1. Jnnere Wahrnehmung, Umgang mit Menschen auf verschiedenen Bildungsstufen, die Beobachtungen des Er - ziehers und Staatsmannes, die Darstellungen der Reisen - den, Geschichtschreiber, Dichter und Moralisten, endlich Er - fahrungen an Jrren, Kranken und Thieren, geben den Stoff der Psychologie. Sie soll diesen Stoff nicht blos sam - meln, sondern das Ganze der innern Erfahrung begreif - lich machen; während dasselbe in Ansehung der äußern, mit Raumbestimmungen behafteten Erfahrung zu leisten, der Naturphilosophie obliegt. Wie die beiden Erfahrungskreise verschieden und doch verbunden sind, so auch die beiden Wis - senschaften. Sie hängen in Ansehung der Grundbegriffe gemeinschaftlich von der allgemeinen Metaphysik ab; jedoch hat zur letztern die Psychologie das eigenthümliche Verhält - niß, daß in ihr manche Fragen, die bey Gelegenheit der Metaphysik sich erheben, und dort zurückgelegt werden müs - sen, zur Beantwortung gelangen. Den Vortrag der Psy - chologie läßt man schon deshalb gern dem Vortrage der Metaphysik vorangehn; und sucht dabey Anfangs den meta - physischen Begriff der Seele (der Substanz des Geistes) zu vermeiden. Hiebey gewinnt der Anfänger gar sehr an2 Erleichterung; denn theils kann er länger im Erfahrungs - kreise verweilen, theils erhöhen die mannigfaltigen Beziehun - gen der Psychologie auf Moral, Pädagogik, Politik, Philo - sophie der Geschichte, Kunstlehre, das Jnteresse des Stu - diums.
2. Daß Vorstellungen durch die Sinnlichkeit gege - ben, durch das Gedächtniß aufbewahrt, von der Ein - bildungskraft vergegenwärtigt und neu verbunden wer - den; daß der Verstand sich zeige im Verstehen einer Spra - che oder Kunst, die Vernunft im Vernehmen von Grün - den und Gegengründen: diese allgemein verbreitete Mei - nung ist von den Psychologen weiter ausgebildet worden, indem die Unterscheidung des Schönen und Häßlichen der ästhetischen Urtheilskraft, die Leidenschaften dem Be - gehrungsvermögen, die Affecten dem Gefühlvermö - gen zugewiesen wurden u. s. f. Die Meinung ist, daß diese Vermögen sich in jedem Menschen stets beysammen finden. Allein über die Erklärung und Abtheilung der Ver - mögen sind die größten Streitigkeiten entstanden; welche längst aufmerksam machen mußten, daß die Psycho - logie einer andern Grundlehre bedarf, worin gleich Anfangs auf die wechselnden Zustände das Augenmerk gerichtet wird. Diese (nicht aber jene Vermögen) erfahren wir in uns unmittelbar.
3. Nützlich ist eine vorläufige Vergleichung der Psy - chologie mit den drei Hauptzweigen der Naturwissenschaft. Die Naturgeschichte zuvörderst kann von den Gegenständen, die sie geordnet aufstellt, einzelne Exemplare vorzeigen; sie kann die wahrgenommenen Merkmale bestimmt aufzählen. Nun ist eine regelmäßige Abstraction möglich, welche von der Kenntniß der Jndividuen ausgeht, und von da mit vesten Schritten zu Arten und Gattungen aufsteigt, so daß unzweideutig vor Augen liegt, welche Merkmale in der3 Abstraction bey Seite gesetzt, in der Determination hinzu - gefügt worden. Jndem diese logischen Operationen von den niedrigsten bis zu den höchsten Begriffen, und rückwärts, gehörig vollzogen werden, verleiten sie Niemanden, die höch - sten Begriffe für real zu halten; vielmehr weiß Jedermann, daß dieselben nur Hülfsmittel des Denkens sind, welches sie selbst erzeugte, um eine sehr große Mannigfaltigkeit von Naturkörpern bequem überschauen zu können.
Hingegen der Psychologie liegt kein Stoff zum Grunde, der sich klar vor Augen legen, bestimmt nachweisen, einer regelmäßig und ohne Sprung von unten aufsteigenden Ab - straction unterwerfen ließe. Die Selbstbeobachtung verstüm - melt die Thatsachen des Bewußtseyns schon in der Auffas - sung, reißt sie aus ihren nothwendigen Verbindungen und überliefert sie einer tumultuarischen Abstraction, welche nicht eher einen Ruhepunkt findet, als bis sie bey den höchsten Gattungsbegriffen, dem Vorstellen, Fühlen, und Be - gehren, angelangt ist; denen nun durch Determination (also auf dem, für eine empirische Wissenschaft verkehrten Wege) das beobachtete Mannigfaltige so gut es gehen will, untergeordnet wird. Wenn nun zu den unwissenschaftlich entstandenen Begriffen von dem, was in uns geschieht, die Voraussetzung von Vermögen, die wir haben, hin - zugefügt wird, so verwandelt sich die Psychologie in eine Mythologie; von der zwar Niemand bekennen will, daß er im Ernste daran glaube, von der man aber gleichwohl die wichtigsten Untersuchungen dergestalt abhängig macht, daß nichts Klares davon übrig bleibt, wenn jene Grundlage weggenommen wird.
Anmerkung. Es ist auffallend, daß in der Psycho - logiedie höchsten Begriffe noch die klärsten sind, die niedri - gern aber immer schwankender werden. So ist man, zwar seit nicht langer Zeit, darüber so ziemlich (wiewohl auch
4nicht ganz) einig geworden, die drey Begriffe Vorstellen, Fühlen, Begehren, als die höchsten Gattungen anzu - sehen, aber die Absonderung der Affecten von den Leiden - schaften ist späteren Ursprungs, und noch jetzt nicht ganz in den Sprachgebrauch eingedrungen; fragt man vollends nach den Arten des Gedächtnisses, als Orts-Gedächtniß, Namen - Gedachtniß, Sach-Gedächtniß, u. s. w., so übernimmt Nie - mand diese Eintheilung vollständig anzugeben; und noch we - niger sind die poetische, die mathematische, die militärische Einbildungskraft gehörig von einander gesondert, so offen - bare Verschiedenheiten auch in dieser Hinsicht unter den Men - schengesunden werden. Dieser Unbestimmtheit der niederen Begriffe nun sieht man es gleich an, daß die ursprünglich unbestimmte Auffassung der psychologischen Thatsachen keine ächte Naturgeschichte des Geistes gestattet. Gleich - wohl werden wir, schon des eingeführten Sprachgebrauchs wegen, uns in der logischen Uebersicht der empirischen Psy - chologie der gewohnten Namen manchmal bedienen.
4. Die empirische Physik, unbekannt mit den eigent - lichen Naturkräften, hat gewisse Regeln gewonnen, nach welchen die Erscheinungen sich richten. Durch Zurückfüh - rung auf dieselben bringt sie Zusammenhang in das Man - nigfaltigeder Erscheinungen. Experimente mit künstlichen Werkzeugen, und Rechnung: dies sind die großen Hülfs - mittel ihrer Entdeckungen.
Die Psychologie darf mit den Menschen nicht experi - mentiren; und künstliche Werkzeuge giebt es für sie nicht. Desto sorgfältiger wird die Hülfe der Rechnung zu benutzen seyn. Jst erst hiedurch für die Grundbegriffe die wissen - schaftliche Bestimmtheit gewonnen: dann beginnt das Ge - schäftdes Zurückführens. Gesetzt z. B. man habe den Be - griff von der Spannung entgegengesetzter Vorstellungen, dann führt man auf die verschiedenen hiebey möglichen Um -5 stände, unter andern die Verschiedenheit der Gemüths-Zu - stände zurück. Eben so, kennt man erst die Regeln der Reproduction, nach welchen in den Vorstellungsreihen jede Vorstellung zwischen andern hervortritt: dann führt man darauf die räumliche und zeitliche Gestaltung der Sinnen - dinge, und die logische Stellung der Begriffe zurück.
5. Die Physiologie bedient sich in der Betrachtung des thierischen Lebens dreyer Hauptbegriffe; nämlich: Vege - tation, Jrritabilität, und Sensibilität. Man kann versu - chen, das Gefühlvermögen mit der Sensibilität, das Be - gehrungsvermögen mit der Jrritabilität, das Vorstellungs - vermögen mit der Vegetation zu vergleichen; so zeigt sich, daß diese Analogie wenigstens in so fern einiges Licht giebt, als die Vegetation fortdauert, während im Schlafe die Sen - sibilität unmerklich wird, und die Jrritabilität der Muskeln durch Erhohlung neue Kräfte gewinnt. Das Fortdauern nämlich ist auch den Vorstellungen eigen. Sie bleiben, wenn sie einmal zu bestimmten Kenntnissen ausgebildet wurden, sich gleich bis ins hohe Alter, während Gefühle und Be - gierdenwechseln und ermatten. Ferner ist die Vegetation die Grundlage des leiblichen Lebens; dasselbe gilt von den Vorstellungen im Geistigen. Doch darf die Analogie nicht zu weit ausgedehnt werden. Jn den Pflanzen giebt es nur Vegetation; keine merkliche Sensibilität und Jrritabilität, außer in höchst seltenen und unvollkommenen Ausnahmen. Dagegen sindet sich Vorstellen, Fühlen, Wollen stets ver - bunden. Ueberdies ist das ganze geistige Dasein des Men - schen ungleich veränderlicher als irgend ein Gegenstand der Physiologie.
6. Wirft man einen, durch metaphysische Elementar - begriffe geschärften, speculativen Blick auf den Menschen, so stellt sich derselbe dar als ein Aggregat von Widersprü - chen. Die innere Erfahrung hat nicht das allerge -6 ringste Vorrecht, wodurch sie mehr gelten könnte, als die äußere; was auch die Schwärmerey für innere Anschauun - gen von besonderer Wahrheit und Würde ersonnen hat, und noch ersinnen mag, die man denen, welche einmal daran glauben wollen, nicht entreißen kann. Dagegen aber er - öffnet sich eine Aussicht auf Untersuchungen, wodurch der empirische Stoff zu wahren Erkenntnissen könne verarbeitet werden; welches freylich bey der psychologischen Empirie, ihrer Unbestimmtheit und Unstetigkeit wegen, schwerer ist, als bey manchen andern Theilen der menschlichen Erfahrung.
Nämlich es zeigt sich alles geistige Leben, wie wir es an uns und an Andern beobachten, als ein zeitliches Geschehen; als eine beständige Veränderung; als ein Mannigfaltiges ungleichartiger Bestimmungen in Einem; endlich als Bewußtseyn des Jch und Nicht - Jch; welches alles zu den undenkbaren Formen der Erfah - rung gehört. Auch selbst die Schwierigkeiten des materi - ellenDaseyns sind hier nicht fern; denn wir können den Geist des Menschen nur in Verbindung mit dem Leibe; und ob die Unterscheidung des einen vom andern reale Gültigkeit habe, kann die bloße Erfahrung nicht entscheiden.
7. Die nächste Entwickelung dieser Probleme geschieht zwar durch die allgemeine Metaphysik; allein die weitere Bearbeitung in psychologischer Hinsicht erfordert überdies hö - here Mathematik, indem die Vorstellungen als Kräfte müssen betrachtet werden, deren Wirksamkeit von ihrer Stärke, ihren Gegensätzen und Verbindungen abhängt, welches alles Grad - weise verschieden ist.
8. Doch in einer so leichten, fast populären Darstel - lung, wie hier beabsichtigt wird*)Sollten Schwierigreiten aufstoßen, so wird aus solchen Fall zu - nächst auf des Verfassers Lehrbuch zur Einleitung in die Philoso -, kann die alte Hypothese7 von den Seelenvermögen auch nicht ganz entbehrt werden. Denn sie ist ein Werk langer Zeiten; und bezeichnet als sol - chesden unvermeidlich nächsten Erfolg des natürlichen Bestrebens, das geistige Leben des Menschen in Einem Bilde zusammenzufassen. Sie ist eine Tradition, welche den Total - Eindruck aller psychologischen Beobachtungen wiedergiebt. Von ihr geleitet, werden wir die empirische Psychologie im Umrisse zeigen, und deren auffallendste Fehler anmerken, um das Bedürfniß einer Erklärung der Thatsachen fühlbar zu machen.
Die ganze Abhandlung wird in folgende Haupttheile zerfallen:
9. Über Geschichte der Psychologie ist ein ausführliches Werk von Carus vorhanden, welches den dritten Band von dessen nachgelassenen Schriften ausmacht.
Anmerkung. Hier kann nur kurz gesagt, nicht im einzelnen nachgewiesen werden, daß in den neueren Zeiten die Psychologie vielmehr rückwärts, als vorwärts gegangen ist. Locke und Leibnitz waren, in Rücksicht auf diese Wis - senschaft, beide auf bessern, Wege, als auf dem wir durch Wolff und Kant sind weiter geführt worden. Die letztge - nannten nämlich sind die eigentlichen Absonderet der See - lenvermögen, und müssen als solche zusammengestellt wer - den, so weit sie auch übrigens von einander abweichen. Das logische Geschäft, die geistigen Erscheinungen zu classi - ficiren, ohne sich um ihre innere Möglichkeit näher zu be -*)phie verwiesen. Für geübtere Leser ist das größere Werk, welches den Titel hat: Psychologie als Wissenschaft, neugegrün - det auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik.8 kümmern, war ganz in Wolffs Geiste; dabey ist er unüber - trefflich in der Unbehutsamkeit, die größten Schwierigkeiten mit Namen-Erklärungen zuzudecken. Kant bediente sich der Seelenvermögen, um seine Untersuchungen der Form nach dadurch deutlich darzustellen, daß er die menschliche Erkenntniß in ihrem Fortgange von den Sinnen zur verständigen und ver - nünftigen Ausbildung gleichsam begleitete; und es ist nicht leicht, seine Kritiken von dieser Form zu entkleiden.
Von späteren Verwirrungen, da man entweder in rein - empirischer Psychologie das, was Jeder ohnehin weiß, noch einmal erzählen will, oder mit vorgeblicher Beobachtungs - gabe im eignen Jnnern Entdeckungen gemacht haben will, die Andre in sich nicht wiederfinden, oder auch der Psycho - logie bald eine metaphysische, bald eine ethische, bald eine religiöse, bald eine physiologische Farbe anstreicht, wobei weder die gegenseitigen Grenzen noch die Verbindungen der Wissenschaften beachtet werden, das Grundwesen des psychischen Mechanismus aber gänzlich verborgen bleibt, — davon ist hier nicht zu reden. Nur das Eine sey gesagt, daß die Psychologie nicht ins Schöne malen darf. Sie soll nicht bewundern, sondern erklären; nicht Seltenheiten aufzeigen, sondern den Menschen, wie er ist, allgemein begreiflich ma - chen; ihn weder in den Himmel erheben, noch den Geist unauflöslich an den Staub heften; und die Wege der Un - tersuchung nicht verschütten sondern eröffnen.
Von dem Zustande der Vorstellungen, wenn sie als Kräfte wirken.
10. Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander widerstehen. Dieses geschieht, wenn ihrer mehrere entgegen - gesetzte zusammentreffen.
Man fasse diesen Satz Anfangs so einfach als möglich. Demnach werde dabey nicht an zusammengesetzte Vorstellun - gen irgend einer Art gedacht, nicht an solche die irgend ein Ding mit mehrern Merkmalen, oder etwas Zeitliches und Räumliches bezeichnen, sondern an ganz einfache, wie roth, blau, sauer, süß, und zwar nicht an die allgemeinen Begriffe hievon, sondern an solche Vorstellungen, wie sie in einer momentanen Auffassung durch die Sinne würden ent - stehen können.
Wiederum aber gehört auch die Frage nach dem Ur - sprunge der genannten Vorstellungen gar nicht hieher, viel weniger darf schon jetzt auf irgend etwas anderes, das noch sonst in der Seele seyn oder vorgehn möchte, Rücksicht ge - nommen werden.
Der Satz sagt nun, daß die entgegengesetzten einander widerstehen werden. Sie könnten auch nicht-entgegengesetzt10 seyn, wie ein Ton und eine Farbe. Es wird angenommen, daß sie alsdann einander nicht widerstehen. (Mittelbarer Weise kann es allerdings geschehen, wovon unten.)
Widerstand ist Kraftäußerung; dem Widerstehenden aber ist sein Wirken ganz zufällig, es richtet sich nach der Anfechtung, die unter Vorstellungen gegenseitig ist und durch den Grad ihres Gegensatzes bestimmt wird. Dieser ihr Gegen - satz also kann angesehen werden als das, wovon sie sämmt - lich leiden. An sich selbst aber sind die Vorstellungen nicht Kräfte.
11. Was geschieht nun durch den angegebenen Wider - stand? Vernichten sich die Vorstellungen ganz oder theil - weise? Oder bleiben sie unverändert, trotz dem Widerstande?
Vernichtete Vorstellungen sind so gut als gar keine. Blieben aber die Vorstellungen, trotz der gegenseitigen An - fechtung, ganz unveränderlich, so könnte nicht, wie wir je - den Augenblick in uns wahrnehmen, eine von der andern verdrängt werden. — Würde endlich das Vorgestellte einer jeden Vorstellung durch ihren Widerstreit abgeändert, so führte dieses nicht weiter, als ob von Anfang an ein andres Vorgestelltes vorhanden gewesen wäre.
Das Vorstellen also muß nachgeben, ohne vernich - tet zu werden. Daß heißt, das wirkliche Vorstellen verwandelt sich in ein Streben vorzustellen.
Hier sagt schon der Ausdruck, daß, sobald das Hinder - niß weicht, die Vorstellung durch ihr eigenes Streben wieder hervortreten wird. — Darin liegt die Möglichkeit (obgleich noch nicht für alle Fälle der einzige Grund) der Re - production.
12. Wenn eine Vorstellung nicht ganz, sondern nur zum Theil in ein Streben verwandelt wird, so hüte man sich, diesen Theil für ein abgeschnittenes Stück der ganzen Vor - stellung zu halten. Er hat zwar allemal eine bestimmte11 Größe (auf deren Kenntniß sehr viel ankommt), allein diese Größe bezeichnet nur einen Grad der Verdunkelung der ganzen Vorstellung. (Wenn in der Folge von meh - rern solchen Theilen einer und derselben Vorstellung die Rede seyn wird, so halte man diese Theile nicht für verschiedene abgeschnittene Stücke, sondern man betrachte die kleinern unter denselben als enthalten in den größeren.) Dasselbe gilt von den Resten nach der Hemmung, d. h. von denjenigen Theilen einer Vorstellung, die unverdunkelt bleiben, denn auch diese Theile sind Grade, nämlich des wirk - lichen Vorstellens.
Vom Gleichgewichte und den Bewegungen der Vorstellungen.
13. Vorstellungen sind im Gleichgewichte, wenn der nothwendigen Hemmung unter ihnen gerade Genüge gesche - hen ist. Nur allmählig kommen sie dahin; die fortgehende Veränderung ihres Grades von Verdunkelung nenne man ihre Bewegung.
Mit der Berechnung des Gleichgewichts und der Be - wegung der Vorstellungen beschäfftigt sich die Statik und Mechanik des Geistes.
14. Alle Untersuchungen der Statik des Geistes be - ginnen mit zwei verschiedenen Größen-Bestimmungen; es kommt nämlich dabei an auf die Summe der Hemmung und auf das Hemmungs-Verhältniß. Jene ist gleichsam die zu vertheilende Last, welche aus den Gegensätzen der Vorstellungen entspringt. Weiß man sie anzugeben und12 kennt man das Verhältniß, in welchem die verschiedenen Vorstellungen ihr nachgeben, so findet man durch eine leichte Proportions-Rechnung den statischen Punkt einer jeden Vorstellung, d. h. den Grad ihrer Verdunkelung im Gleich - gewichte.
15. Die Summe sowohl als das Verhältniß der Hem - mung hängt ab von der Stärke jeder einzelnen Vorstellung, — sie leidet die Hemmung im umgekehrten Verhältnisse ihrer Stärke, — und von dem Grade des Gegensatzes un - ter je zweyen Vorstellungen, denn mit ihm steht ihre Wir - kung auf einander im geraden Verhältniß.
Der Hauptgrundsatz zur Bestimmung der Hemmungs - Summe ist, daß man sie als möglichst klein betrachten müsse, weil alle Vorstellungen der Hemmung entgegenstreben, und gewiß nicht mehr als nöthig davon übernehmen.
16. Durch die wirkliche Rechnung erhält man das merkwürdige Resultat: daß zwar unter zweien Vorstellungen eine die andre niemals ganz verdunkelt, wohl aber unter dreyen oder mehrern sehr leicht eine ganz verdrängt, und ungeachtet ihres fortdauernden Strebens so unwirksam ge - macht werden kann, als ob sie gar nicht vorhanden wäre. Ja dies kann einer wie immer großen Anzahl von Vorstel - lungen begegnen, und zwar durch zwei, oder überhaupt durch wenig stärkere.
Hier muß der Ausdruck: Schwelle des Bewußt - seyns, erklärt werden, dessen wir manchmal bedürfen wer - den. Eine Vorstellung ist im Bewußtseyn, in wiefern sie nicht gehemmt, sondern ein wirkliches Vorstellen ist. Sie tritt ins Bewußtseyn, wenn sie aus einem Zustande völliger Hemmung so eben sich erhebt. Hier also ist sie an der Schwelle des Bewußtseins. Es ist sehr wichtig, durch Rechnung zu bestimmen, wie stark eine Vorstellung seyn müsse, um neben zweien oder mehrern stärkeren noch13 gerade auf der Schwelle des Bewußtseyns stehn zu können, so daß sie beym geringsten Nachgeben des Hindernisses so - gleich anfangen würde, in ein wirkliches Vorstellen über - zugehn.
Anmerkung. Der Ausdruck: eine Vorstellung ist im Bewußtseyn, muß unterschieden werden von dem: ich bin mir meiner Vorstellung bewußt. Zu dem letztern gehört innere Wahrnehmung, zum erstern nicht. Man bedarf in der Psychologie durchaus eines Worts, das die Gesammtheit alles gleichzeitigen wirklichen Vorstellens bezeichne. Dafür findet sich kein anderes, als das Wort Bewußtseyn. Man wird sich hier einen erweiterten Sprachgebrauch müssen gefallen lassen, um so mehr, da die innere Wahrnehmung, welche man sonst zum Bewußtseyn erfordert, keine veste Gränze hat, wo sie an - fängt und aufhört; und da überdies der Actus des Wahr - nehmens selbst nicht wahrgenommen wird, so daß man die - sen, weil man sich seiner nicht bewußt ist, auch von dem Bewußtseyn ausschließen müßte, obgleich er ein actives Wissen, und keinesweges eine gehemmte Vorstellung ist.
17. Unter den höchst mannigfaltigen und größten - theils sehr verwickelten Bewegungs - Gesetzen der Vorstellun - gen ist folgendes das einfachste:
Während die Hemmungssumme sinkt, ist dem noch ungehemmten Quantum derselben in jedem Augenblicke das Sinkende proportional.
Hieraus erkennt man den ganzen Verlauf des Sinkens bis zum statischen Puncte.
Anmerkung. Jn mathematischen Ausdrücken ergiebt sich daraus das Gesetz: σ = S (i-e-t), wo S die Hem - mungssumme, t die abgelausene Zeit, σ das in dieser Zeit von sämmtlichen Vorstellungen gehemmte bedeutet. Jndem man das letztere auf die einzelnen Vorstellungen vertheilt,14 findet sich, daß diejenigen, welche unter die statische Schwelle (16) fallen, sehr schnell dahin getrieben werden, während die übrigen ihren statischen Punct in keiner endlichen Zeit ganz genau erreichen. Wegen des letztern Umstandes sind beym wachenden Menschen, selbst im besten Gleichmuthe, doch immer die Vorstellungen in einem gelinden Schweben begriffen. Dies ist auch der erste Grund, warum die innere Wahrnehmung niemals einen Gegenstand antrifft, der ihr ganz still hielte.
18. Wenn zu mehrern Vorstellungen, die schon ihrem Gleichgewichte nahe waren, eine neue kommt, so entsteht eine Bewegung, bey welcher jene auf kurze Zeit unter ihren statischen Punct sinken, nach deren Verlauf sie sich schnell, und ganz von selbst, wieder erheben. (Ungefähr wie eine Flüssigkeit erst sinkt, dann steigt, wenn etwas hineingewor - fen wird.) Hiebei kommen mehrere merkwürdige Um - stände vor.
19. Erstlich: eine der älteren Vorstellungen kann bey dieser Gelegenheit durch eine neue, die viel schwächer ist als sie, auf eine Zeitlang völlig aus dem Bewußtseyn verdrängt werden. Alsdann aber ist ihr Streben nicht als unwirksam zu betrachten (wie in dem Falle oben, 16), sondern es arbeitet mit ganzer Macht wider die im Bewußtseyn befind - lichen Vorstellungen. Sie bewirkt also einen Zustand des Bewußtseyns, während ihr Object keinesweges wirklich vor - gestellt wird. Man benenne die Art und Weise, wie jene Vorstellungen aus dem Bewußtseyn verdrängt und doch darin wirksam sind, mit dem Ausdrucke: sie sind auf der mechanischen Schwelle; die obige Schwelle (16) heiße dagegen zum Unterschiede die statische Schwelle.
Anmerkung. Wirkten die Vorstellungen auf der statischen Schwelle eben so, wie die auf der mechanischen so würden wir uns unaufhörlich in dem Zustande der un -
15erträglichsten Beklemmung besinden, oder vielmehr, der menschliche Leib würde in eine Spannung gerathen, die in wenigen Augenblicken tödten müßte, wie schon jetzt der Schreck zuweilen tödtlich wird. Denn alle die Vorstellun - gen, welche, wie wir zu sagen Pflegen, das Gedächtniß auf - bewahrt, und von denen wir wohl wissen, daß sie sich bey der leichtesten Veranlassung reproduciren können, — sind im unaufhörlichen Aufstreben begriffen; jedoch leidet der Zustand des Bewußtseyns von ihnen gar nichts.
20. Zweitens: die Zeit, wahrend welcher eine oder einige Vorstellungen auf der mechanischen Schwelle verwei - len, kann verlängert werden, wenn eine Reihe von. neuen, aber schwächern Vorstellungen, successiv hinzukommt.
Jn diesen Fall versetzt uns jede, nicht ganz und gar gewohnte, anhaltende Beschäfftigung. Sie drangt die frü - hern Vorstellungen zurück; diese aber, weil sie die stärkern sind, bleiben gespannt, afficiren mehr und mehr den Orga - nismus, und machen es endlich nothwendig, daß die Be - schäftigung aufhöre; alsdann erheben sie sich schnell, mit einem Gefühl der Erleichterung, das man Erhohlung nennt und das zum Theil vom Organismus abhängt, ob - gleich die erste Ursache rein psychologisch ist.
21. Drittens: wenn mehrere Vorstellungen nach ein - ander auf die mechanische Schwelle getrieben werden, so ent - stehen schnell hinter einander mehrere plötzliche Abän - derungen in den Gesetzen der geistigen Bewegungen.
Auf solche Weise erklärt es sich, daß der Lauf unserer Gedanken so oft stoßweise und springend, ja scheinbar ganz unregelmäßig gesunden wird. Dieser Schein betriegt, so wie das Umherirren der Planeten. Die Gesetzmäßigkeit im menschlichen Geiste gleicht vollkommen der am Sternen - himmel.
Anmerkung. Als ein Gegenstück zu den zugleich16 sinkenden Vorstellungen sind die zugleich steigenden zu betrachten, besonders wenn sie frey steigen, d.h. wenn eine beengende Umgebung, oder ein allgemeiner Druck, auf ein - mal verschwindet. Mit ihrem Steigen wachst alsdann ihre Hemmungssumme; daher von dreyen eine gleichsam zurück - gebogen wird und unter Umständen ganz wieder auf die Schwelle sinkt. Der Punct, bis zu welchem sie steigen, steht beträchtlich höher, als der, auf welchen sie zugleich sinkend sich gegenseitig würden herabgedrückt haben; weil im Sinken die Hemmungssumme von ihrer ganzen Stärke ab - hangt, welches im allmähligen Steigen nicht der Fall ist*)Psychologie I, §. 93. Die dortige Untersuchung ist noch sehr unvollkommen, und läßt sich viel weiter führen.
22. Der sehr leicht begreifliche metaphysische Grund, weswegen entgegengesetzte Vorstellungen einander widerste - hen, ist die Einheit der Seele, deren Selbsterhaltun - gen sie sind**)Metaphysik II, §. 234; und Psychologie I, §. 57. Unter dem Worte Psychologie wird hier und in folgenden Citaten das größere Werk des Verfassers verstanden.. Eben dieser Grund erklärt ohne Mühe die Verbindung unserer Vorstellungen; die übrigens als Thatsache bekannt ist. Alle Vorstellungen würden nur Einen Act der Einen Seele ausmachen, wenn sie sich nicht ihrer Gegensätze wegen hemmten, und sie machen wirklich nur Einen Act aus, in wiesern sie nicht durch irgend welche Hemmungen in ein Vieles gespal -17 ten sind. Vorstellungen auf der Schwelle des Bewußt - seyns können mit andern nicht in Verbindung treten, denn sie sind ganz und gar in ein Streben wider bestimmte an - dere verwandelt und dadurch gleichsam isolirt. Aber im Be - wußtseyn verknüpfen sich die Vorstellungen auf zweierley Weise: erstlich compliciren sich die nicht-entgegengesetz - ten (wie Ton und Farbe), so weit sie ungehemmt zusammen - treffen; zweitens verschmelzen die entgegengesetzten, so weit sie im Zusammentreffen weder von zufalliger fremder, noch von der unvermeidlichen gegenseitigen Hemmung leiden. Die Complicationen können vollkommen seyn, die Verschmel - zungen sind ihrer Natur nach allemal unvollkommen.
Anmerkung. Von solchen Complerionen, die wenig - stens theilweise und beynahe vollkommen sind, haben wir merkwürdige Beyspiele an den Vorstellungen der Dinge mitmehrern Merkmalen, und der Worte, als Zei - chen der Gedanken. Die letztern, Gedanken und Worte, sind in der Muttersprache so eng verbunden, daß es den Schein gewinnt, als ob man vermittelst der Worte dächte. Über beyde Beispiele tiefer unten ein Mehreres. Unter den Verschmelzungen sind besonders merkwürdig theils die, wel - che ein ästhetisches Verhältniß in sich fassen (welches, psychologisch genommen, zugleich mit der Verschmelzung er - zeugt wird), theils die, welche Reihenfolgen bilden, wo - rin die Reihen formen ihren Ursprung haben.
23. Was von mehrern Vorstellungen complicirt oder verschmolzen ist, das ergiebt eine Totalkraft, und wirkt des - halb nach ganz andern statischen und mechanischen Gesetzen, als wornach die einzelnen Vorstellungen sich würden gerich - tet haben. Auch die Schwellen des Bewußtseyns ändern sich darnach, so daß, wegen einer Verbindung, auch eine äußerst schwache Vorstellung im Bewußtseyn bleiben und da - rin wirken kann.
18Anmerkung l. Die Rechnung für Complerionen und Verschmelzungen beruht zwar auf den nämlichen Gründen, wie. die für einfache Vorstellungen; allein sie ist weit ver - wickelte, besonders weil bey unvollkommenen Verbindun - gen sowohl die Gesammtkräfte als ihre Hemmungen zum Theil in einander verschränkt liegen.
Anmerkung 2. Die Verbindungen der Vorstellungen sind zwar nicht bloß zwey - oder dreygliedrig, sondern sie ent - halten oftmals sehr viele Glieder in sehr ungleichen Gra - den der Complication oder Verschmelzung; und dieser Man - nigfaltigkeit kann keine Rechnung nachkommen. Nichts desto weniger lassen sich zum Behuf der letztern die einfachsten Fälle herausheben und die verwickelten darnach schätzen; und die einfachsten Gesetze sind für jede Wissenschaft die wichtigsten.
24. Aufgabe. Von zweyen Vorstellungen P und π sind nach der Hemmung die Reste r und ρ verschmolzen (oder unvollkommen complicirt): man soll angeben, welche Hülfe eine der beyden Vorstellungen, falls sie noch mehr gehemmt wird, von der andern erhält.
Auflösung. P sey die helfende, so hilft sie mit einer Kraft = r, allein diese Kraft kann sich π nur aneignen in dem Verhältniß ρ = π Daher erhält π durch P die Hülfe 〈…〉 und eben so P von π die Hülfe 〈…〉 .
Der Beweis liegt unmittelbar in der Auseinandersetzung der Begriffe. Es ist klar, daß beyde Reste, r und ρ, zu - sammengenommen den Grad der Verbindung unter beyden Vorstellungen bestimmen. Einer davon ist die helfende Kraft, der andre, verglichen mit der Vorstellung, welcher er angehört, ist als Bruch eines Ganzen zu betrachten, und ergiebt von der ganzen Hülse, die durch jenen ersten Rest konnte geleistet werden, denjenigen Bruch, der hier zur Wirksamkeit gelangt.
1925. Man merke sich noch folgende Haupt-Sätze:
a) Über den Verbindungspunct hinaus wirkt keine Hülse. Hat die Vorstellung π mehr Klarheit im Be - wußtseyn, als der Rest ρ anzeigt, so ist dem Streben der Vorstellung P, welches jener zu Hülse kommen konnte, schon mehr als Genüge geschehn, daher es für jetzt keine Wirkung mehr äußert.
b) Je tiefer unter dem Verbindungspuncte die eine der Vorstellungen sich befindet, desto wirksamer hilft die andere.
Anmerkung. Dieses giebt die nachstehende Differen - tialgleichung: 〈…〉 woraus durch Jntegration 〈…〉
Diese Gleichung enthält den Keim sehr mannigfaltiger und tief in das Ganze der Psychologie hineingreifender Un - tersuchungen. Sie ist freylich so einfach, wie niemals in der Wirklichkeit sich etwas in der menschlichen Seele ereig - nen kann; aber alle » Untersuchungen der angewandten Mathe - matik beginnen mit so einfachen Voraussetzungen, der - gleichen nur in der Abstraction existiren. (Man denke an den mathematischen Hebel, an die Gesetze des Fallens im luftleeren Raume u. s. w.) Es ist hier bloß die Wirkung der Hülse in Betracht gezogen, welche während der Zeit t ein Quantum ω von π ins Bewußtseyn bringen würde, wenn alles von ihr allein abhinge. Will man daneben nur noch auf den einzigen Umstand, daß π einer unvermeidlichen Hemmung durch andre Vorstellungen entgegengeht, Rücksicht nehmen, so verwickelt sich die Rechnung so sehr, daß sie durch Jntegration einer Gleichung von folgender Form:20 〈…〉 nur noch annäherungsweise aufgelöset wird. Daß sie um eben so viel näher die Thatsachen ausdrückt, welche in der Erfahrung beobachtet werden, versteht sich von selbst.
26. Das Vorstehende enthält die Grundlage der Lehre von der mittelbaren Reproduction, die man von der Association der Vorstellungen, nach gewöhnlicher Benen - nung, herleitet. Bevor wir dieselbe weiter verfolgen, müssen wir der unmittelbaren Reproduction erwähnen, das heißt, derjenigen, welche durch eigne Kraft erfolgt, sobald die Hindernisse weichen. Der gewöhnliche Fall ist, daß eine neue Wahrnehmung die ältere Vorstellung des nämlichen, oder eines ganz ähnlichen, Gegenstandes wieder hervortreten läßt. Dieses geschieht, indem die neue Wahrnehmung alles, der ältern gleichartigen Vorstellung entgenstehende, was eben im Bewußtseyn vorhanden ist, zurückdrängt. Alsdann er - hebt sich die ältere ohne Weiteres von selbst. Dabey sind folgende Umstände zu merken, welche durch Rechnung (von der sich jedoch hier kein Begriff geben läßt) gesunden werden:
a) Das Hervortreten richtet sich in seinem ersten Beginnen nach dem Quadrate der Zeit, wenn die neue Wahrnehmung plötzlich hinzukommt; aber nach dem Kubus der Zeit, wenn die letztre (wie gewöhnlich) in einem allmähligen und verweilenden Auffassen gebildet wird*)Psychologie I. §. 82 und 97..
b) Der Fortgang des Hervortretens richtet sich haupt - sächlich nach der Stärke der neuen Wahrnehmung, im Ver - hältniß zu dem entgegengesetzten, was sie zurückzudrängen hat; aber nur unter besondern Umständen hat darauf die eigne Stärke der hervortretenden Vorstellung Einfluß. Sie kann gleichsam diese Stärke nur in dem freuen Raume gebrauchen, der ihr gegeben wird.
21c) Die hervortretende verschmilzt als solche mit der ihr gleichartigen neuen Wahrnehmung. Da sie aber nicht ganz hervortritt, so wird die Verschmelzung nicht voll - kommen.
d) Vorzüglich wichtig ist der Umstand, daß die un - mittelbare Reproduction sich nicht lediglich auf die ältere ganz gleichartige Vorstellung beschränkt, sondern auf die mehr oder weniger gleichartigen in so weit übergeht als auch ihnen Befreyung durch die neue Wahrnehmung zu Theil wird. Die ganze Reproduction werde nun mit dem Namen der Wölbung bezeichnet: so folgt im Falle einer längern Dauer, oder auf einer öftern Wiederhohlung der neuen Wahrnehmung, noch ein zweiter wichtiger Proceß, den wir Zuspitzung nennen. Er besteht nämlich darin, daß die wenigen gleichartigen Vorstellungen, da sie ihr Entge - gengesetztes mit sich ins Bewußtseyn bringen, durch die neue Wahrnehmung wieder gehemmt werden, so daß sich die ganz gleichartige Vorstellung zuletzt allein begünstigt findet, und gleichsam eine Spitze bildet, wo vorher der oberste Punct des Gewölbes war.
27. Mit dieser unmittelbaren Reproduction verbindet sich nun, wo die Umstände es gestatten, jene mittelbare (25). Das obige P reproducire sich unmittelbar, so kam der ihm gegebene freye Raum als jenes r betrachtet werden, oder als eine Kraft, welche nun auch das mit ver - schmolzene π bis auf seinen Verschmelzungspunct ρ zu he - ben bemüht ist.
Anmerkung. Da der freye Raum allmählig wach - send (und wieder abnehmend) gegeben wird, so muß man sich in der Formel 〈…〉 für die gegenwär - tige Betrachtung r als eine veränderliche Größe, und zwar22 als Function derjenigen Größen denken, wovon die Be - stimmungen in (26) abhängen.
28. Die wichtigsten Anwendungen der bisherigen Lehren finden sich, wenn mit verschiedenen Resten r, r‘, r‘‘, u. s. w. einer und derselben Vorstellung P, mehrere π, π‘, π‘‘, u. s. w. verbunden sind; wobey man der Kürze wegen die Reste der letzteren, nämlich ρ, ρ‘, ρ‘‘, u. s. w. für gleich annehmen mag; auch können π, π, u. s. w. gleich seyn:
Eine Vorstellung wirkt auf mehrere mit ihr verbundene in derselben Reihenfolge der Zeit nach, worin ihre Reste, durch welche sie mit jenen andern verbunden ist der Größe nach stehen.
Anmerkung. Dieses höchst wichtige Gesetz ist hier in Worten nur sehr unvollkommen ausgedrückt, um große Weitläufigkeit zu vermeiden. Besser und klärer erkennt man es in der schon angegebenen Formel 〈…〉 wenn man statt des einen r darin verschiedene kleinere und größere r, r‘, r‘‘, u. s. w. substituirt. Aber die genauere Rechnung, deren in (25) erwähnt ist, zeigt, daß die mit verschmolzenen π, π‘, π‘‘, u. s. w. nicht bloß steigen, son - dern auch wieder sinken, gleichsam um einander Platz zu machen, und zwar in der Ordnung der r, r‘, r, ‘‘u. s. w.
29. Hier entdeckt sich der Grund der treuen Re - production, oder des Gedächtnisses, so sern es uns Rei - hen von Vorstellungen in der nämlichen Ordnung und Fol - ge wiederbringt, wie dieselben waren aufgefaßt worden. Um dieses einzusehen, muß man zuerst überlegen, welche Verbin - dung unter mehrern Vorstellungen entstehe, die successiv ge - geben werden.
Eine Reihe a, b, c, d, … sey in der Wahrnehmung gegeben worden, so ist durch andere, im Bewußtseyn vor -
23handene, Vorstellungen schon a, von dem ersten Augenblicke der Wahrnehmung an, und während deren Dauer, einer Hemmung ausgesetzt gewesen. Jndessen nun a, schon zum Theil im Bewußtseyn gesunken, mehr und mehr gehemntt wurde, kam b dazu. Dieses, anfangs ungehemmt, ver - schmolz mit dem sinkenden a. Es folgte c, und verband sich, selbst ungehemmt, mit dem sich verdunkelnden b und dem mehr verdunkelten a. Desgleichen folgte d, um sich in verschiedenen Abstusungen mit a, b, c zu verknüpfen. — Hieraus entspringt für jede von diesen Vorstellungen ein Gesetz, wie sie, nachdem die ganze Reihe eine Zeitlang aus dem Bewußtseyn verdrängt war, auf eigne Weise beym er - neuerten Hervortreten jede andre Vorstellung der nämli - chen Reihe aufzurufen bemüht ist. Angenommen, a erhebe sich zuerst, so ist es mehr mit b, minder mit c, noch min - der mit d u. s. w. verknüpft; rückwärts aber sind b, c, d, sämmtlich im ungehemmten Zustande den Resten von a verschmolzen; folglich sucht a sie alle völlig wiederum bis zum ungehemmten Vorstellen zu bringen; aber es wirkt am schnellen und stärksten auf b, langsamere auf c, noch langsamere auf d, u.s. w. (wobey die feinere Untersuchung ergiebt, daß b, wieder sinkt, indem c noch steigt; eben so c sich senkt, während d steigt, u. s. w.); kurz, die Reihe läuft ab, wie sie gegeben war. — Nehmen wir dagegen an, c werde ursprünglich reproducirt, so wirkt es zwar auf d und die nachfolgenden gerade, wie eben von a gezeigt, das heißt, die Reihe c, d, … läuft ihrer Ordnung gemäß allmählig ab. Hingegen b und a erfahren einen ganz an - dern Einfluß; mit ihren verschiedenen Resten war das ungehemmte c verschmolzen; es wirkt also auch auf sie mit seiner ganzen Stärke und ohne Zögerung, aber nur, um den mit ihm verbundenen Rest von a und von b zurückzurufen, also, um einen Theil von d und einen24 kleinern Theil von a ins Bewußtsein zu bringen. So geschieht es, wenn wir an irgend etwas aus der Mitte einer uns bekannten Reihe erinnert werden; das vorhergehende stellt sich auf einmal, in abgestufter Klarheit dar; das nachfolgende hingegen läuft in unsern Gedanken ab, wie die Reihenfolge es mit sich bringt. Aber niemals läuft die Reihe rückwärts, niemals entsteht, ohne geflissent - liches Bemühen, ein Anagramm aus einem wohl aufgefaßten Worte*)Psychologie §. 88 — 91. Die dortige Untersuchung ist in An - sehung des Zurücksinkens der frühern Glieder noch mangelhaft. Doch lassen sich die neuern Verbesserungen hier nicht anzeigen.
30. Mehrere Reihen können sich kreuzen, z. B. A, b, c, d, e, und α, β, γ, δ, ε wo c in beyden Reihen vor - kommt. Wird nun c allein reproducirt, so strebt es sowohl d und e, als δ und ε hervorzurufen. Kommt aber b hinzu, so tritt entschieden die erste Reihe hervor, wegen der zusammen - wirkenden Hülsen von b und c. Doch haben die Gegensätze unter den Gliedern der beyden Reihen hiebey Einfluß.
Man bemerke, daß nach dem hier gegebenen einfachen Typus sehr verwickelte und mannigfaltige psychologische Er - eignisse sich richten können. Das nämliche c kann in vielen hundert Reihen als gemeinschaftlicher Durchschnittspunct ent - halten seyn; wegen der mannigfaltigen Gegensätze in diesen Reihen wird es keine derselben merklich heben können, aber sobald b und a als nähere Bestimmungen des c hinzukommen, wird die Unentschiedenheit verschwinden und die erste obige Reihe wirklich ablaufen.
34. Das bisherige beruht auf der vorausgesetzten Ver - schiedenheit der Reste r, r‘, r‘‘, u. s. w. (28). Allein damit dieselbe etwas wirken könne, muß die Vorstellung, der diese Reste angehören, weit genug im Bewußtseyn hervortreten.
25Gesetzt, sie sey noch so weit gehemmt, daß ihr actives Vor - stellen nicht mehr betrage, als der kleinste unter den Resten r, r‘, r‘‘, u. s. w., so wirkt sie auf die ganze Reihe der mit ihr verschmolzenen Vorstellungen gleichmäßig, so daß ein dunkler Gesammt-Eindruck aus allen ins Be - wußtseyn kommt. Der Grund hievon liegt in (27) verbun - den mit (12). Die Reste sind nicht verschiedene abgeschnit - tene Stücke einer und derselben Vorstellung; ist also von der letzter n ein Weniges im Bewußtseyn, so darf man nicht erst fragen, ob dieses Wenige wohl einer, und vielleicht ge - rade der kleinste unter jenen Resten seyn möge, sondern man muß voraussetzen, er sey es wirklich, zugleich aber sey es auch ein Theil jedes andern größern Restes. Erhebt sich nun aber die wirkende Vorstellung allmählig höher ins Be - wußtseyn, alsdann gewinnen die Reste, von den kleineren zu den größeren hin, einer nach dem andern ein eigenthümli - ches Gesetz der Wirkung. Dadurch tritt nun der obige dunkle Gesammt-Eindruck, in welchem eine ganze Reihe von Vorstellungen eingewickelt lag, allmählig aus einander.
Anmerkung. Hiemit müssen unter andern die Phä - nomene verglichen werden, die bei der Uebung und Fer - tigkeit vorkommen. Daß übrigens nicht jeder Gedan - kenlauf einmal gebildete Reihen treulich wiederhohlt, davon liegt zum Theil der Grund in den Größen π und ρ (25), auf deren mögliche Verschiedenheit wir uns hier nicht wei - ter einlassen können. Andre hinzukommende Umstände wird man aus dem Folgenden entnehmen können.
32. Sind frey steigende Vorstellungen (deren in der Schluß-Anmerkung zum vorigen Capitel erwähnt worden) abgestuft verschmolzen: so giebt es für sie andre Repro - ductionsgesetze, die sich aus der Verschmelzung, und ver - schieden nach deren Verschiedenheiten, erzeugen und be - stimmen. Hieraus entspringt unter Umständen ebenfalls Rei -26 Henbildung und Gestaltung; welche abweicht von der Gestal - tung analoger Vorstellungen, falls dieselben gegeben werden und dann sinken. Daraus erklärt sich der Conflict zwischen den Dingen wie wir sie wahrnehmen und wie wir sie den - ken; und hiemit die Neigung, sie anders zu formen oder doch zu besehen, als so, wie sie sich zuerst darstellen; mithin das Eingreifen der Selbstthätigkeit in das, was der Wahr - nehmung vorliegt; wie es insbesondre bey Kindern, auch ohne weitern Zweck, häufig vorkommt.
33. Einer von den Einwürfen gegen die mathema - tische Psychologie lautet so: die Mathematik bestimme nur Quanta, die Psychologie aber habe vorzüglich auf Quali - täten zu sehen., Es ist jetzt Zeit, diesem Einwurfe zu be - gegnen und den Vorrath von Erklärungsgründen der Ge - müthszustände zu sammeln, welchen uns das Vorstehende darbietet.
Hiebey müssen wir zuvörderst bemerken, daß das eigent - liche Streben vorzustellen (11) niemals unmittelbar im Bewußtsein erscheint, denn gerade so weit, als die Vor - stellungen sich in ein Streben verwandeln, sind sie aus dem Bewußtseyn verdrängt. Auch das allmählige Sinken dersel - ben kann nicht wahrgenommen werden. Daß Niemand sein eignes Einschlafen zu beobachten vermag, ist hievon ein be - sonderer Fall.
Die Seele wird Geist genannt, so sern sie vorstellt, Gemüth, so gern sie fühlt und begehrt. Das Gemüth27 aber hat seinen Sitz im Geiste, oder, Fühlen und Begehren sind zunächst Zustände der Vorstellungen, und zwar größerntheils wandelbare Zustände der letzteren. Dies zeigen schon die Affecten. Aber auch die Erfah - rung im Großen bestätigt es. Der Mann empfindet we - nig von den Freuden und Leiden seiner Jugend; hingegen was der Knabe recht lernte, das weiß noch der Greis. Jn wiefern es dennoch eine bleibende Gemüthsart, und vor allen Dingen einen Charakter geben könne, das werden nach und nach die Erläuterungen des aufgestellten Haupt - satzes zugleich mit aufklären.
34. Zuvörderst giebt es eine Verschmelzung der Vor - stellungen nicht bloß nach der Hemmung (.22), sondern eine davon ganz verschiedene vor der Hemmung, wofern die Hemmungsgrade (15) dazu klein genug sind. Hierin liegt ein Princip ästhetischer Urtheile. Die ange - nehmen Gefühle im engsten Sinne nebst ihren Ge - gentheilen, müssen denselben analog betrachtet werden. (Nämlich als entspringend aus Verhältnissen sehr vieler Vorstellungen, die sich aber nicht einzeln angeben lassen, ja die vielleicht aus physiologischen Gründen gar nicht geson - dert können wahrgenommen werden.)
Anmerkung. Bey der Ausführung dieser Untersu - chung bietet sich als ein Erfahrungsgegenstand die Reihe von Tonverhältnissen dar, auf denen die Musik be - ruht. Bey einfachen Tönen entscheidet der Hemmungsgrad (das Jntervall der Töne) ganz allein und unmittelbar über den ästhetischen Charakter ihres Verhältnisses. Es ist also gewiß, daß man bloß in der Verschiedenheit der Hemmungs - grade die psychologische Erklärung (weit verschieden von der akustischen) aller Harmonie zu suchen hat, und daß man sie darin muß finden können. Die dazu nöthigen Rechnun - gen sind größtentheils geliefert im zweyten Hefte des Kö -28 Nigsberger Archivs für Philosophie, u. s. w. Hier kann aus der etwas weitläuftigen Untersuchung nur der Haupt - satz angegeben werden, den die Erfahrung entschieden be-stätigt:
Wenn die Kräfte, worin die Vorstellungen durch ihre Gleichheit und ihre Gegensätze einan - der zerlegen, gleich stark sind, so entsteht Dis - harmonie. Jst aber eine dieser Kräfte gegen die übrigen in solchem Verhältnisse, daß sie von denselben gerade auf die statische Schwelle (16) getrieben wird, alsdann ist ein harmoni - sches Verhältniß vorhanden.
35. Zweytens: ein Princip des Contrastes findet sich in den Complexionen (22), die wir hier als vollkom - men betrachten.
Die Complerionen a+α, und b+β, sind ähnlich, wofern a: α = b: β; wo nicht, so sind sie unähnlich. Der Hemmungsgrad zwischen a und b sey = p; der zwischen α und β, = π. Wenn nun p = π bey ähnlichen Com - plexionen, alsdann, und nur dann, werden die einzelnen Vorstellungen gerade so gehemmt, wie wennn sie in keiner Verbindung gestanden hätten; auch entsteht alsdann kein Gefühl des Contrastes, indem die Hemmung so von Stat - ten geht, wie es die Gegensätze mit sich bringen. Allein bey jeder Abweichung von dem eben aufgestellten Falle lei - den die minder entgegengesetzten Vorstellungen durch ihre Verbindung mit dem andern Paare; aber dadurch wird die - sem ein Theil der Hemmung erspart; es bleibt demnach, dem Gegensatze zum Trotz, etwas im Bewußt - seyn, das sich widerstrebt; und hierin eben liegt das Gefühl des Contrasts. Jst π < p, so wird der Contrast zwischen a und b gefühlt, nicht der zwischen α und β.
29Umgekehrt, wenn π > p. Für π = 0 ist der Contrast zwi - schen a und b am größten.
36. Drittens: Eine Complexion a+α werde repro - ducirt vermittelst einer neuen Wahrnehmung, die dem a gleichartig ist (nach 26). Jndem nun auch α wegen seiner Verbindung mit a hervortritt, treffe es im Bewußtseyn eine ihm entgegengesetzte Vorstellung β. So wird α zu - gleich hervorgetrieben und zurückgehalten; in dieser Klemme ist es der Sitz eines unangeneh - men Gefühls, welches in Begierde übergehn kann (nämlich nach dem durch α vorgestellten Objecte), wofern die Hemmung durch β schwächer ist als die Kraft, mit wel - cher α hervortritt.
Dies ist der gewöhnliche Fall, wie Begierden durch eine Erinnerung an ihre Gegenstände aufgeregt werden. Die Stöße der Begierde erneuern sich, wenn die Erinne - rung durch mehrere Nebenvorstellungen eine Verstärkung er - hält; sie wechseln ab mit schmerzlichen Gefühlen der Ent - behrung, so oft die hemmenden Vorstellungen (von den Hindernissen, die dem Verlangen im Wege stehn) das Über - gewicht erlangen.
37. Viertens: Eine Vorstellung trete hervor durch eigne Kraft (etwa reproducirt nach 26), zugleich werde sie durch mehrere Hülsen (24) hervorgerufen. Da jede der Hülfen ihr eignes Zeitmaaß hat, in welchem sie wirkt (nach der Formel in 25), so können die Hülfen einander wohl verstärken (gegen ein mögliches Hinderniß), aber nicht beschleunigen. Die Bewegung im Hervortreten geschieht also nur mit derjenigen Geschwindigkeit, welche unter den mehrern zusammentreffenden die größte ist; aber sie ge - schieht zugleich begünstigt durch alle übrigen. Diese Begünstigung ist eine Bestimmung dessen, was im Be - wußtseyn vorgeht, aber keinesweges eine Bestimmung irgend30 eines Vorgestellten; sie kann also nur Gefühl heißen; ohne Zweifel ein Lustgefühl.
Hier ist der Sitz der heitern Gemüthsstimmung, ins - besondere der Freude an gelingender Thätigkeit. Eben da - hin gehören mehrfache, von außen angeregte, Bewegungen, die einander nicht beschleunigen, aber begünstigen, z. B. Tanz und Musik. Desgleichen das Handeln nach mehrern zusammentreffenden Motiven; ja schon die Einsicht durch mehrere einander bestätigende Gründe.
38. Jm allgemeinen ist zu merken: daß Gefühle und Begierden nicht im Vorstellen überhaupt, sondern allemal in gewissen bestimmten Vorstel - lungen ihren Sitz haben. Daher kann es mehrere ganz verschiedene Gefühle und Begierden zugleich geben, die sich mischen, oder gar mit einander entzweyen.
39. Es läßt sich schon aus dem Vorhergehenden eini - germaaßen erkennen, daß, nachdem eine betrachtliche Menge von Vorstellungen in allerlei Verbindungen vorhanden ist, jede neue Wahrnehmung als ein Reiz wirken muß, durch den einiges gehemmt, anderes hervorgerufen und verstärkt, ablaufende Reihen gestört oder in Bewegung gesetzt, und diese oder jene Gemüthszustände veranlaßt werden. Mehr zusammengesetzt müssen diese Erscheinungen ausfallen, wenn (wie gewöhnlich) die neue Wahrnehmung selbst ein Man - nigfaltiges in sich schließt, das in mehrere Verbindungen31 und Reihen zugleich eingreift und ihnen einen Anstoß giebt, der sie unter einander in neue Verhältnisse der Hemmung oder Verschmelzung versetzt. Dabei wird die neue Wahr - nehmung den älteren Vorstellungen angeeignet, und zwar auf eine Weise, wobei sie, nachdem der erste Reiz gewirkt hat was er konnte, sich ziemlich leidend verhalten muß, weil die älteren Vorstellungen schon wegen ihrer Verbindungen unter einander bey weitem stärker sind, als die einzelne, die eben hinzukommt.
40. Wenn aber schon sehr starke, sehr vielgliedrige Complexionen und Verschmelzungen sich gebildet haben, so kann dasselbe Verhältniß, welches so eben zwischen älteren Vorstellungen und neuen Wahrnehmungen angenommen wur - de, sich im Jnnern wiederhohlen. Schwächere Vorstellun - gen, die nach irgend welchem Gesetze im Bewußtseyn her - vortreten, wirken als Reize auf jene Massen, und werden von ihnen eben so aufgenommen und angeeignet (apperci - pirt), wie es bey neuen Sinnes-Eindrücken geschieht; da - her die innere Wahrnehmung, analog der äußern. Vom Selbstbewußtseyn ist hier noch nicht die Rede, ob - gleich es sich sehr häufig damit verbindet.
41. Jn dem Gesagten liegt schon, was die Erfahrung bestätigt, daß die innere Wahrnehmung niemals ein leident - liches Auffassen, sondern allemal (wenn auch wider Willen) ein thätiges Eingreifen ist. Anstatt daß die appercipirten Vorstellungen sich nach ihren eignen Gesetzen zu heben und zu senken im Begriff sind, werden sie in ihren Bewegungen durch die mächtigern Massen unterbrochen, welche das ihnen Entgegengesetzte zurücktreiben, obschon es steigen mochte, und das ihnen Gleichartige, wenn gleich es sinken sollte, anhalten und mit sich verschmelzen.
42. Es ist der Mühe werth, zu zeigen, wie weit die -32 ser Unterschied unter den Vorstellungen — die man in todte und lebendige einzutheilen geneigt seyn möchte — gehen kann.
Man erinnere sich der Vorstellungen auf der statischen Schwelle (16). Diese sind zwar nichts weniger als todt, aber in dem Hemmungsverhältnisse, worin sie sich befinden, vermögen sie nicht, durch ihr eignes Streben zum Steigen irgend etwas außzurichten. Durch die Verbindungen, in denen sie stehn, können sie in diesem Zustande gleichwohl reproducirt werden; und von jenen mächtigern Massen wer - den sie oft in ganzen Haufen und Reihen hervorgezogen und zurückgetrieben, gleichwie wenn jemand in einem Buche blätterte.
43. Sind aber die appercipirten Vorstellungen nicht, wenigstens nicht alle, auf der statischen Schwelle, so leiden von ihnen die appercipirenden Massen einige Gewalt; auch können die letztern von andern Seiten her einer Hemmung unterworsen werden. Alsdann wird die innere Wahrneh - mung gestört, und daraus schon wird das Unsichere und Schwankende derselben erklärlich.
Die appercipirende Masse kann wieder durch eine andre appercipirt werden. Allein sollte dies so fortgehn, so müß - ten mehrere Vorstellungsmassen von beträchtlich abgestufter Stärke vorhanden seyn. Daher ist es schon etwas seltenes, daß die innere Wahrnehmung auf die zweyte Potenz steige; und nur durch philosophische Begriffe wird diese Reihe als eine solche gedacht, die ins Unendliche könnte verlängert werden.
44. Bisher sind Vorstellungen in der Seele als vor - handen betrachtet worden, ohne Frage nach ihrem Ursprunge und nach fremdartigen Einflüssen. Dies diente zur Erleich - terung. Jetzt muß noch theils von der sinnlichen Wahrneh - mung, theils von physiologischen Einwirkungen bey schon vorhandenen Vorstellungen geredet, werden.
45. Schon der Erfahrung gemäß kann man anneh - men, daß jede Wahrnehmung (perceptio von irgend merk - licher Stärke eine kleine Weile zu ihrer Erzeugung erfordere; aber Erfahrung und Metaphysik zugleich lehren, daß kei - nesweges bey längerer Verweilung die Stärke der Wahr - nehmung der Zeit proportional anwachse, sondern: je stär - ker die Wahrnehmung schon ist, um desto weni - ger nimmt sie zu; und hieraus folgt, vermöge einer leichten Rechnung, daß es eine endliche Gränze für ihre Stärke giebt, der sich die gewonnene Vorstellung sehr bald annähert, und die selbst durch unendlich lange Dauer der nämlichen Wahrnehmung nicht würde überstie - gen werden können. Dies ist das Gesetz der abneh - menden Empfänglichkeit; und dabei ist die. Stärke des sinnlichen Eindrucks in Hinsicht jener Gränze ganz gleich - gültig. Die schwächste sinnliche Empfindung kann der Vor - stellung eben so viel Stärke geben, wie die heftigste: nur braucht sie dazu etwas längere Zeit.
46. Eigentlich besteht nun jede menschliche Vorstellung aus unendlich vielen, unendlich kleinen, und dabey unter einander ungleichen, elementarischen Auffassungen, die in verschiedenen Zeittheilchen während der Dauer der Wahr -34 nehmung nach und nach erzeugt wurden. Diese alle müß - ten jedoch in eine einzige und völlig ungetheilte Totalkraft verschmelzen, wenn nicht während der Dauer der Wahrneh - mung schon eine Hemmung durch ältere, entgegengesetzte Vorstellungen Statt fände. Um dieser Ursache willen aber wird die Totalkraft um ein Beträchtliches kleiner, als die Summe aller elementarischen Auffassungen*)Psychologie I, §. 95, und de attentionis menaurs..
47. Jn der ersten Kindheit wird ein ungleich größerer Vorrath von einfachen sinnlichen Vorstellungen erzeugt, als in dem ganzen nachfolgenden Leben, dessen Geschäfft dagegen in dem mannigfaltigsten Verknüpfen jenes Vorraths besteht. Obgleich nun auch späterhin die Empfänglichkeit niemals ganz und gar erlischt, so würden doch dem Mannes-Alter die Sinneseindrücke noch weit gleichgültiger und unfrucht - barer werden, als sie wirklich sind, wenn nicht eine Art von Erneuerung der Empfänglichkeit Statt fände.
Weil nämlich Vorstellungen auf der statischen Schwelle ganz ohne Wirkung sind für das, was im Bewußtseyn vor - geht (16), so können sie auch die Empfänglichkeit für die ihnen gleichartigen neuen Wahrnehmungen nicht schwächen. Hiemit wäre die Empfänglichkeit vollständig wieder her - gestellt, wenn nicht gerade durch die neuen Wahrnehmungen das frühere Hemmungsverhältniß geändert, und den älteren Vorstellungen eine gewisse Freiheit gegeben würde, sich un - mittelbar zu reproduciren (26). Jndem dies geschieht, ver - mindert sich die Empfänglichkeit. Je mehrere nun der gleich - artigen älteren Vorstellungen vorhanden sind, — das heißt gewöhnlich, je länger def Mensch gelebt hat, — desto meh - rere treten auf gegebenen Anlaß zugleich hervor. Und so vermindert sich mit den Jahren auch diese Erneuerung der Empfänglichkeit.
3548. Das bisher Gesagte bezieht sich nicht bloß auf völlig gleichartige Vorstellungen, sondern auf alle, deren Hemmungsgrad ein Bruch ist. Dies läßt sich hier nicht entwickeln, da von der Verschiedenheit der Hemmungsgrade im Vorhergehenden nichts genaueres hat gesagt werden können.
49. Dreyerley vorzüglich ist zu bemerken, was in die psychischen Ereignisse von Seiten des Leibes sich ein - mischt: sein Druck, seine Resonanz und seine Mitwir - kung im Handeln. Darüber vorläufig folgende Andeu - tungen:
50. Physiologischer Druck entsteht, wenn die beglei - tenden Zustände, welche im Leibe den Veränderungen in der Seele entsprechen sollten, nicht ungehindert erfolgen können; daher denn das Hinderniß als solches auch in der Seele gefühlt wird, eben weil die Bestimmungen beyder zusam - mengehören. Dieser Druck ist gewiß oftmals nur eine ver - zögernde Kraft, der zu gefallen die geistigen Bewegungen langsamer gehn müssen (bey langsamen Köpfen, welche die Zeit verlieren und durch jeden schnellen Wechsel betäubt werden). Oft aber gleicht auch der Druck geradezu einer hemmenden Kraft, und kann als solche, wie wenn er die Zahl der entgegengesetzten Vorstellungen um eine oder einige vermehrte, in Rechnung gebracht werden. Dadurch kön - nen alle wirklichen Vorstellungen auf die statische Schwelle getrieben werden, und man hat hier die Erklärung des Schlafs. Derselbe wird in diesem Falle ein tieser und vollkommener Schlaf seyn.
51. Physiologische Resonanz entsteht, indem die be - gleitenden leiblichen Zustände schneller verlaufen, oder sich stärker ausbilden, als nöthig wäre, um bloß den geistigen Bewegungen kein Hinderniß zu verursachen. Alsdann wird die Seele, wiederum den Körper begleitend, schleuniger und36 stärker wirken. Sie wird aber auch die darauf folgenden Abspannungen des Leibes zu theilen haben, wie nach dem Rausch und Affect.
52. Die Zusammenwirkung der Seele und des Leibes im äußern Handeln kann nicht ursprünglich von der Seele ausgehn; denn der Wille weiß nicht das geringste von dem, was er in Nerven und Muskeln eigentlich hervorbringt. Allein in dem Kinde ist ein organisches Bedürfniß nach Be - wegung; dies und die daraus entstandenen wirklichen Be - wegungen begleitet Anfangs die Seele mit ihren Gefühlen; die Gefühle aber compliciren sich mit den Wahrnehmungen der bewegten Glieder. Wenn nun in der Folge die Vor - stellung, die aus einer solchen Wahrnehmung entstand, als Begierde aufstrebt (16), so regt sich auch das damit com - plicirte Gefühl, und diesem gehören als begleitende leibliche Zustände alle diejenigen Ereignisse in den Nerven und Mus - keln zu, durch welche die organische Bewegung wirklich be - stimmt wird. Auf solche Weise geschieht es, daß die Vor - stellungen sogar als ein Ursprung mechanischer Kräfte in der äußern Welt erscheinen.
53. Aus der vorstehenden Grundlehre erklären sich manche bekannte Thatsachen von selbst; viele andre bleiben noch im Dunkeln. Es ist nicht nöthig, diesen Unterschied gleich jetzt näher zu bestimmen. Die Frage, wie weit die gesundenen Erklärungen reichen, mag den nachfolgenden Vor - trag stillschweigend begleiten, bis die Thatsachen werden durch - mustert seyn, denn alsdann wird der Faden der Untersu - chung bequemer können wieder aufgenommen werden. Allein die gemeinhin angenommenen Seelenvermögen bedürfen nun einer kritischen Beleuchtung, welche mit der Betrachtung der Thatsachen selbst allmählig vorrücken muß.
Mit dem Bestreben, ein Mannigfaltiges zusammen -38 zufassen, verbindet sich natürlich ein Aussondern dessen, was sich offenbar nicht zusammenfassen läßt, weil es entweder sich ausschließt, oder nur in seltenen Umständen zum Vorschein kommt. Jndem also die Seelenlehrer den menschlichen Geist im Bilde zeigen wollten, haben sie fürs erste diejenigen Züge weggelassen, welche das Unterscheidende, theils der Jndivi - duen, theils der abwechselnden Gemüthszustände ausmachen. Diese legen wir zurück für den zweyten Abschnitt, und behalten für den ersten nur das, welches für ein ursprünglich und we - sentlich Mannigfaltiges im menschlichen Geiste gehalten wird.
54. Jedoch gleich hier wird eine genaue Grenz-Schei - dung durch die eigenthümliche Unbestimmtheit der psycholo - gischen Thatsachen unmöglich gemacht. Der Mensch des Seelenlehrers ist der gesellschaftliche, der gebildete Mensch, der auf der Höhe der ganzen, bisher abgelaufenen, Ge - schichte seines Geschlechts steht. Jn diesem findet sich das Mannigfaltige sichtbar beysammen, welches unter dem Namen der Geistesvermögen als ein allgemeines Erb - theil der Menschheit angesehen wird. Ob es in der That ursprünglich beysammen, ob es ursprünglich ein Man - nigfaltiges sey, davon schweigen die Thatsachen. Der wilde Mensch und das neugeborne Kind geben uns weit weniger Gelegenheit, den Umfang ihres Geistes zu bewun - dern, als die edleren unter den Thieren. Die Psychologen helfen sich hier durch die Erschleichung, alle höhere Thätig - keit des Geistes sey — nicht bey den Thieren, aber bey den Kindern und Wilden, — der Möglichkeit nach vorhanden, als unentwickelte Anlage, oder als Seelenvermögen. Und die geringfügigsten Ähnlichkeiten in dem Benehmen des Wilden und des Kindes mit dem des gebildeten Mannes, gelten ihnen nun für kenntliche Spuren eines erwachen - den Verstandes, einer erwachenden Vernunft, eines erwachen - den sittlichen Gefühls. — Uns aber darf die Bemerkung39 nicht entgehn, daß in dem nächstfolgenden eigentlich nur ein besonderer, und nichts weniger als genau begränzter, Zustand des Menschen geschildert wird, nach dem Gesammt - Eindruck, welchen diejenigen Menschen, die wir, sehr unbe - stimmt, Gebildete nennen, auf uns gemacht haben. Das Höchst-Schwankende dieses Gesammt-Eindrucks läßt sich nicht vermeiden. Es giebt keine allgemeinen Thatsachen; die ächten psychologischen Facta liegen in den augenblicklichen Zuständen der Jndividuen; diese sind unermeßlich weit ent - fernt von der Höhe des allgemeinen Begriffs: Mensch überhaupt.
55. Die eben erwähnte Vergleichung zwischen Mensch und Thier veranlaßt nun die erste Scheidung in dem für ursprünglich gehaltenen Mannigfaltigen. Jn wiefern der Mensch sich aber das Thier auffallend erhebt, schreibt man ihm obere Vermögen zu; in wiefern er den Thieren gleicht, legt man ihm niedere Vermögen bey.
Diese Eintheilung durchkreuzt die schon oben erwähnte, nach dem Vorstellen, Fühlen und Begehren, in eben so viele Vermögen.
Als Hülfsmittel zur Übersicht der empirischen Psycho - logie sind beyde Eintheilungen gleich brauchbar, und wir werden uns beyder bedienen.
56. Da in der Psychologie alles in einander fließt, so wollen wir, um das obere und untere Vermögen weiter einzutheilen, nicht bey der, sehr zweydeutigen, Gränzlinie zwischen beyden, anfangen, sondern fürs erste die entfernte - sten Enden einander gegenüber stellen. Es wird nämlich die Sinnlichkeit für das unterste, die Vernunft für das oberste im menschlichen Geiste angenommen. Beyde sehn einander darin ähnlich, daß sie in mehrern Gliedern der zweyten Eintheilung vorkommen. Man spricht von einem40 sinnlichen Vorstellen, einem sinnlichen Fühlen, und einem sinnlichen Begehren; man spricht auch von einer theoretischen (vorstellenden) und einer praktischen (wollenden, gebietenden) Vernunft: — nur von einer fühlenden Vernunft pflegt nicht die Rede zu seyn, indem die Vernunft immer als thätig, niemals als leidend gedacht wird, da sie das Höchste im Menschen seyn soll.
Die Bedeutung der hier gebrauchten Ausdrücke ist aus dem gemeinen Sprachgebrauch einem Jeden einigermaßen verständlich; zu seineren Bestimmungen ist hier noch nicht der rechte Ort. Denn eben sie sind das Streitige.
57. Gehen wir nun von den beyden äußersten Enden gegen die Mitte hin, so finden wir zuvörderst im Vorstel - lungsvermögen neben der Sinnlichkeit die Einbildungs - kraft und das Gedächtniß, neben der Vernunft den Verstand und die Urteilskraft. Dann im Gefühl - vermögen neben den sinnlichen Gefühlen der Lust und Unlust, die ästhetischen und moralischen Gefühle; und die Affecten. Endlich im Begehrungsvermögen neben den sinnlichen Begierden und Trieben, einerseits das verständige und vernünftige Wollen, andrerseits die Leidenschaften.
58. Noch ehe wir diesen rohen Abriß des psychologi - schen Feldes genauer auszeichnen, müssen wir folgendes bemerken:
a) Die Eintheilungen sind nur empirische Zusammen - stellungen, ohne Nachweisung der Vollständigkeit, ohne vest bestimmte und gerechtfertigte Theilungsgründe. Daher kein Wunder, wenn bey schärferer Auffassung der Thatsachen sich Gegenstände finden, die entweder in mehrere der gemachten Fächer hineingehören, oder in gar kein derselben passen. Hier ein paar Beyspiele:
Jn Wolffs Darstellung ist noch das Gefühlvermögen41 nicht gesondert vom Begehrungsvermögen; daher auch die Affecten nicht von den Leidenschaften. Wir werden tiefer unten zeigen, daß die Affecten nicht in die Klasse der Ge - sichte (und noch weniger in die andern, folglich in gar keine der gemachten. Klassen) gehören, obgleich Gefühle bey den Affecten vorkommen, so wie Affecten bey den Leidenschaf - ten — Das Moralische und Ästhetische wird der Erfahrung gemäß gefühlt, erkannt und begehrt; dessen ungeachtet ist man nicht geneigt, es so wie etwa die Sinnlichkeit, durch alle drey Hauptvermögen sich erstrecken zu lassen, als ob es moralische Gefühle, Erkenntnisse und Entschließungen ne - ben einander mit gleicher Selbstständigkeit gäbe, — son - dern man streitet darüber, ob das Sittliche seinen Ursprung in einem Gebote, oder einer Erkenntniß, oder einem Ge - fühle Habe. Fragt man die Erfahrung, so antwortet sie unlängbar, das Sittliche werde am häufigsten gefühlt, sel - tener richtig erkannt, und am seltensten gewollt. Damit ist aber nichts entschieden, als nur die Unsicherheit und Schwan - kung der empirischen Psychologie und jeder Untersuchung, die kein besseres Fundament hat.
b) Die gemachten Eintheilungen können zwar zur er - sten Übersicht, aber keineswegs zu einer genauen Schilde - rung dessen, was im Menschen vorgeht, gebraucht werden; denn sie zerreißen das, was in der Wirklichkeit stets verbun - den ist. Ob es ein Vorstellen ohne Fühlen und Begehren gebe, läßt sich in der Erfahrung nicht nachweisen; diese Re - gungen des Gemüths laufen vielmehr unaufhörlich in ein - ander. Daß zu jedem Fühlen ein Gefühltes, zu jedem Begehren ein Begehrtes gehöre, leuchtet ein; ob aber beydes in jedem Falle ein Vorgestelltes seyn müsse, läßt sich aus der Erfahrung weder verneinen poch bejahen, weil ein Vorgestelltes bis zur Unkenntlichkeit dunkel seyn kann: die bejahende Antwort hat indessen das Vorurtheil für sich42 weil sie, offenbar in dem meisten Fallen die richtige ist. Die Affecten gehören nicht in eine Klasse mit den Leiden - schaften; dennoch kann man sich eine ganz affectlose Leiden - schaft gar nicht denken. Wer die Geschichte auch nur einer einzigen leidenschaftlichen Aufwallung beschreiben will, der muß sie, mit allen dabey aufgeregten Affecten, als eine ein - zige Begebenheit betrachten. Der continuirliche Fluß dieser Begebenheit läßt sich gar nicht durch ein Mosaik-Gemälde darstellen, dessen einzelne Stückchen man etwa aus den Fä - chern der empirischen Psychologie zusammensuchen möchte.
c) Daß die abgetheilten Seelenvermögen nicht bloß neben einander, sondern in Beziehung auf einander vorhan - den sind, erkennt die empirische Psychologie dadurch an, daß sie dieselbe durchgängig mit der Bearbeitung eines und des nämlichen Stoffes beschäfftigt. Diesen Stoff soll die Sinnlichkeit empfangen, — wobey die Frage nach dem Causalverhältniß zwischen der Außenwelt und dem Menschen eintritt. Wird dasselbe geläugnet, so muß die Sinnlichkeit vielmehr ein erzeugendes Vermögen genannt werben. Den nämlichen Stoff soll das Gedächtniß aufbewahren; aber unbeschadet dieser Aufbewahrung soll ihn auch die Phantasie in neue Gestalten bringen; und wiederum diesen neuen Gestalten unbeschadet soll der Verstand Begriffe daraus ma - chen, auch das Begehrungsvermögen ihn in Begehrtes und Verabscheutes verwandeln, — und wiederum sollen die Phan - tasien, Begriffe, Begehrungen, u. s. w. vom Gedächtnisse aufbewahrt, und gelegentlich mit frischem Stoffe-versetzt von neuem den arbeitenden Vermögen unterworfen werden. Oder, falls dieses unbegreiflich scheint, ist es vielleicht nur ein Theil des Stoffes, den das Gedächtniß in seinen Vorraths - kammern vesthält, und wird ein anderer Theil der Phantasie übergeben, noch ein anderer dem Verstande, wie - der ein anderer dem Begehrungsvermögen, u. s. w.? Da -43 rüber fragt man die Erfahrung vergebens. Desto nothwen - diger ist es, daß man die, hiebey unvermeidliche, metaphy - sische Voraussetzung irgend eines mannigfaltigen und ver - wickelten Causal-Verhältnisses, sowohl der ver - schiedenen Vermögen unter einander, als ihrer aller zu dem vorgeblichen Stoffe, den sie gemein - schaftlich bearbeiten sollen, einsehe und eingestehe.
59. Durch die Anerkennung des eben erwähnten Cau - sal-Verhältnisses hat sich die Psychologie bisher die Reihen - folge ihrer Lehren bestimmen lassen. Nach dem Satze: nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu, sind die Sinnes-Vorstellungen zuerst abgehandelt, und von dem Übrigen ist in solcher Ordnung geredet worden, wie es all - mählig aus jenen hervorzugehn scheint. Die allmählige Entwicke - lung des einzelnen Menschen und der Völker, desgleichen der Unterschied zwischen Thier und Mensch, giebt hier den Leitfaden.
Nun ist zwar der Erfahrung gemäß, daß wir weit all - gemeiner die niedere Sinnlichkeit, als jedes andre geistige Leben, dieses aber niemals ohne jene, in der Wirklichkeit antreffen, ja daß wir große Mühe haben, mit dem Aus - druck: reine Vernunft einen nur leidlich bestimmten Sinn zu verbinden. Nichts desto weniger giebt es zwey sehr wichtige psychologische Thatsachen, die wir nicht anders auf - fassen können, denn als dem Causal-Verhältniß zwischen Sinnlichkeit und Vernunft fremd oder widerstreitend: das reine Selbstbewußtseyn und die sittliche Entschlie - ßung. Was immer wir im Lause der Zeit an uns beobach - ten, das muß, als zufallig wechselnd, von unserm wahren Jch unterschieden werden; dieses letztere also kennen wir, so scheint es, unabhängig selbst vom innern Sinne, durch eine so - genannte reine Apperception. (Jm Allgemeinen heißt Apperception soviel als das Wissen von dem, was in uns vorgeht.) Und ein Entschluß zeigt sich dann am klärsten als ächt sittlich,44 wann er die Rücksicht auf Vortheile ober Nachtheile, wie sie uns in der Erfahrung vor Augen liegen, verschmäht; wann der Geist sich über die sinnlichen Gefühle erhebt, und ihnen gerade zuwider sich bestimmt. Wodurch wird diese Erhebung möglich? Die Antwort: durch den freyen Willen, ist der, in solchen Fällen Statt findenden; innern Wahrnehmung ganz angemessen; daher wird eine, von allem Causal-Verhältnisse unabhängige, sogenannte transscen - dentale Freyheit angenommen, ein Seitenstück zu der reinen Apperception. — Legt man nun beydes der Vernunft bey, als demjenigen, was im Menschen von der Sinnlich - keit am weitesten entfernt steht, so ist die Vernunft in die - ser Bedeutung nicht sowohl ein Höheres, sondern vielmehr ein ganz Anderes als die Sinnlichkeit; und diese letztere kann nun nicht länger als Grund, nicht einmal als Bedin - gung von allem Übrigen angesehen werden.
Unter dieser Voraussetzung sollte also die Psychologie in der Anordnung ihrer Lehren nicht einen Fortschritt von der Sinnlichkeit zur Vernunft, sondern zwey, bey ihrem Ursprunge parallele, Reihen von Betrachtungen darstellen, wovon Vernunft und Sinnlichkeit die Anfangspunkte aus - machten, das Zusammentreffen beyder aber, in seinen man - nigfaltigen Modificationen, die oberste Gegend und gleich - sam das Ziel seyn würde. Die empirische Psychologie kann dieser Forderung nichts entgegensetzen. Jn der Einleitung in die Philosophie ist aber schon gezeigt (daselbst §. 103 und 107), daß die Begriffe des Jch und der transscenden - talen Freiheit widersprechend sind. Daher ist auch der eben aufgestellte Begriff der Vernunft, der Wahrheit nicht gemäß. Um nichts besser aber ist der gewöhnliche Begriff von der Sinnlichkeit, besonders wenn sie für die Quelle des Bösen gehalten wird. Das Böseste ist eben so wenig sinnlich, als die Sinnlichkeit durchgehends böse.
45Anmerkung. Wenn man im gemeinen Leben sagen hört, der Eine habe mehr Verstand, der Andre mehr Ge - dächtniß, ein Dritter mehr Phantasie, ein Vierter besitze eine gesundere Urtheilskraft, — und daneben doch im Gan - zen kein bestimmter Grad von größerer oder geringerer gei - stiger Gesundheit dem Einen oder dem Andern kann beyge - legt werden: so muß die Vermuthung entstehn, alle jene Unterscheidung der sogenannten Seelenvermögen treffe mehr die Producte der geistigen Thätigkeit als die innere, entwe - der gesunde oder kranke Natur der letzteren. Von den Gei - stes – Krankheiten werden tieser unten die erfahrungsmäßig bekannten vier Hauptbegriffe: Blödsinn, Narrheit, Tobsucht und Wahnsinn, näher bestimmt werden; es kann aber schon hier nützlich seyn, aus ihren Gegentheilen: Reizbarkeit, Sammlung, Ruhe, und gegenseitige Bestimm - barkeit aller Vorstellungen durcheinander, den Begriff der geistigen Gesundheit zusammenzusetzen; da ein Mangel an irgend einem dieser vier Erfodernisse in der That viel unmittelbarer eine Annäherung an Geisteskrankheit dar - thut, als ein Mangel an Phantasie, oder Gedächtniß, oder Verstand, u. s. w. Es beziehen sich aber die genannten Erfodernisse deutlich genug auf die obige Grundlehre von den Vorstellungen als Kräften, deren Beweglichkeit durch die geringste Veränderung in der Stärke oder Verbindung derselben eben so sichtbar ist als ihre Tendenz zum Ruhen im Gleichgewicht; und bey welchen die Sammlung des Gleichartigen und des schon in Verbindung Getretenen eben so sehr als jede Art von möglicher gegenseitiger Bestim - mung, durch die Reproductions - Gesetze vollkommen gesichert ist, so lange nicht eine dem Geistigen fremde Gewalt von Seiten des Leibes sich einmischt. Jedoch das Verhältniß des Leibes zum Geiste kann nicht ohne Erwähnung einiger naturphilosophischer Sätze näher erwogen werden, welch46 hier noch zu früh kommen würden. Zuvörderst muß nun die erste der obigen Eintheilungen (55), wenn nicht von ihrer Unbestimmtheit befreiet, so doch in ihrer Vieldeutigkeit erkannt werden -
60. Die Grenzlinie zwischen den untern und obern Vermögen läuft im Vorstellungsvermögen zwischen der Ein - bildungskraft und dem Verstande, im Gefühlvermögen zwi - schen der Sinnenlust und dem ästhetischen Gefühl, im Be - gehrungsvermögen zwischen den Leidenschaften und der über - legten Wahl. Hiemit ist sie bey der Schwankung der Be - griffe von allem diesen noch keinesweges genau gezogen; auch sind die Psychologen zu dem Bekenntniß bereit, daß sie sich nicht scharf ziehen lasse. (Wenigstens Wolff in der empirischen Psychologie §. 233) Dies um so mehr, da selbst den Thieren ein analogon rationis zugeschrieben wird, während ihnen Niemand eine Phantasie, ähnlich der menschlichen, einräumt. So hätten also die Thiere Antheil am obern Vorstellungsvermögen; und dagegen sehlte ihnen etwas an dem, was zum unteren sollte gerechnet werden. Etwas treffender scheint zwar die Bestimmung in Ansehung des Gefühlvermögens; da ästhetische Urtheile wohl Niemand von Thieren erwartet; allein auch bei roheren Menschen pflegen diese zu fehlen, und vielmehr einer höheren Bil - dungsstufe als der menschlichen Natur eigen zu seyn. Was endlich die Leidenschaften anlangt, so werden wir unter die -47 Sen auch solche, und zwar sehr bösartige finden, die gerade - zu aus dem Edelsten, den höchsten Regionen des mensch - lichen Gedankenkreises ihren Ursprung nehmen; so daß es unmöglich ist, sie zum untern, auch den Thieren beizule - genden Vermögen zu rechnen. Man muß also den Gegen - stand anders fassen.
61. Den Thieren im Vergleich gegen die Menschen überhaupt ein unteres Vermögen beilegen, heißt entweder, ihr geistiges Können als mangelhaft, oder als vermin - dert, oder als unterworfen ansehn.
Gesetzt, es sey an sich mangelhaft, im Vergleich mit dem vollständigern, weiter reichenden Können des Menschen, so liegen, hievon sehr deutliche Gründe in dem Mangel der Hände und der Sprache. Denn solchergestalt bleibt ihre Gelegenheit, sich Vorstellungen von den Dingen zu verschaf - fen, sehr viel enger beschränkt; und während das Verstehen, der Verstand des Menschen sich zunächst auf die Sprache bezieht, können die Thiere höchstens zum Verständniß eini - ger Zeichen gelangen. Das menschliche Kind aber befindet sich nun auf seiner untersten Bildungsstufe im nämlichen Falle, da es Anfangs sich der Hände noch eben so wenig zu bedienen, weiß, als es Sprache gelernt hat.
Gesetzt zweitens, jenes geistige Können solle ein ver - mindertes seyn, da es ursprünglich wohl größer seyn möchte, so trifft auch dies bei den Thieren zu; und zwar zwiefach. Denn erstlich tritt bey ihnen etwas Störendes in ihren Vor - stellungskreis, welchis den Menschen nicht so sehr drückt. Dies sind bei Thieren mit Kunsttrieben ganz deutlich die organischen Reize, denen sie Folge leisten; bey andern kommt die frühzeitige Pubertät in Betracht. Ueberdies aber kann bei der verhältnißmäßigen Kleinheit ihres Gehirns wahr - scheinlich der Organismus nicht so wie beim Menschen den geistigen Reizen nachgeben.
48Gesetzt drittens, jenes geistige Können oder Vermögen werde als ein unterworfenes angesehn, — möge dies nun ein dienstbares oder ein besiegtes seyn sollen, so paßt zwar dieser Begriff nicht allgemein auf die Thiere; wohl aber auf das untere Vermögen des Menschen in so sern, als er sich selbst beherrscht. Nur ist wiederum die Herrschaft so sehr abhängig von der schon erlangten Bildungsstufe, — sie schwankt der Art nach fo sehr zwischen Schlauheit und Sittlichkeit, dem Grade nach ist ihrer der rohe und der kranke Mensch so wenig fähig, — endlich finden sich, wenn Ausnahmen gelten sollen, doch bey dressirten Thieren so viele Spuren von eingeübter Enthaltsamkeit, daß ein in dem geistigen Vermögen selbst liegender Unterschied, der wesent - lich und allgemein veststünde, nicht nachgewiesen werden kann, vielmehr Alles auf Unterschiede der Begünstigung oder Verhinderung oder erworbener Bildung sich zurückführen läßt. Wir sind demnach weder genöthigt noch berech - tigt, den menschlichen Geist als eine Summe von zwei specifisch verschiedenen, gleichsam an einander gefügten, Vermögen zu betrachten. Nur das tritt hervor, daß die geistige Regsamkeit in un - endlich mannigfaltigen Formen und Gränzen sich ausprägt, nach Verschiedenheit der Vorstellungen, ihrer Verbindungen und Hemmungen. Alle diese Betrachtungen sind von der Metaphysik unabhängig; die Frage aber, ob, wenn einmal die Metaphysik herbeigerufen wird, sie dieselben widerlege oder vielmehr bestätige, soll an diesem Orte nicht abgehan - delt werden.
Dem Menschen, welcher zu höhern Bildungsstufen em - porsteigt, werden wir dagegen erfahrungsmäßig eine nicht bloß einfache, sondern vielfach verschiedene Fähigkeit beyle - gen müssen, sich in der Selbstbeherrschung gleichsam in meh - rere Theile zu spalten, und bald seine Gedanken absichtlich49 zu lenken,, bald seine Gefühle umzustimmen, bald Unter - lassungen bald regelmäßige Anstrengungen sich selbst vorzu - schreiben. Daß hievon bei den Thieren wenige oder gar keine Spuren vorkommen, ist bekannt; in Ansehung des menschlichen Vermögens wurde hierauf schon in der Grund - lehre (40 — 43) Rücksicht genommen. Jn diesem Sinne also werden wir ein oberes und ein unteres Vermögen an - erkennen.
62. Wolff stellt zwischen das untere und obere Vor - stellungsvermögen die Aufmerksamkeit (jedoch nur die willkührliche, wahrend die unwillkührliche fast noch wichti - ger ist). Das obere Vermögen beginnt ihm nun mit der Deutlichkeit der Begriffe, deren Merkmale die Auf - merksamkeit zersetzt. Diese Bestimmung ist zwar bey wei - tem enger, als der Sprachgebrauch den Worten Verstand und verständig ihre Sphäre zeichnet; indessen trifft sie mit einem Theile derselben auf eine merkwürdige Weise zu - sammen. Jndem nämlich die Aufmerksamkeit einen Begriff verdeutlicht, hebt sie die ihm einwohnenden Theil-Vorstel - lungen, eine nach der andern, gleichmäßig hervor; sie ebnet gleichsam den Begriff, dessen Merkmale bisher eins vor dem andern auf eine zufallige Art hervorragten. So ist es der Beschaffenheit des Gedachten gemäß, dem alle seine Bestimmungen unabhängig von den Unterschieden zu - gehören, welche das individuelle Denken dadurch hinein - bringt, daß es gespannter ist auf dies als auf jenes Merk - mal. Es ist also auch der anderwärts gegebenen Erklärung des Verstandes gemäß, welche den Sinn aussagt, den der Sprachgebrauch mit dem Worte verknüpft; nämlich: Ver - stand sey das Vermögen, uns « Gedanken nach der Beschaf - fenheit des Gedachten zu verknüpfen. Von dem ungleich - mäßigen, individuellen Denken finden sich Beispiele genug im gemeinen Leben; solche giebt das fragmentarische Wissen50 des Routiniers, verglichen mit der in allen Theilen gleich - mäßig ausgearbeiteten Kenntniß des wahren Gelehrten. Die letztere ist ohne Zweisel ein Werk fortschreitender Aufmerk - samkeit.
63. Kant ist in Ansehung dee Grenze zwischen den untern und obern Vermögen von dem Grundgedanken ge - leitet worden: „ Die Verbindung eines Mannigfaltigen über - haupt könne niemals durch die Sinne in uns kommen; alle Verbindung sey ein Actus der Spontaneität der Vorstellungs - kraft, die man zum Unterschiede von der Sinnlichkeit Ver - stand nennen müsse. “ *)Kritik der reinen Vernunft, §. 15.Diese, sehr scheinbare, Behaup - tung ist ihrer Natur nach speculativ (sie veranlaßt die im Lehrbuche zur Einleitung in die Philosophie aufgestellte hö - here Skepsis; man sehe daselbst §. 22 — 29, aber auch ebendaselhst §. 98 — 103). Es ist ein großes Verdienst Kants um die Speculation, diesen Gedanken mit Nachdruck hervorgehoben zu haben, aber die höchst wichtigen, von hier ausgehenden Untersuchungen hat er nur angefangen, keines - weges vollendet; und so nothwendig dieselben in der Grund - lage zur allgemeinen Metaphysik immerdar ihren Platz be - halten müssen, eben so nothwendig muß alles, der. Kanti - schen Behauptung ähnliche, aus den Lehrsätzen der Psycho - logie völlig wieder verschwinden. Denn das Ende der Un - tersuchung ist gerade das Gegentheil dessen, wohin ihr An - fang zu weisen scheint. Die Verbindung des Mannigfalti - gen geschieht gar nicht durch irgend etwas, das man einen Actus nennen könnte, am wenigsten durch einen Act der Spontaneität; — sie ist der unmittelbare Erfolg der Ein - heit der Seele. Die Verbindung des Mannigfaltigen rich - tet sich ferner allemal nach der Art und Weise, wie die sinn - lichen Eindrücke zusammentreffen, — sie ist gegeben, wie51 schon in der Einleitung in die Philosophie nachgewiesen wor - den. Endlich, — was eigentlich allein hieher gehört — auf empirischem Wege kann die Behauptung Kants auch nicht einmal scheinbar gemacht werden. Wir fühlen uns zwar thätig im angestrengten Denken, und sind uns als - dann zuweilen bewußt, Begriffe aus ihren Merkmalen ab - sichtlich zusammenzusetzen. Allein da, wo wir ursprünglich das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung in den Be - griff eines Objects vereinigen*)Kritik der reinen Vernunft §. 17., finden wir uns genöthigt, das Object zu nehmen, wie es sich darstellt; wir sind darin nur gebunden, und wissen nichts von Acten der Spon - taneität.
Wahrend nun Thätigkeit weder das Eigne des Ver - standes, noch der Ursprung der Verbindungen ist, hat da - gegen der Verstand allerdings seinen Sitz in gewissen Ar - ten der Verbindung; ja das ganze obere Vermögen greift eben dadurch ein in Sinnlichkeit, Gedächtniß und Einbil - dungskraft (die gewöhnlich geradehin zu den untern Ver - mögen gerechnet werden), daß es bey dem gebildeten Men - schen sich in so ausgebreiteten Verbindungen zeigt, die bey dem Wilden und bey dem Thiere gar nicht zu erwarten sind. Hieher gehört vor allem zuerst die Ausdeh - nung der Vorstellungen des Räumlichen und Zeitlichen, weit über die Sphäre der sinnlichen Empfindung, ja ins Unend - liche hinaus. Daran besonders erkennt man Thierheit und Wildheit, daß ihr der veste Blick in die Vergangenheit, und das Voraussehen einer nur etwas entlegenen Zukunft fehlt.
Ferner ist ein großer Unterschied zwischen dem bloßen Zusammentreffen der Merkmale eines Dinges, und der Unerscheidung dieser Merkmale von der Substanz, der sie bey gelegt werden; desgleichen zwischen dem bloßen52 Auffassen einer kurzen Reihenfolge von Begebenheiten, und dem Ableiten derselben aus Ursachen und Kräften. Das zweyte, aber nicht das erste, gehört zum obern Vermögen. Diese Bemerkung, obgleich durch Kants Lehre veranlaßt, gehört eigentlich zum Nächstfolgenden.
64. Wie wenig auch die logische Politur der Begriffe zum Maaßstabe des Verstandes dienen kann (man denke nur an den Verstand der Frauen, der Künstler, Staats - männer, Kausieute), so macht sie dennoch einen Theil des Unterschiedes aus, den wir suchen. Total-Eindrücke von ähnlichen Gegenständen, zusammengeflossene Vorstellungen von Bäumen, Häusern, Menschen, u. dgl. hat ohne Zwei - fel auch der Wilde und das Thier; aber hier sehlt die Ent - gegensetzung des Abstracten gegen das Concrete. Der allgemeine Begriff hat sich nicht abgelöst von seinen Bey - spielen. Diese Ablösung gehört dem obern Vermögen. Eben so ist die Entgegensetzung zwischen dem Räumlichen und dem Raume, dem Zeitlichen und der Zeit. Desgleichen die Entgegensetzung zwischen unserm Jch und unsern wech - selnden Zuständen: während gewiß schon das Thier sich un - terscheidet von dem andern, mit dem es um die Nahrung kämpft.
65. Die ästhetischen und moralischen Auffassungen sind bey dem Wilden selten und beschränkt, bey dem Thiere schei - nen sie fast ganz zu fehlen. Die Wahl ist weit minder überlegt, und scheint im Ganzen nicht so vest zu seyn, wie beym ausgebildeten Menschen, Das Thier hat hier neben dem Mangel des Höhern eine positive Eigenthümlichkeit, nämlich eine sichtbar größere Abhängigkeit vom J[n]stinct, der zum Theil periodisch ist und mit dem Organisnus in der genauesten Verbindung steht.
66. Alles Angeführte zusammengenommen ergiebtkeine geschlossene Reihe von vesten Unterschieden, weder zwischen53 Menschheit und Thierheit, noch zwischen dem obern und un - tern Vermögen. Wir haben also auch nicht Ursache, vest - stehende Unterschiede zu fodern, wo wir der beweglichen genug antreffen, welche sattsam erklären, wie man sich ver - anlaßt sinden konnte, nach dem Unterschiede zu fragen, den man für einen einzigen und überall gleichen hielt. Sollte aber Jemand meinen, das Thier sey hier dem Menschen zu nahe, gerückt, so gelten dagegen folgende Bemerkungen.
Wir kennen die Thiere sehr wenig. Wir unterscheiden viel zu wenig die verschiedenen Thier-Classen. Beym Dres - siren der Thiere, wodurch wir eine beträchtliche Biegsamkeit ihrer Anlage kennen lernen, wird meistens ein eben so fal - scher Begriff zum Grunde gelegt, als bey schlechter Erziehung des menschlichen Kindes. Das Thier nimmt keine Dressur an, außer nach den innern Gesetzen seines Wesens, und der größte Theil des dabey angewandten Zwanges ist ohne Zweifel grobe Mishandlung, selbst wenn derselbe nützlich seyn sollte zur Erreichung des Zwecks, da man das Thier nur als Thier gebrauchen will. Wer junge Thiere beobachtet hat, dem kann die Bemerkung nicht entgangen seyn, wie oft sie sich bemühen, ihre Vorderpfoden als Hände zu ge - brauchen; ein vergebliches Streben, die Schranken ihrer Or - ganisation zu überschreiten. Dem Menschen aber ist zuwei - len statt des Ubermuths mehr Dankbarkeit für die Hülfs - mittel der Bildung zu empfehlen, deren er sich vorzugsweise erfreut. Übrigens, während die mannigfaltigen Unterschiede in der geistigen Regsamkeit verschiedener Thiere uns ein Ge - heimniß bleiben, liegt uns die Verschiedenheit der Menschen doch etwas deutlicher vor Augen. Auf die Frage, ob sich die Vorstellungen als Kräfte im Menschen vollständig äus - sern können, oder ob hier villeicht auch noch etwas von der bey den Thieren bemerkten Beschränktheit zurückbleibe? läßt sich im Allgemeinen folgendes antworten: Die Hände des54 Menschen haben sich bewaffnen müssen mit unzähligen Werk - zeugen, die Sprache hat noch der Presse bedurft; die Genies verrathen, wie viel dem gewöhnlichen Menschen an freyer gei - stiger Regsamkeit fehle; und die Blödsinnigen, wie leicht auch in der menschlichen Gestalt die Bande, welche das organische Le - ben dem geistigen anlegt, eng geschnürt werden können; endlich die Selbstbeherrschung, ein Werk höherer Bildung, leidet noch an allen Mängeln der Bildung und Erziehung, Es ist also klar genug, daß die bisher bekannte menschliche Thätigkeit nicht als eine vollständig abgeschlossene Darstellung dessen anzuse - hen ist, was Vorstellungen als Kräfte leisten können; und die Vermuthung liegt nahe, daß auf andern Weltkörpern, unter andern Bedingungen der Gravitation, der Atmosphäre, der Beleuchtung u. s. w. sich weit vortheilhaftere Organisationen für die Entwickelungen der geistigen Regsamkeit befinden mögen.
67. Was zum Vorstellungsvermögen gerechnet wird, läßt sich unter folgende Uebersicht bringen:
Nach diesem Abrisse werden wir das Vorstellungsver - mögen durchlaufen, und dabey die gewöhnliche Abtheilung der angenommenen Geistesvermögen berücksichtigen.
5568. Die Production der Materie der Erfahrung ist hauptfächlich das Werk der äußern Sinne, des Gefühls, Geschmacks, Geruchs, Gehörs, Gesichts
(Was Materie und Form der Erfahrung heiße, ist aus der Einleitung in die Philosophie bekannt; vergl. daselbst §. 25, 29).
Die angegebenen fünf Sinne werden gezählt nach den Sinnes-Organen; der verschiedenen Klassen von Sinnes - Empfindungen ist eine größere Zahl. Ueberdies enthalten die Organe selbst empfindliche Flächen. also unendlich viele empfindliche Stellen, mit der merkwürdigen Verschiedenheit, daß bey einigen Sinnen zwar nur eine Gesammt-Em - pfindung entsteht, bey andern aber jede einzelne Stelle der Empfindungsfläche eine gesonderte Vorstel - lung liefert.
69. Das Gefühl des Drucks und das der Wärme und Kälte hat sein Organ über der ganzen Fläche des Lei - bes verbreitet. Der Druck wird sehr mannigfaltig verschie - den empfunden, je nachdem er gleichförmig ist oder ungleich - förmig in denverschiedenen Theilen der Empfindungs-Fläche, und in den, einander folgenden, Zeitmomenten wahrend der Dauer der Empfindung. So unterscheidet man Spitziges, Glattes, Rauhes, Elastisches, u. s. w. (Wärme und Kälte werden vielleicht mehr in den innern Theilen der Nerven empfunden, der Druck mehr in den äußern)
Der Tastsinn ist ursprünglich Gefühl, aber in einer besondern Anwendung, wodurch dasselbe die Form der Er - fahrung bestimmen hilft. Vorläusig merke man, daß zum Tasten mehrere Finger, mehrere Theile der Zunge, über - haupt mehrere Stellen der Empfindungsfläche behülflich sind.
70. Der Geschmack liefert sehr viele unterscheidbare56 Empfindungen, die aber, gleichzeitig, einander verwirren. Die Zunge ist zugleich ein vorzüglicher Sitz des Gefühls jeder Art. (Auch bekommt sie verschiedene Arten von Nerven.)
71. Gerüche dringen sich auf, gleich den Tönen, aber sie gestatten nicht gleich diesen, daß man in ihnen ein Man - nigfaltiges unterscheide. Das Geruchs-Werkzeug ist weni - ger, als die übrigen Organe des Sinnes, in unserer Ge - walt; es selbst leidet sehr bei seinen Functionen. Gerüche können tödten und ansteckende Krankheiten fortpflanzen; sie sind meistens angenehm oder unangenehm, selten gleichgül - tig; aber keiner wird lange empfunden, jeder stumpft schnell das Werkzeug ab.
Der cultivirte Mensch scheint in Hinsicht dieses Sin - nes durchaus abgestumpft im Vergleich mit dem Wilden und mit vielen Thieren.
72. Das Gehör ist unter allen Sinnen am reichsten in der Mannigfaltigkeit der Empfindungen. Die musikali - schen Töne lassen, selbst gleichzeitig; sich unterscheiden; von ihnen unabhängig ist die Auffassung der Vokale, und neben beyden findet sich die Wahrnehmung der Consonanten, die, wie es scheint, in die Klasse des mannigfaltigen Geräusches gehören. Merkwürdig ist das tonlose, und dennoch ver - ständliche Sprechen des Menschen. Diesem nahe kommend ist vielleicht die Auffassung derjenigen, die von Geburt ganz unmusikalisch sind und dennoch sehr gut hören. (Wahr - scheinlich hat jeder musikalische Ton seinen eignen Antheil am Organ. Außerdem ist nicht wohl einzusehn, wie gleich - zeitige Töne gesondert bleiben, und warum sie nicht einen dritten gemischten Ton ergeben, welches die ästhetische Auf - fassung der Jntervalle vernichten würde.)
73. Das Gesicht unterscheidet Farben und, von die - sen unabhängig, die Grade der Beleuchtung. Jede Stelle57 der Netzhaut des Auges sieht einzeln und liefert eine geson - derte Empfindung. Manchem Auge fehlt der Farbensinn zum Theil, einigen ganz, bey übrigens scharfem Sehen. Die höchste Beweglichkeit, die Fähigkeit sich nahen und fer - nen Gegenständen, starkem und schwachem Lichte anzupas - sen, endlich sich mit den Augenliedern willkührlich zu be - decken, sind Vorzüge des Organs. (Es wird sich tiefer unten zeigen, daß eben die Beweglichkeit ganz besonders die Auffassung der räumlichen Formen vermittelt. Diese ist kei - nesweges so ursprünglich, wie sie scheint; sie wird gelernt und durchläuft sehr verschiedene Stufen der Ausbildung)
Anmerkung. Jeder Sinn hat seinen Grad von Schärfe und Feinheit, seine Weite und Weile. — Alles bisherige bezieht sich nur auf Empfindungen, nicht auf Anschauungen, welche letztere die Vorstellung eines Objects, gegenüber andern Objecten und dem Subjecte, voraussetzen, und deshalb nicht viel weni - ger als alle sogenannten Seelenvermögen (keinesweges bloß die Sinnlichkeit) zugleich beschäftigen. Wer sich, wie man es nennt, im Anschauen vergißt und vertieft, der ist nahe daran, nur noch zu empfinden.
74. Kein bemerkbares Organ des Leibes deutet auf einen innern Sinn; allein nach der Analogie mit den äußern Sinnen hat man jenen angenommen, um ihm die Auffas - sungen unserer eignen Zustände, in ihrem zeitlichen Wech - sel, beyzulegen. Der innere Sinn, so fern man ihn für ein besonderes Bestandstück unserer geistigen Fähigkeit hält (denn übrigens liegt seine Erklärung schon in der Grund - lehre, 40-43), ist demnach ganz und gar eine Erfindung der Psychologen, und zwar eine ziemlich mangelhafte Er - findung, denn sie wissen weder die Klassen von Vorstellun -58 gen, die er überliesere, bestimmt aufzuzählen, noch irgend einen Schein eines Gesetzes anzuzeigen, nach welchem die äußerste Unregelmäßigkeit seines Wirkens zu erklären wäre. Die äußern Sinne leisten ihre Dienste, wenn sie können, und falls sie dieselben versagen, so weiß man, warum; aber der innere Sinn, zu Zeiten scharfsichtig, lauernd auf alles, was in den innersten Falten des Herzens vorgehe (wohl auch manches hineindichtend), ist zu andern Zeiten so stumpf und träge, daß man sich zwar bewußt ist, einen Gedanken gehabt zu haben, aber ihn wiederzufinden sich unfähig fühlt. Absichtliche Anstrengung hält der innere Sinn nicht lange aus; was wir in uns recht genau sehen wollen, das ver - dunkelt sich während der Betrachtung. Uebrigens, wie schlüpf - rig auch diejenige Materie der Erfahrung ist, welche der innere Sinn uns liefert, so bewundernswerth zeigt sich zu - weilen die ihm zugeschriebene geistige Thätigkeit. Nicht sel - ten greift die Selbst-Auffassung in die heftigsten Affecten ein und bändigt sie. Manchmal, bey der angestrengtesten Arbeit in der Außenwelt, regiert der Mensch mitten im Ge - dränge sich selbst, um das Werk richtig zu vollenden. Der Schauspieler, der einen schlauen Betrüger darstellt, ist sich erstens seiner eigenen Person bewußt, zweytens des Charak - ters, der in seiner Rolle liegt, drittens der Verstellungs - künste und des angenommenen Scheins, welche diesem Cha - rakter als die Mittel des Betruges beygelegt sind. — Jn der innere Sinn steigt auf höhere Potenzen ins unbestimmte; wir können unsre Selbstbeobachtung wieder beobachten, und so fort.
Anmerkung. Schon in den Streitigkeiten zwischen den Cartesianern, Locken und Leibnitzen kommt die Streit - frage vor, ob es Vorstellungen gebe ohne Bewußtseyn? Die leichteste und kürzeste Antwort ist, daß, wenn alles Vor - stellen wiederum ein Vorgestelltes würde, dann der innere69 Sinn unaufhörlich in unendlich hoher Potenz thätig seyn müßte. Jn Leibnitzens Lehre hing aber die Behauptung der bewußtlosen Vorstellungen mit seinem metaphysischen Begriffe von der Substanz zusammen. Jn Poleys Ueber - setzung des Lockischen Werks über den menschlichen Verstand findet sich S. 89 das Nöthigste hierüber beyeinander.
75. Raum und Zeit sind die Gegenstande einer sehr falschen Lehre geworden, indem man sie für die eigenthüm - lichen, einzigen, unabhängig von einander vorhandenen For - men der Sinnlichkeit angesehen hat. Der Raum ist vielmehr die einzige völlig ausgearbeitete Reihenform; er wird vorzüglich bey Gelegenheit der Gesichts - und Gefühls - Empfindungen producirt; ist aber hierauf gar nicht einge - schränkt, sondern eine ganz ahnliche Art von Production geschieht bey manchen andern Veranlassungen, entweder voll - ständig, oder innerhalb gewisser Grenzen; entweder deutlich gedacht, oder undeutlich; manchmal mit charakteristi - schen Nebenstimmungen, welche verursachen, daß man die damit behaftete Reihenform von dem Raume unterscheidet. Eine solche ist die Zeit. Eine andre ist die Zahl. Eine dritte ist der Grad, oder die intensive Größe.
Minder deutlich, aber dennoch unvermeidlich, wird die Reihenform producirt bey der Zusammenstellung der gleichartigen Empfindungen nach der Möglich - keit des Uebergangs aus einer in die andre. Da - her die Tonlinie. (Wohl zu unterscheiden von der Ton - leiter, die auf ästhetischen Bestimmungen beruht.) Jhr ähnlich würde die Farbenfläche zwischen den drey Haupt - farben Gelb, Roth und Blau seyn, wenn man sicher wüßte, ob sich alle Farben auf jene drey, verbunden mit dem Grad - unterschiede zwischen hell und dunkel (vielleicht weiß und60 schwarz), zurückführen lassen, oder ob nicht vielmehr das Farbengebiet noch einer dritten Dimension bedürfe.
Anmerkung. Jn dem Unterschiede des Hellen und Dunkeln, desgleichen bey der Tonlinie in dem Gegensatze der hohen und tiefen Töne zeigt sich eine Vorstellung von Succession in der Steigerung, welche verräth, daß der Pro - ceß der Wölbung und Zuspitzung (26) bey dem Tieseren und Dunkleren langsamer geht; dagegen schneller beym Hö - heren und Helleren. Jn der Musik bewegt sich deshalb die Baßstimme meistens langsamer als der Discant.
Noch minder deutlich, aber eben so unentbehrlich, ist die Reihenform in jeder logischen Anordnung, wo die Be - griffe der Arten einander entgegengesetzt, und, zugleich unter dem Begriff der Gattung zusammengefaßt werden. Nicht bloß die Ausdrücke sind hier räumliche Symbole. Es liegt etwas in der Sache, wodurch Benennungen wie: Umfang, oder Sphäre eines Begriffs, herbeygerufen werden; obwohl diese Worte, in wiefern sie von dem Raume, der ausge - arbeiteten Reihenform, entlehnt werden, nur Gleichnisse enthalten.
Eben so nothwcndig ist in der Metaphysik die Lehre vom intelligibeln Raume, der mit völliger Deutlichkeit, nach allen drey Dimensionen construirt wird, bloß zum Behuf des metaphysischen Denkens, ohne etwas sinnliches einzu - mischen.
76. Die Vorstellung einer Reihe zeigt sich am faß - lichsten in den Begriffen der ganzen positiven Zahlen. Allein diese, allmählig erzeugt und erweitert (die Wil - den und die Kinder haben damit nicht wenig Mühe), genü - gen noch nicht, um alle Auffassungen eines Fortschritts in dem Mehr oder Minder in sich aufzunehmen; vielmehr geht die Production der Reihenformen schon bey den Zahlen immer mehr ins Künstliche und Verwickelte. Zuförderst wer -61 den zwischen den ganzen Zahlen überall continuirliche Ueber - gänge vermittelst der Brüche eingeschoben; und zugleich kommt durch rückwärts gehende Verlängerung die Reihe der negativen Zahlen hinzu. Dann entwickeln sich die Begriffe der irrationalen Wurzeln, der Logarithmen und Exponentialgrößen; endlich der zahllosen, durch Jntegration zu erhaltenden Functionen, denen ein Differential, das heißt, der Begriff einer gewissen Regel des Wachsens oder Abneh - mens, zum Grunde liegt.
Kurz, die Arithmetik ist für den Psychologen das merkwürdige Schauspiel einer stets sich ver - feinernden Vorstellungsart von einer Reihe, die man hin und her durchlaufen kann.
77. Schon nach Analogie dieser unläugbaren Thatsache nun sollte man es wenigstens wahrscheinlich finden, daß auch die geometrische Vorstellung des Raums, in dessen unendlicher Größe und Theilbarkeit, nur eine allmäh - lig zu Stande gekommene Production, keinesweges aber et - was ursprünglich im Menschen liegendes sey. Dies um so mehr, da die unendliche Bildsamkeit der Raumbegriffe sich fortdauernd in demjenigen zeigt, was die stets höher aufstei - gende Geometrie daraus macht. Zur Erklärung der Pro - duction des Raums wird man die Principien im zweyten Theile finden.
Hier bemerke man vorzüglich den Begriff des Zwi - schen, mit zwey entgegengesetzten Seiten. Dieser ist charakteristisch für alle Reihenformen. Eine Zahl liegt zwischen Zahlen, eine Stelle im Raume zwischen andern Stellen, ein Zeitpunkt zwischen zweyen Zeitpunkten, ein Grad zwischen einem höhern und niedern Grade, ein Ton zwischen Tönen, u. s. w.
Ferner bemerke man die psychologische Thatsache, daß wir eine bestimmte Distanz, sie sey erfüllt oder leer, im62 Raume, in der Zeit, auf der Tonlinie, einigermaaßen auch bey der intensiven Größe, als Maaßstab fortzutragen im Stande sind, wie beym Augenmaaße und beym Tacte vorzüglich auffallend ist.
78. Es ist eine böse Gewohnheit der Philosophen, sich in schwierigen Fällen an die Logik zu lehnen; nicht eben um deren Vorschriften mit besonderer Sorgfalt zu befolgen, (welches sehr löblich wäre) sondern um dem Verfahren, welches sie selbst in ihrem wissenschaftlichen Gange beobach - tet, etwas nachzuahmen, oder nachzubilden. (Kants Kate - gorien, zusammen gestellt nach einer sehr fehlerhaften Tafel der logischen Urtheilsformen, und sein kategorischer Jmpera - tiv, der nichts anders enthielt als eine Reminiscenz an das logische Verhältniß des Allgemeinen zum Besondern, sind warnende Beyspiele.) So nun hat man auch in der Psy - chologie über Begriffe, Urtheile und Schlüsse kaum mehr zu sagen nöthig gefunden, als daß zu allen logischen Ope - rationen ohne Zweisel die Vermögen in der Seele vor - handen seyen; und weil die Logik, um vom Einfachern zum Zusammengesetzten fortzugehen, zuerst von Begriffen, dann von Urtheilen, und endlich von Schlüssen handelt, hat man auch unbedenklich die sogenannten Vermögen zu diesen Dingen, nämlich Verstand, Urtheilskraft und Vernunft, in derselben Ordnung in den Psychologieen abgehandelt.
Aber mehrere factische Umstände machen schon die That - sache zweifelhaft, ob Begriffe im strengen logischen Sinne wirklich im menschlichen Denken vorkommen? und es fragt sich, ob dieselben nicht vielmehr logische Jdeale seyen, de - nen sich unser wirkliches Denken mehr und mehr annähern soll? Diese Frage wird im zweyten Theile bejahet werden; es wird sich überdies zeigen, daß die Urtheile63 es sind, wodurch die Begriffe dem Jdeal mehr und mehr angenähert werden, daher sie den letztern in gewissem Sin - ne vorangehen; es wird endlich klar werden, daß aus dieser Wirksamkeit der Urtheile sehr wichtige Folgen für die me - taphysischen Begriffe insbesondere sich ergeben.
79. Wie diejenigen Vorstellungen der Menschen, die man Begriffe nennt, beschaffen seyn, darüber frage man die Wörterbücher und die Sprachlehren. Jene zeigen uns für jedes Wort einen Gedanken, der zwischen einer Menge ver - schiedener, zuweilen kaum vereinbarer Merkmale umher - schwankt. Diese verrathen, daß statt der allgemeinen Be - griffe (wie Mensch, Baum) die Vorstellung von Einem unter Vielen, die durch den unbestimmten Artikel (ein Mensch, ein Baum) angedeutet wird, überall gebräuchlich ist, wo nicht ausdrücklich logische Foderungen geltend ge - macht werden. Daher ist denn kein Wunder, daß die aller - meisten Menschen nicht einmal gute Nominal-Definitionen in Bereitschaft haben, wenn sie gefragt werden, was sie bey diesem oder jenem Worte denken. Anstatt also, wie es der Logik gemäß geschehen sollte, jeden allgemeinen Begriff zunächst bloß seinem Jnhalte nach vorzustellen, und die An - wendung auf den Umfang als etwas dem Begriffe selbst zufalliges zu betrachten: haben die Menschen gewisse Ge - sammt-Eindrücke von vielen ähnlichen Gegenständen mit Worten bezeichnet; und der Bedeutung dieser Worte, die keinesweges vest bestimmt ist, muß im Gebrauch jedesmal der Zusammenhang soweit nachhelfen, daß man vorzugsweise an gewisse Merkmale eines übrigens unbestimmten Gedankens erinnert werde.
Man sieht hieraus, mit welchem verkehrt ge - stellten Probleme man die Psychologie belasten würde, wenn man ihr anmuthen wollte, den Ur -64 Sprung ächt-allgemeiner Begriffe in der mensch - lichen Seele zu erklären.
Dergleichen Begriffe lassen sich factisch gar nicht nach - weisen; außer in den Wissenschaften, wo es klar vor Augen liegt, wie sie gebildet werden; nämlich durch positive und negative Urtheile, welche dem Worte, dessen Desinition man sucht, allerley Merkmale zusprechen und absprechen.
80. Dagegen nun ist es eine nicht zu bezweifelnde That - sache, daß die menschlichen Gedanken sich sehr gewöhnlich (ob - wohl nicht immer) in die Form von Urtheilen fügen. Beyna - he allen Redeformen in den nur einigermaaßen gebildeten Spra - chen liegt die Verbindung eines Subjects und eines Prädicats zum Grunde. Hiebey ist jedoch nicht zu vergessen, daß der logischen Foderung: Subject und Prädicat sollen vest bestimmte Begriffe seyn, in der Wirklichkeit nicht genüge Geleistet wird.
81. Die eben erwähnte Thatsache muß als eine psy - chologische Merkwürdigkeit auffallen. Denn aus der Vor - aussetzung, ein vorstellendes Wesen solle eine wirkliche oder auch nur scheinbare Welt erkennen, oder selbst nur eine solche als möglich denken, folgt gar nicht, daß dieses Den - ken und Erkennen gerade die Form von Urtheilen anneh - men müsse, sondern man kann in Versuchung gerathen, einen so besondern Umstand für eine eigenthümliche Ein - richtung der menschlichen Natur zu halten.
Das Vorstellen, als ein Abbilden der vorzustellenden Gegenstände gedacht, sollte den Gegenständen selbst gleichen und sich ihnen aufs genaueste anschließen. Aber das Ge - füge der Subjecte und der (großentheils negativen) Prädi - cate wird Niemand für eine Zusammensetzung in den Ge - genständen halten. Und der Maler, der uns die Person, nach der wir fragen, hinzeichnet, giebt uns eine weit ge - nauere Kenntniß, als wer mit Worten alle die Prädicate würde aufzählen wollen, welche in der Zeichnung mit Einem65 Blicke überschaut werden. Auch ist das ganze Gerüst von Arten und Gattungen, welches wir nach Anleitung der Lo - gik in Begriffen erbauen können, der Wirklichkeit fremd, und nur in unserer, an die Urtheilsform gebundenen, Erkenntniß zu gebrauchen.
Anmerkung. Schon manchem Philosophen hat das Jdeal einer anschauenden Erkenntniß vorgeschwebt (z. B. dem Spinoza), zu welcher freylich, wenn sie Wahrheit gewähren sollte, eine sinnenfreye, unmittelbar auf das Wahre gerichtete, sogenannte intellectuale Anschauung würde erfodert werden. Was daraus wird, wenn widersprechende Begriffe für angeschaute Gegenstände genommen, und als solche angepriesen werden, das hat das Zeitalter zum Theil erfahren; die Psychologie kann aber noch mit eben so trau - rigen als mcrkwürdigen Thatsachen bereichert werden, wenn man nicht abläßt, das cum ratione insanire kunstmäßig zu betreiben. Verstünde man dagegen, falsche Systeme in die Ferne zu stellen und sie aus dem rechten Standpunkte zu betrachten: so würde man daraus lernen.
82. Die Hauptfrage, welche wir in Ansehung der Urtheile an die speculative Psychologie zu richten haben, ist so zu fassen: woher kommt die leidentliche Stel - lung des Subjects, als desjenigen Gedankens dem eine Bestimmung erst noch durch das Prädi - cat gegeben werden müsse? Warum setzen sich nicht Subject und Prädicat sogleich, indem sie im Denken zusammenkommen, in das Verhalt - niß des Substantivs und Adjectivs? Warum scheint es, als ob wirklich ein Seelenvermögen, Urtheilskraft ge - nannt, sie erst copuliren müßte?
Vorläufig sind hiebey in factischer Hinsicht folgende Be - merkungen zu machen:
a) Es ist eine Erschleichung, wenn man behauptet,66 alles menschliche Denken sey ein geheimes Urtheilen. Als sichere Thatsache zeigt sich das Urtheilen nur im Sprechen; gar vieles aber denkt der Mensch, das er nicht ausspre - chen kann.
b) Auf die Entwickelung der menschlichen Gedanken in ausgesprochenen Urtheilen hat großen Einfluß seine Nei - gung, sich Andern mitzutheilen. Vielleicht gilt dieses auch rückwärts: der verschlossene Mensch mag derjenige seyn, des - sen Vorstellungen sich nicht leicht in die Form der Urtheile fügen. — Man sieht bei Kindern schon sehr auffallende Unterschiede der Redseligkeit und Zurückhaltung, auch wenn die letztere nicht aus Scheu oder Trägheit entspringt.
c) Das Aussprechen ist oft Bedürfniß, und gewährt Erleichterung. Das Urtheilen hängt hier mit Trieben und Gefühlen zusammen.
d) Eine Hauptart der Urtheile, worin sich Subject und Prädicat vorzüglich scharf getrennt zeigen, sind die Be - urtheilungen, die ein Vorziehen und Verwerfen aus - drücken. Der Hang zu diesen ist so groß, daß der Mensch gern an Vorbedeutungen glaubt, d. h. daß er jedes Ereig - niß als drohend oder glückverkündend zu betrachten geneigt ist. Und aus den wiederholten Versuchen der Philosophen, Gutes und Schlimmes auf Bejahung und Verneinung zu - rückzuführen, läßt sich errathen: daß zwischen dem Urthei - len auf der einen, dem Begehren und Verabscheuen auf der andern Seite, zwar kein in der Natur außer uns gegrün - deter, aber doch ein psychologischer Zusammenhang Statt finden müsse.
e) Eine andre Hauptart von Urtheilen, in welchen ebenfalls der Unterschied und die Zusammenfügung der bey - den Bestandtheile sehr merklich wird, bietet sich dar in den Anknüpfungen des Neuen an das Bekannte. Entweder das Bekannte ist hier das Subject, und das Neue macht das67 Prädicat aus, bey Veränderungen, die man an den Din - gen bemerkt, z. B. der Baum blühet, oder das Neue ist das Subject, und wird unter ein bekanntes Pradicat sub - sumirt, z. B. bey allen Antworten auf die Frage: Was ist das?
Die letztern Bemerkungen sind freylich nur particulär; allein psychologisch gmommen ist oft das Allgemeine aus dem Besondern zu erklären, weil sehr oft besondere Vor - stellungsarten durch Uebertragung erweitert werden. Wie die Begriffe der Jrrational-Größen entstehen, indem die Vorstellung einer Zerlegung in gleiche Factoren auch auf diejenigen Zahlen übertragen wird, die nicht aus mehrern gleichen Factoren bestehen: so kann auch die allgemeine Ge - wohnheit, alle Rede in die Form der Urtheile zu bringen, einen sehr speciellen Anfang genommen haben: und es ist keinesweges erlaubt vorauszusetzen, daß alle Gedanken, die jetzt in der Form einer Verknüpfung von Subject und Prä - dicat erscheinen, den Grund dazu in sich selbst enthalten.
Anmerkung. Urtheile wie A = A, oder: der Stein ist nicht süß, sind Schul-Formeln und Schul-Beyspiele. Wird ursprünglich geurtheilt, so verräth sich darin der Stand - punct des Urtheilenden. Kinder urtheilen und fragen, wo der Erwachsene seine schon zusammengefügten Substantive und Adjective nicht mehr trennt; und wo er theils durch Gewohnheit beschränkt ist, theils die Gränzen des mensch - lichen Wissens kennt, theils die Dinge nur von der Ge - schäffts-Seite sehen will.
Der Proceß der Wölbung und Zuspitzung (26) ist da leicht zu erkennen, wo auf die Frage: was ist das? Ge - antwortet wird, „ Es ist nichts als Schnee, “sagte ein Kind, dem man einen Schneekuchen geschenkt hatte. Hier war der Kuchen das Subject, dessen Auffassung die Wöl - bung: was für ein Kuchen? veranlaßte, bis die Zuspitzung68 nur den Schnee übrig ließ. Die Schlußsätze: dieser Kuchen ist nicht eßbar, er wird schmelzen, sind von ähnlicher Art; die Prädicate kommen auch hier von / innen. Umge - kehrt verhält es sich, wenn Derjenige, der bisher gewohnt war, die Hunde frey laufen zu sehn, zum ersten Male sieht und urtheilt, der Hund fahre eine Waare zu Markte. An dem von Pferden gezogenen Wagen würde er vorüber - gegangen seyn, ohne zu urtheilen.
Die Wölbung spannt, die Zuspitzung befriedigt; daher eine Lust am Beurtheilen, und daher voreilige Urtheile und Geschwätz. Dies schadet der Beobachtung sowohl als dem Denken. Der Beobachter würde mehr bemerkt haben; er wäre nicht durch einerley Zuspitzung befriedigt davon gegangen. Beym Denker wäre die Wölbung vollständiger, und mehr aus der Tiefe gekommen. Auch der Gestaltung schadet die Lust am Urtheilen. Kritische Köpfe sind selten producirende.
Der Beobachter geht von einer Wölbung zur andern successiv; er bildet Reihen von Urtheilen. Das bloße Anschauen trennt die Prädicate nicht; es ist minder scharf; weil die Wölbung mangelhaft war, ist es auch die Zu - spitzung. Häufig folgt darauf untreues Wiedererzählen. Hieben. wirkt die Sprache mit, durch Vieldeutigkeit der Worte; wofern derselben nicht eine beständige Berichtigung entgegenstrebt.
83. Die Schlüsse betrachtet die Logik als Fort - schreitungen des Denkens. Allein hiebei bringen sich so - gleich zwei Bemerkungen auf:
a) Setzt selten wird in gewöhnlicher Sprache eine Fortschreitung in der Form des Syllogismus ausführlich dargestellt; vielmehr hat der letztere fal allemal etwas Lang - weiliges, wenn er nicht verkürzt, als Enthymen » erscheint. Dies ist keinesweges ein Tadel für den Syllogismus (wo - für es oft gehalten wird), sondern nur eine Erinnerung, daß69 Logik und Psychologie verschiedene Dinge sind. Die Vor - stellungsreihen laufen meistens durch die Untersätze; indem sie die Obersätze nur streifend berühren.
b) Sehr selten haben die Erzeugnisse des Denkens ur - sprünglich (beym Erfinden) die Sicherheit des Syllogismus. Meistens sind es Versuche, ein paar Vorstellungen, die sich um einerley Mittelbegriff drehen, unter einander zu ver - knüpfen, noch ehe die nöthige Quantitat der Sätze, und die genaue Jdentität des Mittelbegriffs geprüft ist. Rich - tiges Schließen und richtiges Messen sind nahe verwandt. Der Mittelbegriff wie der Maaßstab, wollen genau vestge - halten seyn.
84. Wenn daher der Vernunft das Vermögen zu Schließen beigelegt wird, so wird hier wiederum eine un - statthafte Abgränzung der Seelenvermögen sichtbar. Schlüsse erzeugen, und Schlüsse prüfen und bestätigen, dies sind zwei ganz verschiedene, in der Wirklichkeit meistens weit getrennte Geschäffte. Das erste mag der Einbildungskraft, das zweyte der Vernunft zugeschrieben werden.
85. Am Ende muß hier noch des logischen Bey - falls Erwähnung geschehn, der von dem ästhetischen weit verschieden ist. Jener besteht nicht wie dieser in einem Vorziehn, dessen Gegentheil das Verwerfen ist, son - dern im Anerkennen, wobey man sich übrigens den Ge - genstand gefallen läßt wie er ist. Allein mit dem Anerken - nen ist ein Gefühl eigner Art verbunden, worin der Zwang der Evidenz und die Befriedigung eines Anspruches sich ver - mischen, und von dem nur die Umstände bestimmen können, ob es mehr angenehm oder unangenehm seyn werde. Die Hauptsache ist hier, zu bemerken, wie die vorgeblichen Ver - mögen des Erkennens und des Fühlens in einander fallen oder, wie die Psychologen lieber sagen, auf einander ein -70 fließen, wobei sie sich um das Causalverhältniß in diesem Einflusse nicht weiter zu kümmern pflegen.
86. Was zur Erfahrung gehöre, und was dieselbe überschreite, ist nicht ganz leicht zu unterscheiden. Kant rechnet noch die Begriffe von Substanz und Kraft mit zu demjenigen, was in die Erfahrung, als Bestimmung der - selben, eingehe, und es giebt bey ihm eine substantia phaenomenon. Wir müssen hierin von ihm abweichen, aus Gründen, die zum Theil schon die Einleitung in die Philosophie vor Augen gelegt hat und die in der allgemei - nen Metaphysik weiter entwickelt werden.
(Es ist nämlich der Begriff der Substanz nicht gleich dem Begriff des Dinges, sondern aus diesem entstanden. Ding ist eine Complerion von Merkmalen, noch ohne Frage nach ihrer realen Einheit, die dabei blindlings vorausgesetzt wird. Substanz ist der von allen Merkmalen verschiedene Träger derselben; ein Begriff, der erst in so fern entsteht, als man eingesehen hat, daß man die Merkmale von ihrer Einheit unterscheiden müsse. Dieser Begriff ist widerspre - chend, er muß umgebildet werden in den Begriff eines We - sens, das vermöge der Störungen und Selbsterhaltungen uns die Erscheinung einer Complexion von Merkmalen dar - bietet, die ihm der Wahrheit nach gar nicht zukommen. Der Begriff der Kraft lehnt sich an den der Substanz, und entwickelt sich mit ihm auf beinahe gleiche Weise, aus dem des veränderlichen Dinges; auch ist er einer ähnlichen metaphysischen Correctur zu unterwerfen. Beyde Begriffe entspringen also an der äußersten Gränze der Erfahrung, als Widersprüche, die in die Metaphysik hinein treiben, das heißt, die uns nöthigen, die Erfahrung zu überschreiten und71 Ueberzeugungen bey uns vestzusetzen, deren Gegenstände in keiner Erfahrung können gegeben werden.)
87. Ausgerüstet mit den Begriffen von Substanz und Kraft (wie dunkel und wie unrichtig sie auch übrigens noch mögen gedacht werden) geht nun der menschliche Geist theils in alle Weiten des Raumes und der Zeit hinaus, theils in das Unbestimmbar-Kleine der nämlichen Reihenformen hinab, theils gänzlich über sie hinweg, um das Höchste und Er - habenste zu finden. So entstehn die Fragen nach der Un - endlichkeit der Welt, nach den Bestandtheilen der Materie (entweder Klümpchen oder Atomen), nach der Geisterwelt und der Gottheit.
Anmerkung. Es ist höchst unzeitig, jetzt schon über Gegenstände dieser Art psychologische Fragen erheben zu wollen, wie man neuerlich mit einer gewissen Vorliebe ge - than hat und mit der Einbildung, sich auf diesem Wege wissenschaftliche Verdienste erwerben zu können. Unfehlbar bilden sich die Begriffe von den Seelenvermögen, durch welche diese Gegenstände sollen erkannt werden, nach den Meinungen über die Gegenstände selbst; und erst muß man so viel Metaphysik haben, um diese Meinungen berichtigen zu können, ehe man nur fragen darf, welche Fähigkeit für übersinnliche Erkenntniß dem Menschen beywohnen möge. Konnte man falschen Speculationen zu Gefallen eine falsche Logik ersinnen, so wagt man es auch mit der Psychologie. Nur die Erfahrung wird sich nicht beugen lassen.
88. Noch gehören hieher die gereinigten geometri - schen Begriffe von Körpern, als gleichförmigen Continuen, von vollkommenen Flächen, Linien, Punkten. Auch sie über - schreiten die Erfahrung, oder vielmehr, die Erfahrung überschreitet sie; weil jeder sinnliche Gegenstand diesen Begriffen etwas zumischt, wodurch er sie entstellt.
Die Frage nach den Seelenvermögen, welche die Grund -72 begriffe der Geometrie hergeben, ist so viel unnöthiger, weil man auf den ersten Blick sehen kann, daß dieselben, bey vorausgesetzter Production der Reihenformen, sich werden aus der Erfahrung erhalten lassen, wofern es möglich ist, zu scheiden, was die Sinne vermischt darbieten; eine Ope - ration, welche der Erzeugung wissenschaftlicher Allgemein - Begriffe nicht unähnlich seyn wird.
89. Bey der Reproduction, welche sich ganz auf das zeitliche Leben des Menschen, nämlich auf die Fortdauer einmal erzeugter Vorstellungen bezieht, treffen wir wiederum auf eine Sorglosigkeit der Psychologen in Ansehung dessen, wornach zu fragen ist. Unsre Vorstellungen nämlich wei - chen aus dem Bewußtseyn zurück, und kehren wieder; wo - von nun soll erst der Grund gesucht werden, von dem Zu - rückweichen, oder vom Wiederkehren? Auf jenes muß zuerst die Frage gerichtet werden, während gewöhnlich nur vom letztern geredet wird.
90. Zweyerley kann vorzüglich seyn an der Repro - duction: ihre Lebhaftigkeit und ihre Treue. Jene schreibt man der Einbildungskraft, diese dem Ge - dächtnisse zu. So sind zwey Seelenvermögen erdichtet für einerley Sache, die von verschiedenen Seiten betrachtet wird. Dafür giebt es jedoch eine Entschuldigung, die in dem gleich Folgenden leicht zu erkennen ist.
91. Die Treue und die Lebhaftigkeit der Reproduction finden sich sehr selten in einem hohen Grade gleichmäßig beysammen. Es beruht nämlich die Treue darauf, daß eine Vorstellung sich in demselben Zusammenhange mit andern erneuere, worin sie zuerst vorkam. (Mit denselben Merk - malen Eines Dinges, denselben Umständen Einer Begeben - heit, derselben Zeitbestimmung und örtlichen Verknüpfung73 u. s. w.) Diese Foderung wird selten da sehr vollständig erfüllt werden, wo die Lebhaftigkeit der Reproduction viele, unter einander nicht zusammenhängende Vorstellungen, bey - nahe zugleich ins Bewußtseyn wiederkehren läßt, die sich in ihren Nebenbestimmungen mannigfaltig durchkreuzen. So nun findet man auch, daß Menschen von viel Phantasie wenig Treue des Gedächtnisses zu besitzen pflegen, wiewohl es in dieser Hinsicht Ausnahmen giebt.
Anmerkung. Mehrere Psychologen erfodern zum Gedächtniß, Reproduction mit Erinnerung. Die letztere soll das Urtheil seyn, man habe die nämliche Vorstellung schon ehemals gehabt. (Hieraus wird zuweilen sehr überflüssig noch ein eigenes Vermögen gemacht, das Erinnerungsver - mögen.) Allein das erwähnte Urtheil kann als ein solches, wobey sich Subject und Prädicat wirklich scheiden, nur sel - ten nachgewiesen werden, und die ganze Bestimmung ist dem Sprachgebrauche keinesweges angemessen. Man sagt von demjenigen, er habe ein gutes Gedächtniß, der eine Rede leicht auswendig lernt, und sie, ohne ihren Zu - sammenhang zu zerreißen, mit Sicherheit hersagen kann, wenn er schon sich während des Hersagens nicht erinnert, es sey das dieselbe Rede, die auf dem oder jenem Papier gedruckt oder geschrieben stehe und die er zu der oder jener Stunde memorirt habe.
92. Ueber die Association der Vorstellungen, oder über die Art und Weise, wie dieselben einander nicht bloß nach einmal wahrgenommenen Verbindungen der Zeit und des Raumes, sondern auch nach Aehnlichkeiten, ja sogar (schein - bar) nach Contrasten hervorrufen, sind die psychologischen Schriften voll von Bemerkungen, welche hieher zu setzen nicht nöthig ist. Eher mag hier an den mannigfaltig ver - schlungenen Gang zu erinnern seyn, den oft genug die Re - production zu nehmen pflegt. Wer z. B. Kohlen und Asche74 in einem Walde findet, der denkt zunächst unmittelbar an brennendes Holz, welches (weiter rückwärts) dürr im Walde möge gelegen haben, dann (vorwärts) von Menschen die sich dort lagerten, ergriffen und (weiter vorwärts) angezün - det seyn. Wie aber kamen die Menschen dahin? (Diese Frage geht rückwärts.) Wo sind sie geblieben? (vorwärts). Welcher Brand konnte entstehn, wenn sich ein Sturm er - hob? (Seitwärts ins Gebiet der Möglichkeit, zugleich rück - schauend auf den Sturm und vorschauend auf den Schaden.) Oder man findet alte Münzen in der Erde. Wie kommen sie dahin? Aus welcher Zeit sind sie? Weshalb vergraben? Wem gehört der Schatz? — Jedes Saamenkorn erinnert rückwärts an das Gewächs, von dem es stammt, und vor - wärts an das, welches daraus entstehen kann, zugleich aber an den Gebrauch, den man vielleicht, ohne es zu pflanzen, davon machen wird. — Zu den nützlichen Uebungen gehört es, in vielen solchen Beyspielen die wechselnden Richtungen und Verzweigungen des Gedankenlaufes zu beachten. Uebri - gens ist sehr bekannt, daß bey der Verknüpfung nach Aehn - lichkeiten vielfältig eins an die Stelle des andern gesetzt wird, woraus neue Zusammensetzungen, Erdichtungen, entstehen, für die man ein Dichtungsvermögen erfun - den hat.
Anmerkung. Das Dichten, im weitesten Sinne, ist das Wesentliche bey allem Erfinden. Zum Selbstdenken in den Wissenschaften gehört eben so viel Phantasie, als zu poetischen Erzeugnissen; und es ist sehr zweifelhaft, ob Newton oder Shakespeare mehr Phantasie besessen habe.
93. Gedächtniß und Einbildungskraft kommen darin überein, daß bey jedem Menschen ihre vorzügliche Stärke auf gewisse Klassen von Gegenständen sich zu beschränken pflegt. Wer sich geometrische Phantasie wünscht, der würde ganz vergeblich sich in der, gewöhnlich sogenannten, Dicht -75 kunst üben, und wer die Kunstworte einer Wissenschaft, die ihn interessirt, ohne alle Mühe behält, der hat oft ein schlechtes Gedächtniß für Stadt - Neuigkeiten. — Hier ver - räth es sich, daß die Reproduction, sowohl in Hinsicht ihrer Lebhaftigkeit als ihrer Treue, mit der übrigen geistigen Thä - tigkeit aufs engste zusammenhängt, und daß die Annahme von eigenen, die Reproduction besorgenden, Vermögen der Seele höchst ungeschickt ist, um die Erscheinungen auch nur befriedigend zusammenzustellen.
94. Gedächtniß und Einbildungskraft weichen darin von einander ab, daß jenes nur Vorgestellte und gleich - sam todte Bilder herbeyzuführen, diese im activen Vor - stellen beschäfftigt zu seyn scheint. Das Uebergehn der Vorstellungen aus dem einen in den andern Zustand ist sehr merklich beym Wiederlesen dessen, was man selbst ge - schrieben, beym Prüfen dessen, was man selbst gedacht hat.
95. Wenn einmal Seelenvermögen angenommen wer - den, so ergiebt sich die Nothwendigkeit, außer dem Vermö - gen vorzustellen noch eins oder mehrere anzunehmen, so - gleich daraus, daß wir durch Angabe dessen, was wir vor - stellen, oder wie das Vorstellen in uns entstehe, bey wei - tem nicht alles dasjenige bezeichnen können, was in uns vorgehe. Jnsbesondre dringt es sich auf, daß ein höchst mannigfaltiges Vorziehn und Verwerfen in uns vor - kommt; um dessentwillen auch schon längst neben dem Vor - stellungsvermögen noch das des Begehrens und Verabscheu - ens ist aufgestellt worden.
7696. Jn dem weiten und dunkeln Raume neben dem Vorstellen hat man nun neuerlich die Gränze gezogen zwi - schen Fühlen und Begehren. Allein fragt man die Psy - chologen nach dem Ursprunge dieser Gränze, so geben sie zwar an, das Begehren beziehe sich auf Gegenstände, das Gefühl auf Zustände; dennoch drehen sich ihre Erklärungen im Cirkel, oder kommen wenigstens nicht über die Frage hinweg, ob vielleicht Fühlen und Begehren einerley Ereig - niß sey, das wir nur in unserer Vorstellung von verschie - denen Seiten betrachten, und deshalb mit zweyerley Namen benennen?
Anmerkung. Maaß in dem Werke über die Ge - fühle (S. 39 des ersten Theils) erklärt Fühlen durch Be - gehren („ ein Gefühl ist angenehm, so sern es um sei - ner selbst willen begehrt wird “), aber eben derselbe, in dem Werke über die Leidenschaften (S. 2 vergl. S. 7) sagt: es sey ein bekanntes Naturgesetz, zu begehren was als gut, zu verabscheuen was als böse vorgestellt werde. Wobey die Frage entsteht, was denn gut, und was denn böse sey? Darauf nun erhalten wir die Antwort: die Sinnlichkeit stelle als gut vor das, wovon sie ange - nehm afftcirt werde, u. s. w. Und hiemit sind wir im Cirkel herumgeführt. — Hoffbauer, in seinem Grundrisse der Erfahrungsseelenlehre, fängt die Capitel vom Gefühl - vermögen und Begehrungsvermögen so an: „ Wir sind uns mancher Zustände bewußt, welche wir uns bestreben her - vorzubringen, diese nennen wir angenehm; gewisse Vor - stellungen erzeugen in uns das Bestreben, ihren Gegen - stand wirklich zu machen, dies nennen wir Begehren, u. s. w. Hier ist einerley Grund, das Bestreben, den Ge - fühlen und Begierden untergelegt; und wenn der Unterschied in den Gegenständen und Zuständen liegen soll, so fragt sich, ob nicht das eigentlich Begehrte vielleicht die77 Gefühle also die Zustände seyen, die man von den Gegenständen erwarte? — Bey andern Autoren sieht es in diesem wichtigen Puncte eben nicht besser aus. Eine vortreffliche Bemerkung Lockes, in dem Werke über den menschlichen Verstand (II, 21, §. 35), hatte man benutzen sollen; sie erschöpft zwar den Gegenstand nicht, führt aber auf den rechten Weg, und zeigt, daß viele Begierden (wenn schon nicht alle) unabhängig sind von Gefühlen, wiewohl sie deren in ihrem Gefolge haben können. Was Locke Un - zufriedenheit nennt, ist kein Gefühl sondern die erste Re - gung der Begierde selbst.
97. Wie nun die Thatsachen, die wir Gefühle nennen, sich nur äußerst schwer von denjenigen absondern lassen, die man als Begehrungen und Verabscheuungen kennt, so auch ist es ein sehr unsicheres Unternehmen, die Arten der Ge - fühle aufzuzählen. Dreyerley ragt hervor: sinnliches Wohl - seyn und Schmerz; Gefühl fürs Schöne und Häßliche (wo - bey noch des Erhabenen und des Kleinlichen zu gedenken ist); und die Affecten, die man wenigstens jetzt gewohnt ist bey den Gefühlen abzuhandeln. Aber damit ist der Gegen - stand nicht erschöpft. Zuvörderst muß bemerkt werden, daß die Gefühle sich verdoppeln in der Theilnahme an dem, was Andre fühlen. Dann, daß jede Art von äußerer und inne - rer Thätigkeit, je nachdem sie gelingt oder mißlingt (das heißt, je nachdem das in Thätigkeit liegende Begehren be - friedigt wird oder nicht), ein Wohlseyn oder Misbehagen mit sich führt. Ferner, daß die Gefühle sich mannigfaltig vermischen (ein streitiger Punkt, so wie der folgende). Endlich, daß es Gefühls-Zustände giebt, die, wenn nicht gleichgültig, doch so beschaffen sind, das an ihnen das Behagliche oder Unbehagliche nicht charakteristisch ist und ihre Stärke nicht darnach gemessen werden kann.
98. Wir werden, um wenigstens Einen vesten Schei -78 depunkt zu haben, die Gefühle zuvörderst eintheilen in solch, die an der Beschaffenheit des Gefühlten haften, und in an - dere, die von zufälligen Gemüthslagen abhängen; -- wobey es noch einen dritten mittlern Fall geben kann, daß nämlich eine gewisse Gemüthslage vorhanden seyn müsse, damit aus der Beschaffenheit des Gefühlten wirklich das derselben an - gemessene Gefühl sich erzeuge. Dann wird von den Mittel - zuständen zwischen dem Angenehmen und Unangenehmen zu sprechen seyn, und zuletzt werden die Affecten an die Reihe kommen.
A. Von Gefühlen, die an der Beschafsenheit des Gefühlten haften.
99. Daß es solche Gefühle gebe, ist klare Thatsache. Jeder körperliche Schmerz, als solcher, ist unangenehm, oh - ne alle Rücksicht auf die Frage, wieviel man sich darum kümmere, wie geduldig man ihn ertrage. Auch sind die unangenehmen Gefühle dieser Art specifisch verschieden; Bren - nen, Schneiden, electrische Schläge, böse Zähne, jedes die - ser Dinge erregt seinen eigenen Schmerz, der sich von dem andern unterscheiden läßt; obgleich ein bloß Vorgestell - tes, das nicht angenehm noch unangenehm wäre, sich nicht heraussondern läßt, vielmehr die Vorstellung und ihr Widriges nur Eins sind. Süße Speisen, sanfte Töne, eine gelinde Wär - me geben Beyspiele von angenehmen Empfindungen dieser Art, deren Angenehmes eingestanden wird, ohne Rücksicht auf die Frage, wie viel man Werth darauf lege, und ob man nur geneigt sey, dabey zu verweilen und sich diesen Empfin - dungen hinzugeben.
100. Diese Gefühle sind analog allem Aesthetischen, von dem sie nur dadurch abweichen, daß beym letztern das Vorgestellte sich sondern läßt von dem Prädicate, welches Beyfall oder Tadel ausdrückt; daher das ästhetische Ge -79 Fühl sich in die Form des Urtheils bringen und wissen - schaftlich behandeln laßt; ein unendlicher Vorzug in prakti - scher Hinsicht. *)Zu vergleichen ist des Nfs. allgemeine praktische Philosophie, insbesondere die ganze Einleitung.
Anmerkung. Wenn in dem Schönen die Größe vorwiegt, so entsteht das Erhabene. Dies ist eine ächte Species des Schönen, weil die Größenverhältnisse selbst zu den Elementen des Schönen gehören. Aber vergebens sucht man die Definition für das Lächerliche. Dies hat seinen Ursprung in der Möglichkeit des Lachens, derglei - chen sich ohne einen menschlichen Leib und dessen organi - sche Lebens-Gefühle nicht denken läßt. Das reinste Komi - sche würde sich für einen reinen Geist in einen bloßen Con - trast auflösen. Das Lachen gehört zu den Affecten; wie diese, erschüttert es den Leib, Und durch diesen rückwärts wiederum den Geist; wie sie, ist es eine kurz dauernde Ge - müthslage, zu der man nach Launen sich bereit findet oder nicht. Außerdem ist das Lächerliche ein Beyspiel dessen, was stark gefühlt wird, ohne daß die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit ein Charakter desselben wäre. Bekanntlich giebt es ein fröhliches und ein bitteres Lachen, und zwischen beyden eine gewisse Gleichgültigkeit gegen das Lächerliche, wie bey dem Komiker, dem es eine ernste Angelegenheit ist, Anderer Lachen zu erregen.
B. Von solchen Gefühlen, welche von der Ge - müthslage abhängen.
101. Bey der vorstehenden ersten Klasse kann man mit Recht sagen: das Gefühl ist der Ursprung und (wenig - stens zum Theil) der Erklärungsgrund der entsprechenden Be - gierde und Verabscheuung. Hingegen bey der jetzt folgen -80 den zweyten Klasse muß das Begehren als etwas ursprüng - liches und das Gefühl zwar mcht als Wirkung, aber doch als das Begleitende und Nachfolgende von jenem angesehen werden.
Man erinnere sich hier zuerst der sehr zahlreichen Be - gierden, welche von der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit ihres Gegenstandes entweder unabhängig oder doch mit der - selben nicht im Verhältnisse sind. Alle die Dinge, welche heute gewünscht und morgen verschmäht werden, alles, dessen Werth) nach individueller Laune und Liebhaberey ab und zunimmt, liefert uns hier auffallende Beyspiele. Das Be - gehren dieser Dinge ist nun bekanntlich von vieler Unlust, und im Falle der Befriedigung von einer kurzen Lust beglei - tet. Solche Lust und Unlust kann man weder sinnlich noch vernünftig nennen; sie hängt zusammen mit der Aufregung unserer Thätigkeit, wie auch der Gegenstand unseres Thuns übrigens beschaffen seyn möge. Ob ein Kind einen Knoten in einem Bande, oder ein Mathematiker ein Problem in Zahlen und Figuren auflösen wolle, das Gefühl der An - strengung und der vergeblichen Mühe bleibt immer gleich - artig.
Die unruhige Thätigkeit des Menschen (entgegengesetzt dem naturgemäßen Streben der Thiere) ist durchgehends von dieser Art.
Hieher gehören auch die Gefühle, deren Gefühltes ganz zu fehlen scheint, wie bey der Beklommenheit oder in der behaglichen Ruhe.
C. Von mittleren und gemischten Gefühlen.
102. Alle Gefühle des Contrastes, und das mit ihnen einigermaaßen verwandte Staunen, müssen als mitt - lere Gefühle betrachtet werden, d. h. als solche, die sich durch das Angenehme und Unangenehme, was sie etwa mit sich führen, weder beschreiben noch messen lassen. Das Er -81 staunen kann eben so wohl angenehm als unangenehm seyn. Die Contraste sind in allen schönen Künsten unentbehrlich; und doch fallen sie nur selten mit den eigentlichen ästheti - schen Verhältnissen zusammen; vielmehr dienen sie zunächst, das Mannigfaltige auseinanderzuhalten, und dadurch die Faßlichkeit jener Verhältnisse zu unterstützen.
103. Daß es gemischte Gefühle geben könne, folgt allenfalls schon aus der Ungleichartigkeit der beyden vorer - wähnten Klassen; die Neugierde, die etwas an sich widriges sehen (oder überhaupt wahrnehmen) will, und die nun durch eine ihr wirklich zu Theil gewordene unangenehme Em - pfindung befriedigt wird, liefert dazu das Beyspiel. Oh - nehin kann auf empirischem Wege Niemand auf den Gedanken kommen, gemischte Gefühle läugnen zu wollen, da die Fälle täglich vorkommen, wo ein und dasselbe Ereigniß in verschiedener Hinsicht unsre Gefühle aufregt, und sehr oft auf entgegengesetzte Weise.
Anmerkung. Falsche Speculationen haben es den - noch dahin gebracht, diese einfache Thatsache zu verdunkeln. Man meint dabey eine zwiefache Täuschung zu entdecken, erstlich eine Verwechselung. zwischen dem Gefühle selbst und seinen mannigfaltigen Ursachen, zweytens ein Verkennen des Uebergangs aus einem Gefühle ins andre. Diese Bemer - kungen können die Thatsache nicht zweifelhaft machen, am wenigsten aber die entgegengesetzte Behauptung veststellen. Es ist schon gezeigt worden (34 — 38), daß des Menschen Fühlen und. Wollen in seinen Vorstellungsmassen, und kei - nesweges unmittelbar in der Seele, begründet ist, daher denn die Vielfachheit und der Widerstreit des Fühlens sowohl als des Wollens eben so begreiflich als gewiß in der Erfah - rung gegeben ist.
Anmerkung. Nur zu oft gefallen sich die Dichter in dem. Kunststück, Gefühle zu mischen. So können sie das82 Piquante erreichen, aber nicht das Schöne. Große Muster mögen oft genug misverstanden werden. Shakespeare mischt Komisches in die Tragödie, aber wenn er hiedurch eine Spannung augenblicklich mildert, um sie desto sicherer wie - derum zu steigern, so hütet er sich, seinen Hauptpersonen das Lächerliche ankleben zu lassen. Schon Homer ist roman - tisch in der Reise-Erzählung des Odysseus; aber das ist Erzählung überstandener Leiden, und charakterisirt den Odys - seus, von dem Niemand einen rein ernsten und treuen Bericht erwarten soll.
D. Von den Affecten.
104. Nachdem man die Affecten (vorübergehende Ab - weichungen von dem Zustande des Gleichmuths) von den Leidenschaften (eingewurzelten Begierden) geschieden hat, ist die Meinung herrschend geworden, Affecten seyen stärkere Gefühle. Aber es giebt sehr starke, dauernde Gefühle, wel - che aufs tiefste in die Grundlage eines menschlichen Charak - ters hiningewachsen sind (z. B. Anhänglichkeit an die Sei - nigen und an das Vaterland), mit denen der vollkommenste Gleichmuth so lange besteht, als nichts Widriges hinzutritt, das eine Reizung mit sich führt. Der Augenblick der Ge - fahr für die Unsern und für das Vaterland kann. uns in Affect setzen, aber dieser Affect ist von dem Gefühle selbst weit verschieden. Eben so kann der Mensch ein starkes und dauerndes Ehrgefühl besitzen, ohne darum beständig im Zu - stande des Affects zu seyn. Weit entfernt, daß Affecten selbst Gefühle wären, machen sie vielmehr das Gefühl platt. Der Sittenlehrer und der Künstler haben gar sehr Ursache, sich vor der Plattheit zu hüten, welche entsteht, wenn der Mensch vor lauter Affect am Ende nicht mehr weiß, worüber er eigentlich weint oder lacht.
105. Kants Eintheilung der Affecten in schmerzende und rüstige verbreitet Licht über den Gegenstand. Die83 Abweichung vom Gleichmuthe nämlich kann nach zwey Sei - ten geschehen, entweder es ist zu wenig oder zu vieles im Bewußtseyn gegenwärtig. Zur ersten Klasse gehören Schreck, Traurigkeit, Furcht, zur zweyten Freude und Zorn.
106. Die Affecten sind nicht bloß ein psychologischer, sondern auch ein physiologischer Gegenstand. Denn sie wir - ken auf den Leib mit merklicher, oft gefährlicher Gewalt, und machen eben dadurch rückwärts wiederum den Geist vom Leibe abhängig, theils von der Dauer des leiblichen Zustandes (der nicht so schnell aufhört, wie das Gemüth für sich allein zur Ruhe kommen würde), theils von der Disposition des Leibes zur Nachgiebigkeit gegen den Affect So sind Muth und Furchtsamkeit offenbar sehr abhängig von Gesundheit und Kränklichkeit.
Merkwürdig ist noch der Umstand, daß den verschiede - nen Affecten verschiedene leibliche Zustände zugehören. So treibt die Schaam das Blut in die Wangen, die Furcht macht erblassen, der Zorn und die Verzweiflung vermehren die Muskelstärke, u. s. w.
Hieraus sieht man nun, daß es unstatthaft seyn wür - de, die sämmtlichen möglichen Affecten nach einem bloß psy - chologischen Princip aufzählen und unterscheiden zu wollen.
Anmerkung. Ohne hier schon die Lehre von der Verbindung zwischen Leib und Seele naturphilosophisch vor - zutragen, können wir sogleich die beyden vorstehenden Be - merkungen weiter benutzen.
1) Jede allmählige Aufregung eines Systems durch ein anderes wirkt dergestalt zurück, daß von Seiten des aufgeregten die Unruhe in dem aufregenden verlängert wird. Nicht bloß der Leib überhaupt versetzt, nachdem er im Affect aufgeregt wurde, hintennach den Geist in eine längere Unruhe: sondern dies muß in den verschie - denen Systemen des Organismus sich eben so verhalten. 84Geht die Aufregung von der Seele zum Gehirn, vom Gehirn zum Rückenmark, vom Rückenmark zum Gang - liensystem, von diesem zum Gefäßsystem, von da zu den einzelnen Organen und bis in die Vegetation: so geht die Rückwirkung den umgekehrten Weg; und zwar nicht plötzlich, sondern successio, wie die Aufregung; welche hier wie eine beschleunigende Kraft (nach dem in der Mechanik üblichen Ausdrucke) zu betrachten ist.
2) Die partielle Wirkung auf bestimmte Organe, wo - von die Affecten die Probe zeigen, muß auch da vorkom - men, wo wir sie nicht bemerken. (Bey der Reproduction der Gesichtsvorstellungen entsteht eine Reizung der Sehenerven, bey Gehörsvorstellungen eine Reizung der Gehörner - ven u. s. w. aber bey der Vorstellung einer Bewegung wer - den die Bewegungsnerven gereizt, so daß ein besonderer Alt des Zurückhaltens nöthig ist, wenn die Bewegung nicht erfolgen soll.)
Verbindet man 1) mit 2) so werden die mannigfal - tigsten Dispositionen erklärbar; ohne daß man veranlaßt wird, in die gemeine Verwechselung von Leben und See - le, und hiemit in den Jrrthum des sogenannten Mate - rialismus zu verfallen, der übrigens in Ansehung der Materie noch verkehrter ist als in Ansehung der Seele.
107. Gleich Anfangs müssen wir in Hinsicht des Wortes: Begehren, einen falschen Sprachgebrauch berich - tigen, der in den Psychologieen durchgehends vorkommt. Das Vermögen zu Begehren soll, mit denen des Vorstel -85 lens und Fühlens zusammengenommen, eine vollständige Einteilung ergeben; es muß also auch die Wünsche, die Triebe, und jede Sehnsucht mit umfassen, indem man dies alles nicht zu den Gefühlen, noch zu den Vorstellun - gen rechnen kann. Nun findet sich aber in den Psychologie - en die Behauptung: was man begehre, das werde als er - reichbar vorgestellt; die Meinung des Nicht-Könnens tödte das Begehren. Dieser Satz ist richtig vom Wollen, wel - ches eben ein Begehren, verbunden mit der Vor - aussetzung der Erfüllung ist. Darum ist ein großer Unterschied zwischen starkem Wollen und starkem Begehren. Napoleon wollte als Kaiser, und begehrte auf St. He - lena. Der Ausdruck Begehren wird wider die Absicht beschränkt, wenn man die Wünsche ausschließt, welche blei - ben, ungeachtet dessen, daß sie leere, oder vielleicht soge - nannte fromme Wünsche seyn mögen, und welche eben darum, weil sie bleiben, den Menschen stets von neuem zu Versuchen antreiben, durch welche der Gedanke einer Möglichkeit immer neu erzeugt wird, trotz allen Grün - den, welche die Unmöglichkeit darzuthun scheinen. Es gehört sehr viel dazu, der Vorstellung von der Unerreichbarkeit des Gewünschten Stärke genug zu geben, damit eine ruhige Verzichtleistung an die Stelle des Verlangens trete. Der Mensch erträumt sich eine wünschenswerthe Zukunft, wenn er schon weiß, sie werde nie eintreten.
108. Gemäß der zuvor gemachten Eintheilung der Gefühle, müssen wir nun auch bey den Begierden (das Wort im weitesten Sinne genommen) diejenigen, welche ein Angenehmes als solches (die Verabscheuungen ein Unange - nehmes als solches), zum Gegenstande haben, unterscheiden von andern, denen kein Gefühl, sondern bloß die eben vor - handene Gemüthslage ihre Richtung bestimmt.
Anmerkung. Gewöhnlich wird die letztere Art der86 Begierden verkannt. Man meint, das Begehrte müsse noth - wendig als ein Gut vorgestellt werden. Dies ist entweder eine Tautologie, — nämlich wenn Gut soviel heißen soll als Begehrtes, — oder es ist ein Jrrthum, der in empirischer Hinsicht zu den unzählbaren Erschleichungen der Psychologen gehört. — Jn Alexander Baumgartens Metaphysik steht §. 665 der Satz: Quae placentia praevidens exstitura nisu meo prasesagio, nitor producere. Quae displicentia praevidens impendienda nisu meo praesagio, eorum op - posita appeto. Dies wird für die lex facultatis appeti - tivae ausgegeben. Aber als allgemeines. Gesetz betrachtet, ist diese Lehre des sonst schätzbaren Werks in jedem Punkte fehlerhaft. Das placere, so fern es ein Vorgefühl vom An - genehmen oder Schönen bezeichnen soll, ist nicht nöthig. Das praevidere ist ebenfalls erschlichen. Zwar wer sich ein Begehren vorstellt, der entwickelt sich diese seine Vor - stellung auf zeitliche Weise. Aber auch die untersten Thiere begehren, und gleichwohl kann man nicht annehmen, daß sie sich Gegenwart und Zukunft auseinandersetzen. Das: exsti - tura nisu meo setzt eine Vorstellung vom Jch, oder wenigstens ein Selbstgefühl voraus, das viel späteren Ursprungs ist, als die einfachen Begierden der Thiere und der neugebornen Kinder.
109. Die wichtigste Scheidung jedoch ist die zwischen dem untern und obern Begehrungsvermögen. Denn beyde entzweyen sich bis zum Widerstreite; während Gefühle ne - ben einander bestehen, oder sich mischen; und in Hinsicht der Vorstellungen die Allermeisten, selbst der Gebildeten und Gelehrten, auf dem sinnlichen Standpunkte bleiben, ohne sich um den metaphysischen Streit wider die Sinne ernstlich zu kümmern.
A. Vom untern Begehrungsvermögen.
110. Hier kommen uns zuerst die Triebe und Jnstincte ent -87 gegen. Von diesen hat der Mensch nur ein Bruchstück; voll - ständiger und verschiedener erblicken wir dieselben bey den Thieren, wo sich klar zeigt, daß dabey der organische Bau das wesentliche und bestimmende ausmacht. Man erinnere sich insbesondere der thierischen Kunsttriebe.
Allein der wichtigste und allgemeinste der Triebe ist der nach Bewegung und Veränderung, die unruhige Lebendig - keit, die sich vorzüglich bey Kindern und jungen Thieren verräth. Das ist viel Leben bey wenig Geist; man kann daran sich üben, um Leben und Seele unterscheiden zu ler - nen. Da sich diese Lebendigkeit nach dem Alter richtet, und außerdem bey den Jndividuen von Geburt an verschieden ist, so darf man glauben, sie sey Folge des Organismus, also vielmehr ein physiologischer als psychologischer Ge - genstand.
111. Wie nun die Psychologen nach der Analogie des äußern Sinnes den innern ersunden haben, so auch stellen sie neben die organischen Triebe noch mehrere andere; als die Selbstliebe, den Nachahmungs - und Erweiterungs-Trieb, die geselligen Triebe u. s. w. ja gar einen allgemei - nen Glückseligkeits-Trieb, obgleich Niemand dieses letztern Triebes Gegenstand bestimmt angeben kann, vielmehr derselbe bey verschiedenen Jndividuen verschieden ist.
Hier liegt es nun am Tage, daß nichts, als nur die psychologische Abstraction, dem ganz unbestimmten Begriffe der Glückseligkeit eine Unterlage unter dem Namen eines Triebes gegeben hat. Nicht besser aber steht es um die Selbstliebe und die geselligen Triebe. Das Begehren geht hier voran vor allem hinzugedachten Jch, Du und Er. Die Erfahrung zeigt deutlich genug, daß sowohl die egoisti - sche Klugheit, als die Entschließungen für andre etwas zu opfern, sich nur allmählig bilden, so wie es sich mehr ein -88 prägt, welche Collisionen zwischen eigenen und fremden Jnteressen Statt finden.
Das Erschleichen realer Kräfte, oder wenigstens beson - derer Anlagen und natürlicher Keime, ist in der Lehre vom Begehrungsvermögen vorzüglich häufig, weit der Mensch sich thätig zeigt in seinem Begehren, und man überall geneigt ist, soviel Kräfte als Klassen von wirklichen oder scheinbaren Tätigkeiten anzunehmen.
112. Die Neigungen, oder diejenigen dauernden Gemüthslagen, welche der Entstehung gewisser Arten von Begierden günstig sind, — zeigen sich mehr als die soge - nannten Triebe verschieden bey den Jndividuen. Sie sind großentheils Folgen der Gewohnheit, die aus dem Vor - stellungsvermögen hieher ins Begehrungsvermögen herüber - zureichen scheint. Denn es sind zuerst die Gedanken, wel - che, der gewohnten Richtung folgen, und welche, wenn kein Hinderniß eintritt, vor allem merklichen Fühlen und Begehren sogleich in Handlung übergehn; stellt sich aber etwas in den Weg, alsdann schwillt die Begierde an, begleitet von einem Gefühl der Mühe und der an - gestrengten Thätigkeit.
113. Das auffallendste, und nächst dem Wahnsinn das traurigste Schauspiel in der Psychologie geben die Lei - denschaften. (Kant hat sie in der Anthropologie vortreff - lich gezeichnet.) Sie sind nicht Neigungen (Gemüthslagen), sondern selbst Begierden, und jede Begierde ohne Ausnahme, die edelste wie die schlechteste, kann Leidenschaft werden. Sie wird es, indem sie zu einer Herrschaft gelangt, wo - durch die praktische Ueberlegung aus ihrer Richtung kommt. Das Vernünfteln ist das eigentliche Kennzeichen der Leidenschaften.
Daher kann man dieselben eigentlich nur im Gegensatze mit der praktischen Vernunft definiren und beschreiben. Eine89 vollständige Eintheilung der Leidenschaften ist ganz unmög - lich, eben darum weil jede Begierde, durch Umstände und Gewöhnung verstärkt, der Ueberlegung einen verkehrten Lauf zu geben vermag. Jede Eintheilung der Leidenschaften ist zugleich eine Eintheilung der Begierden überhaupt. Jn der Geschichte spielen die Leidenschaften eine große Rolle. Man hüte sich, diese Rolle dem Weltgeiste aufzutragen; er würde dadurch dem Mephistopheles zu ähnlich werden, und endlich gleich diesem aus der Rolle fallen.
B. Vom obern Begehrungsvermögen.
114. Dem Urtheilen und dem Handeln geht Ue - berlegung voran, wenn der Mensch, ehe er ein Prädi - cat an ein Subject knüpft, — und ehe er die jetzige Lage der Dinge abändert, zuvor noch andre mögliche Denk - und Handlungsweisen vergleicht. Jn der Ueberlegung liegt Ver - weilung und Aufschub; ferner Sammlung und Erwägung. Sie soll dem Widerruf und der Reue vorbeugen. Sie lei - stet dies, in wiefern sie jeder unter den möglichen Vorstellungs - arten, jedem Begehren, das mit einem andern in Collision kommen könnte, gestattet, ganz ins Bewußtseyn hervorzu - treten, und so stark als möglich den übrigen entgegen, oder mit ihnen zusammenzuwirken. Wird dabey etwas vergessen, wird etwas während der Ueberlegung gehindert, sich gelten zu machen, so weit es kann: so bleibt Gefahr, eine andre Gemüthslage werde nachfolgen und die Entscheidung der erstern verwerflich finden, — Die Ueberlegung ist demnach ein inneres Experiment; das Resultat desselben muß mit völliger Hingebung vernommen werden; davon hat die Vernunft im Denken und im Handeln ihren Namen.
115. Die Vernunft ist deshalb unsprünglich nicht ge - bietend, nicht gesetzgebend; sie ist überall keine Quelle des Wollens. (Sie ist eben so Wenig eine Quelle von Er -90 kenntnissen.) Nichtsdestoweniger wird sie als solche betrach - tet, ja sie wird für die höchste Richterin und Gebieterin gehalten; wie sehr natürlich erfolgen muß, indem (mit ge - wohnter Erschleichung) die Gefahr der Reue, wenn man dem Resultate der Ueberlegung nicht gemäß handeln würde, als eine Drohung angesehen, und nun zu der Drohung ein Gebot, zu dem Gebote ein Gebieter hinzu gedacht wird.
116. Die praktische Ueberlegung wird verwickelter durch die Verbindung zwischen Mitteln und Zwecken. Sie hat nämlich nicht bloß ein mannigfaltiges, unmittelba - res Begehren gegen einander abzuwägen (unter mehrern Zwecken zu wählen), sondern auch die Reihen möglicher Er - folge zu durchlaufen, die mit den Zwecken zusammenhängen und deren Erreichbarkeit wahrscheinlich machen. Jn letzterer Hinsicht schreibt man die Ueberlegung dem praktischen Verstande zu, der das Vermögen ist, sich nach der Be - schaffenheit des Gedachten, unabhängig von Einbildung und Leidenschaft zu richten. Bildet diese Art von Ueberlegung sich vollständig aus: so erzeugt sie Pläne. Das Wählen unter Zwecken aber wird ganz eigentlich der praktischen Ver - nunft vorbehalten.
117. Besonnenheit ist die Gemüthslage des Men - schen in der Ueberlegung. Wird dieselbe zur Gewohnheit, so erweitert sich die Ueberlegung fortdauernd; sie sucht end - lich alles mögliche Begehren in Eine Erwägung zusammen - zufassen; immer mehrere Wünsche werden beschränkt und un - tergeordnet, es wird nach dem letzten Ziele alles mensch - lichen Thuns und Treibens, nach dem höchsten Gute ge - fragt. Dabey bedient sich die Ueberlegung der allgemeinen Begriffe, es entstehen Maximen (sehr verschieden von Plänen), und Grundsätze, und aus deren Zusammen - stellung eine Sittenlehre.
91Jn der praktischen Philosophie wird gezeigt, daß, nach Hintansetzung aller, von der Gemüthslage abhängenden, also wandelbaren Begierden bloß dasjenige willenlose Vor - ziehn, und Verwerfen den höchsten Rang behaupten könne, welches in den ästhetischen Urtheilen über den Willen ent - halten ist.
Es ist also das Werk der Ueberlegung (oder, wenn man will, der praktischen Vernunft), diese Urtheile, und die aus ihnen entspringenden Jdeen der innern Freyheit, der Vollkommenheit, des Wohlwollens, des Rechts und der Billigkeit, aus der Vermischung mit allem andern Denken und Wollen, worin sie anfangs ver - steckt liegen, hervorzuziehn und sie an die Spitze aller Klug - heit zu stellen, sämmtliche Begierden und Wünsche aber un - ter ihnen zu beugen.
C. Von der Freyheit des Willens.
118. Jndem aus der geendigten Ueberlegung ein Ent - schluß hervorzutreten im Begriff steht, geschieht es oftmals, daß eine Begierde sich erhebt, und sich jenem Entschlusse widersetzt. Alsdann weiß der Mensch nicht, was er will; er betrachtet sich als in der Mitte stehend zwischen zwey Kräften, die ihn nach entgegengesetzten Seiten ziehn. Jn dieser Selbstbetrachtung stellt er sowohl die Vernunft als die Begierde sich gegenüber, als wären es fremde Rathge - ber, er selbst aber ein Dritter, der beyde anhörte, und alsdann entschiede. Er findet sich frey, zu entscheiden wie er will.
Er findet sich auch vernünftig genug, um zu fassen, was die Vernunft ihm sage; und reizbar genug, um die Lockungen der Begierde auf sich wirken zu lassen. Wäre dies nicht, so würde seine Freyheit keinen Werth haben; er92 könnte alsdann nur blindlings sich da oder dorthin neigen, aber nicht wählen.
Nun ist aber die Vernunft, welcher er Gehör giebt, und die Begierde, die ihn reizt und lockt, nicht wirklich außer ihm, sondern in ihm, und Er selbst ist kein Drit - ter neben jenen beyden, sondern sein eignes geistiges Leben liegt und wirkt in beyden. Wenn er nun endlich wählt, so ist diese Wahl nichts anderes, als eine Zusammenwirkung eben jener Vernunft und Begierde, zwischen denen er sich frey in der Mitte stehend dachte.
Jndem nun der Mensch findet, daß Vernunft und Be - gierde in ihrem Zusammenwirken über ihn entschieden haben; scheint er sich unfrey, und fremden Kräften unterworfen.
Offenbar ist dies wieder eine Täuschung, und gerade aus der nämlichen Quelle, wie die erstere. Eben darum, weil Vernunft und Begierde nichts außer ihm sind, ,und Er nichts außer ihnen, so ist auch die Entscheidung, welche aus jenen entspringt, keine fremde, sondern seine eigene. Nur mit Selbstthätigkeit hat er gewählt, jedoch nicht mit einer Kraft, die von seiner Vernunft und seiner Begierde noch verschieden wäre, und die ein anderes Resultat, als jene beyden, ergeben könnte.
Anmerkung. Hiemit ist der Hauptgrund der psy - chologischen Täuschungen angegeben, welche in Hinsicht der Freyheit Statt sinden; auf die tieferliegenden metaphysischen und moralischen Misverständnisse, die sich dabey einmischen, können wir hier nicht Rücksicht nehmen. Nur ganz kurz mag erwähnt werden, daß die Schwierigkeiten, die man in der Zurechnung findet, von allen am leichtesten zu heben sind. Zugerechnet wird eine Handlung, so fern man sie als Zeichen eines Wollens betrachten darf; mehr oder minder zugerechnet, je mehr oder weniger, je schwächeren oder vesteren Willen sie verräth. So weit ist alles klar93 und allgemein bekannt. Nun aber verdirbt man alles, in - dem man den Willen selbst wieder zurechnen möchte; wel - ches nicht besser ist, als ob man das Maaß, das alles an - dere messen soll, selbst einer Messung unterwerfen wollte. So geschieht es, daß man fürchtet, wenn der Wille frühere Ursachen hätte, aus denen er unvermeidlich hervorging, so würden diese Ursachen die Schuld tragen, indem nunmehr ihnen sowohl der Wille, als die aus ihm entsprungenen Handlungen zuzurechnen wären. Darum will man lieber den Willen einer Selbstbestimmung zurechnen; woraus eine unendliche Reihe entsteht (vergl. Einleitung in die Philosophie §. 107). Allein jene Furcht ist ganz grundlos. Die Zurechnung steht still, sobald sie die Handlung auf den Willen zurückgeführt hat; denn dieser wird hiemit sogleich einem praktischen Urtheile unterworfen, welches sich voll - kommen gleich bleibt, was auch für Ursachen und Anlässe des Willens man möchte angeben können. Es, kann aber begegnen, daß die Zurechnung noch einmal von neuem an - fängt, wenn sich findet, daß jener Wille einen frühern Willen zur Ursache hatte. Dem Verführten, nachdem er schon vollständig bösartig geworden ist, werden seine Verbrechen ganz zugerechnet, dieselben aber fallen noch einmal dem Verführer zur Last, und so rückwärts fort, wie lange sich noch irgendwo ein Wille als Urheber jener Verbrechen nach - weisen läßt.
Anmerkung. Die transscendentale Freyheit, welche Kant als einen notwendigen Glaubens-Artikel, um des kategorischen Jmperativs willen (weil er die richtige Begründung der praktischen Philosophie verfehlt hatte), an - genommen wissen wollte, ist in der Psychologie ein voll - kommener Fremdling. Wer das nicht einsieht, der studire die beyden Kantischen Kritiken ber reinen und der prakti - schen Vernunft; und lerne daraus, diesen Gegenstand vor -94 sichtig zu behandeln. Kant hat sich sehr viel Mühe ge - geben, sich über diesen Punkt eine klare Ueberzeugung zu verschaffen; er hat dennoch eine Verwirrung hervorgebracht, die bey ihm an dem kategorischen Jmperative haftete, bey seinen Nachfolgern aber in ganz andre Formen überging.
119. Während nun das Bewußtseyn der Freyheit, in wiefern sie zwischen Vernunft und Begierde in der Mitte stehen soll, auf keinen bessern Thatsachen beruhet, als den oben angegebenen, ergiebt sich dagegen ein anderes Resul - tat, wenn man die Vernunft selbst als den Sitz der Frey - heit betrachtet. Nichts ist einleuchtender, als daß der leiden - schaftliche Mensch ein Sklave ist. Sein Unvermögen, auf Gründe des Vortheils und der Pflicht zu achten, sein Ruin durch eigne Schuld, liegen klar am Tage. Jm Gegensatze mit diesem wird mit Recht der vernünftige Mensch, der seine Begierden zurückstößt, sobald sie der guten Ueberlegung sich widersetzen, frey genannt; und mehr und mehr frey, je stär - ker er ist in diesem Zurückstoßen. Ob aber eine solche Stärke ins Unendliche gehen könne, darüber vermögen keine That - sachen zu entscheiden, die allemal nur eine begränzte Kraft bezeugen.
120. Die Annahme der Vermögen hat sich schon in der bisherigen Uebersicht als so mangelhaft verrathen, daß der Versuch, den gegenseitigen Einfluß derselben nach allen Combinationen zu durchmustern, als zwecklos würde erschei -95 nen müssen. Einige Bemerkungen werden jedoch nützlich seyn, um die Zusammenfassung des Vorgetragenen zu erleich - tern, bevor wir den menschlichen Geist in seinen wandelba - ren Zustanden näher betrachten.
121. Nächst den äußern Sinnen, deren Unentbehr - lichkeit beym ersten Blick einleuchtet (was wäre ein Mensch, blind, taub, und ohne Hände geboren?), ist ohne Zweifel die Reproduction, in ihren beyden Formen als Gedächtniß und Einbildungskraft, der Hauptsitz des geistigen Lebens. Der einzelne Augenblick giebt durch die Sinne sehr wenig; und wir würden thierisch beschränkt seyn, bliebe uns nicht die Vergangenheit, als ein Schatz, in den wir unaufhörlich zurückgreifen. — Jn den Stunden, wo der Zufluß unge - suchter Gedanken schwächer ist oder gar stockt, spürt man am besten die Armuth der Gefühle, die Rohheit der Be - gierden, die Unthätigkeit oder vergebliche Bemühung des Verstandes und der Vernunft ohne die Einbildungskraft.
Bis zu vesten Producten reift das Werk der Einbil - dungskraft in Mythen und Sagenkreisen, welche als Gegen - stände des Glaubens von der Kunst der Darstellung er - griffen werden.
122. Hier ist der. Ort, der Uebungen und Fer - tigkeiten zu erwähnen. Dieser ist die Reproduction vor - zugsweise fähig; und man kann sie nirgends sonst mit Sicherheit nachweisen, was auch von Uebung des Verstan - des, der Vernunft, von sittlicher Fertigkeit u. s. w. mag gesagt werden. Denn die Thatsachen, welche man dafür anführen mag, bezeugen gerade, daß früher gebildete Be - griffe, Urtheile, Gefühle, Entschlüsse, eben so wohl als sinn - liche Vorstellungen, reproducirt und hiemit in neue Wirk - samkeit gesetzt werden; sie bezeugen, daß dies desto schneller, sicherer und umfassender geschieht, je öfter und sorgfältiger96 zuvor die Beschäfftigung mit jenen Begriffen u. s. w. Statt gefunden hatte.
Auch selbst in Hinsicht des Gedächtnisses und der Ein - bildungskraft läßt sich, den Thatsachen gemäß, die Uebung weit weniger auf diese Vermögen beziehn als vielmehr auf die Vorstellungen, welche reproducirt werden. Demjenigen, der viel auswendig lernt, wird zwar das Memoriren all - mählig leichter, jedoch nicht anders, als nur in dem näm - lichen Kreise von Vorstellungen, an die er gewöhnt ist. Man gebe dem, welcher viel - Gedachtniß hat für Musik, eine Reihe von Namen oder Zahlen zu behalten, und man wird sehen, wie wenig die vorige Uebung des Gedächtnisses in diesem Felde vermag.
123. Die Ausbildung geht nach zwey Hauptrichtungen fort; diese bestimmt der innere Sinn, und das äußere Handeln. Mit beyden hängt die Reflexion zusammen, von, welcher daher zuerst zu bemerken ist, daß sie (die Zurückbeugung des Gedankenlaufs auf einen bestimmten Punct), bald absichtlich Vorstellungen hebt und formt (im Arbeiten), bald hervorgerufen wird in der Apperception des Gegebenen (in der Erfahrung); daß also im ersten Falle die Thätigkeit von ihr ausgeht und von ihr regiert wird; im zweyten hingegen der Reiz im Gege - benen liegt. Aber in keinem dieser Fälle ist der andre ganz ausgeschlossen. Auch das Arbeiten schafft in jedem Augen - blick ein neues Gegebenes, indem das Werk vorrückt und beobachtet wird; hiedurch lenkt es selbst die Reflexion. Um - gekehrt versetzt uns die Erfahrung im Vergleichen und Ur - theilen, hiemit aber ins weitere Nachdenken, welches nun den vorhandenen Begriffen oder Meinungen oder Grillen als den Haltungspuncten der Reflexion nach der Eigenheit eines Jeden weiter folgt. Noch anders beschaffen ist die Reflexion über einen bloß im Denken vestgehaltenen97 Gegenstand. Hier liegt die Bewegung in der reflectirenden Vorstellungsmasse selbst; nicht geringe Anstrengung aber kostet das dauernde Fixiren des bloß gedachten Gegenstan - des, welcher der Betrachtung still halten soll.
Der innere Sinn, den man dir Aehnlichkeit wegen neben den äußern Sinn zu stellen pflegt, wird dadurch ganz aus seinem natürlichen Zusammenhange gehoben. Er ist vielmehr das große Princip, das aller regelmäßigen Thätig - keit, insbesondre der künstlerischen Phantasie und der pra - ktischen Vernunft, zum Grunde liegt. Ohne Selbstaussassung könnte der Mensch weder sich selbst im Ganzen, noch seine Tätigkeiten im Einzelnen regieren.
Das äußere Handeln, welches dem Menschen seine Gedanken verkörpert, aber zugleich vielfach entstellt, gegen - über treten läßt, spannt unaufhörlich Begierde, Beobachtung und Beurtheilung; es verwandelt, indem es gelingt oder mißlingt, das Begehren in entschlossenes Wollen oder in bloßen Wunsch, begleitet von Lust oder Unlust, wodurch zur habituellen Stimmung des Menschen der Grund gelegt wird. Führen neue Lebenslagen neue Anlässe zum Handeln herbey: so erscheint der Mensch oft auf einmal verwandelt. Am auffallendsten wird dies, wo gemeinsame Noth ein neues gemeinsames Handeln und aus jedem Jch ein neues Wir hervorruft. Doch vielleicht noch auffallender ist‘s, zu sehen, wie nach einiger Zeit die scheinbar Verwandelten wieder die Alten werden.
Das bestimmteste Gepräge giebt dem Menschen sein äußeres Handeln alsdann, wenn es Arbeit, besonders wenn es Berufs-Arbeit oder doch tägliche Beschäftigung wird. Hier aber zeigt sich auch aufs deutlichste der Unterschied und die Zusammenwirkung zwischen der herrschenden Vor - stellungsmasse, die während der Arbeit im Bewußtseyn gleich - mäßig veststeht, der ablaufenden Reihe, von welcher jede98 einzelne Thätigkeit im einzelnen Augenblicke abhängt, und der empirischen Auffassung dessen, was gethan worden, wo - durch der Punct, bis zu welchem das Werk vorrückte, be - stimmt ist.
Sehr wichtige nähere Bestimmungen liegen in der Ei - genheit des Geschäffts. Die Reihen des Gärtners und Land - manns lausen langsam ab, mit Störungen durch Natur - erfolge, die ihn oft zum Warten nöthigen. Die Reihen des Musikers, Schauspielers, u. s. w. haben dagegen ihren bestimmten Rhythmus. Wieder anders laufen die Vor - stellungsreihen des Fechters, des Taschenspielers, u. s. w. wo ohne bestimmten Rhythmus doch aufs Genaueste der rechte Augenblick muß wahrgenommen werden. Für den praktischen Erzieher und Lehrer ist es eine der wichtig - sten Vorschriften, daß er so genau als möglich beobachte, wie bey seinen Zöglingen die Reihen ablaufen sollen, können, und wie sie wirklich ablaufen. Man findet hier die größten Verschiedenheiten, und man muß sie berück - sichtigen.
124. Aber was auch der Mensch, innerlich sinnend, oder äußerlich handelnd, versuche, mehr und mehr heben sich ihm aus allen wechselnden Gemüthslagen gewisse blei - bende Gefühle hervor, die in seiner praktischen Ueberle - gung, und folglich in seinem Verstande und in seiner Ver - nunft, als das eigentlich Entscheidende sich gelten machen; in wiefern nämlich überhaupt die Ueberlegung in ihm reif und gegen die wandelbaren Begierden kräftig wird.
Jnsbesondre ist es die, einem Jeden eigene, ästhe - tische Auffassung der Welt, — die auf die mannig - faltigste Art einseitig, und folglich praktisch verkehrt seyn kann, — nach welcher sich Jeder sein Verhältniß zu der Welt anzuweisen pflegt. Dahin gehört der Eindruck, wel - chen Familie und Vaterland, Menschheit und Menschen -99 Geschichte auf das Jndividuum macht, und aus allem, was ihm daran unwillkührlich gefällt oder mißfällt, setzt sich die - ser Eindruck zusammen.
Deshalb wirkt alles dasjenige nachtheilig auf den in - nersten Kern des Charakters, was den Menschen hindert, klar zu sehen, und unbefangen zu urtheilen.
125. Am zerstörendsten wirken auf alle Ausbildung die Leidenschaften. Vom ästhetischen Urtheile sind sie das entgegengesetzte Aeußerste, aber auch die wandelbaren Be - strebungen werden von ihnen getödtet; Einbildungskraft und Verstand bekommen durch sie eine einseitige Richtung; sie selbst endigen sich, falls sie Befriedigung finden, in Lange - weile, in Leere deß Geistes und Herzens, und falls sie un - befriedigt bleiben, in Gram und Krankheit. Diejenigen, welche allerley zu rühmen wissen, was sie durch leidenschaft - liche Aufregung wollen geworden seyn, täuschen sich selbst; sie sollten sich freuen, in ihrem Schiffbruche nicht alles ver - loren zu haben; und manche sind zu rühmen, daß sie ihr gerettetes Gut nun besser benutzen, als früherhin ihren Reichthum.
126. Genau genommen gleicht kein Zustand des mensch - lichen Lebens vollkommen dem andern; schwebend und schwan -100 kend ist alles, was unserer innern Wahrnehmung sich dar - stellt. Diese Bemerkung, welche die Unmöglichkeit einer vest - bestimmten psychologischen Erfahrung an den Tag legt, hat den Anfang des gegenwärtigen Vortrags gemacht; jetzt muß sie weiter ausgeführt werden. An sie knüpft sich die Be - trachtung der verschiedenen Lebens-Zustände, wie sie Jeder - mann zu durchlaufen pflegt; ferner die Angabe der auffal - lendsten Verschiedenheit menschlicher Anlagen und mensch - licher Entwickelung unter dem Einflusse äußrer Umstände; endlich die kurze Bezeichnung der anomalischen Geistes-Zu - stände.
127. Die Reproduction durch Gedächtniß und Einbil - dungskraft (47. u. s. f.) verräth zwar, daß keine einmal erzeugte Vorstellung ganz verloren geht, und nicht leicht ein einmal entstandenes Zusammentreffen von Vorstellun - gen ganz ohne Folgen bleibt. Allein wenn wir mit der Menge alles dessen, was der Geist eines erwachsenen Men - schen eingesammelt hat, dasjenige vergleichen, dessen er sich in jedem einzelnen beliebigen Augenblicke bewußt ist, — so müssen wir über das Misverhältniß erstaunen zwischen jenem Reichthum und dieser Armuth! Man möchte gleichnißweise dem menschlichen Geiste ein Auge zuschreiben, das eine äu - ßerst enge Pupille, dabey aber die höchste Beweglichkeit be - säße. Die Erklärung hievon liegt unmittelbar in dem, was oben (16, 19) über die Schwellen des Bewußtseyns ist gelehrt worden. Uebrigens ist die äußerst kleine Zahl von Vorstellungen, die wir auf einmal zu umfassen vermögen, oft im schnellsten Kommen und Gehen begriffen, und da - durch wird es dem geistvollen Menschen möglich, seine Vor - stellungen in die mannigfaltigste Berührung zu bringen und sie durch einander zu bestimmen.
128. Gewisse Aufregungen des Wechsels der Vorstel - lungen durch äußere Eindrücke sind dem Menschen Bedürf -101 niß. Der Einsame sucht gesellschaftliche Unterhaltung, und lange an Einem Platze zu bleiben ist peinlich wegen der Einförmigkeit der Umgebung, wenn nicht für Hülfsmittel gesorgt ist, um den Geist in Bewegung zu erhalten. Bleibt dies Bedürfniß lange unbefriedigt, so schwindet allmählig das menschliche Leben auf die gleich zu bemerkenden periodi - schen Abwechselungen zusammen. Umgekehrt steigert sich das Bedürfniß durch Befriedigung. Die, welche die Geschichte machen (wie Napoleon), finden deshalb immer Menschen genug, die zu ihrem Dienste bereit sind, weil sie nicht ru - hen können. Auch hinter dem Ofen klagt man über leere Zeitungen.
129. Vermöge der Einrichtung des menschlichen Lei - bes halten Hunger und Sättigung, Wachen und Schlaf, alle Tage ihren bekannten Umlauf; und die Jahreszeiten kommen hinzu, mit der Mannigfaltigkeit von Befriedigun - gen und von Vermehrungen der körperlichen Bedürfnisse. Wieviel Anspannung und Abspannung, wieviel Ueberlegen, Beschließen, Handeln und. Ruhen daraus weiter folgt, ist hier nicht nöthig zu entwickeln.
Anmerkung. Von der merkwürdigen Nebenbestim - mung des Schlafs, durch die Träume, wird bequemer un - ten, bey den anomalischen Zuständen, etwas gesagt werden.
130. Das irdische Leben im Ganzen genommen hat seine Perioden des Wachsthums, der vollen Stärke und der Abnahme.
Das Kind, aus psychologischen Gründen rastlos be - wegt, wenn es gesund ist, treibt sich umher in einfachen, kunstlosen Phantasien und Spielen; unaufgelegt, zusammen - hängend zu denken, aber höchst empfänglich für alles Neue. Dabei vermag es nicht, sich aus augenblicklichen Gefühlen hervorzuarbeiten. Der Knabe, noch im hohen Grade weich, kann gleichwohl durch die Erziehung, ohne Vorschnelligkeit,102 zu einem bedeutenden Grade wahrer Einsicht und Selbstbe - herrschung gehoben werden. Der Jüngling bekommt einen Zuwachs an Kräften, aber auch an Unruhe. Kann er nicht handeln, so dichtet er. Der Mann, dem diese Kräfte nicht mehr neu, dem aber die Schwierigkeiten des menschlichen Wirkens bekannt sind, gebraucht zweckmäßig, was er hat, wenn Kindheit und Jugend nicht verdorben wurden. Er handelt mehr, darum dichtet er weniger. — Das spätere Alter behält soviel Männlichkeit, als der Körper gestattet, mit großen individuellen Verschiedenheiten. Jm besten Falle tritt hier das Denken an die Stelle des Dichtens und des Handelns, wenn schon zu spät. Jedes Alter büßt die Schulden und leidet an dem Unglück aller vorhergegan - genen.
131. Der Verlauf des Lebens wird zuerst näher be - stimmt durch die Verschiedenheit der Geschlechter: Diese ist oftmals von früher Jugend an kenntlich. Mädchen werden eher klug und sind eher geneigt, sich in den Gränzen des Schicklichen zu halten. Dagegen ist ihre Erziehungs - Periode kürzer, als bey den Knaben. Sie sammeln daher we - niger geistigen Vorrath, aber sie verarbeiten ihn schneller, und mit geringerer Mannigfaltigkeit und Zertheilung. Die Folge zeigt sich im ganzen Leben. Das weibliche Geschlecht hängt an seinem Gefühle; der Mann richtet sich mehr nach Kenntnissen, Grundsätzen und Verhältnissen. Dazu kommt103 die Vielförmigkeit der Berufsgeschäffte, worin die Männer sich stellen.
132. Eine andre ursprüngliche Eigenheit hat jeder Mensch in Ansehung des sogenannten Temperaments, einer physiologisch zu erklärenden Prädisposition in Ansehung der Gefühle und Affecten. Auf die Gefühle beziehen sich unter den bekannten vier Temperamenten das fröhliche und das trübsinnige (das sanguinische und melancholische); auf die Erregbarkeit der Affecten das reizbare und das schwer be - wegliche (cholerische und phlegmatische). Die Möglichkeit der Temperamente ist im Allgemeinen leicht einzusehen. Denn das Gemeingefühl, welches der Organismus mit sich bringt und welches den Menschen durch sein ganzes Leben begleitet, kann nicht leicht genau in der Mitte stehn zwi - schen dem Angenehmen und Unangenehmen; je nachdem es aber nach dieser oder jener Seite sich hinüberneigt, ist der Mensch sanguinisch oder melancholisch. Beydes zugleich kann er nicht seyn, sondern er hat auf der Linie, die nach bey - den Richtungen läuft, irgendwo seine Stelle; jedoch ist ein schwankendes Temperament nicht bloß denkbar, sondern auch in der Erfahrung zuweilen anzutreffen, vermöge dessen der Mensch abwechselnd zur Fröhlichkeit und zum Trüb - sinn, ohne besondre Ursache, aufgelegt ist. — Ferner, da die Affecten den Organismus ins Spiel ziehn, und in ihm gleichsam den Resonanzboden finden, durch den sie selbst verstärkt und anhaltender gemacht werden, so muß es einen Grad der Nachgiebigkeit des Organismus geben, vermöge dessen dee Mensch entweder mehr cholerisch, oder mehr phlegmatisch ist; wiederum so, daß er nicht beydes zugleich seyn, wohl aber zwischen beyden schwanken könne.
Hieraus ergeben sich nun auch die möglichen Mischun - gen der Temperamente, nach den Combinationen jener bey - den Reihen. Das sanguinische Temperament ist entweder104 zugleich cholerisch oder phlegmatisch, und auch das melan - cholische kann cholerisch seyn oder phlegmatisch. Denkbar ist, daß Jemand weder sanguinisch noch melancholisch sey, denn der Nullpunkt liegt zwischen beyden in der Mitte. Aber undenkbar ist, daß Jemand in Hinsicht des choleri - schen und phlegmatischen indifferent sey; denn gar keine Er - regbarkeit der Affecten wäre äußerstes Phlegma; der Null - punkt liegt hier auf einem der Extreme. Die Mitte ist die gewöhnliche Erregbarkeit; ein arithmetisches Mittel, das man ungefähr aus den Erfahrungen herausfindet, so wie die mittlere Statur des menschlichen Leibes.
Anmerkung. Man kann die Namen der Tempera - mente auch anders deuten; und wenn der Ausdruck: Cho - lerisches Temperament, auf anhaltende Neigung zum Zorn soll bezogen werden, so paßt das Vorstehende nicht. Da der Gegenstand nicht rein psychologisch ist, so mag hier eine physiologische Ansicht Platz finden. Von den drey Fa - ctoren des thierischen Lebens mag irgend einer durch einen verborgenen Fehler auf den Geist wirken. Jst die Jrrita - bilität und Sensibilität unversehrt, und leidet die Vegetation nur in so fern, als sie ein stetes Unbehagen ins Gemeinge - fühl hineinbringt: dann mag eine cholerische Bitterkeit ent - stehn; dergleichen wirklich in seltenen traurigen Fällen schon an Kindern wahrzunehmen ist. Leidet die Jrritabilität: so sieht man Gutmüthigkeit und vielleicht Talent, aber ohne hinreichend kräftiges äußeres Leben. Leidet die Sensibilität im Allgemeinen: so scheint das von einigen sogenannte böotische oder Bauerntemperament hervorzugehn. Leidet nur die Sensibilität des Gehirns verhältnißmäßig, oder deutli - cher: überwiegt das Gangliensystem: so möchte dies den Sanguiuicus ergeben. Sind Vegetation und Jrritabilität zugleich schwach gegen die Sensibilität: so erblicken wir den105 Phlegmaticus. So angesehen sind alle merklich hervortre - tenden Temperamente fehlerhaft.
133. Wie der Organismus die Affecten durch einen Nachklang verstärkt, oder durch seine Unbeweglichkeit ihre Ausbrüche dämpft, eben so mischt er sich in allen Wechsel der Gefühle und der Gedanken, bald wie das Schwungrad, das die empfangene Bewegung verlängert, bald wie eine träge Last, die sie verzögert oder gar unmöglich macht. Wenigstens ist es eine bekannte Thatsache, daß der Menschen Wachen nicht immer, und nicht bloß, so viel ist, als Aus - geschlafen haben. Jene enge Pupille, die wir oben im All - gemeinen dem menschlichen Geiste beylegten (127), ist bey den Jndividuen enger oder weniger eng; und die Beweglich - keit der Vorstellungen, die im Bewußtseyn kommen und gehen, ist bey ihnen kleiner oder größer. Nehmen wir dazu noch die besondre Aufgelegtheit mancher Personen für diese oder jene Art des Denkens und Fühlens, so haben wir den Unter - schied, dessen beyde äußerste Enden man Genie und Blöd - sinn nennt. Der letztere wird zu den anomalischen Zuständen gerechnet, weil er sich oftmals mit ihnen vermischt und gleich ihnen, den Menschen in der Gesellschaft unbrauchbar macht.
Anmerkung. Was mit Physiognomie und Kranio - stopie zusammenhängt, das ist zu unsicher und zu unbe - stimmt, um bis jetzt in der Psychologie für etwas mehr als für eine Curiosität zu gelten. Manche seltsame Thatsache (gleichviel aus welchem Gebiete des Wissens) kann wahr seyn; um aber wissenschaftlich wichtig zu werden, muß sie sich auf eine zuverlässige Weise mit dem, was sonst schon bekannt und geprüft ist, verknüpfen lassen; steht sie einsam, so bleibt sie unfruchtbar. Die Psychologie vollends durch Physiologie beherrschen wollen, heißt das Ver - hältniß beyder Wissenschaften gerade umkehren; ein in neu - ern und ältern Zeiten häusig begangener Fehler; Jm drit -106 ten Theile wird das wahre Verhältniß einigermaaßen kennt - lich gemacht werden.
134. Man kann die Frage aufwerfen, wie die Mensch - heit überhaupt angelegt sey? Es ist bekannt, daß längere Erfahrung und sorgfältiges Studium der menschlichen Ge - sinnungen sehr viel von der guten Meinung wegzunehmen pflegen, die etwan die Außenseite einer gebildeten Gesell - schaft bey dem Jünglinge erweckt, der noch nicht weiß, wie - viel Schlechtes die Menschen in sich verstecken und heimlich ernähren. Allein diese Thatsache beweiset weniger gegen die Anlage der Menschheit von Natur, als gegen das grobe Verfahren, welches bisher noch durchgehends da angewendet wird, wo man Menschen bilden will. Jndem dieses Verfah - ren (vorzüglich wegen der Unvollkommenheiten des Staats und der Kirche) vorschnell auf das äußere Benehmen der Menschen gewirkt hat (seit Jahrhunderten), ist ein Misverhältniß entstanden zwischen Scheinen und Seyn, welches die alten und mittlern Zeiten schwerlich in dem Grade kön - nen gekannt haben, wie die unsrigen, da es in jenen weit weniger von verpflanzter und nachgeahmter Cuttur gab, als bey uns. — Uebrigens ist die Anlage der Menschheit etwas anderes, als die Anlage einzelner Menschen. Jene geht auf die gesellschaftliche Entwickelung im Ganzen; also ganz vorzüglich auf das Verhältniß zwischen den seltenen großen Geistern, die in der Geschichte Epoche machen, und der Menge der gewöhnlichen Menschen, die nur Bildung em - pfangen und fortleiten können. Um hierüber aus Thatsa - chen mit einiger Sicherheit zu urtheilen, dazu ist unsre Menschengeschichte, die nur erst wenige Jahrtausende um - faßt, noch viel zu kurz. Ungeachtet des alten Spruches: nichts Neues unter der Sonne! geschieht noch viel zu viel Neues, als das man die irdische Bahn der Mensch - heit schon überschauen könnte.
107135. Zwischen die Fragen nach der Anlage der Jn - dividuen und der Menschheit würde man die Betrachtung der Menschenrassen in die Mitte stellen müssen, wenn die letztere in psychologischer Hinsicht etwas sicheres ergäbe. Allein was hierüber etwa zu sagen wäre, verbindet sich besser mit dem nächstfolgenden Gegenstande.
136. Auf dem empirischen Standpunkte läßt sich nicht bestimmt entscheiden, was im Menschen angelegt, was von außen gewirkt sey, und schon die Einleitung in die Meta - physik warnt uns, beyden Vorstellungsstarten nicht viel zu trauen, indem sowohl der Begriff einer Mannigfaltigkeit von Anlagen in Einem, als der von Ursachen und Wir - kungen jeder Art, zu denjenigen gehören, die nicht so, wie sie sich uns zuerst vermittelst der Erfahrung darbieten, kön - nen beybehalten werden.
Hier kann also nur das Auffallendste bemerkt werden, was wir am Menschen nach äußern Umständen verschieden finden.
137. Zuerst nun kommt in Anschlag der Ort, wo der Mensch lebt, mit allen den zahlreichen und weitgreifenden Einflüssen des Klima, der Beschaffenheit von Grund und Boden, der Lage und Nachbarschaft. Was hieher gehört, das pflegt in den historischen Vorträgen weitläuftig und in vielen Beyspielen entwickelt zu werden.
138. Dann hat die Nation, zu welcher das Jndi - viduum gehort, nicht bloß ein vorherrschendes Temperament,108 sondern sie hat auch ihre Geschichte; und diese Geschichte findet der Einzelne bis auf einen gewissen Punkt abgelau - fen. Damit ist nun ein Grad der Cultur, ein nationales Gefühl und Gewissen verbunden, wovon der Einzelne in allen Punkten seiner Lebensbahn mächtig gelenkt, gehoben und niedergeschlagen wird.
139. Bey jeder Nation, die sich aus der Rohheit em - porgewunden hat, giebt es Verschiedenheit der Stände (auf die Weiber nur verpflanzt, bey den Männern ursprüng - lich). Diese Verschiedenheit ist theils ein Werk der Gewalt und der Noth, theils eine Folge der natürlichen Anlagen, theils entspringt sie aus dem Bedürfnis die Arbeit zu thei - len. Nur in so fern kommt dem Einzelnen ein Stand zu, wiefern ihm eingeräumt wird, er habe die Zweckmäßigkeit seines Thuns selbst zu beurtheilen. (Nicht in wiesern er für eigne Zwecke thätig ist, denn in dem Begriffe der Thei - lung der Arbeit liegt es schon, daß es für Alle, oder doch für Viele, wirkt.) Jndem nun der Mensch sein ganzes Thun in Eine Zweckmäßigkeit zu concentriren sucht, entsteht ein äußeres Gepräge und eine Ehre für jeden Stand, wobey nicht nur, wie zu geschehen pflegt, die Mittel selbst den Zweck um etwas verrücken und zum Theil vergessen machen, sondern auch die Gedanken und die Gesinnungen des Men - schen richten sich nach seinem Thun; sie schwinden zusam - men auf den Kreis ihrer Brauchbarkeit, und die Bestrebun - gen, welche übrig bleiben, scheiden sich in zwey Theile, in einen, der dem Stande ganz angehört, und einen andern, der trotz demselben Befriedigung sucht. Falls dieser Wi - derstreit bedeutend wird, so. taugen der Mensch und sein Stand nicht, für einander und sie schaden sich gegen - seitig. —
Je weniger nun Jemand die Zweckmäßigkeit seines Thuns selbst zu beurtheilen hat, das heißt, je mehr er der109 Angestellte eines Andern ist, desto weniger bekümmert er sich darum, und desto weniger Ehre giebt es für ihn; desto mehr Gewicht aber fallt nun auf jenen zweyten Theil der Bestrebungen, der sich trotz der beschränkten Stellung zu befriedigen sucht. Hiezu werden alle Gelegenheiten benutzt und die Künste der Falschheit aufgeboten, wenn nicht eine zugleich milde und strenge Behandlung von Seiten der An - stellenden dem Uebel vorbeugt.
Den bessern Theil einer jeden Nation findet man in der Regel unter denen, die einen Theil der allgemeinen Arbeit übernommen haben und ihn nach eigenem Urtheil besorgen.
140. Wie auf den erwachsenen Menschen sein Stand, so wirkt auf die Tugend die Familie, der Jemand ange - hört, und die Erziehung, die ihm zu Theil wird, nebst den Eindrücken der Beyspiele und der ganzen Umgebung. Sel - ten bildet sich einer im Widerstreite mit seiner Lage, nie - mals davon unabhängig.
141. Die Hauptfrage ist: wieviel, und welche Frey - heit dem Menschen bleibe, in der Mitte aller äußern Ein - wirkungen?
Es ist leicht, das Vorstehende so auszuführen, daß, indem man sich dem Eindrucke der Thatsachen überläßt, die Ueberzeugung hervorgeht, der Mensch werde entweder alles, was er ist, durch das Aeußere, verbunden mit der natür - lichen Anlage, die seinem Wollen vorhergeht, — oder es sey wenigstens der Kreis der Freyheit so klein, daß er für unbedeutend gelten müsse.
Kant räumte sckon ein, das ganze zeitliche Daseyn des Menschen stehe unter Gesetzen der Natur-Nothwendigkeit. Um die Freyheit zu retten, versetzte er sie in die intelligible Welt, als einen Glaubensartikel für den sittlichen Menschen.
Darf man sich erlauben, jemanden besser verstehen zu110 wollen, als er sich selbst verstand, so ist sehr leicht anzuge - ben, was Kant eigentlich wollte. Die Zurechnung sollte gesichert seyn. Das ist sie ohne alle Freyheits-Lehre. Man sehe die Anmerkung zu 118. Um also in praktischer Hin - sicht das Wesentliche der Kantischen Ansicht zu erreichen, braucht man keine Metaphysik, keine speculative Psychologie, und eben so wenig eine Vernunftkritik, sondern nur: auf der einen Seite, unbefangenen Blick für Thatsachen; auf der andern, eine richtige Vorstellungsart von der praktischen Philosophie.
Allein es ist sehr wichtig, hierüber, hinauszugehn, um die Kraft näher kennen zu lernen, mit welcher der Mensch oftmals, und mit großem Erfolge, an sich selbst, ja wider sich selbst arbeitet. Besonders wichtig ist dies in dem Alter, da man zwischen der eben geendigten Erziehung und dem bevor - stehenden Eintritt in den künftigen Stand in der Mitte steht. Um diese Zeit kann die Selbstbestimmung größer, wenig - stens folgenreicher seyn, als vorher und nachher. Jm drit - ten Theile wird sich darüber einige Aufklärung finden.
142. Am meisten niedergedrückt erblickt man den Men - schen in seinen anomalen Zuständen; von denen der Traum auch dem Gesunden bekannt ist, der angeborne Blödsinn aber sich ohne bestimmte Gränze in Einfalt und Mittelmä - ßigkeit der Anlage verliert. Auch in den andern Arten der Geisteszerrüttung findet sich manche, eben so auffallende als traurige Aehnlichkeit mit Jrrthümern, Affecten und Leiden -111 schaften, so daß es schwer wird, den gesunden Menschen dem geisteskranken scharf entgegenzusetzen.
143. Jn allen Fallen, wo ein empirisches Mannig - faltiges sich nicht leicht mit Genauigkeit sondern läßt, fängt man am sichersten mit den offenbarsten Verschiedenheiten, mit den Extremen an, und vergleicht hintennach mit ihnen das Zwischenliegende. Aus diesem Grunde beginnen wir hier mit den eigentlichen Geistes-Zerrüttungen, und erwäh - nen erst später der ihnen ähnlichen Krankheitszustände, nebst den Erscheinungen, die sich dem Schlase zugesellen.
Der Geistes-Zerrüttungen, die im Wachen und bey (wenigstens scheinbarer) körperlicher Gesundheit sich zeigen, zählt man vier Klassen (nach Reil und Pinel, welcher letztere mit einiger Verschiedenheit noch eine fünfte ange - nommen hatte): den Wahnsinn, die Wuth, die Narr - heit und den Blödsinn.
144. Der Wahnsinn hängt an einer sogenannten fixen Jdee, einer falschen Vorstellung, die einen Theil des Gedankenkreises nach sich bestimmt, während übrigens das Denken im gehörigen Gange bleibt, auch von jener Vor - stellung an consequent fortläuft. Es versteht sich dabey von selbst, daß die falsche Vorstellung wirklich täuschen müsse, und nicht für einen Wahn erkannt werde; desgleichen, daß sie einen grundlosen Jrrthum enthalte, aus welchem man den nicht Zerrütteten mit Rücksicht auf die Kenntnisse, die er besitzt, unsehlbar würde ziehen können.
Soll die Annahme der Seelenvermögen hiebey zuge - zogen werden, so ist der Sitz des Wahnsinns eine kranke Einbildungskraft, die in den meisten Fällen durch einen schädlichen Einfluß des Begehrungsvennögens, zuweilen von Seiten des Verstandes oder der Vernunft, manchmal wohl auch bloß durch körperliche Ursachen, eine Verletzung erlit -112 ten hat. Mit der Krankheit der Einbildungskraft verbindet sich dann noch eine Schwäche der Urteilskraft und des Schlußvermögens, indem die offenbarsten Widerlegungen des Wahns von dem Kranken nicht verstanden werden. Die Krankheit wirkt weiter auf die Affecten, Begierden, Mei - nungen, u. s. w.
Aber dieselbe kranke Einbildungskraft zeigt sich zuwei - len sehr gesund, ja oftmals in einer genialisch erhöheten Thätigkeit, in allem, was mit der sixen Jdee nicht zusam - menhängt. Eben so beweisen die übrigen Seelenvermögen oft recht klar, daß sie nicht schwach, sondern zur regelmä ßigen Thätigkeit wohl aufgelegt sind.
Die Verwunderung hierüber verschwindet, wenn man die Hypothese von den Seelenvermögen bey Seite setzt.
Uebrigens werden folgende Arten des Wahnsinns be - merkt: eingebildete Verwandlungen des Leibes oder der Per - son; eingebildete Wirkungen des Teufels u. dgl. ; eingebildete Jnspiration, überhaupt religiöse Schwärmerey; Sucht, durch Aufopferungen sich bekannt zu machen; fixierte Vorwürfe, mit denen der Mensch sich quält; verliebter Wahnsinn; Le - bensüberdruß; Todesfurcht; Furcht vor Armuth und Hun - ger; dumpfer, und endlich rastloser Wahnsinn. Die Erklä - rung aller dieser Erscheinungen ist nicht weit zu suchen. Zuvörderst: die Geistes-Zerrüttung ist niemals rein geistig; denn in dem psychischen Mechanismus findet sich kein Grund zum starren Widerstande gegen klare Erfahrung. Ferner: in aller Geistes-Zerrüttung ist ein Affect unverkennbar. Dieser nun ist erstarrt im Nervensystem. Daher kann die Vorstellungsmasse, worin der Affect seinen Sitz hat, nicht zu solcher Veränderung übergehn, welche den Leib auf ent - gegengesetzte Weise afficiren müßte. Aus zahllosen Geschich - ten, welche als sehr merkwürdig verkündigt werden, lernt der Psychologe wenig oder nichts Neues, sobald er einmal113 den psychischen Mechanismus und dessen mögliche Hemmun - gen erkannt hat.
145. Die Wuth, oder Tobsucht, eigentliche Raserey, besteht in einem Drange zu körperlichen Handlungen, ohne Zweck, auch wohl wider Willen. Sehr gewöhnlich ist es ein Drang zu zerstörenden Handlungen, mit äußerster und gefährlicher Heftigkeit. Daß hiebey körperliche Krank - heit zum Grunde liegt, ist klar genug, denn im Geistigen findet sich kein Princip der Einheit für diese Zustände.
Gleichwohl kommt das Handeln mit Willen und zugleich wider Willen, auch als rein psychologisches Phänomen bey Gesunden vor*)Vergleiche die Abhandlung von Christian Jakob Kraus: de paradoxo, edi interdum ab homine actiones voluntarias, ipso non solum invito, verum adeo reluctante; in dessen nachge - lassenen philosophischen Schriften.. Daher darf man die Handlungen der Rasenden noch lange nicht für bloß auto - matisch halten, wenn sie schon denselben widerstreben. Die Schwierigkeit liegt auch hier bloß in der falschen Ansicht von dem Willen, als einem Seelenvermögen, welches sich selbst zu widerstreiten scheint, indem es dasselbe will und zugleich nicht will.
Anmerkung. Die sonderbare Frage: ob es Tob - sucht ohne Wahn geben könne? sollte wohl schon durch die Erscheinungen an der Wasserscheu beantwortet seyn. Gewiß kann die vom Unterleibe ausgehende stürmische Erregung des Gefäßsystems einen Drang zu wüthenden Handlungen hervorrufen, ohne das Gehirn gleichmäßig zu verletzen; eben so gut als in der Cholera das Blut durch Nerveneinfluß stockt und fast erstarrt, während die Besinnung des Ster - benden wenig getrübt ist. Schon die Affecten veranlaßten uns oben, der partiellen Wirkung gewisser Gemüthszustände114 auf bestimmte Organe zu gedenken; dasselbe gilt auch um - gekehrt. Und die Frage ist hier nicht nach dem möglichen Widerstande des Willens, sondern nach dem Angriffe auf den Geist, der vom Körper ausgeht.
146. Jn der Narrheit hört der Zusammenhang der Vorstellungen auf, während dieselben ohne alle Regel bunt durch einander laufen. Auch hier fehlt im Geistigen jedes Princip der Einheit: ber Grund der Abwechselung der Vor - stellungen kann nicht mehr psychologisch, er muß physio - logisch seyn.
Nach der Hypothese von den Seelenvermögen wäre hier der Hauptsitz des Uebels im Verstande; und wirklich haben die Narren Aehnlichkeit mit unverständigen Kindern. Allein auch die Gesetzlosigkeit der übrigen Seelenver - mögen in der Narrheit würde längst aufgefallen seyn, wenn man jemals an eine genaue Gesetzmäßigkeit jener Ver - mögen zu denken gewagt hätte. Das Wesentliche ist hier, daß jede längere Vorstellungsreihe am Ablaufen gehindert wird, weil das Nervensystem sich der Art von Spannung widersetzt, in welche es dadurch gerathen würde. Daß eine solche Kranfheit allgemeiner und weit gewisser unheilbar ist, als die Erstarrung eines einzelnen Affects im Wahnsinn, liegt deutlich vor Augen. — Die psychische Cur des eigent - lichen Wahnsinns ist wesentlich Schonung und Verhütung, daß der Affect nicht tobe und der Wahn nicht um sich grei - fend eine vermehrte Gewalt erlange. Die eigentliche Hei - lung ist leiblich, wenn auch oft bloße Naturheilung. Züch - tigungen können pädagogisch Etwas wirken; auch die Zu - rechnung ist in vielen Fällen nicht ganz aufgehoben, beson - ders bei Handlungen, die nicht unmittelbar aus dem Wahn folgen; vermindert ist jedoch die Zurechnung schon bey un - glücklichen Verstimmungen, die noch keinen eigentlich vesten Wahn in sich tragen. Unendlich wichtiger als alle Jrren -115 häuser und psychischen Curen wäre Verhütung derjenigen Schwärmereyen, die zum Wähn führen können.
147. Der Blödsinn, der allein unter allen Geistes - zerrüttung angeboren vorkommt, und den wir schon oben dem Genie als das andre Extrem entgegengesetzt ha - ben, ist allgemeine Schwäche des Geistes, ohne daß, hiebey ein Seelenvermögen vor dem andern dürfte genannt wer - den. Er ist nicht sowohl nach verschiedenartigen Merkma - len, als nach Graden verschieden, und kann so weit gehn, daß der Mensch fast nur noch einer Pflanze gleicht, als solche aber wächst und gesund ist.
148. Die angegebenen Klassen der Geisteszerrüttun - gen dienen nun nicht sowohl zur unmittelbaren Einteilung der wirklichen Fälle (welche meistens etwas Mittleres und Zusammengesetztes darstellen), als vielmehr zur Bestimmung der einfachen Merkmale, unter welche die vorkommenden Geistes-Krankheiten zu subsumiren sind. Wahnsinn und Narrheit, Tobsucht und Blödsinn, sind Extreme, zwischen denen die Mittelzustände liegen. Wahnsinn kann sich ver - binden mit Tobsucht, und mit den geringeren Graden des Blödsinns; Narrheit eben so. Es ist demnach hier einiger - maaßen eine ähnliche Zusammenstellung der Begriffe, wie bey den Temperamenten.
149. Analog den Geistes-Zerrüttungen sind nun die allermeisten andern anomalen Zustande. Der Traum gleicht dem Wahnsinn, besonders durch die Einbildung anhalten - der Verlegenheit, in der man nicht von der Stelle komme; die Raserey. im Fieber erscheint als Tobsucht; Schwindel, Ohnmacht und was dem nahe kommt, ist ähnlich dem Blöd - sinn; der Rausch macht den Menschen schweben zwischen Narrheit und Tobsucht. Es ist jedoch offenbar, daß man diese Vergleichung nicht zu weit ausdehnen darf. So ist der Wahn des Traums weit mannigfaltiger und veränder -116 licher, als bey der entsprechenden Geistes-Zerrüttung. Eine gewisse Art der Einheit besitzen gleichwohl die Träume, nämlich Einheit des Gefühls. Einem Traume von Dieben in der Nacht, wobey die Scene sich plötzlich in einen Saal verwandelt, der von der Sonne erleuchtet und von vielen Fremden angefüllt ist, welche zur Erlangung einer hohen Würde Glück wünschen: einem solchen Traume sieht man es an, daß er nicht wirklich geträumt, sondern als psychologisches Beispiel ersonnen ist (vergl. Maaß über die Leidenschaften, im ersten Theile, S. 171). Dergleichen Sprünge aus einem peinlichen in einen sehr erwünschten Zustand werden höchstens dann vorkommen, wann die körperliche Disposition während des Traums sich plötzlich ändert.
Zu den merkwürdigsten Eigenheiten des Traums und der verwandten Zustande gehören die Theilungen des Selbst - bewußtseyns. Der Träumende schreibt oftmals Andern seine eigenen Gedanken zu, manchmal sich schämend, daß er dies nicht selbst gewußt oder eingesehen habe. Bey abwechseln - den Zuständen des Traums und Wachens, der Paroxysmen und der Jntervalle, giebt es häufig eine doppelte Persön - lichkeit, ohne diejenige Erinnerung aus einem Zustande in dem andern, die wir wachend vom Traume zu haben pfle - gen. Es giebt Beyspiele eines heftigen Schrecks, nach wel - chem Personen sich fragten, wer bin ich? und durch einen Zufall wieder an den eigenen Namen, Stand, Beruf, u. s. w. mußten erinnert werden.
Der Vergleichung mit den Grundformen der Geistes - zerrüttungen scheinen sich unter den anomalen Zuständen allein die, noch zu wenig abgeklärten, Thatsachen des soge - annten animalischen Magnetismus zu entziehen. Diesel - ben deuten auf eine veränderte Verbindung zwischen Leib und Seele, deren vorige Beschaffenheit jedoch sehr schnell wieder hergestellt werden kann (vergl. unten 121)
117Schluß-Bemerkung.
Kehrt man von den Geistes-Zerrüttungen wieder zu - rück zu den gewöhnlichen psychologischen Erscheinungen, so erinnert der Wahnsinn an die Leidenschaften, die Tobsucht an die Affecten, die Narrheit an die Zerstreutheit, und der Blödsinn an die Trägheit und Faulheit (letzterer zwar auch an die Dummheit; allein diese ist selbst ein geringerer Grad des Blödsinns). Leidenschaften, Affecten, Zerstreutheit und Trägheit sind auch kranke Zustände des Geistes, nur min - der hartnäckig, als jene Zerrüttungen desselben.
Das Gegentheil von dem Allen wird die Gesund - heit des Geistes seyn. Demnach ist sie
als Gegentheil des Wahnsinns und der Leidenschaften: — gegenseitige Bestimmbarkeit aller Vorstellungen und Begehrungen durch einander (oder Freyheit von fixen Jdeen und Begierden).
als Gegentheil der Tobsucht und der Affecten: — Ruhe und Gleichmuth.
als Gegentheil der Narrheit und Zerstreutheit: — Ver - knüpfung und Sammlung der Gedanken.
als Gegentheil des Blödsinns und der Trägheit: — Reizbarkeit und Munterkeit.
Man pflegt aber die Gesundheit des Geistes nicht in allen Seelenvermögen gleichmäßig zu suchen; sondern vor - zugsweise sind dem gemeinen Sprachgebrauche bekannt: der gesunde Verstand, die gesunde Urtheilskraft, und die gesunde Vernunft. Was nun Vernunft, Verstand und Urtheils - kraft eigentlich seyen, das wird sich durch Vergleichung mit den eben angegebenen Merkmalen der geistigen Gesundheit etwas näher erkennen lassen. Das Weitere hievon im zweyten Theile.
Die Vergleichung zwischen dem Wahnsinne und den Leidenschaften läßt sich noch etwas weiter führen. Am118 meisten ähnlich sind den fixen Jdeen des ersteren die obje - ctiven Leidenschaften, oder diejenigen, welche auf bestimmte Gegenstände des Begehrens sich richten. Wie man diese (mit Maaß) eintheilen kann in solche, die auf die eigene Person, die auf andre Menschen, die auf Sachen gehn: so auch findet man den Wahnsinn verschieden in Ansehung der Dbjecte. Dem Stolze entsprechen die eingebildeten Verwandlungen in Fürsten und Könige, oder gar in Per - sonen der Gottheit; der Selbstsucht schließt sich an, die Furcht vor dem Tode, und vor eingebildeten Widersachern und Verfolgern; die Freyheitssucht erinnert an die Un - bändigkeit der meisten Wahnsinnigen und an die Nothwen - digkeit, sie mit Zwang und Auctoritat zu regieren. Liebe, Haß, Eifersucht gehn häufig in Wahnsinn über. Ehr - sucht, die den Verstand verliert, sucht sich durch Aufopfe - rungen von seltsamer Art bekannt zu machen; und die Herrschsucht erbaut sich oft genug ihren Thron im Jr - renhause; die Genußsucht wird zuweilen eines seligen Unsinns theilhaftig, der mit dem Himmel zu verkehren glaubt; der Geiz dagegen verliert sich in thörichte Angst vor Ar - muth und Hunger.
Was die subjectiven Leidenschaften anlangt, — Lustsucht, Unlustscheu und Leerheitsscheu, nach Maaß, — so führen schon die neuen Namen auf die Be - merkung, daß der gewöhnliche Sprachgebrauch, der dafür keine Worte darbot, auch die Sachen nicht eigentlich durch den Ausdruck Leidenschaft zu bezeichnen pflegt. Wo kein bestimmtes Object, da ist auch keine bestimmte Richtung, sondern ein schwankender Gemüthszustand, der mit sich selbst nicht recht einig und eben darum schwach ist, so daß, wenn die Vernunft ihn nicht bezwingen kann, dies nicht so - wohl von dem Widerstande herrührt, den sie findet, als von der Unfähigkeit, auf ihr Geheiß einen vesten Entschluß119 zu fassen. Dem gemäß scheint es, man dürfe die vorge - nannten Zustande nicht unter die Leidenschaften rechnen. Allein die Begriffe der empirischen Psychologie sind zu schwan - kend, als daß man auf solchen Bemerkungen recht vest be - stehn könnte. Keine Leidenschaft ist eine reine Kraft und Stärke; jede führt ihre Schwäche, ihr Elend, ihre jämmer - lich hülflosen Zustände mit sich. Und auf der andern Seite ist nicht zu leugnen, daß auch die Lustsucht, selbst die all - gemeine, die mit den Gegenständen häufig wechselt, — und eben so die Scheu vor Unlust und vor dem Gefühle der Leerheit, — oftmals durch ihre anhaltende Stärke nur gar zu gut die Stelle einer objectiven Leidenschaft vertreten kann. Mannigfaltige Regungen des Begehrens nach dieser und je - ner Lust, oder des Abscheus gegen dieses oder jenes Unbe - hagen, sind einer Verbindung, und gleichsam einer Verdich - tung, fähig; wobey sie sich in eine zusammengesetzte Kraft verwandeln, die den Menschen in einer mittleren Richtung forttreibt.
Fragt man nun auch hier nach analogen Arten des Wahnsinns: so bemerkt man zuvörderst gleich, daß alle Lü - ste sich frey und frech zu äußern pflegen, nachdem mit dem Verstande die Schaam entwichen ist. Merkwürdig ist aus - serdem der dumpfe Wahnsinn, der, falls er nicht etwa Blödsinn wäre, sich wohl nur als eine Scheu vor unbehag - lichen Gefühlen bey jeder Bewegung denken läßt; also als eine höchst allgemeine Unlustscheu. Deutlicher entspricht der Leerheitsscheu der rastlose Wahnsinn, desgleichen der Lebens - Ueberdruß, der zum Selbstmorde führt.
Wie wir nun bisher zu den Leidenschaften die ähnli - chen Arten des Wahnsinns suchten (indem wir der Ein - theilung der Leidenschaften von Maaß nachgingen), so muß es auch rückwärts gestattet seyn, zu den Arten des Wahn - sinns die zugehörigen Arten der Leidenschaften zu erforschen.
120Welche von beyden auch in einer vollständigen Tabelle er - schöpfend dargestellt seyn möchten, dieselben würden ohne Zweifel die vollzählige Eintheilung der andern ergeben. Aber ein überzähliges Glied in dem einen Register wird al - lemal einen Mangel in dem andern andeuten.
Nun finden wir unter den Arten des Wahnsinns die eingebildeten Vorwürfe, welche der Mensch sich selbst macht, die vermeintlichen Eingebungen des Teufels, die Verzweif - lung an der Gnade Gottes, u. dgl. m. Was entspricht diesen Geistes-Verirrungen in der Reihe der Leidenschaf - ten? Sehr offenbar ein moralischer und religiöser Enthu - siasmus, der in Selbst-Quälerey übergeht. Und dies er - innert weiter an die politischen und gelehrten Leidenschaften, an alle Arten des Fanatismus. Die wahre Natur dieser Leidenschaften mußte (nicht bloß Hrn. Maaß, sondern) der bisherigen Psychologie entgehn, sobald man die Behauptung consequent durchführen wollte, daß die Leidenschaften zur Sinnlichkeit gehörten und deshalb von der Ver - nunft völlig zu scheiden seyen. *)Man vergleiche die Vorrede zum zweyten Theile des Werks von Maaß über die Leidenschaften; wo eine Streitfrage vor - kommt, die beyde Partheyen auf die Verkehrtheit der Lehre von den Seelenvermögen hinweisen konnte.Man schreibt die Erzeugung moralischer und religiöser Vorstellungen der Ver - nunft zu; eben diese Vorstellungen und die sämmtlichen ih - nen verwandten wissenschaftlichen Gedanken und Lehren kön - nen Gegenstände eines leidenschaftlichen Strebens werden. Nichts ist so heilig, daß es nicht ein menschliches Gemüth auf eine heillose Weise sollte erhitzen können. Wie Hunger und Durst, diese niedrigsten Bedürfnisse, den Unglücklichen in einen Dieb, einen Räuber und Mörder verwandeln, so kann auch der Durst des Wissens, so können höhere Be -121 strebungen jeder Art zu Schandthaten verleiten. Ja, die Vernunft (wenn anders ein solches Seelenvermögen wirklich existiert) tritt mit der leidenschaftlichen Sinnlichkeit nicht sel - ten in eine friedliche Gemeinschaft. Dies sieht man am klärsten bey dem Begriff des Rechts, den die Menschen sehr gewöhnlich nur in einer beschränkten Sphäre gelten lassen, indem sie jenseits derselben sich jede Befriedigung ihrer Begierden erlauben. Der Räuberhauptmann verwal - tet das Recht in seiner Bande. Der Grundsatz: haereti - cis non est servanda fides, galt einst in der allein selig machenden Kirche. Aehnlicher Beyspiele sindet sich im ge - meinen Leben eine Menge, wo Menschen nur gegen Dieje - nigen gerecht zu handeln nöthig finden, die sie für ihres Gleichen halten, alle andern aber als Fremde, als hostes betrachten. Wird man nun im Ernste annehmen, die Ver - nunft habe hier, sich selbst verläugnend, einen für sie schimpf - lichen Vergleich mit der Sinnlichkeit abgeschlossen, der sie das ganze Fremden-Gebiet Preis gebe?
Alle diese und noch viele andere Schwierigkeiten ver - schwinden sogleich, sobald man einsieht, wil die Vorstellun - gen dazu kommen, sich bald als Leidenschaft, bald als Ver - nunft zu äußern; während sie an sich weder das eine, noch das andere sind, auch nichts dem ähnliches (also auch keine Jdee des Rechts, noch irgend eine andere Jdee oder Kate - gorie), als präformirten Keim enthalten.
150. Zuerst muß der, von einigen neuern Systemen mit Unrecht verdächtig gemachte Begriff der Seele zurück - gerufen werden; jedoch unter früherhin unbekannten Bestim-mungen.
Die Seele ist ein einfaches Wesen; nicht bloß ohne Theile, sondern auch ohne irgend eine Vielheit in ihrer Qualität.
Sie ist demnach nicht irgendwo. Dennoch muß sie in dem Denken, worin sie mit andern Wesen zusammenge - faßt wird, in den Raum, und zwar für jeden Zeitpunct an einen bestimmten Ort gesetzt werden. Dieser Ort ist das Einfache im Raume, oder das Nichts im Raume, ein ma - thematischer Punct.
Anmerkung. Für gewisse naturphilosophische, also123 auch für physiologische, aber nicht psychologische, Lehren giebt es nothwendige Fictionen im Wege eines gesetzmäßi - gen Denkens, wo das Einfache betrachtet wird, als ließen sich in ihm Theile unterscheiden. Dergleichen Fictionen müs - sen auch auf die Seele, in Hinsicht ihrer Verbindung mit dem Leibe, bezogen, werden, ohne daß darum der Seele selbst irgend eine wahrhafte räumliche Beschaffenheit zuge - schrieben würde. (Einigermaaßen ähnlich sind die Fictionen der Geometer, wenn sie das Krumme als aus geraden Theil - chen bestehend betrachten.)
151. Die Seele ist ferner nicht irgendwann. Den - noch muß sie in dem Denken, worin sie mit andern We - sen zusammengefaßt wird, in die Zeit, und zwar in die ganze Ewigkeit gesetzt werden, ohne doch daß diese Ewig - keit, und überhaupt die zeitliche Dauer, ein reales Prädi - cat der Seele abgäbe (Lehrbuch zur Einleit. in die Philo - sophie §. 115).
152. Die Seele hat gar keine Anlagen und Vermögen, weder etwas zu empfangen, noch zu pro - duciren.
Sie ist demnach keine tabula rasa in dem Sinne, als ob darauf fremde Eindrücke gemacht werden könnten; auch keine, in ursprünglicher Selbstthätigkeit begriffene, Sub - stanz in Leibnitzens Sinne. Sie hat ursprünglich weder Vorstellungen, noch Gefühle, noch Begierden; sie weiß nichts von sich selbst und nichts von andern Dingen; es liegen auch in ihr keine Formen des Anschauens und Denkens, keine Gesetze des Wollens und Handelns; auch keinerley, wie immer entfernte, Vorbereitungen zu dem allen.
153. Das einfache Was der Seele ist völlig unbe - kannt, und bleibt es auf immer; es ist kein Gegenstand der speculativen so wenig, als der empirischen Psychologie.
154. Zwischen mehrern, unter sich ungleichartigen, ein -124 fachen Wesen giebt es ein Verhältniß, das man mit Hülfe eines Gleichnisses aus der Körperwelt als Druck und Ge - gendruck bezeichnen kann. Wie nämlich der Druck eine aufgehaltene Bewegung ist, so besteht jenes Verhältniß darin, daß in der einfachsten Qualität jedes Wesens etwas geän - dert werden würde durch das andre, wenn nicht ein jedes widerstände und gegen die Störung sich selbst in seiner Qua - lität erhielte. Dergleichen Selbsterhaltungen sind das ein - zige, was in der Natur wahrhaft geschieht; und dies ist die Verbindung des Geschehens mit dem Seyn.
155. Die Selbsterhaltungen der Seele sind (zum Theil wenigstens und so weit wir sie kennen) Vorstellun - gen, und zwar einfache Vorstellungen, weil der Act der Selbsterhaltung einfach ist, wie das Wesen, das sich erhält. Damit besteht aber eine unendliche Mannigfaltig - keit von mehrern solchen Acten; sie sind nämlich verschieden, je nachdem die Störungen es sind. Dem gemäß hat die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen und eine unendlich viel - fältige Zusammensetzung derselben gar keine Schwierigkeit.
Von Gefühlen aber und Begierden ist hier noch keine Rede. Diese scheinen zusammengesetzt aus etwas Objectivem und aus, einem Vorziehn und Verwerfen, welches weiterhin wird erklärt werden.
Eben so wenig ist hier schon Hie Rede vom Selbstbe - wußtseyn, oder von irgend etwas, das zum innern Sinne möchte gerechnet werden.
156. Der Gegensatz zwischen Seele und Materie ist nicht ein solcher in dem Was der Wesen, sondern es ist ein Gegensatz in der Art unsrer Auffassung. Die Materie, als ein räumliches Reales, mit räumlichen Kräften, vorge - stellt, wie wir sie zu denken pflegen, gehört weder in das Reich des Seyn, noch in das des wirklichen Geschehens, sondern sie ist eine bloße Erscheinung. Eben dieselbe Ma -125 terie aber ist real, als eine Summe einfacher Wesen; und in diesen Wesen geschieht wirklich etwas, wel - ches die Erscheinung einer räumlichen Existenz zur Folge hat.
Die Erklärung der Materie beruhet ganz und gar da - rauf, daß man zeige, wie den innern Zuständen der Wesen (den Selbsterhaltungen) gewisse Raumbestimmungen, als nothwendige Auffassungs-Weisen für den Zuschauer, zuge - hören; die, eben weil sie nichts reales sind, sich nach jenen innern Zuständen richten müssen, so daß ein Schein von Attraction und Repulsion entspringe. Das Gleichgewicht der beyden letzteren bestimmt der Materie ihren Grad von Dichtigkeit, desgleichen ihre Elasticität, ihre Krystallform bey freyer Verdichtung, mit einem Worte ihre wesentlichen Eigenschaften, die solchergestalt ursprünglich in den Quali täten der einfachen Wesen begründet sind.
Den Raum erfüllt die Materie niemals als ein geo - metrisches Continuum (dergleichen aus einfachen Theilen nicht kann zusammengesetzt werden), sondern mit unvoll - kommner gegenseitiger Durchdringung ihrer benachbarten einfachen Theile. (Wegen des Widerspruchs hierin ver - gleiche man die Anmerkung zu 151.)
Undurchdringlich ist jede Materie nur für diejenigen Wesen, welche das in ihr vorhandene Gleichgewicht der Attra - ction und Repulsion nicht abzuändern vermögen. Durchdring - lich ist eine jede für ihre Auflösungsmittel.
Anmerkung. Wegen der vorstehenden und nachfol - genden Sätze muß auf des Verfassers Metaphysik verwiesen werden, mit welcher die Naturphilosophie verbunden ist.
157. Lebenskräfte (man nennt sie am besten im plu - rali, weil sie einzeln weder entstehn noch wirken können) sind nichts ursprüngliches, und es giebt nichts ihnen ähnli - ches in dem Was der Wesen.
Nur ein System von Selbsterhaltungen in Einem und demselben Wesen vermag sie zu erzeugen; und sie sind an - zusehn als die innere Bildung der einfachen Wesen. Ge - wöhnlich entstehn sie in den Elementen organischer Kör - per, deren Einrichtung zur Hervorrufung der Systeme von Selbsterhaltungen in den einzelnen Elementen geschickt ist. Dies zeigt sich in der Assimilation der Nahrungsmittel.
158. Einmal erworben, bleibt einem jeden Elemente seine Lebenskraft; auch wenn es sich trennt von dem orga - nischen Körper, dem es angehörte. Dies zeigt sich in der Ernährung der höhern Organismen durch die niedern, und der Vegetabilien durch verwesete Theile anderer organischer Körper.
Anmerkung. Eben dahin gehört alle Zeugung, ohne Ausnahme; auch die einiger niedern Organismen aus anscheinend roher Materie, d. h. aus solcher Materie, die keinen organischen Bau (ein räumliches Prä - dicat) besitzt, woraus der Mangel an Lebenskraft keineswe - ges kann geschlossen werden. — Hierin aber eine ursprüng - liche Lebenskraft sehen zu wollen, ist eine höchst unüber - legte Erschleichung. Jn unserm Erfahrungskreise kommt gar keine Materie vor, von der wir mit Sicherheit behaup - ten könnten, sie fey roh. Die ganze Atmosphäre ist voll von Elementen, die in irgend einem organischen Körper schon Lebenskraft gewonnen haben; und die Menge solcher Ele -127 mente vermehrt sich in der Natur unaufhörlich. Ja, wir wissen nicht, ob dergleichen nicht unter den Weltkörpern ge - genseitig ausgetauscht wird.
159. Alle menschliche Forschung muß in der Zurück - führung der Lebenskräfte auf die Vorsehung, nach de - ren Zweckbegriffen sie entstanden sind, ihren Ru - hepunct anerkennen. Weiter reicht keine Metaphysik und keine Erfahrung; aber jeder Meinung, als ob durch einen Natur-Proceß niedere Organismen aus roher Materie, und höhere aus niedern entstanden wären, kann man eine Wider - legung entgegensetzen.
160. Die Psychologie zeigt uns an dem Beyspiel der Seele eine ganz vorzügliche innere Bildung eines einfachen Wesens. Nach diesem Typus muß man sich die eines je - den andern, auch unter den nicht vorstellenden Wesen, den - ken, und damit die obige Bemerkung verbinden, daß, wo mehrere Wesen zusammen ein materielles Ganzes ausma - chen, sich überall der innere Zustand derselben einen ihm angemessenen äußern, eine räumliche Lage, bestimmt. Da - rum erscheinen die Lebenskräfte gewöhnlich als bewegende Kräfte; aber eben darum sind sie in ihren Bewegungen gar nicht durch chemische oder mechanische Gesetze zu verste - hen. (Bey den letztern nämlich kommt keine innere Bildung in Betracht.)
Hiemit ist zugleich das Verhältniß der Psychologie und Physiologie angegeben. Jene ist die erste, die vorangehen - de, diese, falls sie nicht bloße Erfahrungswissenschaft seyn will, die zweyte; denn sie muß aus jener den Begriff der innern Bildung erst verstehen lernen. Es giebt keine Real - Definition des Lebens, außer mit Hülfe der Psychologie.
Anmerkung. Ueber die Schwierigkeit, das Leben zu definiren, kann man unter andern Treviranus Bio - logie (I. Band, S. 16) vergleichen. Der faßlichste empi -128 rische Charakter ist wohl immer die Assimilation, deren des - halb oben zuerst gedacht wurde. Fände sich ein Organis - mus ohne diese Eigenheit, so dürfte man zweifeln, ob er für lebend zu halten sey; gesetzt auch, er wäre beseelt (ein Fall, der sich im allgemeinen Begriffe sehr wohl den - ken läßt).
161. Nach dem obigen versteht es sich von selbst, daß die Lebenskräfte sehr verschieden seyn könen, sowohl nach Beschaffenheiten als Graden. Denn ein System von Selbst - erhaltungen wird in verschiedenen Wesen verschieden, es kann in gleichartigen nach Verschiedenheit der Störungen abgeändert ausfallen; es können endlich der dazu gehörigen Selbsterhaltungen mehrere oder wenigere seyn.
Hieraus erklärt sich die Verschiedenheit dessen, was aus einerley Nahrungsmitteln bereitet wird. Die Elemente, woraus das Herz und woraus die Nerven bestehen, sind, chemisch betrachtet, gewiß nicht so weit verschieden, als durch ihre innere Bildung.
Das Causal-Verhältniß zwischen den verschiedenartigen Theilen eines und desselben lebenden Körpers, desgleichen das zwischen diesem Körper und der Außenwelt, macht im Allgemeinen gar keine Schwierigkeit. Alle Causalität, und insbesondre alle Cohäsion der Materie beruht auf der Un - gleichartigkeit der Elemente. Daher kann z. B. auch die Wirkung der Nerven auf die Muskeln keine besondre Ver - wunderung erregen; vielweniger darf sie Hypothesen von electrischen Strömungen, von Polaritäten u. dgl. veran - lassen, welches leere Einfälle sind; die den neuesten Liebha - bereyen der Physiker das Daseyn verdanken. Es könnte etwas Wahres daran seyn, und doch blieben die wichtigsten Fragepuncte unbeanwortet; und am Ende wäre ein Räthsel an die Stelle des andern gesetzt.
162. Die Verknüpfung zwischen Geist und Materie in den Thieren, insbesondere aber im Menschen, hat viel Wunderbares, das auf die Weisheit der Vorsehung muß zurückgeführt werden; aber sie hat es nicht da, wo man es zunächst zu suchen pflegt, weil man die Materie für real hält, sofern sie räumlich existirt; und weil man den mensch - lichen Geist als ein ursprüngliches Denken, Fühlen, Wollen betrachtet: so daß zwischen beyden jedes Mittelglied fehlt. Man suche hinter der Materie, als räumlicher Erscheinung, die einfachen und innerlich bildsamen Wesen, aus denen diese Erscheinung entspringt; man sehe den Geist an als die vor - stellende Seele; man erinnere sich, daß den Vorstellungen, als Selbsterhaltungen der Seele, andre Selbsterhaltungen in anderen Wesen (zunächst in den Elementen des Nerven - systems) entsprechen müssen: so wird man einsehn, daß die Kette zusammengehöriger Selbsterhaltungen wohl noch wei - ter, daß sie durch ein ganzes System von Wesen, die sich zusammen als Ein Körper darstellen, fortlaufen könne; und man wird es nicht mehr räthselhaft finden, wenn von der Spitze des Fußes bis zum Gehirn und bis in die Seele eine Folge von innern Zuständen, ohne Zeitverlauf und ohne alle räumliche Bewegung, — dergleichen jedoch als begleitendes Phänomen vorkommen kann, — sich vorwärts und rückwärts erstreckt.
163. Zuerst aber tritt hiemit wieder die, mit Unrecht verworfene, Frage von dem Sitze der Seele hervor. Daß man aus physiologischen Gründen nicht einen Ort, sondern nur eine Gegend (im Uebergange zwischen Gehirn und130 Rückenmark) dafür mit Wahrscheinlichkeit nachweisen kann, ist bekannt. Auch bedarf es keines vesten Sitzes, sondern die Seele kann sich bewegen in einer gewissen Gegend, ohne daß hievon in ihren Vorstellungen nur die geringste Ahn - dung, oder bey anatomischen Nachsuchungen die geringste Spur vorkäme; wohl aber kann man Veränderung ihres Sitzes als eine sehr fruchtbare Hypothese zur Erklärung ih - rer anomalischen Zustände betrachten.
Anmerkung 1. Diese Stelle hat viel Verwunderung erregt. Möchten doch die Physiologen sich erinnern, daß ihr Beobachtungskreis im Gebiete des Räumlichen liegt; und möchten sie dem Metaphysiker überlassen, zu sorgen, daß nicht dem Raume mehr zugestanden werde, als ihm zu - kommt! Wollen sie aber seine Sorgen mit ihm theilen, so müssen sie ernstlich Metaphysik studiren. Dann wird man mit ihnen weiter reden können.
Anmerkung 2. Man würde ohne Grund annehmen, daß in allen Thieren und im Menschen der Sitz der Seele an derselben Stelle sey. Wahrscheinlich ist er bey Thieren, besonders bey den niedern, im Rückenmarke. Noch mehr! Man darf nicht voraussetzen, daß jedes Thier nur Eine Seele habe. Bey Gewürmen, deren abgeschnittene Theile fortleben, ist das Gegentheil wahrscheinlich. Jm menschli - chen Nervensysteme mögen sich gar viele Elemente befinden, deren innere Bildung die einer Thierseele von, der niedrigern Art weit übertrifft. (Uebrigens darf man nie vergessen, daß Lebenszeichen noch nicht Seelenzeichen sind. Jn abgetrennten organischen Theilen erhält sich eine Zeitlang Leben ohne Seele.)
Wollte man aber dem Menschen mehrere Seelen in Einem Leibe beylegen, so müßte man erstlich sich hüten, unter ihnen die geistigen Tätigkeiten vertheilt zu denken, vielmehr würden dieselben in jeder Seele ganz131 seyn müssen; zweytens wäre alsdann die genaueste Harmo - nie unter diesen Seelen vorauszusetzen, so daß sie für völlig gleiche Exemplare einer Art gelten könnten; dies aber ist im allerhöchsten Grade unwahrscheinlich, und deshalb der ganze Gedanke verwerflich. — Wenn es dem Menschen im Streite der Vernunft und Leidenschaft zuweilen scheint, als hätte er mehrere Seelen, so ist dies ein psychisches Phäno - men, dessen Erklärung tieser unten vorkommen wird, und welches man mit dem eben erwähnten paradoxen Gedanken gar nicht in Verbindung setzen darf.
164. Einer einzigen Seele also dient im menschlichen Leibe das ganze Nervensystem, und vermittelst desselben ist sie in diesen Leib hineingepflanzt, mehr ihm zur Last als zur Hülfe, denn er lebt als Pflanze für sich, wofern ihm Nahrung und ein zuträglicher Platz gegeben wird, welches bey ganz Blödsinnigen zuweilen andre Menschen besorgen. (Einige Erzählungen von gänzlich blödsinnig Gebornen erregen den Gedanken, daß sie vielleicht wirklich nur vege - tirende Leiber, ohne Seele, seyn mochten.)
165. Bey der engen Causalverknüpfung aller Theile in dem ganzen Systeme, welches wir Mensch nennen, kann nun die vielfältige Abhängigkeit des Geistes vom Leibe auf keine Weise befremden. Desto wundervoller ist es, daß im Ganzen das Nervensystem fast nur zur Dienstbarkeit geschaffen zu seyn scheint, wie man mehr und mehr erken - nen wird, wenn man sieht, wie wenig von physiologischen Voraussetzungen nöthig ist, um die Geistes - Zustände und Tätigkeiten zu erklären. Doch dient das Nervensystem nur im gesunden Menschen; in Krankheiten zeigt es sich unge - horsam und eigenwillig, und in manchen Geistes-Zerrüttun-gen, besonders in der Narrheit, kehrt sich das Verhältniß zwischen den Nerven und der Seele gerade um. Dies ist ein Fingerzeig, daß wir den gesunden Zustand nicht als
132ein bloßes Naturphänomen, welches nicht anders seyn könnte, zu betrachten, sondern in ihm eine wohlthatige Anstalt der Vorsehung zu verehren haben.
166. Der Gemeinschaft mit der Außenwelt, welche der menschlichen Seele durch ihren Leib gewahrt und zugleich begrenzt wird, wäre kaum nöthig zu erwähnen, wenn nicht in Hinsicht der jetzt sehr verbreiteten Meinung von einem allgemeinen organischen Zusammenhange des ganzen Univer - sums bemerkt werden müßte, daß man dieselbe mit den hier aufgestellten Sätzen nicht in Berührung - bringen dürfe, wo-fern man nicht ganz und gar heterogene Vorstellungsar - ten gegenseitig durch einander verunreinigen wolle.
Anmerkung. Nicht einmal für eine allgemeine Cau - salverbindung giebt es haltbare Gründe a priori. Und die Erfahrung endigt hier bey dem schwachen Schimmer des Lichts, welches entfernte Sonnen einander zusenden.
167. Es ist zwar noch zu früh, Alles in der Psycho - logie erklären zu wollen. Jndessen hat sich schon in dem Vorstehenden manche Erklärung von selbst dargeboten, und133 die Vergleichung der Thatsachen mit den aufgestellten Grund - sätzen wird allmählig weiter führen.
Wie die Welt und wir selbst uns erscheinen, das ist das Erste, worüber wir eines psychologischen Aufschlusses bedürfen, besonders um den Ursprung der metaphysischen Probleme begreisen zu lernen. Darnach wird noch von un - serer Stellung in der Welt, in praktischer Hinsicht, die Rede seyn müssen; vorzüglich damit das, was wir seyn kön - nen, sich vergleichen lasse mit dem, was wir seyn sollen.
168. Warum wir die Dinge in der Welt in Ver - hältnissen des Raums und der Zeit auffassen, dies muß beantwortet werden mit Hülfe der Untersuchung über die Reihen (29). Zur Vorbereitung dient Folgendes:
Jn (28) setze man anstatt der bestimmten Reste r, r‘, r‘‘, einer einzigen Vorstellung P, die unendliche Menge aller ihrer möglichen Reste, und denke sich dieselben ver - schmolzen mit unendlich vielen Vorstellungen π, π‘, π‘‘, u. s. f. So wird für die Vorstellung P eine continuirliche Folge von Reproductionen entspringen, deren jede gleich - wohl ihr eignes Gesetz hat, welches von ihrem r abhängt, nach der Formel in (25).
Ferner setze man in (29) anstatt der Reihe a, b, c, d, …. eine continuirliche Folge, deren jedes Glied, so wie eben P, mit allen seinen möglichen Resten den an - dern Gliedern, aber jedem auf eigenthümliche Weise, ver - schmolzen sey.
Ueberdies denke man sich diese Folge verschmolzener Vorstellungen nach beyden Seiten unbestimmt lang; und endlich erinnere man sich, daß vielleicht, wenn es nicht durch nähere Bestimmungen unmöglich gemacht wird, jedes Glied der Folge ein solches seyn könne, worin, wie in c: (30), sich mehrere dergleichen Folgen durchkreuzen mögen.
Wo nun auch, in diesem ganzen Systeme von Vor -134 stellungen, irgend eine sich nur im geringsten regt, von da pflanzt sich die Regung fort durch die nächsten, und so weiter, mit dem unverbrüchlichen Gesetz, daß, wenn von dreyen Resten r, r‘, r‘‘, einer und derselben Vorstellung, r‘ zwischen r und r‘‘ liegt, alsdann auch das mit r‘ verschmolzene π‘ zwischen π und π‘‘, als den mit r und r‘ verschmolzenen, reproducirt wird. Dieses zwischen muß immer statt sinden, wenn auch der Grad der Reproduction noch so gering wäre. Es ist aber dasselbe der allgemeine Charakter aller Reihenformen.
169. Weiter kommt es zur nähern Bestimmung darauf an, ob die Art der Reproduction beschränkt sey, und auf welche Weise.
A) Kann sich in der sinnlichen Wahrnehmung die Reihe a, b, c, d, …. oder vielmehr das statt derselben zu denkende Continuum nach allen möglichen Versetzungen abändern (wie in a c b d: a d b c; u. s. w.), so ent - steht jedesmal aus der wahrgenommenen Folge auch eine neue Reproductions-Folge; hiemit aber verwickeln sich die Gesetze für die Reproduction dergestalt, daß keine merkliche Ordnung mehr übrig bleibt (wie wenn eine Menge kleiner Bogen von verschiedenen Curven an einander gerückt wäre).
B) Man nehme aber an, die sinnliche Wahrnehmung verkehre zwar b c in c d und abcd in dcba, u. s. w., niemals aber ändere sie das zwischen für irgend eine Vorstellung und ihre benachbarten: übrigens möge die Reihe der Wahrnehmungen bald hier, bald dort beginnen, ohne bestimmten Anfangspunct. Das hieraus entspringende Re - productionsgesetz ergiebt ein räumliches Vorstellen, zum wenigsten mit einem Fortschritt von jedem Puncte nach zweyen entgegengesetzten Seiten.
170. Man habe einen bestimmten Anfangspunct; übri -135 gens sey alles wie vorhin, so entsteht die allgemeinste Form der Vorstellung nach Art der Zahlen.
171. Man entbehre des Anfangspunctes, und dage - gen laufe die Wahrnehmungs-Folge, ohne Umkehrung, stets nach Einer Richtung, so kann auch die Reproduction nur diese Eine Richtung gewinnen. Wird nun, während die Wahrnehmung bey d ist, zugleich a reproducirt, so läuft von da die Reihe a b c d ab; die nämliche Reihe aber wird von d nach einem andern Gesetz im Be - wußtseyn vestgehalten (wie, in 29, c auf b und a zurückwirkt). Hieraus entspringt das Vorstellen des Zeitlichen.
172. Zur Erläuterung vor allem die Bemerkung, daß in der Seele die Vorstellung des Räumlichen nicht selbst ausgedehnt, sondern völlig intensiv seyn muß; und daß über dem Vorstellen des Zeitlichen die Zeit eben in sofern nicht verfließen muß, wiefern sie soll vorgestellt werden. Was die Zahl anlangt, so ist ihr Grundbegriff kein anderer, als der des Mehr und Minder; das Eins, Zwey, Drey, u. s. w. sammt den eingeschobenen Brüchen wird darauf nur übertragen. Die Abscissenlinien der höhern Geometrie sind das wahre und vollkommene Symbol für den Zahlbegriff in seiner Allgemeinheit.
173. Die ursprüngliche Auffassung des Au - ges kann nicht räumlich seyn. Denn die Wahrneh - mungen aller farbigten Stellen fallen in die Einheit der Seele zusammen, und hiebei geht von dem Rechts und Links, Oben und Unten, u. s. w., welches auf der Netz - haut des Auges Statt fand, jede Spur verloren. Dasselbe gilt vom Tasten mit der Zunge und den Händen.
Aber beym Sehen ist das Auge in Bewegung; es ver - rückt den Mittelpunct seiner Gesichtsfläche; hiemit ist unauf - hörlich ein Verschmelzen der gewonnenen Vorstellungen, eine136 regung derer, welche durch Wahrnehmungen mehr aus der Mitte des Gesichtsfeldes verstärkt werden, und eine zahl - lose Menge von einander durchkreuzenden Reproductionen verbunden, für die wir gar keine Worte würden finden kön - nen, wenn sie uns im gebildeten Zustande noch neu wären. Auch der Blindgeborne, der später zum Sehen gelangt, kennt schon den Raum, denn sein Tasten bereitet ihm ähn - liche Reproductions-Folgen, wie das Gesicht sie bequemer und schneller liefert. Man sieht hier, wie zwey so verschie - dene Sinne einerley Resultat ergeben können.
174. Die Vorstellung des Räumlichen erfodert eine Succession in dem Actus des Vorstellens, denn sie beruht auf eben jetzt geschehenden Reproductionen. Dabey ist zwey - erley zu bemerken:
1) Die Succession im Vorstellen ist nicht eine vor - gestellte Succession; und
2) sie bedarf keiner endlichen Dauer, sondern nur einer unmerklich kleinen Zeit; besonders da beym Umherwandeln des Auges in seinem Gesichtsfelde zahllose Ausfassungen des Farbigten in jedem Augenblicke zugleich entstehen, und zu - gleich verstärkend und aufregend auf die zuvor gewonnenen Vorstellungen wirken. Das räumliche Sehen schließt eine unendliche Menge von unendlich schwachen, gleichzeitigen Reproductionen in sich, die sich mit den momentanen Auf - fassungen vereinigen, welche letztern für sich allein nicht räumlich seyn würden. Da nun zu diesem Behufe keine einzelne Reproductionsfolge in einer merklichen Länge abzu - laufen braucht, so ist auch keine endliche Zeit dazu nöthig; und deshalb scheint es uns, als ob räumliche An - schauungen ganz simultan, und von allem Zeit - verlaufe frey wären.
175. Um die Wahrnehmungen des Raumlichen von137 denen des Zeitlichen noch sicherer in ihrem Ursprunge, zu unterscheiden, setze man folgenden Fall:
Von a mögen zwey Reihen, a, b, c, d, und a, B, C, D, anfangen, welche beyde in der Wahrnehmung zu - gleich gegeben werden. Hier ist bis jetzt weder etwas Räum - liches noch Zeitliches in dem Vorgestellten; auch dann nicht, wenn, nachdem diese ganze Folge von Wahrneh - mungen aus dem Bewußtseyn verdrängt war, irgend einmal a wieder erweckt wird, und alsdann beyde Reihen zugleich reproducirt. Vielmehr ist eine solche Repro - duction lediglich von der Art, wie man sie dem Gedächt - nisse beyzulegen pflegt, und es wird dabey zwar Zeit ver - braucht, aber keine Zeit und kein Raum vorgestellt. Anders verhält sich die Sache, wenn, während D und d noch wahrgenommen (oder gedacht) werden, sich a (et - wa wegen einer ihm gleichartigen, eben jetzo neu gegebenen Wahrnehmung) wieder erhebt, und seine Reihe ablaufen läßt. Denn alsdann geschieht dies Ablaufen während eines gleichzeitigen Gesammt-Vorstellens der ganzen Reihe, wie in 171 bemerkt ist. Dadurch wird das Zusammenfassen des Zeitlichen, das Ueberschauen der Zeitstrecke vermittelt; wohingegen derjenige niemals von der Zeit etwas wissen würde, der nicht, ihren Anfang mit ihrem Ende zu - sammenhaltend, einen Uebergang von jenem zu diesem be - merken könnte. — Noch ein anderes Resultat aber erhält man, wenn a sich nicht unmittelbar wieder erhebt, dagegen aber zwischen D und d eine Reihe ε, η, ϑ, hineintritt, welche in der Wahrnehmung von D nach d, und auch rückwärts geht; und wenn überdies die Wahrnehmung auch von D durch C und B nach a, und von d durch c und b nach a zurückkehrt. Hiedurch treten D und d aus einander, und es verwischen sich die Unterschiede dessen, was das Er - ste und was das Letzte war; die Reproductionsfolgen laufen138 nun bey jeder neuen Aufregung von allen Puncten einander entgegen, und die Auffassung ist eine räumliche.
Beyde Sätze in 174 gelten übrigens auch vom Vor - stellen des Zeitlichen. Um uns ein ganzes Jahr oder Jahr - hundert vorzustellen, verbrauchen wir nur eine kleine Zeit, wofern anders die Partial-Vorstellungen in der hiezu nö - thigen Reihe unter einander wohl verschmolzen sind; die Zeit aber, welche wir verbrauchen, ist in dem Vorgestellten nicht enthalten. Wenn man sich übt, das Zeitliche mit glei - cher Geläufigkeit rückwärts wie vorwärts zu durchlaufen: so entsteht die Vorstellung eines Zeitraums.
176. Lange Zeitstrecken aufzufassen, ist nur dem Ge - bildeten möglich; das Kind kann in den frühesten Jahren nur sehr kurze Zeiträume zusammenhalten. Der Grund liegt hauptsächlich in der hiezu nöthigen Rückwirkung der letzten Vorstellungen auf die früheren in der Reihe (171). Bey dem Kinde nun ist die Empfänglichkeit noch groß (47); deshalb und weil die Complexionen und Verschmelzungen noch wenig Stärke besitzen, wirft der Eindruck des Augen - blicks das früher Aufgefaßte zu schnell auf die Schwellen des Bewußtseyns nieder, und so können sich keine langen Reihen bilden.
177. Psychologisch betrachtet, ist alles Räum - liche und Zeitliche unendlich theilbar. Denn es beruht auf solchen Resten einer und derselben Vorstellung, wie r, r‘, r‘‘, u. s. w. (28). Könnte es nur eine bestimmte Menge von dergleichen Resten geben, so wäre auch nur eine entsprechende Anzahl verschiedener Reproductionsgesetze für dieselbe Vorstellung möglich. Aber die ganze Vorstellung ist keinesweges ein Compositum aus solchen Theilen, wie jene Reste; vielmehr ist alle Verdunkelung, wodurch die Reste entstehen, der Vorstellung zufällig, ja ihr zuwider. Da nun hier das Ganze den Theilen vorangeht, so hat die139 Theilung keine Gränzen; und die Möglichkeit verschiedener Reproductionsgesetze ist ebenfalls unbegränzt.
So geschieht es, daß für die Sinne und für die Phantasie auch im Raume und in der Zeit das Ganze den Theilen voranzugehn scheint; und hieraus entspringt die Ungereimtheit im Begriffe der Materie. (Lehrbuch zur Ein - leitung in die Philos. §. 98.)
Anmerkung 1. Auch die Geometrie vereinigt sich hiemit; sie bedarf ihrer incommensurabeln Größen wegen überall der unendlichen Theilbarkeit. Daraus aber ist der Metaphysik, die unvorsichtig genug war, diese Ansicht des Raumes für die primitive und allein-richtige zuhalten, viel Unheil erwachsen.
Anmerkung 2. Vom Räumlichen und Zeitlichen sind wir ausgegangen; nicht aber vom Raume und der Zeit. Jenes von diesem abhängig zu machen, ist ein Jrrthum, der hier nicht kann beleuchtet werden. Leere Räume wer - den gesehen, wie man leere Zeiten (Pausen) hört, nämlich erwartend was ausbleibt. Man trägt die schon vorhande - nen Vorstellungen weiter fort; sie sinken aber fortwährend, bis etwas Neues gegeben wird, das nun mit dem noch übrigen Neste verschmilzt. — Wird das Uebertragen weiter fortgesetzt, und überschreitet es die letzte aufgefaßte Gränze; so findet sich keine Gränze mehr, es eröffnet sich das Un endliche. Sehr reichen Stoff zur Untersuchung bieten nicht bloß die gegebenen Gestalten, wenn man die Verschieden - heit ihrer Auffassung von bestimmten Puncten aus, in Be - tracht zieht, sondern auch die Gestaltungen durch frey stei - gende Vorstellungen; wohin das Schaffen geometrischer Fi - guren, das Construiren, gehört.
Anmerkung 3. Zur Erklärung des Schönen im Raume muß man nicht bloß die Begünstigung im Repro - duciren der sich vielfach verbindenden Reihen, sondern be -140 sonders auch noch das Streben zur Verschmelzung alles Angeschauten in Eins, in Erwägung nehmen; welches letz - tere einige Analogie hat mit der Verschmelzung vor der Hemmung (34). Diesem entsprechen alle Gestalten, die sich dem Runden nähern; hingegen das Eckige, Langge - streckte, entgegengesetzt Gekrümmte, widersteht ihm. Bunte Schnörkel gefallen eine Zeit lang; aber man kehrt zum Ein - facheren zurück. Kunstwerke werden meistens interessant durch ihr Sprechendes und Bedeutendes; die reinen Raum-Ver - hältnisse, mit ihrer eigenthümlichen Schönheit, werden häu - fig darüber vergessen.
178. Anhangsweise noch ein Wort über den Ursprung der Vorstellungen von intensiven Größen. Die Frage ist hier: woher nehmen wir den Maaßstab, mit welchem vergleichend wir schon unsre einfachen Empfindungen als stark oder schwach unmittelbar bezeichnen? Die Wiederer - weckung der gleichartigen ältern Vorstellung reicht für sich allein zur Erklärung nicht hin; denn eines Theils richtet sich dieselbe nicht nach der Stärke der wiedererweckten, ob - gleich sie durch deren eigne Kraft geschieht; andern Theils ist der Erfolg nur Verschmelzung des Alten und Neuen, aber nicht Messung des einen am andern. Vielmehr haben wir hier eins von den zahlreichen Beispielen solcher psycho - logischen Probleme, die wegen ihrer Einfachheit kaum be - merkt werden, und dennoch in der Auflösung sehr schwierig sind. — Der Grund scheint in dem Gesetz der Hülfen (25) zu liegen. Diese haben ihr Maaß; nicht bloß der Zeit, sondern auch der Stärke, bis wohin sie die ältere gleich - artige Vorstellung zu heben bemüht sind. Jst nun die hinzukommende neue Wahrnehmung zu schwach, um durch Hemmung der Hindernisse jener ältern freyen Raum ge - nug zu schaffen (26), so bleibt das Streben der Hülfen unbefriedigt und erregt das unangenehme Gefühl des Schwa -141 chen, entgegengesetzt dem angenehmen in (37). Jst die neue Wahrnehmung stärker als hiezu nöthig wäre, so fühlt sich der Mensch aus seinem gewohnten Kreise gehoben; denn die Hülfen können es nun jener nicht gleich thun. Jn der Begünstigung der letzteren liegt gleichwohl das Angenehme dieses Gefühls. — Es bedarf kaum der Erinnerung, daß hiebey vorausgesetzt wird, die ältere gleichartige Vorstellung sey mit irgend welchen helfenden verbunden. Je mehrere deren sind, und je gleichmäßiger sie zusammenwirken, desto feiner wird die Schätzung der intensiven Größe ausfallen.
Hieher gehört auch die Untersuchung über das Zeit - maaß.
Anmerkung. Von den drey Dimensionen des Raums, desgleichen von der Entwickelung des Jahlbegriffs, und sei - ner Beziehung auf die logisch allgemeinen Begriffe, wird in den Vortragen über allgemeine Metaphysik mit einer Ausführlichkeit gehandelt, die dort unerlaßlich ist, und die hier nicht Platz hat.
Zusatz.
Von der Verschiedenheit der Reihen.
Schon aus dem Vorigen erhellet die Abhängigkeit der psychischen Processi von der Form der Reihen; da dieselbe in der Folge noch mehr hervortreten wird, so ist es zweck - mäßig, die möglichen Unterschiede der Reihen hier im Allge - meinen anzumerken.
1) Die Reihen sind länger oder kürzer; um diese Ver - gleichung auf einen bestimmten Gesichtspunct zurückzuführen, nehme man die Reihe a, b, c… p dergestalt, daß von a noch ein Rest mit p, aber keiner mehr mit q verschmolzen sey: so wird a noch auf p reproducirend wirken; hingegen mag b oder c noch mit q und r verbunden seyn: so kann zwar auf solche Weise die Reihe sich unbestimmt Verlän -142 gern, aber es giebt dann keinen unmittelbaren Zusammen - hang ihres Anfangs und Endes.
2) Der Grad der Verbindung unter den Gliedern ist stärker oder schwächer.
3) Die Reihen sind durchgehends gleichartig oder nicht; beydes sowohl in Ansehung der Stärke ihrer Glieder als auch des Verbindungsgrades. Die stärksten Glieder oder Verbindungen sind entweder vorn oder mitten oder hinten.
4) Oftmals gelten viele Reihen für eine; z. B. nach häufiger Wiederhohlung. Dadurch können die Ungleichheiten vermindert werden; oft aber verstärken sich nur die Anfänge. Soll dies nicht geschehen, so müssen die Reihen nicht hinten, sondern vorn Zusätze bekommen; z. B.: cd, bcd, abcd.
5) Manche Reihen laufen in sich zurück; indem ent - weder ihr Anfangsglied, oder eins der spätern sich wie - derhohlt.
6) Bey ungleichartigen Reihen bilden oftmals die stär - kern Glieder unter sich eine Reihe. Es ist dann in der Gewalt der Reflexion, die Reihen mehr übersichtlich oder ins Einzelne gehend zu reproduciren.
7) Bey zusammengesetzten Reihen hat oft ein Glied, oder es haben mehrere Glieder eine Seitenreihe, d. h. eine solche, deren Verlauf den Fortschritt in der Hauptreihe nicht fördert. Es kann auch ein Glied viele Seitenreihen haben; so daß von ihm aus entweder die eine oder die andre durchlaufen wird.
8) Die Seitenreihen können auch zugleich ablaufen; alsdann aber müssen sie, wofern sie nicht zusammenfallen sollen, etwas drittes zwischen sich schieben; wie etwa meh - rere Radien eines Kreises die Fläche des Sectors (welche unzählige mögliche Linien enthält) zwischen sich haben.
9) Bey Complexionen von Merkmalen (dergleichen alle Begriffe von Sinnengegenständen sind) kann jedes Ele -143 ment der Complexion (jedes sinnliche Merkmal) Anfangs - punkt einer Reihe (z. B. von Veränderungen) seyn.
10) Es können Reihen, die einfach anfingen, weiter - hin gleichsam einmünden in eine Complexion.
Dies mag hier genügen, um anzudeuten, wie viele Möglichkeiten man sich stets gegenwärtig erhalten muß, wenn man den psychischen Mechanismus genauer studiren will.
Dabey ist nicht zu übersehen, daß die Reproduction zwischen zweyerley entgegengesetzten möglichen Einflüssen schwebt. Entweder nämlich kann die Reflexion hinzukom - men. Diese geht von einer mächtigeren Vorstellungsmasse aus; gewöhnlich von frey steigenden Vorstellungen (32). Oder es ist eine Hemmung vorhanden; wodurch entweder die Reproduktion der Hauptreihe, oder der Seitenreihen stockt. Jm letztern Fall verbinden wir träumend (oder fa - belnd) Reihen, die bey klarem Wachen gar Vieles zwischen sich schieben, wo nicht sich ganz aufheben würden; wie in Todtengesprächen, worin Alexander, Hannibal, Cäsar, Na - poleon sich mit einander unterreden. Was die frey steigen - den Vorstellungen anlangt, so sind diese nicht schlechtweg solche, fondern mit Rücksicht auf die jedesmalige Gemüths - lage und Umgebung. — Betrachtungen dieser Art erfodern eine Uebung, die sich nicht lehren läßt.
179. Alle unsre Vorstellungen ohne Ausnahme sind den Gesetzen der Hemmung, der Verschmelzung, u. s. w. unterworfen; sie können den Sitz der Gefühle ausmachen, als Begierden aufstreben, u. dgl. Wo bleiben denn nun die Begriffe? Oder wo kommen sie her?
144Schon im Anfange der Logik (Lehrb. z. Einleitung in d. Philos. §. 34) ist gesagt, daß unsere sämmtlichen Vorstellungen Begriffe sind in Hinsicht dessen, was durch sie vorgestellt wird. Demnach existiren die Begriffe, als solche, nur in unserer Abstraction; sie sind in der Wirklichkeit eben so wenig eine besondere Art von Vorstellungen, als der Verstand ein besonderes Vermö - gen ist, außer und neben der Einbildungskraft, dem Ge - dächtnisse, u. s. w. Wobey noch zu merken, daß eben da - rum, weil alle Vorstellungen ohne Ausnahme sich als Be - gierden und Gefühle äußern können, die Verbindung des sogenannten praktischen Verstandes mit dem theoretischen kein Räthsel ist, sondern sich ganz von selbst versteht; indem hier gar nicht zweyerley vorhanden ist, das man erst noch verbinden müßte, vielmehr der praktische sowohl als der the - oretische Verstand ein paar Gedankendinge sind, die wir durch unsre Abstractionen erst erschaffen und dann für etwas wirkliches gehalten haben.
180. Die Täuschung aber, als wären die Begriffe eine eigene Klasse von Vorstellungen, hat hauptsächlich in den allgemeinen Begriffen ihren Sitz. (Kant, in der Logik, setzt geradezu das Wesen der Begriffe in ihre Allge - meinheit.) Man könnte nun auf den Gedanken gerathen, daß vielleicht unter gewissen Umstanden die Hemmungsgesetze der Vorstellungen eine solche Absonderung des Ungleicharti - gen vom Gemeinschaftlichen bewirken könnten, dergleichen die Logiker dem Abstractions-Vermögen ganz unbe - denklich beylegen. Allein die Untersuchung lehrt, das ein solches Vermögen nicht bloß zu den Hirngespinnsten, son - dern zu den Unmöglichkeiten gehört. Aus einmal gebil - deten Complexionen und Verschmelzungen kann sich nichts ablösen; die Theilvorstellungen in denselben tragen jede Hemmung gemeinschaftlich, und bleiben daher
145stets beysammen. Und aus einfachen Empfindungen kann man selbst in Gedanken nichts absondern, damit etwas anderes übrig bleibe. Wie soll aus roth, blau, gelb, u. s. w. der Gattungsbegriff Farbe entstehn? Wel - ches sind hier die specifischen Differenzen, von denen abstra - hirt wird? Niemand wird sie angeben können.
Allgemeine Begriffe, die bloß durch ihren Jnhalt ge - dacht würden, ohne ein Hinabgleiten des Vorstellens in ih - ren Umfang, sind, wie schon oben (78) bemerkt, logische Jdeale; so wie die ganze Logik eine Moral für das Denken ist, nicht aber eine Naturgeschichte des Verstandes.
Daher kann man nur fragen: wie es zugehe, daß wir uns solche Jdeale denken, und uns denselben mehr und mehr annähern? Und die Antwort: vermittelst der Urtheile, ist schon oben gegeben; wir müssen sie jetzt entwickeln. Da - bey werden gewisse Gesammt-Eindrücke von ähnli - chen Gegenständen vorausgesetzt, als rohes Material, woraus die allgemeinen Begriffe allmählig gebildet werden; diese Gesammt-Eindrücke sind aber nichts anders, als Com - plexionen, worin das Aehnliche der Theilvorstellungen ein Uebergewicht hat über dem Verschiedenartigen. Solches Uebergewicht wird allmählig stärker, und entscheidender; es bilden nämlich Anfangs die wiederhohlten Auffassungen ähn - licher Gegenstände eine Zeitreihe (man erinnert sich, wann und wo und in welcher Folge man solche Gegenstände ge - sehen habe); wird aber die Reihe zu lang, so kann sie sich nicht mehr evolviren; sondern das Alltägliche wird ein Be - harrliches; dessen Vorstellung nun im Zustande der Jnvo - lution bleibt (31). Die Hemmung unter den verschieden - artigen Bestimmungen ist dann in dauernde Verdunkelung derselben, wiewohl nicht in gänzliche Abtrennung vom Gleich - artigen, übergegangen.
146181. Was geschieht mit den Vorstellungen, indem sie sich zu Urtheilen verknüpfen; und warum begeben sie sich so häufig in diese Form?
Bloße Complicationen oder Verschmelzun - gen können die Urtheile nicht seyn; dabey würden sich Subject und Prädicat nicht unterscheiden, vielmehr so zusammenfließen, daß sie als ein ungetrenntes Eins, ohne Spur der Verknüpfung vorgestellt würden. Das Subject, als solches, muß zuvor zwischen mehrern Bestimmungen schweben, damit es als das Bestimmbare dem Prädicate gegenüber stehe. Kann dieser Foderung auf mehr als eine Weise Genüge geschehn, so giebt es einen mehrfachen Ur - sprung der Urtheile.
182. Erstlich: jene Gesammt-Eindrücke aus ähnlichen Wahrnehmungen schweben zwischen mehrern Bestimmungen. Wer einen Menschen häufig sah, bald stehend, bald sitzend, bald arbeitend, bald ruhend, der hat eine solche schwebende Ge - sammtvorstellung; wer ihn jetzt wieder sieht, bey dem ent - scheidet der Anblick, wie er ihn nun finde; und so bildet sich ein Urtheil. — Eine Menge von Verneinungen (wie er ihn nicht finde) sind hiebey kaum merklich. Aber sie werden es in Fällen, wo der Erwartung widersprochen wird. Wer einen Baum heute wiedersieht, dem in der letzten Nacht der Sturm einen Ast abschlug, der urtheilt zuerst negativ: der Baum hat seinen Ast nicht; dann positiv: er ist an der oder jener Stelle zerbrochen, zersplittert, u. dgl.
183. Zweytens: wer eben jetzt einen ihm neuen Ge - genstand erblickt, dem regen sich eine Menge von Vorstel - lungen, die, wegen partieller Aehnlichkeiten mit jenem, um ein Weniges reproducirt werden. Zwischen ihnen, als den Bestimmungen, schwebt jenes Neue, als das Bestimmbare; und daraus entsteht die Frage: was ist das?
184. Drittens: diejenigen Gesammt-Vorstellungen, in147 welchen Reihen eingewickelt liegen (31), sind anzusehen als Subjecte, deren Prädicate bey der Entwickelung nach ein - ander hervorspringen.
185. Viertens: das Schweben zwischen verschiedenen Gemüthszuständen giebt der Vorstellung, an welche es sich knüpft, die Stellung des Subjects.
186. Fünftens und, hauptsächlich: jedes Wort in der Sprache ist geeignet, Subiect eines Urtheils zu seyn, wegen seiner Schwankung unter mehrern Bedeutungen. Ein Zei - chen, das mehrmals an die bezeichneten Gegenstände, mit ihren wandelbaren Nebenbestimmungen, geheftet war, führt den Gesammt - Eindruck der letztern mit sich; soll nun damit ein bestimmter Gegenstand benannt werden, so muß der Gesammt-Eindruck berichtigt werden; dies geschieht durch die Prädicate, welche jedoch durch eine gebildete Sprache häufig in Adjective verwandelt, oder in andre anknüpfende Redeformen eingekleidet werden, damit bloß die wichtigste unter den Berichtigungen auch im Ausdrucke als Prädicat hervortrete. Kinder dagegen sprechen in kurzen Sätzen; sie kennen noch keine Perioden. Jhre Vorstellungen begeben sich in die Urtheilsform, kurz nachdem sie die Worte gelernt haben.
187. Wenn Jemand ein ausgesprochenes Urtheil ver - nimmt, so giebt es für ihn zwey Fälle: entweder befindet sich das Prädicat unter den mehrern Bestimmungen, zwi - schen denen seine Vorstellung des Subjects schwebt, oder nicht. Jm ersten Falle ist kein Zweifel, daß er das Urtheil auch als ein solches verstehen werde. Den zwey - ten Fall müssen wir weiter unterscheiden. Das Prädicat ist mit jenen Bestimmungen entweder verträglich, oder nicht. Wenn das erste Statt findet, so entsteht bey dem Auffassen - den eine Verbindung von Vorstellungen, die kein Urtheil ist, sondern schlechtweg eine neue Complexion oder Verschmel -148 zung. So, wenn uns etwas erzählt wird; wir setzen uns unvermerkt die einzeln dargebotenen Züge in ein Bild zu - sammen, ohne daran zu denken, daß der Erzähler sich der - jenigen Redeformen bedient hat, welche man braucht, um Subjecte mit Prädicaten zu verknüpfen. — Jst aber das Prädicat jenen Bestimmungen entgegengesetzt, so muß noch ein letzter Unterschied gemacht werden; es ist nämlich entwe - der damit im Contrast, oder im bloßen Gegensatze. Das erstere erfodert eine gewisse Art der Complexionen, welche oben (35) bestimmt angegeben sind; und die Folge davon ist, daß das Urtheil als ein solches, aber als ein paradoxes oder falsches vernommen wird. Jm Falle des bloßen Gegensatzes aber erscheint dasselbe nicht sowohl falsch, als vielmehr sinnlos.
188. Dagegen nun muß die verständige Rede vor allen Dingen zusammenhängen; sie muß immer einen be - trächtlichen Theil der eben vorhandenen Vorstellungen vest - halten. Und derjenige wird am besten verstehen, welcher den ganzen Zusammenhang vesthält, und aller gegensei - tigen Bestimmungen des ihm Mitgetheilten inne wird. Da - rum gilt auch der Verstand für einen feinern Sinn; man sagt, eine Rede habe Sinn und Verstand, sie sen sinn - reich, u. s. w.
Anmerkung. Sehr wichtig ist der factische Umstand daß auch in der Musik der Unterschied des Sinnlosen von dem Verständlichen sich wiederfindet. An jenes treffen zu - weilen diejenigen Tonsetzer, die nach Contrasten haschen. Das verständliche aber ist noch gar nicht darum auch das Schöne. Ueberdies gleicht die Musik so sehr der Rede (durch ihre Perioden, ihre Vordersätze und Nachsätze), daß Unkundige oder Schwärmer sich sehr leicht einbilden, die Musik wolle etwas sagen, wozu ihr nur die Worte fehlen. So gilt sie in ihrer höchsten Beredsamkeit für eine Stum -149 me! Aber was sie sagen will, das sagt sie vollkommen her - aus; und es giebt dafür nur äußerst schlechte Uebersetzungen in eine andre Sprache. Die Musik hat ihren Verstand in sich selbst; und eben dadurch lehrt sie uns, daß wir nicht in irgend welchen Kategorien, sondern in dem Zusammenhange der Vorstellungen unter einander (von welcher Art dieselben auch seyn mögen) den Verstand zu suchen haben.
189. Die Ausbildung der Begriffe ist nun der lang - same, allmählige Erfolg des immer fortgehenden Urtheilens.
Man erinnere sich hier, daß arme Sprachen sehr viele Metaphern zu gebrauchen scheinen, welches andeutet, daß entferntere Aehnlichkeiten hinreichen, um ältere Vorstellungen zu reproduciren, und sie, sammt ihrem Namen, mit den neuen zu verschmelzen. Aus diesem Zustande geht das menschliche Denken zu einer immer größern und feinern Zer - theilung der Gedanken über. Die Complexion A diene einmal als Subject b, so wird für das Prädicat a, ein andermal für das Prädicat b, so wird im Zusammenfassen beyder Urtheile nicht bloß der Contrast zwischen a und b gefühlt (nach 35), sondern derselbe wird auch ausgesprochen, oder deutlich gedacht, in den Urtheilen: dieses A ist a, und jenes A ist b. Hier geschieht eine absichtliche Unterscheidung in dem Vorgestellten; wobey gleichwohl das Vorstellen keinesweges in zwey gesonderte Acte zer - fällt, sondern der psychische Mechanismus noch immer die aus einander gesetzten beysammen hält.
190. Eine Menge solcher Urtheile, wie: A ist a, A ist b, A ist c, A ist d, u. s. w., wobei nicht ein und dasselbe A, sondern mehrere mit den conträr entgegengesetz - ten a, b, c, d, … anzunehmen sind, — ordnen sich von selbst in eine Reihe; indem die a, b, c, d, … in verschiedenen Graden, nach ihren geringeren oder größeren Gegensätzen, verschmelzen. (Zum150 Beyspiel, die drey Urtheile: diese Frucht ist grün, jene gelb, eine dritte gelblich-grün, — schmelzen so zusammen, wie es die Ordnung der Farben, grün, gelblich-grün und gelb mit sich bringt. Denn zwischen gelb und grün ist die Hem - mung am stärksten, folglich die Verschmelzung am gering - sten.) Hieraus entspringt das Verhältniß zwischen der Gat - tung A, und ihren Arten (A welches a ist, A welches b ist u. s. w.) Zugleich ergiebt sich zwischen diesen Arten, vermöge ihrer Differenzen a, b, c, d, eine Menge von Reproductionsgesetzen, und hieraus entstehn die dun - kel gedachten Reihenformen, wie die Tonlinie und die Farbenfläche. Dasselbe, wie hier mit a, b, c, d, … wird auch mit α, β, γ, δ, …begegnen, falls die Arten von A nicht bloß nach einer, sondern nach mehrern Reihen von Merkmalen verschieden sind. (Man habe hiebey die Lo - gik vor Augen; insbesondere die §§. 48 — 50 des Lehrb. z. Einl. in d. Philos.).
Anmerkung. Die Reihenbildung ist also, pädago - gisch betrachtet, von der größten. Wichtigkeit, da auf ihr eben sowohl das deutliche Denken, als die Gestaltung jeder Art, beruhet.
191. Je mehr sich nun auf diesem Wege, durch Ver - gleichung des Aehnlichen und zum Theil Verschiedenen, die Reihen von Merkmalen bilden und aus einander setzen, de - sto eher wird es auch möglich, vermittelst ihrer den Jn - halt der Complexionen zu bestimmen; oder sich den Defi - nitionen der Begriffe anzunähern. Denn nun bekommt je - der Bestandtheil einer Complerion, — das heißt, jedes Merkmal eines Begriffs, — seinen Ort in einer von den Reihen der Merkmale. Das Bemühen, diesen Ort zu finden, zeigt sich unter andern in solchen Fragen: wie sieht das Ding aus? wie groß ist es? wie riecht es? wie schmeckt es? — Allein um für alle Merkmale den Ort151 in der entsprechenden Reihe zu finden, dazu gehört eine Menge von Reproductionen der verschiedenen Reihen, die der psychische Mechanismus nicht anders, als vermöge einer herrschenden Vorstellungsmasse ergeben wird. Welche Arbeit dies kostet, besonders bey Begriffen höherer Art, und wie viele, theils positive, theils negative Urtheile dazu nöthig sind, davon zeugen selbst noch die Platonischen Dialogen. Und wie wenig diese Arbeit pflegt vollendet zu werden, das sieht man bey den allermeisten Menschen an der geringen Ausbildung ihrer Begriffe.
192. Auf alle Weise zeigt sich demnach, das die Be - stimmung und Sonderung der Begriffe, das klare und deut - liche Denken, eine Aufgabe ist, welche, der psychische Me - chanismus nicht dadurch löset, daß er seine Complexionen wirklich zertrennt, sondern dadurch, daß er die Bestandtheile derselben einzeln mit schon gebildeten Reihen von Merkma - len zusammenzuhalten gestattet. Es werden auch die allge - meinen Begriffe niemals wirklich bloß durch ihren Jnhalt gedacht, sondern mit Rücksicht auf ihren Umfang, aber mit absichtlicher Unterscheidung von demselben.
193. Der Versuch aber, die Begriffe bloß, oder doch vorzugsweise, durch ihren Jnhalt, also durch Zusammenfas - sung der nicht mehr aus der Erfahrung unmittel - bar, sondern aus den schon gebildeten Reihen der Merk - male hervorgehobenen Puncte dieser Reihen zu den - ken, — bewirkt eine merkwürdige Veränderung. Er erzeugt das Philosophiren. Dieses macht Begriffe zu Objecten des Denkens. Die ersten Begriffe, welchen dies begegnete, waren die Zahlen und geometrischen Figuren. Später dehnte sich das nämliche Verfahren auf alle logischen Allgemeinbe - griffe aus. Jn so sern steht Platon, welcher ausführte, was die Pythagoräer und Sokrates begonnen hatten, an der Spitze der Philosophen. Der nächste Schritt ist alsdann Sprach -152 Philosophie; indem die Begriffe sich als ein Gegebenes an die in der Sprache vorgefundenen Worte gebunden zeigen. Aristoteles, ebenfalls eine Pythagoräische Spur verfolgend, suchte die Kategorien, d. h. die allgemeinsten Hauptbegriffe, in der Sprache.
Die Wirkung hievon ist dreifach.
a) Die große Mehrzahl der Gebildeten, an welche die Philosophie wenigstens theilweise gelangt, zieht die ab - gesonderten Begriffe wieder zurück zu den Dingen. Die Er - fahrung wird geordnet, wissenschaftlich behandelt; und in den Wissenschaften setzen sich Streitpunkte vest, worin ge - fragt wird, wie die Dinge durch Begriffe richtig zu denken und durch Worte zu bezeichnen seyen.
b) Die Philosophen gerathen durch die Anstrengung, theils in sich selbst, theils weit mehr noch in Andern, Be - griffe als Objecte des Denkens vestzuhalten, auf die Ueber - treibung, daß sie die Begriffe in die Zahl der realen Ge - genstände versetzen; wobey ihnen die Eigenthümlichkeit der Sinnendinge, vermöge deren sie metaphysische Probleme ent - halten, dergestalt zu Hülfe kommt, daß die Begriffe sogar in einem weit höheren Sinne, als die Erfahrungsgegenstände selbst, für real gehalten werden. Dies ist der, noch jetzt wirksame Charakter der Platonischen Jdeenlehre. Daher die Verlegenheit des Aristoteles, der die Sinnengegenstände, die mathematischen Figuren sammt den Zahlen, und die Jdeen, neben einander vorfand; und über deren Verhältniß nie recht mit sich einig scheint geworden zu seyn.
c) Eine andere Täuschung ist die eigenthümliche der Kantischen Schule, in den Kategorien Stammbegriffe des Verstandes, als eines Seelenvermögens, zu erblicken; wo - von die Spuren schon beym Platon, dann bey Descartes und bey Leibnitz vorkommen.
Dadurch verdunkelt sich die Verwandschaft der Katego -153 rien mit den Reihenformen, welche sich gleichwohl schon analytisch erkennen läßt. *)Psychologie II, §. 124.Die Kategorien der innern Ap - perception**)A. a. O. §. 131. werden dabey vergessen.
Man bemerke die Haupt-Kategorien: Ding, Eigen - schaft, Verhältniß, Verneintes; denen die Urtheils - form und die Reihenform zum Grunde liegt. Der Begriff des Verneinten, des Nein überhaupt, ist die klärste Probe eines solchen Begriffs, der im Urtheilen aus der Erfahrung entspringt, obgleich er in der Erfahrung keinen gegebenen Gegenstand hat.
194. Ganz von selbst, und ohne das allergeringste, was man eine Handlung der Synthesis nennen könnte, ver - binden sich unsre Vorstellungen, so weit sie daran nicht durch eine Hemmung gehindert werden. Daher giebt es für ein Kind im zartesten Alter noch gar keine einzelnen Dinge, sondern ganze Umgebungen, die, selbst als räum - lich, sich nur in einem successiven Vorstellen auseinander - setzen (174).
Das erste Chaos der Vorstellungen nun, während es immer neue Zusätze bekommt, ist zugleich einer beständig fort - gehenden Scheidung unterworfen. Zwar nicht, als ob ein - mal geschlossene Verbindungen jemals zerrissen würden (180);154 vielmehr nimmt die Menge derselben und ihre Jnnigkeit immer zu. Aber eines Theils wächst mit ihnen auch die Menge der Unterscheidungen (nach 189): andern Theils giebt es mehr häufige räumliche Trennungen dessen, was Anfangs beysammen gesehen (oder überhaupt wahrge - nommen) wurde. Denn die Dinge bewegen sich, und da - durch hauptsächlich zerreißt die Umgebung; auf diese Weise erst entsteht für das menschliche Vorstellen eine Mehrheit von Dingen. — Anfangs scheint der Tisch mit dem Fuß - boten Eins, sowohl wie die Tischplatte mit den Tischfüßen; der Tisch aber wird von der Stelle gerückt, während die Platte sich von den Füßen nicht trennt. Was sich nicht von einander entfernt, das behält im Vorstellen seine ur - sprüngliche Einheit.
195. Wie nun die Umgebungen allmählig in einzelne Dinge zerlegt werden, so die Dinge wiederum in ihre Merk - male (191). Fragt man hier: welchem Subjecte denn eigentlich die Merkmale beygelegt werden? so ist die Antwort: das Subject ist immer die ganze Comple - xion eben dieser Merkmale, in wiefern der psy - chische Mechanismus dieselben in einem einzi - gen, ungetheilten Actus vorstellt. Dabey ist gar keine Schwierigkeit, so lange nicht alle die Urtheile beysammen sind, durch welche einem und dem - selben Dinge alle seine Merkmale zugeschrieben werden.
Allein wenn einmal (was bey den meisten Menschen niemals geschieht) das Denken diesen Grad der Reihe er - langt, alsdann ändert sich die Sache. Die Urtheile haben nun die Complexion ganz aufgelöst, und die Merkmale der - selben als ein Vieles auseinandergebreitet; dabey wird nun noch immer Eins vorausgesetzt, als das Sub - ject für die vielen Prädicate. Aber dieser Begriff hat sei -155 nen Jnhalt verloren; und hier eröffnet sich ein metaphysi - scher Abgrund, die Frage nach der Substanz als nach ei - nem unbekannten Etwas, dessen Voraussetzung um st noth - wendiger ist, da es nicht bloß dasjenige Subject seyn soll, welches nie Prädicat wird (während wirk - lich die Urtheile ihr Subject in lauter Prädicate verwandelt haben), sondern auch das Beharrliche, welches in al - lem Wechsel sich selbst gleich bleibt (während in der That die Complexion, die für das Ding (in der Sin - nenwelt) gilt, nicht bloß simultane, sondern auch successive Merkmale hat, und folglich keinesweges sich selbst gleich
ist).
196. Die Widersprüche im Begriffe des Dinges mit mehrern Merkmalen, und in der Veränderung, sind be - kannt (Lehrb. zur Einleit. in d. Philos. §. 101 — 113). Hier haben wir nur zu erklären, wie es zugehe, daß der gemeine Verstand diese Widersprüche nicht merkt. Der ein - fache Aufschluß hierüber ist dieser: Gerade die Einheit, wel - che der Metaphysiker beym Anfange seiner Untersuchung vermißt, und deren er wegen der Form der Erfahrung be - darf, während die Materie eben der nämlichen Erfah - rung (das Viele der simultanen, und der Gegensatz der successiven Merkmale) sie ihm. nicht gestattet, — diese Ein - heit besitzt der psychische Mechanismus ursprünglich und ganz von selbst. Um ein sinnliches Ding vorzustellen, da - zu brauchen wir keinesweges so viele Vorstellungen als sinn - liche Merkmale, sondern die Einheit des Acts im Vorstel - len, welche eben die Natur der Complexionen ausmacht, läßt bey dem gemeinen Verstande gar keine Frage aufkom - men nach der Einheit im Vorgestellten. Diese Frage nur zu verstehen, ist und bleibt den Menschen noch immer schwer, selbst nachdem die Urtheile schon längst die Complexionen156 zersetzt haben. So betrügt der psychische Mechanismus fort - dauernd selbst manche Philosophen.
Anmerkung. Es würde eine ganz leere Hoffnung seyn, daß die Metaphysik etwa im Fortgange der Wissen - schaften einen bequemern Zugang bekommen möchte, als den durch die Widersprüche in der Form der Erfahrung. Die Einheit der Seele selbst ist der tiefe Grund, aus welchem in unser Vorstellen diejenige Einheit kommt, die wir hinten - nach im Vorgestellten vermissen. Hierin, und in der ge - nauen Bestimmtheit derjenigen Reproductionsgesetze, die sich nach 168 bilden, liegt nun auch die Antwort auf die Fra - ge: wie die Formen der Erfahrung können gege - ben seyn? (Lehrbuch zur Einleitung in d. Philos. §. 22 — 29, und §. 98 — 102.)
197. Um uns der schwierigen Lehre vom Selbstbe - wußtseyn nähern zu können, müssen wir zuvor einiger der wichtigsten Verschiedenheiten in der menschlichen Auffassung der Dinge erwähnen.
Bewegte Gegenstände beschäfftigen den Zuschauer un - gleich mehr als ruhende. Denn die Beobachtung ei - nes Bewegten ist ein unaufhörlicher Wechsel aufgeregter und befriedigter Begierde. Das Be - wegte sey an irgend einer Stelle: die Vorstellung desselben verschmilzt mit denen der Umgebung. Es verlasse jetzt diese Stelle, so wird anstatt seiner etwas von dem Hintergrunde wahrgenommen, vor welchem es verübergeht. Diese Wahr - nehmung hemmt jene Vorstellung des Bewegten; zu glei - cher Zeit aber wird die letztere hervorgetrieben durch die Vorstellungen der Umgebung, welche noch eben so erscheint wie Anfangs. Auch ist das Hervortreiben meistens viel stär - ker wie die Hemmung, denn es rührt her von einer weit größern Summe von Vorstellungen, als die Hemmung, die nur von dem Anblick eines kleinen Theils des Hintergrun -157 des entsteht. Folglich ist die Vorstellung des Bewegten in dem Zustande der Begierde (36). Diese Begierde aber wird befriedigt, denn das Bewegte ist nicht aus dein Ge - sichtsfelde (oder dem Wahrnehmungskreise) entwichen, son - dern nur etwa aus dem Mittelpunkte des Gesichtsfeldes; und die volle Befriedigung wird durch eine kaum merkliche Drehung des Auges erreicht. So geht nun die Auffassung des Bewegten (von der wir hier das Differential beschrieben haben) immer fort.
Daß nun das Bewegte nicht bloß mehr beschäfftigt, sondern sich auch tiefer einprägt, als das Ruhende, liegt in der Menge von kleinen Hülfen, welche von jeder Umgebung, in der es sich gezeigt hat, übrig bleibt.
198. Da das Lebendige, vorzüglich das Empfindende, in ungleich mehreren und mannigfaltigeren Bewegungen ge - sehen wird als das Todte, so läßt sich schon hieraus begrei - fen, weshalb schon in der frühesten Periode des Daseyns nicht bloß der Mensch, sondern auch das Thier sich um das Todte viel weniger bekümmert als um jenes Erstere. Hie - bey ist aber zu bemerken, daß ursprünglich die Dinge nicht für todt, sondern für empfindend gehalten werden. Denn auf den Anblick eines Körpers, der gestoßen oder geschlagen wird, überträgt sich die Erinnerung an eignes Gefühl bey ähnlichem Leiden des eignen Leibes. Wo dies ausbleibt, da ists ein Zeichen von Stumpfsinn; je lebendiger der Mensch, desto mehr Leben setzt er vor näherer Prüfung überall voraus.
Anmerkung. Es war ein gewaltsam erzeugter, und eben so gewaltsam vestgehaltener Jrrthum des Jdealismus, das Jch setze sich ein Nicht-Jch entgegen, — als ob die Dinge ursprünglich mit der Negation des Jch behaftet wä - ren. Auf die Weise würde nimmer ein Du und ein Er entstehn, — nimmer eine andre Persönlichkeit, außer der eig -158 nen, anerkannt werden. Vielmehr, was innerlich empfun - den war, das wird, wo irgend möglich, auf das Aeußere übertragen. Daher bildet sich mit dem Jch zugleich das Du; undfast gleichzeitig mit beyden das Wir, welches der Jdealismus vergaß, und vergessen mußte, wenn er nicht aus seinen Träumen geweckt seyn wollte. Denn die Vor - stellung des Wir ist ganz offenbar abhängig von den Um - ständen; sie erzeugt sich bald in größern, bald in kleinern Kreisen; und zwar immer so, daß sie zugleich das Jch in sich aufnimmt. Dieser Gegenstand liegt einer analytischen Betrachtung weit offener vor Augen, als das geheimnißvolle Jch. Wie Platon den Staat als eine Schrift mit groißen Buchstaben, lesbar für schwache Augen, zuerst betrachtete, um kleinere Schrift bequemer aufzufassen, so hätte man auch früher das Wir als das Jch untersuchen sollen, um für das schwerere Problem eine nützliche Vorbereitung zu gewinnen.
199. Woher aber die Vorstellung von einer Vor - stellung? und von vorstellenden Dingen? Diese Frage muß man zuvörderst einfach genug fassen. Wie es möglich sey, daß mit dem räumlich-Ausgedehnten und dessen übrigen Merkmalen auch ein Vorstellen verknüpft, ja mit ihm Ein Ding sey, das überlegt kaum einmal der gebildete Mensch, vielweniger der rohe. Aber daß es Dinge giebt, denen Vorstellungen inwohnen, weiß selbst das Thier. Es lernt es, indem es sieht, daß diese Dinge sich nach an - dern, auch ohne Berührung, richten.
Der gemeine Verstand ist geneigt zu glauben, die Na - del wisse vom Magnet. Auf dieselbe Weise ist Jeder über - zeugt, A enthalte in sich die Beschaffenheit von B, wenn sich jenes genau bestimmt zeigt durch dieses. Die Beschaf - fenheit von B, ohne dessen Realität, ist das Bild von B, oder, mit einem andern Worte, die Vorstellung desselben. 159Findet sich nun A bestimmt durch die Beschaffenheiten (Be - wegungen u. s. w.) von B, C, D, und so ferner, in der ganzen Umgebung, so hat A deshalb das Prädicat eines Vorstellenden; und hieraus wird unter nähern Bestimmun - gen das Prädicat, daß A sehe, höre, rieche, u. s. f.
Anmerkung. Von den Kategorien der innern Apper - ception zu handeln, -- vom Objecte, welches eintretend in die Umgebung den mit Auffassung derselben in Wechsel - wirkung begriffenen Gedankenlauf unterbricht, und ferner bey häufiger Wiederhohlung zurückweisend auf sein Voraus - gehendes eingreift in die involoirte Zeitlinie der Gefühle, woraus die Vorstellung des Subjects entsteht: — dies ist fast zu schwer für den Zweck des vorliegenden Lehrbuchs. Genug wenn nur bemerkt wird, daß die Vermengungen des Jdealismus gehoben werden müssen durch Unterscheidung des bloßen Subjects, als Zeitwesens, vom Jch, wiewohl letzteres mit jenem nothwendig zusammenhängt; indem es, abgesondert gedacht, auf Ungereimtheiten führt.
Das allmählige Eindringen der Empfindungen in alle Nerven (wie wenn das Kind eine würzig süße Frucht ge - nießt, der Mann sein Gläschen leert), desgleichen das Ein - dringen vernommener Worte oder angeschauter Begebenhei - ten in alle Vorstellungsmassen, — dieses Nachtönen im Jn - nern — hebt nicht die Jchheit sondern das Subject ins Be - wußtseyn hervor. Anders ist es bey absichtlicher Hingebung an die Empfindung, wo der Genuß eintritt, nachdem und indem er gesucht wird.
200. Jn den allermeisten Fällen der eben erwähnten Art sind A und B, das Vorstellende und Vorgestellte, offen - bar zwey Verschiedene, die räumlich einander gegenüber stehn. Es fällt aber ins Auge, daß falls beyde auf irgend eine Weise als Eins und dasselbe erscheinen, dann die Vor - stellung eines Wissens von Sich selbst entstehen muß.
160Hiebey frage man nicht, wie es möglich sey, die bey - den Entgegengesetzten, Vorstellendes und Vorgestelltes, als Eins und dasselbe aufzufassen? Dieses schwere metaphy - sische Problem ist, im psychologischen Sinne ebenso leicht, als das obige, wie die Auffassungen mehrerer Merkmale zusammen die Vorstellung Eines Dinges ausmachen, oder das noch frühere, wie die endlichen Raum - größen als unendlich theilbar erscheinen können? Jn der Seele stießt überall Vieles Vorgestellte in Ein. Vorstellen zusammen, sobald die Hemmungen es nicht hindern; ob aber das Vorgestellte also werde bleiben können, wann irgend einmal die zerlegenden Urtheile (191) dazu kommen und ein metaphysisches Denken hervorrufen: wie sollte davon die ge - ringste Ahndung ursprünglich der Seele beywohnen?
Jemand besehe oder betaste seine eignen Gliedmaaßen, der gegenüberstehende Zuschauer sagt alsdann nach gemei - nem Sprachgebrauche: Er hat sich selbst gesehen, sich selbst betastet. Die Jdentität in diesem Selbst ist offenbar keine wahre, denn das Auge und die tastende Hand sind verschie - den von dem Arme, der gesehen und betastet wurde. Den - noch ist im ursprünglichen psychologischen Sinne Jdentität vorhanden; denn der ganze Leib gilt für Eins, weil alle Theil-Vorstellungen von demselben innigst verscholzen sind. Sich selbst sehen, oder fühlen ist übrigens nur ein besonde - rer Fall des: Von Sich Wissen.
201. Dies alles ist jedoch nur noch Vorbereitung zur Erklärung des Selbstbewußtseyns. Jn dem nächst Vorher - gehenden liegt nur der Anfang der Vorstellung von irgend einem Jch; hievon ist die Vorstellung von Mir, d. h. von meinem Jch, noch verschieden. Jene ist indessen doch die Grundlage von dieser, wie die Erfahrung bestätigt, denn das Kind spricht zuerst von Sich in der dritten Person.
Hingegen die erste Person, als die Erste, ist An -161 fangspunct einer Reihe, und muß nach Art der Rei - henformen erklärt werden (168 — 177).
Der Mensch, sobald seine räumlichen Auffassungen eini - germaaßen zur Reife kommen, findet sich als den bewegli - chen Mittelpunct der Dinge, von wo aus nicht bloß die Entfernungen, sondern auch die Schwierigkeiten wachsen, das Begehrte zu erreichen, und zu welchem hin sich allemal das Erreichte bewegt, indem es die Begierden befriedigt. So ist der Egoismus nicht der Grund der Begierden, sondern er ist eine Vorstellungsart, die zu densel - ben hinzugedacht wird. Gebrochen aber wird der Egoismus schon einigermaaßen dadurch, wenn der Mensch einen andern Mittelpunct der Dinge faßt; zu diesem fühlt er sich alsdann unfehlbar hingezogen, wie im Sinnlichen zu der Hauptstadt des Landes, im Geistigen zu der Gottheit.
Anmerkung. Von der größten moralischen und über - haupt praktischen Wichtigkeit ist die Vorstellung des Wir, welche auf der Voraussetzung gemeinschaftlicher Empfindung und Auffassung beruhet. Dem eigentlichen Egoismus giebt sie ein natürliches Gegengewicht; auch ist sie natürlich, denn kein Mensch weiß eigentlich, wer er ganz allein seyn würde. Jn dem Kreise des Wir erzeugt sich, während er in ein mehrfaches Jch aufgelöset wird, die Rechtlichkeit und der Ehrtrieb. Aber dem Wir stellt sich ein Jhr und Sie ent - gegen, mit allen Uebeln des Corporations-Geistes. Das Sonderbarste ist, daß Wir selbst bald diese bald jene Ge - sellschaft sind; die Menschen sind nämlich in diesem Puncte Freunde, in jenem Feinde. Hier beklagt sich der Unter - gebene beym Obern, dort klagen sie gemeinschaftlich über den Obern.
202. Die Complexion, welche das eigne Selbst eines Jeden ausmacht, bekommt im Laufe des Lebens unaufhör -162 lich Zusätze, die mit ihr, sogleich indem sie eintreffen, aufs innigste verschmelzen. (Geschähe dieses nicht, so würde die Einheit der Person verloren gehn, welches sich in man - chen Arten des Wahnsinns wirklich ereignet, indem sich aus einer gewissen Masse von Vorstellungen, die abgeson - dert wirkt, ein neues Jch erzeugt, woraus, wenn die Mas - sen abwechselnd, und zufolge eines Wechsels im Organis - mus, ins Bewußtseyn treten, auch eine wechselnde Persön - lichkeit entsteht.)
Die Zusätze nun sind verhältnißmäßig weit weniger neue Auffassungen des eignen Leibes, wofür die Empfäng - lichkeit (45) bald sehr gering wird, als vielmehr innere Wahrnehmungen (40) der Vorstellungen, Begierden und Gefühle. Daher neigt sich die Vorstellung des Jch immer mehr zu dem Begriff eines Geistes; der sich vollends abscheidet, indem das Jch gedacht wird als übrig und unver - letzt bleibend bey Verstümmelungen des Leibes, während der Veränderung der Lebensperioden, und selbst nach dem Tode.
Bey jedem Menschen erzeugt sich das Jch vielfach in verschiedenen Vorstellungsmassen; und wiewohl daraus bey dem geistig Gesunden kein vielfaches Jch entsteht, so ist doch diese Vielheit nicht unbedeutend für Charakterbil - dung überhaupt und für Moralitat insbesondere. Der Kna - be, der ein Anderer ist zu Hause, ein Anderer in der Schule, ein Anderer unter seinen Spielgenossen: dieser schwebt in Gefahr. Der Mann, der einen verschiedenen Ton hat für Vornehme, Freunde, und Geringe, steht mo - ralisch nicht so sicher als der einfache sich stets gleichblei - bende. Unter verschiedenen Menschen ist übrigens die Un - gleichheit unvermeidlich, daß der eine sich mehr im Genuß, der andre mehr im Leiden fühlt; ein dritter mehr im Thun, und zwar entweder im innern Thun, oder in äußerer Wirk -163 samkeit. Jenes ist oft vorbildend für diese. Am weitesten treten hier die Mystiker und die Freiheitslehrer auseinander; jene meinen, das eigne Wollen ertödten, das eigene Jch aufgeben zu müssen; diese predigen absolute Selbstständig - keit des Jch. Am seltsamsten aber ist die Selbsttäuschung. Derer, welche mitten in der Mystik noch ihre persönliche Freyheit behaupten wollen, um ja Alles, was einen guten Klang hat, zu vereinigen. Es hilft nichts, solchen Leuten von der richtigen Mitte zu reden; sie haben den rechten Weg von Anfang an verfehlt, und müßten ganz rückwärts gehn, um ihn wiederzufinden.
203. Durch den Begriff der Seele nicht aber un - mittelbar durch den so eben erklärten des Jch, bekommen wir eine richtige Kenntniß von uns selbst. Der letztere nämlich muß in jenen erstern umgebildet werden. Denn das Jch des gemeinen Verstandes enthalt lauter zufällige Merk - male, welches sich vermittelst der zerlegenden Urtheile (der Antworten auf die Frage: Wer bin ich?) verräth, ge - rade so wie die Vorstellungen der sinnlichen Dinge sich durch die Urtheile (195) in lauter Prädicate zersetzen, deren Sub - ject lange blindlings vorausgesetzt, endlich aber vermißt wird. Von dem Jch lassen nun die Urtheile, indem sie alles Jndividuelle absondern, nichts übrig, als den Begriff der Jdentität des Objects und Subjects; einen wi - dersprechenden Begriff, dessen Umbildung in jenen der Seele ein Geschäfft der allgemeinen Metaphysik ausmacht, eben sowohl wie dieselbe die Begriffe von Substanzen, Kräf - ten (196), von räumlichen und zeitlichen Dingen (177) in die Lehre von einfachen Wesen und von deren Störun - gen und Selbsterhaltungen umarbeitet.
Anmerkung. Der widersprechende Begriff des rei - nen Jch ist das metaphysische Princip, aus welchem alle die systematischen Untersuchungen geflossen sind, die dem164 gegenwärtigen Vortrage zum Grunde liegen. Von allen Unterschieden, die in dem wirklichen Jch angetroffen werden, je nachdem der Mensch sich gedrückt oder gehoben fühlt, und in seinen Anstrengungen entweder vorrückt oder ermat - tet, weiß und enthält das Jch, als metaphysisches Princip, nicht das Mindeste. Fragt man, wie denn diese Unterschiede hineinkommen, so ist die Antwort: die Untersuchung selbst, angetrieben von dem Princip, fodert solche Mannigfaltigkeit und solche Gegensätze; und leitet auf die Bahn, darnach zu suchen. Das ist die Eigenheit wahrer metaphysischer Princi - pien, daß sie über sich selbst hinaus, und eben damit in den Zusammenhang der Erfahrung zurückweisen. Kennte man durch bloße Erfahrung auch schon den Zusammenhang in der Erfahrung: so wäre keine Metaphysik nöthig; und eine solche Wissenschaft wäre überall nicht entstanden. Die Bewegung des Denkens aber, welche die Metaphysik herbeyführt, ist bey verschiedenen Problemen nur dem aller - kleinsten Theile nach gleichartig; sie fodert daher eine sehr mannigfaltige Uebung. Mit den Verwöhnungen, Alles in den viereckigen Kasten der sogenannten Kategorien, oder in den dreyeckigen der Thesis, Antithesis und Synthesis hin - einzukünsteln, wird der Untersuchungsgeist nicht gefördert sondern verdorben. Die eine dieser Manieren ist soviel werth wie die andre.
204. Jetzt erst ist es möglich zu erklären, was An - schauen heiße, ein Ausdruck, mit welchem ein heilloser Mißbrauch vielfältig ist getrieben worden.
Anschauen heißt: ein Object, indem es gegeben wird, als ein solches und kein anderes auffassen.
Das Object muß dem Subjecte und andern Objecten gegenüberstehen; es so zu finden ist erst möglich, nachdem das Jch, als erste Person, sich auf räumliche Weise als Mittelpunct der Dinge hervorgehoben hat. Gewöhnlich wird165 das Object eine Complexion von Merkmalen, nach Art der sinnlichen Dinge, seyn; diese aber muß sich erst aus der ganzen Umgebung ausgeschieden haben (194), damit die Auffassung das Object als ein solches und kein anderes be - gränzen könne. Hiebey, erscheint das Object gleichsam auf einem Hintergrunde früherer Vorstellungen, die es zugleich reproducirt und hemmt; es selbst erhält dadurch bestimmte Umrisse, sowohl in räumlicher, als in jeder andern Hinsicht. Eben deshalb hat jede Anschauung (sehr ungleich der blo - ßen Empfindung) die Tendenz, in eine Menge von Urthei - len zugleich auszubrechen (wie in 182), die sich jedoch meistens gegenseitig ersticken, theils wegen der Hemmung unter ihren Prädicaten, andern Theils weil sie nicht alle zugleich Worte finden können; oftmals auch, weil die Auf - fassung von einem Gegenstande zum andern fortrückt.
Die Anschauung ist demnach ein sehr verwickelter Pro - ceß, der durch viele frühere Productionen vorbereitet seyn muß (nicht durch irgend welche, im Gemüthe vorhan - dene Formen), und der alsdann mit psychologischer Noth - wendigkeit so erfolgt, wie er kann, gleichviel ob dadurch ein realer Gegenstand, oder eine täuschende Gestalt vorge - bildet wnd. Dies zu prüfen ist die Sache des Denkens, und der Entscheidung desselben kann keine Anschauung vor - greifen, man mag ihr Namen geben, welche man will.
Endlich die Passivität im Anschauen (welche durch das Wort Auffassen, nämlich eines Gegebenen, ausge - drückt wird), ist nicht unmittelbar ein leidender Zustand der Seele, von welcher vielmehr die Anschauung producirt wird, obgleich ohne irgend ein Bewußtseyn der Thätigkeit. Sondern leidend verhalten sich diejenigen Vorstellungen, auf denen, als dem Hintergrunde, die Wahrnehmung ihre Umrisse zeichnet, oder ohne Vild, welche vermöge des Gleich - artigen, das sie mit der Wahrnehmung gemein habe von166 ihr reproducirt, vermöge des Ungleichattigen aber durch sie gehemmt werden.
Dies Verhältniß im Anschauen, vermöge dessen die äl - teren Vorstellungen leiden von der neuen Wahrneh - mung, kann jedoch, wenn nicht eine längere Folge von An - schauungen den Geist in seiner passiven Lage vesthält, sich leicht und schnell in das entgegengesetzte verkehren; was als - dann geschieht, ist schon (in 39) angegeben. Das Anschauen ist dann zu Ende, statt seiner beginnt die Erinnerung, das Phantasiren und das Denken.
205. Der Kürze wegen, in welche dies Lehrbuch sich einschließen muß, werden wir an den praktisch wichtigen Gegensatz der Selbstbeherrschung und des Mangels dersel - ben Verschiedenes anknüpfen, das in einem ausführlichen Vortrage würde mehr gesondert zu betrachten seyn.
Unabhängig von einer im Jnnern begründeten Herr - schaft, kann die geistige Regsamkeit entweder in den Vor - stellungen selbst, oder in dem Organismus, oder in äu - ßern Eindrücken ihren Ursprung haben.
206. Sich selbst überlassen, würde eine kleine Anzahl von Vorstellungen sich sehr bald ihrem statischen Puncte nä - hern, und nur noch eine sehr geringe Bewegung zu dem - selben hm übrig behalten, durch welche er niemals ganz vollkommen erreicht werden könnte (17).
Allein bey der äußerst großen Menge und den höchst -167 verwickelten Verbindungen der Vorstellungen, die der Mensch im Laufe der Zeit erlangt, ändert sich dies beträchtlich.
207. Eine Reihe von Vorstellungen sey eben jetzt im Ablaufen begriffen, so ändert sich in jedem. Augenblicke die Hemmung, welche die gänzlich oder beynahe aus dem Be - wußtsein verdrängten Vorstellungen erleiden. Einige kön - nen sich von selbst regen, weil sie nun minder zurückgehal - ten sind; andre werden reproducirt durch solche Glieder der ablaufenden Reihe, denen sie gleichartig sind. Aber die re - producirten mögen selbst ihre Reihen haben, die nun auch anfangen abzulaufen, so verwickeln sich diese Reihen in ein - ander, und mit jener erstern; es entstehn bald Hemmungen, bald Verschmelzungen und Complicationen. Durch solche neue Verbindungen aber bilden sich neue Totalkräfte (23) und die statischen Puncte werden dadurch verrückt, folglich neue Bewegungsgesetze herbeygeführt.
Em mannigfaltiger Wechsel von Gemüthszuständen (33 — 38) kann hiebey kaum ausbleiben. Ein solcher zieht allemal den Organismus ins Spiel, durch dessen Einmischung (die wir hier nicht weiter erwägen wollen) die Sache noch verwickelter wird.
Mit diesem Phantasiren (denn das ist es, mehr oder minder lebhaft) verbinden sich sehr oft Handlungen in der Außenwelt und hievon ist das laute Aussprechen der Ge_ danken nur eine Species. Bey Kindern, die noch nicht ge_ lernt haben, sich zurückzuhalten, sind dergleichen Aeußerun - gen dessen, was innerlich vorgeht, in der Regel. Da kommt alsdann die Wahrnehmung des Products der Aeußerung hinzu und wirkt mit auf den Verlauf des psychologischen Ereignisses.
208. Der Lauf der menschlichen Wahrnehmungen läßt alsdann, wenn er einigermaßen rasch ist, den Vorstellungen, die er bringt, nicht Zeit, sich unter einander ins Gleichge -168 wicht zu setzen; die vorangehenden werden durch die nach - kommenden auf die mechanische Schwelle geworfen, ohne in diejenigen Verbindungen, deren sie fähig waren, getreten zu seyn; und aus der mechanischen Schwelle wird gar bald die statische, wofern der Zufluß neuer Vorstellungen noch länger dauert. Vermöge dieser übereilten Hemmungen sam - melt sich eine Menge unverdauten Stoffes, der erst allmäh - lig verarbeitet wird, wenn ihn nachmalige Reproductionen wieder ins Bewußtseyn zurückführen.
209. Die spätere Verarbeitung des früher gesammel - ten Stoffes ist um desto wichtiger, weil die älteren Vor - stellungen gewöhnlich die stärkeren sind, wegen der abneh - menden Empfänglichkeit. Diese Verarbeitung wird jedoch, je später, desto schwieriger, weil durch den steten Zufluß neuer Wahrnehmungen sich die Gemüthslage, nebst der ent - sprechenden Disposition des Leibes, fortdauernd ändert, so daß die älteren Vorstellungen mit ihren früher eingegange - nen Verbindungen immer weniger dazu passen, folglich die Reproduction derselben größere Hindernisse antrifft. Hierin liegt der Grund, weshalb dasjenige, woran nicht manchmal durch Wiederhohlungen erinnert wird, mehr und mehr in Ver - gessenheit geräth. Genau genommen aber geht in der Seele nichts verloren.
210. Die Zweckmäßigkeit der Verarbeitung wird be - stimmt durch die Zweckmäßigkeit der Reproduction. Denn welche Vorstellungen zugleich reproducirt werden, diese eben, und keine andern, gerathen dadurch in neue und inni - gere Verbindung.
Anmerkung. Hiemit hängen einige von den päda - gogischen Hauptbegriffen zusammen. Zuvörderst die Unter - scheidung des analytischen und synthetischen Unter - richts. Jener geschieht durch zweckmäßige Reproduction; dieser sorgt dafür, neue Vorstellungen gleich Anfangs in169 zweckmäßiger Verbindung herbeyzuführen. Ferner gehört hieher die allgemeine Foderung, daß Vertiefung und Besinnung, gleich einer geistigen Respiration, stets mit einander abwechseln sollen. Die Vertiefung geschieht, in - dem einige Vorstellungen nach einander in gehöriger Stärke und Reinheit (möglichst frey von Hemmmungen) ins Be - wußtseyn gebracht werden. Die Besinnung ist Sammlung und Verbindung dieser Vorstellungen. Beydes findet Statt sowohl beym analytischen, als beym synthetischen Unterrichte. Je vollkommener und je sauberer diese Operationen vollzo - gen werden, desto besser gedeiht der Unterricht.
(Zu vergleichen ist des Verfassers allgemeine Pädago - gik, im Anfange und gegen das Ende des zweyten Buchs.)
211. Während nun aus den vorbemerkten Ursachen die Vorstellungen, indem sie stets der Tendenz zum Gleich - gewichte folgen, eben dadurch aus einer Bewegung in die andere gerathen: verweben sie sich immer vester und vielfäl - tiger, so daß mehr und mehr jede Aufregung einer einzigen unter ihnen sich durch die übrigen fortpflanzt, und da - durch selbst ihrer Rückwirkung ausgesetzt ist. Mit andern Worten: das Phantasiren geht mehr und mehr ins Denken über, und der Mensch wird immer verstän - diger. Denn in diesem allgemeinen Zusammenhange der Vorstellungen unter einander, nicht aber in den Begriffen und Urtheilen einzeln genommen, hat der Verstand seinen Sitz (188). Jedoch ist hiemit eine allmählige Ausbildung der Begriffe und Urtheile verbunden, indem dabey die Um - stände eintreten, welche oben (179 — 192) sind erwogen worden.
212. Da kein Mensch einzeln lebt, vielmehr die Hu - manität in der Gesellschaft vorhanden ist, so gehört es hie - her, zu bemerken, daß das Gespräch der gewöhnliche Reiz für das Phantasiren, die Sitten aber und die gemei -170 nen Meinungen die gewöhnlichen Haltungs-Puncte sind, in welchen sich die Vorstellungen so durchkreuzen und ver - flechten, daß von da aus jede ihrer Bewegungen eine Be - stimmung erhält: oder wie man auch sagen kann, der ge - meine Verstand auf der gemeinen Meinung beruht, die übrigens grundlos und unwahr, also in einem höhern Sinne des Worts dem Verstaube sehr zuwider seyn kann.
213. Von dem Phantasiren und Denken eines Men - schen hängt ab sein Anschauen und Merken, überhaupt sein Jnteresse. Jeder Mensch hat seine eigne Welt, auch bey gleicher Umgebung.
Die Aufmerksamkeit ist theils unwillkührlich und passiv, theils willkührlich und activ. Von der letztern ist hier noch nicht die Rede, denn sie hängt mit der Selbst - beherrschung zusammen. Die erstere hat ihren Grund zum Theil in der augenblicklichen Lage des Geistes während des Merkens; andern Theils wird sie bestimmt durch die älteren Vorstellungen, welche das Gemerkte re - producirt.
a) Bey der Geisteslage während des Merkens kom - men vier Umstände in Betracht: die Stärke des Eindrucks, die Frische der Empfänglichkeit, der Grad des Gegensatzes gegen schon im Bewußtseyn vorhandene Vorstellungen, und der Grad des mehr oder minder zuvor beschäffigten Ge - müths*)Psychologie I. §. 95.
b) Was die Mitwirkung älterer reproducirter Vor - stellungen anlangt, so können dieselben sowohl durch ein Zuviel, als durch ein Zuwenig, dem unwillkührlichen Mer - ken ungünstig seyn, indem in beyden Fällen es dem Neu - Aufgefaßten unmöglich wird, die Gemüthslage nach sich zu bestimmen. Findet nämlich das Neue nichts Altes, oder171 dessen Zuwenig vor, mit dem es sich verbinden könnte, so ist es für sich allein meistens zu schwach, um nicht von an - dern Vorstellungen erstickt zu werden, die sich schon mehr gesammelt und verbunden haben. Tritt aber des gleichar - tigen Alten Zuviel hervor, so schwächt es die Empfänglich - keit für das Neue. Dagegen wird das Merken hauptsäch - lich durch zwey Umstände begünstigt, erstlich, wenn es mit dem Alten contrastirt, wobey die Reproduction stark genug zur Anknüpfung ist, ohne durch ein Uebermaaß der Em - pfänglichkeit bedeutend zu schaden; — zweytens, wenn durch das Neue eine Entwickelung älterer Vorstellungen befördert wird, wornach dieselben ohnehin schon strebten. Jn diesem Falle stiftet es neue Verbindungen, indem es zugleich eine Begierde befriedigt, oder doch ein angenehmes Gefühl her - vorbringt. Das geschieht besonders bey zuvor erregter Er - wartung.
Anmerkung. Merken und Erwarten, als die bey - den Stufen des Jnteresse, gehören gleichfalls zu den Grund - begriffen der allgemeinen Pädagogik. (Jn dem vorerwähn - ten Buche des Verf. über diesen Gegenstand muß das zweyte Capitel des zweyten Theils mit den hier aufgestellten Sätzen verglichen und erläutert werden.)
214. Unter denjenigen Aufregungen des psychischen Mechanismus, welche im Organismus ihren Ursprung ha - ben, mag es erlaubt seyn, solche hier zu übergehen, die offenbar mehr physiologische als psychologische Phänomene darstellen; wohin die körperlichen Bedürfnisse zu rechnen sind.
Jm Allgemeinen aber ist sehr klar, daß jedes Körper - gefühl im Stande ist, die mit ihm complicirten Vorstel - lungsreihen ins Bewußtseyn mitzubringen; und daß diese ich um so gewisser entwickeln werden, weil mit allen an - dern Vorstellungen andere (wenn auch noch so schwache)172 Körpergefühle zusammenhängen, denen andere körperliche Zu - stände entsprechen,, welche sich eben jetzt nicht hervorbringen lassen. Aus diesem Grunde sollte man eher eine noch grö - ßere als eine geringere Abhängigkeit des Geistes vom Leibe erwarten, wie die, welche die Erfahrung zeigt.
2l5. Auch den Veränderungen der Gemüthslage, und dem Ablaufen und Jneinandergreifen der Vorstellungs - reihen müssen Veränderungen im leiblichen Zustande ent - sprechen. Hiebey kann schon das Zeitmaaß und die Ge - schwindigkeit der geistigen Veränderung eine ihr entwe - der günstige oder ungünstige Disposition des Körpers an - treffen welches hinreicht, um die abwechselnde Lust und Nei - gung zu dieser oder jener Beschäfftigung zu erklären, wo - fern nicht noch außerdem rein psychologische Gründe mit einwirken.
Anmerkung. Dasjenige Spiel des psychischen Me - chanismus ist vorzüglich ein unbeherrschtes oder doch schwer zu beherrschendes, welches entsteht, wenn die Geschwin - digkeit in der Veränderung körperlicher Zustände unge - wöhnlich wächst, und dadurch den entsprechenden Lauf der Vorstellungen beschleunigt. Dergleichen geschieht beym Ueber - gehn aus Krankheit in Gesundheit, während der Ausbildung der Pubertät, in manchen Krankheitszuständen, u. f. w. Die Phantasie entläuft alsdann dem Verstande, — mit andern Worten, die Schnelligkeit der sich entwickelnden Vor - stellungen vermehrt die Gewalt, womit sie diejenigen aus dem Bewußtseyn verdrängen, die ihnen Widerstand leisten könnten.
216. Das Vorstehende erlangt eine weit größere pra - ktische Wichtigkeit, wenn man versucht, hinter der vielfachen und veränderlichen Färbung des Jch (wovon in 202 die Rede war) die bleibende Jndividualität des Men - schen, die besonders dem praktischen Erzieher sich entgegen -173 stellt, die aber von jener sehr schwer zu unterscheiden ist, richtig zu durchschauen. Hieher gehört Folgendes:
a) Die von einem System zum andern fortlaufende Affection des Leibes (106) sollte bei vollkommener Ge - sundheit, wenigstens des reifen männlichen Körpers, entwe - der gar nicht, oder doch höchst beschränkt vorkommen; so daß kein Einfluß geistiger Thätigkeit z. B. auf die Ver - dauung und Blutbewegung, also auch nicht umgekehrt, statt fände; wie denn in der That die Unerschrockenheit des Krie - gers mitten in der Gefahr, nicht ohne Grund Kaltblü - tigkeit genannt wird.
b) Dagegen liegt in jedem menschlichen Organismus ein System möglicher Affecten prädisponirt; dergestalt, daß eine sorgfältige Erziehung das Ausbrechen dieser Affecten mehr aufschiebt, als beseitigt und in seinen nachtheiligen Folgen vermeidet. Deshalb kann sie Niemanden die Erfah - rungen, denen er entgegengeht, weil er sie sich selbst zuzieht, ganz ersparen.
c) Zu erklären, wie vielfach verschieden der physiolo - gische Druck (50) aus den Organen und Systemen des Leibes entspringe, ist den Physiologen anheim zu stellen; aber was dieser Druck in den geistigen Thätigkeiten ver - ändern könne, das muß aus der Kenntniß des psychischen Mechanismus und seiner mannigfaltig möglichen Hemmun - gen beurtheilt werden. Das Leichteste hievon ist Folgendes:
α) Statt der unmittelbaren Reproduction (26) ent - steht unter dem Einflüsse jenes Drucks zunächst Verdü - sterung, indem die neuen Wahrnehmungen nicht sowohl den älteren gleichartigen freyen Raum schaffen, als viel - mehr die schon vorhandenen Vorstellungen, welche sich mit dem Drucke ins Gleichgewicht gesetzt hatten, in der Gegen - wirkung schwächen; so daß nun die Wirkung des Druckes zunimmt, und die älteren Vorstellungen, welche das Neue174 aufnehmen und sich aneignen sollten, nur kümmerlich her - vortreten. Daher sehr oft ein dumpfes Erstaunen, wo leb - haftes Jnteresse erwartet wurde.
β) Der nämliche Druck verkümmert noch weit leich - ter die Wölbung, folglich auch die Zuspitzung; daher die Vorstellungen nicht scharf, wohl aber nackt hervortreten; wie bey Menschen, die nichts errathen, nichts in seiner vollen Beziehung auffassen, kein feines Gefühl haben; während sie vielleicht mechanisch fleißig lernen.
γ) Bey Manchen ist der Druck nicht stets wirksam; er kommt nur in Folge der von der geistigen Thätigkeit ausgehenden Spannung als Reaction vor. Solche Köpfe sind lebhaft und leichtfertig, aber ohne Tiefe und Zusam - enhang. Denn ihre Gedanken werden jeden Augenblick zerschnitten; sie können nur kurze Reihen bilden. Sie mö - gen nicht allein seyn, weil es ihnen nicht gelingt einen Ge - danken zu verfolgen.
δ) Wirkt ein beharrlicher Druck auf frey steigende Vorstellungen (32): so bringt er deren Bewegung in Un - ordnung, indem er mit den stärksten derselben, da sie am höchsten steigen sollten, in einen Conflict tritt, wodurch die schwächern Freyheit gewinnen, abwechselnd mit jenen ins Bewußtseyn zu kommen. Unter solchen Umständen zeigen sich selbst thätige und energische Köpse rhapsodisch in ihrem Thun; sie glänzen vielleicht, aber ihre Bildung hat Risse und Sprünge, wofern nicht sehr sorgfältig dagegen gear - beitet wurde.
ε) Sehr verschieden findet man überhaupt den Rhyth - mus der geistigen Bewegungen, daher Manche besser das erreichen, was schnell, Andre, was langsam gethan seyn will.
Diese Andeutungen sehr verwickelter Untersuchungen mögen hier genügen.
217. Von äußern Eindrücken der Umgebung hängen175 die verschiedenen Vorstellungs-Massen ab. Jede neue Um - gebung, vollends jede neue Lebenslage bringt ihre eigene, von den übrigen zwar nicht ganz, aber großentheils geson - derte Masse. Bey weitem nicht immer entsteht unter die - sen Massen das rechte, zur Selbstbeherrschung nöthige Ver - hältniß. Hier hat der Unterricht, und die ganze absichtliche Ausbildung, eine große Aufgabe. Allein zunächst werden wir nicht die innere Wechselwirkung der Vorstellungsmas - sen unter einander, sondern das äußere Verhältniß des Men - schen zu seiner Umgebung in Betracht ziehn.
218. Die Außenwelt, in wiefern sie zur Aufregung des geistigen Lebens beyträgt, betrachten wir hier als die Sphäre des Handelns und als den Sitz der Hinder - nisse desselben, nachdem oben schon der Reiz, den neue Wahrnehmungen hervorbringen, ist erwogen worden. Jetzt muß zuvörderst der Zusammenhang zwischen Vorstellen, Handeln, Begehren, Wollen (die Worte stehn ab - sichtlich in dieser Ordnung) genauer als zuvor entwickelt werden.
Bewegungen der Gliedmaßen des Leibes und die Ge - fühle davon sind zusammenhängende Zustände des Leibes und der Seele Jst mit dem Gefühl noch irgend eine Vor - stellung, etwa des bewegten Gliedes, oder auch nur eines äußern Gegenstandes complicirt, so bewirkt jede Regung dieser Vorstellung, falls nicht ein Hinderniß eintritt, un - mittelbar eine Reproduction jenes Gefühls und der zugehö - rigen Bewegung. Zu der letztern wird also nicht einmal erfodert, daß die Vorstellung im Zustande des Begehrens sey, sondern sie wird ohne weiteres begleitet vom Handeln. (So bey Thieren und bey Kindern; erst der Erwachsene weiß sich zurückzuhalten durch die Einwirkung anderer Vor - stellungsmassen.) Die fernere Untersuchung muß nun auf die Lehre von den Vorstellungs - Reihen zurückgehn.
176219. Die eben erwähnte, von einem Handeln unmit - telbar begleitete Vorstellung sey d, in einer Reihe a, b, c, d, …; findet nun die Handlung in der Außenwelt kein Hinderniß, so geschieht sie unbemerkt, und die Reihe läuft im Bewußtseyn weiter fort zu e, f, u. s. w., als ob kein Handeln geschehen wäre. So bey den Bewegungen des Augapfels, großentheils auch der Sprach-Organe, wäh - rend die Bewegungen der Arme und Beine, wegen der Schwere und Trägheit dieser Gliedmaßen, schon einiger - maaßen zum folgenden Falle gehören.
Es finde die Handlung ein Hinderniß m der Außen - welt, so hemmt dasselbe das zu der Handlung gehörige Ge - fühl, und vermittelst dessen die Vorstellung d. Da nun d mit einem Reste von c, einem kleinern Reste von b, einem noch kleinern von a verschmolzen ist, da ferner nach der Größe dieser Reste auch die, einem jeden derselben eigenthümliche, Geschwindigkeit ihres Wirkens verschieden ist, so gewinnen jetzt, während das Ablaufen der Reihe stockt, auch die kleineren Reste Zeit, um als Hülfen für d mit - wirken, und sich unter einander verstärken zu können. Wäre kein Hinderniß gewesen, so würde c am schnellsten auf d gewirkt haben und die kleineren Reste hätten keinen Einfluß gehabt, weil das, was sie wirken können, ohne sie schon wäre gethan gewesen. Weicht das Hinderniß auf die Mit - wirkung von b, so gelangt a nicht zum Helfen; weicht es noch nicht, so wird allmählig jedes Glied, wie viele deren zu der Reihe gehören mögen, zu der allgemeinen Tätig - keit seinen Beytrag geben. Wie lange dies dauert, so lange befinden sich alle Glieder der Reihe bis auf d im Zustande der Begierde; in dem Augenblicke aber, wo die ganze Kraft aller vereinigten Hülfen angespannt ist, geht die Begierde, wofern das Hinderniß noch immer nicht überwunden ist, in ein unangenehmes Gefühl über.
177Dies alles ist sehr leicht in der Erfahrung wieder zu erkennen. Eine uns geläufige Handlung des gemeinen Le - bens, z. B. die Eröffnung einer Thüre, geschieht, wenn kein besonderes Hinderniß sich einmischt, fast unbemerkt und ohne unsern Gedankenlauf zu stören. Widersetzt sich aber irgend eine Reibung, so strengen wir allmählig mehr Kraft an, wir begehren immer stärker, daß die Thür sich öffne, bis dies wirklich geschieht; ist aber die Bemühung vergeb - lich, so läßt die Begierde einem Unbehagen Raum, das we - nigstens so lange dauert, bis eine neue Gedankenreihe dazu kommt, die außer dem Kreise dieser Untersuchung liegt.
220. Die Stelle eines Hindernisses vertritt oftmals ein bloßer Mangel in einer gewohnten Umgebung. Einer Reihe von Vorstellungen a, b, c, d, e, entspreche die Reihe der Anschauungen a, b, c, e, worin d fehlt, so wird dasselbe vermißt, weil die übrigen Vorstellungen nicht damit zu Stande kommen können, den Grad von un - gehemmter Klarheit, in welchem d mit ihnen verschmolzen war, wieder herzustellen; wozu gehören würde, daß sie nicht bloß in der Seele, sondern auch im Sinnesorgan die zu - sammengehörigen Zustande, des wirklichen Anschauens her - vorbrächten. Das Vermissen wird zum Sehnen, wenn die Reihe a, b, c… stark genug und der Geist in sie ver - tieft ist.
221. Man setze hier an die Stelle einer Reihe nun ein Gewebe vieler Reihen, die. sich sogar durch den ganzen Gedankenkreis des Menschen erstrecken können, so wird eine allgemein durchdringende Sehnsucht nach dem vermißten Gegenstande das ganze Gemüth erfüllen. Dies ist der Grundzug der Liebe, der ihr Gegenstand unentbehrlich ist, und die jede mögliche Ahndung von räumlich oder geisti - ger Trennung verabscheut. Es ist bekannt daß sie durch ihre mancherley Veranlassungen näher bestimmt wird, auch178 daß sie viele Beymischungen, zum Theil von sinnlichen Ge - fühlen in sich aufnimmt; ihre einfachste Gestalt aber zeigt sie da, wo sie aus bloßer Gewöhnung entsteht. (Zu ver - gleichen ist des Verfassers allgemeine praktische Philosophie, S. 360.)
222. Was und wie der Mensch liebt, — von den zerstreuenden Liebhabereyen bis zu der Liebe als verzehren - der Leidenschaft, — das ergiebt das erste Wesentliche seines Charakters. Doch hiebey kommen mancherley formale Bestimmungen in Betracht, die an den Begriff des Wil - lens müssen geknüpft werden. (Die ersten vier Capitel des dritten Buchs der allgemeinen Pädagogik stehn damit in Verbindung.)
223. Wille ist Begierde, mit der, Voraus - setzung der Erlangung des Begehrten. Diese Vor - aussetzung verknüpft sich mit der Begierde, sobald in ähn - lichen Fällen die Anstrengung des Handelns (219) von Erfolg gewesen ist. Denn alsdann associirt sich gleich mit dem Anfange eines neuen, gleichartigen Handelns, die Vor - stellung eines Zeitverlaufs, den die Befriedigung der Be - gierde beschließen werde. Hiebey entsteht ein Blick in die Zukunft, der sich immer mehr erweitert, je mehr Mittel zum Zwecke der Mensch voranschicken lernt. Eine Reihe α, β, γ, δ, habe sich in früherer Auffassung des Verlaufs einer Begebenheit gebildet. Jetzo sey die Vorstellung δ im Zustande der Begierde. Obgleich sie als solche wider eine Hemmung aufstrebt, so können doch die Hülfen, welche sie den Vorstellungen γ, β, α zusendet, ungehindert wirken, falls die eben bezeichneten keine Hemmung im Bewußtseyn antreffen. Es werden also γ, β, α, in gehöriger Abstu - fung reproducirt (wie b und a in 143 gegen das Ende), und wofern eine dieser Vorstellungen mit einem Handeln complicirt ist (218), so geschieht eine solche Handlung;179 wodurch unter günstigen äußern Umständen der ehemalige Verlauf der Begebenheit sich wirklich erneuern kann, derge - stalt, daß α, β, γ sich wie Mittel zum Zwecke δ ver - halten.
224. Der Wille hat seine Phantasie und sein Gedächtniß, und er ist um desto entschiedener, je mehr er dessen besitzt. Denn eine Reproduction, wie die eben erwähnte, kann durch sehr lange, sehr ver - flochtene Reihen, nach vielen Selten hin fortlaufen und in irgend einem entfernten Gliede eine Handlung hervorrufen. Auch die Anstrengung in dieser Handlung erklärt sich leicht, wenn man annimmt, daß jenes δ (in 223) eine und die - selbe Vorstellung sey mit d (in 219), so daß in der Zu - sammenwirkung von a, b, c, d, die Starke des Wollens liege, durch welche γ, β, u. s. w. bis zu der Handlung, welche Mittel zum Zwecke ist, aufgeregt werden. Die ent - schiedene Voraussetzung aber, man werde den Zweck errei - chen, ist um so gewisser und vester, je mehr der Mittel zu Gebote stehn, das heißt, je weiter umher die eben bezeich - neten Reproductionen sich erstrecken.
225. Der Wille stärkt sich auch durch Bekanntschaft mit Gefahren und durch Entsagungen.
Zwar die Gefahr ist dadurch, daß man sie kennt, an sich nicht weniger furchtbar, aber die Vorstellung derselben bewirkt keine so starke Hemmung, wenn sie mit den an - dern Vorstellungen verschmolzen ist. Auch wird alsdann nicht sowohl der Zweck, als vielmehr der Versuch gewollt, jenen zu erreichen. Die Entsagungen aber lösen vollends das Gemüth ab von Besorgnissen und Rücksichten, welche den Willen schwankend machen könnten.
226. Giebt es in mehreren Puncten des Gedanken - kreises solche Stellen, in welchen Vorstellungen als Begier - den aufstreben, so können sie sich bey den Reproductionen,180 durch welche die Ueberlegung der Mittel und Hindemisse geschieht, leicht begegnen und einander widerstreiten. Das Schwanken in diesem Widerstreite ist die praktische Ueberlegung, welche geendigt wird in der Wahl.
Diese letztre ist ursprünglich nicht ein Werk der prak - tischen Grundsätze, sie macht vielmehr dergleichen erst möglich, indem aus oft wiederhohltem Wählen in ähnlichen Fällen allmählig ein allgemeines Wollen entsteht, und gerade so durch hinzukommende Urtheile ausgebildet wird, wie die allgemeinen Begriffe (179 — 192).
Hier aber ist schon der Uebergang in die Betrachtun - gen des folgenden Capitels.
Anmerkung. Zu unterscheiden von dem allgemeinen Wollen, aber gleichfalls vorbereitend auf das folgende Ca - pitel, ist der Umstand, daß, je mehrere Vorstellungsmassen sich in dem Menschen schon gebildet haben, desto mehrere einstimmig zusammen zu wirken pflegen, wenn eine Begierde als Wille in Handlung übergeht. Oft ist dagegen in einer Vorstellungsmasse alles fertig zum Wollen, aber die andern hindern es. So geht Unzufriedenheit der Empörung lange voran.
227. Umstände des äußern Lebens hindern oft den Menschen, seines ganzen Wollens inne zu werden, seinen Charakter zu entwickeln. Ein andermal ist ihre Gunst zu groß für die Kleinheit seines Gedankenkreises.
Der. erste Fall ist bei weitem der häufigste. Daher besonders unter drückender Staats-Regierung, eine gefähr - liche Verschlossenheit ungekannter Kräfte .. Daher die poli - tische Nothwendigkeit, der menschlichen Thätigkeit eine ge - ordnete Freyheit zu gewähren.
228. Man unterscheide die wirkliche Selbstbeherr - schung von derjenigen, welche der Mensch sich selbst anmuthet, und diese wiederum von der, welche er sich anmuthen soll.
229. Fast unbemerkt, und ohne noch mit den Schwie - rigkeiten der Sache bekannt zu seyn, beschließt über sich selbst das Kind, indem es eine Handlung, die für ein Mit - tel zum Zwecke gilt, sich vorbehält und vorsetzt auf eine künftige Zeit. Hintennach, wann die Zukunft zur Gegen - wart geworden ist, findet sich, daß auch jetzt noch gewollt wird, daß der frühere Augenblick nicht über den jetzigen entscheiden konnte, und daß es sich fragt, ob denn auch der jetzige Wille einerley sey mit dem vorigen, — an wel - chen vielleicht kaum noch gedacht wird. Erst allmählig er - fährt der Mensch, wie leicht er sich selbst ungetreu seyn könne.
230. Erfahrungen dieser Art sind im Großen auf - fallender und schädlicher als im Kleinen. Lange bevor der Mensch das psychologische Bedürfniß anerkennt, sich selbst eine Regel zu setzen und sich daran zu binden, giebt es Gesetze in der bürgerlichen Gesellschaft; und diese sind das Vorbild alles dessen, was weiterhin die Moral von Sitten - gesetzen zu sagen pflegt*)Das bürgerliche Gesetz bestimmt nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte. Dem zufolge hat man auch gewisse natürliche, an - geborne Rechte ersonnen. Diese, in wiefern sie eine Anlage in der menschlichen Seele bezeichnen sollen, gehören zu den psycho - logischen Erschleichungen. Vergl. Allg. prakt. Philos. S. 174..
182Je roher der Mensch, desto rücksichtloser sind die Ge - setze. Hingegen je weniger Gefahr, man werde die Aus - nahme zur Regel machen, desto mehr neigt sich die Gesetz - gebung selbst dahin, die Fälle seiner zu unterscheiden; und je mehr Zutrauen zu der Jntegrität und Einsicht der Rich - ter, desto mehr wird ihrem Ermessen überlassen. Doch bleibt es Kennzeichen eines guten Gesetzes, vor dem Er - eigniß, auf das es angewendet wird, vestge - stellt zu seyn; denn darin, daß der Gesetzgeber den ein - zelnen, noch ungeschehenen Fall nicht wissen konnte, liegt allein die Bürgschaft der gefoderteu völligen Unparthey - lichen.
231. Aus dem Selbstbewußtseyn folgt das Gewis - sen; denn indem der Mensch sich selber ein Schauspiel ist, fällt er auch Urtheile über sich selbst. — Die innere Wahrnehmung aber kann auf die zweyte Potenz steigen; dann beurtheilt der Mensch seine Art, sich selbst zu beur - theilen.
Hier nun entsteht die Frage: ob auch der innere Rich - ter partheyisch sey? Und es bedarf nur einer kurzen Reihe innerer Wahrnehmungen, um die Gefahr eines unlautern Selbsturtheils kennen zu lernen.
Als nothwendiges Sicherheits-Mittel gegen solche Par - theylichkeit wird demnach auch für das eigne Jnnere des Menschen, so wie für die bürgerliche Gesellschaft, ein be - stehendes Gesetz gefodert, das den zu beurtheilenden Fällen vorangehe. Die Strenge der Vorschrift wird auch hier all - mählig milder, und mehr der Verschiedenartigkeit der Fälle angepaßt, bis eine übertriebene Milde wiederum zur Schär - fung der Regel zurückführt.
232. Hiebey ist über den Jnhalt der Selbst-Gesetz - gebung noch nichts vestgesetzt. Dem Bedürfnisse derselben kommt das allgemeine Wollen (226) entgegen; dieses aber183 ist höchst verschieden bey den Jndividuen, daher auch An - fangs die praktischen Grundsätze individuel sind. Vestsetzun - gen dessen, was man lieber wolle, oder was man minder erträglich finde, verbunden mit empirischen Klugheits-Regeln, dies ergiebt den größten Theil der ersten Moral, wel - che durch einen Begriff von wahrer und dauernder Glückse - ligkeit die Launen zu regieren, die Leidenschaften zu däm - pfen sucht.
233. Jn der praktischen Philosophie wird gezeigt, daß die Pflicht auf den praktischen Jdeen beruht. Diese besitzen eine ewige Jugend; dadurch scheiden sie sich allmäh - lig von den ermattenden Wünschen und Genießungen als das einzig Unveränderliche, was dem Bedürfnisse eines Ge - setzes für den innern Menschen (231) entsprechen kann; sie tragen überdies den Stempel eines unvermeidlichen Verhängnisses an sich, weil der Mensch derjenigen Be - urtheilung, wovon sie die allgemeine Form bezeichnen, schlechterdings nicht entgehen kann. Darum findet sich in ihnen der notwendige Jnhalt, welcher die Form der allge - meinen Selbst-Gesetzgebung ausfüllen muß.
Anmerkung. Hiemit ist nun erklärt, was für eine Art von Selbstbeherrschung der Mensch sich anmuthen soll (228), und zwar noch ohne Frage, wieviel er davon ausführen könne; welches letztere im Allgemeinen unbe - stimmt, und überdies dem Jndividuum stets unbekannt ist, indem Niemand sich selbst psychologisch genau zu durch - schauen vermag. Daß nun eine so einfache Vorstellung von der Pflicht für den gemeinen Gebrauch der Moralisten nicht nachdrucksvoll genug erscheint, daß sie bald reizende, bald imponirende Zusätze versuchen, um eindringlicher predi - gen zu können, ist gar kein Wunder, und in manchen Fäl - len, wenn es nicht übertrieben wird, sehr zu billigen. Verwundern aber muß man sich, wenn einige Philosophen184 ihre metaphysischen Meinungen mit zu Hülfe nehmen, um die Nothwendigkeit der Pflicht noch nothwendiger zu machen. Deun Meinung allein kann hier in Betracht kommen, da man vom metaphysischen Wissen die Gebundenheit aller Menschen an die Pflicht wohl nicht wird abhangig machen wollen. Auf diesem Wege dürfte am Ende wohl noch die Ewigkeit der Höllenstrafen in die philosophische Moral zu - rückkehren; eine gewiß wirksame, und mit gehöriger Er - klärung und Einschränkung sogar aus psychologischen Grün - den wahrscheinliche Meinung, wie man am Ende dieses Bu - ches sehen wird. — Eine Sittenlehre aber (die freylich nicht schlaff seyn darf) muß ihre Schärfe in sich selbst haben. Und diese Schärfe beruht nicht auf gewissen schneidenden Ausdrücken vom unbedingten Sollen, u. dgl., sondern allein auf der Klarheit und Deutlichkeit der Begriffe von dem Verwerflichen, gegenüber dem Löblichen. Unwiderstehlich ist derjenige Tadel, der keine Ausrede gestattet; wenn aber Jemand entschlossen ist, solchen Tadel zu ertragen, so wirkt auf ihn keine Sittenlehre mehr, er ist ein Kranker, den Leiden zur Heilung, das heißt, zur Buße bringen müssen. Der Tadel thut das Seinige, wenn er die Leidenschaften beschämt. Deutliche Auseinandersetzung der praktischen Jdeen, die den letzten eigentlichen Gehalt und Sinn aller morali - schen Vorschriften ausmachen, ist die beste Schärsung des Gewissens.
234. Die wirkliche Selbstbeherrschung und die Möglichkeit, daß der Mensch das ausführe, was er sich anmuthet und anmuthen soll, — beruhet im Allgemeinen auf dem Zusammenwirken mehrerer Vorstellungsmassen. Hiebey äußert besonders das allgemeine Wollen, wenn ein solches sich schon gebildet hat (226), und alsdann hat es allemal seinen Sitz in irgend einer Voistellungsmasse, — eine große Gewalt, die man in jeder zweckmäßigen Thätig -185 keit erkennen kann. Man rufe sich in dieser Hinsicht den Begriff der Arbeit zurück (123). Jede Art von Arbeit erfodert, daß das Wollen des Zwecks veststehe, während diejenigen Willensacte, welche einen Theil der Arbeit nach dem andern in gehöriger Ordnung vollziehen, in und mit einer Reihe von Vorstellungen im Bewußtseyn ablaufen (zu - weilen mit Verzögerungen und Anstrengungen, wie in 219). Nun aber setzt sich die planmäßige Thätigkeit eines gebil - deten Mannes aus vielen und verschiedenen Arbeiten zusam - men, die selbst eine Reihe von höherer Art ausmachen. Je verwickelter nun eine solche Thätigkeit ist, desto offen - barer erhellet die Macht derjenigen herrschenden Vor - stellungsmasse, in welcher das Wollen der Haupt-Ab - sicht seinen Sitz hat, über die sämmtlichen, in verschiedenen Abstufungen ihr untergeordneten. Auch fehlt es nicht an Thatsachen, welche viel starker, als nöthig ist, beweisen, wie tyrannisch das herrschende Wollen oftmals alle kleineren Wünsche aufopfert, so daß ein einziges Vorurtheil oder eine einzige Leidenschaft das ganze Gemüth gleichsam zu veröden und zu verwüsten vermag.
Denn man muß sich wohl hüten, die Selbstbeherr - schung, bloß als solche, schon für etwas Sittlich-Gutes zu halten. Soll ihr dieser Ruhm zukommen, so muß die Qua - lität, und nicht bloß die Stärke der herrschenden Vorstel - lungsmasse sie dazu eignen.
Anmerkung. Wem es Ernst ist, sich selbst so viel möglich in seine Gewalt zu bekommen, der hüte sich vor allem vor der Verblendung durch falsche Theorien, welche ihm seine eigene Freyheit größer darstellen, als sie ist. Diese ver - mögen nicht, frey zu machen; sie stürzen vielmehr in alle Gefahren falscher Sicherheit. Dagegen gestehe sich Jeder seine schwachen Seiten; diese suche er zu bevestigen. Das geschieht nun nicht bloß durch unmittelbare Wachsamkeit;186 sondern hiebey kommt im wirklichen Leben die ganze Wech - selwirkung des Menschen und seiner Umgebung in Betracht. Wie das Wollen ursprünglich aus dem Gedankenkreise her - vorging, so leitet es hinwiederum die fernere Bildung des - selben durch die Wahl der Beschäfftigungen und Hülfsmittel. Bibel und Gesangbuch sind unendlich wichtige Stützen der Selbstbeherrschung. Manchem auch kommt Horaz oder Cicero zu Hülfe. Gegen Abspannungen des Geistes wirkt Diät, Bewegung, das Bad und der Gesundbrunnen. Den gebildeten Klassen könnten die Künste, insbesondre das Thea - ter viel leisten; ginge nur nicht die Kunst nach Brod! Zwar wenn man sieht, daß große Dichter, bey aller Liebhaberey für das Theater, doch nicht ihre poetische. Laune in die Be - dingungen theatralischer Darstellung fügen mochten, so kann man nur den Mangel an deutscher Selbstständigkeit bedau - ern, die, von französischer Peinlichkeit zurückgestoßen, sich nicht bloß der Bewunderung, sondern auch der Nachahmung Shakespeares hingab. Aber der eigentliche Fehler des Thea - ters liegt im Speculiren auf die Börsen der Reichen, und auf die Schaulust der Masse. Jn die Schlingen der Geld - Aristokratie sich zu verstricken, — das ist allgemein die Ge - fahr, welche das Zeitalter läuft bey seinen Bestrebungen nach Freyheit. Man blicke auf England und Amerika.
235. Allemal ist die Selbstbeherrschung ein. streng ge - setzmäßiges psychologisches Ereigniß, und die Gewalt, die sie ausübt, hat eine endliche Größe, jedoch so, daß man niemals behaupten kann, diejenige Stärke der Selbst - beherrschung, die ein bestimmtes Jndividuum in einem be - stimmten Augenblicke besitzt, sey die größte, zu der irgend Jemand, oder zu der auch jenes Jndividuum selbst hätte gelangen können. Darum setzt mit Recht die Sittenlehre im Allgemeinen voraus: jede Leidenschaft könne be - zwungen werden, und wenn irgend Jemand seine Lei -187 denschaften nicht beherrschen kann, so ttifft ihn eben dieser Schwäche wegen, nach der Jdee der Vollkommenheit (man sehe allgem. prakt. Philosophie im zweyten Capitel des ersten Buchs) ein gerechter Tadel ohne Ausrede.
Anmerkung l. Diejenigen, welche eine trans - scendentale Freyheit des Willens annehmen, müssen, wenn sie nicht gegen die Consequenz gröblich fehlen wollen, der - selben eine unendliche Größe der Kraft gegen die Lei - denschaften beylegen. Denn das Wort transscendental bezeichnet in diesem Zusammenhange einen Gegensatz gegen alle Caufalität der Natur; daher denn die Naturgewalt der Leidenschaften gegen eine solche Freyheit gar Nichts ver - mögen würde. Es verhält sich aber Nichts zu Etwas, wie Etwas zum Unendlich-Großen, so daß, wenn die Gewalt der Leidenschaften für Etwas soll gerechnet werden, die transscendentale Freyheit für unendlich stark muß genommen werden. Daß sie nun hiebey, vermöge ihres eigenen Wir - kens, wieder in dasselbe Causal-Verhältniß hinein geräth, von welchem sie frey seyn sollte, ist hier nicht nöthig weiter auszuführen.
Anmerkung 2. Eine kurze Erwähnung der Fra - gen über den Gemüthszustand der Verbrecher, welche zuwei - len von Richtern an Aerzte ergehen, kann das Vorherge - hende und das Folgende deutlicher machen. Die Frage be - absichtigt nicht Belehrung über das Wesen freyer Handlun - gen; sondern der Richter setzt voraus, daß, wenn der Ver - brecher, im Alter der Pubertät, gesund war, er die schäd - lichen Folgen seiner Handlung kannte; daß er eine solche Handlung, falls sie gegen ihn selbst begangen würde, nicht wollen würde; daß er den allgemeinen Begriff dieses Nicht - Wollens in sich ausgebildet habe; und daß er wisse, die bürgerliche Gesellschaft leide dergleichen nicht. Hiedurch mußte er von der Handlung abgehalten werden, wenn er188 ein ehrlicher Mann war; ist er es nicht, so wird er um desto gewisser gestraft, je vester sein böser Charakter ist, und je gewisser aus dieser Bosheit auch böse Handlun - gen bey jeder Gelegenheit hervorgehn. Die Frage ist also bloß: war der Mensch krank? und zwar dergestalt, daß man glauben könne, er habe wie ein Träumender gehan - delt? Konnte z. B. der jugendliche Brandstifter durch eine krankhafte Feuerlust dergestalt hingerissen werden, daß die Reproduction bey ihm nicht bis zu der Vorstellung der Ge - fahr für die Bewohner durchdrang? Oder daß die allgemeine Maxime, Niemanden in Gefahr zu bringen (die höhere Vor - stellungsmasse) in ihrem Wirken gehemmt wurde? Und end - lich, daß die Besinnung an die bürgerliche Ordnung, an Recht und Gesetz, verloren ging? Jm letztern Falle war der Verbrecher ähnlich dem unbesonnenen Kinde, und die Straffälligkeit wird geringer.
236. Die Bedingungen der Selbstbeherrschung, folg - lich auch die Bestimmung ihrer endlichen Größe, — liegen in dem Verhältnisse der herrschenden zu den untergeord - neten Vorstellungsmassen. Dies ist zwar im Allgemeinen klar, doch mögen noch folgende etwas mehr specielle Be - merkungen, theils über die Herrschaft der Begierden und Leidenschaften, theils über die moralische Selbstbeherrschung hinzukommen.
Wie eine Begierde allmählig um sich greife, läßt sich leicht aus 223 und 224 erkennen. Der Fluß der Vor - stellungen stockt, und schwillt an bey dem Puncte, der be - gehrt und nicht sogleich erreicht wird. Die von ihm erweck - ten Reproductionen sammeln sich, Anfangs ungeordnet, als Phantasien; allein das Phantasiren geht allmählig ins Den - ken über (211), und es bilden sich mehr und mehr Be - griffe und Urtheile in Beziehung auf die Begierde und im Dienste derselben. Dies drückt man unrichtig aus, wenn189 man sagt: die Leidenschaft setze den Verstand in Bewegung. Nicht ein ganzes Seelenvermögen wird hier in einseitige Thätigkeit gesetzt, sondern ein gewisses Denken, das man verständig nennen kann, in wiefern Verstand bloß ein Gattungsbegriff für gewisse Arten der Regsamkeit der Vorstellungen ist, — erzeugt sich in der Gedankenmasse, welche sich um die Begierde herum angehäuft hat. Rohe Menschen, und vollends Wilde, haben beynahe keinen an - dern Verstand, als den ihrer Leidenschaften. Aber bey Ge - bildeten giebt es andere, auch bis zum verständigen Denken ausgearbeitete Vorstellungsmassen, und hier kommt nun zu jenem partiellen Verstande der Leidenschaften noch ein an - deres Phänomen, das man eben so unrichtig so ausdrückt: die Leidenschaft unterdrücke den Verstand. Näm - lich, entweder treten die andern verständigen Vorstellungs - massen zu spät hervor, nachdem die Leidenschaft befriedigt und der durch sie gehemmte Fluß der Vorstellungen wieder hergestellt wurde, alsdann sagt man mit Recht: der Mensch hat sich übereilt; auch klagt er wohl selbst, er könne seine Uebereilung nicht begreifen; denn sein voriges Thun schwebt ihm jetzt wie ein todtes Bild vor und nur diejeni - gen Vorstellungsmassen sind lebendig welche auf jene an - dern tadelnd herabschauen. — Oder aber, zugleich mit dem Verstande der Leidenschaft ist auch der bessere Verstand im Bewußtseyn erwacht, allein er ist nicht stark oder nicht aufgeregt genug; daraus entsteht dann die noch weit un - glücklichere Folge, daß diejenige, Verbindung von Vorstellun - gen, worin er seinen Sitz hat, verunreinigt unh verdorben wird durch die. Begriffe, der Leidenschaft, weiche letztere je öfter dies geschieht, um so mehr Herrschaft erlangt und sich des Namens der Leidenschaft um so würdiger beweist.
Wir haben hier von mehr als einem Verstande ge - sprochen, und so muß es geschehn, falls man sich den Ver -190 stand als eine Kraft; oder als ein Vermögen denken will. Denn die Wirksamkeit, die geistige Energie, liegt nir - gends anders als in gewissen Vorstellungsmassen; und die - ser giebt es gar viele und höchst verschiedene, die alle als Verstand wirken tonnen. Dasselbe gilt von der Einbil - dungskraft, vom Gebächtniß, von der Vernunft, — mit einem Worte, von allen sogenannten Seelenvermögen. Aber wenn man sich auch eine solche Neuerung im Sprachge - brauche wollte gefallen lassen, so würde sie zur gewöhnlichen Anwendung nicht einmal zu empfehlen seyn. Denn wer von mehreren Verständen, von mehreren Einbildungskräften, u. dergl. redete, der würde scheinen anzudeuten, daß die meh - reren als entschieden getrennt zu betrachten seyen. Es sind aber die verschiedenen Vörstellungsmassen, auf welche dies alles hinweiset, gar nicht so scharf zu sondern, vielmehr ent - stehn bey jedem Zusammenwirken derselben immer neue, wenn gleich oft nur schwache, Verschmelzungen der gleichar - tigen Vorstellungen, aus welchen, als ihren Bestandtheilen, sie zusammengesetzt sind. — Die eben gebrauchte Art zu Leben ist also nur Ausnahme, und es bleibt dabey, daß der Mensch nur einen Verstand, eine Einbildungskraft, u. s. w. besitzt; dieses aber sind man nicht Kräfte, nicht Vermö - gen, überhaupt nichts Reales, sondern bloß logische Gat - tungsnamen zur vorläufigen Classification der psychischem Phänomene.
237. Es folgt die Betrachtung der sittlichen Selbst - beherrschung. Als Vorbereitung dazu mussen wir das mo - ralische Gefühl begreiflich machen. Dies ist in der kan - tischen Philosophie für untauglich zur Begründung der Sit - tenlehre erklärt woren, und zwar mit Recht; denn man darf es keinesweges verwechseln mit den moralischen (oder, mit dem allgemeinen Namen, ästhetischen) Urtheilen, auf welchen, wie in der praktischen Philosophie gezeigt wird,191 die praktischen Jdeen beruhen. Eine solche Verwechselung würde den Grund mit der Folge vermischen. Das mo - ralische Gefühl entsteht aus den sittlichen Ur - theilen, es ist die nächste Wirkung derselben auf die sämmtlichen im Bewußtseyn vorhandenen Vorstellungen. Die genannten Urtheile haben ihren Sitz nur in wenigen, und zwar in solchen Vorstellungen, die mit einander ein ästhetisches Verhältniß bilden. Sie entstehn allemal und unausbleiblich bey jedem Zusammentreffen der letzteren, wofern und in wie weit eine Verschmelzung derselben durch den übrigen Lauf der Vorstellungen nicht unmöglich gemacht wird. Jndem sie entstehn thun sie die nämliche Wirkung, als wo plötzlich etwas Angenehmes oder Unangenehmes ins Bewußtseyn träte (nämlich je nachdem sie Beyfall oder Tadel enthalten). Dadurch begünstigen sie entweder den vorhandenen Gedankenlauf oder sie halten ihn auf, wobey wohl manchmal auch Wirkungen nuf den Organismus (z. B. Schaamröthe) und Rückwirkungen des - selben eintreten.
Bevor wir weiter gehtt, kann schon hier bemerkt wer - den, daß in dem eben erwähnten Einfluß der sittlichen Ur - theile auf das übrige Vorstellen, also in dem moralischen Gefühle, die specifische Verschiedenheit jener Urtheile sich we - nig oder gar nicht offenbaren werde. Ob eine Unbilligkeit oder eine Unrechtlichkeit, oder ein Uebelwollen, oder eine Feigheit, oder was sonst für eine sittliche Verkehrtheit ge - fühlt werde, diejenige Störung, welche dadurch der eben ablaufende Gebankenfaden scheiden mag, wird in allen die - sen Fällen so ziemlich die gleiche seyn. Jn dieser Hinsicht wird weit mehr darauf ankommen, wie sich übrigens die eben im Bewußtseyn vorhandenen Vorstellungen zu einan - der verhalten, wie schnell ihre Reihen ablaufen u. s. w. Nun aber ist es die wesentlichste Aufgabe der praktischen192 Philosophie, den specifischen Unterschied der verschiedenen sittlichen Grund-Urtheile völlig klar zu machen. Folglich kann das moralische Gefühl, welches diesen Unterschied nicht angiebt, auch nicht jener Wissenschaft ihre Principien dar - bieten.
Angenommen nun, eine Begierde entwerfe so eben ihre Pläne (nach 236.), und indem ein Mittel zu ihrer Befrie - digung ersonnen ist, werde die moralische Verkehrtheit die - ses Mittels gefühlt; so wirkt das Gefühl wie ein Hinderniß, und es stockt der Lauf der Vorstellungen gerade wie wenn eine Handlung in der äußern Welt nicht gelingt. (219). Während dieses Stillstandes nun geschieht zweyerley zu - gleich. Erstlich schwellen die Vorstellungen, welche von der Begierde ausgehn, starker an aber zweytens gewinnt auch das sittliche Urtheil Zeit, hervorzutreten. Es fragt sich jetzt, ob dieses Urtheil mit einer starken Gedankenmasse zusam - menhängt, die, indem sie sich mehr und mehr im Bewußt - seyn ausbreitet, allmählig jene anschwellende Begierde nie - derdrückt, ohne ihrerseits von dem unangenehmen Gefühl, in das sich die gepreßte Begierde verwandelt, in ihrer Ent - wickelung zu leiden? Kann diese Frage bejahet werden, so ist Selbstbeherrschung vorhanden.
238. Eine durchgreifende in allem Thun und Lassen gleichförmige für die untergeordneten Jnteressen und Wün - sche möglichst schonend, ächt-sittliche Selbstbeherrschung ist ein Jdeal, welches man mit dem Namen eines psychi - schen Organismus belegen kann. Denn es gehört dazu eine solche Verknüpfung und Subordination der Vorstellun - gen, welche nicht nur in den kleinsten wie in den größten Verbindungen durchaus zweckmäßig, sondern auch fähig sey, alle neu hinzukommenden, äußeren Eindrücke sich zweckmäßig anzueignen. Dies ist das Ziel der Erziehung und der Selbst - bildung. Wie nahe der Mensch diesem Ziele kommen könne,193 läßt sich im Allgemeinen nicht bestimmen, und eben deshalb ist das Streben dahin unbegränzt.
239. Wie nun die Kraft der Selbstbeherrschung nie - mals das Werk eines Augenblicks, vielmehr ein Resultat des ganzen verflossenen Lebens ist, so kann auch nicht jede Zeit des Lebens in Ansehung derselben gleich entscheidend seyn. Ein bedeutender Vorrath von Gedanken und Gefüh - len, der keine verhältnißmäßig großen Zusätze mehr zu er - warten hat (man erinnere sich der abnehmenden Empfäng - lichkeit), muß erst vorhanden seyn, ehe eine so durchgrei - fende Sammlung des Gemüths Statt haben kann, daß der Mensch mit Erfolg über sich selbst im Allgemeinen zu be - schließen vermöchte. Dann aber, wenn diese Bedingung erfüllt ist (in der Regel am Ende der Erziehungsjahre), ist es Zeit zu der tiefsten Besinnung, zu der umfassendsten praktischen Ueberlegung. Denn von der Jnnigkeit der Ver - bindung, welche die Vorstellungen nun eingehen, von der genauen Kunde über seine innersten Wünsche, welche der Mensch nun erlangt, von der rechten Stellung in der Außen - welt, die er jetzo sich selbst bereitet, hängt sowohl die Stärke als die Richtigkeit der Führung ab, die er fortan sich geben wird, und eben davon hängt auch die rechte Aufnahme alles Neuen ab, welches der Lauf des Lebens noch ferner herbeyführen wird.
240. Die Psychologie bleibt immer einseitig, so lange sie den Menschen als allein stehend betrachtet. Denn theils194 lebt er in Gesellschaft, und nicht bloß für diese Erde; theils veranlaßt beydes mancherley Versuche, Jdeale zu zeichnen, deren Anziehendes sie zu einer wirklichen geistigen Macht erhebt.
Jn dem Ganzen jeder Gesellschaft verhalten sich die einzelnen Personen fast so, wie die Vorstellungen in der Seele des Einzelnen, wenn die geselligen Verknüpfungen eng genug sind, um den gegenseitigen Einfluß vollständig zu vermitteln. Die streitenden Jnteressen treten an die Stelle des Gegensatzes unter den Vorstellungen; die Nei - gungen und Bedürfnisse der Anschließung ergeben das, was aus dem Vorigen unter dem Namen der Complexionen und Verschmelzungen bekannt ist. Daß Viele von einer Minderzahl bis zum Verlust geselliger Bedeutung herab - gedrückt, daß in der Minderzahl selbst nur Wenige eines hervorragenden Ansehens theilhaftig werden, daß jede Ge - sellschaft im Zustande des natürlichen Gleichgewichts eine nach oben zugespitzte Form annimmt, dies sind die un - mittelbaren Folgen des psychischen Mechanismus, der sich hier im Großen gelten macht; und dessen Bewegungsgesetze eben so wenig hier als im Einzelnen einen vollkommenen Stillstand dulden; aber auch Reproductionen dessen, was schon verschwunden schien, herbeyführen, die oft genug durch lange Reihen geselliger Verbindungen hindurchwirken. Vor - gänge solcher Art liegen der Apperception durch die Gebil - deten auf höhern Standpuncten sogar noch weit offener vor Augen, als im Jnnern das Verhältniß der untergeord - neten zu den höhern Vorstellungsmassen; wofern nämlich nicht etwa die Einzelnen selbst schon gewarnt und wachsam genug sind, um sich vor lauten und sichtbaren Aeußerungen zu hüten. Denn vor roher Gewalt freylich, falls eine solche an der Spitze steht, pflegen sie sich zu verstecken; oder wenn irgendwo der Thron zum Ruhebette wird, so geht es in195 der Gesellschaft wie in solchen Einzelnen, die keine Aussicht über sich selbst führen.
241. Man denke sich Betrachtungen dieser Art voll - ständig ausgeführt: so ergeben sie eine politische Grundlehre nach Art des ersten Theils dieses Vortrags. Alsdann wird eine empirische Zusammenstellung dessen folgen können, was in der Geschichte der Staaten als das Bleibende und Ver - änderliche mag unterschieden werden. Die Stelle der See. - lenvermögen wird, mit gleichem Anlaß zur Kritik, die Ab - sonderung der drey vorgeblichen Gewalten, der gesetzgeben - den, ausführenden, richterlichen — einnehmen; wenn man nicht etwa vorzieht, die verschiedenen Stände und Gesell - schaftskreise im Staate neben einander zu betrachten. Von den Zuständen der Staaten aber wird die Geschichte selbst reden. Um endlich der rationalen Psychologie ein Gegenbild zu geben, wird zuerst nach Art der Statistik der Leib des Staats, — sein Grund. und Boden sammt dem darauf stattfindenden Verkehr — und die Wechselwirkung desselben mit dem Geiste, d. h. den geselligen Gesinnungen und Ein - sichten, zu schildern seyn; darauf aber wird endlich der Auf - schluß über den wahren Zusammenhang der Begebenheiten von der Philosophie der Geschichte zu erwarten seyn.
242. Das Vorstehende erinnert daran, daß die Philo - sophie der Geschichte von der Psychologie abhängt; und daß sie sich nicht anmaaßt, die Wege der Vorsehung zu erfor - schen, welche ungeachtet der oft vernommenen Reden vom Weltgeiste, dennoch stets dunkel sind und bleiben. Es finden nämlich hier ähnliche Täuschungen statt, wie in der Naturphilosophie, wenn in dieser das Zweckmäßige der Na - tur mit der Möglichkeit der Lebens-Erscheinungen so ver - mengt wird, als ob einerley Untersuchung beydes zugleich umfassen, ja gar durch Zusammenstellung dessen, was auf196 der Erde unter unsern Augen geschieht, den Typus eines allgemein-nothwendigen Naturlaufs entdecken könnte.
So gewiß es ist, daß keine Geschichte der bekannten Staaten und Nationen jemals eine Weltgeschichte im eigentlichen Sinne, oder auch nur Etwas damit in irgend einem angeblichen Verhältnisse Stehendes liefern kann; so gewiß ferner keinerley Theorie davon mit einigem Schein der Wahrheit einen Begriff zu geben vermag; so gewiß viel - mehr jeder, auch noch so entfernte Versuch dieser Art ein thörichtes Vergessen der irdischen Beschränktheit zur Schau stellt: eben so gewiß soll die Philosophie der Geschichte sich hüten, in die verschiedenen Gestalten, worin die historisch bekannten Ereignisse und Gesellschaften sich zeigen, eine systematische Totalitat hineinzukünsteln, als ob eine die noth - wendige Ergänzung der andern, und alle verbunden eine Gesammtdarstellung des Menschengeistes auszumachen be - stimmt wären. Alle bisherige Geschichte ist ein Anfang, dessen Fortgang Niemand prophezeihen kann; und der heu - tige Zustand der Dinge ist eben so wenig ein Stand allge - meiner Sündhaftigkeit als Vollendung.
Wie aber die Psychologie die sinkenden und schon ge - sunkenen Vorstellungen sammt deren Verbindungen im Auge behält, um nicht über das erneuerte Emporsteigen derselben sich wundern zu müssen: so auch soll die Philosophie der Geschichte den herabgedrückten Kräften, und den hierin ver - borgenen Keimen des Besseren und Schlechteren nachspü - ren; damit klar werde, unter welchen Bedingungen das Gute emporkommen, und das Schlechte überwunden wer - den konnte. Denn darüber verlangt jedes Zeitalter Beleh - rung, damit es wisse, was es zu thun und zu vermeiden habe. Was der Erzieher von der Psychologie, das fodert der Staatsmann zunächst von der Philosophie der Geschichte. Für Beyde sind eiserne Nothwendigkeit, die nichts anneh -197 men, und absolute Freyheit, die nichts vesthalten würde, ein gleich schädlicher Wahn. Bewegliche und lenksame Kräfte, die jedoch unter Umständen eine bestimmte Form, und allmählig einen dauerhaften Charakter gewinnen, sind die Voraussetzungen der Pädagogik und der Politik. Solche Kräfte sind im Vorhergehenden nachgewiesen worden.
243. Einen nützlichen Ueberblick über das, wornach die Philosophie der Geschichte für jeden Zeitpunkt bey jedem Staate zu fragen, und nach dessen Sicherstellung und Be - gründung sie zu forschen hat, gewähren die schon bekannten Bedingungen der geistigen Gesundheit, welche sich hier in Gesundheit des bürgerlichen Lebens verwandelt. Zwar wenn man das Toben der Neuerungssucht, den durch keine Er - fahrung heilbaren Wahn der Partheyen, die eigensinnige Lossagung einzelner Stände, Communen, Provinzen von dem Bande der allgemeinen Ordnung und unvermeidlichen Wechselwirkung, das schlaffe und blinde Dulden solcher ein - reißenden Verkehrtheiten, parallelisiren wollte mit Tobsucht, Wahnsinn, Narrheit und Blödsinn: so möchte eine solche Vergleichung, da sie nicht genau durchgeführt werden kann, zu hart und zu wenig belehrend erscheinen. Aber gewiß finden Gleichmuth, Erregbarkeit, Sammlung und gegensei - tiges Bestimmen aller Vorstellungen durch einander, ihr Ge - genbild in dem gesunden und wohlgeordneten Staate; wo Jeder mit Ruhe seinem Geschäffte obliegt, Jeder dennoch aufmerkt und rege wird beym Rufe des allgemeinen Be - dürfnisses, Alle zusammen das Nöthige vollziehen, aber auch das Ganze den Antrieb aller Theile empfängt. Der letzte Punkt mag am schwierigsten erscheinen; gewiß aber ist das öffentliche Leben nicht gesund, wo es von den Angelegen - heiten der kleinern Kreise sich losreißt, anstatt ihre Opfer nach Möglichkeit zu vergüten.
244. Aehnlich diesen Grundzügen bilden sich die Men -198 schen das Jdeal der Gesellschaft ohne Zweifel öfter, als so, wie es nach Anleitung der praktischen Philosophie eigentlich geschehen sollte. Denn was an der Zusammenwirkung der Kräfte in der Gesellschaft fehlt, was darin sich drangt, stößt, unnütz aufreibt; das wird leicht bemerkt, und als un - geschickt getadelt.
Wie aber auch zu dem Mangelhaften ein Besseres möge hinzugedacht werden: in der Gesellschaft, wie sie seyn sollte, weiset der Mensch sich den Platz an, den er darin einneh - men würde. Diesen einzunehmen, denkt er sich als seine Bestimmung. Als Annäherung dazu gilt ihm sein Be - ruf, oder die Stellung und Wirksamkeit, welche in der wirklichen Gesellschaft der Bestimmung möglichst ähnlich ist.
Hier, wo alle Pläne sich nach Möglichkeit vereinigen, liegt der Einheitspunct seines Charakters; wiewohl mit gro - ßen Verschiedenheiten. Denn nicht immer besitzen die Vor - stellungsmassen, welche sich hier concentriren, eine sichere Herrschaft. Manche können nur in Augenblicken einer be - sondern Erhebung überhaupt an ihre Bestimmung denken.
Soll aber ein Charakter ganz zur Reise kommen: so muß eine Hauptrichtung des Wollens da seyn, welcher alles ein - zelne Wollen sich fügt. Der Begriff des Menschen von seiner Bestimmung in der Gesellschaft wird in diesem Falle gleichsam die Seele jenes psychischen Organismus (238). Wie vielfach verschieden das Verhältniß der Vorstellungsmassen hievon ab - weicht, so verschieden sind die Formen des Charakters.
Allein es kommt dabey noch der große Unterschied zwi - schen Plänen und Maximen in Betracht. Menschen, die einmal ihre Sphäre gefunden, ihre Bestimmung nach eigner Ansicht erreicht haben, richten sich nun, ohne mehr zu verlangen, nach Regeln der Klugheit, der Ordnung, der Sitte, des Rechts, der Pficht; und dies ohne Ausnahme pünctlich zu thun, ist der Grund ihrer innern Zufriedenheit.
199Sowohl psychologisch als moralisch betrachtet sind diese Charaktere weit verschieden von jenen, die nach herrschenden Plänen leben, folglich entweder etwas zu suchen oder doch dergestalt zu hüten haben, daß es ihnen durchaus nicht ver - loren gehn dürfe. Es ist zwar keineswegs in der vorherr - chenden Pünctlichkeit allemal eine ganz lautere Sittlichkeit zu finden; vielmehr ist der Jnhalt der angenommenen Maxi - men gar mannigfaltig verschieden. Auch ist andererseits der Begriff der Bestimmung und des Berufs, von wo die Pläne ausgehn, keineswegs immer der Sittlichkeit fremd, vielmehr kann der richtigste und reinste Werth der Gesellschaft die Grundlage dieses Begriffs ausmachen. Aber Pläne mögen seyn welche sie wollen: sie können fehlschlagen, und wer einzig daran hangt, der kann zu Grunde gehen. Folglich um nicht zu Grunde zu gehn, kann er in den Fall kom - men, schlechte Mittel anzuwenden. Wenigstens kann er den Gedanken daran nicht vermeiden, und hiedurch wird er min - destens beunruhigt werden. Also müssen wir, alles Uebrige gleichgesetzt, bekennen: Charaktere mit herrschenden Plänen sind energischer; Charaktere mit herr - schenden Maximen sind reiner.
245. Dennoch kann man es nicht tadeln, daß der Mensch den Zusammenhang seiner Pläne durch den Begriff seiner Bestimmung, und diesen gemäß seiner Jdee der Ge - sellschaft vestsetze. Denn wie nothwendig auch die mora - lische Beherrschung seines Jnnern, sie ist ihm als Hauptge - schäfft zu klein. Der einzelne Mensch ist in seinen eignen Augen, so wie er sich als irdisches gebrechliches Wesen kennt, losgetrennt von der Gesellschaft, zu wenig, zu gering. Er bedarf mindestens der Familie; aber auch sie füllt nicht seinen Gesichtskreis. Hingegen seine gesellige Bestimmung ist der höchste Zielpunct, den er noch deutlich sehen kann; diesen nicht zu sehen, wäre Beschränktheit.
200Hiemit kommt jedoch selbst in die stärksten Charaktere ein Zug des Leidens. Mögen sie immerhin durch Maxi - men und Grundsätze noch über allen Plänen moralisch vest - steh: leiden müssen sie, sobald der Gang der Gesellschaft sie von ihrer Bestimmung ablenkt; ja schon dadurch, daß dieselbe, anstatt sich der Jdee zu nähern, vielmehr sich da - von entfernt. Unter solchen Umständen schaut der Mensch noch höher hinauf; er schaut in die dunkelste Ferne, und versucht, ob dorthin noch, ohne Schwärmerey, sich ein Ge - dankenbild zeichnen lasse.
246. Die Bestimmung des einzelnen Menschen kann nicht auf das irdische Leben beschränkt seyn, da die Seele ewig ist. Gänzlich unbekannt mit den Veranstaltungen der Vorsehung für die entlegnere Zukunft, können wir dennoch fragen, was ohne alle weitere Einwirkung, bloß nach psycho - logischen Gesetzen, geschehen müsse, wann die leibliche Hülle sich löst und ihre ungleichartigen Elemente sich zerstreuen.
Es verschwinden zuvörderst die besondern Einflüsse, welche der Leib eben in dem Alter, das der Mensch erreicht hatte, auszuüben geeignet war; es verschwindet also ein Hinderniß, wodurch die ältesten Vorstellungen, die an sich die stärksten sind, in der Lebhaftigkeit ihres Wirkens be - schränkt waren. Der Tod ist demnach zuerst überhaupt Verjüngung, ohne doch die Kindheit zurückzuführen; denn keine von den allmählig geknüpften Verbindungen der Vor - stellungen kann wieder aufgelöst werden. Jndessen setzt sich die letzte Gegenwart des Erdenlebens mit ihren Lasten und Sorgen ins Gleichgewicht mit der ganzen Vergangenheit.
247. Während nun im Allgemeinen das Streben zum Gleichgewichte die Bewegungen aller Vorstellungen bestimmt, können doch sehr große Revolutionen unter denselben nöthig seyn, damit sie dahin gelangen. Denn es ist gezeigt, wie aus den Bewegungen neue Bewegungsgesetze entsprin -201 gen (207), und wie die tumultuarische Anhäufung der Vor - stellungen während des Lebens (208) eine spätere Verar - beitung nothwendig macht. Daß diese ganz anders nach dem Tode, als während des Treibens in der sinnlichen Mitte der irdischen Dinge ausfallen müsse, leuchtet unmit - telbar ein. Auch der Traum kann damit gar keine Aehn - lichkeit haben. Denn die Sinne zwar werden durch den Schlaf verschlossen, aber eben derselbe drückt auf die Vor - stellungen, so daß die Gesetze ihres Zusammenhangs nur theilweise wirken, woraus eben die Zerrbilder des Traums entstehen (216). Nach dem Tode aber, frey vom Leibe, muß die Seele vollkommener wachen, als jemals im Leben.
248. Das Product jedoch, welches die zum Gleich - gewichte hinstrebenden Vorstellungen nach und nach ergeben, kann nicht bey zweyen menschlichen Seelen vollkommen gleich ausfallen, vielmehr alle Verschiedenheiten des irdischen Da - seyns müssen darauf Einfluß haben. Während die Vorstel - lungen des früh gestorbenen Kindes sich sehr bald ihrem allgemeinen Gleichgewichte nähern, und wahrend die Ge - danken des in seinem Gewissen ruhigen, in seinem Handeln und Wünschen einfachen Mannes keiner großen Umwälzun - gen fähig sind, kann dagegen kein unruhiges, weitgreifendes, von der Welt gefesseltes, und plötzlich derselben entrissenes, Gemüth die Stille der Ewigkeit anders, als nach einem Durchgange durch heftige Umwandlungen erreichen, die we - gen des gänzlich veränderten Zustandes leicht noch stürmischer und peinlicher seyn mögen, als diejenigen, von denen der leidenschaftliche Mensch bey uns so häufig geplagt wird.
249. Endlich aber, nach irgend einem Verlause dessen, was wir Stunden, Tage, Jahre nennen, muß für jede Seele, wie tief und verworren auch ihre Unordnung gewe - sen sey, eine solche Bewegung der Vorstellungen eintreten, die sich immer gelinder, immer schwächer dem allgemeinen202 Gleichgewichte nähere, doch ohne es jemals vollkommen zu erreichen. Alsdann erstirbt für den Gestorbenen die Zeit; doch geschieht selbst dieses noch auf zeitliche Weise: ein un - endlich sanftes Schweben der Vorstellungen, eine unendlich schwache Spur dessen, was wir Leben nennen, ist das ewi - ge Leben.
250. Ohne Regung, aber im klarsten Wachen, weiß und fühlt von nun an die Seele das ganze Edle oder Un - edle ihres vormaligen Wandels auf Erden, den sie als die unvergängliche Bestimmung ihres Jch, und eben darum als ein unablösliches Wohl oder Wehe, in sich trägt, unfähig, auch nur zu begehren, nur zu wünschen, daß ihr Zustand ein anderer seyn möchte.
Doch hier darf man nicht übersehen, daß in den un - geordneten Seelen, nach ihren großen inneren Umwälzungen, unmöglich noch das ganze Unheil bestehen könne, welches sie in der leiblichen Hülle sich zugezogen hatten. Gerade das Gegentheil! Die Gegenstände der Begierden und die kurze Verblendung, welche dadurch unterhalten wurde, sammt der Verstimmung des leiblichen Zustandes durch heftige Affecten, alles dieses ist nun längst entflohen; der kindliche Friede ist zwar nicht ganz, doch zum Theil zurückgekehrt und hat die verwundeten Gefühle gemildert und den Wahn - witz der Leidenschaften geheilt. Wie die Täuschung weicht, tritt die Wahrheit hervor. Lauter und reiner spricht das Gewissen; endlich spricht es allein, der Sünder ist bekehrt und die Reue verliert ihren Stachel.
251. Die Vorsehung hat gestattet, daß ein sehr ver - schiedenes Loos den Menschen auf Erden bereitet werde. Uns scheint die Verschiedenheit groß und wichtig, einige Jahre nach dem Tode kann sie sehr vermindert seyn. Die ein - fachen sinnlichen Wahrnehmungen, dieses erste Material des geistigen Daseyns, — sind für Alle die nämlichen; und schon203 das kurze Leben des sprachlosen Kindes nimmt bey seiner großen Empfänglichkeit eine bedeutende Menge desselben an sich. Viele Verbindungen dieses rohen Stoffes, welche das Erden - leben durch seine Erfahrungen nicht herbeygeführt hatte, wird die Zukunft nachbringen, zwar nicht um neue Kenntnisse zu verschaffen (wenigstens möchte dies im Allgemeinen schwer nach - zuweisen seyn), aber doch um ein ruhiges Wohlseyn zu erzeu - gen. Wenn nun gleich etwas von der Verschiedenheit der irdi - schen Loose sich in die Ewigkeit fortpflanzt, immer noch den bessern Menschen von dem schlechtern unterscheidend, so kann doch für Alle das Leben zweckmäßig seyn, und in jedem Ein - zelnen, wenn er für sich allein, ohne alle Vergleichung mit den Uebrigen betrachtet wird, kann sich die Vorsehung dar - über, daß sie ihn ins irdische Daseyn eintreten ließ, gerecht - fertigt finden. —
252. So erscheint die ferne Zukunft, gesehen von dem Standpunkte der Wissenschaft, deren Grundlage keine andere ist, als unsere gemeine menschliche Erfahrung. Behaupten kann man auf diese Weise nichts. Wahrscheinlich ist Alles noch anders eingerichtet, schon bloß darum, weil überhaupt irgend eine göttliche Einrichtung wahrscheinlich ist, im Vorhergehen - den aber nur das erwogen wurde, was ohne alle Veran - staltung von selbst erfolgen möchte. Will man diese letztere Frage schärfer untersuchen, so wird die Möglichkeit sol - cher Untersuchung sich erweitern mit den Fortschritten der Statik und Mechanik des Geistes. Allein, wie alle Metaphysik aus der Erfahrung entspringt, und wie keine Erfahrung ohne Me - taphysik eine ächte Erkenntniß gewährt, so vermag hinwie - derum die Metaphysik nicht einen einzigen Schritt über die Gränzen hinaus zu thun, an welchen die nothwendige Ent - wicklung der Erfahrungsbegriffe sich endigt.
Google BooksNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2013-07-05T12:13:38Z Thomas GloningNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2013-07-05T12:13:38Z Hannah Sophia GlaumNote: Umwandlung in DTABf-konformes Markup.2013-07-05T12:13:38Z Stefanie SeimNote: Nachkorrekturen.2013-07-05T12:13:38Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Fraktur
Anmerkungen zur Transkription:Bogensignaturen: nicht übernommenfremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnetlanges s (ſ): als s transkribiertrundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiertVokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert
Dieses Werk ist gemeinfrei.