PRIMS Full-text transcription (HTML)
Schloß und Fabrik.
Zweiter Band.
Leipzig, Verlag vonAdolph Wienbrack. 1846.
Schloß und Fabrik.
Zweiter Band.

I. Zwei Freunde.

Doch zittert nicht! Ich bin allein,
Allein mit meinem Grimme;
Wie könnt ich Euch gefährlich sein
Mit meiner schwachen Stimme?
Georg Herwegh.

Dem schönen Maisonntag war eine gleich schöne, gleich milde Mainacht gefolgt.

Es war zehn Uhr vorüber und die Arbeiter aus Herrn Felchners Fabrik, welche unter sich den Verein der unverheiratheten Arbeiter und Junggestellen gestiftet hatten, traten eben aus der Schenke, denn dies war die Stunde, welche nach dem einen Paragraphen der Statuten ihres Vereins zum Nachhausegehen bestimmt war.

Mit dem gewohnten Wunsche einer guten Nacht trennten sich die jungen Männer und Jeder schlug den Weg nach seiner Wohnung ein. Wilhelm Bürger und Franz Thalheim gingen Arm in Arm und blieben auch bei einander, als sich die Andern trennten. Ein Dritter gesellte6 sich jetzt zu ihnen, es war August, derselbe Jüngling, welcher mit den alten Arbeitern falsch gespielt hatte und dafür von diesen so unmenschlich geschlagen worden war.

August war noch sehr jung, aber er war immer ein ziemlich lüderlicher Bursche gewesen. Als Franz den Verein der unverheiratheten Fabrikarbeiter bildete, war August nebst einigen Wenigen der jungen Leute nicht mit dazu getreten, weil sie es für eine lächerliche Zumuthung erklärten, dem Genuß des Branntweins und dem Kartenspiel zu entsagen. Am Tage nach jenem Vorfall aber war August zu Franz gekommen und hatte ihm für seinen Beistand gedankt, für diesen Beistand, welcher eigentlich in Nichts bestanden hatte, als im Hinauswerfen. Franz hatte ihn sehr kalt und ernst empfangen; sie hatten folgendes Zwiegespräch gehabt:

Du hast falsch gespielt, also betrogen, sagte Franz; das ist in allen Fällen ein schweres Vergehen und eine große Schlechtigkeit; allein durch den besondern Fall wird dieses Thun noch verächtlicher, als es schon ist. Du hast Diejenigen betrogen, welche die Verhältnisse zu Deinen Kameraden gemacht haben und in welchen Du Deine Brüder lieben solltest; Diejenigen, welche eben so arm sind wie Du und sich ihr Geld eben so sauer verdienen müssen Du weißt es, wie viel Mühe und Schweiß an dem Gelde hängt, welches ein Fabrikarbeiter in seiner Tasche trägt,7 und Du hast es ihnen doch betrügerisch abgenommen; Du hast Denjenigen ihr armseliges Eigenthum schmälern wollen, welche davon ihre nothleidenden Frauen und ihre elenden Kinder ernähren müssen Du hast Dich also auch an diesen hilflosen und hilfsbedürftigen Geschöpfen versündigt. Wahrlich, wenn ich Dich der verdienten Züchtigung der Kameraden entzog, an welchen Du so himmelschreiendes Unrecht begangen, so war es nur, weil ich fürchtete, die Trunkenen mögten Dich in ihrer blinden, tollen Wuth noch todtschlagen und dadurch sich selbst mit zu Verbrechern und Strafwürdigen machen das wollte ich ihnen ersparen und so half ich Dir zur Flucht.

Du sprichst härter, als Du denkst, sagte August; ich weiß wohl, daß die leichtsinnigen Streiche, wie ich sie mir wohl zuweilen und auch gestern habe zu Schulden kommen lassen, ein Gräuel sind, aber ich weiß eben so gut, daß Du jene Rohheiten verachtest, welche sich die Andern gegen mich erlaubten, und daß Du mich ihnen eben so gut aus angebornem Edelmuth entzogst, als aus kluger Voraussicht der Dinge, welche daraus entstehen konnten. Ja, Franz, ich gebe wohl denen Recht, welche Dich einen gescheiten Kerl nennen, aber ich habe ihnen mehr als ein Mal geantwortet: sein Herz ist noch größer, als sein Kopf.

Ich sehe nicht ein, warum Du mir schmeicheln willst

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Ich rede nur unbefangen Alles heraus, was ich denke, ich habe Dich immer lieb gehabt

Und wenn das wäre warum hast Du die Verbindung verhöhnt, welche ich mühsam mit unsern Genossen zu Stande gebracht habe, warum bist Du nicht mit dazu getreten, sondern hast es uns sogar erschwert, wie Du nur konntest? Versuche nicht, Dich herauszureden, denn ich weiß Alles!

Alles weißt Du nicht, und um Dir dies zu erzählen, bin ich eben hergekommen, mein Geständniß soll mein Dank sein. Du wirst bald sehen, daß ich, wenn ich zu Eurer Verbindung getreten wäre, eine viel größere Schlechtigkeit begangen hätte, als dadurch, daß ich mich weiter nicht mit Euch einließ.

Das ist eine sonderbare Rede und wenn Du vielleicht auch im Lügen geschickt sein solltest, wie Du es gestern im Betrügen warst, so bitte ich Dich doch, mich damit nicht unnütz aufzuhalten.

Du wirst es bald bereuen, wenn Du mich zum Zorne reizen willst, aber ich werde Dich beschämen, indem ich Dir ruhig die Wahrheit erzähle. Ich war mit Anton eines Sonntags in die Stadt gegangen, es war vor ein paar Monaten, als Du uns immer zu dem Arbeiterverein Vorschläge machtest, die Sache aber noch nicht zu Stande gekommen war. Wir saßen in einer Bierstube, in welcher9 sich noch viele Arbeiter aus andern Fabriken befanden, auch manche Bürger und andere Leute, welche sich wohl noch etwas mehr dünkten. Ein langer, dürrer Mann, der mir zu diesen Letztern zu gehören schien, kam auf uns zu, nachdem ich gesehen hatte, wie ein anderer Arbeiter, der nicht mit bei Felchner ist, aber Anton kannte, auf diesen den dürren Mann aufmerksam gemacht hatte. Er fragte uns, ob wir in Felchner’s Fabrik arbeiteten, und als wir bejahten, fragte er uns nach Tausend Dingen aus, wie Viel wir ihrer wären, ob wir untereinander zusammenhielten, ob wir im Ganzen zufrieden oder unzufrieden wären. Wir sagten ihm unbefangen die Wahrheit, daß wir Alle fleißige Arbeiter wären, aber doch wenig verdienten, und daß besonders es erbarmungswürdig sei, wie man die Kinder behandele. Er schien sehr mitleidig zuzuhören und fragte weiter, ob wir Nichts thäten, dieser Noth abzuhelfen, oder ob wir nicht unsere Unzufriedenheit aussprächen. Da sprach Anton von dem Vereine der unverheiratheten Arbeiter, welchen wir bilden wollten. Wie Jener das hörte, nahmen seine Augen einen ganz eigenen Ausdruck an, halb wie vor Schreck, halb wie vor Freude. Dem ungeachtet fragte er nicht weiter danach, sondern ließ sich nur von unsern Familienverhältnissen erzählen, ich sprach von meiner armen, kranken Mutter Anton war sehr verdrießlich, weil er im Schafkopf seinen letzten Groschen verloren10 hatte und nicht wußte, was er darauf antworten sollte, als der Wirth die Zeche verlangte. Kaum sah dies der dürre Mann, als er für Anton bezahlte und uns noch Jedem ein großes Glas Schnaps geben ließ. Er sagte, daß Diejenigen, welche uns zu einem Vereine bewegen wollten, wo wir sogar dem Branntwein entsagen sollten, unmöglich uns wohl wollen könnten, und daß alle solche Vereine für uns höchst lästig und gefährlich werden könnten, wir hätten ja dann gar keine Freiheit mehr, wenn wir nicht einmal mehr trinken, spielen und in die Schänke und herausgehen dürften, wenn wir Lust hätten. Nachher sagte er, wir mögten nur bald wieder kommen, wir gefielen ihm, er käme jeden Sonntag an diesen Ort und er würde sich freuen, uns zu treffen. Ich war einmal hinausgegangen, während dem hatte er mit Anton heimlich gesprochen, wie ich wohl merkte, denn während ich nun, aufgehetzt von Jenem, ganz gegen den Verein war und es dann Dir und Allen offen sagte, auch wegblieb, sagte Anton: ich trete dazu, sonst weiß man ja gar nicht, wie es dabei hergeht. Am nächsten Sonntag beredete mich Anton, wieder mit hin in die Schänke zu gehen, wo wir den langen, dürren Mann getroffen hatten er war auch richtig wieder da, er gab mir Geld für meine arme Mutter, und Anton gab er auch welches. Er sagte, wir sollten nun wenigstens alle vier Wochen in die Schänke11 kommen, wo wir ihn treffen würden, und ihm aufrichtig erzählen, was etwa unterdeß in unsrer Fabrik und unter uns Arbeitern vorginge; es wäre zu unser Aller Vortheil, zum Vortheil der ganzen arbeitenden Classen, besonders aber solle es unser Schaden nicht sein. Die Sache schien uns auch gar nicht so übel, besonders da wir aufgeregt waren und es wenigstens in meinem Kopfe nicht mehr ganz klar herging, denn er ließ uns sehr viel Branntwein einschänken. Dennoch fragte ich ihn, wer er sei, und warum er sich so um unsre ganzen Angelegenheiten bekümmerte? Er nannte sich Stiefel und daß er das nur aus menschenfreundlichen Absichten thue, weil ihm unsere Lage am Herzen liege und es nothwendig sei, daß er darüber alle mögliche Notizen sammele, dann könne er vielleicht durch Schrift und Wort dazu beitragen, unsere Lage zu verbessern. Wie wir nun das nächste Mal wieder beisammen waren, gestern, nannte ihm Anton Deinen Namen und gab ihm das Buch Erzählungen aus dem armen Volke, welches Du geschrieben und nach der Aufschrift allen Menschenfreunden gewidmet hast. Stiefel nahm es mit derselben sonderbaren Miene, mit welcher er damals die Erzählung von der Bildung Eures Vereins anhörte und rief: Ein Fabrikarbeiter, der solche Sachen schreibt, ist ein entsetzlicher Mensch, nun, dessen wird man sich bald zu bemächtigen wissen hier habt Ihr noch mehr12 Geld und wer mir von Euch noch Etwas von seinen Schreibereien bringt, der erhält das Dreifache aber wo möglich Ungedrucktes, Papiere, die er geheim hält. Da ging mir plötzlich ein Licht auf, ich ward zornig, ich warf ihm das Geld in’s Gesicht und sagte, ich bin kein Judas, der seinen Bruder an einen Elenden verräth, der vielleicht die Macht hat, ihm Uebles zu thun und damit lief ich schnell fort aus der Stube, aus der Schänke, aus der Stadt gerade Wegs heim. Da fand ich meine kranke Mutter hungernd und frierend und sie machte mir Vorwürfe, daß ich ihr kein Geld mitbringe, wie früher ich konnt es nicht ertragen, sie so vor mir zu sehn, bittend und fluchend, matt vor Hunger und Frost, wimmernd unter unsäglichen körperlichen Schmerzen ich war noch trunken, es kochte in mir vor kalter, stiller Wuth ich ging in unsre Schänke ich spielte falsch es war ja nicht für mich, es war für meine Mutter ich spielte auch erst falsch, als ich sah, daß ich anders nicht gewann, denn ich dachte, ich wär es in der Stunde wohl werth gewesen zu gewinnen, wo ich den Versucher von mir abgeschüttelt hatte wie eine giftige Schlange, die mich schon umringelt hatte. Nun weiß ich Alles, und wenn ich mit in Euren Verein treten könnte nun thät ich’s gern.

Sie werden Dich jetzt nicht aufnehmen, sagte Franz, der mit wachsendem Interesse seinen Bericht angehört hatte. 13 Komm aber nächste Mittwoch mit mir hin, wir wollen sehen, was sich thun läßt.

Franz hatte für diesen Abend Wilhelm und einige der vertrauteren Freunde auf das, was er unterdeß erfahren, vorbereitet, und August war dann aufgefordert worden, sein Geständniß noch ein Mal zu wiederholen. Er hatte es gethan, Alle waren nun wüthend auf Anton geworden dieser aber hatte mir ruhiger Miene August’s Aussage bestätigt, aber es Allen zugeschworen, daß er Stiefel wirklich für einen Menschenfreund gehalten, der ihr Bestes wolle, daß er ihm auch in diesem Vertrauen Thalheims Buch gegeben habe, daß ihm aber mit August zugleich die Augen aufgegangen wären, als man eine Schlechtigkeit von ihnen verlangt habe, und er auch, nachdem er Stiefel noch tüchtig die Wahrheit gesagt, die Schänke verlassen habe. Er suchte sich aus Allem herauszureden und man konnte ihn nur dafür bestrafen, daß er Branntwein getrunken habe, und unterwarf sich auch reumüthig der üblichen Strafe. August versprach man erst dann in den Verein aufzunehmen, wenn er einige Wochen lang dem Spiel und Branntwein entsagt und sich überhaupt ordentlich aufgeführt habe. Diese Probe hatte er bestanden und er ward nunmehr gern unter ihnen gesehen. Um dem Herrn Stiefel näher auf die Spur zu kommen, hatten sich an mehrern Sonntagen Franz oder Wilhelm mit August oder Anton selbst zur14 Schänke in der Stadt begeben wo er gewöhnlich sich eingefunden hatte, aber sich niemals wieder sehen ließ. Auch der Wirth, welcher übrigens versicherte, gar Nichts als den Namen von ihm zu wissen, sagte aus, daß er seit jenem Sonntag sich nie wieder eingestellt habe. Man sah sich genöthigt, diese Sache auf sich beruhen zu lassen, da alle Bemühungen fruchtlos geblieben waren.

An dem Maiabend, an welchem August sich zu Wilhelm und Franz gesellte, sagte er zu den beiden Freunden:

Ihr könnt Euch darauf verlassen Stiefel ist da.

Stiefel Du hättest ihn gesehen?

Saht Ihr nicht auch den Einspänner, der vorhin auf der Straße nach Hohenheim fuhr und den langen dürren Mann drinnen? Das war er.

Was kann er nur wollen? sagte Wilhelm.

Wenn Du Deiner Sache gewiß bist, warum sagst Du es erst jetzt und theiltest es nicht oben Allen mit? fragte Franz.

Weil ich dem Anton nicht traue, sagte August ernst.

Das ist nicht schön von Dir, Dein ewiges Mißtrauen, versetzte Franz. Sieh, Du bist gar nicht besser gewesen als er, wir haben Dir Alles vergeben und vergessen, Niemand beargwohnt Dich, und Du allein willst Anton, der wie Du nur getäuscht worden ist und dann auch15 richtig bekannt hat, noch verdächtigen. Geh, das ist ein häßlicher Zug, den mögte ich nicht bei Dir finden!

Weil ich allein den Anton kenne murmelte August.

Lass das alte Lied! meinte Wilhelm. Und wenn nun auch Gefahr hat’s ja doch nicht, sind wir denn etwa auf unrechten Wegen, daß wir Verräther zu fürchten hätten? Ist denn unser Verein eine geheime und gefährliche Verbindung? Weiß nicht Jedermann darum? Und hat denn nur Herr Felchner das Geringste dagegen einwenden mögen und können? Und ich dächte doch, weiter ginge die Sache Niemandem Etwas an.

Aber Franz hat wieder ein Buch geschrieben: Die Rechte des Armen den Verzweifelnden gewidmet. Mir ist vor ihm bange, antwortete August, mir ist als könne daraus noch Unheil für Dich kommen, obwohl ich gerade nicht recht begreife, wie aus einem Buche irgend etwas Gefährliches entstehen könne. Aber mir ist innerlich angst.

Das lass Dich nur nicht kümmern, sagte Franz ruhig, mein Buch enthält Nichts als eine Schilderung von dem Loose der Fabrikarbeiter, wie es Jedermann kennt, der nur irgend einmal aufmerksam in einer Fabrik sich umgesehen hat. Ich habe nicht das Geringste übertrieben, bin nirgends von der Wahrheit abgewichen, habe überhaupt gar Nichts gethan, als einfache Thatsachen geschildert. Aufmerksam sollen die Leute werden auf unsere16 Noth, das ist es ja, was ich damit bezwecke. Wenn noch andere Leute, als die Fabrikherren, welche von unserm Elend sich mästen und welchen es deshalb freilich nicht sehr erwünscht sein mag, daß es allgemein bekannt wird, wie sie uns behandeln wenn also noch andere Leute von unserm Elend hören, so werden weise Gesetzgeber und gerechte Regierungen uns doch vielleicht ein besseres Loos verschaffen. Ich denke von den Menschen nicht so gering. Ich glaube, vieles Schlimme und Unheilvolle besteht nur deshalb in der Welt, weil allein Diejenigen, welche darunter leiden, es kennen, den Andern es aber fremd bleibt und daher sie, welche die Macht und gewiß auch den Willen hätten zu helfen nur eben deshalb nicht mit ihrer Hilfe kommen, weil sie gar nicht wissen, daß man ihrer bedarf und wie viel es zu helfen giebt!

Wilhelm versetzte: Du hast immer noch gutes Zutrauen zu den Menschen, ein viel besseres als sie verdienen unsre täglichen Erfahrungen könnten Dich eines Andern überzeugen.

Nun, wir werden ja sehen, wer von uns Recht behält. In meinem ersten Buche habe ich mich nur an die Menschenfreunde gewendet, in meinem zweiten an die Verzweifelnden ich denke, man muß es mit Beiden versuchen! sagte Franz.

Ja, rief Wilhelm, vielleicht helfen die Menschenfreunde, wenn sie einsehen, daß sie es außerdem mit Verzweifelnden zu thun haben.

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August schüttelte den Kopf und sagte: Auf alle Fälle ist es doch besser, wenn Ihr auch meint, daß uns Stiefel nicht schaden kann, wir suchen dahinter zu kommen, wer und was er eigentlich ist und was er will; aber nur wir Dreie, denn von den Andern sind einige täppisch und geschwätzig, sie könnten Alles verderben. Das ist mein erster Vorschlag und mein zweiter, daß wir jetzt ein wachsames Auge auf Anton haben.

Um ihn vor ungerechten Beschuldigungen zu sichern, sagte Franz etwas aufgeregt und fügte gelassener hinzu: Mit Deinem ersten Vorschlag bin ich einverstanden.

Ich auch, sagte Wilhelm. Ueber Nacht kommt guter Rath, wir wollen’s beschlafen.

Nun denn gute Nacht, erwiderte August, und Du, Franz, sei nicht böse. Bei Gott, Franz, wenn ich minder Dein Freund wäre, würde ich auch minder bedenklich sein!

Franz drückte ihm die Hand. Es ist gut, Du bist ein braver Junge geworden gute Nacht!

August schlenderte der Hütte zu, in welcher seine alte Mutter krank lag, und verschwand in der Thüre.

Es ist ein guter Junge , wiederholte Franz; seitdem er sich aus seinem unordentlichen Leben herausgerissen hat, ist Keiner fleißiger und im Guten beharrlicher, als er.

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Bei Alle dem bin ich froh, daß er nicht länger mit uns ging, sagte Wilhelm, ich habe noch Etwas mit Dir allein zu reden es hat mir schon lange auf dem Herzen gelegen und muß nun endlich einmal herunter.

Wir wollen ein Stück in diese Allee gehen und uns dort auf der Steinbank unter der Linde ein Wenig niedersetzen, gab Franz an.

Als sie sich gesetzt hatten, begann Wilhelm: Du bist seit einiger Zeit verändert wenn wir Alle beieinander sitzen und unter Gesang und harmlosen Reden uns von den Mühen des arbeitvollen Tages erholen so bist Du oft still und zerstrent, und wenn wir Dich aufmuntern, so fährst Du wie im Traume auf und besinnst Dich endlich, wo Du bist. Das Loos der unglücklichen Brüder hat Dir immer Kummer gemacht, das Elend, das Dich umgiebt, hat immer an Deinem theilnehmenden Herzen gefressen. Ein Dichter, der noch andere Träume, ein Schreibender, der noch andere Dinge zu denken hat, als wir andern nüchternen Menschenkinder, bist Du immer gewesen allen diesen Dingen kann man Deine Veränderung nicht zuschreiben auch bist Du ja nicht immer traurig zuweilen glänzt Dein Auge in lauter stiller Freude. Ach! Ich weiß recht gut, was allein über einen Menschen solche Macht hat.

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Franz sah stumm vor sich nieder und scharrte mit seinen Füßen im Sande.

Wilhelm fuhr fort: Franz! Du gehst oft in Herrn Felchners Haus und wenn Du zurück kommst

Wilhelm! Wilhelm! rief Franz mit einem flehenden Tone, als wolle er sagen, schone mich! fügte dem Ruf aber weiter Nichts hinzu; doch Wilhelm fuhr dumpf fort:

Ich verstehe Dich wärest Du weniger verschlossen gewesen wer weiß, es wäre dahin nicht gekommen, es wäre mir leichter geworden, sie zu fliehen hättest Du nicht geschwiegen es wäre besser gewesen ja wohl, wäre besser gewesen!

Wilhelm um Gottes Willen Du auch Du auch?

Ja, ich habe sie auch lieb, wie ich noch kein anderes Mädchen geliebt, ich habe sie so lieb, wie sie irgend Jemand lieb haben kann, so lieb wie Du!

Wilhelm! Du sprichst es aus, Du wagst es was ich niemals wagte, niemals gewagt haben würde? Mir ist, als faßtest Du mit einer ruhigen festen Hand nach meinem Herzen, rissest es mir aus der Brust und sprächest kalt, indem Du es mir vor die zuckenden Augen hieltest: so sieht Dein Herz aus Du Frevler!

Es muß sein Du oder ich! Ich habe Dir Freundschaft geschworen bis in’s Grab wir dachten damals nicht, daß ich Dir meinen Eid bewähren müßte20 am Grabe meiner Liebe. Franz, ich entsage ihr, sobald ich nur weiß, daß Du ihr Deine Liebe gestanden.

Franz fiel ihm ins Wort: Wie dürft ich das wagen?

Aber Wilhelm fuhr ununterbrochen fort: Sobald ich nur weiß, daß sie gern Dein ist

Bist Du von Sinnen? rief da Franz außer sich. Wie kannst Du von Deiner Entsagung sprechen? In dem Sinne, wie Du das Wort meinst da müssen wir ja Beide entsagen! Wie kannst Du mich für so frech, so anmaßend halten, daß ich diesem Engel gegenüber ein Wort der Liebe auszusprechen wagte? Und verstummt nicht jedes schmerzliche Gefühl, das mich fern von ihr zuweilen überfällt, sobald ich ihr gegenüber stehe, ihr folge? Dann fühle ich weiter Nichts, als das unaussprechliche Glück, diese sanfte Heilige unsre unglücklichen Brüder segnen zu sehen, und in ihren Augen die Thräne des Mitleids zu erblicken für die leidenden Armen und dann fühle ich nur Dank gegen Gott, daß er, der in ihrem Vater uns einen Tyrannen, uns in ihrer Tochter doch zugleich einen hilfreichen Engel sandte.

Staunend rief Wilhelm: Vater Tochter von wem sprichst Du denn? Wer ist Friederikens Vater?

Friederike? rief Franz in gleich staunendem Tone. Friederike Du liebst Friederiken? Und wie er21 erkannte, daß nur ein Mißverständniß ihm das selbst nur leise geahnte Geheimniß seines Herzens entrissen, lehnte er sich zurück an die Linde, drückte wider ihre rauhe Rinde seine heiße Stirn, wie um sich zu verbergen, und flüsterte: Vergiß, was Du mich hast sagen hören!

Du liebst Friederiken nicht aber Du kennst sie, Du sprachst sie oft noch gestern sah ich Dich bei ihr stehen es preßte mir schier das Herz entzwei.

Ihre Herrin hat sie lieb, es ist ein gutes Mädchen und wenn Du sie liebst, wird sie Dich, denk ich, wieder lieben und Ihr werdet glücklich zusammen sein. Und Du hast gedacht, ich stände dieser Liebe und diesem Glück entgegen?

Nun ja ich wußte, wie die Liebe thut wußte es nur gar zu gut, darum verstand ich Dein verändert Wesen, das den Andern ein Räthsel und da ich wohl sah, daß Deine Augen leuchteten, wenn Du in das Wohnhaus des Fabrikherrn gingst, so wußt ich, daß Du dort die finden müßtest, welche Du liebest nun versteh ich es anders das hatte ich nicht denken können! Vielleicht werde ich einst glücklich sein und Du? Armer Freund!

Nein, nicht arm! sagte Franz sich aufrichtend. Sie wird mich nie aus ihrer Nähe verbannen, sie wird mich immer dazu wählen, den Segen auszuspenden, welchen sie für die Nothleidenden hat, Sie wird mich22 zuweilen freundlich ansehen, wenn ich im Vertrauen auf ihre Großmuth in ihrem Namen gehandelt habe ich werde glücklich bleiben, wie ich es geworden bin, seitdem ihre Erscheinung verklärend hereintrat in mein Leben. Komm, Wilhelm, wir wollen ruhig nach Hause gehen und schlafen und von ihnen träumen.

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II. Haussuchung.

Auf des Lagers Kissen schlummert
Kalt die lieblichste der Leichen.
F. Freiligrath.

In der Residenz, in der Stube Amaliens, der Gattin Gustav Thalheims, stand ein kleiner schwarzer Sarg.

Eine schöne blasse Kinderleiche lag darin im weißen Sterbekleidchen, einen Rosenkranz in den blonden Locken die ganze kleine Gestalt zur Hälfte mit Blumen überdeckt.

Die kleine Anna war gestorben. Amalie kniete an dem Sarge ihres einzigen Kindes.

Der Schmerz einer Mutter ist riesengroß und meerestief, wie kaum ein zweiter in der Welt. Fast jede Mutter, die ein todtes Kind beweint, wird zu einer heiligen mater dolorosa, vor welcher selbst jeder Fremde in ehrfurchtsvoller Ferne stehen bleibt. Eine heilige Würde ist in dem Schmerz einer Mutter, welche an das Wehe denkt, unter24 dem sie das Kind geboren, welches nun wie ein Theil von ihr selbst losgerissen worden und dem Grabe verfallen ist, während sie doch unter den Tausend Dolchstichen, unter welchen ihr blutendes Herz zuckt, noch beten kann: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen sein Name werde gepriesen.

In Amaliens Schmerze war das Gepräge dieser ehrwürdigen Heiligkeit verdunkelt. Erst jetzt, als ihr das anvertraute Kleinod für immer entrissen war, begann sie zu empfinden, welches Glück sie in demselben besessen, und es traf sie als ein entsetzlicher Vorwurf ihres eigenen Innern, daß sie das Kind nicht mit wahrer Mutterzärtlichkeit geliebt, weil es das Kind eines ungeliebten Vaters war. Und so war denn ihr Schmerz eine anklagende Verzweiflung, denn sie sagte sich selbst, daß ihr das Kind vielleicht nicht genommen worden wäre, wenn sie ihm eine bessere, zärtlichere Mutter gewesen; ja, sie machte sich selbst den Vorwurf, vielleicht auf eine leicht verletzte Gesundheitsregel nicht genug geachtet zu haben und dadurch selbst sogar vielleicht mit Theil an der schnellen und so unheilvollen Krankheit zu haben. So brachte ihr der Schmerz nicht den heiligen, stärkenden Thau frommer Ergebung und Erhebung, sondern nur verwundende Stacheln, welche sie sich selbst wie im grausenhaften Spiel wechselnd in ihr blutendes Innere stieß und herausriß.

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Als sie jetzt in dieser Stimmung an dem kleinen Sarge stand, in welchem in wenig Stunden ihr die schwarzen Träger auf immer ihr einziges Kind, ihr bestes Besitzthum forttragen würden, ging die Thüre auf und ein junger Mann in der grünen Uniform eines gemeinen Soldaten trat herein. Er war groß und schlank gewachsen, hatte lichtbraunes, lockiges Haupthaar und langen Schnurrbart ein freundliches offenes Gesicht, das Munterkeit und Gutmüthigkeit zeigte. Erschrocken blieb er zwischen der Thüre stehen, als er sah, daß er in die Engelkammer eines verblichnen Kindes gekommen dann ging er auf Amalien zu, nahm ihre abgezehrte Hand, schüttelte sie treuherzig und sagte, indem eine helle Thräne auf seinen Schnurrbart rollte:

Das ist ein sehr trauriger Empfang, Frau Schwägerin! Kennst Du mich denn noch? fügte er nach einer Weile hinzu, wo sie wortlos dagestanden und ihm mechanisch ihre Hand überlassen hatte.

Ja, Bernhard, sagte sie. Es ist gut, daß Du mich nicht vergessen hast und mit zu mir kommst, es ist gut Du darfst doch wohl meiner Anna das letzte Geleit mit geben?

Ja, ich will’s sieht wie ein Engel aus, das arme Kind, sieht wahrlich dem Vater ähnlich. Der Eingetretene, der dies sprach, war Bernhard Thalheim,26 der jüngste der drei Brüder. Er war unter die Soldaten gegangen, weil er kaum wußte, was er sonst hätte ergreifen sollen. Er sah den Brüdern ähnlich, aber seine Gesichtszüge hatten nicht den schwärmerischen, ernsten Ausdruck jener Beiden, er sah freundlicher, wenn man so sagen kann, einfach-gutmüthiger, aber auch ungleich unbedeutender aus, als sie. Er hatte ein vortreffliches Herz, aber seine geistigen Fähigkeiten, wenn er sie gleich den Brüdern besaß, hatten doch nur eine höchst untergeordnete Ausbildung erlangt er schien aber damit glücklicher zu sein als Jene, denn, wie gesagt, sein ganzes Ansehen zeigte von einem heitern, lebensfröhlichen Charakter.

Weiß es der Bruder schon? fragte er jetzt leise mit betrübtem Tone.

Amalie schüttelte das Haupt und sah starr vor sich nieder.

Es wird ihn sehr erschüttern! seufzte Bernhard.

Schreib Du es ihm ich kann es nicht! ächzte sie.

Ein trauriges Geschäft aber wenn du willst nun da will ich es Dir schon zu Liebe thun, glaub es wohl, daß es Dir schwer wird zu schreiben.

Es ist, als habe Dich mir der Himmel zur Hülfe, zur Erleichterung hergeschickt daß Du gerade jetzt kommen mußtest.

Ja, unser ganzes Bataillon ist hierher versetzt worden27 ich bleibe nun hier es ist doch Schade, daß Gustav nicht mehr da ist.

Sie hörte nicht weiter auf ihn, denn sie lauschte auf ein Geräusch von Tritten, die unten im Hausflur klangen dann die Treppe heraufkamen nun immer näher und näher die Thüre ging auf sie stellte sich vor den Sarg, legte sich mit dem halben Leib dar auf, schlang ihre Arme darum und rief außer sich: Sie dürfen nicht, sie dürfen nicht!

Die schwarz gekleideten Träger waren eingetreten die Leichenfrau war ihnen gefolgt sie ergriff den schwarzen Sargdeckel mit den versilberten Zierrathen.

Ein junges Mädchen mit blondem Haar trat ein und zog Amalien sanft von dem Kinde auf helle Thränen fielen dabei aus den Augen des Mädchens. Kommen Sie mit herauf, arme Frau, bat es, hier können Sie doch nicht bleiben.

Ich kann nicht fort! sagte sie mit herzzerreißendem Schrei und sank an dem Sarge ohnmächtig zusammen. Das Mädchen kniete neben sie und legte das bleiche Haupt der unglücklichen Mutter auf ihren Schoos, indem sie leise sagte:

Es ist am Besten, wenn sie bewußtlos ist nun eilt, daß Ihr die Leiche hinausbringt, ehe sie wieder zu sich kommt.

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Die Träger befolgten den Rath, Bernhard selbst drückte den Sargdeckel darauf; weil die Leute ihn hastig und geräuschvoll aufhoben, nahm er ihn ihnen ab, damit es ohne Lärm geschehe; das Mädchen dankte ihm dafür mit einem innigen Blick. Wie aber die Träger den Sarg zur Thüre hinaustrugen, stießen sie damit wider die Pfoste es klang hohl und dumpf dieser Ton brachte Amalie wieder zu sich, sie verstand ihn schrie auf, wollte nachspringen, aber die Thüre war in’s Schloß geworfen; das Mädchen zog Amalie mit sich auf das Sopha, wohin Amalie, ohne ohnmächtig zu sein, aber wie vor Verzweiflung erstarrt sich ziehen ließ und regungslos sitzen blieb.

Die beiden Frauen waren allein.

Eine Stunde mogte vergangen sein, wo sie so stumm und unbeweglich nebeneinander gesessen hatten.

Amalie hatte ihr Logis, das sie früher mit ihrem Gatten bewohnt, mit einem kleineren in der Vorstadt vertauscht. Das Mädchen, welches bei ihr saß, war die Tochter des Hauswirthes, eines Korbmachers und hieß Auguste. Sie hatte ihrer einsamen Hausgenossin getrenlich beigestanden bei der Pflege des kranken Kindes sie hatte auch in den herbsten Stunden des Leides die Unglückliche nicht verlassen. Sie fühlte wohl, daß sie keinen Trost für sie hatte, aber sie wollte sie ihrer Verzweiflung nicht allein überlassen. So saß sie auch jetzt still weinend29 neben ihr und hatte ihre Arme um die im Schmerz wie Erstarrte geschlungen.

Ein starkes Pochen an der Thüre schreckte sie auf von den marternden Gedanken, welche sie sich so lange überlassen hatten.

Es wird mein Schwager sein, sagte Amalie tonlos. Er wird wieder zurückkommen es wird nun Alles vorbei sein!

Auguste stand auf und öffnete die Thüre; befremdet trat sie einen Schritt zurück ein fremder, langer, dürrer Mann stand draußen hinter ihm ein Polizeidiener.

Zu wem wollen die Herrn? fragte Auguste schüchtern, bestürzt.

Wohnt hier nicht die Frau des Doctor Thalheim? fragte der Lange.

Dort ist sie sagte Auguste.

Amalie blieb ruhig sitzen: Ich habe Alles angezeigt, alle Gebühren entrichtet.

Sie haben schon Alles angezeigt, Frau Doctorin? sagte der Lange verwundert, aber vor Freuden schmunzelnd. Desto besser, dann werden Sie sich die Behörden zu großem Danke verpflichtet haben. Plötzlich mäßigte er sich jedoch in seiner Freude und sagte: Allein, wenn ist dies gewesen man würde mich sogleich davon unterrichtet haben.

30

Vor drei Tagen, in derselben Stunde, wo sie gestorben war, wie es das harte Gesetz will.

Der Lange und der Polizeidiener sahen einander unbeschreiblich albern an und schienen sich schweigend zu befragen. Endlich sagte der Lange zu Amalien: Aber wovon sprechen Sie denn eigentlich?

Mein Gott! Sie fragen noch wovon ach, wovon! und sie schrie laut auf und verfiel in Zuckungen.

Auguste eilte zu ihr und sagte zu den Männern: Aus Barmherzigkeit, schonen Sie die Unglückliche sie spricht von ihrem einzigen Kinde, das man so eben begraben hat.

Die Beiden sahen sich einander verdutzt und albern an, wie vorher.

Das ist ein sehr übler Zufall, sagte der Lange verdrießlich.

Was wollen Sie noch ist nicht Alles in Ordnung? fragte Amalie, sich wieder aufrichtend, nach einer Pause, während welcher die Beiden mit ihren Blicken ringsum das Zimmer gemustert hatten.

Wir sind nicht deshalb gekommen, sagte der Lange. Wir sind gekommen, einige Fragen an Sie zu richten, welche sie uns gefälligst beantworten werden.

Amalie schwieg.

Zuerst, fuhr Jener fort: Ihr Mann hat einen Bruder, welcher Franz heißt?

Ja!

31

Er ist Arbeiter in der Fabrik des Herrn Felchner bei Hohenthal?

Ja!

Er ist diesen Morgen bei Ihnen angekommen?

Nein!

Nein? Leugnen Sie nicht es wird Ihnen Nichts helfen, die Polizei täuscht man nicht so leicht.

Ich habe keinen Grund Etwas zu leugnen, das meinen Mann und seine Brüder betrifft, sagte Amalie beleidigt. Er hat zwei Brüder, sein jüngster Bruder Bernhard ist gestern Abend mit dem Militär hier angekommen, bei dem er steht, und vorhin bei mir gewesen jetzt hilft er mein Kind begraben und bei den letzten Worten ward ihre Stimme wieder undeutlich und sie versank wieder in ihren Schmerz.

Die Beiden machten wieder ihre betroffenen und verdutzten Gesichter.

Auguste zeigte als nächsten Beweis auf Bernhards Soldatenmantel, welchen derselbe zurückgelassen hatte.

Sie kennen aber Ihren Schwager, den Fabrikarbeiter Franz Thalheim?

Er ist nur ein Mal vor drei Jahren ein paar Tage hier gewesen.

Das ist wunderlich.

Gar nicht denn die armen Fabrikarbeiter haben32 kein Geld, das sie verreisen könnten, um ihre Angehörigen zu besuchen.

Der Lange flüsterte dem Polizeidiener zu: Das ist eine bedenkliche Aeußerung, sie ist also auch schon angesteckt, wir müssen vorsichtig sein wer weiß, gelangen wir hier nicht zu überraschenden Resultaten dann fuhr er laut fort, gegen Amalien gewen det: Sie stehen im Briefwechsel mit diesem Schwager?

Nein.

Aber die Brüder pflegten einander zu schreiben?

Das ist natürlich.

Ihr Mann schreibt Ihnen oft?

Das ist ebenfalls natürlich aber mein Herr, ich sehe nicht ein, warum sie mich hier wie eine Delinquentin verhören, und zwar über Familienangelegenheiten, über welche man durchaus Niemand Rechenschaft schuldig ist sagte Amalie schnell und ziemlich heftig.

Wer mir das Recht giebt? sagte der Lange. Die Polizei und er wies auf den Polizeidiener.

Frau Doctorin, sagte dieser, Sie werden sich in die Fragen und Anordnungen des Herrn Polizeicommissairs fügen.

Dieser trat jetzt zu dem Pulte, an welchem der Schlüssel steckte und öffnete es.

33

Mein Herr! Was fällt Ihnen ein? rief Amalie außer sich und sprang auf.

Keine Widersetzlichkeit! mahnte der Polizeidiener und hielt sie am Arme.

Fremde Männer kommen in mein Haus und forschen nach meinen Familienangelegenheiten bei einer armen hilflosen Frau, deren Mann abwesend ist und sie beschützen könnte deren einziges Kind man begrub, jammerte sie. Auguste weinte und sagte beruhigend:

Sie haben ja kein Unrecht zu verbergen, lassen Sie ihnen immer ihren Willen Ihr Widerstand wäre doch fruchtlos.

Der Polizeicommissair hatte jetzt ein Fach mit Briefen herausgezogen und sah sie flüchtig durch, die meisten schob er unbefriedigt auf die Seite. Es ist Keiner von Franz Thalheim darunter sagte er heimlich zu dem Polizeidiener. Das ist nur ein verdächtiger Umstand mehr, der Doctor wird diese Briefe als zu gefährlich verbrannt oder mitgenommen haben. Jetzt zog er ein kleineres Fach mit Briefen heraus, es enthielt nur diejeninigen, welche Thalheim an seine Gattin geschrieben hatte, seitdem er von ihr getrennt war.

Amalie trat wieder hinzu und sagte: Mein Herr, was zwischen Gatten verhandelt wird, gehört doch mindestens nicht vor die Augen der Polizei

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Fürchten Sie Nichts! sagte der Commissair mit widerlichem Lächeln. Die Augen der Polizei vergessen sogleich wieder, wenn sie auch Etwas erfahren sollten, das nicht vor ihr Forum gehört nur was vor diesem Forum bedenklich und gefährlich erscheint, bewahrt ihr Gedächtniß treu und darin läßt sie sich nicht täuschen und irren.

Während er dies mit Nachdruck sagte, hatte er wie der einen Brief entfaltet und indem er ihn überflog, nahmen seine Augen einen ganz eigenen Ausdruck an, halb wie vor Schreck, halb wie vor Freude. Es war der erste Brief, welchen Thalheim an seine Gattin geschrieben, er datirte von dem Gute des Rittmeisters Waldow und die Stelle, welche solch eigenthümliches Leben in das Gesicht des Polizeicommissairs brachte, lautete:

Ich bin bei Franz gewesen ich habe die Noth und das Elend gesehen, welches dort unter den Fabrikarbeitern herrscht ach, Amalie, dieser Armuth gegenüber haben wir in beneidenswerthem Reichthum geschwelgt! Ich habe Franz das Versprechen gegeben, daß, wenn mir in meinem neuen Wirkungskreise Zeit bleibt, mich mit literarischen Arbeiten zu beschäftigen, ich auch über die Noth der Fabrikarbeiter schreiben werde. Vielleicht wird mir auf meiner Reise Gelegenheit, darüber noch anderweite Notizen zu sammeln. Franz selbst schreibt in seinen Mußestunden, aber diese einfachen Stimmen mitten heraus aus dem35 Volke werden wohl von alle Denen gehört, für welche sie laut werden, welche das geschilderte Elend theilen, aber nicht von Denen, welche es verbreiten, und Denen, welche die Macht und Pflicht haben es aufzuheben und zu lindern. Darum fiel er mir weinend um den Hals, als wir von einander Abschied nahmen und sagte: Leb wohl Du nun doppelt mein Bruder, wenn Du derselben Sache dienen willst, welcher ich mich geweiht habe!

Diesen Brief wollte der unberufene Leser erst in seine Brieftasche schieben er besann sich aber anders und notirte nur die angezogene Stelle stenographisch. In den andern Briefen fand er nichts Beachtenswerthes, außer daß er sich den jedesmaligen Ort anmerkte, von welchem aus sie geschrieben waren. Jetzt griff er nach einem kleinen hölzernen Kästchen, zwischen dessen Schluß unterhalb des Deckels ein Stückchen beschriebenes Papier hervorschimmerte. Hier sind auch Briefe darin sagte er. Das Kästchen ist verschlossen es thut mir leid aber ich muß um den Schlüssel bitten.

Das ist unmöglich, rief Amalie. Ich kann es beschwören, daß es der Polizei ganz gleich sein kann, den Inhalt dieses Kästchens zu erfahren und wenn Sie gekommen sind, um nach Papieren von Franz, von meinem Gatten in meinen Sachen herum zu spüren, so wiederhole36 ich nochmals ich will es beschwören von ihrer Hand finden Sie kein Wort in diesem Kästchen.

Dieser Eifer macht die Sache nur um so verdächtiger ich muß durchaus Sie bitten, zu öffnen.

Um keinen Preis sagte sie außer sich, aber fest.

Es thut mir leid, bemerkte darauf der Polizeicommissair mit feinem Lächeln, aber es muß sein, und ehe Amalie es nur bemerken, noch weniger verhindern konnte, hatte er ein kleines Instrumentchen aus seiner Westentasche geholt und mittelst desselben das Schloß des Kästchens geöffnet.

Aus Barmherzigkeit, rief Amalie, als sie es sah und fiel auf ihre Kniee.

Jener bemerkte es nicht sein Gesicht strahlte vor Freude und Staunen. Jaromir von Szariny! rief er leise für sich. Das ist ja der anonyme Publizist nun ist kein Zweifel mehr. Er sah die Briefe alle eifrig durch, schien aber unzufrieden mit ihren Inhalt zu sein und daß er keine mit neuerem Datum fand sie waren alle schon vor sieben Jahren geschrieben.

Ich werde Nichts ausplaudern, sagte er zu Amalien, welche Auguste wieder von der Erde aufgehoben hatte. Nur eine Frage: Sind Sie noch mit dem Grafen Szariny in Verbindung?

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Sie wandte sich tief verletzt ab und antwortete nicht.

Ich muß Sie um aufrichtige Antwort bitten es ist die letzte Frage, welche ich an Sie zu richten habe ich bedauere Ihnen lästig gewesen zu sein und wir werden uns dann sogleich entfernen es wäre vielleicht meine Schuldigkeit gewesen, einige dieser Briefe mitzunehmen, allein aus schonenden Rücksichten gegen Sie habe ich es unterlassen meine Schonung gegen Sie verdient wahrlich nicht diese Halsstarrigkeit von Ihrer Seite antworten Sie; Niemand wird es erfahren. Sind Sie mit dem Grafen Szariny noch in Verbindung?

Nein er war mein Verlobter, ehe ich in meinem jetzigen Gatten eine andere Wahl traf aber nun lassen Sie diese Qualen endigen, die Sie jetzt über mich brachten, während mein Kind begraben ward als sei dies nicht schon entsetzlich genug rief Amalie und verhüllte ihr Gesicht.

Bedauere herzlich, Ihnen lästig geworden zu sein und daß wir an solchem Unglückstage kommen mußten, sagte der Polizeicommissair mit schlecht erheuchelter Theilnahme und ging. Der Polizeidiener folgte ihm.

Amalie war schon zu sehr von dem Jammer der letzten Tage angegriffen, als daß sie sich eigentlich hätte klar darüber bewußt sein sollen, was jetzt vorgegangen war, als daß38 sie fähig gewesen wäre, nur Etwas davon zu begreifen. Sie war nur froh, daß die fremden Männer sich wieder entfernt hatten, daß sie nun wieder ungestört ihrem Schmerz um ihr verlornes Kleinod, um ihr gestorbenes Kind nachhängen konnte.

Ihr Schwager Bernhard kam wieder zurück. Er ging schweigend auf sie zu und drückte ihr die Hand sie seufzte tief und sagte dann: Ich danke Dir ist doch eine verwandte Seele dabei gewesen, ich hätt es nicht vermogt.

Ich habe die erste Hand voll Erde auf den hinabgesenkten Sarg geworfen für Dich, dann eine für Gustav, dann für mich selbst sagte er und verschlang eine Thräne.

Nun war es wieder lange stumm in dem kleinen Zimmer zwischen den drei Menschen.

Nachher stand Auguste auf, trat zu Bernhard und erzählte ihm Alles, was während seiner Abwesenheit vorgekommen war und ihr so räthselhaft und unheimlich erschien.

Ihm war es so nicht minder er verstand es gar nicht, fragte zu wiederholten Malen und ward doch nicht klüger. Endlich fuhr er heraus:

Donnerwetter! Wär ich da gewesen ich hätte die Kerle die Treppe hinunter geworfen trotz Polizei 39 nicht einmal die Spürnasen vor solchem Elend ehrfurchtsvoll ein Weilchen zurückzuziehen!

Dieser Vorfall hatte sich an dem Tage vorher ereignet, an welchem Franz Thalheim so unbesorgt war über die Ankunft des langen dürren Herrn Stiefel.

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III. Wiedersehen.

An dem hellsten Sommertag,
Unter Zweigen lichtdurchbrochen,
Bei der Lerchen Jubelschlag
Hab ich Dich zuerst gesprochen.
Betty Paoli.

Einige Wochen waren seit dem Tage vergangen, an welchem Graf Hohenthal und Rittmeister Waldow sich vergeblich bemüht hatten, Herrn Felchner zu einer kleinen Gestundung zu vermögen er war im Recht gewesen und er hatte von diesem Recht Gebrauch gemacht der Wald war ihm als Eigenthum zuerkannt worden.

Jaromir hatte eine der Hütten, welche zu der Wasserheilanstalt Hohenheim gehörten, für sich gemiethet und vollkommen Alles das ausgeführt, was er mit Waldow in Bezug auf die Heilanstalt verabredet hatte. Ehe er sich ganz in dieselbe begab, war er noch auf ein paar Wochen zurück in die Residenz gereist, um dort seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, da er vorher seine41 Abwesenheit nicht auf eine längere Dauer berechnet hatte. Zugleich benutzte er die Zeit dieses Aufenthaltes dazu, den idyllischen Aufenthalt in Hohenheim mit entzückenden und glänzenden Farben in einigen aristokratischen Zirkeln so verführerisch zu beschreiben, daß ihm beim Abschied mehr als ein Mal, und von mehr als einer Person das Wort entgegentönte: Ich denke, wir sehen uns wieder in Hohenheim.

Vollkommen befriedigt von den Resultaten dieser Wochen, vollkommen ermüdet und gelangweilt von der Gesellschaft in der Residenz, dagegen aber auch nach seiner elenden Hütte sich sehnend vielleicht auch noch verlangender nach Etwas mehr kam er in Hohenheim an.

Der Restauration der Wasserheilanstalt gegenüber, welche ein speculativer Gastwirth auf Zureden des Wasserdoctors für einen geringen Pacht übernommen hatte, befand sich eine Baute aus Brettern, welche man den Kursalon zu nennen beliebte. Er war nach vorn geöffnet, von einigen Bäumen umgeben, mit Markisen von grauer Leinwand versehen und sein Fußboden mit grobem Kies bestreut. Weiß angestrichne Lattenbänke, ebenfalls weiß gefirnißte Tische und ein Duzend Feldstühle mit Sitzen von groben Gurtbändern, dies war das Meublement dieses Salons, welcher dazu bestimmt war, daß die Kurgäste zu den Stunden in ihm sich versammelten. wo sie ein solches42 Mittelding von freier Luft und Bretterschutz gegen diese wünschenswerth fanden. In der That, ein Aufenthalt, welcher mehr als einfach war.

Jaromir hatte ihn sogar zu einem Lesesalon ge macht, indem er gefällig genug war, diejenigen Journale, welche er vermöge seiner literarischen Verbindungen zugeschickt erhielt, daselbst zur allgemeinen Lectüre auszulegen. Niemand war glücklicher als Hofrath Wispermann, in Jaromir eine so gute Acquisition gemacht zu haben, er überhäufte ihn dafür mit Artigkeiten, wiewohl es ihn im Stillen verdroß, daß der Graf durchaus seine ärztliche Behandlung, seine Bäder verschmähte.

Gleich am ersten Nachmittag nach seiner Ankunft besuchte Jaromir diesen Salon.

Der junge Waldow traf am Eingang mit ihm zusammen. Hierher ist fast mein täglicher Spazierritt, sagte er, um zugleich jeden neuen Ankömmling mustern zu können und zu erfahren, wie er die göttliche Romantik dieses Ortes findet, mit welcher Ihre Schilderungen ihn so reichlich versehen haben. Dort sitzt ja ein ganzer Klubb lassen Sie uns die Gesellschaft erst aus der Ferne in Augenschein nehmen. Lorgnetten heraus! Dort das rothbackige Gesicht des Engländers mit dem großen Mund, der die verhältnißmäßig gleich großen Vatermörder zu küssen scheint, kennen wir schon er behauptet ewig43 dieselbe stereotype Figur er sitzt allein und liest in einem Buche. Mein Himmel! Was muß der Mensch nicht Alles schon zusammengelesen haben, wenn er’s immer so treibt wie hier ich habe ihn noch niemals anders als lesend gesehen, ich kann mir ihn auch gar nicht anders vorstellen. Wie jene Wilden, welche, als sie die ersten Reiter sahen, glaubten, Mensch und Roß wären ein Wesen, so scheint mir der Engländer mit seinem Buch durchaus ein Ganzes zu bilden. Den eleganten Herrn mit den gelben Glacehandschuhen und der rothen Sammtweste kenne ich und werde Sie nachher einander vorstellen. Es ist ein Kammerjunker von Aarens, der sich nur Courmachens halber hier aufhält er ist nämlich hierher gegangen, weil er den Grafen Hohenthal kennt und eine reiche Partie beabsichtigt er ist seit einer Woche hier und schon sehr oft in dem benachbarten Schloß gewesen.

Jaromir hatte zuletzt aufmerksamer als Anfangs zugehört, den eben Besprochenen mit prüfenden Blicken gemustert und sagte jetzt ruhig: Der Mensch sieht sehr unbedeutend aus.

Was ihn aber bedeutend machen kann, ist ein alter Name, bedeutendes Vermögen und große Gunst, welche er an seinem Hof genießt. Den Herrn zwischen ihm und unsern Doctor, eben so lang und dürr wie dieser, aber mit einer so ausgesucht malitiösen Miene, kenne ich44 nicht, es muß ein neuer Ankömmling sein. Der Geheimrath von Brodenbrücker daneben hat sich bis jetzt schrecklich gelangweilt, er ist aus Gefälligkeit für seine Frau, welche vollkommnes Pantoffelregiment geltend macht, hierher gekommen, denn sie will nämlich gern in jeder Mode den Ton angeben und hat sich es deshalb nicht nehmen lassen, krank zu sein und von einem gefälligen Arzt in eine Wasserheilanstalt geschickt zu werden. Sie scheint eine sentimentale Kokette zu sein, bei welcher man sich Etwas erlauben darf. Nun kommen Sie, ich stelle Sie den Herrschaften vor, Ihr Name wird frappiren, wenn ihn nicht etwa der Doctor schon ausgeplaudert hat. Bemerken Sie wohl, welche schmachtenden Blicke die Geheimräthin auf uns wirft ich glaube, es ist ihr lange nicht so wohl geworden, die einzige Dame in einem Badeort zu sein.

Waldow trat jetzt mit Jaromir zu der Gruppe und stellte diesen vor:

Graf Jaromir von Szariny.

Der Name frappirte allerdings aber obwohl die Geheimräthin vor freudigem Erschrecken beinah in eine Ohnmacht gefallen wäre, war doch Niemand davon in gleichem Maaße betroffen, als der fremde, lange, dürre Herr. Als er Szariny’s Namen nennen hörte, nahmen seine Augen einen ganz eigenthümlichen Ausdruck an, Schreck paarte sich mit Freude. Sein ganzes Wesen schien verändert zu45 werden, er sah vor sich nieder, als beachte er den Grafen weiter nicht, aber wer ihn aufmerksam beobachtet hätte, würde gewiß bemerkt haben, wie sich seine Ohren sichtlich spitzten, als er diesen Namen hatte nennen hören.

Als Jaromir einige Worte mit dem Wasserdoctor sprach, stellte ihm dieser seinen Nachbar als: Herr Schuhmacher, Doctor Juris, vor.

Es wurden nur wenig Worte gewechselt. Diese Gesellschaft behagte Jaromir wenig, und als Waldow sich nach einem Stündchen wieder zum Nachhauseritt anschickte, brach auch er auf, ließ seine Droschke anspannen und fuhr hinauf nach dem Schloß.

Elisabeth saß auf dem Balkon, zu welchem man aus dem Gesellschaftszimmer gelangte und welcher über dem Hauptportal sich erhob. Sie war so in das Lesen eines Buches vertieft, daß sie erst, als der Wagen auf den Steinplatten des Hofes rasselte, durch das Geräusch aufmerksam gemacht wurde und hinab sah. Die Droschke hielt vor dem Haupteingang. Jaromir hatte Elisabeth längst gesehen jetzt grüßte er, als er bemerkte, daß sie aufstand und ihn gewahr ward. Sie trat von dem Balkon in den Saal er aus dem Hof in die Hausflur, Sie war ein Wenig in Verwirrung, denn ihre Eltern hatten einen Spaziergang in den Park gemacht, an dem sie nur aus zufälliger Laune nicht Theil genommen hatte. Sie wußte46 nicht, wenn sie zurückkehren würden, wohin sie ihre Schritte gerichtet hatten es war eben so gut möglich, daß sie in den nächsten Minuten, als daß sie erst nach Stunden zurückkommen würden. Sie wollte Jaromir’s Besuch abweisen lassen, aber er hatte sie gesehen und gegrüßt, sie konnte sich nicht selbst verleugnen lassen in dem Augenblick ihrer Unschlüssigkeit meldete ein Diener den Grafen.

Haben Sie gesagt, daß der Graf und die Gräfin ausgegangen sind?

Ja, zu Befehl der Herr Graf beauftragte mich, ihn bei Ihnen zu melden.

Sie sah noch einen Augenblick schweigend vor sich aus, dann sagte sie: Ich erwarte den Herrn Grafen.

Der Diener entfernte sich gleich darauf trat Jaromir ein.

Die gewöhnlichen Begrüßungen fanden statt. Sie sagte ihm, daß ihre Eltern ausgegangen wären und daß sie nicht wisse, ob sie dieselben bald oder später zurück erwarten dürfe. Er bemerkte, daß er sie, Elisabeth, bei seiner Ankunft auf dem Balkon gesehen, und daß nicht seine Gegenwart Ursache sein solle, die freie Luft mit der des Zimmers zu vertauschen.

So traten denn Beide hinaus auf den Balkon.

Die Gegend breitete sich malerisch vor ihnen aus in lichter Frühlingsklarheit. Das hochgelegene Schloß beherrschte47 auf höherem Bergesrücken ein großes Panorama.

Es war ein schöner Nachmittag man wußte nicht, war es noch Frühling oder schon Mitte des Sommers. Gegend und Luft gaben die Wonnen von Beiden. Der Himmel war ein glänzendes, lachendes Blau, die Luft ein ewiges lindes Wehen. Durchleuchtete Wölkchen zogen wie leichte Silberschleier hin und her und warfen kleine wandelnde Schatten auf die Gegend. Rechts erhob sich eine lange Hügelkette, die dem Berge sich anschloß, auf welchem die Burg stand. Die einen waren mit düstern Tannen und Fichten bewachsen, an welchen die jungen, hellgrünen Triebe wie zarte Finger von viel Tausend emporgehobenen Händen sich aufwärts streckten, als schwören auch die ernsten Gestalten der Tannen fröhlich dem Frühling Treue. Und so dicht war die Waldung, daß sie, wo das Auge zu ihr in die Ferne schweifte, wie ein großes weiches Bett von schwellendem Moos aussah, in dem sichs gut liegen und ruhen müsse. Andere Hügel waren von grauem Gestein nur spärlich von dunkeln, roth blühendem Moos und lichtgrünem, niedrem Gras bedeckt und mit getrennt stehenden Birken bewachsen. Ihre weißen Stämme standen aufgerichtet wie heilige Friedensstäbe mit grünen, wehen den Kränzen geschmückt. Zwischen diesen Hügeln trat ein kleiner Fluß hervor und schleppte mit seinen blau und silbern48 blinkenden, tanzenden Wellen geduldig das Flößholz die abgehauenen Glieder des Waldes herab in’s Thal, dann stürzte er sich brausend über ein hohes Wehr und die Scheite sprangen kühn und lustig mit dem Wasser taumelnd hinüber. Geradaus that dem Blick ein weites Thal sich auf, die Landstraße zog sich durch und auf ihr wirbelte gerade jetzt eine läutende Heerde lichtweißer Schaafe eine gelbliche Staubwolke auf. Links gränzte an das Schloß der weite Park. Seine Eichen standen im prangendsten Jugendgrün und ihre stolzen Kronen überragten die andern Bäume. Alle Gesträuche blühten bunt dazwischen. Hier schlängelte eine Allee weiß blühender Kirschbäume sich wie eine lange Guirlande durch die blumigen Wiesen. Dort glich eine Gruppe von Apfelbäumen, deren rothe schwellende Knospen sich eben erschließen zu wollen schienen, einem riesenhaften, leicht hingeworfenen Rosenkranz. Und aus all diesem malerischen Gemisch von Bäumen, Blüthensträuchen und Grasplätzen schimmerte hier ein weißer kleiner Marmortempel, wie ein ernstes Mausoleum hervor, wehten dort die Fahnen und Glöckchen eines japanischen Lusthauses, wie im heitrem Spiel grüßend mit Flattern und Läuten, erhob sich an einer andern Stelle ein grauer Thurm, und so noch manches abenteuerliche, malerische Gebäude. In weiter Ferne begränzte ein hoher Berg mit einer verwitterten Burgruine den Horizont. 49Balsamische Blumendüfte zogen wie wallender Weihrauch von den Frühlingsopfern der Erde aus den nahen Gartenbeeten empor und eine Schaar wirbelnder Lerchen tummelte sich wie trunken im Aetherblau.

Jaromir und Elisabeth hatten eine Weile stumm neben einander gesessen und bewundernde und entzückte Blicke auf die reichen Naturschönheiten dieser Landschaft geworfen. Jetzt sagte Jaromir:

Es ist das erste Mal, daß ich unwillkürlich durch Sie angeregt in Naturbetrachtungen versinke vergeben Sie, wenn ein Blick auf dieses feierliche Frühlingswalten ringsum mich zu lange stumm gemacht.

Sie sagte mit einem leichten Erröthen und ohne aufzusehen: Mein früheres Zusammentreffen mit Ihnen fand außerhalb der gewöhnlichen Schranken und auf befremdende Weise Statt ich fühle, daß ich Ihnen dafür eigentlich eine Erklärung schuldig wäre, aber ich weiß dennoch nicht, wie ich sie Ihnen geben könnte, und indem ich gerade fordern muß, mir sogar den Versuch dazu zu ersparen, fühle ich, daß ich vielleicht Viel von Ihnen verlange, wenn ich Sie bitte, ohne zu gering von mir zu denken, diese frühere Begegnung wo möglich zu vergessen für sich selbst und für Andere.

Sie ließ einen Moment ihre schönen Augen mit einem flehenden Ausdruck auf den seinen ruhen, dann senkte50 sie wieder die langen Wimpern, während er rasch das Wort nahm:

Vergessen? sagte er mit sanfter Stimme. Vergessen? Sehen Sie da unten die weiße Blume, welche ihr Haupt der Sonne zugekehrt hat, soll sie auch vergessen, daß der Lichtstrahl auf sie fiel, welcher ihren Kelch erschloß? Soll dort der Wanderer, den Sie von dem höchsten Berge langsam herabsteigen sehen, auch vergessen, daß er einen entzückenden Anblick dieser weiten Frühlingslandschaft genossen, der ihn vielleicht trunken schwärmen machte, wie der Blick in ein seliges Eden? Warum vergessen? Nein, ich werde ewig an diese Stunde denken müssen, rief er schwärmerisch vor sich aussehend, sie ist ein Theil geworden von meinem Leben.

Elisabeth schlug die Augen nieder und schwieg.

Nach einer Pause begann Jaromir wieder, aber ruhiger: Sie schweigen vielleicht weil Sie die Sprache seltsam, finden, welche ich führe, vielleicht weil Sie Ihnen ungeziemend erscheint aber wenn Sie mir vergönnen, aufrichtig fortzufahrrn so werden Sie mir vergeben, wenn Sie es nicht schon jetzt thun.

Sie sind ja Dichter, sagte Elisabeth, da muß Ihnen schon gestattet werden, Ihre Träume auszusprechen, in welcher Form Sie wollen weiß man doch, daß es eben poetische Träumereien sind, was man hört.

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Dieser Dichter hatte lange Zeit vergessen, daß er einer war, bis Sie ihn wieder dazu machten antwortete Jaromir und fuhr dann fort: Sehen Sie, Ihnen allein gegenüber darf ich doch wahr sein? Sie haben es ja eben ausgesprochen, daß ich ein Dichter sei nicht jedem Wesen entschleiert ein solcher seine Seele und darum, als ich Sie das erste Mal in diesem Schlosse sah, als ich unerwartet in der Tochter dieses Hauses das weinende Mädchen wieder erkannte, das ich einst fern von hier begrüßt, da fesselte nicht allein das Erstaunen meine Zunge, daß ich es nicht aussprach, wie Sie mir nicht ganz fremd seien, sondern ich blieb darüber stumm, weil diese Begegnung immer ein süßes Geheimniß meiner Seele geblieben war, das ich nun nicht auf ein Mal mit gleichgültigen Worten gleichgültigen Ohren und Herzen Preis geben konnte. Und dann ich wußte ja nicht, ob es nicht vielleicht auch Ihr stilles Geheimniß war, das keine Zeugen und keine Mitwisser duldete, an jenem Tag und an jener Stelle sich auszuweinen? Und lieber noch hätte ich mich selbst verrathen, als Sie!

Ich danke Ihnen für diese Rücksicht. Thränen, mit denen man sich in die Einsamkeit flüchtet, um sie auszuweinen, werden von Andern verstanden sagte Elisabeth.

Er fuhr fort: Sie waren gewiß an jenem Morgen52 so früh aufgestanden, der Schmerz hatte Sie nicht ruhen lassen bei mir war das Anders, ich kam von einer festlich durchschwärmten Nacht aber wessen Herz in diesen Stunden schmerzlicher gezuckt haben mag das Ihre unter Ihren Thränen, das meine unter meinem Lachen wer mögt es entscheiden? Ich habe das Wort nicht vergessen, das Sie zu mir sagten: Sie scheinen auch nicht glücklich zu sein! So hatten Sie mich allein verstanden, eine Fremde unter all den Hunderten, welche mich zu kennen meinen, welche mir täglich versicherten: ich sei der glücklichste Sterbliche.

Ich hatte Ihnen schon einmal begegnet, wo Sie noch trauriger aussahen fiel sie ihm rasch in’s Wort, aber sie hielt plötzlich inne und erröthete und fragte sich mädchenhaft schüchtern im Stillen, ob sie nicht unvorsichtig zu Viel gesagt.

Fast war es auch für Jaromir zu Viel, zu viel überraschende Freude, daß sie dieses sagte ihm wars, als müsse er ihr zu Füßen fallen, oder ihre Hand fassen und drücken, oder sie selbst in seine Arme ziehen aber er bezwang sich, er blickte sie nur noch inniger an, doch wagte er nicht, sie zu berühren, oder sich ihr leidenschaftlich zu nähern er sagte sich, daß er das schöne Vertrauen, mit dem sie ihn allein bei sich empfangen, nicht mißbrauchen dürfe. Ja , sagte er, damals lag auf53 Ihrer Stirn, in Ihren Blicken leuchtender, ungetrübter Friede und ich dachte, so müss es immer sein damals meinte ich nicht, daß ich nach wenig Monaten Sie so wiedersehen würde, wie es geschah. Jener erste Moment, in welchem ich sie sah, ist einer der erschütterndsten meines Lebens gewesen, ich werde ihn nie vergessen, und als ich Sie zum zweiten Male sah darf ich es Ihnen gestehen? so hätt ich dem Leben fluchen mögen, das auch aus Ihren Augen Thränen preßte, das auch Sie schon so schmerzlich fassen und bewegen konnte! Aber ich lernte auch von Ihnen ich hatte oft das Weh meines Herzens übertäuben wollen in rauschender Lust, aber ich dachte dann, es sei besser, gleich Ihnen dies Leid auszuweinen in Gottes freier Natur, an der Brust der mütterlichen Erde und so that ich und so kam ich auch hierher, um in der heiligen Frühlingswelt alle kleinen menschlichen Schmerzen zu vergessen und mir ist, als würde das Herz gesund, wenn es wie hier neben lächelnden Blumen und wirbelndenden Lerchen schlagen kann er wollte noch mehr sagen, aber er hielt inne.

Das Herz wird still, wenn es wie hier auf dieser Höhe dem Himmel näher schlägt, ergänzte Eisabeth, ich bin jetzt zufrieden. Ich genieße den Fühling was will man mehr?

Die Nähe verwandter Seelen, sagte Jaromir.

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O, ist man nicht selber reich genug, dem Wald, dem Bach, den Blumen allen verwandte Seelen zu geben? Und bringt nicht jede Schwalbe, die sich in unsrer Nähe anheimelt, nicht jede Lerche, die aus der Saat zum Himmel jubelnd emporschwirrt, jede Nachtigall, die im Stillen und Dunkel sich hören läßt, die verwandte Seele mit, nach welcher wir uns sehnen? Fühlen Sie nicht, daß das Lied, welches von dem wechselnden Vögelchen da drunten im Garten ertönt, alle die Regungen zur Sprache bringt, über welche Sie mit sympathisirenden Wesen sich unterhalten mögten? Nun und warum nicht mit diesen gefiederten Sängern? fragte Elisabeth.

Nun, wer von uns Beiden ist denn der Poet? sagte Jaromir lächelnd.

In diesem Augenblick traten der Graf und die Gräfin in den Saal. Jaromir und Elisabeth hatten sie vorher nicht bemerkt sie standen jetzt schnell überrascht auf und traten zu ihnen in den Saal.

Die Unterhaltung war allgemein und kam nicht aus der Sphäre des gewöhnlichen Conversationstones heraus. Jaromir hielt das nicht lange aus und entfernte sich sobald als es schicklich war.

Später sagte die Gräfin zu Elisabeth: Du ließest55 gestern den Kammerjunker von Aarens abweisen, weil Du allein warst, und nimmst heute im gleichen Falle den Grafen Szariny an ich liebe solche Inconsequenzen nicht.

Elisabeth verließ ohne Antwort das Zimmer.

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IV. Erklärungen.

Doch wehe, wehe dem Mittellosen,
Wenn siech der Leib zusammenbricht,
Da rettet nicht des Weibes Kosen,
Da rettet die Pflege der Mutter nicht,
Da helfen nicht die Gebete der Kleinen.
Karl Beck.

Ein paar Wochen waren vergangen, seitdem Pauline sich von Franz hatte zu der langen Liese führen lassen. Pauline hatte ihn unterdessen nur von Weitem gesehen, wenn er in die Fabrik oder an den Zahltagen in ihres Vaters Comptoir ging; sie war ihm auf ihren Spaziergängen, auch wenn sie dieselben nach dem allgemeinen Feierabend machte, niemals begegnet, und niemals hatte er sie im Garten aufgesucht, wie sonst, um irgend eine Angelegenheit, eine Bitte für die Unglücklichen, für welche er sich schon so oft verwendet hatte, vorzutragen. Nur ein Mal war sie ihm nahe in der Hausflur begegnet, wo er mit andern Arbeitern bei einem Factor gestanden hatte,57 der sie eben Alle ziemlich hart anließ. Franz hatte Paulinen einen schmerzlichen Blick zugeworfen, zum Sprechen war der Moment nicht geeignet gewesen. Den Chirurgen hatte sie gleich, als er das erste Mal zu den verunglückten Kindern auf Ihr Geheis gekommen war, im Voraus bezahlt. Sie hatte Nichts wiedre von diesen armen Leuten gehört, denn sie selbst war nicht wiedre hingegangen, da sie nach dem ersten Empfang der langen Liese recht wohl einsehen gelernt, wie diese ihren Besuch weniger als eine Art Genugthuung, sondern mehr als Verhöhung betrachte. Ihren Bruder oder die Factoren nach der langen Liese und ihren Kindern zu fragen, hielt eine innere ängstliche Scheu sie ab.

Eines Abends saß Pauline allein im Garten wie gewöhnlich, denn um diese Stunde allein spazieren zu gehen wagte sie nicht, weil sie immer fürchtete, daß sie, wenn sie Fabrikarbeitern begegnete, von diesen roh behandelt werden mögte, oder doch wenigstens unziemliche Redensarten anhören müßte. Sie war sehr traurig, denn sie hatte auch Elisabeth lange nicht gesehen. Herr Felchner war sehr gegen den Grafen erbittert, seitdem dieser versucht hatte, sich mit in die Waldow’sche Angelegenheit zu mischen und jetzt auch vor Gericht gegen ihn auftretend gestrebt hatte, es dahin zu bringen, daß der Fabrikherr den Bach welcher nun durch sein neu erlangtes Gebiet floß aber zugleich durch Hohenthal’sche Besitzungen58 ging nicht zu einem Graben einengen und zum Treiben irgend eines Mühlwerks benutzen dürfe. Es war darüber ein Prozeß entstanden, welchen man nach der Art, wie er unter aristokratischen Einflüssen betrieben ward, eine ziemlich lange Dauer vorhersagen konnte. Herr Felchner liebte aber Alles mit Dampfschnelligkeit zu betreiben. Er hatte daher gegen den Grafen, der ihn dies Mal so hinderlich in den Weg trat, den giftigsten und bittersten Haß gefaßt und seiner Tochter streng verboten, wieder in das Schloß seines Todfeindes zu gehen. Diese war an Strenge gegen sich von ihrem Vater wenig gewöhnt, denn er begegnete ihr immer mit der zärtlichsten Liebe und ließ sie in Allem frei walten. Nur durfte sie niemals versuchen, ein Wort zu seinen industriellen Einrichtungen zu sagen, oder für die gedrückten Arbeiter eine freundliche Bitte vorzubringen. Er hatte ihr dies mit leidenschaftlicher Heftigkeit ein Mal für immer verboten und da sie bemerkte, daß sie durch ihre Vorstellungen meist nur gerade das Entgegengesetzte von dem, was sie zu erreichen wünschte, eintreten sah, so hatte sie für immer auf solche verzichtet. So wagte sie aus kindlicher Ehrfurcht wenigstens nicht sogleich das Verbot des Vaters in Bezug auf Schloß Hohenthal zu übertreten, da sie hoffte, er werde es vielleicht eher zurücknehmen, wenn sie ihm Gehorsam zeige, so lange noch die erste Heftigkeit seiner Erbitterung59 währte. Elisabeth selbst war nicht in die Fabrik gekommen, weil leichte Unpäßlichkeit sie im Schlosse zurückhielt.

Noch niemals war es Paulinen einsamer vorgekommen, als jetzt, wo sie sinnend allein im Garten weilte.

Ein Gruß weckte sie aus ihren traurigen Träumereien.

Guten Abend, Mamsellchen.

Es war eine kleine dicke Frau mit rothem Gesicht, welche vorüber ging und den Gruß hinein rief. Pauline erkannte sie; es war die gutmüthig aussehende Frau, welche sie bei der langen Liese getroffen hatte.

Guten Abend, Frau Martha, sagte Pauline, lauft doch nicht so vorüber. Was macht die lange Liese mit ihren armen Kindern?

Sie haben mich gleich erkannt? sagte Martha schmunzelnd. Sonst merken sich die feinen Mamsellchen uns arme Weiber nicht so leicht; das ist hübsch von Ihnen. Was die lange Liese macht? Da mag sich Gott erbarmen, die flucht Tag und Nacht. Sie wissens wohl gar nicht, daß die Kinder Beide todt sind, der Junge und auch die kleine Liese!

Todt Beide?! rief Pauline, Das ist ja entsetzlich!

Freilich wohl aber ein Glück ist’s doch auch, daß sie starben, was hätte aus den elenden Krüppeln werden60 sollen? Und gut noch, daß sie Beide wenigstens gleich an einem Tage starben, da sind sie auch in einen Sarg und ein Grab gekommen und dadurch Kosten erspart worden.

Ein leichter Schauer überrieselte Pauline, als sie diese Rede hörte, es war ein neuer tiefer Blick in das Elend der Armuth, die sich über den Leichen geliebter Kinder noch damit trösten muß, daß sie wenigstens zugleich starben, damit nur ein Sarg für zwei nöthig war.

Martha fuhr fort: Ja, wenn es nur wenigstens Nichts kostete, der Tod ist ja auch nicht umsonst, wenn gleich das Sprichwort so heißt nicht einmal die Sprichwörter wollen auf die armen Leute passen. Ich kann sagen, mir wird wohl manchmal Angst, wenn die lange Liese so flucht und dazwischen lacht und schluchzt, daß sich’s greulich mit anhört denn da weiß sie nicht mehr, was sie spricht, und versündigt sich gar gegen den lieben Gott im Himmel droben. Aber wahr ist’s, schlecht hat sie’s gehabt ihr Leben lang ich und mein Mann, wir sind Beide gesund, und der Junge ist’s auch, nun da mag’s schon sein, wenn man auch wenig verdient, wenn man nur arbeiten kann und gesund ist, da ist unser eins schon zufrieden aber wie ist nun die lange Liese selber elend geworden und wie sahen die Kinder jammervoll aus, die sie mit in die Fabrik schleppt halten’s einmal nicht aus und muß doch froh sein, wenn sie nur arbeiten dürfen. 61Wenn Sie mir’s nur gesagt hätten, wie die Kinder starben, ich hätte vielleicht Etwas thun können.

Ja, ich unterstand mir’s nicht und dem Franz sagt ich’s ein Mal, weil der Sie doch heimgeführt hatte aber er schüttelte den Kopf und sagte: ich gehe nicht wieder hin, geht lieber selbst und sehen Sie, da dacht ich in meinen Gedanken: wenn’s der Franz nicht mehr wagt, da wag ich’s auch nicht.

Franz sagte: er wage nicht mehr zu mir zu gehen? sagte Pauline mit dem Tone ungläubiger Verwunderung.

Nun ja, er sagte wenigstens: ich gehe nicht wieder hin.

Er gehe nicht wieder zu mir?

Nun ja, es ist, als ob Sie Sich darüber verwunderten ich dachte seiner Rede nach, Sie hätten es ihm verboten, oder gesagt, daß er zu oft käme.

Niemals, niemals! Sehen Sie Franz zuweilen?

Selten, doch trifft es manchmal, daß er mit meinem Manne zusammengeht, denn der hält große Stücke auf ihn.

Nun dann sagen Sie ihm, daß ich es seltsam fände, daß er mir sein Wort nicht mehr hielte er wird schon wissen, was ich meine.

Schon gut aber da steh ich hier so lange und schwatze und wollte heute Abend noch Manches arbeiten.

62

Damit Ihr nicht umsonst hie geblieben seid, so wartet noch einen Augenblick, sagte Pauline und ging in das Haus.

Nach einer Weile kam Friederike mit einem Korb Eßwaaren heraus, welchen sie der Martha übergab. Etwas davon mögt Ihr der langen Liese geben.

Das Mamsellchen ist gar gut, rief Martha, ich hab es immer gesagt. Ich lasse mich schönstens bedanken, der liebe Gott mag’s ihr vergelten, die Armen haben Nichts zu geben als fromme Wünsche.

So ging denn Martha ihres Weges. Friederike that auch einige Schritte weiter und sah sich überall um. So stand sie eine Weile. Da rief plötzlich eine Stimme:

Also endlich einmal! Es war Wilhelm Bürger, welcher hinzutrat und ihre Hand erfaßte.

Guten Abend, Wilhelm.

Wilhelm hatte gleich am andern Tage, als er erkannt hatte, daß es ein großer Irrthum von seiner Seite gewesen, seinen Freund Franz für seinen Mitbewerber zu halten, Friederiken am Feierabend am Brunnen aufgesucht und ihr einfach gesagt, wie lieb er sie habe. Das gute Mädchen hatte verschämt und erröthend das angehört, und ihm durch einen herzlichen Händedruck versichert, daß sie ihm gar nicht gram sei, daß sein Wort ihr eine wahre Herzensfreude gegeben. So pflegten sie nun seitdem sich63 oft auf gleiche Weise zu sehen. Wilhelm war heute ziemlich ernst und sagte nach einer Weile:

Ist es wahr, daß Deine Herrschaft, ich meine Mamsell Paulinchen, seit einiger Zeit so kränklich ist?

Da habe ich Nichts davon bemerkt das müßte ich wissen.

Verändert sieht Sie mir auch nicht aus gleichwohl hat es der junge Herr, ihr Bruder Georg gesagt.

Was hat der gesagt? Er weiß gar Nichts von ihr, denn die Beiden sind verschieden wie Tag und Nacht.

Du weißt, daß sie den Chirurgen für das Kind der langen Liese bezahlt hat.

Und daß sie mit Franz selbst zu dem unglücklichen Kinde gegangen ist, seitdem sind aber Wochen vergangen und Franz hat sich nicht wieder blicken lassen, wie doch sonst.

Es ist ihm schwer genug geworden.

Warum ist er also nicht gekommen? Und was meinst Du mit dem jungen Herrn und dem Chirurgen?

Das wollt ich ja eben erzählen.

So rede schnell, denn ich kann jetzt nicht lange hier bleiben und weiß wirklich nicht, was Du eigentlich zu sagen hast.

Drum eben lass mich zu Worte kommen. Wie der Chirurg das zweite Mal wieder gekommen ist, hat er64 Franz aufgesucht und gesagt, es sei unrecht von ihm, daß er Fräulein Pauline immer so mit Erzählungen von Unglücklichen quäle, und sie dann berede, das Elend selbst mit anzusehen. Eine junge zärtliche Dame, wie sie, könne so Etwas nicht vertragen, sie werde dadurch selbst noch krank, weil es sie immer so angreife; ihre Gesundheit sei dadurch schon ganz zerrüttet sie setze ihr Leben auf’s Spiel, wenn sie es noch länger so treibe; sie selbst habe freilich davon keine Ahnung, um so mehr sei es jedes Menschen Gewissenssache, sie zu schonen. Franz war ungläubig gewesen ich war es auch, dann sagte ich mir: die armen Leute müssen in diesem Elend leben und es selbst ertragen und die vornehmen Leute sollten gleich daran sterben, wenn sie es nur ein Mal erzählen hören, oder von Weitem einen flüchtigen Blick darauf werfen?

Mein Fräulein ist ganz wohl und was will denn der Chirurg von ihr wissen, der sie niemals behandelt hat? Sie hat Gott sei Dank noch gar keinen Arzt gebraucht, seitdem sie hier ist. Und dieses alberne Mährchen hat Franz glauben können?

Er hat es auch nicht so recht geglaubt, aber ängstlich hat es ihn doch gemacht. Sie gönnen uns diesen Engel nicht! sagte er ernst und bitter aber wie er es sich näher überlegte, so hatte die Sache doch auch etwas Wahrscheinliches diese Mädchen sind einmal so zart, 65sagte er, und wäre ich dann daran Schuld, daß sie wirklich litte ich vergäb es mir nie und geistig leidet sie durch mich nein, nein, ich will ihr Nichts mehr sagen so meint er.

Aber welch dummes Zeug! rief Friederike: Und warum hat er da nicht mich gefragt, oder warum es Dir nicht aufgetragen?

Er hat sich genug mit seinen Gedanken gequält und wie sie ihm nicht mehr Ruhe ließen, ist er selbst hergegangen, um sie zu sehen oder Dich zu sprechen. Der junge Herr hat ihn da zuerst getroffen und gefragt, zu wem er wolle? Er habe jetzt hier Nichts zu thun. Er hat Dich genannt, da hat ihn Georg sehr hart angelassen und gesagt aber das ist zu hart!

Was hat er gesagt? Rede nur gerade heraus!

Er hat gesagt, daß ihn seine Schwester beauftragt habe, nicht länger den Skandal zu dulden, daß ihre Dienstmädchen mit den Fabrikarbeitern unpassenden Umgang hätten und daß es so schon eine Schande sei, daß die Christiane Wilhelm hielt inne und besann sich, daß er hier nicht weiter fortfahren könne.

Friederike ward roth und sagte: Das ist eine Niederträchtigkeit! Die Christiane wäre lange aus dem Hause, wenn er sie nicht selbst hielte, und wir wissen recht gut, wer an ihrem Unglück Schuld ist die armen Fabrikarbeiter66 nicht, aber so will er freilich thun. Und nun gar dem Franz gleich das Schlechteste unterzuschieben und nur weil er nach mir gefragt hat; das ist abscheulich! Sie stampfte mit dem Fuß und hielt die Schürze vor das von Zorn und Scham zugleich geröthete Gesicht.

Natürlich hat da Franz seine Mäßigung doch ein Wenig verloren, fuhr Wilhelm fort, er ist heftig geworden und der Herr hat ihm für immer verboten, das Wohnhaus zu andern Zeiten zu betreten, als wenn er zum Zahltag in das Comtoir kommen muß. Nun siehst Du, wie Alles gekommen ist; Franz ist seitdem ganz traurig, nur manchmal sagte er: ich mögte doch wissen, ob ihr Alles so recht ist, ob sie es weiß, oder ob es sie nicht einmal wundert, daß ich nicht mehr komme gestern sprach er auch so und weinte nun wenn so ein starker Junge weint wie der Franz einer ist, das kann ich nicht gleichgültig mit ansehen, da wendet sich mir das Herz im Leibe um. Da sagt ich mir: heute mußt Du mit Friederiken reden.

Weißt Du was? sagte diese. Mein Fräulein ist auch recht verdrießlich gewesen, daß Franz nie mehr gekommen, denn von All dem, was Du mir erzählt hast, weiß und ahnt sie kein Wort ich muß jetzt fort von Dir, wir haben schon zu lange geplaudert wenn Du Franz triffst, so geh mit ihm dort drüben in der Allee67 ein Weilchen hin und her wer weiß, macht nicht mein Fräulein noch einen Spaziergang dahin, und Franz darf ein paar Worte mit ihr sprechen, wo es Niemand gleich gewahr wird denn das merk ich nun schon, dem saubern Herrn Bruder ist es ein Gräuel, daß sie für die armen Leute menschenfreundlich fühlt und da helfen mögte wo er nur thrannisirt leb wohl! Wir wollen sehen, ob wir uns heute noch wieder treffen. Mit diesen Worten und einem raschen Händedrucke hüpfte Friederike fort.

Pauline war allein in ihrem obern Zimmer und hatte schon ein Mal vergeblich nach dem Mädchen geschellt. Als es jetzt eintrat, fragte sie: Warum kommst Du so spät?

Ich bitte Tausend Mal um Vergebung, sagte Friederike, ich sprach einige Worte mit meinem guten Wilhelm.

Du weißt, begann Pauline mit ernstem, warnendem Tone, daß ich gegen Eure Neigung Nichts habe, allein

Liebes Fräulein, fiel ihr Friederike in’s Wort, ich fragte ihn nach Franz und da hatte er so Viel zu erzählen ich wäre sonst nicht so lange geblieben.

Pauline vergaß die mahnende Rede, welche sie begonnen hatte und fragte rasch: Was sagte er Dir da? Vergiß nicht, Alles genau zu wiederholen, denn durch das, was ich von der Frau Martha erfuhr, ist mir Franz noch wunderlicher vorgekommen.

68

Friederike kam diesem Befehle getreulich nach. Als sie Alles erzählt hatte, ward Pauline immer nachdenklicher. Es ist klar, sagte sie, mein Bruder will nicht, daß die Fabrikarbeiter zu mir Vertrauen fassen und daß ich die Schattenseiten einer großen industriellen Anstalt, wie die unsere ist, kennen lerne, er will nicht, daß ich mich mit diesen armen Leuten in eine gewisse Art von Verbindung setze. Er verachtet sie nur und meint vielleicht, sie um so williger zu jeder Arbeit zu finden, je ärmer und unglücklicher sie sind. Es ist gewiß, daß er den Chirurgen zu diesem seltsamen und abgeschmackten Märchen von meiner Krankheit verleitet hat. So werde ich freilich in Zukunft noch behutsamer sein müssen, als ich bereits war, damit er mich nicht hindert, irgend ein Elend zu lindern, wo ich kann und will.

Friederike hatte ihrer Herrin nicht gesagt, daß sie Wilhelm und Franz in die Allee bestellt habe, sie verschwieg es auch jetzt, aber sie suchte Paulinen dahin zu einem kleinen Spaziergang zu bewegen, indem sie ihr beredt den schönen Sternenabend draußen schilderte und die leuchtenden Johanniswürmchen, die gerade in jener Allee sich jetzt so lustig tummeln sollten. Pauline willigte endlich ein, da der Weg nahe und überhaupt dort einer ihrer Lieblingsplätze war.

Franz stand dort allein. Was er für Paulinen69 fühlte, hatte er dem Freund einmal gestanden, obwohl er selbst es sich noch niemals zu gestehen gewagt hatte, obwohl er es, was nur ein Mal seinem Innern zur Aussprache entlockt worden war, wieder in seines Herzens Tiefen zu verbergen strebte. Was er jetzt gelitten, wußte Wilhelm auch, und er gönnte dem Freunde die Stunde der Genugthuung, welche jetzt vielleicht für ihr schlug, so aufrichtig aus vollster Seele, daß er sie ihm durch seine Gegenwart nicht stören wollte denn ein Zartgefühl, welches bei den feinen, geglätteten Menschen der Salons fast gänzlich in seiner Ursprünglichkeit verloren gegangen ist und nur als leere Etikettenform noch hier und da zur Erscheinung kommt, sagte diesem einfachen, unverdorbenen und unverbildeten Arbeiter, daß seine Gegenwart vielleicht den Freund stören könne, dem er, ohne es zu wollen, ein Geständniß seiner Liebe entlockt hatte, welches nun nicht mehr zurückzunehmen war, aber von dem, welchem das stille Geheimniß gehörte, doch gern wieder vergessen gemacht worden wäre.

Friederike, welche diese Gründe für Wilhelms Außenbleiben nicht ahnen konnte, weil sie Thalheims wahre Gefühle nicht kannte, und welche vielleicht auch dann Wilhelms Zartgefühl nicht ganz würde verstanden und getheilt haben, schmollte in Gedanken ein Wenig mit ihm, daß er70 die schöne Gelegenheit, ein Wenig mit ihr zu plaudern, ungenützt vorüber gehen ließe.

Guten Abend, Franz! sagte Pauline freundlich zu diesem.

Er zitterte fast, als er diese sanfte Stimme wieder hörte, welche er Wochen lang nicht mehr, nur in seinen Träumen gehört hatte. Sie sprechen so sanft zu mir, rief er erschüttert, nicht wahr, Sie zürnen mir nicht, wenn ich

Wenn Sie eine Zeit lang Ihres Versprechens uneingedenk sein konnten, das Sie mir gaben, als ich nicht lange hierher gekommen war, oder daß Sie denken konnten, ich möge mein Wort nicht mehr halten weiter habe ich Ihnen Nichts zu vergeben. Ich weiß aber erst seit heute Alles daß man Sie über mich getäuscht und hintergangen hat aber ich versichere Ihnen, daß ich an unserm damaligen Versprechen, daß Sie mich von jeder augenblicklichen Noth unsrer Fabrikarbeiter, welcher abzuhelfen möglich ist, unterrichten sollten, und daß ich dann Alles thun würde, was ich vermöge gar Nichts geändert wissen will, und daß wir ihm treu bleiben wollen, nur mit mehr Vorsicht als bisher, da es Leute geben kann, welchen es nicht recht ist, daß ich die Wunden verbinde, welche sie erst geschlagen.

Franz schwieg.

Ich ehre ihr Schweigen, fuhr sie fort. Sie wissen,71 daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.

Ach, in diesen Worten erkenn ich meinen Bruder.

Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß, fuhr sie fort, aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde.

Ja, rief er begeistert, aber mit Thränen, wenn72 mehr Herzen schlügen wie das Ihre, wenn mehr Augen wie die Ihrigen sähen, Augen, welche, wenn sie gleich von Kindheit auf an den Glanz des Goldes und die bunten Flitter des Reichthums gewöhnt, doch nicht davon geblendet sind, wie die jener Tausend, welche dann das, was außer dem Bereich ihrer eigenen Lebensverhältnisse liegt, nicht blos unter lauter falschen Lichtern, grauen Nebeln und düstern Spinnengeweben, sondern so wie es wirklich ist gewahrten. Wenn Diejenigen, welche zufällig unter seidnen Betthimmeln geboren wurden, nicht das gleiche Bruderbild verleugnen wollten, weil es vielleicht auf elendem Stroh zur Welt kam wenn sie nicht fortgesetzt die edle Menschengestalt verhöhnen wollten, weil die Lumpen sie nur schlecht bedecken und die Verwilderung des Elendes sie häßlich macht vielleicht würde es anders, vielleicht könnte noch Alles gut werden. Der Arme verlangt ja so Wenig! Nur einen kurzen heitern Frühling für sein Kind, wo es nicht zu friern und zu hungern braucht, wo es lernen darf, wie man ein Mensch wird! Aber hier diese Kinder! Sie werden zu niedrer Thierheit herabgedrückt, und wie die heilige Wassertaufe den Teufel austreiben soll aus den Kindern so ist es hier umgekehrt! Der Engel, der das Kind in’s Leben begleitet, wird mit Gewalt aus der reinen Seele des Kindes gejagt, und in der heißen Hölle, wo die Dampfmaschinen arbeiten, zu73 denen man es schickt, da kommen all die finstern Teufel zu ihnen, welche Alle quälen, die zu ewiger Erniedrigung, zu ewiger Stumpfheit im Leben verdammt sind. Und wenn dann diese Kinder, welchen man kaum ein Wort von Christus gelehrt hat, auf dessen Namen sie doch getauft sind wenn sie dann Männer werden Männer, welche eine gleich abstumpfende Arbeit verrichten, wenn sie auch mehr Kraft dazu brauchen, als bei der, zu welcher sie als Kinder gezwungen waren, dann verachtet man sie, weil sie fluchen und trinken und rohe Worte haben und endlich vielleicht gar einmal auf den Gedanken kommen, blinde Rache zu üben an ihren Peinigern was dann? Ich gehöre selbst zu diesem ausgestoßenen Geschlecht, und doch graut mir vor ihm, denn ich kenne es! Ach, daß es mehr gerechte Menschen gäbe, welche sich des Armen erbarmten! Nicht ihren Reichthum, nicht ihre Schätze brauchten sie ihm zu geben aber nur nicht ihn für immer auch des Reichthums, des innern Lebens zu entblößen, das entehrende Brandmahl ewiger Unfähigkeit ihm aufzudrücken! Es könnte gut werden, wenn man die Kinder zu guten Menschen erzöge, statt zu blöden Sklaven es ist ja der Vortheil Aller, daß überall gute Pflanzen getrieben und erbaut werden. Niemand zieht ein Beet Unkraut in seinem Garten wenn man nur das bedächte es würde Alles gut.

74

Franz hatte sich im Selbstvergessen zu so langer schnell und feurig gesprochener Rede hinreißen lassen. Plötzlich hielt er inne ein schrillendes, widerliches Gelächter klang höhnisch durch die friedliche Abendruhe, und da verstummten plötzlich seine Lippen.

Pauline, die mit ängstlicher Spannung seinen Worten gefolgt war, schrak jetzt zitternd zusammen vor diesem lauten, gräßlich hallenden Gelächter.

Friederike, die etwas entfernt gestanden, drängte sich rasch und dicht an ihre Gebieterin.

Das Gelächter hatte die lange Liese ausgestoßen, welche jetzt mit raschen Schritten des Wegs gekommen war.

Könnte noch Alles gut werden? rief sie mit unheimlicher, wie wahnsinniger Stimme. Würde Alles gut? Was denn? ’s liegen viel Kinderleichen auf dem Kirchhofe, von den verfluchten Maschinen zerrissen das wird doch nicht wieder gut, die stehen nicht wieder auf und kämen Engel vom Himmel! Gute Menschen aus Kindern ei ja doch, gute Menschen, die gut arbeiten und gutwillig sich die Kinder verderben und sterben lassen immer Eins von Beiden, verderben sterben verderben sterben.

Sie sang die letzten Worte mit kreischender Stimme ab und ging ihres Weges.

Sie ist wohl wahnsinnig geworden? fragte Pauline schaudernd.

75

Das nun wohl so eigentlich nicht aber so ist ihre Art sie ist in Verzweiflung über ihre Kinder, versetzte Franz.

Gute Nacht, Franz, sagte Pauline und gab ihm die zitternde Hand.

Er drückte sie leise und sagte: Ich darf es nun nicht wagen durch Wilhelm und Friederike mögen Sie erfahren, wo wir um Ihre Hilfe bitten mögten.

So trennten sie sich.

76

V. Ein Schreiben.

Ich bin erwacht, ich fühle Kraft
Die Lumpen reiß ich von den Gliedern,
Aus freier Seel die feige Angst,
Den Schlaf von meinen Augenlidern,
Der Liebe Bündniß will ich schließen,
Nicht länger hassend einzeln stehn,
Des Lebens Wohlthat mit genießen,
Nicht länger hungernd zu nur sehn.
Herrmann Püttmann.

Franz war aufgeregt aber glücklich von dannen gegangen. Pauline hatte ihn nicht von sich verbannt, wie er zuweilen gewähnt hatte, sie war nicht krank, wie man sich bemühte ihn glauben zu machen; sie war sogar stark genug, sich dem Willen derer, welche sie zunächst umgaben und welche, wie es nur zu klar war, sich bemühten, ihre Bestrebungen des Wohlthuns zu hemmen, ihnen Schranken zu errichten zu widersetzen. Das gab ihm hohe Freude. Er hatte sie verloren geglaubt für sich, verloren für all die Armen, welche das Schicksal zu seinen Brüdern77 und Schwestern gemacht hatte, verloren für sie, welche bei ihrem Nahen die Erscheinung eines Engels segnen sollten.

Und es war nicht so! Sie war nicht ihm verloren, nicht ihnen! Sie hatte ihm auf’s Neue die Hand zu diesem schönen Bunde gegeben.

Wer weiß? sagte er sich hoffend. Sie ist noch nicht lange hier und schon sind viele Thränen getrocknet worden und Manches ist besser geworden, als es jemals war. wer weiß, ob nicht, wenn sie länger hier weilt, noch bessere Zeiten kommen! Ob sie nicht auch ihren Vater zu milderen Gesinnungen zu stimmen vermag und nicht nur die Wunden heilt, die seine Härte schlägt, sondern seine Härte schwinden macht, daß Alles besser wird!

Als er eben so zukunftsfreudig vor sich hinging, kam Wilhelm ihm entgegen. Er rief:

Da hat man mir einen Brief an Dich gegeben es ist nicht die Hand Deiner Brüder auf der Aufschrift auch lautet sie nicht wie gewöhnlich, an den Fabrikarbeiter Franz Thalheim, sondern dem Namen ist noch beigefügt: Verfasser der Erzählungen aus dem armen Volke. Sieh einmal, wie schön sich das ausnimmt; ich glaube, Du hast einen Namen nun man merkt es doch, daß Deine Eltern gute Bürgersleute waren und Du nicht im Straßenkoth geboren bist, wie unser einer.

78

Franz erröthete, als er einen Blick auf die Aufschrift geworfen, die ihm allerdings sehr schmeichelhaft erschien. Es ist zu dunkel zum Lesen hier, sagte er, komm mit in meine Kammer, wir zünden die Lampe an und lesen zusammen.

Sie traten in das Haus und stiegen hinauf in die kleine Kammer, welche Franz bewohnte. Bald brannte die kleine Lampe und erhellte düster und spärlich den elenden Raum. Franz hielt den Brief nahe an die düstre Flamme, öffnete das dunkle Siegel und sah zuerst auf der letzten Seite nach der Unterschrift. Es war unterschrieben: Mehrere gleichgesinnte Fabrikarbeiter. Ort und Datum waren nicht angegeben.

Das ist seltsam, sagte Franz, und das Schreiben ist so lang.

Weißt Du was? sagte Wilhelm. Du hast gewiß davon gehört, wie es seit einiger Zeit unter denen, welche sich um die Staatswirthschaft bekümmern, oder doch darum bekümmern mögten, Mode geworden ist, an Diejenigen, welche in diesen Angelegenheiten einflußreiche Schritte gethan haben, oder thun könnten, ein Schreiben zu richten, welches von Einem verfaßt und von Vielen unterschrieben wird.

Ja, man nennt das eine Adresse, sagte Franz.

Nun sieh! Vielleicht haben diese Fabrikarbeiter in79 Bezug auf Dein Buch, das sie doch auf der Aufschrift erwähnten, eine solche beifällige Adresse an Dich verfaßt. Wenn sie auch ihre Namen darunter gesetzt hätten, so wären uns dieselben doch unbekannt gewesen und deshalb ist es gleich, wenn sie es unterlassen haben. Das ändert in der Hauptsache ja doch Nichts.

Nun lass uns lesen, sagte Franz, Deine Ansicht gefällt mir wohl, aber ich weiß nicht, ob Du Recht hast ich kann nicht glauben, daß man mir eine solche Ehre erweisen würde.

Ei, alle Donnerwetter! rief Wilhelm heftig, ich wüßte nicht, warum Jemand Dir nicht dieselbe Ehre erweisen könnte, wie Denen, welche oft unnützere Bücher schreiben, als Du und weniger Herz für die Sache haben, welche sie führen wollen, als Du.

Franz seufzte und sagte: Wir wollen doch lieber lesen. Wilhelm sah über seine Achsel hinweg mit in das Papier.

Das Schreiben begann:

Lieber Franz Thalheim! Wir nennen Dich Du, weil wir alle Menschen. Du nennen, die wir in allgemeiner Liebesvereinigung als unsere Brüder anerkennen. Dich nennen wir aber ganz besonders mit Stolz und Freude Kamerad, denn Du hast es öffentlich ausgesprochen, daß Du dem armen Volke angehörst, für das Du leben willst80 bis zu Deinem Tode. Wir danken Dir, daß Du Worte gefunden hast, das Elend Deiner Mitbrüder in ergreifenden Geschichten vor aller Welt zu schildern.

Wir sind Dir für dies und alles Andere sehr dankbar, was Du bisher im Dienst unserer guten Sache gethan hast, aber um so mehr hoffen wir auch, daß Du nicht dabei stehen bleiben wirst, den Menschen zu zeigen, daß dieses Unglück besteht sondern daß Du auch auf diesem Wege weiter schreiten und sagen wirst, wodurch diesem Unheil allein zu helfen.

Franz seufzte und sagte, ehe er weiter las: Es wird diese gleichgesinnten Brüder freuen, wenn sie mein zweites Buch sehen werden: die Rechte des Armen den Verzweifelnden gewidmet. Es enthält manchen Vorschlag, wie dem Uebel, wenn nicht gänzlich abzuhelfen, doch zu steuern wäre aber freilich wenn kein Fabrikbesitzer darauf eingeht

Lies nur weiter, sagte Wilhelm gespannt.

Franz las: Wir wollen Dir in kurzen Abschnitten einige von den Ansichten mittheilen, welche wir zu den unsrigen gemacht haben. Männer, hochgebildete und gelehrte, welche es aber gut mit dem armen Volke meinen, haben das ausgesprochen, was wir Dir jetzt in kurzen Bruchstücken zu lesen geben, damit Du zu derselben Einsicht über unsere Gegenwart und Zukunft kommst, wie81 wir und danach Dein Streben und Wirken regeln lernst.

In dem Brief waren nun einige Stellen aus communistischen Schriften angezogen, in welchen die Grundlehren des Communismus mit feuriger Beredtsamkeit und scharfsinniger Dialektik entwickelt waren. Mit glänzenden Farben ward dies System als das einzige angepriesen, in welchem allein das Heil der gesammten Menschheit zu finden sei ja, der als zu erwartend und unausbleiblich geschilderte Sieg des Communismus ward geradezu als eine historische Nothwendigkeit, als eine zweite Welterlösung dargestellt, welcher die in Irrthum und Unnatur befangene Menschheit bedürftig sei.

Franz Thalheim rief unter dem Lesen einmal über das andere dazwischen, das ist Wahnsinn das verstehe ich nicht! aber Wilhelm sagte fieberhaft aufgeregt:

Ich bitte Dich, lies weiter ich versteh es auch noch nicht aber es klingt wie lauter Musik vor meinen Ohren und klingt so in meinem Herzen wieder!

Sie lasen weiter und immer verführerischer klangen ihnen die neuen Auffassungen von Menschenrecht und Lebenswonne, welche sie aus dem Briefe gewannen.

Wilhelm rief wie bezaubert: So Etwas hab ich in meinem Leben noch nicht gelesen mir schwindelt! Vor meinen Blicken geht eine neue Welt auf bei diesen großen,82 herrlichen Worten ich habe wohl manch Mal schon gedacht, daß doch dies ganze Leben, welches jetzt alle Menschen führen, die Einen gezwungen, die Andern freiwillig eine Tollheit ist, eine Niederträchtigkeit aber ich habe es noch niemals gesagt, nun sagen es Andere statt meiner!

Franz verwieß ihm seine Rede und sagte ruhiger: Diese Leute singen das Lied der Armuth aus einem ganz anderm Tone, als man es zu hören gewohnt aus einem anderm Tone, als gut ist. Es kann Niemand froh werden, der es so hört. Es ist als wenn Jemand zu einem Krüppel sagte: Du könntest ein schöner Mensch sein, wenn Du nicht als ein Krüppel zur Welt gekommen wärest er kann es doch nicht ändern oder zu einem Menschen: Du bist eigentlich ein Engel, aber in eine irdische Gestalt gezwungen, die Deiner höheren Entfaltung hinderlich ist. Wie soll der Krüppel, wie der Mensch das ändern können?

Erst hatte das Schreiben von den Prinzipien des Communismus gehandelt und davon begriff der gesunde Verstand der schlichten Arbeiter nicht das Geringste. Franz hatte Lust, diese Theorien geradezu für hohle Hirngespinste müssiger Köpfe zu erklären, welche, selbst in einer spitzfindigen Philosophie gefangen und von ihr irre geleitet, es dennoch wagten, die Philosophie zu verhöhnen nur83 Wilhelm ließ sich von diesen ihm, wie er selbst sagte, unverständlichen Redensarten blenden und bestechen. Aber in dem weitern Verlauf der Schrift ward die Sache des Communismus von der praktischen, von der unmittelbar in’s Leben greifenden Seite angefaßt, und endlich schloß der ganze Brief mit einem Aufruf an alle Arme, namentlich alle arme Arbeiter zu innigster Vereinigung, damit es durch sie gelingen möge, die Reichen und Besitzenden all ihrer Vortheile über die sogenannten untern Schichten der Gesellschaft verlustig zu ma chen.

Der Schluß des Schreibens lautete:

Auch Dich, Franz Thalheim, rufen wir auf, Deine und unsere unglücklichen Brüder darauf aufmerksam zu machen, daß die Zeit einer neuen Ordnung der Dinge nahe herbeigekommen ist. Du hast die Kraft dazu, unser Werk unter Deinen Genossen zu fördern so fördere es unter Deinen Mitarbeitern in der Fabrik durch erklärende und überzeugende Reden, fördre es durch Deine Schriften in weiteren Kreisen. Sehen wir, daß Du dieß thun willst und daß es Dein eifrigstes Bestreben ist den unglücklichen Millionen Deiner Brüder zu helfen so wirst Du bald wieder von uns hören, so werden wir gemeinschaftlich berathen können, auf was wir Dich jetzt nur durch einzelne, bruchstückweise Erklärungen aufmerksam gemacht haben!

84

Sei uns herzlich gegrüßt, wenn Du wirklich einer der Unsern bist und grüße alle Deine Kameraden, die es auch sind.

Der Brief war hier zu Ende.

Franz starrte vor sich nieder und stand regungslos.

Die Lampe flackerte ungewiß auf, dann ward sie trüber und trüber.

Draußen fuhr der Wagen des Fabrikherrn mit vier munter wiehernden Pferden an dem kleinen Haus, in welchem Franz weilte, rasselnd vorbei, daß die Scheiben zitternd, klagend und grollend zugleich in den lockern Fensterrahmen klirrten.

Hundert Mal schon mogte dieser Wagen so vorbeigerasselt sein, wie jetzt und die beiden Arbeiter hatten nicht darauf geachtet sie hatten nicht darauf geachtet, wenn eben so oft schon die Scheiben unruhig mit einander gemurmelt hatten jetzt horchten sie Beide auf und riefen Beide zugleich Wilhelm mit wildem Gelächter des Hasses, Franz unendlich schmerzlich bewegt:

Da fährt er hin!

Die Laternen seines Wagens blitzen durch den hereinbrechenden Abend, sagte Wilhelm, und so fährt er hin durch die Dunkelheit. Jetzt auf einmal begreif ich Alles.

Wilhemo Augen glänzten im dunklen Feuer, die Adern85 auf seiner Stirn schwollen, seine ganze Gestalt schien größer zu werden, indem er sich hoch aufrichtete. Mit feierlicher, gehobener Stimme sagte er:

Ja, die Zeit ist gekommen, wo die Armen ihre Rechte wiederfordern dürfen! Daß ich wüßte, wer diese erhebenden Worte geschrieben, diese herrliche Verkündigung eines neuen Evangeliums! Daß ich hineilen könnte zu diesen armen Brüdern, welche zu solcher Erkenntniß gelangt sind, daß ich ihnen sagen könnte: wir wollen zusammen stehen, zusammen handeln!

Franz nahm seine Hand und sah ihn an. Du auch, Bruder, Du auch? sagte er erschrocken. Was faßt Dich an? Beginnt schon das Gift zu wirken, welches aus diesem Schreiben uns entgegenhaucht? Läßt sich Dein Verstand so bald umnebeln, daß Du schon jetzt zu taumeln beginnst? Ach! diese Worte bethören Dich, diese schlimmen Worte, welche verführerisch klingen, wie Worte des Teufels.

Lass den Teufel aus dem Spiel! lachte Wilhelm, mahne mich nicht an die elenden Mährchen! Vor hohlen Schrecknissen zu erzittern habe ich aufgehört die armen Leute brauchen wahrhaftig nicht erst an eine Hölle da drüben zu glauben.

Wilhelm, lästere nicht! mahnte Franz. Ich hätte nicht geglaubt, daß dies Schreiben voller Trugschlüsse und86 Widersprüche Dich so packen, so überwältigen könnte! Es klingt freilich schön, wenn sie sagen: die Liebe, die allgemeine Menschenliebe, welche in den Himmel geflohen ist, als die kindische, junge Erde sie noch nicht zu fassen vermogte, wird ihren Wohnsitz wieder an dem Orte, wo sie geboren und genährt ward, in der Menschen Brust haben. Wir werden unser wahres Leben nicht mehr vergebens außer und über uns suchen wir werden es in uns tragen, in uns selbst und werden es so wiederfinden in den Andern, in dem Verbande der ganzen Menschheit! Ach es klingt wohl sehr schön, wenn man so Etwas liest aber es klingt auch nur so es ist ein tönendes Erz, es sind Worte ohne Sinn und Verstand. Kannst Du Dir eine menschliche Gesellschaft denken, in welcher Alle zufrieden, Alle in harmonischer Gleichheit leben? Du mußt das verneinen, Du kannst Dir nicht einmal eine Vorstellung von einem solchen Zustand machen und willst doch Schritte thun, ihn heraufführen zu helfen? Und jetzt willst Du sie thun und wie? Können ein paar Menschen und noch dazu arme, ausgestoßene, zum Theil verwilderte Menschen das Bestehende umstürzen, und eine neue Ordnung der Dinge heraufführen? Verändert können, müssen unsere Zustände werden aber nicht durch einen Umsturz aller gegebenen Verhältnisse, sondern durch deren vernünftige Weiterentwicklung und Fortbildung. Ach Wilhelm, ich87 hätte Dich für verständiger gehalten, hätte nimmer geglaubt, daß Du dem Verführer ein so williges Ohr liehest!

Verführer nein, Erretter! Das ist nicht die Sprache der Heuchelei, welche man sonst nur zu hören gewohnt ist es ist die Stimme der Wahrheit, welche mich mächtig ergreift. Gieb ihn her, diesen Brief ich eile damit in die Schenke, ich lese ihn vor in unserm Kreis und man wird mir mit Jubelgeschrei zuhören komm mit gieb den Brief!

Bist Du rasend? rief Franz abwehrend. Nimmermehr! Komm zu Dir! Bedenke, welches Unheil Du anrichten würdest, wenn sie den frevelhaften Worten dieses Briefes Beifall riefen, wenn Dein erhitztes Gemüth sie zu gleicher blinder Hitze fortrisse, Du setztest Alles auf’s Spiel!

Du hast Recht, daß Du zur Vorsicht räthst, sagte Wilhelm gefaßter ja, sie könnten Alles verderben, und meine eigne frohe Wuth könnte jetzt vernichten, was wir erst im Dunkeln bauen müssen Du bist verständiger ich werde noch Nichts sagen, aber ich muß hinaus in’s Freie mir wirbelts im Hirne mir ist, als wollt es mir die Brust zersprengen mir ist, als hätt ich in meinen Armen Kraft, eine Welt ihrem gewohnten Gang zu entreißen und Alles zu zertrümmern. Leb wohl! oder gehst Du mit?

88

Franz sagte: Ich bleibe hier. Aber Du versprichst mir, von diesem Briefe keinem etwas zu sagen? Du versprichst, wenigstens jetzt und bis Du Die selbst darüber deutlicher geworden, von diesen Gedanken nicht zu reden, welche dies Schreiben in Dir erweckt hat? Um Deiner selbst willen um der guten Sache willen gleichviel, ob die Sache die gute sei, welche ich dafür halte, oder diejenige, welche Du dafür hältst versprich es, jetzt nicht von diesen Dingen zu reden!

Ja, ich versprech es! Ein Wort ein Mann! sagte Wilhelm ernst.

Es ist gut, ich glaube Dir versetzte Franz. Gute Nacht!

Gute Nacht wenn Du jetzt schlafen kannst, sagte Wilhelm mit wilder Stimme, die halb wie Gelächter klang, und ging fort.

Franz war allein.

Er setzte sich auf den hölzernen Schemel vor den Tisch, auf welchem die Lampe stand und das verhängnißvolle Schreiben lag.

Ich will es jetzt nicht noch ein Mal lesen, sagte er zu sich und schob es in den Tischkasten, in welchem seine Papiere und Schreibereien lagen. Dann verlöschte er die Lampe, sie sollte nicht umsonst brennen. Das Oel ist theuer und ein armer Arbeiter muß das bedenken. Die89 Julinacht draußen war hell, durch das kleine offen stehende Fenster der Kammer schauten die Sterne hell zu ihm herein, sie leuchteten ihm genug zu seinen verworrenen Träumereien. Er hatte seinen Ellenbogen auf den Tisch gestemmt, das Haupt in die Hand gestützt. So sann er. Bald rieselte es wie eisiger Schauer über seine ganze Haut, bald fühlte er sein Herz, seine Schläfe, seine Adern heftig pochen dann glitt eine große Thräne langsam, sehr langsam und sehr heiß über seine bleiche Wange.

Er flüsterte leise für sich. Solch stillgeführtes Selbstgespräch allein mit sich oder mit seinem Gott war für ihn eine Art von Bedürfniß geworden. Seine Genossen verstanden ihn ja nicht nicht einmal Wilhelm, das hatte er erst jetzt wieder erfahren. Ein Wesen gab es freilich, das ihn vielleicht verstanden hätte aber von all diesen Dingen wollte er ja nicht einmal zu der schweigend verehrten Geliebten sprechen, selbst wenn er es gekonnt hätte.

Jetzt sprach er zu sich:

Und was haben sie denn nun da Anderes gesagt und geschrieben, daß es mich so gewaltsam bewegt hat? Waren es nicht hier und da meine eigenen Worte, was ich da las? und doch wirbelt mir das Hirn, brennt meine Stirn mir ist, als sei ich plötzlich fieberheiß hinausgestoßen90 in eine große Nacht und läge da ringend in Fieberphantasieen mit tausend bleichen, wilden und wesenlosen Spukgespenstern, die ich nicht zu verscheuchen vermögte, die immer wieder sich zu mir herandrängten in ihre wirbelnden Kreise, mich mit fortzureißen, daß ich selbst nicht mehr weiß, wo aus, noch ein. Ich zürnte Wilhelm, daß er den verführerischen Stimmen dieses Schreibens, die mir doch so wahnwitzig, ungerecht und gotteslästerlich sind, ein so williges Ohr lieh, daß er sich ganz von ihnen bethören ließ und doch hallten sie auch mir immer wieder, wie harmonisches Getön in den Ohren, in der Seele und wollen mich auch umstricken und überwältigen.

Es ist fast vergebens, daß ich sage: hebe Dich von mir, Versucher! Er will nicht gehen es ist als habe meine Seele keine Macht mehr über ihn!

Er lehnte sich wie erschöpft an die Wand zurück und fuhr fort: Das sind auch die Versuchungen der Armen, von denen die Reichen nichts wissen, sie werden wohl auch oft hart versucht von ihren Schicksalen, von ihren Wünschen und selbst aus ihrer eklen Uebersättigung an den Bedürfnissen des lüsternen Lebens, selbst durch ihre Befriedigung, ihre Uebersättigung entspringt ihnen eine neue Quelle der Versuchung aber wie unerschöpflich dagegen ist doch die, welche zugleich mit dem Leben des Armen entquillt und es nimmer verlassend durchfluthet.

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Den Armen quält der Hunger, der Frost, der Mangel an Allem, was zu den Lebensbedürfnissen gehört und sich von irgend einer dieser Qualen zu befreien, weiß er dein gesetzliches Mittel. Denn wie er auch arbeiten mag seine Arbeit wird so gering bezahlt, daß sie nimmer jene schlimmen Begleiter des Armen verbannen kann, welche von dem Augenblick an, als er auf hartem schlechten Lager geboren wird, ihn mit schauerlicher Treue auf allen seinen Wegen begleiten aber am Schlimmsten ist doch der Versucher, der zu dem Armen tritt und ihn höhnisch fragt: warum bist Du arm? Habe den Muth, es nicht mehr sein zu wollen und Du bist es nicht mehr und Tausende Deiner Brüder sind es nicht mehr aber diesen Muth zu haben, ist ein Verbrechen das sieht wohl der Arme ein und schaudert vor dem Verbrechen zurück er will es nicht begehen, er kann standhaft bleiben er kann den Versucher immer sieghaft bekämpfen, aber er kann ihn nicht vernichten er kann den Feind seiner Ruhe nicht verbieten, wiederzukommen.

Wenn einst diese Versuchungen aufhören könnten wenn eine in Liebe und Gleichheit verbrüderte Gesellschaft sie unmöglich machte? Wenn alle Menschen es vermöchten in heiliger Eintracht neben einander zu leben, daß nicht die Einen darben müßten, wo die Andern mitten im Uebersluß sich noch unbefriedigt fühlen?

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Nachdem er eine Weile still und sinnend am Fenster gestanden, stumm in die Nacht