JUGENDERINNERUNGEN VON GUSTAV PARTHEY.
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Vater Parthey. Grosvater Nicolai | 1 |
Fritz. Frisur und Zopf | 20 |
Haus in der Brüderstraße. Probstei. Nicolais Hauswesen | 32 |
Krieg von 1806. Napoléon I. in Berlin. Schule von Hartung | 66 |
Herzogin von Kurland in Berlin | 95 |
Lehmschloß. Brand der Petrikirche | 108 |
Nicolais Tod. Umzug in den ersten Stock | 148 |
Graues Kloster. Nicolais Bibliothek | 166 |
Jugendfreunde. Turnplatz. Theodor Körner | 186 |
Pathe Göckingk | 204 |
Grosvater Eichmann | 212 |
Tante Jettchen | 248 |
Politische Ereignisse bis 1812 | 262 |
Reise nach Löbichau und Dresden 1812 | 287 |
Französische Einquartirung 1812 | 307 |
Russischer Feldzug 1812 | 320 |
Befreiungskriege 1813. 1814 | 334 |
Nach dem Kriege | 431 |
Die nachfolgenden Blätter habe ich auf den Wunsch meiner beiden lieben Kinder, Gustav und Veronika niedergeschrieben, die meinen mündlichen Mittheilungen so oft mit liebevoller Theilnahme gefolgt sind. Mögen sie beim Durchlesen der im Zusammenhange aufgesetzten Erzählungen meiner mit Freude gedenken.
Da ich nicht annehmen darf, daß diese Hefte einem größeren Kreise Interesse gewähren können, so habe ich sie als Handschrift für Freunde abdrucken lassen; die älteren Jugendgefährten werden darin manche bekannte Persönlichkeit wiederfinden, die jüngeren Genossen werden vielleicht zur Betrachtung einer vergangenen thatenreichen Zeit aufgefordert, die ihrem Gesichtskreise längst entrückt ist.
Die Begebenheiten eines äußerlich still dahingeflossenen Lebens können nur dann Antheil erregen, wenn sie an eine große Zeit sich anknüpfen lassen. Dies war für meine Jugend die Epoche der Freiheitskriege von 1813 bis 1815. Ihr Glanz reichtvi zwar bis in mein spätes Alter hinauf, aber ihr Ruhm wird fast überstrahlt von den frischen Heldenthaten unseres Volkes 1866 bis 1871.
Die inneren Erlebnisse, Kämpfe, Umwandlungen und Abklärungen der Menschenseele entziehn sich jeder Darstellung, die nicht an eine Selbstbespiegelung anstreift. Daher wird von subjektiven Empfindungen so wenig als möglich bei mir die Rede sein. Bei einem rastlos Vorwärtsstrebenden bleiben ohnehin die inneren Verpuppungen und allmäligen Entwicklungen dem eignen Verstande und Gefühle verborgen.
Alles was dem Herzen an Entschließungen und Vorsätzen, an Angriffen, Niederlagen und Siegen zugetheilt wird, was es an Schmerzen duldet und an Entzückungen genießt, das zeigt sich mehr in der Gesamtwirkung auf den Karakter, als daß es sich in Worte fassen ließe.
Meine Aufzeichnungen entstanden in diesen letzten Jahren, so oft Zeit und Lust es erlaubten. Es wird hin und wieder auf Vorkomnisse Bezug genommen, die von neueren Ereignissen bereits überholt sind. Ich habe es vorgezogen, durch eingeklammerte Jahreszahlen die Zeit der Abfassung anzugeben, als schließlich alles auf das letzte Niveau zu reduziren.
Berlin, im März 1871. G. Parthey
Geboren bin ich in Berlin am 27. Okt. 1798, in der Brüderstraße, im Hause meines mütterlichen Grosvaters Friedrich Nicolai. Die Taufe vollzog der Probst Teller, Nicolais genauer Freund und naher Nachbar; Pathen waren unter andern der Dichter von Göckingk und Frau Elisa von der Recke. Ich war das erste Kind meiner Aeltern, und kam für todt zur Welt; erst durch vieles Rütteln und Schlagen wurde ich zum Leben gebracht. Nach zwei Jahren folgte eine Tochter Lilli; darauf noch eine Tochter Sophie, welche im ersten Jahre starb.
Mein Vater, welcher damals mit dem Titel eines Hofrathes im General-Finanzdirektorium arbeitete, war bei seiner Verheirathung bereits 52 Jahr alt, und hatte ein sehr bewegtes Leben geführt. Als der älteste Sohn eines wohlhabenden Leinewebers in dem sächsischen Gebirgstädtchen Frankenberg, hatte er das Gewerbe seines Vaters ergriffen, hatte sein Meisterstück gemacht, und war in die Zunft der Zeug - und Leineweber eingetreten. Allein im 24. Jahre fühlte er, daß dieser Lebensberuf ihm nicht genügen werde, vorzüglich deshalb, weil er in seiner kleinen Vaterstadt zu wenig Gelegenheit fand, seinen großen Hang2 zur Musik zu befriedigen. Als er das väterliche Haus verließ, gab ihm sein Vater folgenden Spruch mit in die Welt: wo die Leute essen und guter Dinge sind, da sollt du hinzugehn, wo sie Geld zählen und sich zanken, da sollt du hinweggehn.
Mein Vater kam nach Leipzig, wo er schon früher während der Messen einige Bekantschaften angeknüpft. Er ernährte sich einige Zeit vom Notenschreiben und Stundengeben, lernte für sich französisch und italiänisch und suchte sich sonst auszubilden. Der Kapellmeister Hiller wurde auf sein nicht gewöhnliches musikalisches Talent aufmerksam, und empfahl ihn im Jahre 1774 als Musik - und Hauslehrer an den Grafen von Medem in Kurland. Eine Reise von Leipzig nach Mitau war damals ein weit größeres Wagstück als jetzt etwa eine Weltumsegelung. Die Briefe meines Vaters an seine Verwandten, welche zum Theil noch vorhanden sind, geben davon ein deutliches Zeugniß.
Im Hause des Grafen von Medem fand mein Vater die freundlichste Aufnahme und wurde bald der Liebling der ganzen Familie. Die älteste Tochter Charlotte, an den Freiherrn von der Recke nicht glücklich verheirathet, galt für die schönste Frau ihrer Umgebung. Sie vertauschte später, als sie nach Deutschland ging, den Namen Charlotte mit dem mehr poetischen Elisa. Sie hat sich durch die Enthüllungen über Cagliostro, durch die Italiänische Reise und andre Schriften einen ehrenvollen Platz in der deutschen Litteratur erworben. Mein Vater schloß damals mit ihr eine bis an sein Lebensende dauernde Freundschaft.
Dorothea, die jüngere Tochter des Grafen von Medem, deren Unterricht mein Vater hauptsächlich zu leiten hatte,3 zeigte viel Liebe zur Musik, und ward darin von ihrem Lehrer auf das kräftigste unterstützt. Wenige Jahre darauf heirathete sie den letzten Herzog von Kurland, und erhob dadurch ihre Familie zur ersten des Landes. Auch mit der Herzogin, wie mit ihrer älteren Schwester, knüpfte mein Vater ein festes Band der Freundschaft.
Nachdem mein Vater die Erziehung der Gräfin Dorothea vollendet, machte ihr ältester Bruder Friedrich eine Reise nach Deutschland und Frankreich, auf welcher mein Vater ihn begleitete. Sie kamen nur bis Strasburg, wo der Graf in Folge einer Erkältung nach längerer Krankheit am 11. Juni 1778 kaum 20 Jahr alt starb. Dies Ereigniß machte in jenen glücklichen Friedenszeiten ein so großes Aufsehn, daß der Pfarrer Blessig in Strasburg ein besonderes Buch darüber schrieb: ‹ Leben des Grafen Johann Friedrich von Medem ›. 2 Theile. Strasburg 1792.
Aus diesem Werke geht hervor, daß der Graf von Medem kein gewöhnlicher Mensch gewesen war. Ein kurländischer Edelmann, dem die alten Sprachen geläufig sind, der den Xenophon und Virgil, den Horaz und Quintilian zu seiner Reiselektüre macht, der in einem Briefe sagt‘„ mit der Zeit hoffe ich auch Vater Homer kennen zu lernen “’ ((Blessig 1, 20)), der im 19. Jahre seine „ Gedanken über verschiedene philosophische, moralische und religiöse Gegenstände “, über den wahren Begriff der Freiheit, der Tugend, über Unsterblichkeit der Seele, über Zuverlässigkeit der Bibel und andre Materien zu Papier bringt, der dem Spiele gänzlich abgeneigt ist – ein solcher Mann konnte nicht zu den alltäglichen Erscheinungen gehören, und verdiente wohl ein ausführliches biographisches Ehrengedächtniß. 4
Blessigs Buch wurde im Nicolaischen Hause in Berlin viel gelesen. Aus den darin abgedruckten Briefen meines Vaters faßte Nicolais älteste Tochter Wilhelmine bereits eine stille Neigung zu ihm, ohne ihn je gesehn zu haben. Als er daher nach mehreren Jahren Berlin besuchte, und durch Göckingk bei Nicolai eingeführt wurde, erschien er kaum als ein Fremder.
Nicolai genoß in jener Zeit als Buchhändler und Schriftsteller eines großen Rufes; sein Haus gehörte zu den ersten bürgerlichen Vereinigungspunkten. Er leitete nicht bloß die Liebhaberkonzerte im Korsikaschen Saale, sondern veranstaltete auch bei sich größere Musikaufführungen, in denen das neuste und beste zum Vortrag kam. Mein Vater als bedeutender Klavier - und Flötenvirtuos war ihm sehr willkommen: Es wurde ein eben erschienenes Konzert von Mozart aufgelegt, in welchem mein Vater zwei Flötensoli meisterhaft vom Blatte spielte. Nicolai war so entzückt davon, daß er ihn nach der Aufführung umarmte und küßte. An eine nähere Verbindung wurde aber noch nicht gedacht. Wie konnte mein Vater, als Mann ohne Stand und Vermögen darauf Ansprüche machen, sich um die Tochter eines so reichen und angesehenen Hauses zu bewerben?
Doch bei zunehmender gegenseitiger Neigung wurde diese Schwierigkeit endlich beseitigt. Göckingk besaß als Geheimer Ober-Finanzrath einen bedeutenden Einfluß im Ministerium. Durch ihn erhielt mein Vater eine auskömmliche Stelle im General-Finanzdirektorium. Er konnte sich nun in aller Form um die längst geliebte Wilhelmine bewerben. Die Hochzeit ward am 19. Juli 1797 in dem Gartenhause in der Lehmgasse No. 18 gefeiert. Eine5 kleine Parterrewohnung im Nicolaischen Stadthause, deren Fenster theils in den Hof, theils in den dichtbewachsenen, von hohen Mauern umgebenen Hausgarten gingen, wurde fortan der Sitz des glücklichsten Familienlebens. Mein Vater wandte alles an, um dem alternden, bereits verwittweten Schwiegervater das Leben so angenehm als möglich zu machen. Dies wurde von dem letzteren um so mehr empfunden, als er in seiner eignen Familie viel herbes erfahren hatte.
Sein Vater Christoph Gottlieb Nicolai lernte bei Gottfried Zimmermann in Wittenberg die Buchhandlung und heirathete die Tochter seines Principals. Als Mitgift erhielt er eine kleine Filialbuchhandlung in Berlin, welches am Ende des 17. Jahrhunderts in Bezug auf litterarischen Verkehr gegen die hochberühmte Universität Wittenberg weit zurückstand. Zimmermann genoß bei seinen Mitbürgern eines großen Ansehns; es giebt mehrere Kupferstiche von ihm, deren einer folgende Unterschrift trägt:
Gottfried Zimmermann. Raths Verwandter zu Wittenberg, wie auch daselbst und in Zerbst Privilegirter Buchhändler.
Wer seinen Gott verehrt, auf seinen Jesum bauet, Wer seinem Nächsten dient, auf das, was recht ist, schauet, Der scheuet Niemand nicht, ihm hat Niemand nichts an, Du fragest, wer ist der? der selge Zimmermann.
Gebohr. A. 1670 d. 7. May. Gestorb. A. 1723 d. 17. Aug.
Von den 8 Kindern meines Urgrosvaters war Friedrich Christoph Nicolai das jüngste. Er zeigte von Jugend auf eine große Neigung zur Schriftstellerei, und beschloß, als er herangewachsen und der Vater gestorben war, von den6 Zinsen seines kleinen Erbtheiles und von seiner Feder zu leben. Ein älterer Bruder hatte die vom Vater hinterlassene Buchhandlung übernommen, starb aber nach wenigen Jahren. Ein andrer Bruder lebte als gefeierter Professor der Theologie in Frankfurt a. d. Oder. Er war ein Freund Lessings, und wird in den Streitigkeiten mit Lange öfter genannt. Dieser konnte die Buchhandlung nicht fortführen: denn unter den damaligen Verhältnissen wäre es ein starker Schritt rückwärts gewesen, wenn ein Universitätsprofessor das Katheder mit dem Schreibpulte des Geschäftsmannes vertauscht hätte.
Da entschloß sich Friedrich Nicolai das väterliche Geschäft fortzusetzen. Er begann damit, daß er den größten Theil des alten werthvollen Lagers zu Gelde machte, und mit dem dadurch erhaltenen Kapitale weiter arbeitete. Was er unternahm gedieh. Im Jahre 1765 gründete er die allgemeine Deutsche Bibliothek, die er bis zum Jahre 1805 durch 268 Bände fortführte. Während des siebenjährigen Krieges verheirathete er sich mit Eusebia Macaria Schaarschmidt, und hatte mit ihr acht Kinder.
Seine Wirksamkeit im Fache der Kritik gehört der Litteraturgeschichte an. Daß er die Morgendämmerung der deutschen Litteratur für ein Gewitter hielt, wird ihm immer zum Vorwurfe gemacht werden; daß er überall ein redliches und aufrichtiges Streben einsetzte für das, was er als Recht ansah, wird auch von seinen Feinden anerkannt. Sein fast vollständig erhaltener Briefwechsel in 92 Foliobänden giebt ein Zeugniß seiner unermüdlichen Thätigkeit. Seine Privatbibliothek umfaßte bei seinem Tode über 16000 Bände, unter denen die grösten bibliographischen Seltenheiten. Seine Sammlung von Bild -7 nissen von Gelehrten zählt gegen 6800 Blätter. Die Musikaliensammlung enthielt Schätze von älteren Sachen. Diese und ähnliche Liebhabereien wurden alle mit gleicher Sorgfalt und Ordnung im wissenschaftlichen Geiste gepflegt, so daß sein Freund Engel einmal sagte: andre Leute haben nur ein Steckenpferd, aber Nicolai hat einen ganzen Stall voll.
Im Jahre 1785 feierte Nicolai seine silberne Hochzeit an der Seite seiner Frau und im Kreise von 5 blühenden Kindern. Dies Ereigniß wurde nicht nur durch ein angenehmes Familienbild gefeiert, dem Frau Theerbusch, eine gesuchte Portraitmalerin, ihr Talent widmete, sondern die Freunde des Hauses, Ramler an der Spitze, ließen einen „ Nicolaischen Familienkalender “drucken, von dem sich einige Exemplare erhalten haben. Es sind darin auf humoristische Weise allerlei Ereignisse und Vorfälle verzeichnet, deren Zusammenhang und Bedeutung uns zum Theile entgeht, die aber damals gewiß nicht verfehlten, einen heiteren Eindruck zu machen. Göckingk giebt in seinem Leben Nicolais p. 85 eine Liste von 71 Freunden, die in jenem Kalender verzeichnet sind.
Ueber die silberne Hochzeit ward ein besonderes Aktenheft angelegt, worin die verschiedenen, jetzt oft unverständlichen Gedichte und spashaften Glückwünsche von Gedike, dem Grafen von Veitheim u. a., ja selbst die scherzhaften Devisen der Bonbonpapierchen gesammelt sind, die von dem zweiten Sohne Karl August Nicolai herrührten. Die Hochzeittafel hatte 99 Gedecke; von den anwesenden Gästen nennen wir folgende: Biester, Dohm, Gedike, Gleim, Klein, Meil, Mösen, Oelrichs, Oesfeld, Ramler, Teller, Theden, Wölner, lauter Namen, die in der Mitte8 und am Ende des vorigen Jahrhunderts in Berlin einen guten Klang hatten.
Der schöne Kreis, welcher bei der silbernen Hochzeit um Nicolai versammelt war, sollte sich nur zu bald lichten.
Der älteste Sohn Samuel, in der Buchhandlung seines Vaters nach Wunsch und Neigung beschäftigt, in kinderloser aber glücklicher Ehe lebend mit der Tochter des berühmten Rechtsgelehrten Klein in Halle, machte in einem Anfalle von Schwermuth seinem Leben ein Ende (1790). Er war von Jugend auf zum Trübsinne geneigt. Als man nach seinem Tode seine Papiere durchsah und ordnete, fand sich in dem Tagebuche aus seinem 16. Jahre eine Stelle, ungefähr folgenden Inhalts: wenn die Last des Lebens mich zu schwer drückt, so kenne ich ja ein Mittel um mich davon zu befreien.
Wenige Jahre darauf (1793) folgte ihm seine Mutter. Im Vollgefühle der Gesundheit, wollte sie eben festlich geschmückt in eine Gesellschaft sich begeben, als sie an der Schwelle ihres Schlafzimmers vom Schlage getroffen plötzlich niedersank, um nicht wieder aufzustehn.
Der zweite Sohn Karl August, ein geistreicher und aufgeweckter Kopf, der Liebling seiner Mutter, verstand es nicht, mit seinen physischen Kräften gehörig Haus zu halten. Der herrischen Gemüthsart des Vaters wußte er sich nicht zu bequemen. Durch den versöhnlichen Geist seiner Schwester Wilhelmine wurden die Mishelligkeiten mehr beschwichtigt als beseitigt. Karl August gründete, weil er sich mit seinem Vater nicht vertragen konnte, eine eigne Buchhandlung, in welcher Tiecks Jugendarbeiten erschienen, führte das Geschäft aber nur kurze Zeit, und starb in seinem 30. Jahre (1799). 9
David, der dritte Sohn, studirte Cameralia, zeigte für das Verwaltungsfach eine große Befähigung, und machte eine schnelle Laufbahn. Durch sein redliches gerades Wesen erwarb er sich überall Freunde. Anfangs war er bei der Stadtverwaltung von Berlin beschäftigt. Als wir Kinder späterhin die schmucken blauen Schilder an den Straßenecken mit den zierlichen gothischen Straßennamen, und über den Hausthüren die goldnen Nummern in blauem Felde bewunderten, da wurde uns gesagt, das habe der Onkel David angeordnet.
Mit 31 Jahren wurde er zum Kammerdirektor in Kalisch ernannt, und zog dorthin mit seiner Frau, der jungen liebenswürdigen Tochter des Geheimen Finanzrathes Eichmann. Kurze Zeit nach seiner Ankunft wurde der Besuch des Königs Friedrich Wilhelms III. gemeldet, der die neuerworbenen polnischen Provinzen bereisen, und im Hause des Kammerdirektors ein Diner einnehmen wollte. David ritt am frühen Morgen mit seinen Leuten aus, um die königliche Tafel mit Wildpret zu versehn. Als ein Jäger einen erlegten Hasen herbeibrachte, scheute Davids Pferd davor. Er wollte es korrigiren und hielt ihm den Hasen dicht vor die Augen. Das geängstigte Thier bäumte sich, warf den Reiter ab und zertrat ihm die Brust. Sterbend wurde er der jungen Frau nach Hause gebracht, und verschied kurze Zeit darauf (1804).
Wir waren gerade im Gartensaale des Landhauses beisammen, als die Trauernachricht in Berlin eintraf. Ob man sie dem Grosvater vielleicht nicht schonend genug beigebracht, wüßte ich nicht mehr zu sagen. Das Weinen und Jammern des alten Mannes erregte in den Kindern, ehe sie noch wußten, um was es sich handle, einen so10 heftigen und lauten Ausbruch des Mitgefühles, daß wir eiligst aus dem Zimmer gebracht wurden, um die Verwirrung nicht noch zu vermehren.
Von Nicolais jüngster Tochter, Tante Lottchen, ist mir eine sehr lebendige Erinnerung geblieben: denn ich war 10 Jahre alt als sie starb. Eine schlanke zierliche Gestalt mit blassen Wangen und freundlichen Augen. Nicht bloß durch den Anzug und den Haarputz der damaligen Zeit, auch durch den allgemeinen Ausdruck des seelenvollen Gesichtes haben mich später die Bildnisse von Werthers Lotte oft an sie erinnert. Durch ihre herrliche volltönende Stimme, von der Zelter mir öfter sagte, daß sie zu den bedeutendsten Erscheinungen gehört habe, war sie früher eine Zierde der von Fasch geleiteten Singakademie gewesen. Allein vielleicht eben aus dieser Veranlassung ließ sie sich zu größerer Anstrengung, als ihr gut war, verleiten, ihre Brust wurde angegriffen und sie welkte langsam dahin. Damals indessen solfeggirte sie noch alle Morgen, und da sie gerade über unserer Kinderstube nach dem Garten hinaus wohnte, so entging uns kein Ton. Wir horchten mit großem Wohlgefallen auf die immer höher steigende Skala der getragenen, langsam anschwellenden Noten und meine Schwester, die von dem Vater ein gutes musikalisches Ohr geerbt, wußte ganz genau anzugeben, wie viel Töne noch bis zur äußersten Höhe folgen würden.
Gewährte sie uns auf diese Weise manches Vergnügen, so diente sie auch zuweilen als wirksames Schreckbild. Wenn wir gar zu arg tobten, schrien und weinten, so pflegte sie mit der Elle auf den Fußboden zu klopfen, wodurch denn eine augenblickliche Beruhigung hervor -11 gebracht wurde. Ja, die Drohung der Wärterin, „ Tante Lottchen wird gleich klopfen “, genügte zuweilen schon, um uns zu beschwichtigen. Niemals aber erinnre ich mich, daß sie uns, wenn wir zu ihr hinaufgeführt wurden, noch nachträglich Vorwürfe gemacht hätte: denn sie wird wohl gewußt haben, wie vorübergehend die Kinderunarten sind, und wie schädlich es ist, solchen Kleinigkeiten durch allzulanges Nachstrafen eine größere Wichtigkeit zu geben als sie verdienen.
Das Verhältniß zu ihrem Vater wurde in den letzten Jahren getrübt. Der Schriftsteller Rochlitz in Leipzig hatte ihr eine aufrichtige Neigung zugewendet, die von ihr auf das wärmste erwiedert ward. Er bewarb sich bei dem Vater um ihre Hand, gab aber dabei mit allzugroßem Selbstgefühle zu verstehn, daß er hoffe durch seine belletristischen Arbeiten der Buchhandlung einen neuen, höheren Aufschwung zu geben. Das verdroß den alten Herrn ganz gewaltig, und er wollte nichts von einer Verbindung hören, in der doch seine Tochter ihr Lebensglück zu finden dachte. Sie verzehrte sich in langsamem Grame und starb drei Jahre vor ihrem Vater, am 2. Juli 1808.
Wir wohnten damals in dem Gartenhause in der Lehmgasse, und der Sarg stand in dem großen hellen Gartensaale. Es war in der Rosenzeit; mein Vater ging mit uns durch die blühenden Hecken und füllte mehrere Körbe mit Rosen. Wir trugen sie in den Saal und die bleiche Entschlafene, die wir in der letzten Zeit beinahe gar nicht mehr gesehn, ward ganz von den Kindern des Frühlings eingefaßt. Ein so wohlthuender Anblick vergißt sich nie wieder.
12Zu meinen frühsten Jugenderinnerungen gehört eine Reise mit meinen Aeltern nach Teplitz, wo meine Mutter die Bäder gebrauchen sollte. Einzelne Lichtpunkte, ohne allen Zusammenhang sind mir davon im Gedächtnisse stehn geblieben. Im Reisewagen schlief ich auf einem kleinen, von Sitz zu Sitz gelegten Brettchen – am Fuße des Geiersberges in Böhmen wurden wild aussehende Ochsen vor den Wagen gespannt – auf einem Pavillon am See stehend fütterte ich schöne milchweiße Schwäne. Auf der Rückreise besuchten wir in Dresden die Schwester meines Vaters, in zweiter Ehe an den Kaufmann Keiner verheirathet. Die freundliche Tante führte mich in die Essigkammer ihrer Bleiweißfabrik und bewirthete mich mit Rosinen.
Diese Badekur war indessen von keinem besonderen Erfolge für die Gesundheit meiner Mutter. Es wurden noch andere Mittel, wie Eselsmilch und isländisches Moos versucht, allein vergebens. Sie starb am 1. September 1803, als ich noch nicht 5 Jahre alt war. Von ihrer Persönlichkeit habe ich nur eine ganz undeutliche Erinnerung. Weder ihre Stimme, noch ihre Züge sind in meiner Seele lebendig geblieben: denn meine Fähigkeiten entwickelten sich sehr langsam.
Hier will ich einer physiologischen Eigenheit meiner Natur erwähnen, die durch viele Beobachtungen sich bestätigt hat. Von allen Personen, deren Stimme in meinem Ohr lebt, habe ich auch ein deutliches Bild der Gestalt und des Gesichts; wo die Erinnerung an die Stimme fehlt, da sind auch die Formen des Körpers dem Gedächtnisse entschwunden. Wilhelm von Humboldt fand diese Bemerkung interessant, und meinte, es sei wohl der Unter -13 suchung unsrer Physiologen werth, ob auch bei anderen Individuen ein so enger Zusammenhang zwischen den Eindrücken des Ohres und des Auges stattfinde; bei ihm sei dies nicht der Fall.
Das Begräbniß meiner Mutter soll sehr rührend gewesen sein. Sie hatte während ihres Lebens eine Menge armer Familien im Namen ihres Vaters und aus eigenen Mitteln unterstützt. Die Leute durften aber weder davon sprechen, noch sich bei ihr sehn lassen. Als sie nun todt war, hielten die Armen das Verbot für aufgehoben, und fanden sich so zahlreich bei dem Leichenbegängnisse ein, daß man nun erst die Ausdehnung dieser stillen Wirksamkeit übersehn konnte.
Nach dem Tode meiner Mutter nahm mein Vater, der Sitte der damaligen Zeit folgend, eine französische Gouvernante zur Erziehung der Kinder in das Haus, Madame Clause, eine ältliche Wittwe aus Toulouse. Das Französische lernten wir nun sehr bald, aber freilich auf höchst unvollkommne Weise, denn unsre Lehrerin war viel zu gutmüthig, um irgend etwas mit Ernst durchzusetzen. Wir beide, meine Schwester und ich, liebten sie von Herzen. Dies hinderte aber nicht, daß ich in einem Anfalle von Unart es wagte, ihr mit der Feuerzange zu Leibe zu gehn, was mir von dem sonst allzu nachsichtigen Vater einen scharfen Verweis zuzog. Von unserem französisch Sprechen mögen die folgenden Proben Zeugniß geben, bei denen ich mich jedoch weniger auf mein Gedächtniß, als auf die in jeder Familie fortlebende Tradition verlassen darf. Bei den Spielen im kleinen Hausgarten hieß es: Madame, où est la Gieskanne? – Madame, je vous prie de me donner un Bindfaden. Meine Schwe -14 ster, schon als Kind voll naiver Einfälle, soll einmal zu ihr gesagt haben: Madame Clause, je voudrais bien vous donner un Küschen, mais votre Näschen sent le tabac.
Die junge Wittwe meines Onkels David Nicolai war nach ihrem kurzen Ehestande zu ihren Aeltern zurückgekommen, und verkehrte viel im Nicolaischen Hause, wo sie von uns Kindern wegen ihrer unbeschreiblichen Sanftmuth und Herzensgüte überaus gern gesehn war. Mein Vater glaubte daher, nicht besser für sein und unser Glück sorgen zu können, als durch eine Verbindung mit ihr. Als wir eines Abends auf seinen Knieen saßen, fragte er uns zärtlich, ob wir nicht die „ kleine Tante Lottchen “(so hieß sie zum Unterschiede von Nicolais Tochter, der „ großen Tante Lottchen “) zur Mutter haben möchten. Wir antworteten beide durch die lebhafteste Zustimmung. – Nun, so bittet sie schön darum, wenn sie morgen zu uns kommt. – Dies geschah denn mit großer Freudigkeit, wobei meine Schwester, wie gewöhnlich, das Wort führte, während ich mit unendlicher Blödigkeit, aber mit wahrer Herzensfreude, meinen Beifall zu erkennen gab.
So hatte mein Grosvater Nicolai den Schmerz gehabt, zwei seiner Kinder, meine Mutter und meinen Onkel David zu verlieren; er erlebte nun die Freude, daß seine beiden Schwiegerkinder sich zur Erheiterung seiner alten Tage vereinigten.
Die Hochzeit fand am 17. Juni 1806 Statt, und am 12. Mai 1807, am Pancratiustage, wurde meinem Vater ein zweiter Sohn geboren, den der Dichter Moritz von Thümmel, ein alter Freund meines Vaters, aus der Taufe hob. Deshalb erhielt der Täufling die Namen Moritz Pancratius. Sehr genau entsinne ich mich des berühmten15 Pathen Thümmel als eines kleinen blassen Mannes mit feinen Gesichtszügen und hochgepuderten Haaren; er trug einen rothen Rock mit blitzenden Knöpfen und einen Degen an der Seite. Als ich später Thümmels Reisen im südlichen Frankreich las, worin er als feuriger unternehmender Lebemann erscheint, so kam öfter das Bild des kleinen blassen Greises im rothen Tressenrock meiner Einbildungskraft in die Queere.
Die Taufhandlung ward mit vieler Feierlichkeit in dem sogenannten grauen Saale, neben dem Bibliotheksaale vollzogen und verfehlte nicht, auf meine Schwester und mich einen tiefen Eindruck zu machen. Der graue Saal war gewöhnlich verschlossen; wir befanden uns nun zum ersten Male in dem hohen, oben gewölbten Räume, in dem die Stimme des Predigers auf feierliche Weise wiederhallte. Von der Rede hörte ich sehr wenig, denn meine ganze Aufmerksamkeit war auf eine Reihe bunter Schweizerlandschaften von Aberli gerichtet, die Nicolai von seiner Reise heimgebracht und hier nebst einigen schönen Blättern von Bause und Wille hatte aufhängen lassen. Solche himmelhohen Felsen und schäumenden Wasserstürze einmal in der Natur zu sehn, wurde der glühende Wunsch meiner Seele.
Bei meines Vaters zweiter Verheirathung wurde Madame Clause entlassen und kehrte nach einem thränenreichen Abschiede in ihre Heimath Toulouse zurück. Allein sehr bald kamen von ihr die kläglichsten Briefe, in denen sie ihre unglückliche Lage auf das lebhafteste schilderte. Alle ihre Verwandten, mit denen sie dort zu leben gehofft, waren während ihrer Abwesenheit gestorben; sie hatte den Schmerz, sich in ihrer Vaterstadt als Fremde zu fühlen;16 die liebevolle Behandlung, welche sie in unserm Hause genossen, veranlaßte sie zu der dringenden Bitte, dorthin zurückkehren zu dürfen. Meine Aeltern waren so unendlich gut, daß sie dieses Verlangen erfüllten, obgleich es sich herausgestellt, daß die Gouvernante den Kindern nicht mehr von Nutzen sein konnte. Madame Clause kam wirklich nach einiger Zeit aus dem sonnigen Toulouse nach dem kalten Berlin zurück und nahm mit Freuden ein kleines Mansardstübchen in unserem Hause an, wo sie den Rest ihrer Tage bis zum Anfange der Freiheitskriege verlebte. Wir waren ihr aus alter Anhänglichkeit zugethan und besuchten sie gern in dem, zwar einfach, doch mit französischer Eleganz eingerichteten Zimmer. Aber als im Jahre 1813 der Franzosenhaß in seiner ganzen Stärke aufloderte, hatte sie viel von der Lebhaftigkeit meiner Schwester zu leiden, die gegen den Kaiser Napoléon, den Unterdrücker des Vaterlandes, die heftigsten Ausfälle machte, denen Madame Clause bisweilen mit südlichem Feuer entgegentrat.
Mein Vater zählte bei seiner zweiten Heirath bereits 61 Jahre, erschien aber neben seinem Schwiegervater Eichmann wenn auch nicht jugendlich, doch aber sehr gut konservirt. Erst viele Jahre später habe ich herausgerechnet, daß wie bei Pompejus und Caesar der Schwiegersohn älter war als der Schwiegervater. Mein Vater war 1746 geboren, der Grosvater Eichmann 1748.
Allein dies ist nicht die einzige Anomalie in unserer Familie. Mein Grosvater, Daniel Parthey, war am 24. September 1696 geboren; es liegen also zwischen ihm und seinem Enkel, meinem Bruder Moritz (geb. 1807) nicht weniger als 111 Jahre. Noch eigenthümlicher aber17 ist es, daß jener Grosvater Parthey in erster Ehe mit einer um 27 Jahre älteren Frau verheirathet war, deren Grabschrift mit etwas zweifelhafter Chronologie bis vor kurzem auf dem Kirchhofe von Frankenberg vorhanden war und also lautete:
„ Hier ruhen die Gebeine weiland Frau Anna Maria Parthey, gebornen Höppnerin, welche geboren den 31. März 1669. Sie verehlichte sich 1. mit Meister Georg Schulze, Zeug - und Leinweber alhier, zeugte mit selbigem in vierjähriger Ehe einen Sohn und eine Tochter. Zum zweiten Male verehlichte sie sich den 29. Januar 1694 mit George Thüringer, auch Bürger, Zeug - und Leinweber alhier, mit dem sie in 29jähriger Ehe einen Sohn und sieben Töchter gezeuget, auch in allem 36 Kindes - und 9 Kindes-Kinder erlebet. Zum dritten Male verehlichte sie sich den 6. August 1726 mit Meister Daniel Parthey, Bürger, Zeug - und Leineweber alhier, mit dem sie 17 Jahre in vergnügter und friedlicher Ehe gelebet, doch ohne Leibeserben. Sie starb seelig den 7. Febr. 1742. Ihres Alters 73 Jahr, 4 Monate, 2 Wochen, 4 Tage. Leichentext: Jesaiä 41, v. 10. “
Es ist mithin kein Paradoxon, zu behaupten, daß meine und meines Bruders Stiefgrosmutter i. J. 1669 geboren sei.
Der Tod dieser Frau betrübte den Grosvater Parthey auf eine solche Weise, daß er sein Geschäft niederlegte, von der Welt nichts mehr wissen wollte und den grösten Theil seines Vermögens einer seiner Stieftöchter überließ, die ihm jedoch diese Wohlthat mit dem schnödesten Undanke lohnte. Als er indessen seine zweite Frau, die18 Tochter des Bürgermeisters Jeschke, meine rechte Grosmutter kennen lernte, sah er wohl ein, daß er nicht bloß von seinen Renten werde leben können, und gründete ein neues Leinwebergeschäft, unter großem Widerspruche der übrigen Verwandten, welche bereits angefangen hatten, die ergiebige Kundschaft an sich zu ziehen.
In zweiter Ehe hatte mein Grosvater Parthey vier Kinder, von denen mein Vater das älteste war. Er wurde den 26. Dec. 1746, an dem Tage geboren, wo nach der Schlacht von Kesselsdorf der Friede zwischen Sachsen und Preußen zu Stande kam. „ Darum soll er Fried-reich heißen “, sagte sein Vater.
Von dem Grosvater Parthey besitze ich das Vorstehblatt zu Scrivers Seelen-Schatz, worauf er folgendes eigenhändig bemerkt:
„ Dieses Buch habe ich Dem Trey-einigen Gott zu Ehern, mir aber zu erbauung in meinem Christen-Tuhum gekaufft Die Leipziger Oster-Messe 1729. Daniel Parthey, gebohrn 1696 den 24. Sebdemb. Simpolum. Gedencke meiner, mein Gott im Besten. Stoss mich nicht von Deiner Seiten, wenn mein Hohes Alter kömbt, Da die schwachen Tritte gleiten, und man Trost an Stecken nimbt, da greiff Du mir an die Arme: Fall ich nieder, so erbarme Du Dich, hilff mir in die Höh, und halt, biss ich wieder steh. “
Steigen wir in meiner Familie noch weiter hinauf, so war der Urgrosvater Parthey ebenfalls als Zeug - und Leineweber in Frankenberg ansässig. Einer seiner Brüder, desselben Handwerkes, hat sich weit in der Welt umgethan. Als Geselle kam er i. J. 1677 auf der Wanderschaft nach Amsterdam, ließ sich von der holländisch -19 ostindischen Kompagnie als Soldat anwerben, ward nach Ceylon und Borneo eingeschifft, nahm an den Kriegen gegen die Eingebornen Theil, ward bei den Elephantenjagden gebraucht, und kehrte nach 9 Jahren mit einer Ersparniß von 500 Rthlr. zurück. Nachdem er so viele Gefahren glücklich überstanden, ward der Postwagen, auf dem er fuhr, zwischen Hamburg und Lüneburg von 6 Soldaten angefallen und er verlor alles, selbst seinen Dienstabschied und das Zeugniß seiner guten Führung, welche Papiere ihm jedoch in Amsterdam neu ausgefertigt wurden. Dies alles hat er in einem jetzt ziemlich seltenen Werke mit großer Schlichtheit und Treue beschrieben:
„ Daniel Parthey, Burgers in Frankenberg, Ost-Indianische und Persianische Neunjährige Kriegsdienste und wahrhafftige Beschreibung ..... Nürnberg in Verlegung Johann Hoffmanns, Kunst - und Buchhändlers. Altdorff, druckts Jobst Wilhelm Kohles, 1697. “ Klein Octav. Mit vielen Kupfern.
Dieser Urgrosonkel Parthey lebte nur kurze Zeit in Frankenberg; er starb nach wenigen Jahren, weil er das Klima nicht vertragen konnte.
Weiter reicht die Kunde von der Familie Parthey nicht, bis auf eine mündliche Tradition, daß der erste Parthey, der sich in Frankenberg niedergelassen, ein Schulmeister aus Pommern gewesen sei; man müßte denn bis auf „ Johannes Partey “zurückgehen wollen, den Schreiber des Kardinales Ohnegenüge, der im 8. Gesange des Reinecke Fuchs vorkommt, von dem es bei Göthe (5, 231) heißt:
Und sein Schreiber Johannes Partey, der kennt auf’s genauste Alte und neue Münze.
Die zweite Ehe meines Vaters war, trotz des Unterschiedes der Jahre, eine der glücklichsten, die ich mir denken kann. Mein Vater liebte, wie der Prediger von Wakefield, nichts so sehr, als fröhliche Gesichter um sich zu sehn, und besaß die Kunst, auf seine Umgebungen in diesem Sinne einzuwirken. Meine zweite Mutter war gegen meine Schwester und mich die Liebe und Güte selbst, und wir erwiederten dies mit der herzlichsten Neigung. Aber ihre Gutmüthigkeit ging oft in Schwäche über, und da mein Vater nur selten im Stande war, eine strenge Miene anzunehmen, so blieben wir bei unseren kindlichen Unarten und Eigenwilligkeiten so ziemlich uns selbst überlassen.
Ein Jahr nach der Geburt meines Bruders Moritz wurde unsre Kinderstube durch ein viertes Mitglied vermehrt. Mein Vater nahm den Nebenschößling einer erlauchten Familie, den ich mit seinem Vornamen Fritz nennen will, zu sich. Er blieb 10 Jahre (1808 – 1818) in unserem Hause. Wir haben uns wie Brüder geliebt, wenngleich die jugendlichen Reibungen, in denen zuerst das Eisen des Karakters gehämmert wird, nicht ausblieben, und manchmal eine fast ernsthafte Wendung nahmen. 21
Fritz (geb. 1800) war 2 Jahre jünger als ich, sehr gutmüthig und gefällig, aufbrausend und versöhnlich, naseweis und geschwätzig, ein Hans in allen Ecken, der alles wußte und alles gesehn hatte, zum Lernen nicht besonders geneigt, aber gewandt in der Auffassung praktischer Verhältnisse. Da er bisher in einer kleinen sächsischen Landstadt erzogen war, so brachte er die sächsische Höflichkeit mit, und nannte meine Aeltern einige Zeit, ehe er sich zu dem vertraulichen Vater und Mutter entschließen konnte, nicht anders als: Herr Hofrath Parthey und Frau Hofräthin Parthey.
Die Verschiedenheit unserer Karaktere zeigte sich gleich in den ersten Tagen. Wenn mich früher meine zweite Mutter wegen Unart in eine Ecke setzte, so saß ich, vom Gefühle meines Unglücks überwältigt, still weinend dort, ohne daß es mir eingefallen wäre, eine Abkürzung der Strafe zu erbitten. Als es nun zuerst vorkam, daß Fritz in die eine, und ich in die andere Ecke gesetzt wurden, weil wir uns geprügelt, so dauerte es gar nicht lange, bis Fritz mit großer Fassung und Entschlossenheit sagte: Frau Hofräthin Parthey, darf ich jetzt wieder aufstehn? Ich muß bekennen, daß es mir schwer, ja fast unmöglich wurde, dieses gute Beispiel nachzuahmen.
Fritz zeigte entschiedenes Talent zum Schauspieler, denn er konnte sein kleines Gesicht in die mannigfaltigsten Formen legen. Ueber der schmalen Stirn und den blauen Augen buschte sich ein volles, krauses, blondes Haupthaar empor, eine lange vornehme Nase stand über einem feinen wohlgebildeten Munde; die scharfen Augenbrauen konnte er bald tragisch hinaufziehn, bald komisch zusammenkneifen, und außerdem die Ohren spitzen, was von22 den anderen Kindern als ein besonderer Vorzug der Natur betrachtet wurde.
Auf seine Veranlassung improvisirten wir drei Geschwister die schönsten Stücke, bei denen die abgelegte Garderobe der Mutter bis auf den letzten Fetzen Anwendung fand. Meine Schwester Lilli gab mit einem alten Stuarthalskragen eine gute Prinzessin ab, mir wurden die strengen Väter zu Theil. Fritz liebte die Verkleidungen, erschien als Bettler oder armer Reisender, und entpuppte sich plötzlich zu einem Baron von Sternthal oder Grafen von Hohenfels. Seine Nachahmung fremder Stimmen war bewundernswerth, auch machte er, zum allgemeinen Erstaunen und Entsetzen der Dienstleute, einige Versuche im Bauchreden.
Der Geburtstag der Mutter fiel auf den 14. April, in die erste Blumenzeit, und ward im Familienkreise immer auf das heiterste gefeiert. Fritz ersann einmal zu dessen Verherrlichung eine theatralische Ueberraschung mit drei Blumentöpfchen. Das Geheimnisvolle dabei hatte für meine Schwester und mich den grösten Reiz. Zuerst wurde der Vater heimlich um Geld zur Anschaffung der Blumen gebeten, dann wurden dieselben von der Köchin irgendwo versteckt gehalten. Die Töpfchen am Geburtstagsmorgen einfach mit der Hand zu überreichen, dies schien Fritzen viel zu prosaisch. Er stellte 6 Stühle, 3 auf jeder Seite, kulissenartig an der Kinderstubenthüre auf, durch welche die Mutter eintreten mußte. Unter den 3 Stühlen rechts stand je ein Topf auf einem Brettchen; ein Bindfaden reichte über den Weg bis zu den Stühlen links, unter denen wir 3 Kinder steckten. Als die Mutter eintrat, wurden die beiden am weitesten von der Thür23 stehenden Brettchen vorgezogen, und ein fröhliches: wir gratuliren! erscholl unter den Rohrgeflechten hervor. Indem sie einen Schritt näher trat, zog Fritz hinter ihrem Rücken den dritten Topf hervor, so daß sie, da der Raum ohnehin sehr eng war, weder vor - noch rückwärts treten konnte. Das hatten wir nun freilich bei den großartigen Anstalten mit den 6 Stühlen nicht überlegt, mußten daher unter vielem Lachen endlich hervorkriechen und die Töpfe doch mit den Händen überreichen. Fritzens Erfindungsgabe als Festordner erlitt einen schweren Stoß, und er wurde noch oft mit seiner halb misglückten Geburtstagsüberraschung geneckt. Dieser harmlose Vorgang wäre kaum der Erwähnung werth, wenn sich nicht daran die angenehme Erinnerung knüpfte, daß meine Mutter bis an ihr Lebensende immer in die heiterste Stimmung versetzt wurde, sobald einmal Fritzens theatralische Geburtstagsfeier zur Sprache kam.
Der Geburtstag meines Vaters wurde niemals gefeiert, ja wir kannten ihn nicht einmal. Erst nach seinem Tode erfuhr ich von seiner Schwester, daß er, wie schon bemerkt, am 26. December 1745 geboren sei. So oft davon die Rede war, so wußte er durch immer neue Wendungen scherzhaft auszuweichen. Als wir ihn einmal gar zu arg quälten, – es mochte im März oder April eines Schaltjahres sein – gab er uns den 29. Februar an. Meine lebhafte Schwester beschloß nun sogleich, das nächste Mal eine recht artige Feier zu veranstalten, aber welche Ewigkeit sind 4 Jahre für ein Kinderleben! Am folgenden 29. Februar war alles vergessen, und je mehr wir heranwuchsen, desto weniger mochten wir in meinen Vater dringen.
Fritz hatte, als er in unser Haus kam, nur einen dürftigen24 Unterricht genossen und wußte manches nicht, was die Kinder in den größeren Städten sich leicht aneignen. So zeigte es sich eines Sonntages beim Frühstück, daß er nicht nach der Uhr sehn konnte. Mein Vater wollte ihn gleich belehren; nahm aber die Sache gar zu gründlich, und es entspann sich ungefähr folgende Unterredung:
Weißt du, Fritz, wieviel der Tag Stunden hat? – Nein, Herr Hofrath Parthey. – Vier und zwanzig; davon gehen zwölf auf den Tag und zwölf auf die Nacht – Aber, Herr Hofrath Parthey, Sie sagten ja eben, der Tag habe 24 Stunden, wie kann er denn 12 haben? – Versteh mich recht, 12 Stunden gehen gewöhnlich auf die Zeit vom Morgen bis zum Abend, und 12 andere dauern vom Abend bis zum Morgen. Diese Stundeneintheilung giebt dir der kleine Zeiger hier. Die Stunde wird wieder in 60 Minuten getheilt; wieviel ist der vierte Theil von 60? Fritz stockte, denn das Gedankenrechnen war nicht seine Stärke. Nun, es ist 15, also besteht jede Viertelstunde aus 15 Minuten. Dies giebt der große Zeiger an. Wenn also der kleine Zeiger hinter 1 steht, und der große auf 6, wieviel wird es an der Zeit sein? – Fritz schwieg, denn das Zifferblatt hatte römische Ziffern, mit denen er bisher nur in entferntere Bekanntschaft getreten war. – Es ist dann halb Zwei.
So ging es noch einige Zeit fort, aber Fritz begriff nichts und wurde nach einer sanften Ermahnung mit dem Bemerken entlassen, daß er noch zu klein sei, um die Sache einzusehn. Als er mir Tags darauf seine Noth klagte, versuchte ich eine kürzere Lösung des Problems. „ Daß der kleine Zeiger die Stunden angiebt, weißt du schon; du brauchst dir also nur dies zu merken: steht der große25 Zeiger rechts auf der 3, so ist es ein Viertel, steht er unten auf der 6, so ist es halb, links auf der 9, so ist es drei Viertel, und oben auf der 12, so ist es voll. Wenn also der kleine Zeiger nicht mehr weit von der Acht steht, so siehst du, daß es Zeit ist, in die Schule zu gehen, und wenn dann der große gegen die Neun heranrückt, so ist es drei Viertel auf Acht, wo wir unsere Mappen packen. “ Seitdem kam er nicht mehr zu spät in die Schule, doch hatte es einige Mühe gekostet, ihm die römischen Zahlen X und V deutlich zu machen.
Als wir aufhörten, mit bleiernen Soldaten und Baukasten zu spielen, wurden die langen Winterabende mit Musik und Vorlesen ausgefüllt. Sobald der Vater aus seiner Arbeitstube in das Wohnzimmer herüberkam, so konnte er uns kein größeres Vergnügen bereiten, als wenn er sich an das Klavier setzte und uns etwas vorspielte. Er wählte dazu theils Choräle, theils Lieder, theils einzelne Stücke aus guten Opern. Mit den Chorälen konnten wir uns nicht recht befreunden, weil Kinderherzen mehr zur Freude als zur Andacht hinneigen, und weil die Choräle nach der damaligen Sitte so unendlich langsam vorgetragen wurden, daß von einem Flusse der Melodie gar nichts zu spüren war. Gleich nach dem ersten Verse pflegte meine Schwester zu sagen: Nun, lieber Vater, etwas hübsches. Da folgte denn eine altmodische, aber lebhaft bewegte Sarabande von Kirnberger, ein muntres Stück aus der Zauberflöte oder der Furientanz aus Glucks Armide. Dieser letzte blieb unser Lieblingsstück, als wir später der Aufführung der Oper beiwohnten. Fritz, dem es an allem musikalischen Sinne fehlte, entschädigte sich und uns für diesen Mangel, indem er die halsbrechenden26 Sprünge der infernalischen Dämonen zu Hause nachahmte. Der Opferchor aus Glucks Iphigenie, ein Rittermarsch aus Righinis Zauberwald, die Geniengesänge aus der Zauberflöte, die Chöre aus der Athalia von Schulz entzückten uns nicht weniger, und prägten sich unauslöschlich dem willigen Gedächtnisse ein.
Zelters Lieder mochten damals wohl noch nicht im Stiche erschienen sein; der Grosvater Nicolai hatte sie sich abschreiben, und mit gewohnter Sorgfalt in einen großen gelben Quartband zusammenbinden lassen. Daraus wurde nun sehr viel unisono gesungen; die schönen Götheschen Lieder: Wir singen und sagen vom Grafen so gern, Was hör’ ich draußen vor dem Thor; Ein Veilchen auf der Wiese stand; und viele andre erfreuten sich des grösten Beifalls.
Vor allen liebte mein Vater die jetzt ganz vergessenen Operetten von Hiller, deren erstes Erscheinen auf der Leipziger Bühne er zum Theil selbst miterlebt hatte. Die Jagd; Lottchen am Hofe; Die verwandelten Weiber und andre, zu denen der Kinderfreund Weiße die Texte geliefert, wurden uns oft vorgeführt, und waren wohl geeignet, in ihrer ansprechenden melodischen Simplicität einen angenehmen Eindruck zu machen. Als meine Schwester Lilli später im Klavierspiel recht weit vorgeschritten war, wollte sie uns an des Vaters Stelle die leichten Arien und Duette accompagniren, aber o weh! der fatale Klavierschlüssel, auf den sie nicht eingeübt war, stellte sich als unerwartetes Hinderniß der Ausführung entgegen. Daß bei den übrigen Klavierstücken der Violinschlüssel für die rechte, und der Baßschlüssel für die linke Hand gelten sollten, schien uns nicht mehr als billig, daß aber beim27 Klavierschlüssel die fünf Notenlinien eine dritte, ganz veränderte Geltung erhielten, wollte uns nicht in den Sinn, und die Hillerschen Opern wurden bald bei Seite gelegt. Nachdem der Vater uns belehrt, daß es auch noch einen Tenorschlüssel und einen Altschlüssel gebe, so hielten wir es fast für Zauberei, wenn er uns aus einer Partitur, worin alle diese verschiedenen Schlüssel vereinigt waren, etwas vorspielte.
Zum Vorlesen wählte mein Vater theils historische, theils belletristische Werke aus der reichen Bibliothek des Grosvaters. Er ging uns durch eine deutliche Aussprache und durch langsamen Vortrag als Muster voran, allein er wurde bald inne, daß die Aufmerksamkeit lebhafter Kinder auch durch die interessanteste Vorlesung nur auf kurze Zeit gefesselt werden kann.
Wir sollten nun selbst im Vorlesen uns üben, doch bei mir war und blieb die angeborne Befangenheit schwer zu überwinden; meine Schwester machte ihre Sache schon besser, und Fritz übertraf uns beide durch Lebhaftigkeit des Ausdruckes und dramatisches Feuer. Er entwickelte indessen diese beiden Eigenschaften nur bei solchen Werken, die ihn selbst anzogen; sobald der Gegenstand ihm langweilig wurde, so verfiel er, ohne es zu wollen, in einen ungemein eintönigen Vortrag, der eine ganz besonders einschläfernde Kraft auf die Zuhörer ausübte. So wurde eines Abends das sehr trockne Schauspiel von Iffland: das Erbtheil des Vaters, vorgelesen, dem wir unmöglich die verlangte Theilnahme schenken konnten. Nachdem wir beide, meine Schwester und ich, unser Pensum abgethan, kam Fritz an die Reihe und leierte eine Scene nach der andern mit unendlicher Tonlosigkeit herunter. Unter andern las28 er in einem Zuge fort: Herr Dominique, Madame Dominique, Madame Dominique, Dominique, Herr Dominique, Julie. Ei Fritz, rief die Mutter, die auf dem Sopha etwas eingenickt war, was liesest du da für dummes Zeug? Nun, erwiederte er empfindlich, es steht ja so da, Frau Hofräthin! Sie nahm das Buch zur Hand und überzeugte sich, daß er Recht habe. Es steht nämlich im ersten Akte:
Herr Dominique. Madame Dominique.
Dominique!
Julie!
Wenngleich mein Vater, wie schon bemerkt, bei seiner zweiten Verheirathung bereits 61 Jahre zählte, so war er noch immer ein stattlicher, wohlgebauter Mann von kräftiger Haltung. In seiner Jugend galt er für einen gewandten Tänzer und verwegenen Reiter; im Laufen und Springen konnten wenige es ihm gleichthun. Bei dem Aufenthalte in Strasburg glänzte er im Billardspiel, so daß er auf viele Bälle eine Wette eingehen konnte.
Das gepuderte Haar trug er aus der Stirn zurückgekämmt, und hinten in einen Zopf zusammengebunden. Er erzählte uns manchmal, daß am Ende des 18. Jahrh. die eleganten Herrn mit ihren Zöpfen einen förmlichen Luxus getrieben. Besondere Gestalten von Zöpfen kamen in die Mode und wurden wieder verlassen. Es gab vornehme und gemeine, falsche und halbgefütterte Zöpfe u. s. w. Lichtenberg in Göttingen verspottete Lavaters Physiognomik in einem witzigen Aufsatze: Fragment von Zöpfen, das mit vielem Beifalle aufgenommen wurde.
Ein recht starker Zopf galt, wie jetzt ein starker29 Bart, für ein Zeichen der Männlichkeit. Der Zopf meines Vaters war so stark, daß er meist für falsch gehalten ward. In Livland begegnete es ihm mehr als einmal, daß man seiner Versicherung über die Aechtheit nicht eher Glauben schenkte, als bis er das Zopfband löste, und eine gewaltige Fülle blonden Hares herabwallen ließ.
Die französische Revolution hatte die Zöpfe abgeschafft, vorzüglich deshalb, weil sie beim Guillotiniren hinderlich waren. Da nun in jener Zeit fast jeder Franzose in dieser Gefahr schwebte, so schnitt man die Zöpfe lieber vorher ab.
In Deutschland hielten sich die Zöpfe länger. Daß noch i. J. 1800 Jean Paul den Helden seines Titan mit einem falschen Zopfe ausstattet, kömmt uns jetzt komisch vor, war es aber damals gewiß nicht. Während des französischen Krieges (1806 – 1807) wurden die meisten Civil-Zöpfe in Berlin abgeschnitten, vielleicht mit aus ökonomischen Gründen, um eine Ersparniß an Puder, Pomade, Zopfband, Haarbeutel und Zeit eintreten zu lassen.
Dem Frisirtwerden meines Vaters habe ich oft, auf dem Fußbänkchen am Fenster sitzend, mit Aufmerksamkeit zugesehn; es dauerte sehr lange. Zuerst trat der Bediente Wilhelm, das Frisirzeug unter dem Arme, ins Zimmer, breitete eine weiße leinene Decke von wenigstens 6 Fuß im Quadrat auf dem Teppich aus, setzte einen Stuhl darauf und sagte: Herr Hofrath, wenns gefällig wäre. Mein Vater stand vom Schreibtische auf, fuhr in den aufgehaltenen weißen Pudermantel, nahm die Zeitung zur Hand und setzte sich. Der Zopf des vorigen Tages wurde gelöst, und das volle Haar vielfach durchgekämmt. Dann nahm Wilhelm aus einer weißen Porzellanbüchse eine ansehnliche Menge wohlriechender Pomade, und salbte den30 ganzen Kopf. Bei dieser Operation erregten seine fettglänzenden schnalzenden Hände mir immer einen innerlichen Abscheu. Hierauf drehte er mittelst eines hölzernen Zylinders, dessen technischer Name mir entfallen, über jedem Ohre eine lange horizontale Locke, deren Hältniß durch besonders hinzugefügte Pomade gefestigt ward.
Nun folgte das Pudern. Wilhelm öffnete eine große blecherne Büchse voll des feinsten Weizenmehles, tauchte den aus den zartesten Federn bestehenden Puderquast hinein, und verbreitete durch Auftupfen um den ganzen Kopf eine dichte weiße Staubwolke, die nicht nur an dem gefetteten Haare haften blieb, sondern auch in weitem Kreise sich niedersenkte, und von dem Zeitungsblatte durch wiederholtes Abklopfen entfernt werden mußte. Dieser trockne Qualm war mir nicht weniger zuwider als die vorher angewendete Schmiere, und ich suchte den Athem so lange anzuhalten, bis der ärgste Dunst sich verzogen.
Darauf wurde der Zopf dicht am Nacken mit einem weißen Bande, dessen eines Ende Wilhelm zwischen den Zähnen hielt, zusammengebunden, dann mit einem feinen schwarzseidenen Bande sorgfältig umwickelt.
Ein elegantes Zopfband gehörte zu den kleinen Luxusgegenständen; es war für junge Männer, wenn es als Geschenk von lieber Hand kam, ein süßes Angedenken. In Blumauers travestirter Aeneide erhenkt sich Dido an dem Zopfbande des geliebten Aeneas. Zuguterletzt reichte Wilhelm meinem Vater das Pudermesser; er trat vor den Spiegel, und entfernte vorsichtig mit der stumpfen Klinge den Puder von der Stirn bis an die Haarwurzeln hinauf.
Das so vollendete künstliche Gebäude war eigentlich nur auf einen Chapeaubas berechnet, den man gar nicht31 aufsetzte, sondern unter dem linken Arme trug. Damals wurden aber allgemein dreieckige und runde Hüte getragen, die bei jedem Aufsetzen und Abnehmen den Bau zerstörten und sehr bald von Fett starrten. Ging daher mein Vater in eine Abendgesellschaft, so wurde entweder der Puder erneuert, oder das ganze langweilige Geschäft des Frisirens bei Lichte wiederholt.
Vor dem Schlafengehn verwahrte Wilhelm die Seitenlocken in Papillotten, vertauschte das feine Zopfband mit einem weniger guten, und schob den Zopf mit geschickter Wendung unter die bereit gehaltene weiße baumwollene Zipfelmütze.
Als nun während des Krieges von 1806 die Zöpfe in Berlin immer mehr in Abnahme kamen, da sprach mein Vater auch davon, den seinigen abzuschneiden. Wir waren anfangs alle dagegen: denn des Vaters Zopf gehörte mit zu seiner Person, und wer möchte an einem geliebten Wesen irgend etwas entbehren? Doch bald änderte sich die Stimmung: denn in der Schule, wo bereits die unbezopften Lehrer in der Mehrzahl waren, wurden die wenigen bezopften mit allerlei Ekelnamen belegt; da figurirte der Schreibelehrer als Selleriewurzel, der Singlehrer als Regenwurm u. s. w. Eines Sonntagmorgens wurden wir halb traurig, halb freudig überrascht, als der Vater uns seinen abgeschnittenen Zopf, der auf einem Bogen Papier kaum Platz hatte, vorlegte. Er trug nun sein volles, silberweißes, seidenweiches Haar, das ihm bis zum 77. Jahre geblieben ist, und gefiel uns nur um so besser.
Das Haus in der Brüderstraße, in dem ich aufgewachsen bin, hatte der Grosvater Nicolai im Jahre 1787 gekauft und ausgebaut. Es ist noch in meinem Besitze und meine Enkel treiben darin ihr Wesen. Da nun schon Nicolais Schwiegermutter, Frau Schaarschmidt, darin gelebt hat, so tritt der für bürgerliche Familien seltene Fall ein, daß 6 Generationen hinter einander an derselben Stätte gewohnt haben.
Die Lokalsage behauptet, daß das Haus an der Stelle des Klosters der barmherzigen Brüder stehe, von dem die Straße ihren Namen führt, und es sind Gründe genug vorhanden, um anzunehmen, daß das Gebäude an der Stelle einer alten Klosteranlage stehe. Zwar habe ich in Nicolais Beschreibung von Berlin keine Erwähnung der barmherzigen Brüder angetroffen. Es gab nur die Dominikaner in dem schwarzen Kloster, das in der Nähe der alten Domkirche auf dem Schloßplatze gestanden haben soll, und die Franziskaner in dem grauen Kloster in der Klosterstraße. 33
Das Grundstück umfaßt einen großen und einen kleinen Hof, und es finden sich Baureste, die in ein hohes Alterthum hinaufreichen. Unter dem südwestlichen Theile des ersten Hofes befindet sich ein Kellergang mit Tonnengewölbe, dessen Construction Professor von Klöden in das 14. Jahrh. versetzte. Daran schließt sich gegen Südost ein Spitzbogengewölbe aus dem 15. oder 16. Jahrh., das über einer ausgemauerten, runden, jetzt zugeschütteten Zisterne steht; ein sehr geräumiger, solid gemauerter Abzugskanal geht unter dem westlichen Seitenflügel, unter dem kleinen Hofe und unter dem daran stoßenden Grundstücke des Französischen Hofes durch, und mündet neben der Jungfernbrücke in die Spree. Die Kellerräume unter dem Vorderhause und dem südöstlichen Flügel sind von großer Ausdehnung, und es ist ganz kürzlich (1866) das sonderbare Vorkomniß entdeckt worden, daß aus dem mittelsten Kellerraume ein gemauerter Kanal unter dem Fußboden des Parterrezimmers in eine Schornsteinröhre geleitet ist. Die Mönche konnten also ihren Keller heizen und darin kochen; sie waren daher im Stande, hinlänglich mit Speisen und Holz versehn, einen feindlichen Ueberfall und eine Belagerung selbst im Winter auszuhalten.
Das jetzige Haus wurde um 1730 von dem Minister v. Knyphausen erbaut und zum Zwecke großer Gastgebereien und Festlichkeiten eingerichtet. Dann kaufte es Herr Gotzkowski, später kam es an Herrn Dykow. Als Nicolai es von diesem 1787 erwarb, und durch Zelter ausbauen ließ, wurden aus einem einzigen Speisesaale 14 verschiedene Piecen gemacht. Dennoch blieben noch drei Säle übrig, für die Bibliothek, für die Musikaufführungen und für die Geselligkeit. 34
Um die großen Räume des ersten Stockwerkes auf schickliche Art zu verbinden, legte Zelter eine bedeckte hölzerne Gallerie vermittelst eines Häng - und Sprengwerkes quer über den Hof und von dem Vorderhause nach der Mitte zu, in Form eines T. Dadurch wurde zwar der beabsichtigte Zweck erreicht, allein die Gallerie machte die unteren Bäume finster, und schwebte dem in den Hof tretenden in unheimlicher Nähe über dem Kopfe. Wir Kinder indessen kümmerten uns hierum sehr wenig, sondern benutzten sie als willkomnen Tummelplatz, wobei das Laufen und Springen auf den schallenden Brettern ein Hauptergötzen gewährte.
Wenige Schritte von unserem Hause entfernt liegt in der Brüderstraße No. 10 die Probstei der Petrigemeinde. Auch dieses Haus macht Ansprüche darauf, für die Stelle des alten Klosters der barmherzigen Brüder zu gelten. Worauf diese Ansprüche sich gründen, habe ich nicht erfahren können, wohl aber wurde uns über die Probstei von den Nachbarn eine Schauergeschichte erzählt, die den jugendlichen Gemüthern sich unauslöschlich einprägte.
Vor 100 Jahren, so hieß es, gehörte das weitläufige Gebäude einer alten, reichen, kinderlosen, geizigen Wittwe, die es ganz allein bewohnte, und nur ein Dachstübchen an einen armen Kandidaten der Theologie vermiethet hatte. Eines Morgens fand man die Wittwe erdrosselt im Bette und ihre Geldkiste ausgeraubt. Da die Dienstboten sich als unschuldig erwiesen, so fiel der Verdacht natürlich auf den armen Kandidaten. Man machte ihm den Prozeß und drohte nach dem damaligen Kriminalverfahren mit der Tortur. Ob er dadurch eingeschüchtert die That gestanden,35 oder die Tortur wirklich erhalten habe, ist mir nicht mehr erinnerlich; genug, er sollte hingerichtet werden.
Am Abende vor der Execution saß der Kriminalbeamte, der die Sache betrieb, noch sehr spät in seinem Arbeitszimmer bei den Akten. Vor ihm auf dem Tische lagen, vom trüben Kerzenscheine beleuchtet, die Gegenstände des Prozesses, darunter der Strick mit dem die Wittwe erdrosselt wurde. Da läßt sich der Scharfrichter melden, um die Anordnungen für den folgenden Tag zu verabreden. Er wird eingelassen, und der Richter bemerkt, daß der Scharfrichter während des Gespräches den auf dem Tische liegenden Strick sehr aufmerksam ansieht. „ Was betrachtet er den Strick so genau? “fragt der Richter. „ Herr “, war die Antwort, „ das will ich ihm wohl sagen: ich sehe darin einen Knoten, den niemand anderes kann gemacht haben, als ein Henkersknecht. “
Auf dieses wichtige Zeugniß hin ward die Execution verschoben und die Sache von neuem untersucht. Da man einen so guten Fingerzeig hatte, so stellte es sich bald heraus, daß der Mord in der That von einem Henkersknechte verübt worden sei. Der arme Kandidat entging glücklich dem Tode; die Erben der alten Frau wollten aber das Haus, in dem die Gräuelthat begangen war, nicht behalten. So kam es an den Magistrat, welcher die Probstei der Petrikirche darin einrichtete.
Seit wir jene Geschichte gehört, konnten wir bei der Probstei nicht ohne ein gewisses Grauen vorübergehn, und dachten uns oft, wie es dem Probste Teller zu Muthe sein müsse, in einem solchen Hause zu wohnen; später habe ich gefunden, daß dieses Grauen vergeblich war: denn der Mord und die merkwürdige Entdeckung desselben ereig -36 neten sich in dem s. g. Stelzenkrug am Alexanderplatze (Streckfuß Berlin seit 600 Jahren, 4, 48), doch habe ich nicht unterlassen wollen, auch die Tradition der Brüderstraße hier aufzuzeichnen.
Nicolai hatte sein neues Haus im Jahre 1787 mit allem Luxus der damaligen Zeit eingerichtet. In den noch vorhandenen Rechnungen finden sich Möbel, die wir kaum dem Namen nach kennen: Etageren, Bergeren, Torcheren, Gueridons u. a. Nicolai machte es nun zum Sitze der ausgedehntesten Gastfreundschaft. Da sein Ruf sich durch ganz Deutschland verbreitete, so reiste nicht leicht ein fremder Gelehrter durch Berlin, ohne Nicolai zu besuchen. Einige ließen sich bei ihm persönlich melden, andre begnügten sich, um die kostbare Zeit des vielbeschäftigten Mannes nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen, ihre Karten in der Buchhandlung, welche zu ebner Erde eingerichtet war, abzugeben. Ein Gehülfe der Buchhandlung hatte das Nebenamt, darüber ordentliche Listen anzufertigen, welche Freitags dem Principale vorgelegt wurden; er strich diejenigen Personen an, die am Sonnabende eingeladen werden sollten, und fast alle Sonntage versammelte ein glänzender Mittagstisch die alten und neuen Gäste. Waren fremde Dichter zu bewirthen, so wurden von den Berlinern Ramler, Göckingk, die Karschin zugezogen; für die Philosophen war Moses Mendelssohn eine anziehende Persönlichkeit; die Pädagogen schaarten sich um Gedike und v. Rochow, die Bibliophilen um Biester und Oelrichs; für die Theologen hatten Teller, Zollikofer, Zöllner einzustehn; für die Mediziner Theden und Selle; die Aesthetiker waren durch Engel repräsentirt, die Juristen durch Suarez und Klein; von den Musikern wurden Fasch und Zelter auf -37 gesucht, von den Künstlern Bernhard Rode, Chodowiecki und Meil.
So bildete Nicolais Haus eine Reihe von Jahren hindurch den literarischen und geselligen Mittelpunkt der Residenz; es vertrat die Stelle der späteren Clubs und Casinos. Die Solidität der Bewirthung war mit anständiger bürgerlicher Pracht gepaart; als Eigenthümlichkeit wurde bemerkt, daß die Fremden oft von den Nicolaischen „ heißen Suppen “und „ scharfen Messern “erzählten.
Obgleich diese Gastmahle längst aufgehört hatten, als ich anfing, heranzuwachsen, so sind doch manche Vorkomnisse aufbewahrt, von denen eins mir haften geblieben.
Ein fremder an Nicolai empfohlener Gelehrter wurde zu einer großen Mittagstafel gezogen, an der unter andern Engel und der Probst Zöllner Theil nahmen. Engel war damals Theaterdirektor und wegen seines Talentes im Erzählen berühmt, allein er hatte die Eigenheit mancher guten Erzähler, daß er, einmal unterbrochen, nicht so leicht wieder das Wort nahm. Zöllner erzählte ebenfalls sehr gut, liebte aber nach einer Unsitte, welche damals besonders den Geistlichen soll angehangen haben, zweideutige Geschichten. Engel machte an jenem Tage anfangs einige ernsthafte Bemerkungen, wurde bald unterbrochen, und saß von nun an stumm, Zöllner dagegen erging sich in dem bekannten frivolen Thema mit großer Ausführlichkeit. Als der Fremde am andern Tage bei Nicolai sich beurlaubte, und von diesem gefragt wurde, wie ihm die Herren gefallen, erwiederte er: O sehr gut, nur hätte ich Zöllner für den Theaterdirektor und Engel für den Probst gehalten.
Mit der edlen Frau Elisa von der Recke war Nicolai38 in dauernder Freundschaft verbunden. Die Freimüthigkeit mit welcher sie ihre Beziehungen zu dem Betrüger Cagliostro bekannt gemacht, hatte ihr den Beifall und die Bewunderung der ganzen für Aufklärung schwärmenden gebildeten Welt erworben, an deren Spitze Nicolai stand.
Als daher Frau von der Recke in Berlin erwartet wurde, freute sich Nicolai, ihr in seinem neuen Hause einen festlichen Empfang bereiten zu können. Allein es zeigte sich ein unerwartetes Hinderniß, indem Madame Nicolai erklärte, die fremde Dame sei ihr zu vornehm, und sie wolle sie nicht sehn. In der damaligen ceremoniösen Zeit war dies für einen Hausherrn ein noch schlimmerer Fall als jetzt. Allein was war zu thun? Es mußte wenigstens der Versuch gemacht werden, dies Hinderniß zu überwinden. Als Frau von der Recke bei Nicolai vorfuhr, eilte er ihr bis an den Wagen entgegen, und führte sie die Treppe hinauf, unter der Versicherung, daß er das neue Haus hauptsächlich darum erworben, um sie würdig empfangen zu können. Im Vorsaale verließ er sie, um seine Frau zu rufen, und Frau von der Recke hörte durch die halbgeöffnete Thür die sehr vernehmlichen Worte meiner Grosmutter: ich will von deinem adligen Pack nichts wissen! – Eine andre wäre wohl auf der Stelle umgekehrt, um das Haus nie wieder zu betreten; allein Elisa öffnete die Thüre ganz, trat in das Zimmer, und sagte mit der ihr eignen milden Hoheit: meine Liebe, ich bin kein adliges Pack, sondern die Freundin Ihres vortrefflichen Gemahles, und bitte Sie, auch meine Freundin zu sein! Wer hätte da widerstehn können? Die beiden Frauen wurden in der That Freundinnen; der lange fortgesetzte noch vorhandene Briefwechsel zeigt genugsam, daß39 diese Freundschaft von beiden Seiten eine aufrichtige war; aus den Briefen meiner Mutter und meiner Tante Lottchen geht hervor, daß Elisa vom ganzen Nioolaischen Hause wie ein Schutzgeist höherer Ordnung verehrt wurde.
Ihre hohe Geburt machte es nothwendig, daß sie auch den königlichen Hof in Berlin besuchte. Ihr majestätischer Wuchs und der Sonnenglanz ihres hellen Auges, die treue Arglosigkeit ihres Gespräches, die niemals die Gränze des feinsten vornehmsten Taktes überschritt, machten sie auch hier zu einer allgemein bewunderten Erscheinung. Es that ihr auch gar keinen Eintrag, als sie einmal, bei einer ihr nicht kundgewordenen Hoftrauer, in feuerfarbenem Atlas erschien, und sich wie eine wandelnde Flamme unter den schwarzen Gestalten auf - und abbewegte.
Einst hatte sie mit Göckingk, Zollikofer und andern Notabilitäten ein Diner bei Nicolai eingenommen, und mußte nachher noch an den Hof gehn. Sie hob mit der Linken die Schleppe ihres grauseidnen Kleides auf, machte mit der Rechten eine anmuthig grüßende Bewegung und sagte: nun, meine Herren, muß ich mich empfehlen. Begeistert von der unbeschreiblichen Würde dieser Erscheinung rief Göckingk: so muß Graff sie malen! Diese Idee wurde später wirklich ausgeführt. Graff in Dresden lieferte ein ausgezeichnetes Kniestück, das über Nicolais Sopha hing, und das ich noch immer als eine Zierde meiner kleinen Gemäldesammlung betrachte. Es sollen mehrere Wiederholungen nach diesem Originale aus Graffs Atelier hervorgegangen sein, von denen mir jedoch keine zu Gesicht gekonunen ist.
Vor der Abreise nach Petersburg nahm Frau von der Recke bei Nicolai ein großes Frühstück ein, und er sagte40 ihr beim Abschiede mit galanter Wendung, daß er bis an die preußische Gränze die Ehre haben werde, ihr alle Tage beim Frühstück seine Verehrung zu beweisen. Das klang etwas räthselhaft, wurde aber dennoch richtig ausgeführt. Die Reise von Berlin nach Memel mochte damals wohl 8 oder noch mehr Nachtquartiere erfordern, welche alle im Voraus genau bestimmt werden mußten, um ein nur irgend erträgliches Unterkommen zu finden. Nicolai schrieb 8 Briefe an die 8 betreffenden Postmeister, und ließ durch jeden derselben seiner Freundin Elisa beim Frühstücke einen schriftlichen Gruß überreichen.
So sehr Frau von der Recke die große geschäftliche Thätigkeit und die ausgebreitete Gelehrsamkeit ihres Freundes Nicolai verehrte, so wenig konnte sie sich mit seinen vielen litterarischen Streitigkeiten einverstanden erklären. Ihr, welche die Milde und Duldung selbst war, schien es unbegreiflich, daß man wegen abweichender philosophischer oder belletristischer Ansichten sich so heftig den Krieg machte. Mehr als einmal versuchte sie es, ihren Freund von seiner allzugroßen Streitsucht abzumahnen, allein vergebens.
Im Jahre 1801 hatte Fichte sein „ Leben Nicolais “herausgegeben, welches so heftige Angriffe enthielt, daß die sämmtlichen Berliner Buchhändler, damals ungefähr 16, sich in der Person eines ihrer würdigsten Mitglieder für beleidigt hielten, und einstimmig erklärten: sie würden das Buch nicht debitiren. Nicolai erfuhr davon und machte bekannt, er werde es debitiren, und für jedermann so viele Exemplare, als verlangt würden, verschreiben.
Frau von der Recke nahm hiervon Gelegenheit, ihrem Freunde in Betreff seiner litterarischen Klopffechtereien41 recht eindringliche Vorstellungen zu machen. „ Welchen Nutzen für die Wissenschaft können diese Zänkereien haben, die nur zu oft in Persönlichkeiten ausarten? Was müssen Sie sich alles gefallen lassen! Ist es nicht erschrecklich, daß Fichte in seinem neusten Buche Sie einen Hund genannt? “– „ Ja wohl “, fiel ihr Nicolai Ins Wort, „ ich bin der bellende Hund, der allemal seine warnende Stimme erheben muß, sobald er merkt, daß irgend etwas in der deutschen Litteratur nicht in Ordnung ist “; u. s. w. Was ließ sich gegen eine solche Ueberzeugung noch weiter vorbringen?
Durch jene Händel mit Fichte wurde Nicolai schon früher veranlaßt, in einer akademischen Vorlesung vom Jahre 1799 jene merkwürdigen Nachrichten von den Phantasmen zu geben, die ihn einige Zeit heimgesucht, und derentwegen ihn Göthe als den Proktophantasmisten auf den Blocksberg versetzt. Auch hierüber haben sich allerlei Familientraditionen erhalten, die den Vorgang in etwas vervollständigen, und von den gedruckten Nachrichten abweichen.
Nicolai hatte einen heftigen Aerger über seinen Sohn Karl gehabt, und war im höchsten Affekt begriffen, als plötzlich sein verstorbener Sohn Samuel, der sich selbst das Leben genommen, hinter dem Schreibtische vor ihm stand. Er erschrak nicht wenig, und fragte seine Frau, die neben ihm stand, ob sie auch den seeligen Samuel sehe? Diese erschrak noch heftiger, sah aber natürlich nichts. Nicolai fixirte nun die Erscheinung mit festem Blick und sie verschwand. Er glaubte, damit sei die Sache abgethan, aber die Visionen wiederholten sich. Lebende und verstorbene Personen kamen in sein Zimmer, ohne daß er wußte wie. Einst42 drehte er sich vom Schreibtische um, und sah auf dem Sopha in der Ecke des Zimmers den verstorbenen Samuel sitzen. Er ging zwei Schritte darauf zu – er blieb sitzen; noch zwei Schritte – keine Veränderung; er trat ganz dicht heran und neigte sich fast über ihn, da war er verschwunden.
Bei seiner unglaublichen Arbeitsamkeit fand Nicolai anfangs nicht Zeit, einen Arzt zu befragen: er gewöhnte sich nach und nach an diese ungebetenen Gäste und war nur manchmal, wenn ein Lebender in das Zimmer trat, zweifelhaft, ob er es selbst, oder ob es sein Schemen sei. Die Geister unterschied er daran, daß sie beim Thüröffnen und beim Gehn gar kein Geräusch machten.
Endlich fingen die Figuren sogar an, mit ihm zu sprechen; die Hallucinationen des Auges verbanden sich mit denen des Ohres. Welche herrliche Gelegenheit für einen minder starken Geist, die mit den Verstorbenen wirklich gehaltenen Gespräche als Kundgebungen aus der Welt des Jenseits zu betrachten und bekannt zu machen! Wer weiß, wohin die krankhafte Erregtheit des überreizten Nervensystems ausgeartet wäre, wenn Nicolai nicht endlich ärztliche Hülfe gesucht, und durch zweckmäßig angewandte Blutigel den Spuk vertrieben hätte.
Die Erscheinungen hörten auf zu sprechen, sie verloren nach und nach die Lebhaftigkeit der Farben, sie wurden weiße Gespenster, sie theilten sich in der Mitte, und schwebten als Brustbilder vorüber; zuletzt verschwanden sie ganz, nachdem diese wunderbare Verstimmung der Sinnesorgane ungefähr 2 Monate gedauert.
Als wir eines Abends bei Tische saßen, ging der Grosvater in ein anstoßendes, ganz dunkles Kabinet, und43 sagte, als er zurückkam, zu meinem Vater: im Finstern habe er eben wieder seine Phantasmen gesehn; als er die Thür öffnete und ein Lichtstrahl in das Kabinet fiel, seien sie verschwunden. Dieser Aeußerung erinnerte ich mich sehr genau, als ich viele Jahre später seine Abhandlung las. Beinahe noch merkwürdiger als diese Phantasmen selbst ist mir immer die Anwendung erschienen, die Nicolai davon auf das Fichtesche Nichtich machte, welches die Publikation jener Nachrichten veranlaßte.
Nicolai besuchte in seinen letzten Jahren noch sehr regelmäßig den Montagsclub, eine geschlossene Gesellschaft, die i. J. 1749 von J. G. Schultheß gestiftet, noch jetzt (1870), so viel ich weiß, sich einer großen Anzahl von Mitgliedern erfreut. Außerdem hatte er ein Donnerstagskränzchen, das bei den Theilnehmern herumging, und dem mehrere Notabilitäten der damaligen Zeit angehörten. Nur zwei davon kann ich anführen, weil sie durch Fritzens Nachahmungstalent immer in frischem Andenken erhalten wurden.
Der Groskanzler v. Goldbeck, früherer Justizminister, war ein wohlgebauter, feiner Mann von gemessenem Wesen und langsamer Sprache. Er hatte sich die diätetische Regel gemacht, alle Abende eine schwarze Biersuppe mit Kümmel zu essen, und diese durfte natürlich beim Donnerstagskränzchen nicht fehlen. Wenn Fritz sich die blonden Haare aus der Stirn nach hinten strich, die Augen etwas zukniff und die Mundwinkel in die Höhe zog, so ließ sich ein kleines Ebenbild des Groskanzlers gar nicht verkennen. 44
Der Bibliothekar Biester, Nicolais genauster Freund, war ein kleiner verwachsener Mann von vieler Lebhaftigkeit und kräftig tönender Stimme. Sein Kopf reichte bei Tische kaum über den Teller, dabei gestikulirte er viel mit den Händen, und gebrauchte Messer und Gabel auf eine eigenthümlich eckige Weise. Auch diesen wußte Fritz mit großer Virtuosität darzustellen. Es versteht sich indessen von selbst, daß seine harmlosen Exhibitionen auf unsre Kinderstube beschränkt blieben, und erst nach mehreren Jahren, als das Donnerstagskränzchen aufgehört, und Nicolai gestorben war, durften sie sich an den Familientisch hervorwagen.
Dem Grosvater Nicolai hatte sich Fritz durch sein dienstfertiges anstelliges Wesen gleich sehr angenehm gemacht, und meiner Schwester so wie meine Scheu vor dem großen ernsthaften Manne, der uns selten ein gutes oder böses Wort hören ließ, wurde durch Fritzens Munterkeit überwunden. Wir aßen alle Abende oben bei dem Grosvater, und Sonntags auch zu Mittage. Dann holte er manchmal aus einem kleinem Tischkasten das Nürnberger Zauberbuch hervor, blätterte es rasch durch, und zeigte uns beim ersten Male Grenadire, dann Husaren, dann Ulanen u. s. w.; zuletzt sagte er: disparu! und es erschienen lauter weiße Blätter. Das erregte anfangs große Verwunderung; da er aber niemals dazu zu bringen war, uns den Mechanismus zu erklären, sondern nur immer dasselbe Kunststück wiederholte, so verlor die Sache, wie ein unaufgelöstes Räthsel, alles Interesse: denn es kömmt bei solchen Spielereien darauf an, daß man die Wißbegierde der Kinder eben so wohl anrege, als auch befriedige.
Weit ergötzlicher war es, wenn wir uns einen Folio -45 band mit Chodowieckischen Kupfern aus dem Regal am Fenster hervorlangen und durchsehen durften. Von diesem unvergleichlichen Meister besaß Nicolai eine ansehnliche Menge von Blättern in den besten Abdrücken, die noch jetzt den Kern meines beinahe vollständigen Exemplares ausmachen. Von vorzüglicher Schönheit sind die Kupfer zum Sebaldus Nothanker, John Bunkel und andern Nicolaischen Werken. Die vielen Hunderte von kleinen Kalenderkupfern umfassen nicht bloß alle Theile der Welt - und Kulturgeschichte, sondern auch die Dramatiker von Shakspeare bis auf Schiller, und fast die ganze gleichzeitige Romanlitteratur. Bald kannten wir jedes Blättchen so genau, daß die zugehaltene Unterschrift ohne Anstoß hergesagt ward. Diese angenehme kindliche Beschäftigung legte den Grund zu meiner Litteraturkenntniß: denn als ich späterhin mich weiter in jenen Fächern umsah, brauchte ich nur das neugewonnene in den bekannten Chodowieckischen Rahmen einzufügen. Viele Bücher habe ich bloß seiner Kupferstiche wegen gelesen, bin aber oft enttäuscht worden: denn es fehlt viel, daß man den lebendigen Geist, den Chodowiecki seinen künstlerischen Productionen einzuhauchen wußte, auch in den Schriften selbst antreffe.
Beim Abendessen saßen wir um einen geräumigen viereckigen Tisch, der Grosvater obenan, wegen seiner leidenden Augen hinter einem grünen Lichtschirm, meine Aeltern und ein gelegentlicher Gast an den Seiten, die Kinder am unteren Ende. Bei der fortdauernden Kränklichkeit seiner jüngsten Tochter hatte Nicolai die Schwester seiner Schwiegertochter, Henriette Eichmann zu sich genommen, um ihm die Wirthschaft zu führen. Wir nannten sie Tante Jettchen, und liebten sie wegen ihrer Freundlichkeit. 46
Nicolai sprach beim Essen sehr viel, und erzählte weitläufige Geschichten, von denen wir wenig verstanden. So lange ich mit meiner Schwester allein war, saßen wir ganz still und suchten die Langeweile so gut es anging zu überwinden. Als der lebhafte Fritz dazu kam, gab es immer etwas zu kichern und zu plaudern, bis der Grosvater mahnend ausrief: Still, wenn große Leute sprechen, müssen die Kinder schweigen. Wir gehorchten augenblicklich und warteten nur darauf, daß die großen Leute schweigen würden, um unsrerseits sprechen zu können, aber vergeblich. Das ging mehrere Tage so fort; das Wispern und Plaudern war nicht zu unterdrücken, und als der Grosvater wieder einmal dieselbe Phrase in drohendem Tone hören ließ, sagte Fritz halb weinerlich: aber, Herr Nicolai, Sie sprechen ja immer! Er wurde nun noch strenger zur Ruhe verwiesen, aber Tante Jettchen hat mir später gestanden, daß die Wahrheit dieser Bemerkung ihr und meinen Aeltern ein unwillkührliches Lächeln abgelockt.
Ein Lieblingsgericht des Grosvaters war eine kleine grätenreiche Fischart, von den Berlinern Stäkerlinge genannt. Diese mußten in jeder Woche wenigstens einmal vorkommen. Da er nun auch während des mühseligen Ausklaubens der Gräten und des nachherigen Essens bei der spärlichen Beleuchtung unaufhörlich sprach, so saßen, wie ich später erfuhr, meine Aeltern und Tante Jettchen oft in wahrer Todesangst am Tische, weil sie jeden Augenblick fürchteten, ihn an einer Gräte ersticken zu sehn.
Nach Tische setzte der Grosvater, ein wenig auf dem grünen Sopha ausruhend, die Unterhaltung fort. Wir durften nun noch weniger plaudern als vorher, und griffen um so lieber zu einem Bande der Kinderbücher, die der47 Grosvater in einem besonderen Schränkchen sorglich hatte aufstellen lassen. Weiße’s Kinderfreund und der Briefwechsel desselben hatten nicht viel Anziehungskraft: denn so liebenswürdig sich auch der Karakter des Verfassers darin ausspricht, so sind die Belehrungen zu fragmentarisch und von allzuvielen Betrachtungen unterbrochen. Auch war schon damals manches veraltet. Wenn Karlchen einen Postillon d’amour erhält, oder Lottchen ihre Poschen verliert, so waren das für uns unbekannte Größen. Die gefälligen und unterrichtenden Reden des Herrn Spirit und des Magisters Philoteknus konnten den Mangel einer durchgehenden Handlung nicht ersetzen.
In allen Schriften für das jugendliche Alter muß etwas geschehen, und aus den Vorgängen selbst muß Belehrung oder Warnung sich herleiten lassen. Deshalb ward auch der trockne Text zu Salzmanns Elementarbuch selten zur Hand genommen; die Kupfer dagegen, welche der Grosvater nach seiner soliden Art alle einzeln hatte auf Pappe kleben lassen, bildeten neben den Chodowieckis eine unerschöpfliche Quelle der Lust. Kotzebues Geschichten für meine Söhne wurden trotz ihrer platten Moral gern gelesen. Den grösten Beifall fanden die 12 Bände von Campes Reisen, welche in mir zuerst den Trieb erweckten, recht viele fremde Länder zu sehn. Die Krone von allen Kinderbüchern war natürlich der Robinson, den wir abwechselnd der Reihe nach immer von neuem durchlasen.
Wenn der Grosvater sich zum Schlafengehn erhob, so wetteiferten wir, wer ihm mit dem Leuchter bis zu seiner Wohnstube vorangehn sollte. Meistentheils lief Fritz mir den Rang ab, weil ich mich zu sehr in die Bücher vertiefte. 48
In der Wohnstube wartete Friedrich, der alte Bediente, um den Grosvater nach der Schlafstube zu begleiten. Friedrich trug, so lange ich ihn kannte, einen grünen Rock und graue Unterkleider. Obgleich er stets mürrisch war, und nicht leicht etwas ohne Brummen verrichtete, so hatten die Kinder doch eine große Zuneigung zu ihm: denn er erzählte manchmal von dem „ einjährigen Kriege “(1778), den er als Füsilir mitgemacht, von dem grausamen Regenwetter, das alle Wege und Stege verdorben, und von der schlechten Kost in den Quartieren. „ Der König “wurde auch von ihm wie ein Wesen höherer Art betrachtet. Einzelne Aeußerungen des Königs während dieses letzten Krieges wurden wie Orakelsprüche in der Armee herumgetragen; es ist mir aber keine einzige davon im Gedächtniß geblieben.
Neben dem alten Friedrich war die alte Luise als Hausmädchen in der Wirthschaft thätig. Schon damals hatte sie nahe an 40 Jahre in der Nicolaischen Familie zugebracht, hatte meine Mutter und deren Geschwister alle aufwachsen und dahinschwinden sehn, und klapperte nach wie vor mit ihrem Schlüsselbunde durch die weiten Räume der Wohnung. Wenn sie meinem Musiklehrer Weiße die Thür geöffnet, so rief sie zu mir in den Garten hinab: junger Herr, kommen Sie herauf, Herr Patzig ist da! So hatte nämlich der Musiklehrer meiner Mutter geheißen. Sonst mochte sich diese alte Eurykleia mit uns Kindern nicht viel abgeben, und deshalb war sie uns im Grunde gleichgültig, obgleich wir uns wohl hüteten, ihre Zanklust aufzuregen. Sie hatte sich nie verheirathen wollen, und fand ihr einziges Vergnügen darin, ihre Schwester, welche mit einem Schneidermeister in kinderloser Ehe und49 in sehr dürftigen Umständen lebte, an Sonn - und Festtagen mit Kaffee zu bewirthen.
Die alte Luise und der alte Friedrich konnten sich nicht gut vertragen, obgleich sie so viele Jahre in demselben Dienste verlebt. Er hörte nicht auf zu brummen, wenn sie beim Stubenreinigen irgend etwas aus der alten hergebrachten Ordnung verrückte, an die „ der Herr Nicolai “nun so lange gewöhnt war, sie belferte dagegen mit gellender Stimme, wenn Friedrich irgend einen Eingriff in ihr Haushaltungsdepartement machen wollte; sie rief in solchen Fällen die übrigen Dienstboten, die Köchin, das Hausmädchen, zuweilen sogar den Hausknecht und den Markthelfer aus der Buchhandlung zu Hülfe.
Vor diesen Zänkereien empfand ich als Kind ein wahrhaftes Grauen, und noch immer stehn mir die zornigen Geberden, die verzerrten Mienen als Schreckbilder vor der Seele. Der Grosvater Nicolai in seiner entfernten Studirstube hörte diese häuslichen Dissonanzen nicht, auch kamen diese Zwiste zur Entscheidung niemals vor sein Forum, sondern wurden meistens von der Tante Jettchen beigelegt. Dabei fehlte es nicht an komischen Vorgängen. Friedrich sollte für den Grosvater einen Gang machen, und verlangte, da es gerade regnete, von Luischen den für die Dienstleute bestimmten baumwollenen Regenschirm. „ Ach was “, rief sie, „ den Schirm kann ich Ihnen nicht geben, der wird ja naß! “ Darauf entwich sie schlüsselklappernd bis in den tiefsten Keller. Tante Jettchen gab nun, da Luischen durchaus nicht zu errufen war, ihren eigenen Schirm her, und erzählte uns am Abend die köstliche Anekdote. Fritz machte alsbald Gebrauch davon, und sagte in den nächsten Tagen zu der alten Haushäl -50 terin mit seiner gutmüthigsten schnippischen Miene: Liebes Luischen, könnten Sie mir wohl Ihren Schirm geben, aber er wird naß! – Nehmen Sie ihn man, junger Herr, war die Antwort; ich weiß schon, daß der eklige Friedrich wieder einmal gepetzt hat!
Tante Jettchen hörte einmal die alte Luise ganz entsetzlich in der Küche keifen, und fragte endlich, als der Lärm gar nicht aufhören wollte, das Hausmädchen nach der Ursach. Ach, erwiederte diese seufzend. Luischen hat in der Wäsche den Rücken aus ihrer kattunenen Kontusche verloren!
Es würde, wie ich glaube, schwer sein, unter den heutigen Dienstboten ein paar Exemplare, wie Friedrich und Luischen aufzufinden. Hat sich doch überhaupt das Verhältniß der dienenden Klasse zur Herrschaft im Laufe der Zeiten wunderbar verändert. Denn um von der Stellung zu schweigen, die den antiken Sklaven beim Plautus und Terenz angewiesen ist, wo sie meistens die Hauptleiter der Intriguen sind, so würden doch auch Dienstboten, wie sie bei Moliere vorkommen, jetzt kaum irgendwo anzutreffen sein, und die Rollen, welche sie in den Ifflandschen und Kotzebueschen Stücken spielen, sucht man in den heutigen dramatischen Werken vergebens.
Luischen blieb 54 Jahre in unsrer Familie, und sah, als meine Kinder geboren wurden, die fünfte Generation im Hause, denn sie hatte noch Madame Schaarschmidt, Nicolais Schwiegermutter gekannt. Bei ihrem 50jährigen Jubiläum im Jahre 1820 oder 1821 ward eine kleine Feierlichkeit veranstaltet, wobei sie aus den Händen des Bischofs Ritschl unter sehr vielen Thränen eine goldne Kette und ein Geldgeschenk aus dem Gesindebelohnungsfond empfing. Tante Jettchen, welche sich viel mit Zeich -51 nen beschäftigte, machte ihr wohlgetroffenes Bildniß in einem kleinen Oval, das sich lange in unsrer Famlie erhalten hat, aber endlich doch abhanden gekommen ist. Die Sitzungen konnten immer nur sehr kurz sein: denn Luischen schlief ein, sobald sie still sitzen mußte.
Nach ihrem Tode trat ein Fall ein, der mir recht deutlich zu Gemüthe führte, daß Reichthum oft ein Unglück zu nennen sei. In Luischens Nachlasse fanden sich in einer alten Kommode nahe an 6000 Thlr., meist in Rollen von 50 Thlr., die sie theils durch eine Erbschaft erhalten, theils während ihrer langen Dienstzeit zurückgelegt hatte. Diese fielen ihrer Schwester und ihrem Schwager zu, gereichten ihnen aber nicht zum Segen. Die Schwester wurde von der Größe der ererbten Summe geistig geblendet; die Furcht den Reichthum zu verlieren raubte ihr Glück und Heiterkeit. Sie packte die Fünfzigthalerrollen zusammen, brachte sie nach ihrer kleinen Hofwohnung in der Stralauerstraße, schloß sie in eine Truhe, und war seitdem bis zu ihrem Tode nicht zu bewegen, das Zimmer zu verlassen, aus Furcht, daß Räuber einbrechen könnten. Der Mann hielt sich auch für einen Krösus, und wollte sich bisweilen einen guten Tag machen, allein da das Geld ihr, und nicht ihm gehörte, so bedurfte es immer der grösten Anstrengungen, um ihr nur einen Thaler abzudrängen, und das bisher friedliche Hauswesen wurde durch unablässigen Hader gestört.
Da Luischen so lange Jahre schlüsselklappernd und keifend im Hause gesehn worden war, so konnte es nicht fehlen, daß sie nach ihrem Tode darin umging. Bald hörte man sie Abends über die Gallerie trippeln, bald sah man sie am hellen Tage in der Speisekammer stehn und52 Teller zählen, bald wollten die Waschfrauen sie im Keller bemerkt haben. Dies ging so weit, daß meine Dienstboten am Abende die Gallerie vermieden. Da mich die Sache interessirte, so suchte ich ihr auf den Grund zu kommen, sah aber sehr bald, daß sie, wie jeder andre Mythus, vollkommen in der Luft schwebte. Wen ich von den Hausleuten fragte, der hatte den Geist nicht selbst gesehn, sondern nur von einem anderen gehört, daß er ihn gesehn haben wolle u. s. w. Der Spuk hörte jedoch nicht eher auf, als bis ich mehrere Jahre nachher das Haus umbaute, wobei auch die Gallerie verschwand.
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Von der Gestalt meines Grosvaters Nicolai habe ich eine sehr deutliche Vorstellung. Er war ein ungewöhnlich großer starkknochiger Mann, der mir immer wie ein Riese vorkam, weil er größer war als mein Vater und die übrigen Hausgenossen. Weber (Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen 3, 371) nennt ihn einen langen, hagern, ungemein ernsten Mann, ohne einen Zug von Satyre oder lachender Laune; Thiebault (Souvenirs de vingt ans 2, 339) macht eine keineswegs einnehmende Beschreibung von ihm, er sagt unter andern, qu’il avait un air roide et cependant dégingandé. Den Kopf trug er im höheren Alter gebeugt; in dieser Hinsicht ist die Büste von Schadow, die sonst eine große Naturwahrheit hat, nicht ähnlich, weil sie den Kopf allzusehr in die Höhe hebt. Sein Gesicht war blaßgrau, und die Züge hatten etwas stumpfes, weshalb ich ihn nicht gern lange ansehn mochte. In seinem 72. Jahre verlor er durch einen Rheumatismus das rechte Auge; die Aerzte riethen ihm, zur Schonung des übriggebliebenen sich so viel als möglich mit Grün zu53 umgeben. Seine Stube wurde daher grün angestrichen, Sopha und Stühle grün überzogen, und beim Abendessen trug er einen grünen Schlafrock; beim Mittagstische habe ich ihn nie anders gesehn als in einem hellgrauen Rocke, schwarzen kurzen Beinkleidern, schwarzen Strümpfen und einer Weste mit Schößen. Er trug, so lange ich ihn gekannt, keine Perücke, sondern das graue gepuderte Haar aus der Stirn gekämmt, und hinten zu einem mäßig starken Zopfe ohne Haarbeutel vereinigt.
Viele Jahre nach seinem Tode sagte mir Herr v. Rumohr, der berühmte Kunstkenner und Kunsthistoriker, er habe meinen Grosvater auch noch gekannt, und es sei ihm merkwürdig gewesen, daß Nicolai noch im höchsten Alter sehr reine Wäsche getragen. Eine Bemerkung, die den feinen Beobachter charakterisirt!
Nicolais Stimme war nicht vom Alter gebrochen; sie hatte einen klaren angenehmen Klang; da er gern und viel erzählte, so sind mir alle Modulationen derselben sehr treu im Ohre geblieben. Auch einzelne Redensarten haben sich mir eingeprägt; so gebrauchte er öfter den Ausdruck: das ist platt unmöglich! und ich dachte in der Stille nach, wie denn wohl das platte mit dem unmöglichen zusammenhängen könne. Einst erzählte er eine mir gänzlich entschwundene Geschichte von dem Discantsänger Concialini (?), der unter Friedrich II. in der italiänischen Oper das Publikum entzückt, sich aber bei irgend einer Gelegenheit unpassend benommen hatte. „ Ja, ja “, sagte der Grosvater zum Schlusse, „ Musikanten und Komödianten, das ist lauter Kesselflickervolk! “
Einst sah ich auf des Grosvaters Schreibtische mehrere winzig kleine Bücher, kaum einen Zoll lang und breit54 liegen, die meine Neugier auf’s höchste reizten. Sie waren in gepreßtes Leder gebunden, und mit einer feinen goldnen Borte oder Schnur eingefaßt, die oben am Rücken eine Oese bildete. Ich erfuhr, dies seien die sogenannten Brelockenkalender, die man neben den Petschaften an der Uhrkette getragen. Nicolai hatte sie in der Zeit des siebenjährigen Krieges anfertigen lassen, und damit einen ganz unglaublichen Erfolg erzielt. Der Ertrag des Geschäftes soll sich auf mehr als 6000 Thaler belaufen haben. Die Büchlein enthielten neben kleinen Kupfern einige Verse auf den König, auf die Generale Ziethen, Seydlitz, Winterfeldt etc. Jeder patriotische Preuße mußte einen solchen Brelockenkalender besitzen; der Absatz ging in die Tausende. Die feinen Goldborten konnten damals nur in Nürnberg angefertigt werden. Nicolai verschrieb sie in großen Quantitäten, und vertheilte sie zu Hunderten von Ellen an die Buchbinder. Da geschah es nun, daß ein Buchbinder in der Spreegasse den Grosvater zu Gevatter bat. Als dieser während der heiligen Handlung auf den Täufling in seinen Armen niederblickte, bemerkte er, wie das Festmützchen des Kleinen mit der goldnen Kalenderborte eingefaßt war. Zwei Exemplare dieses Nicolaischen Verlagswerkes, das jetzt wohl zu den allergrösten bibliographischen Seltenheiten gehören mag, haben sich in meinem Besitze erhalten, beide aus dem Friedensjahre 1763. Das eine beginnt
Das andere
Als ich noch sehr klein war, sollte in Berlin ein Luftballon steigen, damals eine seltne Erscheinung. Er hing zur vorläufigen Ansicht des Publikums, nur mit atmosphärischer Luft gefüllt, in dem großen Mittelsaale der königlichen Bibliothek, der durch zwei Stockwerke hindurchgeht. Der Grosvater führte mich zu diesem neuen Schauspiele. Er trug einen weiten grauen Ueberrock mit hellen Schnüren besetzt, einen großen dreieckigen Hut, und ein gewaltiges spanisches Rohr mit Elfenbeinknopf und goldner Quaste. Es kam mir vor, als ob die Leute auf der Straße uns nachsähen, wohl weniger wegen des damals doch nicht ungewöhnlichen Anzuges, als weil ein Riese einen Zwerg an der Hand führte. Der Ballon selbst machte auf mich einen ganz ungeheuren Effekt; die Vollkommenheit der Kugelform der epikurischen Götter trat mir damals unbewußt vor die Seele; auch die großartigen Dimensionen des Gebäudes mit den reichen Säulenstellungen, in dem die Tritte auf den Steinfliesen weithin wiederhallten, prägten sich dem Gedächtnisse unverlöschlich ein.
Die eine Seite unseres Hausgärtchens stieß an ein hohes Nachbarhaus, das durch seine blendend weiße Fläche den leidenden Augen des Grosvaters sehr störend war. Ein junger Nußbaum und einige Linden im Garten gaben zu wenig Schutz. Nur mit Mühe wurde der Nachbar, mit dem Nicolai früher auch Streitigkeiten und Prozesse gehabt, zu der Erlaubniß vermocht, daß der Grosvater auf seine Kosten die Wand dürfe grün anstreichen lassen. Nun sahen die Kinder mit Verwunderung das gewaltige Gerüst langsam im Garten aufsteigen, und die verwegenen56 Zimmergesellen auf dünnen Brettern bis zur höchsten Höhe sich aufschwingen. Die sonst streng verschlossene Gartenthür stand den ganzen Tag offen, und ein Theil der zierlichen Beete wurde von den Maurern zertreten, denen wir anfangs wegen ihrer schmutzigen Kleider kaum zu nahen wagten. Sehr langsam – denn Fritz war damals noch nicht im Hause – ward mit den fremden Leuten, während wir im Garten spielten, eine Bekanntschaft angeknüpft; die vom Stock zu Stock hinaufreichenden Leitern hatten gar zu viel verführerisches; die erste wurde glücklich von mir erstiegen, der zweite Plan gewahrte einen ungewohnten Einblick in den Nachbargarten; ohne Zweifel wäre ich zum vierten Stocke hinaufklettert, wenn nicht das wachsame Auge von Madame Clause mich erspäht, und wenn nicht ihr Zetergeschrei den Grosvater ans Fenster gerufen bitte. Eilig stieg ich hinab, und nachdem Madame Clause hinlänglich gescholten, kam der alte Friedrich mit dem Befehle, daß ich vor dem Grosvater erscheinen solle. Der Gang zum Hochgericht kann nur ein Kinderspiel sein gegen die Gefühle der Vernichtung, welche mich beherrschten. Ob der Tadel scharf oder gelinde gewesen, bin ich völlig außer Stande anzugeben; aber die Art des Grosvaters war eine so herbe, daß ich mich sehr gut erinnre, nicht eine Thräne vergossen zu haben, während mir sonst bei einem liebreichen Verweise der Aeltern die Augen allzuleicht naß wurden. Bei Jean Paul (Titan 1, 175) habe ich den richtigen Ausdruck für jenes mehr als gräsliche Gefühl gefunden: nachsterben.
So wenig ich im allgemeinen von den Abenderzählungen des Grosvaters fassen konnte, so ist doch einiges davon haften geblieben. Die Geschichte von der Steinsuppe57 erzählte er einmal sehr ausführlich und mit einem gewissen ernsthaften Humor. Zwei Reisende können von den unfreundlichen Wirthsleuten nichts zu essen erhalten. Nun, sagen sie, wenn ihr denn gar nichts habt, so müssen wir uns Steine kochen. – I, wie wollt ihr die weich kriegen? – O, das geht schon, wenn sie lange genug ziehn, und die Zuthaten gut sind. – Ein Dutzend Bachkiesel wird rein abgewaschen und aufs Feuer gesetzt. Nach einiger Zeit sagt der eine Reisende: sie wollen noch nicht werden; es wäre gut, ein Stück Brodt einzuschneiden; es geschieht. – Tüchtig gesalzen werden sie schneller gar, – ein Stück Butter macht sie geschmeidiger, – habt ihr keine Petersilie im Hause? die hilft, – eine Hand voll Mehl desgleichen. Zuletzt wurden noch ein paar Eier hineingeschlagen. Nachdem die Reisenden diese nahrhafte Suppe mit bestem Appetite verzehrt, lassen sie die Steine stehn. – Aber ihr eßt ja die Steine nicht? – Die sind schon wieder hart geworden; wenn ihr sie essen wollt, so müßt ihr sie noch einmal aufkochen.
Interessanter war die Mittheilung, daß Nicolai sich noch recht gut entsinnen konnte, wie sein Vater von der Huldigung König Friedrichs II. (1740) nach Hause gekommen sei, in kurzem spanischen Mantel, mit Degen und Federhut, einer Allongeperücke und mit großen Schleifen auf den Schuhen. Damals war Nicolai (geb. 1733) sieben Jahre alt. Er durchlebte die glorreiche Zeit der drei schlesischen Kriege mit vollem Bewußtsein. Bei dem Abschlusse des Hubertsburger Friedens (1763) war er ein Mann von 30 Jahren. Er erwähnte, daß die Berliner Bürger es dem Könige lange nicht verziehen hätten, als er bei dem vorbereiteten Einzuge um die Stadt herum, durch ein anderes58 Thor eingefahren sei, aber später habe man doch auch hierin seine Seelengröße erkannt und gewürdigt. Die öffentlichen Friedensfeierlichkeiten hätten mehrere Tage gedauert; zuletzt sei ein großes Feuerwerk auf und neben dem Tempelhofer Berge abgebrannt worden. Er habe sich mit mehreren jungen Kaufleuten zusammengethan, um zu Pferde dem seltenen Schauspiele beizuwohnen. Weil der Andrang von vorn gar zu groß gewesen, so seien sie in der Dunkelheit über Stock und Stein um den Berg herumgeritten, um von hinten etwas zu erhaschen. Als sie nun nach manchen Hindernissen dort ankamen, stand ihnen eine hohe Bretterwand vor der Nase, von den Veranstaltern des Feuerwerkes vorsorglich errichtet; die Stöcke der abgebrannten Raketen fielen ihnen auf die Köpfe und sie kehrten endlich in tiefer Nacht misvergnügt nach Hause zurück, ohne etwas anderes als ein paar Leuchtkugeln gesehn zu haben.
Ob ich das nachfolgende Geschichtchen von Lessing aus des Grosvaters Munde selbst, oder durch Tradition von meinen Aeltern empfangen, will ich dahin gestellt sein lassen, jedenfalls gewährte es uns Kindern, die wir den Namen Lessing dabei zum erstenmale hörten, ein großes Vergnügen.
Auf seinen vielen Reisen kam Lessing beim frühsten Tagesgrauen einmal nach Schöppenstädt. Als er sich dem Städtchen näherte, fragte er den Postillon: Nun, Schwager, wie ist es, werde ich denn einen Schöppenstädter Streich zu sehn bekommen? – Sorgen der Herr nicht! war die Antwort. Sie fahren durch das Thor der Vorstadt, und finden noch keinen Menschen auf der Straße, alle Thüren und Fensterladen sind geschlossen. Sie kommen durch59 das Stadtthor, und fahren langsam durch die Stadt, überall dieselbe Einsamkeit. Lessing wiederholt seine Frage und erhält dieselbe zuversichtliche Antwort. Sie lassen die Stadt hinter sich und sind bereits an den letzten Häusern der Vorstadt, da öffnet sich ein Fensterladen, ein Bürger steigt im Hemde zum Fenster hinaus, und schließt von außen seine Hausthür auf. Da haben Sie ihn! ruft der Postillon, und setzt seine Pferde in Trab.
Eben so wenig ist mir deutlich, ob ich aus des Grosvaters Munde oder sonst woher gehört, daß Lessing auf seinen Reisen zu sagen pflegte: das Abschiednehmen hat Gottsched erfunden; man sieht sich immer wieder!
Unter den Abendgästen am Tische des Grosvaters dünkte uns Zelter eine ungewöhnliche Erscheinung. Seines Zeichens ein Maurermeister übte er dies Handwerk mit unverdrossenem Fleiße, daneben besaß er ein so bedeutendes musikalisches Talent, daß seine Liederkompositionen in aller Munde waren. Nach dem Tode von Fasch (1800) ward er Vorsteher der Singakademie und verwaltete sein Amt mit dem schönsten Erfolge. Von riesiger Gestalt, mit übergroßen Händen und einer Stentorstimme begabt, war er ganz dazu geeignet, den Kindern anfangs Schrecken einzujagen; allein er wußte seine Stimme zu mäßigen, und erzählte mit so vieler Anschaulichkeit und mit so eigenthümlichen Kraftworten, daß wir gern an seinem Munde hingen. Mit seinen großen Händen zerlegte er die Gerichte auf das zierlichste, als indessen einmal Krebse aufgesetzt wurden, sahen wir mit Entsetzen, wie er die Scheeren krachend mit den Zähnen zermalmte, und den Leib laut schlürfend aussog. Fritz erhielt dadurch eine gute Gelegenheit, sein Nachahmungstalent in der Kinderstube60 geltend zu machen. Ein andermal kam eine Schüssel mit Pfannenkuchen – nicht aus der Hausküche sondern vom Conditor geholt – welche so misrathen waren, daß selbst wir Kinder sie verschmähten, obgleich Madame Clause von uns zu sagen pflegte: ils ont des estomacs obligeants! Das ist ja, als wenn man in eine Pelzmütze bisse! rief Zelter aus.
Nachdem er einen Winter lange Zeit weggeblieben, erschien er eines Abends mit dem linken Arm in der Binde. Alles erkundigte sich theilnehmend nach seinem Unfalle. „ Bei argem Glatteis “, sagte er, „ ging ich in der Königsstraße mit dem Professor Walch, der ein dickes Notenbuch unter dem Arme trug. Aus purer Höflichkeit nehme ich ihm dasselbe ab. Bald darauf gleite ich aus, falle auf die Seite, und das verwünschte Buch hebt mir den Arm aus der Kugel, woran ich nun schon 8 Wochen laborire. Seitdem habe ich mir fest vorgenommen “, schloß er lachend, „ nie in meinem Leben mehr höflich zu sein. “
Ein andres Mal erzählte er, wie er als Musikverständiger der Prüfung eines Organisten beigewohnt, der sich um eine vacante Stelle bewarb. „ Das Männchen “, sagte Zelter, „ war sehr klein, und konnte mit den Beinchen kaum das Pedal abreichen [sic]. Er dachte, bei der Orgel komme es darauf an, recht viel Lärm zu machen; er zog alle Register, und arbeitete mit Händen und Füßen, daß die Windlade hätte platzen können. Da rutscht er plötzlich von der Bank ab, und fällt auf die Pedaltasten. Nun denke man sich das infernalische Spektakel, als das Kerlchen sich auf das 16füßige C stützte, um wieder auf die Beine zu kommen; das ging Fuh, fuh, fuh! “ Und nun machte uns Zelter mit seiner Löwenstimme das Fauchen eines Orgelpedales vor. 61
Was ist ein Orgelpedal, ein Register, eine Windlade, ein 16füßiges C? fragten wir, und ließen uns am andern Tage diese Ausdrücke vom Vater erklären, der selbst in seiner Jugend ein geübter Orgelspieler gewesen war. Doch ohne Autopsie waren alle Erklärungen nicht ausreichend, um uns den wunderbar zusammengesetzten Bau der Orgel deutlich zu machen; der Vater versprach daher, uns so bald als möglich die Einrichtung in der Kirche zu zeigen. Da aber ein Sonntag nach dem andern verging, ohne daß dieser Vorsatz zur Ausführung kam, so suchten wir uns selbst zu helfen. Der Sohn des Hofapothekers, mit dem wir in der Hartungschen Schule saßen, kannte den Sohn des Hoforganisten am Dom, und dieser Sohn machte seinen Einfluß bei dem Balgentreter geltend, um uns eines Sonntags mit auf die Orgel zu nehmen. Erklären konnte unser Kamerad den Mechanismus eben so wenig als der massive Balgentreter, und mit Verwunderung blickten wir in den Wirrwarr von Schnüren und Klappen hinein. Fritz war so keck, ein kleines Pfeifchen herauszuziehn und darauf zu blasen. Aber welch’ einen überwältigenden Eindruck machte es, als die mächtigen Töne der Orgel in unmittelbarster Nähe, fast unter unseren Füßen hervorquollen. Mir bebte das Innerste, und ich suchte bald einen entfernteren Standpunkt. Fritz blieb ungerührt stehn, und trotzte gleichsam der heranrauschenden Brandung der Töne, die mir mit niederdrückender Gewalt über dem Haupte zusammenschlug. Wir konnten nun ungefähr so viel begreifen, daß jedes gezogene Register die Stärke des Tons vermehre, und daß das 16füßige C einer Posaune von 16 Fuß Länge entspreche.
Eines Abends spielte mein Vater das von Zelter kom -62 ponirte Schillersche Gedicht: Nehmt hin die Welt etc. Die kräftigen, wenn auch etwas alltäglichen Rythmen fielen angenehm ins Ohr, aber der Schluß dehnte sich ins unendliche aus. Wir zählten nach und fanden, daß die Worte: So oft du kommst, er soll dir offen sein! nicht weniger als 18 Mal wiederholt waren. Gerade in den nächsten Tagen fand sich Zelter zum Besuche ein, und mein Vater fragte ihn lachend nach der Ursache jener beispiellosen Dehnung. Ach! erwiederte Zelter halb ärgerlich, es sollte eine Arie werden! und machte das Heft zu. Dieser sonderbare Ausspruch prägte sich mir fest ein, weil Zelter damals für eine der ersten musikalischen Autoritäten Berlins galt; ich dachte oft darüber nach, ob es denn passend, oder überhaupt zulässig sei, an den Schluß der halb-humoristischen poetischen Erzählung eine ernsthafte Arie zu setzen, und als ich meinen Vater darüber befragte, erfuhr ich zu meiner Genugthuung, daß eine so unnatürliche Verbindung gegen alle Regeln der musikalischen Komposition verstoße.
Ein junger Arzt aus Hannover, Dr. Kohlrausch, ein Neffe des Pädagogen, war an Nicolai empfohlen, und kam recht häufig zu den einfachen Abendmahlzeiten. Er übertraf Zeltern noch an Größe, hatte aber ein durchaus feines elegantes Betragen und sprach mehrere Sprachen mit großer Geläufigkeit. Bei einem mehrjährigen Aufenthalte in Italien hatte er schöne Kunstsachen erworben, war mit Wilhelm v. Humboldt bekannt, und von diesem nach Berlin gezogen worden. Wir konnten gar bald bemerken, daß er der Tante Jettchen große Aufmerksamkeiten bewies. Er heirathete sie später i. J. 1816 und trat als Geheimer Medizinalrath in das Altensteinsche Ministerium. Im Ge -63 nusse seiner Kunstsammlungen habe ich später die seligsten Stunden verlebt.
Neben diesen angesehenen Gästen erschienen auch andre von geringerer Bedeutung, denen der Grosvater mit weniger Aufmerksamkeit zuhörte, was zu manchen Misverständnissen Veranlassung gab. Ein Verwandter von Tante Jettchen, den wir Vetter Wilhelm nannten, und der sich der juristischen Laufbahn widmete, war in der Familie wegen seiner schönen Handschrift und wegen seines ausdrucksvollen Vorlesens bekannt, galt aber sonst für einen Windbeutel. Mit einer klaren, volltönenden Stimme verband er eine große, vielleicht übertriebene Emphase. Engels Entzückung des Las Casas, von ihm vorgelesen, hat mich auf das tiefste bewegt. Dieser Vetter fand sich eines Abends ein, und erzählte viel von seinen losen Streichen auf dem Grauen Kloster, das seinen berühmten Direktor Gedike, Nicolais genauen Freund, erst vor kurzem (1803) verloren hatte. Die Verdienste des großen Schulmonarchen wurden nach Gebühr gewürdigt, doch auch seine Eigenheiten nicht verschwiegen: denn es ist die Art der Mittelmäßigkeit an einem hervorragenden Manne zumeist die kleinen Flecken aufzusuchen. Der Vetter war in Gedike’s Familie bekannt, und erzählte, der Alte habe nie gelitten, daß irgend jemand seinen Töchtern etwas von Liebe vorschwatze. Als der Vetter einstmals am Klaviere saß, und der ältesten Tochter eine schmelzende Romanze vorsang, worin viel von Liebe vorkam, rief sie plötzlich ganz ängstlich: Singen Sie Freundschaft, Freundschaft! Papa kömmt!
So gut im Ganzen die Disciplin auf dem Grauen Kloster war, so seien doch manchmal, wie der Vetter erzählte, in den Zwischenminuten wunderliche Dinge ausgeführt64 worden. Eins der tollsten sei gewesen, daß 5 Jungen sich neben einander Schulter an Schulter auf die Erde gelegt, der erste dicht an der Wand; auf diese legten sich 4, dann 3, dann 2, zuletzt einer, der dann gewöhnlich von oben herabgerollt sei. Das habe man einen Knochenberg genannt. Als er von uns wegen der Unmöglichkeit der Ausführung angegriffen wurde, und nach einem lebhaften Wortwechsel eine augenblickliche Pause entstand, sagte der Grosvater, der an etwas ganz anderes gedacht, ganz ruhig: wo nahmen Sie denn die Knochen her? Der Erzähler war in der übeln Lage, die alberne Geschichte wiederholen zu müssen. Er zog sich auf eine ziemlich klägliche Weise aus der Sache, und ließ sich lange nicht wieder sehn.
Nicolai hatte früher mit seiner Familie den ganzen ersten Stock seines Hauses bewohnt; als er zuletzt mit seiner jüngsten Tochter Lottchen allein übrig blieb, zog er sich in die hinteren Zimmer zurück, und die ganze Vorderseite stand leer. Sein großes Studirzimmer ging ungefähr nach Süden in den kleinen Garten hinaus. Ueber dem Schreibtische am Fenster erhob sich ein hohes Regal. Darin stand ein vollständiges Exemplar der Allgemeinen Deutschen Bibliothek in 268 Bänden, das beste Zeugniß von Nicolais litterarischer Wirksamkeit. An den beiden Seitenwänden standen weiße Bücherschränke mit Glasthüren; an der Wand den Fenstern gegenüber sah man die Thür nach dem daranstoßenden Bibliotheksaale, daneben zeigte sich ein kleines tafelförmiges Klavier, auf dem der Grosvater manchmal Choräle spielte. Außerdem war diese ganze Wand bis zu einer bedeutenden Höhe hinauf mit den eingerahmten Bildnissen aller berühmten Zeitgenossen, von Rabener bis auf Alexander v. Humboldt65 bedeckt. Den Werth der Originalsilhouetten von Lessing und Schiller, der Handzeichnungen von Frisch, Chodowiecki, Graff etc. wußten wir Kinder freilich damals nicht zu schätzen, wir kritisirten die Köpfe nur nach dem mehr oder minder gefälligen Aussehn. So besinne ich mich, daß Frau von Stael uns verhaßt war, weil sie in der Ferne für einen Mann gelten konnte.
Ueber den Bücherschränken hingen größere Kupferstiche, über dem Sopha das schon erwähnte lebensgroße Kniestück von Frau von der Recke und andre Bildnisse.
Der Eintritt in die Studirstube erregte uns Kindern immer ein Gefühl der Befangenheit, aber unbeschreiblich war unser Erstaunen, als wir eines Tages sahen, wie der Grosvater die Thür eines Bücherschrankes öffnete, hineintrat und nicht wieder zum Vorschein kam. Wie sollte für den großen starken Mann in dem schmalen Schranke sich Raum finden? Nach kurzer Zeit trat er wieder ein. Wir wagten nun auch, den Schrank zu öffnen, und fanden, daß diese Vexirthür in ein daneben liegendes Kabinet führte, dessen Wände bis an die Decke hinauf mit Büchern tapezirt waren. Diesen Ausgang hatte der Grosvater angelegt, um sich den Umweg durch den Bibliotheksaal nach seinem Schlafzimmer zu sparen.
Als mein Vater später das Zimmer bewohnte, wurde die Thür nach dem Bibliotheksaale verschlossen, um den bequemeren Eingang durch das Kabinet zu haben; da sahen wir denn oft, nicht ohne innerliches Ergötzen, wie manch ein Fremder, der durch die Vexirthür eingetreten war, beim Abschiede sich umwendend, verwundert vor dem Bücherschranke stehn blieb, und den Ausgang nicht finden konnte.
Der behagliche Genuß unserer bürgerlichen Existenz wurde gestört, ja fast vernichtet durch den Krieg von 1806, der über Preußen eine Reihe von sieben Leidensjahren brachte, wie sie schwerlich ein anderer Staat in der neueren Geschichte erfahren. Man muß dieses Zusammenbrechen aller Verhältnisse, diese gänzliche Rathlosigkeit der Behörden, die Angst und Noth so vieler Familien gegenüber dem frechen Uebermuthe der Sieger miterlebt haben, um den Aufschwung des Volkes in den Jahren 1813 – 15 begreifen zu können.
Mit Grauen hörten die Kinder von den Hausleuten die ängstlichen Worte: nun giebt es Krieg mit den Franzosen! Es schien als ob ein bisher unbekanntes Uebel in der Luft liege und im Anzuge sei. Das Gefühl der völligen Haltlosigkeit des Staates in seiner jetzigen Organisation war unbewußt bis in die tiefsten Schichten der Bevölkerung hinabgestiegen. Nirgends bemerkte man eine frohe Siegeshoffnung, sondern man hörte nur Aeußerungen des Kleinmuthes: das kann noch sehr schlimm werden! – nun kommen die Feinde! – wer weiß, wie es uns gehn wird! 67
Von den preußischen Soldaten hatten wir bis dahin sehr wenig in Berlin gespürt. Sie wohnten ruhig in ihren Kasernen. Nun sah ich zum ersten Male in unsrer stillen Brüderstraße einen Schwarm bewaffneter Leute mit breiten dreieckigen Hüten und entsetzlich langen Zöpfen. Sie zogen einzeln und verdrossen auf ihren Sammelplatz an der Petrikirche und stellten sich in Reih und Glied. Ein Schwarm Kinder und müßigen Gesindels betrachtete aus der Ferne das ungewohnte Schauspiel. Die armen Leute, sagte neben mir eine Frau aus dem Volke, wie mancher davon wird nicht zurückkommen!
Auch an übeln Vorbedeutungen, die freilich nur dann behalten werden, wenn sie eintreffen, fehlte es nicht. Als ein Regiment mit klingendem Spiele beim Zeughause vorbeizog, löste sich von den Trophäen auf dem Mittelgiebel der Kopf einer Bellona, und stürzte krachend auf das Pflaster.
Die Namen der preußischen Generale, des Herzogs von Braunschweig und des Feldmarschalls von Möllendorf hatten aus dem siebenjährigen Kriege her einen guten Klang; allein seit dem Hubertsburger Frieden waren 43 Jahre verflossen. Im Volke erzählte man sich, der Herzog von Braunschweig müsse sich bei jedem Worte besinnen, das er schreiben wolle, und Möllendorf brauche einen Schemel, um auf das Pferd zu steigen, wobei es vorkomme, daß er auf der andern Seite herabfalle.
Nur zu bald erreichte uns die Nachricht von der unglücklichen Schlacht bei Jena, und es währte nicht lange, so hielt der Kaiser Napoléon seinen Einzug in Berlin. Da dies an meinem Geburtstage, den 27. Okt. 1806 stattfand, so ist mir die Erinnerung daran sehr lebendig. Ich68 stand an der Hand meines Vaters vor dem K. Palais, wo die neugierigen Zuschauer in sehr geringer Anzahl sich versammelt hatten. Mehrere Regimenter zu Fuß und zu Roß zogen dichtgedrängt dahin. Da entstand ein leerer Raum; ein kleiner Mann auf einem weißen Pferde, gefolgt von einem Reitertrupp in glänzenden Uniformen, ritt langsam gegen das Schloß hin, nach allen Seiten sich lebhaft umsehend. Das ist der Kaiser Napoléon, sagte mein Vater. Wir sahen ihm lange nach, und gingen auf einem Umwege nach Hause, weil die damalige Hundebrücke, eine erbärmliche hölzerne Zugbrücke, an deren Stelle jetzt die Schloßbrücke getreten ist, gesperrt war, und der Schloßplatz dicht voll französischen Militärs stand.
Ueber die großen Lieferungen von Kriegsbedürfnissen und die unerschwinglichen Kontributionen hörte man von allen Seiten laute Klagen. Es kam wirklich schlimmer, als selbst die Muthlosesten vor dem Kriege gefürchtet. Die französischen Soldaten wurden bei den Bürgern einquartirt, und unser Haus, als das stattlichste in der Brüderstraße, erhielt gewöhnlich die schwerste Belastung von Obersten und Generalen. Nicolai mußte die ganze Vorderfront seines Hauses den fremden Gästen öffnen. Es ist mir erinnerlich, daß wir einige Zeit 22 Personen und 12 Pferde Einquartirung hatten. Im Hofe befand sich ein Stall für 6 Pferde; denn es gehörte in jenen Zeiten zu den Vorzügen eines wohleingerichteten Hauses, bei einem Besuche vom Lande nicht bloß Gaststuben für die Ankommenden, sondern auch Stallung und eine gut