Die Probleme der Ernährungsphysiologie haben seit einem Jahrhundert eine grosse Reihe hervor - ragender Forscher beschäftigt Sie haben an der Lösung dieser Probleme gearbeitet mit Aufbietung aller Hülfsraittel der exacten Wissenschaft, mit rast - losem Fleiss, mit opferfreudiger Hingebung. Und dennoch müssen wir bekennen, dass wir über eine der fundamentalsten Fragen noch nicht hinweg - gekommen sind. Ich meine die Frage: auf welches Reich der Organismen ist der Mensch mit seinem Nahrungsbedürfnisse von der Natur angewiesen, auf das Pflanzenreich oder auf das Thierreich oder auf beide? Sind wir Frugivoren oder Carnivoren oder Omnivoren? In allen Lehrbüchern der Ernährungs - physiologie und Diätetik begegnet man dem Dogma, der Mensch sei ein omnivores Geschöpf. Nach einer Begründung dieses Dogma sucht man vergebens.
Es hat diese Frage in neuerer Zeit auch in weiteren Kreisen ein Interesse gewonnen durch die Bestrebungen der Vegetarianer, eines Vereins, welcher das Ziel verfolgt, zu einer naturgemässen Lebensweise zurückzukehren, und zur Erreichung
1*4dieses Zieles vor Allem darnach trachtet, die Fleiseh - nahrung als etwas der Natur des Menschen Wider - sprechendes, seine Gesundheit Gefährdendes gänzlich aus der menschlichen Gesellschaft zu verbannen.
Die Bestrebungen der Vegetarianer sind viel - fachen Angriffen ausgesetzt gewesen. Man hat es natürlich auch nicht unterlassen, sie mit Hohn und Spott zu überschütten — zu lachen ist ja leichter als zu denken — eine wissenschaftliche Widerlegung ihrer Lehre aber ist bisher ebensowenig versucht worden, wie eine wissenschaftliche Begründung der - selben. Gestatten Sie mir das Wenige, was sich streng wissenschaftlich über diese Frage aussagen lässt, Ihnen vorzuführen.
Die Vegetarianer berufen sich vor Allem auf die Ergebnisse der vergleichenden Anatomie. Ver - gleichende Anatomen ersten Ranges haben sich dahin ausgesprochen, der Mensch zeige in seinem ganzen Baue, insbesondere im Baue der Zähne und der übrigen Verdauungsorgane die grösste Uebereinstimmuug mit den frugivoren Affen.
Vergleicht man den Zahnbau des Menschen mit dem der Affen, so muss man allerdings bekennen: die Unterschiede, die sich dabei heraussteilen, sind nicht derart, dass sie auf eine verschiedene Ernäh - rungsweise schliessen lassen. Was aber den Bau der übrigen Verdauungsorgane betrifft, so ist eine genaue vergleichende Untersuchung derselben bisher nicht ausgeführt worden.
5Custor und Aeby1)Du Bois und Reich ert’s Arch, f. Anat. u. Physiol. 1873. S. 478. bestimmten an zwei Affen - leichen (Cercopithecus und Papio), ebenso am Men - schen und einer Reihe anderer Säugethiere die Grösse der Oberfläche des Yerdauungscanals und das Ver - hältnis dieser Grösse zum Körpergewicht2)Ein gewichtiger Einwand, welcher gegen diese Me - thode erhoben werden muss und von dem Verfasser selbst nicht verschwiegen wird (S. 485), ist der, dass die äussere Oberfläche gemessen wurde, nicht die innere, resorbircn de Fläche, welche bekanntlich durch Zotten und Falten verviel - facht wird.. Sie fanden folgende Zahlen:
Auf 1 Grm. Körpergewicht kommen Quadrat - centimeter Darrafläche:
Bei flüchtiger Betrachtung könnte man aus dieser Tabelle sehliessen, der Mensch sei omni vor oder gar earnivor, der Affe dagegen frugivor. Die Zahlen müssen aber doch anders gedeutet werden. Leider ist die Zahl der untersuchten Speeies zur Ableitung allgemeiner Gesetze viel zu gering. Es scheint mir indessen schon aus den vorliegenden Zahlen hervor - zugehen, dass hier zwei Gesetze sich kreuzen und gegenseitig verdecken.
1) Das Verhältniss der Darmfläche zum Körper - gewicht ist beim Pflanzenfresser grösser als beim Omnivoren und Oarnivoren,
2) Bei verwandten Thieren mit gleicher Ernäh - rungsweise ist das Verhäitniss der Darmoberfläche zum Körpergewicht um so grösser, je kleiner das Thier ist. Dieses erklärt sich rein mathematisch und physikalisch daraus, dass das kleinere Thier, bei welchem bekanntlich das Verhäftniss der Körper - oberfläche zum Inhalte grösser, daher auch die Wärmeabgabe relativ grösser ist, relativ mehr Nah - rung aufnehmen muss. Das kleinere Thier bedarf daher zur Nahrungsaufnahme einer relativ grösseren resorbirenden Fläche.
Wir sehen daher auf der obigen Tabelle, dass bei der Hauskatze das Verhältniss der Darmfläche zura Körpergewicht grösser ist als beim Löwen, beim7 Fuchs grösser als beim Hunde, bei der Gemse (6,2 Kgrm. schwer) grösser als bei der Ziege (15,1 Kgrm,) und beim Schafe (17,7 Kgrm.), beim Kaninchen grösser als beim Hasen, bei der Ratte grösser als beim Eichhörnchen (Ratte und Eich - hörnchen sind beide omni vor).
Es darf uns daher nicht wundern, dass die Ver - hältnisszahl bei den kleinen Affen (Cercopithecus 2,8 Kgrm., Papio 3,7 Kgrm.) grösser ist als beim Menschen. Auf eine verschiedene Ernährungsweise darf daraus vorläufig nicht geschlossen werden. Es ist zu wünschen, dass die Verhältnisszahl bei den grossen Anthropoiden bestimmt würde.
Aber auch wenn die vollkommenste üeberein - stimmung im Bau, sämmtlicher Verdauungsorgane beim Menschen und Affen festgestellt wäre, so müssten wir uns doch vor Allem die Frage vor - legen: wovon leben denn die sogenannten frugivoren Affen?
Aus zahlreichen Reiseberichten geht hervor, dass alle diejenigen Affenarten, deren Lebensweise im freien Zustande genauer beobachtet worden, sich als vollendete Omnivoren herausgestellt haben. Sie ver - zehren nicht blos Vegetabilien, sondern auch In - secten, Spinnen, Krustaceen, Würmer, Schnecken, Reptilien, mit besonderer Vorliebe aber Vogeleier und leidenschaftlich gern junge Nest Vögel1)Brelm’s Thierleben. Bd. I. Leipzig 1876. S. 46, 112, 118, 141, 144, 145, 147, 158, 159, 160, 166, 167, 206, 219, 221, 223, 224, 227, 228, 236.. Einige8 Affen stellen auch ausgewachsenen Vögeln nach, ins -, besondere einige südamerikanische Arten erhaschen die Vögel im Sprunge, wie die Katzen, und nähren sich vorherrschend von Fleisch1)Brehm’s Thierloben. Bd. I. Leipzig 1876. S. 219, 221, 223, 224..
Leider sind unsere Kenntnisse über die Lebens - weise gerade der menschenähnlichsten Affen, der Gibbons, des Orang, des Chimpanse und Gorilla sehr dürftig.
Die Gibbons (Hylobates) sollen vorherrschend von Vegetabilien leben. Indessen wird doch auch ange - geben, dass sie Insecten fressen, und Bennet sah einen Siamang (H. syndaetylus) eine lebende Eidechse verzehren2)Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Deutsch von J. V. Garns. Braunschweig 1868. S. 35. R. Hart mann, Die menschenähnlichen Affen. Leip - zig 1883. S. 237. Brehm, L c. S. 97.. In der Gefangenschaft frass ein Huloek (H. Huloek) auch Milch, Eier und Fleisch und stellte im Hause Fliegen und Spinnen nach3)Brehm, L c. S. 100. Huxley, 1. c. S. 261..
Vom Gorilla, Chimpanse und Orang wird ange - geben, dass sie im Naturzustände ausschliesslich von Vegetabilien sich nähren. Es ist bisher noch niemals mit Sicherheit beobachtet worden, dass sie irgend welche animalische Nahrung aufnehmen4)Brehm, 1. c. S. 61. 71, 85.. In der Gefangenschaft gewöhnen sie sich an alle Speisen9 des Menschen und verzehren begierig Milch, Eier und grosse Mengen Fleisch1)Brehui, 1. c. S. 71. 89, 92. Zoolog. Garten. XVIII. S. 60, 169. XIX. S. 194..
Auf das Fleisch fressen i n der Gefangenschaft darf jedoch kein grosses Gewicht gelegt werden, denn in der Gefangenschaft gewöhnen sich die Affen auch an Tabak und Alkohol2)Brehm, 1. c. S, 92, 128, 129, 131, 147, 154, 199.. Auch ist es Thatsache, dass man unzweifelhaft herbivore Thiere in der Gefangen - schaft an Fleisch gewöhnen kann. Indessen ist es doch beachtens werth, dass den Affen in den zoolo - gischen Gärten stets Fleisch und Eier verabfolgt werden, weil man die Erfahrung gemacht haben will, dass sie dabei besser gedeihen, als bei rein vegeta - bilischer Kost3)Zoolog. Garten. XVIIL S. 170. Hart mann, 1. c. S. 243. Brehm, 1. e. S. 229, 230, 238..
Sollte die Angabe sich bestätigen, dass die grossen Anthropoiden im Naturzustände nur von Vegetabiliea sich nähren, so würde daraus doch nichts weiter folgen, als dass der Bau der Zähne bei den Affen einen Schluss auf die Ernährungsweise nicht ge - stattet; wir würden eben sehen, dass trotz der Ueber - einstimmung im Zahnbau die Affen zum Theil fru - givor, zum Theil omni vor sind.
Etwas AehnJiches beobachten wir in der Ordnung der Nagethiere. Es giebt Nager, die bei grosser Uebereinstimmung im Zahnbau doch eine verschie -10 dene Ernährungsweise haben. So sind z. B. das Murmel - thier (Aretomys marmota) und der Zisel (Spermophilus Citillus) sehr nah verwandte Nager; sie zeigen in ihrem anatomischen Bauej insbesondere im Baue der Zähne, die grösste Uebereinstimmung. Und doch ist das Murmelthier ein rein herbivores1)Brehm’s TJbierleben. Bd, II. 1877. S. 208 u. 304. der Zisel ein om - nivores Thier. Der Zisel frisst Mäuse, Vogeleier, junge und alte Vögel2)Brehm, 1. c. S. 292, 293, 294.. Nehmen wir an, uns wäre vom Zisel nur der anatomische Bau, vom Murmel - thier aber sowohl der Bau als auch die Ernährungs - weise bekannt, so müssten wir nach der Logik der Vegetarianer schlossen, der Zisel sei ein herbivores Geschöpf. Dieser Schluss wäre ein Fehlschluss, ein Analogieschluss aus ungenügendem Material.
Wie aus der vergleichenden Anatomie, so lassen sich auch aus der vergleichenden Physiologie Thatsachen anführen, welche mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit einen Analogieschluss für oder wider die Lehre der Vegetarianer zulassen. Ge - statten Sie mir, aus dem Gebiete, mit dem ich mich vorzugsweise beschäftigt habe, aus der physiologi - schen Chemie eine Thatsache Ihnen vorzuführen, welche zur Begründung des Vegetarianismus weit besser sich verwerthen Hesse als die Thatsachen der vergleichenden Anatomie.
Ich meine! die Zusammensetzung der mensch - lichen Milch. Die Milch der fleisch - und Pflanzen -11 fressenden Thiere zeigt eine quantitativ verschiedene Zusammensetzung. Der Säugling erhält schon in der Milch die drei Hauptgruppen der organischen Nahrungsstoffe — Eiweiss, Fette und Kohlehydrate — nahezu in demselben Verhältnis wie in der späteren Nahrung. Der charakteristische Unterschied der vegetabilischen und animalischen Nahrung be - steht bekanntlich darin, dass die Pflanzennahrung reicher ist an Kohlehydraten, ärmer an Fett und Eiweiss, die Fleischnahrung dagegen reich an Eiweiss und Fett, arm an Kohlehydraten. Dementsprechend ist auch die Milch des Pflanzenfressers reich an Zucker, arm an Eiweiss und Fett, die Milch des Fleischfressers reich an Eiweiss und Fett, arm an Zucker. Die Milch des Omnivoren Schweines steht der quantitativen Zusammensetzung nach in der Mitte zwischen der Milch der Fleisch - und Pflanzen - fresser. Wie ist nun die Menschenmilch zusammen - gesetzt? Aus den zuverlässigsten Analysen ergiebt sich, dass die Menschenmilch noch ärmer an Eiweiss und Fett und relativ reicher ist an Zucker als die Milch der pflanzenfressenden Thiere, dass also der Charakter der Pflanzenfresserrailch in der Menschen - milch am stärksten ausgeprägt ist. Wie in der quantitativen Zusammensetzung der organischen, so zeigen auch in der quantitativen Zusammensetzung der anorganischen ßestandtheile die animalische und vegetabilische Nahrung einen characteristischen Unter - schied: die animalische Nahrung enthält Kali und Natron in aequivalenten Mengen, ebenso die Milch12 des Fleischfressers, die vegetabilische Nahrung da - gegen und die Milch des Pflanzenfressers sind weit reicher an Kali und ärmer an Natron. In der Men - schenmilch aber ist das Verhältnis des Kali zum Natron meist noch höher als in der Milch der pflanzenfressenden Thiere. Also auch in dieser Hin - sicht tritt der Character der Pflanzenfressermilch am deutlichsten in der Menschenmilch hervor1)Biese Thatsache ist von den Vegetarianern bisher gar nicht beachtet worden, obgleich ich bereits vor 11 Jahren darauf aufmerksam gemacht habe. Zeitschrift für Biologie. 1874. Bd. X. S. 317. Dieses isi eine sehr beachtenswerthe Thatsache: obgleich das Menschengeschlecht in unserem Welttheile seit Jahrtausenden von gemischter Kost gelebt hat und vorher nachweislich im Nomadenzuatande von rein animalischer Kost, so hat dennoch die Milch den Charakter der Pflanzenfressermilch bewahrt.
Diese Thatsache könnte als gewichtiges Ar - gument erscheinen zu Gunsten der Vegetarianer. Es wäre zwar nur ein Analogieschluss, aber zwischen einem Analogieschluss und einem inductiven Beweise besteht keine scharfe Grenze. Der Analogieschluss gewinnt an Beweiskraft in dem Masse, als das Ma - terial, aus dem er sich ziehen lässt, wächst. Das Material aber ist in diesem Falle ein sehr geringes. Wir besitzen nur wenige zuverlässige Milchanalysen und nur von sehr wenigen Thierarten, insbesondere nur von einem einzigen Omnivoren Thiere, dem
13Schwein. Vor Allem aber muss hervorgehoben werden, dass bisher noch keine Analyse der Milch der Omnivoren und frugivoren Affen ausgeführt worden ist.
Es wäre von hohem wissenschaftlichem Interesse, erstens festzustellen, ob es über - haupt rein frugivore Affen giebt1)Der einfachste und sicherste Weg zur Entscheidung dieser Frage würde der sein, den Mageninhalt erlegter Affen zu untersuchen. Du Chaillu giebt an,. den Mageninhalt er - legter Gorillas untersucht und stets nur Pflanzentheile ge - funden zu haben. Andere Autoren jedoch, insbesondere lleade, bezweifeln alle Aussagen Du Chaillu’s. Jedenfalls* müsste die Untersuchung des Mageninhalts an sehr zahlreichen Individuen und womöglich zu verschiedenen Jahreszeiten aus - geführt werden, da auch ein omnivores Thier gelegentlich nur Vegetabilien im Magen haben kann., und zweitens, wenn dieses der Fall sein sollte, den anatomischen Bau und die physiologi - schen Functionen derselben zu vergleichen mit dem Baue und den Functionen der Omni - voren Affen einerseits und des Menschen andererseits. Zu einer solchen Untersuchung aber ist bisher auch nicht einmal der erste Schritt gcthan worden.
Wenn also in der vergleichenden Anatomie und Physiologie eine Antwort auf unsere Frage nicht gefunden wird, so bleibt nichts übrig als den Instinct zu fragen.
In der That berufen sich die Vegetarianer auf den Instinct. Und es scheint, dass sie Recht haben:14 wem von uns wird denn der Appetit erregt beim Anblick eines weidenden Stieres, eines fliegenden Vogels, eines schwimmenden Fisches? Die Früchte am Baume locken jeden. Aber — wem fliesst denn das Wasser im Munde zusammen beim Anblick eines wogenden Kornfeldes oder gar einer frisch aus der Erde gescharrten Kartoffel?! Unmittelbar durch den Sinneseindruck reizen sie uns nicht; es bedarf dazu schon einer Gedankenverknüpfung. Ein Hühnerei dagegen ist für einen hungrigen Menschen wohl ein lockender Anblick und die Abweichung vom In. stincte, welche wir begehen, wenn wir statt der Vogeleier ein Stück Rinderbraten verspeisen, ist nicht grösser als wenn wir statt der Bananen und Kokosnüsse gebackenes Brod und gekochte Kartoffeln essen.
Hätten die Vegetarianer Recht, so müssten wir eine instinctive Abneigung gegen die animalische Nahrung am ersten bei den Naturvölkern erwarten und zwar bei denen, welche an wohlschmeckenden Früchten niemals Mangel leiden. Dieses aber ist nicht der Fall. Selbst die paradiesischen Völker der Südsee, denen die schönsten Früchte in den Mund hängen, während ihre Inseln arm sind an wohlschmeckender animalischer Nahrung, haben ein so mächtiges Verlangen nach Fleisch, dass sie Katzen, Hunde, Vampyre, Spinnen, Holzlarven, rohe Fische, ja sogar Ratten bei lebendigem Leibe verzehren1)Zimmermann, Australien in Hinsicht der Erd -, Men - schen - und Productenkunde nebst einer allgemeinen Darstel -.
15Es giebt auf dem ganzen Erdbälle kein einziges Volk und keine einzige Volksklasse, welche das Fleisch verschmähten. Wo die Fleischnahrung zu - zücktritt, geschieht es immer nur aus Noth, niemals aus Abneigung.
In der Vegetarianerliteratur begegnet man viel - fach der Angabe, die Inder lebten von rein vegeta - bilischer Nahrung. Richtig ist, dass die Religion der Inder im Zusammenhänge mit der Lehre von der Seelenwanderung das Tödten der Thiere verbie - tet. Aber die Brahmanen vermochten niemals mit diesem Verbote durchzudringen1)Duncker, Geschichte, des Alterthums. Bd. III. Leip - zig 1875. S. 129. und Buddha hat nach der Tradition der Inder gegen den Vorschlag, den Fleischgenuss zu verbieten, ausdrücklich prote - stirt2)Kern, Der Buddhismus. Deutsch von H. Jacobi. Bd. I. Thl. I. S. 237. Leipzig 1882.. Buddha selbst — so erzählt ganz naiv die Legende — verspeiste einen Schweinebraten als letzte Mahlzeit, bevor er einging in’s Nirvaua3)Kern, 1. c. S. 280. Vergl. auch C. Fr. Koeppen, Die Religion des Buddha. Bd. I. Berlin 1857. S. 359.. Das Verlangen nach Fleisch ist bei den Indern zu allen Zeiten mächtiger gewesen als die Religion4)4) P. v. Bohlen, Das alte Indien. Thl. I. Königsberg 1830. S. 161: r Gegenwärtig sogar finden sich in Bombay.
Die Appellation an den Instinct ergiebt also keineswegs eine Entscheidung zu Gun - sten der Vegetarianer.
Vor Allem aber muss hervorgehoben werden, dass die ganze Fragestellung der Vegetarianer von vorn herein eine unklare ist. Die Frage lautet: welche Nahrung ist die naturgemässe? Was heisst denn naturgemäss und naturwidrig? Wenn es überhaupt einen Gegensatz geben kann zur Natur, so kann es doch nichts Anderes sein als der bewusste Wille des Menschen. Die Frage „ welche Nahrung ist die naturgemässe? “müsste also lauten: was war unsere Nahrung, so lange wir noch vom unbewussten Instinct uns leiten liessen, bevor wir anfingen mit bewusster Ueberlegung eine Auswahl zu treffen? Das heisst aber mit anderen Worten: was war unsere Nahrung, bevor wir Mensch wurden? Es gehört eben zur Natur des Menschen, unnatürlich zu leben. Ist es denn nicht unnatürlich, dass das Menschengeschlecht, dessen Wiege vielleicht in der Tropenwelt gestanden, heraufgezogen ist in den hohen Norden, dass wir Häuser bauen und ganze Wälder4)und an anderen Orten öffentliche Fleischbänke für die Hindus, in denen, ausser Rind, alle Arten von Fleisch, besonders aber Lamm - und Schweinefleisch, feilgehalten werden, auch die frömmsten Brahmanen (!) bedienen sich derselben, und es wird, wie Heber bezeugt, Fleisch in Indien, wie in Europa gegessen. “ Heber sagt: „ nothing indeed seems more gene - rally mistaken, than the supposed prohibition of animal food lo the Hindoos. “17verbrennen, um darin leben zu können, dass wir dreifache, vierfache Kleider am Leibe tragen — und zieht denn nicht eine Unnatürlichkeit die andere nach sich!
Und dennoch — — es liegt etwas sehr Berech - tigtes in der Furcht vor dem Widernatürlichen. Wir leben in einem Uebergangsstadium: der Instinct ver - lässt uns von Tag zu Tag immer mehr und wird nie wiederkehren, die bewusste Erkenntniss aber vermag ihn noch nicht zu ersetzen. Ueberall, wo wir es unternehmen, vermöge unserer bewussten Vernunft für unser Wohl zu sorgen, stören wir die Harmonie der unbewussten Triebe, wir gefährden unsere Ge - sundheit, unser Lebensglück. Aus dieser Quelle stammt ein grosser Theil des Elends, unter weichem die Menschheit seufzt auf unserem Planeten. Es ist die hohe Aufgabe der Wissenschaft, unsere bewusste Erkenntniss zu der Höhe zu erhe - ben, dass sie den unfehlbaren Instinct zu er - setzen vermag.
Wenn wir also streng wissenschaftlich unsere Frage formulireu, so werden wir nicht mehr fragen: was ist naturgemäss? Wir werden diese Frage in eine Reihe von Fragen zerlegen. Wir werden vor Allem einfach fragen: Ist Fleischgenuss dem Menschen schädlich? Das ist eine klare Frage; die lässt sich vielleicht experimentell beantworten. Bisher aber ist das Experiment noch nicht gemacht worden. Sie werden nun vielleicht denken — die tausend und aber1 tausend Vegetarianer! Ich be -Bunge, Der Vegetarianismus. 218haupte, sic alle mit einander haben das Experiment noch nicht gemacht. Das Experiment zu machen ist nicht so leicht. Die erste Forderung, die an ein oxactes Expcrimcntum crucis gestellt werden muss, ist die, dass die fragliche Ursache ceteris paribus (unter sonst gleichen Bedingungen) entfernt werde, um zu beobachten, welche Folgeerscheinungen weg - fallen und dass dann ceteris paribus die fragliche Ursache wieder eingeführt werde, um zu constatiren, welche der fortgcfailenen Erscheinungen darauf wieder zum Vorschein kommen. Es muss also das Fleisch vermieden werden, ohne sonst etwas an der Lebens - weise zu ändern.
Was thut nun aber der Vegetarianer? Er be - geistert sich plötzlich für die Idee, „ naturgemäss “zu leben. Er schafft nun Alles ab, was irgend im Verdachte steht, naturwidrig zu sein: nicht nur die Fleischnahrung, sondern vor Allem auch alle narko - tischen Genussmittel: den Tabak, den Kaffee, den Thee, den Alkohol; alles Diniren und Soupiren hört auf; alle Versuchung zur Unmässigkeit fällt weg; er, der bisher ein Stubenhocker gewesen, wird plötzlich ein fanatischer Spaziergänger; er kann nie genug frische Luft haben; er ändert womöglich noch die Kleidung, wird zugleich Jägerianer — und wenn er nun nach alledem sich wohler fühlt, dann soll das Fleisch an allem früheren Unbehagen Schuld gewesen sein.
Wir müssen den Hut ziehen vor jedem Men - schen, der den Muth hat, gegen herrschende Meinun -19 gen aufzutreten. Die grosse Kunst, die grösste von allen, die Kunst - zu leben kann keine Fortschritte machen, wenn der Versuch gescheut wird, wenn jeder nur gedankenlos nachmacht, was Andere vor ihm gethan. Aber der Versuch muss logisch richtig an - gelegt sein. Sonst bleiben wir soweit als wir waren.
Der Versuch muss also in der Weise angestellt werden, dass nur die animalische Nahrung abge - schafft, sonst aber nichts an der Lebensweise geän - dert wird. Wenn aber zugleich auch sonst etwas geändert wird, dann muss nach Ablauf einer länge - ren Zeit wieder ceteris paribus ein massiges Quan - tum Fleisch zur vegetabilischen Nahrung hinzugefügt werden. Der Zeitraum darf nicht zu kurz sein. Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Mensch mehrere Wochen ganz ohne Nahrung exsistiren kann. Wir können gar nicht erwarten, dass die Folgen einer ungenügenden Nahrung bald hervortreten. Ein Jahr wäre der kürzeste Termin. Schon durch den Wechsel der Jahreszeiten ist dieses geboten: es wäre z. B. grundverkehrt, das Befinden bei gemischter Kost im Winter mit dem bei Pflanzenkost im Sommer zu vergleichen. — Ich würde daher vorschlagen, eine längere Reihe von Jahren hindurch abwechselnd ein Jahr mit gemischter Kost und ein Jahr ceteris pa - ribus mit reiner Pflanzenkost zu leben. Wenige Jahre würden zur Entscheidung der Frage nicht aus - reichen, weil bekanntlich die zufällig mitspielenden Factoren — die wir gar nicht zu überschauen ver - mögen — nur eliminirt werden können durch die2*20grosse Zahl der Versuche. Es ist also eine Combi - nation des Exporimentum crucis mit der statistischen Methode, welche zur Lösung unserer Frage als die geeignetste Methode erscheinen muss. Die Versuche müssten ausserdem an einer sehr grossen Zahl von Individuen angestellt werden. Die individuellen Verschiedenheiten der Menschen sind auch in Bezug auf Ernährungsverhältnisse erstaunlich gross1)Der russische Physiologe Woroschiloff (Botkinrs Arch. Bd. IV, S. 1. 1872. Eine kurze Mittheilung der Re - sultate findet sich in der Berliner klin. Wochenschrift. 1873. S. 90) nährte sich 30 Tage lang ausschliesslich von Erbsen. Kleienbrod (Koggenschrotbrod) und Zucker und verdaute das Eiweiss dieser Nahrung so vollständig, dass nur 12 — 20pC'i. unresorbirt blieben Bei einem Selbstversuche A. StriiDi - pol l‘s (Deutsches Areh. f. klin. Med. 1870. XVII. S. 118) mit weichgekochten Linsen blieben 40p ('t. des Eiweisses un - verdaut. Bei einem Versuche, den Fr. Hof mann („ Die Be - deutung von Fleischnalmtng und Fleisehconserven u Leipzig 1880. S. 11) in München am Laboratoriumsdiener anstellte, blieben von dem Eiweiss der aus Linsen, Kartoffeln und Brod bestellenden Nahrung 53,3 pCt. unverdaut. Vom Kleienbrod blieben bei einem Versuche G. Mcver’s (Zeitschr. f. Biolog. 1871. Bd. VH. S. 1) 42,3 pCt. des Eiweisses unverdaut. Worosch ilol'f konnte bei der angegebenen Ernährungsweise trotz angestrengter Muskelarbeit — täglich 1 bis 3 Stunden Arbeit und in jeder Stunde 8528 Kilcgranunometer — seinen Körper im StickstolTgleichgewicht erhalten. Die an - deren Versuchspersonen würden wahrscheinlich bei aus - schliesslicher Ernährung mit Cerealien und Leguminosen ihr Körpergewicht nicht behaupten können. Die Möglichkeit aber. Fer - ner ist zu beachten, dass der Werth einer Nahrung nur an solchen Personen sich erproben lässt, die21 körperlich und geistig anhaltend und angestrengt thätig sind.
Sollte bei diesen Versuchen durch objective Beobachtung constatirt werden, dass die Versuchs - personen in den Jahren mit rein vegetabilischer Kost im Durchschnitt besser gedeihen und leistungsfähiger sind als in den Jahren mit gemischter Kost, so hätten die Vegetarianer Recht. Sollte aber das Gcgentheil sich heraussteilen, dann bliebe die Frage noch offen. Dann bliebe immer noch der Einwand offen, dass ein Jahr eine zu kurze Zeit sei, dass die Anpassung an die rein vegetabilische Nahrung nur sehr langsam vor sich gehen könne. Dann müsste die Versuchs - periode verlängert werden. Ja, man könnte schliess - lich einwenden, auch ein Menschenleben sei nicht hinreichend, erst durch Generationen könne die An - passung an die neue und doch ursprüngliche Er - nährungsweise vor sich gehen. — Dann müssten wir auf eine experimentelle Lösung der Frage verzichten; es bliebe nur noch die statistische Methode.
Dass es Menschen giebt, die bei ausschliesslich vegetabilischer Nahrung jahrelang exsistiren können, haben allerdings einige Vegetarianer bewiesen. Sie haben aber nicht bewiesen, dass sie dabei in irgend einer Hinsicht besser gedeihen, als ceteris paribus bei gemischter Kost. Es muss ausserdem hervorge -1)muss unbedingt zugegeben werden, dass durch allmähliche Anpassung und Gewöhnung die Fähigkeit, Vegetabiiien zu verdauen, gestärkt werden kann.22 hoben werden, dass es nur einzelne Wenige1)Beim Durchselien der zwei letzten Jahrgänge der „ Vegetarischen Rundschau “linde ich nur von 4 Personen die Angabe, dass sie längere Zeit ausschliesslich von Vegetabilien gelebt haben: August Kruhl 1 Jahr lang, Postexpeditor Schulz s 4 Jahr, Major v. Flotow (wie lange?) und Miss Böcker drei Monate (Vegetarische Rundschau, 1883, 8. 143 und 1884, S. 89, 99 und 377). ln der Mittheilung A. KruhPs vermisse ich übrigens die ausdrückliche. Angabe, dass in den Suppen keine Milch gewesen. Ausserdem findet sich in der Vegeta - rischen Rundschau, 188* ', S. 53, noch das Referat einer Mit - theilung aus dem New-Yorker „ Herald of Health “von Mr. Rumford, welcher mit seinem 19jährigen Sohne in Calefor - nien 1 Vs Jahre von ungekochter Pflanzennahrung gelebt hat. Sonst ist mir nur noch das Beispiel Sc hlickeysen’s bekannt geworden, welcher im Jahre 1880 angab, mehr als 10 Jahre ausschliesslich von Vegetabilien gelebt zu haben (Schlick - oy sen, „ Obst und Brod. “ Berlin 1880. S. 154). Es wäre im Interesse der Wissenschaft zu wünschen, dass die Vege - tarianer dieser strengen Richtung ihre Erfahrungen ausführ - lich mittheilten. sind, denen dies gelungen. Die grosse Mehrzahl der Vege - tarianer fügt bekanntlich zur Pflanzennahrung Milch, Butter, Käse und Eier hinzu2)Selbst die Trappisten, auf welche die Vegetarianer sich vielfach berufen, die strengsten unter allerr christlichen As - keten, welche Fleisch und Fisch vollständig meiden, fügen zur vegetabilischen Nahrung Milch hinzu. Butter ist aller - dings streng verboten, Eier sind nur Kranken gestattet. (Zockler. Kritische Geschichte der Askese. Frankfurt a. M. und Erlangen 1863. S. 180.) Es ist hierbei ausserdem zu bedenken, dass die Mönche auch in « anderer Hinsicht ein ab - normes Beben führen. Der Mensch wächst nicht nur in der Jugend; er wächst anfangs als Individuum, dann „ über die. Dass der Mensch23 exsistiren kann, wenn er das Fleisch der Nahrung durch Milch und Eier ersetzt, ist auch a priori gar nicht zu bezweifeln; es bedarf zuro Nachweis dessen keiner Versuche. Wenn aber gelehrt wird, dass der Mensch bei dieser Ernährungsweise in irgend einer Hinsicht besser gedeiht, als bei massigem Fieisch - genusse, so muss ich demgegenüber betonen, dass bisher für eine solche Lehre auch nicht der Schatten eines Vernunftgrundes vorgebracht worden ist1)Daraus, dass mit der Fleischnahrung Parasiten in un - seren Körper gelangen, folgt doch nicht — wie die Vege - tarianer schliessen — dass wir das Fleisch vermeiden sollen. Nach dieser Logik müssten wir auch schliessen, dass das Fleisch den Katzen und Hunden schädlich sei. Dass die ans dem Fleische stammenden Parasiten in unserem Darme die Bedingungen ihrer Exsistcnz finden, spricht doch eher für als gegen die Annahme, dass die Fleischnahrung lur uns „ natur - gemäss “sei. Ausserdem aber ist ja bekannt, dass auch mit der Pflanzennahrung Parasiten in unseren Körper gelangen, und dass der Darm pflanzenfressender Thiere von Parasiten. 2)Grenzen des Individuums hinaus “. Wird das normale Wachs - thum gewaltsäm gehemmt, so muss auch die Nahrungszufuhr eingeschränkt werden. Eine Abnormität wird durch die an - dere compensirt. — Aus diesem Grunde sollten alle Versuche über den Werth der rein vegetabilischen Nahrung nur an Per - sonen angestellt werden, deren normales gesundes Wachsthum in keiner Weise gehindert ist. Hypochondrische Junggesellen, welche gewöhnlich die meiste Neigung zu solchen Versuchen zeigen, sind die allerungeeignetsten Versuchsobjecte. (Vergl. „ William Stark’s klinische und anatomische Bemerkungen nebst diätetischen Versuchen. 44 Herausg. von J. C. Smyth. Deutsch von Ch. Fr. Michaelis. Breslau und Hirschberg 1789. S. 139.)24Ebenso wenig aber ist diese Lehre widerlegt worden. Ein skeptischer Beurtheiler muss die Möglichkeit zugeben, dass Milch und Eier dem Menschen zuträg - licher seien als Fleisch1)Milch und Eier enthalten keine Albuminoide (icim - gebende Substanzen). Der reiche Gehalt an Albuminoiden, welche Producte der regressiven Stoffmetamorphose sind, unterscheidet die Nahrung des Fleischfressers von der des Pflanzenfressers und des Säuglings..
Fassen wir alles Gesagte zusammen, so müssen wir bekennen: a priori lässt sich die Frage nicht entscheiden; soweit ist die Wissen - schaft noch nicht. Die Frage a posteriori1)wimmelt. Ebensowenig darf ans der Schädlich keil des faulen Fleisches auf die Schädlichkeit der Fleischirahrung überhaupt geschlossen werden. In der Zersetzung begriffene Pflanzen - nnhrung ist gleichfalls schädlich und erzeugt that-sächlich Krankheiten. Die in der Vegetarianerliteratur immer wieder - kohrende Behauptung, das Kreatin des Fleisches sei ein Gift, ist völlig aus der Luft gegriffen. Unser Körper enthalt auch bei rein vegetabilischer Nahrung in jedem Augenblicke circa 100 Gnu. Kreatin. Diese Menge wird durch eine reichliche Fleischmahlzeit nur um einige Decigramine vermehrt. Dass dieser Zuwachs irgend welche nachtheilige Folgen habe. ist. eine völlig grundlose Annahme. Direete Versuche sprechen ausserdem dagegen. (Vergl. meine Abhandlung: „ Ueber die physiologische Wirkung der Fleischbrühe und der Kalisalze. “ Pflüger’s Archiv, 1871. Bd. IV., S. 235.) — Auf die Lehren der Vegetarianer von der Entstehung der Krankheiten durch Fleischgenuss und von der Heilung der Krankheiten durch Fleischentziehung werde ich nicht eingehen. Auf diesem dunklen Gebiete ist natürlich dem wüstesten Dogmatismen Thür und Thor geöffnet.25 zu entscheiden, ist bisher auch nicht einmal der Versuch gemacht worden. Um so mehr lässt sich darüber schreiben. Das ist der Grund, weshalb die Literatur über diesen Gegenstand zu einem solchen Umfange angeschwollen ist. Es wird doch keinem Laien einfallen, über eine physikalische oder chemische oder gar astronomische Frage mit - reden zu wollen, üeber eine Frage aus der Er - nährungsphysiologie glaubt auch der Unwissendste ein dickes Buch schreiben zu müssen. Und wieviel tausend Mal leichter ist es in der Astronomie zu einem sicheren Urtheil zu gelangen als in der Er - nähr ungsphysiologie!
Sie könnten nun, hochgeehrte Versammlung, durch meine bisherige skeptisch negirende Kritik sich nicht befriedigt fühlen. Sie konnten vielleicht wünschen, nun auch ein positives Urtheil zu hören. Wenn ich also — ganz abgesehen von einer streng wissenschaftlichen Kritik — sagen soll, was mir persönlich als das Wahrscheinlichste erscheint, wie ich persönlich die Bestrebungen der Vegetarianer beurtheile, so ist es Folgendes.
Es scheint mir, die Vegetarianer verdanken ihre Erfolge, die ihnen niemand bestreiten kann, hauptsächlich der vollständigen Vermeidung aller alkoholischen Getränke. Ihre Bestrebungen in26 dieser Richtung verdienen die vollste Anerkennung. Es sei mir gestattet diese meine Ansicht eingehend zu begründen.
Dass durch den Alkohol das grösste Elend in der menschlichen Gesellschaft hervorgebracht wird, muss jeder zugeben und, wer es noch bestreiten sollte, dem kann es durch Zahlen unwiderleglich bewiesen werden1)Siehe Baer: „ Der Alkoholismus “. Berlin 1878..
Es waren beispielsweise in Berlin „ unter den im Jahre 1871 erledigten Strafsachen siebzig Procent demBrantwein (um es kurz zu sagen) zuzuschreiben “2)Vortrag* des Strafanstalts-Director Krohne: „ Ueber Branntwein und Verbrechen4 'im Zweigverein „ Berlin44 des „ Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Ge - tränke “, 1884, mitgetheilt in den Zeitungen., ln England sind die Richter, Polizei - und Gefängniss - beamten überzeugt, dass 75 bis 80 pCi aller Ver - brechen „ durch Trunksucht geschehen “3)3) Baer, 1. c. S. 848. '. In Paris wurde im Jahre 1868 festgestellt, dass 80 pCt. der verarmten Arbeiterfamilien durch die Trunksucht des Familienhauptes zu Grunde gerichtet waren4)4) Decaisne, Note presentee ä l’Acadeinie des Sciences 5. juin 1871, dtirt bei Hitzig, „ Ziele und Zwecke der Psychiatrie “, Zürich 1876.. Die Aerzte an den Irrenanstalten Englands, Frankreichs, Deutschlands, Oesterreichs, Russlands, Schwedens und Nord-Amerika, ’s sind zu der Ueberzeugung gelangt, dass 20 bis 40 pCt. der männlichen Wahnsinnigen27 ihr furchtbares Schicksal dom Alkohol zu danken haben1)Baer, U c. Abschnitt III. U. „ Trunksucht und Gei sfcesstörung. “ S. 36t ». Ganghüfner, „ Ueber den Einfluss des Alkoholismus auf den Menschon “. 1879. $, 7. ln der Leidesdorff’sehen Klinik waren unter Nil männlichen Geisteskranken, an denen die Amte die Krankheitsursache glaubten ctmstaliren zu können, 80. welche durch Alkohol - missbrauch geisteskrank geworden waren, also 37|iOt., unter den 70 weiblichen Bat. nur 3, also 4 pCt.. Es steht zweifellos lest, dass ein ganzes Heer von anderen Krankheiten durch den Alkohol entsteht und dass viele dieser Krankheiten, ins - besondere die vielfachen durch Alkohol acquirirtcn Nervenleiden — von der leichtesten Nervosität bis zum ausgesprochenen Wahnsinn — in hohem Grade erblich sind. Wurde doch beispielsweise constatiri, dass „ unter 300 Blödsinnigen, deren Eltern nach Lebensweise, Gesundheitszustand u. s. w. genau er - forscht wurden, sich 145 befanden, deren Eltern Gewohnheitstrinker waren “2)2) Ganghofner, 1. c. S. 7.. Es sei schliesslich noch hervorgehoben, dass auch ein bedeutender Procentsatz aller Selbstmorde dem Alkohol zu - geschrieben wird — in Russland 38 pCt. 3)Ganghofner, 1. c. S. 10.
Wohl weiss ich, dass man diese Zahlen be - zweifeln kann. Sie lassen sich ja nicht genau fest - stellen. Der Verwechselung von Ursache und Wirkung ist ein weiter Spielraum gelassen. Die Zahlen könnten zu hoch sein. — Sie könnten aber auch zu niedrig28 sein. — Am Wesen der Sache ändert das nichts. Es muss jeder zugeben: der Alkohol ist die Quelle des grössten Elends. — Es giebi auch jeder zu. — Aber es heisst immer: „ Ja — der Missbrauch des Alkohols! “
Festgewurzelt ist im Volke noch immer das Vorurtheil, dass der Alkohol in sogenannten massigen Dosen dem Menschen irgend etwas nützen könne, dass er „ stärkend, nährend, erregend, belebend, er - frischend “— und wie die unklaren Ausdrücke alle lauten mögen — auf den Menschen wirke.
Zur Widerlegung dieser Vorurtheile wird nichts mehr beitragen als die von der Militärverwaltung Englands, Nord - Amerikas und Deutschlands im Grossen angestellten Massenexperimente, welche bereits gezeigt haben, dass die Soldaten in Kriegs - und Friedenszeiten, in allen Klimaten, bei Hitze, Kälte und Hegen alle Strapazen der angestrengtesten Märsche am besten ertra - gen, wenn man ihnen vollständig alle alkoho - lischen Getränke entzieht1)1) Baer, Le. Abschnitt III. C. „ Alkohol in der Armee44. S. 108. Ueber die neuesten Experimente der deutschen Heer - verwaltung in dieser Richtung und die günstigen Resultate der vollständigen Entziehung aller alkoholischen Getränke findet sich eine Mittheilung in der „ Neuen preussischen Zei - tung4, 1884, No. 298, den 17. Beeember.. Dieselbe Erfahrung hat man auch bei den Nordpolexpeditionen gemacht; die Matrosen bekommen keinen Tropfen mehr2)2) Baer, 1. c. S. 106. Finkelnburg, „ Ueber die Auf -.
29Dass auch geistige Anstrengungen am besten ertragen werden, wenn man vollständig allen Alkohol meidet, giebt jeder zu, der den Versuch gemacht hat.
Die Wissenschaft weiss über die Wirkungen des Alkohols nichts weiter auszusagen, als dass er lähmend wirkt auf das Gehirn und Rückenmark, dass er die Temperatur des Körpers herabsetzt und dass er die Verdauung stört. Alle Bemühungen, eine erregende Wirkung des Alkohols auf irgend welche Organe nachzuweisen, sind gescheitert
Dass bei der Behandlung acuter Krankheiten der Alkohol mit Erfolg Venverthung finden könne, will ich nicht bestreiten; das ist eine Frage ganz für sich. Wenn der Arzt gegen chronische Leiden den fortgesetzten Gebrauch alkoholischer Getränke verordnet, so ist das schon bedenklich. Wenn aber vollends der Arzt einem gesunden Menschen anräth, tagtäglich zur „ Stärkung “, zur „ Erfrischung “alkoho - lische Getränke zu gemessen, so ladet er eine schwere Schuld auf sich. Ein Mensch wird nicht dadurch zum Trinker, dass er den Vorsatz fasst, sich ganz und gar dem Gotte Bacchus in die sanften Arme zu werfen, sondern gerade dadurch, dass er sich vor - nimmt ein massiges Gläschen zur Stärkung zu trinken.
„ Das erste Glas der Massigkeit “— so lautet der Wahlspruch des englischengrossen Vereins gegen den2)gaben des Staates zur Bekämpfung der Trunksucht “. (Ver - handlungen und Mittheilungen des Vereins für öffentliche Ge - sundheitspflege in Magdeburg. Heft 10. Verhandlungen im Jahre 1881. S. 3.)30 Alkohol — „ ist der Anfang der Trunksucht1)„ The first glass of moderation is the beginning of drunkenness. ““. Es gehört tausendmal weniger Energie dazu, das erste Glas zu vermeiden, als nach dem ersten Glase abzu - brechen. Es ist noch niemals ein Trinker geheilt worden durch den Vorsatz der Massigkeit. In allen Fällen, wo dieses gelingt, gelingt es immer nur durch die Ueberzeugung, dass die einzige Rettung die Vermeidung des ersten Glases ist.
Das ist die einfache grosse Wahrheit, welche die englischen Teetotaler klar erkannt haben, das ist der Grund, weshalb sie solche Erfolge aufzuweisen haben, während alle Mässigkeitsvereine herzlich wenig aus - gerichtet haben. Die Zahl der Teetotaler beträgt mehr als eine Million. Der Name Teetotaler soll herkommen von totally, vollständig, mit einer Ver - stärkung: teetotally, ganz und gar. Sie haben den Eid geschworen, keinen Tropfen zu trinken und keinen Tropfen einzuschänken. Sie verfolgen das Ziel, den Alkohol auf die Apotheke zurückzudrängen: sie fordern, der Staat solle den Verkauf aller alkoholischen Getränke verbieten, ihn nur noch gestatten in der Apotheke2)2) Bekanntlich findet der Alkohol auch zur Darstellung vieler Producte der chemischen Technik Anwendung (Lacke, Essig, Aether, Theerfarben etc.). Diese Alkoholmenge ist in - dessen sehr gering im Vergleiche zu der als Genussmittel consumirten, und es ist praktisch sehr wohl durchführbar, für technische Zwecke Alkohol darzustellen und den be - auf ein31 ärztliches Reeept. Zur Erreichung dieses Zieles haben sie zunächst im Parlamente, wo sie zahlreich vertreten sind, den Antrag gestellt, cs solle jeder Stadt - und Landgemeinde das Recht ertheilt werden, in ihrem Districte das Princip der Teetolaler, Be - schränkung des Alkohols auf die Apotheke, durch - zuführen (Permissive Bill). Zur Unterstützung dieses Antrages ist eine Petition mit 1 ½Millionen Unter - schriften dem Parlamente eingereicht und eine von 269 der bewährtesten Aerzte Englands unterschriebene Declaration erlassen worden. Die Million der Tee - totaler vertheilt sich auf alle Berufsklassen und ihr unschätzbares Verdienst besteht darin, im Grossen den unumstösslichen Beweis geführt zu haben, dass der Mensch in jeder Berufsarbeit gesund und rüstig, lebensfroh und lebensmuthig sich erhält, ohne einen Tropfen Alkohol. Insbesondere im Heere und in der Marine, wo sie zahlreich vertreten sind, haben sie den. Beweis geliefert, dass sie in Kriegs - und Friedenszeiten alle Anstrengungen besser ertragen und Krankheiten weniger ausgesetzt sind als die übrigen Soldaten.
Das herrschende Vorurtheil, dass der Alkohol den Menschen stärke, findet seine Erklärung in der erwähnten lähmenden Wirkung, die er auf das Ge - hirn ausübt. Der Alkohol stärkt Niemand; er betäubt nur das Müdigkeitsgefühl. Das Müdig -2)treffenden Fabriken den nöthigen Vorrath zukommen zu lassen, ohne dass derselbe als Genussmittel missbraucht werden kann.32 keitsgefühl aber ist das Sicherheitsventil an unserer Maschine. Wer das Müdigkeitsgefühl mit Alkohol betäubt, um weiterzuarbeiten, gleicht dem, der gewalt - sam das Sicherheitsventil verschliesst, um die Ma - schine überheizen zu können.
Der Irrthum, dass der Alkohol den Müden stärke, wird gerade für die zahlreichste Volksklasse ganz besonders verhängnissvoll: die armen Leute, deren Einkommen zu einem menschenwürdigen Dasein ohne - hin nicht ausreicht, werden durch diesen Irrthum dazu verleitet, einen sehr bedeutenden Theii ihrer Einnahme zu verausgaben für alkoholische Getränke statt für wohlschmeckende Nahrung, welche allein sie stärken kann zu ihrer schweren Arbeit.
Viele Personen sagen, sie trinken den Alkohol garnicht der Wirkung wegen, sic trinken den edlen Reben - und Gerstensaft nur um des Wohlgeschmackes willen. Dass ein Glas edlen Weines wohlschmeckend sei — wer wollte es leugnen! Aber die Freude wird zu theuer erkauft: durch den Genuss alko - holischer Getränke wird das Verlangen gerade nach derjenigen Nahrung abgeschwächt oder gänzlich auf - gehoben, welche einem gesunden Menschen mit un - verdorbenem Geschmacksinn die meiste Freude be - reitet: zuckerreiche Früchte und überhaupt alle
süssen Speisen. Ein Mann, der auf den Alkohol vollständig verzichtet, erlangt den Appetit eines Kindes wieder. Und der gesunde Instinct steht hier im besten Einklänge mit den Resultaten der Phy - siologie, welche festgestellt hat, dass der Zucker die33 Quelle der Muskelkraft ist. In der Sprache aller Völker der Welt bedeutet des Wort süss zugleich angenehm. Wenn uns das Süsse nicht mehr angenehm ist, so deutet das auf einen abnormen Zustand. In diesem Zustande befindet sich der Trinker. Und als Trinker bezeichne ich jeden, der sich nicht behaglich fühlt, wenn er nicht Tag aus Tag ein in irgend einer Form, als Bier, als Wein Alkohol in seine Organe einführt. Der Appetit des Trinkers ist fast ausschliesslich auf Fleischspeisen gerichtet und die Vegetarianerhaben vollkommen Recht, wenn sie lehren, dass Alkoholgenuss und übermässiger Fleisch - gen uss im Causalzusammenhange stehen. Man schaffe nur den Alkohol ab, so wird das unmässige FJeischessen von selbst aufhören. Die Frauen und Kinder, welche keinen Alkohol trinken, haben gar kein so grosses Verlangen nach Fleisch. Die Kaffee - kränzchen der Frauen mit süssem Backwerk und die „ Naschsucht “der Kinder sind Aeusserungen eines gesunden Instinctes, welcher an der Tafel des bier - trinkenden Familienhauptes keine Befriedigung findet.
Am ersten, scheint es mir, wäre der Alkohol zulässig als au s nah ms weises Genussmittel, bei be - sonderen Gelegenheiten, als „ Sorgenbrecher “zur Erhöhung geselliger Freuden. Diese unbestreit - bare Eigenschaft des Alkohols beruht gleichfalls auf der erwähnten lähmenden Wirkung, die er auf das Gehirn ausübt. Diejenige Gehirnfunction nämlich, welche bei der beginnenden Lähmung zunächst ge - schwächt wird, ist das klare Urtheil, die Kritik. Bunge, Der Vegetariauismus. 334In Folge dessen praevalirt das Geraüthsleben, befreit von den Fesseln der Kritik. Deshalb wird der Mensch offenherzig und mittheilsam — der Satz „ in vino veritas “bleibt ewig wahr — er wird sorglos und lebensmuthig — er sieht eben nicht mehr klar die Gefahren. — Vor allem aber äussert sich die läh - mende Wirkung des Alkohols darin, dass er das Schmerzgefühl betäubt und zwar zunächst die bitter - sten Schmerzen, die psychischen Schmerzen — den Kummer, die Sorgen. Daher die heitere Stimmung, die sich der trinkenden Gesellschaft bemächtigt. Nie - mals aber wird ein Mensch durch geistige Getränke geistreich. Dieses Vorurtheil beruht auf einer Selbst - täuschung, es ist gleichfalls nur ein Symptom der erwähnten Lähraungserscheinung: in dem Masse als die Selbstkritik sinkt, steigt die Selbstgefälligkeit. Und vor allem darf die grosse Gefahr nie unter - schätzt werden, welche auch diese am ersten zulässige Art des Alkoholgenusses mit sich bringt — die Gefahr der Unmässigkeit. Die Trunksucht mit ihren Folgen, Krankheit, Wahnsinn, Verbrechen kann auch hier ihren Anfang nehmen und hat thatsächlich in millionen und abermillionen Fällen hier ihren Anfang genommen.
Wir hören es häufig ausprechen, für den Gebil - deten sei die Gefahr nicht so gross, ein gebildeter Mensch werde nicht leicht durch den Alkohol zum Verbrecher. Aber das Verbrechen ist lange nicht das Schlimmste, was der Alkohol erzeugt: die Zahl der Verbrecher ist verschwindend gering im Vergleich35 zur Zahl derer, die durch den Alkohol zu morali - schen Lumpen werden. Wieviel edler Gesinnung und idealen Strebens hat der ununterbrochene Bierstrom fortgesphlt!
Dass es sehr zahlreiche Menschen giebt, welche die Selbstbeherrschung besitzen, niemals unmässig zu sein, ist unbedingt zuzugeben. Dieser Vorzug aber entbindet Niemand von der Pflicht, durch die Macht des Beispiels auf diejenigen zu wirken, welche nur durch völlige Enthaltung zu retten sind. — Auch als Sorgenbrecher ist der Alkohol zu verwerfen.
Der Alkohol hat noch eine Wirkung, um derent - willen er genossen wird; sie ist die schädlichste von allen. Zu den quälenden Gefühlen, welche der Al - kohol betäubt, gehört auch das Gefühl der langen Weile. Die lange Weile aber ist wie das Müdig - keitsgefühl, eine Vorrichtung zur Selbstregulirung in unserem Organismus. Wie uns das Müdigkeitsgefühl zur Ruhe zwingt, so zwingt uns die lange Weile zur Arbeit und Anstrengung, ohne welche unsere Mus - keln und Nerven atrophiren und ein gesunder Zu - stand nicht möglich ist. Wird das Gefühl der lan - gen Weile nicht durch Anstrengungen irgend welcher Art beseitigt, so schwillt es stetig an und gestaltet sich schliesslich zu einer wahrhaft dämonischen Macht. Es ist interessant zu beobachten, zu wie verzweifelten Mitteln hohle und träge Menschen ihre Zuflucht nehmen, um ohne eigene Anstrengung dem Dämon der langen Weile zu entfliehen. Rastlos treibt er sie durch ununterbrochene Geselligkeit von3*36einem Ort zum anderen, von einer Zerstreuung zur anderen. Den meisten Menschen aber würde es mit diesen Mitteln nicht gelingen, dem Dämon zu ent - llichcn, sie würden sich schliesslich doch gezwungen sehen, in irgend einer Weise ihr Hirn und ihre Mus - keln anzustrengen, um das Gefühl der Ruhe und und Befriedigung wiederzugewinnen und die eigene Leere auszufüllen, wenn sie nicht — den Alkohol hätten. Der Alkohol befreit sie sanft und leicht von dem Dämon. Dem Trinker und der trinkenden Gesellschaft kommt die eigene Oede und Leere nie - mals zum Bewusstsein; sie brauchen keine Interessen, keine Ideale — sie haben ja die Wonne, das Beha - gen der Narkose. Nichts ist für die Entwicklung eines Menschen verhängnissvoller, nichts untergräbt und zerstört in dem Grade das Beste, was er hat, nichts ertödtet mit so unfehlbarer Sicherheit jeden Rest an Energie, als die fortgesetzte Betäubung der langen Weile durch den Alkohol.
Fassen wir Alles zusammen, so müssen wir be - kennen: Die Teetotaler haben vollkommen Recht: der Staat sollte den Verkauf alkoholischer Getränke verbieten. Hat der Staat das Recht, Verbrechen zu strafen — sogar mit dem Tode zu strafen —, so hat er auch das Recht, Verbrechen zu verhüten. Wohl weiss ich, dass der ganze libe - rale Doctrinarismus dagegen sich auf lehnt. „ Das wäre ja eine Bevormundung! “1)In neuester Zeit hat das sogenannte,. Gothenburger — Aber in Bezug37 auf das Morphium giebt jeder das Recht der Bevor - mundung zu. ln Bezug auf den Alkohol wird cs bestritten. Und doch ist das Morphium lange nicht so gefährlich als der Alkohol!
Welche zerstörende Macht der Alkohol bildet im Leben der Culturvölkcr, werden Sie am besten er - kennen, wenn ich statt aller Rhetorik noch einige Zahlen anführe:
„ In den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika1)System “zur Bekämpfung des Alkohols die grössten Erfolge aufznweisen. Das Richtige an diesem System ist gerade dio Bevormundung ', der Zwang. Das Falsche liegt darin, dass das Princip der Massigkeit, nicht das der völligen Enthalt - samkeit dem System zu Grunde gelegt ist. Das System legt nur den Armen einen Zwang auf, nicht den Reichen, welche, das Gesetz gemacht haben. Die wahre Opferfreudigkeit ist bei demselben noch weniger zum Durchbruch gelangt als die richtige Erkenntnis «. Nur das Princip der Teetotaler würde, durch das Gesetz unterstützt, das Uebcl bei derWurzol fassen. Indessen ist auch das Gotherburger System als bewährtes Mittel mit Freuden zu begrüssen. Alle praktische Klugheit besteht im Schliessen von Comproinissen. „ Die Principien - reiterei ist die schlechteste Cavalieri « .u — Mangel an prak - tischer Umsicht kann übrigens auch den Teetotalern nicht zum Vorwurf gemacht werden: sie fordern ja nur eine sehr allmalige Durchführung ihres Principes, zunächst in einzelnen Gemeinden, die dann durch ihr Beispiel weiterwirken. Ein plötzliches Verbot der Alkoholproduction und des Alkoholver - kaufes im ganzen Staate wird kein Urtheilsfähiger befür - worten. Die wirtschaftliche Umwälzung wäre eine zu ge - waltige, der allgemeine Ruin auf allen Gebieten der Land - wirtschaft und Industrie die unausbleibliche Folge,38 allein hat, wie Mr. Everett, der Minister der aus - wärtigen Angelegenheiten in Washington berichtet, in den Jahren von 1860 — 1870 der Consum von Spirituosen eine directe Ausgabe von 3 Milliarden und eine indirecte von 600 Millionen Dollar der Nation auferlegt, 300000 Menschenleben vernichtet, 100000 Kinder in die Armenhäuser geschickt und wenigstens 150000 Leute in Gefängnisse und Arbeits - häuser, wenigstens 2000 Selbstmorde, den Verlust von wenigstens 10 Millionen Dollar durch Feuer und Gewalt verursacht und 20000 Wittwen und 1 Million Waisen gemacht “1)Baer, 1. c. S. 10.. Für die meisten Staaten Euro - pa’s würde eine derartige Zusammenstellung noch weit ungünstigere Zahlen ergeben.
Doch genug der Worte. Durch Reden und Vor - träge wird das Elend nicht aus der Welt geschafft — auch durch Parlamentsdebatten nicht. — Ich er - warte nichts von den Bestrebungen der Teetotaler im Parlamente. — Durch die Macht des Wortes und der Gründe wird keine Majorität gewonnen. Die Ma - jorität will das Gute nur, wenn sie etwas zu fürch - ten hat. — Die Noth, der mörderische Kampf ums Dasein wird die Völker zwingen, die Quelle namen - losesten Elends zu schliessen. — Ich habe diese Frage nur zur Sprache gebracht, weil ich der Mei - nung bin, dass die Vegetarianer ihre Erfolge hauptsächlich der vollständigen Vermeidung des Alkohol verdanken, und weil ich es für39 meine Pflicht halte, zu bekennen, das « wir in dieser Hinsicht den Vegetarianern die vollste Anerkennung, den wärmsten Dank und die grösste Hochachtung schuldig sind.
Dass die Vermeidung das Tabaks und der übrigen Narkotika mit zu den Erfolgen der Vegeta - rianer beiträgt, ist nicht zu bezweifeln. Der Schade aber, den diese Genussmittel anstiften, kommt gar - nicht in Betracht im Vergleich zur verheerenden Wirkung des Alkohols.
Zu beachten ist ferner, dass auch die Gefahr der Unmässigkoit im Essen bei vegetabilischer Nahrung geringer ist, als bei gemischter Kost. Schon die grössere Einförmigkeit der vegetabilischen Nahrung bringt es mit sich, dass die Versuchung zur Unmässigkeit geringer ist. Auch diesem Um - stande sind vielleicht die Erfolge der Vegetarianer zum Theil zuzuschreiben.
In dieser Hinsicht scheint es mir charakteristisch, dass der Vegetarianismus in den romanischen Län - dern keinen Boden findet. Die Romanen sind mässig auch ohne Vegetarianervereine. „ Wir Deutschen “— sagt Melanchthon — „ schmausen uns arm, schmau - sen uns krank, schmausen uns in die Hölle “.
40Die Vegetarianerfrage hat noch eine ethische Seite. Viele Vegetarianer sind gar nicht Anhänger dieser Lehre aus diätetischen Gründen: sie vermei - den das Fleisch, weil sie das Todten der Thicre für sündhaft halten.
ln diesen Motiven scheint mir doch etwas Krank - haftes zu liegen. — Ich möchte in dieser Hinsicht nicht missverstanden werden: ich theile vollkommen die Ansicht, dass das Mitleid mit den Thieren ge - pflegt. werden soll, dass das Mitleid mit den Men - schen darunter leiden muss, wenn das Mitgefühl mit anderen fühlenden Wesen abstumpft. Ich unterschätze keineswegs die segensreichen Folgen und die Trag - weite der Thierschutzvereine. Und vollends das pä - dagogische Streben, in dem empfänglichen Gemüthe des Kindes ein inniges Mitgefühl mit allen fühlenden Wesen zu wecken, zu nähren, zu pflegen — wer wollte den hohen Werth dieses Strebens leugnen! Nur, wo das Mitleid mit den Thieren soweit geht, dass der Mensch den Thieren geopfert werden soll, rede ich von einer krankhaften Sentimentalität. Ich bin dazu berechtigt auch den Vegetarianern gegenüber, solange der Nachweis nicht geführt ist, dass das Fleisch dem Menschen wirklich nichts nützt. Es ist dieselbe krankhafte Richtung, welche uns in der Agitation gegen die Vivisectionen entgegentritt. — In der That sind viele Vegetarianer zugleich Eiferer gegen die Vivisection. — Da wird mit serupulöser Aengstlichkeit darüber philosophirt, ob wir das Recht haben, ein Thier zu quälen. Thatsächlich aber41 haben wir Menschen hier garnicht zu fragen nach Recht oder Unrecht. Die Frage ist schon lange gestellt worden ohne uns und sie lautet ganz anders. Sie lautet: sollen wir morden und quälen oder selbst gequält und gemordet werden.
Mitten hinein in einen unerbittlichen, mörderischen Kampf hat uns die Natur gestellt. Wir sind be - ständig — auch in diesem Augenblicke — ura - schwärmt von zahllosen Thieren, welche nur die eine Lebensaufgabe haben, uns zu Tode zu quälen. Wir sehen Tag aus Tag ein Tausende unserer ge - liebten Mitmenschen dahinsterben unter den schreck - lichsten Qualen, gefressen werden bei lebendigem Leibe von erbarmungslosen Bestien. Und wir sollten nicht das Recht haben, ein Kaninchen zu opfern, um diesen unseren Feinden hinter die Schliche zu kommen!
Der Wunsch, dass alle fühlenden Wesen friedlich neben einander leben sollen, ist einfach eine Gedanken - losigkeit. Es ist Thatsache: jedes fühlende Wesen auf unserem Planeten exsistirt nur auf Kosten anderer fühlender Wesen. Auch der Pflanzenfresser lebt auf Kosten anderer Thiere; er raubt Andereu die Exsistenzmittel, die Nahrung; er lässt sie elend und qualvoll verhungern. Es bleibt ja kein Pflanzentheil unverzehrt; es fällt kein Blatt zur Erde, ohne gefressen zu werden. Was die Säugethiere und Vögel nicht gefressen haben, fressen die Insecten; was die Insecten übrig lassen, fressen die Regenwürmer; was der Wurm übrig lässt, fressen42 die Batterien. — Und wem nichts übrig bleibt, der verhungert, oder er ermattet und wird die Beute der Räuber.
Die Vegetarianer meinen, sie könnten das Tödten der Thiere vermeiden, wenn sie von. Milch leben. Aber, wer von Milch lebt, muss das Kalb tödten und lässt seine Kuh anderen Thieren das Gras weg - fressen. Wer von Eiern sich nährt, lässt seine Hühner lebende Würmer fressen und verzehrt selbst in jedem Ei ein lebendes Wesen — vielleicht sogar ein fühlendes Wesen. Anzunehmen, dass die Empfin - dung von Lust und Schmerz erst dort beginne, wo ein differenzirtes Nervensystem auftritt, ist völlig willkürlich. Nichts widerspricht der Annahme, dass auch jede Pflanzenzelle ein fühlendes Wesen sei. Der Vegetarianer, welcher es für sündhaft hält, ein grosses Thier zu tödten oder ein hochorganisirtes Thier mit intensiver Schmerzempfindung, der sieht sich gezwungen tausend kleinere, niedere Thiere zu tödten, zu quälen, verhungern zu lassen. — Und tausend kleine Schmerzen summiren sich zu einem grossen Schmerz. Das Resultat bleibt dasselbe.
Der Kampf ums Dasein lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Den Kampf ums Daseiq kämpft die ganze Natur. Den mörderischen, unerbittlichen Kampf ums Dasein wird keine Vegetarianerethik fortphilo - sophiren. Man sehe sich doch um in der Natur! Ueberall, wohin das Auge blickt — das blosse und das bewaffnete — auf der Erde, in der Luft, im Wasser — im endlosen Ocean und im kleinsten43 Tropfen — überall ein ewiges Fliehen nnd Ver - folgen, ein rastloses Kämpfen und Ringen, ein un - unterbrochenes Morden und Verschlingen. — Und dieser mörderische Krieg aller wider Alle — er gerade ist es, der die lebende Natur ewig jung und neu und frisch erhält. Der Kampf ist das Gesunde und Normale. Der Friede erzeugt Krankheit und Fäulniss.
Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
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