PRIMS Full-text transcription (HTML)
Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten.
Dr. E. Dühring.
Zweite, verbesserte und mit Gesichtspunkten für Selbstausbildung und Selbststudium erweiterte Auflage.
Leipzig. Fues's Verlag (R. Reisland). 1885.

Vorrede.

Im März 1876 wurde im Berliner Rathhaus von mir über höhere Berufsbildung der Frauen ein Vortrag gehalten, der nicht nur bei dem zahlreich und in beiden Geschlechtern gleichmässig vertretenen Publicum beifällige Aufnahme fand, sondern auch durch die sich in weiteren Kreisen verbreitenden Grundgedanken allgemeineres Aufsehen erregte. Den Aufforderungen, jenen Vor - trag in andern Versammlungen zu wiederholen, konnte ich nicht entsprechen, und so entschloss ich mich, um dem auch sonst mir vielfach nahegetretenen Wunsche, meine Auffassung des Gegen - standes näher kennen zu lernen, gehörig nachzukommen, dazu, eine selbständige Bearbeitung des Thema erscheinen zu lassen. Der Umstand, dass jener Vortrag die Veranlassung, wenn auch nicht die eigentliche Ursache meiner Beseitigung von einer Ber - liner Vorlesungsanstalt für Frauen, dem Victoria-Lyceum, ge - wesen, machte die vorletzte Nummer dieser Schrift, mit ihrem mehr als blos persönlichen Inhalt, nothwendig. Wie gross über - haupt die Hemmungen sind, die von Seiten der Scheinwissen - schaft und des gelehrten Unwesens den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen der Frauen, in den Weg gelegt werden, mag man aus meiner Kennzeichnung der Tendenzen entnehmen, die sich in den gelehrten Zünften und dem zugehörigen Unterrichtssystem im Sinne mittelalterlicher Ueberlieferung und gegenwärtiger Corruption verkörpert haben.

Nicht blos in ihrer ersten Entstehung, sondern nach ihrem ursprünglichen Erscheinen Herbst 1876 auch bald in ihren weiteren Wirkungen, hat die, nun wieder neu vorliegende Schrift ganz beson - dere Schicksale gehabt. Sie wurde Sommer 1877 neben dem Preiswerk des Verfassers über die Principien der Mechanik mit ihrer Kennzeichnung der Universitätszustände für die Berliner Uni - versität einer der Vorwände, die schon lange vorbereitete Remotion des vierzehn Jahre lang fungirenden Privatdocenten zu bewerkstelligen. Die gegen mich agirenden Figuranten vom Gelehrtenstande hatten sich jedoch gegen ihr Erwarten hiemit etwas in Scene gesetzt, wodurch die Universitätszeichnungen dieser Schrift nicht blos reichlich, z. B. durch viele Tausende von Studentenaufrufen, im Inlande bekannt wurden, sondern auch mehrfach im Auslande widerhallten. An diese ganze Bewegung kann ich hier nur erinnern. In meinem Buch Sache, Leben und Feinde ist ihr ein besonderes Capitel gewidmet und ist auch das mit der vorliegenden Schrift Zusammenhängende erläutert.

Die erheblicheren Zusätze in dieser neuen Auflage wird man bisweilen schon aus den Zeitberufungen erkennen. Der neu hinzugekommene letzte Abschnitt behandelt ein, wenn sich auch verwandt anschliessendes, doch zugleich selbständiges Thema, nämlich wieviel weiter sich ohne die Anstalten und trotz ihrer mit Selbstausbildung und gutgewähltem Bücherstudium kommen lasse.

Nun noch ein paar Aeusserlichkeiten! Der Abdruck des Verzeichnisses meiner Schriften am Ende der vorliegenden ist insofern auch ein zugehöriger Bestandtheil, als er bei den im Verlauf der Darstellung vorkommenden Anführungen die Um - ständlichkeiten vollständiger Titelangaben einfürallemal erspart. Der in andern Vorreden von mir geübten und begründeten Gewohnheit gemäss habe ich auch diese in jedem Exemplar mit Federunterzeichnung versehen.

Zehlendorf bei Berlin, im April 1885.

Inhalt.

  • VorredeIII
  • 1) Begrenzung der Aufgabe1
  • 2) Befähigungsfrage4
  • 3) Aerztliche Thätigkeit11
  • 4) Hochwissenschaftlicher Lehrerberuf von und für Frauen20
  • 5) Weibliches Studium und heutige Universitätszustände34
  • 6) Natürliche Vorbereitung für das praktische Hauptziel53
  • 7) Einschaltung über die Ränke des Gelehrtenneides gegen meine Thätig - keit für höhere Frauenbildung64
  • 8) Gesichtspunkt für Selbstausbildung und Selbststudium81
  • Schriften desselben Verfassers108
  • Bemerkung über die Plagiirung einer derselben110
[1]

1. Begrenzung der Aufgabe.

Es ist ein Zeichen des Ueberganges zu einer höheren Civili - sation, dass die weiblichen Bestrebungen, die überlieferte gesell - schaftliche, materielle und geistige Vormundschaft abzuthun, zu - gleich an ideeller Kraft und praktischer Nachdrücklichkeit er - heblich gewinnen. Die wirthschaftlich materielle Seite der Frauenfrage ist der praktisch wichtigste Ausgangspunkt für alles Uebrige. Die socialökonomische Berufsstellung des Weibes ent - scheidet durchschnittlich auch über das Maass höherer Bildung. Nur was sich an Bildungsnothwendigkeit aus den Erfordernissen des Berufs nothgedrungen ergiebt, kann für die grosse Zahl durch öffentliche Einrichtungen wirklich gesichert sein. Der blosse Reiz des Wissens ist zwar der edelste Beweggrund des höchsten Bildungsstrebens, wirkt aber nur ausnahmsweise und hat bisher noch nie jene breite Grundlage zu schaffen vermocht, welche den sozusagen mittleren Menschen, also die zahlreichen Gruppen um - fasste. Es ist also auch aus diesem höheren Gesichtspunkt er - forderlich, die Hebel im Gebiet der Berufszweige anzusetzen ... Auch sollen sich die folgenden Darlegungen, mit Ausnahme des letzten Abschnitts, um die wissenschaftliche Bildung durchaus nicht an sich selbst, sondern nur insoweit kümmern, als eine solche Bildung für das höhere Berufsleben nothwendig ist und sich da - her von selbst einfindet, wo die neuen gesellschaftlichen Functionen den Frauen zugänglich werden.

Im Haushalt der Gesellschaft spielen der höhere Lehrerberuf und die ärztlichen Verrichtungen eine Rolle, die theils gar nicht, theils nur missbräuchlich einen politischen Charakter hat. Da - gegen gehört die Thätigkeit des juristischen Sachwalters und vollends die des Richters schon in das staatliche Gebiet. Wer daher das Studium des Rechts oder gar der eigentlichen Verwal - tung mit Rücksicht auf die auch in dieser Richtung berechtigten2 Ansprüche der Frauen erörtern will, muss nicht etwa blos das Stimmrecht und die Theilnahme an den volksvertretenden Ver - sammlungen, sondern noch weit Mehr zuvor erledigt haben. Der politische Theil der Frauenfrage führt sehr weit; er lässt sich sogar nur in Zusammenhang mit den socialitären Grundfragen der ganzen Gesellschaftsverfassung entscheiden. Eine Behandlung, die da glaubt, mit ihm in isolirter Weise vorgehen zu können, ist theoretisch und praktisch auf einem Abwege. Bei dem heu - tigen Stande der Sache wird die politische Frauenfrage zu einem Theil der allgemeinen socialen Frage, und es ist auf den wenigen Bogen, die hier zur Verfügung stehen, wohl ein in sich ab - gerundetes Ganze, aber eben nicht eine Ausführung des politi - schen Thema in Absicht. Trotz der Ueberzeugung von der vollen Berechtigung eines rein politischen Programms, kann man dennoch ein engeres und für den Augenblick, wenigstens auf deutschem Boden, unmittelbarer zugängliches Gebiet abgrenzen, auf welchem sich die gesellschaftlich nicht rückläufigen Ansichten weit eher ge - danklich und thatsächlich zusammenfinden mögen, als wenn man in Verhältnisse ausgreift, deren Verwirklichung erst einer späteren Zukunft angehören kann. Wo man die letzten, am Horizonte der Zukunft absehbaren Aussichten zu entwerfen sucht, wie dies auch vom Verfasser der vorliegenden Schrift in systematischen Grund - werken volkswirthschaftlich politischer und allgemein philosophi - scher Art geschehen ist, da hat man auch in allen Hauptrich - tungen mit den Gestaltungen des Geschlechterrechts abzurechnen und nicht blos die durch Freiheit veredelte Ehe, sondern auch die politischen und socialen Gleichheitsansprüche des Weibes in den Grundformen festzustellen. Wo jedoch, wie in der Abgren - zung der jetzt zu behandelnden praktischen Angelegenheit, die heutige Gesellschaftsverfassung in ihren Hauptzügen nicht blos der Anknüpfungspunkt ist, sondern auch einen Rahmen bildet, innerhalb dessen schon erhebliche Reformen möglich sind, da wäre es Thorheit, die Auseinandersetzung mit den alten Vor - urtheilen noch durch die ganz unnöthige Hineinziehung weiterer Ausblicke zu stören. Namentlich würde es aber schädlich sein, die Eröffnung höherer Berufszweige für das weibliche Geschlecht so erscheinen zu lassen, als wenn sie mit den eigentlich politi - schen Interessen verwachsen müsste. Grade die Abtrennung eines, ohne durchgreifend politische Umänderungen durchführ - baren Gebiets der socialökonomischen Verbesserung der Lage3 des weiblichen Geschlechts liefert einen sozusagen taktischen Vor - theil, indem auf die Phalanx der Vorurtheile auf einem Punkte losgegangen werden kann, wo das alte Regime seine grössten Gebrechlichkeiten zeigt und nur noch von einer Falstaffgarde vertheidigt wird.

Auch hat die Eröffnung höherer wissenschaftlicher Berufs - zweige oder, wie man es auch nennt, der gelehrten Verrichtungen vor dem anderweitigen Streben nach niedriger belegenen Ge - werbsthätigkeiten einen Vortheil voraus. Im Bereich der gewöhn - lichen Gewerbe und Künste geräth das Weib viel leichter in falsche Hantirungen, und so viel auch über die unteren und mittleren Erwerbsgelegenheiten gesagt und was auch in dieser Richtung schon geschehen sein mag, so ist doch die Frage der wirthschaftlichen Arbeitstheilung auf diesem Felde noch keines - wegs gehörig entschieden. Eine geeignete Sonderung der Arbeits - verrichtungen und geschäftlichen Functionen wird oft genug ver - fehlt. So ist es beispielsweise äusserst fraglich, ob grade die auf - reibende Setzerarbeit in den Druckereien in erster Linie seitens der Frauen eine Berücksichtigung zu erfahren verdient. Ver - sperrt soll überhaupt keine thatsächlich mögliche Function sein; aber bei allseitig vollständiger Freiheit und Gelegenheit sollen eben Auswahl und Erprobung erst darüber entscheiden, was für die Anlagen, Neigungen und Leistungsfähigkeiten zweckdienlich ist. Je mehr man sich der untersten Schicht der Frauenwelt nähert und die Kreise der gewöhnlichen Arbeiterinnen in Betracht zieht, um so plumper zeigen sich die Ansprüche, die man fast ohne Unterscheidung zwischen Männern und Weibern eben auch an die letzteren macht. Die Beschaffung billiger Arbeitskraft ist hier der leitende Grundsatz aller unternehmerischen Auswahl, und in ähnlicher Weise wird einige Stufen nach oben oft genug mit humanitärem Heiligenschein die ganz gemeine Selbstsucht um - geben, die sich unter den sogenannten gebildeten Theilen des weiblichen Geschlechts ein neues Bewirthschaftungsfeld aufspürt.

Solchen Widerwärtigkeiten und hiemit auch aller Zweideutig - keit oder wenigstens sachlichen Zweiseitigkeit entgeht man, so - bald es sich um die Berufsarten handelt, zu denen eine höhere wissenschaftliche Vorbildung vorausgesetzt wird. Hier hat das Unternehmerthum theils gar keinen theils weniger Spielraum, und wenn die wirthschaftliche Billigkeit der Leistungsfähigkeit in Frage kommt, so geschieht dies unmittelbar dem Gesammtinteresse4 der Gesellschaft und nicht einzelnen Unternehmern gegenüber. Es ist alsdann jene natürliche Billigkeit oder, mit andern Worten, ein geringstes Maass von Kostenaufwand, was, wenn es in allen Verrichtungen verallgemeinert gedacht wird, der ganzen Gesell - schaft und mithin auch denen zu Gute kommt, die eben nur die natürlichen Productionskosten in gerechter Weise empfangen. Die Sorge für Wissen und Gesundheit muss auf dem kürzesten und sparsamsten Wege vorgehen, grade wie die Befriedigung jedes andern Bedarfs, und deswegen ist die Einreihung der weib - lichen Kräfte ein volkswirthschaftlicher Vortheil und würde dies im höchsten Maasse eben dort sein, wo die natürlichen Er - sparungen an sonst müssig bleibender Arbeitskraft Allen und Jedem zustattenkommen. Letzteres ist aber in den selbständig ausgeübten wissenschaftlichen Berufszweigen noch am meisten der Fall. Die zweckmässige Vermehrung der höheren Unterrichts - kräfte und des dem Preise nach in gehörigem Maasse benutz - baren ärztlichen Beistandes ist ein Erforderniss, welches schon an sich selbst die Einführung der Frauenthätigkeit in die höheren Gebiete rechtfertigen würde. Es sind jedoch in erster Linie die - jenigen Gründe geltend zu machen, die mit Stellung und Rolle des weiblichen Geschlechts in unmittelbarer Beziehung stehen.

2. Befähigungsfrage.

Von denjenigen gelehrten Berufsarten, die gegenwärtig auf Universitätsstudium beruhen, sind für die Frauen zunächst zwei volle Drittel in Anspruch zu nehmen. Scheidet man nämlich das juristische Fach vorläufig noch aus, so bleiben von den üblichen vier Facultäten, da die Theologie nicht als Wissenschaft, sondern nur als Glaubenschaft und mithin aus dem modernen Gesichts - punkt für Null zu rechnen ist, am allerwenigsten aber bei vor - wärts strebenden Frauen die Verirrung in das Priesterthum er - träglich wäre, so bleiben also von den drei zurechnungsfähigen Facultäten die medicinische und die sogenannte philosophische, aber hiemit eben auch zwei Drittel des gelehrten Berufswesens verfügbar. Jene philosophisch genannte Facultät hat praktisch nur die Bedeutung, Lehrer für die Gymnasien und Realschulen auszubilden, und alles Uebrige an ihr ist thatsächlich ein für die gesellschaftlichen Functionen bedeutungsloses Anhängsel. Es er - geben sich hienach der ärztliche und der höhere Lehrerberuf als5 die beiden Hauptverrichtungen, in denen die Vergleichung von dem, was die Frauen zu leisten haben, mit dem, was jetzt auf Universitäten geschieht, von Bedeutung werden muss.

Wenn hier zunächst an das blosse Universitätsstudium an - geknüpft und modernere Gestaltungen, wie namentlich die poly - technischen Schulen, vorläufig ausser Betrachtung gelassen werden, so geschieht dies, theils um die Erörterung zu vereinfachen, theils um grade die wurmstichigsten Stellen des hohen Unterrichts - wesens mit Rücksicht auf die Neuschöpfung weiblicher Studien - einrichtungen um so eindringlicher betrachten zu können. Wer im Hohlraum der universitären Bildung, beziehungsweise Ver - bildung, seine Aufmerksamkeit scharf nach allen Seiten gerichtet hat und aus der von mittelalterlichen Nebeln noch stark ver - dickten Luft in ein freieres, weniger getrübtes Bereich ausblickt, wo sich die modernen Grundsätze ungehemmt von jenen düstern oder schädlichen Bedrückungen entwickeln wollen, der kann nicht umhin, gleich von vornherein etwas Anderes zu fordern, als etwa eine blosse Einverleibung der Frauenwelt in das bis - herige Universitätswesen. Er wird von der Macht der neuen, durchgreifend aufklärenden Grundsätze und Wissensbestandtheile zu gross denken, als dass er wünschen könnte, das weibliche Geschlecht möchte den alten gelehrten Zunftüberlieferungen ohne Weiteres überantwortet werden und hiemit die Angelegenheit als im grössten Maassstabe erledigt gelten.

Grade umgekehrt wird es darauf ankommen, den weiblichen Fähigkeiten eine Bethätigungsstätte zu schaffen, auf welcher sie ihre ganze Tragweite zu bekunden vermögen. Die alte Unter - richtsverfassung und zugehörige Lehrart ist für diesen Zweck am wenigsten geeignet; denn sie ist es, welche mit ihrem unnützen Gelehrsamkeitsgerölle und ihrer überallhin verzweigten philologi - schen Pedanterie die Frauenwelt in der That in Gefahr bringen muss, blaustrümpfig auszuarten, nicht weil das hohe wissenschaft - liche Studium an sich selbst das Weib aus seiner natürlichen Bahn brächte, sondern weil die männlichen Blaustrümpfe, die in der Gelehrsamkeit und auf den Universitäten hausen, es ihrer - seits an der Mittheilung dieser schönen Eigenschaft an das andere Geschlecht nicht würden fehlen lassen. Ein heutiger Molière würde in erster Linie nicht die gelehrten Frauen, sondern die gelehrten Männer mit seiner Komik bedenken müssen, und im Grunde hat sich auch der alte Molière nur über solche weibliche6 Unternehmungen belustigt, die auf eine Nachäfferei dessen hinaus - liefen, was bereits an den Männern in verkehrtester Weise an - getroffen wurde.

Stellt man also die Frage nach den Fähigkeiten der Frauen derartig, dass man zugesehen wissen will, ob das weibliche Ge - schlecht mit dem männlichen in der gewöhnlichen Manier des Studiums wetteifern könne und solle, so ist mit einem Nein zu antworten, aber mit einem Nein, welches in einem ganz andern als dem gewöhnlichen Sinne des philiströsen Absprechens ver - standen sein will. Die Frauen sind für das heutige gelehrte Studium, wie es thatsächlich ist, allerdings nicht recht befähigt, aber nur darum, weil es ihnen, solange sie auf ihrem natürlichen Wege freier und zeitgemässer Bestrebungen bleiben, nicht in den Sinn kommen sollte, sich die alte Zwangsjacke mittelalterlicher Hochschulung anlegen zu lassen. Nicht sie sind für das Studium, sondern das Studium ist für sie unzulänglich. Ihre Fähigkeiten sind nicht etwa zu schwach, sondern im Gegentheil in ihrer na - türlichen Unverschultheit zu stark, um die alte Lehrmanier und deren trüben Schlendrian zu ertragen. Das weibliche Geschlecht ist im Bereich der Wissenschaft und der zugehörigen Berufe ein neues Element und muss unwillkürlich verjüngte Gebilde an die Stelle der altersschwachen Gattungen des Gelehrsamkeitsbetriebs bringen. Es muss mit seinen noch unverschulten Fähigkeiten verhältnissmässig noch mehr leisten, als beispielsweise im Ge - meinleben eine jugendliche Colonialgesellschaft vermag. Die letztere wird die Ueberlieferungen des Ursprungslandes unter neuen und freieren Verhältnissen zu frischen und wesentlich ver - änderten Gestaltungen ausbilden, aber dabei doch auch noch viel Vorurtheile und Thorheiten in die neue Erde mitverpflanzen. Die Ausmerzungen des chinesenhaft Verknöcherten werden sich zwar unter den neuen Lebensbedingungen zum Theil von selbst machen; aber dennoch ist diese Lage keine so günstige, wie die - jenige der Frauenwelt in dem vorliegenden Falle. Einer verrotteten Verbildungsart gegenüber, deren üble Wirkungen im Prak - tischen immer greifbarer werden, hat das Weib, wo es den Boden der Wissenschaft und ihrer Anwendungen betritt, nun - mehr von Natur - und Geschichtswegen den Beruf; die modernen Antriebe der Umschaffung der wissenschaftlichen Welt in sich aufzunehmen und an seinem Theil unter Widerstand gegen die verkehrten Zumuthungen durchzusetzen. Dieser heilsame Wider -7 stand wird ihm um so leichter werden, als es noch mit keiner ihm vererbten Gelehrsamkeitsgewohnheit falscher Art belastet ist und eben nur von den natürlichen Interessen des Wissens und wissen - schaftlich nützlichen Waltens bestimmt wird.

Ob die weibliche Körper - und Gehirnverfassung zu schöpfe - rischen Leistungen höchster Art in den schwierigsten Wissens - gebieten befähige, ist für unsern praktischen Zweck eine müssige Frage. Da aber die Verneinung derselben so oft als Einwand gegen die weibliche Betheiligung an gelehrten Berufsarten aus - gespielt worden ist, so sei hier doch wenigstens darauf hinge - wiesen, wie das Genie oder, mit andern Worten, die etwas Neues schaffende Fähigkeit mit den gelehrten Hantirungen des Arztes oder Lehrers eben selbst nichts zu schaffen hat. Die paar Dutzende wahrhaft schaffender Naturen ersten Ranges, die in jeder Gattung die ganze Menschheitsgeschichte hindurch allenfalls zusammenzuzählen sind, hatten Eigenschaften, die man doch sicherlich nicht bei den Tausenden suchen wird, die eben nur mit hervorragenden Talenten thätig waren, und wiederum die wenn auch geringeren, so doch ausgezeichneten und werthvollen Vorzugskräfte dieser Tausende werden gleichgültig bleiben, wo es sich um das durchschnittliche Maass von Können und Wissen handelt, welches alltäglich zur gemeinen Ausfüllung eines Berufs genügen muss. Der Durchschnittsarzt und der Durchschnitts - lehrer werden so ziemlich aus jedem Holze zu schnitzen sein, wenn nur die Schnitzmaschine ins Spiel gesetzt wird. Man muss von der wissenschaftlichen Formung der Menschen nur nicht zu hoch denken oder gar die Eitelkeit auf blosse Dressur unbesehen gelten lassen. Das Durchschnittserzeugniss ist, wie die Dinge heute stehen, nun einmal eine Waare, die sich in den gelehrten Fabriken stets fertigen lässt, wenn nur der gewöhnliche Rohstoff und die Bearbeitungskosten nicht fehlen. Dieser Rohstoff ist irgend ein lebendes Wesen von der Gattung Mensch, von irgend einer Race und irgend einem Stamm, wobei so gewaltige Unter - schiede unterlaufen, dass es wohl die grösste aller Thorheiten sein würde, die Weiber nicht einmal als einen solchen Rohstoff gelten lassen zu wollen. Wo die dicksten Schädel und plattesten Köpfe, wo sogar die Hebräer, d. h. ein zur Wissenschaft un - geschickter Stamm, noch immer gutgeheissenes Material bleiben dürfen, da sollten Frauen, weil sie eben weiblichen Geschlechts8 sind, ungeachtet einer oft unvergleichbaren Ueberlegenheit ihres Verstandes, als von der Natur ausgeschlossen gelten?

An bedeutenden Leistungen in den schwierigsten Wissen - schaften hat es unter den Frauen nicht gefehlt. Um nur an das grösste Beispiel der letzten hundert Jahre zu erinnern, so über - ragte im Gebiet der Mathematik Sophie Germain Schaaren von Professoren und Akademikern. Die hundertjährige Wiederkehr ihres Geburtsjahres (1776) erinnerte, wenn auch freilich ganz geräuschlos und nur für den denkenden Geschichtsschreiber der Wissenschaft daran, was bisher das Loos solcher weiblichen Aus - zeichnungen gewesen ist. Sophie Germain hatte zwar die An - erkennung Lagranges, des grössten Mathematikers der letzten hundert Jahre, für sich, von dem Beifall nicht zu reden, den sie von Seiten der Grössen niedern Ranges, wie namentlich von einem Gauss, einerntete. Verglichen mit den heute tonangebenden oder, besser gesagt, an der Oberfläche befindlichen, selbstverständlich männlichen Persönlichkeiten, stellte sie eine Figur vor, die offen - bar theils durch speciell mathematische Vorzüge theils durch Ueberlegenheit des Gesammtgeistes im Ganzen einen so bedeuten - den Eindruck macht, dass ein Hinausragen ihrer Fähigkeiten über die Anlagen, mit denen heute die Tagesautoritäten aus - reichen, für den Kenner der Geschichte und Gegenwart der Ma - thematik keinem Zweifel unterworfen ist. Ueberdies war sie eine feinsinnige Denkerin über allgemeine Wissenschaft und Philo - sophie, und wer sich für die Ergebnisse ihres freien Blicks in dieser Richtung interessirt, mag ausser den Anführungen in meiner Geschichte der Mechanik auch die Gesammtkennzeichnung nach - lesen, mit der ich ihr in meiner Geschichte der Philosophie eine auf diesem Gebiet noch ungewohnte Erinnerung zu stiften ver - sucht habe. Aber alle jene vorzüglichen Eigenschaften und Leistungen haben es dennoch nicht bewirken können, dass der Name Sophie Germains gebührend zur Erwähnung gelangt. Der Neid der kleingeistigen Autoritätchen, die tief unter ihr stehen, regt sich jedesmal, wenn die wissenschaftlichen Leistungen eines Weibes neben den hölzernen Gestellen der gemeinen männlichen Fabrikwaare an Hauptprofessoren und Hauptakademikern in Frage kommen. Es sind daher nur die höchstbegabten und da - her neidlosen Naturen, die gleich einem Lagrange für solche Fähigkeiten und Verdienste die gebührende Werthschätzung haben konnten.

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Wenn die Beispiele ersten Ranges, verglichen mit denen zweiter und dritter Ordnung, nur spärlich oder gar vereinzelt anzutreffen sind, so entspricht dies nicht etwa blos jener Selten - heit des Vorzüglichen, die der Männer - und Frauenwelt gemein - sam ist, sondern es kommt im Bereich des weiblichen Geschlechts auch noch der hochwichtige Umstand hinzu, dass hier Anregung und Gelegenheit zum Wissenschaftsbetrieb fast gänzlich gefehlt haben. Die gesellschaftlichen Einrichtungen beliessen das Weib ausserhalb der gelehrten Verrichtungen, während innerhalb der Männerwelt die Industrie der Gelehrtenausbildung ihren allge - meinen Rohstoff, das Menschenmaterial, fortwährend in bestimmten Mengen verarbeitete. Bei letzterer Massenproduction mussten sich ab und zu einzelne besonders gelungene Exemplare ergeben; denn nach Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsveranschlagung sind nur bei einer grossen Auswahl regelmässige Aussichten vor - handen, gelegentlich etwas von Natur Besseres und zugleich in der wissenschaftlichen Cultur Erfolgreicheres hervorzuziehen. Die Frauen sind aber nur in rein zufälliger Weise und ganz nebenbei dazu gelangt, an der Pflege der Wissenschaften theilzunehmen. Kein Wunder daher, dass sie in der Wissenschaftsgeschichte nur ausnahmsweise mit eigentlichen Grössen vertreten sind.

In den Zwischen - und Halbwissenschaften, die unter dem Niveau des strengen Denkens und der Mathematik stehen, haben sich übrigens in neuster Zeit die weiblichen Betheiligungsfälle vermehrt, aber nichts weiter bewiesen, als dass auch hier die gewöhnlichen Auszeichnungen sehr wohl mit den entsprechenden männlichen gelehrten Existenzen zu concurriren im Stande sind und dies noch mehr vermögen würden, wenn sie sich nicht durch den falschen Autoritätsrespect, der in ihnen der Männerliteratur gegenüber unwillkürlich wirksam ist, beengt und niedergehalten fänden. Miss Martineau, die Bearbeiterin des berühmten fran - zösischen Philosophen August Comte, die Schriftstellerin in po - pulärer Volkswirthschaftslehre und die Urheberin eines Werks über die neuste Geschichte Englands, kann immerhin als acht - bares Beispiel für das in den Halb - und Zwischenwissenschaften regsam gewordene und nicht ohne Erfolg gebliebene Frauen - streben gelten. Auch die Frau Stuart Mills, des Logikers und Nationalökonomen, der sich den Fortschritt des weiblichen Ge - schlechts zur gesellschaftlichen und politischen Selbständigkeit wohl unter den früheren Autoren am meisten hat angelegen sein10 lassen, auch die Frau Stuart Mills ist nach der selbstbiog - raphischen Angabe ihres Gatten dem letzteren oft genug eine gute Strecke voraus gewesen. Sie hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf seine Schriften ausgeübt und ihr Antheil an den - selben ist ein um so wichtigeres Zeugniss für die weibliche Be - fähigung, als man einen Stuart Mill doch schon zu den wissen - schaftlichen Arbeitern zweiter Ordnung rechnen muss.

Um auch das von der eigentlichen Wissenschaft und ihrer praktischen Anwendung am weitesten abstehende Gebiet nicht ganz mit Stillschweigen zu übergehen, so haben sich grade in der Belletristik die Frauen bereits am umfassendsten und ver - schiedentlich auch mit hervorragenden Leistungen geltend ge - macht. Als Schriftstellerinnen schlechtweg sind sie thatsächlich in der Literatur schon einigermaassen eingebürgert, und dies ist offenbar die Folge davon, dass man ihnen nie so entschieden, wie im Arbeiten an der Wissenschaft, so auch etwa im Spielen mit der schöngeistigen Puppe hinderlich gewesen ist. Schon ihre Durchschnittsbildung bringt sie mit besserer oder schlechterer Belletristik und Allem, was daran angrenzt, mehr oder minder in Berührung, und vom Lesen zum Schreiben ist bei begabteren Naturen in diesem Genre kein grosser Schritt. Es giebt hier sogar Beispiele einer höheren, ja vielleicht in einer gewissen Be - ziehung allenfalls hoch zu nennenden Ordnung von Leistungen, wofür George Sand ein sich der Erinnerung unwillkürlich auf - drängender Fall ist. Diese Frau stand mit ihrer schriftstelleri - schen Kunst doch wahrlich über einer Anzahl der namhaftesten Schöngeister, die man bei uns, wie z. B. die Gutzkow, Gustav Freytag, Berthold Auerbach u. dgl. zu den ersten Roman - und Novellenvirtuosen gezählt und wohl gar zu grossen Schriftstellern gestempelt hat. Das weibliche Geschlecht sollte jedoch auf die Auszeichnungen dieses Genres nicht zu stolz sein. Es möge be - denken, dass die Fähigkeiten, die sich hier zeigen, zwar bei den Männern ganz unbedenkliche künstlerische Verdienste im Gefolge haben können, in der Frage der weiblichen Freiheit aber darum nicht so wichtig sind, weil jenes Spiel mit der schöngeistigen Puppe den Weibern als eine unschuldige, wenig emancipatorische Beschäftigung noch am ehesten gegönnt wird. Es handelt sich aber grade darum, aus diesem Unterhaltungsgebiet herauszu - kommen und dem Ernst des Wissens und Lebens näherzutreten. Ueberhaupt wird die Bildungsfähigkeit zu allerlei künstlerischen11 Leistungen dem Weibe am wenigsten bestritten und der Weg dazu am wenigsten verlegt werden. Es ist aber nöthig, da einzu - dringen, wo sich die Bollwerke des bisherigen männlichen Monopols am ungefügigsten und die Vorurtheile am verstocktesten erweisen.

3. Aerztliche Thätigkeit.

Die praktische Anwendung der Wissenschaft findet sich in ihrer vollen Unmittelbarkeit nur da, wo durch sie auf das ma - terielle Wohl und auf die Gesundheit der Menschen eingewirkt wird. Der blosse Lehrerberuf ist sozusagen eine Zwischenthätig - keit und ist es am meisten da, wo er nicht die Anwendung der Wissenschaft auf das Leben, sondern nur die Beschaffung von allgemeiner oder vorbereitender Bildung zum Zweck hat. So werthvoll letzteres Ziel auch an sich selbst ist, so kann es doch in der Frauenfrage zunächst praktisch nur an zweiter Stelle in Betracht kommen. Der Gang der Dinge wird und muss hier derselbe sein, der er sonst bezüglich der männlichen Bildungs - interessen in der ganzen Geschichte gewesen ist. An die Bedürf - nisse der praktischen Verrichtungen haben sich Forschung und Studium angeknüpft, und die nothwendigen gesellschaftlichen Functionen sind die Träger, Erhalter und Vermehrer einer Bil - dung gewesen, die nebenbei auch zu einer dem blossen Geistes - spiel dienstbaren Speculation führte. Die selbständige Freude an aufklärender Bildung, an erhebender Geistesmacht und schliess - lich in der höchsten Steigerung auch am eigentlichen Denker - und Forscherthum soll in ihrer Selbständigkeit und in ihrem vom Dienste des Lebens unabhängigen Werth sicherlich nicht herab - gesetzt werden. Das noch so energische Gefühl dieser Würde wird aber bei besonnenen Naturen den Gedanken nicht aus - schliessen, dass die praktische Sicherung bestimmter Bildungs - elemente zuerst von der Anlehnung an solche Berufsverrichtungen ausgeht, in deren Dienst das Wissen eine für die dringendsten Bedürfnisse der Gesellschaft heilsame Rolle spielt. Die auf natur - wissenschaftlichen Grundlagen betriebene Heilkunde und Gesundheitspflege ist innerhalb der Universitätsfächer das, was mit dem modernen Streben und Wissen die meisten Berührungspunkte hat oder wenigstens haben kann. Wer Medicin studirt, muss wenig - stens einen Theil der mittleren und niederen Naturwissenschaft, also ausser den mehr beschreibenden Fächern auch schon die ein12 wenig rationalisirten, wie die Physiologie, einigermaassen auf seine Denkweise wirken lassen. Dieses bescheidene Maass, wie es in der Bildung des deutschen Mediciners, einschliesslich derjenigen des medicinischen Professors, durchschnittlich vertreten ist, kann nun einerseits nicht als eine allzu grosse Zumuthung an den weiblichen Wissenserwerb gelten, und muss doch auch anderer - seits zu einer verhältnissmässig ganz ansehnlichen Geistesbefreiung führen, zumal wenn man die Prüderie bedenkt, die noch immer das der Frauenwelt auferlegte Gesetz ist.

Lassen wir jedoch diese Betrachtungen noch zur Seite, und sehen wir uns zuerst nach dem Felde um, in welchem die medi - cinische Praxis den Frauen unzweifelhaft natürlich und sogar ein Bedürfniss der ganzen weiblichen Gesellschaft ist. Bis jetzt haben, vereinzelt und ganz in der alten Manier, besonders unter - nehmende Frauen, wo es anging, hier und da ärztliche Prüfungen bestanden und sind so mit den Männern in gleicher Concurrenz - reihe und genau mit denselben Ansprüchen auf eine allgemeine, unterschiedslose und ungetheilte Ausübung aufgetreten. Es wäre aber mindestens ebenso wichtig, dass nicht blos die Rolle, weib - licher Arzt zu sein, sondern auch das natürliche Interesse der Frauenwelt, für sich und ihre Töchter, ja überhaupt für ihre Kinder weibliche Aerzte zu haben, energisch in das Spiel käme. Ja sogar die Männer möchten vielleicht diesem Interesse auch ihrerseits einige Beistimmung zollen, insofern es nämlich auch ihnen nicht gleichgültig sein kann, ob das naturgesetzliche Wider - streben des gesunden und unverdorbenen Sinnes verachtet und das Weib gezwungen wird, da in Beziehung auf seine Zustände und Eigenschaften körperlicher und geistiger Art im höchsten Maasse vertraulich zu werden, wo es dies auch nicht im ge - ringsten will oder soll. Diesen Grund mögen sich namentlich diejenigen zu Gemüthe führen, bei denen doch sonst die Rück - sicht auf das Wohlanständige angeblich ein so grosses Gewicht hat. Die materialistische Naturmoral dürfte hier den männlichen Aerzten, die jenes Widerstreben in ihrer gewohnheitsmässig ver - schobenen Denkweise nicht anerkennen, einen argen Streich spielen; denn sie lehrt, dass es, abgesehen von Alter oder Ab - stumpfung, keine vertrauten Annäherungen oder Mittheilungen zwischen den beiden Geschlechtern geben kann, ohne dass gegen - seitige Reizungen nahelägen und mindestens die peinliche Be - mühung nothwendig machten, da die strengste Zurückhaltung zu13 üben, wo doch die Sache selbst die ungenirteste Mittheilung aller auf die Gesundheit von Körper und Gemüth bezüglichen That - sachen erfordert. Grade wer nicht zu den Verehrern des con - ventionellen und in so vielen Punkten durchaus abseits gerathenen Anstandes gehört, wird den wirklichen Naturgesetzen, wie sie sich in den Veredelungen einer echten Cultur auszuprägen haben, volle Rechnung tragen. Man findet es noch vielfach ungeheuer - lich und gefährlich, dass Studirende beider Geschlechter zusam - men denselben Vortrag anhören; aber eben dieselben Profes - sörchen oder sonstigen Jünger des sich seltsam widersprechenden Geistes alter Vorurtheile stellen sich lächelnd an, wenn man in der Behandlung der Frauen aller Altersstufen durch Aerzte, die ebenfalls allerlei Varianten der Altersentwicklung angehören, eine lästige Unzuträglichkeit sieht. Der Rath, den Mephisto Goethe dem angehenden Studirenden zu Gunsten der vortrefflichen Chancen der Medicin gab, dürfte zwar für alle Zeit die Quelle von der er ausging, gekennzeichnet, aber doch auch ebenso eine wohlbeobachtete Wahrheit enthalten haben und einen unver - äusserlichen Zug der ärztlichen Praxis bilden, für den sich frei - lich die grössere oder geringere Ausdehnung nicht statistisch fest - gestellt findet. Dieser edle Rath bestand bekanntlich darin, die Angelegenheiten der Gesundheit getrost dem Lauf der Dinge anheimzugeben, da sich ja doch nichts machen lasse, und zu der Frivolität der Wissenschaft oder vielmehr Unwissenheit die Fri - volität des Lebens durch Benutzung der Annährungen an die Weiber bei jeder günstigen Gelegenheit hinzuzufügen. Denkt man auch überdies an die mannichfaltige Rolle der ärztlichen Hauspriester, so wird man es nur um so mehr in der Ordnung finden, dass die medicinischen Beichtväter der weiblichen Be - völkerung doch wenigstens mit Beichtmüttern vertauscht werden, wenn es auch überhaupt von einem modern freien Standpunkt aus gar nicht angeht, eine Art ärztlicher Seelsorge, also irgend ein Anstreifen der durchsichtig und klar sein sollenden Heil - praxis an das alte, dem Kindheitsstadium der Völker angehörige Heilpriesterthum zu gestatten. Eben um die Aerzte zu nöthigen, aus dem Nebelreich, in welchem die Autorität ihres verschleierten Wissens oder Wissenwollens so schön gedeiht, an das Licht her - vorzutreten, müssen ihnen Concurrentinnen beigegeben werden, die wenigstens in einem Hauptpunkte keine Veranlassung zu Mystificationen haben.

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Nach dem Vorangehenden würde den weiblichen Aerzten in der natürlichsten Weise mehr als die Hälfte, ja vielleicht zwei Drittel der ganzen Praxis gehören und mit der Zeit auch wirk - lich zufallen. In feineren Specialitäten, wie z. B. in der Augen - heilkunde, würde aber jener Unterschied von geringerem Einfluss sein und auch die gemischte, nicht nach Geschlechtern getrennte Behandlung gelegentlich platzgreifen. Im Grossen und Ganzen würden sich die Aussichten der Frauen nicht schlecht stellen; denn es würde mindestens die eine Hälfte der Bevölkerung von ihren medicinischen Leistungen Gebrauch machen. Ueberdies käme noch ein besonderer socialökonomischer Vortheil von grosser Wichtigkeit hinzu. Medicinischer Rath und thatsächliche Heil - hülfe würden von Seiten der Frauen nicht nur mit mehr Be - kümmerung um das Einzelne und daher in mehr praktischer Weise, sondern auch um einen billigeren Preis zu haben sein. Zunächst ist unter den einmal gegebenen Verhältnissen die weib - liche Thätigkeit stets weniger kostbar als die männliche; denn erstens sind die Herstellungskosten der weiblichen Arbeitskraft von vornherein geringer, und zweitens ist die Lage der weib - lichen Bevölkerung in Rücksicht auf die Concurrenz vorerst eine ungünstigere. Muss nun auch letzterer Uebelstand mit der Zeit im Sinne der vollen Gleichheit verschwinden, so haben wir doch zunächst mit den gegebenen Thatsachen zu rechnen und müssen ihnen neben dem Schlimmen, das sie an sich tragen, auch etwas Gutes abzugewinnen suchen. Eines wird aber auf die Dauer einen gediegenen, mit Niemandes Schaden verknüpften Vortheil gewähren, nämlich diejenige Preiserleichterung, die sich aus der neuen Ausbildungsart weiblicher Aerzte von selbst ergeben muss.

Die Kosten, um welche ein Mediciner gegenwärtig producirt und sozusagen auf den Markt gebracht wird, sind unverhältniss - mässig und unnatürlich hoch. Sie übersteigen diejenigen jeder andern gelehrten Berufseinrichtung und finden sich besonders dadurch erhöht, dass ein grade für diesen Beruf unnützer Gelehr - samkeitskram die gymnasiale Vorbildung und die universitäre Ausbildung stark belastet. Billige Aerzte werden immer unmög - licher, je grösser der Contrast zwischen den künstlichen Bildungs - oder auch Verbildungsanforderungen und den wahren Gesell - schaftsbedürfnissen wird. Ein Wiener Professor, den ich übrigens für die Betrachtung dieser Dinge nicht etwa als Muster empfehlen möchte, Herr Billroth, hat in einer auf das Studium der Medicin15 bezüglichen Schrift das ökonomische Geheimmittelchen ausge - plaudert, auf welches er den Geschäftsbetrieb der jungen Aerzte gegründet wissen will. Nach seiner Ansicht wäre das Studium der Medicin nur für tüchtig bemittelte Gesellschaftselemente da, und übrigens gehört es nach ihm zu den empfehlenswerthen Hauptmaximen der medicinischen Laufbahn, eine reiche Heirath zu machen. Ein Ehegeschäftchen von finanzieller Ergiebigkeit gehörte also zur medicinischen Ausstattung, und die Frage von unserm Standpunkt bleibt nur die, was das Ersatzmittel jenes herrlichen Receptes für die auf eine medicinische Praxis aus - blickenden Frauen sein solle. Etwa reiche Männer zu heirathen? Aber diese sind keine Waare, die wie das Weib mit einer be - stimmten Mitgift angeboten und für die zweifelhafte Ehre und Annehmlichkeit einer betitelten Geschäftsehe losgeschlagen wird. Hier versagt daher der Humor, und man wird sich wohl nach nicht corrupten, in der Natur der Sache gegründeten Ueber - legungen umthun müssen.

Die natürlichen Herstellungskosten eines zur ärztlichen Thä - tigkeit hinreichend ausgebildeten Menschen werden in einem ge - sunden Verhältniss zu den späteren Einkünften stehen, sobald man sich all das unnütze, ja schädliche Gerölle der altsprach - lichen Verschulung und der mittelalterlichen Universitätsmanier mit ihren unsäglich langen und doch verhältnissmässig so uner - giebigen Lernzeiten und einseitigen Vorlesungsabhaspelungen hin - weg und durch ein zweckmässigeres System ersetzt denkt. Unter letzterer Voraussetzung wird auch die ärztliche Stellung in der Gesellschaft eine gesundere werden; denn gegenwärtig krankt sie an einer schlecht mit der Gewerbefreiheit stimmenden Monopol - sucht. Eine vielfach unter den Aerzten verbreitete Ansicht ist ungefähr die, welche der vorher genannte Professor in Rück - sicht auf Reichthum und Heirathen mit recht ungenirtem Vorwitz und unabsichtlicher Komik zum öffentlichen Besten verrathen hat. Aber dieses eheliche Auskunftsmittel ist keine überall mög - liche Gründungsmanipulation. Die Etablirung des Arztes ist, wie dies in Grossstädten besonders sichtbar wird, ein sehr gewagtes Geschäft, dessen bedeutendes Risico, wie die Dinge einmal liegen, allerdings Capitalreserven verlangt und häufig genug diese letz - teren verzehrt, ohne zu einem nennenswerthen Ergebniss zu führen. Es erklärt sich daher sehr wohl, wenn die Aerzte nach Zwangs - und Bannrechten über das Publicum haschen und sich16 zugleich von den Resten gesetzlicher Pflicht befreien lassen. Die - selben Aerzte, die in den gesetzgeberischen Körperschaften dafür sorgten, dass kein Verunglückter, der schleunigen Beistand braucht, auf ihre Hülfe bei Tag oder Nacht das alte herkömmliche Recht behielte, vermöge dessen der Doctor kommen und sich wohl auch aus dem Bett bemühen musste, wenn und wo er zu Hülfe gerufen war, derlei Aerzte, unter denen manche den ökono - mischen Cynismus bis zur Forderung der Vorausbezahlung und zur Versagung des Beistandes an nicht sofort Zahlungsfähige treiben, eben solche Aerzte sind dem Publicum mit dem Impf - zwang ins Geblüt gefahren, und man kann nicht umhin, hierin eine ganz hübsche künstliche Erweiterung der erzwungenen Nach - frage nach ihren Diensten zu sehen. Auch die Hebammen sind ihnen als ausgedehnte Concurrentinnen in der weiblichen Geburts - hülfe nicht mehr recht, und allerdings würde es eine erkleck - liche neue Besteuerung des Publicums geben, wenn letzteres einmal nur die Wahl haben sollte, die theuren Preise für die ärzt - liche Geburtshülfe zu bezahlen oder auf alle und jede Hülfe zu verzichten. Die Preissätze, welche die Aerzte der früheren staat - lichen Gebührentaxe in Preussen untergeschoben haben, mögen zwar ganz gut zu den Bedürfnissen des grossstädtischen ärzt - lichen Comforts passen, sind aber sehr wenig geeignet, die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage nach solchen theuren Diensten zu vermindern. Die wachsende Monopolsucht ist zum Theil eine Folge dieses Missverhältnisses und steht daher nur scheinbar mit der Gewerbefreiheit in Widerspruch. In Wahrheit befindet sich der Berufsstand der Aerzte in einer ökonomischen und gesell - schaftlichen Krisis, die von der Halbheit seiner Lage herrührt und auch die gesteigerte Feindseligkeit gegen weibliche Con - currenz einigermaassen erklärt.

Die medicinische Thätigkeit ist im Bereich der preussisch - deutschen Gesetzgebung oder, um es amtlicher auszudrücken, innerhalb des Reichsgebiets, insoweit ein freies, von allen Voraus - setzungen unabhängiges Gewerbe geworden, als nicht der Titel Arzt oder irgend eine solche Bezeichnung als Aushängeschild gebraucht wird, die bei dem Publicum den Glauben erwecken würde, dass sich Jemand als staatlich geprüfter Praktiker an - kündige. Uebrigens mag Jedermann und zufolge des Fehlens einer gesetzgeberischen Beschränkung auch jede Frau die Heilpraxis ausüben. Dies ist wenigstens das Princip und auch schon in17 ziemlichem Umfang eine Thatsache; denn die Klagen der privi - legirten Aerzte über die sogenannte Pfuscherconcurrenz sind gar gross. Indessen fehlt doch noch viel, dass alle entgegenstehenden Inconsequenzen der alten Gesetzgebung dem neuen Princip der Gewerbefreiheit eine vollere und würdigere Entfaltung verstatteten. Die Apothekerei beruht noch immer auf vererbbarem Monopol und auf Concession mit herkömmlicher und thatsächlich sehr enger Begrenzung der Anzahl dieser Medicamentfabriken.

Der Hauptmangel aber, weswegen die an sich in dem gegen - wärtigen Gesellschaftssystem durchaus heilsame Gewerbefreiheit zunächst zu manchen Unzuträglichkeiten und zwar besonders für die bisherigen Monopolisten führt, ist die Halbheit der Maass - regel. Auf der einen Seite hat man die medicinische Thätigkeit einigermaassen freigegeben, aber nur zu einer von vornherein degradirten und daher schon deswegen nicht immer die besten Elemente anmuthenden Ausübung. Auf der andern Seite hat man die bisherige Monopolgruppe, welche jetzt nur noch halb - privilegirt ist, in dem ungefügigen Gestell einer veralteten Bil - dungs - und Verbildungszurüstung stecken lassen, ohne zu be - denken, dass auf dem freien Markte des Lebens, wo zum Con - currenzlauf doch wohl Beine von Fleisch und Blut gehören, das hölzerne Stelzenwerk der gymnasialen, namentlich aber der univer - sitären Dressur mit Altsprachlichkeit und Scholastik ein nicht blos für die Hauptsache an sich hinderlicher, sondern auch viel zu kostspieliger Apparat ist. Die vergeudete Zeit und der im Hirn beengte Raum, wo etwas Besseres und Praktischeres hätte platz - finden sollen, sowie die baaren Auslagen für brodlose, auf Geistes - pedanterie auslaufende Künste, das sind Hemmnisse, durch welche die natürliche Gestaltung der Berufsausübung und ihre freie ökonomische Anpassung an die Bedürfnisse der Gesellschaft hintertrieben werden. Es giebt also nur ein einziges Mittel, die Herstellung des gestörten Gleichgewichts herbeizuführen, und dies besteht darin, aus dem Halben etwas Ganzes zu machen und die Befähigungsbürgschaften, soweit deren die Gesellschaft über - haupt noch in staatlicher Weise zu bedürfen glaubt, blos in der öffentlichen Bezeugung der nach natürlichen Grundsätzen für den praktischen Zweck erforderlichen Vorkenntnisse bestehen zu lassen. Hienach hätte man die Art, wie Jemand zu seinem Wissen und Können gelangt ist, nicht zu untersuchen, sondern nur sein fertiges Wissen und Können an sich selbst zu prüfen18 und zu veranschlagen. Auch der höhere und hohe Unterricht wäre hiemit frei, und es könnte sich Alles nach Maassgabe der lebendigen Bedürfnisse gestalten. Doch ich will hier diesen Aus - blick nicht verfolgen. Ich habe auf den Mangel an Folgerichtig - keit und auf die entsprechenden Uebelstände nur hingewiesen, um für das weibliche Geschlecht einen andern Weg der Aus - bildung in Anspruch zu nehmen.

Dieser leichtere, billigere und für die Hauptsache dennoch erfolgreichere Weg schneidet auch gänzlich einen beliebten Ein - wand ab, der aber auch sonst nicht viel zu bedeuten hätte. Die Aerzte sind häufig sehr zartfühlend für das weibliche Geschlecht und stellen sich äusserst besorgt an, dass die armen Frauen unter der Last einer so schwer erlernbaren und schwer auszuübenden Kunst zusammenbrechen möchten. Sie weisen auf die weibliche Körperverfassung hin und geben sehr weise zu bedenken, dass die grossen Vorstudien und Studienthaten, in denen sie selbst, mit ihren männlichen, von der Natur anderweitig weniger in Anspruch genommenen Kräften, fast aufgerieben worden wären, nichts für ein Geschlecht sein könnten, dem schon die Natur ganz andere erschöpfende Aufgaben gestellt und allerlei zugehörige Störungen der normalen Leistungsfähigkeit aufgebürdet habe. Nun ist es allerdings eine Einrichtung zum Blasirtwerden, dass Jemand nach Abmachung des ersten Elementarunterrichts noch ein Jahrzehnt die Gymnasialbank drücken, alsdann mindestens vier zünftlerische Lehrjahre auf den Universitäten absitzen und schliesslich noch einige formelle Extrastationen als Hülfsmaterial für die Krankenhäuser ertragen muss, ehe er dazu gelangt, wirk - lich selbständig zu lernen d. h. in erster grüner Experimentalpraxis oder besser als Assistent eines gewiegten Privatpraktikers ein wenig in die Wirklichkeit der Heilkunde eingeweiht zu werden. Das Lebensalter ist alsdann über Gebühr vorgerückt, das Er - gebniss aber ungeachtet oder vielmehr vermöge aller Prüfungs - chicanen, die zu neun Zehnteln auf unnützen Kram hinauslaufen, in Wissen und Können ein unbefriedigendes und die praktische Aussicht nicht verlockend. Jeder scheut sich vor einem jungen unerfahrenen Arzt; denn wenn er es auch nicht mit allen Gründen nachweisen kann, so ist er doch aus den bisherigen Wahrneh - mungen der Gesellschaft davon unterrichtet, dass der maassgebende staatliche Vorbildungsgang keine Bürgschaft für unmittelbar bereites Wissen und Können bietet. Es wird also der Armuth und Noth19 überlassen bleiben, den Stoff für jene tastende, jedenfalls aber unreife Experimentalpraxis zu liefern, auf welche selbst bei be - gabteren und unternehmenden Naturen doch mindestens ein halbes Jahrzehnt zu verrechnen ist; denn hier beginnt erst das eigent - liche Lernen. Auch beginnt hier erst die Gewöhnung an ge - legentliche Berufsstrapazen, und es ist allerdings der beste Theil des Lebens vernutzt, wenn der Mann dazu kommt, wahrhaft selbständig und in seinem Berufsgebiet zu Hause zu sein. Es mag also den Medicinern nicht übel genommen werden, wenn sie von der Kräfteauszehrung, der sie auf ihrem Lernwege anheim - fallen, viel Aufhebens machen und das weibliche Geschlecht ab - schrecken zu müssen glauben. Wenn sie aber überhaupt die ge - legentlichen Strapazen der wirklichen Praxis so hoch veran - schlagen, dass sie den Weibern die physische, moralische und geistige Fähigkeit absprechen, den verschiedenen Vorkommnissen gewachsen zu sein, so mögen sie sich doch erinnern, dass sie anderwärts, wo es sich nicht um Concurrenz handelt, die Frauen für Strapazen ganz zurechnungsfähig erachten. Oder sind die Leistungen der weiblichen Krankenpflege im Frieden und im Kriege etwa nicht oft noch angreifender, als die eigentlich ärzt - lichen Hantirungen, die sich, abgesehen von der Chirurgie, meist auf blosse Anordnungen beschränken und sich von den gröbern Unannehmlichkeiten meist in vornehmer Ferne zu halten wissen? Das Weib, welches dazu ausreicht, die schwersten und gefahr - vollsten unter den niedern Krankendiensten zu verrichten, soll seltsamerweise für die feineren eine zu zarte Leibes - und Hirn - verfassung haben! Die Frauen, die man als Wärterinnen und in der Krankenpflege nicht genug rühmen kann und deren gesell - schaftliche Berührung mit dem Aerztepersonal der Krankenhäuser keinen Anstoss erregt, sollen mit einem Mal aus ihrer Natursphäre weichen, wenn sie danach streben, an Wissen und Thun der Aerzte theilzunehmen. Fort also mit diesem gebrechlichen Einwand, der, genauer besehen, ein blosser Vorwand ist! Man hat doch sonst nie gezögert, das Weib zur Trägerin der schlimmsten Lasten zu machen und ihm die Dulderrolle aufzuzwingen. Was Frauen ertragen konnten und mussten, lehrt die Geschichte der Gesellschaft in grossen Zügen und beweist jeder unbefangene Blick auf das Loos der Masse des weiblichen Geschlechts. Die schlimmere Arbeit ist stets auf den schwächeren Theil abgewälzt worden und zwar um so mehr, je roher ein Stamm und je20 unentwickelter eine Civilisation war. Das Weib ist aber überall innerhalb der reinen Gewaltverfassungen, die bis auf den heutigen Tag dauern, der schwächere Theil gewesen, und so erklärt es sich, dass auf seinen Schultern wohl die unvortheilhafteren Lasten gehäuft, aber von eben diesen Schultern das Gewicht derjenigen Würden, die das selbständige Leben fördern und für dasselbe Etwas eintragen, zärtlichst ferngehalten worden ist und mit rührender Sorgfalt noch immer abzuwenden versucht wird.

Was in der That von der Frauenwelt ferngehalten werden soll, sind nicht die nach dem Vorurtheil zu schweren Berufs - fächer höherer und wissenschaftlicher Art, sondern die falschen Ausrüstungs - oder vielmehr Bepackungsarten, mit denen man die Reise zu solchen Standorten gesellschaftlich bevorzugter Functionen in der unnatürlichsten Weise erschwert und verlangsamt hat. Die eingehende Besprechung dieser Uebelstände des hohen Unter - richtswesens wird jedoch im Laufe dieser Schrift erst dann ge - hörig stattfinden können, wenn zuvor ähnliche praktische Ueber - legungen, wie für das medicinische Fach, auch für das hoch - wissenschaftliche Lehrerthum der Frauen angestellt sein werden.

4. Hochwissenschaftlicher Lehrerberuf von und für Frauen.

Einen hohen Unterricht, welcher auch nur auf der Stufe des universitären stände, giebt es für das weibliche Geschlecht in einer eigens organisirten Weise noch nicht. Die hier und da vereinzelt platzgreifende Zulassung zum Anhören von Universi - tätsvorlesungen trägt nicht nur ganz und gar den Ausnahme - charakter an sich, sondern würde auch, selbst wenn sie sich an Umfang etwas erweiterte, völlig systemlos bleiben, da hiemit weder für eine vorangehende gehörige Vorbereitung, noch für einen nachfolgenden praktischen Beruf gesorgt wäre. Will das weibliche Geschlecht sich den Eintritt in die Lehrerfunctionen oberster Ordnung sichern, so muss es zunächst dafür sorgen, dass innerhalb seiner eignen Welt derartige Dienste regelmässig ge - braucht werden. Striche man aus den allgemeinen Bildungsein - richtungen der männlichen Welt etwa die Gymnasien und Real - schulen, so könnte es auch auf den Universitäten die sogenannte philosophische Facultät in praktischer Bedeutung gar nicht mehr geben. Da diese Facultät es nämlich ist, deren Thätigkeit für21 Gesellschaft und Staat wesentlich darin aufgeht, Lehrer für die Stätten der höhern allgemeinen Bildung zu produciren, so würde sie selbst beseitigt, wenn man jene Schulen der benachbarten Stufe hinwegnähme. Nur weil für das männliche Geschlecht ein allgemeines Bildungsniveau höherer Art für viele staatliche und gesellschaftliche Berufszweige ein anerkanntes, ja vorgeschriebenes Erforderniss ist, kann auch jene höchste Position des Lehrer - thums existiren. Die ganze Nachfrage nach Universitätsprofessoren der Bildungswissenschaften, also der Mathematik und Physik auf der einen und der sprachlichen Gelehrsamkeitszweige auf der andern Seite, beruht darauf, dass alljährlich Schaaren von einstigen Anwärtern auf gymnasiale, realschulmässige oder verwandte Lehr - fächer in Vorbereitung zu nehmen sind. Die beiden Schichtungen des Unterrichts, nämlich die des höhern und die des höchsten, sind also derartig beschaffen, dass die eine gleichsam socialöko - nomisch auf der andern ruht, und dass die Nachfrage nach hohem Unterricht nur platzgreifen kann, wenn überhaupt über die Haupt - stufe der höhern allgemeinen Bildung entschieden ist.

Eine solche Entscheidung steht aber für die Frauenwelt noch aus, und allein in ihrer Durchsetzung wird das Schwergewicht aller Bestrebungen zu suchen sein, welche den obersten Lehr - beruf für die Frauen erringen wollen. Man gestehe zu, dass et - was Aehnliches wie die Gymnasien und Realschulen, aber freilich etwas im modernen Sinne, für die weibliche Bildung nothwendig ist, und man hat zugleich die Schöpfung einer neuen Lehr - industrie mit Unter - und Oberbau eingeräumt. Das Wort In - dustrie, welches hier mit Absicht gebraucht ist, erinnert zugleich an ein volkswirthschaftliches Verhältniss von grosser Wichtigkeit. Einen neuen Thätigkeitszweig einführen, heisst soviel, als eine Menge von Nachfrage nach Arbeitskraft schaffen, die ohnedies keine Verwendung oder wenigstens keine gleich ergiebige und einträgliche Verwendung hätte finden können. Ueberhaupt ist die Einführung neuer nützlicher Verrichtungen und des zuge - hörigen Systems von Einrichtungen eine dauernde Erhöhung und Veredlung der gesammten Gesellschaftskraft. Es wächst hiedurch dem Gemeinleben ein neues Organ zu, vermöge dessen es seine Macht über die Dinge und seine Fähigkeit zu gegenseitigen Ver - kehrsleistungen steigert. Die Herausbildung einer neuen mate - riellen Industrie lässt sich hienach in dem Haushalt der Gesell - schaft sehr wohl als ein Musterbeispiel betrachten, an welchem22 auch gelernt werden kann, was die Beschaffung eines erweiterten Lern - und Lehrgebiets zu bedeuten habe. Bisher konnte für die Frauen von einem höhern Lehrerberuf im ernsten Sinne dieses Worts nicht die Rede sein, weil es an Schülerinnen und An - stalten dieser Gattung fehlte. Was man höhere Töchterschulen nennt, gehört in das Bereich einer äusserst unzulänglichen, sich nicht viel über die Stufe des Elementaren erhebenden und über - dies abseits gerathenen Bildung. Es wäre nicht der Mühe werth, über das weibliche Lehrerthum an solchen Anstalten hier noch mehr Worte zu verlieren. Die zum Theil mögliche Zulassung der Frauen zu solchen Lehrverrichtungen ändert an dem that - sächlichen Monopol der Männer auch in dieser Sphäre nur wenig und kann es auch nicht, solange das weibliche Geschlecht ganz ausserhalb einer geordneten Organisation der Ausbildung von höheren Lehrkräften belassen wird. Was daher, ich sage aus - drücklich nicht etwa umzuschaffen, sondern überhaupt erst zu schaffen sein wird, ist das weibliche Publicum, welchem das Be - dürfniss einer höhern, sozusagen gymnasialen Vorbildung als ge - sellschaftliche und staatliche Nothwendigkeit anhaftet. Mit dieser Nothwendigkeit werden dann auch weibliche Hochschulen und weibliche Gegenstücke der Professoren erforderlich oder, mit andern Worten, Ausüberinnen jenes hohen Unterrichts, von dem die Bildung der höheren Lehrerinnen ausgeht.

Es ist stillschweigend vorausgesetzt worden, dass auch in den höhern und hohen Schulverrichtungen, ganz wie im Bereich der Medicin, die Frauen ihr Publicum in ihrer eignen weiblichen Welt zu suchen und sich dort eigne Institutionen zu schaffen haben. Der Grund, aus welchem diese Arbeitstheilung zwischen den Geschlechtern platzzugreifen hat, ist in den höhern und höchsten Lehrfächern noch entscheidender als im medicinischen Beruf. Im letztern ist es die ganze weibliche Welt aller Alters - stufen, die man sich als Publicum zu denken hat; die distinguirte Lehrverrichtung wendet sich aber wesentlich an die weibliche Jugend und zwar vornehmlich in den Stadien der Entwicklung und der Blüthe. Bisher kam von diesen letzteren Altersstufen hauptsächlich nur die erste, noch physisch und demgemäss in allen Beziehungen noch ziemlich unreife in Frage; aber dennoch hat es an Unzuträglichkeiten, die sich von dem Männerunterricht her einstellten, wahrlich nicht gefehlt. Allerdings hat der Staat in seiner hochweisen Fürsorge den deutlich sprechenden Grundsatz23 zur Geltung gebracht, dass an Mädchenschulen nur verheirathete Männer zu fungiren haben. Er hat hiemit eingestanden, welchen Bedenken er zu begegnen strebt; aber seine Rechnung ist doch eine unzulängliche, ja zum Theil philisterhafte. Sie mochte einiger - maassen zutreffen, solange altväterische Sitte noch im Schwunge und die Ehe als eine halbwegs verlässliche Bürgschaft gegen Ausschreitungen gelten konnte. Angesichts der neusten und heute mehr als je fortschreitenden Sittenzersetzung dürfte jedoch jene Vorkehrung sammt allen besondern Strafgesetzen, die den Missbrauch des Lehrer - und Schülerverhältnisses betreffen, nur einen unzureichenden Damm ergeben. Auch handelt es sich in den hier fraglichen Beziehungen nicht einzig und allein um gröbere Sitten - und Anstandsverletzungen, sondern um jene feineren, für kein Gesetzbuch, ja nicht einmal für disciplinarische Wahrnehmung erfassbaren Ungehörigkeiten, die darauf hinaus - laufen, dass die natürliche Unbefangenheit des Fühlens und Denkens durch falsche geistige Reizungen irregeleitet und gestört werde. Derartige verkehrte Anregungen der Gemüthsverfassung liegen aber naturgesetzlich sehr nahe, wenn man erwägt, welche Gegenstände schon jetzt in der kaum über das Elementare zu einigen belletristischen Verzierungen hinausgelangenden Mädchen - bildung zu berühren sind, und um wieviel ernstlicher später bei der höhern Schulung die Hauptfragen des Leidenschaftslebens der Menschheit in Betracht kommen müssen. Es ist vielfach ein eitler Conventionalismus, von dem die hohle und alberne Prüderie mit all ihrer unvermeidlichen Heuchelei geschaffen wurde; aber es ist ein naturgesetzliches Gebot, dass da nicht Vertrauen und Unbefangenheit verlangt werde, wo so etwas den Sachverhält - nissen nach unmöglich ist. Wo die Natur das Weib anweist, auf der Hut zu sein, da ist es ein Verstoss gegen alle gesunden Regeln des Verhaltens, wenn man die thörichten und störenden Situationen willkürlich schafft und gar in öffentlichen Einrich - tungen verkörpert. Das Weib wird das Beste, was es einst lernen mag, nur vom Weibe selbst lernen können; denn nur hier ist ein hinreichendes Maass von unbefangener Mittheilung und Erörterung sowie von einer natürlich bildenden Einwirkung auf die Gefühlsgestaltung der Schüler möglich. Ueberweise Kritiker könnten zwar das von mir in den Vordergrund gerückte Princip übertreiben wollen und so versuchen, seine hohe Naturbedeutung abzustumpfen. Sie könnten geltend machen, dass auch zwischen24 Frauen sittliche Missverhältnisse möglich wären, und dass, wer diesen nicht vorbeugen könne, sich auch nicht einfallen lassen solle, an dem herrlichen Männerunterricht moralisch zu mäkeln. Auf diesen Einwand erwidere ich im Voraus, dass allerdings ja auch die Schulen für junge Leute männlichen Geschlechts nicht so ganz frei von Verhältnissen bleiben, die auf einer Sittenver - irrung zwischen Lehrern und Schülern beruhen; dass aber diese Verstösse gegen die gesunde Natur eben Abnormitäten sind, die man zu bekämpfen hat, während im Falle der Verschiedenheit der Geschlechter die allernormalsten Naturgesetze selbst die ver - werflichen Störungen verursachen.

Auf die Gefahr hin, von Leuten mit einem engen Horizont gradezu der moralischen Pedanterie angeschuldigt zu werden, habe ich das entscheidende Grundverhältniss gekennzeichnet, welches bei dem männlichen Unterricht junger Mädchen und zwar ganz besonders dann störend werden muss, wenn ein Schülerinnpublicum in Frage kommt, welches der heute üb - lichen Altersstufe um einige Jahre voraus ist. Weibliche Stu - dirende, das Wort Studirende nach altem Stil als blosse Anhörer einer trocknen Universitätsvorlesung verstanden, mag man sich in ihrem Verhältniss zum sogenannten Lehrer hinreichend apa - thisch denken, um von keiner Seite affective Anregungen zu be - sorgen, zumal wenn der Professor activ und passiv über alles Menschliche hinaus und von ihm sozusagen nur das nöthige Gestell übriggeblieben ist, um die dürren vergilbten Blätter seines ihm ebenbürtigen Heftes umzuschlagen. An diese aus dem frischeren Menschenleben ausrangirten Adressen, unter denen sich vielleicht auch einige Autoritäten finden, mag man sich allenfalls halten, wenn es gilt, für die Frauen die formelle Brücke auszu - spähen, auf der sie, ehe ihre eignen Einrichtungen geschaffen sind, zu den allerersten Berechtigungen und Zeugnissen gelangen können. Derartige vertrocknete Harmlosigkeiten stellen aber glücklicherweise nicht das Gesetz der frischen und gesunden Natur dar und sind am allerwenigsten da zu gewärtigen, wo es sich um einen lebensvollen, womöglich auf gegenseitigem Ge - dankenaustausch beruhenden Unterricht höherer und höchster Art handeln soll. Hier wird grade das Weib für das Weib der natürlichste Beistand sein, und diese Wahrheit wird gelten, auch ohne dass man soweit geht, etwa mit Sokrates die wahrhaft25 wirksame Belehrung in einer Art geistigen Geburtshülfe zur Ent - bindung der eignen Gedanken des Lernenden suchen zu wollen.

Das Lehrerthum männlichen Geschlechts, welches sich vor - wiegend im Besitz der Lehrstellen an sogenannten höhern Töchter - schulen befindet, weiss nicht genug von seiner eignen Ueber - legenheit zu rühmen. Die weiblichen Lehrkräfte sind ihm nur Existenzen zweiter oder, sagen wir lieber gleich, dritter Classe; denn zwischen der didaktischen und pädagogischen Grösse der Männchen und derjenigen der Weibchen muss natürlich noch eine unausgefüllte Kluft bestehen und eine Nummer offengelassen werden. Diese Eitelkeit ist nun unter allen Umständen übel an - gebracht und könnte in ihrer Hohlheit leicht aufgedeckt werden, wenn man sich die Mühe nähme, die Kenntnisse und die Lehr - virtuosität der fraglichen männlichen Unterrichtsfunctionäre nach absolutem Maass zu veranschlagen. Indessen mag, wie die Dinge sich heut stellen, allerdings relativ ein Unterschied bestehen, der darauf beruht, dass die Ausbildung in den Schulen für weibliche Lehrerinnen unzureichender ist, als die mannichfaltigen Gelegen - heiten, die für die Zurichtung männlicher Lehrkräfte vorhanden sind. Es sind hienach ungleichartige Vorbildungsfrüchte, die mit - einander concurriren, und man muss sich noch wundern, dass Angesichts dieser Benachtheiligung überhaupt von weiblicher Seite noch einige Concurrenz möglich bleibt. Sieht man sich die Bildung derjenigen weiblichen Lehrerinnen an, die ihre Kennt - nisse und ihre Einschulung beispielsweise solchen Anstalten, wie dem Berliner Seminar, zu verdanken und die entsprechende Prü - fung gehörig bestanden haben, so ist dieser höchste Gipfel, zu dem bis jetzt die Frauen im Lehrfach gelangen, allerdings in einem sehr bescheidenen Niveau verblieben. Das Wachsthum des Bäumchens ist sorgsam bemessen, und überdies eine natürliche Erhebung in grader Linie noch durch das niederziehende Ge - wicht von allerlei Verbildungsmaterial unmöglich gemacht. Die Quälerei ist gross und das Ergebniss klein; aber wie sollte es auch anders sein in Zuständen, in denen man die weiblichen Lehrkräfte nachher oft in so herrlich verkehrter Weise vernutzt, indem man sie, wie dies beispielsweise die Stadt Berlin aus dem Grunde verstanden hat, die sonst für so zart ausgegebenen Anlagen in einer recht groben Hantirung, nämlich an wohlgefüllten Knabenclassen zu bethätigen nöthigt. Der Staat und die Ge - meinden sind freilich mit den Elementarschulen in arger Ver -26 legenheit. Eine halbwegs leidliche Arbeiterstellung ist ökonomisch besser und in der Hantirung sowie in allem disciplinarischen Zu - behör nicht so unleidlich, wie diejenige eines Elementarlehrers. Wo nun demgemäss die Männer dem schlecht gelohnten und chicanenreichen Gewerbe der Elementardrillung, wenn sie irgend können, den Rücken kehren, da sind die überall im Kampf des Lebens zurückgesetzten weiblichen Kräfte eine noch verfügbare und obenein billige Waare. Da mögen denn allenfalls die Mädchen in den Zwanzigern zusehen, wie sie sich mit einem Schock Jungen, die grade in den besten Flegeljahren sind, ab - finden und unter der Bande Fleiss und Zucht aufrechterhalten. Solchen liebenswürdigen Zumuthungen gegenüber tritt die sonstige conventionelle Heuchelei, die von Zartheit und Schonung gegen das weibliche Geschlecht erfüllt sein will, in ihr rechtes Licht, und man erkennt zugleich, was es mit der thatsächlichen Hinde - rung der Frauen an wirklich höher belegenen Lehrberufsstel - lungen für eine Bewandtniss habe. Man lässt die Frauen eben da einrücken, wo sie Arbeit verrichten sollen, die den Männern im Verhältniss zu den damit verbundenen Unannehmlichkeiten zu schlecht gelohnt ist. Man gewährt ihnen die Neben - und Winkelplätze, ganz wie dies aus ihrer schwächeren und geflissent - lich in Schwäche erhaltenen Stellung im Wettkampf des Lebens nur zu logisch folgt. Ja sogar der Umstand, dass man diese Unterordnung und Zurücksetzung mit gegentheiligen Redensarten verziert und dem Weibe seine Lage als eine zärtlichst geschonte darzustellen versucht, ist nur eine weitere Consequenz der that - sächlichen Benachtheiligung. Wer geschädigt werden soll, wird am besten stillhalten und sich am meisten von seinem Recht nehmen lassen, wenn man ihn darüber zu täuschen weiss, was ihm zukomme und nicht zukomme und was seine Pflicht und nicht seine Pflicht sei.

Aus diesem Grunde muss aber auch das weibliche Geschlecht den Grundsatz annehmen, stets nach der Höhe zu streben und sich nicht mit den Niederungen des Lehrfachs, ja überhaupt nicht blos mit niederen Berufsstellungen abfinden zu lassen. Hat es einmal in den höhern und höchsten Functionen der Gesellschaft und der öffentlichen Angelegenheiten einigermassen Boden ge - wonnen, so wird es für die verschiedenen Schichtungen an den mittleren und tiefer belegenen Stellungen durchaus nicht fehlen. Die Ergiebigkeit an letzteren bleibt davon abhängig, dass die27 obersten, alles Uebrige beherrschenden Positionen gewonnen und zu einem vollständigen System weiblicher Berufsthätigkeit und Bildung verzweigt werden. Hiebei sei wiederum daran erinnert, dass jegliche Art allgemeiner Bildung ihre Wurzeln in praktischen Berufsbedürfnissen haben muss und nur da den Charakter der Allgemeinheit und scheinbaren Unabhängigkeit von bestimmten technischen Berufserfordernissen annimmt, wo sich eine Menge von Vorkenntnissen als gemeinsame Grundlage für eine grosse Zahl verschiedener Berufsthätigkeiten ausscheidet. Alsdann kann man nicht mehr sagen, dass es ein bestimmter Beruf oder eine abgegrenzte Gruppe von Berufszweigen sei, für welche aus - schliesslich jene Bildungselemente als Vorbereitung dienen. Man befasst sich vielmehr in diesem Falle mit Kenntnissen und Ge - schicklichkeiten, die bei dem gegebenen Zustande der Gesell - schaft nach allen Richtungen verwerthbar sind.

Die Frage ist nun die, was für das weibliche Geschlecht an die Stelle der Gymnasien und Realschulen treten soll. Letztere beiden Gattungen sind freilich schon für das männliche Ge - schlecht sehr wenig motivirt. Sie beruhen entweder auf gar keinem Princip oder mindestens nicht auf einem praktischen, welches gegenwärtig noch sonderlichen Sinn haben könnte. Aller - dings sind sie es und nicht die Universitäten, wo man allenfalls noch von allgemeiner Bildung reden kann; denn auch die deutschen Hochschulen, die auf ihren angeblichen Universalismus so gern pochen, sind doch in Wahrheit nur viergliedrige Fach - schulen, in denen die einzelnen Hauptstudienzweige einander fremd und ohne gemeinsame Bestandtheile nebeneinander her - laufen. Die gymnasiale Bildung wäre also hienach die eigentlich allgemeine höchster Gattung; denn die Realschulen gelten als eine Stufe tieferstehend und sind auch in vielen Beziehungen so an - gelegt, dass man ihnen ansieht, wie sie als Bildungsanstalten zweiten Ranges von gymnasiarchisch äusserst selbstbewussten Lehrplanfabricanten zurechtgemacht wurden. Nun giebt es aber in der weiblichen Sphäre nichts Thörichteres, als die sich seltsam verirrende Ambition nach gymnasialer Schulung oder, besser gesagt, Verschulung. Es hat mich stets seltsam angemuthet, ja manchmal gradezu bedrückt, wenn ich auf Fälle traf, wo be - sonders strebsame Eltern für ihre Töchter das Höchste an Bildung zu erreichen glaubten, wenn sie dieselben eben den Quälereien überlieferten, denen der Geist der Knaben und jungen Leute auf28 den Anstalten für Latein und Griechisch preisgegeben wird. Die Gymnasien sind zwar nicht sofort mit der Abgelebtheit und Ueber - lebtheit der Universitäten zu vergleichen; denn sie stehen an verhältnissmässiger Regsamkeit doch weit mehr über dem mittel - alterlichen Niveau; aber sie sind trotzdem arge Zeitwidrigkeiten und zwar nicht etwa blos in einzelnen Bestandtheilen ihrer Ein - richtung, ihres Lehrplans und ihrer Methode, sondern im Ganzen und in der Grundanlage. Sie sind von vornherein eine abnorme Uebergangsschöpfung gewesen, die der Barbarei und dem Be - dürfniss der sich aus dem Mittelalter ein wenig erhebenden Völker nach antiken Lehrjahren oder vielmehr leider Lehrjahrhunderten ihre Möglichkeit verdankte. Sie müssen, nachdem die moderne Welt dieses auf die Dauer unwürdige Lehrlingsverhältniss in den wesentlichen Richtungen abgethan hat, auch wieder verschwinden und rationelleren Einrichtungen platzmachen. Genau besehen, stellen sie nicht die Interessen einer wirklich allgemeinen Bildung, sondern diejenigen des gelehrten Berufsunterrichts vor, der auf sie durch die Universitäten gepfropft werden soll. Weil man die Studien auf den Universitäten in Juristerei und Medicin mit einem altsprachlichen Zopf betreibt, darum sind die Gymnasien der zu - gehörige Unterbau; denn nur in den letzteren kann das Flechten dieses Zopfes erlernt werden. Nun haben die Frauen keine Ur - sache, sich um solche altmodische Flechtkünste zu bekümmern. Sie haben die Medicin und andere höhere Berufszweige, die ihnen später noch zufallen mögen, im modernen Sinne und ohne chi - nesenhafte Aufstutzung zu studiren. Bedürfen sie aber auf diese Weise der reinen unverfälschten und unverschnörkelten Natur - gestalt einer Berufswissenschaft, so gehört zu der letzteren auch eine Vorbildung, die nicht die gymnasial ablenkende, sondern ein vernünftiger Ersatz dafür ist. Man sieht also auch hier wiederum, wie von oben her und aus dem Mittelpunkt der nächst angren - zende allgemeine Bildungskreis mit den ihm dienstbaren Anstalten bestimmt werde. Die Schicht der höchsten Berufsgruppen ent - scheidet über die dazu erforderliche gemeinsame Bildung. Was technisch und specialistisch einem jeden Beruf angehört, bleibt hiebei ausser Anschlag; der Rest an gemeinsamen Erfordernissen ist es aber, der alsdann höhere allgemeine Bildung heisst und sich in der thatsächlichen Organisation auch zugleich zu einem Kreise von Kenntnissen und Geschicklichkeiten abrundet, in welchem sich die einzelnen Bestandtheile zu einem zusammenhängenden29 Gefüge mit einigermaassen harmonischer Bildungsfunction ver - bunden finden.

Construirt man sich auf diese Weise die Parallelen und Er - satzmittel der Gymnasien und Realschulen, so wird man von dem zunächst maassgebenden Standpunkt der späteren medicinischen oder sonst technischen Studien aus die Elemente der niedern und höhern Naturwissenschaft zum Fussgestell der Bildung machen, einige modern gestaltete Mathematik hinzunehmen und übrigens nur dafür sorgen müssen, dass ausser den ersten Elementarfertig - keiten der niedern und höhern Rechenkunst Gewandtheit in der Auffassung und Handhabung des schriftlichen und mündlichen Worts, sowie eine gelenkige Anbequemung an die zusammen - gesetzteren Denk - und Redegestaltungen, also schliesslich eine gewisse Geschultheit im natürlichen Gedankengefüge sachlicher Inhalte und sprachlicher Darstellungsform erzielt werde. Ich würde Letzteres eine natürliche Logik genannt haben, wenn ich nicht hätte dem Missverständniss vorbeugen wollen, als sollte es sich um jene nichtsnutzige vertrocknete Pflanze handeln, die in der Universitätsscholastik den Namen Logik führt und sich als herkömmlich aufgenöthigtes Beiwerk einzelner Richtungen des Universitätsstudiums in siechem Dasein noch durch künstliche Zwangsvorschriften fortschleppt, aus den medicinischen Studien - gewohnheiten aber mit Recht so gut wie verschwunden ist. Wenn ich Geographie und Geschichte unter den Bildungsmitteln nicht besonders erwähnt habe, so geschah dies, weil sich einige Geo - graphie gleich Lesen und Schreiben schon in der untersten Bil - dungsschicht von selbst versteht, die Geschichte aber, wie sie als Raufereiencatalog und gefälschte Fürstenverherrlichung auf niedern und höhern Schulen gelehrt zu werden pflegt, gleich dem Latein und Griechisch mehr zu den Verbildungs - als zu den Bildungs - mitteln gehören würde. Culturgeschichte aber und einige ent - sprechende Culturgeographie, von denen man das wirklich In - teressirende und durch die unverkünstelten Erinnerungstriebe des Menschen Geforderte allerdings in die Organisation der höhern, das Gymnasium ersetzenden Bildungsstufe aufzunehmen hätte, sind thatsächlich noch zu sehr blosse Keime und Wünsche, als dass hier im Vorbeigehen über ihre vorbildende Rolle und Be - deutung entschieden werden könnte. Es giebt ausserdem noch eine Anzahl moderner Bildungselemente, die, wie Gesundheits - pflege, Wirthschaftslehre und einige Gesetzeskunde, in der höhern30 Schulung und Erziehung einen Platz zu beanspruchen haben; indessen ist hier nicht ein vollständiger Entwurf, sondern nur eine solche Auseinandersetzung mit dem Bisherigen in Absicht, vermöge deren die zu schaffenden weiblichen Bildungseinrich - tungen eine unterschiedliche Kennzeichnung erfahren.

Nennen wir die weiblichen Anstalten, welche die Gymnasien und Realschulen durch etwas Besseres ersetzen sollen, kurzweg höhere Vorschulen, so ist in diesem Ausdruck zugleich angedeutet, dass der Hinblick auf den einstigen praktischen Beruf auch das Maass fiir die in diese Vorschulung hineinverwebte allgemeine Bildung geliefert hat. Die sogenannten Lyceen aber, deren man eines in Berlin und einige verwandte Gegenstücke in andern grössern Städten Deutschlands wesentlich als private Unter - nehmungen in Gang gebracht hat, können nicht im Entferntesten für etwas gelten, was sich in ein praktisches Berufssystem oder auch nur in ein rein theoretisch abgestuftes Bildungssystem ein - fügte. Ich werde hier nur nach dem Berliner Mustergebilde ur - theilen, welches ich genau genug kenne, und an welchem mir, wie die vorletzte Nummer dieser Schrift zeigt, der Contrast zwischen systematischer Initiative und zerfahrener Mengselei von allerlei in unverbundener Planlosigkeit zusammengewürfelten Bildungsvorlesungen, bald solchen der niedrigsten Art, bald solchen mit höheren Ansprüchen, nahe genug getreten ist. Schon der Name ist irreleitend; in Frankreich weiss man allerdings, was man für die männliche Jugend unter Lyceen zu verstehen hat; wir wenigstens denken uns diese französischen Institute ziemlich zutreffend, wenn wir sie ungefähr als Parallelen unserer Gymnasien betrachten. Nun ist aber das weibliche Lyceum in Berlin mit einem Gymnasium oder einer Realschule oder gar mit dem, was wir höhere Vorschule genannt haben, nicht zu ver - gleichen. Der Namengeber, ein Aristotelesgelehrter Geheimrath, mag wohl an das Lykeion des Aristoteles gedacht haben; aber aus diesem Gesichtspunkt nimmt sich die Bezeichnung sogar noch linkischer und komischer aus. Den Namen müssen wir also in jeder Richtung ausser dem Spiele lassen und uns an die Sache halten, welche in erster Linie eine Vorlesungsanstalt und zwar zunächst für das Bedürfniss einer Art Bildungszerstreuung be - deutet hat. Das Schwergewicht des Interesse fiel bei dem theil - nehmenden Publicum, wie leicht begreiflich, auf solche Fächer wie Kunstgeschichte und gelegentlich auch auf moderne Literatur, 31 immer aber auf solche Dinge, die den weiblichen Kreisen in ihrem bisherigen Bildungsgange bereits nahe gerückt waren. Nun verstreute man aber in ganz zufälliger Gestalt, wie es eben jedem angeworbenen Docenten beliebte, Ankündigungen von allerlei Vorlesungscursen buntester Mischung und oft genug unzweck - mässigster Art. Von mittelalterlichen Geschichtsliebhabereien gar nicht zu reden, mag nur als auf ein besonders humorerregendes Beispiel darauf hingewiesen sein, dass auch griechische Literatur - geschichte unter den angebotenen, wenn auch grade nicht nach - gefragten Vorlesungen figurirt hat. Irgend ein leitendes Princip ist niemals vorhanden gewesen, und um Ernst in die Sache zu bringen, hätte selbst ein theoretisch noch so guter, aber blos all - gemeiner Bildungsplan nicht genügt, solange keine praktischen Berufsfolgen daran geknüpft worden wären. Ganz nebenbei und sozusagen abseits von den eher besuchten Hauptvorlesungen hat man auch kleine Gelegenheiten eingerichtet, ein paar Brocken Elementarmathematik sowie etwas Physik und Chemie anzusehen und anzuhören , ja auch, damit es am Allerbesten nicht fehle, für die lateinischen Sextanerkünste durch das Angebot einer Vorlesungseinweihung in die heilige Gelehrtensprache gesorgt, und sich sogar bis zum Griechischen verirrt. Natürlich ist mit all solchem zersplitterten Nebenwerk wenig oder so gut wie nichts geworden. Die Theilnahme dafür blieb äusserst spärlich oder versagte ganz, was am allerwenigsten dem Frauenpublicum selbst zur Last fällt, welches mit Recht danach fragt, wozu und mit welcher schliesslichen Frucht es solche unzusammenhängende und an sich unzulängliche Halbgelegenheiten überhaupt noch benutzen soll. Wie sich die Leitung des Lyceums künstlich Publicum zu verschaffen und die sonst nicht zu Stande kommenden Vorlesungen ein wenig zu füllen gesucht hat, ist in der vorletzten Nummer dieser Schrift angegeben, und es würde uns überhaupt von be - deutenden Gegenständen ablenken, wenn auf den vorliegenden Bogen auch noch eine ausführliche Kritik der form - und princip - losen Berliner Anstalt mit ihren später immer chaotischer ge - rathenden Abänderungsversuchen platzfinden sollte. Elementare Geographievorlesungen und Aehnliches, was zur Fortbildung von Lehrerinnen auf Kosten der Stadt nachträglich hineingepfropft worden ist, dürfte sicherlich nicht die Zerfahrenheit und fast völlige Undefinirbarkeit des Charakters der Anstalt gemindert haben. In der That weiss letztere nicht, was sie eigentlich will,32 soll oder könnte. Diese Unfähigkeit hat sich in der ganzen Existenzzeit des Lyceums nie verleugnet, und wenn man sich das Tuttifrutti ansieht, welches aus der Anstalt im Laufe des Jahrzehnts von 1875 85 geworden ist, so ergiebt sich, dass die Charakteristik ihm nur dann gerecht wird, wenn sie die ver - fehlten Züge immer stärker markirt. Einerseits ist das Lyceum, soweit es in erster Linie eigentliche Vorlesungsanstalt für Damen sein soll, nur immer tiefer in die universitären Rückständigkeiten gerathen und den Verkehrtheiten von Universitätsprofessoren an - heimgefallen, die daran dociren oder ihre Protégés dort dociren lassen. Andererseits aber, soweit es sich um eine Gattung schul - artiger Curse handelt, ist das Lyceum zu einer Fortsetzung so - genannter höherer Töchterschulen versimpelt. Hiebei hat sich die aufgenöthigte Schülerhaftigkeit der Manieren bis zu einer förm - lichen Reglementirungsvelleität und bis zur obligatorischen Vor - schrift des Ankaufs der empfohlenen Bücher erstreckt. Was aber die universitätsartigen Vorlesungen anbetrifft, so verbinden sie alle Schäden des Universitären noch obenein mit lächerlichen Zeitmaassen. Ein Curschen der Chemie von einem halben Dutzend Vorlesungen, deren jede anderthalb Stunden währt, sage also fünfhundertundvierzig Minuten der Chemie gewidmet, das ist, zumal in der Universitätsmanier, eine komische Dosis; aber an solchen Musterstückchen von Kunstbethätigung der Berliner Uni - versitätsprofessoren für das Lyceum hat es nicht gefehlt. Doch lassen wir die Chemie als Feuerwerk in sechs Vorstellungen auf sich beruhen; denn das ganze Treiben auf dem sogenannten Lyceum ist ja überhaupt Spielerei und Schein.

Auch ist dies nicht zu verwundern, da die für die Einrich - tung maassgebenden gelehrten Elemente selbst Gegner aller ernst - haften Frauenbildung, namentlich aber jeder höhern weiblichen Berufsbildung sind und ein Institut wie das Lyceum nach dem - selben socialpolitischen Grundsatz behandeln, wie in einer andern Richtung die sogenannte Volksbildung. Es ist eine alte Maxime, solche Bewegungen, die sich nicht unterdrücken lassen, wenigstens in einer für die ihnen feindlichen Elemente bequemen und mög - lichst fruchtlosen Richtung niederzuhalten. Behufs der Erzielung solcher unschuldigen Scheindinge stellt man sich selbst organisi - rend und fördernd an, während man in der That zu hemmen und abzulenken sucht. Doch genug von diesem Zwischenreich wissenschaftlich seinwollender Halbexistenz. Wirkliche Bildungs -33 anstalten werden stofflich und der Lehrart nach den Charakter der höhern Vorschule an sich tragen müssen und vor allen Dingen nicht Vorlesungsanstalten sein dürfen. Der universitär verzopfte Lehrstil mit der einseitigen Vorleserei ist an sich schon ein Uebel; er wird aber vollends zur Caricatur, wenn er in einen zwerghaften Rahmen gefasst, auf ganz elementare Gegenstände übertragen und überdies einem mit modernen Ansprüchen auf - tretenden, nach frischen Anregungen und gesunder Geistesnahrung ausschauenden Publicum aufgetischt wird. Die vorbereitende Lehre blosser Bildungswissenschaften muss ein wirklicher Unter - richt und demgemäss eine Mittheilung von Kenntnissen mit gegen - seitigem Gedankenaustausch sein. Passt auch die Form der gemeinen Schulung nicht einmal mehr für den Fall höherer Vor - schulen , wie ich sie auffasse, so darf doch niemals das universitäre Vorleserthum platzgreifen. Anregungen zur Selbstthätigkeit, zum Selbststudium nach gedruckten Lehrhülfen und je nach Bedürf - niss bereite persönliche Aushülfe bei Verlegenheiten sowie einige eigentliche Uebungen oder Bethätigungen des geläufig gemachten Wissens und Könnens werden die Hauptbestandtheile einer bessern, über das ganz unselbständige Stadium rein autoritärer Art hinausgelangten höhern Vorschulung bilden, an welche sich später das eigentliche Berufsstadium knüpfen soll. Vorträge aber, die nicht mit Vorlesungen universitären Stils zu verwechseln sind, mögen allenfalls dazu dienen, als anregende Auseinandersetzungen auf die Hauptfragen eines Studiengebiets aufmerksam zu machen und auf das, was selbstthätig zu thun ist, eindringlich hinzuweisen. Sie können Programme des Selbststudiums und Erläuterungen dieser Programme liefern; sie können einen mächtig leitenden Einfluss üben; aber sie dürfen nicht, wie die herkömmlichen Vorlesungen, detaillirte Mittheilungen und sozusagen Abhaspelungen ganzer Wissenschaften sein wollen.

Wie wirkliche Hochschulen für Frauen beschaffen sein müssen, lässt sich erst im Gegensatz zu den Universitäten gehörig auseinandersetzen. Hier sei nur bemerkt, dass sie als Ueberbau der höheren Vorschulen nicht blos die speciellen Berufsfächer, wie die Medicin, sondern eben auch die technische Ausbildung von Lehrerinnen für jene höhern Vorschulen zum Gegenstande haben und in dieser Eigenschaft als Pflanz - oder Normalschulen fungiren werden. Die zweistufige Organisation, die den Gymna - sien und sogenannten philosophischen Facultäten, also dem Lehren34 der Bildungswissenschaften und der Ausbildung von Kräften für diese Lehrfunctionen entspricht, ist hiemit für die weibliche Welt als ein eignes Reich gekennzeichnet, welches an Nützlichkeit für den Geist, an praktischen Früchten für das Leben und auch an Verwendungsgelegenheiten für sonst müssig gehende oder un - gelohnt verderbende Kräfte weit ausgiebiger werden muss, als es bisher die entsprechenden Anstalten der männlichen Sphäre ge - wesen sind. Der Hauptgrundsatz muss aber immer bleiben, dass in diesem ganzen Entwurf das Lehrerthum, ja jegliche Leitung ausnahmslos weiblichen Händen anheimfällt. Um eine andere Combination, in welcher auch Männer mitwirkten, könnte es sich nur in unzulänglichen Uebergangs - und Halbformationen handeln. Für den Augenblick und für die allererste Ueberleitung, bei der es gilt, überhaupt nur den Weg in das wissenschaftliche Bereich und in die zugehörigen Gerechtsame zu bahnen, mag immerhin die bunteste Mischung ganzer und halber Mittel, ja aller nur irgend zugänglichen Handhaben platzgreifen, und es würde ein falscher Principienpedantismus sein, die gegnerischen Monopole und Bollwerke nach einem Schema einnehmen zu wollen, welches erst für den vollen Besitz und Angesichts einer ausgebildeten Schaar von weiblichen Wissenschafts - und Berufsinhabern Geltung haben kann.

5. Weibliches Studium und heutige Universitätszustände.

Die Zulassung von Frauen zu Universitätsstudien und zum Doctorgrad, die namentlich im Bereich der Medicin hier und da vereinzelt platzgegriffen hat, erinnert daran, mit welchen Er - wartungen meistens das den Universitätsverhältnissen gegenüber ganz draussen stehende und daher in dieser Richtung unkundige weibliche Publicum die fraglichen Gelehrsamkeitsanstalten be - trachtet. Ist doch durchschnittlich nicht einmal die männliche Jugend im Stande, vermöge der blos passiven Theilnahme an den Studiengewohnheiten die Missverhältnisse, denen sie anheimfällt und die dem regsameren und aufgeklärteren Theil auch wohl fühlbar werden, hinreichend und namentlich in Rücksicht auf die erzeugenden Ursachen zu durchschauen! Die wenigen Frauen, welche auf einigen sozusagen geschäftlich coulanteren Universi - täten, von denen die Promotionsgebühren weiblichen Geschlechts35 eben auch für Geld gehalten werden, dazu gelangt sind, Studien zu machen und zu doctoriren, diese wenigen Frauen dürften zwar als Fremde in dem ungekannten Lande, durch welches sie ihre Tour machten, im günstigsten Falle einige gute Beobach - tungen angestellt haben, aber doch schwerlich dazu gelangt sein, von den sorgsam verschleierten Verhältnissen Mehr wahrzunehmen, als die traditionell, wenn auch nicht in die Universitätsgeheim - nisse, so doch in das Studentenleben und in das äussere Ge - haben der Professorenmanier eingeweihte männliche Jugend. Vielleicht noch ein wenig mehr, als der männliche Universitäts - neuling, von der in der Vorstellung hochgehaltenen und überdies für das Weib ausserordentlichen Situation geschmeichelt, wird die Studirende und später Promovirende nur daran denken, dass ihr die besondere Gunst zu Theil geworden, in einen sonst ver - schlossenen Kreis einzudringen und das titulare Zeugniss für absolvirte gelehrte Studien zu erlangen. Sie wird überdies keine Gelegenheit zur eigentlichen Kritik haben. Ohne eingehende Kenntniss der Literatur und der wahren Grössen der von ihr erstrebten Wissenschaft wird sie sicherlich nicht minder, sondern gewöhnlich noch mehr als der männliche Student jenem Autori - tätsaberglauben anheimfallen, der die jedesmal privilegirtesten und durch allerlei äussere Umstände einflussreichsten Professoren mit Grössen verwechselt, deren Ansehen wirklich daher rührt, dass sie in der Wissenschaft, aber nicht, wie jene conventionellen Kathedergötzen des Augenblicks, blos in der Ausbeutung der Zunftmonopole und in der universitären Reclame gross sind.

Es hat mir immer einen sonderbaren Eindruck gemacht, wenn ich die eigenthümliche Art von Selbstgefühl wahrnahm, mit welcher eine Doctorirte ihre ungewöhnliche Würde betrachtete. Ich will durchaus nicht an der Befriedigung mäkeln, die von der blossen Thatsache herrührt, dass ein Weib die bisherigen Schranken durchbrochen und sozusagen den alten Zunftstempel des gelehrten Bürgerthums aufgedrückt erhalten hat. Dies ist der alten Ausschliesslichkeit gegenüber immer schon eine Art von äusserlichem Protest gegen die Ungleichheit und Unterdrückung des Geschlechts. Indessen kann ich mich trotz alledem einiger Anwandlung von Komik niemals erwehren, wenn ich sehe, wie strebsame Candidatinnen der Wissenschaft die alte, gelehrt und praktisch immer hohler gewordene Doctordecoration sich grade in einer Zeit umhängen lassen, in welcher sich die Ueberzeugung36 von der Verkommenheit und dem todesmatten Siechthum dieser abgelebten und unrettbar verlorenen Einrichtung schon im wei - teren Publicum ziemlich verbreitet hat. Ueberdies ist bezüglich der praktischen Hauptsache der Doctorgrad in unsern Landen ohne jede Bedeutung. In der Medicin berechtigt er nicht zur Praxis und ist zu ihr glücklicherweise auch nicht einmal mehr ein nebensächliches Erforderniss. Die Staatsprüfung entscheidet Alles, und daneben nimmt sich die Doctorirung, wo sie überhaupt noch im Hinblick auf ein Stück an diesem Titel haftenden Volks - aberglauben stattfindet, wie eine altfränkische Zunftceremonie aus, bei der das einzige Reelle und vollhaltig Gediegene die Kosten sind, die sie zu Gunsten der Börsen der gelehrten Zunftmeister verursacht. Doch ich will hier nicht noch einmal ein Thema erörtern, welches grade ich in meinem Anfangs 1875 erschienenen Cursus der Philosophie bei Besprechung des Unterrichts zuerst ernsthaft und zwar dergestalt auf die Tagesordnung gebracht habe, dass man sich von gegnerischer, aber in diesem Punkte behufs Wahrung eines scheinbaren Anstandes doch ein wenig zum Reformeln geneigter Seite aufgestachelt fühlte und nun selbst eine Art Streifzug, wenn auch selbstverständlich nicht gegen das Unwesen der Doctorei überhaupt, so doch gegen einige dem Publicum besonders in die Augen fallende corrupte Praktiken desselben unternahm. Hiemit wurde natürlich so gut wie gar nichts gebessert, und der ganze Standpunkt, eine abgelebte Sache wieder zu einem für das Publicum lebenlügenden Scheindasein galvanisiren zu wollen, ist, wenn nichts Schlimmeres, eine stark nach Gelehrsamkeitsromantik schmeckende Illusion.

Doch lassen wir den Doctor und die Doctorin der verschie - densten Facultäten auf sich beruhen. Die Gelehrsamkeit, die davon umhüllt wird, ist für die wissenschaftliche Zergliederungs - kunst ein wichtigerer Gegenstand. Der Leichnam der todten Gelehrsamkeit erfordert einige Anatomie, und wenn die weibliche Aspirantenwelt einmal mit dem Bau des scholastischen Skeletts eine genauere Bekanntschaft gemacht haben wird, dürfte sie sich von dem Gerippe und seiner mittelalterlichen Zusammenfügung nicht mehr sonderlich angezogen finden. Allerdings haben die Staatsprüfungen Einiges ein klein wenig modernisirt; denn die centralistische Polizeigewalt des neuern Einheitsstaats hat, wie in Rücksicht auf alles Zunftwesen, so auch im Verhältniss zu den gelehrten Zünften, immerhin ein Stückchen Fortschritt vertreten. 37Sie hat zwar die Universitätszünfte, statt sie wegzuschaffen, nur einigen ihrer eignen Zwecke dienstbar gemacht und sie ein wenig in ihren eignen Rahmen hineingezogen; sie hat aber doch bei dieser Gelegenheit den Zunftgeist wenigstens durch den weniger unmodernen Typus der Büreaukratie hier und da gemässigt und hat sich neuerdings oft genug in der Lage gesehen, mit der Ini - tiative zur Abschneidung einzelner ganz unerträglich gewordener Zöpfe vorzugehen. Sie hat grade bei den hartnäckigsten Uni - versitäten den lateinischen Dissertations - und Ceremonialzwang etwas beschränkt und gelegentlich auch wohl einmal Miene ge - macht, die Alleinherrschaft der alten Philologie in einigen Rich - tungen in Frage zu stellen. Solche kleine und langsame Besei - tigungen bereits überall lächerlich gewordener Ueberlieferungen haben aber an der Hauptsache nichts geändert. Das Wissen, welches für die Staatsprüfungen beschafft werden muss, wird zum grossen Theil auf anderm Wege als durch die Universitätsvor - lesungen angedrillt. Buchhülfen, sogenannte Paukatur, sowie allerlei private Nebeninstitute müssen hier aushelfen; denn die Ohnmacht des sich träge hinschleppenden einseitigen Vortrags mit seinem semesterlang ausgesponnenen Faden wird immer fühl - barer, und die unpraktische verrottete Manier, in welcher viele Wissenschaftsrubriken in nutzloser Ausfüllung mit allerlei ge - lehrtem Schutt dargeboten werden, drängt sich denn doch den Candidaten der verschiedenen Berufszweige bei Gelegenheiten, wo es etwas gilt, einigermaassen auf. Am wenigsten ist dies freilich da der Fall, wo, wie in der Medicin oder in der Philo - logie für unsern Staat, die Professoren auch zugleich die staat - lichen Prüfungscommissionen ausfüllen. In diesem Fall sind sie aber doch gezwungen, ganz andere Forderungen zu stellen, als in den spielend tastenden Tentamen, die zur Doctorirung aus - reichen. Mag der Staatsprüfungscandidat zusehen, woher er den Stoff sich einverleibe; das Anhören der meisten Universitäts - vorlesungen, soweit es wirklich noch ertragen wird, verhilft ihm sicherlich nicht dazu; aber der Umstand, dass der büreaukrat - ische Staat eingegriffen hat, ist doch wenigstens die Ursache, dass mehr herauskommen muss, als das, was die Zünfte als Meister - stück verlangen und als Abschluss der bei ihnen durchgemachten drei - oder vierjährigen Lehrlingsschaft gelten lassen. Es ist also nicht ein Verdienst der Universitätszünfte, wenn vermöge der Staatsanordnungen eine gewisse Summe von Kenntnissen zur38 Prüfung auf irgend einem Wege eingepackt werden muss, um dann für den entscheidenden Tag zum Auspacken bereit zu sein. Freilich wird dann die Reise durch das praktische Leben nicht zu viel von der Bagage mitzuschleppen haben; denn die letztere verliert sich zu einem grossen Theil und Stück für Stück, ohne dass eine besondere Bemühung nöthig wäre. Einiges haftet je - doch; aber selbst an diesem Wenigen sind die Universitäten meist unschuldig; denn grade die allmälige und allein nachhaltige Ein - verleibung von Wissensstoff, um welche es sich bei einer wohl - geordneten, nicht erst schliesslich überstürzten Vorbereitung handelt, ist das, was von ihnen verfehlt wird. Sie verderben die Zeit, in der etwas Gediegenes geschehen sollte, mit ihrem leb - losen Scheinunterricht und wiegen den Studirenden nicht blos eigentlich, sondern auch metaphorisch in Schlummer, indem sie grade die Gewissenhaftesten glauben machen, mit dem absitzen - den Anhören der professoralen Heftverlautbarung ihre Pflicht gethan und für die zureichende Präparation ihres wissensbedürf - tigen Hirns gesorgt zu haben. Im Falle der grössten Geduld tragen die Studirenden aber doch nur beschriebenes Papier nach Hause, während ihr Geist im günstigsten Falle unbeschrieben bleibt, im weniger günstigen aber allerlei Kreuz - und Querstriche aufzuweisen hat, welche von dem hölzernen Stil der professoralen Heftcompilation herrühren.

Die weibliche Welt hat hienach keine Ursache, die Jünger der Universitäten zu beneiden. Sie hat Ansprüche auf etwas Besseres, und wenn sie in den Verlegenheiten der Uebergangs - zustände von jedem Mittel und also auch von den Universitäten Gebrauch machen will, so kann dies nur den Sinn haben, sich den Zugang in neue Berufszweige auf einem nun einmal noch ausschliesslich privilegirten Wege zu eröffnen und wird daher nur als ein unter Umständen nothwendiges Uebel zu betrachten sein. Da jedoch ohne die innern Gründe die nackten Thatsachen zu ungeheuerlich erscheinen möchten, so muss ich und zwar hier grade im Interesse der Frauenbildung etwas näher auseinander - setzen, welche Bewandtniss es mit der Lehrweise der Universi - täten hat, und wie die Verkehrtheit derselben theils von den Wirkungen der längst überlebten mittelalterlichen Zunftverfassung, theils von den mitgeschleppten Gelehrsamkeitsstoffen alter Art und schliesslich auch von dem unmodernen und unwissenschaftlichen Princip der autoritären Ueberlieferung persönlicher Mei - nungsweisheit in Heftvorlesungsform herzuleiten ist.

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Zünfte sind nicht blos geschichtlich, sondern überhaupt un - berechtigte Gebilde gewesen. Ihr Wesen oder vielmehr Unwesen war die Ausschliesslichkeit, die Scheu vor der freien Concurrenz, ja gradezu der familien - und vetterschaftliche Alleinbesitz des Gewerbes. Letzteres selbst wurde als ein Mittel der monopo - listischen Ausbeutung des Publicums und demgemäss als eine Art abgepferchtes Privatrecht angesehen. Das zünftlerische Princip ist nun in den materiellen Gewerben glücklich überwunden; aber die mittelalterlichen Zunftgebilde sind gleich emporragenden Ruinen in den Universitäten noch immer zu schauen. Gelehrte Zünfte sind aber ihrem Wesen oder vielmehr Unwesen nach noch schlimmer als diejenigen der gemeinen Handwerke; denn sie sind nicht blos der Form, sondern auch dem Inhalt nach mittel - alterlich und haben überdies den Nachtheil, dass die Wissenschaft von der Unfreiheit weit ärger betroffen wird, als irgend ein ge - wöhnliches Handwerkserzeugniss. Der Zunftstiefel oder Zunft - rock mag immerhin an Geschmack und Billigkeit viel zu wün - schen übriglassen; aber er ist doch wenigstens ein brauchbares Ding, und nur selten wird die zünftlerische Unfreiheit daran Schuld sein, wenn er drückt oder gar nicht sitzt. Von einem zünftlerisch gearbeiteten Tisch lässt sich jedenfalls noch essen und trinken, auch wenn Meister und Gesellenschaft schon arg heruntergekommen wären und für den theuersten Preis das un - beholfenste Möbel producirt hätten. Die zünftlerisch zubereitete Wissenschaft ist aber oft eine ungeniessbare oder mindestens un - verdauliche Speise; sie ist mit einer Menge Bestandtheilen ver - setzt, die dem modernen Magen starke Indigestionen verursachen müssen, wenn nicht schon zuvor die Zunge ihre Schuldigkeit gethan und dem schmacklosen Zeug, soweit möglich, den Eingang verwehrt hat. Ausserdem sind gelehrte Monopole und Aus - schliesslichkeiten weit schlimmer als materielle; denn die Unfrei - heit des Unterrichts muss das Erzeugniss weit mehr fälschen, als die Unfreiheit des Handwerks. Die geistige Corruption, die im Dunkel der unfreien Autoritätenwirthschaft um sich greift, ist viel intensiver als die materielle. Die Herabziehung der Wissen - schaft zu einem blossen Werkzeug der zünftlerischen Nahrungs - und Versorgungsinteressen ist denn doch noch etwas Anderes, als die Dienstbarmachung eines gemeinen Gewerbes für diesen, ihm ja ganz naheliegenden und gewissermaassen auch natürlichen Haupt - zweck. So sind denn seit dem 12. Jahrhundert die Universitäten40 als geistige, ja zum Theil auch geistliche Zünfte nach einer kurzen Halbblüthe, die in bedeutenden sachlichen Anregungen und in ursprünglich bisweilen auch freieren Verfassungen ihren Grund hatte, in den modernen Jahrhunderten überall immer mehr verfallen und haben den Fortschritt der Wissenschaften wesent - lich gehemmt, die untergeordnete Vermittlung des anderweitig in freierer Gewonnenen meist recht schlecht oder gar nicht besorgt. Schon von Adam Smith wurden sie für diejenigen Stätten erklärt, in denen die verrottesten Vorurtheile noch hausen, die bereits aus allen Ecken der Welt vertrieben sind. Doch ich kann mich hier nicht auf eine geschichtlich weit ausholende Dar - legung einlassen. Das Zunftgerüst und seine Wirkungen können auch an den heutigen deutschen Universitäten zur Genüge in Augenschein genommen werden. Die ausschliessende Körper - schaft cooptirt nach persönlichem Belieben; denn die Staats - genehmigung ist fast nur formell. Ein Fachprofessor entscheidet darüber, wen er zum Collegen haben will, und sieht sich natür - lich nach einem möglichst gefälligen und zahmen Concurrenten oder vielmehr Nichtconcurrenten um. Wo er sich nicht gradezu Nullitäten besorgen kann, weil seine Fachcollegen auf andern Universitäten mit ihm im vetterschaftlichen Cartell stehen und auch ihre Leute untergebracht sehen wollen, arrangirt man sich nach dem Princip der Gegenseitigkeit und theilt innerhalb der Kameradie das Monopol nach jedesmaliger Convenienz. Aus - nahmsweise greift allerdings auch die Bürokratie ein, und da ihr Nepotismus weder an sich selbst so schlimm wie der zünft - lerische und überdies weniger unmittelbar in die gelehrte Sphäre hineinverzweigt ist, so geschieht es auch wohl, dass ein einfluss - loserer Fachprofessor gute Miene zu dem für ihn bösen Spiel machen und sich die Hinsetzung einer sogenannten Grösse als nachbarlichen Concurrenten oder vielmehr Hauptmomopolisten ge - fallen lassen muss. Selten wird es aber geschehen, dass der - artige Grössen und Hauptprofessoren selbst nicht in der Lage wären, jeder an seiner Universität möglichst allein zu horsten und so in den Hauptzunftörtern in gehöriger Distanz voneinander ihre gelehrten Zwangs - und Bannrechte über das Studentenpublicum auszuüben. Das Ausland sei noch besonders daran erinnert, dass die bei uns von den Studenten bezahlten Vorlesungsgelder eine eine ansehnliche Privateinnahme der einzelnen Professoren bilden, und dass diese letzteren daher eine sehr starke ökonomische Ursache41 haben, die formell freie Auswahl ihrer Vorlesungen seitens der Studirenden nie einer missliebigen, wenn auch noch so be - schränkten Concurrenz anheimfallen zu lassen, so dass ein volles oder aber nach stillschweigendem Einverständniss und collegi - alistischer Anstandsordnung getheiltes Monopol das Ideal der Aus - beutung des gelehrten Handwerks bildet.

Infolge dessen ist auch der Aerger der Zunftmeister und Facultätsprofessoren besonders gross, wenn einmal die Regierung auch einen ihrer eignen Leute in eine Professur zu stecken hat und ihn einer Facultät, wie man dies nennt, einfach hinsetzt. Von einem solchen Fall, welcher nach manchen andern z. B. auch 1884 der Berliner Universität und zwar in der medicinischen Facultät begegnete, dem Fall Schweninger, machten die dort tonangebenden Professörchen und die zugehörigen Pressjuden viel Aufhebens, weil sie diesmal gegen den Hingesetzten, unter Vorwand eines Sitten - defects, ein gar leichtes Spiel zu haben glaubten. Mir, als einem Kenner der Sitten der Zunftgelehrten in ihrem Gewerbsbetrieb, musste es hochkomisch vorkommen, dass die Herrchen auch Mangel wissenschaftlicher Verdienste als einen Grund affichirten, während doch bei ihren eignen Protégés wissenschaftliche Aus - zeichnung das ist, was regelmässig gar nicht oder höchstens ein - mal nebenbei und an letzter Stelle in Frage kommt. In der That dienten solche Vorschützungen nur dazu, das Publicum über das eigentliche Motiv irrezuführen. Dieses war, wie immer, so auch diesmal nichts Anderes, als das beeinträchtigte Monopol zünftlerischer Patronage, also der Eitelkeit und des stellenver - gebenden Einflusses derjenigen Professoren, welche gewohnt sind, immer nur ihre Anhängsel unterzubringen. In diesem Falle hatte sie dies bis zu dem Punkte aufgekitzelt, sogar davon verlauten zu lassen, selber gehen zu wollen, wenn die Regierung gegen ihre dem hingesetzten Professor gegenüber inscenirte Benehmungs - art einschritte. Das Einschreiten, d. h. die Zurechtweisung kam und dazu auch öffentlich in officiösen Zeitungsartikeln die ent - schlossene Andeutung, dass man die Herren, wenn sie wollten, immerhin ziehen lassen würde, und siehe da, die Species bewährte ihren Charakter. Sie zogen nicht nur nicht, sondern legten sich auch sofort. Nach so vielem und monatelangem Ge - kläff in den Zeitungen und nach allen möglichen Demonstrations - inscenirungen wurde mit einem Mal Alles mäuschenstill. Der abkühlende Wasserstrahl hatte seine Schuldigkeit gethan. Im42 Ernste ihre Professuren quittiren, nein, das wäre ein übles Geschäft gewesen, wo doch die ganze unterthänigste Empörung nur einem Stückchen vom zünftlerischen und persönlichen Pa - tronagemonopol gegolten hatte. Ein späteres gelegentliches Nach - spiel von blossem Wortdemonstratiönchen im preussischen Abge - ordnetenhause auf einen weiteren und noch entschiedeneren Schritt der Regierung hin, nämlich auf eine ansehnliche Gehaltscreirung für den Ernannten im Etat, das war billiger zu haben als der eigne Abgang. Zeigt eine Regierung nur eine ernste Miene, so wissen die Zunftprofessoren gar wohl, was sie zu thun oder vielmehr zu lassen haben. Andernfalls aber, und wo ihnen die Regierung über - haupt nicht querkommt, bethätigen sie ihr Privilegium ganz nach den gelehrt vetterschaftlichen Interessen von Einzelpersonen und Ringen.

Der Professorenstand ist nämlich eine Art Kaste, die sich vornehmlich durch Inzucht fortpflanzt. Schwiegervater und Schwiegersohn sitzen innerhalb derselben Facultät und fungiren innerhalb derselben Commission als Examinatoren. In die Pro - fessuren heirathet man sich ein, wie früher in die Handwerks - gilden. Auch ausserhalb der Universitäten weiss man ja in vielen Kreisen bereits hinlänglich, dass die Vetterei dadrinnen eine ganz bedeutende Rolle spielt, und dass wissenschaftliche Ver - dienste nicht etwa blos die gleichgültigste Nebensache, sondern, wo sie nicht mit der persönlichen Patronage zusammentreffen, ein Hinderniss des Fortkommens und ein Grund der Fernhaltung oder gar Aechtung sind. Aber die Art, wie dieses nepotische System, welches da, wo es einmal über die Bluts - und Gilden - verwandtschaft hinausreicht, auf persönlicher Affiliation beruht, mehr und mehr corrumpirend auf den Nachwuchs einwirkt, muss hier doch in Erinnerung gebracht werden. Ein Candidat des Docententhums sieht sich zunächst danach um, wo er durch Unterthänigkeit und in Aussichtstellung guter Dienste die specielle Patronage eines Fachprofessors erwerben und sich so dessen Stimme für die Zulassung und für künftige Beförderung ge - winnen möge. Die Gewitztesten beginnen diese persönlichen Manipulationen schon während der Studienjahre, zumal wenn sie unmittelbar aus der Kaste selbst stammen oder wenigstens ihren Künsten nähergetreten und von erfahrenen Routiniers schon einigermaassen eingeweiht sind. Die elendeste Schmeichelei ist das Pflaster, mit dem der Weg festgemacht wird, und die grüne Unreife mit ihrer Urtheilslosigkeit hilft ein wenig nach, wo sich onst vielleicht gelegentlich doch das Gewissen regen und dens43 beschränkten Cultus bei den jedesmaligen Professörchen, der mit der Verlästerung oder wenigstens Verleugnung des Bessern ver - bunden werden muss, als eine zu arge Schmach empfinden lassen würde. Indessen sind die universitären Reptilien mit ihrem Stellen - schleicherthum meist schon durch die umgebenden Lebensbe - dingungen hinreichend in ihrem Artcharakter ausgeprägt, um mit einer mönchischen Verschlagenheit auch hinreichende Erhabenheit über wissenschaftliche Heuchelei zu verbinden und ihre servile Anpassungsrolle so abzuspielen, dass nicht bei ihnen eine mora - lische Gegenregung, wohl aber bei Andern, diesem gesinnungs - losen Treiben Fremdgebliebenen und nur von draussen Hinein - blickenden, trotz der Entfernung, um auch einmal classisch zu reden, der Speichel rege gemacht wird.

Wenden wir uns von diesem ekelhaften Treiben der Per - sonen zu dem sachlichen Boden, auf dem es sich ergeht. An ge - lehrtem Gemüll fehlt es dort natürlich nicht, und die Abfälle aus dem Mittelalter bilden die Hauptverzierung, durch welche sich universitäre Gelehrsamkeit vor moderner und naturgemäss ge - stalteter Wissenschaft auszeichnet. In den Rahmen des mittel - alterlichen Kirchen - und Autoritätswesens hineingepfropft, haben die Universitäten das von der Kirchensprache her angenommene Latein sozusagen als heilige Scheidewand gegen das profane Volk angenommen und bis auf den heutigen Tag nach Kräften conservirt. Freilich haben sie die lateinischen Vorlesungen schon im vorigen Jahrhundert grösstentheils abthun müssen; aber sie sind damit doch ein paar Jahrhunderte zu spät gekommen. Der Geist der freien Wissenschaft hatte sich schon im 16. Jahrhundert der neuern Völkersprachen bedient und die gelehrten Zünfte sind in diesem Punkt wiederum nur der Hemmschuh gewesen, der den Wagen des natürlichen Fortschritts am unrechten Orte auf - gehalten hat. Heut steht das Latein theils als ceremonielles Curiosum, theils aber auch (und dies ist das ernsthafte Uebel) als Grundlage der Studien im Wege. Mit dem Griechischen sind zwar die Gymnasien arg genug heimgesucht; aber in den be - sondern Fachstudien spielt es, abgesehen von der Philologie, also von der Zurichtung von Gymnasiallehrern für dasselbe, auf den Universitäten keine gleich lästige Rolle. Der Jurist, dem man die Pandekten als A und O der Rechtskunde wöchentlich 12 - bis 15 stündig servirt, und der nach echt philologischer Manier wohl gar die Künste eines römischen Richters an den alten Formeln 44höchst Savignyromantisch galvanisiren soll, der Jurist, dem einige Geschäftskenntniss in den Verkehrs - und Rechtsformen des wirklichen Lebens Noth thäte, soll statt dessen am rescri - birten Gajus klauben und, was noch schlimmer ist, gelegentlich ausser dem byzantinischen Mosaik der Justinianisch-römischen Rechtsbibel auch noch das Corpus des kanonischen Rechts in der ganzen Wohlbeleibtheit dieses geistlichen Buches umklammern und, wie der Theologe seinen hebräischen Psalm, so seine latei - nische Stelle aus der hierarchischen Ueberlieferung auslegen können. Aber Griechisch kommt hiebei doch so gut wie gar nicht in Frage, und das Unleidliche ist die lateinische Wörter - dressur. Seit sieben Jahrhunderten hat man an der römischen Rechtsbibel, namentlich aber an den Pandekten, sowie auch an dem mittelalterlichen Zubehör heruminterpretirt und will noch immer dieser erläuternden Bedientenverrichtung nicht entwachsen sein. Diese Armseligkeit der Ergebnisse rührt von dem autori - tären Princip her. Man hat persönliche Meinungen weiter ge - geben, aufgereiht und gesammelt; die Ansichten der Doctoren bildeten die sogenannte Wissenschaft und das lateinische Gewand war der einzige Umstand, welcher der äusserst platten Sache vor dem abergläubischen Publicum einen gewissen Schein und eine Art Vornehmheit verschaffte. Hienach wird man auch begreifen, warum die Gilde heute im Latein die letzte Stütze ihres An - sehens wanken sieht, und warum sie diese heilige Sprache als Scheide ansieht, in welcher das Schwert ihrer Rechtsweisheit stecke. Eine Scheide ist es nun wohl dieses Latein; aber darinnen steckt Nichts, womit sich ernsthaft fechten liesse. Wer nicht schon vor der umgehängten Scheide Respect bekommen will, braucht das Uebrige nicht zu fürchten.

Dennoch hat aber ein geringes Maass von Latein grade noch bei den Juristen am ehesten einen praktischen Sinn; denn manche noch maassgebende Vertrags - oder Gesetzesurkunde neuerer Zeit ist in echtem Küchen - oder Kirchenlatein abgefasst und kann unter Umständen wohl einmal buchstabirt werden müssen, wofür man freilich auch ebensogut wie für Polnisch eigne Dolmetscher halten könnte. Was aber die Quellen des wissenschaftlichen Studiums anbetrifft, so dürften die Kinderschuhe doch endlich auszuziehen sein. Hat man sieben Jahrhunderte lang glossirt, ohne selbständig zu werden, so wird man es auch in sieben Jahrtausenden nicht; und ist man anderweitig durch bessere45 Methoden des Denkens ein wenig zum Gebrauch der eignen Beine gelangt, so ist erst recht kein Grund vorhanden, den alten lateinischen, römischrechtlichen Zoll noch ferner zu entrichten. Selbst der romantische Savigny wollte ja seine Liebhaberei nicht verewigt, sondern dieselbe nur noch als eine zur Selbständigkeit vorbereitende Phase anerkannt wissen und ergab sich bereits in den Gedanken, den römischen Rechtsstoff als Schulungsmittel ab - gethan und nur noch der geschichtlichen Erinnerung einer dank - baren Nachwelt übergeben zu sehen. Das Latein in der Philo - logie aber schwebt ganz in der Luft; denn es dient nur dazu, Lateinlehrer für die Gymnasien zu produciren, und die ganze Herrlichkeit dreht sich auf diese Weise im Kreise. Braucht man das Latein nicht mehr für materielle Fächer, so hat es auf den Gymnasien keinen Sinn mehr; fällt es aber auf den Gymnasien fort, so ist die Philologie auf den Universitäten überflüssig und die altsprachlichen, angeblich auch alterthumskundigen Professoren können getrost aussterben.

Die Medicin sammt Apothekerei ist zwar in ihrer eigensten mittelalterlich abergläubischen Gestalt auch lateinisch recht hübsch inficirt, aber doch glücklicherweise nur mit Brocken und sehr äusserlich in jener Weise, wie sie von einem Molière im Ein - gebildeten Kranken angemessen verspottet wurde. Auch für die Heilkunde wird man künftig gar keine alten Sprachen brauchen, und schon jetzt kommt man so ziemlich ohne dies aus. Der junge Mediciner kümmert sich um sein wenig Gymnasialgriechisch gar nicht mehr, und auch von dem Latein wird er meistens 99 100 vergessen, ohne auch nur bei der Staatsprüfung in Verlegenheit zu kommen. In der Praxis entäussert er sich aber alles gelehrten Krams; nur darf er die paar Apothekerausdrücke für das Recept - schreiben nicht verlernen; denn hier spielen die Reste der heiligen Sprache eine wahrhafte Priesterrolle gegen das profane Laienvolk. Hiemit sind wir aber auch schon auf dem Niveau des blossen Apothekers angelangt, und für dessen Büchsen wird man doch wahrlich nicht die classisch lateinische Literatur auf den Gymna - sien tributpflichtig und zum Hauptdrillungsmaterial der armen gequälten Zöglinge gemacht haben wollen. Um bei dieser Ge - legenheit noch einmal an den Juristen zu erinnern, so wird auch dieser in der selbständigen Praxis und zum Theil sogar schon, wenn er über die erste, noch viel todte Gelehrsamkeit athmende Prüfung hinaus ist, seine altsprachliche Bedürftigkeit mit Behagen46 der Vergessenheit anheimgeben und Angesichts des wirklichen Lebens und der neuern Gesetzbücher sich durch den Gedanken erheben, welcher classisch romantischen Täuschung er nun glück - lich entwachsen sei. Der nachdenkende Mediciner aber wird sich sagen, dass er, um auch einmal aus Neugier in den Hippokrates, hineinzusehen, mit seinem unzulänglichen Gymnasialgriechisch doch nicht ausgereicht, sondern zu Herrn Littrés schöner franzö - sischer Ausgabe oder auch zu einer deutschen Uebersetzung hätte seine Zuflucht nehmen müssen. Uebrigens wird er wissen, dass trotz einiger guter Maximen, über welche die Heilkunde und die Betrachtungsart der Krankheiten in den 2000 Jahren nicht hinausgekommen ist, doch der jetzige Hauptlernstoff im Natur - wissenschaftlichen liege, worin die Alten bekanntlich weniger als Kinder gewesen sind. Was an der Medicin nicht priesterartig dunkel, autoritär und abergläubisch ist, stammt zum überwiegen - den Theil aus der modernen, ja soweit es sich um die Geltend - machung besserer Grundlagen des Naturwissens handelt, erst aus der allerneusten Zeit. Die Ausmerzung des Verkehrten ist ein Haupttheil der Fortschritte gewesen, und hiebei war die Altsprach - lichkeit nicht ein Förderungsmittel, sondern eine Hemmung.

In Wahrheit ist das angedeutete Stück Mittelalter und Kirchen - sprache und mithin die ganze Erbschaft des verwesten römischen Reichs völlig abzuthun. Unmittelbare Kenntniss der Sachen im modern wissenschaftlichen Sinne ist bei den Alten nicht zu haben. Die Literatur des Römerthums aber ist sogar unwissenschaftlich gewesen und hat, in Ermangelung schöpferischer Anlagen, blos das Griechenthum nachgeahmt und zwar meistens recht dürftig copirt. Zur eigentlichen Wissenschaft hatten die Römer niemals irgend welche angestammte Neigung; die Schöngeisterei der ersten Zeiten ihres Kaiserthums war, wie gesagt, erborgt und obenein ziemlich servil. Was aber die sogenannten classischen Juristen anbelangt, die sich in den ersten Kaiserjahrhunderten ausprägten, so sind von ihren Werken nur Trümmer und Mosaikstückchen vorhanden, und die verhältnissmässige Schärfe ihrer Manier, privat - rechtliche Vorstellungen zu zersplittern, hat als Schulungsmittel neuerer Gelehrsamkeit im Werthe immer mehr sinken müssen, je entschiedener sich herausstellte, dass sich jene Formen des Denkens von dem völlig fremdartigen Rechtsstoff nicht trennen liessen. Dieser Rechtsstoff selbst ist aber nunmehr in der so - genannten reinen Gestalt ein Gegenstand der romanistischen47 Philologie geworden und hiemit seiner Ausrangirung aus den wirklichen Bildungsmitteln näher gerückt. Dieses Stück Phil - ologie kann ebensowenig, wie die sonstigen altsprachlichen und alterthumskundlichen Gelehrsamkeitsreste, dem modernen Men - schen als Bildungsmittel zugemuthet werden. Die sogenannte classische Bildung auf den Gymnasien sollte eher altsprachliche Verbildung heissen, und die mächtigen industriellen Classen, in denen doch Blut des neuern Lebens pulsirt, werden schliesslich schon dahin gelangen, die altsprachlichen Zollschranken nieder - zureissen. Diese modernen Gesellschaftselemente werden sich nicht immer gefallen lassen, dass ihre sonst einflussreichsten Mit - glieder von der Staatsverwaltung, vom Richter - und Advocaten - stande und überhaupt von allen gelehrten gesellschaftlichen Func - tionen ausgeschlossen bleiben, weil ihr sachlicher Bildungsgang ihnen die Einlassung mit dem Todtenputz philologisch lebloser Verbildung nicht gestattet hat. Eines ist aber eben nur möglich, und bei der Wahl zwischen Sachwissenschaft und Wörtergelehr - samkeit kann die Entscheidung für den modernen Menschen nicht zweifelhaft sein. Die vermeintlich bildende Kraft, die das gram - matische Wiederkäuen lateinischer und griechischer Schriftsteller auf den Gymnasien zur Formung des Geistes haben soll, ist nie die Ursache der Einführung solcher todten Künste gewesen, sondern hinterher als Scheingrund erfunden, um nicht zu sagen erlogen worden. Seit den Zeiten Petrarcas und überhaupt mit der literarischen Renaissance hatte man sich aus Bedürfniss, in einer Art Anwandlung von Classicitätsromantik und zum Theil auch, um ein Gegenstück zur religiösen Barbarei zu pflegen, den alten Schriftstellern zugewendet, und der sogenannte Humanismus von antik literarischer Haltung hatte eine gewisse Berechtigung. Indessen würde man doch nicht die gelehrten Anstalten gymna - sialer Art sowie den ganzen Gelehrtenverkehr auf das Latein gegründet haben, wenn wirklich die geistige Beschaffenheit der schriftstellerischen Ueberlieferungen und nicht vielmehr die alten, von der Kirche herstammenden Gewohnheiten maassgebend ge - worden wären. Die griechische Literatur hatte allein einigen Gehalt; aber grade die Kenntniss und Einschulung der griechi - schen Sprache blieb stets und bis auf den heutigen Tag eine, dürftige. Es ist also eitel Blendwerk, wenn man sich heute hinter angeblich formalistische Vortheile zu flüchten und sozusagen auf die Turnkünste an den alten Sprachen zu steifen sucht. Selbst48 wenn die schulmässige Zerklitterung zum Theil geringwerthiger Autoren geschichtlichen oder belletristischen Genres im altsprach - lichen Gebiet besondere Vortheile böte, wovon aber grade das Gegentheil der Fall ist, selbst wenn also die formelle Sprach - bildung hier ernsthafte Förderung erführe, so würde dennoch jeder moderne Gegenstand vorzuziehen sein, weil das Opfer, sich etwas sachlich Nutzloses mit grosser Mühe und erheblichen Kosten anzueignen, um eine blos formelle Uebungsfrucht davonzutragen, denn doch Angesichts des riesenmässig angewachsenen Materials unmittelbarer und lebendiger Sachinteressen eine zu komische Zumuthung wäre. Solch eine Zumuthung kann eben nur von Jemand ausgehen, der sich als philologischer Pedant in seine Winkelwelt derartig eingehaust hat, dass er in seiner Eitelkeit sein Wörterhäuschen für die grosse Welt der Dinge nimmt und seine Facultas für lateinische und griechische Knabendrillung mindestens als eine Art Braminenthum der Bildung ansieht, während er sich doch in Wahrheit zu den Theologen gesellen und mit seinem altsprachlichen Priesterthum gegen wahrhaft auf - klärende Sachwissenschaft nur eine reactionäre Front formiren kann. Auch ist es der Mangel an wirklichem Wissen und ernst - hafterer Bildung, was die altsprachlichen Matadore so gewaltig aufregt, wenn Jemand der Heiligkeit und den Wunderwirkungen ihrer Manipulationen den Glauben versagt. Sie fühlen nämlich schon einigermaassen, dass sie nichts sind und mit ihrer sach - lichen Bildungslosigkeit zu einer komischen Figur werden müssen, wenn ihr altsprachliches Priesterthum erst von einer grösseren Menge durchschaut wird.

Man ist schon früher in Frankreich und jetzt auch bei uns auf den der Beschränktheit naheliegenden Einfall gekommen, das Griechische im Verhältniss zum Latein mehr als bisher hervor - treten zu lassen. Diese Weisheit ist eine sehr ungeschichtliche und unpraktische; denn, wie schon gesagt, nach dem Rangver - hältniss der Literaturen ist die altsprachliche Drillung überhaupt nicht eingeführt worden. Es waren praktische Anknüpfungs - punkte gewesen, denen das Latein seine schulmässige Einbürgerung zu verdanken gehabt hatte. Nun thut man aber so, als wenn geistige Vorzüge einer relativ bessern Literatur, wie der griechi - schen, den Ausschlag geben müssten. Man kommt hiemit nicht nur ein halbes Jahrtausend zu spät, sondern versimpelt auch die ganze Betrachtungsart in das Ideologisch-Romantische hinein. 49Was zur Zeit humanistischer Classicitätsschwärmerei, also in einem Zustande, welcher sich zu dem heutigen Verfall wie Jugendleben zu einem Leichnam verhielt, nicht den Ausschlag zu geben ver - mocht hat, sollte jetzt an erster Stelle maassgebend werden? Selbst wenn wir heute mit unserer wirklichen Wissenschaft da ständen, wo wir vor vier Jahrhunderten waren, also bei einer ersten Initiative, so würde der Werth des Griechischen doch nicht dazu führen können, es zur Schulungssprache zu machen. Wie die Dinge aber gegenwärtig liegen und nach Beseitigung aller jener Illusionen der Classicitätsromantik möchte die griechische Belletristik und Geschichtsschreibung denn doch nicht verlockend genug sein, um moderne Generationen, etwa der zerfahrenen Possen des Aristophanes wegen, zu nöthigen, sich Jahrzehnte des Lebens durch griechische Sprachexercitien aushöhlen zu lassen! Das Beste bei den Griechen war die plastische Kunst, und ihre Bild - säulen reden glücklicherweise kein Wort Griechisch. Die Wissen - schaft aber war bei den Griechen in der Kindheit und die Philo - sophie fast durchgängig weniger als das, nämlich, was sie, ab - gesehen von der sachlichen Forschung, auch noch heute so ziemlich überall ist, ein selbstgefälliges, sachlichen Ernstes er - mangelndes Vorspiel mit allerlei ersten Elementarbegriffen, aber überdies in einem dialektisch sehr schülerhaften Genre. Wenn man also die griechische Schöngeisterei nicht überschätzt und die Bedürfnisse der modernen Denk - und Gefühlsweise nicht auf die Dauer mit Füssen treten will, so wird man auch die griechische Romantik fahren lassen und den modernen Völkern nicht mehr etwas so Entfremdetes und, realistisch besehen, einer edleren Menschlichkeit oft so Fernstehendes, stets aber götterspielerisch und abergläubisch Rückständiges aufdringen können. Für die richtige Würdigung und Stellung aller Belletristik, einschliesslich der sprachlich mumisirten und sachlich uns in vielen Elementen ganz unsympathischen des Alterthums, wird die eigentliche Wissenschaft schon sorgen.

Gesetzt aber auch, die weibliche Jugend würde unter gymna - sial altsprachliche Zucht genommen, so würde sie selbst für den eingebildeten Zweck davon keine Frucht haben; denn mit dem Zeugniss der Reife ist der heutige Abiturient in griechischer Lectüre doch noch regelmässig ein derartiger Stümper, dass an ein geläufiges, sachlich ausgiebiges Aufnehmen alter Literatur - werke nicht zu denken ist. Bleibt doch noch sogar der studirte50 Philologe im trägen Schneckengange des sich Wort für Wort und Zeile für Zeile durchwindenden und meist mühsam keuchenden Uebersetzens und sogenannten Commentirens stecken! Doch ich kann diesen Gegenstand hier nicht im Entferntesten erschöpfen. Es ist genug, wenn die Frauen wissen, dass ihnen die heutige Todtenmaske der einst lebendigen antiken Literatur nicht blos übel anstehen, sondern auch noch die Verrenkung ihrer natür - lichen Geistesglieder mit der altsprachlich grammatischen und lexikalischen Folter eintragen und sie so zu allen gesunden Lei - stungen ungeschickt machen würde, eine Ungeschicklichkeit, die sie am besten im Voraus an jenen männlichen Blaustrümpfen studiren können, die als philologische Pedanten auf den Gymna - sien und Universitäten die heutige Scholastik vertreten. Ueber - haupt hat die todtsprachliche Bildung ihren Ort bei den übrigen Leichnamen, die den Gegenstand linguistischer Anatomie bilden, also bei dem Sanskrit, dem Hebräischen u. dgl. zu suchen und mag sich äussersten Falls einer ähnlichen gelehrten Winkelpflege, wie die altorientalischen Sprachen, erfreuen. Was aber das ver - dorbene Latein anbelangt, in welchem in den neuern Jahr - hunderten auch noch einige wirkliche Wissenschaft, wie Mathe - matik und Physik, niedergeschrieben wurde, so ist es nur zum letzten Quellenstudium, ja, wie die Zuratheziehung antiker griechi - scher Schriftsteller, eigentlich nur zur Geschichtsschreibung der Wissenschaft erforderlich, und letzterer Thätigkeit kann unter natürlichen Verhältnissen über und über genügt werden, wenn auf 100,000 Menschen, die den Ständen gelehrter Berufsausübung angehören, einer kommt, der sich mit dieser Art von Erinnerung befasst. Hiezu genügen aber Gelegenheiten, wie sie ja auch be - züglich mexikanischer Alterthümer von denen aufgespürt worden sind, welche die sprachlichen Hülfsmittel zu ihren Forschungen von keiner Staatsweisheit für sie bereitgestellt fanden.

Das Kramen in Citaten antiker Schriftsteller ist das Merk - mal der falschen Autoritätsmanier und hat auf den Universitäten die Lehre der meisten Wissenschaften nicht nur mit Geschmack - losigkeiten durchwebt, sondern auch in der ganzen Haltung und Methode verdorben. Alte Musterbücher und sozusagen Bibeln sowie überhaupt persönliche Meinungen und literarische Urkunden werden fälschlich als letzte Quellen oder als letzte Gegenstände des Wissens angesehen. Der stupide Personencultus spielt dabei eine Hauptrolle und die Wortgelehrten haben nicht einmal in51 ihrem eignen Gebiet eine Ahnung von freier und unmittelbarer Sachwissenschaft. Selbst Mathematik und Naturwissenschaft sind hievon angesteckt und zeigen die Spuren einer Ablenkung zum scholastischen Verfall, der allerdings auch zugleich auf die Wir - kungen der Zunftcorruption und der servilen Personenauswahl zu verrechnen ist. Eine Universitätsvorlesung, die sich ein Semester hindurchschleppt, trägt meist das Gepräge jener Autoritätsmanier. Sie ist der späte Nachkömmling jenes mittelalterlichen Ersatzes der Bücher durch dictirendes Uebermitteln eines wohlzusammen - gestoppelten Professorheftes. Sie benimmt sich heute noch so, als wenn es keinen Buchdruck gäbe, und als wenn die Weisheit der Kathederpfründner ein Geheimniss wäre, das nur im ver - traulichen engern Kreise offenbart würde. In Wahrheit bleiben aber die Hefte gewaltig hinter den Grundwerken der Wissen - schaft zurück. Der gemeine Professor hält sich stets unterhalb des Niveaus seiner Wissenschaft; denn er käut nur wieder, was ihm schon mannichfaltig vorgekaut und von seinem einstigen Hauptprofessor übergeben worden ist. Dieser selbst aber hat Mühe und Noth gehabt, etwas zusammenzudrechseln, worin wenigstens die an der Oberfläche greifbarsten Ansichten wirk - licher Grössen und Grundwerke der vorangehenden Generation oder des abgelaufenen Jahrhunderts registratormässig angeführt wären. Er ist damit freilich auch meist im Rückstande, und in der Gegenwart versagt sein Urtheil ganz; denn es beruht auf demjenigen anderer Leute, die für ihn schon entschieden haben müssen. Das Verfahren eines auf dem Wege zur Docentur Be - griffenen macht die Art kenntlich, wie die Vorlesungshefte ent - stehen. So ein Candidat pflegt, nachdem er die drei oder vier Jahre Studien hinter sich hat, noch ein paar Jahre auf ver - schiedenen Universitäten herumzuhausiren. Dort sieht er zu, wo er etwas abgucken und in sein Stammheft, welches er einst vor - zulesen gedenkt, buchstäblich zusammentragen könne. Das Heft seines Hauptprofessors bildet den Rahmen, falls nicht irgend ein anderes Renommee tributpflichtig gemacht werden kann, wobei auch die nichtofficiösen Vortragenden, die allerdings eine seltene Ausnahme bilden, mit der verstohlenen Anwesenheit solcher can - didirenden Freibeuter heimgesucht werden. Uebrigens hält sich der Candidat zu seinem Patron und verleugnet öffentlich Alles, was diesem und seiner Clique nicht genehm sein würde. Die gekennzeichnete Heftmache aber ist darum nothwendig, weil es52 dem angehenden Docentenvolk selbstverständlich noch weit mehr als seinen bejahrteren Protectoren an der Fähigkeit fehlt, die Wissenschaft in freier Initiative selbständig zu formuliren oder doch wenigstens in Gemässheit der letzten Grundwerke und aus den bedeutendsten unmittelbaren Quellen zu redigiren. Die Pflege der autoritären Unmündigkeit, welche schon in der ganzen gym - nasialen Vorbildung verderblich und in den Universitätsstudien vollends degradirend wirkte, erklärt zu einem guten Theil jene Heftzurichtung. Uebrigens ist es aber die Macht der mittel - alterlichen Gewohnheit, welche bei Lehrenden und Lernenden den Heftcultus sammt Ablesen, Anhören und Nachschreiben ver - schuldet. Wie auch der Inhalt dieser Form entspreche und wie verzopft die Gelehrsamkeit, ja selbst die modern angefrischte Wissenschaft dabei hervortrete, ist hier nicht möglich, im All - gemeinen und kurz auseinanderzusetzen; wird aber wohl für den, welcher das Uebrige durchschaut hat, keinem Zweifel unter - liegen. Auch kann ich mich für Mathematik und Naturwissen - schaft auf die Auseinandersetzungen berufen, die sich in der zweiten Auflage meiner Geschichte der Mechanik in der am Schluss angegebenen Anleitung zum Studium der mathe - matischen Wissenschaften bezüglich der universitären Lehrweise finden. Hiemit sind noch die Kennzeichnungen zu verbinden, die in dem Werk Grundmittel zur Analysis u. s. w. speciell für die mathematischen Gelehrtenzustände und deren monströse Ent - artungen beigebracht worden. Für die Volkswirthschaftslehre ist Entsprechendes in der Studienanleitung am Schluss der zweiten Auf - lage des Cursus der Nationalökonomie dargelegt worden. Die allgemeinen Gesichtspunkte aber nebst einigen andern speciellen Anwendungen finden sich über die universitäre Lehrweise im Cursus der Philosophie geltend gemacht, und reformatorische Beleuchtungen der Wissenszustände überhaupt sowie im besondern Hinblick auf die Hindernisse der Wissensentwicklung sind in dem Buch Logik und Wissenschaftstheorie nach allen Richtungen hin vorgenommen. Auf die Ausführungen dieser Bücher muss ich mich berufen, um für das, was ich hier im Interesse der Frauen mehr allgemein gekennzeichnet als im Detail verfolgt habe, die erforderliche systematische und dem wissenschaftlichen Gesammtzusammenhang eingefügte Ergänzung voraussetzen zu können. Die weibliche Welt muss vor allen Dingen darauf halten, das fragliche gelehrte Unwesen nie ernstlich an sich kommen zu53 lassen, und also auch dann, wenn sie ausnahmsweise mit ihm auf einem Wege zusammentreffen und die jetzigen gelehrten An - stalten zeitweilig benutzen müsste, der Hohlheit des universitären Aufputzes eingedenk bleiben. Das ganze System wäre längst zusammengebrochen, wenn es nicht einem künstlichen Staats - zwange die zum Theil schon recht widerwillige Kundschaft ver - dankte. Der Student muss seine Semester und die Bezahlung seiner Vorlesungen nachweisen und sich meistens auch von Exa - minatoren prüfen lassen, die ihm an den Universitäten als Pro - fessoren ihre Vorlesungen anbieten. Gäbe es Unterrichtsfreiheit, so könnten die altersschwachen Institute die Concurrenz des freien Marktes keine Generation hindurch aushalten. Die Frauen haben aber zuzusehen, wie sie auf dem kürzesten Wege zu einer na - türlichen Studirart gelangen und für diese den freien Spielraum und die natürlichen Rechte gegen staatliche Beeinträchtigung und universitäre Monopole verwirklichen.

6. Natürliche Vorbereitung für das praktische Hauptziel.

Der heutige Zustand der Wissenschaft und zum Theil auch derjenige der Literatur legt überhaupt und ganz besonders fur die weibliche Welt eine ganz andere Studirweise nahe, als die aus dem Mittelalter und von der Autorität vererbte. Selbstthätigkeit auf Grund gedruckter Hülfsmittel wird die in Rücksicht auf Zeit und Geld bequemste und billigste Lernart ergeben. In der That ist es ein gelehrter Privilegienhumbug, glauben zu machen, dass die Grundwerke der Wissenschaft, die von wirklichen und schöpferischen Grössen herrühren, für den strebsam Lernenden zu hoch ständen. Was heute in der That nicht zu brauchen ist, das sind die Lehrbücher, die, auf die Universitäten be - rechnet, schon absichtlich so eingerichtet wurden, dass sie den Vorlesungen keine Concurrenz machen. Sie sind nicht etwa blos Halbheiten, sondern meist Ungeniessbarkeiten und haben ihren Namen von dem, was sie nicht leisten. Wer sich aber an die Grundwerke hält, die hoch über den Lehrbüchern stehen, wird wirklich und zwar weit besser belehrt werden als durch Vor - lesungshefte, die er übrigens auch, wenn er den Aberglauben an sie probiren will, fertig geschrieben kaufen kann, ohne sich selbst die Pein des Anhörens des Dictats und die Schreiberarbeit nebst54 dem Absitzen in der dumpfen Luft auferlegt zu haben. Die seltene Ausnahme eigentlicher und anregender Vorträge, die weder auf Vorleserei noch auf Abhaspelung des Detailkrams einer Wissenschaft oder gar auf einen Buchersatz hinauslaufen, ist praktisch kaum zu veranschlagen, da sie in der Masse so gut wie nicht mitzählt und überdies im Rahmen der universitären Gewohnheiten und Vorschriften zu einer schwierigen und nur mit Opfern ausführbaren Angelegenheit wird. Ein Semester hin - durch mindestens sechzigmal in lebendiger Rede sich über die anregenden Hauptpunkte, leitenden Grundanschauungen und Studiengrundsätze einer Wissenschaft derartig auslassen, dass Alles sofort interessirt und ohne Schreiberei dem Geiste ein - geprägt werde, dies ist, zumal den stumpfen Angewöhnungen gegenüber, die schon vom Gymnasium her die Fähigkeit zur thätigen und mitarbeitenden Aufmerksamkeit abgeschwächt haben, eine für den Docenten äusserst aufreibende Sache. Der einseitige Vortrag ist hier eben ein Hinderniss der Natürlichkeit der Mit - theilung; denn es ist eine ungeheuerliche Aufgabe, im Semester etwa für zwei Wissenschaftszweige zwei Mal sechzig eigentliche Reden halten zu sollen und dabei die eignen Kräfte und die - jenigen der Zuhörer nur in dem menschlich möglichen Maasse in Anspruch zu nehmen. Es kann Einer unvergleichlich leichter sechs Stunden hintereinander (wie dies bei Pandektisten in über - stürzten Schlussabhaspelungen vorkommt) den Inhalt seines Heftes abdictiren, als zwei Stunden hintereinander wirklich selbständige und geistig frei bewegliche, den Gedanken frisch gestaltende Vor - träge halten. Man erwarte daher auf den Kathedern wesentlich nur mechanische Arbeit, bei der natürlich für das Lernen weit weniger herauskommen muss, als wenn das Heft oder besser ein gutes Buch zur unmittelbaren Lectüre vorläge. Mit wirklichen Vorträgen hätte man weit sparsamer zu sein; denn weder der Lehrende hat sich in ihnen aufzureiben, noch der Lernende ein Interesse, in andern als wichtigen Fällen in einseitiger mündlicher Rede, die sich an Viele allgemein dirigirend wendet und keinen gegenseitigen Gedankenaustausch mit sich bringt, sozusagen wissenschaftlich haranguirt zu werden. Derartige Haranguen sind ganz am Orte, wo es gilt, einen leitenden Einfluss auszuüben, der an Einzelne oder Wenige in gewöhnlicher Gesprächsform nicht adressirt werden kann, weil eine derartige Anleitung, die jedenfalls noch besser ist, zu kostbar ausfallen müsste. Bedeutende55 Persönlichkeiten und selbst schon besondere Virtuositäten können mit dem lebendigen Wort auch in der Wissenschaft für eine grössere Menge meist nicht anders dasein, als durch Vorträge, deren Hauptcharakter im Erwecken und methodischen Dirigiren der jedesmal erforderlichen speciellen Studienthätigkeiten be - stehen wird. Solche Vorträge werden auf die Hauptaufgaben hinweisen und die Mittel kennen lehren, durch welche man das Ziel selbstthätig erreicht.

Abgesehen von solchen Vorträgen, die heute überall nur als vereinzelte Ausnahmen existiren und daher als Studienmittel erst einzuführen sind, wird für den bereits zum Verständniss der eignen Sprache einigermaassen Gebildeten das gedruckte Wort in allen Wissenschaften den Hauptausgangspunkt abgeben müssen. Ein ergänzender mündlicher Unterricht, soweit er für Einzelne oder für kleine Kreise billig und daher gewöhnlich nur von Seiten der Durchschnittskräfte zu haben sein wird, hat das Ge - präge der zweiseitigen Mittheilung und womöglich des gemein - schaftlichen Arbeitens von Lehrenden und Lernenden, mindestens aber irgend einer Art der gegenseitigen Verständigung anzu - nehmen. Da er nur zur Aushülfe erforderlich ist, so wird er schliesslich billiger zu stehen kommen, als die üblichen, aber äusserst gehäuften und dennoch so überaus unzulänglichen Bil - dungsgelegenheiten. Für die Frauen aber, die ein neues Berufs - gebiet betreten wollen, giebt es Angesichts der heutigen Lage kaum eine Wahl. Sie müssen zusehen, wie sie sich auf privatem Wege die persönlichen Orientirungshülfen zur ersten Einführung in das Bücherreich verschaffen. Der Staat wird ihnen dabei schwerlich auch nur aus der Sonne gehen; sie werden bei ihren Bemühungen um die für sie brauchbaren Lehrkräfte den Schatten schon merken, den das Privilegienunwesen in unwillkommener Weise auf ihren Weg wirft. Allzu genau werden sie es daher in der Uebergangsphase nicht nehmen dürfen. Sie werden sich die ergänzenden Lehrkräfte gefallen lassen müssen, wie sie die - selben finden und haben können. Sie mögen auch immerhin mit allen Mitteln operiren und selbst das universitäre Gebiet nicht scheuen, wenn sie sich nur hüten, seiner Sklaverei und seinen Rückläufigkeiten anheimzufallen. Wo ausser dem Lesen, welches in den praktischen Fächern zwar sehr Viel, aber doch nicht Alles sein kann, sachliche Erfahrungen persönlich gemacht und Hantirungen eingeübt sein wollen, werden sich die Frauen an56 die praktischen Privatausüber der Sache halten und beispiels - weise in Verfolgung des medicinischen Berufs ausübende Aerzte zur Unterweisung und technischen Anleitung gewinnen müssen. Letzteres wird mehr leisten als das amtliche Stationsdurchmachen in den öffentlichen Krankenhäusern, was man dem Weibe vor - läufig nach Kräften versagen wird und was auch kaum als der natürlichste Weg gelten kann. Wie der Jurist am besten durch einen Praktiker und inmitten der Geschäftsbedürfnisse zur selb - ständigen Rechtswahrnehmung geschult werden würde, während er jetzt die Universität praktisch ganz unkundig verlässt, so muss auch der ärztliche Beistand im engsten Anschluss an die ein - schlagenden Verrichtungen des täglichen Lebens erlernt werden. Privatvereine zum theoretischen Studium und zur ersten Einführung in die Praxis würden hier die privilegirten Staatsanstalten weit hinter sich lassen können und vor allen Dingen ein mög - licher Weg sein, trotz der Staatsprotection der Unterrichtsprivi - legien die Gewerbefreiheit im weiblichen Interesse auszunutzen. Man hätte damit freilich noch nicht die amtsärztlichen Functionen zur Verfügung; man könnte noch keine staatsmässig gültigen Krankheits - oder Todtenzeugnisse ausstellen und, was weniger zu bedauern ist, auch nicht gültige Impfungen vornehmen. In - dessen würde man statt dessen der Gesellschaft einige gesunde ärztliche Elemente eingeimpft, eine Schaar weiblicher Kenner von Gesundheit und Krankheit und hiemit zugleich eine grössere Bereitwilligkeit geschaffen haben, dem Publicum wirklich hand - anlegende Dienste zu leisten und sich auf den Hülferuf auch anders als blos bei Tage oder blos bei dem Sonnenschein vielen Goldes einzustellen. Doch letztere Vortheile gehen die gesammte Gesellschaft erst später an; in der Phase des Studiums aber wird man zu erwägen haben, dass die naturgemäss verfügbare Zeit bemessen ist.

Soll das Mädchen nicht zu alt und durch die Studien über ihre Jugendblüthe hinaus mit blossen Vorbereitungsdingen zu lange aufgehalten, also an einer rechtzeitigen Selbständigkeit des mündigen und praktischen Lebens gehindert werden, so muss sie ihre höchste theoretische Berufsaufgabe etwa in zwei Jahren eben - sogut durchmessen können, wie der Zögling der Pariser poly - technischen Hochschule die seinige. Ja es muss in dieser Zeit für die Annäherung an den praktischen Beruf vergleichungsweise noch mehr geschehen; denn die Medicin ist noch lange nicht in57 dem Maasse eine eigentlich wissenschaftliche Kunst, wie es das Ingenieur - und Baufach sind. Von den vermeintlichen oder wahren Hülfswissenschaften der Medicin kann man sehr viel in die höhere Vorschulung verweisen. Beispielsweise werden Physik und Chemie nicht wie heute zweimal erscheinen, nämlich erst auf Gymnasien oder Realschulen unzulänglich und dann noch einmal auf Universitäten, wo sie von den Medicinern aber auch nur als Nothvorlesungen um der künftigen professoralen Examina - toren willen benutzt und von den Docirenden in der auch zugleich für Apotheker berechneten Manier hübsch elementar oder viel - mehr platt aufgetischt werden. Eine solche Zeit - und Geldver - schwendung könnte in einem gesund organisirten System nicht vorkommen; dort würden derartige Erfordernisse als allgemeine Bildungswissenschaften in den höhern Vorschulen gründlich und ein für alle Mal abgemacht, und die Beschäftigung mit diesen elementaren Grundlagen der naturwissenschaftlichen Bildung könnte schon in ein sehr jugendliches Alter fallen. Es blieben alsdann, um wieder das Beispiel der Medicin zu Grunde zu legen, als technische Fachstudien nur detaillirte Anatomie und Physio - logie des gesunden und kranken Zustandes, ferner eine an die unmittelbare Erfahrung angeknüpfte Krankheitslehre und die Heilmittelkunde übrig, zu welchem theoretischen Stoff sich dann weiter die praktischen Uebungen und Hantirungen zu gesellen hätten. Wirft man den unnützen Gelehrsamkeitsballast, den me - dicinischen Aberglauben, die Ueberlieferungen der ärztlich priester - haften Charlatanerie und allen scholastisch formellen Kram eines hohlen Pedantismus über Bord, so wird man wahrlich nicht zu viel Gediegenes zu lehren und zu lernen übrig behalten. Ge - wissenhaft Lehrende werden sogar eher in Verlegenheit gerathen, die angesetzte Zeit wahrhaft interessant mit echtem und brauch - barem Wissensmaterial auszufüllen, als etwa den heutigen Mono - polisten nachzuahmen, die unter der Wissenslast, die sie ablagern zu müssen vorgeben, zusammenbrechen wollen und zu den bereits viel zu langen vier zünftlerischen Lehrjahren noch eines oder zwei zu ihren bisherigen Zwangs - und Bannprivilegien hinzu - fordern, um künstlich sozusagen mit der Dienstzeit der Studenten den Umfang der jedes Jahr verfügbaren Zuhörerkundschaft zu vermehren.

Wirklich gute Einrichtungen gehen von den Bedürfnissen des Publicums und nicht von den Gelüsten der Monopolinhaber eines58 in jeder Richtung verrotteten Unterrichtssystems aus. Aus diesem Grunde ist auch an die höhere Vorschulbildung des weiblichen Geschlechts in dem bestimmten Sinne, in welchem ich dieses Wort gebraucht habe, zunächst nur unter der Voraussetzung privater Initiative zu denken. Bis jetzt lässt sich zwar noch nicht einmal eine armselige Volksschule ohne öffentliche Ge - nehmigung errichten; aber ein solches Uebermaass der Unfreiheit, ja der Unterrichtssklaverei, wird wenigstens stückweise durch - löchert werden. Für erwachsene Personen bildet das Vereins - recht den Anknüpfungspunkt, um wenigstens die gesetzlich mög - liche Form für eine Bildung - und Berufspropaganda zu gewinnen, durch welche für die Pflanzschulen, aus denen die höhern Vor - schulen ihre Lehrkräfte zu beziehen haben, eine Schaar in - struirender Persönlichkeiten bereit gemacht werden könnte. Die letzteren würden zunächst privatim überall da eine Verwendung finden, wo das Publicum gewillt wäre, sich die bisherigen Un - zulänglichkeiten nicht mehr gefallen zu lassen und concessionirte Privatinstitute bisheriger Art, ja gelegentlich auch die Communen zu nöthigen, die schlechten Anstalten für sogenannte höhere weib - liche Bildung dadurch zu verbessern, dass besondere Extracurse eingeführt und von jenen Normallehrerinnen abgehalten würden. Hiebei ist natürlich vorauszusetzen, dass dieselben die Kleinig - keiten der bisherigen privilegirten Prüfungen nebenbei längst er - ledigt und daher keinen formellen Hindernissen der Zulassung zu begegnen hätten. Man würde auf diese Weise das alte Regime mit einem Netzwerk thatsächlich besserer Unterrichtshülfen durch - flechten, sich aber jedenfalls überall da, wo der private Wille, der Familienunterricht und eine Association von Familien den Ausschlag geben kann, etwas modern Brauchbares und Gediegenes sichern. Die Lehrerinnen an den Pflanzschulen der Vereine würden zeitgemässere Figuren sein, als philologische Universitäts - professoren, zu denen sie ungefähr die Parallele bildeten, ohne deren überlebte Lehrstoffe und Methoden anzunehmen.

Ein einziger praktischer Berufszweig, wie die Medicin, er - scheint vielleicht Manchem nicht ausreichend, um im Hinblick auf denselben eine ganz neue höhere weibliche Vorschulbildung nebst einer Zurüstung von Pflanzschulen zu organisiren, die ein weibliches Gegenstück zu der universitären Production von Gym - nasiallehrern bildeten. Es fehlt indessen doch nur an dem juri - stischen Beruf, um an Weite wenigstens dasselbe für sich zu59 haben, was das heutige gymnasial-universitäre System aufzuweisen hat. Vorläufig kann man sich aber sehr wohl bei der Medicin als praktischem Zielpunkt beruhigen; es wird an andern Ver - zweigungen der wissenschaftlichen Berufsthätigkeit auf die Dauer nicht fehlen, und die höhern Vorschulen werden sozusagen nicht blos für zwei weibliche Facultäten, nämlich nicht blos für die Medicin und das Lehrfach, vorarbeiten. Grade der selbständige Bildungswerth der höheren Vorschulen, vermöge dessen sie auch für allerlei, nicht grade gelehrte Berufe die natürlichste Vor - bereitung ergeben, wird weiterhin der Anknüpfungspunkt werden können, um später den Uebergang zu polytechnischen Verrich - tungen der Frauen zu vermitteln und schliesslich auch an den öffentlichen Functionen, also an der Rechtswahrnehmung und Verwaltung denjenigen Antheil zu erobern, ohne den die bis - herige unmündige Stellung des Geschlechts doch noch zu einem grossen Theil fortbestehen und das gesellschaftliche Eingreifen in das praktische Leben erschweren wurde. Doch ich habe grund - sätzlich die Erörterung dieses Gegenstandes, als im Rahmen dieser Schrift zu weit führend und auch als praktisch für den Augen - blick zu weit vorgreifend, ausschliessen müssen. Die Lehrstoffe aber, mit denen die höheren Vorschulen vorzugsweise zu schaffen haben werden, bedürfen noch einer besondern Kennzeichnung.

Das blos Sprachliche sollte in einem modernen Bildungs - system höchstens 1 20 des Raumes in Anspruch nehmen, so dass 19 20 für die Sachwissenschaften zur Verfügung blieben. Es ist hauptsächlich auf den Satzbau der eignen Sprache zu concen - triren und in den oberen Classen der höheren Vorschulen über - haupt gar nicht mehr zu treiben; denn dort und schon vorher ist ein grosser Theil der Uebung in Verständniss und Gebrauch der Sprachmittel mit den sachlichen Auffassungs - und Darstellungs - nothwendigkeiten unwillkürlich gegeben und überdies grund - sätzlich zu verbinden. Was die antiken Griechen an ihrer eignen Sprache in kümmerlicher Weise übten, das können wir, die wir über die Kindheit der Sprachzergliederung und Sprachgeschichte hinaus sind, am Deutschen weit besser verrichten. Man lehre nur, im ernsten Sinne des Worts Deutsch hören, Deutsch lesen und Deutsch reden, und die Leute beiderlei Geschlechts, die kein Protocoll mit Verständniss unterschreiben können, und deren es unter den Gebildeten, ja unter den Gelehrten sehr viele giebt, werden seltener werden. Auch die Schulungsrubrik, welche man60 deutschen Aufsatz nennt, dürfte alsdann überflügelt werden; denn bisher habe ich von der Fähigkeit, die ein als reif entlassener Gymnasiast im Auffassen eines reicher gegliederten, wissenschaft - lich gehaltvolleren Stils bekunden wird, keine zu hohe Meinung erlangt, und wie Universitätsprofessoren von grossem Renommee, und darunter Philologen, oft genug ein wahres Judendeutsch schreiben, das kann der Kenner, der hierauf seine Aufmerksam - keit richten will, grade jetzt in wissenschaftlichen Journalen und Büchern genugsam beobachten. Fremde moderne Sprachen sind als materielle und geistige Verkehrsmittel internationaler Art von grosser praktischer Wichtigkeit, aber darum eben auch ganz praktisch, mit möglichst wenig Aufwand an grammatischem und Regelpedantismus, aus unmittelbarer Uebung zu erlernen. Fran - zösisch, Englisch und nächstdem das praktisch wohl bald an dritter Stelle in Frage kommende Russisch brauchen und sollen für uns grundsätzlich nicht als allgemeine Bildungsmittel sondern nur als specielle Werkzeuge fungiren, deren Gebrauch man sich nur bei besonderm Bedürfniss und alsdann auf möglichst billige Weise zu verschaffen sucht. Was bei ihrer Erlernung dennoch neben - bei als Bildung mitabfällt, mag man willkommen heissen; aber man wird sich vor dem Abweg zu hüten haben, hier mit argen Unkosten und mit Schädigung des praktischen Hauptziels die - jenige Bildung zu suchen, die unmittelbar an dem bereits ge - läufigsten Stoff, also am Deutschen und nur hier in der kürzesten und vollkommensten Art erworben werden kann. Man lerne also vor allen Dingen Lesen, Schreiben und Reden; man begreife, was es heissen will, dem Gedankengang einer Lectüre oder einer Verhandlung mit Unterscheidungsvermögen und mit genauer An - passung an das wirklich Gesagte folgen, sowie die eigne Meinung zutreffend und verständlich zu Markte bringen, so wird man an höherer Vorschulung für Berufsleben und Wissenschaft mehr zur Schau stellen können, als heute gemeiniglich zu sehen ist. Als Nebenfrucht wird dann vielleicht auch an die Stelle der wüsten, blasirenden Vielleserei gedankenhohler Art etwas Sinn für grössere Gediegenheit von Rede und Schrift treten und die oberflächliche Schreibselei gelehrter und ungelehrter Art ein wenig in Schranken halten.

Um jedoch das, was der Sprachbildung auf der andern Seite als Aeusserstes gegenübersteht, nicht ganz unberührt zu lassen, so wird die Mathematik ebenfalls als ein Werkzeug zu betrachten61 sein, dessen Handhabung immer mit Rücksicht auf den speciell sachlichen Zweck zu erlernen ist. Nur ein sehr kleines Theilchen des mathematischen Feldes ist wirklich fruchtbar, sei es nun in der allgemeinen Formung des Vorstellens und Urtheilens, oder in der Bereitstellung von Mitteln für die Ergründung des Zu - sammenhangs der Natur und technischer Mechanismen. Das übrige Gebiet ist eine Wüste von speculativem Sande, innerhalb dessen allenfalls noch ein paar Oasen das blosse Vergnügen des Geistes ein klein wenig anfächeln. Wenn irgend ein Wissen - schaftszweig in erster Linie und grade im Hinblick auf die Frauenbildung einer Sichtung und Umgestaltung bedarf, so ist es die Mathematik und zwar von ihren tiefsten Niederungen bis zu ihren äussersten Höhen hinauf. Die verrottete Art, Mathe - matik zu lehren oder vielmehr ungeniessbar zu machen, ist daran schuld, dass auf den Gymnasien höchstens Einer auf Zehn seinem Pensum leidlich gewachsen ist, während die übrigen Neun un - willkürlich zu dem Aberglauben kommen, es gehöre zu so etwas ein besonderer Naturberuf. Wo aber ausnahmsweise auch nur leidlich unterrichtet wurde, war, wie ich selbst beobachtet habe, das Gegentheil der Fall, und auch der Simpelste gelangte wenig - stens dazu, seiner Aufgabe nothdürftig zu entsprechen. Bei einem veränderten Lehrsystem müssten aber grade in der Mathematik eher als in allen andern Richtungen die verlässlichsten Durch - schnittsergebnisse gesichert werden können, weil grade diese An - gelegenheit ihrer Natur nach eine elementar gemeinsame alles menschlichen Vorstellens und Denkens ist.

Die rationelleren Theile der Naturwissenschaft, die sich zu - nächst mit den Grundbeschaffenheiten alles Stoffes und mit den Gesetzen der Bewegung materieller Theilchen beschäftigen und in der modernen, seit Galilei immer mehr ausgebildeten Physik ihren Ausgangspunkt haben, sind zwar von einem formell unver - gleichlich besser bildenden Einfluss, als was man auf dem Boden sprachlicher Uebungen für den Zweck der geordneten Geistes - gestaltung geltend machen kann; aber man muss auch diesen ge - wichtigeren Einfluss nicht zum leitenden Zielpunkt machen. Es ist vielmehr gerathen, den wirklichen Inhalt an bedeutenden und fruchtbaren Einsichten bei der Auswahl und Zusammenstellung des zu Erlernenden in entscheidender Weise maassgebend sein zu lassen. Ein ausdrückliches Bewusstsein über die hiemit zu - gleich angeeigneten Fähigkeiten zum Denken und Gestalten wird62 sich alsdann leicht erwecken lassen, und auf diese Weise wird man sogar jenes freiere, von der Berufsnothwendigkeit nicht mit - geforderte allgemeinere Wissen erreichen, welches, wie die Einsicht in die bereits bekannten Züge des mechanischen Weltbaues, mehr eine Zierde und ein Befreiungsmittel des Geistes als etwa eine praktische Nothwendigkeit ist. Doch hier greife ich schon über meinen Gegenstand hinaus; ich habe hier im Hinblick auf die Schulen kein abgesondertes Muster der reinen und freien Bildung an sich selbst entwerfen, sondern nur auf alles das hinweisen wollen, was sich naturgesetzlich mit den Berufserfordernissen ein - finden muss. Aus diesem Grunde lasse ich auch in den Lehr - stoffen der höhern Vorschulung und mithin auch für die Pflanz - schulen nur das als natürlich interessant und nothwendig gelten, was im Leben unmittelbar oder mittelbar einer nützlichen An - wendung fähig ist. Von der Geschichte verwerfe ich das Meiste und lasse nur das zu, woran sich zu erinnern ein natürlich ge - sellschaftliches Interesse vorhanden sein kann. Bei solcher Ein - schränkung des Lernmaterials werden jene 19 20 mit nützlichem und schönem Sachwissen in vielgestaltiger Art ausgefüllt und unter Hinzunahme von 1 20 gediegener Sprachschulung eine ausser - ordentliche Geistesmacht ergeben. Die Entlastung von all jenem thörichten Kram, der gegenwärtig mindestens 11 12 alles Lehr - stoffs ausmacht, wird die Aufgabe des Lernenden und den Beruf des Lehrenden so gewaltig erleichtern und mit einer so natür - lichen Zufriedenheit krönen, dass sich mit dieser gesunden Arbeit die Qual der heutigen Schüler - und Lehrerfrohn nicht mehr ver - gleichen lassen dürfte. Man wird sich über die Dinge und den Menschen von vornherein in allen Richtungen elementar orientirt finden, und man wird für einen höheren praktischen Lebensberuf, wie z. B. für die Medicin, die Fortsetzung solcher Bildung eben nur mit rein technischen Wissenszweigen und Functionen zu machen haben, so dass der Cursus der weiblichen Berufshoch - schulen in ein paar Jahren gründlich zu erledigen ist. Zu alle - dem bedarf es aber, wie gesagt, einer privaten Uebergangsinitia - tive von grosser Energie, und in dieser Zwischenphase wird nicht blos mit den Consequenzen des Princips, sondern auch mit den Inconsequenzen und Durchlöcherungen des alten verrotteten Re - gime zu rechnen sein. Man wird sogar unter Umständen die Mischgebilde und halben Erfolge nicht in principieller Vornehm - heit abweisen dürfen und sich in Alles hineinzuleben haben, was63 für den, der die Wirklichkeit nicht erst in der Zukunft zu fassen, sondern schon in der Gegenwart anzugreifen sucht, zur uner - lässlichen Handhabe werden muss. Kommt in die weibliche Be - wegung bei uns hinreichende Energie, so wird die Kraft der Vergesellschaftung für diejenige Ausbildung, die zum medicini - schen und höhern Lehrerberuf gehört, die Mittel zu schaffen und ein persönliches Contingent zu stellen vermögen. Ich traue den betreffenden Gesellschaftselementen noch die Kraft zu, aus ihrem Bereich heraus einen selbständigen Fortschritt zu machen und die Befreiung von der gesellschaftlichen Geschlechtsvormundschaft auf dem angezeigten praktischen Wege zu betreiben.

Durch das meist nur erheuchelte Wehgeschrei über die Ge - fahren, die der Ehe und Familie von dem höhern praktischen Berufsleben der Frauen drohen sollen, ist kaum ein Wort zu verlieren. Selbst wenn es sich schon um jene Zukunftssocialität handelte, in der die Ehe aus einer einseitigen Herrschaftsform in eine verhältnissmässige Gegenseitigkeit verwandelt und die edlere Form der natürlichen Familie vollständig entwickelt wäre, so müssten die heute üblichen Einwendungen als thöricht gelten. Vollends verkehrt sind aber diese Berufungen einem Bildungs - entwurf gegenüber, der dazu führt, dass die Frauenwelt als Ganzes eine grössere Summe von gesunden Kenntnissen und Fertigkeiten in sich entwickelt und zur Anwendung bringt. Ein Weib, welches den ärztlichen Beruf ausübt, kann mehr für das Wohlergehen der Familie thun, als eine müssige Toilettenpuppe es jemals können oder auch nur wollen wird. Uebrigens werden aber auch nicht alle Frauen zu ausübenden Aerzten oder fun - girenden Lehrerinnen werden; es ist genug, dass viele es können; denn dies sichert ihre Unabhängigkeit schlimmsten Falls von, und besten Falls in der Ehe. Auch ist noch keineswegs für immer gesagt, dass die Arbeitstheilung zwischen Haus und Beruf nicht harmonisch eingerichtet werden könne. Die Thätigkeit der Frau nach Aussen braucht nicht so umfangreich zu sein, wie dies jetzt bei dem Manne üblich ist, weil derselbe bei der Gestaltung des Hauswesens unbetheiligt bleibt. Alle Gründe, die man gegen zugleich philiströse und frivole d. h. gebrechliche Einwände dieser Art aus dem Bereich der tiefern Volksschichten in das Feld führen könnte, sind hier zur Seite gelassen worden; denn es war hier überhaupt nicht die Absicht, von denjenigen Bedürfnissen zu handeln, die sich grade im tiefsten Grunde der Gesellschaft so64 mächtig regen. Die höhere Berufsbildung der Frauen, an di<e>zunächst nur in den Mittelschichten gedacht wird, erhält abe<r>eine neue Bedeutung, sobald das Unterrichtssystem seine ökono<->mischen Schranken öffnet und jedem strebsamen Element, gleich<->viel von welcher Tiefe es aufsteige, den Weg zu allen Berufs<->verrichtungen betretbar macht. Die höheren Functionen werde<n>auch ein System von Zwischenthätigkeiten im Gefolge haben<.>wie man es sich beispielsweise von der blossen Krankenwärterin bis zum weiblichen Arzt beliebig eingeschaltet denken mag, und das Ganze der neuen Berufszurüstung wird so auch nach Unten heilsame Rückwirkungen, die heilsamsten aber freilich nur dann üben, wenn durch billige und nöthigenfalls unentgeltliche Unter - richtsgelegenheiten das Emporsteigen von jedem Niveau her für jede persönliche Energie gesichert ist. Ein Weiteres über diesen gesellschaftlichen Punkt würde in das Gebiet hinausragen, welches in den vorangehenden Erörterungen und Entwürfen als zu umfassend nicht betreten werden konnte und sollte. Derjenige Theil der Frauenwelt aber, der zunächst interessirt ist, und neben dem der übrige Theil vorläufig noch mit ganz andern Bedürf - nissen und daher in der Frage der höheren Berufsbildung gleich - gültig dasteht, kann sich sagen, dass er zugleich auch eine all - gemeinere Aufgabe, nämlich die Befreiung vom Aberglauben, nicht etwa blos der Religion, sondern auch der todtsprachlichen Alterthumsromantik, mit in Angriff nimmt, indem er den Bildungs - nothwendigkeiten des praktischen Lebens und hiemit zugleich echter Sachwissenschaft zusteuert.

7. Einschaltung über die Ränke des Gelehrtenneides gegen meine Thätigkeit für höhere Frauenbildung.

Es wird nicht ohne Nutzen für das Publicum sein, von den Schwierigkeiten Kenntniss zu nehmen, mit denen ein Theil meiner Thätigkeit in Sachen der Frauenbildung zu kämpfen gehabt hat. Diese Schwierigkeiten hatten einen doppelten Grund. Erstens war überhaupt mein selbständiger und vorgerückter wissenschaft - licher Standpunkt den im Verhältniss dazu rückständigen Ge - lehrten von jeher ein Gegenstand des Neides und Hasses ge - wesen, und zweitens hatte den Gegnern der Erfolg, mit dem ich seit 1872 auch die Bildungsinteressen der Frauen speciell wahr - genommen habe, am allerwenigsten zugesagt. Auf diesem Gebiet65 waren meine Gegner mit ihren Universitätsrückständigkeiten am ohnmächtigsten, und es musste ihnen daher besonders ungelegen sein, mich auch hier entschieden wirken und zu einer wohlbe - gründeten Anhängerschaft gelangen zu sehen.

Die unfreiwillige Beendigung meiner Wirksamkeit am Vic - toria-Lyceum hat grade in einem Augenblick stattgefunden, in welchem ich meinen Gedanken über die höhere Berufsbildung der Frauen in jenem Vortrag, von dem in der Vorrede zu dieser Schrift die Rede war, einen kurz zusammenfassenden Ausdruck gegeben hatte. Ist dieser Vortrag auch nur die blosse Gelegen - heitsursache zu meiner Beseitigung gewesen, so hätte es doch geheissen, den Ideen jenes Vortrags und hiemit auch dem ersten Hauptinhalt der vorliegenden Schrift, also der Sache selbst etwas vergeben, wenn ich mich hätte der Mühe entziehen wollen, die übernommene Angelegenheit gegen eine anmaassliche Benehmungs - art zu wahren. Um überdies allerlei falschen Verbreitungen über den Hergang entgegenzutreten, habe ich mit eingehender Genauigkeit die einschlägigen Thatsachen und Briefe in der ersten Auflage dieser Schrift vorführen müssen. Dieses Stück - chen von der Art Geschichte, wie sie sonst regelmässig verborgen bleibt, kann noch in späten Jahren die im Kerne immer wieder neu werdenden Dinge illustriren. Ich habe es nicht mit Rück - sicht auf das Leben untergeordneter Figuranten, sondern zur Zeichnung der maskirten Physionomie der Zustände und der alle - zeit hiezu gehörigen charakteristischen Vorgänge vorgebracht. Der inzwischen seit jener ersten Veröffentlichung erfolgte Tod einzelner Personen, insbesondere der nachfolgenden Hauptbrief - schreiberin Miss Archer, hat daher an der Beschaffenheit und Darstellung der Sache nicht das Mindeste ändern können.

Im Herbst 1872 wurde ich von einer Frau Hedwig Dohm, mit der ich bis dahin nicht bekannt war, aufgefordert, in deren Hause vor einem von ihr vereinigten Privatcirkel junger Damen allgemein wissenschaftliche Vorträge zu halten. Es handelte sich dabei namentlich um eine Anregung zur eignen Thätigkeit und zur Benutzung der innerhalb der neusten Geistesströmung wich - tigen literarischen Erscheinungen aus dem Bereich der höheren Bildungswissenschaft, und der Name Philosophie kam mit seiner gewöhnlich vorherrschenden metaphysischen Bedeutung meinem Standpunkt gemäss gar nicht in Frage. Frau Dohm sowie deren älteste Tochter und die übrigen Mitglieder des Kreises, unter66<dene>n sich auch solche befanden, die das Victoria-Lyceum besucht<hat>ten, waren bei ihrer Vereinigung zum Privatcursus von dem<Ge>danken geleitet gewesen, sich eine Belehrung zu schaffen,<die>ihnen mehr genügte als das, was in jenem Lyceum geboten<wu>rde.

Die Kunde von den genannten Vorträgen gelangte bald in<die>Kreise des Lyceums und veranlasste dort den Wunsch, eben -<fal>ls solche Curse eingeführt zu sehen. Die Unternehmerin und<Vo>rsteherin des Lyceums, Miss Archer, bemühte sich bei mir in<die>sem Sinne, um mich zur Uebernahme zu vermögen, und setzte,<da>ich ohne Umschweife abgelehnt hatte, auf indirectem Wege<ihr>e Bemühungen fort.

Es war mir von vornherein als unthunlich erschienen, einen<Bo>den zu betreten, auf dem mir die Bürgschaften wissenschaft -<lich>er Freiheit allzu sehr zu fehlen schienen und wo überdies<doc>h in dem Curatorium, dessen sich Miss Archer als berathen -<der>Instanz bediente, gegnerische und mir abgeneigte Persönlich -<kei>ten stark vertreten waren. Miss Archer wendete sich nach<me>iner Ablehnung an Frau Dohm und wurde von derselben<da>rauf aufmerksam gemacht, dass meine wissenschaftlichen Ueber -<zeu>gungen frei, ja äusserst frei wären und mein persönlich strenger<Ch>arakter sich in keine damit in Widerspruch stehende Be -<sch>ränkung fügen würde. Hierauf gab Miss Archer die ent -<sch>iedenste Versicherung, dass es an Freiheit nicht fehlen solle,<un>d bestätigte schliesslich auch in einem Brief an Frau Dohm<die>fragliche, allerdings nur moralische Bürgschaft. Da dieser<Br>ief, obwohl direct an Frau Dohm, doch indirect an mich ge -<ric>htet war und sozusagen zu meinen Engagementspapieren ge -<>rt, so gebe ich ein paar Stellen daraus in wörtlicher Ueber -<set>zung. Miss Archer schrieb: Ich bitte, Dr. Dühring darüber<zu>verständigen, dass nirgend in ganz Berlin solche Freiheit besteht,<wie>im Victoria-Lyceum. Vox populi vox dei*)Volkes Stimme Gottes Stimme. ist unser<Mo>tto. Der Dr. Dühring ist erwählt worden von den dei <und>hat nun nur den populi zu gefallen (to please), durch sie<wi>rd er stehen oder fallen (by them he will stand or fall). <Ue>berdies bemerkte sie, dass es, was die speciellen Bedenken<be>züglich ihrer Ansichten betreffe, ihr nicht im Traume einfalle,<irg>end einen Gewissenszwang zu üben.

67

Hienach lag die Sache klar. Der Standpunkt auf Seiten Miss Archers war ein rein geschäftlicher, und dies konnte mir recht sein. Ich hatte, meinen Erkundigungen entsprechend, zunächst nur die eine Seite des Fräuleins, nämlich einige Religiosität der englischen Art, vorausgesetzt, und ich fand nun, dass dieses Ele - ment, wie ja bei Engländern und Amerikanern so häufig, von den unternehmerisch geschäftlichen Rücksichten überwogen und zwar in einem Maass überwogen wurde, dass sich auch von meinem Standpunkt damit rechnen liess. Noch mehr beruhigte mich in den vorher angeführten Sätzen die Liebhaberei für un - verstandene lateinische Sprüchwörter und die schöne Schiefe der Vergleichung. Die Götter , das hatte sie eigentlich sagen wollen, d. h. diejenigen Damen, welche als Vertreter des übrigen Frauenpublicums im Lyceum für sich eine zusagendere Art von Geistesnahrung verlangt hatten, waren die maassgebenden Er - wähler gewesen und es sollte nun nur darauf ankommen, auch dem weiter sich anfindenden Publicum zu genügen oder, wie Miss Archer in ihrer Unternehmersprache sich ausdrückte, zu gefallen . Ein Punkt des Anstosses, nämlich die zur Anstandsverzierung bei den Lyceumsvorträgen übliche Anwesenheit der Miss Archer, erschien mir nun auch nicht mehr als eine Freiheitsbeschränkung oder sonst für einen Vertreter der strengen Wissenschaft un - ziemliche Gene, da ich im Voraus sicher war, für die Urheberin jener so gelungenen Auslegung, des Sprüchworts geistig so gut wie gar nicht da zu sein. Auch wird man aus einem der folgen - den Briefe sehen, wie Miss Archer selbst eingesteht, als Aus - länderin einer deutschen Erörterung selbst dann, wenn sie sich nicht einmal auf wissenschaftliche Fragen bezieht, nicht mit Ver - lässlichkeit folgen zu können. Gegenüber der Bildung einer Lehrerin des Englischen und den Eigenschaften einer höheren Gouvernante war nicht einmal die Gefahr eines Miss-Verständ - nisses sonderlich vorhanden, zumal der geschäftliche Verstand stets die hinreichende Berichtigung und Ausgleichung versprach.

So bin ich denn auch mit Miss Archer und ihrer Unter - nehmung ungefähr vier Jahre ausgekommen, ohne mir in Ent - wicklung meiner Ansichten irgend eine Beschränkung aufzulegen. Zunächst wurde den Erwartungen entsprochen und die Unter - nehmerin blieb auch stets ein Echo der Befriedigung des Publi - cums. Der Versuch war günstig ausgefallen und mein Docenten - thum wurde später auch schriftlich als bleibende Stelle bestätigt. 68Natürlich hatte dies Alles nur eine moralische Bedeutung; denn in Ermangelung eines durch Conventionalstrafen gesicherten Ver - trages und bei der chaotischen, statutenlosen Verfassung oder vielmehr Verfassungslosigkeit des Lyceums blieb eine solche Stellung völlig precär und beruhte, wie dargelegt, Alles auf dem Geschäftsprincip.

Die Unternehmerin war in äusserster Verlegenheit gewesen; was sie durch professoralen Beirath an Docenten aus meinem Fach zur Verfügung hatte, war wegen Mangel an Fähigkeiten nicht im Stande gewesen, sich eine Zuhörerschaft zu erwerben. Beispielsweise war ein Herr Bratuscheck, der als Amanuensis d. h. durch Handdienste bei dem verstorbenen Philologieprofessor Boeckh einige Gönnerschaft erworben hatte und später ordent - licher Philosophieprofessor in Giessen wurde, am Lyceum schliess - lich ganz ohne Zuhörerinnen geblieben und hatte überhaupt nie etwas ausrichten können. Es war also meine Aufgabe, einen neuen Gegenstand erst in Gang zu bringen und der Philosophie sowie namentlich der philosophisch behandelten Bildungsliteratur im Frauenpublicum Anhängerschaft und Achtung zu gewinnen. Dieser Zweck wurde in dem Maasse erreicht, dass im Winter von 1874 75 mein Cursus der modernen Literatur eine der beiden Vorlesungen war, die von den aus den sämmtlichen Fächern am Lyceum gehaltenen den meisten Besuch aufwiesen. Im Allgemeinen stellte sich meine Wirksamkeit derartig, dass weniger die jüngsten als vielmehr die entwickelteren Theile des Publicums meine Vorträge frequentirten. Viele verheirathete Frauen und auch Schriftstellerinnen befanden sich darunter. Uebrigens konnte ich aber auch nicht umhin, zu bemerken, dass die mir ungünstigen gelehrten Einflüsse der Universitätsprofessoren in und ausser dem sogenannten Curatorium daran arbeiteten, mich in den Ruf zu bringen, als sei ich mit meinen Vorträgen für das Lyceum nicht geeignet, weil ich vor nichts und z. B. in der Philosophie selbst nicht vor Kant Autoritätsrespect zeigte. Das Frauenpublicum sei aber an Ergebenheit unter die Autorität zu gewöhnen.

Schon im zweiten Winter 1873 74 hatte ich mit der frag - lichen Hemmung zu kämpfen, wie ich aus dem kühlen, auf einen möglichen Abbruch deutenden Benehmen der Unternehmerin er - kannte, und musste bisweilen durch allerlei Wendungen die feind - lichen Ausgriffe pariren. Miss Archer, welche schliesslich mit69 ihrem Interesse an einer guten Einnahme immer als die maass - gebende Seele des Lyceums anzusehen war, konnte nicht gleich - gültig bleiben, wenn ihr von den mir gegnerischen Seiten allerlei Fingerzeige kamen, wie meine Behandlungsart, trotz des guten Frequenzerfolgs, doch eigentlich dem Zweck noch nicht genug entspräche. Noch erinnere ich mich, wie ich damals, um den Gelehrtenhass und die Sectenverfolgung zu erläutern, einmal im rechten Augenblick im Vortrag das Beispiel von Pierre de la Ramée vorführte, der 1572 am dritten Tage des Bartholomäus - massacre auf grausame Weise durch Leute ermordet wurde, die von seinem gelehrten Collegen und philosophischen Gegner Char - pentier, einem bornirten und allen Neuerungen feindlichen Ari - stoteliker, gedungen waren, um jenen berühmten Logiker für seine Angriffe auf den heiligen Aristoteles und für seine wissenschaft - liche Opposition in ausgesuchter Art tödtlich abzustrafen. Man hatte dies richtig verstanden und auch Miss Archer war diesmal keine Ausländerin gewesen, sondern richtig auch in die Geheim - nisse des Inlandes eingedrungen.

Nachdem ich einmal eine Sache übernommen und durch An - strengungen mir und der Anstalt einen Wirkungskreis erworben, wollte ich den Platz, den ich früher abgelehnt hatte, nun auch nicht meinen gelehrten Widersachern zu Gefallen ohne Wider - stand räumen. Wenn ich noch ausserdem 2 Jahre standhielt, so ist dieses Ergebniss nur durch eine fortwährende Arbeit gegen die gegnerischen Einflüsse erzielt worden. Miss Archer hatte mich noch aufgefordert, auch einen Cursus über Nationalökonomie einzuführen, was ich jedoch ablehnen musste, da ich die gering - fügige Theilnahme für ein den Frauen bisher noch so wenig nahegelegtes Gebiet voraussah und durch eine solche Unter - nehmung meinen Gegnern bei ungenügendem Ausfall eine Waffe in die Hände gespielt hätte.

Im März 1876 hatte mich ein damals in Berlin bestehender Verein für Reform der Schule aufgefordert, einen Vortrag über die Universitäten zu halten. Da dieser Gegenstand zur gebühren - den Behandlung von meinem Standpunkt aus für einen Vortrag zu umfassend und für eine mündliche, beliebiger Deutbarkeit aus - gesetzte Darstellung, namentlich unter den obwaltenden, gegen mich sehr aufmerksamen Gelehrtengegnerschaften nicht völlig geeignet war, so wählte ich ein neutraleres und überdies zunächst für das Publicum praktischeres Thema. Ich sprach im März über70 die höhere Berufsbildung der Frauen vor einem mindestens zur Hälfte aus Frauen bestehenden Publicum, unter welchem auch das Lyceum stark vertreten war. Die Frauenlyceen berührte ich nur im Vorbeigehen, indem ich darauf hinwies, wie dort einzelne Bildungswissenschaften gelehrt würden, ohne dass hiebei eine eigentliche Fachbildung für einen bestimmten Beruf in Frage käme. Eine Rivalin von Miss Archer, und zwar eine solche, welche selbst Frauenvereine leitete, hatte diese Stelle des Vor - trags dahin gedeutet, ich hätte die Schwächen des Lyceums richtig getroffen, und der Umstand, dass diese Auffassung vielfach weiter verbreitet wurde, gab meinen Widersachern Gelegenheit, das, was sie bisher durch anscheinend sachliche Gründe gegen mich nicht hatten erreichen können, nun durch Reizung der geschäftlichen Empfindlichkeit der Inhaberin des Lyceums durch - zusetzen.

Da sich Verhältnisse eines kühleren Benehmens, wie ange - führt, in früheren Jahren schon angefunden, aber immer wieder dem Gleichgewicht Platz gemacht hatten, so konnte ich diesmal darin nichts Besonderes sehen, zumal ich Einiges von der Be - nehmungsart erst nach Beendigung der Vorträge erfuhr und Miss Archer mir noch einige Wochen vorher, den von mir vorge - tragenen Ideen entsprechend, den Vorschlag gemacht hatte, den grösseren Cursus durch die Vereinigung eines ausgewählten Cirkels behufs selbstthätiger Arbeit und Discussion zu ergänzen. Ich war also einigermaassen überrascht, als ich acht Tage nach Beendi - gung der Vorträge folgende hier in Uebersetzung wiedergegebene Zuschrift erhielt: 2. Mai 1876. Geehrter Herr! Ich bedauerte ausserordentlich, gezwungen gewesen zu sein, letzten Mittwoch bei Ihrer Schlussvorlesung zu fehlen. Hatte zu warten, mein Dr. Wh. hielt nicht seine Zeit ein, und war ich so gezwungen, meine gewöhnliche Pflicht zu versäumen.

Schliessen hat immer etwas sehr Schweres (sad) an sich, noch besonders, wenn es zu einem letzten Schluss kommt. Das Ly - ceum hat sich der Früchte Ihrer Arbeiten nun eine ganze Reihe von Jahren erfreut, und für das, was Sie in dieser Zeit gegeben haben, wünschen wir unsern wärmsten Dank abzustatten. Viele, wollen wir hoffen (let us hope), haben ihren Vorrath an Kennt - niss und Ideen vermehrt. Mit vollkommener Hochachtung Archer.

Diese Manier, mich so ganz selbstverständlich zu verab - schieden, nebst der Phrase vom wollen wir hoffen war Angesichts71 dessen, was ich nicht blos geistig für das Lyceum, sondern auch ökonomisch für die Börse Miss Archers gethan hatte, äusserst verletzend, und da die ganze Sache vielleicht ausschliesslich auf einer Miss-Auffassung vom Vortrag und der erwähnten Rivalität her beruhen konnte, so glaubte ich mich verpflichtet, vor andern Schritten dem Fräulein meinen Standpunkt durch eine kurze Antwort, wie folgt, klarzumachen: 5. Mai 1876. Miss Archer hier. Ihr englisch geschriebener Dank für meine vierjährige, jedes Jahr etwas Neues bringende angestrengte Thätigkeit am Lyceum muss zwar, in mein Deutsch übertragen, Undank heissen. Glauben Sie indessen nicht, dass die Thatsache meiner plötzlichen Ausstossung allein das Verletzende ist. Sie lastet materiell nicht auf mir; denn die neuen Auflagen meiner Bücher stellen mich ganz unabhängig. Dagegen ist besonders die Art und Weise, in der Sie mich verabschiedet haben, mir gegenüber in der That herausfordernd. Mit solchen Zeilen und Wendungen begegnet man keinem Mann, den man ursprünglich erst eindringlich und wiederholt hat ersuchen müssen, um ihn zu der Uebernahme zu bewegen. Glücklicherweise sind Ihre Briefe in dieser Angelegen - heit noch sämmtlich in meinen Händen und darunter einer an Frau Dohm, der in dankenswerther Offenheit Ihre damaligen Gesichtspunkte bei meinem Engagement und die geschäftliche Hauptmaxime Ihrer Lyceumspolitik zu erkennen giebt. Nur ein wenig von dieser Offenheit hätte ich auch gegenwärtig gewünscht. Mit einer Antwort auf dieses bemühen Sie Sich jedoch nicht weiter. Dühring. Trotzdem lief folgende Antwort ein: Geehrter Herr Dr.! Wenn ich nicht geglaubt hätte, dass Sie Englisch ganz gut verständen, so hätte ich wie gewöhnlich Deutsch ge - schrieben. Diesmal wählte ich meine eigne Sprache, um erstens mit zarterem Ausdruck das zu verstehen zu geben, was ich ohne Worte sagen musste, und zweitens um ein Gefühl von Schmerz desto besser zu verbergen. So reinen Herzens bin ich in der ganzen Sache, dass selbst ein Brief, wie der eben empfangene, nicht einmal ein Gefühl von Zorn in mir wachrufen kann, wohl aber eines von Verwunderung und Wehmuth. Dennoch muss ich Ihnen dafür danken; denn das Schreiben hat mich über manches beruhigt. Ich schuldete Ihnen und mir diese Worte, sonst wäre ich Ihrem Wunsch, nicht zu antworten, entgegengekommen. Er - gebenst Archer. Warum ich hierauf noch replicirte, geht aus meiner Erwiderung selbst hervor:

72

14. Mai 1876. Miss Archer, Hochwohlgeboren hier. In - zwischen eingelaufene Berichte aus den Kreisen meiner Zu - hörerinnen haben mir für Ihren zweiten Brief, dessen Deutsch ich mehrfach nicht zu deuten wusste, während das Englische des ersten mich sicher doch wenigstens nicht im Unklaren liess, den Schlüssel nicht geliefert, sondern meine Ueberraschung nur vermehrt.

Von Seiten der jüdischen Literatin Hirsch sollen in den letzten Stunden kopfschüttelnde Unwillenskundgebungen in offen - bar erkünstelter und auf einen Zweck abzielender Weise aus - gegangen sein und noch eine der sogenannten Aufsichtsdamen mitaufgereizt haben. Ja man sagt sogar, dass Sie selbst in solche Benehmungsart mithineingezogen wären. Solche Kundgebungen konnten nicht an mich gerichtet sein; denn von mir gesehen, würden sie auch nicht einen Augenblick gedauert haben. Es scheint hienach ein vollständiges kleines Complott seit Ausgang März gegen mich bestanden zu haben. Die eigentlichen Zu - hörerinnen dagegen haben mir ihren Dank durch eine derselben am Schluss der letzten Vorlesung aussprechen lassen.

Ich begreife nun nicht, wie Sie glauben können, durch Ihren letzten dunklen Brief und Berufung auf ein reines Herz den Bruch einer schriftlichen Zusicherung der mit der grössten Frei - heit in ganz Berlin wahrzunehmenden Stelle als Docent ohne jede Grundangabe zu rechtfertigen. Eine öffentliche Vertheidigung gegen die Thatsache und überdies gegen die be - sonders empörende Art, in welcher ein Schriftsteller, der ziemlich weit in der Welt bekannt ist, allem Anschein nach auf Veran - lassung von Kleinlichkeiten, seinen im Hintergrund stehenden Neidern zu Gefallen, wie irgend ein beliebiger Dutzendlehrer be - seitigt wurde, eine solche öffentliche Genugthuung wird Sie voraussichtlich nicht überraschen. Dühring.

Der folgende würdige Antrag, die Frucht der Scheu vor der Oeffentlichkeit und eines argen Missverständnisses meines Charakters, wird den Leser in Humor versetzen, zumal wenn er bedenkt, dass mir die zugedachte Annehmlichkeit nur zur Un - ehre, die volle Wahrheit über meine Vertreibung aber nur zur Ehre gereichen konnte. Das Antragschreiben lautete:

17. Mai 1876. Hochgeehrter Herr! Tief beklage ich es, dass Sie meinen Brief so missverstanden. Sie scheiden aus dem Victoria-Lyceum in derselben ehrenvollen Weise, wie vor Ihnen73 Männer wie Wattenbach, Laass, Erdmannsdörfer etc. Eine grosse Schaar Ihren geistvollen Vorträgen aufmerksam lauschender Zu - hörerinnen zollt Ihnen Verehrung und Dankbarkeit ob der grossen durch Sie empfangenen Anregungen. In dem nächsten Prospectus wird Ihres Wirkens eben so ehrenvoll gedacht werden, wie das bei dem Scheiden hervorragender Lehrkräfte aus dem Victoria - Lyceum daselbst Gepflogenheit ist. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich noch eines erwähnen. Fräulein Jenny Hirsch gehört zu Ihren Verehrerinnen und spricht mit Begeisterung von ihren Vorlesungen. Ein für den nächsten Winter von dieser Dame geplanter Vorsatz wird dies bestätigen.

Mit diesen Zeilen wünsche und hoffe ich jede Verletzung beseitigt zu haben und bin mit vorzüglicher Hochachtung Ihre ganz ergebene Archer.

Man vergleiche den Inhalt dieses Briefes mit dem ersten Abschiedsschreiben, und man wird über die Fortschritte staunen, die ich in der Werthschätzung Miss Archers und ihrer Rathgeber gemacht hatte; aber der Vertuschungsantrag war doch an die falsche Adresse gerichtet. Ich sah im letzten Prospect nach, was über das Ausscheiden des Professor Wattenbach gesagt war. Es hiess dort: Wir haben zu unserm lebhaftesten Bedauern mitzu - theilen, dass Herr Professor Dr. Wattenbach wegen überhäufter wissenschaftlicher Arbeiten diesen Winter seine Vorlesungen am Victoria-Lyceum zu halten behindert ist; wir hoffen indess, dass dieser ausgezeichnete Gelehrte und anregende Lehrer in nicht allzuferner Zeit wieder thätig wirksam dem Lyceum zur Seite stehen wird. Mir ging ein Licht auf; ich wusste nun ungefähr, wie ich vor der Oeffentlichkeit von dem Lyceum ehrenvoll ver - schwinden sollte. Auf dieses Angebinde von Ehre, die nicht nach meinem Geschmack ist und sich wahrlich mit der auf Unterrichts - instituten doch wohl noch erforderlichen moralischen Haltung schlecht verträgt, verzichtete ich in folgender Antwort:

19. Mai 1876. Geehrte Miss Archer! Der in Ihrem Letzten in Vergleichung gestellte Fall des Abgangs früherer Lehrer des Lyceums trifft bei mir nicht zu. Einige gingen nach ausserhalb, andere hatten sich abgenutzt oder ermangelten von vornherein der Zuhörerinnen. Der Grund bei mir ist allem Anschein nach eine Intrigue. Ich habe, wie Sie Sich erinnern werden, bei unserer ersten Unterredung den Bedenken bezüglich der im Vor - stande befindlichen Professoren und des jüdischen Elements darin74 unverholen Ausdruck gegeben. Später ist auch noch die Frau des Professor Helmholtz hinzugekommen. Auch haben sich meine Bedenken sehr bald bestätigt, und wenn wir uns auch später im Laufe der Vorträge über Herrn Bonitz dahin verständigten, dass dieser mir abgeneigte Einfluss keine entscheidende Wirkung übte, so war ich doch Einwirkungen Anderer gegenüber ohne Gelegen - heit zur Vertheidigung. Was Sie allein anbetrifft, so würde mir hier der Grund am wenigsten klar sein. Bald nach meinem Rathhausvortrag war eine Dame vom Letteverein bei mir und fragte an, ob ich geneigt wäre, für eine von diesem Verein im grösseren Stil zu errichtende wissenschaftliche Frauenbildungs - anstalt mit meinem Rath eventuell mitzuwirken. In loyaler Rücksicht auf das Lyceum lehnte ich schon im Voraus die Mit - wirkung ab.

Ich ersuche Sie nun um gefällige wahrheitsgetreue Auskunft darüber: 1) welcher Grund es gewesen, der meine Ausschliessung aus dem Lyceum rechtfertigen und etwa als eine auferlegte Noth - wendigkeit erscheinen lassen soll; 2) ob der Vorstand meine Ausschliessung beschlossen hat oder die Sache ohne diese Form vor sich gegangen ist.

Eine genügende Auskunft hierüber würde eher für mich Werth haben als Worte, die mit den Thatsachen im Wider - spruch*)Trotz meines Protestes gegen das Heuchelspiel kam dieses doch. Der nächste Prospect des Lyceums vom Herbst 1876 enthielt folgende Worte: In Betreff des Lehrercollegiums tritt manche Aenderung ein. Mit aufrich - tigem Bedauern sehen wir die Herren Prof. Dr. Dobbert und Dr. Dübring aus demselben ausscheiden. Beide Männer haben mehrere Jahre hindurch anregend durch ihre gehaltvollen Vorträge gewirkt und sich um unser Institut grosse Verdienste erworben. Da meine Veröffentlichung fast gleichzeitig mit dem Prospect zur Hand kam, so konnte das Publicum frisch das eben zur Welt gekommene aufrichtige Bedauem über mein Scheiden und obige Briefe ge - druckt nebeneinanderlegen, d. h. den hartnäckig verheuchelten Entstellungs - und Vertuschungsversuch mit der standhaften Wahrheit vergleichen. Zur moralisch ekeln Grimasse des Prospects kam so doch noch ein hoch komi - scher Zug; denn das wohlweise Vorständchen des Lyceums mit seinen Pro - fessörchen - und Jüdchenkünsten war auf diese Weise hinein - und von dem dunkeln Wege in unbequemes Licht gerathen. stehen müssten. Hochachtungsvoll Dühring.

Die Auskunft war folgende:

21. Mai 1876. Hochgeehrter Herr! Gestatten Sie mir, Ihnen75 Ihre sehr geehrten Zeilen vom 19. Mai in der Reihenfolge zu beantworten, wie Sie dieselben entworfen.

Sie irren, wenn Sie glauben, dass Ihrem Ausscheiden aus dem Victoria-Lyceum irgend welche Intrigue zu Grunde liegt; mit Intriguen operirt ein Institut wie das Lyceum nicht.

Ebensowenig zutreffend ist Ihre erwähnte Zweitheilung von im Vorstande befindlichen Professoren und dem jüdischen Ele - ment. Das Curatorium bildet eine Einheit, die sich die Ver - tiefung der Frauenbildung und Erziehung zu allem Edeln, Schönen und Guten zur Aufgabe gestellt. Die Herren Professoren, die zur Ehre des Victoria-Lyceums Curatorialmitglieder sind, sind Leuchten der Wissenschaft und viel zu grosssinnig, als dass sie irgend welchen persönlichen Abneigungen in ihrem Herzen Raum gönnen könnten. Das jüdische Element anlangend, so befremdet es mich ungemein, dass Sie bei Ihrer vorurtheilsfreien, ja er - leuchteten Denkweise gegen dasselbe eine gewisse Animosität hegen. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie hier Ihre grössesten Anhänger zählen. Die Ihnen eigne kritische Schärfe spricht ganz besonders den semitischen Geist an; und dort haben Sie Ihre begeistertsten Zuhörerinnen.

Dass Sie aus loyaler Rücksicht auf das Lyceum eine Mit - wirkung an einer vom Letteverein im grösseren Stil zu errich - tenden Frauenbildungsanstalt abgelehnt, verdient meine volle An - erkennung; indess Victoria-Lyceum und Letteverein bilden durch - aus keine Gegensätze, ergänzen sich vielmehr.

Ferner, Sie stellen zwei bestimmte Fragen und verlangen von mir deren präcise Beantwortung. Eine gar schwere Aufgabe! Sie halten mich doch nicht etwa für ein Kind, das aus der Schule plaudert? Darf über die in einer Conferenz geführten Beschlüsse gesprochen werden? Eines sei Ihnen gesagt, es müsste eine ge - waltige Anarchie in der Verwaltung des Lyceums herrschen, wenn hinter dem Rücken des Curatoriums*)Nach dem Prospect von damals waren Mitglieder des Curatoriums der Geheime Rath Bonitz, die Professoren Gneist, Virchow, du Bois-Reymond, Lazarus, Frau Professor Heimholtz, Frau Fanny Reichenheim u. s. w. Im Prospect von 1884-85 figuriren z. B. die Herren Virchow und Dubois nicht; die professorale Missleitung ist aber auch ohne sie genugsam vertreten und überdies die Zahl der Personen jüdischer Race noch vermehrt. über Person und Lehre Beschlüsse, die dasselbe zu vertreten hat, gefasst werden dürften.

76

Ich will Ihnen ganz im Vertrauen und privatim aus Dank - barkeit für Ihre dem Lyceum geleisteten Dienste etwas mittheilen. Wenn ich der Discussion in der letzten Conferenz gefolgt bin, als Ausländerin, so verlangt man eine grössere Objectivität, eine nicht allzuscharfe schneidige, dem Herkömmlichen ganz abge - wendete Kritik in der Behandlung philosophischer und literari - scher Gegenstände. Was Sie, hochgeehrter Herr, geben, ist ja bedeutend, geistvoll, eigenartig, mit einem Worte Dühringsch! Es soll aber auch die Denk - und Betrachtungsweise anderer auf den verschiedensten Gebieten des Wissens bahnbrechender Männer zum Ausdruck gelangen. Grade diese Ausschliessung, wenn Sie es doch einmal so nennen wollen, gereicht Ihrem selbständigen philosophischen Forschergeiste zur Ehre; es soll einmal mit einer andern wissenschaftlichen Methode als der Ihrigen, an und für sich ganz und gar berechtigten und tief durchdachten, der Ver - such gemacht werden. Ist das etwas so ungeheuer Ketzerisches? gilt nicht auch in der Wissenschaft und namentlich in der Philo - sophie Königin der Wissenschaft Toleranz als das höchste Gesetz?

Hiemit sind meine Versuche, Ihnen Aufklärung zu geben, erschöpft und bleibt mir nur übrig, mit dem Ausdrucke meiner ganz besondern Hochachtung zu schliessen als Ihre ganz ergebene Archer.

Ich hatte hienach nur die Zurückweisung unrichtiger Unter - stellungen bezüglich meines eignen Verhaltens nöthig und ver - schaffte den ergebnisslosen Auseinandersetzungen auf folgende Art endlich einen Abschluss:

25. Mai 1876. Geehrte Miss Archer! Sie legen mir in Ihrem Letzten die Vorstellung unter, ich hielte Sie doch nicht etwa für ein Kind . Das ist seit unsern vierjährigen geschäft - lichen Beziehungen und auch jetzt sicher nicht geschehen. Ja es ist in Hinsicht auf Ihren letzten Brief, der in Ausdrucksart und Gedanken auf fremde Kunstanstrengungen deutet, sicherlich am wenigsten der Fall und ich nehme daher zu Ihren Gunsten an, dass Sie an das, was darin geltend gemacht wird, selbst nicht glauben. Dies gilt nicht blos von den für mich schmeichelhaft sein sollenden Dingen eine Gattung, wofür ich nicht empfäng - lich bin sondern auch von Ihrer angeblichen Voraussetzung, dass Leuchten der Wissenschaft , wie Ihre Zeilen dieselben nennen, viel zu grosssinnig wären, als dass sie persönlichen77 Abneigungen Raum gönnen könnten . Erinnern Sie sich gefälligst Ihrer früheren gelegentlichen Mittheilungen an mich; denn die Erfahrungen der Gelehrtengeschichte liegen Ihnen allerdings ferner. Was übrigens sonst die mir entgegengehaltenen Leuchten der Wissenschaft anbetrifft, so mache ich keinen Anspruch dar - auf, so etwas zu sein; ich lasse mich auf keinem Leuchter ser - viren und gehöre überhaupt zu keinem Service; mein weniges Licht begnügt sich mit der Haltung und dem Orte, den ihm die Schwere des eignen Körpers anweist, von dem es ausstrahlt.

Dieses Licht ist auch der Objectivität, deren Mangel Sie als Grund meiner Entfernung und der zugehörigen Verletzung des ursprünglichen Uebereinkommens angeben, sehr günstig; denn eine richtige und sachliche Beleuchtung ist etwas Anderes, als eine Darstellung im trüben Lichte persönlichen Schielens nach irgend welcher Gunst. Uebrigens sind meine Vorträge während der ganzen vier Jahre in vollem Maasse auf das Herkömmliche eingegangen, und was die Form anbetrifft, so habe ich hier wie überall sonst den Grundsatz befolgt, dass ein Vortrag rücksichts - voller sein muss als ein Buch, welches der Leser jeden Augen - blick bei Seite legen kann. Erinnern Sie sich, dass mein Rath - hausvortrag über die höhere Berufsbildung der Frauen, den Sie und ein Theil des Lyceums angehört haben, in der Discussion von mehreren Seiten für sehr rücksichtsvoll und gemässigt erklärt wurde. Wenn Sie daher für jenen vermeintlichen Aufschluss mein privates Vertrauen in Anspruch nehmen, zu dem ich mich noch nicht erboten habe, so passt dies wenig dazu, dass Sie Der - artiges ja schon in den Lyceumskreisen während der letzten Vor - träge zu verbreiten und, wenn auch fast ohne Erfolg, damit gegen mich Stimmung zu machen gesucht haben, um für etwas Nichtmotivirbares, meine Entfernung, im Voraus den Schein einer Motivirung künstlich anzufachen. Genau dieselbe Anschuldigung hätte man auch in jedem der vier Jahre mit gleichem Unrecht gegen mich richten können. Die Intrigue, die Sie leugnen, be - hält also Recht. Wenn Sie mich aber noch als unduldsam be - zeichnen, weil ich nicht geduldig die Ausschliessung vom Lyceum als in der Ordnung anerkenne, so ist eine solche Umwendung des wahren Sachverhalts eben eine Kopfstellung, die ich nicht auf Ihre persönliche Rechnung setze.

Die jüdischen Anhänger betreffend, so habe ich deren auch in der Männerwelt; man fühlt, dass ich Recht habe, und findet78 sich oft grade durch meine Racenauffassung angezogen. Freilich haben Manche dafür nur Instinct, dass bei mir etwas Brauch - bareszu holen und als schriftstellerischer Hausrath zu verwenden sei. Die Engländer werden ja so gut wie die Juden kritisirt, namentlich in Rücksicht auf Egoismus und Colonialpolitik, und dies findet Niemand intolerant. Ich will für Alle gleiche Rechte, aber auch die Emancipation vom Egoismus. Uebrigens bin ich so rücksichtsvoll, von so etwas nie in Vorträgen zu handeln. Nur in meinen Systemschriften ist in rein wissenschaftlichem Zusam - menhang die Racenfrage berührt.

Die Aufforderung seitens einer Dame vom Letteverein kann, wenn Ihre Auffassung des Verhältnisses der beiden Anstalten richtig ist, vielleicht nur den Sinn gehabt haben, meine Absichten in Rücksicht auf anderweitige Thätigkeit oder eigne Unter - nehmungen in Erfahrung zu bringen.

Ihre Versuche, mir Aufklärung zu geben, sind hiemit aller - dings erschöpft ; ich bin aber an der verlornen Mühe un - schuldig; denn ich habe schon in meinem ersten Briefe Sie er - sucht, sich um eine Antwort nicht weiter zu bemühen, und muss auch nun jetzt im Hinblick auf Ihr letztes Schreiben wünschen, nicht in den Fall zu kommen, meine Abneigung gegen das Schreiben langer und ungeschäftlicher Briefe ausnahmsweise über - winden und mit Erinnerungen an für Sie verdriessliche That - sachen lästig fallen zu müssen. Hochachtungsvoll Dühring.

Der Inhalt des vorgeführten Briefwechsels spricht schon an sich selbst; aber er sagt noch nicht Alles. Mein Beispiel ist unter den mir bekannten das einzige, dass Jemand am Lyceum gewaltsam entfernt worden wäre. Diejenigen, von denen man sagen kann, dass sie zurücktreten mussten, waren in dieser Not - hwendigkeit vermöge ihres Mangels an Erfolg. Mir gegenüber war aber die freundliche Absicht meiner Beseitigung recht schwierig auszuführen. Hätte man mir die Zahl der Zuhörerinnen auf ein geringes Maass herabsetzen können, so hätte ich von selbst gehen müssen. Aber eine solche Politik war gegen mich unausführbar, obwohl der Einfluss auf die Frequenz von Seiten Miss Archers und ihres Anhangs nicht unbedeutend war. Im Gegentheil hätte ich immer festeren Fuss gefasst. Der Versuch, mich in den letzten Wochen durch die Benehmungsart, die mir erst nachträglich aus neuen Thatsachen verständlich wurde, der - artig zu reizen, dass ich selbst die Initiative zum Abschied ergriffe,79 war missglückt. So musste denn der wärmste Dank des ersten Briefes ausgespielt werden, und hiezu kamen all die ergötzlichen Widersprüche bis zu dem Aeussersten, in einem Athem mir eine grosse Schaar den geistvollen Vorträgen aufmerksam lauschen - der Zuhörerinnen , ja eine begeisterte Anhängerschaft zuzu - schreiben und mich zugleich gehen zu heissen. Freilich ist hier grade der Schlüssel zu finden; denn meine Erfolge waren eben das, was mich für die fraglichen gegnerischen Einflüsse immer unerträglicher gemacht hatte. Die Denkweise anderer auf den verschiedensten Gebieten des Wissens bahnbrechender Männer, wie es S. 76 hiess, sollte zum Ausdruck gelangen. In meine Sprache übersetzt, bedeutete dies, dass gewisse Tagesautoritätchen, die ich nicht honorirte, verherrlicht werden sollten. Solche per - sönliche subjective Dienste waren von mir oder von Jemand, der ein gleich selbständiges und unabhängiges Urtheil hat und es mit der objectiven d. h. sachlichen Wahrheit ernst nimmt, natürlich nie zu erwarten.

Uebrigens hatte ich ja meine Schuldigkeit und zwar ernstlich gethan. Die Lyceumsverhältnisse waren über das missglückte Stadium, durch den selbständigen Werth der Leistungen ein grösseres Publicum zu erwerben, bereits hinaus. Durchschnittlich waren, ein paar Ausnahmen abgerechnet, die verschiedenen Fächer so kläglich besucht gewesen und Alles hatte vorherrschend eine so träge Physionomie behalten, dass Miss Archer immer mehr zu künstlichen Mitteln ihre Zuflucht nahm. So hatte sie 1874 durch Erlassung von Bittschreiben ungefähr 30,000 Mark zusammengebeten, um durch Freikarten an Unbemittelte ein neues Publicum zu schaffen, welches ihr aus dem betreffenden Fond die Casse ebenso füllte und ebenso ihr einen persönlichen Ge - winn einbrächte, wie die selbst zahlenden Damen. Die Preise waren übrigens derartig hoch, dass bei gehörigen Vortrags - leistungen und bei umsichtiger Auswahl der Stoffe das Institut ökonomisch ganz auf sich selbst hätte beruhen und einen hin - reichenden Gewinn für die Unternehmerin und anständige Hono - rare für die Vortragenden hätte abwerfen können. Beispielsweise hat mein Honorar 20 36 Mark für die Stunde betragen, und ungefähr ebensoviel ist dabei stündlich auch für Miss Archer herausgekommen, und ich habe meine Sache vertreten, ehe und ohne dass jene Fonds im Spiele waren. Wie aber die zusammen - gebetenen Fonds im Allgemeinen haben künstlich nachhelfen80 müssen und wie viele Vorträge nur auf ihnen beruhten, mag man daraus ersehen, dass von den 30,000 Mark 1876 nicht mehr viel übrig war. Ein neues Kunstmittel, nämlich ein städtischer Zuschuss und damit zugleich die Veranlassung von Lehrerinnen, durch Theilnahme an gewissen Cursen ihre Beförderungsaus - sichten zu vermehren, kam zu allerletzt noch hinzu und nur durch die weitere Verfolgung solcher und ähnlicher Wege konnte ein Institut aufrecht erhalten werden, welches an sich selbst kein zulängliches Leben entwickelt hat und ohne jene Hülfen zusam - mengebrochen wäre.

Wenn ich hier manches auf den ersten Anschein Kleine habe in den Vordergrund rücken müssen, so war dabei die Er - möglichung eines Schlusses auf den grössern Hintergrund die Hauptsache. Das Lyceum und seine mit mir correspondirende Leiterin sind dabei nur die symptomatischen Vermittler gewesen. Der Kern des Vorgangs ist eben ein Stück aus dem allgemeinen Verhalten meiner gelehrten Gegnerschaften gewesen und hat sich in die gegen mich befolgte Gesammtpolitik eingereiht. In dem speciellen Fall war aber noch eine neue Seite zur Sache hinzu - gekommen. Während es früher nur meinen Reformen der Wissen - schaft und mir überhaupt als einem beneideten, durch Unter - drückung erst verletzten und dann gehassten Gegner galt, ist mit meiner Vertreibung vom Lyceum auch noch die feindliche Be - gegnung auf dem Boden der Frauenbildung erfolgt. Grade weil hier wesentlich nur Vorwände als Gründe hervorgekehrt worden sind, kann das Publicum mit Sicherheit annehmen, dass es sich in der Beseitigung der Wirksamkeit meiner Person um die Fern - haltung einer Aufklärung und Förderung gehandelt hat, deren wissenschaftlich befreiende Macht für die Frauenwelt, wo es irgend sein kann, unzugänglich gemacht werden sollte, was ja auch ganz wohl dazu stimmt, dass die Universitätsgelehrten im Grossen und Ganzen einer nicht blos auf Schein und Spielerei ausgehenden, sondern ernstlichen Frauenbildung entschieden ab - geneigt sind.

In welchem Zusammenhange die dargestellten Ränke am Lyceum mit dem Verhalten der Berliner Universität gegen meine vierzehnjährige freie Docentenstellung an derselben gestanden haben, brauche ich hier nicht zu wiederholen, da ich in meinem Buch von 1882 Sache, Leben und Feinde auch über jene An - gelegenheit die erforderlichen Mittheilungen gemacht habe. Diese81 Schrift und die vorliegende sind in diesem Punkte für einander Ergänzungen. In der genannten Schrift kann sich der Leser überzeugen, wie alle Ränke, die meine Wirksamkeit zu hemmen und mich in meiner Existenz zu schädigen suchten, wesentlich von einer Quelle, nämlich aus dem Gelehrtenstande und insbe - sondere dessen Berliner Universitätsrepräsentantchen nebst deren Judengenossenschaft herkamen. Die ganze Gesellschaft da, die sich von der Judenreclame dem Publicum als Professorenelite vorsetzen lässt, die Herren Virchow, Dubois, Mommsen, Helm - holtz und wie sie alle heissen mögen, das ist vor dem wirklichen Urtheil der dauernden Wissenschaft weniger als nichts. Der - artige Leutchen haben nicht Verdienste um, sondern nur Miss - verdienste gegen die Wissenschaft, und wenn ihre Körper nicht mehr in den Professorgestellen stecken werden, wird es völlig aus mit ihnen sein, wie mit Leuten von der Art jenes Göttinger Professor Kästner des vorigen Jahrhunderts, den man nur noch als Curiosität und Beispiel dafür anführt, bis zu welchem falschen Ruf hohle Professorgestelle durch den künstlichen Universitäts - einfluss und durch Reclame schon damals aufgeblasen werden konnten.

Doch die Universitäten sind ja schon in einem der vorigen Abschnitte genugsam gekennzeichnet. Die Männerwelt muss das Uebel des Bestehens solcher Anstalten noch so lange ertragen, bis man mit ihnen aufräumt; die weibliche Welt ist aber darin nicht eingepfercht und kann, wenigstens für sich allein, andere Wege gehen. Jeder Freistrebende aber, welchem Culturvolk oder Geschlecht er auch angehöre, kann sich nunmehr durch Aufklärung über die universitären und überhaupt gelehrten Zu - stände in die Lage bringen, mit privaten Vorkehrungen vielen Wirkungen jenes öffentlichen Krebsschadens selber zu entgehen und bei sich entgegenzuarbeiten.

8. Gesichtspunkte für Selbstausbildung und Selbststudium.

Solange die bessern Grundsätze des Lernens nicht auch zu - gleich die des öffentlichen Unterrichts geworden sind, bleibt für Freierdenkende und Höherstrebende eine Kluft bestehen, die nur durch Selbstaufraffung unschädlich gemacht werden kann. Die äussern Berufe kommen hiebei nicht besonders in Frage;82 denn was sie an allgemeiner Ausbildung erfordern, wird auch schon in den allgemeinen Grundsätzen mitberücksichtigt. Ebenso ist eine Beschränkung des Gegenstandes auf das Fraueninteresse nicht angebracht; denn die Principien bleiben hier dieselben, gleichviel ob es sich um männliche oder weibliche Zwecke handle. Nur in einigen besondern Anwendungen wird sich ein Unter - schied in der Auswahl der Stoffe ergeben.

Auf eine befriedigende Umgestaltung des öffentlichen Unter - richts ist vorläufig nicht zu rechnen. Nur eine durchgreifende Umschaffung des ganzen Systems socialer und politischer Ver - hältnisse könnte so etwas mitsichbringen. Will man also im Laufe des jetzigen und etwa auch des nächsten Generationsdaseins nicht schon mit sehr grossen Wendungen, ja mit gewaltigen Trans - formationen rechnen, so hat man sich gefasst zu machen, die gegenwärtigen Zustände verlehrten und verschrobenen Unterrichts sammt dem zugehörigen Zwange auch fernerhin anzutreffen, ja gelegentlich auch wohl noch in sogenannten Reformen weiter ausgedehnt zu finden. Geht man beispielsweise irgendwo mit Erschaffung neuer Unterrichtsgelegenheiten für das weibliche Ge - schlecht vor, so geschieht dies regelmässig nur, indem man die alten Verlehrtheiten und Verschrobenheiten in gewohnter Weise mitschleppt und in die neuen Institute überträgt. Von dieser Seite wird also dafür gesorgt bleiben, dass die Kluft sich nicht ausfülle, sondern eher an Weite zunehme. Es ist nämlich etwas Mon - ströseres, jene verrotteten Dinge auch noch der weiblichen Welt bieten zu wollen, die in diese Sphäre erst neu eintritt, als den mumienhaften Kram nur da beizubehalten, wo die Leute längst daran gewöhnt sind, in jenem Staube der Jahrtausende und Jahr - hunderte zu hausen. Die fragliche Ungeheuerlichkeit ist aber allem Anschein nach zunächst unvermeidlich, und so stellt sich in dieser Richtung um so mehr das Bedürfniss heraus, ein Correctiv und Gegenmittel zu besitzen, durch welches die Einzelnen den Haupt - schaden abzuhalten und die unvermeidlichen Nebenschädigungen aufzuwiegen vermögen. Dieses Gegenmittel ist nun eben die Selbstausbildung nach Grundsätzen, die nicht aus der Welt der Verlehrten, ja überhaupt nicht aus den geschichtlichen Ueber - lieferungen des dem Mittelalter entsprossenen Gelehrtenstandes geschöpft sind, sondern den Bestrebungen des freien Geistes und seiner souverändenkenden Vertreter entstammen.

Wird es auch nicht möglich sein, überall dem äussern Zwange83 zu entgehen, so wird es doch auch schon von grossem praktischen Werthe sein, die innere Freiheit zu wahren. Diese ist nicht nur an sich das hohe Gut, welches um seiner selbst willen von jedem Edleren geschätzt wird, sondern sie erspart auch viele unnütze Bemühungen. Wer sie erringt, kann höchstens von aussen zu dieser oder jener unnützen Thätigkeit, wie zur Entrichtung eines Zolles, gezwungen werden; aber er wird sich in der Pflicht und im Gewissen nicht gebunden fühlen, und dieser Umstand ändert auch bei der praktischen Ausführung des Aufgenöthigten gar viel. Hiezu kommt noch, dass der Blick auch für das Bessere frei bleibt und durch Umschau nach zuträglicheren Stoffen auch positiv helfen kann. Man unterschätze daher die geistigen Wege zur Freiheit nicht, weil der Staats - und Gesellschaftszwang zunächst noch Allerlei mitsichbringt, welchem sich nur der entziehen kann, der nicht nur über hinreichende Mittel zum Leben verfügt, sondern auch ausnahmsweise besondere Gelegenheiten antrifft, ganz ohne Benutzung öffentlicher Schulen und Anstalten seine Zwecke zu erreichen. Letzteres ist, wie die Dinge heut liegen, freilich das Beste, aber nur äusserst selten ausführbar. Sonst wird selbst in den begünstigten Fällen ein Mittelweg eingeschlagen werden müssen; die Benützung der gegebenen ablenkenden, ja theilweise gradezu verderblichen Anstalten wird sich mit der Bethätigung derjenigen Geisteselemente mischen, die aus dem Reiche der Frei - heit und des Guten durch die eigne Initiative und Selbsthülfe zu - gänglich werden.

Für die theoretische Ausbildung kommen hauptsächlich zwei Quellen in Frage, die eigentliche Wissenschaft und die schöne Litera - tur. Von der praktisch technischen Ausbildung und den Kunstfertig - keiten, möge es sich dabei um etwas Gemeinsames für Alle oder um speciellste Fachpraktiken handeln, haben wir hier nicht zu reden. Unser Ziel ist ein solches, welches wesentlich durch Studium und Lectüre erreicht werden kann. Die einzige wesentliche Fer - tigkeit hiefür ist die im Verständniss der Sprache, und es sei hier nur noch bestimmter, als bereits in den vorangehenden Ab - schnitten geschehen ist, darauf hingewiesen, dass nach dem heutigen Stande der Dinge alte Sprachen gar nicht mehr, neuere aber nicht immer, nicht durchaus oder doch nur in geringem Umfang er - forderlich sind, um die Früchte der gesammten Wissenschaft und schönen Literatur einzuernten. Man muss seine eigne Sprache und vorläufig auch wohl noch für einzelne Gebiete der wissen -84 schaftlichen Literatur das Französische gehörig verstehen; das Englische kann in einigen Richtungen des Studiums nützlich sein, ist aber, Alles wohl erwogen, auch heute schon entbehrlich. Ueber - haupt werden die fremdsprachlichen Mittel immer weniger Raum einnehmen, je weiter der Völkerverkehr fortschreitet, die Ueber - setzungen zur Regel werden und in die eigne Literatur jedes höherstrebenden Volks die Errungenschaften der andern schnell übergehen.

Was an sprachlichen Mitteln gespart wird, kommt dem Sach - wissen zugute. In einer gewissen Hinsicht ist die Mehrfachheit der Cultursprachen nur ein Hinderniss des erweiterten Verkehrs, gleichwie die Verschiedenheit der Maass - und Gewichtssysteme nur Umrechnungsmühen verursacht. Mit je weniger Bezeichnungs - systemen man auskommt, um so mehr gelangen die zu erkennenden Sachen zu ihrem Recht.

Die bisherige Thatsache bestand darin, dass in den Schulen der allgemeinen Bildung, namentlich auf den Gymnasien, Gering - fügiges an eigentlicher Wissenschaft gelehrt, dagegen der Last - wagen mit Sprachen und schöner Literatur, namentlich mit alter und veralteter, gar gewaltig bepackt wurde. Dem entsprach und entspricht denn auch das Vorwiegen der hohlen Gelehrsamkeit auf den Universitäten. Nach einem zugleich modernen und natürlichen System der Selbstausbildung wird das Verhältniss umzukehren sein. Die Wissenschaft, und zwar im strengsten Sinne des Worts, wird an die erste Stelle treten, und die schöne Literatur wird als blos ästhetisches Bildungsmittel bereits der Pflege der Kunst - fertigkeiten, wie beispielsweise des Gesanges, nachbarlich nahe - stehen. Dies ist keine Herabminderung ihres wahren Werthes, sondern nur die Bestimmung der Rolle, die dem Kern ihrer Natur entspricht. Wenn sie, wie in der Vertretung durch die Haupt - grössen des modernen Schriftstellerthums mehrfach der Fall ist, auch theoretisch Lehrreiches, ja Lebensreformatorisches einschliesst, so ist dies ein besonderer Umstand, der sich beispielsweise in der antiken Belletristik nicht vorfand. Dieser Umstand erhöht den Werth einzelner Erscheinungen und muss veranlassen, diesen eine grössere Aufmerksamkeit zuzuwenden; aber auch er ändert die Grundregel nicht ab, sondern bestärkt nur in ihr. Nach dieser Grundregel wird der Maassstab von Wissenschaft und Wahrheit auch an die Belletristik gelegt, und je weniger das Schöngeistige gegen dieses Maass verstösst oder je mehr es sich gar positiv85 auf den Wegen der Vertretung und Durchsetzung von wirklichem Wissen findet, um so höher erhebt sich sein Rang über die Sphäre blosser Kunstfertigkeit.

Das weibliche Geschlecht ist nach den herkömmlichen Ge - wohnheiten von eigentlicher Wissenschaft ungleich entfernter ge - halten worden, als das männliche, und demgemäss fast ausschliess - lich auf schöne Literatur angewiesen geblieben, von der aber auch nur Schulbrocken verabreicht zu werden pflegen, ohne dass je im Ernst an eine eingehende und sichtende Bemeisterung des Besten und Wohlthätigsten aus diesem Gebiet gedacht würde. Die gemeine Schulversimpelung hat hier noch mehr verfehlt, als in der Vernachlässigung des eigentlichen Wissens. Die schön - literarische Bildung ist in ihrer Art noch oberflächlicher, als die - jenige, welche sich wissenschaftlich nennt. Um so nöthiger ist es daher für die Selbstausbildung, zwei Dinge ins Auge zu fassen, nämlich zuerst jene Voranstellung der Wissenschaft und dann die Beschaffung eines Compasses für das Bereich schöngeistigen Wellen - spiels. Sich ohne feste Richtung der See schöner Literatur überlassen, ist beinahe noch gefährlicher, als blos der eigentlichen Wissenschaft fremd bleiben, dabei aber keine Irrfahrten in das Zwischenreich von spielender Schöngeisterei und ernstgemeinter Wahrheit anstellen.

Der Gegenstand aller Wissenschaft zerfällt in zwei Haupt - abtheilungen, die Natur und den Menschen. Das Wissen von der Gesammtnatur ohne besondere Rücksicht auf den Menschen ist für die Modernen das Fussgestell alles übrigen genaueren Wissens geworden; die Wissenschaft vom Menschen und seiner Cultur wird sich aber über dem naturwissenschaftlichen Postament als etwas Höheres aufbauen. Der heutige Anschein darf hier nicht täuschen; denn nicht der besondere Zustand unserer Wissens - epoche, sondern die dauernden Rangverhältnisse bleiben schliess - lich maassgebend. Die moderne Aufraffung des menschlichen Geistes hat ihre sichtbarsten Triumphe zunächst im Bereich eigent - lichen Naturwissens aufzuweisen gehabt, und man folgt nur der geschichtlichen Ordnung, wenn man gegenwärtig jene Errungen - schaften zu Ausgangspunkten einer auf Vollständigkeit angelegten Selbstbildung macht. Wir beginnen daher mit der Naturwissenschaft. Der Mensch ist zwar ein Theil der Natur, uns aber durch Empfindung von innen bekannt und demgemäss auch durch das86 Interesse weit nähergelegt. Dennoch ist die Kenntniss von der Gesammtnatur in vielen Dingen aufklärender. Diese Kenntniss ist es, die den Menschen zuerst von dem Betrug und den Ver - irrungen befreit hat, in die er durch Verkennung seiner Stellung zum Weltganzen gerathen war. Durch die moderne Astronomie, die seit Copernicus datirt, ist nicht nur eine der Trugwissenschaften, die auf das Schicksal der Menschen sterndeutelnde Astrologie, bald ausgemerzt worden, sondern es haben auch zwei andere Pseudokünste, Religion und Metaphysik, angefangen, dem Unter - gang der astrologischen Kunst nachzufolgen. Hiedurch ist ein Klärungsvorgang des gesammten Naturwissens theils vollzogen, theils eingeleitet, und wenn sich auch grade heut der Gelehrtentrug in Naturwissenschaft und Mathematik, ähnlich dem Priestertruge, mit handwerksgemässen metaphysischen Umnebelungen eitel ausgelegt und breit gemacht hat, so ist dies mehr eine sociale, auf Verdorbenheit des Gelehrtenstandes beruhende Erscheinung, als eine der Sache etwa allzu fest anhaftende Eigenschaft. Das Gegenmittel ist zur Hand. Für die reine Selbstausbildung bedarf es, um den gelehrten Be - trügereien von vornherein zu entgehen, nur einer entschiedenen Hinwendung zu den klaren Bestandtheilen des Wissens und zu den unbeugsamen Grundwahrheiten. Nun ist es die moderne Astronomie, die, unbefangen aufgenommen, in ihren wesentlichen Zügen die Metaphysik des Raumes mattsetzt und den Bewohner der Erde von Erdichtungen über jenseitige Räume einfürallemal freimacht.

Auch ist es die Astronomie, die uns mit der grossen um - fassenden Natur vertraut macht, während unsere gleichsam häus - lichen Erdangelegenheiten, soweit sie vom Menschen zu beeinflussen sind, dabei ganz auf sich selbst gestellt, d. h. auf den mensch - lichen Willen angewiesen werden. Die astronomische Weltansicht ist überdies darum so wichtig, weil sie keinen Raum für Götter oder sonst erdichtete Dinge übriglässt und das bedeutendste Bei - spiel für Allgemeinheit und Regelmässigkeit der Vorgänge liefert. Einige gründliche astronomische Kenntnisse sollten daher den Aus - gangspunkt aller wahrhaft orientirenden Geistesführung abgeben.

Einfache Thatsachen aufnehmen, ohne sich um deren Ver - knüpfung oder Ableitung zu kümmern, mag für Kinder besser als Nichts sein. Wer auf guten Glauben hin sich vorstellt, die Erde bewege sich um die Sonne, ist immer noch besser daran, als wer im alten Irrthum befangen bleibt. Mit blosser Kenntniss87 auf rein factische und äusserliche Berichte hin haben sich in Sachen der Astronomie früher sogar namhafte Denker begnügt, wie John Locke, weil deren Fassungsvermögen zur Capirung der erforderlichen paar mathematischen Verknüpfungen nicht zureichte. Zur Entschuldigung mag hinzugefügt sein, dass die astronomischen Gelehrten, wie im fraglichen Falle Newton, es auch nicht ver - standen, von ihrem Handwerkszeug und von ihren gewohnten Com - plicationen der Darlegung genug wegzulassen, um die Hauptsachen unmittelbar und für den Nichtfachmann verständlich zu machen. Es ging ihnen darin, wie es gemeiniglich den Ausübern der verschieden - artigsten Hantirungen und Künste geht. Diese verstehen ihre Sache wohl zu machen, nicht aber, sich darüber gehörig auszulassen, und zwar gelingt ihnen die Mittheilung am wenigsten, wenn sie nicht in gewohnter Weise mit allem zufälligen Nebenwerk fach - und routine - gemäss einen Lehrling einweihen, sondern ein ausgewähltes Bereich bestimmter Gegenstände vom Fach ablösen sollen. Diese Schwierig - keiten, die in der Gewohnheitsknechtschaft der Gelehrten und in deren Mangel an Abstractionsvermögen ihren Grund haben, dürfen jedoch nicht abschrecken. Sie sind ein sociales, aber nicht in der Natur des Wissens selbst liegendes Hinderniss. Man ent - schliesse sich daher, sich nicht auf dem Kinderstandpunkt fest - bannen zu lassen, und man ziehe das, was Seitens der Gelehrten an Wissen nicht von selber kommt, mit eignen Kräften zu sich heran. Hiefür ist nun aber einige Mathematik als Instrument unentbehrlich.

Allgemeine Naturwissenschaft ohne Mathematik ist fast ein Widerspruch in sich selbst. Wie will man die Anordnungen und Einrichtungen im Raume verstehen oder gar deren Consequenzen erwägen, wenn man nicht die allgemeinen Grundsätze und Wahr - heiten kennt, in die alles räumlich Entworfene sich schicken muss? Wie will man überhaupt die in der Natur aufeinander wirkenden Grössen und Mengen in der Art, wie diese sich gegenseitig be - stimmen, beurtheilen, wenn man überhaupt nicht zu rechnen und das Rechnen nicht auf Raumverhältnisse und Bewegungen auszu - dehnen weiss? Will man ein letztinstanzliches Wissen, so ist die Frage der Unentbehrlichkeit der Mathematik mit jenen wenigen Hinweisungen entschieden. Nur wer sich mit abgerissenen Er - zählungen aus dem astronomischen Wissensreich begnügen wollte, könnte allenfalls ohne eigentliche und specielle Mathematik aus - kommen. Dieses unreife Verhalten haben wir aber nicht vor Augen, wo88 wir auf antiautoritäre Selbstausbildung und auf eigne freie Führung des Geistes hinarbeiten. So macht denn die Astronomie, wenn sie ernsthaft zur Bildung nützen soll, von vornherein die Befassung mit einiger Mathematik unerlässlich. Was aber für diesen Zweck gewonnen wird, erweist sich weiterhin als weittragendes Mittel für die wichtigsten andern Naturgebiete. Nur die sozusagen thierische Wissenschaft, d. h. die Zoologie, und was ihr an sonstigen Arten beschreibender Naturkunde ähnlich ist, befindet sich noch in der nicht beneidenswerthen Lage, mit dem Exacten, d. h. mit Maass und Zahl, keinen wesentlichen Zusammenhang aufzuweisen. Diese Unabhängigkeit von der Mathematik erniedrigt aber auch ihren Rang; denn überall, wo sich das Wissen höher entwickelt, wird die Einsicht in quantitative Verhältnisse und namentlich in Grössenursächlichkeiten eine wesentliche Angelegenheit.

Unkundigen erscheint die Mathematik nicht selten als Schreck - bild. Sie vermeinen oder werden dazu von unberufener Seite verleitet, in der Befassung mit dem mathematischen Rüstzeug das Aeusserste an Schwierigkeit oder doch unerträglicher Trocken - heit vor sich zu sehen. Vollends gilt, wenn es sich nicht um Studien der Männer handelt, grade nach der beschränkten Meinung der Pedanten selbst, alles Mathematische als ungehörig und un - bezwingbar. Nun ist aber in Wahrheit die Mathematik die lern - barste und zugänglichste aller Wissenschaften; ja, sie ist mehr als jede andere durch blosses Selbststudium, d. h. auf Grund blosser Buchhülfe, anzueignen, ja umfassend zu bemeistern. Dies ist schon gegenüber einer unvollkommenen Literatur, d. h. mit formell und sachlich wenig befriedigenden Lehrbüchern möglich; wieviel mehr muss es der Fall sein, wenn besondere schriftliche Anleitung die Wege zeigt und vor Abwegen warnt, oder wenn gar, wofür freilich erst unzulänglich gesorgt ist, gute Curse gleich die Einzelheiten in der passendsten Auswahl und Gestalt vorführen!

Die Schulmathematik ist allerdings gewaltig überladen; ja die ganze Bescheerung, die heute unter dem Namen von Mathe - matik, sei es hoher, sei es niederer, angeboten wird, ist eine ver - worrene Ablagerung der verschiedenartigsten, oft thörichtsten, ja augenblicklich theilweise sogar unsinnigsten Bestandtheile. Pe - danten, Wirrköpfe, Metaphysiker und Phantasten haben in der Rolle von Handwerksmathematikern und neuerdings besonders von Professurinhabern das Angesicht sogar der reinen, d. h. nicht89 angewandten Mathematik in einem andern Sinne des Worts recht unrein gemacht, nämlich Dummheiten und Hässlichkeiten hinein - gepinselt. So etwas könnte eher abschreckend wirken; allein es handelt sich für vernünftige Interessenten niemals um solche Ge - richte, ja überhaupt nicht um jenen von der Eitelkeit und Be - schränktheit angerichteten Kohl. Was derjenige Mensch, der sich mit Schulsottise nicht zum Narren halten lässt, ernsthaft braucht, ist die echte Mathematik mit ihren erheblichen Errungenschaften und in ihrer Beziehung zur wesentlichen Erkenntniss der Natur der Dinge. Hier ist nun keine Noth, dass antikes Pedantenthum oder neuste Zerfahrenheiten sonderlich schaden. Es wird näm - lich für den Lernenden zur Reinhaltung des Weges nichts weiter erfordert, als dass er sich nicht auf hohle und unnütze Dinge ablenken und nicht von autoritärem, handgreiflichem Unsinn im - poniren lasse.

Bedenken wir zunächst das, was für gründliche astronomi - sche Bildung an Mathematik in Frage kommt. Dies ist in der That, wenn man es nur recht auszuwählen versteht, weder son - derlich schwer noch sonderlich viel. Vor allen Dingen erfordert jegliche Orientirung im Raume die Kugel als Mittel, und man muss mit so etwas, wie beispielsweise Parallelkreisen und Meri - dianen, auch mathematisch nach Gründen Bescheid wissen, ja äussersten Falls auch vom Mittelpunkt der Kugel aus körperliche Winkel und zugehörige sphärische Dreiecke vorzustellen und in einigen Punkten zu behandeln wissen, wenn man in diesem Ge - biet zulänglich ausgerüstet sein will. Zur Berechnung der Ent - fernungen im Weltraum genügt die einfache Berechnung eines ebnen Dreiecks. Zur Kennzeichnung der planetarischen Bahnen genügen die analytisch geometrischen Begriffsbestimmungen der Kegelschnitte, d. h. jener einfachsten Curven zweiten Grades, zu denen auch der Kreis gehört und unter denen die Ellipse den wichtigsten Specialfall bildet.

Geht man von dem räumlich Sichtbaren in der Astronomie zu den hervorbringenden Kräften über, so werden jene Curven ihrem innersten Wesen nach bestimmbar. Alsdann sind sie näm - lich als mechanische Erzeugnisse zu begreifen, und diese Art ihrer Bestimmung ist nicht nur die vollständigste, nämlich die - jenige mit Rücksicht auf die Zeit, sondern die auch in der ab - stracten Mathematik von Raum und Zeit am meisten natur - gemässe. Dieses Stück Studium, versteht sich nach der analytisch90 geometrischen Methode, ist ziemlich einfach zu erledigen und setzt grade zu dem Wichtigsten in den Stand, nämlich zur Er - fassung der Grundlehren von der allgemeinen Schwere. Eignet man sich überdies noch ein paar einfache Rechnungsgebilde der modernen Mathematik, nämlich einige sehr einfache Differential - und Integralbegriffe nebst ein paar der einfachsten Potentialformen an, so kann im Bereich der astronomischen Erkenntniss kaum mehr etwas Erhebliches vorkommen, was sich nicht mit diesen Hülfsmitteln ableiten und beweisen liesse. Für die fundamentale Hauptsache kann aber schon die Bekanntschaft mit dem Wesen und der Berechnung der erwähnten Kegelschnitte genügen. Die Curven zweiten Grades bilden nämlich einen Markstein, bis zu welchem die rein mathematische Orientirung ausgedehnt werden muss, wenn sie für die Anwendungen Früchte tragen soll, und zwar muss das Wenige, was von diesen Curven zu lernen ist, sogleich vollständig, d. h. mit Rücksicht auf die Stetigkeit und mithin auf die geometrischen Differentiale, ins Auge gefasst werden.

Die vorangehenden Fingerzeige können selbstverständlich nicht eine eingehende Anleitung ersetzen. Sie sollen nur Er - läuterungen sein, in welcher Art man sich zu verhalten habe. Zum vollständigen Studium der Mathematik haben mein Sohn und ich am Ende unseres Werks Neue Grundmittel und Er - findungen zur Analysis u. s. w. eine specielle kritische Anleitung gegeben. Diese, sowie einige der einfacheren und mehr grund - legenden Lehren des fraglichen Buchs können auch von denen benützt werden, welche sich auf die äussersten Höhen und in die entlegensten Regionen der abstractesten, ja zum Theil nur spe - culativ interessanten Mathematik zu begeben keine Ursache haben. An Klärung der wesentlichen Begriffe und an Bezeichnung der einfachsten Studienwege und Studienmittel haben aber Alle ein Interesse, und das fragliche Werk ist so eingerichtet, dass sich die Einfachheiten daraus für sich, unter Weglassung der speciali - stischen Entwicklungen, leicht entnehmen lassen.

Gäbe es einen Cursus der Mathematik in dem zugleich mo - dernen und einfach praktischen Sinne, wie ich ihn meine, so wäre das Studium mindestens um das Zehnfache erleichtert. Da eine solche Bearbeitung aber fehlt, so kommt dem Lernenden unver - meidlich viel Schutt in den Weg. Ein Conglomerat von zweck - losen Abstractionen und Ausspinnungen, die nicht mit Rücksicht91 auf das wirkliche Bedürfniss gemacht sind, bleibt noch immer die gewöhnliche Form, in der die Wissenschaft sich seit Euklides anbietet. Demgegenüber muss ein wahrhaft rationelles System der Darlegung platzgreifen. Man sollte von der praktischen Mathematik, also dem jedesmal für die Anwendungen Erforder - lichen, ausgehen. Man sollte nicht Mehr und nicht Weniger zu - sammenstellen, als man wesentlich braucht, und die Lehr - bücher würden auf einige Procente ihres Umfangs zusammen - schmelzen. Sie würden an Durchsichtigkeit ihres Inhalts ge - winnen und anstatt, wie jetzt, oft als abschreckende Hindernisse zu wirken, wahrhaft anziehende, ja im höhern Sinne des Worts interessante Lernmittel werden. In der heutigen Gesammtmathe - matik, einschliesslich der erwähnten Hineinpinselungen verstanden, ist kaum ein Theil auf tausend Theile als wirklich werthvoll, sei es nun praktisch oder speculativ werthvoll, herauszufinden.

Wer sich im Sinne der obigen Angaben für die Astronomie mit den mathematischen Orientirungsmitteln ausgerüstet hat, wird in der übrigen Naturwissenschaft kaum in den Fall kommen, umständlicher Ergänzungen seines mathematischen Wissens zu bedürfen. Schon in dem, was man gewöhnlich Physik nennt, er - mässigt sich bei gesunder Behandlungsweise das mathematische Bedürfniss und vollends tritt es in der Chemie zurück, einer hochmodernen und in einzelnen Theilen noch sehr jungen Wissen - schaft, die in der Reihe der Naturdisciplinen zur Astronomie gleichsam das andere Extrem bildet. Die Chemie ist heute für die tiefere Erkenntniss der Dinge wichtiger, als was zwischen ihr und dem astronomischen Ausgangspunkt in der Mitte liegt, näm - lich wichtiger als die Physik im engern Sinne des Worts, die gar sehr überladen und ohne Auswahl auftritt. Was für hohe und eigentliche Bildungsinteressen von der Physik brauchbar ist, schliesst sich grösstentheils entweder an die Astronomie an oder dient andererseits den tiefern chemischen Lehren zur unmittel - baren Ausstattung. In jener Richtung ist der Inhalt des Welt - raumes mit seinen Strahlungen der physikalische Hauptgegen - stand. In der andern Richtung sind der Zusammenhang der Aggregatzustände, die Abhängigkeit der Processe von den Tem - peraturen, die elektrochemischen Vorgänge und die Symptomatik in der Lichtzerstreuung, d. h. die Spectralphysik, entscheidende Punkte. Was dann als Mittelstück selbständiger Physik noch übrigbleibt, wie z. B. fast die ganze Akustik, ist im Allgemeinen92 am unfruchtbarsten und kann, ein paar Einzellehren, wie etwa die von der Schallgeschwindigkeit, ausgenommen, auch ein reines Bildungsinteresse erst an letzter Stelle in Anspruch nehmen.

Experimentalphysik, sowie überhaupt jede Experimental - wissenschaft, erfordert im Studium vor allen Dingen Beschrei - bungen der Versuche, unterstützt von Abbildungen, und Zurück - führungen der Versuche auf ihren wesentlichen Inhalt, unter sorgfältiger Abstraction von allem Nebenwerk. Das blosse Sehen von unmittelbaren Experimenten hat bei Weitem nicht die be - lehrende Kraft, die man ihm gewöhnlich zuschreibt. Im Gegen - theil steckt darin viel Schein, da die Aufmerksamkeit dem flüch - tigen Schaustück weniger gut folgen kann, als der standhaltenden Darlegung des Kernes der Sache in Beschreibung und Bild. Das Selbststudium hat hier also gute Chancen und wird nicht ab - hängig von den fast spielerisch zu nennenden Versuchswieder - holungen des Experimentirtisches. Die Urexperimente consti - tuiren zuerst die Wissenschaft, aber die Nachahmungen, wenn sie nicht vom Lernenden in eigner Person gemacht werden, haben nur geringen Werth. Das eigne Anstellen von Experimenten aber, zum Zweck der Veranschaulichung im Lernen, ist dem Nutzen blos gesehener Experimente zwar unvergleichlich über - legen, wird sich aber meist nur in den allereinfachsten und zu - gleich nicht kostspieligen Fällen ausführen lassen. Es ist ein grosser Irrthum, zu glauben, dass zur Selbstausbildung die Buch - analyse von Experimenten nicht genüge. Wer um jeden Preis an unmittelbaren Versuchen hängt und sich doch mit dem blossen Sehen fremder Manipulationen begnügt, dem könnte man nach seinem eignen Grundsatz auch zur Regel machen, in den be - obachtenden Wissenschaften, wie in der Astronomie, nur solche Thatsachen als gut erlernt zu betrachten, die er selber beobachtet hat. Soweit geht aber Niemand, ja kann Niemand gehen, und so zeigt sich, dass es ein Vorurtheil ist, die Experimentirtheater unter allen Umständen besuchen zu müssen. Dem gewöhnlichen sinnlichen Menschen mögen von den Experimentirschauspielen mehr bunte Erinnerungen zurückbleiben; die wirkliche und gründliche Erkenntniss ist aber nur die Frucht ruhiger Betrach - tung und Erwägung der Bestandtheile und der Verkettungsart eines Vorgangs. Letztere lässt sich aber auf dem Papier und am Bilde besser anstellen, als an dem wirklichen, unfixirten, ja meist äusserst schnell entweichenden Phänomen. Braucht doch93 der physikalische Forscher oft selbst erst ähnliche Mittel, indem er z. B. von Spectralerscheinungen erst Photographien entwirft, um jene dann an diesen, also erst mittelbar auf dem Papier, zu untersuchen.

Der grosse Vortheil des Genügens blosser, aber guter Bücher - verkörperungen des experimentellen Naturwissens leuchtet ein. Die Erfahrungswissenschaft reiht sich auf diese Weise nachbarlich an die Mathematik an, und für das ganze Bereich der Bildungs - wissenschaft kann mit Lettern und Abbildungen bedrucktes Pa - pier an die Stelle der Schulen treten, deren Rolle hienach natur - gemäss weniger auf das Lernen selbst, als auf das Ueben des Selbsterlernten sich erstrecken sollte. Zur Einübung von Fertig - keiten ist eher ein persönlicher Lehrer nöthig, als zu der blossen An - eignung von Wissensstoff; jedoch auch hier ist die Mathematik bereits ein schönes Beispiel, dass auch in der selbstthätigen Anstellung von Uebungen die Emancipation vom persönlichen Lehrer - thum sogleich mit dem Abc der Wissenschaft, d. h. mit dem ersten und elementarsten Rechnen, beginnen könne.

Ist das Studium durch blosse Buchhülfen möglich, so ent - scheidet nicht mehr die Beschaffenheit der Lehranstalten oder der ausnahmsweise zu habenden Privatlehrer, sondern einzig und allein die Literatur. Wie ungenügend sich auch letztere ge - stalten möge, so ist sie doch immer eine etwas freiere Sphäre, die sich nicht absperren und in der auch die Concurrenz unabhängiger Geister nicht ganz unterdrückt werden kann. Das weibliche Geschlecht hat noch ganz besondere Ursache, diesen Umstand im Auge zu behalten; denn Angesichts der Hindernisse, die sich ihm aus dem alten Regime sogar gegen eine blos geistige Emanci - pation aufthürmen, bleibt der Zugang zu den Büchern der nächste Ansatzpunkt, bei welchem die geflissentliche Geistesbevormundung aus den Angeln zu heben ist. Auch wo die Sitte sich entgegen - stemmt oder im persönlichen Verkehr noch wirklich berechtigte Anstandsrücksichten die freiere Bewegung einschränken, da ist der Verkehr mit Büchern eine sicherlich unschuldige Zuflucht und noch dazu eine solche, die thatsächlich nicht leicht gänzlich ver - wehrt werden kann.

Leider schmeckt nun freilich die Bücherwelt einigermaassen nach den Personen, die auch hier, wenn auch nur indirect vermöge des Einflusses ihrer Aemter auf den Absatz, das Monopol haben und den Markt mit ihrer scholastischen Waare über -94 schwemmen. Für die bisherigen und heutigen Zustände in dieser Beziehung habe ich nun in meinen verschiedenen Studienan - leitungen und dahin gehörigen gelegentlichen Fingerzeigen einige Sichtung und Orientirung zu schaffen gesucht. Speciell enthält auch jede meiner naturwissenschaftlichen Schriften etwas dahin Gehöriges, sei es nun eine ganze Anleitung, wie die am Ende der zweiten Auflage der Geschichte der Principien der Mechanik, oder einen Inbegriff einzelner Studiengesichtspunkte, wie in be - sondern Ausführungen der Schrift Neue Grundgesetze zur Phy - sik und Chemie , oder endlich eine Kennzeichnung des Gelehrten - standes und seiner Erzeugnisse und Literaturmanieren, wie in der Schrift über Robert Mayer (vgl. auch die letzten drei Seiten des Anhangs vorliegender Schrift). Wer sich den Geist der That - sachen zu eigen macht, wie sie in diesen und andern meiner Schriften bezüglich der Gelehrteneigenschaften und der Beschaffen - heit der literarischen Hülfsmittel enthüllt sind, wird sich auch in solchen Fällen selber rathen und helfen können, wo die einzelnen auf besondere Erscheinungen gerichteten Auskünfte etwa auf - hören. Jedoch auch an solchen Einzelangaben und sozusagen bestimmten Bücheradressen, die noch für eine lange Zeit ihren Nutzen behalten, fehlt es dort nicht. Wohl werden die wissens - reformatorischen Anregungen früher oder später bessere Buch - hülfen zu Tage fördern, als ich beispielsweise in Physik und Chemie für die laufenden Jahrzehnte als am wenigsten unzu - länglich signalisiren konnte. Auf solche Zukunftsdinge kann aber Niemand warten. Mit dem Maasse in der Hand, mit welchem ich das Vorhandene gemessen habe, wird man jedoch etwa sich Darbietendes darauf untersuchen können, ob es eine der vielen Unterschiebungen sei, oder. ob einmal ausnahmsweise wirklich etwas, ich will nicht sagen Echtes und Gelungenes, sondern nur Besseres vorliege.

Die Wissenschaft, und zwar auch speciell Naturwissenschaft wie Mathematik, ist voll von Gelehrtenbetrug. Ausser dem me - taphysischen, von der Religion vererbten Betruge, der an sich noch keineswegs der gefährlichste ist, macht sich der von der Eitelkeit und dem Diebstahl ausgehende am meisten breit. Die Gelehrteneitelkeit will etwas zu haben scheinen, wo sie nichts hat, und betrügt daher das Publicum oft genug durch erlogenes Scheinwissen mit vollem Bewusstsein. Der gelehrte Diebstahl aber entstellt das Andern entwendete Gut, damit es weniger95 kenntlich sei. Diese Entstellungen werden theils durch formelle Verzerrung, theils durch Einmischung von materieller Unwahr - heit bewerkstelligt, und so kommen wesentliche Stücke der Wissenschaft zuerst oft nur umhüllt und verdunkelt, also weit unverständlicher als in den originalen, dem Publicum verhehlten Fassungen, in gemeinen Curs. Die in Eitelkeit und Verlogen - heit der Gelehrten wurzelnden Fälschungen der Wissenschaft sind die schlimmsten. Die in Metaphysik bestehenden Faseleien verunstalten und umnebeln zwar viel; aber sie rangiren im Ge - lehrtentrug erst an zweiter Stelle, ausser wenn sie, wie jetzt viel - fach der Fall, als blosse Mittel figuriren, jene Eitelkeit in ihrem betrügerischen Handwerk nähren zu helfen.

Die Physik ist im letzten Menschenalter besonders ein Tummelplatz von Metaphysik, ja bisweilen sogar von Spiritistik geworden. Sogar an eine gute und bedeutende Sache, die Mayersche Auffindung des mechanischen Kraftwerths der Wärme, hat sich von vornherein die Unwissenschaft der Metaphysik ge - heftet und sich namentlich unter den Händen der bornirten Ent - wender breit gemacht. Ein förmliches Krafterhaltungsgefasel ist in die Physik eingedrungen und müsste schliesslich jenen ersten an sich soliden Kern von Wahrheit mit in Misscredit bringen, wenn nicht kritisch gesichtet und der metaphysische Kohl, der seit der Leibnizschen Zurichtung gelegentlich immer wieder auf - gewärmt wird, aus der Reihe der schmackhaften, ja überhaupt geniessbaren Gerichte entfernt würde. Die Beispiele der Verun - sauberung der Physik mit hohlen Eitelkeitsausgeburten und Me - taphysik liessen sich häufen und mit denen der Mathematik in Parallele stellen; hier jedoch, wo Einzelheiten nicht viel be - rührt werden können, mag lieber an den Gegensatz und die vor - theilhaftere Stellung erinnert werden, durch welche sich die Chemie vermöge ihrer praktischen Richtung und ihres auch theo - retisch ansehnlichen Maasses von Wirklichkeitssinn in ihrer modernen Gestaltung auszeichnet.

Fehlt es auch in der Chemie nicht an Thorheiten, Erdich - tungsvelleitäten und falschen Uebernahmen von der Physik her, so ist sie doch schon lange keine Alchymie mehr und theilt mit der Astronomie die Eigenschaft, den mittelalterlichen Trug grund - sätzlich abgestreift zu haben. Sie steht überdies in eminenter Weise mit dem Leben in Beziehung, stellt aber auch eine theo - retische Vertiefung in Aussicht, durch welche sie das Innerste96 der Materie erschliesst. Wenn uns also die Astronomie einen Ueberblick über die Verhältnisse der grossen Massen gewährt und uns in die Verfassung des Weltbaues einführt, so dringt die Chemie bis zu denjenigen Regungen der Materie vor, bei denen das eigentliche Leben beginnt. Es ist daher auch die organische Chemie, d. h. die Chemie der Kohlenstoffverbindungen, welche seit einem halben Jahrhundert sich zur höheren und interes - santeren Stufe der Chemie entwickelt hat. Sie hat nicht un - mittelbar mit den Organismen zu thun, sondern mit einem Reich von Verbindungen der Atome, wie sie überwiegend durch Kunst dargestellt, übrigens aber fast ausschliesslich in den Organismen angetroffen werden; aber eben um ihrer freien Combinationen willen, die sie selbst auffindet und in denen sie gar nicht nach den Organismen fragt, erhebt sie sich sowohl theoretisch als praktisch zur gegenwärtig folgereichsten und aussichtsvollsten der modernen Wissenschaften.

Es sei hier nur beispielsweise darauf hingewiesen, dass in den mittleren Jahrzehnten unseres Jahrhunderts von der organi - schen Chemie vier Erfindungen ausgegangen sind, die man prak - tisch als ihre epochemachendsten Leistungen ansehen kann. Es sind dies die Herstellung und der praktische Gebrauch des Chloroforms, des Chloralhydrats, des Nitroglycerins und der Sprengbaumwolle. Zwei Mittel zur Mässigung oder Aufhebung des Empfindens und Schmerzgefühls, einschläfernde Mittel, wenn man sie so nennen will, auf der einen Seite, und zwei gewaltige Kraft - und Sprengmittel auf der andern Seite von einer nicht blos die Technik aufrüttelnden Tragweite, das sind Ergeb - nisse, deretwegen die Menschheit allein schon Ursache hätte, die zunächst blos wissensschaffende Gedankenkraft nicht gar so ohn - mächtig zu wähnen. Die Sprengbaumwolle ist die ältere Er - findung; in der Aufzählung bin ich aber der chemischen Rang - ordnung gefolgt, zumal die drei ersten Stoffe sich auch rein theoretisch zur Erläuterung der neuern Lehre von der Atomver - kettung gut eignen. Soweit der Gedanke der Atomverkettung nichts weiter einschliesst, als was ihm entsprechend die Er - fahrungsthatsachen wirklich repräsentiren, ist er dasjenige Princip, durch welches im Bereich auch der complicirteren Verbindungen Licht geschafft wird und der Anfang gleichsam zu einer höheren Chemie, d. h. zu etwas gemacht ist, was sich zur sonstigen Chemie in seiner Weise ähnlich verhält, wie die Mathematik mit Diffe -97 rential - und Variationsrechnung zu derjenigen ohne diese mäch - tigen Hülfsmittel.

Merkwürdigerweise sind die zwei Wissenschaften, von denen die eine formell und die andere materiell am weitesten vorzu - dringen vermocht haben, auch die beiden einzigen mit eignen originalen Zeichensprachen. Die Mathematik hat sich in der Analysis eine besondere Formelsprache geschaffen, und die Chemie hat je länger desto besser gelernt, den Kern ihres Wissens immer bestimmter in Formeln darzulegen, die nicht blos den Inhalt, sondern auch die Art der Zusammensetzung der verschiedenen Stoffgebilde angeben. Man beachte daher diesen aus den That - sachen selbst sich ergebenden Fingerzeig und pflege vor allen Dingen die beiden vollkommensten Ansatzpunkte des Erkennens, nämlich an dem einen Ende das analytische Rechnen und an dem andern die rationelle chemische Construction der mannich - faltigen Stoffe und Körper. Ersteres setzt in den Stand, Massen und Kräfte des Universums in ihren gegenseitigen Beziehungen zu ergründen; letztere führt dazu, vermittelst des uns Nahe - liegenden in das Wesen aller Materie und aller Vorgänge am innerlichsten und tiefsten einzudringen, ja mit dem Gewinn an theoretischer Erkenntniss und Geistesfreiheit auch das unmittel - barste praktische Wirken zu verbinden.

Bildung zur Freiheit und zum Wirken, das ist der ein - heitliche, aber doch doppelseitige Gesichtspunkt, der bei allem echten Studium festgehalten werden muss. Bei der Bildung zur Geistesfreiheit ist das Wissen an sich selbst die Hauptsache; bei der Bildung zum Wirken wird auch noch die Kunstfertigkeit in der Bethätigung des Wissens von entscheidender Bedeutung. Zur Ausübung eines bestimmten Berufs gehört mehr als blosse Ein - lassung mit den wissenschaftlichen Bildern der Dinge; man muss sich unmittelbar mit Dingen selbst vertraut machen, und es wäre beispielsweise für den Arzt anatomische Kenntniss ungenügend, wenn sie nicht zugleich mit der eingeübten Fähigkeit verbunden wäre, die Verhältnisse am wirklichen Körper im einzelnen Fall sofort zu beurtheilen, ja, was noch mehr erfordert, in diese Ver - hältnisse chirurgisch einzugreifen. Dagegen kann der allgemeine wissenschaftliche Lehrerberuf sich fast ausschliesslich auf das Wissen an sich selbst stützen und er bedarf nur einer einzigen formellen Kunst, nämlich derjenigen des geschickten Lehrens selbst und des zugehörigen Einübens. Unser leitender Grundsatz,98 dass sich das Wissen wesentlich durch Bücher aneignen lasse, bleibt daher für alle Lehrstoffe bestehen, und nur für die aus - übenden Kunstfertigkeiten gesellt sich noch die andere Noth - wendigkeit hinzu, die jedesmal erforderlichen Fähigkeiten durch unmittelbare Thätigkeit an den Dingen besonders auszubilden. Eigne Erfahrung und Erprobung wird aber auch hier das För - derndste werden, und persönliches Lehrerthum sowie Anstalts - zurüstungen werden wenig helfen, wenn dabei vornehmlich von blossem Zusehen gelernt werden soll.

Mit dem Wege zur gesammten Selbstausbildung wäre es übel bestellt, wenn er nicht zum höchsten Maass innerer Freiheit und äusserer Wirkungsfähigkeit führen könnte. Hiezu ist aber die Kenntniss der menschlichen Beschaffenheiten und Verhältnisse un - mittelbar noch nöthiger als die der Natur. Es wird also die Wissenschaft und Lehre vom Menschen, soweit sie nur wirklich etwas Echtes weiss und zu lehren hat, in der Berücksichtigung den ersten Rang in Anspruch zu nehmen haben. Wenn gegenwärtig die Theilnahme dafür noch etwas zurücksteht, so liegt dies daran, dass grade dieses Gebiet mit den schlechtesten Ueberlieferungen versetzt ist, das meiste unnütze Gerölle conservirt und dem öffentlichen Betruge am widerstands - losesten preisgegeben ist. Auch muss hier die Theilnahme eine doppelte Richtung haben; erstens geht sie auf das Wissen von dem, was ist oder war, und zweitens geht sie auf eine Lehre von dem, was fernerhin gut ist und ausgeführt werden soll. Solche Lehre ist in diesem Sinne offenbar mehr als blosse Wissen - schaft; sie betrifft das Streben des Einzelmenschen und der Ge - sammtheit, sowie gleichsam die Zukunftsverbindlichkeiten. Frei - heit und Leben der Einzelnen und der Völker, und zwar glück - liches Leben, das sind die hier maassgebenden Gesichtspunkte.

Fehlt es nun aber in der einen Hinsicht vielfach an echtem Wissen, so steht diesem Mangel in der andern Hinsicht ein selbst - ständiges Deficit an echtem Streben gegenüber, und selbst wo wirkliche Energie hervorbricht, geräth sie nur allzu oft gar wüst und chaotisch. Letzteres Fehlgreifen rührt durchaus nicht immer vom Mangel eigentlicher Wissenschaft, sondern oft genug von verderbten Antrieben, von desorientirten Gemüthskräften und von abseits gerathenen Kraftgefühlen her. Freilich ist Derartiges besser, als was sich auf der entgegengesetzten Seite an Wurm -99 stichigkeit und Siechthum des Lebens, etwa gar mit dem pessi - mistischen Krebs behaftet, an der Oberfläche so viel vertreten findet. Auch ist gegenwärtig grade das am interessantesten, was nicht bei dem passiven Wissen stehen bleibt, sondern, wenn auch zunächst noch wildwüchsig, eine durchgreifende Umgestaltung der Zustände in unmittelbar thatkräftigen Angriff nimmt.

Wir wollen nun sehen, was sich von der angedeuteten Seite für die Selbstausbildung von Verstand und Muth gewinnen lasse; denn diese beiden Factoren sind in der Geisteshaltung gleich nothwendig. Zunächst ist es richtig, dass neben der Natur - wissenschaft die socialen Wissenschaften und Lehren bei den am meisten entwickelten Elementen des Menschengeschlechts im Vordergrunde stehen. Den Menschen in seinen Gesellungsver - hältnissen studiren, muss mit Recht als eine lohnende Aufgabe auch denen gelten, die von der geschichtlichen Ueberlieferung kaum ein Hundertel als weiterhin berechtigt anzuerkennen ver - mögen. Eben ein solches Studium, wenn es auf die Dinge in ihrer Wirklichkeit gerichtet ist, lässt die emancipatorischen Wege besser auffinden und sicherer verfolgen. Hier ist es nun aber nicht blos der Mensch im Allgemeinen, sondern der Mensch in seiner Mannichfaltigkeit und Unterschiedlichkeit, namentlich nach Geschlecht und nach Race, was mit vollem Bewusstsein ins Auge gefasst werden muss.

Dem weiblichen Geschlecht braucht es wohl nicht erst be - sonders nachgewiesen zu werden, dass es im Studium des Men - schen sich selbst, also die eigne Beschaffenheit, die eigne Lage und die eignen Schicksale nicht blos im Unterschiede von denen der allgemeinen Menschennatur, sondern von vornherein in bevor - zugter Weise zu ergründen hat. Dazu werden ihm nun wahrlich die Amtsgelehrten mit ihrer bornirenden und stets socialreactionär interessirten Scholastik nicht nur nichts helfen, sondern im Gegen - theil die Wege noch verdunkeln. Ein offener Blick für die ein - fachsten gegebenen Thatsachen und ausserdem allenfalls noch ein wenig Umschau nach der Vergangenheit der Cultur reichen hier zu, um die Hauptpunkte festzustellen. Speciell ist dabei eine Untersuchung des Charakters der Ehe unerlässlich. Namentlich ist sie schon von vornherein in der Geschichte auf zwei Eigen - schaften anzusehen, die, obwohl voneinander trennbar, doch that - sächlich miteinander verwachsen sind. Was sich in allen ersten rohen Gestaltungen am sichtbarsten vordrängt, ist die Herrschafts -100 form. Diese befestigt sich später politisch, und es gilt alsdann der Satz, dass die Ehe eine Herrschaft des Mannes über das Weib und zwar eine äusserliche, im allgemeinen Zwangsrecht garantirte Herrschaftsform sei, so lange fast als selbstverständlich, bis bei den freier strebenden Menschen die zweite Eigenschaft deutlicher ins Bewusstsein tritt. Diese zweite Eigenschaft ist die natürlich sittliche Gesellung, zu der ein weiter ausgedehntes Maass der Lebensgemeinschaft folgerichtig gehört. Die Con - stituirung der Familie ist weder von Natur noch von Cultur wegen etwas Willkürliches; für den entwickelteren Menschen müsste sie unter allen Umständen zur Sitte werden, auch wenn ein juristi - scher Zwang nicht vorhanden wäre. Aus diesem Grunde lässt sich nun daran denken, einmal auf der Grundlage einer edleren Cultur und unter der Einwirkung verallgemeinerter besserer Neigungen und Gesinnungen den Zwang selbst auszumerzen. Der Gesichtspunkt also, von dem man bei dem Studium der ver - schiedenen Ansichten und Lehren socialer Reformatoren über die Ehe auszugehen hat, ist die angegebene, für alles Uebrige ent - scheidende Spaltung des Gegenstandes. Ob Moral oder Justiz, ob Sitte oder Politik den Verkehr und das Zusammenleben der Geschlechter zu ordnen haben, das ist der Kern der Grund - frage, welche die aufgeklärtesten Elemente der Menschheit bewegt.

Ueber die Wichtigkeit des Racengesichtspunkts für das Ver - ständniss der Zustände kann ich mich hier in Kürze, brauche mich aber auch nicht weiter auszulassen; denn grade ich habe in den verschiedensten Schriften Racenkritik, und zwar sowohl an der Wissenschaft wie am Leben, in ganz neuen Richtungen geübt. Um aber hier wenigstens die Frauenwelt an das ihr am nächsten liegende Beispiel des Racengeistes zu erinnern, so möge sie nur sich umsehen und an den Thatsachen selber studiren, welchen verzerrenden, degradirenden und corrumpirenden Einfluss die unverhältnissmässige Betheiligung von Hebräerinnen an Agi - tationen, Vereinen und Instituten auf die Frauenfrage geübt hat. Eine an sich edle Angelegenheit, die in Judenhände geräth, muss entarten. Unsere Lehre von der Racenschädlichkeit zeigt dies auf jedem Blatte; vollends zur Wissenschaft können Juden nichts weiter beitragen, als den Schaden, den sie mit deren Verzerrung und geschäftlicher Ausbeutung anrichten.

Wenden wir uns jetzt noch zu einer kurzen Berührung der allgemeinen Verschiedenheit thatsächlicher oder möglicher socialer101 Verfassungen. Hier ist es für das Studium in erster Linie nöthig, das zu erkennen, was auch bei noch so grossen Veränderungen als bedingungslose Wahrheit formulirt werden kann. Unsere letzten Principien für höhere weibliche Berufsbildung liefern hier gleich ein Beispiel. Der Satz, dass ärztliche Functionen an Frauen grundsätzlich und vorwiegend auch von Frauen auszu - üben sind, ist ein höheres Sittenprincip, welches bestehen bleibt, wie sich auch ökonomisch und social die künftige Gesellschaft gestalten möge. Es würde sogar auch dann gelten, wenn es gar keine privatim erwerbenden Aerzte mehr gäbe, sondern der be - treffende Beistand, sei es beamtenartig oder in ganz freier gesell - schaftlicher Function, sozusagen von ohnedies gleich allen Andern ernährten Gesellschaftsbürgern ausgeübt würde. Ich trete hier nicht für eine solche Fiction ein, sondern mache sie nur, damit sich zeige, wie die obersten Principien unseres Entwurfs der höhern weiblichen Berufsfunctionen nicht an die heutige und überhaupt nicht an eine specielle Gesellschaftsordnung gebunden sind. Sie haben einen allgemeineren, weitertragenden Sinn, von dem jeder eine Anwendung machen kann, je nachdem er die Bilder anderer ökonomischer und socialer Regulirungen ins Auge fasst.

In Bezug auf die öffentlichen Zustände hat es bisher nur ein einziges Kenntnissgebiet gegeben, welches zum Theil als eigentliche Wissenschaft gelten kann. Es ist dies die Volks - wirthschaftslehre, die den fraglichen Vorzug insoweit hat, als sie einige Wahrheiten enthält, die von der Veränderung socialer Zu - stände unabhängig sind. Beispielsweise haben die Natur - und Culturgesetze, die sich aus den Entfernungen und der Transport - nothwendigkeit ergeben, einen allgemeinen Kern, der unter allen Umständen bestehen bleibt und sich geltend macht, welche sociale Organisation man auch ins Auge fassen möge. Von der Seite solcher durchgreifender Wahrheiten genommen, bringen die Be - trachtung der Volkswirthschaft und das Studium der zugehörigen Theorien wirkliche Frucht. Durch solche Unterscheidung kommt man hinter diejenigen Bestandtheile, die an der Wissenschaft von dem, was wirthschaftlich besteht, unrichtige Erklärungen und Gesetze enthalten, weil stillschweigend oder ausdrüklich falsche Voraussetzungen über die Wirkung der socialen Zustände zu Grunde liegen.

Uebrigens ist es an der Volkswirthschaftslehre am sichtbarsten,102 wie eine modeme Wissenschaft den Universitäten nicht nur nichts zu verdanken hat, sondern auf ihnen nur verdorben worden ist. Die Nachweise dafür habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten, am übersichtlichsten aber in der von mir geschriebenen Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus geführt. Keine einzige wirklich bedeutende Vertretung des Faches hat sich je auf Uni - versitäten vorgefunden. Alle grossen Namen und Grundwerke der Volkswirthschaftslehre gehören der freien Literatur an. Dahin wende man sich, wenn man das Studium bis zur unmittelbaren Kenntnissnahme von den verschiedenen Systemen ausdehnen und seine Vorstellungen durch umfassendere Lectüre bereichern will. Heute aber kann der entwickeltste Standpunkt nur ein System er - geben, in welchem die eigentliche Socialität mitberücksichtigt wird. Was ich in meinen Grundwerken socialitäre Volkswirthschafts - lehre genannt habe, ist die Vereinigung der socialen Kritik und der positiven Lehren von socialer Umschaffung mit den Natur - nothwendigkeiten aller Volkswirthschaft.

Es giebt auch menschliche Natumothwendigkeiten, und auf ihnen beruht dasjenige an den geselligen Einrichtungen, was sich nicht abändern lässt. Es giebt aber noch eine andere Art von menschlichen Nothwendigkeiten, die erst aus dem gereiften Be - wusstsein stammen und daher erst entstehen, sobald Menschen die betreffenden Einsichten in sich ausgebildet haben. Solche Nothwendigkeiten treiben alsdann im edelsten Sinn zur Um - schaffung der Verhältnisse. Von Freiheit und Gerechtigkeit hat man zu den verschiedensten Zeiten einige Begriffe gehabt; aber im höchst entwickelten Streben und Denken sind davon jetzt vollkommenere Vorstellungen vorhanden, als jemals sonst in der antiken oder modemen Geschichte. Der antike Mensch war in seinem Charakter zu unzulänglich, um sie zu entwickeln, und doch hat man sich in dieser Beziehung so sehr an Griechen und Römer gehalten.

Die Gerechtigkeit ist als etwas anzusehen, dessen Unter - suchung vom höhern Standpunkt nur dann lohnt, wenn dabei eine Sicherheit der Grundsätze und Folgerungen erzielt werden kann, die derjenigen der Mathematik gleicht. Derartiges ist aber erreichbar, wenn man nur will. Mein leitendes Princip der vom Wissen beleuchteten Rache ist ein entscheidender Anfang. Jedoch muss man überhaupt davon ausgehen, dass nicht allge - meine Schablonen, sondem, wie in der Mathematik, die Unter -103 suchungen des Besondern und Einzelnen die absoluten Wahr - heiten liefern, unter denen man dann die Axiome schon von selbst herausfinden wird. Was man Jurisprudenz nennt, und was, nebenbei bemerkt, grade mein eigentliches Fachstudium ge - wesen, ist eine beschränkte autoritäre Disciplin und keine Wissen - schaft. Ueberhaupt meine ich hier die Gerechtigkeit in jenem weiten Sinne, in welchem sie über allen Einrichtungen steht und nicht blos, wie man das nennt, von der Geschichte, sondern, wie ich es verstehe, auch vom Einzelnen in souveräner Weise geubt wird. Die hiezu erforderliche Aufklärung und Einsicht hat nun aber mit Juristerei, Politik und Geschichtsdarstellung im her - kömmlichen Sinne nichts zu schaffen. Sie hat sich gegen die Falschheiten dieser drei Dinge zu setzen und sich so zu dem höchsten Standpunkt der Freiheit zu erheben.

Politik ist, wie schon das Alterthum zeigt, bisher wesentlich eine Kunst der Andere unterwerfenden Selbstsucht gewesen, und ihre Mittel, ob nun brutal oder geistig, waren jederzeit danach und zwar in den Thaten wie in den Lehren. Ein antipolitischer Standpunkt ist demgegenüber von nun an das einzig Gerechte. Um mich jedoch bestimmter auszudrücken, erinnere ich daran, dass jegliche Zuschreibung von Gewalt, d. h. jegliche Verwand - lung einer blossen Macht in angebliches Recht, vom Standpunkt unserer heutigen höhern Einsicht bereits verwerflich ist. Von der Autokratie bis zur Demokratie giebt es eben nur Kratien, d. h. Gewaltzuschreilbungen, und in diesem Sinne sind alle Herr - schaften schon als solche unberechtigt. Die Zustände wollen daher, wie ich es nennen möchte, im antikratischen Sinne studirt und behandelt sein, mag es sich nun um Gegenwart und Zukunft oder um die Kritik und das Verständniss abgelaufener Geschichte handeln. Der Umstand, dass eine Anzahl dem Einzelnen gegen - übersteht, macht diese, auch wenn sie die Gesammtheit wäre, noch nicht zu etwas, was sich, blos weil es eine grössere Zahl oder Mehrheit ist, seinem Willen aufdrängen und sich über ihm als eine sogenannte Obrigkeit constituiren dürfte. Vielmehr ist es die erste und oberste Lüge aller politischen Theorie, an die Nothwendigkeit einer solchen Ueberordnung glauben machen zu wollen. Das antikratische Princip ist nunmehr das Einzige, welches diesem proton pseudos, dieser Urtäuschung, den Krieg macht. Von diesem Princip hängen die vollkommene Freiheit und Gerechtigkeit ab. Freilich ist es bei dieser kurzen Erwähnung104 des noch sehr neuen Gegenstandes nicht möglich, allem Miss - verständniss zu begegnen.

Einige Frucht kann aber dennoch nach der theoretischen Seite hin sofort erzielt werden. Es fällt nämlich eine Menge Stoff - gerölle, mit dem man sich sonst befasst, hiemit hinweg. Nament - lich wird auch der geschichtliche Kram mehr als blos decimirt; nicht etwa ein Zehntel davon ist es, was bei Seite zu thun, sondern es ist kaum ein Zehntausendtel, was davon noch anzu - sehen und zu honoriren übrigbleibt. Mit einigem positiven Nutzen lässt sich allenfalls noch französische Revolutionsgeschichte, namentlich das erste Halbjahr von 1793, eingehender studiren, und überdies sind ein paar Vorkommnisse in unserm Jahrhundert hier und da von Interesse. Uebrigens ist aber auch die Cultur - geschichte gar zu embryonisch; sie ermangelt des Compasses wahrer Cultur. Selbst ein Buckle, der doch gegenüber den Staats - und Geschichtsbedienten noch ein wahres Licht ist, hat gar viel, was hinfort die entwickeltsten Elemente der Menschheit nicht mehr interessirt. So legt er noch Werth auf das Verhalten der Religionsbedienten und behandelt die Kämpfe verrotteter politischer Parteien und entsprechender Gesellschaftsclassen um die Stücke des Regierungsmonopols wie Angelegenheiten, an denen man heute noch theilnehmen könnte. Erst eine richtige Vorstellung von wahrer Cultur kann auch nützliche Rückblicke auf die Vergangenheit ermöglichen. Alle solche Rückblicke haben aber nur Sinn und Berechtigung, wenn sie im Dienste der Vor - blicke und der Thaten stehen, die dem noch kommenden Leben der Menschheit gelten.

Religion und Metaphysik kann man sich sparen. Sie haben die Bedeutung von Astrologie und Alchymie. Das Wesen beider ist Trug, einmal in gröberer und dann in feinerer Gestalt. Die erste ist vornehmlich semitischer, die zweite hauptsächlich alt - griechischer Trug. Was aus beiden zusammencopulirt ist, heisst auf Universitäten Philosophie, und unter diesem Namen trifft man dort und auch in der verwandten. Literaturumgebung ausseruni - versitärer Art nichts Gediegenes an. Im Hinblick hierauf ist das Wesen der Philosophie heute in allen Ländern, diesseits und jenseits des Oceans, in Europa und in Amerika nichts als Meta - physik, Hohlheit und Betrug. Soweit die Specialwissenschaften davon inficirt sind, taugen sie nichts. Man hüte sich also vor Zeitvergeudung und dem moralischen Gifte metaphysischer105 Spitzbüberei und Narrheit. Ganz besonders werfe man aber Alles zur Seite, was sich Psychologie nennt; denn unter dieser Rubrik ist in der Welt noch nichts Gescheutes geschrieben und docirt worden. Der metaphysische Ichwahn steckt speciell dieser Disciplin nicht blos im Titel, sondern auch regelmässig im Leibe.

Man könnte den entschieden materialistischen Standpunkt ausnehmen wollen; aber er wird von den Universitätlern ohnehin gar nicht zur Philosophie gerechnet, was ihm zur Ehre gereicht. Jedoch ist er meist roh und überdies leicht mit einer eignen Art Metaphysik der Materie behaftet. Aber auch dann, wenn er sich rein hält, kann er nur die unterste Grundlage abgeben. Eine echte Weisheitslehre kann sich mit diesem Piedestal nicht be - gnügen. Sie richtet sich auf die Wirklichkeit nicht blos im Untergrunde, sondern auch auf den Höhen. Eine von philoso - phastrischem Gespensterglauben freie und überdies redliche Wirk - lichkeitslehre kennt anstatt Metaphysik nur Seins und Sach - schematik, ein klares Gebiet, welches allenfalls auch Sachlogik heissen könnte, obwohl auch der Name Logik nicht blos durch Hohlheit, sondern auch durch metaphysische Verzerrung als ge - meiniglich prostituirt gelten muss. An Stelle der abergläubischen und ungediegenen Psychologie tritt Bewusstseinslehre, ein deut - liches, von der Selbstwahrnehmung getragenes und glücklicher - weise auch nicht sehr umfangreiches Gebiet.

Doch ich kann hier nicht weiter auf Philosophie eingehen. Den Namen habe ich auch in den Titeln meiner eignen Bücher zu brauchen gehabt; die Sache aber ist doch etwas wesentlich Anderes geworden, ais sie in der bisherigen Geschichte, selbst in den verhältnissmilssig besten Vertretungen, irgend gewesen. Wenn Jemand; wie ich, sein ganzes Leben dazu aufgewendet hat, nicht nur echte Aufklärung grade in den am meisten umdunkelten und mit dem feinsten Truge verschleierten Gebieten zu schaffen, sondern vor allen Dingen auch neue positive Wahrheiten auf - zufinden, so muss ihn schon der blosse Name Philosophie, auch wenn er ihn selber des Herkommens wegen nicht immer ver - meiden kann, unter den heutigen Verhältnissen anwidern. Das möge man nun, als sehr ernstgemeint, bei allem Studium be - herzigen und Dinge, die dem frischen Leben und der Zukunft angehören, nicht mit den geistigen Verwesungsresten eines ab - gestorbenen Zustandes der Menschheit oder gar mit dem, was jederzeit Lug und Trug war, zusammenwerfen.

106

An die Wissenschaft und Lehre vom Menschen grenzt nach - barlich die Schöne Literatur als ein Gebiet der Geistesbethätigung, welches in seiner modernen Gestaltung einen grossen Theil der Aufklärung und des Refor - matorischen in sich aufgenommen, ja in wesentlichen Beziehungen, wie bei Voltaire und Rousseau, erst neu herausgearbeitet hat. Auch die geniessbarere Geschichtsschreibung, die nicht den ver - lehrten Stempel trägt, gehört einigermaassen hieher, und hiefür ist Voltaires Buch über Geist und Sitten der Nationen die noch heute werthvollste Beurkundung. Jedoch auch die Poesie hat seit der Einlenkung in das mehr Moderne, also auf deutschem Boden mit dem 18. Jahrhundert, sich den reformatorischen An - trieben nicht entziehen können. Im 19. aber ist sie in ihrer Ver - tretung durch dessen Hauptgrössen, Byron und Shelley, gradezu in den Kampf der Menschheit miteingetreten.

Geht man also von der Schwelle der neuern Zeit aus, indem man auf Cervantes und Shakspeare blickt, und schreitet dann fort, bis man über die glacirte und verschnürte, kaum in der Komik aufathmende französische Hofpoesie hinweg zur verstand - begabten Prosa Voltaires und Rousseaus gelangt, so befindet man sich schon bei der entschiedenen Eröffnung etwas ernsterer mo - derner Gänge im leichten belletristischen Gewande. Gemischter und weniger deutlich gestaltet sich die eigentliche Poesie auf deutscher Erde in Goethe und Schiller. Der Uebergang nach England, also vor Allem zu Byron, als dem internationalen Dichter, der die geistige Revolution mit seiner poetischen Gesell - schaftskritik fortsetzt, bietet wieder mehr Sicherheit und Ent - schiedenheit dar. Selbst die nebenhergehende und sich vor - nehmlich in Deutschland breitmachende Verzerrung der Literatur durch Juden, wie Börne und Heine, hat nicht umhin gekonnt, sei es polternd, sei es hanswurstartig, hinter dem Wagen freiheit - licher und menschheitlicher Ideen sich ein Geschäftchen zu machen, welches gern als Stossen und Mithülfe angesehen sein wollte.

In aller Poesie walten die Gemüthskräfte vor, und es ergeht sich die Phantasie in Arten und Weisen, die einer eigenthüm - lichen Gattung von Correctiven bedürfen. Ausser den Nebeln, in welche die Dichtung von Resten der Religion und Metaphysik gehüllt wird, verfällt sie auch noch einer ihrem Gebiet eigen -107 thümlichen und ausschliesslich angehörigen Art von Täuschung. Sie übt daher vielfach einen Trug, welcher zu dem der Religion und dem der Metaphysik als ein Drittes hinzutritt, was man bis - her noch nicht ins Auge gefasst hat. Bei der Herausgabe meiner Arbeit über die Grössen der modernen Literatur wird sich grade dieser Trugbestandtheil in der Poesie als ein wesentlicher Gegen - stand durchgreifender Kritik offengelegt finden. Hier aber kann keine Untersuchung angestellt, sondern es kann nur darauf hin - gewiesen werden, wie ein Compass für die Befassung mit dem belletristischen Gebiet unentbehrlich sei. Die Ruhe des Gemüths und die Klarheit des Verstandes werden in der Ueberlassung an die poetischen Eindrücke nur dadurch gewahrt, dass man an die dichterischen Affecte und Phantasien das Maass der Wahrheit und zwar der Wahrheit aus allen Gesichtspunkten anlegt. Es giebt mehrere Seiten, von denen die modernen Literaturgrössen noch nicht betrachtet worden sind, und grade auf diese Seiten habe ich seit ein paar Jahrzehnten besonders geachtet. So bin ich schliesslich zu der Ueberzeugung gelangt, dass eine Darstellung und Kritik des Wesentlichen der schönen Literatur, wenn dabei alle Mittel des Wissens, Strebens und Empfindens vereinigt zu Hülfe genommen werden, einen wesentlichen Fortschritt der Selbstausbildung bewirken muss. Einerseits wird ein neues und populär sehr weittragendes Stück Emancipation von solchen Bildungsfesseln durchgeführt, die man als solche noch am wenig - sten erkannt hat. Andererseits aber wird die Möglichkeit eröffnet, unter Meidung des Schadens und mit gehöriger Unterscheidung an das wirklich Wohlthätige heranzutreten, was für Sinn und Herz zur Verfügung steht.

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Schriften desselben Verfassers.

1. Philosophische:
  • De tempore, spatio, causalitate atque de analysis infini - tesimalis logica. Berlin 1861. 3 M.
  • Natürliche Dialektik, neue logische Grundlegungen der Wissen - schaft und Philosophie. Berlin 1865. 4 M.
  • Der Werth des Lebens, populär dargestellt. 3. Auflage. Leipzig 1881. Fues. 6 M.
  • Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung. Leipzig 1875. Heimanns Verlag. 9 M.
  • Logik und Wissenschaftstheorie. Leipzig 1878. Fues. 9 M. Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. 3. Auflage. Leipzig 1878. Fues. 9 M.
2. Volkswirtschaftliche und socialitäre:
  • Carey's Umwälzung der Volkswirthschaftslehre und Social - wissenschaft. 12 Briefe. München 1865. Merhoff. 2 M. 50 Pf ...
  • Capital und Arbeit, neue Antworten auf alte Fragen. Berlin 1865. 3 M. 50 Pf.
  • Kritische Grundlegung der Volkswirthschaftslehre. Berlin 1866. 8 M. 40 Pf.
  • Die Verkleinerer Carey's und die Krisis der Nationalökonomie, sechzehn Briefe. Breslau 1867. Trewendt. 3 M.
  • Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Socia - lismus. 3. Auflage. Leipzig 1879. Fues. 9 M.
  • Cursus der National - und Socialökonomie, einschliesslich der Hauptpunkte der Finanzpolitik. 2. Auflage. Leipzig 1876. Fues. 9 M.
3. Vermischte:
  • Die Schicksale meiner socialen Denkschrift für das Preus - sische Staatsministerium, zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Autorrechts und der Gesetzesanwendung. (1868.) Heimanns Verlag in Leipzig. 1 M.
  • Die Judenfrage als Racen -, Sitten - und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort. 3. Auflage. Karlsruhe 1885. Reuther. 3 M.
  • Die Ueberschätzung Lessing's und dessen Anwaltschaft für die Juden. Karlsruhe 1881. Reuther. 1 M. 80 Pf.
  • Sache, Leben und Feinde. Als Hauptwerk u. Schlüssel zu seinen sämmt - lichen Schriften. Mit seinem Bildniss. Karlsruhe 1882. Reuther. 8 M.
  • 109
  • Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres und die Ausscheidung alles Judenthums durch den modernen Völkergeist. Karlsruhe 1888. Reuther. 4 M. 50 Pf.
4. Mathematische und naturwissenschaftliche:
  • Neue Grundmittel und Erfindungen zur Analysis, Algebra, Functions - rechnung und zugehörigen Geometrie, sowie Principien zur mathe - matischen Reform nebst einer Anleitung zum Studiren und Lehren der Mathematik. Von Dr. E. Dühring und Ulrich Dühring. Leipzig 1884. Fues. 12 M.
  • Neue Grundgesetze zur rationellen Physik und Chemie. Erste Folge. Leipzig 1878. Fues. 8 M.
  • Robert Bayer der Galiei des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Einführung in seine Leistungen und Schicksale. Mit seinem Portrait in Stahlstich. Chemnitz 1880. Schmeitzner. 4 M.
  • Kritische Geschichte der allgemeinen Principien der Mecha - nik. Von der philosophischen Facultät der Universität Göttingen mit dem ersten Preise der Beneke-Stiftung gekrönte Schrift. Zweite theilweise umgearbeitete und mit einer Anleitung zum Studium der Mathematik vermehrte Auflage. Leipzig 1877. Fues. 9 M.

In dem Urtheil der Göttinger Universität, die den Namen des Verfassers nicht wusste, heisst es:

Mit vollständigster und freiester Beherrschung der Sache und erstaunlicher Ausdehnung genauester literarischer Kenntniss sind nicht nur alle wesentlichen Punkte erörtert, sondern eine grosse Anzahl kleinerer Discussionen, welche die Facultät nicht für unerlässlich gehalten hätte, aber mit Dank anerkennt, da sie überall dem volleren Verständniss des Gegenstandes dienen, bezeugen zugleich die grosse Liebe und die Umsicht, mit welcher der Verfasser sich in seine Auf - gabe vertieft hat. Dem ausserordentlichen so aufgehäuften Stoffe entspricht die Fähigkeit sn seiner Bewältigung. Durch feines Gefühl für klare Vertheilung der Massen ist es dem Verfasser gelungen, zugleich auf die ganze geistige Signa - tur der Zeitalter, auf den wissenschaftlichen Charakter der leitenden Persönlich - keiten und anf die fortschreitende Entwickelung der einzelnen Principien und Lehrsätze ganz das belehrende geschichtliche Licht fallen zu lassen, welches die Facultät vor allem gewünscht hatte. Die ursprünglichen Aufgaben, an deren Behandlung jedes neue Princip oder Theorem entstand, sind überall mit voll - endeter Anschaulichkeit reproducirt und die allmälige Umformung, die jedes er - fahren hat, durch alle Zwischenglieder sorgfältig verfolgt. Die Berührungen der mechanischen Gedanken mit der philosophischen Speculation sind nirgends ver - mieden; sie sind nicht nur in eigenen Abschnitten entwickelt, sondern der feine philosophische Instinct, der den Verfasser auch auf diesem Boden leitet, ist ebenso deutlich in einer grossen Anzahl aufklärender allgemeiner Bemerkungen sichtbar, welche an schicklichen Stellen in die Darstellung der mechanischen Untersuchungen verflochten sind. Den angenehmen Eindruck des Ganzen voll - endet eine sehr einfache, aber an glücklichen Wendungen reiche Schreibart. Voll Befriedigung, sich als die Veranlasserin dieser schönen Leistung zu wissen, durch welche ihre Aufgabe vollständig gelöst und viele Nebenerwartungen über - troffen sind, zögert sie nicht, dem Verfasser den ersten Preis hierdurch öffentlich zuzuerkennen.

*)Für das mit einem * bezeichnete Buch ist die Verlagshandlanlung eingegangen und befinden sich die wenigen restirenden Exemplare bei dem Verfasser, Adresse Zehlendorf bei Berlin, von wo solche gegen vorgängige Einsendung des Betrages zu beziehen sind. Die mit einem bezeichneten Bücher sind vergriffen.
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Bemerkung zum Schriftenverzeichniss über die Plagiirung der neuen Grundgesetze zur Physik und Chemie.

Die im Verzeichniss aufgeführte Schrift Neue Grundgesetze etc. erschien im Mai 1878 und erhielt sofort durch den Buchhandel eine umfassende Ver - breitung im Inlande und nach Verhältniss der Sprache auch im Auslande. Ueber - dies waren schon vorher Prospecte derselben an zahlreiche Fachgelehrte, sowie an Akademien des In - und Auslandes versendet worden. In diesen Prospecten war insbesondere das von meinem Sohn Ulrich entdeckte und von ihm in der Schrift selbst mit einer vollständigen Theorie und praktischen Anwendungen aus - gestattete Siedegesetz wörtlich formulirt .. Die einzige Aufmerksamkeit jedoch, welche die Gelehrten dieser Schrift widmeten, bestand darin, dass sie dieselbe recht erfreulich kauften, sich aber, wie des Näheren nachher deutlich werden wird, auch nachträglieh deren neuen Inhalt für sich, wie der Volksausdruck lautet, zu kaufen versuchten. Sie schwiegen Jahr und Tag über die Schrift in den Fach - journalen, gaben aber mündlich die Parole aus, es sei in der Schrift nichts Neues enthalten, das darin Enthaltene vielmehr schon überall zu lesen, und ich hätte mich mit dieser Schrift ganz besonders blamirt. Dies war die eine Seite des liebenswürdigen Gelehrtenverhaltens, dessen allgemeine moralische Signatur in früheren berühmten Fällen seit meiner Schrift über Robert Mayer auch dem weiteren Publicum eindringlicher bekannt und durchschaubar geworden ist. Die andere, noch unwürdigere Seite, die das Zubehör hiezu bildete, zeigte sich bald und zwar zuerst in Deutschland, dann aber auch im Auslande. Als Beispiele, führe ich nur folgende Fälle an, weil sie sich weniger auf das von mir Her - rührende, als vielmehr speciell auf das ebenso einfache als wichtige, darum aber auch handgreiftich verständlichere und zu handgreiflicher Aneignung äusserst bequeme Gesetz meines Sohnes über die correspondirenden Siedetemperaturen beziehen. Ich für mein Theil bin an die edlen Manieren der Gelehrten, an gleichzeitige Verschweigung und Plünderung meiner Schriften durch sie, genugsam gewöhnt und hätte viel zu thun, wenn ich Derartiges im Einzelnen verfolgen wollte.

Zuerst ist ein Theil des Gesetzes der correspondirenden Siedetemperaturen seitens eines Professors Winkelmann durch Vermittlung eines Mitgliedes der Münchener Akademie, eines Professors von Jolly, als neue und angeblich Herrn Winkelmann gehörige Entdeckung Juni 1879 jener Akademie vorgelegt und in deren Abhandlungen in Gestalt eines Aufsatzes des Herrn Winkelmann ver - öffentlicht worden. Obenein ist die Aufnahme einer sachgemässen Reclamation, die mein Sohn an Herrn von Jolly eingesendet hat, von diesem Herrn verweigert worden. Schon kühner geworden, hat später Herr Winkelmann in einer Abhand - lung der Wiedemannschen Annalen der Physik (Jahrgang 1880) sich wesentlitch den Hauptinhalt des Gesetzes der correspondirenden Siedetemperaturen unter Umhüllung mit einer unerheblichen Abänderung angeeignet und diese Manipu - lation dadurch gekrönt, dass er zugleich das Gesetz dem Publicum gegenüber ostensibel als unwahr signalisirte. In diesem Fall gelang es meinem Sohn, wenig - stens einen Artikel zum Schutz seines Gesetzes in die Annalen eingerückt zu erhalten.

Das vollständige Gesetz auch ohne den Schein einer Abänderung ist im Februar 1880 der Pariser Akademie der Wissenschaften als die neue Entdeckung eines Herrn P. de Mondesir durch ein Mitglied dieser Akademie, den bekannten Chemiker H. Sainte-Claire Deville vorgelegt worden, und ist der betreffende Artikel des Herrn de Mondesir auch damals in den Comptes Rendus erschienen. Alsdann wurde das Gesetz meines Sohnes in dem Incognito einer französischen Entdeckung in deutsche Fachzeitschriften übernommen, wogegen er zunächst im Chemischen Centralblatt (December 1880) reclamirte. Dieselbe Reclamation, nur in französischer Sprache, war von ihm dem betreffenden Secretär der fran - zösischen Akademie mit dem Ersuchen um Aufnahme in die Comptes Rendus zugesendet worden. Sie fand sich aber nur in wesentlicher Fälschung der111 Worte und des Sinnes (ebenfalls December 1880) zum Abdruck gebracht, so dass mein Sohn für diese ihm untergeschobene Fassung nicht verantwortlieh ist. Später haben sich zu den Genannten auch noch Andere gesellt, welche mit jenen und unter sich nunmehr über die Priorität der Aneignung markten mögen. So haben beispielsweise auch ein holländischer Professor Waals und ein preussischer Professor Clausius unter verschiedenen aber schlecht verhüllenden Masken, in ihrer Manier das Gesetz als ihr eignes reproducirt. Bezeichnenderweise ist die verzerrte Reproduction des letztem Herrn frischweg auch schon collegialisch nachtreterisch in Lehrbücher aufgenommen worden, wie z. B. gehorsamst in den Nachtrag des Jaminschen Cursus der Physik (1883), welches Buch auch übrigens in seiner 3. Auflage durchgängig unsolider und unbehülflicher gerathen ist als in seiner ersten Bearbeitung durch den ursprünglichen Verfasser.

Die Thatsachen, aus denen mein Sohn das Gesetz erkannte, standen seit mehreren Jahrzehnten in Fülle Jedermann zur Verfügung; aber erst als seine Entdeckung veröffentlicht war, sprossten in den darauf folgenden Jahren aller - orten die Nachentdeckungen hervor. Er selbst konnte es nicht eher finden, als geschehen; denn er ist erst, als schon die Thatsachen vorhanden waren, geboren und hat dieses Gesetz, welches von grosser physikalischer und chemischer Trag - weite ist, in seinem 15. Lebensjahre aufgefunden. Wenn nun, nachdem er die frag - liche sehr umfassende Wahrheit, um die sich 70 Jahre früher ein Dalton vergebens bemüht hatte, gesehen, auch andere ältere Leute, die schon Jahrzehnte vorher sie hätten sehen sollen, nun plötzlich sehen lernten, so ist dies wohl verständlich genug.

Es ist aber in derartigen Dingen oft noch mehr Komik, als schon der Rück - import deutscher Originalwaare aus dem Auslande in sich schliesst, wie er auch einst R. Mayer gegenüber prakticirt worden war. Es hat nämlich die Münchener Akademie in der ganzen Plagiatangelegenheit nicht blos die Palme der Priorität für sich, sondern offenbar auch den Apfel der höchsten Komik abgeschossen. Bei allem moralischen Ernst der Sache hat sie dennoch, wie die Leser der Gruppe meiner mathematisch naturwissenschaftlichen Schriften wissen, schon einmal den Humor rege gemacht. Die Akademie der alten Mönchestadt hatte nämlich einen Dr. G Berthold mit der Abfassung einer Geschicltte der Physik beauftragt und dieser nichts Besseres zu thun gewusst, als sich unbekannterweise an mich zu wenden, um dazu Disposition und Materialien von mir zu bekommen, die ich selbstverständlich nicht verabfolgt habe. So ist der Münchener Akademie das Schicksal erspart worden, auf jene Weise vom Vater zu zehren; indessen der Sohn ist, wie erwähnt, nicht ganz heil davongekommen. Jedoch auch er weiss sich gegen Anzehrungen zu wehren, und das Schicksal des zu wenig wehrhaften R. Mayer ist ihm ein zur Warnung leuchtendes Beispiel geworden. Auch bei diesem hatten die Thatsachen, auf Grund deren er seine neue grosse Wahr - heit entdeckte, mehrere Jahrzehnte lang aller Welt zur Verfügung gestanden; aber erst als er sie 1842 veröffentlicht hatte, schossen in den nächsten Jahren im In - und Auslande eine ganze Anzahl Nachentdecker auf. Im Fall R. Mayers gesellte sich aber zu den Beraubungen noch ein besonderes Gelehrtenverbrechen, welches schlimmer war als das gegen Galilei verübte und in meiner Schrift über R. Mayer dem Publicum dargelegt worden ist. Diese Schrift hat ausser ihrem persönlichen Gegenstande überhaupt noch die allgemeinere Bedeutung, die tiefe moralische Verderbniss und intellectuelle Verkommenheit der gewerbsmässigen Gelehrtenclasse sichtbar zu machen und zu zeigen, wie diese Classe gegenwärtig eine ähnliche Rolle spielt, wie vor ihr ausschliesslich die Priester. Es ist daher kein Wunder, wenn der mit allen Mitteln betriebene und, wenn verübt, mit allen Mitteln aufrechterhaltene Ehrendiebstahl und andere verwandte saubere Stück - chen in der Gelehrtenclasse mehr grassiren, als in der ungelehrten der gemeine Diebstahl und die sonstigen Gaunerstreiche.

About this transcription

TextDer Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten
Author Eugen Dühring
Extent120 images; 37982 tokens; 8524 types; 280813 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Projekt: Texte zur Frauenfrage um 1900 Gießen/KasselNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2013-06-13T16:46:57Z Thomas GloningMelanie HenßHannah GlaumNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2013-06-13T16:46:57Z Internet ArchiveNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate.2013-06-13T16:46:57Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDer Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten Eugen Dühring. 2., verbesserte und mit Gesichtspunkten für Selbstausbildung und Selbststudium erweiterte Auflage. Fues's Verlag (R. Reisland)Leipzig1885.

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LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; ready; tdef

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