PRIMS Full-text transcription (HTML)
Kleine Romanenbibliothek von und für Damen.
Die Frau des Falkensteins von Caroline Baronin de la Motte Fouqué.
Zwei Bändchen.
Berlin, beiFerdinand Dümmler1815.
Die Frau des Falkensteins.
Ein Roman in zwei Bändchen von der Verfasserin des Rodrich.
Erstes Bändchen.
BerlinbeiJulius Eduard Hitzig,1810.

Zueignung.

Mit der Bescheidenheit gesenkter Wimper
Tritt vor die hohe, königliche Herrin
Die Frau des Falkensteins verlegen hin.
Sie fühlt sich ihr genaht durch das Geschlecht,
Das zarte, weibliche, dem sie gehört;
Genaht ihr, weil auch sie den Namen trägt,
Den unsre Königin ihn führend ehrt.
Doch ach, wie fern, wie fern in Allem sonst!
Mich Frau des Falkensteines traf der Himmel
Barmherzig, aber strafend, mit Gewittern,
Abbrennend mir des schwachen Herzens Schuld.
Und wenn auch um die schöne Königin
Gewitter einst sich hoben, Blitze zuckten,
So war es nur glorreiches Prüfungsfeuer,
Aus dem das Gold, vorher schon rein und klar,
Gleich rein und klar hervorgeht, unverwandelt.
Daher auch scheidet streng sich meine Bahn
Von jenen seegensreichen, freud’gen Wegen,
Zu denen trüb mein Blick hinüberstreift.
Ich, aus des Unheils Gluthen kaum gerettet,
Trat still ergeben in die Klosterwelt
Der Abgeschiedenheit und der Entsagung;
Kein zartes Kind hat Mutter mich gegrüßt.
Der Herrin blüht nach finstrer Wetternacht
Ein Frühlingsmorgen wundersam hervor,
Als holde Kinder leuchten um sie her
Viel künft’ge Helden, rühmliche Regenten,
Und künft’ger edler Frau’n ein schöner Kreis.
O, reicher Seegen zeigt sich meinem Blick
In ferner Jahre labendem Gefild!
Was Deine Völker beten, hohe Kön’gin,
Dein Heil und Deines Stamm’s, es wird erhört,
Denn Reinheit, frommer Muth und edle Huld,
Die in der Prüfungszeit Dich treu umwallten,
Sie bringen nun des gottgesandten Lohnes
Frischlaub’ge Kränz aus Paradiesesland.
[1]

Erstes Buch.

[2][3]

Komm, ich bitte Dich, rief Mathilde, indem sie ein verhülltes Körbchen in die Höhe hielt. Wüßtest Du Luise flog den Lindengang hinunter, in dessen Schatten die geliebte Mutter, durch kränkelndes Unvermögen gehalten, sie unruhig erwartete. Der Wind strich spielend durch die Zweige und hob das Tuch, ehe noch Luise jenes geheimnißreiche Körbchen ergreifen konnte. Ein reiches Stirnband blitzte ihr wie tausend Liebesblicke daraus entgegen. Geschenke von Julius, rief sie, und sank überrascht zu den Füßen der Mutter, die behaglich die hellen Steine zwischen den braunen Locken der Tochter spielen ließ. Luise küßte gerührt die schönen Hände, die so oft in lieber Ungeduld ihre Lippen streiften. Das schwindende Leben in Mathildens Zügen, ihr naher Tod und der bräutliche Schmuck, der so sichtlich auf die kommende Feier hindeutete, alle Freuden ihres jungen Lebens und der ernste Wechsel desselben, das ganze wunderbare Gewebe der Zukunft schien sich in den Steinen zu spiegeln, die sie4 schnell wieder verbarg, indem sie bittend sagte: noch nicht, beste Mutter, noch nicht! und als habe sie das goldne Band gedrückt, so strich sie die Locken aus der Stirn und ließ sich anmuthig von den streifenden Lüften kühlen. Wie seltsam! sagte die Mutter, sie unruhig betrachtend, Du fragst nicht einmal, wie Dir die reichen Gaben kommen, und ob sie nicht irgend ein geliebtes Wort begleitet? So, fiel Luise zerstreut ein: hat er geschrieben? Ja lies nur, du unstätes Kind, erwiederte Mathilde, indem sie ihr ein offnes Blatt hinreichte. Luise ward bei dem Anblick der festen, sichren Schriftzüge, die ihr den gehaltnen Sinn des ernsten Mannes so klar aussprachen, plötzlich gesammelt, und eine innre Aengstlichkeit kaum beachtend, gab sie sich gern dem Dank und der Rührung hin, die folgende Worte in ihr erregten.

» Ihre Hand, geliebte Mutter, möge meine Luise mit dem Schönsten zieren, was ich für sie auffinden konnte. Sah ich doch immer mit Entzücken, wie sich das mütterliche Auge in dem Glanz des aufblühenden Kindes belebte, und wie jedes Gefühl durch diese heilige Liebe erhöht wird. Darum lege ich auch heute all mein Wünschen und Hoffen einzig an Ihr Herz, und bitte Sie, es so erfreulicher vor Luise hintreten zu lassen.

5

Liebe Mutter, mich quält so oft der Gedanke, daß ich überall nicht fähig sei, ein weibliches Gemüth zu beglücken, am wenigsten ein solches, das sich im zartesten Liebeshauch erschloß.

Der schwerfällige Ernst unsrer Altväter, der auf mir und meinen düstren Umgebungen ruht, und den die Gluth meiner italienischen Mutter nur im Innern, wie eine zuckende Flamme, durchbricht, läßt mich so wortarm, so schroff, wo ich voll Liebe die Menschen an meine Brust drücken und das tiefste innerste Leben ausweinen möchte! Oft ist es grade das Gefühl dieser äußren Starrheit, was meine Zunge lähmt und mich in wildem Unmuth über die Welt und mich selbst hinaustreibt. Und wie ich dann so einsam hier im dunklen Harzwalde auf mich und den uralten Sitz meiner Ahnen blicke, und es inne werde, daß so wenig modische Macht dem alten Falkenstein ein heitres Ansehn geben konnten, auch mich Jahre langes Reisen und ein bewegliches Leben unter fremdem Himmel unverändert ließen, so denke ich zagend an die lachende Luise und den seltsamen Willen des Schicksals, das uns beide verband.

Sie sehen, der wunderliche Knabe blickt noch überall hindurch, der einst Musik und Kerzenschein verschmähend, ruhig in der nahen Klosterkirche, unter dem steinernen Bilde seiner Ahnfrau schlief,6 bis Sie und die bunte Schaar der Gäste ihn dort erweckten. Aber es soll nun alles anders werden. Ich eile zu Ihnen und führe Sie und Luisen hieher. Gewiß, Sie dürfen mir keinen Augenblick länger fehlen. Sie allein verstanden mich immer. Ihre milde Güte söhnte mich zuerst mit mir selbst aus und öffnete mir die seligste Zukunft. Ach ich erschrecke, wie ich das Wort schreibe! Wer kennt ihre verborgne Tiefen! und wem hat sie nicht mit neckenden Zauberkünsten gelogen! Schelten Sie nicht über den ewig wiederkehrenden Trübsinn. Mir wird so wehmüthig wie ich von Ihnen scheide. Schon gestern ließ ich das Blatt unvollendet, und lief hinaus in den Wald, mich selbst und meine Träumereien zu vergessen. Ich traf hier zufällig den Mönch, dem ich schon mehreremale begegnete, ohne gleichwohl je ein Wort mit ihm zu wechseln. Diesmal begrüßte er mich auf eine feine, sittige Weise. Seine Stimme hat eine Weichheit, die die schärfsten Töne verschmilzt und unsrer Sprache etwas Fremdes, unendlich Anmuthiges leiht. Ich gesellte mich gern zu ihm. Wir sprachen bald vertraulicher, und mein Herz, das sich selten verschließt, lag in der heimlichen, stillen Sommernacht offen vor ihm da. Er sprach mit leutseligem Ernst über das trübe Versinken jugendlicher Gemüther, und warnte mich vor jener7 zagenden Unthätigkeit, die so oft die besten Kräfte untergrabe. Zwar, setzte er lächelnd hinzu, sei dies eine Klippe, an welcher nur Wenige scheitern, da die meisten Menschen durch freches Eingreifen ihr Leben verwirrten. Ueberall sprach eine große Kenntniß der Welt aus seinen Worten, deren Andenken ihn wohl oft wehmüthig bewegen mag. Wir schieden endlich mit dem Versprechen, uns öfter zu begegnen, was mir einen neuen Zuwachs von Freuden verheißt.

Mein alter Georg drängt mich, zu schließen, er will Ihnen selbst diese Zeilen und das Geschmeide überbringen. Leben Sie denn wohl, meine gütige, liebe Mutter! In wenig Tagen bin ich bei Ihnen, um endlich an Luisens Seite ein freudigeres Dasein kennen zu lernen. Mit tiefer Rührung schließe ich Sie Beide an mein Herz.

Der Ihrige,

Julius von Falkenstein. «

Der arme, gute Mensch, sagte Luise, indem sie den Brief gedankenvoll zusammenfaltete. Ist denn, fuhr sie nach einer Weile fort, das alte Schloß wirklich so öde und düster, wie es ihm erscheint? Es sieht fremd und sehr erhaben aus einer verschollnen Zeit hervor, sagte Mathilde, und scheint mit seinen gewaltigen Mauern und Gewölben des8 kindischen Flitters zu spotten, den Julius Mutter ersindrisch verbreitete, um die Riesengestaltung der Vorzeit zu vergessen. Sie konnte sich nie recht mit der freundlichen Stille dieser Gegend vertragen, am wenigsten aber mit ihrem Wohnsitz und dessen Umgebungen. Was war es doch eigentlich mit ihr? fragte Luise, ich entsinne mich, sie in einem hellen Kleide und vielen Blumen gesehen zu haben. Sie erzählte Julius und mir wunderliche Mährchen, worin etwas von einem Salamander vorkam, und dabei leuchteten ihre großen, dunklen Augen so hell, daß ich die Meinigen gar nicht wieder abwenden konnte. Seitdem sah ich sie niemals wieder, aber das Bild ist mir für mein ganzes Leben geblieben. Sie starb bald darauf, sagte Mathilde, durch eine eigne Vorstellung geängstet, die sie ins Grab zog. Ich habe mir niemals einen rechten Begriff von einer so ungleichen Gemüthsart, als die ihrige, machen können, da mein Leben stets sehr einfach blieb und nur durch fremde Stürme getrübt ward; noch weniger konnte ich die phantastische fast wilde Fröhlichkeit mit dem Trübsinn vereinen, der ihr zu Zeiten wie ein fremder Geist inwohnte und ihrem Wesen eine Einförmigkeit lieh, die jeden ermüdete. Und dennoch so durch Sitte und Gemüth als Vaterland und Sprache von einander geschieden, verband uns in der Ferne ein unglückseliges Verhältniß,9 das meinem Herzen die erste Wunde schlug. Hier schwieg Mathilde und ließ in Luisen das lebendigste Verlangen, mehr von einer Begebenheit zu erfahren, die ganz dunkel aus den frühesten Erinnerungen hervorsah. Das Andenken der schönen Viola, wie sie ihre Mutter sonst wohl mit Rührung nannte, hatte immer einen eignen Zauber über sie ausgeübt, und ohnerachtet sie nur in flüchtigen Hindeutungen von ihr hörte, so setzte sich dennoch der kindische Sinn ein Bild zusammen, das noch jetzt sehr reizend in ihrer Phantasie fortlebte. Ich weiß, sagte sie, in der Hoffnung mehr zu erfahren, die Gräfin Falkenstein trug früher den Schleier, den sie bald darauf willig zerriß, um dem Grafen nach Deutschland zu folgen, allein der eigentliche Zusammenhang des Ganzen ist mir fremd geblieben. Liebes Kind, hub die Mutter nach einer Weile an, man soll die Vergangenheit nie absichtlich aufdecken. Was ihr Schoos verbirgt, das ruhe, bis im Laufe der Zeiten die junge That unwillkührlich auf ihren frühern Ursprung zurückweist. Das Verborgene tritt so ungerufen allmählig ans Licht, und verliert im Zusammenhang des Ganzen das Fremde, was den gewagten Rückblick in die Tiefe oft schwindelnd zurückstoßt. Allein wie Julius Brief längst verklungene Saiten in mir anschlägt, so geht auch der Ton in Deine Seele über10 und könnte Dich verwirren, wenn ich nicht dreist fortgriffe, um den reinen Akkord wieder aufzusuchen. Aber laß uns hinunter an den See gehn, die Sonne neigt sich so groß und herrlich in die Fluth! Sieh wie der Harz in seiner bläulichen Hülle feierlich dasteht, als wolle er ihr ein langes Lebewohl sagen. Es ist wohl schön, daß sich so oft am Abend die aufgeregte Natur sänftigt! alles wird stiller, die Luftzüge wehen wie lange, heilige Seufzer, und ganz zuletzt reißen die Nebel und glänzen in tausend wehmüthigen Thränen auf der Erde! Sie setzten sich an das Ufer; den Blick nach dem Harz gewandt, fuhr Mathilde fort: das dunkle Gebürge, das dort wie eine Wolke vor uns aufsteigt, scheint mir in diesem Augenblick die ganze Welt zu umfassen, wie es denn auch wirklich alle Bilder meines Lebens umfängt, die allesammt wie ein Punkt in der hereinbrechenden Nacht verschwinden. Es fließt schon so manches ineinander, was ich nicht mehr deutlich erkenne; nur der frische Duft einer ungetrübten Jugend durchdringt mich jetzt wie ehemals und läßt mich mit Wehmuth auf die spätere Störungen blicken.

Ich erzählte Dir wohl früher von einem geliebten Bruder, den die Lust an den Waffen in fremde Dienste, fernhin nach Italien zog. Es war wenige Tage nachdem ich mich Deinem Vater verlobte,11 als das Schicksal so über ihn entschied. Meine junge Seele kämpfte zum erstenmal gegen die eigenen Wünsche und das Verlangen meines Bruders, der von je mein ganzes Herz besaß und mir den Verlust einer früh beweinten Mutter allein ersetzte, da mein Vater, in Geschäften versunken, wenig auf mich achtete. Ich hatte indeß nicht den Muth, meinen Schmerz zu äußern, da Eduards laute Freude jedes andre Gefühl überhörte. Ich ging daher bang und verschlossen neben ihm hin, bis endlich am Abend vor unsrer Trennung, als wir allein in seinem aufgeräumten Zimmer standen, und die öden Wände seinen Namen, den er lachend ausrief, dumpf erschallen ließen, sein Herz brach, und er weinend in meine Arme sank. Es war, als rühre ihn die Zukunft warnend an, er blickte zagend um sich her, und wiederholte mehremale: liebe, liebe Mathilde, ich verliere Dich nicht, Du bleibst mir gewiß, Deine treue Liebe begleitet mich unter fremden Himmel und findet unverändert ein deutsches Herz in meiner Brust! Ich konnte nicht sprechen. Seine Thränen lösten den lang verhaltnen Schmerz unwiderstehlich auf, ich glaubte in seinen Armen zu vergehen. Bald darauf riß er sich von mir los und eilte seiner Bestimmung entgegen. Dein Vater führte mich mit schonender Güte hieher. Allein ich konnte mich an nichts erfreuen,12 bis ich endlich nach mehrern Monaten einen Brief aus Neapel erhielt. Ich glaubte Anfangs, Worte einer fremden Welt zu lesen. Eduard wogte in dem frischen Strom eines neuen Lebens. Die reiche Natur rauschte wirbelnd durch sein Innres. Alle Worte klangen wie abgerißne Töne, die in innrer Gluth erzitternd, Violas Nahmen heraufbeschworen. Er hatte sie gesehn und ihre Gunst ohne Wissen der Eltern gewonnen. Der lockende Zauber verborgner Seligkeit riß ihn fort, er verlor sich im üppigsten Taumel. Ich konnte lange den Eindruck jener Worte nicht los werden, die unwillkührlich mein Gemüth erschütterten und einen trüben Schein auf die einfache Gestaltung meiner Umgebungen warfen. Traurig blickte ich hinauf zu dem wolkigen Himmel unsers Vaterlandes und maaß beklommen den langen, einförmigen Gang einer farblosen Zukunft. Nach und nach versöhnte ich mich indeß mit meinem Loose, das sich mir in der stillen Wirksamkeit eines thätigen Lebens allmählig freundlicher erschloß. Eduard schrieb jetzt seltner. Sein Glück ward häufig durch äußre Stöhrungen getrübt. Viola sollte die Hand eines reichen Deutschen, den er gleichwohl nicht nannte, nach dem Willen ihrer Eltern annehmen. Ihr standhaftes Weigern erregte Argwohn und setzte sie harten Verfolgungen aus. Nach langem, ängstigendem13 Schweigen meldete er mir endlich aus Venedig, alles sei entdeckt, Viola habe den Schleier genommen, und er irre, verfolgt, halb sinnlos vor Schmerz, umher, ohne zu wissen, wohin er seine Schritte lenken sollte. Ich bat ihn dringend, zu mir zurückzukehren; allein meine Briefe blieben unbeantwortet, wie späterhin alle Nachforschungen fruchtlos. Ich sah mit wachsender Angst, bei jedem wiederholten Versuche, Nachricht von ihm einzuziehen, der Gewißheit seines Todes entgegen, und ich versank zuletzt in jene dumpfe Muthlosigkeit, an welcher alle Freuden des Lebens unbemerkt vorübergehn. Eines Abends saß ich einsam in meinem Zimmer und überschaute mein freudloses Dasein, als sich die Thür öffnete, und Dein Vater mit einer[verschleierten] Dame hereintrat, welcher ein Mann von hohem Ansehn und ausgezeichneter Kleidung folgte. Der Graf und die Gräfin Falkenstein, sagte er, mit sichtlicher Freude, die kürzlich aus Italien zurückkehrten. Aus Italien! rief ich, von tausend Ahndungen durchbebt, und eilte der Gräfin entgegen. Sie warf den Schleier zurück, und indem sie sich mit vieler Anmuth zu mir neigte, überzog eine flüchtige Röthe ihr etwas bleiches Gesicht, dessen bewegliche Züge keinen bleibenden Eindruck gestatteten. Aus Italien! wiederholte ich mit bangem Zagen, haben Sie 14 Der Graf trat hier zu mir, und entschuldigte auf eine feine Weise sein unerwartetes Erscheinen mit der unveränderten Anhänglichkeit an meinem Gemahl, für dessen Jugendfreund er sich erklärte, und von welchem, wie er verbindlich hinzusetzte, ihn nur widerstrebend ein vieljähriger Gesandschaftsposten habe entfernen können. Ich sah mich in ein gleichgültiges Gespräch verwickelt, während die dringendste Frage auf meinen Lippen schwebte. Die Gräfin maß mich mit ihren großen vielsagenden Augen, und sagte hinterher, in gebrochnem Deutsch, mit der lieblichsten Stimme, ein schmeichelndes Wort. So hielten mich beide gefangen, und ich verzweifelte fast, irgend etwas Näheres zu erfahren, da des Grafen wortreiche Höflichkeit mich immer mehr in mich selbst zurückdrängte, als dieser hinzusetzte, er habe nicht gehofft, seiner Viola so bald eine Freundinn zuzuführen, da er erst seit wenigen Stunden von der Heirath seines Freundes unterrichtet sei. Dieser Nahme überflog jede anderweitige Rücksicht. Ich bitte Sie, rief ich, ihn unterbrechend, kannten Sie in Neapel eine Viola, welche den Schleier nahm, die mein Bruder Eduard von Mansfeld Viola lag schon längst zu meinen Füßen, drückte meine Knie an ihre Brust und rief unter lautem Weinen: ich ich die arme Viola. Mit stummer Verwunderung blickte ich15 auf sie und den Grafen, der, eine kleine Verlegenheit verbergend, sich von mir abwandte; indeß bald darauf mit beispielloser Ruhe sagte: hätte ich ahnden können, wie nahe jene Begebenheit Sie angeht, ich würde Sie ohnfehlbar vorbereitet haben, denn ich hasse sicher nichts so sehr als Erschütterungen, die den gebildeten Menschen aus dem schicklichen Gleichgewicht reißen. Jetzt ist indeß die Entdeckung gemacht, und ich zweifle nicht, wir Alle gewinnen bald die Fassung wieder, die wir dem äußren Anstand schuldig sind. Die Gräfin lag wie zerschmettert am Boden, und schien auf nichts zu achten. Ich fuhr aufs neue wie ein Blitz durch den ruhigen Gang seiner Rede, indem ich dringend nach meinem Bruder fragte. Verzeihen Sie, erwiederte er gütig, wenn ich dieser Frage nicht früher zuvorkam, ich glaubte Sie besser unterrichtet. Herr von Mansfeld ist wohl, und in diesem Augenblick auf einem Schiff, das nach Constantinopel unter Segel ging. Um jede verletzende Erklärung, fuhr er fort, schnell zu beendigen, sage ich Ihnen noch, daß Viola zwischen mir und dem Schleier zu wählen hatte, daß ein kurzer Aufenthalt im Kloster, der Anfang des Probejahrs, sie auf immer mit einer so düstern, ihrem Gemüth wenig angemessenen, Zukunft entzweite, und sie es vorzog, eine fremde Blume, in deutschen Wäldern16 zu glänzen, als zwischen hohen Mauern zu verschmachten. Lassen wir jetzt, setzte er lächelnd hinzu, die kleine Wolke vorüberziehn, glauben Sie mir, der heitre italienische Himmel durchbricht diese Nebelstreifen leicht! Ich blickte auf die schone Frau, der ich um so weniger feind sein konnte, da sie durch ihr unstätes Betragen jeden Einfluß auf das künftige Schicksal meines Bruders verloren hatte. Diese Sicherheit und die Freude, ihn wohl und kräftig neuen Unternehmungen entgegen eilen zu sehen, setzte mich schnell über die augenblickliche Störung hinaus. Ich wandte mich versöhnt zu Viola, die sich willig an mir aufrichtete und in ein andres Zimmer führen ließ. Es gelang mir bald (indem ich sie französisch anredete) ihr Vertrauen ohne Rückhalt zu gewinnen. Sie klagte sich selbst mit vernichtender Reue an, und beweinte in ihrer dunklen Zukunft alle verlorne Freuden der Liebe. Allein während die glühendste Phantasie sie immer weiter und weiter fortriß, schuf sie sich selbst die besten Trostgründe, und endete damit, ein behagliches Licht auf ein Leben zu werfen, in welchem, wie in ihrem Ideengange, Eines ganz natürlich aus dem Andren zu entspringen schien. Ich kannte die Fertigkeit wenig, Ursach und Wirkung so geschickt zu folgern, daß alles gerade und eben dasteht, während der eigentliche Grund der Handlung17 in den innren Tiefen des Gemüths verschüttet wird. Daher blieb ich in dem künstlichen Netze gefangen, und schwieg, wie es mir nachher oft geschah, ohne gleichwohl eine innre Unbehaglichkeit los werden zu können. Mit unwiderstehlicher Anmuth schmiegte sie sich darauf an meine Brust, und bat mich, sie nicht auf dem einsamen Wege zu verlassen, den ihr jetzt des Grafen kaltes Herz vorzeichne. Ich habe niemals dem Zauber ihrer Worte und Mienen widerstehen können, und wie bei ihr bestechende Erinnrungen die Ungleichheit unsrer Gemüther ausglichen, so hielt mich der glänzendste Farbenschmuck einer glühend weiblichen Natur an sie gefesselt. Ich sicherte ihr eine Freundschaft zu, die durch lange Jahre unerschüttert blieb. Als wir bald nachher zu den Herren zurückkehrten, fanden wir sie im Gespräch vertieft über italienische Weine, und die Möglichkeit, ähnliche Sorten auf unsern kalten Boden fortzupflanzen. Ich mußte aufs neue über die gemeßne Haltung des Grafen staunen, die Violas Leichtigkeit, in jeden Gegenstand der Unterhaltung einzugehn, nichts nachgab. Ich gerieth in Verlegenheit, die ganze Begebenheit für einen Traum zu halten, da auch die leiseste Erinnrung daran verwischt schien, und wirklich ist nie wieder öffentlich die Rede davon gewesen, ob wir gleich von da an fast unzertrennlich verbunden18 blieben. Ich brachte nach diesem Tage die meiste Zeit auf dem Falkenstein zu, wo die Gräfin bald ein neues Leben verbreitete, das fast spottend an dem alten Geist dieser Mauern vorüberzog. Der Graf sonnte sich im Glanz seines Hauses, und sah es gern, daß Viola den rauhen Einflüssen des Klimas wie dem farblosen Einerlei geselliger Unterhaltung zu Hülfe kam, wobei Kunst und Sitte sie immer auf der Bahn des Schicklichen erhielten. Allein ohnerachtet dieser stets erneueten Anregungen, versank sie dennoch augenblicklich in eine Abspannung und ein Mißbehagen, das sich nicht selten mit zerreißender Heftigkeit in bittern Thränen auflöste. Mir schien es oft, als ruhe irgend etwas in ihrer Brust, das sie drücke, ohne es gleichwohl kund geben zu wollen: weshalb ich auch niemals in sie drang. Zu diesen innren Störungen kam noch die gänzliche Unwissenheit, in der wir über Eduards Schicksal lebten. Ich hatte mich vergebens an den Gesandten in Constantinopel gewandt, und der Graf, der uns vielleicht allein behülflich sein konnte, verscheuchte jedes Vertrauen dieser Art. Unter so streitenden Einflüssen ward Julius geboren. Viola hatte sich eine Tochter gewünscht, und war mehr über das Dasein des Kindes gerührt, als erfreut. Oft sah ich ihre Blicke schmerzlich auf den seinen ruhen und Erinnrungen einer19 Zeit erwachen, wo Glück und Liebe Hand in Hand gingen. Als Du mir einige Jahre darauf, nachdem ich lange kinderlos blieb, vom Himmel geschenkt wardst, beschloß die Gräfin sogleich eure Verbindung. Dieser Gedanke beschäftigte sie angenehm und ließ sie den Verlust eigner Glückseligkeit weniger empfinden. Wie sie alles an sich zog, was sie gewinnen wollte, so hingst auch Du mit solcher Liebe an ihr, daß Du nie von ihrem Arm fortzulocken warst, und jener Augenblick, der noch in Deiner Erinnrung lebt, war einer von den vielen, wo sie Deine Aufmerksamkeit durch Gesang und Erzählung fesselte, ohnerachtet noch kein festes Bild in dir haften konnte. So verfloß uns die Zeit in Hoffnung und Glauben an eine heitre Zukunft unsrer Kinder, als ich bei der Gräfin ein trübes Nachdenken wahrnahm, das sie häufig von allem Aeußern abzog. Sie verschloß sich Stundenlang in ihr Kabinet und ging öfter als gewöhnlich zur Messe ins benachbarte Kloster. Einst begleiteten ihr Gemahl und ich sie dorthin. Auf dem Wege sprachen wir über die seltsame Lage des Gebäudes, das in sumpfigem Grunde, von Klippen umgeben, recht wider Gewohnheit der Klöster, öde dasteht. Darüber, sagte der Graf, giebt die Geschichte meines Hauses völligen Aufschluß, und wenn auch der dumpfe Glaube meines Ahnherrn manches20 Wunderbare hinzusetzte, so liegt doch eine zuverlässige Wahrheit zum Grunde. Wir drangen in ihn, uns das Nähere mitzutheilen. Frauen, erwiederte er lächelnd, lieben alles, was sie aus dem eintönigen Gange ihrer Bestimmung hinauszieht, und staunen mit offnen Sinnen an, was diese beweglichen Sinne ungewohnt anregt, vorzüglich hat Sie, liebe Mathilde, ihr abgeschloßnes Leben noch begieriger auf dergleichen gemacht, und darum hören Sie nur.

Vor mehrern hundert Jahren herrschte eine Frau von Falkenstein über diese Gegend, die, wie die Sage erzählt, in geheimer Verbindung mit den Geistern des Waldes stand. Durch diese wußte sie, daß ihre Söhne einander nach dem Leben trachten und Unheil über ihr Geschlecht bringen würden. Sie beschloß daher, zu Gunsten des Einen den Andern bald nach seiner Geburt aufzuopfern, und ließ ihn zwischen diesen Klippen, die damals ein reißender Bach durchzog, aussetzen. Der Aeltere wuchs nun ungestört heran, ward tapfer und fromm, weshalb er auch eine Reise nach dem heiligen Lande unternahm. Die Mutter verwaltete während dem die Geschäfte, und erwartete ungeduldig seine Rückkehr; allein nach zwei langen Jahren kamen seine Begleiter ohne ihn zurück und meldeten seinen Tod. Die Frau vom Falkenstein sah nun alle ihre Erwartungen vereitelt, entzweite21 sich mit der Welt und ihren verbündeten Geistern und beschloß keinen Fuß aus ihrer Burg zu setzen, weshalb auch nach und nach Sand und Steine die Zugänge bedeckten. Da trat einst ein Bettler in ihren Hof, und bat sie dringend um die Erlaubniß, den Schutt von ihrer Schwelle wegräumen zu dürfen. Sie gestattete das, ohne sich um die Ursach einer so seltsamen Bitte zu bekümmern. Nicht lange darauf kam der Bettler voller Freuden zu ihr hin, zeigte ein breites, schönes Schwerdt, das er unter dem Schutte gefunden hatte und welches er für das seine erklärte, wobei er eilend hinzusetzte, daß er, in der Wildniß aufgewachsen, endlich in eine Schmiede gerathen sei und dies Gewerbe mit Lust gelernt und getrieben habe. Nun sei vor kurzem ein kleiner, grauer Mann auf einem weißlichen Pferde gekommen, welches er habe beschlagen lassen. Während der Arbeit habe er ihm einen goldnen Siegelring gegeben und gesagt: er solle das dazu gehörige Schwerdt, welches am Knopf ein ähnliches Zeichen führe, sorgfältig unter Trümmern und Steinen alter Vesten suchen, und müsse er auch Jahrelang als Bettler umherwandern; beides gehöre seinem Vater, und werde ihm zu hohen Ehren bringen. Die beglückte Mutter erkannte sogleich die Waffen ihres Gemahls, und den Bettler für den einst freventlich geopferten22 Sohn, den sie unter besonderm Schutz der Geister wähnte und ihn mit erhöhtem Glauben in seine Würden einsetzte. Sie beschloß sogleich, hier am Rande des Baches eine Kapelle zu erbauen, und ging oft mit ihrem Sohn dahin, der Arbeit zuzusehen. Da kam eines Tages derselbe kleine Mann im Gefolge eines schwarzen Ritters auf sie zu, indem er neckend sagte, jetzt sei es Zeit, das gefundne Schwerdt zu brauchen, worauf er sich schnell wieder zwischen den Klippen verlor. Der schwarze Ritter aber rief der erschrocknen Frau zu, warum sie es dulde, daß ein Fremdling in seinem Eigenthum herrsche, und ob sie so seine Rückkehr zu feiern gedächte? Ohne eine Erklärung zu erwarten, fielen sich nun die Brüder in wildem Grimm an und stürzten bald darauf sterbend nieder. Der Bach stockte den Augenblick, nur die Erde blieb feucht von dem Blute der Erschlagnen.

Der Graf lachte hier laut über mein ängstliches Aussehen, da ich wirklich unwillkührlich zusammen fuhr, wie wir über den nassen schlüpfrigen Boden hingingen. Das Abentheuerliche der Geschichte abgerechnet, fuhr er fort, ist es wahr, daß sich hier zwei Brüder erschlugen, und daß die Mutter auf derselben Stelle das Kloster errichten ließ, weshalb ihr steinernes Bild noch darin aufbewahrt ist. Jesus! rief Viola, und ich sah sie bleich und zitternd23 an des Grafen Brust sinken. Mein Gemüth war so ergriffen von den eben empfangenen Eindrücken, daß ich überall ähnliche Schrecken sah und ganz trostlos rief: sie stirbt, sie stirbt! Der Graf, durch nichts erschüttert, trug Viola zu einer Anhöhe, die eine freie Aussicht in das Feld eröffnete, aus welchem uns die Luft rein und erfrischend entgegen wehete. Hier erholte sich die Gräfin bald genug, um über einen Zufall zu lächeln, der, wie sie sagte, leicht hätte glauben lassen, jene mährchenhafte Sage könne solche Gewalt über sie ausüben. Ich war nicht einen Augenblick im Irrthum hierüber, erwiederte der Graf; allein unsre Freundin, die alles zu ernst und wichtig für das wirkliche Leben nimmt, sah Dich schon von den feindlichen Geistern der Falkensteine gefangen. Wir scherzten bald alle über die Begebenheit, und als wir bei unsrer Rückkehr Besuch aus der Nachbarschaft antrafen, überließ sich Viola der allerheitersten Laune, die sich immer mehr steigernd, zuletzt alles wie im Rausche fortriß. Ich war daher sehr überrascht, als sie in der Nacht ernst und mit sichtlicher Anstrengung vor mein Bett trat. Erschrick nicht, liebe Mathilde, sagte sie leise, ich habe mit Dir zu reden, und Du mußt besonnen sein, um mich anhören zu können. Sie zündete darauf mehrere Lichte an, und vertheilte sie so, daß das ganze24 Zimmer hell erleuchtet war, dann setzte sie sich zu mir, und, indem sie den Kopf fest in meine Kissen verbarg, sagte sie: ich bin thörigt genug gewesen, eine Unruhe übertäuben zu wollen, die schon längst an mir nagt und gestern stechend hervorgerufen ward. Es ist vergebens, ich bin erschöpft und kann den peinlichsten Vorstellungen nicht länger widerstehn, die nun mit doppelter Gewalt über mich herfallen. Sie schwieg einen Augenblick und überließ mich einer unbestimmten, fast scheuen Begier, mehr zu erfahren. Schon vor mehrern Monaten, hub sie nach einer Weile an, während ich, über sie gebeugt, mit gespannten Mienen meine Blicke auf sie heftete, schon vor mehrern Monaten träumte mir, ich höre in der Klosterkirche die Messe, und wolle nun den Rückweg antreten. Es war, als sei der Graf mit mir, denn ich sah mich wiederholt nach jemand um, der zu mir gehörte und in der Kirche zurückblieb, weshalb ich auch den rechten Ausgang verfehlte. Ich stieg mehrere Stufen hinunter und lief lange in den dunklen Gängen umher, wobei ich eine entsetzliche Angst vor dem Fallen hatte. Endlich kam ich wieder in die Kirche zurück. Es war Niemand mehr darin, die Kerzen waren ausgelöscht und alle Zugänge verschlossen. In der bittren Noth schrie ich laut um Hülfe; da bewegte sich das große steinerne Bild der Ahnfrau25 und schritt auf mich zu. Ich wollte fliehen; allein sie faßte mich, und als ich recht hinsehen mußte, erblickte ich zwei wunderschöne Knaben an ihrer Hand, wovon der eine, wie eben geschoßnes Wild, stark an der rechten Seite blutete. In dem Augenblick öffnete sich die Pforte, mir war, als hörte ich eine bekannte Stimme, und ich stürzte mit dem blutenden Knaben heraus. Der Traum ließ einen Eindruck zurück, den die Gewißheit, aufs neue Mutter zu werden, mit jedem Tage schärfte. Du kannst nun begreifen, wie mich die Erzählung des Grafen, die mir erst den rechten Aufschluß gab, erschüttern mußte. Liebe Viola, sagte ich fast so bewegt als sie, Dein Zustand führt ganz naturlich schwere Träume und düstre Vorstellungen mit sich. Das darf Dich weiter nicht befremden, laß sie nur nicht so unbeschränkt über Dich herrschen, Du wirst das alles sicher in Kurzem leichter ansehn, und die Erste sein, die darüber lacht. Viola blieb indeß still und sinnend. Von da an konnte sie nichts zerstreuen, und ich weiß nicht, ob es ein Glück zu nennen ist, daß sie, durch innre Qualen zerstört und aufgerieben, vor ihrer Niederkunft an einem Nervenfieber starb.

O gewiß, gewiß, fiel Luise schnell ein, denn so etwas, das unaufhörlich im Innern drückt und nagt, ist zehnfacher Tod. Das kennst Du doch wohl schwerlich aus Erfahrung, sagte die Mutter. Nein,26 erwiederte Luise; allein schon der bloße Gedanke daran hat so etwas Peinliches für mich, daß ich ihn nicht lange festhalten mag.

Mathilde bemerkte, daß es kühl werde, und ließ sich nach Hause führen. Hier begrüßte sie der alte Georg mit der herzlichen Theilnahme, die er für alles empfand, was seinem Herrn theuer war. Luise freuete sich, jemand zu sehen, der Viola gekannt und lange Zeit auf dem Falkenstein gelebt hatte, da ihre Phantasie kein andres Bild festhalten konnte und unaufhörlich in jenen Kreisen umherschweifte. Allein Georg blieb hierüber sehr einsilbig. Die Gräfin hatte nie in seine einfache Art und Weise gepaßt und er fand an manchem Aergerniß, was den Sitten seines Landes fremd war. Luise schalt den guten Alten herzlos, und rief sich selbst jeden interessanten Moment aus Mathildens Erzählung herauf.

Sie starb also, sagte sie am Abend zu ihrer Mutter, ohne Eduard wiederzusehn? Erfüllte er denn nicht noch in den letzten Augenblicken ihre ganze Seele? Ich habe Dir gesagt, erwiederte Mathilde, daß die Gräfin zuletzt nur einen Gedanken festhielt, der alle Erinnerungen erstickte. Mein Bruder war längst für sie, wie für mich, verloren, da wir wohl Beide nicht länger an seinen Tod zweifeln konnten, seit der Graf einst unaufgefordert27 von ihm sprach, und versicherte, keine Nachforschungen gespart zu haben, ohne gleichwohl etwas Beruhigendes zu erfahren. Ihn hatten wohl früher die Wellen begraben und alle Gluth seines kranken Herzens gestillt!

Mathilde öffnete, während sie sprach, ein elfenbeinernes Kästchen, das sonst immer verschlossen auf ihrem Schreibtisch stand und von jeher Luisens Aufmerksamkeit erregte. Wohl tausendmal hatte diese mit einer Nadel an dem feinen Schlößchen gedreht, und erwartet, es solle aufspringen und ihr die verdeckte Herrlichkeit zeigen. Heute geschah nun ganz von selbst, was sie so lange wünschte: der Deckel sprang auf und Mathilde zog unter einem Packet Papieren eine goldne Kapsel hervor, die Eduards und Violas Bildniß enthielt. Luise betrachtete wehmüthig die edlen Züge, die in Glück und Freude erblüht, in eine Zukunft voll Schmerz und unerfüllten Hoffnungen hinaussahen. Viola war einfach, dennoch der herrschenden Mode zuwider, phantastisch gekleidet; farbiger Stoff wand sich vielfach, wie ein Turban, um ihr dunkles Haar und ein hellblauer Mantel hing nachlässig über der rechten Schulter. Beides gab ihr ein fremdes Ansehn, das Luisen besonders wohlgefiel. Die großen, wunderbaren Augen und das feine Lächeln um den schön geschweiften Mund, wurden ohnehin durch28 den orientalischen Kopfputz noch mehr herausgehoben. Eduard trug eine rothe Uniform, die unmittelbar in die heutige Zeit versetzte. Schöne Züge im reinsten Verhältniß, ein frisches, festes Ansehen und blondes Haar zeigten den Norddeutschen unverkennbar an.

Als Luise die Kapsel wieder zu den Papieren legte, bemerkte sie, daß diese von einer breiten Flechte der schönsten schwarzen Haare zusammengehalten wurden, während ein kleines Siegel, gleichsam zum Wahrzeichen, darüber hing. Dies Packet, sagte Mathilde, ihren Blicken folgend, fand ich nach dem Tode der Gräfin in einem verborgenen Fach ihres Schreibetisches. Da es versiegelt war, durfte ich es nicht eröffnen, und aus andren Rücksichten mochte ich es nicht verbrennen. Viola hatte eine Freundin in Neapel zurückgelassen, die früher ihre Vertraute war und von der sie öfters Briefe empfing, die sie jedesmal sehr bewegten. Wahrscheinlich sind dies jene Briefe, deren sorgfältiges Aufbewahren von einer innren Wichtigkeit zeugt. Ich erwartete lange, daß man sie zurückfodern würde, da ich ohne hinlängliche Gewißheit sie unmöglich fremden Händen zuschicken konnte. So sind sie denn bis hieher unversehrt in dem Kästchen geblieben; jetzt möge Julius darüber entscheiden, dem ich sie nächstens zu übergeben gedenke. Könnten es29 nicht Briefe von Eduard sein? fragte Luise. Nein, erwiederte Mathilde, das Kästchen verschließend; ein flüchtiger Blick auf die Handschrift hat mich vom Gegentheil überzeugt.

Beide schwiegen eine Zeitlang, in eignen Gedanken verloren. Liebes Kind, hub Mathilde nach einer Weile an, ich sah noch einmal in die Vergangenheit zurück und ließ jene Begebenheiten an Dir vorübergehn, um Dich von dem Glück zu überzeugen, das Deiner in einer Verbindung erwartet, die stille Anhänglichkeit in ungestörtem Fortschreiten gründete. Glaube mir, jene leidenschaftliche Wallungen, die den Sinn aus der Ferne durch ein scheinbar regsames Leben bestechen, welken die eigentliche Frische des Gemüths und geben ihm eine bloß kränkliche Heftigkeit, die aus Mangel an Kraft entspringt. So verwirrt sich der Mensch im Innren und findet niemals wieder das rechte Gleichgewicht. Deine Liebe zu Julius ist mit Dir aufgewachsen und hat sich mit allen andren Kräften Deiner Seele zugleich entwickelt. Ich ließ Dich den Weg ungehindert fortgehn, der Dich einer ruhigen Bestimmung zuführt. Nichts widersprach Deiner Neigung, und reizte sie, ihre Schranken zu überfliegen. Kein ungewöhnliches Ereigniß unterbrach den einfachen Gang Deines Lebens. Die Welt, mit allem was sie Täuschendes enthält, blieb30 Dir fremd. Du trittst jetzt an der Hand des edelsten Mannes in einem Augenblick hinein, wo sehr ernste Pflichten Deine Aufmerksamkeit fodern. Wie sollte ich an Deinem Glück zweifeln, wie solltest Du je etwas Wünschenswertheres begehren können? Ich weiß nicht, warum mich dennoch Deine regsame Phantasie, die jedes neue Bild begierig auffaßt, warum mich Dein heftiges Gemüth, selbst in seinen edelsten Aufwallungen, ängstet. Du bist jetzt so oft gedankenvoll; ich sah Dich wohl früher die Hand nach Kleinigkeiten ausstrecken, um sie bald darauf gleichgültig zurückzuziehen. Dein Sinn schweift umher, auch jetzt Du hörst mich nicht Luise! Liebe Mutter, erwiederte jene, ich denke an Julius, und wie es möglich ist, daß er seinen beiden Eltern so unähnlich ward. Möchtest Du ihn anders? fragte Mathilde ernst. Auch ist er ihnen, fuhr sie fort, nicht so unähnlich als Du denkst; ihre gänzlich widersprechende Naturen haben sich sehr glücklich in ihm verschmolzen, und was äußerlich schwer und trübe an ihm haftet, das hat ihm des Grafen absichtsvolle Erziehung gegeben, der, allen natürlichen Anlagen zuwider, einen schlauen Weltmann aus ihm bilden wollte, und eben dadurch den freimüthigen Knaben mißmüthig und unsicher machte. Wie es wohl auf dem Falkenstein aussehen mag? fragte Luise, durch neue Vorstellungen31 abgezogen: hat die Zeit nicht allmählig alle Spuren von Violas Glanz verwischt? Ich weiß es nicht, erwiederte Mathilde, seit dem Tode Deines Vaters, der der Gräfin bald folgte, bin ich nicht dort gewesen. Allein sowohl der Graf, als neuerlich der Baron Veltheim, Julius Vormund, sollen alles wohl erhalten haben. Sie schwieg hier, durch Luisens stetes Abspringen verletzt, und beide trennten sich bald darauf, beklommen, und im Gefühl eines innern Mißverstehens, geängstet.

Als Luise am folgenden Morgen die Augen aufschlug, stand Mariane, die Kammerfrau ihrer Mutter, mit bekümmerten Mienen vor ihrem Bette, und schien den Augenblick ihres Erwachens erwartet zu haben. Ach, liebes Fräulein, hub sie sogleich an, die gnädige Frau hat die ganze Nacht hindurch gelitten und ist jetzt kränker als zuvor; Sie werden am besten bestimmen können, ob man den Arzt holen soll? Luise war an das stete Uebelbefinden ihrer Mutter gewöhnt, und wußte, daß es nie gefährlich ward; allein jetzt traf diese Nachricht ihre vom Schlaf befangnen Sinne so unerwartet, daß sie lange wie betäubt vor sich hinsah, und nicht den Muth hatte, ihr dumpfes Gefühl zu befragen. Gleich, gleich, rief sie, halb träumend, Marianen zu, und schlich sich, von innrer Angst gelähmt, an Mathildens Thür. Hier war alles still; sie trat32 leise hinein an das Bett der Kranken, die grünseidnen Vorhänge waren zugezogen, sie konnte nichts sehen, hörte indeß schnell und hohl athmen. Mit zitternder Hand theilte sie ein wenig die Gardine, und sah die geliebte Mutter mit zurückgebognem Kopf und halboffnen Augen im ängstigendsten Fieberschlaf daliegen. Luise beugte sich über sie hin und bemerkte mit Entsetzen ein innres Zucken der Nerven, das wie ein Blitz über das Gesicht hinfuhr. Zum erstenmal in ihrem Leben traten die Schrecken des Todes vor sie hin, zum erstenmal fühlte sie deutlich, daß das treueste, liebevollste Herz sich von dem ihren losreißen werde. Sie stürzte, halb bewußtlos, aus dem Zimmer und rief wiederholt: den Arzt, um Gotteswillen den Arzt. Man traf alle Anstalten; allein die nächste Stadt war über zwei Meilen. Der Doktor, oft verreist, kam erst am andern Morgen, nachdem Luise die Nacht unter den heftigsten Qualen an Mathildens Bett zugebracht hatte. Es war ein kleiner, wohlbeleibter Mann; voller Kenntniß, allein unaufhörlich mit sich selbst beschäftigt, so lange die dringendste Noth nicht seine ungetheilte Aufmerksamkeit forderte. Daher unterhielt er Luisen zuerst mit vielen Worten von seinem eignen Uebelbefinden in den letztern Tagen, und trat ganz sorglos zu der Kranken, die, sich etwas ermunternd, voll33 Theilnahme auf seine Klagen hörte. Luise hatte indeß die Vorhänge aufgezogen und bemühte sich, in des Doktors Zügen irgend ein entscheidendes Urtheil zu lesen. Dieser hielt Mathildens brennende Hand in der seinen, ward immer ernster, und sagte endlich, durch die ungeahndete Gefahr hingerissen: Mein Gott, der Puls intermittirt! Was heißt das? fragte die Kranke ruhig. Unregelmäßigkeit in der Cirkulation des Blutes, erwiederte er, sich fassend; ich hoffe, es hat nichts zu bedeuten. Er trat in ein Nebenzimmer, wohin ihm Luise sogleich folgte. Was heißt es, lieber Doktor, rief sie mit bebender Stimme, um Gottes willen, was heißt es? Gefahr, liebes Kind, erwiederte er bewegt, große Gefahr. Ach retten Sie! schluchzte sie, ihn mit beiden Armen umschlingend. Das[vermag] Gott allein, erwiederte er; thun will ich, was ich kann, das Uebrige muß man erwarten. Erwarten dachte Luise; wer hat hier Muth und Besonnenheit, auf eine langsame Wirkung der angewandten Mittel zu hoffen! Das Schrecklichste sieht mir ganz nahe, ich muß es weggeräumt wissen, oder erliegen!

Sie konnte von da an nur Augenblicke an Mathildens Bett zubringen. Ihr ganzes Innre war zu gewaltig aufgereizt, um irgend eine Fassung zu gewinnen. Still weinend kniete sie hinter einem34 Schirm, der ihr indeß nicht die leiseste Bewegung im Zimmer entzog. Oft konnte sie es auch da nicht aushalten; sie schlich leise zu der Kranken und harrte mit zurückgehaltnem Athem auf jede ihrer Bewegungen. Mathilde reichte ihr dann, wehmüthig lächelnd, die Hand, und Beide wandten das Gesicht ab, um die hervorbrechende Thränen zu verbergen.

So schlichen die Stunden langsam hin; niemand wagte seine innre Angst auszusprechen. Jeder ahndete und schob dennoch die Gewißheit des nahen Unglücks schaudernd zurück.

Gegen Abend bemerkte Luise, daß ihre Mutter ganz still werde. Mariane glaubte, sie schlafe, und saß ruhig zu ihren Füßen. Nach einer Weile öffnete sie dennoch die Gardinen, und da sie Mathilden wachend fand, fragte sie, ob sie leide und ob nichts zu ihrer Erleichterung geschehen könne? Nein, gutes Kind, antwortete diese mit ihrer gewohnten Milde, mir fehlt nichts, ich wünsche auch nichts mehr aber die lange, lange Trennung! Hier schlug eine Uhr, die Viola einst, ihres künstlichen Glockenspiels wegen, Luisen schenkte, sieben. Sieben, wiederholte die Kranke langsam zählend, ach nun muß ich noch siebenmal sterben. Hier hielt sich Luise nicht länger; sie eilte hinaus in den Garten und warf sich laut weinend auf den35 Boden. Ihre Arme streckten sich betend empor; aber Worte und Gedanken verwirrten sich in abgerißnen Tönen, die schreiend aus ihrer Brust heraufdrangen. Der Himmel blickte im stillen Abendglanz auf sie nieder, Blumen und Sterne begrüßten sich wie lang getrennte Freunde, und zwischen ihnen hin glänzte der klare Strom in leichten, kreisenden Wellen. Da hörte Luise jemand schnell den Lindengang heraufgehen, sie wandte sich und erkannte Julius, der auf sie zu eilte. Meine arme, arme Luise! rief er, sie an seine Brust drückend. Du weißt? fragte sie. Alles, alles, erwiederte er; Georg hat nicht gesäumt O Julius, sagte sie, die schönen Hände dankbar faltend, Dich hat Gott gesandt. Komm nur komm. Sie gingen stumm neben einander hin. In Julius Zügen malte sich der tiefe Schmerz einer starken Seele, die, Klagen verschmähend, still im Innern ringt. Luise wagte nicht, an ihm hinauf zu sehen. Seine Blicke, die zwischen eigner Verzweiflung und anscheinender Ruhe kämpften, drückten sie doppelt nieder. Langsam, den Augenblick der Entscheidung vor sich hindrängend, kamen sie zu Mathilden zurück. Sie saß, von Marianen unterstützt, aufgerichtet im Bett, und schien ihre Blicke auf die Uhr zu heften. Bei ihrem Eintreten bellte der kleine Hund, der während diesen Tagen nicht von der Kranken wich,36 und als diese Julius erkannte, rief sie neu belebt: Gott Lob, mein Sohn, mein lieber Sohn! Julius Festigkeit erlag bei dem ernsten Ton dieser gebrochnen Stimme. Seine Thränen rannen unaufhaltsam, er konnte kein Wort hervorbringen, und als er beim unsichren Schein der Lampe nach und nach die verfallnen Züge des geliebten Gesichtes wahrnahm, barg er seinen Kopf in die Kissen und gab sich ohne Widerstand dem heftigsten Schmerze hin. In diesem Augenblick war Mathilde für ihn todt, und was nachher wirklich erfolgte, erregte nur den Wiederschein jenes ersten heftigen Gefühls in ihm. Der Doktor näherte sich jetzt und wünschte, man möge jede Erschütterung vermeiden. Wozu das? fragte Mathilde. Lassen Sie doch die letzten, freien Ergießungen durch keine Rücksicht hemmen. Man erwägt ja das Leben hindurch Vortheil und Schaden; in dieser Stunde darf uns dergleichen wohl nicht stören.

Ihre Augen belebten sich, während sie sprach und fachten in Luisen neue Hoffnung an. Allein sie selbst fühlte wohl, daß dieser rückkehrende Lebensblitz nur ein Wiederschein des schwindenden Geistes sei, der noch einmal der lieben, befreundeten Welt Lebewohl sagte; daher eilte sie, die gegönnte Frist zu benutzen und wandte sich zu ihren Kindern, die, von tausend Gefühlen zerrissen, sich37 fest umschlungen hielten. Lieber Julius, sagte sie, Deine unerwartete Ankunft ist mir ein erfreuliches Zeichen. Luise wird nie allein siehn, im Augenblick der Gefahr bist Du ihr zur Seite; schütze sie, mein lieber Sohn, vergiß nicht, daß sie nun niemand mehr auf der Welt hat als Dich. Laß jetzt fuhr sie nach einer Weile fort, den Prediger rufen, ich will zu des Himmels Segen noch den meinigen fügen.

Julius schwankte betäubt zur Thür hinaus. Jetzt, dachte er, jetzt! mit diesem blutenden Herzen! Luise fühlte nichts als die unbeschreiblichste Angst, mit der sie unaufhörlich ihrer Mutter Hand küßte und drückte und durch tausend Liebkosungen den nahenden Tod zu besänftigen meinte. Mariane allein dachte an die Trauung: sie pflückte einige Zweige von einem schönen Myrtenbaum und wand sie zwischen Luisens Haar. Der Geistliche trat bald mit Julius herein. Herr Prediger, sagte Mathilde, sie sollen drei Menschen mit Gott vereinen, durch Liebe und Tod. Niemand konnte in dem Augenblick sprechen. Julius sah umher in der düstren Krankenstube, auf Luisen, die der bräutliche Kranz wie ein Todtenopfer schmückte. Das also, sagte er in sich selbst, ist die lang gewünschte, von Kindheit an ersehnte, Feier! Er reichte dem bleichen Mädchen die Hand, die sich nicht von der38 Mutter losmachen wollte, und, indem sie Beide an ihrem Bett knieten, ihre drei Hände ineinander verschlang. Der Prediger stand gegenüber, sprach mit bebender Stimme den Seegen, und endete in folgenden Worten: Der Tod ist verschlungen in den Sieg, und der Sieg leuchtet uns in der Liebe, die das Band ist aller Vollkommenheit. Hier schlug die Uhr Eins. Mathilde dehnte sich mit leisem Wimmern, und ihre kalte Hand hielt die ihrer Kinder krampfhaft zusammen. Eilen Sie, rief der Doktor, wenn der Schreck ihre Braut nicht tödten soll! Mathilde schloß die Augen, und Julius trug die ohnmächtige Luise aus dem Zimmer.

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Zweites Buch.

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Der Wagen hielt vor der Thür, alles war bereit, Luise warf noch einen wehmüthigen Blick hinter sich und stieg an Julius Hand hinein. Als Georg den Schlag zumachte, war ihr, als sei sie nun auf ewig von allen lieben Erinnerungen der Vergangenheit geschieden. Der enge Raum, der sie umfing, ängstete sie. Sie lehnte sich weit heraus, und grüßte im Vorübereilen, mit doppelter Herzlichkeit, alle Bekannte des Dorfes, die vor den Thüren standen und ihr laut Heil und Glück wünschten. Auch der Geistliche bog sein weißes Haupt zwischen grünen Weinranken hervor und blickte segnend auf das junge Paar, das bis jetzt nur Dornen auf dem neuen Lebenswege fand.

Bei einer Beugung der Straße wurden Mathildens Fenster noch einmal sichtbar. Sie glänzten hell in der aufgehenden Sonne und ließen die herabgelassenen Vorhänge sehen, die sich dicht an das Glas anschmiegten. O Gott! O Gott! rief Luise, seit vier Wochen sind sie geschlossen und42 ihre Hand wird sie nie mehr öffnen! Sie drückte sich fest in die Ecke des Wagens und weinte, von erwachenden Schmerzen ergriffen. Julius bemühete sich, ihr etwas Tröstliches zu sagen; allein er fürchtete jetzt, wie so oft, das Rechte zu verfehlen und ihr Gefühl durch irgend ein gewagtes Wort zu verletzen, daher schwieg er ganz und überließ sie ihren eignen Vorstellungen.

Sie fuhren lange Zeit über weiten Ebnen zwischen vollen Kornfeldern hin, die, außer dem behaglichen Gefuhl des[reichen Gewinnes], die Sinne unbeschäftigt lassen. Da trabte ein junger, blonder Mann auf einem schönen Pferde vorbei; ihm folgte in einiger Entfernung ein Knabe in grüner Livree, der einen kleinen türkischen Schimmel ritt. Luise blickte unwillkürlich auf; das feine kindliche Figürchen auf dem weißen Pferde sah fast weiblich aus und erweckte in ihr die Lust zu reiten, die sie schon längst hegte, ohne sie in ihrer abgeschloßnen Lage befriedigen zu können. Julius bemerkte nicht so bald das flüchtige Wohlgefallen auf ihrem Gesicht, als er, die Veranlassung errathend, sogleich ein erheiterndes Gespräch anstimmte, und ihr selbst Gelegenheit gab, ihre kleinen Wünsche laut werden zu lassen. Der Knabe, sagte er, erinnert mich, im Vorübereilen, an eine junge Italienerin, die ihren Geliebten, in ähnlicher Tracht,43 auf seinen Streifereien begleitete, und mit vieler Gewandheit ein kleines Pferdchen nach den wilden Launen ihres Freundes lenkte. Luise fand das sehr reizend, es paßte in ihre phantastische Welt und schmeichelte dem ihr eignen Wohlgefallen an jeder ungewöhnlichen Erscheinung. Sie hörte daher aufmerksam zu, als Julius fortfuhr. Ich lernte Beide in Rom kennen, wo wir in einem Hause wohnten, ohne einander zu Anfang eine große Aufmerksamkeit zu schenken. Der junge Mann schloß sich indeß aus angebornem Widerspruch des Gemüthes an mich an und sagte oft lachend, er liebe mich der Natur zum Trotz, die uns in allen Richtungen unsres Innern von einander geschieden habe. Wirklich war nichts Unähnlicheres zu finden und dennoch widerstand ich seiner Liebenswürdigkeit nicht, die im steten Wechsel immer einen originellen Charakter behielt. Ich habe es oft versucht, ein festes Bild in der Erinnerung von ihm aufzufassen; allein das ist durchaus unmöglich, da in diesem Augenblick die sittigste Gewandheit, schmeichelnde Worte und Mienen, ja inniges Gefühl, von den allerwildesten Ausbrüchen toller Laune verdrängt werden und, mitten aus diesem Tumult, der Verstand wieder klar und besonnen hervortritt und über die wechselnden Eindrücke lächelt, die solch täuschendes Spiel erzeugt. Ich weiß nicht, ob ihn44 diese Besonnenheit immer leitet, ob er stets absichtlich handelt, oder ob seine brennende Phantasie ihn fortreißt, die er aus eigner Kraft dann selbst wieder zügelt und vielleicht sich wie die Welt glauben läßt, ruhige Ueberlegung leite seine Schritte. Ich mag bei dem Letztern gern stehen bleiben, weil ich einmal ein bestechliches Wohlwollen für ihn empfinde, und auch nicht denken kann, daß der Mensch, bei so großen Anlagen, ein bloß mechanisches Kunststück aus sich machen werde. Allein, er hat mir öfter gesagt: es sei die Schuld aller nicht Blindgebornen, wenn sie schwarz für weiß ansehen. Die Phantasie der Meisten sei so arm, ihr Gefühl so nüchtern, daß sie es immer dankbar annehmen, wenn man ihnen von außen etwas aufdringe, was sie beschäftigen könne. Es sei eine Lust, wie sie sich hin und her werfen ließen, ohne nur einmal den Wunsch in sich aufkommen zu lassen, durch innre Haltung solchem Spiel zu widerstehen. Dieser Zustand halben Denkens, diese augenblickliche Anregung des Verstandes, der sich sogleich voll Eitelkeit über sich selbst erhebe und der Sache auf den Grund zu schauen meine, dies vornehme Verachten jeder ungewöhnlichen Handlung, alles dies thue den Menschen so wohl, daß sie zu Dutzenden in sein Netz liefen und, selbst nach erkannter Täuschung, willig bei ihm aushielten.

45Luise faßte einen lebhaften Widerwillen gegen solch Gemüth und erklärte es geradezu für boshaft. Julius bestritt das und versicherte, daß es ihm mit der Verachtung der Menschen sicher nicht Ernst sei, da er ihn nicht selten mit gänzlicher Selbstverläugnung für Andre thätig gesehen und, ohnerachtet eigner Zügellosigkeit, dennoch eine richtige Würdigung des Guten in ihm gefunden habe. Die Frauen, setzte er lächelnd hinzu, haben freilich Fernando nicht zu loben, denn ob er gleich ihren Reizen huldigt, so sieht er dennoch in ihnen nur ein liebliches Spielwerk, das man ohne sonderliche Reue zerbrechen und nach Gefallen wegwerfen kann. Die kleine Francesca mußte das erfahren; ob sie ihn gleich mit einer Ergebenheit liebte, die sie oft zur Vertrauten, ja Helferin, neuer Abentheuer machte, so verließ er sie dennoch, um mich nach Paris zu begleiten, wo er einen Theil seines Lebens zubrachte und alte Verbindungen wieder anknüpfen wollte. Sie gerieth ganz außer sich, als er sie am Abend vor unsrer Abreise auf die ruhigsie Weise mit seinen Plänen bekannt machte. Sie überhäufte ihn mit Schmähungen und zerschlug sich mit den kleinen Händen die Brust, um sein trügerisches Bild darin zu vernichten. Er begegnete allen ihren Ausfällen sehr sanft, lachte aber überlaut, als sie ihm auch Vorstellungen46 über seinen Wankelmuth machte. Du Neuling in der Welt! rief er, solche Thränen sind morgen getrocknet. Du bist unwiederbringlich verloren, wenn Du Dich von Ihnen berücken läßst. Sage mir, was sollte aus uns werden, wenn dies verführerische Geschlecht alle Macht über uns ausübte, die es gern über den ganzen Erdkreis verbreiten möchte! Sei kein Kind, Francesca, sagte er, die Kleine küssend, Du weißt wohl, wie kalt mich Auftritte dieser Art lassen und wie sie immer ihren Zweck verfehlen. Verweine Deine schönen Augen nicht, Du kannst sie besser gebrauchen. Ich war ganz empört über diesen Nachsatz; allein Francesca lachte mitten unter ihren Thränen, und sagte: geh nur! Du kommst doch wieder zu mir zurück, denn Dich versteht Niemand so gut als ich, und Du bist nirgend so recht eigentlich zu Hause, als in dem Umgang mit mir. Fernando gab ihr gern Recht, und wir brachten den Abend sehr vergnügt zu.

Sie waren während dieser Unterredung, die Luisen einigermaßen von sich selbst abzog, nach Quedlinburg gekommen, wo sie die Mittagstunden zubringen wollten. Die kleine schmutzige Stadt, das ungleiche Steinpflaster, das den Wagen hin und her warf und sie zwang, langsam an den niedren Fenstern der Einwohner vorüber zu fahren, wobei sie unwillkürlich einen Blick in das Innre47 bedürftiger Haushaltungen warfen, alle diese unerfreulichen Eindrücke wurden bei dem Anblick des kleinen, grünen Jokeis, den Luise aus der Ferne vor der Thür des Gasthofes wahrnahm, vergessen. Allein bei näherer Betrachtung zeigte sich’s, daß das türkische Pferdchen und das zierliche Kasket, welches jetzt auf einem Pfeiler der Treppe hing, dem armen Knaben allen Zauber und jede Aehnlichkeit mit Francesca nahmen. Ein frisches, halberstädtisches Gesicht sah ihnen aus dünn verschnittnem Haar entgegen, und verwischte alle Erinnerungen aus der italienischen Welt. Julius lächelte im Vorbeigehn über sich und die Bestechlichkeit der Sinne, als ihnen der Wirth entgegentrat und sie höflichst befragte, ob sie nichts dawider hätten, mit einem anständigen Herrn hier im nächsten Zimmer zu speisen. Sie nahmen es an und traten hinein. In’s Fenster gelehnt stand ihr blonder Reisegefährte, der sie, aus einem flüchtigen Blick im Vorbeireiten, erkannte und höflichst begrüßte. Das Gespräch ward bald, wie gewöhnlich im Leben, an unbedeutende Gemeinplätze angeknüpft, die es denn endlich ganz natürlich herbeiführten, daß der junge Mann, Jagdjunker eines benachbarten Fürsten, auf dem Wege zu dessen Residenz begriffen sei. Er hatte eine etwas raube Stimme; sonst viel gutmüthige Herzlichkeit, die48 leicht Eingang fand; vorzüglich war er aufmerksam um Luisen bemüht und liebkoste tändelnd Mathildens Hund, der sie nach dem Falkenstein begleitete. Julius sagte ihm: daß ihnen dies kleine Thier als ein liebes Andenken einer kürzlich verstorbnen Mutter sehr werth sei, wobei Luise ihre feuchten Augen senkte und die Rührung des Fremden nicht wahrnahm, der fast kindlich ausrief: ach Gott! ich habe meine Mutter niemals gesehn und habe auch kein Andenken von ihr! Sein Gesicht drückte dabei so wahr die Sehnsucht nach dem ungekannten Glücke aus, daß Julius voll Theilnahme seine Hand faßte und alle Drei recht von Herzen zu reden begonnen. Es zeigte sich nun bald, im Laufe der Unterhaltung, daß der junge Mann ein Neffe des Baron Veltheim und Julius, aus seiner Kindheit, unter dem Nahmen Carl bekannt war. Sie hatten nicht sobald diesen gemeinschaftlichen Berührungspunkt gefunden, als die Familie des Barons Luisen aus manchen treffenden Zügen bekannt gemacht, und der Wunsch, sie kennen zu lernen, in ihr erregt wurde, wobei Carl lustig hinzusetzte, er käme sich dort wie ein Ostrogothe vor, da ihn die Tante jeden Augenblick versichre: er habe nicht die geringste Leichtigkeit im Umgang mit Frauen, keine Gewandheit in der Unterhaltung; eine Reise nach Paris könne ihm beides allein geben,49 und, statt einen so untergeordneten Posten an einem kleinen Hofe anzunehmen, hätte er suchen sollen, in Verbindung mit einem weltklugen Freunde, die Reise zu unternehmen. Der Onkel hingegen lebe in der alten und neuen Literatur, rufe einen Kreis von Gelehrten um sich her, in welchem er ihn gänzlich übersehe. Selbst in der Gefälligkeit der kleinen Cousine liege eine Art von Spott, denn sie rede von nichts als Hunden, Jagd und Pferden mit ihm, und zeige wohl, daß sie sich gütig bemühe, zu ihm herunter zu steigen. Julius entschuldigte das mit der Unkunde der meisten Menschen, eine allgemeine Unterhaltung herbei führen zu können, wodurch allein die gesellige Mittheilung frei bleibe und jeder in den Stand gesetzt werde, das Seinige dazu beizutragen, ohne ihn auf eine angreifende Weise in den abgeschlossenen Kreis seines täglichen Thuns und Treibens zurückzudrängen. Ja, sagte Carl, und das Zurückdrängen hat denn noch den Fehler, daß man es dem Andren gleich ansieht, er ritte lieber seinen eignen Gaul, da er auf dem fremden mein Leben nicht recht im Sattel ist. Die Leichtigkeit, fuhr Julius fort, in die abgeschloßnen Verhältnisse jedes Menschen einzugehen, wird größtentheils als der Gipfel der feinern Bildung angesehen, aber es muß wie von selbst aus dem Vorhergehenden entspringen50 und sich leicht und gefällig der allgemeinen Unterhaltung anschließen, sonst hat es etwas Demüthigendes für den, der einmal aus dem alten Geleise heraustreten wollte und dem man dadurch freundschaftlichst winkt, stehen zu bleiben. Das ist wahr! rief Carl ganz entzückt, das ist wahrhaftig wahr. Das werde ich Emilien nächstens sagen, wenn sie mich wieder in meine Wälder schickt, aus denen ich eben komme, um mit ihr ganz andre Dinge zu reden.

Der Wagen war indeß vorgefahren. Julius wünschte Luisen bald in ihr neues Reich einzuführen und eilte daher, den Rest der kleinen Reise bald zurückzulegen. Carl trennte sich wie ein alter Freund von ihnen, der sich in ihrer Nähe leicht und wohl fühlend, ehestens zu ihnen zurückzukehren versprach.

Ich erinnere mich, sagte Julius, als sie allein waren, daß mein Vater fast auf ähnliche Weise wie die Baronin über Carl urtheilte, und es hat sich dennoch ein recht frischer, gesunder Sinn und zuverlässig ein treu es Herz in ihm entwickelt. Luise hatte in der Einsamkeit eine sehr gebildete Erziehung genossen; sie besaß viel Kenntnisse und war durch Mathilden an eine unterrichtende, fast gewählte, Unterhaltung gewöhnt. Sie hegte daher eine Art von Verachtung gegen alle Unwissenheit51 und übersah Menschen ohne hervorstechende Gaben fast gänzlich. Carls Gutmüthigkeit hatte sie bewegt, indeß glaubte sie, mitleidiges Wohlwollen sei nicht das Rechte, was Einer für den Andern empfinden solle. Julius versicherte sie, oft bei dem reichsten Schatz von Kenntnissen, mehr Einseitigkeit und ermüdendes Einerlei, als bei diesem offnen, freien Gemüthe gefunden zu haben. Frei? wiederholte Luise, das bestreite ich, er fühlt sich alle Augenblicke einmal beschränkt und hat weder die Mittel, noch sucht er die Wege, sich los zu machen. Liebe Luise, erwiederte Julius, verdamme die Unbeholfnen nicht so gradehin, ein jeder hat seinen Kreis, in welchem er sich frei bewegt; führe ihn da heraus, so steht er wie Carl da, der wenigstens gescheut einlenkt und seine Freiheit dadurch behauptet, daß er nicht mehr will als er kann. Ich weiß wohl, fuhr er fort, daß der Kreis des Einen größer ist als des Andern; allein ein jeder zieht ihn sich am Ende selbst und kann nicht über seine Kräfte hinaus. Manche, die weit ausholten, wurden am Ende auf den Ausgangspunkt zurückgedrängt. Luise hätte dagegen noch Manches einzuwenden gehabt und meinte im Innern, dies sei aller Dumpfheit das Wort geredet; allein sie war wenig zum Streiten aufgelegt, und kämpfte genugsam gegen manche peinliche Vorstellungen, die sie52 bei der Annäherung an den Falkenstein befielen. Der Weg dahin ward immer verschlungener, das Gebüsch dichter, und ein schwerer, glühender Himmel machte die eingeschloßne Gebirgsluft unerträglich; dazu kam, daß ein starker Gewitterregen Quellen und Bäche angeschwellt und die Wege überschwemmt hatte; sie konnten daher nur langsam auf dem schlüpfrigen Boden fahren. Luise war bemüht, die trüben Bilder, die auf sie zu traten, durch eine Menge unzusammenhängender Fragen zu verdrängen; allein ihre Unruhe wuchs so sehr, daß sie endlich Julius bat, mit ihr den Berg hinan auf einem festen ebnen Fußpfad zu steigen. Er willigte gern ein, und Beide hatten Ursach, sich über diesen Entschluß Glück zu wünschen; denn nicht lange darauf schlug der Wagen mit solcher Gewalt gegen einen Stein, den das übergetretne Wasser verbarg, daß das Rad absprang und der Wagen auf die Seite fiel. Luise that einen lauten Schrei, da sie dies von fern sahe, und Julius gerieth in solche Wuth auf seine Leute, als sei Luise wirklich beschädigt. Sie sah ihn zum erstenmal, durch die losbrechende Heftigkeit seines Gemüthes hingerissen, ohne Besonnenheit handeln. Die Verlegenheit, in der sie sich befanden, zwang ihn indeß, in sich selbst zurückzugehn. Sie waren schon zu weit von der Stadt, um dort Hülfe53 zu suchen, und eben so wenig wollten sie um[solche] Veranlassung jetzt nach dem Falkenstein schicken, wo man sie in Lust und Freude erwartete. Julius erinnerte sich, daß hier in der Nähe die Wohnung eines Heideläufers sein müsse, zu der jener Fußsteig, in gleicher Richtung der großen Straße, vorbei führe. Er entschloß sich, Luisen hinzuführen, und dort ein Mittel, wie ihnen schnell geholfen werden könne, zu erfahren. Sie waren bald bei dem kleinen Häuschen, das, wenige Schritte davon, im Gebüsch versteckt lag. Lieber Gott, sagte eine Stimme von innen, schlage doch nur noch einmal, nur ein einzigesmal, die Augen auf! Julius zog die Hand zurück, die schon die Thür gefaßt hatte; er besann sich einen Augenblick und pochte dann leise an. Sogleich trat eine junge Frau heraus, wischte die hellen Thränen aus den Augen und erwiederte auf die Frage nach ihrem Manne, mit angenehmer Stimme, daß er dort im Hofe arbeite. Dieser trat jetzt zur Hinterthür herein und stellte, die Fremden im Vorbeigehn grüßend, einige glatt gehobelte Bretter in die Luft. Es wird wohl Noth haben, sagte die Frau, auf die Bretter sehend, es ist bald vorbei! Ein Sarg! dachte Luise, und schauderte zusammen. Danke Gott, erwiederte der Mann, das Wurm hat viel gelitten! Julius hatte nicht das Herz, sein Gesuch vorzutragen; allein der54 Mann fragte ihn gleich darauf ganz ruhig, was zu seinem Befehle stände, und meinte nach erhaltner Auskunft, wenn es nichts als ein abgesprungenes und etwas beschädigtes Rad sei, so könne er wohl allein helfen, ohne deshalb noch weiter zu gehn. Er versah sich mit dem Nöthigsten und machte sich sogleich mit Julius auf den Weg.

Wollen Sie nicht hinein treten? sagte die Frau zu Luisen, ansteckend ist die Krankheit nicht. Luise zögerte noch einen Augenblick und fragte, was es für ein Uebel sei. Das weiß der Himmel, antwortete die Frau; seit dreizehn Wochen leidet das Kind. Wir haben wohl einen Chirurgus befragt, aber das hat bei armen Leuten keine Art. Man kann auch nicht alles so haben, (sie waren während dem in ein niedriges, enges Stübchen an das Bett der Kleinen getreten) und heute, fuhr die Frau fort sie konnte nichts weiter sagen, bückte sich zu dem Kinde und drückte seine welke Händchen an ihre Lippen. Luise sah überall Spuren der allerhöchsten Dürftigkeit; sie glaubte fast, daß Mangel an kräftiger Nahrung das Kind, nach früher überstandner Krankheit, allein tödte, und dachte mit Wehmuth, daß so mancher unbeachtet hinstirbt, den oft eine Kleinigkeit retten könne. Ein kristallnes Büchschen öffnend, ließ sie einen Tropfen starken Balsams unter die Zunge der Kranken fallen, die55 sogleich stark nieste und die großen Augen verwundert aufschlug. Mariechen, liebes Mariechen! rief die Mutter, kennst Du mich? Das Kind schloß aufs neue die Augen und wandte sich auf die Seite. Luise schickte die Frau nach dem Wagen, indem sie ihr auftrug, sich dort den mitgebrachten Wein und Zwieback geben zu lassen, und fuhr fort, der Kleinen die Schläfe mit dem Balsam zu reiben. In Kurzem kam die Mutter zurück. Luise nahm das Kind in den Arm und flößte etwas Wein in den halbgeöffneten Mund. Nach einer Viertelstunde ermunterte sich Marie, sah umher, und spielte mit Luisens Fingern, an welchen mehrere Ringe glänzten. Liebe Frau, sagte diese, unter den freudigsten Thränen die sie jemals vergoß, das Kind wird gewiß besser, wenn es alle Stunden, von jetzt an bis morgen Mittag, einen Löffel von dem Weine bekömmt. Dann werde ich wieder herschicken und für weitre Hülfe sorgen. Die Frau faßte Luisens Hände, streichelte ihr die schönen frischen Wangen, bog sich dann wieder zu der Kleinen, küßte und drückte sie, ohne ein Wort hervorbringen zu können. Nachdem ihr Luise noch manches über die Behandlung der Kranken gesagt hatte, fragte sie nach den nähern Umständen der kleinen Haushaltung. Ach Gott, sagte die Frau, ich bin von je her an Kummer und Trübsal gewöhnt, und habe auf Erden56 nichts, als den festen Glauben an die große Güte des Himmels, die niemand verderben läßt. Mein Vater, der ein armer Nadler in Goslar war, lebte und starb in dieser Ueberzeugung, und ließ mich, voll Vertrauen, im vierzehnten Jahre, ohne Beistand auf der Welt zurück. Unsre Nachbarn nahmen sich meiner an, trugen mir allerhand kleine häusliche Verrichtungen auf und gebrauchten mich zu Aufträgen in der Stadt, wobei ich indeß nur[kärglich] mein Brod hatte, und, an ein beständiges Herumlaufen gewöhnt, zu aller sitzenden Arbeit verdorben wurde, daher es auch niemand einfiel, mich als Magd in den Dienst zu nehmen. Ich hatte mehrere Jahre so verlebt, als es mir einmal schwer aufs Herz fiel, daß ich doch nirgend zu Hause sei, keinen Anhang habe, von niemand geliebt, höchstens aus Mitleid geduldet werde. Ich weiß es noch, es war an einem Sonntag, die Mädchen aus der Stadt gingen geputzt nach der Kirche, ich hatte nichts in meinem Vermögen, als einen schlechten Rock und eine zerrissene Schürze; ich sah betrübt auf die Letztre und trocknete mir die nassen Augen damit. Ein hübscher Knabe ging, mit dem Gesangbuch unter dem Arm, recht sittsam vorbei, und sagte sein: Gott grüß, Jungfer! so gutmüthig, daß ich ihm zurief: beten Sie für mich, liebes Kind, ich darf doch nicht in die Kirche hinein. 57Warum nicht? fragte eine etwas rauhe Stimme. Es war Anton, den ich zum erstenmal in meinem Leben sah. Ich schämte mich, vor einem fremden Menschen zu klagen, und schwieg. Er mochte wohl was Arges denken, denn er wandte sich ab, als wolle er gehn, da sagte ich ihm, daß ich zu arm sei, um mir anständige Kleider zu kaufen, und so abgerissen nicht neben Andren sitzen wolle. Er schüttelte den Kopf, drückte mir aber doch ein blankes Stück Geld in die Hand und ging, ohne ein Wort zu sagen. Ich begegnete ihm nach der Zeit oft. Er grüßte jedesmal und sah mir lange nach, wenn ich die Straßen entlang schwere Lasten für geringen Lohn tragen mußte. Einmal bot er mir die Hand, erzählte mir, daß er einen kleinen Posten, ein Häuschen unb eine Strecke Landes zu einem Garten bekommen habe, hier draußen ganz allein wohne, und mich, da er höre, daß ich fromm und ehrlich sei, frage, ob ich mit ihm hinausziehn und als seine Frau bei ihm leben wolle? Ich fiel wie aus den Wolken, besah mich selbst verwundert, und wußte nicht, was ich denken sollte. Er merkte wohl, daß ich nicht nein sagen würde, und redete nun weitläuftiger über alles. Wir wurden bald einig; ich hatte von da an keinen Willen als den seinen, und hörte und sah auch überdem nichts, da mir das Häuschen und der Garten immer vor Augen58 schwebten. Ich dachte wohl an meinen Vater und dankte Gott recht aus zufriednem Herzen. Meine ehemaligen Wohlthäter schenkten uns allerlei zur Einrichtung und wir zogen nach kurzer Zeit hierher. Der arme Anton sah bald so gut wie ich, daß es mit der Herrlichkeit nicht weit her und das Brod für zwei knapp zugeschnitten sei. Er ist heftigen Gemüths und erbittert sich selbst, wenn es nicht so geht wie er denkt; darum verzweifelt er gar zu bald und hat keinen rechten Glauben. Es ging denn auch freilich schlecht, ein schweres Wochenbett machte mich zu harter Arbeit untüchtig, und nun kam das lange Leiden mit dem Kinde; es ging alles zurück, wir machten Schulden und geriethen in große Noth. Bis heute blieb ich indeß voll Zuversicht; wenn ich so recht aus Herzensgrund geweint hatte, dann fiel mir mein Vater ein, und der liebe Gott, der alles wohl macht, und ich hoffte gleich aufs neue wieder. Aber vor ein paar Stunden, da brach mit Mariechens Augen mein Herz und aller Muth zusammen. Ich wünschte mir recht sündlich den Tod und nun ach du Herzenskind, sagte sie, und betrachtete es mit Blicken, die Luisen in den Himmel erhoben. Julius und Anton kamen jetzt zurück. Sieh doch, sieh! rief die Frau Letzterm entgegen, und zeigte auf die Kleine, welche mit sichtlicher Lust von einem Zwieback59 . Dahin hat es die liebe, schöne Dame in so kurzer Zeit gebracht. Julius betrachtete Luisen, die, mit dem Kinde im Arme, wie ein Engel da saß und ihr verklärtes Auge freudig auf ihn richtete. Anton hingegen lächelte ungläubig und sagte, das wird nicht lange währen, Angst und Noth sind nun einmal bei uns eingekehrt und kommen immer wieder. Schäme Dich, lispelte die Frau leise, vertraust Du nicht mehr auf Gott? Luise sah ungern ihr Gefühl gestört, drückte dem zagenden Mann ein paar Goldstücke in die Hand und eilte mit Julius zu dem Wagen, der sie unten erwartete. Ihr war unbeschreiblich leicht und wohl ums Herz. Sie umfaßte noch einmal die langen Leiden der armen Frau, die gleichwohl ihre Gefühle nicht einengen und die Gemeinschaft mit Gott nicht aufheben konnten, und drückte dann voll Dankbarkeit Julius Hand, der sie einer sorgenfreien, heitern, Zukunft entgegenführte. Ihr war, als sähe ihre Mutter auf sie herunter und wiederhole jene Worte: Wie sollte ich an Deinem Glücke zweifeln, wie solltest Du je etwas Wünschenswertheres begehren können!

So mit sich und ihrem Loose zufrieden, setzte Luise ihre Reise fort, während sie mit Julius jede Möglichkeit erwog, wie den armen Leuten dauernd zu helfen sei, und den kleinen Unfall segnete, der so viel Glück herbeigeführt hatte. Julius schämte60 sich seiner vorigen Heftigkeit, daher ging er um so eher in Luisens Pläne ein, das kleine Unrecht auf diese Weise vor sich selbst wieder gut zu machen.

Es war indeß spät geworden. Der Mond stand hoch am Himmel, von den Wiesen stieg ein frischer Dampf herauf, der sich wie ein Flor über die grüne Fläche hinzog. Glühwürmchen leuchteten, herabgefallnen Sternen gleich, aus den Büschen, und kreisend durchzogen einzelne Vögel die Luft, um dann von den letzten Geschäften des Tages auszuruhen. Luise fuhr unwillkührlich zusammen, als Julius freudig rief: das ist der Falkenstein! Sie blickte auf. Graue Thürme sahen im bleichen Mondenlicht zwischen Felsenwänden und dunklen Tannen hervor. Das ist der Falkenstein, wiederholte sie langsam. Sie fuhren jetzt einem Wasserfall vorüber, der sich in einen breiten Graben ergoß. Eine wohlerhaltne Zugbrücke führte über letztern in den Schloßhof hinein. Luise trat mit wankenden Knien aus dem Wagen, in das weite Portal, wo die Dienerschaft des Hauses sie unter tausend Glückwünschen erwarteten. Willkommen, meine Luise! rief Julius aus bewegter Brust; willkommen! tönte es von mehrern Stimmen durch die gewölbten Hallen. Luise neigte sich freundlich gegen Alle und folgte Julius die Steintreppe hinauf zu Violas Zimmer, die er, als die heitersten und schönsten, für sie bestimmt61 hatte. Sie ward angenehm überrascht, als sie in einen kleinen wohlerleuchteten Saal trat, dessen Wände, grün, mit Basreliefs von der auserlesensten Arbeit verziert waren. Ringsumher standen, auf kleinen Fußgestellen, hohe Vasen mit Blumen, dazwischen Statuen, Abgüsse der besten Meister. Einem großen Spiegel gegenüber sah man durch eine geöffnete Glasthür in einen blühenden anmuthigen Garten, der am Abhange des Felsen angelegt war. Mariane, eilig bemüht alle Herrlichkeiten in Augenschein zu nehmen, trat voll Freude aus demselben hervor, und begrüßte Luisen wie eine liebe Bekannte. Alles gewann hier ein lustiges, vertrauliches Ansehn. Der düstre Eindruck des alten Gebäudes verschwand, jede Spur, jede Erinnerung daran war durch Violas Andenken verwischt. Mit liebevoller Ehrfurcht nahm Luise von den übrigen Gemächern Besitz, die noch aller Zauber ihrer ehemaligen Bewohnerin erfüllte. Ahndungen und Sorgen waren vergessen. Mathilde und die Gräfin schienen ihr überall zur Seite zu gehn und sie zu jedem reinen Genuß zu ermuntern.

Die schöne Zeit, wo der Mensch mit erwachender Lebenslust eine neue Laufbahn betritt, wo die Seele sich in den weitren Kreisen dehnt und jede Kraft muthiger übt, hob auch Luisen über innre Störungen hinaus und öffnete ihr ein frisches thätiges62 Leben, das der reinste Wille und die andächtige Feier entschwundner Geliebten mehr und mehr veredelte. Die arme Familie im Walde wurde in dieser Stimmung am wenigsten vergessen. Ihre Segnungen tönten in Luisens Herzen wie der Ruf des Himmels zu neuen guten Werken.

Julius ging indeß seinen einsamen Weg. Zu Anfang war es wohl, als wenn Luisens erheitertes Dasein auch erfrischend durch ihn hinzöge; allein er fiel bald wieder in sich selbst zurück. Die Sorge für die Dauer ihres Glückes beschäftigte ihn ängstlich, und machte ihn über die Mittel, es zu erhalten, unschlüssig. Gleichwohl vermochte er nicht, mit ihr darüber zu reden, weil er überall dem innern Reichthum seiner Gefühle keine Worte leihen konnte, weshalb er in ihrer Gegenwart einsilbig, oft verlegen blieb. Dieser innre Druck ward noch dadurch vermehrt, daß ihn Luise, so oft sie bei einander waren, drängte, ihr etwas vorzulesen, Klavier zu spielen, oder auf einem Spaziergange den Mönch aufzusuchen, den sie oftmals antrafen, und für den sie eine große Anhänglichkeit gewann. Julius fühlte wohl, daß die Armuth seiner Unterhaltung nach und nach alle gegenseitige Mittheilung hemmen und Luisens lebendigen Sinn mit Gewalt nach Außen treiben werde. Er versuchte es daher mit der gutmüthigsten Anstrengung, sich freier und63 lebendiger zu zeigen; allein die Natur widersteht jeder Absichtlichkeit, und nur in einzelnen Augenblicken, wenn irgend eine Saite seines Innren ungewohnt berührt ward, rauschte der Klang erschütternd durch ihn hin, und sprengte die Bande, die den edelsten Geist gefesselt hielten. Der Mönch verstand es fast allein, solche Momente herbeizuführen. Durch ihn lernten Beide die Bibel kennen, die sie bis dahin nur, als ein nothwendiges Glied in der Stufenfolge menschlicher Entwicklung, geschichtlich, betrachtet hatten. Er sagte ihnen oft: wenn es nur zu wahr ist, daß der schwankende Mensch äußrer Anregungen bedarf, wo kann er sie würdiger finden, als grade hier? Das Leben, fuhr er fort, ist reich in Vergangenheit und Gegenwart, die Entwicklung des einen, ewigen, Geistes in Natur und Menschen sichtbar; allein dies in jeder Zeit wahrzunehmen, erfordert einen wachen, geübten Blick. Das halbgeöffnete Auge schweift an den großen Offenbarungen vorüber, die, wie einzelne Chiffern, nur dem eine lesbare Schrift sind, der ihren Sinn erkannt in sich trägt. Die leisere Fühlbarkeit, das schnelle Erfassen und Vereinen vorüberfliegender Töne, ist nur einem sehr reichen, in sich beweglichen Gemüth gegeben, einem solchen, dem alles durchsichtig erscheint, und das ohne fremde Kraft die ätherischen Regionen durchzieht, die sein64 eigentliches Lebenselement sind. Die Meisten wollen einen lauten, ans Herz dringenden Ruf, der sie fast unwillkührlich erweckt. Sie sind verloren, wenn sie sich hingebend und erwartend eignen Einwirkungen überlassen. Ich fühle das oft beschämt, und flüchte zur Bibel, als dem vollsten und reichsten Schatz ans Licht getretner Herrlichkeit. Was die Geschichte im Aeußren und Allgemeinen darstellt, den Menschen in der Folgereihe fortlaufender Begebenheiten, das Zusammenfallen großer Naturerscheinungen und innrer Umwälzungen, das tritt hier wie ein Blitz der Offenbarung unmittelbar, und in der beredtsten, dem Herzen verwandtesten, Sprache aus dem Innren hervor. Luise fühlte besonders die Wahrheit des Letztren, denn sie konnte nie ohne tiefe Rührung die Worte der Schrift lesen, und blieb noch lange nachher in einer weichen, jedem beßren Eindruck offnen, Stimmung.

Um diese Zeit traf Carl, seinem Versprechen gemäß, bei ihnen ein, und beredete sie freundlich, ihn auf eine kleine Lustreise zu dem Landsitz seines Onkels zu begleiten. Es sei dort, setzte er hinzu, jetzt bunter als jemals; Gelehrte und Ungelehrte, Pharisäer und Leviten, Jude und Teufel, alles ginge Hand in Hand. Luise fürchtete ein wenig die Baronin; allein Julius sah es als eine Art von Schuldigkeit an, sie dieser vorzustellen, und65 willigte um so lieber ein, da er sich von Carls Gesellschaft und seinen naiven Anmerkungen manche Freude versprach.

Schon des andern Tages machten sie sich bei heiterm Wetter und der besten Laune auf den Weg. Carl ward nicht müde, von dem glänzenden Kreis zu reden, in den sie eintreten wollten, und dabei die Gelehrten und Dichter zu verspotten, welche Letztre er nun einmal in den Tod haßte und gradehin für Lückenbüßer in der menschlichen Gesellschaft erklärte. Ich habe nicht viel gelernt, setzte er mit komischer Zuversicht hinzu; allein ich gehe meinen Weg rüstig fort, und stoße ich auf irgend ein Hinderniß, so räume ich es weg, oder kehre still um, ohne die ganze Welt zum Zeugen aufzurufen; solch Himmelskind hingegen weiß niemals ob es fest auftreten darf, und faßt bei aller Gelegenheit nach einem tüchtigen Arm an den es sich halten kann. Julius lächelte, ohne Carls Meinung anzugreifen, da sie ihm vielleicht nothwendig war, um ruhig in den Schranken auszuhalten, die seine individuelle Natur ihm gesteckt hatte. Allein Luise sagte, Sie nannten die Dichter vielleicht mit Recht Himmelskinder; gönnen Sie ihnen also ihre eigne Welt, und wundern Sie sich nicht, wenn sie der unsrigen fremd bleiben. So sind die Frauen, rief Carl ungeduldig aus, solch unzusammenhängendes Wesen66 gefällt ihnen. Liebe, schöne Gräfin, wer in den Himmel will, muß auch auf der Erde zu Hause sein, sonst hätte ihn unser Herr Gott weggelassen. Und übrigens sind die Herren auch nicht so himmlisch wie es in den Büchern aussieht; sie greifen mit allen Sinnen umher wie jeder andre Erdensohn, und genießen wo es etwas Gutes giebt. Wenn so einer von Nektar schlürfen redet, denn weiß ich schon was die Glocke geschlagen hat. Die Seligkeit kenne ich auch, wo alles blau ist wie der Himmel über uns! Diese Gleichstellung des phantastischen Dichterrausches mit den gemeinen Wirkungen des Weines brachte alle zum Lachen, und niemand stritt weiter mit Carl, der im Zuge des Erzählens blieb. Sie werden, fuhr er fort, bei dem Onkel wunderliche Heilige erblicken, zu deren Sekte ich mich nun einmal nicht bekennen mag. Einer ist indeß unter ihnen, den ich ausnehme. Ein braver, excellenter Junge, ehemaliger hannöverscher Offizier, der bei der Auflösung der Armee auch um seinen Degen kam, und nun vor Angst und Kummer Dichter geworden ist. Seitdem klagt er ein bischen zu viel über sein eigen Leid; allein das gehört nun einmal zu seinem Gewerbe, sonst ist er noch eben so gut und anspruchlos wie ehemals. Auch hat die Tante eine gewisse Vorliebe für ihn, weil er von guter Familie ist, denn bei aller Verachtung andrer67 Vorurtheile hält man doch in dem Hause gewaltig auf den alten Erbadel, als ein Ueberbleibsel des Ritterthums, das jetzt wieder bei den Gelehrten in Ansehn kommt.

Sie hatten indeß mehrere Meilen zurückgelegt, und sahen nun von fern das Ziel ihrer Reise, ein schönes, im modernen Styl erbautes Landhaus, von hohen italienischen Pappeln und Schwarztannen beschattet. Unmittelbar daran schloß sich ein englischer Garten, an welchem sie jetzt vorüberfuhren, und die Gesellschaft auf einem frischen Rasenplatz, zwischen verschiednen Gruppen ausländischer Bäume, beim Thee versammelt fanden. Luise bemerkte zuerst eine junge Blondine, die mit gefälligem Wesen zu mehrern jungen Männern redete und sie fast allein zu beschäftigen schien, während sie nachlässig mit ihnen unter den Bäumen hin und her ging. Ihr Haar war vorzüglich schön geordnet und schmiegte sich lockig an die weichen Umrisse des Gesichtes. Das ist Emilie, rief Carl, der werden die Poeten auch noch den Kopf verrücken! Der hübsche, junge Mann an ihrer Seite ist jener Offizier, von welchem ich ihnen zuvor sprach, ein Herr von Stein, in der Gelehrtenwelt Reinhold genannt; ihm zunächst geht ein Engländer mit einem Juden, der ihm die deutsche Dichtkunst um ein Billiges abläßt. Hier trat ihnen die Baronin, von ihrer68 Ankunft benachrichtigt, entgegen. Luise ward durch die Schönheit und Würde ihrer Gestalt überrascht. Ohnerachtet sie von Mathildens Alter zu sein schien, war die fast plastische Ruhe ihrer Züge, durch ein gleichförmig fortlaufendes Leben, ungestört geblieben, und ihre Schönheit über die Zeit hinausgehoben. Sie redete mit der einfachen Sicherheit, die ein längerer Umgang mit der Welt fast einem Jeden giebt. Vor Julius hatte sie eine Art von Ehrfurcht, weil er über die Gränzen Deutschlands hinausgekommen war, was sie ihm auch, durch bescheidne Zurückhaltung, die seinem Verdienst den Vorzug einzuräumen schien, bezeigte. Luise ward einigen Damen aus der Nachbarschaft vorgestellt, und dann von Emilien, die sie mit besondrer Herzlichkeit empfing, in den Kreis um den Theetisch eingeführt. Ihr zunächst saß eine hübsche junge Frau, die lebhaft mit einem bleichen, sehr ruhig scheinenden, Mann redete, und sich oftmals ärgerlich von ihm abwandte, ohnerachtet sie es nicht lassen konnte, immer wieder hin zu hören, so oft er mit einem weichen, fast leisen Organ, etwas Beißendes sagte, was sie unwillkührlich zur Antwort reizte. Der Baron war indeß mit einigen andern Herren hinzugekommen. Herr Werner, sagte die junge Dame zu einem derselben, tritt heute aufs neue wie der Baum der Erkenntniß zwischen die unschuldigsten69 Genüsse der Menschen, und ist bemüht uns durch die Früchte seines Witzes die Augen zu öffnen. Ich wiederhole nur, erwiederte jener, gleichgültig mit seinen Lünetten spielend, die er eben abgenommen hatte, um Emiliens Stickerei genauer zu betrachten, ich wiederhole nur, was die öffentlichen Blätter sagen. Ein von der gnädigen Frau beschütztes Buch, Rodrich, ist darin wie ein Rezept zu einer Torte zerlegt, so und so viel Orangenblüthen, Citronen nach Belieben, mehrere poetische Süßigkeiten, einige ergreifende Scenen als pikante Gewürze, und zuletzt zur Dekoration die Gruppe des Laokoon. Was meinen Sie dazu, Herr Professor, unterbrach ihn die Dame heftig, sich zu demjenigen wendend, welchen sie zuvor anredete, ich bitte Sie, was heißt das? So viel als nichts, erwiederte dieser, das könnte man so ziemlich von den mehrsten Romanen sagen, die im Süden spielen; das bezeichnet äußre Zufälligkeiten, die keinesweges die Idee des Ganzen darstellen. Allein wer diese richtig auffaßt und sie angreift, ist meiner Meinung. Werner lachte in sich. Ihrer Meinung? wiederholte die hübsche kleine Frau ganz betroffen, und stand von ihrem Stuhl auf, als wolle sie jenes nachtheilige Urtheil fliehn. Räume ihnen nicht das Feld, liebe Auguste! rief Emilie, vertheidige den armen Rodrich, Du weißt wohl Gnädige Frau, hub der Professor70 aufs neue an, Sie forderten mich auf; ich kann nicht anders als wahr sein. Nun denn, erwiederte Auguste, auf alles gefaßt, so sagen Sie nur was Sie denken. Ich denke, fuhr jener fort, was Ihrem Scharfsinn bei näherer Betrachtung nicht entgehen kann, wenn der erste Eindruck mancher anziehenden Verhältnisse verwischt sein wird. Es ist in dem Buche nicht sowohl die Rede von der Nichtigkeit des menschlichen Thun und Treibens in seinen verworrenen Richtungen, sondern ein völlig abwärts gehendes Streben bei früh erkanntem Ziel. Der Sündenfall nach der Erkenntniß. Rosalie personifizirt das Ganze, absichtlicher Wahnsinn. Alle sind klug, besonnen, ermessen und prüfen, heben sich über sich selbst hinaus, und neigen sich am Ende zur gemeinen Alltäglichkeit herab. Das kann ich so strenge nicht tadeln, sagte Werner, das bezeichnet eine Ansicht wie eine Seite des Lebens; warum soll die nicht ausgesprochen werden? Störender ist mir, daß das Buch weder ein Roman, noch eine Novelle oder ein Mährchen ist; diese äußerliche Unvollkommenheit verrückt alle Augenblick den Standpunkt, aus welchem man es betrachten soll, und verwirrt es in sich selbst. Noch bemerke ich, daß die sogenannten poetischen Situationen gekünstelt und absichtlich erscheinen, und die einzige Wahrheit des Gefühls in der anspruchlosen71 Aline niedergelegt ist. Das eben, das eben, unterbrach ihn der Professor, ist das frevelhafte Spiel, was durch das ganze Buch geht. Das Heiligste wird niedergetreten, weil es schwach, ohnmächtig, abhängig, erscheint, indeß die reichste Kraft sich in sich selbst zernichtet.

Für mich ist es immer schwer, von diesem Buche reden zu hören, sagte Reinhold, im Guten sowohl als im Bösen, denn ich möchte gegen Beides anstreiten, und gerathe deshalb unausbleiblich ins Gefecht, oft gar auch in ein kreuzendes Feuer, wie es mir zum Beispiel hier gehen würde. Aber eine bloße Gefühlsäußerung, die keinen Anspruch auf irgend eine richtende Kraft hegt, zieht wohl als ein friedlicher Gesandter durchhin, und ich will es daher nur dreist heraussagen, daß ich von dem Rodrich tief angesprochen werde, dann wieder unendlich hart abgestoßen, dann wieder zum allerkühnsten Spott gereizt. Oft tritt er ganz fremd vor mich hin, als wäre gar keine Berührung zwischen uns Beiden, treibt mich durch gezierte Gesellschaften vornehm umher, erinnert mich an andre Bücher, die eben so vornehm thun und die ich nicht leiden kann, der Unwille runzelt meine Stirn, der Hohn schwebt auf meiner Lippe und plötzlich brechen die Stralen des reinsten, seligsten Friedens hervor; das Wehmüthigste aus meinem Leben, das Lieblichste aus72 meiner Kindheit tritt vertraulich kosend auf mich zu; ich zürne über meinen Hochmuth, über meinen Spott, und lösche mit linden Thränen Rodrichs und meine Fehler zugleich aus. Gottlob! rief Auguste, das ist doch etwas Andres, als der bloße Verstand, das empfind und begreife ich zugleich! Luise blickte zufrieden auf das edle Gesicht des jungen Mannes, das eine fromme, fast demüthige, Rührung überzog. Lieber Reinhold, hub Werner an, Sie sagten mit Unrecht, daß Ihre poetische Ergießungen wie ein Friedensbote durch jene Urtheile hingingen; sie gehen darüber hin und schwemmen die einfache Wahrheit derselben in ein unsichres Rauschen der Gefühle weg. O! nichts weiter, sagte Auguste ungeduldig, wir wollen uns lieber auf dem warmen Strom seiner Gefühle hin und her schwingen, als mühsam an Ihre Weisheit hinanklimmen! Die Baronin, der das Gespräch schon lange nicht angenehm war, weil es durch seinen Gegenstand kein allgemeines Interesse gewinnen konnte, schlug der Gesellschaft einen Spaziergang vor, und man machte sich bereits auf den Weg, als Herr Aaron, wie vor sich selbst redend, bemerkte, daß man dem Buch zu viel gethan habe, da es doch wirklich mehrere glückliche Momente und eine große Pracht und Reichthum der Phantasie enthalte. Ich lasse mich hängen, flüsterte73 Carl Luisen zu, wenn das alles nicht eine abgeredete Karte ist; der Jude steckt mit dem Buchhändler unter einer Decke und hat den Andren zugeredet, das närrische Zeug anzugreifen, damit man neugierig werden und es lesen möchte. Carl, sagte Luise sehr ernsthaft, Ihr Vorurtheil macht Sie boshaft. Nehmen Sie sich in Acht, Ihre Gutmüthigkeit läuft Gefahr, von einem häßlichen Gifte befleckt zu werden. Emilie, die herzu gekommen war, drückte ihr die Hand und sagte (einen strafenden Blick auf Carl), wie ist es möglich, daß Sie Herrn von Stein fähig halten O ich weiß, ich weiß, unterbrach sie jener, Reinhold nicht beachtend, der ihn in dem Augenblick gutmüthig umfaßte und durch einige freundliche Worte beschämt in sich selbst zurückdrängte. Trauen Sie dem wilden Jäger nicht, er geht auf eine gefährliche Jagd aus, lispelte Werner im Vorübergehen. Gefährliche Jagd? wiederholte Carl; was soll das heißen. Gott weiß, sagte Reinhold, aus dem wird niemand klug; aber lassen Sie ihn nur, er meint es nicht böse.

Luise dachte anders, sie konnte sich einer innern Scheu nicht erwehren, die ihr Werners höhnende Ruhe aufdrang. Uebrigens gefiel sie sich ganz wohl in dem gemischten Kreise und beantwortete Emiliens vertrauliche Liebkosungen, wie der74 Baronin feines Zuvorkommen, mit dankbar frohem Herzen. Bei einer großen Empfänglichkeit für fremde Eindrücke, ward es ihr leicht, den herrschenden Ton der Gesellschaft aufzufassen, wodurch sie, zu ähnlich freier Mittheilung angeregt, sehr bald vortheilhaft ausgezeichnet wurde. Der kleine Triumph entging ihr nicht, so wenig wie Augustens Empfindlichkeit darüber, die sich[verstimmt] zurückzog, indeß die unbefangne Emilie nur noch liebreicher und heitrer wurde. Gewohnt, Huldigungen zu empfangen, war diese niemals bemüht, irgend eine Aufmerksamkeit gewaltsam an sich zu reißen, sondern alles gehen zu lassen wie es gehen wollte und konnte, weshalb sie auch das Wohlwollen der Männer, bei ganz veränderter Beziehung des Gefühls, immer rein erhielt.

Ein kleiner Regen trieb die Gesellschaft in die Zimmer zurück. Emilie verbarg sich unter Luisens Shawl, und, indem sie sich Beide umschlangen, rannten sie schnell dem Hause zu. Der weiche indische Stoff, der sich um die schlanke Gestalten schmiegte, bildete eine Gruppe, die von allen Herren unter lautem Beifallruf bewundert wurde. Nun nur schnell Musik! rief Auguste im Hereintreten, durch jenes Lob verletzt, die Worte tödten uns sonst heute in der ängstlichen Stubenluft; Herr von Stein, Sie versagen mir es nicht! Reinhold,75 immer bereit, Andren Freude zu machen, trat zum Clavier; Werner stellte sich zu Augusten, und, während er die Gruppe von vorhin in farbigem Papier sehr geschickt ausschnitt, lockte er ihr unter künstlichen Wendungen die Ursach ihrer trüben Laune ab. Die andern hörten indeß auf folgendes Lied:

Ein weiches Herz im Busen,
Ein krieg’risch glüh’nder Sinn,
Manch holder Wink der Musen,
Das ward mir zum Gewinn.
Und früh besonnte Bahnen,
Sie schlossen mir sich auf;
Beifällig sah’n die Ahnen
Auf ihres Enkels Lauf.
Wie schnell, wie hart geendet!
Wie nah der Freude Grab!
Vom weichen Herzen wendet
Die kluge Welt sich ab.
Die ehmals tapfre Klinge
Blitzt matt in Trümmern auf,
Und wenn ich Lieder singe,
Wer hört in Liebe drauf?
Zwar edle Kränze rauschen
Fernher zu meinem Preis;
Die möcht ich gerne tauschen
Um ein demüth’ges Reis.
76
Um’s Reis der süßen Minne,
Das welkend mir verblich.
Umsonst! Im stillen Sinne
Verzehrt mein Sehnen mich.

Emilie reichte mit ihrer gewohnten Gutmüthigkeit, Reinhold, nachdem er geendet, die Hand, und ließ ganz rücksichtslos die Rührung blicken, welche jene Worte in ihr erregten. So viel Theilnahme überraschte ihn. Er drückte die schönen Finger an seine Lippen, während er, über ihren Stuhl gelehnt, einen langen, fragenden Blick auf sie richtete. Luisens Herz klopfte unwillkürlich. Eine seltsam dunkle Ahndung stieg in ihr auf, ihr Athem stockte, helle Thränen drangen aus ihren Augen; da unterbrach Werner die augenblickliche Stille mit einem lauten Gelächter und zeigte auf den Professor, der in einer Ecke des Sophas in guter Ruhe schlief. Geschwind, Herr Professor, rief Auguste, geschwind eine Vorlesung über die Trägheit der Menschen. Der kleine Mann rieb sich die Augen, sprang mit einem Satze auf, als treibe ihn angeborne Schnellkraft, während er sich mit zusammengebißnen Zähnen die Sporen gab, setzte sich mitten ins Zimmer und hub dann mit einer Stimme, die noch heiser vom Schlafe war, folgendermaßen an.

» Keine Gefahr steht dem Menschen näher, als zu jener trägen Dumpfheit herabzusinken, die, indem77 sie die Regsamkeit der Sinne hemmt, oder doch nur einseitig und mechanisch übt, den innern Reichthum der Gefühle einengt, den Blick verdunkelt und den Geist mit bleiernen Gewichten zu dem kurzgesteckten Ziele hinabdrängt. «

Alle lachten, denn seine Augen schienen noch jetzt von diesen bleiernen Gewichten herabgezogen. Der Engländer aber meinte, es gehe ihm wie den Somnambülen, die im Schlafe das Beste zu Tage fördern; denn, setzte er hinzu, im Grunde hat er doch eine Saite angeschlagen, die jeden mehr oder weniger trifft. Wahr ist es am Ende, daß wir alle nach und nach von der innern Regsamkeit verlieren, und daß selbst das wackerste, mit Lust und Liebe unternommne Geschäft den Mehrsten unter den Händen zum abschmeckenden Einerlei wird. Das müde Auge heftet sich dann auf irgend einen befreundeten Gegenstand, und starrt ihn so lange gedankenlos an, bis es gar nichts mehr sieht und alle Dinge in einem trüben Dämmerlichte vor ihm hinziehn.

Der Professor ward von einem kleinen[Froste] überfallen, den ein unterbrochner Schlaf allemal zurückläßt; er schüttelte sich gähnend und sagte dann, um die an ihn gerichtete Rede einigermaßen zu beantworten: was sich nicht unaufhörlich aus sich selbst erzeugt, das gehört einer fremden Gewalt78 an, die mit tausend Händen nach uns greift und uns ohne Leben und Bewegung in ihren Banden gefesselt hält. Viele schmachten, sich selbst unbewußt, in diesem Zustande, indeß Andre den innren Funken im eignen Dunstkreis ersticken und sich überreden, Eines sei wie das Andre und das Nächste das Beste. Eines ist wie das Andre, sagte Werner kalt; der Rangstreit, dächte ich, wäre lange abgemacht. Freilich, erwiederte der Professor, durch diesen Widerspruch schnell aufgeregt, freilich alles ist schön und herrlich, wie es der wache Sinn erkannt und geprüft in sich trägt, aber das innre Licht soll in tausend Blitzen durch den festen Kern glühen und ihn überstralen, daß man es inne werde, welch ein Geist hier waltet. In der Liebe, sagte Reinhold, Emiliens Hand, die er noch immer in der seinigen hielt, sanft drückend, wird das jedem anschaulich. Alles ist ihr Zeichen, Hindeutung überschwenglicher Fülle; unter ihrer Berührung erweitert sich das beschränkteste Dasein und ruft Kräfte hervor, die sonst wohl ewig schliefen. Bei den Mehrsten, fiel der Engländer ein, währt dieser Zustand des innern Wachens nur nicht lange. Sie sinken sogleich in den vorigen Traum von Leben und Thätigkeit zurück und blicken höchst vornehm auf die wenigen lichten Punkte ihrer dunklen Wirksamkeit. Wer es nicht scheut, fuhr er fort, in sich79 selbst zurückzugehn, wird über die kunstreichen Wiegenlieder erstaunen, mit denen man sich selbst in träge Ruhe singt. Das ist es aber eben, erwiederte der Professor, was fast ein jeder scheut. Das Denken ist dem ungeübten Denker wirklich eine Last. Wie sich die dunkle Fluth von Ahndungen, Begriffen, Empfindungen und Ideen regt, reißt sie das blöde Auge mit sich fort, bis es sich angstvoll verschließt und nur den gewohnten Kreisen eröffnet. Ohne gewaltsamen äußren Stoß wiederholt selten jemand ähnliche Versuche, bis die innre Beweglichkeit immer mehr stockt und der Geist zuletzt nur noch bang an die enge Klause anpocht und sich durch ein gespenstisches Rauschen verkündet. Das gilt doch nur von einzelnen Augenblicken, sagte Reinhold, in andren regt sich in eines jeden Brust irgend ein Laut, der sein innerstes Wesen kund giebt. Bei dem Tode eines geliebten Freundes, oder beim Erwachen der Natur durchzieht ihn ein wehmüthiger Ruf,[den] er versteht, wie man Gott fühlt und empfindet, ohne eigentliche Worte für dies Gefühl zu haben.

Werner, dem jene Rührung in Luisens Seele nicht entgangen war, hatte sich indeß zu ihr gestellt und fragte sie um ihre Meinung über den eben behandelten Gegenstand. Sie dachte an ihre Mutter und die Bibel, und sagte mit bewegter80 Stimme, daß, wenn den Frauen auch das eigentlich künstliche Denken fremd sei, sie dennoch in Religion und Liebe eine stete innre Anregung fänden, der sie sich nur überlassen dürften, um vor der gefürchteten Dumpfheit sicher zu sein! Indem trat der Baron mit einem jungen Mann in das Zimmer, den er der Gesellschaft als Künstler und Freund des Hauses vorstellte, welcher, nach geendigten Reisen, in seine Heimath zurückkehre. Es war der Sohn des Pfarrers aus dem Dorfe, von dem Baron früh hervorgezogen, und, bei der Entdeckung eines aufblühenden Talents, auf alle Weise begünstigt. Emilie begrüßte ihn herzlich und machte ihn sogleich mit allen Anwesenden bekannt. Der junge Mann hörte nicht sobald, daß sich der Graf Falkenstein hier befinde, als er aus seiner Brieftasche ein Schreiben hervorzog, welches er Julius sogleich einhändigte. Von Fernando! rief dieser, angenehm bei dem Anblick der Schriftzüge überrascht. Wo verließen sie ihn? In Wien, erwiederte der Maler, wohin wir von Venedig mit einander reisten. Dort, setzte er lächelnd hinzu, wird er nun wohl so lange bleiben, als ihn seine Grillen fesseln.

Julius hatte indeß das Siegel erbrochen und stellte sich hinter Luisens Stuhl, so daß Beide folgende Worte lasen.

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» Du weißst, lieber Julius, ich liebe die Coltsequenz im Leben. Du hast geheirathet, und das ist weise; ich durchziehe die Welt, und das ist ebenfalls weise. Jetzt bin ich hier, die deutsche Häuslichkeit zu bewundern, von der ihr selbst viel Aufhebens und einige schlechte Schauspiele gemacht habt. Daß ich nächstens nach Deinem Hexensteine komme, begreifst Du wohl; der Himmel bewahre mich dort nur vor Bezaubrung. «

Luise entfärbte sich etwas, und sagte, ohne das Ende des Briefes abzuwarten, sie wünsche, daß er in Wien bleibe, da sie auf seine Bekanntschaft weiter nicht begierig sei. Julius fragte indeß den Maler, indem er den Brief zusammenfaltete, was Fernando abgehalten habe, ihn sogleich zu begleiten. Eine Begebenheit seiner Art, erwiederte dieser. Die Blicke der Gesellschaft richteten sich bei dem Worte, das immer etwas Ungewöhnliches erwarten läßt, auf den jungen Mann, und schienen eine nähere Erklärung zu verlangen. Er fuhr auch sogleich fort: Es war wenig Tage vor meiner Abreise, als wir bei dem Herausgehn aus dem Schauspiel einen Knaben begegneten, welcher auf seiner schnarrenden Leier unaufhörlich dasselbe Lied spielte und die Vorübergehenden so um Almosen ansprach. 82Fernando warf ihm ein Stück Geld hin und bat ihn, zu schweigen; allein der Knabe folgte uns durch eine lange Straße, immer dasselbe leiernd. Fernandos Ohr ward aufs äußerste verletzt; er wandte sich ungeduldig, um den Knaben zu fassen, der angstvoll vor ihm hinrannte indem öffnete sich die Thür eines ansehnlichen Hauses, an welchem beide streiften; der Knabe drängte sich hinein und riß Fernando in seinem Grimme nach. Gleich darauf fiel die Thüre wieder zu, die Leier ertönte einen Augenblick, dann ward alles still, der Knabe trat allein heraus und ging frisch und fröhlich an mir vorüber. Ich war noch voll Verwundrung über den seltsamen Zufall, als ich einen Mann in einem dunklen Mantel auf das Haus zueilen sah. Ich zog mich sogleich hinter einen hervorspringenden Pfeiler zurück, und bemerkte daß der Unbekannte an dem Schlosse drehte, dann unmuthig mit dem Fuße stampfte und sich auf der andern Seite der Thür hinter einem ähnlichen Pfeiler verbarg. Wir mochten beide ohngefähr eine halbe Stunde auf diese Weise gestanden haben, als mir, bei einer unvorsichtigen Bewegung, der Stock aus der Hand fiel und mit ziemlichem Geräusch auf den Steinen hinrollte. Mein ungekannter Feind bog sich, auf den nahen Lärm, sogleich hervor,83 und da er mich in einer peinlich-lauernden Stellung wahrnahm, sprang er ungestüm auf mich zu und fragte keck nach der Ursach meines Dortseins. Ich war nicht in der Stimmung, ihm auf eine geschickte Weise auszuweichen, noch weniger Rechenschaft von meinem Thun und Lassen abzulegen, daher antwortete ich eben so heftig, ohne eigentlich zu antworten. Das Gespräch erhitzte sich immer mehr und riß uns vom Gegenstand desselben zu persönlichen Beleidigungen fort. Während der Zeit war Fernando unbemerkt aus der Thüre geschlüpft. Von dem, was ihm eben begegnet war, konnte er sehr leicht auf die Veranlassung unsers Wortwechsels schließen. Er trat daher zu uns, und nachdem er sich für meinen Reisegefährten und uns beide für Fremdlinge in dieser Stadt erklärt hatte, bewies er dem armen Betrognen, daß wir uns bei verschiednen, von einander abweichenden, Geschäften in dieser Gegend dies ausgezeichnete Haus, zum Wahrzeichen gemeinschaftlichen Zusammentreffens, ausersehen hätten. Eine Fluth von Worten und feinen Wendungen drückte jeden Zweifel in unserm Gegner nieder, der sich am Ende beschämt und reuig zurückzog. Kaum waren wir allein, so riß mich Fernando, unter tollem Lachen, nach einem nahgelegnen Kaffeehause. Hier machte84 er endlich seinem Herzen Luft, und, während er seine eigne kleine Geschichte als eine fremde Begebenheit erzählte, zog er die Aufmerksamkeit mehrerer Anwesenden auf sich. Der Zusammenhang war übrigens nicht schwer zu errathen. Die Leier hatte das Ende des Schauspiels und den Augenblick einer verabredeten Zusammenkunft anzeigen sollen. Fernandos Ungeduld verwirrte alles, indem er den Knaben mit Gewalt zu seinem Ziele drängte. Bei Annäherung der Töne sprang die Thüre auf, Fernando fuhr hinein, eine weiche kleine Hand drückte sich schmeichelnd auf seine Lippen und zwang ihn, zu schweigen. Er stand einen Augenblick unschlüssig; allein als dieselbe kleine Hand ihn ungeduldig fortzog, folgte er in der Dunkelheit durch mehrere Zimmer, bis ihn seine Führerin am Eingang eines schwach erleuchteten Vorsaals verließ. Alles war hier still, nichts regte sich, er blickte neugierig umher und sah endlich durch einen gegenüber hangenden Spiegel eine zierliche Gestalt, die sich, fast schwebend, auf den Zehen, in der Thür eines anstoßenden Cabinets hielt und ihm winkte, sich zu nähern. Er that, wie man ihm gebot. Ein lauter Schrei empfing ihn, den er indeß, wie er lächelnd hinzusetzte, bald zu unterdrücken und die arme Kleine überall zu trösten verstand. Fernando85 gefiel sich so wohl in diesem Abentheuer, daß er auch noch das Ende desselben und das Zusammentreffen mit dem wahren Geliebten wiederholte, worüber ein kleiner, sehr weiß gepuderter Herr, der ein besondres Behagen an der Geschichte fand, fast vor Lachen sticken wollte. Er konnte sich gar nicht wieder von Fernando losreißen und nöthigte uns beim Weggehn, den Abend bei ihm zuzubringen. Wir willigten ein, und er führte uns zu unserm Erstaunen in dasselbe Haus, das nun einmal der Schauplatz der lächerlichsten Begebenheiten bleiben sollte. Wir traten endlich in das bekannte Cabinet, wo uns der Herr Rath mit vieler Artigkeit seiner halbtodt erschrockenen Gemahlin vorstellte. Fernandos geschickte Haltung beugte indeß jeder Unvorsichtigkeit vor und erhielt uns den Abend in der besten Laune. Er hat nun einmal Zutritt bei der Familie und reißt sich vielleicht nicht so schnell wieder los, da ihn alles, was von der hergebrachten Weise abweicht, fesselt.

Luise war aufgestanden und redete mit der Baronin sehr eifrig über eine vor ihr liegende Handarbeit, die nach französischem Dessein gemacht war, Werner aber hörte nicht auf, von Fernando zu reden, und warnte Emilien vor seiner Bekanntschaft. 86Nach dem, was wir eben gehört, fiel Luise schnell ein, setzen Sie den Geist wie das Zartgefühl des Fräuleins durch solche Warnung sehr herab, da sie gewiß etwas Edleres zu würdigen versteht. Werner zuckte spöttisch mit der Oberlippe, und meinte, sie gerade lasse dem Fräulein keine Gerechtigkeit wiederfahren, da es ihren Reizen wohl gegeben sei, solchen Unbeständigen zu fesseln. Nach der Annahme des Aristophanes beim Platon, fuhr er fort, der ich nun einmal zugethan bin, waren die Korper ursprünglich sphärisch geformt und beschrieben ungestört ihre Bahnen. Nach dem Fall der ganzen Welt wurden sie mitten von einander getheilt und laufen irrend umher, bis ein jedes seine Hälfte findet. Wer sagt uns nun, daß Fräulein Emilie nicht die Hälfte ist, welche der interessante Fremde unter tausend vergeblichen Bemühungen aufzusuchen strebt? Emilie lachte. Wer ist denn eigentlich dieser Fernando? fragte die Baronin. Ein in der That sehr liebenswürdiger Mann, erwiederte Julius, von den seltensten Anlagen, aus guter Familie und von einem Vermögen, das ihm eine unabhängige Existenz sichert. Hm sagte die Baronin beifällig. Carl aber fragte schnell, ob er auch ein Dichter oder sonst so etwas sei. Mein Gott! rief Emilie, und zuckte die kleinen, beweglichen Schultern,87 lassen Sie ihn doch sein was er will; es ist ja noch die Frage, ob wir ihn jemals sehen, er gefällt sich so gut in Wien. Alle lachten über ihre naive Ungeduld. Luise blieb indeß unruhig und verbarg es sich auch weiter nicht, daß sie eine Scheu vor Fernandos Ankunft habe, die sie hinderte, an der Heiterkeit der Gesellschaft Theil zu nehmen, weshalb sie des andern Tages auch gern ihre Rückreise antrat und sich von den neuen Bekannten, in der Erwartung, sie nächstens auf dem Falkenstein zu sehen, ohne sonderlichen Kummer trennte.

Sie fuhren durch ein trübes, feuchtes Wetter hin. Der graue Nebel lag schwer auf Luisens Seele. Sie sprach wenig; auch Julius war einsilbig. So trat sie, beklommen, mit einer ängstigenden Leere im Innren, in ihre Zimmer. Julius ging seinen Geschäften nach; sie blieb allein, ohne ein lebendiges Wesen, außer die bewegliche Flamme im Kamine, um sich zu haben. Gedankenvoll trat sie an das Feuer, und warf einzelne Blumen, die sie aus einer nahstehenden Vase zog, hinein. Da hörte sie einen Postillon blasen; ein Wagen rollte in den Hof, hielt vor der Thür. Sie fühlte im Augenblick, wer es sei, und blieb unbeweglich, den Kopf zwischen beiden Händen auf88 dem Kamin gestützt, in dunklen Ahndungen verloren. Julius trat mit einem jungen, schönen Mann herein, welcher sie auf den ersten Blick Fernando erkennen ließ.

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Drittes Buch.

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Jn einem Gemisch von Bangigkeit und Ueberraschung begrüßte Luise ihren Gast, mehr kalt als würdig; er hingegen maß sie mit einem seltsam lächelnden Blick, der sich gleich darauf unter den schönsten Wimpern senkte, und dem beweglichen Mienenspiel einen Anflug von bescheidner Zurückhaltung gab. Julius Augen ruheten forschend auf Luisen. Er fürchtete jedes störende Gefühl in ihrer Seele und eben deshalb ihr Mißfallen über Fernandos Ankunft. Allein sie verbarg alles was in ihr vorging unter einer scheinbaren Gleichgültigkeit, und beschäftigte sich angelegentlich bei dem Theetisch, den man vor den Kamin gestellt hatte. Fernando setzte sich ihr gegenüber; die Unterhaltung blieb einsilbig. Julius fühlte wohl, daß sein gewandter Freund leise auftrat, um erst den herrschenden Geist seiner Umgebungen aufzufassen; er suchte ihn daher durch die Frage: was ihn so schnell zu einer Reise nach Deutschland bewogen habe? mehr auf sich selbst zurück, und zugleich92 einen Gegenstand herbeizuführen, über welchen beide öfter schon mit vieler Laune gestritten hatten. Sonst, fuhr er fort, lag Dir solch ein Gedanke sehr fern; Berlin und Novazembla stellten sich Dir ziemlich unter einem Bilde dar. Du hast unmöglich, erwiederte Fernando ernsthaft und mit weicher Stimme, Du kannst keinen Begriff von einem Gemüth haben, was ewig zu suchen und nie zu finden verdammt ist. Luise sah ihn zum erstenmal genauer an. Er hatte sich etwas vorgebeugt, so daß die Flamme aus dem Kamin einen hellen Schein auf sein Gesicht warf und den Glanz seiner Augen erhöhte. Mich, fuhr er fort, schleudert das Schicksal vielleicht noch durch ganz Europa, indeß Dich das schönste Glück gefesselt hält. Ein Loos wie das Deinige könnte mich auf ewig mit mir selbst entzweien, da ohnehin die Täuschungen der Jugend immer schneller und gedrängter an mir vorübergehn! Seit Wien ? fragte Julius lächelnd. O mein Gott! rief jener, aufspringend, solche Erinnerungen können wohl niemand bis hieher begleiten, am wenigsten finden sie in diesem Zimmer Raum. Luise blickte unwillkührlich auf. Dasselbe zweideutige Lächeln schwebte um seinen halbgeöffneten Mund und wandte sie schnell wieder von ihm ab. Ueberall, fuhr er fort, sie scharf ins Auge fassend, möchte ich die Vergangenheit unberührt93 lassen, sie paßt nicht zur Gegenwart, und ich will in dieser gern ganz und ungetheilt leben.

Luisens Verlegenheit ward jetzt noch vermehrt, da man Julius abrief und sie nun allein mit dem gefürchteten Fremden blieb. Es fiel ihr schwer aufs Herz, daß solche Augenblicke oft wiederkehren und sie der peinlichsten Unruhe aussetzen würden. Sie beschloß daher bei sich, noch diesen Abend die Baronin dringend zu einem Gegenbesuch einzuladen, und die dortige bunte Welt um sich zu versammeln. Fernando weidete sich schweigend an der Verwirrung, die über ihr ganzes Wesen ausgegossen war. Er sah wohl, daß sie auf eine gleichgültige Anrede sann, die das Gespräch anknüpfen sollte; er wußte eben so wohl, daß es ihm ein kleines Wort kostete, um dieses in den Gang zu bringen; allein er sah ruhig zu, wie sie die Tassen hin und her rückte, übermäßig Zucker hineinschüttete, für weit mehr Menschen Thee eingoß, als ihr kleiner Cirkel in sich faßte und endlich höchst trocken fragte: ob er den deutschen Maler schon lange kenne, da er ihn sich zum Reisegefährten gewählt habe? Ich kenne, erwiederte Fernando, die Menschen entweder gar nicht, oder sehr lange. Sie gehn unbemerkt neben mir hin, oder ein unwiderstehlicher Zug reißt mich ihnen nach; dann schließt sich meine ganze Seele auf, und strömt wie94 eine Feuerfluth in die ihrige über, so daß ich sie plötzlich durchdringe und kenne. Er hatte sich Luisen genähert und faßte ihre Hand, die spielend das siedende Wasser in den Theetopf tröpfeln ließ. Ich bitte Sie, fuhr er fort, schöne Gräfin, vergessen Sie es nicht, daß ich ein Fremdling in ihrem Norden bin, messen Sie mich nicht mit dem gewohnten Maßstab Ihrer einmal angenommenen Weise. Die deutschen Frauen, sagt man, sind sehr ernst und an einen ruhigen, besonnenen Umgang gewöhnt; übersehen Sie daher die Funken, die bei der leisesten Berührung aus diesem glühenden Innern sprühen, und denken Sie darum nicht nachtheiliger von mir als Julius trat herein. Ich habe, fuhr er fort, diesem die andre Hand reichend, nur kurze Zeit in einem Familienkreis verlebt und wenige Erinnrungen aus meiner Kindheit von so friedlichen Augenblicken gerettet; allein sie wollen hier wieder erwachen, und ich bitte zwei gute Menschen, mich auf eine Zeitlang in ihre Mitte aufzunehmen. Julius umarmte ihn gerührt; Luise sagte mit unsichrer Stimme; sie wünsche, daß er sich in den einförmigen Umgebungen gefallen könne, und eilte dann in ihr Cabinet, folgende Zeilen an Emilien zu schreiben.

» Sie ahnden schwerlich, daß ich Ihnen aufs neue den Nahmen jenes berüchtigten Fremden nennen,95 und Sie von dessen plötzlicher Erscheinung benach richtigen will. Er ist wirklich hier, und was noch mehr ist, gesonnen, lange hier zu bleiben. Sein Anblick hat den Eindruck nicht verwischen können, den sein früher aufgefaßtes Bild in mir zurück ließ. Ich weiß es nicht, warum mir alles, auch das Einfachste in ihm, zweideutig und falsch erscheint; allein in dieser Stimmung muß ich befangen und wir alle drei müssen in einem gespannten Verhältniß bleiben. Vielleicht wirkt er auf Andre günstiger, vielleicht sehe ich auch hier in mei ner Einsamkeit zu ängstlich auf ihn und lasse mich von Kleinigkeiten stören, die sonst wohl unbemerkt hingingen. Ich wage es daher, liebe Emilie, Ihre Mutter an die Erfüllung ihres Versprechens zu erinnern, und erwarte Sie mit allen Ihren Gästen in diesen Tagen auf dem Falkenstein. Sagen Sie ihr, daß ich, an die Leitung der besten Mutter gewöhnt, ihrer feinen Gewandtheit und Weltkenntniß bedürfe, um eine schickliche Haltung zu gewinnen, und daß ich sie dringend bitte, mir den Beistand nicht zu versagen, den sie mir so mütterlich zugesichert habe.

Leben Sie wohl, beste Emilie. Empfehlen Sie mich Ihrer gelehrten Welt und dem guten Carl, wenn er noch bei Ihnen ist. Vergessen Sie auch nicht, den Maler mitzubringen, der Fernando vielleicht am besten unter uns allen kennt. «

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Als Luise siegelte, hörte sie im Hofe ein italienisches Lied singen; gleichwohl war Julius mit seinem Freunde im Nebenzimmer. Francesca dachte sie, und sprang zum Fenster. Ein finstres, ältliches Gesicht sah ihr zwischen zwei Mantelsäcken entgegen, die Fernandos Bedienter auf beiden Schultern geladen, dem Hause singend entgegen trug. Sie holte tief Athem. Warum auch[nicht]? fragte sie beschämt. Warum? wiederholte sie heftig welche Unschicklichkeit! wenn er hier Sie mochte den Gedanken nicht festhalten, und eilte zu ihrem kleinen Geschäft zurück. Julius unterbrach sie auf’s neue, indem er sie freundlich erinnerte, Fernando nicht so geflissentlich zu meiden, was ihn nothwendig verletzen müsse. Sie machte ihn darauf mit ihrem Vorhaben bekannt, mehrere Menschen um ihren Gast zu versammeln, der ohnehin wohl die deutsche Häuslichkeit sehr todt finden werde. Julius war es gern zufrieden, worauf sie beide in den Saal zurückgingen.

Fernandos lebendiger Sinn durchbrach sehr bald die Schranken überlegter Zurückhaltung, die er sich für den Augenblick selbst gezogen hatte. Er konnte den gewohnten Gang der Unterhaltung, den ruhigen Strom der Worte, die in gegenseitiger Mittheilung still hinfließen, und in ihrem Lauf Gedanken und Gefühle allmählig entwickeln; er97 konnte das nicht ertragen, ohne wie ein ungeduldiges Kind einen Stein hinein zu werfen, daß die Wellen kreisend über einander schlugen und sich alles verwirrte. Ueberdem wußte er, daß solch plötzliches Unterbrechen, solch gewagter Wurf oft die klarsten Gemüther befängt, und man bei kühnem Vordringen leicht den Platz einnimmt, den man behaupten will. Er ließ sich daher von seiner Phantasie ungestört forttragen, und bemerkte nicht ohne innre Lust Luisens Kampf, mit dem sie gegen das Feuer seiner Unterhaltung anstritt, um sich vor sich selbst in ihrer angenommenen Kälte zu behaupten.

Als sie am folgenden Abend bei dem Wasserfall nicht weit vom Schlosse saßen und sich alle Drei unwillkührlich in das stille Rauschen verloren, ohne die innren Gefühle laut werden zu lassen, sagte Julius endlich: Du hast uns immer noch so wenig von Deinem eignen Leben erzählt, lieber Fernando, und dennoch ist es sicher reich an merkwürdigen Begebenheiten. Mein Leben? erwiederte dieser, wie aus sich selbst erwachend, das besteht aus Fragmenten, aus nichts als Fragmenten! es hat sich mir so unter den Händen zerstückelt; ich finde seit Kurzem selbst keinen Zusammenhang darin. Er sah auf Luisen, zu deren Füßen er auf einem Stein saß, so daß ihr Kleid bei einer kleinen Bewegung seine Locken streifte. Dies luftige Berühren ging wie98 ein elektrischer Funke durch sein Innres; er bog sich noch mehr zurück und drückte einen leisen Kuß auf den weichen Mußelin. Fragmente? wiederholte Julius Nun wenn sie rechter Art sind, so enthalten sie dennoch ein Ganzes. Gieb uns nur immer einige derselben zum Besten. Seltsam! rief Fernando aus, daß jetzt, grade jetzt einer der furchtbarsten Momente vor mich hintritt. Er war aufgesprungen, und heftete seine Blicke, wie unwillkührlich angezogen, auf einen Fleck. Luisens Herz klopfte, sie erwartete ängstlich, daß er das Schweigen breche. Du weißst, hub er endlich an, sich zu Julius wendend, daß ich nach dem Tode meiner Eltern, die ich niemals sahe, in Neapel bei einer Verwandten erzogen und späterhin, in Begleitung eines deutschen Gelehrten, auf Reisen geschickt ward. Du hast es so wenig als ich verstanden, warum mich mein Mentor nicht nach seinem Vaterlande, sondern nach Paris führte, womit ich übrigens ganz zufrieden war und mir dabei so wohl gefiel, daß ich meiner Tante sehr mißfiel und nur eilen mußte, sie durch eine baldige Rückkehr zu versöhnen. Die liebe, gütige Frau herrschte mit einer so unwiderstehlich sanften Gewalt über mich, daß ich den Gedanken ihres Unwillens nie ertragen konnte, und es jedesmal herzlich bereute, sie gekränkt zu haben. Meine Bereitwilligkeit, zu ihr zurückzukehren, entzückte99 sie; jede Spur des Unwillens war bei meiner Ankunft verwischt. Sie betrachtete mich mit rührendem Wohlwollen und führte mich durch tausend theilnehmende Fragen so leicht und gefällig in den Kreis meiner verlassenen Freuden zurück, daß ich sie noch einmal an ihrer Seite heraufführte und mit froherm Sinn genoß. So schwatzten wir die ersten Abende bis tief in die Nacht hinein. An einem derselben, als sie gefällig auf jedes kleine Abentheuer hörte, ward noch ganz spät ein Fremder bei ihr gemeldet, der ihr zugleich ein Blatt überschickte, auf welchem ich griechische Schriftzüge wahrnahm. Sie überflog es schnell, schlug beide Hände in höchster Bewegung zusammen, indem sie wiederholt ausrief: er lebt! er lebt, Fernando, um Gottes Willen! Ein ältlicher Mann, von hoher, etwas gebeugter, Gestalt trat hier in das Zimmer. Er trug ein langes, graues Oberkleid, das mit einem weißlichen Gürtel zusammengehalten war; sein gebleichtes Haar hing noch voll und lockig über große tiefliegende Augen, die sich unverwandt auf mich hefteten. Es war etwas Fremdes, Auffallendes, in dieser Erscheinung, was mich unwillkührlich anzog. Die Markise schrie laut auf und riß mich zu dem Fremden, der uns Beide fest umschlang, ohne ein Wort zu sagen, als fürchte er, aus einem glücklichen Traum zu erwachen. Ich100 wußte nicht wie mir war, mein Herz klopfte ungestüm; alles Geheimnißvolle war mir von je her ängstlich. Ich hätte gern das dumpfe Schweigen durch eine dreiste Frage unterbrochen; allein ein Blick auf den Fremden hielt mich gefangen. Meine Tante flüsterte zuerst einige Worte, wir traten auseinander; die Beiden sprachen leise und heftig in einem Fenster, ich ging wie auf glühenden Kohlen auf und nieder. Todt? rief der Fremde plötzlich. Großer Gott, ich wußte es, und dennoch ! Der klagende Ton ging mir durch die Seele. Ich näherte mich ihm; er streckte mir beide Arme entgegen und weinte heftig an meiner Brust. Morgen, lieber Fernando, sagte meine Tante, mich sanft wegdrängend, morgen sollst Du Heute laß uns Ich ging zur Thür; ein leises Wimmern riß mich noch einmal zurück. Der Fremde lag, das Gesicht mit beiden Händen verdeckt, zusammengesunken in einem Stuhl und klagte in zerreißenden Tönen. Die Markise winkte mir; ich ging still nach meinem Zimmer, ohne etwas Deutliches zu denken, ohne mich selbst einem bestimmten Gefühl zu überlassen. Die Luft ward mir hier zu enge; ich öffnete das Fenster und starrte in die dunkle Nacht hinein. Morgen, dachte ich Morgen! warum nicht jetzt, nicht diesen Augenblick? Was soll die geheimnißvolle Weise, was will der101 bekümmerte Alte? Ich hatte große Lust, die ganze Begebenheit zu verspotten und in einigen lustigen Ausfällen die wehmüthige Unruhe von mir zu werfen, die mir fremd und drückend war; allein es ging nicht, meine Brust zog sich ängstlich zusammen, ich fand nirgend Ruhe. Nach einer Weile hörte ich eine Thür öffnen, die aus dem Cabinet meiner Tante in den Garten ging. Ich lehnte mich weit aus dem Fenster, konnte indeß in der Dunkelheit keinen Gegenstand unterscheiden. Ein leises Rauschen, wie ferne menschliche Tritte, ging über den Rasen hin; dann ward alles wieder still. Ich warf mich halb ärgerlich, halb erschöpft, aufs Bett, ohne gleichwohl schlafen zu können. Nach einigen Stunden wiederholte sich dasselbe Geräusch. Thüren knarrten, Fußtritte gingen durch das Haus, alles leise, kaum hörbar. Zu Anfang strengte ich meine Aufmerksamkeit an, etwas Wahres zu unterscheiden; allein es war, als senke sich der Schlaf bleiern auf meine Augen; ich widerstand nicht lange und schlief fest, als mich am Morgen ein furchtbares Angstgeschrei erweckte. Mein erster Blick traf das versammelte Hausgesinde der Markise, das voll Entsetzen zu mir hereinstürzte. Ich sprang wie betäubt unter sie; verworrene, dunkle Worte, Thränen, lautes Jammern umfing mich von allen Seiten und riß mich zu dem Cabinet meiner Tante. 102Nein, niemals, niemals wird mich das Entsetzen jenes Augenblickes verlassen! Er faßte Luisens beide Hände und bedeckte sein Gesicht, auf welchem alle Schrecken jener Erinnrung lagen. Ich fand sie todt sagte er nach einem augenblicklichen Schweigen, mit stockender, verhaltener Stimme, todt ermordet, die schönen Hände gebunden, alle Zeichen eines gewaltsamen Ueberfalls und der schändlichsten Beraubung ihrer Kostbarkeiten um sie her. Der Fremde, der Fremde, tönte es wie aus einem Munde von den Umstehenden. Ich weiß nicht, warum mich dieser Verdacht mehr als die That empörte. In der höchsten Wuth stritt ich dagegen, sank indeß bald darauf erschöpft und bewußtlos zu den Füßen meiner geliebten Freundin, von der man mich, ohne ein Zeichen des Lebens, den Gefahren einer langen Krankheit entgegenführte. Als ich endlich genas und die Erinnrungen des Vergangnen langsam wieder hervortraten, sagten mir meine Freunde, jene grauenvolle That wiederhole sich auf ähnliche Weise, fast jede Nacht, in den angesehensten Häusern Neapels. Eine ängstigende Scheu liege auf den bleichen Gesichtern der Einwohner, die still auf den Straßen hinschlichen, ohne Lust und Muth, einander anzureden. Niemand traue dem geliebtesten Freunde, die Häuser blieben verschlossen, und gleichwohl glaube man an103 eine unsichtbare Gewalt, die dem angstvoll Schlafenden überfalle und das frischeste Leben schnell beende. Nöthigen Vorkehrungen gemäß, habe man auf bloßen Verdacht hin, eine Menge Personen in Verhaft gezogen, ohne gleichwohl irgend eine zuverlässige Spur aufzufinden. Ich dachte sogleich an den Unbekannten, und mit einer Angst, die unbeschreiblich ist, forschte ich, ob er sich unter den Beschuldigten befände. Allein niemand wußte etwas von ihm. Die Leute im Hause meinten, er sei gar nicht sichtbar in der Stadt geworden, kein Mensch wolle ihn gesehn haben. Ich ward wieder ruhiger, und ließ in einer Art von Dumpfheit, die wohl noch Folge meiner Krankheit war, alles um mich her geschehen, ohne sonderlichen Antheil zu nehmen, als eines Tages die Haushälterin der Markise im höchsten Unwillen zu mir hereintrat und mit Thränen sagte: das Maaß der Leiden dieser armen Stadt sei gefüllt, da auch die geprüfteste Unschuld nicht mehr vor erniedrigendem Verdacht sicher sei. Sogar der arme Schuster, fuhr sie fort, hier im Nebenhause, dessen stilles, heiliges Leben wohl manchem ein Vorwurf sein mochte, ist diesen Morgen, da er sich zufällig mit mehrern seines Gewerbes in der Herberge befand, aufgegriffen und eingezogen worden. Ich kannte den Mann sehr wohl; er gehörte zu den Frommen Neapels,104 und war sowohl wegen seines strengen, enthaltsamen, Wandels berühmt, als wegen der erschütternden Reden, die er öfters dem Volke auf den Straßen hielt. Er redete in wahrhafter Verzückung mit einem Feuer und in so phantastischen Bildern, daß man unwillkührlich hingerissen ward, weshalb er denn auch in den vornehmsten Häusern Zutritt fand. Ich tröstete die bekümmerte Frau, der er wohl oft das Herz mochte erweicht haben, mit der allgemeinen Achtung, die Antonio genoß, und versprach ihr, mich noch persönlich wegen seiner Freilassung zu verwenden. Der Gang des Rechts ist indeß langsam, die Anhäufung der Klagen und Fürbitten war so groß, die ganze Verhandlung so dunkel, daß es mir erst nach vierzehn Tagen gelang, Antonio zu befreien. Seine Anhänger erwarteten ihn mit stürmischer Freude an den Thüren des Gefängnisses. Er trat mit ernster Ruhe unter sie, und duldete es nicht, als man ihn im Triumph nach Hause führen wollte; indeß geschahen mehrere Tage hindurch förmliche Wallfahrten nach seiner dunklen, öden Wohnung, in der er sich eingeschlossen hielt. Man nahm allgemeinen Antheil an dieser kleinen Begebenheit, und ward eben so sehr allgemein bestürzt, als es verlauten wollte, daß der Verdacht gegen den Schuster aufs neue erwache, da während der ganzen Zeit seiner105 Gefangenschaft kein Mord geschehen, die blutige That indeß an einem der vornehmsten Richter in der Nacht nach Antonios Freilassung verübt sei. Ich, wie Mehrere, erklärten dies für einen Zufall. Man ward dennoch aufmerksam, beobachtete ihn, forschte nach seinem Thun und Treiben, ohne jedoch etwas zu entdecken. Ein fremder Rechtsgelehrter hatte den Einfall, den Angeklagten mitten in der Nacht überfallen, aus dem Bett reißen und vor das Gericht führen zu lassen. Halb vom Schlaf befangen, aus den unruhigen Träumen eines bewegten Gemüthes in die fremde Wirklichkeit hinübergezogen, trat Antonio vor die ernste Versammlung der Richter. Sein Gleichmuth verließ ihn, er fand keinen Ausweg, und bekannte, daß er seit zwei Monaten fast jede Nacht, allein, ohne eines Menschen Wissen, in die Häuser der Reichen, deren geheime Zugänge er kenne, gedrungen, sie ermordet und beraubt habe. Eine so ungewohnte Erscheinung veranlaßte tausend Nachforschungen, was diesen Frevel in ihm veranlaßt habe. Er sagte darauf immer dasselbe: vom Guten zum Bösen, wie von der Demuth zum Uebermuth, führe oft nur ein Schritt. Die Eitelkeit habe ihn in des Teufels Arme gelockt. Als er keine Rettung sah, stieß er sich den Kopf an den Mauern seines Gefängnisses ein.

106

Als Fernando hier endigte, die Eindrücke der Erzählung in eines Jeden Brust hin und her wogten, und niemand ein beruhigendes Bild festhalten und den innern Aufruhr stillen konnte, bemerkte Julius ihnen gegenüber den Mönch, der, mit verschränkten Armen an einem Baumstamme gelehnt, wohl schon lange dort in stiller Beschauung mochte gestanden haben. Er ging ihm, wie gewöhnlich, mit herzlicher Freude entgegen. Fernando achtete nicht viel darauf. Er war um Luisen beschäftigt, die, heftig erschüttert, ihre Thränen nicht zurückhalten konnte. Hätte ich früher, sagte er leise, einen Begriff von dieser zarten Regsamkeit gehabt, wäre es mir überall gegeben, in Ihrer Nähe lange zu überlegen, glauben Sie sicher, ich würde jene grauenvolle Erscheinung nie an Ihnen vorübergeführt haben. Werden Sie mir verzeihen? fragte er schmeichelnd. Luise lächelte freundlich unter ihren Thränen, und nickte wiederholt mit dem Kopfe, ohne ein Wort sagen zu können. Werden Sie mich eben so wenig roh und ungeschickt nennen, fuhr er fort, wenn ich die rührende Beweglichkeit ihres Sinnes nicht ganz verstehe, und Sie frage, was Sie eigentlich so ungewohnt bewegt? Ich weiß es nicht, erwiederte sie, sich fassend, ich weiß es durchaus nicht; allein mir ist, als wären mir einige der erwähnten Personen nicht fremd, als ginge es107 mich mit an. Als ginge es Sie mit an? unterbrach sie Fernando, ihre Worte falsch deutend; Luise Sie stand auf und wandte sich zu Julius, der mit dem Mönch auf sie zutrat. Guten Abend, lieber Vater! rief sie dem Letztren zu. Dieser blieb einen Augenblick in sich versunken, dann sagte er mit bewegter Stimme: der Herr segne und behüte Euch! und schlug einen andren Weg zum Kloster ein.

Was war das, rief Fernando! seltsam! wie sich heute alles in mir verwirrt!

Sie traten Alle jetzt den Rückweg zum Schlosse an, und trennten sich dann alle drei in eignen Vorstellungen befangen.

Luise warf sich geängstet in ihrem Bett hin und her, ohne einen Augenblick Ruhe zu finden. Die Scheu gegen Fernando, und das Mißtrauen, das ihr früher sein Lächeln eingeflößt, kämpften peinlich mit Wohlwollen und Bewundrung. Umsonst suchte sie ihre gestrige Stimmung hervorzurufen, umsonst blieb sie bei jeder zweideutigen Aeußrung stehn, umsonst drängte sie sein Bild von sich weg, es rang sich tief aus der gepreßten Brust herauf, und riß sie in einen Wirbel widersprechender Gefühle fort. Die Nacht dehnte sich in ewig langen Stunden hin, in denen der unsichre Blick, durch nichts Aeußres angezogen, hin und her108 schweifte, und, wie in Fieberträumen, immer nur das Gefürchtete sah. Am Morgen endlich raffte sie sich aus dem Taumel empor. Mit den ersten Lichtstralen ward es klarer in ihrer Seele, die bangen Vorstellungen wichen immer weiter und weiter zurück. Der junge Tag sah ihr wie ein neues Leben frisch und freudig entgegen. Lieber Gott, sagte sie bewegt, gieb mir einen stillen Sinn, deinen Frieden rein in meiner Brust zu bewahren. So sahe sie, wohl noch etwas schwankend, aber doch mit offner empfänglicher Seele ins Freie, als man ihr folgenden Brief der Baronin überbrachte.

» Erlauben Sie, meine junge Freundin, daß ich Ihre gütige Zeilen in Emiliens Nahmen beantworte. Vieles darin ist ohnehin an mich gerichtet, und ich will sogleich von dem Vorrechte Gebrauch machen, welches Sie mir, mit der liebenswürdigsten Hingebung, einräumen. Man beschuldigt jeden, dessen Wirksamkeit beschränkt ist, und vorzüglich Frauen in meinen Jahren, daß sie gern Rollen in fremden Angelegenheiten übernehmen, und sich sehr wichtig auf dem Platze erscheinen, den ihnen Alter und Erfahrung ganz natürlich anweisen. Die Eitelkeit schleicht sich wohl oft unbemerkt in unsre Herzen, und wirft einen vornehmen Schein über nichtswürdige Motive; dennoch kann ich hier wohl mit Wahrheit versichern,109 daß mich die allerherzlichste Theilnahme an Ihnen zu der freien Mittheilung meiner Gesinnungen zwingt, zur der Sie mich gewissermaßen auffordern.

Ich kann es Ihnen nicht verhehlen, Ihr Brief hat mich erschreckt. Es ist ein gewisses unsichres Herumfassen nach fremder Hülfe darin sichtbar, eine Angst vor sich selbst, die sich unter unnatürlichem Haß gegen einen Unbekannten verbirgt. Was reizt Sie zu dieser Heftigkeit, die Sie in sich selbst irre macht? Glauben Sie mir, es ist den Frauen selten etwas gefährlicher, als einem ausschließenden Gefühl für irgend einen Mann, der nicht der ihrige ist, Raum zu geben, am wenigsten aber dürfen Sie es sich und Andren so klar und mit dieser Leidenschaftlichkeit aussprechen. Haß und Liebe berühren sich schon darin, daß uns der Gegenstand[beider] Empfindung niemals gleichgültig ist, und gleichgültig sollte Ihnen der fremde Jüngling billig sein. Was haben Sie mit seinen Fehlern und Tugenden zu schaffen? Lassen Sie ihn ruhig neben sich hingehen, Ihre Wege sind ohnehin von einander geschieden. Und von mir, liebes Kind, von meinem Rath erwarten Sie die schickliche Haltung in Ihrer mißlichen Lage? Fühlen Sie wirklich diese schon in irgend einem Augenblick verloren zu haben? Welch Gefühl, ich bitte Sie, ist so mächtig in Ihre Brust, daß es110 die große Ehrfurcht vor dem äußren Anstand, vor Ihrer ganzen Lage und Ihren Verhältnissen, nur in mindesten schwächen könnte? Bewahren Sie doch um Alles das ruhige Gleichgewicht Ihres Seyns und Wirkens, ohne welches Sie die strenge vorgezeichnete Bahn leicht übertreten könnten. Ich sollte vielleicht schweigen, und Sie ruhig neben dem Abgrund fortgehen lassen. Vielleicht sicherte Sie eigne angeborne Kraft, vielleicht sähen Sie selbst noch klarer die Gefahr. Ich würde es darauf ankommen lassen, wenn Ihre freundliche Einladung und das Drängen meiner Hausgenossen, sie anzunehmen, mich nicht zu reden zwänge. Sie wissen, wen ich Ihnen zuführe. Sein Sie auf Ihrer Hut. Morgen Abend umarme ich Sie, und hoffe im voraus Verzeihung für meinen treuherzig mütterlichen Rath, den meine Liebe und Theilnahme allein entschuldigen können. «

Luise ward unangenehm durch den Inhalt dieser Zeilen ergriffen, so als wenn man unversehens eine wunde Stelle berührt und den ungeahndeten Schmerz hervorruft. Was ist denn geschehen, fragte sie sich selbst, das diese ernste, eindringliche Worte veranlaßt. Schicklichkeit äußrer Anstand! nein, nein, das nicht! Dein heiliger Wille, mein Gott, der ist es, den ich nicht verletzen darf, und der zum Glück noch laut und vernehmlich genug111 in meiner Seele spricht, um ihn nie zu überhören.

Guten Morgen, liebe Luise! rief hier Julius, der eben unter ihrem Fenster, an welches sie sich gedankenvoll lehnte, vorüberging. Sie fuhr unwillkührlich zusammen. Seine Stimme traf sie wie ein innrer Vorwurf. Er sah so gut, so herzensgut, aus, die Thränen traten ihr in die Augen. Guten Morgen! rief sie aus voller Seele, als er in dem Augenblick zu ihr hereintrat. Er hatte ihr heut tausend Dinge zu sagen. Sein Herz öffnete sich wie unter freundlicher Berührung; es war klar, irgend etwas Aeußres regte ihn ungewöhnt an. Luise lenkte das Gespräch auf den gestrigen Abend, und bemerkte bald, daß er auch in ihm einen Eindruck zurückgelassen, der noch jetzt fortwirkte. Es ist nicht jene Geschichte, sagte Julius, ihre Fragen beantwortend, was mich bewegt. Ich möchte ihren Inhalt vergessen können, der die Möglichkeit des plötzlichen Sündenfalls in einer bis dahin frommen und reinen Seele, so schauderhaft, in dieser blutigen Verzerrung hinstellt. Nein, es ist der Mönch, den ich nicht vergessen kann. Wie verzückt sah er auf eine Stelle, als ich zu ihm hintrat, und ohne meinen Gruß zu beachten, sagte er vor sich hinredend: unbegreifliches, unbegreifliches Schicksal! dann fragte er mit einer Heftigkeit, die ich ihm112 niemals kannte, seit wie lange der fremde Jüngling bei mir sei? Ich gab ihm in einigen Worten Auskunft über unsre Bekanntschaft und Fernandos unstätem Herumstreifen. Er machte eine schnelle Bewegung zu diesem hin, wandte sich aber wie von deiner Stimme aufgeschreckt, von uns ab, und ging still dem Walde zu. Beide fanden das höchst sonderbar, und Luise erschöpfte sich, nach Frauenart, in tausend Muthmaßungen, als Fernando zum Frühstück hereintrat. Er war ernst und einsilbig, allein so, daß man nicht recht wußte, ob ihn Kummer oder Mißmuth verstimme.

Als er späterhin mit Luisen allein war, bemerkte er theilnehmend, daß sie bleich aussähe, und in ihren Augen Spuren vergossener Thränen. Sie lehnte seine Fragen ziemlich unbefangen ab, und erzählte ihm von den Gästen, die sie morgen erwarte, unter denen sie Emilien sehr anziehend heraushob. Er schien nicht viel darauf zu merken, als sie aber fortfuhr, die Vortrefflichkeit einiger Mitglieder der Gesellschaft zu schildern, und der Baronin einfaches, würdiges Wesen rühmte, sagte er höhnisch, sie wollten wohl den Teufel durch fromme Geister bannen. Luise entfärbte sich und fühlte mit Unmuth, daß sie, wie sie es auch anfangen möchte, ihm gegenüber immer auf irgend eine Weise in Verlegenheit gerathen müsse. Gestehn113 Sie es nur, fuhr er fort, die Bekannten und Freunde sollen doch den lästigen Fremdling nur übertragen helfen; Luise, was habe ich Ihnen gethan, daß Sie mich hassen. Jenes Berühren von Haß und Liebe, in dem Briefe der Baronin, fiel ihr plötzlich ein. Mein Gott, sagte sie schnell, nein, ich hasse Sie nicht, gewiß nicht! Warum fürchten Sie mich denn? fragte er ernst. Mit vollen Schwingen hob sich bei diesen Worten die eingeborne Würde der Weiblichkeit in Luisens Seele. Sie sah ihn ruhig an, und sagte fester, als sie es vor einem Augenblick noch gekonnt hätte, wie sollten Sie mir furchtbar sein, ich kenne Sie weder im Guten noch Bösen. Fernando wollte einlenken, allein Luise blieb für jetzt gefaßt und sicher, weshalb er sich denn auch verletzt zurückzog, und gedankenlos am nächsten Fenster in einem Buche blätterte. Einige Anordnungen nöthigten sie, sich zu entfernen; als sie wieder hereintrat, fand sie das Zimmer leer; allein, zu ihrem großen Schreck, den Brief der Baronin, den sie bei Julius Eintritt in ein Buch gelegt hatte, offen auf demselben Fenster, an dem sie Fernando verlassen. Ich bin verloren, sagte sie, das Blatt in tausend Stücke reißend, wenn er ihn gelesen hat. O über meine Thorheit, jedem Gefühl, das flüchtig durch meine Seele hinzieht, Worte zu leihen, und dadurch so114 unnütze, so verderbliche Erklärungen zu veranlassen! Und nun noch diese Unachtsamkeit! Sie blieb den ganzen Tag in der peinlichsten Unruhe, die Fernandos zweideutiges Wesen noch vermehrte. Recht von Herzen fühlte sie sich daher am folgenden Abend erleichtert, als nun endlich die ersehnte Gesellschaft eintraf. Sie begrüßte jeden der Angekommenen mit sichtlicher Freude, und hatte selbst denjenigen, die ihr bis dahin gleichgültig geblieben waren, etwas Verbindliches zu sagen. Emilie sah sehr reizend in einem kleinen Strohhut aus, der zwar das schöne Haar verbarg, allein übrigens zu der zierlichen Gestalt sehr wohl stand. Es mußten sie schon häufige Neckereien über Fernando getroffen haben, denn sie konnte sich eines kleinen Lächelns nicht erwehren, als sie diesen begrüßte und ihre Blicke zufällig denen ihrer Reisegefährten begegneten.

Zu Anfang blieb man einander fremd, ohnerachtet der Cirkel nur klein war, da der Baron mit dem Professor und dessen beiden Anhängern, dem Engländer und Herrn Aaron, die Uebrigen nicht begleitet hatten. Fernando beschäftigte sich ausschließend mit dem Maler, und andrer Seits hatte man das Ansehen, auch nicht viel auf ihn zu merken. Doch nach und nach ward die Unterhaltung allgemeiner, wenigstens verschmähete es keiner, in das Gespräch des Andern einzugehn. Stein konnte115 sich nicht genugsam über die Herrlichkeit des altväterlichen Gebäudes und dessen romantische Umgebungen auslassen. Nur blickte er mit einer Art von Unmuth auf den modernen Glanz, der ihn umgab. Das ist deutsche Sitte heutiger Zeit, sagte der Maler, das sollte Sie nicht mehr befremden. Warum, fragte Fernando, machen Sie den Deutschen allein diesen Vorwurf, da er jede Europäische Nation fast in gleichem Maaße trifft? Finden Sie in Italien nicht auch das Alte mit dem Neuen gepaart, ohne daß es unangenehm auffällt? Das ist ganz etwas andres, unterbrach ihn Stein. Dort ist Vegetation, Kultur, Kunstsinn, ja der Charakter der Kunst, durch viele Jahrhunderte gleich geblieben, keine der heutigen Erscheinungen ist in sich widersprechend mit ihren Umgebungen; aber wenn wir zu unsern alten, auf rauhem Boden erwachsnen, Eichen, zwischen den Steinmassen, die ein Riesengeist aufthürmte, die Griechheit hinüberziehn und diese noch mit französischem Schimmer bedecken wollen, so ist das wohl ein Uebelstand zu nennen. Dann werden wir nur die ehrenwerthen Denkmäler schleifen müssen, sagte Werner, denn in der Nachbarschaft wird sich bald ein Häuschen finden, das, nach modernem Maßstab erbauet, nicht zu ihm paßt. Niemand darf sich einfallen lassen, es bewohnen zu wollen, denn niemand schickt sich116 dort hinein, nicht der Hausherr, nicht die Frau, nicht die Gäste. Was hülfe es Ihnen, wenn hier alles nach alter Weise, derb und tüchtig zugeschnitten wäre, und wir mit den französischen Kleidern und den Pigmäengestalten herumliefen, die Damen mit griechischem Kopfputz und üppigen Gewändern am Arm. Julius sagte hierauf, daß er sie alle mit Rüstungen und Waffen versehen könne, da sich noch eine vollständige Rüstkammer im Schlosse befinde, worüber Stein eine große Freude hatte, die noch erhöht ward, als er auch von einem künstlich ausgelegten Schrein hörte, welcher theils alte Handschriften, theils schon gedruckte Erzählungen und Legenden enthalte. Er versprach sich davon eine reiche Ausbeute für den folgenden Tag, welche Aeußerung Carl mit einem mitleidigen Achselzucken begleitete, und sich ordentlich mit einer Art von Geringschätzung von ihm abwandte.

Die Baronin fand bald Geschmack an Fernandos Unterhaltung, der sich sehr eifrig um sie und Emilien bemühte. Je länger sie ihn ansah und sein Lächeln und Mienenspiel beachtete, desto auffallender fand sie eine Aehnlichkeit zwischen ihm und der verstorbenen Gräfin Falkenstein, was sie auch Luisen sogleich mittheilte. Mit Viola, dachte diese ihre Augen hefteten sich unwillkührlich auf die seinigen, und das kleine Bild aus der Kapsel schien wachsend117 und belebt vor sie hinzutreten, so daß die beiden Gestalten sich auf eine ängstende Weise in ihrer Phantasie verschmolzen. Die Worte der Baronin sollten nun einmal auf alle Weise ihre Unruhe vermehren. Alles was sie von Julius Mutter hörte, ihre Liebe und ihre Leiden, der ganze herbe Kampf ihres Lebens, alles erwachte in ihr. Als sie allein war, warf sie sich auf ein Ruhebett, das Viola besonders liebte, und den Kopf in die Kissen verbergend, dachte sie, wie viel tausend Thränen mögen hier geflossen sein, wie oft mag das arme Herz hier umsonst Ruhe gesucht haben. Sie bemühete sich, das Bild der Gräfin festzuhalten; allein Fernando trat unaufhörlich dazwischen. O warum, warum! rief sie aufspringend, warum diese unglückliche Aehnlichkeit! bedurfte es dieser Täuschung noch? Sie wollte sich so gern überreden, daß die Baronin falsch gesehen und sie mit in den Irrthum befangen habe, daher eilte sie, nach dem elfenbeinernen Kästchen zu fragen, das sie bis dahin vergessen hatte; allein es fand sich, daß es in den Zimmern ihrer Mutter stehn geblieben war, welche niemand wieder nach deren Tode betreten hatte. Diese Erinnrungen, das Andenken an den ernsten, furchtbarsten Moment ihres Lebens, weckten andre Vorstellungen in Luisens Seele. Sie weinte still vor sich hin, weich und hingebend, ohne eigentlichen118 Vorsatz und Willen, aber doch in reinem, heiligem Gefühl.

Am andren Morgen war Carl der Erste, welcher sich von den angekommnen Fremden sehen ließ. Mit großen Schritten ging er im Vorhofe auf und nieder, bis ihn Julius nöthigte, herauf zu kommen. Nein, sagte er im Hereintreten, lieber will ich in einer Synagoge schlafen, als neben solchem welschen Teufel; hat er nicht gestern Abend mit seinem Schurken von Bedienten geschabbert, daß mir noch die Ohren gellen, so will ich nicht selig werden. Zu Anfang ließ ich mirs gefallen; wie aber das ausländsche Geleiere nicht aufhörte, warf ich meinen Pantoffel gegen die Thür, daß alles so krachte; glauben Sie, daß sie sich stören ließen? recht wie die Mäuse, waren sie einen Augenblick still, und dann ging es wieder, hast du nicht, so siehst du nicht. Luise mußte trotz ihrer innren Verstimmung über diesen komischen Zorn lachen. Na, fuhr er fort, und wie der Bediente heraus war, kam der Maler hinein, da wisperten sie eine Weile leise, nachher ging es aber wieder lustig zu, doch sprachen sie deutsch, denn ich hörte die Baronin nennen, und den Italiener sagen, ich bin der Frau größere Verbindlichkeiten schuldig als irgend jemand ahndet; dann kam was von Aufruhr in der Seele, und Kampf und Sieg, das119 war mir zu gelehrt, ich zog die Bettdecke über den Kopf und schlief über dem Gesumse ein.

Luisens Wangen glühten bei diesen letzten Worten, die recht wie ein unerwarteter Schlag ihr Innres trafen. Da erschien Emilie an Fernandos Arm, der ihr zufällig auf der Treppe begegnet war, und sie frisch und freudig in das Zimmer führte. Die kleine hingebende Blondine nahm sich recht wohl an der Seite des schönen Jünglings aus. Beider Anblick machte einen angenehmen Eindruck, das konnte sich auch Luise nicht verhehlen, ohnerachtet sie ein peinliches Gefühl dabei ergriff.

Nach und nach versammelte sich die übrige Gesellschaft. Stein hatte die ganze Nacht von den alten Helden und Geistern des Schlosses geträumt, und viel wunderliche Gestalten gesehn. Er erzählte, daß ihm vorzüglich ein kleiner grauer Mann auf einem weißlichen Pferde einen seltsamen Schauer eingeflößt habe. Dieser sei unaufhörlich um den Felsen umhergeritten, ohne dem Pferde Ruhe zu gönnen, welches dabei stark gehinkt, als habe es ein Eisen verloren. Werner schlug vor, ein jeder solle die Träume, Eingebungen und Begebenheiten dieser Nacht erzählen, wobei sicher recht seltsame Bilder ans Licht treten würden. Nun, sagte Carl, ich bin bald fertig damit, denn ich habe die ganze Nacht eine Wassermühle gehört, die so brummte120 und sauste, daß mir noch der Kopf wehe thut. Alle lachten über den seltsamen Contrast mit Reinholds Erscheinungen, ohnerachtet nur Luise und Julius den eigentlichen Sinn dieser Worte verstanden.

Fernando hatte indeß nicht so bald von Emilien gehört, daß Stein Dichter und musikalisch sei, als er ihn bat, die Gesellschaft mit einem Liede zu erfreuen, worauf dieser, durch einen Blick von Emilien bestimmt, folgende Worte zur Guitarre sang, auf welcher ihn Fernando sogleich accompagnirte.

Der Sklave singt am Ruder,
Auf wogender Galeere,
Ein Spiel empörter Meere,
Vom Vaterlande fern.
Sein Leiden hört kein Bruder,
Er folgt dem strengen Herrn,
Oft rinnt die heiße Zähre!
Doch auf Gesanges Wogen,
Schwebt süße Täuschung nieder,
Schafft ihm die Heimath wieder,
Und trautes, festes Land,
Wo er, noch nie betrogen,
Die Welt so freundlich fand;
O holder Geist der Lieder!
121
So tanzt um mich Gesänge,
Ihr immer neu erglühten,
Und treibt empor zu Blüthen,
Die Bilder meiner Brust.
Stürm nur du Weltgedränge!
Lock nur du Sinnenlust!
Mich soll das Lied behüten.

Man drang darauf in Fernando, ebenfalls zu singen. Er meinte, er wisse kein passendes Lied auswendig, wenn man ihm indeß erlauben wollte, seinem Gefühle in seiner Muttersprache Worte zu leihen, so werde er wohl eine angemessene Musik dazu auffinden. Man war das gern zufrieden. Er stimmte daher einen Gesang an, den Werner nachher also übersetzte:

Lang auf fremden Seen geschwommen,
Lang durchzogen fremde Nacht,
War der Sänger heimgekommen,
Wo Italiens Sonne lacht.
Wie er von den Alpenzinnen,
Froh ins Land hinunterschaut,
Lehnt an ihn, in süßes[ Sinnen]
Ganz verloren[,] seine Braut.
122
Aus des hohen Nordens Pforten,
Hat er mit sie hergeführt,
Und sie spricht mit leisen Worten,
Von des Südens Hauch berührt.
» Lieber, welch ein großer Garten,
Welch erquicklich Blumenspiel,
Ihn zu hüten und zu warten,
Braucht es wohl der Gärtner viel? «
» Schöne, nur der Sonne Lächeln,
Hütet unsre Blumenflor.
Gärtner ist der Lüfte Fächeln,
Lockt sie überall hervor. «
» Und die Häuserchen dahinter,
Hell mit Farb und Gold geschmückt!
Doch was birgt Euch, wenn nun Winter,
Hart auf Eure Fluren drückt? «
» Nie so grämlichen Bekannten,
Triffst du an auf dieser Flur,
Denn wir spotten des Verbannten
Lieblingskinder der Natur. «
» Wie viel schön umkränzte Bräute,
Wie Musik sich hören läßt!
Dort im lust’gen Tanz die Leute!
Sicher giebt’s ein hohes Fest. «
123
» Kränze, Lieder, lustge Reigen,
Sind uns immer frisch und wach.
Vor der heitren Sonne Steigen,
Wird zum Fest ein jeder Tag. «
» Oft ist mir dein Lied erklungen,
Von Elysiums Lorbeerwald,
Hast uns wohl emporgeschwungen,
Zu der Sel’gen Aufenthalt? «
» Schöne, nein, wir sind auf Erden,
Ziehn in unsre Heimath ein;
Doch Elysium ganz zu werden,
Braucht sie nur der Liebe Schein. «

Die Baronin hatte indeß leise mit Luisen geredet, welche halb auf sie, halb auf die Musik hörte, dennoch zuletzt, durch die Wendung des Gesprächs, gezwungen ward zu antworten. Sie verzeihen mir also, sagte die warnende Freundin, wenn meine Besorgnisse ungegründet waren? O gewiß, von ganzem Herzen, erwiederte Luise. Und sind nun ganz in der ruhigen Stimmung, fuhr die Erstre fort, in der ich Sie wünschte? Luisen fiel eine Stricknadel aus der Hand, welche sie langsam aufhob, während sie die schönen Locken über das glühende Gesicht fallen ließ, in der ruhigsten von124 der Welt, erwiederte sie kaum hörbar. So sagte die Baronin etwas trocken. Gleichwohl scheint eine Art von Mißverständniß zwischen Ihnen und Ihrem Gast obzuwalten, er meidet Sie auf eine seltsame Weise. O, fiel Luise halb verletzt, halb geängstigt, ein, das ist so seine Art, er ist heftigen Gemüthes und ergreift alles Neue mit ausschließender Aufmerksamkeit. Liebes Kind, sagte die erfahrne Frau, woher kennen Sie ihn denn so genau? Sein Sie doch unbefangen im Gefühl Ihres eignen Werthes mit mir, wie mit der ganzen Welt. Glauben Sie nur, Ihre kleine Verlegenheiten entgehen ihm nicht, er treibt ein leichtfertiges Spiel damit.

Die Musik schwieg hier. Die Baronin erinnerte, daß es Zeit sei, Toilette zu machen, und führte die von Myrtenhainen und Kränzen träumende Emilie mit sich fort.

Luise empfand eine Art Scheu vor dem kalten Blick dieser Frau, der wie ein Senkblei in ihr Herz fiel. Sie schrak vor ihr zusammen, so oft sie sie jene Ueberlegenheit und die Entfernung des Platzes fühlen ließ, auf welchem sie eigentlich stehn sollte. Die Aufforderung, unbefangen zu sein, konnte sie am wenigsten erfüllen, da sie die ernste Beobachterin fürchtete, und nur noch unsichrer in ihrem Betragen ward.

125

Die Zeit verfloß indeß fast auf ähnliche Weise. Fernando hatte nur Augen und Sinn für Emilien, wodurch er wechselsweise Luisens Stolz hob, und ihr Gefühl zerriß.

An einem Nachmittage, als eine zahlreiche Gesellschaft aus der Nachbarschaft sich noch zu der des Schlosses gesellte, und alle im Freien versammelt waren, zog ein Trupp Bergleute singend den Harz hinunter. Sie trugen vielfache musikalische Instrumente und schienen bereit, sie in Bewegung zu setzen, als Fernando vorschlug, ob man, da es schon spät und dunkel werde, nicht nach dem Schlosse zurückkehren und dort einige Stunden nach der lustigen Musik dieser Leute tanzen wolle. Alle stimmten freudig ein. Man machte sich sogleich auf den Weg. Die Bergleute gingen spielend voran, und das bunte Gemisch von Frauen und Männern zog, durch eine dunkle Tannenallee, dem lustigen Saale zu, der Luisen bei ihrem Eintritt zuerst mit ihrer neuen Wohnung versöhnt hatte. Fernando walzte[sogleich] mit Emilien. Die Kleine schmiegte sich mit einer anmuthigen Bewegung des Kopfes lächelnd in seine Arme, und schien sich und die ganze Welt zu vergessen. Stein sah an einem Pfeiler gelehnt, dem Spiele wehmüthig zu; er war im Begriff, Luisen seine Hand zu reichen, und im allgemeinen Taumel die Schmerzen seiner126 Brust zu betäuben, als sich dieser einer der neuangekommnen Gäste, ein schon längst bemerkter und bewunderter Fremder, nahete, und sie auf eine feine, sittige Weise zum Tanze führte. Er war russischer Obrist, von hohem, edlem Wuchs, und jener Gewandheit, welche die höhern Stände seiner Nation auszeichnet. Eine Sendung seines Hofes nach einer nahen Residenz führte ihn in diese Gegend, zu einem Theil seiner Familie, der sich in Deutschland niedergelassen hatte, und auf die Weise kam er heute nach dem Falkenstein. Es sah schön, ja königlich aus, wie sich die beiden herrlichen Gestalten langsam, nach Norddeutscher Sitte, durch den Saal bewegten. Die dunkelgrüne, geschmackvoll verzierte, Uniform paßte wohl zu Luisens einfachem weißen Kleide und dem grünen Zweige, der sich durch ihre Locken wand. Fernando betrachtete sie mit einem tiefen, düstren Blick, der dann, wild auflodernd, ihre Brust wie zwei Flammen traf. Sie hatte kaum geendet und sich gegen ihren schönen Tänzer verneigt, als Fernando auf sie zutrat und sie, nach einigen flüchtigen Worten, umschlingend, in raschem kreisendem Wirbel mit sich fortriß. Die rauschende Musik, das dunkle, in sich zurückgezogne Feuer seiner Augen, die ganz eigne, unruhige Heftigkeit in Mienen und Bewegungen ergriff sie so sehr, daß sie127 sich nach einigen Augenblicken halb ohnmächtig an ihn lehnen und ihn bitten mußte, aufzuhören. Er drückte sie leise an die glühende Brust und ließ sie dann schweigend aus seinen Armen. Sich kaum noch besinnend, trat sie in die offne Gartenthür, und eilte von da weiter den Felsengang hinauf, zu einem Sitz, der in dem Stein gehauen und von einer überhangenden Buche versteckt war. Nicht lange darauf hörte sie neben sich reden; die Stimmen kamen näher, und sie erkannte bald Stein und Werner, die, sich an den Baum lehnend, mit einander sprachen. Also wirklich, wirklich, sagte der Erstre, Sie glauben nicht, daß er Emilien liebt? Mein Gott, erwiederte Werner, das liegt ja so klar am Tage, wie der Zweck des ganzen Spieles! Nein, nein! fiel jener heftig ein, das nicht, das gewiß nicht! Werner lachte laut. Nun wahrhaftig, sagte er, Sie sind von einer seltnen Unschuld des Sinnes. Was liegt denn darin so Unerhörtes? Es könnte in der That interessant werden, wie der ganze Mensch, der große Anlagen hat, wenn er sich nicht selbst zur abgerichteten Puppe wie sein Unternehmen zu einer auswendig gelernten Posse machte. Auch will ich wohl wetten, daß er den bekannten Weg hier nicht zum letztenmal einschlägt! Reizend ist bei allem dem dies Ringen einer schuldlosen Seele, in der die Welt und Sinnenlust128 plötzlich hervorbricht und sie hin und her treibt, daß sie nach allen Seiten faßt und greift und zwischen Himmel und Hölle schwebt. Hier zwar wird nun der Kampf nicht lange unentschieden sein, denn die ganze Richtung des Gemüthes spricht sich bei der schönen Frau in Gestalt und Wesen aus. Sie erscheint recht wie eine erhabene Sünderin, die im stolzen, kühnen Fluge hinaufstrebt und durch die Eigenthümlichkeit ihrer Natur alle Augenblicke einmal das edle Haupt senkt und sich von den irdischen Banden umstricken läßt. Daher ist auch ein eigner Streit von Stolz und Hingebung in ihrem äußren Erscheinen, und ich bin sehr überzeugt, daß in diesem Streit ihr ganzes Leben hinfließen wird. Sie haben eine ordentliche Freude, sagte Stein, an solcher innren Verwirrung. Nein, entgegnete Werner; allein ich muß so lange forschen und beobachten, bis ich einen jeden auf den Platz gestellt habe, wo er eigentlich stehen muß, sonst bin ich in mir selbst unsicher. Beide gingen hierauf weiter. Luise saß lange Zeit in dumpfer Betäubung da. Endlich raffte sie sich auf, und eilte, ohne den Saal zu[betreten], durch einen Umweg dem Schlosse zu. Sie mußte, um zu ihren Zimmern zu gelangen, durch einen langen, schmalen Gang, an dessen Wänden mehrere Familiengemälde hingen. Der Mond schien hell129 durch die hohen Fenster und beleuchtete vorzüglich das Bild einer Dame, die als Leiche gemalt war, und aus einem reichen Schmuck dunkler, mit Perlen durchflochtener Haare, bleich und etwas verzerrt hervorsah. Man glaubte allgemein im Schlosse, es sei das Bild der Ahnfrau, was auch eine Vergleichung der Züge mit dem im Kloster wahrscheinlich machte. Eine Bewegung der Bäume vor den Fenstern bewegte auch itzt den Schein auf dem Bilde so, als rege sich das Gesicht und öffne den ohnehin verzognen Mund. Luise verhüllte die Augen und stürzte laut schreiend in ihr Cabinet. Hier lag sie, heftig weinend, ohne klares Bewußtsein, mit einem tiefen, schneidenden Schmerz im Innern, lange Zeit auf ihren Knieen, als eine warme Hand leise die ihrige berührte. Jesus! rief sie, aufspringend. Fernando stand vor ihr. Luise, sagte er mit einem wehmüthigen Ton, verdiene ich denn wirklich nur Ihren Abscheu? Ich weiß es nicht, stammelte sie, Gott allein weiß es; allein jetzt bitte ich Sie, verlassen Sie mich. O bei allem was Ihnen heilig ist, verlassen Sie mich! Sie stoßen mich also ganz und auf immer von sich? fragte er, ihre Hand an sein Herz drückend. Auf ein Vorurtheil hin verdammen Sie mich, zwingen Sie sich selbst, mich zu hassen! Luise versuchte, sich zu entfernen. Nein, nein! rief er, ich lasse Sie nicht, jetzt nicht,130 ich will einmal in meinem Leben wenigstens zu Ihnen reden; rechnen Sie es dem glühenden, heftigen Jüngling nicht zu gering an, daß er die ganze Zeit über schwieg, daß er ein Feuer in sich zurückdrängte, was Sie erschrecken würde, wenn es einmal ungehindert aufflammte. Beide schwiegen einen Augenblick. Was that ich Ihnen, sagte er darauf, um dies abstoßende, geringschätzige Betragen zu verdienen? Mußten Sie mich niedertreten, um sich zu heben? Fand Ihr Stolz Nahrung in den lauten Aeußerungen eines ungerechten Hasses? Jener Brief O Gott! o Gott! rief Luise ganz erschöpft; ihr Kopf senkte sich und heiße Thränen flossen auf die schönen Hände, die sich kreuzend auf der Brust falteten. Wer hat Sie, rief Fernando, so in sich selbst aufgeschreckt, daß Sie aufhörten, der einfachen Richtung Ihres Gefühls nachzugehn? Warum strafen Sie mich, so oft eine mildere Regung aus Ihren Augen spricht; warum reizen Sie sich zu einem unnatürlichen Kampf, der Sie und mich zerstört? Luise, ich habe seit dem Tode jener Frau, die meine Jugend bildete, niemand auf Erden, der mit einem reinen heiligen Gefühl an mir hinge; ich habe auch niemand gefunden, dem ich mein ganzes Dasein so ungetheilt hingegeben hätte. In Ihre Hände allein lege ich es, wenn Sie meine Freundin, meine Schutzheilige sein wollen! 131Ich bin nicht schlecht! bei dem ewigen Gott, ich bin nicht schlecht! Wollen Sie? fragte er weich und schmeichelnd. Auf Luisens Augen schwebte ein zitterndes Ja. Ihre Augen schlossen sich an seine Brust, indem er sie leise auf die Stirn küßte.

Wie die ewige Versöhnung tönte das Wort Freundin in ihre Seele. Der schwere Kampf schien geschlichtet, Gott und Menschen versöhnt. Ist es denn wahr, sagte sie aufblickend, ich soll das nicht scheuen und verdammen, was ich mit unsäglicher Angst Meine Luise, unterbrach sie Fernando, wie glücklich konnten wir lange sein, wenn Sie sich früher selbst verstanden! Ein Geräusch im Nebenzimmer machte ihn aufmerksam. Er führte Luisen zu einem Stuhl und stand ihr gegenüber, am Clavier gelehnt, als die Thür aufging, und Georg, mit zwei Lichten in der Hand, hereintrat. Immer aufmerksam auf alles, was seinem Dienst anging, hatte er sich erinnert, daß diese Zimmer noch nicht erleuchtet waren und daß sich die Gräfin, da er sie nicht in der Gesellschaft fand, wohl hieher könne begeben haben. Auf Fernandos Stirn lag der tiefste Unmuth über die unwillkommne Störung; er ging heftig auf und nieder, während der alte Diener alles gehörig ordnete, die Fensterladen schloß, und sich bei manchem kleinen Geschäft verweilte. Luise schien von allem132 nichts zu bemerken; in der seligsten innern Stille ließ sie ihre Thränen ungehindert fließen. Georg betrachtete Beide kopfschüttelnd, und ging in der Ueberzeugung hinaus, daß der wüste Fremde seiner jungen Herrschaft recht zur Qual und Aergerniß hier sei. Bei dem Oeffnen der Thür schallte die Musik hell aus den Nebenzimmern herüber. Luise ward durch die Töne aufgeschreckt. Gehn Sie, lieber Fernando! rief sie eilig, gehn Sie zur Gesellschaft, ich folge Ihnen sogleich! Ist das die erste Bitte, Luise, fragte er verletzt, die Sie dem neuen Freunde zu thun hatten? Werde ich nie andre Worte aus Ihrem Munde hören? Gilt es denn immer nur, mich zu entfernen? Mein lieber Fernando, erwiederte sie, wenn Sie wüßten Aber Sie sollen sehn, fiel er rasch ein, selbst einen neuen Ueberfall fürchtend, Sie sollen sehn, daß mir Ihr Wille in jedem Augenblick heilig ist, ich gehe; allein, Luise, wenn ich Sie jetzt ruhiger verlasse, wenn die Rührung Ihrer Engelseele mich entzückte, wenn ich mich einen Augenblick einer glücklichen Zukunft überließ, werden Sie fest bleiben? werden Sie nicht auf’s neue, durch tausend Grillen erschreckt, wanken, und ein flüchtiges Wohlwollen bereuen, was mich auf ewig an Sie kettet? Nein, nein! rief sie aus vollem Herzen, ach nein, ich kann ja nicht anders als Ihnen vertrauen! Werden133 Sie das immer? fragte er, auch wenn Zweifel Sie ängsten, auch wenn weise Rathgeberinn O still, still! unterbrach ihn Luise, und drängte ihn bittend zur Thür.

Als sie zur Gesellschaft zurückkam, fand sie Emilien zwischen Carl und dem Maler, nachlässig auf einen Stuhl geworfen und ziemlich unwillig über den allzuoffnen Vetter, der sie, ohne Rücksicht auf ihren Nachbar, mit Fernandos Vernachlässigung und scheinbarer Erkaltung neckte. Sehn Sie! rief er, da sitzt er wahrhaftigen Gotts, tiefsinnig wie ein Engländer! er sieht nicht, er hört nicht. Wissen Sie was, wir wollen einmal mit einander walzen, vielleicht sieht er das, er wird eifersüchtig Auf Sie? fragte Emilie spöttisch. Cousinchen, erwiederte Carl, werfen Sie die deutschen Männer nicht weg, es ist Verlaß auf sie; die Fremden sind Zugvögel, sie bauen sich hier keine Nester. Der Maler wollte sticken vor Lachen. Emilie stand endlich auf und ging zu ihrer Mutter, die sehr eifrig mit Stein redete. Der ernste Russe hatte sich zu Luisen gesetzt, und sprach verbindlich und mit vieler Einsicht über das Charakteristische deutscher Geselligkeit. Bei der unvermeidlichen Annahme und nothwendigen Verschmelzung fremder Sitten, meinte er, sei eine eingeborne Würde, ein gewisses häusliches Zusammenhalten134 und meistentheils größere Tiefe des Gefühls ganz unverkennbar, was vorzüglich die Frauen sehr anmuthig zwischen die Engländerinnen und Französinnen stelle, und auch[ den Umgang der Männer, ohnerachtet ihres frühen Zurückziehens] von aller geselligen Mittheilung, dennoch interessant mache. Sie war genöthigt, so verbindliche Worte aufmerksam anzuhören, und, indem sie sie schicklich erwiederte, das Gespräch länger als sie wünschte fortzusetzen. Fernando hatte sich ihr indeß genähert, und flüsterte, über ihren Stuhl gebeugt: Sie ahnden nicht, wie wehe Sie mir thun; müssen Ihre Freunde so schnell zurückstehn? Sie ward höchst verlegen, antwortete höchst einsilbig und unpassend, worauf der Obrist auch geschickt abbrach und sich zurückzog.

Mehrere der Fremden hatten noch einen weiten Weg zu machen; man trennte sich daher nach und nach, und die Baronin, die durch ihr Gespräch verstimmt schien, erklärte, daß es überall Zeit sei, der Ruhe zu genießen, worauf alles für heute auseinander ging.

Fernando hatte mit Recht neue Erschütterungen in Luisens Seele vorausgesehn. Sie war nicht sobald allein, als sie eine Bangigkeit befiel, die Hand in Hand mit der eingebornen Scheu vor dem Unrecht geht. Es regte sich jenes Zagen in ihr,135 was zuerst die Bilder lockender Erinnrung unruhig hin und her wirft, bis das verlangende Auge nicht mehr darauf haften kann. Und wie dann alles so innerlich erzittert, so fliehen die Ahndungen höherer Liebe, die ein Gott uns einhaucht, die Erde öffnet ihren Schoos und zeigt uns alle Schrecken, die unsrer warten. Dazwischen hörte Luise Werners zernichtende Worte. Alles fiel ihr plötzlich zusammen. Sie erschien sich strafbarer, verlorner, als sie war; sie wußte nicht, wie sie sich selbst entfliehen sollte. Ach es war ja so wahr, so unwidersprechlich wahr; sie liebte ihn mit allen Kräften ihres empörten Herzens. Unter tausend Qualen war sie spät am Morgen eingeschlafen, als Julius vor ihr Bett trat. Sie schreckte bei dem leisen Geräusch auf. Ich wollte Dich nicht stören, sagte er, gutmüthig besorgt, aber ich bin Deinetwegen beunruhigt, liebe Luise, und muß Dich endlich fragen, was so schwer auf Deiner Seele drückt? was Dich so ausschließend beschäftigt, daß Du fast für nichts außer dem Sinn hast? Liebe, liebe Luise, verhehle mir doch nichts; glaube nur, ich habe Deine Schmerzen, ohne sie zu kennen, zerreißend gefühlt. Ach ich trage ja kein andres Leben in mir, als Dein Glück, Deine Ruhe. Sie sank weinend in seine Arme. O wäre er mein Bruder, dachte sie. Erinnerst Du Dich, fuhr er136 fort, was die Mutter sagte: Luise hat nun niemand auf Erden als dich, verlasse sie nie, stehe ihr im entscheidenden Augenblick zur Seite. Meine Luise, sei offen. Wie Himmelsthau fielen diese Worte in ihr Herz; sie rang noch einen Augenblick mit der Furcht, Julius durch ein freimüthiges Geständniß wehe zu thun; dann aber siegte die Wahrheit, ihr Innres schloß sich auf, die Worte schwebten auf ihren Lippen; da stürzte Mariane herein und sagte eilig, der Herr Jagdjunker und Herr Werner seien im Vorzimmer in heftigem Wortwechsel und sie habe von Schießen und Schlagen gehört. Julius sprang auf; er fürchtete Carls Ungestüm, und eilte, einem Unglück vorzubeugen. Nach einer Weile kam er sehr bleich und erschüttert zurück. Es ist nichts, sagte er angestrengt; ein Mißverständniß, das sich schon wieder aufgeklärt hat. Sonst nichts? fragte Luise, wirklich nichts? Nein, nein, wirklich nicht, erwiederte er und ging dann schweigend auf und nieder. Luise erwartete mit klopfendem Herzen, daß er das vorige Gespräch wieder anknüpfen und auf’s neue in sie dringen sollte. Allein Julius sagte kein Wort. Sie selbst hatte nicht den Muth, wieder anzufangen. Ueberdem war der rechte Augenblick vorüber, und so blieb es zwischen Beiden still, bis Mehrere hinzukamen und im Allgemeinen ein leidliches Gespräch137 in den Gang brachten. Ein flüchtiger Blick zeigte Fernando die Wolken auf Julius Stirn und Luisens trübe, gesenkte Augen. Er neigte sich daher zu Emilien und redete auf’s neue angelegentlich mit ihr. Werner trat zu Stein, der in einem alten Buche, das er in jenem Schreine fand, verblichene, kaum noch kenntliche, Holzschnitte betrachtete. Die Worte darunter schienen häufig gelesen, denn zwischen den feinen Blättern lagen mehrere Zeichen, Goldfäden, auch Stückchen farbiger Stoffe, die wohl eine längst vertrocknete Hand da hinein gelegt hatte. O lassen Sie sehn! rief er, als Reinhold eben ein Blatt umschlagen wollte und er die Worte in kunstreich gezirkelten Buchstaben las: Von getreuer und sittsamer Minne. Die Andren näherten sich nach und nach auch. Man ward begierig, die Bedeutung der Bilder zu wissen. Eine innre Ehrfurcht vor den alten, ehrenwerthen Gestalten, ja vor dem Buche selbst, das wie ein edler, fremder Geist mitten unter ihre neue Ansichten und Gefühle trat, verscheuchte jede Spötterei. Man drang in Stein, die kleine Geschichte vorzutragen, und er, ohne sich lange bitten zu lassen, fing sogleich an:

Von getreuer und sittsamer Minne.

» Ein sehr edler und schöner Ritter hatte sich in die Tochter des Königs verliebt, die unter allen138 fürstlichen Jungfrauen weit und breit, nicht allein als die anmuthigste und liebreizendste, sondern auch als die sittigste und in aller wohlanständigen Geschicklichkeit erfahrenste, berühmt war. Wie nun die Liebe von keiner Macht in der Welt Gesetze annehmen will, half es auch ihm nichts, daß er sich die Schwierigkeiten, ja die Thorheit eines solchen Beginnens, unablässig vor Augen stellte. Jemehr er sich schalt, um desto mehr entbrannte er in den gewaltigen Flammen, von denen sein ganzes Gemüth durchhitzt war, und es hätte wohl noch ein frühes Ende mit seinem Leben genommen, wenn ihm nicht ein günstiger Zufall, (so deren viele, sagt man, im Solde des Liebesgottes stehn sollen,) zu Hülfe gekommen wäre. Auf einem großen Jagen nämlich, als er sich in den tiefsten Wald begeben hatte, um seinen schwermüthigen Gedanken nachzuhängen, begab es sich, daß er auf die Prinzessin traf, indem sie durch ihren scheuen Zelter weit von dem ganzen Hofgefolge auf ungebahnten Wegen fortgerissen ward. Er that dem wilden Thiere Einhalt, und nachdem er die schöne Jungfrau herabgehoben hatte, wollte sie sich nicht wieder der einmal bestandnen Gefahr anvertrauen, sondern zog es vor, sich von dem jungen Helden zu Fuß nach dem Schlosse heimgeleiten zu lassen. In dem dunkelgrünen, sonnendurchblitzten Laubholz schlug139 dem Ritter das Herz immer höher und höher; er sing an zu bedenken, daß, wenn es doch einmal umgekommen sein müsse, der Schrecken ein schnellres und leichteres Ende bescheere, als der Gram, und daß er lieber an der Grausamkeit seiner Dame, als an der eignen Zaghaftigkeit sterben wolle. Deshalben begann er erst mit stotternder, dann mit überströmender Zunge und weinenden Augen, der Schönen sein Leid zu klagen. Sie gedachte ihn anfänglich zum Schweigen zu verweisen, aber weil der einsame Weg so gar lang währte, konnte sie letztlich das Heben und Senken ihrer zarten Brüstlein, das Erröthen ihrer Wangen, das Blitzen ihrer Augen sich und dem Ritter nicht länger verbergen. Sie gestand ihm, daß sie vor allen Männern auf der ganzen Erde nur ihn allein mit herzlicher Treue meine, und hiermit zu ihrem Verlobten auserwähle. Als sich nun der Liebhaber recht versann, daß er nicht etwa dergleichen blos im Traum, oder sonst in phantastischen Gesichtern erblicke, sondern in der That die schöne Königstochter ihm ihre Liebe gewähre, dachte er vor Freuden zu sterben, wie noch wenige Stunden früher vor Herzeleid. Kaum aber daß er sich ein wenig erholt hatte, so schlug er eine Menge Mittel vor, wie sie beide recht bald zu dem ehrlichen Ziel ihres Liebhabens in einer vergnügten Ehe gelangen möchten. 140Die kluge Jungfrau aber sagte: Laßt es uns wohl bedenken, mein herzlieber Herr Adelhof, (denn also war der Ritter bei seinem Taufnamen geheißen,) daß wir auf ein gar ängstliches und gefährliches Unternehmen ausgehn. Mein Vater, wie Euch nicht fremd sein kann, ist gar ein ernster und hochtrachtender Herr, eines recht fürstlichen Heldengemüthes, der nimmermehr zugeben wird, daß seine Tochter einem Vasallen zu Theil werde, es sei denn, daß sich dieser durch unerhörte Thaten den regierenden Häuptern gleich zu stellen wisse. Nun aber habe ich das gute Vertrauen zu meinem Gott (wohl spürend, daß meine Liebe keusch und rein, und seines heiligen Schutzes werth sei), daß er Euch eine Gelegenheit geben wird, Euern schon erprobten Rittermuth zum Heil des Königs und des lieben deutschen Landes auf eine solche Weise leuchten zu lassen, daß Euch meine Hand als ein billiger Ehrenpreis nicht versagt werden mag. Wollet deshalb damit zufrieden bleiben, süßer Freund, daß meine unsterbliche Seele, nächst Gott, Euch allein angehört, und in Geduld stehen, bis sich eine günstigere Zeit offenbart. Auch wollet nichts von heimlichen Zusammenkünften oder dergleichen Leichtfertigkeiten begehren, sintemal das Euerm eignen künftigen Eheweib eine große Schmach sein würde.

Unter dergleichen liebevollen, doch frommen,141 Gesprächen waren sie zu dem Schloß gekommen, wo der König eine große Freude über die Rettung seiner Prinzessin Tochter bezeugte, ohne nur im geringsten zu ahnen, was sie im Walde mit dem Ritter Adelhof könne verabredet haben.

Von diesem Tage an lebten die beiden jungen Leute in aller züchtigen Liebe und Ergötzlichkeit unterschiedliche Monden hintereinander sonder Störung fort. Wenn es auch bisweilen geschah, daß bei dem Ritter, wie es der Männer Art ist, ein ungeduldiges Feuer aufgehn wollte, so wußten doch alsbald die sittigfreundlichen Blicke der Jungfrau die ungestüme Lohe dergestalt zu bezähmen, daß nur ein stiller, labender Schein daraus übrig blieb, dessen niemand als sie selbst wahrnehmen mochte. Der Ritter ward mit jedem Tage frömmer und linder gegen Menschen sowohl als jede andre Creaturen, und wenn er einen deutsamen Gruß von seiner Herzliebsten gewonnen hatte, schien es gar, als lächle der Himmel selbst aus allen Zügen seines Antlitzes.

Ein so recht paradiesisches Erquicken jedoch kann auf unsrer Erde nicht von langem Bestand sein. Es verbreitete sich nach kurzer Zeit das Gerücht, als habe der König seine Tochter an einen benachbarten Prinzen verlobt, welcher auch gleich darauf selbst an den Hof kam, öffentlich in den142 Farben der schönen Jungfrau prangend, und überhaupt weder seine Werbung noch die Begünstigung des Brautvaters im geringsten verhehlend. Wie da dem armen Ritter Adelhof zu Muth gewesen sei, kann leichtlich ein jeder selbst ermessen, sofern er nur einmal die ergötzlichen und doch auch oft so schmerzlichen Blumenketten der Minne getragen hat. Wenn dem Ritter auch kein Zweifel an die Beständigkeit seiner tugendhaften Liebschaft in den Sinn kam, so wußte er doch auch recht gut, wie weit eines gekrönten Königs Arm reiche, und wie schwer es halten müsse, durch einen so hartnäckigen und vielfach unterstützten Willen zu brechen. Doch tröstete er sich damit, daß es auch kein Leichtes sei, getreuer Liebe einen Kampf abzugewinnen, und daß seine Gegner daher wenigstens eben so schwieriges Spiel vorfänden, als er. Entschlossen, das Alleräußerste mit tausend Freuden zu wagen, trachtete er nur darnach, wie er seiner geliebten Prinzessin von diesen Gedanken Nachricht geben und gehörige Abrede treffen möchte.

Auf einem Turniere, das man dem fremden Brautmann zu Ehren angestellt hatte, gebrauchte sich der Ritter Adelhof so männlich, daß man ihm vor allen Anwesenden den Preis zuerkennen mußte, und zugleich die Ehre, am Abende den Reihen mit der Prinzessin zu beginnen. Das war es eben,143 was er so eifrig gesucht hatte, und während nun die Musik recht kunstreich und gewaltig durch den Saal schmetterte, er aber mit zierlichgemessenen Schritten neben der Jungfrau hertanzte, nahm er Gelegenheit, ihr auf eine geschickte Weise zuzuflüstern, wie er Willens sei, sie am folgenden Abend zu entführen, der Hoffnung, daß sich jenseit des Meeres Sicherheit und ein bessres Glück antreffen lasse. Sie aber entgegnete voller Schrecken: Wie sollte ich ein so großes Uebel thun, und als eine unverehelichte Magd heimlich mit Dir aus dem Hause meines Vaters wegziehn! Adelhof sagte mit herzlichem Bedauern: ich merke leider schon, wo das hinaus will. Die Pracht des Fremden hat Dein Gemüth befangen, und Du möchtest des armen Edelmanns nun gern entledigt sein. Nicht also, sprach die Jungfrau. Keinem andern Mann als Dir will ich jemals angehören, aber auch ein reines, fleckenloses Weib bleiben, so weit es einem sündigen Menschenkinde möglich ist. Ach, bedenke Dich wohl, was du thust, sagte der Ritter. Du stößest ein getreues Herze von Dir, denn wenn Du nicht einwilligest, mit mir von hinnen zu ziehn, so erwähle ich mir selbst die Verbannung aus diesen Landen, allen glatten Worten unvertrauend, die so übel mit der That zusammenstimmen. Was recht und ehrlich ist, soll geschehn, mehr aber144 nicht, sagte die Jungfrau, und damit hatte eben der Tanz ein Ende genommen. Sie mußten von einander gehn, ohne daß sie die Gelegenheit finden konnten, ihre Angelegenheiten des weitern zu besprechen. Der Ritter sah die Jungfrau wohl bisweilen flehend an, in Hoffnung, irgend eine günstigere Entscheidung aus ihren Augen zu schöpfen; aber ob sich diese gleich vielmals mit recht perlenglänzenden Thränen füllten, wiegte sich doch das schöne Haupt dabei leise verneinend hin und her, daraus wohl abzunehmen stand, wie es bei dem einmal gefaßten Entschluß bleibe.

Sich selbst und Alle scheltend, die jemals ihr Vertrauen auf das eitle Gemüth eines Weibes gesetzt, verließ der Ritter den Tanz, in Willens, mit dem frühsten Morgen davon zu reiten, je weiter je lieber, von einer Gegend, wo es ihm mit seinen liebsten Wünschen so widerwärtig gegangen war. Deßungeachtet kamen ihm mit dem hellen Morgenrorh andre Gedanken zurück. Er meinte, wie doch immer Licht aus Nacht entsprieße, möge es auch wohl mit seinen Schicksalen ergehn, die Jungfrau habe sich vielleicht ihr furchtsames Verweigern schon längst gereuen lassen, und es komme nur auf einen kühnen Versuch an, sie für seinen Entwurf zu gewinnen. Dieses Vertrauens voll, richtete er Alles zur Reise ein, ohne sich dabei145 einer lebendigen Seele anzuvertrauen, erhandelte auch unter anderm Vorwand einen leichten Zelter mit bequemem Geschirr für seine schöne Genossin, und harrte ganz allein, die beiden Rosse am Zügel, unter ihren Fenstern, bis er an dem Lampenschimmer vermerken konnte, sie sei nun von dem Nachtmahle zurück gekehret und allein in ihrem Gemach. Da begann er folgende Verse zu singen:

Nicht allzuhoch die Fensterwand,
Strickleiter in des Liebsten Hand;
Ein Wink aus Liebchens Fensterlein,
So stiegt die seidne Trepp hinein,
Und will sie dran hernieder gleiten
So können, eh der Morgen graut,
Von stiller Nacht allein beschaut,
Zum Meerstrand die Verliebten reiten.

Er sah wohl, daß sich die Schöne dem Fenster zu nähern schien, und sang deshalb in froher Hoffnung fort:

Was ist der ächten Minne gleich?
Nicht Fürstenthum, nicht Königreich.
Zwei Herzen fromm, zwei Herzen treu,
Sie ziehn sich an in süßer Scheu,
146
Mit Mond und Stern im frohen Bunde
Wird ihnen Nacht zum heitern Tag,
Das Waldesgrün zum sichern Dach.
O Liebchen komm, gut ist die Stunde.

Die Jungfrau stand an dem Schieber, es war schon, als wolle sie das Fenster öffnen; aber mit einemmale ließ sie den Vorhang herunter rollen und floh zurück. Der Ritter sang mit weinenden Augen:

O schwacher Sinn! O falsches Herz!
Du wählst und giebst für Freude Schmerz!
Warst doch allein all meine Lust,
Trug nur Dein Bildniß in der Brust,
Und soll Dich nun so gar entbehren,
Trüb scheiden, der so fröhlich kam.
Ach Gott, erstärk nur meinen Gram,
So wird er früher mich verzehren.

Es kam ihm vor, als sähe er durch die Vorhänge, wie die Prinzessin mit vor den Augen gehaltnen Händen heftig weine, ja als vernähme er ihr leises Schluchzen; plötzlich aber löschte sie ihr Licht und es ließ sich keine Regung in dem dunklen Zimmer mehr vernehmen. Da riß er in wildem Unmuth den Zügel von des Zelters Hals und jagte ihn von sich, während er auf seinen147 Streithengst sprang und diesen mit wilden Sporenstößen in den Wald hinein trieb.

Eine lange Zeit hindurch zog er in fremden Landen umher, in solchen am liebsten, wo man gar nichts von der lieben deutschen Muttersprache verstand, auf daß er nur von aller Erinnerung an die Jungfrau befreit werden möchte. Ja, so oft sie ihm des Nachts in Träumen vorkam, pflegte er am folgenden Tage recht geflissentlich Festlichkeiten oder Gefechte aufzusuchen, um seine Betrübniß gleichsam in derlei ungestümen Meeren zu ertränken. So geschah es, daß er endlich am Hofe einer italischen Fürstin bekannt ward, die von allen Hofleuten sowohl, als auch von den kunstreichsten Bildhauern und Malern für die schönste Person auf der ganzen Welt gehalten ward. Der Ritter Adelhof meinte, wenn er deren Minne verdienen könne, sei er auf’s beste an der Königstochter gerächt, und müsse es ihr zum absonderlichen Kummer gereichen, ihren verstoßnen Liebhaber so glänzend entschädigt zu wissen. In dieser Absicht strebte er nach allen Kräften, die Gunst der schönen Italienerin zu gewinnen; da er aber (wie sich leichtlich denken läßt) eine große Schaar von mannlichen und schönen Mitwerbern vorfand, konnte er sich nie vergewissern, wie er eigentlich bei der Dame stehe, ob er gleich148 täglich auf das freundlichste empfangen ward, ja sich sogar mancher sehr günstigen Blicke und Worte zu rühmen hatte.

Viele Ritter und Herren, denen es auf gleiche Weise erging, wurden endlich eins, die Schöne um eine bestimmte Erklärung anzugehn, und wenn sie auch noch von keiner bestimmten Wahl hören wollte, sie doch wenigstens um die Aufgabe irgend einer That oder eines Geschenkes zu bitten, wodurch man des Glückes ihrer Minne theilhaftig werden könne; des vergeblichen Harrens und Seufzens, wie aller fortdauernden Ungewißheit, sei man nun einmal durchaus überdrüssig. Man brachte ihr auch diese Willensmeinung vor, obgleich mit den allerzierlichsten und verbindlichsten Worten, welche sich nur erdenken lassen. Die Schöne aber entgegnete den versammelten Werbern: Ihr Herren, meine Antwort wird kurz sein, wie Ihr Euch denn die Aufgabe leicht selbst hättet machen können, wenn irgend etwas Wahres an Eurer Bewundrung meiner Schönheit zu finden wäre. Ist die Gestalt, in welche es dem Himmel beliebt hat, mich zu kleiden, so gänzlich makellos, als Ihr zu glauben vorgebt, wie ist es dann noch Keinem eingefallen, daß einer solchen auch ein makelloses Gewand gebühre? Was ich aber bis jetzt von Seide, Stoff, Leinen, Flor und irgend andern Kleidungsstücken gesehn149 habe, trug beständig irgend einen Mangel an sich. Auf dann, Ihr Werber, mir ein Gewebe sonder Fehl zu verschaffen, und wem es damit gelingt, der soll mich in eben diesem Kleide zur Trauung führen.

Die Ritter standen eine Zeitlang bestürzt, vermeinend, man würde ihnen eher ein kühnes Wagstück aufgegeben haben, als das Erkiesen eines tadelfreien Gewebes, worauf sich die Wenigsten von ihnen verstehn mochten. Demohngeachtet grübelten sie nicht allzulange; wollten sie die Braut haben, so mußten sie nach deren Willen tanzen, weshalb sie auch mit dem nächsten Tage nach allen vier Weltgegenden hinauszogen.

Der junge Deutsche Weigand Adelhof nahm seine Richtung noch weiter gegen Mittag, des Glaubens, wie die Lüfte klarer, die Flüsse heller, die Sonnenstralen lichter würden, müßten auch die Werke aller Menschenkinder an Zierlichkeit und Zartheit zunehmen.

Ein heilsames Verirren brachte ihn jedoch bald darauf in dunkler Nacht zu der Hütte eines Klausners, der ihn gastlich aufnahm, und während des mäßigen Mahles ungefragt durch ihn selbst (wie denn das der Jugend Art zu sein pflegt) von seiner Reise und ihrem Ziel umständlich benachrichtigt ward.

150

Ei, rief der Siedler am Ende der Geschichte aus, Ihr kommt mir vor wie ein sehr thörichter Gesell. Nicht allein, daß Ihr Eurer Spinne selbsten die Gewebe zutragt, darin sie Euch desto besser fangen möge, sucht Ihr auch das noch auf ganz verkehrten Wegen! Seid Ihr ein geborner deutscher Edelmann und wißt noch nicht, daß in Eurem Land fast einzig und allein die rechte ernste Freudigkeit und Treue, vermöge deren man kunstreiche Arbeiten verfertiget, daheim sind? Halte dafür, Eure fremden Nebenbuhler wissen besser Bescheid, und haben gewiß sämmtlich ihre Richtung nach der deutschen Gränze genommen.

Herr Adelhof schämte sich sehr, daß er dieser Zurechtweisung bedurfte, und machte sich in aller Frühe und Eilfertigkeit auf den Weg nach Deutschland.

In der That war er auch kaum einige Tage lang in dem guten Lande Tyrol, als er schon von einer wundersamen Frau hörte, welche Gewande zu weben und zu sticken verstehe, dergleichen man in der ganzen weiten Welt nicht finde. Sie wohne, sagte man ihm ferner, bei einer alten Hirtenfrau im Gebirge, welche ihr vor etwa zwei Jahren aus Erbarmen, fast ungern, Obdach gestattet habe, nun aber sich durch die Arbeiten der Fremden in einen großen Wohlstand versetzt151 befinde. Das meiste ihres reichlichen Gewinnstes wende jedoch die fromme Weberin auf Capellen und Kirchen, deren sie schon unterschiedliche in dem sonst wilden Thale mit aller Pracht und Zierlichkeit habe erbauen lassen. Sie selbst führe ein wahres Klosterleben, und erlaube nur ihrer alten Wirthin den Eintritt in ihre Zelle. Der Ritter, voller Ungeduld, das Ziel seines Suchens zu erreichen, kam noch selben Abends vor der Meierei der Hirtenfrau an, von welcher die Klause, darin die gottesfürchtige Fremde ihr einsames Wesen trieb, etwa fünfhundert Schritt oder mehr entlegen sein mochte. Die alte Wirthin nahm ihn zwar anfänglich ganz willig auf, als er aber sein Begehren nur kund zu thun anfing, unterbrach sie ihn sogleich, versichernd, die Gedanken daran könne er sich auf alle Weise vergehn lassen. Es seien schon viele reiche und edle Herren in der nämlichen Absicht hier gewesen; da habe die fromme Dame erklärt: um kein Geld, noch Gut, noch Ehrenbezeigung, wolle sie die Hand für die Befriedigung solch toller Eitelkeit anlegen, die sich ja in der That an Uebermuth den Einfällen vergleiche, womit ehemals Feien und andre böse Heidinnen die Welt geplagt hätten, wie man davon manche furchtbare Geschichte vernehme. Der Ritter Adelhof ward zwar über diese Weigerung152 sehr bestürzt, jedoch wollte er nicht minder als seine Nebenbuhler versucht haben, und drang daher in die Alte, sein Anbringen doch wenigstens der Dame vorzutragen. Man müsse alles zu seinem Glücke aufs fleißigste anstellen, meinte er; niemand wisse, was grade ihm aufgehoben sei, und schlage es auch alsdann gänzlich fehl, so dürfe man doch nicht auf sich selber schelten. Die Alte konnte ihm hierin nicht gänzlich Unrecht geben, und verfügte sich daher nach der Klause, wobei sie indeß beständig den Kopf als in vielem Zweifeln schüttelte. In der höchsten Verwundrung aber kam sie zurück, so schnell es ihre wenigen Kräfte erlaubten, die Hände zusammenschlagend, und ausrufend: Ihr thut wahrhaftig wohl, Eurer Fortuna zu vertrauen, denn Ihr seid ein unstreitiges Glückskind. Zum erstenmale, seit ich die fromme Dame kenne, hat sie ihren Entschluß geändert. Sobald ich Euren Namen und Begehr vorgetragen hatte, entgegnete sie: sag ihm, daß ich in diesem Augenblick an die Arbeit gehe, daß ein tadelfreies Gewebe binnen neun Tagen vollendet sein soll, und daß er so lange bei Dir herbergen mag, um es alsdann gleich mitzunehmen und seiner wunderschönen Braut zu überbringen. Störe mich aber in dieser Zeit mit keinem Worte. Ich bedarf eines153 frommen, gesammelten Gemüthes und vieles Betens, um eine solche Arbeit zu Ende zu führen.

Der Ritter wunderte sich selbst über die unvermuthete Gewährung seiner Wünsche; da ihn aber eine große Ungeduld nach Welschland zurück trieb, dachte er nur daran, es ins Ungewisse stellend, woher ihm ein so großes Glück aufgegangen sei, und ergab sich während der langen neun Tage fast in einem fort dem Zeitvertreib des Jagens, wie es denn einem so rüstigen und vornehmen Herrn auch wohl geziemte. Eines Abends kam er ganz spät aus dem Forste zurück, und, indem ihn sein Weg zufälliger Weise an der Klause vorbei führte, hörte er darin singen. Er stand neugierig still und vernahm folgende Worte:

O schwacher Sinn! O falsches Herz!
Du wählst und giebst für Freude Schmerz.
Warst doch allein all meine Lust,
Drug nur Dein Bildniß in der Brust,
Und soll Dich nun so gar entbehren,
Trüb scheiden, der so fröhlich kam.
Ach Gott, erstärk nur meinen Gram,
So wird er früher mich verzehren.

Er wußte nicht, ob er wache oder träume, denn ihm waren diese Verse, welche er am Abende seines Abschieds von der Königstochter gesungen154 hatte, noch wohl im Sinn geblieben. Nach Endigung des Liedes hörte er die Dame bitterlich weinen und sagen: o mein herzallerliebster Freund, wie großes Unrecht hast Du mir mit solchen Klagen gethan, und wie viel besser passen sie nun für mich. Damit ward sie wieder stille, und man vernahm nichts mehr, als den Gang des fleißig angeregten Webestuhls.

Es ward dem Ritter unheimlich zu Muth; er mußte beinah glauben, daß die Königstochter vielleicht gestorben sei, und ihm nun mit gespenstischem Treiben verfolge, denn wie sollte sie lebendig, von Vater und Bräutigam weg, allein in dieses Gebirge gekommen sein, und wem hinwiederum war das Abschiedslied bekannt, als ihm und ihr? In solcher Zweifelhaftigkeit verging ihm die Nacht, und auch ein Theil des folgenden Tages, ohne daß er sich der Klause wieder näher gewagt hätte, als er aber im Forste einen Jäger antraf, mit dem er schon vor einem Paar Tagen Bekanntschaft gemacht hatte, konnte er nicht umhin, ihn wegen der Königstochter zu befragen, ob man nicht in deutschen Landen höre, wie lange sie schon mit dem Fürsten verheirathet sei, und wie es ihr mit ihm ergehe?

Ei mein Gott, wißt Ihr das nicht? sagte der Jäger. Da ist an keine Heirath zu denken,155 und wer weiß, ob das schöne Fräulein nicht längst in Noth und Elend vergangen ist. Der König bestand wohl auf diesen Eidam, sie aber soll einen Andern im Herzen getragen haben, oder der Bräutigam war ihr sonst zuwider. Da gebot ihr der König kraft seiner väterlichen sowohl als herrschaftlichen Gewalt, sie solle sich des nächsten Sonntages in der Kirchen einstellen, geschmückt, wie es einer fürstlichen Braut gezieme. Sie kam auch dem Befehl mit allem Gehorsam nach, vom Priester aber befragt, entgegnete sie laut vor allem Volke, wie sie zwar wohl wisse, daß sich keine Magd ohne Vergunst ihres Vaters verehelichen dürfe, daß sie aber auch ein so heiliges Sakrament, als die Ehe, nicht durch eine lieblose, aus weltlichen Rücksichten gegebne, Einwilligung, entweihen könne. Bitte derohalben um Erlaubniß, dieser Verbindung überhoben zu sein, und sich erst dann einem Gemahl zu ergeben, wenn solcher, als ein vom Himmel beschiedner, dem Willen ihres Herrn Vaters und ihrem eignen Gemüthe gleich angenehm sei. Alle Leute verwunderten sich und erfreuten sich über die sittsame Festigkeit, mit welcher sie diese Worte vorzubringen wußte. Der Bräutigam aber ritt im Zorne davon, und der König zog seine Hand gänzlich von ihr ab. Sie könne heirathen wem sie156 wolle, erklärte er feierlichst, solle sich aber bei Todesstrafe nicht länger an seinen Hoflager sehn lassen. Nachdem sie mit demüthigen Thränen auf’s unterwürfigste Abschied genommen, hat zum größten Leidwesen der Unterthanen Niemand erfahren können, wohin sie gekommen sei, ob sie noch zu den Lebendigen, oder schon lange zu den Todten gehöre.

Hiermit schloß der Jäger seinen Bericht, und Adelhof, von einem heißen Reumuth durchdrungen, dachte nur daran, wie er seine verkannte und verlaßne Geliebte, (denn als solche erkannte er nun die fromme Weberin wohl) nach Gebühr an ihm selbst rächen wolle. Als daher die Alte nach Verlauf der neun Tage ihm das Gewand einhändigte, bat er, sie möge, da ihm die Dame doch so gnädig gewesen sei, ihr noch seine Bitte um mündliche Empfehlung und Danksagung vortragen. Die Alte berichtete zurück, wie die schöne Dame sehr betrübt gewesen sei, und nach einem schweren Seufzer gesagt habe: Herr Gott, auch das noch! aber er mag nur kommen.

Adelhof fand sie in tiefe Schleier gewickelt, in welchen sie ihm unerkannt zu bleiben meinte; er aber ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder, und während er ihr seinen Dolch darreichte, sprach er: Wollet zu der mir erzeigten Huld157 auch noch die fügen, schöne Königstochter, einem thörichten, undankbaren, aber bereuenden Jüngling mit Euern Händen den verdienten Tod zu geben, und ihm solchermaßen zur Ruhe zu verhelfen. Ich habe schwer an Euch gesündigt, und wohl wissend, wie ich Eurer gänzlich unwerth bin, erbitte ich mir nur noch diese einzige Milderung meines Elends. Sie aber schlug die Schleier zurück, und, ihn in all ihrer Schönheit und Frömmigkeit anlächelnd, sagte sie: willkommen sei, mein süßer Freund und Gemahl. Mein Vater hat mich der Schuldigkeit entbunden, die mich von Dir geschieden hielt. Hast Du mich nun noch lieb, so ist mein Leid in Freude verwandelt, und wir wollen als liebevolle Eheleute mit einander leben, das Eine jedoch bedungen, daß Du aller Klag und Schmähung gegen meinen Herzgeliebten, den edlen Ritter Adelhof, entsagst. Hierauf breitete sie ihm ihre zarten Arme entgegen, und er, sie umfangend, sagte: O lieber, getreuer Gott, wen Du auf Erden froh, im Himmel selig haben willst, dem gieb zur Geleiterin eine fromme deutsche Frau.

Der welschen Fürstin ward fortan unter den Beiden nicht mehr gedacht, und nach langem, freudvollen Ehestande hinterließen sie ein zahlreiches und höchst ruhmwürdiges Geschlecht. «

158

Als Stein geendet hatte, legte er das Buch schweigend aus der Hand. Niemand redete. Manchem hatte die Erzählung Langeweile gemacht, Andren riefen jene einfache Töne alter fester Zeit wehmüthige Vergleiche mit der zerfallnen, zerstückelten, Gegenwart herauf. Luise allein lebte ganz in den vorübergeführten Begebenheiten. Diese stille Sicherheit, im schwersten Kampf zwischen Neigung und Pflicht, dies reine Wollen und Vollbringen, ja die ganze prunklose Tugend altdeutscher Sitte, der ungetrübte Spiegel einer jungfräulichen Seele, warf einen so klaren Schein zurück, daß sie scheu in sich zurückbebte. Ich will fliehen, dachte sie, weit weg von hier, zu dem Grabe meiner Mutter. Ach meine Mutter! sie schlug die schönen Augen gen Himmel, rufe mich zu dir, sagte sie leise, wo keine Sünde ist, und kein Verbrechen dein schwaches Kind irre leitet!

Wollen wir noch einen Gang im Freien machen? sagte die Baronin aufstehend. Die Luft wird Allen nach dem gestrigen Tanze wohlthun. Sie hatte nicht viel auf die Vorlesung geachtet, ihr lagen andre Dinge im Sinne, daher sie auch, sobald sie einige Schritte mit Luisen vorausgerückt war, anhub: Wir verlassen Sie diesen Nachmittag, liebes Kind, es ist Zeit, glauben Sie mir, auch für Emilien! Fürchten Sie, fiel Luise ein, daß159 Fernando? hierüber bin ich eben so wenig als irgend jemand im Irrthum, erwiederte sie etwas heftig, allein, Emilie wird unsicher in sich selbst, und das könnte ihrem Gefühl grade eine Richtung geben, die mir nicht willkommen wäre. Wenn ich sie bis jetzt mit scheinbarer Sorglosigkeit sich selbst überließ, so geschahe das auf die Ueberzeugung hin, daß ich sie in jedem Augenblick verstehe, und bei der Gewalt, die ich über sie habe, einlenken kann wenn ich will. Emilie ist sehr unbefangen hingebend, aber auch eben so fügsam in die Nothwendigkeit äußrer Verhältnisse. Sie schließt sich an, und wendet sich ab, wenn es die Umstände gebieten, ohne sonderlichen Kummer zu empfinden. Mein Gott, unterbrach sie Luise, fürchten Sie denn nicht, daß, bey diesem steten Herumschweifen, ihr eigentliches Gefühl zu Grunde geht? Ihr eigentliches Gefühl? erwiederte die Baronin; verwechseln Sie doch damit ein flüchtiges Wohlwollen nicht. Die jungen Leute halten gemeinhin Eins für das Andre, und wenn man denn recht viel Aufhebens damit macht, so künsteln sie sich eine Leidenschaft zusammen, die sie und Andre erschreckt. Ueber die große Ruhe, ja Nichtachtung, mit der ich jede Bewegung in Emiliens Herzen kom men und schwinden sah, ist es bei ihr niemals recht zur Sprache gelangt, und ich denke, sie soll die Tiefe160 und den Umfang ihres eigentlichen Gefühles, wie Sie sagen, unter ernstren Beziehungen kennen lernen. Hier ist sie indeß in einer mißlichen Lage. Wenn Fernando ein künstliches Feuerwerk vor ihr aufsteigen läßt, so ruft Stein mit seinen bilderreichen mystischen Worten Irrlichter aus der Tiefe, die sie vollends verwirren. Er hat gestern lange mit mir über sie geredet. Ich habe eine herzliche Achtung vor ihm, allein für Emilien paßt er nicht. Seine Welt ist nicht die ihrige, und eben, daß sie sich für einen Augenblick in jene könnte hinüberziehn lassen, machte unsre Abreise nothwendig. Von hier aus trennen wir uns alle. Stein geht mit Herrn Werner nach Berlin, Carl zu seinem Fürsten, und der Maler bleibt bei Fernando zurück. Luise sagte noch einige höfliche Worte, um sie länger zurückzuhalten. Lassen wir das, erwiederte jene, unsre Gegenwart hat Ihnen nicht wohl gethan; allein besser, wir reden davon nicht weiter! ich hätte vielleicht überall besser gethan, zu schweigen. Doch war es bei Ihnen ganz anders als bei Emilien. Die leidenschaftliche Heftigkeit Ihres Gemüthes war früher durch den steten Kampf aufgeregt, zu dem Sie eine verfehlte Wahl verdammt. Bis dahin hatte es Luise noch nie gewagt, klar zu denken, daß sie besser hätte wählen können. Wie eine schwere, drückende, Kette schlang sich plötzlich161 das Band, das sie an Julius fesselte, um ihr Herz. Tausend frevelhafte Wünsche flogen kreuzend an ihr vorüber; das Unmögliche zeigte sich aus der Ferne erreichbar; es trat immer näher und näher auf sie zu. Verzeihen Sie, sagte die Baronin, wenn diese Worte Sie verletzen. Sie sind nicht glücklich, liebes Kind; aber eben darum müssen Sie auf sich achten und Ihr Gefühl vor der Welt verbergen. Ein Wort, Luise, um Gotteswillen, ein Wort, flüsterte Fernando, der sich an sie herangedrängt hatte, ich kann den Druck nicht länger ertragen, der bittre Schmerz liegt auf Ihren gesenkten Augen, auch Julius was ist vorgegangen? Gleich, lieber Fernando, erwiederte sie, in der tödtlichsten Angst, daß die Baronin alles hören werde, so bald wir allein sind. Wann werden wir das sein, fragte er unmuthig, es umringt Sie ja immer die halbe Dienerschaft; wann denn, Luise; wann meinen Sie? Bald, bald; diesen Abend, sagte sie, sich schnell wieder zu ihrer aufmerksamen Gefährtin wendend. Nun denn! rief er, bis dahin! Die Baronin hatte sich zu Emilien gekehrt, und Carl trat in ihre Stelle an Luisens Seite. Liebe Gräfin, sagte er, ich habe Sie noch um Vergebung zu bitten, wegen des Lärmens von heute Morgen. O ich weiß, unterbrach sie ihm, ich weiß alles. Sie wissen? fragte er, Sie? Nein, Sie wissen nicht,162 Sie sollen auch nicht wissen, bewahre Gott, das fehlte noch! Nein, setzte er hinzu, es war nur von dem kleinen Schreck die Rede. Ich hatte nicht auf die Kammerfrau gemerkt, die im Vorzimmer das Frühstück besorgte, sie hat denn auch mehr davon gemacht, als dran war. Julius kam sehr ungerufen dazu! Na, es ist vorbei, alles ist gut, Sie sind es doch auch? Gewiß, mein guter Carl, erwiederte Luise. Er hatte sie bei der Hand gefaßt, und ging einige Schritte mit ihr voraus. Nun, und Julius, fuhr er fort, hat auch weiter keinen Unwillen gegen den Italiener? Gegen Fernando? fragte Luise, die es wie eine Ahndung anflog, daß Werner etwas in Beziehung auf ihn und sie könne gesagt haben. Um’s Himmelswillen, ist er denn auch in dem Streit vermischt? Nun, so halb, erwiederte Carl. Ich bitte Sie, sagte Luise dringend, was ist vorgefallen? Nichts, nichts, antwortete er, was Sie jetzt noch ängstigen darf. O ich weiß es dennoch! rief sie ganz trostlos. Fernando Herr Werner hat von mir und ihm sie barg das Gesicht in den Tuch und weinte. Wenn Sie es denn doch wissen, sagte Carl, so will ich es weiter nicht leugnen; ja, er sagte so etwas, mit dem kalten, spitzen Ton, was ich nicht ganz verstand, was doch aber so zweideutig klang, und wie ich es nicht leiden mag, daß man über Sie163 redet. Ich bat mir eine Erklärung aus. Da lachte er höhnisch, und meinte, die läge in der Natur der Sache, wie er sich denn immer so gelehrt ausdrückt. Ich versicherte ihn aber, ich verstände ihn noch nicht. Mein Himmel, sagte er, was ist denn Dunkles darin, daß ein hübscher, junger Mann sein Glück bei einer hübschen Frau versucht? Nun verstand ich ihn freilich, aber es kochte auch alles in mir, ich hätte ihn mögen zum Fenster ’raus werfen. Er blieb aber fest und keck bei seinem Satz, und, wie nachher Julius herzukam und sich nach der Ursach unsers Streites erkundigte, wiederholte er auf eine recht geschickte Manier beinahe dasselbe, so daß er eigentlich nichts widerrief und man ihm auch nichts anhaben konnte; dabei sah er unverändert so ruhig und blaß aus, wie immer, indeß ich über und über glühete. Wir gingen darauf ruhig auseinander, aber Julius kriegte doch einen Stich weg, das merkte ich ihm an. Er zuckte ein paarmal mit der Oberlippe, konnte aber kein Wort hervorbringen.

Armer, armer Julius, dachte sie, als sie eben wieder das finstre Schloß betraten, und ihr eignes Leid und das seine ihr doppelt schwer auf’s Herz fielen. Sie wollte fort, nach dem Landhause ihrer Mutter; von dort aus wollte sie Fernando schreiben und ihn dringend bitten, diese Gegend zu verlassen. 164Ihr ödes, freudloses Leben, hoffte sie, solle so nicht lange währen. Sie machte im Geheim alle Anstalten zu ihrer Reise, und als ihre Gäste sie nun endlich gegen Abend verließen, suchte sie Julius auf, und sagte ihm so ruhig als sie konnte, daß sie schon längst den Wunsch gehegt habe, das Grab ihrer Mutter zu besuchen, und daher gesonnen sei, auf ein paar Tage nach ihrem kleinen Dörfchen zurückzukehren. Julius drückte ihr gerührt die Hand und sagte: geh nur, meine Luise, wohin Dein guter Geist Dich ruft. Der Maler und Fernando kamen darauf, sie zu einem Spatziergang abzuholen, und alle Viere bestiegen die nahen Berge. Luise, sagte Fernando, als sich Julius, eben mit dem jungen Künstler in einem Gespräch verwickelt, abwärts wandte, ich erinnre Sie an Ihr Versprechen. Hoffen Sie nicht, mir zu entgehn. Bei allem was heilig ist, ich muß Sie sprechen. Sie zögern Bei dem ew’gen Gott, Sie wissen nicht was Sie thun! Ich zerreiße alle Bande, ich ehre kein Gesetz, nichts mehr. Auf diesen Armen trage ich Sie weit, weit weg von hier, wo keine Pflicht Sie bindet, wo Sie nichts hindert, mein zu sein jetzt Luise jetzt in diesem Augenblick! Er trat mit einer Heftigkeit auf sie zu, daß sie zusammenfuhr und ihre Hände flehend gegen ihn aufhob. Um Gotteswillen, eine Entscheidung!165 ich ertrag es nicht länger! Der Traum von Freundschaft ist hin, ich fühle nichts als die glühendste, zerstörendste Leidenschaft; ich muß Sie sprechen, heute noch gewiß, Luise, heute noch oder wir sehen uns nie wieder, oder dieser Augenblick ist der letzte meines Lebens. Er trat dicht an den Abhang des Felsens; den Kopf weit vorgebeugt, sah er schwindelnd in den Abgrund. Ich will, ich will Sie ja sprechen! rief Luise. O, mein Gott, wann! fragte er mit einem wilden Blick. Ich weiß es nicht, sagte sie zitternd. Ach Gott! wie soll ich in der Todesangst Nun denn, hub er milder an, diesen Abend, wenn alles schläft, dann erwarte ich Sie da drüben in dem stillen Buchengange vor dem Kloster. Luise schauderte zusammen. Fernando hatte sich schnell zu dem rückkehrenden Julius gesellt. Sie hatte nicht die Kraft, den Fuß von der Stelle zu bewegen. Wie gebannt stand sie an die Felswand gelehnt. Luise! rief Julius, Du wirst Dich in der feuchten Abendluft erkälten. Sie schwankte unsicher an seiner Seite zum Schlosse zurück.

Als nun in der Nacht die Uhr, welche die Todesstunde ihrer Mutter anzeigte, Eins schlug, hüllte sie sich in einen Shawl und ging, die Hölle in der Brust, dumpf und zagend zur Gartenthür hinaus. 166Sie warf einen scheuen Blick auf Julius Fenster. Das Licht brannte hell dahinter. O Gott, dachte sie, wenn er ahndete Sie lief, ohne sich umzusehen, mit klopfender Brust, bis sie plötzlich vor dem Mönch zurückprallte, der ihr wie ein Geist aus dem Gebüsch entgegentrat. So spät, sagte er verwundert, in dem kalten Nebel! Ich muß, guter Vater, erwiederte sie, ohne zu wissen was sie sagte; ich muß, ich kann nicht schlafen Armes Kind! rief er ihr wehmüthig nach. Armes Kind, wiederholte sie; ja wohl, armes, armes Kind! Sie weinte heftig, als ihr plötzlich der Anblick des nahen Klosters ein unbeschreibliches Grausen einflößte. Hier! rief sie, ohne zu wissen was sie mit diesem Hier ausdrückte. Fernando trat ihr entgegen. Sie sank schweigend an seine Brust. Täusche Dich nicht, meine Luise, sagte er sanft, Dir ist dieser Augenblick so erwünscht als mir; du hast ihn durch schwere, unnütze, Kämpfe[erkauft]. Die kleine Unruhe wird sich legen. Es war Luisen, als zupfe sie etwas am Kleide. Sie sah sich um; der Hund ihrer Mutter sprang spielend um sie her. Wie vor einem menschlichen Auge schreckte sie bei dem Anblick des kleinen Thieres zusammen. Ihr war, als müsse er Zeugniß der dunklen, verbotnen That ablegen. Ach Fernando! rief sie angstvoll, verbirg mich vor mir167 selber. Ja, Unglückliche! rief eine bekannte Stimme, verbirg Dich in die innerste Tiefe Deiner Seele. Luise erkannte, laut schreiend, Julius. Wie das rächende Schicksal trat er vor Beide. Alle zurückgedrängte Gluth seiner entzündeten Brust flammte lodernd auf. Er griff Fernando heftig beim Arm. Verflucht! rief er, verflucht sei die Stunde, wo Dich Deine Mutter gebahr, unwürdiger Freund! Lösche Dein Verbrechen mit Deinem oder meinem Blute. Er warf ihm ein Pistol hin. Fernando hob es still auf. Sie stellten sich gegenüber. Luise sank sprachlos zu Boden, indem sie ihre Arme flehend gegen Beide aufhob. Um aller Heiligen Willen! rief der Mönch herzustürzend, haltet ein, ihr seid Brüder, Fernando ist mein, ist Violas Sohn; ich bin Eduard von Mansfeld! Der Knall beider zugleich abgedrückten Pistolen fuhr schneidend durch die Luft, ehe er noch endete; Fernando fiel blutend in seine Arme.

About this transcription

TextDie Frau des Falkensteins
Author Caroline de la Motte Fouqué
Extent175 images; 31711 tokens; 6790 types; 205537 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDie Frau des Falkensteins Erstes Bändchen Caroline de la Motte Fouqué. . HitzigBerlin1810. Kleine Romanenbibliothek von und für Damen Erste Lieferung.

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LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; ready; dtae; women

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