PRIMS Full-text transcription (HTML)
Pſyche. Zweyter Theil. Unterhaltungen uͤber das Begehrungsvermoͤgen.
T 4
Pſyche oder Unterhaltungen uͤber die Seele.
Fuͤr Leſer und Leſerinnen
Zweyter Theil.
Halle,im Verlag der Waiſenhaus-Buchhandlung. 1791.

Meinen innigſtgeliebten Freunden Magnus Friederich von Baßewitz aus Meklenburg und Daniel Heinrich Delius aus Weſtphalen.

Jn dem kleinen Cirkel, welchen das Band der Liebe vereinigte und die Wahrheit der Freundſchaft heiligte, iſt mein Geiſt, vorzuͤglich durch Sie, meine Theuren, ſo oft erquickt und aufgerichtet worden, daß mir bey der Beendigung einer meiner Gei - ſtesarbeiten Jhre Namen vor allen gegen - waͤrtig ſeyn muͤſſen. Sehen Sie, gelieb - teſten Freunde, in dieſer Zueignung einen Beweis, daß ich die Freuden, die mir durch Sie geworden ſind, tief im Herzen empfun - den habe, und die Urheber derſelben ſegne.

O, meine Theuren, es giebt neh - men Sie nur die elterlichen Freuden aus keine himmliſchere Freuden auf Erden, als die, welche dem Lehrer durch die Tugend ſei - ner Anvertrauten geſchenkt werden, und dieſe Freuden ſind mir durch Sie gegeben .

Es iſt doch ein ſuͤßes Gefuͤhl, mein innigſtgeliebter B., bey dem Ruͤckblick auf einen Zeitraum von vier Jahren ſich ſa -gengen zu koͤnnen, daß man dieſe ganze Strecke ſeiner Lebensreiſe an der Hand der Tugend zuruͤckgelegt habe und mit jedem Schritte ihrem Heiligthume naͤher gekommen ſey: es iſt ein ſuͤßes Gefuͤhl, die Fruͤchte ſeines Fleißes in der Vervollkommnung ſeines Gei - ſtes und der Vermehrung ſeiner Erkenntniß zu ſehen: es iſt ein ſuͤßes Gefuͤhl, die Freude vortreflicher und von Herzen geliebter Eltern, der Stolz ſeiner Lehrer, und die Hoffnung des Vaterlandes zu ſeyn. Wohl Jhnen, innigſtgeliebter Freund, daß dieſe ſuͤße Gefuͤhle Jhr Herz begluͤcken!

Und wohl auch Jhnen, mein theu - rer D., der Sie mit Jhrem Freunde die Gluͤckſeligkeit empfinden koͤnnen, welche aus einem vorwurfsfreyen Gewiſſen dem Herzen zufließt. Sie haben mich durch Jhren un - ſtraͤflichen Wandel, Jhr zartes Gefuͤhl fuͤr alles, was edel und gut iſt, Jhr wohlwol - lendes, menſchenfreundliches Herz und den treuen Eyfer in der Ausbildung der herrli -chenchen Talente, die Jhnen die Vorſehung ſchenkte, doppelt begluͤckt, als Jhren Leh - rer und als den Freund Jhres mir ſo theu - ren Vaters, deſſen edlem Beyſpiel Sie ſo manches von dem Guten, was in Jhnen iſt, verdanken.

Unſer bisheriges aͤußeres Verhaͤltniß, meine theuren Freunde, wird itzt aufge - hoben, aber nimmer das Verhaͤltniß, in welchem unſre Herzen Dank ſey's der Liebe und Freundſchaft ſtehen. Welche Freude wird es fuͤr mich ſeyn, Sie, meine Theuren, einſt als Maͤnner das erndten zu ſehen, was der Fleiß der Juͤnglinge ſaͤ'te!

Gott, den Jhr Herz verehrt und liebt, geleite Sie auf dem Wege, den Sie nun betreten, und auf dem Sie ſicher wandeln werden, wenn Sie an der Hand der Tu - gend und Religion gehen. Meine Liebe und Freundſchaft wird nie fern von Jhnen ſeyn und ich bin es uͤberzeugt, daß auch die Jhrige mir oͤfters zuſprechen wird.

Ver -

Vergeſſen Sie nie, meine innigſtge - liebten Freunde, der edlen Entſchluͤſſe, zu welchen wir uns in den einſamen Unterhal - tungen, denen niemand, als unſer Herz zu - hoͤrte, ermunterten; dann werden Sie die Gluͤckſeligkeit genießen, welche meine herzli - che Liebe Jhnen von dem Gott der Liebe erflehet; dann werden Sie die große Pflicht, fuͤr welche Jhr jugendliches Herz ſchon Ge - fuͤhl hatte, erfuͤllen, die Pflicht, das Wohl der Menſchheit, die Gluͤckſeligkeit Jhrer Bruͤder auch an Jhrem Theil zu befoͤrdern.

Wie viel haͤtte ich Jhnen noch zu ſagen, meine Theuren! und wie wenig kann ich Jhnen ſagen! Doch Sie verſtehen die Sprache des Herzens und da bedarf ich nicht des Mundes und der Feder, welche doch nicht die Liebe zu ſchildern vermoͤgen, mit welcher Sie, Edle Freunde, liebt Jhr treuer Freund Schaumann.

Erſte Unterhaltung. Allgemeine Bemerkungen uͤber das menſchliche Herz.

Wenn irgend ein Gegenſtand das Nachdenken erregen und die Aufmerkſamkeit feſthalten kann; ſo iſt es gewiß der, welchen jeder Menſch in ſeinem Buſen fuͤhlt, das Herz, aus welchem Ruhe, Zufriedenheit, Gluͤckſeligkeit quillen, aber auch Unruhe, Unzufriedenheit und Ungluͤckſelig - keit hervorſtuͤrmen.

Das Herz iſt der Punkt, in welchem die fei - nen Faͤden aller Neigungen und Gefuͤhle des Menſchen ineinander geknuͤpft ſind. Kein Menſch mag es ſich anmaßen, dies zarte und ineinander fließende Gewebe ganz auseinander zu legen. Dies kann nur der Finger der Gottheit, dem nichts zu fein und verfloͤßt iſt. Aber auch dem Men - ſchen bietet es eine Fuͤlle der fruchtbarſten Erkennt - niß dar; denn, wenn ſich gleich die feinſten Faͤ - den ſeinem Auge verbergen, ſo nimmt er doch die ſtaͤrkern wahr, in welche ſich jene verlieren, und fuͤhlt die Schwingungen, welche ſie bis zum Herzen fortpflanzen.

T 5Das298

Das Herz iſt der Jnbegriff und die Quelle der Gefuͤhle, Neigungen und Leidenſchaften, oder mit einem Wort, der Gemuͤthsbewegungen des Menſchen, und ſchließt die Faͤhigkeit, ſeinen eignen Zuſtand zu fuͤhlen und das Vermoͤgen ſich fuͤr oder wider etwas zu beſtimmen, in ſich. Jene iſt die Bewegerin von dieſem; denn je nachdem ich von etwas mit Luſt oder Unluſt afficirt werde oder afficirt zu werden glaube, be - ſtimme ich mich entweder fuͤr oder wider daſſelbe (begehre verabſcheue). Das Geſetz, nach welchem die Gefuͤhlsfaͤhigkeit bewegt wird, iſt:

Alles, was irgend eine Beziehung auf mei - nen Zuſtand mir vorſtellt, afficirt mich und um ſo ſtaͤrker, je gegenwaͤrtiger und wichti - ger dieſe Beziehung vorgeſtellt wird. Das allgemeine Geſetz, nach welchem das Begeh - rungsvermoͤgen wirkt, iſt:

Die Seele beſtimmt ſich fuͤr das (begehrt), wovon ſie Luſt erwartet, oder wovon ſie glaubt, daß es ihren Zuſtand gut erhalte oder beſſer mache.

Die Seele beſtimmt ſich wider das (ver - abſcheut), wovon ſie glaubt, daß es ihr Un - luſt bringe, oder ihren Zuſtand ſchlechter mache.

Was nun zuerſt die Gefuͤhlsfaͤhigkeit betrift, ſo wird man um ſo leichter afficirt werden, je ſchneller man etwas in Verbindung mit ſeinemeignen299eignen Zuſtand bringen kann; und um ſo ſtaͤrker, je gegenwaͤrtiger und wichtiger man ſich die Beziehung auf ſein Jch vorſtellt.

Wem die Natur eine reizbare und lebhafte Phantaſie verlieh, des Herz wird leicht von einem Gegenſtande getroffen, weil er ſich ſchnell alles vergegenwaͤrtigen, ſich ſelbſt bald in jedes Ver - haͤltniß ſetzen kann. Wer hingegen eine matte und traͤge Einbildungskraft hat, bedarf ſchon ſtaͤr - kerer Anregungen, wenn ſein Herz bewegt werden ſoll.

Wer bey dem Anblick der Geſtirne des Him - mels nur daran denkt, wie er ihre Bewegungen und Veraͤnderungen mit dieſem oder jenem Sy - ſtem reimen will, und ſie alſo als etwas von ihm ganz Abgeſondertes, und blos fuͤr ſeinen Verſtand Gehoͤrendes betrachtet, bleibt kalt und ungeruͤhrt. Wer ſie aber als empfindende Weſen anſieht, wel - che durch ihre Schoͤnheit das Herz erfreuen, ihn ſehn und an ihm Theil nehmen, der fuͤhlt ihre Gegenwart, und ſtimmt in die Begeiſterung ein, mit welcher Oßian zum Abendſterne redet:

Stern der daͤmmernden Nacht, ſchoͤn fun - kelſt du in Weſten, hebſt dein ſtrahlend Haupt aus deiner Wolke, wandelſt ſtattlich deinen Huͤ - gel hin. Wornach blickſt du auf die Haide? Die ſtuͤrmenden Winde haben ſich gelegt; von ferne kommt des Giesbachs Murmeln; rauſchen -de300de Wellen ſpielen am Felſen ferne; das Geſum - me der Abendfliegen ſchwaͤrmt uͤbers Feld. Wor - nach ſiehſt du ſchoͤnes Licht? Aber du laͤchelſt und gehſt; freudig umgeben dich die Wellen, und baden dein liebliches Haar. Lebe wohl, ruhiger Strahl.

Kalt und ungeruͤhrt bleibt bey dem Gedanken an die Gottheit der, welcher ſie ſich ohne Bezie - hung auf ſeine Handlungen und Schickſale, nur als ein Weſen, das fuͤr den Verſtand gehoͤrt, ge - denkt. Aber wer ihn als den Schoͤpfer der Wel - ten, den Regierer der Begebenheiten, den Rich - ter ſeiner Handlungen und ſeinen Vater erkennt, der wird geruͤhrt, wie der Dichter, der ihm einen Lobgeſang weiht:

Singe Jhn, den Herrn der Welten,
Singe Jhn, den Gott der Zeit.
Hoch ſieht er von Sternenzelten,
Alles Edle zu vergelten,
Auch auf mich, der, Jhm geweiht,
Tief anbetend hingeſunken
Jetzt der Ehrfurcht Opfer bringt,
Und von Seinem Anblick trunken
Kuͤhn des Geiſtes Fackel ſchwingt.
*)Lob des einzigen Gottes von Kleiſt. D. Merkur. 1789.
*)

Je ſinnlich klarer eine Vorſtellung des Ge - muͤths iſt, deſto leichter bewegt ſie mein Herz:ab -301abſtrakte Jdeen, welche ich in gar keiner Bezie - hung auf meinen fuͤhlbaren Zuſtand gedenke, laſſen es unbewegt.

Es war und iſt nicht die Jdee Freyheit, wel - che Griechen, Roͤmer und Franzoſen in Bewe - gung ſetzt; dieſe Wirkung gehoͤrt den vorgeſtellten Folgen eines Zuſtandes, wo die Thaͤtigkeit unein - geſchraͤnkt waͤre, an der vorgeſtellten Ehre, dem gehoften Reichthum, dem gewuͤnſchten Wohl - leben.

Die Vorſtellung von einem noch entfernten Gegenſtand, greift gar nicht oder ſehr matt in das Gefuͤhl; indeß die von einem nahen es ſtark be - wegt. Man erinnre den Wolluͤſtling noch ſo oft und ſo viel, daß er ſich den Weg zum Tode verkuͤrze dies ruͤhrt ihn nicht! Er haͤngt zu feſt in den Armen der Wolluſt; wuͤnſcht, durch nichts aus denſelben geriſſen zu werden; drum ruͤckt er ſich den Tod, den man ihm vorſtellt, noch weit aus den Augen, und glaubt, vor einem Feinde, den er nicht ſieht, auch wirklich ſicher zu ſeyn.

Stellt eine entfernte und gegenwaͤrtige Freu - de zuſammen, laßt jene viel groͤßer, als dieſe ſeyn; der groͤßte Theil der Menſchen wird von dieſer doch mehr bewegt werden, als von jener, weil er dieſe itzt haben ſoll, und gewiß iſt, daß ſie ihm nicht wieder entzogen, oder an ihrer Stelle eineandre302andre geſetzt wird, wie es bey jener der Fall ſeyn kann. Das Ploͤtzliche und Unerwartete greift ſtark in das Gefuͤhl: und ſetzt das Herz zuweilen in ſehr heftige Bewegung, die einem Zittern aͤhn - lich iſt. Das Unerwartete nemlich hemmt mit einemmal den Fluß der Vorſtellungen, in welcher die Thaͤtigkeit der Seele ſich itzo hinbewegte; und die Seele muß viel Anſtrengung und Kraft an - wenden, um die Vorſtellungen aufzufaſſen und zu halten, welche nichts im Gemuͤth vorfinden, woran ſie ſich ſchließen koͤnnten. Koͤmmt irgend etwas erwartet, ſo iſt die Seele ſchon vorbereitet, ſie darf nicht eine Vorſtellungsreihe zerreißen, und ihre ganze Kraft anſpannen, um eine ganz frem - de Vorſtellung zu faſſen.

Das Herz wird endlich von den Dingen am ſtaͤrkſten geruͤhrt, die ihm eine Aehnlichkeit mit ſeinem eignen Zuſtande vorſtellen: es ſieht ſich ſelbſt dann durch die Phantaſie in dieſem Zuſtande leiden und handeln. Eine Handlung, die ich ſelbſt einmal unternommen, eine Begebenheit, in deren aͤhnliche ich einſt verwickelt war, eine Lage, die ich aus meiner Erfahrung kenne, inte - reſſiren mich (wenn, wie natuͤrlich, das uͤbrige gleich iſt,) mehr, als Handlungen, Begebenheiten und Lagen, welche in meiner eignen Erfahrung noch nicht vorgekommen ſind.

Bis303

Bis ins Jnnerſte ſeines ganzen Seyns ward Werther erſchuͤttert, als er ſeiner Lotte dieſe Stelle aus Oßians Geſange las*)Goͤthe's Schriften. 1. Theil.:

Warum weckſt du mich Fruͤhlingsluft?
Du buhlſt und ſprichſt:
Jch bethaue mit Tropfen des Himmels!
Aber die Zeit meines Welkens iſt nahe,
Nahe der Sturm, der meine Blaͤtter herabſtoͤßt!
Morgen wird der Wandrer kommen,
Kommen, der mich ſah in meiner Schoͤnheit,
Ringsum wird ſein Auge im Felde mich ſuchen,
Und wird mich nicht finden.

Er fuͤhlte in dieſen Worten ſeinen ganzen Zu - ſtand geſchildert. Der Entſchluß zum nahen Tod war gefaßt; darum ſchlug er die Hofnung, doch noch vielleicht gluͤcklich werden zu koͤnnen, nieder, mit dem Gedanken: bald biſt du nicht mehr.

Alle Gefuͤhle ſind entweder Gefuͤhle der Luſt oder der Unluſt.

Mit Luſt wird das Herz afficirt, wenn das, wodurch das Gefuͤhl bewegt wird, mit der Natur des Subjekts harmonirt; mit Unluſt, wenn das Gegentheil ſtatt findet.

Weil nun die Natur der Menſchen, das heißt, ihre koͤrperliche und geiſtige Beſchaffenheit,ſo304ſo ſehr verſchieden iſt; weil ferner jeder einzelne Menſch zu verſchiednen Zeiten ſehr verſchieden ge - ſtimmt iſt; ſo haͤngt es nicht ſowohl von den Ge - genſtaͤnden, welche die erſte Urſach der Gefuͤhls - bewegung enthalten, ab, ob das Gefuͤhl mit Luſt oder Unluſt afficirt werden ſoll; als vielmehr von der Art und Weiſe, wie ſich die Vorſtellungen in dem Gemuͤthe formen, und was uͤberhaupt fuͤr eine Art des Gefuͤhls grade hervorſtechend iſt.

Schon die koͤrperlichen Verſchiedenheiten, die Beſchaffenheit der Organe des Empfindens, Ge - ſundheit und Krankheit u. ſ. w. koͤnnen einen großen Einfluß auf das Gefuͤhl haben, wie die Erfahrung taͤglich zeigt und leicht zu begreifen iſt. Aber mehr koͤmmt es hiebey auf die geiſtigen Ver - ſchiedenheiten an, wozu ich alle diejenigen rechne, welche ſich nicht an dem Koͤrper befinden.

Sehr heftige Emotionen des Gefuͤhls, wel - che, wie ein Sturm, ſtark, aber kurze Zeit auf - brauſen, und ſich gegen die Vernunft empoͤren, nennt man Affekten, deren es, wie der Gefuͤhls - bewegungen uͤberhaupt zwey Arten giebt, Affek - ten der Luſt und der Unluſt.

Was das Begehrungsvermoͤgen betrift, ſo aͤußert ſich auch dieſes nicht in allen Faͤllen auf gleiche und auf gleich ſtarke Art.

Hang, Neigung, Begierde und ihre Ge - gentheile bezeichnen eben ſo viel verſchiedne Gradeder305der Willensbeſtimmung. Wer leicht zu etwas beſtimmt werden koͤnnte, wenn Veranlaſſung da - zu vorkaͤme, dem eignet man einen Hang zu etwas zu. Wer nicht nur leicht zu etwas be - ſtimmt werden koͤnnte; ſondern ſchon wirklich be - ſtimmt iſt, hat Neigung dazu, und wer ſich heftig beſtrebt, zum Genuß deſſen zu gelangen, was ſeine Neigung an ſich zog, Begierde.

So koͤnnte man demjenigen, den man aus andern Beobachtungen als einen Gewinnſuͤchtigen, oder einen ſolchen, der Hin - und Herbewegungen des Herzens zwiſchen Furcht und Hofnung liebt, kennen lernte, Hang zum Spiele beylegen; weil er, wenn er gleich noch niemals geſpielt hat, doch leicht dazu beſtimmt werden kann, da er ſeine Rechnung dabey findet. Neigung zum Spiele wuͤrde derjenige haben, welcher entweder ſelbſt ſchon mit Vergnuͤgen geſpielt hat, oder doch, durch Andre mit der Beſchaffenheit des Spiels bekannt gemacht, gern einmal ſpielen moͤchte. Wer end - lich keine Gelegenheit zum Spiel voruͤbergehn laͤßt, ja ſelbſt Gelegenheit dazu machen ſucht, und Weib und Kind, und Amt und Pflicht ver - geſſen kann, wenn das Spiel ihn reizt, der hat Begierde zum Spiel.

Derjenige Zuſtand, in welchem die freye, vernuͤnftige Thaͤtigkeitskraft der Seele den Rei - zungen der Begierde unterliegt, und der MenſchUſich306ſich alſo nicht ſelbſt beſtimmt, ſondern von den Gegenſtaͤnden ſeiner Begierde fortgeriſſen wird, heißt Leidenſchaft.

Zweyte Unterhaltung. Ueber die Selbſtliebe.

Es iſt uͤber den letzten Grund der Beſtimmung des Willens, den Beweger des Begehrungsver - moͤgens eine große Verſchiedenheit der Meynun - gen geweſen. Jeder von den Philoſophen, wel - cher daruͤber dachte, ſuchte ihn mit ſeinen uͤbrigen Hypotheſen in Zuſammenhang zu bringen, und wich daher, wie in dieſen, ſo auch in jenem, von andern ab. Diejenigen, welche die Seelenlehre metaphyſiſch behandelten, waͤhlten zur Bezeichnung des letzten Grundes des Begehrens wenigſtens ei - nen metaphyſiſchen Namen, Trieb nach Vollkom - menheit, nach Jdeenbeſchaͤftigung u. dergl. ; andre, welche die Seele ſich nicht ſo geiſtig dach - ten, nahmen die koͤrperliche Empfindung (Senſi - bilité phyſique) als dasjenige an, wornach ſich der Menſch im Begehren oder Zuruͤckſtoßen rich - te. Jch will hier nicht alle verſchiedne Meynun - gen der Weltweiſen uͤber dieſe Sache beybringen, noch weniger mich in eine Kritik derſelben ein -laſſen,307laſſen, welches ich beydes den Verfaſſern gelehr - ter Compendien der Pſychologie uͤberlaſſe; ſon - dern nur ganz kurz und klar ſagen, was ich fuͤr den letzten Grund der Willensbeſtimmung halte, das heißt, wodurch ich glaube, daß die Seele beym Begehren und Verabſcheuen geleitet werde.

Und dies iſt nach meiner Meynung der Trieb des Subjekts zu ſeiner Erhaltung uͤberhaupt und ſeines Wohlbefindens insbeſondere, oder die Selbſtliebe.

Aus dieſer laſſen ſich alle Erſcheinungen des menſchlichen Begehrungsvermoͤgens ungezwungen und ohne Muͤhe erklaͤren, wenn man nur das Wort im natuͤrlichen Sinn nimmt, und es nicht, wie ſo oft geſchieht, mit Eigennutz und Selbſt - ſucht verwechſelt. Auch die Geſinnungen und Handlungen der alles aufopfernden Liebe, finden in der Selbſtliebe ihren Grund; denn was kann wohl fuͤr den, welcher fuͤhlt, ſuͤßer ſeyn, was mehr zur Erhoͤhung ſeines Wohlbefindens beytra - gen, als fuͤr den, mit welchem ſein Herz ihn in - nig verbindet, zu dulden, zu handeln, zu geben, was er hat?

Sie iſt unverkennbar in den Handlungen des uneigennuͤtzigſten, und alle aͤußere und koͤrperliche Guͤter verachtenden Stoikers; denn er ſetzt ſein hoͤchſtes Wohlbefinden in die Erhabenheit uͤberU 2das,308das, was andre Menſchen afficirt, und kennt kein andres Gut, als das geiſtige und moraliſche.

Selbſtliebe iſt es, welche den Schwaͤrmer treibt, ſeinen Leib zu quaͤlen, und ihn den haͤr - teſten Kaſteiungen zu unterwerfen, denn er hoft dadurch ſich zu heiligen und den Himmel zu ver - dienen, welches er hoͤher ſchaͤtzt, als alles, was ſeiner irdiſchen Sinnlichkeit angenehm iſt.

Was konnte auch die Natur wohl ſchicklicher zur Hauptfeder des Begehrungsvermoͤgens waͤh - len, als dieſen Trieb, ſich zu erhalten, ſich in einem angenehmen Zuſtand zu erhalten? Laßt uns nur nicht vor einem Namen, dem der Miß - brauch eine gehaͤſſige Bedeutung untergeſchoben hat, erſchrecken, und der Natur den Vorwurf machen, daß ſie ihrem Hauptzweck, Menſchen an Menſchen zu ſchließen, entgegen gehandelt habe; indem ſie die Liebe zum Jch zur Bewegerin des Willens gemacht hat. Wer dies tadeln will, tadelt die Natur in ihrer weiſeſten Einrichtung. Denn wodurch konnte ſie wohl jenen Zweck beſſer erreichen, als dadurch, daß ſie einen Menſchen von dem andern empfinden ließ, daß ſie das Wohl - befinden der Menſchen ſo innig verwebte?

Folgt nur den Befehlen und Einrichtungen der Natur, legt nur ihre Meynung nicht falſch aus! dann werdet ihr einſehn, daß die natuͤr - liche Selbſtliebe euch treibt, auch eure Bruͤderzu309zu lieben: dann werdet ihr fuͤhlen, daß ohne das Wohlbefinden Dieſer, auch euer Zuſtand nicht angenehm iſt!

Auch bey dieſem Triebe zeigt ſich die Wahr - heit des vortreflichen ciceronianiſchen Spruchs: Animi cultus eſt humanitatis cibus (Aufklaͤ - rung des Geiſtes iſt die Nahrung der Menſchlich - keit). Denn je weiter der Menſch in der aͤchten Cultur ruͤckt, deſto weiter wird auch der Begrif ſeines Selbſts. Das Kind rechnet dazu noch nichts, als ſeinen Koͤrper; wenn es Nahrung und Bequemlichkeit fuͤr dieſen hat, iſt's ihm ge - nug. Eben ſo der in der Rohheit lebende Menſch. Die Sinnlichkeit iſt ſein Selbſt; was dieſer be - hagt, das begehrt er, und ſtoͤßt zuruͤck, was ihr unangenehm iſt. Je mehr ſich die Faͤhigkeiten des Geiſtes und die Gefuͤhle des Herzens entwi - ckeln, deſto mehr waͤchſt auch die Anzahl der Ge - genſtaͤnde, die man mit ſeinem Selbſt verbindet. Jeder Schritt auf dem Felde der geiſtigen und moraliſchen Ausbildung gewaͤhrt neue Ausſichten zur Vergroͤßerung des Wohlbefindens, neue Hof - nung zur Freude und Luſt.

Aber freylich kann auch dieſer herrliche Grund - trieb der menſchlichen Seele verderbt werden: kann ſtatt nach dem Willen der Natur die Ge - meinſchaft und Verbruͤderung mit Andern zu befoͤr -U 3dern,310dern, eine feſte Scheidewand zwiſchen einem und den uͤbrigen auffuͤhren.

Dies geſchieht und muß geſchehen, ſobald Selbſtliebe in Selbſtſucht, Eigenſucht ausar - tet; das heißt, ſobald man dahin gekommen iſt, daß man allgemein oder doch von einigen Seiten ſein eignes Wohlbefinden im engſten Sinn, das iſt, mit Ausſchließung Andrer, vor Augen und im Herzen hat. Und man kann ſich dazu gewoͤhnen, denn

Gewohnheit gleicht in dieſem Stuͤck Meduſen Und fuͤr die Menſchheit ſelbſt verkehrt ſie uns in Stein.

Dritte Unterhaltung. Ueber die Liebe zum Leben.

Omnis natura vult eſſe conſervatrix ſui. (Cicero.)

Der beſte Beweis, daß aller Klagen ungeach - tet, doch des Guten auf der Erde mehr, als des Uebels iſt, und daß ſelbſt Lavaters Ausſichten in die Ewigkeit Traͤume der Phantaſie ſind, iſt die ſo allgemein ſich findende Liebe zum Leben. Man frage nur herum nach den Urſachen derſel - ben, und man wird entweder zur Antwort er - halten: Jch wuͤnſche zu leben, weil es doch aufErden311Erden ſo gut iſt, oder: weil ich nicht weiß, wie es dort ſeyn wird, und das Gewiſſe doch beſſer als das Ungewiſſe iſt.

Dies ſind alſo die beyden Gruͤnde der Liebe zum Leben: der Ueberſchuß der angenehmen Zu - ſtaͤnde uͤber die unangenehmen, und die Ungewiß - heit uͤber die jenſeits des Grabes ſich eroͤfnende Zukunft.

Warum wuͤrde ſonſt nicht jeder Leidende, den Religion und Pflicht nicht leiten, dem Gefuͤhl ſeines Leidens durch die Endigung ſeines Lebens ein Ende machen, wenn nicht bey allen ſeinen Klagen ſeine Empfindung widerſpraͤche, und die unbekannte Zukunft ihm hier zu bleiben anriethe?

Was hielt den von ſchrecklichen Leiden gefolter - ten Hamlet ab, ſich das Leben zu nehmen, als der Gedanke, vielleicht hoͤrt auch im Tode das Gefuͤhl der Leiden nicht auf. Was in jenem Schlafe des Todes, ſo ſpricht er mit ſich ſelbſt, wenn wir dieſes ſterblichen Getuͤmmels entledigt ſind, fuͤr Traͤume kommen koͤnnen, das verdient Erwaͤgung! Das iſt die Ruͤckſicht, die den Leiden ein ſo langes Leben ſchaft! Denn wer er - truͤge ſonſt die Geiſſel und die Schmaͤhungen der Welt, des Unterdruͤckers Unrecht, des Stolzen Schmach, die Qual verſchmaͤhter Liebe, die Zoͤ - gerungen der Geſetze, den Uebermuth der Großen, und die Verhoͤhnung des leidenden Verdienſtes vonU 4Un -312Unwuͤrdigen, da er ſich mit einem bloßen Dolch in Freyheit ſetzen koͤnnte! Wer wuͤrde Buͤrden tragen und unter der Laſt eines muͤhſeligen Lebens ſchwitzen und aͤchzen, wenn nicht die Furcht vor etwas nach dem Tode, vor dem unbekannten Lande, aus deſſen Bezirk kein Reiſender zu - ruͤckkehrt, unſern Entſchluß wankend machte, und uns riethe, lieber die Uebel zu dulden, die wir kennen, als zu andern hinzufliehn, die uns noch unbekannt ſind? *)Shakeſpears Hamlet, 3ter Aufz. 1ſter Auftritt.

Aber wir finden doch Beyſpiele, wo die Liebe zum Leben verlaͤugnet wird. Wie manches Men - ſchen erwaͤhnt die Geſchichte, der ſich ſelbſt deſſel - ben beraubte, oder es mit Freuden, wenigſtens mit Gleichguͤltigkeit, hingab!

Dies wird geſchehen koͤnnen, wenn jene Ur - ſachen zu wirken aufhoͤren. Die Neigungen des Menſchen werden von dem Wunſche regiert, ſich im Wohlbefinden zu erhalten, und ſich mithin von Leiden zu entfernen. Stellt er ſich alſo das Leben als eine Reihe von lauter ungluͤcklichen Zu - ſtaͤnden vor, oder glaubt er nach demſelben hoͤhere Freuden zu empfangen; ſo kann er die Neigung zu demſelben verlieren, oder wohl gar eine Abnei - gung gegen daſſelbe bekommen.

Wenn das Herz von Leiden gepreßt wird, welche es in ſeinen empfindlichſten Theilen angrei -fen313fen und zu zerreißen drohen; dann faͤrben ſich die Vorſtellungen der Phantaſie mit der Trauerfarbe des Herzens, und die Vergangenheit und Zu - kunft erhaͤlt den duͤſtern Anſtrich der gegenwaͤrti - gen Momente. Man ſieht ſeines Leidens kein Ende, und ſtellt ſich die genoßnen Freuden im Verhaͤltniß gegen das gegenwaͤrtige Elend als gar nicht zu achtende vor. Dann koͤmmt einem jeder Zuſtand, ja ſelbſt die Vernichtung ertraͤglicher vor; denn man meynt, es koͤnne doch wenigſtens nicht elender werden.

Gekraͤnkte Liebe und verletzte Ehre geben am leichteſten dem Leben eine ſo finſtre Anſicht, welche nichts als Elend in demſelben erwarten laͤßt. Denn Liebe und Ehrbegierde ſind diejenigen Leiden - ſchaften, welche das Herz am meiſten intereſſi - ren, die ganze Seele des Menſchen einnehmen, und ſich als die einzigen Gruͤnde der Gluͤckſeligkeit vorſtellen. Wenn alſo dieſe zerſtoͤrt werden, ſo kann leicht die Freude am Leben vergehen, und das Ende deſſelben angenehm ſcheinen. Cato von Utika kannte kein groͤßeres Gut, als repu - blikaniſche Freyheit, und kein ſchrecklichers Uebel als Caͤſars Oberherrſchaft. Die Freyheit ging unter; und Caͤſar ward Sieger. Cato ent - ſchloß ſich alſo zum Selbſtmord, weil ihm das einzige Gut ſeines Lebens, die Nahrung ſeines republikaniſchen Stolzes entriſſen, und das groͤßteU 5Uebel314Uebel, was er ſich vorſtellen konnte, vor ſeinen Augen war.

Werther hatte keinen andern Lebensgenuß als in Lottens Liebe. Sie ward eines Andern: und ihm keine Hofnung ſie je zu beſitzen. Drum entſchloß er ſich ein Leben zu enden, in welchem er nur Tage ſah, die das ſchmerzvolle Gefuͤhl ſei - ner grundloſen Hofnung truͤbte.

Romeo erfaͤhrt, daß ſeine Julie geſtorben ſey, das einzige Gluͤck ſeines Lebens. Er geht in ihre Gruft, und findet ſie im Sarge; in welchen ſie auf Veranſtaltung des Freundes ihrer Liebe, des Paters Lorenzo, obgleich nur durch einen Trank auf einige Zeit eingeſchlaͤfert, gelegt war. Romeo ſieht nun, da Julie in ſeinen Augen todt iſt, keine Ruhe, kein Gluͤck, keine Freude im Leben.

O, ſpricht er, hier, in dieſem Pallaſt der duͤſtern Nacht, will ich eine immerwaͤhrende Ruhe finden, und das Joch der ungluͤcklichen Geſtirne von dieſem der Welt muͤden Fleiſch ab - ſchuͤtteln. Jhr Augen, ſeht zum letztenmal! ihr Arme, nehmt eure letzte Umarmung! und ihr meine Lippen, die Thuͤren des Athems, verſiegelt mit einem rechtmaͤßigen Kuſſe dem wuchernden Tod, eine immerwaͤhrende Verſchreibung! Komm, bittrer Fuͤhrer! komm unangenehmer Wegweiſer! Du verzweifelnder Steuermann,lauf '315lauf 'ißt auf einmal mit meinem ſeekranken, muͤ - den Schiffe an die zerſchmetternden Klippen! Hier iſt Gluͤck zu erwarten, wohin du dich auch verſchlaͤgſt.

Und nun trinkt er das Gift, um bey Julien zu ſterben.

Julie erwacht, und ſieht ihren Geliebten todt neben ſich, und in ſeiner Hand den Giftbe - cher. Auch ihr iſt itzt das Leben ein Elend und der Tod eine Freude.

Boͤſer Mann, ſagt ſie, alles auszutrinken und keinen freundſchaftlichen Tropfen uͤbrig zu laſſen, um mir nachzuhelfen! Jch will deine Lippen kuͤſſen; vielleicht haͤngt noch ſo viel Gift daran, als noͤthig iſt, mir durch ein Erquickungs - mittel den Tod zu geben.

Aber der Weg duͤnkt ihr zu lang: ſie fuͤrch - tet aufgehalten zu werden; drum nimmt ſie den Dolch und erſticht ſich*)Shakeſp. Romeo und Julie, letzt. Act. letzt. Auftr..

Keine Angſt iſt fuͤrchterlicher, als die, wel - che aus dem Gewiſſen ins Herz dringt: keine Angſt kann ſo leicht zur Verzweiflung und dem Wunſch der Vernichtung des Lebens fuͤhren, als dieſe. Wohin der von dem Bewußtſeyn ſeiner Schuld erbleichende flieht, flieht mit ihm ſein boͤ - ſes Gewiſſen, verſehn mit den qualvollſten Fol - tern. Fallet uͤber mich Berge, und bedeckt michihr316ihr Huͤgel, ruft der Elende aus mit voller Zu - ſtimmung ſeines Herzens; denn ſo lang ſein Auge noch ſieht, und ſeine Bruſt noch athmet, leben in ihm die peinigenden Gefuͤhle der Furcht des Gewiſſens.

Meiſterhaft ſchildert der Dichter der Meſ - ſiade die Gewiſſensangſt des Verraͤthers Jſcha - rioth, und die Entſtehung und Befeſtigung des Entſchluſſes derſelben durch den Tod ein Ende zu machen.

Die Verdammung ſeines Herrn zum Tode erſchuͤtterte die Seele des Frevlers und weckte ſein Gewiſſen.

Er ging Jn den ſchweigenden Hallen der hohen Tempelge - woͤlbe. Als er die hangende Huͤlle des Allerheiligſten ſahe Wandt 'er ſich weg, ward bleicher, und zitterte laut! Dann erhub er Sich zu den Prieſtern, und ſprach mit wuͤthender Reue: Da habt ihr Euer Silber! (und warfs zu ihren Fuͤßen.) Der Fromme, Den ich verrieth, ſein Blut iſt Blut der Unſchuld! Das koͤmmt nun Ueber mein Haupt! Er ſprachs, und rollte die ofneren Augen.
Schon317

Schon hat der fuͤrchterliche Zuſtand ſeines Herzens den Gedanken, durch den Tod denſelben zu endigen, in ihm erregt. Er kann unter Men - ſchen nicht mehr weilen, denn auf jedem Geſichte lieſt er den Fluch des Verraͤthers. Er Ging, und eilte davon, floh der Menſchen Anblick, und riß ſich Aus Jeruſalem.

Seine Seele war von ſchrecklichen Gefuͤhlen zerriſſen. Liebe zum Leben kaͤmpft mit der Angſt des Gewiſſens und der wuͤthenden Reue: er ſtand, itzt ging er! itzt ſtand er! itzt floh er! Schaute mit wildem Antlitz umher, ob er Men - ſchen erblickte.

Denn er glaubte in jedem ſeinen Raͤcher, ſei - nen Verfolger zu ſehn, der ihm ſelbſt die ſchreck - liche Zuflucht, den Tod nicht vergoͤnnen wollte. Endlich Als er keinen erblickte, der Stadt nun ſtum - mes Getoͤſe Ganz ſich dem Ohr verlor, beſchloß er, zu ſter - ben.

Nichts ruͤhrte nunmehr ſeine Sinnen er empfand nichts als ſich ſelbſt, und in ſich die Hoͤlle des Gewiſſens. Nichts hielt alſo ſeinen Entſchluß auf, zu ſterben. Doch iſt die Stimme der Na -tur318tur noch nicht ganz von der Angſt ſeines Herzens betaͤubt. Sie ſtoͤrt ſeinen Entſchluß durch alle nur aufzufindende Zweifel. Aber wird deine Pein nach dem Tode auch aufhoͤren? wird ſie vielleicht nicht noch groͤßer werden?

Sie kann nicht, ſo entgegnet ihr ſein ganzes Gefuͤhl, Nein, ſie kann, nach dem Tode, nicht fuͤrch - terlicher mich faſſen, Dieſe namloſe Qual! Zu entſetzliche Qualen, o wuͤthet, Wuͤthet, ſo lang ihr noch koͤnnt! Wenn dies Auge ſich zuſchließt, und alles Dieſem Ohre verſtummt; ſo ſeh 'ich ſein Blut nicht, ſo hoͤr' ich Seine brechende Stimme nicht mehr!

Noch ſchweigt die Natur nicht: Gottes Be - fehl ſoll ſie ſchuͤtzen.

Der auf Horeb Sprach ja: Du ſollſt nicht toͤdten!

Welch 'ein Schlag fuͤr den Elenden! Sein Herz wird gedraͤngt zwiſchen dem Gefuͤhl ſeiner Qualen, und der dunklen Ahndung, daß der Tod ihn zu Gott fuͤhrt, deſſen Gebot er verletzt. Es bemaͤchtigt ſich ſeiner in dieſem Gedraͤnge die ra - ſendſte, bewußtloſeſte Verzweiflung;

Er iſt mein Gott nicht! Jch habeKei -319Keinen Gott mehr! Du Elend! du biſt mein Gott; du gebieteſt, Laut gebieteſt du mir den Tod! Jch gehorche! So ſtirb denn, Stirb, Verlorner!

Stirb! vor dem ſchrecklichen Worte ſchaudert ſeine Menſchheit aber bald erhaͤlt die Verzweiflung wieder die Oberhand, und giebt dem Entſchluß zum Sterben unerſchuͤtterliche Feſtigkeit.

Du bebſt? Hier ſtuͤrmts! Noch immer empoͤret Sich das Leben in dir! es ringt, zu leben! Ver - raͤther! Du willſt leben? gebrandmarkt vor allen, die jemals verriethen, Du? Er breitet vor mir wie ein weiteroͤfne - tes Grab ſich Fuͤrchterlich aus! Er iſt der baͤngſte der bangen Gedanken, Die ein Sterbender jemals empfand: Jch hab 'ihn verrathen! Stirb! Die Seele, die dir nach dem Tode noch elend zuruͤckbleibt. Toͤdte ſie auch! O die du in mir, als waͤrſt du unſterblich, Dich erhebſt, vernimm dein Schickſal, Seele des Todten! Sieh ich verwuͤnſche dich auch der Vernichtung!
So320

So ſprach der Verraͤther. Schwarze Phan - taſien draͤngten ſich nun vor ſeine Seele. Er ſah den durch ſeine Vermittelung gemordeten Meſ - ſias ſah 'ihn Rache in ſeinem Blute fordern, und erwuͤrgte ſich*)Klopſtocks Meſſiade. 7. Geſang..

Um ein groͤßeres Gut zu erlangen, wird ein kleineres willig aufgeopfert, beſonders wenn dieſe Aufopferung eine Bedingung iſt, ohne welche je - nes nicht erlangt werden kann. So iſts auch mit dem Leben. Wenn jemand durch die Dahin - gebung deſſelben ein Gut zu erlangen meynt, wel - ches ihm viel hoͤher und wichtiger duͤnkt, als ſein irdiſches Daſeyn, ſo wird die Liebe zu dieſem, der Begierde nach jenem vorzuͤglicherm Gute, wei - chen muͤſſen.

Dulce et decorum eſt pro patria mori. Suͤß und edel iſt der Tod fuͤrs Vaterland: ſo denkt der tapfre Held, und giebt, ſeines Namens Unſterblichkeit wegen, gern ſein Leben dahin.

Die indianiſchen Weiber halten es fuͤr eine ſo große Ehre, als die vorzuͤglichſt geliebteſten Gattinnen, mit des Gatten Leichnam auf dem Holzſtoß zu verbrennen, daß ſie nach des Man - nes Tode gerichtlich daruͤber ſtreiten, welche von dem Mann am meiſten geliebt ſey, und daß die - jenige, welcher der Vorzug der Liebe zuerkanntwird,321wird, mit großer und ſtolzer Freude den Schei - terhaufen beſteigt.

So kann auch endlich der Schwaͤrmer, wel - cher den Himmel vor ſich geoͤfnet ſieht, und von den Seligkeiten jenſeit des Lebens gewiſſe Ueber - zeugung hat, wohl dazu kommen, ſein irdiſches Leben dieſem himmliſchen aufzuopfern. Die Welt iſt ihm ohnedies verhaßt, weil er ſich in die Ver - haͤltniſſe derſelben nicht fuͤgen kann: nimmt ihm nun ſeine brennende Phantaſie den Schleyer der Ungewißheit von dem Zuſtande nach dem Tode hin - weg, und zeigt ſie ihm dieſen, ſo ganz ſeinen Nei - gungen, Trieben und Wuͤnſchen angemeſſen, ſo wird er leicht bewegt werden koͤnnen, ſeinen itzigen Zuſtand mit dem angenehmern zu vertauſchen.

Aber wenn gleich, wie eben gezeigt iſt, die Liebe zum Leben ſo tief daniedergedruͤckt werden kann, daß der Menſch zur Vernichtung deſſelben bewegt wird; ſo iſt doch dieſes ſo leicht nicht.

Lang und hartnaͤckig iſt der Kampf zwiſchen der Liebe zum Leben und dem Entſchluß es zu ver - nichten: es werden alle Zweifel, die dem Ent - ſchluß zuwider ſind, aͤngſtlich aufgeſucht, es wird uͤberlegt, beſonnen, widerſprochen Angſt und Zittern bemaͤchtigt ſich des Herzens, und die wider die Natur gemachte Verraͤtherey verraͤth ſich in den fuͤrchterlichen Minen, Geberden und Augen. Die That wird von einem MomentXzum322zum andern aufgeſchoben, und waͤre vielleicht noch niemals ausgefuͤhrt worden, wenn nicht die Ver - zweiflung uͤber das, was den Entſchluß zuerſt er - zeugte, und die Angſt nach gefaßtem Entſchluß das Herz ſo ſehr zerruͤtteten, daß bejammerns - wuͤrdige Wuth an die Stelle der Ueberlegung und Beſonnenheit und Unnatuͤrlichkeit an die Stelle der Natur tritt.

Jch kannte einen ſolchen Ungluͤcklichen, der den Entſchluß genommen hatte, ſich das Leben zu nehmen, weil er die Entdeckung eines Defekts bey der ihm uͤbergebnen Caſſe und aus dieſer Schande und Beſchimpfung fuͤrchtete. Er glaub - te alles verſucht zu haben, was ihm in dieſer Noth helfen konnte; aber es war vergeblich geweſen: und nun faßte denn die Verzweiflung den Vorſatz des Selbſtmords. Man las vorzuͤglich an dem Tage vor der Ausfuͤhrung ſeines Vorſatzes in ſeinem Angeſicht, daß ſchwarze Gedanken in ſeiner Seele waren eine aͤngſtlich machende Unruhe und Verwirrtheit hatte ſich uͤber ſein gan - zes Betragen ausgebreitet, er waͤre ſo gern vor ſich ſelbſt geflohen, und konnte doch nicht. Er ging noch am Abend vorher in ein oͤffentliches Haus, welches er oͤfters zu beſuchen pflegte, mit dem geheimen Wunſche, daß er doch auch itzt daſelbſt die ſchwarzen Wolken, die ſich um ſein Herz gedraͤngt hatten, zerſtreuen moͤchte, wie esſonſt323ſonſt wohl geſchehen war; aber ſtatt, daß er zu andrer Zeit der munterſte Geſellſchafter war, fiel er itzt in einen Schlaf. Man weckte ihn endlich er erſchrak. Es war ſchon ſpaͤt, doch jagte ihn die bange Verwirrung ſeiner Seele noch zu einem ſeiner Bekannten. So war er an dieſem Tage von einem zum andern getrieben, gleich als wenn er von Jedem Huͤlfe und Rettung erwartete, um die er zu bitten nicht im Stande war, wegen der Angſt, die ihn beklemmte. Gegen Mitter - nacht ging er zu Hauſe. Die That ſollte itzo ge - ſchehen aber die Liebe zum Leben verſchob die Ausfuͤhrung von einem Augenblick zum andern. Er oͤfnete das Fenſter, und wie es zu geſchehen pflegt, daß man in dem Zuſtande, wo alle na - tuͤrliche Hofnung verſchwunden iſt, auf alles, auch auf Wunder hoft, ſo ſchien auch er immerfort noch zu hoffen, ohne zu wiſſen worauf? So brachte er die Nacht zu, und die Daͤmme - rung verkuͤndigte ſchon den folgenden Tag, wel - cher die Veruntreuung des anvertrauten Gutes bekannt gemacht haͤtte. Da geſchah endlich die That, vor welcher ſeine Natur ſo lange und ſo weit ſie konnte, geflohn war.

Wie nun die Liebe zum Leben zuweilen unter - druͤckt werden kann, wenn nemlich die Regentin aller Neigungen des Herzens, die Selbſtliebe, ihre Rechnung beym Leben nicht findet, ſo kannX 2ſie324ſie auch auf der andern Seite andre Gefuͤhle un - terdruͤcken, und ſich zur Alleinherrſcherin des Be - gehrungsvermoͤgens machen.

Die unnatuͤrlichſten, graͤßlichſten Mittel wer - den zuweilen gebraucht, um ſich das Leben zu fri - ſten. Die Qual des Hungers und des Durſtes haben ſchon oft den Menſchen verfuͤhrt, die Dinge zu genießen, vor denen er ſonſt ſchauderte, und ſelbſt Menſchen zu ſchlachten, die aus ſeinem Blute entſprungen waren. So manche Belagerungs - geſchichte liefert hievon ſchreckliche Beyſpiele, und unter rohen Nationen kommen die Faͤlle noch haͤu - figer vor, weil bey dieſen die groben ſinnlichen Empfindungen die groͤßte Staͤrke haben, und die feinen Gefuͤhle des Herzens ſehr ſchwach ſind. Bey den Wilden, die um die Hudſonsbay woh - nen, ſoll, wie die Reiſebeſchreiber erzaͤhlen, zu - weilen der Fall eintreten, daß Eltern ihre Kin - der, Maͤnner ihre Weiber, und Bruͤder ihre Ge - ſchwiſter ſchlachten, um das Mark aus ihren Knochen zu ſaugen. Jch habe, erzaͤhlt Jere - mie*)Jn den Voyages au Nord., einen von dieſen Wilden geſehen, welcher mir ſagte, er habe ſeine Frau und ſechs Kinder verzehrt, und ſey nicht eher erweicht worden, als bey dem letzten, welchen er aufgezehrt hatte, weil er ihn am zaͤrtlichſten liebte. Als er dieſem den Kopf geoͤfnet habe, um ſein Gehirn zu verzehren,ſey325ſey er von dem vaͤterlichen Gefuͤhle geruͤhrt wor - den, und habe nicht Staͤrke genug gehabt, ihm die Knochen zu zerbrechen, um das Mark aus denſelben zu ſaugen.

So thieriſche Handlungen wirkt indeß mehr die unertraͤgliche thieriſche Empfindung des Hun - gers, als die Liebe zum Leben, oder, um deut - licher zu ſeyn, die Liebe zum Leben allein, ohne dieſe Qual der auf die Erhaltung des Koͤrpers zielenden Triebe, wuͤrde nicht zur Menſchenfreſ - ſerey verleiten.

Doch giebt es auch Menſchen, in welchen die Liebe zum Leben fuͤr ſich ſehr kleinlich, ſehr niedrig, ſehr ſchaͤndlich iſt. Die, welche niemals an ihre hoͤhere Beſtimmung gedachten, vor einer Zu - kunft, wo uͤber ihr Leben gerichtet wird, zu zit - tern haben; keine Guͤter kennen, als die auf der Erde genoſſen werden muͤſſen, und nichts in die Ewigkeit mitgeben; die beben vor dem Ausgang aus dem Leben, und koͤnnten ſelbſt Laſter begehen, um ſich vor der Senſe des Todes zu ſchuͤtzen. Wie Mancher, der uͤber Gott und Ewigkeit ſpottete, weil ſeinem Gewiſſen dieſe Gedanken ſchrecklich waren, hat auf dem Krankenbette ge - zagt und gezittert!

Wie Mancher, der weiter kein Gut auf Erden ſchaͤtzt, als ſeinen Mammon, moͤchte ſich in die Tiefe der Erde verbergen, wenn der NameX 3Tod326Tod genannt wird! weil dieſer ihn wegreißt von ſeinem Goͤtzen, der jenſeits des Grabes nicht mehr angebetet werden kann.

Bey Einigen iſt indeß dieſe aͤngſtliche Furcht vor dem Tode nicht ſowohl eine Folge der kleinli - chen Liebe zum Leben, als der ſchrecklichen Vor - ſtellung von dem, was dem Leben ein Ende macht. Aus dieſer Quelle fließt der Kleinmuth in Hinſicht des Sterbens bey denen, welche vor dem Tode ſich zu fuͤrchten nicht Urſach haͤt - ten, und in andern Stuͤcken ihre maͤnnliche Tu - gend bewieſen. Das Sterben iſt fuͤr jeden eine ſo neue, ungewoͤhnliche Situation; die Vorſtel - lungen von der Angſt derer, in welchen Tod und Leben mit einander kaͤmpfen, ſind ſo ſchauderhaft, daß auch der Mann wohl davor zittern kann. Sieht er uͤberdem einer ſchimpflichen grauſamen Todesart entgegen, ſo kann es um ſo leichter da - hin kommen, daß er verzagt wird, und alles an - wendet, ſich dieſer Todesart zu entziehen.

Diego de Almagro, welcher dem Wuͤtrich Pizarro zur Eroberung von Amerika zugeſellt war, entzweyte ſich mit dieſem, kriegte mit ihm, und wurde gefangen. Pizarro beſchuldigte ihn des Hochverraths, und verurtheilte ihn zum To - de. Almagro, der ſo oft dem Tode im Felde getrotzt hatte, wurde durch die Annaͤherung deſ - ſelben unter dieſer ſchimpflichen Geſtalt ſo erſchreckt,daß327daß er ſeine Zuflucht zu kleinmuͤthigen, ſeines vo - rigen Ruhms unwuͤrdigen Bitten nahm. Er bat, erzaͤhlt Robertſon*)Robertſ. Geſch. v. Amerika. Deutſche Ueberſ. v. Schiller. 2. Th. 242. 243., die Pizarros ſich der alten Freundſchaft zwiſchen ihrem Bruder und ihm zu erinnern, und wie viel er zum Gluͤck und Wohlſtande ihrer Familie beygetragen haͤtte. Er erinnerte ſie an die Menſchenliebe, womit er, den wiederholten Vorſtellungen ſeiner eignen getreuſten Freunde zuwider, ihr Leben geſchont, da er ſie in ſeiner Gewalt gehabt; er beſchwur ſie, ſich ſeines Alters und ſeiner Schwachheit zu erbarmen, und ihn den elenden Ueberreſt ſeiner Tage in Reue uͤber ſeine Verbrechen und Ausſoͤhnung mit dem Himmel zubringen zu laſſen.

Was bewog den alten Krieger zu dieſen klein - muͤthigen Bitten. Gewiß nicht die Furcht vor dem Tode; denn dieſen hatte er im Felde nicht ge - ſcheu't, und ging ihm auch nachher, als er ſahe, daß ſeine Bitten vergeblich waren, mit der Wuͤrde und Standhaftigkeit eines alten Kriegers entgegen. **)Ebend. S. 243. Es war die Furcht vor der Todesart. Der Kriegsheld zittert gewoͤhnlich eher, als ein Andrer vor dem Tode auf dem Kran - kenbette oder der Hinrichtung. Er denkt ſich kei - nen Tod, als den auf dem Bette der Ehre;X 4drum328drum iſt ihm eine toͤdliche Krankheit, die ihn um ſeinen Ruhm bringt, und das Schafot, welches ihn noch dazu beſchimpft, ſchrecklich. Bey Almagro verſtaͤrkte dieſe Furcht noch der Glau - be, daß er noch Zeit gebrauche, zur Verſoͤhnung mit Gott, und ſein ſchwaͤchliches Alter.

Ueberhaupt iſt die Furcht vor dem Tode in dem Alter ſtaͤrker, als in der Jugend, ſo na - tuͤrlich es auch auf der einen Seite ſcheint, daß der Juͤngling, welcher noch viel zu genießen er - wartet, und beſſer genießen kann, ſich mehr vor dem Verluſt des Lebens fuͤrchten muͤſſe, als der Alte, welcher ſchon genoſſen hat, und vieler Freuden des Lebens nicht mehr empfaͤnglich iſt. Aber es laͤßt ſich dieſe anſcheinende Ungereimt - heit ſehr leicht erklaͤren. Daß der Juͤngling das Leben lieber hat, als der Greis, iſt wohl nicht zu leugnen, da jener ſo viel noch Freuden im Le - ben genießt, als dieſer aber darum fuͤrchtet jener doch den Tod weniger, als der Greis. Der Juͤngling haͤlt den Tod noch fuͤr entfernt, der Alte ſieht ihn in der Naͤhe; darum muß er auf dieſen viel ſtaͤrker wirken, weil die Staͤrke des Eindrucks im umgekehrten Verhaͤltniß mit der Entfernung des Gegenſtandes, welcher Eindruck macht, ſteht. Dazu koͤmmt das leichtere Blut und der groͤßere Leichtſinn der Jugend, welche die Seele vor den Vorſtellungen vorbeyfliegen laſſen,in -329indem die Seele des Alten langſam vor ihnen vor - beyſchleicht, und ſie daher genauer betrachtet; und endlich die Schwaͤchlichkeit des Alters, welche auch den Geiſt und das Herz angreift, und klein - muͤthiger macht.

Vierte Unterhaltung. Ueber den Trieb zur Thaͤtigkeit.

Sunt autem clariora, vel plane perſpicua nec dubi - tanda indicia naturae, maxime ſcilicet in ho - mine, ſed in omni animali, ut appetat animus aliquid agere ſemper, neque ulla conditione quietem ſempiternam poſſit pati. (Cicero.)

So lange der Menſch lebt, und ſich ſeiner be - wußt iſt, fuͤhlt er in ſich den Reiz, bald dieſe, bald jene ſeiner Kraͤfte auf dieſe oder jene Art wirken zu laſſen. So iſt es bey Kindern, Juͤng - lingen, Maͤnnern und Greiſen; alle werden, wiewohl in verſchiednem Grade, von dem Triebe zur Thaͤtigkeit bewegt.

Es iſt nemlich zum Wohlbefinden des Men - ſchen nothwendig, daß er ſein Daſeyn wahrneh - me; denn nichts iſt unertraͤglicher, als der Ge - danke eine iſolirte Null in der Reihe der Dinge zu ſeyn: er kann ſich aber auf keine andre WeiſeX 5als330als Realitaͤt empfinden, als wenn er fuͤhlt, daß er wirkt, oder auf irgend etwas einen Einfluß hat. Darum muß der Menſch immerfort auf irgend eine Art thaͤtig ſeyn.

Die Grade der Staͤrke dieſes Triebes zur Thaͤtigkeit ſind freylich ſehr verſchieden. Man halte einen Sardanapal und Alexander, einen Abdul Hamid und Friedrich den Einzigen gegen einander, welch ein Unterſchied!

Je mehr Kraftgefuͤhl in dem Menſchen, deſto ſtaͤrker der Trieb ſeine Kraft anzuwenden oder thaͤtig zu ſeyn: je weniger Kraftgefuͤhl, deſto ſchwaͤcher dieſer Trieb. Wer ſich daran gewoͤhnt, nur zu genießen, ohne ſelbſt dazu wirkſam zu ſeyn, weicht ſeine Kraft auf, und kann daher von ihr nicht zur Thaͤtigkeit angereizt werden wer hingegen durch Uebung ſeine Kraͤfte ſtaͤrkt, ſchaͤrft eben dadurch auch die Antriebe, dieſelben zu gebrauchen.

Der Geiſt im Menſchen iſt es vorzuͤglich, der ſeine Thaͤtigkeit anregt: denn dieſer zeigt ihm mancherley Ziele, und eroͤfnet ihm mancherley Ausſichten, welche ihn zur Wirkſamkeit reizen koͤnnen. Er bringt die Vorſtellungen hervor, welche die erſten Keime der Handlungen enthalten, und weckt dadurch bald dieſe bald jene Neigung, die den Menſchen nicht unthaͤtig ſeyn laͤßt.

Je331

Je weniger Geiſt daher der Menſch hat, deſto geringer iſt ſein Thaͤtigkeitstrieb. Der Dumme oͤfnet den Mund, wo der geiſtige Haͤnde und Fuͤße gebraucht, weil er tauſend Gegenſtaͤnde ſieht, zu welchen dieſe ihn tragen und die er mit jenen ergreifen kann.

Jn traͤger Ruhe liegt der ungebildete Wilde, und regt ſich nur, wenn Jagd oder Krieg ruft, welches die einzigen Gegenſtaͤnde ſind, die lebhaf - te Vorſtellungen in ihm hervorbringen koͤnnen; indeß ſein ungluͤckliches Weib, welcher Sorge, Kummer, Schwaͤche und Furcht den Geiſt uͤben, Tag und Nacht arbeitet*)Robertſons Geſch. v. Amerika. 1. 437 ff..

Wenn irgend eine Leidenſchaft ſich des Her - zens bemeiſtert, welche bey jeder Gelegenheit an ſich erinnert, dann wird der Trieb zur Thaͤtigkeit ſehr lebhaft. Denn die Leidenſchaft erhaͤlt immer die Vorſtellung der Gegenſtaͤnde, die mit ihr ver - bunden ſind, und der Zwecke, die ſie hat, leben - dig, und erlaubt daher niemals, laͤßig und traͤge zu ſeyn.

Tag und Nacht denkt der Ehrſuͤchtige an das, was ſeiner Begierde Nahrung geben kann, und hat nie genug fuͤr ſeine Ehre gethan.

Tag und Nacht denkt der gewinnſuͤchtige Kaufmann auf neuen Gewinn, macht tauſend Verſuche, unterzieht ſich tauſend Beſchwerdenund332und Gefahren, weil er hinter ihnen immer das Ziel ſieht, zu welchem ſeine Gewinnſucht ihn hinzieht.

Tag und Nacht denkt der Selbſtſuͤchtige an die Vergroͤßerung, Erweiterung und Erhoͤhung ſeines geliebten Jchs. Er lebt in einem ewigen Planmachen, und laͤßt ſich keine Muͤhe verdrie - ßen, wenn er nur ſich ſelbſt dadurch verherrlicht ſieht.

Auch Gefuͤhl der Pflicht kann den Thaͤtig - keitstrieb wecken, und leitet ihn gewiß am ſicher - ſten, und belohnt ihn am edelſten. Denn durch Pflicht gefuͤhrt, verfehlt die Thaͤtigkeit nie ihres Ziels; ſie ſammelt wenigſtens dem Menſchen das Bewußtſeyn ein, ſeiner Beſtimmung Gnuͤge ge - leiſtet zu haben, und gewaͤhrt ihm dadurch eine unverſiegbare Quelle von Zufriedenheit, Ruhe und Gluͤckſeligkeit. Nichts aber kann den Trieb zur Thaͤtigkeit ſtaͤrker erregen, als wenn der Gedanke an den Werth und die Fluͤchtigkeit der Zeit dem Herzen beſtaͤndig gegenwaͤrtig iſt. Da iſt man aͤngſtlich um jede Minute, und hat keine Ruhe, wenn man nicht wirkt.

Die Langſamkeit der Amerikaner im Arbeiten leitet Robertſon mit aus der Urſache her, daß ſie die Zeit nicht zu ſchaͤtzen wiſſen. Wilden, ſagt er, die ſich ihres Unterhalts wegen nicht auf Be - muͤhungen eines ordentlichen Fleißes verlaſſen, iſtan333an der Zeit ſo wenig gelegen, daß ſie ſie gar nicht achten, und koͤnnen ſie eine Unternehmung nur ausfuͤhren, ſo bekuͤmmern ſie ſich nicht darum, wie lange ſie ſich damit beſchaͤftigen.

Alle Thaͤtigkeit zweckt entweder auf Nutzen oder auf Vergnuͤgen ab. Jene nenn 'ich Be - ſchaͤftigung, dieſe Spiel im allgemeinſten Sin - ne des Worts. Der Trieb zur Thaͤtigkeit findet ſich in allen Menſchen, doch nicht in allen der Trieb zur Beſchaͤftigung, wenigſtens iſt dieſer nicht ſo allgemein, als die Neigung zum Spiele.

Das Kind, welches noch gar die Vorſtellung von Nutzen nicht hat, ſpielt, ſo lange es nicht ſchlaͤft oder verlangt wenigſtens ſehr begierig dar - nach.

Der Landmann und Handwerker arbeitet die ganze Woche hindurch, um am Sonntag ſpielen und tanzen zu koͤnnen.

Selbſt der traͤge Wilde liebt allerley Arten von Spielen, und beſonders das Tanzen mit wil - der Heftigkeit. Spiel und hitzige Getraͤnke ſind außer den gewoͤhnlichen Maͤnnerbeſchaͤftigungen das Einzige, was den in Muͤſſiggang einſchlum - mernden aufwecken, und ihn zu ſolcher Leidenſchaft entflammen kann, daß er Haab und Gut, Weib und Kind, ja ſeine Freyheit ſelbſt aufs Spiel ſetzt, wie der roͤmiſche Geſchichtſchreiber derDeut -334Deutſchen ſelbſt von unſren die Freyheit uͤber al - les liebenden Vorfahren erzaͤhlt.

Daß die Neigung zum Spiel ſo allgemein und ſo lebhaft iſt, gehoͤrt gewiß mit unter die wei - ſeſten Einrichtungen der Natur. Wie bald wuͤr - de der Menſch ſich abſtumpfen und zu Geſchaͤften untuͤchtig machen, wenn er immer nur fuͤr ſeine oder irgend eines Andern Nutzen arbeitete, und nie Luſt haͤtte, ſich zu erholen und zu zerſtreuen.

Aber die Natur ſorgt dafuͤr, daß jeder Menſch das Beduͤrfniß der Erhohlung und Zerſtreuung fuͤhlen mußte; und pfropfte auf das Gefuͤhl dieſes Beduͤrfniſſes die Neigung zum Spiel, deren Quellen außer der angefuͤhrten hauptſaͤchlich fol - gende ſind.

Zuerſt die Beſchwerlichkeit der Langenweile, und die Unmoͤglichkeit alle ſeine Zeit mit nuͤtzender Thaͤtigkeit oder Ruhe auszufuͤllen. Beym Spiel vergeht die Zeit uns geſchwinder, weil wir nicht ihren Verlauf, ſondern vielmehr, da wir ſie an - genehm ausfuͤllen, ihren Verzug wuͤnſchen. Die Kraͤfte unſers Gemuͤths haben eine freyere Wirk - ſamkeit: ſie ſind auf nichts Beſtimmtes geheftet, und keinem Zwang unterworfen.

Eine andre Urſach der Neigung zum Spiele liegt in der angenehmen Unterhaltung, welche ſie der Sinnlichkeit oder irgend einer von den Kraͤf - ten des Gemuͤths gewaͤhren.

Die335

Die Schaukel, das Karuſſel und aͤhnliche Spiele gefallen wegen der angenehmen Empfin - dung, welche das durch die ſchnelle Bewegung bewirkte Durchziehen der Luft in dem Koͤrper her - vorbringt.

Das Soldaten -, das Richterſpiel und andre, welche ihnen aͤhnlich ſind, haben fuͤr den Kna - ben deswegen ſo viel Anziehendes, weil ſie die Phantaſie mit Bildern erfuͤllen, in welchen er ſich ſehr groß erſcheint.

Das Schachſpiel, Charaden - und Raͤthſel - ſpiel gefallen wegen der Unterhaltung, die ſie dem Verſtande gewaͤhren, und werden daher vor - nehmlich von denen geliebt, welchen Verſtandes - beſchaͤftigungen gefallen.

Andre Spiele endlich ſind deswegen intereſſant, weil ſie einer Neigung oder Leidenſchaft ſchmei - cheln, das Gemuͤth, dem Motion, eben ſowohl, wie dem Koͤrper angenehm und heilſam iſt, in Bewegung ſetzen, oder mit irgend einem Jntereſſe des Herzens zuſammenhaͤngen.

Dem Freunde des weiblichen, und der Freundin des maͤnnlichen Geſchlechts gefaͤllt das Pfandſpiel; dem Ehrgeizigen alle diejenigen Spie - le, wo es auf koͤrperliche oder geiſtige Geſchick - lichkeit ankoͤmmt; daher er auch diejenigen am liebſten ſpielt, in welchen er hervorſtechen kann dem Gewinnſuͤchtigen die Pharaobank, die ihm,wenn336wenn gleich ungewiſſe, doch angenehme Ausſich - ten in die Zukunft giebt.

Die Neigung ſehr vieler Menſchen zu dem Hazardſpiele uͤberhaupt, gruͤndet ſich auf die, durch das beſtaͤndige Hin - und Herfallen, aus einem Affekt in den andern, bewirkte angenehme Er - ſchuͤtterung, und bey Einigen auf die dadurch be - werkſtelligte Ausfuͤllung ihres leeren Herzens, wel - ches auf dieſe Weiſe doch durch ein Jntereſſe be - wegt wird.

Aus den angefuͤhrten Gruͤnden laͤßt ſich auch die große Liebe einiger Wilden zum Tanz und zu Wagſpielen, welche Robertſon vornehmlich von den Amerikanern bemerkt hat, erklaͤren. Als die Spanier, ſagt der philoſophiſche Ge - ſchichtſchreiber, zuerſt nach Amerika kamen, er - ſtaunten ſie uͤber die Liebe der Eingebornen zum Tanzen, und ſahen mit Verwunderung, ein in ſei - nen meiſten andern Geſchaͤften kaltes und ſchlaͤf - riges Volk aufleben, und ſich eifrig anſtrengen, ſo oft dieſer Lieblingszeitvertreib vorkam*)Robertſ. Geſch. v. Amerika. D. U. 1. Th. S. 456..

Wenn nun gleich bey dem Tanz der Ameri - kaner nicht, wie bey unſern geſitteten Taͤnzen, die Liebe, noch, wie bey dem ungeſitteten Tanzen, die grobe Begierde ihre Nahrung findet, weil ge - woͤhnlich jedes Geſchlecht beſonders ſeine Taͤnzefeyert337feyert*)Daſelbſt. S. 459.; ſo bewegt er doch auf eine andre Art das Gefuͤhl. Denn der Tanz iſt bey ihnen durch - aus mimiſch, und ſtellt dieſe oder jene feyerliche Handlung, dieſe oder jene intereſſante Begebenheit vor. Der Kriegstanz z. B. erinnert ſie an ihr Lieblingsgeſchaͤft, und muß daher fuͤr den Wilden, der weiter keine Beſchaͤftigung kennt, und doch zu - weilen das Beduͤrfniß fuͤhlt, ſeinem Gemuͤthe eine Bewegung zu machen, ſehr unterhaltend ſeyn**)Es iſt leicht zu begreifen, daß, ohnerachtet dem ro - hen Wilden alle anſtrengende Beſchaͤftigungen, wenn ſie nicht auch zugleich ſeine Leidenſchaften oder Be - gierden anfachen, zuwider ſind, doch auch der traͤge Muͤſſiggang auf die Laͤnge unertraͤglich werden muß. Das beſtaͤndige Stillſitzen macht das Blut traͤge und dick, und veranlaßt andre koͤrperliche Be - ſchwerden, welche hernach auch dem Herzen zur Laſt fallen und ihn verdrießlich machen. Hieraus fließt auch die ſtarke Neigung der Wilden zu hitzi - gen Getraͤnken und Schmauſereyen: denn dieſe ver - ſetzen ihn aus ſeinem traͤgen, beſchwerlichen Zuſtan - de, und geben ſeinem Blute und Lebensgeiſtern ei - nen raſchern Umlauf. Ein muͤſſiger Wilder, ſagt der ſchon oft genannte SchriftſtellerDaſ. S. 460., iſt ein trau - riges melancholiſches Thier; ſobald er aber den be - rauſchenden Trank koſtet, oder zu koſten hoft, wird er munter und froͤhlich. .

BeyY338

Bey den wilden Amerikanern kommt noch ein Grund hinzu, wodurch das Spiel und der Tanz fuͤr ſie intereſſanter wird. Sie halten ſie nemlich fuͤr Univerſalarzneyen und Univerſalſuͤhnopfer. So bald jemand krank wird, ſo verordnet man einen Tanz, als das wirkſamſte Arzneymittel zu ſeiner Wiederherſtellung; und kann er ſelbſt die Abmat - tung einer ſolchen Leibesuͤbung nicht aushalten, ſo tanzt der Arzt oder Zauberer an ſeiner Statt, als ob er die Wirkung ſeiner Munterkeit ſeinem Kran - ken mittheilen koͤnnte. Eben ſo werden auch die Spiele uͤberhaupt gebraucht*)Daſ. 455. 460..

Fuͤnfte Unterhaltung. Ueber den Trieb zur Veraͤnderung.

Es gehoͤrt nur eine ganz kleine Erfahrung dazu, um die Bemerkung zu machen, daß der Menſch einen Trieb zur Veraͤnderung fuͤhlt. Man mag nicht immer daſſelbe thun ſondern hat gern Abwechſelung im Handeln ſowohl als im Ge - nießen.

Auch wird es nicht viel Schwierigkeiten ha - ben, dieſen Trieb nach Abwechſelung aus der Na - tur der Seele zu erklaͤren, wenn man nur auf dieFolgen339Folgen Acht hat, welche mit der Thaͤtigkeit ſowohl als mit dem Genuß nothwendig verbunden ſind.

Alle Thaͤtigkeit iſt entweder Thaͤtigkeit des Geiſtes oder des Koͤrpers, und beyde entweder Beſchaͤftigung oder Spiel*)S. die vorige Unterhaltung..

Jſt der Geiſt beſchaͤftigt und die Beſchaͤfti - gung mit Schwierigkeiten verknuͤpft, welche durch das Jntereſſe nicht erſetzt werden, oder keine Sei - te zeigen, von welcher man ſie zu uͤberwinden hoffen koͤnnte; ſo erfordert dieſes eine ſtarke An - ſtrengung, bey der es der Seele nicht wohl iſt, weil dadurch das Gefuͤhl der Unvollkommenheit ſehr lebhaft und laͤſtig wird. Sie erlaubt daher der Phantaſie leichter auf irgend eine Weiſe eine Stoͤrung zu machen. Werden die Schwierig - keiten uͤberwunden, ſo gewaͤhrt dies freylich eine große Freude, und macht dieſe Beſchaͤftigung ſehr angenehm; indeß dann ſtoͤrt doch fuͤr den Augenblick die Freude ſelbſt, und verlangt wenigſtens eine kurze Zeit ſich ihrem Genuß zu uͤberlaſſen.

Koſtet eine Beſchaͤftigung nicht gar viele An - ſtrengung, ſo iſt die Ermattung freylich die Ur - ſach des Wunſches nach Abwechſelung nicht; in - deß die Abwechſelung ſelbſt geſchieht doch denn eben darum, weil man ſich nicht ſo ſtark anſtrengen darf, wird die Aufmerkſamkeit auch nicht ſo feſt ge - halten, und laͤßt ſich leicht auf etwas anders leiten.

Y 2Eben340

Eben ſo iſt es mit den Beſchaͤftigungen, bey welchen der Koͤrper und ſeine Gliedmaßen in Thaͤ - tigkeit ſind. Durch die Anſtrengung, ſie mag nun intenſiv oder extenſiv ſtark ſeyn, erſchlaffen die thaͤtigen Organe, und die Seele empfindet daher Unluſt uͤber der Beſchaͤftigung, weil ihre Befehle von dem ermatteten Koͤrper nur langſam und ſchlecht ausgefuͤhrt werden.

Ueberhaupt aber ſtrebt die Seele unaufhoͤr - lich nach einer Erweiterung ihres Vorſtellungs - kreiſes, beſonders dann, wenn ſie ſich ſo weit ent - wickelt hat, daß ſie nicht blos fuͤr die Sache des Koͤrpers thaͤtig iſt, wie bey dem ungebildeten Thei - le der Menſchen, welche man, und zwar allein in dieſer Hinſicht mit Recht, gemeine Leute nennt*)Gebildete Leute pflegen die Hirten und andre, wel - che einſame, nicht unterhaltende Geſchaͤfte betreiben muͤſſen, vorzuͤglich deshalb zu bedauren, weil dieſe Leute viel Langeweile haben, und in einem beſtaͤn - digen Einerley leben muͤſſen. Aber grade von die - ſer Seite empfinden ſolche Menſchen am wenigſten etwas, das Bedauren erregen duͤrfte. Sie fuͤhlen keine Langeweile ihr Jdeenkreis iſt ſo klein als ihre Huͤtte, und ſo wie dieſe ihnen nicht zu eng vor - kommt, weil ſie fuͤr ſich und die Kleinigkeiten, welche zu ihrer Wirthſchaft gehoͤren, Platz genug darin finden; ſo auch jener nicht, weil ſie ſelbſt unter derkleinen; ſondern ſich ſchon ihrer vorzuͤglichenBe -341Beſtimmung bewußt iſt, und das große Gebiet er - blickt hat, in welchem ſie wirken und Nahrung fuͤr ſich ſammlen kann.

Es giebt einen ungluͤcklichen Veraͤnderungs - trieb, welcher eine gewoͤhnliche Folge der ſogenann - ten Hypochondrie zu ſeyn ſcheint. Kaum hat man irgend ein Geſchaͤft angefangen, ſo iſt man deſſelben muͤde; kaum hat man dies oder jenes ſich zu vergnuͤgen unternommen, ſo iſt man deſſelben uͤberdruͤßig. Jch erklaͤre mir dieſe große Veraͤn - derlichkeit aus der von der aͤußerſt peinigenden Krankheit bewirkten Schwaͤche und Stumpfheit des Geiſtes; welcher nicht ſo viel Kraft hat, ſich in der Mitte und im Gleichgewicht zu erhalten, ſondern wenn er einmal aufgeweckt wird, alle ſei - ne Kraͤfte mit uͤbergroßer Heftigkeit anſtrengt, aber dann wieder ganz ſchlaff und unthaͤtig da liegt. Man faͤngt eine Arbeit an, aber bald wird man gewahr, daß es an Kraft zu derſelben fehle; dieY 3Angſt*)kleinen Zahl von Vorſtellungen noch immer genug finden, was ſie noch vielmal intereſſant genug un - terhaͤlt, weil ihr Verſtand nicht ſo ſcharf ſieht, daß er mit einem Blick den ganzen Jnhalt der Vorſtel - lung auffaßte. Man gebe nur Acht, mit welchem Jntereſſe der gemeine Mann auch das funfzigſte Mal noch von derſelben Sache ſpricht, und man wird ſich leicht uͤberzeugen, daß er ſowohl in den Beduͤrfniſſen ſeines Geiſtes, als ſeines Koͤrpers ſehr genuͤgſam iſt.342Angſt des Herzens verwirrt den Geiſt, und be - woͤlkt die Heiterkeit deſſelben: ſo wird man von einer Arbeit zur andern gejagt, man hoft immer bey der, die man vornehmen will, gluͤcklicher zu ſeyn, und ſieht, wenn man ſie wirklich vorgenom - men hat, ſeine Hofnung getaͤuſcht.

So wie nun der Trieb nach Veraͤnderung und Abwechſelung bey Beſchaͤftigungen wirkt; ſo wirkt er auch bey Spielen. Manche ermuͤden ſo gut, wie Beſchaͤftigungen den Geiſt oder Koͤr - per, und fordern deswegen zur Veraͤnderung auf; manche gefallen blos, weil ſie etwas anders, als das Gewoͤhnliche und Alte ſind, und hoͤren daher auf angenehm zu ſeyn, wenn ſie nicht mehr den Reiz der Neuheit haben. Ueberdem koͤnnen hun - dert zufaͤllige Urſachen dem Spiel das Anziehende rauben, und die Wuͤnſche auf andre Gegenſtaͤn - de leiten.

Genuß ermuͤdet endlich ſo gut wie Thaͤtigkeit, weil er die Organe des Empfindens, oder der Einbildungskraft anſtrengt, und die Aufmerkſam - keit anzieht.

Außer den angefuͤhrten Urſachen haben noch andre einen Einfluß in den betrachteten Trieb. Der Wille haͤngt uͤberhaupt von den Vorſtellun - gen ab, und wird alſo auch mit dieſen veraͤndert. Worin man heute blos etwas Angenehmes ent - deckt, und daher daſſelbe begehrt, da ſieht manmorgen343morgen vielleicht ſchon unangenehme Beſchaffen - heiten, und zieht ſich daher von demſelben zuruͤck.

Wer koͤnnte außerdem alle Urſachen aufzaͤh - len, durch welche der ganze innere und aͤußere Zuſtand des Menſchen, und das Verhaͤltniß der Dinge zu ihm geaͤndert werden kann, die indeß doch alle als Gruͤnde des Veraͤnderungstriebes berechnet werden muͤſſen.

Neben dieſem Trieb nach Veraͤnderung aber findet ſich auch in der Seele ein Hang ihren ge - genwaͤrtigen Zuſtand fortzuſetzen. Wie die Flieh - und Schwerkraft die Himmelskoͤrper in ih - rer regelmaͤßigen Bewegung erhalten, ſo dieſe beyden Triebe gemeinſchaftlich die Seele. So wie der Trieb nach unablaͤſſiger Aenderung und Abwechslung, ſagt einer der erſten Kenner der menſchlichen Natur, keine Fortdauer einer und derſelben voͤllig gleichen Faſſung verſtattet; ſo ver - ſtattet der Hang nach der Fortſetzung des jedes - maligen Zuſtandes der Seele keinen Sprung, kei - ne ploͤtzliche Umwaͤlzung, keine unmittelbare Fol - ge ganz entgegengeſetzter Zuſtaͤnde. *)Engels Mimik. 2. Th. S. 238. 239.

Der Grund dieſes Triebs liegt in dem Geſetze der Jdeenadſociation, welchem alle Bewegun - gen und Veraͤnderungen des Gemuͤths unterwor - fen ſind. Die Seele kann keine neue Reihe von Vorſtellungen anfangen, ohne die VermittlungY 4derer,344derer, welche gegenwaͤrtig in ihrem dunkeln oder klaren Bewußtſeyn ſind. Auch wenn die Ueber - gaͤnge aus einem Verlangen in das andere, einen Gemuͤthszuſtand in den andern, noch ſo abgebrochen zu ſeyn ſcheinen; ſo wird man doch bey ein wenig Ueberlegung finden koͤnnen, daß irgend eine an die gegenwaͤrtigen Vorſtellungen gebundene, oder durch ſie geweckte Vorſtellung, die Seele aus jenem Zu - ſtand in dieſen hinuͤberfuͤhrte. Der eben ange - zogne Meiſter in der Entwicklung der verſchiednen Seelenzuſtaͤnde des Menſchen, hat in dem Brief, aus dem ich die angefuͤhrten Worte entlehnte, mehrere hieher gehoͤrige vortrefliche Bemerkungen, beſonders in Beziehung auf die Uebergaͤnge aus einem Affekt in den andern gemacht, die ſich leicht allgemein anwenden laſſen.

Sechſte Unterhaltung. Ueber den Trieb der Nachahmung.

Mit dem bisher betrachteten Triebe der Thaͤtig - keit und Veraͤnderung haͤngt der Trieb zur Nach - ahmung*)Jch nehme hier Nachahmen im ganz allgemeinen Sinne, da es uͤberhaupt das Nachbilden fremder Beyſpiele bedeutet. Sonſt wird es eigentlich im en -gern innig zuſammen. Man wuͤnſcht im -mer345mer ſeine Kraͤfte anzuwenden und wirken zu koͤn - nen, und folgt darum, wenn man das Wie? nicht ſelbſt beſtimmen kann, Andern.

Y 5Die

*)gern Sinne gebraucht, und von Nachmachen, Nachthun, Nachaͤffen unterſchieden.Nachahmen bedeutet im letztern Sinn ſich das zu eigen zu machen ſuchen, was den innern Grund der aͤußern Erſcheinungen in den Handlun - gen oder uͤberhaupt der Natur andrer erhaͤlt, und ſteht in dieſer Bedeutung vorzuͤglich dem Nachaͤffen entgegen, welches eine blinde Copirung des Aeußern an andern Dingen ausdruͤckt, welches eine Eigen - ſchaft der Affen iſt. Der Nachahmer ſucht den Geiſt nachzubilden, der Nachaͤffer den Buchſtaben zu kopiren. Der Chriſt ſoll Chriſtus Beyſpiel nachahmen, d. h. ſolche Geſinnung und Denkungs - art, ſolche Tugend und Froͤmmigkeit ſich zu ver - ſchaffen ſuchen, als ſein großer Lehrer hatte.So ahmt man eines Schreibart nach, wenn man ſich bemuͤht, die Gruͤnde kennen zu lernen, durch welche jener ſich dieſe Manier zu eigen machte, und hiernach ſeine Ausdrucksfaͤhigkeit bildet: man aͤfft ſie nach, wenn man die Phraſen und Ausdruͤ - cke des Andern nachlallt, und ſeine Wortſtellungen, Perioden u. ſ. w. nachpinſelt, wie im zweyten und dritten Jahrhundert die ignoranten Nachaͤffer des Herodots und Thucydides, und zu unſern Zeiten manche Klopſtockianer und Lavaterianer.Jn

346

Die ganze Culturgeſchichte iſt ein Beweis von dem Daſeyn dieſes Triebes in dem Herzen der Menſchen.

Die

*)Jn Paris, erzaͤhlt Herr Rath Schulz in der Fortſetzung der Geſchichte der Revolution in Frank - reich im Braunſchweigiſchen Allmanach fuͤr 1791, aͤfften die Kinder die ſoldatiſchen Aufzuͤge der Alten nach. Es zogen ſich Hunderte von Kindern zuſam - men, die hinter Kindertrommeln und roſenrothen Fahnen mit hoͤlzernen Gewehren, Knitteln und Stangen bewafnet, und mit Grenadiermuͤtzen von bemahlten Papier auſgeputzt, ernſthaft einher mar - ſchirten, und eines Schreyens ſchryen: Hoch lebe die Nation! Man bemerkte, daß auch in dem Punkt die Kinder den Alten nachahmten, daß ſie in ihrem Korps Alle frey ſeyn und Alle be - fehlen wollten; daß ſie ihre Oberſten und Generale nach Willkuͤhr abſetzten; daß ſie ſogar einen darun - ter, der ſich auf die ihm anvertraute Macht und Gewalt berief, um einen Widerbeller zu beſtrafen, den Proceß machen, und ihn, alles nach der Weiſe der Alten, an einen Reverbere hinaufziehen wollten. Ein Detaſchement der Buͤrgerwache kam noch eben zu rechter Zeit, ihn zu retten.Nachmachen bedeutet: das Werk eines Andern nachbilden. So macht z. B. die Stickerin, die Blumen nach dem Muſter oder der Mechani - kus ein Jnſtrument, eine Maſchiene nach einem Modell.Nach -

347

Die Griechen ahmten den Egyptiern, den Griechen die Roͤmer, dieſen die Spanier, Fran - zoſen u. ſ. w. nach und daß die Deutſchen der Franzoſen Nachahmer ſind, davon ſind ja wohl gute und boͤſe Beyſpiele und Beweiſe genug.

Es iſt dieſes Nachahmen Andrer ſo natuͤrlich und oft ſo unwillkuͤhrlich, daß einzelne Menſchen oft, ohne daß ſie es bemerken, Andre kopiren, ihre Manieren, Gewohnheiten, Eigenheiten an - nehmen.

Auch iſt es nicht ſchwer die Gruͤnde dieſes Triebes, etwas Fremdes nachzubilden, ausfindig zu machen.

Der erſte Grund liegt in einem gewiſſen ſym - pathetiſchen Gefuͤhle, welches, wenn nicht etwas anders uns ſtaͤrker zuruͤckhaͤlt, uns reizt, das nachzuahmen, was wir wahrnehmen und uns in ein Mißbehagen verſetzt, wenn wir es nicht thun. So iſt es einem z. B. aͤußerſt zuwider, wenn, waͤhrend daß er eine Arbeit verrichtet, wel - che ihn zum Stilleſeyn noͤthigt, Andre um ihn her laͤrmen und unruhig ſind. Er fuͤhlt einen Reizes*)Nachthun heißt endlich eine Handlung nach dem Muſter eines andern einrichten. So thut es z. B. keiner Blanchard ſo leicht nach, daß er, wie dieſer, in dem Luftſchiff in die Hoͤhe ſteigt. Was Friedrich that, ſagt man, das thut ihm ſo leicht niemand nach.348es mitzumachen, und kann oder darf doch nicht. Dieſe Disharmonie zwiſchen der Neigung und Nothwendigkeit verurſacht denn die unangenehme Empfindung. Aber woher nun dieſer Reiz des Gefuͤhls? warum fuͤhlt man bey der Wahrneh - mung fremder Handlungen einen Trieb dieſelben nachzubilden?

Die Handlungen des Menſchen haͤngen von ſeinen Vorſtellungen ab. Die Vorſtellungen, die im Gemuͤthe lebendig ſind, enthalten die erſten Reize zu den Handlungen, auf welche ſie ſich be - ziehen, und bewirken die Handlungen auch wirk - lich, wenn nicht etwa andre Vorſtellungen, wel - che lebhafter ſind, ſie verdunkeln und unwirkſam machen. Jede koͤrperliche Handlung hat ihre er - ſte Urſach in einer Vorſtellung des Gemuͤths, und daß man ſich deſſen bey den alltaͤglichen Handlun - gen z. B. dem Bewegen der Haͤnde, Fuͤße und andrer Gliedmaßen nicht bewußt iſt, kommt blos daher, daß durch die nothwendige oͤftere Wieder - hohlung derſelben Action die Handlung ſo gelaͤufig geworden iſt, daß deren Reiz in der Vorſtellung ganz unmerkbar ſeyn kann, um die Handlung zu bewirken. Man kann es aber ſehr leicht gewahr werden, daß es ſich ſo verhaͤlt, wie eben bemerkt iſt, wenn man ſich nur an den Zuſtand erinnert, wo die Thaͤtigkeit mit der Traͤgheit zu kaͤmpfen hat, z. B. in dem Zuſtande, wo man ſich zwi -ſchen349ſchen Schlafen und Wachen befindet. Jn die - ſem Zuſtande kann man die zur Handlung anfor - dernden Vorſtellungen ſehr gut wahrnehmen, weil ſie lange antreiben muͤſſen, ehe das geſchieht, wo - zu ſie ermuntern.

Wenn man nun irgend eine Handlung wahrnimmt, ſo erweckt dieſe in dem Gemuͤth ei - ne Vorſtellung von ſich, welche in der Regel leb - hafter ſeyn muß, als wenn ſie ohne die Handlung, durch die Aſſociation der Jdeen, zum Bewußtſeyn gekommen waͤre, da ſie von dem ſinnlichen Ein - drucke, den die Wahrnehmung der Handlung macht, unterſtuͤtzt wird.

Dieſe Vorſtellung nun bringt in dem Wahr - nehmenden einen Reiz zu derſelben Handlung her - vor; ſetzt ſeine Thaͤtigkeitsfaͤhigkeit in Bewegung: die Handlung wird nachgeahmt.

Die harmoniſch geſpannte muſikaliſche Saite zittert einer andern nach, ſagt der tiefſinnige Te - tens*)Philoſophiſche Verſuche uͤber die menſchliche Natur und ihre Entwickelung 1. Band. S. 670., wenn letztere die Luft, und dieſe wieder die nachzitternde Saite auf eine aͤhnliche Art in Schwung bringt, wie die erſtere es ſelbſt iſt. Das Parallel hievon bey dem Menſchen iſt, daß der Vorgang des Einen dem Andern dieſelbigen Empfindungen beybringet, und ſeine thaͤtige Kraftauf350auf eine aͤhnliche Art zu einer aͤhnlichen Aeußerung reizet.

Die franzoͤſiſche Revolution hat bekanntlich in mehrern Laͤndern, und auch in unſerm lieben Deutſchland, Nachahmungen hervorgebracht. Gewiß haben vorher nicht blos einzelne Menſchen, ſondern auch wohl ganze Buͤrger - und Bauer - ſchaften den Druck empfunden, welchen ſie itzt als die Urſach des Aufſtandes angeben; aber ſie blieben in Ruhe, weil ſie noch keine aͤhnliche wirkliche Handlung vor ſich hatten, ſondern ſich dieſelbe allenfalls blos als moͤglich vorſtellen konnten. Sobald nun aber die laute Fama durch die Zeitungsblaͤtter oder politiſchen Declamatoren die Thaten der Franzoſen verkuͤndigte, empfan - den ſie auch einen Reiz aus ihrer Ruhe aufzuſte - hen, denn die Vorſtellung, daß Andere ſo etwas thaten, war von ſtaͤrkerer Wirkung, als das Gefuͤhl des Drucks, weil ſie manche andre Trie - be und Neigungen aufwiegelte, welche die Aus - fuͤhrung der Handlung, die ſie vorſtellte, beſchleu - nigen konnten.

Selbſt diejenigen, welche vielleicht bisher nie gefuͤhlt hatten, daß ihre Lage druͤckend war, wur - den dadurch rege gemacht; denn die Erzaͤhlungen aus Frankreich machten ſie darauf aufmerkſam, daß auch ſie Kraͤfte haͤtten, welche auf eine aͤhn -liche351liche Weiſe vielleicht nicht ohne Nutzen wirkſam ſeyn koͤnnten.

Auf dieſe Kraft, welche eine wahrgenomme - ne Handlung hat, den Wahrnehmenden zu ihrer Nachbildung zu beſtimmen, gruͤndet ſich der gro - ße Einfluß, welchen das Beyſpiel auf die Bil - dung des Menſchen hat. Die Handlungsart des Menſchen gruͤndet ſich auf ſeine Denkungsart: und diejenigen Vorſtellungen, welche ihm an gelaͤufigſten ſind, druͤcken ſich auch am haͤufigſten in ſeinen Handlungen und den Aeußerungen ſei - nes Begehrungsvermoͤgens uͤberhaupt aus. Oef - ters wahrgenommene Beyſpiele koͤnnen daher nie ohne einige Wirkung bleiben, weil ſie den, der ſie wahrnimmt, an die Vorſtellungen, welche ſich auf ſie beziehen, gewoͤhnen, und auf dieſe Weiſe in die Handlungsart uͤbergehen*)Niemand hat ſich oͤfter an den großen Einfluß des Beyſpiels auf das menſchliche Herz zu erinnern, als diejenigen, welche ihre Bruͤder lehren und bilden ſollen. Die feinſte Lehre und die treflichſte Moral wirkt das nicht, was ſie wirken koͤnnte, wenn das Leben des Lehrers und des Moraliſten nicht mit ſeiner Lehre uͤbereinſtimmt. Ja, je aner - kannt vortreflicher ein Lehrer, als Lehrer iſt; des ſto nachtheiliger kann er fuͤr die, die er bilden ſoll, werden, wenn er kein guter Menſch iſt. Der ſchon gebildete und feſte moraliſche Charakter wirdfrey -.

Es352

Es iſt erſtaunend, wie ſehr Mancher, der haͤufig mit einer Perſon, welche ſeine Aufmerk -ſam -*)freylich von dem vortreflichen Lehrer Nutzen zie - hen, ohne durch den ſchlechten Menſchen Scha - den zu leiden. Aber fuͤr dieſen wird ja auch nicht geredet und geſchrieben. Wer bilden und lehren will, hat den groͤßern Theil des Menſchen, das heißt, die noch nicht gebildeten, im Auge.Diejenigen, meine Bruͤder, welche wie ich den hohen Beruf, Menſchen zu Menſchen zu ma - chen, haben, werden von der Wahrheit des Ge - ſagten durch ihre eigne Erfahrung uͤberzeugt ſeyn, und die Wichtigkeit dieſer Wahrheit fuͤhlen!Wodurch wirkte ein Socrates, Chriſtus, Luther, Zollikofer, Spalding und ihnen aͤhnliche Maͤnner auf ihr Jahrhundert und die Nachwelt ſo vortheilhaft? Dadurch, daß ſie lebten, wie ſie lehrten, daß ſie ſelbſt ſo handelten, wie ſie's von Andern forderten.Maͤnner, die ihr eure Bruͤder lehren ſollt, die Religion, dieſe gute Freundin der Tugend, zu lie - ben und werthzuſchaͤtzen, vergeßt, vorzuͤglich itzt, wo hie und da der Leichtſinn in der Religion allgemeiner werden will, nicht, daß ihr, um eure er - habene Pflicht zu erfuͤllen, nicht blos Religion pre - digen, ſondern Religioſitaͤt in Herzen haben, und in eurem Wandel zeigen muͤßt! Jhr empfehlt euren Bruͤdern das Beyſpiel Jeſu Chriſti: ahmt ihr ſelbſt ſeinem Beyſpiel nach, und eure Lehren werdenwilli -353ſamkeit auf ſich zieht, umgeht, doch dieſen Um - gang veraͤndert, wie er ſo ganz das Gegentheil von dem werden kann, was er vorher war. Vom Aeußern faͤngt gewoͤhnlich die Veraͤnderung an, weil man dies am erſten und am haͤufigſten ſieht, und daher am leichteſten kopiren kann. Die Aus - ſprache, der Gang, die Tragung des Koͤrpers u. ſ. w. werden aͤhnlichen Aeußerungen des, den man zu ſeinem Original nimmt, nachgemacht. Aber dabey bleibt es nicht. Dieſe Nachahmung des Aeußern ſelbſt erleichtert die Nachbildung ſeines Jnnern. Man gewoͤhnt ſich an die Ge - ſinnung und Denkungsart des, dem man nach - ahmte.

Wohl

*)willigere Annahme finden, und in das Leben eurer Bruͤder uͤbergehen!O moͤchten doch alle Schriftſteller bedenken, daß nicht ihre Schriften allein, ſondern auch ihr Leben Einfluß hat; ja dieſes mehr Einfluß haben kann, als jene; vornehmlich itzt, wo man ſich ſo gern und ſo genau um das Privatleben gekannter Maͤnner bekuͤmmert!Wenn die warme Theilnehmung des Herzens, womit ein Wunſch geaͤußert wird, zu ſeiner Erfuͤl - lung mitwirken kann, ſo bleibt mein Wunſch, dem die Menſchheit mehr Autoritaͤt giebt, als der be - kannteſte Menſch ihm geben kann, gewiß nicht ganz unerfuͤllt

Z354

Wohl dem, deß Vorbild gut iſt! wehe dem, bey welchem das Gegentheil ſtatt findet!

Außer dieſem in der Natur der Vorſtellungen und der Macht der Gewohnheit liegenden Quelle des Nachahmungstriebes, kommen noch andre in Betracht, aus welchen derſelbe Leben und Nah - rung zieht.

Es iſt ein unmittelbar aus der Selbſtliebe zu erklaͤrender Wunſch eines jeden Menſchen, ſo viel Vollkommenheiten und Vorzuͤge in ſich zu ver - einigen, als moͤglich.

Wenn man daher an Andern etwas wahr - nimmt, welches man fuͤr vollkommen, ſchoͤn und gut haͤlt, ſo wird man ſich bemuͤhen, dieſes nach - zuahmen, und es um ſo leichter ſich zu eigen ma - chen, da unſre Meynung es fuͤr Vollkommenheit, mithin fuͤr etwas Wichtiges haͤlt, und unſre Auf - merkſamkeit alſo ſich mit Ernſt darauf richtet.

Man kann daher aus dem, was ein Menſch nachahmt, einen ziemlich ſichern Schluß auf das, was in ihm ſelbſt iſt, auf ſeine Denkungsart und ſeinen Charakter machen. Freylich mit Vor - ſicht und Urtheil. Denn es iſt, wie ſchon aus dem Vorigen erhellt, nicht immer noͤthig, daß man etwas fuͤr Vollkommenheit halte, um Nei - gung zur Nachahmung deſſelben zu bekommen. Es geht oft ſogar das in einen uͤber, was man fuͤrſehr355ſehr unvollkommen haͤlt, wenn es nur die Auf - merkſamkeit an ſich zieht.

Wie Mancher hat ſchon fuͤr den Spott uͤber die Fehler Andrer damit buͤßen muͤſſen, daß dieſe Fehler in ihn ſelbſt uͤbergingen. Wie Man - cher iſt z. B. uͤber dem verſpottenden Nachſtam - meln Andrer ſelbſt zum Stammler geworden! Wie dies moͤglich ſey, iſt aus dem zuerſt ange - fuͤhrten Grunde des Nachahmungstriebes leicht zu begreifen.

Bey Einigen endlich wird der Trieb zur Nach - ahmung durch den Wunſch erregt, ſich Anderen angenehm zu machen.

Der Menſch ſieht es gern, wenn Andre mit ihm harmoniren, und ihre Handlungen, Geſin - nungen und Meynungen den ſeinigen aͤhnlich ma - chen, weil dies ein Beweis iſt, daß er Autoritaͤt hat, und alſo ſeiner Eigenliebe dadurch geſchmei - chelt wird. Wenn daher jemandem um die Zu - neigung oder Gnade eines Menſchen zu thun iſt, ſo wird er dadurch bewegt werden, die Mittel zu gebrauchen, welche ihm das Verlangte verſchaffen koͤnnen, und daher auch zur Nachahmung gereizt werden.

Dies war der Grund des Nachahmungstrie - bes bey den Hofleuten des Großen Alexanders, welche die Nachbildung des Koͤnigs ſo weit trie - ben, daß ſie ſogar ihren Kopf, den AlexanderZ 2etwas356etwas ſchief trug, in dieſelbe Lage zu gewoͤhnen ſuchten.

Dies iſt der Grund, warum Verliebte oft ihre ganze Jndividualitaͤt, ſo weit ſie veraͤußerlich iſt, mit einander vertauſchen, und warum Schmeichler gewoͤhnlich, wenigſtens in dieſem Betracht, Pinſel im eigentlichſten Verſtande ſind.

So groß indeſſen die Macht des Nachah - mungstriebes uͤber den Menſchen auch iſt, ſo iſt er doch derſelben nicht unbedingt unterworfen, ſon - dern kann ſie, wenn er nur Willen und Kraft hat, gaͤnzlich ſchwaͤchen, oder wenigſtens ihren Einfluß nach Willkuͤhr modificiren.

Wer Gefuͤhl von eignem Werth und Voll - kommenheit hat, und ſeinen Willen durch den pruͤfenden Verſtand, nicht durch einen blinden Jnſtinkt beſtimmen laͤßt, wird kein ſclaviſcher Nachbilder werden, und ſelbſt das, was er an Andern Vollkommnes ſieht, nicht blos nachaͤffen, ſondern ſeinen innern Gruͤnden nach in ſich her - uͤbertragen, und es im eigentlichen Sinn ſich zu eigen machen.

Wer hingegen ſchwach iſt, das heißt, wer kein feſtes Zutrauen zu ſich ſelbſt hat, oder wegen des Gefuͤhls von Schwaͤche und Unvollkommen - heit nicht haben kann; wer ohne Urtheil und Scharfſinn iſt; wer ſeinen Verſtand, der allein Fuͤhrer ſeyn kann, von der blinden Neigungfort -357fortſchleppen oder fortreißen laͤßt; der wird frey - lich keinen Tritt thun, als der von einem Andern ſchon ausgetreten iſt; der wird auch wohl Fehler annehmen, und, ohne daß er es ſelbſt weiß, eine geſchmackwidrige Kopie werden. Jeder, der die Kunſt verſteht, einem ſolchen Schwaͤchling zu imponiren, das heißt, ſich ihm als wichtig und uͤber ihn erhaben vorzuſtellen, wird die Freu - de haben, von ihm nachgebildet zu werden. Jn - deß ſo empfaͤnglich dieſe Schwachen fuͤr jeden fremden Eindruck ſind; ſo genau ſie ſelbſt die ge - ringſten Eigenthuͤmlichkeiten ihres Originals, Ge - berden, Gang, Stellung und Stimme nach - formen; eben ſo ſchnell wird auch alles, was ſie angenommen haben, wieder ausgetilgt, ſobald ſie ein andres Muſter finden, welches ſtaͤrker auf ſie wirkt, oder ihr Gott, nach dem ſie ſich bilde - ten, vor ihren Augen verſchwunden iſt.

Zu große Geneigtheit zum Nachahmen ſetzt immer Schwaͤche voraus; aber auf der andern Seite muß ja nicht die Unwirkſamkeit des Nach - ahmungstriebes ſogleich einer Staͤrke der Seele zugeſchrieben werden. Wo dieſer Trieb wirken ſoll, muß Reizbarkeit des Gefuͤhls, und wenig - ſtens eine Art von Werthſchaͤtzung des Guten und Vollkommnen ſeyn. Aber es giebt, wie der vortrefliche Garve ſagt, ganz mittelmaͤßige Koͤpfe und Seelen, die nicht nachahmen, weilZ 3ſie358ſie nicht aufmerkſam ſind; weil ſie das Gute vom Schlechten nicht unterſcheiden; weil keine Art von Vortreflichkeit auf ſie Eindruck macht; weil ſie weder Ehrgeiz noch irgend einen lebhaften An - trieb haben. *)Philoſophiſche Anm. und Abh. zu Cicero von den Pflichten, 1. Th. S. 187.

Daß der Trieb zur Nachahmung, wie alles, was die Natur den Menſchen ſchenkte, ſehr wohlthaͤtig ſey, kann man ja wohl aus einer nur fluͤchtigen Betrachtung deſſen, was dadurch ge - wirkt werden kann und ſchon gewirkt iſt, leicht einſehn. Daß er aber auch, wie es der Wille der Natur war, mit Weisheit geleitet werden muͤſſe, wenn er wohlthaͤtig ſeyn und nicht ſchaͤd - lich werden ſoll, wird ſich ſchon aus den vorher - gehenden Betrachtungen ergeben, denen ich noch Folgendes beifuͤge, welches ich zum Theil dem Cicero und ſeinem philoſophiſchen Commentator verdanke.

Nicht alles, was an Einem vortreflich, ſchoͤn und gefallend erſcheint, erſcheint deshalb auch an dem andern ſo. Einen Mann von Anſehn und bewaͤhrter Tugend, ſteht Freymuͤthigkeit und offnes Urtheil uͤber Fehler Andrer ſehr wohl; in einem Menſchen ohne Tugend und rechtmaͤ - ßiges Anſehn aber, wuͤrde ſie Frechheit ſeyn. Daß der große Koͤnig ſeine Raͤthe und Diener genau beobachtete und ihnen ihre Fehler verwies,wird359wird ihm als Tugend angerechnet, da daſſelbe hingegen einen widrigen Eindruck auf uns machen muͤßte, wenn es von einem ſeiner Kuͤchenbedien - ten unberechtigterweiſe geſchehen waͤre.

Man muß daher, wenn man irgend etwas, das gut und vortreflich iſt, nachahmen will, vor - her genau berechnen, ob es auch mit den uͤbrigen Eigenſchaften und Beſchaffenheiten unſrer indivi - duellen Natur zuſammenpaſſe; ob es fuͤr uns in dem Grade erreichbar ſey, wo es gut und vor - treflich iſt, und ob es nicht in dem Andern blos deswegen ſo erſcheine, weil er Eigenſchaften hat, die wir nicht haben, in Umſtaͤnden iſt, in welchen wir uns nicht befinden. Wer bey der Nachah - mung ſeine Originalitaͤt, oder das, was ſeine Natur macht, und ſie von Andern unterſcheidet, aufopfert; der hat das hingegeben, was ſeinem Charakter Haltung und Gleichgewicht geben ſollte, und iſt dem Schiffe zu vergleichen, welches ohne Maſt und Steuerruder auf dem Meere treibt, ein Spiel der Winde iſt, und leicht auf den Strand gerathen, oder an den Klippen zerſchmiſſen werden kann.

Admodum*) Jeder bleibe bey dem, was ihm eigenthuͤmlich, und nicht an ſich fehlerhaft iſt. Dies iſt das beſte Mit - tel, immer den Anſtand zu erhalten. Die, ſagt Cicero, tenenda ſunt ſua cuique, non vitioſa, ſed tamen propria,Z 4quo360quo facilius decorum retineatur. Sic enim eſt faciendum, ut contra univerſam na -turam*)Die vornehmſte Pflicht iſt, nichts zu thun, was der allgemeinen Natur des Menſchen wider - ſpricht; die zweyte, unſrer beſondren Natur zu fol - gen. Dies Letztere geht ſo weit, daß ſelbſt, wenn wir an Andern etwas an ſich Vollkommneres und Edleres bemerken, wir doch unſre Beſtre - bungen nicht ſogleich darauf richten, ſondern ſie immer nach dem Maaßſtabe unſrer Natur einſchraͤnken muͤſſen. Denn es hilft zu nichts, ſeiner Natur Gewalt anzuthun, und nach etwas zu ſtreben, was man doch nicht erlangen kann weil nach der Erfahrung nichts gut ſteht, was nicht natuͤrlich iſt, was einen Zwang oder Affektation verraͤth. Wenn irgend etwas anſtaͤndig iſt, ſo iſt es gewiß am meiſten Gleichheit in unſrer ganzen Auffuͤhrung und Uebereinſtimmung aller einzelnen Handlungen miteinander. Dieſe iſt aber unmoͤg - lich zu erhalten, wenn wir fremde Charaktere nach - ahmen, unſre eignen verlaſſen. Dieſe Betrachtungen fuͤhren uns darauf, daß wir das Eigne unſers Charakters erforſchen, dieſes ausbilden und vor Ausſchweifungen bewahren, nicht etwas Fremdes affektiren muͤſſen, um zu verſuchen, ob wir uns dadurch ein groͤßeres Anſehen geben koͤn - nen. Dieſe Erwartung ſchlaͤgt gewiß fehl. Denn das ſteht einem jeden am beſten, was ihm am meiſten eigenthuͤmlich iſt. Es iſt alſo eine allge -meine361turam nihil contendamus: ea tamen conſer - vata, propriam naturam ſequamur: ut, etiam ſi ſint alia graviora atque meliora, tamen nos ſtudia noſtra noſtrae naturae regula metiamur. Neque enim attinet repugnare naturae, nec quidquam ſequi, quod aſſequi nequeas nihil enim decet inuita, ut ajunt, Minerva, id eſt, adverſante et repugnante natura. Om - nino ſi quidquam eſt decorum, nihil eſt pro - fecto magis, quam aequabilitas univerſae vi - tae, tum ſingularum actionum: quam conſer - vare non poſſis, ſi aliorum naturam imitans, omittas tuam.

Quae contemplantes exp[e]ndere oporte - bit, quid quisque habeat ſui: eaque modera - ri, nec[v]elle e[x]periri, quam ſe aliena dece - ant. Id enim[maxime quemque]decet, quod eſt cujusque maxime ſuum. Suum igitur quisqueZ 5noſcat*)meine Pflicht, die natuͤrlichen Anlagen ſei[nes]Gei - ſtes zu unterſuchen, und ſich zu einem ge[nauen]Rich - ter ſeiner Staͤrke und Schwaͤche, ſeiner guten und ſchlechten Seiten zu machen. Wir wuͤrden ſonſt in der wichtigſten Sache weniger Klugheit beweiſen, als die Schauſpieler bey[einer]minder wichtig[en .]Dieſe erw[]hlen ſich nicht die Rollen, welche an und fuͤr ſich die ſchoͤnſten, ſondern welche ihnen die an - gemeſſenſten ſind.362noſcat ingenium, acremque ſe et bonorum et vitiorum ſuorum judicem praebeat; ne ſcenici plus, quam nos, videantur habere prudentiae. Illi enim non optimas, ſed ſibi accommodatiſſimas fabulas eligunt.

Das Gefuͤhl greift oft der Vernunft vor, auch bey dem Nachahmungstriebe. Man em - pfindet einen Reiz etwas nachzuahmen, ohne ge - pruͤft zu haben, ob es auch nachahmungswerth ſey. Genug es gefaͤllt uns jetzt, und wir moͤch - ten uns gern daſſelbe zulegen.

Aber man wuͤrde ſehr thoͤricht handeln, wenn man dieſem Reiz des Gefuͤhls ſogleich folgen woll - te. Denn die Urſache, daß uns dies oder jenes als etwas ſehr Gutes vorkommt, liegt nicht immer in dem Dinge ſelbſt. Es koͤnnen theils zufaͤllige Umſtaͤnde die Urſache davon ſeyn; zum Beyſpiel, wenn wir uns in einer Geſellſchaft geiſtloſer Men - ſchen befinden, wo ein geiſtloſer Schwaͤtzer und Windmacher eine Rolle ſpielt, kann es uns wohl vorkommen, als wenn das Schwatzen und Wind - machen doch wohl keine uͤble Eigenſchaft ſey, be - ſonders wenn wir, da wir dieſe Kunſt noch nicht verſtehen, im Hintergrunde ſtehen muͤſſen. Theils kann die Urſache davon auch darin liegen, daß wir den angenehmen Eindruck, welchen das To - tale des Betragens oder des Charakters eines Menſchen auf uns macht, einer falſchen Urſache,zum363zum Beyſpiel, dem, was uns am meiſten aufge - fallen iſt, zuſchreiben.

Man muß daher erſt unterſuchen, ob der Reiz des Gefuͤhls auch wohl recht rathe, ehe man demſelben folgt, damit man nicht, in der Meynung eine Vollkommenheit nachzuahmen, et - was Fehlerhaftes, wenigſtens Sonderbares kopire.

Am meiſten haben in dieſer Hinſicht diejeni - gen aufmerkſam auf ſich zu ſeyn, welche einen Anſatz von der fuͤr die Natur toͤdtlichen Genie - ſeuche haben. Kranke dieſer Art pflegen durch ihre Sucht, Eigenheiten, oder vielmehr Singu - laritaͤten ſolcher Leute nachzuaͤffen, welche fuͤr Genie's oder große Geiſter gelten, am meiſten zu verrathen, daß ſie gerade das Gegentheil vom Genie ſind.

Genie laͤßt ſich gar nicht kopiren, wenigſtens hoͤrt die Kopie auf Genie zu ſeyn wer es da - her doch thun will, kann nur gewiſſe bey demſel - ben ſich findende aͤußere Zufaͤlligkeiten und Son - derbarkeiten nachpinſeln die mit dem wahren Genie verbunden nicht widrig auffallend ſind, weil ſie, wenn ſie es auch an ſich waͤren, von den uͤbrigen Vorzuͤgen geſchminkt werden; ohne das Genie aber eine laͤcherliche Karrikatur machen.

Siebente364

Siebente Unterhaltung. Ueber den Trieb, in die Zukunft zu ſehen.

Der Menſch iſt nicht damit zufrieden, daß es ihm in dem gegenwaͤrtigen Augenblicke wohl iſt. Und wenn er alles, was der Menſch zur Gluͤck - ſeligkeit fordert, beſaͤße, ſo wuͤrde ihn der gegen - waͤrtige Beſitz allein doch nicht gluͤckſelig machen, weil er nicht blos an die Gegenwart, ſondern auch an die Zukunft gedenkt.

Gedanken an die Zukunft melden ſich bey je - dem, den die Cultur wenigſtens eine Stufe uͤber die Thierheit hinaus gefuͤhrt hat. Der Unaufge - klaͤrte will ſein Schickſal in der Zukunft wiſſen, weil es ihm uͤberhaupt nur um Reſultate, nicht um die Gruͤnde und Quellen derſelben zu thun iſt; weil er fuͤr den großen Vorzug des Menſchen, ſeines Gluͤckes Meiſter zu ſeyn, kein Gefuͤhl hat, und es ihm laͤcherlich, wenigſtens unmoͤglich duͤnkt, daß das Vorherwiſſen des Zukuͤnftigen ein großes Uebel fuͤr ihn ſeyn wuͤrde. Der Auf - geklaͤrte will zwar das Zukuͤnftige nicht wiſſen, aber doch in der Gegenwart gern einen feſten Grund zu einer fortdauernden Gluͤckſeligkeit legen. Darum denkt auch dieſer uͤber den itzigen Augen -blick365blick hinaus, und ſieht in die Zukunft, um fuͤr dieſelbe arbeiten zu koͤnnen.

Wenn der Liebende mit ſeiner Geliebten am Arm durch die Fluren geht, ſpinnt Hofnung kuͤnftiger Vereinigung, oder Furcht zukuͤnftiger Trennung, ſo oft den Faden ihres Geſpraͤchs. Was? und wo? werden wir zehn Jahre weiter hinaus ſeyn? iſt der Gedanke, welchen oft der Freund in ſeinem Vertrauten weckt, mit dem die Phan - taſie in der Einſamkeit ſo gern ſpielt.

Warum arbeitet der Fleiß? warum ſammelt der Geiz? warum eifert die Ehrſucht? Fuͤr die Zukunft. So Mancher verſagt ſich aus Nothwendigkeit oder aus Leidenſchaft den gegenwaͤrtigen Genuß, um nur kuͤnftig genießen zu koͤnnen.

Nur das unmuͤndige Kind und der dem Kin - de gleiche rohe Wilde empfinden den Trieb nicht, auf die Zukunft zu ſehen. Beyde ruͤhrt, wie das vernunftloſe Thier, nur die Gegenwart, weil in beyden der Verſtand noch in den Windeln des ſinnlichen Gefuͤhls liegt, und noch nicht ſo ſcharf ſieht, daß er die Verbindung zwiſchen der Gegen - wart und Zukunft entdecken koͤnnte.

Wenn die ſorgſame Hausmutter aus ihrem Vorrath ſo viel verwendet, als ſie darf, um auch morgen und in der folgenden Zeit ſich und ihre Familie zu erhalten; ſo verzehrt dagegen dasKind366Kind von dem, was ihm gegeben wird, ſo viel, als ſeine Begierde zu ihrer Saͤttigung verlangt, und verſchmeißt die Ueberbleibſel, weil es ihm nun nicht mehr ſchmeckt, und es nicht daran denkt, daß es ihm morgen wieder ſchmecken wer - de. Es folgt nur dem Triebe der Sinnlichkeit, und iſt fuͤr Bewegungsgruͤnde der Vernunft noch nicht empfaͤnglich.

Eben ſo iſt der Wilde. Weder Hofnung eines kuͤnftigen Guts, noch Furcht vor einem kuͤnftigen Uebel koͤnnen ihn zur Thaͤtigkeit und Sor - ge fuͤr die Zukunft beſtimmen. Er ſaͤet und erndtet nicht; wenn der Hunger ihn treibt, ſtreift er umher, und ſucht ihn mit den Fruͤchten, die die Erde freywillig erzeugte, oder mit dem Wild, das der Wald hegt, oder mit den Fiſchen der Stroͤme und Fluͤſſe zu ſtillen. Wenn er Ueber - fluß hat, denkt er nicht daran, ſich von demſelben etwas fuͤr die folgenden Tage zu ſparen; ſondern verzehrt und verſchwendet alles, was da iſt.

Von den Hottentotten erzaͤhlt dieſes Herr Vaillant in ſeiner Reiſe in das Jnnere von Afri - ka*)Theil 1. S. 265.. So lange, ſagt er, die Hottentotten Ueberfluß an Lebensmitteln haben, ſind ſie außer - ordentlich gefraͤßig; dahingegen begnuͤgen ſie ſich bey Hungersnoth mit ſehr Wenigem; ſie gleichen darin gewiſſermaßen den Hyaͤnen und andernfleiſch -367fleiſchfreſſenden Thieren, die ihren Raub in einer Mahlzeit verſchlingen, ohne ſich um die Zukunft zu bekuͤmmern, und die nicht ſelten einige Tage lang ohne Nahrung verbleiben, und in der Zwi - ſchenzeit zur Stillung ihres Hungers etwas tho - nigte Erde zu ſich nehmen. Ein einziger Hotten - tott kann in einem Tage 10 12 Pfund Fleiſch verzehren, im Nothfall iſt er aber auch mit eini - gen Heuſchrecken, einer Scheibe Honig, ja ſogar mit einigen Stuͤcken von dem Sohlleder ſeiner Schuhe zufrieden. Den Meinigen*)Herr L. Vaillant wurde auf ſeiner Reiſe von meh - rern Hottentotten, die ihm theils aus dem Cap mit - gegeben waren, theils auf dem Wege ſich zu ihm geſellten, begleitet. konnte ich niemals begreiflich machen, daß es klug gehandelt ſey, etwas Vorrath fuͤr den kuͤnftigen Tag aufzu - bewahren, nicht allein fraßen ſie alles auf, ſon - dern gaben auch das Uebrige den Hinzukommen - den. Die Folgen dieſer Art von Verſchwendung ſchienen ſie weiter nicht zu beunruhigen; wir koͤnnen ja morgen wieder jagen, ſagten ſie, oder auch ſchlafen.

Es giebt, ſagt Robertſon in ſeiner ſchon oͤfter angezognen Geſchichte, in Amerika ver - ſchiedene Voͤlker, deren enger Verſtand nicht faͤ - hig zu ſeyn ſcheint, auf die Zukunft irgend etwas zu veranſtalten. So weit erſtreckt ſich weder ih -re368re Vorherſehung, noch ihre Vorſorge. Blind - lings folgen ſie dem Antriebe des Appetits, den ſie fuͤhlen; bekuͤmmern ſich aber im geringſten nicht um ferne Folgen, oder auch nur um diejeni - gen, die im geringſten Grade entfernt ſind, und nicht unmittelbar in die Sinne fallen. Dinge, die ſie ſogleich und augenblicklich gebrauchen oder benutzen, ſchaͤtzen ſie ſehr hoch. Diejenigen hin - gegen, die ſie nicht den Augenblick beduͤrfen, ach - ten ſie gar nicht. Wenn bey herannahendem Abend ein Caraibe ſich zur Ruhe niederlegen will, laͤßt er ſich durch nichts zum Verkauf ſeines Haͤngbetts bewegen. Wenn er aber des Mor - gens auf Geſchaͤfte oder Zeitvertreibe ausgeht, giebt er es fuͤr den elendeſten Tand hin, an dem er Geſchmack findet. Zu Ende des Winters, da ihm der Eindruck der Noth, die er von der ſtren - gen Witterung ausgeſtanden hat, noch friſch in den Gedanken ſchwebt, faͤngt der Nordamerika - ner eifrig an, die Materialien zur Erbauung ei - ner warmen Huͤtte auf den naͤchſten Winter zu - zuruͤſten. So bald aber das Wetter gelinder wird, vergißt er alles Vergangne, laͤßt ſeine Ar - beit liegen, und denkt nicht eher wieder daran, als wenn die Ruͤckkehr der Kaͤlte ihn noͤthigt, ſie, da es zu ſpaͤt iſt, aufs neue wieder vorzunehmen*)Geſch. v. Amerika, 1. Th. S. 355. Wie wenig Gewalt der Gedanke an die Zukunft uͤber mehrerewilde.

Der369

Der Grund dieſes Triebes auf die Zukunft zu ſehen, der dem thieraͤhnlichen Menſchen zwarfehlt,*)wilde Voͤlker habe, und wie ſo ganz allein ſie durch das gegenwaͤrtige Beduͤrfniß beſtimmt werden, be - weißt unter andern auch folgende Anekdote: Jm Jahr 1740 kam ein Jtaͤlmen und klagte einem Kauf - mann, daß alle Nacht zwey Zobel in ſein Vorraths - haus kaͤmen und Fiſche ſtaͤhlen. Der Kaufmann lachte daruͤber, und fragte ihn: Warum faͤngſt du ſie denn nicht? Was ſoll ich mit ihnen machen, antwortete der Jtaͤlmen, ich habe ja keine Schul - den zu bezahlen! Der Kaufmann gab ihm ein halb Pfund Toback, und ſagte: Nimm es, ſo haſt du Schulden. Nach zwey Stunden brachte ihm der Jtaͤlmen beyde Zobel gefangen, und bezahlte ſeine Schuld. Steller erzaͤhlt dieſe Anekdote in ſeine Beſchreibung von Kamtſchatka. Mir iſt indeß doch einiger Zweifel an der Wahrheit derſelben beygefal - len, nicht als ob dies Faktum uͤberhaupt bey einem rohen Wilden unmoͤglich waͤre, ſondern nur in die - ſem Fall ſcheint es mir unwahrſcheinlich. Denn wer, wie dieſer Jtaͤlme, ſo klug iſt ſich ein Vor - rathshaus anzulegen, der wuͤrde doch auch wohl ſo klug ſeyn, und dafuͤr ſorgen, daß der Vorrath in demſelben verwahrt waͤre. Wenn die Sorge fuͤr ſein Vorrathshaus den Jtaͤlmen nicht beſtimmte, die Zobel wegzufangen, wie ſollte ihn denn ein halb Pfund Toback, den er ohnedies nicht einmal noth - wendig gebrauchte, dazu beſtimmen?Aa370fehlt, aber in dem kultivirten um ſo lebhafter iſt, liegt in dem Gefuͤhl der Veraͤnderlichkeit unſrer Natur und dem maͤchtigen Triebe nach Veraͤnde - rung und Abwechſelung.

Man weiß es, daß man nicht ſo bleiben wird, wie man itzt iſt, und wuͤnſcht doch ſo ſehr, immer gluͤcklich zu ſeyn. Um dieſen Wunſch zur Wirk - lichkeit werden zu ſehn, moͤchte man gern wiſſen, was man zu thun habe, um den Zweck der Gluͤck - ſeligkeit nicht zu verfehlen: und um dies zu erfah - ren, ſtellt man ſich denn vor, was wohl in der Zukunft aus einem werden, in welche Verhaͤlt - niſſe, Lagen und Umſtaͤnde man kommen koͤnne.

Wenn man erſt eine Vorſtellung von dem hat, was der Menſch werden koͤnne, wie voll - kommen und wie gluͤcklich: dann fuͤhlt man ſich in keinem gegenwaͤrtigen Moment ſo weit, daß man nun ruhen koͤnne; ſondern will viel weiter. Man fuͤhlt ſeine Unvollkommenheit und hoft Vollendung.

Vorzuͤglich ſtark kann dieſer Trieb, ſich mit der Zukunft zu beſchaͤftigen, durch ſolche Leiden - ſchaften werden, welchen die Gegenwart ihre Be - friedigung verſagt. Denn Leidenſchaft fuͤllt uͤber - haupt die Seele, in welcher ſie wohnt, mit ſich und ihrem Zubehoͤr ganz aus, und ſpannt die Thaͤtigkeit, um ſich zu befriedigen. Wenn nun die Gegenwart dieſe Befriedigung nicht giebt, ſolenkt371lenkt ſie natuͤrlich die Seele dahin, wo ſie dieſelbe erwartet, auf die Zukunft.

Bittrer Haß, welcher ſich itzt noch nicht an der Rache ſaͤttigen kann, bruͤtet uͤber ſeinen ſchwar - zen Plaͤnen immerfort, weil er von der Zukunft hoft.

Auch die Liebe, welche itzt noch nicht genießen kann, ſieht mit froͤhlichem Auge auf die kuͤnftige Zeit, und harrt auf die Erfuͤllung ihrer innigſten Wuͤnſche.

Aber die Graͤnzen dieſes Erdenlebens be - graͤnzen nicht den Geſichtskreis der vorausſehen - den Vernunft. Sie kann ſich keinen letzten Punkt und kein Ende gedenken: ſondern ſieht eine Ewig - keit vor ſich*)Man pflegt wohl dieſes Hinſehen auf die Ewigkeit oder den Trieb nach dem Unendlichen, als einen Beweis fuͤr die Unſterblichkeit der Seele anzufuͤhren. Aber, wie mich duͤnkt, nicht mit Recht, wenn man ihn nicht als einen blinden oder angebohrnen Trieb, welches zwar ein Wort, aber keine Erklaͤrung iſt, anſehen will. Denn wo dieſer Trieb ſich finden ſoll, da muß eine Vorſtellung von der Ewigkeit ſich finden. Mit jemehr Ueberzeugung dieſelbe ver - knuͤpft iſt, deſto lebhafter wird dieſer Trieb ſeyn.. Je feſter die Ueberzeugung von der Unſterblichkeit, je groͤßer die Seele des Men - ſchen und je genauer er mit ſeiner hoͤhern Beſtim - mung bekannt iſt, deſto oͤfter werden ſeine Ge -Aa 2danken372danken uͤber dieſe Zeit hinaus in die Ewigkeit ſich richten und ſeine Beſtrebungen dahin zielen, aus dem gegenwaͤrtigen Leben einen Schatz mitzu - nehmen, der auch dort noch herrlichen Genuß giebt.

Wenn aus der Ueberzeugung von einem kuͤnftigen Leben der Trieb auf daſſelbe zu ſehen in dem Herzen belebt iſt, ſo wird, ſo wie der Vor - ſtellungskreis des Menſchen, auch ſeine Denkungs - art, erweitert. Ewigkeit wird ihm wichtiger, als die Gegenwart, und er fuͤhlt ſich ſtark genug, ſich einen Genuß zu verſagen, welchen die Sinn - lichkeit begehrt, die Vernunft aber, die Fuͤhrerin des Menſchen zur Ewigkeit, nicht erlaubt.

Es gehoͤrt gewiß nicht unter die kleinſten Vor - theile, welche das Chriſtenthum der Menſchheit gewaͤhrte, daß es die Ueberzeugung von der Un - ſterblichkeit unter den Menſchen allgemeiner mach - te. Dahin war alle große Tugend, alle Menſch - lichkeit, aller Adel der Seele unter dem Volke, das die Herrſchaft der Welt hatte. Man kannte keine andre Motive zum Handeln, als ſolche, welche aus dem engerm Kreis des Privatintereſſe genommen waren: und trat eine Stufe nach der andern der Thierheit und Verwilderung naͤher.

Die Philoſophie konnte dem Uebel nicht Ein - halt thun, ſondern wurde theils von dem Strom des Verderbens mit fortgeriſſen, theils zog ſieſich373ſich von Menſchen zuruͤck in den Umgang mit Daͤ - monen und Goͤttern.

Das Chriſtenthum war das Palladium der Menſchheit. Die erhabnen Lehren deſſelben von der hohen Beſtimmung des Menſchen und dem kuͤnftigen Leben und der menſchenfreundliche Geiſt der Liebe, den das aͤchte Chriſtenthum athmete, gewannen mehrere Menſchen, die ſonſt vielleicht ihr Zeitalter verdorben haͤtte, fuͤr das allgemeine Jntereſſe der Menſchheit.

Achte Unterhaltung. Ueber den Trieb nach Freyheit und Unab - haͤngigkeit.

Es iſt ein ſo altes, als wahres Spruͤchwort, daß des Menſchen Wille ſein Himmelreich iſt: das heißt, daß er ſich ſehr gluͤcklich fuͤhlt, wenn er nach ſeinen, blinden oder von der Vernunft ge - leiteten, Neigungen handeln kann.

Die hier zum Beweis dienenden Erfahrun - gen ſind in der Geſchichte der franzoͤſiſchen Re - volution noch gegenwaͤrtig. Maͤnner und Weiber, Eltern und Kinder, Hohe und Niedere wurden durch den Trieb nach Freyheit und Jndependenz bis zur Wuth entflammt, und aͤhnliche BeyſpieleAa 3liefert374liefert uns die Geſchichte ganzer Nationen und einzelner Menſchen in nicht geringer Anzahl.

Rom und Griechenland, die Schweiz und die Niederlande, Amerika und England und ſo viel andre Laͤnder ſind die Buͤhnen geweſen, auf welchen dieſer Trieb ſeine Rolle geſpielt hat. Ein Cato toͤdtet ſich ſelbſt, ein Brutus ſeinen Freund, und eine halbe Nation opfert Vorzuͤge und Vor - rechte, die ſonſt jedem fuͤr keinen Preis feil wa - ren*)Den 4ten Auguſt 1789. in der Abendſitzung der Nationalverſammlung. Man leſe davon die herr - liche Beſchreibung des Lieblingsſchriftſtellers der Deutſchen, Fr. Schulz, in der fortgeſetzten Ge - ſchichte der franz. Staatsrevolution im braunſchwei - giſchen hiſtoriſch-genealogiſchen Taſchenbuch 179[1]. At ejus picturam, non ſermonem videmus. , auf, fuͤr Freyheit.

Auch die Wilden, welchen nicht die Schlaff - heit ihrer Natur und die Unluſt zur Selbſtthaͤtig - keit den Deſpotiſmus unfuͤhlbar macht, haben ein lebhaftes Gefuͤhl fuͤr Freyheit und Unabhaͤn - gigkeit.

Robertſon erzaͤhlt von mehrern amerikani - ſchen Voͤlkerſchaften, daß ſie, Zeiten der Noth ausgenommen, keine Ungleichheit des Standes und der Rechte unter ſich dulden. Sie beque - men ſich nie nach einem Befehle, und vertragen durchaus keinen Zwang. Viele von denAmeri -375Amerikanern ſtarben vor Verdruß, weil ſie von den Spaniern wie Sclaven behandelt wurden; viele nahmen ſich ſelber das Leben. Gegen nichts, was einer Erhebung uͤber ſie, einer Einſchraͤnkung ihres Willens aͤhnlich ſieht, ſind ſie gleichguͤltig. Regarder un Sauvage de travers, ſagt man in den franzoͤſiſch weſtindiſchen Jnſeln, c'eſt le bat - tre; le battre, c'eſt le tuer. Selbſt dies na - tuͤrlichſte und ſtaͤrkſte Gefuͤhl des menſchlichen Herzens, die kindliche Liebe, iſt dieſem Triebe untergeordnet: denn kein Sohn laͤßt ſich bey dieſen Voͤlkern von ſeinen Eltern Befehle geben; ſondern begegnet ihnen vielmehr oft auf eine empoͤrende Weiſe.

Aber nicht immer zielt dieſer Trieb nach Frey - heit mit ſeinen Beſtrebungen auf aͤußere Frey - heit: er verlangt nur Freyheit und Uneingeſchraͤnkt - heit ſeines Willens; und nur in dem, was die - ſem als wuͤnſchenswerth vorkoͤmmt, will er nicht geſtoͤrt und gefeſſelt ſeyn. Selbſt Sclaverey iſt ſein Himmelreich, wenn ſie ſein Wille war. Man uͤbergebe einen Menſchen den Befehlen eines Andern, und er wird gegen die Befehle zum wenigſten murren, auch wenn ſie ſich auf etwas beziehen, welches ihm wuͤnſchenswerth iſt: man laſſe ihn dagegen ſich ſelbſt unterwerfen, und er wird willig gehorchen, auch in dem, was ihm ſonſt ſehr zuwider iſt, weil er doch denkt,Aa 4daß376daß ſein Wille die erſte Urſach des Muͤſſens iſt*)So iſt der Menſch mit ſich ſelbſt im Widerſpruch, ſo arg betruͤgt er ſich ſelbſt. Wer hatte wohl einen groͤßern Widerwillen gegen etwas, was den Schein von Sclaverey hatte, als jene alten Helden aus der Ritterzeit, und doch unterwarfen ſich Manche den eiſernen Geſetzen des fehmgerichtlichen Bundes, und widerſprachen nicht einmal, wenn ihnen Befehle gegeben wurden, vor welchen ihre Menſchheit ſchau - derte, und die ſie gern mit dem Tode abgekauft haͤt - ten. So iſt es auch noch gegenwaͤrtig, wo man es ſich hie und da recht angelegen ſeyn zu laſ - ſen ſcheint, die ritterliche Barbarey zu kopiren, ohne die ritterliche Tugend nachahmen zu wollen. Ueber Geſetze, welche die gute Ordnung der Welt, in der man lebt, nothwendig macht, hoͤrt man man - chen jungen und alten Mann murren oder ſpotten; aber ein Sclav einer Verbindung zu ſeyn, in welcher man nicht leben ſollte, rechnet man ſich zur Ehre! O Juͤnglinge, lernet bald, was wahre Ehre iſt, damit ihr nicht ein Phantom verfolgt, und vor den Augen der Vernuͤnftigen, die auch die wahre Ehre lieben, und fruͤher oder ſpaͤter vor euch ſelbſt, als Erniedrigte, erſcheint..

Die Hauptquelle dieſes allgemeinen Triebes nach Unabhaͤngigkeit und Freyheit, liegt in der Eigenliebe des Menſchen, welcher es ſehr ſchmei - chelhaft iſt, wenn man ſich als ſeinen eignen Fuͤh - rer, als die erſte und ſich ſelbſt beſtimmende Ur -ſache377ſache deſſen, was man thut, fuͤhlen kann. Es iſt aͤußerſt niederſchlagend und erbitternd, das Gefuͤhl zu haben, ſich ſelbſt beſtimmen zu koͤnnen, und ſich doch durch Andre beſtimmen laſſen zu muͤſſen. Es iſt aͤußerſt empfindlich, den Trieb zur Thaͤtigkeit zu fuͤhlen, und die Beſtrebungen deſſelben von aͤußern Urſachen aufgehalten, oder in eine Bahn, wohin ſie nicht wollen, gedraͤngt zu ſehen.

Es gewaͤhrt dagegen eine ſo angenehme Ruhe und Sicherheit, einen ſo ſchmeichelnden Stolz, durch ſich ſelbſt nach ſeinem eignen Plan zu leben, und keines zu beduͤrfen. Muß man An - dern folgen, ſo fuͤrchtet man immer, daß ihr Wille und unſre Neigung in Colliſion gerathen; daß ſie unſer Gluͤck dem ihrigen nachſetzen es wenigſtens nicht ſo gut befoͤrdern koͤnnen, als wir, weil ſie nicht unſer Herz und unſre Empfindun - gen haben, die die einzigen Richter uͤber die Gluͤck - ſeligkeit ſind.

Erhaͤlt nun dieſer Trieb, dem ſchon aus der Natur des menſchlichen Herzens ſo viel Nahrung zufließt, noch uͤberdem neue Reizungen aus dem Gefuͤhl des Elends unter den Befehlen eines An - dern, oder aus dem hohen Werth deſſen, welches zu erlangen man volle Freyheit zu haben wuͤnſchte; dann wird er gewaltig, und concentrirt ſeine Kraft ſo, daß er auch die ſtaͤrkſten Gegenhalte durchbricht.

Aa 5So378

So arbeitet der Deſpotiſmus gegen ſich ſelbſt, wenn er durch den Druck und das Elend, das er von ſich ausgehen laͤßt, ſeinen Unterthanen fuͤhlen laſſen will, daß ſie einem Deſpoten unterthan ſind: denn das Volk, welches es nur erſt fuͤhlt, daß es von Tyrannen beherrſcht wird, wird auch bald fuͤhlen, daß die Natur es zur Freyheit treibt, und daß es Kraft hat, dieſem Antriebe zu folgen.

Mit dem menſchlichen Herzen bekannt, wußte ein Julius Caͤſar die Roͤmer zu beherrſchen, ohne ihr Beherrſcher heißen zu wollen. Waͤren Frankreichs Tyrannen Caͤſaren geweſen, ſo wuͤrden die Franzoſen noch in ihren Ketten liegen.

Etwas, das uns nicht am Herzen liegt, das uns gleichguͤltig iſt, mag man uns immerhin ver - wehren, wir werden wenig darum ſorgen. Was macht ſich der fleißige und nur fuͤr ſeinen Erwerb bekuͤmmerte Handwerker daraus, ob irgend ein literariſches Produkt verboten, was der in der Jdeenwelt lebende Gelehrte, daß Pariſiſcher Putz unterſagt wird? Weder dieſer noch jener hat ja in dieſem Fall eine Neigung einzuſchraͤnken, und denkt daher bey ſolchen Verboten nicht einmal dar - an, daß ſie ſeine Freyheit beengen.

Aber man verwehre dem Menſchen etwas, das ihm ſehr wichtig und werth iſt, man verwehre dem muthvollen Ritter die Schranken, dem heißen Liebhaber ſeine Goͤttin, und dem gewinnſuͤchtigenKauf -379Kaufmann die Meſſen; wie wird ſich da der Trieb nach Freyheit empoͤren? weil er in dem an - gegriffen wird, worin er vorzuͤglich ſein Leben und ſich fuͤhlt.

Auch kann wohl das Verbot einer an ſich nur gleichguͤltigen Sache, die Liebe zur Unabhaͤngigkeit herausfordern, ſo bald es als Verbot auffallend iſt. Die Sache ſelbſt wuͤrde uns nicht beunruhi - gen, weil wir kein Jntereſſe an derſelben haben; aber das ſich auf dieſelbe beziehende Verbot macht ſie uns intereſſant, und ſie reizt unſre Be - ſtrebungen, weil wir durch ſie einen Beweis unſe - res freyen Willens, der ſich nicht einſchraͤnken laͤßt, erhalten. Nitimur in vetitum. Das Verbotne reizt uns. Was iſt es denn aber fuͤr ein Reiz, mit welchem ein Verbot eine gleichguͤl - tige, ungeachtete Sache anſtreichen kann? Die Frage hat ihre Antwort zum Theil ſchon in dem Vorhergehenden erhalten. Es gewaͤhrt ein großes Vergnuͤgen, zu zeigen, daß man ſich nicht ein - ſchraͤnken laſſe, und das Verlangen, dies Ver - gnuͤgen zu genießen, iſt dann um ſo ſtaͤrker, wenn man fuͤhlt, daß Andre es uns rauben wollen. Die Widerſetzung gegen ein Verbot, oder die Nichtachtung, oder die Uebertretung deſſelben zeigt Kraft, und wer laͤßt dieſe nicht gern an ſich gewahr nehmen? Ueberdem aber floͤßt das Verbot auch leicht die Vermuthung ein, daß das,an380an deſſen Genuß es verhindert, einen Werth und Wichtigkeit habe; man wird dadurch aufmerk - ſam auf die Sache, die Einbildungskraft von der beleidigten Eigenliebe verfuͤhrt, mahlt ſie ſchoͤn aus, man beſtrebt ſich nach ihrem Beſitz.

Wohl dem Menſchen, deß Trieb nach Frey - heit von der Vernunft geleitet wird! Sie allein fuͤhrt ihn zum Ziele wahrer Jndependenz. Denn der Vernunft gehorchen iſt Freyheit.

Wer in dieſem Gehorſam ſeine Unabhaͤngig - keit ſetzt, der iſt edel der ſteht feſt unter den Schlaͤgen des Schickſals und dem Wirbel der Leidenſchaften.

velut rupes, vaſtum quae prodit in aequor Obvia ventorum furiis, expoſtaque ponto, Vim cunctam atque minas perfert coelique marisque Ipſa inmota manens. *)Virgil. Aeneid. lib. 10. v. 693 696. Wie ein Fels, der ins weite Meer tritt, der Wuth der Winde begegnend und den Wogen des Pontus blos geſtellt, alle Gewalt und Drohung des Meers und des Himmels ertraͤgt und unbewegt bleibt.

Aber wenn die Leidenſchaft das Herz regiert, dann wird der Trieb nach Freyheit zuͤgellos und der Menſch ein zuͤgelloſer Sclav. Nicht wohin erwill,381will, ſondern wohin die Begier ihn reißt, muß er gehen. Er gehorcht einem Tyrannen, der Weiſe iſt Koͤnig.

Dieſer edle Trieb des menſchlichen Herzens will ſorgfaͤltig genaͤhrt und gebildet ſeyn, wenn er nicht in Eigenſinn und Ungebundenheit aus - arten oder unterdruͤckt werden ſoll. Sowohl das Erſte als das Letzte iſt moͤglich, und durch jedes Erfahrung mit Beyſpielen bewieſen. Wer allein independent ſeyn, ſeine Launen Andern zur Norm ihres Betragens aufdraͤngen, und nicht nach vernuͤnftigen Vorſtellungen, welche al - len deutlich ſind, ſondern nach dunklen Gefuͤhlen, die keiner als er ſelbſt kennt, ſich im Handeln be - ſtimmen will; wer mit einem Wort eigenſinnig iſt, und Andern an dem erſten Rechte der Menſch - heit nicht Theilnehmen laſſen will, verſteht die Meynung der Natur nicht, und iſt ſelber nicht frey.

Aber ungluͤcklicher noch der, welcher dieſen edlen Trieb, den Charakter der Menſchheit, un - terdruͤckt, und ſclaviſchen Sinn annimmt. Er geht aller Vortheile verluſtig, welche der Menſch genießen kann. Verſtand und Herz werden in Ketten gelegt, ſeine Seele entadelt und in die Knechtſchaft gefuͤhrt, alle Selbſtthaͤtigkeit unter - druͤckt, und ſein Zuſtand niedriger, als deſſen, dem die aͤußere Freyheit geraubt iſt.

Moͤchten382

Moͤchten doch alle diejenigen, welche Men - ſchen bilden ſollen, mit dieſem Triebe gewiſſenhaft verfahren. Weg bey dem Erzieher mit allem, was Schwaͤche iſt, die ſeine Pflicht dem Eigen - willen und unvernuͤnftigen Begierden des Zoͤglings unterwirft! Weg aber auch mit allen den Mitteln, wodurch das Thier gezaͤhmt, der Menſch aber nicht gebildet wird. Man gewoͤhne den Juͤngling und das Maͤdchen, Strafe und Belohnung, Befehle und Verbote ſich ſelbſt zu geben; zaͤhme nur alsdann, wenn das Thie - riſche im Menſchen, die unbaͤndige Leidenſchaft die Oberherrſchaft an ſich geriſſen hat, und ſich von ſelbſt nicht wieder zur Ruhe begiebt: und lehre die Vernunft herrſchen; ſo wird man den Zweck der Natur erreichen, freye Menſchen zu bilden.

Neunte383

Neunte Unterhaltung. Ueber den Trieb nach Ehre.

Trahimur omnes laudis ſtudio, et optimus quis - que maxime gloria ducitur. Ipſi illi philoſo - phi, etiam in illis libellis, quos de contemnen - da gloria ſcribunt, nomen ſuum inſcribunt: in eo ipſo, in quo praedicationem nobilitatem - que deſpiciunt, praedicari de ſe et nominari volunt. (Cicero.)

Es iſt der Selbſtliebe des Menſchen nicht ge - nug, Vollkommenheiten zu haben; ſie bedarf zu ihrer Befriedigung, daß auch andre Menſchen dieſelben erkennen, und ſie in dieſer Anerkennung wie in einem Spiegel den Glanz derſelben ſehe, und ſich freue. Der Menſch will Ehre will in den Augen Andrer etwas werth, von ihnen bemerkt, von ihnen geachtet ſeyn.

Die Grade der Staͤrke und die Natur dieſes Ehrtriebs ſind verſchieden. Dem einen iſt ſie werth dem andern iſt ſie Zweck dieſem das non plus ultra ſeiner Gluͤckſeligkeit, und daher ſein einziger Gedanke jenem ein aͤngſtlich zu behuͤtender Schatz.

Wer384

Wer die Ehre werth haͤlt, was ſie erhalten kann, thut, und was ſie vernichten kann, mei - det, hat Ehrliebe; eine derjenigen Triebfedern des Herzens, welche die Bewegungsgruͤnde der moraliſchen Vernunft am meiſten beleben, und am treuſten unterſtuͤtzen koͤnnen. Ehrliebe macht auf ſich ſelbſt aufmerkſam, und treibt zu fortge - ſetzter eifriger Bildung an. Sie unterſtuͤtzt die edlen Triebe nach Thaͤtigkeit und Freyheit, und hilft der Vernunft ſie auf wuͤrdige Gegenſtaͤnde hinleiten. Sie befoͤrdert die Achtung vor ſich ſelbſt, und haͤlt das Ohr offen fuͤr die Stimme des innern Richters uͤber Verdienſt und Schuld. Der Ehrliebende iſt ein ſichrer Verwahrer des an - vertrauten Gutes, ein treuer Ausfuͤhrer des ge - gebnen Auftrags, ein eifriger Unterſtuͤtzer und Befoͤrdrer des Jntereſſe, zu welchem man ſich mit ihm verbunden hat. Jn ſeinen Handlungen ſticht nicht ſowohl die Furcht, ſeine Ehre zu verlieren, denn dafuͤr ſichert ihn ſein Selbſtgefuͤhl als vielmehr der Eyfer dieſelbe zu erhalten und zu be - reichern, hervor und alles, was er ſagt und thut, hat die Farbe des Adels ſeiner Seele. Er iſt vorzuͤglich zu den Tugenden, welche die Groͤße der Seele ausmachen, geneigt: die Vertheidigung der Unterdruͤckten iſt ihm eine Freude, ihre Ret - tung eine Wonne. Er kann großmuͤthig ſeyn; wird die Beleidigung eines Nichtswuͤrdigen ver -achten385achten gegen den Beleidiger von Anſehn ſeine Ehre vertheidigen, aber, wenn derſelbe das Un - gerechte der Beleidigung erkennt, mit Freuden verzeihen. Fern von Eigennutz und kleinli - cher Denkungsart flieht er beſonders den Schein, durch gemeine Motive beſtimmt zu werden, und haßt erniedrigende Habſucht, Gewinnſucht und Kargheit*)Ein ſchoͤnes Beyſpiel von Ehrliebe gaben die fran - zoͤſiſchen Gardiſten bey Gelegenheit des Aufſtandes in Verſailles, der den Erzbiſchof von Paris in Le - bensgefahr brachte. Jhre Ehrliebe war gereizt, weil man fremde Truppen um den Koͤnig zuſammen - zog, und ſie zu entfernen ſchien. Sie erhielten bey jenem Aufſtande Befehl, auf das Volk zu ſchießen, aber ſie ſchoſſen nicht, denn, ſagten ſie, wir ge - brauchen unſre Waffen nicht gegen unſre Bruͤder, ſondern nur gegen die Feinde unſers Koͤnigs und Vaterlands. Jndeß, ohnerachtet der Erzbiſchof, da er den dritten Stand beleidigt hatte, ſie auch mit angegriffen hatte, entfernten ſie doch das Volk, und riefen dem Erzbiſchof zu, nun auch großmuͤthig zu ſeyn. Dieſer wuͤnſchte, ſie auf ſeine Seite zu ziehen, und ließ ihnen auf die delicateſte Weiſe den Tag darauf eine Belohnung an Geld fuͤr den ihm geleiſteten Dienſt anbieten. Die Gardiſten ſchlugen ſie aus. Jhr Oberſter wollte ihren Sold taͤglich um einige Sous erhoͤhen, ſie verbaten dieſe Erhoͤ - hung. Das Theater wollte ihnen den Ertrageiner. Das Lob des unintereſſirten Man -nesBb386nes geht ihm uͤber alles, er will durchaus als ein ſolcher angeſehen werden, den große, das Ganze befaſſende Abſichten leiten. Darum verwendet er ſich gern fuͤr das Jntereſſe Anderer; ſchweigt, wenn dem Seinigen zuwider gehandelt wird, aber redet deſto lauter und handelt deſto nachdruͤckli - cher, wenn es fuͤr Andre gilt. Die Ehre ſeiner Freunde iſt die ſeinige; ihre Kraͤnkungen ſchmer - zen ihn doppelt. Wer den verachtet, der ſeine Achtung hat, ſchneidet in das Jnnerſte ſeines Ge - fuͤhls. Schmeicheley iſt ihm verhaßt, aber vor wahrem Verdienſt neigt er ſich gern, weil die An - erkennung wahrer Ehre auch ihm Ehre giebt, und nur dann bezahlt er vielleicht nicht oͤffentlich dem Verdienſt ſeinen Tribut, wenn er fuͤrchtet, man werde ihn mißverſtehen, und die Achtung des Verdienſtes fuͤr ſchmeichelnde Demuͤthigung vor der Perſon halten. Er laͤßt ſich gern von dem, welchem er freundſchaftliche Theilnehmung zu - trauet, auf ſeine Fehler und Schwachheiten auf - merkſam machen, aber erzuͤrnt ſich wider den Haͤmiſchen, und den, welcher ihn mit der Mine und dem Anſehn des Zuchtmeiſters erinnert. Sein guter Name iſt ſein Stolz; geht dieſer ver -loren,*)einer Vorſtellung uͤberlaſſen, aber ſie erklaͤrten oͤf - fentlich, daß ſie keinen Sous fuͤr ihre That nehmen wuͤrden; denn, ſagten ſie, unſer Patriotiſmus hat uns reichlich genug belohnt.387loren, ſo fuͤhlt er ſich elend, und geraͤth in Ver - zweiflung, wenn er ihn durch ſeine Schuld verlor.

Als der edle Kaſſio, welcher durch die Raͤnke des hinterliſtigen Jago betrogen, vom Weine berauſcht wurde, und ſich in der Hitze des Zorns gegen den, der ſeine Ehre angriff, uͤbereilte, von ſeinem Feldherrn Othello ſeiner Stelle entſetzt worden war, ruft er aus:

Guter Name! guter Name! guter Name! Oh! ich habe meinen guten Namen verloren! Jch habe den unſterblichen Theil meiner ſelbſt ver - loren, was mir noch bleibt, iſt blos thieriſch! Mein guter Name!
*)Shakeſpears Othello, 2ter Aufzug, 3ter Auftr.
*)

Der gute Name, laͤßt Shakeſpear in dem - ſelben Trauerſpiele den Jago, der ſich als einen Mann von wahrer Ehrliebe verſtellt, ſagen, der gute Name iſt bey Mann und Weib das ſchaͤtz - barſte Kleinod ihrer Seele. Wer mir mein Geld ſtiehlt, ſtiehlt einen Bettel, es iſt Etwas es iſt Nichts. Es war mein; es iſt ſein; und iſt ſchon ein Sclave von tauſend Andern geweſen. Aber wer mich um meinen guten Namen bringt, der raubt mir etwas, das ihn nicht bereichert, aber mich wahrhaftig arm macht .**)Daſelbſt. 3ter Aufz. 3ter Auftr. Folgende Stelle aus dem Orlando Inamora - to fuͤhrt H. H. Eſchenburg in einer Note zu dieſerStelle.

Bb 2Der388

Der Ehrliebende haͤlt die Ehre werth, als ein ſchaͤtzbares Gut, welches ihm viel Freude gewaͤhren und zu vielen guten Abſichten foͤrderlich ſeyn kann. Dem Ehrbegierigen iſt ſie Zweck. *)Der Ehrliebende ſagt mit Perſius, Sat. 1. v. 47 ff.Laudari haud metuam, neque enim mihi cornes fibra eſt, Sed recti finemque extremumque eſſe recuſo Euge tuum et belle. Jch fliehe nicht vor dem Lob denn ich habe kein ſteinernes Herz aber dein Herrlich, vor - treflich , iſt nicht der Zweck der Tugend und das hoͤchſte Gut, zu nennen.

Wo ſich Gelegenheit findet, ſich zu zeigen und Ehre zu erndten, da iſt er gewiß auf dem Schauplatz geſchaͤftig und eifrig. Er kann leich -ter,**)Stelle an, wegen der auffallenden Aehnlichkeit mit den Shakeſpeariſchen Worten. Jch ſetze ſie hier her, weil mancher Leſer, der dieſe vortrefliche Ue - berſetzung, welche in jedes Gebildeten Hand ſeyn ſollte, nicht beſitzt, vielleicht gern ſieht, wie ver - ſchiedne Schriftſteller ſo genau zuſammentreffen:Chi ruba un corno, un cavallo, un anello, E ſimil coſe, ha qualche diſcrezione, E potrebbe chiamarſi ladroncello, Ma quel che ruba la riputazione, E dell 'altrui fatiche ſi fa bello Li puo chiamare aſſaſſino e ladrone, E di più odio e pena è degno, Quanto più de dover trapaſſo il ſegno. 389ter, als der Ehrliebende, ſeine Pflicht, ſei - ner Ehre opfern, weil die lebhaftere Begierde ihn verblenden und irre fuͤhren kann. Er iſt nicht ſo mittheilſam, als jener, kann ſeinen Nebenbuhler heimlich beneiden, und wenn irgend einmal ſeine Ehrbegierde ſtark auflodert, auch wohl durch an - dre Mittel, als ſein Verdienſt, uͤber ihn zu ſie - gen ſuchen. Er geraͤth uͤber verungluͤckte Plane und entrißne Lorbeeren in Wuth, und ſpannt ſei - ne Kraͤfte bis zum Zerreißen an, den Verluſt zu erſetzen. Ruhe wird ihm niemals zu Theil, denn die Begierde iſt nimmer zufrieden.

Staͤrker noch als in der Ehrbegierde iſt das Leidenſchaftliche in der Ehrſucht. Ein aͤngſtli - ches, zitterndes Verlangen nach Ehre, verbun - den mit dem unangenehmen Gedanken, nie genug zu erlangen, eine ſtete, quaͤlende Unruhe, Un - zufriedenheit und Mißmuth ſind ihre Symptomen. Der Ehrſuͤchtige hat nur den Einen Gedanken an Ehre; auf ſie wird alles bezogen, ihr alles untergeordnet. Er hat kein Gefuͤhl, als fuͤr ſie allein und der Triebfeder, welcher ſeine Ehrſucht ihre Schnellkraft mittheilt, muß alles weichen. Vernunft vermag nichts gegen dieſelbe, denn ſie mag von dem Unterſchied wahrer und falſcher Ehre nichts wiſſen.

Ehrſucht iſt der Hauptzug in dem Charakter Mirabeaus, nach der Schilderung, die HerrBb 3Schulz390Schulz*)Geſchichte der Revolution ꝛc. von ihm entwirft. Mirabeau, ſagt er, iſt ein Engel, wenn ſich der Genuß ſeiner Ehrſucht auf wohlthaͤtige Plane gruͤndet, und wird zum Teufel, wenn er ſich denſelben auf Ko - ſten irgend eines Dinges, irgend eines Menſchen, irgend einer Geſellſchaft verſchaffen muß. Jetzt, da er an der Spitze des dritten Standes ſteht, reißt er auch allen Glanz, alle Ehre an ſich, die dem Retter deſſelben auf ewig bevorſtehen: ſchont ſeiner Geſundheit und ſeines Lebens nicht, um auf dem Wohl deſſelben ſeinen Ruhm zu bauen; ſtatt daß er, wenn er an der Spitze des Adels ſtaͤnde, mit eben dem Geiſte, mit eben dem alles hinrei - ßenden, zerſtoͤrenden und erwuͤrgenden Feuereifer dem dritten Stande den Fuß auf dem Nacken ſe - tzen, und aus ſeiner gaͤnzlichen Zertretung die ſchoͤn - ſten Lorbeeren fuͤr ſich hervorſchießen ſehen wuͤrde.

Jn der Ehrbegierde und Ehrſucht ſticht das heftige Verlangen nach Vermehrung der Ehre hervor in dem Ehrgeiz das aͤngſtliche Be - wachen derſelben. Wo das Gefuͤhl des eignen Werths, den man von Andern gern erkannt wiſ - ſen will, gering iſt, da nimmt der Ehrtrieb die Geſtalt und Natur des Ehrgeizes an, weil man fuͤhlt, daß man nichts verlieren kann, wenn man nicht ganz arm werden will. Der Ehrgeiz iſt kleinlich wie der Geldgeiz, und erſtickt alles, wasedel391edel und groß iſt in dem Herzen des Menſchen. Bang und ſchuͤchtern, wie der Geizige auf ſeinen Geldkaſten ſitzt, wirft er die Augen umher, ob auch niemand ſeinen kleinen Vorrath beraube, und wird bis zum Wahnſinn erzuͤrnt, wenn er meynt, daß es geſchehen ſey. Wo er nur Gefahr ahn - det, zieht er ſich aͤngſtlich zuruͤck, und keine noch ſo wahrſcheinliche Hofnung ſeine Ehre durch edle aber Muth erfodernde Unternehmungen zu ver - mehren, bekaͤmpft die bange Furcht, nur einen kleinen Theil zu verlieren*)Wer Ehre verlangt, verlangt auch Lob und Ruhm; denn beydes ſind Ausdruͤcke derſelben. Sie unter - ſcheiden ſich in doppelter Hinſicht: einmal als Aus - druͤcke der Ehre, und hernach in Beziehung auf das, was als Ehre bringend ausgedruͤckt wird. Jn erſter Hinſicht iſt Lob ſtiller und beſondrer, Ruhm lauter und allgemeiner. Wenn ein Schuͤ - ler ſeinem Lehrer eine gute Arbeit liefert, und die - ſer ſie als gut anerkennt, ſo erhaͤlt jener Lob; wenn jemand eine Abhandlung uͤber eine Preisfrage einſchickt, und dieſe gekroͤnt wird, ſo hat er ſich dadurch Ruhm erworben. Wenn daher eine Hand - lung, ein Werk, eine That ſo beſchaffen iſt, daß ihre Guͤte und ihr Werth nur von Wenigen erkannt werden kann, weil ſie gar nicht in die Augen fallend iſt, oder der, welcher ihr Urheber war, nur in ei - nem kleinen Kreiſe gekannt iſt, ſo bringen ſie Lob. Wenn.

Bb 4Es392

Es iſt dieſer Trieb einer der wichtigſten und merkwuͤrdigſten, wegen ſeiner Staͤrke, Frucht - barkeit und Allgemeinheit. Er behaͤlt da, wo er ſich feſtgeſetzt und einen ſtarken Einfluß erhal - ten hat, in dem Streit der Neigungen miteinan -der*)Wenn ſie aber mehrere Augen auf ſich ziehn, Ruhm. Ein Unterbedienter in einem Collegio, welcher ſeine Pflicht treu verwaltet, erhaͤlt Lob. Der Praͤſident deſſelben, Ruhm. Eine fuͤr die Oecono - mie ihres Hauſes nuͤtzliche Einrichtung einer Haus - frau, heißt loͤblich: die Verfuͤgung eines Miniſters fuͤr das Beſte des Staats, ruͤhmlich. Wer ſeinen Freund in Schutz nimmt, erwirbt ſich Lob; wer das Vaterland vertheidigt, Ruhm.2) Lob geht mehr auf das innere, das Motiv der Handlung, Ruhm mehr auf das aͤußere derſel - ben; denn dieſes kann auch leichter bemerkt, jenes von Vielen uͤberſehen werden. Friedrich der Einzi - ge handelte loͤblich, daß er ſich im bayerſchen Suc - ceſſionskriege Sachſens und Zweybruͤcks annahm; er erwarb ſich Ruhm durch ſeine Siege. Bey dem Lobe ſticht das Gefuͤhl der Liebe gegen den Handeln - den ſeines moraliſchen Werths wegen mehr hervor; beym Ruhm mehr Schaͤtzung großer Geſchicklichkei - ten. Ariſtides iſt wegen ſeiner Gerechtigkeitsliebe lobenswuͤrdig; der Herzog Ludwig von Braun - ſchweig wegen ſeines edlen Benehmens gegen die Hollaͤnder gelobt und mit Phocion verglichen wor - den; Alexander und Carl XII. haben ſich Ruhm erworben, ohne deswegen gelobt zu werden.393der immer die Oberhand und ſelbſt die Liebe muß weichen, wenn ſie ihm widerſtreitet. Duelle und Krieg, Mord und Gewaltthaͤtigkeit, aber auch unſterbliche Werke und unglaubliche Thaten ſind ſeine Wirkungen: er wirkt im Knaben, Juͤng - ling, Mann und Greis; im Koͤnig und in dem Bett - ler, und in welchem man ihn nicht wahrnimmt, den haͤlt man der Menſchheit nicht wuͤrdig*)Mehrere hieher gehoͤrige Beyſpiele erzaͤhlt Helvetius in dem 3ten Diſcours de l'eſprit, chapitre VI., die ein jeder aus der Geſchichte ſeines Lebens und aller Zeiten vermehren kann. C'eſt l'orgueil, ſagt der angefuͤhrte Welt - weiſe unter andern, qui comble les vallons, ap - planit les montagnes, s'ouvre des routes à tra - vers les rochers, éleve les pyramides de Mem - phis, creuſe le lac Moeris & fond le coloſſe de Rhode. C'eſt la paſſion de l'honneur qui peut executer les plus grandes actions, & braver les dangers, le douleur, la mort, & le ciel même. C'eſt la deſir de la gloire, qui ſur la cime glacée des Cordilliers, au milieu de neiges, des frimats, incline les lunettes de l'aſtronome; qui pour cueillir des plantes, con - duit le botaniſte ſur le bord des précipices; qui jadis guidoit les jeunes amateurs des ſciences dans l'Egypte, l'Ethiopie & jusques dans les Indes, pour y voir les philoſophes les plus - lèbres & puiſer dans leur converſation les prin - cipes de leur doctrine. .

Bb 5Zehnte394

Zehnte Unterhaltung. Ueber die Gruͤnde des Ehrtriebes.

Die Ehre, ſagen mehrere Weltweiſe des Alter - thums, iſt ihrer ſelbſt wegen zu wuͤnſchen; Chry - ſippus aber und Andre widerſprechen dem ſehr laut, und meynen, daß, wenn die Ehre keinen Nutzen braͤchte, kein Glied des Koͤrpers darum in Bewegung zu ſetzen ſey*)Cic. de fin. bonor. et malor. 3. 17. De bona fama Chryſippus quidem ut Diogenes, detracta utilitate, ne digitum quidem, ejus cauſa, por - rigendum eſſe dicebant, quibus ego vehemen - ter aſſentior. Qui autem poſt eos fuerunt hanc, quam dixi, bonam famam, ipſam pro - pter fe praepoſitam et fumendam eſſe dixerunt, eſſeque hominis ingenui et liberaliter educati, velle bene audire a parentibus, a propinquis, a bonis etiam viris, idque propter rem ipſam, non propter uſum: dicuntque, ut liberis con - ſultum velimus, etiam ſi poſtumi futuri ſint, propter ipſos: ſie futurae poſt mortem famae tamen eſſe propter rem, etiam detracto uſu, conſulendum. .

Jch denke beyde Behauptungen laſſen ſich zu - ſammenſetzen; die Ehre wird theils ihrer ſelbſtwegen,395wegen, theils wegen der mit ihr verbundenen Vortheile begehrt.

Ehre iſt Anerkennung unſers Werths von Andern. Ob man wirklichen Werth habe oder nicht, dies laͤßt die Eigenliebe ununterſucht, ſie leiht auch Dem Vollkommenheit, der derſelben er - mangelt: denn es iſt das unertraͤglichſte Gefuͤhl, ſich fuͤr ganz werthlos halten zu muͤſſen. Je groͤßerer Vollkommenheit man ſich bewußt, und je feſter die Ueberzeugung davon iſt, deſto angenehmer iſt der Gedanke an ſeine eigne Perſon, welche doch am haͤufigſten in dem Bewußtſeyn iſt. Al - les alſo, was den Glauben des eignen Werths befeſtigen kann, muß ſehr willkommen ſeyn, und unſres Beſtrebens wuͤrdig ſcheinen.

Die Ehre hat dieſe wuͤnſchenswuͤrdige Be - ſchaffenheit. Sie kann den Glauben an uns ſelbſt feſter und ſicherer machen denn man nimmt es immer fuͤr einen Grund der Wahrſcheinlichkeit einer Meynung an, wenn Mehrere darin uͤberein - ſtimmen. Erkennen Andre unſren Werth nicht, ſo koͤnnen wir es nicht verhindern, daß unſre Eigenliebe mag noch ſo ſehr dagegen ſchreyen nicht zuweilen der Gedanke in die Seele komme, daß wir uns doch wohl taͤuſchen koͤnnten, oder daß wenigſtens unſer Werth ſehr gering ſeyn muͤſ - ſe, da Andre ſo gar nichts von ihm zu bemerken ſcheinen. Zeigen aber Andre durch die Aufmerk -ſam -396ſamkeit, welche ſie auf uns richten, und die Ehre, welche ſie uns erweiſen, daß ſie auch etwas Voll - kommnes und Schaͤtzenswuͤrdiges in uns entde - cken, dann hat die Eigenliebe die Freude, ihre Meynung beſtaͤtigt zu ſehen.

Aber nicht allein um ihrer ſelbſt willen wird die Ehre begehrt, auch die aus derſelben fließenden anderweitigen Vortheile erwecken den Trieb nach derſelben.

Wer geehrt iſt, auf den ſind Andre aufmerk - ſam und behutſam in dem Betragen gegen ihn. Er kann darauf rechnen, daß Andre ſich leichter nach ihm bequemen werden, da ein jeder ſich gern an denjenigen anſchließt, welcher geachtet iſt, weil er ſich ſelbſt dadurch Achtung verſchaft; er kann ſichrer ſeyn vor Beleidigungen, auf Huͤlfe und Unterſtuͤtzung, wenn er ihrer bedarf, mit Wahr - ſcheinlichkeit hoffen, und gewiß erwarten, daß ſeiner Ehre auch andre Belohnungen folgen werden.

Jn dem mit dem edlen Gefuͤhle der Liebe und Dankbarkeit erfuͤllten Menſchen, kann der Wunſch, die, welche er liebt, zu erfreuen, denen, welche ihm wohl thaten, zu zeigen, daß er der Wohlthat wuͤrdig war, den Trieb nach Ehre außerordent - lich verſtaͤrken. Der erſte Gedanke des edlen Sohns, wenn ihn die Ehre erfreut, iſt: die Freude, die er dadurch einem treuen Vater undeiner397einer zaͤrtlichen Mutter macht; und der dankbare Juͤngling fuͤhlt einen ſtarken Antrieb ſich Ehre und Achtung zu erwerben, in dem Wunſch, de - nen, welche ſich mit redlichem Eyfer um ſeine Bil - dung bemuͤhten, zu zeigen, ihre Arbeit ſey nicht vergeblich geweſen.

Der vortrefliche franzoͤſiſche Weltweiſe, Hel - vetius, erkennt ſeinem Syſtem gemaͤß nur das Verlangen nach ſinnlichen Vergnuͤgungen als Grund des Triebes nach Ehre*)De l'eſprit diſe. III. ch. XIII. On ne deſire d'être eſtimable, que pour être eſtimé & on ne deſire l'eſtime des hommes, que pour jouir de plaiſirs attachés à cette eſtime; l'amour de l'eſtime n'eſt donc, que l'amour déguiſé du plaiſir. chap. XII. L'ambition eſt allumée en nous par l'amour du plaiſir & la crainte de la douleur. chap. XIII. La paſſion de l'or - gueil ou de l'eſtime eſt un effet de la ſenſibilité phyſique. . Aber auch hier ſcheint ihn, wie in vielen andern Behauptun - gen, die Vorliebe fuͤr ſein Syſtem, zu einſeitig beobachtet haben, und zu ſchnell abſprechen zu laſſen. Sein Hauptargument laͤuft darauf hin - aus: daß, wenn der Menſch deswegen die Ehre begehrte, um von ſeinem Werth deſto feſter uͤber - zeugt zu werden, alsdann die ausgebreitetſte und wahren Werth beweiſende Achtung am meiſten ge -ſucht398ſucht werden muͤßte; da dies aber nicht geſchaͤhe, ſo ſey klar, daß nicht Ehre um ihrer ſelbſt willen, ſondern nur als ein Mittel, andre Vortheile zu erlangen, geſucht werde. Es iſt aber dies Argument ſehr leicht zu widerlegen, ſobald man erwegt, daß es allerdings Viele giebt, welche Ehre oder eigentlicher Ehrenſtellen nur deswegen ſu - chen, um eine andre Neigung, welche auch das Verlangen nach ſinnlichen Vergnuͤgungen ſeyn kann, zu befriedigen, daß man aber ſolchen nicht eigentlich Ehrtrieb beylegen kann, und daß endlich die Begierde nach anderweitigen Vortheilen mit unter die Gruͤnde dieſes Triebes gezaͤhlt, aber darum doch nicht der einzige Grund deſſelben ge - nannt werden darf*)Der franzoͤſiſche Philoſoph fuͤhrt zum Beweiſe ſei - ner Behauptung folgende Gruͤnde an:Wenn der Ehrtrieb aus dem Verlangen ent - ſpraͤnge, ſich von ſeiner Achtungswuͤrdigkeit zu uͤber - zeugen (deſir de ſ'aſſurer de ſon exellence), und nicht blos aus dem Wunſch, geachtet zu werden (deſir d'être eſtimé), ſo wuͤrde man ja1) den groͤßten Werth auf dasjenige ſetzen, was von den groͤßten perſoͤnlichen Vorzuͤgen (ſuperio - rité la plus perſonelle) zeigte, und dem Ohngefaͤhr am wenigſten unterworfen waͤre. Man wuͤrde z. B. wenn man zwiſchen der Ehre der Gelehrſam - keit und der Waffen zu waͤhlen haͤtte, jene vorzie -hen..

Eilfte399
*)

hen. Aber jedermann wiſſe, daß dies nicht ge - ſchaͤhe.

2) Es muͤßte die ausgebreitetſte Achtung (l'eſti - me, qui nous ſeroit accordée par le plus grand nombre d'hommes) die ſchmeichelhafteſte ſeyn. Aber ſetzt, daß die Planeten bewohnt waͤren, und ihre Bewohner mit denen der Erde in Verbindung ſtaͤnden; ſo wuͤrde doch ein jeder die Achtung ſeiner Nation derjenigen der Planetenbuͤrger vorziehen.

3) Man muͤßte ſich in dieſem Fall aus Ehren - ſtellen nichts machen, wenn man an ihrer guten Verwaltung durch irgend etwas gehindert wuͤrde; allein ſelbſt zu den Zeiten, wo Jntrigue, Cabale u. ſ. w. verhindern, in Ehrenaͤmtern durch gute Verwaltung ſich Ruhm zu erwerben, wuͤrden ſie geſucht.

4) Man muͤßte ſich nicht ſowohl um die Werth - ſchaͤtzung ſolcher, die aͤußre Vortheile gewaͤhren koͤnnen, z. B. Fuͤrſten, ſondern um die Achtung de - rer bewerben, welche uns von unſerm Werth uͤberzeu - gen koͤnnten, und es muͤßten in Zeiten wo Ehre nicht mit aͤußern Vortheilen verknuͤpft iſt, ſo viele große Maͤnner ſeyn, als ſonſt.

Jch antworte:

1) Nicht jedermann zieht den Ruhm der Waffen, dem der Gelehrſamkeit vor, ſondern vielleicht iſt die Anzahl derer, welche dieſen ſuchen, der, welche je - nen ſuchen, uͤberlegen. Und wenn dies auch nicht waͤre; ſo laͤge der Grund davon in der Mey - nung der Menſchen von dem, was ſie am meiſten ehrt, und da iſt freylich die Menge derer, welche

aͤußern
*)
400

Eilfte Unterhaltung. Ueber den Stolz*)Um einem Mißverſtande vorzubeugen, muß ich erklaͤren, daß ich hier unter Stolz nicht die Rich - tung des Ehrtriebes verſtehe, welcher ein Fehler des Charakters iſt; ſondern das Wort im allgemein - ſten Sinn nehme. und die verſchiednen Arten deſſelben.

Wie demjenigen, in deſſen Gemuͤth der Wunſch iſt, durch die Achtung Andrer ſeiner Vollkom -menheit*)aͤußern Glanz wuͤnſchen, groͤßer als der, welche nach innern Werth erlangen.2) Nicht die ausgebreitetſte, ſondern die am meiſten uͤberzeugende Achtung wird von dem be - gehrt, welcher Ehre ſucht, und nur dann, wenn dieſer die ausgebreitetſte fuͤr die uͤberzeugendſte haͤlt, wird er jene wuͤnſchen. Wenn nur zwiſchen den Planeten und Erdbewohnern Communication waͤre, wenn nur von da Ordensbaͤnder, Sterne, Diplo - me ꝛc. geſchickt wuͤrden, es wuͤrden ſich ſchon Men - ſchen finden, welche das alles ambirten.Der 3te und 4te Grund ſagt weiter nichts, als daß es Einige giebt, die die Ehre des Vortheils wegen ſuchen dagegen man aber auch andre hat, wel - che auch ohne aͤußern Vortheil, ſelbſt mit Aufopfe - rung deſſelben, nach derſelben ſtreben.401menheit verſichert zu werden, Ehrtrieb beygelegt wird; ſo ſchreibt man dem, welcher ſich derſelben ſchon verſichert haͤlt, und deſſen Betragen alſo mehr dieſe Meynung von ſich, als den Wunſch, durch Anderer Achtung ſie zu befeſtigen, ausdruͤckt, Stolz zu. Der Ehrbegierige iſt immer noch nicht feſt genug von ſeiner Vollkommenheit uͤber - zeugt, und wirbt daher um die Beyſtimmung Andrer; der Stolze iſt uͤber dieſen Punkt ſchon mit ſich einverſtanden, und fordert die Ehre als einen Tribut, den man ſeinem Werth ſchuldig iſt. Der Ehrbegierige meynt, ſeine Vollkommenheiten ſeyen noch nicht hervorſtechend genug, und wuͤnſcht daher dieſelben anſchaulich und offenbar zu ma - chen; der Stolze hingegen verlangt, daß ein jeder ſeine Vorzuͤge ſo deutlich wahrnehme, als er ſelbſt, und haͤlt die, welche dies nicht zu thun ſcheinen, fuͤr wirklich blind, oder ſolche, die nicht ſehen wollen. Dem Ehrbegierigen iſt es um die aͤußern Bezeugungen der Ehre zu thun, der Stolze kann ihrer entbehren; jener ſucht, die - ſer laͤßt ſich ſuchen. Cato und Coriolan wa - ren ſtolz: Pompejus und Caͤſar ehrbegierig.

So wie bey der Ehrbegierde oͤfters richtige Selbſtkenntniß ſeyn kann, ſo bey dem Stolze oft Selbſttaͤuſchung: ſo wie jene auch ohne Selbſtgefuͤhl wach werden kann, ſo muß dieſem immer ein wahres oder eingebildetes Gefuͤhl vonCcWerth402Werth und Kraft zum Grunde liegen. Jener beeifert ſich das zu werden, was dieſer ſchon iſt, oder zu ſeyn glaubt. Dieſer duͤnkt ſich uͤber An - dre erhaben, jener wuͤnſchte, ſich uͤber ſie erhe - ben zu koͤnnen.

Der Stolze laͤßt nicht gern ſeine Ehre belei - digen, denn er ſchaͤtzt grade die ſeinige vorzuͤglich hoch, und kann daher, beſonders wo ſeine Mey - nung von ſich auf Sand gebauet iſt, leicht ehrgei - zig, und da Ehrgeiz ſich gern mit der Empfind - lichkeit paart, auch empfindlich werden.

Wenn der, welcher die Ehre ſucht, und es weiß, daß das erſte Erforderniß ſich dieſelbe zu verſchaffen, iſt, ſich diejenigen, von welchen er geehrt ſeyn will, geneigt zu machen, ſeine Vor - zuͤge nicht ſelbſt anzeigt, ſondern von Andern auf - finden laͤßt; ſo kuͤndigt hingegen der Stolze ſeine eignen Vollkommenheiten ſelbſt an und macht Praͤtenſionen, wo jener nur innerlich wuͤnſcht.

Dieſe angefuͤhrten Charaktere des Stolzes ſind, mit den natuͤrlichen Modifikationen, allgemein; doch iſt der Stolz ſelbſt ſowohl in Ruͤckſicht des Werths und der Art der Gegenſtaͤnde, wor - auf er ſich gruͤndet, als auch in Ruͤckſicht der Art und Weiſe, wie er ſich aͤußert, von ſehr ver - ſchiedner Beſchaffenheit.

Was zuerſt den Werth der Gegenſtaͤnde des Stolzes betrift, ſo iſt dieſer an ſich betrachtet(denn403(denn in der Meynung des Stolzen iſt er immer groß) entweder ganz nichtig, oder gering, oder wirklich groß: und hiernach der Stolz entweder Einbildung, oder Eitelkeit, oder ſolider Stolz.

Eingebildet iſt der Gelehrte, welcher nur in ſeiner Meynung gelehrt, glaubt, daß er allent - halben bekannt ſey, und die Aufmerkſamkeit Aller errege.

Eingebildet iſt der Thor, welcher, ohne maͤnn - liche Dignitaͤt zu beſitzen, alle weibliche Herzen zu ruͤhren meynt: jeden Blick fuͤr eine Huldigung ſeiner Wuͤrde, jedes Wort fuͤr ein Liebesgeſtaͤnd - niß haͤlt.

Eingebildet iſt das Kind, welches im Ver - trauen auf die Beſchuͤtzer, welche es umgeben, die Voruͤbergehenden hoͤhnt, und weil dieſe groß - muͤthig vorbeygehen, meynt, die Furcht vor ihm halte ſie ab, dem Hohne zu begegnen.

Auch dann kann der Stolz Einbildung ge - nannt werden, wenn zwar dasjenige, worauf er ſich gruͤndet, wirklich in oder an dem Stolzen ſich findet, aber der Werth, den er darauf ſetzt, chi - maͤriſch iſt. Einbildung dieſer Art bethoͤrt den Mann, welcher mit Andern verbunden ein Ge - ſchaͤft oder ein Amt fuͤhrt, und aus Blindheit ge - gen ſich ſelbſt und die mit ihm Verbundnen, ſich fuͤr den einzigen haͤlt, durch den das beabſichtete Ziel erreicht werden koͤnne.

Cc 2Ein -404

Einbildung dieſer Art bethoͤrte zu den Zeiten des Verfalls des Roͤmiſchen Geſchmacks die Dich - ter und Redner, welche die Mißgeburten ihres Geiſtes den Meiſterſtuͤcken eines Horaz und Vir - gils gleich, ja noch uͤber dieſelben ſetzten.

Einbildung dieſer Art diktirte dem Schneider - meiſter Johannes Scheere folgende Epiſtel an ſeinen Patron:

Wie kuͤmmerlich, trotz ſeiner Goͤttlichkeit,
Sich oft Genie hier unterm Monde naͤhre,
Beweiſen uns die Kepler, die Homere,
Und hundert große Geiſter jeder Zeit,
Und jeder Erdenzone weit und breit:
Doch wahrlich nicht zu ſonderlicher Ehre
Der undankbaren Menſchlichkeit,
Die ihnen ſpaͤte Dankaltaͤre
Und Opfer nach dem Tod 'erſt weiht.
Auch mir verlieh durch Scheere, Zwirn
und Nadel
Minerva Kunſt und nicht gemeinen Adel.
Allem der Lohn fuͤr meine Treflichkeit
Jſt Hungersnoth, ein Haderlumpenkleid,
Jſt obenein der ſchwachen Seelen Tadel
Und dann einmal, nach Ablauf duͤrrer Zeit,
Des Namens Ruhm und Ewigkeit.
Allein was hilfts, wenn nach dem Tode,
Mich Leichenpredigt oder Ode
Den405
Den groͤßten aller Schneider nennt,
Und ein vergoldet Marmor-Monument,
An welchem Scheere, Zwirn und Nadel
hangen
Und Fingerhut und Buͤgeleiſen prangen,
Der ſpaͤten Nachwelt dies bekennt?
Wenn lebend mich mein Zeitgenoſſe
Zu Stalle gleich dem edlen Roſſe,
Auf Stroh zu ſchlafen, von ſich ſtoͤßt,
Und nackend gehn und hungern laͤßt?
*)Nothgedrungne Epiſtel des beruͤhmten Schneiders Johannes Scheere an ſeinen großguͤnſtigen Maͤcen, in Buͤrgers Gedichten. 2. S. 237. f.
*)

Die Einbildung erhaͤlt den Namen des laͤ - cherlichen Stolzes, wenn man ſich einbildet, eine Vollkommenheit zu beſitzen, wovon man gra - de das Gegentheil hat. Ein Bucklichter, der da meynt, ſeine ſchoͤne Figur bezaubre alle Herzen, oder ein Ungeſchickter, der da glaubt, er ſey un - ter die geſchickteſten Maͤnner zu zaͤhlen, ſind un - ter die, welche am laͤcherlichen Stolze krank ſind, zu rechnen.

Jede Art von Einbildung ſetzt bedaurenswuͤr - dige Dummheit und Einſeitigkeit des Verſtandes voraus. Keine Bekanntſchaft mit ſich ſelbſt, kei - ne richtige Kenntniß der Dinge, keine vernuͤnfti - ge Schaͤtzung des Werths derſelben. Weil derCc 3Ein -406Eingebildete gar keinen Begrif von ſolider Voll - kommenheit hat, nimmt er entweder ein Etwas, das gar keinen Werth hat, oder ein Nichts fuͤr dieſelbe. Der Poͤbel der Sophiſten*)Jch ſage der Poͤbel: denn auch unter den Sophi - ſten gab es vorzuͤgliche Maͤnner. glaubte Allweisheit zu haben; nur ein Socrates war ſo aufgeklaͤrt zu wiſſen, daß er nichts wiſſe. Wie die Nachtvoͤgel ſcheut daher der Eingebildete die Strahlen der Aufklaͤrung, weil vor denſelben ſeine Vorzuͤge, wie der Nebel vor der Sonne, zerrinnen. Am liebſten iſt er deswegen in der Geſellſchaft derer, welche dummer, als er ſelbſt, ſeine Einbildungen glauben, ihre Augen auf ſeine Perſon richten, oder ihr Ohr ſeinen Reden leihn. Er redet in einem Athem fort von ſeinen Vorzuͤgen und ſich, denn, weil dieſelben nicht wirklich ſind, muß er ſich und Andre uͤberreden, ſie doch dafuͤr zu halten. Wie das Auge, wel - ches nicht in die Ferne ſieht, alles erblickt, was man ihm vorſagt, ſo auch der Eingebildete: er uͤberzeugt ſich von dem Daſeyn aller der Vorzuͤge in ſich, die ihm Spott oder Dummheit beylegen. Auch iſt es nicht einmal noͤthig ihm ſeine Vollkom - menheiten ausdruͤcklich zu nennen, denn er iſt ge - neigt, alles, was er hoͤrt und ſieht, fuͤr Bewei - ſe ſeiner Vorzuͤglichkeit anzunehmen. Wer ihn anblickt, hat ihn bewundert, wer ihm zuhoͤrt, iſtvon407von ihm bezaubert worden, ja ſogar der, der ihn verſpottet, hat nur das Vergnuͤgen haben wollen, mit ihm zu ſcherzen*)Das ſicherſte Mittel, einen Eingebildeten voͤllig zu blenden, iſt, wenn man, um uͤber ſeine Thorhei - ten zu lachen, oder weil man mit ihm Undinge ſieht, ſeinen Einbildungen Glauben beymißt. Dadurch uͤberzeugt er ſich von der Realitaͤt ſeiner Traͤume - reyen endlich ſo feſt, wie von ſeinem Daſeyn, und iſt ſchwerlich wieder zu heilen. Auf einer Reiſe ſah ich in E. einen ſolchen bedaurenswerthen und von Vielen bedauerten Menſchen. Die Natur und ſein Verhaͤltniß hatten ihm alles, was zur aͤu - ßerlichen Beredſamkeit gehoͤrt, verſagt, und doch bildete er ſich ein, ein vorzuͤglicher Declamateur zu ſeyn. Er bekommt zufaͤlligerweiſe Hoͤlty's Gedich - te, die er vorher nie geſehen hatte, in die Haͤnde, lieſt mehrere Gedichte, weil ſie ihm neu waren, mit Jntereſſe, lieſt ſie laut. Ohne zu ahnden, daß er es fuͤr Ernſt nehmen werde, wird ihm geaͤußert, er ſchiene ein guter Declamateur zu ſeyn, wenigſtens viel Neigung fuͤr die Declamirkunſt zu haben. Er, der vielleicht bis dieſen Augenblick nicht gewußt hat - te, wozu er Neigung, noch weniger wozu er Ge - ſchick haͤtte, und wohl etwas verlegen war, wie er ſich einmal naͤhren wollte, nahm dieſe Aeußerung zu Herzen, und glaubte von Stund an, die Natur habe ihn zum Declamateur berufen. Er declamirt zuerſt in kleinen Cirkeln, man laͤchelt uͤber ihn, erlegt. Hat er einmalCc 4das408das Gluͤck oder Ungluͤck ſeine Leute zu fin - den, und ſich bey dieſen Bewunderung und Bey -fall*)legt es ſich als Verwunderung aus dann in groͤßern Kreiſen, man lacht, und man ſpottet, dies iſt ihm Bewunderung und lauterer Beyfall, ſeine Einbildung wird feſter, ſein Muth gewiſſer. Er reiſet zu hohen Perſonen denn der ſchon genoßne vermeinte Beyfall, und beſonders die empfangnen Thaler mußten ihn reizen und hoffen laſſen, daß er nun ſtatt Beyfall Gnadensbezeugungen; ſtatt Sil - ber, Gold empfangen wuͤrde. Auch dieſe laͤ - cheln, bemitleiden den Armen, und geben ihm aus Mitleid Geſchenke. Jm Triumph kehrt er nach E. zuruͤck, voll von der ihm widerfahrnen Gnade und dem erhaltnen wichtigen Beyfall. Seine De - clamirkrankheit geht in Declamirwuth uͤber. Wer ihm von Bekannten und halb Bekannten begegnet, muß ihn anhoͤren. Er ſchreibt Verſammlun - gen uͤber Verſammlungen aus und iſt jetzt faſt mit ſich einig, daß er der erſte, oder doch der zwey - te Declamateur in Deutſchland ſey. Nun koͤnnen ihm ſelbſt die offenbarſten Verſpottungen nicht mehr ſeinen Wahn benehmen. Er wird waͤhrend des Declamirens geſtoßen und gehoͤhnet, nichts ſtoͤrt ihn, er will gern, ſagt er, ſeinen Zuhoͤrern das Ver - gnuͤgen goͤnnen, ihr Kurzweil zu haben, und ver - theidigt ſeine Beleidiger heftig gegen die, welche ihn bedauren. So viel ich weiß, iſt er noch nichtvon409fall zu erwecken, ſo gehen ſeine Praͤtenſionen, wie ſeine Einbildung, ins Unendliche.

So war es bey dem reiſenden Virtuoſen un - ſers Gotters:

Er kam an einen Hof (ein Hoͤfchen wollt 'ich ſagen, Das meine Chronika nicht nennt,) Und, ob die Außenwerk' ihm gleich nicht ſehr be - hagen, So noͤthigt ihn doch ein zerbrochner Wagen, Der Appetit, ſein Element, Und ach! ein Ding, noch leerer, als ſein Magen, Sein Beutel ſich beym Marſchall anzuſagen; Beym Marſchall, der auch Kanzler, Praͤſident, Und General, und Haupt der Jaͤgereyen, Der Kirchen, hohen Schulen, Stutereyen Und Sekretaͤr des Luftballordens war; Ein Orden, der ſo fein zum Staatsſyſteme paßte, Daß er ſo Hof als Stadt und gar Die Nachbarſchaften in ſich faßte; Mit Ausſchluß der Montur und LivereyCc 5Stand

*)von ſeiner Krankheit geheilt. Moͤge ihn doch die Vernunft bald heilen! Das beſte Mittel den Eingebildeten zur Er - kenntniß der Wahrheit zu bringen iſt, Auge und Ohr vor ſeinen Thorheiten zu verſchließen, und ihn in ſolche Umſtaͤnde zu ſetzen, wo er mit ſeiner Einbil - dung zu ſchanden wird.

410Stand (Hungers ſtuͤrbe ſonſt die arme Kanzeley) Der Eintritt Jedermann fuͤr zehn Dukaten frey. Seit lange war fuͤr Geiger und Kaſtraten Dies Laͤndchen das Schlaraffenland. Kein Wunder, daß, ſo vortheilhaft bekannt, Ein gnaͤdigſtes Gehoͤr auch Bella voce*)Der Name des Virtuoſen. fand, Die Durchlaucht, die im Zirkel der Magnaten Umwoͤlbt von einem Pluͤſchſammt-Himmel ſtand, War ſo begeiſtert, daß das Klatſchen ihrer Haͤnde Den Baß zum Schweigen zwang, und ſie, noch vor dem Ende Der ſchmelzenden Kadenz, ihm in die Arme lief, Aus voller Kehle, die noch von Champagner rauchte: Bravo! braviſſimo! vortreflich! himmliſch! rief, Und in ein Meer von Lob ihn untertauchte. Beym Teufel! ſchloß das Lied, und muͤßt 'ich Sie mit Gold Aufwiegen, großer Mann, ich nehme Sie in Gold. Was fodern Sie? Jhr' iſt die erſte Stelle Mit Jntendantenrang in meiner Leibkapelle; Empfangen Sie zum Pfand den Ring und dieſe Uhr! Mein Saͤnger, dem nichts als die SchelleZum411Zum Narren fehlt, blaͤſt zur Karrikatur Sich auf, und kuͤßt den Rock, und pfeifet: Monſeignour Suis à vos ordres fuͤr fuͤnftauſend Gulden Betaͤubt, als ſaͤh er ſchon, zur Geißel ſeiner Schulden, Sich den Sequeſter nahn, erwiedert in C dur Der Fuͤrſt: Wie? was? Jhm Gurgler! Jhm? fuͤnftauſend Gulden? Mein Kanzler hat fuͤnfhundert nur! Mag ſeyn, ſpricht der Sopran mit unver - ſchaͤmten Lachen, Die Kanzler koͤnnen Sie auch dutzendweiſe machen; Doch ein Talent, wie meines, macht Natur.
*)Gotters Gedichte. 1. 198 ff.
*)

Nicht viel groͤßer, als der Eingebildete iſt der Eitle, welcher in unbedeutenden Dingen ſei - ne Ehre ſucht und auf dieſelben ſeinen Stolz gruͤn - det. Putz, Titel, Ordensbaͤnder und alles, was aͤußern Schein, aber keinen innern Werth hat, ſind fuͤr ihn wichtige Sachen. Dieſe fuͤllen ſei - nen Kopf, dieſe ſind der immerwaͤhrende Ge - genſtand ſeiner Geſpraͤche. Wenn er jemand ſieht, merkt er zuerſt auf das, was an demſelben ſchimmert. Eine ſchoͤne Figur, ein herrlicher Anzug, ein allerliebſtes Compliment ſind ſeineLobes -412Lobeserhebungen: ſein Tadel der Mangel dieſer Dinge. Er hoͤrt gar zu gern die Puppe ſeiner Eitelkeit ruͤhmen; drum bemuͤht er ſich bey jeder Gelegenheit die Aufmerkſamkeit auf dieſelbe zu ziehen. Wer ihm einbilden kann, daß er mit ihm in Schaͤtzung der Dinge von gleicher Denkungs - art ſey, dem wird er ſein ganzes Herz offenbaren, und mit ihm in Geſpraͤchen uͤber ſeine Herrlichkei - ten ſchwelgen und findet er unter ſeines Glei - chen niemand, der ihm gleich waͤre, ſo muß ſein Diener oder Andre, von denen er keine Vernei - nung erwartet, die Frage ſteht dies mir nicht gut? iſt dies nicht vorzuͤglich? bejahen. Kei - ner iſt gefaͤlliger, als er, wenn er nur dadurch in den Stand geſetzt wird, etwas von ſeiner großen Kleinigkeit zu zeigen. Ehe noch die Frage wie hoch es an der Zeit ſey? zur Haͤlfte ausgeſpro - chen iſt, hat er ſeine Uhr ſchon antworten laſſen; und ſtellt mit freundlichem Laͤcheln ſeinen wohlge - putzten Bedienten hin, Befehle auszurichten, wel - che man gar nicht zu geben gemeynt war. Wuͤr - digt man ſeine Praͤchtigkeit, ſeine Equipage, ſein Ameublement der Aufmerkſamkeit, ſo iſt er ent - zuͤckt und voll freundlicher Dankbarkeit; aber verachtet man etwas daran, oder laͤßt ſeine Bli - cke nicht darauf ruhen, ſo hat man ſein Vertrauen und ſeine Werthſchaͤtzung verſcherzt. Er iſt der bereitwilligſte Nachahmer: und der gebundenſteSclave;413Sclave; denn er iſt darin uͤbler daran, als an - dre Stolze, daß er nur in den Augen Andrer lebt: und an ſich ſelbſt durchaus nicht genug hat.

Es giebt indeß eine Art von Eitlen, welche mehr Selbſtgenuͤgſamkeit beſitzen, ich meyne die Pedanten. Dieſe muͤſſen auch wohl mit ſich ſelber zufrieden ſeyn, weil das, worauf ſie ſtolz ſind, Andern nicht nur keinen Werth zu haben, ſondern veraͤchtlich und laͤcherlich zu ſeyn ſcheint. Denn Pedanterey iſt die auf geſchmackloſe und veralterte Dinge gegruͤndete, eigenſinnige und einſeitige Eitelkeit. Dem Pedanten iſt es ſo we - nig, als andern Eiteln, um reellen Werth zu thun. Was der Vernuͤnftige nicht achtet, iſt ihm wichtig und unwichtig das, was vor der Vernunft beſteht. Jm gemeinen Leben iſt die Pe - danterey altfraͤnkiſches Weſen und Steifheit*)Sehr charakteriſtiſch iſt die Schilderung eines pe - dantiſchen Dentiſten in Schulz Schrift uͤber Paris und die Pariſer, S. 369. Dieſer Doktor hat ſich das eine Ende von der Bank einer Obſthaͤndlerin gemiethet, wo er ſei - nen Apparat aufgepflanzt hat. Ein Kaͤſtchen, acht - zehn Zoll lang und zehn Zoll breit, faßt alle ſeine Pulver und Tinkturen, und in einem Futteral von zerfreſſenem Chagrin, ruht ſein Pelikan. Um das Ganze hat er eine dreyfache Kette von anſehnlichenBacken - in414in moraliſcher Hinſicht Kopfhaͤngerey, blinde Or - thodoxie*)Der Rector der Schule zu Amiens Hans des Can - res ſchrieb eine Ode zum Lobe der Bartholo - maͤus-Nacht, und ſchrie es fuͤr die groͤßte Suͤn - de aus, daß die Weiber ſeiner Zeit kleine Spiegel an den Guͤrteln trugen., unnatuͤrliche Gezwungenheit, muͤr - riſcher Ernſt, Entfernung von der Welt; in derGe -*)Backenzaͤhnen, wie eine Guirlande geſchlungen. Sein Rock war ehemals ſcharlachroth und ſchattirt, jetzt ſtark ins Blaue, und die Naͤthe ſind an den Raͤndern weiß. Ein Poſtillon d'Amour von roth gewordnem ſchwarzen Bande flattert ihm uͤber Schultern und Bruſt herab, und haͤngt mit einem ungeheuren plattgedruͤckten Haarbeutel, der an den Ecken das weiße Unterfutter herdurchſchimmern laͤßt, und mit Puder und Staub, vom Regen zu einer grauen Rinde verdickt, uͤberzogen iſt, bruͤderlich zu - ſammen. Ein kleiner Hut mit einer ehemals wei - ßen Feder, die jetzt ſchwarzgrau geworden iſt, ruht auf einer Peruͤcke von Pferdehaar, ſenkt die eine Spitze nach der rechten Schulter herab, und laͤßt die andre zum Himmel empor ſteigen. Das ganze Figuͤrchen geht vor ſeinem Kram mit untergeſchla - genen Augen hahnenhaft auf und ab, und was die - ſer Haltung an Ernſt und Stolz abgeht, erſetzt ein großer Bart, der acht Tage alt iſt, und eine Uhr - kette mit raſſelnden Berlocken, die uͤber die Haͤlfte des Schenkels herabfaͤllt. 415Gelehrſamkeit Sylbenſtecherey und Wortkraͤme - rey*)Folgende Anekdote, welche ich, wenn ich mich recht erinnere, in Wiekards philoſophiſchem Arzt gefun - den habe, wird hier am rechten Ort ſtehen. Die Moͤnche des Convents zu Oxfort verlangten eine Thuͤr durch die Stadtmauer zu haben, um ins Feld gehen zu koͤnnen. Sie gehen deswegen zum Koͤnige, und tragen ihm folgendermaßen ihr Begehren vor:Die Moͤnche. Inſigniſſime Domine Rex!Der Koͤnig. Quinam eſtis Vos?Die M.Nos ſumus de magiſtris Veſtris.Der K.De quibus magiſtris?Die M.De Magiſtris Venerabilis Domus Congregationis.Der K.Quaenam eſt illa Domus Venerabi - lis Congregationis?Die M.Inſigniſſime Domine Rex! Si re - ſpicies materiam, ex qua, ex caemento et lapi - dibus: ſi reſpicies materiam circa quam, circa gratias concedendas: ſi reſpicies materiam, in qua in caementeria beatae Mariae Virginis. Der K.Quid vultis, Magiſtri?Der erſte Moͤnch.Inſigniſſime Domine Rex, volumus oſtium factum. Der zweyte M.Inſigniſſime Domine Rex, nolumus oſtium factum, ſic enim injurabimus proximos, ſed volumus oſtium fieri. Der. Allenthalben bemuͤht ſich der Pedant ſeine Unwichtigkeiten geltend zu machen, und ver -achtet416achtet gegen ſie alles Uebrige, was Werth und Vorzuͤge hat, als unnuͤtz und der Aufmerkſamkeit unwerth. Sic non itur ad aſtra (ſo hebt man ſich nicht zu den Geſtirnen), ſagte ein pedanti - ſcher Philolog, als er eine philoſophiſche Schrift im Buchladen erblickte*)Eben ſolcher Pedant war der franzoͤſiſche Dichter Santeuil. Am Thore des Arſenals zu Paris ſte - hen auf einer ſchwarzen Marmortafel die beyden Verſe:Aetna haec Henrico Vulcania tela miniſtrat, Telo giganteos debellatura furores. Santeuil ſagte: J'aurois voulû les avoir faits et être pendu.Jch wollte dieſe Verſe waͤ - ren von mir, ſo wollte ich mich gern henken laſſen.. Will man ſich Raths bey ihm erholen, ſo koͤmmt er mit ſinnloſen Di - ſtinctionen und Nebendingen an, und beruͤhrt die Hauptſache gar nicht. Wenn er jemand fragt, (nicht um ſich zu unterrichten, ſondern nur um den andern zu pruͤfen,) und dieſer antwortet ver - nuͤnftig, ſo zuckt er die Achſeln, und laͤchelt, weil er die Sprache der Vernunft nicht verſteht. Jhnvon*)Der dritte M.Inſigniſſime Domine Rex. Nolumus oſtium fieri, nam ſic nunquam habe - bimus oſtium: ſed volumus oſtium in facto eſſe. Der Koͤnig wurde endlich des Streits dieſer Pe - danten muͤde, und ſagte:Egregii Magiſtri! diſcedite et inter vos con - cordate, et tum demum habebitis oſtium. 417von ſeiner Thorheit abzufuͤhren iſt ſchwer, weil er außer ſich, und ſeines Gleichen, alle fuͤr Tho - ren haͤlt, und ſie als Thoren bedauert.

Wenn die Meynung, welche man von ſich und ſeinem Werth hat, ſich auf wahre Voll - kommenheit gruͤndet, ſo iſt der daraus entſprin - gende Stolz wohl von den geſchilderten Arten zu unterſcheiden, und deswegen ſolider Stolz zu nennen. Soliden Stolz hat derjenige, welcher ſich wahrer, innerer Vorzuͤge, Vollkommenheiten des Geiſtes und Herzens bewußt iſt.

Seines innern Werths ſich bewußt, ver - langt dem edlen Stolz nicht nach den Beyfallsbe - zeugungen der Menge, und wenn gleich niemand ihn ehrte, er ehrt ſich ſelbſt und iſt ſich allein genug. Aeußerer Flitter reizt ihn nicht; er will nicht ſcheinen, ſondern ſeyn. Er iſt ſtill und in ſich gezogen gegen den Unbekannten oder Unwuͤrdigen, aber wo er einen Mann findet, der ihm an Werth und Wuͤrde gleicht, da oͤfnet er ſich ganz mit dem knuͤpft ſein Herz den engſten, feſteſten Bund. Er verſchwendet ſeine Kraft nicht an kleinen Gegenſtaͤnden; aber wenn ihn et - was Großes, Hohes, Aufopferung Forderndes ruft, dann regt ſich ſein Eyfer und ſeine That - kraft. Er hat Muth; denn er fuͤhlt ſich: kaͤmpft ſich, ohne zu ermuͤden, durch Gefahren und Schwierigkeiten, die kleine Seelen ſcheuen, hin -Dddurch;418durch; geht der Hinterliſt und den Raͤnken des Neides, und den Angriffen der Bosheit mit ofner Stirn entgegen; faͤllt eher, als daß er fliehen ſollte, und zeigt auch im Fallen noch die Hoheit, auf welche er ſtolz war. Aber wenn er ſieht, daß keine Kraft zu dem großen Ziel, das er ſich ſteckt, durchdringen kann; dann zieht er ſich zu ſich ſelbſt zuruͤck, und keine Ehre, kein Vortheil, kein Gluͤck kann ihn bewegen, ſeine edle Ruhe zu verlaſſen.

Er laͤßt ſich nicht zum Ausfuͤhrer ſolcher Plaͤ - ne gebrauchen, welche von Andern erfunden ſind, und kann niemals bewogen werden, den eigennuͤ - tzigen Abſichten Andrer zu dienen: denn Andre koͤnnen ihn nicht belohnen. Er kennt keinen Lohn, als den ihm ſein eignes Bewußtſeyn giebt, keinen andren Fuͤhrer, als ſich ſelbſt, kein anderes Mo - tiv, als das, welches aus dem großen Kreiſe des Ganzen genommen iſt.

Die Art des ſoliden Stolzes, welche ſich vorzuͤglich auf Gehorſam gegen die Geſetze der Vernunft, Herrſchaft uͤber die Leidenſchaft, und wahren Adel der Seele gruͤndet, und hohes Ge - muͤth genannt wird, macht eigentlich und allein den edlen Mann. Jhn reizt nichts, was der begehrenden Sinnlichkeit ſchmeichelt, ihn erſchuͤt - tert nichts, was derſelben ſchrecklich vor - koͤmmt.

Et419

Et ſi fractus illabatur orbis Impavidum ferient ruinae*)Und ſtuͤrzt die Welt in Truͤmmern zuſammen, Sie zerſchmettern den Edlen, aber ſchrecken ihn nicht..

Fern von erniedrigendem Eigennutz und knechtiſcher Furcht, ſucht er ſeinen Stolz in der Tugend und folgt keinen Maximen, als de - nen, welche die Vernunft fuͤr allgemeine Geſetze vernuͤnftiger Weſen erkennt. Ernſt und Wuͤrde ſind in ſeinem Geſicht: und der Himmel in ſeiner Seele. Er ſagt Wahrheit, und hoͤrt ſie.

Edlen Stolz und hohes Gemuͤth zeigt der Marquis von Poſa in Schillers vortreflichem Dom Karlos.

Rodrigo von Poſa wuchs mit dem jungen Prinzen auf ſchon als Knabe ſo groß, daß ſelbſt der edle Prinz den Muth verlor, ihm gleich zu ſeyn. Durch tauſend Zaͤrtlichkeiten ſuchte dieſer den jungen Rodrigo, den er graͤnzenlos liebte, ſeine warme Bruderliebe zu bezeugen: aber der Stolze gab ſie ihm kalt zuruͤck kniete kalt und ernſthaft vor dem Prinzen nieder, indeß er Va - ſallenkinder bruͤderlich in ſeine Arme ſchloß. So macht es der auf Kraftgefuͤhl gegruͤndete, edle, ſolide Stolz. Gern und willig giebt er den Gro - ßen der Erde den Zoll der aͤußern Ehrerbietung, den Er, der wahre Vorzuͤglichkeit kennt, ſo ge - ring haͤlt: aber mit ſich ſelbſt geizt er gegen ſie;Dd 2ſich420ſich ſelbſt giebt er nie dem Hohen, ſondern nur dem Edlen!

Nur dann erſt erwiderte der junge Rodrigo die Bruderliebe des edlen Karlos, als dieſer durch ſein Blut und große Aufopferungen bewieſen hat - te, daß er die Liebe der Edlen verdiene. Ja, rief er aus, als der Prinz fuͤr ſein Verſehen im An - geſicht des ganzen ihn bemitleidenden Hofgeſindes, wie ein Sclave gegeißelt war, und zwoͤlf fuͤrch - terliche Stunden im Kerker zugebracht hatte, Ja mein Stolz iſt uͤberwunden, Jch will bezahlen, wenn du Koͤnig biſt.

Von allen Geſchaͤften des Staats zieht ſich der edle Marquis zuruͤck, weil nicht das allge - meine Wohl, ſondern der Wille des herrſchſuͤch - tigen Philips Geſetze giebt, Genie und Tugend fuͤr den Thron und nicht fuͤr die Menſchheit bluͤhn, der Mann ein Sclav der eigennuͤtzigen Politik, ihr ſeine Freyheit aufopfern muß. Er hat mit Heldenmuth gegen die Osmannen gekaͤmpft, und kehrt nach Endigung des Kampfs zuruͤck, nicht um den verdienten Ruhm zu erhalten, ſon - dern ſeine Studien zu enden. Er hat die gefaͤhr - liche Verſchwoͤrung in Katalonien entdeckt, und durch ſeinen Eyfer allein der Krone die wichtigſte Provinz gerettet; und weiſet die ihm dafuͤr ange - botne Gnade zuruͤck. Seines Vaters Todhat421hat ihm die Grandezza und eine Million gegeben, und er tritt Jm vollen Fruͤhling ſeines jungen Ruhms Freywillig aus den Schranken und Lebt ſich ſelber.

Der Koͤnig Philipp, aufmerkſam auf dieſen Mann, der ihm die ungewoͤhnlichſte Erſcheinung zu ſeyn duͤnkt, ſendet ſeinen Vertrauten, den Herzog von Alba, ihn zu ſich zu rufen. Alba eroͤfnet ihm den Befehl des Koͤnigs. Der Mar - quis verwundert ſich. Was kann der herrſch - ſuͤchtige Koͤnig von mir wollen? denkt er; ein Mann, wie ich, kann ihm zu gar nichts nuͤtzen.

Welch ein erhabner Gedanke, einem Koͤ - nig, wie Philipp, nicht einmal nuͤtzen zu koͤn - nen.

Doch, fragt er den Geſandten des Koͤnigs, ſollte er mich etwa blos der Neugier wegen rufen laſſen?

O dann Schade Um den verlornen Augenblick. Das Leben Jſt ſo erſtaunlich ſchnell dahin.

Alle Verwunderung des Herzogs, alle Ver - ſicherungen, er wiſſe ſein Gluͤck nicht zu ſchaͤtzen, das ihm viele Millionen beneideten, koͤnnen den Marquis nicht aus ſeiner Gleichguͤltigkeit gegen die koͤnigliche Gnade ſetzen. Doch er kann ſich den Befehlen Philipps nicht entziehen. Aber erDd 3duͤnkt422duͤnkt ſich zu groß, als daß die Augenblicke, die er der Nothwendigkeit opfern muß, unnuͤtz ver - fließen ſollten.

Was der Koͤnig Mit mir auch wollen mag, gleich viel! Jch weiß Was ich ich mit dem Koͤnig ſoll. Und waͤr's Auch eine Feuerflocke Wahrheit nur, Jn des Deſpoten Seele kuͤhn geworfen Wie fruchtbar in der Vorſicht Hand! So koͤnnte Was erſt ſo grillenhaft mir ſchiene, ſehr zweck - voll Und ſehr beſonnen ſeyn. Seyn oder nicht Gleichviel! Jn dieſem Glauben will ich han - deln.

Er geht in dem Zimmer, in welches ihn Al - ba, den Koͤnig zu erwarten, gefuͤhrt hatte, auf und nieder, und bleibt in ruhiger Betrachtung vor einem Gemaͤhlde ſtehen. So wenig ſtoͤrte ihn der Gedanke, der Koͤnig werde ihn in dieſem Augenblicke vor ſich kommen laſſen. Philipp tritt herein, ſteht an der Thuͤre ſtill, und ſieht dem Marquis eine Zeitlang zu, ohne von ihm bemerkt zu werden. Endlich wird dieſer den Koͤnig gewahr, geht ihm entgegen, laͤßt ſich vor ihm auf ein Knie nieder, ſtehtauf,423auf, und bleibt ohne Zeichen der Verwunde - rung ſtehen.

Der Koͤnig wundert ſich uͤber die Ruhe des Mannes. Er redet ihn an der Marquis antwortet kurz und gefaßt. Er befiehlt ihm ſich eine Gnade zu erbitten. Der Marquis lehnt ſie ab. Er fragt ihn nach den Gruͤnden ſeiner Entfernung vom Hofe. Der Marquis will ſie nicht eroͤfnen, weil er glaubt, der Koͤnig koͤnne die Sprache des freyen Mannes nicht verſtehn: als dieſer aber ſich aͤußert, als glaube er, der edle Poſa fuͤrchte ſich, dabey zu wagen, antwor - tet er mit ſtolzer Freymuͤthigkeit:

Jch kann nicht Fuͤrſten Diener ſeyn. Koͤnig. Weil Sie Dann fuͤrchten muͤßten, Sclav zu ſeyn? Marquis. Nein, Sire, Das werd 'ich niemals fuͤrchten. Doch nicht gern Moͤcht' ich den Herrn, dem ich mich widme, zu Dem meinigen erniedrigt ſehn.

Der Ausdruck des Erſtaunens, mit welchem der Koͤnig ihn anblickt, hindert ihn nicht, fort - zufahren:

Dd 4Jch424
Jch will Den Kaͤufer nicht betruͤgen, Sire. Wenn Sie Mich anzuſtellen wuͤrdigen, ſo wollen Sie nur die vorgewog'ne That. Sie wollen Nur meinen Arm und meinen Muth im Felde, Nur meinen Kopf im Rathe. Was ich leiſte, Gehoͤrt dem Thron. Die Schoͤnheit meines Werks, Das Selbſtgefuͤhl, die Wolluſt des Erfinders Fließt in den koͤniglichen Schatz. Von dieſem Werd 'ich beſoldet mit Maſchinengluͤck, Und, wie Maſchinen brauchen, unterhalten. Nicht meine Thaten ihr Empfang am Throne Soll meiner Thaten Endzweck ſeyn. Mir aber, Mir hat die Tugend eignen Werth. Das Gluͤck, Das der Monarch mit meinen Haͤnden pflanzte, Erſchuͤf' ich ſelbſt und Freude waͤre mir Und eigne Wahl, was mir nur Pflicht ſeyn ſollte. Jch wuͤrde ſchwelgen von dem Koͤnigsrecht Der innern Geiſtesbilligung mein Amt Rebelliſch uͤbertreffen, und geſaͤttigt Von dem Bewußtſeyn meiner That, ſogar Das Wohlgefallen meines Herrn entbeh - ren. Und425Und iſt das Jhre Meynung? Koͤnnen Sie Jn Jhrer Schoͤpfung fremde Schoͤpfer dulden? Jch aber ſoll zum Meißel mich erniedern? Wo ich der Kuͤnſtler koͤnnte ſeyn? Jch liebe Die Menſchheit, und in Monarchien darf Jch niemand lieben, als mich ſelbſt.

So redet der edle Mann aus der Fuͤlle ſeines Selbſtgefuͤhls mit freymuͤthiger Wahrheitsliebe zu dem deſpotiſchen Philipp, vor dem ſelbſt ſeine Alba zittern. Er faͤhrt fort mit dem Muthe eines Mannes ihm das zu ſagen, was bis itzt das Koͤ - nigs Ohr nie gehoͤrt hatte, und ſetzt endlich, im ſtolzen Gefuͤhl des Mannes, der ſich der Groͤße ſeiner Abſichten und der Vollendung ſeiner Plaͤne ſo feſt bewußt iſt, daß er keiner oͤffentlichen Dar - ſtellung, welche ihm doch nie angemeſſen ſeyn wuͤrde, bedarf, hinzu:

Meine Wuͤnſche Verweſen hier. (die Hand auf die Bruſt gelegt.) Die laͤcherliche Wuth Der Neuerung, die nur der Ketten Laſt, Die ſie nicht ganz zerbrechen kann, vergroͤßert, Wird mein Blut nie erhitzen. Das Jahr - hundert Jſt meinem Jdeal nicht reif. Jch lebe Ein Buͤrger derer, welche kommen werden.
Dd 5Den -426

Denſelben edlen Stolz, welchen dieſe Unter - redung des Marquis mit dem Koͤnige athmet, behaͤlt er durch alle Situationen, in welchen ihn der edle Dichter uns zeigt. Welch ein hohes Ge - muͤth in ſeinen Aufopferungen fuͤr Karlos! Nicht nur ſein Leben, auch ſeine Ehre vor der Welt giebt er fuͤr die Rettung ſeines Freundes. Welch ein hoher Geiſt in den Worten, mit wel - chen er dem Prinzen ſeine Rettung und ſeine eigne Freude daruͤber eroͤfnet.

Du biſt Gerettet, Karl, biſt frey und ich Karlos. Und Du? Marquis. Und ich ich druͤcke Dich an meine Bruſt Zum erſtenmal mit vollem, ganzen Rechte; Jch hab 'es ja mit allem, allem, was Mir theuer iſt, erkauft. O Karl, wie ſuͤß, Wie groß iſt dieſer Augenblick! Jch bin Mit mir zufrieden.
Zwoͤlfte427

Zwoͤlfte Unterhaltung. Ueber die Verſchiedenheiten des Stolzes in Beziehung auf die verſchiednen Arten ſeiner Gegenſtaͤnde.

So verſchieden und mannigfaltig die Dinge ſind, welche geſchaͤtzt werden, ſo verſchieden iſt auch der Stolz. Es laſſen ſich aber alle Vorzuͤ - ge in Beziehung auf ihre Gegenſtaͤnde in koͤrper - liche, geiſtige, moraliſche und Verhaͤltniß - Vorzuͤge theilen, wornach denn auch vier Arten des Stolzes gemacht werden koͤnnen, der koͤrper - liche, geiſtige, moraliſche und Verhaͤltniß - Stolz.

Unter die koͤrperlichen Vorzuͤge gehoͤren vor - zuͤglich Schoͤnheit, Staͤrke, Geſchicklichkeit (des Koͤrpers z. B. Gelenkſamkeit, Behendigkeit, Schnelligkeit u. ſ. w.): jeder derſelben hat ſeine Altaͤre und Anbeter. Ganze Nationen ſchaͤtzen koͤrperliche Staͤrke als die hoͤchſte Vollkommenheit ein geſchickter Taͤnzer zieht mit großer Selbſt - zufriedenheit die Augen einer großen Geſellſchaft auf ſich und tauſendmaltauſend Juͤnglingeund428und Maͤdchen, und Maͤnner und Weiber huldi - gen ihrer ſchoͤnen Geſtalt.

Der Stolz auf Staͤrke findet ſich am haͤu - figſten da, wo zur Erfuͤllung des Berufs koͤrper - liche Kraͤfte erfordert werden, wie bey dem Sol - daten, oder wo die Vorzuͤge des Geiſtes nicht geſchaͤtzt werden koͤnnen, weil der Geiſt noch in der Rohheit liegt, wie bey unſern alten Vorfahren und mehrern wilden Nationen, oder wo das Recht des Staͤrkern Guͤltigkeit hat, wie bey eben dieſen und den alten und jungen Kindern kultivir - ter Nationen. Er kann leicht baͤuriſch werden, wenn nicht das Gefuͤhl fuͤr das, was anſtaͤndig und fein iſt, ihm das Gleichgewicht haͤlt, weil er grade in einem derben Betragen gegen Andre die Gelegenheit ſich zu zeigen findet. Wer von die - ſem Stolze beſeelt wird, ſpricht und handelt wie ein Ritter der Vorzeit, oder, wenn er gebildeter iſt, wie ein tapfrer Held. Wenn er ſich bemer - ken laſſen will, nimmt er eine geſpannte trotzbie - tende Stellung an. Wer ſichtbare Geiſtesvor - zuͤge hat, iſt ihm am meiſten zuwider, weil er bey dem Anblick eines Solchen doch wohl fuͤhlt, daß ſeine koͤrperliche Vollkommenheit dem Talent und der Geiſtescultur nachſtehen, und fuͤrchtet, daß Jener im Herzen ſeines Stolzes lache. Er kennt keine groͤßere Schande, als uͤberwunden zu wer - den, und wird, ſo gern er ſeine Kraft gegen den,von429von dem er nichts befuͤrchten darf, uͤbt, eben ſo ungern ſich mit dem meſſen, deſſen Staͤrke er noch nicht gepruͤft hat, und fuͤrchten muß, daß ſie der ſeinigen uͤberlegen ſey.

Der Stolz auf Schoͤnheit des Koͤrpers in Ruͤckſicht auf Geſtalt, Bewegung und Schmuͤ - ckung hat alle Merkmale der Eitelkeit; ſo wie der Stolz auf koͤrperliche Kraft manches mit dem ſoliden Stolze gemein hat. Bey einem ſchwachen Verſtande, und wenn er durch Sinnlichkeit ge - naͤhrt wird, kann jener ſehr ſtark, widrig und laͤcherlich werden.

Man giebt den Stolz auf Schoͤnheit, ſo wie die Eitelkeit, fuͤr eine Eigenthuͤmlichkeit des ſchoͤ - nen Geſchlechts aus, welches auch wohl ſo un - wahr nicht iſt, woruͤber man ſich aber auch eben ſo wenig zu verwundern hat, da das maͤnnliche Geſchlecht ſich vor dem Thron der Schoͤnheit ſo demuͤthig buͤckt, und von dieſer allmaͤchtigen Koͤ - nigin ſich willig fuͤhren laͤßt, wie und wohin es ihr gefaͤllt. Das weibliche Geſchlecht muß ferner des Vorzugs der Staͤrke entbehren, und ſoll der Roßwithen und Daciers aͤlterer und neuerer Zeiten ungeachtet auch auf Gelehrſamkeit keinen Anſpruch machen; was bleibt ihm alſo uͤbrig, als Schoͤnheit und koͤrperliche Anmuth, und wer koͤnnte ihm verdenken, daß es auf dieſe ſeinen Stolz gruͤndete, wenn es wahr iſt, auf welcheUeber -430Ueberzeugung jeder Liebhaber ſtirbt, daß ein ſchoͤner Koͤrper auch von einer ſchoͤnen Seele be - wohnt werde. Jch kann nicht umhin bey dieſer Gelegenheit eine Apologie der weiblichen Eitelkeit anzufuͤhren, theils meinen Leſerinnen zu Gefallen, theils um ſie fuͤr einen Mann zu gewinnen, der mancher unter ihnen bis itzt vielleicht nicht ganz ge - fiel, weil er ihr zu ernſt vorkam, oder einen von denen, welche ſie intereſſirten, zu oft von ihrem Cirkel zuruͤckhielt. Die Eitelkeit, ſagt Herr Kant in ſeinen Beobachtungen uͤber das Gefuͤhl des Schoͤnen und Erhabnen, (in welchen uͤberhaupt das ſchoͤne Geſchlecht viel Nahrung und Unter - haltung finden kann,) die Eitelkeit, die man dem ſchoͤnen Geſchlecht ſo vielfaͤltig vorruͤckt, wo - fern ſie ja an demſelben ein Fehler iſt, iſt doch nur ein ſchoͤner Fehler. Denn zu geſchweigen, daß die Mannsperſonen, die dem Frauenzimmer ſo gern ſchmeicheln, uͤbel daran ſeyn wuͤrden, wenn dieſes nicht geneigt waͤre, es wohl aufzu - nehmen, ſo beleben ſie dadurch wirklich ihre Rei - ze. Dieſe Neigung iſt ein Antrieb, Annehm - lichkeiten und den guten Anſtand zu zeigen, ihren muntern Witz ſpielen zu laſſen, ingleichen durch die veraͤnderlichen Erfindungen des Putzes zu ſchimmern, und ihre Schoͤnheit zu erhoͤhen. Hier - in iſt nun ſogar nichts Beleidigendes fuͤr Andre, ſondern vielmehr, wenn es mit gutem Geſchmackege -431gemacht wird, ſo viel Artiges, daß es ſehr unge - zogen iſt, dagegen mit muͤrriſchem Tadel loszu - ziehen.

So wohl es nun dem ſchoͤnen Geſchlechte ſteht, wenn es ſich auf ſeine Schoͤnheit etwas zu gute thut, und nur dabey guten Geſchmack und richtiges Urtheil zeigt; ſo wenig anſtaͤndig iſt dies dem maͤnnlichen Geſchlecht: und es kann, wie auch der eben angezogne Schriftſteller bemerkt, einem Manne kein Schimpf empfindlicher ſeyn, als wenn er ein Narr, das heißt, ein Menſch, der in Schoͤnheit, Putz und dergleichen ſeine Wuͤrde ſetzt, genannt wird; ſo wie es ein Frauenzimmer am uͤbelſten empfindet, wenn man ſie ekelhaft heißt.

Doch iſt auch nicht eine jede Art des Schoͤn - heitsſtolzes an dem weiblichen Geſchlecht angenehm und beyfallswuͤrdig. Nur derjenige gefaͤllt, wel - cher die Schoͤnheit als einen eigenthuͤmlichen Vor - zug des ſanftern Geſchlechts an ſich ſchaͤtzt: nicht eben ſo der, welcher ſie als ein Mittel, ſich die Gunſt der Maͤnner zu erbuhlen, ſehr werth haͤlt. Dieſe Art des Stolzes, welcher von Meh - rern der Galanterieſtolz genannt wird, zeugt entwe - der von Einfalt und Dummheit, oder einem kindi - ſchen Verſtande und ſehr kleinem Herzen.

So alt die Vergleichung auch iſt, ſo weiß ich doch ein auf ſeine Schoͤnheit als einem Werk -zeug432zeug der Buhlerey ſtolzes Frauenzimmer mit nichts beſſer und paſſender zu vergleichen, als ei - nem ſtattlichen Caroſſengaul. Steif und gebruͤ - ſtet, wie dieſer, zieht eine ſolche daher mit lautem Gepraſſel und Geklimper: Stolz, wie dieſer, ſieht ſie auf Andre ihres Geſchlechts herab, und zeigt in den Mitteln, wodurch ſie ihren Vorzug vor Andern behaupten will, und der Art und Weiſe, wie ſie ſich davon zu uͤberzeugen ſucht, den Verſtand und das Herz eines Roſſes.

Wie oͤfters die Begierde ſich ganz entgegen - geſetzt ſcheinender Mittel, um zu ihrem Zweck zu gelangen, bedient; ſo auch der kleinliche Galante - rieſtolz. Das von ihm beſeßne Maͤdchen oder Weib ſchmeichelt allem, was Mann heißt, auf ei - ne erniedrigende Weiſe, durch Minen, Gebehr - den und Worte. Aber haltet ihr ſie deswegen nicht fuͤr ſtolz, ſo ſeht nur auf ihr Betragen, ge - gen die, welche ihres Geſchlechts ſind, und wel - chen ſie ſich hoͤhniſch, aufblaſend, verachtend und wegwerfend an die Seite ſtellt. Man kann ihr keine groͤßere Freude machen, als wenn man ſie einen Fehler oder Mangel in Geſtalt, Putz oder Benehmen einer Nebenbuhlerin bemerken laͤßt; und entzuͤckt ſie, wenn man ihr verſichert, eine Mannsperſon ſey von ihren Reizen gefeſſelt worden. Gallſuͤchtiger Neid, unaufhoͤrliches Selbſtloben und poͤbelhaftes Verachten, Be -ſchwatzen433ſchwatzen und Tadeln Andrer, beſonders gegen ihre treuen Toilettenmaͤdchen und andre gemeine Weiber, von welchen ſie keine Concurrenz be - fuͤrchten, ſind charakteriſtiſche Eigenthuͤmlichkeiten ihrer Aeußerungen, und uͤberhaupt ſind in ih - rem Herzen und Munde alle die Eigenſchaften, welche man bey Handels - und Handwerksleuten, die auf Gewinn ausgehen, unter dem Namen des Brodtneides zuſammenfaßt.

Der geiſtige Stolz gruͤndet ſich entweder auf Talent oder auf Gelehrſamkeit. Sonſt war dieſe Art des geiſtigen Stolzes gemeiner, jetzt iſt es jene, weil man, um als Genie zu erſchei - nen, nicht noͤthig hat, mit vieler Muͤhe zu lernen, wovon man in unſern Tagen nicht viel haͤlt.

Um ſich als talentvollen Mann, als Genie zu zeigen, iſt nothwendig, daß man ſich in allem, was hierauf Beziehung hat, von Andern unter - ſcheide. Daher ſind die Urtheile des Genieſtol - zen paradox, ſein Aeußeres auffallend, ſeine Meynungen beſtaͤndig denen der Andern entgegen. Alles Gewoͤhnliche iſt ihm Unſinn, und er laͤßt keine Gelegenheit vorbey, wo er durch den An - griff allgemeiner und gewoͤhnlicher Meynungen zei - gen kann, daß er ein beſondrer und ungewoͤhnli - cher Kopf ſey. Aber ſo ſehr originell und frey er ſcheinen will; ſo wenig iſt er es. Er aͤffet alles nach, was er von einem als Genie aner -Eekannten434kannten Manne ſieht oder hoͤrt; ſchwoͤrt auf deſ - ſen Autoritaͤt, und vertheidigt ſelbſt die Ungereimt - heiten deſſelben. Er kann es nicht ertragen, daß Andre, beſonders die, mit denen er in einiger Verbindung ſteht oder geſtanden hat, gelobt wer - den; wenigſtens darf das Lob ihre Talente nicht betreffen. Gelehrſamkeit und ein gutes Gedaͤcht - niß laͤßt er ihnen zur Noth beylegen, aber man ſchweige ja von Genie und Kopf; ſonſt wird man ſeinen Neid und ſeine Tadelſucht reizen. Wird jemand ſeiner Geſchicklichkeit wegen belohnt und erhoben, ſo wundert er ſich uͤber die Laune des Gluͤcks, den Dummen am beſten fortzuheifen, und aͤrgert ſich bis zum Bemerken ſtark uͤber ſeine Dunkelheit und ſeiner Vorzuͤge Verkennung. Was Er nicht weiß, iſt nichts werth, und ge - hoͤrt nur fuͤr gemeine Koͤpfe. Strengere und muͤhſamen Fleiß erfodernde Wiſſenſchaften ſind ihm Gedaͤchtnißwerk, und gehoͤren nur fuͤr me - chaniſche und ſclaviſche Geiſter. Er ſieht ſich nur auf der Oberflaͤche der Erkenntniſſe um, das heißt, er hat den allgemeinen Ueberblick: er ſchwatzt uͤber Alles, das heißt ihm, er hat von Allem eine philoſophiſche Ueberſicht. Er will al - lein ein freyer Geiſt ſeyn, und iſt gegen Andre in Sachen des Verſtandes der aͤrgſte Deſpot. Man gebe ja ſeine Behauptungen zu, ſonſt wird er nicht widerlegen ſondern empfindlich und boͤſewerden.435werden. Man diſputire ja nicht gruͤndlich mit ihm, ja nicht nach den Regeln einer geſunden Lo - gik; ſonſt reizt man ihn die Waffen ſeines Witzes zu ergreifen, den Bannſtrahl ſeiner Machtſpruͤche und Gemeinplaͤtze zu ſchleudern, und mit ſelbſtgefaͤlligem Hohnlaͤcheln die verdam - menden und zu Boden ſchlagenden Praͤdikate, Wortkraͤmer, Pedant und dergleichen auszu - ſprechen. Will man ihn zum Freunde haben, ſo hoͤre man ſeinem philoſophiſchen Geſchwaͤtze zu, ohne ihn durch etwas anders, als Jn - terjektionen der Bewunderung und Verwunderung, Kopfnicken und aͤhnliche Zeichen des Erſtaunens und Beyfalls zu unterbrechen; ſage, ihm hoͤrbar, einem Andern ins Ohr, welch ein großer, außer - ordentlicher Mann er ſey; bemerke ſeine affek - tirten und nachgeaͤften Singularitaͤten, und laſſe ihm bey zweifelhaften Urtheilen und verſchiedenen Meynungen das votum deciſivum.

So wie der Genieſtolz in den Luͤften faͤhrt, und ſich von Luft naͤhrt, ſo kriecht der Gelehrten - oder Schulſtolz im Staube und naͤhrt ſich da - von. Cicero und Ariſtoteles, Tertullianus und Auguſtinus, Donatus und Eraſmus von Rotter - dam, das Corpus und der Codex und alle in alten Stil gebundene und beſtaͤubte Folianten und Quartanten ſind die Feſten ſeines pedanti - ſchen Stolzes. So wie dem Genieſtolzen Alles,Ee 2was436was die Farbe eines Syſtems und den Anſchein von Ordnung und Gruͤndlichkeit hat, veraͤchtlich und laͤcherlich iſt; ſo lacht der Schulſtolze hoͤhniſch uͤber jeden nicht nach barbara, celarent, ferio, darii etc. zu meſſenden Schluß, uͤber jedes freye Urtheil, jede Ueberſetzung eines griechiſchen oder lateiniſchen terminus technicus. Dichter und praktiſche Philoſophen zaͤhlt er zu den profeſſori - bus artium ludicrarum et puerilium: gute Koͤpfe zu den ignoranten Thoren der neumodiſchen Gelehrtenrepublik, und artige, in die Welt ſich ſchickende Gelehrten zu oberflaͤchlichen und neumo - diſchen Schwaͤtzern. Der Genieſtolze giebt fuͤr ſein Symbolum aus: non ſcholae, ſed vitae: das Symbolum des Schulſtolzen iſt: non vitae, ſed ſcholae. Er iſt der groͤßte und lauteſte lau - dator temporis acti; und beklagt den Verfall und Ruin des roͤmiſchen Staats, und die freyere Denkungsart der Fuͤrſten und Koͤnige, weil nun keine Auguſtus, keine Maͤcenas, keine Carl, keine Alphonſus mehr die Vertrauten Patrone der Ge - lehrten machen, und um ihre Handlungen nicht mehr die Schule befragen. Er haͤlt ſtrenge uͤber den Schulrang, und erwartet den Ruin der Neu - ruppiniſchen Schule, weil ihre Lehrer ſich Lehrer und nicht Rectoren, Con - Sub - und Subcon - Rectoren nennen. Er ſchuͤttelt den Kopf uͤber die, welche nicht durch eine lateiniſche Diſputationſich437ſich den Titel Baccalaureus oder Profeſſor erwar - ben, und haͤlt die in dem Mittelalter eingerichte - ten Academiſchen Zuͤnfte und Wuͤrden fuͤr die glaͤnzendſten honores.

Veraͤchtlich und laͤcherlich ſind alle Arten des nur auf die Meynung des Subjekts gegruͤnde - ten Stolzes: am gefaͤhrlichſten und ſchaͤdlichſten iſt der moraliſche Stolz fuͤr ſich ſelbſt und Andere. Die Hauptcharaktere deſſelben ſind im erſten Theil dieſer Unterhaltungen angegeben, wo die Merk - male der religioͤſen Schwaͤrmerey genannt wor - den ſind. Der Moraliſchſtolze haͤlt ſich fuͤr das Muſter der Tugend; verachtet, bedauert oder haßt jeden, der nicht iſt, wie er: muß alſo die groͤßte Anzahl ſeiner Bruͤder verachten, be - dauern oder haſſen, weil ſie ſich unmoͤglich eine Tugend zu eigen machen koͤnnen, die ganz indivi - duell, ganz nach den Neigungen, Wuͤnſchen und Launen des Moraliſchſtolzen geformt iſt.

Der Moraliſchſtolze oder der Phariſaͤer, welcher der perſonificirte moraliſche Stolz iſt, iſt aller Verbeſſerung unfaͤhig, weil er den Gipfel der Vollkommenheit erſtiegen zu haben meynt, und nur das fuͤr nicht gut haͤlt, was zu ſeinen moraliſchen Jdeen nicht paßt. Das Haupt - thema ſeiner Reden und Geſpraͤche iſt die Ver - derbtheit der Menſchen, und ſeine angenehmſte Unterhaltung, mit ihm aͤhnlichen Phariſaͤern Ele -Ee 3gien438gien uͤber dies Thema zu ſingen und zu ſeufzen, oder die Gebrechen und Fehler Andrer aufzuſu - chen, und mit ſchwarzen Farben zu beſtreichen, um recht von Herzen in den Ausruf ausbrechen zu koͤnnen: Jch danke dir, Gott, daß ich nicht bin, wie dieſer.

Keiner verſteht die Kuͤnſte der Heucheley beſ - ſer, wie der Moraliſchſtolze nur muͤſſen ſie nicht eine Aufopferung ſeiner heimlichen Neigun - gen erfordern, denn da wird er ſich wenigſtens nicht lange verbergen koͤnnen. Er iſt wohlthaͤtig, nur muß es ihm nichts koſten: er iſt leutſelig, nur muß ihn niemand aus ſeiner Faſſung bringen: er iſt demuͤthig, nur muß man ihm ſchmeicheln: er iſt von Herzen ſanftmuͤthig, nur muß man ſich in ſeinen Willen ergeben. Man frage ſeine Haus - genoſſen, ſeine Kinder, ſein Geſinde, und man wird erfahren, daß er ein Muſter aller menſchli - chen und goͤttlichen Tugenden iſt, ſo lange er be - tet und predigt; und dieſen Character nur dann ablegt, wenn er handelt.

So mancherley aͤußere Verhaͤltniſſe es giebt; ſo mancherley Arten des Verhaͤltniß-Stolzes. Es ſtechen indeß von den unter dieſe Rubrik ge - hoͤrigen Arten der Adelſtolz, Geldſtolz und der geiſtliche Stolz vorzuͤglich hervor, und ſind am meiſten charakteriſtiſch.

Da439

Da die Verhaͤltnißſtolzen ihren Stolz auf die aͤußern Beziehungen, in welchen ſie gegen Andre ſtehen, gruͤnden; ſo muß ihnen natuͤrlich auch Alles, was damit zuſammenhaͤngt, ſehr wichtig erſcheinen.

Man ſehe den Adelſtolzen. Sein von , ſein Wappen, ſeine Stammbaͤume und die adli - che Etiquette, ſind ihm die wichtigſten Dinge auf Erden. Kein Knecht, keine Magd rede ihn an - ders, als in tiefſter Unterthaͤnigkeit und gehoͤriger Entfernung an. Seine Tochter und ſein Sohn vergeſſe deſſen, was die Natur ihnen eingiebt, und nehme Liebesbezeugungen, Bitten, Ge - ſpraͤchston unter den Gehorſam der unnatuͤr - lichen adlichen Mode gefangen. Er glaubt ſehr menſchenfreundlich zu ſeyn, wenn er mit ſtol - zer Gnade und Gewogenheit auf einen Buͤrgerli - chen herabſieht, und einige wichtige Wor - te gegen ihn fallen laͤßt; nur muß man dies nicht von ihm fordern, wenn er mit Leuten von Fa - milie umgeben iſt, denn dann muß er ja zeigen, daß er ſeines Ranges wuͤrdig ſey, die Hoheit deſ - ſelben fuͤhle, und gegen Buͤrgerliche zu behaupten verſtehe. Nur dem dringenden Geldbeduͤrfniß opfert der Adelſtolze zuweilen ſeinen Stolz auf. Er thut ſo vertraut gegen den Mann, den er ſonſt weit unter ſich ſieht, aber itzt noͤthig hat; weiß ſich ſo ganz in die Neigungen, Wuͤnſche,Ee 4Launen440Launen und Schwaͤchen deſſelben zu finden, und kriecht in den niedrigſten Schmeicheleyen; aber hat er ſeinen Zweck erreicht, dann lacht er zuerſt uͤber den Mann, der ſich bethoͤren ließ, macht die ſelbſtgefaͤllige Bemerkung, daß Dummheit doch immer mit niedriger Geburt gepaart ſey, und freut ſich recht innig, daß ſeine Hoͤflichkeit ſo viel wirken koͤnne. Den, deſſen Vertrauter er war, als er borgte, kennt er nicht, wenn er gemahnt wird, und haͤlt ſeinen buͤrgerlichen Glaͤubiger fuͤr viel zu unbedeutend, als daß er gegen denſelben gerecht und redlich ſeyn duͤrfte. Sein Ton, ſei - ne Zimmer, ſeine Bedienten, ſeine Geſellſchaf - ten und alles, was von ihm geſehen wird, muß ſich von den buͤrgerlichen Ton, Zimmern, Be - dienten, Geſellſchaften u. ſ. w. unterſcheiden, wenn nicht durch das Mehr, doch durch das Weni - ger. Seine erſte Frage uͤber einen Mann, der ihm unbekannt iſt, geht auf die Geburt deſſelben, und um den Werth eines Menſchen zu beſtim - men, waͤgt er nicht ſeine innern Vorzuͤge, ſon - dern zaͤhlt ſeine Ahnen. Kein Satz iſt ihm unbegreiflicher und paradoxer, als der: daß alle Menſchen einander gleich ſeyen; von dem Glanz ſeines Ranges geblendet, kann er den geiſtigen und moraliſchen Werth des Menſchen, ſeine hoͤ - here Beſtimmung fuͤr die Ewigkeit, nicht erken - nen; und iſt nur fuͤr die Unterwelt geſchaffen. Er441Er kennt keine Freuden, die einzige angenehme Empfindung, die er haben kann, beſteht in der Kitzelung ſeines Stolzes, wo dieſem kein Genuͤge geſchieht, iſt er ungluͤcklich und vergeht vor Aerger und Zorn*)Die hier hingeworfenen Zuͤge des Adelſtolzes finden ſich nicht blos an adlichen Originalen, auch Buͤr - gerliche laſſen ſie immer noch zu haͤufig an ſich be - merken. Nach meinen Beobachtungen werden indeß Dank ſey's dem guten Genius unſrer Zei - ten die Originale, von welchen ſich dieſe Zuͤge, denen noch ſo viel andre beygefuͤgt werden koͤnnten, kopiren laſſen, immer ſeltner, und nur gewiſſe Pro - vinzen und Diſtrikte des kleinlichen und laͤcherlichen Adelſtolzes beſchuldigt. Jch kenne ſo manchen Mann und ſo manche Frau, die edel heißen und ſind, und richtiger, als Mancher, der alles, was adlich heißt, anbellt, uͤber Menſchenwerth denken und ſprechen. Jch glaube, die Mißgeburt des Adelſtolzes wuͤrde ſchon itzt ihrem Ende noch naͤher ſeyn; wenn man hie und da vorſichtigere Mittel, dazu gebraucht, und nicht zuweilen zu bitter dage - gen geſchrieben und geſprochen, und dem Adel nicht allen Werth haͤtte abſprechen wollen. Ueberhaupt koͤnnte dem Uebel am beſten von angeſehenen Ade - lichen ſelbſt abgeholfen werden; denn bey den Buͤr - gerlichen, die doch am meiſten dagegen geeyfert ha - ben, ſetzt beſonders der, der in ſeinen Adel verliebt iſt, gar zu gern den Neid, als die Quelle ſeines Eyferns, voraus..

Ce 5Jn442

Jn den Meynungen des Geldſtolzen gelten die Menſchen ſo viel, als das Kapital, welches ſie beſitzen. Gegen Andre, aͤußere oder innere Vorzuͤge, ſind ſie gefuͤhllos; diejenigen ausge - nommen, welche nur aus einem ſchweren Geld - kaſten entſpringen koͤnnen, als da ſind, eine fette Tafel, ſchwerbeſetzte Kleider, wohlgemaͤſtetes Vieh und koſtbare Entrepriſen. Sie urtheilen ſehr niedrig von denen, die vornehmer, als ſie ſind, und nehmen eine ſehr mitleidige Mine an, wenn von Perſonen die Rede iſt, deren Vorzuͤge in Geiſtesvollkommenheiten und Gelehrſam - keit beſtehen. Nur dann halten ſie Adel und Gelehrſamkeit fuͤr wichtig, wenn ſie mit Reich - thum verknuͤpft ſind. Sie ſind verſchwende - riſch, wenn ſie geſehen werden, und vornehm - lich in den Faͤllen, wo es ihnen niemand gleich thun kann; aber karg, wenn ſie nicht geſehen werden, und wo ſie geben muͤſſen, und geizig gegen niedere Perſonen. Jeder Aufwand, den ſie gemacht, jeder Schaden, den ſie gelitten, je - des Allmoſen, das ſie gegeben haben, wird mit ſelbſtgefaͤlliger Prahlerey jedermann verkuͤndigt. Wer ihrer bedarf, hoffe nicht auf ihr Pflichtge - fuͤhl; ſondern reize ihren Stolz und preiſe ihr goldenes Gluͤck, ſo wird er ſeinen Zweck errei - chen. Auf ihren Minen ruht die ganze Arith - metik; ihre Rechnungsbuͤcher ſind ihre angenehm -ſte443ſte Lectuͤre; ihre Sitten ſind bleyern; ihre Untergebenen das Spielwerk ihrer Launen; und die, welchen ſie wohlthun, die ungluͤcklichſten Sclaven*)Ganz charakteriſtiſch war das, was ein geldſtolzer Buͤrger einſt zu mir ſagte. Jch ſprach mit ihm uͤber Ehre und den großen Werth, den Einige darauf ſetzten: Ei, wiſche waſche, antwortete er mir, meine Ehre ſitzt hier, und klopfte ſich da - bey auf ſeine Geldtaſche, daß es klimperte, und mehrere Geldſtuͤcke herausſprangen. Die Charak - teriſtik wuͤrde vollſtaͤndig ſeyn, wenn ein Chode - wiecki oder Meil, das Minen - und Gebehrdenſpiel, womit er ſeine Worte accompagnirte, haͤtte aufzeich - nen koͤnnen..

Jch habe oben auch des geiſtlichen Stolzes, als einer ſehr auffallenden Art des Verhaͤltniß - Stolzes gedacht. Herr Plattner hat die Cha - raktere deſſelben in ſeinen philoſophiſchen Apho - rismen**)Philoſophiſche Aphoriſmen, 2ter Theil, S. 336. §. 733. ſo treffend angegeben, daß ich ihn hier fuͤr mich reden laſſen will.

Hauptzuͤge des geiſtlichen Stolzes, ſagt der genannte Schriftſteller, ſind: ein Ehrfurcht erwartendes Betragen, vermiſcht mit Rangſtolz und hoffaͤrtigem Wohlgefallen an geiſtlichen Ti - teln und Wuͤrden; affektirte Leutſeligkeit; geſalbte Redensarten; ſegnende Gruͤße; ſteif herablaſſen -de444de Hoͤflichkeit; unnatuͤrlicher, pedantiſcher Ton im Vergnuͤgen und Scherz, und allenthalben ein Schein von merkwuͤrdiger Herablaſſung zum Leben und Charakter des Menſchen; prieſterlicher Deſpotiſmus in der Lehre und Kirchenzucht; rich - terliche Anmaßungen uͤber oͤffentliche und haͤusli - che Handlungen.

Die abſcheulichſten Beyſpiele des geiſtlichen Stolzes, und alle damit zuſammenhaͤngenden ſchwarzen und niedrigen Eigenſchaften findet man in der Geſchichte des Mittelalters, und vornehm - lich in der Geſchichte der Paͤbſte.

Gregor der Siebende macht Anſpruͤche auf Spanien, als einem ehemaligen Eigenthum des heiligen Petrus: empoͤrt Frankreich wider ſei - nen Koͤnig, ſetzt einen Legaten uͤber dies Koͤnig - reich, und verlangt einen Tribut. Er ſetzt den ungluͤcklichen Kaiſer Heinrich den Vierten auf einer oͤffentlichen Kirchenverſammlung ab, und macht zu ſeiner Rechtfertigung folgende ſophiſti - ſche Deduction: Hat der heilige Stuhl, ſo ſchreibt er an den Biſchof von Metz, von Gott das Recht empfangen, uͤber geiſtliche Sachen zu richten, wie ſollte ihm denn dies Recht uͤber weltliche Sachen verſagt werden koͤnnen? Werden die Geiſtlichen verurtheilt, wenn es noͤthig iſt, warum ſollten dann nicht die Laien, ihrer Verbrechen wegen, beſtraft wer -445 werden? Vielleicht bilden ſie ſich ein, daß die koͤnigliche Wuͤrde weit uͤber der biſchoͤflichen ſtehe; ſie koͤnnen aber den Unterſchied von bey - den aus ihrem Urſprung beurtheilen lernen. Die Eine iſt ein Werk des menſchlichen Stolzes, und die andere ein Werk der goͤttlichen Guͤte: jene ſtrebt nach eitler Ehre, und dieſe hat die Seligkeiten des Himmels zur Abſicht.

Der geiſtliche Stolz und damit verbundne Deſpotiſmus Gregors des Siebenden ließ den ungluͤcklichen Kaiſer drey Wintertage lang bar - fuß vor ſeiner Burg ſtehen; begnadigte ihn end - lich, aber nur, um ihn, ſobald das Gluͤck ſei - nen Gegenkaiſer, Rudolph, Herzog von Schwa - ben, beguͤnſtigte, wieder zu ſtuͤrzen. Er be - ſchließt das Decret, durch welches er Heinrich den Vierten der Koͤnigreiche Deutſchland und Jtalien verluſtig erklaͤrt, und ihm alle koͤnigliche Macht und Ehre nimmt, mit folgender Apoſtro - phe an die Apoſtel Petrus und Paulus:

Laſſet demnach alle Welt ſehen, daß ihr, wenn ihr im Himmel binden und loͤſen koͤnnt, nicht weniger auf Erden einem jeglichen, wie er es verdient, Kaiſerthuͤmer, Koͤnigreiche, Fuͤr - ſtenthuͤmer, Herzogthuͤmer, Markgrafſchaften, Grafſchaften und die Beſitzungen aller Menſchen nehmen und geben koͤnnet laßt die Koͤnige und Fuͤrſten itzt Eure Gewalt kennen lernen,446 lernen, und zittern vor dem Gedanken, die Be - fehle Eurer Kirche zu verachten. Laſſet Euren ſtrafenden Zorn uͤber Heinrich ſchleunig ausbre - chen, damit kein Zweifel uͤbrig bleibe, daß ſein Ungluͤck das Werk Eurer Gewalt und nicht des Zufalls ſey.

Bonifacius ließ durch einen Legaten, den Biſchof von Pamiers, den Koͤnig Philipp von Frankreich mit Bann und Jnterdict bedrohen, weil er mit Kaiſer Albert von Oeſterreich im Buͤndniſſe ſtand. Philipp ließ den alle Geſe - tze der einer Majeſtaͤt ſchuldigen Ehrfurcht ver - letzenden Legaten auf die ſchonendſte Weiſe in Ver - haft nehmen aber Bonifacius, daruͤber er - zuͤrnt, fertigt eine wuͤthende Bulle wider[d]en Koͤ - nig aus, in welcher es unter andern heißt:

Gott hat mich uͤber die Koͤnige und Koͤnig - reiche geſetzt, um in ſeinem Namen und durch ſeine Lehre auszureißen, zu zerſtoͤren, zu verder - ben, zu zerſtreuen, zu bauen und zu pflanzen.

Dem Beyſpiel ihres Oberhirten folgten die uͤbrigen Geiſtlichen treulich nach. Sie miſchten ſich in alles, und keiner durfte ſich, wenn es ih - nen zuwider war, ſelbſt um das bekuͤmmern, wor - auf er doch ein Recht hatte. Man durchlaufe die Geſchichte der Schulen und Academien in denmitt -447mittlern Jahrhunderten und man wird hun - dert Beyſpiele von den ungeheuren Praͤtenſionen der Pfaffen und Biſchoͤfe finden. Die Geiſtli - chen, unter deren Aufſicht die Schulen und Aca - demien ſtanden, und welchen ſie ſehr am Herzen lagen, weil ſie ihnen die Herrſchaft uͤber den Ver - ſtand der Menſchen und das Monopolium der Ge - lehrſamkeit erhielten, verſchaften ihnen die ausge - zeichnetſten Vorrechte, und brachten es ſelbſt da - hin, daß die Schuͤler und Studenten der weltli - chen Gerichtsbarkeit nicht unterworfen waren. Herr Abt Millot erzaͤhlt in ſeiner Univerſalge - ſchichte hievon ein auffallendes Factum: Jm Jahr 1304 hatte der Stadtrichter zu Paris einen Schuͤler haͤngen laſſen. Der geiſtliche Richter ſtellte einen foͤrmlichen Befehl aus, daß die ſaͤmt - lichen Pfarrer ſich in Proceſſion nach der Woh - nung des Stadtrichters begeben, Steine hinein - werfen, und dabey ausrufen ſollten: Weg mit dir, verdammter Satan! Erkenne deine Bos - heit, und gieb unſrer Mutter, der heiligen Kir - che, deren Freyheiten du gekraͤnket haſt, die ſchuldige Ehre; wo nicht, ſo ſey dein Loos, wie das Loos des Dathan und Abiram, die lebendig von der Erde verſchlungen wurden. Alle Schulen wurden geſchloſſen; die Stadtobrigkeit ſahe ſich genoͤthigt, der Univerſitaͤt die verlangte Genugthuung zu geben, und nach Rom zu ge -hen,448hen, um ſich daſelbſt eine Buße auflegen und los - ſprechen zu laſſen*)Millots Univerſalhiſtorie. Deutſch. Ueberſ. mit Zuſaͤtzen von Chriſtiani. Theil 6. S. 242..

Gottlob die Zeiten des Aberglaubens, wo die Geiſtlichkeit goͤttliche Auctoritaͤt hatte, und goͤttliche Gewalt haben wollte, und oͤfters auch beſaß, ſind vorbey. Die Beyſpiele zum geiſtlichen Stolze ſind ſeltner, wenigſtens minder auffallend und wirkſam geworden. Findet ſich gleich hie und da noch wohl ein Superintendent oder Paſtor, der vom geiſtlichen Stolze beſeſſen iſt; ſo darf er doch nicht laut werden, ſondern muß in der Stille und den Kreiſen herumſchlei - chen, in welche das Licht der Wahrheit noch nicht eingedrungen iſt.

Dreyzehnte Unterhaltung. Ueber die Verſchiedenheiten des Stolzes in Ruͤckſicht ſeiner Aeußerungen.

Alle Stolzen haben die Meynung von ihrem ſelbſteignen Werth und der Wichtigkeit ihrer Per - ſon miteinander gemein: in der Art indeß, wieſie449ſie dieſe Meynung aͤußern, wie ſie ihren Werth und ihre Wichtigkeit ankuͤndigen, weichen ſie von einander ab. Der Eine thut es auf eine feine, der Andre auf eine groͤbere Weiſe: dieſer mit Klugheit, jener mit Dummheit.

Jch rede hier nicht von denjenigen Aeußerun - gen des Stolzes, die durch die Gegenſtaͤnde, worauf er ſich gruͤndet, beſtimmt werden. Un - ter dieſen findet allerdings auch eine Verſchieden - heit ſtatt, indem der Galanterieſtolz ſich natuͤrlich anders ankuͤndigen wird, als die Pedanterey, der geiſtliche Stolz anders, als der, welcher ſich auf Koͤrperkraft gruͤndet. Allein dieſe Veſchieden - heiten ſind in den Schilderungen dieſer Arten des Stolzes ſchon bemerkt worden; hier iſt nur die Rede von denjenigen Aeußerungen, welche jedem in andrer Hinſicht wohl zu unterſcheidenden Stol - ze gemein ſeyn koͤnnen; von welchem indeß, wie jedem leicht in die Augen ſpringt, die eine mit die - ſem, die andre mit jenem Stolze naͤher zuſam - menhaͤngt.

Wenn die Aeußerungen des Stolzes vorzuͤg - lich auf eine Erhebung uͤber alle Andre deuten, ſo nenne ich ihn Hochmuth. Aus dieſem allge - meinen Charakter laſſen ſich alle uͤbrigen Eigen - heiten, deren Subjekte allgemein hochmuͤthig genannt werden, erklaͤren.

FfEs450

Es iſt auch nicht Einer, mit dem der Hoch - muͤthige ſich nicht meſſen zu koͤnnen glaubte; und, wenn er ſich gleich geſtehen muß, daß er in eini - gen Stuͤcken von irgend jemand uͤbertroffen wird, ſo weiß er doch in ſich ſelbſt ſo viel groͤßere Vorzuͤ - ge aufzufinden, oder die des Andern ſo ſehr zu verkleinern, daß die Waagſchaale zu ſeinem Vor - theile ſinkt. Keiner macht daher mehr Praͤten - ſionen, als Er: keiner iſt ſuffiſanter. Er ſucht nicht, ſondern will von Andern geſucht ſeyn, und glaubt, ſehr viel zu thun, wenn er ſich eine ſo wichtige Perſon finden laͤßt. Man wird ihn daher ſehr oft zuruͤckgezogen und ſprach - los in der Geſellſchaft ſtehen ſehen; aber aus ſei - nen Minen und Gebehrden bald leſen, daß er nicht durch Bloͤdigkeit zuruͤckgehalten wird. Wenn ihn nicht etwa Furcht oder etwas Andres zuruͤckhaͤlt; ſo zeigt er deutlich in Betragen, Mi - nen und Worten, daß er Andre verachte, we - nigſtens geringſchaͤtze*)Das Gebehrdenſpiel des Hochmuͤthigen beſchreibt Engel ſehr treffend in dem erſten Theil ſeiner Mi - mik im zwey und zwanzigſten Briefe, S. 177. Das Spiel der Verachtung, ſagt er, iſt Selbſter - hebung des Stolzes; Wegdrehen des Koͤrpers in halbverwandter Stellung, fluͤchtig von der Hoͤhe herabgeworfener, oft nur ſeitwaͤrts uͤber die Achſelhin -. Wer ihn zum erſten -mal451mal unter die Augen tritt, wird von ſeinen pruͤ - fenden Blicken gemeſſen; und muß ſich gefallen laſſen, auf der geruͤmpften Naſe, dem gehobnen Auge und verzognen Munde das Urtheil zu leſen: Auch Du gehoͤrſt zu dem großen Haufen derer, uͤber die Jch wegſehe. Auf eine genauere Un - terſuchung, uͤber den Werth eines Menſchen, laͤßt er ſich nicht gern ein; weil es doch wohl moͤglich ſeyn koͤnnte, daß er auf etwas ſtieße, das ſeinen Vorzuͤgen gleich kaͤme: ſeine Urtheile ſind kurz: ſein Ton leichtſinnig und wegwerfend. Er iſt empfindlich, wie ein Weib, und zornig, wie ein Kind, wenn man im geringſten gegen die Ehrer - bietung, welche er fodert, verſtoͤßt. Er kann nicht bitten; denn er will den Schein haben, ſich ſelbſt genug zu ſeyn und keines Menſchen zu be -Ff 2duͤrfen.*)hinſchielender Blick, als ob der Gegenſtand keiner naͤhern, ſorgfaͤltigern Betrachtung wuͤrdig waͤre, zuweilen auch Ausdruck des Ekels durch geruͤmpfte Naſe mit etwas in die Hoͤhe gezogner Oberlippe; und wenn der Verachtete von ſich ſelbſt einen vor - theilhaften Blick zu haben, unſerm Urtheil zu tro - tzen ſcheint, hoͤhniſches Ausmeſſen mit dem Auge, indem ſich das Haupt ein wenig zur Seite neigt, als ob man Muͤhe haͤtte, die ganze Niedrigkeit des Menſchen von ſeiner Hoͤhe herab gewahr zu wer - den; mitleidiges, ſpoͤttiſches Achſelzucken und ſtilles Laͤcheln uͤber den wahrgenommenen Kontraſt zwi - ſchen eingebildeter Groͤße und wirklicher Kleinheit. 452duͤrfen. Das Sprichwort: Gleich und Gleich geſellt ſich gern, kann auf ihn nicht angewendet werden; denn niemand iſt ihm unertraͤglicher, als ſein hochmuͤthiger Bruder: er iſt am liebſten in der Geſellſchaft der Demuͤthigen, die ihm die Freude machen, ſich ihm zu unterwerfen, und ihn in ſeiner Narrheit nicht zu ſtoͤren.

Shakeſpear ſtellt in ſeinem Cymbeline in der Perſon des Kloten, des Stiefſohns von Cymbeline, einen Hochmuͤthigen auf.

Der edle Poſthumus, zwar nicht aus koͤ - niglichem Gebluͤt, aber koͤniglich durch ſeine Tu - gend, wird von der Prinzeſſin Jmogen geliebt. Kloten liebt die Prinzeſſin, aber wird nicht ge - hoͤrt. Er wird deswegen mit Neid und Haß ge - gen ſeinen Nebenbuhler erfuͤllt, und aͤußert gegen einen Lord: Daß ſie ſolch einen Kerl lieben, und mich verſchmaͤhen kann! *)1. Aufz. 3. Auftritt.

Als Poſthumus auf Befehl des Koͤnigs ſich hat entfernen muͤſſen, belagert Kloten die betruͤb - te Prinzeſſin, mit allen Schmeichlerkuͤnſten und Bitten. Aber, als ſie ihm nach allen ſeinen Be - muͤhungen, dennoch erklaͤrt, ſie frage nichts nach ihm, bricht er in folgende hochmuͤthige Predigt aus:

Du ſuͤndigſt wider den Gehorſam, den du deinem Vater ſchuldig biſt. Denn jenes Buͤnd -niß,453niß, das du mit dem verworfnen Elenden vor - giebſt, der mit lauter Almoſen groß gemacht, und mit kalten Schuͤſſeln und Broſamen des Hofes gefuͤttert wurde, iſt gar kein Buͤndniß; gar keins. Und wenn es gleich bey geringern Partheyen er - laubt wird und wer iſt geringer, als er? ihre Seelen, von denen man doch nichts weiter erwarten kann, als Lumpen und Bettelkinder, durch ein ſelbſtgewaͤhltes Band zu verknuͤpfen, ſo wirſt du doch von ſolch einer freyen Wahl durch die Wichtigkeit der Krone abgehalten, und darfſt ihre koſtbare Zierde nicht durch einen niedrigen Sclaven entehren, einen Livreybedienten, den Lakey eines Dorfjunkers, einen Tafeldecker; und nicht einmal ſo viel.
*)2. Aufz. 3. Auftr.
*)

Ganz im Geſchmack des Hochmuͤthigen aͤu - ßert er im erſten Auftritt des zweyten Acts ſeinen kindiſchen Unwillen uͤber ſein Ungluͤck im Spiel und ſeine Erbitterung uͤber die Freymuͤthigkeit ei - nes Mannes, der ihm die Fluͤche, welche er aus - geſtoßen, verwieſen hatte. Wenn ein ehrlicher Mann, ſo ſagt er, Luſt hat zu fluchen, ſo ſchickt ſich's doch nicht fuͤr die, die um ihn ſind, ſeinen Fluͤchen den Schwanz abzuſchneiden. Der Schurke, der! faͤhrt er fort, ich ſollte ihm Ge - nugthuung geben? waͤr 'er doch nur von gleichem Range mit mir geweſen. MichFf 3ver -454verdrießt auf der ganzen Welt nichts mehr. Hohl's der Henker! Jch moͤchte lieber nicht ſo vornehm ſeyn, als ich bin. Man unterſteht ſich nicht mit mir zu fechten, weil die Koͤnigin meine Mutter iſt! Jeder Hans Aff ficht und ſchlaͤgt ſich ſatt und voll, und ich muß auf und nieder gehen, gleich einem Hahn*)Eine trefliche Vergleichung!, mit dem keiner es aufnehmen kann.

Wenn die Erhebung uͤber Andre und die Nichtachtung derſelben ſo ausgelaſſen wird, daß ſie ſich uͤber Alles, worauf Vernuͤnftige achten, hinwegſetzt, und in offenbare Beleidigungen, Ver - ſpottungen, Verhoͤhnungen Andrer uͤbergeht, ſo heißt ſie Uebermuth.

Alles verachtet der Uebermuͤthige, wenn ſei - ne Laune ihn uͤberfaͤllt: kennt keine Geſetze der Decenz, der Ordnung, der Sittlichkeit. Nie - mand iſt vor ſeinen Angriffen ſicher; denn er ſieht und hoͤrt durchaus nichts, als ſich und ſeinen Uebermuth.

Herr Schulz in ſeiner Schrift uͤber Paris und die Pariſer erzaͤhlt ein frappantes Beyſpiel von Uebermuth aus den Zeiten Ludwigs des Vierzehnten. Ein Lakey wettete mit ſeinen Ka - meraden um eine Flaſche Wein, daß er dem erſten Frauenzimmer, die aus dem Garten kaͤme, den Rock luͤften, und einen Schilling geben wollte. Man455[M]an nahm die Wette an, und wartete voller Schadenfreude auf die Ausfuͤhrung. Bald ka - men zwey Damen. Alle Augen ſind auf den Wagehals gerichtet, und damit er ſich nicht an - ders beſinnen ſoll, erhitzen ſie vollends ſeinen Ehr - geiz durch Zweifel an ſeinen Muth. Die Damen kommen naͤher, der Kerl ſpringt auf ſie zu, greift die eine davon, und thut, was er zu thun ver - ſprochen hat. Die Dame, außer ſich vor Schaam und Wuth, faͤllt ihm in die Haare, ihre Beglei - terin thut daſſelbe, ſie ſchreyen und halten ihn feſt, daß er ſich nicht unter das Getuͤmmel der uͤbrigen Bedienten verlieren kann. Es kommen ihnen eini - ge Herren zu Huͤlfe, und man erkennt in ihnen die Prinzeſſin von Armagnac und die Marqui - ſe von Villequier. Die Prinzeſſin hatte den Schilling bekommen. Der Kerl ſollte gehenkt werden, kam aber mit dem Halseiſen und den Galeeren davon.

Jn Geron dem Biederherzigen ſchil - dert Wieland einen Uebermuͤthigen in der Per - ſon des Herrn Flaunz ſehr treffend auf folgende Weiſe:

Und nahe bey der Burg begegnete Den beyden Freunden*)Geron und Danayn, die zuſammen zum Turnier zogen. auf dem Plan Herr Flaunz,Ff 4Ein456Ein junger Schalk und Prahler, der in Rit - terſchaft Kein kleiner Wicht zu ſeyn ſich duͤnken ließ, Und der zur Zeit und Unzeit gar zu gern Hochmuthete und neckte maͤnniglich, Der ihm in Wurf kam und es leiden mochte. Wie der die beyden Ritter ſo daher Gelaſſen traben ſieht, in ſchwarzen Waffen, ſchwarz Die Schild 'und Speer, im ganzen Aufzug ſchlecht Und ſcheinlos: ſprengt er auf ſie zu, und fo - dert ſie Heraus, gleich auf der Stelle einen Speer Mit ihm zu brechen. Deſſen wehrten ſie Gar hoͤflich ſich, als ſolche, die auf Morgen Sich ſparen wollten; aber all umſonſt: Je ehrlicher ſie ſprachen, deſto groͤber ward Herr Flaunz, der Schalk; und da ſie, ohne ſein Zu achten, ihres Weges zogen, ſpottet' er Zu einem Ritter von der Tafelrunde, der Zur Seite ſtand, der beyden ſchwarzen Knechte Und ſprach ſo laut, daß ſie es hoͤren mochten. u. ſ. w.

So fern der Hochmuͤthige alle ſeine Kraͤfte, gleich dem Froſch in der Fabel, anſpannt, um ſich uͤber Andre zu erheben, und dieſe gleichſamvor457vor ſich weg zu blaſen, wird er aufgeblaſen: und ſo fern er, gleich dem Spanier, mit hohen Schritten einherzieht, wie wenn er uͤber alle An - dre wegſchreiten moͤchte, hochtrabend genannt. Auf der gen Himmel gekehrten Stirn, dem zu - ſammengekniffenen und vorgedraͤngten Munde und dem ausgeſpannten Bauche, ſteht das Motto des Aufgeblaſenen geſchrieben: Nos poma natamus.

Wenn ſich der Hochmuth durch ſchreyendes Gepraͤnge, rauſchenden Staat und blendenden Glanz ankuͤndigt, ſo wird er Hoffart genannt. Die Furcht, daß ſein hoher Werth von Andern nicht bemerkt und anerkannt werde, treibt den Hoffaͤrtigen an, ſich durch Getoͤſe und Geklim - per bemerken zu laſſen. Sein Haus, ſeine Fri - ſur, ſeine Lakayen, ſeine Karoſſen, draͤngen ſich uͤberall durch ihre Hoheit und ihr Gold vor. Wenn er durch die Straßen geht, ſchreitet er ſo hoch, als wollte er mit Elias gen Himmel fah - ren, und verbreitet einen Duft um ſich her, wie Venus, wenn ſie ihrem Aeneas erſchien. Sein Stern und Ordensband zieren ſeinen Schlafrock, wie ſein Gallakleid und ſein Name erſcheint nir - gends ohne das Gefolge ſeiner praͤchtigen Titel*)Meils treffender Griffel hat den Hoffaͤrtigen bis zum Sprechen geſtochen in dem erſten Theil von Engels Mimik. S. 252. Fig. 31..

Ff 5Aeußert458

Aeußert ſich der Stolz durch eine laute und hyperboliſche Verkuͤndigung ſeiner gemeynten Vor - zuͤge, ſo erhaͤlt er den Namen Prahlerey, die, wenn ſie ſich in Handlungen aͤußert, Groß - thuerey, und, wenn ſie ſich der Worte zu ihrem Vehikel bedient, Großſprecherey genannt wird.

Als einen Prahler ſchildert Shakeſpear ſei - nen Fallſtaff in Koͤnig Heinrich dem Vierten*)Koͤnig Heinrich der Vierte, 2. Theil. 4ter Aufz. 3ter Auftr.. Fallſtaff nemlich begegnet von ohngefaͤhr einem feindlichen Ritter, Coleville vom Thal, welcher ſich ihm ergiebt, weil er von einer Ergebung an den Schwerdter ſcheuenden Fallſtaff keine Schan - de befuͤrchten darf. Prinz Johann von Lan - kaſter kommt ihnen entgegen, und macht Herrn Fallſtaff Vorwuͤrfe uͤber ſein Zaudern. Drauf antwortet dieſer mit folgenden Worten:

Jch hab 'allemal gehoͤrt, daß Verweiſe und Vorwuͤrfe der Lohn der Tapferkeit ſind. Glaubt Jhr denn, ich ſey eine Schwalbe, ein Pfeil oder eine Kugel? hab' ich in meinem ſchwerfaͤlligen Koͤrper die Schnelligkeit der Gedanken? Jch eilte mit dem aͤußerſten Punkt des aͤußerſten Grads der Moͤglichkeit hieher. Hundert und etliche achtzig Poſtpferde habe ich zu Schanden geritten, und kaum war ich abgeſtiegen, ſo nahm ich, ſo matt ich von der Reiſe war, in meinerreinen459reinen und unbefleckten Tapferkeit, dieſen Sir John Coleville vom Thal, einen ganz wuͤ - thenden Ritter und tapfern Feind, gefangen. Doch, was ſag 'ich? Er ſah mich, und ergab ſich; ſo, daß ich wohl recht habe, mit je - nem krummnaſigten Kerl aus Rom zu ſagen: ich kam, ich ſah, ich ſiegte. Lancaſter: Das war mehr Hoͤflichkeit von ihm, als Verdienſt fuͤr Euch? Fallſtaff. Jch weiß nicht: hier iſt er und hier uͤberliefr' ich ihn, und bitte Eure Gnaden, es mit den uͤbrigen Thaten dieſes Tages zu Buch bringen zu laſſen; ſonſt laß ich, bey Gott, eine eigne Ballade darauf machen, und oben druͤber mein Bildniß, wie Coleville mir die Fuͤße kuͤßt. Wenn ich dazu genoͤthigt werde, und ihr alle dann nicht, wie uͤberguͤldete Doppelpfennige ge - gen mich ausſeht, und ich, am hellen Himmel des Ruhms, euch nicht eben ſo ausſteche, wie der Vollmond die kleinen Funken des Elements, die wie Nadelknoͤpfe gegen ihn ausſehen, ſo glaubt weiter keinem Edelmann auf ſein Wort. Laßt mir alſo mein Recht widerfahren; laßt das Ver - dienſt ſteigen u. ſ. w.

Zielt der Prahler vorzuͤglich darauf, Andern glauben zu machen, daß ſein Verdienſt von Hohen Beyfall erhalten, und weit und breit bekannt ſey, ſo wird er ruhmredig genannt.

Ruhm -460

Ruhmredigkeit ſpricht aus dem Quackſalber, welchen Herr v. Thuͤmmel in den Reiſen in die mittaͤgigen Provinzen von Frankreich*)1. Th. S. 32 f. ſchildert.

Ein Zepter in der Hand, um das zwo Schlangen krochen, Saß dieſer Ehrenmann auf einem Thron von Knochen, Wie das Symbol der Medicin. Jch, hub er an: (was er zuvor geſprochen, Erfuhr ich leider! nicht,) ich komme von Berlin. Den Zahn, den ihr hier ſeht, hab 'ich vor wenig Wochen Friedrich dem Einzigen hab' ich ihn ausge - brochen, Und gnadenvoll ſchenkt 'er mir ihn. Bey Groß und Klein Gott ſey's gedankt! gelitten, Haͤtt' ich nur Haͤnde g'nug, ſucht man mich uͤberall, Seht zum Beweis, wohin ein Mann von Sitten Nicht dringen kann, hier das Original! Der Hornkluft, die ich einſt in dem Eskurial Der ſchoͤnen Jo Carls des Dritten, (So bald ich mich durch die gedraͤngte Zahl Der Neider meines Gluͤcks geſtritten) Jn461Jn drey Minuten ausgeſchnitten. Den Tag nach dieſer Cur erhielt ich das Di - plom, Das ihr hier glaͤnzen ſeht, als Leibarzt, und als Ritter u. ſ. w.

Der Stolz, welcher ſich auf eine grobe und dumme Art aͤußert, wird Bauernſtolz genannt, weil man, mit Recht oder Unrecht, dem Bauer - ſtande dieſe beyden Praͤdikate vorzugsweiſe beyzu - legen pflegt.

Bauernſtolz zeigte Dejoces, der, als er Koͤnig von Medien wurde, keinen vor ſich laſſen wollte, und bey ſtrenger Strafe verbot, in ſeiner Gegenwart auszuwerfen oder zu lachen.

Bauernſtolz hat Herr von Gaͤnſewitz in Buͤrgers Epigramm:

Herr von Gaͤnſewitz zum Kammerdiener: Befehlt doch draußen, ſtill zu bleiben! Jch muß itzt meinen Namen ſchreiben.

Bauernſtolz aͤußerten die Poiſſarden, als ſie am fuͤnften October 1789 mit einer Deputa - tion der Nationalverſammlung zum Koͤnige gin - gen. Als ſie, ſo erzaͤhlt Herr Schulz dieſe Scene*)Braunſchweig. Allm. 1791. S. 192 f., ihre Klagen uͤber Mangel und Noth dem Koͤnige und Neckern vorgetragen hatten, ſagte ihre Anfuͤhrerin, Madame Chablis: Wirhaben462haben der Koͤnigin noch was beſonders zu ſagen, Se. Majeſtaͤt und Herr Necker werden alſo die Guͤte haben, uns ein wenig mit ihr allein zu laſ - ſen. Der Koͤnig ſah ſie aͤngſtlich an, und ſagte: Wozu das? Was wollt ihr? Jch hoffe, daß ihr keine gewaltthaͤtige Abſichten habt. Fuͤrchten Sie nichts, erwiederte Madam Cha - blis, wir wollen blos ein Bischen mit ihr ſchwa - tzen. Und wenn Sie uns nicht trauen, da neh - men Sie Sechs von uns als Geißeln mit; die Weiber da ſind wohl ſo viel werth, als alle Hof - damen, das ſag ich! Der Koͤnig entfern - te ſich mit Necker, und nun gaben die Weiber der Koͤnigin die Ermahnung in ihrem Tone, ſehr ehrlich gedacht und kraͤftig geſagt: daß ſie ſich in Zukunft beſſer auffuͤhren ſollte. Diesmal woll - ten ſie ihr noch durch die Finger ſehen, aber es waͤre auch das letztemal. Sie haͤtte den guten Koͤnig gewaltig hinter das Licht gefuͤhrt. Ge - ſchaͤhe dies noch einmal, ſo hier wurden ihre Minen und Gebehrden ſo heftig, daß die Koͤni - gin eine Bewegung machte, als ob ſie Huͤlfe ru - fen wollte. Seyn Sie nur ruhig, ſagte jetzt Madame Chablis: wir geben Jhnen da nur einen kleinen freundſchaftlichen Rath, und zum Zeichen, daß alles vergeſſen und vergeben iſt, wollen wir Sie umarmen. Gnade muß vor Recht gehen (Car a tout pécheur miſericorde). Nun463Nun umarmten ſie die Koͤnigin eine nach der an - dern, und ſodann ſagte Madame Chablis zu ei - ner ihrer Gefaͤhrtinnen: Nun, Gevatterin, laß den Koͤnig wieder hereinkommen. Der Koͤnig erſchien, und zeigte ſich neugierig, zu wiſſen, was verhandelt worden waͤre; aber die ruͤſtige, (fei - ne?) und beredſame Chablis ſagte: Es geht die Maͤnner nichts an, was die Weiber unter ſich haben. Bleiben Sie unſer guter Koͤnig, und laſſen Sie ſich nicht gegen Jhr Volk aufhetzen. Es hat Sie ſo lieb, wie Vater und Mutter, und laͤßt Blut und Leben fuͤr Sie!

Jch daͤchte die Poiſſarden die es uͤbri - gens in manchen Faͤllen recht gut gemeynt haben moͤgen; aber, gut gemeynt oder nicht gut gemeynt, ſich eine Wichtigkeit und Autoritaͤt beymaßen, die ihnen nicht zukam und nicht anſtand haͤtten durch ihr ganzes Betragen waͤhrend der Revolu - tion wohl die Ehre verdient, daß man kuͤnftig das, was man ſonſt Bauernſtolz nannte, nach ihnen nun Poiſſardenſtolz benennete.

Was endlich noch das Verhaͤltniß der ver - ſchiednen Arten des Stolzes zu einander betrift, ſo iſt der Genieſtolze eingebildet und ein Prahler. Der Galanterie - und Adelſtolze iſt eitel und hof - faͤrtig; der Schul - und Moraliſchſtolze ein Pedant und hochmuͤthig; der geiſtliche Pe - dant aufgeblaſen.

Die -464

Diejenigen endlich, welche ihr Geld oder Koͤrperkraft ſtolz macht, ſind uͤbermuͤthig und bauernſtolz.

Vierzehnte Unterhaltung. Ueber die Herrſchbegierde.

Sehr nahe iſt mit dem eben betrachteten Triebe nach Ehre der Herrſchtrieb verwandt; indem er aus denſelben Quellen entſpringt, welchen jener ſeinen Urſprung verdankt. Jeder glaubt von ſich das Beſte, und wuͤnſcht auch Andre zu ſeinem Glauben zu bewegen, und Beweiſe zu erhalten, daß ſie deſſelben Glaubens ſind. Der beſte Be - weis hievon iſt, wenn ſie ihren Willen dem ſei - nigen unterordnen, ſich nach ihm richten, ihm unterthan ſind: was iſt alſo natuͤrlicher, als der Wunſch, dieſen Beweis zu erhalten?

Dem Manne, dem wahre Vollkommenheit ein edles Selbſtgefuͤhl giebt, und der die Freude kennt, aus eigner Kraft und Einſicht zu handeln, iſt es druͤckend, und, wenn er nicht viel Selbſt - uͤberwindung hat, unmoͤglich, ſich der Willkuͤhr Andrer zu unterwerfen. Er fuͤhlt ſich berufen, anzuordnen; drum wuͤnſcht er dieſen Beruf er - fuͤllen zu koͤnnen. Jch will lieber, ſagt dergroße465große Caͤſar auf ſeiner Reiſe nach Gallien in ei - ner kleinen Stadt, hier der Erſte, als der Zweyte in Rom ſeyn: und Cato nimmt ſich das Leben, um Caͤſars Gnade nicht zu beduͤrfen.

Menſchen, welche ſich ſelbſt nicht kennen, fuͤr Menſchenwerth kein Gefuͤhl, und die Mey - nung haben, daß jedermann durch ſo kleine Trieb - federn, als ſie, beſtimmt werde, machen mit dem wahrhaft großen Mann gleiche Praͤtenſionen. Ein Ungluͤck fuͤr Andre, wenn ſie mit ſolchen in einem Verhaͤltniſſe ſtehen, welches ſie noͤthigt, um die Gunſt derſelben zu werben: denn ſie ſind nicht klug genug, Andre nach ihrem Willen durch Vorſtellungen zu leiten; drum deſpotiſiren ſie; ſie ſind nicht fein genug, ihrem Herrſchtriebe Ge - nuͤge zu thun, ohne Andrer Ehrliebe zu kraͤnken; drum muß der, welcher ihrer bedarf, unter ihren groben Befehlen ſeufzen.

So wie die Ehrliebe auch aus dem Verlan - gen nach andern Vortheilen, zu deren Beſitz die Ehre verhilft, entſpringen kann; ſo auch die Be - gierde zu herrſchen. Wer, in groͤßern oder klei - nern Kreiſen, der Erſte iſt, kann darauf rech - nen, daß Andre, um ſich ſeine Gunſt zu verſchaf - fen, gegen ihn gefaͤllig ſind, ſeine Neigungen zu befriedigen ſuchen, und ſeinen Wuͤnſchen zuvor - kommen. Er erhaͤlt mit der Herrſchaft zugleichGgmehr466mehr oder weniger Mittel, ſein Leben angenehm zu machen.

Wie manchen Fuͤrſten nennt die Geſchichte, der, wahrlich nicht aus der edlen Begierde, Men - ſchen gluͤcklich zu machen; ſondern, um ſeiner Sinnlichkeit und ihren Launen ungehindert genug thun zu koͤnnen, nach dem Throne verlangte?

Was war es, das einen Erzbiſchof von Sens, einen Lamoignon, einen Breteuil und andre Deſpoten aus dem franzoͤſiſchen Mini - ſterium vor der Revolution, antrieb, alle Mit - tel anzuwenden, um ſich auf der Hoͤhe, von der ihr Wink Alles regierte, und die Nation in der ſclaviſchen Niedrigkeit zu erhalten, als die Furcht, bey groͤßerer Freyheit, ihre uͤbermuͤthigen Begier - den nicht mehr in dem Schweiß und dem Blut der Nation ſaͤttigen zu koͤnnen? als die Furcht, durch das freye Volk uͤber ihre ſchreyenden Unge - rechtigkeiten, und die Greuel ihres Deſpotiſmus zur Rechenſchaft gezogen zu werden?

Mirabeau, ein Mann von großem Geiſt und kleinem Herzen, wird eben ſo ſehr durch ſei - nen eignen Vortheil, als durch das Bewußtſeyn ſeiner großen Talente, zu dem Beſtreben ange - feuert, ſich zum Regierer des Volks, zum An - ordner der Conſtitution, zum Erſten Franzoſen zu machen. Wer geſteht nicht, wenn er die großen Plane, die ſein vom Herzen nicht beun -ruhigter467ruhigter Geiſt entwarf, uͤberſieht, daß er beru - fen ſey, der Fuͤhrer einer Verſammlung zu ſeyn, die die Gruͤndung der Gluͤckſeligkeit einer Nation zum Zweck hat? Aber wer wird nicht unwillig uͤber den Mißbrauch, den die Leidenſchaft mit den herrlichen Talenten macht; wenn er denſelben Mann fuͤr oder wider einen Vorſchlag aus Haß, Rachſucht und Privatintereſſe ſtreiten ſieht?

Die Wirkungen des Triebes zu herrſchen werden durch die Quelle, aus welcher er entſpringt, beſtimmt. Der große und edle Mann wird durch ihn aufgefordert werden, ſich diejenigen Vorzuͤge zu verſchaffen, welche ihm ein Recht uͤber Andre verſtatten; und in der Wahl der Mittel, ſein Recht geltend zu machen, von der Weisheit ge - leitet werden. Er will keine Sclaven, ſondern Menſchen, die ihm aus Einſicht und gern fol - gen, und iſt daher bemuͤht, jedermann davon zu uͤberzeugen, daß ſeine Herrſchaft kein Joch, ſon - dern eine Fuͤhrerin zur Gluͤckſeligkeit iſt.

Ganz anders der blinde Egoiſt, der wahren Menſchenwerth nicht kennt, und ſich durch kleine Vortheile, zu welchen er verhelfen kann, berech - tigt glaubt, Menſchen, wie Sclaven zu behan - deln. Er will unbedingten Gehorſam, blinden Glauben an ſeine Autoritaͤt. Er duldet keinen Widerſpruch, keine Weigerung, denn, weil das Gefuͤhl ſeiner eignen Kraft nicht ſehr großGg 2ſeyn468ſeyn kann, erſchrickt er vor jeder Aeußerung, die von Kraft zeugt, und ſucht ſie zu unterdruͤcken, damit ſein ſchwaches Gebaͤude nicht dadurch er - ſchuͤttert werde. Er verlangt von ſeinen Unter - gebnen ſelbſt das Unmoͤgliche. Sie ſollen jeden ſeiner unordentlichen Wuͤnſche, jede ſeiner un - regelmaͤßigen Neigungen, jede ſeiner eigenſinni - gen Launen errathen und befriedigen. Und wehe ihnen, wenn ſie die Foderungen ſeines Wahn - ſinns nicht erfuͤllen koͤnnen oder wollen!

Wenn nicht ein gutes Herz und menſchen - freundliche und billige Grundſaͤtze den Trieb zum Herrſchen leiten, ſo artet er in deſpotiſchen Sinn aus, und hat die traurigſten Folgen fuͤr den Herrſchſuͤchtigen ſelbſt, und fuͤr die, welche ihr Verhaͤltniß an ihn ſchließt.

Jener wird von einem beſtaͤndigen Argwohn und Mißtrauen gequaͤlt, weil er wohl weiß, daß er Andern eine Laſt iſt, und jeder von Herzen wuͤnſchte, ſich ſeiner zu entledigen. Vertrauen und Freundſchaft ſind ihm daher unbekannte Ge - fuͤhle; die Menſchlichkeit verlaͤßt ihn, weil er die Menſchheit nicht achtet. Er verſchließt ſich, wie Dionys, in einen ewigen Kerker, und lebt ſeine Tage freudenleer, von den groͤßten Foltern des Herzens, Neid, Mißgunſt, Furcht und Schrecken gequaͤlt.

Welch469

Welch eine Geißel er fuͤr die, die das Schick - ſal ihm unterwarf, iſt, lehrt die Geſchichte an den Beyſpielen eines Gregorius, Alba, und ſo manches andern kleinen und großen Tyrannen der aͤltern und neuern Zeit. Weil der Herrſchſuͤchti - ge dieſer Art in ſich ſelbſt nicht Kraft und Wuͤrde genug hat, uͤber Andre ſich zu erheben, ſo erbauet er ſeinen Thron auf den Ruinen fremder Macht. Zerſtoͤrung iſt ſein Genuß, ſeine Freude, ſeine Looſung; und Andern zu nehmen, was er ſelbſt ſich nicht geben kann, das Ziel ſeiner Beſtrebun - gen. Kein Mittel iſt ſo verabſcheuungswuͤrdig, daß er es nicht waͤhlen: kein Gegenſtand ſo heilig, daß ſeine Herrſchſucht ihn nicht entweihen ſollte. Er ſchont ſeines Vaters und ſeiner Mutter, ſei - ner Kinder und ſeines Weibes nicht, wenn die nie zu ſaͤttigende Herrſchſucht ſie zum Opfer be - gehrt.

Funfzehnte Unterhaltung. Ueber den Nachruhm.

Der Wunſch, von Andern mit Achtung ge - nannt zu werden, ſchraͤnkt ſich nicht blos auf das gegenwaͤrtige Leben ein; man wuͤnſcht, auch nach dem Tode noch ſein Andenken geehrt zu ſehen. Gg 3Der470Der Gedanke, ſeinen Namen unſterblich zu ma - chen, feuert den Eyfer des Kuͤnſtlers an, begei - ſtert den Dichter, und treibt den Krieger, ſelbſt ſein Leben zu wagen.

Der Grund dieſer eyfrigen Bemuͤhung um Nachruhm liegt nicht ſowohl in der Vorſtellung, daß man auch noch nach dem Tode die Ehre em - pfinden werde; denn dieſe iſt zu dunkel und zu unbeſtimmt, als daß ſie ſolche Wirkung haben koͤnnte; ſondern vielmehr in der angenehmen Em - pfindung, welche der Gedanke auch nach dem Tode wirſt du noch mit Achtung genannt werden, in dem Lebenden hervorbringt. Man anticipirt im gegenwaͤrtigen Leben das, was man erſt von der Zukunft eigentlich erwartet. Daß der Ge - danke, auch dann, wenn man nicht mehr em - pfindet, noch geachtet zu werden, dem Herzen ſehr ſchmeichelhaft ſeyn muͤſſe, laͤßt ſich ſehr leicht entwickeln.

Die Freude uͤber den Genuß der Ehre iſt um ſo groͤßer, je gewiſſer man ſeyn kann, daß ſie eine Folge des eignen Verdienſtes, nicht ein Werk fremder Schmeicheley iſt. Was kann aber hie - von gewiſſer uͤberzeugen, als wenn die Ehre auch dann noch fortdauert, wenn man von unſrer Per - ſon keinen Vortheil mehr ziehen kann, und der Tod alle Verhaͤltniſſe zerriſſen hat, die dieſen oder jenen veranlaſſen konnten, ſeines Jntereſſe wegenuns471uns Weihrauch zu ſtreuen. Was kann die So - liditaͤt des Ruhms ſichrer beweiſen, als die lange Dauer deſſelben? Was herzerhebender und ſuͤ - ßer ſeyn, als der Gedanke, auch dann, wenn man nicht mehr unter den Menſchen lebt, doch noch auf Menſchen zu wirken?

Ganz gemeine Seelen ſind dieſer Beſtrebung um Nachruhm nicht faͤhig. Jhr Geſichtskreis wird von dem heutigen Tag und den ſie zunaͤchſt umgebenden Gegenſtaͤnden begraͤnzt. Um durch ſolche Motive beſtimmt zu werden, die uͤber die Zeit des Genießens auf Erden hinaus liegen, wird Kraft erfordert zu Aufopferungen, Reizbarkeit des Herzens fuͤr große Gedanken, ein Blick in die Ewigkeit. Heroſtratiſche*)Heroſtratus wollte den Tempel der Diana zu Epheſus zerſtoͤren; wie man ſagt, um ſich nach dem Tode noch nennen zu laſſen. Bemuͤhung um Nachruhm iſt Unſinn; denn nur bey voͤllig ver - blendeter Vernunft und voͤlliger Trunkenheit der Sinne kann man den Einfall bekommen, durch Zerſtoͤrung ohne Zweck und empoͤrende Thaten, ſeinem Namen Unſterblichkeit zu verſchaffen. Es giebt deren freylich Mehrere, die den Anſchein ha - ben, als wollten ſie durch ihre Unthaten bewirken, daß das Aufſehn, welches ſie machen, auch nach ihrem Tode noch fortdaure; aber, wenn dies gleich geſchieht, ſo glaub 'ich doch kaum, daß ſieGg 4ſelbſt472ſelbſt uͤber den Tod hinaus ſehen; ſondern nur des Kitzels gedenken, den ſie empfanden, wenn ihr Name in dem Munde ihrer Mitbuͤrger war, und ſich in dem Taumel ihres Wahnſinns bereden, daß ſie dieſen Kitzel auch noch im Grabe empfin - den werden: es muͤßten denn ihre Jdeen von Ehre und Groͤße ſo verſchroben und ihr moraliſches Ge - fuͤhl ſo roh ſeyn, daß ſie ihre wahnſinnigen Tha - ten fuͤr groß und der Unſterblichkeit werth hielten, in welchem Fall ſie denn freylich auch durch die Begierde, ihres Namen Gedaͤchtniß zu verewi - gen, zu denſelben bewogen werden koͤnnten.

Sechszehnte Unterhaltung. Ueber die Neigung zum aͤußern Eigenthum.

Nichts hat wohl von alten Zeiten her die Koͤpfe und Federn der Richter und Advokaten mehr be - ſchaͤftigt, als die Proceſſe uͤber Mein und Dein. Jeder, wenn gleich nicht jeder gleich ſtark, wuͤnſcht etwas zu beſitzen, und man muß den hoͤchſten Grad von Jndolenz haben, wenn man die Wahr - heit des Sprichworts nicht fuͤhlt: Eigner Heerd iſt Goldes werth.

Haus und Hof, Nahrungsmittel und Klei - dung ſind nothwendige Erforderniſſe zur Erhal -tung473tung des Lebens; darum muͤſſen dieſe Dinge, ſo wie das, was in ihren Beſitz ſetzen kann, wie z. B. das Geld, begehrt werden. Aber man wuͤnſcht nicht blos, ſie zu haben, man will ſie gern eigenthuͤmlich beſitzen, und vertauſcht gern den prekaͤren Beſitz einer groͤßern Summe der aͤußern Guͤter mit einem kleinern Eigenthum. Der Grund dieſer Neigung zum Eigenthum liegt in dem Widerwillen des Menſchen gegen jede Art von Abhaͤngigkeit und der Liebe zur Freyheit; wo - zu noch kommt, daß man, wenn man etwas zu eigen beſitzt, ſichrer ſeyn kann, daß der Beſitz dauernd ſeyn werde, als wenn es vom Zufall, oder dem guten Willen Andrer abhaͤngt, wie lange man etwas beſitzen und genießen ſoll.

Zuweilen hat es den Anſchein, als wenn je - mand die aͤußern Guͤter, nicht als Mittel, ſein Leben zu erhalten und bequemer zu machen, ſon - dern an ſich ſelbſt werth halte und begehre. Jn - deß, wenn man die Sache genauer unterſucht, wird es ſich entdecken, daß doch der erſte Beweg - grund des Strebens nach Geld und Gut in dem Wunſch lag, ſich dadurch ein bequemes, ange - nehmes und ruhiges Leben zu verſchaffen, wenn es gleich nicht wirklich dazu angewandt wird. Jch behaupte ſogar, daß bey ſolchen Leuten der Wunſch, gut leben zu koͤnnen, ſtaͤrker iſt, als bey Andern,Gg 5welche474welche durch die Anwendung ihres Eigenthums dieſen Wunſch befriedigen. Denn eben deswe - gen, weil ihr Verlangen nach guten Tagen ſo heftig iſt, iſt die Furcht daſſelbe nicht befriedi - gen zu koͤnnen, ſo groß, und ſie glauben daher, nicht genug Mittel erwerben zu koͤnnen, um zu ihrem Zweck zu gelangen. Mich duͤnkt, daß die dieſe Erklaͤrung beſtaͤtigende Bemerkung des fran - zoͤſiſchen Weltweiſen Helvetius ſehr richtig iſt, wenn er ſagt, daß die Begierde nach Geld und Gut, ohne doch daſſelbe zum Vergnuͤgen und zur Bequemlichkeit zu nutzen, ſich am haͤufigſten bey Leuten finde, welche in Duͤrftigkeit gebohren ſind, oder moͤchte ich hinzuſetzen, ſehr haͤufig die Bey - ſpiele des Elends, worin die Duͤrftigkeit verſetzt, vor Augen haben. Bey ſolchen Perſonen muß natuͤrlich die Furcht vor Mangel und Armuth ſehr lebhaft, und das Beſtreben, nie darin zu gera - then, ſehr ſtark ſeyn. Sie ſammlen und ſamm - len daher, ohne doch mehr, als die nothwendig - ſten Beduͤrfniſſe zu befriedigen, weil ſie zu den minder nothwendigen immer noch nicht genug zu haben meynen. Je aͤlter ſie werden, deſto ſchwaͤcher werden die Reize, welche das Vergnuͤ - gen, die Pracht und was ſonſt zum Aufwand er - muntert, haben; und ſie kommen endlich durch die Gewohnheit dahin, daß ſie ſich mit der Moͤglichkeit mehrere Beduͤrfniſſe zu befriedigen,be -475begnuͤgen, ohne den wirklichen Genuß zu ver - langen*)Die Worte des angefuͤhrten Philoſophen finden ſich in ſeiner Abhandlung de l'eſprit, diſcours 3. cha - pitre 10. und ſind folgende: Dans un homme, qui ſera d'un caractere timide & défiant, le ſouve - nir vif des maux qu'il a éprouvés, doit d'abord lui inſpirer le deſir de ſ'y ſouſtraire, & le de - terminer par cette raiſon à ſe refuſer jusqu'à des beſoins dont il a, par la pauvreté acquis l'habitude, de ſe priver. Une fois au deſſus du beſoin, ſi cet homme atteint alors l'âge de trente-cinq ou quarante ans; ſi l'amour du plaiſir, dont chaque inſtant émouſſe la vivaci - , ſe fait moins vivement ſentir à ſon coeur, que fera-t-il alors? Plus difficile en plaiſirs ſ'il aime les femmes, il lui en faudra de plus bel - les, & dont les faveurs ſoient plus cheres, il voudra donc acquerir de nouvelles richeſſes pour ſatisfaire ſes nouveaux gouts: or dans l'eſpace de temps, qu'il mettra à cette acquiſi - tion, ſi la défiance & la timidité, qui ſ'accroiſ - ſent avec l'âge, & qu'on peut regarder comme l'effet du ſentiment de notre foibleſſe, lui - montrent, qu'en fait de richeſſes, aſſez n'eſt ja - mais aſſez; & ſi ſon avidité ſe trouve en équili - bre avec ſon amour pour les plaiſirs, il ſera ſoumis alors à deux attractions différentes: pour obéir à l'une & à l'autre, cet homme,ſans.

Die476

Die vernuͤnftige Werthſchaͤtzung, Einthei - lung und Schonung ſeines Geldes und Guts, wird Sparſamkeit genannt. Der Sparſame haͤlt ſein aͤußeres Eigenthum werth, weil es ihm ein Mittel zur Erreichung wichtiger Zwecke des Lebens iſt. Er berechnet vorzuͤglich das Verhaͤlt - niß zwiſchen dem, was er hat und aufwenden muß, genau; und enthaͤlt ſich von unnoͤthigemAuf -*)ſans renoncer au plaiſir, ſe prouvera, qu'il doit, du moins en remettre la jouiſſance, au temps , poſſeſſeur de plus grandes richeſſes, il pourra ſans crainte de l'avenir, ſ'occuper tout entier de ſes plaiſirs préfens. Dans le nou - vel intervalle de temps qu'il mettra à accumuler ſes nouveaux tréfors, ſi l'âge le rend tout-à-fait inſenſible au plaiſir, changera-t-il fon genre de vie? renoncera t-il à des habitudes que l'inca - pacité d'en contracter de nouvelles lui a rendues cheres? Non, ſans doute; & ſatisfait, en contemplant fes tréſors, de la poſſibilité des plaiſirs, dont les richeſſes ſont l'échange, cet homme, pour eviter les peines phyſiques de l'ennui, ſe livrera tout entier à ſes occupations ordinaires. Il deviendra même d'autant plus avare dans ſa vieilleſſe, que l'habitude d'amaſ - ſer n'étant plus contrebalancée par le deſir de jouir, elle ſera au contraire ſoutenue en lui par la crainte machinale que la vieilleſſe a toujours de manquer. 477Aufwand, um fuͤr das Noͤthige ſorgen zu koͤn - nen. Aber nie ſchont er ſein Geld auf Koſten der Pflichten gegen ſich ſelbſt und Andre. Er goͤnnt ſich Vergnuͤgungen und Erholungen; zieht ſeine Ehre dem Gelde vor, und theilt von dem Seinigen dem duͤrftigen Bruder gern ſo viel mit, als er kann.

Wo ſich uͤbertriebene Werthſchaͤtzung und Liebe des Eigenthums bemerken laͤßt, da, ſagen wir, iſt Geiz. Die Arten deſſelben ſind ſehr verſchieden. Zeigt er ſich vorzuͤglich in einer aͤngſtlichen Bewahrung des Eigenthums und dem Mangel der Mittheilung, ſo heißt er Geiz im engſten Sinne (tenacitas).

Geizige dieſer Art kennen keinen wichtigern Gegenſtand, Tugend und Ehre ausgenommen, welche bey dieſer Art des Geizes doch noch geach - tet werden koͤnnen, als das Geld, und was Gel - des Werth hat. Sind ſie allein, ſo zaͤhlen und rechnen und revidiren ſie; ſind ſie in der Geſell - ſchaft Andrer, ſo lenken ſie, wo moͤglich die Un - terhaltung hierauf. Nichts iſt ihnen empfindli - cher, als der Verluſt eines Kapitals oder die Be - ſchaͤdigung eines Kleidungsſtuͤckes*)Jch ſah einmal einen angeſehenen Mann in der groͤßten Hitze gegen einen ſeiner Bedienten, der nichts verſehen hatte. Jch gab einem in der Ge -ſell -: nichts ih -nen478nen angenehmer, als ein Jahr, welches ihre Scheuren fuͤllt, und die Fruchtbarkeit ihres Vie - hes. Die Freuden ſind ihnen willkommen, wel - che nichts koſten; ſollen ſie ſelbſt Geld darauf verwenden, ſo nimmt der Schmerz uͤber die Aus - gabe ihren Freuden alles Angenehme. Taͤglich ermahnen ſie Gatten und Kinder und Geſinde, wirthſchaftlich und ſparſam zu ſeyn, damit ſie nicht in der Zukunft darben muͤßten. Wer von ihnen leihen will, erhaͤlt ſtatt des Geldes, Be - weiſe ihres Unvermoͤgens, ihm zu dienen, und hoͤrt Geſeufze und Klagen uͤber die magern Zei - ten: nur, wenn er eine ganz ſichre Buͤrgſchaft leiſten kann, uͤberwinden ſie ſich, ihm etwas zu borgen, doch nicht ohne die Verſichrung, daß ſie es nur aus beſondrer Freundſchaft gegen ihn und chriſtlicher Liebe thaͤten*)Herr Simon bittet in Moliers l'Avare den Harpa - gon, einem jungen Manne eine Geldſumme zu bor - gen. Ja, fragt Harpagon, hat man bey ihm auch nichts zu riſqniren? Als ihm Simon ver - ſichert, daß er von ſehr reicher Familie ſey, und ſchon ſeine Mutter verloren, erwacht das Pflichtge -fuͤhl. Jhr Schuldner zuſeyn,*)ſellſchaft meine Verwunderung daruͤber zu erkennen. Ja, antwortete er mir, es iſt wahr: er handelt nicht recht; aber ſie koͤnnen es ihm nicht verdenken, daß er aufgebracht iſt; denn heute Mittag hat ein Marqueur ſein Kleid mit Bruͤhe begoſſen. !479ſeyn, iſt ein peinliches Verhaͤltniß. Sie merken auf ſein Thun und Laſſen, ſind in ewiger Sorge, daß es mit ihm zuruͤckgeht, und mahnen ihn, wo ſie ihn erblicken, wenn nicht mit graden Worten, doch von ferne und mit ihren barmherzigen Mi - nen. Sie ſtimmen gerne mit ein in die Bemer - kung, daß ſo viel Arme der Wohlthaten unwuͤr - dig ſeyen; ob gleich niemand mitleidiger iſt, als ſie wenn es ihnen kein Geld koſtet. Sie ſind wohlthaͤtig, wenn ſie verweſende Speiſen und ſchimmelndes Brodt haben; und freygebig, wenn ſie von ihrer Freygebigkeit zehnfachen Se - gen erwarten, oder ſich vom Tode retten wol - len. Sie machen den Predigern und der Kirche Geſchenke, um ſich Gottes Segen zu verſchaf - fen; und beten, ſingen und ſind fromm, um ihr Eigenthum der Obhut des Hoͤchſten zu em - pfehlen. Auf große Speculationen laſſen ſie ſich nicht ein, auch dann nicht, wenn ſie gro - ßen Gewinn bringen koͤnnen; ſie haͤngen zu ſehr an ihrem Gelde, als daß ſie es fuͤr einen doch noch nicht gegenwaͤrtigen und gewiſſen Vortheil wagen ſollten.

So

*)fuͤhl des Geizigen, und er ſagt: C'eſt quelque choſe, que cela. La charité, M. Simon, nous oblige a faire plaiſir aux perſonnes, lorsque nous le pouvons.

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So fern der Geiz ſich in der Verſagung des Vergnuͤgens und der Bequemlichkeit aͤußert, wird er Kargheit genannt.

Der Karge befindet ſich in einer ewigen Be - denklichkeit. Er moͤchte ſo gern ein Vergnuͤgen genießen, aber doch auch nicht gern ſeine Geld - boͤrſe oͤfnen. Er uͤberlegt daher und uͤberlegt, und uͤber dem Ueberlegen geht das Vergnuͤgen voruͤber. Er freut ſich herzlich und iſt ſo zufrieden und ru - hig, wenn er ſich etwas verſagt, eine geldfodern - de Neigung uͤberwunden hat. Wie weiſe hab 'ich gehandelt, denkt er bey ſich ſelbſt, wenn die Gelegenheit, welche ihn reizte, vorbeygeeilt iſt; der Genuß waͤre doch nun geendigt: und ich haͤtte meine Batzen nicht mehr! Taͤglich ſinnt er auf neue Methoden, ſeine Beduͤrfniſſe mit noch we - niger Geldaufwand zu ſtillen, und oͤkonomiſchere Einrichtungen zu treffen. Es gewaͤhrt ihm eine angenehme Unterhaltung, den Aufwand Andrer nachzurechnen, und mit dem Seinigen zu verglei - chen; nur muß bey der gemachten Bilanz der Vortheil auf ſeiner Seite ſeyn; denn, wenn das Gegentheil ſtatt findet, wird er von den heftigſten Gewiſſensbiſſen gepeinigt. Wagt er es einmal, ſich ein Vergnuͤgen fuͤr Geld zu verſchaffen; ſo hat er hundert Gruͤnde, ſich vor ſeinem kargen Gewiſſen zu rechtfertigen, und wiederholt es, dem Scheine nach Andern, in der That aber ſichſelbſt,481ſelbſt, unzaͤhligemal, daß man bey einer ſolchen Veranlaſſung ſich wohl einmal etwas zu gute thun koͤnne; es ſey ja, wenn man nur wolle, leicht, dies nachher wieder zu erſparen.

Jſt die Liebe zum Eigenthum ſo uͤbertrieben, daß man ſich ſogar das Nothduͤrftige entzieht, alle Mittel, ſchlechte und gute, anwendet, daſ - ſelbe zu erhalten und zu vergroͤßern, und ſelbſt die Ehrliebe ihr unterordnet; ſo wird ſie Filzigkeit, niedertraͤchtiger Geiz (ſordities).

Der niedertraͤchtige oder ſchmutzige Geiz ſetzt ein fuͤr alle menſchliche Gefuͤhle abgeſtumpftes Herz, eine verworfene Seele und einen gebrech - lichen Character voraus. Kein Funken von Menſchenliebe, Gerechtigkeit, Billigkeit, Ver - trauen und Pflichtgefuͤhl in einem Geizigen dieſer Art. Kein Freund kann auf ihn rechnen, kein Blutsverwandter auf ihn hoffen. Jn jedem Men - ſchen, ſein Weib und ſeine Kinder nicht ausge - nommen, ſieht er hinterliſtige Nachſteller ſeines Vermoͤgens. Cela eſt étrange, ruft Harpagon beym Moliere aus, als ſein Sohn auf die Kla - gen des Vaters uͤber elende Zeiten, antwortet: daß er doch wohl nicht Urſach zu klagen habe, da die ganze Stadt wiſſe, daß er Vermoͤgen ge - nug habe. Cela eſt étrange! que mes pro - pres enfans me trahiſſent, & deviennent mesHhenne -482ennemis*)Molieres l'Avare, Acte 1, Scene 3. Das iſt un - erhoͤrt, daß meine eigenen Kinder an mir zu Fein - den und Verraͤthern werden.. Euh, ſeufzt derſelbe Geizhals, als ſein Sohn und ſeine Tochter ſich durch Zeichen ermuntern, dem Vater ein Anliegen vorzubringen, Euh! Je crois, qu'ils ſe font ſigne l'un à l'au - tre de me voler ma bourſe**)Ebendaſelbſt. Ach! Jch glaube ſie winken ſich ein - ander, mir meine Boͤrſe zu ſtehlen..

Um jede, auch die ſchmutzigſte Kleinigkeit, bekuͤmmert ſich der Niedriggeizige mit ſorgfaͤltiger Genauigkeit, und fuͤgt allem, was er ſagt, ernſt - liche Warnungen, ja nichts zu beſchaͤdigen, hin - zu. Er achtet ſich ſelbſt viel geringer, als ſeinen goldenen Mammon: und ſeine abgezehrte Geſtalt iſt ein redender Beweis, daß er ſich nie ſaͤttigt, und keine Speiſen ißt, als ſolche, die ihre Nah - rungskraft ſchon verloren haben. Gegen jeder - mann ſeufzt er uͤber ſeine ſchlechten Umſtaͤnde, um jedem den Muth zu nehmen, ihn um etwas zu bitten. Ruhe, Bequemlichkeit, Ehre und Alles, opfert er auf, um ſeinen Schatz zu bewachen***)Man hat mir erzaͤhlt, daß ein Geiziger in *** alle Nacht einigemal um ſein Haus herumlaufe und belle, um die, welche etwa Neigung haben ſollten, ſeinem Gelde zuzuſprechen, glauben zu machen, daß er einen Hund habe, welchen ſich wirk - lich anzuſchaffen, ſein Geiz nicht erlaubt.. Jedes483Jedes Geraͤuſch erſchreckt ihn, und wenn auch nichts rauſcht, gaukelt ſeine Phantaſie ihm doch ein Getoͤſe vor, und ſetzt ihn in Schrecken. Keine Sentenz iſt in ſeiner Vorſtellung wahrer, als die, welche zur Sparſamkeit auffordert. Als Valer beym Moliere zum Harpagon ſagt*)Maͤßigkeit herrſche bey unſerm Tiſche, und wie ein alter Weiſer ſagt, man eſſe, um zu leben, und lebe nicht, um zu eſſen. Ach, wie ſchoͤn iſt dies geſagt! Komm, daß ich dich umarme, fuͤr dieſe Worte. Dies iſt der ſchoͤnſte Ausſpruch den ich je gehoͤrt habe. Ver - giß nicht, mir dieſe Worte aufzuſchreiben. Mit goldnen Buchſtaben will ich ſie in die Kaminwand meines Saales eingraben laſſen.: Il faut que la frugalité regne dans les repas qu'on donne & que ſuivant le dire d'une Ancien: Il faut manger pour vivre & non pas vivre, pour manger, antwortete dieſer ſehr erfreut: Ah que cela eſt bien dit! Aproche, que je t'em - braſſe pour ce mot. Voila la plus belle ſen - tence, que j'aie entendue de ma vie. Souviens-roi de m'ecrire ces mots. Je les veux faire graver en lettres d'or ſur la chemi - née de ma ſalle**)l'Avare, Acte 3. Scene 1. . Kein Gedanke iſt ihm fuͤrchterlicher, als der an den Tod; denn er hatHh 2keine484keine Hofnung und kennt keine Gluͤckſeligkeit, als die, welche ihm der todte Geldklumpen gewaͤhrt.

Sehr wahr iſt die Schilderung, welche, in dem ſchon angefuͤhrten Luſtſpiel, la Fleche von dem niedrigen Geizigen in der Perſon des Harpa - gons macht*)Herr Harpagon iſt unter allen Menſchen am we - nigſten Menſch, unter den Sterblichen der haͤrtſte und verſchloſſenſte. Keine Gefaͤlligkeit bringt ſeine Erkenntlichkeit ſo weit, daß er die Haͤnde oͤfnen ſollte. Lob, Achtung, Wohlwollen in Worten und Freundſchaft, ſo viel man verlangt nur kein Geld. Nichts iſt trockner und trauriger, als ſeine Gunſtbezeugungen; geben iſt ein Wort, welches er ſo ſehr verabſcheut, daß er nie ſagt: ich gebe dir meinen Gruß; ſondern: ich leihe dir ihn. Ueber - dies iſt er ein Barbar, ſeine Haͤrte koͤnnte alles in Verzweiflung ſetzen, und man koͤnnte des Todes ſeyn, ohne daß er ſich ruͤhren wuͤrde. Kurz, er liebt das Geld mehr als Ehre, guten Namen und Tugend. Der Anblick eines Fordernden bringt ihm Verzuckungen, dadurch wird ſeine empfindlich - ſte Seite getroffen, das durchbort ihm das Herz, und zerreißt ſeine Eingeweide.. Le Seigneur Harpagon, ſagt er, eſt de tous les humains l'humain le moins humain, le mortel de tous les mortels le plus dur, & le plus ſerré. Il n'eſt point de ſervi - ce qui pouſſe ſa reconnoiſſance jusqu'à lui faire ouvrir les mains. De la louange, del'eſti -485l'eſtime, de la bienveillance en paroles & de l'amitié, tout qu'il vous plaira; mais de l'ar - gent, point d'affaires. Il n'eſt rien de plus ſec & de plus triſte, que ſes bonnes graces, & donner eſt un mot pour qui il a tant d'aver - ſion, qu'il ne dit jamais: Je vous donne le bon jour; mais: Je vous prête le bon jour. Il eſt Turc là-deſſus, mais d'une turquerie à déſeſpérer tout le monde; & l'on pourroit crever qu'il n'en branleroit pas. En un mot, il aime l'argent plus qu'honneur, que repu - tation & que vertu: & la vue d'un demandeur lui donne des convulſions; c'eſt le fraper par ſon endroit mortel; c'eſt lui perçer le coeur; c'eſt lui arracher les entrailles.

Habſuͤchtig (avarus) wird der Geizige ge - nannt, wenn die Begierde, ſein Haab und Gut zu vergroͤßern, vorzuͤglich bemerkbar iſt. Der Habſuͤchtige iſt nicht ſo aͤngſtlich in der Be - wahrung deſſen, was er beſitzt, aber deſto mehr bemuͤht, daſſelbe zu vermehren. Er laͤßt keine Gelegenheit ungenutzt, wo er etwas verdienen kann, und nimmt auf die Rechtmaͤßigkeit oder Unrechtmaͤßigkeit ſeines Gewinns keine Ruͤckſicht. Er wird wuͤthend, wenn ihm ein Vortheil ent - gangen, oder eine Speculation nicht gegluͤckt iſt, und beſchuldigt den betruͤgeriſcher Kunſtgriffe, derHh 3ihm486ihm im Spiele etwas abgewinnt. Er fragt nicht darnach, wie viel ihm etwas nuͤtze; es zu haben, iſt ihm genug. Er wird vom heftigſten Brodt - neid gequaͤlt, und wendet feyerliche Betheurun - gen des Werths ſeiner Waaren, heilige Ver - ſicherungen ſeiner Uneigennuͤtzigkeit und ſeines eig - nen Schadens, kriechende Schmeicheleyen, und Verachtung und Herabſetzung ſeiner Nebenbuhler an, um den Vortheil in ſeine Haͤnde zu ſpielen. So eifrig er dafuͤr ſorgt, von allen Dingen Nu - tzen zu ziehen, ſo wenig goͤnnt er dies Andern. Er dingt mit dem armen Handwerksmann und Tagloͤhner auf die unbarmherzigſte Weiſe, und ſchwoͤrt, wenn er viel zu wenig bezahlt hat, doch, daß er uͤbertheuert ſey. Wer ihm keinen Ge - winn bringt, wird geringgeſchaͤtzt; wer ihn in ſei - nen habſuͤchtigen Geſchaͤften ſtoͤrt, kalt und auch wohl unhoͤflich begegnet. Man mache ihn ja nicht zum Beſorger ſolcher Angelegenheiten, welche gemeinſchaftliche Geldbeytraͤge verlangen; denn er wird bey der Berechnung eher das allgemeine Jntereſſe, als ſeinen eignen Vortheil vergeſſen. Reiche und kinderloſe Greiſe ſind das Ziel ſeiner Nachſtellungen. Er ſucht ihre Gunſt durch klei - ne Geſchenke zu erkaufen, und durch ſchmeichelnde Dienſtleiſtungen zu erbetteln, damit er in ihrem Teſtament bedacht werde. Er iſt redlich oder un - redlich, Freund oder Feind, tugendhaft oder la -ſter -487ſterhaft, je nachdem ihm Redlichkeit oder Unred - lichkeit, Freundſchaft oder Feindſchaft, Tugend oder Laſter, am meiſten einbringen.

Aus der uͤbertriebenen Begierde nach den aͤu - ßern Guͤtern des Lebens, kann ſich auch ſehr leicht die Neigung, fremdes Eigenthum heim - lich an ſich zu bringen, die Neigung zum Steh - len erzeugen. Denn, wer von einer ſolchen Be - gierde verblendet iſt, kuͤmmert ſich nicht um die Mittel, wodurch ſie befriedigt werden kann. Er - laubt oder nicht erlaubt, wenn ſie ihn zu ſeinem Zwecke verhelfen, ſind ſie gut, und er bedient ſich derſelben.

Jndeß iſt es dieſe uͤbertriebene Liebe zum Geld und Gut nicht allein, aus welcher die Luſt zum Stehlen entſpringen kann; die Gewohnheit kann ſie auch ohnedies erzeugen. Noth zwingt vielleicht zum erſten Verſuch gegen das Eigenthum eines Andern; der Verſuch gelingt; die leichte Erwer - bungsart gefaͤllt, wird oͤfter verſucht, und ſo die Neigung, auf dieſe Weiſe ſein Vermoͤgen zu ver - mehren, natuͤrlich.

Auch das Vergnuͤgen Andre zu beruͤcken, und ſich alſo an Liſt und Klugheit ihnen uͤberlegen zu ſehn, kann zum Stehlen verfuͤhren. Daher das Sprich - wort, daß das geſtohlene Brodt vorzuͤglich gut ſchme - cke. Es wird nemlich von der Freude, durch Liſt uͤber Andre einen Vortheil erhalten zu haben, gewuͤrzt.

Hh 4Sieb -488

Siebzehnte Unterhaltung. Ueber die Neigung zum Guten.

Tout eſt bien ſortant des mains de l'Auteur des choſes. (Rouſſeau. )

Es gab eine Zeit, wo man recht darauf zu ſin - nen ſchien, wie man die menſchliche Natur her - abſetzen und erniedrigen moͤchte. Die neuplato - niſchen Schwaͤrmereyen, die Bußpredigten moͤn - chiſcher Theologen, und die Klagen gallſuͤchtiger Miſanthropen koͤnnen zum Beweiſe dienen. Wußte man es doch ſo weit zu bringen, daß die - ſe Behauptung von der Verderbtheit der menſch - lichen Natur bibliſches Anſehn erhielt, und der Widerſpruch dagegen als ketzeriſch verdammt wur - de. So ſehr verdrehte man die vortrefliche Lehre Jeſus Chriſtus, der ſeine Meynung von der Beſchaffenheit der menſchlichen Natur in dem Rath Werdet, wie die Kinder ſo deutlich zu erkennen giebt.

Wohl uns, daß dieſe finſtern Zeiten der Bar - baren nicht mehr ſind! und daß wir uns an dem herzerhebenden Gedanken der Menſch iſt von Natur dem Guten geneigt erfreuen koͤnnen!

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An der Wahrheit deſſelben kann niemand zweifeln, der mit unbefangenem Auge den Men - ſchen beobachtet, und die Gruͤnde der menſchli - chen Neigungen kennt. Wo iſt wohl ein Menſch, unter denen, die aus der thieriſchen Rohheit her - ausgegangen ſind, der nicht das Gute liebte, und das Boͤſe haßte? Wen zwingt nicht ein So - krates zur Verehrung und Bewunderung, und ein Catilina zum Unwillen und Abſcheu? Wen erfuͤllt nicht die Vollendung einer guten That, mit Freude und Ruhe, die Vollbringung einer boͤſen mit Unruhe und Mißmuth?

Nur nicht das, was die Menſchen thun, verfuͤhrt durch unnatuͤrliche Erziehung, Jrrthum des Verſtandes und aͤußere Verhaͤltniſſe, auf die Rechnung der menſchlichen Natur geſchrieben! Sie kann verlaͤugnet und unterdruͤckt, aber nicht verderbt werden; wo ſie ſpricht, raͤth ſie zum Guten; wo ſie handelt, gilt es der Tugend. Trennet den vermeinten Vortheil des Boͤſewichts von ſeinen boͤſen Handlungen, und er wird ſich wahrlich nicht zu denſelben entſchließen! Laßt ihn den Frevel eines Dritten ſehen, an den er durch kein Jntereſſe gebunden iſt; und er wird ihn ver - abſcheuen; ſo wie die edle That des Tugendhaften bewundern und lieben*)Quel que ſoit, ſagt Rouſſeau in dem 4ten Buche ſeines Emils, le nombre des méchans ſur la ter -re,. Der Menſch kannHh 5das490das Boͤſe an ſich nie lieben; die Tugend, als ſol - che, nie haſſen und verabſcheuen.

Jeder kann ſich dieſe Behauptungen aus ſei - ner eignen Erfahrung beweiſen; mir iſt noch uͤbrig den Grund dieſer Neigung zum Guten zu entwickeln.

Es iſt wohl kein Menſch, der nicht wenig - ſtens einigemal fuͤr das Gute thaͤtig geweſen waͤ - re; und die hohe Freude und Zufriedenheit, die der Tugend folgt, nicht empfunden haͤtte. Wenn wir nun alſo ſicher vorausſetzen koͤnnen, daß je - der die Gluͤckſeligkeit kennt, welche mit der Tugend verknuͤpft iſt; ſo koͤnnen wir auch eben ſo ſicher annehmen, daß jeder der Tugend ſelbſt geneigt iſt, und gewiß ihre Zwecke jedem Andern ſo lan - ge vorzieht, bis er, durch irgend eine Urſache vom Wege der Natur abgefuͤhrt, die Gegenſtaͤn - de der gereizten Begierde fuͤr wuͤnſchenswuͤrdiger haͤlt, als die Guͤter, die ihm die Tugend verheißt. Wahrlich! der Menſch muͤßte ſehr roh oder un - empfindlich ſeyn, den die Sicherheit, die Ru - he, das Selbſtgefuͤhl, der edle Stolz, den die Tugend giebt, nicht ruͤhren und mit Liebe gegenſie*)re, il eſt peu de ces ames cadavéreuſes, deve - nues inſenſibles, hors leur intérêt, à tout ce qui eſt juſte & bon. L'iniquité ne plait, qu'au - tant qu'on en profite, dans tout le reſte[o]n veut que l'innocent ſoit protégé. 491ſie erfuͤllen ſollten! Die erſte natuͤrliche Neigung des unverdorbenen Menſchen, ſagt Garve*)Philoſ. Anmerk. und Abh. zu Cicero von den Pflich - ten, 3ter B. S. 213., geht immer darauf, Gutes zu wirken, denn im Gu - ten liegt ja die Quelle der Luſt.

Es iſt eine erfreuliche Wahrnehmung, die Wahrheit dieſes Raiſonnements durch den Cha - racter und die Handlungsweiſe ſolcher Voͤlker be - ſtaͤtigt zu ſehn, welche die ſogenannte Verfeine - rung noch nicht weit von der Natur entfernte. Hier ſind auch die Beyſpiele von der natuͤrlichen Guͤte des Menſchen allein zu ſuchen; weil hier noch nicht Mode und Verhaͤltniß das Werk der Natur verdorben haben.

Mehrere Reiſebeſchreiber haben ruͤhrende Zuͤ - ge von der Menſchenliebe, Gaſtfreyheit, Groß - muth, Redlichkeit und Seelengroͤße, ſolcher Na - tionen erzaͤhlt, welche dem Stande der Natur noch naͤher liegen, als wir: und meine Leſer und Leſerinnen werden gewiß einige derſelben hier nicht am unrechten Orte finden.

Wir machten, erzaͤhlt Herr Bourret von den Bewohnern einiger ſchweizeriſchen Gebirge**)Bourrets Reiſen in die Savoyſchen Eisgebirge., von der Gaſtfreundſchaft, dieſem unverletzlichen Geſetze des natuͤrlichen Menſchen, eine ſehr ſuͤße Erfahrung. Die Heftigkeit des Windes und desRegens492Regens noͤthigte uns jeden Augenblick, in alle Haͤuſer zu laufen, die wir antrafen, und allent - halben wurden wir empfangen, wie man Leute empfaͤngt, nach welchen man ſich herzlich geſehnt hat. Maͤnner und Weiber brachten Stuͤhle, zuͤndeten ein großes Feuer an, und beklagten un - ſer Schickſal, bey ſo boͤſem Wetter unterwegs zu ſeyn, ſo ungezwungen freundſchaftlich, und mit ſo warmen Antheil, als wenn wir ihre Bruͤder oder Kinder geweſen waͤren. Ohne Zweifel, ſagte ich bey mir ſelbſt, haben dieſe Leute noch nicht Soldaten beherbergt. Ein Kind, das wir in einem Hauſe allein antrafen, und zu dem wir ſagten, um es zu bewegen, daß es Feuer an - machte, wir wollten es bezahlen, antwortete uns, es brauche unſre Bezahlung nicht. Einige Frauensperſonen, die mich allein einen falſchen Weg nehmen ſahen, kamen im ſtaͤrkſten Regen aus ihren Haͤuſern, um mir den rechten Weg zu zeigen. Oft rief ich mit jenem komiſchen Dichter aus, als ihm ein Bettler das Goldſtuͤck wieder zuſtellte, das er ihm aus Verſehn gegeben hatte: O Tugend! wohin verkriechſt du dich! Die Seelenruhe dieſes Volks hat auch einen Ein - fluß auf ihr Aeußerliches. Wir erſtaunten, viele der jungen Baͤuerinnen auf dieſen Gebirgen weit einnehmender zu finden, als die Mamſells von St. Moritzen und Martinach.

Eben493

Eben ſo warm, wie Bourret, ſpricht Sauſſuͤre*)Jn ſeinen Reiſen durch die Alpen, aus dem Fran - zoͤſiſchen. von der edlen Gemuͤthsart der Alpenbewohner: Die Seele des Bewohners die - ſer Gebirge, ſo ſagt er, erhebt und veredelt ſich; die Dienſtgefaͤlligkeiten, die er erzeigt, die Pflich - ten der Gaſtfreyheit, die er erfuͤllt, haben nichts vom Miethling oder Knecht an ſich; in ſeinen Augen funkelt jener edle Stolz, der ſowohl ein Gefaͤhrte, als Beſchuͤtzer aller Tugenden iſt. Wie oft, wenn mich die Nacht bey einſamen und ent - legenen Alpendoͤrfchen oder Sennhuͤtten uͤberfiel, und keine Herberge in der Naͤhe war, klopfte ich nicht an die Thuͤre einer ſolchen Huͤtte, und wur - de, nach meiner Antwort auf einige Fragen, die meine Reiſe betrafen, mit einer Hoͤflichkeit, Freundſchaft, Gutherzigkeit und Uneigennuͤtzig - keit aufgenommen, wovon man anderwaͤrts mit Muͤhe Beyſpiele aufzuſuchen haͤtte.

Noch kann ich, ſchreibt Herr von Sauſſuͤre am Ende des erſten Theils ſeiner Reiſen, die Berge von St. Gingouph nicht verlaſſen, ohne eine Geſchichte zu erzaͤhlen, wodurch ſich die Un - ſchuld der Einwohner dieſer hohen Thaͤler aus - zeichnet. Jch traf in dieſen ausgedehnten Wuͤ - ſten, die in der Jahrszeit, worin ich ſie durch - wanderte, unbewohnt ſind, einen jungen Men -ſchen494ſchen und ein Maͤdchen an, die mit mir einen Theil der Reiſe machten. Jch erkundigte mich nach dem Anlaß ihrer Reiſe, und erfuhr von ih - nen ſowohl, als auch von meinem Fuͤhrer, wel - cher ſie kannte, daß der junge Menſch aus dem Canton Freyburg gebuͤrtig, und Geſchaͤfte we - gen in das Dorf dieſes Maͤdchens gekommen ſey; da ihm dann dieſelbe ſo wohl gefallen, daß er ſie zur Ehe begehrt habe. Das Maͤdchen, obſchon ihr der junge Menſch auch gefiel, wollte ihn doch nicht heyrathen, ohne von ſeiner Perſon und Fa - milie hinlaͤngliche Nachricht zu haben. Um alſo in einer Sache, die fuͤr ihr kuͤnftiges Gluͤck ſo wichtig war, ſelbſt zu ſehen und zu urtheilen, ging ſie allein und zu Fuß, mit dem jungen Menſchen durch die Gebirge, um zwo Tagereiſen von hier in der Heimath des Juͤnglings die noͤthigen Er - kundigungen einzuziehn. Als ich ſie antraf, kam ſie eben zufrieden von ihrer Reiſe zuruͤck, und hatte ihren Braͤutigam bey ſich, um ihn ſogleich nach ihrer Ankunft zu heyrathen. Jch finde hier - bey nicht ſowohl die Herzhaftigkeit des Maͤdchens, als welches groß und ſtark war, und ſich alſo vor ſeinem Liebhaber nicht zu fuͤrchten hatte, als viel - mehr die Ehrlichkeit und Redlichkeit dieſer guten Bergbewohner merkwuͤrdig. Denn, waͤre auch das Maͤdchen, mißvergnuͤgt uͤber die eingezognen Nachrichten, ohne den jungen Menſchen zuruͤck -ge -495gekommen, ſo haͤtte doch dieſe in der Geſellſchaft deſſelben unternommene Reiſe ihrem guten Na - men nicht den geringſten Nachtheil gebracht.

Jch kann nicht unterlaſſen, hier auch der Einwohner der Jnſel Pelew zu gedenken, deren Charakter, nach den Zuͤgen, welche der engliſche Reiſebeſchreiber von ihnen geſammlet hat, durch alle menſchliche Tugenden ſehr liebenswuͤrdig ge - macht wird.

Die Englaͤnder, welche in der Gegend dieſer Jnſel Schiffbruch gelitten hatten, wurden von den Pelewanern mit der groͤßten Menſchenfreund - lichkeit aufgenommen, und Koͤnig und Untertha - nen beeyferten ſich, ihnen wohl zu thun, und zur Herbeyſchaffung deſſen, was zur Ruͤckreiſe nach England nothwendig war, behuͤlflich zu ſeyn.

Bey dem Umgange der Englaͤnder mit den Jnſulanern, beſonders mit dem Koͤnige und ſei - ner Familie, ſahen ſie die ruͤhrendſten Beyſpiele von elterlicher und kindlicher Zaͤrtlichkeit. Wenn Raa-Kuk, des Koͤnigs Bruder, zu Hauſe kam, ſprangen ſeine Kinder um ihn her, kletterten an ihm hinauf, und liebkoſeten ihn; und er nahm ſie dann mit ſichtbarer Vaterfreude auf ſeinen Arm, druͤckte ſie an ſeine Bruſt, und ſpielte mit ihnen. Als die Englaͤnder von ihm Abſchied nahmen, nahm er einen nach dem andern bey der Hand, und mit der andern zeigte er auf ſeinHerz,496Herz, um anzudeuten, wie tief er den Schmerz ihrer Trennung empfaͤnde.

Abba-Thulle, der Koͤnig der guten Jnſu - laner, faßte zu den Englaͤndern ein ſo großes Vertrauen, daß er den Capitain Wilſon bat, ſei - nen geliebten Sohn, Li-Bu, mit ſich zu neh - men; damit er in England ſich Kenntniſſe ſamm - le, durch welche er ſeiner Jnſul nuͤtzlich werden koͤnne. Mit vaͤterlicher Sorgſamkeit empfiehlt er ſeinen Geliebten dem engliſchen Capitain. Am Abend vor der Abreiſe fragt er dieſen, wie viel Zeit wohl hingehen moͤchte, ehe ſein Sohn wie - der nach Pelew zuruͤckkehrte? Als der Capitain erwiederte, es koͤnnten wohl dreyßig bis ſechs und dreyßig Monden verfließen; ſo zog Abba-Thulle eine Schnur aus ſeinem Handkorb, machte dreyßig Knoten, und nach einem langen Zwi - ſchenraum noch ſechs, um ſeiner vaͤterlichen Sehn - ſucht die Erleichterung zu verſchaffen, zu ſehen, daß der Zeitpunkt des Wiederſehens mit jedem aufgeloͤſten Knoten naͤher ruͤcke.

Li-Bu war, wie ſein Vater, ein Muſter der Menſchenliebe und des Edelmuths. Er liebte den Capitain, dem er anvertraut war, wie ſeinen Vater, und nannte die Gattin deſſelben nie an - ders, als Mutter. Den Sohn ſeines Pflege - vaters, einen liebenswuͤrdigen Juͤngling, umfaßte er mit der zaͤrtlichen Freundſchaft. Einſt hatteder497der junge Wilſon uͤber einem Spiel, mit Li - Bu, vergeſſen, einen Auftrag ſeines Vaters auszurichten. Der Vater ward daruͤber ver - drießlich, und gab ſeinem Sohne dieſes zu erken - nen. Li-Bu ſchlich ſich, als er dies ſah, un - vermerkt aus dem Zimmer und der junge Wil - ſon, der ihn aufſuchen mußte, fand ihn in ei - nem Nebenzimmer in einer niedergeſchlagenen Stellung. An ſeines Freundes Hand trat Li - Bu darauf wieder in das andre Zimmer, naͤherte ſich dem Capitain, legte des Sohnes Hand in die ſeinige, druͤckte ſie feſt zuſammen, und nunmehr floſſen die Thraͤnen des Gefuͤhls, die er nicht laͤnger zuruͤckhalten konnte.

Der gute Prinz hatte das Ungluͤck waͤhrend ſeines Aufenthaltes in England die Blattern zu bekommen, und ein Opfer dieſer giftigen Krank - heit zu werden. Jn allem, was er waͤhrend ſei - ner Krankheit ſagte und that, ſpiegelte ſich ſeine edle Gemuͤthsart. Madame Wilſon war einige Tage nach Li-Bu auch krank geworden; ſo bald er dies vernahm, ward er unruhig; was, rief er, Mutter iſt krank? Li-Bu muß aufſtehen, und ſie beſuchen. Das that er auch, und ging in ihr Zimmer, um ſelbſt zu ſehen, wie ſie ſich be - faͤnde. Am meiſten beunruhigte ihn der Gedan - ke an ſeine Eltern auf ſeinem Krankenbette, und oft aͤußerte er es, daß es ihn ſehr nahe ginge, daßJiſein498ſein Vater und Mutter durch ſeinen Tod betruͤbt werden wuͤrden. Sonſt ſah er ſeinem Ende mit edlem Muthe entgegen, und trug einige Tage vor demſelben ſeinem Arzt Folgendes an ſeine Eltern auf, woraus ſeine Dankbarkeit gegen die Englaͤn - der und ſeine kindliche Liebe hervorleuchtet.

Mein guter Freund, ſagte er, wenn du nach Pelew kommſt, ſage Abba-Thullen; Li - Bu hat viel zu trinken eingenommen, damit die Blattern weggingen, aber er iſt geſtorben; der Capitain und die Mutter (Madame Wilſon) waren ſehr guͤtig; alle Englaͤnder gute Leute; er bedauerte ſehr, daß er dem Koͤnige nicht von al - len herrlichen Sachen erzaͤhlen koͤnnte, welche die Englaͤnder beſitzen.

Wer freut ſich nicht ſolcher Beweiſe der na - tuͤrlichen Guͤte des Menſchen? und wer wuͤnſcht hiebey nicht mit Claudius:

Laß uns einfaͤltig werden, Und vor Dir hier auf Erden Wie Kinder fromm und froͤlich ſeyn.
Nach -499

Nachtrag zur vorhergehenden Unterhaltung uͤber die Neigung des Menſchen zum Guten.

Jch hatte die vorſtehende Abhandlung ſchon beendigt, als mir le Vaillants Reiſen in das Jnnere von Afrika in die Haͤnde fielen. Jch bin durch wenige Schriften dieſer Art ſo erfreut und befriedigt worden, als durch dieſe: erfreut, wegen der untruͤglichen Zeugniſſe, welche der Verfaſſer von der Guͤte der menſchlichen Natur in den ſo verſchrieenen Hottentotten und Kaf - fern beybringt; und befriedigt, wegen der wahr - haften, vollendeten, und von dem eignen Auge und ruhigen Beobachtungsgeiſte des Verfaſſers dictirten Erzaͤhlung.

Meine Freude iſt zu groß, als daß ich nicht meine Leſer und Leſerinnen durch eine kurze Mit - theilung deſſen, was fuͤr meinen Zweck gehoͤrt, an derſelben Theil nehmen laſſen ſollte.

Alles, was Herr le Vaillant von den durch Europaͤer noch nicht verdorbnen Hottentotten erzaͤhlt, beweißt, daß ihr Herz von den Tugen - den der Menſchlichkeit geadelt iſt. AechteJi 2Liebe,500Liebe, unverletzliche Treue, Unſchuld der Sitten und reges Gefuͤhl fuͤr Recht und Unrecht athmen aus ihrem ganzen Betragen.

Kann man ein Volk niedrig und verworfen nennen, wie es die Hottentotten nach den Er - zaͤhlungen Mancher auf der Studirſtube gereiſten ſeyn muͤßten, welches ſo edel iſt, ſich nur durch Liebe und eingefloͤßtes Vertrauen gewinnen zu laſ - ſen? Und nur auf dieſem Wege koͤnnen die Hottentotten gewonnen werden. Die erſte Ge - ſinnung, ſagt der genannte Reiſebeſchreiber, die man dem Wilden einzufloͤßen bedacht ſeyn ſoll, iſt das Zutrauen; um das Jhrige zu erlangen, muß man ſie menſchlich behandeln, gegen ſie wohlthaͤtig ſeyn, ihre Schwaͤchen nicht mißbrau - chen, ihnen auf keine Weiſe Furcht einjagen, aber auf der andern Seite auch keine Furcht bli - cken laſſen; gewoͤhnlich erhaͤlt man von ihnen Al - les, wenn man nichts mit Gewalt von ihnen fordert. *)Le Vaillants Reiſen. 2. Th. S. 107.Mit friedlichen Geſinnungen, ſetzt der Verfaſſer hinzu, haͤtte ich ganz Afrika durch - reiſen wollen!

Daß die barbariſchen und unmenſchlichen Er - oberer dieſer Laͤnder der Unſchuld, die ſie bewoh - nenden Nationen nicht ſo fanden, wie Vaillant die Hottentotten fand, iſt wohl nicht zu ver - wundern. Denn weil ſie, um von dieſen Laͤn -dern501dern Gewinnſt zu ziehen, Mittel anwandten, die der Natur der unverdorbenen Voͤlker zuwider lie - fen; konnten ſie dieſe freylich nicht in ihrer natuͤr - lichen Geſtalt ſehen. Sie fanden ſie viehiſch und grauſam, weil ſie ihre Freyheit und Unſchuld ge - gen tyranniſche Raͤuber vertheidigten. Sie ſahen in ihnen nur Halbmenſchen, weil ſie doch wenig - ſtens einen Schein von Recht fuͤr ihr unmenſch - liches Verfahren haben wollten. Daß ſich die uͤberfallnen Wilden an ihren hinterliſtigen Feinden zu raͤchen ſuchten, wer wird ihnen dies als Ver - brechen in Rechnung bringen; wer von einem Volke, das durch Gefuͤhle regiert wird, weil es die Geſetze der Vernunft noch nicht leſen und ver - ſtehen kann, die Befolgung eines Geſetzes for - dern, dem kaum ein Sokrates, Antonin und Chriſtus unter gebildeten Menſchen Anſehn ver - ſchaffen konnte? Es ſcheint mir, ſage ich mit Vaillant, ungereimt zu ſeyn, daß wir die Be - folgung unſrer kuͤnſtlichen Tugenden, die wir oft kaum dem Namen nach kennen, und die ei - gentlich von Niemand als guͤltig anerkannt wor - den, grade von dieſen Naturmenſchen fordern; als wenn das Recht der Wiedervergeltung, das zu jenen Zeiten, da wir auf den Namen Philo - ſophen noch keinen Anſpruch machten, das einzi - ge damals bey uns eingefuͤhrte war, etwas an - ders waͤre, als Beleidigung fuͤr Beleidigung zuJi 3geben,502geben, oder jemandem das Leben zu nehmen, der es wagte, auf das unſrige einen Anſchlag zu machen*)Daſ. 105..

Sehr ruͤhrend ſind die Beyſpiele der reinen Menſchenliebe und herzlichen Theilnehmung, wel - che die Hottentotten gegen Herrn Vaillant und einander ſelbſt bewieſen.

Unter den Begleitern, welche unſer Reiſe - beſchreiber aus der Capſtadt mitgenommen hatte, befand ſich unter Andern ein Hottentotte, der Klaas hieß. Einſt gerieth Herr Vaillant auf der Jagd in große Lebensgefahr. Ein verwunde - ter Elephant wandte ſich voll Wuth gegen ihn, und jeder Augenblick ſchien das wuͤthende Unge - heuer und den ſchrecklichſten Tod dem Fliehenden naͤher zu bringen. Klaas wich nicht von der Seite ſeines Herrn; aber ein Verſteck, welchem dieſer ſich wegen des immer naͤher kommenden Elephanten anvertrauen mußte, entzog ihn den Augen des treuen Gefaͤhrten. Unaufhoͤrlich rief Klaas den Namen ſeines Herrn, der nicht ant - worten durfte, um das erzuͤrnte Thuͤr nicht zu ſich zu rufen; unaufhoͤrlich jammerte er, ver - wies ſeinen Mitbruͤdern ihre feigherzige Flucht, und ſprach: Macht ihr was ihr wollt ich werde dieſen Platz nicht verlaſſen, todt oder le - bendig ich muß meinen ungluͤcklichen Herrnwieder503wieder finden ich bin bereit, mit ihm zu ſterben.

Seufzer und Klagen unterbrachen ihn. Jn - dem erhielt Vaillant Gelegenheit, den Elephan - ten durch einen Schuß von hinten in Schrecken zu ſetzen, und zu verjagen. Dieſer Schuß war fuͤr ſeine Begleiter ein Signal der Freude, und eine Quelle des Muths. Sie liefen alle herbey, und Klaas ſtuͤrzte ſich mit der heftigſten Freude der Liebe in die Arme ſeines Herrn, kuͤßte ſein Ge - ſicht und ſeine Kleider, und konnte ſich lange nicht von ihm loßreißen. Und alle uͤbrigen Hotten - totten ſtellten ſich um ihn her in reuiger, bittender Stellung, und ihre ausgeſtreckten Haͤnde baten um Verzeihung, daß ſie nicht Muth genug ge - habt hatten, ihre Liebe in dieſer Gefahr zu be - weiſen*)Daſelbſt. 1. Th. 174 ff..

Wie unſchuldig und herzlich ſind die Aeuße - rungen der Liebe der jungen Hottentottin, welche auf das Herz des Herrn Vaillants einen ſtarken Eindruck gemacht zu haben ſcheint! Er gab ihr den Namen Narina, weil er den ihrigen nicht gut ausſprechen konnte, und ſie verſprach, dieſen Namen, ſo lange ſie lebe, zu fuͤhren, zum An - denken ſeiner Anweſenheit in ihrem Vaterlande und ihrer Liebe zu ihm**)Daſ. 305.. Er bezeugte ihr ſeinJi 4Miß -504Mißfallen uͤber die Schminke von Fett und Ruß, womit ſie die ſchoͤne Farbe ihrer Backen uͤberwiſch - te, und ohnerachtet er ſie nicht uͤberzeugte, daß dieſe Schminke ihre Schoͤnheit nicht nur nicht er - hoͤhte, welches ſie glaubte, ſondern gar entſtell - te; ſahe er ſie doch bey einem Beſuch unter vielen auf gut hottentottiſch gefaͤrbten Maͤdchen, allein ohne dieſe Schminke, nur mit ſeinen Geſchenken geputzt*)Daſ. 1. Th. 304. 2. Th. 19..

Vor der Abreiſe des Herrn Vaillants, ver - ſammelte ſich die ganze Horde von Gonaquas - Hottentotten, zu welcher Narina gehoͤrte, in ſeinem Lager. Branntwein und Meth ſtimmten alle zur ausgelaſſenſten Freude, allein die ſchoͤne Narina und ihre Schweſter, nahmen an der lauten, aber unſchuldigen Freude keinen Antheil; ſondern ſtanden, beſonders Narina, ſtille da - bey, Geſicht und Herz von Traurigkeit umwoͤlkt. Herr Vaillant verſuchte, ſie durch Geſchenke und Zureden zu troͤſten, aber umſonſt, ihr Kum - mer war im Herzen, und ließ ſich daher auf die - ſe Weiſe nicht ſtillen**)Daſ. 2. Th. 251..

Dienſtfertigkeit und Gaſtfreyheit ſind allge - meine Eigenſchaften der Hottentotten. Wer in ihrem Lande reiſet, iſt verſichert, Aufenthalt und Nahrung bey ihnen zu finden; ſie nehmendie505die freywillig angebotnen Geſchenke an, aber for - dern nichts und niemals mit Ungeſtuͤm. Hat ein Reiſender eine weite Reiſe vor ſich, und ſehen ſie, daß der Weg, bevor er eine andre Horde erreicht, nach der Auskunft, die der Reiſende daruͤber giebt, zu entlegen iſt, ſo verſorgt die erſte Horde ihren Gaſt mit den noͤthigen Lebensmitteln und mit allen Dingen, die zu ſeinem Unterhalt, bis er ſein Land erreicht, erforderlich ſind*)Daſ. 2. Th. 102..

Ein Zug von dem Verlangen, ihre Bruͤder an dem Guten, was ſie haben, Theil nehmen zu laſſen, den der Verfaſſer der treflichen Reiſebe - ſchreibung von den Kaminouka's, einer nord - waͤrts vom Cap nach der Weſtſeite zu wohnenden Nation, erzaͤhlt, iſt zu charakteriſtiſch, als daß ich ihn auslaſſen duͤrfte.

Eine ziemlich anſehnliche Horde dieſes Volks, beſuchte Herrn Vaillant in ſeinem Lager. Jhr Betragen war ſo zutraulich, wie das Betragen ehrlicher und biedrer Menſchen iſt, die niemals jemanden hintergangen haben, und daher auch nicht fuͤrchten, hintergangen zu werden. Die Menge der Beſuchenden war zu groß, als daß er ſie alle mit Branntewein, den ſie ſehr liebten, haͤtte traktiren koͤnnen; und er mußte ſich daher darauf einſchraͤnken, nur dem Anfuͤhrer und ei - nigen ehrwuͤrdigen Alten, einige Glaͤſer von die -Ji 5ſem506ſem Getraͤnke reichen zu laſſen. Aber zu was fuͤr ſinnreichen Mitteln, ſagt Herr Vaillant, nimmt nicht die Wohlthaͤtigkeit ihre Zuflucht, wenn es ihr ein Ernſt iſt, ſich werkthaͤtig zu be - weiſen! Jch bemerkte nicht ohne Erſtaunen, daß dieſe Wilden den Branntewein im Munde behiel - ten, ohne ihn niederzuſchlucken, und daß ſie ſich ihren Cameraden naͤherten, um denjenigen, die nichts erhalten hatten, aus ihrem Munde etwas mitzutheilen, ſo wie die Voͤgel einander durch den Schnabel die Nahrung reichen.

Welcher Menſch wuͤrde nicht bey dem An - blick dieſer ruͤhrenden Scene, gefuͤhlt haben, was der edle Reiſende fuͤhlte, der ſich, von Achtung und Bewunderung durchdrungen, dem Anfuͤhrer um den Hals warf, und ſein ehrwuͤrdiges Ge - ſicht mit Thraͤnen benetzte*)Daſ. 2. Th. 103 f..

Zu meiner nicht geringern Freude bin ich durch Vaillant belehrt worden, daß es ein irri - ger Glaube ſey, welchen ich bisher, verfuͤhrt durch mehrere Reiſebeſchreiber, gehegt habe, daß, wie bey einigen andern Wilden, ſo auch bey den Hottentotten, Alte und Kranke verachtet und verſtoßen ſeyen. Herr Vaillant wurde ſelbſt von dem Anfuͤhrer der Gonaquas-Hottentot - ten gebeten, die Greiſe, welche ihre Huͤtte nicht verlaſſen konnten, zu beſuchen, und fand in denHuͤtten507Huͤtten acht bis zehnjaͤhrige Kinder um die ſchwa - chen Greiſe verſammlet, um ihnen Nahrung zu reichen und Huͤlfe zu leiſten*)Daſ. 2. Th. 21..

Jn einer abgeſonderten Huͤtte lag ein Kran - ker in einem ſchaudervollen Zuſtande. Schon ſeit einem Jahre hatte er daſelbſt gelegen, und niemand es gewagt, ſich ihm zu naͤhern, weil jeder die Krankheit fuͤr anſteckend hielt und halten mußte, weil Frau und Kinder des Elenden eini - ge Monate zuvor daran verſtorben waren. Der edle Menſchenfreund Vaillant ſuchte ihnen die Furcht vor der Krankheit zu benehmen, ging ſelbſt zu dem Kranken, half ihn in eine neue Huͤt - te tragen, und die Mitglieder der Horde folgten ſeinem Beyſpiel, und trugen, ſobald ihre Furcht verſcheucht war, treue Sorge fuͤr den Kranken**)Daſ. 2. Th. 22. ff..

Jeder wird die Behauptungen mancher Rei - ſeſchreiber von der Sitten - und Schamloſigkeit der Hottentotten fuͤr Verlaͤumdungen halten, wenn er die vorhergehenden Beyſpiele von dem zarten und menſchlichen Herzen derſelben, und das, was Herr Vaillant, der dieſe Voͤlker ſah, noch be - ſonders uͤber dieſen Punkt bemerkt, geleſen hat.

Es iſt wahr, was Forſter in ſeiner Reiſe um die Welt erzaͤhlt, daß die Matroſen der Schifsequipage ſich mit den Weibern der Ein -woh -508wohner auf den Oſter-Jnſeln ohne Schaam und Scheu die ſchaͤndlichſten Ausſchweifungen erlaub - ten; aber, ſagt Herr Vaillant, der beruͤhmte Mann haͤtte dreuſt hinzuſetzen koͤnnen, daß die wilden Weiber ſich dieſen ſchaͤndlichen Europaͤern uͤberlaſſen mußten, aus Furcht Schlachtopfer des viehiſchen und grauſamen Verfahrens zu wer - den, deſſen die Weißen ſich mehr, als einmal, ſchuldig gemacht haben*)Daſ. 2. Th. 97..

Es iſt wahr, daß eine ganze Familie nur eine gemeinſchaftliche Huͤtte hat; wahr, daß der Vater mit der Tochter, der Bruder mit der Schweſter und die Mutter mit dem Sohne auf ein und demſelben Bette liegen; aber bey Anbruch der Morgenroͤthe, erwacht gewiß ein jeder mit reinem Herzen, ohne vor dem Urheber aller Din - ge oder einem ſeiner Geſchoͤpfe, die er nach ſei - nem Bilde ſchuf, erroͤthen zu duͤrfen**)Daſ. 2. Th. 95 f..

Maͤnner und Weiber zeigen bey dieſer Na - tion ein ſittſames Betragen und feine Verſchaͤmt - heit. Sind ſie gleich noch unſchuldig genug, um ihre Nacktheit, ihr nahes Beyſammenſchlafen u. dergl. fuͤr unſchuldig, verdacht - und gefahrlos zu halten; ſo geben ſie doch nicht das, was die Na - tur ſelbſt verbergen zu wollen ſcheint, oͤffentlich Preis. Nur nach vielen fruchtloſen Verſuchenließen509ließen ſich, wie mehrere Reiſeſchreiber verſichern, die Maͤnner bewegen, ihre Jackel (Schuͤrze) auf die Seite zu ruͤcken*)Daſ. 2. Th. 96.. Haltet ihr uns denn, fragen die Hottentottinnen die, welche ſie in dem Verdacht der Sittenloſigkeit haben, fuͤr Thiere? Denn blos bey dieſen kann die Auffuͤhrung, deren ihr uns verdaͤchtig haltet, ſtatt haben**)Daſ. 2. Th. 98..

Herr Vaillant uͤberraſchte einſt ſeine Nari - na nebſt einer Menge andrer Hottentottinnen im Bade. Durch einen Flintenſchuß verkuͤndigte er ſeine Gegenwart. Sie hatten vorher geſcherzt und geſpielt: itzt hatte ihr Spiel ein Ende; denn alle tauchten auf einmal unter, und nur ihre Naſenſpitze ragte aus dem Waſſer hervor. Vail - lant ſetzte ſich am Ufer des Fluſſes auf der Stelle nieder, wo ſie ihre ſaͤmtliche Kleidungsſtuͤcken ab - gelegt hatten, und machte ſich uͤber ſie luſtig, in - dem er einer nach der andern ihre kleine Schuͤrze zeigte, und ſie einlud, ſelbige von ihm in Empfang zu nehmen. Narina's Mutter, die vor ſeiner Ankunft aus dem Waſſer geſtiegen war, und unter einem Baum ausruhete, belachte herzlich die Verlegenheit ihrer Geſellſchafterinnen. Sie baten ſaͤmtlich, Herrn Vaillant zu entfernen; als aber dieſer hiezu keine Luſt bezeigte, gebrauchten ſie ſehr klug ein anderes Mittel, ihren Zweck zuer -510erreichen, und ſich aus ihrer Verlegenheit zu ſe - tzen. Alle kannten die Neigung, welche Narina Herrn Vaillant eingefloͤßt hatte. Dieſe Nei - gung ſollte ſie erloͤſen. Narina hatte durch ihre Mutter ihre Schuͤrze und uͤbrige Kleidung erhal - ten, bekleidete ſich damit im Waſſer, naͤherte ſich darauf Herrn Vaillant auf eine zaͤrtliche und offenherzige Art, und bat ihn, ſich auf einen Augenblick zu entfernen, und den uͤbrigen Wei - bern ihre Kleidungsſtuͤcke verabfolgen zu laſſen. Anfaͤnglich widerſtand er, doch ließ er ſich bald von der ſchoͤnen Narina vom Badeplatze weg - ziehn, und dieſe rief darauf, als ſie ſchon eine ziemliche Strecke entfernt waren, den Uebrigen zu, daß ſie nunmehr ſicher aus dem Waſſer ſtei - gen, und ſich ankleiden koͤnnten.

Herr Vaillant ging mit Narina in ſein La - ger, woſelbſt ſich auch die uͤbrigen Hottentottin - nen bald hernach einfanden. Ein Ueberreſt von Schaam und Verlegenheit war auf ihren Geſich - tern gar deutlich zu bemerken. Jch ſelbſt, ſetzt Herr Vaillant hinzu, fand mich ein wenig be - troffen, ſie in dieſe Verlegenheit geſetzt zu haben. Uebrigens, ſo ſchließt er ſeine Erzaͤhlung, war die Art von Schaamhaftigkeit, die alle dieſe Wei - ber blicken ließen, das wahre Urbild der Unſchuld und weit von der Art von Ziererey entfernt, die bey vielen Frauenzimmern fuͤr eine Einladunggelten511gelten kann, und nicht ſelten gefaͤhrlicher, als das Laſter ſelbſt iſt*)Daſ. 1. Th. 311 ff..

Eheliche Verbindungen werden bey dieſen Natur-Voͤlkern, nicht von Hochmuth oder der Habſucht, ſondern von der Liebe geſchloſſen. Da - her kommt es, daß die Ehen bey ihnen dauerhaf - ter ſind, als man glauben ſollte, und Trennun - gen, zwar ſehr leicht, aber ſelten ſtatt finden; weil die Liebe, die ſie zu ihren Kindern hegen, macht, daß Mann und Weib ſich von Tage zu Tage unentbehrlicher werden**)Daſ. 2. Th. 48 f..

Die Naivitaͤt und unſchuldigen Scherze der Hottentotten machten Herrn Vaillant die Un - terhaltungen mit ihnen ſehr angenehm. Ganze Abende verplauderte er mit ihnen, und jeder wett - eyferte mit dem Andern, ihn zu erheitern und zu beluſtigen***)Daſ. 1. Th. 114..

Bey dieſen Unterhaltungen hatte Herr Vail - lant oͤfters Gelegenheit, das lebhafte Gefuͤhl ſeiner Wilden fuͤr Recht und Unrecht, Gut und Boͤſe, Schicklich - und Unſchicklichkeit zu bemerken. Jch befragte mich, ſagte unſer Reiſeſchreiber, nach mehrern Umſtaͤnden, die Kolbe und andere Rei - ſende von den Hottentotten angefuͤhrt haben; wo - hin ich insbeſondre das, was ihre Religion, ihreSitten512Sitten und Gebraͤuche betrifft, rechne. Meine Fragen bewegten ſie mehrentheils zum Lachen. Oefters, wenn ſie meine Reden in Ernſt aufnah - men, wurden ſie daruͤber etwas unwillig, zuckten die Achſeln, oder brachen in allerhand Verwuͤn - ſchungen aus. Wollte ich die Sache noch weiter treiben, ſo ſuchte ich ſie dadurch herabzuſetzen, daß ich ſie mit dem Genie einer gewiſſen Pariſer Volks - klaſſe, den Chevaliers d'Jnduͤſtrie verglich; ich beſchrieb ihnen die Talente dieſer Chameleons, deren Betruͤgereyen man den ſehr glimpflichen Na - men der Jnduͤſtrie gegeben, und die zur Erlan - gung ihres Endzwecks hundertfache Mittel und Wege ausfinden, auf die reizendſte Art; aber immer fiel der einmuͤthige Ausſpruch dahin aus, daß ſie ihr unſchuldiges laͤndliches Leben jedem an - dern vorzoͤgen; und daß jenes ihrer Meynung nach unanſtaͤndig und verachtungswuͤrdig ſey, und eine Nation unendlich erniedrige, die ſich doch uͤber ein unverdorbnes, ſchuldloſes Volk ſo ſehr erhaben duͤnke. *)Daſ. 1. Th. 114 f.

Wenn man dieſe Zuͤge der reinſten Herzens - guͤte nicht bey den Colonie-Hottentotten an - trift, ſo iſt das nicht die Schuld der Natur, ſon - dern leider! die Schuld der Europaͤer. Durch die Lockſpeiſen des Tabacks und Brannte - weins wußte die Habſucht Dieſer die unſchuldigenWilden513Wilden zu bethoͤren, die nur den Reiz ihrer Sinnlichkeiten fuͤhlten, und den Angel, der un - ter jenen Lockſpeiſen verborgen lag, nicht ſahen, nicht argwoͤhnten*)Daſ. 1. Th. 212 f..

Betruͤbend und demuͤthigend iſt es, von einem Manne, der ſelbſt ſah und hoͤrte, und mit Sorg - falt beobachtete, und mit Wahrheitsliebe erzaͤhl - te, folgende Bemerkung zu hoͤren. Ueberall, wo die ſogenannten Wilden von den Weißen voͤl - lig abgeſondert und entfernt leben, ſind ihre Sit - ten wild; dahingegen veraͤndern und verderben ſich ſelbige, je nachdem ſie ſich den Weißen mehr oder weniger naͤhern; nur ſelten bemerkt man ei - nen Hottentotten, der durch den laͤngern Um - gang mit den Weißen nicht ein voͤlliger Unmenſch geworden waͤre. Dieſe Bemerkung, ſo nieder - ſchlagend ſie auch an und fuͤr ſich iſt, wird doch durch die taͤgliche Erfahrung beſtaͤtigt, und leidet faſt nicht die geringſte Ausnahme. Als ich noͤrd - lich vom Cap unter den Wendezirkeln mich be - fand, wo ich ſehr entfernte Nationen beſuchte, ward ich zum oͤftern von ganzen Horden umringt, die durch Zeichen ihre Verwunderung hinlaͤnglich an den Tag legten. Jhre Neugierde war nicht geringe und gewiſſermaßen kindiſch; ſie naheten ſich mir voller Zutrauen, und betaſteten meinenBart,Kk514Bart, meine Haare und mein Geſicht: Bey dieſen, ſagte ich zu mir ſelbſt, haſt du nichts zu befuͤrchten; denn dies iſt das erſtemal, daß ſie einen weißen Menſchen ſehen. *)Daſ. 1. Th. 216 f.

Wer wuͤrde nach ſolcher Bemerkung nicht in den Wunſch einſtimmen, mit welchem der edle Vaillant, dieſe unſchuldigen Nationen apoſtro - phirt?

Gluͤckliche Sterbliche! erhaltet noch lange dieſe ſchaͤtzbare Unſchuld, aber bleibet fuͤr immer unbekannt! Bereuet es nicht, unter einem bren - nenden Himmelsſtrich gebohren zu ſeyn, einen duͤrren unfruchtbaren Boden zu bewohnen, der kaum Dornen und Diſteln hervorbringt; ſondern betrachtet dieſes vielmehr als einen Vorzug, den euch der Himmel verlieh. Eure Wuͤſteneyen duͤrften vermuthlich die Habſucht der Weißen nie - mals reizen, vereinigt euch mit den benachbarten Voͤlkerſchaften, die ſo, wie ihr, die Europaͤer noch nicht kennen, und zerſtoͤrt bis auf die gering - ſte Spur jenes gelbe Pulver, das in euren Fel - ſen und Bergen erzeugt wird. Jhr ſeyd auf im - mer verloren, wenn ſie ſelbiges entdecken. Wiſ - ſet, daß eben dieſes Pulver das groͤßte Ungluͤck fuͤr die Bewohner der Erde, und die Quelle aller Laſter, aller Vergehungen iſt: fuͤrchtet vorallen515allen Dingen den Zuſpruch eines Al magro, Pi - zarro und Fernand-Cortez, ſo wie das bluti - ge Meßgewand eines Van verdes! *)Daſ. 2. Th. 104 f.

Achtzehnte Unterhaltung. Ueber die Sympathie.

Auf welches Stuͤck von dem großen Ganzen der Natur ſich unſre Aufmerkſamkeit richtet, entde - cken wir immer Beytraͤge zur Beſtaͤtigung des Satzes, daß Einigung und Verbindung der Zweck der Natur ſey.

Auf Einigung und Verbindung ſind die all - gemeinen Geſetze der phyſiſchen Welt berechnet: Einigung und Verbindung iſt der Zweck der mo - raliſchen und ſpeculativen Vernunft.

Trennung und Zerſtoͤrung ſelbſt muͤſſen zu Mitteln dienen, dieſen Zweck zu erreichen. Die ſich aufloͤſenden Koͤrper miſchen ſich unter die Er - de, aus welcher ſie ſich bildeten. Der getrennte Freund druͤckt bey der Ruͤckkehr ſeinen Freund noch feſter an die Bruſt; der Denker ſcheidet ſei - ne Begriffe, um ſie unter die Einheit zu ſamm - len, und ſelbſt der große Zerſtoͤrer, der Tod, wird uns inniger zuſammenknuͤpfen mit Dem,Kk 2durch516durch deſſen Wort die Natur ward, an deſſen Wort ſie ſich haͤlt.

Zur Verbindung der Menſchen untereinan - der, konnte die Natur wohl kein beſſeres Mittel waͤhlen, als das Mitgefuͤhl oder die Sympa - thie, vermoͤge welcher unſre eigne Empfindung Andere gleichſam zu einem Theil unſerer Jndivi - dualitaͤt macht.

Jch habe in den vorhergehenden Unterhaltun - gen diejenigen Triebe und Neigungen zu entwickeln geſucht, welche die eigne Gluͤckſeligkeit zum Ziel haben: und bitte meine Leſer und Leſerinnen, wel - che mich bis hieher begleitet haben, mir nun zu der Betrachtung derjenigen Triebe und Neigungen zu folgen, die ſich auf Andre beziehen.

Wenn ich dieſer Betrachtung Unterſuchun - gen uͤber das Mitgefuͤhl voranſchicke, und dieſes alſo als die Quelle der Neigungen, die auf das Wohlſeyn Andrer gerichtet ſind, anzuſehen ſchei - ne; ſo bitte ich dieſes nicht ſo zu verſtehen, als wenn ich die Sympathie fuͤr ein von der Selbſt - liebe unabhaͤngiges Princip des Begehrungsver - moͤgens ausgeben wollte. Jch halte ſie vielmehr fuͤr nichts anders, als die, nur verkleidete, Selbſt - liebe, welche ſich von der, eigentlich ſo genannten, nur dadurch unterſcheidet, daß ſie zu ihrer Be - friedigung das Wohlſeyn Anderer als Mittel ge -braucht;517braucht; die Sache aber genau unterſucht, doch ihr Jndividuum zum Zweck hat.

Jch hoffe, dieſe Behauptung durch die fol - genden Unterſuchungen zu beſtaͤtigen, und fuͤrchte nicht, daß man aus dem Reſultate derſelben den Vorwurf des Egoismus fuͤr die menſchliche Na - tur durch falſche Konſequenzen herleiten werde; indem gewiß dem Egoismus durch nichts beſſer vorgebeugt werden konnte, als dadurch, daß das Wohlſeyn Anderer ſo innig mit dem eignen Wohl verwebt wurde, daß es als ein nothwendiges Er - forderniß zu dieſem gehoͤrt.

Das Mitgefuͤhl, welches entweder Mitlei - den oder Mitfreude iſt, iſt eine Theilnehmung an dem, was Andere empfinden; und ſetzt alſo eine Wahrnehmung der Empfindungen Andrer voraus. Dieſe Empfindungen ſelbſt aber koͤnnen, als etwas, das in dem Jnnern des Menſchen iſt, nicht wahrgenommen werden; nur den Ausdruck derſelben kann man ſehen oder hoͤren. Dieſen hoͤrbaren oder ſichtbaren Ausdruͤcken legt man nun, aus ſeiner eignen Erfahrung unterrichtet, diejenigen Empfindungen unter, von welchen man glaubt, daß jene Ausdruͤcke ſie bezeichnen, und traͤgt ſo durch Vermittelung der Repraͤſentantin der wirklichen Empfindung, der Einbildungskraft, die Empfindungen des Anderen in ſich ſelbſt hin - uͤber: und wird, wenn dieſe angenehm ſind, vonKk 3Mit -518Mitfreude, wenn das Gegentheil iſt, von Mit - leiden bewegt.

Weil man alſo die Empfindungen des Anderen nicht unmittelbar empfangen kann, ſondern ſie ſich ſelbſt geben muß; indem man ſich vorſtellt, was man in dem Zuſtande, welchen der Ausdruck zu bezeichnen ſcheint, ſelbſt empfinden wuͤrde; ſo kann das Gefuͤhl des Sympathiſirenden nicht im - mer dem Gefuͤhl deſſen, mit dem er ſympathiſirt, gleich ſeyn. Die Phantaſie verkleinert entweder die Empfindung des Andern, oder vergroͤßert ſie; ja aͤndert wohl gar die Beſchaffenheit der Empfin - dungen ſelbſt, und bildet ſich die Leiden als Freu - den, die Freuden als Leiden vor.

Gewiß hatte Polyrena es nicht fuͤr eine Gluͤckſeligkeit gehalten, an dem Grabe des Achil - les geſchlachtet zu werden; aber Andromache, die, einſt Hectors Gemahlin, itzt eines Barba - ren Sclavin iſt, preiſt ſie vor Andern deswegen ſelig: O Priams Tochter, ruft ſie aus, vor Andern einzig begluͤckt, daß uͤber dir, am Grabe des Feindes unter Trojas hohen Mauern geopfert, kein Loos geworfen ward; und du als Sclavin nicht des ſiegenden Gebieters Bette beruͤhren darfſt*)O felix una ante alias Priameïa virgo, Hoſtilem ad tumulum Trojae ſub moenibus altisJuſſa. Andromache, die den Tod ihremſclavi -519ſclaviſchen Ehebuͤndniß mit Pyrrhus weit vor - zog, ſprach hier aus ihrer Empfindung.

Die zaͤrtliche Mutter empfindet bey dem Krankenbette ihres Kindes gewiß weit mehr, als dieſes. Weil ſie ſo ſehnlich wuͤnſcht, daß es demſelben immer wohl ſey, mahlt ſich das gering - ſte Leiden ihrer Phantaſie ſehr groß ab; ſie ſieht in dem kranken Kinde nur das kranke, huͤlfloſe, leidende Kind, und das unangenehme Gefuͤhl, demſelben nicht helfen zu koͤnnen, vergroͤßert den Schmerz des muͤtterlichen Mitleidens

Am allerklarſten wird es, daß das Mitge - fuͤhl von der Vorſtellung deſſen, was man ſelbſt in einer aͤhnlichen Situation empfinden wuͤrde, regiert wird, dadurch, daß man auch mit den Todten ſympathiſirt, die doch alles Gefuͤhls be - raubt ſind. Es iſt doch traurig, ſagt man, daß der arme Mann nun nicht mehr der Freuden des Lebens genießen kann, daß er in das dunkle Grab verſcharrt und eine Speiſe der Wuͤrmer wird und will eigentlich ſagen: Es waͤre doch traurig, wenn ich itzt der Freuden des Lebens entbehren muͤßte, und die Gruft mich einſchloͤſſe, und mein Koͤrper ein Raub der Verweſung wuͤrde.

Kk 4Der

*)Juſſa mori, quae ſortitus non pertulit ullos Nec victoris heri tetigit captiua cubile. (Aeneid. lib. 3. v. 321 ſq.)

520

Der Grad der Sympathie iſt nicht immer derſelbe, ſondern wird theils durch das ſympathi - ſirende Subjekt, theils durch den Gegenſtand, mit dem ſympathiſirt wird, beſtimmt.

Jm Allgemeinen wird das Mitgefuͤhl um ſo ſtaͤrker ſeyn, je lebhafter die Vorſtellun - gen von dem, was der Andere empfindet, ſind. Denn je lebhafter eine Vorſtellung iſt, deſto naͤher bringt ſie ihren Gegenſtand der Em - pfindung, deſto leichter wird es alſo der Phanta - ſie ſich denſelben zu vergegenwaͤrtigen, und ſo auf das Herz zu wirken.

Derjenige alſo, welcher eine reizbare und feine Organiſation hat, wird ſtaͤrker mit Andern mit empfinden, als der, bey welchem das Gegentheil ſtatt findet. Denn jener bedarf nur einer ſchwa - chen Anregung, um afficirt zu werden, und kann die Gefuͤhle des Andern leicht zu den ſeinigen ma - chen. Der gebildete Menſch ſympathiſirt leichter, als der Bauer, das Weib leichter, wie der Mann, der Juͤngling leichter, wie der Greis; und die Dichter fuͤhren es als eine Eigenſchaft der Unter - goͤtter, denen ſie alle eine groͤbere Geſtalt, als den Obergoͤttern, geben, an; daß kein menſch - liches Flehn ſie erweichen koͤnne*)So ſagt Virgil in ſeinen Georgicis: Manes adiit, Regemque tremendum Neſciaque humanis precibus manſueſcere corda. -

Wenn521

Wenn man ein Leiden oder eine Freude an Andern wahrnimmt, die man ſelbſt erfahren hat; ſo wird dadurch das Mitgefuͤhl ſtaͤrker afficirt, als durch Leiden oder Freude, die man nicht aus eig - ner Erfahrung kennt.

Wer ſelbſt die Schmerzen einer Krankheit empfunden hat, wird inniger durch das Anſchauen des kranken Bruders geruͤhrt, als der, welcher nie auf aͤhnliche Weiſe gelitten hat.

Wer ſelbſt durch Feuersbrunſt oder Waſſer - fluth ſeines Vermoͤgens, ſeiner Freunde, ſeiner Kinder beraubt wurde, fuͤhlt das Ungluͤck deſſen, den eben dieſe Uebel betroffen, gewiß ſtaͤrker, als der, den es noch nie traf.

Mein eignes Leiden hat mich gelehrt, dem Leidenden Huͤlfe zu leiſten, ſagt Dido zu Ae - neas, der bey ihr Schutz ſucht*)Non ignara mali miſeris ſuccurrere diſco. Aen. 1. 630. .

Es laͤßt ſich der Grund dieſer Erſcheinung auch ſehr leicht finden. Ein Uebel, welches ich ſelbſt erfuhr, erinnert mich lebhaft an alle die Schmerzen und Beduͤrfniſſe, welche ich bey Er - duldung deſſelben empfand: bey einem ſolchen Uebel kann der Gedanke, daß der Leidende mehr zu fuͤhlen waͤhne, als er wirklich fuͤhlt, nicht auf - kommen, und die Gleichheit ſelbſt, in welcher ich ihn mit mir in dieſer Beziehung erblicke, knuͤpftKk 5ihn522ihn naͤher an mich, und macht mich geneigter, ſein Gefuͤhl in das meinige aufzunehmen. Der Phantaſie iſt es leichter, ſich das Leiden vorzu - ſtellen; das Herz iſt fuͤr die Empfindung deſſel - ben offner, weil ihr der Weg ſchon durch die Selbſterfahrung gebahnt iſt*)Herr Profeſſor Plattner behauptet in ſeinen philo - ſophiſchen Aphoriſmen, 2. Theil. §. 226. daß die Sympathie um ſo ſtaͤrker wirke; je geringer in einer Seele die Selbſterfahrung des Leidens ſey; weil alsdann die Vorſtellungen und mitleiden - den Gefuͤhle von dem Zuſtande des Leidenden ins Unendliche gingen. Allein ich glaube, meine Behauptung durch die Erfahrung und die Geſetze der menſchlichen Natur beſtaͤtigt zu ſehen, und ſie ſelbſt durch Herrn Plattners angefuͤhrten Grund be - weiſen zu koͤnnen. Denn, daß, wo keine Selbſt - erfahrung iſt, die Vorſtellungen von dem Leiden Andrer ins Unendliche gehen, das heißt, daß ſie unbeſtimmt ſind, iſt nicht zu leugnen; nur folgt nicht hieraus, daß ihre Wirkung aufs Herz ſtaͤrker ſey. Denn die Wirkung der Vorſtellungen aufs Herz ſteht offenbar in umgekehrten Verhaͤltniß mit der Unbeſtimmtheit derſelben, wie dies z. B. bey den Begierden und Neigungen klar iſt. Hat man Etwas, z. B. die Luſt der ſinnlichen Liebe, das Spiel u. ſ. w. noch nicht ſelbſt erfahren, ſo kann man ſich leichter von denſelben zuruͤckhalten; hat man das damit zuſammenhaͤngende Vergnuͤgen ſchonge -.

So523

So iſt es auch bey der Mitfreude. Eine Freude, welche man ſelbſt ſchon empfunden hat, fuͤhrt uns, wenn wir Andere von derſelben erhei - tert ſehen, aufs neue in die angenehme Situationzu -*)genoſſen, ſo wird es ſchwerer. Es kann vielleicht der, welcher einen Leidenden ſieht, in deſſen Si - tuation ihn ſeine eigne Erfahrung nicht verſetzen kann, das Leiden deſſelben ſich ſehr groß vorſtellen, und oft ausrufen: Der arme Menſch mag wohl ſehr viel leiden; aber er wird gewiß von ſeiner, im - mer noch etwas ungewiſſen, Vorſtellung nicht ſo geruͤhrt, als der, welcher ſagen kann: Der arme Menſch leidet ſehr viel.Einer meiner Freunde ſtellte meiner Behaup - tung, daß Selbſterfahrung den Grad der Sym - pathie erhoͤhe, die Erfahrung entgegen, daß ein Krieger durch den Anblick ſeines verwundeten, zer - ſchoſſenen, auf dem Schlachtfelde liegenden Bru - ders bey weitem nicht ſo afficirt wuͤrde, als der, der niemals bey Schlachten zugegen war. So richtig indeß dieſe Erfahrung auch iſt; ſo wenig be - weiſt ſie das, was ſie beweiſen ſollte. Dem Krie - ger hat allerdings die Gewohnheit dieſen Anblick minder fuͤrchterlich gemacht; allein demohnerach - tet iſt ſein Mitleiden ſtaͤrker, als das der Uebrigen: welches ſich ſehr deutlich zeigt, wenn es auf Huͤlfe und Unterſtuͤtzung ſeiner ungluͤcklichen Bruͤder an - kommt. Der Krieger traͤgt zur Errichtung von Jnvalidenhaͤuſern, Collekten fuͤr kranke Soldaten ꝛc. gewiß mehr und williger bey, als der Civiliſt.524zuruͤck, in welche dieſelbe uns ſelbſt einſt verſetzte. Keiner fuͤhlt die Freude eines Vaters und einer Mutter ganz, als den ſeine eigne Erfahrung ſie lehrte; keiner die Freude uͤber die Befreyung aus der Sclaverey, als wer einſt ſelbſt von derſelben errettet wurde. Der freye Britte bezeugte bey der franzoͤſiſchen Revolution eine Mitfreude, deren der Spanier nicht faͤhig war.

Das Objekt wirkt um ſo ſtaͤrker auf das Mitgefuͤhl, je geſchickter es iſt, in dem Andern dieſelbigen Gefuͤhle zu erzeugen. Dieſe Geſchickt - heit aber haͤngt theils von der Reinheit des Aus - drucks der Gefuͤhle, theils von der Verbindung des Objekts mit dem ſympathiſirenden ab.

Je reiner der Ausdruck des Leidens oder der Freude iſt, d. h. je mehr er blos Freude oder blos Leiden ankuͤndigt, und je weniger er ſich mit den Ausdruͤcken anderer Gefuͤhle vermiſcht; deſto weniger Gelegenheit hat die Phantaſie das Gefuͤhl zu zerſtreuen, und das Hauptgefuͤhl durch Nebengefuͤhle zu ſchwaͤchen oder zu unterdruͤcken.

Wenn ſich unter die Ausdruͤcke des Leidens, Ausdruͤcke von Wuth, Rachgier oder weibiſchem Weſen miſchen; ſo haͤlt das Mißvergnuͤgen uͤber dieſe Wahrnehmungen das Mitgefuͤhl mit dem Lei - den von dem Herzen ab, und eben ſo ſchwaͤcht die Unanſtaͤndigkeit des Ausdrucks, ſo wie der Gedanke, daß er dem Leiden nicht angemeſſenſey,525ſey, die Sympathie mit demſelben. Man ſym - pathiſirt aus dem Grunde nicht mit dem Zorni - gen, aber wohl mit dem, wider welchen der Zorn ſich richtet; den Fall ausgenommen, wo der Zorn uns gerecht duͤnkt, und ſelbſt ein Beweis der Groͤße des Leidens iſt. Niemand fuͤhlt ſich gedrungen den Zorn des Eigenſinnigen mit ihm zu theilen; aber, wenn Ariadne, von ihrem The - ſeus, fuͤr den ſie Vater und Mutter verließ, und ihr Leben wagte, boͤslich verlaſſen, in der Hitze des Zorns die Rache der Goͤtter ruft, hebt ſich die Bruſt des Leſers mit ihr, und er vergißt ihren Zorn und ihre Verwuͤnſchungen uͤber der Quelle, aus welcher ſie entſpringen.

Kinder und ſchwache Leute reizen das Mit - leiden weit ſtaͤrker, als ſolche, bey denen noch Kraft, dem Leiden zu widerſtehen, wahrgenom - men wird. Jn jenen ſehen wir nur Leiden, nichts, das uns Hofnung fuͤr ſie einfloͤßen, und die trau - rigen Gefuͤhle, die ihr Anblick erregt, durch an - genehme mildern koͤnnte; dieſe aber erwecken die Gedanken in uns, daß ſie ſich ſelbſt helfen koͤn - nen, und geben uns den Muth, der ſie ſelbſt haͤlt, daß das Leiden ſie nicht unterdruͤcken werde.

Jnniges Mitleiden regt ſich in der Bruſt ei - nes jeden, wenn er im zweyten Geſange der Meſ - ſiade, das Ende des kleinen Benoni lieſt. Sein Vater wird von der Raſerey in den Graͤbern her -um -526umgetrieben, und ſeine Mutter bringt ihn, weil er ſie kindlich darum bittet, zu dem Vater hin - unter.

Ach, mein Vater! ſo rufte der kleine geliebte Benoni Und entfloh den Armen der Mutter, die aͤngſtlich ihm nachlief; Ach, mein Vater! umarme du mich! und kruͤmmt um die Hand ſich, Druͤckte ſie an ſein Herz. Der Vater umfaßt ihn und bebte. Da nun der Knabe mit kindlicher Jnbrunſt ihn zaͤrtlich umarmte, Da er mit ſtillem liebkoſenden Laͤcheln ihn jugend - lich anſah, Warf ihn der Vater an einen entgegenſtehenden Felſen, Daß ſein zartes Gehirn an blutigen Steinen her - abrann, Und mit leiſem Roͤcheln entfloh die Seele voll Unſchuld.

Jnniges Mitleiden regt ſich in jedem fuͤhlen - den Herzen bey der treflichen Elegie des heiligen Saͤngers, der ſein Leiden ſo ſimpel, ſo anſchaulich ſchildert, wenn er ſingt:

Wie der Hirſch ſich ſehnet nach Waſſer - quellen, So ſchmachtet meine Seele, Gott, nach dir:Es527Es durſtet meine Seele hin nach Gott, Nach dem lebend'gen Gott: Wenn werd 'ich wieder kommen Und Gottes Antlitz ſchaun! Laͤngſt waren meine Thraͤnen mir Morgen - und Abendbrodt; Da Tag fuͤr Tag man zu mir ſprach: Wo hilft dir nun dein Gott? Da dacht' ich denn (und floß in Thraͤnen uͤber) Wie ich einſt auch zu Gottes Tempel ging, Mitging im Haufen Jubelnder, Dankſingender, im lauten, tanzenden Chor*)Der 42. Pſalm..

So wie das Leiden um ſo ſtaͤrker zum Mit - gefuͤhl auffordert, je weniger Andere, beſonders heterogene, Gefuͤhle der Anblick deſſelben hervor - bringt; ſo auch die Freude. Wenn man in den Aeußerungen derſelben nur herzliche und reine Freude lieſt, freut man ſich gewiß mit; ſo wie im Gegentheil die Mitfreude unterdruͤckt wird, wenn die Aeußerungen des freudigen von Gefuͤh - len und Geſinnungen zeugen, die dem Herzen des ſympathiſirenden nicht gefallen, und alſo, durch die unangenehmen Empfindungen, welche ſie erwecken, der Freude den Eingang in die See - le verſperren.

Mit der uͤbermuͤthigen, ausgelaſſenen, un - edlen Freude ſympathiſirt man nicht; aber werfreut528freut ſich nicht mit dem edlen Wohlthaͤter, dem unſchuldigen Kinde, der belohnten Tugend?

Das Geſetz der Reinheit des Ausdrucks reicht indeß allein nicht hin, den Grad der Staͤrke des Mitgefuͤhls zu erklaͤren: es muß hiebey auch auf die Verbindung des Objektes mit dem ſympathi - ſirenden Ruͤckſicht genommen werden.

Je mehr etwas mit uns uͤbereinſtimmt, je aͤhnlicher es uns in jeder Hinſicht iſt, deſto ſtaͤr - ker werden die Zuſtaͤnde deſſelben unſer Herz affi - ciren*)Nathan der Weiſe ſagt daher ſehr wahr: dem Menſchen iſt Ein Menſch noch immer lieber, als ein Engel.. Jedes Alter ſympathiſirt am lebhafte - ſten mit dem ſeinigen, Geſchlecht mit Geſchlecht, der Freund mit dem Freunde.

Suͤße Freuden gewaͤhrt das Mitgefuͤhl, dem, fuͤr welchen es ſich regt. Es erhoͤht ſeine Freuden, und mildert ſeine Leiden; denn es uͤberzeugt ihn, daß er in den Augen Anderer einen Werth hat, daß er geliebt wird, und auf Huͤlfe, wenn er ihrer bedarf, rechnen kann. Aber auch denen, welche ſie fuͤhlen, giebt die Sympathie einen ſuͤßen Ge - nuß; und nicht nur die Sympathie der Freude, auch das Mitleiden iſt kein durchaus unangeneh - mes Gefuͤhl.

Fragt nur Euer Herz, Jhr, die Jhr des Mitleidens faͤhig ſeyd, wenn es um Euren un -gluͤck -529gluͤcklichen Freund trauert, ob es wohl wuͤnſchte, daß Eurem Freunde das Ungluͤck, das Euer Mit - leid erregte, nicht begegnet ſey? O! Jhr wuͤrdet vielleicht die Rettung Eures Freundes mit allen Euren Guͤtern erkaufen; aber eben darum kann Euer Herz nicht wuͤnſchen, daß ihn das Ungluͤck gar nicht betroffen habe, weil Euch ſonſt die Freude nicht geworden waͤre, Eurem Freun - de zu beweiſen, daß Jhr ihn liebet und Eure Freundſchaft ihm nicht ganz unnuͤtz ſey.

Aber auch dieſes Gefuͤhl, das das menſchli - che Herz adelt, und, von Rouſſeau*)Diſcours ſur l'origine & les fondemens de l'in - egalité parmi les hommes. Premiere partie. S. 91. f. und beſonders S. 94. Zweybruͤcker Ausgabe. mit Recht, die Quelle aller menſchlichen Tugenden genannt wird, kann geſchwaͤcht und erſtickt werden.

Außer den objektiven Urſachen der Verminde - rung oder Aufhebung des Mitgefuͤhls, die im Vo - rigen ſchon genannt ſind, und auch eigentlich hie - her nicht gehoͤren, nenne ich hier nur Rohheit und Unempfindlichkeit, und die ſelbſtiſchen und feind - ſeligen Leidenſchaften.

Wer einzig fuͤr die Befriedigung ſeiner gro - ben, ſinnlichen Begierden lebt, und durch Bil - dung ſeines Herzens den natuͤrlichen Anlagen garLlnicht530nicht zu Huͤlfe koͤmmt: der verlernt nach und nach die Menſchheit ganz, und die Sinnlichkeit legt einen Schlamm um ſein Herz, durch den edlere und feinere Gefuͤhle nicht dringen koͤnnen. Es iſt fuͤr den Menſchenfreund aͤußerſt niederſchlagend, aber wahr, daß ſo Mancher, der ſich gewoͤhnt, nur die Befriedigung ſeiner thieriſchen, oder eit - len, Begierden, fuͤr Gluͤckſeligkeit zu halten, ſtumpf wird fuͤr alle Gefuͤhle der Menſchheit. So mancher verfuͤhrte Sohn kann die Wahrheit dieſer Bemerkung beweiſen. Die ruͤhrendſten Vorſtel - lungen von dem Kummer ſeiner Eltern, der An - blick ihres Harms, der Gedanke, daß ſeine La - ſterhaftigkeit oder Ausſchweifung ihnen den Weg zum Grabe verkuͤrzt, treffen ſein Herz nicht. Er hoͤrt und ſieht das Elend, das er bereitet, und fuͤhlt es nicht! O Natur, wie wirſt du von den Menſchen, denen du ſo wohl willſt, verlaͤug - net! denn deine Schuld iſt es wahrlich nicht, wenn der Menſch zum Barbaren wird.

So ſehr ich den philoſophiſchen Geſchicht - ſchreiber, Robertſon, achte, und ſo glaubwuͤr - dig ſeine Erzaͤhlungen ſind, ſo ſcheint er mir doch in den Bemerkungen uͤber die Unempfindlichkeit und den Mangel des Mitgefuͤhls bey den ameri - kaniſchen Wilden, dieſe zu hart beurtheilt zu ha - ben. Nachdem er einige Beyſpiele von ihrer Un - gefaͤlligkeit gegen ſolche, die der Huͤlfe beduͤrfen,dem531dem Mangel der Liebe zwiſchen Eltern und Kin - dern u. v. m. erzaͤhlt hat, faͤhrt er fort: So wenig iſt das Herz des Wilden der Empfindungen faͤhig, die die Menſchen zu jener liebreichen Sorg - falt bewegen, welche Kummer und Leiden verſuͤßt, daß die Spanier ſelbſt in einigen amerikaniſchen Laͤndern genoͤthigt geweſen ſind, die gemeinen Pflichten der Menſchlichkeit durch ausdruͤckliche Geſetze einzuſchaͤrfen, und Ehemaͤnner und Ehe - weiber, Eltern und Kinder unter ſchweren Stra - fen zu verpflichten, waͤhrend ihrer Krankheiten einander beyzuſtehen und zu verpflegen*)Robertſ. Geſchichte v. Amerika, uͤberſ. von Schiller. 1. Th. S. 472 f..

Wenn man auch kein Mißtrauen in die Er - zaͤhlungen der Spanier ſetzen muͤßte, die gewiß, um ihre unmenſchliche Grauſamkeit zu beſchoͤni - gen, alles aufſuchten und erdichteten, um die Ame - rikaner ſo ſchlecht, als moͤglich, zu ſchildern; ſo darf man doch nicht ſogleich, nach jenen Erzaͤh - lungen, ſie des Mangels des Mitgefuͤhls beſchul - digen. Freylich kann man von rohen und unge - bildeten Menſchen nicht die feinern Gefuͤhle der Gebildeten fordern: freylich ſind ihre Leidenſchaften, wenn ſie gereizt werden, roh und barbariſch; und Gewohnheit, Aberglaube und Vorurtheil verder - ben die Anlagen der Natur; aber man beobachte ſie nur, wenn ſie aus ſich ſelbſt, von keiner auf -Ll 2brin -532bringenden Leidenſchaft, keinem Aberglauben, kei - ner Gewohnheit irre gefuͤhrt, handeln, und man wird auch durch ſie, die Guͤte der menſchlichen Natur gerechtfertigt finden.

Neunzehnte Unterhaltung. Ueber die Liebe.

Vielleicht werden Manche meiner Leſer und Leſe - rinnen, welche uͤber die vorhergehenden Unterhal - tungen hinwegeilten, durch die Ueberſchrift der gegenwaͤrtigen eingeladen, bey ihr zu verweilen, weil ſie ſich mit einem Gegenſtande beſchaͤftigt, der, wie kein andrer, fuͤr Alle intereſſant iſt.

Dieſe Vorſtellung, weit entfernt, mich zu einer leichtſinnigen Behandlung dieſes Gegenſtan - des zu verfuͤhren, erfuͤllt mich vielmehr mit dem ganzen Gefuͤhle der Wichtigkeit und Schwierig - keit meines Unternehmens, und macht mich ſchuͤch - tern bey der Darlegung meiner Gedanken, weil der Egoismus mich nicht verblendet, das Verhaͤlt - niß meiner Kraft gegen den zu bearbeitenden Ge - genſtand zum Vortheil jener unrichtig zu berechnen, und ich wohl fuͤhle, wie kuͤhn es iſt, ſich ohne den Scharfſinn eines Hemſterhuͤis, und den Geiſt eines Plato, an eine Entwickelung zuwagen,533wagen, die von der geheimſten Tiefe des Herzens ausgehen muß, und die ſchoͤnſte Darſtellung fodert.

Wenn ich nun aber gleich nicht im Stande bin, das zarte Gewebe dieſer Neigung des menſch - lichen Herzens mit der Hand eines Kuͤnſtlers aus - einander zu legen; ſo gelingt's mir doch vielleicht, einen oder den andern Faden deſſelben bey ſeinem Anfange zu faſſen, und bis an ſein Ende zu ver - folgen, oder, wenn dies noch zu viel gehoft iſt, ſo gebe ich doch vielleicht einem geſchicktern Kuͤnſt - ler oder einer geuͤbteren Kuͤnſtlerin Gelegenheit, das, was ich nicht recht machte, zu verbeſſern, und da, wo ich fehlte, mich zu tadeln.

Liebe iſt Verlangen der Seele, ihre Har - monie mit einem Gegenſtande in Einheit mit demſelben zu verwandeln. Jene (die Harmonie) weckt den in jedem Herzen liegenden Saamen der Liebe zum lebendigen Keim, und dieſe (die Ein - heit) iſt die Frucht, welche man aus dem Keime zu erziehen ſtrebt.

Erweiterung ſeines Selbſts iſt Haupttrieb des menſchlichen Herzens, fein und innig mit al - len Trieben verſchlungen; Zufriedenheit, oder das Bewußtſeyn, durch nichts ſich dieſe Erweiterung verhalten zu haben, frey durch und auf die ganzeLl 3Schoͤ -534Schoͤpfung blicken zu koͤnnen die hoͤchſte Gluͤck - ſeligkeit.

Die Liebe ſucht dieſe Erweiterung in der Ei - nigung mit Andern; iſt ſehnliches Verlangen, ſein Jch zu ſpiegeln, in der materiellen Welt, im empfindenden Geſchoͤpfe, im Manne, im Wei - be, in der Gottheit.

Das Thier, das Kind und der ſinnliche Menſch ſuchen fuͤr den Trieb der Erweiterung ih - res Selbſts Befriedigung auf ſinnlichen Wegen. Das Kind fuͤhrt alles, was ihm gefaͤllt, dem Munde zu: das Thier und der ſinnliche Menſch begehren Koͤrpervereinigung.

Der geiſtige, veredelte Menſch ſucht Verei - nigung im Geiſt und in der Wahrheit. Das Ziel ſeiner Beſtrebungen iſt nicht aͤußere Verſchlin - gung der Koͤrper in einander; er will in dem Herzen des Geliebten leben und weben. Das Herz des Juͤnglings ſchlaͤgt fuͤr ſeine Geliebte, da - mit ihr Herz fuͤr das ſeinige ſchlage: das Auge des Andaͤchtigen ſchmachtet, und ſeine Haͤnde ringen nach der Ueberzeugung, daß Gott in ihm und er in Gott ſey: ein Geiſt lebt in Johannes und Jeſus; ich, ſagte der goͤttliche Geſandte, und der Vater ſind Eins.

Nur der, deſſen Liebe nach einer Vermaͤhlung der Herzen und Geiſter ſich ſehnt, findet Genuß; denn nur Geiſter und Herzen laſſen ſich innig mitein -535einander verfloͤßen: Koͤrper koͤnnen ſich nur an, nicht in einander druͤcken. Bruſt an Bruſt, Mund auf Mund ſuchen Liebende ſich gegen ein - ander auszutauſchen; aber nie ſaͤttigt ſie auch der ſtaͤrkſte Haͤndedruck, auch der heißeſte, an den Lippen des Geliebten ſterbende Kuß: denn nie er - reichen ſie den Zweck des voͤlligen Einswerdens. Kennen ſie nun keinen andern Weg der Vereini - gung, ſo folgt der aus dem hoͤchſten ſinnlichen Genuſſe ſich jedesmal erzeugende Ueberdruß und Ekel. Man verlangte nach der voͤlligen Zuſam - menſchmelzung mit dem Geliebten; alle Nerven ſpannten ſich, dieſes Verlangen zu befriedigen, und kaum glaubt man in einer wahnſinnigen Taͤu - ſchung am Ziel ſeines Wunſches zu ſeyn; ſo deckt das nun wiederum zur Sprache kommende Be - wußtſeyn den Betrug der Sinnlichkeit auf: alle Anſtrengung iſt verloren, der Zweck unerreicht, Mißvergnuͤgen und Unwille im Herzen. Wer ſich dann nicht durch Herzensgenuß uͤber die Un - moͤglichkeit, durch Huͤlfe der Sinnlichkeit den Wunſch der Liebe zu erfuͤllen, troͤſten kann, bey dem wird der Unwille bleibend, und geht in Wi - derwillen gegen den Gegenſtand uͤber, an welchem ſeine ſuͤßeſte Hofnung ſcheiterte.

Will man uͤber die Natur der Seligkeit nach dem Tode traͤumen; ſo ſcheint mir der Traum noch der Wahrheit am naͤchſten zu kommen, nachLl 4wel -536welchem ſie in der vollkommnen Erreichung des Zwecks der Liebe beſteht, in der vollkommnen, durch Koͤrper, Launen und Begierden der Sinn - lichkeit nicht mehr gehinderten Einigung Eines mit Allen, und Aller mit Einem, und Eines und Aller mit Gott.

Weil Einheit das Ziel der Hofnungen, Wuͤn - ſche und Beſtrebungen der Liebe iſt, erfuͤllt Alles, was den Schritt zu dieſem Ziele aufhaͤlt, von ihm entfernt oder abfuͤhrt, mit dem herzlichſtem Schmerz. Wie jammert die zaͤrtliche Mutter, wenn ſie ihrem Kinde das letzte Lebewohl ſagen ſoll! wie haͤrmt ſich das liebende Maͤdchen, wenn ihr Juͤngling von ihrem Buſen geriſſen wird! Jſt es gleich nicht der Koͤrper, an welchem ihre Liebe ſich haͤlt, ſo ſind doch Auge, Mund, Hand und Pulsſchlag die Organe, durch welche das Herz redet.

Nichts iſt den Liebenden unertraͤglicher, be - kuͤmmernder, folternder, als Entzweyung, Auf - hebung des Einverſtaͤndniſſes. O wie mancher - ley Verſuche macht der Freund, den Freund wie - der an ſich zu ziehen! Wie wimmert der andaͤch - tige Buͤßer, wenn er glaubt, daß Gott ſein An - geſicht vor ihm verberge! Wie gern thut er alles, opfert er alles auf, um ſich nur ſeiner Liebe wie - der zu verſichern! Und wie feſt, warm und neu iſt nach der Verſoͤhnung der Vorſatz der Lieben -den,537den, nie wieder die ſelige Einheit, die ſie verbin - det, zu trennen!

Lange traͤgt der Liebende ſeine Liebe im Herzen, ehe er es wagt, ſie der, welche er meynt, zu ge - ſtehen, auch wenn die Sprache ihrer Augen und Minen ihm laͤngſt entdeckt hat, daß ſein Geſtaͤnd - niß willkommen ſeyn werde. Er fuͤrchtet, ſeine Worte moͤchten den Auftrag ſeines Herzens uͤbel ausrichten, und nicht geſchickt genug ſeyn, die Geliebte zur Zuneigung zu bereden. Aber hat er es einmal gewagt, ſein Herz durch den Mund reden zu laſſen, und iſt er ſo gluͤcklich geweſen, der Gegenliebe verſichert zu werden, o dann iſt er im Himmel auf Erden, und dieſer Augenblick der ſe - ligſte ſeines Lebens.

Seht, wie der Wunſch, mit dem geliebten Gegenſtande Eins zu werden, ſich in allen Aeu - ßerungen und Handlungen des Liebenden, aus - druͤckt! Alle Eigenſchaften und Eigenheiten des Gegenſtandes ſeiner Liebe traͤgt er in ſich hin - uͤber, und wird unvermerkt ganz derſelbe, in Ton und Sprache, Stellung und Anzug, Den - kungs - und Handlungsart. Jnnig freut er ſich, wenn ſein Kleid mit dem des Geliebten uͤberein - koͤmmt, ſein Urtheil, wie Jenes iſt, ſein Geſchmack dem Geſchmacke ſeines zweyten Jchs entſpricht: und wie leicht, wie willig aͤndert er ſeine Gedan -Ll 5ken,538ken, ſeine Wuͤnſche, wenn ſie von Jenes Ge - danken und Wuͤnſchen verſchieden ſind*)Leicht wird es dem Ritter Huͤon in Wielands Obe - ron, ſeine Geliebte Rezia, die Sultanstochter, zu ſeinem Glauben zu bekehren. Denn, ſagt der Dichter:Groß iſt in des Geliebten Mund Der Wahrheit Kraft: das Herz, voraus mit ihm in Bund, Horcht ihm mit Luſt und lehrbegierigen Schweigen. Was iſt ſo leicht zu uͤberzeugen Als Liebe? Ein Blick, ein Kuß iſt ihr ein Glau - bensgrund. .

Mit Recht empfehlen daher Menſchen ken - nende Tugendlehrer die Liebe zu einem tugendhaf - ten Gegenſtande, als das wirkſamſte Tugendmit - tel. Die Sehnſucht, mit welcher man verlangt, in das Herz des Geliebten aufgenommen zu wer - den, treibt, wie kein anderes Motiv, lebhaft an, alles das aus ſich wegzuſchaffen, was die Vereinigung hindern, und alles das in ſich zu le - gen, was ſie befoͤrdern kann. Die uͤppige Da - nae wird durch die Liebe zu Agathon ſittſamer. Agathon durch die Erinnerung an ſeine tugend - hafte Pſyche vor der Verfuͤhrung des Sophiſten gewarnt.

Sich ſelbſt vergißt der Liebende in dem Ge - liebten. Man fordre von ihm welche Aufopfe -rung539rung man wolle, und er wird mit Freuden die Forderung erfuͤllen, wenn es nur fuͤr die Liebe gilt. Zweymal will Horaz fuͤr ſeine Lydia ſter - ben, und Pylades der Freund ſeines Oreſtes ſeyn, wenn auch die Goͤtter ihn haſſen, die Men - ſchen ihn fliehen. Es iſt ein goͤttliches Schau - ſpiel, ſagt Seneca, wenn der Mann mit dem Ungluͤck kaͤmpft: es iſt das goͤttlichſte Schau - ſpiel, wenn die Großmuth der Liebenden wettey - fert, Damon fuͤr den Pythias, dieſer fuͤr jenen ſich aufopfern will, und Jonathan einem Thro - ne mit Freuden entſagt, um ſeines Davids Freundſchaft zu genießen. Gering, nichts achtet dieſe Großmuth der Liebe, das, was ſie fuͤr den Geliebten that, litte, aufopferte: denn das, wofuͤr ſie that und litte und aufopferte, iſt groͤßer, als alles. Mich, ſagt Amande, die eine Krone, einen Vater, und alles, was reizen kann, fuͤr ihren Ritter verließ,

Mich koſtet's nichts von allem mich zu ſcheiden, Was ich beſaß; mein Herz und Deine Lieb 'erſetzt Mir alles; und, ſo tief das Gluͤck herab mich ſetzt, Bleibſt Du mir nur, ſo werd' ich keine neiden, Die ſich durch Gold und Purpur gluͤcklich ſchaͤtzt. Nur,540Nur, daß Du leideſt, iſt Amandens wahres Leiden! Ein truͤber Blick, ein Ach, das Dir entfaͤhrt, Jſt, was mir tauſendfach die eigne Noth er - ſchwert. Sprich nicht von dem, was ich fuͤr Dich gegeben, Fuͤr Dich gethan! Jch that, was mir mein Herz gebot, That's fuͤr mich ſelbſt. Der zehenfacher Tod Nicht bittrer iſt, als ohne Dich zu leben. Was unſer Schickſal iſt, hilft Deine Liebe mir, Hilft meine Liebe Dir ertragen; So ſchwer es ſey, ſo unertraͤglich hier Jſt meine Hand! ich will's mit Freuden tragen.

Die Liebe ſucht und kennt keinen andern Ge - nuß, als in der Liebe. Aus ihr quillen die Freu - den und Leiden der Liebenden; keine Freude von außen kann den Kummer der Liebe ſtillen; kein aͤußeres Elend ihre Freuden ſtoͤren.

Nacht iſt nicht Nacht fuͤr ſie; Elyſium Und Himmelreich iſt alles um und um; Jhr Sonnenſchein ergießet ſich von innen, Und jeder Augenblick entfaltet neue Sinnen*)Wielands Oberon. Fuͤnfter Geſang. 85..

Die541

Die Selbſtliebe vertauſcht in der Liebe ihre Gegenſtaͤnde. Was ſie ſonſt von dem eignen Selbſt hielt, und fuͤr daſſelbe that; das haͤlt ſie jetzt von dem Geliebten, das thut ſie fuͤr dieſen. Alles, was in und an dem Geliebten iſt, hat ho - hen Werth. Heilig iſt die Staͤte, die ſein Fuß beruͤhrte: heilig das Wort, das ſein Mund ſprach. Sich ſelbſt ſieht man ſo klein; den Ge - liebten ſo groß; ſeine Aufopferungen ſo gering, die des Geliebten, ſo wichtig.

Nur in einem Stuͤcke iſt die Liebe egoiſtiſch in der Liebe ſelbſt. Man giebt mit Freu - den alles Andere hin, wenn ſie das Herz erwaͤrmt hat, nur die Liebe theilt man nicht gern; will we - nigſtens den bey weiten vorzuͤglichſten Theil derſel - ben fuͤr ſich haben. Aeußerungen, welche groͤßere Zuneigung des Geliebten zu Andern, als zu uns verrathen, wie zerreißen ſie das Herz! Wenn ſein Auge laͤnger auf Anderen ruht, als auf uns, ſeine Hand die unſrige nicht ſo freundlich druͤckt, als die des Andern, ſein Ton gegen dieſen herz - licher iſt, als gegen uns o, wie ſehr beklemmt dies unſer Herz! Wir geben uns ganz hin, wir moͤchten gern auch etwas Ganzes wieder em - pfangen.

Ja dieſen Eigennutz hat die Liebe; aber wer moͤchte ſie daruͤber tadeln: und dieſes Verlangen, allein fuͤr den geliebten Gegenſtand ſich aufopfern,allein542allein ihn erfreuen, allein ihn begluͤcken zu koͤn - nen, mit dem Namen des Eigennutzes ſchaͤn - den? Eyferſucht iſt Eigennutz; dieſer Wunſch, Großmuth.

Die Staͤrke der Liebe ſteht im Verhaͤltniß mit der Erweiterung, die der geliebte Gegenſtand un - ſerm Selbſt verſpricht. Die Liebe gegen lebloſe Dinge iſt ſchwaͤcher, als die gegen empfindende Weſen; die Liebe gegen den, der meines Ge - ſchlechts iſt, ſchwaͤcher, als die gegen den, der zum entgegengeſetzten Geſchlechte gehoͤrt; die Lie - be gegen die Gottheit uͤber alles.

Lebloſe, materielle Dinge zeigen mir meine Wirkungen, aber keine Reaction, kein Wir - ken fuͤr mich. Der Gaͤrtner liebt ſeine Blumen, denn er ſieht in ihnen die Wirkungen ſeines Flei - ßes und ſeiner Sorgen; aber ſie koͤnnen ihm nicht danken, ſeine Sorgfalt fuͤr ſie nicht empfinden. Das Thier kann freundlich gegen mich ſeyn, ſich an mich ſchmiegen, mir ſchmeicheln, aber es ver - ſteht meine Liebe nicht, ich kann ihm meine Leiden nicht klagen, meine Freuden nicht erzaͤhlen. Wer meines Geſchlechts iſt, verſteht meine Liebe, mein Herz kann Eins mit dem ſeinigen werden; aber er giebt mir nicht, wie das entgegengeſetzte Ge - ſchlecht, die frohe Ausſicht auf eine durch ihn moͤgliche Verkettung mehrerer Weſen mit mir. Die543Die Liebe zur Gottheit verbindet mich mit dem Univerſum.

Jnnige Verbindung des Selbſts mit dem Ge - liebten, iſt das Verlangen der Liebe; die in dem Andern wahrgenommene Harmonie mit dem Selbſt erweckt dieſes Verlangen. Wo der Glaube nicht iſt, daß die Natur des Andern zu meiner Selbſtheit paſſe, da kann auch die Hofnung nicht ſeyn, daß er Eins mit mir werden koͤnne. Aber wenn ich Aehnlichkeit der Geſinnungen mit den meinigen, und Geneigtheit, meinen Wuͤnſchen zu folgen, hoffe oder entdecke; kann ich auch auf Vereinigung rechnen, und mein Verlangen da - nach, die Liebe, rege werden.

Schoͤnheit reizt daher in der Regel weit eher zur Liebe, als Haͤßlichkeit. Bey dieſer verheißt die Disharmonie der Zuͤge, das Mißverhaͤltniß der einzelnen Theile gegen einander, das widerli - che Colorit, auch Disharmonie in der Denkungs - art, Ungemeſſenheit der Neigungen, Ungefaͤllig - keit der Sitten. Aber das Ebenmaaß, die Gra - zie, die Anmuth einer ſchoͤnen Form laͤßt auch auf Schoͤnheit der Seele, Anmuth des Betra - gens und Wohlwollen des Herzens ſchließen*)Pulchritudo, ſagt Ludovicus Vives, ein Pſycholog des 16ten Jahrhunderts, in ſeiner Schrift de ani - ma et vita. Baſileae. S. 157.: Pulchritudo ve -luti. So544So wohl in einem, als dem andern Falle kann man ſich taͤuſchen; aber daher geſchieht es auch, daß Perſonen, die nur ſchoͤne Formen ſind, bald zuwider; diejenigen hingegen, deren minder wohlgeſtalteter Koͤrper von einer edlen Seele be - wohnt wird, dem Herzen taͤglich intereſſanter und lieber werden. Nur eine ſchoͤne Seele kann die Liebe im Ernſt meynen; mit einem ſchoͤnen Koͤrper ſpielt ſie wohl eine kurze Zeit, aber ſonſt dient er fuͤr ihren Zweck nicht.

Aber doch verlangt ſo Mancher mit heißer Sehnſucht und im Gefuͤhl der innigſten Liebe nach einen Gegenſtand, deſſen ſchoͤne Form die Maſke der haͤßlichſten Seele iſt! Seht wie jener Ungluͤckliche ſo willig die eiſernen Feſſeln eines ſchoͤnen Teufels traͤgt! Ein freundlicher Blick, ein feſter Haͤndedruck, ein ſchmeichelndes Wort, ein bezaubernder Kuß, welche Wonne gießen ſie uͤber ſein ganzes Weſen! Wie feurig ſtreitet er, durch ſie entzuͤndet, wider die Urtheile, die die Vernunft aus ruhigen Beobachtungen uͤber den Gegenſtand, der ihn beruͤckte, ſammelte!

Ungluͤcklicher, der du in dieſem Falle biſt, du biſt des Mitleids menſchlicher Herzen werth! Nicht die Liebe, Du irrſt dich! Du biſt dasOpfer*)luti flos quidam videtur eſſe bonitatis. Die Schoͤnheit ſcheint gleichſam die Blume der Guͤte zu ſeyn.545Opfer deiner Phantaſie! Sie mahlt ſich, gereizt von der ſchoͤnen Geſtalt, dieſelbe zu einem ſchoͤnen Ganzen aus, und ſchaft eine Seele mit Tugend und Herzensguͤte geſchmuͤckt zu dem Koͤrper, der ſie entzuͤckte. Durch dieſe Verbindung der edel - ſten Seele mit dem ſchoͤnſten Koͤrper weiß ſie das Herz ſo zu bezaubern, daß mehr, als kalte Vor - ſtellungen dazu gehoͤren, es demſelben empfindbar zu machen, daß das ſchoͤne Ganze, welches es mit ſeiner innigſten Liebe umfaßt, nur ſeinem ge - ringſten Theile nach in der Form, welche die Phan - taſie reizte, exiſtirt, und der Haupttheil deſſelben ein weſenloſes Bild iſt. Nur harte Schlaͤge, Jahrenlange Leiden, fuͤr jeden Andern unaushalt - bare Qualen koͤnnen es endlich bewegen, der Ver - nunft und Wahrheit zu glauben, daß es die Thoͤ - rin der Phantaſie ſey, aber dennoch koſtet es viel Anſtrengung und viel Muth, ehe es ſich ganz von dem Gegenſtande ſeiner Liebe und ſeiner Leiden losreißt, und es bedarf nur einer der Wahrheit nahe kommende Heucheley deſſelben, ſo iſt es aufs neue bethoͤrt.

Eben ſo ungluͤcklich und eben ſo mitleids - wuͤrdig iſt der, welcher liebt, ohne Gegenliebe zu finden. Man ſage ja nicht, daß der, der bey den ſichtbarſten Beweiſen des Mangels an Ge - genliebe dennoch fortfaͤhrt, um Erhoͤrung ſeiner Liebe zu bitten, ein Thor ſey. So urtheilt nurMmder,546der, der das Herz nicht kennt. Was fuͤr den ruhigen Zuſchauer redender Beweis iſt, iſt es nicht fuͤr das von der Liebe bewegte Herz. Der Gedanke, einen Gegenſtand getroffen zu haben, der unſrer Liebe den ſeligſten Genuß gewaͤhren koͤn - ne, iſt zu ſuͤß, als daß man ſich ſo bald und ohne tiefen Schmerz von demſelben trennen koͤnn - te. Man legt die Urſachen des noch nicht erfuͤll - ten Verlangens der Liebe, nicht in den geliebten Gegenſtand, ſondern in ſich ſelbſt. Man glaubt fuͤr ihn noch lange nicht genug gethan und aufge - opfert zu haben, um itzt ſchon auf den Lohn der Liebe hoffen zu duͤrfen, und kann ſich das, was man ſchon gethan und aufgeopfert hat, nicht ge - ringe genug vorſtellen. Darum hoft man, durch immer fortwaͤhrenden Eyfer und immer reger wer - dende Bemuͤhungen, endlich doch zum Ziel ſeiner Wuͤnſche zu gelangen, und dieſe Hofnung iſt un - endlich, wie die Liebe ſelbſt.

Wo jemand am meiſten Aehnlichkeit mit ſich entdeckt, dahin neigt ſich ſeine Liebe am leichteſten: denn da darf ſie hoffen, Eingang zu erhalten. Selbſt die aͤußern Unterſchiede duͤrfen nicht zu auffallend ſeyn. Koͤnige koͤnnen ſich ſelten der herzlichen Liebe Anderer freuen; ſie ſtehen zu hoch, und haben ein ſo ganz eignes Jntereſſe, als daß Andere auf ein voͤlliges Einswerden mit ihnen rechnen koͤnnten. Vorzuͤglich aber laden Aehn -lich -547lichkeiten des Herzens zur Liebe ein; denn, wo nur ein Herz iſt, da wird leicht die ganze Seele, der ganze Menſch Eins.

Der Singulaire, Eigenſinnige, Selbſtiſche muß des Gluͤcks der Liebe entbehren, kann wenig - ſtens von ihren Freuden nur ſehr wenig genießen: denn ſeine Denkungsart, ſeine Neigungen, ſeine Launen treffen nicht leicht einen, der zu ihnen ſtimmte.

Aber achteſt du die Menſchheit, und nicht blos deinen Menſchen, biſt du genuͤgſam und zu - frieden o dann rechne ſicher auf den Lohn der Liebe. Seyd ſanftmuͤthig und von Herzen demuͤ - thig, ſagt der große Lehrer der Chriſten, ſo wer - det ihr Ruhe finden fuͤr eure Seelen in der Liebe eurer Bruͤder und Gottes.

Wenn man die verſchiedenen Arten der Liebe, mit welcher ſich Menſchen lieben koͤnnen, mit ein - ander vergleicht, ſo ſcheint Liebe im engſten Sinn, oder Liebe der Sinnlichkeit und Phanta - ſie, wie die gegen das entgegengeſetzte Geſchlecht iſt, die ſtaͤrkſte; Liebe des Herzens und des Ver - ſtandes, oder Freundſchaft die edelſte zu ſeyn.

Verzeihung, meine Leſerinnen! daß ich der Freundſchaft ein Praͤdikat gebe, welches ich der Liebe, wie ich ſie hier verſtehe, zu geben, mirMm 2nicht548nicht getraue! Fuͤhle ein Jeder in ſeinen Buſen, ob die Liebe ſo platoniſch iſt, wie Manche ſie, ſchwaͤrmeriſch genug, gern ſchildern moͤchten. Und fragt Euch ſelbſt, Edle Weiber und Maͤnner, die ihr laͤnger, als der Reiz der Sinnlichkeit und der Zauber der Phantaſie waͤhrt, einer in dem An - dern Euch ſelig fuͤhltet, was gab Eurem Gluͤcke die Dauer, die Liebe des Mannes zum Weibe und dieſes zu jenem, oder die Liebe des Herzens zum Herzen?

Was die Liebe Edles hat, hat ſie von der Freundſchaft, denn dieſe paart ſich mit jener, und das Weib kann einen Freund, der Mann eine Freundin haben. Wenn in der Liebe nicht der Geiſt der Freundſchaft lebt, dann verwelkt ſie mit den Roſen der Wangen, verliſcht mit dem Feuer der Augen, und verſchwindet mit den Far - ben der Jugend. Aber von dem Geiſt der Freund - ſchaft beſeelt wird die Liebe unſterblich, wie der Geiſt, den ſie umfaßt. Keine Saͤttigung, kein Ueberdruß, kein Ekel; denn reine, geiſtige, edle Freuden quillen aus der ewigen Quelle, welche die Freundſchaft naͤhrt. Nur gute Menſchen koͤnnen Freunde ſeyn*)Wenn ich ſage, daß nur unter Guten Freundſchaft ſtatt finden kann; ſo verſtehe ich hier wahre, d. h. ewige Vereinigung des Menſchen, und will hie -mit, die Liebe verbindet auchAndere;549Andere; aber darum iſt auch das Band der Freundſchaft fuͤr die Ewigkeit gewebt, das Band der Liebe nur fuͤr Monden und Jahre. Freund - ſchaft iſt ganz Zutrauen; keine Verlaͤumdung, kei - ne Verkleinerung ſchadet dem Freunde in dem Her - zen des Freundes; er verachtet den Verlaͤumder, und faͤhrt fort, den Freund zu lieben. Aber die Liebe iſt mißtrauiſch, und kann in ihrem Gefolge das ſchwaͤrzeſte aller Ungeheuer, die Eyferſucht leiden. Freundſchaft iſt tolerant, aber eine frey - muͤthige, wenn gleich liebreiche Erzieherin des Freundes: Liebe iſt blind gegen die Unvollkommen -Mm 3heiten*)mit gar nicht geleugnet haben, daß auch unter An - dern Verbindungen, ja recht feſte Verbindungen moͤglich ſind. Aber nicht gute koͤnnen denn doch nur ſich, nicht ihre Herzen verbinden. Denn auch der, welcher ſelbſt boͤſe iſt, ja dieſer noch mehr, wie der Gute, muß Mißtrauen in den, der ihm gleich iſt, ſetzen, weil er aus eigner Erfahrung weiß, daß der, welcher einmal von der Bahn des Guten abwich, ſich Stuͤrmen ausſetzt, die ihn bald hier, bald dahin verſchlagen. Voltaire ſagt, wie mich duͤnkt, ſehr richtig: Les mechants n'ont, que des complices, les voluptueux ont des compagnons de debauche, les gens intereſſés ont des aſſociés, les politiques aſſemblent des factieux, les princes ont des courtiſans, les hommes vertueux ſont les ſeuls, qui aient des amis. Diction. philo - ſoph. article Amitié. 550heiten des Geliebten, und ſchmeichelt. Freund - ſchaft gruͤndet ſich auf Hochachtung, und will Hochachtung: Liebe buhlt um Gunſt. Dieſe folgt in ihrem Thun und Laſſen, den Launen des Geliebten: Jene den ewigen Geſetzen der Tugend. Freundſchaft erniedrigt ſich nicht vor dem Freun - de, ſondern haͤlt ſich, voll edles Selbſtgefuͤhls, werth, von dem Freunde geachtet zu werden. Die Liebe demuͤthigt ſich, ſchmiegt ſich unter die eigenſinnigſten Feſſeln des Geliebten, um nur ei - nes freundlichen Blicks gewuͤrdigt zu werden. Die Freundſchaft verlangt Herz fuͤr Herz; weß Freund ich ſeyn ſoll, der muß auch der meinige ſeyn. Aber die Liebe winſelt und bettelt vor der Thuͤre des Geliebten, der nicht hoͤren will, und fordert ungeſtuͤm und unbeſcheiden eine Gabe, die nur freywillig gegeben werden kann, indeß die Freund - ſchaft beſcheiden von ferne ſteht, und nur mit langſamen und ehrfurchtsvollem Schritte ſich dem naͤhert, der ihr naͤher koͤmmt*)Zu meiner nicht geringen Freude finde ich, daß der mit vieler Menſchenkenntniß geſchilderte Eduard meines ſehr werthgeſchaͤtzten Freundes, uͤber Liebe und Freundſchaft eben ſo denkt, wie ich mich itzt ge - aͤußert habe. Wie lach 'ich jetzt Eurer, ſagt er, mit euren Lobpreiſungen der Liebe! Liebe toͤd -tet.

Ver -551

Verſchwiſterte Liebe und Freundſchaft, ihr macht die Gluͤckſeligkeit des menſchlichen Lebens! Jhr knuͤpft unter Sinnlichkeit und Phantaſie, und Herz und Verſtand einen heiligen Bund; und ſtimmt die Empfindung und Einbildung, die Ge - danken und Gefuͤhle deß, in dem ihr euch verei - nigt zum reineſten Einklang. Grobe Begierden, unreine Phantaſien, boͤſe Gedanken und eigen - nuͤtzige Gefuͤhle, entweihen nie die reine Seele deß, der im Geiſt und der Wahrheit liebt. Die von der Freundſchaft geheiligte Flamme der Liebe entzuͤndet in ihm den edlen Muth, ſich uͤber das, was gemeine Seelen feſſelt, zu erheben, und be - lebt ſeine Kraft, ſeinem Muthe zu folgen. Voll edlen Stolzes blickt er dem launiſchen Schickſal ins Auge: das lockende Laͤcheln deſſelben reizt ihn nicht; und unerſchrocken ſieht er, wenn ſein Don - ner ihm droht. Gemeine Seelen kennen dieſe Seligkeit der mit Freundſchaft verbundenen Liebe nicht: denn ſie ſind zu feſt an das Niedrige gehef - tet, als daß ſie ſich, zu dem Goͤttlichen empor -Mm 4ſchwin -*)tet die Freuden der Geſelligkeit; Freundſchaft naͤhrt ſie mit der edelſten Nahrung; Liebe ver - ſchließt das Herz; Freundſchaft laͤßt darin leſen, als in einem offnen Buche; Liebe verfliegt im Augenblicke des Genuſſes; Freundſchaft dauert ewig durch ſich ſelbſt! Eduard. Leipzig b. Goͤſchen. S. 125.552ſchwingen koͤnnten; zu kalt, um das Goͤttliche zu fuͤhlen, zu ſchwach, es zu erreichen.

Eyferſucht ſchleicht ſich ſehr leicht in das Herz des Liebenden. Er will ganz allein im Beſitz und Genuß des geliebten Gegenſtandes ſeyn, und fuͤrchtet von jeder Mine, jedem Blick, jeder Be - wegung, Einſchraͤnkung ſeines Beſitzes, Stoͤrung ſeines Genuſſes. Ein deutlicher Beweis, wie mich duͤnkt, daß der Liebe das edle Selbſtgefuͤhl, der feſte Glaube an ſich ſelbſt, welche mit einer edlen Seele unzertrennlich verbunden ſind, fehlen. Liebe, moͤchte ich daher ſagen, entſteht aus dem Gefuͤhl ſelbſteigner Schwaͤche und Unvollkommen - heit. Der Liebende muß ſich mit etwas verein - baren, wenn er ſich als Etwas fuͤhlen ſoll: er iſt, wie das Zero (Nulle), das fuͤr ſich keinen Werth hat, ſondern denſelben erſt durch eine mit ihm verbundene andere Zahl erhaͤlt. Daher vergißt auch der Liebende ſich ſelbſt ganz, und, indem Freunde ihr Herz mit einander theilen, giebt je - ner ſein ganzes Herz dem Geliebten. Wenn er nur Hofnung hat, dieſen durch Etwas ſich naͤher zu bringen, und feſter an ſich zu ſchließen, dann hat er keine Pflichten mehr gegen ſich ſelbſt. Er vergißt es, daß er Nahrung, Bedeckung und Bequemlichkeit bedarf, berechnet ſeine Einnahmeund553und Ausgabe nur auf ſeinen Geliebten; denn Lie - be iſt ſein nothwendigſtes Beduͤrfniß.

Die Liebe alſo, in ſo fern ſie aus Gefuͤhl eig - ner Schwaͤche, eigner Unvollkommenheit entſteht, zeugt allemal Eyferſucht. Man fuͤrchtet, daß jeder eher, als man ſelbſt, den geliebten Gegen - ſtand an ſich ziehen koͤnne, und man dann wieder da ſtehe, als eine nichtsgeltende Null. Man kann auch nicht theilen; denn dann fuͤhlt man ſich wiederum nicht als ein Ganzes: die Einheit zwi - ſchen zwey Zero's iſt nur ein Bruch.

Unſer Wieland hat gewiß recht, wenn er von der Eyferſucht ſagt: Sie iſt

Der aͤrgſte Feind, der je ſich aus der Hoͤlle ſchlich, Die Sterblichen zu necken und zu quaͤlen.

Der Eyferſuͤchtige, der ſo ganz allein ge - nießen will, koͤmmt eben darum nie zum Genuß. Er handelt den Trieben ſeiner Liebe grade entgegen, und verhaͤlt ſich ſelbſt die Erfuͤllung ſeiner Wuͤn - ſche. Er moͤchte ſo gern durch Bezeugungen ſei - ner innigſten Liebe ſich feſt an das Herz des Ge - liebten ſchließen; aber der immerwaͤhrende Lerm, der von ſeiner Eyferſucht geweckten Affekten, laͤßt ihn nur ſelten dazu gelangen, ſeinen wohlwollen - den Sinn zu aͤußern; es werden wenigſtens die Aeußerungen deſſelben durch die noch viel oͤfter hervorſtuͤrmenden eyferſuͤchtigen Launen alles Ein -Mm 5fluſſes554fluſſes auf das Herz des Geliebten beraubt. Die in ihrer Reinheit ſo großmuͤthige Liebe wird von der Eyferſucht in den gierigſten Eigennutz verkehrt. Jeder Blick, jedes Wort, jeder Pulsſchlag ſoll dem Eyferſuͤchtigen geweiht ſeyn: keine Freude ohne ihn genoſſen werden. Welch eine niedrige Seele! die einen Gegenſtand liebt, dem ſie nach allem, was ſie denkt und aͤußert, Falſchheit, Hin - terliſt, Betruͤgerey, Bosheit und noch viel an - dere Laſter beylegt. Welch ein kleines, eigenſin - niges Herz! das im lebhafteſten Gefuͤhl ſeines Unwerths, doch uͤber alles, und einzig werthge - ſchaͤtzt ſeyn will!

Die Roſenkette, an welcher wahre, reine Liebe den Geliebten fuͤhrt, verwandelt die Eyfer - ſucht in eine eiſerne, die Hand, welche ſie ein - ſchließt, zerreißende Feſſel. Die Liebe, die kein anderes Mittel und keinen andern Zweck, als Liebe kennt, wird in dem Eyferſuͤchtigen die ſchreck - lichſte Tyrannin. Wie dieſe, ſucht er nicht durch Guͤte das Herz zu gewinnen ſondern durch das Donnern der Hitze, den Blitz des Zorns und das hoͤlliſche Feuer des Neides zu ſchrecken*)Und das mit wenigerm Recht, als der Stier, deſ - ſen eyferſuͤchtiges Toben, Jtaliens Homer, der edle Taſſo in folgenden Verſen ſchildert:Non. Er555Er zerruͤttet ſich ſelbſt, und mit ſich den, den er liebt.

Jrgendwo muß ſich der Menſch an die Schoͤ - pfung anſchließen; es iſt ihm unmoͤglich ganz iſo - lirt in Gottes Welt zu ſtehen. Findet er unter ſeines Gleichen niemand, mit dem er ſich verbinden koͤnne, ſo ſucht er ſich aus der uͤbrigen Schoͤpfung einen Gegenſtand fuͤr ſeine Liebe aus. Sein Herz haͤngt ſich entweder an ein empfindendes, wenn gleich nicht vernuͤnftiges Geſchoͤpf, oder die All - macht der Liebe haucht der Flur und dem Walde Leben und Sympathie fuͤr den Ungluͤcklichen ein.

Armer Rouſſeau! zu gut und zu groß fuͤr dein Jahrhundert und deine Bruͤder! du lebteſt und opferteſt dich fuͤr die Menſchheit, und deine Liebe mußte Nahrung ſuchen am Buſen der leblo - ſen Natur, und in der Geſellſchaft eines Ge - ſchoͤpfes, das dich nicht verſtehen konnte, aber dir doch mit liebkoſender Treue anhing!

Gehe

*)Non altramente'l tauro, ove l'irriti Geloſo amor con ſtimoli pungenti, Horribilmente mugge, e co'muggiti Gli ſpirti in ſe riſveglia, e l'ire ardenti: E'l corno aguzza a i tronchi, e par ch'inviti Con vani colpi a la battaglia i venti.

556

Gehe hin, Ungluͤcklicher, der du wie Rouſ - ſeau glaubſt, du koͤnneſt unter deinen Bruͤdern keinen finden, der ſein Herz mit dir theile, gehe hin und ſuche nur, und du wirſt doch endlich fin - den. Das empfindende Thier und die von deiner Phantaſie belebte Natur fuͤllen doch die Leerheit deines Herzens nicht aus. Das Kind liebt ſein Huͤndlein, wie ſeinen Geſpielen, aber der Mann will verſtanden ſeyn.

Wie grauſam iſt oft der Menſch gegen ſich ſelbſt! Er ſtoͤßt durch Stolz, Herrſchſucht und Geiz ſeine Bruͤder von ſeinem Herzen zuruͤck, und ſucht ihre Entfernung aus der niedrigern Schoͤ - pfung zu erſetzen!

O Thor, der du dieſer Grauſamkeit gegen dich ſelbſt ſchuldig biſt, frage doch dein Herz, ob die Liebkoſungen deiner vernunftloſen Geſellſchaf - ter die Liebe deiner vernuͤnftigen Bruͤder erſetzen! Willſt du herrſchen, ſo bekehre dich: Herrſche uͤber die Thiere, und liebe deine Bruͤder!

Zwan -557

Zwanzigſte Unterhaltung. Ueber die Liebe der Blutsverwandten.

Was koͤnnte ſich nach dieſer Ueberſchrift meiner Phantaſie wohl eher vergegenwaͤrtigen, als das Bild der Elternliebe?

Sanftes Bild der Elternliebe! das meine Einbildungskraft bezaubert und mein Herz ent - zuͤckt, welche ſterbliche Hand kann dich nachzeich - nen? Wo iſt in der Natur ein ruͤhrenderer Anblick, als Der einer Mutter, die ihr Kind mit zaͤrtlicher Jnbrunſt an ihren Buſen druͤckt, als Der eines Vaters, der mit liebevoller Herz - lichkeit ſeinen Sohn und ſeine Tochter ſegnet? O Vaͤter und Muͤtter, die ihr fuͤhlt, wie gluͤckſelig ſeyd ihr! Duldet gern die Arbeit und Muͤhe der Bildung und Erziehung, denn ihr findet ja uͤber - ſchwenglichen Lohn in der Liebe zu Euren Kin - dern!

Schon ein natuͤrlicher Jnſtinkt kettet die Thie - re an ihre Kinder: bey den Menſchen giebt dieſem Triebe der Natur der Gedanke, daß die Kin - der aus den Eltern entſprungen, ein Theil von ihnen ſind, neuen Reiz und volleres Leben. Selbſt die muͤhvolle Sorgfalt, mit welcher Vater undMutter558Mutter uͤber ihr Kind wachen, erhoͤht ihre Liebe; denn je mehr Muͤhe man auf etwas verwendet, deſto werther wird es, weil man darin deſto groͤ - ßere Wirkungen ſeiner Kraft wahrnimmt.

Mutterliebe iſt darum noch ſtaͤrker, noch inniger, als die Liebe des Vaters: die Mutter trug das Kind unter ihrem Herzen; ſorgt fuͤr daſſelbe noch ehe es geboren ward; gebar es mit Schmerzen; ſaͤugte es an ihrer Bruſt; durchwach - te manche Nacht mit ihm, und weinte manche heiße Thraͤne fuͤr daſſelbe*)Vaͤter und Muͤtter, die ihr das heilige Gefuͤhl der Elternliebe, mit welcher ſich ſelbſt die Liebe der Gottheit vergleicht, kennt, o beherzigt doch die Wahrheit: daß, je groͤßere Sorgfalt und Muͤhe ihr euren Kindern ſchenkt, deſto groͤßer eure Liebe zu ihnen, mithin auch eure Gluͤckſeligkeit wird. Mutter! lege dein Neugebohrnes an deine Bruſt: es iſt ja dein Fleiſch und Blut, warum wollteſt du es deiner Pflege und Wartung nicht werth halten! Vater! ſey du der Erzieher deines Kindes, du gabſt ihm ja das Leben, warum wollteſt du ihn nun nicht auch zu leben lehren? Comme la véritable nourrice eſt la mere, le véritable précepteur eſt le pere, ſagt Rouſſeau, der Sohn der Natur. Vergegen - waͤrtigt Euch die unnennbaren Freuden, die eurem Herzen zuſtroͤmen werden, wenn ihr euer Werk ge - deihen ſeht, eure Kinder, die euer Bild, innerlich undaͤußer -.

Man559

Man nehme zu dieſem innigen Zuſammen - hange der Eltern mit den Kindern, noch die vie - len Freuden, die dieſe in jenen erwecken, und man wird die Elternliebe begreifen lernen, wenn man ſie gleich nicht in ihrer ganzen Waͤrme und Fuͤlle empfinden kann; denn das kannſt du nur liebreicher Vater, und du, zaͤrtliche Mutter!

Vater und Mutter ſehn ſich durch ihre Kin - der in der Wuͤrde der Schoͤpfer, durch ſie ihr Daſeyn vervielfaͤltigt, ihren Namen verewigt. Von ihnen hoffen ſie den Troſt und die Stuͤtze ihres Alters, die Freude ihres Lebens, die Ehre ihres Hauſes.

Auch

*)aͤußerlich ſind, durch euch zu guten und gluͤckſeligen Menſchen werden, und alle Muͤhe wird euch eine Luſt, alle Beſchwerde Freude ſeyn!Es vergegenwaͤrtigt ſich mir, indem ich dieſes niederſchreibe, ſo mancher guter Vater und ſo man - che treue Mutter, die der Stimme der Natur fol - gen, und mit Vater - und Mutterliebe fuͤr ihre Kin - der ſorgen! Segen Gottes uͤber Euch, edle Men - ſchen! Daß mein Herz unter dieſen Edlen, Dich beſonders nennt, mein Vater und Dich meine Mutter! wer meiner edlen Leſer und Leſerinnen, wird mich darum verdenken! Groß iſt meine Liebe zu Euch, innig und warm mein Dank; aber wel - che Liebe und welcher Dank kann ſolcher Eltern Liebe erreichen?

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Auch rohe Nationen aͤußern dieſe Liebe gegen ihre Kinder. Treulich ſorgen, beſonders die Muͤt - ter, mit Aufopferung ihrer eignen Bequemlich - keit, fuͤr ihre kleinen Soͤhne und Toͤchter. Wo - hin ſie gehen, tragen ſie ſie mit ſich, und fin - den in der Ernaͤhrung derſelben durch ihre Bruſt ſo viel Freude, daß ſie ſie oft bis zum vierten Jah - re ſaͤugen. Wer verkennt die Stimme der Na - tur in dieſem Klagegeſang eines Groͤnlaͤndiſchen Vaters uͤber ſeinen verſtorbenen Sohn?

Wehe mir, ſo jammert er, daß ich deinen Sitz anſehen ſoll, der nun leer iſt! Deine Mut - ter bemuͤht ſich vergebens, dir die Kleider zu trock - nen. Siehe, meine Freude iſt ins Finſtre ge - gangen, und hat ſich in den Berg verkrochen. Ehedem ging ich des Abends aus, und freute mich; ich ſtreckte meine Arme aus, und wartete auf dein Zuruͤckkommen. Siehe, du kamſt, du kamſt muthig angerudert mit Jungen und Alten. Du kamſt nie leer von der See, dein Kajak (Kahn) war ſtets mit Seehunden oder Voͤgeln beladen. Du ſaheſt der Schaluppe rothen Wimpel von weiten, und riefeſt: Da kommt der Kaufmann! Du liefeſt an den Strand und hielteſt der Schaluppe Vorderſtaven, dann brach - teſt du deine Seehunde hervor, von welchen dei - ne Mutter den Speck abzog, und dafuͤr bekamſt du Hemden und Pfeileiſen. Aber das allesiſt561iſt nun aus! Wenn ich an dich denke, ſo brauſet mein Eingeweide. Ach! daß ich wei - nen koͤnnte, wie ihr Andern, ſo koͤnnte ich doch meinen Schmerz mildern! Was ſoll ich mir nun wuͤnſchen? Der Tod iſt mir angenehm gewor - den. Doch wer ſoll mein Weib und uͤbrigen kleinen Kinder verſorgen? Jch will noch eine Zeitlang leben, aber meine Freude ſoll in be - ſtaͤndiger Enthaltung von allem, was dem Men - ſchen lieb iſt, beſtehen!

So ſpricht die Stimme der Natur aus einem uncultivirten Menſchen! und wer ſollte es glau - ben, daß ſelbſt dieſe ſo nachdruͤckliche Stimme doch zuweilen in dem Herzen des gebildeten Euro - paͤers uͤbertaͤubt werden koͤnnte? Und doch iſt es ſo.

Stoͤßt nicht der Geiz manches unmenſchlichen Vaters ſein eignes Kind von ſich zuruͤck, weil es ſeinen Goldklumpen vermindert? Machte nicht Manchen die Spielſucht taub gegen das Flehn ſeiner verlaßnen Kinder, hart gegen ihre Thraͤnen, gefuͤhllos gegen ihr Elend. Hat nicht die Herrſch - ſucht ſchon Soͤhne und Toͤchter gemordet? ſchaͤmt ſich nicht manche eitle Mutter ihres Kindes, weil ihm die Natur einen ſchoͤnen Koͤrper verſagte? und haßt nicht manche unnatuͤrliche Coquette ihre Tochter und ihren Sohn, weil ſie ihre Jahre verrathen?

NnO562

O Begierden der Sinnlichkeit, ihr Moͤrdr - rinnen der Gluͤckſeligkeit und Ruhe, ſo fallt ihe ſelbſt die Natur in ihrem heiligſten Heiligthum an, und erſtickt die edelſten Gefuͤhle des Herzens! Menſchen, die ihr euch ſelbſt lieb habt, huͤtet die - ſe fuͤrchterliche Feindinnen, und laßt euch nicht von ihren eiſernen Ketten feſſeln, und das Gluͤck eures Lebens rauben*)Wenn der vortrefliche Robertſon in ſeiner Ge - ſchichte von Amerika, 1. Th. S. 341. und 371. ſagt, daß die Weiber in einigen Gegenden von Ame - rika, um den Beſchwerden der Ernaͤhrung und Er - ziehung der Kinder auszuweichen, die erſten Funken des Lebens ausloͤſchten, und durch den Gebrauch gewiſſer Kraͤuter ihre Leibesfrucht abtrieben; ſo kann es vielleicht einzelne barbariſche Muͤtter gege - ben haben, welche dieſe Beſchuldigung traͤfe, wie es deren auch in Europa giebt: aber es iſt deswe - gen noch nicht Sitte der amerikaniſchen Weiber. Dieſe haben ſo gut ein Mutterherz, als Europaͤerin - nen, und oft mit mehr Natur, Unſchuld und Ge - fuͤhl in demſelben, als dieſe..

Elternliebe bleibt nicht unerwiedert. Auch des Kindes Arm ringt eifrig nach ſeiner Mutter, und ſchlingt ſich feſt um ſeinen Vater, des Juͤng - lings Herz ſchlaͤgt laut und hoch, und in derBruſt563Bruſt des Mannes wird es warm, wenn der Ge - danke an ſeine Eltern ſich an das Herz legt.

Was die glaͤnzendſten Legationen, was ſelbſt die Heiligthuͤmer Roms nicht vermochten, das vermochte die Mutter uͤber ihren Sohn Koriolan. Erbitterung, Rache, Ausſichten mannigfacher Vortheile fuͤr Ehre und Macht, wenn er Rom angriffe und eroberte, waren in ſeinem Herzen: aber der Blick und die Worte einer Mutter ruͤhr - ten ſein Herz ſtaͤrker, als alles jenes: er fuͤhrte ſeine Heere zuruͤck.

Wenn ſtarben Juͤnglinge, ſagt der Vater der Geſchichte, einen edleren Tod, als Kleobis und Bion? Jhre arme Mutter hatte kein Zug - thier, ihren Wagen zum Tempel zu bringen: Kleobis und Bion ziehen den Wagen, fuͤhren die Mutter zum Heiligthume, und ſterben nach ihrer Arbeit!

Keine Vorſtellung wirkt mehr auf das Herz des natuͤrlichen und menſchlichen Juͤnglings, als die, welche ihre Motive aus ſeinem Verhaͤltniß gegen ſeine Eltern hernimmt. Fuͤr dieſe thut und leidet und uͤberwindet er gern; und das, was er Gutes hat und thut, gewaͤhrt ihm die groͤßte Freu - de durch den Gedanken, daß er dadurch ſeine El - tern erfreut.

Wie koͤnnte es auch anders ſeyn? Wie koͤnnte die genaue durch die Natur geſchloßne Ver -Nn 2bin -564bindung zwiſchen Eltern und Kindern dieſe ohne Liebe gegen jene ſeyn laſſen? Wie koͤnnten die un - zaͤhlbaren Wohlthaten, die unnennbaren Be - ſchwerden der Eltern ohne Wirkung auf das Herz des Kindes bleiben? Wem koͤnnte endlich das Kind mehr vertrauen, als denen, deren Theil es iſt, die es naͤhrten und ſchuͤtzten, ehe es ſie verſtehen konnte, und deren Gluͤckſeligkeit feſt mit der ſeinigen verwebt iſt?

Es zeichnet ſich die Liebe der Kinder zu ihren Eltern vor allen andern Arten der Liebe durch ein heiliges und ehrfurchtvolles Gefuͤhl, welches ihr zur Grundlage dient, aus. Denn von dem er - ſten Augenblick, wo die Wahrnehmungsfaͤhigkeit des Kindes zu wirken anfaͤngt, an, ſieht dieſes die große Erhabenheit der Eltern uͤber ſich. Je weiter es ſich ausbildet, deſtomehr ſieht es die Wichtigkeit ihres Einfluſſes auf ſein Herz, ſeinen Geiſt, ſeine ganze Menſchheit, ein, und deſto deutlicher erkennt es das, was die Elternliebe fuͤr ihn that. Und wenn auch der Sohn und die Tochter ſelbſt ſchon Vater oder Mutter geworden ſind, die Stimme der Natur und Pflicht hat die Ehrfurcht gegen die Eltern zu tief in das Herz ge - praͤgt, als daß Jahre ſie ausloͤſchen koͤnnten; auch das Andenken an den verſtorbenen Vater und die verblichene Mutter iſt ihrem Herzen noch heilig.

Ge -565

Geſchwiſterliche Liebe aͤußert ſich mehr in dem Beſtreben, zu dem Gluͤck der Geſchwiſter beyzutragen, als in dem anziehenden Wohlgefal - len an ihrer Perſon. Man hat wenigſtens all - gemein bemerken wollen, daß dem Kuſſe und der Umarmung eines Bruders oder einer Schweſter ein gewiſſes je ne ſais quoi fehle, welches dem Kuſſe und der Umarmung eines Freundes oder einer Freundin die große Suͤßigkeit giebt. Mag dieſe Bemerkung auch hie und da durch einzelne Ausnahmen eingeſchraͤnkt werden; ſo viel iſt we - nigſtens im Ganzen gewiß, daß man freylich, wenn es auf Thaͤtigkeit der Liebe ankoͤmmt, den Bru - der und die Schweſter Anderen vorſetzt; aber an ihrem Buſen und in ihren Armen doch den Ge - nuß nicht hat, welchen die Liebe und Freundſchaft gewaͤhrt.

Es iſt auch gar nicht ſchwer, die Urſache dieſer Erſcheinung aufzufinden. Praeſentia, ſagt ſchon ein altes Sprichwort, minuit auctoritatem. Das Beyſammenſeyn mindert die Wichtigkeit. Dies findet auch hier ſeine Anwendung. Bruͤ - der und Schweſtern leben von Kindheit auf, ohne Zwang, mit einander. Einer ſieht des Andern Schwaͤchen, Maͤngel, Unvollkommenheiten und Fehler. Tauſend kleine Vorfaͤlle, deren Wir - kung aufs Herz einzeln kaum bemerkt wird, brin - gen endlich eine ſolche Stimmung deſſelben hervor,Nn 3daß566daß zwar der Bruder und die Schweſter immer geliebt und geſchaͤtzt werden, aber doch das Ver - langen nach dem Genuß ihrer Perſon einige Reize verliert.

Es iſt daher auch kein beſſeres Mittel, dieſem Verlangen neue Reize zu geben, als die Tren - nung. Bruͤder und Schweſtern, die, ſo lange ſie beyſammen waren, nicht fuͤhlten, daß ſie einan - der bedurften, ſondern vielleicht dachten, ohne einander noch ruhiger leben zu koͤnnen, kennen, wenn ſie nun getrennt ſind, kein hoͤheres Gluͤck, als im Cirkel ihrer Geſchwiſter zu leben. Die Phantaſie haͤlt ihrem Herzen in der Abweſenheit nur das Bild des Bruders oder der Schweſter vor, und die wirkliche Empfindung kann es nicht durch disharmoniſche Zuͤge entſtellen; darum wird die Sehnſucht nach ſeinem Geſchwiſter in der Entfernung ſo groß, die Hofnung, ſie wie - derzuſehen, ſo reizvoll, und darum iſt die Freu - de der erſten Umarmung nach einer Trennung ſo ſuͤß.

Ein567

Ein und zwanzigſte Unterhaltung. Ueber den Haß*)Jch nehme Haß hier im allgemeinſten Sinn, fuͤr das Gegentheil der Liebe und ihrer verſchiednen Ar - ten. Jm engern Sinne ſteht es der Liebe der Sinnlichkeit und Phantaſie oder der Liebe im eng - ſten Sinn entgegen. Der, der nicht mit mir harmonirt, iſt mein Freund nicht. Der, der nicht nur nicht mit mir harmonirt, ſondern mir ſeine Disharmonie mit mir auch fuͤhlbar zu machen ſucht, durch wirkliches Entgegenarbeiten, Bemuͤhen meinem Jntereſſe zu ſchaden u. ſ. w., iſt mein Feind: der endlich, der, geſehen oder gedacht, das ganze Gefuͤhl eines Andern wider ſich empoͤrt, wird ge - haßt. Cicero war Caͤſars Freund nicht; Pom - pejus war Caͤſars Feind: Cato haßte ihn..

Wie die Liebe nach Verbindung ſtrebt, ſo ſtrebt ihr Gegentheil der Haß nach Trennung: und wie jene aus der Gewahrnehmung der Har - monie entſpringt, ſo erzeugt dieſen wahrgenomme - ne Disharmonie.

Nach dem Grade der unangenehmen Wir - kungen, welche die Disharmonie auf das Herz macht, richtet ſich auch der Grad der Staͤrke des Haſſes. Weſſen Umgang kein VergnuͤgenNn 4ge -568gewaͤhrt, weſſen Denkungsart nicht mit der des Andern uͤbereinſtimmt, ohne dieſem deswegen ver - abſcheuungswuͤrdig zu ſeyn, weſſen Manier etwas nicht Gefallendes hat; nach deſſen Freundſchaft verlangt der Andere nicht, und empfindet in Ruͤck - ſicht auf ihn, einen Mangel der Zuneigung. Man verlangt nicht nach der Geſellſchaft eines ſolchen; laͤßt ſeine Aufmerkſamkeit uͤber ihn weg ſtreifen; nimmt wenig Theil an ſeinen Schickſa - len; leiſtet uͤbrigens die ihm ſchuldigen Pflichten, aber blos aus Pflicht, das Herz treibt nicht da - zu an. Man kann daher, wenn man einmal die Stimme der Vernunft uͤberhoͤrt, auch wohl ſich gegen ihn vergeſſen, oder Andre ſich vergeſſen ſehen, ohne es ſehr zu Herzen zu nehmen. Man hat eigentlich keinen Widerwillen gegen ihn, kann ihm im Gegentheil, wenn nicht etwas Wichtigers und Jntereſſanteres damit collidirt, Beweiſe von Wohlwollen geben; aber man hat auch keine ei - gentliche Zuneigung zu ihm: er liegt ganz außer - halb der Sphaͤre unſers Herzens.

Wenn die Disharmonie nicht blos negativ iſt, (zwar keine ſehr fuͤhlbare Unannehmlichkeit, aber auch gar keine Annehmlichkeiten fuͤr den An - dern hat,) ſondern ſchon poſitiven, unangeneh - men Einfluß zeigt; wenn man dadurch an ſeiner Eigenliebe gekraͤnkt, in ſeinem Vergnuͤgen geſtoͤrt, in ſeinem Jntereſſe geſchadet wird; wenn man ſieht,daß569daß eine Verbindung mit dem Disharmonirenden unmoͤglich ohne Nachtheil fuͤr einen ſelbſt ſtatt fin - den koͤnne, ſo wird der Widerwille ſchon ſtaͤrker. Man ſucht nicht nur den Andern nicht, man ver - meidet ihn; das Herz treibt nicht nur nicht zur Erfuͤllung der Pflichten gegen ihn, ſondern mag gern davon abrathen, außer wenn die Erfuͤllung derſelben einen Vortheil uͤber ihn verſchafte, ihn beſchaͤmte, uns aber als Großmuͤthigen zeigte. Kein Zutrauen, aber durchgaͤngiges Mißtrauen. Jeder Blick, jede Mine, jedes Wort, jede Handlung hat eine widrige Beziehung auf uns, weil man vielleicht einmal oder zweymal davon uͤberzeugende Beweiſe zu haben meynte. Weil man ſelbſt auf ihn beſtaͤndig aufmerkſam iſt, ſo glaubt man, daß er es nicht weniger auf uns ſey. Man goͤnnt ihm nicht gern einen Vorzug, denn man ſetzt voraus, der erſte Gebrauch deſſel - ben werde ſich in Erhebung uͤber ſeinen Feind zei - gen. Man ſpannt alle Kraͤfte an, um in Colli - ſionsfaͤllen ihm den Preis abzugewinnen, und opfert gern einen großen Vortheil gegen einen klei - nen auf, wenn dieſer nur ihm abgerungen iſt. Man ſucht ſo viele, als man kann, fuͤr ſich wi - der ihn zu gewinnen, und bemuͤht ſich uͤberhaupt durch alles, was man wider ihn vornimmt, ſich ſo maͤchtig und ihn ſo ſchwach zu machen, daß man nichts von ihm zu befuͤrchten hat.

Nn 5Wer570

Wer ein Herz voll grober, unbaͤndiger Be - gierden und zuͤgelloſer Leidenſchaften hat, und ſei - ne Geſinnungen und Handlungen nicht von der Vernunft regieren, ſondern von unreiner Sinn - lichkeit und ausſchweifender Phantaſie tyranniſi - ren laͤßt, des Widerwillen gegen Andere kann Uebelwollen, Bosheit, Haß im engſten Sinne des Worts werden.

Wie der Eber, wenn das Netz des Jaͤgers ihn aufhaͤlt, wuͤthet und tobet und ſchnaubt, und alles zerreißt, zertritt und zermalmet, was ſich ihm entgegenſtellt; ſo der Haß in dem Herzen des Menſchen oder Unmenſchen, der ſein faͤhig iſt. Zerſtoͤrung des Gehaßten iſt ſein ewiges Be - ſtreben; nichts ihm zu heilig; das Flehn der Liebe ruͤhrt ihn nicht; den Rath des Verſtandes hoͤrt er nicht; die Befehle der Moralitaͤt und die Ge - ſetze der Gerechtigkeit weiſet er rebelliſch zuruͤck. nec miſeri poſſunt revocare parentes, Nec moritura ſuper crudeli funere virgo*) ihn hemmt nicht das Bild der elenden Eltern, Nicht der verzweifelnden Braut, die auf klaͤglicher Leiche dahin ſtirbt. (Virgils Landbau, B. 3. V. 262. 263. ).

Heimlich oder oͤffentlich ſucht er dem Gehaß - ten zu ſchaden, und empfindet eine teufliſche Freu - de, wenn ihm ein Bubenſtuͤck wider denſelben ge -lingt.571lingt. Weit entfernt ihm irgend etwas Angeneh - mes zu goͤnnen, nagt er vielmehr an der Exi - ſtenz des Gehaßten, und moͤchte ſie gern zernagen. Das Wort, was er ausſpricht, moͤchte er zerrei - ßen koͤnnen, die Luft, die er einathmet, verpeſten, den Boden, der ihn traͤgt, zum Abgrund machen. Alles, was mit dem Gehaßten, nahe oder fern, verbunden iſt, muß den Wunſch des Haſſers, den Wunſch, zu zerſtoͤren, empfinden. Huͤtet Euch ja, Euch als Freunde Jenes zu zeigen, ſonſt wird Euch bald der grimmvolle Blick Dieſes ver - kuͤndigen, daß auch Jhr vor ſeinem Haß zu zit - tern habt.

Nicht Freund ſeyn, kann auch der Vernuͤnf - tige; Widerwillen und Feindſchaft hegen der Ver - ſtaͤndige; aber haſſen nur der thieriſch-ſinnliche Menſch.

Verzeihe es mir, Geiſt des ſo hoch geprieſe - nen Cato, daß ich in deinem Haß gegen den gro - ßen Caͤſar nicht den edlen, ſtoiſchen Mann, der auf dem graden Wege der Vernunft ſtandhaft fort - geht, ſondern einen Menſchen mit roher Sinn - lichkeit und ungebildeter Phantaſie ſehe. Mag ſich dein Haß hinter dem Schilde der Freyheits - liebe und des Patriotismus verbergen. Es wa - ren nicht dieſe Quellen, aus welchen er hervor - ſtroͤmte; ſondern unbaͤndiger Stolz, der, wenn er ſich auch republikaniſch nennte, doch Stolzund572und alſo eine von der Vernunft nicht legitimirte Geburt der Sinnlichkeit war, erzeugte ihn.

Der edle, natuͤrliche, menſchliche Menſch kann nicht haſſen. Es giebt indeß einen Haß, welcher von der Vernunft in dem Menſchen ge - billigt zu werden ſcheint, den Haß der Tugend gegen das Laſter. Dieſer Haß der Tugend gegen das Laſter ſcheint nicht nur die Billigung der Vernunft zu verdienen, ſondern verdient ſie wirklich. Denn es iſt erſtes Geſetz der Tugend, das Laſter zu zerſtoͤren. Aber der Haß des Tu - gendhaften gegen den Laſterhaften iſt demohn - erachtet eben ſo unvernuͤnftig und unmenſchlich, als jede andre Art des Haſſes. Verabſcheuen kannſt du und mußt du das Laſter in dem Laſterhaf - ten, aber dieſen nicht haſſen.

Wenn jemand, der es heimlich fuͤhlt, daß er Haß im Herzen hat, ſich nach den hier hinge - worfenen Zuͤgen pruͤfen, und, weil er ſie vielleicht nicht in der Staͤrke in ſich ſelbſt antraͤfe, meynen ſollte, er koͤnne ſich nun vom Haſſe freyſprechen: ſo huͤte er ſich ja, daß er nicht zu uͤbereilt dies Urtheil faͤlle, und erforſche ſich, ob nicht ein Geiſt in ihm wohne, der, wenn nicht andre Ur - ſachen ihm entgegenwirkten, vielleicht in eben ſo abſcheuliche Aeußerungen ausbrechen koͤnnte. Was aͤußere Geſetze des Wohlſtandes und der Gerechtigkeit, was einſchraͤnkende Obermacht be -wirken,573wirken, iſt nicht ſein Verdienſt: findet er, daß er, ſo weit es bey jenem Geſetze und dieſer Ge - walt moͤglich iſt, ſeinen Bruder verfolgen und wehe thun koͤnne, ſo erinnere er ſich, daß er vom Wege der Natur und der Menſchheit abgekommen ſey, und bald einlenken muͤſſe, um nicht in den Abgrund der Unmenſchlichkeit zu ſtuͤrzen.

Zwey und zwanzigſte Unterhaltung. Ueber den Enthuſiasmus und Muth.

Wenn die Jdee des Guten und Großen, durch die Phantaſie verſinnlicht, das Herz einzig fuͤr ſich gewinnt, und alle Triebe deſſelben, und alle Kraͤfte des Menſchen zu ihrem Vortheil verſamm - let, anfeuert und ſchaͤrft, ſo entſteht der Affekt des Enthuſiasmus.

Ueber alles, was die Sinnlichkeit reizen und den Eigennutz intereſſiren kann, ſich erhebend, fuͤhlt und denkt und handelt der Menſch im En - thuſiasmus nur fuͤr das Gute, Erhabne und Edle. Gefahren ſchrecken ihn nicht; Gold und Guͤter reizen ihn nicht; das Urtheil der Menge macht ihn nicht irre. Nie kann, ſagt der be - geiſterte Pindar, das ohnmaͤchtige Gekraͤchz furcht - ſamer und neidiſcher Voͤgel den kuͤhnen Adler auf - halten, wenn er ſich emporſchwingt, um in denober -574oberſten Gebieten der Luft zu ſchweben. Wie von einem hoͤhern Geiſte beſeelt, zeigt der Enthu - ſiaſt Allmacht im Handeln, und unbezwingliche Staͤrke im Dulden. Alles opfert er auf fuͤr den erhabenen Gegenſtand ſeines Enthuſiasmus: denn er glaubt Alles zu haben, wenn er Alles fuͤr ihn dahin gegeben hat. Er hat nur ein Ziel: aber dahin richten ſich alle ſeine Triebe, und ſtreben alle ſeine Kraͤfte, mit einer Federkraft, die um ſo ſtaͤrker iſt, je weniger ſie ſich zertheilt. Ueber alle Zweifel und Bedenklichkeiten, welche diejeni - gen, in deren Adern der Enthuſiasmus nicht das Feuer der Gottheit goß, aufhalten, ſieht er un - aufmerkſam oder laͤchelnd hinweg, und geht auf ſeiner eignen Bahn mit unbeugſamer Standhaf - tigkeit vorwaͤrts. Hinderniſſe und Schwierigkei - ten erhoͤhen durch ihre Gegenwirkungen die Span - nung ſeiner Kraͤfte, und mit befluͤgeltem Schrit - te eilt er dem Ziele naͤher, wenn er ſie uͤberwun - den hat. Fuͤr die Zwecke der Vernunft gluͤhet ſein Eyfer, aber in den Beſtrebungen deſſelben laͤßt er ſich nicht durch ihre Geſetze regieren, ſon - dern geht ohne Fuͤhrer frey ſeinen Weg, und er - liegt lieber, als er ſein Ziel verlaͤßt.

Die Stimme der Liebe aus der Koͤnigin Mun - de und die Stimme der Freundſchaft aus dem Munde des edlen Rodrigo, erhoben den Prin - zen Carlos zu dem hohen Enthuſiasmus, der inder575der Unterredung mit ſeinem Vater Philipp, aus Minen, Ton und Worten athmet.

Ohne daran zu gedenken, daß ſein Vater ihn drey und zwanzig Jahre lang von ſeinem Herzen verſtoßen, und prieſterliche und hofmaͤnniſche Ver - laͤumdung ihn, den Unſchuldigen, als Verbrecher abgemahlt hatte, tritt er, frey, wie ein Gott, vor ſeinen koͤniglichen Vater, faͤllt vor ihm nieder, und fodert ihn auf, wieder ſein Vater zu ſeyn.

Die Jnnigkeit und Wahrheit ſeines Wun - ſches, das Bewußtſeyn ſeiner Unſchuld und ſeines Verdienſtes, und der darauf ſich gruͤndende, auf nichts, als ſeinen großen Zweck achtende Muth, ſpiegeln ſich in allen ſeinen Reden.

Sehr ernſt, ſpricht er, Und feyerlich iſt mir in dieſer Stunde Zu Muthe Niemals oder Jetzt Wir ſind Allein des Ranges Ketten abgefallen Der Etikette bange Scheidewand Jſt zwiſchen Sohn und Vater eingeſunken. Jetzt oder nie. Ein Sonnenſtrahl der Hofnung Glaͤnzt in mir auf, und eine ſuͤße Ahndung Fliegt durch mein Herz der ganze Himmel beugt Mit Schaaren froher Engel ſich herunter, Voll Ruͤhrung ſieht der Dreymalheilige Dem großen, ſchoͤnen Auftritt zu Mein Vater! Verſoͤhnung!
Phi -576

Philipp, deſſen Verſtand der Pfaffentrug eines Domingo verblendet, und deſſen Herz die Rauhigkeit eines Alba verhaͤrtet hatte, verſteht die Himmelsſprache ſeines edlen Sohnes nicht. Die lebhaften Aeußerungen ſeines feurigſten Wunſches ſind ihm Gaukelſpiel, die Thraͤnen des um Va - terliebe flehenden Sohnes ein unwuͤrdiger Anblick. Mit unnatuͤrlicher Haͤrte und bittern, luͤgenhaften Vorwuͤrfen ſtoͤßt er den Prinzen von ſich. Die - ſer, von dem hohen Enthuſiasmus ſeines Herzens geweihet, vertauſcht in den erſten Momenten des verabſcheuenden Erſtaunens, den Sohn mit dem ernſten Genius der Menſchlichkeit.

Wer iſt das? Durch welchen Mißverſtand hat dieſer Fremd - ling Zu Menſchen ſich verirrt? Die ewige Beglaubigung der Menſchheit ſind ja Thraͤnen: Sein Aug iſt trocken, ihn gebar kein Weib. Was Wolluſt aus der Marter preßt, was ſelbſt Den Kummer neidenswuͤrdig macht, den Menſchen Noch einmal an den Himmel knuͤpft, und Engel Zur Sterblichkeit herunterlocken koͤnnte, Des Weinens ſuͤße Freuden kennt er nicht.

Aber bald wird dieſe Sprache des ernſten Vorwurfs wieder von der Sprache des kindlichenVer -577Verlangens nach Vaterliebe verdraͤngt. Jm Be - wußtſeyn der Reinheit ſeiner Liebe mißt der edle Carlos dieſelbe gegen die eigennuͤtzigen Schmei - cheleyen eines liſtigen Prieſters und ſtolzen Herzogs.

Sie wollen Liebe? Hier in dieſem Buſen Springt eine Quelle friſcher, feuriger, Als in den truͤben, ſumpfigen Behaͤltern, Die Philipps Gold erſt oͤfnen muß.

Philipps Vertheidigung ſeiner Guͤnſtlinge haͤlt den von ſeinen hohen Zweck begeiſterten Prinzen nicht ab, noch einmal das Bewußtſeyn ſeines Vorzugs vor jenen zu aͤußern.

Jch fuͤhle mich. Was Jhre Alba leiſten Das kann auch Karl, und Karl kann mehr. Sein Enthuſiasmus wird von neuem Feuer beſeelt, als Philipp von ſeinen Worten geruͤhrt zu ſeyn ſcheint: Haſſen Sie mich nicht mehr, Jch will Sie kindlich, will Sie feurig lieben, Nur haſſen Sie mich nicht mehr. Wie entzuͤckend Und ſuͤß iſt es, in einer ſchoͤnen Seele Verherrlicht uns zu fuͤhlen, es zu wiſſen, Daß unſre Freude fremde Wangen roͤthet, Daß unſre Angſt in fremden Buſen zittert, Daß unſre Leiden fremde Augen waͤſſern. Wie ſchoͤn iſt es und herrlich, Hand in Hand Mit einem theuern vielgeliebten SohnOoDer578Der Jugend Roſenbahn zuruͤckzueilen, Des Lebens Traum noch einmal durchzutraͤumen. Wie groß und ſuͤß in ſeines Kindes Tugend Unſterblich, unvergaͤnglich fortzudauern, Wohlthaͤtig fuͤr Jahrhunderte, wie ſchoͤn Und goͤttlich groß, im Orient des Sohnes Noch einmal zu der Nachwelt umzukehren, Der Sonne gleich, die in der Spiegelſcheibe Des Mondes wieder auferſteht wie ſuͤß Zu pflanzen, was ein lieber Sohn einſt erndtet, Zu ſammeln, was ihm wuchern wird, zu ahnden, Wie hoch ſein Dank einſt flammen wird.

Gleicher Enthuſiasmus ſpricht waͤhrend der ganzen Unterredung mit ſeinem Vater aus dem edlen Prinzen, und ſelbſt die Weigerung des har - ten Philipps, der Thatenbegierde ſeines Sohnes die Schranken zu oͤfnen, loͤſcht die ſtarke Flamme nicht aus, die in ſeinem Buſen lodert. Er ver - laͤßt ſeinen Vater, ohne zu klagen*)Schillers Dom Karlos, zweyter Akt..

Da alſo der Enthuſiasmus in der Bewegung aller Gefuͤhle und Belebung aller Triebe und Kraͤf - te fuͤr das Gute und Große beſteht; ſo wird er dann hervorgebracht werden, wenn das Gute und Große ſich in einer Geſtalt zeigt, die von dem Herzen umfaßt werden kann.

Die Geſetze der reinen Moral, die Regeln des Tugendlehrers ſind es nicht, die den Enthu -ſias -579ſiasmus erzeugen, die Jdeen und Geſetze der Ver - nunft muͤſſen ſich in ein ſinnliches Gewand klei - den, wenn das Herz es wagen ſoll, ſich fuͤr ſie zu intereſſiren, und, was ihm ſonſt theuer und werth iſt, fuͤr ſie aufzuopfern.

Um Enthuſiasmus hervorzubringen, muß die Vernunft vornemlich den ſtarken Trieb des menſchlichen Herzens, den Trieb nach Ehre fuͤr das Gute und Große gewinnen: muß durch den Verſtand und die Phantaſie das Herz uͤberreden, daß die Wuͤrde, die ſie ertheilt, ewiger und groͤßer ſey, als alle Ehrenbezeugungen, die nur fuͤr die Sinnlichkeit gelten: daß das Jntereſſe fuͤr das Gute und Große, uns als freye Menſchen, als eigne Geſetzgeber, als Herren der Schoͤpfung zeige.

Der Anblick der Ehre, welche man ſeinen großen Ahnen noch lange nach ihrem Tode bewies, feuerte den Griechen und Roͤmer zu dem edlen Enthuſiasmus an, der Thaten hervorbrachte, durch welche ihr Name, wie der ihrer Vorfahren, Unſterblichkeit gewann.

Die in den Siegen uͤber die Perſer in ihrem hoͤchſten Glanz ſich zeigende Groͤße der Griechen, und der Triumph der Sieger in den Olympiſchen Spielen zuͤndeten in dem Herzen des Pindar die goͤttliche Flamme an, welche uͤber alle Erguͤſſe ſeiner Phantaſie und ſeines Herzens, ihren goͤtt -Oo 2lichen580lichen Schimmer und ihren majeſtaͤtiſchen Glanz verbreitet*)Reiſe des juͤngern Anacharſis durch Griechenland. A. d. Franzoͤſ. des Herrn Abts Barthelemy von Bieſter uͤberſetzt, 3. Th. S. 250 f..

Mein Ruf zum Koͤnigsthron, ſagt Karlos, pocht wie ein Glaͤubiger Aus meinem Schlummer mich empor, und alle Verlorne Stunden meiner Jugend mahnen Mich laut, wie Ehrenſchulden. Er iſt da Der große, ſchoͤne Augenblick, der endlich Des hohen Pfundes Zinſen von mir fodert: Mich ruft die Weltgeſchichte, Ahnenruhm, Und des Geruͤchtes donnernde Poſaune**)Schillers Dom Karlos, zweyter Akt..

Die Groͤße, in welcher diejenigen erſchienen, die zuerſt das Wort Freyheit auszuſprechen, das Zeichen derſelben oͤffentlich zu tragen, und als freye Buͤrger zu handeln wagten, erhob die ganze franzoͤſiſche Nation in den hohen Enthuſiasmus, in welchem ſie Wunder that und thut, welche die Welt anſtaunt und die Nachwelt kaum glauben wird.

Enthuſiasmus theilt ſich mit, wie ein elektri - ſcher Schlag. Die Aeußerungen deſſelben, die an dem ganzen Menſchen, in deſſen Herzen er iſt, erſcheinen, ſind zu ſtark, zu außerordentlich, zu lebhaft, als daß ſie ohne Wirkung auf den,der581der ſie wahrnimmt, bleiben koͤnnten; und zeigen den, an welchem ſie wahrgenommen werden, in einer zu wunderbaren, Allen Achtung einfloͤ - ßenden Groͤße, als daß ſie nicht zur Sympathie und Nachahmung reizen ſollten. Nur ſolche Seelen, deren Verſtand nichts Großes faſſen kann, deren Phantaſie ohne Feuer und deren Herz fuͤr edle Gefuͤhle todt iſt, fuͤhlen nie das heilige Feuer des Enthuſiasmus*)Wenn ein Nichts, oder ein Gegenſtand, den die Vernunft nicht legitimirt, ſich der Phantaſie und dem Herzen als groß und erhaben vorſpiegelt, und den Eyfer und die Thatkraft des Menſchen fuͤr ſich gewinnt, ſo entſteht Schwaͤrmerey, ſ. die Unter - haltung uͤber die Schwaͤrmerey im erſten Theil..

Enthuſiasmus, ſo fern er zu Aufopferungen, zum Widerſtande, oder zum Ueberwinden einer Gefahr weckt, iſt Muth.

Es laͤßt dieſer Affekt keine genaue Berechnung des Verhaͤltniſſes der Kraft des Gegenſtandes zu der eignen Kraft zu; der Muthige fuͤhlt nur ſich, und unbekuͤmmert, wie viel ihm ſein Gegner ent - gegenſtellen kann, tritt er zum Angriff hervor.

Alles, was Zutrauen auf ſich ſelbſt giebt, und das Kraftgefuͤhl rege macht, macht Muth. Den Preußen macht ſchon ſein Name muthig: denn nach den unſterblichen Thaten des einzigen Frie - drichs, die er an der Spitze ſeiner Heere undOo 3durch582durch dieſelben vollfuͤhrte, haͤlt der preußiſche Krieger ſeine Kraft fuͤr unuͤberwindlich. Das Bewußtſeyn der Gerechtigkeit ſeiner Sache und ſeiner Unſchuld, hebt Herz und Arm zum muthi - gen Widerſtande gegen den ungerechten Angriff. Denn tief in das Herz des Menſchen iſt der Ge - danke geſchrieben: daß Tugend und Rechtſchaffen - heit auf Lohn und Sieg hoffen koͤnnen, das Laſter aber Strafe und Verfolgung zu fuͤrchten habe; daß jene ſich des Schutzes einer unſichtbaren Allmacht erfreuen koͤnnen, indeß dieſes vor der Rache derſelben zittern muß.

Jn keinem Kampfe waren die Roͤmer, Grie - chen und Jſraeliten muthiger, als in dem Kampf fuͤr ihre Altaͤre. Jeder fuͤhlte dann das Feuer der Gottheit in ſeinen Adern, und hielt ſich fuͤr unuͤberwindlich, weil die Allmacht ihn ſchuͤtzte. Weiſe Heerfuͤhrer bemuͤhten ſich daher immer das Vertrauen auf Gott in den Herzen ihrer Krieger zu beleben, um den Muth derſelben anzufeuern. Derar, ein Feldherr der Saracenen, war von den Roͤmern gefangen worden. Die Saracenen flohen. Habt ihr denn vergeſſen, ſchrie einer ihrer Anfuͤhrer, daß euren Feinden den Ruͤcken zukehren, heiße Gott und ſeinen Propheten belei - digen? Was liegt daran, daß Derar ge - fangen iſt? Gott lebt und ſiehet Euch. Das ſaraceniſche Heer wandte ſich um, drangmit583mit neuem Muthe in die Reihen der Feinde, und ſchlug ſie*)Millots Univerſalgeſch. A. d. Franz. 4. Th. 287..

Auch der Feige kann in den Affekt des Mu - thes geſetzt werden, wenn irgend eine Urſach ihn erhitzt und ſein Kraftgefuͤhl reizt. Die Hitze er - laubt ihm nicht, auf die Bedenklichkeiten zu hoͤ - ren, welche ihm in den Zeiten der Ruhe ſein Verſtand, wegen der zu beſtehenden Gefahren, macht: und ſein kochendes Blut richtet aus, was ſeinem freyen Willen unmoͤglich war.

Es iſt nicht immer wirkliche Kraft, auf wel - che ſich der Muth gruͤndet: zuweilen exiſtirt ſie nur in der Einbildung. Aber Muth auf einge - bildete Kraft gegruͤndet, wird, wenn er gegen wirkliche Kraft angeht, bald entweder niederge - ſchlagen oder zu Raſerey: wie die Geſchichte durch Xerxes und Carl den Zwoͤlften beweiſet.

Auch der Zweck, fuͤr welchen der Muth ſich regt, hat einen Einfluß auf die Beſtimmung ſei - ner Groͤße. Je groͤßer das Gut iſt, welches man zu erlangen, und je groͤßer das Uebel iſt, welches man abzuwenden wuͤnſcht, deſto bereit - williger iſt man zu Aufopferungen, deſto muthi - ger geht man dem entgegen, was unſern Wuͤn - ſchen zuwider iſt.

Mit Heldenmuth kaͤmpft die Mutter fuͤr das Kind, das man ihr rauben will; gern willOo 4Niſus584Niſus ſein Leben opfern, um ſeinen Euryalus zu erhalten*)Jn den herrlichen Verſen Virgils. Me, me (adſum, qui feci) in me conuertite ferrum, O Rutuli: mea fraus omnis; nihil iſte nec au[ſ]us; Nec potuit: coelum hoc et conſcia ſidera teſtor. Tantum infelicem nimium dilexit amicum. Mich, mich hier ſeht ihr den Moͤrder wider mich, mich zucket die Schwerdter! Mein, Rutuler, mein iſt der Mord er hat nichts er konnte nichts wagen: Beym Himmel beſchwoͤr 'ich's und bey den Geſtirnen, die meine That ſahn. Liebe, zu heiße Liebe zum Freund' iſt ſein einziger Frevel.Virgil. Aen. 9, 426.; durch ſtuͤrmiſche Meere und uͤber ungeheure Gebirge will Julie ihren Romeo ſu - chen, und der freye Buͤrger Gut und Leben da - hingeben, um nicht ein Sclave zu werden.

Drey und zwanzigſte Unterhaltung. Ueber die Ruͤhrung.

Wenn ein Zollikofer mit wuͤrdevoller, ſanfter und herzlicher Beredſamkeit ſeinen Zuhoͤrern die Freuden der Menſchenliebe und die Gluͤckſeligkeit der Tugend ſchildert, und wenn ein Feſt mit Auf - richtigkeit und Wahrheit, ſeine Leiden und die Stimmung ſeines Herzens waͤhrend derſelben, er -zaͤhlt,585zaͤhlt, ſo wird der, welcher jenen hoͤrt und dieſes lieſt, geruͤhrt. Sein Herz fuͤhlt jeden Ausdruck, ſtroͤmt in Liebe, Verehrung und Theilnehmung zuſammen, und uͤbergiebt ſich in dieſem Augenblick mit Freuden dem, der es ruͤhrte.

Der Enthuſiasmus ruft alle Kraͤfte zuſam - men, um fuͤr das Gute und Große thaͤtig zu ſeyn: die Ruͤhrung zerſchmelzt alle Triebe und Kraͤfte, die dem Guten und Edlen entgegen ſind, folgt willig jedem Zuge deſſelben, wirkt ein voͤlli - ges Dahingeben. Um Enthuſiasmus zu be - wirken, muß die Vernunft den Ehrtrieb fuͤr ihr Jntereſſe gewinnen. Um Ruͤhrung hervorzubrin - gen, die Liebe und Sympathie. Jm Enthuſias - mus regt ſich Muth und ſtolzes Selbſtgefuͤhl. Die Ruͤhrung macht demuͤthig und ſanftmuͤthig; der Enthuſiasmus gießt Feuer und Heiterkeit ins Auge; die Ruͤhrung Thraͤnen und Wehmuth.

Man kann vorzuͤglich zwey Arten der Ruͤh - rung unterſcheiden, die Ruͤhrung des moraliſchen Gefuͤhls und die Ruͤhrung der Sympathie. Je - ne entſteht, wenn irgend etwas, zum Beyſpiel, eine wuͤrdevolle Rede, eine edle Handlung, die ſchoͤne Natur, alle Begierden der groͤbern Sinn - lichkeit unterdruͤcken, und die edlen und ſanften Gefuͤhle im Herzen erwecken. Dieſe aber wird hervorgebracht, wenn unverdiente Leiden oder ſchuldloſe Freuden unſrer Bruͤder in unſer HerzOo 5uͤber -586uͤberfließen, das Mitgefuͤhl aufwallt, und uns innig mit ihnen zum Mitgenuß ihrer Freuden und Leiden verknuͤpfet.

Zart, ſehr zart iſt in der Ruͤhrung erſterer Art das moraliſche Gefuͤhl. Jnnige Liebe des Guten und Edlen, wehmuͤthiger Schauder vor dem Boͤſen und Niedrigen entſteht in dem Herzen. Der ſo Geruͤhrte vergiebt allen ſeinen Feinden, ſchließt alle, wie Bruͤder, in ſeine Arme, genießt himmliſche Freuden in dem Gedanken an die Gott - heit, die in dieſem Augenblick gleichſam naͤher um ihn zu ſchweben ſcheint. Fordert ihn auf zu wel - chem Guten ihr wollt, willig und mit Freuden folgt er der Aufforderung, und giebt in dieſen Mo - menten der Ruͤhrung alles dahin, was die Stim - me der Tugend von ihm verlangt. Mit unein - geſchraͤnkter Aufrichtigkeit oͤfnet er ſein Herz, je - dem der mit ihm geruͤhrt ſcheint; geſteht ſeine Unvollkommenheit, ſeine Schwaͤche, ſeine Fehler mit edler Unbefangenheit: und bereitwillig jeden zu entſchuldigen, entſchuldigt er nur ſich nicht. Gering ſchaͤtzt er die Freuden der Welt, den Glanz der Ehre, den Schimmer des Goldes: und wuͤnſcht keinen andern Genuß, als aus dem Anſchaun der Tugend oder der Herzensneigung mit einem wie er ſelbſt geruͤhrten Freunde. Je - der Halm, jede Blume, jeder Baum, jeder Sonnenſtrahl erfuͤllt ſein Herz mit Gedanken andie587die Liebe des Schoͤpfers, und fordert ihn auf zum innigſten Dank gegen denſelben.

Nichts iſt ſo geſchickt, den, der moraliſches Gefuͤhl hat, in dieſe Ruͤhrung zu verſetzen, als die ſchoͤne und erhabene Natur. Wer von mei - nen Leſern und Leſerinnen an einem heitern Fruͤh - lingsmorgen das Feſt der aufgehenden Sonne auf einem gruͤnen vom Thau der Nacht erfriſchten Huͤgel feyerte, oder in der erquickenden Kuͤhle des Sommerabends die majeſtaͤtiſche Scene der unter - gehenden Sonne genoß; wer einſam oder am Ar - me der Freundſchaft und Liebe zwiſchen ſpielenden Laͤmmern, tanzenden Kaͤlbern, jubelnden Hirten und jauchzenden Schnittern durch die bunten Flu - ren ging, oder den harmoniſchen Concerten der Lerche, den zarten Elegieen der Nachtigall, und dem Liebesliede der Grasmuͤcke zuhoͤrte; wer am kraͤuterreichen Ufer ſein Auge an den ſilbernen Wel - len, ſein Ohr an dem ſanften Gemurmel des rei - nen Baches weidete, in einem ſegenreichen Thale Blumen in Kraͤnze wand, oder von der Stirn des Brockens in den Schoos der Natur ſah, uͤber ſich den Aether, um ſich die Luft, und unter ſeinen Fuͤßen den rollenden Donner und die flammenden Blitze; o, der wird es fuͤhlen, daß, wenn die Natur allein zum Herzen redet, Gott und die Tugend ihr Stoff iſt! Nichts, als Wahr - heit, Aechtheit und Reinheit ſieht man an ihrund588und in ihr; vergißt an ihrem Buſen der Laſten und Leiden des Lebens, weil ſie uns dem großen, guͤtigen Vater der Menſchen naͤhert, deſſen all - maͤchtige Hand die Laſten des Lebens erleichtert, und deſſen liebevolle Vorſehung alle Leiden in himmliſche Freuden aufloͤſt. O, mein Freund und meine Freundin, auf dem kleinen, anmuthi - gen, gruͤnenden Huͤgel bey deinem Doͤrfchen oder Staͤdtchen kannſt du fuͤhlen, was der ſo ſchoͤn und wahr ſchildernde Brydone auf dem Gipfel des Aetna fuͤhlte. Es ſchien, ſagt er, ſo wie wir uͤber die Wohnungen der Menſchen erhaben waren, als blieben alle niedere und gemeine Empfindun - gen zuruͤck, als legte die Seele, da ſie ſich den aͤtheriſchen Regionen naͤherte, ihre irdiſchen Lei - denſchaften ab, und als empfinge ſie ſchon etwas von ihrer unveraͤnderlichen Reinheit.

Lehrer und Erzieher eurer Bruͤder! wollt ihr dieſe Ruͤhrung des moraliſchen Gefuͤhls, welche gleich einem fruchtbaren Sommerregen den Saa - men des Guten aufſchwellt, und zum baldigen Keimen reizt, hervorbringen, ſo ahmt der Na - tur nach!

Wer, wie ſie, die Herzen an ſich zu ziehen und mit Liebe und Ehrfurcht fuͤr ſich zu erfuͤllen weiß; wie ſie, Wahrheit redet, dem Beduͤrf - niſſe jedes einzelnen entgegenkoͤmmt, und ſelbſt fuͤhlt, was er will, daß Andre fuͤhlen ſollen,der589der wird ſeinen Zweck, die Herzen ſeiner Bruͤder zu ruͤhren, nimmer verfehlen. Aber wer ſelbſt nicht fuͤhlt, was er ſpricht, trocken und kalt ſeine Lehren herzaͤhlt, ohne ſie mit dem Beduͤrfniß ſei - ner Leſer oder Zuhoͤrer in Verbindung zu bringen; oder wer, nicht im Herzen, ſondern nur in der Phantaſie empfindend, die Leerheit ſeiner Gefuͤh - le, durch prunkvolle Declamationen verraͤth, der kann nicht ruͤhren. Wer zum Herzen reden will, muß vom Herzen reden. Man fuͤhlt nicht in Tropen und Figuren, welche die Phantaſie erfun - den hat, um ihren weſenloſen Kindern durch aͤu - ßern Prunk zu geben, was ihm innerlich fehlt.

Jn fuͤhlende Menſchen regt ſich die Ruͤh - rung des moraliſchen Gefuͤhls, wenn nach einem begangnen Fehler ſich der Gedanke an das dadurch gegen ſich und die Tugend begangne Verbrechen und an ſeine Schwaͤche und Unvollkommenheit dem Herzen vergegenwaͤrtigt. Man moͤchte als - dann die Unterlaſſung des Fehlers mit allem, was man hat, erkaufen, und faßt mit voller Zuſtim - mung ſeines Herzens den edlen Vorſatz, ihn durch gute Thaten wieder gut zu machen.

Juͤnglinge und Maͤdchen! ſchreibt ſolche Mo - mente mit ſtarken, unausloͤſchlichen Zuͤgen in das Tagebuch eures Lebens; damit ſie ſich auch dann, wenn ſie verſchwunden ſind, noch mit ihren ſe - gensreichen Folgen an euch verherrlichen.

Wie590

Wie weiſe der erhabne Lehrer des Chriſten - thums handelte, daß er die Liebe zur Grundlage ſeiner Religion machte, wird jeder fuͤhlen, der die Stimmung ſeines Herzens in den Armen der Liebe und Freundſchaft beobachtete. Liebe und Freundſchaft geben dem Menſchen ſeine natuͤrliche Unſchuld wieder, unterdruͤcken alle Gefuͤhle und Neigungen, die dem Edlen und Guten entgegen ſind, und machen das Herz gegen die leiſeſte Stim - me der Pflicht empfindlich.

Ruͤhrung der Sympathie iſt ihrem Weſen nach eins mit der moraliſchen Ruͤhrung; nur daß jene ſich vorzuͤglich in der Bereitwilligkeit aͤußert, Theil zu nehmen an den Schickſalen der Menſchen, ſich ihrer Freude zu freuen, und mit ihnen zu leiden. Unſchuld, Einfalt und Wahrheit der Gefuͤhle bringen ſie hervor.

Wer wird nicht geruͤhrt, wenn der vortref - liche Feſt*)S. Verſuch uͤber die Vortheile der Leidenden und Widerwaͤrtigkeiten des menſchlichen Lebens, von Johann Samuel Feſt. 2 Theile. in den Vorerinnerungen zu ſeinem Verſuch uͤber das Leiden, ſein eignes, ſchweres Leiden mit kunſtloſer Einfalt erzaͤhlt?

Wer wird nicht geruͤhrt, wenn der wahrhaf - tig practiſche Weltweiſe, Garve, ſeine eigne koͤrperliche Schwaͤche ſegnet? *)Philoſ. Amerk. z. Cicero v. d. Pflichten. 2. Th. 625.

Und591

Und wer waͤre nicht mit dem Englaͤnder ge - ruͤhrt worden, durch den Anblick der blindge - bohrnen Kinder in Paris, und ihr ſchoͤnes, Dank - barkeit, Gottergebenheit und Herzlichkeit athmen - des Lied? *)Es findet ſich dieſes ſchoͤne Lied in Herrn Schulz Schrift uͤber Paris und die Pariſer, S. 91. O Ciel, pour combler tes bienfaits, Ouvre un inſtant notre paupiére, Et nous n'aurons plus de regrets D'être privés de lumiere;Que notre oeil contemple les traits De ceux dont la main nous ſoulage Et renferme le pour jamais: Nos coeurs en garderont l'image.

So wie Enthuſiasmus Schwaͤrmerey, ſo wird die Ruͤhrung Empfindeley, wenn jeder noch ſo unwichtige Gegenſtand, eine welkende Blume, ein geſchlachtetes Lamm, ein geſtorbner Schmetterling durch die Taſchenſpielerkunſt der Phantaſie das Herz in die Stimmung verſetzt, die, wenn ſie wahr und natuͤrlich ſeyn ſoll, nur durch ſolche Gegenſtaͤnde, welchen die Vernunft Wuͤrde und Heiligkeit giebt, erzeugt werden kann.

Vier -592

Vier und zwanzigſte Unterhaltung. Ueber die Affekten der Verwunderung und Be - wunderung.

Verwunderung und Bewunderung ſind Gefuͤhls - bewegungen, welche durch einen Stoß der erken - nenden Kraͤfte bewirkt werden. Ein Gegenſtand muß den Verſtand und die Urtheilskraft anregen und in Thaͤtigkeit ſetzen; aber dieſe Bewegung der erkennenden Kraͤfte durch das Jntereſſe, das man an dem Gegenſtande nimmt, auch dem Gefuͤhle ſich mittheilen, wenn dieſe Affekten hervorgebracht werden ſollen.

Wenn ein Freund, von dem man glaubt, daß er ſich in Jndien aufhalte, ploͤtzlich ins Zim - mer tritt; wenn ein Mann, der fuͤr einen Held galt, von einem Andern, der fuͤr weit ſchwaͤcher gehalten wurde, uͤberwunden wird; oder wenn eine Erſcheinung der Regel widerſpricht, die man fuͤr ganz allgemein hielt; ſo verwundert man ſich.

Wenn Friedrich der Einzige mit ſeinem Haͤuflein gegen die Heere des halben Europa ſteht, und dieſen nicht nur widerſteht, ſondern ſie mit Schrecken zuruͤcktreibt, und einmal uͤberdas593das Andere beſiegt; wenn Er, deſſen Auge uͤber die halbe Welt wachte, deſſen Hand das Steuer - ruder des Reichs ſelbſt fuͤhrte, und deſſen Koͤnigs - Geſchaͤfte fuͤr eines Menſchen Kraft kaum aus - fuͤhrbar ſchienen, noch in ſeinen unſterblichen Werken Beweiſe ſeines haͤufigen Umgangs mit den Muſen vor Augen ſtellt; ſo bewundern wir ihn.

Verwunderung und Bewunderung ſetzen bey - de voraus, daß etwas mit unſern Vorſtellungen nicht zuſammenpaßt: nur daß der Affekt der Verwunderung aus der Verſchiedenheit des Gegenſtandes von den Vorſtellungen, die Be - wunderung aber aus der Erhabenheit deſſelben uͤber die Vorſtellungen entſpringt.

Sobald man ſich das, woruͤber man ſich verwunderte, erklaͤren, d. h. mit ſeinen uͤbrigen Vorſtellungen zuſammenreimen; und ſo bald man das, was man bewunderte, begreifen, d. h. ſich eine ſolche Kraft und eine ſolche Wirkung als ſehr gut moͤglich, eine ſolche Groͤße, als gewoͤhnlich, denken kann, ſo hoͤrt in dem einen Fall die Ver - wunderung, in dem andern die Bewunderung auf.

Wenn der Freund, uͤber deſſen unvermuthe - te Ankunft ich mich verwunderte, mir ſagt, daß er ſchon um die und die Zeit von dem Orte, wo ich ihn noch gegenwaͤrtig glaubte, abgereiſet ſey;Ppund594und wenn ich von dem, den ich fuͤr einen Held hielt, erfahre, daß nur ſeine Prahlerey ihn da - zu gemacht habe; ſo verwundre ich mich nicht mehr weder uͤber die Ankunft meines Freundes, noch uͤber den Fall des Helden.

Der lernende Knabe bewundert ſeinen Lehrer wegen der Summe von Kenntniſſen und des Gra - des von Einſicht, welche er in ihm wahrnimmt: ſo weit werde ich es niemals bringen koͤnnen, ſagt oder denkt er. Er tritt in die Periode des gereif - ten Verſtandes und der vermehrten Erkenntniß, was ihm vorher unerreichbar ſchien, ſcheint itzt leicht erreicht werden zu koͤnnen, und ſeine Be - wunderung hoͤrt auf. Die Gottheit wird immerfort ein Gegenſtand der Bewunderung blei - ben; denn nimmer wird ein endliches Weſen den Unendlichen begreifen.

Es giebt einen Affekt, der weder reine Ver - wunderung noch reine Bewunderung iſt, aber von beyden etwas hat. Er entſteht, wenn etwas nicht blos wider, ſondern auch uͤber unſre Er - wartung iſt; dasjenige indeß, welches unſre Er - wartung uͤberſteigt, an ſich ſelbſt von uns recht gut begriffen werden kann, aber nur in dieſem Verhaͤltniſſe nicht vermuthet waͤre. Jch nenne dieſen Mittel-Affekt Wunderung, weil man in dem angefuͤhrten Falle gewoͤhnlich ſagt ichwun -595wundere mich und ich kein anderes Wort dafuͤr in unſrer Sprache finde.

Man wundert ſich uͤber einen Knaben, der ſchon im ſechſten Jahre Gedichte ſchreibt; uͤber einen ſonſt ſehr reizbaren und ſchwachen Juͤng - ling, der einer verfuͤhreriſchen Verſuchung wider - ſteht; uͤber einen furchtſamen Mann, der laut fuͤr die Sache der Wahrheit ſpricht. An ſich iſt das, was wir an ihnen wahrnehmen, nichts uͤber unſre Begriffe Erhabenes, daher es auch nicht Be - wunderung erzeugt; aber es iſt doch etwas, was uns in dieſen Verhaͤltniſſen groß erſcheint, daher wir uns doch daruͤber wundern. Auch das Ge - behrdenſpiel, welches dieſer Affekt veranlaßt, iſt aus dem der Bewunderung und Verwunderung zuſammengeſetzt. Zuerſt auf einige Augenblicke das Staunen der Bewunderung, und zuletzt das Kopfwiegen oder Schuͤtteln der Verwunderung. Zwiſchen dieſem Staunen und Kopfwiegen pflegt ſich gewoͤhnlich die Bewegung des Hauptes zu zei - gen, durch welche man Beyfall ausdruͤckt, und welche ich fuͤr die eigne Gebehrde der Wunderung halte. Das Staunen loͤſt ſich gewoͤhnlich in ein leiſes oder lautes ausgeſprochenes hm, hm, das Kopfnicken in ein ey, ſieh einmal! und das Kopfſchuͤtteln in ein das haͤtte ich doch wahrlich nicht gedacht auf.

Pp 2Wenn596

Wenn man etwas wahrnimmt, von deſſen Ge - gentheil man ganz gewiß uͤberzeugt war, ſo wird dadurch diejenige Verwunderung erzeugt, welche, um ſie von andern Arten derſelben zu unterſchei - den, Befremdung genannt wird. Weil man bisher alle ſeine Vorſtellungen in Beziehung auf den befremdenden Gegenſtand nach ſeiner Ueberzeu - gung geformt hatte, ſo macht einen der wahrge - nommene Widerſpruch irre, und ſcheint das gan - ze vorherige Verhaͤltniß zu dem Gegenſtande ver - aͤndern zu wollen. So befremdet es den Chy - miker, der von der Unmoͤglichkeit des Goldma - chens uͤberzeugt iſt, wenn er, indem er Andere durch den Augenſchein uͤberfuͤhren will, daß ſich kein Gold erzeugt habe, in ſeinem Kolben Gold erblickt. So befremdet es Otto von Wittelsbach, als Ritter Friedrich von Reuß aus dem Briefe des Kaiſers andre Worte lieſt, als dieſer geleſen hatte: Was? ſo druͤckt er ſeine Befremdung aus Was? ſteht's ſo da? Der Kaiſer las anders.

Das Bewundern und Verwundern geht in Erſtaunen uͤber, wenn der Gegenſtand alle unſre Gedanken allein an ſich feſſelt, und Verſtand und Herz von ihm allein ganz gefuͤllt ſind. Nichts reizt den Erſtaunten; er nimmt nichts wahr, von dem, was um und an ihm vorgeht, ſein Koͤrper ſcheint in der Stellung, in welcher ihn das Er -ſtaunen597ſtaunen antraf, erkaltet und erſtarrt zu ſeyn. Alles iſt todt, nur in den Theilen des Koͤrpers, welche der Affekt in ſein Jntereſſe zieht, iſt Le - ben. Das Erſtaunen der Bewunderung beugt das Haupt zuruͤck, um die Groͤße erreichen, oͤf - net das Auge, um ſie meſſen, und erweitert die Bruſt, um ſie faſſen zu koͤnnen. Das Erſtau - nen der Verwunderung oͤfnet den Mund, ſpitzt das Ohr, und legt alle Theile des Geſichts in die Lage des neugierigen Horchers.

Fuͤnf und zwanzigſte Unterhaltung. Ueber die Freude.

Wenn irgend ein Gegenſtand ſo lebhaft ange - nehm auf das Gemuͤth wirkt, daß Verſtand, Phan - taſie und Herz und Koͤrper ſich zur Anſchauung, Verſchoͤnerung, zum Genuß und zur Mitempfin - dung der angenehmen Gemuͤthsbewegungen verei - nigen; daß nichts in dieſem Augenblicke, dies freye, harmoniſche Spiel der Gefuͤhle hemmt oder ſtoͤrt; ſo entſteht der Affekt der Freude. Leicht und frey bilden ſich die Vorſtellungen im Verſtan - de, nichts ſtoͤrt die Phantaſie in ihrer verſchoͤnern - den Wirkſamkeit, nichts hemmt den Gang der angenehmen Empfindung zum Herzen: der Koͤr -Pp 3per,598per, wenigſtens das Blut, nimmt Theil an dem freyen Spiele der Gemuͤthskraͤfte. Das Ge - ſicht iſt in allen ſeinen Theilen offen und frey, die Stirne heiter und ausgeglaͤttet; das Haupt ſchwillt ſanft aus den Schultern empor; in dem ſprechenden Auge ſieht man den ganzen Rand des lichtvollern Apfels; der Mund zeigt das lieb - liche ſemihians labellum des kleinen catulliſchen Torquats; der Koͤrper iſt von den Haͤnden unbe - deckt; der Gang ſich hebend und munter; Leich - tigkeit, Geſchmeidigkeit, Gebundenheit, mit Ei - nem Worte: Grazie herrſcht in den Bewegungen aller Glieder. *)Engels Mimik. 1. Th. S. 245.Kein Gedanke an Leiden und Ungluͤck, kein Gefuͤhl von Einſchraͤnkung und Abhaͤngigkeit in dem Herzen des Freudigen; und, wenn auch der ruhige Zuſchauer manche Maͤngel ſeines Zuſtandes bemerkt, ihm ſelbſt vergegen - waͤrtigen ſie ſich entweder gar nicht, oder ſo, daß ſie in ihm zu einer neuen Quelle angenehmer Ge - fuͤhle werden**)Rochefaucault ſagt, wie mich duͤnkt, ſehr richtig: On n'auroit gueres de plaiſir, ſi on ne ſe flatoit jamais. Man wuͤrde nie Freude haben, wenn man ſich nie ſchmeichelte..

Je mehr alles, was in und an dem Men - ſchen iſt, in ſeine angenehmen Gefuͤhle einſtimmt, deſto groͤßer iſt die Freude, die er empfindet; diehoͤchſte599hoͤchſte iſt die, welche aus dem Bewußtſeyn guter Thaten quillt: denn in ihr vereinigt ſich die Ver - nunft mit den ſuͤßen Bewegungen des Herzens, und heiligt ſie durch ihren Beyfall.

Die Aeußerungen der Freude modificiren ſich nach der Urſache derſelben. Edel und ſchoͤn ſind ſie, wenn der Geiſt, der in ihnen lebt, Tugend, Liebe und Menſchlichkeit athmet: hoffaͤrtig und minder gefallend iſt die Freude des Stolzen; klein und widrig die Freude des Geizigen; Abſcheu er - regend die des Neidiſchen.

Freude giebt Muth und Zutrauen zu allen Menſchen. Weil man in den Momenten der Freude nur mit ſeinen Gefuͤhlen beſchaͤftigt iſt, und dieſe ſo leicht, ſo frey, ſo harmoniſch ſind: weil man alles von der leichten, gefallenden Sei - te ſieht; ſo iſt kein Projekt, kein Plan, ſo ſchwie - rig und groß, daß die Ausfuͤhrung deſſelben nicht moͤglich ſcheinen ſollte. Man merke auf die Hand - lungen der Freudigen. Fuͤhlt nicht der Feige ſelbſt ſich in der Freude zum Widerſtande geſchickt? druͤckt nicht der Feind den Feind ſelbſt, der Un - bekannte den Unbekannten mit Waͤrme und Herz - lichkeit an ſich? War nicht ſogar ein Maͤdchen mit unter dem Haufen, der die Baſtille ſtuͤrmte? *)Schulz Geſch. der gr. Revolution. S. 150. Anm.Vornemlich bricht die Freude in ſolche Handlun - gen aus, welche den Wunſch, ſich in dieſer ſuͤßenPp 4Stim -600Stimmung zu erhalten, andeuten, und Alle, die um einen ſind, auffordern, zur Erfuͤllung dieſes Wunſches mitzuwirken. Auch den Kar - gen verfuͤhrt die Freude, ſich etwas zu gute zu thun; auch der Pedant wagt es vor Freuden zu ſingen, zu ſpringen, und mit den Haͤnden zu klatſchen; und die Bigotterie ſelbſt unterbricht ihr wimmerndes Geſeufze durch luſtige Lieder. Der Stolze laͤßt ſich freundlich herab, der Kalte giebt Freundſchaftsbezeugungen, der Harte er - weiſt Wohlthaten und was man durch vieles Bit - ten nicht erhalten konnte, wird leicht gewaͤhrt, wenn die Freude fuͤr uns beſtochen hat.

Greiſe, ſo erzaͤhlt Herr Schulz die Freuden - aͤußerungen der Pariſer nach dem erſten Siege der Freyheit uͤber den Deſpotiſmus, Greiſe, die vielleicht ſeit Jahren nicht aus dem ſechſten Stock - werk herabgeſtiegen waren, kamen mit den Ge - faͤhrtinnen ihres Alters, um mitten unter Buben ihren Schwaͤrmer in die allgemeine Feuermaſſe zu werfen; Muͤtter mit ihren Saͤuglingen, um die - ſen durch den ſchlaͤngelnden Blitz Freude zu ma - chen, wenn ſie ſolche auch uͤber die Veranlaſſung derſelben noch nicht fuͤhlen konnten; Vaͤter mit ihren Toͤchtern und Soͤhnen, die ſonſt vielleicht dieſe vor dem Sitze der Ueppigkeit und Wolluſt gewarnt hatten, gingen jetzt mit Wohlgefallen unter den Arkaden deſſelben umher, und glaubtendie601die Unſchuld ihrer Kinder unter Menſchen, die nur Eine Empfindung jetzt begeiſterte, in Sicher - heit; Arme, in der einen Hand ihr trocknes Abend - brodt, das diesmal nur halb ſo groß war, als ſonſt, weil ſie fuͤr die andre Haͤlfte eine Pulver - patrone gekauft hatten; und endlich ſelbſt jene ungluͤcklichen Geſchoͤpfe vom andern Geſchlechte, die gegen alles uͤbrige gleichguͤltig ſeyn muͤſſen, weil ſie es gegen ihr edleres Selbſt ſind, miſchten ſich jetzt, ihr trauriges Handwerk vergeſſend, unter die berauſchte Menge, und gaben den Savoyar - den, ihren Freunden, das Geld zu Freudenfeuern, das ſie den Abend vorher unter Freuden ohne Mitgefuͤhl, fuͤr Freuden voll Ekel und Nachreue verdient hatten*)Geſch. d. g. R. S. 25. 26.. Es war ein ruͤhrender Anblick, ſagt derſelbe Schriftſteller, nach An - kunft der Deputation, welche die Nachricht von den guten Geſinnungen des Koͤnigs gegen die Nationalverſammlung und die Nation, nach Pa - ris brachte, Haufen von Buͤrgern, die ſich ſonſt nie gekannt hatten, Hand in Hand, Soldaten von ihnen bruͤderlich umarmt und gekuͤßt, und Weiber und Kinder beſchaͤftigt zu ſehen, Blu - men und Zweige und Kokarden unter die Menge auszuwerfen**)Daſelbſt. S. 169..

Pp 5Wenn602

Wenn die Freude aus der Befreyung von einem Uebel entſpringt, heißt ſie Froͤhlichkeit. So iſt der Knabe froh, wenn ſein Zuchtmeiſter ſich entfernt hat, und der Geneſete froͤhlich, daß ſich ſeine Krankheit geendigt hat. Bricht die Froͤhlichkeit in laute, ſchreyende Aeußerungen aus, ſo heißt ſie Frohlocken; ſo wie die lermen - de Bezeugung der Freude, Jauchzen genannt wird. Die Froͤhlichkeit wird in Frohlocken, und die Freude in Jauchzen vornemlich dann uͤberge - hen, wenn dem Froͤhlichen und Freudigen darum zu thun iſt, Andern ſeine Freude zu verkuͤndigen. Der, welcher ſich endlich vor den Nachſtellungen des Andern geſichert hat, frohlockt, und das Heer jauchzt, wenn es uͤber den Feind den Sieg erhalten hat.

Jm hoͤchſten Grade der Freude, wo alle Seelenkraͤfte einzig und feſt an die Freudengedan - ken gefeſſelt ſind, uͤberlaͤßt man ſich entweder ganz dem Genuß der Freude, oder allen Reizen zur Thaͤtigkeit, welche ſie in ſich ſchließt. Jenes, welches ich Entzuͤcken nenne, wird ſich bey wei - chen, zaͤrtlichen, ſchwaͤrmeriſchen Perſonen, oder wenn der Gegenſtand den innigſten Neigungen des Herzens und den Schwaͤrmereyen der Phantaſie angehoͤrt, zeigen; dieſes, welches man Jubel nennen koͤnnte, bey muthigen, thaͤtigen, lebhaf - ten Perſonen, und wenn die Freude von der aͤu -ßern603ßern Sinnlichkeit und den ruͤſtigeren Neigungen des Herzens empfangen und gebohren iſt. Die ſchwaͤrmeriſche Nonne, wenn ſie ſich im Geiſt mit dem Braͤutigam ihrer Seele vermaͤhlt, und der zaͤrtliche Verliebte, wenn er den ſuͤßen Brief ſeiner Goͤttin ans Herz druͤckt, ſinken in thatlo - ſes, ſchmachtendes Entzuͤcken hin; der Soldat, dem ſein Hauptmann mehr, als den Sold, giebt, und der lebhafte Juͤngling, der eine ſehr angeneh - me Erlaubniß erhaͤlt, jubeln.

Sechs und zwanzigſte Unterhaltung. Ueber die Traurigkeit.

Diejenige Stimmung des Gemuͤths, welche aus dem Gefuͤhl des gehemmten Spiels der Ge - muͤthskraͤfte entſteht, wird mit dem allgemeinen Namen Traurigkeit bezeichnet. Jch bin trau - rig, ſagt das Kind, wenn man ihm ſein Spiel - zeug genommen hat, und es nun nicht weiß, wie es die Zeit angenehm zubringen ſoll. Dasjenige, welches ſein Gemuͤth in einer unterhaltenden Be - wegung erhielt, iſt ihm genommen; was es auch anfaͤngt, ſo begegnet ihm immerfort der Gedanke an ſein geſtoͤrtes Vergnuͤgen, und hemmt den ebenmaͤßigen Gang ſeiner Vorſtellungen und Phan -taſien,604taſien, ſtoͤrt die Harmonie ſeines Gefuͤhls, und erinnert es ohne Unterlaß daran, daß ihm etwas fehle, daß ſeine Wuͤnſche, Neigungen und Lau - nen nicht erfuͤllt werden koͤnnen, daß es einge - ſchraͤnkt, ſchwach, abhaͤngig ſey. Das uͤble Wetter macht mich ganz traurig, ſagt der Schwaͤch - liche, denn die ſchwere Luft druͤckt meinen Koͤrper, beengt meine Bruſt, hemmt den freyen und ra - ſchen Umlauf des Bluts. Jch bin traurig, ſagt der Hypochondriſche, ich weiß zwar ſelbſt nicht die Urſache davon beſtimmt anzugeben, indeß ich fuͤhle, daß mir etwas fehlt; was ich auch vor - nehme, immer hindert mich die Mißſtimmung meiner Seele an der leichten, gluͤcklichen Aus - fuͤhrung.

Jedes Uebel alſo, eingebildet oder wirklich, welches dem Menſchen ſeine Schwaͤche, ſeine Un - vollkommenheit, ſein Elend vergegenwaͤrtigt oder ihn niederſchlaͤgt, bringt den Affekt der Traurig - keit im Gemuͤthe hervor. Darum ſtellt ſich der Traurige das ihn druͤckende Uebel ſo groß vor. Er fuͤhlt ſeine Niedergeſchlagenheit, und aus dieſer Wirkung urtheilt er uͤber die Urſache. Unertraͤg - lich iſt es ihm in den erſten Momenten der Trau - rigkeit, wenn man ihn dadurch troͤſten will, daß man das Uebel verkleinert: denn ſeine Phantaſie, gereizt von ſeiner Eigenliebe, vermoͤge welcher er ſich nicht gern klein und ſchwach erſcheint, mahltes605es ſo groß und ſo fuͤrchterlich, daß es ihm vor - koͤmmt, als haͤtte jede Kraft demſelben erliegen muͤſſen. Verkleinerung des Uebels kann daher unmoͤglich angenehme Gefuͤhle in ihm hervorbrin - gen, ſondern muß vielmehr durch die Beleidigung ſeiner Eigenliebe die Disharmonie ſeiner Gefuͤhle noch vermehren. Mitleiden, Einſtimmung in ſeine Klagen und in ſeine Uebertreibungen gewin - nen ſein Herz, und bahnen den nachfolgenden Troͤſtungen den Weg.

Zerſtreuungen lindern den Schmerz des Trau - rigen nicht; fuͤr ihn giebt es gar keine. Seine Traurigkeit iſt ſtaͤrker, als alles, was ihn von ihr abziehen will; alles, alles, was Andre zerſtreut, erinnert ihn nur noch bitterer an die ungluͤckliche Stimmung ſeines Herzens. Einſamkeit iſt ihm am liebſten, denn da ſieht und hoͤrt er doch nicht, wie in dem Kreiſe ruhiger und freudiger Men - ſchen, ſo gegenwaͤrtig, was ihm fehlet und quaͤ - let. Nur die Zeit kann ihn troͤſten. Denn nach und nach zerſtreuen ſich doch die Wolken der Trau - rigkeit etwas, und Vorſtellungen von dem Gu - ten, was doch fuͤr ihn auch noch da iſt, ſchleichen ſich an ſein Herz, und werden ihm ein zwar lang - ſam, aber deſto ſichrer mildernder Balſam.

Alle Aeußerungen des Traurigen zeugen von dem lebhaften Gefuͤhl ſeiner Kraftloſigkeit, ſeiner Niedergeſchlagenheit, ſeiner Unempfindlichkeit fuͤralles606alles andre, nur ſeine Traurigkeit ausgenommen. Das Blut ſinkt von der Wange zum Herzen hinun - ter, ſein Haupt ſenkt ſich, das Feuer ſeiner Augen verliſcht, der Athem wird kurz und bricht ſich zuweilen in Seufzer, alle Bewegungen gehen langſam von ſtatten, ſein Gang iſt ſchlaff, ge - hindert, am Boden fortſchleichend; ſeine liebſten Wuͤnſche vergißt er, die angenehmſten Unterhal - tungen werden ihm gleichguͤltig; ſein zur Erde oder auf den Gegenſtand ſeiner Traurigkeit gehef - tetes Auge merkt nicht auf das, worauf es ſich ſonſt mit angeſtrengter Aufmerkſamkeit richtete. Er glaubt, daß fuͤr ihn, weil er nur ſich und ſein Gefuͤhl im Bewußtſeyn hat, auf Erden und un - ter den Menſchen keine Freude, kein Gluͤck, keine Hofnung mehr ſey.

Thraͤnen ſchwemmen einen Theil ſeiner Angſt hinweg, indem ſie wenigſtens die koͤrperlichen Em - pfindungen mildern. Denn die Bewegungen, durch welche die Thraͤnen aus ihren Druͤſen her - ausgepreßt werden, treiben das Blut, welches bey dem traͤgen Umlauf durch den Koͤrper ſich vor dem Herzen anhaͤuft, durch die Lungen, und machen die Circulation deſſelben durch den ganzen Koͤrper leichter und raſcher*)Zuͤckert v. den Leidenſchaften, S. 49..

Ruͤhrt die Traurigkeit von einem Gegenſtan - de her, durch den man vorher viel Freude genoſſen,oder607oder von dem man viel Freude gehoft hatte, ſo iſt ſie Betruͤbniß. Der Verluſt unſrer Lieben, die Trennung von unſern Freunden, getaͤuſchte Hofnungen und mißlungene Plane betruͤben uns. Der Traurige weiß oft ſelbſt nicht die Urſache ſei - ner Traurigkeit anzugeben; der Betruͤbte iſt ſich derſelben ſehr gut bewußt, denkt immer daran, und wird durch die Gedanken, an das Gute, deſſen er beraubt wurde, noch tiefer zu Boden ge - ſchlagen*)Betruͤbniß, in ſo fern ſie das Herz mit bangen Sorgen erfuͤllt, iſt Kummer, und ſo fern ihre Aeußerungen andeuten, daß vorzuͤglich die zarten Gefuͤhle des Herzens, als Liebe, Freundſchaft, ge - kraͤnkt ſind, Wehmuth. Betruͤbniß uͤber diejeni - gen Unvollkommenheiten innigſt geliebter Perſonen, welche man fuͤr die groͤßten haͤlt, heißt Herzeleid, und ſo fern ſie in lauten Klagen, Wimmern, Seuf - zen ausbricht, Jammer..

Wenn die Traurigkeit allen Muth benimmt, ſich nirgends eine Ausſicht zur Befreyung von dem Leiden, nirgends ein Troſt zeigt; wenn man unter der Laſt des Elends erliegen zu muͤſſen glaubt, iſt die Traurigkeit Schwermuth. Der, welcher ſchwach und kleinmuͤthig iſt, wird leicht von ihr zu Boden gedruͤckt. Seht jenen Ungluͤcklichen, dem der giftige Zahn des Hypochonders an dem Mark des Lebens nagt, wie ihn jeder Schein vonUebel608Uebel danieder druͤckt. Schuͤchtern zieht er ſich aus dem Umgang mit Menſchen in ſeine einſame Kammer mit ſeiner Schwermuth zuruͤck. Die Natur und die Welt haben keine Freuden mehr fuͤr ihn. Sein kraftloſer Geiſt, ſeine luͤgenhafte Phantaſie, ſein nervenſchwacher Koͤrper, alles, alles vereinigt ſich, ihn zu quaͤlen. Aus den fruͤh - ſten Jahren ſeines Lebens ruft die Erinnerung die Leiden hervor, die ihn druͤckten, und um das Gemaͤhlde ſeines Elends ja recht ſchrecklich zu ma - chen, vergroͤßert ſeine Einbildungskraft die wirk - lichen Uebel, und erdichtet, wo ſie nichts Wirkliches findet. Selbſt den Glauben an Freundſchaft entwendet ihm die ſchwarze Urheberin ſeiner Schwermuth. Er traut keinem Menſchen, ſich ſelber am wenigſten.

Aber auch ſtarke Seelen koͤnnen in Schwer - muth verſinken, vorzuͤglich wenn ihre Hofnung auf Freude, auf Befreyung vom Uebel, ſchon oft getaͤuſcht iſt. O wie Mancher, mit einem edlen, freyen, herzlichen Sinne geboren, wurde durch die wiederhohlte Niederſchlagung ſeines Ver - trauens auf die Menſchen, ſeine Bruͤder, end - lich zuruͤckgeſcheucht in ſeine einſame Celle, ohne ſeinem guten Willen fuͤr die Welt, die ihn nicht verſtand, zu wirken, genug thun zu koͤnnen! O wie Mancher, der lange und maͤnnlich den Leiden des Lebens widerſtand, wurde endlich durchihre609ihre wiederhohlten Stoͤße zu Boden geſchlagen! So auch du, edler, edler Mann, der du aus deinen von keiner Feder zu ſchildernden und keinem Munde auszudruͤckenden Leiden ein Troͤſter deiner Bruͤder hervorgingſt, und dir, mit den Edlen, die, wie du, eigne oder ihrer Bruͤder Leiden fuͤhl - ten, um ſie durch ſanften Rath und weiſe Troͤ - ſtung zu mildern, den Dank unzaͤhliger Menſchen und den Beyfall des Himmels verdienteſt!

Vielleicht iſt einer oder eine unter meinen Leſern und Leſerinnen, welchen die vortrefliche Schrift des Mannes*)Die allermeiſten meiner Leſer und Leſerinnen wer - den ohne meine Bemerkung wiſſen, daß ich hier den vortreflichen Johann Samuel Feſt, Prediger im Saͤchſiſchen, im Sinne und im Herzen habe, und ſeine vor ſieben Jahren herausgegebene Schrift: Verſuch uͤber die Vortheile der Leiden und Wider - waͤrtigkeiten des menſchlichen Lebens zur Beruhi - gung meiner Bruͤder., an den mich hier der Gedanke an Leiden und Schwermuth erinnerte, noch nicht ſo bekannt iſt, wie ſie es verdiente. Wie wuͤrde ich mich freuen, wenn ich ſie veran - laßte, dieſelbe zur Hand zu nehmen, aus ihr und dem eben ſo vortreflichen, von einem eben ſo edlem und theilnehmenden Menſchenfreunde ver - faßtem, Philotas, Nahrung fuͤr ihr Herz und Troſt auf die Zeit, wo es Noth ſeyn wird, zu ſchoͤpfen!

SiebenQ q610

Sieben und zwanzigſte Unterhaltung. Ueber die Furcht.

Wenn irgend etwas, das uns bevorſteht, von uns fuͤr ein Uebel, fuͤr etwas das unſere innere oder aͤußere Gluͤckſeligkeit ſtoͤren koͤnne, gehalten wird, ſo regt ſich in unſerm Gefuͤhl der Affekt der Furcht. So fuͤrchtet das Kind, welches ſich verging, den Unwillen ſeines Vaters, und der Vater bey dem Anblick des kraͤnklichen Soh - nes, fuͤr das Leben deſſelben. Sie nimmt zu und ab mit der Vorſtellung von der Groͤße des Uebels und mit dem Gefuͤhl von Kraft, demſelben zu widerſtehen, es zu ertragen, es abzuhalten.

Denkt man ſich bey dem drohenden Uebel vorzuͤglich das Gut, welches dadurch geraubt wird, recht lebhaft und beſtimmt, und den Ver - luſt deſſelben gewiß, ſo wird die Furcht Ban - gigkeit. Bange ſtehn die Trojaniſchen Weiber und Kinder um ihre Kleinodien und die Heilig - thuͤmer der Goͤtter herum, welche eine Beute der Griechen werden ſollen*)Virgil. Aen. 2. v. 163 ſq. Hic undique Troïsgaza Congeritur: Pueri et pauidae longo ordine matres Stant circum. ; in Bangigkeit verſetztden611den weichlichen, ſein Leben mehr als ſeine Ehre lie - benden Soldaten, das Geruͤcht des bevorſtehen - den Krieges, den Gefangnen das Urtheil, wel - chem er entgegenſieht, und den Aberglaͤubiſchen die Prophezeyungen des juͤngſten Tages.

Keine Furcht iſt quaͤlender, als die Angſt, oder diejenige Art der Furcht, welche aus der ungeheuren Vorſtellung von der Groͤße des Uebels und der peinigenden Ungewißheit uͤber die Art deſ - ſelben entſpringt. Ach, ſeufzt der Angſtvolle, wenn das Uebel, das mich aͤngſtet, nur erſt vor - uͤber waͤre, und doch flieht er ſo weit und ſo lan - ge er kann vor demſelben zuruͤck. Die folternde Ungewißheit uͤber die Art deſſelben reißt ſeine ge - aͤngſtete Seele von einer ſchrecklichen Vorſtellung zur andern, und laͤßt ihn ſelbſt den Tod, der doch nur Ein wirkliches Uebel iſt, wuͤnſchenswerther erſcheinen, als die Urſache ſeiner Angſt, die ihn alle moͤgliche Uebel vergegenwaͤrtigt. Als Me - dina Sidonia, Fuͤhrer der unuͤberwindlichen Flotte, nach der voͤlligen Niederlage derſelben nach Madrit zuruͤckgekommen war, und im Au - dienzſaal den Koͤnig Philipp erwartete, aͤngſtet ihn der Gedanke an das, was der Unwille des Koͤnigs uͤber ihn verhaͤngen wird, auf die peinigendſte Weiſe.

Jm Feuer Des Engliſchen Geſchuͤtzes war mir's leichter, Als hier auf dieſem Pflaſter.
Qq 2Furcht612

Furcht aus einem unvermuthet drohenden und ſchon gegenwaͤrtigem Uebel iſt Schreck. Der ſinnliche Eindruck und die ſinnlichen Wirkungen des Schrecks ſind ſtaͤrker, als die jeder andern Art von Furcht, weil das Unvermuthete, das Ueberraſchende zu keiner Vorbereitung und Ueber - legung Zeit laͤßt. Alle Bewegungen des Koͤrpers ſowohl als der Seele werden durch den Schreck gehemmt oder verwirrt und verkehrt. Der Koͤr - per zittert, die Haare ſtreben in die Hoͤhe, das Blut kehrt gegen das Herz zuruͤck und ſtockt. Die Vorſtellungen verwirren ſich, der Muth ſinkt, Bewußtſeyn und Beſonnenheit gehen verloren.

Da die Furcht dem Herzen ein der Gluͤckſelig - keit drohendes Uebel zeigt; ſo iſt wohl die natuͤr - lichſte Wirkung derſelben, der Wunſch, ſich auf irgend eine Weiſe den gedroheten Nachtheilen des vorſchwebenden Uebels zu entziehen. Daher pflegt der Fuͤrchtende ſeine Aufmerkſamkeit auf daſſelbe zu richten, um es kennen zu lernen, und beſonders diejenigen Sinne zu oͤfnen, durch wel - che es vor ſeine Seele tritt. So ſchielt Damo - cles ohne Unterlaß auf das uͤber ſeinem Haupte hangende Schwerdt; Dionyſius oͤfnet Ohren und Mund, wenn er ein Geraͤuſch hoͤrt, von dem er fuͤrchtet, daß es durch die Tritte und das Ge - murmel ſeiner Moͤrder verurſacht werde, und wer von der Atmoſphaͤre eines Krankenzimmersver -613vergiftet zu werden fuͤrchtet, ſtrengt die Organe des Geruchs an, um ſich von dem zu uͤberzeugen, was er ſo ungern als wahr zu befinden wuͤnſcht.

Nach der Beſchaffenheit des Uebels richtet ſich auch die Art, wie man ſich den ſchaͤdlichen Wirkungen deſſelben zu entziehen ſucht. Hoft man es noch zuruͤckſchrecken zu koͤnnen, ſo ſchont man, wie Macbeth*)4ter Aufz. 2. Sc., keine Drohungen, kei - ne Vorſpiegelungen von Kuͤhnheit und Muth. Selbſt der Feigſte iſt in dieſem Fall aus Furcht ein Held. Aber ſobald keine Hofnung da iſt, das angehende Uebel durch gegenſeitige Drohungen zu - ruͤckzuſcheuchen, ſo ſucht man nur vor demſelben zu fliehen und ſich zu beſchuͤtzen. Auch hier haͤngt die Art der Flucht, und die Art der Beſchuͤtzung von der Natur des Uebels ab. Wer eine zu heftige Erſchuͤtterung der Sehnerven durch einen Blitzſtrahl, oder auch eckelhaften, ſchamwuͤrdigen, ſchrecklichen Anblick fuͤrchtet, ſagt Engel*)Mimik 1. Th. S. 172 f., der verſchließt im Wegwenden die Augen, oder be - deckt ſie auch mit vorgeſchlagener Hand: hingegen wer den erſchuͤtternden Ton des Donners, oder ſonſt einen widrigen Eindruck durchs Gehoͤr, eine ſchneidende Disharmonie, eine ſchaͤndliche gottes - laͤſterliche Rede fuͤrchtet, der bedeckt ſich im Weg - wenden die Ohren; wer weder Blitz noch DonnerQq 3er -614ertragen kann, der faͤhrt mit dem Kopf in ein Bette, um beyde Sinne zugleich zu verwahren. Wiederum fliehet der, der einem von unten kom - menden Uebel, wie z. B. einer giftigen ziſchenden Schlange, ausweicht, mit weit in die Hoͤhe ge - zogenen Beinen; hingegen wer gerade uͤber ſeinem Haupt eine Gefahr ſieht, und alles Entfliehen vergeblich glaubt, der druͤckt ſich mit dem ganzen Koͤrper zitternd nieder; gleich der Lerche, die beym Anblick des uͤber ihr kreiſenden Stoßvogels ſenk - recht in die Furche hinabfaͤhrt. Selbſt wenn die gefuͤrchteten oder ſchreckenden Gegenſtaͤnde unſinnlich ſind, z. B. verabſcheuungswuͤrdige Ge - danken, zeigt ſich dieſes Bemuͤhen, ſich vor den - ſelben zu verbergen. Wenn Medea in ihrer rachgierigen Wuth gegen Jaſon uͤberlegt, wie ſie ihm die toͤdtlichſte, ſchmerzhafteſte Wunde ſchlagen koͤnne, und dieſe Ueberlegung ſie zu dem ſchrecklichen Wunſch und der noch ſchrecklichern Frage fuͤhrt: Daß er ſchon Kinder von Kreu - ſen haͤtte! Hat er nicht Kinder? ſo fuͤhrt ſie gleichſam vor ſich ſelbſt mit verwandtem Angeſichte, die Haͤnde vorgeworfen und den Koͤr - per weit uͤbergebogen zuſammen, indem ploͤtzlich die empoͤrte Natur aus dem Herzen der Mutter heraufſchreyt: Entſetzlicher Gedanke! Wie Schauder des Todes durchbebt er mein Gebein. *)Engels Mimik, 1. Th. 199. S. 26. Fig.

Jſt615

Jſt man einmal in Furcht geſetzt, ſo kommt einem alles fuͤrchterlich vor, das Herz uͤberwiſcht alle Gegenſtaͤnde mit der Farbe, die derjenige hat, der es gegenwaͤrtig fuͤllt. Weil uns aus einem ein Uebel droht, ſo werden wir argwoͤhniſch gegen alle, und glauben, daß der Eine die Uebri - gen in die Verſchwoͤrung wider uns gezogen habe; und weil wir einmal kleinmuͤthig ſind, ſo zeigt ſich uns alles leicht von einer ſolchen Seite, daß wir dem - ſelben nicht gewachſen zu ſeyn ſcheinen. Als Ae - neas ſeinen alten Vater Anchiſes auf den Schul - tern, und ſeinen kleinen Julus an der Hand, aus Troja flieht, ſetzt ihn nach ſeinem eignen Ge - ſtaͤndniß alles in Furcht:Et me, quem dudum non ulla injecta mo - uebant Tela, neque aduerſo glomerati ex agmine Graii, Nunc omnes terrent aurae; ſonus excitat omnis Suſpenſum et pariter comitique onerique timentem (*)Virg. Aen. 2. lib. 726 729. ). und Macbeth entſetzt ſich, als er Dunkan ge - mordet hat vor jedem Geraͤuſch, auf welches er ſonſt vielleicht kaum merkte.

Whence is that knocking? How is't with me, when every noiſe ap - pals me?
Qq 4Acht616

Acht und zwanzigſte Unterhaltung. Ueber den Affekt der Schaam.

Nichts verraͤth ſo ſehr die von der Natur dem Menſchen ins Herz gelegte Achtung fuͤr die Men - ſchen, als der Affekt der Schaam, der dann er - zeugt wird, wenn man fuͤrchtet oder ſieht, daß irgend eine Unvollkommenheit, die uns in den Augen Anderer herabwuͤrdigen oder laͤcherlich ma - chen kann, von Andern bemerkt iſt. Nur der hoͤchſte Grad von Gefuͤhlloſigkeit und Verworfen - heit der Seele kann dieſen Affekt ausloͤſchen, und auch der geuͤbteſte Verſteller wird an dem Bemuͤ - hen, ihn zu unterdruͤcken, ſeine Kunſt am erſten ſcheitern ſehen, denn

Vergogna, che n'altrui ſtampò natura, Non ſi può rinegar: che ſe tu tenti Di cacciarla dal cor, fugge nel volto

*)Die Schaam, vom Stempel der Natur ins Herz gepraͤgt, kann nicht verlaͤugnet werden: wenn du verſuchſt, ſie aus dem Herzen zu verjagen, fliegt ſie dir ins Geſicht..

Ob ſich gleich aus dem Sprachgebrauch ſchlie - ßen laͤßt, daß man ſich auch vor ſich ſelbſt ſchaͤmen koͤnne, ſo ſcheint doch aus einer genauern Unter -ſuchung617ſuchung der Urſachen der Schaam zu erhellen, daß man zwar ſich ſchaͤmen koͤnne, ohne daß eine Un vollkommenheit von Andern wirklich wahrgenom - men iſt, daß aber, wo dieſer Affekt hervorgehen ſoll, doch wenigſtens immer der Gedanke mitwir - ken muß, wie wuͤrdeſt du mit dieſer Unvollkom - menheit in den Augen Anderer erſcheinen! Wo dieſer Gedanke nicht zur Wirkſamkeit gelangt, da kann zwar Angſt und Unruhe uͤber eine an ſich entdeckte Unvollkommenheit, aber nicht eigentliche Schaam entſtehen.

Da die Urſache der Schaam eine gefuͤrchtete oder wirklich geſchehene Entdeckung herabwuͤrdi - gender Unvollkommenheiten iſt, ſo zielen auch die Wirkungen dieſes Affekts darauf, entweder, wo dies noch moͤglich ſcheint, die Entdeckung Luͤgen zu ſtrafen, oder, wenn dazu keine Hofnung mehr iſt, ſich von dem Gedanken an die Beſchaͤmung und von dem Entdecker, oder dieſen von ſich los - zumachen.

Wenn man es noch fuͤr moͤglich haͤlt, dem der uns in einer fuͤr uns nachtheiligen Geſtalt zu ſehen glaubte, ſeinen Glauben zu benehmen, oder ſich wenigſtens bemuͤht, den Entdecker irre zu machen; ſo ſucht man alle Wirkungen, die mit der Schaam nothwendig verbunden ſind, zu un - terdruͤcken, und alle Aeußerungen ſo zu modifici - ren, daß man den Schein erhaͤlt, als habe manQq 5nichts618nichts weniger noͤthig, als ſich zu ſchaͤmen. Man bemuͤht ſich das, was zu beſchaͤmen ſcheint, als etwas, das gar nicht ruͤhrt, zu verachten, oder dem, der Verdacht gegen einen hegen koͤnnte, fuͤhlen zu laſſen, daß er dadurch beleidige; man verzieht die Mine zum Laͤcheln oder runzelt die Stirn zum Zorn; man bleibt keck ſtehen, oder dreht ſich raſch und mit Heftigkeit um; man ant - wortet, wenn der Verdacht geaͤußert wird, gar nicht oder mit auffahrender Hitze; man vergießt Thraͤnen der Kraͤnkung, oder bricht in Vorwuͤrfe uͤber die Ungerechtigkeit des Andern aus; man ſucht ſpottend zu einem andern Thema hinuͤber - zuhuͤpfen, oder bemuͤht ſich durch eine lange, ge - brochne und hergeſtotterte Deduction zu zeigen, daß der Verdacht gar nicht treffen koͤnne.

Eins indeſſen, ſagt der ſchon oͤfter angezogne Menſchenkenner, bleibt dem Beſchaͤmten, auch bey dem hartnaͤckigſten Verlangen, ſich der Ver - achtung zu erwehren, unmoͤglich: er kann in das Auge des Andren keine freyen, zuverſichtlichen Blicke werfen. Schon, wo er nur noch Ver - dacht hegt, und in den Minen des Andren erſt ſpaͤhen will, wie er uͤber ihn urtheile, und ob ſeine Schwachheit ihm wirklich ſichtbar gewor - den; ſchon da iſt ſein Auge wie ein ſcheuer, im - mer zur Flucht gefaßter Kundſchafter, der ſeine Gefahr, wenn er betreten wuͤrde, kennt, undſich619ſich weder Muth noch Geſchicklichkeit zutraut, ihm zu begegnen. Der Beſchaͤmte weiß, wie ſichtlich und unverkennbar ſich in den Geſichtsminen uͤber - haupt und vorzuͤglich im Auge das eigne Bewußt - ſeyn ausdruckt; er moͤgte das ſeinige ſo aͤußerſt ungern verrathen: und ſo muß er Geſicht und Auge vor jedem Blick des Andren zu verwahren, muß ſeine eigenen Blicke, deren anziehende Kraft er fuͤhlt, ſo viel moͤglich zuruͤckzuhalten ſuchen,. Jſt die endeckte Schwachheit zu ſichtbar, das Urtheil des Andren zu ſehr außer Zweifel geſetzt; ſo heftet ſich nun ploͤtzlich der Blick gegen den Boden, und das Verlangen nach Rechtfertigung hat nun nicht mehr die Kraft, ihn wieder bis zu dem Geſichte des Andren, am wenigſten bis zu ſeinem Auge hinaufzuheben: denn wie groß auch immer dieſes Verlangen ſey, ſo iſt doch die Furcht, ſich ganz zu verrathen, noch groͤßer, und vollends iſt der Abſcheu unuͤberwindlich, von den Gedan - ken und Empfindungen des Andern die ganze ſchnelle vollſtaͤndige Kenntniß zu erlangen, die ſein Minenſpiel ſo ſicher gewaͤhren wuͤrde. Man mag in ein Geſicht, worin man ſich ſeine Maͤn - gel ſo unverkennbar vorgehalten glaubt, in ein Auge, worin man ſeine eigne Geſtalt unter ſo unguͤnſtigen Umſtaͤnden nicht nur deutlich abge - bildet, ſondern zugleich von dem Andern ſo un - mittelbar erkannt ſehen wuͤrde, noch weit wenigereinen620einen Blick thun, als das eitle aber haͤßliche Maͤd - chen in einen Spiegel. Nichts iſt daher auch dem voͤllig Beſchaͤmten empfindlicher, als wenn man ſein Auge ausdruͤcklich ſucht; er druͤckt das Geſicht, ſo viel er kann, gegen den Buſen, ſteift den Nacken gegen jede Bemuͤhung ihm den Kopf in die Hoͤhe zu heben, und verwendet entweder, oder verſteckt auch den ſcheuen lichtleeren Blick hinter dem Liede. Alle dieſe Bemerkungen uͤberzeugen uns, wie vollkommen wahr der Aus - ſpruch des Ariſtoteles ſey: Die Schaam iſt im Auge*)Engels Mimik, 1. Th. 282. S. ff..

Der voͤllig Beſchaͤmte, der gewiß uͤberzeugt iſt, daß eine Unanſtaͤndigkeit, eine Schwaͤche, ein Vergehen von Andern entdeckt iſt, ſtrebt uͤber - haupt dem Spiegel ſeiner Beſchaͤmung aus dem Wege zu kommen. Er ſchleicht oder rennt ent - weder davon, oder verbirgt wenigſtens ſein Ange - ſicht ſo feſt und tief er kann. Kann er aber ſelbſt auf keine Weiſe entrinnen, und miſcht ſich dazu noch unter ſeine Schaam, Erbitterung oder Verzweiflung, ſo ſtoͤßt er mit geſammelter Kraft den vor deſſen Augen er beſchaͤmt wurde, zuruͤck. Als die Prinzeſſin Eboli, welche dem Prinzen Dom Karlos ihre Liebe ſehr deutlich zu erkennen gegeben, und ihn ſelbſt ſchriftlich eingeladen hat, in ihr einſames Kabinet zu kommen, durch dieUnter -621Unterredung mit dem Prinzen erfaͤhrt, daß nichts weniger, als die Liebe zu ihr ihn bewogen habe, der Einladung zu folgen, und ſein Herz einer Andern geheiligt ſey, verbirgt ſie ihr Geſicht voll Schaam in ein Kiſſen, mit dem Ausruf: Was entdeck 'ich? Gott! und als Karlos nun noch einmal mit edler Aufrichtigkeit, Schonung und Theilnehmung ſpricht, ein ungluͤckſel'ger Mißverſtand. Bey Gott!

Jch bin nicht ſchuldig! ſtoͤßt ſie ihn von ſich, und ruft: Weg aus meinen Augen, Um Gottes willen Aus Großmuth, aus Barmherzigkeit hinaus Von meinen Augen. Wollen Sie mich morden? Jch haſſe Jhren Anblick*)Dom Karlos von Schiller. 2ter Akt. 8ter Auftr..

Selbſt der Gedanke an das, was uns be - ſchaͤmte, wird auf alle Weiſe verſcheucht oder uͤbertaͤubt. Einem meiner Freunde war uͤber Ta - fel in einem Hauſe, das er ſehr achtete, und wo er ſich vorzuͤglich zu empfehlen wuͤnſchte ein Unfall begegnet, an dem er ſelbſt ganz unſchuldig war, und den ſelbſt der gute Wirth ſo wenig zu ſeinem Nachtheil auslegte, daß er ihn vielmehr auf alle Weiſe von dem Gegentheil uͤberzeugte. Dem - ohnerachtet war der Gedanke an dieſen Vorfall,bey622bey dem es freylich blos auf den guten Willen der Geſellſchaft ankam, ob er zu ſeinem Nachtheil ge - wendet werden ſollte, ſo unertraͤglich, daß er noch mehrere Monate nachher, ſo oft der Ge - danke in ſein Bewußtſeyn trat, demſelben, wenn er im Freyen war, durch das angeſtrengteſte Lau - fen und Springen zu entfliehen, und wenn er ſich im Zimmer befand, ihn durch uͤberlautes Schreyen, Klopfen, Laͤrmen zu uͤbertaͤuben ſuch - te. Eine Japoneſerin, (wenn ich nicht irre, ſo habe ich dies Faktum in Weikards philoſophi - ſchem Arzt geleſen,) ließ in einer Geſellſchaft ei - nen Laut hoͤren, den nur, wie man ſagt, die hollaͤndiſche Etiquette privilegirt. Sie wurde dar - uͤber ſo beſchaͤmt, daß ſie, um ſich von dem Ge - danken daran abzuziehen, ihre Bruͤſte zum Mun - de herauf (oder, wie ich vielmehr glaube, ihren Mund zu den Bruͤſten herunter) arbeitete, ſie zerbiß und ſtarb.

Daß die Urſache der Schaam nicht ſowohl in der Herabwuͤrdigung durch das eigne Bewußtſeyn, als vielmehr in der Herabſetzung in den Augen Andrer liege, erhellt, auch daraus, daß man vor dem erroͤthen kann, was unſer eignes Bewußtſeyn nicht nur nicht fuͤr unerlaubt, ſondern ſogar fuͤr ſehr edel, natuͤrlich und menſchlich erklaͤrt. Wer wagt es wohl in unſern verkuͤnſtelten Geſellſchaf - ten ſich gegen die, welche man von Herzen liebt,ſo623ſo herzlich zu aͤußern, wie man es, entfernt von der Geſellſchaft, zu thun pflegt? Und was iſt es, daß dieſe herzlichen Aeußerungen zuruͤckhaͤlt, als der Gedanke, daß die Menſchen, welche in der Herzensſprache ganz unerfahren ſind, unſre Aeu - ßerungen zu unſerm Nachtheile auslegen, daruͤber ſpoͤtteln und ſich ins Ohr ſprechen moͤchten? denn man haͤtte doch wahrlich nicht noͤthig, ſich der edelſten, menſchlichſten und natuͤrlichſten Gefuͤhle zu ſchaͤmen. Jn einem Cirkel von Menſchen, die uns verſtehen und menſchliche Gefuͤhle heilig hal - ten, wird auch die Schaam die Aeußerungen die - ſer Gefuͤhle gewiß nicht zuruͤckhalten*)Ungluͤckliche Menſchen, die ihr ſo kalt oder ſo wi - tzig ſeyd, daß euch Liebe und Zaͤrtlichkeit ein Spott iſt! Daß ihr ſelbſt ungluͤcklich ſeyd, bedarf fuͤr den keines Beweiſes, welcher noch in ſeiner na - tuͤrlichen Einfalt und Unſchuld fuͤhlt, daß aus der Quelle der Liebe die hoͤchſte und reinſte Gluͤckſeligkeit quillt. Aber auch fuͤr Andre werdet ihr Verderber, frevelhaft Stoͤrer ihrer himmliſchen Freuden, Fein - de ihrer Unſchuld. Denn wie viel gute Juͤnglinge ſind ſtark genug, euren Spott der das hoͤchſte Uebel iſt, was der fuͤhlende Juͤngling kennt zu verachten, und die Stimme der Menſchlichkeit hoͤher zu achten, als euer Schlangengeziſche? Wie viele werden nicht, durch euren Spott oder eure Verlaͤumdung gezwungen, vergeſſen, daß ſie einHerz.

Bey624

Bey weiten nicht immer iſt Schaamroͤthe ein Beweis von Schuld. Schon der Gedanke, bey Andern in Verdacht zu ſeyn, kann dem, der es weiß und fuͤhlt, was guter Name iſt, bey vol - lem Bewußtſeyn der Unſchuld des Blut in die Wangen treiben. Unter den kleinſten Koͤpfen, ſagt Herr Zimmermann, wird man zuweilen ſchaamroth, wenn ſie ſich uͤber dieſe oder jene ge - gruͤndete oder ungegruͤndete, bekannte oder unbe - kannte Beleidigung gegen uns vertheidigen; man ſieht, daß ſie einen Argwohn wider jemand naͤh - ren, und fuͤrchtet, ſie ſeyen dumm oder nieder - traͤchtig genug, dieſen Argwohn auf Unſchuldige zu werfen*)Zimmermann von der Erfahrung in der Arzney - kunſt, 4. B 11. Kap. 550.. Man wird indeß leicht im Stande ſeyn, die Schaamroͤthe der Schuld von der der Delikateſſe zu unterſcheiden; indem die uͤbrigen Geberden, Minen und das ganze Betra - gen des zuſammengenommen, der, ohne ſich ſelbſt anklagen zu duͤrfen, erroͤthet, immer noch etwas Freyeres, Edles, zum Mitgefuͤhl Einla - dendes und bey weitem nicht das Herabſetzende der Schaam haben, die aus einem vorwurfſvollen Herzen ins Angeſicht ſteigt.

Neun

*)Herz haben, weil ſie unter Menſchen leben, in welchen es verſteinert, oder in leere Atome zerſtiebt iſt?

625

Neun und zwanzigſte Unterhaltung. Ueber Verdruß, Aergerniß und Kraͤnkung.

Nirgends zeigt ſich der ſchaͤdliche Einfluß der unangenehmen Affekten auf die Geſundheit des Menſchen mehr, nirgends ſchneller, nirgends auch bey geringen Graden des Affekts wirkſamer, als in dem Verdruß, der Aergerniß und der Kraͤn - kung. Traurigkeit, Furcht, Schreck und Zorn ſind ebenfalls dem Koͤrper ſehr nachtheilig, und zeigen, wenn ſie zu einem gewiſſen Grad anſchwel - len, Zerſtoͤrung drohende Wirkungen; indeß gehen ſie doch alle mehr nach außen zu, und fuͤh - ren nicht das heimliche Gift bey ſich, wodurch die genannten Affekten das Mark des Lebens, die feinſten, innerſten Theile des Koͤrpers angreifen. Die uͤbrigen Affekten der Unluſt ſchwaͤchen ihre intenſive Kraft dadurch, daß ſie dieſelbe zu einer ausgebreitetern, offenern Wirkſamkeit vertheilen; der Traurige gießt ſeinen Kummer durch das Auge; der Zornige ſeine Hitze durch Mund und Naſe aus; der Verdruß hingegen, ſo wie Aer - gerniß und Kraͤnkung halten ſich ganz nach innen zu, und geben ihr Daſeyn durch nichts, als das von der innern Vergiftung mit allen Farben an -Rrge -626gelaufene Geſicht und verſtohlne Zuckungen um die Gegend des Mundes und der Augen zu erken - nen. Sie regen alle unangenehme Affekten auf, aber keiner derſelben kann ganz zur Reife kommen: der heftige Kampf Eines gegen den Andern iſt die Urſach ihrer gewaltſamen, zerſtoͤrenden Wir - kungen.

Verdruß iſt der Affekt aus einer Begebenheit, von der man herzlich wuͤnſcht, ſie waͤre nicht ge - ſchehen. Verdruß macht der Geſchaͤftstraͤger ſei - nem Herrn, wenn er ſtatt auf die gute Fuͤhrung des Geſchaͤfts bedacht zu ſeyn, etwas thut oder unterlaͤßt, wodurch das Geſchaͤft aufgehalten oder zerſtoͤrt wird. Verdruß macht der Muͤndel ſei - nem Vormund, wenn dieſer, ſtatt gute Nachrich - ten von jenem zu hoͤren, erfaͤhrt, daß er oͤkono - miſche, politiſche, moraliſche Suͤnden begeht. Verdruß macht die Magd ihrer Gebieterin, wenn ſie eine Geſellſchaft, die ſie auf morgen einladen ſollte, fuͤr heute beſtellt, die Schaale, welche auf der Tafel glaͤnzen ſollte, zerſchmeißt, und den Kuchen, durch den man ſich auszeichnen woll - te, verbrennt.

Aergerniß iſt Verdruß aus dem Gefuͤhl des Mangels an Kraft, ſich gegen den, der uns ge - demuͤthigt hat, zu heben. Aergerniß empfindet die ſtolze Buͤrgerin, wenn in einer adlichen Ge - ſellſchaft die Damen von Familie uͤber ihre Buͤr -ger -627gerlichkeit naͤher zuſammenruͤcken, und durch ihre Minen, Geberden und Worte ihren großen Abſtand von ihr andeuten. Es aͤrgert ſich der Hitzige, wenn der Andre kalt und ungeruͤhrt ge - gen ihn uͤber ſteht; der Befehlende, wenn der Andre unter ſeinem Befehlen ſich die Federn vom Rocke lieſt, an den Handkrauſen zupft, oder ſich mit der Wegraͤumung eines Fleckens an ſeinem Nagel beſchaͤftigt. Es aͤrgert ſich der Eitle, wenn er in der Meynung in eine Geſellſchaft tritt, daß aller Augen ſich auf ihn richten werden, und nun keiner ihn bemerkt; der Prahler, wenn ein Au - genzeuge ihn Luͤgen ſtraft; der Empfindliche, wenn der Witz ihn zu ſeinem Ziel nimmt; der Erin - nernde, wenn man ſeine Erinnerungen laͤcherlich macht; der Verweiſende, wenn er ſeinen Ver - weis nicht beweiſen kann, und der Neidiſche, wenn ihm ein Vortheil, den er gern gehabt haͤtte, ab - gewonnen iſt.

Verdruß kann auch Der empfinden, welcher auf wahre Vollkommenheit gegruͤndetes Selbſtge - fuͤhl hat: Aergerniß aber nur ſelten, und nur in dem einzigen Falle, wenn ein ſeiner Kraft wuͤr - diger, edler, wichtiger Zweck es erfordert, daß ſein Werth erkannt werde, und er ſich gegen einen Andern emporhebe. So kann der Mann ſich aͤrgern, wenn in einer Geſellſchaft ſchwacher Leu - te, auf die er wirken ſoll, ſeine Tugend, ſeineRr 2Ehre,628Ehre, ſein guter Name angegriffen wird, ohne daß er durch ſiegende Gruͤnde den Angriff ſogleich zernichten koͤnne. So aͤrgert ſich der Held, wenn der gegenuͤberſtehende Feind ihn hoͤhnt, ohne daß er den Hohn beſtrafen kann oder darf: und ſo aͤr - gert ſich endlich der Edle, wenn ſein raͤnkevoller Feind, ſeinen Plan, der ihm tauſend Stunden und Millionen Schweißtropfen koſtete, und ihm ſchon im Geiſte das durch ſeine Ausfuͤhrung be - wirkte Gute zeigte, zu nichte macht.

Aus den angefuͤhrten Gruͤnden des Aergers wird es ſich leicht entwickeln laſſen, warum man es ſo laͤcherlich findet, wenn Kinder ſich aͤrgern. Kinder haben am wenigſten Urſach Praͤtenſionen zu machen, und ſich die Mine der Wichtigkeit zu geben; Kinder haben noch kein ſehr verwickeltes Jntereſſe; es iſt daher laͤcherlich, wenn ſie durch ihren Aerger verrathen, daß ſie die Nichtachtung eines Werths, den ſie nicht haben, und die Ver - nachlaͤſſigung eines Jntereſſe, das ſie noch nicht einmal dem Namen nach kennen ſollten, uͤbel empfinden.

Wenn uns eine Perſon, die wir herzlich lie - ben, und von der wir es alſo gar nicht erwartet haͤtten, Verdruß oder Aergerniß macht, und alſo der Gram uͤber den Mangel an Liebe, vor dem Gefuͤhl der Vernachlaͤſſigung und Herabſetzung hervorſticht; ſo kraͤnken wir uns. Es kraͤnktden629den treuen Lehrer, wenn ſein geliebter Zoͤgling den wohlgemeinteſten Rath, leichtſinnig oder ſpoͤt - tiſch von ſich weiſ't, auf ſeine Bitten nicht hoͤrt, bey ſeinen Erinnerungen kalt bleibt. Es kraͤnkt den redlichen Freund, wenn ſein Geliebter ihn verlaͤßt, und einem Verfuͤhrer ſich in die Arme wirft, und den aufrichtig Liebenden, wenn ſeine Geliebte ein Geſchenk, dem er alles, was er ſich entziehen konnte, gewidmet hat, verachtend von der Hand weiſ't.

Dreyßigſte Unterhaltung. Ueber den Zorn.

Derjenige Affekt, welcher aus dem Gefuͤhl ei - nes uns zugefuͤgten, aufbringenden Uebels und dem Wunſch den, welcher es uns zufuͤgte, zu ſchrecken und fuͤrs Kuͤnftige zu warnen, entſpringt, iſt der Zorn. Wenn man nur das zugefuͤgte Uebel und ſeine eigne Schwaͤche fuͤhlt, wird man traurig und niedergeſchlagen; aber, wenn die Empfindung des Uebels auch gleich den Gedanken weckt, daß man nicht noͤthig habe, daſſelbe zu ertragen und dem Urheber deſſelben dies zeigen muͤſſe, zornig.

Rr 3Kein630

Kein Affekt iſt uͤberraſchender, als dieſer, ja er kann nie ohne Ueberraſchung zur Wirklichkeit kommen. Wenn man erſt dem zugefuͤgten Uebel weiter nachdenkt, ſo vergißt man uͤber dem Uebel des Urhebers, und kann wohl in andre Affekten der Unluſt, nur nicht in Zorn verſetzt werden, denn dieſer erfodert immer, daß die Vorſtellung desjenigen, durch den uns das Uebel zugefuͤgt wurde, gegenwaͤrtig iſt, daß wir ihn in dem Moment des Handelns gegen uns wirklich oder in der Phantaſie ſehen.

Alle Aeußerungen des Zornigen beweiſen, daß ſein Affekt nicht ſowohl auf das Uebel, von deſſen Empfindung er veranlaßt wurde, als auf den Ur - heber deſſelben geht. Er klagt nicht uͤber ſeinen verſchlimmerten Zuſtand, ſondern ſchimpft und ſchmaͤht auf ſeinen Feind: denkt nicht auf Ret - tung, Beſchuͤtzung, Verbeſſerung, ſondern raſt wider den Beleidiger, ohne darauf zu achten, ob er Uebel aͤrger mache, ſich blos gebe, ſich ins Verderben ſtuͤrze: er bekuͤmmert ſich nicht um das, was ſein Uebel vermindern, ſondern nur darum, was den Nachdruck ſeines Zorns verſtaͤr - ken kann; er ruͤſtet alle aͤußere Glieder mit Kraft, vorzuͤglich aber wafnet er diejenigen, die zum Angreifen, zum Faſſen und zum Zerſtoͤren ge - ſchickt ſind*)Engels Mimik 1. 207.; er ſucht entweder unmittelbar denBe -631Beleidiger zu erſchrecken, anzugreifen und die uͤb - len Folgen der Beleidigung fuͤhlen zu laſſen, oder mittelbar, indem er den Brief ſeines Feindes zerknittert und zerreißt, und das, was ihm ange - hoͤrt, wegſtoͤßt, oder indem er ſeine eigne Hals - krauſe zerreißt, ſein Kleid zerzupft, ſeine Papiere von ſich wirft, Kopf und Bruſt mit geballter Fauſt ſchlaͤgt, ſeine Freunde zuruͤckſtoͤßt, oder indem er auf dem Boden ſtampft, haſtig und ſtark umher geht, und heftige Streiche durch die Luft fuͤhrt.

Der alte Pſycholog Vives hat nicht Unrecht, wenn er den Zorn, als einen Affekt aus dem Gefuͤhl der Verachtung deſſen, was wir werth halten, es ſey in oder außer uns, oder wir ſelbſt, erklaͤrt*)Ira, ſagt er, eſt concitatio animi acerba, quod bona ſua videt contemni, quae ipſe videt non eſſe contemnenda, in quo et ſemet ipſum con - temni. Cuique enim pretium atque aeſtimatio ex ſuis bonis. Jo. Lud. Vivis, de Anima, Lib. 3. 210. Baſel 1538. . Dieſes Gefuͤhl reizt uns, dem An - dern zu zeigen, daß er Urſach habe, uns und das Unſrige fuͤr Etwas zu halten, und um dies zu zeigen, nehmen wir alle unſre Kraͤfte, beſonders diejenigen, durch welche unſer Wunſch am ſchnell - ſten erfuͤllt werden kann, (die koͤrperlichen) zuſam - men, und treten ihm geruͤſtet unter die Augen.

Rr 4Man632

Man will die Erfahrung gemacht haben, und irrt ſich meiner Meynung nach nicht darin, daß kleine Leute am leichteſten in Zorn gerathen, und ihren Zorn am heftigſten aͤußern. Dieſen kann wegen ihrer anſcheinenden koͤrperlichen Schwaͤche leicht einfallen, daß Andre glauben, ſie ohne Be - ſorgniß beleidigen zu koͤnnen; und ſie beeyfern ſich daher bey jeder Gelegenheit zu zeigen, daß dieſer Wahn irrig ſey, und ſuchen das, was ihnen an Extenſion fehlt, durch Jntenſion zu erſetzen.

Je weniger Selbſtgefuͤhl einer hat, deſto leichter ſprudelt er auf, weil er nicht gern jemand zur naͤhern Pruͤfung ſeiner Kraft und ſeines Werths zulaſſen moͤchte, und daher immer um - herſpaͤht, ob ſich ein Feind in der Ferne ſehen laſſe, damit er den Angreifer in Schrecken ſetze, und ihm die Luſt benehme, naͤher vorzuruͤcken. Eitle, pedantiſche, eingebildete, kraͤnkliche Men - ſchen ſind daher gewoͤhnlich ſehr auffahriſch: ja man ſucht auch ſogar den Grund der Reizbarkeit des ſchoͤnen Geſchlechts in dem Gefuͤhl der Schwaͤche, das ihm eigenthuͤmlich ſeyn, und ihm den Namen des ſchwaͤchern Geſchlechtes verdient haben ſoll. Jch laſſe mich indeß in der Vorausſetzung, daß es mit der groͤßern Reizbar - keit der Damen ſeine Richtigkeit hat, auf eine naͤhere Unterſuchung hieruͤber nicht ein: und ſetze nichts hinzu, als daß es mir unbegreiflich iſt, daßdas633das ſchoͤne Geſchlecht ſo leicht in Zorn gerathen koͤnne, da es ſich in allen Situationen des Spie - gels als des treuſten Rathgebers bedienen ſoll, und dieſer doch, wie ſchon Plutarch bemerkt haben will, dem Zornigen kein ſchoͤnes Bild vor - haͤlt; und da der alte Seneca, nachdem er das Portrait des Zornigen geendigt hat, ſagt: Neſcias, utrum magis deteſtabile vitium ſit an deforme. (Wahrlich, hiernach ſcheint mir der Zorn noch haͤßlicher zu ſeyn, als er verab - ſcheuungswuͤrdig iſt).

Faſt vermuthe ich, daß der heilige Auguſti - nus entweder ſeinem eignen Verſtande, oder ſei - ner Stadt Gottes, oder beyden zugleich nicht ge - traut habe, wenn er in ſeinem Buche, welches den Namen der Stadt Gottes an der Stirn traͤgt, den Rath giebt: Coge illos fuſtibus, ſi nolunt intrare in eccleſiam. Denn diejenigen, welche fuͤhlen, daß ſie ihre Meynung gegen Andre nicht mit Gruͤnden vertheidigen koͤnnen, pflegen gewoͤhnlich ſtatt der geiſtigen Waffen des Verſtan - des, die koͤrperlichen des Zorns zu gebrauchen, und gewaltig boͤſe zu werden, wenn man bey dem Licht des Verſtandes den Knoten loͤſen will, weil ſie es bequemer finden, denſelben zu zerhauen.

Nirgends zeigt ſich die Abſicht des Zorns, den, welcher uns ein Uebel zufuͤgte, fuͤrs Kuͤnftige zu warnen, und ihn anzutreiben, es wieder gut zuRr 5machen,634machen, deutlicher, als in dem Zorn der Lieben - den. Ueberhaupt iſt der Zorn um ſo heftiger, je werther das durch den Beleidiger entrißne Gut dem Herzen war; der Zorn der Liebe wird dadurch noch heftiger, daß das geraubte Gut und der Raͤuber eins iſt, und man denſelben ſo gern recht ſchnell zur Wiedergabe bewegen will. Durch dieſes ſich ſelbſt uͤbereilende Verlangen der Liebe, den Geliebten wieder gut zu machen, wird es be - wirkt, daß man in dem zuͤrnenden Liebenden oft vielmehr den grauſamſten, quaͤlendſten, haſſend - ſten Feind, als den wohlwollenden, gern erfreuen - den, gern alles fuͤr den Geliebten aufopfernden Liebenden zu ſehen glaubt.

Je weniger man den Zorn aͤußern kann, deſto ſtaͤrker ſchwillt er an, und deſto angreifender und giftiger wird er. Bey ſtummen Perſonen, auch bey ſolchen, denen das Sprechen ſchwer wird, pflegen ſich alle Wirkungen des Zorns im Super - lativ zu zeigen. Jhr feuriges Auge ſcheint ſich aus ſeiner Hoͤhlung reißen, das ſchwarze Blur die Adern durchbrechen zu wollen. Alles iſt Feuer und Ekſtaſe an ihnen: und ihr Angriff ſcheint nicht auf Schlag und Stoß, ſondern auf Mord und Todſchlag berechnet zu ſeyn. Auch dann, wenn man ſeinen Zorn nicht auslaſſen darf, wie z. B. der Unterthan in Gegenwart des Friedensrichters, oder die G*** Fiſchweiber imKaͤficht,635Kaͤficht, wuͤthet er deſto heftiger im Jnnern, und verſchwoͤrt ſich zur Zerſtoͤrung des Menſchen mit den Affekten des Aergers, des Verdruſſes und der verhaltenen Wuth oder des Grimms. Das mit den ſchrecklichſten und widrigſten Farben gezeichnete Geſicht, und die von dem Kopf bis auf die Fuͤße verwirrte Kleidung des Zornigen, zeugen von dem Aufruhr der Kraͤfte, die ſich, weil ſie von dem Gegenſtande des Zorns zuruͤckge - halten werden, gegen ſich ſelbſt kehren.

Da alſo der Zorn die Schaale ſeiner quaͤlen - den Gefuͤhle uͤber das Haupt des Beleidigers aus - zugießen wuͤnſcht, um dieſen durch die Empfin - dung der bittern Folgen ſeiner Beleidigung fuͤrs Kuͤnftige zu warnen; ſo ſcheint er ſich nur gegen vernuͤnftige, wenigſtens nur gegen empfindende Weſen kehren zu koͤnnen. Aber, ohne an den Xerxes erinnern zu duͤrfen, der in dem Gedan - ken, Herr der ganzen Schoͤpfung zu ſeyn, den Helleſpont in Feſſeln legen, mit Ruthen zuͤchti - gen und brandmarken ließ, weil die Flotte ſeiner Perſiſchen Allmacht auf demſelben nicht ſicher hatte ſegeln koͤnnen*)Herod. 7. B.; und ohne der amerikani - ſchen Wilden zu gedenken, die, wenn ſie an einen Stein ſtoßen, denſelben zerſchmettern moͤchten, und, wenn ſie in einem Gefechte mit einem Pfei - le verwundet werden, ihn aus der Wunde reißen,zer -636zerbrechen, mit den Zaͤhnen zerbeißen, und mit wuͤthender Gewalt zu Boden werfen*)Robertſons Geſch. v. Amerika, 1. Th.; weiß ſchon ein jeder aus ſeiner eignen Erfahrung, daß der Zorn ſich auch zuweilen gegen lebloſe Dinge richtet. Kinder an Jahren oder am Verſtande geben davon taͤgliche Beweiſe, und zeigen, daß Zorn gegen lebloſe Weſen nur dann moͤglich iſt, wenn es ganz an Verſtand und Beſonnenheit fehlt**)Auch der verſtaͤndigſte Mann hebt zuweilen ſeinen Fuß wider den Stein oder Klotz, an welchen er ſtoͤßt, auf. Allein dies geſchieht nicht ſowohl in der Meynung dieſe lebloſe Dinge ihre Beleidigung fuͤhlen zu laſſen, als vielmehr aus dem durch den empfindlichen koͤrperlichen Schmerz hervorgebrach - ten Wunſch, den Stein des Anſtoßes von ſich zu entfernen..

Zorn aus Aergerniß und Kraͤnkung iſt Erbit - terung. So war Juno wider die Troer, und dieſe wider den vor dem belagerten Thurm uͤber - muͤthig triumphirenden Pyrrhus (Pyrrhum ex - ſultantem) erbittert, und ſo erbittert Manchen die Wahrheit, wenn ſie ſeine Bloͤße aufdeckt, und er zu wenig Unpartheylichkeit gegen ſich ſelbſt hat, um ſie zu bemerken, und durch Fleiß an ſich ſelbſt zuzudecken, oder zu viel Stolz, um einem An - dern ein Urtheil uͤber ſich zu erlauben.

Wenn637

Wenn der Zorn ſich vorzuͤglich in einem Wi - derſtreben gegen den Willen des Andern zeigt, heißt er Trotz. Er zeigt ſich am haͤufigſten bey eigenſinnigen Menſchen, welche es fuͤr das hoͤchſte Gluͤck halten, ihren Willen zu haben, und daher auch niemand ein groͤßeres Uebel zufuͤgen zu koͤn - nen glauben, als wenn ſie ſeinem Willen entgegen ſind. So ſucht das Kind, deſſen Willen und Neigungen ſein Erzieher brach, durch Trotz die - ſen das fuͤhlen zu laſſen, was es ſelbſt fuͤhlte, und ihn dadurch zu bewegen, ſich kuͤnftig ſeinen Nei - gungen mehr zu bequemen.

So fern ſich der Zorn in dem Wunſch, ſei - nen Gegenſtand grauſam zu behandlen, oder in der wirklichen grauſamen Behandlung deſſelben zeigt, wird er Wuth genannt. Voͤllige Ver - nichtung iſt der Zweck des Wuͤthenden, und auch ſeine eigne Aufopferung ſcheuet er nicht, wenn ſie nur ein Mittel wird, die Zwecke ſeiner Wuth zu erreichen. Alles was um ihn und vor ihm iſt, verſengt, verheert und zerſtoͤrt er, wenn er den Gegenſtand ſeiner Wuth nicht erreichen kann, oder das, was um ihn und vor ihm iſt, ihn daran hin - dert. Alles menſchliche Gefuͤhl wird in dieſen Augenblicken erſtickt, und nur bey dem kann der Zorn ſich zur Wuth entflammen, der roh und gefuͤhllos iſt, oder deſſen Affekten in dem Momen -te,638te, wo ſie ſich dem Zuͤgel der Vernunft entreißen, ſo unbaͤndig und barbariſch ſind, daß ſie den Ver - ſtand blind und das Herz taub machen, fuͤr das, was menſchlich und edel iſt.

Nicht leicht ſahe wohl eines Menſchen Auge eine greuelvollere Scene der Wuth, als die war, welche Tilly und ſein wuͤthendes Heer in dem er - oberten Magdeburg gaben. Eine Wuͤrgerſcene fing an, ſo erzaͤhlt der Verfaſſer der neueſten Ge - ſchichte des dreyßigjaͤhrigen Krieges*)Herr Rath Schiller in dem Hiſtoriſchen Taſchen - buche fuͤr Damen, S. 343 f., fuͤr wel - che die Geſchichte keine Sprache und die Dicht - kunſt keinen Pinſel hat. Nicht die ſchuldfreye Kindheit, nicht das huͤlfloſe Alter, nicht Jugend, nicht Geſchlecht, nicht Stand, nicht Schoͤnheit koͤnnen die Wuth des Siegers entwaffnen. Frauen werden in den Armen ihrer Maͤnner, Toͤchter zu den Fuͤßen ihrer Vaͤter mißhandelt, und das wehrloſe Geſchlecht hat blos das Vorrecht, einer gedoppelten Wuth zum Opfer zu dienen. Keine noch ſo verborgene, keine noch ſo geheiligte Staͤtte konnte vor der alles durchforſchenden Habſucht ſichern. Drey und funfzig Frauensperſonen fand man in einer Kirche enthauptet. Kroaten ver -gnuͤg -639gnuͤgten ſich, Kinder in die Flammen zu werfen Pappenheims Wallonen, Saͤuglinge an den Bruͤſten ihrer Muͤtter zu ſpießen. Einige ligiſti - ſche Officiere von dieſem grauſenvollen Anblick em - poͤrt, unterſtanden ſich, den Grafen Tilly zu erinnern, daß er dem Blutbad moͤchte Einhalt thun laſſen. Kommt in einer Stunde wieder, war ſeine Antwort, ich werde dann ſehen, was ich thun werde; der Soldat muß fuͤr ſeine Gefahr und Arbeit etwas haben. Jn ununterbrochener Wuth dauerten dieſe Greuel fort, bis endlich Rauch und Flammen der Raubſucht Grenzen ſetz - ten. Um die Verwirrung zu vermehren und den Widerſtand der Buͤrger zu brechen, hatte man gleich anfangs an verſchiednen Orten Feuer ange - legt. Jetzt erhob ſich ein Sturmwind, der die Flammen mit reißender Schnelligkeit durch die ganze Stadt verbreitete und den Brand allgemein machte. Fuͤrchterlich war das Gedraͤnge durch Qualm und Leichen, durch gezuckte Schwerdter, durch ſtuͤrzende Truͤmmer, durch das ſtroͤmende Blut. Die Atmoſphaͤre kochte, und die uner - traͤgliche Glut zwang endlich ſelbſt dieſe Wuͤrger, ſich in das Lager zu fluͤchten. Jn weniger als zwoͤlf Stunden lag dieſe volkreiche, feſte, große Stadt, eine der ſchoͤnſten Deutſchlands, in der Aſche, zwey Kirchen und einige Huͤtten ausge - nommen.

Stehe640

Stehe ſtill, o Menſch! vor ſolchen Gemaͤhl - den entzuͤgelter Affekten und Leidenſchaften, und lerne aus ihnen, daß dein Herz nur unter der ſanften Herrſchaft der Vernunft, der Ruhe und Zufriedenheit genießen kann, durch welche du dir und deinen Bruͤdern die Erde zum Himmel machſt.

Druckfehler.

  • Seite 1. Zeile 3. v. u. ſtatt andrer lies dritter.
  • S. 6. Z. 1. ſt. welche l. welcher.
  • S. 20. Z. 6. v. u. ſt. welche l. welches, ſt. die l. das.
  • S. 131. Z. 2. v. u. ſt. dieſe keiner l. dieſer keine.
  • S. 209. Z. 15. ſt. dies l. das.
  • S. 213. Z. 6. v. u. ſt. Koͤpfe l. Koͤpfen.
  • S. 276. Z. 5. v. u. ſt. die l. deine.
  • S. 328. Z. 11. v. u. ſt. noch l. mehr.
  • S. 342. Z. 14. ſt. uͤberdem l. uͤberdies.
  • S. 344. Z. 3. ſt. einen l. einem.
  • S. 352. Z. 7. der Anm. ſt. diejenigen, meine Bruͤder l. diejenigen meiner Bruͤder.
  • S. 375. Z. 8. ſt. dies l. das.
  • S. 435. Z. 3. v. u. ſt. alten l. altem.
  • S. 449. Z. 4. v. u. ſt. ich l. ich.
  • S. 568. l. in der Parentheſe vor zwar man und ſt. fuͤr, durch.
  • S. 589. Z. 13. ſt. ihm l. ihnen. Z. 14. ſt. fuͤhlende l. fuͤhlenden.

About this transcription

TextPsyche oder Unterhaltungen über die Seele
Author Johann Christian Gottlieb Schaumann
Extent360 images; 64231 tokens; 11740 types; 448187 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationPsyche oder Unterhaltungen über die Seele Zweyter Theil Johann Christian Gottlieb Schaumann. . [4] Bl., S.[295]-640 WaisenhausHalle1791.

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Universitäts- und Landesbibliothek Halle ULB Halle, Fb 1402 (2)

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Psychologie; Gebrauchsliteratur; Psychologie; core; ready; mts

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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