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Heimat und Familie.

Meine Wiege stand zu Zweibrücken, der alten Herzogsstadt im westricher Hügellande der Rheinpfalz, am Zusammenfluss des Schwarz - und Hornbaches gelegen, die zum Erbache vereinigt ihre Wasser in die eine Stunde entfernte Blies ergiessen. In meiner Jugend zählte Zweibrücken 7000 Einwohner und war wesentlich Beamten - und Handwerkerstadt mit kleinen Anfängen von Industrie. Eine Garnison (5. bayr. chevauxlegers-Regiment) und das der Reformationszeit entstammende Gymnasium illustre Bipontinum beeinflussten nicht unbedeutend das Leben des Städtchens, welches geistig rege und als angenehm berühmt war. Allerdings soll es auch etwas locker gewesen sein, weshalb Zweibrücken den Namen Klein-Paris führte. Ich habe davon nichts verspürt, denn das Leben im Elternhause war einfach und fest geregelt. Aber die Stadt, ihre Umgebung, ihr geistiges und gesellschaftliches Leben und Regen gaben mir viel Anregung und Unterhaltung in meiner Jugend. Viel mehr als die Jugend habe ich dort nicht zugebracht.

Mein Vater Johann-Peter Krieger war bei allen Ständen in Zweibrücken hochangesehen. Als ich am 27. Mai 1830 geboren wurde, stand er im 34. Lebensjahre (geb. 27. Juli 1796) und war Professor am Gymnasium, Ordinarius der 5. Klasse (Unter-Sekunda).

Er war der Sohn eines Schuhmachers, früh verwaist, aber wegen besonderer Begabung durch Gönner zum Studium veranlasst, hatte das Stipendium Bernhardinum in Utrecht bekommen und studierte dort Theologie und Philologie, zog auch 1815 als holländischer freiwilliger Jäger gegen Napoleon I ins Feld ohne jedoch in ein Treffen zu kommen. Nach seiner Rückkehr von der Universität trat er zunächst als Philologe in Tätigkeit und übernahm das Amt eines Studienlehrers am Gymnasium in Zweibrücken. Erst 1834 trat2 er ins Pfarramt über als 2. Pfarrer an der Alexanderkirche in Zweibrücken. Im Nebenamte bekleidete er eine Distriktsschulinspektion, die prot. Religionslehrstelle am Gymnasium, die Gefängnispredigerstelle, das Sekretariat der Kirchenschaffnei u.a. Eine ihm angebotene Stelle im Konsistorium schlug er aus, da er nicht frei reden könne. Den Kirchenratstitel und das Ehrenkreuz des Ludwigsordens nahm er nach 50 jähriger Dienstzeit an.

Als Theologe war mein lieber Vater Supranaturalist, voller Verehrung für Gottes Wort heiliger Schrift und für die Person des Heilandes, der ihm Versöhner nicht bloss Vorbild war. Als Prediger war er gern gehört, bereitete sich auch sehr sorgfältig vor; alle von ihm gehaltenen Predigten fanden sich in sehr sauberer Reinschrift vor. Als Seelsorger beliebt, bei Kasualhandlungen bevorzugt, nahm er sich besonders der Armenpflege an. Mit grossem Fleisse arbeitete er Tag für Tag den ganzen Vormittag, Nachmittags von 3-6 Uhr und nach dem Nachtessen noch 1 - 1 1 / 2 Stunden.

Litterarisch war er auf Anregung eines unternehmenden Buchhändlers besonders als Übersetzer aus dem Französischen thätig. Sein Gedichte eines Zweibrückers kaufte er vom Buchhändler zurück, nachdem er ihre Minderwertigkeit erkannt hatte. Im höheren Alter bearbeitete er mit viel Liebe und Fleiss die Psalmen im Versmasse deutscher Kirchenlieder und trug es schwer, dass diese Arbeit keinen Anklang fand

Für uns Kinder hatte er wenig Zeit. Wir sahen ihn meist nur Mittags und Abends bei und nach Tisch. Unsere Erziehung leitete er aber trotzdem sehr sorgfältig und bei mässigem Einkommen mit verhältnismässig schweren Opfern. Vermögen erheirathete er nicht und konnte er nicht erringen selbst wenn er Sinn dafür gehabt hätte. Bei regelmässiger, einfacher und überaus mässiger Lebensweise - nur Rauchtabak verbrauchte er viel - blieb er meist gesund und erreichte ein Alter von über 82 Jahren. Ein Gehirnschlag führte sein Ende herbei.

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Mein Vater war seiner Kinder Ehre und Vorbild. Gott sei gedankt für allen Segen, der von ihm auch über mich kam.

Meine Mutter Marie Claudine Silly aus Vaux bei Metz war einer Französischen Architektenfamilie entsprisst und früh verwaist zu entfernten Verwandten nach Zweibrücken gekommen, wo sie mein Vater kennen lernte und die um 4 Jahre ältere bald nach seiner Anstellung als Studienlehrer ehelichte. Sie war Katholikin, blieb es auch als Pfarrfrau und starb als solche. Der konfessionelle Gegensatz schlummerte zu Anfang des 19. Jahrhunderts so sehr, dass eine Israelitin zu den näheren Freundinnen meines Elternhauses gehörte. Ich lernte meine liebe Mutter kaum kennen. Offenbar erkrankte sie bald nach meiner Geburt schwer und lange, denn ich erinnere mich schwach, dass ich nach der Morgentoilette an ihr Bett gebracht wurde und mich nicht darauf freute, weil ich dann französisch sprechen musste, was ich ungern that.

Dass meine Mutter eine schöne Frau war, zeigt ein von ihr erhaltenes Bildnis; dass sie eine geistvolle Frau gewesen, haben mir solche, die sie kannten, oft gerühmt.

Sie starb an Magenkrebs im Jahre 1836. Ihr Grab habe ich erst im Jahre 1905 entdecken und der Vergessenheit entreissen können.

Von den näheren Verwandten mütterlicherseits wurden mir nur 2 bekannt oder genannt: eine Schwester und ein Bruder. Die Schwester war mit einem französischen Kapitän in Pension verheirathet, der unter Napoleon 1 gedient, an der Beresina einen Fuss verloren und von dem der Menschenverbraucher 21 Brüder (!) in den Tod geführt hatte. Der übrig gebliebene Onkel Dambrun wohnte in Metz und hatte nur einen Sohn, der Offizier wurde und als General im französischen Geniekorps nach 1870 starb, ohne männliche Nachkommen zu hinterlassen. Der Bruder meiner Mutter, Architekt und Baubeamter Silly, war in Zweibrücken verheirathet und starb vor meiner Geburt kinderlos. Seine4 Witwe heirathete den Sohn des berühmten Berliner Philosophen Fichte. Der Sohn war ebenfalls Philosoph und Professor in Tübingen. Mit meinem Vater war er nahe befreundet und korrespondierte mit ihm. Beinahe wäre ich deshalb auf die Universität Tübingen gerathen, aber es zog mich nicht dahin. Von anderen Verwandten meiner Mutter ist mir nichts Näheres bekannt geworden, es mögen aber in oder bei Metz noch solche entfernteren Grades stecken.

Meine liebe Mutter gebar dem Vater 4 Kinder, 3 Knaben und 1 Mädchen.

Der erste, im Jahre 1819 oder 1820 geborene Knabe starb sehr jung. Ich hörte von ihm, weil ein Bild im Elternhause vorhanden war, ein Kinderkopf mit Engelsflügeln, von dem mir gesagt wurde, es stelle meinen ältesten Bruder dar.

Der zweite Knabe, Karl, war 1821 geboren. Er wurde Mechaniker und bekleidete eine Stelle in der Dingler’schen Maschinenfabrik in Zweibrücken und ging als er in der grossen Geschäftsstockung des Jahres 1850 diese Stelle verlor, nach Amerika. Dort ging es ihm eine Zeit lang herzlich schlecht. Später kam er an der Süd-Karolina - Eisenbahn unter, wohnte verheirathet in Charleston und starb dort Ende der fünfziger Jahre, ohne Kinder zu hinterlassen. Seine Witwe liess nichts mehr von sich hören. Die Ursache konnten wir nicht erfahren.

Das dritte Kind meiner Eltern war meine Schwester Lina, geboren 1823. Sie war es, von der ein jüngerer Bruder sagte: Von all unseren Buben habe ich das Lina am liebsten. Und das war sie werth. Sie war ein schönes Mädchen, gescheit, lebhaft, selbstlos und von grosser Willenskraft. Leider lernte ich sie zu wenig genau kennen. Denn mit mir zusammen war sie wenig im Elternhause, vielmehr zuerst im Pensionat, dann als Lehrerin resp. Gouvernante auswärts in Frankenthal und Metz. In letzterer Stadt lernte sie ein bretonischer Edelmann und Gutsbesitzer kennen, der bretonische Heimathliebe und Zähigkeit mit5 mit den nicht bretonischen Eigenschaften der Opposition gegen Katholizismus und Monarchie verband. Von seinem Namen Bachelot de Villeneuve strich er das Adelsprädikat und nannte sich einfach Bachelot. Er wohnte in Piriac bei Guerande (Loire inférieure) und zog später nach Vannes (Morbihan), wo er starb. Ich sah ihn nie. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, eine Deutsche und wo möglich eine protestant. Pfarrerstochter zu heirathen, liess auch seine Kinder protestantisch erziehen. Von diesen Kindern überlebten nur 2 Mädchen ihre Eltern: Therese und Emilie. Sie verheiratheten sich mit entfernten Vettern, Brüdern gleichen Namens Bachelot, deren Vater Schiffskapitän und wie seine Frau katholisch war, aber ihre Söhne protestantisch hatten erziehen lassen. So entstanden hier 2 protest. Familien bretonischen Blutes, die eine in St. Nazaire, die andere in Nantes wohnend. Dr. Erneste Bachelot ist Arzt in St. Nazaire, Der andere Alfons Bachelot Präsident des Apellhofes in Nantes. Beide haben Kinder und Lina suchte die Familienverbindung zu befestigen, indem sie es befürwortete meinen Sohn Karl als Pathen für Ernestes Sohn Maurice zu wählen, Alfons Tochter André als Pathin für meines Sohnes Ernst Sohn Rudolf zu bestimmen. Leider will die Verbindung von Linas Nachkommen mit der deutschen Stammfamilie nicht gedeihen. Die Franzosen haben nach Linas Tod die Korrespondenz abgebrochen, welche Lina sehr treu unterhielt. Trotz der Mutter Energie und Geschick lernten die Töchter nicht deutsch. Dies ist möglicherweise ein Grund des Abbruchs der Korrespondenz. Lina selbst war in ihrem ganzen Wesen Französin geworden, nur trat sie in Frankreich ebenso tapfer für Deutschland ein, wie in Deutschland für Frankreich. Sie hat 1870 / 71 viel für Deutsche Gefangene gethan, die in Port St. Louis bei Vannes interniert waren. Der deutschen Sprache blieb sie bis an ihr Ende in Wort und Schrift vollständig und korrekt mächtig. zum Theil mit Hilfe von Luthers deutscher Bibel, die sie fast täglich benützte. Als eifrige Protestantin bildete sie in Vannes den Mittelpunkt der dortigen Diaspora und6 liess in ihrem Hause und auf ihre Kosten alle 4-6 Wochen Gottesdienst durch herbeigerufene prot. Geistliche halten. Ihr Alter war durch viele Gebrechen und Sorgen erschwert. Ein Schlaganfall nahm sie zu Weihnachten 1906 hinweg; in Vannes wartet sie ihrer Auferstehung.

Am 27 Mai 1837, meinem 7. Geburtstage ging der Vater seine 2. Ehe ein. Die Tochter des Appellationsrates Ludwig Hoffmann: Karoline Hoffmann wurde meine zweite Mutter, mir eine liebevolle Mutter, die mir ihre treue Liebe bis an ihr Ende bewahrte. Durch sie erweiterte sich unser Familienkreis bedeutend, denn ihre 4 Geschwister wurden mir Tanten und Onkel, alle bis auf Tante Nettchen in Zweibrücken gestorben. Es waren folgende:

1) Julie, eine kluge und selbstbewusste Dame, die eine Privatschule mit Pensionat unterhielt, sich damit ohne jegliche Unterstützung vonseiten der Stadt oder des Staates durchschlug unter viel Kämpfen mit der Empfindlichkeit der Eltern.

2) Henriette genannt Nettchen, die den Pensionshaushalt leitete, äusserst gutmüthig und bescheiden, im höheren Alter das Gedächtnis so vollkommen verlierend, dass sie Niemand mehr erkannte, alle Begebenheiten, gross und klein, vergass und sich in den bekanntesten Strassen verirrte.

3) Lili, unter ihren ausnahmslos religiösen Geschwistern diejenige, die das Evangelium am tiefsten in sich aufnahm. Sie verheiratete sich spät mit einem Gymnasialprofessor Helfreich. Ihre 2 Kinder starben erwachsen, der Sohn im Irrsinn, die Tochter an einem Rückenmarksleiden.

4) Karl, ein ausnehmend stattlicher Mann, der dem König Ludwig I so sehr gefiel, dass er bei einer Audienz zu Aschaffenburg seine Gemahlin Therese herbeirief und ihr sagte: Siehst Du, so sieht ein richtiger Pfälzer aus. Onkel Karl starb als Appellationsgerichtsrat in Zweibrücken, Seine Kinder sind zerstreut und mir aus den Augen gekommen.

Alle 4 Geschwister meiner Mutter haben mir viel Liebe erwiesen und ich bewahre ihnen ein treues, dankbares Andenken.

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Der zweiten Ehe meines Vaters entsprossten 3 Söhne:

1) Ludwig, geboren 1838, ein begabter Mensch, der es in seinen Studenten - und Kandidatenjahren oft etwas toll trieb, aber das Arbeiten nicht dabei vergass, sodass er ein sehr tüchtiger Jurist wurde. Als junger Gerichtsbeamter wurde er bei einer Reorganisation der bayr. Gerichte an das neuerrichtete Appellationsgericht in Aschaffenburg berufen, um dort als Ober-Sekretär den Geschäftsgang zu ordnen und zu leiten. 1871 trat er auf besondere Aufforderung nach dem Elsass in Reichsdienst über und wählte sich das Notariat in Gebweiler, unter der Bedingung, dass dort nur 1 statt bisher 2 Notariaten verblieben. Später siedelte er nach Colmar und endlich nach Mülhausen im Elsass, auf das einträgliche Notariat im Reichslande über, wurde Prüfungskommissär für den Notariatsdienst und schied 1901 mit Einführung des neuen bürgerlichen Gesetzbuches aus dem Dienst mit den Titeln Justizrat und Ehrennotar, sowie dem rothen Adlerorden ausgezeichnet. Im Jahre 1879 hatte er sich mit Marie Fink aus Glogau verehelicht. Das einzige Kind aus dieser Ehe starb als Säugling. Ludwig wählte sich als Ruhesitz München, besonders wegen der dort gebotenen musikalischen Genüsse, denn er trieb als guter Violinspieler viel Musik und hatte für klassische und ernste Musik ein tiefes Verständnis. Seinen Ruhestand genoss er nicht lange; zu Pfingsten 1907 starb er an Leberkrebs. Sein nicht unbedeutendes Vermögen verblieb seiner Witwe als freies Eigenthum. Es sei ihr von Herzen gegönnt! Aber es hätte mich gefreut und meinen Söhnen und Enkeln wohlgethan, wenn er einen Theil seines Vermögens seiner Stammfamilie wenigstens für die Zukunft zugewiesen hätte.

2) Mein zweiter Stiefbruder Paul, geboren 1840, war ein hochaufgeschossener, stiller Mensch, der das Ingenieurfach in Nürnberg und München studierte und in letztgenannter Stadt dem Thyphus erlag.

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3) Fritz, der jüngste Stiefbruder, war 1843 geboren. Er machte den Eltern mehr Sorgen als die anderen Geschwister zusammen und brachte es zu höheren Ehrenstufen als wir anderen alle. Mit unbändigem Starrsinn setzte er es als 13 jähriger Junge durch auf See zu kommen. Eine Deutsche Kriegsflotte existierte damals nicht, so brachte ihn der Vater auf ein Bremer Handelsschiff, wo er als Schiffsjunge eintrat. Bald wurde er Matrose und lernte als solcher den bitteren Geschmack des Seewassers gründlich kennen. Auf seiner letzten Fahrt ging es dem nun 19 jährigen so übel, dass er weich wurde und den Familienvorstellungen nachgab, die ihn vom aussichtslosen Seedienste abzubringen suchten. Das Maschinenfach zog ihn an. Aber auf der polytechnischen Schule in Karlsruhe zeigte es sich, dass ihm die nötigen Vorkenntnisse fehlten, und der einjährige Kurs in der Maschinenfabrik Weyland, Lamarchet und Schwarz zu St. Ingbert befriedigte ihn auch nicht. Unterdessen war er konskriptionspflichtig geworden, zog bei der damaligen Auslosung der Militärdienstpflichtigen die höchste Losnummer und konnte darum als befreit angesehen werden. Er schlug vor, ihm nach Nord-Amerika zu helfen, da er in der dortigen Marine oder in sonstiger Stellung eine Existenz zu erringen sich zutraute. Vor der Abreise besuchte er unsere Schwester Lina, wo ein Freund der Bachelot’schen Familie, der Mitbesitzer des Kaufhauses Bon-marché war, eine Stellung und gutes Fortkommen in diesem Geschäfte in Aussicht stellte. So trat er dort als Lehrling ein, um vor allem der französischen Sprache völlig mächtig zu werden - englisch hatte er auf dem Schiff aus dem Umgange und der Grammatik sich angeeignet - und wurde dazu gutbezahlter Verkäufer und Kommis im Bon-marché in Paris. Da kam der Krieg von 1866. Bayern zog alle durchs Los Befreite und noch unverheirathete frühere Conskribierte ein, um die bei den Infanterieregimentern neuerrichteten Bataillone zu füllen. Mein Bruder wurde dem Leibregimente in München zugetheilt. Da es an Offizieren fehlte wurden aus Rekruten mit höherer Bildung Offiziere auf Kriegsdauer und die von Fritz beigebrachten Schulzeugnisse wurden für ausreichend angesehen, ihn zum Unterleutnant im 4. Infanterieregimente9 zu ernennen. Charakteristisch und komisch-ernst war sein Suchen und Finden des Depots dieses Regimentes während des sogen. Main-Feldzuges. Nach dem Friedensschlusse wurde der Leutnant auf Kriegsdauer abgedankt und wollte nun auf seine ihm offen gehaltene Stelle im Bon-marché zurückkehren, konnte aber hierzu keinen Pass erhalten, da er nicht mehr Leutnant im 4., aber noch Gemeiner im Leibregimente sei. Als alle Schritte einen Pass nach Paris zu erlangen fehlschlugen, stellte er sich beim Leibregimente zu Dienste, wurde zunächst Sergeante und auf Fürsprache seiner Kameraden im 4. und seiner Vorgesetzten im Leibregimente als Leutnant reaktiviert. So wurde Fritz eigentlich wider Willen Soldat. Als solcher aber war er an seinem Platze. Die Disziplin schliff seinen Trotzkopf ab, ließ aber einen festen und starken Willen zurück, durch Hindernisse und Gefahren hindurch eine gegebene Aufgabe zu lösen oder ein gestecktes Ziel zu erreichen. Der Krieg von 1870 / 71 fand ihn als Leutnant im Leibregimente, welches dem 1. bayer. Armeekorps unter General von Tann zugetheilt war. Das Leibregimente erlitt die schwersten Verluste im 1. Armeekorps, denn das Draufgehen war den oberbayerischen Gebirgssöhnen, aus denen es zur grösseren Hälfte bestand, eine Lust, aber - so sagte mein Bruder - sie aus einer gefährdeten Stellung oder dem übermächtigen Gegener gegenüber zurückzunehmen, das war eine Kunst. Fritz kam bei Wörth, Beaugency und Sedan-Bezeilles ins Feuer, dann machte er von Oktober bis Dezember den sogen. Loire-Feldzug mit seinen zahlreichen blutigen Gefechten mit, besonders 2 mal bei Artenai, 2 mal vor Orleans und zuletzt gegen die neue grosse Loire-Armee im Walde von Marchenoir am 7. -9. Dez. 1870. Von hier führte er als einziger noch übriger Offizier das auf 300 Mann zusammengeschrumpfte 3. Bataillon des Leibregimentes nach Fontainebeau zurück. Die erste Schlacht bei Artenai brachte ihm das eiserne Kreuz und das bayerische Militärverdienstkreuz, im Walde von Marchenoir bei Le Mons vereitelte er aus eigenem Antriebe die Umgehung des rechten deutschen Flügels10 dadurch, dass er mit wenig Mannschaft ein Bataillon Mobilgarden zersprengte und theilweise gefangennahm und eine französische Batterie ausser Feuer setzte; die Geschütze konnten wegen mangelnder Pferde nicht geborgen werden. Hierfür wurde ihm der höchste bayr. Orden, der Max-Joseph-Orden, mit welchem der Adel und ein jährlicher Ehrensold verbunden ist. Fritz war nie verwundet worden, obgleich er als verwegener Offizier bekannt war, der zwar seine Soldaten möglichst deckte und schonte, nicht aber sich selbst. Mit seinem Humor wusste er seine Leute in den niederdrückendsten Situationen bei guter Laune zu erhalten, durch seine französ. Sprachgewandheit und seine Findigkeit leistete er auf dem Marsche und im Quartier viele wichtige, oft sehr belachte Dienste. Er kehrte als ein gefeierter Held in die Garnison zurück. Aber hier weckte seine mit Orden (darunter auch der italienische bei einer Vermählung im Königshause erlangte Mauritius - und Lazarus-Orden) und Ehrenzeichen breit bedeckte Brust den Neid und die Intrigue. Er wurde aus dem bevorzugten Leibregimente und aus der Residenz München hinausgeschoben, avancierte aber bei seinem tüchtigen Friedens - und Manöverleistungen durch das 1., das 10. Inf. Regiment in Ingolstadt als Major in das 11. zu Regensburg als Oberstleutnant, obgleich er weder Kriegsakademie noch auch Kriegsschule besucht hatte. Als Leutnant hatte er sich mit Marie Römer, Tochter des Mulde-Thal-Bahndirektors Römer in Dresden verehelicht. Ein dieser Ehe entsprossenes Kind starb bald. Die wohlunterrichtete, liebenswürdige Frau trug leider den Keim eines geistigen Defektes in sich, der zu einer schweren Katastrophe führte. Marie oder wie sie im Familienkreise genannt wurde Mieze brachte ihr eigenes Vermögen, über welches Fritz sie verfügen liess, durch und häufte Schulden über Schulden, kaufte theure Gegenstände ohne sie zu bezahlen und versetzte sie, um damit Geld zu erlangen; dazu verkaufte sie alle Wertgegenstände des Haushaltes. Wohin sie das Geld brachte ist bis heute ein Räthsel. Als Fritz aus dem Kaisermanöver bei Hanau heimkehrte, wo er sehr gut abgeschnitten hatte und seiner Bevörderung zum Oberst und Kommandeur eines11 Regimentes sicher geworden war, kamen die Geldoperationen seiner Frau, die theilweise ins Zuchthaus führen mussten, zu Tage. Mieze kam wegen irrenärztlich konstatierten "moralischen Defektes" in eine Irrenanstalt und vom Kriegsministerium, wohin die Sachlage berichtet war, wurde Fritz genöthigt, den Abschied zu nehmen. Man benutzte die Gelegenheit einem Offizier, der ohne Besuch der Kriegsakademie Oberst werden sollte, die weitere Karriere abzuschneiden. Der Schlag war für meinen Bruder ganz furchtbar, aber er erlag nicht darunter, sondern setzte seine ganze Thatkraft ein, um sich durch das Geschick durchzuarbeiten. Um über die Schuldenlast Herr zu werden, richtete er sein Leben auf das Sparsamste ein, um der Langeweile zu entgehen, fing er an zu malen. Er hoffte in München nachholen zu können, was ihm zur Ausübung dieser Kunst fehlte. Dies war ein Irrtum. Darum sprang er auf geschichtliche und sprachliche Studien über und landete bei der Ägyptologie, die ihn hoch befriedigte. Seine einsiedlerhafte Zurückgezogenheit gab er erst auf, als Bruder Ludwig nach München gezogen war. Nach und nach thaute er auf, seine Schulden minderten sich und als sie alle beglichen waren, fing er ein neues Leben an. Mit seiner unterdessen aus der Irrenanstalt beurlaubten Frau wieder zusammen zu kommen, lehnte er ab. Er wollte kein zweites Debakel riskieren. Als er 1906 als General charakterisiert und vom Prinz-Regenten gelegentlich seines 40 jährigen Militärjubiläums ausgezeichnet wurde, lebte er erst recht neu auf, aber leider fing auch die Krankheit an, der er erliegen sollte; es war dieselbe, an welcher Ludwig starb (Leberkrebs), dem er nach 5 Wochen im Tode nachfolgte. Seine Asche wurde seiner Anordnung gemäss im Elterngrabe zu Zweibrücken beigesetzt.

Ich habe mit meinen Brüdern wenig zusammengelebt. Ich kam früh aus dem Elternhause fort und sie fanden ihre Stellungen weit weg von meinen Wohnorten. So sahen wir uns nur selten und kurz bei Besuchen, Briefe wurden wenig gewechselt und jene von Ludwig und Fritz waren meist im Depeschenstil gehalten. Im Elternhause traf man12 man sich auch nicht. Dieses ging auch seit 1876 seiner Auflösung entgegen. Denn da starb meine zweite Mutter ziemlich plötzlich. Dem Vater trat Lina, die bereits Witwe geworden war, an die Seite. Im September 1878 erlag der Vater einem Schlaganfalle als ein aller seiner Sinne noch mächtiger, verhältnismässig rüstiger Greis, der bis zum letzten Tage und Abende noch einen Theil seiner Ämter geführt hatte. Im Pfarramte hatte er 5 Jahre lang Vikarsvertretung benützt.

Ich erwähne noch kurz der Verwandten väterlicherseits. Mein Vater hatte nur eine Schwester, die viel älter als er und mit dem Schuhmacher und Kirchendiener Hoigen (?) in Zweibrücken verheiratet war, einfachen und sehr bescheidenen Leuten, die 3 Kinder hatten: 2 Töchter, die nach Nordamerika auswanderten und einen Sohn, der Schriftsetzer wurde und von dem noch Nachkommen in Zweibrücken leben mögen.

Da mein Grossvater nicht aus Zweibrücken stammte, fehlen hier Blutsverwandte von ihm. Er war aus Baumholder oder dessen Umgebung eingewandert, stammte aber sicher aus Norddeutschland, denn in seinem Trauakte heisst er Krüger, einem speziell norddeutsch-dänischen Namen, während im Sterbeakt sein Name versüddeuzscht Krieger lautet. Durch meines Vaters Mutter, eine geborene Kurtz, hatten wir in Zweibrücken viele sogen. Vettern und Basen in den Familien Kurtz, Clemens, Daub u.a. Die Beziehungen zu denselben wurden nicht gepflegt und sind vergessen.

Familienkonnexionen standen mir und meinen Brüdern nicht zur Seite. Wir haben unseren Weg ohne Protektion gemacht, wären aber mit etwas konnexion und Pritektion vielleicht weiter und an schlimmen Stellen besser vorbeigekommen. Vielleicht hätte zeitweilig auch ein wenig Kriecherei und Windfahnennatur weiter geholfen, aber wir schrieben uns Krieger und mich reut es heute nicht, immer dem Wegweiser des Gewissens und der ehrlich bekannten Überzeugung gefolgt zu sein.

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II Kindheit und Schulzeit.

Ich hin, wie schon gesagt, am 27 Mai 1830 geboren. Der mir gegebene Vorname Ernst sollte wohl eine Mahnung für das Leben sein. Denn er war nicht in der Verwandtschaft und auch mein Taufpathe trug ihn nicht. Mein Pathe war der Dr. der Medizin Karl Schultz mit dem Beinamen Bipontinus, den er sich als berühmter Botaniker zum Unterschied von Fachgenossen beilegte. Ich lernte ihn erst kennen, als er zu Erlangen in meine Studentenbude trat und mir auf die Frage, wer er sei, vorwarf: Was? Du kennst Deinen Pathen nicht? Worauf ich ihm kalt erwiederte: Daran ist mein Pathe selbst schuld. Er starb zu Deidesheim als Arzt. Meine Pathin sah ich nie. Sie war wahrscheinlich meine Cousine Sophie Silly und starb zu Düsseldorf als Ehefrau des Regierungsrathes und westfälischen Originales Sack, der um Menschen kennen zu lernen grundsätzlich nur in der 4. Eisenbahnklasse fuhr und mindestens 20 Kinder hinterliess.

Aus den frühen Kinderjahren dämmern nur noch einzelne Erinnerungen in meinem Gedächtnisse, so z. B. dass mich meine Grossmutter wie ein Bündel unter dem Arm die Treppe hinaufschleppte oder dass ich zu meinem Leidwesen in eine sogen. Strickschule beseitigt war, die von Mamsell Bayl im dritten Stockwerk etabliert war. Da sassen auf Bänken viele Mädchen und lernten stricken, ich der einzige Bube darunter half die eintretende Lehrerin begrüssen: bon jour Mamsell Bayl! , was in immer gleichem Tonfalle und im Chor geschah. Dann sollte ich stille sitzen ohne Strickzeug und ohne irgend eine Beschäftigung, zog den Nachbarinnen die Stricknadeln heraus, bekam Schelte und dazu Schläge, so dass mir die Strickschule ein Greuel war. Eines Tages so scheint mir muss ich entwischt und bei der Eile der Flucht die hohe Treppe hinuntergestürzt oder vielmehr hinuntergekugelt sein, denn ich weiss heute noch, dass ich unten heil ankam, untersucht und nicht gehauen wurde. Das Hinunterkugeln erklärt sich vielleicht daraus,14 dass ich ein sehr dickes Kind gewesen sein soll, das Kriegers Kugel genannt wurde. Angenehme Erinnerungen hinterliessen gelegentliche doch spärliche Spaziergänge des Vaters mit uns drei Kindern. Genau weiss ich noch, dass wir auf dem Rosenhof bei Bubenhausen waren und dass dort Apfelwein getrunken wurde, dem ich offenbar zu reichlich zusprach, denn auf dem Heimweg wurde ich von meinem Bruder Karl auf den Achseln geschleppt und wurde lange geneckt wegen meiner wiederholten Frage: Vater, warum geht denn alles so rundherum?

Der Vater hatte wahrscheinlich im Jahre 1835 kurz nach seiner Ernennung zum Pfarrer einen Vikar nöthig, der im Pfarrhause wohnte. Es war der heute noch lebende Thilo Krafft, mit dem ich später noch viel zu thun bekam. Er gab mir den ersten Höflichkeitsunterricht, indem er mir eintrichterte, ihn zu Tisch mit der Formel zu rufen: Herr Vikar, wenn es gefällig ist, so kommen Sie zum Essen! Die umständliche Formel und das Eintrichtern scheinen unangenehme, doch tiefe Eindrücke hinterlassen zu haben.

In die Löwenapotheke von Schulz und zu Dr. medic. Schulz sen. hatte ich täglich Botendienste als Zeitungsträger zu machen. Die Haushälterin des ledigen Doktors belohnte mich mit Obst oder Leckereien, aber in der Apotheke quälte mich der kleine Provisor mit Kitzeln und die folgende gelegentliche Begütigung durch Lakritz oder Jungfernleder versöhnte mich wenig. Später als ich Ludwigshafen einmal als Student passierte, entdeckte ich den kleinen Provisor in einer dortigen Apotheke und erlaubte mir ihm seine Sünden vorzuhalten und in äusserste Verlegenheit zu setzen.

Bei kleinen Unfällen suchte ich nicht zu Hause sondern bei der Tante Hagen Zuflucht, die dann an mir flickte, wusch oder heilte; bei letzterer Prozedur spielte auch in ernsteren Fällen Zunder eine Hauptrolle.

Noch vor vollendetem sechsten Jahre kam ich in die Volksschule und passierte von unten aufsteigend die Klassen Jakobi, Seegmüller, Ottmann und Kramer. Aus Jakobis15 Schule ist mir die Einübung des Schnurrlautes r… geblieben, bei Seegmüller machte der näselnde Ton, der grosse Eifer und die milden Strafen Eindruck und bei Kraemer dessen Tabakspfeife, die immer während des Unterrichts dampfte ausser wenn gelegentlich das Pfeifenrohr den Bakel (Stock des Schulmeisters) abgab.

Während meiner Schulzeit wurden mannigfache Beschäftigungen, Spiele und Kämpfe geübt. Die Garnison Zweibrücken gab Vorbilder zum Soldaten-Spiel und die im Grunde eintönigen Kavallerieexerzitien hatten wir bald gründlich inne. Eine gefundene Patrone reizte zu Schiessübungen und Feuerwerkversuchen; letztere wurden unterstützt durch den in Ställen und Kellern des Pfarrhauses reichlich vorhandenen Mauersalpeter, der zu Speiteufeln und dergl. verarbeitet wurde. Nur durfte der Vater nichts von Feuer und Rauch merken, sonst gab es Störungen und die eine Tracht Prügel von Zweien, die ich überhaupt erhielt, erging wegen eines Feuerwerks über mich.

Bei den gewöhnlichen Knabenspielen wurden die, bei welchen Bohnen oder Knöpfe gewonnen werden konnten, zur Ansammlung von Messingknöpfen gierig benutzt, denn diese konnten beim Gelbgiesser in Geld verwandelt werden. Ein mit einem Kameraden angesammeltes Kapital von 6 Kreuzern wurde einmal zu einer zwischen Schweineställen und Misthaufen verborgen gefeierten Orgie verwandt, bei der 2 Wecke, eine Knackwurst und ein Glas Bier draufgingen.

Die vielen Bäche und Kanäle um Zweibrücken luden zum Fischfange ein; einmal stürzte ich in der Freude über einen gefangenen Weissfisch in tiefes Wasser und nur eine barmherzig sich darbietende Weidenruthe errettete mich vorm Ertrinken; triefend kam ich heim, aber der Fisch war mein.

Grösstes und häufiges Vergnügen gewährten die Überschwemmungen, welche besonders im Frühjahr die halbe Stadt unter Wasser setzten bis Bachkorrektionen Besserung brachten. Bei grossem Wasser war vor allem keine Schule, dazu gab es allerlei Unterhaltung besonders mit16 ’‘’‘Herbeischaffung von Lebensmitteln, die auf Stelzen herbeigeholt werden durften, weshalb das Stelzenlaufen fleissig geübt wurde.

Grosse Aufregung brachten die Kämpfe zwischen den Unterstädtern und den Oberstädtern vulgo Ratzgässern. Aus kleinen Plänkeleien und Prügeleien im ganzen Jahre entwickelten sich im Herbste nach der ?-Ernte und in der Ferienzeit wahre Feldzüge und Schlachten, die kaum nach dem Eintreten der Polizei und anderer Autoritäten aufhörten. Ein besonderes Vergnügen war die alljährlich vom Hausarzte verordnete Purganz. Das Erbrechen war ja ekelig, aber 3-4 Tage Schulfreiheit, behagliches Bettliegen und Gepflegtwerden, dazu Genüsse wie Himbeerwasser, Mandelmilch und dergl. wogen die ersten Unannehmlichkeiten weit auf.

Unterdessen kam die Zeit, mich dem Gymnasium bezw. der Lateinschule zu übergeben. Ich war 9 Jahre alt und wurde in der 1. Klasse vom Studienlehrer Krafft in Empfang genommen, der vom geistlichen ins Lehramt übergesprungen war. Vom Unterrichte ist mir keine Erinnerung geblieben, doch kam ich gut voran. Weniger gut ging es in der 2. Klasse bei Studienlehrer Sauber, wenigstens musste ich in den Ferien viel lateinische Grammatik nachstudieren. Der Studienlehrer der 3. Klasse, Görringer, galt als tüchtiger und strenger Lehrer, aber von seinem Unterrichte ist mir keine Erinnerung geblieben. Dagegen fasste mich der Schriftlehrer Sauber, der Ordinarius der 2. Klasse, scharf aufs Korn und sperrte mich einmal nach drei aufeinanderfolgenden Stunden über Tisch wegen ungenügender Leistung ein, so dass sogar der Pedell Mitleid mit mir hatte. Wenn meine spätere leserliche Schrift die Folge der Sauterschen Gewaltkur war, ich sage wenn , dann bin ich dem wunderlichen Schreiblehrer rechten Dank schuldig.

In der 4. Klasse war Onkel Helfreich, der Mann von Tante Lili, Ordinarius. Er war ein feiner, guthmüthiger, wohlunterrichteter17 Lehrer, aber trocken als Lehrer und viel zu schwach und zart uns Rangen gegenüber, so dass er wenig Erfolge erzielte.

Den Religionsunterricht in Katechismus, Kirchenliedern und biblischer Geschichte ertheilte in den 4. Klassen der Theologiekandidat und Lehrer der 1. Klasse Krafft. Wir bereiteten uns schlecht vor und im Unterricht trug er uns unter viel Getöse und Geschwätze nichts vor, was Eindruck machte. Schlimmer noch stand es im Konfirmandenunterricht, den ich im 14. Jahre genoss. Pfarrer und Kirchenrath Kämpf trug uns nackten Rationalismus und Deismus vor, der mir kein Ärgernis aber doch Erstaunen erregte und mich an dem, was mir das Elternhaus gab, nicht irre machte. Für die öffentliche Konfirmandenprüfung erhielt jeder Kämpf hatte nur Knaben ein geschriebenes Heftchen, das in der Kirche wörtlich abgefragt wurde und wovon eine Abschrift für die Schüler des folgenden Jahrganges zurückzugeben war.

Die 1. Feier des heil. Abendmahles ergriff mich mächtig und mit strömenden Thränen empfing ich das Sakrament; nicht dass die Liebe zum Heilande oder der Dank für das Siegel der Sündenvergebung mich bewegt hätten, aber das mysterium tremendum packte mich und in der Folge zog es mich immer verlangend zum Altarsakramente.

Schon in der Lateinschule, wie auch später im Gymnasium wurde ich häufig zur Deklamation bei Schulfeiern herangezogen, wobei der mehrbesagte Professor Krafft als Einpauker fungierte. Vielleicht war mein Organ die Ursache, dass ich vorgezogen wurde. Jedenfalls hatte ich den Gewinn davon, von Jugend auf an freien und ausdrucksvollen Vortrag, sowie an öffentliches Auftreten gewöhnt zu werden.

Im Vortrag sowie im Erfinden und Gestalten des Stoffes übten die Vorstellungen im Figurentheater, die ich für Spielkameraden und Familienglieder veranstaltete. Die18 Figuren und Dekorationen wurden vom Taschengelde, das für die ganze Gymnasialzeit 6 Kreuzer wöchentlich betrug, beim Papierhändler gekauft, von mir gemalt, auf Karton gezogen, ausgeschnitten, mit Draht und Aufsteckstiften versehen und im selbstgefertigten Theater vorgeführt. Den wohlvorbereiteten Stoff gaben Sagen, Balladen, Ritter - und Räubergeschichten ab.

Bei einem Buchbinder in einem Nachbarhause erwachte in mir die Lust zu Buchbinder - und Kartonagearbeiten. Ich sah mir die Handgriffe ab und als das Christkind die unentbehrlichsten Buchbinderwerkzeuge mir bescherte ging es mit grossem Eifer an die Buchbinderei, später an Kartonagearbeiten, die ich mit wachsendem Erfolge lange und noch im Ehestande anfertigte. Eine natürliche Veranlagung zum sogenannten Posseln half mir mein Leben lang, im Hause allerlei Handwerker um ihren Verdienst zu bringen. Selbst vor Eingriffen in weibliche Arbeiten schreckte ich nicht zurück. So verfiel ich als Bube mit mehreren Kameraden auf die Bäckerei, wahrscheinlich weil die Mütter uns nicht genug Kuchen lieferten. Als wir aber im Holzschuppen des väterlichen Hauses unsere Backstube einrichteten und den Backofen aufbauten und unter starker Rauchentwicklung heizten, fuhr der feuerängstliche Vater grausam darein, zerstörte mit Fusstritten den Ofen, regalierte die Kameraden mit Ohrfeigen und mich mit der zweiten mir erinnerlichen Tracht Prügel.

Den Glanzpunkt in meinen Erinnerungen aus meiner Progymnasialzeit bildet eine Ferienreise, die ich im Jahre 1843 ausführen durfte. Reisegenosse war der 3 Jahre ältere Traugott Hepp, Sohn eines badischen Pfarrers und Utrechter Kommilitonen meines Vaters. Traugott besuchte das Zweibrücker Gymnasium und war Pensionär in unserem Hause. Mit ihm durfte ich in seine Heimat fahren. Welche Eindrücke machten die Gegenden, die Menschen, die während 7 Wochen an mir vorüberzogen! Auf dem Deckensitze des 4 spännigen, vom Postillon im Sattel gefahrenen Postwagens ging es über Pirmasens, Kaltenbach, das Aurichthal19 und seinen Wäldern, Annweiler mit dem Trifels nach Landau. Dort lehrte uns ein Mitreisender, als der Postkondukteur mitten im Essen, dessen Kosten der Wirt ganz berechnete, zum Einsteigen abrief, vom Braten und Brod so viel einpacken, dass wir nachträglich satt werden konnten. Über Speyer und die Rheinschanze, an deren Stelle jetzt Ludwigshafen a / Rhein steht, ging es über die Schiffsbrücke des Rheins nach Mannheim, wo wir bei einem Kaufmanne, Traugotts Vetter, dicht bei der Neckar-Kettenbrücke, Quartier fanden und einen Tag blieben, um die Stadt, das Schloss mit dem Museum, den Hafen u.s.w. zu besichtigen. Dann ging es mittels der gehörig angestaunten Eisenbahn nach Heidelberg, wo eine Tante von Traugott uns ins Studentenzimmer einlogierte. Die Studenten waren leider nicht da, aber das Schloss, das grosse Fass, der Blick von der Terasse und die sonstigen Herrlichkeiten Alt-Heidelbergs machten uns schier trunken.

Zu Fuss ging es dann über Sinsheim nach Kirchhardt, dem Pfarrsitze von Traugotts Vater, einem wohlhabenden Dorfe in flacher Gegend. Das gemüthliche Pfarrhaus mit Traugotts freundlichen Eltern, einer älteren Schwester und einigen jüngeren Brüdern, mit dem grossen Garten und dem ringsherum thätigen, mit neuen Dorfleben, bot köstliche Ferienunterhaltung. Ärgerlich war nur, dass bei den ziemlich häufigen Nachmittagsbesuchen Traugott und ich citiert wurden, um wir waren beide Anfänger im Klavierspielen 4händige Variationen über den kleinen Postillon zum Besten zu geben, wobei wir regelmässig ein oder mehrere Male umwarfen. Die Pfarrei genoss verschiedene Zehnten. Da war es ein Hauptvergnügen, mit dem Zehntknecht die Zehntgarben abzuzählen und aufzuladen, dazwischen Mäusejagd zu treiben und mit den Dorfbuben zu spielen und zu raufen. Nach circa 14 Tagen wurden Traugott und ich auf eine Fusstour in den badischen Odenwald geschickt. Mit wenig Geld und vielen Empfehlungsbriefen zogen wir aus, die Schulranzen als Tornister auf dem Rücken und das Wonnegefühl der Freiheit und der Erwartung grosser Dinge in der Brust. 20Wir werkelten bei Vettern und Freunden herum und wurden überall mit offenen Armen aufgenommen. Über Heilbronn, dessen Sehenswürdigkeiten und Umgebung incl. Weinsberg mit der Weibertreu gründlich genossen wurden, ging es an den Kocher nach Neuenstadt an der grossen Linde, die mir unvergesslich blieb wie das ungewohnte tägliche Nachtessen bestehend aus Pfefferminzthee und Butterbrot. Dann wanderten wir an die Jaxt zum dortigen Kantor und Schullehrer, der uns zu Ehren die Lese seines kleinen Weinbergs arrangierte. Der Weinberg lag unmittelbar unter dem Schlosse wovon in Göthes Götz von Berlichingen der Kindermund sein Sprüchlein sagt: Jaxthausen, Schloss und Dorf, an der Jaxt gelegen, gehört seit alten Zeiten den Herren Götz von Berlichingen. Die berühmte eiserne Hand Götzens wurde dort von uns besichtigt; leider war sie erstarrt, weil ein moderner Mechaniker sie zerlegt, das Kunstwerk aber nicht mehr zusammengebracht hatte. Unser lieber Kantor lud zu seinem Herbste die Honoratioren des ganzen Städtchens ein. Für den Abend stellten Traugott und ich das Feuerwerk, nachdem wir mittelst starken Eingriffs in unser Reisegeld zahlreiche Schwärmer, Frösche, Feuerräder und Raketen beim Buchbinder erstanden hatten. Hochvergnügt wurde die Lese vollendet unter Vertilgung grosser Mengen von Schinken, weichem Käse, Trauben und süssem Most. Zum Abendessen ging es ins Kantorhaus, wo in später Stunde das "Schlappestosse" vor sich ging. Jung und alt, Männlein und Weiblein mussten sich nacheinander auf einen starken Prügel setzen, der auf zwei Stühlen lag und durch die Griffe eines Kartoffelkorbes gesteckt war; in den Korb, der zwischen den 2 Stühlen baumelte, mussten die Füsse gestellt werden und dann war mittels eines Steckens ein auf dem hinteren Stuhl liegender "Schlappen" (Pantoffel ohne Kappe und Seitenteile) heruntergestossen werden. Die hiermit sich abmühenden verloren meist das Gleichgewicht und fielen zu Boden. Mit diesem derben Witze schloss unter grossem Gaudium das schwäbische Herbstvergnügen. 21Fast noch besser als in Jaxthausen amüsierten wir uns in Schillinsstadt, wo die 2 uns ziemlich gleichaltrigen Töchter des Pfarrhauses liebe Spielkameraden und die Zwetschen des Pfarrgartens theils roh, theils als Kuchen und Compote leckere Kost abgaben. Ein Ausflug nach Tauberbischhofsheim führte uns einen Jahrmarktstrubel und überraschende Volkstrachten vor Augen, Alles für mich völlig neu. Die 14tägige Fusstour fand ihren Schluss in Wimpfen a / Berg, hochoben am Neckar gelegen, wo im Kurhotel den verspätet und sehr hungrig eintreffenden 2 Jungen die Reste des Diners serviert wurden mit dem Schliesstück eines ganzen Kuchens, den wir frohgemuth noch völlig vertilgten, worauf der Wirth uns lustig lachend entliess, nachdem er uns pro Kopf 24 Kreuzer aufgerechnet hatte.

Nach Kirchhardt zurückgekehrt machten wir eine Kirchenvisitation mit, die für uns mehr als Kuchenvisitation angesehen wurde, und griffen dann bei der Einbringung des Obstzehntens mit an. Ein Berg von Äpfeln thürmte sich im Pfarrhofe auf, den wir fröhlich keltern halfen. Dann holte uns der Vater ab. Auf die Freuden der Ferienreise folgte die Freude der Heimkehr und ich fühle heute noch den Jubel, womit ich die Strassen und Häuser der Vaterstadt bei der Einfahrt begrüsste. Im Vaterhause aber fand ich das Brüderchen Fritz in der Wiege. Wahrscheinlich verdankte ich seiner bevorstehenden Ankunft die Abschiebung auf die Ferienreise.

Noch nicht 14jährig kam ich in die 5. Klasse, die erste eigentliche Gymnasialklasse, (Untersekunda) zu Professor Friedr. Butters, einem tüchtigen Lehrer und Gelehrten, dabei positiv-evang. Christ. Er war ruhig und mild, anregend im Unterrichte, erfahren im Kampf mit Schwächen und Unarten. Wir lasen bei ihm Livius und Ovid, Xenophons Anabasis und Homer, sein Unterricht in der Geschichte und im Deutschen fesselte uns. Die ganze Klasse hing an ihm mit viel Achtung, viele mit Liebe. Wir freuten uns, als er in die folgende sechste Klasse mit hinüberging. Es sollte damals jeder Gymnasiallehrer seine Klasse 2 Jahre führen. Dr. Vogels, der mit Butters in der führung der22 5. und 6. Klasse abwechselte, war ebenfalls ein tüchtiger Lehrer. Wir hätten ihn gerne nach Butters bekommen, allein wir kamen zu Fischer, jenem Gymnasialprofessor, dem Oskar von Redwitz in seinem Hermann Stark ein böses Denkmal gesetzt hat. Fischer, früher kath. Geistlicher und dann konvertirt, wie man sagte, um heirathen zu können, war als Philologe schwach, als Lehrer ungeschickt und bissig, schimpfte und moquierte sich gern bes. in den Nachmittagsstunden, vielleicht auch nach dem Genusse von Wein, und sah im deutschen Aufsatze weniger auf gediegenen Inhalt und richtige Darstellung als auf blühenden Stil; die Klasse merkte dies bald und bot ihm in den Aufsätzen mächtige Blumensträusse. Bei ihm wurde Demosthenes und Euripides gelesen, im Lateinischen Cicero und Horaz; die Lektüre des letzteren Dichters fesselte uns am meisten, da Fischer eine horazische Natur war. Fischer ging nicht mit uns in die Oberklasse, da die zweijährige Führung der Gymnasialklassen durch denselben Professor unterdessen abgeschafft war. Aber wir gewannen nichts bei dem Rektor Teller, der auch als Philologe schwach, als Lehrer ledern war. Es gelang ihm, uns den Cicero und Virgil, besonders den Plato und Sophokles zu verleiden und den Geschichtsunterricht zu einem Greuel zu machen, denn wir hatten das Lehrbuch wörtlich auswendig zu lernen. Die Nebenlehrer am Gymnasium waren: mein Vater im Religionsunterrichte, in welchem mein guter Vater zu viel sprach und uns zu wenig in Schrift und Bekenntnis einführte. Dann Professor Zäch für Mathematik; er förderte nur wenige Auserwählte und überliess den Rest sich selber. Professor Koch hatte den französischen Sprachunterricht, bei welchem weder Formen - noch Wortkenntnis, am wenigsten Konversationsfähigkeit herauskam. Den hebräischen Sprachunterricht ertheilte Prof. Krafft mit dem Erfolge, dass wir die hebräische Sprache für unlernbar hielten. Ich war in der Oberklasse der Preisträger in diesem Fache, kannte aber weder Verba noch Nomina, konnte auch nicht übersetzen. Den Gesangunterricht ertheilte Prof. Fischer, den Zeichenunterricht der Schwabe Veiel; in beiden Fächern kam ich durch natürliche Begabung voran. Im Turnen und Schwimmen leistete ich wenig. Meine Klassengenossen, von denen keiner eine Berühmtheit oder ein hervorragender Beamter wurde, waren meist stattliche junge Leute, durchschnittlich fleissig, verständig. 23In der Absolutorialprüfung erlangten 6 die Note I, darunter auch ich, 12 die Note II, 3 die Note III. Wir waren alle überzeugt, dass wir 2 Jahre früher, frisch aus Prof. Butters Hand weg, noch besser abgeschnitten hätten. Der von mir auf die Gymnasialfächer aufgewendete Fleiss war mässig. Aber proprio motu las ich in den Herbstferien Homer, insbesondere die Batrachomyomachie, und vor dem Eintritte in die Oberklasse besserte ich meine Mängel in Geometrie und Algebra aus, sodass ich als guter Mathematiker das Gymnasium verliess.

Viel Eifer und Fleiss verwendete ich während meiner Gymnasialzeit auf Nebenbeschäftigungen und Steckenpferde. Da war vor allem das Klavierspiel, in welchem ich schon frühe Unterricht erhielt. Leider war keiner meiner Lehrer selbst Klavierspieler, so dass mein Unterricht in Bezug auf Technik nicht sachverständig war. Ich übte aber fleissig und brachte es zu einiger Fertigkeit, fand auch Geschmack an klassischer Musik. Erst in der Oberklasse nahm sich meiner Fräul. Marie von Esebeck, später verehelichte von Loe an. Sie hatte in einem Schülerkonzerte mein Spiel gehört und nahm sich desselben an, übte mit mir schwierigere Sachen, spielte auch mit mir 4händig auf einem und auf 2 Instrumenten und brachte etwas Schliff in mein Spiel. Sie und ihre Mutter nahm sich auch meiner Singstimme an. Ich hatte nämlich einen vom Contra D bis zum eingestrichenen F reichenden, starken, klangvollen Bass. Bevor sich die Stimme brach hatte ich einen richtigen Knabenalt und weil ich sicher traf und taktfest war wurde ich Chorführer des Knabenalts bei der Vorbereitung eines grossen pfälzischen Musikfestes, in welchem Felix Mendelssohn Bartholdis Paulus und Walpurgisnacht aufgeführt wurde. Vor dem Musikfeste brach meine Stimme, aber da ich die Säule des Knabenaltes war, musste ich dennoch mitsingen. Mendelssohn dirigierte selbst. In der Hauptprobe blieb er neben mir stehen, und horchte erstaunt auf meine Leistung, sprach dann mit dem Chorleiter, indem er auf mich deutete, schüttelte den Kopf, lachte und liess mich weiter mitsingen, wofür ich sehr dankbar war. Denn ich hatte meinen24 Platz nahe hinter dem Meister und beobachtete bewundernd seine feine Art zu dirigieren; es wird wohl unter den Mitwirkenden seine Weisungen und Winke niemand williger und sorgfältiger beachtet haben als ich.

Im Gymnasialchor war ich des 2. Basses Halt. Hie und da wurde ich auch in Conzerten als Solist herangezogen trotz mangelnder Schulung. Da nahm sich Fräul. von Esebeck des ungeschliffenen Edelsteines an, übte mit mir Solfeggien, Solostimme und Duette und hätte vielleicht einen leidlichen Sänger aus mir gemacht, wenn mir die Sache gefallen hätte und ich nicht zur Universität abgegangen wäre. Ich konnte ihr später ihre Mühe einigermassen vergelten, als ihr aufgeweckter Sohn mein Schüler im Religionsunterrichte war.

Recht mit Lust übte ich das Singen als Mitglied und Dirigent eines Doppelquartettes, welches sich aus Mitschülern meiner Klasse bildete, fleissig übte und bei allen möglichen Gelegenheiten produzierte. Dieses Doppelquartett bildete den besseren Kern der Klasse und blieb durch seine Pflege des Gesanges vor mancherlei Ausschreitungen äusserlich und innerlich bewahrt.

Um im Orchester bei den sogen. Kasinoconzerten, die von Dilettanten gegeben wurden, mitwirken zu können, fing ich noch das Violoncello-Spiel an, brachte es auch zu einem Sitze im Orchester, da mein Lehrer Dirigent war, aber aus meinem Cello-Spiel wurde nicht viel. Wie war es auch anders möglich, da ich neben dem Gymnasialunterrichte zu vielerlei trieb.

Ich besuchte nämlich auch die Gewerbeschule (Realschule) als Hospitant einiger Fächer. Es war dies möglich, weil an der Gewerbeschule abends der Unterricht erteilt wurde. Hier trieb ich unter Rektor Dr. Reinsele Chemie und Physik, mit deren Grundzügen ich einigermassen bekannt wurde, besonders aber Botanik, die mich sehr fesselte und der ich viel Zeit opferte, selbst Morgenstunden von 4 Uhr ab vor den Gymnasialunterrichtsstunden. Die ganze Gegend bis auf 6 Stunden Entfernung von Zweibrücken suchte ich nach Phanerogamen ab, denn nur mit diesen beschäftigte ich mich,25 pflegte und mehrte mein Herbarium sorgfältig, stählte dabei meinen Körper durch die angestrengten Exkursionen, und schärfte meine Beobachtung der Pflanzenwelt und der ganzen Natur. Friedrich Wilhelm Schulz, der Herausgeber der Flora der Pfalz und Bruder meines Pathen, nahm mich als Mitarbeiter an seinen Centurien an, in welchen er seltene und kritisch interessante Pflanzen in getrocknetem Zustande serienweise darbot. Mit besonderem Stolze aber übernahm ich die Mitarbeit an einem Programme der Gewerbeschule, welches die geografisch / geologisch / botanische Beschreibung des Bezirksamtes Zweibrücken enthielt und wovon ich den botanischen Theil erhielt.

Eine grössere Ferienreise durfte ich während meiner Gymnasialzeit nicht machen, es blieb bei kleineren Ausflügen. Wie gern wäre ich einmal in die Vorderpfalz und an den Rhein gewandert, aber der Vater hatte für Karl und Lina zu grosse Ausgaben, so dass für mich nichts übrig blieb. Ich wäre mit Wenigem ausgekommen, denn ich konnte im Fusswandern etwas leisten und war gewöhnt, mit knappen Mitteln auszukommen. Hatte ich doch nur 6 Kreuzer (= 17 Pfennige) wöchentliches Taschengeld. Märsche von 10 und 12 Stunden ohne Rast und mit einem Stück Brod als Mittagessen vollführte ich ganz vergnügt. Diese Schulung in körperlicher Anstrengung und Genügsamkeit kam mir in meinem ganzen späteren Leben sehr zu statten.

Zu einer Schulung anderer Art half mir das Pensionat der Tante Julie denn ich wurde als Spielkamerad gleichaltriger Mädchen zugelassen und später in die Gesellschaft jüngerer Lehrerinnen und deren Freundinnen herangezogen. Das gab etwas feineren Schliff. Es loderte auch eine kleine Flamme in meinem jungen Herzen auf und hätte die Kleine nicht unvorsichtigerweise mir allen Ernstes zugesetzt, nicht Theologe zu werden, so wär sie vermutlich eine Pfarrfrau geworden anstatt eine alte Jungfer zu werden, mit der ich bis an ihr Ende gute Freundschaft hielt. 26Im Herbste 1847 machte ich das Gymnasialabsolutorium, schleuderte die Schulmappe wortwörtlich in eine Stubenecke und griff nach einer langen Pfeife, welche Bruder Karl mir stiftete in Erinnerung einer Tischermahnung des Vaters, die ich erhielt, als einer, der entlarvt wurde, sich mit Rauchversuchen abzugeben. Vor dem Absolutorium kommt keine Pfeife in Dein Zimmer! so lautete der Schluss von Vaters Rede. Als ich ihm nach dem Absolutorium mit der Pfeife entgegentrat, sagte er wohlgelaunt: Nun meinetwegen, aber ein Schornstein auf dem Hause wäre genug gewesen. Die Mutter braute mir und dem Doppelquartett einen Abendpunsch, nach dessen Aufsaugung wir auszogen, um unsere respektiven Flammen durch nächtliche Gesangständchen zu stören. Am folgenden Abend erschien das gesamte Lehrerkollegium bei unserer Abschiedsfeier und tröstete sich mit uns darüber, dass wir voneinander schieden.

So schloss meine Schulzeit mit einem schönen Akkord. Wie ein Idyll verlief sie mir im Schutz des Elternhauses unter mir zusagender Beschäftigung und im Kreise meist lieber Kameraden. Politische Stürme, soziale Wirren und religiöse Streitigkeiten bewegten den Strom der Zeit und meinen darauf hingleitenden Kahn nicht. Schulsachen und Liebhabereien bildeten den Unterhaltungsstoff unter den Klassenkameraden. Dem Studentenleben vorgreifende Schulverbindungen gab es nicht. In der Oberklasse wurden hie und da unter stillen Premissen des Lehrerkollegiums kurze Kneipabende mit wenig Bierverbrauch gehalten. Unanständigkeiten fanden keinen Beifall. Leider führte weder der Unterricht, noch die Anregung der Professoren gehörig zu der deutschen Litteratur. Auch im Elternhause wurde sie vernachlässigt. Hier lag ein Fehler in meinem Jugendgange. Ich kam später nie dazu, Versäumtes nachzuholen.

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III Universitätszeit.

Es stand seit langem fest, dass ich Theologie studieren würde. Ein Schwanken in der Berufswahl gab es nicht, obgleich meine Neigungen und besonderen Anlagen mehr auf Naturwissenschaft und Technik hinwiesen. Es war nicht der ausgesprochene Wille der Eltern, es waren auch nicht hervorragende Pfarrergestalten, die mich zum geistlichen Berufe zogen, auch nicht bewusstes und regeres religiöses Leben so wird es das väterliche Vorbild und Wirken gewesen sein, was mich zum Pfarramt und zur Theologie zog.

Für bayerische und pfälzische Theologen stand nur eine bayerische Universität mit einer evangelisch-theologischen Fakultät offen, nämlich Erlangen, obgleich der pfälzische unierte Rationalismus gegen die orthodox-lutherische Erlanger Fakultät starken Widerwillen äusserte. Allenfalls konnte noch das holländische Utrecht in Betracht kommen, wohin das Stipendium Bernhardinum viele Pfälzer lockte und wo mein Vater selbst studiert hatte. Aber die Utrechter Professoren hatten keinen besonderen Klang in Deutschland und der Vater wollte nichts vom Stipendiumgenuss wissen; obgleich er kein Vermögen und kein glänzendes Einkommen besass, trat er jeder Bewerbung um Stipendien entgegen. Einen Grund hierfür hat er nie angegeben.

So zeigte mein Universitätsweg weiter zunächst nach Erlangen. Zu Fusse zog ich dahin aus. In der letzten Nacht hatte ich zu Zweibrücken noch einen Kasinoball durchtanzt, marschierte den denkwürdigen Weg nach Kaiserslautern wo Onkel Karl damals Bezirksrichter war, und ging dazu abends auf Onkels Anregung dort zu einem Balle, um bis Mitternacht das Tanzbein zu schwingen. Dies zeigt, dass ich wenig geistliche Gedanken im Kopfe, aber viel Tanzlust im Herzen und tüchtige Kraft in den Beinen hatte. Der weitere Weg führte über Frankenthal. Dort wollte ich meiner jetzt daselbst wohnenden Flamme auf Wiedersehen sagen, es wurde aber ein langes Nichtmehrwiedersehen daraus, denn wir brouillierten uns wegen der Theologie. 28Vom Frankenthal ging die Reise mit meinem Gymnasial-Intimus Louis Heintz weiter über Frankfurt, theils mit dem mir neuen Dampfschiffe auf dem Main, theils über Land mit dem Wagen nach Würzburg und Bamberg. Wie viel boten diese alten Städte und durchzogenen Gegenden unseren schaulustigen jungen Augen. In Erlangen nahmen wir zusammen eine Wohnung mit grossem Arbeitszimmer und 2 Schlafzimmern, sahen uns die Stadt und besonders was zur Universität gehörte mit mehreren Konfüchsen an und wurden angesehen.

Namentlich die grünen Bayreuther Mützen suchten uns zu ködern, fingen aber nur einen. Die rothen Bubenreuther - und die weissen Utterreuther-Mützen lockten weniger zudringlich und ohne augenblicklichen Erfolg. Uns zusagende Burschen fanden wir bei einer Gesellschaft, die sich obskur trug, aber durch ungeschriebene Satzungen, also durch persönliche Freundschaft zusammengehalten wurde. Es war die durch die Scherzfarben braun, braun und nochmals braun zusammengehaltenen Bavaro-Cafaria. Die meisten Mitglieder waren Pfälzer (in Erlangen spottweise Kaffern genannt) dann Oberfranken, Oberpfälzer und Schwaben. Die Zahl schwankte in den verschiedenen Semestern zwischen 20 und 30.

Kameradschaftliches Zusammenleben war der Zweck der Verbindung, die ihr festes Lokal hatte und 3 offizielle Kneipabende wöchentlich hielt, ausserdem gemeinsam den Fechtboden belegte ohne dass Pauckzwang bestand. Die Kneipabende waren sehr gemüthlich, wurden öfter auch von Couleur-Studenten besucht. Die pfälzische Lebhaftigkeit machte sich dermassen geltend, dass man in Professorenkreisen auf starkes Trinken schloss. Gelegentlich interpellierte mich darüber der Prorektor und war sehr erstaunt, als ich ihm sagen musste, dass unser Kneipwirth den Zuschlag zum allgemeinen Bierpreise, durch welchen Zuschlag wir die Lokalmiethe bezahlten, wegen zu geringen Bierverbrauchs fortwährend erhöhte. Rohe und unsaubere Elemente duldeten wir nicht. Da wir viele musikliebende Leute hatten, wurde die Musik besonders an Sonntag-Nachmittagen gepflegt, scherzweise auch Musik mit Kindertrompetchen29 und anderen Kinderinstrumenten, sogar auch einmal Blechmusik auf Instrumenten, die kunstvoll aus Pappdeckel fabriziert waren. Der grosse Tag im Jahre war der 1. des Narrenmonats, der 1. Februar, an welchem allerley Ulk getrieben auch ein Frühschoppen nicht nur erlaubt, sondern befohlen war. Wir haben in der fesst geschlossenen aber durchaus demokratischen Bav. -Caffaria (deren Präsident allwöchentlich durch Wahl bestätigt wurde) viel frohe Stunden erlebt; sie bestand aber nicht lange über meinen Abgang von der Universität hinaus, verwandelte sich dann in eine farbentragende Rheno-Palatia und verschied alsdann nach wenigen Semestern.

Jeder bayer. Student musste zu meiner Zeit behufs Aneignung allgemeiner Bildung (!) 6 vorgeschriebene Kollegien der philosophischen Fakultät, die sogen. Fuchskollegien hören und sich einer Prüfung in den betreffenden Fächern unterziehen. Demnach hörte ich in den 2 ersten Semestern folgende: 1) Logik und Metaphysik bei Prof. Schiller aus Schellings Schule und langweilte mich stark darin; 2) Allgemeine Geschichte bei Bötticher, der alljährlich dieselben Witze wiederholte aber immerhin nach dem unfruchtbaren Geschichtsunterricht in den letzten Gymnasialjahren einigermassen fesselte; 3) Naturgeschichte bei Karl Raumer, der nicht mehr bieten konnte als allgemeine Begriffe und Klassifikationen; 4) Mathematik bei Staudte, hier wich ich bald gründlich aus, denn ich fand, dass meine Gymnasial-Mathematik für meinen Bedarf ausreichte; 5) Physik bei Kastner, der verständigerweise uns viele Experimente vorführte; 6) Tacitus Annalen, bei Döderlein, auf welches Kolleg ich mich wegen des Stoffes und des Vortragenden gefreut hatte, allein die ewige Textkritik nebst Konjekturen Döderleins liess den Geist und Stil des Tacitus nicht voll zu Recht kommen. Die Examina rigorosa aus den genannten 6 Fächern wurden von den Studenten und Professoren verständigerweise nicht sehr ernst genommen und fast regelmässig bestanden, wenn auch nicht cum laude. Neben diesen sogen. philosophischen Muss-Fächern genoss ich noch ein Privatissimum bei dem Pfälzer und berühmten Botaniker Jos. Koch, an welchen ich Empfehlungen hatte. 30Er war sehr freundlich gegen mich, vielleicht weil er merkte, dass ich nicht zu denen gehörte, deren botanische Zimmerstudien er wegwerfend mit dem Spruch charakterisierte: Die Kerls gehen nicht hinaus , nämlich um die Pflanzen an ihren Standorten aufzusuchen und zu beobachten. Koch benützte mich als ammanuensis im botanischen Garten und wollte mich ganz zur Botanik hinüberziehen, was mich bewog, mich zurückzuziehen.

Theologische Vorlesungen hörte ich in den 2 ersten Semestern bei Hofmann und dem für uns Pfälzer eigens angestellten Ebrard. Letzterer zog durch Frische und Verständlichkeit angehende Theologen an und seine Malicen gegen wissenschaftliche Gegner waren beliebtes Gewürz. In späteren Semestern befriedigte er mich und viele andere wenig. Ich hörte bei ihm Encyklopädie und Exegese, bei Hofmann Exegese. Er war der Stern erster Grösse in der theol. Fakultät, um dessenwillen besonders zahlreich norddeutsche Studenten nach Erlangen kamen. Mir war er nicht sympatisch; seinem geistreichen Vortrage fehlte die Wärme, der Herzton; sein Scharfsinn wurde in meinen Augen zu Haarspalterei und über der Gründlichkeit seiner Exegese bei einzelnen Partikeln verhüllte sich mir der Schriftinhalt mehr als er sich aufhellte. Er las für den dienstuntüchtigen Prof. Kaiser auch über das Alte Testament und hier kam ich bei meiner Schwäche im Hebräischen erst recht nicht nach.

Im 3. und 4. Semester belegte ich weiter besonders Exegese bei Ebrard und Hofmann, dann Kirchengeschichte bei Schmid, der mich langweilte. Ich kann nicht sagen, dass ich in den 4 ersten Semestern fleissig war. Auch der zwangsweise Besuch des Repetitoriums brachte mich nicht dazu. Es waren nämlich für die Theologen 4 Repetanten aufgestellt, die in 2 wöchentlichen Abendstunden die Theologen in kleineren Gruppen vor ihre Schmiede zu holen hatten. Der Zwang schmeckte uns schlecht und dem Repetanten des 1. Jahres, Wiessner, wusste uns die Unterhaltung über neutestamentlich Abschnitte nicht anziehend zu gestalten. Die Abschaffung der Zwangsrepetitorien gehörte zu den Märzerrungenschaften des Jahres 1848. 31Die Stürme dieses Jahres traten bereits in meinem ersten Semester ein. Mein Stiefelfuchs kündigte sie mir an, als er an einem Fehruarmorgen in mein Zimmer trat mit dem Weckrufe: Herr Krieger, stehen Sie auf, die Freiheit ist aus Paris angekommen. Was sich mein guter, ehrlicher Stiefelfuchs wohl unter dieser Freiheit dachte? Was sich alle die Massen, die der von Paris ausgehende Erdstoss taumeln machte, hofften und wünschten? Denn in allen Köpfen gärte es, in vielen Bereichen kochte es, da und dort krachte es: Throne wackelten, Ministerien stürzten, in den Residenzen flammte Aufruhr empor, in Provinzen bereitete sich der Aufstand vor. Konnte da das junge Studentenblut ruhig bleiben? In dem sonst so ruhigen Erlangen thaten sich Studenten und Professoren, Beamte und Bürger zu Volksversammlungen zusammen, in denen begeisterte Gesänge, feurige Reden und leichtfertige Schwüre erklangen. Imponierend und hochamüsant war in der allgemeinen Erregung die konsequente Haltung des Fürther Tagblattes, welches unser Kneipenwirt für sich hielt. Auf seinen 2 Quartblättern berichtete es kurz die zum Theil furchtbaren Weltbegebenheiten, um dann in behaglicher Breite seinen Lesern die gewohnte Kost vorzusetzen: In Wien stützte ein Kind aus dem 3. Stockwerke ohne sich Schaden zu thun, denn es kam auf den Wäschekorb einer vorübergehenden Frau zu liegen; in X spaltete sich ein Mann beim Holzhacken den Fuss, so dass er abgenommen werden musste; in N bekam eine Frau Drillinge, die alle wohlauf sind, u.s.w.

Wir Studenten fanden es an der Zeit, zu der akademischen Freiheit noch einigen Zuwachs zu wünschen und zu fordern; ich weiss nicht mehr welche, aber in allgemeinen Studentenversammlungen wurden diese Wünsche diskutiert und formuliert, ohne dass es zu den üblichen Reibereien zwischen den Verbindungen und zu gehäuften Paukereien kam. Die Studentenschaft schloss sich sichtlich enger zusammen und dieser Zusammenschluss hielt längere Zeit stand und fand seinen Ausdruck in allgemeinen Kommersen bei besonderen späteren Ereignissen. Zunächst aber nahm die Studentenschaft Stellung gegen eine bedrohlich scheinende Bewegung innerhalb des Erlangerischen Pöbels, in welchem die Strumpfer, d.h.32 die in den zahlreichen Strumpfwirkereien thätigen Arbeiter den Grundstock bildeten. Da die Polizey und die krähwinkelmässige Landwehr zu Fuss und zu Pferd trotz ihrer regelrechten Bewaffnung, stattlichen Uniformen und militärischen Gliederung nicht ausreichend erschien, übernahm die Studentenschaft die Garantie für die Ruhe und Sicherheit der Stadt mittels regelmässigen Wach - und Patrouillendienstes. Die Ruhe blieb ungestört. Ich selbst fand auf meinen Patroullengängen nur einmal etwas Verdächtiges und dies war ein besoldeter Nachtwächter, der in einer dunklen Ecke unziemlich rumorte und auf unseren Anruf mit herabgelassenen Hosen und bösem Gewissen die Flucht ergriff, aber gestellt wurde.

Das Studium litt natürlich stark in diesem Jahre und kam erst im folgenden Wintersemester wieder leidlich in Gang, um durch die Vorbereitung und den Ausbruch des Aufstandes in Baden und der Pfalz im Jahre 1849 wieder stark gestört zu werden. Die Zeitungsnachrichten und briefliche Mitteilungen erregten uns Pfälzer auf das höchste, wie leicht begreiflich ist. Dabei sah die Sache für uns in der Ferne anders aus als in der Nähe betrachtet. Galt sie uns doch als die berechtigte durchführung der vom Frankfurter Parlament beschlossenen Reichsverfassung, als deren Haupt wir den Reichsverweser Erzherzog Johann von Österreich in Nürnberg stürmisch begrüsst hatten. Ein Aufruf an die Pfälzer Studenten riss fast alle zur Abreise in die Heimath fort. Von meinen näheren Freunden blieb nur Einer zurück; er war beurlaubter Soldat und sein Fahneneid erhielt ihn nüchtern. Ich konnte mich den ins Vaterland ziehenden nicht anschliessen, weil ich kein Reisegeld hatte, schrieb aber dringend um solches. Mein Vater wusste nun, wie er mich in Erlangen festhalten konnte: er schickte mir erst dann Geld, als das Schicksal des pfälzischen Aufstandes entschieden war. Er hat mich dadurch vor grossem Unheil bewahrt, das über viele meiner Studiengenossen kam. Die sich als Civilkommissäre oder sonst als Gehilfen der provisorischen Regierung verwenden liessen, mussten den grossen Hochverrathsprozess über sich ergehen lassen, soweit ihnen nicht rechtzeitig die Flucht ins Ausland glückte. Von den unter die Freischaaren Eingereihten fiel einer durch eine33 preussische Kugel im einem Gefecht bei Rinnthal, die anderen wurden nach vielen Scherereien amnestiert. Das Denkmal der im Gefecht bei Kirchheimbolanden gefallenen rhein-hessischen Freischärler auf dem Friedhof daselbst ruft mir, so oft ich daran vorübergehe, die Mahnung zu: Gedenke, wie Du durch Gottes Gnade vor Torheit bewahrt bliebst im tollen Jahre 1848.

Die Pfalz bekam nach Wiederherstellung der Ordnung starke und lange militärische Strafeinquartierung, womit auch mein Elternhaus reichlich bedacht wurde, denn der Unschuldige musste mit dem Schuldigen leiden. Für mich hatte dies eine sehr bittere Folge. Ich musste meinem Wunsche, eine oder mehrere andere Universitäten besuchen zu dürfen, entsagen. Ich hatte Bonn, wo Nitzsch dozierte, Heidelberg wegen Rothe, Allemant und Umbreit, besonders aber Berlin ins Auge gefasst, wohin mich die Stadt und an der Universität Neander und Hengstenberg zogen. Des Abgangs von Erlangen sicher hatte ich mein sehr gutes Quartier gekündigt und meine sämtlichen Habseligkeiten heimgeschickt. Aber der Vater erklärte mir, er könne den gegen Erlangen viel kostspieligeren Aufenthalt an einer der genannten Universitäten für mich nicht bestreiten. Aber auch für Erlangen musste ich um Erhöhung meines Wechsels bitten.

Für das 1. Universitätsjahr waren mir 300 Gulden = 515 Mark ausgesetzt, selbst bei den damals noch wenig theuren Verhältnissen viel zu wenig, da ich nicht nur Kost und Logis, sondern auch die Reise - und Kollegiengelder, Bücher, kurz Alles ausser der Kleidung damit bestreiten sollte. Ich nahm mich gehörig zusammen und schränkte mich auf das Äusserste ein, genoss z. B. Vormittags nichts und Abends das Billigste, sehr oft nur ein Stück trockenes Brod. Trotzdem reichten die 500 Gulden nicht, sie konnten nicht reichen. Im 2. Jahr erhielt ich etwas Zulagen, konnte aber trotzdem nicht auskommen. Erst im 3. Universitätsjahr konnte ich mir Kaffee zum Frühstück und ein warmes Abendbrod zulegen, dazu mir auch sonst eine Ausgabe gönnen, die nicht absolut notwendig war. Im letzten Jahr aber verbrauchte ich ausser den 600 Gulden, die der Vater mir sandte, noch weitere34 100 Gulden, von denen später die Rede sein wird, und hinterliess beim Abgange von der Universität noch eine später mühselig abgetragene Schuld beim Buchhändler. Die nach mir kommenden Brüder wurden weniger knapp gehalten. Mir aber kam die Sparschule auf der Universität später gut zu Statten, denn erst als meine Söhne eigenes Brod assen, kam ich aus der Geldknappheit heraus.

Im 5. Semester bezog ich also an der Stelle von Berlin oder einer rheinischen Universität wieder Erlangen. Das Semester fing mit einer grossen äusseren Kalamität an. Meine rechtzeitig abgesandten Habseligkeiten kamen nicht an, dagegen trat der Winter mit unerhörter Strenge an. Das Thermometer ging auf 28°R, also 35°C herunter. Die Kälte und der Mangel an Kleidungsstücken nöthigten mich zu der bis dahin als Luxus angesehenen Anschaffung eines Überziehers in Gestalt eines baumwollbibernen Burnus, der soweit ich mich erinnern kann 8 Gulden kostete eine Illustration meiner dürftigen äusseren Umstände.

Mit dem Studium machte ich vom 5. Semester an Ernst. Dogmatik und Dogmengeschichte, dazu Ethik wurde in erster Linie getrieben. Thomasius, der Dogmatiker machte mir das Herz warm, die übrigen Professoren hatten bisher nur meinen Kopf beschäftigt. Thomasius hatte schon früher, als Universitätsprediger, mich eingenommen, obgleich ich nach der ersten Predigt der Meinung war, ich müsse in die unrichtige Kirche gerathen sein, denn der Mann, der im Nürnberger Dialekt sprach, einen in Aktion und Betonung unschönen Vortrag hatte, der ab und zu stockte und im Vater Unser Fehler machte, der könne nicht Thomasius gewesen sein. Er war es aber doch und später übersah und überhörte ich über dem Ernst und der Wärme, über der Tiefe und Klarheit des Inhalts seiner Predigten alle störenden Äusserlichkeiten. Sein Kolleg war bei aller Gelehrtheit und Gedankenschärfe erbaulich, man spürte den Herzton innerster Überzeugung und eigenster Erfahrung von dem Inhalt des Vorgetragenen, das auf festem und klarem Schriftgrunde stand. Ich verdanke dem theueren Mann das Beste, was ich von der Universität heimgetragen habe. 35In mein 6. Semester fällt eine medizinische Zwischentour, zu der mich mein Hausbursche, der auch in der Caffaria häufig hospitierte, veranlasste. Wir nannten ihn den Babbe (pfälzisch Papa). Er war Chirurg, besass als geprüfter Zögling der früheren Chirurgenschule in Bamberg die Befugnis, gewisse Krankheiten etc. zu behandeln, hatte sich in einem katholischen Orte bei Landau niedergelassen und viel Vertrauen erworben und wollte jetzt als Witwer, um den Quertreibereien des ihn überwachenden Kantonsamtes zu entgehen, nachträglich Medizin studieren und doktorieren. Zu seiner Doktorpromotion hatte er eine Dissertation zu schreiben und mich schon früher gebeten, dieselbe stilistisch zu korrigieren. Da bringt er mir eines Tages ein Heftchen mit Notizen über von ihm behandelte Croup-Fälle (Diphterie), dazu einige medizinische Werke und sagt zu mir: So, da hast Du, was Du zu meiner Dissertation über den Croup brauchst. Alle Vorstellungen und Proteste gegen diese Zumutung, als Babbes alter ego die Dissertation zu schreiben, halfen nichts; ich musste an das Geschäft, vollführte es auch ohne wesentliche Hilfe meines Auftraggebers und die Dissertation ging an die medizinische Fakultät und später gedruckt in die Welt. Ermuthigt durch den Erfolg wurde auf dieselbe Weise noch die Inauguralfrage über den medizinischen Wert des Oleum jecoris oselli (Walfischthran) verabfasst. Die bei der Doktordissertation zu vertheidigenden Thesen wurden mit Hilfe unserer Theologen in tadellosem Latein verfasst, die Opponenten veranlasst, unseren Babbe möglichst nicht zu Wort kommen zu lassen. So kam der neue Doctor medicinae, chirurgiae et atris obstretitiae zur Welt, zahlte seine Sporteln und setzte seine Praxis mit erhöhtem Vertrauen in der Heimath fort.

Durch diesen Zwischenfall hatte mein theologisches Studium keine besondere Störung erfahren. Es wurde durch Kommilitonen früherer Semester mehrfach gefördert. Mit solchen schloss ich deren letztes und mein 6. Semester ab durch eine ausgiebige und ereignisreiche Ferienthour, die in der Heimat endete. 36Mancher kürzere Ausflug und einige interessante Reisen zur Universität und zur Heimath waren vorangegangen. Sie zeichneten sich meist durch geringen Geldverbrauch aus. Das 4 Stunden von Erlangen entfernte Nürnberg wurde oft besucht und gründlich besichtigt. Man ging aber nicht zu Fuss, benützte auch nicht die Eisenbahn, sondern zu dreien eine Droschke ohne Kutscher mit altem Klepper, dessen gehörige Verpflegung überwacht wurde. Preis neben den Kosten dieser Verpflegung ein preussischer Thaler (= 3 Mark). Unterwegs gaben die Bemühungen das Ross in Trapp zu setzen viel Unterhaltung ab. In Nürnberg konnte man beliebig lang bleiben. Zu beliebten Fusstouren lud die fränkische Schweiz mit ihren schönen Thälern, grotesken Felspartien, berühmten Höhlen und mit ihren billigen Preisen ein. Eine schöne Heimreise machte ich mit einem Kommilitonen zu Fuss durch das mittelfränkisch-bayer. und hohenlohisch-württembergische Land bis Heidelberg. Eine andere als Fusstour geplante Heimreise selb achte über Ansbach, Rothenburg / Tauber, Schwäbisch-Hall und Heilbronn wurde zu einer Wagenfahrt voll heiterer Lust. Auf der Reise nach Erlangen wurde einmal die Vorderpfalz zwischen Annweiler und Edenkoben gründlich durchforscht von den Wohnorten verschiedener Kommilitonen aus. Einmal wurde die Reise durch Schwaben über Nördlingen, zweimal mit Post von Heidelberg über Würzburg ausgeführt. Auf dieser Route machte ich die nähere, in des Postwagens sehr enge sehr nahe Bekanntschaft der Gemahlin des Chirurgie-Professors Heyfelder in Erlangen, welche Bekanntschaft angenehme Fortsetzung im Heyfelderschen Hause fand.

Die schönste und amüsanteste Reise war die oben berührte, welche ich mit 3 ins Philisterium heimkehrenden Kommilitonen über München machte. Zuerst wurde unter stadtkundiger, studentischer Führung alles genossen, was in 4 Tagen mitgenommen werden konnte. Dann sollte ein Abstecher ins Gebirge gemacht werden, aber vor dem Schlafengehen kamen die 4 Partner zum Kassensturz zusammen, welcher ein derart ungünstiges Ergebnis hatte, dass wir das Gebirge links liegen lassen mussten, um in beschleunigtem Tempo der Heimat zuzueilen. Augsburg wurde in Eile besichtigt, in Ulm nur das Münster bestiegen Stuttgart eiligst durchstreift. In Heilbronn geriethen wir37 in den Falken , der unsere Reisekasse so übel mitnahm, dass wir nach Bezahlung der Neckarfahrt bis Heidelberg per Dampfboot zusammen keinen Gulden mehr hatten und statt an materiellen Genüssen an der Schönheit des Neckarthales uns labten. In Heidelberg stiegen wir besorgt ans Land. Was nun? Uhren versetzen? Legitimationskarte und Ehrenwort verpfänden? Im Gasthof auf schnell von zu Hause verschriebenes Geld warten? Einen Freund anzupumpen versuchen? Da steht schon der Freund nichtsahnend und sieht der Landung des Dampfbootes zu. Unter seinen Flügeln genossen wir 3 Tage Heidelberg, aber kärglich war der Reisepfennig, den er darbieten konnte. Noch 2 mal musste ich zwischen Heidelberg und Zweibrücken pumpen und dazu mir und dem Vater die Freude des Wiedersehens mit Bitten um schleunige Tilgung meiner Anleihen zu vergällen. Aber schön wars doch!

In meinen 2 letzten Semestern suchte ich die noch vorhandenen Lücken theol. Wissenschaft mit wirklich grossem und anstrengendem Fleisse zu büssen. Jeden Morgen begann ich die Arbeit zwischen 4 und 5 Uhr und setzte sie bis nach 7 Uhr Abends fort. Die Alttestamentliche Professur war endlich besetzt mit Franz Delitsch, dessen Persönlichkeit und Vortrag mich sehr anzogen. Die praktischen Disziplinen lehrte Höfling, der mir im kathechetischen Seminar den Rath gab, doch Kinder in irgend etwas zu unterrichten, da ich mit Kindern nicht umzugehen wisse. Bei Thomasius repetierte ich Dogmatik; Engelhard, der nicht mehr las, sammelte einige Kommilitonen zu einem unentgeltlichen Privatissimum. Bei Schmidtlein wollte ich Kirchenrecht hören, bekam aber bei den meisten Materien nur zu hören: Vergleichen Sie darüber Dobeneck pag. x, oder Richter §so und so viel.

Im August 1851 endete meine Universitätszeit. Dass ich sie ganz in Erlangen zubringen musste, war mir kein Schade. Ich hatte eine gute theologische Stellung gewonnen und das ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde.

Eine grosse Freude war es für mich, als ich kurz vor dem Schlusse des letzten Semesters am schwarzen Brette die Ankündigung38 entdeckte, dass meine auf das Ausschreiben der Fakultät eingereichte Predigt über 1 Cor. 15, 1-11 preisgekrönt war. Mit der Ehrengabe von 100 Gulden konnte ich einige fatale Löcher verstopfen, leider nicht alle. Dem Vater offenbarte ich diese noch offenen Wunden nicht und er forschte auch nicht darnach.

Die nächsten Wochen bis zur Prüfung benutzte ich nicht, um nach Höflings Rath Kinder zu unterrichten, denn ich hatte mit mir und einigen Prüfungsfächern noch genug zu thun. In diesen Wochen bestieg ich auch zum ersten Male eine Kanzel. Selbst im homiletischen Semester war ich nicht zum Kanzelvortrage gekommen und als Student den Chorrock anzuziehen hatte ich mich gescheut. In Massweiler, dem weltabgeschiedenen Filialdorfe der Pfarrei Rischweiler wagte ich es zum erstenmale, im Gottesdienste zu fungieren unter Assistenz des Schullehrers Petri, der mich später öfters daran erinnerte, dass er mir bei meiner 1. Predigt geholfen habe. Ich hielt meine bereits gefertigte Prüfungspredigt über Joh. 11, 25.26 ohne irgend einen Unfall. Damit hatte ich den Schritt ins geistliche Amt gethan und dankte Gott, dass es ohne Unfall geschehen war.

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IV. Vikariatszeit.

Die Aufnahmeprüfung der Pfarramtskandidaten leitete im Jahre 1851 der Konsistorialrath Börsch; als Examinatoren fungierten der Konsistorialrath Wand senior und die Dekane Fischer, Hollenstein und Moschel. Letzterem hatte mich mein Vater gelegentlich vorgestellt und ihn ermahnt: Fahret mir fein säuberlich mit dem Knaben Absalom! Mir war nicht gerade bange, nur der theilweise Gebrauch der lateinischen Sprache war mir unheimlich. Den Examinatoren ging es damit wohl ähnlich. In der mündlichen Prüfung hiess es sehr bald: utamur lingua nostra vernacula! und bei den schriftlichen Arbeiten wurde es nicht gerügt, dass wir dem Latein möglichst aus dem Wege gingen. Die Examinatoren waren durchweg wohlwollend, ein Durchfall war nicht zu beklagen. Mit der Note III zu II kehrte ich heim.

Die Einberufung zum kirchlichen Dienste liess auf sich warten. In der Wartezeit wagte ich mich 2 mal auf die Zweibrücker Kanzel und predigte das 1. mal Nachmittags über die Epistel Eph. 6,10ff, das dazu gesungene Lied fing an: Ernst ist der Kampf. Ein Freund machte dazu den Witz, ich habe über meinen Vornamen singen lassen und dann über meinen Nachnamen gepredigt. Die 2., Vormittags gehaltene Predigt über Matth. 18,20ff trug mir die Zensur von Professor Butters ein: gut verständlich und orthodox. Sonstiges Lob erinnere ich mich nicht, auch keinen Tadel.

Durch Freundesmund kam die Anfrage an mich, ob ich nicht an die Deutsche Evangelische Gemeinde in Odessa gehen wolle. Die Stellung war verlockend, der Gehalt glänzend, zur Vorbereitung auf französische Predigten sollte ich 2 Jahre Zeit haben. Trotzdem bewarb ich mich nicht, weil die Gemeinde reformierten Charakter hatte, ich aber milder Lutheraner war, der wohl in der unierten Kirche, nicht aber in einer reformierten Gemeinde ein Amt suchen konnte. 40Noch vor meiner Berufung als Vikar wurde ich conskribiert zum Militärdienste, zog eine niedrige Losnummer und glaubte, bei der körperlichen Visitation rasch freigegeben zu werden, da ich kurzsichtig war und Brille tragen musste. Zu meinem Schrecken machte der visitierende Arzt aus der Kuzsichtigkeit nichts und erklärte mich als diensttauglich zu allen Waffengattungen. Da zog ich mein Prüfungszeugnis aus der Tasche und beanspruchte von der Aushebungskommission zunächst Zurückstellung vom Dienst und nach der Ordination völlige Befreiung. Darauf gab der Arzt klein bei und meinte, unter diesen Umständen erkläre er mich sofort für untauglich zu allen Waffengattungen.

Ich glaubte schon, Weihnachten und Neujahr noch einmal im Elternhause verleben zu dürfen, als ich am 15. Dez. 1851 die Weisung erhielt, "angesichts dieses" nach Freinsheim mich zu begeben und das Privatvikariat bei Pfarrer Bickes dort anzutreten. Beide Namen waren mir unbekannt. Die Karte belehrte mich, dass der Pfarrort bei Dürkheim im Dekanate Neustadt a / H liege, also in einem der schönsten Striche der Pfalz. Über den Pfarrer und Prinzipal wollte ich von meinem Vorgänger, den ich unterwegs auf einer Bahnstation sah, schnell einiges hören, aber er rief mir nur zu: Du bekommst es gut, denn ich habe die Kapaunen alle essen müssen. Aus diesem Orakel war nichts zu entnehmen. Die kinderlosen Pfarrersleute aber waren freundlich; der Pfarrer hatte merkwürdigerweise keine Studierstube, sah auch nicht sehr geistreich aus, aber es liess sich mit ihm und seiner den Haushalt eifrig regierenden Frau ganz gut plaudern. Ich hatte im Hause zu wohnen. Das mir angewiesene Zimmer war klein und sehr dürftig möbliert. Ich legte darauf kein Gewicht. Die Verpflegung war soweit recht gut, doch eigenthümlich. Dasselbe Gericht erschien oft mehrere Tage hintereinander. Dies wurde unangenehm, als ein Schwein geschlachtet wurde. Denn nun kam Schweinefleisch und Schweinernes ohne Ende, Noch bedenklicher gestaltete sich die Sache, als im folgenden 2. Jahre, ein Rehbock erschien, der nun nacheinander von 3 Personen (die Magd erhielt nichts davon) wegzuessen war. Nach kurzer Pause erschien der 2. Bock und wurde ebenso weggearbeitet. Nun verstand ich meines Vorgängers Orakel;41 er hatte helfen müssen, den Hühnerhof von Kapaunen zu befreien, und ihm war das modifizierte toujour perdrix ebenso lästig geworden wie mir. Über Tisch wurde Wein getrunken, guter Wein. Aber nach einiger Zeit erschien ein zweiter Weinkrug, der mir zur Selbstbedienung hingeschoben wurde. Er enthielt Taglöhnerwein, den ich stehen liess, um fortan auch vom Prinzipalswein nichts mehr zu trinken. Den Morgenkaffee konnte ich nicht bekommen, ehe der Prinzipal aufgestanden war, d.h. gewöhnlich nicht vor 9 oder 1 / 2 9 Uhr. Ich schlief deshalb auch lange in den Morgen hinein und blieb bis Nachts 12 oder 1 Uhr am Arbeitstische. Der starke Ölverbrauch wurde oft beanstandet, aber auch mit dem Versprechen, weniger Öl zu verbrauchen, wenn ich meinen Morgenkaffee früher bekäme, konnte ich die Situation nicht ändern. Dies sind Kleinigkeiten, aber immerhin Unanehmlichkeiten. Schlimmer war es, dass der Prinzipal mich nicht in Berührung mit der Gemeinde wollte kommen lassen. Ich sollte die Gottesdienste, Christenlehren, Beerdigungen und den Pfarr-Religionsunterricht halten, sonst nichts: Die Taufen, Trauungen und den Konfirmationsunterricht nebst der Konfirmation behielt sich der Pfarrer vor. Man könnte meinen, dies sei wegen der Sporteln geschehen, aber von den Beerdigungen zog er doch auch die Sporteln ein. Er wollte mich möglichst wenig mit den Gemeindegliedern in Berührung kommen lassen. Darum untersagte er mir alle Kranken - und Hausbesuche, hatte aber nichts gegen Besuche auswärts. Auch von der amtlichen Korrespondenz, den Kirchenbüchern, den Presbytersitzungen hielt er mich fern und selbst die dekanatliche Intervention änderte hieran nichts.

Mit den Predigten ging es mir geleich zu Anfang hart heraus. Am 4. Adventssonntage predigte ich zum ersten Male. Dazu kamen nacheinander ein Vorbereitungsgottesdienst, 3 Weihnachtsgottesdienste, am Sonntage nach Weihnachten wieder Gottesdienst, desgleichen am Silvesterabende, Neujahrstage und dem Sonntage darnach. Für einen ungeübten Anfänger etwas viel, sodass ich von meinen 4 früher gehaltenen Predigten zwei zu Hilfe nahm, obgleich sie in die Weihnachts - und Neujahrszeit nicht passen wollten. Dass ich in der Filialkirche zu Dackenheim ebenfalls zu predigen hatte, beschwerte mich nicht, da42 ich dort dieselben Predigten wie in der Mutterkirche hielt und der Weg bequem in 25 Minuten zurückzulegen war. In der folgenden Osterzeit ging es noch härter her, weil ich in 11 Tagen 7 Predigten und noch 4 Leichenreden in der Muttergemeinde zu halten hatte. Mein guter Vater war darüber entsetzt, denn er hatte als Zweibrücker Stadtpfarrer in derselben Zeit 2 Predigten und 2 Leichenreden gehabt und gemeint, das sei viel. Für gewöhnlich hatte ich nicht viel zu thun, auch nach meiner Ordination am 2. Sonnt. nach Trin. 1852 nicht; nur bei den öffentlichen Kommunionen durfte ich von da ab den Kelch reichen.

In der Mutter - und der Filialgemeinde war der Kirchenbesuch gut, soll sich seit meinem Amtsantritt noch gehoben haben. Es war ein gutsituierter und gutgesinnter Mittelstand da, im Filial waren einige Pietisten, in der Muttergemelnde einige unkirchliche Familien und eine sehr liberale und leichtlebige Kasinogesellschaft von Gutsbesitzern und Beamten. Dass ich dort keinen Anschluss suchte, wurde mir sehr verübelt. Im Übrigen fand ich trotz des vom Prinzipale um mich gezogenen Bannkreises Fühlung mit Gemeindegliedern und Eingang in das Haus von Wilhelm Retger jun. Seine Frau war religiös angeregt, hatte litterarisches Interesse und war musikalisch. Ich konnte dort Klavierspielen und mich sonst trefflich unterhalten, machte aber höchstens alle 14 Tage einen Besuch.

Die Nachbargeistlichen waren theils alte Rationalisten, theils moderne Liberale, sie hatten mit dem Freinsheimer Pfarrhause keinen Verkehr, denn mein Prinzipal war orthodox-reformiert, suchte auch keinen kollegialen Umgang. Mein Dekan, Pfarrer Saul in Neustadt, ein positiver und freundlicher Herr, war 4 Wegstunden entfernt. Als Freinsheim später zu dem neuerrichteten Dekanate Dürkheim kam, wurde Pfarrer Fleischmann in Dürkheim Dekanatsverweser, zog mich aber nicht besonders an, dagegen suchte ich eine Konferenz von positiven Geistlichen in Grünstadt auf, die mir zusagte, aber selten tagte. Am meisten verkehrte ich mit dem älteren Kandidaten Redel, der als Pfarrverweser in Herxheim a / Berg, mit württembergischen Pietisten Fühlung hatte und mir ein ernster Berather und Führer wurde. Leider starb er frühe. Mit weiter entfernt43 wohnenden Gesinnungsgenossen wurde ich bei Missionsfesten, allg. Pastoralkonferenzen und Jahresfesten des Hasslocher Rettungshauses bekannt.

Unterdessen wurde in Freinsheim daran gearbeitet, mich von dort wegzubringen. Im Pfarrhause war man mit mir unzufrieden. Es gab zwar keinen Zank, aber allerlei spitze Reden. Im Kasino und in einem Damenkranze beschäftigte man sich mit meinem Verkehr im Retzerschen Hause und suchte denselben zu beschmutzen. Bei dem Dekanatsverweser muss allerlei gegen mich vorgebracht worden sein, denn sein Angesicht gegen mich war nicht wie gestern und ehegestern . Darum kam es mir sehr gelegen, dass mein Vater andeutete, er werde mich als Vikar brauchen. Ich kam um meine Versetzung nach Zweibrücken ein und erlangte sie. Beim Scheiden erfuhr ich von Gemeindegliedern viel Zeichen der Anhänglichkeit und Dankbarkeit und das Pfarrhaus verehrte mir den Stoff zu einer schwarzen Tuchweste! Woher dieser Tuchrest stammte, erforschte ich nicht.

In Freinsheim hatte ich manches nicht gelernt, was ich von der Amtsführung hätte lernen sollen, aber ich hatte doch predigen gelernt mit Hilfe des Vorbildes guter gedruckter Predigten, die ich studierte und analysierte. Auch war ich im Stande zu predigen, wenn ich nur eine etwas ausgeführte Disposition oder einige Notizen hatte, doch schrieb ich möglichst alle Predigten ausgeführt nieder und that dies in der Folge regelmässig nur memorierte ich nicht mehr. Ein zweimaliges Durchlesen des Konzeptes genügte mir, um das Konzept ziemlich wörtlich frei vorzutragen, aber ich band mich nicht mehr an das Manuskript, sondern gestaltete es auf der Kanzel je nach Umständen mehr oder weniger um. Durch die Meditation und sorgfältige schriftliche Ausarbeitung war ich des Stoffes vollständig Herr und konnte mühelos die Form und den Zusammenhang der Gedanken umgestalten.

In Zweibrücken trat ich mit dem Mai 1853 als Vikar resp. Pfarrverweser bei meinem Vater ein. Er stand schon länger in ärztlicher Behandlung und sollte auf längere Zeit die Arbeit niederlegen, auch eine Badekur gebrauchen. Diese unfreiwillige Musse benutzte er zu einem längeren Besuche bei44 meiner Schwester Lina, wo er zugleich das Seebad gebrauchen konnte.

Die 2 anderen Pfarrer Zweibrückens hatten schon längere Zeit Vikare und zwar im Jahre 1853 zwei Universitätsfreunde von mir. Mit ihnen schloss ich mich eng zusammen zu gemeinsamer Arbeit und Erholung, zu Schutz und Trutz. Wir hatten sehr verschiedenes Temperament, Oberlinger war lebhaft und formlos, selbstlos und offen, in seinen Predigten scharf an die Gewissen und doch tröstlich zu Herzen redend. Stock war verschlossen, trocken, sarkastisch, seine Predigten feilte er sorgfältig und stellte oratorisch seinen Mann. Beide wurden gern gehört und zogen verschiedene Kreise an, erregten aber auch Unwillen. Mir erging es ähnlich und ich bekam aus dem Familienkreise heraus die Stimmen des Tadels und Beifalls bald mehr, bald weniger lebhaft zu hören. Unsere Jugend wir zählten zusammen etwa 75 Jahre trug uns den Titel Lausbuben ein, worüber wir uns mit dem Apostel Paulus zu Athen trösteten, dem das Wort Lotterbube nachgerufen wurde.

Mir war es betrübend, wie sich das Bild meiner Vaterstadt gegenüber dem von früher in mir haftenden Eindrucke trübte und veränderte. In meinem Elternhause wurde jedermann Ehre gegeben. Die Skandalchronik wurde wenigstens vor uns Kindern nicht besprochen, üble Nachrede nicht geduldet, das Gute stets hervorgekehrt. Demnach hatte ich in der Zweibrücker Bürger - und Beamtenschaft überwiegend brave und würdige, geachtete und achtbare Männer und Frauen gesehen. Ach wie viele sanken herab, als ich nun in das Leben und Treiben der Stadt tiefer und schärfer hineinsah und hineinsehen musste. Viel Hohlheit, viel Leichtfertigkeit, viel Sittenlosigkeit machte sich breit und die Unkirchlichkeit war in den meisten Familien die Regel, von ernst-religiösem Sinn und evang. -frommen Leben nur wenige Reste in den Familien, nur wenige neue Ansätze bei einzelnen Personen. Vielleicht hätte sich das Bild der Gemeinde freundlicher und hoffnungsvoller gestaltet, wenn ich länger geblieben wäre. Ich sah und merkte ja zunächst nur, was sich hervordrängte, zu eingehendem seelsorgerlichem Verkehr mit allen Schichten der Bevölkerung kam es nicht und konnte es nicht kommen in der kurzen Zeit meines Zweibrücker Vikariates, in welcher ich viel Arbeit hatte45 theils durch die Vertretung meiner in Urlaub gehenden Vikariatskollegen, theils durch besondere Geschäfte, die ich in Freinsheim nicht kennen gelernt hatte. Ich hatte meinen Vater in seinen Funktionen als Gefängnisgeistlicher, als Religionslehrer an der Töchterschule und als Kirchenschaffney-Sekretär zu vertreten, und alle drei Funktionen brachten mir mancherlei Noth.

Als Neuling in der Seelsorge wurde ich im Gefängnisse anfangs viel angeschwindelt, bis ich lernte, die Schleier zerreissen, die Masken zerreissen und die Aufrichtigen von den Schwindlern mehr unterscheiden.

In der Töchterschule sollte ich gleichzeitig Kinder von 6 Jahren bis hinauf zu Backfischen von 16 Jahren in 2 Wochenstunden den gesamten Religionsunterricht ertheilen und mühte mich ehrlich damit. Dass das Resultat sehr unbefriedigend war, lag zu Tage, aber bei dem interimistischen Charakter meiner Stellung konnte ich an der Art der Unterrichtsertheilung nichts ändern.

Als Kirchenschaffney-Sekretär stand ich wie ein neugeborenes Kind da. Hatte ich doch mit der Verwaltung von Kirchengütern und sonstigem Kirchenvermögen gar keine Bekanntschaft. So musste ich denn mich und den Vorstand der Kirchenschaffnei recht plagen. Letzterer, Herr Kirchenrath Kumpf, nahm Rücksicht und übte Geduld. So lernte ich hier Vieles, was mir später recht zustatten kam.

Von grosser Bedeutung für mein inneres Leben und meinen äusseren Lebensgang wurde mein Bekanntwerden mit einigen Pfarrern der Umgebung, bes. mit dem Inspektor Helfenstein in Hornbach, an den ich mich nahe anschloss und der mir ein treuer, hochverehrter Freund wurde. Er war wissenschaftlich und praktisch gleich tüchtig, eim fester Charakter, und sein Junggesellenhaus zog durch den Geist ernster Besinnlichkeit und herzlicher Gemüthlichkeit mich und andere ausserordentlich an. Er war milder Lutheraner und einer der Führer der aus der Erlanger Schule hervorgegangenen jüngeren pfälzischen Geistlichen. Diese gingen harten Kämpfen entgegen46 einerseits mit dem älteren Rationalismus und jüngeren Liberalismus, andererseits mit dem Streben Dr. Ebrards, der 1852 unter Aufgabe seiner Erlanger Professur in das Pfälzische Konsistorium eingetreten war, der pfälz. -unierten Kirche einen reformierten Charakter aufzuprägen. Meine Stellung in diesen Kämpfen musste ich meiner theologischen Überzeugung entsprechend auf der positiven Seite nehmen. Der konfessionelle Zwiespalt zwischen dem lutherischen und reformierten Flügel der Orthodoxen berührte mich wenig; obgleich ich lutherisch gerichtet war, konnte ich reformierte Anschauungen tragen und mich mit ihnen vertragen. Aber mit der Mittelpartey, die Liberalismus und Orthodoxie zusammenschmelzen wollte, konnte ich mich nicht vertragen und den Lockungen, mich ihr anzuschliessen, widerstand ich, obgleich mein lieber Vater zu ihr neigte und wir dadurch etwas auseinander gehalten wurden.

Der Vater übernahm im Oktober 1853 wieder alle seine Funktionen und setzte mich in ruhende Aktivität . Ich musste bis zum November auf weitere Verwendung warten, bekam aber dann die mir sehr angenehme Weisung, als ständiger Vikar nach St. Ingbert zu gehen, also in eine bevorzugte Kandidatenstellung in der Nähe des Elternhauses und vieler Freunde.

Mit hochschlagendem Herzen hielt ich von Sulzbach aus durch theilweise prachtvollen Hochwald meinen Einzug zu Fuss in den Ort, wo ich die beste und schönste Zeit meines Lebens verbringen sollte.

St. Ingbert war 1853 schon Stadt genannt, war aber eigentlich ein grosses Arbeiterdorf mit einer Anzahl von Handwerkern, Kaufleuten und wenigen Beamten. Die Kaiserstrasse (von Paris nach Mainz) zog durch. Südwestlich liegt der Weiler Sengscheid, westlich das Kramersche Eisenwerk, nördlich das Schlösschen Elsterstein, ebenfalls nördlich auf 4 - 5 km Entfernung die zur St. Ingberter Kohlengrube gehörenden Gebäude, dann die Salzbacher und Marianenthaler Glashütte, zusammengefasst unter dem jetzt auch offiziellen Namen Schnappach. Die Seelenzahl betrug in der Stadt und den Annexen zwischen 5000 und 6000. 47Das prot. ständige Vikariat war erst seit einem Jahr errichtet und gehörte zur Pfarrei Neuhäusel, deren Pfarrsitz 2 Std. entfernt lag. Der Vikariatssprengel umfasste ausser der Stadt und ihren Annexen die Dörfer Oberwurzbach und Heckendahlheim (1 gute Stunde entfernt), Ommersheim (1 1 / 2 Std.), Ensheim (2 gute Std.), Eschringen und Ehrmesheim (2 1 / 2 Std.) In Ensheim und Eschringen wohnten einige prot. Familien, in den anderen Orten nur vereinzelte Evangelische. Die Vikariatsgemeinde zählte im Ganzen zwischen 300 und 400 Seelen. In St. Ingbert war eine prot. Schule mit circa 35 Kindern neu errichtet. Zu Schnappeck war eine gemischte Schule mit einem prot. Lehrer.

Die prot. Gemeinde setzte sich aus prot. Bergleuten und Grubenbeamten, aus Glashüttenarbeitern und - Beamten, Eisenwerksarbeitern und - Beamten, den 2 Familien Kraemer, den Besitzern des Eisenwerks, endlich aus einigen Handwerkern und dergl. zusammen und enthielt sehr viele gemischte Ehen. Der Gottesdienst wurde in einem gemietheten Saale mit dürftiger Einrichtung ohne Harmonium gehalten.

So sah mein Arbeitsfeld aus. Meine Wohnung nahm ich in dem Hause, woselbst die Gendarmeriestation war. Die Gendarmen waren anfangs meine Begleiter nach auswärts. Mein Kosthaus war in der 1. Zeit im Gasthaus des Bürgermeisters Chandon, bei welchem ich mich über viele Verhältnisse orientieren konnte. Meine Bezüge um auch das zu erwähnen, sollte aus 400 Gulden und den Kasualgebühren bestehen, sowie aus einer Wohnungsentschädigung von 50 Gulden. Dieser Betrag reichte für eine Wohnung von 2 Zimmern und 1 Kammer nicht aus. Das war schlimm. Woher ich die 400 Gulden beziehen sollte, war mir nicht mitgetheilt; der Kirchenrechner sagte mir, ich habe von ihm 150 Gulden zu beziehen, aber er habe kein Geld. Das war schlimmer. Aber das schlimmste kam auf dem ki. Rentamte, das mir nach meiner Rechnung 250 Gulden jährlich auszahlen sollte. Der Rentmeister legte mir eine Regierungsanweisung vor, wonach ich 400 Gulden bei ihm zu empfangen habe. Ich erklärte ihm, dass hier ein Irrthum walten müsse und bat, bei der Regierung anzufragen. Als ich wieder erschien, versicherte er mir, der Betrag von 400 Gulden aus der Staatskasse48 sei richtig. Das war ja sehr schön und ich kaufte mir darauf hin ein Klavier und freute mich des abnorm hohen Einkommens. Aber den hinkenden Boten bekam ich 1855 nach, wo mir das Konsistorium eröffnete, ich habe für 14 Monate den Betrag von 175 Gulden zu viel bezogen und solle denselben zurückerstatten. Auf schriftliche und mündliche Vorstellung hin sollte der Betrag vorläufig als Schuld gegen 5% Zinsen stehen bleiben und mir später als ausserordentliche Unterstützung zugewandt werden. Als ich nach 8 Jahren auf Erfüllung jenes schriftlichen Versprechens drang, zog das unterdessen erneuerte Konsistorium das frühere Konsistorialversprechen zurück und die 175 Gulden wurden erbarmungslos eingezogen, nachdem ich 70 Gulden für Zinsen eingebüsst hatte. Ich habe mehrere Ungerechtigkeiten im Leben erfahren, aber die an jene 175 Gulden geknüpfte verstehe ich bis heute noch nicht. Wahrscheinlich habe ich nicht wehmütig genug gejammert, nicht demütig genug gefleht. Dass ich es nicht gethan habe, reut mich bis heute nicht.

Niemand stellte mich der Gemeinde vor und führte mich in mein Amt ein, nicht der Dekan, nicht der Pfarrer, dem ich unterstellt war. Ich musste mich selbst vorstellen, und die Leute glaubten mir merkwürdigerweise, dass ich der ihnen geschickte Vikar sei. Niemand übergab mir ordnungsmässig das Inventar der Kirche und des Vikariates. Später stellte sich heraus, dass gar kein schriftliches Inventar vorhanden war. Am 2. oder 3. Abend meiner Anwesenheit aber brachten mir 2 Presbyter in einem Waschkorb die Vasa sacra, einige Papiere und sonstige Gegenstände mit dem Beifügen, dies sei Alles, was ihnen mein Vorgänger Heinz zur Auslieferung an mich übergeben habe. Ich musste es ihnen glauben, nahm ihnen die Sachen ab, gab keine Empfangsbescheinigung und errichtete kein Protokoll.

Das ganze Kirchenwesen war in primitivem Zustande und ich, der dahin gesetzte Vikar, hatte bisher von der pfarramtlichen Geschäftsordnung und Geschäftsführung nichts gesehen und nichts gelernt, hatte keine Amtsinstruktion, kein Amtshandbuch, keine Akten, aus denen ich etwas entnehmen konnte. Ich suchte mich da und dort zu informieren und brachte nach und nach in meine Unwissenheit Licht und in das Kirchenwesen der49 jungen Gemeinde Ordnung.

Die Gottesdienste waren gut besucht. Meine erste Predigt hielt ich über 1 Kor. 2,1-5. Die Predigt machte Eindruck. Der Beetsaal füllte sich je mehr und mehr bis zu beängstigender Überfüllung. Ich durfte bald merken, dass ich das Vertrauen der Gemeinde gewann. In den hervorragenden Familien kam man mir sehr freundlich entgegen. Als ich die Gemeindeglieder, soweit man sie mir bezeichnete oder ich sie ausfindig machte, Haus für Haus besuchte, erregte dies überall Freude. Auch der katholische Pfarrer, Dechant Duy, empfing mich zuvorkommend. Er hatte den Ruf, ein römischer Eiferer zu sein, war es aber nicht. Nur hatte er seine Hand gerne in allen Angelegenheiten, auch die nicht seines Amtes waren und hatte als gescheiter, gewandter und energischer Mann grossen Elnfluss, aber er liess uns Protestanten unangefochten. Später hörte ich, dass er nach einigen meiner Leichenreden, die auch von Katholiken aufmerksam gehört wurden, davor warnte.

Das Verhältnis zu der katholischen Bevölkerung war eher ein gutes. Der ganze Vikariatssprengel war früher ungemischt katholisch; erst seit 70 Jahren hatten sich einzelne Protestanten darin angesiedelt mit Ausnahme von Eschringen, wo schon lange wenige prot. Familien ansässig waren. Von fanatischem Eifer war äusserst selten etwas katholischerseits zu spüren. Eine Anzahl von besseren Familien in St. Ingbert kam dem prot. Vikar sehr freundlich entgegen. Die geringen Leute grüssten meist zuerst; wenn sie es nicht thaten, grüsste ich und beim Wiederbegegnen kamen sie sicher mit ihrem Grusse zuvor. Das freundliche und friedliche zwischen den Konfessionen zu pflegen und zu hüten, hielt ich für meine Aufgabe und wo sich protest. Übereifer und Katholikenfresserei regen wollten, trat ich ernstlich entgegen. Leider kamen später einige kath. Geistliche und Kapläne in den Vikariatssprengel, die es für ihre Amtspflicht hielten, uns Protestanten entgegenzutreten. Dies hätte vielleicht wenig Erfolg gehabt, wenn nicht das Wachsthum der prot. Seelenzahl und der Ausbau ihres Kirchenwesens die Furcht erweckt hätten, es könne die dominierende Stellung der Katholiken erschüttert werden. Dadurch wurde das Verhältnis gespannter. In den Stadtrat50 kamen keine Protestanten, während Juden noch zugelassen wurden. Dass nach dem Auftreten des Zentrums und des Kulturkampfes die Situation noch unerquicklicher wurde ist begreiflich. Persönlich aber fand ich im Grossen und Ganzen während meiner ganzen Wirksamkeit in St. Ingbert katholischerseits Achtung und Vertrauen.

Mit der eigenen Gemeinde wuchs ich rasch innig zusammen. Die aus allen Gauen der Pfalz, aus Rheinland, vom Main, aus Oberfranken und vereinzelt aus Sachsen und den alten preussischen Provinzen herstammenden Gemeindeglieder schlossen sich enger zusammen und freuten sich ihres gemeinsamen Glaubens und der Pflege ihres Glaubenslebens.

Viel Arbeit und Sorge machten die Schulen. Zu Schnappach war der Lehrer an der dortigen gemischten Schule ein begabter, aber zurückgekommener Mann mit ungeordnetem Haushalte, der keine Achtung genoss und unterrichtlich wenig leistete. Die prot. Schule zu St. Ingbert war neu gegründet und mit einem Schulgehilfen besetzt, der in leichtfertige Gesellschaft gerathen war und sein Amt lässig betrieb. Eines Morgens stürmten ein paar Jungen zu mir herein mit der aufgeregten Meldung: Unser Lehrer ist durchgebrannt! Es war so. In der Nacht waren seine Möbel fortgeschafft worden und er selbst verschwunden. Zunächst übernahm ich selbst den Unterricht, der aus inneren und äusseren Gründen unbedingt fortgeführt werden musste. Und als ich den Regierungsbescheid erhielt, dass für die nächste Zeit keine Lehrkraft zur Verfügung stehe, musste ich wohl oder Übel den regelrechten Unterricht in den 6 Klassen übernehmen, was mich viel Mühe und Arbeit kostete, aber den Kindern und besonders mir selbst gut bekam. Ich lernte mit Kindern umgehen und wurde mit dem praktischen Schulbetriebe gründlich bekannt. Von der geringen Remuneration blieb mir wenig, da ich sie grossentheils zur Vermehrung der dürftigen Lehrmittel verwendete.

Viel Freude machte mir der Konfirmandenunterricht, auf den ich mich sorgfältigst vorbereitete und in welchem ich den künftigen Stock der Gemeinde heranzog. Eine solenne Weihnachtsbescherung für die Konfirmanden half die Herzen der Kinder gewinnen. 51Dass die finanziellen Verhältnisse der Gemeinde höchst mangelhaft waren, hatte ich bald merken müssen. Die Kirchenkasse wurde aus freiwilligen Beiträgen gefüllt, was für die Dauer nicht bleiben konnte. Der Kirchenrechner hatte noch nie Rechnung gestellt, schaltete frei ohne Kontrolle des Presbyteriums und Vikars über die ihm anvertrauten Beträge und weigerte sich, etwas daran zu ändern. Zweifellos war er treu und gewissenhaft und die Gemeinde war ihm zu Dank für die unentgeltliche Führung seines Amtes verpflichtet. Aber das ganze Gebahren war unzulässig und ungesetzlich. Als auf mein Betreiben von der zuständigen Verwaltungsbehörde Rechnungsstellung verlangt wurde, legte der Rechner sein Amt nieder und überliess mir die Stellung der Rechnung. Da galt es, in die Verordnungen über das Kirchenrechnungswesen und in dessen Formen sich einzuarbeiten. Es gelang auch und hat mir mein Leben lang viel genützt. Der neu aufgestellte Rechner, ein einfacher Bergmann, der mir durch seine Unwissenheit er konnte nicht einmal ordentlich addieren , sein Misstrauen und seine Starrköpfigkeit viel Mühe und Noth machte, nötigte mich dadurch aber auch das Rechnungswesen erst recht gründlich zu studieren und zu praktizieren, und als er endlich abtrat, war es leicht aus seinem Nachfolger, ebenfalls einem einfachen Bergmanne, aber mit verständigem Kopf und lenkbarem Sinn, bald einen ganz brauchbaren Kirchenrechner heranzubilden.

Im Herbste 1854 musste ich mich zur Anstellungsprüfung stellen. Die Prüfungskommission war aus denselben Konsistorielräten und Kommissionären gebildet, wie bei meiner Aufnahmeprüfung. Die Kommissäre waren sehr wohlwollend. Aus ihrem Munde wurde den Mitprüflingen und durch sie mir kund, dass meine Predigt über Offenb. Joh. 3,20 Aufsehen machte. Aber beim Predigtvortrag liess mich der Dirigent in der Mitte der Predigt beginnen und nach 2 Sätzen blieb ich stecken das einzige Mal, dass ich in einer Predigt richtig stecken blieb. Ich meldete meinen Unfall von der Kanzel, worauf im Manuskripte eifrig nach der Unglücksstelle gesucht wurde; ehe es gelungen war, wurde ich wieder flott und fuhr ohne Erregung fort. Bei der kirchengeschichtlichen Arbeit erlaubte ich mir die Frage, ob die Formulierung der Aufgabe über52 die Reformatoren vor der Reformation dahin deute, den inneren Zusammenhang der reformatorischen und der vorreformatorischen Bewegung hervorzuheben. Der herbeigerufene Dirigent, welcher offenbar das Thema formuliert hatte, liess einen Zornerguss über mich ergehen mit den 2 Pointen, dass ich nicht Deutsch verstehe und ein suffisanter Mensch sei. Ohne zu antworten setzte ich mich nieder, zückte die Feder und schrieb uno tenore 3 oder 4 Bogen voll. Als ich die Arbeit abgab, erschien der Dirigent wie gerufen noch einmal, warf einen Blick in das Manuskript und brummte, dass ich ja über das Thema etwas zu schreiben gewusst habe. Wach der Prüfung aber erfuhr ich, dass wegen meiner exegetischen Arbeit über 1 Kor. 11, 17-31 Konsistorialrat Dr. Ebrard meinen Durchfall beantragt hatte. Ich hatte in der Stelle die lutherische Abendmahlslehre begründet gefunden. Von Durchfall blieb ich jedoch ziemlich weit weg, denn ich bekam die Note II.

Sehr gemüthlich war das Zusammenleben der Kandidaten im rothen Ochsen zu Speyer, wo auch der Prüfungskommissär Moschel wohnte. Als wir eine Mysogynia II stifteten, weil wir sämtlich, wie die Kandidaten unseres Vorkurses, unverlobt waren, rückte Moschel erstaunt seine Perücke, warnte uns vor Verachtung des Ehestandes, aber auch vor dem Bach - und Landadel (d.h. vor den reichen Müllers - und Bauerntöchtern) und empfahl uns, im Stamme Levi zu bleiben mit der triftigen Begründung, wir würden unsere künftigen Töchter auch gern standesgemäss verheirathet sehen.

Aus der Prüfung zurückgekehrt fand ich den Typhus in St. Ingbert, musste in einer fast ganz aussterbenden Familie mit Pflegedienst und Nachtwache eintreten und erkrankte selbst zwar nicht sehr schwer, denn ich konnte nach 3 Wochen wieder amtieren, aber die völlige Genesung zog sich 4 Monate hinaus, vielleicht weil ich die Arbeit zu frühe wieder aufgegriffen hatte.

Aber ich hatte keine Zeit zum Kranksein. Die Schule stand ohne mich stille und mein einziger für Aushilfe zu habender Nachbar wohnte 2 Std. entfernt und hatte eine arbeitsreiche Pfarrei. Auch der Dekan konnte mir keine Stellvertretung beschaffen. Mein Dekan war anfangs Pfarrer Göppel in Homburg. 53Ich hatte nicht über ihn zu klagen, fand aber auch wenig Rath und Beistand bei ihm. Er visitierte nur einmal das Vikariat und fand alles sehr befriedigend, doch nicht im Sinne jenes Visitators, der erklärte, wenn er befriedigend ins Protokoll schreibe, so heisse dies nicht befriedigend . Während des Gottesdienstes im dicht gefüllten Betsaale flüsterte er mir ins Ohr: so denke ich mir die Gottesdienste der ersten Christengemeinden. Er ermunterte mich, von meinen Predigten in den Druck zu geben. Er selbst liess gerne drucken. Ich habe mein Leben lang nur dann etwas in die Druckerei gegeben, wenn ich selbst unter starkem Druck von Verhältnissen oder Freunden stand.

Auf Dekan Göppel folgte Dekan Windisch. Er war ein unterrichteter und fleissiger Mann mit hervorragendem Gedächtnisse, ehrbedürftig und empfindlich. Er war Mittelpartheyler und suchte mich zu seiner Parthey zu ziehen. Als dies nicht gelang, wurde ich zurückgeschoben. Der Krieger kann ein guter Unteroffizier werden, aber nie ein rechter Offizier , äusserte er. Später that er so, als habe er mir vorwärtsgeholfen. An seiner Rüstigkeit und geistigen Frische in hohem Alter musste man seine Freude haben. Viel verdankte ich in St. Ingbert meinem Freunde Helffenstein in Hornbach, dem als Schulinspektor meine Schulen unterstanden. Wenn er zu Schulvisitationen oder bei anderen Gelegenheiten kam, hatte ich immer Genuss und Gewinn davon. Zu den Lehrerkonferenzen in Hornbach, welchen auch andere Pfarrer beiwohnten, marschierte ich 6 gute Stunden mit gutem Vergnügen. Bei den Schulvisitationen von Breitenfurt und Walsheim stellte ich mich ziemlich regelmässig ein. Die Pfarrkonferenzen in Ernstweiler, wo circa 15 positive Geistliche sich 3 - 4 mal im Jahre vereinigten, waren mir Festtage. Dort wurde von 10 - 1 Uhr wissenschaftlich gearbeitet; beim Mittagstische und bis zum Abende wurden amtliche und kirchliche Fragen besprochen und frohe Unterhaltung gepflegt.

Ausser diesem Verkehr auf pfälzischer Seite ergab sich auch Verkehr auf preussischer Seite. Besonders Pfarrer Roebenacke aus Bischmisheim wurde mir ein lieber Freund. Wie oft machte ich spät Nachmittags den 2stündigen Weg zu ihm, verbrachte den Abend mit Roebehacke und seiner liebenswürdigen, gescheiten54 Frau bis tief in die Nacht mit Gespräch und Musik und ging in der Morgenfrühe wieder Heim, wenn ich nicht noch einen vollen Tag zulegte. Auch mit Superintendent Schirmer und Pfr. Engel in Saarbrücken, wie mit Pfr. König in Sulzbach trat ich in Verbindung. Letzterer, ein tüchtiger Theologe und ganz hervorragender Klavier - und Orgelspieler, war leider sehr launisch und brach unseren Verkehr aus mir unbekannt gebliebenen Gründen plötzlich und vollständig ab, so dass er bei zufälliger Begegnung nicht mehr meinen Gruss erwiederte.

Mit Pfr. König war ich durch die Familie Wagner in Sulzbach bekannt geworden. Mit dieser wie mit der Familie Vopelius daselbst war mein Vater seit Jahren befreundet und ich war mit ihm schon als Knabe nach Sulzbach gekommen und hatte als Gymnasiast öfters frohe Tage dort verlebt. Als Vikar suchte ich sie bald wieder auf schon darum, weil die beiden Glashütten zu Schnappach diesen Familien gehörten. Den Beamten und Arbeitern dieser Hütten gegenüber war mir die Beziehung zu den Hüttenherren werthvoll, denn die Glasmacher, damals eine wohlbezahlte und sich als höhere Arbeiter fühlende, förmliche Kaste, hatten ihre Eigenheiten und waren theilweise schwierig zu behandeln. Der Rückhalt an den Hüttenherren unterstützte mich und grade die Glasmacher wurden nach und nach ein sehr guter und treuer Bestandtheil der Gemeinde.

Den Grubenbeamten und Bergleuten gegenüber hatte ich an dem Bergmeister und späteren Bergrath Sievert eine starke Stütze. Er war der höchste Beamte in St. Ingbert, ein sehr kirchlicher und ernster Mann, der die von seiner verstorbenen Frau ihm hinterlassenen 2 Kinder in Kornthal und bei einem sehr positiven Pfarrer erziehen liess. Gegen mich war er überaus freundlich und sein verständiger Rath hielt mich jungen Mann oft auf dem richtigen Wege. Besonders nahe trat ich dem Direktor der Maschinenfabrik und Kesselschmiede Weyland, der bald in das Presbyterium kam, dessen intelligentestes Mitglied er war. Die Freundschaft zwischen ihm und mir pflanzt sich in unseren Familien fort. 55Am meisten ragten in St. Ingbert die Familien der Eisenwerksbesitzer Heinrich und Fritz Kraemer hervor, die an der Saar und in der Pfalz hochangesehen waren, aber in St. Ingbert sich ziemlich abgeschlossen hielten. Mir gegenüber waren die 2 alten Herren, die bald Witwer wurden, sehr höflich, bei geschäftlichen Verhandlungen verschiedener Art sehr entgegenkommend, aber leider unkirchlich, wenn sie auch darauf sahen, dass ihr Hauspersonal fleissig zum Gottesdienste kam. Das Vertrauen der alten Herren ging auf ihre Söhne über, leider auch deren Unkirchlichkeit, während später der weibliche Theil der Familien sich gern, theilweise regelmässig zur Kirche hielt. Während meiner Vikariatszeit konnte und wollte ich der Kraemerschen Familie nicht näher treten. Später gestaltete sich das Verhältnis etwas anders. Leid war es mir, dass ich die prächtigen Erzählungen des alten Heinrich Kraemer aus seinen Jugendjahren nicht niederschrieb. Es waren kulturhistorische und soziale Bilder von frischer Ursprünglichkeit. Als ich sie später fixieren wollte, liess mich mein Gedächtnis im Stich.

Vom Jahre 1856 an wuchs die prot. Gemeinde spürbar. Die Schule, welche jetzt wieder einen Schulgehilfen hatte, füllte sich. Der Betsaal wurde zu klein. An den hohen Festen musste ich mehrere Gottesdienste, zuletzt 3 am 1 Festtag, halten. Die Nothwendigkeit eines Kirchenbaues wurde immer dringlicher, da auch der Eigenthümer des Betsaales die Absicht äusserte, das betreffende Haus zu verkaufen. Die Beschaffung der Mittel für einen ausreichenden Kirchenbau musste energisch angegriffen werden. Der pfälzische Gustav Adolf Verein hatte St. Ingbert schon seit 1853 mit Gaben bedacht. Aber es galt grössere Gaben zu erlangen, weitere Gustav Adolf Vereine heranzuziehen und vor allem musste der Gemeinde selbst etwas leisten, und die Willigkeit hierzu war vorhanden. Die Gebr. Kraemer stellten 2000 Gulden zur Verfügung und erklärten sich für später zu weiteren Leistungen bereit, namentlich auch dazu, alle eingehenden Gelder in Depot zu nehmen gegen 5% Verzinsung. Die übrigen Gemeindeglieder hielten wöchentliche und monatliche Sammlungen für den geeignetsten und ausgiebigsten Weg um Kirchenbaumittel aufzubringen. Die Gemeinde wurde so zu einem Kirchbauverein, eine grössere Zahl von Sammlerinnen erhob die Beitrage und dies Verfahren wurde fortgesetzt bis56 es später nöthig wurde, Kultusumlagen nach gesetzlicher Norm zu erheben. Ohne die Unterstützung des Gustav Adolf Vereins wären die von der Gemeinde aufgebrachten Mittel in absehbarer Zeit nicht ausreichend gewesen. Ein gedrucktes Flugblatt sollte allen Gustav-Adolf Haupt-Vereinen unsere Lage schildern, aber mündliche Bitten bei den Vereinsversammlungen und persönliche Vorstellungen bei den Vereins-Vorständen mussten die Herzen erwärmen und die Vereinsgaben nach St. Ingbert ziehen. Ich war viel unterwegs und wurde auf den pfälzischen Gustav Adolf-Festen eine typische Figur, machte Baden, Hessen und das Rheinland unsicher und kam sogar bis nach Bremen zu dem dort im Jahre 1856 oder 1857 abgehaltenen Jahresfeste des Centralvereins. St. Ingbert war unter den 3 dort für die sogen. grosse Liebesgabe vorgeschlagenen Gemeinden, erhielt diese Gabe zwar nicht, wurde aber durch andere Zuwendungen getröstet, namentlich durch 1000 bremische Goldthaler, welche der Zentralversammlung zur Verfügung gestellt waren.

Diese Reisen kosteten mich schweres Geld, denn ich brachte es nicht über mich, ihre Kosten der Kirchenkasse zur Last zu legen; lieber wollte ich Mangel leiden und Schulden machen, als die mühselig zusammengebrachten Mittel der Gemeinde angreifen. Besondere Unfälle trug ich mit Humor, so auf der Bremer Reise den Verlust von 20 Thalern, die mir aus dem Reisesack entwendet wurden, und den Verlust meines Examensfracks, den mir ein Mainzer Kutscher durch den von seiner Pfeife gefallenen Schwamm in Brand setzte und mich danach noch so mit Grobheiten bediente, dass ich einen Begriff davon erhielt, was das Sprichwort besagte: grob wie ein Mainzer Kutscher. Dagegen habe ich selten eine grössere Freude erlebt als in Bacharach, wo der spätere Feldprobst Thielen mir die Bitte um eine kleine Gabe aus Gustav Adolf-Mitteln rund abschlug und darauf die Burschen und Mädchen des Städtchens rasch eine Sammlung in den wohlhabenden Familien vornahmen, deren Ertrag von 37 Thalern sie mir in den Gasthof brachten.

Als Gewinn für mich brachte ich von meinen Bettelfahrten den Einblick in Gegenden und Orte mit, die ich vielleicht nie gesehen hätte, und die Bekanntschaft mit vielen, theilweise57 hervorragenden Männern.

Daheim konnte und musste unterdessen dem Kirchenbau näher getreten werden. Zunächst galt es einen geeigneten Bauplatz zu finden. In aller Stille hatte ich gesucht und verschiedene Plätze förmlich studiert. Als ich den richtigen glaubte gefunden zu haben, ging ich zu dem Eigenthümer und kaufte den Platz auf meinen Namen um 800 Gulden. Das war eigenmächtig, zwar gut gemeint, da ich in aller Stille den Besitz des Platzes sichern wollte, aber doch recht unklug, weil ich nicht bedachte, dass bei der Wahl eines Kirchenbauplatzes viele Berufene mitreden dürfen und noch mehr Unberufene mitreden wollen. Mein Vorgehen rief einen Oppositionssturm hervor und mein sorgsam gewählter, schöner Platz wurde so schlecht gemacht und von so viel angesehenen Leuten verworfen, dass ich mich fast meiner Wahl und meines Kaufes geschämt hätte, wenn ich nicht gar zu allseitig und gründlich die Vorzüge des Platzes erwogen gehabt hätte. Ich gab darum nicht nach und hatte die Genugtuung, dass nach genauer Prüfung aller sonstigen Vorschläge - der Regierungspräsident hatte persönlich Einsicht genommen - der von mir gekaufte Platz fast einstimmig vom Presbyterium und der Kirchenbaukommission angenommen und von den Behörden genehmigt wurde.

Unterdessen hatte der grossh. hessische Baurath Weyland, der Bruder unseres Presbyters, einen sehr schönen Plan für die Kirche im romanischen Stile unentgeltlich gefertigt. Das Ministerium genehmigte die Ausführung desselben nicht, sondern schrieb die Ausführung eines Planes im sogen. neumünchener Stile mit dem sogen. gothischen Eselssattel vor. Wir konnten den Beginn des Baues nicht hinausschieben, da uns der Betsaal bereits gekündigt war, und so schritten wir denn zur Ausführung des vorgeschriebenen bezw. aufgezwungenen Planes. Ein zu Schnappach wohnender preussischer Grubenbaumeister, Karl Schultheiss, übernahm unentgeltlich die Bauleitung. Auf seinen Rath übernahm das Presbyterium die Lieferung der Haupt-Baumaterialien in Regie. Der Rat war gut, brachte mir aber eine schwere und ärgervolle Arbeitslast. Wer einen Bau ausführt, muss sich unausbleiblich vielfach ärgern, aber wer dabei noch einen Steinbruch betreiben, die Beifuhr der Materialien zu überwachen, Kalk und Holz58 abzumessen und auf ihre Beschaffenheit zu prüfen hat, bekommt ein gedrückt und gerüttelt Mass von Ärger und Zank zugetheilt. Die Freude am Werk half Ärger und Mühsal überwinden. - Im Herbste 1857 begannen die Arbeiten, im Anfange des Sommers 1858 wurde feierliche Grundstein - (richtiger Eckstein -) Legung, im Anfang November 1858 das Richtfest gehalten und im Jahre 1859 der Thurm ausgebaut und der ganze Bau fertig gestellt.

Während der Bauarbeiten erwachte in mir das Architektenblut meiner mütterlichen Familie und der es weckte, war unser Bauleiter. Er merkte, dass ich einen Begriff von Bauzeichnungen hatte. Mein Zeichenlehrer vom Gymnasium hatte einmal auch Bauzeichnen im Maassstabe mit uns getrieben und uns dabei allerley drastische Rathschläge gegeben z. B. bei einem Wohnhause muss zuerst die Küche und der Abtritt am richtigen Orte plaziert werden, denn darum dreht sich die Bequemlichkeit des ganzen häuslichen Lebens. Unser Bauleiter, der sehr beschäftigt war, zog mich darum als Gehilfen und zum Gehilfen heran, liess mich erst leichtere, dann schwerere Zeichnungen machen, gab mir Winke über die Ausführung der Arbeiten, liess mich Einzelheiten besonders überwachen. Unter der Hand unterrichtete ich mich aus Büchern und im Gespräch mit Arbeitern weiter und übte mich im Zeichnen. Zuletzt kam unser Bauleiter nur selten an den Bau, besprach vollendete oder anzugreifende Arbeiten mit mir und überliess mir die Detailaufsicht. So wurde ich zu einem halben Baumeister herangebildet der sich später an kleinere Aufgaben heranwagte und heranwagen konnte. Der Kirchenkasse wurden durch mein Reissbrett und meine unausgesetzte Bauaufsicht manche Kosten gespart.

Die Beschaffung von Orgel und Glocken führte zu lebhaften Verhandlungen. Ich bestand darauf, dass zu dieser Anschaffung die Unterstützung des Gustav Adolf-Vereins nicht herangezogen werden dürfe, da wir auch ohne Glocken und ohne Orgel Gottesdienst halten könnten und da wir die Unterstützung anderer, bedürftigerer Gemeinden nicht beeinträchtigen dürften. Ich drang damit durch. So wurde denn nur ein billiges Harmonium statt der Orgel in die Kirche gestellt und weil für ein Bronze - Geläute unsere Mittel nicht ausreichten, so wurde zu Gussstahlglocken59 aus dem Gussstahlwerke zu Bochum gegriffen, die zwar einen harten aber sehr durchdringenden Klang hatten. Den Tadlern stopfte ich den Mund, indem ich ihnen die hohle Hand hinhielt: geben Sie mir das Geld, dann sind Bronzeglocken bald gekauft.

Am 8. Sept