erſchei - nungen nachzuſpuͤren; die Begriffe von Zufall und Nothwendigkeit ſind fuͤr ſie voͤllig gleichbedeu - tend: ſie denken nicht daran, daß die Natur ſich nach beſtimmten Geſetzen richte; ſondern formen ſich die Vorſtellung von derſelben nach dem Mu - ſter ihres verworrenen, chaotiſchen Verſtandes.

Dieſer Verworrenheit, Traͤgheit und Stumpf - heit des Verſtandes ſind die Jrrthuͤmer und die ewigen Verwechſelungen der Dinge mit einander zuzuſchreiben. Wo ein Gegenſtand wahrgenom - men wird, der mit einem bekannten nur einige Merkmale gemein hat, wird er ganz fuͤr dieſen genommen. Mehrere wilde Nationen legen alle Eigenſchaften der Menſchen auch den Thieren bey, und ſind freylich, weil ſie ſich ſelbſt desjeni - gen, was den Hauptunterſchied zwiſchen Menſchen und Thier macht, nicht bewußt ſind, auch nicht im Stande ſich darnach von denſelben zu unterſcheiden. Die Kamtſchadalen nennen beym Fiſchen oder Jagen die Thiere nie bey ihrem Na - men, weil ſie fuͤrchten, dieſelben moͤchten ihr Vorhaben dadurch entdecken und in Sicherheit zu kommen ſuchen. Die Lappen, Finnen und aͤhn - liche Voͤlker nennen den Baͤren den Alten mit dem Pelz, und entſchuldigen ſich gegen ihn, wenn er erlegt iſt, ſehr umſtaͤndlich dadurch, daß nicht ſie die Urſach ſeines Todes waͤren, ſondern die Beileder158der Ruſſen. Ein daͤniſcher Buchhalter machte, wie man erzaͤhlt, einmal einem Negernkoͤnige ſeine Aufwartung, und buͤckte ſich nach europaͤiſcher Sitte mit entbloͤſtem Haupt zur Erde nieder. Der Koͤnig glaubt in ihm einen wilden Affen zu ent - decken, der auf ihn zuſpringen will, erhebt ein großes Geſchrey, ſpringt von ſeinem Sitze herun - ter, und ſtellt, um ſicher zu ſeyn, ſeine Weiber zwiſchen ſich und den Daͤnen, deſſen Kleidung dem Auge des Koͤnigs Theile des Koͤrpers ſind. Nach langem Zureden von Seiten derer, welchen der Daͤne als ein Menſch bekannt war, laͤßt er ſich endlich bewegen, von ſeiner Furcht abzuſte - hen. Um ihn aber zu uͤberzeugen, daß dieſes Wunderthier wirklich ein Menſch ſey, waren keine Vorſtellungen hinlaͤnglich: er muß ſich da - von erſt durch eigne Verſuche uͤberfuͤhren. Er befiehlt daher Speiſe und Trank herbeyzuſchaffen, um zu ſehen, ob das Wunderthier eſſe und trin - ke, und nachdem er dies geſehen hat, wagt er es endlich ihn der Probe des Betaſtens zu unterwer - fen, und ihn fuͤr einen wirklichen Menſchen zu halten; aber, ruft er aus, er iſt ſo weiß, wie der Teufel.

So aͤußert ſich der rohe Verſtand. Wohl denen, die unter einem gebildeten Volke geboren, uͤber dieſe Aeußerungen raiſonniren koͤnnen. Aber nicht das Geborenſeyn in einem kultivirtenLande159Lande macht allein den gebildeten Menſchen; die Natur bietet nur die Hand, wer das Geſchenk der Menſchheit haben will, muß ſie ergreifen, feſthalten, ihr folgen.

Unendlich verſchieden ſind die Werke der Na - tur in jeder Art; auch in ihrem koͤſtlichſten Werk, dem menſchlichen Verſtande, iſt ſie dem Geſetze der Mannigfaltigkeit treu geblieben. Dem einen gab ſie viel, dem andern weniger. Dieſem ſcheint ſie alle Muͤhe der eignen Bildung erſparen zu wollen, weil ſie ihn verſchwenderiſch beſchenkte; jenem ſcheint ſie nichts vorgearbeitet zu haben, um ihm die Freude zu verſchaffen, durch ſich ſelbſt zu ſeyn, was er iſt.

Die Hauptvollkommenheiten des Verſtandes, vorzuͤglich in ſo fern ſie ein Geſchenk der Natur ſind, werden durch die Namen guter Kopf, Talent, Genie und Geiſt bezeichnet. Wo ſich Faſſungskraft, das Vermoͤgen deutlicher Begriffe, Selbſtthaͤtigkeit des Verſtandes, und mit einem Wort gute Anlagen zeigen, da, ſagt man, iſt ein guter Kopf, eine Benennung, welche der Meynung, daß die denkende Seele im Kopfe wohne, ihren Urſprung verdanket. Sind dieſe Anlagen beſonders hervorſtechend, ſind ſie leicht zu entwickeln, und auf einer oder der andern Seite ſchon mit dem Bilde einer nicht gemeinen Voll - kommenheit ausgepraͤgt; ſo erhalten ſie den Na -men160men Talente: und wenn ihr Gepraͤge ganz ori - ginell iſt, den des Genies; Geiſt endlich wird die Faͤhigkeit des Gemuͤthes genannt, alle ſeine Vorſtellungen, Gedanken, Urtheile verſinn - lichen, veranſchaulichen, verlebendigen zu koͤn - nen. Dem Geiſt ſteht der trockne Kopf, dem Genie der mechaniſche oder der Pinſel ent - gegen, dem Talent der gemeine Kopf und dem guten der dumme.

Zehnte Unterhaltung. Von der Verruͤcktheit.

Wie groß iſt der Menſch und wie klein! wie erhaben und wie niedrig! Die Freude der Schoͤ - pfung und ihr Schmerz. Das ſind die Ge - danken, welche in dem Herzen eines jeden zu Ge - fuͤhlen werden muͤſſen, welcher von der Betrach - tung der Vorzuͤge, die den Menſchen uͤber alles Erſchaffene erheben, zu der Betrachtung der Zu - ſtaͤnde uͤbergeht, in welchen der Menſch dieſer Vorzuͤge beraubt iſt, in welchen der mit Vernunft begabte unvernuͤnftig handelt und handeln muß; und eitlen Wahn und Phantome der Einbildungs - kraft fuͤr Wahrheit und Realitaͤt haͤlt, und von ſeiner Taͤuſchung nicht uͤberzeugt werden kann.

Welch '161

Welch 'eine traurige Scene fuͤr den beobach - tenden Menſchenfreund, wenn er in der Krone der irdiſchen Schoͤpfung die koͤſtlichſte Perle vom giftigen Wurme zernagt ſieht; aber auch dieſe traurige Sce - ne, welche ſtarke Aufforderung fuͤr ihn, ſo viel er kann zur Bewahrung dieſes edelſten Kleinods zu wirken!

An Euch ergeht vorzuͤglich dieſe Aufforderung, Erforſcher der menſchlichen Seele und Ken - ner des menſchlichen Koͤrpers; denn Eure ver - einigten Bemuͤhungen ſind allein im Stande, die - ſes Uebel zu mindern, welches den Menſchen um ſeine Menſchheit bringt.

Der allgemeine Name, mit welchem man diejenigen Zuſtaͤnde bezeichnet, wo die Kraͤfte der menſchlichen Seele aus ihrer Ordnung gebracht ſind, das Gleichgewicht unter denſelben aufgeho - ben und ihre Wirkſamkeit nach den Geſetzen der Natur geſtoͤrt iſt: iſt Verruͤcktheit. Die Ein - bildungskraft iſt es, welche dieſe Unordnungen in der Seele hervorbringt, und ſich, wenn die uͤbri - gen Kraͤfte durch irgend eine Urſach eingeſchlaͤfert oder geſchwaͤcht werden, oder ſie ſelbſt auf irgend eine Weiſe zu maͤchtig wird, zur Regiererin des menſchlichen Denkens, Empfindens und Han - delns aufwirft. Es laͤßt ſich daher Verruͤcktheit auch durch denjenigen Zuſtand der Seele erklaͤren, wo die Jmagination zum Nachtheil der uͤbrigen Seelenvermoͤgen, ausſchweifend wirkt.

LUnſre162

Unſre Sprache hat mehrere Woͤrter, durch welche beſondere Arten dieſes Zuſtandes bezeichnet werden ſollen. Man braucht ſie indeß faſt alle ſynonym. Jch will, ehe ich zur beſondern Beſchreibung der verſchiedenen Arten der Verruͤckt - heit fortgehe, es zuerſt verſuchen, dieſe verſchie - denen Woͤrter, als Bezeichnungen verſchiedner Arten dieſes ungluͤcklichen Zuſtandes zuſammen zu ordnen*)Jch bitte indeß den kritiſchen Leſer, dieſe Zuſammen - ordnung nicht als eine vollſtaͤndige logiſche Diviſion des Begriffs Verruͤcktheit anzuſehn. Es ſoll weiter nichts ſeyn, als ein Verſuch, dieſen vom Sprachge - brauch verwirrt gebrauchten Woͤrtern die Bedeutung zu geben, welche nach der Etymologie oder Gewohn - heit die natuͤrlichſte zu ſeyn ſcheint..

Zuerſt unterſcheide ich diejenige Art der Ver - ruͤcktheit, welche ihren nachtheiligen Einfluß vor - zuͤglich auf das Erkenntnißvermoͤgen aͤußert, und ſich in falſchen Empfindungen, verwirrten Urtheilen, ungereimten Meynungen u. ſ. w. zeigt, von derjenigen, welche unordentliche Erſcheinun - gen in dem Begehrungsvermoͤgen hervorbringt, und aus unbaͤndigen Neigungen, brennenden Lei - denſchaften, ausſchweifenden Handlungen erkannt wird. Die erſte moͤchte ich die theoretiſche oder Verruͤcktheit im engern Sinne, die zweyte die praktiſche oder Schwaͤrmerey nennen. Bey -de163de Arten begreifen nun wiederum verſchiedne Un - terarten unter ſich: von welchen ich hier nur die der erſtern aufzaͤhlen will, indem ich von denen der zweyten in der folgenden Unterhaltung zu re - den Gelegenheit haben werde.

Man hat zwey Woͤrter, welche faſt allgemein fuͤr das, was ich Verruͤcktheit im engern Sin - ne nannte, gebraucht werden: ich meyne Wahn - ſinn und Wahnwitz. Dieſe ſcheinen mir zur Bezeichnung der unter jenem Begriffe zunaͤchſt ent - haltenen Unterarten bequem zu ſeyn, und ſo un - terſchieden werden zu koͤnnen. Wahnſinn nenne ich diejenige Art der Verruͤcktheit, welche ſich vor - zuͤglich in falſchen Empfindungen aͤußert, und Wahnwitz diejenige, welche ſich in confuſen Operationen des Verſtandes, ungereimten Reflexionen und ſchiefen Raiſonnements zeigt. Diejenigen Verruͤckten alſo, welche da waͤhnen, Koͤnige oder Goͤtter zu ſeyn, ihren Kerker fuͤr ei - nen Pallaſt und ihr Lager fuͤr einen Thron halten, ſind wahnſinnig. Diejenigen aber, welche Reden halten, nach ihrer Art philoſophiren, wi - tzeln und dichten, wahnwitzig. Wahnſinnige koͤnnen kein durchaus richtiges Selbſtgefuͤhl, kein richtiges Gefuͤhl ihres aͤußern Zuſtandes ha - ben: denn, wenn dies waͤre, koͤnnten ſie ſich und die Eindruͤcke von außen nicht falſch empfin - den. Aber nicht bey allen fehlt dies Gefuͤhl ihresL 2Selbſts164Selbſts und ihrer aͤußern Verhaͤltniſſe in gleichem Grade, in gleicher Allgemeinheit. Diejenigen, welchen es ganz fehlt, nenne ich unſinnig, die, welche es nur zum Theil entbehren, bloͤdſinnig.

Auch die verſchiedene Beſchaffenheit der Em - pfindungen, welche die Wahnſinnigen zu haben waͤhnen, kann einen Eintheilungsgrund abgeben. Wenn dieſe Empfindungen meiſt angenehme oder gleichguͤltige ſind, ſo koͤnnen die, welche ſich ein - bilden, ſie zu haben, bequem mit dem Namen der Narren belegt werden: ſind ſie aber unangenehme, ſo koͤnnen ſie entweder melancholiſche oder ſcheue, wenn die Empfindungen zur Gattung der nieder - ſchlagenden oder ſchreckenden gehoͤren; oder aber tolle genannt werden, wenn nemlich die un - angenehmen Empfindungen zu den aufbringen - den zu zaͤhlen ſind.

Was den Wahnwitz betrift, ſo aͤußert ſich derſelbe entweder durchgaͤngig und ſtark, oder nur zu Zeiten und ſchwach und mehr in der Stille. Die, bey welchen das erſte ſich findet, ſind unklug, bey denen das zweyte der Fall iſt, wirrig.

Zeigt ſich der Wahnwitz vornemlich in einem ſtillen, fuͤr ſich Reden (Patern), ſo heißen die Wahnwitzigen, irreredend; zeigt er ſich in Hand - lungen, welche mit einer verdrehten Wirkſamkeit des Denkvermoͤgens unmittelbar zuſammenhaͤngen, unreimiſch.

Um165

Um dieſe Unterſcheidung der verſchiedenen Arten der Verruͤcktheit, welche vielleicht manchem zu trocken geweſen iſt, deſto leichter uͤberſehen zu koͤnnen, will ich die einzelnen Woͤrter mit ihren Begriffen hier nun noch tabellariſch aufzeichnen:

1) Wahnſ. in angenehmen od. gleichguͤlt. Empfind. , • 2) Wahnſinn in niederſchlagenden Empfindungen. , • 3) Wahnſinn in furchtſamen Empfindungen. , • 4) Wahnſinn in aufbringenden Empfindungen. , • a) Durchgaͤngiger Wahnwitz. , • b) Periodiſcher u. ſtillerer Wahnw. , • c) Wahnwitziges fuͤr ſich Reden. , and • d) Wahnwitz in Verſtandeshandl. 
Verruͤcktheit (im weitern Sinn) oder die taͤuſchende Ausſchweifung der Einbildungskraft zum Nachtheil der uͤbrigen Seelenvermoͤgen.
1. Verruͤcktheit (im engern Sinn) oder die taͤuſchende Ausſchweifung der Einbildungs - kraft zum Nachtheil des Erkenntnißvermoͤgens.2. Schwaͤrmerey oder die taͤuſchende Ausſchw. d. Einbildungskr. zum Nachth. des Begehrungsvermoͤgen.
Wahnſinn oder Verruͤcktheit der Empfindungen.Wahnwitz oder Verruͤcktheit der Verſtandeshandlungen.
Unſinn oder Wahnſinn, bey dem al - les Selbſt - gefuͤhl fehlt. Bloͤdſinn oder Wahnſinn, bey dem das Selbſt - gefuͤhl nur zum Theil und zu Zei - ten fehlt.Narrheit 1).Melancholie 2).Scheu 3).Tollheit 4).Unklugheit a).Wirrigkeit b).Jrrereden c).Unreimiſches Weſen d).
L 3Be -166

Begleiten Sie mich itzt, werthe Leſer und Leſerinnen, in die ſchwarzen Kerker der Ungluͤck - lichen, die des richtigen Gebrauchs ihrer Seelen - vermoͤgen beraubt im tiefſten Elende leben, und ſelbſt ihr Elend nicht einmal empfinden.

Sehen Sie hier eine Reihe von Wahnſin - nigen. Jch bin der Monarch des Erdbodens, ſagt ein Schneider, der Geiſt zeugt es in mir! Nein, faͤllt ſein Nachbar ihm ins Wort, ich muß das Gegentheil wiſſen, da ich der Sohn des Gei - ſtes bin! Das Maul zu ſo hoͤr 'ich die Mu - ſik der Sphaͤren ſchreyt ein Dritter. Seht ihr nicht dieſen Geiſt da, der mir alles offenbaret, was geweſen iſt und was ſeyn wird? Seht ihr da dieſe verklaͤrten Leiber? Jch trage das Schwerdt Gedeons, folgt Kinder! Wir ſind unverwundbar. Und ich, verſetzt ein andrer, brauche nur ein Wort zu ſagen, gleich werde ich die groͤßten Heere zerſtreuen! Seyd ihr nicht, fragt jener, der Apoſtel, der aus Tran - ſylvanien kommen ſoll? Schon lange gehn wir an den Geſtaden hin und her, ihn zu empfan - gen. Jch bin gekommen zur Bekehrung der Ju - den; und ich, ſchreyt ein andrer, halte eine pro - phetiſche Schule*)Meiſter uͤber die Schwaͤrmerey. 1. 166..

Wahn und Taͤuſchung ſind die Empfindun - gen der Unſinnigen; was da wirklich iſt, fuͤhlenſie167ſie nicht, und was nicht iſt, empfinden ſie. Kei - ne Spur von Verſtand nehmt ihnen die Men - ſchengeſtalt, und ſie ſind den Thieren ganz gleich. Keine Vorſtellungen, keine Beweiſe koͤnnen den Unſinnigen von dem Ungrunde ſeines Unſinns uͤber - zeugen; denn, ach! er kann dieſelben nicht faſſen, nicht einſehen.

Es glaubte jemand, erzaͤhlt Marcellus Do - natus, einen ſo großen Leib zu haben, daß er nicht durch die Thuͤr ſeiner Schlafkammer kom - men koͤnne. Er war daher durch nichts zu be - wegen, aus dieſer nicht kleinen und engen Thuͤr zu gehen. Endlich befahl ſein Arzt, man ſolle ihn mit Gewalt herausſchaffen. Dies geſchah. Allein der Wahnſinnige glaubte nun alle ſeine Gliedmaßen waͤren zerbrochen, ſchalt die, welche ihn herausgetragen hatten, ſeine Moͤrder, und ſtarb.

Bringt mich ja nicht dem Feuer zu nahe, ſchreyt ein Unſinniger, denn ich wuͤrde ſchmelzen, weil ich aus Butter geformt bin; huͤtet euch, ruft ein andrer, an mich zu ſtoßen, denn ich wuͤrde zerbrechen, weil ich von Glas bin.

Dem Unſinnigen fehlt ſein Selbſtgefuͤhl ganz: der Bloͤdſinnige hat es doch zum Theil, und wenigſtens zuweilen lichte Zwiſchenraͤume. Es giebt Zeiten, wo er wahr empfindet und ver - nuͤnftig redet, und nur dann, wenn er aus ſei -L 4nen168nen gewohnten Verhaͤltniſſen herausgeriſſen wird, oder die Urſache ſeines Bloͤdſinns vorzuͤglich wirkt, zeigt ſich die Krankheit ſeiner Seele. Ein gelehr - ter Arzt zu Venedig glaubte in den Hundstagen ein irdener Topf zu ſeyn. Er ſaß darum, aus Furcht zu zerbrechen, den ganzen Monat hin - durch oben im Hauſe unter dem Dache. Wenn der Monat zu Ende war, kam er wieder zur Vernunft und verrichtete ſeine Geſchaͤfte, wie vorher.

Ein Zimmermann trieb zu Hauſe ſein Hand - werk ganz geſcheut. Sobald er indeß aus ſeinem Hauſe herausging, fing er an zu ſeufzen, ſich zu aͤngſtigen: und wenn er dann noch weiter ging, verfiel er in eine heftige Raſerey. Wenn er aber zu ſeiner Werkſtaͤte zuruͤckkehrte, kam er wieder zu ſich ſelbſt*)Muratori uͤber die Einbildungskraft. Richerzſche Ueberſetzung. 2. 66..

Viele dieſer ungluͤcklichen Menſchen erregen durch ihre ſeltſamen Einbildungen und komiſchen Handlungen auf den erſten Anblick auch das Lachen des ernſthafteſten Menſchenfreundes, und man vergißt es wohl gar, daß dieſe Elenden wirklich elend ſind, weil ihre Aeußerungen, Minen, Ge - berden und Reden einen ganz angenehmen und behaglichen Zuſtand zu verrathen ſcheinen. Aber zu bald muß es einem einfallen, daß auch dieſe,die169die wir oben mit dem Namen der Narren be - nannten, ſehr ungluͤcklich ſind: weil ſie, wie ihre uͤbrigen Bruͤder nicht Verſtand genug haben, ihre Phantaſie Luͤgen zu ſtrafen.

Solch ein bloͤdſinniger Narr war der gelehrte Jeſuit, Pater Sgambari. Er bildete ſich ein, daß er zum Kardinal kreirt waͤre; und es war unmoͤglich, ihn von dieſem ihm ſo ſchmeichelhaften Wahne zuruͤckzufuͤhren. Dem Pater Provinzial, welcher in der Hofnung, ihn zu beſſern, ihm ei - ne gegruͤndete und freundſchaftliche Vorſtellung that, antwortete er in folgendem Dilemma: Entweder halten Sie mich fuͤr einen Narren oder nicht. Jm letzten Falle begehen Sie an mir ein großes Unrecht, daß Sie mit mir in ei - nem ſolchen Tone reden. Jm erſtern Falle hal - te ich Sie mit Jhrer Erlaubniß fuͤr einen groͤßern Narren, als mich ſelbſt, weil Sie ſich vorſtellen, einen Narren durch bloßes Zureden wieder zu - recht bringen zu koͤnnen. Dieſe einzige Thor - heit abgerechnet war ſein Verſtand geſund und zu wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen aufgelegt. So oft junge Studirende zu ihm kamen, um ſich bey ihm Zurechtweiſung und Belehrung zu erbitten, und ihre Bitte nur mit der Anrede Jhre Eminenz anfingen, war er immer ſehr umgaͤnglich, und that ihnen den ganzen Vorrath ſeiner Kenntniſſe auf*)Daſelbſt. 2. 9..

L 5Unter170

Unter dem ganzen Haufen derer, die am Wahnſinn erkrankt ſind, erfuͤllen keine ſo ſehr das Herz mit den Gefuͤhlen der Wehmuth, als die von niederſchlagenden Einbildungen zu Boden gedruͤckten und unaufhoͤrlich ſich quaͤlenden kei - ne mehr, als die Melancholiſchen. Alles Ge - fuͤhles von Werth und Kraft beraubt, waͤhnen ſie die veraͤchtlichſten und kleinſten Geſchoͤpfe der Erde zu ſeyn, fliehn aus der Menſchen Geſellſchaft in oͤde Einſamkeit, und haͤngen daſelbſt ihren ſchwarzen Einbildungen nach. Keine Troͤſtung kann ſie erquicken; ſie glauben derſelben unwuͤr - dig zu ſeyn, und nicht genug Foltern zu ihrer Selbſtpeinigung erfinden zu koͤnnen. Sie glau - ben in den Augen der Gottheit nie zu begnadigen - de Verbrecher zu ſeyn, und, daß ich zur Zeich - nung ihres fuͤrchterlichen Zuſtandes die Farben aus Miltons verlornem Paradieſe nehme.

Wohin ſie fliehn, iſt die Hoͤlle, Sie ſind ſich ſelbſt die Hoͤlle! und in der tiefeſten Tiefe Finden ſie eine noch tiefere Tiefe, die, ſie zu ver - ſchlingen Jhren drohenden Schlund aufthut.

Die ganze Schoͤpfung ſcheint den Ungluͤckli - chen ein duͤſtres Gemaͤhlde zu ſeyn, und die rei - zendſte Schoͤnheit ein Ekel, wie bey Shakeſpear,dieſem171dieſem treffenden Mahler außerordentlicher Zu - ſtaͤnde der Seele, Hamlet von ſich ſagt:

Jch habe ſeit einiger Zeit warum, weiß ich ſelbſt nicht, alle meine Munterkeit verloren, alle meine gewoͤhnlichen Leibesuͤbungen vergeſſen; und wirklich, es iſt mit meiner Schwermuth ſo weit gekommen, daß dieſer herrliche Bau, die Erde, mir ein kahles Vorgebirge ſcheint. Jener praͤchtige Thronhimmel, die Luft, jenes ſchoͤne uͤber uns haͤngende Firmament dort, dieſes ma - jeſtaͤtiſche, mit goldenem Feuer ausgelegte Dach, koͤmmt mir nicht anders vor, als wie ein haͤßli - cher und anſteckender Sammelplatz boͤſer Duͤnſte. Welch ein Meiſterſtuͤck iſt der Menſch! wie edel durch die Vernunft! Wie unbegraͤnzt in ſeinen Faͤhigkeiten! An Geſtalt und Bewegung, wie vollendet und bewundernswerth! An Thaͤtigkeit gleich einem Engel! Jm Denken aͤhnlich einem Gott! Die Schoͤnheit der Welt! Das Voll - kommenſte aller ſichtbaren Weſen! Und doch, was iſt in meinen Augen dieſe Quinteſſenz des Staubes? Der Mann gefaͤllt mir nicht und das Weib eben ſo wenig.

Aus den Papieren der aſcetiſchen Geſellſchaft in Zuͤrch vom Maͤrz und April 1777 fuͤhrt Herr Meiſter*)Ueber die Schwaͤrmerey. 2. 60 f. folgende Erzaͤhlung eines Mitgliedes dieſer Geſellſchaft an: Jch traf, erzaͤhlt derſelbe,ein172ein junges Maͤdchen, welches an dem Zuͤrcherſee gelebt hatte, in dem Spital an. Dieſelbe ſchien von gutem, aber ſehr empfindlichem Gemuͤthe zu ſeyn. Sie war in Hausdienſten, und ein Ver - wandter ihres Meiſters uͤbernahm es, dieſe junge Perſon, die vorher ſehr luſtig und aufgeweckt war, den Gefahren des jugendlichen Leichtſinns zu entreißen. Jhren Kopf fuͤllte er bald mit al - lerley truͤben Gedanken, wodurch ſie in Zeit von einem Jahr in Schwermuth geſtuͤrzt ward. End - lich brach dieſe Schwermuth bey einem naͤchtlichen Gewitter in wirklichen Wahnſinn aus. Jhre ſchon verworrene Einbildungskraft beredete dieſel - be, daß der Blitz vom Himmel geſendt werde, ſie fuͤr ihren vorigen Leichtſinn zu ſtrafen; ſchon glaubte ſie den letzten Gerichtstag anruͤcken zu ſe - hen; ſie fing an zu ſchwaͤrmen. Das Gewitter hoͤrte auf, allein mit demſelben ihr Wahnſinn nicht.

Jn einem andern Zimmer deſſelben Spitals befand ſich ein junges Maͤdchen von guter Bil - dung. Den ganzen langen Tag ſtand daſſelbe mit geſenktem Kopfe, wie eine Mauer unbeweg - lich und eben ſo ſtumm. Nach langen, oft wie - derhohlten Verſuchen, und faſt mit Gewalt brach - te man zuletzt nichts heraus, als ein bejahendes oder verneinendes Kopfnicken. Auf die Frage: Hat man dir was Leids zugefuͤgt? wars einNein. 173Nein. Haſt du dich gegen Andere vergan - gen? Ein Ja. Aber worin? das konnte man niemals von ihr erfahren. An einem Mon - tag entſchloß ſich endlich das ungluͤckliche Maͤd - chen, das Unſer Vater zu beten. Mit dem ſtaͤrk - ſten Nachdruck erhoͤhte es ſeine Stimme, als es auf die Bitte kam: Und fuͤhre uns nicht in Ver - ſuchung, ſondern erloͤſe uns von dem Uebel. Eine Weile hernach ſchrie es ganz jaͤmmerlich: Ach! die Suͤnde wider den Heiligen Geiſt.

Der traurigſte und niederſchlagendeſte Anblick in der Natur iſt der Melancholiſche; der traurigſte und erſchrecklichſte der Tolle, Raſende, Wuͤthige. Fuͤrchterlich rollt er ſei - ne vom Blute geroͤtheten Augen: Geifer dringt aus ſeinem Munde hervor, und der gewaltige Schlag ſeiner Adern macht ſich an Schlaͤfen und Haͤnden dem Auge bemerkbar. Ketten und Ban - den ſind zu ſchwach, ſeine Wuth zu bezaͤhmen: er wuͤthet und tobt gegen Freunde und Feinde und gegen ſich ſelbſt.

Van Swieten erzaͤhlt von einem Raſenden, der in der heftigſten Kaͤlte mehrere Wochen lang nackend auf dem Steinpflaſter auf bloßem Strohe lag, acht ganzer Tage lang nicht einen Biſſen zu ſich nahm, und dann zuweilen wieder alles gie - rig verſchlang; der ſogar, ohnerachtet die beſten Gerichte vor ihm ſtanden, ſeinen eignen Unrathver -174verzehrte. So kann der Menſch, der Schoͤ - pfung Meiſterſtuͤck ihr Scheuſal werden. Und doch verſetzen ſich wohl gar die Menſchen ſelbſt in einen ſolchen Zuſtand! Denn wo - durch unterſcheidet ſich der Trunkne von dem Wahnſinnigen, als dadurch, daß er die freywilli - ge Urſache ſeines Wahnſinns iſt, und kuͤrzere Zeit in dieſem Zuſtande ſich befindet. Sonſt aber ſind die Aeußerungen deſſelben denen der andern Wahnſinnigen gleich. Er wuͤthet und tobt, und die erhitzte und verwirrte Phantaſie gaukelt ihm falſche Empfindungen vor. So erzaͤhlt Herr Tiedemann in ſeinen Unterſuchungen uͤber den Menſchen von einem Trunkenen, welcher bey Nacht uͤber eine vom Mondenſchein erhellte Stra - ße ging, dieſelbe fuͤr einen Fluß hielt, ſich aus - kleidete, und ſich niederlegte, um ſich zu baden; bis ihn endlich die Kaͤlte und Haͤrte der Steine von ihrer nicht fluͤßigen Natur uͤberzeugte.

So wie den Wahnſinnigen ſeine Sinne be - truͤgen, ſo betruͤgt den Wahnwitzigen ſein Ver - ſtand. Die Verruͤcktheit leitet denſelben in Laby - rinthe von Vorſtellungen, wo ſich keine Ordnung, kein Zuſammenhang findet, und ſein Auge iſt zu ſchwach, um den Faden zu ſehen, der ihn aus denſelben den Weg zeigen koͤnnte. Traurige Vor - ſtellungen ſind ihm ein Vorwurf des Lachens undNichts -175Nichtswuͤrdigkeiten wichtige Gegenſtaͤnde ſeines Raiſonnements.

Meiſterhaft zeichnet Shakeſpear Hamlets Wahnwitz in mehrern Stellen ſeines vortreflichen Trauerſpiels, aus welchen ich hier nur einige her - ſetzen will.

Fraͤulein, fragt Hamlet, indem er ſich zu Ophelias Fuͤßen auf die Erde ſetzt, ſoll ich in Eurem Schoos liegen?

Ophelia.

Nein, mein Prinz.

H.

Jch meyne, meinen Kopf auf Eurem Schoos?

O.

Ja, mein Prinz.

H.

Meyntet Jhr denn, ich wollte, wie ein Bauer, auf Eurem Schoos ſitzen?

O.

Jch meyne nichts, gnaͤdiger Herr was iſt, mein Prinz?

H.

Nich[tſ .]

O.

Jhr ſeyd aufgeraͤumt, Prinz.

H.

Wer? ich?

O.

Ja, mein Prinz.

H.

O! ich bin der einzige Spasmacher in meiner Art. Was ſollte man anders thun, als luſtig ſeyn? denn ſeht nur, wie aufgeraͤumt mei - ne Mutter ausſieht, und es ſind doch kaum zwey Stunden, daß mein Vater ſtarb.

O.

Nein, es ſind ſchon zweymal zwey Monate, mein Prinz.

H.176
H.

Schon ſo lange? O, wenn das iſt, ſo mag der Teufel ſchwarz gehen; ich will einen Zobelpelz anlegen. O! Himmel, ſchon zwey Monate todt ſeyn, und noch nicht vergeſ - ſen! So kann man doch hoffen, daß eines gro - ßen Mannes Andenken ein halbes Jahr laͤnger leben wird, als er ſelbſt; aber, auf meine Ehre! in dem Fall muß er wenigſtens Kirchen gebaut haben, ſonſt muß er ſichs gefallen laſſen, daß man nicht mehr an ihn denkt, als an das Ste - ckenpferd, deſſen Grabſchrift iſt: Au weh! das iſt beklagenswerth! Man denkt nicht mehr ans Steckenpferd!

*)Shakeſpears Hamlet. 3ter Aufzug, 2ter Auftritt.

Nur im Wahnwitz konnte der große Hamlet an eben dieſe Ophelia alſo ſchreiben:

An den himmliſchen Abgott meiner Seelen, die reizerfuͤllteſte Ophelia.

Dieſe Zeilen an ihren unvergleichlichen wei - ßen Buſen.

Zweifle an des Feuers Hitze, Zweifle an der Sonne Licht, Zweifle ob die Wahrheit luͤge, Schoͤnſte! nur an deinem Siege Und an meiner Liebe nicht.
O theure Ophelia, ich bin boͤſe uͤber dieſe Verſe; ich verſtehe die Kunſt nicht, meine Seufzer abzumeſſen; aber daß ich Dich aufs beſte177 beſte liebe, o! du Allerbeſte: das glaube mir. Lebe wohl. Ewig der Deine, theuerſtes Fraͤulein, ſo lange dieſer Koͤrper ſein iſt. Hamlet.
*)Daſ. 2ter Auſz. 2ter Auftritt.
*)M

Als der Koͤnig Claudius von ſeiner Gemahlin Gertrude, Hamlets Mutter, die von dieſem ge - ſchehene Ermordung ſeines Oberkaͤmmerers Pol - lonius, des Vaters der Ophelia, erfahren hat, und Hamlet vor ſich kommen laͤßt, um ihm ſeinen Entſchluß, ihn nach England zu ſenden, bekannt zu machen; unterredet ſich der wahnwitzige Prinz alſo mit ſeinem Stiefvater:

Koͤnig.

Nun, Hamlet, wo iſt Pollonius?

Hamlet.

Beym Abendeſſen.

K.

Beym Abendeſſen? Wo denn?

H.

Nicht, wo er ißt, ſondern wo er ge - geſſen wird; eine gewiſſe Verſammlung politiſcher Wuͤrmer iſt eben itzt uͤber ihn her. Der Wurm iſt der einzige Kaiſer im Eſſen. Wir maͤſten alle uͤbrige Geſchoͤpfe, um uns zu maͤſten; und uns ſelbſt maͤſten wir fuͤr die Maden. Der fette Koͤ - nig und der magere Bettler ſind nur verſchiedene Gerichte; zwey Schuͤſſeln, aber fuͤr Eine Tafel. Das iſt das Ende vom Liede.

K.

Leider, leider!

H.178
H.

Es kann einer mit dem Wurm fiſchen, der von einem Koͤnig gegeſſen hat, und von dem Fiſch eſſen, der ſich von dieſem Wurm genaͤhrt hat.

K.

Was willſt du damit ſagen?

H.

Nichts weiter, als Euch zeigen, wie ein Koͤnig dazu kommen kann, durch die Gedaͤr - me eines Bettlers zu reiſen.

K.

Wo iſt Pollonius?

H.

Jm Himmel, ſchickt nur hin und laßt nachſehn. Wenn ihn Euer Bote dort nicht fin - det, ſo ſucht ihn an dem andern Orte ſelbſt. Aber freylich, wenn Jhr ihn in dieſem Monat nicht findet, ſo werdet Jhr ihn riechen, wenn Jhr die Treppe in die Gallerie hinauf geht.

K.

Geht, ſucht ihn da.

H.

Er wird ſchon warten, bis ihr kommt.

Der Wahnwitzige muß nicht immer falſche und ſchiefe Reflexionen machen; er kann oͤfters auch, wie Hamlet beym Shakeſpear, ſehr wahre Verhaͤltniſſe der Dinge darſtellen: denn ſeine Phantaſie fuͤhrt ihm mancherley Bilder mit großer Lebhaftigkeit vor, ſo daß es leicht iſt, wenn die Bilder zufaͤllig richtig gezeichnet ſind; daß auch das, was der Wahnwitzige nach denſelben redet, richtige und wahre Verhaͤltniſſe und Beſchaffen - heiten ausdruͤckt.

Zu -179

Zuweilen ſcheint ſogar der Wahnwitz dem Verſtande derer, welche an ihm erkrankt ſind, einen ſtarken Schwung und einen hoͤhern Grad von Vollkommenheit zu geben, als er im geſun - den Zuſtande hatte: ein deutlicher Beweis von der unmaͤßigen Anſtrengung und unwiderſtehlichen Gewalt, mit welcher die Seele ohne ihren Wil - len fortgeriſſen und angeſpannt wird. Ein Pre - diger predigte im Wahnwitz in Verſen, und ein Bauer hielt pathetiſche Reden an die um ihn her Verſammleten.

Daß aber die Verruͤcktheit ſolche Kenntniſſe inſpirire, welche vernuͤnftige Menſchen nicht an - ders, als durch Erlernung erhalten koͤnnen: daß zum Beyſpiel der Wahnwitzige mit fremden Zun - gen reden, nie von ihm erlernte Wiſſenſchaften vortragen koͤnne, iſt eine Fabel, ſo viel Erfah - rungen man auch zum Beweis der Wahrheit zu haben meynt. Alle Erzaͤhlungen, aus welchen dieſes behauptet werden ſoll, ſind entweder aus unrichtigen Beobachtungen entſprungen, oder der Verruͤckte hat wirklich einmal, ohne daß er ſich ſelbſt, wenn er auch wieder zu Verſtande kam, vielleicht daran erinnern konnte, dasjenige gehoͤrt oder geleſen, wovon man glaubt, daß es ihm nichts anders, als der Wahnwitz, eingegeben habe.

M 2Eilfte180

Eilfte Unterhaltung. Ueber die Urſachen der Verruͤcktheit.

Wir ſind vor einer Reihe von Menſchen vor - uͤbergegangen, deren Anblick uns mit einem Ge - miſch von unangenehmen Empfindungen erfuͤllt hat. Wie kommt der Menſch in ſolche ungluͤck - liche Zuſtaͤnde?

Dieſe Frage zu beantworten, will ich itzo verſuchen.

Die Urſachen der Verruͤcktheit koͤnnen entwe - der im Koͤrper oder in der Seele liegen; von jenen zuerſt und in der Kuͤrze; denn eine vollſtaͤndige Entwickelung derſelben muß ich dem Arzt uͤber - laſſen.

Jch rechne hieher zufoͤrderſt diejenigen Krank - heiten, welche das Blut erhitzen, dick oder faulend machen. Durch dieſe Verderbung des Blutes werden auch die feinern Saͤfte im Koͤrper und das Gehirn, welches mit dem geiſtigen Thei - le des Menſchen in genauer Verbindung zu ſtehen ſcheint, angegriffen und verdorben. Daher die Raſerey in hitzigen Fiebern, beym Zuruͤcktreten boͤsartiger Ausſchlaͤge, und aͤhnlichen Krankhei - ten. Ein berliniſcher Arzt kurirte einen Wahn -ſinni -181ſinnigen, indem er ihm die Kraͤtze einpfropfte; ein Beweis, daß die Urſache des Wahnſinns in unreinen und verdorbenen Saͤften im Koͤrper lag.

Eine andre im Koͤrper liegende Urſache der Verruͤcktheit iſt die heftige Reizung und Trei - bung des Bluts und der Lebensgeiſter durch hitzige Getraͤnke, Gifte und giftartige Dinge. Man hat mehrere Beyſpiele, daß Leute, welche der Trunkenheit ſehr ergeben waren, zuletzt in den Zuſtand der Verruͤcktheit verfielen, und allbekannt ſind die Folgen dieſer Art, welche aus dem Biß wuͤthender Hunde, dem Stich der Tarantel, und dem Genuß giftiger Kraͤuter entſtehen. Wepfer erzaͤhlt in ſeiner lateiniſchen Abhandlung vom Waſ - ſerſchierling, daß zween Moͤnche, nachdem ſie von demſelben gegeſſen, einen heftigen Durſt und eine gewaltige Hitze empfunden haͤtten. Der ei - ne ſtuͤrzte ſich in eine benachbarte Pfuͤtze, weil er glaubte, er ſey in eine Gans verwandelt; der an - dre lief, zerriß ſeine Kleider und ſuchte einen Fluß, weil er meynte, er ſey zur Ente geworden, und koͤnne ohne Waſſer nicht leben*)Muratori uͤber die Einbildungskr. 2. Th. S. 69.. Eine aͤhnli - che Wirkung hatte, wie Herr Richerz aus Kruͤ - gers Wahrnehmungen erzaͤhlt, der Genuß eines Linſengerichts, worunter eine Art giftiges Kraut, Datura (Stechapfel) genannt, gekommen war, auf alle Perſonen, die davon gegeſſen hatten. M 3Der182Der eine trug alles Holz zum heimlichen Gemach, mit dem Vorgeben, daß er dort Branntwein bren - nen muͤſſe. Der andre ſchlug zwey Aexte uͤber einander, um auf die Art Holz zu ſpalten. Der dritte wuͤhlte, gleich einem Schwein, mit dem Mund in der Erde. Der vierte gab vor, er waͤre ein Rademacher, und fing an zu bohren. Auch ſetzte er ein Holz, worin ein Loch war, an den Mund, in der Meynung, er traͤnke den herrlichſten Trank. Der fuͤnfte lief in die Schmie - deeſſe und wollte Fiſche fangen, die er darin her - umſchwimmen ſah. Das eine Maͤdchen, welches Spitzen machte, war uͤberaus emſig, und warf die Kloͤppel unaufhoͤrlich herum, verwirrte aber alles unter einander. Ein andres lief in die Stu - be, und ſchrie, daß alle boͤſe Geiſter aus der Hoͤlle hinter ihr herkaͤmen.

Schlafloſigkeit iſt ebenfalls hierbey nicht zu vergeſſen. Sie verwirrt die Phantaſie und den Verſtand. Man ſchlaͤft nicht, drum will man ſich mit Vorſtellungen beſchaͤftigen: man entbehrt aber doch der muntern Kraft, welche man bey geſundem Wachen hat, drum miſchen ſie ſich un - ter einander, und werden zu Fratzen, Geſpen - ſtern und Abentheuern. Wenn die Schlafloſig - keit nun lange anhaͤlt, ſo wird die Geiſteskraft, weil ſie ſich nicht erholen kann, immer ſtumpfer,und183und eine gaͤnzliche Verworrenheit und Unrichtigkeit der Vorſtellungen bewirkt.

Endlich kann auch durch die Zeugung und die Nahrung der Muͤtter oder Ammen der Keim zu dieſem Uebel mitgetheilt werden. Tiſſot ſah ein Kind von 4 Jahren taͤglich wenigſtens vier oder fuͤnfmal in einem Anfall von Raſerey, und ſchrieb die Urſache hievon der Unmaͤßigkeit derjeni - gen zu, die dieſem Kinde die erſte Nahrung ge - reicht hatte.

Unter denjenigen Urſachen der Verruͤcktheit, welche in der geiſtigen Natur des Menſchen liegen, muß zuerſt die ſtarke Anſtrengung in anhalten - den Meditationen, beſonders uͤber Einen Ge - genſtand, genannt werden. Dadurch werden die Seelenkraͤfte des Menſchen geſchwaͤcht, und ſein Kopf mit Vorſtellungen angefuͤllt, die ihn von dem, was das Bewußtſeyn ſeines aͤußern Zuſtandes und ſeiner Verhaͤltniſſe erhalten koͤnnte, abziehen. Er lebt nicht in der wirklichen Welt, ſondern wird auf einem Jdeenmeer herumgetrie - ben, und endlich, wenn er das Steuerruder ſei - nes Verſtandes zu ſehr abgenutzt hat, in eine la - byrinthiſche Wuͤſte verſchlagen, wo er ſich und ſeine Verhaͤltniſſe verliert und vergißt.

Peter Jurieu, erzaͤhlt Tiſſot, hatte durch uͤbermaͤßiges Studiren ſein Gehirn dergeſtalt ge - ſchwaͤcht, daß er ſein oͤfteres Bauchgrimmen demM 4Ge -184Gefechte zuſchrieb, welches ſieben Reuter, die in ſeinem Bauche eingeſchloſſen ſeyn ſollten, beſtaͤndig mit einander hielten, und eben ſo hat mancher Gelehrte ſein angeſtrengtes Gruͤbeln, beſonders uͤber ſolche Materien, welche die Phantaſie leicht zu Ausſchweifungen reizen koͤnnen, durch den Verluſt der Geſundheit ſeines Denkvermoͤgens buͤßen muͤſſen. Gewoͤhnlich verrathen die Aeu - ßerungen ſolcher Verruͤckten den Gegenſtand, an welchem ihr Verſtand ſcheiterte.

Beſonders gefaͤhrlich iſt es, wenn man ſeine Einbildungskraft an gewiſſe Bilder gewoͤhnt und ſie unaufhoͤrlich damit beſchaͤftigt. Dieſe machen ſich durch die Laͤnge der Zeit ſo nothwendig, und praͤgen ſich ſo feſt ein, daß man ſie zuletzt fuͤr Wirklichkeiten haͤlt, und alle ſeine Wahrnehmun - gen und Empfindungen durch dieſelben verfaͤlſcht.

Swedenborgs Geiſterſeherey iſt zu bekannt, als daß ich hier noch eine Erzaͤhlung ſeiner er - traͤumten Erſcheinungen, von deren Falſchheit ihn nichts uͤberzeugen konnte, beybringen duͤrfte. Auch von Taſſo erzaͤhlt Muratori, daß er ge - glaubt habe, in Umgang mit einem guten Gei - ſte zu ſtehen, mit welchem er ſich von himmliſchen Dingen unterhalten koͤnne. Er zeigte uͤberhaupt oͤftere Spuren von Verruͤcktheit, und ſtarb in voͤlligem Wahnſinn. Einſt ſagte er der Schwe - ſter der Herzogin von Ferrara Verſe her, welcheſie185ſie lobte. Taſſo daruͤber entzuͤckt und verruͤckt, fiel ihr um den Hals, und kuͤßte ſie; mußte aber natuͤrlich ſeinen Kuß mit dem Kerker buͤßen. Spinello hatte den Teufel gemahlt, und zwar mit den fuͤrchterlichſten Farben, die er erfinden konn - te. Dies Bild hatte ſich, weil ſeine Phantaſie ſich viel damit beſchaͤftigte, ſo feſt eingepraͤgt, daß er zuletzt glaubte, der Teufel ſtaͤnde ihm immer zur Seite, und mache ihm Vorwuͤrfe, daß er ihn ſo ſcheuslich gemahlt habe.

Nichts kann indeſſen leichter die Geſundheit des Verſtandes und aller Seelenkraͤfte zerruͤtten, und zur Verruͤcktheit fuͤhren, als heftige Leiden - ſchaften und Affekten, welche die Vernunft mit ſtuͤrmiſcher Gewalt morden, und, gleich un - baͤndigen Pferden, den Menſchen ohne Ziel und Ordnung mit ſich fortreißen. Kein Gedanke darf aufſtehen, der nicht zu ihnen gehoͤrt, oder die Farbe ihrer Faction traͤgt. Sie machen Un - moͤglichkeiten nicht blos moͤglich, ſondern wirklich, und verſengen und verbrennen durch ihr nicht zu loͤſchendes Feuer jede wahre Empfindung, um fuͤr ihre taͤuſchungsvollen Gefuͤhle Feld zu gewin - nen. Sie zerruͤtten den Gefaͤhrten der Seele, den Koͤrper, durch die unaufhoͤrlichen Tumulte, welche ſie in ſeinem Jnnern erregen, und vergif - ten die Quellen ſeiner Erhaltung und Nahrung.

M 5Tiſſot,186

Tiſſot, Zimmermann und andere Aerzte er - zaͤhlen ſchreckliche Beyſpiele, von der fuͤrchterlichen Rache, welche die Natur an dem Verſtande de - rer nimmt, welche den Tempel ihrer Seele durch unmaͤßige und unnatuͤrliche Wolluſt entweihen. Alle Verſtandeskraͤfte, ſagen die angefuͤhrten großen Maͤnner, werden bey dieſen Elenden zer - nichtet, das Gedaͤchtniß verloren, die Begriffe verdunkelt; ſie ſchweben in einer beſtaͤndigen in - nerlichen Unruhe und in einer immerwaͤhrenden Gewiſſensangſt: einige gerathen in die fallende Sucht, und durch dieſe in einen ganz thieriſchen Zuſtand. Noch immer ſchwebt mir das fuͤrch - terliche Bild eines ſolchen Ungluͤcklichen vor, der ſich um ſeine Menſchheit gebuhlt hatte, und den ich im vergangnen Jahr in dem vortreflich einge - richteten celliſchen Jrrhauſe ſah. Jedes Wort, das er ausſprach, jede Mine und Gebehrde, die er machte, waren Verraͤther der Urſache ſeines Elends. Noch itzt ſuchte er das Laſter, an wel - ches ihn ſeine Leidenſchaft gefeſſelt hatte, auszu - uͤben; ſeine Seele war zerruͤttet; er ſchien ſich nicht eher genugthun zu koͤnnen, als bis er auch ſeinen Leib zum Tode zerruͤttet haͤtte.

Wie viele Beyſpiele von ſolchen Perſonen, welche eine ungluͤckliche oder uͤberſpannte Liebe des Verſtandesgebrauchs beraubte, koͤnnten die Annalen der Haͤuſer, welche die Wohnungen derVer -187Verruͤcktheit ſind, aufweiſen! O wie mancher Seufzer mag da aus der Bruſt der Elenden uͤber ſtolze Eltern oder Verwandte, welche das Herz ihres Sohns oder ihrer Tochter, aus dem Arm der Natur reißen, und unter die unnatuͤrlichen Geſetze des Ranges oder Goldes ſchmiegen woll - ten, emporſteigen! Wie mancher wuͤrde, wenn er ſich ſelbſt denken und empfinden koͤnnte, in dem Keficht, der ihm ſeine Freyheit raubt, weil er das verlor, was ihn die Freyheit zu gebrauchen lehrt, uͤber ſich ſelbſt ſeufzen, daß er durch zu haͤufige Leſung weichlicher und romanhafter Schriften, ſei - ne Phantaſie reizte, ſeinen Verſtand und ſeine Denkkraft zu zernichten!

Naͤchſt der, die feinſten Fibern des Men - ſchen anſpannenden Liebe, ſcheint mir der auf - blaͤhende Hochmuth am leichteſten die Urſache der Verruͤcktheit werden zu koͤnnen. Der Hoch - muͤthige hat ſeinen groͤßten Werth in ſeiner Ein - bildungskraft, mit dieſer, ſeiner vertrauteſten Freundin, weil ſie ſich ganz ſeinen Wuͤnſchen be - quemt, geht er am liebſten und haͤufigſten um, und denkt Tag und Nacht an die Belohnungen und Ehren, welche ſeinen Werth kroͤnen muͤſſen. Er entfernt ſich gern mit ſeinen Gedanken von dem Platze, in welchem er lebt; weil die, welche mit ihm leben, wohl den Nebel, der ſeine Augen verdunkelt, aber nicht den Werth ſehn, den erſich188ſich giebt, und alſo ſeinen Forderungen und Er - wartungen gar nicht entſprechen. Die haͤufigen Kraͤnkungen ſeiner, wenn gleich chimaͤriſchen, doch von ihm empfundenen Wuͤrde verbittern ihm das Leben in der wirklichen Welt; und endlich zerſtoͤrt ſein verzweifelnder Hochmuth Sinne und Ver - ſtand, weil er dieſe, die ihm ſo haͤufige Einſpruͤche thun, fuͤr ſeine bitterſten Feinde haͤlt. Mit Be - dauren und innigem Mitleid denk 'ich hiebey an ei - ne Perſon aus meiner zweyten Vaterſtadt, welche itzt in Berlin ihre Wohnung im Hauſe der Ver - ruͤckten hat. Ein ausſchweifender Hochmuth, der ſie beſonders in Ruͤckſicht der Schoͤnheit uͤber alle andre ihres Geſchlechts erheben wollte, floͤßte ihr den Wahn ein, daß hohe und große Maͤnner ſich um ihren Beſitz draͤngen wuͤrden. Der Wahn betrog ſie, wie leicht zu vermuthen, und ihr Verſtand wurde das Opfer ſeiner Erbitterung. Jtzt lebt ſie in dem Hauſe des Elends, und waͤhnt, eine Fuͤrſtin geworden zu ſeyn, und Koͤnige und Prinzen in ihren Feſſeln zu fuͤhren und iſt zu - frieden, weil ihr Verſtand nicht mehr widerſpre - chen kann.

Herr Meiſter erzaͤhlt in dem zweyten Theil ſeiner Vorleſung uͤber die Schwaͤrmerey, aus den Papieren der ſchon oben genannten aſcetiſchen Geſellſchaft in Zuͤrich, die Geſchichte eines Wei - bes, welches, aus Erbitterung gegen ihren Schmerzuͤber189uͤber ihre vom Manne zuruͤckbehaltenen Kinder, Leſung myſtiſcher Schriften und Sectirerey, in Wahnſinn verfallen war. Jch theile dieſe Er - zaͤhlung mit den Worten des Mannes, welcher dieſes Weib ſelbſt beobachtet hat, und Folgendes von ihr ſagt, mit:

Dieſes Weib iſt ſchon zum zweytenmale von ihrem Mann und vier Kindern entlaufen. Weil ſie verworren redete, und jedermann fragte, ob man keine Kinder in dem Gehoͤlze ſchreyen gehoͤrt habe, wurde ſie angehalten. Das erſtemal traf ich ſie ſehr unruhig im Bette angeſchloſſen an. Was fehlt euch? fragte ich. Mein Herr, antwortete ſie, ich bitte und beſchwoͤre euch bey eurer Seligkeit, daß ihr allen Geiſtlichen in Zuͤrich ſaget, daß ſie fuͤr mich und meine armen Kinder beten, damit unſre Seelen aus des Teufels Ra - chen errettet werden. Armes Weib, ſprach ich, habt ihr alſo einen Mann, vielleicht auch Eltern? Nein, weder Vater noch Mann. Meine Kinder ſind Baſtarde. Beten ſollt ihr, ſage ich, und weiter nichts. Ja das will ich, und darum bin ich gekommen. Wollt ihr auch mitbeten? Nein, das kann ich nicht. Jch habe keine Seele mehr. Sie fuhr mir aus dem Leibe. Jch bin nichts mehr als Leib. Nun, verſetzte ich, ſo will ich beten. Jch langte nach einem Gebetbuch. Nein, ſchrieſie,190ſie, aus keinem ſo alten Buche. Die alten Buͤ - cher kenne ich ſchon; ſie taugen nichts. Wenn Sie kein neues haben, ſo beten Sie aus ſich ſelber, ja, aus ſich ſelber beten Sie, daß mir die Seele wieder in den Leib fahre, und daß der Moͤrder meine Kinder nicht umbringe, oder daß nur die Seele dieſer armen Schaͤfgen errettet werde. Jch betete aus mir ſelber, und eben fuͤr das, was ſie wollte. Sie war ſtill, ſah mich ſtarr an. Jch merkte waͤhrend dem Gebete, daß ichs nicht uneben nach ihrem Sinne traf. Am Ende betete ſie mir freywillig das Unſer Vater nach. Noch eins, ſagte ſie itzt ganz gelaſſen, wenn Sie mir doch die ſchrecklichen Geſtalten vor den Augen wegnehmen koͤnnten. Jmmer ſeh ich meine Kin - der auf dem Bette vor mir, das eine todt, das andere haͤngt mir blutig am Halſe, ein andres iſt zerfetzt, das vierte ruft und ſchreyt nach mir, und dann unterſuchen Sie auch die Zettelchen, die ich bey mir habe, ein rothes und ein ſchwarzes. Das rothe hat mir ein Eingel vom Himmel ge - bracht; ich ſelber habe das ſchwarze geſchrieben. Jch verſprach alles zu unterſuchen und eifrig fuͤr ſie zu beten. Beym Weggehen ſagte mir die Waͤrterin, man duͤrfe ihres Mannes nicht er - waͤhnen, ſie gerathe ſogleich in Wuth. Die Waͤrterin zeigte mir das ſchwarze Zettelchen, (ein rothes hatte ſie nicht bey ihr gefunden,) auf dem -ſelben191ſelben las ich: Jch muß mit dem Teufel kaͤm - pfen: das Laͤmmlein iſt fuͤr mich geſchlachtet. Jch bin in ſein Blut getunkt. Jch habe den Satan uͤberwunden. Meinen Kindern hat er ins Herz geſtochen u. ſ. w.

Beym naͤchſten Beſuche erzaͤhlte die Perſon, daß ſie von Jugend auf viel geleſen und gebetet habe; faſt niemals aus dem Hauſe gekommen ſey, und ſchon als Kind manchmal nicht habe ſchlafen koͤnnen, wenn ſie in den ſcharfen Buͤchern (ſo nannte ſie die myſtiſchen Religionsſchriften) gele - ſen habe. Auf die Frage, warum ſie von Hau - ſe gelaufen ſey, antwortete ſie alſo:

Vor einigen Jahren entſtand bey uns eine Secte. Auch Geiſtliche ſind ihr zugethan. Abends laufen ſie in die Haͤuſer zuſammen. Auch in unſer Haus kamen ſie. Dieſes wollte ich nicht dulden. Jch ſagte dem Moͤrder (ſo nannte ſie ihren Mann) das heiße den Glauben verleugnen; er muͤſſe meine und meine armen Kinder nicht in die Hoͤlle ſtuͤrzen. Er ſchlug mich, nahm ein andres Weib ins Haus, und lebte mit ihr. Jch wollte in Zuͤrich klagen; aber die Wache ließ mich nicht durch die Stadtthore. Jch ward aufgefan - gen und heimgefuͤhrt. Die Obrigkeit wollte die Secte auch nicht dulden. Da trieben ſie die Sache nur geheimer. Wenn ſie denn in unſer Haus kamen, ſo fuͤrchteten ſie, ich moͤchte ſiever -192verrathen, banden mich, und warfen mich hinter den Ofen. Da durfte ich den Mund nicht auf - thun. Der Geiſtliche ſaß oben; jeder fluͤſterte mit dem andern, als wenn ſie feilſchten. Dann ward ihnen ſo bange, daß die Mannsperſonen die Kleider und die Weibsperſonen die Schuͤrzen weglegten. Mir ward ſelbſt ſo bang, daß ich nicht mehr zuſehen mochte. Jmmer drangen ſie in mich, daß ich ihres Glaubens werden ſollte. Einmal gab mir der Geiſtliche etwas ein, daß mir die Seele aus dem Leibe fuhr, und ſeither habe ich keine Seele mehr. Da ich mich jaͤmmerlich gebehrdete, und meine unſchuldigen Kinder retten wollte, nahm ſie mir der Moͤrder weg, ſperrte mich in eine vergitterte Kammer ein, und hielt mit ſeinem andern Weibe Haushaltung, indem er vorgab, ich ſey zu den Meinigen gereiſet. Mehr als ſieben Wochen war ich in dem Gefaͤng - niß. Einmal ſchrie ich, als ich an dem Landtag die Proceſſion voruͤbergehn hoͤrte, da kam der Moͤrder hinauf, und ſchlug mich ſo jaͤmmerlich, daß man noch itzt die Wundmale ſehen kann. Endlich gelangs mir, daß ich in einer Nacht weg - laufen konnte. Aber meine Kinder habe ich nicht bey mir; die haͤtte ich nicht verlaſſen ſollen; der Moͤrder bringt ſie mir um u. ſ. w.

Jch wuͤnſchte, daß der Urheber dieſer Erzaͤh - lung bemerkt haͤtte, was in dieſer Ausſage desun -193ungluͤcklichen Weibes Wahrheit, was Einbildung ſey: denn ſo wuͤrde man im Stande ſeyn, die Urſachen ihres Wahnſinns und der beſondern Aeußerungen deſſelben beſtimmter anzugeben.

Offenbar iſt der Einfluß ihrer fruͤhen Lectuͤre in der Sprache und den Traͤumereyen ihrer Ver - ruͤcktheit. Die koͤrperlichen Vorſtellungen von der Seele, die gefaͤrbten Zettelchen, der Kampf mit dem Teufel u. ſ. w. ſind Beweiſe deſſelben. Die naͤchſte Urſache des Wahnſinns ſcheint mir indeß Eiferſucht gegen ihren Mann geweſen zu ſeyn, weil ſie ſo viel von ſeinem Umgange mit ei - ner andern ſpricht, ihn mit den gehaͤſſigſten Far - ben mahlt, und bey dem Gedanken an ihn in große Wuth geraͤth. Der Schmerz uͤber die Trennung von ihren Kindern, der dadurch den bitterſten Stachel erhielt, daß ſie dieſelben in den Haͤnden ihres Mannes wußte, vollendete die Wirkung der Eiferſucht. Was nun aber der Sektengeiſt mit dazu beygetragen habe, kann nicht beſtimmt werden, da nicht angegeben iſt, ob ihre Auſſage von der Secte, zu welcher ihr Mann gehoͤren ſollte, gegruͤndet iſt; man findet wenigſtens darin einen neuen Beweis des Einfluſſes ihrer verſtimm - ten religioͤſen Denkungsart in ihre Verruͤcktheit.

NZwoͤlfte194

Zwoͤlfte Unterhaltung. Ueber die Raſerey des Koͤnigs Lear in Shake - ſpears Trauerſpiel: Leben und Tod des Koͤnigs Lear.

Shakeſpear hat in ſeinem Trauerſpiel, Leben und Tod des Koͤnigs Lear, die Raſerey des Koͤnigs ſo natuͤrlich vorbereitet, und ſo wahr ge - ſchildert, daß dieſes Stuͤck als ein ſehr fruchtba - rer Beytrag zur Geſchichte des Wahnſinns und Wahnwitzes angeſehen werden kann. Jch glaube daher, daß meine Leſer und Leſerinnen eine Ent - wickelung der hieher gehoͤrigen Scenen, hier nicht uͤberfluͤßig finden werden.

Lear iſt ein alter Mann, von heftigen Affek - ten, mit dem Eigenthum des hohen Alters, der Wunderlichkeit und Empfindlichkeit, ausgeſtattet. Er will ſein Reich unter ſeine Toͤchter vertheilen, um der Regierung Laſt und Sorge uͤberhoben zu ſeyn. Das Verdienſt, ſo nennt er ihre Liebe, die ſie gegen ihn in Worten aͤußern, ſoll den Antheil einer jeden beſtimmen. Die beyden aͤlte - ſten heucheln eine unvergleichbare Liebe: die juͤng - ſte, deren Liebe reicher iſt als ihre Zunge , verſi - chert mit Aufrichtigkeit, ohne Uebertreibung, daßſie195ſie ihre Pflicht gegen den Vater nie vergeſſen werde. Der Alte, durch dieſe Aufrichtigkeit bis zur Wuth entflammt, weil er von der juͤngſten Tochter, die er am ſtaͤrkſten liebte, auch die ſtaͤrk - ſten woͤrtlichen Verſicherungen der Liebe erwartete, verſtoͤßt dieſe, und theilt ſein Reich unter jene. Sein treuer Diener, Kent, will ihn beſaͤnftigen, ſein Unrecht gegen ſeine juͤngſte Tochter Kordelia ihm zeigen, fuͤr die Wahrheit und Staͤrke ihrer Liebe buͤrgen; aber umſonſt: auch er bekam zum Lohn Fluch und Verſtoßung. Der ungluͤckliche Koͤnig, welcher bey der Theilung ſeines Reichs unter ſeine beyden aͤlteſten Toͤchter, Gonerill und Regan, es ſich ausbedungen hatte, wechſelswei - ſe bey ihnen ſeinen Aufenthalt mit hundert Rittern zu nehmen, erfaͤhrt bald, daß die Liebe ſeiner erſtgebohrnen Gonerill Heucheley war. Sie run - zelt ſehr bald ihre Stirn gegen ihren Vater, und laͤßt es ihn empfinden, daß er ſeine Vaterrechte an eine unnatuͤrliche Tochter verkauft hat. Sie eroͤfnet ihm ihr Verlangen ſein Gefolge zu vermin - dern, und Leute zu ſeinen Dienſten nach ihrem Willen zu nehmen. Dies iſt der erſte Schlag an das gekraͤnkte und getaͤuſchte Vaterherz; man ſieht in den Fluͤchen des Vaters, wie die Erſchuͤt - terungen deſſelben ſich bis zu ſeiner Vernunft fortpflanzen.

N 2 Hoͤre196
Hoͤre Natur, ſo ſpricht der Vater, hoͤre theure Goͤttin, vernimm mich! Hemme deinen Vorſatz, wenn du dies Geſchoͤpf fruchtbar ma - chen wollteſt! Banne Unfruchtbarkeit in ihren Schoos! trockne die Werkzeuge der Vermehrung in ihr auf, und laß nie aus ihrem entarteten Leibe einen Saͤugling entſpringen, der ihr Ehre er - weißt. Muß ſie aber gebaͤhren, ſo erſchaff 'ihr ein Kind aus Galle, und laß es leben, ſie ohne Raſt mit unnatuͤrlicher Bosheit zu peinigen! Laß es Runzeln in ihre junge Stirn graben, und mit immerfort rollenden Thraͤnen Kanaͤle in ihre Wangen aͤtzen! Laß es alle ihre muͤtterliche Schmerzen mit Hohngelaͤchter, alle ihre Wohl - thaten mit Verachtung erwiedern, damit ſie fuͤhle, wie viel ſchaͤrfer als ein Schlangenbiß es iſt, ein undankbares Kind zu haben!
*)Koͤnig Lear. 1. Aufz. 4. Auftritt.
*)

Er verlaͤßt in dieſer Stimmung ſeines Ge - muͤths dieſe Tochter; der feſten Hofnung, Regan werde ihn kindlicher behandeln, und uͤber die Be - handlung ihrer Schweſter, wie er ſelbſt, erbittert werden.

Es konnte nicht fehlen, daß dem Vater bey dieſer abſcheulichen Begegnung von ſeiner Tochter, ſein hartes Verfahren gegen ſeine Kordelia einfal - len, und die Verwirrung und Zerreißung ſeines Gemuͤths befoͤrdern mußte. Der Dichter hatdieſen197dieſen Umſtand nicht aus der Acht gelaſſen. Lear denkt an Kordelia mit Erkenntniß ſeines Unrechts und Reue, wenn er es gleich nur in ſeltnen Wor - ten aͤußert*)1. Aufz. 4. Auftr. O ſehr kleines Vergehen, wie haͤßlich erſchienſt du an Kordelia ꝛc. und 5. Auftr. Jch that ihr Unrecht. ; denn der Gedanke war zu peini - gend fuͤr ihn, als daß er ihn oft und lange deut - lich haͤtte denken koͤnnen.

Der Narr des Koͤnigs begleitet ihn auf ſei - nem Wege zu Regan. Auch dieſen braucht der Dichter vortreflich, die Raſerey des Koͤnigs vor - zubereiten und zu beſchleunigen. Er macht durch ſeine Reden die Hofnung des Vaters auf ſeine zweyte Tochter wankend, und wirft ihm ſein un - kluges Verfahren vor: und wie ſtark dies auf den Koͤnig wirkt, aͤußert er ſelbſt, indem er ſagt:

O laß mich nicht wahnwitzig werden, nicht wahnwitzig, guͤtiger Himmel! Erhalte mich bey gelaßnem Muth; wahnwitzig waͤre ich nicht gern.
**)1. Aufz. 5. Auftr.
**)

Lear ſendet ſeinen treuen Kent, der in ver - ſtellter Kleidung zu ſeinem Dienſt ſich bey ihm ein - gefunden hat, an Regan voraus. Er ſelbſt folgt nach. Er findet ſeine Tochter nicht zu Hauſe, und ſein Bote iſt nicht zuruͤckgekommen. SchonN 3dies198dies geht ihm zu Herzen. *)2. Aufz. 4. Auftr. Das iſt ſonderbar, daß ſie ſo von Hauſe abreiſen, und mir meinen Boten nicht zuruͤckſchicken. Er findet ſeine Re - gan und ihren Gemahl, den Herzog von Korn - wallis, auf des Grafen von Gloceſter Schloß. Aber welch ein Schnitt in ſein koͤnigliches, in ſein Vaterherz! Sein Bote liegt in Feſſeln auf Befehl ſeiner Tochter und ihres Gemahls. Sein Narr verkuͤndigt ihm:

Du wirſt noch recht viel Herzeleid an deinen Toͤchtern erleben.

**)2. Aufz. 4. Auftr.Sei - ne Tochter Regan taͤuſcht ſeine Hofnung. Sie, von der er glaubte, daß ſie ihn an Gonerill raͤ - chen wuͤrde, iſt mit dieſer einverſtanden; billigt ihr Betragen; macht dem Vater Vorwuͤrfe; ver - langt, daß er zu ihrer Schweſter zuruͤckkehre, ihre Verzeihung ſuche, ſein Gefolge noch geringer ma - che. Und endlich kommt Gonerill ſelbſt. Welch eine Wirkung mußte nun die Gegenwart dieſer teufliſchen Tochter auf ſein Herz, auf ſeinen Ver - ſtand haben! und Gonerill und Regan vereinigt, zeigen nun ihre Undankbarkeit, ihre Liebloſigkeit, ihren Willen den Vater zum Sclaven zu ernie - drigen. Da mußte Lear empfinden, wie ihn der Dichter empfinden laͤßt:

Jhr ſeht mich hier, ihr Goͤtter, einen ar - men alten Mann, vom Gram ſo niedergedruͤckt,wie199wie vom Alter; in beyder Abſicht elend! Wenn ihr es ſeyd, die dieſer Toͤchter Herzen wider ihren Vater empoͤren; o! ſo treibt euer grauſames Spiel nicht ſo weit, daß ich es zahm, wie ein Thor, erdulde! Entzuͤndet mich mit edlem Un - willen! O laßt nicht weibiſche Waffen, Waſſer - tropfen, meine maͤnnliche Wangen beflecken! Nein, ihr unnatuͤrlichen Unholde, ich will mich dergeſtalt an euch beyden raͤchen, daß alle Welt Jch will ſolche Dinge thun was es ſeyn wird, weiß ich ſelbſt noch nicht; aber die ganze Erde ſoll ſich davor entſetzen. Jhr denkt, ich werde weinen? Nein, ich werde nicht weinen. Urſache genug hab 'ich zum weinen; aber ehe ſoll dies Herz in tauſend Stuͤcke brechen, eh ich wei - nen werde. O Narr, ich werde wahnſin - nig werden.

Drauf wendet ſich der Koͤnig, und geht mit ſeinem Narren in die vor dem Schloß liegende Haͤide. Die Nacht bricht ein. Die Winde rauſchen gewaltig. Die Erde erbebt vom Don - ner, und wird vom Blitz zu einer Glut auf viele Meilen umher iſt kein Gebuͤſch kein Menſch. Die Natur muß dem Dichter durch ihre Verwirrung die Verwirrung ſeines Helden beſchleunigen helfen.

Jn dieſer Nacht, die der Koͤnig unter freyem Himmel empfinden mußte, weil ſeine Tochter ihmN 4ihr200ihr Haus verſchloß, mußte er thun, was ein Ritter an Kent erzaͤhlt:

Er kaͤmpft mit den erzuͤrnten Elementen, heißt den Wind die Erde in die See wehen, oder die gekraͤuſelten Wellen uͤber das feſte Land empor ſchwellen, damit die Welt anders werde, oder ganz aufhoͤre. Er rauft ſein weißes Haar, wel - ches die ungeſtuͤmen Windſtoͤße mit blinder Wuth in ihrem Grimm ergreifen und in Nichts verwan - deln; er beſtrebt ſich in ſich ſelbſt, in ſeiner innern Welt, den ſtreitenden Winden und Regen Trotz zu bieten. Jn dieſer Nacht, wo ſelbſt der fuͤr ſeine Jungen beſorgte Baͤr im Lager bleiben, wo ſelbſt der Loͤwe und der ausgehungerte Wolf ihr Fell gerne trocken behalten wuͤrden, rennt er mit unbedecktem Haupte; und heißt, wer da will, alles hinnehmen.
*)3. Aufz. 1. Auftr.
*)

Jn dieſer Nacht, bey dieſem Ungewitter, die - ſem Aufruhr in der Natur, wo keiner, als der Narr, bey dem vom Gefuͤhl ſeines Elends, Er - bitterung auf ſeine Toͤchter, Reue uͤber ſeine thoͤ - richte Gutwilligkeit, zerriſſenen Koͤnig war, mußte ſeine Natur mit ſtarken Schritten ſich der Raſe - rey naͤhern; und ſo zeigt ihn uns der vortrefliche Dichter in folgender Rede:

Blaſt, ihr Winde, und zerſprengt eure Wangen! wuͤthet! blaſt! Jhr Wolkenbruͤcheund201und Orkane ſpeyt Waſſer aus, bis ihr unſre Thuͤrme uͤberſchwemmt und ſelbſt die Wetterhaͤh - ne erſaͤuft habt! Jhr ſchwefelvollen und gleich Gedanken ſchnellen Blitze, Vorlaͤufer der Eichen zerſplitternden Donnerkeile, ſengt mein weißes Haupt! Und du allerſchuͤtternder Donner, ſchlage die dicke Ruͤndung der Welt flach! Zerbrich die Form der Natur, und vernichte auf einmal alle die urſpruͤnglichen Keime, woraus der undankbare Menſch entſpringt Brauſe und tobe dir den ganzen Schlauch aus! ſpey Feuer! ſtroͤme Regen! weder Regen, noch Wind, weder Donner, noch Feuer ſind meine Toͤchter! Jch tadle Euch nicht Eurer Un - freundlichkeit wegen, Jhr Elemente! Euch gab ich keine Koͤnigreiche, nannte Euch nie Kinder; Jhr ſeyd mir keinen Gehorſam ſchuldig. Befrie - digt alſo Euer ſchreckliches Wohlgefallen! Hier ſteh 'ich, Euer Sclav, ein armer ſchwacher und verachteter Greis! Und doch nenn' ich Euch knechtiſche Werkzeuge, die Jhr in Verſtaͤndniß mit zwey verderblichen Toͤchtern eure Schlachtord - nungen in der Hoͤhe gegen einen ſo alten und wei - ßen Kopf auffuͤhrt, wie dieſer iſt! Oh! oh! das iſt ſchaͤndlich!
*)3. Aufz. 2. Auftr.
*)

Kent findet ſeinen guten Koͤnig in dieſer fuͤrchterlichen Situation. Er bittet ihn in eineN 5Huͤtte,202Huͤtte, die in der Naͤhe war, zu kommen. Noch iſt der Koͤnig nicht ganz raſend: Bewußtſeyn und Wahnſinn wechſeln ab in dem, was er zu Kent ſpricht. Die Theilnehmung ſeines treuen Begleiters haͤlt die Wirkungen des ſchrecklichen Streichs, den die Undankbarkeit ſeiner Toͤchter auf ſeine Vernunft gefuͤhrt hat, noch etwas auf. Wie herzlich, wie feſt umfaßt der alte Mann, der die ganze Welt wider ſich verſchworen glaubte, ſeinen treuen Diener! Wie ſehr fuͤhlt er die Wohlthat deſſelben!

Jch habe nur noch ein Stuͤck von meinem Herzen uͤbrig, ſo ſpricht er, und das bedauert dich.

*)3. Aufz. 2. Auftr.

Aber der Frevel ſeiner Toͤchter verzehrt bald wieder das lindernde Heilmittel, welches die Theil - nehmung des treuen Kents auf das in ſeinen fein - ſten Falten angegriffene Herz des ungluͤcklichen Lears gelegt hatte:

Kindlicher Undank! rief er aus, iſt es nicht, als wenn dieſer Mund dieſe Hand zernagen woll - te, weil ſie ihm Speiſe gereicht hat? Aber ich will ſie auch empfindlich ſtrafen; nein, ich will nicht mehr weinen. Jn ſolch einer Nacht mir die Thuͤren zu verſchließen! Stuͤrme nur weiter, ich will es leiden! Jn ſolch einer Nacht, wie dieſe! O! Regan, Gonerill! eurem alten, guten Vater, deſſen ehrliches Herzalles203alles gab! O hier auf dieſem Wege komm 'ich zum Wahnwitz, ich muß ihm ausweichen; nichts mehr davon.
*)3. Aufz. 4. Auftr.
*)

Guter Koͤnig! deine Seele war ſchon zu zer - ruͤttet, als daß du dem Wahnwitz haͤtteſt auswei - chen koͤnnen! Nur noch eines Stoßes be - durfteſt du, um in ſeine Gewalt zu gerathen!

Lear koͤmmt mit Kent und dem Narren vor die Huͤtte. Jn derſelben finden ſie Edgar, Graf Gloceſters ehelichen Sohn: welchen die Verfol - gungen ſeines, von Edmund wider ihn aufge - brachten Vaters, zwangen, ſich wahnwitzig zu ſtellen, und in dieſe Huͤtte zu fliehen. Wie konnte ſich die Vernunft des alten Koͤnigs noch laͤnger erhalten; da er einen Menſchen erblickte, deſſen verwirrtes Geſchrey und vernunftloſe Wor - te, ihm in die Seele riefen: Sieh, ſo elend kannſt du, wirſt du werden!

Selbſt der Gluͤckliche, der noch des vollen Gebrauchs ſeiner Vernunft ſich erfreuet, fuͤhlt bey dem Anblick ſeines vernunftberaubten Bruders ei - ne Verwirrung ſeiner Jdeen, die Furcht zu wer - den, wie jener iſt: was mußte aus Lear werden, dem ungluͤcklichen alten, ſchon halb raſenden Vater, dem verſtoßnen, auf einem oͤden, duͤſtern Felde, unter Sturm, Donner und Blitz umher irrenden Koͤnig?

Der204

Der Anblick Edgars ruft ihn, wie die Stim - me eines Gebieters, die keinen Widerſpruch lei - det, zum voͤlligen Wahnſinn. Kaum wird er des Elends dieſes Vertriebnen gewahr, ſo flieht ſeine Vernunft ſo weit in die Ferne zuruͤck, daß ſie keine andre Urſach dieſes Elends als moͤglich erkennet, als die, welche Lears Gluͤckſeligkeit ver - giftet hatte.

Haſt du etwa, ſo fragt er den wahnwitzigen Edgar, deinen Toͤchtern alles gegeben, und biſt nun ſo weit gekommen? Wie haben ſeine Toͤchter ihn ſo weit ge - bracht? Konnteſt du nichts fuͤr dich behal - ten? gabſt du ihnen alles? Nun, alle die raͤchenden Plagen, die in der herabhaͤngenden Luft uͤber menſchlichen Uebel - thaten ſchweben, fallen auf deine Toͤchter hinab! Nichts konnte die Natur zu einer ſolchen Niedrigkeit herunterbeugen, als ſeine undankba - ren Toͤchter!
*)3. Aufz. 4. Auftr.
*)

Seht, wie ſehr der ungluͤckliche Lear es fuͤhlt, daß er dem wahnwitzigen Edgar ſo aͤhnlich iſt. Er faͤngt ſchon an, ihn zu lieben will ihm ganz gleich ſeyn. Weg, weg du erborgter Plunder, ſchreyt er, kommt, knoͤpft mich auf! Er reißt ſich ſelbſt die Kleider ab, um ſo nackt zu ſeyn, wie jener.

Der205

Der ſeinen Koͤnig bedaurende Gloceſter koͤmmt, ihm auf ſeinem Landhauſe ein Schutzdach anzubieten. O, Edgar iſt ihm lieber, als ein Dach beym Ungewitter! Erſt laß mich, ſagt er, mit dieſem Philoſophen reden, und von nun an ſind alle ſeine Worte und Handlungen in Wahnwitz gekleidet. Er nennt den Edgar ſeinen gelehrten Thebaner, den edlen Philoſophen, den guten Mann von Athen, fragt ihn nach Entſte - hung des Donners, worauf er ſich lege, und will immer bey ſeinem Philoſophen bleiben. Endlich geht er mit Gloceſter, aber nicht ohne Edgar.

Sie kommen auf Gloceſters Landhauſe an und der erſte Gedanke? welcher das Herz des ungluͤcklichen Koͤnigs trift, iſt wiederum der Frevel ſeiner Toͤchter, der Quell ſeiner Raſerey.

Daß ihrer Tauſende mit heißem brennenden Geifer ziſchend auf ſie einſtuͤrzten!
*)3. Aufz. 6. Auftr.
*)

Er haͤlt im Wahnſinn Gericht uͤber ſeine Toͤchter, und raſet nur ſo lange nicht, als er in dem feſteſten Schlafe liegt. Gloceſter laͤßt Lear, um ihm das Leben zu retten, welches hier nicht ſicher war, in einer Saͤnfte nach Dover tragen, wo ein franzoͤſiſches Heer, und Kordelia ſelbſt zum Schutz des ungluͤcklichen Vaters bereit ſteht. Auch hier finden wir ihn raſend wieder.

Man fand, ſagt ſeine edle Tochter von Frank -reich,206reich, ihn ſo raſend, wie das empoͤrte Meer: laut ſingend, mit uͤppigem Taubenkropf, mit Schierling, Neſſeln, wilden Blumen und allem dem Unkraut bekraͤnzt, das in unſern Kornfeldern waͤchſt.

*)4. Aufz. 4. Auftr.Mancherley laͤßt ſein Unſinn ihn reden; am meiſten von ſeinen Toͤchtern, die ihn verſtießen und der Bosheit des Weiberge - ſchlechts uͤberhaupt.

Die guͤtige Natur ſendet ihm endlich in einem ſehr langen und ruhigen Schlaf ein Heilungsmit - tel und die bekuͤmmerte Tochter geht mit zaͤrt - licher Sorgfalt der heilenden Natur zur Hand. Er iſt im tiefſten Schlaf der Kleider ſeiner Raſe - rey beraubt, und mit friſchen Kleidern angethan worden, um ihm beym Erwachen wenigſtens die - ſe anſchauliche Erinnerung an ſein Elend zu ent - ziehn. Er wird geweckt, Kordelia tritt zu ihm, was macht mein koͤniglicher Vater? Noch kann er nicht ganz zu ſich ſelbſt kommen Be - wußtſeyn und Verwirrung ſind in ſeinen Reden unter einander gemiſcht. Dunkle Erinnerung an ſeinen vorigen Zuſtand halbe Erkennung ſeiner Kordelia Reue Beſchaͤmung Verwun - derung uͤber die mit ihm vorgegangene Veraͤnde - rung fließen in ſeiner Seele durcheinander.

Jhr handelt nicht recht an mir, ſpricht er beym Erwachen, daß ihr mich wieder aus demGrabe207Grabe nehmt. Du biſt ein ſeliger Geiſt; aber ich bin an ein feuriges Rad gebunden, wel - ches meine eignen Thraͤnen gleich zerſchmolznem Bley erhitzt.

*)4. Aufz. 7. Auſtr.

Er kniet nieder ein dunkler Antrieb, ſeine Tochter um Vergebung zu flehen, beugt ihm die Knie und da Kordelia um ſeinen Segen bit - tet, und ihm ſagt:

Nein, Mylord, ihr muͤßt nicht knien, antwortet er: O, ſpotte meiner nicht; ich bin ein ſehr thoͤrichter kindiſcher Greis, achtzig Jahr und druͤber; nicht eine Stunde mehr oder weniger; und, aufrichtig zu reden, ich fuͤrchte, ich bin nicht ſo ganz bey Verſtande. Mich duͤnkt, ich ſoll Euch und dieſen Mann hier kennen; und doch bin ich zweifelhaft; denn ich weiß gar nicht, was dies fuͤr ein Ort iſt, und ſo viel ich mich auch beſinne, kenne ich doch dieſe Kleider nicht; nein, ich weiß nicht, wo ich dieſe Nacht Herberge genommen habe. Lacht nicht uͤber mich, denn, ſo wahr ich lebe, ich denke, dieſe Lady hier ſey mein Kind Kordelia.

**)Daſelbſt.

Die zaͤrtliche Begegnung ſeiner Tochter voll - endete die von der Natur angefangne Heilung. Er erkennt ſie und die Wahrheit ihrer Liebe ganz; und nun iſt keine Macht im Stande, ihn wieder von ihr zu trennen, und ſein Bewußtſeynaufs208aufs neue voͤllig zu verderben. Nur Kordelias Erdroßlung erregt einen neuen Sturm in ſeiner Seele. Doch erhaͤlt ſich ſeine Vernunft, wenn gleich, wie natuͤrlich, von Schreck und Jammer verwirrt, bis an ſeinen, bald nach ſeiner Tochter Ermordung erfolgenden Tod.

Fragment eines Briefes, enthaltend eine Beſchreibung des celliſchen Jrrhauſes.

Geſtern Abend, theurer B., bin ich mit mei - nem lieben W. hier angelangt. Wir hatten eine angenehme Fahrt, da wir auf unſerm Wege zweymal die Freude genoſſen, herzlich geliebte und ſeit einem Jahr nicht geſehene Freunde zu umarmen. Von W. bis hieher fuhren wir in einem Striche durch ſchwarze, zum Theil ſchon abgebrannte Heide zuweilen ein Doͤrfchen Flecken auch ein Kloſter.

Die Gegend paßte ſich gut zu meiner gegen - waͤrtigen Gemuͤthsſtimmung; denn itzt war der Gedanke an den Abſchied von meinen ach ſo guten Eltern, in meiner Seele der erſte. Doch209Doch war ich, obſchon die Farbe meiner Empfin - dung, wie die der Gegend, ſchwaͤrzlich und kloͤ - ſterlich war, nicht mißvergnuͤgt.

Meine hieſigen Freunde haben mir gleich heute die Gelegenheit verſchaft, das Haus zu ſehen, welches, wie Sie wiſſen, in dem Plan, den ich mir fuͤr die Benutzung dieſes Orts gemacht hatte, mit in der erſten Rubrik ſtand, und damit Sie ſehen, liebſter B., daß ich gegen Sie nicht ungefaͤlliger bin, als meine Freunde gegen mich; ſo ſetz 'ich mich gleich heute noch ans Pult, um Jhnen zu ſagen, was ich ſah und hoͤrte; obgleich die Wiederhohlung deſſelben manche ſchauervolle Gefuͤhle wieder in mir aufregt, die mich in mei - nen Gedanken uͤber dies, was ich Jhnen zu ſagen habe, ſtoͤren koͤnnten.

Jch ſah bey meinem Erwachen aus einem ſehr erquickenden Schlaf einem Tage voll wahrer Freude entgegen. Gleich die erſten Stunden des Tages, mit welcher Freude begluͤckten ſie mich! Sie trugen meinen herzlichgeliebten L. in meine Arme.

O Freude des Wiederſehens eines Freun - des! wie ſprachlos biſt du! Du verbeutſt mit der Zunge zu reden, die ſo oft die Freundſchaft ent - weiht. Aber jeder Pulsſchlag iſt dein He - rold ein Herold großer, edler Gedanken und erhabner Gefuͤhle! Mein Freund hing anOmir210mir und ich an ihm. So gruͤßten unſre Seelen ſich!

Die Menge der vor unſerm Fenſter voruͤber - gehenden froͤhlich gekleideten Menſchen erinnerte uns daran, daß das Andenken an die Verherrli - chung ihres großen Lehrers heute die Chriſten zum freudigen Dank gegen Gott in den Kirchen ver - eine und, wie von einer Stimme erinnert, ſagten wir zugleich zu einander, laß uns an dem Feſt der Chriſten Theil nehmen! O, theu - rer B., niemals war mein Herz mehr zur An - dacht geſtimmt, als wenn Empfindungen der Lie - be und Freundſchaft in demſelben lebten.

Wir gingen. Schon war es zu ſpaͤt in die Kirchen der Freyen zu gehen, wir gingen in die der Gefangnen im Zuchthauſe.

An einem großen freyen Platze liegt auf der Abendſeite der Stadt von ihr aus zur Rechten, in einer Entfernung von ohngefaͤhr 6 700 Schritt, das große Zucht - und Jrrenhaus, mit der Fronte nach Suͤden hin. Es wurde im Jahr 1731 auf Koſten der geſamten Landſchaften des Churfuͤrſtenthums Hannover erbaut, und wird noch jetzt durch dieſelben unter der Oberaufſicht des Hofgerichtsaſſeſſors Herrn Stromeyer er - halten.

Freyheit und Gefaͤngniß ſo hart an einander! wie muß der Kontraſt das Elend der Gefangnener -211erhoͤhn! wenn ſie Gefuͤhl haben, und dies nicht, wie ihre Koͤrper in Kerker und Ketten, einge - feſſelt iſt!

Ein großer Thorweg, welcher ſich unter ei - nem Bogen, der einen Glockthurm traͤgt, oͤfnet, fuͤhrte uns vor der Wohnung des Pfoͤrtners, die am Eingange liegt, vorbey in den vordern Hof des Zuchthauſes, einen ziemlich großen, viereckten, theils gepflaſterten, theils gruͤnen Platz. Queer vor uns gegen Mitternacht zu lief ein feſtes Gebaͤu - de hin, in deſſen Mitte die Kirche iſt, und deſſen Enden die Gefangenſtuben bilden. Zur Seiten minder feſte die an der Morgenſeite liegenden, enthalten die Wohnungen des Predigers und die große Speiſekuͤche; die Abendſeite hat der Aufſe - her inne, bis auf eine Reihe von Zimmern fuͤr maͤnnliche ſogenannte Staatsgefangne. Hinter der Kirche wird ein aͤhnlicher Hofplatz durch die beyden Tollgaͤnge, die Zimmer fuͤr die weiblichen Staatsgefangnen und eben genannte Kirche ein - geſchloſſen.

Das ganze Gebaͤude war mir nicht ſchwarz genug; denn es enthaͤlt nicht nur die Kerker der Gefangnen: hier hauſen auch die, denen das Goͤttliche im Menſchen geraubt iſt.

Wir gingen in die Mittelthuͤr des quer vor uns hinlaufenden Gebaͤudes. Jch glaubte in die Kirche zu treten; aber es war nur ein Vorſaal. O 2Eine212Eine geoͤfnete Thuͤr zeigte uns das Zimmer, wo Gott gepredigt wurde.

Es ſchien ſich vor unſern Augen in dunkle Nacht zu huͤllen, und die aus demſelben herſchal - lenden Stimmen der Singenden ſchlugen tief, tief in mein Herz.

Jch wagte es durch die ofne Thuͤr in die ſchwarze Kirche zu gehen. Grade vor mir ſtand der Prediger auf der Kanzel, unter derſelben der Altar: auf allen Seiten oben und unten Gitter, durch welche er zu der Familie dieſes Hauſes rede - te. Jn der Mitte ſind freye Stuͤhle fuͤr freye Leute. Gott, mit welchen Empfindungen moch - ten wohl die Gefangnen dies Feſt feyern das Feſt, welches ſie daran erinnern ſoll, daß ſie durch Chriſtus von den Feſſeln des Vorurtheils befreyet, und durch das Licht ſeiner Lehre aus dem dunkeln Kerker des Aberglaubens gefuͤhrt ſind! Als die Predigt geendigt war, betete der Prediger fuͤr die Wahnſinnigen, welche in dieſem Hauſe wohnen. Da ward ich dem Manne*)Hier ſind einige Bemerkungen, die nur fuͤr meinen Freund aufgezeichnet waren, ausgelaſſen. gut, und kaum habe ich jemals herzlicher mitge - betet.

Jch213

Jch hatte mich bis zur voͤlligen Beendigung der Gottesverehrung vergeſſen. Jtzt ward ich aber durch Kopfweh und Angaͤngen von Schwin - del wieder an mich erinnert. Die Duͤnſte, wel - che aus den Gefangenſtuben, die zu beyden Sei - ten der Kirche, zum Theil hart an derſelben liegen, in die Kirche zogen, vermiſcht mit dem Dampf des Raͤucherwerks, der ſie vernichten ſollte, waren die Urſachen dieſer unangenehmen Empfindungen.

Nun ſuchten wir einen von den Aufſehern des Hauſes, der uns durch die Wohnungen der Vernunftberaubten fuͤhren ſollte, auf. Jch er - wartete einen finſtern, mit Menſchenfeindſchaft gezeichneten Mann aber leicht ward mein Herz, als ich einen Menſchen mit freundlicher und bie - drer Mine ſich erbieten ſah, uns zu fuͤhren. Jch werde Jhnen, liebſter B., die Bedienten dieſes Hauſes am Schluß meiner Erzaͤhlung, ſo weit ich ſie ſelbſt oder durch meine Freunde habe ken - nen lernen, noch genauer ſchildern; hier bemerke ich nur uͤberhaupt, daß ich die Perſonen, deren Koͤpfe, Herzen oder Haͤnden dies Haus mit ſeiner Familie anvertrauet iſt, menſchenfreundlicher ge - funden habe, als ſie zu ſeyn pflegen, und in eini - gen Haͤuſern aͤhnlicher Art in unſerm lieben Deutſch - land ſind. Man ſollte die allermenſchenfreund - lichſten zu ſolchen Aemtern aufſuchen; denn woO 3iſt214iſt dieſe Tugend noͤthiger? wo geht ſie leichter verloren?

Es waren nach Endigung der Predigt ohn - gefaͤhr acht von den Einwohnern dieſes Hauſes aus einem dicht an die Kirche ſtoßenden Zimmer in eine andre Celle gefuͤhrt; wie ich nachher er - fuhr, waren es kraͤnkliche. Jch erwartete, es ſollten alle aus dieſem Zimmer gefuͤhrt werden, und glaubte ſchon, daß es in dieſem Augenblicke geſchehn wuͤrde, weil der Zuchtmeiſter, welcher uns fuͤhrte, die Thuͤr wieder aufſchloß, und den Riegel zuruͤckſchob; aber ſie wurden nicht heraus - gefuͤhrt. Es war das erſte Zimmer, in welches wir gefuͤhrt wurden.

Dieſes ſowohl als die uͤbrigen, welche die Gefangnen einſchließen, verdienen eher Saͤle als Stuben genennt zu werden. Sie faſſen jedes 50, 60 auch noch mehrere Perſonen, ſind in Form eines großen Vierecks gebaut, und mit zwey großen Kammern verbunden, in welche die inwohnenden zum Schlafen vertheilt werden.

Jn dieſem erſten Zimmer mochten wohl bis 70 Weiber, Zuͤchtlinge und Verruͤckte unterein - ander, ſich befinden. Bald ſchienen mir alle ver - ruͤckt, bald auch die Verruͤckten nur Gefangne zu ſeyn. Meine Vorſtellungen drengten ſich ver - wirrt durcheinander, und ich konnte nur nach und nach zum klaren Bewußtſeyn kommen. Eswar215war in der Mitte der Stube an einem hoͤlzernen Traͤger eine Buͤchſe befeſtigt, in welche der, der den Elenden einen Allmoſen reichen will, ſeine Ga - be hineinthut: denn die Aufſeher erlauben nie - mand von den Gefangnen und Verruͤckten fuͤr ſich etwas zu erbetteln: wer etwas geben will, giebt es fuͤr alle. Gewiß eine ſehr gute diſciplinariſche Verfuͤgung. Wir verließen das Zimmer, nach - dem wir etwas fuͤr die Ungluͤcklichen in das Schatz - kaͤſtlein gelegt hatten, und ein allgemeines wir bedanken uns ging uns nach. Jch glaubte noch gar nicht in dem Zimmer des Elends geweſen zu ſeyn.

Als wir dieſe Stube verlaſſen hatten, aͤußerte ich unſerm Fuͤhrer, von dem ich beym Gehn von einem Zimmer zum andern dasjenige erfuhr, was ich ſelbſt nicht geſehen hatte oder nicht ſehen konn - te, meine Bedenklichkeit daruͤber, daß man Ver - ruͤckte bey den Gefangnen einſchloͤſſe, welches auf mehreren Stuben der Fall war. Auf einer waren ſogar bey weitem mehr von jenen als dieſen. Jch glaubte, bey dieſer Einrichtung koͤnnte leicht auch einer von den Zuͤchtlingen um ſeinen Verſtand kommen, und die Heilung der Wahnſinnigen unmoͤglicher ſeyn, indem es wohl nicht fehlen wuͤrde, daß ein Haufen von gefuͤhlloſen und ro - hen Menſchen ihr Spiel mit den Ungluͤcklichen trieben, und ſie dadurch immer mehr verwirrten. O 4Unſer216Unſer Fuͤhrer antwortete mir, daß dieſe Einrich - tung beynahe nothwendig waͤre, um zu verhuͤten, daß keiner von den Ungluͤcklichen im Paroxiſmus einem andern ſchade; daß dem Muthwillen der Zuͤchtlinge durch gute Diſciplin Schranken geſetzt wuͤrden, und daß endlich in dieſem Hauſe noch niemals einer auf dieſe Weiſe um ſeinen Verſtan - desgebrauch gekommen ſey.

Als wir in das zweyte Zimmer, welches, wie das erſte, Weiber einſchloß, kamen, hatten ſich meine Vorſtellungen aus dem Gedraͤnge der man - nigfaltigen Gefuͤhle, die mich beym erſten An - blick der Armen uͤberwaͤltigten, ſchon zum klaren Bewußtſeyn geſammelt; denn ich war hier ſchon furchtſamer, als beym Eintritt in das erſte Zim - mer. Jch blieb an der Thuͤre ſtehen, und mei - ne Augen muſterten den gedraͤngten Haufen der zum Theil neugierig und bettelnd auf uns blicken - den Weiber. Eine von den Wahnſinnigen roll - te unaufhoͤrlich den einen Daumen uͤber den an - dern. Das war das Bild von dem Zuſtande ih - rer Seele. Ein ewiger Wirbel in derſelben gaͤnzliche Unfaͤhigkeit, eine Vorſtellung an die an - dre zu knuͤpfen. Sie richtete kein Auge auf uns, kein Auge auf die, die mit ihr in dem Zimmer waren. Ungluͤckliche! hatteſt du vielleicht noch das Gefuͤhl, daß wir gluͤcklicherwa -217waren als du o ſo rinnt fuͤr dich noch eine bittre Thraͤne mehr!

Wir gingen in ein kleineres Zimmer, wo ſich einige Betten fanden, weil hier die Kranken wohnen, welche gute Wartung und ſorgfaͤltige mediciniſche und diaͤtetiſche Pflege genießen. Eine von den hier befindlichen Frauenzimmern hatte ſchon drey Jahr auf dieſem Zimmer zugebracht, und eine andere, die ſchwanger hieher gebracht war, ein Kind in dieſem Gefangenhauſe zum Le - ben gebohren. Jtzt nahm man wieder den uͤblen Geruch wahr, welcher hier wohl beſonders ſtark ſeyn mochte: indeß im Ganzen genommen in die - ſem Hauſe nicht ſo beſchwerlich iſt, wie er es in andern Haͤuſern der Art zu ſeyn pflegt.

Jtzt wurden wir zu den Maͤnnern gefuͤhrt. Zuerſt ein kleines Zimmer, worin es ganz ſtille war. Keiner ſah uns an. Die Schaam be - gangner Verbrechen, welche ſie in dieſe Behau - ſung gefuͤhrt hatten, hielt ihre Augen zur Erde. Gewiß war es die kleine Anzahl, die es bewirkte, daß die Schaam in ihnen noch nicht ganz erblaßt war.

Nun aber eroͤfnete man uns ein groͤßeres Zimmer. Fuͤnf und ſiebenzig Maͤnner Ver - nunftloſe und Zuͤchtlinge unter einander be - wohnten daſſelbe. Traurig war mir der AnblickO 5der218der Weiber geweſen traurig und widrig der Anblick dieſer Maͤnner.

O wie gierig! Alle ſteckten, des haͤufigen Verbietens unſers Fuͤhrers ungeachtet, ſobald die - ſer einigen den Ruͤcken zuwandte, ihre Haͤnde, die der Schleim des Laſters uͤberzogen zu haben ſchien, aus, und forderten Geld zu Branntwein und Schnupftaback. Die Begierde nach dem letztern iſt beſonders bey den Vernunftberaubten allgemein, und geht ſo weit, daß ſie, wenn ih - nen der gewoͤhnliche Taback fehlt, Dachziegel nehmen, und zu Pulver reiben, um ſich deſſelben ſtatt des Tabacks zu bedienen.

Hier verlangten nicht nur die Wahnſinnigen, ſondern auch die Zuͤchtlinge darnach. Dies brachte mich auf die Vermuthung, daß der Uebelge - ruch, der ſtets in ihrer Atmoſphaͤre iſt, wohl die Haupturſach der Gier nach Schnupftaback ſeyn moͤchte; obgleich bey den Verruͤckten wenigſtens noch eine andre Urſach ſtatt haben muß. Viel - leicht verſetzt ſie der Taback durch die Kraft, wel - che er hat, die Fibern zu reizen, auf einige Mo - mente in den Zuſtand des Bewußtſeyns und des Lebensgefuͤhls, wenn anders dieſen Ungluͤcklichen der Zuſtand angenehm ſeyn kann.

Eben wollten wir dieſes Zimmer verlaſſen, als ich, indem ich mich umſah, noch den widrig - ſten Anblick hatte. Durch den Zwiſchenraumzwi -219zwiſchen der geoͤfneten Thuͤr und den Pfoſten, ragte eine die Finger aͤngſtlich gierig bewegende, wie vom Ausſatz gebleichte Hand hervor, und hinter derſelben lugte das niedrigſte Auge. Gott! wie entſetzte ich mich! wie angenehm war's mir, als der Zuchtmeiſter dieſe abſcheuliche Hand zu - ruͤckſchlug, und dieſes abſcheuliche Auge zuruͤck - wies.

Die Maͤnner hatten meiſtens graue Kittel an der Uebelgeruch hier viel ſtaͤrker, als in den vorigen Zimmern.

Wir kamen nun in eine andre zur Seiten liegende Stube, welche eben ſo ſtark, als die vo - rige beſetzt war. Hier zog meine beſondre Auf - merkſamkeit ein Mann auf ſich, der unaufhoͤrlich mit dem Hinterkopf an die Wand ſtieß, als woll - te er die noch uͤbrigen Fragmente von Vorſtellun - gen zuſammenſchuͤtteln, oder ſich gar aller Vor - ſtellungen entladen. Hier waren einige ſcheusli - che Phyſiognomien, und faſt auf allen Geſichtern ſchien ſich das Brandmal der unnatuͤrlichen Wol - luſt zu entdecken. Jch wollte noch laͤnger hier ſtehen und ſehn; aber ich konnte nicht.

Man oͤfnete uns itzt eine Thuͤr, welche in ei - nen engen Gang fuͤhrte, deſſen eine Seite von der Wand, die andre von einer Reihe Zimmer begrenzt wird, die von ſolchen Perſonen bewohnt werden, welche fuͤr ihren Aufenthalt und War -tung220tung aus eignem Mittel etwas bezahlen koͤnnen. Dieſe Zimmer ſind nicht groß, aber hell, ſehr reinlich, ordentlich, und ſelten verſchloſſen. Jn jeder Thuͤr iſt ein quadratfoͤrmiges Gitterfenſter, hinter welchem ein Vorhang haͤngt, der nie wider den Willen des Bewohners zuruͤckgezogen wird. Man ſieht daher nur wenige dieſer einſamen Un - gluͤcklichen. Jch ſah in dem erſten Gange nur ei - nen. Es war ein Mann in mittlern Jahren, eine Muͤtze auf dem Kopf. Er war Auditeur geweſen, und ward uͤber einen Fehltritt melan - choliſch. Er neigte ſich auf unſer Verbeugen mit abgenommener Muͤtze ſehr tief. Jch buͤckte mich mit wahrer Ehrerbietung; war's aus Furcht oder aus Mitleiden, oder aus Achtung gegen den noch uͤbrigen Theil von Menſchheit in ihm.

Ueberhaupt, liebſter B., regten ſich bey dem Eintritt in den erwaͤhnten Gang, der, wie man mir vorher geſagt hatte, lauter Verſtandeskranke beherbergte, ſonderbare, vorher nie gehabte Ge - fuͤhle in mir. Ein ja ich kann es ſagen heiliger Schauer uͤberfiel mich. Es war mir, als ſchwebte die ſchuͤtzende Gottheit fuͤhlbarer uͤber dieſen Armen. O Natur, ich verehre auch hierin deine Weisheit! Du wollteſt durch ein ſolches Gefuͤhl die Schuͤtzerin des Lebens und der Ach - tung dieſer Elenden werden; da es der Vernunft ſo leicht ſcheint, Gruͤnde zu geben, daß es beſſerſey,221ſey, dieſe Menſchen zu toͤdten, als ſie in Ver - nunftloſigkeit leben zu laſſen!

Dicht drengte ich mich an meinen Freund, und ging ſo dicht an ihn gedrengt mit der uͤbrigen Geſellſchaft in einen andern Gang. Hier waren meiſt Frauenzimmer, auch die meiſten Stuͤbchen zugemacht, und die Gitter mit Vorhaͤngen ver - hangen. Doch waren zween davon offen, in welche uns der Zuchtmeiſter fuͤhrte.

Jn dem einen fanden wir ein Frauenzimmer, langer und hagrer Geſtalt, etwas uͤber vierzig Jahr alt. Sie ſaß am Tiſche auf einem Lehn - ſtuhl. Sie war ſchon ſechs und zwanzig Jahr hier, und die Liebe zu einem Officier, dem ſie ih - re Hand zu geben von ihren Eltern verhindert ward, die Urſache ihrer Verruͤcktheit. Sie rede - te unaufhoͤrlich vor ſich, machte ſeltſame Bewe - gungen mit den Fingern und Haͤnden, kehrte uns meiſtentheils den Ruͤcken zu, und machte nur dem Zuchtmeiſter eine Verbeugung. Es mußte ihr ſehr angſt und enge ums Herz ſeyn. Ach! vielleicht aͤngſtet ſie noch itzt nach dreyßig Jahren die Haͤrte ihrer Eltern! Doch wer kann dieſe anklagen, da die Umſtaͤnde nicht be - kannt genug ſind? Nach der Auſſage des Zucht - meiſters iſt dieſe Perſon oͤfters in ſeiner Stube, arbeitet ſehr ordentlich, und bekommt nur ſelten einen ſtarken Paroxiſmus. Sie erhaͤlt auf An -ord -222ordnung ihrer Verwandten zu eſſen, was ſie will, und alle Mittag ein Glas Wein.

Die andre Perſon, welche wir ebenfalls in ihrer Celle ſahen, war ſtaͤrker als die vorige, aber, wie dieſe, aus Liebe verruͤckt worden. Sie ſaß an einem Tiſche, zeichnete mit den Fingern Figu - ren auf demſelben, und beantwortete die vorge - legten Fragen zwar ganz vernuͤnftig, doch ſo, als wenn ihr alles gleichguͤltig waͤre. Beyde hatten ihre ordentlichen Waͤrterinnen, die mit in ihrem Stuͤbchen ſchliefen.

Mit innigem Mitleid verließ ich dieſen Gang. Entſetzen vertrieb es, als die Thuͤr geoͤfnet wur - de, welche zum ſogenannten Tollgange fuͤhrt. Jn dieſem Gange ſchließen ſich mehrere kleine Zimmer mit ſtarken eichenen Thuͤren dicht anein - ander, und 2 oder 3 Oefen, welche ſich in dem - ſelben befinden, erwaͤrmen dieſe Zimmer einiger - maßen. Jn der Thuͤr eines jeden Zimmers iſt ein Gitter, und außer dieſem noch zwey gegen - einander uͤber, von welchen das eine freye Luft einlaͤßt; aber bey vielen der Ungluͤcklichen, die hier wohnen muͤſſen, durch eine Klappe verſchloſ - ſen wird, weil ſie das Licht nicht ertragen koͤnnen. Vor den Thuͤrgittern finden ſich ebenfalls hoͤlzerne Klappen, auf denen die kupfernen und inwendig ver - zinnten Gefaͤße, in welchen den Verruͤckten dasEſſen223Eſſen dargereicht wird, angeſchloſſen werden. Es befanden ſich jetzt ohngefaͤhr 30 Raſende hier.

Schon vor der Thuͤr ſchlug uns der ekelhaf - teſte Dunſt entgegen, ohnerachtet erſt den Tag zuvor alle Behaͤlter gereinigt waren. Ein fuͤrch - terliches Geblaͤrr, im lauteſten, etwas unterſetz - tem Tenor, verkuͤndigte uns, wer hier hauſe. Als ich hineintrat, ſtieß ich zuerſt auf den Kaͤficht der Perſon, deren Geſchrey ich gehoͤrt hatte.

Es war ein Weib. Auf ihrem Geſicht und in ihrem Gebehrdenſpiel hatte die Niedrigkeit und Verworfenheit alle Zuͤge aller einzelnen Niedrigen und Verworfenen zuſammengetragen. Sie war nur mit wenig Kleidern behangen, ſtreckte die Hand nach Geld aus, und trieb jedes Mitleids - gefuͤhl, ſo lange man ſie ſah, aus dem Herzen. Sie ſchimpfte auf eine andre Weibsperſon im lauteſten Schreyen, und ſprach unaufhoͤrlich von geſtohlnen Sachen. Gewiß hat dies Weib in dem Zuſtande, da ſie noch den Verſtandesgebrauch hatte, Niedrigkeiten aller Art und beſonders Die - berey geuͤbt. Sie war itzt nicht beynahe, ſondern voͤllig ein Thier, denn ſie ahmt ſogar alle Hand - lungen der Thiere nach, welche man als Mu - ſter der Dummheit und Unreinlichkeit zu ſchildern pflegt. Mehr ſolcher, beſonders weiblicher Thie - re in Menſchengeſtalt zu ſehen, waͤre mir nicht moͤglich geweſen; drum war es gut, daß itzt ei -nige224nige ſtillere Maͤnner folgten. Unter dieſen ruͤhr - te mich vornemlich einer, der bey dem Verſpre - chen des Zuchtmeiſters, heute noch ein Stuͤnd - chen ausgelaſſen zu werden, ſich recht herzlich freute.

Wir kamen nach dieſen an einen Kaͤficht, der einen Mann einſchloß, welchen die Liebe verruͤckt hat. Er war ein geborner Goͤttinger. Er lag ſtill auf ſeinem Lager, und achtete und antwortete auf keine Frage. Er ſchien fuͤr nichts eine Vor - ſtellung und Sinn zu haben, als fuͤr die Urſache ſeines Elends. Denn, ſobald der Name ſeiner Geliebten genannt wurde, ſprang er ſogleich von ſeinem Lager auf, kam ans Gitter, und fragte, was man wolle. Als darauf der Name, welcher ihn aufgerufen hatte, wiederhohlt wurde, ward er verdrießlich, und warf ſich, ohne zu antworten, wieder auf ſein Lager.

Jch halte es, beylaͤufig geſagt, fuͤr ſehr ſchaͤd - lich, einem auf dieſe Art Verruͤcktgewordnen an die Urſach ſeiner Verruͤcktheit zu erinnern oder vielmehr durch Reden und Anſpielungen auf die - ſelbe, die fuͤr ſich ſchon zu lebendige Vorſtellung noch feuriger und lebendiger zu machen. Leiden - ſchaft macht den Menſchen verruͤckt, wenn die ihr angehoͤrigen Jdeen ſo maͤchtig werden, daß ſie allein in dem Gemuͤthe herrſchen, und alle uͤbrigen Vorſtellungen ganz verdraͤngen, oder ihnen wenig -ſtens225ſtens ihre Farbe geben. Es iſt daher zur Hei - lung dieſer Art der Verruͤcktheit nothwendig, daß man das Feuer dieſer Vorſtellungen zu ſchwaͤchen, und andre neben ſie in die Seele zu fuͤhren ſu - che, welche die Aufmerkſamkeit von jenen ab, und auf ſich hinziehen.

Wir wurden darauf vor einem Kaͤficht vor - beygefuͤhrt, deſſen Gitteroͤfnung mit mancherley Bildern und deſſen Jnnres mit allerley Schnitzel - und Spielwerk behangen war. Es bewohnt ihn ein ehemaliger Organiſt. Auf einen Muſikus waͤre ich ſelbſt gefallen; denn ſobald er uns erblick - te, ergriff er ein Holz, welches er mit Sayten be - zogen hatte, ſchlug mit einer Ruthe darauf, daß es toͤnte, und ſang ganz tactmaͤßig dazu. Jch ward ganz heiter dabey, und vergaß beynahe, daß dieſer Menſch bey aller Froͤhlichkeit, die er zeigte, doch zu bedauern ſey. Er war ſchon neun und zwanzig Jahre an dieſem Jammerorte, und hat - te ſeinen Verſtand in der Offenbarung Johannis verloren.

Jch bin ſonſt nicht dafuͤr geweſen, daß un - ſtudirte Dorfſchulmeiſter, Organiſten oder Canto - ren, neben ihrem Amte noch ein Handwerk trei - ben; der Anblick dieſes Mannes hat indeß meine Ueberzeugung beynahe geaͤndert: weil es doch beſſer iſt, daß dergleichen Leute, zu deren Amt doch nun einmal große Geiſter nicht groß genugPſind,226ſind, eine ihren Kraͤften angemeßne Arbeit vorneh - men, als durch die Muße und hie und da auch durch ihre Vorbilder verfuͤhrt, ſich mit Dingen be - faſſen, welche ihren Kraͤften nicht angemeſſen ſind, und dabey oft in Gefahr ſind, das beſte, was ſie[haben], einzubuͤßen.

Neben dem Organiſten erblickte ich eine andre Mannsperſon, welche viel von glatten Herrn ſprach, und ihr etwas zu geben bat. Als wir ihn frag - ten, was er denn haben wollte, gab er uns eine Antwort, die mich wieder in die duͤſtre Stimmung warf, aus welcher ich eben durch den Organiſten etwas gehoben war. Was mochte der Menſch in dem menſchlichen Theil ſeines Lebens vorgenom - men haben! was itzt!

Gottlob! nun kamen wir vor dem letzten Kaͤ - ficht, der einen ruhigen Mann einzuſchließen ſchien. Allein er war es nicht; denn als er uns erblickte, fing er mit gewaltiger Stimme an: Gloria in excelſis Domino etc., ſprach den Segen und machte das Kreuz dazu. Er ſoll ei - ner der fuͤrchterlichſten ſeyn, wenn er im Paro - xiſmus iſt, und ſeine Staͤrke die Kraft vieler Maͤn - ner zuſammen uͤberwaͤltigen.

Jndem erblickte ich die geoͤfnete Thuͤr: eilig ging ich durch dieſelbe, und hoͤrte noch lange Zeit die Toͤne der rege gewordnen in den Gaͤngen ſchal - len. Wir kamen ins Freye; laͤnger haͤtte ich esauch227auch in dem Hauſe des Elends nicht ausgehalten. Die Bilder der ungluͤcklichen Bewohner zittern noch vor meiner Phantaſie.

Hier, liebſter B., haben Sie eine Schilde - rung von dem Elend, was ich ſah: ſo gut ich ſie Jhnen geben konnte. Es iſt zu bedauern, daß man in ſolchen Anſtalten ſehr ſelten etwas Beſtimmtes von der Urſache, durch welche die hieher gebrach - ten um ihren Verſtand gebracht wurden, erfah - ren kann. Jn manchen Faͤllen wuͤrde dieſe Nach - richt freylich nicht gut eingezogen werden koͤnnen; indeß oft wuͤrde es doch ohne viel Schwierigkeit moͤglich ſeyn. Wenn die Aufſeher dieſer Jnſtitu - te ſich genau darum bekuͤmmerten, und dann die Gelegenheit, welche ſie haben, den Gang der Verruͤcktheit zu beobachten, nutzten, welch 'eine pragmatiſche Geſchichte dieſer Seelenkrankheit wuͤrde ſich aus ihren Beobachtungen abfaſſen laſſen, welch ein Verdienſt wuͤrden ſich dieſe Maͤnner um die Menſchheit erwerben!

Unter aͤhnlichen Haͤuſern hat gewiß das Cel - liſche Jrrhaus, wo nicht den erſten, doch einen der erſten Plaͤtze. Man iſt, was ſo oft in ſolchen Anſtalten vermißt wird, aͤußerſt beſorgt, um Reinlichkeit, Ordnung und Pflege der Ungluͤck - lichen. Der Tollgang wird, wenn ich mich recht erinnere, alle Tage oder einen Tag um den andern gereinigt, und ſo verhaͤltnißmaͤßig die uͤbrigenP 2Zim -228Zimmer der Verruͤckten und Gefangnen. Das Eſſen iſt geſund, reinlich, nahrhaft, und wird in hinlaͤnglicher Menge taͤglich zweymal gereicht. Heute ſah ich feines Brodt, Fleiſch, Schinken, Kaͤſe und Suppe. Wer irdene Gefaͤße nicht zerſchmeißt, dem wird es in einem irdenen Topfe gereicht: denen andern in kupfernen verzinnten Gefaͤßen, die die Form einer tiefen Schuͤſſel und einen langen halbrunden Hals haben, welcher in die Oefnung des Gitters derer, die im Kaͤficht ſitzen, geſteckt wird, damit ſie nicht das ganze Gefaͤß hereinnehmen. Wie gut und ehrlich es der Speiſemeiſter, deſſen Name Deeke iſt, mit den Ungluͤcklichen meynt, koͤnnen Sie daraus ſchließen, daß den Gefangnen das Fleiſch von ei - nem 800pfuͤndigen Ochſen nicht ſchmackhaft ge - nug iſt.

Wird einer der Bewohner dieſes Hauſes krank, ſo wird er ſehr gut gepflegt, und mit der noͤthigen Arzney hinlaͤnglich verſehen.

Es verdankt das Celliſche Zucht - und Jrrhaus ſeine gute Einrichtung und ſeine Vorzuͤge vor an - dern Haͤuſern aͤhnlicher Art vornehmlich ſeinem wuͤrdigen Aufſeher, und den zum Theil ſehr guten Unterbedienten. Sie hoͤren, liebſter B., ſo gern von guten Menſchen; darum zu meinem ſchon ſo langen Briefe noch einige Zeilen uͤber dieſe Maͤnner,welche229welche ein Monument in dem Herzen jedes Menſchenfreundes verdienen.

Der gegenwaͤrtige Aufſeher dieſer ganzen An - ſtalt iſt der Hauptmann von Doͤren, ein Mann, dem ſeine Redlichkeit, Menſchenliebe und weiſe Verwaltung ſeines Amtes allgemeine Liebe und Hochachtung erworben haben. Er be - handelt die ſeiner Aufſicht uͤbergebnen Gefangnen und Verruͤckten, wie ein Vater, und ſorgt fuͤr Diſciplin, und, ſo viel es moͤglich iſt, fuͤr die moraliſche Verbeſſerung derſelben, wie ein weiſer Erzieher. Er geht taͤglich in die Zimmer, und unterhaͤlt ſich mit den Bewohnern derſelben uͤber ihren Zuſtand, ihr Befinden, ihre Denkungsart u. ſ. w. und erwirbt ſich durch dieſe Aufmerkſam - keit auf die Angelegenheiten eines jeden, aller Zu - trauen, Liebe und Ehrfurcht. Er bemuͤht ſich ſehr, ſeine Untergebnen zu beſchaͤftigen; aber laͤßt ſie nicht durch den Stock und andre thieriſche Zwangsmittel dazu treiben; ſondern waͤhlt wirk - ſamere und menſchliche Mittel. Nur ein Bey - ſpiel ſtatt vieler:

Unter den Verruͤckten befindet ſich auch ein Fraͤulein ***. Dieſe wollte durchaus nicht ar - beiten, theils weil ſie es nicht verſtand, theils weil ſie das Vorurtheil hatte, es ſchicke ſich fuͤr ſie nicht. Herr von Doͤren verſuchte allerley Mittel, um ſie dazu zu bewegen, aber vergebens. P 3End -230Endlich faͤllt es ihr einmal ein, Wein zu trinken und Kuchen zu eſſen. Sie bittet ſehr angelegent - lich darum. Herr von Doͤren verſpricht, ihre Bitte zu erfuͤllen, wenn ſie arbeiten wollte, und da ſie ſich mit ihrer Ungeſchicklichkeit entſchuldigt, laͤßt er ſie von ſeinen Toͤchtern unterrichten. Sie lernt arbeiten, arbeitet ſelbſt, und nun bekommt ſie Kuchen und Wein.

Auf den Vorſchlag des edlen Mannes wird itzt auch eine*)Mein Freund ſchreibt mir itzo zwey ich habe nur eine geſehen. neue große Stube eingerichtet, die eine ſchoͤne Ausſicht hat, und diejenigen beherber - gen ſoll, welche nur auf eine kurze Zeit ins Zucht - haus gebracht werden. Eine vortrefliche, von Menſchenkenntniß und Menſchenliebe zeugende Einrichtung! Denn wie viele Menſchen, die ein in moraliſcher Hinſicht vielleicht nicht ſo ſtrafbares Verbrechen unter Boͤſewichter fuͤhrte, kamen nicht verdorben aus dieſer Geſellſchaft? Ueberhaupt, mein Freund, bin ich aufs neue wieder von dem Urtheil, das ich Jhnen ſchon oͤfter aͤußerte, recht lebhaft uͤberzeugt worden, daß die Zuchthaͤuſer nicht mehr Verbrechen be - ſtrafen, als Verbrechen lehren. Das Bey - ſpiel iſt allmaͤchtig; und ſelbſt die treuſte Vorſorge des redlichſten Mannes kann ſeinen Einfluß nicht hindern. Daß der vortrefliche Aufſeher dieſesHauſes231Hauſes dies fuͤhlt, und in dieſer Hinſicht thut, was er kann, koͤnnen Sie außer der auf ſeinen Vorſchlag gemachten Einrichtung daraus ſehen, daß er ſehr dringend darum angehalten hat, ein vierjaͤhriges Kind, welches eine Mutter mit in das Zuchthaus brachte, aus dieſem Hauſe zu ent - fernen. Jch hoffe zu der Menſchlichkeit der Obern, daß ſein Wunſch itzt ſchon erfuͤllt iſt.

Der Zuchtmeiſter Schmalz, ein ehemaliger Freycorporal iſt ſeines edeln Aufſehers nicht un - wuͤrdig. Er zeigt ſo viel Guͤte und Nachſicht gegen ſeine Untergebnen, als ein Menſch in dieſer Lage zeigen kann. Jch bin Augenzeuge davon ge - weſen, wie liebreich er mit ihnen verfuhr, und welch einen Eindruck ſeine Gegenwart und ein Wort von ihm auf Gefangne und Verruͤckte machte. Es hing an jeder Thuͤr der Gefangenſtube eine knotige Peitſche, und in einer Ecke ſtand eine Maſchine, in welche Kopf, Haͤnde und Fuͤße der Strafba - ren geſteckt werden. Jch fragte ihn, ob er dieſe Strafmittel oft gebrauchen muͤßte? O nein, ſagte er mit der menſchenfreundlichſten Mine, nur ſehr ſelten. Wir regieren am lieb - ſten mit Guͤte. Ganz vorzuͤglich gefiel mir ſein Betragen gegen die Verruͤckten. Jedem reicht er freundlich die Hand, fragt, wie es gehe, folgt ihrem unordentlichen Jdeengange, ſucht ihnen ge -P 4faͤhr -232faͤhrliche Vorſtellungen auszureden, und thut ihnen zu Gefallen, was er nur kann.

Der gegenwaͤrtige Prediger, Herr Jakobs - hagen, bekleidet ſeine Stelle erſt ſeit einigen Mo - naten. Er war vorher Lehrer an dem wohleinge - richteten Jnſtitut des Herrn Predigers Wich - mann hieſelbſt*)Jch kann nicht unterlaſſen, hier oͤffentlich meine Freude zu bezeugen, die ich empfand, als ich das erwaͤhnte Jnſtitut beſuchte. Auf dem Geſicht aller Zoͤglinge mahlte ſich Geſundheit, Froͤhlichkeit und Unſchuld. Beſonders entzuͤckte mich der haͤusliche Sinn, den ich bey allen wahrnahm, und der leider ſo oft in oͤffentlichen Erziehungs - und Schulanſtal - ten verloren geht. Die jungen Leute waren, wie, wenn ſie in ihrer Eltern Hauſe waͤren. Man haͤtte den braven Director fuͤr ihren Vater, und ſeine wuͤrdige Gattin fuͤr ihre Mutter halten ſollen. Offen und frey unterhielten ſie ſich mit mir, und un - terhalten ſich eben ſo mit jedem Fremden. Die Ar - tigkeit ihres ganzen Betragens, der faſt bey allen wahrzunehmende eſprit de conduite bewies, daß ſie Gelegenheit hatten, in gebildeten Geſellſchaften auch ihre aͤußeren Sitten zu bilden. Die Anzahl der Zoͤglinge belief ſich auf zwanzig: ein Beweis, daß dieſe Anſtalt, die anfaͤnglich nur klein war, geſchaͤtzt wird.. Wenn er beſtaͤndig den Zu - ſtand und die Beduͤrfniſſe der ihm anvertrauten Gemeinde im Auge hat, und dabey ſich nachman -233manchen guten Muſtern, unter welchen ich un - ſern wuͤrdigen Herrn Prediger Wagnitz, der mit edlem Eifer und großmuͤthiger Aufopferung fuͤr die Einwohner des halliſchen Zuchthauſes ar - beitet, zuerſt nennen muß, bildet, ſo wird er gewiß mit wahrem Nutzen an dieſer Stelle arbei - ten koͤnnen und, wenn er die großen Ver - dienſte ſich vorſtellt, welche er ſich durch eine treue und weiſe Fuͤhrung ſeines Amts um die Menſch - heit erwirbt, auch gewiß mit lebendigem Jntereſſe und Enthuſiasmus arbeiten.

Die Sorge fuͤr die koͤrperliche Geſundheit iſt dem Herrn Doctor Heine und ſeinem Vater, dem Hofchirurgus, uͤbertragen, die unermuͤdet auch die unreinlichſten Kranken beſorgen. Auf ihren Rath genießen faſt alle Bewohner dieſes Hauſes taͤglich eine Stunde auf dem vordern oder hintern Hofe der freyen Luft. Durch dieſe Einrichtung und die beſtaͤndige Sorgfalt, in den Stuben und Kammern die Luft ſo rein als moͤglich zu erhal - ten, werden auch alle Krankheiten, die aus Schmutz und ungeſunder Luft entſtehen, beynahe gaͤnzlich verhuͤtet.

Sehen Sie, mein theurer B., daß ich Wort halte! Doch will ich aufrichtig ſeyn, und geſtehen, daß mein Worthalten nicht allein aus Pflicht entſprungen iſt, ſondern das eigen - nuͤtzige Motiv, Sie dadurch zu erinnern, daſſel -P 5be234be zu thun, mit dazu gewirkt hat. Aber daß Sie nur nicht glauben, dadurch von Jhrer Ver - pflichtung diſpenſirt zu ſeyn. Wollen Sie mein Worthalten nicht belohnen, weil es den Eigen - nutz zum Vater hatte, ſo muͤſſen Sie wenigſtens meiner Aufrichtigkeit den Lohn nicht verſagen, von welcher ich Jhnen gleich noch einen Beweis da - durch geben will, daß ich Sie verſichre: ich liebe Sie herzlich. *)Manche Bemerkung in dieſem Briefe verdanke ich der Guͤte meines theuren Freundes, E. von Leyßer, von deſſen Namen meine Feder ſich auch hier nicht wegfuͤhren laͤßt, ohne demſelben meinen herzlichen Dank beygeſellet zu haben.

Dreyzehnte Unterhaltung. Von der Schwaͤrmerey.

Wir haben die erſte Art der Verruͤcktheit, wel - che ſich vornemlich in einer Verdrehung des Er - kenntnißvermoͤgens aͤußert, betrachtet; laſſen Sie, werthe Leſer und Leſerinnen, itzt unſere Aufmerk - ſamkeit zu der zweyten Art derſelben, welche wir vorher Schwaͤrmerey nannten, fortgehen. Sie macht ſich kenntlich durch eine Verſtimmung des Begehrungsvermoͤgens, eccentriſche Leidenſchaftund235und einen flammenden Affekt fuͤr Gegenſtaͤnde, welche entweder ſelbſt, oder deren Werth nirgends zu finden iſt, als in der Phantaſie des Schwaͤr - mers. Denn wo ein wirklicher Gegenſtand von wahrer Guͤte, Groͤße und Erhabenheit das Herz intereſſirt, und der Thaͤtigkeit des Menſchen ei - nen außerordentlichen Schwung giebt; da finden wir nicht Schwaͤrmerey, ſondern Enthuſias - mus. Jene iſt da, wo die Phantaſie das Herz in ſolche Gegenden hinzieht, die nicht fuͤr den Menſchen gemacht ſind, wo ſie, der Zucht der Vernunft ſich entreißend, uͤber die Graͤnzen des den Menſchen bekannten Landes ausſchweift, und außer demſelben auf einem graͤnzen - und bodenlo - ſen Ocean herumſchwaͤrmt. Wenn Guſtav, der Held, im Streit fuͤr ſein Vaterland vom edlen Affekt bewegt, alle ſeine Kraͤfte verſammlet, um ſein Land vor dem Anfall des Feindes zu ſchuͤtzen; wenn er in alle Gefahren zuerſt geht, und ſein Heldenmuth ſtaͤrker leuchtet, als die Flamme der von dem Feinde verbrannten Flotte; wenn er nicht anders, als Sieger leben und das Schlachtfeld verlaſſen will; ſo ſehen wir in ihm einen Koͤnig, voll patriotiſchem Enthuſiasmus fuͤr ſein Volk und ſein Land. Aber wenn die orientaliſchen Moͤnche zur Vertheidigung der Bilderorthodoxie in der Hauptſtadt des Kaiſers Tumult erregen, die Majeſtaͤt beſchimpfen, und das ganze Reichin236in Aufruhr zu bringen ſuchen, ſo verabſcheuen wir in ihnen unſinnige Schwaͤrmer, welche nicht fuͤr ein wahrhaftes Gut, ſondern fuͤr Grillen, bey denen ſie allein vielleicht ihre Rechnung fin - den, ihre Thaͤtigkeit anſpannen und ihr Leben wagen.

Schwaͤrmen iſt uͤberhaupt lautes Ausſchwei - fen, und die jedesmalige Urſache davon eine erhitzte, nicht von der Vernunft gefuͤllte, oder wenigſtens von ihr nicht geleitete Phantaſie. Der Gegenſtand deſſelben aber kann entweder ein wirk - liches Ding oder eine Chimaͤre ſeyn. Jenes macht zum Schwaͤrmer, wenn es die Leidenſchaft uͤber die Gebuͤhr anregt, weil die Phantaſie es mit Eigenſchaften und Vollkommenheiten behaͤngt, die es nicht hat, und die Vernunft nicht ſtark ge - nug iſt, durch ihre Einſicht des wahren Werths des Gegenſtandes die Einbildungskraft zu beleh - ren und zu leiten. Dieſes erzeugt Schwaͤrmerey, in ſo fern es den Menſchen verleitet, in unbe - graͤnzten Regionen umherzuſchweifen, wo fuͤr ihn nichts als Taͤuſchung und Trug iſt, und ſein Herz gereizt wird, ohne geſaͤttigt zu werden.

Leidenſchaft iſt die Seele jeder Schwaͤrmerey, ſelbſt derjenigen, welche ſich mit dem Mantel der Jn - dolenz und Ertoͤdtung aller Leidenſchaften behaͤngt. Denn nur Leidenſchaft kann der Thatkraft ſolchen Schwung und ſolche Richtungen geben, als wirſie237ſie bey den Schwaͤrmern nehmen ſehen. Wenn die Schwaͤrmer und Schwaͤrmerinnen des Orients und der erſtern Jahrhunderte nach Chriſti Geburt ihr Fleiſch kreuzigten und toͤdteten, was trieb ſie anders dazu, als Hochmuth, Liebe, Furcht vor den Strafen ihrer vorigen Laſterhaftigkeit, oder aͤhnliche Affekten und Leidenſchaften?*)Es gilt von allen Schwaͤrmern, was der Baron von d'Eſcherney in ſeinen Lacunes de la Philoſo - phie von den Charlatans ſagt: ils préférent une exiſtence merveilleuſe mais pasſagere, a l'exi - ſtence plus longue du merite, qui ſe produit ſans l'appareil des prodiges; ils ſe plaiſent à reunir ſur quelques points de leur durée, les jouiſſances de gloire, & quelquefois d'argent, d'une vie entière. Paſſidea von Siena ſchlief, wie Herr Zimmer - mann erzaͤhlt**)Ueber die Einſamkeit. 2. Th. S. 98., gewoͤhnlich auf einem Brett, oder auf der Erde: zuweilen ruhte ſie ſogar auf Kirſchkernen oder Beſenreiſern. Sie ging in der Regel barfuß, oder wenn ſie Schuhe trug, ſo legte ſie Erbſen oder auch heißen Schrot hinein. Bey dem Gebete kniete ſie auf Diſteln und Dor - nen, oder auch am haͤufigſten auf einem großen Reibeiſen, oder auf eiſernen Platten voll Sta - cheln und Spitzen, manchmal auch wohl auf gluͤhenden Naͤgeln oder Eiſenblech. Sie erfandſogar238ſogar eine neue und bisher unbekannte Mortifika - tion; indem ſie ſich, die Fuͤße oben und den Kopf unten, in den Rauchfang eines Schorn - ſteins aufhing, unter welchem ſie Feuer von Heu oder naſſem Stroh machen ließ, um die Pein des dicken Dampfs ſowohl, als der Flamme recht zu genießen, ihr Fleiſch kraͤftiger zu kreuzi - gen, und dadurch dem Umgang der Engel im - mer naͤher zu kommen. Die heilige Bou - rignon nannte zwar ihren Schuͤlern Verlaͤugnung der Welt, Verachtung des Reichthums, Unter - werfung des Willens, als die drey Bruͤcken zur Seligkeit; aber die Schwaͤrmerey derſelben be - wies, daß die Lehrerin der Seligkeit ſelbſt nicht uͤber dieſe Bruͤcken gegangen war, und ihr hoch - muͤthiger Eigenſinn, Geiz, und zu große Werth - ſchaͤtzung der Welt, ſie getrieben hatte, in dem Nimbus einer Heiligen gekleidet fuͤr ſie die Nah - rung zu ſuchen, welche ſie als gewoͤhnliches Weib ihnen nicht hatte verſchaffen koͤnnen. Der Abt Arſenius mußte große Furcht vor den Stra - fen nach dem Tode haben, da er in ſeiner Celle einen beſtaͤndigen Geſtank von verfaulten Palm - blaͤttern unterhielt; in der Hofnung durch dieſe Selbſtpeinigung dem Geſtank der Hoͤlle zu ent - gehen.

Liebe und Stolz, als die heftigſten Leidenſchaf - ten der menſchlichen Seele, ſind am haͤufigſtendie239die Urſachen der Schwaͤrmerey: und welcher Ge - genſtand dieſe am meiſten naͤhrt, fuͤr den wird ge - ſchwaͤrmt. Die Hauptſtuͤtze des roͤmiſchen Stol - zes, war die Stadt (urbs). Darum in den Zeiten des roͤmiſchen Glanzes viele Beyſpiele von patriotiſcher Schwaͤrmerey: in den Jahrhunder - ten der Moͤncherey ſchwaͤrmte man myſtiſch; in den unſrigen politiſch und philoſophiſch.

Jeder Gegenſtand kann die Schwaͤrmerey an - fachen, ſobald er auf irgend eine Weiſe das Herz intereſſirt, und die Leidenſchaften rege machen kann: ſelbſt diejenigen, welche von allem Sinnli - chen entbunden zu ſeyn ſcheinen, abſtrakte Saͤtze, trockne Regeln und Theorien haben ſich mit irgend einer Leidenſchaft zu verbinden gewußt. Die Mitglieder der Sorbonne verjagten einen Geiſt - lichen von Amt und Brodt, weil er ein Verthei - diger der verbeſſerten lateiniſchen Ausſprache war, und ſtatt kiske und kamkam, wie man vorher ausgeſprochen hatte, quisque und quamquam ſprach: und das ciceronianiſche Latein brachte zu Scaligers Zeiten einen ſolchen Schwindel unter einige Gelehrten, daß ſie ſelbſt die Bibel nicht mehr leſen wollten, um ihrem Stil nicht zu ſchaden.

Was nun die verſchiednen Arten der Gegen - ſtaͤnde der Schwaͤrmerey betrift, ſo koͤnnen Die - ſelben Gegenſtaͤnde der Sinnlichkeit oder des Gei -ſtes240ſtes ſeyn, und darnach die Schwaͤrmerey eine ſinnliche oder geiſtige, welche letztere wiederum in die intellektuelle und moraliſche getheilt wer - den kann, in ſo fern ihr Gegenſtand dem Ver - ſtande oder dem Willen angehoͤrt.

Der ſinnliche Schwaͤrmer hat einen wirkli - chen Gegenſtand; aber die geblendete Phantaſie laͤßt ihn das Maaß des Gefuͤhls fuͤr denſelben uͤberſchreiten. Jeder, der etwas, was die Sinn - lichkeit afficirt, heftiger begehrt, oder aͤngſtlicher flieht, als Vernunft und Pflicht es billigen, iſt in ſo fern dieſes Namens werth. Hier ver - ſchwendet einer Haab und Gut, um bauen zu koͤnnen; laͤßt aus allen Theilen der Welt Modelle verſchreiben, und vergißt ſich, ſein Weib und ſeine Kinder, wenn er nur ſeine ſchwaͤrmeriſche Luſt befriedigen kann. Dort taumelt ein andrer in dem Gewirre erhabner Gefuͤhle, erregt durch den Anblick eines Huͤgels, den die Phantaſie zur Rieſenkoppe zaubert; durch die Schatten eines Tannenwaͤldchens, den er zum heiligen Hayn umſchaft, oder durch die Anhoͤrung einer Muſik, die ihm die ſphaͤriſche duͤnkt. Dieſer wird gequaͤlt von widrigen Empfindungen, wenn er einen Uhu, eine Maus oder eine Katze erblickt; waͤhnt, er koͤnne dieſen Anblick nicht ertragen, und flieht, ohne verfolgt zu werden. Jener wird betaͤubt von ſchmerzhaften Empfindungen bey dem Anblickeiner241einer Wunde am Finger bejammert den Ver - wundeten, als den Ungluͤcklichſten unter der Son - ne, und ſeufzt mit Katull uͤber einen geſtorbenen Vogel in klagenden Elegien.

Alles wird von dem Schwaͤrmer auf den Ge - genſtand ſeines Schwaͤrmens bezogen; denn der Gedanke an dieſen, iſt durch das Syſtem aller ſei - ner Vorſtellungen geſchlungen: und der einzige Beziehungspunkt ſeines Denkens und Handelns. Ueberall verfolgt das liebende Maͤdchen der Schat - ten ihres Geliebten; ihn ſieht ſie auf ihrer Arbeit und bey ihrer Andacht; um ſeinetwillen ſchmei - chelt ſie dem Monde.

Alles erinnert den vor Habſucht zitternden Kaufmann, an ſein auf dem Meere ſegelndes Schiff. Der Hauch der meine Suppe kuͤhlt, laͤßt Shakeſpear ihn ſagen*) My wind, cooling my broth, Would blow me in to an ague, when i thought What harm a wind too great might do at Sea. I ſhould not ſee the ſandy hour-glaſs run But i ſhould think of ſhallows and of flots, And ſee my wealthy Andrew dock'd in ſand, Vailing her high top lower than her rubs, To kiſs her burial. Should i go to church And ſee the holy edifice of ſtone, And not bethink me ſtrait of dangerous rocks, Which touching but my gentle veſſel's ſide,Would, wuͤrde mich in einkaltesQ242kaltes Fieber blaſen, wenn ich daran daͤchte, wel - chen Schaden ein zu ſtarker Wind auf der See thun koͤnnte. Jch wuͤrde den Sand nicht durch das Stundenglas laufen ſehn, daß ich nicht an Sandbaͤnke daͤchte, und meinen reichen Andreas (der Name des Schifs) ſchon ſtrandend ſaͤh, wie er ſeinen hohen Maſt uͤber ſeine Seiten herab - buͤckte, um ſein Grabmal zu kuͤſſen. Wuͤrde ich zur Kirche gehn, und das heilige ſteinerne Grabmal betrachten, und nicht ſogleich an gefaͤhr - liche Felſen denken, welche die Seite meines ſchoͤ - nen Schifs nur beruͤhren duͤrfen, um alle die Specereyen auf das Meer auszuſchuͤtten, die brauſenden Fluthen in meine Stoffe zu kleiden, und mit einem Worte, itzt ſo viel werth, und itzt nichts werth, einander gleich zu machen?

Keine Vollkommenheit bleibt uͤbrig, welche dem Gegenſtand, der Herz und Phantaſie ent - zuͤndet, nicht angedichtet; keine Unvollkommenheit, die nicht uͤberſtrichen wuͤrde. Es geht, wie Arioſt von der Liebe ſagt: Was Menſchen ſehen, macht die Liebe unſichtbar; das Unſichtbare ſichtbar*)Quel, che l'uom vede, amor le fa inuiſibile E l'inuiſibel fa veder amore. .

Wie

*)Would ſcatter all the ſpices on the ſtream Enrobe the roaring waters with my Silks, And, in a word, but even now worth this, And now worth nothing?

243

Wie bey der Schwaͤrmerey des Begehrens, ſo auch bey der des Verabſcheuens. Da iſt keine Vollkommenheit, welche nicht vernichtet, keine Unvollkommenheit, welche dem ſchwaͤrmeriſch ver - abſcheuten Gegenſtande nicht zugeeignet wuͤrde. Wie ſehr hat in unſern Tagen nicht der ehrwuͤr - dige Stand der Geiſtlichen die Wahrheit dieſer Behauptung fuͤhlen muͤſſen! Wie haben ſich diejenigen, welche da glauben, daß Verachtung der Religion und ihrer Verkuͤndiger Aufklaͤrung heiße, bemuͤht, alle ſchwarze Merkmale zuſam - menzufinden, und ſie insgeſamt in dem Begrif Prieſter zu vereinigen! Alles, was irgend ein Boͤſewicht im Prieſterkleide in dem barbariſchen Zeitalter der Hierarchie ausgeuͤbt hat, iſt begierig aufgehaſcht, und mit mancher Hyperbel dem gan - zen Stande zugeeignet worden.

Jch will hier nicht mehr Zuͤge der ſinnlichen Schwaͤrmerey aufzeichnen, weil ich bey der Schil - derung der einzelnen Leidenſchaften Gelegenheit ha - ben werde, darauf zuruͤckzukommen, und nicht geſonnen bin zweymal daſſelbe zu ſagen. Jch fuͤge hier noch einige Bemerkungen uͤber die bey - den Arten der geiſtigen Schwaͤrmerey an. Zu - erſt von der intellektuellen oder Verſtandesſchwaͤr - merey.

Hieher zaͤhle ich alle diejenigen, welche in Wiſſenſchaften und Kuͤnſten nicht mit dem Ver -Q 2ſtande244ſtande urtheilen, ſondern mit der Phantaſie traͤu - men; denen es nicht darum zu thun iſt, ſich rich - tige Einſicht in den Vorwurf der Erkenntniß zu verſchaffen; ſondern denſelben nach ihrer chimaͤ - riſchen Vorſtellung auszubilden: die uͤber die Wahrheit nicht nach Gruͤnden, ſondern nach Gefuͤhlen entſcheiden, und den, welcher ihrer Meynung nicht iſt, nach dem Auguſtiniſchen Grundſatz: Coge illos fuſtibus etc. nicht ruhig anhoͤren, ſondern verachten, verfolgen, verketzern. Jch koͤnnte hier eine ſehr volle Gallerie ſolcher Schwaͤrmer aus unſrer Zeit aufſtellen, wenn mich nicht die große Menge periodiſcher und andrer Schriften, durch welche viele hieher gehoͤrige Fakta bekannt geworden ſind, dieſer Muͤhe uͤber - hoͤbe. Jch begnuͤge mich damit, ganz kurz eini - ge beſondre Arten von intellektuellen Schwaͤrmern zu nennen.

Schon oben iſt bemerkt worden, daß jeder Gegenſtand, auch der allerabſtrakteſte, die Phantaſie zur Schwaͤrmerey entflammen koͤnne, ſobald er auf irgend eine Weiſe mit dem Herzen des Menſchen in Verbindung kommt. Und es iſt auch wohl kaum eine Wiſſenſchaft oder Kunſt aufzufinden, welche nicht unter ihren Verehrern einen oder den andern Schwaͤrmer aufzuweiſen haͤtte. Die Aſtrologen, Thaumaturgen, Chi - romantiſten und wie ſie weiter heißen moͤgen, ſindBey -245Beyſpiele hievon. Am erſten verfuͤhren indeß diejenigen Wiſſenſchaften und Kuͤnſte zur Schwaͤr - merey, welche das Herz durch die Hofnung der Befriedigung irgend einer intereſſirenden Neigung bethoͤren, oder der Phantaſie einen großen Spiel - raum einraͤumen, auf welchen die Vernunft ihr nicht nachfolgen kann. Zu allen Zeiten hat man von Wahrſagern und Thoren, welche ihnen eifrig folgten, gehoͤrt: denn die, welche zu gedankenlos oder zu traͤge ſind, etwas fuͤr die Zukunft zu thun, wuͤnſchen doch ſehnlichſt, etwas von der - ſelben zu wiſſen. Wem faͤllt nicht bey dem Vir - giliſchen Auri ſacra fames, quid non mortalia pectora cogis *)Verwuͤnſchter Hunger nach Gold, wozu zwingſt du ſterbliche Herzen? das Heer von Goldmachern ein, welche, anſtatt ſich durch die Aufklaͤrung ihres Verſtandes ſichre Mittel des Erwerbs zu verſchaffen, ihr Leben damit zubrachten, unſinni - ge Formeln zu lernen, und nach unverſtaͤndlichen Recepten zu arbeiten, um Gold, das ſie ſich nicht verdienen wollten, zu ſchaffen. Selbſt die Wiſſenſchaft, welche den Zweck hat, alle Schwaͤr - merey zu vertilgen, die Philoſophie hat ihre Schwaͤrmer gehabt, und hat ſie noch itzt: zum Theil vielleicht durch die Schuld ihrer Lehrer, wel - che das wichtige Geſchaͤft verſaͤumt hatten, die Grenzen zu beſtimmen, innerhalb welchen dieQ 3Ver -246Vernunft Erkenntniß ſuchen darf: wenn gleich ſelbſt dieſe Grenzbeſtimmung nicht alle philoſophi - ſche Freygeiſter abgehalten haben wuͤrde, uͤber die Grenze auszuſchweifen, und in erkenntnißlee - ren Regionen zu ſchwaͤrmen.

Jch will hier gar nicht einmal der kindiſchen Behauptung gedenken, welche Brucker und an - dere in ihrer Geſchichte der Philoſophie anfuͤhren, daß Adam den Schlaf erfunden habe, Noah ein großer Chymiſt, und die Schlange, welche Eva verfuͤhrte, eine geſchickte Sophiſtin geweſen ſey; Jakob Boͤhme und ſeine Genoſſen, und ſo man - che noch itzt erſcheinende Traͤumerey aus der Me - taphyſik, Politik u. dergl. geben Beyſpiele genug von philoſophiſcher Schwaͤrmerey.

Shakeſpear zeigt in ſeinem vortreflichen Ham - let an dem Oberkaͤmmerer Polonius mit treffender Wahrheit, wie einem ſolchen ſchwaͤrmeriſchen Pe - danten ſeine Grillen uͤber alles gehen: und wie wenig er ſich daraus macht, andre Menſchen dadurch zu quaͤlen, wenn er nur fuͤr ſie Raum und Zeit finden kann.

Der Koͤnig und die Koͤnigin ſind aͤußerſt un - ruhig uͤber den Wahnwitz des Prinzen Hamlet, weil ihr ſtrafendes Gewiſſen ihnen manche Urſache deſſelben vorruͤcken mußte. Polonius, welcher die Liebe des Prinzen zu ſeiner Tochter Ophelia erfahren hat, und darin die Urſache des Wahn -witzes247witzes zu finden glaubt, kommt zu ihnen, und verſichert, er habe die wahre Urſach von Hamlets Verruͤcktheit ausfindig gemacht. Der Koͤnig und die Mutter des Prinzen brennen vor Verlangen, dieſelbe zu erfahren, und bitten dringend, ſie ih - nen gleich mitzutheilen. Statt nun durch eine ſchnelle und kurze Eroͤfnung ſeiner Gedanken das Verlangen derſelben zu ſtillen, faͤngt der Pedant folgende Oration an:

Mein Koͤnig und meine Koͤnigin, wollt 'ich mich lange dabey aufhalten, was Majeſtaͤt ſeyn muß, was Pflicht des Unterthanen iſt, war - um der Tag, Tag, und die Nacht, Nacht, und die Zeit, Zeit iſt, ſo hieße das weiter nichts, als Nacht, Tag und Zeit verſchwenden. Darum da Kuͤrze die Seele des Witzes iſt, und langwie - rige Weitlaͤuftigkeit nur das Aeußere der Rede aufſchmuͤckt, ſo will ich kurz ſeyn. Euer edler Sohn iſt toll, toll nenn' ich es; denn, wenn man die wahre Tollheit beſchreiben will, was iſt ſie anders, als, ſonſt nichts, als toll zu ſeyn? Aber das bey Seite geſetzt Koͤnigin. Mehr Sachen und weniger Um - ſchweife! Pol. Jch kann darauf ſchwoͤren, Koͤnigin, ich brauche nicht die geringſten Umſchweife. Daß er toll iſt, das iſt wahr; es iſt wahr, es iſt zu bedauren; und zu bedauren iſt es, daß es wahrQ 4iſt.248iſt. Eine naͤrriſche Figur! Aber ſie mag rei - ſen; denn ich will keine kuͤnſtlichen Umſchweife brauchen. Laßt uns alſo annehmen, daß er toll iſt; und nun iſt noch uͤbrig, daß wir die Urſa - che dieſes Effekts, oder richtiger zu reden, die Urſache dieſes Defekts ausfindig machen; denn dieſer defekte Effekt hat ſeine Urſache. Das bleibt uͤbrig; und dies iſt das Uebriggebliebene.

*)Shakeſp. Hamlet. 2. Aufz. 2. Auftr. Nach dieſen Traͤumereyen, mit welchen er den Koͤnig und die Koͤnigin bis aufs aͤußerſte quaͤlte, kommt er endlich zu der Entdeckung, daß der Prinz ſeine Tochter liebe; kann aber doch nicht unterlaſſen auch hier noch oft ſeine Rede durch aͤhnliche Anmerkungen zu unterbrechen.

Nahe verwandt mit der philoſophiſchen Schwaͤrmerey iſt die theologiſche, ein monſtrum horrendum, informe, ingens, cui lumen ademtum.

Schrecklich ſind die Gemaͤhlde, welche die Kirchengeſchichte von den Greueln aufſtellt, wel - che durch ſie bewirkt worden ſind: denn keine koͤmmt ihr an grauſamer Jntoleranz gleich, weil ſie der Gottheit einen Dienſt zu thun glaubt, wenn ſie diejenigen verfolgt und verketzert, welche ihren Glauben nicht annehmen.

Sie findet in jedem Wort eine myſtiſche Be - deutung; gruͤbelt uͤber die unbedeutendſten Klei -nig -249nigkeiten nach, und laͤßt das Weſentliche bey Sei - te liegen. Jch habe ein laͤcherliches Beyſpiel von den wichtigen Saͤtzen, woruͤber die Theologen in den ſchwaͤrmeriſchen Zeiten des Mittelalters diſpu - tirten, in Hennings Schrift uͤber Ahndungen und Viſionen gefunden, und theile es ſeiner Origina - litaͤt wegen mit.

Nachdem die Lehre von der Transſubſtantia - tion, oder der wirklichen Verwandlung des Brodts im Abendmahl fuͤr wahr erklaͤrt war, entſtand die laͤcherliche Frage: Was man mit derjenigen Maus anfangen ſolle, die eine geſegnete Hoſtie auffraͤße? Hierauf wurden denn mancherley Antworten gegeben. Der eine wollte die Schwie - rigkeit durch eine Unterſcheidung zwiſchen Eſſen und Aufeſſen heben. Ein andrer meynte, man muͤſſe die Maus fangen, wozu ein Dritter wie es ſcheint, der kluͤgſte die Einſchraͤnkung hinzuthat: ja wenn ſie ſich fangen laͤßt. Aber wenn nun die Maus in Arreſt gebracht waͤre, ſoll man den Koͤrper Chriſti, der in ihrem Ma - gen ſteckt, anbeten? nein, ſagte Major. Ja, ſagte Bial, wo Chriſti Koͤrper ſich findet, da muß er angebetet werden, nicht mit dem Koͤrper, aber mit der Seele. Thomas glaubt, man muͤſſe die Maus aufſchneiden, und den Koͤrper Chriſti herausziehen, und ihn noch gebrauchen. Das kann man thun, fuͤgt Marſilius hinzu, nurQ 5muͤßte250muͤßte man doch vorher die Stuͤcken ſauber ab - waſchen. Palutanus ſprach ihr das Todesur - theil; man ſchneide die Maus auf, verbrenne ſie, und werfe ihre Aſche ins Waſſer: den Theil der Hoſtie aber, wenn ihn etwa keiner haben will, verwahre man ſorgfaͤltig, bis er ſich natuͤrlicher Weiſe verzehrt.

Wer an einer der Behauptungen zweifelt, welche dieſe Art Schwaͤrmer als goͤttliche Wahr - heit verkaufen, iſt in ihren Augen der groͤßte Verbrecher. Herr Meiſter erzaͤhlt in den Helve - tiſchen Scenen der neuern Schwaͤrmerey und Jntoleranz mehrere hieher gehoͤrige Beyſpiele, von welchen ich hier nur einen Brief einruͤcken will, welchen ein Berner Candidat J. J. Knecht an ſeinen Bruder in Zuͤrich ſchrieb: Uns nimmt Wunder, wie es bey Euch gehe, was fuͤr Ge - burtsſchmerzen ſich in dem wahren Chriſtenthum bey Euch hervorthun; einmal iſt hier nun bald lauter Kampf und Streit, und von allen Seiten empoͤrt ſich das Reich Satans gegen das Reich Chriſti (das 1000jaͤhrige Reich). Dieſes herr - liche und hoͤchſtſelige Reich, welches noch auf dieſer Erde bey der Zukunft Chriſti unter dem Himmel ſoll aufgerichtet werden, welches denn der geiſt - und eifervolle treue Diener Gottes, Herr Koͤnig, hat angefangen auf oͤffentlicher Kanzel auszurufen; ſo weit zwar, daß man ihnum251um dieſer herrlichen Wahrheit willen unverhoͤrt von ſeinem Amt entſetzt, und ihm alles Predigen un - terſagt hat. Herr Koͤnig aber iſt, wie ein Loͤwe, der alles mit dem Schwerdte des Geiſtes verzehren will, wie er denn vor der obrigkeitlichen Com - miſſion ausdruͤcklich geſagt hat: Sie kreuzigten Chriſtum in ſeinen Gliedern, und das Blut und die Thraͤnen der Laͤmmer werden auf ſie fallen. Unter andern hat er auch geſagt: Wer dieſes herrliche tauſendjaͤhrige Reich nicht glauben wolle, der begehe die Suͤnde in den heiligen Geiſt: es ſey ihm daran gelegen, einſt mit Chriſto auf dem Thron zu ſitzen, und ſeine Feinde vor ſich zu ſehen.

Vernunft darf ſich gegen Schwaͤrmer dieſer Art nicht regen, weil ſie klug genug ſind, dieſelbe fuͤr die aͤrgſte Feindin ihres Glaubens zu halten. Sie kleben an den toͤdtenden Buchſtaben, und wollen bis aufs geringſte von den gegenwaͤrtigen Menſchen das noch beobachtet wiſſen, was fuͤr die Menſchenkinder galt.

Eine beſondre Art der theologiſchen Schwaͤr - merey iſt die apocalyptiſche, welche in der Bibel oder andern alten Schriften, Erſcheinungen, Traͤumen, die Offenbarung zukuͤnftiger Dinge zu finden glaub - ten. Keine Schwaͤrmerey macht ſo leicht ver - ruͤckt, als dieſe, wegen der großen Anſtrengung, die die Prophezeyungen erfordern, und der Ge -woͤh -252woͤhnung an dies Zuſammenreimen ungereimter Dinge.

So ſchrieb ein Nuͤrnberger Prophet an die Zuͤrchiſche Regierung:

Alſo iſt meine freundliche Bitte, dieſe mir von Gott geſandte und dictirte Schriften als wahrhaftiges Wort Gottes anzunehmen. Es ſind viele goͤttliche Wahrheiten und nie erhoͤrte Wunderſtimmen darin von den ſieben Donnern, die St. Johannes ſeiner Zeit hoͤrte, aber nicht ſchreiben durfte, dieweil die beſtimmte Zeit des Antichriſts nicht umhin und auch die Menſchen die Finſterniß mehr liebten als das Licht. Dar - um mußte auch der Geiſt des Lichts, der da ge - kommen war, wieder weichen, und die von Jeſu verkuͤndigte Nacht hereinbrechen, darin nun bey 1500 Jahresſtunden die Menſchen unter der Laſt des Antichriſts in der Jrre und Finſterniß gelebt, und ſich dabey eingebildet haben, wenn ſie den kirchlichen Gottesdienſt fleißig beehrten, es koͤnn - te ihnen nicht fehlen. Darum auf, Jhr meine Allerliebſten, wiſcht den Schlaf aus den Augen, wendet Euch, rettet Eure Seelen, und ſeht Euch nicht um nach den ſtummen Goͤtzen, ſondern nach dem Herrn, eurem Gott; fuͤrchtet ihn, denn die Stunde ſeines Gerichts iſt nun gekom - men! Verharre in Liebe und Demuth, Jo - hannes Dennhart, Buͤrger in Nuͤrnberg, geſchrie -ben253ben im Auguſt 1710, nachdem der Befehl von Gott ausging.

Die Ziehenſchen Prophezeyungen und Offen - barungen aus der Cabbala ſind noch in zu friſchem Andenken, als daß ich weiter etwas zu thun haͤtte, als an ſie zu erinnern.

Die moraliſche Schwaͤrmerey zeigt ſich in einem ausſchweifenden und uͤbelverſtandnen Pflicht - eifer, und hat, wenn ſie auch einzig und allein nach Vorſchriften der geſetzgebenden Vernunft zu handeln vorgiebt, ſo ſehr als irgend eine Art Lei - denſchaftlichkeit und Verblendung der Phantaſie zum Grunde. Dies zeigt ſie durch ihre Einſeitig - keit, indem die von ihr entzuͤndeten gewoͤhnlich eine Art von Pflichten uͤber alles erheben, und dagegen alle uͤbrigen gering achten, ja ſelbſt jene, eben weil ſie ſie uͤbertreiben, verletzen.

Gemeinhin rechnet man zur moraliſchen Schwaͤrmerey die egoiſtiſche, freundſchaftliche, patriotiſche und religioͤſe. Von der erſtern werde ich bey den ſelbſtiſchen Leidenſchaften zu re - den Gelegenheit haben; von der freundſchaftlichen und patriotiſchen ſind, beſonders zu unſern egoi - ſtiſchen Zeiten, wenig Beyſpiele; die religioͤſe, als die ſonderbarſte und merkwuͤrdigſte, verdient eine genauere Erwaͤgung.

Folgende Zuͤge pflegen ſich bey den religioͤ - ſen Schwaͤrmern zu entdecken: doch bey dem ei -nen254nen dieſer, bey dem andern jener in vorzuͤglichem Grade.

Sie halten ſich fuͤr Lieblinge der Gottheit, und andre Menſchen fuͤr hoͤchſt verdorben und von der Gottheit verſtoßen. Daher kommt der Mangel an Menſchenliebe, der ſich faſt allgemein bey ihnen findet, und vorzuͤglich gegen diejenigen ſichtbar iſt, welche eine andre religioͤſe Denkungsart leh - ren, als ſie.

Zimmermanns Beſchreibung einiger Schilde - reyen in dem Kloſter zu Oberalteich beſtaͤtigt dieſe Behauptung. Es war nemlich die Lutheriſche Lehre in der Stadt Straubingen angenommen: allein ſie wurde durch die Moͤnche des genannten Kloſters wieder verjagt. Dieſer Sieg der Moͤn - che uͤber die Ketzer, iſt in der Kirche des Klo - ſters auf folgende Art im Andenken erhalten: Die ganze Decke der obern Gallerie iſt mit hie - her gehoͤrigen Vorſtellungen bemahlt. Die Ketzer ſind als Woͤlfe und Hunde mit Menſchenkoͤpfen vorgeſtellt; und damit man wiſſe, daß es Ketzer ſind, tragen ſie alle dicke Halskragen, wie die proteſtantiſchen Geiſtlichen in Oberdeutſchland. Jn der hinterſten Kapelle ſieht man von allen dieſen Gemaͤhlden dasjenige, deſſen Erfindung dieſen gelehrten Moͤnchen die meiſte Ehre macht, und ihren Sieg uͤber Luther in der Stadt Strau - bingen, ohne Widerrede, verewigt. Der Hin -ter -255tergrund ſtellt ſehr kennbar die Stadt vor. Jm Vorgrunde ſtehen einige Benediktinermoͤnche mit Weihwaſſerwedeln, die dieſes heilige Waſſer ſehr eifrig in die Luft ſprengen. Jn der Luft reitet Doctor Luther im Gallop auf einem Schweine da - von, haͤlt unter dem Arm die Bibel, in einer Hand ein volles Glas, und in der andern eine Bratwurſt. *)Ueber die Einſamkeit. 4. 474.Wer kennt nicht die zur ewi - gen Warnung in der Geſchichte aufbewahrten ſchrecklichen Scenen, in welchen der Fanatiſmus die Hauptrolle ſpielte. Die Pariſiſche Bluthoch - zeit, die Kreuzzuͤge, und hundert andre Begeben - heiten, in welche Menſchen gegen Menſchen auf das grauſamſte wuͤtheten und einander mordeten, zu Ehren eines Gottes, welchen ihre Schwaͤrme - rey ſich erdachte.

Religioͤſe Schwaͤrmer wollen ſich dem uͤber - ſinnlichen Weſen auf eine ſinnliche Art naͤhern: daher die haͤufig vorkommenden Ausdruͤcke von geiſtlicher Liebe, geiſtlicher Verloͤbniß und geiſt - licher Hochzeit. Eine Nonne aus dem ſiebzehnten Jahrhundert, Margaretha Alacoque, bildete ſich ein, die Lieblingsgemahlin Chriſti geworden zu ſeyn. Er erſchien ihr im Kloſter, und bat ſie, ihm ihr Herz zu ſchenken, worin ſie gern willigte. Drauf nahm er ihr Herz, und legte es in das ſeinige, welches ſie durch ſeine Seitenwunde, undzwar256zwar leuchtend gleich der Sonne ſah. Jhr Herz ſchien ihr da, wie ein Staͤublein, welches in die - ſen Feuerofen verſenkt wurde. Endlich zog er es ganz entzuͤndet hervor, legte es wieder in ihre Seite, und ſprach dabey: Da haſt du, Geliebte, ein koſtbares Pfand meiner Liebe. Heiße von nun an die geliebte Schuͤlerin meines Herzens.

Natuͤrliche Neigung und Abneigung haͤlt ein ſolcher Schwaͤrmer fuͤr Suͤnde, weil er glaubt, ein Liebling der Gottheit, der ſich ihr naͤhern wol - le, muͤſſe ganz das Gefuͤhl, daß er ein Menſch ſey, verderben. Daher iſt der Kampf wider ihr Fleiſch ihr beſtaͤndiges Geſchaͤft, und ſie uͤben manche Grauſamkeit gegen ſich ſelbſt aus, um in dieſem Kampf zu beſtehen. Die vorhingenannte Margaretha hatte einen heftigen Abſcheu gegen alles, was Kaͤſe hieß: ſie glaubte indeß, ſie muͤſſe denſelben, als eine Braut des Herrn, uͤberwin - den; zwang ſich, ihn zu eſſen, und, ob ſie im Anfange gleich oft in Gefahr war, bey ihren Verſuchen in Ohnmacht zu fallen, und ſich ihre Natur gewaltig widerſetzte, brachte ſie es doch endlich dahin, daß ihr Aberglaube die Natur uͤber - wand. Auch die Regungen des edlen Ge - fuͤhls, der Schamhaftigkeit, Sympathie u. ſ. w. waren von manchem Schwaͤrmer der fruͤhern und ſpaͤtern Jahrhunderte mit in dem Gebote begrif - fen: Lerne die Kunſt, uͤber deine Natur zu ſiegen. Zim -257Zimmermann hat in ſeiner Schrift uͤber die Ein - ſamkeit mehrere Beweiſe davon geſammelt, von denen es genug iſt, wenn ſie einmal geſagt ſind.

Ueber das Urtheil der Menſchen von ihnen ſetzen ſie ſich mit der groͤßten anſcheinenden Gleich - guͤltigkeit hinaus, weil ſie die Meynung haben, daß ſie um ſo mehr Ehre bey Gott genießen, je weniger ſie von den Menſchen erhalten. Doch mag mancher ſich von dieſem Einfluß Andrer auf ihn wohl nicht ganz entfernt halten koͤnnen; wenig - ſtens zeugen die heftigen Reden mancher Schwaͤr - mer gegen diejenigen, welche ihre Schwaͤrmerey verachteten, ſehr deutlich, wie mich duͤnkt, daß dieſe Urtheile eine ſtarke Veraͤnderung in ihrem Jnnern hervorbrachten.

Gelehrſamkeit und Aufklaͤrung des Verſtan - des iſt dem religioͤſen Schwaͤrmer durchaus zu - wider, weil er nichts ſo ſehr haßt und fuͤrchtet, als Verdeutlichung ſeiner Begriffe, welche nur, ſo lange ſie dunkel ſind, die brennende Wirkung auf Phantaſie und Herz haben koͤnnen. Letzt - lich, ſchreibt ein ſolcher Schwaͤrmer an ſeinen Freund, muß ich dir auch etwas Neues ſchreiben, daß ich nemlich ſeit dem zwoͤlften Jaͤnner durch vorhergehende goͤttliche Ueberzeugung und kraͤfti - gen Trieb gezwungen, das Studententhum ſamt allen Zugehoͤrigen gaͤnzlich aufgegeben und von mir abgelegt habe, wofuͤr ich denn Gott,Rmei -258meinem Heiland, als meinem oberſten Lehrmeiſter und Profeſſor, der nicht irren kann, herzlich danke u. ſ. w. *)Helvet. Scenen der n. Schwaͤrmer und Jnt. S. 112.

Wie leicht ganz entgegengeſetzte Extreme in einander fließen, kann man auch bey dieſer Art der Schwaͤrmerey ſehen. Der religioͤſe Schwaͤr - mer will ganz uͤberſinnlich, ganz geiſtig werden: und ſeine Uebungen, um zu dieſem Zweck zu ge - langen, fuͤhren ihn zur groͤbſten Sinnlichkeit: und es zeigt ſich am Ende ſehr oft, daß die geprieſne geiſtliche Liebe aus denſelben Quellen entſpringt, aus welchen die koͤrperliche Liebe zu entſpringen pflegt. Es iſt dies auch ſehr leicht zu begreifen. Das beſtaͤndige Beſtreben, ſich die Gottheit zu ver - ſinnlichen, reizt die Phantaſie, und ſpannt die Kraͤfte außerordentlich an. Der Schwaͤrmer will zum Anſchauen eines Weſens gelangen, das nicht angeſchauet werden kann, wobey es alſo der Jmagination frey ſteht, hervorzubringen, was ſie will. Sie nimmt zu dem Bilde des an - gebeteten Gegenſtandes die reizendſten Farben, und zeichnet es nach den geheimſten und geliebte - ſten Neigungen ab. Aber, weil es nichts als ein Bild ohne Gegenſtand iſt, muß das Auge der Einbildungskraft immer auf daſſelbe hinblicken, weil es nur ſo lange, als dies geſchieht, exiſtirt. Aus259Aus dieſer Anſtrengung folgt Gedankenloſigkeit, Erſchlaffung und unwillkuͤhrliche Reizung der Nerven. Nimmt man hiezu, daß der Schwaͤr - mer, welcher immer der Liebe des uͤberſinnlichen Weſens genießen will, unaufhoͤrlich daran denkt, ſich von allem Sinnlichen frey zu machen; denkt man an die beſtaͤndig gebrauchten myſtiſchen For - meln von unſichtbarer Vermiſchung, unter wel - chen doch immer dunkle koͤrperliche Gefuͤhle ver - borgen ſind, und an die ewigen Kaſteiungen, Unregelmaͤßigkeiten in der Lebensordnung, Fa - ſten, Wachen u. ſ. w., deren Vermoͤgen, die Begierden rege zu machen, bekannt iſt; ſo wird man ſich nicht wundern, wie die ſchwaͤrmeriſche Liebe des uͤberſinnlichen Weſens, ſo leicht eine bloße Maſke der koͤrperlichen Begierden werden koͤnne.

Außer den angefuͤhrten beſondern Arten der Schwaͤrmerey, deren ſich noch viel mehrere ma - chen ließen, gedenk 'ich hier nur noch derjenigen, welche man Univerſalſchwaͤrmerey nennen koͤnn - te, und welche ſich nicht auf einen Gegenſtand, oder Gegenſtaͤnde einerley Art, erſtreckt, ſondern durch den ganzen Kreis des Begehrungsvermoͤ - gens laͤuft. Univerſalſchwaͤrmer bleiben in kei - nem Stuͤck auf der Mittelſtraße; ſondern ſchwei - fen bald hie bald da aus. Sie werden von allen Dingen, die wirkliche Beſchaffenheit derſelbenR 2ſey,260ſey, welche ſie wolle, in gleichem Maaße geruͤhrt und begehren, und verabſcheuen ſehr heftig oder gar nicht.

Die naͤchſte Quelle aller Schwaͤrmerey iſt das von der erhitzten Phantaſie getaͤuſchte Herz, und alles alſo, was dieſe Wirkung hervorbringen kann, kann auch zur Schwaͤrmerey die Veran - laſſung werden. Daher derjenige am leichteſten von ihr ergriffen wird, der von einer ſehr reizba - ren Empfindung und heißer Leidenſchaft iſt. Wenn nun in der Kindheit nicht die Erziehung und in den folgenden Jahren nicht die eigne Be - arbeitung dahin ſtrebt, dieſe natuͤrlichen Eigenheiten zu maͤßigen; ſondern vielmehr durch Gewoͤhnung, Lectuͤre weichlicher oder abentheuerlicher Schrif - ten die Phantaſie noch mehr angeregt wird; ſo kann ſie leicht die Schnellkraft erhalten, ſich uͤber die Vernunft emporzuſchwingen, und zur Bewe - gerin des Willens zu machen: beſonders wenn aͤußere Umſtaͤnde hinzukommen, welche ihr guͤn - ſtig ſind, z. B. Umgang mit Schwaͤrmern, koͤr - perliche Schwaͤche und Einſamkeit, welche vor - zuͤglich gefaͤhrlich iſt, weil da der Menſch ſich ſelbſt ganz uͤberlaſſen, ſo viel Phantasmen bruͤten kann, als er will, und niemand ihm einredet; weil er, da nichts ihn zerſtreuet, ſeine Aufmerk - ſamkeit zu ſtark auf einige Dinge heftet, und dar - uͤber der andern vergißt. Wenn dann die richti -ge261ge Aufklaͤrung des Verſtandes unterlaſſen wird, die Begriffe unentwickelt liegen bleiben, und an Pruͤfung und eignes Urtheil nicht gedacht wird, was kann da anders erzeugt werden, als Einſei - tigkeit, Aberglaube, Liebe zum Wunderbaren und andre Geburten der traͤgen und von der Ein - bildungskraft getaͤuſchten Vernunft? Sobald unter Roͤmern und Griechen aͤchte Gelehrſamkeit und Aufklaͤrung in Verfall gerieth, die aſiatiſche Ueppigkeit und Laſterhaftigkeit die Denkkraft laͤhm - te, und Wiſſenſchaft zur Dienerin der Schmei - cheley und Geldgier erniedrigt wurde, fuͤllte ſich Rom und ſeine Provinzen mit Aſtrologen, Chal - daͤern und Magiern. Ein Apollonius von Tyana bethoͤrte nicht blos den Poͤbel, ſondern auch die, welche ſich uͤber demſelben erhaben glaubten. Er zog durch den wundervollen Nimbus, den er um ſich her goß, eine ungeheure Menge von Schuͤ - lern an, und die Hoͤrſaͤle wahrer Weltweiſen wurden leer. Man glaubte ſeinen Weiſſagungen, man traute ſeinen Wundern; und dem Creditiv, welches er als Geſandte und Liebling der Gottheit zu haben vorgab. Man wollte nun Krankheiten nicht mehr durch Arzney, ſondern durch Amulete und Zaubermittel heilen; und uͤber das Beſte des Staats wurden die Wahrſager eben ſo oft, wie die Vaͤter der Republik befragt*)Meiners Beytraͤge zur Geſchichte der Denkart in den erſten Jahrhunderten nach Chriſti Geburt..

R 3Zur262

Zur religioͤſen Schwaͤrmerey kann beſonders der erſte Unterricht in der Religion außerordent - lich leicht veranlaſſen. Wenn die Gottheit zu ſinnlich dargeſtellt, zu viel auf Gefuͤhle und Glau - ben gedrungen wird, der Vortrag zu bildlich und myſtiſch iſt, und die unſchuldigſten Aeußerungen menſchlicher Neigungen und Gefuͤhle zur Suͤnde gemacht werden, wie kann es fehlen, daß da die Phantaſie nicht mit ſchaͤdlichen wunderbaren ver - worrnen Vorſtellungen erfuͤllt wird, welche das Gemuͤth beunruhigen und aus ſeinem Gleichge - wicht bringen koͤnnen? Oft ſind es die Aus - ſchweifungen der fruͤhern Jahre beſonders in der Wolluſt, welche die Natur aus ihrem Gleiſe draͤngen, und ihr auf dieſe Weiſe an dem Elen - den ſelbſt die ſchrecklichſte Rache verſchaffen. Denn die edelſten Saͤfte werden dadurch verzehrt, die Nerven erſchlafft, ihr ganzes Gebaͤude wird erſchuͤt - tert, und die Phantaſie aͤußerſt reizbar und un - ordentlich. Dazu koͤmmt von der andern Seite die Qual des Gewiſſens, und der Ungluͤckliche koͤmmt in ein Gedraͤnge, das ihn in ewigen Krei - ſen herumjagt, und alle Beſonnenheit wegnimmt.

Das ſicherſte Mittel ſich vor dieſer Unord - nung in ſeiner Natur zu verwahren, iſt Ordnung in ſeiner Lebensart. Wer durch treues Arbeiten an ſich ſelbſt, alle ſeine Kraͤfte ins Gleichgewicht zu bringen und ſie darin zu erhalten ſucht, ſeinenVer -263Verſtand durch Selbſtdenken und Verdeutlichung aller Begriffe aufklaͤrt, und vom Vorurtheil und Aberglauben frey macht, maͤßig und tugendhaft lebt, und ſeinem Koͤrper Geſundheit und Feſtigkeit durch Maͤßigkeit in der Lebensart und Arbeit giebt; der wird nicht leicht in Gefahr kommen, von ſei - ner Phantaſie irre gefuͤhrt und zu Ausſchweifun - gen verleitet zu werden.

Jſt einmal die Phantaſie zur Schwaͤrmerey entbrannt, ſo wird ihr Feuer kaum wieder aus - geloͤſcht werden. Vernuͤnftige Vorſtellungen fin - den keinen Eingang; ſanftes Zureden wird nicht gehoͤret, und gewaltſame Behandlung facht das Feuer noch mehr an, wie Shakeſpear ſehr gut bemerkt:

All impediments in fancys courſe Are motives of more fancy.
Alles, was die Phantaſie in ihrem Laufe hemmt, reizt ſie, noch mehr zu ſchwaͤrmen.

Daher iſt es um ſo wichtiger alle Praͤſerva - tivmittel zu nutzen, weil fuͤr das Uebel ſelbſt noch kein ſichres Heilungsmittel gefunden werden kann.

R 4Vier -264

Vierzehnte Unterhaltung. Ueber die Bildung der Einbildungskraft und des Denkvermoͤgens.

Wo iſt ein Geſchoͤpf, das ſo viel Anlagen zur Vollkommenheit haͤtte, als der Menſch? an wem hat ſich die Guͤte und Weisheit des Schoͤpfers mehr verherrlicht? Gott ſchuf den Menſchen nach ſeinem Bilde! Er gab ihm Faͤhigkeit, An - lagen und Kraͤfte, dem hoͤchſten Urbilde der Weisheit und Vortreflichkeit nachzuſtreben: Verſtand, um es zu erkennen, und Thaͤtig - keitsvermoͤgen, um ſeiner Erkenntniß nachzu - arbeiten.

So laßt uns denn nicht kalt und gefuͤhllos vor dieſem hohen Muſter ſtehen bleiben; ſondern Eifer und Liebe genug zu uns ſelbſt haben, uns zu bemuͤhen, ſo gluͤckſelig, ſo gut, ſo vortreflich zu werden, als uns vergoͤnnt iſt!

Um dies aber zu werden, muͤſſen die Anla - gen, die dazu in uns ſind, bearbeitet und gebildet werden. Es wird aus dem, was in den vorher - gehenden Unterhaltungen von der Einbildungskraft bemerkt worden iſt, die Wahrheit folgender Saͤ - tze einleuchtend ſeyn:

Die265

Die Einbildungskraft kann fuͤr den Menſchen eine Quelle der Freuden oder der Leiden werden.

Sie kann die Freundin der Tugend ſeyn; aber auch die Kuplerin des Laſters.

Sie kann dem Verſtande leuchten; aber auch denſelben verblenden.

So waͤhlt denn, Juͤnglinge und Maͤdchen, die Jhr es noch ganz in Eurer Gewalt habt, die - ſe gelenkſame Kraft Eurer Seele zu leiten, wo - hin Jhr wollt; waͤhlt, welches das Ziel Eurer Arbeit werden ſoll! Jhr beſtimmt Euch gewiß alle dies herrliche Geſchenk der Gottheit, von dem hoͤchſten Verſtande erfunden, und der vaͤterlich - ſten Guͤte verliehn, zu den guten Zwecken, die daſſelbe befoͤrdern kann, zu gebrauchen, und ich kann daher auf Eure Zufriedenheit rechnen, wenn ich verſuche, in den folgenden Blaͤttern, eine kurze Anweiſung zu geben, was man zu thun hat, wenn die Abſicht, die Phantaſie zur Be - foͤrderung der Gluͤckſeligkeit und Vollkommenheit zu nutzen, erreicht werden ſoll.

I. Bilde die Einbildungskraft ſo, daß ſie fuͤr dich eine Quelle der Freude wird.

O ſie kann auch eine Quelle der Leiden wer - den! denn ſie findet Stoff genug im Reich derR 5Moͤg -266Moͤglichkeiten, das wirkliche Uebel zu vergroͤßern, und was nicht da iſt, zu ſchaffen. Es iſt nicht allein der gegenwaͤrtige Schlag des Schickſals, der das Herz des Leidenden verwundet; die groͤßten Schmerzen machen ihm die Angſt, die Furcht und die Sorge wegen der Folgen des itzigen Lei - dens. Was wird aus mir werden, wie wird es mir ergehen? Das iſt die gewoͤhnliche Sprache. Und wenn auch die Zahl der Freuden die des Lei - dens ſehr weit uͤberſtiege, jene werden nicht wahrgenommen vor dieſen, welche ſich in Schaa - ren vor die Seele draͤngen, und ihr den Blick ins Freye und Heitere benehmen. Der Menſch ſieht gewoͤhnlich die Dinge, wovon er umgeben iſt, durch das aus der itzigen Stimmung ſeiner Seele gefaͤrbte Glas der Phantaſie an; darum ſcheint ihm in den Stunden des Kummers der ganze Himmel in Wolken gehuͤllt zu ſeyn, und die Erde den Zorn des Himmels zu fuͤhlen. Wer hat ſich wohl nicht oft ſelbſt ſchon geſtraft, wenn der Sturm des Leidens voruͤber und das Herz in Ru - he war, daß er ſich von eitlen Phantaſien quaͤlen ließ, die wie die Voͤgel der Nacht nur ſo lange um das Herz ſchwaͤrmen, als die Vernunft ver - hindert wird, daſſelbe mit ihren wohlthaͤtigen Strahlen zu erleuchten?

Wie oft thut die Einbildungskraft der guͤti - gen Vorſehung unrecht, indem ſie alle Zuͤge derLiebe267Liebe aus ihrem Bilde wegwiſcht, und nichts, als Haͤrte, Grauſamkeit und Ungerechtigkeit in ihr wahrnimmt.

Wie oft hat die Vernunft das Unrecht abzu - bitten, was die Phantaſie an dem Freund that. Ein ſchwacher, ſchwacher Schein von unfreund - licher Geſinnung, wie oft macht er das Auge blind gegen eine große Menge wahrhafter Wohl - thaten der Freundſchaft!

So oft macht uns die Phantaſie den Schein zur Wahrheit, und die Wahrheit zum Schein!

Und wir ſollten uns auf Koſten unſrer Ruhe ſo oft von ihr bethoͤren laſſen? Nein erhebe dich Vernunft und ſinne auf Mittel dieſe Betruͤgereyen der Phantaſie zu zernichten.

Die Einbildungskraft wirkt auf das Herz durch die Vorſtellungen, welche ſie am haͤufigſten und lebhafteſten unterhaͤlt, und mit andern ver - knuͤpfet. Sind dieſe Vorſtellungen nun von an - genehmen Jnhalt, ſo werden ſie das Herz erfreuen; von unangenehmen, betruͤben.

Bemuͤhe dich daher zu Vertrauten dei - ner Phantaſie ſolche Vorſtellungen zu ma - chen, in welchen du dich als ein gluͤckſeliges Weſen und alles um dich her als eine Quelle deiner Gluͤckſeligkeit erblickſt.

Und ſollteſt du hiezu nicht Stoff genug finden? Schau um dich her mit Wahrheit ſu -chen -268chenden Augen! Natur und Kunſt, dein Herz und dein Verſtand haben Freuden genug, die du in deine Einbildungskraft aufnehmen und durch dieſelbe genießen kannſt.

Der Cherub mit dem flammenden Schwerdt wehrt nicht mehr den Eingang in das Paradies der Natur! Allenthalben beut ſie ſich unſerm Ge - nuß dar.

Schaut nur,
Schaut mit wahren Herzensblicken
Nach dem Reiche der Natur.
Taumeln muͤßt ihr vor Entzuͤcken
Gott am Buſen hier zu druͤcken,
Wenn ihr ſeiner Weisheit Spur
Jn dem kleinſten Wuͤrmchen findet,
Das im Staub ſich kruͤmmend dreht,
Und die Stufenleiter gruͤndet,
Die beym Cherub ſtille ſteht.
Seht des Fruͤhlings erſte Bluͤthe,
Seht der Saaten friſches Gruͤn.
Ueberall herrſcht Gottes Guͤte
Jn dem ganzen Weltgebiete,
Wo nur Gras und Kraͤuter bluͤhn:
Wo ſich Euer Auge wendet
Findet ihr von ſeiner Hand
Neue Freuden ausgeſpendet,
Freuden, die ihr nicht gekannt.
*)Das Lob des einzigen Gottes v. Franz von Kleiſt, Deutſcher Merkur 1789. Auguſt. 1.
*)So269

So wie nun der fleißige Naturforſcher die Werke der Natur ſorgfaͤltig beobachtet und ſamm - let, um ſeine Einſicht in ihren Zweck und Plan immer mehr und mehr zu erweitern; ſo muͤſſen wir auch die Freuden ſorgfaͤltig aufſuchen und ſammeln, um von dem Zweck ihres Daſeyns, die Menſchen gluͤckſelig zu machen, Nutzen fuͤr unſer Herz zu ziehen.

Jch weiß uͤberhaupt außer der Tugend kein beſſeres Mittel den Gleichmuth und die Ruhe zu erhalten, als die fleißige Unterhaltung mit der Natur. Dieſe gewoͤhnt das Herz an erhabne, reine und uneigennuͤtzige Freuden giebt immer aus ihrem Schatz, und iſt immer neu. Und die Wahrnehmung, daß zwar in der Natur ein immerwaͤhrender Wechſel von Entſtehen und Ver - gehen eine Miſchung von Unvollkommenheit und Vollkommenheit iſt; indeß der Gang der Ver - vollkommung doch ungeſtoͤrt bleibt, und vielmehr durch jene Unvollkommenheiten befoͤrdert wird; dieſe Wahrnehmung geht in das Herz analogiſch uͤber, und haͤlt den Muth auch in wirklichen Lei - den durch die Hofnung aufrecht, daß des Men - ſchen Schickſal keine Ausnahme von der Regel der Natur machen wird, ſondern ſeine Uebel und Leiden ſelbſt ein Befoͤrderungsmittel ſeiner Ver - vollkommung ſind.

So270

So trinke denn aus dieſer reichen Quelle der Gluͤckſeligkeit, welche mit den Quellen der Freund - ſchaft, Liebe und Wiſſenſchaft unverſiegbar fuͤr dich ſtroͤmt, trinke und naͤhre deine Phantaſie aus derſelben. Aber, wenn du dieſes thun willſt, mußt du auch bemuͤht ſeyn, ihr Geſchmack dar - an zu verſchaffen, und ſie geſund zu be - wahren.

So Mancher moͤchte gern die Freudenblumen, die auf dem Wege des Lebens dem Pilger laͤcheln, pfluͤcken und genießen; aber er koͤmmt nie zum Genuß, weil der Sturm der Leidenſchaft ihm kei - ne Ruhe goͤnnt.

Wem es alſo darum zu thun iſt, ſeiner Ein - bildungskraft einen Schatz zu ſammeln, der ihn nie freudenarm laſſe; der verjage aus ſeinem Herzen jede unmaͤßige, praͤtendirende, unruhige Leiden - ſchaft.

Ja ihr ſtolzen, herrſchſuͤchtigen, alles begeh - renden Leidenſchaften, ihr ſeyd die Moͤrder der Ruhe und Freude des Menſchen! Wenn aus dem ruhig gewordnen Herzen die ſanften Bilder der Freude und Zufriedenheit in die Phantaſie ſchweben; ach wie bald, wie bald zerſtreut ſie wieder euer verzehrender Sturm, daß der von euch Gequaͤlte ja nur Minuten lang gluͤckſelig werde.

Da271

Da koͤnnen denn freylich nicht die Bilder der Freude ſich ſammlen, und dankbar auf das Herz zuruͤckwirken, aus dem ſie gebohren wurden.

Drum hoͤre ein jeder, dem ſeine Ruhe, ſeine Gluͤckſeligkeit werth iſt, den Befehl der Weis - heit: Sapere aude. Er wage es, gegen die Lei - denſchaft anzugehn und ſie zuruͤckzuhalten, bis er die Freude geſchmeckt hat, welche dieſe ihm nicht goͤnnt o das wird ihm Kraft, das wird ihm Muth geben, die Feinde ſeiner Gluͤckſeligkeit fer - ner anzugreifen, zu uͤberwinden und zu feſſeln.

Nichts ſtoͤrt ſo oft die Ruhe des Menſchen, als zerriſſene Plaͤne, getaͤuſchte Hofnungen und verdunkelte Ausſichten. Man huͤte daher ſeine Einbildungskraft, welche ſo gern in den Luͤften Pallaͤſte erbaut, damit ſie von dieſer Seite die Ruhe des Herzens nicht unterbreche. Man blei - be mit ſeinen Plaͤnen immer in einem Bezirk, uͤber welchen man zu gebieten hat, oder aus welchen man ſich wenigſtens ohne großen Verluſt an ſei - nem koͤſtlichſten Gute zuruͤckziehn kann. Beſon - ders aber gewoͤhne man ſeine Phantaſie nicht zu ſehr an ein Bild; denke wenigſtens ſich das Moͤg - liche nur immer als moͤglich, nicht als wahr - ſcheinlich, nicht als gewiß. Dann wird der Gedanke, es kann auch anders ausfallen, als du denkſt, immer gegenwaͤrtig bleiben, und wir werden mit Gleichmuth das verſchwinden ſehn,was272was wir noch nicht als unſer Eigenthum an - ſahen.

Allen Genuß der Zukunft durch die Einbil - dungskraft ſich zu verſagen, iſt nicht nothwendig; im Gegentheil gewaͤhrt oft eine frohe Ausſicht gu - ten Erſatz, fuͤr eine nicht ganz heitere Gegen - wart. Nur muͤſſen die Erwartungen des Zu - kuͤnftigen ihre Gruͤnde in der gegenwaͤrtigen Si - tuation haben, und in richtigem Verhaͤltniß zu unſrer Jndividualitaͤt ſtehn. Man gewoͤhne ſeine Phantaſie huͤbſch haͤuslich, und beherzige den weiſen Spruch:

Plus on s'eloigne de ſoi - même, plus on s'écarte du bonheur!

Nicht leichter wird die Phantaſie des Men - ſchen unwillig, und umwoͤlkt ihren Geſichtskreis, als wenn die Qual der Langenweile den Menſchen foltert. Es iſt ein unertraͤgliches Gefuͤhl nichts zu haben, und nichts zu finden, woran man ſei - ne Thaͤtigkeit uͤben koͤnnte. Man koͤmmt ſich da ſo klein, ſo niedrig vor, und kann in dieſen Au - genblicken wirklich ſich ſelbſt feind werden. Dar - um laſſe man nie dies Gefuͤhl der Langenweile bey ſich ein, und verſperre ihm die Thuͤren dadurch, daß man ſich einen feſten Lebensplan entwirft, der ſo berechnet iſt, daß niemals ein Moment leer und zwecklos bleibe. Es kann ja jeder leicht et - was finden, was in ſein Leben Jntereſſe bringenkann,273kann, und wie wohl es ſich dann leben laͤßt, das fuͤhle der, dem irgend ein wichtiger und guter Zweck des Verſtandes oder Herzens das Leben in - tereſſant macht.

Aber wenn man auch die Phantaſie geſund zu erhalten ſucht, wenn man ſich auch bemuͤht, ihr Geſchmack an den Freuden, die ſich uns dar - bieten, beyzubringen; wer kann es verhuͤten, daß die Leiden, die ſo wirklich wie die Freuden ſind, ſie nicht mit truͤben Vorſtellungen erfuͤllen?

Wer wollte es auf ſich nehmen, zu behaup - ten, daß die Leiden in der Welt nicht eben ſo wirklich als die Freuden waͤren, daß die Phan - ſie fuͤr jene nicht eben ſo empfaͤnglich ſey, als fuͤr dieſe? Allein man erlaube ihr nur nicht zu dem, was wirklich in dem Leiden iſt, noch mehr hinzu - zudichten.

Ach wenn das Gefuͤhl des Menſchen immer nur dem wirklichen Uebel angemeſſen waͤre, wie viel wuͤrde es von ſeiner Bitterkeit verlieren! Aber man fuͤhlt gemeiniglich nicht allein das wirk - lich druͤckende, ſondern auch alle unangenehme Vorſtellungen, welche durch das Gefuͤhl des Lei - dens zum Bewußtſeyn gezogen werden.

Der ungluͤckliche Thomas in der Meſſiade iſt betruͤbt uͤber den Tod ſeines Lehrers. Seine Freunde kommen, ihm die Auferſtehung deſſelben zu verkuͤndigen; aber ach ſein Herz und ſeineSEin -274Einbildungskraft ſind zu voll von Leiden und Kum - mer, als daß er ihnen glauben kann. Alle Be - weiſe, die jede ruhige Seele uͤberzeugen konnten, uͤberzeugen ihn nicht: er iſt zu vertraut mit den Vorſtellungen der Betruͤbniß, als daß er dem Troſte der Hofnung Raum geben koͤnnte. Wor - an er zweifelt, das macht ihm ſeine Phantaſie zur Gewißheit, und ſtuͤrzt ihn dadurch in den tiefſten Abgrund des Leidens.

So bin ich ohn 'ihn denn? Jch leb' und ich ſterbe Ach ohn 'ihn? du ſchreckliche Nacht, die mich ringsum einſchließt. Wehe mir! ohn' ihn! auf Gebirgen Gebirg 'und Abgrund, Dicht an Abgrund, ſchreckliche Nacht! Mein dunkles Gefuͤhl, ach! Warum quaͤleſt auch du mich: Er wuͤrde mir einſt noch mehr ſeyn, Als er mir war? warum durchgraͤbſt auch du mir die Seele? Biſt du unſterblich, o Seel' in mir, o fallt mich entflohne Schwarze Zweifel, mit eurem Grimme nicht an, und wuͤthet, Wuͤthet nicht wieder! o die du in mir unſterblich biſt, Seele,Tief,275Tief, zu tief, zu jammervoll iſt dein Elend! Zerrißne, Wundenvolle, du biſt ohn 'ihn!

So erbarmungslos iſt Mancher gegen ſich! So macht Mancher das, was nichts als ſeine Vor - ſtellung iſt, zur Realitaͤt, getaͤuſcht durch die Geneigtheit ſeiner Jmagination, ihre Vorſtellungen nach der gegenwaͤrtigen Stimmung des Herzens zu bilden. Drum wiederhohl 'ich die Regel:

Fuͤhle nichts, als das Wirkliche im Ue - bel, und verſtatte der Phantaſie nicht, dich durch eingebildetes Ungluͤck zu aͤngſtigen.

Wie etwas auf unſer Herz wirken ſoll, ob angenehm oder unangenehm, das haͤngt von der Art ab, wie wir es uns vorſtellen. Eine und dieſelbe Sache, wie verſchieden wird ſie von ver - ſchiednen Menſchen empfunden! Der vernuͤnftig und menſchlich Denkende ſieht in den aͤußern Guͤ - tern Huͤlfsmittel zur Bequemlichkeit des Lebens; der ſtrenge und einſeitige Schwaͤrmer Dinge, welche die Tugend entehren; der Traͤge ſieht die Arbeit als Muͤhſeligkeit, der Fleißige als ein un - terhaltendes Geſchaͤft an.

Daß man doch dieſe Wahrheit beherzige! Daß man doch ſeiner Einbildungskraft einſchaͤrfe, ihre Vorſtellungen nach der Wahrheit und nicht ein - ſeitig und falſch zu bilden! Daß man ſie doch ge -S 2woͤhne,276woͤhne, an den Dingen immer das aufzuſuchen, was fuͤr das Herz das Angenehmſte iſt!

So ſpricht der edle Saladin in Nathan dem Weiſen zu dem Tempelherrn, als dieſer klagt:

Daß doch in der Welt Ein jedes Ding ſo manche Seiten hat Von denen oft ſich gar nicht denken laͤßt Wie ſie zuſammen paſſen Saladin. Halte dich Nur immer an die beſt 'und preiſe Gott! Der weiß, wie ſie zuſammenpaſſen.

So kann die Phantaſie uns Freude geben, und das Leiden mindern, wenn man ſie gewoͤhnt, an jedem Dinge die beſte Seite aufzuſuchen, und ſich an dieſe zu halten. Und wo waͤre wohl ein Uebel, welches nicht eine gute Seite haͤtte?

Du biſt arm? Denke dir nur die Ar - muth nicht als ein Elend, ſondern als einen Zu - ſtand, in welchem du der Natur naͤher biſt, und reich an eignem Verdienſt werden kannſt.

Du wirſt verkannt? Nun, dann, mein Freund, ſo hat die Tugend noch eine Ge - legenheit mehr ſich zu uͤben, ſich zu reinigen, ſich zu befeſtigen.

Du haſt die, die dir hier auf Erden theuer waren, durch den Tod verloren? Verloren? Nein,277Nein, ſie ſind zur Ruhe und ewigen Gluͤckſelig - keit hinuͤbergeſchlummert.

Wohl dem, der Religion im Herzen hat! Jhm wird es leicht, an allen Dingen eine gute Seite aufzufinden; denn auch das bitterſte Leiden druͤckt ihn nicht zu Boden, weil er uͤberzeugt iſt, daß er unter der Vorſehung eines guͤtigen Vaters ſteht, welcher alles zum Beſten zu kehren Willen und Macht hat und in jedem Seufzer der Weh - muth den Saamen zukuͤnftiger Wonne verbirgt.

Unausſprechlich ruͤhrend und erhaben iſt die Gottergebenheit und die Selbſtberuhigung Na - thans, in unſers unſterblichen Leſſings eben ge - nannten Gedichte, welches dieſer einzigen Stelle wegen ſchon einer Ewigkeit werth iſt.

Nathan hat in Gath, wo die Chriſten alle Juden mit Weib und Kind ermordet hatten, auch ſein geliebtes Weib und ſieben hofnungsvolle Soͤh - ne verloren. Sie waren, ſich zu retten, nach Gath geflohn, und mußten, wo ſie Rettung zu finden glaubten, verbrennen. Drey Tage und Naͤchte lag Nathan, der Weib - und Kinderloſe, in Staub und Aſche vor Gott und weinte; rech - tete beyher auch wohl mit Gott und zuͤrnte und verwuͤnſchte die Welt, und ſchwor der Chriſtenheit den unverſoͤhnlichſten Haß. Aber dies that Na - than der Weiſe nicht laͤnger, als das Leiden ihn ſeines Bewußtſeyns beraubte, und ſeiner ſelbſtS 3ver -278vergeſſen ließ.

Doch nun, ſo erzaͤhlt der edle Mann, Doch nun kam die Vernunft allmaͤhlig wieder. Sie ſprach mit ſanfter Stimm ': und doch iſt Gott! Doch war auch Gottes Rathſchluß das! Wohl - an! Komm! uͤbe, was du laͤngſt begriffen haſt, Was ſicherlich zu uͤben ſchwerer nicht, Als zu begreifen iſt, wenn du nur willſt. Steh auf! Jch ſtand, und rief zu Gott: ich will! Willſt du nur, daß ich will.

Jndem er ſo von der Vernunft ſich zureden ließ, kam ein Reuter und uͤberreichte ihm ein un - bekanntes Kind, welches er in ſeinen Mantel ge - huͤllt hatte. Und Nathan nahm Das Kind, trugs auf ſein Lager, kuͤßt 'es, warf Sich auf die Knie' und ſchluchzte:

Gott! auf Sieben Doch nun ſchon Eines wieder!

Sammle in deine Phantaſie angenehme Vorſtellungen, ſieh von jedem Dinge die beſte Seite, und uͤbe dich im Uebel ſelbſt das Gute zu entdecken; dann wird deine Einbildungs - kraft dir eine Quelle der Freuden werden.

II.279

II. Erziehe die Einbildungskraft zu einer Freundin der Tugend.

Wenn Tugend das hoͤchſte Gut des Men - ſchen iſt: nur ſie allein ihm Werth und Wuͤrde giebt, und ohne ſie keine Gluͤckſeligkeit moͤglich iſt: ſo wird ein jeder es fuͤr Pflicht erkennen, al - les anzuwenden, was ihm zum Beſitz dieſes Gu - tes foͤrderlich, und alles abzuwenden, was ihm daran hinderlich ſeyn kann.

Die Phantaſie kann beydes. Wie der Menſch ſie erzieht, ſo bildet ſie ſich zur Freundin der Tugend oder zur Kuplerin des Laſters: wir wollen daher lernen, ſie fuͤr die Sache der Tu - gend zu gewinnen.

Huͤte dich zufoͤrderſt, deine Einbildungs - kraft mit ſolchen Vorſtellungen zu fuͤllen, welche dich zur Befleckung deiner Tugend und zur Verletzung deiner Pflicht verfuͤhren koͤnnen.

Jch rechne zuerſt hieher die Vorſtellungen des Laſters uͤberhaupt, welche jeder, dem ſeine Tugend werth iſt, moͤglichſt ſelten in ſeine Seele einlaſſen muß. Wer oft Bilder der Wolluſt, des Hochmuths, der Grauſamkeit oder irgend ei - nes andern Uebels der moraliſchen Welt, in ſich unterhaͤlt, gewoͤhnt ſich nach und nach daran. Das Original verliert das Widrige, AbſcheulicheS 4und280und Schreckliche, wenn man die Copie oft geſehen und ſich an ihren Anblick gewoͤhnt hat. Wie ab - ſcheulich duͤnken dem unſchuldigen Juͤngling die Ausſchweifungen unreiner Luſt; er moͤchte vor ſich ſelbſt fliehen, wenn er dieſelben ſich vorſtellt; aber man verſetze ihn nur in eine Lage, wo ihrer oͤfters gedacht wird, man umgebe ihn mit wolluͤ - ſtigen Gemaͤhlden, und laſſe ihn einen oͤfteren Zu - ſchauer wolluͤſtiger Scenen ſeyn, ſo wird ſich nach und nach der empoͤrende Abſcheu verlieren. Er wird wohl noch einigemal die Zuckungen der ſter - benden Tugend fuͤhlen; aber endlich wird doch, wenn nicht noch zu rechter Zeit die Weisheit ihn aus der Gefahr reißt, ſeine Unſchuld von den Gehuͤlfen des Laſters gewuͤrgt werden. Das er - fuhr der edle Agathon in dem Hauſe des klugen Sophiſten Hippias; das hat ſo mancher gute Juͤngling erfahren, der ſich ohne Argwohn aͤhn - lichen Gefahren uͤberließ.

Fliehet deswegen, Juͤnglinge und Maͤdchen, die ihr in gluͤcklicher Unbekanntſchaft mit dem La - ſter lebt, o fliehet alles das, was Euch die Be - kanntſchaft mit demſelben verſchaffen kann. Ent - fernt Euch aus den Verſammlungen, die ſich mit unreinen Geſpraͤchen unterhalten, damit nicht Euer Ohr zum Verraͤther an Eurer Tugend wer - de, und leſet die Schriften nicht, welche das Laſter mit luͤgenhaften Farben ſchildern, damitEuer281Euer Auge nicht ein Gift einſauge, welches Eure Unſchuld vergeben kann.

Die Vorſtellung iſt die Mutter der That. Wer oft mit der Mutter umgeht, gewoͤhnt ſich auch leicht an den Umgang mit der Tochter. Wer ſich oft mit Vorſtellungen des Laſters unterhaͤlt, gewoͤhnt ſich ans Laſter, und die Gewohnheit iſt, wie Hamlet ſo wahr ſagt, ein Ungeheuer, das, wie ein Teufel, alles Gefuͤhl des Laſters hinwegfrißt. Wenn die Nationalverſamm - lung deswegen die Niederreißung der Statuͤe, welche Ludwig XIV. und zu ſeinen Fuͤßen die El - ſaſſer in Sclavenketten darſtellt, decretirte, daß die kuͤnftigen Koͤnige der Franzoſen durch dieſen Anblick nicht daran gewoͤhnt wuͤrden, ſich ihre Un - terthanen als Sclaven vorzuſtellen, ſo waͤre, duͤnkt mich, ihre Abſicht menſchenfreundlich genug ge - weſen, und man haͤtte keine Urſach gehabt uͤber dieſelbe zu ſchreyen; denn ſolche Opfer koͤnnen die ſchoͤnen Kuͤnſte der Menſchheit wohl darbringen!

Gefaͤhrlich iſt es, oft Gedanken an das Laſter zu hegen, uͤber alles gefaͤhrlich ſich daſſelbe in vortheilhaften, wenigſtens nicht anſtoͤßigen Bildern zu denken*)Aus dieſem Geſichtspunkt betrachtet, ſcheinen mir die privilegirten Haͤuſer der Wolluſt mit unter die Dinge zu gehoͤren, die fuͤr das Wohl des Staats,das. Der Verfuͤhrer iſt der ſchaͤdlich -S 5ſte,282ſte, und erreicht ſeine ſchaͤndliche Abſicht am er - ſten, welcher ſich hinter der Larve der Tugend ver -birgt.*)das in dem wahren Wohl ſeiner Buͤrger beſteht, ſehr gefaͤhrlich ſind. Das ſolchen Haͤuſern er - theilte Privilegium, privilegirt in der Meynung des groͤßten Haufens, das Laſter, dem ſie zur Woh - nung dienen. So lange etwas noch heimlich geſchehen muß, erinnert ſich der Menſch noch ſinn - licher daran, daß es etwas Boͤſes, Unerlaubtes ſey: aber wenn etwas unter den Augen der Obrig - keit geſchieht, oͤffentlich gar privilegirt iſt, da denkt man nicht mehr daran, daß es doch wohl boͤſe und unerlaubt ſeyn koͤnne, und daß ſelbſt kaiſerliche Pri - vilegien doch das innere Geſetz der Tugend nicht aufheben koͤnnen. Zur Vertheidigung jener Haͤuſer pflegt man gemeinhin anzufuͤhren, daß ſie wenigſtens ein Gegenmittel gegen die koͤrperliche Vergiftung waͤren, da in den privilegirten Haͤuſern doch dahin geſehn wuͤrde, daß die Dienerinnen der Wolluſt koͤrperlich geſund waͤren. Jch ſelbſt habe bisher aus dieſem Grunde die oͤffentlichen Sitze der Wolluſt fuͤr ein nothwendiges Uebel gehalten; bin indeß durch ferneres Nachdenken und genauere Erkundigung eines Beſſern belehrt worden. Zuerſt verhuͤten dieſe privilegirten Haͤuſer die koͤrperliche Vergiftung nicht ganz; denn aus dem beruͤhmteſten derſelben in einer beruͤhmten Stadt Deutſchlands ſind, nach ganz ſichern Nachrichten, mehrere, die ſich geluͤſten ließen hineinzugehen, angeſteckt wieder herausgegangen. Zwey -283birgt. So Mancher kann ſich nicht gegen die Feinde der Tugend erhalten, wenn ſie ſich gleich in ihrer wahren Geſtalt zeigen, wie wird er feſt ſtehn koͤnnen, wenn ſie ihm in unverdaͤchtigem Kleide erſcheinen!

O glaube nicht, mein Freund, daß Betrug und Hinterliſt weniger ſchaͤndlich ſind, wenn ſie der Betruͤger mit dem Namen der Klugheit uͤber -wiſcht.*)Zweytens verhuͤten dieſe Anſtalten die wolluͤ - ſtigen Ausſchweifungen in der Stille nicht: es iſt vielmehrDrittens, wie jeder weiß, der ſolche Staͤd - te, wo ſich jene Haͤuſer finden, kennt, gewiß, daß ſie die unprivilegirten Ausſchweifungen noch mehr befoͤrdern, weil ſie dem Laſter ſelbſt den Schein einer erlaubten Sache geben; und daß an keinem Orte mehrere Menſchen von den Krankheiten der Wol - luſt verzehrt werden, als an ſolchen, wo ſich oͤffent - liche Wolluſthaͤuſer finden. Wer hat zur Beſtaͤti - gung dieſer Behauptung nicht Belege aus der Er - fahrung bey der Hand? Jch koͤnnte mehrere lie - fern, halte ſie aber aus Gruͤnden zuruͤck. Aber jeder redliche Patriot wuͤnſcht gewiß mit mir, daß das pruͤfende Auge der Regierer der Laͤnder, an deren Menſchlichkeit und Sorge fuͤr das oͤffentliche Wohl man itzt mit mehr Zuverſicht als jemals glau - ben kann, ſich auch hierauf richte, um ſolche Verfuͤ - gungen zu machen, bey denen die Menſchheit, mit - hin auch ihr Land, ihre Unterthanen und ſie ſelbſt gewinnen! 284wiſcht. Glaube nicht, daß Verfuͤhrung der Unſchuld und Verletzung des heiligſten Buͤndniſſes deswegen weniger laſterhaft iſt, weil die große Welt es Galanterie nennt. Das Laſter bleibt Laſter, und wenn es ſich mit dem erhabnen Namen der Tugend benennte*)O moͤchte ich doch irren, wenn ich glaube, daß die - ſe Kunſt, die Namen des Laſters zu verfaͤlſchen, um das Laſter zu ſchmuͤcken, noch viel zu haͤufig geuͤbt wird! Ja daß man in dieſer Kunſt viel kluͤger ge - worden iſt den Ehrlichen belachen und ſeiner ſpotten, heißt kluͤger und aufgeklaͤrter als er ſeyn; Verſtel - lung, Falſchheit und Betrug, heißt Politik. Muthwillige Reden und Aeußerungen, Witz. Wer dieſe Kunſt, ſeine Schlechtigkeit hinter der Larve ſchoͤner Namen zu verſtecken, verſteht, ſollte ſich doch wenigſtens mit dem Praͤdikat klug behel - fen, und ſich nicht fuͤr aufgeklaͤrt: andre hingegen, die noch auf Gewiſſen, Pflicht, Tugend u. ſ. w. Ruͤckſicht nehmen, fuͤr Dummkoͤpfe und gemeine Menſchen ausſchreyen!.

So ſehr man ſich zu beſtreben hat, ſeine Einbildungskraft von ſolchen Bildern rein zu er - halten, welche mit dem Laſter verwandt ſind, und zu demſelben verfuͤhren; ſo ſehr muß man beeifert ſeyn, ſie mit ſolchen Vorſtellungen zu erfuͤllen, welche der Tugend gehoͤren, und ihr nachzufolgen, einladen koͤnnen. Man mache ſich daher mit der Tugend bekannt, und ſammle ſich in den Bey -ſpielen285ſpielen tugendhafter Menſchen einen Stoff zu nuͤtzlichen Unterhaltungen.

Aliquis vir bonus, ſo ſchließt Seneca einen ſeiner treflichen Briefe an ſeinen Lucilius, nobis eligendus eſt, ac ſemper ante oculos haben - dus, ut ſic tanquam illo ſpectante vivamus et omnia tanquam illo vidente faciamus. Hoc, mi Lucili, Epicurus praecepit: cuſtodem nobis et paedagogum dedit, nec immerito. Magna pars peccatorum tollitur, ſi peccaturis teſtis adſiſtat. Aliquem habeat animus, quem ve - reatur, cujus auctoritate etiam ſecretum ſuum ſanctius faciat. O felicem illum, qui non adſpectus tantum, ſed etiam cogitatus emen - dat! O felicem qui ſic aliquem vereri poteſt, ut ad memoriam quoque ejus ſe componat atque ordinet! Qui ſic aliquem vereri poteſt, cito erit verendus*)Senek. Brief. XI. a. E. Wir muͤſſen uns ir - gend einen guten Mann auswaͤhlen, und immer - fort vor Augen haben, damit wir, wie unter ſeiner Aufſicht leben, und, als wenn er es ſaͤhe, handeln. Dies, mein Freund Lucilius, iſt Epicurs Befehl, er will uns einen Aufſeher und Erzieher geben, und dies iſt, wie mich duͤnkt, ſehr weiſe. Denn eine große Menge Fehler wird in der Geburt erſtickt, wenn Zeugen um den, der da fehlen will, ſtehen. Das.

Vor -286

Vorzuͤglich komme man ſeiner moraliſchen Vernunft dadurch zu Huͤlfe, daß man die Einbil - dungskraft gewoͤhnt, ſich die Bilder der Tugend und der Gegenſtaͤnde der Pflicht von der Seite vorzuſtellen, welche fuͤr das Herz am anziehend - ſten iſt. Man ſehe die Tugend nicht als etwas an, das die menſchliche Natur erdruͤckt, ſondern ſie erhebt. Man denke ſie ſich nicht als eine finſtre Tyrannin, ſondern als eine erhabne Goͤttin!

Weide dich daher oft an den edlen Bildern der Tugend, die du in den Schriften alter und neuer Weiſen ſo haͤufig finden kannſt.

Die Tugend, ſagt Horaz, wandelt auf einem Pfade, der dem Haufen verwehrt iſt, und oͤfnet denen, die der Unſterblichkeit werth ſind, die Thore des Himmels. Auf fluͤchtigen Fittig ſchwe -bet*)Das Herz muß jemand haben, der ihm ehrwuͤrdig iſt, und deſſen ehrwuͤrdiges Beyſpiel auch die ge - heimſten Gedanken und Empfindungen heiliger ma - che. Wohl dem, den man nicht ſehn, ja an den man nicht denken kann, ohne beſſer zu werden. Wohl auch dem, deß Ehrfurcht gegen einen Mann ſo groß ſeyn kann, daß er nach ſeinem Muſter, das er in Gedanken hat, ſich richtet und bildet. Wer ſo verehren kann, wird ſelbſt bald ehrwuͤrdig werden!287bet ſie zum Aether hinan, verachtend den niedri - gen Haufen und ſeinen niedrigen Wohnſitz*)Virtus, recludens immeritis mori Caelum, negata tentst iter via: Coetusque volgares et udam Spernat humum fugiente penna. Horaz Od. B. 3. Od. 2. .

Wer ſo die Tugend erblickt, wie ſie einſt dem Herkules erſchien,

Jhr Reiz war angebohrne Wuͤrde; Natuͤrlich, ungeſchmuͤckt gefiel ſie mehr. Geſundheit gab den reinen Blicken Glanz; Weiß, wie der hellſte Schnee, war ihr Gewand, Erhaben ihr Gang, beſcheiden ſtolz, Jhr Auge himmliſch heiter, doch ihr Blick Warf Goͤtterſtrahlen von ſich. Naͤher kam Sie nun, und wurde naͤher immer ſchoͤner. Die hohe Grazie in ihren Zuͤgen War ſuͤßer Ernſt und ſanfte Majeſtaͤt**)Die Wahl des Herkules. Nach dem Engliſchen ei - nes Ungenannten von Bertuch. Deutſch. Merkur. 1773. Aug. 158..

und wer ſie ſo reden hoͤrt, wie ſie zu ihm ſprach:

Die Freuden der Natur Schmeckt rein und unvergaͤllt der Weiſe nur; Er der ſie ſparſam im Voruͤbergehn genießt, So wie ein Wanderer die RoſeAuf288Auf ſeinem Wege pfluͤckt. Allein des wahren Gluͤckes Quelle Liegt in deiner eignen Bruſt. Vergebens wuͤrdeſt du ſie auswaͤrts ſuchen. Wiſſe, Herkules, Was an dir ſterblich iſt, Jſt nur die Huͤtte des Unvergaͤnglichen, Und Goͤtterfreuden nur ſind eines Gottes werth! Ja ein Gott, ein Gott Jſt dieſe Flamme, die in deinem Buſen lodert! Verwandt dem Himmel, und zum Wohlthun blos Auf dieſe Unterwelt geſandt Kehrſt du, wenn einſt dein goͤttliches Geſchaͤfte Vollendet iſt, zuruͤck, Jn hoͤhern Kreiſen zu leuchten.

Wer ſo die Tugend ſieht, wer ſo ſie reden hoͤrt, der wird auch, wie Herkules, von ihr zu edlem Enthuſiasmus erhoͤht, ausrufen:

O Goͤttin, fuͤhre, fuͤhre mich Den Weg, den dieſe Helden*)Die Tugend hatte in ihrer Rede der edlen Maͤn - ner Erwaͤhnung gethan, welche durch Tugend und Tapferkeit, ſich den Weg zum Himmel gebahnt hatten. Darauf beziehn ſich dieſe Worte des Her - kules. gingen! Was ſaͤumen wir, Er mag dem Weichling furchtbar ſeyn,Er289Er mag mit Dornen draͤun, von Klippen ſtarren, Bey jedem Schritte moͤgen Ungeheuer Sich mir entgegen ſtuͤrzen. Mich erſchreckt kein Hinderniß, kein Feind, Jch folge dir!*)Die Wahl des Herkules, ein lyriſches Drama. D. Merk. 1773. Aug. 133. T

III. Bilde die Einbildungskraft zum Vortheil des Verſtandes.

Auch dem Verſtande, das heißt, dem Denk - vermoͤgen des Menſchen, kann die Phantaſie nach - theilig und vortheilhaft werden: das erſte, wenn ſie ſich der Oberherrſchaft bemaͤchtiget, den Ver - ſtand durch ihre Traͤumereyen bethoͤrt, ihm ihre Einbildungen fuͤr Wahrheit verkauft, und ihm nicht erlaubt, ſein Recht der Kritik aller Vorſtel - lungen zu gebrauchen; wie wir davon oben in den Schwaͤrmern und Verruͤckten Beyſpiele geſehen haben: das zweyte, wenn ſie, was ihre Beſtimmung iſt, dem Verſtande in der Belebung und Verdeutli - chung ſeiner Begriffe behuͤlflich iſt, das Allgemeine im Einzelnen vorſtellt, und die abſtrakten Wahr - heiten verſinnlicht.

Um dem nachtheiligen Einfluß, welchen die Phantaſie auf das Denkvermoͤgen haben kann,vor -290vorzubeugen, muß man ſich vorzuͤglich huͤten, daß man ſich nicht an dunkle Vorſtellungen gewoͤhne. Je dunkler eine Vorſtellung iſt, deſto weniger Merkmale hat man, wodurch man ſie von andern unterſcheiden kann; deſto leichter aber kann man andre mit ihr verknuͤpfen, und die Einbildungs - kraft verfuͤhren, ihr eine unzaͤhlige Schaar von Gefaͤhrten anzuhaͤngen, welche gar nicht zu ihr gehoͤren. Jrrthum, Aberglaube, Schwaͤrme - rey ziehn ihre Nahrung aus der ſchwarzen Quelle der dunklen Vorſtellungen, und es fliehen daher diejenigen, welchen daran gelegen iſt, jene Daͤ - monen auf der Erde zu erhalten, nichts ſo ſehr als das Licht des aufklaͤrenden Verſtandes, welches ſie aus ihren duͤſtern Behauſungen unverzuͤglich verjagen muͤßte. Wo maͤſtete ſich die Hierarchie in den barbariſchen Zeiten anders als in dem Lande dunkler Vorſtellungen; wie wuͤthete ſie gegen die Vernunft, wenn ſie ſich erkuͤhnen wollte, in ih - ren finſtern Regionen eine Fackel anzuzuͤnden, und wie ſehr iſt ſie herabgekommen, ſeit das Licht der Aufklaͤrung ſich weiter verbreitet hat?

Man ſey beſonders aufmerkſam auf diejeni - gen Vorſtellungen, welche durch die Gewohnheit ein Verjaͤhrungsrecht erhalten zu haben ſcheinen, oder wegen ihrer fruͤhen Bekanntſchaft mit uns, auch mit dem Verſtande ſehr vertraut wurden. Es iſt erſtaunend, wie feſt ſich z. B. die Vorſtel -lun -291lungen von Geſpenſtern, Zaubereyen und aͤhnli - chen Dingen, welche die Ammen und Waͤrterin - nen den Kindern beybrachten, in das Ge - dankenſyſtem einfugen, und ſelbſt dann noch nicht ganz ohne Wirkung ſind, wenn der Verſtand ſie als falſch erkannt hat.

Auch hefte man ſeine Einbildungskraft nicht zu feſt auf gewiſſe Bilder, beſonders wenn dieſe mit einer Lieblingsleidenſchaft des Herzens zuſam - menhaͤngen. Denn dieſe weiß ſie bey der Phan - taſie ſo einzuſchmeicheln, daß ſie ſich nicht gern von ihnen trennt, ſondern immerfort mit ihnen taͤndelt: und ſo wie der Luͤgner, wenn er eine Luͤge oͤfters wiederhohlt, am Ende ſie ſelbſt fuͤr Wahrheit haͤlt, ſo werden auch Einbildungen, wenn man ſie zu lange naͤhrt, zuletzt fuͤr Reali - taͤten genommen.

Man halte daher ſeine Phantaſie unter der Diſciplin des Verſtandes, ohne ihr indeß Feſſeln anzulegen und ſie zu unterdruͤcken. Sie iſt die belebende Kraft des Gemuͤths, ohne welche der Verſtand trocken, kalt und traͤge iſt. Man naͤh - re ſie daher aus der Natur und ſchoͤnen Kunſt, und toͤdte ſie nicht durch ewige Beſchaͤftigung mit trocknem Buchſtabenwerk, welche das Gedaͤchtniß uͤberladet, den Verſtand einſeitig und die Ur - theilskraft geiſtlos macht.

T 2Der292

Der letzte Zweck aller Bildung des Verſtan - des, iſt richtig und ſelbſt denken zu lernen. Ohne dieſen Zweck erreicht zu haben, genießt man von der Vollkommenheit, deren nur der Verſtand faͤ - hig macht, nichts, bleibt ein Sclav Anderer, und muß glauben, was ſie fuͤr wahr ausgeben. Man geraͤth in Jrrthuͤmer und Vorurtheile, welche um ſo nachtheiliger ſind, da es dem Verſtande an Schaͤrfe fehlt, ſie zu ſehen und an Kraft ſie zu verbeſſern. Und dazu die nachtheiligen Folgen fuͤr die moraliſche Natur! O wie mancher Juͤngling waͤre nicht in den Abgrund des Laſters gefallen, wenn ſein Verſtand ihm ſeinen Weg erleuchtet haͤtte; wenn er nicht einem Blin - den gleich dem Verfuͤhrer gefolgt waͤre, ohne zu ſehn, ja zu ahnden, wohin er ihn fuͤhre. Wer ſich Kenntniß und die Faͤhigkeit, ſelbſt zu denken verſchaft hat, ſieht die Plaͤne des, der ihn bethoͤren will, durch, oder iſt wenigſtens behutſam; und kann ſich, ſollte er auch gefangen ſeyn, leichter wieder helfen; aber der, welcher nie daran dach - te ſein Denkvermoͤgen zu uͤben, iſt nur zu leicht betrogen, und dann ohne Geſchicklichkeit, ſich zu helfen.

Da es alſo ſo wichtig iſt, richtig und ſelbſt den - ken zu lernen, ſo werden hier am Schluß dieſer Unterhaltung einige Regeln, deren Befolgung da - zu verhelfen kann, nicht uͤberfluͤßig ſeyn.

Man293

Man huͤte ſich zufoͤrderſt uͤber irgend etwas beſtimmt zu urtheilen, welches man nicht von al - len Seiten betrachtet hat. Man muß dabey ir - ren, und gewoͤhnt ſich endlich an ein unuͤberleg - tes und daher einſeitiges und oberflaͤchliches Ur - theil.

Um nun aber eine Sache von allen Seiten anſehn zu koͤnnen, iſt noͤthig, ſich die Kenntniſſe zu verſchaffen, welche dazu erfordert werden. Man ſammle ſich daher ſo viel Kenntniſſe als moͤglich, beſonders in denjenigen Stuͤcken, wel - che am haͤufigſten unſerm Urtheil vorgelegt wer - den koͤnnen. Der Verſtand will geuͤbt ſeyn, wenn er zu einiger Kraft kommen ſoll. Wer Andre fuͤr ſich denken laͤßt, lernt nie ſelbſt denken. Daher gewoͤhne man ſich ja nicht daran, auf die Worte eines Andern zu ſchwoͤren. Dies macht den Verſtand traͤge und kraftlos. Man huͤte ſich daher vor Beſchaͤftigungen des Geiſtes, wel - che ſeinem Alter und Kraͤften noch zu ſchwer ſind: hier muß man nachſagen, weil man nicht ſelbſt ſehen kann. Man laſſe nicht die Zunge dem Verſtande voreilen, ſondern dieſen erſt denken, was jene ausſpricht; ſonſt raͤcht ſich der beleidig - te Verſtand am Ende dadurch, daß er ganz zu - ruͤckbleibt. Wo man irgend etwas wahrnimmt, verſuche man daran ſeinen Verſtand, oder ge - woͤhne ſich zu beobachten. Wird man Handlun -T 3gen,294gen, oder irgend eine Aeußerung gewahr, da ſpuͤre man ihrem Grunde nach, und fange, um deſto gluͤcklicher darin zu ſeyn, bey ſich ſelbſt an. Beſonders gebe man ſich gern in Unterredungen uͤber Sachen, die das Denkvermoͤgen auf irgend eine Weiſe beſchaͤftigen: dadurch wird einem man - che neue Anſicht gegeben, und einer ſchaͤrft ſich durch den andern und um endlich den Geiſt des Pruͤfens und eignen Unterſuchens in ſich rege zu machen und zu erhalten, lerne man die Kunſt vernuͤnftig zu zweifeln. Man erinnre ſich bey jedem Buche, welches man lieſt, bey jedem Vor - trage, welchen man hoͤrt, daß es vielleicht auch anders ſeyn koͤnne. Dadurch wird man angereizt werden, uͤber das Gehoͤrte oder Geleſene zu den - ken, und dann den Jrrthum erkennen, die Wahr - heit aber aus Gruͤnden einſehen.

Pſyche.

About this transcription

TextPsyche oder Unterhaltungen über die Seele
Author Johann Christian Gottlieb Schaumann
Extent320 images; 55114 tokens; 10985 types; 388057 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationPsyche oder Unterhaltungen über die Seele Erster Theil Johann Christian Gottlieb Schaumann. . XVIII S., [1] Bl., 294 S. WaisenhausHalle1791.

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Universitäts- und Landesbibliothek Halle ULB Halle, Fb 1402 (1)

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Psychologie; Gebrauchsliteratur; Psychologie; core; ready; mts

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Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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