PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen.
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ERSTES-BÄNDCHEN.
Halle, beiHemmerde und Schwetschke.1814.
Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen,
Erstes Bändchen.
Sit honor antiquitati et fabulis quoque. (Plinius. )

Vorrede.

Keiner europäischen Nation fehlt es an fabelhaften Erzählungen aus der Geschichte ihrer Vorzeit, welche unterm Volke einheimisch sind, ihm angehören, und daher mit Recht Volkssagen, Volksmährchen genannt werden. Die Vorliebe für das Alterthümliche war es, welche sie aufbewahrte, vom Vater dem Sohne, und von diesem dem Enkel bis auf unsere Tage forterzählen ließ. Daß sie nicht bloß Spiele einer lebhaften Einbildungskraft sind, sondern gewöhnlich irgend einer Veranlassung ihre Entstehung danken, leidet keinen Zweifel. Spürt man dieser nach, so findet man sie oft in dieser oder jener historischen Handlung der ältesten Zeit. Greifen sie mit dem Geiste der Vorzeit, oder mit den Handlungen mehrerer oder auch nur einzelner Menschen, in einander, so erhalten sie schon mehr Wichtigkeit. Finden sich aber auch historische Hinweisungen oder örtliche Ueberbleibsel,IV die damit zusammentreffen, und wo vielleicht eine sich auf die andere stützt, dann treten sie gewisser Maßen an die Stelle der Geschichte, und können dem Alterthumsforscher vielleicht zur Erläuterung und Aufhellung von Urkunden dienen.

Wer sie aber auch, da sie freilich immer die trübsten und ärmsten aller Quellen der Geschichte bleiben werden, als solche verwerfen wollte, der würde doch die in ihnen lebende reine Poesie, die natürliche, sie schmückende Einfalt, den treuen kindlichen Sinn, der überall aus ihnen hervorblickt, die in vielen verborgen liegende schöne Moral und eine religiöse Neigung für das Wunderbare als anziehend anerkennen und auch zugeben müssen, daß ihnen das Verdienst, Belege zur Charakteristik unserer Voreltern zu seyn, nicht abgesprochen werden könne.

Ist es daher keinem Zweifel unterworfen, daß Volksmährchen ihren Werth haben, so lohnt es auch wohl der Mühe, sie zu sammeln und sie als Erbstücke aus einer längst verschwundenen Ahnenzeit unsern Enkeln aufzubewahren. Dieß muß jedoch bald, es muß jetzt geschehen; denn die zugenommeneV Bildung eben der Klasse von Menschen, von der sie hauptsächlich festgehalten und fortgenommen wurden, hat leider schon bei ihnen eine Lauheit gegen diese lieblichen, einheimischen Mythen erzeugt, welche deren endliches Vergessen zur Folge haben wird. Es achtet nicht mehr so darauf, das Volk; und mit dem Heimgange des alten Mütterchens, das sie jetzt noch weiß, wird wohl die Kunde dahin seyn. Die Jugend hat jetzt andere Vergnügungen, und kehrt sich nicht mehr an die fabelhaften Erzählungen der Mütter; ja es hält schwer, selbst das Alter zur Erzählung solcher Sagen zu bringen, und nur durch Treuherzigkeit, nur durch eine unverstellte ernste Aufmerksamkeit darauf, vermag man es zur Mittheilung zu bewegen.

Zu den Nationen, welche solche Volksmährchen im Ueberflusse besitzen, gehört auch die deutsche. An ihren Burg - und Kloster-Ruinen, an den Gipfeln ihrer Berge, an ihren Flüssen, Quellen, Hainen, Felsen, Höhlen und Untiefen haften ihrer in Menge; und wem unter uns wäre wohl die Erinnerung des Zaubers erloschen, mit welchemVI diese Mährchen unser kindliches Gemüth ergriffen, wenn wir mit lauschendem Ohre und hingegebenem Staunen vor der Pflegerin standen, und jedes Wort auffaßten, daß ja keins verloren ginge, bis das grausende oder liebliche Ende der Sage uns ausrufen ließ: Noch ein Mal, noch ein Mal!

Diese unsere vaterländischen Mythen nun aufzubewahren, sie vor dem gänzlichen Vergessen zu sichern, beabsichtige ich durch die Herausgabe dieser Sammlung. Mein Plan ist, sie zu einer möglichst vollständigen zu erheben, und ich gedenke ihn durchzuführen, wenn ich, außer der Benutzung schon vorhandener ähnlicher Sammlungen und sonstiger mir zu Gebote stehender Hülfsmittel, so glücklich bin, Freunde für mein Unternehmen zu gewinnen, die mir vorzüglich solche Mährchen mittheilen, welche noch nirgends aufgefaßt wurden, und nur im Munde des Volks fortlebten. Finde ich diese, dann überlasse ich mich sehr gern der Hoffnung, eine Bibliothek der deutschen Volksmährchen entstehen zu sehen, die vielleicht für Deutschland dasselbe werden könnte,VII was Legrand’s Sammlung für Frankreich ist: eine Sammlung von historisch-romantischen Erzählungen nicht bloß zur Unterhaltung in den Stunden der Muße, sondern auch für den Menschenbeobachter und den philosophischen Geschichtsforscher. Daß hierbei manche Sage mit unterlaufen wird, die eben kein Dichtergeist belebt, die sich nicht durch charakteristische Züge auszeichnet, ist gewiß, aber bei dem mir vorgesteckten Ziele nicht wohl zu vermeiden.

Da jede Volkssage an Eigenthümlichkeit verlöre, und die wenigen historischen Goldkörner, die sie vielleicht besitzt, rein verflüchtigt würden, wenn man sie nicht in der Sprache des Volks, mit Vermeidung aller fremdartigen Zusätze und ohne eine willkürliche Ausdehnung, geben wollte, so müssen auch diese Rücksichten durchaus beachtet, und niemals verlassen werden. Sie sollen daher in der ihnen eignen schmucklosen Sprache und möglichst so, wie sie unterm Volke lauten, erzählt werden, und wer mir einen dankenswerthen Beitrag liefern will, den bitte ich, dieß nicht zu vernachlässigen. Durch fremdartige Zusätze, durch weiteresVIII Ausdehnen, durch eine romantische Bearbeitung, würde die Erzählung vielleicht an Unterhaltung, aber nur auf Kosten der Originalität, gewinnen, und das wäre meiner Absicht und der guten Sache ganz entgegen.

Wie sehr ich auch überzeugt bin, daß echte Volkssagen, durch eine zweckmäßige Anordnung sie sey nun auf die Zeitfolge oder auf die Oertlichkeit gegründet für den Forscher an Werth gewinnen würde, und so gern ich diesen Forderungen entsprochen haben möchte, so stellen sich jedoch eine Menge von Hindernissen der Ausführung entgegen, die schwerlich ganz zu beseitigen seyn dürften. Die Entstehungsperiode eines Mährchens aufzufinden, gelingt höchst selten, und auch dann nur in so weit, daß man ungefähr das Jahrhundert, aus dem es hervorging, anzugeben vermag. Nur von denen, worin eine historisch bekannte Person auftritt, z.   B. Kaiser Friedrich II., der in den Mährchen vom Kiffhäuser die Hauptrolle spielt, läßt sich mit etwas mehr Wahrscheinlichkeit dem Ursprunge näher kommen. Bei dem bei weitem größten Theile ist jede Nachforschung durchaus vergebens,IX und die Idee einer chronologischen Anordnung bleibt daher ein unausführbares Beginnen.

Mit weniger Hindernissen würde eine Anordnung nach Gegenden, nach Ländern verknüpft seyn, und wem es vergönnt wäre, alle die Gegenden, wo Volkssagen vorzüglich zu Haus sind, selbst, und in der Absicht zu ihrer Aufsammlung genau durchstreichen zu können, dem dürfte es vielleicht gelingen, sie alle aufzufinden; allein, wer kann das? Und wenn es Jemand könnte, so würde ihm doch wohl, selbst bei der größten Sorgfalt, manches Mährchen entschlüpfen. Wenn es nun auf diese Art nicht möglich ist, den Zweck der Vollständigkeit zu erreichen, so wird es auch durchaus auf keine andere möglich seyn. Für mich geht hieraus die Ueberzeugung hervor, daß eine chronologisch oder nach Länderbezirken geordnete vollständige Sammlung der deutschen Volksmährchen so lange noch ein unerreichbarer Wunsch bleiben wird, bis von vielen Seiten her zusammengetragen ist, und alsdann der künftige Freund unserer vaterländischen Volksdichtungen sie in chronologischerX oder geographischer Form aufzustellen vermag.

Ueberhaupt scheint es mir, als ob man den Volksmährchen einen größern historischen Werth beilege, als sie wirklich besitzen. Wer mit mir dieselbe Ansicht hat, und sie mehr von Seiten der Unterhaltung nimmt, der wird es daher weniger mißbilligen, wenn ich hier Mährchen, Sagen und Legenden gebe, ohne eine besondere Ordnung zu beobachten, und so wie ich sie auffinde und erhalte. Am Schlusse der Sammlung kann immer noch durch verschiedene Classificationen dem Wunsche derer entsprochen werden, welche mit dieser regellosen Aufstellung nicht zufrieden seyn möchten.

Woher ich jedes Mährchen nahm, woher ich es erhielt, das werde ich immer eben so genau angeben, als wo es sonst schon erzählt, wo es vielleicht schon poetisch oder romantisch bearbeitet wurde.

Wer über die Bedeutung, über den Werth, über die Quellen und über die Veranlassung zur Entstehung der Volkssagen Aufschlüsse verlangt, den kann man mit Recht auf die gehaltvollen und durchdachtenXI Abhandlungen verweisen, welche Nachtigal in Halberstadt seinen Volkssagen, nacherzählt von Otmar (Bremen 1800. 8. ) vorangeschickt hat, und welche diese Gegenstände in ihrer Art ausführlich und ernsthaft behandeln. Zugleich aber kann ich mir nicht versagen, hier auch den folgenden Bemerkungen noch einen Platz anzuweisen, welche mein geschätzter Freund, der Hofrath Beckedorff, als eine, hoffentlich nicht unwillkommene, Zugabe zu diesem ersten Bändchen, mir mitzutheilen die Güte gehabt hat.

Ballenstedt, den 18ten Oct. 1814.

F. Gottschalck.

XII

Gesetzt, es gäbe Jemanden, welcher Volksmährchen zu hören oder zu lesen ein besonderes Vergnügen fände, worin er denn allerdings sehr Recht haben würde welcher aber sich nicht begnügen wollte, dem bald heitern, bald ernsten, bald muthwilligen, bald schauderhaften, immer aber anziehenden Eindrucke dieser wunderbaren Erzählungen sich ohne weiteres zu überlassen, sondern verlangte, auch noch darüber hinaus Etwas zu wissen und von den Sagen selbst allerhand zu erfahren, so etwa, wie man von einem Menschen, der uns gefällt, gern noch mancherlei persönliche Dinge zu wissen begehrt, als da sind: wie er heiße, woher er komme, was er wolle, wohin er gehe, und dergleichen mehr; ein solcher würde wahrscheinlich eine Menge Fragen thun, die ihm denn doch beantwortet werden müßten.

Ich will eine solche Antwort auf die natürlichsten von diesen Fragen hier, so gut es gehn will, versuchen. Vielleicht, daß einige Leser dadurch befriedigt werden. Andersdenkende aber mögen ihre abweichenden Ansichten daran prüfen, befestigen, oder auch berichtigen.

XIII

Erste Frage: Was sind Volkssagen?

Im Grunde könnte man darunter alle jene Erzählungen von verschiedenartigstem Inhalte verstehen, die im Munde des Volks leben, und sich dort von der Großmutter zum Enkel getreu fortpflanzen. Indessen möchte alsdann manches dazu gerechnet werden, was diesen Namen eigentlich nicht verdient, als z.   B. wirkliche historische Anekdoten, eigentliche Mährchen, die das Gepräge absichtlicher Erfindung an sich tragen, und und endlich, falls sie sich unter dem Volke erhalten sollten, jene erdichteten Erzählungen mit moralischer Richtung, die man in der neuern Zeit ihm geflissentlich in Kalendern, Aufklärungsschriften, Volksbüchern und dergleichen, hat in die Hände spielen wollen. Echte Volkssagen aber, lassen sich vielleicht an folgenden Unterscheidungszeichen erkennen:

1) sie ruhen auf einem geschichtlichen oder örtlichen Grunde; sie beziehen sich entweder auf wirkliche historische Personen, Familien und Begebenheiten, oder auf bekannte Gegenden und Orte, und bekommen eben dadurch einen Schein und Anstrich von Wahrheit;

XIV

2) sie enthalten aber auch einen wunderbaren oder wenigstens abenteuerlichen Bestandtheil, durch welchen jener Anschein von Wahrheit immer wieder zunichte gemacht, und ein zweifelhaftes und eben dadurch anziehendes Halbdunkel über das Ganze verbreitet wird; und endlich

3) sie haben keine anderen Quellen, als sich selbst; sie sind da, sie werden erzählt, sie gefallen, sie reizen, aber wer sie erdacht, wer sie zuerst erzählt habe, ist unbekannt.

Und durch dieses alles werden sie nun dasjenige, wofür sie eigentlich gehalten werden müssen, nämlich der Kreis und Inbegriff der gesammten Volks-Dichtung: sie enthalten den Stoff der ganzen National-Poesie, und was von dieser überhaupt gilt, das findet auf sie ebenfalls Anwendung.

Wenn wir annehmen, daß wohl jeder Mensch von Zeit zu Zeit das Stückwerk seines Daseyns lebhaft empfindet, daß er sich bald durch die Noth des Augenblicks, bald durch das Dunkel der Zukunft, hier durch die eigene Kurzsichtigkeit, dort durch fremde Verkehrtheit, immer aber durch ein räthselhaftes Geschick, und durchXV eine unübersehbare und unerforschliche Weltordnung gedrückt, gehemmt und beschränkt fühlt; so werden wir es sehr begreiflich finden, daß er sich auch dann und wann hinaus sehnt aus der Enge und Verwirrung dieses Lebens in eine Welt voll erkannten Zusammenhanges, wo alle billigen Wünsche erfüllt, jede Sehnsucht befriedigt, der Schmerz versöhnt, und die Thränen getrocknet werden. Da aber in der weiten Wirklichkeit eine solche Welt nicht vorgefunden wird, so ist es ebenfalls natürlich, daß der Mensch sie sich selbst auferbaut in Träumen, Wünschen, Hoffnungen und Ahndungen. Und so entsteht ihm dann jene wunderbare Welt der Dichtungen, wohin der Geist so gern sich flüchtet aus den kleinlichen und drückenden Verwicklungen des alltäglichen Lebens, und worin er nicht sowohl wirklichen Ersatz für den Druck des Lebens, als vielmehr nur ein tröstliches Bild und eine Bürgschaft finden will von einer zusammenhängenden, weisen und gerechten Ordnung der Dinge. Damit aber die solchergestalt erschaffene Welt nicht bloß als ein Reich phantastischer Gebilde erscheine, so knüpft er sie gern mit festen Banden an die Wirklichkeit fest. Bekannte Gegenden und Orte müssen den Hintergrund bilden,XVI geschichtliche Personen geben ihre Namen her, oder wahre Begebenheiten werden auf irgend eine Weise hinein verflochten; und wie die meisten Menschen gerne ihrer Jugend gedenken, sie als eine Zeit des Glückes und der Zufriedenheit sich vorzustellen pflegen, und so aus der Erinnerung einer besseren Vergangenheit Erheiterung und Trost in der Gegenwart hernehmen mögen, so werden auch jene Dichtungen am liebsten in eine frühere, oft dunkle, aber immer als glücklicher gepriesene Vorzeit verlegt. Endlich aber werden ungewöhnliche und abenteuerliche Verhältnisse und wunderbare Wesen und Gestalten hineingewebt, theils als Reiz und Spiel der Einbildungskraft, theils als Zeugniß von dem in der menschlichen Seele tief gegründeten Glauben an einen unergründlichen Weltzusammenhang, theils endlich als immerwährende Erinnerung, daß das Ganze doch nur menschliche Erfindung und Spiel sey.

Und auf diese Weise bildet sich die Poesie überall und zu allen Zeiten. Ihre Quelle ist die im menschlichen Gemüthe gegründete unverwüstliche Sehnsucht nach einem glücklichen, vollkommenen und befriedigenden Zustande, und sieXVII selbst erscheint zugleich als Spiegel und als Gegensatz der Wirklichkeit, als bedeutsames Bild einer wünschenswerthen Weltordnung und als Inbegriff der unerfüllten Ansprüche an das Leben.

Da indessen nach der Verschiedenheit der Zeiten sowohl als der einzelnen Charactere und selbst der augenblicklichen Stimmungen auch die Ansichten vom Leben und die Ansprüche an dasselbe höchst verschieden sind, so müssen auch die einzelnen Dichtungen darnach eine sehr ungleiche Gestalt zeigen. Bald nämlich sind sie heiter scherzend, bald bitter spottend und strafend, dann schmerzlich klagend, und dann wieder tröstlich beruhigend, bald vollständig beglückend, bald tragisch versöhnend, immer aber doch auf die eine oder die andere Weise besänftigend und befriedigend.

Und auf gleiche Weise verhalten sich nun auch die Volkssagen. Alles, was von der Poesie hier im Allgemeinen gesagt worden ist, gilt von ihnen; ja, es bewährt sich an ihnen gerade recht auffallend, und ihr Inhalt, so verschiedenartig er auch seyn mag, beweiset dieses. Wenn ein verzauberterXVIII Kaiser auf seiner verfallnen Burg sich bald einem alten Bergmann, bald einem armen Hirten wohlthätig offenbart; wenn ein fleißiger Köhler in seinem Meiler plötzlich einen reichen Schatz ausgeschmolzen findet, der ihm zur Herzogswürde verhilft; wenn wunderbare Bergfräulein Kleinodien verschenken; wenn ein armer Schäfer Goldhöhlen entdeckt, und wenn wohlthätige Zwerge zu Hochzeiten dienstfertig das Tischgeschirr herleihen: wer erkennt nicht in allen diesen freundlichen Mährchen die erlaubten und nicht hoffnungslosen Wünsche bedrängter, um den Unterhalt des Lebens oftmals besorgter Menschen? Wenn aber die Burg eines grausamen Raubritters von der Erde verschlungen; wenn ein unersättlicher Jäger bis zum jüngsten Gericht fortzujagen verdammt wird; wenn ein habsüchtiger Edelmann, der Schätze heben will, die ihm nicht bestimmt sind, dabei elendiglich zu Schaden kommt; wenn verbrecherische Mönche mit ewiger Unruhe bestraft werden; und selbst wenn ein schelmischer Berggeist die kleineren Unbilden des Lebens scherzhaft, aber derb berichtigt oder bestraft: zeigt sich dann in diesen ernsteren oder heiteren Sagen nicht neben dem stillen Unmuth über die ungerechten Ungleichheiten des LebensXIX auch das tröstende Vertrauen auf eine höhere ausgleichende Gerechtigkeit? Oder wenn ein kluger und mächtiger, aber übermüthiger König endlich in Ketten und Banden geschlagen wird; wenn in den Pallästen der Fürsten und Großen eine weißverschleierte Ahnfrau Jahrhunderte hindurch Unglück weissagend umherwandelt; wenn eine Riesentochter, mit ihrer goldenen Krone auf dem Haupt, den drei Mal wiederholten frevelhaften Sprung über die grause Felsenschluft mit ihrem Leben bezahlt, und eine arme Jungfrau dagegen, die, von einem frechen Jäger verfolgt, sich den Felsen hinabstürzt, unbeschädigt von den Engeln in die Tiefe getragen wird: scheinen solche Erzählungen nicht auf das Mißliche und Gefahrvolle der irdischen Hoheit hinzudeuten, und das Lob der unbekannten Niedrigkeit mit dem Troste der überall verbreiteten göttlichen Hülfe zu enthalten? Und wenn endlich wohlbekannte nahgelegene Felsen, Wälder, Hügel, Thäler und Quellen mit wunderbaren Bewohnern bevölkert, oder durch seltsame Begebenheiten und Abenteuer aus lange verflossenen Zeiten merkwürdig erscheinen, strahlt dann nicht ein Theil ihres Rufes auch auf die Anwohner zurück, und giebt ihnen selbst einen wundersamen Anstrich, oder setztXX sie wenigstens mit einer geheimnißvollen Vorzeit in ehrenvolle Verbindung?

Und so wandeln dann alle diese seltsamen Sagen und Mährchen neben dem mühseligen und einförmigen Leben des beschränkten, gedrückten und belasteten Volks freundlich, tröstend, hülfreich und oftmals erhebend einher, und helfen die wenigen Stunden verkürzen und erheitern, welche dem harten Dienste der Nothdurft abgewonnen worden sind. Gutmüthige Mütter aber übernehmen das dankbare Geschäft der Dichter, indem sie entweder den überlieferten Stoff nach ihrer Art bald mehr bald weniger ausführlich und lebendig darstellen und ausschmücken, auch wohl verändern und umgestalten, oder aus eigener Erfindung und gelegentlicher Veranlassung neue Erzählungen hinzufügen. Und diese Bewandniß nun scheint es überall mit den Volkssagen anjetzt zu haben. Ich sage: anjetzt, wo ein so auffallendes Mißverhältniß in Bildung, Ansichten und Sitten unter den einzelnen Theilen derselben Nation Statt findet. In alter Zeit freilich, als das sogenannte Wiederaufleben der antiken Kultur noch nicht dem einen Theile der Nation den bevorzugten NamenXXI des gebildeten beigelegt hatte; mag auch kein großer Unterschied zwischen Volksdichtungen und der Poesie der höheren Stände gewesen seyn. Dieselben Sagen und Erzählungen, von welchen sich Fürsten und Ritter angezogen und erfreut fühlten, ergötzten auch den Knappen und den Knecht, und die Lieder und Gesänge, welche in Schlössern und Burgen ertönten, hallten in Häusern und Hütten wieder, so, daß in jener vollständigern Zeit Volkssagen schwerlich in dem Sinne angetroffen werden möchten, worin hier versucht worden ist, ihr Wesen und ihre Bedeutung zu beschreiben und zu erklären.

Volkssagen also machen die Poesie des Volkes aus, und, indem dieses hier hat sollen gezeigt werden, ist auch die mögliche

Zweite Frage: Woher stammen die Volkssagen? und wo sind sie zu Hause?

schon vorläufig mit beantwortet worden.

Die Volkssagen stammen her aus der Natur der menschlichen Seele, aus der in jedem Gemüthe wohnenden Sehnsucht nach Freude, Freiheit,XXII Ordnung, Licht und Recht; und sie sind überall zu Hause, wo Menschen denken, betrachten, empfinden und gesellig leben. Sie entstehen wie von selbst, sie verändern, sie erneuern sich, und wenn nicht Dichter, Chroniken-Schreiber oder Sammler sie für längere Zeit festhalten und aufbewahren, verschwinden sie auch wieder, wie von selbst und oftmals ohne Spur; wie denn, zum Beweise dieser Behauptung, von dem ganzen großen Sagenkreise altdeutscher Vorzeit außer den wenigen Bruchstücken, die uns alte Gesänge und das Heldenbuch bewahrt haben, wohl nur wenige oder gar keine Ueberbleibsel in lebendiger Ueberlieferung mehr gefunden werden möchten.

Was es jedoch mit den einzelnen noch vorhandenen Sagen für eine Bewandniß habe; welchen geschichtlichen, örtlichen oder anderweitigen Veranlassungen sie ihre Entstehung verdanken mögen; wann und wo sie zuerst erfunden seyn können; in welcher Verbindung die Sagen einzelner Provinzen und ganzer Länder mit einander stehen, wie sie gewandert, verändert und umgestaltet sind; wie weit die Erzählungen von bestimmten fabelhaften Wesen und Personen reichenXXIII u.  s. w., dieß alles sind Fragen, welche von Wißbegierigen leicht aufgeworfen werden können, und deren Beantwortung schon an andern Orten und namentlich in den Volkssagen von Nachtigall in Halberstadt ausführlich und geistreich versucht worden ist. Auf jeden Fall aber bleibt es ausgemacht, und erhellet auch zur Genüge aus dem oben Gesagten, daß die ganze Geschichte eines Volks, seine Abstammung, Wanderungen und Schicksale, ferner die verschiedenen Zustände von Rohheit und steigender Ausbildung, seine Verfassung, Sitten, Religion, Regierungsart, das Klima und die Beschaffenheit seiner Wohnsitze, seine Armuth oder Wohlhabenheit, und endlich seine Bedürfnisse, Ansprüche und Wünsche auch auf die Sagen desselben den mannigfaltigsten und bestimmtesten Einfluß werden äußern müssen, und daß daher ein scharfsichtiger Beobachter und aufmerksamer Prüfer auch umgekehrt aus Inhalt, Art, Ton, und Farbe der einzelnen Sagen treffende Rückschlüsse auf Zeit, Ort, und Veranlassung ihrer Entstehung wird machen können. Es ist begreiflich, daß die Mythen roherer Völker auch ein wilderes, kriegerisches, aber mehr wunderbares und religiöses Gepräge zeigen werden, daßXXIV die Sagen südlicher Nationen freundlicher, reicher, üppiger und sinnlicher, die der nördlichen hingegen düsterer, trüber und ahndungsvoller erscheinen müssen; daß unter freien, glücklichen und wohlhabenden Völkern auch die Mährchen heiterer und scherzhafter, bei ärmeren und gedrückteren aber trauriger, klagender und mißmuthiger seyn werden; daß ferner gebirgige Gegenden deren mehr und mannigfaltigere besitzen müssen als das ebene Land, und endlich, daß es, wie schon mehrmals bemerkt worden ist, vor allen Dingen die Zeit sey mit ihren Veränderungen und Fortschritten, mit ihren religiösen und politischen Reformen und Umwälzungen, vorzüglich aber mit ihren Ansichten und Ansprüchen, Wünschen und Hoffnungen, welche entscheidend auf dieselben werde gewirkt haben.

Wenn es nun aber eine Zeit gäbe, oder gegeben hätte, in welcher die Menschen sich gar wohl und behaglich gefühlt hätten, worin sie mit ihren friedlichen und glücklichen Lagen und Verhältnissen, hauptsächlich aber mit dem Zustande ihrer Bildung, mit ihrer Einsicht, ihrer Weisheit, ihren Empfindungen und Urtheilen höchlich zufrieden gewesen wären, welche sie selbst alsXXV eine vortreffliche und überlegene Zeit zu betrachten und zu preisen sich nicht hätten erwehren können, und von welcher aus sie die verflossenen Zeiten nicht bloß zu eigener Genugthuung vornehm betrachtet, sondern auch deren Thaten, Arbeiten und Bestrebungen einer neuen Prüfung und verständigen Sichtung zu unterwerfen für nöthig erachtet hätten, so würde eine solche Zeit begreiflicher Weise der Poesie eben nicht günstig gewesen seyn. Wozu hätte sie auch in ihrer eigenen Vortrefflichkeit diesen schöneren Gegensatz einer unvollkommenen Wirklichkeit, dieses erfreuliche Bild eines besseren Lebens, diese hülfreiche und tröstenden Begleiterin des beschränkten Daseyns eben gebrauchen können. Wenn sie aber dennoch der Poesie, als einer angenehmen Zugabe, eines herkömmlichen Luxus des Lebens, etwa zur Uebung des Urtheils und Witzes, oder zu gelegentlicher Erwärmung der Empfindung nicht ganz hätte entbehren wollen; so würde sie doch gewiß nicht unterlassen haben, derselben eine neue angemessene Richtung zu ertheilen. Sie würde also zuvörderst das Alterthümliche und hauptsächlich alles Wunderbare daraus verbannt, und sie sodann angewiesen haben, sich in allen Stücken, so viel wie möglich, an die wirklichenXXVI Zustände des Lebens, an die sogenannte Natur und Wahrheit zu halten, und sich in Form und Inhalt einer getreuen Nachahmung derselben zu befleißigen, indem es ja nur darauf abgesehen sey, durch die erdichteten Darstellungen zu einer recht täuschenden, schnellen und vielseitigen Berührung mit der geliebten Wirklichkeit zu gelangen.

Wir kennen sie, und haben sie zum Theil erlebt, eine solche eigenliebige, an sich selbst verschwendete und zersplitterte Zeit, und ein großer Meister hat es übernommen, uns das Bild derselben und ihrer buntscheckigen, nach den verschiedenen Aeußerlichkeiten des Lebens aus einander gerichteten, selbst gefälligen Thätigkeit in Darstellungen aus seinem Leben lehrreich und warnend vor die Augen zu führen, und an seinem eigenen Beispiele zu zeigen, wie selbst ein großes Talent und ein gesundes Naturell in solcher Zeit verleitet werden können, die Dichtung ganz in das wirkliche Leben herab zu ziehen, und sie zu augenblicklichen und bloß persönlichen Zwecken zu verbrauchen, so daß sie am Ende, obgleich immer ihrer eigenthümlichen hülfreichen Natur gemäß, nur als ein Hausmittel dienenXXVII muß, um über innere peinliche Verwickelungen oder kleine moralische Verlegenheiten glücklich hinweg zu helfen.

Daß nun ein solches Zeitalter der Wunderwelt der Volkssagen eben nicht günstig gewesen seyn könne, läßt sich leicht erachten. Auch hat man darin nicht unterlassen, sie bald als kindisch zu verspotten, bald als abergläubisch und gefährlich zu verwerfen; und da ein, eben dieser Zeit angehöriges, sonst achtbares Bestreben, die Zustände des Volks zu verbessern und dasselbe an sich heran zu bilden, hinzugekommen ist; so hat man vielfältig sogar gesucht, die alten wunderbaren Sagen und Mährchen ganz zu verdrängen, und an ihre Stelle eine Reihe sogenannter natürlicher und vernünftiger, kurz zeitgemäßer Erzählungen unterzuschieben, so, daß, wenn es gelungen wäre, in kurzer Zeit Nachbar Velten und Vetter Michel die Stellen eingenommen haben würden, welche Kaiser Friedrich und der Ritter Siegfried so lange glänzend behauptet hatten.

Und in dieser Beschaffenheit der vorletzten Zeit liegt nun auch der Hauptgrund, warumXXVIII die Sagen und Mährchen, wie ihre Sammler jetzt häufig klagen, unter dem Volke selbst so selten geworden sind. Hernach ist die Noth und der Druck der jüngsten Zeit hinzugekommen, und so haben nach und nach die seltsamen Wesen und Gestalten der alten Sagenwelt sich von der unfreundlichen Wirklichkeit in ihre Wälder, Burgen, Klüfte und Höhlen, oder in ihre luftige Heimath auf eine Zeitlang zurückziehen müssen.

Aber sie werden wiederkehren, und die glorreiche Zeit, welche uns angebrochen ist, und worin Alles ehrwürdig-Alte in erneuerter Form wieder auferstehen muß, wird auch sie wieder, und hoffentlich in noch besserer und verjüngter Gestalt, zurückführen und in ihr altes schönes Recht einsetzen; ja, es ist zu erwarten, daß diese Zeit selbst dereinst als der Beginn eines neuen würdigen Sagenkreises und einer großen nationalen Poesie, von den kommenden Geschlechtern werde betrachtet werden.

XXIX

Dritte Frage: Wie lassen sich die Volkssagen ordnen und eintheilen?

Diese Frage, welche wohl nur von ordnungsliebenden Sammlern aufgeworfen werden möchte, läßt sich auf mannigfaltige Weise beantworten.

Volkssagen lassen sich ordnen einmal auf gleiche Weise, wie die einzelnen Dichtungsarten selbst klassifiziert worden sind, insofern dieß nämlich nicht nach der Form der Darstellung, sondern nach der Art des Inhalts geschehen ist, und so bekommen wir komische und tragische, elegische und satyrische, idyllische und epische Sagen; sie lassen sich ferner ordnen nach ihrer Heimath, und in dieser Rücksicht giebt es allgemein verbreitete Sagen, Sagen einzelner Länder, Sagen einzelner Provinzen, und endlich ganz bestimmte Local-Sagen; sie lassen sich drittens ordnen nach den Gestalten, Personen oder Begebenheiten, die in ihnen wiederkehrend vorkommen, und auf diese Weise haben wir Hühnen-Sagen, Zwerg-Sagen, Geister-Sagen, oder auch die Sagen von Karl dem Großen, vom Kaiser Friedrich, die Mährchen vom Rübezahl u.  s. w. ; und endlich viertens lassen sie sichXXX ordnen, und dieß möchte vielleicht die bequemste und beste Art ihrer Eintheilung seyn, nach der ihnen selbst inwohnenden Zeit; und in dieser Rücksicht kann man sie füglich in vier Hauptordnungen bringen: Es giebt Sagen 1) aus fabelhafter Urwelt, 2) aus dunkler Vorwelt, 3) aus späterer historisch erhellter Zeit, und 4) die außer aller Beziehung auf irgend eine Zeit stehen, und welchen man deshalb zur Unterscheidung die Benennung: Volksmährchen, beilegen könnte, da jene ersteren drei Arten hingegen vorzugsweise den Namen der Volkssagen verdienen möchten. Welche von diesen oder anderen gedenkbaren Eintheilungsarten man jedoch annehmen wolle, scheint höchst gleichgültig zu seyn, oder wird vielmehr von den besondern Zwecken abhangen, um welcher willen ihre Sammlungen veranstaltet werden. Am besten ist es wohl, sie gar nicht zu ordnen, ihr freies, buntes, durch einander geschlungenes Leben, durch keine steife Rangordnung zu stören, und dergestalt den neu entdeckten oder neu erfundenen immer einen ungehinderten Eintritt in die wunderbare alte Gesellschaft offen zu erhalten.

XXXI

Vierte Frage: Welchen Nutzen haben die Volkssagen?

Wenn man zu Beantwortung dieser Frage zuvörderst den Begriff von Nutzen überhaupt erörtert und die mancherlei Zwecke berücksichtigt hätte, zu welchen die Volkssagen etwa gebraucht werden können; so würde man wahrscheinlich finden, daß nach Verschiedenheit der Forderungen, welche an sie gemacht werden, auch ihr Nutzen höchst verschieden ausfällt.

Wer sich ihrer gelehrten Absichten, für Historie, alte Erdbeschreibung, Kultur - oder Sitten-Geschichte und dergl. bedienen wollte, würde schwerlich eine reiche Ausbeute aus ihnen zu erwarten haben. In allen diesen Rücksichten liefern sie wenig oder gar nichts; als Quellen sind sie durchaus nicht zu gebrauchen, nicht einmal als Hülfsmittel; höchstens zu Belegen möchten sie dienen können. Und diejenigen, welche sie zu solchen Zwecken haben anpreisen wollen, scheinen nicht sowohl ihnen einen übertriebenen Werth beigelegt, als vielmehr ihren wirklichen Werth gänzlich verkannt zu haben.

XXXII

Ihr eigentlicher Nutzen nämlich, und welcher auch schon oben bei ihrer Beschreibung vorläufig angegeben und entwickelt worden, ist kein anderer, als den alle Poesie überhaupt hat und haben kann, welche nicht bloß unterhält, ergötzt, erfreuet, erheitert, sondern auch erhebt und stärkt, ja den Blick von den irdischen Dingen hinweg auf eine höhere Ordnung und zuletzt auf Gott selbst hin richtet.

Eben so wohlthätig wirken nun auch die Volkssagen, oder vielmehr sie könnten es, wenn sie in angemessener, würdiger Gestalt dem Volke, oder besser, der Nation, in die Hände gegeben würden. Denn freilich ist es mit ihrem bloßen Inhalte, mit dem rohen Stoffe allein, nicht gethan; es soll nicht bloß eine müßige Neugier befriedigt oder eine augenblickliche Theilnahme erregt werden, sondern auch die Empfindung will geweckt und genährt und das Nachdenken selbst beschäftigt seyn. Erst wenn allen diesen Forderungen ein Genüge geschehen ist, wenn ein an und für sich Antheil erregender Gegenstand auch auf zweckmäßige Art dargestellt worden, wenn ihm ein unabhängiger Anfang und ein befriedigendes Ende, innere Vollständigkeit, Haltung,XXXIII nothwendige Verknüpfung, Wahrheit, Reichthum, äußere Anmuth und Gefälligkeit, vor allen Dingen aber hinlängliche Klarheit ertheilt und der Reiz und Zauber der Sprache selbst darüber verbreitet worden ist, erst dann verdient ein poetisches Werk seinen Namen und tritt in seine schöne Wirksamkeit vollständig ein.

Daß nun auch den Volkssagen zu diesem Einflusse verholfen werde, ist das Geschäft der Dichter, denen daher diese schönen und anziehenden Stoffe nicht angelegentlich genug zur Behandlung empfohlen werden können. Möchten sie doch immer mehr auf jene, aus dem alltäglichen Leben und den bürgerlichen und geselligen Verhältnissen der sogenannten gebildeten Stände hergenommenen, Gegenstände Verzicht leisten, durch welche nicht bloß die Poesie selbst herabgezogen und entwürdigt, sondern auch das oben gerügte Mißverhältniß in der Bildung der Nation immer mehr befördert und die Dauer der poetischen Werke selbst begreiflicher Weise äußerst beschränkt wird. Möchten sie dagegen, wie ihnen auch schon von großen Meistern das Beispiel gegeben ist, sich der Volkssagen zu ihren Erzählungen und Romanen, hauptsächlich aberXXXIV zu der öffentlichsten Gestalt der Dichtkunst, zu Schauspielen und zu der wundersamen Gattung der Oper immer häufiger bedienen! Möchte dazu auch diese Sammlung, welche die Sagen und Volksmährchen der Deutschen den Liebhabern und Freunden derselben rein, einfach und ungeschmückt in die Hände zu geben bestimmt ist, das Ihrige beitragen, und so die wohlgemeinte Absicht des verdienten Herausgebers glücklich erreicht werden!

Ludolph Beckedorff.

Inhalt des ersten Bändchens.

Der Hexentanz auf dem Brocken.S. 1
Die drei Schwestern aus dem See.11
Die goldenen Kohlen.17
Die Tanzwiese.23
Das Oldenburg’sche Wunderhorn.32
Die Seelöcher.36
Die verwünschte Jungfrau.41
Die Glocke im Opferteiche.48
Graf Helias von Cleve und Jungfer Beatricia.51
Der Ausgang der Hameln’schen Kinder.56
Das Himmelreich.65
Mährchen von Questenberg.68
Die Erzminen Annaberg’s und Goslar’s.85
Der Wunderfisch.91
Der Wolfsbrunnen.110
Die Gegensteine.112
Die Zauber - oder Berggeister-Kirche.117
Das versunkene Kloster.122
Die blutende Hostie.128
Teufelssteine.134
Der Fichtelberger in Venedig.142
Das weiße Reh.155
Jungfer Ilse.157
Notburga.162
Die Teufelsmauern.S.   177
Die Schloßjungfer.184
Der Löwenkampf.194
Die sieben Trappen.199
Die drei Schwäne.202
Der Ottiliensberg bei Freiburg (so lese man auch in der Ueberschrift statt Freiberg)212
Der Burggeist auf Scharzfeld.[220]
Der Schwan im Frauenberge.225
Der Klingel.230
Die Teufelsschlacht im Goslar’schen Dom.232
Der Mäusethurm.240
Herr Nickert und der Saaltanz bei Großwirschleben.245
Das Kloster Allerheiligen.250
Der Mummelsee.252
Prinzessin Mathilde.260
Der Thomaspfennig, der Kuttenzins.264
Die Entstehung des Klosters zum Elende.282
Goldner.286
Die kluge Prinzessin.296
Die Bläsjungfer.300
Die Teufelsmühle.304
Der Hautsee.311
Die Goldgruben im Fichtelgebirge.318
Der Liebesring.330
Die Tanzenden.333
Der Ring der ehelichen Treue.338

Der Hexentanz auf dem Brocken.

Eine Sammlung von deutschen Volksmährchen möchte wohl am schicklichsten mit einem solchen eröffnet werden, das ein in ganz Deutschland allgemein bekanntes ist, und daher den Namen eines Volksmährchens der Deutschen im vollen Umfange des Wortes verdient. Es sind deren einige da, wovon ich für dieses erste Bändchen das vom Hexentanze auf dem Brocken wähle.

Auf dem Harzgebirge giebt es einen hohen, hohen Berg, der über alle Berge, wohl funfzig Meilen in der Runde, weit hinwegsieht. Er heißt: der Brocken. Wenn man aber von den Zaubereien und Hexenthaten,2 die auf und an ihm vorgehen und vorgegangen sind, spricht, so heißt er auch wohl der Blocksberg. Auf dem Scheitel dieses kahlen, unfruchtbaren Berges der mit hunderttausend Millionen Felsstücken übersäet ist hat der Teufel jährlich, in der Nacht vom letzten April auf den ersten Mai, der so genannten Walpurgisnacht, mit seinen Bundesgenossen, den Hexen und Zauberern der ganzen Erde, eine glänzende Zusammenkunft. So wie die Mitternachtsstunde vorüber ist, kommen von allen Seiten diese Wesen auf Ofengabeln, Besen, Mistforken, gehörnten Ziegenböcken und sonstigen Unthieren, durch die Luft herbeigeritten, und der Teufel holt mehrere selbst dazu ab. Ist alles beisammen, so wird um ein hoch loderndes Feuer getanzt, gejauchzt, mit Feuerbränden die Luft durchschwenkt und bis zur Ermattung herum geras’t. Von Begeisterung ergriffen, tritt alsdann der Teufel auf die Teufelskanzel ,3 lästert auf Gott, seine Lehre und die lieben Engelein, und zum Beschluß giebt er, als Wirth, ein Mahl, wo nichts als Würste gegessen werden, die man auf dem Hexenaltar zubereitet. Die Hexe, die zuletzt ankommt, muß, wegen Vernachlässigung der herkömmlichen Etiquette, eines grausamen Todes sterben. Sie wird nämlich, nach der letzten glühenden Umarmung des Regenten der Unterwelt, in Stücken zerrissen, und ihr auf dem Hexenaltar zerhacktes Fleisch, den andern zum warnenden Beispiel, als eine der Hauptschüsseln des Schmauses vorgesetzt. Mit anbrechender Morgenröthe zerstäubt die ganze saubere Sippschaft nach allen Windgegenden hin.

Damit diese Unholde auf ihrer Hin - und Zurückreise weder Menschen noch Vieh Schaden zufügen können, so machen die Bewohner der Oerter um den Brocken vor der einbrechenden Walpurgisnacht an die Thüren4 der Häuser und Ställe drei Kreuze, und sind dann des festen Glaubens, daß sie und das Ihrige nun von den durchziehenden Geistern und bösen Wesen nicht behext werden können.

Der Schlüssel zu diesem Mährchen ist wohl ziemlich klar in der Geschichte Karls des Großen zu finden. Als Karl mit eben so viel Bekehrungs - als Eroberungsgeiste die kriegerische Schaubühne in Deutschland zuerst betrat, waren die Deutschen, namentlich die Sachsen, noch freie Völker voll Kraft und Muth, die sich durchaus nicht einer fremden Herrschaft sklavisch unterwerfen wollten. Als eifrige Götzendiener lag ihnen aber die Religion ihrer Väter nicht weniger, als ihre Freiheit am Herzen. Karl bot alle seine Kräfte auf, sie zu überwinden. Indessen wollte er nicht bloß dieß, er wollte sie auch5 zum Christenthum bekehren. Dadurch wurde er aber in einen Krieg mit den Sachsen verwickelt, der über drei und dreißig Jahre dauerte. Oft wurden die letztern geschlagen, aber nach jedem Siege Karls, und nach jedem Friedensschlusse, griffen sie immer wieder zu den Waffen, und nach jeder scheinbaren Annahme des Christenthums kehrten sie zum Götzendienste zurück. Dieß erbitterte Karln zuletzt so sehr, daß er, nach damaligen schrecklichen Toleranzbegriffen, Gewalt brauchte, viele, die sich nicht wollten taufen lassen, niederhauen ließ, und gebot, daß diejenigen, welche nach der Annahme des Christenthums fortfahren würden, als Heiden zu leben, und den Götzen zu dienen, mit dem Tode bestraft werden sollten.

Die heidnischen Sachsen mußten zwar endlich der Gewalt weichen, und öffentlich die Taufe annehmen; allein in ihren Herzen blieben sie dennoch Heiden, und wenn sich6 Karl mit seinem Kriegsheere zurückgezogen hatte, so opferten sie in den Wäldern von neuem den alten Götzen. Karl ließ darauf ihre Altäre und Götzenbilder zerstören. Da sie hierdurch gehindert wurden, ihre Opferfeste in der Ebene zu feiern, so flüchteten sie in die Wälder und Gebirge des Harzes, und namentlich auf den Brocken, der damals noch wenig zugänglich seyn mochte. Karl gewahrte dieß nicht so bald, als er an den vorzüglichsten Opferfesttagen die Zugänge zu den Gebirgen mit Wache besetzen ließ. Allein die Sachsen sannen auf List, dennoch an den Freuden ihrer Opferfeste Theil nehmen zu können. Sie verkleideten sich in scheußliche Larven, bewaffneten sich mit Heuforken und Ofengabeln, und erschreckten dadurch des Nachts die Wachen so, daß diese die Flucht ergriffen. Im Nothfall bedienten sie sich ihrer Instrumente auch zum Schutze gegen wilde Thiere. Vielleicht bedurften sie ihrer auch beim Opferfeuer7 selbst, theils zum Nachlegen des Holzes, theils zum Herausziehen der Feuerbrände, mit welchen in der Hand sie in Schmaus und Fröhlichkeit um das Opferfeuer herum tanzten. Da auf den Höhen des Harzes, wenigstens auf dem Brocken, am Feste des ersten Maies gewöhnlich noch Schnee lag, so bedurfte man der Besen, auf deren Stielen die Fabel die Damen der Walpurgisnacht reiten läßt, zum Fegen und Reinigen des Opferplatzes.

Die damaligen Christen hielten allgemein den Götzendienst für Teufelsdienst, und glaubten nichts gewisser, als daß der Teufel selbst, trotz der mit christlichen Wachen besetzten Wege zu den Opferplätzen, seine treuen Anhänger zu unterstützen wisse, und durch die Luft zum Brocken hinjage. Ein Wahnglaube, welchen die abergläubische Wache durch ihr Geschwätz von den gesehenen Teufelsmasken und Hexengestalten zur Bemäntelung ihrer Flucht8 entweder veranlaßte, oder doch nährte, indem sie ihm nicht widersprechen durfte.

Auf diese historisch wahren Umstände gründet sich die Fabel von der Hexenfahrt auf dem Brocken.

Warum sie der Nacht vor dem ersten Mai angedichtet worden ist, läßt sich zwar nicht mit Gewißheit beantworten, aber doch mit Wahrscheinlichkeit. Da nämlich die heidnischen Deutschen eins ihrer größten und fröhlichen Feste das Fest der wiederkehrenden schönen Jahreszeit am ersten Mai, also um die Zeit feierten, wo unsere Ostern und Pfingsten fallen; da sie in dieser Absicht ihre Wohnungen und Opferplätze mit Maien oder jungen Birken auszuschmücken und um das mächtige Opferfeuer herum frohlockend zu tanzen pflegten, und da endlich dieß Fest vorzüglich der in den Harzgegenden so sehr9 verehrten Göttin Ostera geheiligt gewesen zu seyn scheint: so ist es in der That mehr als bloß wahrscheinlich, daß die große Anhänglichkeit der Sachsen an dieß besonders fröhliche Fest des ersten Maies jenes unaufhaltsam nächtliche Zuströmen der Unholde zum Opferplatze veranlaßte; daß der in mehrern Gegenden Deutschlands noch bis auf diesen Tag herrschende Gebrauch, am Pfingstfeste die Häuser und Kirchen mit Maien zu schmücken, noch ein Rest von jener heidnischen Feierlichkeit ist; daß die ebenfalls noch übliche Gewohnheit der jungen Bursche in und am Harz, am ersten Osterabend auf den Bergen ein großes Freudenfeuer anzuzünden, und da herum zu tanzen, von den heidnischen Tänzen der ersten Mainacht herstammet, und daß endlich vielleicht unser deutsches Wort selbst aus dem Götzenthum in die Kirchensprache der Christen hinübergetragen ist.

10

Büsching in seinen Volkssagen, Leipzig 1812, 2te Abtheil. S. 339, theilt ein altes Lied von dem Brockenmährchen mit. Reise durch den Harz und die hessischen Lande, Braunschweig 1797. 8. S. 17 27, spricht umständlich über Entstehung desselben.

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Die drei Schwestern aus dem See.

Was dem Städter im Winter Schauspiel, Oper und Ball ist, das ist dem einfachen Landvolke die vertrauliche Spinnstube. In den langen Winterabenden kommen da die Spinnerinnen zusammen, die jungen Bursche gesellen sich dazu, man singt ein fröhliches Liedchen, man scherzt, man löset Pfänder ein, oder erzählt sich Mährchen und Gespenstergeschichten.

So war es vor uralten Zeiten, und so ist es noch jetzt, im Süden wie im Norden.

Auch in dem Dörfchen Epfenbach bei Sinzheim in der Unterpfalz kam man von jeher so traulich zusammen, und setzte sich recht dicht um den warmen Ofen herum, wenn’s draußen stürmte und fror.

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Aber damals traten, seit dem Gedenken der Aeltermutter, drei wunderschöne weiß gekleidete Jungfrauen in den fröhlichen Kreis. Man harrte ihrer jeden Abend mit Sehnsucht, und wie gute Engel nahm man die holden Schwestern auf; denn sie brachten jeden Abend ein neues Lied mit einer Melodie, ein munteres Spiel oder ein unbekanntes Mährchen mit. Jedermann liebte sie, und besonders verweilten die Blicke der jungen Bursche mit Wohlgefallen auf den schönen Zügen der Jungfrauen; aber eine besondere Hoheit verscheuchte jede Vertraulichkeit. Auch sie brachten immer ihre Rocken und Spindeln mit, und keine der Spinnerinnen übertraf sie an Behendigkeit und ihre Fäden an Feinheit. So wie aber die Glocke eilf schlug, so packten sie ihre Rocken zusammen, und nichts in der Welt konnte sie bewegen, auch nur eine Minute länger zu bleiben. Fröhlich und eilig verschwanden sie aus dem13 Kreise, wie sie gekommen waren. Keine Spur verrieth ihren Weg, wenn sie gute Nacht gesagt hatten. Niemand wagte es aber auch, ihnen nachzugehen. Man wußte nicht, woher sie kamen, man wußte nicht, wohin sie gingen, man sah sie nur in die Stube treten und wieder hinausgehen, und wenn man von ihnen sprach, so hießen sie nur die Jungfrauen aus dem See, oder die drei Schwestern aus dem See.

Alle jungen Bursche des Dorfs brannten im Stillen für die wunderbaren Mädchen, keiner wagte aber seine Empfindungen gegen sie laut werden, noch sie ihnen merken zu lassen.

Besonders heftigen Eindruck hatte ihr liebes Wesen und das Geheimnißvolle ihres Aufenthaltes auf des Schulmeisters Sohn gemacht. Ihm that es so leid, wenn sie gingen; ihm währte immer die Zeit zu lang, bis sie wieder kamen, und war erst der Abend nahe, so dünkte ihm jede Stunde,14 ehe er zur Spinnstube gehen durfte, eine Ewigkeit. Wenn sie nun hereintraten, die holden Schwestern, ach! da verstrich ihm wieder die Zeit so schnell, die Stunden verliefen wie Minuten, und immer meinte er, die alte Thurmuhr tauge gar nichts, denn im Winter laufe sie täglich eine halbe Stunde vor. Aber die Jungfrauen meinten, die Uhr gehe ganz recht, und kein Bitten konnte sie bewegen, länger zu bleiben.

Lange sann der liebende Jüngling hin und her, wie er es wohl anfinge, den Anblick der Unbegreiflichen länger zu genießen. Endlich kam er auf den Gedanken, die Thurmuhr um eine Stunde zurück zu stellen, um sie zu täuschen. Er that’s.

Mit recht freudigem Behagen ging er nun in die Spinnstube; denn er sah ja die lieben Mädchen heute eine Stunde länger.

Sie kamen, wie gewöhnlich, und brachten ein neues Lied mit einer neuen Melodie15 mit, das sie die Anwesenden lehrten. Darüber wurde der längere Verzug der eilften Stunde nicht bemerkt. Die Jungfrauen blieben, bis die Glocke eilf schlug, und gingen also eigentlich erst um zwölf Uhr weg. Fröhlich und heiter, wie sonst, schieden sie. Darüber freute sich der gute Jüngling gar sehr, und beschloß, diesen unschuldigen Betrug alle Abende zu wiederholen.

Aber er hatte sich vergebens gefreut. Als am folgenden Tage einige Leute am See vorübergingen, siehe, da hörten sie ein klägliches Gewimmer, und auf dem Spiegel des Wassers gewahrte man drei große blutige Stellen, die jedoch niemand zu deuten wußte. Des Schulmeisters Sohn hatte nichts davon erfahren. Er ging zur gewöhnlichen Zeit in die Spinnstube, hatte auch wieder die Thurmuhr zurückgestellt, aber man harrte vergebens. Sie kamen nicht, und sind auch niemals wieder gekommen, die lieben Schwestern.

16

Bald sagte dem trauernden Jüngling eine leise Ahndung, daß er die Ursache ihres Verschwindens sey; daß wohl sein unschuldiger Betrug ihren Lebensfaden zerrissen habe. Und das quälte und nagte ihm an der Seele. Er schlich umher, ward bleich und krank, suchte Ruhe, und fand sie im Grabe.

Unersättlichkeit im Genusse tödtet den Genuß. Wer auch die unschuldigste Freude eine Stunde, und immer eine Stunde länger schmecken will, als Geschick, Zeit, Pflicht gestatten, der wird leicht sich und andern verderblich. Hätte man diese Wahrheit in einer Dichtung darstellen wollen, man hätte dazu nichts treffenderes finden können, als die vorstehende Sage, welche aus der Badenschen Wochenschrift von 1807 genommen ist.

17

Die goldenen Kohlen.

Nahe bei der Stadt Aschersleben*)4 Meilen von Halberstadt. liegt in dem engen Thale, das die Eine durchfließt, eine Mühle. Groß und stattlich sind ihre Gebäude, die Wohlhabenheit des Besitzers verkündend. Vordem lebte aber einer ihrer Eigenthümer in der niedrigsten Dürftigkeit, bis ihn folgende wunderbare Begebenheit schnell zu einer nie gekannten noch erwarteten Wohlhabenheit verhalf.

Ein bei ihm dienendes Mädchen erwachte einst mitten in der Nacht. Sie sah ihr Kämmerlein durch das Mondlicht erhellt, glaubte, der Tag breche schon an, und erschrack gewaltig, daß sie vielleicht die Zeit18 verschlafen habe. In wenigen Minuten hatte sie sich angekleidet, und schlich nun leise, damit es der Herr nicht hören sollte, zur Küche, um Feuer anzumachen. Sie pickte, und pickte, aber Zunder, Stahl und Stein versagten ihr hartnäckig den Dienst. Von ungefähr fällt ihr Blick auf das Küchenfenster, und da glüht ihr drüben von der andern Seite des Berges her ein helles Kohlenfeuer entgegen. Zwar fällt es ihr auf, wo das Feuer da an den grünen Berg hinkomme; indessen hält sie die Gelegenheit für gut, sich gleich Feuer zu verschaffen, wirft das Feuerzeug weg ergreift eine hölzerne Mulde, und geht hin nach der Stelle, um sich Kohlen zu holen.

Als sie näher kommt, sieht sie, daß Männer mit sonderbaren Gesichtszügen, und in einer längst veralteten Tracht, sich um das Feuer schweigend und unbeweglich gelagert19 haben. Dreist von Natur, und weder was Arges ahndend noch wollend, läßt sie sich durch diese Erscheinung nicht irre machen, geht darauf zu, füllt rasch ihr Gefäß mit den vollglühenden Kohlen, eilt nach der Mühle zurück, und ist froh, auf diese Weise gleich viel Feuer auf einmal erlangt zu haben.

Kaum aber hat sie die Kohlen auf den Heerd geschüttet, und sich nach Holz niedergebückt, als sie auch alle schon wieder erloschen sind. Sie wundert und ärgert sich darüber, bläst und bläst, daß sie ganz außer Athem kommt, aber, nichts da die Kohlen sind todt und bleiben todt. Schnell nimmt sie das Gefäß, eilt wieder hinaus, um frische Kohlen zu holen, und sucht sich nun die größten und glühendsten aus, denkend: die werden doch glühend bleiben. Aber kaum liegen diese auf dem Heerde, so sind sie auch schon wieder schwarz und todt. Unbegreiflich ist ihr dieß20 abermalige Erlöschen. Sie schüttelt den Kopf, ist unschlüssig, was sie thun soll, geht indessen zum dritten Mal hinaus, Kohlen zu holen, doch mit dem festen Vorsatze, zum letzten Male. Wie die beiden ersten Male, füllt sie furchtlos ihr Gefäß mit den besten Kohlen an; aber, indem sie sich umdreht, zurück zu gehen, hört sie hinter sich mit drohender Stimme rufen:

Nun komm nicht wieder!

Von Furcht plötzlich ergriffen, läuft sie hastig der Mühle zu, und wirft mit einem heimlichen Schauder die Kohlen auf den Heerd, welche, wie die vorigen, im Nu verlöschen. Eiskalt läuft es ihr über den ganzen Leib, sie zittert und blickt scheu und bange durch das Küchenfenster nach dem Feuer hin. Das dauert ungefähr zwei Minuten, da fängt die Thurmuhr in der Stadt an zu schlagen. Sie schlägt und schlägt eine lange21 Reihe. Jetzt ertönt der letzte, der zwölfte Schlag, und weg ist das hellglühende Kohlenfeuer, weg sind die seltsamen Gestalten, nicht eine Spur davon ist noch sichtbar.

Von den Schrecken der Mitternacht ergriffen, von den Schauern der Geisterwelt angeweht, eilt sie aus der Küche, ihrem Kämmerlein zu, verbirgt sich tief in ihr Bette, zittert und bebt, und schläft endlich, von der ungewöhnlichen Spannung ermüdet, ein.

Am andern Morgen erwacht zuerst der Müller. Da noch Alles im Hause schläft, so geht er in die Küche, um selbst Feuer anzumachen. Aber wie erstaunt er, als es ihm vom Heerde wie lauter Gold entgegenstrahlt. Er untersucht, und findet pure gediegene Goldstücke.

22

Ob er dem unschuldigen Dienstmädchen, das ihn in argloser Einfalt so reichlich beschenkte, dankbar ward, das verschweigt die Sage; aber seitdem stieg ein schönes großes Mühlengebäude auf dem Grunde des alten ärmlichen hervor, und der Besitzer war nun ein reicher, reicher Mann.

Aus mündlichen Ueberlieferungen.

23

Die Tanzwiese.

In eben dem Thale bei Aschersleben liegt eine Wiese, die Tanzwiese genannt, zu deren Namens-Erklärung man folgende Sage hat.

In diesem friedlichen Thale versammelten, vor Jahrhunderten, sich oft, an schönen Sommerabenden, die blühenden Töchter der benachbarten Stadt, um sich mit Tanzen zu belustigen. Besonders pflegten hier, auf der rings umschlossenen Wiese, die Bräute in den nächsten Tagen vor der Hochzeit mit den Gespielinnen ihrer Jugend, deren Kreis sie nun bald verlassen sollten, zu tanzen.

Lange blieb diese schuldlose Freude ungestört, bis die benachbarte Raubburg auch diese Bürgerfeste unterbrach.

24

Einst tanzten hier, am zweiten Vorabend der Hochzeit einer reich ausgestatteten Braut, viele geladene Jungfrauen, bis spät in die Nacht, welche der Vollmond erhellte. Gegen Mitternacht brach die jubelnde Schaar auf, um tanzend und singend heim zu kehren. Doch nicht alle der Geladenen kehrten zurück. Zwei der blühendsten Dirnen wurden in den elterlichen Häusern vermißt, und fanden sich, alles heimlichen Forschens und Suchens ungeachtet, nicht wieder. Nach einigen Stunden vergeblichen Harrens verbreitete sich Bestürzung über viele benachbarte Häuser, und die Sorge hielt manches weinende Auge wach. Auch die Rache entbrannte; denn Viele ahndeten schon, durch ähnliche Unbildung dazu berechtigt, eine, unter Begünstigung der Nacht und des Freudetaumels, verübte Entführung.

Und ihre Ahndung betrog sie nicht. Einige Knappen des Burgherrn auf Arnstein25 hatten Kunde bekommen von diesem ländlichen Feste, und, um sich und ihrem Herrn einen Scherz nach ihrer Sitte zu bereiten, hatten sie, versteckt in dem Dickicht, welches die Tanzwiese begränzte, zwei der Tänzerinnen, die während des lärmenden Aufbruchs sich etwas von ihren Gespielen entfernt hatten, geraubt, und sie auf Umwegen in das nahe Harzgebirge geführt, um sie, zur ersehenen Zeit, unbemerkt in die Raubburg zu bringen.

Kaum blickte die Sonne auf, so versammelten sich viele der Bürger, welche die Nacht angstvoll durchwacht hatten, vor den Thüren ihrer Häuser, um mit den aufgeschreckten Nachbaren Rath zu pflegen, was zu thun sey. Ein heimlich ausgeschickter und mit der Morgenröthe heimkehrender Späher hatte nur zu sehr die Vermuthung einer gewaltsamen Entführung bestätigt, ob er gleich die Spur der Räuber im Gebirge verloren26 hatte, und es nur ahndete, daß sie auf dem Arnstein hauseten.

Die Schöffen, von dem sich verbreitenden Schrecken mit Tagesanbruch benachrichtigt, beriefen sofort den wohlweisen Rath, die Aldermänner und die Väter und Verwandten der Entführten zu einer geheimen Sitzung, und ließen Stille und Ruhe in den Häusern gebieten. Die meisten der Versammelten riethen, augenblicklich die ganze waffenfähige Mannschaft aufzubieten, um die verhaßte Raubburg Arnstein zu erstürmen und von Grund aus zu zerstören. Aber, außer der Unbestimmtheit der Nachrichten, würden, wie der vorsitzende Schöffe klüglich bemerkte, Monathe kaum hingereicht haben, um in offner Fehde die wohlbefestigte und mit Lebensmitteln reichlich versehene Burg einzunehmen; und doch war schnelle Hülfe hier nöthig.

27

Und so fand, nachdem eine lange stürmische Berathung die Köpfe und Zungen der Eiferer, es sey betäubt, oder abgekühlt hatte, der Rath eines bejahrten Aldermanns Eingang, der den Versuch einer Kriegslist vorschlug, welche den Entführten schnellere Befreiung versprach.

Auf seinen Rath mußte jeder still nach seinem Hause zurückkehren, und Bestürzung und Rache tief im Herzen verschließen. Dann wurde (gleich als hätte man bei dem fortwährenden Freudentaumel jene Entführten noch nicht vermißt, oder erwarte ruhig ihre Heimkehr) so lärmend als möglich ein ähnlicher festlicher Tanz, auf den eigentlichen Polterabend, in den Häusern der Stadt angesagt, und die Nachricht davon durch vertraute Boten auch in den benachbarten Weilern und Dörfern verbreitet.

Und die Kunde davon kam auch bis zu den Ohren des Burgherrn von Arnstein, der28 bei einem Zechgelage, mit seinen Rittern und Knappen, die Dummheit der Bürger laut belachte, die für sie ihre Töchter groß zögen.

Unter Lachen und Fluchen ward ein großer Ausritt beschlossen; denn keiner der Anwesenden wollte dieß Mal zurückbleiben von dem lustigen Streifzuge nach der Tanzwiese.

Als die Dämmerung hereinbrach, füllte sich allgemach die Wiese mit Tanzenden. Doch dieses Mal waren die Dirnen daheim geblieben. Von dem Schatten der Nacht umschleiert, hatten sich die rüstigen Bürger, nebst ihren erwachsenen Söhnen, in Weiberkleidern, die geschärfte Waffen verbargen, eingefunden, um die Ehre ihrer Töchter, Schwestern und Verlobten zu rächen, und auf die Zukunft zu sichern. Sie tanzten laut jubelnd, doch nach Weiberart, bis gegen Mitternacht; während daß ausgesandte Späher, von dem stillen Heranzuge der Räuber29 von Arnstein immer nähere und nähere Botschaft brachten.

Jetzt brachen die Tanzenden auf, um im Großvatertanz und singend nach Hause zu ziehen. Siehe! da stürmte der Burgherr von Arnstein, von vielen Reisigen, Rittern und Knappen zu Pferde und zu Fuß begleitet, heran, um den großen Fang zu thun, dem der gestrige nur das Vorspiel seyn sollte.

Der Burgherr, als er mitten unter die Tanzenden hineingesprengt war, saß ab von seinem Streitroß, um den Ruhm und die Freude zu haben, mit eignen hohen Händen die Braut entgegen zu nehmen.

Aber, wie ward ihm, der hohnlachend und mit donnernder Stimme die vermeinte Braut für sein Eigenthum erklärte, als ihm ein gezucktes Schwert entgegenblitzte, und den ausgestreckten Arm augenblicklich durchbohrte! Brüllend und Rache schnaubend30 stürzte er zurück, und forderte sein Streitroß. Aber zehn kraftvolle Arme hielten ihm Hände und Schultern und Füße, wie mit eisernen Fesseln umstrickt. Einige der Ritter und Knappen, die brüllend dem Burgherrn zu Hülfe eilten, wurden, nach kurzem Kampf, übermannt und gefesselt; die meisten entflohen schreiend, von schimpflichen Schlägen und Steinwürfen zerbläut.

Die eingefangenen Räuber wurden im lauten Triumph der Stadt zu geführt. Den Burgherrn von Arnstein spundete man vorläufig in einen großen eichenen Kasten ein. Und hier gestand er, durch die Anstalten zu seiner nahen Hinrichtung geschreckt, den verübten und den beabsichtigten Frevel. Die geraubten Jungfrauen wurden, auf seinen Befehl, augenblicklich zurückgebracht; und nur mit schwerem Lösegelde, und der eidlichen Zusage, sich nie wieder eines Frevels gegen die Stadt und deren Bewohner schuldig zu31 machen, erkaufte er seine Befreiung aus dem furchtbaren Kerker.

Der eichene Kasten, worin der Burgherr von Arnstein einige Monden schmachtete, ist noch jetzt auf dem Rathhause zu Aschersleben zu sehen, ein Denkmal der Sitten der Vorzeit für kommende Jahrhunderte.

Von Otmar (Nachtigall in Halberstadt) erzählt und in Das Alexisbad im Unterharz von Krieger; Magdeb. 1812. 8. S. 316. zuerst abgedruckt.

32

Das Oldenburgsche Wunderhorn.

Im eilften Jahrhunderte lebte Otto, Graf von Oldenburg, ein großer Freund der Jagd.

Einst verirrte er sich bei einer Rehhetze von seinem Gefolge bis in den Osenberg, eine öde Sandgegend, eine Meile von Oldenburg. Es war um Mittag, die Sonne brannte gewaltig, und Otto war ganz verschmachtet. Der Wunsch zu trinken ward heftig in ihm rege, und unwillkürlich rief er so für sich aus:

O hätt ich einen kühlen Wassertrunk!

Und siehe, da that sich vor ihm der Berg auf, und hervor trat eine schöne Jungfrau in herrlichem Gewande. Den blendend weißen Nacken wallte ihr Haar hinab, und ein33 Kranz zierte ihr Haupt. In der Hand hielt sie ein köstlich silber-vergoldetes Geschirr, wie ein Jägerhorn gestaltet und gar künstlich gearbeitet, das war mit Wasser angefüllt.

Du bist durstig, sprach sie zum Grafen, da, trinke, labe dich!

Dabei reichte sie ihm das Horn hin. Otto nahm es, sah das Wasser an, getraute sich aber nicht zu trinken, so gern er auch den brennenden Durst gelöscht hätte.

Scheue nicht den Trunk! sprach sie, er wird dir nicht schaden. Trinkst du, dann wird es wohl gehen dir und deinem Hause, dein Land wird zunehmen und ein Gedeihen haben. Trinkst du nicht, dann wird das wisse! Uneinigkeit zerrütten dein Geschlecht.

Aber Otto mißtraute der Rede der schönen Dirne, trank nicht, und goß das Horn hinter sich aus. Sein Pferd wurde davon etwas naß, und Otto gewahrte mit Schrecken, daß34 im Augenblick da, wo es naß geworden, die Haare wie weggebeizt verschwanden. Erboßt rief die Jungfrau:

Gieb mir mein Horn zurück!

Aber der erschrockene Otto gab seinem Pferde die Sporen, und eilte mit dem Horne davon. Er gelangte glücklich wieder zu den Seinigen, erzählte ihnen das wunderbare Ereigniß, und verordnete, daß das Horn zum ewigen Andenken als ein kostbares Kleinod bei seiner Familie aufbewahrt bleiben solle.

Dieß Wunderhorn ist, bis zur dänischen Besitznahme der Grafschaft Oldenburg, in Oldenburg wirklich verwahrt worden. Da kam es nach Kopenhagen, wo es noch jetzt in der Kunstkammer gezeigt wird. Abbildungen davon giebt es in dem Welt - und Staats-Theatro 1749, und in Hammelmann’s35 Oldenburgscher Chronik, welche dieß Mährchen erzählen. Es sind auch noch verschiedene kleine Schriften darüber erschienen, nach welchen es für ein Pathengeschenk Karls des Großen an Wittekind gehalten wird. Andere schreiben es dem dänischen Könige Christian dem Ersten, Andere dessen Bruder Gerhard zu. Freie romantische Bearbeitungen dieser Sage findet man in dem 2ten Bande der neuen Volksmährchen der Deutschen, von Mad. Naubert, Leipz. 1790. 8. S. 221 bis 352, und in den Volkssagen, 1r Band, Eisenach 1795. 8. S. 63-124. Büsching giebt es S. 380 in altem Styl, und so auch: Die Werke des Teufels auf dem Erdboden, Freiburg 1751. 8. S. 248.

36

Die Seelöcher.

An der Mittagsseite des Harzgebirges, in der Grafschaft Hohnstein, giebt es eine Menge von Erdfällen. Die beiden größten sind beim Dorfe Haffrungen auf einer beträchtlichen Anhöhe dicht bei einander. Sie heißen: die Seelöcher, haben eine steile mit Rasen bewachsene Abdachung, und sind unten mit tiefem klaren Wasser angefüllt. Der Umfang des größeren mag wohl 600 Schritt betragen. Beide liefern Fische und Krebse in großer Menge, und sind mit einer Pflanze bewachsen, deren Blätter die Größe und Form eines Pferdehufs haben, welche an langen strickförmigen, fingerdicken Stielen aus der Tiefe heraufwachsen und auf dem37 Wasser schwimmen. Die Blume ist weiß oder gelb, und hat viel Aehnlichkeit mit gefüllten Tulpen.

Von allen Erdfällen der Gegend ist kein einziger bei Menschen Gedenken entstanden. Da es nun auch aus ihrer Entstehungsperiode keine Nachrichten darüber giebt, so erzählt man sich Legenden über ihren Ursprung, welche den Mangel an Urkunden ersetzen sollen. Von den Haffrung’schen Seelöchern giebt es folgende:

An dem Orte, wo sie jetzt sind, weideten immer zwei Bauerjungen ihre Pferde. Gegen Abend setzten sie sich gewöhnlich vertraulich beisammen, ihr Abendbrot zu essen, und zu kosen. Einst, als das auch geschah, bemerkte der eine, daß der andere viel weißeres und besseres Brot habe, als er. Er bat, ihm etwas davon mitzutheilen. Jener weigerte sich aber, und sagte:

Nein, kriegst nichts, ess selber gern!

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Darüber wurde dieser sehr erbittert, nicht mehr, sondern nahm sein Stück schwarzes Brot, band es an eine Weide, und hieb mit der Peitsche so lange darnach, bis es allmählich in kleinen Krumen auf die Erde gefallen war.

Während dem hatten sich am Horizonte dicke finstere Wolken aufgethürmt. Es blitzte und donnerte, und mit großer Schnelle wälzte sich das heftigste Gewitter herauf und nach der Gegend hin, wo die Knaben waren. Ein alter Mann, der vorüberging, rief ihnen zu, daß sie nach Haus gehen möchten, das Gewitter sey ein sehr schweres. Da koppelte der eine Knabe auch sehr schnell seine Pferde zusammen, schwang sich darauf, und jagte dem Dörfchen zu. Der andere, der Verächter des schwarzen Brotes, wollte es auch thun, konnte aber, so sehr er sich auch tummelte, mit dem Aufzäumen seiner Pferde gar nicht fertig werden. Als er’s endlich war,39 und sich nun aufsetzen wollte, da entfiel ihm bald ein Schuh, bald die Peitsche, oder der Wind nahm ihm den Hut vom Kopfe, kurz, immer neue Hindernisse hielten ihn auf, und er kam nicht von der Stelle. Donner und Blitz krachte und leuchtete indessen fürchterlich zischend dicht um ihn her. Er zitterte und bebte. Jetzt hatte er endlich alles wieder beisammen, saß auf, und wollte nun im vollen Gallop davon jagen, da fuhr ein Blitz in einem zweifachen Strahle, von einem schrecklichen Donner begleitet, herab, und schlug den Knaben in den einen und die Pferde in den andern Abgrund.

So entstanden diese beiden Seelöcher, und seitdem schwimmen auf beiden in den Pflanzenblättern die Hufe der erschlagenen Pferde herum.

Sollte nicht in dieser Legende das Wahre liegen, daß diese beiden Erdfälle bei einem40 starken Gewitter und einer vielleicht damit verknüpft gewesenen heftigen Erschütterung der Erde entstanden sind?

Die Unzufriedenheit mit dem, was da ist, und die Geringschätzung der schlechten Nahrungsmittel ist aber auch ein bedeutender Umstand, und weist vielleicht darauf hin, daß die Einwohner der Gegend ihr dürftiges Loos oder ihren eben nicht ergiebigen Boden verachtet hatten.

Behrens Hercynia curiosa S. 85, und mit ihm Büsching S. 317, erzählen dieß Mährchen etwas anders. Die hier gegebene Erzählung ist aus den Halberstädter gemeinnützigen Blättern 1785.

41

Die verwünschte Jungfrau.

Auf dem Fichtelberge in Franken, auf der südlichen Seite des Schneeberges, ist der Nußhardtfelsen der abgelegenste, der wildeste und schaudervollste Bezirk. Hier herrscht die ödeste und traurigste Einsamkeit, die nur dann und wann durch die Viehheerden aus dem nächsten Dorfe Vordorf unterbrochen wird.

Auf diesem Bezirk haftet folgende Volkssage:

In Vordorf hat einmal ein Hirte gelebt seine Nachkommen sind noch vorhanden der trieb seine Heerde oft in diese Gegend, wo er, wegen ihrer weiten Entfernung vom Dorfe, immer erst um Mittag beim Nußhardtfelsen anlangte. So oft er dahin kam, so oft erblickte er auch zwischen eilf und zwölf42 Uhr Mittags eine köstlich ausgeschmückte Jungfrau, die jedes Mal sehr eifrig beschäftigt war, mit einem Rechen Flachsknoten umzuwenden. Oft hatte er seine Gedanken darüber, warum die schöne Jungfrau den ganzen Sommer hindurch dieß Geschäft triebe, und nie damit fertig werden könne. Mit dem Schlage zwölf Uhr war sie aber immer verschwunden, und anstatt der Flachsknoten fand der Hirt auf der Stelle Roßkoth, und mitunter ein Goldstück. Einige Male war er willens, die holde Dirne anzureden; aber nie hatte er das Herz dazu.

So vergingen mehrere Sommer. Sie sahen beide einander täglich, sie wurden einander gewohnt; aber keines sprach ein Wort mit dem andern, denn sie sahen sich immer nur von ferne.

Was geschah? Einst näherte sich dem Hirten die jungfräuliche Gestalt, schön und herrlich, wie es keine Schönheit weiter in43 der Welt giebt. Sie redete ihn mit stolzer und majestätischer, aber doch mit liebreicher und freundlicher Miene an:

Du kannst mein Retter werden! sprach sie. Viele Jahre bist du schon Zeuge meines Thuns und Wirkens in dieser furchtbaren Einöde. Nie that ich dir etwas zu Leide, und werde es auch nie thun. Wisse, ich bin eine verwünschte, edle Jungfrau, die schon Jahrtausende hier nach Erlösung schmachtet. Du kannst mich retten, nur Du! Höre meine Weisung. Mir steht ein merkwürdiger Tag bevor; sie nannte den Tag vergiß ihn nicht. Auf diesen Tag gehe in die große Höhle des Felsens, die du kennst. Hier findest du mich. Gehe dreist auf mich zu, und gieb mir drei Küsse auf die Stirn. Thust du das, dann dann bin ich erlöst! Aber merke es dir wohl: in dem Zustande, wie du mich jetzt siehst, bin ich dann nicht. An jenem Tage habe ich einen44 schweren, großen Kampf zu kämpfen. Aus meinem Halse spricht Feuer, mein Haupthaar ist ein Geflechte von Schlangen, und ich liege in Krämpfen und Zuckungen. Dieser Anblick muß dich aber nicht schrecken. Gehe nur getrost auf mich los, und gieb mir drei Küsse. Deine Entschlossenheit rettet mich, und wird dir wohl, wird dir reichlich belohnt werden. Nimm auch, wenn du dich fürchten solltest, deinen Beichtvater oder sonst einen treuen Freund mit dir.

Sprach’s, und verschwand. Der Hirte stand da, und wußte nicht, ob er gewacht oder geträumt hatte. Er trieb seine Heerde heim, konnte nicht schlafen, ging gedankenvoll herum, und wußte nicht was er thun sollte. Das furchtbare Gemälde, das die schöne Jungfrau von sich selbst ihm gemacht, hatte eine unüberwindliche Furcht in ihm erzeugt, die von der ihm zugleich eröffneten Aussicht auf eine gute Belohnung nicht überwunden45 werden konnte. Keinem Menschen offenbarte er das Geschehene, auch seinem Beichtvater nicht. Er trug es mit sich herum, quälte sich Tag und Nacht, vermied in der Zeit den Nußhardtfelsen, und der bestimmte Tag verstrich.

Als er vorüber war, war’s ihm, als sey ein Stein von seinem Herzen gefallen. Nun trieb er die Heerde wieder zum Nußhardtfelsen. Voll Erwartung nahte er sich ihm und der Stelle, von wo er die schöne Jungfrau immer gesehen hatte.

Sie erschien. Sie näherte sich ihm in ihrem ganzen jungfräulichen Glanze. Mit starkem Herzklopfen sah er sie kommen. Da sprach sie sanft und rührend:

Du hast an mir nicht wohl gehandelt. Du hättest mich retten können, und thatest es nicht. Höre, was ich dir sage, und was dir wohl selbst nicht bekannt war. Deine Lebensereignisse greifen in die meinigen wunderbar46 ein. Du bist getauft aus einer Bademulde, die aus einem Birkenbaume gemacht war, der an einem bestimmten Tage nicht nur gepflanzt, sondern auch gefällt wurde. An das Zusammentreffen aller dieser Umstände ist meine Erlösung aus einer schrecklichen Verbannung geknüpft. Du Du hättest mich erlösen können, und hast es nicht gethan!

Sie drehte sich um, eine Thräne fiel aus ihrem blauen Auge, und ihr schönes Gebilde zerfloß wie ein lichter Nebel vor den Augen des Hirten.

Auf seinen Stab gestützt, sah dieser starr vor sich hin. Er war gerührt und betrübt. Nun hätte er das Wagstück gern bestanden; aber nie sah er die schöne Jungfrau wieder, so oft er auch den Nußhardtfelsen behütete.

47

Das Zögern der Furcht und Unentschlossenheit, die sich für klug hält, und eben damit die Versäumung des Augenblicks zur Rettung Anderer und zur eigenen Befriedigung, kann nicht sanfter und zugleich eindringender dargestellt werden, als es in dieser Sage geschieht, die mir aus jenen Gegenden mitgetheilt wurde.

48

Die Glocke im Opferteiche.

Dicht an Moringen, einem Städtchen bei Göttingen, liegt das Oberdorf Moringen. Da findet man in einem Garten einen Teich, der Opferteich genannt. In frühen Zeiten wurde in seiner Nähe, auf dem Mallo oder Gerichtsplatze, unter großen Eichen Gericht gehalten, und die Tradition sagt, daß er von den Opfern, die nach geschlossenem Gericht gebracht wären, wobei man sich seines Wassers bediente, den Namen erhalten habe. Neben ihm stand sonst ein Tempelherrenkloster, wovon noch Ueberbleibsel da sind, und etwas weiterhin steht eine Kirche, die schon unter Ludwig dem Frommen erbaut seyn soll, zum Kloster gehörte, und jetzt die Filialkirche des Orts ist. Der Teich ist sehr tief, hat49 gar keinen sichtbaren Zufluß, aber so reichliche unterirdische Quellen, daß sein sehr klares und eben so kaltes Wasser gleich beim Ausflusse zwei Mühlen treibt.

Von ihm erzählt man, daß es jährlich, in der Weihnachtsnacht von zwölf bis ein Uhr, in seiner Tiefe läute.

Die Mönche des erwähnten Klosters hatten nämlich einmal eine neue Glocke gießen und in dem noch stehenden Kirchthurme aufhängen lassen. Sie vergaßen aber, der Gewohnheit gemäß, sie vor dem Gebrauche zum Gottesdienste einzusegnen und zu taufen. Nun wollten sie sie zum ersten Male in der heiligen Weihnachtsnacht zur Christmesse gebrauchen. Aber kaum war sie in Schwung gesetzt und hatte einige Male getönt, als sie durch eine wunderbare Kraft losgerissen wurde, zum Schallloche des Thurmes hinaus, über das Kloster hin flog, und in den Opferteich fiel.

50

Da liegt sie nun tief unten. In jeder Weihnachtsnacht aber hebt sie sich in die Höhe, läutet, und sinkt dann wieder unter.

Seit der Zeit ist auch der Gottesdienst in der Kirche in Verfall gerathen und das Tempelherrenkoster aufgehoben worden. Auch kann ihrentwegen kein Fisch in dem Teiche leben.

Bei hellem Wetter haben Einige die Glocke in der Tiefe des Wassers liegen sehen; auch kann man noch an der Seite des Schallloches die Spuren ihres heftigen Durchflugs bemerken.

Aus handschriftlichen Mittheilungen aus der Gegend von Moringen.

51

Graf Helias von Cleve und Jungfer Beatricia.

In Rom war im Jahre nach Christi Geburt 709 ein edler streitbarer Mann, der hieß Dietrich von dem Geschlechte der Ursine. Dem gab der Kaiser Justinian, mit Zustimmung des Königs in Frankreich, Childerich, ein Land zu Erb und zu eigen, nämlich das Land Cleve. Auch gab er ihm die kaiserliche Burg in Nymwegen ein, sie zu beschützen und zu vertheidigen.

Als Dietrich nun so zu Nymwegen wohnte, baute er eine Festung in Westsachsen auf dem Anger, die hieß hernach Cleve, und Dietrich nannte sich Herr von Cleve. Fünf Jahre und fünf Tage regierte er nur, aber wohl, und tapfer stritt er gegen die Sachsen52 bis an seinen Tod. Er hinterließ nur eine Tochter, die hieß Beatricia. Diese ward Erbin, und nannte sich Gräfin von Cleve.

Aber ihr Land ward bald voll von Räubern, die es plünderten und verheerten; denn sie war zu schwach, es davon zu säubern. Darüber betrübte sie sich sehr, und war traurig, daß ihre armen Leute so geplagt wurden.

Eines Tages saß sie auf der Burg zu Nymwegen am Fenster, und sah ganz niedergeschlagen auf die blauen Wellen des Rheins. Siehe, da kam ein Schwan auf dem Flusse herauf geschwommen, der war weiß. Um den Hals hatte er eine goldne Kette, woran ein kleines Schiff hing, das er hinter sich her zog. In diesem Schiffchen saß ein schöner Jüngling, der hatte in der Hand ein blankes Schwert von purem Golde und auch ein schön gewundenes Jagdhorn. Auf der Brust hing ihm ein Schild, worin acht goldne Scepter standen, und in der53 Mitte war ein Stück Zinnober, so noch das Wappen von Cleve ist.

Dicht unter den Mauern von Nymwegen hielt das Schiff, und der schöne Jüngling begehrte die holde Jungfrau von Cleve zu sprechen.

Beatricia kam züchtiglich und ehrbar herab an das Ufer. Ihr war das eine Schickung Gottes; denn oft schon war es ihr im Traume vorgekommen, daß sie auf diese Art einen Mann haben solle. Nun besprachen sich beide lange, und sagten einander viel Gutes und Liebes. Helias, so hieß der Jüngling, sagte ihr auch alle seine Gebrechen und Mängel, verlangte aber von der Jungfrau, daß, wenn sie ihn liebe, sie ihn nie fragen solle, wo er hergekommen sey. Thäte sie das doch, so müsse er sie verlassen, und könne alsdann nie zurückkehren. Sie gelobte ihm dieß an, und so kamen sie denn zusammen in den Stand des echten Lebens, der Ehe.

54

(Beiläufig sey es gesagt die Historienschreiber meinen, der Jüngling Helias sey gekommen aus dem Berge Grale, wie man nannte ein Festspiel, worauf es herging lustig und liederlich, so daß er also ein Kind der Liebe zu nennen sey.)

So waren nun also Helias und[Beatricia] Mann und Weib. Sie zählten in vier Jahren drei Söhne. Der eine hieß Dietrich, der ward des Vaters Nachfolger im Lande; der zweite hieß Gottfried, und wurde ein Graf von Lyon; der dritte hieß Konrad, der kam zum Bischof nach Mainz.

Kaiser Theodosius machte aus diesem Helias einen Grafen, und aus seinem Lande eine Grafschaft, die er ein und zwanzig Jahre regierte. Da brach seine Frau ihr Versprechen, und fragte darnach, was er ihr verboten hatte.

Es war nämlich im Jahre 737, als Graf Helias bei seiner Ehefrau Beatricia im Bette55 lag. Da fragte sie ihn mit einem Male und ohne es vorher zu überlegen, und sprach:

Lieber Herr, warum müssen eure Kinder das nicht wissen, wo sie sind hergekommen, und was Geburt das sie sind?

Sobald sie diese Worte ausgesprochen, da verlor sie ihn aus dem Bette. Helias verschwand, so daß sie gar nicht wußte, wo er geblieben war, und nimmer kam er auch zurück.

Da härmte und grämte sich Beatricia, und verblich wie eine Blume auf dürrer Heide.

Ihr Sohn Dietrich aber ward Graf zu Cleve, und regierte vierzig Jahre. Von ihm gingen aus alle Grafen und Herzoge zu Cleve bis auf unsere Zeit.

C. Abel, Samml. etlicher noch nicht gedruckter alter Chroniken. Braunschw. 1732. S. 54.

56

Der Ausgang der Hamelnschen Kinder.

Bei der Stadt Hameln liegt gegen Morgen, vor dem Osterthore, ein mäßiger Hügel, der Koppelberg genannt. An diesem bemerkt man eine Vertiefung nebst zwei steinernen Kreuzen, welche das Andenken an eine furchtbare Begebenheit erhalten sollen, die sich hier im Jahre 1284 am 26sten Junius zugetragen hat.

Um diese Zeit war nämlich die Stadt Hameln mit einer furchtbaren Menge Ratten geplagt. Ueberall wimmelte es von diesem Ungeziefer, gegen welches kein Schloß, keine Falle, kein Riegel, kein Pulver half. Sie zehrten alles auf, zernagten, was sie nicht fressen konnten, packten das Vieh in den57 Ställen an, bissen die Menschen des Nachts in den Betten; und wenn auch hier Tausende todt geschlagen wurden, so kamen dort neue Tausende zum Vorschein. Kurz, die armen Hamelenser waren eben so arg geplagt, wie einstens die Aegypter.

Da erschien ein Mann in der Stadt, der war wunderlich gekleidet, und machte laut kund: er wolle das Ungeziefer verbannen, wenn man ihm ein gutes Stück Trinkgeld gäbe. Wer war froher, als die Einwohner, die noch Geld genug, aber kein Brot hatten. Sie versprachen daher dem Manne zu geben, was er verlange, nur möchte er sie bald von ihrem Uebel erlösen. Sie dachten, er besäße vielleicht ein unfehlbar wirkendes Rattenpulver, oder bediene sich doch eines natürlichen Mittels zu seinem Zwecke. Aber, was geschah? Der wunderlich gekleidete Mann nahm ein Pfeifchen aus seiner Tasche, blies darauf, und ging so durch die Straßen. Da58 stürzten aus allen Häusern, aus allen Winkeln, Kellern, Gärten und Höfen die Ratten schaarenweise hervor, und folgten dem Pfeifer nach. Die erstaunten Einwohner folgten auch; und als er nun alle Straßen durchgangen hatte, und das Ungeziefer in solcher Masse hinter ihm drein wogte, daß manche Straße zu eng war, führte er sie an das Ufer der Weser. Hier sprach er einige fremde kauderwälsche Worte, hob seinen bunten Stab auf, und siehe, die ganze Rattenmenge stürzte sich in die Fluth und verschwand.

Den Einwohnern standen bei diesem Anblicke die Haare zu Berge. Mit natürlichen Dingen ging das nicht zu. Der fremde Mann mußte ein Hexenmeister oder gar der Teufel selbst seyn. In beiden Fällen hielten sie sich nicht für verpflichtet, ihm die versprochene Zahlung zu leisten; und so sehr auch der verfluchte Bube so nennt ihn das Mährchen darauf bestand, so verweigerten59 sie sie ihm doch hartnäckig, fürchtend, er banne ihnen das Rattenheer von neuem auf den Hals.

Darob ergrimmte der Zaubermann entsetzlich, und beschloß, sich dafür recht weidlich zu rächen. Als nun eines Sonntags die Bürger alle in den Gotteshäusern waren, ging er wieder mit seinem verwünschten Pfeifchen durch alle Straßen. Ratten gab es nicht mehr, dafür kamen aber die Kinder aus den Häusern und zogen ihm gleich jenen nach. Als er nun hundert und dreißig Knaben und Mädchen beisammen hatte, ging er mit ihnen durch die enge bungelose Straße zum Osterthore hinaus nach dem Koppelberge zu.

Ein Dienstmädchen, das mit einem kleinen Kinde im Mantel am Thore stand, war neugierig zu sehen, was daraus werden solle, und folgte dem Kinderschwarme. Als nun der Mann, der den Zug anführte, an den Berg kam, öffnete sich dieser, er ging hinein,60 alle Kinder mit ihm, und schwapp! da schlug die Oeffnung zu, und weg war alles.

Zitternd und bebend eilte das erschrockene Dienstmädchen zurück, und erzählte die traurige Begebenheit.

(Nach einer andern Lesart sollen zwei von den hundert und dreißig Kindern umgekehrt und in die Stadt gekommen seyn. Eins davon wäre blind, das andere stumm gewesen. Das letztere habe die Gegend des Berges, wo er sich geöffnet, angezeigt, und das blinde die Erzählung dazu geliefert.)

Die Nachricht war indessen kaum kundbar geworden, als alles aus den Kirchen heraus und nach dem Koppelberge stürzte. Das war ein Klagen und ein Jammergeschrei, ein Rufen und ein Weinen. Aber umsonst, der Berg blieb verschlossen, und die Kinder kamen nicht zurück. Nur eine Vertiefung gewahrte man an dem Berge, die der Eingang gewesen zu seyn schien.

61

Weit und breit schickte man Boten aus, zu forschen, ob nicht irgendwo Kunde von den verlornen Kindern zu erhalten sey, aber vergebens. Viele glaubten, der Satan habe dem Dienstmädchen ein Blendwerk vorgemacht, und die Kinder wären von ihm nicht in den Berg, sondern durch die Lüfte und nach Siebenbürgen entführt worden. Denn um eben diese Zeit solches schreibt die Siebenbürgensche Chronik wären in diesem Lande mit einem Male eine Menge Kinder angekommen, die eine unbekannte Sprache geredet hätten. Sie wären da geblieben, ihre Sprache hätte sich fortgepflanzt, und so wäre es gekommen, daß in diesem Lande eine andere, als die sächsisch-deutsche Sprache geredet werde.

Die Stadt Hameln hat nach dieser Begebenheit mehrere Jahre lang ihre Ausfertigungen datirt, wovon noch Documente vorhanden seyn sollen. Die kleine Gasse, durch62 welche die Kinder zum Thore hinausgeführt wurden, heißt noch jetzt die Bungelose Gasse. Es wurde nämlich von dem Magistrat verordnet, daß bei Gelegenheiten, wo Musik und Spielwerk auf den Straßen erschalle, zum ewigen Andenken in dieser Straße nie eine Trommel (Bunge) gerührt werden solle.

Diese Erzählung hat allerdings ihren historischen Grund, ist aber durch eine falsche Deutung verstellt worden. Die wahre Geschichte ist diese. Der Abt zu Fulda verkaufte im Jahre 1252 die Stadt Hameln und die Vogtey darüber an den 32sten Bischof zu Minden, Wedekind oder Widekind. Hiermit war der Graf von Everstein nicht zufrieden; als welcher bisher die Schutzgerechtigkeit oder Vogtey über die Stadt und das Stift Hameln, als ein Lehn von Fulda, besessen hatte. Er reizte daher die Bürgerschaft,63 sich dem Bischof zu widersetzen, der sich jedoch mit Gewalt den Besitz der Stadt verschaffte. Als man seinen Anmarsch erfuhr, rückten ihm die Bürger, am Tage des Märtyrers Pantaleon 1259, unter ihrem Anführer mit Trommeln und Pfeifen entgegen. Dieß ist der Ausgang der Hamelnschen Kinder, die der Anführung eines Pfeifers, der sie zusammenberufen hatte, folgten. Es kam zum Treffen bei Sedemünden am Fuße des Koppelberges, das die Hamelnschen Bürger verloren, und theils erschlagen, theils nach Minden geführt wurden. Zum Andenken dieser Begebenheit feierte die Stadt jährlich einen Gedächtnißtag, welchen sie den Ausgang ihrer Kinder nannte. Nachher machte die Stadt mit dem Bischof einen Waffenstillstand, und in der Hoffnung, die Stadt durch Güte zum Nachgeben zu bewegen, setzte der Bischof die gefangenen Bürger auf freien Fuß. Diese eilten wieder nach Haus, und64 kamen durch den nächsten Weg nach Hameln über die Sevenberge, welche eine halbe Stunde von Hameln liegen. Es kamen also die Hamelnschen Kinder in den Seven - oder Siebenbergen wieder zum Vorschein, woraus die Unverständigen Siebenbürgen gemacht haben.

C. F. Fein, Das unter dem Ausgang der Hamelnschen Kinder verborgene Geheimniß. Hannov. 1749. Halberstädter gemeinnütz. Blätter 1788. S. 130. Bertuch’s Modenjournal, Octoberheft 1813. S. 637. v. Göthe hat dieß Mährchen als Stoff zu einem Gedicht, der Rattenfänger überschrieben, benutzt.

65

Das Himmelreich.

In dem lieblichen Thale, durch welches der Neckar sich schlängelt, ragt, nicht weit von dem Städtchen Grundelsheim, ein steiler Berg vor den andern Bergen weit hervor, auf dessen Gipfel eine, dem Erzengel Michael geweihete, Kirche steht, die Himmelreich heißt. Von dieser redet die Sage Folgendes:

Als noch finsterer Wald den ganzen Berg umgab, lebte hier, abgeschieden von der Welt, der heilige Lukas. Frommen Betrachtungen und stillem Gebete war sein Leben geweiht Wurzeln und wilde Kräuter er. Fand er einen verirrten Wanderer, so labte er ihn so gut er’s vermochte, und brachte ihn dann wieder auf die rechte Straße.

66

Bald ging die Kunde von dem heiligen Manne in der Gegend umher. Viele pilgerten nach seiner Hütte, und wer die Tröstungen des alten Greises gehört, wen er gesegnet hatte, der fühlte sich heiterer und kehrte mit mehr Ruhe im Herzen zurück.

Und immer mehr breitete sich der Ruf seiner Heiligkeit aus, und immer zahlreicher pilgerte man nach der heiligen Höhe.

Schon bleichte Lukas’s Haar, seine Rechte zitterte, und ein Knotenstab unterstützte seine wankenden Schritte, da pochte es eines Abends spät noch an seiner Thüre. Ein Pilger trat ein. Seine Kleider trieften vom Regen, und erstarrt waren seine Glieder. Der Greis hieß ihn willkommen, zündete eilig ein Feuer an, trocknete die Kleider des Pilgers, setzte ihm Essen auf, und bereitete ein Lager von Moos. Andächtig kniete er alsdann in einem Kämmerlein vor dem kleinen Hausaltare, sein Abendgebet zu verrichten. 67Da trat der Pilger zu ihm ein. Aber sprachlos staunte der fromme Lukas, als um des Fremden Stirn er einen Strahlenkranz schimmern sah, der seine blöden Augen trübte.

Dein Gebet ist erhört! flüsterte der Engel des Herrn; gehe zur Ruhe!

Er küßte den Sprachlosen auf die Stirn, da entfloh die Seele mit ihm ins Paradies.

Todt fanden am Morgen den heiligen Mann einige Waller. Weinend begruben sie ihn an jener Stelle, und baueten eine Kirche, dem Erzengel Michael heilig.

Himmelreich heißt davon der Berg, und jährlich wallfahrtet das Volk noch hinauf nach jener Kirche, um sein Gebet zu verrichten.

Badensche Wochenschrift 1807.

68

Mährchen von Questenberg.

Eine Stunde von Roßla, in der Grafschaft Stolberg, verwittern, zwischen Bergen des Harzes, die Ruinen der Burg Questenberg. In weiter Ferne blinken sie gar deutlich hervor; denn die Burg war von weißem Gyps - oder Kalkstein erbaut, den die Sonne je länger je mehr ausblich. Hier lebte im dreizehnten Jahrhunderte Ritter Knut, der hatte ein einziges Töchterlein, das er sehr liebte, weil er kein Kind mehr hatte. Nun spielte es einmal vor dem Thore der Burg, suchte Blumen im nahen Walde, verlor sich zu tief ins Dickicht, und konnte den Heimweg nicht wieder finden. Die Wärterin, die sorglos vor des Thores Pforte saß, und gewohnt war, das Kind nach Blumen im Gebüsch herumlaufen69 zu sehen, hatte anfänglich nichts Arges daraus, daß es nicht gleich wieder zurückkam. Als aber der Abend heran dunkelte, und ihr Rufen vergebens, ihr Suchen nach dem theuren Kinde umsonst war, da rang sie angstvoll die Hände, raufte sich das Haar und eilte nach Hülfe auf die Burg zurück. Alles wehklagte und lief in den Wald. Der Burgherr sandte seine Knappen nach allen Windgegenden aus, und die Gemeinheiten wurden aufgeboten, das verlorne Kind zu suchen.

Das Kind hatte sich durch immer schönere Blumen immer tiefer in den Wald locken lassen, war in ein finsteres Thal, durch das kein Weg führte, und endlich zu einer Köhlerhütte gekommen. Hier hatte es sich vor der Thür hingesetzt, und flocht eben mit seinen zarten Fingerchen einen Blumenkranz, an dem zwei Quasten von Blumen herabhingen, als der Köhler es mit einbrechender Nacht bei seiner Rückkehr fand. Das Kind lächelte so70 freundlich zu ihm hinauf, als kenne es den schwarzen Mann schon längst, bot ihm seinen Blumenkranz an, und verlangte zu essen. Der Köhler kannte das Kind nicht, konnte auch den Namen seines Vaters von ihm nicht erfahren. Er nahm es indessen freundlich auf den Arm, drückte seinen rußigen Mund auf die rothe Wange, trug es in das enge Holzhaus, und pflegte sein. So vergingen mehrere Tage. Das Kind zeigte kein Verlangen zum Vater zurück; denn es fand hier Blumen vor der Hütte, wie vor der Burg, und seine stete Beschäftigung war, Blumenkränze zu winden.

So fanden es endlich nach mehrern Tagen einige Einwohner des unter Questenberg liegenden Dorfes Finsterberg. Groß war ihre Freude. Jubelnd nahmen sie das Kind auf, banden den Blumenkranz, den es eben wand, an eine hohe Stange, trugen diese vorauf, und zogen nun tanzend und singend71 nach der Burg, wohin auch der Köhler mitgehen mußte.

Hier saß indessen der trauernde Vater, und härmte sich ab und weinte. Alle Hoffnung hatte er schon aufgegeben, alle Freude wollte von ihm schwinden, da tönte mit einem Male das fröhliche Geschrei aus der Ferne zu ihm herauf. Er stürzte die Treppen hinab, zum Burgthore hinaus, und, ach! da hing die kleine Jutta an seinem Halse. Alles weinte vor Freude, alles jubelte mit Thränen im Auge, und das Entzücken des glücklichen Vaters war unbeschreiblich. Die hohe Stange mit dem Blumenkranze wurde im Burghofe aufgepflanzt, und Knappen und alles, was mit eingezogen war, tanzten und zechten um ihn her bis tief in die Nacht hinein.

Zum dankbaren Andenken schenkte der Vater den Einwohnern von Finsterberg einen Strich Waldes, und denen von Roda, das72 ihm auch gehörte, den Holzfleck, wo sein Kind vor der Köhlerhütte gefunden war*)Das Holz ist später ausgerodet und in eine Wiese verwandelt worden, die noch jetzt die Fräuleinwiese heißt und zu den Grundstücken des Predigers in Roda gehört.. Ferner gab er, veranlaßt durch die Blumenquasten, welche am Kranze des Kindes angebracht waren, seiner Burg und dem darunter liegenden Dorfe Finsterberg den Namen Questenberg, und verordnete, daß jährlich an dem für ihn so freudigen Tage auf dem höchsten Berge der Gegend ein Baum aufgerichtet, und mit einem solchen Kranze, wie der des Kindes war, geschmückt werden solle.

Seitdem hieß und heißt noch die Burg und das Dorf: Questenberg, und seitdem wird bis auf den heutigen Tag dieß Fest jährlich73 am dritten Pfingstfesttage, jedoch mit einigen durch die Zeitumstände herbeigeführten Abänderungen, als ein echtes Volksfest gefeiert. Die jungen Bursche und Männer des Dorfes suchen sich aus dem Walde den größten ihnen beliebigen Baum aus, hauen ihn am Abend vor Pfingsten ab, nehmen ihm, bis auf eine halbe Elle vom Stamme, alle Aeste, bringen ihn am Tage der Feier früh vor Aufgang der Sonne auf einen hohen Berg gleich über dem Dorfe, richten ihn da auf, und befestigen nun einen von grünen Zweigen und Blumen geflochtenen Kranz daran, welcher die Größe eines Wagenrades hat, und auf den Seiten mit Quasten von Blumen geziert ist. Das alles geschieht unterm Zulauf einer Menge Menschen der ganzen Gegend, von Musik, Jubel und Freudenschüssen begleitet. Ist man damit fertig, was jedoch nie vor Mittag der Fall ist, so wird in Procession nach der Kirche gezogen,74 Gottesdienst gehalten, und dann der Tag mit Tanz beschlossen.

So wird, wie gesagt, noch jetzt jährlich das Fest gefeiert, nur mit der Abänderung, daß nur alle acht Jahre ein frischer Baum geholt werden darf, dagegen die Gemeine in jedem der übrigen sieben Jahre ein Geschenk von 8 Rthlr. erhält. Wahrscheinlich hat dieß die in unsern Tagen nothwendig gewordene Sparsamkeit im Holzverbrauch veranlaßt.

Es könnte scheinen, als ob diese Volkssage durch die Wortforschung entstanden sey; indessen sehe ich nichts Unwahrscheinliches in der Begebenheit. Es geht so ganz natürlich, ohne Zauberei, ohne Unbegreiflichkeiten, ohne Einwirkung unsichtbarer Kräfte darin zu, ja selbst die Phantasie scheint keinen Einfluß darauf gehabt zu haben, warum sollte sie nicht wahr, nicht wirklich so geschehen seyn, wie sie noch erzählt wird? Ein Vater verliert sein Kind, die Unterthanen bringen es75 ihm zurück: natürlich bezeigt er sich dankbar dafür, und da ihm die Begebenheit wichtig ist, so ordnet er ein jährliches Fest der Erinnerung an. Dieß Fest war ganz im Geiste der Volksfeste eingerichtet, und so erhielt es sich bis in unsere Tage. Gewiß, man wird bei wenig deutschen Volkssagen mit ähnlicher Zuversicht behaupten können, daß ihnen ein historisches Factum zum Grunde liege, und durch sie so wenig entstellt sey, als in dieser von der Quäste auf Questenberg.

Es giebt aber auch noch andere Sagen von Questenberg, die mehr das Gepräge von gewöhnlichern Mährchen haben.

Im dreißigjährigen Kriege flüchteten die Anwohner ihr Geld und ihre Habseligkeiten auf die Burg Questenberg, um sie gegen Raub und Plünderung zu sichern. Diese76 Schätze liegen jetzt noch alle in einem großen Braukessel beisammen, der in einem der unterirdischen Gewölbe steht, und von einem Geiste bewacht wird. Einst ging einmal des Sonntags ein Einwohner aus Questenberg auf die alte Burg, besah die morschen Ruinen, kroch überall herum, und kam auch an eine Stelle, wo es ihm vorkam, als ginge es tief in die Erde hinein. Er drängte sich durch dichtes verworrenes Gebüsch durch, ging immer mehr abwärts, und kam in die Oeffnung eines dunkeln Ganges. Die Neugierde führte ihn weiter, und da gewahrte er endlich im Hintergrunde, wo kaum noch ein Schimmer von Tagslicht hinfiel, eine runde Oeffnung in der Erde. Als er dicht davor stand, erschien plötzlich ein Geist in einen Schleier gehüllt. Es wurde hell, und der erschrockene Mann sah vor sich den Braukessel mit lauter Goldstücken angefüllt, von den ihm gar oft schon seine Großmutter erzählt hatte. Er77 wußte nicht, was er thun, ob er gehen oder nehmen sollte. Da sprach der Geist: Nimm eins der Goldstücke, komm jeden Tag wieder und nimm dir eins, aber nimm nie mehr, als eins! und verschwand. Der Mann nahm eins der Goldstücke, eilte mit klopfendem Herzen vor Freude und Angst nach der Oeffnung zurück, merkte sich den Ort genau, und ging, zehn Mal besehend das Geschenk des Geistes, nach Hause. Tags darauf kam er wieder. Der Geist war nicht da, aber der Braukessel mit dem Golde. Er nahm sich wieder ein Stück, und ging. Den zweiten, dritten, vierten Tag fand er sich wieder ein, holte immer ein Stück, und so trieb er’s wohl ein Jahr lang. Seine Hütte hatte er während dem in ein stattliches Haus umgewandelt, sich viel Acker gekauft, schönes Zugvieh angeschafft, und kein Bauer im Dorfe konnte es ihm gleich78 thun. Je mehr aber sein Reichthum wuchs, desto übermüthiger wurde er. Wozu soll ich arbeiten, sprach er, ich kann ja der Ruhe pflegen! und nun hielt er Knechte und Mägde, die das Feld bebauen mußten, und saß im Lehnstuhl, oder ritt auf einem Gaul hinaus, die Saat zu besehen, die er sonst selbst ausgestreut hatte. Nur den täglichen Gang nach dem Braukessel machte er selbst. Als nun der Mammon immer mehr anwuchs denn so ein Goldstück war wohl beynahe zwanzig Thaler werth und sein Stolz mit ihm, da kam ihm der Gedanke bei, daß es doch sehr lästig sey, täglich um eines Goldstücks wegen den hohen Berg hinanklimmen zu müssen, er wolle das nächste Mal zwei Goldstücke nehmen. Er that es, nahm Tags darauf zwei Stücke mit, und trieb dieß einen ganzen Monat hindurch. Auch damit noch nicht zufrieden, sprach er:

79

Ei, was soll ich mich da täglich quälen und zwei Goldstücke nur nehmen! Der ganze Schatz ist ja doch für mich bestimmt, ob ich ihn nun nach und nach oder auf ein Mal hole, das wird einerlei seyn. Ich werde gehen und den schönen Braukessel auf ein Mal leeren, dann brauche ich mich nicht weiter zu mühen!

Er packte viele Säcke auf, keuchte den Berg hinan (denn die gute Kost und das gemächliche Leben hatten seinen Körper wohl genährt), langte bei der bewußten Oeffnung ganz ermattet an, setzte sich erst nieder, um wieder zu Kräften zu kommen, freute sich, daß nun auch diese lästigen Gänge hierher aufhören würden, und berechnete schon im Geiste, was er nun beginnen könne, wenn alle die Säcke, wohl angefüllt, in seinem Hause erst ständen; wie er dann ein großes Rittergut sich kaufen, in einem schönen Glaskasten80 mit Vieren bespannt fahren, wie er große Tafel halten, viel Gäste bei sich sehen, mit ihnen zechen wolle, trotz der Ritter auf der nahen Burg Kyffhausen, und dergleichen mehr. Jetzt stand er auf, nahm die Säcke, ging durch den dunkeln Gang, und langte bei dem Braukessel, der, trotz alles dessen, was schon nach und nach weggeholt war, von neuem bis an den Rand sich wieder gefüllt hatte, an. Er nahm den ersten Sack, kniete nieder an den Rand des Kessels, fuhr mit beiden Händen in das Gold hinein und wollte so die erste Ladung in den Sack werfen, als plötzlich der ganze Braukessel vor ihm mit schrecklichem Geprassel hinabsank, Feuerflammen und Schwefelgestank heraufqualmten, und der betäubte Thor fast ohnmächtig zurückfiel. Fort war der Schatz, fort alle die schönen Träume und Luftschlösser. Kein Braukessel erschien wieder, so oft auch der Nimmersatte wiederkam, der nun gern immer81 nur ein Goldstück genommen hätte, wenn’s vergönnt gewesen wäre.

So rächt sich die Unersättlichkeit an ihren Verehrern.

Zerstörte und zerfallene Burgen und Klöster wurden von jeher von Schatzgräbern durchwühlt, um ohne große Mühe das zu finden, was sich sonst nur durch Fleiß und Ordnung erwerben läßt, Reichthümer. Dieß Loos hatten auch die Ruinen von Questenberg, wovon man noch aus unsern Tagen Spuren antrifft. Ein Paar Jesuiten kamen einst auch in derselben Absicht hierher. Sie suchten und forschten nach Kellern und Gewölben, und fanden endlich auch die Oeffnung, welche nach dem mit Golde gefüllten Braukessel führte. Ihrem trunkenen Blicke zeigte er sich, voll des glänzenden Metalls, und schon schickten sie sich an, den Schatz zu82 heben, als plötzlich der Geist ihnen auch erschien und sprach:

Nicht euch sind diese Reichthümer beschieden, und nie könnt ihr sie nehmen. Das Schicksal bestimmt sie einem Grafen von Stolberg, der zweierlei Augen haben wird. Diesem allein darf ich sie übergeben; aber, bis dieser kommt, schützt sie mein mächtiger Arm gegen jeden Angriff. Fort mit euch!

Voll Angst und Entsetzung eilten die Jesuiten hinaus und den Berg hinab; doch erzählten sie die wunderbare Begebenheit und wiederholten die seltsamen Worte des bewachenden Geistes.

Ein Graf Stolberg mit zweierlei Augen ist noch nicht geboren worden, der Schatz also noch vorhanden. Gesehen haben aber83 den großen Braukessel viele Menschen, und noch vor vierzig Jahren hat ein Bauer aus Questenberg den Geist dabei stehen sehen, der, wie er ihn beschreibt, wie mit Kankergespinnst überzogen gewesen sey.

Auch die schöne Wunderblume, die auf und am Harze häufig gefunden worden ist, durch deren Besitz man zu großen Reichthümern gelangen kann, und deren Wirkung weiter unten in mehrern Sagen vorkommen wird, soll hier auf Questenberg, doch ohne guten Erfolg, oft gefunden worden seyn. Die Sagen davon habe ich aber nicht genau erfahren können.

Die Sage von dem verlornen Kinde habe ich bereits in meinen Ritterburgen etc. 2r Bd. S. 41 erzählt. In der deutschen Monatsschrift84 von 1795 und in Otmar’s Volkssagen S. 121 findet sie sich auch. In Questenberg, wo sie durch das jährliche Volksfest stets im frischesten Andenken erhalten wird, weiß sie jedes Kind zu erzählen. Die andern Sagen, von dem großen Schatze auf Questenberg, habe ich aus mündlichen Erzählungen an Ort und Stelle erhalten.

85

Die Erzminen Annaberg’s und Goslar’s.

Die Entdeckung der Erzminen Annaberg’s im sächsischen Erzgebirge, und Goslar’s am Harze, fällt so tief in die dunkle Vorzeit zurück, daß die wirkliche Geschichte derselben nur aus Hypothesen besteht. Die Fabel hat dagegen die Auffindung dieser noch immer ergiebigen Minen außer allen Zweifel zu setzen gewußt; denn sie erzählt Folgendes davon:

Es lebte einmal ein armer Bergmann, mit Namen Daniel Knappe. Er hatte Weib und Kind, liebte sie sehr, war aber nicht vermögend, sie mit seinen Händen zu ernähren. Er arbeitete zwar rastlos und betete, doch seiner Noth war kein Ende. So hoch aber auch sein Unglück stieg, so wich und wankte sein Glaube doch nicht.

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Da erschien ihm eines Nachts ein Engel im Traum, der sprach:

Geh hin und suche in der tiefsten Tiefe des Waldes den Baum auf, in dessen Zweigen silberne Eier ruhen. Du wirst ihn erkennen an seiner Größe; denn kein Baum im ganzen Walde kann sich ihm vergleichen.

Daniel erwachte, fühlte sich gestärkt, und als der Morgen kaum graute, eilte er in den Wald, den Baum zu suchen. Tief drang er ein in das verworrenste Dickicht, wo vielleicht noch kein menschlicher Fuß gewesen war, und fand endlich den hohen gewaltigen Baum. Aber keine silbernen Eier konnte er erspähen, so sehr er sich auch mühte, Zweig für Zweig mit den Augen zu durchsuchen.

Traurig und ganz niedergeschlagen, den schönen Traum unerfüllt zu sehen, wollte er schon wieder heimkehren, als mit einem Male der Engel ihm zur Seite stand, und sprach:

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Gott ist hülfreich und wahrhaft, wo du auch keinen Ausweg siehst. Der Baum hat auch Zweige in der Erde. Dir sey geholfen um deiner Treue und Liebe willen!

Der Engel verschwand; aber Hoffnung und Muth stärkte den armen Bergmann, und er grub am Fuße des Baumes.

Von seinen Wurzeln durchflochten, fand er da reiche Silberstufen in Menge. Er staunte, er weinte vor Freude; denn ihm und den Seinigen war nun geholfen.

Annaberg, das freundliche Städtchen, erhob sich hierauf in dieser waldigen Gegend, und ergiebige Bergwerke umher. Den 21sten des Herbstmonds im Jahre 1496 legte Herzog Georg der Bärtige den Grund dazu.

Die Erzminen um Goslar am Harz, und besonders die reichen bis auf unsere Tage noch immer ergiebigen Bergwerke des bei dieser88 Stadt gelegenen Rammelsberges, läßt die Sage auf folgende Art entdecken:

Kaiser Otto der Große, der in den Gegenden des Nieder - und Vorharzes oft sein Hoflager hatte, war einmal auf seiner Burg Harzburg bei Goslar. Da ritt einer seiner Jäger, Ramm hieß er, aus auf die Jagd. Auf diesem Ritt kam er an den Berg, der nachher den Namen Rammelsberg erhielt und noch jetzt führt. Das Dickicht war so stark, daß er mit dem Pferde nicht durch konnte. Er band es daher an einen Baum, um seinen Weg zu Fuß besser fortsetzen zu können, und ging. Dem Pferde mochte sein Herr aber zu lange ausbleiben, daher es vor Ungeduld stampfte und die Erde wegscharrte. Als nun Ramm nach einigen Stunden zurückkam, erstaunte er, als er unter seines Gauls Füßen die reichsten Erzstufen hervorblinken sah, die es durch sein Scharren und89 Kratzen von dem sie bedeckenden Rasen entblößt hatte.

Er theilte seinem Herrn, dem Kaiser, die gemachte Entdeckung mit, worauf dieser aus Frankenland Bergleute kommen ließ, die den Bergbau hier einrichten mußten. Zur Erhaltung des Andenkens an Ramm bekam der Berg den Namen Rammelsberg, und die Stadt Goslar vergrößerte sich seitdem sehr. Auch wurde Ramm nach seinem Tode in der Augustinerkirche zu Goslar beerdigt. Seine Frau hieß Gosa. Um auch ihr Andenken zu erhalten, gab man dem durch Goslar fließenden Wasser den Namen Gose. Es führt ihn noch, und auch das daraus gebraute Getränk nennt man so.

Die Sage von Annaberg ist aus dem 200ten Stück der Zeit. f. d. elegante Welt v. 1811, aus der sie auch in die Büschingsche90 Sammlung, 1e Abth. S. 183, aufgenommen wurde.

Die vom Rammelsberge theilen alle Harzchroniken mit, namentlich: Honemann in seinen Alterthümern des Harzes, Clausthal 1754, 1r Th. S. 23; Engelhaus in seiner Chronik, S. 176; Leibnitz Script. Brunsuic. Tom. III. cap. 15. S. 426, und andere mehr. Ueber das historisch Wahre darin ist viel dafür und dagegen gesagt worden. An einem entscheidenden Resultate fehlt es aber noch.

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Der Wunderfisch.

Bei Göttingen, ungefähr viertehalb Stunden davon entfernt, liegt in einer angenehmen Gegend des Eichsfeldes, zwischen den Dörfern Seeburg und Berendshausen, ein See. Tief und unergründlich ist er, und im Umkreise hat er drei Viertelstunden.

Vordem war er nicht. An seiner Stelle prangte dagegen auf einem mäßigen Hügel das stattliche Schloß der reichen Grafen von Isang.

Der letzte Erbe dieses alten gräflichen Geschlechts war ein schöner, von der Mutter Natur gar köstlich geschmückter Jüngling, aber wild und ausschweifend über die Maße.

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Sein Vater sah mit Leidwesen diesen unglücklichen Hang, daher er ihn noch auf seinem Sterbelager zu sich rief und beschwor, sich zu zähmen und ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen; aber die Ermahnung ward bald vergessen. Denn kaum war der Entseelte in der Gruft der Ahnherren beigesetzt, die Trauerzeit vorüber, so ließ der Jüngling allen Leidenschaften den Zügel schießen. Reich, jung und schön, frei und fessellos, setzte er seinen Begierden keine Grenzen. Mit gleich lockern Spießgesellen durchzechte und durchbuhlte er die Nächte, und am Tage zogen sie umher, die Töchter des Landes zu besehen und freiwillig oder gezwungen nach Seeburg zu führen. Bald war Graf Isang das Schrecken der ganzen Gegend. Ritt er durch ein friedlich Dörflein, so liefen die Dirnen wie vor einem Unhold. Die Männer sperrten ihre Weiber, die Väter ihre Töchter ein, bis das Ungethüm vorüber war. Die alten93 Freunde des Vaters kamen nicht mehr nach Seeburg, und kein Ritter, der auf Ehre und Tugend hielt, kehrte bei ihm ein.

So trieb er es mehrere Jahre lang, und stürmte wild in seine Gesundheit ein. Einst saßen auch die lockern Gesellen beisammen und zechten, als er vorschlug, einen Raubzug nach dem Kloster Lindau zu machen, und die dem Himmel geweihten Töchter zu bekosen. Mit teuflischem Jauchzen wurde der Vorschlag bewillkommt und ausgeführt. In einer stürmischen Nacht, wo Dunkel und Graus die Erde umgab, stahlen sie sich mit List in das sonst wohlverwahrte Kloster. Die Wächter wurden geknebelt, die Aebtissin eingesperrt, und nun wüstete, gleich Wölfen, die unter eine ruhig schlummernde Heerde gerathen, die junge Natterbrut unter den wehklagenden Nonnen. Die heiligen Mauern hallten wieder von dem Geschrei und Wimmern der himmlischen Schäfchen, aber ganz94 ohne Hülfe und Beistand mußten sie der Macht unterliegen. Ein jeder nahm sein Mägdlein mit auf sein Roß, und fort flohen sie mit der Beute nach allen vier Winden.

Als Hermann, so hieß Graf Isang, mit der seinigen vor Seeburg ankam, hob man sie ohnmächtig vom Pferde. Der Unmensch benutzte diesen Zustand, und krönte seine Schandthat.

Das Gewissen ist ein übler Gesellschafter für den, den’s immer was vorschwatzt. Niederdrücken läßt es sich wohl, man kann ihm auf eine Weile Schweigen gebieten, aber es arbeitet sich doch wieder hervor, und spricht so lange mit, bis man antwortet. Hermann hatte es nun zwar zu einer ziemlichen Fertigkeit gebracht, das seinige zum Schweigen zu zwingen; aber nach diesem Morde einer dem Himmel geweiheten Unschuld erwachte es mit aller Kraft und klopfte so unsanft an,95 daß er sich entschloß, das Opfer seiner Lust nach dem Kloster zurück zu schicken.

Doch, welche schreckliche Post brachte ihm sein Diener von da her. Die Nonne war seine Schwester gewesen. Hermann wußte zwar von seinem Vater, daß er eine Schwester habe, daß sie sich der Kirche geweiht; aber wo sie lebe, das hatte ihm dieser nie sagen wollen. Diese Nachricht war daher ein Donnerwort für den im Laster versunkenen Jüngling, ein Schwert, das ihm die Seele durchbohrte. Er weinte und klagte acht Tage lang, zechte nicht und hatte keine Gelage, ging in die Kirche und betete, spendete reichliche Gaben an das Kloster, schenkte ihm einige Dörfer, zum Heil seiner Seele, und als er nun glaubte, daß er hinreichende Buße gethan habe und der Himmel nun wohl beruhigt seyn könne, fuhr er in der alten Lebensweise wieder fort. Er fröhnte allen gewohnten Leidenschaften auf das ausschweifendste,96 betäubte sich in Wein und Wollust, und wenn einmal ein guter Gedanke in ihm aufkeimte, flugs wurde er von seinen Zechbrüdern weggespottet, und das Flackerfeuer seiner Begierden von seinem Diener Arnold, der treulich mithalf und mitgenoß, immer wieder angefacht.

Uebersättigt und abgespannt lag Graf Hermann eines Morgens auf dem Faulbette, und gähnte mißgelaunt den Tag an. Da trat sein Mundkoch der schon lange den abgestumpften Gaumen seines Herrn durch kein Würznäglein mehr zu reizen vermochte herein, und brachte in einem Netz einen silberweißen Aal getragen.

Schauts ’mal, gestrenger Herr, sagte er, da hat der Fischer einen weißen Aal im Schloßgraben gefangen. Hab in meinem Leben so ein wunderbarlich Thier nicht gesehen, und bin doch ein eisgrauer Kerl!

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Graf Isang staunte lange das seltene Thier an, zweifelte anfangs, daß es ein Aal sey, und meinte, es könne eine Schlange seyn. Da aber der erfahrne Koch versicherte, es sey gewiß ein Aal, so hielt Graf Hermann dafür, daß ein so außerordentliches Thier auch außergewöhnlich schmecken müsse. Seine Eßlust wurde bei dieser Vorstellung ganz rege, und er befahl dem Koch, daß er den Fisch mit einer stark gewürzten Brühe zum Mittagsmahl zubereiten solle.

Es geschah. Der Fisch wurde aufgetragen, und Graf Isang ließ sich die seltene Speise trefflich schmecken. Je mehr er , desto besser schmeckte es ihm; denn der Fisch hatte einen ganz ungewöhnlich reizenden Geschmack.

Noch ein Stückchen lag in der Schüssel, als sein treuer Diener Arnold eintrat.

Da, du treuer Bursche, sprach er, du mußt auch etwas von dem wunderbaren Fische haben!

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Arnold , und fand den Bissen köstlich.

In sanftem Schlummer lag Graf Isang nach der Tafel auf dem Lotterbette hingestreckt, und Arnold saß in seiner Zelle und schnarchte auch. Da wälzten sich fürchterliche Träume vor Isang’s Seele vorüber. Die Glieder zuckte es ihm, die Nerven zog es an, er sprach unverständliche Worte, schrie, fuhr auf, und erwachte endlich unter konvulsivischen Zuckungen. Schreckliche Bilder der Vergangenheit standen vor ihm. Eine unerklärbare Veränderung durchdrang sein ganzes Wesen. Das lange Register seiner Sünden, seiner Schandthaten, seiner längst vergessenen Ausschweifungen und veralteten schlechten Handlungen mit allen ihren furchtbaren Folgen sah er in einem schauderhaften Gemählde vor sich. Unaussprechliche Angst folterte ihn. Gewissensbisse nagten wie verzehrendes Feuer an seiner Seele.

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Gott! was ist das! Hülfe! Hülfe!

Schrecklich brüllte er diese Worte heraus. Einige Diener stürzten herbei; denn die übrigen Bewohner der Burg arbeiteten auf dem Felde, aber entsetzt blieben diese stehen vor ihrem Herrn, dessen Haare sich sträubten, dessen Augen verworren und gräßlich rollten, der einem Wahnsinnigen glich. Zur Thür stürzte er hinaus auf den Burghof. Luft, Luft! schrie er von neuem gegen die hohen Mauern, die es dumpf zurückgaben, Hülfe!

Das ganze Hofgesinde versammelte sich erschrocken um ihn her. Aber er sah keinen, er hörte keinen. Wild lief er umher, stand still, griff gierig in die Luft, zerriß die Luft, als wollte er ein ihm vorschwebendes Bild zernichten, und floh dann in den Garten. Umsonst, die gräßlichen Bilder verließen ihn nicht, sie flohen mit ihm, sie verfolgten ihn überall.

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In diesem Augenblicke brachte ein Eilbote aus dem Kloster Lindau ein Schreiben von der Aebtissin. Hastig riß er es von einander, und las:

Heute früh ist Eure unglückliche Schwester gestorben. Ihre Seele steht vor Gott und klagt Euch, Graf Isang, an. Ihr Tod ist die Folge Eurer himmelschreienden Schandthat. Im Wahnsinn schied ihr Geist, und ihre letzten Worte waren: Wehe, Wehe über ihn! Gott sey Euch gnädig.

Hermann stürzte nieder zur Erde, krümmte sich heulend, und schrie wie einer, dem tausend Messer das Herz durchschneiden.

Schrecklich, schrecklich! O, wer hilft mir von dieser Qual! Wer nimmt mir mein schändliches Leben!

Die Diener sprachen ihm zu, hoben ihn auf, wollten ihn ins Schloß zurückbringen, aber von nichts wollte er wissen. Mit Ingrimm stieß er sie von sich, und befahl ihnen,101 Mordgewehre zu bringen, aber keiner gehorchte. Er drohte, sie alle mit zu morden, wenn sie seinen Befehl nicht vollzögen, aber keiner gehorchte.

Nun, so hole ich sie selbst! rief er, und wollte fort, aber sieh, eine unwiederstehliche Macht hielt ihn zurück. Seine Handlungen hingen nicht mehr von seinem Willen ab, eine unsichtbare Hand schien sie zu leiten. Die Fieberwuth ging in stille Betäubung über