PRIMS Full-text transcription (HTML)
Schloß und Fabrik.
Zweiter Band.
Leipzig, Verlag vonAdolph Wienbrack. 1846.
Schloß und Fabrik.
Zweiter Band.

I. Zwei Freunde.

Doch zittert nicht! Ich bin allein,
Allein mit meinem Grimme;
Wie könnt ich Euch gefährlich sein
Mit meiner schwachen Stimme?
Georg Herwegh.

Dem schönen Maisonntag war eine gleich schöne, gleich milde Mainacht gefolgt.

Es war zehn Uhr vorüber und die Arbeiter aus Herrn Felchners Fabrik, welche unter sich den Verein der unverheiratheten Arbeiter und Junggestellen gestiftet hatten, traten eben aus der Schenke, denn dies war die Stunde, welche nach dem einen Paragraphen der Statuten ihres Vereins zum Nachhausegehen bestimmt war.

Mit dem gewohnten Wunsche einer guten Nacht trennten sich die jungen Männer und Jeder schlug den Weg nach seiner Wohnung ein. Wilhelm Bürger und Franz Thalheim gingen Arm in Arm und blieben auch bei einander, als sich die Andern trennten. Ein Dritter gesellte6 sich jetzt zu ihnen, es war August, derselbe Jüngling, welcher mit den alten Arbeitern falsch gespielt hatte und dafür von diesen so unmenschlich geschlagen worden war.

August war noch sehr jung, aber er war immer ein ziemlich lüderlicher Bursche gewesen. Als Franz den Verein der unverheiratheten Fabrikarbeiter bildete, war August nebst einigen Wenigen der jungen Leute nicht mit dazu getreten, weil sie es für eine lächerliche Zumuthung erklärten, dem Genuß des Branntweins und dem Kartenspiel zu entsagen. Am Tage nach jenem Vorfall aber war August zu Franz gekommen und hatte ihm für seinen Beistand gedankt, für diesen Beistand, welcher eigentlich in Nichts bestanden hatte, als im Hinauswerfen. Franz hatte ihn sehr kalt und ernst empfangen; sie hatten folgendes Zwiegespräch gehabt:

Du hast falsch gespielt, also betrogen, sagte Franz; das ist in allen Fällen ein schweres Vergehen und eine große Schlechtigkeit; allein durch den besondern Fall wird dieses Thun noch verächtlicher, als es schon ist. Du hast Diejenigen betrogen, welche die Verhältnisse zu Deinen Kameraden gemacht haben und in welchen Du Deine Brüder lieben solltest; Diejenigen, welche eben so arm sind wie Du und sich ihr Geld eben so sauer verdienen müssen Du weißt es, wie viel Mühe und Schweiß an dem Gelde hängt, welches ein Fabrikarbeiter in seiner Tasche trägt,7 und Du hast es ihnen doch betrügerisch abgenommen; Du hast Denjenigen ihr armseliges Eigenthum schmälern wollen, welche davon ihre nothleidenden Frauen und ihre elenden Kinder ernähren müssen Du hast Dich also auch an diesen hilflosen und hilfsbedürftigen Geschöpfen versündigt. Wahrlich, wenn ich Dich der verdienten Züchtigung der Kameraden entzog, an welchen Du so himmelschreiendes Unrecht begangen, so war es nur, weil ich fürchtete, die Trunkenen mögten Dich in ihrer blinden, tollen Wuth noch todtschlagen und dadurch sich selbst mit zu Verbrechern und Strafwürdigen machen das wollte ich ihnen ersparen und so half ich Dir zur Flucht.

Du sprichst härter, als Du denkst, sagte August; ich weiß wohl, daß die leichtsinnigen Streiche, wie ich sie mir wohl zuweilen und auch gestern habe zu Schulden kommen lassen, ein Gräuel sind, aber ich weiß eben so gut, daß Du jene Rohheiten verachtest, welche sich die Andern gegen mich erlaubten, und daß Du mich ihnen eben so gut aus angebornem Edelmuth entzogst, als aus kluger Voraussicht der Dinge, welche daraus entstehen konnten. Ja, Franz, ich gebe wohl denen Recht, welche Dich einen gescheiten Kerl nennen, aber ich habe ihnen mehr als ein Mal geantwortet: sein Herz ist noch größer, als sein Kopf.

Ich sehe nicht ein, warum Du mir schmeicheln willst

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Ich rede nur unbefangen Alles heraus, was ich denke, ich habe Dich immer lieb gehabt

Und wenn das wäre warum hast Du die Verbindung verhöhnt, welche ich mühsam mit unsern Genossen zu Stande gebracht habe, warum bist Du nicht mit dazu getreten, sondern hast es uns sogar erschwert, wie Du nur konntest? Versuche nicht, Dich herauszureden, denn ich weiß Alles!

Alles weißt Du nicht, und um Dir dies zu erzählen, bin ich eben hergekommen, mein Geständniß soll mein Dank sein. Du wirst bald sehen, daß ich, wenn ich zu Eurer Verbindung getreten wäre, eine viel größere Schlechtigkeit begangen hätte, als dadurch, daß ich mich weiter nicht mit Euch einließ.

Das ist eine sonderbare Rede und wenn Du vielleicht auch im Lügen geschickt sein solltest, wie Du es gestern im Betrügen warst, so bitte ich Dich doch, mich damit nicht unnütz aufzuhalten.

Du wirst es bald bereuen, wenn Du mich zum Zorne reizen willst, aber ich werde Dich beschämen, indem ich Dir ruhig die Wahrheit erzähle. Ich war mit Anton eines Sonntags in die Stadt gegangen, es war vor ein paar Monaten, als Du uns immer zu dem Arbeiterverein Vorschläge machtest, die Sache aber noch nicht zu Stande gekommen war. Wir saßen in einer Bierstube, in welcher9 sich noch viele Arbeiter aus andern Fabriken befanden, auch manche Bürger und andere Leute, welche sich wohl noch etwas mehr dünkten. Ein langer, dürrer Mann, der mir zu diesen Letztern zu gehören schien, kam auf uns zu, nachdem ich gesehen hatte, wie ein anderer Arbeiter, der nicht mit bei Felchner ist, aber Anton kannte, auf diesen den dürren Mann aufmerksam gemacht hatte. Er fragte uns, ob wir in Felchner’s Fabrik arbeiteten, und als wir bejahten, fragte er uns nach Tausend Dingen aus, wie Viel wir ihrer wären, ob wir untereinander zusammenhielten, ob wir im Ganzen zufrieden oder unzufrieden wären. Wir sagten ihm unbefangen die Wahrheit, daß wir Alle fleißige Arbeiter wären, aber doch wenig verdienten, und daß besonders es erbarmungswürdig sei, wie man die Kinder behandele. Er schien sehr mitleidig zuzuhören und fragte weiter, ob wir Nichts thäten, dieser Noth abzuhelfen, oder ob wir nicht unsere Unzufriedenheit aussprächen. Da sprach Anton von dem Vereine der unverheiratheten Arbeiter, welchen wir bilden wollten. Wie Jener das hörte, nahmen seine Augen einen ganz eigenen Ausdruck an, halb wie vor Schreck, halb wie vor Freude. Dem ungeachtet fragte er nicht weiter danach, sondern ließ sich nur von unsern Familienverhältnissen erzählen, ich sprach von meiner armen, kranken Mutter Anton war sehr verdrießlich, weil er im Schafkopf seinen letzten Groschen verloren10 hatte und nicht wußte, was er darauf antworten sollte, als der Wirth die Zeche verlangte. Kaum sah dies der dürre Mann, als er für Anton bezahlte und uns noch Jedem ein großes Glas Schnaps geben ließ. Er sagte, daß Diejenigen, welche uns zu einem Vereine bewegen wollten, wo wir sogar dem Branntwein entsagen sollten, unmöglich uns wohl wollen könnten, und daß alle solche Vereine für uns höchst lästig und gefährlich werden könnten, wir hätten ja dann gar keine Freiheit mehr, wenn wir nicht einmal mehr trinken, spielen und in die Schänke und herausgehen dürften, wenn wir Lust hätten. Nachher sagte er, wir mögten nur bald wieder kommen, wir gefielen ihm, er käme jeden Sonntag an diesen Ort und er würde sich freuen, uns zu treffen. Ich war einmal hinausgegangen, während dem hatte er mit Anton heimlich gesprochen, wie ich wohl merkte, denn während ich nun, aufgehetzt von Jenem, ganz gegen den Verein war und es dann Dir und Allen offen sagte, auch wegblieb, sagte Anton: ich trete dazu, sonst weiß man ja gar nicht, wie es dabei hergeht. Am nächsten Sonntag beredete mich Anton, wieder mit hin in die Schänke zu gehen, wo wir den langen, dürren Mann getroffen hatten er war auch richtig wieder da, er gab mir Geld für meine arme Mutter, und Anton gab er auch welches. Er sagte, wir sollten nun wenigstens alle vier Wochen in die Schänke11 kommen, wo wir ihn treffen würden, und ihm aufrichtig erzählen, was etwa unterdeß in unsrer Fabrik und unter uns Arbeitern vorginge; es wäre zu unser Aller Vortheil, zum Vortheil der ganzen arbeitenden Classen, besonders aber solle es unser Schaden nicht sein. Die Sache schien uns auch gar nicht so übel, besonders da wir aufgeregt waren und es wenigstens in meinem Kopfe nicht mehr ganz klar herging, denn er ließ uns sehr viel Branntwein einschänken. Dennoch fragte ich ihn, wer er sei, und warum er sich so um unsre ganzen Angelegenheiten bekümmerte? Er nannte sich Stiefel und daß er das nur aus menschenfreundlichen Absichten thue, weil ihm unsere Lage am Herzen liege und es nothwendig sei, daß er darüber alle mögliche Notizen sammele, dann könne er vielleicht durch Schrift und Wort dazu beitragen, unsere Lage zu verbessern. Wie wir nun das nächste Mal wieder beisammen waren, gestern, nannte ihm Anton Deinen Namen und gab ihm das Buch Erzählungen aus dem armen Volke, welches Du geschrieben und nach der Aufschrift allen Menschenfreunden gewidmet hast. Stiefel nahm es mit derselben sonderbaren Miene, mit welcher er damals die Erzählung von der Bildung Eures Vereins anhörte und rief: Ein Fabrikarbeiter, der solche Sachen schreibt, ist ein entsetzlicher Mensch, nun, dessen wird man sich bald zu bemächtigen wissen hier habt Ihr noch mehr12 Geld und wer mir von Euch noch Etwas von seinen Schreibereien bringt, der erhält das Dreifache aber wo möglich Ungedrucktes, Papiere, die er geheim hält. Da ging mir plötzlich ein Licht auf, ich ward zornig, ich warf ihm das Geld in’s Gesicht und sagte, ich bin kein Judas, der seinen Bruder an einen Elenden verräth, der vielleicht die Macht hat, ihm Uebles zu thun und damit lief ich schnell fort aus der Stube, aus der Schänke, aus der Stadt gerade Wegs heim. Da fand ich meine kranke Mutter hungernd und frierend und sie machte mir Vorwürfe, daß ich ihr kein Geld mitbringe, wie früher ich konnt es nicht ertragen, sie so vor mir zu sehn, bittend und fluchend, matt vor Hunger und Frost, wimmernd unter unsäglichen körperlichen Schmerzen ich war noch trunken, es kochte in mir vor kalter, stiller Wuth ich ging in unsre Schänke ich spielte falsch es war ja nicht für mich, es war für meine Mutter ich spielte auch erst falsch, als ich sah, daß ich anders nicht gewann, denn ich dachte, ich wär es in der Stunde wohl werth gewesen zu gewinnen, wo ich den Versucher von mir abgeschüttelt hatte wie eine giftige Schlange, die mich schon umringelt hatte. Nun weiß ich Alles, und wenn ich mit in Euren Verein treten könnte nun thät ich’s gern.

Sie werden Dich jetzt nicht aufnehmen, sagte Franz, der mit wachsendem Interesse seinen Bericht angehört hatte. 13 Komm aber nächste Mittwoch mit mir hin, wir wollen sehen, was sich thun läßt.

Franz hatte für diesen Abend Wilhelm und einige der vertrauteren Freunde auf das, was er unterdeß erfahren, vorbereitet, und August war dann aufgefordert worden, sein Geständniß noch ein Mal zu wiederholen. Er hatte es gethan, Alle waren nun wüthend auf Anton geworden dieser aber hatte mir ruhiger Miene August’s Aussage bestätigt, aber es Allen zugeschworen, daß er Stiefel wirklich für einen Menschenfreund gehalten, der ihr Bestes wolle, daß er ihm auch in diesem Vertrauen Thalheims Buch gegeben habe, daß ihm aber mit August zugleich die Augen aufgegangen wären, als man eine Schlechtigkeit von ihnen verlangt habe, und er auch, nachdem er Stiefel noch tüchtig die Wahrheit gesagt, die Schänke verlassen habe. Er suchte sich aus Allem herauszureden und man konnte ihn nur dafür bestrafen, daß er Branntwein getrunken habe, und unterwarf sich auch reumüthig der üblichen Strafe. August versprach man erst dann in den Verein aufzunehmen, wenn er einige Wochen lang dem Spiel und Branntwein entsagt und sich überhaupt ordentlich aufgeführt habe. Diese Probe hatte er bestanden und er ward nunmehr gern unter ihnen gesehen. Um dem Herrn Stiefel näher auf die Spur zu kommen, hatten sich an mehrern Sonntagen Franz oder Wilhelm mit August oder Anton selbst zur14 Schänke in der Stadt begeben wo er gewöhnlich sich eingefunden hatte, aber sich niemals wieder sehen ließ. Auch der Wirth, welcher übrigens versicherte, gar Nichts als den Namen von ihm zu wissen, sagte aus, daß er seit jenem Sonntag sich nie wieder eingestellt habe. Man sah sich genöthigt, diese Sache auf sich beruhen zu lassen, da alle Bemühungen fruchtlos geblieben waren.

An dem Maiabend, an welchem August sich zu Wilhelm und Franz gesellte, sagte er zu den beiden Freunden:

Ihr könnt Euch darauf verlassen Stiefel ist da.

Stiefel Du hättest ihn gesehen?

Saht Ihr nicht auch den Einspänner, der vorhin auf der Straße nach Hohenheim fuhr und den langen dürren Mann drinnen? Das war er.

Was kann er nur wollen? sagte Wilhelm.

Wenn Du Deiner Sache gewiß bist, warum sagst Du es erst jetzt und theiltest es nicht oben Allen mit? fragte Franz.

Weil ich dem Anton nicht traue, sagte August ernst.

Das ist nicht schön von Dir, Dein ewiges Mißtrauen, versetzte Franz. Sieh, Du bist gar nicht besser gewesen als er, wir haben Dir Alles vergeben und vergessen, Niemand beargwohnt Dich, und Du allein willst Anton, der wie Du nur getäuscht worden ist und dann auch15 richtig bekannt hat, noch verdächtigen. Geh, das ist ein häßlicher Zug, den mögte ich nicht bei Dir finden!

Weil ich allein den Anton kenne murmelte August.

Lass das alte Lied! meinte Wilhelm. Und wenn nun auch Gefahr hat’s ja doch nicht, sind wir denn etwa auf unrechten Wegen, daß wir Verräther zu fürchten hätten? Ist denn unser Verein eine geheime und gefährliche Verbindung? Weiß nicht Jedermann darum? Und hat denn nur Herr Felchner das Geringste dagegen einwenden mögen und können? Und ich dächte doch, weiter ginge die Sache Niemandem Etwas an.

Aber Franz hat wieder ein Buch geschrieben: Die Rechte des Armen den Verzweifelnden gewidmet. Mir ist vor ihm bange, antwortete August, mir ist als könne daraus noch Unheil für Dich kommen, obwohl ich gerade nicht recht begreife, wie aus einem Buche irgend etwas Gefährliches entstehen könne. Aber mir ist innerlich angst.

Das lass Dich nur nicht kümmern, sagte Franz ruhig, mein Buch enthält Nichts als eine Schilderung von dem Loose der Fabrikarbeiter, wie es Jedermann kennt, der nur irgend einmal aufmerksam in einer Fabrik sich umgesehen hat. Ich habe nicht das Geringste übertrieben, bin nirgends von der Wahrheit abgewichen, habe überhaupt gar Nichts gethan, als einfache Thatsachen geschildert. Aufmerksam sollen die Leute werden auf unsere16 Noth, das ist es ja, was ich damit bezwecke. Wenn noch andere Leute, als die Fabrikherren, welche von unserm Elend sich mästen und welchen es deshalb freilich nicht sehr erwünscht sein mag, daß es allgemein bekannt wird, wie sie uns behandeln wenn also noch andere Leute von unserm Elend hören, so werden weise Gesetzgeber und gerechte Regierungen uns doch vielleicht ein besseres Loos verschaffen. Ich denke von den Menschen nicht so gering. Ich glaube, vieles Schlimme und Unheilvolle besteht nur deshalb in der Welt, weil allein Diejenigen, welche darunter leiden, es kennen, den Andern es aber fremd bleibt und daher sie, welche die Macht und gewiß auch den Willen hätten zu helfen nur eben deshalb nicht mit ihrer Hilfe kommen, weil sie gar nicht wissen, daß man ihrer bedarf und wie viel es zu helfen giebt!

Wilhelm versetzte: Du hast immer noch gutes Zutrauen zu den Menschen, ein viel besseres als sie verdienen unsre täglichen Erfahrungen könnten Dich eines Andern überzeugen.

Nun, wir werden ja sehen, wer von uns Recht behält. In meinem ersten Buche habe ich mich nur an die Menschenfreunde gewendet, in meinem zweiten an die Verzweifelnden ich denke, man muß es mit Beiden versuchen! sagte Franz.

Ja, rief Wilhelm, vielleicht helfen die Menschenfreunde, wenn sie einsehen, daß sie es außerdem mit Verzweifelnden zu thun haben.

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August schüttelte den Kopf und sagte: Auf alle Fälle ist es doch besser, wenn Ihr auch meint, daß uns Stiefel nicht schaden kann, wir suchen dahinter zu kommen, wer und was er eigentlich ist und was er will; aber nur wir Dreie, denn von den Andern sind einige täppisch und geschwätzig, sie könnten Alles verderben. Das ist mein erster Vorschlag und mein zweiter, daß wir jetzt ein wachsames Auge auf Anton haben.

Um ihn vor ungerechten Beschuldigungen zu sichern, sagte Franz etwas aufgeregt und fügte gelassener hinzu: Mit Deinem ersten Vorschlag bin ich einverstanden.

Ich auch, sagte Wilhelm. Ueber Nacht kommt guter Rath, wir wollen’s beschlafen.

Nun denn gute Nacht, erwiderte August, und Du, Franz, sei nicht böse. Bei Gott, Franz, wenn ich minder Dein Freund wäre, würde ich auch minder bedenklich sein!

Franz drückte ihm die Hand. Es ist gut, Du bist ein braver Junge geworden gute Nacht!

August schlenderte der Hütte zu, in welcher seine alte Mutter krank lag, und verschwand in der Thüre.

Es ist ein guter Junge , wiederholte Franz; seitdem er sich aus seinem unordentlichen Leben herausgerissen hat, ist Keiner fleißiger und im Guten beharrlicher, als er.

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Bei Alle dem bin ich froh, daß er nicht länger mit uns ging, sagte Wilhelm, ich habe noch Etwas mit Dir allein zu reden es hat mir schon lange auf dem Herzen gelegen und muß nun endlich einmal herunter.

Wir wollen ein Stück in diese Allee gehen und uns dort auf der Steinbank unter der Linde ein Wenig niedersetzen, gab Franz an.

Als sie sich gesetzt hatten, begann Wilhelm: Du bist seit einiger Zeit verändert wenn wir Alle beieinander sitzen und unter Gesang und harmlosen Reden uns von den Mühen des arbeitvollen Tages erholen so bist Du oft still und zerstrent, und wenn wir Dich aufmuntern, so fährst Du wie im Traume auf und besinnst Dich endlich, wo Du bist. Das Loos der unglücklichen Brüder hat Dir immer Kummer gemacht, das Elend, das Dich umgiebt, hat immer an Deinem theilnehmenden Herzen gefressen. Ein Dichter, der noch andere Träume, ein Schreibender, der noch andere Dinge zu denken hat, als wir andern nüchternen Menschenkinder, bist Du immer gewesen allen diesen Dingen kann man Deine Veränderung nicht zuschreiben auch bist Du ja nicht immer traurig zuweilen glänzt Dein Auge in lauter stiller Freude. Ach! Ich weiß recht gut, was allein über einen Menschen solche Macht hat.

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Franz sah stumm vor sich nieder und scharrte mit seinen Füßen im Sande.

Wilhelm fuhr fort: Franz! Du gehst oft in Herrn Felchners Haus und wenn Du zurück kommst

Wilhelm! Wilhelm! rief Franz mit einem flehenden Tone, als wolle er sagen, schone mich! fügte dem Ruf aber weiter Nichts hinzu; doch Wilhelm fuhr dumpf fort:

Ich verstehe Dich wärest Du weniger verschlossen gewesen wer weiß, es wäre dahin nicht gekommen, es wäre mir leichter geworden, sie zu fliehen hättest Du nicht geschwiegen es wäre besser gewesen ja wohl, wäre besser gewesen!

Wilhelm um Gottes Willen Du auch Du auch?

Ja, ich habe sie auch lieb, wie ich noch kein anderes Mädchen geliebt, ich habe sie so lieb, wie sie irgend Jemand lieb haben kann, so lieb wie Du!

Wilhelm! Du sprichst es aus, Du wagst es was ich niemals wagte, niemals gewagt haben würde? Mir ist, als faßtest Du mit einer ruhigen festen Hand nach meinem Herzen, rissest es mir aus der Brust und sprächest kalt, indem Du es mir vor die zuckenden Augen hieltest: so sieht Dein Herz aus Du Frevler!

Es muß sein Du oder ich! Ich habe Dir Freundschaft geschworen bis in’s Grab wir dachten damals nicht, daß ich Dir meinen Eid bewähren müßte20 am Grabe meiner Liebe. Franz, ich entsage ihr, sobald ich nur weiß, daß Du ihr Deine Liebe gestanden.

Franz fiel ihm ins Wort: Wie dürft ich das wagen?

Aber Wilhelm fuhr ununterbrochen fort: Sobald ich nur weiß, daß sie gern Dein ist

Bist Du von Sinnen? rief da Franz außer sich. Wie kannst Du von Deiner Entsagung sprechen? In dem Sinne, wie Du das Wort meinst da müssen wir ja Beide entsagen! Wie kannst Du mich für so frech, so anmaßend halten, daß ich diesem Engel gegenüber ein Wort der Liebe auszusprechen wagte? Und verstummt nicht jedes schmerzliche Gefühl, das mich fern von ihr zuweilen überfällt, sobald ich ihr gegenüber stehe, ihr folge? Dann fühle ich weiter Nichts, als das unaussprechliche Glück, diese sanfte Heilige unsre unglücklichen Brüder segnen zu sehen, und in ihren Augen die Thräne des Mitleids zu erblicken für die leidenden Armen und dann fühle ich nur Dank gegen Gott, daß er, der in ihrem Vater uns einen Tyrannen, uns in ihrer Tochter doch zugleich einen hilfreichen Engel sandte.

Staunend rief Wilhelm: Vater Tochter von wem sprichst Du denn? Wer ist Friederikens Vater?

Friederike? rief Franz in gleich staunendem Tone. Friederike Du liebst Friederiken? Und wie er21 erkannte, daß nur ein Mißverständniß ihm das selbst nur leise geahnte Geheimniß seines Herzens entrissen, lehnte er sich zurück an die Linde, drückte wider ihre rauhe Rinde seine heiße Stirn, wie um sich zu verbergen, und flüsterte: Vergiß, was Du mich hast sagen hören!

Du liebst Friederiken nicht aber Du kennst sie, Du sprachst sie oft noch gestern sah ich Dich bei ihr stehen es preßte mir schier das Herz entzwei.

Ihre Herrin hat sie lieb, es ist ein gutes Mädchen und wenn Du sie liebst, wird sie Dich, denk ich, wieder lieben und Ihr werdet glücklich zusammen sein. Und Du hast gedacht, ich stände dieser Liebe und diesem Glück entgegen?

Nun ja ich wußte, wie die Liebe thut wußte es nur gar zu gut, darum verstand ich Dein verändert Wesen, das den Andern ein Räthsel und da ich wohl sah, daß Deine Augen leuchteten, wenn Du in das Wohnhaus des Fabrikherrn gingst, so wußt ich, daß Du dort die finden müßtest, welche Du liebest nun versteh ich es anders das hatte ich nicht denken können! Vielleicht werde ich einst glücklich sein und Du? Armer Freund!

Nein, nicht arm! sagte Franz sich aufrichtend. Sie wird mich nie aus ihrer Nähe verbannen, sie wird mich immer dazu wählen, den Segen auszuspenden, welchen sie für die Nothleidenden hat, Sie wird mich22 zuweilen freundlich ansehen, wenn ich im Vertrauen auf ihre Großmuth in ihrem Namen gehandelt habe ich werde glücklich bleiben, wie ich es geworden bin, seitdem ihre Erscheinung verklärend hereintrat in mein Leben. Komm, Wilhelm, wir wollen ruhig nach Hause gehen und schlafen und von ihnen träumen.

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II. Haussuchung.

Auf des Lagers Kissen schlummert
Kalt die lieblichste der Leichen.
F. Freiligrath.

In der Residenz, in der Stube Amaliens, der Gattin Gustav Thalheims, stand ein kleiner schwarzer Sarg.

Eine schöne blasse Kinderleiche lag darin im weißen Sterbekleidchen, einen Rosenkranz in den blonden Locken die ganze kleine Gestalt zur Hälfte mit Blumen überdeckt.

Die kleine Anna war gestorben. Amalie kniete an dem Sarge ihres einzigen Kindes.

Der Schmerz einer Mutter ist riesengroß und meerestief, wie kaum ein zweiter in der Welt. Fast jede Mutter, die ein todtes Kind beweint, wird zu einer heiligen mater dolorosa, vor welcher selbst jeder Fremde in ehrfurchtsvoller Ferne stehen bleibt. Eine heilige Würde ist in dem Schmerz einer Mutter, welche an das Wehe denkt, unter24 dem sie das Kind geboren, welches nun wie ein Theil von ihr selbst losgerissen worden und dem Grabe verfallen ist, während sie doch unter den Tausend Dolchstichen, unter welchen ihr blutendes Herz zuckt, noch beten kann: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen sein Name werde gepriesen.

In Amaliens Schmerze war das Gepräge dieser ehrwürdigen Heiligkeit verdunkelt. Erst jetzt, als ihr das anvertraute Kleinod für immer entrissen war, begann sie zu empfinden, welches Glück sie in demselben besessen, und es traf sie als ein entsetzlicher Vorwurf ihres eigenen Innern, daß sie das Kind nicht mit wahrer Mutterzärtlichkeit geliebt, weil es das Kind eines ungeliebten Vaters war. Und so war denn ihr Schmerz eine anklagende Verzweiflung, denn sie sagte sich selbst, daß ihr das Kind vielleicht nicht genommen worden wäre, wenn sie ihm eine bessere, zärtlichere Mutter gewesen; ja, sie machte sich selbst den Vorwurf, vielleicht auf eine leicht verletzte Gesundheitsregel nicht genug geachtet zu haben und dadurch selbst sogar vielleicht mit Theil an der schnellen und so unheilvollen Krankheit zu haben. So brachte ihr der Schmerz nicht den heiligen, stärkenden Thau frommer Ergebung und Erhebung, sondern nur verwundende Stacheln, welche sie sich selbst wie im grausenhaften Spiel wechselnd in ihr blutendes Innere stieß und herausriß.

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Als sie jetzt in dieser Stimmung an dem kleinen Sarge stand, in welchem in wenig Stunden ihr die schwarzen Träger auf immer ihr einziges Kind, ihr bestes Besitzthum forttragen würden, ging die Thüre auf und ein junger Mann in der grünen Uniform eines gemeinen Soldaten trat herein. Er war groß und schlank gewachsen, hatte lichtbraunes, lockiges Haupthaar und langen Schnurrbart ein freundliches offenes Gesicht, das Munterkeit und Gutmüthigkeit zeigte. Erschrocken blieb er zwischen der Thüre stehen, als er sah, daß er in die Engelkammer eines verblichnen Kindes gekommen dann ging er auf Amalien zu, nahm ihre abgezehrte Hand, schüttelte sie treuherzig und sagte, indem eine helle Thräne auf seinen Schnurrbart rollte:

Das ist ein sehr trauriger Empfang, Frau Schwägerin! Kennst Du mich denn noch? fügte er nach einer Weile hinzu, wo sie wortlos dagestanden und ihm mechanisch ihre Hand überlassen hatte.

Ja, Bernhard, sagte sie. Es ist gut, daß Du mich nicht vergessen hast und mit zu mir kommst, es ist gut Du darfst doch wohl meiner Anna das letzte Geleit mit geben?

Ja, ich will’s sieht wie ein Engel aus, das arme Kind, sieht wahrlich dem Vater ähnlich. Der Eingetretene, der dies sprach, war Bernhard Thalheim,26 der jüngste der drei Brüder. Er war unter die Soldaten gegangen, weil er kaum wußte, was er sonst hätte ergreifen sollen. Er sah den Brüdern ähnlich, aber seine Gesichtszüge hatten nicht den schwärmerischen, ernsten Ausdruck jener Beiden, er sah freundlicher, wenn man so sagen kann, einfach-gutmüthiger, aber auch ungleich unbedeutender aus, als sie. Er hatte ein vortreffliches Herz, aber seine geistigen Fähigkeiten, wenn er sie gleich den Brüdern besaß, hatten doch nur eine höchst untergeordnete Ausbildung erlangt er schien aber damit glücklicher zu sein als Jene, denn, wie gesagt, sein ganzes Ansehen zeigte von einem heitern, lebensfröhlichen Charakter.

Weiß es der Bruder schon? fragte er jetzt leise mit betrübtem Tone.

Amalie schüttelte das Haupt und sah starr vor sich nieder.

Es wird ihn sehr erschüttern! seufzte Bernhard.

Schreib Du es ihm ich kann es nicht! ächzte sie.

Ein trauriges Geschäft aber wenn du willst nun da will ich es Dir schon zu Liebe thun, glaub es wohl, daß es Dir schwer wird zu schreiben.

Es ist, als habe Dich mir der Himmel zur Hülfe, zur Erleichterung hergeschickt daß Du gerade jetzt kommen mußtest.

Ja, unser ganzes Bataillon ist hierher versetzt worden27 ich bleibe nun hier es ist doch Schade, daß Gustav nicht mehr da ist.

Sie hörte nicht weiter auf ihn, denn sie lauschte auf ein Geräusch von Tritten, die unten im Hausflur klangen dann die Treppe heraufkamen nun immer näher und näher die Thüre ging auf sie stellte sich vor den Sarg, legte sich mit dem halben Leib dar auf, schlang ihre Arme darum und rief außer sich: Sie dürfen nicht, sie dürfen nicht!

Die schwarz gekleideten Träger waren eingetreten die Leichenfrau war ihnen gefolgt sie ergriff den schwarzen Sargdeckel mit den versilberten Zierrathen.

Ein junges Mädchen mit blondem Haar trat ein und zog Amalien sanft von dem Kinde auf helle Thränen fielen dabei aus den Augen des Mädchens. Kommen Sie mit herauf, arme Frau, bat es, hier können Sie doch nicht bleiben.

Ich kann nicht fort! sagte sie mit herzzerreißendem Schrei und sank an dem Sarge ohnmächtig zusammen. Das Mädchen kniete neben sie und legte das bleiche Haupt der unglücklichen Mutter auf ihren Schoos, indem sie leise sagte:

Es ist am Besten, wenn sie bewußtlos ist nun eilt, daß Ihr die Leiche hinausbringt, ehe sie wieder zu sich kommt.

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Die Träger befolgten den Rath, Bernhard selbst drückte den Sargdeckel darauf; weil die Leute ihn hastig und geräuschvoll aufhoben, nahm er ihn ihnen ab, damit es ohne Lärm geschehe; das Mädchen dankte ihm dafür mit einem innigen Blick. Wie aber die Träger den Sarg zur Thüre hinaustrugen, stießen sie damit wider die Pfoste es klang hohl und dumpf dieser Ton brachte Amalie wieder zu sich, sie verstand ihn schrie auf, wollte nachspringen, aber die Thüre war in’s Schloß geworfen; das Mädchen zog Amalie mit sich auf das Sopha, wohin Amalie, ohne ohnmächtig zu sein, aber wie vor Verzweiflung erstarrt sich ziehen ließ und regungslos sitzen blieb.

Die beiden Frauen waren allein.

Eine Stunde mogte vergangen sein, wo sie so stumm und unbeweglich nebeneinander gesessen hatten.

Amalie hatte ihr Logis, das sie früher mit ihrem Gatten bewohnt, mit einem kleineren in der Vorstadt vertauscht. Das Mädchen, welches bei ihr saß, war die Tochter des Hauswirthes, eines Korbmachers und hieß Auguste. Sie hatte ihrer einsamen Hausgenossin getrenlich beigestanden bei der Pflege des kranken Kindes sie hatte auch in den herbsten Stunden des Leides die Unglückliche nicht verlassen. Sie fühlte wohl, daß sie keinen Trost für sie hatte, aber sie wollte sie ihrer Verzweiflung nicht allein überlassen. So saß sie auch jetzt still weinend29 neben ihr und hatte ihre Arme um die im Schmerz wie Erstarrte geschlungen.

Ein starkes Pochen an der Thüre schreckte sie auf von den marternden Gedanken, welche sie sich so lange überlassen hatten.

Es wird mein Schwager sein, sagte Amalie tonlos. Er wird wieder zurückkommen es wird nun Alles vorbei sein!

Auguste stand auf und öffnete die Thüre; befremdet trat sie einen Schritt zurück ein fremder, langer, dürrer Mann stand draußen hinter ihm ein Polizeidiener.

Zu wem wollen die Herrn? fragte Auguste schüchtern, bestürzt.

Wohnt hier nicht die Frau des Doctor Thalheim? fragte der Lange.

Dort ist sie sagte Auguste.

Amalie blieb ruhig sitzen: Ich habe Alles angezeigt, alle Gebühren entrichtet.

Sie haben schon Alles angezeigt, Frau Doctorin? sagte der Lange verwundert, aber vor Freuden schmunzelnd. Desto besser, dann werden Sie sich die Behörden zu großem Danke verpflichtet haben. Plötzlich mäßigte er sich jedoch in seiner Freude und sagte: Allein, wenn ist dies gewesen man würde mich sogleich davon unterrichtet haben.

30

Vor drei Tagen, in derselben Stunde, wo sie gestorben war, wie es das harte Gesetz will.

Der Lange und der Polizeidiener sahen einander unbeschreiblich albern an und schienen sich schweigend zu befragen. Endlich sagte der Lange zu Amalien: Aber wovon sprechen Sie denn eigentlich?

Mein Gott! Sie fragen noch wovon ach, wovon! und sie schrie laut auf und verfiel in Zuckungen.

Auguste eilte zu ihr und sagte zu den Männern: Aus Barmherzigkeit, schonen Sie die Unglückliche sie spricht von ihrem einzigen Kinde, das man so eben begraben hat.

Die Beiden sahen sich einander verdutzt und albern an, wie vorher.

Das ist ein sehr übler Zufall, sagte der Lange verdrießlich.

Was wollen Sie noch ist nicht Alles in Ordnung? fragte Amalie, sich wieder aufrichtend, nach einer Pause, während welcher die Beiden mit ihren Blicken ringsum das Zimmer gemustert hatten.

Wir sind nicht deshalb gekommen, sagte der Lange. Wir sind gekommen, einige Fragen an Sie zu richten, welche sie uns gefälligst beantworten werden.

Amalie schwieg.

Zuerst, fuhr Jener fort: Ihr Mann hat einen Bruder, welcher Franz heißt?

Ja!

31

Er ist Arbeiter in der Fabrik des Herrn Felchner bei Hohenthal?

Ja!

Er ist diesen Morgen bei Ihnen angekommen?

Nein!

Nein? Leugnen Sie nicht es wird Ihnen Nichts helfen, die Polizei täuscht man nicht so leicht.

Ich habe keinen Grund Etwas zu leugnen, das meinen Mann und seine Brüder betrifft, sagte Amalie beleidigt. Er hat zwei Brüder, sein jüngster Bruder Bernhard ist gestern Abend mit dem Militär hier angekommen, bei dem er steht, und vorhin bei mir gewesen jetzt hilft er mein Kind begraben und bei den letzten Worten ward ihre Stimme wieder undeutlich und sie versank wieder in ihren Schmerz.

Die Beiden machten wieder ihre betroffenen und verdutzten Gesichter.

Auguste zeigte als nächsten Beweis auf Bernhards Soldatenmantel, welchen derselbe zurückgelassen hatte.

Sie kennen aber Ihren Schwager, den Fabrikarbeiter Franz Thalheim?

Er ist nur ein Mal vor drei Jahren ein paar Tage hier gewesen.

Das ist wunderlich.

Gar nicht denn die armen Fabrikarbeiter haben32 kein Geld, das sie verreisen könnten, um ihre Angehörigen zu besuchen.

Der Lange flüsterte dem Polizeidiener zu: Das ist eine bedenkliche Aeußerung, sie ist also auch schon angesteckt, wir müssen vorsichtig sein wer weiß, gelangen wir hier nicht zu überraschenden Resultaten dann fuhr er laut fort, gegen Amalien gewen det: Sie stehen im Briefwechsel mit diesem Schwager?

Nein.

Aber die Brüder pflegten einander zu schreiben?

Das ist natürlich.

Ihr Mann schreibt Ihnen oft?

Das ist ebenfalls natürlich aber mein Herr, ich sehe nicht ein, warum sie mich hier wie eine Delinquentin verhören, und zwar über Familienangelegenheiten, über welche man durchaus Niemand Rechenschaft schuldig ist sagte Amalie schnell und ziemlich heftig.

Wer mir das Recht giebt? sagte der Lange. Die Polizei und er wies auf den Polizeidiener.

Frau Doctorin, sagte dieser, Sie werden sich in die Fragen und Anordnungen des Herrn Polizeicommissairs fügen.

Dieser trat jetzt zu dem Pulte, an welchem der Schlüssel steckte und öffnete es.

33

Mein Herr! Was fällt Ihnen ein? rief Amalie außer sich und sprang auf.

Keine Widersetzlichkeit! mahnte der Polizeidiener und hielt sie am Arme.

Fremde Männer kommen in mein Haus und forschen nach meinen Familienangelegenheiten bei einer armen hilflosen Frau, deren Mann abwesend ist und sie beschützen könnte deren einziges Kind man begrub, jammerte sie. Auguste weinte und sagte beruhigend:

Sie haben ja kein Unrecht zu verbergen, lassen Sie ihnen immer ihren Willen Ihr Widerstand wäre doch fruchtlos.

Der Polizeicommissair hatte jetzt ein Fach mit Briefen herausgezogen und sah sie flüchtig durch, die meisten schob er unbefriedigt auf die Seite. Es ist Keiner von Franz Thalheim darunter sagte er heimlich zu dem Polizeidiener. Das ist nur ein verdächtiger Umstand mehr, der Doctor wird diese Briefe als zu gefährlich verbrannt oder mitgenommen haben. Jetzt zog er ein kleineres Fach mit Briefen heraus, es enthielt nur diejeninigen, welche Thalheim an seine Gattin geschrieben hatte, seitdem er von ihr getrennt war.

Amalie trat wieder hinzu und sagte: Mein Herr, was zwischen Gatten verhandelt wird, gehört doch mindestens nicht vor die Augen der Polizei

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Fürchten Sie Nichts! sagte der Commissair mit widerlichem Lächeln. Die Augen der Polizei vergessen sogleich wieder, wenn sie auch Etwas erfahren sollten, das nicht vor ihr Forum gehört nur was vor diesem Forum bedenklich und gefährlich erscheint, bewahrt ihr Gedächtniß treu und darin läßt sie sich nicht täuschen und irren.

Während er dies mit Nachdruck sagte, hatte er wie der einen Brief entfaltet und indem er ihn überflog, nahmen seine Augen einen ganz eigenen Ausdruck an, halb wie vor Schreck, halb wie vor Freude. Es war der erste Brief, welchen Thalheim an seine Gattin geschrieben, er datirte von dem Gute des Rittmeisters Waldow und die Stelle, welche solch eigenthümliches Leben in das Gesicht des Polizeicommissairs brachte, lautete:

Ich bin bei Franz gewesen ich habe die Noth und das Elend gesehen, welches dort unter den Fabrikarbeitern herrscht ach, Amalie, dieser Armuth gegenüber haben wir in beneidenswerthem Reichthum geschwelgt! Ich habe Franz das Versprechen gegeben, daß, wenn mir in meinem neuen Wirkungskreise Zeit bleibt, mich mit literarischen Arbeiten zu beschäftigen, ich auch über die Noth der Fabrikarbeiter schreiben werde. Vielleicht wird mir auf meiner Reise Gelegenheit, darüber noch anderweite Notizen zu sammeln. Franz selbst schreibt in seinen Mußestunden, aber diese einfachen Stimmen mitten heraus aus dem35 Volke werden wohl von alle Denen gehört, für welche sie laut werden, welche das geschilderte Elend theilen, aber nicht von Denen, welche es verbreiten, und Denen, welche die Macht und Pflicht haben es aufzuheben und zu lindern. Darum fiel er mir weinend um den Hals, als wir von einander Abschied nahmen und sagte: Leb wohl Du nun doppelt mein Bruder, wenn Du derselben Sache dienen willst, welcher ich mich geweiht habe!

Diesen Brief wollte der unberufene Leser erst in seine Brieftasche schieben er besann sich aber anders und notirte nur die angezogene Stelle stenographisch. In den andern Briefen fand er nichts Beachtenswerthes, außer daß er sich den jedesmaligen Ort anmerkte, von welchem aus sie geschrieben waren. Jetzt griff er nach einem kleinen hölzernen Kästchen, zwischen dessen Schluß unterhalb des Deckels ein Stückchen beschriebenes Papier hervorschimmerte. Hier sind auch Briefe darin sagte er. Das Kästchen ist verschlossen es thut mir leid aber ich muß um den Schlüssel bitten.

Das ist unmöglich, rief Amalie. Ich kann es beschwören, daß es der Polizei ganz gleich sein kann, den Inhalt dieses Kästchens zu erfahren und wenn Sie gekommen sind, um nach Papieren von Franz, von meinem Gatten in meinen Sachen herum zu spüren, so wiederhole36 ich nochmals ich will es beschwören von ihrer Hand finden Sie kein Wort in diesem Kästchen.

Dieser Eifer macht die Sache nur um so verdächtiger ich muß durchaus Sie bitten, zu öffnen.

Um keinen Preis sagte sie außer sich, aber fest.

Es thut mir leid, bemerkte darauf der Polizeicommissair mit feinem Lächeln, aber es muß sein, und ehe Amalie es nur bemerken, noch weniger verhindern konnte, hatte er ein kleines Instrumentchen aus seiner Westentasche geholt und mittelst desselben das Schloß des Kästchens geöffnet.

Aus Barmherzigkeit, rief Amalie, als sie es sah und fiel auf ihre Kniee.

Jener bemerkte es nicht sein Gesicht strahlte vor Freude und Staunen. Jaromir von Szariny! rief er leise für sich. Das ist ja der anonyme Publizist nun ist kein Zweifel mehr. Er sah die Briefe alle eifrig durch, schien aber unzufrieden mit ihren Inhalt zu sein und daß er keine mit neuerem Datum fand sie waren alle schon vor sieben Jahren geschrieben.

Ich werde Nichts ausplaudern, sagte er zu Amalien, welche Auguste wieder von der Erde aufgehoben hatte. Nur eine Frage: Sind Sie noch mit dem Grafen Szariny in Verbindung?

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Sie wandte sich tief verletzt ab und antwortete nicht.

Ich muß Sie um aufrichtige Antwort bitten es ist die letzte Frage, welche ich an Sie zu richten habe ich bedauere Ihnen lästig gewesen zu sein und wir werden uns dann sogleich entfernen es wäre vielleicht meine Schuldigkeit gewesen, einige dieser Briefe mitzunehmen, allein aus schonenden Rücksichten gegen Sie habe ich es unterlassen meine Schonung gegen Sie verdient wahrlich nicht diese Halsstarrigkeit von Ihrer Seite antworten Sie; Niemand wird es erfahren. Sind Sie mit dem Grafen Szariny noch in Verbindung?

Nein er war mein Verlobter, ehe ich in meinem jetzigen Gatten eine andere Wahl traf aber nun lassen Sie diese Qualen endigen, die Sie jetzt über mich brachten, während mein Kind begraben ward als sei dies nicht schon entsetzlich genug rief Amalie und verhüllte ihr Gesicht.

Bedauere herzlich, Ihnen lästig geworden zu sein und daß wir an solchem Unglückstage kommen mußten, sagte der Polizeicommissair mit schlecht erheuchelter Theilnahme und ging. Der Polizeidiener folgte ihm.

Amalie war schon zu sehr von dem Jammer der letzten Tage angegriffen, als daß sie sich eigentlich hätte klar darüber bewußt sein sollen, was jetzt vorgegangen war, als daß38 sie fähig gewesen wäre, nur Etwas davon zu begreifen. Sie war nur froh, daß die fremden Männer sich wieder entfernt hatten, daß sie nun wieder ungestört ihrem Schmerz um ihr verlornes Kleinod, um ihr gestorbenes Kind nachhängen konnte.

Ihr Schwager Bernhard kam wieder zurück. Er ging schweigend auf sie zu und drückte ihr die Hand sie seufzte tief und sagte dann: Ich danke Dir ist doch eine verwandte Seele dabei gewesen, ich hätt es nicht vermogt.

Ich habe die erste Hand voll Erde auf den hinabgesenkten Sarg geworfen für Dich, dann eine für Gustav, dann für mich selbst sagte er und verschlang eine Thräne.

Nun war es wieder lange stumm in dem kleinen Zimmer zwischen den drei Menschen.

Nachher stand Auguste auf, trat zu Bernhard und erzählte ihm Alles, was während seiner Abwesenheit vorgekommen war und ihr so räthselhaft und unheimlich erschien.

Ihm war es so nicht minder er verstand es gar nicht, fragte zu wiederholten Malen und ward doch nicht klüger. Endlich fuhr er heraus:

Donnerwetter! Wär ich da gewesen ich hätte die Kerle die Treppe hinunter geworfen trotz Polizei 39 nicht einmal die Spürnasen vor solchem Elend ehrfurchtsvoll ein Weilchen zurückzuziehen!

Dieser Vorfall hatte sich an dem Tage vorher ereignet, an welchem Franz Thalheim so unbesorgt war über die Ankunft des langen dürren Herrn Stiefel.

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III. Wiedersehen.

An dem hellsten Sommertag,
Unter Zweigen lichtdurchbrochen,
Bei der Lerchen Jubelschlag
Hab ich Dich zuerst gesprochen.
Betty Paoli.

Einige Wochen waren seit dem Tage vergangen, an welchem Graf Hohenthal und Rittmeister Waldow sich vergeblich bemüht hatten, Herrn Felchner zu einer kleinen Gestundung zu vermögen er war im Recht gewesen und er hatte von diesem Recht Gebrauch gemacht der Wald war ihm als Eigenthum zuerkannt worden.

Jaromir hatte eine der Hütten, welche zu der Wasserheilanstalt Hohenheim gehörten, für sich gemiethet und vollkommen Alles das ausgeführt, was er mit Waldow in Bezug auf die Heilanstalt verabredet hatte. Ehe er sich ganz in dieselbe begab, war er noch auf ein paar Wochen zurück in die Residenz gereist, um dort seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, da er vorher seine41 Abwesenheit nicht auf eine längere Dauer berechnet hatte. Zugleich benutzte er die Zeit dieses Aufenthaltes dazu, den idyllischen Aufenthalt in Hohenheim mit entzückenden und glänzenden Farben in einigen aristokratischen Zirkeln so verführerisch zu beschreiben, daß ihm beim Abschied mehr als ein Mal, und von mehr als einer Person das Wort entgegentönte: Ich denke, wir sehen uns wieder in Hohenheim.

Vollkommen befriedigt von den Resultaten dieser Wochen, vollkommen ermüdet und gelangweilt von der Gesellschaft in der Residenz, dagegen aber auch nach seiner elenden Hütte sich sehnend vielleicht auch noch verlangender nach Etwas mehr kam er in Hohenheim an.

Der Restauration der Wasserheilanstalt gegenüber, welche ein speculativer Gastwirth auf Zureden des Wasserdoctors für einen geringen Pacht übernommen hatte, befand sich eine Baute aus Brettern, welche man den Kursalon zu nennen beliebte. Er war nach vorn geöffnet, von einigen Bäumen umgeben, mit Markisen von grauer Leinwand versehen und sein Fußboden mit grobem Kies bestreut. Weiß angestrichne Lattenbänke, ebenfalls weiß gefirnißte Tische und ein Duzend Feldstühle mit Sitzen von groben Gurtbändern, dies war das Meublement dieses Salons, welcher dazu bestimmt war, daß die Kurgäste zu den Stunden in ihm sich versammelten. wo sie ein solches42 Mittelding von freier Luft und Bretterschutz gegen diese wünschenswerth fanden. In der That, ein Aufenthalt, welcher mehr als einfach war.

Jaromir hatte ihn sogar zu einem Lesesalon ge macht, indem er gefällig genug war, diejenigen Journale, welche er vermöge seiner literarischen Verbindungen zugeschickt erhielt, daselbst zur allgemeinen Lectüre auszulegen. Niemand war glücklicher als Hofrath Wispermann, in Jaromir eine so gute Acquisition gemacht zu haben, er überhäufte ihn dafür mit Artigkeiten, wiewohl es ihn im Stillen verdroß, daß der Graf durchaus seine ärztliche Behandlung, seine Bäder verschmähte.

Gleich am ersten Nachmittag nach seiner Ankunft besuchte Jaromir diesen Salon.

Der junge Waldow traf am Eingang mit ihm zusammen. Hierher ist fast mein täglicher Spazierritt, sagte er, um zugleich jeden neuen Ankömmling mustern zu können und zu erfahren, wie er die göttliche Romantik dieses Ortes findet, mit welcher Ihre Schilderungen ihn so reichlich versehen haben. Dort sitzt ja ein ganzer Klubb lassen Sie uns die Gesellschaft erst aus der Ferne in Augenschein nehmen. Lorgnetten heraus! Dort das rothbackige Gesicht des Engländers mit dem großen Mund, der die verhältnißmäßig gleich großen Vatermörder zu küssen scheint, kennen wir schon er behauptet ewig43 dieselbe stereotype Figur er sitzt allein und liest in einem Buche. Mein Himmel! Was muß der Mensch nicht Alles schon zusammengelesen haben, wenn er’s immer so treibt wie hier ich habe ihn noch niemals anders als lesend gesehen, ich kann mir ihn auch gar nicht anders vorstellen. Wie jene Wilden, welche, als sie die ersten Reiter sahen, glaubten, Mensch und Roß wären ein Wesen, so scheint mir der Engländer mit seinem Buch durchaus ein Ganzes zu bilden. Den eleganten Herrn mit den gelben Glacehandschuhen und der rothen Sammtweste kenne ich und werde Sie nachher einander vorstellen. Es ist ein Kammerjunker von Aarens, der sich nur Courmachens halber hier aufhält er ist nämlich hierher gegangen, weil er den Grafen Hohenthal kennt und eine reiche Partie beabsichtigt er ist seit einer Woche hier und schon sehr oft in dem benachbarten Schloß gewesen.

Jaromir hatte zuletzt aufmerksamer als Anfangs zugehört, den eben Besprochenen mit prüfenden Blicken gemustert und sagte jetzt ruhig: Der Mensch sieht sehr unbedeutend aus.

Was ihn aber bedeutend machen kann, ist ein alter Name, bedeutendes Vermögen und große Gunst, welche er an seinem Hof genießt. Den Herrn zwischen ihm und unsern Doctor, eben so lang und dürr wie dieser, aber mit einer so ausgesucht malitiösen Miene, kenne ich44 nicht, es muß ein neuer Ankömmling sein. Der Geheimrath von Brodenbrücker daneben hat sich bis jetzt schrecklich gelangweilt, er ist aus Gefälligkeit für seine Frau, welche vollkommnes Pantoffelregiment geltend macht, hierher gekommen, denn sie will nämlich gern in jeder Mode den Ton angeben und hat sich es deshalb nicht nehmen lassen, krank zu sein und von einem gefälligen Arzt in eine Wasserheilanstalt geschickt zu werden. Sie scheint eine sentimentale Kokette zu sein, bei welcher man sich Etwas erlauben darf. Nun kommen Sie, ich stelle Sie den Herrschaften vor, Ihr Name wird frappiren, wenn ihn nicht etwa der Doctor schon ausgeplaudert hat. Bemerken Sie wohl, welche schmachtenden Blicke die Geheimräthin auf uns wirft ich glaube, es ist ihr lange nicht so wohl geworden, die einzige Dame in einem Badeort zu sein.

Waldow trat jetzt mit Jaromir zu der Gruppe und stellte diesen vor:

Graf Jaromir von Szariny.

Der Name frappirte allerdings aber obwohl die Geheimräthin vor freudigem Erschrecken beinah in eine Ohnmacht gefallen wäre, war doch Niemand davon in gleichem Maaße betroffen, als der fremde, lange, dürre Herr. Als er Szariny’s Namen nennen hörte, nahmen seine Augen einen ganz eigenthümlichen Ausdruck an, Schreck paarte sich mit Freude. Sein ganzes Wesen schien verändert zu45 werden, er sah vor sich nieder, als beachte er den Grafen weiter nicht, aber wer ihn aufmerksam beobachtet hätte, würde gewiß bemerkt haben, wie sich seine Ohren sichtlich spitzten, als er diesen Namen hatte nennen hören.

Als Jaromir einige Worte mit dem Wasserdoctor sprach, stellte ihm dieser seinen Nachbar als: Herr Schuhmacher, Doctor Juris, vor.

Es wurden nur wenig Worte gewechselt. Diese Gesellschaft behagte Jaromir wenig, und als Waldow sich nach einem Stündchen wieder zum Nachhauseritt anschickte, brach auch er auf, ließ seine Droschke anspannen und fuhr hinauf nach dem Schloß.

Elisabeth saß auf dem Balkon, zu welchem man aus dem Gesellschaftszimmer gelangte und welcher über dem Hauptportal sich erhob. Sie war so in das Lesen eines Buches vertieft, daß sie erst, als der Wagen auf den Steinplatten des Hofes rasselte, durch das Geräusch aufmerksam gemacht wurde und hinab sah. Die Droschke hielt vor dem Haupteingang. Jaromir hatte Elisabeth längst gesehen jetzt grüßte er, als er bemerkte, daß sie aufstand und ihn gewahr ward. Sie trat von dem Balkon in den Saal er aus dem Hof in die Hausflur, Sie war ein Wenig in Verwirrung, denn ihre Eltern hatten einen Spaziergang in den Park gemacht, an dem sie nur aus zufälliger Laune nicht Theil genommen hatte. Sie wußte46 nicht, wenn sie zurückkehren würden, wohin sie ihre Schritte gerichtet hatten es war eben so gut möglich, daß sie in den nächsten Minuten, als daß sie erst nach Stunden zurückkommen würden. Sie wollte Jaromir’s Besuch abweisen lassen, aber er hatte sie gesehen und gegrüßt, sie konnte sich nicht selbst verleugnen lassen in dem Augenblick ihrer Unschlüssigkeit meldete ein Diener den Grafen.

Haben Sie gesagt, daß der Graf und die Gräfin ausgegangen sind?

Ja, zu Befehl der Herr Graf beauftragte mich, ihn bei Ihnen zu melden.

Sie sah noch einen Augenblick schweigend vor sich aus, dann sagte sie: Ich erwarte den Herrn Grafen.

Der Diener entfernte sich gleich darauf trat Jaromir ein.

Die gewöhnlichen Begrüßungen fanden statt. Sie sagte ihm, daß ihre Eltern ausgegangen wären und daß sie nicht wisse, ob sie dieselben bald oder später zurück erwarten dürfe. Er bemerkte, daß er sie, Elisabeth, bei seiner Ankunft auf dem Balkon gesehen, und daß nicht seine Gegenwart Ursache sein solle, die freie Luft mit der des Zimmers zu vertauschen.

So traten denn Beide hinaus auf den Balkon.

Die Gegend breitete sich malerisch vor ihnen aus in lichter Frühlingsklarheit. Das hochgelegene Schloß beherrschte47 auf höherem Bergesrücken ein großes Panorama.

Es war ein schöner Nachmittag man wußte nicht, war es noch Frühling oder schon Mitte des Sommers. Gegend und Luft gaben die Wonnen von Beiden. Der Himmel war ein glänzendes, lachendes Blau, die Luft ein ewiges lindes Wehen. Durchleuchtete Wölkchen zogen wie leichte Silberschleier hin und her und warfen kleine wandelnde Schatten auf die Gegend. Rechts erhob sich eine lange Hügelkette, die dem Berge sich anschloß, auf welchem die Burg stand. Die einen waren mit düstern Tannen und Fichten bewachsen, an welchen die jungen, hellgrünen Triebe wie zarte Finger von viel Tausend emporgehobenen Händen sich aufwärts streckten, als schwören auch die ernsten Gestalten der Tannen fröhlich dem Frühling Treue. Und so dicht war die Waldung, daß sie, wo das Auge zu ihr in die Ferne schweifte, wie ein großes weiches Bett von schwellendem Moos aussah, in dem sichs gut liegen und ruhen müsse. Andere Hügel waren von grauem Gestein nur spärlich von dunkeln, roth blühendem Moos und lichtgrünem, niedrem Gras bedeckt und mit getrennt stehenden Birken bewachsen. Ihre weißen Stämme standen aufgerichtet wie heilige Friedensstäbe mit grünen, wehen den Kränzen geschmückt. Zwischen diesen Hügeln trat ein kleiner Fluß hervor und schleppte mit seinen blau und silbern48 blinkenden, tanzenden Wellen geduldig das Flößholz die abgehauenen Glieder des Waldes herab in’s Thal, dann stürzte er sich brausend über ein hohes Wehr und die Scheite sprangen kühn und lustig mit dem Wasser taumelnd hinüber. Geradaus that dem Blick ein weites Thal sich auf, die Landstraße zog sich durch und auf ihr wirbelte gerade jetzt eine läutende Heerde lichtweißer Schaafe eine gelbliche Staubwolke auf. Links gränzte an das Schloß der weite Park. Seine Eichen standen im prangendsten Jugendgrün und ihre stolzen Kronen überragten die andern Bäume. Alle Gesträuche blühten bunt dazwischen. Hier schlängelte eine Allee weiß blühender Kirschbäume sich wie eine lange Guirlande durch die blumigen Wiesen. Dort glich eine Gruppe von Apfelbäumen, deren rothe schwellende Knospen sich eben erschließen zu wollen schienen, einem riesenhaften, leicht hingeworfenen Rosenkranz. Und aus all diesem malerischen Gemisch von Bäumen, Blüthensträuchen und Grasplätzen schimmerte hier ein weißer kleiner Marmortempel, wie ein ernstes Mausoleum hervor, wehten dort die Fahnen und Glöckchen eines japanischen Lusthauses, wie im heitrem Spiel grüßend mit Flattern und Läuten, erhob sich an einer andern Stelle ein grauer Thurm, und so noch manches abenteuerliche, malerische Gebäude. In weiter Ferne begränzte ein hoher Berg mit einer verwitterten Burgruine den Horizont. 49Balsamische Blumendüfte zogen wie wallender Weihrauch von den Frühlingsopfern der Erde aus den nahen Gartenbeeten empor und eine Schaar wirbelnder Lerchen tummelte sich wie trunken im Aetherblau.

Jaromir und Elisabeth hatten eine Weile stumm neben einander gesessen und bewundernde und entzückte Blicke auf die reichen Naturschönheiten dieser Landschaft geworfen. Jetzt sagte Jaromir:

Es ist das erste Mal, daß ich unwillkürlich durch Sie angeregt in Naturbetrachtungen versinke vergeben Sie, wenn ein Blick auf dieses feierliche Frühlingswalten ringsum mich zu lange stumm gemacht.

Sie sagte mit einem leichten Erröthen und ohne aufzusehen: Mein früheres Zusammentreffen mit Ihnen fand außerhalb der gewöhnlichen Schranken und auf befremdende Weise Statt ich fühle, daß ich Ihnen dafür eigentlich eine Erklärung schuldig wäre, aber ich weiß dennoch nicht, wie ich sie Ihnen geben könnte, und indem ich gerade fordern muß, mir sogar den Versuch dazu zu ersparen, fühle ich, daß ich vielleicht Viel von Ihnen verlange, wenn ich Sie bitte, ohne zu gering von mir zu denken, diese frühere Begegnung wo möglich zu vergessen für sich selbst und für Andere.

Sie ließ einen Moment ihre schönen Augen mit einem flehenden Ausdruck auf den seinen ruhen, dann senkte50 sie wieder die langen Wimpern, während er rasch das Wort nahm:

Vergessen? sagte er mit sanfter Stimme. Vergessen? Sehen Sie da unten die weiße Blume, welche ihr Haupt der Sonne zugekehrt hat, soll sie auch vergessen, daß der Lichtstrahl auf sie fiel, welcher ihren Kelch erschloß? Soll dort der Wanderer, den Sie von dem höchsten Berge langsam herabsteigen sehen, auch vergessen, daß er einen entzückenden Anblick dieser weiten Frühlingslandschaft genossen, der ihn vielleicht trunken schwärmen machte, wie der Blick in ein seliges Eden? Warum vergessen? Nein, ich werde ewig an diese Stunde denken müssen, rief er schwärmerisch vor sich aussehend, sie ist ein Theil geworden von meinem Leben.

Elisabeth schlug die Augen nieder und schwieg.

Nach einer Pause begann Jaromir wieder, aber ruhiger: Sie schweigen vielleicht weil Sie die Sprache seltsam, finden, welche ich führe, vielleicht weil Sie Ihnen ungeziemend erscheint aber wenn Sie mir vergönnen, aufrichtig fortzufahrrn so werden Sie mir vergeben, wenn Sie es nicht schon jetzt thun.

Sie sind ja Dichter, sagte Elisabeth, da muß Ihnen schon gestattet werden, Ihre Träume auszusprechen, in welcher Form Sie wollen weiß man doch, daß es eben poetische Träumereien sind, was man hört.

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Dieser Dichter hatte lange Zeit vergessen, daß er einer war, bis Sie ihn wieder dazu machten antwortete Jaromir und fuhr dann fort: Sehen Sie, Ihnen allein gegenüber darf ich doch wahr sein? Sie haben es ja eben ausgesprochen, daß ich ein Dichter sei nicht jedem Wesen entschleiert ein solcher seine Seele und darum, als ich Sie das erste Mal in diesem Schlosse sah, als ich unerwartet in der Tochter dieses Hauses das weinende Mädchen wieder erkannte, das ich einst fern von hier begrüßt, da fesselte nicht allein das Erstaunen meine Zunge, daß ich es nicht aussprach, wie Sie mir nicht ganz fremd seien, sondern ich blieb darüber stumm, weil diese Begegnung immer ein süßes Geheimniß meiner Seele geblieben war, das ich nun nicht auf ein Mal mit gleichgültigen Worten gleichgültigen Ohren und Herzen Preis geben konnte. Und dann ich wußte ja nicht, ob es nicht vielleicht auch Ihr stilles Geheimniß war, das keine Zeugen und keine Mitwisser duldete, an jenem Tag und an jener Stelle sich auszuweinen? Und lieber noch hätte ich mich selbst verrathen, als Sie!

Ich danke Ihnen für diese Rücksicht. Thränen, mit denen man sich in die Einsamkeit flüchtet, um sie auszuweinen, werden von Andern verstanden sagte Elisabeth.

Er fuhr fort: Sie waren gewiß an jenem Morgen52 so früh aufgestanden, der Schmerz hatte Sie nicht ruhen lassen bei mir war das Anders, ich kam von einer festlich durchschwärmten Nacht aber wessen Herz in diesen Stunden schmerzlicher gezuckt haben mag das Ihre unter Ihren Thränen, das meine unter meinem Lachen wer mögt es entscheiden? Ich habe das Wort nicht vergessen, das Sie zu mir sagten: Sie scheinen auch nicht glücklich zu sein! So hatten Sie mich allein verstanden, eine Fremde unter all den Hunderten, welche mich zu kennen meinen, welche mir täglich versicherten: ich sei der glücklichste Sterbliche.

Ich hatte Ihnen schon einmal begegnet, wo Sie noch trauriger aussahen fiel sie ihm rasch in’s Wort, aber sie hielt plötzlich inne und erröthete und fragte sich mädchenhaft schüchtern im Stillen, ob sie nicht unvorsichtig zu Viel gesagt.

Fast war es auch für Jaromir zu Viel, zu viel überraschende Freude, daß sie dieses sagte ihm wars, als müsse er ihr zu Füßen fallen, oder ihre Hand fassen und drücken, oder sie selbst in seine Arme ziehen aber er bezwang sich, er blickte sie nur noch inniger an, doch wagte er nicht, sie zu berühren, oder sich ihr leidenschaftlich zu nähern er sagte sich, daß er das schöne Vertrauen, mit dem sie ihn allein bei sich empfangen, nicht mißbrauchen dürfe. Ja , sagte er, damals lag auf53 Ihrer Stirn, in Ihren Blicken leuchtender, ungetrübter Friede und ich dachte, so müss es immer sein damals meinte ich nicht, daß ich nach wenig Monaten Sie so wiedersehen würde, wie es geschah. Jener erste Moment, in welchem ich sie sah, ist einer der erschütterndsten meines Lebens gewesen, ich werde ihn nie vergessen, und als ich Sie zum zweiten Male sah darf ich es Ihnen gestehen? so hätt ich dem Leben fluchen mögen, das auch aus Ihren Augen Thränen preßte, das auch Sie schon so schmerzlich fassen und bewegen konnte! Aber ich lernte auch von Ihnen ich hatte oft das Weh meines Herzens übertäuben wollen in rauschender Lust, aber ich dachte dann, es sei besser, gleich Ihnen dies Leid auszuweinen in Gottes freier Natur, an der Brust der mütterlichen Erde und so that ich und so kam ich auch hierher, um in der heiligen Frühlingswelt alle kleinen menschlichen Schmerzen zu vergessen und mir ist, als würde das Herz gesund, wenn es wie hier neben lächelnden Blumen und wirbelndenden Lerchen schlagen kann er wollte noch mehr sagen, aber er hielt inne.

Das Herz wird still, wenn es wie hier auf dieser Höhe dem Himmel näher schlägt, ergänzte Eisabeth, ich bin jetzt zufrieden. Ich genieße den Fühling was will man mehr?

Die Nähe verwandter Seelen, sagte Jaromir.

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O, ist man nicht selber reich genug, dem Wald, dem Bach, den Blumen allen verwandte Seelen zu geben? Und bringt nicht jede Schwalbe, die sich in unsrer Nähe anheimelt, nicht jede Lerche, die aus der Saat zum Himmel jubelnd emporschwirrt, jede Nachtigall, die im Stillen und Dunkel sich hören läßt, die verwandte Seele mit, nach welcher wir uns sehnen? Fühlen Sie nicht, daß das Lied, welches von dem wechselnden Vögelchen da drunten im Garten ertönt, alle die Regungen zur Sprache bringt, über welche Sie mit sympathisirenden Wesen sich unterhalten mögten? Nun und warum nicht mit diesen gefiederten Sängern? fragte Elisabeth.

Nun, wer von uns Beiden ist denn der Poet? sagte Jaromir lächelnd.

In diesem Augenblick traten der Graf und die Gräfin in den Saal. Jaromir und Elisabeth hatten sie vorher nicht bemerkt sie standen jetzt schnell überrascht auf und traten zu ihnen in den Saal.

Die Unterhaltung war allgemein und kam nicht aus der Sphäre des gewöhnlichen Conversationstones heraus. Jaromir hielt das nicht lange aus und entfernte sich sobald als es schicklich war.

Später sagte die Gräfin zu Elisabeth: Du ließest55 gestern den Kammerjunker von Aarens abweisen, weil Du allein warst, und nimmst heute im gleichen Falle den Grafen Szariny an ich liebe solche Inconsequenzen nicht.

Elisabeth verließ ohne Antwort das Zimmer.

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IV. Erklärungen.

Doch wehe, wehe dem Mittellosen,
Wenn siech der Leib zusammenbricht,
Da rettet nicht des Weibes Kosen,
Da rettet die Pflege der Mutter nicht,
Da helfen nicht die Gebete der Kleinen.
Karl Beck.

Ein paar Wochen waren vergangen, seitdem Pauline sich von Franz hatte zu der langen Liese führen lassen. Pauline hatte ihn unterdessen nur von Weitem gesehen, wenn er in die Fabrik oder an den Zahltagen in ihres Vaters Comptoir ging; sie war ihm auf ihren Spaziergängen, auch wenn sie dieselben nach dem allgemeinen Feierabend machte, niemals begegnet, und niemals hatte er sie im Garten aufgesucht, wie sonst, um irgend eine Angelegenheit, eine Bitte für die Unglücklichen, für welche er sich schon so oft verwendet hatte, vorzutragen. Nur ein Mal war sie ihm nahe in der Hausflur begegnet, wo er mit andern Arbeitern bei einem Factor gestanden hatte,57 der sie eben Alle ziemlich hart anließ. Franz hatte Paulinen einen schmerzlichen Blick zugeworfen, zum Sprechen war der Moment nicht geeignet gewesen. Den Chirurgen hatte sie gleich, als er das erste Mal zu den verunglückten Kindern auf Ihr Geheis gekommen war, im Voraus bezahlt. Sie hatte Nichts wiedre von diesen armen Leuten gehört, denn sie selbst war nicht wiedre hingegangen, da sie nach dem ersten Empfang der langen Liese recht wohl einsehen gelernt, wie diese ihren Besuch weniger als eine Art Genugthuung, sondern mehr als Verhöhung betrachte. Ihren Bruder oder die Factoren nach der langen Liese und ihren Kindern zu fragen, hielt eine innere ängstliche Scheu sie ab.

Eines Abends saß Pauline allein im Garten wie gewöhnlich, denn um diese Stunde allein spazieren zu gehen wagte sie nicht, weil sie immer fürchtete, daß sie, wenn sie Fabrikarbeitern begegnete, von diesen roh behandelt werden mögte, oder doch wenigstens unziemliche Redensarten anhören müßte. Sie war sehr traurig, denn sie hatte auch Elisabeth lange nicht gesehen. Herr Felchner war sehr gegen den Grafen erbittert, seitdem dieser versucht hatte, sich mit in die Waldow’sche Angelegenheit zu mischen und jetzt auch vor Gericht gegen ihn auftretend gestrebt hatte, es dahin zu bringen, daß der Fabrikherr den Bach welcher nun durch sein neu erlangtes Gebiet floß aber zugleich durch Hohenthal’sche Besitzungen58 ging nicht zu einem Graben einengen und zum Treiben irgend eines Mühlwerks benutzen dürfe. Es war darüber ein Prozeß entstanden, welchen man nach der Art, wie er unter aristokratischen Einflüssen betrieben ward, eine ziemlich lange Dauer vorhersagen konnte. Herr Felchner liebte aber Alles mit Dampfschnelligkeit zu betreiben. Er hatte daher gegen den Grafen, der ihn dies Mal so hinderlich in den Weg trat, den giftigsten und bittersten Haß gefaßt und seiner Tochter streng verboten, wieder in das Schloß seines Todfeindes zu gehen. Diese war an Strenge gegen sich von ihrem Vater wenig gewöhnt, denn er begegnete ihr immer mit der zärtlichsten Liebe und ließ sie in Allem frei walten. Nur durfte sie niemals versuchen, ein Wort zu seinen industriellen Einrichtungen zu sagen, oder für die gedrückten Arbeiter eine freundliche Bitte vorzubringen. Er hatte ihr dies mit leidenschaftlicher Heftigkeit ein Mal für immer verboten und da sie bemerkte, daß sie durch ihre Vorstellungen meist nur gerade das Entgegengesetzte von dem, was sie zu erreichen wünschte, eintreten sah, so hatte sie für immer auf solche verzichtet. So wagte sie aus kindlicher Ehrfurcht wenigstens nicht sogleich das Verbot des Vaters in Bezug auf Schloß Hohenthal zu übertreten, da sie hoffte, er werde es vielleicht eher zurücknehmen, wenn sie ihm Gehorsam zeige, so lange noch die erste Heftigkeit seiner Erbitterung59 währte. Elisabeth selbst war nicht in die Fabrik gekommen, weil leichte Unpäßlichkeit sie im Schlosse zurückhielt.

Noch niemals war es Paulinen einsamer vorgekommen, als jetzt, wo sie sinnend allein im Garten weilte.

Ein Gruß weckte sie aus ihren traurigen Träumereien.

Guten Abend, Mamsellchen.

Es war eine kleine dicke Frau mit rothem Gesicht, welche vorüber ging und den Gruß hinein rief. Pauline erkannte sie; es war die gutmüthig aussehende Frau, welche sie bei der langen Liese getroffen hatte.

Guten Abend, Frau Martha, sagte Pauline, lauft doch nicht so vorüber. Was macht die lange Liese mit ihren armen Kindern?

Sie haben mich gleich erkannt? sagte Martha schmunzelnd. Sonst merken sich die feinen Mamsellchen uns arme Weiber nicht so leicht; das ist hübsch von Ihnen. Was die lange Liese macht? Da mag sich Gott erbarmen, die flucht Tag und Nacht. Sie wissens wohl gar nicht, daß die Kinder Beide todt sind, der Junge und auch die kleine Liese!

Todt Beide?! rief Pauline, Das ist ja entsetzlich!

Freilich wohl aber ein Glück ist’s doch auch, daß sie starben, was hätte aus den elenden Krüppeln werden60 sollen? Und gut noch, daß sie Beide wenigstens gleich an einem Tage starben, da sind sie auch in einen Sarg und ein Grab gekommen und dadurch Kosten erspart worden.

Ein leichter Schauer überrieselte Pauline, als sie diese Rede hörte, es war ein neuer tiefer Blick in das Elend der Armuth, die sich über den Leichen geliebter Kinder noch damit trösten muß, daß sie wenigstens zugleich starben, damit nur ein Sarg für zwei nöthig war.

Martha fuhr fort: Ja, wenn es nur wenigstens Nichts kostete, der Tod ist ja auch nicht umsonst, wenn gleich das Sprichwort so heißt nicht einmal die Sprichwörter wollen auf die armen Leute passen. Ich kann sagen, mir wird wohl manchmal Angst, wenn die lange Liese so flucht und dazwischen lacht und schluchzt, daß sich’s greulich mit anhört denn da weiß sie nicht mehr, was sie spricht, und versündigt sich gar gegen den lieben Gott im Himmel droben. Aber wahr ist’s, schlecht hat sie’s gehabt ihr Leben lang ich und mein Mann, wir sind Beide gesund, und der Junge ist’s auch, nun da mag’s schon sein, wenn man auch wenig verdient, wenn man nur arbeiten kann und gesund ist, da ist unser eins schon zufrieden aber wie ist nun die lange Liese selber elend geworden und wie sahen die Kinder jammervoll aus, die sie mit in die Fabrik schleppt halten’s einmal nicht aus und muß doch froh sein, wenn sie nur arbeiten dürfen. 61Wenn Sie mir’s nur gesagt hätten, wie die Kinder starben, ich hätte vielleicht Etwas thun können.

Ja, ich unterstand mir’s nicht und dem Franz sagt ich’s ein Mal, weil der Sie doch heimgeführt hatte aber er schüttelte den Kopf und sagte: ich gehe nicht wieder hin, geht lieber selbst und sehen Sie, da dacht ich in meinen Gedanken: wenn’s der Franz nicht mehr wagt, da wag ich’s auch nicht.

Franz sagte: er wage nicht mehr zu mir zu gehen? sagte Pauline mit dem Tone ungläubiger Verwunderung.

Nun ja, er sagte wenigstens: ich gehe nicht wieder hin.

Er gehe nicht wieder zu mir?

Nun ja, es ist, als ob Sie Sich darüber verwunderten ich dachte seiner Rede nach, Sie hätten es ihm verboten, oder gesagt, daß er zu oft käme.

Niemals, niemals! Sehen Sie Franz zuweilen?

Selten, doch trifft es manchmal, daß er mit meinem Manne zusammengeht, denn der hält große Stücke auf ihn.

Nun dann sagen Sie ihm, daß ich es seltsam fände, daß er mir sein Wort nicht mehr hielte er wird schon wissen, was ich meine.

Schon gut aber da steh ich hier so lange und schwatze und wollte heute Abend noch Manches arbeiten.

62

Damit Ihr nicht umsonst hie geblieben seid, so wartet noch einen Augenblick, sagte Pauline und ging in das Haus.

Nach einer Weile kam Friederike mit einem Korb Eßwaaren heraus, welchen sie der Martha übergab. Etwas davon mögt Ihr der langen Liese geben.

Das Mamsellchen ist gar gut, rief Martha, ich hab es immer gesagt. Ich lasse mich schönstens bedanken, der liebe Gott mag’s ihr vergelten, die Armen haben Nichts zu geben als fromme Wünsche.

So ging denn Martha ihres Weges. Friederike that auch einige Schritte weiter und sah sich überall um. So stand sie eine Weile. Da rief plötzlich eine Stimme:

Also endlich einmal! Es war Wilhelm Bürger, welcher hinzutrat und ihre Hand erfaßte.

Guten Abend, Wilhelm.

Wilhelm hatte gleich am andern Tage, als er erkannt hatte, daß es ein großer Irrthum von seiner Seite gewesen, seinen Freund Franz für seinen Mitbewerber zu halten, Friederiken am Feierabend am Brunnen aufgesucht und ihr einfach gesagt, wie lieb er sie habe. Das gute Mädchen hatte verschämt und erröthend das angehört, und ihm durch einen herzlichen Händedruck versichert, daß sie ihm gar nicht gram sei, daß sein Wort ihr eine wahre Herzensfreude gegeben. So pflegten sie nun seitdem sich63 oft auf gleiche Weise zu sehen. Wilhelm war heute ziemlich ernst und sagte nach einer Weile:

Ist es wahr, daß Deine Herrschaft, ich meine Mamsell Paulinchen, seit einiger Zeit so kränklich ist?

Da habe ich Nichts davon bemerkt das müßte ich wissen.

Verändert sieht Sie mir auch nicht aus gleichwohl hat es der junge Herr, ihr Bruder Georg gesagt.

Was hat der gesagt? Er weiß gar Nichts von ihr, denn die Beiden sind verschieden wie Tag und Nacht.

Du weißt, daß sie den Chirurgen für das Kind der langen Liese bezahlt hat.

Und daß sie mit Franz selbst zu dem unglücklichen Kinde gegangen ist, seitdem sind aber Wochen vergangen und Franz hat sich nicht wieder blicken lassen, wie doch sonst.

Es ist ihm schwer genug geworden.

Warum ist er also nicht gekommen? Und was meinst Du mit dem jungen Herrn und dem Chirurgen?

Das wollt ich ja eben erzählen.

So rede schnell, denn ich kann jetzt nicht lange hier bleiben und weiß wirklich nicht, was Du eigentlich zu sagen hast.

Drum eben lass mich zu Worte kommen. Wie der Chirurg das zweite Mal wieder gekommen ist, hat er64 Franz aufgesucht und gesagt, es sei unrecht von ihm, daß er Fräulein Pauline immer so mit Erzählungen von Unglücklichen quäle, und sie dann berede, das Elend selbst mit anzusehen. Eine junge zärtliche Dame, wie sie, könne so Etwas nicht vertragen, sie werde dadurch selbst noch krank, weil es sie immer so angreife; ihre Gesundheit sei dadurch schon ganz zerrüttet sie setze ihr Leben auf’s Spiel, wenn sie es noch länger so treibe; sie selbst habe freilich davon keine Ahnung, um so mehr sei es jedes Menschen Gewissenssache, sie zu schonen. Franz war ungläubig gewesen ich war es auch, dann sagte ich mir: die armen Leute müssen in diesem Elend leben und es selbst ertragen und die vornehmen Leute sollten gleich daran sterben, wenn sie es nur ein Mal erzählen hören, oder von Weitem einen flüchtigen Blick darauf werfen?

Mein Fräulein ist ganz wohl und was will denn der Chirurg von ihr wissen, der sie niemals behandelt hat? Sie hat Gott sei Dank noch gar keinen Arzt gebraucht, seitdem sie hier ist. Und dieses alberne Mährchen hat Franz glauben können?

Er hat es auch nicht so recht geglaubt, aber ängstlich hat es ihn doch gemacht. Sie gönnen uns diesen Engel nicht! sagte er ernst und bitter aber wie er es sich näher überlegte, so hatte die Sache doch auch etwas Wahrscheinliches diese Mädchen sind einmal so zart, 65sagte er, und wäre ich dann daran Schuld, daß sie wirklich litte ich vergäb es mir nie und geistig leidet sie durch mich nein, nein, ich will ihr Nichts mehr sagen so meint er.

Aber welch dummes Zeug! rief Friederike: Und warum hat er da nicht mich gefragt, oder warum es Dir nicht aufgetragen?

Er hat sich genug mit seinen Gedanken gequält und wie sie ihm nicht mehr Ruhe ließen, ist er selbst hergegangen, um sie zu sehen oder Dich zu sprechen. Der junge Herr hat ihn da zuerst getroffen und gefragt, zu wem er wolle? Er habe jetzt hier Nichts zu thun. Er hat Dich genannt, da hat ihn Georg sehr hart angelassen und gesagt aber das ist zu hart!

Was hat er gesagt? Rede nur gerade heraus!

Er hat gesagt, daß ihn seine Schwester beauftragt habe, nicht länger den Skandal zu dulden, daß ihre Dienstmädchen mit den Fabrikarbeitern unpassenden Umgang hätten und daß es so schon eine Schande sei, daß die Christiane Wilhelm hielt inne und besann sich, daß er hier nicht weiter fortfahren könne.

Friederike ward roth und sagte: Das ist eine Niederträchtigkeit! Die Christiane wäre lange aus dem Hause, wenn er sie nicht selbst hielte, und wir wissen recht gut, wer an ihrem Unglück Schuld ist die armen Fabrikarbeiter66 nicht, aber so will er freilich thun. Und nun gar dem Franz gleich das Schlechteste unterzuschieben und nur weil er nach mir gefragt hat; das ist abscheulich! Sie stampfte mit dem Fuß und hielt die Schürze vor das von Zorn und Scham zugleich geröthete Gesicht.

Natürlich hat da Franz seine Mäßigung doch ein Wenig verloren, fuhr Wilhelm fort, er ist heftig geworden und der Herr hat ihm für immer verboten, das Wohnhaus zu andern Zeiten zu betreten, als wenn er zum Zahltag in das Comtoir kommen muß. Nun siehst Du, wie Alles gekommen ist; Franz ist seitdem ganz traurig, nur manchmal sagte er: ich mögte doch wissen, ob ihr Alles so recht ist, ob sie es weiß, oder ob es sie nicht einmal wundert, daß ich nicht mehr komme gestern sprach er auch so und weinte nun wenn so ein starker Junge weint wie der Franz einer ist, das kann ich nicht gleichgültig mit ansehen, da wendet sich mir das Herz im Leibe um. Da sagt ich mir: heute mußt Du mit Friederiken reden.

Weißt Du was? sagte diese. Mein Fräulein ist auch recht verdrießlich gewesen, daß Franz nie mehr gekommen, denn von All dem, was Du mir erzählt hast, weiß und ahnt sie kein Wort ich muß jetzt fort von Dir, wir haben schon zu lange geplaudert wenn Du Franz triffst, so geh mit ihm dort drüben in der Allee67 ein Weilchen hin und her wer weiß, macht nicht mein Fräulein noch einen Spaziergang dahin, und Franz darf ein paar Worte mit ihr sprechen, wo es Niemand gleich gewahr wird denn das merk ich nun schon, dem saubern Herrn Bruder ist es ein Gräuel, daß sie für die armen Leute menschenfreundlich fühlt und da helfen mögte wo er nur thrannisirt leb wohl! Wir wollen sehen, ob wir uns heute noch wieder treffen. Mit diesen Worten und einem raschen Händedrucke hüpfte Friederike fort.

Pauline war allein in ihrem obern Zimmer und hatte schon ein Mal vergeblich nach dem Mädchen geschellt. Als es jetzt eintrat, fragte sie: Warum kommst Du so spät?

Ich bitte Tausend Mal um Vergebung, sagte Friederike, ich sprach einige Worte mit meinem guten Wilhelm.

Du weißt, begann Pauline mit ernstem, warnendem Tone, daß ich gegen Eure Neigung Nichts habe, allein

Liebes Fräulein, fiel ihr Friederike in’s Wort, ich fragte ihn nach Franz und da hatte er so Viel zu erzählen ich wäre sonst nicht so lange geblieben.

Pauline vergaß die mahnende Rede, welche sie begonnen hatte und fragte rasch: Was sagte er Dir da? Vergiß nicht, Alles genau zu wiederholen, denn durch das, was ich von der Frau Martha erfuhr, ist mir Franz noch wunderlicher vorgekommen.

68

Friederike kam diesem Befehle getreulich nach. Als sie Alles erzählt hatte, ward Pauline immer nachdenklicher. Es ist klar, sagte sie, mein Bruder will nicht, daß die Fabrikarbeiter zu mir Vertrauen fassen und daß ich die Schattenseiten einer großen industriellen Anstalt, wie die unsere ist, kennen lerne, er will nicht, daß ich mich mit diesen armen Leuten in eine gewisse Art von Verbindung setze. Er verachtet sie nur und meint vielleicht, sie um so williger zu jeder Arbeit zu finden, je ärmer und unglücklicher sie sind. Es ist gewiß, daß er den Chirurgen zu diesem seltsamen und abgeschmackten Märchen von meiner Krankheit verleitet hat. So werde ich freilich in Zukunft noch behutsamer sein müssen, als ich bereits war, damit er mich nicht hindert, irgend ein Elend zu lindern, wo ich kann und will.

Friederike hatte ihrer Herrin nicht gesagt, daß sie Wilhelm und Franz in die Allee bestellt habe, sie verschwieg es auch jetzt, aber sie suchte Paulinen dahin zu einem kleinen Spaziergang zu bewegen, indem sie ihr beredt den schönen Sternenabend draußen schilderte und die leuchtenden Johanniswürmchen, die gerade in jener Allee sich jetzt so lustig tummeln sollten. Pauline willigte endlich ein, da der Weg nahe und überhaupt dort einer ihrer Lieblingsplätze war.

Franz stand dort allein. Was er für Paulinen69 fühlte, hatte er dem Freund einmal gestanden, obwohl er selbst es sich noch niemals zu gestehen gewagt hatte, obwohl er es, was nur ein Mal seinem Innern zur Aussprache entlockt worden war, wieder in seines Herzens Tiefen zu verbergen strebte. Was er jetzt gelitten, wußte Wilhelm auch, und er gönnte dem Freunde die Stunde der Genugthuung, welche jetzt vielleicht für ihr schlug, so aufrichtig aus vollster Seele, daß er sie ihm durch seine Gegenwart nicht stören wollte denn ein Zartgefühl, welches bei den feinen, geglätteten Menschen der Salons fast gänzlich in seiner Ursprünglichkeit verloren gegangen ist und nur als leere Etikettenform noch hier und da zur Erscheinung kommt, sagte diesem einfachen, unverdorbenen und unverbildeten Arbeiter, daß seine Gegenwart vielleicht den Freund stören könne, dem er, ohne es zu wollen, ein Geständniß seiner Liebe entlockt hatte, welches nun nicht mehr zurückzunehmen war, aber von dem, welchem das stille Geheimniß gehörte, doch gern wieder vergessen gemacht worden wäre.

Friederike, welche diese Gründe für Wilhelms Außenbleiben nicht ahnen konnte, weil sie Thalheims wahre Gefühle nicht kannte, und welche vielleicht auch dann Wilhelms Zartgefühl nicht ganz würde verstanden und getheilt haben, schmollte in Gedanken ein Wenig mit ihm, daß er70 die schöne Gelegenheit, ein Wenig mit ihr zu plaudern, ungenützt vorüber gehen ließe.

Guten Abend, Franz! sagte Pauline freundlich zu diesem.

Er zitterte fast, als er diese sanfte Stimme wieder hörte, welche er Wochen lang nicht mehr, nur in seinen Träumen gehört hatte. Sie sprechen so sanft zu mir, rief er erschüttert, nicht wahr, Sie zürnen mir nicht, wenn ich

Wenn Sie eine Zeit lang Ihres Versprechens uneingedenk sein konnten, das Sie mir gaben, als ich nicht lange hierher gekommen war, oder daß Sie denken konnten, ich möge mein Wort nicht mehr halten weiter habe ich Ihnen Nichts zu vergeben. Ich weiß aber erst seit heute Alles daß man Sie über mich getäuscht und hintergangen hat aber ich versichere Ihnen, daß ich an unserm damaligen Versprechen, daß Sie mich von jeder augenblicklichen Noth unsrer Fabrikarbeiter, welcher abzuhelfen möglich ist, unterrichten sollten, und daß ich dann Alles thun würde, was ich vermöge gar Nichts geändert wissen will, und daß wir ihm treu bleiben wollen, nur mit mehr Vorsicht als bisher, da es Leute geben kann, welchen es nicht recht ist, daß ich die Wunden verbinde, welche sie erst geschlagen.

Franz schwieg.

Ich ehre ihr Schweigen, fuhr sie fort. Sie wissen,71 daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.

Ach, in diesen Worten erkenn ich meinen Bruder.

Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß, fuhr sie fort, aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde.

Ja, rief er begeistert, aber mit Thränen, wenn72 mehr Herzen schlügen wie das Ihre, wenn mehr Augen wie die Ihrigen sähen, Augen, welche, wenn sie gleich von Kindheit auf an den Glanz des Goldes und die bunten Flitter des Reichthums gewöhnt, doch nicht davon geblendet sind, wie die jener Tausend, welche dann das, was außer dem Bereich ihrer eigenen Lebensverhältnisse liegt, nicht blos unter lauter falschen Lichtern, grauen Nebeln und düstern Spinnengeweben, sondern so wie es wirklich ist gewahrten. Wenn Diejenigen, welche zufällig unter seidnen Betthimmeln geboren wurden, nicht das gleiche Bruderbild verleugnen wollten, weil es vielleicht auf elendem Stroh zur Welt kam wenn sie nicht fortgesetzt die edle Menschengestalt verhöhnen wollten, weil die Lumpen sie nur schlecht bedecken und die Verwilderung des Elendes sie häßlich macht vielleicht würde es anders, vielleicht könnte noch Alles gut werden. Der Arme verlangt ja so Wenig! Nur einen kurzen heitern Frühling für sein Kind, wo es nicht zu friern und zu hungern braucht, wo es lernen darf, wie man ein Mensch wird! Aber hier diese Kinder! Sie werden zu niedrer Thierheit herabgedrückt, und wie die heilige Wassertaufe den Teufel austreiben soll aus den Kindern so ist es hier umgekehrt! Der Engel, der das Kind in’s Leben begleitet, wird mit Gewalt aus der reinen Seele des Kindes gejagt, und in der heißen Hölle, wo die Dampfmaschinen arbeiten, zu73 denen man es schickt, da kommen all die finstern Teufel zu ihnen, welche Alle quälen, die zu ewiger Erniedrigung, zu ewiger Stumpfheit im Leben verdammt sind. Und wenn dann diese Kinder, welchen man kaum ein Wort von Christus gelehrt hat, auf dessen Namen sie doch getauft sind wenn sie dann Männer werden Männer, welche eine gleich abstumpfende Arbeit verrichten, wenn sie auch mehr Kraft dazu brauchen, als bei der, zu welcher sie als Kinder gezwungen waren, dann verachtet man sie, weil sie fluchen und trinken und rohe Worte haben und endlich vielleicht gar einmal auf den Gedanken kommen, blinde Rache zu üben an ihren Peinigern was dann? Ich gehöre selbst zu diesem ausgestoßenen Geschlecht, und doch graut mir vor ihm, denn ich kenne es! Ach, daß es mehr gerechte Menschen gäbe, welche sich des Armen erbarmten! Nicht ihren Reichthum, nicht ihre Schätze brauchten sie ihm zu geben aber nur nicht ihn für immer auch des Reichthums, des innern Lebens zu entblößen, das entehrende Brandmahl ewiger Unfähigkeit ihm aufzudrücken! Es könnte gut werden, wenn man die Kinder zu guten Menschen erzöge, statt zu blöden Sklaven es ist ja der Vortheil Aller, daß überall gute Pflanzen getrieben und erbaut werden. Niemand zieht ein Beet Unkraut in seinem Garten wenn man nur das bedächte es würde Alles gut.

74

Franz hatte sich im Selbstvergessen zu so langer schnell und feurig gesprochener Rede hinreißen lassen. Plötzlich hielt er inne ein schrillendes, widerliches Gelächter klang höhnisch durch die friedliche Abendruhe, und da verstummten plötzlich seine Lippen.

Pauline, die mit ängstlicher Spannung seinen Worten gefolgt war, schrak jetzt zitternd zusammen vor diesem lauten, gräßlich hallenden Gelächter.

Friederike, die etwas entfernt gestanden, drängte sich rasch und dicht an ihre Gebieterin.

Das Gelächter hatte die lange Liese ausgestoßen, welche jetzt mit raschen Schritten des Wegs gekommen war.

Könnte noch Alles gut werden? rief sie mit unheimlicher, wie wahnsinniger Stimme. Würde Alles gut? Was denn? ’s liegen viel Kinderleichen auf dem Kirchhofe, von den verfluchten Maschinen zerrissen das wird doch nicht wieder gut, die stehen nicht wieder auf und kämen Engel vom Himmel! Gute Menschen aus Kindern ei ja doch, gute Menschen, die gut arbeiten und gutwillig sich die Kinder verderben und sterben lassen immer Eins von Beiden, verderben sterben verderben sterben.

Sie sang die letzten Worte mit kreischender Stimme ab und ging ihres Weges.

Sie ist wohl wahnsinnig geworden? fragte Pauline schaudernd.

75

Das nun wohl so eigentlich nicht aber so ist ihre Art sie ist in Verzweiflung über ihre Kinder, versetzte Franz.

Gute Nacht, Franz, sagte Pauline und gab ihm die zitternde Hand.

Er drückte sie leise und sagte: Ich darf es nun nicht wagen durch Wilhelm und Friederike mögen Sie erfahren, wo wir um Ihre Hilfe bitten mögten.

So trennten sie sich.

76

V. Ein Schreiben.

Ich bin erwacht, ich fühle Kraft
Die Lumpen reiß ich von den Gliedern,
Aus freier Seel die feige Angst,
Den Schlaf von meinen Augenlidern,
Der Liebe Bündniß will ich schließen,
Nicht länger hassend einzeln stehn,
Des Lebens Wohlthat mit genießen,
Nicht länger hungernd zu nur sehn.
Herrmann Püttmann.

Franz war aufgeregt aber glücklich von dannen gegangen. Pauline hatte ihn nicht von sich verbannt, wie er zuweilen gewähnt hatte, sie war nicht krank, wie man sich bemühte ihn glauben zu machen; sie war sogar stark genug, sich dem Willen derer, welche sie zunächst umgaben und welche, wie es nur zu klar war, sich bemühten, ihre Bestrebungen des Wohlthuns zu hemmen, ihnen Schranken zu errichten zu widersetzen. Das gab ihm hohe Freude. Er hatte sie verloren geglaubt für sich, verloren für all die Armen, welche das Schicksal zu seinen Brüdern77 und Schwestern gemacht hatte, verloren für sie, welche bei ihrem Nahen die Erscheinung eines Engels segnen sollten.

Und es war nicht so! Sie war nicht ihm verloren, nicht ihnen! Sie hatte ihm auf’s Neue die Hand zu diesem schönen Bunde gegeben.

Wer weiß? sagte er sich hoffend. Sie ist noch nicht lange hier und schon sind viele Thränen getrocknet worden und Manches ist besser geworden, als es jemals war. wer weiß, ob nicht, wenn sie länger hier weilt, noch bessere Zeiten kommen! Ob sie nicht auch ihren Vater zu milderen Gesinnungen zu stimmen vermag und nicht nur die Wunden heilt, die seine Härte schlägt, sondern seine Härte schwinden macht, daß Alles besser wird!

Als er eben so zukunftsfreudig vor sich hinging, kam Wilhelm ihm entgegen. Er rief:

Da hat man mir einen Brief an Dich gegeben es ist nicht die Hand Deiner Brüder auf der Aufschrift auch lautet sie nicht wie gewöhnlich, an den Fabrikarbeiter Franz Thalheim, sondern dem Namen ist noch beigefügt: Verfasser der Erzählungen aus dem armen Volke. Sieh einmal, wie schön sich das ausnimmt; ich glaube, Du hast einen Namen nun man merkt es doch, daß Deine Eltern gute Bürgersleute waren und Du nicht im Straßenkoth geboren bist, wie unser einer.

78

Franz erröthete, als er einen Blick auf die Aufschrift geworfen, die ihm allerdings sehr schmeichelhaft erschien. Es ist zu dunkel zum Lesen hier, sagte er, komm mit in meine Kammer, wir zünden die Lampe an und lesen zusammen.

Sie traten in das Haus und stiegen hinauf in die kleine Kammer, welche Franz bewohnte. Bald brannte die kleine Lampe und erhellte düster und spärlich den elenden Raum. Franz hielt den Brief nahe an die düstre Flamme, öffnete das dunkle Siegel und sah zuerst auf der letzten Seite nach der Unterschrift. Es war unterschrieben: Mehrere gleichgesinnte Fabrikarbeiter. Ort und Datum waren nicht angegeben.

Das ist seltsam, sagte Franz, und das Schreiben ist so lang.

Weißt Du was? sagte Wilhelm. Du hast gewiß davon gehört, wie es seit einiger Zeit unter denen, welche sich um die Staatswirthschaft bekümmern, oder doch darum bekümmern mögten, Mode geworden ist, an Diejenigen, welche in diesen Angelegenheiten einflußreiche Schritte gethan haben, oder thun könnten, ein Schreiben zu richten, welches von Einem verfaßt und von Vielen unterschrieben wird.

Ja, man nennt das eine Adresse, sagte Franz.

Nun sieh! Vielleicht haben diese Fabrikarbeiter in79 Bezug auf Dein Buch, das sie doch auf der Aufschrift erwähnten, eine solche beifällige Adresse an Dich verfaßt. Wenn sie auch ihre Namen darunter gesetzt hätten, so wären uns dieselben doch unbekannt gewesen und deshalb ist es gleich, wenn sie es unterlassen haben. Das ändert in der Hauptsache ja doch Nichts.

Nun lass uns lesen, sagte Franz, Deine Ansicht gefällt mir wohl, aber ich weiß nicht, ob Du Recht hast ich kann nicht glauben, daß man mir eine solche Ehre erweisen würde.

Ei, alle Donnerwetter! rief Wilhelm heftig, ich wüßte nicht, warum Jemand Dir nicht dieselbe Ehre erweisen könnte, wie Denen, welche oft unnützere Bücher schreiben, als Du und weniger Herz für die Sache haben, welche sie führen wollen, als Du.

Franz seufzte und sagte: Wir wollen doch lieber lesen. Wilhelm sah über seine Achsel hinweg mit in das Papier.

Das Schreiben begann:

Lieber Franz Thalheim! Wir nennen Dich Du, weil wir alle Menschen. Du nennen, die wir in allgemeiner Liebesvereinigung als unsere Brüder anerkennen. Dich nennen wir aber ganz besonders mit Stolz und Freude Kamerad, denn Du hast es öffentlich ausgesprochen, daß Du dem armen Volke angehörst, für das Du leben willst80 bis zu Deinem Tode. Wir danken Dir, daß Du Worte gefunden hast, das Elend Deiner Mitbrüder in ergreifenden Geschichten vor aller Welt zu schildern.

Wir sind Dir für dies und alles Andere sehr dankbar, was Du bisher im Dienst unserer guten Sache gethan hast, aber um so mehr hoffen wir auch, daß Du nicht dabei stehen bleiben wirst, den Menschen zu zeigen, daß dieses Unglück besteht sondern daß Du auch auf diesem Wege weiter schreiten und sagen wirst, wodurch diesem Unheil allein zu helfen.

Franz seufzte und sagte, ehe er weiter las: Es wird diese gleichgesinnten Brüder freuen, wenn sie mein zweites Buch sehen werden: die Rechte des Armen den Verzweifelnden gewidmet. Es enthält manchen Vorschlag, wie dem Uebel, wenn nicht gänzlich abzuhelfen, doch zu steuern wäre aber freilich wenn kein Fabrikbesitzer darauf eingeht

Lies nur weiter, sagte Wilhelm gespannt.

Franz las: Wir wollen Dir in kurzen Abschnitten einige von den Ansichten mittheilen, welche wir zu den unsrigen gemacht haben. Männer, hochgebildete und gelehrte, welche es aber gut mit dem armen Volke meinen, haben das ausgesprochen, was wir Dir jetzt in kurzen Bruchstücken zu lesen geben, damit Du zu derselben Einsicht über unsere Gegenwart und Zukunft kommst, wie81 wir und danach Dein Streben und Wirken regeln lernst.

In dem Brief waren nun einige Stellen aus communistischen Schriften angezogen, in welchen die Grundlehren des Communismus mit feuriger Beredtsamkeit und scharfsinniger Dialektik entwickelt waren. Mit glänzenden Farben ward dies System als das einzige angepriesen, in welchem allein das Heil der gesammten Menschheit zu finden sei ja, der als zu erwartend und unausbleiblich geschilderte Sieg des Communismus ward geradezu als eine historische Nothwendigkeit, als eine zweite Welterlösung dargestellt, welcher die in Irrthum und Unnatur befangene Menschheit bedürftig sei.

Franz Thalheim rief unter dem Lesen einmal über das andere dazwischen, das ist Wahnsinn das verstehe ich nicht! aber Wilhelm sagte fieberhaft aufgeregt:

Ich bitte Dich, lies weiter ich versteh es auch noch nicht aber es klingt wie lauter Musik vor meinen Ohren und klingt so in meinem Herzen wieder!

Sie lasen weiter und immer verführerischer klangen ihnen die neuen Auffassungen von Menschenrecht und Lebenswonne, welche sie aus dem Briefe gewannen.

Wilhelm rief wie bezaubert: So Etwas hab ich in meinem Leben noch nicht gelesen mir schwindelt! Vor meinen Blicken geht eine neue Welt auf bei diesen großen,82 herrlichen Worten ich habe wohl manch Mal schon gedacht, daß doch dies ganze Leben, welches jetzt alle Menschen führen, die Einen gezwungen, die Andern freiwillig eine Tollheit ist, eine Niederträchtigkeit aber ich habe es noch niemals gesagt, nun sagen es Andere statt meiner!

Franz verwieß ihm seine Rede und sagte ruhiger: Diese Leute singen das Lied der Armuth aus einem ganz anderm Tone, als man es zu hören gewohnt aus einem anderm Tone, als gut ist. Es kann Niemand froh werden, der es so hört. Es ist als wenn Jemand zu einem Krüppel sagte: Du könntest ein schöner Mensch sein, wenn Du nicht als ein Krüppel zur Welt gekommen wärest er kann es doch nicht ändern oder zu einem Menschen: Du bist eigentlich ein Engel, aber in eine irdische Gestalt gezwungen, die Deiner höheren Entfaltung hinderlich ist. Wie soll der Krüppel, wie der Mensch das ändern können?

Erst hatte das Schreiben von den Prinzipien des Communismus gehandelt und davon begriff der gesunde Verstand der schlichten Arbeiter nicht das Geringste. Franz hatte Lust, diese Theorien geradezu für hohle Hirngespinste müssiger Köpfe zu erklären, welche, selbst in einer spitzfindigen Philosophie gefangen und von ihr irre geleitet, es dennoch wagten, die Philosophie zu verhöhnen nur83 Wilhelm ließ sich von diesen ihm, wie er selbst sagte, unverständlichen Redensarten blenden und bestechen. Aber in dem weitern Verlauf der Schrift ward die Sache des Communismus von der praktischen, von der unmittelbar in’s Leben greifenden Seite angefaßt, und endlich schloß der ganze Brief mit einem Aufruf an alle Arme, namentlich alle arme Arbeiter zu innigster Vereinigung, damit es durch sie gelingen möge, die Reichen und Besitzenden all ihrer Vortheile über die sogenannten untern Schichten der Gesellschaft verlustig zu ma chen.

Der Schluß des Schreibens lautete:

Auch Dich, Franz Thalheim, rufen wir auf, Deine und unsere unglücklichen Brüder darauf aufmerksam zu machen, daß die Zeit einer neuen Ordnung der Dinge nahe herbeigekommen ist. Du hast die Kraft dazu, unser Werk unter Deinen Genossen zu fördern so fördere es unter Deinen Mitarbeitern in der Fabrik durch erklärende und überzeugende Reden, fördre es durch Deine Schriften in weiteren Kreisen. Sehen wir, daß Du dieß thun willst und daß es Dein eifrigstes Bestreben ist den unglücklichen Millionen Deiner Brüder zu helfen so wirst Du bald wieder von uns hören, so werden wir gemeinschaftlich berathen können, auf was wir Dich jetzt nur durch einzelne, bruchstückweise Erklärungen aufmerksam gemacht haben!

84

Sei uns herzlich gegrüßt, wenn Du wirklich einer der Unsern bist und grüße alle Deine Kameraden, die es auch sind.

Der Brief war hier zu Ende.

Franz starrte vor sich nieder und stand regungslos.

Die Lampe flackerte ungewiß auf, dann ward sie trüber und trüber.

Draußen fuhr der Wagen des Fabrikherrn mit vier munter wiehernden Pferden an dem kleinen Haus, in welchem Franz weilte, rasselnd vorbei, daß die Scheiben zitternd, klagend und grollend zugleich in den lockern Fensterrahmen klirrten.

Hundert Mal schon mogte dieser Wagen so vorbeigerasselt sein, wie jetzt und die beiden Arbeiter hatten nicht darauf geachtet sie hatten nicht darauf geachtet, wenn eben so oft schon die Scheiben unruhig mit einander gemurmelt hatten jetzt horchten sie Beide auf und riefen Beide zugleich Wilhelm mit wildem Gelächter des Hasses, Franz unendlich schmerzlich bewegt:

Da fährt er hin!

Die Laternen seines Wagens blitzen durch den hereinbrechenden Abend, sagte Wilhelm, und so fährt er hin durch die Dunkelheit. Jetzt auf einmal begreif ich Alles.

Wilhemo Augen glänzten im dunklen Feuer, die Adern85 auf seiner Stirn schwollen, seine ganze Gestalt schien größer zu werden, indem er sich hoch aufrichtete. Mit feierlicher, gehobener Stimme sagte er:

Ja, die Zeit ist gekommen, wo die Armen ihre Rechte wiederfordern dürfen! Daß ich wüßte, wer diese erhebenden Worte geschrieben, diese herrliche Verkündigung eines neuen Evangeliums! Daß ich hineilen könnte zu diesen armen Brüdern, welche zu solcher Erkenntniß gelangt sind, daß ich ihnen sagen könnte: wir wollen zusammen stehen, zusammen handeln!

Franz nahm seine Hand und sah ihn an. Du auch, Bruder, Du auch? sagte er erschrocken. Was faßt Dich an? Beginnt schon das Gift zu wirken, welches aus diesem Schreiben uns entgegenhaucht? Läßt sich Dein Verstand so bald umnebeln, daß Du schon jetzt zu taumeln beginnst? Ach! diese Worte bethören Dich, diese schlimmen Worte, welche verführerisch klingen, wie Worte des Teufels.

Lass den Teufel aus dem Spiel! lachte Wilhelm, mahne mich nicht an die elenden Mährchen! Vor hohlen Schrecknissen zu erzittern habe ich aufgehört die armen Leute brauchen wahrhaftig nicht erst an eine Hölle da drüben zu glauben.

Wilhelm, lästere nicht! mahnte Franz. Ich hätte nicht geglaubt, daß dies Schreiben voller Trugschlüsse und86 Widersprüche Dich so packen, so überwältigen könnte! Es klingt freilich schön, wenn sie sagen: die Liebe, die allgemeine Menschenliebe, welche in den Himmel geflohen ist, als die kindische, junge Erde sie noch nicht zu fassen vermogte, wird ihren Wohnsitz wieder an dem Orte, wo sie geboren und genährt ward, in der Menschen Brust haben. Wir werden unser wahres Leben nicht mehr vergebens außer und über uns suchen wir werden es in uns tragen, in uns selbst und werden es so wiederfinden in den Andern, in dem Verbande der ganzen Menschheit! Ach es klingt wohl sehr schön, wenn man so Etwas liest aber es klingt auch nur so es ist ein tönendes Erz, es sind Worte ohne Sinn und Verstand. Kannst Du Dir eine menschliche Gesellschaft denken, in welcher Alle zufrieden, Alle in harmonischer Gleichheit leben? Du mußt das verneinen, Du kannst Dir nicht einmal eine Vorstellung von einem solchen Zustand machen und willst doch Schritte thun, ihn heraufführen zu helfen? Und jetzt willst Du sie thun und wie? Können ein paar Menschen und noch dazu arme, ausgestoßene, zum Theil verwilderte Menschen das Bestehende umstürzen, und eine neue Ordnung der Dinge heraufführen? Verändert können, müssen unsere Zustände werden aber nicht durch einen Umsturz aller gegebenen Verhältnisse, sondern durch deren vernünftige Weiterentwicklung und Fortbildung. Ach Wilhelm, ich87 hätte Dich für verständiger gehalten, hätte nimmer geglaubt, daß Du dem Verführer ein so williges Ohr liehest!

Verführer nein, Erretter! Das ist nicht die Sprache der Heuchelei, welche man sonst nur zu hören gewohnt ist es ist die Stimme der Wahrheit, welche mich mächtig ergreift. Gieb ihn her, diesen Brief ich eile damit in die Schenke, ich lese ihn vor in unserm Kreis und man wird mir mit Jubelgeschrei zuhören komm mit gieb den Brief!

Bist Du rasend? rief Franz abwehrend. Nimmermehr! Komm zu Dir! Bedenke, welches Unheil Du anrichten würdest, wenn sie den frevelhaften Worten dieses Briefes Beifall riefen, wenn Dein erhitztes Gemüth sie zu gleicher blinder Hitze fortrisse, Du setztest Alles auf’s Spiel!

Du hast Recht, daß Du zur Vorsicht räthst, sagte Wilhelm gefaßter ja, sie könnten Alles verderben, und meine eigne frohe Wuth könnte jetzt vernichten, was wir erst im Dunkeln bauen müssen Du bist verständiger ich werde noch Nichts sagen, aber ich muß hinaus in’s Freie mir wirbelts im Hirne mir ist, als wollt es mir die Brust zersprengen mir ist, als hätt ich in meinen Armen Kraft, eine Welt ihrem gewohnten Gang zu entreißen und Alles zu zertrümmern. Leb wohl! oder gehst Du mit?

88

Franz sagte: Ich bleibe hier. Aber Du versprichst mir, von diesem Briefe keinem etwas zu sagen? Du versprichst, wenigstens jetzt und bis Du Die selbst darüber deutlicher geworden, von diesen Gedanken nicht zu reden, welche dies Schreiben in Dir erweckt hat? Um Deiner selbst willen um der guten Sache willen gleichviel, ob die Sache die gute sei, welche ich dafür halte, oder diejenige, welche Du dafür hältst versprich es, jetzt nicht von diesen Dingen zu reden!

Ja, ich versprech es! Ein Wort ein Mann! sagte Wilhelm ernst.

Es ist gut, ich glaube Dir versetzte Franz. Gute Nacht!

Gute Nacht wenn Du jetzt schlafen kannst, sagte Wilhelm mit wilder Stimme, die halb wie Gelächter klang, und ging fort.

Franz war allein.

Er setzte sich auf den hölzernen Schemel vor den Tisch, auf welchem die Lampe stand und das verhängnißvolle Schreiben lag.

Ich will es jetzt nicht noch ein Mal lesen, sagte er zu sich und schob es in den Tischkasten, in welchem seine Papiere und Schreibereien lagen. Dann verlöschte er die Lampe, sie sollte nicht umsonst brennen. Das Oel ist theuer und ein armer Arbeiter muß das bedenken. Die89 Julinacht draußen war hell, durch das kleine offen stehende Fenster der Kammer schauten die Sterne hell zu ihm herein, sie leuchteten ihm genug zu seinen verworrenen Träumereien. Er hatte seinen Ellenbogen auf den Tisch gestemmt, das Haupt in die Hand gestützt. So sann er. Bald rieselte es wie eisiger Schauer über seine ganze Haut, bald fühlte er sein Herz, seine Schläfe, seine Adern heftig pochen dann glitt eine große Thräne langsam, sehr langsam und sehr heiß über seine bleiche Wange.

Er flüsterte leise für sich. Solch stillgeführtes Selbstgespräch allein mit sich oder mit seinem Gott war für ihn eine Art von Bedürfniß geworden. Seine Genossen verstanden ihn ja nicht nicht einmal Wilhelm, das hatte er erst jetzt wieder erfahren. Ein Wesen gab es freilich, das ihn vielleicht verstanden hätte aber von all diesen Dingen wollte er ja nicht einmal zu der schweigend verehrten Geliebten sprechen, selbst wenn er es gekonnt hätte.

Jetzt sprach er zu sich:

Und was haben sie denn nun da Anderes gesagt und geschrieben, daß es mich so gewaltsam bewegt hat? Waren es nicht hier und da meine eigenen Worte, was ich da las? und doch wirbelt mir das Hirn, brennt meine Stirn mir ist, als sei ich plötzlich fieberheiß hinausgestoßen90 in eine große Nacht und läge da ringend in Fieberphantasieen mit tausend bleichen, wilden und wesenlosen Spukgespenstern, die ich nicht zu verscheuchen vermögte, die immer wieder sich zu mir herandrängten in ihre wirbelnden Kreise, mich mit fortzureißen, daß ich selbst nicht mehr weiß, wo aus, noch ein. Ich zürnte Wilhelm, daß er den verführerischen Stimmen dieses Schreibens, die mir doch so wahnwitzig, ungerecht und gotteslästerlich sind, ein so williges Ohr lieh, daß er sich ganz von ihnen bethören ließ und doch hallten sie auch mir immer wieder, wie harmonisches Getön in den Ohren, in der Seele und wollen mich auch umstricken und überwältigen.

Es ist fast vergebens, daß ich sage: hebe Dich von mir, Versucher! Er will nicht gehen es ist als habe meine Seele keine Macht mehr über ihn!

Er lehnte sich wie erschöpft an die Wand zurück und fuhr fort: Das sind auch die Versuchungen der Armen, von denen die Reichen nichts wissen, sie werden wohl auch oft hart versucht von ihren Schicksalen, von ihren Wünschen und selbst aus ihrer eklen Uebersättigung an den Bedürfnissen des lüsternen Lebens, selbst durch ihre Befriedigung, ihre Uebersättigung entspringt ihnen eine neue Quelle der Versuchung aber wie unerschöpflich dagegen ist doch die, welche zugleich mit dem Leben des Armen entquillt und es nimmer verlassend durchfluthet.

91

Den Armen quält der Hunger, der Frost, der Mangel an Allem, was zu den Lebensbedürfnissen gehört und sich von irgend einer dieser Qualen zu befreien, weiß er dein gesetzliches Mittel. Denn wie er auch arbeiten mag seine Arbeit wird so gering bezahlt, daß sie nimmer jene schlimmen Begleiter des Armen verbannen kann, welche von dem Augenblick an, als er auf hartem schlechten Lager geboren wird, ihn mit schauerlicher Treue auf allen seinen Wegen begleiten aber am Schlimmsten ist doch der Versucher, der zu dem Armen tritt und ihn höhnisch fragt: warum bist Du arm? Habe den Muth, es nicht mehr sein zu wollen und Du bist es nicht mehr und Tausende Deiner Brüder sind es nicht mehr aber diesen Muth zu haben, ist ein Verbrechen das sieht wohl der Arme ein und schaudert vor dem Verbrechen zurück er will es nicht begehen, er kann standhaft bleiben er kann den Versucher immer sieghaft bekämpfen, aber er kann ihn nicht vernichten er kann den Feind seiner Ruhe nicht verbieten, wiederzukommen.

Wenn einst diese Versuchungen aufhören könnten wenn eine in Liebe und Gleichheit verbrüderte Gesellschaft sie unmöglich machte? Wenn alle Menschen es vermöchten in heiliger Eintracht neben einander zu leben, daß nicht die Einen darben müßten, wo die Andern mitten im Uebersluß sich noch unbefriedigt fühlen?

92

Nachdem er eine Weile still und sinnend am Fenster gestanden, stumm in die Nacht hinaus und empor zu den Sternen geschaut hatte, trat er wieder zurück an den kleinen Tisch, auf dem die verlöschte Lampe stand. Er zündete sie wieder an, setzte sich nieder, nahm Feder und Papier zur Hand und begann zu schreiben. Er wußte es: wenn so in ihm alle Gefühle in Aufruhr waren, wie jetzt, dann kam der Gott des Liedes über ihn. In Versen versuchte er es, den gewaltigen Sturm seines Herzens ausrasen zu lassen, indem er ihn durch die Worte und Töne, welche er ihm gab, zwar noch vermehrte und erhöhte, aber ihn so auch wohlthuend und weihevoll für seine Seele machte.

So schrieb er jetzt:

Es zieht ein Ahnen durch die Menschenseelen
In banger Lust, in des Verlangens Pein,
Als könnten Erd und Himmel sich vermählen,
Als könnte auch die Menschheit glücklich sein.
Doch alles Leben ist ein dumpfes Quälen,
Vergeblich Jagen nach des Glückes Schein,
Es ist ein Ringen ohne Rast und Frieden,
Denn alle Ruh ist aus der Welt geschieden.
Und ob auch ringsum Freudenblumen blühen
Wer ist, der sie zum Heil der Menschheit bricht?
Die Menschheit ringt im Staub, in dumpfem Mühen,
Der Arme weiß von anderm Ziele nicht,
93
Der Sclave kann nicht für das Recht erglühen,
Von dem nur leis die innre Stimme spricht.
Ein großer Fluch ist in die Welt gekommen,
Er lastet schwer er wird nicht weggenommen!
Den Armen ist das Himmelreich beschieden
Einst klang dies Wort als Tröstung durch die Welt,
Der Mensch soll dulden, leiden nur hienieden,
Der Glaube ist es, der ihn aufrecht hält!
Im stillen Hoffen auf des Himmels Frieden
Ertragen alles Leid, wie’s Gott gefällt,
So heischen es die frommen Christuslehren,
Durch Himmelstrost die Erde zu verklären.
Doch warum nur die Armen so ermahnen?
Warum, nur sie verweisen auf das Dort?
Warum daß nur auf ihren Lebensbahnen
Das Grab erscheint als einzger Friedensort?
Warum? und wieder naht ein banges Ahnen
O flieh, Versucher, fliehe von mir fort!
Die Menschen nur nicht Gott ist zu verklagen,
Die Menschen, die den Gott an’s Kreuz geschlagen.
Ach käm er, diese Welt erlösend, wieder
Und stiftete ein irdisch Liebesreich,
Wo alle Menschen nicht nur Glaubensbrüder,
Wo sie in Wahrheit all einander gleich,
94
Dann käm der Himmel zu der Erde nieder,
Dann wär gelöst der Fluch von Arm und Reich,
Und Millionen sänken Brust an Brust
Und würden sich des Daseins Glück bewußt!
O daß er käme zu der armen Erde
In dieser bösen unglücksel’gen Zeit
Auf daß es Frieden bei den Menschen werde,
Auf daß er sie aus ihrer Schmach befreit
Und durch die Liebe alles Sein verklärte,
Das jetzt durch Druck und Selaverei entweiht.
O daß ein Gott zu uns herniederkäme
Mit unserm Wahn auch unser Leid uns nähme!

Er stand auf, legte die Feder weg, trat an’s Fenster und faltete seine Hände.

Schöner Traum, sprach er wieder, seine sinnende Stirn in die rechte Hand drückend: vielleicht erfüllbar auf einem schönern Sterne! Vielleicht, daß da oben unter diesen Tausenden strahlender Kugeln, auch eine solche Erde ihre ewigen Bahnen zieht, auf der alle Wesen in brüderlich heiliger Eintracht vereint leben vielleicht, daß dort dieser Traum mehr ist, als ein müssiges Spiel der Phantasie aber hier kann er nimmer zur Wirklichkeit werden, auf dieser unfähigen Erde mit diesen schwachen Wesen, die sich Menschen nennen. Wir haben ja mit uns selbst nie Frieden im Innern wir können nicht, wir95 dürfen nicht im geträumten seligen Frieden leben wir müssen kämpfen, damit wir unsere Kraft üben, kämpfen und ringen.

Wir sollen uns nehmen, was man uns verweigert? Wir sollen die Reichen zwingen, mit uns zu theilen. Und unser Gewissen? Und unser Gott?

Ha! Das ist es! Auch mit der Religion wollen sie ein Ende machen auch den Glauben nennen sie eine Dummheit! Und da wachen laut in meiner Brust Tausend Stimmen auf und schreien dagegen da ist mir, als rissen sie mir mein Herz aus, während ich noch athme und ließen mich allein in einer Nacht nicht sanft und mild und hell wie diese in einer Nacht ohne Sterne.

Ach, seht Ihr auf mich herab Sterne des Himmels, gebt mir Licht!

Es war auch einmal so eine Stunde, wo ich den Himmel fragte, ob es einen Gott gebe! Da lebte meine Mutter noch und hört es und ward bleich und sank auf ihre Kniee nieder und betete einen frommen Spruch und weinte laut. Sie faßt es gar nicht, daß man so fragen könnte, und meinte vor Schauder zu sterben. Was ist’s denn nun weiter? fragt ich sie noch. Weiter? Es ist Alles sagte sie. Wenn Du keinen Gott mehr hast, bist Du auch kein Mensch mehr Sie wußte es nicht96 zu erklären aber ich ging fort, dachte lange darüber nach und fühlt es: sie hatte Recht.

Mir ist, als hört ich das dunkle Wort meiner Mutter von den Sternen herüber.

Und die Armen die Reichen?

Ach, nur Menschenrechte den Armen, sonst nützt es ihnen auch nicht, daß sie Gott haben!

Gebt uns Menschenrechte gieb uns Menschenrechte, o Gott!

Sollen wir sie uns selbst nehmen?

Hebe Dich von mir, Versucher!

97

VI. In der Fabrik.

Laut läutet das Herz der Jungfrau!
Mit ihres Gebetes rauschender Harfe
Begrüßt sie den Aufgang der Liebe,
Des großgeaugten Sterns.
Karl Beck.

Kammerjunker von Aarens erschien graziöser und eleganter als je auf Schloß Hohenthal. Vor einigen Tagen hatte ihn Elisabeth abweisen lassen er hoffte sie heute mit ihren Eltern zu treffen und wollte sie durch unwiderstehliche Liebenswürdigkeit dafür bestrafen, daß sie sich bei seinem letzten Besuche unsichtbar gemacht, sie sollte dies bereuen.

Die Gräfin Hohenthal hatte ihn empfangen, er war siegesbewußt eingetreten, sie hieß einen Diener Elisabeth rufen. Die Augen des Kammerjunkers leuchteten, er that einen Griff in die gebrannten Locken, kräuselte mit zwei Fingern den Schnurrbart, warf einen verstohlnen Blick in den Spiegel und lehnte sich selbstgefällig auf dem Sessel98 zurück. Da kamen Tritte er wähnte schon Elisabeths seidnes Kleid rauschen zu hören die Thüre öffnete sich er sprang auf und warf sich in eine unnachahmliche Stellung aber statt der Ersehnten trat ein Diener ein und sagte:

Das gnädige Fräulein ist vor einer Viertelstunde ausgeritten. Sie hat den Portier beauftragt, wenn nach ihr gefragt würde, da im Augenblick ihrer Entfernung die gnädige Frau Gräfin wohl noch Mittagsruhe halte, zu sagen, sie sei nach der Fabrik geritten und werde vielleicht erst in ein paar Stunden wiederkommen.

Aarens machte ein bestürztes und einfältiges Gesicht, er hatte bei dieser Enttäuschung alle Fassung verloren. Die Gräfin rang mühsam danach, die ihrige zu erhalten.

Ist meine Tochter allein ausgeritten? fragte sie.

Der Reitknecht hat sie begleitet weiter war Niemand bei ihr.

Es ist gut.

Der Diener war entlassen.

Liegt die Fabrik besonders schön, daß Ihre gnädige Fräulein Tochter dahin Ausflüge macht, noch dazu einen Ausflug von einigen Stunden?

Ich war niemals dort, sagte die Gräfin ausweichend, mir ist alles Fabrikwesen zuwider, ich habe eine, glaub ich, angeborene Abneigung dagegen.

99

Diese theile ich vollkommen. Sowohl der Lärm dieser Maschinen, wie die Rohheit Aller, welche damit umgeben, ist das Abschreckendste, was ich kenne. Und nun besonders dieser Herr Felchner! Man zeigte mir ihm neulich im Cursaal. Er kam mit vier Pferden angefahren wie ein Fürst und aus dem Staatswagen stieg das kleine, zusammengedörrte Männchen, in dem schäbigsten grauen Anzuge, den man sich denken kann. Sein Benehmen war auch von der größten Unhöflichkeit, es war, als sage er mit jedem Blick: ich bin hier der Erste, denn ich bin der Reichste. Nein! Es giebt nichts Entsetzlichers, als diese Geldmenschen, diese Industriekönige.

Gewiß sagte die Gräfin und hätte das Thema gern auf einen andern Gegenstand gelenkt, aber Aarens war einmal im Zuge und fuhr in gleichem Tone fort:

Von seiner Tochter erzählt man die fabelhaftesten Dinge, ich selbst habe sie noch nicht gesehen, es soll ein niedliches Kind sein, welches auch fürstlich erzogen worden und erst seit Kurzem hier ist. Sie soll sich aus Ermangelung anderer Anbeter die hübschesten Fabrikarbeiter zu ihrem Umgang wählen nicht etwa die Factoren, Buchhalter und Commis, die ihr vielleicht ebenbürtig sind, sondern Menschen der ausgeworfensten Classe, die um den niedrigsten Tagelohn arbeiten in der That, das ist ein100 göttlicher Stoff zu einem Lustspiel Seirbe sollte ihn benutzen.

Das ist ja unmöglich, sagte die Gräfin, ein Mädchen von so guter Erziehung kann niemals so weit herabsteigen, und wenn sie auch von bürgerlichem Herkommen und die Tochter eines gemeinen Vaters ist.

Eben darin liegt der größte Spas der Vater ist in Verzweiflung über diese Aufführung seiner Tochter und bewacht sie deshalb streng aber sie weiß ihn zu hintergehen. Wenn man nicht fürchten müßte, es wäre zu widerwärtig, müßte es eigentlich interessant sein, dies Mädchen einmal zu sehn.

Die Gräfin litt während dieser Rede unbeschreiblich, sie wollte es nicht zugestehen, daß dies Mädchen Elisabeths Freundin sei, und war doch gewiß, daß binnen Kurzem ein Zufall oder Elisabeth selbst es dem Kammerjunker verrathen würde. Die Gräfin konnte Paulinen nicht übel wollen, sie konnte nicht glauben, was Aarens von ihr erzählte, aber sie sah ungern die Freundschaft Elisabeth’s mit diesem bürgerlichen Mädchen, welches die Tochter eines Mannes war, der ihr wie der ärgste Feind ihres Hauses erschien. Aber sie wußte, daß in dieser Sache ihren Vorstellungen Elisabeth kein Gehör gab, und dafür hatte ihr ja nun eben der gegenwärtige Augenblick einen Beweis geliefert. Der Umgang der Freundinnen hatte ihr101 abgebrochen geschienen seit den Differenzen zwischen dem Grafen und dem Fabrikanten und jetzt wußte sie die Tochter auf dem Wege nach der Fabrik!

Elisabeth war noch keine Viertelstunde fort, wie sie dem Portier aufgetragen hatte zu sagen, als man nach ihr schickte, sondern erst wenig Minuten. Sie war schon entschlossen gewesen auszureiten, um Paulinen zu sehen, denn das Bedürfniß nach freundschaftlicher Mittheilung ließ sie nicht länger zögern aber als sie Aarens ankommen sah, ließ sie sogleich ihr Pferd vorführen und entfernte sich. Sie wußte selbst nicht warum, aber Aarens war ihr nicht nur langweilig, sondern sogar widerlich und dies beinahe um so mehr, als ihre Eltern von ihm meist Abend’s sprachen und seine Gesellschaft gern hatten.

Elisabeth war der Fabrik schon ziemlich nahe, und die Ungeduld, ihr Ziel bald zu erreichen, ließ sie ihr Pferd zur Eile antreiben, als sie einen einsamen Wanderer des Wegs kommen sah, sie erkannte ihn und ließ plötzlich ihr Thier langsamer gehn. Es war Jaromir. Er hatte sie längst erkannt, er stand still und grüßte. Ein seelenvoller, inniger Blick, ein frohes Lächeln schöner Ueberraschung begleiteten den üblichen Gruß. Aber er wagte nicht sie anzureden. Sie warf ihm einen gleich frohen, innigen Gruß zu und ritt langsam vorüber. Nach einer Weile kehrte er um und folgte ihr, das Auge fest auf die102 schöne Gestalt der Reiterin gerichtet. Auf dem kleinen Hügel blieb er stehen, von dem aus man die nahe tiefer liegende Fabrik übersehen konnte. Er sah, wie Elisabeth ihr Pferd vor dem Hauptgebäude anhielt, wie ein junges Mädchen heraustrat und der Absteigenden um den Hals fiel, dann das schöne Thier, das sie hergetragen, schmeichelnd mit der kleinen Hand klopfte. Er besann sich, daß dies dasselbe Mädchen sei, mit welchem er hier Elisabeth zuerst wiedergesehen, und welches ihm Waldow als die Tochter des Fabrikanten bezeichnet hatte. So freute sich jetzt Jaromir, als er in Elisabeth eine neue ungewöhnliche Eigenschaft bei einem Mädchen ihres Standes und ihrer Erziehung entdeckte, sie fröhnte also keinem Vorurtheil, nach welchen: sie ihr Vertrauen abmaß, wie es das Herkommen wollte!

Es war gerade vier Uhr und die Glocke läutete zu der Feierstunde des sogenannten Halbabend. Die Arbeiter ergingen sich im Freien. Es fiel Jaromir ein, daß er zu ihnen hinabgehen wolle, ob man ihm vielleicht eine oder die andere interessante Maschine zeigen, ob er vielleicht eine oder die andere Notiz von Wichtigkeit über industrielle Einrichtungen und Erfindungen erhalten könne. Er ging also hinunter und auf die vier ersten Arbeiter zu, welche ihm begegneten. Es war Franz neben August; Wilhelm neben Anton.

103

August stieß Franz an und sagte: Sieh einmal, das ist ein schönes Herrchen wer weiß, am Ende ein Freier für unser Mamsellchen.

Franz warf einen prüfenden Blick auf Jaromir und sagte ernst: Ja, er hat Etwas in seinem Gang und seinem Gesicht, was die andern vornehmen Leute nicht haben er sieht vornehmer aus als sie Alle aber das macht bei ihm nicht nur der Anzug es ist, als käm es von innen heraus, als hab er einen vornehmen Geist.

Ich mögte wohl wissen, wie unser eins aussähe in solch feinem Rock, meinte August, ich glaube närrisch genug, und doch, wenn wir Geld hätten, könnten wir uns eben so anziehen, und wenn wir nicht zu arbeiten brauchten und den ganzen Tag faullenzen könnten, hätten wir auch solche Hände sieh einmal, die sind so weiß, wie sie bei uns kein Mädchen hat, nur etwa Mamsell Paulinchen.

Der so Gemusterte trat jetzt zu den Arbeitern und sagte leicht:

Guten Tag, meine Herren.

Er hatte sich diese Redensart einmal angewöhnt, seitdem das Jahr 1830 nicht mehr hatte dulden wollen, daß der Aristokrat den Bürger anders als Herr anrede, und da er recht wohl fühlte, wie ein Duzend Jahre später mit der Zahl der Jahre auch die Zahl der Fordernden104 sich ins Ungeheure vermehren mußte, so dehnte er seine Redensart meine Herren von den Bürgern auch gern auf die Proletarier aus, und in dieser unwillkürlichen Gewöhnung lag ein viel tieferer Sinn, als er selbst sich träumen ließ. Er sagte also:

Guten Tag, meine Herren.

Über die Gesichter der so Begrüßten zog es wie ein augenblicklicher Sonnenschein, so erfreuen kann ein armseliges, gedankenlos hingesprochenes Wort. Aber Wilhelms Gesicht verfinsterte sich noch schneller, als eine schwarze Gewitterwolke einen Sonnenblick vernichtet, denn auch so verwunden kann ein armseliges Wort, und indes die anderen höflich ihre schlechten Mützen abnahmen, antwortete er düster:

Wir sind keine Herren, wir sind arme Arbeiter.

Sind Sie ihrer viele hier? fragte Jaromir.

Ein paar Hundert , antwortete Anton und spitzte die Ohren, Weiber und Kinder nicht gerechnet.

105

Eine Schar blasser, in Lumpen gehüllter Kinder hatte sich müde auf einen sonnigen Platz gelegt, einzelne von ihnen kauten an harten Brotrinden, andere warfen auf diese neidische Blicke. Jaromir warf einen mitleidigen Blick auf diese armen Geschöpfe und sagte:

Diese Kleinen sehen sehr müde aus.

Ist wohl ein Wunder! versetzte Wilhelm bitter. Sie müssen den ganzen Tag beschwerliche Arbeiten verrichten so gut wie unsereiner, drum sind sie froh, wenn sie ein paar Minuten in der Sonne ausruhen können.

Den ganzen Tag? Gehen sie denn in keine Schule? rief Jaromir verwundert.

Sonnabends nachmittags, wo wir um vier Uhr Feierabend haben sagte August, brauchen sie gar nicht zu arbeiten, da kommt ein Lehrer aus der Stadt heraus, ein abgedankter Unteroffizier, und prügelt sie, weil sie wieder vergessen haben, was er ihnen vor acht Tagen vorher gesagt das heißt, sie in die Schule schicken.

Jaromir flüsterte für sich: Mein Gott! Auch in Deutschland?

August fuhr fort: Die Faktoren versichern uns, daß sie da genug lernen, denn was sie für’s Leben brauchen, lernen sie ja eben bei der Fabrikarbeit. Zu lesen und zu schreiben braucht ein Mensch nicht, der es doch nie weiterbringen kann, als bis zu einem armen Fabrikarbeiter.

Jaromir warf einige kleine Münzen unter die Kinder, welche mit tierischem Geschrei deraüber herfielen, die Geldstücke einander wieder gegenseitig wegzureißen suchten, sich darum prügelten und herumzerrten, es war ein trauriges106 Schauspiel! Ein kleiner Knabe stellte sich schreiend vor Jaromir hin und jammerte, indem er die leeren Hände zeigte:

Ich hatte ein großes, rothes Stück, die Andern haben es mir wieder weggerissen.

Schäme Dich! sagte Franz. Du weißt, daß Du nicht betteln sollst. Er fuhr fort, während Jaromir noch ein kleines Geldstück für das Kind suchte. Herr, nun werden Sie gewiß sagen, daß die Fabrikkinder eine böse Brut sind so ist’s auch, sie fluchen wie alte Sünder, sie führen häßliche Reden und machen sich freche Späße, sie betteln und stehlen, sie betrügen und balgen sich untereinander und wenn diese Kinder groß werden, so wachsen ihre Laster mit Herr! Sie haben Mitleid für diese Elenden, ich sehe es Ihnen an, sonst hätten Sie sie auch nicht beschenkt d’rum sag ich’s Ihnen: was können diese Kinder dafür, daß man sie wild aufwachsen läßt und zu Verbrechern erzieht?

In diesem Augenblicke mahnte die heftig gezogene Glocke wieder zur Arbeit Alles lief wieder in die Fabrikgebäude. Wir müssen an die Arbeit, sagte Franz zu Jaromir, der ihn staunend angesehen hatte, während er sprach, wollten Sie etwa zu Herrn Felchner dort ist das Wohnhaus.

Jaromir folgte Franz, der mit den Andern schnell zur Arbeit laufen wollte. Er sagte: Ich mögte mich wohl ein Wenig umsehen und auch noch länger mit Ihnen reden, kann ich Ihnen nicht folgen?

107

Franz schüttelte mit dem Kopf. Das geht nicht, umsehen dürfen Sie sich wohl, aber nicht gleich so mit einem Arbeiter hereingehen, und reden können wir eben auch nicht viel bei der Arbeit, das würde übel vermerkt werden dort kommt gerade der junge Herr Felchner selbst, der kann Ihnen ja Alles am Besten zeigen.

Die Fabrikherrn beschreiben die Sachen wohl anders als die Arbeiter sagte Jaromir, doch ich danke für Ihre Gefälligkeit damit drückte er Franz einen Thaler in die Hand und wandte sich schnell nach Georg Felchner, welcher unweit von ihm stehen geblieben war.

Ich danke, Herr, sagte Franz, das kommt in unsere gemeinschaftliche Casse, und ich danke Ihnen im Namen aller meiner Kameraden. Damit ging er eilends, wohin ihn die Glocke rief.

Jaromir wandte sich an Georg: Mein Herr, ich bin fremd hier es würde mir interessant sein, wenn ich mich in dieser Fabrik umsehen dürfte man hat mir Sie als den Besitzer bezeichnet und ich frage deshalb bei Ihnen um Erlaubniß an?

Georg sah gerade fast noch mürrischer als gewöhnlich aus, doch bemühte er sich ziemlich höflich zu sagen: Ich bin eben im Begriff, in dies Gebäude rechts zu den neuen Dampfmaschinen zu gehen, welche wir kürzlich haben aus England kommen lassen, wenn Sie mich begleiten wollen,108 so stehe ich gern zu Diensten, Ihnen die Sache zu erklären. Zwar Sie sprechen wohl auch Englisch?

Allerdings.

Nun dann können Sie es Sich auch von dem Engländer selbst erklären lassen, welcher dort die Oberaufsicht hat und den wir uns mit den Maschinen zugleich haben kommen lassen, er spricht nur ganz schlecht Deutsch, außer mir und meiner Schwester kann Niemand hier Englisch, und so macht er uns zu weilen viel zu schaffen. Es entstehen immer Mißverständnisse zwischen ihm und den Leuten, oder diese lachen ihn gar aus.

Es muß lästig sein, in einer solchen Fabrik einen Ausländer im Dienst zu haben.

Bah wir sind froh, daß wir ihn haben.

In diesem Augenblick kam ein Factor auf Georg zu und sagte aufgebracht: Der alte Andreas kam wieder halb betrunken zur Arbeit und stieß wider eine Walze, daß wir Mühe genug hatten, den größten Schaden zu verhindern ganz so ist es aber nicht abgegangen.

So soll man ihm, dem Andreas, am Lohn abziehen, versetzte Georg ärgerlich.

Der Schaden ist größer.

Desto schlimmer auf seine Kosten kommt man einmal bei diesem Volke niemals, es soll nur eine Warnung sein, daß er sich ein ander Mal besser in Acht109 nimmt. Während der Factor sich entfernte, fuhr Georg fort: Nichts als Aerger und Unkosten bei diesem rohen Volke; das dann noch immer thut, als wären schlechte Zeiten, diese Leute verdienen wahrhaftig ihr Geld mit Sünden.

Während dieser hingeworfenen Aeußerungen waren sie in das Innere der Fabrik getreten.

Georg gab Jaromir in der Kürze die nöthigsten Erläuterungen, die sich mehr auf die Einrichtungen einzelner Maschinen im Besondern, als auf diese der Fabrik im Allgemeinen bezogen. Jaromir schien zwar sehr aufmerksam zu sein, lieh diesen Worten aber doch nur ein halbes Ohr; seine Blicke ließ er öfter über die jammervollen kleinen Gestalten und blöden Gesichter der Kinder gleiten, oder über die mürrischen und thierischen Züge der ältern Fabrikarbeiter, oder über die gemeinen und böswilligen Erscheinungen der Frauen; seine Gedanken aber weilten noch in ganz anderem Kreise. Elisabeth war bei Georgs Schwester er war ihr so nahe und sollte sie nicht sehen sie hatten denselben Weg zurückzulegen und er sollte sie allein lassen?

Er sagte jetzt zu Georg: Sie haben Sich so bereitwillig für einen Fremden bemüht, nehmen Sie dafür meinen verbindlichsten Dank, und wenn Sie einmal den110 Namen Jaromir Szarinh hören, so erinnern Sie Sich meiner.

Georg machte eine stumme Verbeugung und sagte dann: Sie sind wohl ein Gast der neuen Wasserheilanstalt?

Allerdings; die romantische Umgebung hat mich einige Zeit hierher in die freie Natur gelockt.

Da haben Sie aber einen weiten Weg gemacht, Sie werden das bei der Rückkehr empfinden, wenn Sie nicht erst eine Weile bei uns ausruhen wollen.

Sie werden mich sehr verbinden, wenn Sie mir dies erlauben wollen, allein ich muß fürchten, Sie in Ihren Geschäften zu stören.

Erlauben Sie mir, Sie in das Wohnhaus zu begleiten, und entschuldigen Sie dann, wenn ich Sie wieder auf einige Augenblicke verlasse.

Man trat in das Haus. Wo ist mein Vater? fragte Georg eine Magd, die in der Hausflur beschäftigt war.

Sie antwortete: Er hat sich in das Comptoir mit zwei Rechnungsführern eingeschlossen und mir den Auftrag gegeben, Jedermann zu sagen, er sei nicht zu Hause, kein Mensch dürfe ihn vor dem Abend stören.

Sie entschuldigen, sagte Georg zu dem Grafen, ohne durch die allzunaive Antwort der Magd im Mindesten111 in Verlegenheit gesetzt zu werden, das ist so Brauch in unserm Geschäftsleben, es läßt uns wenig Zeit für andre, Dinge und für andre Menschen. Dann fragte er die Magd wieder: Ist meine Schwester in ihrem Zimmer oder unten?

Sie wird Besuch haben, antwortete die Magd, und sagte mir, ich solle sie nicht unnöthiger Weise rufen.

Jaromir lachte, diese Art und Weise Jemand zu empfangen, der einen Besuch machen will, kam ihm sehr spashaft vor, Georg aber fuhr hitzig auf: So werde ich wohl selbst Pauline fragen müssen, ob es ihr gefallen wird, meine Anordnungen für nöthig oder unnöthig zu halten.

Kaum hatte er dies ganz ausgesprochen, als Pauline an Elisabeths Arm die Treppe herab kam. Die Mädchen waren im Begriff, in die Gartenlaube zu gehen. Man ward einander vorgestellt, und ging dann gemeinschaftlich in den Garten und nahm da in der Laube Platz. Nach wenig Augenblicken entfernte sich Georg.

Elisabeth und Pauline erzählten Jaromir wechselsweise, wie sie zusammen erzogen und Freundinnen geworden wären und sich nun unbeschreiblich glücklich fühlten, gerade in dieser Einsamkeit einander so nahe zu sein. Jaromir hörte mit Vergnügen zu und warf manchen innigen Blick auf Elisabeths leuchtende Augen.

112

Eine glückliche Stunde zog sich über die drei Menschen hin, eine Stunde, die nach ihren besten Momenten sich nicht beschreiben, sondern nur fühlen läßt. Ein Sommerabend still und heiter, an dem die Heimchen flüsternde Weisen unter wallenden Grashalmen zirpen, wo die Abendblumen ihre geheimnißvollen Blüthenkelche scheu und vorsichtig öffnen, Düfte wunderbar aushauchen, große goldne Augensterne allmälig aufschlagend, wo Schmetterlinge darüber hinziehen, in mystischen Kreisen von Blüthe zu Blüthe tanzend. Und wieder über den Schmetterlingen empor schwingen sich freudetrunkene Lerchen, schmettern ihre Lieder hoch in die Lüfte, lassen ihre lieblichen Töne wieder leise fallen und wieder klingen zu den lauschenden Feldern und Gärten. Da ist es, als richteten sich alle Halme auf und lauschten, als fragten alle Blumen mit emporgeschlagenen Augen zum Himmel auf, woher die wunderreichen Lieder tönten und auch das weichgewordene Menschengemüth lauscht empor und wird wonnetrunken und still und doch ist nichts Aeußerliches geschehen, nichts Neues, nichts Unerlebtes.

So war es auch jetzt den drei Menschen in der Laube. Pauline fühlte sich froh und verstanden, deßhalb zufrieden und heimisch, zum ersten Mal so recht heimisch in der Heimath, in der sie hinter lauter bekannten Gesichtern lauter fremde Seelen finden mußte. Jaromir und113 Elisabeth waren glücklich, ein ganzer Frühling blühte und sang in ihren Herzen und eine lachende Sonne strahlte wärmend darein. Ihre Worte waren aber nicht anders als das Heimchenzirpen, das Duften und Blühen der Abendblumen, das farbige Spielen der Schmetterlinge, das Singen der Vögel rings um sie nicht außerordentlicher, nicht neuer, nicht unerlebter. So wie diese Heimchen, Blumen, Schmetterlinge, Vögel schon an Tausend Abenden zu gleicher Naturfeier sich vereinigt, so wie es die drei Menschen schon oft selbst mit angesehen und erlebt hatten, so waren sie auch jetzt sich bewußt, noch niemals eine stillglücklichere Stunde verlebt zu haben, als diese, und doch war ihre Unterhaltung einfach und konnte alltäglich klingen und verrieth Nichts von der Herzen tiefinnerster Bewegung, außer, daß zuweilen das Feuer poetischer Beredtsamkeit von Jaromir’s Lippen flammte, daß seine Worte den Klängen der Lerche selber glichen, welche sich in das obere Himmelblau stürzte, indem die scheidende Sonne noch ihre Flügel vergoldete.

Es fiel Elisabeth schwer, an den Aufbruch zu denken; Jaromir blieb so lange unter dem Vorwande, daß er Georgs Rückkunft erwarten wolle; aber als jetzt Elisabeth aufstand, von dem hereindämmernden Abend erinnert, fragte er doch: Ob er sie begleiten dürfe?

Mein Pferd habe ich weggeschickt, sagte sie, weil114 ich den kleinen Rückweg zu Fuß machen wollte, und da ich noch am Tage zurückzukommen dachte und ein nachfolgender Diener mir lästig ist, hab ich auch diesen nicht bestellt, wollte vielmehr um Paulinens Begleitung bis an den Park bitten in unserm Park geh ich ja doch allabendlich allein.

Nun, sagte Pauline, so brechen wir zusammen auf.

Die Mädchen baten nun Jaromir, zu warten, bis sie ihre Hüte und Hüllen aus dem oberen Zimmer geholt, und entfernten sich deßhalb. So eben ward Feierabend geläutet. Jaromir trat aus dem Garten auf den freien Platz vor dem Hause.

Wilhelm und Anton kamen vorüber, sie stießen einander an, wie sie ihn gewahr wurden, und Anton sagte: Er ist immer noch da und treibt sich hier ganz allein herum. Glaubst Du nicht, daß das Etwas zu bedeuten hat? Und wer es wüßte, ob Gutes oder Schlimmes?

Nun, was könnte denn noch Schlimmes kommen? Anton, ich hoffe jetzt: Es giebt Leute, welche sich unsers Elendes erbarmen wollen, welche es gut mit uns meinen; gelehrte Leute, welche schreiben und was Rechtes gelernt haben, die sagen es gerade heraus, daß man uns Unrecht thut, und solche Leute müssen jetzt in unsrer Nähe sein ich weiß es gewiß wer weiß, ob er nicht Einer115 von ihnen ist er schien doch freundlich zu sein.

Und nun ist er noch immer hier, sagte Anton, am Ende hat er den Feierabend abgewartet, um noch mit uns zu sprechen.

In diesem Augenblick kamen Pauline und Elisabeth aus dem Haus und Jaromir ging mit freundlicher Anrede auf sie zu.

Die Arbeiter entfernten sich kopfschüttelnd, zusammen murmelnd.

In heitrer Unterhaltung wie vorher war die Stelle am Eingang des Parkes bald erreicht, an welcher Pauline von Jaromir und Elisabeth scheiden wollte. Die Freundinnen hielten sich eben umschlungen, als ein Wagen vorüber fuhr. Es war ein leichter zurückgeschlagener Phaeton, ein einzelner Herr saß darin man würde weder ihn noch seine Lorgnette bemerkt haben, wenn er nicht ein hämisches: Guten Abend aus dem Wagen der Gruppe zugerufen hätte.

Es war Kammerjunker von Aarens, welcher mit diesem Gruß, und indem er langsamer als erst vorüber fuhr, die Erkannten niederzuschmettern glaubte. Aber sowohl Elisabeth als Jaromir dankten unbefangen in gewohnter Art und Weise.

Wer war denn die Dame, welche jetzt das Paar116 allein läßt? fragte Aarens auf Paulinen deutend, welche den Rückweg antrat, seinen Kutscher.

Die Tochter des Fabrikanten Felchner? antwortete dieser.

Was Kerl, ist das wahr? rief Aarens außer sich.

Bestimmt, ich kenne sie genau versetzte der Kutscher.

Aarens schlug ein Gelächter auf und rief ein Mal über das andere: Das ist göttlich, himmlisch unvergleichlich!

Unterdeß ging Jaromir an Elisabeths Seite dem Schlosse zu.

Sie sprachen Wenig ihre Herzen schlugen zu laut und doch auch zu befriedigt, als daß sie hätten sprechen können. Sie gingen langsam, aber das Schloßthor war bald erreicht, an dem sie sich trennten.

Wie sie einander guten Abend boten, fragte er nun leise, ob sie morgen Nachmittag zu Hause sei, und sie antwortete ein freudiges, leises: Ja.

Später traf Anton wieder mit Franz zusammen. Was nur der fremde Herr so lang in der Fabrik wollte? fragte er.

Ich glaube wohl, daß Du in Allen Spione siehst, seitdem Du mit einem Stiefel zusammen gewesen.

Höre, sagte Anton, hat Dich das Mährchen auch117 angesteckt, Stiefel soll hier sein? Der, den August dafür hält, hat dunkle Haare und keinen Bart und Stiefel hat rothes Haar und langen Bart um’s ganze Kinn.

Später gefragt, mußte August dies selbst zugeben, man lachte ihn aus und ermahnte ihn, ein anderes Mal besser Acht zu geben Stiefel werde nicht wagen, je wieder in ihre Nähe zu kommen, versicherte Anton.

118

VII. Die Zwei.

Denkt Euch der Herren Wandergang,
Voran des Bettlers Kleid als Fahne!
Alfred Meißner.

Es war Abend. Die Geheimräthin von Vordenbrücken hatte mit dem jüngern Waldow ein empfindsames Stelldichein in irgend einem romantischen Bosquet, ihr Gatte saß allein zu Hause und dachte zum tausendsten Mal darüber nach, wie schlimm es sei, eine schöne Frau mit einer reichen Mitgift zu haben. Eine Frau, welche jedem eifersüchtigen Vorwurf des Gatten sogleich den andern entgegen setzen konnte, recht wohl zu wissen, daß er mehr um ihre Staatspapiere, als um ihr Herz geworben habe, eine Gattin, welche es immer geltend zu machen wußte, daß ohne ihren Reichthum ihr Gatte eine unbedeutende Rolle in der Gesellschaft spielen würde, und daß er deßhalb sie niemals in der glänzendsten Ausstattung derjenigen Rolle beschränke, welche sie selbst sich einmal vorgenommen,119 zu behaupten. So mußte er alle ihre Launen dulden, sie überall hin in die große Welt begleiten, wo er selbst sich und Andere langweilend eine erbärmliche Figur spielte, mußte ihre Liebhaber als Hausfreunde verbindlich willkommen heißen, und jetzt hatte sie es gar dahin gebracht, ihm durch seine Aerzte zu beweisen, daß der Gebrauch einer Wassercur in einer entfernten Wasserheilanstalt für seine Gesundheit ganz unerläßlich sei. Er hatte vergebens versichert, daß er sich ganz wohl fühle und einen ordentlichen Abscheu gegen alles Wassertrinken habe gerade deshalb fand man die Wassercur für ihn um so unabweißlicher nothwendig. Die zärtliche Gattin versicherte, daß sie sich ewig Vorwürfe machen würde, wenn sie zugebe, daß der Gemahl die Pflege seiner Gesundheit in gleicher Weise vernachlässige wie bisher daß sie darauf bestehen müsse, daß er ärztlichem Ausspruche sich füge, und daß sie ihn selbst begleiten werde, um den gewissenhaften Gebrauch des Bades selbst zu überwachen. Frau von Vordenbrücken gehörte mit zu den durch die Journale Mystifizirten; sie hatte gelesen, daß jetzt die Wasserheilanstalt zu Hohenheim der fashionableste Kurord Deutschlands sei so durfte sie dort nicht fehlen. Die Kur selbst zu brauchen, fand sie langweilig und bürdete sie deshalb ihrem Gatten auf. Da dieselbe sehr viel Zeit erforderte und die Abendluft dabei gemieden werden mußte, konnte sie um so mehr ohne seine120 stäte Nähe und Begleitung ihren Vergnügungen ungehemmt nachgehen.

Als jetzt der Geheimrath sich in diese unerquicklichen Betrachtungen seines ehelichen Lebens versenkte, hörte er ein bedächtiges und zugleich eiliges Klopfen an der Thüre. Auch ein Thürklopfen kann voll tiefster Charakteristik sein das jetzt gehörte war es: es war das Klopfen eines Menschen, welcher in allen Dingen sehr vorsichtig zu Werke geht und doch zugleich immer sehr pressirt ist.

Der Geheimrath rief laut: Herein! erfreut eine Unterbrechung seines Gedankenkreises zu finden, und schritt schnell der Thüre zu, um zu öffnen.

Ein langer dürrer Mann mit einer ausgesucht maliziösen Miene trat ein.

Guten Abend, mein lieber Doctor Schuhmacher! rief der Geheimrath. Ihr Besuch freut mich außerordentlich ich hätte Sie längst schon gebeten, mir denselben öfter zu gönnen allein Sie schienen mir immer mit so viel wichtigen Dingen beschäftigt, so pressirt, daß

Wirklich schien ich das? unterbrach Schuhmacher und machte dabei ein bestürztes und ziemlich albernes Gesicht. So hätte ich dies Mal meine Rolle wirklich schlecht gespielt?

Ihre Rolle? Ich verstehe Sie nicht recht aber121 nehmen wir Platz. Sie werden mir doch heute Ihre Gesellschaft nicht sogleich entziehen?

Schuhmacher setzte sich. Wenn wir ungestört sind, sagte er; mich führt allerdings eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit zu Ihnen. Aber vielleicht ist in Ihrem Nebenzimmer Gesellschaft oder Ihre Frau Gemahlin ?

Ich bin vollkommen einsam es ist dies nicht das Local dazu, viel Gesellschaft zu empfangen, und was meine Frau betrifft, so ist sie ausgegangen, und ich denke, sie wird noch lange nicht wiederkommen der geduldige Ehemann konnte dabei doch einen leisen Seufzer nicht unterdrücken.

Nun so bin ich zur guten Stunde gekommen, sagte Schuhmacher geheimnißvoll, denn die Unterredung, welche ich mit Ihnen haben werde, wird allerdings keine Zeugen dulden es ist doch Niemand von Ihren Dienstboten im Vorsaal oder nebenan? Sie erlauben, daß ich nachsehe und die Thüren verschließe.

Der Geheimrath versicherte wiederholt, daß Niemand in der Nähe sei, Schuhmacher untersuchte aber doch zu bessrer Vorsicht alle Thüren, verschloß dann die äußere, setzte sich und begann:

Daß ich mich hier befinde, geschieht nicht etwa, um die Mode mitzumachen, oder diese lächerliche Cur zu brauchen.

122

Der Geheimrath biß sich in die Lippen Schuhmacher stellte sich, als ob er das nicht bemerke und fuhr fort:

Ich bin von Amtswegen hier, und Nichts konnte mir bei der wichtigen Angelegenheit, welcher ich mich schon seit längerer Zeit unterzogen habe, mehr zu Statten kommen, als daß in dieser Gegend, welche der geheime Schauplatz staatsgefährlicher Bewegungen ist.

Der Geheimrath schrak auf: Staatsgefährliche Bewegungen! Hier! In der That, ich erstaune! Wie sollte hier der Sitz einer staatsgefährlichen Bewegung sein, wo es weder eine Universität, Akademie, noch irgend ein Institut giebt, in dessen Schoose sie keimen oder sich verkriechen könnte? Staatsgefährliche Bewegung hier, wo es keine gefährlichen Menschen giebt weder Advocaten, noch Künstler, Literaten und andere unnütze Subjekte, aus deren rebellischen Köpfen demagogische Pläne kommen könnten hier!

O, mein theurer Freund, Sie mißkennen die Zeit, Sie stellen sich auf den Standpunkt, welchen wir vor dreißig oder auch vor zehn Jahren einnahmen. Jetzt gilt es ja gar nicht mehr, vor den Burschenschäftlern mit ihren schwarz-roth-goldnen Tiraden auf der Hut zu sein, auch haben wir nicht den schäumenden Julirausch zu fürchten, welcher achtzehnhundertunddreißig auf ein Mal aus den123 Bürgern ganz aparte Menschen machen wollte nein, vor diesen Dingen fürchten wir uns nicht mehr. Die Deutschthümelei ist, wie Sie wissen, vollkommen erlaubt, denn die Majestäten sprechen ja selbst von einem einigen Deutschland und die Toaste auf dieses sind vollkommen offiziell. Auch die Julimänner machen uns Nichts mehr zu schaffen, es ist ihnen ja unbenommen, in den Ständesälen schöne Reden zu halten und einander Adressen zu schicken. Daß dies Alles ohne weiteren Erfolg bleibt, wird uns ergebenen Dienern der Regierung und der Polizei ein Leichtes zu bewerkstelligen aber hier haben wir es mit einem ungleich gefährlicheren Feinde zu thun und deßhalb um meinen Satz von vorhin zu beenden, konnte mir Nichts erwünschter kommen, als die Anlegung dieser Wasserheilanstalt. Sie gab mir Gelegenheit, hier einen längern Aufenthalt zu nehmen, ohne mich irgend Jemand verdächtig zu machen, ohne den wichtigen Zweck meines Hierseins irgend wem zu verrathen.

Ich begreife jetzt immer noch nicht klar, wo Sie hinaus wollen denn die Nachricht von den Unruhen der Eisenbahnarbeiter ist doch zu neu, bedarf noch der Bestätigung.

Schuhmacher fiel dem Geheimrath in’s Wort: Unruhen, Eisenbahnarbeiter was wollen Sie damit?

Also ist es nicht gegründet? fragte der Andere gelassen. 124 Daß Sie es hätten lange vorausahnen können, schien mir mindestens unglaublich.

Ich bitte Sie um Gottes willen, rief Schuhmacher außer sich, was wollen Sie mit den Eisenbahnarbeitern? Was wissen Sie?

Sie wissen also Nichts?

Foltern Sie mich nicht länger, reden Sie heraus.

Nun, da Sie es nicht wissen, ist es gewiß nur ein leeres Gerücht meine Wirthsleute erzählten mir, die Arbeiter an der nächsten Bahn Sie wissen, man arbeitet jetzt ungefähr sieben Stunden von hier hätten ihre Arbeit eingestellt, um einen höhern Lohn zu erzwingen.

Das wäre ja entsetzlich! Und wenn soll das geschehen sein?

Ich glaube erst heute.

Sonst hätt ich es wissen müssen ich muß sogleich mit Ihren Wirthsleuten sprechen, die Geschichte von ihnen selbst hören. Waren sie dort?

Ich glaube, Ihr Sohn arbeitet dabei und ist eben zurückgekommen, um sich so aus der Schlinge zu ziehen.

Theuerster Freund! Erweisen Sie mir vor allen Dingen die Gefälligkeit, lassen Sie diesen Menschen unter irgend einem Vorwand zu sich kommen, fragen Sie ihn geschickt aus und erlauben Sie mir, im Nebenzimmer Ihr Gespräch mit anzuhören, es wird dies ungleich zweckmäßiger125 sein, als wenn ich sogleich selbst mit ihm rede. Schuhmacher rannte aufgeregt, bestürzt und nachsinnend zugleich in der Stube hin und her. Der Geheimrath maß ebenfalls das Zimmer, aber mit langsamen, abgemessenen Schritten. Beide waren nachdenklich, jeder in seiner Sphäre und seiner Weise.

Der Geheimrath trat an’s Fenster drunten im Hof war sein Diener beschäftigt, Stiefeln zu putzen und schäkerte dabei mit einer muntern Bauerdirne, welcher er drohte, mit der Bürste voll Schuhwichse über ihr flachsblondes Haar zu fahren, wenn sie sich noch länger gegen einen Kuß sträube. In diesem allerliebsten Kriege war er eben nahe daran, Sieger zu werden, als der Ruf seines Herrn vom Fenster herab diesem ein unerwartetes Ende machte.

Was steht zu Befehl? schrie der Diener, mühsam seine üble Laune verbergend, als Antwort hinauf, während die Dirne kichernd und verschämt in den Kuhstall eilte.

Ist unten der Sohn der Wirthin zu Hause, der vorhin angekommen ist?

Gnädiger Herr, ich werde zu Dero Befehl erst nachsehen, war die umständliche Antwort.

Was giebts? rief mit Stentorstimme ein kleiner stämmiger Bursche aus dem Hause heraus es war derselbe, von dem die Rede war, der Eisenbahnarbeiter Adam,126 welcher das Frag - und Antwortstück von Herr und Diener mit angehört hatte und jetzt heraustrat.

Wollten Sie wohl einmal zu mir heraufkommen, rief der Geheimrath dem Burschen zu, ich wünschte mit Ihnen zu sprechen.

Der Bursche nahm ehrerbietig die Mütze ab und sagte höflich aber mit grober Stimme: Ich komm gleich.

Schuhmacher gab dem Geheimrath die Hand. Die Regierung wird es Ihnen Dank wissen, wenn Sie auch dieser Angelegenheit sich annehmen! sagte er feierlich. Fragen Sie den Menschen geschickt aus ich gehe in das Nebenzimmer, und damit huschte er schnell zur Thüre hinaus, als er bereits schwerfällige Tritte auf der Treppe hörte.

Adam trat ein und drehte stumm die Mütze in der Hand.

Man hat mir gesagt, begann der Geheimrath, daß Sie Arbeiter bei der Eisenbahn sind?

Ja, war die kurze Antwort.

Ist es wahr, daß die Leute dabei heute ihre Arbeit eingestellt haben?

Sie hatten’s im Willen.

Sie wollten nur und es ist nicht geschehen?

Das weiß ich nicht so genau.

127

Guter Freund, antworten Sie mir ordentlich und ohne Scheu es liegt mir sehr Biel daran, über diese Sache Etwas zu erfahren und es soll sein Schade nicht sein, wenn ich Wahrheit zu hören bekomme.

Der Herr haben wohl viel Actien dabei?

Nein keine einzige ich habe einige Leute, welche ich für zuverlässige und gute Arbeiter hielt, zur Arbeit bei dieser Bahn empfohlen, sie sind angenommen worden und es sollte mir leid thun, wenn sie sich mit bei den Unruhstiftern befänden, oder auch, wenn sie nicht mit zu diesen gehörten, aber mit unter ihnen, unschuldig mit den Schuldigen leiden müßten. Erzählen Sie mir also Alles aufrichtig und wie es kommt, daß Sie Sich heute hier befinden, da doch weder Feiertag noch Sonntag ist?

Ja sehen Sie, sagte der Bursche treuherzig und durch die freundliche Art, mit welcher der Geheimrath zu ihm sprach, zutraulich gemacht, das ist ein närrisches Ding das Beil war mir auf den Arm gefallen, ich konnte nicht ohne große Schmerzen arbeiten, da dacht ich: es ist besser, Du gehst jetzt für krank nach Hause und so bin ich denn da. Feiertag steht heute freilich nicht im Kalender auf der Bahn wird aber wohl welcher gewesen sein.

Wie so die Leute mögen nicht mehr arbeiten? Ist denn der Lohn so gering?

128

Nun, Viel setzt es freilich nicht, indessen, wir waren gerade nicht unzufrieden, wir hier aus der Gegend wußtens nicht anders. Aber da sind viel Ausländer unter uns, die hetzten uns auf und meinten, sie hätten bei andern Bahnen viel mehr gehabt. Nun wollten wir die und jene Erleichterung haben wir kamen deshalb ein; Alles in Ordnung und Friede. Darauf hieß es, unsere Sache wäre verschickt und wir bekämen gewiß bald Erleichterung und manchen Vortheil. Ein paar Wochen vergingen auf einmal hieß es: nun käme die Erleichterung nein und wissen Sie, was das war?

Nun?

Es ist zu närrisch! Man machte uns bekannt, daß, wenn wir an unsre Angehörigen Briefe mit Geld schicken wollten, wir kein Porto zu bezahlen brauchten. Nun da schlag Einer ein Rad! Könnten wir so Viel Geld verdienen, daß wir welches wegschicken könnten, so würde gewiß Keiner klagen und das Porto würden wir da vielleicht auch noch zusammen bringen können.

Nun und Ihr waret also damit nicht zufrieden?

Gnädiger Herr, wir, die wir vorher nicht gerade unzufrieden gewesen waren, wir lachten nur über so eine Verordnung und ließen es gut sein die Andern aber murrten und sagten, sie ließen es nicht gut sein Da wird aber einem ehrlichen, ruheliebenden Kerle, wie ich129 nicht wohl bei solchen Gesichtern, bei solchem tückischen Treiben. Wie mir nun der Arm jetzt weh that, nahm ich’s für ein Zeichen, ’s sei wohl das Beste, jetzt wegzugehen. Nun calculirt ich: Keiner von uns soll arbeiten, bis man ihm höhern Lohn verspricht gut! Verspricht man den höhern Lohn und geht Alles vergnügt und lustig an die stehen gelassene Arbeit, so geh auch ich vergnügt und lustig mit daran läuft es aber schlecht ab zwingt man uns, wieder wie erst um denselben Tagelohn zu arbeiten, hetzt uns wohl gar mit Soldaten dazu und bestraft die, die es erst anders gewollt haben muß man’s wohl auch gut heißen, denn wer die Macht hat, hat das Recht, und das Recht muß wohl immer gut sein. Dann, calculirt ich, arbeit ich auch wieder mit, aber Niemand kann mir Etwas anhaben, denn ich bin gar nicht da gewesen, sondern krank zu Hause wie der Teufel los ging.

War also etwas Bestimmtes beschlossen?

Weiter gar Nichts als gestern, wie es von der Arbeit heim ging, sagt es Einer dem Andern: Bruder, morgen machen wir gleich früh Feierabend keine Hand rührt Etwas an und wer doch an die Arbeit gehen will, dem soll’s bald vergehen, wir werden keine großen Umstände mit ihm machen, er mag seine Knochen wahren so hieß es, und so sagte man weiter: wenn sie dann kommen130 und fragen, was das heißen solle, daß wir Feiertag machten, so antworten wir, daß wir für so geringen Lohn etwas Besseres thun könnten, als uns den ganzen Tag zu plagen; wenn man uns nicht verspräche, uns täglich wenigstens einen Groschen zum Lohn zuzulegen, so mögten die Herren Actionaire die Bahn mit eignen hohen Händen fertig bauen wir fragten dann den Geier danach. So würden sie schon klein zugeben, hofften die Leute mir aber ward gar nicht wohl zu Muthe und wie ich schon sagte da macht ich mich in der Stille auf und ging heim daß ich fortgelaufen, kann kein Mensch sagen, denn ich habe dem Aufsher meinen gelähmten Arm gezeigt und Urlaub genommen.

Das ist eben so pfiffig gehandelt, als treuherzig gesprochen, sagte der Geheimrath eigentlich hätten Sie aber den Aufsässigen Gegenvorstellungen machen sollen.

Habe wohl aber was nutzt das? Da schimpfen sie Einen gleich einen feigen Lumpenhund, eine Schafnatur und was der Ehrentitelchen mehr sind, und was man zum Frieden redet, das hilft nicht das Geringste. Wer am Meisten schreit, schimpft und flucht, der ist ihnen dann der rechte Mann, vor dem haben sie Respect, auf den hören sie, den machen sie zum Führer und sonst Keinen.

131

Und das waren Ausländer oder

Herr! fiel ihm Adam in’s Wort und seine Stirn ward plötzlich zornroth aber eben so schnell, als er das eine Wort gesagt, brach er auch ab und schwieg wieder. Der Geheimrath hatte Recht; Adam war wirklich so pfiffig als treuherzig; bei der letzten Frage errieth er plötzlich, daß man ihm zum Angeber machen wollte, und dagegen empörte sich seine redliche, Deutsche Natur. Adam war ein echter Typus Deutschen Charakters. Er war nicht gerade unzufrieden, aber da man ihm gesagt hatte: er verdiene es eigentlich, bessere Arbeit zu haben, als eben diese, so dachte er, ein höherer Lohn sei freilich mitzunehmen und eine schöne Sache aber er fürchtete sich, dazu einen entscheidenden Schritt zu thun, ein Mal, weil er überhaupt träge zur That war und lieber geduldig wartete, bis, wie ihm die Ausländer höhnend zuriefen: die gebratenen Tauben ihm einmal aus der Luft in den Mund geflogen kämen; und dann aus angestammter Liebe zu Frieden und zur Ordnung, aus christlicher Ergebung in die einmal bestehenden nothwendigen Uebel, aus angeborner Unterwürfigkeit und treuem Gehorsam gegen Vorgesetzte, aus Achtung einmal übernommener Pflichten. Dazu gesellte sich ihm die Furcht der Erfahrung, daß eben, wer die Macht habe, immer Recht behalte, und daß einige arme Arbeiter gegen diese Macht, welche sie beherrschte,132 nicht das Geringste würden ausrichten können, weder im Guten, noch im Bösen. Deßhalb also mogte er nicht gemeinschaftliche Sache mit den Widersetzlichen machen und zog sich deshalb mit guter Art ganz von dem Schauplatz zurück, auf welchem jene wahrscheinlich ein elendes Trauerspiel aufführen würden; und weil er sich sagte, daß er darin ganz verständig und nach seinem besten Gewissen handle, so war er unbefangen genug, dem fremden Geheimrath den wahren Sachverhalt zu sagen. Als aber dieser nach den Führern zu fragen begann, begriff Adam plötzlich, daß nun seine fernere harmlose Aufrichtigkeit häßliche Angeberei sein würde, daß man ihm nun, weil er mit den Kameraden nur keine gemeinschaftliche Sache habe machen mögen, zu deren heimlichen Feind machen wolle, und daß er vielleicht zu ihrem Verderben beitrage, wenn er die Fragen, welche man nun ihm vorlegen mögte, eben so offen und arglos beantworte wie die früheren. Gegen diesen Gedanken schon empörte sich die Deutsche Ehrlichkeit und biedere Freundestreue so heftig in seiner redlichen Brust, daß er den Geheimrath auf die erste verfängliche Frage mit einem plötzlich herausgestoßenen: Herr! förmlich anfuhr. Aber sich sogleich im Innern unwillkürlich selbst zurechtweisend, daß eine solche Heftigkeit wider den ihm doch eigentlich zur andern Natur gewordenen Respect gegen vornehme Leute und Beamte sei und in dem133 Gefühle, daß Vorsicht zu allen Dingen gut, fügte er dem aufgebrachten Herr! höflich hinzu:

Führer gab es eigentlich ja gar nicht, denn das Ganze war doch nur so ein schnelles Vorhaben und keine lange vorher abgeredete Sache. Einer raunte es dem Andern zu, wie ich schon gesagt: morgen arbeiten wir nicht und das war Alles. Und wie ich sah, daß sie fest entschlossen waren und Gegenrede nur Drohungen hervorrief, so macht ich mich aus dem Staub.

Und wie es nun wirklich abgelaufen, davon wissen Sie Nichts?

Wie sollt ich auch? Weil ich eben fort ging, ehe der Teufel los war gleich gestern Abend. Die Nacht blieb ich dann im nächsten Dorf und heute Mittag bin ich vollends hierher gegangen.

Der Geheimrath ging aufgeregt im Zimmer hin und her, Adam wünschte je eher je lieber von ihm loszukommen, und da er wohl merkte, daß, da Jenem so sehr Viel daran zu liegen schien, über die Sache mehr zu wissen, er wohl noch manche Frage würde beantworten sollen, wie er’s vielleicht nicht ohne Verlegenheit konnte, so kam ihm ein guter Gedanke, um fort zu kommen, und er sagte: Heute ist gerade der Tag, wo der Bote Martin von hier nach dem der Eisenbahn nächst gelegnen Flecken geht und Abends wieder zurückkommt, von dem134 könnte man wohl Etwas erfahren, ich will doch zusehen, wo er steckt, zurück kommt er immer um diese Stunde und dann kann ich Ihnen wohl mehr erzählen.

Dies Mal kehrte sich das Verhältniß um; die Maus hatte die Katze gefangen. Der Geheimrath ging glücklich in die Falle er entließ nach diesem Vorschlag Adam gern. Dieser wußte recht gut, daß Martin immer erst einige Stunden später zurückzukommen pflegte unterdeß kam die Nacht und er selbst war des Verhörs enthoben.

Schuhmacher trat nun wieder aus dem Nebenzimmer.

Was sagen Sie Freund? sagte der Geheimrath mit einer vielsagenden Miene.

Freund! Das ist ein furchtbares Complot! Gewiß ein sehr weit verzweigtes, dem auf den Grund zu kommen wir Alles aufbieten müssen! rief Schuhmacher.

Und Sie wußten davon Nichts?

Davon?! Mein Gott im Himmel, nein! Das ist Alles ganz heimlich gekommen wie der Dieb in der Nacht!

Und was führte Sie sonst zu mir? Und was ließ Sie sonst von staatsgefährlichen Bewegungen in unsrer Nähe sprechen? Von gefährlichen Feinden der Regierung und der bestehenden Ordnung, die Sie mich wollten nicht unter Studenten, Schriftstellern und Bürgern, sondern in den untersten Classen der Gesellschaft kennen lehren wenn Sie mich an die Eisenbahnarbeiter

135

Eisenbahnarbeiter, Eisenbahnarbeiter! fiel ihm Schuhmacher hitzig in’s Wort. Wer hat an Eisenbahnarbeiter gedacht! Durch diese Entdeckung tritt die ganze Sache in ein neues Licht, in eine neue Phase! Fabrikarbeiter so hieß meine Loosung und das haben Sie übersehen können! Und ich habe die Eisenbahnarbeiter übersehen o, da sind ungeheuere Fehler geschehen es ist himmelschreiend und in hitziger Wuth wie ein Mensch, der mindestens ein verlorenes Königreich bejammert, rannte er in der Stube auf und nieder endlich warf er sich erschöpft in einen Lehnstuhl athmete tief auf, fuhr sich mit dem seidnen Schnupftuch über die Stirn, auf welcher große Schweißtropfen standen athmete tief auf und hatte die verlorne Fassung wieder. Gewohnt, sich immer zu beherrschen, im Leben oft die verschiedensten Rollen durchzuführen, die unähnlichsten Masken vorzunehmen, war es ihm eine ordentliche Wohlthat, wenn er sich einmal ohne Zeugen sah, vor welchen er nöthig hatte, seinen innern Bewegungen zwängende Hemmketten anzulegen dann überließ er sich denselben ganz, ließ sie eine Weile toben, bis er dann nach diesem Aufruhr, sobald er einmal den Entschluß faßte, wieder gefaßt zu sein, gleichsam zu sich selbst sagte: Nun ist’s genug, und im Moment all seine Ruhe wieder hatte.

Mit dieser begann er jetzt: Es sind die Arbeiter in136 Felchners Fabrik, auf welche ich schon seit einem halben Jahr ein wachsames Auge geworfen habe. Einer von ihnen, Franz Thalheim genannt, hatte ein Buch geschrieben: Aus dem armen Volk Allen Menschenfreunden gewidmet. Dieses Buch war mir in die Hände gefallen es enthielt die allerübertriebensten Schilderungen von der Noth der arbeitenden Classen. Ein Arbeiter derselben Fabrik hatte mir dies Buch gegeben. Sie wundern sich, wie ich mit einem solchen Menschen zusammenkam? Nun wohl, es war schon längst von communistischen Verbindungen in Deutschland unter dem Fabrikvolk die Rede gewesen man hatte sie aber noch nie entdecken können ich hatte mich verbindlich gemacht, daß ich, wenn und wo solche existirten, sie auch würde ausfindig zu machen vermögen. Aber ich wußte. wie ich es anzufangen hatte. Ich begab mich hier in die nächste kleine Stadt unter einem andern Namen ich nannte mich Stiefel und mit einer falschen Haartour unkenntlicher gemacht, begab ich mich in die Vierstuben und Schänken und suchte Verkehr mit diesen Leuten, um ihre Stimmung zu erforschen. Endlich gelang es mir, einen der Fabrikarbeiter bei Felchner mir ganz dienstbar zu machen. Von ihm hab ich immer die gewissenhaftesten Berichte erhalten über das, was seine Kameraden vornahmen. Nachdem ich ihn geworben, kehrte ich wieder in die Residenz zurück und137 durchspähte andre Distrikte, wenn auch nicht mit gleichem Erfolg. Eines Tages entdeckte ich, wie jener Franz Thalheim einen Bruder als Gelehrten in der Residenz habe, welcher sich plötzlich auf eine auffallende Weise von Weib und Kind trennte und seine Stelle aufgab Niemand wußte so eigentlich, weshalb? Daß er sich auch mit Schriftstellerei beschäftige, war längst bekannt und solche Menschen sind immer verdächtig. Ich erfuhr, daß er später, bevor er mit einem jungen Grafen eine weite Reise angetreten, sich hier bei seinem Bruder aufgehalten habe. Nach allen Erkundigungen, die ich einzog, erschien mir dieser Mensch als ein Radicaler von der gefährlichsten Sorte. Verdacht häufte sich auf Verdacht ich stellte bei seiner Frau eine Haussuchung an. Sie wollte sich widersetzen denn sie mogte fürchten. Leider schien ihr Mann sehr vorsichtig gewesen zu sein er mogte alle Papiere, Korrespondenzen und Mannscripte, welche gegen ihn zeugen konnten, mitgenommen haben. Aber aus einigen Stellen in den Briefen, welche er an seine Frau geschrieben, wurden doch alle meine Vermuthungen bestätigt. Dieser Thalheim reiste jedenfalls als ein communistischer Missionair er reiste nach der Schweiz, Belgien und Frankreich vermuthlich, um sich dort am Heerde des Communismus neue Funken und Feuerbrände zu holen, welche er in den unterirdisch ausgehäuften Zündstoff werfen könnte. Aber138 welch überraschende Entdeckung mußte ich noch machen! Der freimüthige und berühmte Schriftsteller: Graf Jaromir von Szariny war ebenfalls in Verbindung mit diesen Thalheims! Ich fand Briefe von ihm aus früherer Zeit die Gattin wollte es zwar leugnen, daß diese Verbindung noch bestände allein wie fand ich es bestätigt, als ich diesen Szariny hier traf. Er hat sich hier angesiedelt, um sich nun in unmittelbare Verbindung mit den Fabrikarbeitern zu setzen. So eben berichtete man mir, daß er gestern den Muth gehabt, sich in der ganzen Fabrik herumführen zu lassen, die Arbeiter aufzuhetzen, Geld unter sie, besonders unter die Kinder zu vertheilen, und

In diesem Augenblick hörte man das Rauschen eines Seidenkleides die Geheimräthin kam zurück. Die Unterhaltung unter vier Augen war abgebrochen.

Kommen Sie morgen früh zu mir, ich oder viel mehr die Regierung bedarf Ihrer Dienste, sagte Schuhmacher zum Geheimrath, als er sich entfernte.

139

VIII. In der Schweiz.

Horch wie die Reuß im Sturze in’s Thal jetzt nieder klingt,
Und wie ein Gemsenjäger von Fels zu Felsen springt;
Sieh, wie der Vollmond drüben aufglüht so roth wie Blut
Und lauf dem Gotthard mälig erlischt die Opfergluth.
Anastasius Grün.

An demselben Abend, wo die Zwei die wichtige, für Beide nur zu schnell abgebrochene Unterredung geführt hatten, arbeitete Schuhmacher noch bis tief in die Nacht für das Wohl des Vaterlandes. Er ging noch ein Mal all diese mühsamen und erzwungenen Zusammenstellungen und Beziehungen durch, in welche er hungernde Fabrikarbeiter mit einem ernsten, unglücklichen Privatgelehrten, der zwei vornehme junge Leute auf Reisen begleitete, mit einem schwärmenden Dichter, dem seine erste Liebe gelogen hatte und der eben jetzt willen - und ahnungslos eine neue strahlendheiße140 Flamme in seinem Herzen aufglühen und von ihr sich leiten ließ, so glücklich gebracht hatte. Auf dieselbe geschickte Art hatte nun Schuhmacher auch die ganze schlechte Presse und Tagesliteratur mit der Noth geistig und körperlich verkümmernder Kinder in eine harmonische Einheit gebracht und nun war er damit beschäftigt, in dieses aus so verschiedenen Elementen geordnete Ganze auch die widersetzlichen Eisenbahnarbeiter in passender Weise einzureichen.

Während seine an mühsamen Combinationen und geschickten Erfindungen so schöpferische Seele über diesem Chaos ineinander geworfener Umstände finster brütend lag, stand einer von Denen, in dessen Inneres er so gern einen Spionenblick geworfen hätte, weit von ihm entfernt und sah dem Alpenglühen zu. Und hätte Schuhmacher doch zu dieser Stunde in die klare hohe Seele dieses Edlen blicken können er würde dadurch beschämt vielleicht die eigne Erbärmlichkeit gefühlt oder doch vielleicht einmal an die argwohnvergiftete Brust geschlagen haben und von sich selbst beschämt worden sein.

Gustav Thalheim, der Aelteste der drei Brüder, weilte in der Schweiz.

Die Beiden jungen Leute, welche er begleitete, Karl von Waldow und Eduin von Golzenau, hatten sich auf’s Liebendste an ihn angeschlossen. Karl war ihm sogleich141 mit heitrer Freundlichkeit entgegen gekommen. Er war das, was man einen guten Jungen zu nennen pflegt. Er schloß sich leicht und schnell an Jedermann an und pflegte allen augenblicklichen Eindrücken zu folgen. Er war leichtsinnig, aber mit dem besten Herzen von der Welt. Sein Gemüth war ungleich hervorstechender, als sein Geist. Immer gefällig, munter, aufgeregt ließ er, wenn er vielleicht auch nicht zu Uebereilungen zu verführen war, sich doch eben so leicht zum Guten leiten und so war es für ihn ein Glück, bei guten Anlagen aber Mangel an Grundsätzen und jeder Art von Tiefe und Charakterfestigkeit der ernstfreundlichen Leitung eines Menschen wie Thalheim anvertraut worden zu sein, der er sich dann auch mit kindlicher Hingabe überließ.

Anders war es mit Eduin. Er hatte anfangs eine Vorurtheil gegen den aufgedrungenen Mentor, denn erglaubte mit achtzehn Jahren vollkommen mündig zu sein, um seinen Weg durch die Welt allein und selbstständig zurücklegen zu können. Ein tiefer Ernst, ein hochfliegender und weitstrebender Geist waren die Grundtypen seines über seine Jahre hinaus entwickelten Wesens. Meist verschlossen, in sich gekehrt, ja abstoßend, war er nicht der Mann, der Anfangs auf Jemanden einen angenehmen Eindruck hätte machen können. Dabei war er wortkarg und hölzern, so jedoch, daß man nicht wußte, ob diese Eigenschaften Folgen142 eines eitlen Dünkels oder knabenhafter Schüchternheit waren. Thalheim war Menschenkenner genug, um bald zu finden, wie ungleich mehr es lohne, nach der Liebe und dem Vertrauen dieses schwerzugänglichen Herzens zu streben, als nach dem Karls, daß sich jedem freundlich Entgegenkommenden sogleich fröhlich öffnete und sonder Rückhalt anschloß. Lange Zeit sah er sich von Eduin nur mit kalter Höflichkeit behandelt. Ein an sich unbedeutender Vorfall hatte aber Alles geändert. Die drei Reisenden hatten einst einen Ausflug zu Pferd gemacht. Die Dunkelheit hatte sie übereilt, als sie auf dem Rückweg waren, es brach eine Gewitternacht herein mit kaum aufhörendem Blitzen und Wetterleuchten. Davor scheute Karls Pferd, warf den Reiter ab und entfloh. Thalheim war um den Verwundeten beschäftigt. Eduin suchte das Pferd wieder zu fangen und bracht es triumphirend zurück. Nachher sagte Thalheim: Mir wär es das schönste Geschäft, im Stillen Wunden zu verbinden und Balsam aufzulegen für Sie taugt es besser, in’s Weite zu jagen und widerspenstigen Trotz zu besiegen so will ich die Jugend einst war ich auch so.

Und es wird Zeit, daß ich anders werde? antwortete Eduin kalt und höhnisch fragend.

Nein es wird höchstens Zeit, daß Sie Anderes als ein Roß bezwingen lernen denn das Wort ist so143 wahr als alt: Wem Viel gegeben, von dem wird Viel gefordert werden versetzte Thalheim.

Meinen Sie daß ich lernen soll, mir selbst die Zügel überzuwerfen? O, der Mühe hat mich ja mein Vater überhoben, sagte Eduin gereizt, er hat mir ja die Zügel selbst umgelegt und dann zur Leitung in geübte Hände gegeben.

Thalheim nahm seine Hand und sah ihn fest an, indem er ruhig sagte: Sie wollen mich beleidigen Womit hab ich das verdient? Wenn ich noch ein Jüngling wäre, würde ich mich in Ihre Arme werfen und sagen: Wir denken gleich in Allem lass uns Brüder sein! Vor funfzehn Jahren würd ich dies gekonnt haben aber ich weiß es wohl: das Alter muß vergebens betteln gehn um die Liebe der Jugend, weil man in jeder Falte des Angesichtes die Linie eines strengen Richtmaaßes zu sehen wähnt und doch! Eduin, wären wir uns früher begegnet wir hätten uns einander ebenbürtig gefunden nun trennt uns die Kluft der Jahre und wenn ich über sie hinweg meine Arme nach Ihnen ausbreite, so stehen Sie argwöhnisch mir gegenüber und bleiben fern eine große Thräne war in sein Auge getreten da lag plötzlich Eduin zu seinen Füßen erst jetzt verstand er die liebestarke Seele dieses hohen Menschen.

144

Eduin rief: Vergeben Sie meinem Stolze Ihre Freundschaft schien mir ein unerreichbar hohes Gut ich sagte mir Tausend Mal, daß es Knabenthorheit sei, darum zu werben und im gleichen Maas, als ich Sie liebte, mogt ich nicht von Ihnen mich lenken lassen ich wollte Ihnen gegenüber kein Kind sein, weil ich danach strebte, von Ihnen geliebt zu werden.

Diese Stunde, als der liebgewordene Zögling endlich dieses stolze Geständniß an Thalheims Herzen ausweinte, war für diesen die schönste, welche er seit langer Zeit empfunden.

Und so hatte von da der stolze, schwärmerische Jüngling sich mit der innigsten Zärtlichkeit an Thalheims Herz gehängt, und oft forderte er in jugendlichem Aufwallen edelster Gefühle das Schicksal heraus, ihm den Augenblick zu schicken, wo er dem geliebten Freund beweisen könne, daß er bereit sei, für ihn zu leben und zu sterben und Alles zu thun und zu dulden und hinzugeben, was das Leben bieten und das Sterben erschweren könne.

Monate waren seitdem schon vergangen. Jetzt weilten die Drei in der Schweiz. Nun eben waren sie an dem Ort angekommen, wo sie die nächsten Briefe zu finden erwarten konnten. Karl und Eduin empfingen Briefe aus den väterlichen Häusern mit herzlichen Grüßen und fröhlichen Nachrichten von allseitigem Wohlergehen. Auch145 für Thalheim lagen zwei Briefe bereit, der eine von Amalien, der andere von Bernhard, seinem Bruder. Er wunderte sich, daß ihm dieser geschrieben, denn der Briefwechsel zwischen diesen beiden Brüdern war immer unbedeutend gewesen und hatte sich nur auf einfache Notizen beschränkt, damit sie nur nicht ganz außer Verbindung kämen aber hierher hatte er ihm ja nicht einmal seine Adresse gegeben. Weil ihm dies Schreiben so befremdlich vorkam, so öffnete er dies zuerst und warf einen hastigen Blick hinein und wieder und wieder und sah schärfer hin, denn vor seinen Augen flimmerte es und die Buchstaben schwankten alle unruhig auf dem Papier vor ihm hin und her sie schienen alle zu zerfallenden, morschen, schwarzen Kreuzen zu werden, die auf einem Kirchhof schief untereinander stehen und im Mondlicht am Charfreitag, wo alle Gräber sich erschrocken aufspalten, darauf ruhelos hin und wieder wanken, sich neigen und beugen und doch immer schwarze Kreuze bleiben, Kreuze auf einem Kirchhof so sagten auch ihm die Buchstaben immer dasselbe, obwohl er es ihnen nicht zugeben, durchaus nicht glauben wollte sie stellten sich doch immer wieder so vor ihm zusammen, daß er lesen mußte:

Dein Kind ist todt Dein einziges Kind Deine Anna!

Er saß da in sich zusammengesunken er wagte kaum zu athmen, am Wenigsten zu denken.

146

Mechanisch griff er nach dem andern Brief, der von seiner Gattin kam. Das Datum, welches er trug, war ein um vier Wochen späteres. Bernhards Brief hatte wahrscheinlich schon länger als jener hier gelegen.

Er las. Nochmals fand er das Gräßliche bestätigt.

Amalie schrieb ihm:

Unser Kind ist todt. Ich hatte lange nicht die Kraft, Dir das Entsetzliche zu schreiben nun Du es bereits durch Bernhardt weißt, finde ich den Muth eher.

Sie schilderte ihm herzzerreißend ihren Jammer um den Verlust ihres einzigen Kleinodes herzzerreißend die Leiden der letzten Stunden des so frühe Engel gewordenen Kindes dann fuhr sie fort:

So ist auch das letzte Band gelöst, das uns noch zusammenhielt, und so ist auch dies der letzte Brief, welchen Du von mir erhältst. Betrachte mich auch als eine Gestorbene, als sei ich mit unserm Kinde zugleich begraben worden. Wollte Gott, es wäre so! Für Dich wenigstens soll es so sein. Binnen Kurzem verlasse ich meinen jetzigen Wohnort und werde Gesellschafterin bei einer vornehmen und hochgeachteten Dame frage nicht das Weitere, spähe nicht danach, wohin wir gehen, Du sollst es nicht erfahren auch nicht durch Deine Brüder, denn deshalb habe ich es auch ihnen verschwiegen. So lange ich noch die Mutter Deines Kindes war, so lange ertrug147 ich es, von Deiner Güte, welche ich so oft gemißbraucht, auch den Unterhalt für mich zugleich mit dem anzunehmen, was Du mir zur Erziehung unseres Mädchens sandtest. Nun hab ich keinen Zweck mehr im Leben, für Dich bin ich gar Nichts mehr und da es denn einmal gelebt sein muß, so ist es nun meine Schuldigkeit, mir nun die Mittel zur Existenz selbst zu verschaffen. Ich habe dazu das passendste Mittel ergriffen, indem ich Gesellschafterin werde.

Ich danke Dir nochmals für alle die Güte und Langmuth, mit welcher Du mich in den Jahren unserer unglücklichen und qualvollen Ehe behandelt hast. Ich habe sie nicht verdient, wie ich ja überhaupt Dich selbst und Deinen Besitz niemals verdiente und verdienen konnte. Du warst ein höheres Wesen neben mir Du hättest mich niemals lieben sollen so tief habe ich unter Dir gestanden, das habe ich wohl gefühlt und eben weil Du so hoch über mir warst, konnt ich Dich nicht lieben Deine Größe drückte mich nieder und um selbst weniger diesem beschämenden, lastenden Gefühl zu erliegen, strebte ich Dich zu verkleinern.

Auch Du wirst es mir niemals vergeben können, daß ich die Kette ward, welche Dich in niedere Verhältnisse bannte, statt daß Du mich erheben wolltest. Wir haben uns gegenseitig das Leben erschwert, ohne daß wir es148 gewollt haben es ist gut, daß wir getrennt sind so wirst Du mich vergessen und Alles, was ich Dir sein sollte und nicht sein konnte und von mir ist der Druck genommen, als eine Heuchlerin durch’s Leben gehen zu müssen.

Ich bin allein und grenzenlos elend aber eben weil ich allein bin, so trage ich’s leichter so kann ich eher Ruhe finden. Deine Liebe und Größe wird mir nicht mehr zur Qual, und der Gedanke an Jaromir hat für mich keinen Stachel der Liebe mehr denn wenn ich jetzt noch an ihn denke, so geschieht es nur mit Haß und Verachtung. Mein Kind ist todt ich fange nun an, auch darüber ruhiger zu denken, denn es tröstet mich, daß es ein Mädchen war, und daß ein Mädchen zu keiner andern Bestimmung geboren wird, als zu der: unglücklich zu sein.

Lebe wohl und für immer vergieb mir, daß ich Dir viele Jahre Deines Lebens hindurch Glück und Frieden gestohlen habe ich kann Dir diesen Raub nicht vergüten aber ich will ihn wenigstens nicht noch vergrößern.

Noch Eines: Du bist durch die Ehe zu unglücklich geworden, als daß ich glauben sollte, es triebe Dich zu einer zweiten Verbindung, Sollte es aber einst so sein, und ich schleppte mich immer noch unglücklich durch’s Leben,149 so wird wohl auch unsere gerichtliche Scheidung kein Hinderniß finden wäre es dennoch, so will ich kein Mittel scheuen und jedes Opfer bringen, das im Stande ist, sie zu bewerkstelligen und müßt ich mich selbst ehrlos nennen. Nur in diesem Falle suche meinen Aufenthalt zu erfahren außerdem, dies Versprechen nehm ich Dir ab: frage niemals nach mir.

Noch ein Mal brachen alle Wunden seines Herzens auf zwar hatte er nie mehr an eine Widervereinigung mit Amalien gedacht, zwar hatte er gestrebt, die Liebe zu ihr aus seinem Herzen zu reißen, seitdem er wußte, daß sie sein innigstes Gefühl niemals wahrhaft erwidert hatte aber noch oft war sein lang und treugehegtes Gefühl stärker gewesen, als sein männlich stolzer Wille, und oft noch hatte er jenes als Sieger gefunden. So begann jetzt in ihm ein neuer Sturm ihm war zu Muthe wie einem Schiffbrüchigen, der das Schiff, auf dem er bisher heimisch durch die wechselnd trübe und klare Fluth des Lebens gesteuert, unter sich zerkrachen sieht und Weib und Kind und all seine Habe von den wilden Wogen verschlungen und da und dorthin getrieben. Alles ist untergegangen, begraben, hinweggespült und nur obenauf schwimmt die schöne blasse Leiche eines Kindes die gebrochenen Augen, die staaren weißen Händchen nach der Stelle zu gerichtet,150 wo in weiter Ferne der einsame Vater verlassen und verzweifelnd steht.

Bei diesem letzten Bilde weilte er am Längsten und immer wieder.

Eduin und Karl traten zu ihm und wollten ihre fröhlichen Nachrichten vom Hause für die seinen austauschen aber als sie den Verehrten so erschüttert und wie in Verzweiflung zusammengesunken vor sich erblickten, wie sie ihn noch niemals gesehen, da traten sie ehrfurchtsvoll von ihm zurück.

Er hatte ihr Eintreten bemerkt und stand auf.

Er ergriff Beider Hände und sagte ruhig, indem eine helle Thräne aus seinen Augen fiel: Sie können den großen Kummer, den ich heute erfahren, kaum ahnend begreifen; ich hatte ein einziges Kind ich habe Ihnen zuweilen von meinem kleinen Mädchen gesprochen es ist todt.

Die Beiden waren zu bestürzt, als daß sie vermogt hätten, Etwas zu erwidern, sie drückten ihm nur innig die Hand und sahen zu Boden. Karl weinte, Eduin warf sich heftig an die Brust des Trauernden.

Ich bin Ihres Mitgefühls gewiß, sagte Thalheim nach langer Pause, aber lassen Sie mich jetzt allein mit meinem Schmerz in die Berge gehen, ergehen Sie Sich jetzt zusammen mit heiterern Genossen ich werde ruhiger151 werden wenn ich in der Einsamkeit mit meinem Schmerze trauliche Zwiesprache halten kann.

Alles, was Sie wollen! sagten Beide.

Und so ging Thalheim allein hinaus.

Und so stand er jetzt einsam auf einer Höhe und sah dem Alpenglühen zu, als sei seine Seele ruhig und ganz verloren in den Anblick eines großartigen Schauspiels.

In den Thälern war es schon Nacht aber die Höhen glänzten noch leuchtend in Gold und Purpur und Himmelblau.

Wie hohe Könige, so ragten die ewigen Alpen empor; wie auf festen Thronen von weißem Marmor, Stahl und Silber so glänzten die Gletscher; auf Teppichen von grünem Sammet mit bunter Blumenkante gestickt so waren die Matten und Felder wie auf solchen Thronen saßen die großen Könige, die weiten Mäntel von schneeigem Hermelin umhangen, die das Abendroth zugleich zu schönen Purpuren färbte, goldne Strahlenkronen auf den ernsten Häuptern, von denen die silbernen Locken und Bärte ehrfurchtgebietend niederflossen. Und darüber hinweg die blaue Luft als herab sich senkenden Thronhimmel mit goldner Sternenschrift. Aber mit einem Mal, gleichsam wie aus der Tiefe aufgestiegen, krochen schwarze Wolken schattend und unheimlich zu den Füßen dieser Throne heran, lagerten trotzig vor ihren Füßen sich nieder; wuchsen endlich152 immer höher auf, übereinander sich zu dicken Knäueln ballend und verdichtend; wuchsen endlich herum um die Purpurmäntel mit den Kragen von Hermelin und verhüllten sie ganz wie mit grauen häßlichen Decken, und so immer höher, immer weiter, bis nur noch die goldenen Königskronen wie mit unvernichtbarer und unerreichbarer strahlender Herrlichkeit in stolzer Ruhe über sie hinwegglänzten.

Aber da begann ein Murmeln, Grollen und Rollen in den finstern Wolken dann wurde es lauter, wilder, heftiger, endlich riß eine gelbe Blitzesschlange nach allen Seiten hinzüngelnd die dichteste Wolkenschicht auseinander, und furchtbar krachend wetterte zugleich ein dröhnender Donnerschlag wie erderschütternd vom Himmel nieder. Mit Eins brach die Blitzschlange von ihrem geheimnißvollen Lager auf und hervor mit Eins fand der Donner seine furchtbar dröhnenden Posaunentöne, mit denen er aus der Höhe hernieder rief wie der Engel des Weltgerichts und mit Eins sanken plötzlich die goldnen Kronen von den blassen Stirnen und silberweißen Locken der Könige. Nun begann ein tobender Kampf der Elemente, es war, als hätten alle die Waffen ergriffen, eines wider das andere, und schleuderten jetzt ihre unheilbringenden, lärmenden Geschosse.

Und Mitten in diesem Aufruhr stand Thalheim und bot seine Locken dem Sturm.

153

Ein Gewitter in der Alpenwelt! Da mogte wohl dem, der es noch nimmer erlebt, zu Muth sein, als gehe die Welt aus ihren Fugen!

Aber nicht geringer war der Aufruhr in der Brust dieses schmerzerschütterten Menschen, der jetzt Mitten in diesem Toben stand. Er faßte zuweilen krampfhaft mit der Hand nach der Stelle seiner Brust, hinter welcher sein zuckendes Herz schlug, um zu fühlen, wie viel Schläge es wohl noch thun und zugleich aushalten könne, ehe es ganz breche und vielleicht still stehe.

Er hatte nicht darauf geachtet, wie in diesem Augenblick eine elegante Dame am Arm eines vornehm aussehenden Herrn an ihm vorübereilte.

In der nächsten Hütte suchten die Beiden Obdach vor dem Regen, der jetzt prasselnd und strömend niederfiel.

Thalheim stand noch in dem Wetter und achtete es nicht. Ein zweiter Donnerschlag rollte jetzt hinter dem ersten her, vergrub sich immer tiefer zwischen die Berge, in die Thäler, weckte immer neuen Widerhall aus allen stummen Felsen und rauschenden Wäldern es war, als würden viel Hundert Kanonenschlünde auf ein Mal thätig und ließen dröhnende Laute hören, welche nimmer wieder enden und sich zur Ruhe finden wollten.

Da auf einmal faßte Eduin Thalheims Arm und bat: Ach kommen Sie herab in die Hütte, hier kann Sie154 der Blitz erschlagen oder wenn das nicht, so durchnäßt der strömende Regen Ihre Kleider und Sie können sich erkälten.

Thalheim sah erst erschrocken, dann aber freundlich auf den besorgten Jüngling, der, als das Wetter losbrach, die Angst ihn zu suchen getrieben durch Sturm und Regen sie schritten miteinander den Berg herab.

Da stieß Eduins Fuß auf einen kleinen glänzenden Gegenstand, nach dem er sich bückte und ihn aufhob. Auf der schnellen Flucht vor dem Wetter betrachtete er ihn nicht näher und steckte ihn zu sich.

Auch diese Beiden suchten jetzt in der Hütte Schutz, in welche vor ihnen die Dame und der Herr getreten waren. Diese Beiden saßen im Hintergrund auf einer alten Bank, und die durch den herabsinkenden Abend und das aufsteigende Gewitter zugleich entstandene Dämmerung ließ ihre Gesichtszüge nicht weiter unterscheiden. Eine muntere Bäuerin, die Bewohnerin der Hütte, stand am Eingang derselben und rief Thalheim und Eduin gleich freundlich entgegen, doch bei ihr einzutreten, bis das Wetter vorüber sei. Die Beiden blieben an der Thüre stehen und sahen von innen dem Toben draußen zu.

Eduin zog jetzt den kleinen Gegenstand heraus, welchen er vorher gefunden hatte. Es war ein großes, goldenes Medaillon, am Rand mit Perlen besetzt. Ein leichter155 Druck öffnete es. Es zeigte auf Elfenbein gemalt das Bild eines schönen blassen, jungen Mannes. Immer spähender, verwunderter betrachtete Eduin das Bild und rief endlich aus: Das ist mein Vetter Jaromir, nicht nur die Aehnlichkeit täuscht mich er ist’s gewiß und wahrhaftig, da steht unten in das goldene Blättchen eingegraben sein Name.

Thalheim starrte auf das Bild. Er ist’s! sagte er langsam, ward noch bleicher als vorher und verstummte sogleich wieder, denn dieser Name ließ ihn auf’s Neue in ein tiefes Meer schmerzlich grollender Gedanken versinken.

Was? Sie kennen ihn auch, rief Eduin überrascht, und haben mir nie davon gesprochen, wenn ich Ihnen von ihm erzählte, wie er mir schon von Kind auf ein Vorbild war? Mit tiefster Innigkeit hab ich ihn immer geliebt und seine schöne Mutter, die, als sie mit ihm in das Haus des Vaters kam, mich zu ihrem Liebling machte und mich immer auf dem Schoos wiegte, ist meine frühste und liebste Erinnerung! Wie er dann eine Zeit lang unser Schloß mied und erst wiederkam, nachdem er reich und berühmt geworden, da sagt ich mir wohl oft: so will ich auch handeln und werden wie er! Und er hatte mich auch recht lieb und war oft vergnügt mit mir und schickte mir immer gleich jedes seiner Lieder. Nun habe ich ihn seit ein paar Jahren nicht gesehen und plötzlich156 muß ich hier in den Schweizer Bergen sein Bild finden. Sollte er gar selbst hier sein? Aber nein! Das eigne Bild führt man ja nicht mit sich!

In diesem Augenblick trat die Dame, die bisher im Hintergrund gesessen, schnell vor auf Eduin zu und sagte: Nun ich hier so unerwartet diese begeisterte Lobrede auf meinen Freund gehört, darf ich mich wohl als Eigenthümerin dieses Bildes bekennen und dem glücklichen Zufall danken, der mir zu der Wiedererlangung des verlornen Kleinodes verhilft und noch dazu durch einen Verwandten des Grafen wenn ich recht gehört?

Thalheim erkannte die Dame und zog sich von ihr zurück, indem er unwillkürlich leise für sich sagte: Bella!

Eduin aber stand wie bezaubert vor dem schönen Weibe, glühende Röthe schoß auf seine Stirn, er zitterte unwillkürlich und hielt, keines Wortes mächtig, das Bild hin. Die Schauspielerin Bella reiste von Paris durch die Schweiz zurück nach Deutschland. Jaromir’s Bild begleitete sie immer, sie trug es meist an ihrem Halse, denn wie leichtsinnig sie auch zärtliche Verhältnisse knüpfen und lösen mogte ihn zählte sie nicht mit in die Categorie ihrer gewöhnlichen Liebhaber, für ihn bewahrte sie in ihrem Herzen einen besondern Platz. Sie betrachtete ihn mit andern Augen, als die Männer, welche sie so lange zu ihren Sklaven machte, bis sie ihrer überdrüssig war;157 sie ehrte ihn als ihren Freund, und ihr Gefühl für ihn war ein bleibendes, unveränderliches, aber einfaches Immergrün, während sie wohl für Andere stärkere Gefühle hegte, die aber eben so schnell wieder abblühten, als sie sich vorher entfaltet hatten und aufgewuchert waren. So konnte sie jetzt neben Einem ihrer Anbeter, der ihr von Frankreich gefolgt war, die lebhafteste Freude empfinden, das verlorne Bild des Deutschen Freundes wieder zu erlangen; so konnte es sie überraschend beglücken, hier plötzlich sein Lob von jugendlich begeisterten Lippen zu hören.

Sie nahm jetzt das Bild aus der zitternden Hand des jungen Mannes und sagte: So habe also ich das Vergnügen, Deutsche Landsleute hier zu finden und diesen dankbar verpflichtet zu werden? Darf ich vielleicht um den Namen des Freundes des Grafen Szariny bitten dem ich so viel verdanke?

Eduin von Golzenau! sagte dieser schüchtern und stand da wie trunken, verloren in Bella’s Anblick.

Draußen aber fuhr ein Wagen vor es war der Bella’s, der Franzose ergriff ihren Arm, um sie an diesen zu führen. Sie zog eine Karte aus einer Brieftasche, gab sie Eduin und sagte: Ich darf jetzt nicht länger säumen, sonst verfehl ich die Eilpost, mit welcher ich weiter reisen muß158 Vielleicht wird mir ein ander Mal Gelegenheit, Ihnen besser danken zu können.

Sie stieg in den Wagen und fuhr davon.

Eduin war stumm geblieben jetzt warf er sich ungestüm an Thalheims Brust und weinte laut.

159

IX. Gesellschaft auf Schloß Hohenthal.

O heilge Stunde, wo in Gottes Strahl
Zwei Menschenherzen ineinander schauen.
Betty Paoli.

Bei dem letzten Besuch des Kammerjunkers von Aarens auf Schloß Hohenthal hatte ihn die Gräfin, da er auch ihren Mann so wenig als Elisabeth getroffen, für den andern Tag zum Mittag geladen.

Wie an jenem Tag Elisabeth zurückgekommen, hatte ihre Mutter ihr noch ein Mal die ernstlichsten Vorstellungen gemacht, wie unpassend ihr Umgang mit dem Mädchen eines Mannes sei, welcher ein Feind ihres Hauses wäre, weil sie diesen Umgang selbst verwerfe, indem seine Tochter nicht mehr das Schloß besuchen dürfe, mit einem Mädchen, dem die ganze Umgegend gemeine und unpassende Handlungsweisen vorwerfe und es dadurch in den übelsten Ruf bringe.

160

Weiter hatte Elisabeth die Mutter nicht sprechen lassen, sie hatte Aufschluß und Rechenschaft verlangt, wer sie über Pauline so ganz umgestimmt, und endlich da wenigstens früher die letzten Ansichten die Gräfin nicht hatte äußern können, da sie gewußt, daß Aarens dagewesen diesen errathen. Dadurch wuchs ihr vorgefaßter Widerwille gegen ihn bis zum heftigen Unwillen.

Sie betheuerte ihrer Mutter, daß sie Paulinen nur um so mehr liebe, als fade Gecken sie zu verkleinern strebten. Zuletzt fügte sie bei, daß sie Graf Szariny in der Fabrik getroffen.

Als Aarens kam, so war Elisabeth ihm gegenüber stumm, streng und ernst.

Eine seiner ersten Bemerkungen war natürlich die, daß er unendlich bedauerte, sie gestern nicht getroffen zu haben, daß aber sein widriges Schicksal ihn doch wieder in Etwas dadurch habe aussöhnen wollen, daß er sie noch am Abend wenigstens gesehen mit dem Grafen Szariny und einem kleinen, unbekannten Mädchen.

Mit meiner liebsten Freundin, Pauline Felchner, welche ich besuchte wie Ihnen wohl meine Mutter gesagt hat erwiderte Elisabeth mit stolzem Tone.

Und wohin Sie Graf Szariny begleitete?

Von wo er mich zurückbegleitete, da er dort einen Besuch gemacht hatte und ich den Weg zu Fuß zurücklegte. 161Aarens wußte auf diese Strenge und Unbefangenheit ihr lange Nichts zu erwidern, bis er sich von der Verwunderung über die letztere ein Wenig erholt, und dazu bedurfte es bei ihm einiger Zeit. Er knüpfte also ein unbedeutendes Gespräch mit der Gräfin an, das nachher allgemein ward. Während dem überzeugte er sich, daß er durch einen beleidigenden und spöttelnden Ton gegen Elisabeth Nichts ausrichte, und er suchte daher so liebenswürdig, sanft und zärtlich als möglich zu erscheinen. Sie blieb ihm gegenüber unverändert.

Das Diner war vorüber, die späteren Nachmittagstunden rückten heran. Elisabeth hatte es zu arrangiren gewußt, daß man den Kaffee in einem hochgelegenen Pavillon des Gartens einnahm, von dem aus man einen Theil der nach dem Schlosse führenden Straße übersehen konnte. Zuweilen warf sie dorthin einen spähenden Blick und jetzt schlug ihr Herz höher und sie bemühte sich ein fröhlich aufsteigendes Roth der Wangen zu unterdrücken denn sie sah aufwirbelnden Staub bei einem zweiten Blick zwei Reiter, und bei einem dritten erkannte sie Jaromir auf seinem Rappen sie zerpflückte ein paar Grashalme und hatte Aarens Frage überhört: ob sie die Morgenoder Abendpromenade schöner und genußreicher finde?

Er mußte ihr die Frage noch ein Mal wiederholen und dann sagte sie sinnend: Die Morgen sind schön,162 denn da kommt man jugendfrisch aus den Armen des Schlafs und der Träume, die ganze Schöpfung ist wie neu geboren und wir sind es selbst mit ihr man weiß noch Nichts von Zwang, man lebt noch halb im Traume fort und schämt sich nicht, wahr und unverstellt zu sein. Sie dachte, als sie dies sagte, an den Morgen ihres letzten Abschiedes von Gustav Thal heim und ihrer ersten Rede mit Jaromir aber sie dachte zugleich an den gestrigen Abend, als sie weiter hinzusetzte: Aber die Abende sind auch schön nur in ganz andrer Weise; da zieht ein wonniges Träumen durch die ganze Natur, und die Natur theilt es der Menschenseele mit, und da drinnen haust es sich ein in dem klopfenden Herzen, in dem dann zugleich wie im Freien alle Nachtigallen laut zu schlagen anfangen und alle Nektargefäße verhüllender Blüthen sich öffnen.

Ihre Gedanken weilten bei Jaromir, den sie so eben gesehen, es war ihr, als wenn sie schon mit ihm spräche, und jetzt hielt sie plötzlich inne, als sie sich besann, daß Aarens es war, der ihr gegenüber stand und zu dem sie in solcher Weise geredet.

Aarens, obwohl er sich über diese Sprache verwunderte, fand doch, daß er Elisabeth nie schöner und hinreißender gesehen, als in diesem Augenblick und er war eitel genug, sich diese plötzliche Gehobenheit ihres ganzen Wesens zu seinem Gunsten auszulegen.

163

Elisabeth entfernte sich auf einige Augenblicke bis zur nächstgelegenen Laube, sie war seltsam bewegt ihr war, als müsse sie einen freien, unbeobachteten Blick zum Himmel emporschicken, weil sie jetzt sich im Innersten so wunderbar selig durchschüttert fühlte, weil ihr war, als strahle der blaue Himmel gerade in ihr Herz und wohne in diesem.

Auch dies augenblickliche Entfernen und die ruhige Freudigkeit, welche, als sie zurückkam, auf ihrem Gesicht thronte, legte Aarens zu seinen Gunsten aus, und er wollte eben wieder ein empfindsames Gespräch mit ihr beginnen, als ein voraneilender Diener: Graf Szariny und Herr von Waldow meldete, welche ihm langsam folgten. Aarens hatte große Lust, mit dem Fuße zu stampfen, da er dies aber als Mensch von gutem Ton unmöglich konnte, biß er sich die Lippe beinah blutig und wünschte nur stumm, aber von Grund der Seele aus, die lästigen Ankömmlinge in’s Pfefferland, in die Hölle, oder zu allen Teufeln; nur so weit als möglich weg. Diese christlichen Wünsche halfen ihm aber leider nur sehr Wenig, denn statt sich zu entfernen kamen, die Beiden immer näher und ein innigerer, zwei Menschen beglückenderer Blick ward noch nie gewechselt, als der erste, mit welchem sich Jaromir und Elisabeth begrüßten. Zum Glück war Aarens noch zu sehr verblendet von der ersten Wuth über die Ankunft164 der neuen Gäste, als daß er hätte diesen Blick bemerken sollen.

Aber wenn auch dieser erste Blick ihm entging, so sah er doch bald, daß zwischen diesen Beiden ein geheimes, süßes Einverständniß walten müsse, das ihm unerträglich war. Er sann nach, wie er dies stören könne, und war während des ersten Gesprächs ziemlich schweigsam.

Nachher sagte er leicht und halblaut zu Jaromir, aber doch laut genug, daß es wie zufällig Elisabeth hören konnte. Nicht wahr, ein niedliches Kind die kleine Felchner? Ich sah Sie gestern mit ihr. Sie stehen bei ihr in großer Gunst, wie ich höre?

Jaromir sagte unbefangen aber ernst: Sollten Sie das Fräulein auch kennen?

Nun, Sie brauchen nicht gleich eifersüchtig zu sein, sagte in demselben leisen Tone wie vorher, doch zugleich ironisch lachend, Aarens. Ich kenne Sie nur von Ansehen und habe ihr noch keinen Besuch gemacht aber man bemerkt unser Flüstern und rasch gegen die Gesellschaft gewendet, fuhr er laut fort: Ich erging mich eben im Lobe von des Grafen Kunstgeschmack, der sich in allen Dingen, welche er auswählt und anordnet, bewährt auch in der Wahl seines Pferdes und Reitzeuges.

Da ein Gespräch von Pferden beginnen konnte, war Waldow ganz in seiner Sphäre; er richtete deshalb sogleich165 mehrere Fragen an Jaromir, welche dessen Pferde betrafen, so daß dieser ihm antworten mußte, während er gern Aarens, dessen Reden und Benehmen ihm befremden mußte, etwas Zurechtweisendes hätte erwidern mögen. Der Graf Hohenthal selbst nahm an dem Pferdegespräch lebhaften Antheil, ließ es nicht sogleich wieder sinken, und so kam es, daß dies Mal Aarens ungestraft davon kam. Von den Pferden kam das Gespräch auf Thierquälerei, der alte Graf legte in diesem Punkt das größte Zartgefühl und den jugendlichsten Enthusiasmus für alle diesen Punkt betreffende Vereine an den Tag und um nur die Unterhaltung endlich von dem lieben Vieh hinwegzubringen, ging Jaromir von der Thierquälerei zur Menschenquälerei über.

Es ist wahr, den Thieren wird oft eher geholfen, als den Menschen so will’s die moderne Barmherzigkeit.

Natürlich, weil die Menschen sich selbst helfen können sagte Aarens.

Das sagen Sie nicht ich, versetzte Jaromir Was meinen Sie dazu, wenn nun die untern Classen beschließen, sich selbst zu helfen, und wir haben dann z. B. einen Aufstand der Eisenbahnarbeiter wie der jetzige?

Also wäre es wirklich gegründet? sagte der Graf Hohenthal. Ich glaubte den Nachrichten meiner Leute nicht.

166

Die Gräfin ward todtenblaß und sagte: Mein Gott, was wollen denn diese Menschen? Ach, es ist eine entsetzliche Zeit, in welcher wir leben müssen!

Gewiß, fügte Aarens bei, eine widerwärtige Zeit, wo nicht einmal mehr der gemeinste Pöbel in seinen Schranken bleiben will. Doch wozu hat man Soldaten? Es ist Frieden, und da einmal das Militair da keine Beschäftigung hat, so benutze man es hier und mache es zu seiner Hauptaufgabe, diese Volkshefe, wenn es nicht anders möglich, durch die Gewalt der Waffen im Zaum zu halten.

Das wäre ja fürchterlich Brüder gegen Brüder das könnte doch kaum der äußerste Punkt der Nothwehr entschuldigen. Sie denken wie ich, Graf Szariny? fragte Elisabeth.

Ich denke wie Sie, aber ich weiß, daß Ansichten, wie die des Herrn von Aarens, in den höchsten Kreisen sehr viel Vertreter finden ich befürchte Schlimmes sagte der Gefragte.

Elisabeth fühlte sich plötzlich von einer schrecklichen Angst erfaßt. Das sind Dinge, von denen ich früher keinen Begriff hatte. Ich sah die untern Classen immer nur von fern, wie sie friedlich ihre Arbeit verrichteten, vom Morgen bis zum Abend, und dabei zufrieden aussahen. Diese Leute, sagte ich mir, wissen es nicht anders, ihr167 mühvolles Tagewerk ist ihnen wohl gar eine freundliche Gewohnheit; die Leiden, welche sie äußerlich treffen, sind ihnen vielleicht nicht härter, als diejenigen, welche die Wohlhabenden und Reichen geistig empfinden und in ihrem Herzen durchzukämpfen haben.

Und so ist es auch, unterbrach sie ihre Mutter, diesen Leuten ist nicht Entbehrung, was uns so scheint sie sind in vielen Dingen glücklicher, der Hunger würzt ihr Mahl, von der Arbeit ermüdet schlafen sie auf hartem Lager besser, als wir auf weichen Polstern, der Feierabend giebt ihnen genußreiche Stunden, die gewiß so wohlthuend sind, daß wir uns gar keinen Begriff davon machen können.

Gewiß, nahm Aarens das Wort, es ist Nichts als wahre Sittenverderbniß, was den Pöbel unzufrieden machen kann; Faulheit, Trunksucht und Ausschweifungen aller Art sind die Ursachen des Elendes, welches sich öffentlich zur Schau stellt, um unsere Augen auf sich zu ziehen, unser Mitleid zu erregen, damit wir ihm die Mittel geben, ein sittenloses Leben fortzusetzen.

Elisabeth nahm hastig wieder das Wort, das man ihr vorher abgeschnitten hatte, und sagte: Ach nein, nein! Jetzt weiß ich es anders! Wir brauchen hier nicht weit umzuspähen, um die Noth der untersten Classen in ihrer ärgsten Gestalt zu erblicken und seitdem ich sie gesehen,168 seitdem hab ich mich oft Hundert Mal gefragt, was es denn eigentlich sei, das diese Unglücklichen noch dazu vermöge, freiwillig die härtesten Arbeiten zu verrichten, da sie für ihren geringen Tagelohn sich doch nie eine glückliche Stunde kaufen können. Das Gewissen? Die Moral? Kann das Menschen zurückhalten, deren Sitten man so verdorben schildert und die man wirklich entsittlicht hat? Und wenn sie tagtäglich gegen sich unrechte Bedrückungen erfahren, könnten sie dann nicht einmal sagen: Wenn Jene gegen uns unredlich sind, warum wollen wir es nicht wieder gegen sie sein? Und seitdem ich mir dies gesagt habe, seitdem überfällt mich oft ein entsetzliches Grauen denn wenn sich der Pöbel entfesselt und aufsteht, welche Schrecknisse werden dann über uns Alle hereinbrechen? Und Sie sagten: es sei wirklich geschehen?

Jaromir antwortete, indem seine Augen bewundernd in Liebe und Stolz an Elisabeth hingen: Noch ist weiter Nichts geschehen, als daß ein paar Hundert Eisenbahnarbeiter einen erhöhten Lohn fordern und unterdessen Nichts gethan haben, als ihre Arbeiten friedlich eingestellt das ist ja noch keine Empörung. Vielleicht ist es ein wohlthätiges Warnungszeichen für alle die, welche die Macht hier zu helfen oder zu bedrücken in den Händen haben, daß es besser sei, den armen arbeitenden Klassen freiwillig Concessionen zu machen, ehe sie einmal in wilder Raserei den169 Versuch machen sollten, die Ordnung der Dinge umzukehren und sich reich und die Reichen arm zu machen. Für’s große Ganze ist so vielleicht, wenn auch gerade nur indirect, dieser gefährlich aussehende Schritt der Eisenbahnarbeiter von guten Folgen.

Ich vernehme hier seltsame Ansichten, sagte der Graf Hohenthal; kaum weiß ich, ob ich recht höre und sie für Scherz oder Ernst nehmen soll aus dem Mund meiner Tochter wenigstens klingen sie mir befremdend. Und auch Sie, Graf, können Sie wirklich glauben, daß die Eisenbahnunternehmer sich von ihren Arbeitern werden Vorschriften machen lassen? Ist es denn nicht schon entsetzlich genug, daß jetzt jeder Bürger sich anmaßen mögte, auch mit regieren zu können, und daß ein verblendetes Zeitalter ihm dies wirklich als ein Recht einräumt sollen wir es auch noch erleben, daß der unterste Pöbel nun dem Bürger nachdrängt und auch auf seine Weise im Lande Vorschriften machen mögte?

Jaromir zuckte die Achseln, er kannte den starren Aristokratismus des Grafen, mit dem dieser noch festwurzelte in einer Weltanschauung früherer Zeiten, aus welcher es unmöglich war, ihn in eine neue zu versetzen. Der Stamm war in jener Zone allein ernährt zu fest und altersgrau geworden, um jetzt noch der Versetzung fähig zu sein, darum und aus Rücksicht gegen den Hausherrn170 und gegen Elisabeths Vater sagte er, um ihn nicht zu beleidigen, nur leicht: Freilich, hätte man gedacht, daß es so kommen werde, so würde man dem Bürger auch noch länger verweigert haben, was man ihm zugestand, halb freilich gezwungen und von den Verhältnissen gedrängt, aber doch auch halb freiwillig.

Elisabeth, die auf Jaromirs Antwort ängstlich gespannt gewesen war, weil sie zwischen ihm und dem Vater einen Zusammenstoß fürchtete und Nichts lieber vermied, vernahm diese ruhige Antwort, welche sogar eine doppelte Deutung zuließ, mit Freude, und um nun das Gespräch von diesem Gegenstand hinwegzulenken, machte sie darauf aufmerksam, daß auf dem Platz, welchen man bis jetzt eingenommen hatte, die Sonne so vorgerückt sei, um sie bald Alle zu bescheinen, und daß man ihn deßhalb wohl mit einem andern vertauschen könne.

Der Vorschlag fand Beifall und beendete glücklich ein Gespräch, in welchem so verschiedene Ansichten aufgekommen waren.

Man hatte sich kaum an den andern Platz begeben, als zum Beweiß, wie man die Gastfreiheit auf Schloß Hohenthal zu schätzen wußte, Rittmeister von Waldow und Geheimrath von Bordenbrücken mit ihren Frauen anlangten.

Der Vorgang bei dem Eisenbahnbau war und blieb171 aber einmal die große Neuigkeit des Tages und ward jetzt abermals Stoff der Unterhaltung.

Der Geheimrath that äußerst geheimnißvoll, versicherte aber, daß er genau wisse, daß sofort Militair requirirt worden sei, und daß dies gewiß wieder zur Ordnung verhelfen werde. Daß einige Ausländer, welche auch bereits verhaftet wären, die inländischen Arbeiter aufgehetzt, die hoffentlich selbst einsehen würden, wie sehr sie im Unrechte wären. Im Ganzen sei die Sache höchst unbedeutend, kaum der Rede werth, man habe nur unnützen Lärm gemacht, die Leute wären dort gar nicht unzufrieden, wie er selbst von den Besserdenkenden gehört. Alles sei auch mit daher entstanden, daß man in den Zeitungen lauter Lügen verbreite, wie man in Frankreich und England höhern Lohn erzwinge, daß die Deutschen Arbeiter es auch so haben könnten, daß sie selbst schuld wären, wenn man sie schlecht bezahle so sei die freche Tagespresse mit ihrem Geschrei an Allem Schuld u.s.w.

Der Geheimrath spielte das Berichtigungsbüreau in eigner Person ganz comme il faut, auch, daß er sich in einem Athem viel Mal widersprach, paßte vollkommen zu dieser Rolle.

Die so vergrößerte Gesellschaft blieb auf der Gräfin Aufforderung bis zum Abend im Schloß vereinigt.

Der Abend dämmerte für die Jahreszeit früh, trübe172 und kühl herein, und man beschloß, sich zum Souper in das Schloß selbst zu begeben. Durch den Park hatte man bis dahin ein ziemliches Stück Wegs zurückzulegen.

Elisabeth neben Jaromir war ein Wenig zurückgeblieben von den Andern. Sie lenkte jetzt in eine Seitenpromenade ein, welche von den Uebrigen nicht betreten wurde, und sagte zu ihm: Wenn wir einen Umweg von zehn Schritten machen, kann ich Ihnen meinen Lieblingsplatz zeigen, zu dem ich immer gehe, wenn ich mit der Natur allein sein will, um zu lesen oder zu träumen.

Wie dank ich Ihnen, wenn Sie mich zu dieser geweihten Stelle führen! sagte er. Und jetzt, wo Niemand da ist, um uns zu widerlegen, Niemand von all Denen, welche es noch nicht begreifen können oder nicht begreifen wollen, daß man ein warmes Herz hat für alle Menschen, und für die Unglücklichsten das wärmste, jetzt kann ich Ihnen sagen, wie laut mein Inneres jubelte, als ich Ihre Worte hörte die mir bezeugten, daß Sie anders dachten, wie nun wie man sonst denkt, wenn man in einem Schlosse unter den Augen ehrwürdig-stolzer Ahnenbilder erzogen!

Und haben Sie nicht ein gleiches Loos und denken doch auch wie ich? sagte sie.

O, doch nicht gleich! Doch muß ich verwundert fragen, woher Sie die Armuth und ihr Unglück und ihre173 Versuchungen kennen gelernt haben? Ich kenne sie denn mir waren sie alle Genossen!

Ihnen? Ihrer Phantasie Ihren Dichterwerken.

Warum sollt ich mich schämen, Ihnen die Geschichte meiner Armuth zu erzählen? Meine Mutter hatte aus Polen flüchten müssen, glaubte sich dadurch ihrer Güter verlustig. Ein Verwandter, Graf Golzenau nahm mich, den Knaben, auf und ließ meine Erziehung vollenden. Wie ich zum Jüngling geworden, konnt ich es nicht mehr ertragen, von Anderer Güte zu leben, da ich sah, wie Tausende neben mir sich auch ohne Vermögen und fremde Unterstützung durch’s Leben schlagen mußten ich nahm Nichts mehr an von meinem Verwandten und so lebt ich in Armuth und Dürftigkeit während meiner schönsten Jugendjahre und daher kenn ich die Armuth und ihr Unglück und ihre Kämpfe und ja auch ihre Versuchungen.

Er konnte niemals dieser Zeit denken, ohne bis in seine innersten Tiefen erschüttert zu werden; so hielt er auch jetzt inne, als sie im Gehen in eine kleine Rotunde gekommen waren, und lehnte sich auf eine kleine weiße Marmorsäule, mit der einen Hand seine Augen bergend, mit der andern nach der Elisabeths fassend. Sie gab sie ihm willig, drückte die seine innig und trat näher zu ihm.

Die Rotunde, in welcher sie standen, war von hohen Eichen gebildet, die dicht nebeneinander standen, daran174 eine Hecke weißer und rother Rosen. Wilder Wein rankte an den Eichenstämmen empor und zog seine grünen Guirlanden von einem zum andern, sie so mit einander verbindend. Wie ein kleiner Thron vor der Rosenhecke unter diesem grünen Thronhimmel von Eichenlaub und flatternden Ranken erhob sich ein schwellender Moossitz, zu dem zwei Stufen führten, ebenfalls mit sammetnen Moos wie mit einem grünen Teppich überkleidet. Zwei kleine weiße Marmorsäulen erhoben sich daneben, auf der einen stand mit goldenen Buchstaben eingegraben: Träume! auf der andern: Ruhe!

An einer dieser Säulen lehnte jetzt Jaromir.

Das ist mein Heiligthum, in das ich Sie führen wollte! sagte Elisabeth.

Er warf erst jetzt einen Blick auf seine Umgebung und rief davon bezaubert aus: Ja, das ist eine heilige Friedensstelle! Und indem er Elisabeth zu der Moosbank führte, sagte er lächelnd: Nehmen Sie Ihren Thron ein, Königin!

Sie wollte nicht die Stufen hinauf und sagte: Zu längerem Weilen haben wir keine Zeit die Andern

Und wozu diese Andern? fiel er ihr in’s Wort. Wir haben bei ihnen schon schöne Stunden verloren warum ihnen unausgesetzte Opfer bringen? Wenigstens für einige Momente können wir uns ihnen entziehen! und175 er drängte mit sanfter Gewalt Elisabeth auf den Sitz und warf sich selbst auf die oberste Stufe, so daß er zu ihren Füßen saß.

Elisabeth! flüsterte er, und ihre Hand immer noch in der seinen haltend, sah er mit einem unbeschreiblichen Liebesblick zu ihr auf.

Sie las in diesem Blick, was er ihr zu sagen hatte, eine süße Beklemmung überfiel sie aber mit jungfräulicher Schüchternheit suchte sie seinem Geständniß auszuweichen, es noch zu verhindern, und sagte sanft aber ein Wenig zitternd: Sie sagten mir, wie Sie zum Verständniß der Armuth gekommen, und ich bin Ihnen das Gleiche noch schuldig. Ich hatte im Institut, wo ich erzogen ward, einen Lehrer, den ich auf’s Innigste verehre. Durch lange Krankheit seiner Gattin und ich weiß nicht, durch welches Mißgeschick noch, lebte er in der tiefsten Armuth, die er Jedermann verbarg. Aber ich habe erfahren, wie schrecklich auch dieser hohe Mensch darunter gelitten und er lehrte uns Mitleid haben mit dem Elend und der Noth der Niedriggeborenen; und als er zum letzten Mal von uns Abschied nahm von mir und von meiner guten Pauline, welche Sie gestern kennen lernten, so mußten wir ihm versprechen, auch in den Armen und Unwissenden den Menschen zu ehren und ein liebendes Schwesterherz ihnen zu bewahren. Pauline hat den größten Wirkungskreis176 dies zu beweisen und sie thut’s, und durch sie hab ich hier die Noth der ärmsten Classen gesehen, vielleicht in ihrer schlimmsten Gestalt.

Er hörte ihr zu, ganz in ihrem Anblick versunken, er zog ihre Hand an seine Lippen und blieb so darauf ruhen. Dann sagte er: So hat vielleicht nur dies Unglück, das Sie gesehen, düstere Schatten auf ihr Jugendleben geworfen, so sind Sie vielleicht nur unglücklich gewesen für Andere, und nicht, weil Sie selbst ein Leiden traf? Elisabeth! Dies Selbstvergessen diese Engelmilde

Sie unterbrach ihn: Denken Sie nicht zu schön von mir! sagte sie. An jenem Tage, in jener Morgenfrühe, als Sie mich allein und weinend fanden, hatte ein egoistischer Schmerz mich niedergeworfen ich hatte den letzten Abschied vielleicht für’s ganze Leben von meinem verehrten Lehrer genommen. Jetzt hab ich in das Unvermeidliche mich fügen lernen, aber daß ich ihn entbehre, hat mich noch manche Thräne gekostet.

Elisabeth! Wenn Sie den Freund verloren, der ihr Lehrer war werden Sie den andern Freund verstoßen den andern Freund, Elisabeth der Sie liebt?

Sie neigte sich zu ihm herab er erhob sich von seinem Sitz zu ihr hinauf. Jaromir! flüsterte sie leise und hing zitternd in seinen Armen.

Nach ein paar Minuten selig stummer Berauschung177 des Einen im Anschauen des Andern, wo bei dem innigen Anschmiegen ihre Augen einander wiederspiegelnd eine ganze wunderreiche Traumwelt öffneten, schreckten sie ein paar Vögel, die ein liebejauchzendes Brautlied sangen, aus süßem Selbstvergessen auf.

Wir müssen in das Schloß! sagte sie, entwand sich seinen Armen und ließ nur ihre kleine Hand in der seinigen, an der sie ihn aus der Rotunde zog.

Und wenn ich jetzt gehorche darf ich morgen diese Stätte wieder betreten wenn wir allein sind? fragte er.

Ich ruhe dort alle Nachmittage aus sagte sie schüchtern.

So sind wir morgen dort wieder vereinigt! gelobt er.

Als sie jetzt wieder zur Gesellschaft, die bereits im Schlosse angelangt war, zurück kamen, war bei dieser das Gespräch über die Eisenbahnarbeiter wieder im größten Schwunge. Der Rittmeister hatte es jetzt glücklich in eine neue Phase gebracht, indem er, ein trauriger Beweis der täglich herabkommenden Aristokratie, diesen traurigen Umstand dem Ausschwung der Industrie zuschrieb. Er konnte es niemals Herrn Felchner vergeben, daß er seinen Wald in Besitz genommen und für Pauline die Hand seines Sohnes Karl ausgeschlagen habe. Er schimpfte also178 jetzt auf die Thyrannei aller Fabrikherren und nahm ihnen gegenüber die arbeitenden Classen in Schutz. Am Ende vereinigte man sich gar dahin, über die Ablösung zu klagen, die Abschaffung der ganzen Frohndienste als ein Werk zur Entsittlichung darzustellen, es schrecklich zu finden, daß auch der gemeine Mann auf dem Dorfe jetzt lesen und schreiben könne und diese für seinen Beruf ganz unnützen Dinge auch so unnütz anwende, daß er z. B. Zeitungen lese und daß nur aus dieser Ueberbildung alles Unheil komme. Denn die Eisenbahnarbeiter würden sich jetzt nicht erhoben haben, wenn die Presse sie nicht aufgereizt, daß aber die größte Ungerechtigkeit doch die sei, daß jetzt gemeine Bürgerliche, Industrielle die Herren der Welt wären, und daß gegen diese, weil sie eben nicht viel besser als sie selbst, der niedere Pöbel sich zu empören wage, während er vor einem adligen Wappenschild immer noch Respect gehabt.

Man war so in das Gespräch vertieft, daß nur Aarens die Verspätung des Paares bemerkt hatte, aber doch ihren wirklichen Grund noch nicht ahnte.

179

X. Versuchungen.

Auch Dich beschimpfte man als Knecht
So oft die Stirn Du wolltest heben.
Doch bist Du Mensch und hast ein Recht
Auf Deinen Antheil Lenz und Leben!
Alfred Meißner.

Einige Tage später, als man eben Feierabend in der Fabrik des Herrn Felchner geläutet hatte, gingen Wilhelm und Franz miteinander von der Arbeit nach Hause.

Franz, weißt Du es schon?

Ich weiß Alles!

Und wußtest es wirklich schon voraus, wie Du vorhin sagtest?

Wußt es!

Und warum hast Du es verschwiegen?

Das ist einfach damit nicht auch wir mit in’s Unheil kämen.

Nein, so ist es nicht Du hast sie in das Unheil gebracht Du bist an Allem Schuld!

180

Ich? Bist Du rasend?

Mögt es bald fein, Franz, rasend vor Wuth seit Du nicht mehr der ehrliche Kerl bist wie sonst, der Leib und Leben gelassen hätte für die Kameraden, wenn’s zu helfen gegolten jetzt bist Du feig und ängstlich geworden.

Wilhelm! Nimm Dich in Acht! Das dürfte mir außer Dir Keiner sagen! Und rede vernünftig, ich weiß nicht, wo Du hinaus willst mit Deinen Beschuldigungen.

Nun schau Du sagst, gleich am ersten Abend, wie es geschehen, sei der Adam aus Hohenheim zu Dir gekommen und habe Dir gesagt, daß die Eisenbahnarbeiter jetzt Feiertag machten.

Ja, das ist wahr.

Warum hast Du das uns nicht gleich gesagt; hätten wir es gewußt, so hätten wir gemeinschaftliche Sache mit ihnen machen können wir hätten den Tag auch gefeiert.

Daß Ihr rasend genug gewesen wäret und die Soldaten hätten uns dann mit dem Bajonnette zur Arbeit gehetzt, wie sie es an der Eisenbahn gemacht haben. Dort arbeiten sie nun wieder gerade wie vorher, für dasselbe Geld, nur daß sie ein paar Tage Lohn eingebüßt haben, wo sie Nichts machten. Traurig freilich, daß es so ist, daß nicht einmal der sogenannte freie Arbeiter seine Arbeit verwerthen kann wie er will, und daß man aus dem,181 was sonst jeder Handwerker, jeder Kaufmann darf: seine Arbeit, seine Mühe bezahlt zu nehmen wie er will, den um Tagelohn arbeitenden Armen ein Verbrechen macht. Aber es ist ein Mal so! Das haben auch die Eisenbahnarbeiter vorher wissen können und unter ihren Verhältnissen ist, was sie thaten auch wirklich Unrecht, denn es ist ein Wortbruch, da sie sich vorher anheischig gemacht hatten, um den ihnen einmal bewilligten Lohn zu arbeiten sahen sie, daß sie es so nicht länger aushalten konnten, so hätten sie wenigstens einen gesetzlichen Termin abwarten sollen, wo sie die Arbeit in Ruh und Friede kündigen konnten.

Aber das würde ihnen auch Nichts geholfen haben im besten Falle hätten sie dann doch nur die Wahl gehabt: entweder für den kargen Lohn fortzuarbeiten, oder plötzlich arbeitslos zu verhungern.

Nun freilich schlimm genug, daß es so ist aber wie kommst Du dazu, mir Vorwürfe zu machen?

Wenn wir gewußt hätten, daß unsere entfernten Kameraden sich erhoben, so würden wir ihnen gefolgt sein und gemeinschaftliche Sache mit ihnen gemacht haben. Dann wären wir ihrer gleich mehrere Hunderte gewesen und die paar Soldaten hätten Nichts vermogt.

Nun, und was wäre denn dabei noch herausgekommen, da Du erst selbst sagst, daß wir auf diesem Wege nicht zu unsrem Rechte kämen?

182

Auf diesem Wege freilich! Aber was haben wir denn zu verlieren, warum sollten wir nicht einmal Alles wagen? warum nicht wider die Reichen zu Felde ziehen sie mögten dann sehen, ob denn wirklich in ihrem Gold ein allmächtiger Gott wohne, daß wir gar Nichts gegen sie ausrichten könnten!

Bruder, Bruder lass diese frevelhaften Reden!

Ei ja doch frevelhaft! Und was sind denn die Handlungen der Reichen? Nenne mir doch einen Frevel, den nicht sie an uns verübt haben? Wir sind schon im Mutterleibe verflucht und von der Berechtigung als Menschen zu leben ausgeschlossen und so geht es fort, Fluch an Fluch und Frevel an Frevel über uns, an uns, durch unser ganzes elendes Leben, und so geht es wieder fort auf unsere Kinder und Kindeskinder. Aber nein! So soll es nicht länger fort gehen seit dem Tage, wo mir jener Brief an Dich die Augen mit Eins geöffnet!

Ach, jener Brief, wär er nimmer gekommen!

Nein, das war ein Glückstag, wo er kam, den hab ich als meinen Feiertag roth angestrichen im Kalender.

Wilhelm meinst Du, ich habe nicht Alles das, was Du vorhin aussprachst, in meinen bösen Stunden auch gedacht, Tausend Mal mir gesagt, mir wiederholt, immer wieder und wieder? Denkst Du nicht, ich habe oft Stunden lang in das unselige Papier gestarrt, es weggeworfen,183 wieder hergeholt, immer noch ein Mal durchgelesen und dann mit mir gerungen und gekämpft Tag und Nacht? Auf meine Kniee bin ich gestürzt und das Vaterunser, wie mich’s allabendlich die Mutter beten lehrte, da ich ein Knabe war, ist mir wieder durch die Seele gezogen, und auf die Lippen trat immer das einzige Gebet: führ uns nicht in Versuchung!

Ja wenn Du immer noch denken willst: beten hilft!

Mir half’s ich habe überwunden, ich brauchte nachher nicht mehr zu beten, ich hatte endlich die Kraft, daß ich sagen konnte: Hebe Dich von mir, Versucher! Und da ward ich sein los.

Daß Du ein Feigling bist, mag ich nicht glauben so bist Du ein Schwärmer, und mit solchen Leuten fängt man Nichts an.

Sieh einmal, Wilhelm! sagte Franz mit milder treuherziger Stimme und Thränen traten dabei in seine Augen und mit seiner einen Hand ergriff er die Wilhelms, mit der andern klopft er ihm freundlich auf die Schultern: Sieh einmal, Wilhelm, wir waren einander die besten Freunde, waren uns Herzensbrüder! Wir hatten immer einerlei Meinung und haben zusammen manche gute Einrichtung zu Stande gebracht unter unsern Kameraden, wir haben das Beste gewollt und gestrebt, der allgemeinen Neth entgegen zu arbeiten, und habennie Etwas für uns184 gewollt, oft unsere letzten Groschen hingegeben. Für einander haben wir noch manches Härtere ertragen, aber mehr noch, als daß wir selbst Eines für das Andere zu Aufopferungen fähig waren, freute und stärkte es uns, daß wir in Allem gleich dachten, daß wir miteinander all diese Tausend Dinge besprechen konnten, welche für unsere Kameraden ein fremdes Gebiet sind und daß dann Keiner von uns einen Gedanken oder ein Gefühl aussprechen, das nicht der Andere schon gehabt hatte, oder dann wenigstens sogleich erfassen und theilen konnte und wie anders ist das jetzt geworden! Es ist, als ob wir einander gar nicht mehr verständen und obwohl wir noch allabendlich uns zusammenfinden, mit einander plaudern, so will’s niemals mehr werden wie sonst und obwohl Du mich gerade immer aufsuchst, begegnet mir doch Keiner der Kameraden so hart wie Du.

Weil eben Keiner wie ich so auf Dich gebaut und vertraut hat und sich nun so von Dir hintergangen sieht!

Hintergangen? Doch ich begreife, wie Du das meinst weil ich nicht Deinem unsinnigen Verlangen nachgegeben habe und unsere Genossen aufgehetzt, wie es einzelne Ausländer unter den Eisenbahnarbeitern gemacht haben.

Nicht allein deshalb habe ich mich in Dir getäuscht,185 sondern weil Du auf einmal nicht einsehen willst, was allein vernünftig ist Du, von dem ich immer besser dachte, als von mir selbst, den ich für verständiger hielt als mich und all die Andern

Ach, so thu dies nur auch das eine Mal, mißtraue Dir und Deiner unzufriedenen Heftigkeit, die Alles verderben wird traue nur dies Mal meiner ruhigen Ueberlegung ich habe das sonst nie von Dir gefordert, jetzt fordre ich’s Dich verblendet Leidenschaft Du hast Dich irre führen lassen.

Nein! Ich habe nur zum ersten Mal begriffen, wie lange ich irre geleitet gewesen bin, wie wir Alle es sind, wie die ganze Gesellschaft es ist jener Brief hat mir die Augen geöffnet. Du hast es nicht hindern können, ich habe mir daraus wenigstens eine Stelle abgeschrieben, und sie Einigen mitgetheilt.

Wilhelm um Gottes Willen, welche?

Diese sagte Wilhelm und zog ein beschmuztes Blatt Papier hervor, auf welchem stand:

Wir wollen nicht mehr länger geduldig unser elendes Leben fristen wir haben Alle gleiche Rechte, gleiche Ansprüche auf gleiche Genüsse. Unsere Bitten rühren nicht die versteinerten Herzen der Reichen, freiwillig geben sie kein Theilchen ihres Besitzes ab. Es wird Zeit, daß wir ihnen nehmen, was sie uns nicht geben wollen. Wir186 haben ja Nichts zu verlieren, wir können schon einmal Etwas wagen. Ja wir können Alles wagen es ist unsre Pflicht. Die Reichen mögen sich in Acht nehmen, wir werden sie aus ihrer behaglichen Ruhe aufschrecken. Wir haben Nichts mehr zu verlieren, denn wir haben schon Alles verloren durch ihre Erpressungen, ihre Betrügereien, ihren Privaterwerb, ihr Erbrecht. Sie haben zu verlieren, was sie uns entzogen und das müssen sie verlieren. Man will uns sagen: das Bestehende dürfe nicht umgestürzt werden! Aber wodurch ist das Bestehende gut und unverletzlich gemacht? Es ist schlecht, soll man das Schlechte beibehalten? Aendere hieße die Ordnung stören, sagt man. Aber der jetzige Zustand ist kein geordneter, er ist eine Unordnung, da dem Einen mehr Recht gegeben ist, als dem Andern. Wäre es Ordnung, wenn Millionen hungern und mit der Armuth kämpfen, während einige Tausend Reichthümer aufhäufen und mehr haben als zu einem glücklichen Leben nothwendig? Die Noth wird größer und größer es handelt sich um Sein und Nichtsein des größten Theils der Menschheit wir müssen siegen oder sterben! Nicht ewig wollen wir die Diener der Reichen sein, wir haben gerechte Ansprüche an das Leben und das Leben soll uns unsern Antheil nicht länger verweigern!

Wilhelm hatte das laut gelesen und sagte jetzt: Und bist Du noch nicht überzeugt? Mein Wahlspruch ist:187 Wir müssen siegen oder sterben! Aber bisher hat unsere Loosung wie ein häßlicher Reim darauf gelautet: Wir müssen kriechen und verderben! Denkst Du noch immer so?

Es sind schlimme Zeiten jetzt und grausame Gesetze herrschen! Ich habe das offen vor aller Welt gesagt, eh Ihr Andern noch daran dachtet aber es werden einst bessere Zeiten kommen und auch die Armen werden ihre Menschenrechte finden aber nicht dadurch, daß sie dieselben verletzen und sich auch noch des letzten Scheines davon, welchen man ihnen gelassen hat, sich freiwillig entledigen. Ich weiß, daß meine Bücher allein mit ihren Bitten und ihren Anklagen Nichts ändern können aber sie helfen dazu beitragen, daß man unsere Sache prüfen lernt, daß hochherzigen Menschen, welche bis jetzt mit edler Begeistrung ihre Pflichten ein Volk zu vertreten, oder für die Freiheit und den Fortschritt in geistreichen Schriften zu kämpfen zu genügen glaubten, wenn sie die Sache der Bürger führten daß diesen die Augen aufgehen werden, daß es noch unter der Classe der Bürger eine noch tiefer gestellte giebt, welche auch einen großen Theil des Volkes ausmacht, und die sie bisher übersehen konnten, dann werden sie auch unsre Sache führen und so wird es auf dem Wege friedlicher Fortentwicklung auch für uns besser werden.

188

Wenn vorher noch Millionen zu Grunde gerichtet worden sind.

Und wenn es so sein müßte sie werden zu Grunde gehen auch auf anderem Wege. Siegen oder sterben, soll Deine Loosung sein? Aber siegen werden die nicht, die Du in einen ungerechten und ungleichen Kampf führen mögtest, die dann von keiner Ordnung Etwas wissen und nur einem unklaren, wilden Drange mit Rachegefühlen und entfesselten Leidenschaften überlassen bleiben, um mit diesem Unheil zu stiften nicht nur Unheil für die Reichen, sondern auch Unheil für die Armen. Siegen werden diese in Unwissenheit und Druck aufgewachsenen Massen nicht gegen eingeübte Heere, gegen die geistige Ueberlegenheit! Und sterben? Sterben werden vielleicht ihrer Viele, und das mögte sein, denn sie sind dann erlöst aber Viele, viel Tausende werden nicht sterben und als Lohn für ihren kühnen Versuch in immer härtere Sclaverei, in immer größeres Elend zurückgestoßen werden. Willst Du dies Loos auf Deine unglücklichen Brüder wälzen?

Wilhelm hatte mit immer finstrer werdenden Mienen zugehört jetzt schüttelte er Franz’s Hand heftig, ließ sie los und sagte dann mit dumpfer Stimme: Du überzeugst mich nicht anders, gieb Dir weiter keine Mühe mehr, von nun an trennen sich unsre Wege, bis Du vielleicht189 doch noch zur Erkenntniß kommst und den meinen betrittst.

Hastig ging er zur Thüre hinaus, Franz sprang ihm nach Wilhelm drängte ihn zurück: Lass es gut sein, sagte dieser, es wird mir schwer, Dich nicht mehr als Bruder zu betrachten aber ich trage nicht die Schuld! Vielleicht besinnst Du Dich noch anders doch nein! Du wirst freilich Nichts gegen unsere Fabrikherrn unternehmen er ist ja der Vater Deines Liebchens! Sich! Vor der Versuchung hättest Du Dich bewahren sollen. Das vornehme Fräulein hat Dir’s angethan daß Du nun zu keiner That mehr kommen kannst, die ihr vielleicht ein schönes Thränchen kosten könnte aber schau doch! Wenn sie arm wäre und Du reich, so könnte sie doch Dein werden so wird sie’s nimmer. Wie, hättest Du nun nicht Lust, die Ordnung der Dinge einmal umzukehren?

Franz stand erschüttert still vorher hatte es ihm nie an Worten gefehlt, den Freund, der nun sein schlimmster Gegner geworden, zurück und zurecht zu weisen jetzt war er plötzlich verstummt.

Hab ich’s getroffen? rief Wilhelm triumphierend. Gut! Ich lasse Dir noch ein Mal Bedenkzeit. Verächtlich ist es und dumm zugleich, wenn Du unsere Thrannen und all seine Helfershelfer, Deinen Thrannen und den Tyrann Deiner Brüder schonen willst um eines hübschen190 Kindes willen, das sich zum Zeitvertreib und aus Langerweile zu Dir herabgelassen aber edel wär’s, wenn Du auch Etwas wagtest, sie Dir zu erkämpfen, und was außerdem vielleicht mißlänge, würde durch die Liebe gelingen! Ich lasse Dich mit Deinem Herzen und Deinem Verstand allein die werden Dir’s noch deutlich vortragen, wie ich’s meine.

Er ging.

Franz war wieder allein in seinem Kämmerchen, allein mit dem aufgeregten Innern, in dem jetzt Wilhelm geschickt einen neuen Kampf aufgeregt hatte.

Daran hatte Franz noch nicht gedacht, was Jener jetzt mit rohen Worten und plötzlich angeregt hatte.

Als der Mann des Volkes mit sich gerungen und all jene Versuchungen bekämpft hatte, welche in ihm selber rege geworden, oder von außen zu ihm herangetreten waren, so hatte er immer nur das große Ganze vor Augen gehabt, er hatte niemals an den besonderen Fall, niemals gerade an sich selbst, seine eignen Verhältnisse und seine nächste Umgebung gedacht. Er hatte sich nur als Einen betrachtet, der, aus der Masse des verdumpften Volkes aufgewacht, gewahrte, wie er und Alle, welche in Armuth und Niedrigkeit bei drückender Arbeit beschwerliche Tage abhaspelten, um die einfachsten Menschenrechte gebracht seien. Er bemühte sich, dies verlorene heilige191 Eigenthum vieler Tausende wieder erringen zu helfen, indem er die Noth der Arbeiter vor aller Welt erzählte, indem er durch den Verein der jungen Arbeiter unter diesen selbst sittliche und bessere Elemente zu ihrer Geltung zu bringen suchte. Als nun jenes anonyme Schreiben mit seinen verführerischen Theorieen, seiner glänzenden Veredtsamkeit und seinen goldnen Verheißungen ihn so erschütterte ganz neue Gesichtskreise ihm aufschloß und ihm die Weit durch ein seltsam verkehrt geschlissenes Glas ansehen ließ, daß er Mühe hatte sich mit seiner geistigen Anschauung noch in dieser wirr gewordenen und verrückten Weltordnung zurecht zu finden als er darin weiter den offenbaren Aufruf zur Empörung und Grwalt gelesen so hatte er dies Allgemeine noch immer nicht auf seine besondern Verhältnisse bezogen.

Er war einige Augenblicke schwenkend geworden er hatte so viel neue Lebensansichten vernommen, wie sie ihm bisher noch niemals durch die Seele gezogen waren, und er mußte ihnen erst genau in die Augen sehen, ehe er sie verwerfen, eh er die unreinen Geister, welche sich an ihn herandrängten, von sich stoßen und verdammen konnte. Er hatte nur geprüft, ob diese neue Weltanschauung die rechte sei, oder seine alte und da er erstere falsch gefunden, hatte er sich mit Abscheu von ihr abgewendet. Es war ihm nicht gelungen, Wilhelm zu einer gleichen Ueberzeugung192 zu bringen, das hatte Franz für Wilhelm mitleidig gestimmt, aber diesen gegen ihn erbittert. Sie waren nun einander Gegner geworden, denn wenn Wilhelm unter den Kameraden die Ansicht zu verbreiten suchte, daß sie auch recht gut wie die reichen Leute leben könnten, sobald sie nur den Muth dazu hätten und nicht von alten unseligen Vorurtheilen sich zurückhalten ließen, arbeitete dm nun Franz wieder entgegen und sagte, daß auf gesetzlichem Wege mit Ruhe viel Mehr erreicht werden könne, als wenn man es versuchen wollte, sich mit Gewalt gegen die hergebrachte Ordnung der Dinge aufzulehnen.

Am Tage vor dem Aufstand der Eisenbahnarbeiter hatte nun Franz ein zweites anonymes Schreiben, durch einen unbekannten Knaben überbracht, erhalten, in welchem ihm der fremde Schreiber anzeigte, daß die Eisenbahnarbeiter einen ersten entscheidenden Schritt thun würden ihre Arbeit einstellen, höhern Lohn fordern und wenn man dies nicht bewillige, wieder zerstören würden, was man bisher gebaut. Wenn die Fabrikarbeiter zu gleicher Zeit muthig genug wären, ihr verhaßtes Joch abzuschütteln, so sei vielleicht der Augenblick gekommen, wo die neue Welterlösung sichtbar beginnen könne. Man würde sich dann vereinigen und alle Arme auffordern, mit Theil zu nehmen an dem großen Kriegs - und Siegeszug der Armen wider die Reichen.

193

Dies Schreiben hatte Franz sogleich verbrannt, damit es nicht in unrechte Hände falle, am Wenigsten in die Wilhelms, von dem er jetzt Alles fürchtete. Er selbst hatte sich entschieden, aber traurig abgewendet von diesem Bilde kommenden Elendes, welches das jetzige nicht lindern, sondern nur vermehren könne.

Als nun jetzt Wilhelm ihm vorwarf, daß er viel leicht nur um Paulinens willen eine verwegene That scheue, so riß ihn diese Beschuldigung in ein tobendes Meer innerer Zweifel und harter Seelenkämpfe wieder hinein. So roh und abscheulich ihm auch Wilhelms Worte klangen, er war mißtrauisch und streng gegen sich selbst und prüfte sich genau, ob dennoch nicht in irgend einem kleinen Winkel seines Herzens er einen Altar für Pauline wie für eine Heilige aufgerichtet habe, auf dem er all seine andern Gelübde und Schwüre opfere.

Aber er fand sich ohne Schuld.

Und wie er so ihrer dachte, da trat ihr Bild in aller mädchenhafter Lieblichkeit vor ihn hin, da meinte er den innigen, liebenden Blick ihres Auges zu sehen und den zärtlichen Händedruck der kleinen weichen Hand zu fühlen und da gellten ihm plötzlich wieder Wilhelms Worte in die Ohren: wenn sie nun arm wäre und Du reich, so könnte sie doch Dein werden! Wie? Hättest Du nun nicht Lust die Ordnung der Dinge umzukehren?

194

Sein ganzer Körper zitterte in unaussprechlichem Verlangen, sein Herz schlug höher in brünstigem Sehnen.

Was litten denn die Andern, daß sie wider die gesellschaftliche Ordnung murrten? Hunger, Frost, niederbeugende Noth und lästige Arbeit aber er litt Tausend Mal mehr!

Ihm war jetzt, als habe an ihm allein sich die Gesellschaft versündigt, denn sie nahm ihm die Geliebte!

Dieses Gefühl, das er so rein und heilig in seinem Innern trug, ward es nicht zum Verbrechen, zur Tollheit gestempelt von der Gesellschaft? Und was gab es denn noch Großes und Schönes auf der Welt, wenn nicht dies Gefühl seines Herzens dazu gehörte?

Aber was half es, daß dieses Herz so in inniger Liebe, daß es so groß und begeistert schlug dies Herz schlug ja unter Lumpen, und die, für welche es schlug, hätte ihren zarten Leib mit blinkendem Gold bedecken können, wenn sie es nicht verschmäht hätte.

Welch eine unvernünftige Gesellschaft, welch eine frevelhafte Unordnung in den bestehenden Verhältnissen mußte das sein, die um solcher Erbärmlichkeit willen zwei gleichschlagende Herzen für immer auseinander riß?

195

War es nicht gerecht und natürlich, sich wider eine solche Ordnung der Dinge zu empören?

Er konnt es nicht mehr aushalten in der engen Kammer, er lief hinaus, fort in die Nacht, in’s Freie.

196

XI. Berathungen.

Sie hörens nicht, sie schlummern gut,
Der Mahnung Zeichen kann nicht frommen.
So mag denn über Dich, Du Brut,
Du stolze Brut, das Aergste kommen!
A. Meißner.

Ein paar Wochen waren seit dem Tage vergangen, an welchem der Geheime-Polizeirath Doctor Schuhmacher mit dem Geheimrath von Bordenbrücken die lange geheime Unterredung gehabt, in welcher sich die beiden geheimen Männer erst so schwer über Eisenbahnarbeiter und Fabrikarbeiter verständigt hatten. Dieser Unterredung war am nächsten Tage eine gleich geheime gefolgt, in welcher der Geheimrath von Doctor Schuhmacher seine ganz besondern, geheimen Instructionen empfangen hatte.

Man sieht, wie geheim diese ganze Verbindung der beiden Würdigen und Alles, was damit zusammenhing, war.

Schuhmacher hatte jetzt nämlich seine werthe Person197 möglichst zu schonen, da er im Augenblick auf die bei ihm beliebten Vertleidungen, wo es galt, irgend Etwas auszugattern, das an sich nicht verdächtig war, sich aber doch bei einem geschickten Verfahren verdächtig machen ließ nicht eingerichtet war und sie ihm auch im gegenwärtigen Moment und unter den jetzigen Verhältnissen nicht anwendbar schienen. Er hatte daher den Geheimrath zu seinem und seiner Regierung Vertrauten gemacht und theilte ihm jetzt eine der wichtigsten Rollen in dem Drama zu, von dem er in dem Aufstand der Eisenbahnarbeiter bereits ein kleines Vorspiel gesehen zu haben meinte dem Drama, dessen Mitspieler er auskundschaften und das ganze Stück selbst auffinden, vielleicht auch gar erst verfertigen helfen wollte. Die Eisenbahnarbeiter waren vorher der genauen Beobachtung Schuhmachers entgangen, den Fabrikarbeitern hatte er ein anderes Loos zugedacht sie sollten ihm Mindestens eine bedeutende Gehaltzulage aus dem geheimen Fonds, einen Orden, vielleicht auch einen Titel und einige goldene Uhren und Dosen einbringen. Den Geheimrath machte er gleiche lockende Aussichten, um seinen Eifer gehörig anzuspornen und in allen Fällen seiner gewiß zu sein, was um so mehr wirkte, als Bordenbrücken einmal mit tiefster Indignation geäußert hatte, daß er der einzige Geheimrath in der Residenz sei, welcher keinen Orden habe, was Schuhmacher zu der Bemerkung Anlaß198 gab, daß dies gerade so ein Gefühl sein müsse, wie wenn man in einer Gesellschaft geschwänzter Affen der Einzige sei, welcher keinen Schwanz besitze, oder was dasselbe sei, unter lauter Herren, welchen der Zopf hinten hängt, kurz geschorenes Haupthaar habe.

Der Geheimrath hatte vorzüglich zwei Aufträge zu besorgen, zwei Pflichten zu erfüllen: Sich in Szarinys Nähe zu drängen, ihn wo möglich zum Hausfreund und Anbeter seiner Gemahlin zu machen und dadurch gelegentlich auszuhorchen, und dann bei dem Fabrikherrn Felchner selbst sich Eingang zu verschaffen, ihm einige Warnungen zukommen zu lassen und sich durch ihn selbst über den Stand der Dinge in der Fabrik unterrichten zu lassen und von seinem Standpunkt aus sich darin zu orientiren

Während dem war Schuhmacher auf einige Tage an den Ort gereist, wo die Eisenbahnarbeiter wieder friedlich und geduldig wie vorher um denselben Lohn arbeiteten und wo man drei der sogenannten Rädelsführer vor der Hand durch Einsperren unschädlich gemacht hatte. Um diese drei war es Schuhmacher vorzüglich zu thun. Einer seiner Freunde und geheimen Bundesgenossen in solchen Sachen, wo auch die Regierung selbst die geheimen Bundesgenossen, die in Nacht und Dunkel für ihre Wohlfahrt wachen, nicht verschmäht, hatte ihm geschrieben, daß aus dem sitzenden Kleeblatt auch nicht das Mindeste heraus zu bekommen sei,199 als was alle Welt schon wisse, und daß der Grund hierzu sonst in Nichts Anderm zu suchen sei, als daß die drei wirklich nicht schuldiger als die Anderen wären, und daß sie also gar Nichts auszusagen hätten. Dieser Brief seiner Creatur mit dieser Bemerkung kam nun Herrn Schuhmacher äußerst bedenklich und gefährlich vor, denn seine Marime war stets die, da, wo aus Mangel an Thatbeständen und Stoff überhaupt sich Nichts feststellen ließ, durch ein geschicktes Verhör so Viel als möglich herauszuklügeln und dann doch noch bogenlange Protocolle zu erhalten, wo man erst ganz hatte an allen Aussagen verzweifeln wollen. Um über diese edle Kunst seinem Vertrauten einige sachgemäße Winke zu geben, reiste er selbst zu demselben.

Die zwei von Vordenbrücken übernommenen Aufträge gewissenhaft zu erfüllen, war nicht so leicht, als es auf den ersten Augenblick den Schein haben konnte, denn Jaremir schien ihm wenig geneigt zu sein und hatte wenigstens seitdem die schmachtenden Blicke seiner Frau ganz unbemerkt gelassen. Gleich an demselben Tag, wo dem Geheimrath der neue Auftrag zugekommen, hatte er erfahren, daß Jaromir nach Schloß Hohenthal geritten sei, und dies bestimmte ihn, sogleich dort mit seiner Gemahlin auch einen Besuch zu machen.

Wenn nun auch an diesem Tage weder er, noch seine Frau Fortschritte in der Gunst des Grafen machten,200 vielmehr Beide wie gewöhnlich von ihm ziemlich so gut wie ganz ignorirt blieben, so brachte der Geheimrath doch heraus, daß Jaromir und Elisabeth sich der Eisenbahnarbeiter angenommen und überhaupt zu Gunsten der armen Leute und der arbeitenden Classen gesprochen hatten und namentlich über die Nachricht von der Requirirung des Militairs sehr aufgebracht gewesen wären. Als fabelhaftes Curiosum theilte Aarens dem Geheimrath diese wahre Nachricht mit.

Ein paar Tage später machte er eine Spazierfahrt nach der Fabrik und fragte nach Herrn Felchner.

Herr Felchner war nicht ganz wohl und lag in der Wohnstube auf dem Sopha. Pauline saß am Fenster mit einer mühsamen Arbeit im Stickrahmen beschäftigt. Ein Kätzchen schnurrte zu ihren Füßen und spielte mit dem kleinen Schlüsselbund, das von Paulinens Gürtel herabhing.

Der Geheimrath ward von einer Magd draußen sofort und ohne weitere Meldung hereingeschoben. Er stand darüber etwas verdutzt an der Thüre und machte sein Compliment, indem er, sein Wort an Paulinen richtend, welche aufgestanden und ihm mit einer leichten Verbeugung entgegengekommen war sagte:

Ich habe wohl die Ehre, mit Fräulein Felchner zu sprechen? Habe ich das Vergnügen, Ihren Herrn201 Vater daheim zu treffen, so mögte ich Sie bitten

Herrn Felchners Anzug bestand nämlich in seinem alten grauen Rocke, seinen niedergetretenen und zerriss’nen gestickten Schuhen, über welche graue Socken herabhingen, um den Hals ein strickartig zusammengedrehtes weißes Tuch, ohne Vorhemdchen und Weste; und so hatte er sich jetzt nur halb vom Sopha erhoben und den Eintretenden mit seinen kleinen blitzenden Augen angeschielt, dessen Gruß nur mit einem leichten Kopfnicken erwidernd.

Jetzt aber stand der Genannte auf, schlug die Arme à la Napoleon ineinander und that einige Schritte nach dem Geheimrath zu, warf ihm aus seinen grauen Augen einen durchbohrenden Blick voll Stolz und Ironie zugleich zu und sagte seine Rede unterbrechend: Mein Herr, was beliebt?

Mein Vater ist selbst hier! sagte gleichzeitig Pauline als Antwort auf den Herzutretenden zeigend.

Der Geheimrath suchte sich schnell von seinem Staunen zu fassen, daß dieser kleine dürre Mann in diesem schmuzigen Anzug hier der Hausherr sei, der Besitzer der Fabrik, der Besitzer von Millionen! Der Erstaunte sagte mit höflichem Kratzfuß: Es sollte mir leid thun, wenn ich vielleicht in der Mittagsruhe gestört

Der Fabrikherr war Menschenkenner genug, um zu bemerken, daß ein adeliger, ein sogenannter vornehmer202 Herr vor ihm stand, aber es war immer seine größte Lust, wenn er einen von diesen Leuten demüthigen konnte, und daß dieser jetzt sein Herrn Felchner’s unhöfliches Liegenbleiben auf dem Sopha zu seinem Gunsten mit der Mittagsruhe entschuldigen wollte, fiel ihm der Fabrikherr beinah ärgerlich in die zierlich wohlgesetzten Worte, indem er hastig sagte:

Ich bitte, mein Herr, keine Umstände, ich habe nicht geschlafen, die Zeit der Mittagsruhe ist bei mir längst vorüber aber ich bitte, kommen Sie zur Sache, unsereins hat selten viel Zeit, und ich liebe die unnöthigen Worte nicht.

Ich muß dennoch wiederholen, daß es mir leid thut, wenn ich gestört habe man schob mich ohne Meldung in dies Zimmer, ich konnte nicht vermuthen, sogleich in ein Wohnzimmer zu kommen ich bin Geheimrath von Bordenbrücken und mein Wunsch ist einzig, Ihnen einen nachbarlichen Besuch zu machen.

Ah, wenn es so ist, Sie sind sehr gütig, freue mich, das Vergnügen zu haben sagte der Wirth nun freundlicher und nöthigte den Besucher neben sich auf das Sopha ich glaube, es sei Jemand, der mich in Geschäften zu sprechen wünsche.

Das nun endlich eingeleitete Gespräch schränkte sich eine Zeitlang um alltägliche und gleichgültige Dinge. Endlich203 fand der Geheimrath Gelegenheit, die Unterhaltung auf den Aufstand der Eisenbahnarbeiter zu bringen.

Ja, das Volk wird täglich unverschämter, sagte der Fabrikherr. Wo es eine Eisenbahn zu bauen giebt, kommt auch gleich lauter Gesindel aus aller Herren Ländern herzugelaufen, verlaufene Müssiggänger, welche sonst nirgends Arbeit bekommen haben. Die Leute verdienen Viel bei leichter, gesunder Arbeit in freier Luft da wird’s ihnen zu wohl, sie werden übermüthig, so ist es denn auch hier gekommen. Hätten sie schlechtern Lohn und wären sie abhängig und auf lange Zeit gebunden, so wäre es ihnen nicht eingefallen zu revoltiren, nur wo zu Viel gute Zeit ist, wird das Pack unverschämt im Fordern.

Wie Recht haben Sie es sind schlimme Zeiten. Viel verschuldet an solchen gesellschaftlichen Uebeln die sogenannte Volksaufklärung, für welche eine gewisse Partei sich rastlos abmüht und der sogar die Regierungen viel zu wenig Hemmung in den Weg legen; dieses Streben nach Volksaufklärung ist recht eigentlich der furchtbare Krebsschaden der Gegenwart, durch den noch Viel edle Säfte zu Grunde gehen werden das fehlte noch! Auch den Pöbel aufzuklären

Wirklich gelingen wird dies niemals, da ist Nichts zu fürchten.

Aber müssen nicht Erreignisse wie das letzte ängstlich204 machen? Es zeigt, wie der Pöbel freilich nicht leicht aufgeklärt, aber desto leichter aufgeregt ist und daß es nicht an einzelnen Subjekten fehlt, welche ihn aufregen. Glauben Sie nicht, daß es solche Leute giebt, welche, wie es Thatsache ist, daß sie unter die Eisenbahnarbeiter sich gemischt, auch unter die Fabrikarbeiter sich mischen, und die verderblichsten Lehren verbreiten?

Ich verstehe Sie nicht ganz meine Arbeiter weiß ich im Zaum zu halten, das können Sie versichert sein.

Ich meine, daß der Communismus

Herr Felchner unterbrach diese Meinung mit einem lauten hönhischen Gelächter und rieb sich vergnügt die Hände. Nein, mein Herr, vor einer Sache, die bloß auf dem Papiere steht, erschrecke ich nicht. Ich habe auch einmal Etwas über diesen romantischen Unsinn gelesen und die ganze Sache als ein höchst albernes Mährchen erkannt.

Wenn auch die Verwirklichung des Communismus noch ein Mährchen ist und so Gott will, immer bleiben wird, die Communisten selbst sind leider keine Mährchenfiguren.

Ich mögte wohl einmal ein solches Exemplar sehen, ein Exemplar von einem leibhaftigen Communisten comme il faût.

Nun, vielleicht haben Sie nicht weit danach zu205 süchen, vielleicht finden Sie deren Einige unter Ihren eignen Arbeitern.

Sie sind, wie Sie vorhin sagten, erst seit ein paar Wochen in unserer Nachbarschaft und wollen mich meine Arbeitsleute kennen lernen, in deren Mitte ich wohne, welche ich meist habe aufwachsen sehen, mit denen ich täglich seit vielen Jahren in Berührung komme und von denen ich weiß, was für Menschen es sind und Sie wollen sie mich erst kennen lehren das ist sehr komisch!

Um manche Dinge im rechten Licht zu sehen, ist oft ein entfernter Standpunkt nöthig.

Und was für Dinge gehen denn in meiner Fabrik vor? Ich bin auf Ihre Mittheilungen in der That sehr gespannt, klären Sie mich auf.

Nennt sich nicht Einer unter Ihren Arbeitern Franz Thalheim?

Einer meiner geschicktesten und fleißigsten Arbeiter, ein ordentlicher Mensch wie Wenige.

Sie wissen, daß er schreibt?

Mein Gott, ja! Er ist von besserm Herkommen, als die andern Arbeiter, und hat eine gute Erziehung gehabt darauf bildet er sich nun Viel ein, und während die Andern dumme Streiche machen, sitzt er allein zu Hause, schreibt und dünkt sich vielleicht ein großer Dichter zu sein. Das läßt mich sehr gleichgültig und geht206 mich Nichts an, denn er ist immer der Erste und Letzte bei der Arbeit was er außerdem treibt ist seine Sache.

Was er aber schreibt, regt die Arbeiter auf.

Davon habe ich noch Nichts bemerkt auch können die meisten meiner Arbeiter gar nicht lesen. Und mag er ihnen seine Geschichten vorlesen die regen sie nicht auf, denn sie handeln unter Fabrikarbeitern, und wie es da zugeht, wissen sie ja alleine auch wird ihnen eine solche Lectüre über so Alltägliches nicht im Geringsten zusagen.

Es kommen aber doch Stellen darin vor

Nun, Sie haben ihm wohl gar die Ehre angethan, das Ding selbst zu lesen? Beruhigen Sie Sich, mein Herr, ich kenne diesen Pöbel Bücher regen ihn nicht auf, und wollten meine Arbeiter Manifeste und Adressen aneinander erlassen, ich ließ es geschehen, denn das schadet ihnen und mir Nichts. Das Beste ist aber, daß gleich gar Keiner Lust zum Lesen und Schreiben hat, außer eben dieser Franz, der in seiner Art ein Sonderling ist.

Er ist vermuthlich gescheid genug, seine communistischen Principien weniger in seinen Büchern zu vertreten, als sie gleich praktisch einzuführen.

Ich sag es Ihnen nochmals, vor diesem Popanz Communismus erschreck ich nicht.

Ich habe mir sagen lassen, daß unter Ihren unverheiratheten207 Arbeitern ein Verein besteht, welcher auf den Grundsatz der Gütergemeinschaft sich gründet.

Herr Felchner ward jetzt zum ersten Mal aufmerksam und spitzte seine Ohren. Der Geheimrath bemerkte diesen Eindruck seiner Worte und fuhr fort:

Franz hat diesen Verein gestiftet.

Ich weiß das, und obwohl mir die Sache unnütz vorkam, mogte ich es ihnen doch nicht verbieten, nach ihrer Art zusammenzukommen. Ich weiß, daß sie diesen Verein deshalb gestiftet haben, um lieber zu singen als Karte zu spielen und statt Branntwein Bier zu trinken das kann mir ziemlich gleich sein, es ist ihre Sache.

Mein Herr, sagte der Geheimrath sehr ernst, Ihr eigenes Wohl hängt davon ab, aber auch das Wohl des Staates, daß der Communismus keine Wurzel fasse ich hielt es für meine Schuldigkeit, Sie auf das aufmerksam zu machen, was ich erfuhr: durch jenen Verein, welcher Ihnen so unschädlich scheint, haben Ihre Arbeiter den ersten Schritt zur Verwirklichung des Communismus gethan. Es herrscht Gütergemeinschaft unter ihnen, sie helfen einander und stehen Einer für Alle und Alle für Einen sie singen zusammen Lieder auf eine neue goldne Zeit und Bundeslieder, welche ihren Bund fördern, seine immer größere Ausbreitung und Ewigkeit in Aussicht stellen sehen Sie dies noch lange Zeit ruhig mit an, so208 werden Sie es erleben, daß sie einen gleichen Versuch wagen, wie ihre andern Verbündeten die Eisenbahnarbeiter nur daß etwas Langvorbereitetes auch in seinen Folgen bedeutender ist und sich gar nicht übersehen läßt.

Meine Arbeiter, sagte der Fabrikherr, werden ihre Arbeiten nicht einstellen, um einen höhern Lohn erzwingen zu wollen sie kennen mich zu gut, sie wissen, daß ihnen dies Nichts helfen würde dazu sind sie klug genug. Noch ein Mal gab sich Herr Felchner, dem aber jetzt gar nicht recht wohl zu Muthe war, eine zuversichtliche und selbstgefällige Miene.

Ja, sagte der Geheimrath, ich theile Ihre Ansicht Ihre Fabrikarbeiter werden es klüger anfangen, als die Eisenbahnarbeiter, denn sie haben die schönste Zeit mit gehöriger Muße in ihren nächtlichen Vereinen ihre finstern Maaßregeln zu prüfen und zu überlegen, was am Besten zu thun sei. Doch ich überlasse Alles Ihrer eignen Klugheit, es war nur meine Schuldigkeit, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß, wenn Sie Ihren Arbeitern nicht bald ihre ungesetzliche communistische Verbindung verbieten die Regierung, welche bereits begonnen hat sie zu überwachen, sich genöthigt sehen wird, zu thun, was Sie selbst unterließen denn sie darf nicht dulden, daß Andere es zulassen, daß unter ihren Augen der Boden, auf welchem die gesellschaftliche Ordnung ruht, unterwühlt wird. Ich habe die Ehre. mich Ihnen zu209 empfehlen und bitte meinen guten Willen und meine Freimüthigkeit nicht übel zu deuten; vielleicht untersuchen Sie wenigstens die Sache genauer aber was Sie etwa beschließen mögen, so bitte ich nur, alles Aufsehen zu vermeiden, dies könnte nur schaden und Alles verderben.

Der Geheimrath empfahl sich. Herr Felchner war wirklich bestürzt, er geleitete ihn bis zur Thüre und sagte artig: Ich danke für Ihre Bemühungen in meinem Interesse eine fernere Antwort behalt ich mir vor, bis ich selbst Ihnen meinen Besuch abstatten werde.

Pauline war während dieser ganzen Scene zugegen gewesen; als das Gespräch auf die arbeitenden Classen gekommen war, hatte sie weiter keinen Theil mehr daran genommen. Sie hatte sich wieder an ihren Stickrahmen gesetzt, sie war so still als möglich gewesen, um ihre Anwesenheit vergessen zu machen. Mit der ängstlichsten Spannung war sie jedem dieser Worte gefolgt, und als Franz Thalheim’s Name genannt worden, hatte sie vor innerer Aufregung kaum gewagt zu athmen. Die Beschuldigungen, welche gegen ihn vorgebracht wurden, fielen mit Centnerlast auf ihr Herz sie wußte ihn unschuldig, aber sie zitterte für ihn, wenn ihres Vaters Argwohn geweckt werde, und er war geweckt sie sah es an seinen Mienen, seinen blitzenden Augen. Sie kannte sein Wesen daß er plötzlich dem Geheimrath gegenüber, dem er erst beinah210 Antworten voll verächtlicher Geringschätzung gegeben, verstummte daß er zuletzt ihn höflich und aufgeregt beim Abschied hinaus begleitete daß er jetzt von der Thüre zurückkommend mit ineinander geschlagenen Armen im Zimmer mit langen Schritten heftig hin und her rannte das waren böse Zeichen!

Sie stand auf und warf ängstlich fragende Blicke auf ihn.

Schenk mir ein Glas Wein ein, rief er ihr jetzt zu, mir ist, als bekäm ich Schwindel diese verdammte Spürnase mir ist, als wenn ich plötzlich in einen offnen Abgrund sähe, der mich hinabzöge und all mein Hab und Gut und auch Dich mein Kind.

Sie reichte ihm das Glas: Setze Dich, lieber Vater, bat sie, Du bist so aufgeregt.

Er setzte sich und nahm ihre Hand, sie streichelte ihm mit kindlichem Lächeln die Stirn, wie um ihn zu besänftigen. So saßen sie lange still neben einander. Es war, als ob die zärtliche Sorgfalt der Tochter ihm wirklich wohlthue, ihn beruhige, aufheitre. Er nahm ihre Hand und sagte ziemlich mild zu ihr:

Hör einmal, Kind, Du bist ja oft unter das gemeine Volk gekommen ich weiß es wohl, wie Du mitleidig hingelaufen bist in manches schmuzige Haus, wenn irgendwo Kinder und Alte krank lagen Du bist oft211 mitten hineingekommen unter das Gesindel und das legt seiner Rohheit keinen Zügel an, wenn auch die Tochter seines Herrn dabei ist rede einmal gerade heraus: was sagt denn das Gesindel von mir und was sagst Du von ihm? Glaubst Du, daß der Geheimrath Recht hat? Sage einmal Alles, wie Du’s selber denkst!

Pauline warf einen Blick aufwärts, der ein Gebet um Kraft und Segen war. Die Stunde war jetzt plötzlich gekommen, die sie so oft ersehnt und die sie nie zu erleben geglaubt hatte die Stunde, wo ihr der Vater selbst ein freies Wort gestattete für die Unglücklichen, deren Loos sie täglich bejammerte, und aus welchen ihr Vater so leicht glückliche, vielleicht auch gute Menschen machen konnte.

Mein Vater, begann sie und wünschte sich alle Beredtsamkeit der überzeugendsten Redner und wünschte, daß all jene Hundert, für welche sie sprechen wollte, im Stillen mit ihr um Segen für ihre Worte beten mögten. Mein Vater, die Leute sind gut und wenn Hunger, Frost, Krankheit, oder irgend eine Noth sie unzufrieden macht, so murren sie gleich laut und machen sich mit Schimpfen und Fluchen Luft aber heimtückisch sind sie nicht und finstere Pläne spinnen sie nicht dazu sind sie viel zu unwissend und wie Kinder. Aber sie klagen und murren wohl, wenn ihnen von ihrem Lohn abgezogen212 wird und die Factoren sie schlecht behandeln, und wenn ihre Kinder bei der angestrengten Arbeit zu Krüppeln werden und erliegen. Die Noth unter ihnen ist groß, mein Vater, und sie selbst sind daran unschuldig ich habe es mit angesehen. Ach, und Vater! Das Sprichwort könnte wohl einmal wahr werden: Noth kennt kein Gebot die Noth der Armuth lehrt nicht beten, die macht Verbrechen! Und wenn sie einmal etwas Verzweifeltes thun könnten wie der Geheimrath meint so thun sie es nur, weil sie vorher haben verzweifeln müssen. Darum laß sie nicht verzweifeln Vater, wir sind reich genug und bleiden’s auch, wenn Du die Arbeiter ein wenig besser bezahlst, auch wenn die Kinder nur den halben Tag arbeiten statt den ganzen; und wenn Du sie in eine Schule schickst, so werden brauchbare und gute Menschen aus ihnen, vor denen Du Dich dann niemals zu fürchten hast.

Deine Vorschläge sind eben wie die eines Kindes sagte der Vater freundlich. Aber Du glaubst, daß der Geheimrath Unrecht hat?

Das hat er gewiß aber es ist traurig, daß Du doch immer fürchten mußt, diese Menschen könnten sich einmal an Dir rächen, Vater! Mein Herz hat dabei geblutet aber ich habe es hören müssen, daß sie Dich einen Tyrannen nannten

Mädchen! Doch sie ließ sich von der Mahnung nicht stören213 und fuhr heftiger fort. Von Hunderten Thrann genannt zu werden! Und es kostete Dich kein Opfer, sondern nur scheinbar wäre Deine Einnahme verringert, wenn Du durch Milde und Nachsicht der Wohlthäter dieser Hunderte würdest wenn sie Dich dann ihren Vater nennten wenn sie Dich liebten statt Dich zu fürchten.

Sie umschlang ihn innig, heftig. Nun, sagte er, ich sollte es einmal versuchen mit der Milde, um Dir zu beweisen, daß dieser Pöbel anders ist, als Du denkst.

Versuch es und ich habe gesiegt! rief sie frohbegeistert.

Er lächelte sie mild an.

Die Thüre ging auf und Georg trat ein und sagte: Zwei Arbeiter haben so eben den Factor Eckert, weil er ihre unverschämte Forderung nicht erfüllt hat, im Finstern aufgelauert und ihn fürchterlich durchgeprügelt, daß er jetzt kein Glied rühren kann.

Der Fabrikherr erhob sich wüthend und stieß Paulinen bei Seite: Das sind Deine vortrefflichen Menschen, Närrin! rief er höhnisch und heftig zugleich. Du wirst es wohl auch noch begreifen lernen. Der Geheimrath hat Recht einen Factor prügeln das sieht sehr nach communistischen Grundsätzen aus, wo Alle gleich sind.

Pauline warf auf Georg einen Blick voll schmerzlich bittrer Anklage und eilte hinaus.

214

Es war dieselbe späte Abendstunde, in welcher Franz, von Wilhelm wie von einem bösen Versucher aufgestachelt, auch in’s Freie gelaufen war.

Pauline war kaum in höchster Aufregung ein Stück gegangen, als ihr Franz begegnete.

Sie wußte nicht, was sie that, sie stürzte wie außer sich auf ihn zu und rief: Franz! Ich sehe Unheil über Sie kommen, über uns Alle aber Sie sind am Meisten bedroht. Wie können Sie Sich retten?

Er verstand sie nicht aber er hielt ihre Hand in der seinen; er sah ihr mit glühenden Blicken, wie er es noch nie gewagt hatte, in das bleiche, geängstete Angesicht.

So schnell als möglich erzählte sie ihm die Unterredung des Geheimrathes mit ihrem Vater, dann die ihrige. Er hörte gespannt zu. Wie sie ihm auch ihre Worte zu ihrem Vater wiederholt hatte, sagte er mit innigstem Ton, aber schmerzlich bewegt:

Sie sind eine Schwester aller Unglücklichen, ich zähle Sie mit unter diesen.

Sie verstand ihn Franz! rief sie mit leisem Vorwurf und lehnte das goldne Lockenhaupt an seine Schulter.

Selige Schauer durchzogen ihn er wagte nicht, sie215 zu küssen, er beugte das Knie vor ihr und verstummte vor Entzücken.

Wilhelm hatte von fern gestanden er hatte Alles mit angehört jetzt lachte er höhnisch erfreut vor sich nieder und zog sich vorsichtig zurück.

Ende des zweiten Bandes.

Druck von T. Schumann in Schneeberg.

About this transcription

TextSchloß und Fabrik
Author Louise Otto
Extent228 images; 39875 tokens; 7278 types; 260775 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Repository TextGridNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2013-08-23T11:52:15Z Christoph LeijserFrederike NeuberNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2013-08-23T11:52:15Z HATHI TRUST Digital LibraryNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2013-08-23T11:52:15Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationSchloß und Fabrik Roman Zweiter Band Louise Otto. . Adolf WienbrackLeipzig1846.

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LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; ready; dtae

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Anmerkungen zur Transkription:I/J in Fraktur: Lautwert transkribiertlanges s (ſ): als s transkribiertrundes r (ꝛ): als r/et transkribiert

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