PRIMS Full-text transcription (HTML)

JUGENDERINNERUNGEN VON GUSTAV PARTHEY.

JUGENDERINNERUNGEN
HANDSCHRIFT FÜR FREUNDE.
ERSTER THEIL.
BENE QUI LATUIT BENE VIXIT.

Inhalt des ersten Theiles.

Seite
Vater Parthey. Grosvater Nicolai1
Fritz. Frisur und Zopf20
Haus in der Brüderstraße. Probstei. Nicolais Hauswesen32
Krieg von 1806. Napoléon I. in Berlin. Schule von Hartung66
Herzogin von Kurland in Berlin95
Lehmschloß. Brand der Petrikirche108
Nicolais Tod. Umzug in den ersten Stock148
Graues Kloster. Nicolais Bibliothek166
Jugendfreunde. Turnplatz. Theodor Körner186
Pathe Göckingk204
Grosvater Eichmann212
Tante Jettchen248
Politische Ereignisse bis 1812262
Reise nach Löbichau und Dresden 1812287
Französische Einquartirung 1812307
Russischer Feldzug 1812320
Befreiungskriege 1813. 1814334
Nach dem Kriege431
v

Vorwort.

Die nachfolgenden Blätter habe ich auf den Wunsch meiner beiden lieben Kinder, Gustav und Veronika niedergeschrieben, die meinen mündlichen Mittheilungen so oft mit liebevoller Theilnahme gefolgt sind. Mögen sie beim Durchlesen der im Zusammenhange aufgesetzten Erzählungen meiner mit Freude gedenken.

Da ich nicht annehmen darf, daß diese Hefte einem größeren Kreise Interesse gewähren können, so habe ich sie als Handschrift für Freunde abdrucken lassen; die älteren Jugendgefährten werden darin manche bekannte Persönlichkeit wiederfinden, die jüngeren Genossen werden vielleicht zur Betrachtung einer vergangenen thatenreichen Zeit aufgefordert, die ihrem Gesichtskreise längst entrückt ist.

Die Begebenheiten eines äußerlich still dahingeflossenen Lebens können nur dann Antheil erregen, wenn sie an eine große Zeit sich anknüpfen lassen. Dies war für meine Jugend die Epoche der Freiheitskriege von 1813 bis 1815. Ihr Glanz reichtvi zwar bis in mein spätes Alter hinauf, aber ihr Ruhm wird fast überstrahlt von den frischen Heldenthaten unseres Volkes 1866 bis 1871.

Die inneren Erlebnisse, Kämpfe, Umwandlungen und Abklärungen der Menschenseele entziehn sich jeder Darstellung, die nicht an eine Selbstbespiegelung anstreift. Daher wird von subjektiven Empfindungen so wenig als möglich bei mir die Rede sein. Bei einem rastlos Vorwärtsstrebenden bleiben ohnehin die inneren Verpuppungen und allmäligen Entwicklungen dem eignen Verstande und Gefühle verborgen.

Alles was dem Herzen an Entschließungen und Vorsätzen, an Angriffen, Niederlagen und Siegen zugetheilt wird, was es an Schmerzen duldet und an Entzückungen genießt, das zeigt sich mehr in der Gesamtwirkung auf den Karakter, als daß es sich in Worte fassen ließe.

Meine Aufzeichnungen entstanden in diesen letzten Jahren, so oft Zeit und Lust es erlaubten. Es wird hin und wieder auf Vorkomnisse Bezug genommen, die von neueren Ereignissen bereits überholt sind. Ich habe es vorgezogen, durch eingeklammerte Jahreszahlen die Zeit der Abfassung anzugeben, als schließlich alles auf das letzte Niveau zu reduziren.

Berlin, im März 1871. G. Parthey

1

Vater Parthey. Grosvater Nicolai.

Geboren bin ich in Berlin am 27. Okt. 1798, in der Brüderstraße, im Hause meines mütterlichen Grosvaters Friedrich Nicolai. Die Taufe vollzog der Probst Teller, Nicolais genauer Freund und naher Nachbar; Pathen waren unter andern der Dichter von Göckingk und Frau Elisa von der Recke. Ich war das erste Kind meiner Aeltern, und kam für todt zur Welt; erst durch vieles Rütteln und Schlagen wurde ich zum Leben gebracht. Nach zwei Jahren folgte eine Tochter Lilli; darauf noch eine Tochter Sophie, welche im ersten Jahre starb.

Mein Vater, welcher damals mit dem Titel eines Hofrathes im General-Finanzdirektorium arbeitete, war bei seiner Verheirathung bereits 52 Jahr alt, und hatte ein sehr bewegtes Leben geführt. Als der älteste Sohn eines wohlhabenden Leinewebers in dem sächsischen Gebirgstädtchen Frankenberg, hatte er das Gewerbe seines Vaters ergriffen, hatte sein Meisterstück gemacht, und war in die Zunft der Zeug - und Leineweber eingetreten. Allein im 24. Jahre fühlte er, daß dieser Lebensberuf ihm nicht genügen werde, vorzüglich deshalb, weil er in seiner kleinen Vaterstadt zu wenig Gelegenheit fand, seinen großen Hang2 zur Musik zu befriedigen. Als er das väterliche Haus verließ, gab ihm sein Vater folgenden Spruch mit in die Welt: wo die Leute essen und guter Dinge sind, da sollt du hinzugehn, wo sie Geld zählen und sich zanken, da sollt du hinweggehn.

Mein Vater kam nach Leipzig, wo er schon früher während der Messen einige Bekantschaften angeknüpft. Er ernährte sich einige Zeit vom Notenschreiben und Stundengeben, lernte für sich französisch und italiänisch und suchte sich sonst auszubilden. Der Kapellmeister Hiller wurde auf sein nicht gewöhnliches musikalisches Talent aufmerksam, und empfahl ihn im Jahre 1774 als Musik - und Hauslehrer an den Grafen von Medem in Kurland. Eine Reise von Leipzig nach Mitau war damals ein weit größeres Wagstück als jetzt etwa eine Weltumsegelung. Die Briefe meines Vaters an seine Verwandten, welche zum Theil noch vorhanden sind, geben davon ein deutliches Zeugniß.

Im Hause des Grafen von Medem fand mein Vater die freundlichste Aufnahme und wurde bald der Liebling der ganzen Familie. Die älteste Tochter Charlotte, an den Freiherrn von der Recke nicht glücklich verheirathet, galt für die schönste Frau ihrer Umgebung. Sie vertauschte später, als sie nach Deutschland ging, den Namen Charlotte mit dem mehr poetischen Elisa. Sie hat sich durch die Enthüllungen über Cagliostro, durch die Italiänische Reise und andre Schriften einen ehrenvollen Platz in der deutschen Litteratur erworben. Mein Vater schloß damals mit ihr eine bis an sein Lebensende dauernde Freundschaft.

Dorothea, die jüngere Tochter des Grafen von Medem, deren Unterricht mein Vater hauptsächlich zu leiten hatte,3 zeigte viel Liebe zur Musik, und ward darin von ihrem Lehrer auf das kräftigste unterstützt. Wenige Jahre darauf heirathete sie den letzten Herzog von Kurland, und erhob dadurch ihre Familie zur ersten des Landes. Auch mit der Herzogin, wie mit ihrer älteren Schwester, knüpfte mein Vater ein festes Band der Freundschaft.

Nachdem mein Vater die Erziehung der Gräfin Dorothea vollendet, machte ihr ältester Bruder Friedrich eine Reise nach Deutschland und Frankreich, auf welcher mein Vater ihn begleitete. Sie kamen nur bis Strasburg, wo der Graf in Folge einer Erkältung nach längerer Krankheit am 11. Juni 1778 kaum 20 Jahr alt starb. Dies Ereigniß machte in jenen glücklichen Friedenszeiten ein so großes Aufsehn, daß der Pfarrer Blessig in Strasburg ein besonderes Buch darüber schrieb: Leben des Grafen Johann Friedrich von Medem . 2 Theile. Strasburg 1792.

Aus diesem Werke geht hervor, daß der Graf von Medem kein gewöhnlicher Mensch gewesen war. Ein kurländischer Edelmann, dem die alten Sprachen geläufig sind, der den Xenophon und Virgil, den Horaz und Quintilian zu seiner Reiselektüre macht, der in einem Briefe sagt mit der Zeit hoffe ich auch Vater Homer kennen zu lernen ((Blessig 1, 20)), der im 19. Jahre seine Gedanken über verschiedene philosophische, moralische und religiöse Gegenstände , über den wahren Begriff der Freiheit, der Tugend, über Unsterblichkeit der Seele, über Zuverlässigkeit der Bibel und andre Materien zu Papier bringt, der dem Spiele gänzlich abgeneigt ist ein solcher Mann konnte nicht zu den alltäglichen Erscheinungen gehören, und verdiente wohl ein ausführliches biographisches Ehrengedächtniß. 4

Blessigs Buch wurde im Nicolaischen Hause in Berlin viel gelesen. Aus den darin abgedruckten Briefen meines Vaters faßte Nicolais älteste Tochter Wilhelmine bereits eine stille Neigung zu ihm, ohne ihn je gesehn zu haben. Als er daher nach mehreren Jahren Berlin besuchte, und durch Göckingk bei Nicolai eingeführt wurde, erschien er kaum als ein Fremder.

Nicolai genoß in jener Zeit als Buchhändler und Schriftsteller eines großen Rufes; sein Haus gehörte zu den ersten bürgerlichen Vereinigungspunkten. Er leitete nicht bloß die Liebhaberkonzerte im Korsikaschen Saale, sondern veranstaltete auch bei sich größere Musikaufführungen, in denen das neuste und beste zum Vortrag kam. Mein Vater als bedeutender Klavier - und Flötenvirtuos war ihm sehr willkommen: Es wurde ein eben erschienenes Konzert von Mozart aufgelegt, in welchem mein Vater zwei Flötensoli meisterhaft vom Blatte spielte. Nicolai war so entzückt davon, daß er ihn nach der Aufführung umarmte und küßte. An eine nähere Verbindung wurde aber noch nicht gedacht. Wie konnte mein Vater, als Mann ohne Stand und Vermögen darauf Ansprüche machen, sich um die Tochter eines so reichen und angesehenen Hauses zu bewerben?

Doch bei zunehmender gegenseitiger Neigung wurde diese Schwierigkeit endlich beseitigt. Göckingk besaß als Geheimer Ober-Finanzrath einen bedeutenden Einfluß im Ministerium. Durch ihn erhielt mein Vater eine auskömmliche Stelle im General-Finanzdirektorium. Er konnte sich nun in aller Form um die längst geliebte Wilhelmine bewerben. Die Hochzeit ward am 19. Juli 1797 in dem Gartenhause in der Lehmgasse No. 18 gefeiert. Eine5 kleine Parterrewohnung im Nicolaischen Stadthause, deren Fenster theils in den Hof, theils in den dichtbewachsenen, von hohen Mauern umgebenen Hausgarten gingen, wurde fortan der Sitz des glücklichsten Familienlebens. Mein Vater wandte alles an, um dem alternden, bereits verwittweten Schwiegervater das Leben so angenehm als möglich zu machen. Dies wurde von dem letzteren um so mehr empfunden, als er in seiner eignen Familie viel herbes erfahren hatte.

Sein Vater Christoph Gottlieb Nicolai lernte bei Gottfried Zimmermann in Wittenberg die Buchhandlung und heirathete die Tochter seines Principals. Als Mitgift erhielt er eine kleine Filialbuchhandlung in Berlin, welches am Ende des 17. Jahrhunderts in Bezug auf litterarischen Verkehr gegen die hochberühmte Universität Wittenberg weit zurückstand. Zimmermann genoß bei seinen Mitbürgern eines großen Ansehns; es giebt mehrere Kupferstiche von ihm, deren einer folgende Unterschrift trägt:

Gottfried Zimmermann. Raths Verwandter zu Wittenberg, wie auch daselbst und in Zerbst Privilegirter Buchhändler.

Wer seinen Gott verehrt, auf seinen Jesum bauet, Wer seinem Nächsten dient, auf das, was recht ist, schauet, Der scheuet Niemand nicht, ihm hat Niemand nichts an, Du fragest, wer ist der? der selge Zimmermann.

Gebohr. A. 1670 d. 7. May. Gestorb. A. 1723 d. 17. Aug.

Von den 8 Kindern meines Urgrosvaters war Friedrich Christoph Nicolai das jüngste. Er zeigte von Jugend auf eine große Neigung zur Schriftstellerei, und beschloß, als er herangewachsen und der Vater gestorben war, von den6 Zinsen seines kleinen Erbtheiles und von seiner Feder zu leben. Ein älterer Bruder hatte die vom Vater hinterlassene Buchhandlung übernommen, starb aber nach wenigen Jahren. Ein andrer Bruder lebte als gefeierter Professor der Theologie in Frankfurt a. d. Oder. Er war ein Freund Lessings, und wird in den Streitigkeiten mit Lange öfter genannt. Dieser konnte die Buchhandlung nicht fortführen: denn unter den damaligen Verhältnissen wäre es ein starker Schritt rückwärts gewesen, wenn ein Universitätsprofessor das Katheder mit dem Schreibpulte des Geschäftsmannes vertauscht hätte.

Da entschloß sich Friedrich Nicolai das väterliche Geschäft fortzusetzen. Er begann damit, daß er den größten Theil des alten werthvollen Lagers zu Gelde machte, und mit dem dadurch erhaltenen Kapitale weiter arbeitete. Was er unternahm gedieh. Im Jahre 1765 gründete er die allgemeine Deutsche Bibliothek, die er bis zum Jahre 1805 durch 268 Bände fortführte. Während des siebenjährigen Krieges verheirathete er sich mit Eusebia Macaria Schaarschmidt, und hatte mit ihr acht Kinder.

Seine Wirksamkeit im Fache der Kritik gehört der Litteraturgeschichte an. Daß er die Morgendämmerung der deutschen Litteratur für ein Gewitter hielt, wird ihm immer zum Vorwurfe gemacht werden; daß er überall ein redliches und aufrichtiges Streben einsetzte für das, was er als Recht ansah, wird auch von seinen Feinden anerkannt. Sein fast vollständig erhaltener Briefwechsel in 92 Foliobänden giebt ein Zeugniß seiner unermüdlichen Thätigkeit. Seine Privatbibliothek umfaßte bei seinem Tode über 16000 Bände, unter denen die grösten bibliographischen Seltenheiten. Seine Sammlung von Bild -7 nissen von Gelehrten zählt gegen 6800 Blätter. Die Musikaliensammlung enthielt Schätze von älteren Sachen. Diese und ähnliche Liebhabereien wurden alle mit gleicher Sorgfalt und Ordnung im wissenschaftlichen Geiste gepflegt, so daß sein Freund Engel einmal sagte: andre Leute haben nur ein Steckenpferd, aber Nicolai hat einen ganzen Stall voll.

Im Jahre 1785 feierte Nicolai seine silberne Hochzeit an der Seite seiner Frau und im Kreise von 5 blühenden Kindern. Dies Ereigniß wurde nicht nur durch ein angenehmes Familienbild gefeiert, dem Frau Theerbusch, eine gesuchte Portraitmalerin, ihr Talent widmete, sondern die Freunde des Hauses, Ramler an der Spitze, ließen einen Nicolaischen Familienkalender drucken, von dem sich einige Exemplare erhalten haben. Es sind darin auf humoristische Weise allerlei Ereignisse und Vorfälle verzeichnet, deren Zusammenhang und Bedeutung uns zum Theile entgeht, die aber damals gewiß nicht verfehlten, einen heiteren Eindruck zu machen. Göckingk giebt in seinem Leben Nicolais p. 85 eine Liste von 71 Freunden, die in jenem Kalender verzeichnet sind.

Ueber die silberne Hochzeit ward ein besonderes Aktenheft angelegt, worin die verschiedenen, jetzt oft unverständlichen Gedichte und spashaften Glückwünsche von Gedike, dem Grafen von Veitheim u. a., ja selbst die scherzhaften Devisen der Bonbonpapierchen gesammelt sind, die von dem zweiten Sohne Karl August Nicolai herrührten. Die Hochzeittafel hatte 99 Gedecke; von den anwesenden Gästen nennen wir folgende: Biester, Dohm, Gedike, Gleim, Klein, Meil, Mösen, Oelrichs, Oesfeld, Ramler, Teller, Theden, Wölner, lauter Namen, die in der Mitte8 und am Ende des vorigen Jahrhunderts in Berlin einen guten Klang hatten.

Der schöne Kreis, welcher bei der silbernen Hochzeit um Nicolai versammelt war, sollte sich nur zu bald lichten.

Der älteste Sohn Samuel, in der Buchhandlung seines Vaters nach Wunsch und Neigung beschäftigt, in kinderloser aber glücklicher Ehe lebend mit der Tochter des berühmten Rechtsgelehrten Klein in Halle, machte in einem Anfalle von Schwermuth seinem Leben ein Ende (1790). Er war von Jugend auf zum Trübsinne geneigt. Als man nach seinem Tode seine Papiere durchsah und ordnete, fand sich in dem Tagebuche aus seinem 16. Jahre eine Stelle, ungefähr folgenden Inhalts: wenn die Last des Lebens mich zu schwer drückt, so kenne ich ja ein Mittel um mich davon zu befreien.

Wenige Jahre darauf (1793) folgte ihm seine Mutter. Im Vollgefühle der Gesundheit, wollte sie eben festlich geschmückt in eine Gesellschaft sich begeben, als sie an der Schwelle ihres Schlafzimmers vom Schlage getroffen plötzlich niedersank, um nicht wieder aufzustehn.

Der zweite Sohn Karl August, ein geistreicher und aufgeweckter Kopf, der Liebling seiner Mutter, verstand es nicht, mit seinen physischen Kräften gehörig Haus zu halten. Der herrischen Gemüthsart des Vaters wußte er sich nicht zu bequemen. Durch den versöhnlichen Geist seiner Schwester Wilhelmine wurden die Mishelligkeiten mehr beschwichtigt als beseitigt. Karl August gründete, weil er sich mit seinem Vater nicht vertragen konnte, eine eigne Buchhandlung, in welcher Tiecks Jugendarbeiten erschienen, führte das Geschäft aber nur kurze Zeit, und starb in seinem 30. Jahre (1799). 9

David, der dritte Sohn, studirte Cameralia, zeigte für das Verwaltungsfach eine große Befähigung, und machte eine schnelle Laufbahn. Durch sein redliches gerades Wesen erwarb er sich überall Freunde. Anfangs war er bei der Stadtverwaltung von Berlin beschäftigt. Als wir Kinder späterhin die schmucken blauen Schilder an den Straßenecken mit den zierlichen gothischen Straßennamen, und über den Hausthüren die goldnen Nummern in blauem Felde bewunderten, da wurde uns gesagt, das habe der Onkel David angeordnet.

Mit 31 Jahren wurde er zum Kammerdirektor in Kalisch ernannt, und zog dorthin mit seiner Frau, der jungen liebenswürdigen Tochter des Geheimen Finanzrathes Eichmann. Kurze Zeit nach seiner Ankunft wurde der Besuch des Königs Friedrich Wilhelms III. gemeldet, der die neuerworbenen polnischen Provinzen bereisen, und im Hause des Kammerdirektors ein Diner einnehmen wollte. David ritt am frühen Morgen mit seinen Leuten aus, um die königliche Tafel mit Wildpret zu versehn. Als ein Jäger einen erlegten Hasen herbeibrachte, scheute Davids Pferd davor. Er wollte es korrigiren und hielt ihm den Hasen dicht vor die Augen. Das geängstigte Thier bäumte sich, warf den Reiter ab und zertrat ihm die Brust. Sterbend wurde er der jungen Frau nach Hause gebracht, und verschied kurze Zeit darauf (1804).

Wir waren gerade im Gartensaale des Landhauses beisammen, als die Trauernachricht in Berlin eintraf. Ob man sie dem Grosvater vielleicht nicht schonend genug beigebracht, wüßte ich nicht mehr zu sagen. Das Weinen und Jammern des alten Mannes erregte in den Kindern, ehe sie noch wußten, um was es sich handle, einen so10 heftigen und lauten Ausbruch des Mitgefühles, daß wir eiligst aus dem Zimmer gebracht wurden, um die Verwirrung nicht noch zu vermehren.

Von Nicolais jüngster Tochter, Tante Lottchen, ist mir eine sehr lebendige Erinnerung geblieben: denn ich war 10 Jahre alt als sie starb. Eine schlanke zierliche Gestalt mit blassen Wangen und freundlichen Augen. Nicht bloß durch den Anzug und den Haarputz der damaligen Zeit, auch durch den allgemeinen Ausdruck des seelenvollen Gesichtes haben mich später die Bildnisse von Werthers Lotte oft an sie erinnert. Durch ihre herrliche volltönende Stimme, von der Zelter mir öfter sagte, daß sie zu den bedeutendsten Erscheinungen gehört habe, war sie früher eine Zierde der von Fasch geleiteten Singakademie gewesen. Allein vielleicht eben aus dieser Veranlassung ließ sie sich zu größerer Anstrengung, als ihr gut war, verleiten, ihre Brust wurde angegriffen und sie welkte langsam dahin. Damals indessen solfeggirte sie noch alle Morgen, und da sie gerade über unserer Kinderstube nach dem Garten hinaus wohnte, so entging uns kein Ton. Wir horchten mit großem Wohlgefallen auf die immer höher steigende Skala der getragenen, langsam anschwellenden Noten und meine Schwester, die von dem Vater ein gutes musikalisches Ohr geerbt, wußte ganz genau anzugeben, wie viel Töne noch bis zur äußersten Höhe folgen würden.

Gewährte sie uns auf diese Weise manches Vergnügen, so diente sie auch zuweilen als wirksames Schreckbild. Wenn wir gar zu arg tobten, schrien und weinten, so pflegte sie mit der Elle auf den Fußboden zu klopfen, wodurch denn eine augenblickliche Beruhigung hervor -11 gebracht wurde. Ja, die Drohung der Wärterin, Tante Lottchen wird gleich klopfen , genügte zuweilen schon, um uns zu beschwichtigen. Niemals aber erinnre ich mich, daß sie uns, wenn wir zu ihr hinaufgeführt wurden, noch nachträglich Vorwürfe gemacht hätte: denn sie wird wohl gewußt haben, wie vorübergehend die Kinderunarten sind, und wie schädlich es ist, solchen Kleinigkeiten durch allzulanges Nachstrafen eine größere Wichtigkeit zu geben als sie verdienen.

Das Verhältniß zu ihrem Vater wurde in den letzten Jahren getrübt. Der Schriftsteller Rochlitz in Leipzig hatte ihr eine aufrichtige Neigung zugewendet, die von ihr auf das wärmste erwiedert ward. Er bewarb sich bei dem Vater um ihre Hand, gab aber dabei mit allzugroßem Selbstgefühle zu verstehn, daß er hoffe durch seine belletristischen Arbeiten der Buchhandlung einen neuen, höheren Aufschwung zu geben. Das verdroß den alten Herrn ganz gewaltig, und er wollte nichts von einer Verbindung hören, in der doch seine Tochter ihr Lebensglück zu finden dachte. Sie verzehrte sich in langsamem Grame und starb drei Jahre vor ihrem Vater, am 2. Juli 1808.

Wir wohnten damals in dem Gartenhause in der Lehmgasse, und der Sarg stand in dem großen hellen Gartensaale. Es war in der Rosenzeit; mein Vater ging mit uns durch die blühenden Hecken und füllte mehrere Körbe mit Rosen. Wir trugen sie in den Saal und die bleiche Entschlafene, die wir in der letzten Zeit beinahe gar nicht mehr gesehn, ward ganz von den Kindern des Frühlings eingefaßt. Ein so wohlthuender Anblick vergißt sich nie wieder.

12

Zu meinen frühsten Jugenderinnerungen gehört eine Reise mit meinen Aeltern nach Teplitz, wo meine Mutter die Bäder gebrauchen sollte. Einzelne Lichtpunkte, ohne allen Zusammenhang sind mir davon im Gedächtnisse stehn geblieben. Im Reisewagen schlief ich auf einem kleinen, von Sitz zu Sitz gelegten Brettchen am Fuße des Geiersberges in Böhmen wurden wild aussehende Ochsen vor den Wagen gespannt auf einem Pavillon am See stehend fütterte ich schöne milchweiße Schwäne. Auf der Rückreise besuchten wir in Dresden die Schwester meines Vaters, in zweiter Ehe an den Kaufmann Keiner verheirathet. Die freundliche Tante führte mich in die Essigkammer ihrer Bleiweißfabrik und bewirthete mich mit Rosinen.

Diese Badekur war indessen von keinem besonderen Erfolge für die Gesundheit meiner Mutter. Es wurden noch andere Mittel, wie Eselsmilch und isländisches Moos versucht, allein vergebens. Sie starb am 1. September 1803, als ich noch nicht 5 Jahre alt war. Von ihrer Persönlichkeit habe ich nur eine ganz undeutliche Erinnerung. Weder ihre Stimme, noch ihre Züge sind in meiner Seele lebendig geblieben: denn meine Fähigkeiten entwickelten sich sehr langsam.

Hier will ich einer physiologischen Eigenheit meiner Natur erwähnen, die durch viele Beobachtungen sich bestätigt hat. Von allen Personen, deren Stimme in meinem Ohr lebt, habe ich auch ein deutliches Bild der Gestalt und des Gesichts; wo die Erinnerung an die Stimme fehlt, da sind auch die Formen des Körpers dem Gedächtnisse entschwunden. Wilhelm von Humboldt fand diese Bemerkung interessant, und meinte, es sei wohl der Unter -13 suchung unsrer Physiologen werth, ob auch bei anderen Individuen ein so enger Zusammenhang zwischen den Eindrücken des Ohres und des Auges stattfinde; bei ihm sei dies nicht der Fall.

Das Begräbniß meiner Mutter soll sehr rührend gewesen sein. Sie hatte während ihres Lebens eine Menge armer Familien im Namen ihres Vaters und aus eigenen Mitteln unterstützt. Die Leute durften aber weder davon sprechen, noch sich bei ihr sehn lassen. Als sie nun todt war, hielten die Armen das Verbot für aufgehoben, und fanden sich so zahlreich bei dem Leichenbegängnisse ein, daß man nun erst die Ausdehnung dieser stillen Wirksamkeit übersehn konnte.

Nach dem Tode meiner Mutter nahm mein Vater, der Sitte der damaligen Zeit folgend, eine französische Gouvernante zur Erziehung der Kinder in das Haus, Madame Clause, eine ältliche Wittwe aus Toulouse. Das Französische lernten wir nun sehr bald, aber freilich auf höchst unvollkommne Weise, denn unsre Lehrerin war viel zu gutmüthig, um irgend etwas mit Ernst durchzusetzen. Wir beide, meine Schwester und ich, liebten sie von Herzen. Dies hinderte aber nicht, daß ich in einem Anfalle von Unart es wagte, ihr mit der Feuerzange zu Leibe zu gehn, was mir von dem sonst allzu nachsichtigen Vater einen scharfen Verweis zuzog. Von unserem französisch Sprechen mögen die folgenden Proben Zeugniß geben, bei denen ich mich jedoch weniger auf mein Gedächtniß, als auf die in jeder Familie fortlebende Tradition verlassen darf. Bei den Spielen im kleinen Hausgarten hieß es: Madame, est la Gieskanne? Madame, je vous prie de me donner un Bindfaden. Meine Schwe -14 ster, schon als Kind voll naiver Einfälle, soll einmal zu ihr gesagt haben: Madame Clause, je voudrais bien vous donner un Küschen, mais votre Näschen sent le tabac.

Die junge Wittwe meines Onkels David Nicolai war nach ihrem kurzen Ehestande zu ihren Aeltern zurückgekommen, und verkehrte viel im Nicolaischen Hause, wo sie von uns Kindern wegen ihrer unbeschreiblichen Sanftmuth und Herzensgüte überaus gern gesehn war. Mein Vater glaubte daher, nicht besser für sein und unser Glück sorgen zu können, als durch eine Verbindung mit ihr. Als wir eines Abends auf seinen Knieen saßen, fragte er uns zärtlich, ob wir nicht die kleine Tante Lottchen (so hieß sie zum Unterschiede von Nicolais Tochter, der großen Tante Lottchen ) zur Mutter haben möchten. Wir antworteten beide durch die lebhafteste Zustimmung. Nun, so bittet sie schön darum, wenn sie morgen zu uns kommt. Dies geschah denn mit großer Freudigkeit, wobei meine Schwester, wie gewöhnlich, das Wort führte, während ich mit unendlicher Blödigkeit, aber mit wahrer Herzensfreude, meinen Beifall zu erkennen gab.

So hatte mein Grosvater Nicolai den Schmerz gehabt, zwei seiner Kinder, meine Mutter und meinen Onkel David zu verlieren; er erlebte nun die Freude, daß seine beiden Schwiegerkinder sich zur Erheiterung seiner alten Tage vereinigten.

Die Hochzeit fand am 17. Juni 1806 Statt, und am 12. Mai 1807, am Pancratiustage, wurde meinem Vater ein zweiter Sohn geboren, den der Dichter Moritz von Thümmel, ein alter Freund meines Vaters, aus der Taufe hob. Deshalb erhielt der Täufling die Namen Moritz Pancratius. Sehr genau entsinne ich mich des berühmten15 Pathen Thümmel als eines kleinen blassen Mannes mit feinen Gesichtszügen und hochgepuderten Haaren; er trug einen rothen Rock mit blitzenden Knöpfen und einen Degen an der Seite. Als ich später Thümmels Reisen im südlichen Frankreich las, worin er als feuriger unternehmender Lebemann erscheint, so kam öfter das Bild des kleinen blassen Greises im rothen Tressenrock meiner Einbildungskraft in die Queere.

Die Taufhandlung ward mit vieler Feierlichkeit in dem sogenannten grauen Saale, neben dem Bibliotheksaale vollzogen und verfehlte nicht, auf meine Schwester und mich einen tiefen Eindruck zu machen. Der graue Saal war gewöhnlich verschlossen; wir befanden uns nun zum ersten Male in dem hohen, oben gewölbten Räume, in dem die Stimme des Predigers auf feierliche Weise wiederhallte. Von der Rede hörte ich sehr wenig, denn meine ganze Aufmerksamkeit war auf eine Reihe bunter Schweizerlandschaften von Aberli gerichtet, die Nicolai von seiner Reise heimgebracht und hier nebst einigen schönen Blättern von Bause und Wille hatte aufhängen lassen. Solche himmelhohen Felsen und schäumenden Wasserstürze einmal in der Natur zu sehn, wurde der glühende Wunsch meiner Seele.

Bei meines Vaters zweiter Verheirathung wurde Madame Clause entlassen und kehrte nach einem thränenreichen Abschiede in ihre Heimath Toulouse zurück. Allein sehr bald kamen von ihr die kläglichsten Briefe, in denen sie ihre unglückliche Lage auf das lebhafteste schilderte. Alle ihre Verwandten, mit denen sie dort zu leben gehofft, waren während ihrer Abwesenheit gestorben; sie hatte den Schmerz, sich in ihrer Vaterstadt als Fremde zu fühlen;16 die liebevolle Behandlung, welche sie in unserm Hause genossen, veranlaßte sie zu der dringenden Bitte, dorthin zurückkehren zu dürfen. Meine Aeltern waren so unendlich gut, daß sie dieses Verlangen erfüllten, obgleich es sich herausgestellt, daß die Gouvernante den Kindern nicht mehr von Nutzen sein konnte. Madame Clause kam wirklich nach einiger Zeit aus dem sonnigen Toulouse nach dem kalten Berlin zurück und nahm mit Freuden ein kleines Mansardstübchen in unserem Hause an, wo sie den Rest ihrer Tage bis zum Anfange der Freiheitskriege verlebte. Wir waren ihr aus alter Anhänglichkeit zugethan und besuchten sie gern in dem, zwar einfach, doch mit französischer Eleganz eingerichteten Zimmer. Aber als im Jahre 1813 der Franzosenhaß in seiner ganzen Stärke aufloderte, hatte sie viel von der Lebhaftigkeit meiner Schwester zu leiden, die gegen den Kaiser Napoléon, den Unterdrücker des Vaterlandes, die heftigsten Ausfälle machte, denen Madame Clause bisweilen mit südlichem Feuer entgegentrat.

Mein Vater zählte bei seiner zweiten Heirath bereits 61 Jahre, erschien aber neben seinem Schwiegervater Eichmann wenn auch nicht jugendlich, doch aber sehr gut konservirt. Erst viele Jahre später habe ich herausgerechnet, daß wie bei Pompejus und Caesar der Schwiegersohn älter war als der Schwiegervater. Mein Vater war 1746 geboren, der Grosvater Eichmann 1748.

Allein dies ist nicht die einzige Anomalie in unserer Familie. Mein Grosvater, Daniel Parthey, war am 24. September 1696 geboren; es liegen also zwischen ihm und seinem Enkel, meinem Bruder Moritz (geb. 1807) nicht weniger als 111 Jahre. Noch eigenthümlicher aber17 ist es, daß jener Grosvater Parthey in erster Ehe mit einer um 27 Jahre älteren Frau verheirathet war, deren Grabschrift mit etwas zweifelhafter Chronologie bis vor kurzem auf dem Kirchhofe von Frankenberg vorhanden war und also lautete:

Hier ruhen die Gebeine weiland Frau Anna Maria Parthey, gebornen Höppnerin, welche geboren den 31. März 1669. Sie verehlichte sich 1. mit Meister Georg Schulze, Zeug - und Leinweber alhier, zeugte mit selbigem in vierjähriger Ehe einen Sohn und eine Tochter. Zum zweiten Male verehlichte sie sich den 29. Januar 1694 mit George Thüringer, auch Bürger, Zeug - und Leinweber alhier, mit dem sie in 29jähriger Ehe einen Sohn und sieben Töchter gezeuget, auch in allem 36 Kindes - und 9 Kindes-Kinder erlebet. Zum dritten Male verehlichte sie sich den 6. August 1726 mit Meister Daniel Parthey, Bürger, Zeug - und Leineweber alhier, mit dem sie 17 Jahre in vergnügter und friedlicher Ehe gelebet, doch ohne Leibeserben. Sie starb seelig den 7. Febr. 1742. Ihres Alters 73 Jahr, 4 Monate, 2 Wochen, 4 Tage. Leichentext: Jesaiä 41, v. 10.

Es ist mithin kein Paradoxon, zu behaupten, daß meine und meines Bruders Stiefgrosmutter i. J. 1669 geboren sei.

Der Tod dieser Frau betrübte den Grosvater Parthey auf eine solche Weise, daß er sein Geschäft niederlegte, von der Welt nichts mehr wissen wollte und den grösten Theil seines Vermögens einer seiner Stieftöchter überließ, die ihm jedoch diese Wohlthat mit dem schnödesten Undanke lohnte. Als er indessen seine zweite Frau, die18 Tochter des Bürgermeisters Jeschke, meine rechte Grosmutter kennen lernte, sah er wohl ein, daß er nicht bloß von seinen Renten werde leben können, und gründete ein neues Leinwebergeschäft, unter großem Widerspruche der übrigen Verwandten, welche bereits angefangen hatten, die ergiebige Kundschaft an sich zu ziehen.

In zweiter Ehe hatte mein Grosvater Parthey vier Kinder, von denen mein Vater das älteste war. Er wurde den 26. Dec. 1746, an dem Tage geboren, wo nach der Schlacht von Kesselsdorf der Friede zwischen Sachsen und Preußen zu Stande kam. Darum soll er Fried-reich heißen , sagte sein Vater.

Von dem Grosvater Parthey besitze ich das Vorstehblatt zu Scrivers Seelen-Schatz, worauf er folgendes eigenhändig bemerkt:

Dieses Buch habe ich Dem Trey-einigen Gott zu Ehern, mir aber zu erbauung in meinem Christen-Tuhum gekaufft Die Leipziger Oster-Messe 1729. Daniel Parthey, gebohrn 1696 den 24. Sebdemb. Simpolum. Gedencke meiner, mein Gott im Besten. Stoss mich nicht von Deiner Seiten, wenn mein Hohes Alter kömbt, Da die schwachen Tritte gleiten, und man Trost an Stecken nimbt, da greiff Du mir an die Arme: Fall ich nieder, so erbarme Du Dich, hilff mir in die Höh, und halt, biss ich wieder steh.

Steigen wir in meiner Familie noch weiter hinauf, so war der Urgrosvater Parthey ebenfalls als Zeug - und Leineweber in Frankenberg ansässig. Einer seiner Brüder, desselben Handwerkes, hat sich weit in der Welt umgethan. Als Geselle kam er i. J. 1677 auf der Wanderschaft nach Amsterdam, ließ sich von der holländisch -19 ostindischen Kompagnie als Soldat anwerben, ward nach Ceylon und Borneo eingeschifft, nahm an den Kriegen gegen die Eingebornen Theil, ward bei den Elephantenjagden gebraucht, und kehrte nach 9 Jahren mit einer Ersparniß von 500 Rthlr. zurück. Nachdem er so viele Gefahren glücklich überstanden, ward der Postwagen, auf dem er fuhr, zwischen Hamburg und Lüneburg von 6 Soldaten angefallen und er verlor alles, selbst seinen Dienstabschied und das Zeugniß seiner guten Führung, welche Papiere ihm jedoch in Amsterdam neu ausgefertigt wurden. Dies alles hat er in einem jetzt ziemlich seltenen Werke mit großer Schlichtheit und Treue beschrieben:

Daniel Parthey, Burgers in Frankenberg, Ost-Indianische und Persianische Neunjährige Kriegsdienste und wahrhafftige Beschreibung ..... Nürnberg in Verlegung Johann Hoffmanns, Kunst - und Buchhändlers. Altdorff, druckts Jobst Wilhelm Kohles, 1697. Klein Octav. Mit vielen Kupfern.

Dieser Urgrosonkel Parthey lebte nur kurze Zeit in Frankenberg; er starb nach wenigen Jahren, weil er das Klima nicht vertragen konnte.

Weiter reicht die Kunde von der Familie Parthey nicht, bis auf eine mündliche Tradition, daß der erste Parthey, der sich in Frankenberg niedergelassen, ein Schulmeister aus Pommern gewesen sei; man müßte denn bis auf Johannes Partey zurückgehen wollen, den Schreiber des Kardinales Ohnegenüge, der im 8. Gesange des Reinecke Fuchs vorkommt, von dem es bei Göthe (5, 231) heißt:

Und sein Schreiber Johannes Partey, der kennt auf’s genauste Alte und neue Münze.

20

Fritz. Frisur und Zopf.

Die zweite Ehe meines Vaters war, trotz des Unterschiedes der Jahre, eine der glücklichsten, die ich mir denken kann. Mein Vater liebte, wie der Prediger von Wakefield, nichts so sehr, als fröhliche Gesichter um sich zu sehn, und besaß die Kunst, auf seine Umgebungen in diesem Sinne einzuwirken. Meine zweite Mutter war gegen meine Schwester und mich die Liebe und Güte selbst, und wir erwiederten dies mit der herzlichsten Neigung. Aber ihre Gutmüthigkeit ging oft in Schwäche über, und da mein Vater nur selten im Stande war, eine strenge Miene anzunehmen, so blieben wir bei unseren kindlichen Unarten und Eigenwilligkeiten so ziemlich uns selbst überlassen.

Ein Jahr nach der Geburt meines Bruders Moritz wurde unsre Kinderstube durch ein viertes Mitglied vermehrt. Mein Vater nahm den Nebenschößling einer erlauchten Familie, den ich mit seinem Vornamen Fritz nennen will, zu sich. Er blieb 10 Jahre (1808 1818) in unserem Hause. Wir haben uns wie Brüder geliebt, wenngleich die jugendlichen Reibungen, in denen zuerst das Eisen des Karakters gehämmert wird, nicht ausblieben, und manchmal eine fast ernsthafte Wendung nahmen. 21

Fritz (geb. 1800) war 2 Jahre jünger als ich, sehr gutmüthig und gefällig, aufbrausend und versöhnlich, naseweis und geschwätzig, ein Hans in allen Ecken, der alles wußte und alles gesehn hatte, zum Lernen nicht besonders geneigt, aber gewandt in der Auffassung praktischer Verhältnisse. Da er bisher in einer kleinen sächsischen Landstadt erzogen war, so brachte er die sächsische Höflichkeit mit, und nannte meine Aeltern einige Zeit, ehe er sich zu dem vertraulichen Vater und Mutter entschließen konnte, nicht anders als: Herr Hofrath Parthey und Frau Hofräthin Parthey.

Die Verschiedenheit unserer Karaktere zeigte sich gleich in den ersten Tagen. Wenn mich früher meine zweite Mutter wegen Unart in eine Ecke setzte, so saß ich, vom Gefühle meines Unglücks überwältigt, still weinend dort, ohne daß es mir eingefallen wäre, eine Abkürzung der Strafe zu erbitten. Als es nun zuerst vorkam, daß Fritz in die eine, und ich in die andere Ecke gesetzt wurden, weil wir uns geprügelt, so dauerte es gar nicht lange, bis Fritz mit großer Fassung und Entschlossenheit sagte: Frau Hofräthin Parthey, darf ich jetzt wieder aufstehn? Ich muß bekennen, daß es mir schwer, ja fast unmöglich wurde, dieses gute Beispiel nachzuahmen.

Fritz zeigte entschiedenes Talent zum Schauspieler, denn er konnte sein kleines Gesicht in die mannigfaltigsten Formen legen. Ueber der schmalen Stirn und den blauen Augen buschte sich ein volles, krauses, blondes Haupthaar empor, eine lange vornehme Nase stand über einem feinen wohlgebildeten Munde; die scharfen Augenbrauen konnte er bald tragisch hinaufziehn, bald komisch zusammenkneifen, und außerdem die Ohren spitzen, was von22 den anderen Kindern als ein besonderer Vorzug der Natur betrachtet wurde.

Auf seine Veranlassung improvisirten wir drei Geschwister die schönsten Stücke, bei denen die abgelegte Garderobe der Mutter bis auf den letzten Fetzen Anwendung fand. Meine Schwester Lilli gab mit einem alten Stuarthalskragen eine gute Prinzessin ab, mir wurden die strengen Väter zu Theil. Fritz liebte die Verkleidungen, erschien als Bettler oder armer Reisender, und entpuppte sich plötzlich zu einem Baron von Sternthal oder Grafen von Hohenfels. Seine Nachahmung fremder Stimmen war bewundernswerth, auch machte er, zum allgemeinen Erstaunen und Entsetzen der Dienstleute, einige Versuche im Bauchreden.

Der Geburtstag der Mutter fiel auf den 14. April, in die erste Blumenzeit, und ward im Familienkreise immer auf das heiterste gefeiert. Fritz ersann einmal zu dessen Verherrlichung eine theatralische Ueberraschung mit drei Blumentöpfchen. Das Geheimnisvolle dabei hatte für meine Schwester und mich den grösten Reiz. Zuerst wurde der Vater heimlich um Geld zur Anschaffung der Blumen gebeten, dann wurden dieselben von der Köchin irgendwo versteckt gehalten. Die Töpfchen am Geburtstagsmorgen einfach mit der Hand zu überreichen, dies schien Fritzen viel zu prosaisch. Er stellte 6 Stühle, 3 auf jeder Seite, kulissenartig an der Kinderstubenthüre auf, durch welche die Mutter eintreten mußte. Unter den 3 Stühlen rechts stand je ein Topf auf einem Brettchen; ein Bindfaden reichte über den Weg bis zu den Stühlen links, unter denen wir 3 Kinder steckten. Als die Mutter eintrat, wurden die beiden am weitesten von der Thür23 stehenden Brettchen vorgezogen, und ein fröhliches: wir gratuliren! erscholl unter den Rohrgeflechten hervor. Indem sie einen Schritt näher trat, zog Fritz hinter ihrem Rücken den dritten Topf hervor, so daß sie, da der Raum ohnehin sehr eng war, weder vor - noch rückwärts treten konnte. Das hatten wir nun freilich bei den großartigen Anstalten mit den 6 Stühlen nicht überlegt, mußten daher unter vielem Lachen endlich hervorkriechen und die Töpfe doch mit den Händen überreichen. Fritzens Erfindungsgabe als Festordner erlitt einen schweren Stoß, und er wurde noch oft mit seiner halb misglückten Geburtstagsüberraschung geneckt. Dieser harmlose Vorgang wäre kaum der Erwähnung werth, wenn sich nicht daran die angenehme Erinnerung knüpfte, daß meine Mutter bis an ihr Lebensende immer in die heiterste Stimmung versetzt wurde, sobald einmal Fritzens theatralische Geburtstagsfeier zur Sprache kam.

Der Geburtstag meines Vaters wurde niemals gefeiert, ja wir kannten ihn nicht einmal. Erst nach seinem Tode erfuhr ich von seiner Schwester, daß er, wie schon bemerkt, am 26. December 1745 geboren sei. So oft davon die Rede war, so wußte er durch immer neue Wendungen scherzhaft auszuweichen. Als wir ihn einmal gar zu arg quälten, es mochte im März oder April eines Schaltjahres sein gab er uns den 29. Februar an. Meine lebhafte Schwester beschloß nun sogleich, das nächste Mal eine recht artige Feier zu veranstalten, aber welche Ewigkeit sind 4 Jahre für ein Kinderleben! Am folgenden 29. Februar war alles vergessen, und je mehr wir heranwuchsen, desto weniger mochten wir in meinen Vater dringen.

Fritz hatte, als er in unser Haus kam, nur einen dürftigen24 Unterricht genossen und wußte manches nicht, was die Kinder in den größeren Städten sich leicht aneignen. So zeigte es sich eines Sonntages beim Frühstück, daß er nicht nach der Uhr sehn konnte. Mein Vater wollte ihn gleich belehren; nahm aber die Sache gar zu gründlich, und es entspann sich ungefähr folgende Unterredung:

Weißt du, Fritz, wieviel der Tag Stunden hat? Nein, Herr Hofrath Parthey. Vier und zwanzig; davon gehen zwölf auf den Tag und zwölf auf die Nacht Aber, Herr Hofrath Parthey, Sie sagten ja eben, der Tag habe 24 Stunden, wie kann er denn 12 haben? Versteh mich recht, 12 Stunden gehen gewöhnlich auf die Zeit vom Morgen bis zum Abend, und 12 andere dauern vom Abend bis zum Morgen. Diese Stundeneintheilung giebt dir der kleine Zeiger hier. Die Stunde wird wieder in 60 Minuten getheilt; wieviel ist der vierte Theil von 60? Fritz stockte, denn das Gedankenrechnen war nicht seine Stärke. Nun, es ist 15, also besteht jede Viertelstunde aus 15 Minuten. Dies giebt der große Zeiger an. Wenn also der kleine Zeiger hinter 1 steht, und der große auf 6, wieviel wird es an der Zeit sein? Fritz schwieg, denn das Zifferblatt hatte römische Ziffern, mit denen er bisher nur in entferntere Bekanntschaft getreten war. Es ist dann halb Zwei.

So ging es noch einige Zeit fort, aber Fritz begriff nichts und wurde nach einer sanften Ermahnung mit dem Bemerken entlassen, daß er noch zu klein sei, um die Sache einzusehn. Als er mir Tags darauf seine Noth klagte, versuchte ich eine kürzere Lösung des Problems. Daß der kleine Zeiger die Stunden angiebt, weißt du schon; du brauchst dir also nur dies zu merken: steht der große25 Zeiger rechts auf der 3, so ist es ein Viertel, steht er unten auf der 6, so ist es halb, links auf der 9, so ist es drei Viertel, und oben auf der 12, so ist es voll. Wenn also der kleine Zeiger nicht mehr weit von der Acht steht, so siehst du, daß es Zeit ist, in die Schule zu gehen, und wenn dann der große gegen die Neun heranrückt, so ist es drei Viertel auf Acht, wo wir unsere Mappen packen. Seitdem kam er nicht mehr zu spät in die Schule, doch hatte es einige Mühe gekostet, ihm die römischen Zahlen X und V deutlich zu machen.

Als wir aufhörten, mit bleiernen Soldaten und Baukasten zu spielen, wurden die langen Winterabende mit Musik und Vorlesen ausgefüllt. Sobald der Vater aus seiner Arbeitstube in das Wohnzimmer herüberkam, so konnte er uns kein größeres Vergnügen bereiten, als wenn er sich an das Klavier setzte und uns etwas vorspielte. Er wählte dazu theils Choräle, theils Lieder, theils einzelne Stücke aus guten Opern. Mit den Chorälen konnten wir uns nicht recht befreunden, weil Kinderherzen mehr zur Freude als zur Andacht hinneigen, und weil die Choräle nach der damaligen Sitte so unendlich langsam vorgetragen wurden, daß von einem Flusse der Melodie gar nichts zu spüren war. Gleich nach dem ersten Verse pflegte meine Schwester zu sagen: Nun, lieber Vater, etwas hübsches. Da folgte denn eine altmodische, aber lebhaft bewegte Sarabande von Kirnberger, ein muntres Stück aus der Zauberflöte oder der Furientanz aus Glucks Armide. Dieser letzte blieb unser Lieblingsstück, als wir später der Aufführung der Oper beiwohnten. Fritz, dem es an allem musikalischen Sinne fehlte, entschädigte sich und uns für diesen Mangel, indem er die halsbrechenden26 Sprünge der infernalischen Dämonen zu Hause nachahmte. Der Opferchor aus Glucks Iphigenie, ein Rittermarsch aus Righinis Zauberwald, die Geniengesänge aus der Zauberflöte, die Chöre aus der Athalia von Schulz entzückten uns nicht weniger, und prägten sich unauslöschlich dem willigen Gedächtnisse ein.

Zelters Lieder mochten damals wohl noch nicht im Stiche erschienen sein; der Grosvater Nicolai hatte sie sich abschreiben, und mit gewohnter Sorgfalt in einen großen gelben Quartband zusammenbinden lassen. Daraus wurde nun sehr viel unisono gesungen; die schönen Götheschen Lieder: Wir singen und sagen vom Grafen so gern, Was hör ich draußen vor dem Thor; Ein Veilchen auf der Wiese stand; und viele andre erfreuten sich des grösten Beifalls.

Vor allen liebte mein Vater die jetzt ganz vergessenen Operetten von Hiller, deren erstes Erscheinen auf der Leipziger Bühne er zum Theil selbst miterlebt hatte. Die Jagd; Lottchen am Hofe; Die verwandelten Weiber und andre, zu denen der Kinderfreund Weiße die Texte geliefert, wurden uns oft vorgeführt, und waren wohl geeignet, in ihrer ansprechenden melodischen Simplicität einen angenehmen Eindruck zu machen. Als meine Schwester Lilli später im Klavierspiel recht weit vorgeschritten war, wollte sie uns an des Vaters Stelle die leichten Arien und Duette accompagniren, aber o weh! der fatale Klavierschlüssel, auf den sie nicht eingeübt war, stellte sich als unerwartetes Hinderniß der Ausführung entgegen. Daß bei den übrigen Klavierstücken der Violinschlüssel für die rechte, und der Baßschlüssel für die linke Hand gelten sollten, schien uns nicht mehr als billig, daß aber beim27 Klavierschlüssel die fünf Notenlinien eine dritte, ganz veränderte Geltung erhielten, wollte uns nicht in den Sinn, und die Hillerschen Opern wurden bald bei Seite gelegt. Nachdem der Vater uns belehrt, daß es auch noch einen Tenorschlüssel und einen Altschlüssel gebe, so hielten wir es fast für Zauberei, wenn er uns aus einer Partitur, worin alle diese verschiedenen Schlüssel vereinigt waren, etwas vorspielte.

Zum Vorlesen wählte mein Vater theils historische, theils belletristische Werke aus der reichen Bibliothek des Grosvaters. Er ging uns durch eine deutliche Aussprache und durch langsamen Vortrag als Muster voran, allein er wurde bald inne, daß die Aufmerksamkeit lebhafter Kinder auch durch die interessanteste Vorlesung nur auf kurze Zeit gefesselt werden kann.

Wir sollten nun selbst im Vorlesen uns üben, doch bei mir war und blieb die angeborne Befangenheit schwer zu überwinden; meine Schwester machte ihre Sache schon besser, und Fritz übertraf uns beide durch Lebhaftigkeit des Ausdruckes und dramatisches Feuer. Er entwickelte indessen diese beiden Eigenschaften nur bei solchen Werken, die ihn selbst anzogen; sobald der Gegenstand ihm langweilig wurde, so verfiel er, ohne es zu wollen, in einen ungemein eintönigen Vortrag, der eine ganz besonders einschläfernde Kraft auf die Zuhörer ausübte. So wurde eines Abends das sehr trockne Schauspiel von Iffland: das Erbtheil des Vaters, vorgelesen, dem wir unmöglich die verlangte Theilnahme schenken konnten. Nachdem wir beide, meine Schwester und ich, unser Pensum abgethan, kam Fritz an die Reihe und leierte eine Scene nach der andern mit unendlicher Tonlosigkeit herunter. Unter andern las28 er in einem Zuge fort: Herr Dominique, Madame Dominique, Madame Dominique, Dominique, Herr Dominique, Julie. Ei Fritz, rief die Mutter, die auf dem Sopha etwas eingenickt war, was liesest du da für dummes Zeug? Nun, erwiederte er empfindlich, es steht ja so da, Frau Hofräthin! Sie nahm das Buch zur Hand und überzeugte sich, daß er Recht habe. Es steht nämlich im ersten Akte:

Sechster Auftritt.

Herr Dominique. Madame Dominique.

Mad. Dominique.

Dominique!

Herr Dominique.

Julie!

Wenngleich mein Vater, wie schon bemerkt, bei seiner zweiten Verheirathung bereits 61 Jahre zählte, so war er noch immer ein stattlicher, wohlgebauter Mann von kräftiger Haltung. In seiner Jugend galt er für einen gewandten Tänzer und verwegenen Reiter; im Laufen und Springen konnten wenige es ihm gleichthun. Bei dem Aufenthalte in Strasburg glänzte er im Billardspiel, so daß er auf viele Bälle eine Wette eingehen konnte.

Das gepuderte Haar trug er aus der Stirn zurückgekämmt, und hinten in einen Zopf zusammengebunden. Er erzählte uns manchmal, daß am Ende des 18. Jahrh. die eleganten Herrn mit ihren Zöpfen einen förmlichen Luxus getrieben. Besondere Gestalten von Zöpfen kamen in die Mode und wurden wieder verlassen. Es gab vornehme und gemeine, falsche und halbgefütterte Zöpfe u. s. w. Lichtenberg in Göttingen verspottete Lavaters Physiognomik in einem witzigen Aufsatze: Fragment von Zöpfen, das mit vielem Beifalle aufgenommen wurde.

Ein recht starker Zopf galt, wie jetzt ein starker29 Bart, für ein Zeichen der Männlichkeit. Der Zopf meines Vaters war so stark, daß er meist für falsch gehalten ward. In Livland begegnete es ihm mehr als einmal, daß man seiner Versicherung über die Aechtheit nicht eher Glauben schenkte, als bis er das Zopfband löste, und eine gewaltige Fülle blonden Hares herabwallen ließ.

Die französische Revolution hatte die Zöpfe abgeschafft, vorzüglich deshalb, weil sie beim Guillotiniren hinderlich waren. Da nun in jener Zeit fast jeder Franzose in dieser Gefahr schwebte, so schnitt man die Zöpfe lieber vorher ab.

In Deutschland hielten sich die Zöpfe länger. Daß noch i. J. 1800 Jean Paul den Helden seines Titan mit einem falschen Zopfe ausstattet, kömmt uns jetzt komisch vor, war es aber damals gewiß nicht. Während des französischen Krieges (1806 1807) wurden die meisten Civil-Zöpfe in Berlin abgeschnitten, vielleicht mit aus ökonomischen Gründen, um eine Ersparniß an Puder, Pomade, Zopfband, Haarbeutel und Zeit eintreten zu lassen.

Dem Frisirtwerden meines Vaters habe ich oft, auf dem Fußbänkchen am Fenster sitzend, mit Aufmerksamkeit zugesehn; es dauerte sehr lange. Zuerst trat der Bediente Wilhelm, das Frisirzeug unter dem Arme, ins Zimmer, breitete eine weiße leinene Decke von wenigstens 6 Fuß im Quadrat auf dem Teppich aus, setzte einen Stuhl darauf und sagte: Herr Hofrath, wenns gefällig wäre. Mein Vater stand vom Schreibtische auf, fuhr in den aufgehaltenen weißen Pudermantel, nahm die Zeitung zur Hand und setzte sich. Der Zopf des vorigen Tages wurde gelöst, und das volle Haar vielfach durchgekämmt. Dann nahm Wilhelm aus einer weißen Porzellanbüchse eine ansehnliche Menge wohlriechender Pomade, und salbte den30 ganzen Kopf. Bei dieser Operation erregten seine fettglänzenden schnalzenden Hände mir immer einen innerlichen Abscheu. Hierauf drehte er mittelst eines hölzernen Zylinders, dessen technischer Name mir entfallen, über jedem Ohre eine lange horizontale Locke, deren Hältniß durch besonders hinzugefügte Pomade gefestigt ward.

Nun folgte das Pudern. Wilhelm öffnete eine große blecherne Büchse voll des feinsten Weizenmehles, tauchte den aus den zartesten Federn bestehenden Puderquast hinein, und verbreitete durch Auftupfen um den ganzen Kopf eine dichte weiße Staubwolke, die nicht nur an dem gefetteten Haare haften blieb, sondern auch in weitem Kreise sich niedersenkte, und von dem Zeitungsblatte durch wiederholtes Abklopfen entfernt werden mußte. Dieser trockne Qualm war mir nicht weniger zuwider als die vorher angewendete Schmiere, und ich suchte den Athem so lange anzuhalten, bis der ärgste Dunst sich verzogen.

Darauf wurde der Zopf dicht am Nacken mit einem weißen Bande, dessen eines Ende Wilhelm zwischen den Zähnen hielt, zusammengebunden, dann mit einem feinen schwarzseidenen Bande sorgfältig umwickelt.

Ein elegantes Zopfband gehörte zu den kleinen Luxusgegenständen; es war für junge Männer, wenn es als Geschenk von lieber Hand kam, ein süßes Angedenken. In Blumauers travestirter Aeneide erhenkt sich Dido an dem Zopfbande des geliebten Aeneas. Zuguterletzt reichte Wilhelm meinem Vater das Pudermesser; er trat vor den Spiegel, und entfernte vorsichtig mit der stumpfen Klinge den Puder von der Stirn bis an die Haarwurzeln hinauf.

Das so vollendete künstliche Gebäude war eigentlich nur auf einen Chapeaubas berechnet, den man gar nicht31 aufsetzte, sondern unter dem linken Arme trug. Damals wurden aber allgemein dreieckige und runde Hüte getragen, die bei jedem Aufsetzen und Abnehmen den Bau zerstörten und sehr bald von Fett starrten. Ging daher mein Vater in eine Abendgesellschaft, so wurde entweder der Puder erneuert, oder das ganze langweilige Geschäft des Frisirens bei Lichte wiederholt.

Vor dem Schlafengehn verwahrte Wilhelm die Seitenlocken in Papillotten, vertauschte das feine Zopfband mit einem weniger guten, und schob den Zopf mit geschickter Wendung unter die bereit gehaltene weiße baumwollene Zipfelmütze.

Als nun während des Krieges von 1806 die Zöpfe in Berlin immer mehr in Abnahme kamen, da sprach mein Vater auch davon, den seinigen abzuschneiden. Wir waren anfangs alle dagegen: denn des Vaters Zopf gehörte mit zu seiner Person, und wer möchte an einem geliebten Wesen irgend etwas entbehren? Doch bald änderte sich die Stimmung: denn in der Schule, wo bereits die unbezopften Lehrer in der Mehrzahl waren, wurden die wenigen bezopften mit allerlei Ekelnamen belegt; da figurirte der Schreibelehrer als Selleriewurzel, der Singlehrer als Regenwurm u. s. w. Eines Sonntagmorgens wurden wir halb traurig, halb freudig überrascht, als der Vater uns seinen abgeschnittenen Zopf, der auf einem Bogen Papier kaum Platz hatte, vorlegte. Er trug nun sein volles, silberweißes, seidenweiches Haar, das ihm bis zum 77. Jahre geblieben ist, und gefiel uns nur um so besser.

32

Haus in der Brüderstraße. Probstei. Nicolais Hauswesen.

Das Haus in der Brüderstraße, in dem ich aufgewachsen bin, hatte der Grosvater Nicolai im Jahre 1787 gekauft und ausgebaut. Es ist noch in meinem Besitze und meine Enkel treiben darin ihr Wesen. Da nun schon Nicolais Schwiegermutter, Frau Schaarschmidt, darin gelebt hat, so tritt der für bürgerliche Familien seltene Fall ein, daß 6 Generationen hinter einander an derselben Stätte gewohnt haben.

Die Lokalsage behauptet, daß das Haus an der Stelle des Klosters der barmherzigen Brüder stehe, von dem die Straße ihren Namen führt, und es sind Gründe genug vorhanden, um anzunehmen, daß das Gebäude an der Stelle einer alten Klosteranlage stehe. Zwar habe ich in Nicolais Beschreibung von Berlin keine Erwähnung der barmherzigen Brüder angetroffen. Es gab nur die Dominikaner in dem schwarzen Kloster, das in der Nähe der alten Domkirche auf dem Schloßplatze gestanden haben soll, und die Franziskaner in dem grauen Kloster in der Klosterstraße. 33

Das Grundstück umfaßt einen großen und einen kleinen Hof, und es finden sich Baureste, die in ein hohes Alterthum hinaufreichen. Unter dem südwestlichen Theile des ersten Hofes befindet sich ein Kellergang mit Tonnengewölbe, dessen Construction Professor von Klöden in das 14. Jahrh. versetzte. Daran schließt sich gegen Südost ein Spitzbogengewölbe aus dem 15. oder 16. Jahrh., das über einer ausgemauerten, runden, jetzt zugeschütteten Zisterne steht; ein sehr geräumiger, solid gemauerter Abzugskanal geht unter dem westlichen Seitenflügel, unter dem kleinen Hofe und unter dem daran stoßenden Grundstücke des Französischen Hofes durch, und mündet neben der Jungfernbrücke in die Spree. Die Kellerräume unter dem Vorderhause und dem südöstlichen Flügel sind von großer Ausdehnung, und es ist ganz kürzlich (1866) das sonderbare Vorkomniß entdeckt worden, daß aus dem mittelsten Kellerraume ein gemauerter Kanal unter dem Fußboden des Parterrezimmers in eine Schornsteinröhre geleitet ist. Die Mönche konnten also ihren Keller heizen und darin kochen; sie waren daher im Stande, hinlänglich mit Speisen und Holz versehn, einen feindlichen Ueberfall und eine Belagerung selbst im Winter auszuhalten.

Das jetzige Haus wurde um 1730 von dem Minister v. Knyphausen erbaut und zum Zwecke großer Gastgebereien und Festlichkeiten eingerichtet. Dann kaufte es Herr Gotzkowski, später kam es an Herrn Dykow. Als Nicolai es von diesem 1787 erwarb, und durch Zelter ausbauen ließ, wurden aus einem einzigen Speisesaale 14 verschiedene Piecen gemacht. Dennoch blieben noch drei Säle übrig, für die Bibliothek, für die Musikaufführungen und für die Geselligkeit. 34

Um die großen Räume des ersten Stockwerkes auf schickliche Art zu verbinden, legte Zelter eine bedeckte hölzerne Gallerie vermittelst eines Häng - und Sprengwerkes quer über den Hof und von dem Vorderhause nach der Mitte zu, in Form eines T. Dadurch wurde zwar der beabsichtigte Zweck erreicht, allein die Gallerie machte die unteren Bäume finster, und schwebte dem in den Hof tretenden in unheimlicher Nähe über dem Kopfe. Wir Kinder indessen kümmerten uns hierum sehr wenig, sondern benutzten sie als willkomnen Tummelplatz, wobei das Laufen und Springen auf den schallenden Brettern ein Hauptergötzen gewährte.

Wenige Schritte von unserem Hause entfernt liegt in der Brüderstraße No. 10 die Probstei der Petrigemeinde. Auch dieses Haus macht Ansprüche darauf, für die Stelle des alten Klosters der barmherzigen Brüder zu gelten. Worauf diese Ansprüche sich gründen, habe ich nicht erfahren können, wohl aber wurde uns über die Probstei von den Nachbarn eine Schauergeschichte erzählt, die den jugendlichen Gemüthern sich unauslöschlich einprägte.

Vor 100 Jahren, so hieß es, gehörte das weitläufige Gebäude einer alten, reichen, kinderlosen, geizigen Wittwe, die es ganz allein bewohnte, und nur ein Dachstübchen an einen armen Kandidaten der Theologie vermiethet hatte. Eines Morgens fand man die Wittwe erdrosselt im Bette und ihre Geldkiste ausgeraubt. Da die Dienstboten sich als unschuldig erwiesen, so fiel der Verdacht natürlich auf den armen Kandidaten. Man machte ihm den Prozeß und drohte nach dem damaligen Kriminalverfahren mit der Tortur. Ob er dadurch eingeschüchtert die That gestanden,35 oder die Tortur wirklich erhalten habe, ist mir nicht mehr erinnerlich; genug, er sollte hingerichtet werden.

Am Abende vor der Execution saß der Kriminalbeamte, der die Sache betrieb, noch sehr spät in seinem Arbeitszimmer bei den Akten. Vor ihm auf dem Tische lagen, vom trüben Kerzenscheine beleuchtet, die Gegenstände des Prozesses, darunter der Strick mit dem die Wittwe erdrosselt wurde. Da läßt sich der Scharfrichter melden, um die Anordnungen für den folgenden Tag zu verabreden. Er wird eingelassen, und der Richter bemerkt, daß der Scharfrichter während des Gespräches den auf dem Tische liegenden Strick sehr aufmerksam ansieht. Was betrachtet er den Strick so genau? fragt der Richter. Herr , war die Antwort, das will ich ihm wohl sagen: ich sehe darin einen Knoten, den niemand anderes kann gemacht haben, als ein Henkersknecht.

Auf dieses wichtige Zeugniß hin ward die Execution verschoben und die Sache von neuem untersucht. Da man einen so guten Fingerzeig hatte, so stellte es sich bald heraus, daß der Mord in der That von einem Henkersknechte verübt worden sei. Der arme Kandidat entging glücklich dem Tode; die Erben der alten Frau wollten aber das Haus, in dem die Gräuelthat begangen war, nicht behalten. So kam es an den Magistrat, welcher die Probstei der Petrikirche darin einrichtete.

Seit wir jene Geschichte gehört, konnten wir bei der Probstei nicht ohne ein gewisses Grauen vorübergehn, und dachten uns oft, wie es dem Probste Teller zu Muthe sein müsse, in einem solchen Hause zu wohnen; später habe ich gefunden, daß dieses Grauen vergeblich war: denn der Mord und die merkwürdige Entdeckung desselben ereig -36 neten sich in dem s. g. Stelzenkrug am Alexanderplatze (Streckfuß Berlin seit 600 Jahren, 4, 48), doch habe ich nicht unterlassen wollen, auch die Tradition der Brüderstraße hier aufzuzeichnen.

Nicolai hatte sein neues Haus im Jahre 1787 mit allem Luxus der damaligen Zeit eingerichtet. In den noch vorhandenen Rechnungen finden sich Möbel, die wir kaum dem Namen nach kennen: Etageren, Bergeren, Torcheren, Gueridons u. a. Nicolai machte es nun zum Sitze der ausgedehntesten Gastfreundschaft. Da sein Ruf sich durch ganz Deutschland verbreitete, so reiste nicht leicht ein fremder Gelehrter durch Berlin, ohne Nicolai zu besuchen. Einige ließen sich bei ihm persönlich melden, andre begnügten sich, um die kostbare Zeit des vielbeschäftigten Mannes nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen, ihre Karten in der Buchhandlung, welche zu ebner Erde eingerichtet war, abzugeben. Ein Gehülfe der Buchhandlung hatte das Nebenamt, darüber ordentliche Listen anzufertigen, welche Freitags dem Principale vorgelegt wurden; er strich diejenigen Personen an, die am Sonnabende eingeladen werden sollten, und fast alle Sonntage versammelte ein glänzender Mittagstisch die alten und neuen Gäste. Waren fremde Dichter zu bewirthen, so wurden von den Berlinern Ramler, Göckingk, die Karschin zugezogen; für die Philosophen war Moses Mendelssohn eine anziehende Persönlichkeit; die Pädagogen schaarten sich um Gedike und v. Rochow, die Bibliophilen um Biester und Oelrichs; für die Theologen hatten Teller, Zollikofer, Zöllner einzustehn; für die Mediziner Theden und Selle; die Aesthetiker waren durch Engel repräsentirt, die Juristen durch Suarez und Klein; von den Musikern wurden Fasch und Zelter auf -37 gesucht, von den Künstlern Bernhard Rode, Chodowiecki und Meil.

So bildete Nicolais Haus eine Reihe von Jahren hindurch den literarischen und geselligen Mittelpunkt der Residenz; es vertrat die Stelle der späteren Clubs und Casinos. Die Solidität der Bewirthung war mit anständiger bürgerlicher Pracht gepaart; als Eigenthümlichkeit wurde bemerkt, daß die Fremden oft von den Nicolaischen heißen Suppen und scharfen Messern erzählten.

Obgleich diese Gastmahle längst aufgehört hatten, als ich anfing, heranzuwachsen, so sind doch manche Vorkomnisse aufbewahrt, von denen eins mir haften geblieben.

Ein fremder an Nicolai empfohlener Gelehrter wurde zu einer großen Mittagstafel gezogen, an der unter andern Engel und der Probst Zöllner Theil nahmen. Engel war damals Theaterdirektor und wegen seines Talentes im Erzählen berühmt, allein er hatte die Eigenheit mancher guten Erzähler, daß er, einmal unterbrochen, nicht so leicht wieder das Wort nahm. Zöllner erzählte ebenfalls sehr gut, liebte aber nach einer Unsitte, welche damals besonders den Geistlichen soll angehangen haben, zweideutige Geschichten. Engel machte an jenem Tage anfangs einige ernsthafte Bemerkungen, wurde bald unterbrochen, und saß von nun an stumm, Zöllner dagegen erging sich in dem bekannten frivolen Thema mit großer Ausführlichkeit. Als der Fremde am andern Tage bei Nicolai sich beurlaubte, und von diesem gefragt wurde, wie ihm die Herren gefallen, erwiederte er: O sehr gut, nur hätte ich Zöllner für den Theaterdirektor und Engel für den Probst gehalten.

Mit der edlen Frau Elisa von der Recke war Nicolai38 in dauernder Freundschaft verbunden. Die Freimüthigkeit mit welcher sie ihre Beziehungen zu dem Betrüger Cagliostro bekannt gemacht, hatte ihr den Beifall und die Bewunderung der ganzen für Aufklärung schwärmenden gebildeten Welt erworben, an deren Spitze Nicolai stand.

Als daher Frau von der Recke in Berlin erwartet wurde, freute sich Nicolai, ihr in seinem neuen Hause einen festlichen Empfang bereiten zu können. Allein es zeigte sich ein unerwartetes Hinderniß, indem Madame Nicolai erklärte, die fremde Dame sei ihr zu vornehm, und sie wolle sie nicht sehn. In der damaligen ceremoniösen Zeit war dies für einen Hausherrn ein noch schlimmerer Fall als jetzt. Allein was war zu thun? Es mußte wenigstens der Versuch gemacht werden, dies Hinderniß zu überwinden. Als Frau von der Recke bei Nicolai vorfuhr, eilte er ihr bis an den Wagen entgegen, und führte sie die Treppe hinauf, unter der Versicherung, daß er das neue Haus hauptsächlich darum erworben, um sie würdig empfangen zu können. Im Vorsaale verließ er sie, um seine Frau zu rufen, und Frau von der Recke hörte durch die halbgeöffnete Thür die sehr vernehmlichen Worte meiner Grosmutter: ich will von deinem adligen Pack nichts wissen! Eine andre wäre wohl auf der Stelle umgekehrt, um das Haus nie wieder zu betreten; allein Elisa öffnete die Thüre ganz, trat in das Zimmer, und sagte mit der ihr eignen milden Hoheit: meine Liebe, ich bin kein adliges Pack, sondern die Freundin Ihres vortrefflichen Gemahles, und bitte Sie, auch meine Freundin zu sein! Wer hätte da widerstehn können? Die beiden Frauen wurden in der That Freundinnen; der lange fortgesetzte noch vorhandene Briefwechsel zeigt genugsam, daß39 diese Freundschaft von beiden Seiten eine aufrichtige war; aus den Briefen meiner Mutter und meiner Tante Lottchen geht hervor, daß Elisa vom ganzen Nioolaischen Hause wie ein Schutzgeist höherer Ordnung verehrt wurde.

Ihre hohe Geburt machte es nothwendig, daß sie auch den königlichen Hof in Berlin besuchte. Ihr majestätischer Wuchs und der Sonnenglanz ihres hellen Auges, die treue Arglosigkeit ihres Gespräches, die niemals die Gränze des feinsten vornehmsten Taktes überschritt, machten sie auch hier zu einer allgemein bewunderten Erscheinung. Es that ihr auch gar keinen Eintrag, als sie einmal, bei einer ihr nicht kundgewordenen Hoftrauer, in feuerfarbenem Atlas erschien, und sich wie eine wandelnde Flamme unter den schwarzen Gestalten auf - und abbewegte.

Einst hatte sie mit Göckingk, Zollikofer und andern Notabilitäten ein Diner bei Nicolai eingenommen, und mußte nachher noch an den Hof gehn. Sie hob mit der Linken die Schleppe ihres grauseidnen Kleides auf, machte mit der Rechten eine anmuthig grüßende Bewegung und sagte: nun, meine Herren, muß ich mich empfehlen. Begeistert von der unbeschreiblichen Würde dieser Erscheinung rief Göckingk: so muß Graff sie malen! Diese Idee wurde später wirklich ausgeführt. Graff in Dresden lieferte ein ausgezeichnetes Kniestück, das über Nicolais Sopha hing, und das ich noch immer als eine Zierde meiner kleinen Gemäldesammlung betrachte. Es sollen mehrere Wiederholungen nach diesem Originale aus Graffs Atelier hervorgegangen sein, von denen mir jedoch keine zu Gesicht gekonunen ist.

Vor der Abreise nach Petersburg nahm Frau von der Recke bei Nicolai ein großes Frühstück ein, und er sagte40 ihr beim Abschiede mit galanter Wendung, daß er bis an die preußische Gränze die Ehre haben werde, ihr alle Tage beim Frühstück seine Verehrung zu beweisen. Das klang etwas räthselhaft, wurde aber dennoch richtig ausgeführt. Die Reise von Berlin nach Memel mochte damals wohl 8 oder noch mehr Nachtquartiere erfordern, welche alle im Voraus genau bestimmt werden mußten, um ein nur irgend erträgliches Unterkommen zu finden. Nicolai schrieb 8 Briefe an die 8 betreffenden Postmeister, und ließ durch jeden derselben seiner Freundin Elisa beim Frühstücke einen schriftlichen Gruß überreichen.

So sehr Frau von der Recke die große geschäftliche Thätigkeit und die ausgebreitete Gelehrsamkeit ihres Freundes Nicolai verehrte, so wenig konnte sie sich mit seinen vielen litterarischen Streitigkeiten einverstanden erklären. Ihr, welche die Milde und Duldung selbst war, schien es unbegreiflich, daß man wegen abweichender philosophischer oder belletristischer Ansichten sich so heftig den Krieg machte. Mehr als einmal versuchte sie es, ihren Freund von seiner allzugroßen Streitsucht abzumahnen, allein vergebens.

Im Jahre 1801 hatte Fichte sein Leben Nicolais herausgegeben, welches so heftige Angriffe enthielt, daß die sämmtlichen Berliner Buchhändler, damals ungefähr 16, sich in der Person eines ihrer würdigsten Mitglieder für beleidigt hielten, und einstimmig erklärten: sie würden das Buch nicht debitiren. Nicolai erfuhr davon und machte bekannt, er werde es debitiren, und für jedermann so viele Exemplare, als verlangt würden, verschreiben.

Frau von der Recke nahm hiervon Gelegenheit, ihrem Freunde in Betreff seiner litterarischen Klopffechtereien41 recht eindringliche Vorstellungen zu machen. Welchen Nutzen für die Wissenschaft können diese Zänkereien haben, die nur zu oft in Persönlichkeiten ausarten? Was müssen Sie sich alles gefallen lassen! Ist es nicht erschrecklich, daß Fichte in seinem neusten Buche Sie einen Hund genannt? Ja wohl , fiel ihr Nicolai Ins Wort, ich bin der bellende Hund, der allemal seine warnende Stimme erheben muß, sobald er merkt, daß irgend etwas in der deutschen Litteratur nicht in Ordnung ist ; u. s. w. Was ließ sich gegen eine solche Ueberzeugung noch weiter vorbringen?

Durch jene Händel mit Fichte wurde Nicolai schon früher veranlaßt, in einer akademischen Vorlesung vom Jahre 1799 jene merkwürdigen Nachrichten von den Phantasmen zu geben, die ihn einige Zeit heimgesucht, und derentwegen ihn Göthe als den Proktophantasmisten auf den Blocksberg versetzt. Auch hierüber haben sich allerlei Familientraditionen erhalten, die den Vorgang in etwas vervollständigen, und von den gedruckten Nachrichten abweichen.

Nicolai hatte einen heftigen Aerger über seinen Sohn Karl gehabt, und war im höchsten Affekt begriffen, als plötzlich sein verstorbener Sohn Samuel, der sich selbst das Leben genommen, hinter dem Schreibtische vor ihm stand. Er erschrak nicht wenig, und fragte seine Frau, die neben ihm stand, ob sie auch den seeligen Samuel sehe? Diese erschrak noch heftiger, sah aber natürlich nichts. Nicolai fixirte nun die Erscheinung mit festem Blick und sie verschwand. Er glaubte, damit sei die Sache abgethan, aber die Visionen wiederholten sich. Lebende und verstorbene Personen kamen in sein Zimmer, ohne daß er wußte wie. Einst42 drehte er sich vom Schreibtische um, und sah auf dem Sopha in der Ecke des Zimmers den verstorbenen Samuel sitzen. Er ging zwei Schritte darauf zu er blieb sitzen; noch zwei Schritte keine Veränderung; er trat ganz dicht heran und neigte sich fast über ihn, da war er verschwunden.

Bei seiner unglaublichen Arbeitsamkeit fand Nicolai anfangs nicht Zeit, einen Arzt zu befragen: er gewöhnte sich nach und nach an diese ungebetenen Gäste und war nur manchmal, wenn ein Lebender in das Zimmer trat, zweifelhaft, ob er es selbst, oder ob es sein Schemen sei. Die Geister unterschied er daran, daß sie beim Thüröffnen und beim Gehn gar kein Geräusch machten.

Endlich fingen die Figuren sogar an, mit ihm zu sprechen; die Hallucinationen des Auges verbanden sich mit denen des Ohres. Welche herrliche Gelegenheit für einen minder starken Geist, die mit den Verstorbenen wirklich gehaltenen Gespräche als Kundgebungen aus der Welt des Jenseits zu betrachten und bekannt zu machen! Wer weiß, wohin die krankhafte Erregtheit des überreizten Nervensystems ausgeartet wäre, wenn Nicolai nicht endlich ärztliche Hülfe gesucht, und durch zweckmäßig angewandte Blutigel den Spuk vertrieben hätte.

Die Erscheinungen hörten auf zu sprechen, sie verloren nach und nach die Lebhaftigkeit der Farben, sie wurden weiße Gespenster, sie theilten sich in der Mitte, und schwebten als Brustbilder vorüber; zuletzt verschwanden sie ganz, nachdem diese wunderbare Verstimmung der Sinnesorgane ungefähr 2 Monate gedauert.

Als wir eines Abends bei Tische saßen, ging der Grosvater in ein anstoßendes, ganz dunkles Kabinet, und43 sagte, als er zurückkam, zu meinem Vater: im Finstern habe er eben wieder seine Phantasmen gesehn; als er die Thür öffnete und ein Lichtstrahl in das Kabinet fiel, seien sie verschwunden. Dieser Aeußerung erinnerte ich mich sehr genau, als ich viele Jahre später seine Abhandlung las. Beinahe noch merkwürdiger als diese Phantasmen selbst ist mir immer die Anwendung erschienen, die Nicolai davon auf das Fichtesche Nichtich machte, welches die Publikation jener Nachrichten veranlaßte.

Nicolai besuchte in seinen letzten Jahren noch sehr regelmäßig den Montagsclub, eine geschlossene Gesellschaft, die i. J. 1749 von J. G. Schultheß gestiftet, noch jetzt (1870), so viel ich weiß, sich einer großen Anzahl von Mitgliedern erfreut. Außerdem hatte er ein Donnerstagskränzchen, das bei den Theilnehmern herumging, und dem mehrere Notabilitäten der damaligen Zeit angehörten. Nur zwei davon kann ich anführen, weil sie durch Fritzens Nachahmungstalent immer in frischem Andenken erhalten wurden.

Der Groskanzler v. Goldbeck, früherer Justizminister, war ein wohlgebauter, feiner Mann von gemessenem Wesen und langsamer Sprache. Er hatte sich die diätetische Regel gemacht, alle Abende eine schwarze Biersuppe mit Kümmel zu essen, und diese durfte natürlich beim Donnerstagskränzchen nicht fehlen. Wenn Fritz sich die blonden Haare aus der Stirn nach hinten strich, die Augen etwas zukniff und die Mundwinkel in die Höhe zog, so ließ sich ein kleines Ebenbild des Groskanzlers gar nicht verkennen. 44

Der Bibliothekar Biester, Nicolais genauster Freund, war ein kleiner verwachsener Mann von vieler Lebhaftigkeit und kräftig tönender Stimme. Sein Kopf reichte bei Tische kaum über den Teller, dabei gestikulirte er viel mit den Händen, und gebrauchte Messer und Gabel auf eine eigenthümlich eckige Weise. Auch diesen wußte Fritz mit großer Virtuosität darzustellen. Es versteht sich indessen von selbst, daß seine harmlosen Exhibitionen auf unsre Kinderstube beschränkt blieben, und erst nach mehreren Jahren, als das Donnerstagskränzchen aufgehört, und Nicolai gestorben war, durften sie sich an den Familientisch hervorwagen.

Dem Grosvater Nicolai hatte sich Fritz durch sein dienstfertiges anstelliges Wesen gleich sehr angenehm gemacht, und meiner Schwester so wie meine Scheu vor dem großen ernsthaften Manne, der uns selten ein gutes oder böses Wort hören ließ, wurde durch Fritzens Munterkeit überwunden. Wir aßen alle Abende oben bei dem Grosvater, und Sonntags auch zu Mittage. Dann holte er manchmal aus einem kleinem Tischkasten das Nürnberger Zauberbuch hervor, blätterte es rasch durch, und zeigte uns beim ersten Male Grenadire, dann Husaren, dann Ulanen u. s. w.; zuletzt sagte er: disparu! und es erschienen lauter weiße Blätter. Das erregte anfangs große Verwunderung; da er aber niemals dazu zu bringen war, uns den Mechanismus zu erklären, sondern nur immer dasselbe Kunststück wiederholte, so verlor die Sache, wie ein unaufgelöstes Räthsel, alles Interesse: denn es kömmt bei solchen Spielereien darauf an, daß man die Wißbegierde der Kinder eben so wohl anrege, als auch befriedige.

Weit ergötzlicher war es, wenn wir uns einen Folio -45 band mit Chodowieckischen Kupfern aus dem Regal am Fenster hervorlangen und durchsehen durften. Von diesem unvergleichlichen Meister besaß Nicolai eine ansehnliche Menge von Blättern in den besten Abdrücken, die noch jetzt den Kern meines beinahe vollständigen Exemplares ausmachen. Von vorzüglicher Schönheit sind die Kupfer zum Sebaldus Nothanker, John Bunkel und andern Nicolaischen Werken. Die vielen Hunderte von kleinen Kalenderkupfern umfassen nicht bloß alle Theile der Welt - und Kulturgeschichte, sondern auch die Dramatiker von Shakspeare bis auf Schiller, und fast die ganze gleichzeitige Romanlitteratur. Bald kannten wir jedes Blättchen so genau, daß die zugehaltene Unterschrift ohne Anstoß hergesagt ward. Diese angenehme kindliche Beschäftigung legte den Grund zu meiner Litteraturkenntniß: denn als ich späterhin mich weiter in jenen Fächern umsah, brauchte ich nur das neugewonnene in den bekannten Chodowieckischen Rahmen einzufügen. Viele Bücher habe ich bloß seiner Kupferstiche wegen gelesen, bin aber oft enttäuscht worden: denn es fehlt viel, daß man den lebendigen Geist, den Chodowiecki seinen künstlerischen Productionen einzuhauchen wußte, auch in den Schriften selbst antreffe.

Beim Abendessen saßen wir um einen geräumigen viereckigen Tisch, der Grosvater obenan, wegen seiner leidenden Augen hinter einem grünen Lichtschirm, meine Aeltern und ein gelegentlicher Gast an den Seiten, die Kinder am unteren Ende. Bei der fortdauernden Kränklichkeit seiner jüngsten Tochter hatte Nicolai die Schwester seiner Schwiegertochter, Henriette Eichmann zu sich genommen, um ihm die Wirthschaft zu führen. Wir nannten sie Tante Jettchen, und liebten sie wegen ihrer Freundlichkeit. 46

Nicolai sprach beim Essen sehr viel, und erzählte weitläufige Geschichten, von denen wir wenig verstanden. So lange ich mit meiner Schwester allein war, saßen wir ganz still und suchten die Langeweile so gut es anging zu überwinden. Als der lebhafte Fritz dazu kam, gab es immer etwas zu kichern und zu plaudern, bis der Grosvater mahnend ausrief: Still, wenn große Leute sprechen, müssen die Kinder schweigen. Wir gehorchten augenblicklich und warteten nur darauf, daß die großen Leute schweigen würden, um unsrerseits sprechen zu können, aber vergeblich. Das ging mehrere Tage so fort; das Wispern und Plaudern war nicht zu unterdrücken, und als der Grosvater wieder einmal dieselbe Phrase in drohendem Tone hören ließ, sagte Fritz halb weinerlich: aber, Herr Nicolai, Sie sprechen ja immer! Er wurde nun noch strenger zur Ruhe verwiesen, aber Tante Jettchen hat mir später gestanden, daß die Wahrheit dieser Bemerkung ihr und meinen Aeltern ein unwillkührliches Lächeln abgelockt.

Ein Lieblingsgericht des Grosvaters war eine kleine grätenreiche Fischart, von den Berlinern Stäkerlinge genannt. Diese mußten in jeder Woche wenigstens einmal vorkommen. Da er nun auch während des mühseligen Ausklaubens der Gräten und des nachherigen Essens bei der spärlichen Beleuchtung unaufhörlich sprach, so saßen, wie ich später erfuhr, meine Aeltern und Tante Jettchen oft in wahrer Todesangst am Tische, weil sie jeden Augenblick fürchteten, ihn an einer Gräte ersticken zu sehn.

Nach Tische setzte der Grosvater, ein wenig auf dem grünen Sopha ausruhend, die Unterhaltung fort. Wir durften nun noch weniger plaudern als vorher, und griffen um so lieber zu einem Bande der Kinderbücher, die der47 Grosvater in einem besonderen Schränkchen sorglich hatte aufstellen lassen. Weiße’s Kinderfreund und der Briefwechsel desselben hatten nicht viel Anziehungskraft: denn so liebenswürdig sich auch der Karakter des Verfassers darin ausspricht, so sind die Belehrungen zu fragmentarisch und von allzuvielen Betrachtungen unterbrochen. Auch war schon damals manches veraltet. Wenn Karlchen einen Postillon d’amour erhält, oder Lottchen ihre Poschen verliert, so waren das für uns unbekannte Größen. Die gefälligen und unterrichtenden Reden des Herrn Spirit und des Magisters Philoteknus konnten den Mangel einer durchgehenden Handlung nicht ersetzen.

In allen Schriften für das jugendliche Alter muß etwas geschehen, und aus den Vorgängen selbst muß Belehrung oder Warnung sich herleiten lassen. Deshalb ward auch der trockne Text zu Salzmanns Elementarbuch selten zur Hand genommen; die Kupfer dagegen, welche der Grosvater nach seiner soliden Art alle einzeln hatte auf Pappe kleben lassen, bildeten neben den Chodowieckis eine unerschöpfliche Quelle der Lust. Kotzebues Geschichten für meine Söhne wurden trotz ihrer platten Moral gern gelesen. Den grösten Beifall fanden die 12 Bände von Campes Reisen, welche in mir zuerst den Trieb erweckten, recht viele fremde Länder zu sehn. Die Krone von allen Kinderbüchern war natürlich der Robinson, den wir abwechselnd der Reihe nach immer von neuem durchlasen.

Wenn der Grosvater sich zum Schlafengehn erhob, so wetteiferten wir, wer ihm mit dem Leuchter bis zu seiner Wohnstube vorangehn sollte. Meistentheils lief Fritz mir den Rang ab, weil ich mich zu sehr in die Bücher vertiefte. 48

In der Wohnstube wartete Friedrich, der alte Bediente, um den Grosvater nach der Schlafstube zu begleiten. Friedrich trug, so lange ich ihn kannte, einen grünen Rock und graue Unterkleider. Obgleich er stets mürrisch war, und nicht leicht etwas ohne Brummen verrichtete, so hatten die Kinder doch eine große Zuneigung zu ihm: denn er erzählte manchmal von dem einjährigen Kriege (1778), den er als Füsilir mitgemacht, von dem grausamen Regenwetter, das alle Wege und Stege verdorben, und von der schlechten Kost in den Quartieren. Der König wurde auch von ihm wie ein Wesen höherer Art betrachtet. Einzelne Aeußerungen des Königs während dieses letzten Krieges wurden wie Orakelsprüche in der Armee herumgetragen; es ist mir aber keine einzige davon im Gedächtniß geblieben.

Neben dem alten Friedrich war die alte Luise als Hausmädchen in der Wirthschaft thätig. Schon damals hatte sie nahe an 40 Jahre in der Nicolaischen Familie zugebracht, hatte meine Mutter und deren Geschwister alle aufwachsen und dahinschwinden sehn, und klapperte nach wie vor mit ihrem Schlüsselbunde durch die weiten Räume der Wohnung. Wenn sie meinem Musiklehrer Weiße die Thür geöffnet, so rief sie zu mir in den Garten hinab: junger Herr, kommen Sie herauf, Herr Patzig ist da! So hatte nämlich der Musiklehrer meiner Mutter geheißen. Sonst mochte sich diese alte Eurykleia mit uns Kindern nicht viel abgeben, und deshalb war sie uns im Grunde gleichgültig, obgleich wir uns wohl hüteten, ihre Zanklust aufzuregen. Sie hatte sich nie verheirathen wollen, und fand ihr einziges Vergnügen darin, ihre Schwester, welche mit einem Schneidermeister in kinderloser Ehe und49 in sehr dürftigen Umständen lebte, an Sonn - und Festtagen mit Kaffee zu bewirthen.

Die alte Luise und der alte Friedrich konnten sich nicht gut vertragen, obgleich sie so viele Jahre in demselben Dienste verlebt. Er hörte nicht auf zu brummen, wenn sie beim Stubenreinigen irgend etwas aus der alten hergebrachten Ordnung verrückte, an die der Herr Nicolai nun so lange gewöhnt war, sie belferte dagegen mit gellender Stimme, wenn Friedrich irgend einen Eingriff in ihr Haushaltungsdepartement machen wollte; sie rief in solchen Fällen die übrigen Dienstboten, die Köchin, das Hausmädchen, zuweilen sogar den Hausknecht und den Markthelfer aus der Buchhandlung zu Hülfe.

Vor diesen Zänkereien empfand ich als Kind ein wahrhaftes Grauen, und noch immer stehn mir die zornigen Geberden, die verzerrten Mienen als Schreckbilder vor der Seele. Der Grosvater Nicolai in seiner entfernten Studirstube hörte diese häuslichen Dissonanzen nicht, auch kamen diese Zwiste zur Entscheidung niemals vor sein Forum, sondern wurden meistens von der Tante Jettchen beigelegt. Dabei fehlte es nicht an komischen Vorgängen. Friedrich sollte für den Grosvater einen Gang machen, und verlangte, da es gerade regnete, von Luischen den für die Dienstleute bestimmten baumwollenen Regenschirm. Ach was , rief sie, den Schirm kann ich Ihnen nicht geben, der wird ja naß! Darauf entwich sie schlüsselklappernd bis in den tiefsten Keller. Tante Jettchen gab nun, da Luischen durchaus nicht zu errufen war, ihren eigenen Schirm her, und erzählte uns am Abend die köstliche Anekdote. Fritz machte alsbald Gebrauch davon, und sagte in den nächsten Tagen zu der alten Haushäl -50 terin mit seiner gutmüthigsten schnippischen Miene: Liebes Luischen, könnten Sie mir wohl Ihren Schirm geben, aber er wird naß! Nehmen Sie ihn man, junger Herr, war die Antwort; ich weiß schon, daß der eklige Friedrich wieder einmal gepetzt hat!

Tante Jettchen hörte einmal die alte Luise ganz entsetzlich in der Küche keifen, und fragte endlich, als der Lärm gar nicht aufhören wollte, das Hausmädchen nach der Ursach. Ach, erwiederte diese seufzend. Luischen hat in der Wäsche den Rücken aus ihrer kattunenen Kontusche verloren!

Es würde, wie ich glaube, schwer sein, unter den heutigen Dienstboten ein paar Exemplare, wie Friedrich und Luischen aufzufinden. Hat sich doch überhaupt das Verhältniß der dienenden Klasse zur Herrschaft im Laufe der Zeiten wunderbar verändert. Denn um von der Stellung zu schweigen, die den antiken Sklaven beim Plautus und Terenz angewiesen ist, wo sie meistens die Hauptleiter der Intriguen sind, so würden doch auch Dienstboten, wie sie bei Moliere vorkommen, jetzt kaum irgendwo anzutreffen sein, und die Rollen, welche sie in den Ifflandschen und Kotzebueschen Stücken spielen, sucht man in den heutigen dramatischen Werken vergebens.

Luischen blieb 54 Jahre in unsrer Familie, und sah, als meine Kinder geboren wurden, die fünfte Generation im Hause, denn sie hatte noch Madame Schaarschmidt, Nicolais Schwiegermutter gekannt. Bei ihrem 50jährigen Jubiläum im Jahre 1820 oder 1821 ward eine kleine Feierlichkeit veranstaltet, wobei sie aus den Händen des Bischofs Ritschl unter sehr vielen Thränen eine goldne Kette und ein Geldgeschenk aus dem Gesindebelohnungsfond empfing. Tante Jettchen, welche sich viel mit Zeich -51 nen beschäftigte, machte ihr wohlgetroffenes Bildniß in einem kleinen Oval, das sich lange in unsrer Famlie erhalten hat, aber endlich doch abhanden gekommen ist. Die Sitzungen konnten immer nur sehr kurz sein: denn Luischen schlief ein, sobald sie still sitzen mußte.

Nach ihrem Tode trat ein Fall ein, der mir recht deutlich zu Gemüthe führte, daß Reichthum oft ein Unglück zu nennen sei. In Luischens Nachlasse fanden sich in einer alten Kommode nahe an 6000 Thlr., meist in Rollen von 50 Thlr., die sie theils durch eine Erbschaft erhalten, theils während ihrer langen Dienstzeit zurückgelegt hatte. Diese fielen ihrer Schwester und ihrem Schwager zu, gereichten ihnen aber nicht zum Segen. Die Schwester wurde von der Größe der ererbten Summe geistig geblendet; die Furcht den Reichthum zu verlieren raubte ihr Glück und Heiterkeit. Sie packte die Fünfzigthalerrollen zusammen, brachte sie nach ihrer kleinen Hofwohnung in der Stralauerstraße, schloß sie in eine Truhe, und war seitdem bis zu ihrem Tode nicht zu bewegen, das Zimmer zu verlassen, aus Furcht, daß Räuber einbrechen könnten. Der Mann hielt sich auch für einen Krösus, und wollte sich bisweilen einen guten Tag machen, allein da das Geld ihr, und nicht ihm gehörte, so bedurfte es immer der grösten Anstrengungen, um ihr nur einen Thaler abzudrängen, und das bisher friedliche Hauswesen wurde durch unablässigen Hader gestört.

Da Luischen so lange Jahre schlüsselklappernd und keifend im Hause gesehn worden war, so konnte es nicht fehlen, daß sie nach ihrem Tode darin umging. Bald hörte man sie Abends über die Gallerie trippeln, bald sah man sie am hellen Tage in der Speisekammer stehn und52 Teller zählen, bald wollten die Waschfrauen sie im Keller bemerkt haben. Dies ging so weit, daß meine Dienstboten am Abende die Gallerie vermieden. Da mich die Sache interessirte, so suchte ich ihr auf den Grund zu kommen, sah aber sehr bald, daß sie, wie jeder andre Mythus, vollkommen in der Luft schwebte. Wen ich von den Hausleuten fragte, der hatte den Geist nicht selbst gesehn, sondern nur von einem anderen gehört, daß er ihn gesehn haben wolle u. s. w. Der Spuk hörte jedoch nicht eher auf, als bis ich mehrere Jahre nachher das Haus umbaute, wobei auch die Gallerie verschwand.

Von der Gestalt meines Grosvaters Nicolai habe ich eine sehr deutliche Vorstellung. Er war ein ungewöhnlich großer starkknochiger Mann, der mir immer wie ein Riese vorkam, weil er größer war als mein Vater und die übrigen Hausgenossen. Weber (Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen 3, 371) nennt ihn einen langen, hagern, ungemein ernsten Mann, ohne einen Zug von Satyre oder lachender Laune; Thiebault (Souvenirs de vingt ans 2, 339) macht eine keineswegs einnehmende Beschreibung von ihm, er sagt unter andern, qu’il avait un air roide et cependant dégingandé. Den Kopf trug er im höheren Alter gebeugt; in dieser Hinsicht ist die Büste von Schadow, die sonst eine große Naturwahrheit hat, nicht ähnlich, weil sie den Kopf allzusehr in die Höhe hebt. Sein Gesicht war blaßgrau, und die Züge hatten etwas stumpfes, weshalb ich ihn nicht gern lange ansehn mochte. In seinem 72. Jahre verlor er durch einen Rheumatismus das rechte Auge; die Aerzte riethen ihm, zur Schonung des übriggebliebenen sich so viel als möglich mit Grün zu53 umgeben. Seine Stube wurde daher grün angestrichen, Sopha und Stühle grün überzogen, und beim Abendessen trug er einen grünen Schlafrock; beim Mittagstische habe ich ihn nie anders gesehn als in einem hellgrauen Rocke, schwarzen kurzen Beinkleidern, schwarzen Strümpfen und einer Weste mit Schößen. Er trug, so lange ich ihn gekannt, keine Perücke, sondern das graue gepuderte Haar aus der Stirn gekämmt, und hinten zu einem mäßig starken Zopfe ohne Haarbeutel vereinigt.

Viele Jahre nach seinem Tode sagte mir Herr v. Rumohr, der berühmte Kunstkenner und Kunsthistoriker, er habe meinen Grosvater auch noch gekannt, und es sei ihm merkwürdig gewesen, daß Nicolai noch im höchsten Alter sehr reine Wäsche getragen. Eine Bemerkung, die den feinen Beobachter charakterisirt!

Nicolais Stimme war nicht vom Alter gebrochen; sie hatte einen klaren angenehmen Klang; da er gern und viel erzählte, so sind mir alle Modulationen derselben sehr treu im Ohre geblieben. Auch einzelne Redensarten haben sich mir eingeprägt; so gebrauchte er öfter den Ausdruck: das ist platt unmöglich! und ich dachte in der Stille nach, wie denn wohl das platte mit dem unmöglichen zusammenhängen könne. Einst erzählte er eine mir gänzlich entschwundene Geschichte von dem Discantsänger Concialini (?), der unter Friedrich II. in der italiänischen Oper das Publikum entzückt, sich aber bei irgend einer Gelegenheit unpassend benommen hatte. Ja, ja , sagte der Grosvater zum Schlusse, Musikanten und Komödianten, das ist lauter Kesselflickervolk!

Einst sah ich auf des Grosvaters Schreibtische mehrere winzig kleine Bücher, kaum einen Zoll lang und breit54 liegen, die meine Neugier auf’s höchste reizten. Sie waren in gepreßtes Leder gebunden, und mit einer feinen goldnen Borte oder Schnur eingefaßt, die oben am Rücken eine Oese bildete. Ich erfuhr, dies seien die sogenannten Brelockenkalender, die man neben den Petschaften an der Uhrkette getragen. Nicolai hatte sie in der Zeit des siebenjährigen Krieges anfertigen lassen, und damit einen ganz unglaublichen Erfolg erzielt. Der Ertrag des Geschäftes soll sich auf mehr als 6000 Thaler belaufen haben. Die Büchlein enthielten neben kleinen Kupfern einige Verse auf den König, auf die Generale Ziethen, Seydlitz, Winterfeldt etc. Jeder patriotische Preuße mußte einen solchen Brelockenkalender besitzen; der Absatz ging in die Tausende. Die feinen Goldborten konnten damals nur in Nürnberg angefertigt werden. Nicolai verschrieb sie in großen Quantitäten, und vertheilte sie zu Hunderten von Ellen an die Buchbinder. Da geschah es nun, daß ein Buchbinder in der Spreegasse den Grosvater zu Gevatter bat. Als dieser während der heiligen Handlung auf den Täufling in seinen Armen niederblickte, bemerkte er, wie das Festmützchen des Kleinen mit der goldnen Kalenderborte eingefaßt war. Zwei Exemplare dieses Nicolaischen Verlagswerkes, das jetzt wohl zu den allergrösten bibliographischen Seltenheiten gehören mag, haben sich in meinem Besitze erhalten, beide aus dem Friedensjahre 1763. Das eine beginnt

Es blühe unser Vaterland
Durch Friedrich, Heinrich, Ferdinand!

Das andere

Vergnügt euch, das ist genug.
Wir leben kurze Zeit,
Und sind noch kürzer jung.
55

Als ich noch sehr klein war, sollte in Berlin ein Luftballon steigen, damals eine seltne Erscheinung. Er hing zur vorläufigen Ansicht des Publikums, nur mit atmosphärischer Luft gefüllt, in dem großen Mittelsaale der königlichen Bibliothek, der durch zwei Stockwerke hindurchgeht. Der Grosvater führte mich zu diesem neuen Schauspiele. Er trug einen weiten grauen Ueberrock mit hellen Schnüren besetzt, einen großen dreieckigen Hut, und ein gewaltiges spanisches Rohr mit Elfenbeinknopf und goldner Quaste. Es kam mir vor, als ob die Leute auf der Straße uns nachsähen, wohl weniger wegen des damals doch nicht ungewöhnlichen Anzuges, als weil ein Riese einen Zwerg an der Hand führte. Der Ballon selbst machte auf mich einen ganz ungeheuren Effekt; die Vollkommenheit der Kugelform der epikurischen Götter trat mir damals unbewußt vor die Seele; auch die großartigen Dimensionen des Gebäudes mit den reichen Säulenstellungen, in dem die Tritte auf den Steinfliesen weithin wiederhallten, prägten sich dem Gedächtnisse unverlöschlich ein.

Die eine Seite unseres Hausgärtchens stieß an ein hohes Nachbarhaus, das durch seine blendend weiße Fläche den leidenden Augen des Grosvaters sehr störend war. Ein junger Nußbaum und einige Linden im Garten gaben zu wenig Schutz. Nur mit Mühe wurde der Nachbar, mit dem Nicolai früher auch Streitigkeiten und Prozesse gehabt, zu der Erlaubniß vermocht, daß der Grosvater auf seine Kosten die Wand dürfe grün anstreichen lassen. Nun sahen die Kinder mit Verwunderung das gewaltige Gerüst langsam im Garten aufsteigen, und die verwegenen56 Zimmergesellen auf dünnen Brettern bis zur höchsten Höhe sich aufschwingen. Die sonst streng verschlossene Gartenthür stand den ganzen Tag offen, und ein Theil der zierlichen Beete wurde von den Maurern zertreten, denen wir anfangs wegen ihrer schmutzigen Kleider kaum zu nahen wagten. Sehr langsam denn Fritz war damals noch nicht im Hause ward mit den fremden Leuten, während wir im Garten spielten, eine Bekanntschaft angeknüpft; die vom Stock zu Stock hinaufreichenden Leitern hatten gar zu viel verführerisches; die erste wurde glücklich von mir erstiegen, der zweite Plan gewahrte einen ungewohnten Einblick in den Nachbargarten; ohne Zweifel wäre ich zum vierten Stocke hinaufklettert, wenn nicht das wachsame Auge von Madame Clause mich erspäht, und wenn nicht ihr Zetergeschrei den Grosvater ans Fenster gerufen bitte. Eilig stieg ich hinab, und nachdem Madame Clause hinlänglich gescholten, kam der alte Friedrich mit dem Befehle, daß ich vor dem Grosvater erscheinen solle. Der Gang zum Hochgericht kann nur ein Kinderspiel sein gegen die Gefühle der Vernichtung, welche mich beherrschten. Ob der Tadel scharf oder gelinde gewesen, bin ich völlig außer Stande anzugeben; aber die Art des Grosvaters war eine so herbe, daß ich mich sehr gut erinnre, nicht eine Thräne vergossen zu haben, während mir sonst bei einem liebreichen Verweise der Aeltern die Augen allzuleicht naß wurden. Bei Jean Paul (Titan 1, 175) habe ich den richtigen Ausdruck für jenes mehr als gräsliche Gefühl gefunden: nachsterben.

So wenig ich im allgemeinen von den Abenderzählungen des Grosvaters fassen konnte, so ist doch einiges davon haften geblieben. Die Geschichte von der Steinsuppe57 erzählte er einmal sehr ausführlich und mit einem gewissen ernsthaften Humor. Zwei Reisende können von den unfreundlichen Wirthsleuten nichts zu essen erhalten. Nun, sagen sie, wenn ihr denn gar nichts habt, so müssen wir uns Steine kochen. I, wie wollt ihr die weich kriegen? O, das geht schon, wenn sie lange genug ziehn, und die Zuthaten gut sind. Ein Dutzend Bachkiesel wird rein abgewaschen und aufs Feuer gesetzt. Nach einiger Zeit sagt der eine Reisende: sie wollen noch nicht werden; es wäre gut, ein Stück Brodt einzuschneiden; es geschieht. Tüchtig gesalzen werden sie schneller gar, ein Stück Butter macht sie geschmeidiger, habt ihr keine Petersilie im Hause? die hilft, eine Hand voll Mehl desgleichen. Zuletzt wurden noch ein paar Eier hineingeschlagen. Nachdem die Reisenden diese nahrhafte Suppe mit bestem Appetite verzehrt, lassen sie die Steine stehn. Aber ihr eßt ja die Steine nicht? Die sind schon wieder hart geworden; wenn ihr sie essen wollt, so müßt ihr sie noch einmal aufkochen.

Interessanter war die Mittheilung, daß Nicolai sich noch recht gut entsinnen konnte, wie sein Vater von der Huldigung König Friedrichs II. (1740) nach Hause gekommen sei, in kurzem spanischen Mantel, mit Degen und Federhut, einer Allongeperücke und mit großen Schleifen auf den Schuhen. Damals war Nicolai (geb. 1733) sieben Jahre alt. Er durchlebte die glorreiche Zeit der drei schlesischen Kriege mit vollem Bewußtsein. Bei dem Abschlusse des Hubertsburger Friedens (1763) war er ein Mann von 30 Jahren. Er erwähnte, daß die Berliner Bürger es dem Könige lange nicht verziehen hätten, als er bei dem vorbereiteten Einzuge um die Stadt herum, durch ein anderes58 Thor eingefahren sei, aber später habe man doch auch hierin seine Seelengröße erkannt und gewürdigt. Die öffentlichen Friedensfeierlichkeiten hätten mehrere Tage gedauert; zuletzt sei ein großes Feuerwerk auf und neben dem Tempelhofer Berge abgebrannt worden. Er habe sich mit mehreren jungen Kaufleuten zusammengethan, um zu Pferde dem seltenen Schauspiele beizuwohnen. Weil der Andrang von vorn gar zu groß gewesen, so seien sie in der Dunkelheit über Stock und Stein um den Berg herumgeritten, um von hinten etwas zu erhaschen. Als sie nun nach manchen Hindernissen dort ankamen, stand ihnen eine hohe Bretterwand vor der Nase, von den Veranstaltern des Feuerwerkes vorsorglich errichtet; die Stöcke der abgebrannten Raketen fielen ihnen auf die Köpfe und sie kehrten endlich in tiefer Nacht misvergnügt nach Hause zurück, ohne etwas anderes als ein paar Leuchtkugeln gesehn zu haben.

Ob ich das nachfolgende Geschichtchen von Lessing aus des Grosvaters Munde selbst, oder durch Tradition von meinen Aeltern empfangen, will ich dahin gestellt sein lassen, jedenfalls gewährte es uns Kindern, die wir den Namen Lessing dabei zum erstenmale hörten, ein großes Vergnügen.

Auf seinen vielen Reisen kam Lessing beim frühsten Tagesgrauen einmal nach Schöppenstädt. Als er sich dem Städtchen näherte, fragte er den Postillon: Nun, Schwager, wie ist es, werde ich denn einen Schöppenstädter Streich zu sehn bekommen? Sorgen der Herr nicht! war die Antwort. Sie fahren durch das Thor der Vorstadt, und finden noch keinen Menschen auf der Straße, alle Thüren und Fensterladen sind geschlossen. Sie kommen durch59 das Stadtthor, und fahren langsam durch die Stadt, überall dieselbe Einsamkeit. Lessing wiederholt seine Frage und erhält dieselbe zuversichtliche Antwort. Sie lassen die Stadt hinter sich und sind bereits an den letzten Häusern der Vorstadt, da öffnet sich ein Fensterladen, ein Bürger steigt im Hemde zum Fenster hinaus, und schließt von außen seine Hausthür auf. Da haben Sie ihn! ruft der Postillon, und setzt seine Pferde in Trab.

Eben so wenig ist mir deutlich, ob ich aus des Grosvaters Munde oder sonst woher gehört, daß Lessing auf seinen Reisen zu sagen pflegte: das Abschiednehmen hat Gottsched erfunden; man sieht sich immer wieder!

Unter den Abendgästen am Tische des Grosvaters dünkte uns Zelter eine ungewöhnliche Erscheinung. Seines Zeichens ein Maurermeister übte er dies Handwerk mit unverdrossenem Fleiße, daneben besaß er ein so bedeutendes musikalisches Talent, daß seine Liederkompositionen in aller Munde waren. Nach dem Tode von Fasch (1800) ward er Vorsteher der Singakademie und verwaltete sein Amt mit dem schönsten Erfolge. Von riesiger Gestalt, mit übergroßen Händen und einer Stentorstimme begabt, war er ganz dazu geeignet, den Kindern anfangs Schrecken einzujagen; allein er wußte seine Stimme zu mäßigen, und erzählte mit so vieler Anschaulichkeit und mit so eigenthümlichen Kraftworten, daß wir gern an seinem Munde hingen. Mit seinen großen Händen zerlegte er die Gerichte auf das zierlichste, als indessen einmal Krebse aufgesetzt wurden, sahen wir mit Entsetzen, wie er die Scheeren krachend mit den Zähnen zermalmte, und den Leib laut schlürfend aussog. Fritz erhielt dadurch eine gute Gelegenheit, sein Nachahmungstalent in der Kinderstube60 geltend zu machen. Ein andermal kam eine Schüssel mit Pfannenkuchen nicht aus der Hausküche sondern vom Conditor geholt welche so misrathen waren, daß selbst wir Kinder sie verschmähten, obgleich Madame Clause von uns zu sagen pflegte: ils ont des estomacs obligeants! Das ist ja, als wenn man in eine Pelzmütze bisse! rief Zelter aus.

Nachdem er einen Winter lange Zeit weggeblieben, erschien er eines Abends mit dem linken Arm in der Binde. Alles erkundigte sich theilnehmend nach seinem Unfalle. Bei argem Glatteis , sagte er, ging ich in der Königsstraße mit dem Professor Walch, der ein dickes Notenbuch unter dem Arme trug. Aus purer Höflichkeit nehme ich ihm dasselbe ab. Bald darauf gleite ich aus, falle auf die Seite, und das verwünschte Buch hebt mir den Arm aus der Kugel, woran ich nun schon 8 Wochen laborire. Seitdem habe ich mir fest vorgenommen , schloß er lachend, nie in meinem Leben mehr höflich zu sein.

Ein andres Mal erzählte er, wie er als Musikverständiger der Prüfung eines Organisten beigewohnt, der sich um eine vacante Stelle bewarb. Das Männchen , sagte Zelter, war sehr klein, und konnte mit den Beinchen kaum das Pedal abreichen [sic]. Er dachte, bei der Orgel komme es darauf an, recht viel Lärm zu machen; er zog alle Register, und arbeitete mit Händen und Füßen, daß die Windlade hätte platzen können. Da rutscht er plötzlich von der Bank ab, und fällt auf die Pedaltasten. Nun denke man sich das infernalische Spektakel, als das Kerlchen sich auf das 16füßige C stützte, um wieder auf die Beine zu kommen; das ging Fuh, fuh, fuh! Und nun machte uns Zelter mit seiner Löwenstimme das Fauchen eines Orgelpedales vor. 61

Was ist ein Orgelpedal, ein Register, eine Windlade, ein 16füßiges C? fragten wir, und ließen uns am andern Tage diese Ausdrücke vom Vater erklären, der selbst in seiner Jugend ein geübter Orgelspieler gewesen war. Doch ohne Autopsie waren alle Erklärungen nicht ausreichend, um uns den wunderbar zusammengesetzten Bau der Orgel deutlich zu machen; der Vater versprach daher, uns so bald als möglich die Einrichtung in der Kirche zu zeigen. Da aber ein Sonntag nach dem andern verging, ohne daß dieser Vorsatz zur Ausführung kam, so suchten wir uns selbst zu helfen. Der Sohn des Hofapothekers, mit dem wir in der Hartungschen Schule saßen, kannte den Sohn des Hoforganisten am Dom, und dieser Sohn machte seinen Einfluß bei dem Balgentreter geltend, um uns eines Sonntags mit auf die Orgel zu nehmen. Erklären konnte unser Kamerad den Mechanismus eben so wenig als der massive Balgentreter, und mit Verwunderung blickten wir in den Wirrwarr von Schnüren und Klappen hinein. Fritz war so keck, ein kleines Pfeifchen herauszuziehn und darauf zu blasen. Aber welch einen überwältigenden Eindruck machte es, als die mächtigen Töne der Orgel in unmittelbarster Nähe, fast unter unseren Füßen hervorquollen. Mir bebte das Innerste, und ich suchte bald einen entfernteren Standpunkt. Fritz blieb ungerührt stehn, und trotzte gleichsam der heranrauschenden Brandung der Töne, die mir mit niederdrückender Gewalt über dem Haupte zusammenschlug. Wir konnten nun ungefähr so viel begreifen, daß jedes gezogene Register die Stärke des Tons vermehre, und daß das 16füßige C einer Posaune von 16 Fuß Länge entspreche.

Eines Abends spielte mein Vater das von Zelter kom -62 ponirte Schillersche Gedicht: Nehmt hin die Welt etc. Die kräftigen, wenn auch etwas alltäglichen Rythmen fielen angenehm ins Ohr, aber der Schluß dehnte sich ins unendliche aus. Wir zählten nach und fanden, daß die Worte: So oft du kommst, er soll dir offen sein! nicht weniger als 18 Mal wiederholt waren. Gerade in den nächsten Tagen fand sich Zelter zum Besuche ein, und mein Vater fragte ihn lachend nach der Ursache jener beispiellosen Dehnung. Ach! erwiederte Zelter halb ärgerlich, es sollte eine Arie werden! und machte das Heft zu. Dieser sonderbare Ausspruch prägte sich mir fest ein, weil Zelter damals für eine der ersten musikalischen Autoritäten Berlins galt; ich dachte oft darüber nach, ob es denn passend, oder überhaupt zulässig sei, an den Schluß der halb-humoristischen poetischen Erzählung eine ernsthafte Arie zu setzen, und als ich meinen Vater darüber befragte, erfuhr ich zu meiner Genugthuung, daß eine so unnatürliche Verbindung gegen alle Regeln der musikalischen Komposition verstoße.

Ein junger Arzt aus Hannover, Dr. Kohlrausch, ein Neffe des Pädagogen, war an Nicolai empfohlen, und kam recht häufig zu den einfachen Abendmahlzeiten. Er übertraf Zeltern noch an Größe, hatte aber ein durchaus feines elegantes Betragen und sprach mehrere Sprachen mit großer Geläufigkeit. Bei einem mehrjährigen Aufenthalte in Italien hatte er schöne Kunstsachen erworben, war mit Wilhelm v. Humboldt bekannt, und von diesem nach Berlin gezogen worden. Wir konnten gar bald bemerken, daß er der Tante Jettchen große Aufmerksamkeiten bewies. Er heirathete sie später i. J. 1816 und trat als Geheimer Medizinalrath in das Altensteinsche Ministerium. Im Ge -63 nusse seiner Kunstsammlungen habe ich später die seligsten Stunden verlebt.

Neben diesen angesehenen Gästen erschienen auch andre von geringerer Bedeutung, denen der Grosvater mit weniger Aufmerksamkeit zuhörte, was zu manchen Misverständnissen Veranlassung gab. Ein Verwandter von Tante Jettchen, den wir Vetter Wilhelm nannten, und der sich der juristischen Laufbahn widmete, war in der Familie wegen seiner schönen Handschrift und wegen seines ausdrucksvollen Vorlesens bekannt, galt aber sonst für einen Windbeutel. Mit einer klaren, volltönenden Stimme verband er eine große, vielleicht übertriebene Emphase. Engels Entzückung des Las Casas, von ihm vorgelesen, hat mich auf das tiefste bewegt. Dieser Vetter fand sich eines Abends ein, und erzählte viel von seinen losen Streichen auf dem Grauen Kloster, das seinen berühmten Direktor Gedike, Nicolais genauen Freund, erst vor kurzem (1803) verloren hatte. Die Verdienste des großen Schulmonarchen wurden nach Gebühr gewürdigt, doch auch seine Eigenheiten nicht verschwiegen: denn es ist die Art der Mittelmäßigkeit an einem hervorragenden Manne zumeist die kleinen Flecken aufzusuchen. Der Vetter war in Gedike’s Familie bekannt, und erzählte, der Alte habe nie gelitten, daß irgend jemand seinen Töchtern etwas von Liebe vorschwatze. Als der Vetter einstmals am Klaviere saß, und der ältesten Tochter eine schmelzende Romanze vorsang, worin viel von Liebe vorkam, rief sie plötzlich ganz ängstlich: Singen Sie Freundschaft, Freundschaft! Papa kömmt!

So gut im Ganzen die Disciplin auf dem Grauen Kloster war, so seien doch manchmal, wie der Vetter erzählte, in den Zwischenminuten wunderliche Dinge ausgeführt64 worden. Eins der tollsten sei gewesen, daß 5 Jungen sich neben einander Schulter an Schulter auf die Erde gelegt, der erste dicht an der Wand; auf diese legten sich 4, dann 3, dann 2, zuletzt einer, der dann gewöhnlich von oben herabgerollt sei. Das habe man einen Knochenberg genannt. Als er von uns wegen der Unmöglichkeit der Ausführung angegriffen wurde, und nach einem lebhaften Wortwechsel eine augenblickliche Pause entstand, sagte der Grosvater, der an etwas ganz anderes gedacht, ganz ruhig: wo nahmen Sie denn die Knochen her? Der Erzähler war in der übeln Lage, die alberne Geschichte wiederholen zu müssen. Er zog sich auf eine ziemlich klägliche Weise aus der Sache, und ließ sich lange nicht wieder sehn.

Nicolai hatte früher mit seiner Familie den ganzen ersten Stock seines Hauses bewohnt; als er zuletzt mit seiner jüngsten Tochter Lottchen allein übrig blieb, zog er sich in die hinteren Zimmer zurück, und die ganze Vorderseite stand leer. Sein großes Studirzimmer ging ungefähr nach Süden in den kleinen Garten hinaus. Ueber dem Schreibtische am Fenster erhob sich ein hohes Regal. Darin stand ein vollständiges Exemplar der Allgemeinen Deutschen Bibliothek in 268 Bänden, das beste Zeugniß von Nicolais litterarischer Wirksamkeit. An den beiden Seitenwänden standen weiße Bücherschränke mit Glasthüren; an der Wand den Fenstern gegenüber sah man die Thür nach dem daranstoßenden Bibliotheksaale, daneben zeigte sich ein kleines tafelförmiges Klavier, auf dem der Grosvater manchmal Choräle spielte. Außerdem war diese ganze Wand bis zu einer bedeutenden Höhe hinauf mit den eingerahmten Bildnissen aller berühmten Zeitgenossen, von Rabener bis auf Alexander v. Humboldt65 bedeckt. Den Werth der Originalsilhouetten von Lessing und Schiller, der Handzeichnungen von Frisch, Chodowiecki, Graff etc. wußten wir Kinder freilich damals nicht zu schätzen, wir kritisirten die Köpfe nur nach dem mehr oder minder gefälligen Aussehn. So besinne ich mich, daß Frau von Stael uns verhaßt war, weil sie in der Ferne für einen Mann gelten konnte.

Ueber den Bücherschränken hingen größere Kupferstiche, über dem Sopha das schon erwähnte lebensgroße Kniestück von Frau von der Recke und andre Bildnisse.

Der Eintritt in die Studirstube erregte uns Kindern immer ein Gefühl der Befangenheit, aber unbeschreiblich war unser Erstaunen, als wir eines Tages sahen, wie der Grosvater die Thür eines Bücherschrankes öffnete, hineintrat und nicht wieder zum Vorschein kam. Wie sollte für den großen starken Mann in dem schmalen Schranke sich Raum finden? Nach kurzer Zeit trat er wieder ein. Wir wagten nun auch, den Schrank zu öffnen, und fanden, daß diese Vexirthür in ein daneben liegendes Kabinet führte, dessen Wände bis an die Decke hinauf mit Büchern tapezirt waren. Diesen Ausgang hatte der Grosvater angelegt, um sich den Umweg durch den Bibliotheksaal nach seinem Schlafzimmer zu sparen.

Als mein Vater später das Zimmer bewohnte, wurde die Thür nach dem Bibliotheksaale verschlossen, um den bequemeren Eingang durch das Kabinet zu haben; da sahen wir denn oft, nicht ohne innerliches Ergötzen, wie manch ein Fremder, der durch die Vexirthür eingetreten war, beim Abschiede sich umwendend, verwundert vor dem Bücherschranke stehn blieb, und den Ausgang nicht finden konnte.

66

Krieg von 1806. Napoléon I. in Berlin. Schule von Hartung.

Der behagliche Genuß unserer bürgerlichen Existenz wurde gestört, ja fast vernichtet durch den Krieg von 1806, der über Preußen eine Reihe von sieben Leidensjahren brachte, wie sie schwerlich ein anderer Staat in der neueren Geschichte erfahren. Man muß dieses Zusammenbrechen aller Verhältnisse, diese gänzliche Rathlosigkeit der Behörden, die Angst und Noth so vieler Familien gegenüber dem frechen Uebermuthe der Sieger miterlebt haben, um den Aufschwung des Volkes in den Jahren 1813 15 begreifen zu können.

Mit Grauen hörten die Kinder von den Hausleuten die ängstlichen Worte: nun giebt es Krieg mit den Franzosen! Es schien als ob ein bisher unbekanntes Uebel in der Luft liege und im Anzuge sei. Das Gefühl der völligen Haltlosigkeit des Staates in seiner jetzigen Organisation war unbewußt bis in die tiefsten Schichten der Bevölkerung hinabgestiegen. Nirgends bemerkte man eine frohe Siegeshoffnung, sondern man hörte nur Aeußerungen des Kleinmuthes: das kann noch sehr schlimm werden! nun kommen die Feinde! wer weiß, wie es uns gehn wird! 67

Von den preußischen Soldaten hatten wir bis dahin sehr wenig in Berlin gespürt. Sie wohnten ruhig in ihren Kasernen. Nun sah ich zum ersten Male in unsrer stillen Brüderstraße einen Schwarm bewaffneter Leute mit breiten dreieckigen Hüten und entsetzlich langen Zöpfen. Sie zogen einzeln und verdrossen auf ihren Sammelplatz an der Petrikirche und stellten sich in Reih und Glied. Ein Schwarm Kinder und müßigen Gesindels betrachtete aus der Ferne das ungewohnte Schauspiel. Die armen Leute, sagte neben mir eine Frau aus dem Volke, wie mancher davon wird nicht zurückkommen!

Auch an übeln Vorbedeutungen, die freilich nur dann behalten werden, wenn sie eintreffen, fehlte es nicht. Als ein Regiment mit klingendem Spiele beim Zeughause vorbeizog, löste sich von den Trophäen auf dem Mittelgiebel der Kopf einer Bellona, und stürzte krachend auf das Pflaster.

Die Namen der preußischen Generale, des Herzogs von Braunschweig und des Feldmarschalls von Möllendorf hatten aus dem siebenjährigen Kriege her einen guten Klang; allein seit dem Hubertsburger Frieden waren 43 Jahre verflossen. Im Volke erzählte man sich, der Herzog von Braunschweig müsse sich bei jedem Worte besinnen, das er schreiben wolle, und Möllendorf brauche einen Schemel, um auf das Pferd zu steigen, wobei es vorkomme, daß er auf der andern Seite herabfalle.

Nur zu bald erreichte uns die Nachricht von der unglücklichen Schlacht bei Jena, und es währte nicht lange, so hielt der Kaiser Napoléon seinen Einzug in Berlin. Da dies an meinem Geburtstage, den 27. Okt. 1806 stattfand, so ist mir die Erinnerung daran sehr lebendig. Ich68 stand an der Hand meines Vaters vor dem K. Palais, wo die neugierigen Zuschauer in sehr geringer Anzahl sich versammelt hatten. Mehrere Regimenter zu Fuß und zu Roß zogen dichtgedrängt dahin. Da entstand ein leerer Raum; ein kleiner Mann auf einem weißen Pferde, gefolgt von einem Reitertrupp in glänzenden Uniformen, ritt langsam gegen das Schloß hin, nach allen Seiten sich lebhaft umsehend. Das ist der Kaiser Napoléon, sagte mein Vater. Wir sahen ihm lange nach, und gingen auf einem Umwege nach Hause, weil die damalige Hundebrücke, eine erbärmliche hölzerne Zugbrücke, an deren Stelle jetzt die Schloßbrücke getreten ist, gesperrt war, und der Schloßplatz dicht voll französischen Militärs stand.

Ueber die großen Lieferungen von Kriegsbedürfnissen und die unerschwinglichen Kontributionen hörte man von allen Seiten laute Klagen. Es kam wirklich schlimmer, als selbst die Muthlosesten vor dem Kriege gefürchtet. Die französischen Soldaten wurden bei den Bürgern einquartirt, und unser Haus, als das stattlichste in der Brüderstraße, erhielt gewöhnlich die schwerste Belastung von Obersten und Generalen. Nicolai mußte die ganze Vorderfront seines Hauses den fremden Gästen öffnen. Es ist mir erinnerlich, daß wir einige Zeit 22 Personen und 12 Pferde Einquartirung hatten. Im Hofe befand sich ein Stall für 6 Pferde; denn es gehörte in jenen Zeiten zu den Vorzügen eines wohleingerichteten Hauses, bei einem Besuche vom Lande nicht bloß Gaststuben für die Ankommenden, sondern auch Stallung und eine gut gefüllte Futterkammer bereit zu halten. Allein dies reichte jetzt bei weitem nicht aus; viele Pferde mußten auf dem Hofe untergebracht werden, wo die Gallerie bei Regenwetter69 einen guten Schutz gewährte. Wenn die Hoffenster zu unserer Parterrewohnung geöffnet wurden, so schaute nicht selten ein großer Pferdekopf herein; wir hörten mit staunender Neugier die französischen Sprüche und Ausrufungen der Soldaten beim Putzen und Satteln der schmucken Thiere, und kannten bald die Reihenfolge der Verrichtungen vom Striegeln und Bürsten an bis auf das Waschen und Kämmen. Fritz wußte die verschiedenen Arten des Schnalzens und Pfeifens auf das glücklichste wiederzugeben.

War die Verpflegung nicht nach dem Wunsche der Gäste, so wurde sie zurückgeschickt; es ist in unserm Hause vorgekommen, daß ein Diner, welches dem französischen Generale nicht gut genug war, aus den Fenstern in den Hof geworfen wurde! Das war dem würdigen, an solche Behandlung nicht gewöhnten Hausherrn Nicolai zu arg. Er ließ sich bei dem General melden, und wollte ihm, da er des französischen hinreichend kundig war, Vorstellungen über sein Betragen machen. Allein die Unterhaltung, welche anfangs von dem französischen Generale, trotz seines unartigen Betragens mit französischer Urbanität geführt ward, nahm durch Nicolais heftiges Wesen einen so gereizten Charakter an, daß sie in eine höchst anstößige Zänkerei ausartete, welche die an der Thür horchenden Hausleute mit der größten Besorgniß erfüllte. Vielleicht würden noch schlimmere Verwicklungen entstanden sein, wenn nicht die Armee weitergerückt wäre.

Im allgemeinen war das Betragen der französischen Soldaten nur zu loben. Bei den häufigen Durchmärschen wechselte die Einquartirung sehr oft, aber man hörte wenig von Erpressungen und Rohheiten. Es fiel mir später bei, daß Madame Clause uns einmal gesagt hatte, jede70 französische Mutter präge ihren Kindern folgende drei Grundsätze ein 1) être complaisant avec tout le monde, 2) cacher sa superiorite, si on en a, 3) toujours se souvenir, que la troisieme replique est une impertinence.

Schlimmer war es, als nach einiger Zeit die Rheinbundtruppen, Baiern, Würtenberger und Badener dem französischen Heere nachgeschoben wurden; ob sie Berlin selbst berührt haben, wüßte ich nicht mehr anzugeben, aber von den umliegenden Dörfern hörte man vielfache Klagen über die Brutalität der ehrlichen Schwaben, die damals einen traurigen Ruhm darin suchten, ihren besiegten preußischen Brüdern die Schwere des Krieges recht fühlbar zu machen.

Trotz unseres glühenden Franzosenhasses erfreuten wir uns doch an den militärischen Schauspielen im Lustgarten, und die Aeltern hatten nichts dagegen, wenn wir manchmal, von Wilhelm geleitet, am Sonntage dorthin gingen. Fritz, der sich um alles bekümmerte, hatte sehr bald die einzelnen Truppentheile kennen gelernt, und machte nun den erfahrenen Erklärer. Die mit den großen Bärenmützen, sagte er, sind die Garden; die werden nur in der grösten Noth ins Feuer geführt; die mit den grünen Uniformen sind die Chevaux-legers, dann kommen die leichten rothen Husaren u. s. w. Der schönste Augenblick trat ein, wenn die dichten Reitermassen langsam bei dem Kaiser vorbeigerückt waren, und dann im rascheren Laufe nach allen Seiten hin in ihre Quartiere zurückeilten. Das nahe Vorbeisausen der fliegenden Schwadronen hatte, wenn wir auf dem sicheren, erhöhten Bürgersteige unter einer Hausthür standen, einen mit Grauen gemischten Reiz, dem wir uns gar zu gern hingaben. 71

Hiebei ereignete sich ein sonderbarer Vorfall, der von der gewaltigen Wurfkraft des Pferdefußes zeugt, und den Kindern sowohl wie den Erwachsenen lange Zeit zu reden gab. Eine Reiterschaar sprengte über den Schloßplatz nach der langen Brücke zu. Der letzte Reiter war etwas zurückgeblieben, er spornte sein Pferd, es schlug aus, ein lockeres Eisen des Hinterfußes löste sich ab, flog dicht an den Häusern in die Luft und kam nicht wieder herunter. Mehrere Hausbewohner, welche in den Thüren standen, um den Zug mit anzusehn, bemerkten das Auffliegen des Hufeisens, und schauten neugierig-besorgt in die Höhe, um das Herabfallen zu beobachten. Als aber durchaus nichts erschien, durchsuchte man die nächsten Dächer, und fand das Hufeisen an der Dachrinne des Hofmannschen Hauses hängend. Weil das Vorkomniß zu merkwürdig war, so wurde das Hufeisen an der Dachrinne mit Drath befestigt, und blieb viele Jahre lang als Wahrzeichen sichtbar. Ein Neffe meines Vaters, der Vetter Valentin, stand damals als Gehülfe in der Hofmannschen Tuchhandlung; von ihm erfuhren wir alle kleinen und kleinsten Umstände über das wunderbare zum Himmel fliegen, verschwinden und endliche entdeckt werden des Hufeisens.

In vielen Fällen brachten die fremden Generale nicht nur ihre Adjudantur, sondern auch die ganze Dienerschaft mit ins Haus. Dem Koche mußte die Küche eingeräumt werden, und unsere Köchin bereitete die Speisen für den Hausherrn auf einer Ecke des Heerdes. Um den Verkehr der fremden Dienerschaft mit den Hausleuten zu ermöglichen, mußte Nicolai einen Bedienten annehmen, der französisch sprach. Es fand sich ein junger Mensch von der französischen Kolonie, Namens Jean, der auf diesem schwierigen Posten den72 grösten Eifer für das Interesse seines Herrn zeigte. Er wies die übertriebenen oder unberechtigten Forderungen der fremden Gewalthaber zurück, und errang manchmal durch richtig angebrachte deutsche Grobheit den Sieg über die französische Zudringlichkeit. Deshalb war er im Hause wohlgelitten, welches aber nicht hinderte, daß die Kinder sich manchen Schabernack mit ihm erlaubten. Wir hatten nämlich gar bald gemerkt, daß er mit Geistesgaben nicht übermäßig gesegnet sei, und spielten seiner Leichtgläubigkeit manchen Possen. Fritz war bei solchen Gelegenheiten der Anführer, und ich begnügte mich mit der zweiten Stelle. Unter andern hatte Fritz, nachdem wir Schillers Räuber gelesen, den Plan entworfen, auf dem Oberboden des Hinterhauses eine Räuberhöhle anzulegen. Hier gab es unter dem dicken Gebälk manchen weiten Schlupfwinkel, weil man damals den Raum der Häuser weniger zu Rathe hielt, als jetzt. Es war uns verboten worden, diese staubigen Oerter zu besuchen, und so lange ich allein stand, gehorchte ich sehr gewissenhaft. Als aber Fritz hinzutrat, hatte sein Vorwitz sehr schnell diese herrlichen Spiel - und Versteckplätze ausgekundschaftet, und bald waren wir darin ganz heimisch. Zu einem geräumigen Lattenverschlage, der im Sommer leer stand, hatten wir uns durch den gutwilligen Hausknecht den Schlüssel verschafft. Jeans Mansardstube lag in der Nähe. Auf diesen Umstand wurde ein großartiger Banditenanschlag gebaut. Jean sollte am Abend von uns beiden vermummten Räubern gefangen und in den Verschlag gesperrt werden. Am andern Morgen sollte er einen feierlichen Eid schwören, nichts von der Sache zu verrathen, und alsdann seine Freiheit wiedererhalten. Doch73 diese kühne Unternehmung mislang auf die kläglichste Weise. Jean erkannte uns natürlich sehr bald trotz der Vermummungen und falschen Bärte; er schleuderte die beiden ungezogenen Buben, die ihn nach dem Verschlage zu zerren versuchten, mit einigen französischen Flüchen auf die Seite, und rief: die jungen Herren machen es doch gar zu arg! Dann ging er brummend in seine Kammer, und schloß von innen die Thür ab. Wir standen in unserem Räubercostüm sehr betroffen da, und schlichen endlich beschämt zum Abendessen hinunter. Noch mehrere Tage ängstigte Jean uns durch die Drohung, er werde die Sache den Aeltern anzeigen.

Da Jean außer seinem Dollmetscheramt auch zu Verschickungen gebraucht wurde, so entstanden manchmal, wenn er nicht zugegen war, zwischen unsern Dienstleuten und den Franzosen arge Misverständnisse. Der Koch eines Generales brauchte zu einer Verrichtung Bindfaden; er suchte dies der Köchin auf alle mögliche Weise begreiflich zu machen, aber vergebens; seine Gebehrden werden immer heftiger, doch sie versteht nichts. Da erblickt er auf dem Hauklotz das Küchenbeil, durch dessen Stiel ein Bindfaden gezogen ist. Mit südlicher Lebhaftigkeit stürzt er darauf zu, um den gesuchten Gegenstand der Köchin zu zeigen. Diese sieht ihn mit erhobenem Beile herankommen, und entflieht unter Zetergeschrei über die Gallerie nach dem Zimmer von Tante Jettchen, welche einige Mühe hatte, den Irrthum aufzuklären.

Die übermäßige Einquartirung, mit der die Stadt belastet war, trieb die Preise aller Waaren, und besonders der Lebensmittel auf eine unglaubliche Höhe. Die Bäcker und Schlächter behaupteten, daß die Lieferungen für die74 Armee ihnen alles Mehl und Fleisch entzögen; die Landleute klagten, daß sie selbst auf den Dörfern nicht genug hätten, um die zahlreichen feindlichen Truppen zu beköstigen. In unserm Hause waren die täglichen Ausgaben an Fleisch für die Tafel der Generale so bedeutend, daß es sehr bald als das gerathenste erschien, einen ganzen Ochsen zu kaufen und einzuschlachten, um wenigstens für einige Zeit Vorrath zu haben.

Diese Begebenheit hatte für die Kinder die allergröste Wichtigkeit. Wir erkundigten uns, wie es möglich sei, ein so gewaltiges Thier zu tödten, und erfuhren, daß der Schlächter es durch einen Schlag mit umgekehrtem Beile vor die Stirn betäube, und ihm dann den Kopf abschneide. Weil der Hof ganz voll französischer Pferde stand, so sollte die Operation im kleinen Garten vor sich gehn, zu dem eine Treppe von 6 Stufen hinabführte. Aus unseren Hoffenstern sahen wir, wie das gewaltige hellgraue Thier vorbeigebracht ward, dann liefen wir beide, meine Schwester und ich, nach den Gartenfenstern, um den weiteren Verlauf mit einem aus Grauen und Vergnügen gemischten Gefühle abzuwarten. Fritz hatte die unerhörte Keckheit, den Kopf durch die nach dem Hausflur führende Küchenthür zu stecken. Allein es dauerte lange, ehe das Schlachtopfer im Garten erschien. Die 6 Stufen hatten nicht geringe Schwierigkeiten gemacht. Das Thier war unruhig geworden, und wollte sich nicht bändigen lassen. So weit konnten wir die Sache vom Fenster aus ansehn, als aber der verhängnisvolle Schlag vor die Stirn erfolgen sollte, bedeckten wir die Augen mit den Händen, und warfen uns mit dem Gesichte auf das Sopha. Fritz behauptete den Schlag deutlich gehört zu haben, aber wir glaubten75 ihm nicht. Auch das blutige Zerlegen des Thieres mochten wir nicht betrachten, und scheuten uns mehrere Tage lang in den Garten zu gehn. Als wir endlich den Schauplatz des denkwürdigen Vorfalles wieder betraten, zeigte sich in der Rinde des Nußbaumes ein tiefes Loch, von dem Horne des Ochsen hineingestoßen. Dies galt uns als eines der merkwürdigsten Dinge, ja als das Wahrzeichen des Hauses. Das Mal ist noch jetzt, nach 60 Jahren vorhanden, und wird bleiben, so lange der Baum steht.

Wurde auch der von den Franzosen geübte Druck von den Kindern am wenigsten empfunden, so hörten wir doch manches, wodurch das Unglück des Vaterlandes sich unvergeßlich einprägte. Bei der finanziellen Bedrängniß des Staates wurden die Beamtengehalte längere Zeit nicht ausgezahlt, und befreundete Personen klagten, daß sie nicht aus noch ein wüßten. Wir sahen einen königlichen Bedienten in verschossener Hoflivree als Wasserträger in der Brüderstraße auf und abgehn, um sein Brod zu verdienen.

Weil gar keine preußischen Truppen mehr in der Stadt waren, so errichtete man in Berlin auch eine Nationalgarde, welche für die Sicherheit der Bürger zu sorgen hatte. Wir waren freudig erstaunt, als eines Tages der Vetter Valentin in der bunten Uniform, mit dem Säbel an der Seite und dem dreieckigen Hute auf dem Kopfe ins Zimmer trat. Nicht weniger Lust gewährte es, ihn bei den Sonntagsparaden unter Trommelschall über den Schloßplatz marschiren zu sehn. Aber das Institut fand durchaus keinen Anklang, weil es unter dem Drucke der Fremdherrschaft entstanden war. An eine Bewaffnung des Volkes für nationale Zwecke konnte damals nicht gedacht76 werden. Der Dienst ward so lässig als möglich betrieben, und jener Vetter, der anfangs vielen Eifer zeigte, war endlich sehr froh, durch irgend eine Fürsprache daraus zurücktreten zu können.

Napoléon hatte sich im K. Schlosse eingerichtet, und bald erfuhr man, daß ein kaiserlicher Kommissarius, Namens Denon angekommen sei, um die besten Bilder der K. Sammlung auszusuchen und fortzuschaffen; auch die schönsten geschnittenen Steine und antiken Münzen, welche eben so wie die Bilder bis dahin als ein Privateigenthum des Fürsten betrachtet wurden, mußten nach Paris wandern. Aus Potsdam nahm man den Degen Friedrichs II. von seinem Sarge in der Garnisonkirche.

Dies niedrige Raubsystem, das von den Franzosen in allen besiegten Ländern geübt ward, erregte in Berlin den grösten Unwillen. Noch mehr steigerte sich die Erbitterung, als auf des Kaisers Befehl die Victoria vom Brandenburger Thor abgenommen wurde, um irgendwo in der feindlichen Hauptstadt aufgestellt zu werden. Mit innerem Grimme sahen die Bürger der schwierigen Arbeit des Abnehmens zu. Der Grosvater Eichmann stand gerade dabei, als eines der vier Pferde herabgelassen ward, und hörte ein Hökerweib im Weggehen sagen: da hat der Schinder wieder ein Pferd geholt!

Während seines Aufenthaltes in Berlin hielt Napoléon sehr oft Musterung über die kaiserlichen Garden vor dem Schlosse. Er selbst stand in der Ecke des Platzes bei der Schloßapotheke und ließ einzelne Abtheilungen vorbeimarschiren oder ging durch die Reihen. Die beiden Seiten des Platzes gegen die Schloßfreiheit und den Lustgarten hin, wo die Zuschauer stehn konnten, waren durch77 Gendarmen abgesperrt. Mein Vater nahm mich öfter mit, und wir fanden immer noch Platz: denn der Zudrang war nie sehr groß. Bei dem folgenden Vorfalle war ich nicht zugegen, sondern weiß ihn nur aus meines Vaters Erzählung.

Als eines Tages die Parade beinahe beendigt war, drängte sich eine Frau aus den Reihen der Zuschauer zwischen zwei Gendarmen durch, und lief, ein Papier in der erhobenen Hand haltend, gerade auf den Kaiser zu. Die Gendarmen eilten ihr nach, allein sie hatte einen ziemlichen Vorsprung. Der Kaiser stand ganz ruhig, bis sie herankam, und ihm zu Füßen fiel, dann erst winkte er mit der Hand den Gendarmen zur Rückkehr. Nun bildete sich ein dichter Kreis von Offizieren, der die Aussicht versperrte. Es zeigte sich bei dieser Kleinigkeit der überlegende Verstand des Kaisers: hätte er früher gewinkt, so würde die Bittstellerin zurückgescheucht worden sein. Man erfuhr späterhin, es sei eine Frau aus dem Volke gewesen, die für ihren gefangen gehaltenen Mann Gnade erbitten wollte, sie hatte gehofft, auf diese ungewöhnliche Weise ihrer Supplik einen größeren Nachdruck zu geben; doch verlautete weiter nicht, ob sie ihren Zweck erreicht habe.

Des Kaisers Verhalten gegen die Fürstin v. Hatzfeld, das den Franzosen als ein Beweis von Napoléons Grosmuth gilt, wurde auch in der Stadt bekannt, machte aber keinen außerordentlichen Eindruck. Der frühere preußische Minister, Fürst v. Hatzfeld, war des Verrathes beschuldigt. Man hatte einen Brief von ihm aufgefangen, worin er von Berlin aus Nachrichten über die Stärke und die Absichten der Franzosen in das preußische Haupt -78 quartier sandte. Der Brief war in des Kaisers Händen, Hatzfeld saß gefangen, und sollte demnächst erschossen werden. Daß es einem preußischen Beamten zum Verbrechen gereichen könne, seinem Landesherrn von der Stärke des Feindes Kunde zu geben, wollte niemandem von uns in den Sinn, aber so viel stand fest, daß Napoléon beschlossen hatte, ihn erschießen zu lassen. Die Fürstin v. Hatzfeld, hoch in andern Umständen, erbat sich eine Audienz beim Kaiser, fiel ihm zu Füßen, und flehte um das Leben ihres Mannes. Napoléon tröstete sie mit einigen herablassenden Worten, warf vor ihren Augen den verhängnißvollen Brief in das Kaminfeuer und ließ den Fürsten frei. Dies war ohne Zweifel ein edelmüthiger Zug, allein man bemerkte darüber mit Recht, nur ein ganz entmenschter Barbar habe einer edlen Frau in solchen Umständen die Gnade für ihren Mann versagen können.

Napoléon verließ Berlin nach ungefähr 4 Wochen, um den Krieg weiter nach Osten zu tragen, allein trotz der Ueberlegenheit seiner Truppen, und trotz des schmähligen Falles so vieler preußischen Festungen, gelang es ihm nicht, den Feldzug, wie er sonst wohl pflegte, im Laufe eines Jahres zu beendigen. Im Winter 1806 1807 leisteten die Preußen und Russen einen zähen Widerstand; die grundlosen Wege in dem durch Schnee und Regen aufgeweichten Boden veranlaßten den Kaiser Napoléon zu dem Witzworte: er habe hier ein fünftes Element, den Koth kennen gelernt. Wenn in Berlin längere Zeit hindurch keine Nachrichten von der Armee ankamen, so fing man gleich wieder an zu hoffen, und abentheuerliche Gerüchte von Niederlagen der Franzosen kamen in Umlauf. Ganz besonders geschah dies nach der Schlacht bei79 Eilau, die unter der Hand als ein Sieg der Russen und Preußen verkündigt ward. Allein nur zu bald kam die traurige Gewisheit vom Gegentheile. Zwar wollte man wissen, Napoléon habe sich, nach mehreren vergeblichen Versuchen, das preußische Centrum zu sprengen, am Abend erschöpft zurückgezogen; in seinem Nachtquartier angekommen, habe er den ihn begleitenden General gefragt: que faire, s’ils nous suivent? doch jener habe ganz ruhig erwiedert: Sire, soyez tranquille, ils ne nous suivront pas! Bei den folgenden Operationen war das Kriegsglück den Franzosen günstig, erst als der König von Preußen in die äußerste Nordostecke seines Reiches zurückgedrängt, und 9 / 10 seiner Staaten in Feindeshand waren, entschloß er sich zum Frieden, bei dem sein persönlicher Freund, der Kaiser Alexander von Rußland die Rolle des grosmüthigen Vermittlers übernahm. So kam denn am 8. Juli 1807 der Friede von Tilsit auf einem Flosse über den Niemen zu Stande. Napoléon hatte soviel von der Schönheit der Königin Luise gehört, daß er den Wunsch aussprach, sie bei dieser Zusammenkunft gegenwärtig zu sehn. Der Wunsch des Ueberwinders war soviel als ein Befehl, und mit gebrochenem Herzen reiste die edle Fürstin nach Tilsit. Sie soll, wie es hieß, einige Versuche gemacht haben, für ihr Land günstigere Bedingungen zu erlangen, allein der stolze Sieger blieb unerbittlich. Preußen behielt nach diesem Frieden ungefähr 5 Millionen Einwohner.

Die Niedergeschlagenheit über die traurige Unterjochung war in Berlin allgemein, und beim Volke um so größer, da mit Ausnahme der übermüthigen Offiziere vor dem Kriege niemand eine frohe Siegeszuversicht gehabt hatte. Nun tadelte man mit Recht und mit Unrecht den80 König, die Minister, die Generale, die Einrichtung des Heeres, die schlechte diplomatische Vertretung, die Haltungslosigkeit der Beamten u. s. w. Wenn wir Kinder auch nur den kleinsten Theil der Discussionen verstanden, denen wir hochaufhorchend zuhörten, so hatten wir doch das sehr deutliche Gefühl, daß Preußen völlig herabgedrückt, zu unerhörten Kriegskontributionen verdammt und namenlos unglücklich sei.

Den Grosvater Nicolai sahen wir aufs tiefste gebeugt, am Abendtische schweigsam und in sich gekehrt; mein Vater, obgleich von Natur ein Optimist, konnte doch seine große Niedergeschlagenheit nicht verbergen; der Grosvater Eichmann versuchte es wohl, den Blick in eine bessere Zukunft zu öffnen, doch ohne vielen Erfolg; seiner fließenden und entschiedenen Rede hörte ich mit großer Aufmerksamkeit zu, konnte aber bald bemerken, daß nach den langen politischen Gesprächen jeder bei seiner Meinung blieb. Sehr wohl ist mir erinnerlich, daß eines Abends der Grosvater Eichmann ausrief: es fehlt uns nur an den rechten Leuten! Friedrich der Große hatte kaum 3 Millionen Unterthanen, als er den ersten schlesischen Krieg begann!

So gingen die Jahre der französischen Gewaltherrschaft langsam dahin. Waren sie auch nicht im Stande, den Frohsinn der kindlichen Gemüther im Genusse des Augenblickes ganz niederzuhalten, so übten sie doch einen bleiernden [sic] Druck bei jeder Gelegenheit, wo der Blick sich zur allgemeinen Betrachtung der häuslichen, bürgerlichen und staatlichen Verhältnisse erheben wollte.

Die großen freisinnigen Reformen vom Jahre 1808, welche später den ganzen Staat umgestalteten, wurden81 damals von den Meisten ohne Theilnahme, von Vielen mit Mistrauen, von Manchen sogar mit Widerwillen aufgenommen. Der Grosvater Eichmann erkannte wohl die Trefflichkeit der neuen Maßregeln, aber seine Anschauung wurzelte in der absolutistischen Regierungsweise Friedrichs. Das nimmt sich auf dem Papiere alles sehr schön aus , sagte er, aber mich soll nur wundern, ob die Praxis mit der Theorie gleichen Schritt halten wird?

Im Jahre 1810 war die Königin Luise zu ihren Verwandten nach Meklenburg gereist. Bald verbreitete sich in der Stadt die Nachricht, sie sei gefährlich erkrankt. Obgleich es dort an ärztlicher Hülfe nicht fehlte, so wurde doch der Dr. Heim, Berlins berühmtester Arzt, in aller Eile nach Strelitz berufen; allein er kam zu spät. Nach kurzem Krankenlager verschied die Königin am 19. Juli 1810, umgeben von ihrem Manne und ihren 7 Kindern. Wie man allgemein annahm, so hatte das Unglück des Vaterlandes ihr das Herz gebrochen.

Dieser Schlag war um so härter, als er nicht nur das glücklichste Familienband zerriß, sondern auch auf die politischen Angelegenheiten nicht ohne Einfluß blieb. Die Ehe des preußischen Königspaares leuchtete dem ganzen Lande als ein Muster von Treue und Einfachheit voran. Sie bildete einen wohlthuenden Gegensatz gegen die heillose Maitressenwirthschaft unter Friedrich Wilhelm II. Man wußte überdies sehr wohl im Publikum, daß die Königin Luise ihrem geistig sehr unbedeutenden Gemahle bei allen wichtigen politischen Fragen als Rathgeberin zur Seite gestanden. Besonders war dies in allen den Fällen zur Geltung gekommen, wo es sich darum82 handelte, irgend einer neuen Gewaltmaßregel der französischen Unterdrücker mit Entschiedenheit zu begegnen. Dieser patriotische Einfluß war nun dahin, und die bekannte Charakterschwäche des Königs verdüsterte noch mehr den Blick in die nächste Zukunft.

Kurz vor dem Ausbruche des französischen Krieges ward ich in die Hartungsche Schule gethan, die lange Zeit hindurch eines wohlverdienten Rufes genossen hat. Sie lag gar nicht weit von uns an der Ecke des Schloßplatzes, allein bei den beständigen Truppendurchmärschen war es manchmal nicht leicht, dahin zu gelangen. Anfangs wartete ich mit andern Schulkindern den Vorbeimarsch des Regimentes ab, um über den Straßendamm zu kommen; dann wagte ich an einen Offizier die wohlgesetzte französische Anrede: Monsieur! ayez la bonte, de nous laisser passer! Passez toujours! war die kurze, aber freundliche Antwort. Bald wurden wir dreister, durchschnitten die einzelnen Züge, wenn sie standen, und liefen zuletzt unbesorgt während des Marsches zwischen den Gliedern hindurch. Ich erinnre mich nicht, daß irgend einem von uns eine Unbill widerfahren wäre. Die lustigen Franzosen freuten sich vielmehr über die kecken Sprünge, und riefen uns allerlei spashaftes nach, zu dessen Verständniß das bei Madame Clause erlernte französisch nicht immer ausreichte; z. B. Voyes donc les gobemouches! Va-t-en petit espiègle! Ils sautent comme des lapins! Ueber jeden neuen unbekannten Ausdruck wurde der Leh -83 rer in der französischen Stunde befragt, und so prägten sich die Redensarten dem Gedächtnisse ein.

In der Schule lernte ich alle die Leiden und Schmerzen kennen, die durch die moderne Civilisation von dem Jugendunterrichte unzertrennlich geworden sind, und von einem blöden, schwächlichen Knaben doppelt empfunden wurden. Doch da ich leicht lernte und mich gut aufführte, so rückte ich rasch vorwärts.

Unter den Lehrern stand der Vorsteher, Professor August Hartung, eine würdevoll-freundliche Erscheinung, oben an. Er wurde von den heranwachsenden Knaben wie ein Wesen höherer Art verehrt: denn sie sahen in ihm nicht nur den Inbegriff aller menschlichen Gelehrsamkeit, sondern auch das Ideal der höchsten sittlichen Vollkommenheit. Seine tönende Baßstimme dringt mir noch bis ans Herz; er konnte sie zu den sanftesten Modulationen mäßigen, aber auch, wenn es nöthig war, wie Donner erschallen lassen. Da er ein geübter Sänger war, so gehörte seine Schule zu den ersten, wo der Gesangunterricht eingeführt ward. Wir lernten aber nicht die Noten kennen, sondern der Lehrer spielte auf einer Geige die Melodie, welche bald von der ganzen Klasse unisono wiederholt wurde. Mit sichtbarem Behagen erzählte der Professor Hartung, daß Fasch, der Director der Singakademie, in einem hochberühmten Tonstücke, einer 16stimmigen Messe, ein kleines Baß-Solo eigens für ihn gesetzt habe. Seine Stimme hatte das eigenthümliche, daß sie, ohne besonders schön oder ausdrucksvoll zu sein, alle andern Stimmen übertönte. Bei den Aufführungen in der Singakademie wußten wir ganz genau, ob er mitsinge oder nicht. Sein Organ hatte die specifische Kraft,84 über dem Chor von 20 30 Männerkehlen obenauf zu schwimmen.

Etwas ähnliches ließ sich später bei dem gefeierten Tenoristen Stümer bemerken. Seine Stimme gehörte keineswegs zu den stärksten, sie zeichnete sich vielmehr durch eine unvergleichliche Weichheit aus; man wußte aber jedesmal, wenn er in den Chören der Abenceragen von Cherubini mitsang.

Während meiner Schulzeit feierte Professor Härtung das 25jährige Bestehn seiner Anstalt durch einen großen Actus mit Gesang, Musik, Declamationen und Reden. Dies Ereigniß erschien mir als das höchste Glück, das die menschliche Phantasie sich überhaupt erdenken könne. Schon der lange Zeitraum von 25 Jahren, der durch ein schönes Lapidaralphabet von A Z über dem Proscenium der Redner - und Gesangbühne angedeutet war, kam dem jugendlichen Geiste als etwas unermeßliches vor, und als der Professor in seiner Rede anführte, daß er bereits ein halbes Jahrhundert durchlebt habe, so verlor sich die Einbildungskraft des Knaben in unabsehliche Siriusweiten. Mein Antheil an der Feierlichkeit war ein sehr geringer. Wegen guter französischer Aussprache erhielt ich die Lafontainesche Fabel Une grenouille vit un boeuf zu deklamiren; aber wegen angeborner Befangenheit und schwacher Stimme wurde nur das wenigste von den Zuhörern verstanden. Meine Angehörigen befanden sich auch darunter, allein ich sah sie nicht, ich wagte kaum, die Augen aufzuschlagen.

Nächst dem Professor Hartung muß ich unter den Lehrern des Predigers Pauli gedenken. Ihm bin ich zu dem grösten Danke verpflichtet: denn er hat durch die85 Trefflichkeit seines Unterrichtes meine Seele geweckt. Von schlanker, fast magrer Gestalt, mit blassem, pockennarbigem Gesichte, immer schwarz und sauber gekleidet, gab er selbst ein Beispiel von Ordnung und Anstand. Seine Stimme hatte einen silbernen Klang; ihn vorlesen zuhören war uns eine Lust. Die strengste Disciplin wußte er mit einer wahrhaft liebevollen Gesinnung durchzuführen. Er litt während der Stunde keinerlei Unordnung oder Unaufmerksamkeit, und doch erinnre ich mich kaum, ihn jemals heftig oder scheltend gesehn zu haben. Die gute Aufführung machte sich bei ihm von selbst; durch einen Wink oder einen Blick wußte er uns zu leiten. Die Klasse gehorchte ihm mit Freude, wie es eben bei einem guten Regimente der Fall sein soll. Seine Lehrmethode war musterhaft; immer dem kindlichen Standpunkte angemessen, und doch zu weiterem Forschen anspornend. Die trocknen Anfangsgründe der Geometrie belebte er durch einfache Anwendungen auf das praktische Bedürfniß. Die Berechnung des Flächeninhaltes der Figuren wurde immer an einem Acker, einer Wiese oder dergleichen geübt. Bei den Sätzen von den Parallellinien blieb unser Verstand vor dem Begriffe der unendlichen Verlängerung stehn, und man hörte wohl die naive Frage: wie weit denn die beiden unendlichen Linien verlängert werden könnten? Er wußte durch eine geschickte Vergleichung der unendlichen Zeit mit dem unendlichen Raume die kindlichen Gemüther wenn nicht zu befriedigen, doch zu beschwichtigen, indem er zugleich durch den Hinweis auf eine viel höhere Einsicht den Blick in die weiteren Fernen der Wissenschaft öffnete. Noch sehe ich die Oktavblättchen mit seiner zierlichen, klaren Schrift vor mir, die er als86 Leitfaden für Geographie und Geschichte der Klasse zum abschreiben vorlegte. Einem solchen Manne nur entfernt ähnlich zu werden, war der Vorsatz meiner nachstrebenden Bewunderung.

Auch nach den Schuljahren bin ich mit ihm in den freundlichsten Beziehungen geblieben. Wenn ich ihm später wohl von dem durchgreifenden und wohlthätigen Einflüsse erzählte, den er auf meine geistige Entwicklung ausgeübt, so sagte er mit bescheidenem Lächeln: all ohne mein Verdienst und Würdigkeit! Zeitlebens werde ich ihm ein dankbares Andenken bewahren.

Jeder Mensch übt gegen den andern eine bestimmte geistige Anziehung oder Abstoßung aus, die im frischen Jugendalter am stärksten hervortritt. Darum sind Schulfreundschaften und - feindschaften die dauerhaftesten. Nur gegen die, welche man nicht kennt, kann man in der Jugend gleichgültig sein. Oft kömmt es vor, daß rasch aufgeblühte Neigungen sich in Abneigungen verkehren, seltener ist der umgekehrte Fall, daß mit einem anfangs widerwärtigen Mitschüler später Freundschaft geschlossen wird. Denke ich in dieser Beziehung an meine Schulzeit zurück, so ist mir klar, daß auch die körperliche Atmosphäre eine große Rolle bei meinen Zu - und Abneigungen gespielt habe. Die gemeine Redensart: ich kann ihn nicht riechen, beruht auf einer richtigen Wahrnehmung. Alle Schulfreunde hatten einen für mich angenehmen, die Feinde einen unangenehmen Geruch. Beide Arten sind mir noch sehr deutlich im Gedächtnisse. 87

Von Schulgenossen, die später auch in größeren Kreisen bekannt wurden, nenne ich folgende:

Benecke, nachher Professor an der Berliner Universität, und fruchtbarer philosophischer Schriftsteller. Mit diesem saß ich lange auf derselben Bank, und wir certirten um den ersten Platz. Die Zuneigung hörte jedoch auf, als ich eine gar zu große Selbstüberhebung bei ihm bemerkte. Er wurde von allen Mitschülern arg verspottet, als er einmal gesagt hatte: es giebt nur einen Gott, einen Schiller und einen Benecke! Sein Geruch war unangenehm.

v. Bonsery, nachher Präsident des Kammergerichtes. Er wurde angestaunt, als er einst mit Sporenstiefeln aus der Reitbahn in die Schule zu kommen wagte.

Bornemann, nachher Justizminister und Verfasser des klassischen Werkes über das Landrecht. Wir hielten sehr treu zusammen; ich zeichnete ihm kleine Hühner, Tauben, Hunde und andere Thiere, die er ausschnitt und aufklebte.

Otto v. Gerlach, nachher Konsistorialrath und Erklärer des Neuen Testamentes. Er hieß wegen seiner Korpulenz der dicke Otto und war durch seine starke Stimme berühmt, die ihm später, als gefeierten Kanzelredner sehr zu Statten kam. Er hatte einen angenehmen Geruch.

Gern, als Schauspieler ein Liebling des Berliner Publikums. Er verließ die Schule bald nachdem ich eingetreten war, und deklamirte beim Abschiede ein rührendes Gedicht mit solchem Ausdrucke und mit so herzgewinnender Stimme, daß beinahe die ganze Klasse weinte. Man erzählte von ihm, daß sein Vater, ein ausgezeichneter Bassist, den Hang zum Theater nicht gebilligt, der Sohn88 ihn aber um nur eine Proberolle gebeten habe; wenn er nicht herausgerufen werde, so wolle er dem Theater entsagen. Aber er ward herausgerufen und blieb als Komiker eine Zierde der Bühne. So lange sein Vater lebte, hieß er der junge Gern, dann schlechtweg Gern, zuletzt ward er als der alte Gern noch immer gern gesehn. Er starb im Jahre 1861, nachdem er in der letzten Zeit, wie alle großen Spasmacher, an einer tiefen Melancholie gelitten.

v. Ladenberg, später Unterrichtsminister; wegen seiner energischen Faustschläge gefürchtet und von vielen gemieden. Sein Geruch war abstoßend.

Franz Lieber, bekannt durch seine demagogischen Freiheitsbestrebungen, nannte sich später Liber. Seine kleine Schrift über B. G. Niebuhr, bei dem er einige Zeit als Hauslehrer lebte, zeigt, daß er einer ächten und schönen Pietät fähig war. Er lebt, so viel ich weiß, in Amerika.

Schnaase, dessen Kunstgeschichte in unserer Litteratur Epoche macht, war mir dadurch merkwürdig, daß er schon in der Schule Fechtstunde nahm, und meine neugierigen Fragen über diese Kunst mit großer Geduld beantwortete.

In einer etwas früheren Zeit hatte auch Ludwig Devrient die Hartungsche Schule besucht, und schon damals ein eminentes mimisches Talent gezeigt, von dem bei den Lehrern sich manche Tradition erhalten. Als achtjähriger Knabe sollte er beim öffentlichen Examen Lichtwers Thier und Menschen schliefen feste deklamiren. Er mußte dies zu Hause einüben, und entwickelte dabei eine solche vis comica, daß seine Schwester Lotte gar nicht aus dem Lachen herauskam. Dies verdroß ihn89 aber auf das äußerste, ja bis zu Thränen: denn er wollte das Gedicht eben ganz ernsthaft und mit dem gehörigen Nachdruck hersagen; er versicherte, gar nicht sprechen zu können, wenn Lotte ihn immer auslache. Beim Examen trat er ganz wohlgemuth auf, doch sein Blick verfinsterte sich, als er seine Schwester in der ersten Reihe der Zuhörer sitzen sah. Im Anfange ging alles gut, allein er war erst bei den geschwänzten Gästen angelangt, als er plötzlich weinend ausrief: Lotte, du lachst schon wieder! Er entfernte sich schluchzend, und war nicht zur Vollendung der Deklamation zu bewegen.

Auch in der schlimmen Franzosenzeit machte Nicolai mehrere Badereisen nach Pyrmont, das er im Ganzen 17 Mal besucht hat. Früher begleitete ihn dahin seine Tochter Lottchen, und als diese kränklich wurde, die Tante Jettchen. Als Vorbereitung wurde der grün ausgeschlagene Reisewagen in den Hof unter die Gallerie gestellt und gehörig gereinigt. Wir versäumten nicht das geräumige, in Riemen hangende Gehäuse zu besuchen, und Fritz hatte gar bald gefunden, daß man sich darin herrlich schaukeln könne. Dies wurde denn auch so lange geübt, bis Friedrich aus einem Galleriefenster drohend herabrief: Nun werden die Riemen bald zerrissen sein!

Dann lagen in des Grosvaters Stube die einzupackenden Sachen mehrere Tage lang herum, und Friedrich ordnete mit gewohnter Sorgfalt die Kleider. Große Anziehungskraft hatte für die Kinder ein flaches, grünes Kästchen mit Fächern, worin allerhand nützliche Kleinigkeiten steckten: Hammer, Zange und Nägel, Stiefelhaken,90 ein Pudermesser, ein Feuerzeug, eine Lichtputze, ein Pfropfenzieher, ein Trinkglas u. s. w.

Vor der Abreise verzeichnete der Grosvater auf langen Zetteln alles das, was während seiner Abreise im Hause besorgt werden sollte. Nicht nur der Tag der Abreise, sondern auch alle einzelnen Stationen für Mittagessen und Nachtquartiere wurden auf das genauste bestimmt, und ein Laufzettel sorgte dafür, daß man nicht viele Stunden auf die Pferde zu warten brauchte. In dem Sande der Mark und in dem fetten westphälischen Boden wurden selten mehr als 5 oder 6 Meilen an einem Tage zurückgelegt, und es galt für ein Glück, wenn eine größere Reise ohne Achsenbruch, Umwerfen oder andre Unglücksfälle verlief. Weil der Grosvater indessen auf alle möglichen Hindernisse Bedacht nahm, so ging die Reise meist ein wenig schneller, als er berechnet, was wir einmal zu unserm Leidwesen erfuhren.

Er hatte von Pyrmont aus Tag und Stunde seiner Ankunft in Berlin gemeldet. Meine Aeltern beschlossen, ihm bis zur nächsten Station entgegenzufahren und die Kinder mitzunehmen. Wir kamen selten einmal vor das Thor, da wir in dem Hausgarten uns hinreichende Bewegung machten, daher hatte die Idee dieser Reise etwas überaus reizendes. Was konnte es auf einer Strecke von zwei Meilen nicht alles zu sehn geben! welche neuen unbekannten Gegenden mochten da auftauchen! Wir konnten die Zeit kaum erwarten und setzten uns mit den seeligsten Gefühlen in den Wagen, der für diese größere Exkursion mit Vorräthen an Fleisch, Brodt und Wein reichlich versehn war. Doch die Freude währte nicht lange: denn als wir eben den Platz an der Petrikirche erreichten, begegnete91 uns der schwerfällige Vierspänner des Grosvaters. Tante Jettchen nickte uns freundlich aus dem Fenster zu, und Friedrichs altes Gesicht schaute grämlich vom Bocke herab. Da war nun an kein Weiterfahren zu denken. Wir kehrten um, und es ergab sich, daß der Grosvater auf den letzten Stationen unerwartet gute Wege getroffen, und deshalb einige Stunden früher angelangt war.

Zur Schadloshaltung für diese getäuschte Erwartung wurden wir bald darauf mit nach Schöneiche genommen, einem Dorfe ungefähr drei Meilen östlich von Berlin gelegen.

Hier wohnte der Prediger Dapp, von dem Nicolai mehrere theologische Schriften verlegt hatte. Beide Männer waren in genauer Freundschaft verbunden. Dapp kam öfter zum Besuche nach Berlin, und Nicolai pflegte einige Sommerwochen als Gast in der ruhigen Pfarrei zuzubringen.

Diese erste Fahrt über Land entsprach vollkommen den Erwartungen der kindlichen Phantasie in Betreff der Unendlichkeit des weitausgebreiteten flachen Horizontes und der Unabsehbarkeit des langen Weges, doch konnte sie keinen landschaftlichen Genuß gewähren, weil eben keine Landschaft vorhanden war. Das heitre Pfarrhaus in Schöneiche mit breiter steinerner Treppe und hohen wohnlichen Zimmern gewährte einen würdigen Anblick. Wir erfuhren nachher, daß Friedrich II. die Absicht gehabt, allen Landpfarrern neue stattliche Häuser zu bauen, um diesen Stand, den er doch selbst nicht liebte, aus der Verbauerung emporzuheben. Mit dem Pfarrhause in Schöneiche wurde der Anfang gemacht; allein die Kosten waren dem sparsamen Könige zu hoch, und so blieb es bei dieser einen Probe. 92

Die Bauernhäuser stachen gegen das schmucke Pfarrhaus gewaltig ab, und erweckten den Eindruck des tiefsten Elends. Wir betraten hier zum ersten Male die niedrigen Stuben, deren dumpfe Luft uns den Athem versetzte, und sahen die dürftigen, zerlumpten Gestalten der Bewohner, denen man es anmerkte, daß sie der unfruchtbaren Natur kaum das nackte Dasein abringen konnten. Die Lasten des damaligen Krieges trugen mit dazu bei, den Zustand noch zu verschlechtern. Die Erinnerung an diese platte Sandexistenz hat mich lange nicht verlassen. Es ist seitdem unendlich viel zur Verbesserung der bäuerlichen Verhältnisse in den Marken geschehn, und Schöneiche ist ein recht freundliches Dorf geworden, aber der Fluch, den die Natur über diese unwirthbaren Flächen verhängt, wird sich nie ganz aufheben lassen.

Einer sonderbaren Liebhaberei des Predigers Dapp will ich hier gedenken. Er behauptete, jeder Mensch müsse etwas sammeln. Da ihm zu einer Sammlung von Gemälden, Kupfern, Münzen etc. die Mittel fehlten, so sammelte er alle deutschen Eigennamen auf - mann, und hatte deren damals aus Zeitungen, Büchern und mündlicher Mittheilung an 20 oder 30,000 beisammen, alphabetisch geordnet und mit den gehörigen Beweisstellen versehn. Da ich zufällig den Namen eines Mitschülers Pillemann nannte, so schlug er in seinem Register nach, und war sehr verwundert ihn noch nicht zu haben. Er trug ihn sogleich nach mit dem Vermerke: Pillemann, Schüler der Hartungschen Bürgerschule in Berlin. Was nach seinem Tode aus der Sammlung geworden, wüßte ich nicht anzugeben; sie könnte für ein allgemeines deutsches Onomasticon von Werth sein. 93

Die Heimkehr wurde am späten Abend angetreten, und da gewährte bei hereinbrechender Nacht die einsame Fahrt über das öde Sandfeld einen unbeschreiblichen, mit Grauen gemischten Reiz.

Während einer der Pyrmonter Reisen machte mein Vater in des Grosvaters Stube eine Aenderung, die mit dem besten Willen unternommen, nicht den beabsichtigten Zweck erreichte. Die vielen Bildnisse über dem Sopha und an der großen Wand gegenüber den Fenstern hingen alle ohne Symmetrie durcheinander, wie sie eben nach und nach sich angesammelt, die meisten in Oktavformat mit einfachen schwarzen Rahmen und feiner Goldleiste. Sie waren auch lange nicht gereinigt. So hing über der Thür nach dem Bibliotheksaale ein lebensgroßes Brustbild des bekannten Uebersetzers Bode in Weimar. Die Oelfarben hatten nachgedunkelt, und der übermäßig dicke Kopf schaute mit einem wahrhaft erschreckenden Ausdrucke von der Wand herab.

Mein Vater glaubte dem Grosvater eine rechte Freude zu machen, wenn er in dieses Chaos Ordnung und Reinlichkeit brächte. Die Bildnisse wurden, während der Grosvater in Pyrmont den Brunnen trank, sämmtlich herabgenommen, gereinigt, und in neuer symmetrischer Weise wieder aufgehängt. Sie machten nun einen wohlthuenden, harmonischen Eindruck. Ich half mit vielem Eifer durch Abmessen und Zureichen, prägte mir mit den Gesichtern auch die Namen ein, schwebte aber dabei in beständiger Angst, daß der Grosvater früher als er bestimmt, zurückkehren, und uns bei dem Umräumen überraschen werde. 94

Als wir in der hintersten Ecke die Kupfer abnahmen, sah man in der grünen Tapete eine verborgene Thür, die von den dicht hängenden Bildnissen vollständig verdeckt gewesen war. Mein Vater holte den Schlüssel, und es zeigte sich ein Versteck in der Dicke der Mauer von ungefähr 6 Fuß Breite und Höhe auf 4 Fuß Tiefe. Auf einem Regal lagen vielerlei Papiere. Mein Vater belehrte uns, daß vermuthlich der frühere Besitzer des Hauses während des siebenjährigen Krieges in dieser Wandhöhlung, die übrigens durch ein schmales Fenster vollkommen erleuchtet ward, seine Gelder und Werthsachen verborgen habe. Wir dachten damals nicht, daß wir im Jahre 1813 von diesem Schlupfwinkel wiedenum Gebrauch machen würden.

Der Grosvater kam zur festgesetzten Zeit, und wir erwarteten irgend ein Wort des Beifalls über die Verschönerung, aber vergebens. Nach mehreren Tagen konnte mein Vater es nicht unterlassen, ihn zu fragen, ob er mit der Aenderung unzufrieden sei? Ihren guten Willen erkenne ich an , war die Antwort, aber Sie hätten die frühere Ordnung nicht stören sollen; unter den Bildnissen habe ich so manchen alten vorangegangenen Freund, den ich nun an dem gewohnten Platze vergebens suche.

Die Richtigkeit dieser Bemerkung war so einleuchtend, daß sie mir für immer als Warnung gedient hat, an althergebrachten Einrichtungen ohne dringende Noth zu rütteln.

95

Herzogin von Kurland in Berlin.

Einen grellen Gegensatz zu den dunkeln einförmigen Winterabenden beim Grosvater Nicolai bildeten die glänzenden Gesellschaften bei der Herzogin von Kurland, wohin mein Vater uns nur in sehr seltnen Fällen mitnahm, weil er den richtigen Grundsatz hatte, daß für einfache, bürgerlich erzogene Kinder eine solche fürstliche Pracht nichts tauge.

Die Herzogin hatte sich nach dem Tode des Herzogs in Deutschland niedergelassen; sie lebte den Winter in Berlin, den Sommer auf ihrem Landgute Lübichau bei Altenburg. Ihr Mann, der letzte Herzog von Kurland, hatte sich entschlossen, da sein einziger Sohn gestorben war, sein Herzogthum i. J. 1796 an Rußand zu verkaufen. Der Preis war auf eine Million Dukaten festgesetzt worden, allein nach dem Tode des Herzogs (i. J. 1800) gerieten die russischen Abzahlungen allmälig in’s Stocken; alle Reclamationen waren umsonst; im Wege des Prozesses blieb gar nichts zu erwarten, und so erhielten denn die Erben, wie ich dies später aus dem Munde der Herzogin selbst erfuhr, statt eines Dukatens nicht mehr als 17 Silbergroschen. 96

Schon früher hatte der Herzog in Deutschland große Güterankäufe gemacht; in Schlesien erwarb er das Herzogthum Sagan, in Böhmen die Herrschaft Nachod, in Sachsen das Landgut Löbichau. In Berlin besaß die Herzogin ein schönes Haus unter den Linden No. 7, das in meiner Jugend allgemein mit dem Namen des kurländischen Hauses bezeichnet wurde. Sie richtete sich darin auf das geschmackvollste ein, und versammelte einen Kreis von allen Berliner Notabilitäten um sich.

Von den vier Töchtern der Herzogin erhielt die älteste, Wilhelmine, das Herzogthum Sagan; sie war zuerst an den französischen Prinzen Rohan, dann an den russischen Fürsten Trubetzkoi verheirathet. Die zweite Tochter Pauline heirathete den regierenden Fürsten von Hohenzollern-Hechingen, die dritte, Jeanette, den neapolitanischen Fürsten Acerenza-Pignatelli. Die vierte Tochter Dorothea lebte bei ihrer Mutter; sie war im Jahre 1806, als wir Kinder anfingen in das herzogliche Haus zu kommen, 18 Jahr alt und von wunderbarer Schönheit. Als ich später den Wilhelm Meister las, bemerkte ich, daß das Bild, welches ich mir von Mignon machte, der Prinzessin Dorothea glich. Die dunkeln unergründlichen Augen hielt man anfangs für braun, sie waren aber von einem intensiven Blau; Stirn und Nasenwurzel von vollendeter griechischer Reinheit, die Nase selbst vielleicht etwas zu lang, die Oberlippe von wahrhaft klassischem Schnitt, das Oval des Gesichtes von feinster Zeichnung. Ihr rabenschwarzes glänzendes Haar trug sie ganz einfach gescheitelt, und hinten in einen Knoten geschürzt. Beim Sprechen stieß sie ein ganz klein wenig mit der Zunge an, und dies gab ihr in unsern Augen einen noch größeren Liebreiz. Da97 sie 6 Jahre älter war als Fritz, und 4 Jahre älter als ich, so sahen wir zu ihr mit größtem Respekt empor. Der Ausdruck ihres Gesichtes war gewöhnlich sehr ernst, aber noch höre ich ihr helles herzliches Lachen, wenn Fritz uns seine Späße vormachte.

Wir Kinder verkehrten bei der Herzogin meist in einem Zimmer neben dem Salon. Eines Abends belustigte uns Fritz durch die Nachahmung der verschiedenen Thierstimmen, worin er eine große Virtuosität besaß. Er krähte wie ein Hahn, bellte wie ein Hund und miaute wie eine Katze. Dies alles wußte er anfangs so geschickt zu mäßigen, daß er hoffen konnte, im Salon nicht gehört zu werden; allein beim Blöken des Kalbes vergaß er sich so sehr, daß der unharmonische Ton weithin durch die Zimmer schallte. Ganz entrüstet und mit gerunzelter Stirn eilte mein Vater herein, um Fritzen die verdiente Strafpredigt zu halten; er wurde aber bald durch Prinzeßchens Schmeichelworte begütigt.

Eines Abends fanden wir bei Prinzeßchen eine nicht mehr ganz junge Frau von hoher Gestalt und von wahrhaft wunderbarer Schönheit. Wir erfuhren, es sei eine arme Jüdin, Madame Herz, von der die Prinzessin englischen Unterricht erhielt. Nie werde ich den Glanz dieser Erscheinung vergessen. Wenn die Prinzessin eine ideale jugendliche Figur, eine Hebe oder Venus darstellte, so konnte man Madame Herz einer Juno oder Proserpina vergleichen. Das einzige, was ihrer Schönheit Eintrag that, war ihr Mund, der an sich von edler blühender Bildung, beim Sprechen den bekannten jüdischen Zug in den Mundwinkeln zeigte. Ein vorzügliches Bildniß von Graff befindet sich im Besitz der Frau Eugenie Schadow. 98

Eines Winters erhielt die Herzogin den Besuch ihrer zweiten Tochter, der Fürstin von Hohenzollern-Hechingen mit dem Erbprinzen Konstantin, der ungefähr in meinem Alter war (geb. 1801, gest. 1869). Anfangs hatte ich einen großen Respekt vor ihm, und wagte bei meiner angebornen Zurückhaltung kaum, ihn anzureden. Als ich sah, daß er ein Mensch sei, wie alle andern, so faßte ich bald mehr Muth, und wir spielten sehr vergnügt zusammen. Weil aber allen Knaben die Kampflust angeboren ist, und sie ihre Kräfte gegen einander versuchen wollen, so kam es auch zwischen uns sehr bald zum Balgen und Ringen, das ich in der Schule zwar weniger als andre, aber doch geübt hatte. Dabei galt es nun als höchst unwürdig, gegen alles Kriegs - und Völkerrecht verstoßend, einander in den Haaren zu raufen. Ich setzte dies als stillschweigende Bedingung bei meinem fürstlichen Gegner voraus; da er indessen, als ich einmal im Vortheil war, mir in die Haare fuhr, so that ich dasselbe mit solcher Vehemenz, daß er in ein fürchterliches Geschrei ausbrach. Der ganze Salon eilte herbei, die Fürstin von Hohenzollern fand ihren Thronerben in Thränen, ich stand, einen Flausch seiner blonden Haare haltend, sehr verlegen daneben, und erwartete ein schreckliches Strafgericht. Aber o Wunder! nachdem ich die Sache wahrheitsgetreu erzählt, und der Prinz nicht läugnen konnte, daß er mir zuerst in die Haare gefahren sei, so ward ich von seiner Mutter mit Liebkosungen überhäuft, dafür, daß ich ihrem ungezogenen Sohne gezeigt, wie er sich nicht alles gegen andre erlauben dürfe. Siehst du wohl, Konstantin , so schloß sie ihren Sermon an den zerzausten Erbprinzen, wer ausgiebt, der muß einnehmen! 99

In diesem Winter schickte der galante Kaiser Alexander von Rusland der Herzogin zwei gewaltig große Spiegel aus einem Stücke mit prachtvollen goldnen Rahmen, vielleicht um sie über die ausbleibenden Geldzahlungen zu trösten. Mein Vater besorgte das Auspacken, und ließ sie vorläufig in einer Entree des kurländischen Hauses aufstellen. Dies gab dem Prinzen Konstantin und mir die schönste Gelegenheit, uns recht oft und recht lange davor zu bewegen, und in Rüstungen von Pappe gehüllt, davor zu exerciren. Als aber mein Vater eines Tages bemerkte, daß der Prinz mit seinem blechernen Säbel den kostbaren Platten in eine gefährliche Nähe kam, so fanden wir das nächste Mal das Zimmer verschlossen, und alle Bitten um Einlaß wurden von dem an Gehorsam gewöhnten Haushofmeister abgewiesen.

Zu Ehren des Besuches der Fürstin von Hohenzollern wurde in jenem Winter das Weihnachtsfest im kurländischen Hause mit besonderem Glänze gefeiert; ich erinnre mich sehr wohl, daß nur auf ganz besonderes Bitten der Herzogin mein Vater darin willigte, uns mitzubringen. Es ereignete sich dabei ein Unfall, der mich, wenn ich daran denke, noch immer mit Schrecken erfüllt. In den hellerleuchteten Sälen waren viele Tische mit bunten Weihnachtspyramiden und Geschenken aufgestellt, eine frohbewegte Gesellschaft wogte auf und ab. Die Herzogin Mutter, ja sogar - Grosmutter strahlte im Schimmer einer unverwelklichen Schönheit, und konnte in vieler Hinsicht die Vergleichung mit ihrer Tochter wohl aushalten. Nie werde ich die seelengewinnende Freundlichkeit vergessen, mit der sie uns drei, meine Schwester, Fritz und mich zu den für uns bestimmten Tischchen hinführte, die mit allerhand100 werthvollen Geschenken bedeckt waren. Als Hauptstück stand auf meinem Tische ein kleines zweirädriges Wägelchen, inwendig mit einem Uhrwerk versehn. Wurde dieses aufgezogen, so fuhr der Wagen von selbst in der Stube herum. Diese eigne Bewegung eines unbelebten Köipers hatte für die Kinder etwas wunderbares, beinahe übernatürliches, und wurde von allen Seiten angestaunt. Jeder wollte das Uhrwerk aufziehn, um den Wagen noch einmal laufen zu lassen, und als zuletzt Prinz Konstantin etwas unsanft damit umging, so versagte die Feder und das schöne Spielzeug war verdorben.

Indem wir noch damit beschäftigt waren, gerieth mitten im Saale eine von den großen Weihnachtspyramiden in Brand; die Flamme, von dem leichten Holzwerk genährt, stieg mächtig leuchtend empor, und ein dicker brauner Qualm wälzte sich an der hohen Decke entlang. Das unmittelbare Hereinbrechen der Gefahr in die heiter geordneten und festlich geschmückten Prachtgemächer hatte etwas schauerliches, aber anfangs konnte der Gedanke, daß nicht allein die schönen, so eben erhaltenen Geschenke, sondern auch die Räume selbst vom Untergange bedroht seien, von der kindlichen Seele kaum gefaßt werden. Ich stand, den zerbrochenen Wagen haltend, ruhig neben meinen Aeltern, und betrachtete das überraschende, nie gesehene Schauspiel mit Erstaunen.

Indessen wurde das Uebel, noch ehe die Kunde davon in die andern Säle gelangen konnte, durch rasche Hülfe beseitigt. Der Haushofmeister war gleich mit den Lakaien zur Hand, die durch einige Flaschen Wasser das Feuer dämpften, und sehr bald die schwarz verkohlten, rauchenden Reste der Pyramide aus dem Saale forttrugen. 101Hatte der herrliche, rasch vorüberrauschende Anblick der auflodernden Flamme uns erfreut, so war die Verwüstung desto widerwärtiger, die durch Nässe und Schmutz auf dem schöngetäfelten Fußboden entstand. So oft nachher bei uns das Weihnachtsfest im frohen Familienkreise gefeiert ward, so verging selten ein Jahr, wo jenes frühen Jugendereignisses nicht gedacht worden wäre, indem wir den Vater oder die Mutter mit sorglicher Stimme sagen hörten: daß nur keine Pyramide in Brand geräth!

Von den Berliner Berühmtheiten, die ich bei der Herzogin gesehn, ist mir Iffland besonders erinnerlich, der durch meinen Vater dort eingeführt wurde. Als Schauspieler und fruchtbarer dramatischer Schriftsteller vielgenannt stand er damals an der Spitze des Berliner Nationaltheaters. Seine Stücke, von einem leicht faßlichen, kurzen Dialog getragen, waren durchaus für die Aufführung berechnet, sie ließen aber den Leser kalt wegen des Mangels an Erfindung und Gefühl, wegen der dürftigen Motive und der überaus prosaischen Gedanken. Die bändereichen Ifflandschen Werke standen in der Bibliothek des Grosvaters Nicolai nicht weit von den Kotzebueschen. Da zeigten denn die defekten Rücken und die abgeschabten Deckel der letzteren im Vergleich mit den schmucken Einbänden der ersten, daß wir weit häufiger nach Kotzebue als nach Iffland griffen.

Als Theaterdirektor mußte Iffland den Vorwurf hören, daß er es unterlasse, jüngere bedeutende Talente heranzuziehn, weil er den Ehrgeiz habe, in einem untergeordneten Kreise desto mehr zu glänzen. Von seiner eminenten Gabe, die herzoglichen Abendzirkel durch die Darstellung der verschiedensten Karaktere zu beleben, hatte mein Vater102 uns manchmal erzählt; wir alle, und besonders Fritz, waren sehr begierig, einer solchen Probe der theatralischen Kunst beizuwohnen. Das erste Mal wurde unsre Erwartung sehr getäuscht. Iffland, ein wohlgebauter, aufs sorgfältigste gekleideter Mann, eher klein als groß, mit leuchtenden Augen und nicht starker, aber melodischer Stimme, saß ganz ruhig am Theetische der Herzogin, und führte eine sehr ernsthafte Unterhaltung, von der wir nichts verstanden. Vergebens lauschten wir aus unserer Spielecke, ob nicht irgend etwas dramatisches sich entwickeln werde, und kehrten sehr misvergnügt nach Hause zurück. Das nächste Mal war das Glück uns günstiger. Iffland führte ein ganzes Gespräch zwischen mehreren Personen auf, mit der kunstreichsten Abwechslung in Stimme, Ausdruck und Gebehrden. Wir waren ganz Auge und Ohr, und verloren kein Wort von den Lippen des vollendeten Mimen. Fritz hatte nun wieder Gelegenheit, sein Talent zu üben, und kopirte die Ifflandsche Kopie auf das glücklichste.

Bald sollten wir den gefeierten Schauspieler auch auf der Bühne sehn. Die Herzogin war auf eine Parketloge abonnirt, und erlaubte meinem Vater gern, wenn sie nicht hinging, davon Gebrauch zu machen. Dieser hielt mit Recht dafür, daß man den Kindern nicht allzufrüh und allzuoft dergleichen geistige Genüsse bieten müsse, und nahm uns nur selten mit. Desto größer war dann am Tage die Erwartung, und am Abende der Genuß. Neben Iffland stand in der That kein namhafter Schauspieler auf der Berliner Bühne; er genoß also unbestritten die Ehre, immer der erste zu sein. Eine Aufführung des nach dem Engelschen Romane bearbeiteten Stückes: Lorenz Stark, hat sich mir besonders eingeprägt. Iffland gab, wie103 sich von selbst verstand, die Titelrolle, und mit freudiger Verwunderung erkannte ich in dem Kaufmanne Specht meinen ehemaligen Hartungschen Mitschüler Gern, der auf seiner Laufbahn als Komiker rüstig fortschritt. Die Scene, wo Madame Lyk bei dem alten tauben Herrn Stark in Ohnmacht fällt, und er sie in den Wagen bringen läßt war von einer schlagenden Wirkung. Die Versöhnungscene mit seinem Sohne, und die Herzlichkeit, mit der er ihn umarmte, brachte uns allen Thränen in die Augen.

Prinzessin Dorothea zeigte Lust und Anlage zur Musik. Auf Empfehlung meines Vaters wurde Lauska, damals der erste Klaviervirtuose von Berlin, zu ihrem Lehrer ausersehn. Dieses lieben Mannes gedenke ich mit dem grösten Vergnügen. Er hatte sich auch als Tonsetzer einen Namen erworben; seine eleganten und gefühlvollen Sonaten galten lange Zeit für die Paradepferde der jungen Berliner Klavierspielerinnen. In unserm Hause ging er viel aus und ein; er konnte den Kindern keine höhere Lust bereiten, als wenn er sich Abends an das Klavier setzte, um eine seiner Kompositionen in der vollendetsten Ausführung zu spielen. Da könnt ihr lernen, Passagen machen , sagte uns nachher mein Vater, der mit neidloser Freude die Ueberlegenheit seines jüngeren Freundes in der musikalischen Handfertigkeit anerkannte. Von schlanker geschmeidiger Gestalt und edlen genialen Gesichtszügen hatte Lauska in seinem Wesen etwas gutmüthiges, und im Klange seiner Stimme etwas einschmeichelndes. Bei seiner Verheirathung ereignete sich ein kapitaler Spaß, der im Kreise seiner Bekannten die gröste Heiterkeit erregte. Er hatte, behufs des kirchlichen Aufgebotes, auf einen Zettel geschrieben:104 Aloisius Lauska, Tonkünstler, mit Jungfrau Emilie Ermeler. Tonkünstler , brummt der Küster, dessen Stärke die Orthographie nicht war, wieder so eine neumodische, vornehme Benennung, die kein Mensch versteht, und die ich vor den Tod nicht leiden kann. Er streicht Tonkünstler aus und setzt statt dessen: Töpfermeister. Mit Verwunderung hören die Freundinnen der Braut am nächsten Sonntage in der Kirche, wie ihre Emilie mit dem Töpfermeister Lauska aufgeboten wird. Zum Glück war es nicht zu spät, um den Irrthum des sprachverbessernden Küsters zu berichtigen.

Nach ihrer gütigen Art zog die Herzogin von Kurland den liebenswürdigen Klavierlehrer auch in ihre Abendzirkel, die er durch sein glänzendes Spiel auf das angenehmste belebte. In den hohen, prächtigen Räumen klang uns seine kräftige Musik ganz anders als in unserer Wohnstube. Mit stummem Entzücken lauschten wir seinen seelenvollen Tönen, erfuhren aber auch eines Abends, daß er zuweilen den Schalk im Nacken trage. Der Strom der allgemeinen musikalischen Begeisterung muß wohl damals reicher geflossen sein als jetzt: denn wer auf den Namen eines Musikers irgend Anspruch machte, der mußte auch im Stande sein, sich in freien Phantasien hören zu lassen, was jetzt beinahe gänzlich aufgehört hat. Nun wurde Lauska eines Abends von der Herzogin aufgefordert, eine freie Phantasie zu geben. Er begann mit einem heitern behaglichen Thema, breitete es nach mehreren Seiten hin aus, steigerte die Wirkung bis zur rauschenden Höhe, und ließ die sanftesten Modulationen im weichen Decrescendo abklingen. Zuletzt stieg er die Stufen einer chromatischen Tonleiter leiser und leiser hinab, und verweilte auf den105 beiden tiefsten Tasten in einem schauerlich-murmelnden Triller. Als das ganze Auditorium von lautloser Erwartung gefesselt dasaß, schnappte er plötzlich mit einem hörbaren Knalle ab. Prinzeßchen Dorothea that einen lauten Schrei, die übrigen umringten den Künstler, und machten ihm halb ernsthafte, halb scherzhafte Vorwürfe. Mein Gott , sagte er mit seiner gutmüthigsten Miene, was ist’s denn weiter? Ich habe ja nur die beiden untersten Tasten aufgehoben!

Während der feindlichen Besetzung von Berlin fanden die höheren französischen Offiziere sehr bald Zutritt in die herzoglichen Zirkel. Wir sahen dort den Kommandanten von Berlin, General Hullin, und andre bedeutende Persönlichkeiten. Unser Franzosenhaß war so glühend, daß wir uns weder durch die goldbesetzten Uniformen, noch durch die glatte Urbanität der Feinde des Vaterlandes bestechen ließen, sondern sie nur mit Abscheu und Erbitterung betrachteten. Mein Vater hatte die kleine Schwachheit, daß er die geringen Anlagen seiner Kinder gar zu gern geltend machte. Er veranlaßte es zuweilen, daß wir von jenen hochgestellten Personen französisch angeredet wurden und freute sich darüber, wenn in unseren verlegen herausgestotterten Antworten die gute prononciation gelobt ward. Für uns waren solche Vorführungen eine wahre Höllenqual, und Fritz war jedesmal sehr zufrieden, wenn er wegen seines weniger guten Französisch nicht an die Reihe kam. Zur wahren Genugthuung gereichte es uns, daß Prinzeßchen Dorothea unsern Franzosenhaß theilte, und von den fremden Eindringlingen gar nichts wissen wollte. Aber bald sollte dies anders werden.

In den folgenden Jahren strahlte der Glanz der fran -106 zösischen Siege immer heller, und Napoléon näherte sich immer mehr der Verwirklichung einer europäischen Universalmonarchie. Er suchte die fusion des masses , die er als das Ziel seines Strebens hinstellte, auch dadurch zu bewerkstelligen, daß er seine jungen Franzosen mit den Töchtern vornehmer fremder Familien und mit reichen Erbinnen in den unterworfenen Ländern verheirathete.

Im Januar 1809 erhielt die Herzogin von Kurland auf ihrem Gute Löbichau den Besuch des Neffen des Fürsten von Talleyrand, des jungen eleganten Grafen von Périgord. Für diesen letzten wurde die reiche Prinzessin Dorothea bestimmt, die unterdessen zu einer vollendeten Schönheit herangewachsen war. Wer mochte es der Herzogin verdenken, wenn sie, eine Fremde in dem zertretenen und zerrissenen Deutschland, sich der aufgehenden Sonne an der Seine zuwandte? In Prinzeßchen kämpfte die gute deutsche Natur einen schweren Kampf; sie wollte anfangs von dem fremdländischen Freier nichts wissen. Als sie aber einige Male mit ihm getanzt, und seine gesellige Liebenswürdigkeit kennen gelernt, so gab sie bald dem Zureden der Mutter nach.

Die Hochzeit ward in Frankfurt a. M. gefeiert. Die Herzogin-Mutter begleitete ihre Tochter nach Paris. Beide verschönten den Napoléonischen Hof durch die Anmuth ihrer Erscheinung und ihres Geistes.

Von solchen Vorkommnissen erzählte ich ganz unbefangen meinen Freunden und Schulkameraden. Es fiel mir nicht ein, etwas besonderes daraus zu machen, daß unser Weihnachten bei der Herzogin von Kurland gefeiert sei, oder daß ich den Prinzen von Hohenzollern in den Haaren gerauft, aber bald wurde ich zurückhaltender, als107 ich hörte, daß ein Mitschüler beim Nachhausegehn zu einem andern sagte: der Parthey weiß sich recht viel mit seinen vornehmen Bekanntschaften! und der andre erwiederte: es wird wohl die Hälfte davon erfunden sein! Seitdem hütete ich mich wohl, jemals wieder etwas aus dem herzoglichen Zirkel mitzutheilen.

108

Lehmschloß. Brand der Petrikirche.

Außer dem Hause in der Brüderstraße besaß der Grosvater Nicolai ein schönes Gartenhaus mit allem Zubehör in der Lehmgasse, welche später den mehr ästhetischen Namen der Blumenstraße erhielt. Beide Namen haben ihre Berechtigung: denn die Lehmgasse, nur zum Theil gepflastert, endigte in der Sackgasse mit einer Lehmgrube, Blumenstraße hieß sie später mit Recht von den vielen Gärtnereien, die zu beiden Seiten hinter sehr primitiven Gartenzäunen in kleinen bescheidenen Häusern angelegt waren. Die wegen ihrer Blumenzucht berühmte Familie Bouché war in jener Gegend durch 4 oder 5 thätige Mitglieder vertreten.

Das Nicolaische zweistöckige Haus ragte so stattlich hervor, daß es in unserem Freundeskreise erst das Lehmschloß, dann das Blumenschloß hieß. Aus den oberen Giebelfenstem übersah man alle benachbarten Gärten bis in die gröste Ferne. Gegen Westen zeigten sich einige Thürme der Stadt, gegen Osten reichte der Blick bis zu dem Frankfurter Thore; auch gewahrte man ein Stückchen der Stadtmauer, bis zu welcher in der kindlichen Phantasie sich eine unermeßliche Entfernung ausdehnte. Gegen Südwest stieß der Garten, der im Ganzen beinahe 5 Morgen umfaßte, an den Grünen Weg , eine schmale,109 von zwei schwarzen Bretterzäunen gebildete Straße, im Sommer ein Staubstreifen, im Winter ein unpassirbarer Sumpf. Diese Straße war uns Kindern deshalb sehr merkwürdig, weil man darin, außer dem spärlich gedeihenden Unkraut, gar nichts grünes wahrnahm, und weil sie gar kein Fenster hatte, außer einem, das aus der hinten vorbeiführenden Rosenqueergasse hineinblickte.

Dieser ganze Stadttheil war sehr wenig angebaut. Das Köpnicker Feld auf dem linken Spreeufer innerhalb der Stadtmauer gelegen, reichte vom Schlesischen bis zum Hallischen Thore. Es bestand ursprünglich aus dem nackten gelben märkischen Sande, wurde aber nach und nach durch die Betriebsamkeit der Ackerbürger in fruchtbare Getreide - und Gemüsefluren umgewandelt. Auf dem rechten Spreeufer erstreckte sich eine fast eben so große Fläche vom Stralauer nach dem Frankfurter und Landsberger Thore; hier gab es mehr Gärten und Wiesen, aber fast eben so wenig Häuser als auf der andern Seite.

Unser Landhaus selbst war sehr zweckmäßig angelegt. Aus einem kühlen Gartensaale mit drei tiefherabgehenden Glasthüren trat man auf eine steinerne Terrasse hinaus, die von zwei uralten Linden beschattet, den Hinabblick auf einen weiten, von Ahorn - und Akaziengängen umgebenen Grasplatz gewährte. Links vom Grasplatze sah man einen von Hecken umzogenen Baum, der einige Fliederlauben mit Bänken und steinernen Kinderfiguren auf Postamenten enthielt, rechts lag ein dichtverwachsenes Wäldchen, unser liebster Spielplatz. Hier konnten wir in den dunkeln Gebüschen eine Robinsonshöhle anlegen, oder von den hohen Linden und Platanen herab weit über die Nachbargärten hinausschauen. Zwischen zwei riesigen Pappeln im Hinter -110 grunde des Grasplatzes sahen wir oft den glänzenden Vollmond aufsteigen; die dichten Seitengebüsche dienten Nachtigallen und Finken zu sicherem Brutort.

Durch diesen vorderen poetischen Abschnitt war die Prosa des hinteren Gartentheiles geschickt verdeckt. Große Gemüse - und Spargelbeete, unabsehliche Himbeerhecken und Erdbeerpflanzungen, Obstbäume von allen Arten, ein Pfirsich - und ein Ananashaus, sonnige Weingeländer füllten den übrigen Raum. Zum Vesperbrodt erhielten wir Kinder gewöhnlich einen Helling Semmel und wurden damit in die Erd -, Johannis - oder Stachelbeeren geschickt; d. h. wir durften davon so viel verzehren, als uns schmeckte, welche Erlaubniß anfangs bis an die äußerste Gränze der Möglichkeit ausgedehnt wurde. Allein nachdem die Folgen der Unmäßigkeit sich einige Male auf unangenehme Weise fühlbar gemacht, lernten wir uns bescheiden, und es ist mir nicht zweifelhaft, daß dieser reichliche Obstgenuß viel zu meinem späteren Wohlbefinden beigetragen. Die besten Erdbeeren und Himbeeren standen im entferntesten Theile des Gartens, bis wohin ein Ruf von der Terrasse nicht reichte. Damit wir nicht über die Gebühr dort verweilen möchten, hatte mein Vater ein kleines Pfeifchen angeschafft, das im Gartensaale neben der Mittelthür hing. Sobald wir im Garten den hellen Ton des Pfeifchens hörten, wurde unweigerlich der Rückzug angetreten. Bei kleineren und größeren Gesellschaften fehlte es zum Nachtische nie an einer völlig gereiften Melone; als Hochgenuß wurde eine Ananas betrachtet, deren dünne Scheibchen indessen nur selten bis zu unserer Kinderecke hinabreichten.

An das Landhaus schloß sich seitwärts ein geräumiger Hof mit Stallungen, in denen der Doctor Kohlrausch bei111 seinen Besuchen zuweilen die Pferde einstellte. Hühner, Enten und Gänse trieben in abgesonderten Räumen ihr Wesen; auf dem Dachboden war ein Taubenschlag angebracht, daneben bot der Heuboden mit seinem duftenden Inhalte einen herrlichen Kinderspielplatz. In den darunter gelegenen Holzstall schaffte der Gärtner im Herbste das trockne Strauchwerk, und mein Vater beschäftigte sich im Sommer mit dessen Verarbeitung. Die Aeste wurden in kleine und kleinste Stückchen zerhackt, mit Strohseilen in Bündel von bestimmter Größe gebunden und auf dem Boden verwahrt. Kamen nun die kühleren Herbstabende heran, so loderte im Gartensaale ein lustiges Kaminfeuer, um welches die Gäste sich gern versammelten.

Die Reisbündel wurden auch zum Heizen des Marmorbades verwendet, das an der Nordseite des Hauses gelegen, den Kindern wenigstens alle vierzehn Tage eine heilsame Erfrischung gewährte. Für das Grabdenkmal irgend eines vornehmen Herrn waren einst Platten des grauen schlesischen Marmors nach Berlin gekommen, damals ein ungewöhnlicher Luxus. Aber die Bestellung ward nicht ausgeführt, und die Tafeln standen lange vergeblich zum Verkauf. Nicolai erstand sie um einen geringen Preis, und ließ davon in seinem Gartenhause ein elegantes Marmorbad einrichten. Mein Vater erzählte gern, daß als einst der Dichter Göckingk draußen gewohnt, er ihm ein Bad mit Lorbeerzweigen geheizt habe.

Im Holzstalle durfte ich meinem Vater anfangs nur beim Zureichen der trocknen Aeste und beim Aufschichten der Reiser zur Hand gehn; als ich größer geworden, lernte ich selbst mit unendlicher Lust das kleine Gartenbeil handhaben. Die verschiedenen Hölzer wollten alle auf ver -112 schiedene Weise verwerthet sein. Buchen und Ulmen ließen sich leicht zertheilen; die Pappel war wegen ihrer geringen Kraft wenig geachtet; die geraden Schosse des Ahorns lieferten ein gutes Brennmaterial, die Linden gaben feine gleichmäßige Stäbchen; bei den Akazien mußte man sich wegen der Stacheln vorsehn, aber sie ließen sich bezwingen; am schwierigsten waren die alten ausgerodeten Stachelbeersträuche zu behandeln, die wie die Igel nach allen Seiten hin mit Spitzen sich vertheidigten; ihnen konnte man nicht anders beikommen, als indem man sie bei der knolligen Wurzel faßte und die Zweige am untersten Ende lostrennte.

Neben diesen Gartenbeschäftigungen diente der Holzstall auch zum Abschlachten der Hühner, Tauben und Enten. Meinem Vater war es äußerst widerwärtig, wenn die Köchin den Tauben den Hals umdrehte oder den Hühnern mit einem stumpfen Messer die Kehle zersägte. Er verrichtete das Geschäft lieber auf dem Haublocke mit dem kleinen, wohlgeschärften Beile. Weil aber die Thiere immer den Kopf einzuziehen pflegen, so mußte der Gartenknecht, während mein Vater das Opfer festhielt, den Kopf hervorziehn, der dann mit einem raschen Hiebe vom Rumpfe getrennt ward.

Diesem Guillotiniren hatte ich oft beigewohnt, und mit einigen Händen voll Sägespänen das Blut bedeckt. Nun wollte ich auch thätigen Antheil nehmen, und da ich im Holzhacken ziemlich geschickt war, so brachte ich es nach vielen Bitten endlich dahin, auch einen Kopf abhacken zu dürfen. Das ging auch ganz gut von Statten, aber einmal ereignete sich etwas, woran ich noch mit Entsetzen denke, und was mir das Abschlachten auf lange113 Zeit verleidete. Ein alter Hausbahn, dem der Kopf abgehackt war, sprang fort und lief mehrere Male um den Hof herum, ehe er vom Blutverluste erschöpft zusammensank.

Dem Taubenschlage auf dem Boden des Holzstalles widmete mein Vater eine besondere Sorgfalt. Für mich war es ein großes Fest, ihn dahin begleiten zu dürfen, wenn er am Abend die äußere Klappe geschlossen und den ganzen Schwarm beisammen hatte. Die nächste Nähe der reinlichen, zarten Thiere, die man sonst nur in der Luft oder auf den Dächern gewahrte, ihr unruhiges Durcheinanderfahren bei irgend einer raschen Bewegung, das zornige Kullern der Täuber, die sanften Augen der jungen schneeweißen Tauben, selbst der specifische Geruch ihrer Nester und der daneben liegenden Fenchelkuchen erweckten mir eine höchst angenehme Empfindung. Mein Vater beobachtete die Neigungen der einzelnen Paare: anfangs bauen sie zusammen ein Nest, das bald einige Eier erhält, und leben in der schönsten Eintracht; dann aber findet sich ein Hausfreund, der der Frau den Hof macht, der sie zur böslichen Verlassung ihres Mannes und ihrer unflüggen Kinder, so wie zur Anlegung eines neuen Nestes verführt. Aber solche Unregelmäßigkeiten duldete mein Vater nicht; die pflichtvergessene Gattin wurde einige Zeit mit ihrem rechten Manne zusammen eingesperrt, wo sich denn bald das alte Verhältniß wiederherstellte.

Es kam auch einige Male vor, daß ein Sperber oder eine Weihe, aus den Rüdersdorfer Kalkbergen herüberkommend, in hoher Luft kreisend sich zeigte, und sowohl den Hühnerhof als auch das Taubenvolk in den ungeheuersten Allarm setzte. Der Gärtner holte dann eine alte verrostete Flinte hervor, und obgleich der Raubvogel viel114 zu hoch schwebte, um ihn erreichen zu können, so ward er wenigstens durch den Knall verscheucht, vor dem die Kinder sich bis auf den Heuboden geflüchtet hatten.

Das Schießen durfte nicht ohne obrigkeitliche Genehmigung geschehen. Es hat sich bei den Hausakten ein Schein vom 19. Mai 1809 erhalten, worin der Brigade General von Kleist, Interims-Kommandant der Residenz Berlin, dem Herrn Buchhändler Nicolai die Erlaubniß ertheilt, in seinem Garten, in der Lehmgasse No. 18 gelegen, zur Vertilgung der daselbst in Menge sich aufhaltenden Elstern, Krähen und anderer Raubvögel mit Feuergewehren schießen zu dürfen.

Der Holzstall war gewöhnlich durch zwei ansehnliche Flügelthüren geschlossen. In der einen bemerkte man oben ein ziemlich weites viereckiges Loch, das der Grosvater Nicolai besonders hatte einschneiden lassen, damit im Frühjahr die an den inneren Balken nistenden Schwalben ungehindert aus - und einfliegen konnten. Diese Schwalbennester nahmen wegen ihrer Unnahbarkeit das Interesse der Kinder fast noch mehr in Anspruch, als die junge Brut der Hühner und Enten, die den Hof bevölkerte.

Von der Grasemücke ist es bekannt, daß sie manchmal an Orten nistet, die man nicht dazu geeignet halten würde, z. B. unter den Schienen einer Eisenbahn. Etwas ähnliches kam einmal in unserem großen Garten vor; eine Grasemücke nistete unter dem Brunnendeckel, dicht neben dem widerwärtig kreischenden Schwengel.

Im Frühjahre fand mein Vater nicht selten Gefallen daran, die entlegenen Theile des Wäldchens von Unkraut zu reinigen. Unsre gröste Freude war, ihm dabei nach Kräften zu helfen, indem eines den Spaten, ein anderes115 die Harke (Berlinismus für Rechen), ein drittes die Schuffel (berlinisch für Schaufel) nachtrug. Der Gartenknecht folgte mit der schweren Kumpkarre (Schiebkarre). Wir bemerkten, daß mein Vater zum Ausraufen der Brennesseln, des stinkenden Schöllkrautes, der unnützen Hirtentasche und anderer Unkräuter sich gelbe Handschuhe anzog. Auf diesen sahen wir kleine Dreiecke, Winkelhaken, Sterne und andre uns unbekannte Zeichen. Mein Vater belehrte uns, daß solche Handschuhe den Freimaurern bei einer gewissen feierlichen Gelegenheit überreicht würden, da er aber längst seinen Platz in der Loge aufgegeben habe, so halte er es für keine Profanirung, die Handschuhe, die er im gewöhnlichen Leben nicht tragen dürfe, nun auf eine nützliche Weise anzuwenden.

Als ich später von manchen meiner Freunde aufgefordert ward, in den Freimaurer-Orden zu treten, erholte ich mir Raths bei meinem Vater. Er rieth mir in wohlmeinender Weise ab, weil nichts dabei herauskomme , und so bin ich denn in die Mysterien der Isis niemals eingeweiht worden.

Nicolai war in seiner Jugend ein sehr eifriger Freimaurer und erstieg die höchsten Stufen. Nach seiner gründlichen Art sah er sich auch in der Litteratur um, und sammelte eine ansehnliche Freimaurer-Bibliothek, die gewiß alles enthielt, was über diese Geheimgesellschaft dem Drucke anvertraut werden durfte. Er verband damit drei andre Abtheilungen, über Tempelherren, Rosenkreuzer und Jesuiten, zusammen an 800 Bände. Diese interessante und mit Sachkenntniß zusammengebrachte Reihe habe ich im Jahre 1854 der Mutterloge zu den drei Weltkugeln käuflich überlassen. 116

Als ich in späteren Jahren einst einen maurerischen Freund in ein entlegenes Zimmer unserer Wohnung in der Brüderstraße führte, rief er überrascht: Ei, das ist ja ein Receptionszimmer! Ich konnte seiner Ordensverschwiegenheit nicht zumuthen, mir die Kennzeichen eines solchen Heiligthumes anzugeben, und bemerkte nur, daß die Wände mit Hermelinschwänzen bemalt waren.

Es schien dem guten Grosvater Nicolai vom Geschicke bestimmt, überall in litterarische Streitigkeiten zu gerathen. So ging es ihm auch in Bezug auf die Freimaurer. Im Jahre 1782 veröffentlichte er einen sehr gelehrten Versuch über die Beschuldigungen, welche dem Tempelherrenorden gemacht worden, nebst einem Anhange über das Entstehen der Freimaurergesellschaft. In diesem Buche soll er vieles über die Freimaurer bekannt gemacht haben, was nicht bekannt gemacht werden durfte. Seine hohen Obern geriethen in den grösten Zorn; es war nahe daran, ihn als einen Verräther gänzlich auszustoßen. Nur in Betracht seines unbescholtenen Karakters wurde ihm gestattet, freiwillig aus der Loge zu scheiden.

Diese Umstände erfuhr ich mehrere Jahre nach des Grosvaters Tode von meinem lieben Freunde Ritter, dem Disponenten der Buchhandlung. Ich nahm nun gleich das obengenannte Werk zur Hand, fand aber nach den sehr gründlichen historischen Untersuchungen nichts als eine überaus weitschweifige unfruchtbare Polemik gegen einen Ungenannten , der im Teutschen Merkur Nicolais Behauptungen angegriffen. 117

Auf dem Hofe des großen Gartens befand sich eine geräumige Hundehütte, und es verstand sich wohl von selbst, daß die Kinder mit dem Haushunde in der zärtlichsten Freundschaft lebten. Es war ein muntrer schwarzer Spitz, den wir mit dem ganzen Hause nie anders als Wasser nannten. Sehr gut entsinne ich mich, daß mir einmal die Benennung nach dem nassen Elemente für einen Hund sehr seltsam vorkam, und ich den Vater danach fragte. Er gab mir die Erklärung, der Hund heiße eigentlich Fasser, weil er die fremden Bettler fassen solle, allein die weichere Form gefiel uns Kindern weit besser, und behielt die Oberhand: denn es ist eine ausgemachte Sache, daß in jedem Hauswesen die Benennungen immer von der jüngsten Generation angegeben werden. Ihr gehört die Zukunft; unbewußt wird sie als der Mittelpunkt der Familie betrachtet. Es wäre indessen auch möglich, daß Wasser der richtige Name sei: denn er schließt sich an die Hundenamen Strom und Donau an.

Wasser lag bei Tage an der Kette, und fuhr bellend aus der Hütte, sobald die Glocke der Straßenthür ertönte. Gegen Abend, wenn mein Vater in den Holzstall ging, setzte er den treuen Wasser in Freiheit, der nun wie besessen im Hofe herumjagte. Er wußte, daß er in das Hühnerstacket nicht eindringen durfte; zwängte er sich ja einmal durch zwei etwas weitere Stäbe, so scheuchte er die Hühner bis in die Aeste der Birnbäume hinauf, aber vor der Gluckhenne, die mit Wuth ihre Küchlein vertheidigte, hielt er nicht Stand.

Das Hinausziehn nach dem großen Garten im Frühlinge und das Hineinziehn im Herbste bildete im Leben der Kinder zwei wichtige Abschnitte, und theilte das Jahr118 in seine beiden natürlichen Hälften, Sommer und Winter. Einmal wurde bei einem späten Frühjahr über Tische besprochen, ob wir nun endlich hinausziehn sollten oder nicht, da erinnre ich mich, wie mein Vater mit scherzhaftem Wohlwollen uns zu Gemüthe führte, daß wir doch weit glücklicher wären, als der König Friedrich August von Sachsen, der nach den Regeln seiner verknöcherten Etikette unabänderlich am 1. April nach Pillnitz zöge, es mochte nun schneien oder regnen, und eben so sicher am 1. Oktober zurückkehre, wenn auch der herrlichste Nachsommer blühte; desgleichen lege der König an bestimmten Kalendertagen seinen Pelz an und ziehe ihn wieder aus, ohne Rücksicht auf das Wetter.

Für das Hineinziehn war eben so wenig ein Termin bestimmt, als für das Hinausziehn; da kam es denn im Jahre 1800 vor, daß meine Mutter, von den warmen Herbsttagen verlockt, sich allzulange aufhielt, am 2. Oktober von meiner Schwester Lilli entbunden wurde, und draußen ihr ganzes Wochenbett halten mußte, worauf sie doch nicht eingerichtet war. Wenn die geistige frohe Regsamkeit meiner Schwester uns später alle erheiterte, so sagte wohl mein Vater mit zufriedenen Blicken: sie ist ein Kind des Gartens!

Die Vorbereitungen zum Hinauszug, der uns nie früh genug kommen konnte, erforderten immer einige Tage: denn wiewohl das Gartenhaus ganz vollständig eingerichtet war, so hielt meine zweite Mutter, welche in allen Dingen die Sorgfalt und Pünktlichkeit selbst war, es mit Recht nicht für zuträglich, auch die Betten den ganzen Winter in den ungeheizten Räumen liegen zu lassen, sondern sie nahm sie im Herbste mit zur Stadt. Waren diese nun119 im Frühjahre nebst anderem nöthigen Hausgeräth auf einem Packwagen vorangeschickt, so setzten wir uns seelenvergnügt mit den Aeltern in eine große Kutsche, und mein Vater rief: nun, mit Gott vorwärts! Beim Hineinziehn pflegte er zu sagen: gebe Gott, daß wir wieder so glücklich hinausziehn, als wir hereingezogen sind.

Draußen galt der erste Besuch dem ehrlichen Wasser, der vor Freude fast die Kette sprengte, dann wurden die Hühner und Tauben gemustert, die alten bekannten Laubgänge und schattigen Plätze durchlaufen, und fast jedes Beet durch Umschreiten von neuem in Besitz genommen.

Wir hatten in einem Winkel ein besonderes Kindergärtchen, wo wir für uns Salat, Schaafgarbe, Mohrrüben pflanzten, und unsere Namen in Brunnenkresse aufgehn ließen, doch konnte ich daran nie ein rechtes Behagen finden; die Ergebnisse dieser kleinen Bemühungen erschienen mir gar zu ärmlich im Vergleich mit den Erträgen des großen Gartens.

Die Dauer des Sommers vom Mai bis in den September erschien dem kindlichen Sinne als von einer ganz unabsehbaren Länge; man konnte sich kaum denken, daß er je ein Ende nehmen werde, und doch mußte man auf vieles wünschenswerthe gar zu lange warten. Es dauerte nach dem Hinausziehn manchmal noch eine ganze Woche, ehe die Erdbeeren sich rötheten, dann wieder recht lange, bis die frühsten Glaskirschen zum Abnehmen kamen, und die Himbeeren ohne Mühe vom Stuhle sich lösten; nun sah man die Johannis - und Stachelbeeren ewig an den Zweigen hängen, ehe sie sich färben und weich werden wollten; besser ging es schon mit den Pflaumen: denn was beim Schütteln der Bäume abfiel, das war gewiß120 reif. Aprikosen und Pfirsiche wurden uns zwar nie zum Vesperbrodt preißgegeben, doch pflegte der gute Vater die besten, während des Tages abgenommenen in einer großen Schachtel zu verwahren, bis wir aus der Schule kamen.

So floß ein Tag nach dem andern hin. Die sechs Wochen Schulferien im Juli und August glichen anfangs vollkommen dem goldnen Zeitalter, weil wir von früh bis Abends im Freien bleiben konnten, wurden aber gegen das Ende durch die unnennbare Qual der Ferienarbeiten getrübt, die doch zuletzt gemacht werden mußten. Ich habe seitdem mit vielen mir befreundeten Schuldirektoren über diese Unsitte disputirt, sie haben mir auch meistentheils eingeräumt, daß Ferien, in denen man arbeitet, eben keine Ferien sind; allein so viel ich weiß, geht der alte Schlendrian noch immer so fort, und vergällt den armen, Jahr aus Jahr ein geplagten Schulkindern den einzigen reinen Genuß, den sie haben könnten, einige Wochen ganz ohne Arbeit zu sein.

Bald nach den Hundstags-Ferien fingen schon die Pflaumen an, durch leichte Nachtfröste runzlich, aber desto schmackhafter zu werden. Dann kam allmälig die Birnen - und Apfelzeit heran. Diese wurde indessen nicht oft im großen Garten abgewartet; nur die frühen Birnensorten dienten dem Vesperbrodt, die spätern lagen vorsichtig ausgebreitet auf einem großen Billard im Oberstock.

Selten blieb der September ganz schön; dichte Herbstnebel hüllten am Morgen alle Nähen und Fernen in einen magischen Schleier; es war für die Kinder ein höchst wunderbares Gefühl, die hohen Pappeln hinter dem Grasplatze nicht sehn zu können. Brach dann die Sonne121 durch, so galt dies für ein Anzeichen von Regen. Die über dem Dache des Holzstalles befestigte Wetterfahne mit der durchsichtigen Jahreszahl 1805 stand beständig aus Westen, und wenn man aus den westlichen Mansardfenstem über die Gärten und Felder hinblickte, so wälzten schwere graue Wolken sich in unaufhörlicher Folge heran.

In den stürmischen Herbstnächten befestigte mein Vater ein paar Aeolsharfen an den Bodenfenstern. Ihr schwermüthiges, unartikulirtes Getön mischte sich oft in unsre Träume, und war für die ganze Nachbarschaft ein Zeichen, daß der Sommer vorüber sei.

Traten noch ein paar trockne Tage ein, so wandelten wir mit großem Vergnügen durch das raschelnde Laub, hielten eine spärliche Nachlese an den durchsichtig gewordenen Stachelbeersträuchen, und sammelten die letzten verschrumpften Pflaumen von den entlaubten Bäumen. Fragten wir den alten Gärtner Couturier nach dem Wetter, so sagte er: die Schwalben fliegen so niedrig, und die Hähne haben heute früh gekräht, das bedeutet Regen.

Da wurde denn bald der Tag des Hineinziehns in die Stadt bestimmt. Mein Vater ging noch einmal mit uns durch die Lavendelbeete des Hintergartens, und jeder durfte ein dickes Bündel des duftenden Krautes heimtragen; der Wäsche ertheilte es einen aromatischen Geruch, der mich noch heute in die sonnige Herbstzeit des großen Gartens zurückversetzt.

Am Tage der Rückfahrt liefen wir, während der Packwagen gerüstet ward, zum letzten Male durch alle Gänge und um alle Beete, trugen so viel Kastanien als möglich aus der großen und kleinen Kastanienlaube zusammen, um sie den Miethpferden des Fuhrmannes zu122 geben, nahmen zärtlichen Abschied von Wasser, und stiegen trotz des elegischen Herbstgefühles, wohlgemuth in die bereitstehende Kutsche.

Wohl fühle ich, daß ich bei diesen frühsten Jugenderinnerungen allzulange verweilt bin. Immerhin! Sind sie doch die allersüßesten. Wer von meinen Freunden ähnliche gehabt, der wird sie mir nachfühlen.

Der Grosvater Nicolai wohnte in seinen letzten Jahren selten im großen Garten. Hatte er doch niemanden mehr von seiner Familie, mit dem er diesen angenehmen Aufenthalt theilen konnte. In der früheren Zeit war das Lehmschloß eben sowohl wie das Haus in der Brüderstraße der Sitz der weitesten Gastfreundschaft gewesen, und Nicolai hatte dort Männer wie Willdenow, A. v. Humboldt, Klaproth, Bode u. a. unter seinen Gästen gesehn. Wenn er nun einmal seine schöne Sommerwohnung besuchte, so fuhr er am Sonnabend hinaus, verweilte den Sonntag und fuhr am Montag früh zurück. Sein Zimmer lag neben der Terrasse, hatte nicht allein grüne Tapeten, sondern auch grüne Möbel, und hohe Akazien vor dem Fenster verbreiteten darin eine ahnungsvolle Dämmerung.

Am Fenster stand ein grüner Schreibtisch mit allem Zubehör: denn auch in diesen Stunden der Erholung konnte Nicolai nicht ohne Beschäftigung sein. In dem Wandschranke links von der Thür befand sich eine kleine Gartenbibliothek, sie enthielt Werke über Botanik und Gärtnerei, Hirschfelds Gartenkunst, Dietrichs botanisches Lexikon, ferner Thomsons Jahreszeiten und andre ältere englische Dichter, die ich später an schwülen Sommer -123 nachmittagen mit innigem Ergötzen durchkostete, Ewalds Frühling u. s. w. In dem Wandschranke rechts lag allerlei Gartengeräth, ferner eine Papierlaterne und ein Feuerzeug in Form einer Pistole; für die Kinder die allermerkwürdigsten Dinge. Dieses letzte Instrument sollte die sonst gebräuchlichen Blechkasten mit Stahl und Stein ersetzen, und war sehr sinnreich konstruirt. Es bestand in einem Pistolenkolben mit hölzernem Laufe und einem ordentlichen Feuersteinschlosse. Beim Abdrücken des Schlosses fiel der Funke nicht in Pulver, sondern in ein Häufchen Zunder (d. h. verkohlte Leinwand), das in der Pfanne zusammengedrückt lag. Nun brauchte man immer noch einen gelben Schwefelfaden, der in dem langsam glimmenden Zunder endlich Feuer fing, um ein Licht anzuzünden.

Sonntags früh sahen wir wohl bisweilen die lange hagre Gestalt des Grosvaters durch den Garten wandeln, aber es fiel uns nicht ein, ihn zu begleiten, da wir vor seinem ernsten trocknen Wesen eine unüberwindliche Scheu empfanden. Ihm zur Seite ging der Gärtner Couturier im hellblauen Bratenrocke, die schon gemachten oder noch zu machenden Einrichtungen besprechend.

An einem schönen Sonntagabend wünschte der Grosvater auf der Terrasse im Freien unter den beiden großen Linden zu essen. Wir freuten uns unbeschreiblich auf diese Neuerung, da sonst immer im Gartensaale gegessen wurde, und waren eifrig bemüht, bei der Anordnung der Tafel behülflich zu sein. Zwei hohe grüne Windleuchter mit Glasglocken, welche hier zum ersten Male aus dem Wandschranke hervorgeholt wurden, erregten unsre höchste Bewunderung. Da sie indessen selten gebraucht waren, so ließ das trübe Glas nur einen matten Schimmer durch,124 der die Tafel spärlich erhellte und kein besonderes Behagen erweckte; der Abend, welcher eben noch ganz still war, fing an windig zu werden, trockne Lindenblätter fielen in die Bierkalteschale, viele Mücken, durch den Glanz der Lichter angezogen, umschwärmten die Essenden, und einige über dem Grasplatze kreisende Fledermäuse wagten sich in eine unheimliche Nähe des Tisches. Die Abendmahlzeit wurde zwar dadurch nicht unterbrochen, aber uns Kindern war für lange Zeit die Lust vergangen, im Freien zu essen.

Der Gärtner Couturier, von der französischen Kolonie, gehörte mit zu den Inventarienstücken des großen Gartens. Er hatte schon die Nicolaischen Kinder heranwachsen gesehn, und nie versäumt, ihre Geburtstage durch ein deutsches oder französisches Gedicht zu feiern. Den Garten hielt er in musterhafter Ordnung. Göckingk, welcher öfters im Sommer draußen wohnte, behauptete einmal, daß nicht ein Quadratfuß unbebaut oder vernachlässigt zu finden sei. Die Blumengestelle auf der Terrasse und vor den Fenstern waren mit dem schönsten Flore besetzt, die Spargelbeete lieferten reichlichen Ertrag, der Verkauf aus dem Ananashause bildete einen Hauptposten in den Garteneinnahmen. Doch fehlte es nicht an Schattenseiten. Couturier war dem Trunke ergeben und wegen seiner Grobheit in der ganzen Nachbarschaft gefürchtet. Hatte er irgend einen Exceß verübt, seine Frau oder Tochter geprügelt, und wurde deshalb zur Rede gestellt, so entschuldigte er sich in den ehrerbietigsten Ausdrücken, und ging zuletzt in das französische über. Er war auch wirklich einmal wegen allzugroßer Unzukömmlichkeiten des Dienstes entlassen worden, allein weil der Grosvater mit den folgenden Gärtnern sehr üble Erfahrungen machte, so ward Couturier125 nach mehreren Jahren wieder zu Gnaden aufgenommen, und betrachtete sich nun fast wie ein Glied der Familie.

Vor seinem fürchterlich häslichen Gesicht, das in der Woche selten rasirt war, vor seiner rauhen polternden Stimme, vor seinen bäurischen Maniren behielten wir eine unüberwindliche Abneigung. Durch einige Erzählungen von dem, was er als Gärtnerbursche und später auf der Wanderschaft ausgestanden, trieb er uns die Haare zu Berge: wie er beinahe den Hals gebrochen, als er auf eine 60 Fuß hohe, bereits angesägte Tanne gestiegen und damit umgestürzt sei wie er beinahe in der Spree ertrunken, weil er am Johannistage gebadet, wo der Fluß ein Opfer verlange wie er beinahe von einem tollen Hunde gebissen sei, aber ihn glücklicherweise vorher todtgeschlagen u. s. w. Beim Abraupen der Obstbäume pflegte er die Raupen mit den Händen zu zerdrücken, die man Bärentatzen vergleichen konnte, und beim Einsetzen der Blumen wurde der Dünger ebenfalls mit den Händen gemengt. Eines Abends saß er mit seinem Butterbrodte im Hofe, wo wir mit unserem Lieblinge Wasser beschäftigt waren, und erbot sich gegen uns, auf seiner Stulle eine recht fette Kreuzspinne zu verzehren. Er versicherte zwar nicht, wie Dr. Katzenberger bei Jean Paul, sie schmecke wie eine Haselnuß, aber wir schauderten bei dem Gedanken und erzählten die Sache den Aeltern. Da mag denn wohl ein sehr strenges Verbot gegen solche Späße erfolgt sein: denn ich entsinne mich nicht, daß später dergleichen vorgekommen.

Wenn er Sonntags manchmal nach der französischen Kirche ging, so trug er den langen hellblauen Bratenrock mit blanken, fast thalergroßen Knöpfen, einen ungeheuren126 dreieckigen Hut, graue Unterkleider, unförmliche Stulpenstiefeln, einen schwarzen Haarbeutel und ein großes spanisches Rohr. Obgleich diese Tracht damals noch nicht ganz veraltet war, so erregte seine groteske Figur bei der Straßenjugend immer einiges Aufsehn.

Seine Tochter Lotte, ein kräftiges Gärtnermädchen, fanden wir ungemein schön, besonders wenn sie mit dem breiten Strohhute die Sallatbeete besorgte oder mit zwei großen Obstkörben auf den Markt ging. Aber ihre Stimme war wie die ihres Vaters rauh und gebrochen, wir mochten daher nicht gern mit ihr verkehren. Der Alte hatte sie gut unterrichten lassen und sie sprach das französische ganz geläufig. Dies jedoch gereichte ihr nicht zum Vortheil. Bei der französischen Eroberung wurde auch das Haus in der Lehmgasse reichlich mit Einquartirung belegt, für welche der Gärtner zu sorgen hatte. Die fremden Soldaten waren sehr erfreut, sich in ihrer Muttersprache unterhalten zu können; trotz des Franzosenhasses konnte Lotte der angebornen Feinheit der Sieger auf die Länge nicht widerstehn, und folgte i. J. 1812 als Marketenderin einem nach Rußland weiterrückenden Regimente, unter dem besonderen Schutze eines schwarzbärtigen Tambourmajor. Was aus ihr geworden, haben wir nie erfahren.

Diesen Schmerz konnte der ehrliche Vater Couturier nicht überstehn. Er ging tiefsinnig im Garten auf und ab, sprach mit Niemand, und versuchte seinen Kummer in Branntwein zu ersäufen, aber vergebens. Als der Gartenknecht eines Morgens ganz früh in das Orangeriehaus trat, hing der alte Couturier in seinem hellblauen Sonntagsrocke vom Balken herab. Er hatte sich zu diesem letzten Schritte festlich herausgeputzt. 127

Fast noch mehr Betrübniß als dies tragische Ereigniß, das uns nicht sehr anfocht, erregte die zunehmende Kränklichkeit und Schwäche des guten Wasser; als wir ihn eines Morgens in seiner Hütte todt fanden, wurde bedeutend viel geweint. Wir begruben ihn an der Gartenmauer hinter einer dichten Ulmenhecke. Ich wußte damals schon mit Säge und Hobel umzugehn, und zimmerte einen Stab mit hölzerner Tafel, die auf schwarzem Grunde die weiße Inschrift trug: Hier liegt Wasser, zehn Jahre lang unser treuer Hund und Freund.

Der Schulbesuch vom großen Garten aus war schon in jener Zeit, obgleich der Verkehr auf den Straßen weit hinter dem jetzigen zurückstand, nicht ohne Beschwerde. In den ersten Jahren wurden wir durch den Bedienten Wilhelm geführt, aber bald emancipirten wir uns.

Die Lehmgasse war nur in ihren Anfängen an der Contrescarpe (jetzt Alexanderstraße) gepflastert; gegen den Grünen Weg hin hörte der feste Boden auf, und da gewährte uns bei Regenwetter ein geschicktes Springen und Hüpfen von Stein zu Stein die gröste Lust. Die Stralauer Straße besaß eine große Menge von Ausspannungen für die Bauern der östlichen Umgegend, die Mittwochs und Sonnabends ihre Früchte auf den Molkenmarkt brachten. Viele Häuser waren mit Rampen oder steilen Auffahrten versehn; auf den Bürgersteigen ging man daher unaufhörlich bergauf und bergab; auf dem Damme standen zu beiden Seiten die mit kleinen Ochsen oder Pferden bespannten Bauerwagen. Dies Pygmäengeschlecht von Vierfüßern, ein achtes Produkt der sandigen Mark, scheint jetzt gänzlich ausgestorben und durch eine größere Zucht ersetzt zu sein. Von den winzigen Pferden waren gewöhn -128 lich vier, mit leinenen Decken behangen, neben einander gespannt. Die Statur der Ochsen war so niedrig, daß ein Knabe im Vorbeigehn ein Horn erfassen und einen Augenblick lang in der Hand halten konnte, ehe das langsame Thier durch eine Kopfbewegung sich losmachte.

Dies Manöver gewährte Fritzen ein ganz besonderes Vergnügen, und er wiederholte es so lange, bis ein unruhiges Thier ihm einen tüchtigen Stoß in die Hand versetzte.

Auch liebte er es, an einen neben den Wagen stehenden Bauern ganz ernsthaft die höfliche Frage zu richten: Monsieur, quelle heure est-il, s’il vous plait? worauf denn meistentheils eine verlegene, oft auch eine grobe Antwort erfolgte.

Bei dem Drängen durch das Gewühl des Molkenmarktes ging Fritz natürlich voran, und wußte die Schulmappe sehr gewandt bald als Schild und Brustwehr gegen die schweren Obstkörbe, bald als Mauerbrecher durch die Knäuel der Hökerweiber zu benutzen.

Nun war der Mühlendamm erreicht, in dessen bedeckten Gängen wir uns etwas erholten, und die kostbaren Waarenmagazine bewunderten, die damals für die ersten und elegantesten in Berlin galten. Die vornehme Firma einer Seidenhandlung König und Herzog zog uns ganz besonders an; wir glaubten, daß hier auch die herrlichsten Waaren sich finden müßten.

Eine schwierige Passage bot noch der Kölnische Fischmarkt, der später nach der Inselbrücke verlegt ward: denn damals drängten sich die Fässer mit den zu verkaufenden Fischen bis weit in die Straße hinein, und gegenüber standen gewöhnlich lange Wagen mit riesigen Mehlsäcken, die129 über den Bürgersteig ab - und aufgeladen wurden. Indessen auch dies Hinderniß ward überwunden, und der ganze Weg bis zur Brüderstraße, den mein Vater mehr als einmal mit 3300 Schritten ausgemessen, meist in einer halben Stunde vollendet.

Während der freien Zeit von 12 2 Uhr konnten wir uns in der Brüderstraße mit einigen Nachbarskindern, die sich gern zu uns hielten, in Hof und Garten, im Keller, auf dem Boden und in den Hinterräumen der Buchhandlung herumtreiben. Im kleinen Garten durften wir aus den dichten Büschen der Kornelle die schlanksten Ruthen schneiden, mit denen auf dem Hofe Schlachten geliefert wurden.

Es stand auch ein großer Pflaumenbaum im Garten, der aber den Kindern mehr zur Qual als zur Freude gereichte. Er setzte alljährlich eine Menge der schönsten blauen Pflaumen an, allein sobald sie zu reifen begannen, war auch schon eine Made darin; sie fielen ab und verfaulten, ohne daß wir jemals eine eßbare Frucht erhielten. Dies Phänomen wiederholte sich alle Jahre, trotzdem daß die Raupen sorgfältig abgelesen, der Stamm mit einem Ringe von Theer eingefaßt, und im Frühjahr mit Taback angeräuchert ward. Dafür gewährten die Früchte eines großen Wallnußbaumes in den Herbsttagen eine reiche Erndte. Dieser Wallnußbaum war von der Urgrosmutter Schaarschmidt im Jahre meiner Geburt (1798) gepflanzt worden. Da er im Schatten zweier hohen Wände stand, so schoß er schnell in die Höhe, um das freie Himmelslicht zu erreichen. Der Grosvater Nicolai ließ ihn mit einer Kette an der Wand befestigen, damit der Sturm ihn nicht umreiße. Trotz dieser künstlichen Erziehung wuchs er so lange fort, bis die Spitzen der obersten Zweige das130 Dach überragten. Nun hatte er Ruhe, er ward von der Kette befreit, bildete eine mächtige Krone, und trägt noch immer die reichlichsten Früchte.

In der Niederlage der Buchhandlung fanden wir Papierballen bis fast an die Decke aufgeschichtet. Fritz schlug vor, sie als Festung zu benutzen, zu belagern und zu vertheidigen. Dies ward mehrere Male mit Eifer ausgeführt, bis zuletzt ein Papierballen von oben herabfiel und auseinander stäubte. Ich war halbtodt vor Angst: denn wir konnten nicht daran denken, ihn in seine frühere Form zurückzubringen, und verborgen konnte die Sache unmöglich bleiben. Aber Fritz wußte Rath; er ging ganz unbefangen in das vordere Komtoir, und erzählte als eine interessante Neuigkeit, wie wir hinten in der Niederlage gespielt, und wie da ganz von selbst ein Ballen herabgefallen und aufgegangen sei. Ich hatte mich unterdessen schon aus dem Staube gemacht: denn ich war viel zu verlegen und zu beschämt, um bei einer solchen Umgehung der Wahrheit die Hand zu bieten. Der gütige Geschäftsführer, Herr Ritter, ein älterer Bruder des großen Geographen, versuchte zwar ein strenges Gesicht zu machen, ließ aber bald die Sache durch den Markthelfer in Ordnung bringen. Seitdem war es mit den Festungsbauten vorbei.

Ich stöberte nun in den gebundenen Büchern, die der Grosvater aus seiner Privatbibliothek, weil ihm oben der Platz fehlte, in die Niederlage gebracht. Es waren meist ältere bändereiche Zeitschriften, die für Kinder wenig Interesse hatten; allein die Folioausgabe von Wielands Musarion wurde wegen der zierlichen Kupfer oft betrachtet Das meiste Entzücken erregte ein großes Blatt in: Denon, Voyage en Egypte, die Schlacht bei den Pyramiden. Das131 wüthende Anprallen der wilden ungeordneten Mamluckenreiter gegen die unscheinbaren festgeschlossenen Vierecke der französischen Infanterie ist darauf in lebendigster Weise dargestellt.

Auf dem Hausflur sahen wir über der Thür zum Buchladen das ovale Brustbild eines alten blinden Mannes hangen. Es trug die Umschrift omhpoc, die man nach dem lateinischen Alphabete nicht anders als Ompok aussprechen konnte. Als ich in Grostertia das Griechische lernte, und dadurch den anderen Spielgenossen vorauskam, wußte ich mir nicht wenig damit, sie belehren zu können, daß dies Homeros auszusprechen sei. Das Oelbild besitze ich noch; es ist von Bernhard Rode, und nicht ohne Verdienst. Ein danach gemachter, sehr roher Holzschnitt gereicht den Titelblättern der Allgemeinen Deutschen Bibliothek mehr zur Unzierde als zum Schmucke.

Während der heißen Sommermonate aßen wir Mittags in der Stadt mit dem Grosvater Nicolai und den drei Herren aus der Buchhandlung in einem kühlen Parterresaale, der unmittelbar neben dem kleinen Hausgarten in einem Seitengebäude lag. Drei Glasthüren gingen bis auf den Boden herab, und ließen die warme Sommerluft einströmen. Wir durften hier noch weniger mitsprechen als bei den winterlichen Abendessen; es ging daher manchmal, wenn der Grosvater nicht zum Reden aufgelegt war, so still bei Tische zu, daß man das Summen der Bienen in den hohen Lindenbäumen deutlich hörte; auch wagte sich wohl ein naseweiser Sperling bis auf die Schwelle heran. Die Erinnerung an diese ruhigen Mahlzeiten giebt mir noch immer das behagliche Gefühl des sichern Schutzes im gewölbten Zimmer vor der brennenden Sonnenglut draußen. 132Manchmal blieb auch mein Vater zu Tische, oder ein andrer gelegentlicher Gast. Dann durften wir uns schon etwas mehr regen, entschlüpften jedoch so bald als möglich, um die freie Viertelstunde vor der Nachmittagsschule noch im Garten zuzubringen.

Um 5 Uhr wanderten wir wohlgemuth mit den Schulmappen nach der Blumenstraße hinaus; da um diese Stunde das Gewühl des Marktes vorüber war, und wir keine so große Eile hatten als des Morgens, so wurden auf diesem Rückwege alle Sehenswürdigkeiten in Augenschein genommen. Am Anfange des Mühlendammes befand sich damals ein Bilderkram mit vielen bunten Holzschnitten aus der Druckerei von Littfaß. Unter diesen erregten die Schlachtenbilder die meiste Aufmerksamkeit. Sie waren in sehr primitiver Weise dargestellt. Auf jeder Seite stand eine gerade Reihe feuernder Infanterie, perspektivisch nach hinten verjüngt, daneben einige galloppirende Reiter und ein paar Kanonen. In der Mitte des Hintergrundes ragten über dem massiven Pulverdampfe die rothen Thürme eines Dorfes oder einer Stadt hervor. Beigedruckte Zahlen bezogen sich auf die mit großer Schrift darunter gesetzten Erklärungen. Fritz begnügte sich meistens die Titel zu lesen, und wollte dann weiter, ich war aber nicht eher vom Flecke zu bringen, als bis ich bei den neu hinzukommenden Blättern die ganze Erklärung durchstudirt.

Das älteste Stück, dessen ich mich deutlich entsinne, ist die Schlacht bei Austerlitz (2. Dec 1805). Rechts prangte vor der Infanterie ein Reiter im grünen Rocke als Kaiser Napoléon, links ein zweiter im grünen Rocke als Kaiser Alexander von Rußland, daneben ein dritter in weißem Rocke als Kaiser Franz von Oestreich. Deshalb133 hieß in den Gesprächen unserer französischen Einquartirung diese Schlacht la bataille des trois empereurs.

Im folgenden Jahre sahen wir in ähnlicher Weise die Schlacht bei Jena (16. Okt. 1806) dargestellt, wo dem grünen Kaiser Napoléon der blaue König von Preußen gegenüberstand. Große Theilnahme erregte das unglückliche Reitergefecht bei Saalfeld (10. Okt. 1806), in welchem der blaue Prinz Louis Ferdinand durch einen grünen französischen Chasseur vom Pferde gestochen wurde.

Im Jahre 1807 lernten wir die Schlachten von Auerstädt und Eilau kennen. Der Friede von Tilsit (8. Juli 1807) zeigte wieder drei Monarchen, die beiden grünen Kaiser von Frankreich und Rußland, und den blauen König von Preußen auf dem Flosse über dem Niemen sich die Hände reichend.

Für das Jahr 1808 lieferte der spanische Feldzug einige nicht sehr bedeutende Blätter; ich erinnre mich nur, daß die Spanier braun gekleidet waren, und daß die Dächer der Städte in besonders flammendem Roth glühten.

Desto ergiebiger war das Jahr 1809 mit den Schlachten von Ulm, Eckmühl, Aspern und Wagram. Diese letzte war auf größerem Formate dargestellt, und der weiße Erzherzog Karl nahm sich gegenüber dem grünen Kaiser Napoléon ganz stattlich aus.

Die Jahre 1810 und 1811 gewährten Waffenruhe, und als das verhängnißvolle Jahr 1812 mit dem russischen Feldzuge herankam, waren wir schon im Zeichnen zu weit vorgerückt, um an den rohen Holzschnitten noch rechten Gefallen zu finden.

Wenn ich bedenke, mit welchem Eifer die fliegenden Blätter aus dem dreißigjährigen und siebenjährigen Kriege134 jetzt von den Kunstkennern gesammelt werden, so sollte ich meinen, daß eine vollständige Reihe der Holzschnitte von Littfaß, als gleichzeitiger Volksblätter aus jener nicht minder merkwürdigen Zeit von großem kunsthistorischem Interesse sein könne.

Nachdem Fritzens Ungeduld mich vom Mühlendamme weiter getrieben, belustigten wir uns, die vielen Schilder in der langen Stralauer Straße zu lesen, und konnten sie bald der Reihe nach auswendig. Eines davon erregte bei zunehmender Kenntniß des Lateinischen große Heiterkeit; es stand darauf: Keitel medior, Gelbgießer. Seitdem wir nämlich gelernt, daß das sonst gebräuchliche senior und iunior ganz unlateinisch sei, und daß man dafür maior natu und minor natu setzen müsse, so erschien uns dieses medior als etwas ganz ungeheuerliches. Wir verweilten auch wohl an der Aufschwemme (wo jetzt die Jannowitzbrücke steht), wenn gerade ein mächtiger Kiefernstamm von 3 oder 4 Pferden aus dem Wasser ans Land geschleppt ward. Fritz fand ein besonderes Vergnügen daran, sich hinter einen Kellerhals zu verstecken, und einen harmlos vorübergehenden Jungen unvermuthet anzubrüllen; allein das Schimpfen, welches gewöhnlich darauf folgte, war mir so sehr in der Seele zuwider, daß ich nicht eher ruhte, als bis er diese üble Gewohnheit abgelegt.

Bogen wir nun zuletzt von der Contrescarpe in die ländliche Lehmgasse ein, so sahen wir bald unser liebes Weberchen an ihrer gewohnten Zaunecke stehn. Es war dies eine arme Zwergin, namens Weber, von der Größe eines achtjährigen Kindes. Ihre Füße waren so schwach, daß sie auf zwei winzigen Krücken ging, aber das Stehen wurde ihr nicht sauer; sie stand den ganzen Tag an der135 Ecke beim Winkel-Bouché mit einem Strickzeuge in der Hand. Sie mochte 30 oder 40 Jahre haben, aber ihr blasses Gesichtchen zeigte nicht den widerwärtigen Zwergen-Ausdruck. Ein schneeweißes Häubchen bedeckte den kleinen Kopf, über dem Kattunkleidchen trug sie eine reinliche Schürze. Obgleich in den dürftigsten Umständen, bettelte sie nie, nahm aber jede Gabe dankbar an. Ihr freundlich gelispeltes ich danke, mein Engelchen! wenn wir ein Geldstück in ihr Kinderhändchen legten, hatte einen unbeschreiblich wohlwollenden Ausdruck. Später mußte ich recht oft an sie denken, wenn ich die wächsernen Götzenbilder der Mutter Maria in den katholischen Kirchen Italiens betrachtete. Als Kinder hielten wir Weberchen für eine Wetterprophetin. Sahen wir sie bei drohendem Himmel an ihrer Ecke, so regnete es an diesem Tage nicht, Sturm und Regen erwarteten wir, wenn sie sich in ihr Häuschen zurückzog, das nur wenige Schritte von ihrem Standorte gelegen, durch die allmälige Erhöhung des Pflasters 4 oder 5 Stufen in die Erde versunken war.

Im großen Garten angekommen, war unsre erste Frage nach dem Vesperbrodt; sobald wir von der Mutter den erbetenen Helling erhalten, eilten wir mit meiner Schwester durch das Wäldchen in den hinteren obstreichen Theil, wo wir so lange verweilten, bis der Vater durch sein helles Pfeifchen uns in den Saal zum Abendbrodte rief. Gewöhnlich waren ein paar Gäste aus der Stadt zugegen, denen wir Abends beim Abschiede, in Begleitung des treuen Wasser, bis an die Ecke des Grünen Weges das Geleit geben durften. Gingen wir in der lauen stockfinstern Sommernacht die stille Lehmgasse zurück, so erweckte ein Blick nach oben in den funkelnden, weitausgespannten136 Sternenhimmel ein unnennbares Ahnen der Unendlichkeit. Manchmal fanden wir den Vater noch im Hofe, oder auf der steinernen Hoftreppe, die vor dem Hause frei nach Westen gelegen einen weiten Horizont hatte. Er nannte uns die Namen der bedeutendsten Sternbilder, zeigte uns den Doppelstern im großen Wagen, und lehrte uns den Polarstem finden, indem man eine gerade Linie durch die beiden Hinterräder des großen Wagens zieht. Da er sah, daß ich große Lust an diesen Studien hatte, so brachte er aus der Stadt Bode’s Kenntniß des gesternten Himmels, ein nützliches Werk, das in vielen Auflagen im Nicolaischen Verlage erschienen war, und bald lernte ich die Himmelserscheinungen nach den einzelnen Monaten kennen.

An unsern Garten stieß gegen Westen der Garten des Direktors Bellermann vom Grauen Kloster, in dem eine lombardische Pappel von 80 oder 90 Fuß Höhe hervorragte. Als nun im Herbste 1811 der große Komet erschien, der im Jahre 1812 auf den Untergang des französischen Heeres in Rußland gedeutet wurde, so erblickte man ihn von der Steintreppe unseres Hofes aus, in den Stunden nach Sonnenuntergang, gerade rechts von der Bellermannschen Pappel, die gleichsam einen Maasstab für die gewaltige Länge des feurigen Schweifes abgab, der beinahe senkrecht in die Höhe stieg. So viele Kometen ich auch später gesehn, so blieben sie alle an Größe und Helligkeit weit hinter dem von 1811 zurück, namentlich war der berühmte Halleysche Komet, den wir bei seiner Wiederkehr im Jahre 1835 auch im großen Garten beobachten konnten, gar nicht mit dem von 1811 zu vergleichen. Dieser letzte brachte überdies einen vortrefflichen Wein, den berühmten Eilfer Kometenwein , an dem jedoch der137 glänzende Schwanzstern den geringsten Antheil haben mochte. Das Wetter war in diesem ganzen Sommer von einer merkwürdigen Beständigkeit. Die Tage waren warm vom März bis in den November; im Juli und August kam fast alle Abend ein Gewitter, um die Luft zu erfrischen und die Erde zu tränken. Da mußten die Trauben wohl reifen.

Wenn die Abende kühler wurden, so begann die Zeit des Kaminfeuers, und damit eine neue Lust für die kindlichen Seelen. Der Kamin im Gartensaale trat mit einem flachen Simse aus der Wand hervor, und die Feuerung geschah nicht wie bei anderen Kaminen an der Erde auf einer breiten steinernen Grundlage, sondern in einem mäßig großen Kugelabschnitte in der Mauer. Die Asche fiel unten durch einen Rost, und ein niedriges eisernes Gitter verhinderte das Herausfallen des Holzes. So senkten die Scheite beim Abbrennen sich immer wieder zusammen, und gaben auf dem Roste die schönste Kohlenglut. Mit welchem Eifer wurden die selbstgesägten Klötze aus dem Holzstalle herbeigeholt und wie kunstreich schichtete der Vater den kleinen Scheiterhaufen von den übers Kreuz gelegten Stücken! Fritz ließ es sich nicht nehmen, mit der Feuerzeugpistole Licht zu machen, und bald knisterten die Reiser in rasch angefachter Glut. Eilten wir dann noch einmal in den Hintergarten, um bis in die Dunkelheit hinein eine Nachlese an den entlaubten Pflaumenbäumen zu halten, so leuchtete uns beim Zurückkehren nach dem Grasplatze schon von fern die Flamme des Kamins entgegen.

Fritz wollte von einem Schulkameraden erfahren haben, daß reife Kastanien, in die glühende Asche gelegt, mit einem gewaltigen Knalle zerplatzten. Nach vielen Bitten138 erhielt er die Erlaubniß, dies in unserem Kamine zu versuchen; der Knall war zwar nicht so stark, als wir vermutheten, doch immer heftig genug. Dies Vergnügen wurde so lange fortgesetzt, als es im Garten reife Kastanien gab, aber zuletzt durch ein scharfes Verbot untersagt, nachdem eine vergessene Kastanie, vermuthlich von langsamer Hitze ganz ausgehöhlt, durch einen unvermutheten Pistolenschuß in später Abendstunde die ganze Gesellschaft aufgeschreckt.

Vor dem Schlafengehn wurden alle Thüren des einzeln stehenden Hauses verschlossen und verriegelt. Mein Vater schloß die starken hölzernen Läden der drei Glasthüren im Saale, und schob vor jede einen dicken Balken in die Mauer. Dies gab ein unbeschreiblich behagliches Gefühl der häuslichen Sicherheit; doch erinnere ich mich nicht, jemals von einem nächtlichen Einbruche oder Diebstahl in der ganzen Nachbarschaft gehört zu haben.

Das friedliche Gartenleben ward einst durch ein trauriges Ereigniß unterbrochen. Am 19. September 1809 wurde Fritzens Geburtstag durch ein kleines Feuerwerk verherrlicht, das der Gärtner auf dem großen Rasenplatze veranstaltete. Die Ausführung war zwar sehr mangelhaft, die Feuerräder wollten sich nicht drehen, die Raketen hatten zu schwere Stäbe, und blieben, von einem heftigen Westwinde gefaßt, in den hohen Pappeln hangen, die Leuchtkugeln leuchteten nicht. Dennoch erfreuten wir uns herzlich daran und gingen sehr vergnügt zu Bette.

Bald wurden meine Aeltern durch Feuerlärm geweckt, der damals auf die verkehrteste, ja unsinnigste Weise ausgeführt ward. Sobald irgend ein Nachtwächter einen Feuerschein sah oder zu sehn glaubte, so stieß er ins139 Horn; ihm folgte sogleich der zweite, diesem der dritte, und so fort, bis die Nachtwächter der ganzen Stadt ein melancholisches Geheul in der kleinen Terz oder übermäßigen Sekunde ausführten. Fuhren nun die erschreckten Bürger ans Fenster und fragten den nächsten Nachtwächter, wo das Feuer sei, so erhielten sie unfehlbar die Antwort: Ik weeß nich! und der Lärm dauerte so lange, bis er sich am Ende von selbst verlor. Am nächsten Tage las man dann in den Zeitungen, es habe vor irgend einem Thore oder in Charlottenburg gebrannt.

Diesmal aber wollte der Lärm gar nicht aufhören, und bald brachten die ausgeschickten Dienstleute die Nachricht, daß die Petrikirche brenne. So unglaublich dies anfangs schien, so ward es doch immer mehr bestätigt. Da die Petrikirche kaum einige hundert Schritte von unserm Hause in der Brüderstrasse entfernt ist, so hielt mein Vater es für seine Pflicht nach der Stadt zu gehn, um dem Grosvater Nicolai hülfreich zu sein. Er ging fort und ahnete nicht, daß unterdessen die Gefahr auch nach unsrer Seite hin sich verbreiten werde.

Nach nicht langer Zeit sahen die aufmerksamen Gärtnerleute aus der Dachluke einen näheren Feuerschein, und nun kam die Kunde, daß auch der Waisenthurm brenne, der ungefähr in der Mitte zwischen der Petrikirche und dem Hause in der Lehmgasse liegt. Bald wurde die Glut noch heftiger, und einzelne Feuerfunken flogen über das Haus. Nun weckte die Mutter die drei ältesten Kinder, und fing an, die nöthigsten Sachen einzupacken. Wir schaarten uns um sie, und sahen durch die Scheiben der Mansardstube mit Grauen nach dem fernen Brande, der immer größere Dimensionen anzunehmen schien. Fritz,140 eine leicht erregbare Natur, bebte vor Angst, und sah in seinem weißen flanellenen Schlafröckchen recht bemitleidenswerth aus; wir beide, meine Schwester und ich, waren ruhiger, und sorgten uns nur um den Vater, den Grosvater und Tante Jettchen.

Der zum Sturm herangewachsene Westwind trug immer mehr Funken durch die Luft, und bald fielen glühende Kohlen auf das Dach. Der Gärtner ward mit einem Eimer Wasser hinaufgeschickt und löschte; der Gartenknecht, welcher nicht im Hause wohnte, aber aus alter Anhänglichkeit herbeigekommen war, postirte sich auf dem Heuboden. Sowohl das Haus als auch die Stallungen trugen Ziegeldächer; es war also bei einiger Aufmerksamkeit nichts zu besorgen.

Endlich ward der Feuerschein geringer, und der Kohlenregen hörte auf. Beide Thürme, so lauteten die Nachrichten der aus der Stadt Zurückkehrenden, seien eingestürzt. Damit war die Gefahr für uns vorüber. Gegen Morgen brachte die Mutter uns wieder zu Bette, und in glücklicher Jugend holten wir den verlornen Schlaf nach.

Unterdessen hatte mein Vater die Brüderstraße nicht so schnell erreicht, als er hoffte. Die Behörden hatten sehr viel Militär requirirt, und einen großen Bogen um die brennende Petnkirche, und später um die Waisenkirche absperren lassen. Diese Sperre mochte nöthig sein, aber sie wurde mit so rücksichtsloser und unnöthiger Strenge gehandhabt, daß oft die nächsten Nachbarn nicht zu einander kommen konnten, um sich Hülfe zu leisten. Mein Vater versuchte an mehreren Punkten durchzudringen, allein immer vergebens; er machte mehrere große Um -141 wege, und gelangte endlich, als schon der Tag anbrach, nach der Brüderstraße.

Hier war glücklicherweise die gröste Gefahr schon vorüber. Wenn das Feuer im Innern der Petrikirche eine solche Richtung nahm, daß der Thurm in die Brüderstraße fiel, so war allerdings das Schlimmste zu fürchten; doch gegen Mitternacht stürzte der Thurm in sich selbst zusammen, und nun konnte man hoffen, des Brandes Meister zu werden.

Als mein Vater in das Hinterhaus nach der Stube des Grosvaters eilte, trat ihm dieser an der Schwelle des Zimmers festlich gekleidet entgegen. Er trug einen blauseidnen Rock mit goldnen Knöpfen, eine Brokatweste, die feinste Brüsseler Hemdkrause, seidne Unterkleider und die elegantesten Schnallenschuhe. Ueberrascht trat mein Vater zurück, und fragte, was diese Pracht zu bedeuten habe? Nun, erwiederte der Grosvater ruhig, wenn etwas verbrennen soll, so ist es besser, daß das schlechte verloren gehe, als das gute. Ich habe meine besten Kleider angelegt, unten im Hofe steht ein angespannter Wagen, worauf mein Vorrath an baarem Gelde, meine Papiere und die nothwendigsten Handlungsbücher liegen. Meine Bibliothek und meinen Hausrath kann ich nicht retten; wenn es Gottes Wille ist, daß sie verbrennen, immerhin! Ich bin darauf gefaßt.

Voll Bewunderung über diese ächte Lebensphilosophie des 75jährigen Greises ging nun mein Vater nach seiner eignen Wohnung hinunter, um zum rechten zu sehn. Tante Jettchen hatte angefangen, einige Koffer voll Wäsche zu packen, aber bald kamen von mehreren Seiten beruhigende Nächrichten; man hatte für die nächste Zukunft nichts142 mehr zu fürchten. Gegen Morgen setzten sich alle drei in des Grosvaters Stube zum Thee nieder. So gut als dieser Thee habe ihm lange keiner geschmeckt, hörte ich noch oft meinen Vater sagen.

An den folgenden Tagen erfuhr man allerlei über die Entstehung und den Verlauf des Brandes. Die Petrikirche, ein unschönes Gebäude aus der Zopfzeit, war nach der damaligen Unsitte rings mit Krämerbuden beklebt. Die Handwerksleute brachten in der Nacht, gegen ein Trinkgeld an den Küster, ihre Geräthschaften in die Kirche, weil sie dort sichrer waren. Die Hökerinnen bedienten sich der sogenannten Feuersorgen, blecherner, mit glühenden Kohlen gefüllter Töpfe, die unter die Sitzbank gestellt wurden. Muthmaslich war eine solche, noch nicht erloschene Feuersorge mit der Sitzbank unter die hölzerne Kirchentreppe geschoben worden, und hatte so den Brand von unten auf veranlaßt.

Der Dachboden der Kirche wurde als Magazin vermiethet, und mehrere Buchhandlungen, zu denen die Nicolaische nicht gehörte, hatten dort Niederlagen. Diese Vorräthe gingen alle im Feuer auf, und bei dieser Gelegenheit sah ich eine Art der Verkohlung, an die ich beim Anblick der Herculanischen Rollen auf das lebhafteste zurückerinnert wurde. Eine Lage Druckbogen war dergestalt verkohlt, daß man ganze Oktavblätter unversehrt vorfand, und auf dem schwarzen Grunde die noch schwärzere Schrift ohne alle Mühe lesen konnte.

Als der Petrithurm in vollen Flammen stand, trug der Sturm einen brennenden Splitter auf das Dach des hölzernen Waisenthurmes, der nun auch im Feuer aufging. Die ganze dazwischen liegende Stralauer Straße hielt man143 für verloren, aber es wurden nur einige Häuser beschädigt. Ein Menschenleben war nicht zu beklagen. Der Kohlenregen war so anhaltend, daß in dem Theile der Spree hinter der Stralauer Straße einzelne im Wasser stehende Pfähle wie Lichter brannten.

Noch lange Zeit nachher hatte Fritz von den Neckereien des Grosvaters Eichmann zu leiden. Dieser behauptete nämlich, der Brand sei durch eine Rakete des vorigen Abends entstanden, und das Feuerwerk sei an allem Unglücke Schuld, wogegen Fritz sich mit vielem Eifer vertheidigte.

Die Umfangsmauern der Kirche blieben viele Jahre als gewaltige Ruine stehn. Sie wurden dann zum Abbruche verkauft, und der Platz mit Bäumen bepflanzt, die aber nie recht gedeihen wollten, weil man den Schutt nicht tief genug aufgeräumt; doch war der Platz für die Kinder der zunächstgelegenen engen Straßen als eine große Wohlthat zu betrachten. Aus dem Erlöse des Verkaufs sammelte man, Zinsen auf Zinsen schlagend, ein Kapital, von dem die jetzige Kirche, eine wahre Zierde der Stadt, durch Strack aufgeführt ward.

Zwar erhoben sich manche Stimmen gegen den Wiederaufbau an dieser Stelle. In anderen großen Städten, wie Paris und London, verwende man Millionen darauf, um freie Plätze zum Heile der Umwohnenden zu schaffen, hier wolle man einen vom Schicksal selbst geschenkten Platz zubauen, auf dem die Jugend der Nachbarschaft sich so fröhlich tummle. Fromme Gemüther wiesen auf den Umstand hin, daß die Kirche nun schon zum zweiten Male, zuerst unter Friedrich Wilhelm I. (1730) durch einen Blitzstrahl entzündet abgebrannt, und bald darauf (1734) der neuerbaute144 Thurm eingestürzt sei. Augenscheinlich ruhe also der Segen des Himmels nicht auf dieser Stelle. Doch entschied zuletzt für den Wiederaufbau der Umstand, daß man keinen andern Platz finden konnte.

Von jenem ersten Brande erzählten uns alte Leute, deren Jugendtraditionen wohl so weit hinaufreichen konnten, eine verwunderliche Geschichte, die den heftigen Sinn des Königs Friedrich Wilhelms I. karakterisirte. Während des Wiederaufbaues der Kirche hatten die Zimmergesellen einen Aufstand gemacht und höheren Lohn verlangt. Es waren arge Excesse verübt worden, die Sache kam an den König, und er schickte von Wusterhausen aus an die Behörde einen fulminanten, eigenhändigen Befehl, worin unter andern stand: Rädel soll hängen, ehe ich nach Berlin zurückkomme. Unter den Zimmergesellen befand sich kein Rädel, allein der Befehl des Königs mußte unweigerlich vollzogen werden. Man verhaftete also einen Offizier der Garnison, Namens Rädel, der gar nicht betheiligt war, und hätte ihn vermuthlich aufgehängt, wenn nicht die Sache sich dahin aufgeklärt, daß der König habe schreiben wollen: Rädelsführer soll hängen. Dies hatte zur Folge, daß ein rothhäriger Zimmergesell, der vielleicht ganz unschuldig war, zum Rädelsführer gestempelt, und an demselben Tage zur Genugthuung des zurückgekehrten Königs aufgeknüpft ward.

Noch manche andere Erzählungen von dem ungestümen Wesen Friedrich Wilhelms I. lebten im Munde der Berliner fort und wurden bei solchen Anlässen aufgefrischt. Da er selbst ein äußerst thätiger Mann war, so haßte er allen Müßiggang, und verlangte, daß auch seine Unterthanen immerfort arbeiten sollten. Eines Abends ging er,145 ein großes spanisches Rohr in der Hand, durch die Brüderstraße, und sah einen Glasermeister ruhig vor seiner Thür stehn. Warum arbeitet er nicht? fuhr ihn der König an. Majestät, ich habe gerade nichts zu thun. Ich will ihm was zu thun geben. Und sofort schlug er mit dem spanischen Rohre in den nächsten Parterrefenstem eine große Anzahl Scheiben ein. Da hat er was zu thun, und morgen schick er mir die Rechnung!

Von einem alten Bürger vernahmen wir folgende etwas bedenkliche Geschichte, die zur Karakteristik der damaligen Zeit dienen kann. Friedrich Wilhelm I. war bekanntlich sehr ernsten Sinnes und für gewöhnlich nicht zu Späßen auflegt. Wenn er aber dergleichen ausführte, so waren sie von sehr derber Natur. Während des Karnevals gab er im großen Redoutensaale des Schlosses einige Maskenbälle, auf denen es sehr lustig herging. Der Hof saß auf einer erhöhten Balustrade, und an allen Eingängen standen Grenadire, um jeden Exceß niederzuhalten. Einstmals hatte der König sich einen papiernen Domino machen lassen, der von oben bis unten mit kleinen runden Aniskuchen beklebt war, deren jeder eine sehr starke Laxanz enthielt. Damit mischte er sich wohlmaskirt unter das Publikum. Es dauerte gar nicht lange, bis eine vorwitzige Maske einen Kuchen abriß und verzehrte; andre folgten nach, und bald war der Domino leer. Der König schickte nun an alle Schildwachen den gemessenen Befehl, binnen einer Stunde keinen Menschen aus dem Saale zu lassen, zog sich in seine Loge zurück, und wartete die Wirkung dieses königlichen Spaßes ab.

Dergleichen Anekdoten wurden begierig aufgefaßt,146 und bei solchen Gelegenheiten erfuhren wir von den alten mittheilsamen Bürgersleuten, daß jeder preußische König einen Beinamen im Volke habe.

Friedrich I. hieß der schiefe König, weil er verwachsen war.

Friedrich Wilhelm I., der schnüfflige König, weil er durch die Nase sprach.

Friedrich II., der große König oder der alte Fritz.

Friedrich Wilhelm II., der dicke König, wegen seines ungemein stattlichen Bauches.

Friedrich Wilhelm III. hatte damals noch keinen Beinamen. Später erhielt er von einigen Schmeichlern den des Gerechten, doch zweifle ich, daß dieser Name im Volke Wurzel fassen werde; wenigstens erregten in meiner Jugend die überaus harten Demagogenverfolgungen bei allen Ständen den Eindruck der grösten Ungerechtigkeit.

Zwar hatte man auch von dem großen Könige manche Züge der Eigenmächtigkeit behalten, allein sie verschwanden wie Sonnenflecken vor dem Glanze seines Ruhmes. Die Geschichte von dem Müller Arnold wurde mit den abentheuerlichsten Zusätzen herumgetragen, die mir nicht mehr erinnerlich sind. Des Verfahrens gegen den reichen Ephraim wurde nicht ohne einiges Behagen erwähnt, weil es dem damals noch sehr kräftigen Judenhasse der Berliner zusagte.

Ephraim war bekanntlich während des siebenjährigen Krieges von dem Könige zu allerhand, mehr als zweideutigen Operationen benutzt worden, die sich kaum durch eine große finanzielle Bedrängniß rechtfertigen lassen. Die schlechten Zweigroschenstücke, Ephraimiten genannt, mit dem fast unkenntlichen Bildnisse des Königs, waren147 in meiner Jugend noch nicht ganz aus dem Verkehr verschwunden, und wurden als Curiositäten vorgezeigt. Ephraim hatte nicht nur ein großes Vermögen erworben, sondern überdies nach Beendigung des Krieges vom Könige die Erlaubniß erhalten, sich an der Ecke des Mühlendammes ein Haus zu bauen. Dies geschah, und das durch seine Säulenstellung mit den darüber angebrachten Balkonen vor allen Nachbargebäuden ausgezeichnete Haus heißt nach allem Wechsel der Eigenthümer immer noch das Ephraimsche. Bei einem Spazierritte durch die Stadt kam der König einst in diese Gegend, hielt voll Verwunderung vor dem neuen Gebäude still, und sah durch den Thorweg die elegante gewundene Treppe mit dem eisernen Geländer. Wem gehört das Haus! Dem Banquier Ephraim. Soll herkommen. Ephraim erscheint voller Freude, und dankt für die hohe, ihm widerfahrene Ehre. Ich habe ihm erlaubt, sich ein Haus zu bauen, wie kann er sich unterstehn, mir ein Palais hieherzusetzen? Stammelnde Entschuldigung. Das ist ganz gegen die Abrede; von Rechtswegen müßte ich ihm das Palais wieder abnehmen, das er doch nur mit meinem Gelde gebaut hat. Doch mag es darum sein; aber das Potsdamer Militärwaisenhaus hat 40,000 Rthlr. zur ersten Hypothek darauf stehn. Schicke er mir den ausgefertigten Hypothekenschein, dann kann er das Palais behalten!

148

Nicolais Tod. Umzug in den ersten Stock.

An Nicolais letztem Neujahrstage (1811) hatte Iffland eine kleine musikalische Feier veranstaltet. Am Morgen versammelte sich eine Auswahl des Theaterchores im Bibliotheksaale, und als Nicolai nach 8 Uhr aus der Schlafstube in sein Wohnzimmer trat, wurde er mit einem schönen vierstimmigen Chorale empfangen. Es folgten noch andre Musikstücke, die in dem großen, akustisch sehr glücklich angelegten Raume die beste Wirkung thaten. Der Grosvater war sichtlich bewegt, weil er Vokalmusik besonders liebte, und dankte dem Iffland mit den herzlichsten Worten.

Unter den Sängern hatte das kunstgeübte Ohr meines Vaters eine schöne Baßstimme bemerkt. Er erkundigte sich danach bei Iffland, und erfuhr, daß der junge Mann Blume heiße. An diesem oder einem der folgenden Tage war Zelter unser Abendgast, und mein Vater fragte wieder nach dem vielversprechenden Talente. Den kenne ich wohl, rief Zelter, eine kapitale Stimme! Diese Blume wird noch ganz prächtig aufblühen. Der arme Junge hat Un -149 glück gehabt. Im Jahre 1809 trieb ihn die Vaterlandsliebe unter das Schillsche Freicorps. Bei dem letzten, verzweifelten Gefechte wurde er übel zugerichtet, stürzte mit dem Pferde, und entging nur durch ein Wunder dem Tode oder der Gefangenschaft. Nun will er sein Talent dem Theater widmen, und wenn er so fortfährt, kann es ihm nicht fehlen.

Am 6. Januar 1811, einem Sonntage, war der Grosvater beim Abendtische nicht so gesprächig als gewöhnlich, doch beschloß er, am folgenden Tage den Montagsklub zu besuchen. Dr. Kohlrausch war zugegen, und wußte durch seine belebte Rede die Pausen der Unterhaltung auszufüllen. Nach Tische saßen wir Kinder wie gewöhnlich über Campe’s Reisebeschreibungen. Als der Grosvater sich zum Schlafengehn erheben wollte, sank er in das Sopha zurück. Mein Vater und Kohlrausch unterstützten ihn, er kam ohne Mühe auf die Beine, gab gute Nacht und ging nach seinem Zimmer, wobei Fritz mir wieder den Rang ablief, und ihm das Licht vortrug.

Am Montag früh sollte Friedrich den Grosvater wie immer um 8 Uhr wecken, da er ihn aber recht herzhaft schnarchen hörte, so dachte er: der Herr war gestern Abend nicht ganz wohl, du wirst ihn noch ein halb Stündchen schlafen lassen. Als aber nach einer halben Stunde das Schnarchen noch nicht aufhörte, vielmehr stärker wurde, so öffnete Friedrich die Gardinen des Himmelbettes, und sah nun wohl, daß ein Schlagfluß eingetreten sei. Was er für Schnarchen gehalten, war nur noch Todesröcheln.

Aerztliche Hülfe wurde sogleich herbeigerufen, doch ließ sich von vorn herein eine Wirkung der pflichtmäßig angewendeten Mittel bei dem 77jährigen Greise nicht mehr150 erwarten, da gar kein Bewußtsein vorhanden war. Den ganzen Montag und die folgende Nacht dauerte das Röcheln fort; am Dienstag, den 8. Januar in der Frühe schlummerte er ohne allen Kampf hinüber.

Als die Kunde davon in unsre Kinderstube gelangte, benutzten wir die im Hause entstandene Verwirrung, um die Treppen hinauf zu schleichen, und bis in das offne Sterbezimmer vorzudringen. Da sahen wir die gewaltig große Gestalt des Grosvaters im grünen Schlafrocke auf einem langen, mitten in die Stube gerückten Bette. Das altbekannte strenge Gesicht, von Todesblässe übergossen, lag in unbeweglicher Ruhe. Auf einem Tischchen neben dem Bette bemerkten wir die bei den Belebungsversuchen angewendeten chirurgischen Instrumente. Aber nur ein paar Augenblicke waren uns zum An - und Umschauen vergönnt, denn die geschäftigen Dienstleute trieben uns gleich wieder hinunter.

Die Trauer um Nicolais Verlust war in der Stadt allgemein. In dem näheren Freundes - und Gelehrtenkreise, der ihn die letzten Jahre umgab, genoß er der grösten Hochachtung, selbst die jüngeren Litteraten, denen er mit seltner Liberalität die Schätze seiner Bibliothek mittheilte, sahen zu ihm, als zu Lessings Jugendfreunde, mit Verehrung empor, wenn sie auch sonst seine Ansichten gar nicht theilten. Uns Kindern war bisher nichts von seiner Bedeutung in der Litteratur zu Ohren gekommen; wir kannten ihn nur als den, zwar nicht unfreundlichen, doch keineswegs anziehenden Grosvater; ich war daher sehr erstaunt, als der Professor Hartung in der Schule uns belehrte, daß der eben verstorbene Herr Nicolai einer der grösten Berliner Gelehrten gewesen sei; ja ich war inner -151 lich ganz unwillig darüber, daß ich dies nicht früher gewußt: denn schon damals hatte ich vor der Gelehrsamkeit einen gewaltigen Respekt.

Das Leichenbegängniß hinterließ einen äußerst peinlichen, sogar schrecklichen Eindruck. Es hatte sich dabei, wie dies noch jetzt zu geschehn pflegt, alles Lumpengesindel der nächsten Gegend vor dem Hause versammelt. Weil ein so berühmter Mann begraben wurde, so war der Zudrang stärker als gewöhnlich. Das Elend der niedern Volksklassen Berlins muß damals, wegen des Krieges größer gewesen sein als jetzt. Mich überlief ein Schauder, als wir aus dem Hausflur durch die Reihen der gaffenden Proletarier dem Trauerwagen zugeführt wurden; mir war nicht anders, als müßten diese hohläugigen blassen Gestalten über uns herfallen, um uns zu berauben oder zu tödten. In der Luisenkirche, wo der Trauergottesdienst Statt fand, war es noch ärger. Alle Räume bis zu den Emporen hinauf waren dicht gedrängt voll von unheimlichem Pöbel, der mit Gepolter über die Bänke kletterte, und andere Ungehörigkeiten verübte. Von Andacht konnte unter diesen Umständen gar nicht die Rede sein; nichts als Furcht erfüllte meine Seele, daß diese rohen Volkshaufen irgend eine Gewaltthätigkeit verüben möchten. Wie dankte ich Gott, als wir beim Nachhausekommen das Spalier der stechenden Blicke zum zweiten Male glücklich durchschritten hatten, und aus der Kinderstube in den friedlichen Hausgarten hinabschauten.

Alle Umstände des Todesfalles wurden von den Hausgenossen ausführlich besprochen; jeder wußte sich mit dem, was der alte Herr noch in den letzten Tagen zu ihm gesagt, oder man erzählte, wo man ihn zum letzten Male152 gesehn. Fritz rühmte sich noch oft, daß er ihm am letzten Abend zu Bette geleuchtet, und ich muß gestehn, daß dieser unbedeutende Umstand lange Zeit in meiner Seele einen kleinen Stachel zurücklief. Der alte Friedrich beunruhigte meine Einbildungskraft eine ganze Weile, indem er mich mit innerster Ueberzeugung und mit klagendem Tone versicherte, der Herr hätte noch viele Jahre leben können, aber auf einem kürzlich abgehaltnen Mittagessen bei einem vornehmen Freunde habe er zuviel von einer kalten Aalpastete zu sich genommen, und dies habe ihm den Dampf angethan.

Es kamen auch, wie bei meiner Mutter Tode, viele Züge geheimer Wohlthätigkeit an den Tag; manche Handwerker, die für das Haus arbeiteten, und durch den Krieg ihren Erwerb fast eingebüßt, waren von ihm durch Unterstützungen und Darlehen der äußersten Noth entrissen worden. Noch viele Jahre nachher sah ich unter den Papieren meines Vaters eine ganze Mappe voll solcher inexigibler Schuldscheine, deren einige sogar bis in meine Zeit sich erhalten haben, und jetzt zu den Hausakten gelegt sind.

Ganz vorzüglich hatte Nicolai die fleißigen kleinen Hausbesitzer unterstützt, deren Anzahl damals verhältnißmäßig weit größer war als jetzt.

Da es in der Zeit vor dem Kriege beinahe keine andren preußischen Werthpapiere gab als Seehandlungsobligazionen, und Nicolai seine Ersparnisse nicht alle auf dieselbe Weise anlegen wollte, so that er größere und kleinere Kapitalien auf Häuser aus. War die Hypothek auch nicht immer ganz sicher, so kannte er den Hausbesitzer persönlich als einen redlichen, arbeitsamen Mann,153 der in jenen glücklichen Friedenszeiten die Zinsen des Darlehns ohne Mühe pünktlich zahlte.

Durch den Krieg von 1806 verloren die Häuser einen großen Theil ihres Werthes, der Handel stockte durch die Kontinentalsperre, die immensen französischen Kontributionen verschlangen alle baaren Bestände; an pünktliche Zinszahlung war nicht zu denken, viele kleine Eigenthümer gingen zu Grunde, die Häuser wurden subhastirt, und um nur etwas zu retten, mußte der letzte Hypothekengläubiger das fast werthlose Haus erstehn.

So kam es, daß bei Nicolais Tode mein Vater, der zum Testamentsvollstrecker mit unbeschränkten Vollmachten ernannt war, nicht weniger als 9 Häuser vorfand, die für die Erbschaftsmasse zu verwalten waren. Er unterzog sich diesem schwierigen Geschäfte mit der ihm eignen Pflichttreue, ließ, wo es nöthig war, die Häuser in besseren Stand setzen, und verkaufte sie im Laufe der Jahre, nachdem die Verhältnisse sich gebessert hatten, fast alle ohne namhaften Verlust.

Den folgenden Zug von Nicolais Gutthätigkeit habe ich aus Tante Jettchens Munde. Bei einer der letzten Pyrmonter Badereisen gerieth Nicolai auf einer westphälischen Station mit dem Postmeister in einen heftigen Zank. Er sollte, nach seiner Meinung, ein halbes Pferd zuviel zahlen, und widersetzte sich aus allen Kräften, allein vergeblich. Der Streit nahm einen so akuten Karakter an, daß Tante Jettchen, welche gar keine Vermittlung wagen durfte, das allerschlimmste fürchtete. Als Nicolai endlich wieder im Wagen saß, ergoß er sich noch lange Zeit in den bittersten Aeußerungen gegen den betrügerischen Beamten. Kurz darauf stand in der Zeitung, daß jene Station,154 die nur aus dem Posthause und ein paar Bauernhütten bestand, gänzlich niedergebrannt sei. Nicolai schickte anonym dem Postmeister eine bedeutende Summe.

Sein edles Benehmen gegen J. H. Voss ist allen denen bekannt, die sich mit der Litteraturgeschichte jener Zeiten beschäftigen; es vergnügt mich, dieser Begebenheit hier kurz zu gedenken. Voss hatte i. J. 1796 in Eutin eine schwere Krankheit durchgemacht, die für sein ganzes übriges Leben traurige Folgen zu hinterlassen drohte. Sein trefflicher Arzt Hensler erklärte, eine gänzliche Heilung sei nur durch eine Badekur möglich. Aber woher die Kosten nehmen, da Vossens Einkünfte als Schullehrer kaum zum Lebensunterhalte hinreichten? Nicolai erfuhr diese Umstände, und ließ durch Boie, Vossens Schwager, ihm die Kosten der Badereise anbieten, aber anonym. Voss weigerte sich, die Gabe anzunehmen, wenn der Geber nicht genannt werde. Boie glaubte es verantworten zu können, wenn er das Geheimniß breche. Voss nahm nun seinerseits das Geschenk an, machte die Badereise und ward völlig hergestellt. Sein darüber an Nicolai geschriebener Brief beginnt mit den Worten Mann der besseren Zeit . Sie blieben seitdem in fortgesetztem freundschaftlichen Briefwechsel, und als ich i. J. 1819 nach Heidelberg auf die Universität ging, ward ich von Voss mit wahrhaft väterlicher Liebe aufgenommen.

Seinen braven Arzt Hensler hat Voss durch die Zueignung von Ovids Verwandlungen unsterblich gemacht.

An Hensler.

Als ich zum ewigen Schlaf hinschlummerte, weckte mich Hensler,

Und ich Ermunterter sang Naso’s ermunterndes Lied,155

Freudiges Hahnengeschrei dem starrenden Weib und den Kindern.

Nimm zum Geschenke den Hahn, Hensler-Asklepios froh!

In der bösen Franzosenzeit hatte der Magistrat von Berlin, um die fast unerschwinglichen Lasten zu tragen, die Bürgerschaft in mehrere Klassen getheilt, die nach Maasgabe ihres Vermögens zugezogen wurden. Aus der reichsten Klasse ward noch eine Anzahl Rückbürgen ernannt, die in den schlimmsten Fällen vor den Riß zu treten hatten, und zu denen auch Nicolai gehörte. Er verlor als solcher einen großen Theil seines Vermögens ohne irgend eine Aussicht auf Ersatz. Wer konnte damals, nachdem auch Oestreich i. J. 1809 noch einmal besiegt war, an einer langen Dauer der napoleonischen Herrschaft zweifeln? Im Jahre 1810 mußte Berlin wieder eine Rate der ausgeschriebnen Kriegsteuer zahlen, zu der auch die Rückbürgen beitragen sollten. Durch irgend ein Versehn war Nicolai dabei übergangen worden. Als er dies erfuhr, schickte er meinen Vater auf das Rathhaus, und ließ dem Magistrate seine letzten 20,000 Rthlr. in Seehandlungsobligazionen übergeben.

Daß Nicolai, der im Sonnenglanze der Regierung Friedrichs II. gewandelt, die Jahre der Erniedrigung 1806 bis 1811 durchleben mußte, kann man wohl zu den schwersten äußeren Prüfungen rechnen.

In seinem Testamente hatte Nicolai außer sehr bedeutenden Legaten an Verwandte, Freunde und Dienerschaft auch mehreren öffentlichen Anstalten werthvolle Vermächtnisse hinterlassen. Die Akademie der Wissenschaften erhielt die kolossale Gypsbüste von Leibnitz, die noch heute156 zwischen Alexander von Humboldt und Leopold von Buch eine Zierde des Sitzungsaales bildet; die k. Bibliothek erhielt eine große Menge anderer Gypsbüsten von Gelehrten, die ich als Kind oft genug in unserem Bibliotheksaale betrachtet hatte; außerdem eine Reihe von seltnen gleichzeitigen Drucken aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges; an die Sternwarte kam eine kostbare englische astronomische Uhr, an die Singakademie ein reicher Schatz alter Musikalien; das Graue Kloster erhielt mehr als 600 Bände klassischer Autoren in den ausgesuchtesten holländischen und anderen Ausgaben.

Diese letzte Schenkung hat mich oft seufzen gemacht, als ich selbst anfing, die Klassiker für mich zu lesen und zu sammeln; ich fand dann beim Nachschlagen im Kataloge, daß die besten Ausgaben schon dagewesen waren; aber mit der Zeit bin ich zu der Erkenntniß gekommen, daß nicht der Besitz, sondern nur der Erwerb Vergnügen macht, und habe es dem guten Grosvater oft gedankt, daß er mir neben den Mitteln auch die Gelegenheit gegeben, schöne und alte Ausgaben anzuschaffen.

Jene Vermächtnisse waren in der That eben so wohl den Anstalten, als den Personen zugedacht; bei der Leibnitz-Büste dachte Nicolai an seine Kollegen in der Akademie; bei den andern Gypsbüsten und den seltnen Drucken an seinen Freund den Bibliothekar Biester; die Klassiker waren für seine Freunde Gedike und Spalding bestimmt, die Musikalien für Zelter, und die astronomische Uhr konnte seinem Freunde Bode von Nutzen sein.

Daß meine Schwester und ich, als die einzigen Nachkommen Nicolais und seiner acht Kinder, zu Universalerben ernannt seien, hörten wir beide mit der grösten157 Gleichgültigkeit, und ohne etwas besonderes dabei zu denken. Wir waren so glücklich in der Liebe unserer Aeltern, und lebten so genüglich in der heitern Gegenwart, daß wir beim Blicke in die Zukunft eine Vermehrung unseres Wohlbehagens kaum für möglich hielten. Aber von den Dienstboten wurde die Sache anders aufgefaßt. Junger Herr! sagte mir eines Tages die Köchin, als ich eine Speckschwarte zum Bestreichen meiner Säge von ihr verlangte, da Sie nun so reich geworden sind, so können Sie mir mal etwas schenken. Ich wußte nicht gleich, ob sie für den Speck etwas verlange, und wies sie sehr verlegen an meinen Vater, vergaß aber nachzufragen, ob sie bei ihm ihre Bitte wiederholt habe.

Der Tod des Grosvaters Nicolai machte in unserm Hauswesen einen bedeutenden Abschnitt. Den Sommer von 1811 brachten wir, wie gewöhnlich in der Lehmgasse zu. Nicolais Wohnstube daselbst war ganz unberührt geblieben; wir durften uns nun schon erlauben, den Inhalt der Wandschränke näher zu betrachten. Fritz überlegte, ob er mit der Feuerzeugpistole Sperlinge schießen könne, und wollte mit der Papierlateme eine nächtliche Erleuchtung des Gartens veranstalten; ich ergötzte mich an den Kupfern zu Hirschfelds Gartenkunst, in so weit sie mir verständlich waren, und suchte in den Heften der Berlinischen Monatschrift etwas für mich genießbares zu finden.

Im nächsten Winter bezogen wir dann in der Brüderstraße die große Wohnung im ersten Stock, in welcher bisher der Grosvater Nicolai einsam gehauset, und die nun wieder von einer fröhlichen Kinderschaar belebt ward. Mein Vater zog in Nicolais große Stube, die uns nun viel heimlicher vorkam als bisher, weil wir in den vielen158 Schränken und Kasten ungestört kramen durften. Das Nürnberger Zauberbuch wurde bald in dem kleinen Tischkasten neben dem Sopha entdeckt, und triumphirend aus seinem Versteck hervorgezogen; allein es verlor allen Reiz, nachdem wir den Mechanismus begriffen hatten.

Noch ein Umstand trug mächtig dazu bei, uns die große Stube weit angenehmer als früher zu machen. Wenn wir bei dem Grosvater Nicolai gesessen hatten, so kam nach Tische der alte Friedrich mit einem kleinen Kohlenbecken herein, und streute einige Wacholderkörner darauf. Dieser Geruch war meiner Schwester und mir tödtlich zuwider, und wir suchten den Athem so lange anzuhalten, bis die Dämpfe sich verzogen; allein der Geruch hatte sich nun einmal in der ganzen Stube festgesetzt. Mein Vater dagegen hielt sich Fläschchen von einem schönen Königsräucherpulver, und schüttete etwas davon in die warme Ofenröhre. Das veränderte nach und nach die ganze Atmosphäre, und wir labten uns an dem belebenden Wohlgeruche.

Meine Mutter bezog ein schönes Zimmer vorn heraus, das indessen durch die ganze Diagonale des weitläufigen Hauses von dem Zimmer des Vaters getrennt war. Dies hatte zwar für die Wirtschaft manche Unbequemlichkeit, war aber nicht zu ändern, und erregte den Kindern die gröste Lust. Um vom Vater zur Mutter zu gelangen, schlüpfte man durch die Vexirthür in die kleine Bücherstube, trabte durch den hohen Bibliotheksaal, jagte über die schallende Gallerie, und gelangte durch die Entree und den Eßsaal endlich in die blaue Stube der Mutter. Ein kürzerer Weg führte durch die Küche und die Schlafstuben, aber auf diesem hatte man 8 Thüren zu passiren, auf dem andern nur 6. 159

Auch die übrigen Räume der Wohnung wurden nicht mehr unter dem früheren strengen Verschluß gehalten. So gelang es mir bald, in den grauen Saal zu dringen, wo ich mich nun an dem Anblicke der Schweizerlandschaften sättigte. Die französischen kalligraphischen Unterschriften wußte ich bald auswendig. La Chute du Staubbach dans la Vallee de Lauterbrunn. Le Glacier superieur du Grindelwald dans le Canton de Berne. La Chute du Rhin près de Lauffen, dans le Canton de Schaffhouse, diese waren es vorzüglich, welche ich einmal in der Natur zu sehn wünschte: denn so wenig ich an der getreuen Wahrheit der Darstellungen zweifelte, eben so wenig konnte ich mich überreden, daß solche Bergmassen und Wasserfälle wirklich existiren.

Unter den Kupfern von Wille gefielen mir besonders: Musiciens Ambulants und les Offres reciproques nach Dietrich; Le Concert de famille nach Schalken; Instruction paternelle nach Terburg; La mort de Marc-Antoine nach Battoni, und ich belehrte mich später, daß diese wirklich zu seinen vorzüglichsten Arbeiten gehören.

Für Fritz und mich ward in der neuen Wohnung die Schlafstube des Grosvaters eingerichtet, worin wir uns sehr wohl befanden. Ich erhielt einen schönen großen Nußbaumschrank mit silbernen Beschlägen, dessen viele Fächer und Kasten hinlänglichen Raum für alle Bedürfnisse gewährten. Er erinnert mich noch jetzt täglich an den guten Ahnherrn, dem ich so viel zu verdanken habe.

Unsre frühere gemüthliche Hof - und Gartenwohnung im Parterre bezog der Vater meiner zweiten Mutter, Geheimerath Eichmann mit seiner Frau. Tante Jettchen, seine jüngere Tochter, die schon zu unsrer Familie gehörte, be -160 hielt ihr Gartenzimmer, das sie zu Nicolais Zeiten inne gehabt, und nur unten bei ihren Aeltern. Aus diesem dreifachen Zusammenwohnen erwuchs bei gegenseitigem Wohlwollen ein durchaus heiteres Familienleben, das mir noch jetzt die angenehmsten Empfindungen erweckt.

Unter den vielen, vom Grosvater Nicolai hinterlassenen Sachen, die nach und nach als nicht mehr brauchbar bei Seite gelegt wurden, erregte eine Schiefertafel auf seinem Nachttische unsre Aufmerksamkeit, und wir baten sie uns vom Vater aus. In den soliden braunen Rahmen waren zu beiden Seiten von oben nach unten Löcher gebohrt, und queerüber gezogene Bindfaden bildeten gleichsam ein liniirtes Blatt. Wenn dem Grosvater in der Nacht irgend etwas einfiel und dies mochte wohl bei der Lebhaftigkeit seines Geistes oft genug vorkommen so notirte er es flugs im Dunkeln mit dem Schieferstift, der Richtung der Bindfaden folgend, ungefähr wie Petrarca, der die in der Nacht ihm beifallenden Verse auf sein ledernes Wams schrieb. Fritz war von dieser Schiefertafel ganz entzückt und übte sich, mit verschlossenen Augen zwischen den Bindfaden zu schreiben; er legte sie auch einige Male auf seinen Nachttisch, hatte aber einen viel zu gesunden Schlaf, um jemals eine nächtliche Aufzeichnung zu machen.

Auch das grüne Reisekästchen des Grosvaters gab man uns Preis, und wir durften uns mancherlei daraus zueignen. Fritzen gefiel ganz besonders ein kleines Trinkglas, das dem Grosvater bei seiner Reise durch Deutschland gedient, und das zu den damaligen schauderhaften Wegen paßte. Es war oben ganz geschlossen bis auf zwei Oeffnungen, die eine zum einschenken, die andre zum austrinken; damit bei dem beständigen Stoßen und Schaukeln des Wagens nichts161 verschüttet werde. Ich nahm mir Hammer, Zange und Bohrer, so wie zwei kleine allerliebste ovale Porzellanschälchen mit zierlichem Fuße, die für das Augenwasser des Grosvaters gedient hatten.

Der alte Friedrich sah zwar nicht ohne misfälliges Brummen die Dilapidation dessen, was er so lange Jahre in der schönsten Ordnung gehalten, allein er ward durch die ihm anheimfallenden werthvollen Kleidungstücke des Grosvaters zufrieden gestellt. Er setzte seinen Dienst fort, so lange es gehn wollte, zankte sich mit Luischen, genoß zuletzt das Gnadenbrodt, und starb 1818 in unserem Hause an Entkräftung.

In einer Ecke des Bibliotheksaales stöberte Fritz ein sonderbares eisernes Geräth auf, dessen Gebrauch wir uns durchaus nicht erklären konnten. An einem oblongen Kasten von ungefähr 6 Zoll Länge saß an der einen Seite ein eiserner sechsspitziger Stern, an der andern ein kleines Zifferblatt mit Zeiger. Oeffnete man die verschlossene Thür, so sah man inwendig mehrere eiserne Räder und Zapfen. Wir trugen den schweren Fund zum Vater, doch er konnte keine Auskunft geben. Herr Ritter, der Geschäftsführer der Buchhandlung, belehrte uns, es sei der Wegemesser, den Nicolai bei seiner großen Reise durch Deutschland angewendet. Er ward an den Wagenkasten geschraubt. Bei jeder Umdrehung des Hinterrades faßte ein Stift, der in der Peripherie des Rades steckte, in den sechsspitzigen Stern, und drehte ihn um eine Stelle weiter. Der Zeiger ergab dann die Zahl der zurückgelegten Fuße und Meilen. Später fand ich die getreue Abbildung und Beschreibung dieses Wegemessers in Nicolais Reise Bd. 1. pag. 18 20. 162

In einem solchen Zustande war i. J. 1781 das deutsche Post - und Reisewesen, daß ein Privatmann es als eine wichtige und dankenswerthe Arbeit unternehmen konnte, die genaue Entfernung der von ihm besuchten Städte durch ein neuerfundenes hodometrisches Instrument zu bestimmen.

Die Kupfer von Chodowiecki wurden nun erst recht studirt und genossen, da wir uns in der großen Stube viel freier bewegen, und ein Gerüst von umgedrehten Stühlen zur bequemeren Aufstellung der Folianten erbauen durften. Wir gingen in der Reihe der Bände weiter fort, und fanden mehrere mit den Arbeiten von Meil und B. Rode. Meil hat eine zarte Ausführung, aber die Gegenstände bieten zu wenig Interesse; die Kupfer zu Engels Mimik schienen uns leer und ohne besonderen Karakter; wie anders wußte Chodowiecki die verschiedenen Leidenschaften und Affekte der Seele durch die geistreichsten Figuren darzustellen! Meil war mit Nicolai persönlich befreundet, und lieferte die Kupfer zur Geschichte eines dicken Mannes , die jedoch hinter den Chodowieckischen Kupfern zum Sebaldus Nothanker gewaltig zurückstehn. Ich bewahre ein kleines Medaillon mit einer sauberen Tuschzeichnung von Meil, die er zu Nicolais silbemer Hochzeit (1785) angefertigt. Die Aufschriften sind sonderbar genug: über der Gruppe eines geflügelten Genius und Amor steht: Nie getrennt! und darunter: Dem Tage des zweiten Genusses von J. W. Meil.

Rode bot uns eine Menge großer und kleiner Blätter aus der alten und neuen Geschichte von vielem historischen Interesse, aber die Ausführung seiner Radirungen war für uns abschreckend. Eine einfache reine Linie sieht man nirgends, sondern nur eine Reihe oder einen Haufen von163 hingeworfenen Punkten und Strichen, die im Ganzen wohl einigen Effekt machen, aber durch das Ungraziöse und Rohe des Machwerks abstoßen. Die Zeichnung ist meistentheils korrekt, die Anordnung der Figuren nicht ohne Einsicht, aber es fehlt jedes höhere Gefühl, und die Monotonie der Köpfe hat etwas ermüdendes. Der Kaiser Barbarossa sieht eben so aus wie Albrecht Achilles und Derflinger; die Königin Semiramis ist von der Kleopatra und Agrippina nicht zu unterscheiden.

Daher war es uns unbegreiflich, daß dieser Rode derselbe sein sollte, an den Ramler eine schwungvolle Ode gerichtet, die wir in der Schule auswendig lernten, und die also anhebt:

Der du dem blutenden Caesar beim Dolche des Freundes das Antlitz,

Das noch den Mörder liebreich straft, in Thränen hüllst,

Philipps Sohn zu des schnöde gefesselten Königes Leichnam

Voll Wehmuth hinführst u. s. w.

Diese letzte Vorstellung: der Tod des Darius ist ein kleines, höchst unscheinbares Blatt, das uns nicht das mindeste Gefallen abgewinnen konnte. Mehr Anziehungskraft besaßen die Blätter mit den Köpfen der sterbenden Krieger, nach Schlüters meisterhaften Reliefs im Hofe des Zeughauses; rasch überschlagen wurden die langweiligen Grabmonumente für die im siebenjährigen Kriege und später gestorbenen Generale.

Gingen wir in der Reihe der Folianten weiter fort, so stießen wir auf eine unendliche Menge Bildnisse von Gelehrten und Künstlern in 12 Bänden, die Nicolai während seines langen Lebens im litterarhistorischen Interesse ge -164 sammelt, und nach seiner gründlichen Art in Klassen chronologisch geordnet. Der auf den Zuwachs berechnete Katalog umfaßt zwei Folianten. Diese Sammlung von meist unschönen Gesichtern wurde von dem jugendlichen Alter, dem es doch nur um den Genuß des Schönen und geistige Anregung zu thun ist, gänzlich verachtet. Meine lebhafte Schwester und Fritz wollten gar nichts davon wissen; ich machte aus angeborner Gewissenhaftigkeit einige Versuche, mich durch die zahllosen Köpfe durchzuarbeiten, in der Hoffnung, irgend etwas erquickliches zu finden, doch bald stand ich von diesem vergeblichen Bemühen ab.

Eine ganz trostlose und niederdrückende Empfindung veranlaßten die sechs letzten Folianten. Sie enthielten eine Sammlung von Karten der brandenburgisch-preußischen Länder und Provinzen, eine Menge Städtepläne, Grundrisse von Kirchen und Häusern u. s. w. In der Schule wurden wir hinlänglich mit dem ganz nutzlosen Zeichnen von Landkarten geplagt, das besonders geeignet war, uns die goldne Ferienzeit zu vergällen. Hier sahen wir nun Hunderte von Karten in allen Größen neben einander. Welche Qual und Pein mußten nicht die Zeichner beim Anfertigen dieser doppelten Folioblätter und beim Eintragen der unzählbaren Städtenamen empfunden haben!

Wir kehrten also immer von neuem zu unserm geliebten Chodowiecki zurück.

In späteren Jahren habe ich die Bildnißsammlung, welche an 6000 Blätter umfaßt, im kunsthistorischen Interesse genau durchgesehn, aber eine äußerst geringe Ausbeute gefunden. Da es dem Grosvater nur auf den Gegenstand, nicht auf die Form ankam, so sah er weder auf das Verdienst des Stechers, noch auf die Schönheit des Ab -165 druckes, sondern er wollte eben nur das Konterfei des Mannes haben. Beim Beginne der Durchsicht hatte ich gehofft, manches seltne Bildniß von Dürer oder Rembrandt, von Edelinck oder Nanteuil, von G. F. Schmidt und andern zu finden, allein diese Hoffnung wurde auf das bitterste getäuscht. Von älteren Blättern fand ich nichts werthvolles als einen guten, aber beschädigten Abdruck des Erasmus von Dürer, und ein seltnes Bildniß des Engländers Colthurst von Hollar. Von den neueren guten Stechern ist nur Bause sehr reichlich vertreten, mit dem Nicolai in persönlicher Freundschaft stand. Alles übrige ist mit wenigen Ausnahmen untergeordnete Nürnberger und Augsburger Fabrikarbeit.

166

Graues Kloster. Nicolais Bibliothek.

Im Jahre 1812 verließ ich die Hartungsche Schule und bezog das Gymnasium zum Grauen Kloster in der Klosterstraße. Man hatte eben die Klassen neu getüncht und geweißt. Grostertia, wohin ich versetzt wurde, war ein großes helles Zimmer, in dem man sich recht wohl fühlte. Der Hof, den wir in den Zwischenminuten zum Auf - und Abgehn benutzten, war von ein paar alten Bäumen beschattet, und stieß auf der einen Seite an die Klosterkirche, das älteste kirchliche Gebäude Berlins, früher den Franziskanermönchen gehörig. Aus den Fenstern der Klasse konnte man gerade nach dem alterthümlichen, starkgeschwärzten und zerfressenen Gemäuer hinübersehn. Ich ertappte mich anfangs oft darauf, daß ich während des Unterrichtes den Gegenstand des Vortrages verlassend, mit der Phantasie nach dem schönen gothischen Baue, der leider durch allerlei spätere Zusätze verunstaltet war, hinüberstreifte, und dort mit Wohlgefallen verweilte.

Ungeachtet dieser äußeren Annehmlichkeiten wurde die innere Angst und Qual des Knaben auf dem Gymnasium noch grösser als sie in der Schule gewesen. Sonst hatten wir nur 6 Lehrstunden täglich gehabt, jetzt saßen wir 7 Stunden, von 8 12 und von 2 6 auf den engen unbequemen Schulbänken. Die häuslichen Arbeiten wurden167 bedeutend vermehrt; sie bestanden in lateinischen und griechischen Exercitien, in Uebersetzungen aus den Autoren, für welche außerdem eine genaue Präparation verlangt wurde, in geschichtlichen und mathematischen Ausarbeitungen, in deutschen und französischen Aufsätzen. Die halbjährlichen Arbeiten eines jeden Schülers betrugen einen ansehnlichen Quartstoß; das ganze Gymnasium konsumirte alljährlich mehrere Ballen Schreibpapier. Zu den Schulstunden kamen noch die Privatlektionen im Zeichnen, in der Musik, im Tanzen und Fechten. Man muß in der That die Elasticität der menschlichen Natur bewundem, daß sie im Stande ist, einem so unausgesetzten Drucke jahrelang zu widerstehn.

Einige Erholung gewährten zwar an den Mittwochs - und Sonnabendnachmittagen die Turnübungen in der Hasenheide, doch ward auch manchmal in dieser Richtung des Guten zuviel gethan. So hatte ich mir eines Sommers in den Kopf gesetzt, noch ein paar Schwingstunden von 6 7 früh zu nehmen; ich ging also um 6 Uhr aus der Blumenstraße nach den Linden in das Veronasche Haus, übte mich dort von 6 7, und ging dann nach der Klosterstraße zu dem um 8 Uhr beginnenden Klassenbesuch.

Gleich nach meinem Eintritte in das Kloster ward in dem großen Hörsaale ein feierlicher Actus begangen, der nicht verfehlte, einen tiefen Eindruck hervorzurufen. Das Gymnasium hatte vor kurzem durch den Tod des Professors Spalding, des gelehrten Herausgebers des Quintilian, einen großen Verlust erlitten. An seine Stelle war Professor Giesebrecht, ein junger vielversprechender Mann berufen worden. Die Wärme und Herzlichkeit, mit welcher der würdige Direktor Bellermann des Dahingeschiedenen168 gedachte, und den neuen Kollegen im Kreise der Lehrer willkommen hieß, bewegten mich auf das äußerste, weil ich sah, daß der Direktor selbst fast zu Thränen gerührt war.

Der Hörsaal selbst machte trotz seiner Größe keinen guten Eindruck, und störte sogar die Würde des Festes; er war viel zu niedrig und ohne jeglichen Schmuck. Zwar hingen an den Wänden einige Oelgemälde von Oeser und andern Meistern des vorigen Jahrhunderts, allein so oft und so lange ich sie auch während meiner Gymnasialzeit angesehn, so hat es mir doch nicht gelingen wollen, ihnen Geschmack abzugewinnen.

Das Graue Kloster verdankte einen großen Teil seiner bedeutenden Lehrmittel den Schenkungen eines ehemaligen Schülers, Sigismund Streit. Er war der Sohn eines Berliner Hufschmiedes, ging 1709 in sehr dürftigen Umständen nach Venedig, gründete dort ein Handlungshaus, erwarb große Reichthümer, und starb 1775 als 89jähriger Greis in Padua. Bemerkenswerth ist hiebei, daß er immer Protestant blieb, was damals in Italien schwieriger war als jetzt. Aus Dankbarkeit für den früher im Kloster genossenen Unterricht, schenkte er der Anstalt weit über 100,000 Rthlr. Dies that er jedoch nicht in der Art, daß er ohne Weiteres das Geld hersendete, und die Vertheilung den Direktoren überließ, sondern er unterrichtete sich vorher auf das genaueste von den Bedürfnissen des Gymnasiums, und machte auf diese Weise seine Stiftung zu einer wahrhaft segensreichen. Die von ihm mit den damaligen Leitern der Anstalt geführte Korrespondenz erstreckt sich auf fast alle Zweige des Unterrichts, der damals hauptsächlich in den gelehrten Sprachen und in der Mathematik sich bewegte. 169

Zuerst sandte Streit bedeutende Kapitalien, aus deren Zinsen die Gehalte der Lehrer verbessert wurden; dann neue Summen für Wohnung und Beköstigung von mittellosen Schülern. Der Unterricht in den neueren Sprachen, besonders im italiänischen, wurde durch einen eignen s. g. Streitschen Kollaborator gefördert. Es folgte die Uebersendung von 40 Oelgemälden zum Schmucke des Hörsaales. Diese Gemälde sind meist Arbeiten der damaligen venetianischen Schule, der es in der Mitte des 18. Jahrhunderts an einem irgend bedeutenden Namen fehlte. Man hat daher bei dieser Schenkung mehr den guten Willen des Gebers, als den Kunstwerth der Gemälde zu achten. Besonders muß man sich wundern, wie es möglich gewesen sei, daß Streit eine Reihe sehr geringer Ansichten von Venedig als Arbeiten von Canaletto gekauft habe.

Für seine vielfachen Wohlthaten bedang Streit sich nur wenig aus. Sein Brustbild von J. Amigoni sollte im Hörsäle aufgehangen, aber sein Name bei den Gynmasialfeierlichkeiten nicht genannt werden. Er verordnete, daß alljährlich beim öffentlichen Examen Reden in 6 Sprachen gehalten werden sollten, im griechischen, lateinischen, deutschen, französischen, italiänischen, englischen. Die italiänische Rede sollte immer etwas zum Lobe der erlauchten Republik Venedig enthalten. Auch bestimmte er, daß wenn die vier ersten Lehrer die von ihm ausgesetzten Gehaltserhöhungen genießen wollten, so müsse der Rektor ein Doctor der Theologie, und die drei folgenden Lehrer Magistri, alle aber zu diesen akademischen Würden durch Prüfung und Disputation gelangt sein. Er errichtete außerdem milde Stiftungen für die evangelisch-lutherischen Gemeinden in Venedig und Amerika. 170

Das Lehrerkollegium des Grauen Klosters bestand, als ich eintrat, aus einem Kreise von Gelehrten, die sich fast alle als Schriftsteller einen guten Namen erworben. Zwar sprach man noch immer gern von der alten ruhmvollen Zeit der früheren Gymnasialdirektoren. Johann Leonhard Frisch (gest. 1743) war nicht nur der Verfasser eines trefflichen deutschen Wörterbuches, sondern auch der Erfinder des Berliner Blau und ein eifriger Beförderer der Seidenzucht. Büsching (gest. 1795) glänzte durch seine bändereiche Geographie. Friedrich Gedike (gest. 1803), mit dem Beinamen: der Schulmonarch, wirkte nicht allein durch sein eminentes pädagogisches Talent, sondern auch durch seine weitverbreiteten Elementarbücher: allein so groß die Verdienste dieser Männer waren, so standen sie doch damals ziemlich allein, während jetzt eine Reihe von litterarischen Notabilitäten sich an den Direktor anschloß.

Der Direktor Bellermann galt für einen vorzüglichen Kenner des Hebräischen, doch darf ich nicht verhehlen, daß Wilhelm v. Humboldt, der in Erfurt seinen Unterricht genossen, ihn nicht zu den Sommitäten in diesem Fache zählte. Außerdem hatte Bellermann sich durch eine Menge kleiner litterarischer Arbeiten bekannt gemacht, von denen man indessen behauptete, daß sie mehr durch ihre Zahl, als durch ihren Gehalt ins Gewicht fielen. Sein liebenswürdiger Karakter wurde allgemein anerkannt; das wahrhaft kollegialische Verhältniß der Lehrer unter einander soll, wie man mich versichert hat, erst durch ihn zur schönsten Ausbildung gelangt sein. Auch die Schüler waren ihm von Herzen zugethan; ich erinnre mich nicht, daß unter seinem Regimente eine irgend erhebliche disciplinarische Unordnung vorgekommen sei. 171

Dagegen waren wir freilich für manche seiner kleinen Schwächen nicht blind: denn gerade die heranwachsende Jugend hat in dieser Hinsicht einen ungemeinen Scharfblick. Was der eine nicht bemerkt, das bemerkt der andere, und so bildet sich eine Summe aller Beobachtungen. Das allgemeine Urtheil einer ganzen Klasse über den moralischen oder wissenschaftlichen Werth eines Lehrers wird gewiß nicht weit von der Wahrheit abirren.

Bellermanns Erfurter Aussprache war eine beständige Quelle von kleinen harmlosen Witzeleien. Die Klasse gaudirte sich eine lange Zeit daran, als er einmal eine Festrede mit dem Satze angefangen: ter Balmpaum drecht Wrigde unt Pliden zu kleiger Zeit!

Obgleich keineswegs der älteste Lehrer, so hatte er doch, wegen seiner etwas gebeugten Haltung den Beinamen der Alte bekommen. Seine häufige Rührung, eine Folge seines wahrhaft edlen und guten Herzens, war der muntern Jugend oft unerklärlich. In Secunda las er mit uns den Sueton. Zur Einleitung sagte er einiges über das Leben des Autors, und bemerkte zuletzt, daß mehrere seiner Schriften verloren seien, wobei ihm vor Bewegung die Stimme versagte. Die Klasse aber überließ sich einer ungetheilten Heiterkeit bei dem Gedanken, daß man nun diese verlorenen Sachen nicht noch zu lesen brauche.

Auch nach den Gymnasialjahren bin ich mit ihm in den freundschaftlichsten Beziehungen geblieben. Als er eine schwere Krankheit überstanden, nahm er im 66. Jahre seinen Abschied, und kaufte sich ein Haus in der Landsberger Straße. Hier fand ich ihn kurze Zeit darauf in voller Thätigkeit, einen großen wüsten Fleck hinter dem Hause in einen Garten umzugestalten; es wurden junge172 Obstbäume von den besten Sorten angepflanzt, Spargelbeete gegraben, eine Weinlaube und ein Pfirsichspalier angelegt. Diese jugendliche Zuversicht freute mich ungemein, aber im Herzen dachte ich, daß er wohl schwerlich im Schatten der ebengepflanzten Bäume und Weingelände wandeln werde. Dennoch war es ihm vergönnt, dieses Ziel zu erreichen: denn er lebte bis zum 88. Jahre gesund und froh im Kreise der Seinigen.

Sein ältester Sohn lebte lange Zeit als preußischer Gesandtschaftsprediger in Lissabon und Neapel. Er ward in unserem Kreise wegen seiner romantischen Liebesgeschichte bewundert, die man sich mit einigen Varianten etwa in folgender Weise erzählte. Als freiwilliger Jäger lag er im Jahre 1813 in der Nähe von Leipzig bei einem Landpfarrer in Quartier, dessen junge Frau den allertiefsten Eindruck auf ihn machte. Es war nicht daran zu denken, dieser plötzlich aufkeimenden Neigung Worte zu geben, und am folgenden Morgen rückte das Detachement weiter. Der Krieg nahm seinen Fortgang; Bellermann zeichnete sich so sehr aus, daß ihm die Ehre des eisernen Kreuzes ein von allen Mitkämpfern beneidetes Glück zu Theil ward. Nach dem Frieden erhielt er die Predigerstelle in Lissabon, wußte es aber so einzurichten, daß er durch den Briefwechsel mit seinen Freunden von dem Schicksale jener Landpfarrei immer unterrichtet blieb. Nach mehreren Jahren kam die Nachricht, der Prediger sei gestorben. Alsbald erwirkt Bellermann sich Urlaub, reiset von Lissabon nach Sachsen, giebt der Wittwe seine langgehegte Neigung zu erkennen, und führt sie als seine Frau heim. Er ist erst vor wenigen Jahren als Prediger auf dem Gesundbrunnen bei Berlin gestorben,173 nachdem seine Frau ihm schon längere Zeit vorangegangen war.

Der zweite Sohn des Direktors Bellermann, mit dem ich eine dauernde Freundschaft unterhalten, trat ganz in die Fußtapfen seines Vaters, wurde auch Direktor des Grauen Klosters, und gab durch die großartigsten und umfassendsten Bauten dem altehrwürdigen Gymnasium eine ganz neue Gestalt.

Neben dem älteren Direktor Bellermann stand zunächst in der Reihe der Lehrer Professor Fischer, dem seine vortrefflichen mathematischen Schriften einen Platz in der Berliner Akademie verschafft hatten. Er war zu meiner Zeit schon ein Siebziger, und unterrichtete nur noch in Prima. Sein helles blaues Auge und sein silberweißes Haar erfüllten uns mit Liebe und Ehrfurcht. Die Methode seines Unterrichtes war von einer unvergleichlichen Klarheit, Ruhe und Präcision. Das Heft über die Kegelschnitte, welches ich bei ihm ausgearbeitet, betrachte ich noch jetzt mit inniger Zufriedenheit. Weil das Aufzeichnen der Parabeln, Hyperbeln und Ellipsen aus freier Hand immer sehr unvollkommen ausfiel, so feilte ich mir aus Messingblech drei Normallinien, die in den meisten Fällen an den Rand des Heftes gesetzt werden konnten. Diese erregten in der Klasse große Bewunderung, und ich mußte einige Kopien davon in Pappe machen.

Professor Köpke stand wegen seines energischen Auftretens in großem Ansehn, und hieß deshalb der Unteroffizier. Er hatte den Plautus zu seinem Lieblingsschriftsteller erwählt, und wußte bei der Lesung desselben die mancherlei Klippen geschickt zu umschiffen, die in einer treuen Sittenschilderung des Alterthumes für die heran -174 wachsende Jugend nur zu oft sich zeigen. Seine Uebersetzung des Plautus wird immer mit Achtung genannt werden, wenngleich seitdem die Gewandtheit in der Handhabung der deutschen Sprache bedeutende Fortschritte gemacht hat. Die Plautinischen Versmaaße erklärte er nicht nur mit vieler Ausführlichkeit, sondern er machte auch Anwendungen davon auf die deutschen Dichterwerke. Ich erinnre mich eines Falles, der mir damals einiges Bedenken erregte. Bei der Besprechung des trochäischen Tetrameters führte er an, daß im 2., 4. und 6. Fuße gern ein Spondeus stehe, und daß man dies auch im Deutschen anwenden könne; es wäre daher vielleicht besser gewesen, meinte er, wenn der große Schiller den bekannten Vers in der Jungfrau von Orléans:

Frommer Stab, o hätt ich nimmer mit dem Schwerte dich vertauscht!

folgendermaaßen gebaut hätte:

Frommer Stab, o hätt ich niemals mit dem Mordstahl dich vertauscht!

Wollte mir anfangs scheinen, als hieße dies dem Dichter ins Handwerk greifen, so ist mir nachher klar geworden, daß diese gutgemeinte Aenderung, über die wir jetzt lächeln, im Sinne des Vortragenden ihre volle Berechtigung hatte. Köpkes Jugend reichte in die Zeit hinauf, wo Schiller auf den deutschen Bühnen seine schönsten Triumphe feierte, und wo seine unsterblichen Schöpfungen zum Miteigenthume der ganzen gleichaltrigen Generation wurden; warum sollte ein einzelner, in den antiken Versmaaßen bewanderter Verehrer es nicht wagen dürfen,175 mit einem Verbesserungsvorschlage an den allgemein geachteten volksthümlichen Dichter heranzutreten?

Köpke sprach das Deutsche sehr rein und gut; der Meklenburger in ihm zeigte sich nur in einzelnen Kleinigkeiten, die von der aufmerksamen Jugend begierig erfaßt wurden. So lange ich Schulmann bün war ein bei ihm häufig vorkommender Ausdruck, der denn auch von den Schülern bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten wiederholt wurde.

Das Lateinischsprechen wurde auf dem Kloster nicht sehr geübt, auch Köpke mochte es in seiner Jugend nicht eifrig betrieben haben. Dennoch hielt er es für angemessen, von Zeit zu Zeit eine Stunde lateinisch zu interpretiren, wobei ihm zuweilen ein Versehn entschlüpfte. Die Klasse konnte es sehr lange nicht vergessen, daß er einmal gesagt hatte: hoc verbum utitur apud Virgilium.

Professor Theodor Heinsius leitete mit vielem Erfolge den Unterricht in der deutschen Sprache und Litteratur, für welche Fächer er in zahlreichen und umfassenden Schriften thätig war. In Grostertia benutzten wir für die Deklamationen seinen Deutschen Bardenhain. Davon hatte er den Namen der kühne Barde oder kurzweg der Barde erhalten.

Er war nicht allein selbst ein sehr fruchtbarer Schriftsteller, sondern er empfahl auch jüngere Talente dem Publikum, indem er ihre Werke mit Vorreden versah. Dadurch hatte er sich sogar in Frankreich und in der Schweiz einen Namen erworben. Auf dem Gymnasium hatte ich keine Gelegenheit, dies zu bemerken, aber später überzeugte ich mich davon. Ein französischer Gelehrter von meiner Bekanntschaft hatte sich, um Deutsch zu lernen,176 ein sehr mittelmäßiges Werkchen mit einer Vorrede von Heinsius angeschafft. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß es viel bessere Anleitungen gebe, erwiederte er: c’est le nom de Monsieur Heinsius que je paye!

Das Fach der Geschichte und Geographie war durch Professor Stein vertreten, den die Schüler wegen seiner Strenge aufs äußerste fürchteten. Ein kleiner behender Mann mit feurig blitzenden Augen und gebogener Nase, gewöhnlich mit einem grauen Uebenocke bekleidet, leitete er den Unterricht mit gewissenhafter Pünktlichkeit, und duldete nicht, daß irgend einer in den geforderten Leistungen zurückblieb. Den sächsischen Dialekt hatte er noch nicht ganz abgelegt, und brauchte bei seinen Geschichtsvorträgen sehr oft die Partikel dann mit etwas harter Aussprache. Er hieß daher Professor Tann. Dies wußte er recht gut, und scherzte außerhalb der Schule selbst darüber: ich weiß tann sehr gut, daß ich Tann heiße!

Seine geographischen Lehr - und Handbücher erfreuten sich der allgemeinsten Verbreitung: er war bemüht, sie durch Ferienreisen mit den neusten Notizen zu bereichern. Die Einrichtung der Schnellposten, durch den Minister v. Nagler für Deutschland ins Leben gerufen, war für Stein von der größten Wichtigkeit, da sie es ihm möglich machte, die Dauer seiner Ausflüge ganz genau abzumessen. Kursbücher gab es noch nicht; aus einzelnen Zeitungsnotizen wußte Stein den Anschluß dieser Fahrten an die französischen und italiänischen Eilwagen festzustellen. Er war hierin unverdrossen und auf der Reise unermüdlich. So wurde es als eine wahre Heldenthat von ihm erzählt, daß er mit genauer Berechnung der Postkurse während der sechswöchentlichen Sommerferien von Berlin bis Neapel177 und zurück gereist sei. Als er diesen Plan zuerst seinen Kollegen mittheilte, schüttelten sie den Kopf, und meinten, das sei der menschlichen Natur zu viel zugemuthet, und er möge, als nicht ganz junger Mann, sich ein solches Wagniß vorher wohl überlegen. Desto größer war sein Triumph, als er wohlbehalten zurückkehrte und alles gesehn hatte, was er für seine Reisehandbücher zu sehn brauchte.

Den mathematischen und lateinischen Unterricht in Secunda gab Professor Otto Schulz. Er stand am Anfange seiner pädagogischen und litterarischen Laufbahn, auf der er später als Schulrath und als Schriftsteller für die heranwachsende Jugend so bedeutende Erfolge gewann. Seiner eingehenden und gelehrten Erklärung der Ars poetica erinnre ich mich mit dankbarer Freude. Da er nur ein Auge hatte, so wurde ihm per antiphrasin der Name Lynkeus zu Theil. Aber trotzdem, daß wir in seinen Stunden recht viel lernten, so verstand er es nicht, die Herzen der jungen Leute zu gewinnen. Da ich später mit ihm in vielfacher Verbindung geblieben bin, und eine große Zahl seiner vortrefflichen Schulbücher verlegt habe, wobei niemals die geringste Mishelligkeit zwischen uns vorgekommen, so habe ich oft darüber nachgedacht, worin es gelegen, daß Schulz der am wenigsten beliebte Lehrer gewesen sei. Die Ursache muß wohl darin gesucht werden, daß er uns zu wenig Wohlwollen zu erkennen gab, und mit allzugroßer Strenge bei manchen kleinen Unarten verweilte, die sich unmöglich ganz beseitigen lassen, und besser mit einer kurzen Rüge abgemacht werden.

Die griechischen und lateinischen Stunden in den höheren Klassen waren dem Professor Walch aus Jena178 anvertraut. Er stammte aus der bekannten gelehrten Familie, zeigte sich seiner Ahnen würdig, machte sich aber erst später, als Professor in Greifswald durch seine philologischen Arbeiten einen geachteten Namen. Wegen seiner abschreckenden Häslichkeit und seines sehr vernachlässigten Anzuges erhielt er die Beinamen Talg oder Qualg. Den neu eintretenden Schülern erregte er anfangs Furcht und Abscheu, bis sie merkten, daß bei ihm eine solide Gelehrsamkeit zu finden sei. Dennoch hätte sein Unterricht weit fruchtbringender sein können, wenn er ihn nicht mit völliger Gleichgültigkeit ertheilt hätte. Dieser Fehler kann dem Scharfblicke der Jugend nicht entgehn. Sobald die Schüler merken, daß dem Lehrer gar nichts daran liegt, ob sie vorwärts kommen oder nicht, so verfallen sie in dieselbe Theilnahmlosigkeit.

Neben seinen schönen philologischen Kenntnissen besaß Walch eine gründliche musikalische Bildung und ein so ausgezeichnetes Gedächtniß, daß er die längsten und schwierigsten Präludien von J. S. Bach auswendig spielte. Bei ihm sah ich zum ersten Male zu meiner unaussprechlichen Verwunderung ein Klavier mit zwei Tastaturen übereinander, das der Orgel nachgebildet, die zusammengesetzten Orgelstücke auch im Zimmer zu spielen möglich macht. Von gröster Verehrung ward ich erfüllt, als Walch äußerte, er habe auf diesem Instrumente in Jena dem Minister v. Göthe öfters vorgespielt.

Gleich bewandert im Fache der alten Sprachen wie der modernen Litteratur war Professor Valentin Schmidt, der mit großem Geschicke die schwierigen Anfangsgründe des Griechischen den Schülern genießbar zu machen verstand. Er gab damals ein kleines Werk heraus Tausend179 griechische Wörter, welche den gewöhnlichen Lexicis fehlen. Der Einbildungskraft eines Secundaners schwindelte bei dem Gedanken, daß der Verfasser nicht nur ein, sondern mehrere Lexica mehr als tausend Mal müsse aufgeschlagen haben, um ein solches Werk zu Stande zu bringen.

Einer besonderen Anhänglichkeit von Seiten der Schüler erfreute sich Professor Giesebrecht, dessen feierlicher Introduction ich beigewohnt. Er hat sich nicht durch große litterarische Leistungen bekannt gemacht, besaß aber eine gründliche Bildung in den alten und neuen Sprachen. Der überaus schwierigen Aufgabe, Themata für die deutschen Ausarbeitungen zu finden, genügte er vollkommen. In Prima lasen wir bei ihm Plato’s Apologie des Sokrates, woran ich noch immer mit Vergnügen zurückdenke. Das ungeheuchelte Wohlwollen, welches er bei jeder Gelegenheit uns an den Tag legte, war so herzgewinnend, daß in seinen Stunden jede Unordnung mehr aus Liebe zu ihm als aus Furcht vor Strafe unterlassen wurde.

Trotz dieses schönen Lehrerkreises und trotzdem daß ich mit jedem Lehrer auf einem sehr guten Fuße stand, kann ich doch an die Gymnasialzeit nur mit Beklemmung und mit dem äußersten Widerwillen zurückdenken, ja eine ganze Reihe von Jahren war es mein schrecklichster Traum, noch auf dem Kloster zu sein. Der tägliche Zwang der sieben langen Schulstunden, die unausgesetzte Beschwerde der häuslichen Arbeiten, die man gewöhnlich bis auf die letzte Stunde verschob, die Seelenangst, wenn man, nicht präparirt, in beständiger banger Erwartung dasaß, aufgerufen zu werden, die Ungeduld, mit der man alsdann die langsamen Klänge der alten plärrenden Thurmuhr180 zählte: ein Viertel, Halb, Dreiviertel, bis dann endlich das ersehnte Voll ertönte alles dies hat sich der Erinnerung mit unauslöschlich peinlichen Zügen eingeprägt. Ein Theil jener unaustilgbaren Abneigung gegen den Klassenbesuch mag auch darin gesucht werden, daß die alten Autoren, an denen ich eine besondere Freude fand, damals fast nur statarisch gelesen wurden. Daß die Befestigung in den grammatischen Formen bei einem kursorischen Lesen nicht so leicht zu erreichen ist, soll gern zugestanden werden, allein welchen Gewinn konnte man davon haben, während eines halben Jahres einen halben Gesang des Homer oder ein halbes Stück des Plautus durchzugehn? Hin und wieder las ich nun wohl die Sachen für mich weiter durch, doch dann war die lange Weile in den Stunden noch größer. Zwar gewährte in den höheren Klassen der anregende Umgang mit ein paar Mitschülern eine kleine Entschädigung; aber wie abgerissen waren die Gespräche in den kurzen zehn Zwischenminuten!

Hier will ich einiger guten Gesellen gedenken, mit denen ich in einer oder ein paar Klassen zusammensaß.

Karl Devrient, nachher als Heldenspieler die Zierde mehrerer Bühnen, und noch jetzt in Hannover thätig, deklamirte in Grostertia beim öffentlichen Examen ein tragisches Gedicht von Friedrich: Adiatorix und seine Söhne (Heinsius Bardenhain 3, 384) mit so erschütternder Wirkung, daß man ohne Mühe in ihm den künftigen großen Schauspieler erkennen konnte. Er wohnte bei seinen Aeltern in der Brüderstraße an der Ecke gegen die Petrikirche hin; wir machten recht oft den Weg vom Gymnasium zusammen, und hielten auch sonst gute Kameradschaft. Im Jahre 1813 ging er als Colombscher Husar mit ins181 Feld, und verlor durch einen Hieb oder Schuß den vierten Finger der rechten Hand. Sein äußerst geschicktes Spiel verdeckte diesen Mangel so vollkommen, daß das große Publikum nichts davon gewahr ward.

Peter Kiehl, ein kleiner blasser Holländer, saß in Grostertia neben mir, und ergötzte mich durch die Erzählung seiner merkwürdigen Schicksale. Sein Vater stand im Haag in den Diensten des Prinzen von Oranien, und floh mit ihm, bei der Besetzung von Holland durch die Franzosen, nach England. Hier ward Peter Kiehl in Hamptoncourt-Palace bei London geboren und erzogen, kehrte nach dem Frieden zurück und genoß nun einer deutschen Erziehung. Später studirte er Medizin, ging nach dem Haag und wurde Chef des Medizinaldepartements im Ministerium. Im Jahre 1865 erneuerten wir unsre alte Bekanntschaft, und ich verlegte von ihm ein gründliches Werk über die asiatische Cholera.

Gustav Rose war mir in Grostertia einer der liebsten Freunde und ist es jetzt noch. Er gehört zu den besten Mineralogen, und soll nach Mitscherlichs Tode in der Krystallographie den ersten Platz einnehmen. Da wir beide unsern Wohnsitz in Berlin haben, so dauert das alte Verhältniß in behaglichster Weise fort.

In Secunda saß ich mit Steinhart zusammen, der sich später als Professor in Schulpforta durch die gründlichsten philologischen Werke auszeichnete, auch jetzt noch (1869) als Emeritus in Halle rastlos thätig ist. In Secunda kam es während der schönen Sommermonate wohl vor, daß die Präparationen auf die alten Autoren etwas vernachlässigt wurden. Wenn nun Professor Köpke im Homer einen nach dem andern aufrief, und bei allen einen trost -182 losen Mangel an Vokabelkenntniß wahrnahm, so sagte er nach einigen tadelnden Bemerkungen ganz zuversichtlich: Nun, Steinhart! worauf dann Uebersetzung und Erklärung im schönsten Flusse dahingingen.

Alle diese Mitschüler, außer Peter Kiehl, hatten einen angenehmen Geruch.

Nach dem Tode des Grosvaters Nicolai konnte ich ungehindert in seine Bibliothek eindringen, und fand hier die reichlichste Nahrung für meine Wißbegierde. Aus wie kleinen Anfängen war diese große Sammlung entstanden! Nicolai erzählte in der Schrift über seine gelehrte Bildung (p. 26), daß er sich als Lehrling in Frankfurt a. d. O. (1749) einen Dreier vom Frühstücke abgespart, um eine Lampe, Oel und Papier zu kaufen, und sich englische Gedichte abzuschreiben! Daraus entstand ein kleines Oktavbändchen, dem er den Titel gab: Several Poems. Es ist noch vorhanden, und ich kann es nicht ohne Rührung betrachten. Bei Nicolais Tode bestand seine Bibliothek, wie schon bemerkt, aus mehr als 16,000 Bänden.

Im Aeußern der Bibliothek zeigte sich wiederum sein nüchterner, nur auf das praktische gerichteter Sinn. Die Bücher wurden alle in gelbes Papier eingebunden. Dies bleibt zwar nicht lange sauber; aber es bietet den Vortheil, daß man bei mehrbändigen Werken Titel und Inhalt auf dem Rücken vermerken kann, was beim Aufsuchen sehr viel Zeit erspart. Auf dem Inneren des Deckels bezeichnet eine Zahl das Fach, in dem die Bücher alphabetisch geordnet stehn. In dem allgemeinen alphabetischen Kataloge findet man neben dem Titel die Nmnmer des Faches und das Format angegeben. Endlich giebt ein Situazionsplan183 der verschiedenen, mit Büchern angefüllten Zimmer den Standort der Fächer an, und so läßt sich jedes Buch ohne Schwierigkeit auffinden. Anfangs besorgte Nicolai das Aufschreiben der Titel selbst, und noch jetzt erfreuen mich auf manchem Buche die festen reinen Züge seiner Hand; später übergab er dies Geschäft einem Gehülfen der Buchhandlung.

Die ganze für eine Privatbibliothek musterhafte Einrichtung habe ich beibehalten und getreulich fortgeführt. Auch von dem gelben Papiere mochte ich mich anfangs nicht trennen. So wurde noch die Oktavausgabe von Göthe’s Werken (1815 1819) gelb gebunden, wobei das Aufschreiben des Titels und Inhaltes mir ein wahres Vergnügen gewährte; aber da mit der Zeit das abscheuliche gelbe Papier bei allen Bekannten gar zu vielen Widerspruch erregte, so wählte ich andre Einbände, und ließ Titel und Inhalt hinten aufdrucken.

Nicolai hatte sich von Chodowiecki eine Etiquette, die jedem Buche vorn eingeklebt ist, zeichnen und stechen lassen; ein kleiner Genius hält ein großes Buch, in dem ein andrer Genius buchstabirt: Friderici Nicolai et amicorum. Gewiß das liberalste Motto für einen Bücherbesitzer! Gern hätte ich es bei der späteren Vermehrung der Bibliothek beibehalten, aber theils waren die beiden Platten (eine für das größere, die andre für das kleinere Format) gänzlich ausgedruckt, theils war kein Nicolai mehr vorhanden, um sie unverändert neu stechen zu lassen. Die Abänderung: Gustavi Parthey et amicorum schien die gar zu wohlfeile Wiederholung eines guten Einfalles. Lange blieb ich in Ungewisheit und ließ die neuen Erwerbungen ohne Bücherzeichen, bis denn endlich aus den Unterredun -184 gen mit meinem Freunde Christian Köster in Heidelberg die jetzige etwas krause Vignette entstand. Die änigmatischen Symbole im Abschnitte haben meinen Freunden viel zu rathen aufgegeben, aber Caspars vortrefflicher Stahlstich findet allgemeinen Beifall.

Die Glasschränke in der Wohnstube des Grosvaters wurden von mir zuerst durchmustert. Hier stand die deutsche belletristische Litteratur. Sie begann mit Opitz, Günther und Flemming, und ging in großer Vollständigkeit bis auf Göthe und Schiller herab.

Die darauf folgende französische schöne Litteratur zog mich sehr wenig an. Trotz des frühzeitigen Parlirens mit Madame Clause wollte die französische Sprache nie recht bei uns Wurzel fassen, und der glühende Haß gegen die übermüthigen Unterdrücker des Vaterlandes trug sich auf ihre Litteratur über. Auch schreckte der gewaltige Umfang mancher Werke von einer näheren Bekanntschaft zurück. Corneille, Racine, Molière hatten jeder 6 Bände, Caylus deren 12, Rousseau 36, Voltaire gar 71. Wer konnte hoffen, auch nur einen Theil davon durchzulesen?

Dagegen übte die italiänische Litteratur gleich anfangs einen eigenthümlichen Reiz aus. Den Unterricht im Italiänischen ertheilte auf dem Grauen Kloster der Dr. (später Professor und Geheimerath) Tölken. Er war ganz dazu geeignet, bei den Schülern Lust und Liebe zum Gegenstande zu erwecken, weil er selbst bei einem längeren Aufenthalte in Italien sich für die italiänischen Schriftsteller begeistert hatte. Mit wahrem Entzücken lauschte ich seinen Worten, wenn er zuweilen, wo die Gelegenheit sich bot, von den Trümmern in Rom, von den Kunstschätzen in Florenz, von den Ausgrabungen in Pompeji erzählte. Nach -185 dem wir bei ihm beide Theile von Idelers italiänischem Handbuche durchgemacht, ward Tasso’s Gierusalemme im Zusammenhange gelesen. Davon fand ich in des Grosvaters Bibliothek mehr als eine Ausgabe, und wählte mir eine allerliebste Glasgower zum gewöhnlichen Gebrauch. Unter den übrigen italiänischen Klassikern standen freilich auch einige bändereiche Schreckbücher, Gozzi mit 12, Metastasio mit 16, Goldoni mit 17 Theilen.

Auch für die englische Litteratur hatte Nicolai mit eben so viel Fleiß als Kenntniß gesammelt. Sie füllte in seiner Wohnstube die beiden Glasschränke neben der Vexirthür, und ich könnte noch jetzt die Stellen vieler einzelnen Werke angeben. Gern nahm ich Miltons Paradise lost und Goldsmiths Vicar in die Hand, aber Smollet mit 8, und Swift mit 17 Bänden kamen seltner an die Reihe; ich sah die Unmöglichkeit ein, sie ganz durchzulesen, und vor dem bloßen Naschen und Nippen hatte ich von Jugend auf eine unüberwindliche Abneigung. Shakespeare war in den beiden Ausgaben von Malone und von Steevens vorhanden, welche damals für die besten galten; noch lieber griffen wir zu den Uebersetzungen von Eschenburg und von Schlegel.

Als ich später auf der Universität zu Heidelberg das Spanische lernte, um den Don Quixote in der Ursprache zu lesen, erwähnte der Lehrer einmal beiläufig, daß die beiden Theile der Originalausgabe von 1608 und 1615 selbst in Spanien zu den allergrösten bibliographischen Seltenheiten gehörten. Wer beschreibt mein freudiges Erstaunen, als ich bei meiner Rückkunft nach Berlin, neben der geschätzten modernen Ausgabe von Pellicer auch jene beiden Quartbände im altspanischen gleichzeitigen Einband in der Bibliothek des Grosvaters vorfand!

186

Jugendfreunde. Turnplatz. Th. Körner.

Manche Jugendfreundschaften, die sich in der Hartungschen Schule angeknüpft, gingen auch auf das Graue Kloster über, und dauerten dann für das ganze Leben fort. Wegen seines stillen und sinnigen Wesens gefiel mir auf der Schulbank mein Nachbar Friedrich Paul, der Sohn eines Kürschners aus Schwedt. Wir schlossen uns auf dem Kloster näher an einander an, zeigten uns die im Geheimen gemachten Gedichte voller Schiller-Reminiscenzen, in denen eine überschwängliche Sehnsucht nach höheren Idealen in sehr unvollkommener Form sich aussprach, und waren bald unzertrennlich. Durch ihn lernte ich den Homer von Voss kennen, von dem ein schönes Velinexemplar in der Bibliothek des Grosvaters Nicolai stand, mit der Bemerkung Donum Vossii . Dieses wurde nun neben dem griechischen Originale mit solchem Eifer gelesen, daß eine Menge Verse und Halbverse in unsere tägliche Umgangssprache übergingen. Wir suchten diese Vorliebe bei unseren Genossen geltend zu machen, fanden aber vielfachen Widerspruch, indem manche Verse, die wir für sehr schön hielten, von andern für holperig erklärt wurden. Da das Original in Secunda immer daneben gelesen wurde, so ließen sich lehrreiche Vergleiche anstellen. Eine scharfe Kontroverse erhob sich über den bekannten Vers (Od. II, 598) 187

Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor,

den man als gar zu schwülstig und von der Simplicität des griechischen

〈…〉〈…〉,

gar zu sehr abweichend verdammte. Aber den prachtvollen Bau des Vossischen Hexameter konnten auch die Gegner nicht abläugnen. Unter den Idyllen leuchtete der siebzigste Geburtstag hervor, der uns die ganze, oft zu breit gesponnene Luise in concentrirter Anmuth zu enthalten schien.

Pauls Gesicht hatte gewöhnlich einen finstem Ausdruck wegen seines pechschwarzen dicht gekräuselten Haares und seiner buschigen Brauen, die ein paar dunkelbraune Augen beschatteten, aber in unseren frohen Stunden, deren es unendlich viele gab, erheiterten seine strengen Züge sich zu geistreicher Lebendigkeit. Er neigte ein wenig zur Mystik, und verehrte deshalb Werners Söhne des Thales; ich hatte von Anfang an Göthe gelesen, und fühlte mich angezogen von seiner Klarheit. Wie es wohl zu gehn pflegt, so kannte keiner recht genau den Liebling des anderen. Ich machte mich zuerst an die Söhne des Thales und erfreute mich an der trefflichen Zeichnung der Karaktere, an der edlen Sprache, an der Wärme des Gefühls, allein alles dies fand ich bei Göthe in noch höherem Maaße und ohne alle symbolisirenden Zuthaten. Wenn ich Paul fragte, was denn mit der langen wunderlichen Erzählung vom Baffometus eigentlich gemeint sei, so wußte er nichts darauf zu sagen, als daß er gehört habe, es seien Freimaurer-Geheimnisse dahinter verborgen. Damit war mir noch weniger gedient: denn von einer Poesie, die sich in188 den Mantel des Geheimnisses hüllt, konnte ich nicht viel halten. Ich vermochte ihn nun sehr bald, den Band des Göthe mitzunehmen, worin Iphigenia, Tasso etc. enthalten waren. Dies wirkte, und ich hatte die Freude zu sehn, daß er den Göthe eifrig las, und mit der Zeit noch besser darin Bescheid wußte als ich. Paul hatte sich früh in kleinen Lustspielen und andern dramatischen Arbeiten versucht, nun sagte er mir eines Tages ganz aufrichtig, daß er, so lange Werner sein Ideal gewesen, gehofft habe, in der Poesie selbst etwas leisten zu können, seitdem er aber Göthe gelesen, sei diese Einbildung gänzlich verschwunden.

Waren nun so die Grundanschauungen unserer Seelen in der schönsten Uebereinstimmung, so fehlte es doch nicht an secundären Punkten, über die wir verschiedene Meinungen hegten. Dies gab aber erst die rechte Würze des Gespräches. Wenn zwei alte Leute sich mit einander unterhalten, so wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß jeder den andern bei seiner einmal gefaßten Meinung belasse, aber die vordringliche Jugend giebt sich dem süßen Wahne hin, ihre Ueberzeugung der ganzen Welt aufdringen zu können. Daher verging fast kein Tag, wo ich nicht mit Paul im Scherz oder Ernst aufs heftigste disputirte. Da mir immer nur die Sache am Herzen lag, Paul aber mir in der Dialektik überlegen war, so wußte ich ihn durch zähes Festhalten an demselben Punkte zu den abentheuerlichsten Behauptungen hinaufzuschrauben, worauf der Streit gewöhnlich durch ein herzliches Gelächter beendigt ward.

Paul war ein ächter Bücherfreund, der sich für alle Arten von philologisch-wichtigen oder antiquarisch-seltenen Werken interessirte. In unserm Kreise hieß er der 189 cherwurm, weil er nicht leicht bei der Bude eines Antiquars vorbeigehn konnte, ohne ein paar Bände in die Hand zu nehmen. Da seine Mittel äußerst beschränkt waren, so konnte er nur sehr wenig auf diese Liebhaberei verwenden; er brachte indessen ganz artige Sachen zusammen, indem er an dem Grundsatze festhielt, ein gutes Buch zu kaufen, wenn er es für den ungefähren Preis des Einbandes bekommen konnte. Voigt catalogus librorum rariorum, Panzer annales typographici und ähnliche Werke, welche in der Nicolaischen Bibliothek sehr vollständig vorhanden waren, studirte er eifrig, um das Gute und Beachtenswerthe kennen zu lernen.

Als ich später bei fortschreitender Bildung inne ward, welche Lücken das Vermächtniß des Grosvaters in der klassischen Litteratur meiner Bibliothek gerissen, entwarf ich mit Paul zusammen den Plan, die Texte der alten Autoren in guten Ausgaben wieder anzuschaffen. Hier war er nun ganz an seinem Platze, indem er auf Auctionen und durch gelegentliche Ankäufe das wünschenswerthe zu erwerben wußte. Mit welcher Aemsigkeit und Sorgfalt studirte er die verschiedenen Auctionskataloge; mit welcher Ueberlegung und Kenntniß bestimmte er die zu stellenden Preise, mit welcher Freude trat er so oft ein paar Quartanten oder einen Folianten unter dem Arme Abends in mein Zimmer, um mir irgend einen vortheilhaften Erwerb vorzulegen, den er so eben bei einem Antiquar gemacht! Ich verfehlte meinerseits nicht, für den Zuwachs seiner Bibliothek zu sorgen, und so bestand diese Herzens - und Bücherfreundschaft bis zu seinem frühzeitigen Tode in ungetrübter Heiterkeit.

Ein anderer meiner Jugendfreunde, Namens August190 Aegidi, war der Sohn eines Auditeurs aus Danzig. Sein Vater besaß in der Nähe der Stadt ein kleines Landgut, der französische Krieg ruinirte ihn, er starb 1811 und hinterließ eine Wittwe mit 6 Kindern in sehr bedrängten Umständen. August war an meinen Vater empfohlen worden, der sich seiner auf alle Weise annahm; wir saßen zusammen in Grostertia des Grauen Klosters, und hatten so die beste Gelegenheit, recht bekannt zu werden. Er war herzensgut, aufrichtig und treu, in allen Dingen ordentlich und gewissenhaft. Da er einige Jahre mehr hatte, als Fritz und ich, so machte er bei unsern gemeinschaftlichen Ausflügen den erfahrenen Mentor, und wußte besonders Fritzens gutmüthige Teufeleien in den gehörigen Schranken zu halten. In Gemeinschaft mit einem andern Danziger Schüler, der aber gar nicht in unsern Kreis kam, hatte August sich ein sehr bescheidenes Stübchen bei einer Handwerkerfamilie in der Jüdenstraße für einen geringen Preis gemiethet. Als ich ihn dort zum ersten Male besuchte, fiel die große Dürftigkeit der Einrichtung mir schwer aufs Herz, indem ich sie mit meiner eignen günstigen Lage verglich. Außer den allernöthigsten Möbeln befand sich gar nichts in den vier kahlen Wänden.

Da August den grösten Theil des Tages in der Klasse zubrachte, so hielt er es für eine unnützige Ausgabe, noch am Abende heizen zu lassen, und arbeitete in der Kälte, bis ihm die Finger erklammten. Dies hatte ich nicht sobald bemerkt, als ich ihn einlud, in unsrer warmen, behaglichen Stube zu arbeiten, was er freudig annahm. Unbeschreiblich rührend war es, wenn er uns von seinen früheren glücklichen Verhältnissen erzählte, wie er auf dem Gute seines Vaters ein eignes kleines Reitpferd besessen,191 das er selbst putzen, satteln und zäumen gelernt, wie bei der Erndte eine ganze Reihe von beladenen Kornwagen in den Hof gefahren, wie dann die Franzosen gehaust und alles zerstört hätten.

Hier stiegen zuerst in meinem Innern einige skeptische Betrachtungen auf, wie es möglich sei, daß bei einer wohlgeordneten Weltregierung ein so grausames Herabwerfen von dem Gipfel der glücklichen Existenz bis zum fühlbaren Mangel geduldet werden könne? Allein da ich August in seiner äußeren beschränkten Lage immer heiter und froh sah, so hielt ich mich nicht lange bei der Lösung jenes unlösbaren Problems auf, sondern suchte nur so viel als möglich meinem Freunde Erleichterung zu verschaffen. Dies erkannte er an, und dies Gefühl knüpfte das Band zwischen uns noch fester. Aber bei gegenseitiger Aufrichtigkeit wird es unter solchen Umständen fast eben so schwer zu geben als zu nehmen. August mochte wohl manchmal meine kleinen Listen durchschauen, ließ es mich aber nie merken. Undankbarkeit ist in vielen Fällen nur die Schuld des ungeschickten Gebers, denn jede erwiesene Wohlthat ist eine Last, mit der man den andern beschwert, und wem fällt eine Bürde nicht unbequem, wenn sie nicht so sanft als möglich aufgelegt wird?

August genoß im Kreise unserer Spielkameraden des grösten Ansehns und der meisten Liebe: denn er war der stärkste, und benutzte seine Stärke nie, um schwächere zu mishandeln, sondern nur um die gute Ordnung aufrecht zu erhalten. Seine gedrungene Gestalt war im besten Ebenmaaße gebaut, Arme und Schenkel von stahlkräftiger Festigkeit, die Brust breit, der Gang elastisch, das Gesicht wohlgebildet und von ernstem Ausdruck; wir neckten ihn192 damit, daß er eine römische Nase habe, und wußten nicht, daß dies ein Kompliment sei.

Durch August wurden wir auf den Turnplatz zu Jahn geführt, dem damals die ganze Berliner Jugend zuströmte. Was im Alterthum bei allen Völkern als selbstverständlich galt, daß man nicht allein den Geist, sondern auch den Körper ausbilden müsse, um eine harmonische Existenz zu führen, das wurde hier von einem einzelnen Manne als eine Neuigkeit auf das Tapet gebracht, und von manchen Seiten mit Naserümpfen aufgenommen. Diese systematische Ausbildung der Jugend, so sagten die Tadler, sei ganz unnütz: denn jeder Junge könne auf einen Apfelbaum klettern und über einen Graben springen; niemand werde so leicht in den Fall kommen, an einem Seile 30 Fuß in die Höhe zu klimmen; die Uebungen am Recke seien gefährlich, denn sie trieben das Blut nach dem Kopfe, und was die Vorbereitung zum Militärdienst betreffe, so werde es doch wohl niemandem einfallen, die Kinder anständiger und gebildeter Leute unter die Soldaten stecken zu wollen.

Dennoch wurde der Turnplatz von vielen verständigen Personen aus Antheil, von andern aus Neugierde besucht. Die erste Einrichtung in der Hasenheide war von großer Einfachheit. Ein Waldfleck von einigen Morgen Landes, mit Kiefern bestanden, wurde von einem mäßig-breiten Graben umzogen, der an einigen Stellen Uebergänge zeigte. In der Mitte sah man ein Bretterhäuschen zur Aufbewahrung der wenigen nothwendigen Geräthschaften. Die Barren, Recke, Kletterbäume standen in angemessenen Entfernungen, eine Rennbahn war am östlichen Ende gegen die Rollberge hin abgesteckt. August erhielt gleich den Grad eines Vorturners. Im Laufen, Springen und Ringen193 gehörte er zu den Koryphäen; wir waren stolz darauf, seine näheren Freunde zu sein; beim Gerwerfen hinderte ihn sein kurzes Gesicht, auch als der erste dazustehn.

Aller Verweichlichung wurde von den Turnern der Krieg erklärt. Einfache Kost diente zur Stärkung des Körpers; alle Arten von Spirituosen, so wie Kuchen und andre Süßigkeiten verfielen dem Interdikt. Als einstmals bemerkt wurde, daß einige zuschauende Bürgersleute sich in das Gras setzten und Kuchen verzehrten, so erhielt das ganze, jenseit des Grabens befindliche Publikum den Namen Kuchenbäcker . Für einen ächten und rechten Turner zerfiel nun die ganze Menschheit in 2 Klassen, in Turner und in Kuchenbäcker. Französische Ausdrücke wurden so viel als möglich vermieden; voltigiren hieß schwingen, raisonniren hieß lallen, das Rappier hieß das Fechtel, der Versammlungsplatz hieß kürzer der Tie, wohin wir durch eine hölzerne Klapper zusammenberufen wurden.

Jahn leitete die Anstalt mit großer Einsicht, indem er eben jedem seinen freien Willen ließ, und dabei sein Ziel, eine Kräftigung der Jugend durch körperliche Uebungen, unverrückt im Auge behielt. In seinen Stadtgesprächen soll er oft gegen die Regierung und die Minister ein loses Maul gehabt haben, was ich dahingestellt sein lasse, da ich ihm nicht näher getreten bin; daß er uns auf dem Turnplatze niemals staatsverbrecherische oder gemeingefährliche Grundsätze beigebracht, kann ich der Wahrheit gemäß bezeugen. Er war kein großer Redner, aber was er mit kräftiger Stimme, manchmal nicht ohne Stocken vorbrachte, verfehlte nie seine Wirkung: denn es kam aus dem Herzen. Seine Verhaftung und sein langer geheimnißvoller Prozeß erregten eben so viel Erstaunen als Un -194 willen; es schien uns allen unbegreiflich, daß der schlichte gerade Mann mit der originellen kernigen Geistesrichtung, den wir Jahre lang öffentlich hatten wirken sehn, nun auf einmal ein demagogischer Häuptling und verkappter Landesverräther sein solle. Es verlautete, daß man bei seiner Haussuchung kein andres Zeichen einer Verschwörung gegen den preußischen Staat gefunden habe, als einen alten Dolch, den seine Frau zum Zuckerschlagen benutzte. Das Gebahren der Kamptzschen Immediatkommission ward überall auf das schärfste getadelt, das Eingreifen in die bestehenden Gesetze für völlig unerlaubt erklärt. Als einmal am Tische des Grosvaters Eichmann die Rede davon war, daß gar nichts bei der Untersuchung herauskomme, sagte er mit grimmigem Hohne: nun ja, wo man nichts herausinquiriren kann, da wird etwas hineininquirirt!

Als nun gar (1819) der Turnplatz geschlossen, und das Turnen als etwas gemeinschädliches untersagt wurde, da mußte man sich gestehn, daß die Einsicht der Regierenden sehr weit hinter der Einsicht der Regierten zurückgeblieben sei. Geradezu lächerlich war die Bestimmung, daß Jahn sich der Hauptstadt Berlin in einem Umkreise von 10 Meilen nicht nähern dürfe. Das Verfahren gegen Jahn und gegen die übrigen Demagogen, mit denen er in gar keiner Verbindung stand, bleibt als ein Stück Kabinetsjustiz für immer eine dunkle Stelle in der Regierung Friedrich Wilhelms III., ein Brandmal für die Herren v. Kamptz, v. Tzschoppe und Genossen.

Die Lust an den Turnübungen war bei uns so lebendig, daß wir in einer schönen Kastanienlaube des großen Gartens ein Reck anbrachten, und unter Augusts Leitung daran die verschiedenen, in der Hasenheide gelernten195 Schwingungen fortsetzten; auch fand sich in dem Fliederwäldchen eine passende Stelle für eine mäßig hohe Kletterstange. Mein Vater begünstigte anfangs diese Uebungen, allein bald wurde er dagegen eingenommen, als er bemerkte, daß wir dabei die Gesichter verzerrten, wie dies bei jeder körperlichen Anstrengung mehr oder weniger der Fall ist. Fritz hatte sich angewöhnt, beim Anlaufen zum Springen die Zunge zum linken oder rechten Mundwinkel abwechselnd heranszustrecken, und ich pflegte beim Klettern die Zähne heftig aufeinander zu beißen. August war diesen Schwächen weniger unterworfen, weil ihm die Sachen leichter von Statten gingen, er ward also von meinem Vater aufs dringendste angewiesen, auch bei uns auf eine gute Gesichtshaltung zu achten.

Nun las ich in jener Zeit mit Paul zusammen Virgils Eklogen, und wir fanden es herrlich, an warmen Sommernachmittagen in jener kleinen Kastanienlaube zu arbeiten. Paul faßte sogar den großen Entschluß, die Eklogen metrisch zu übersetzen, was mir anfangs gar zu kühn vorkam, aber er antwortete mir mit Horaz: Sapere aude! Die Ausführung hatte einige Schwierigkeiten, gewährte jedoch einen unendlich süßen Genuß. Aus Homer und Virgil waren uns wohl die Regeln des antiken Hexameters bekannt geworden, allein die Positionen, die von Natur kurzen und langen Sylben fanden im Deutschen keine rechte Anwendung. Bothes antikgemessene Gedichte, ein Verlagswerk der Nicolaischen Buchhandluug, schien völlig ungenießbar. Bloß dem Tonfalle des Vossischen Homer zu folgen, war uns zu unwissenschaftlich. Wir griffen nach: Voss Zeitmessung der Deutschen, und lasen dort einzelne treffliche Bemerkungen, doch schon die übermäßige Länge des Ka -196 pitels von den mittelzeitigen Sylben mußte uns bedenklich machen, und über den Bau des Hexameters fanden wir sehr wenig. Dies hatte, wie Voss uns später in Heidelberg selbst mittheilte, seinen Grund darin, daß er dem mit kindlicher Pietät verehrten Klopstock nicht habe seine schlechten Hexameter vorrücken wollen: das Haupterfordemiß des Hexameters sei die Caesur; im Messias gebe es manche Verse, die man nur als beliebige sechsfüßige Zeilen ansehn könne, weil ihnen die Caesur fehle, so z. B. der bewunderte Vers

Drohend erscholl der geflügelte Donnergesang in der Heerschaar!

Indessen war bei unsern Vorstudien doch einiges theoretische hängen geblieben, die Uebersetzung der Eklogen wurde begonnen, und allmälig kamen wir in den Zug. Wenn die Verse nicht recht fließen wollten, so machte ich am nahen Recke eine Kehre, eine Wende oder einen Stehschwung, um das Gehirn in bessere Bewegung zu setzen. Paul jedoch war allen Leibesübungen aus natürlicher Unbeholfenheit abgeneigt, und meinte, daß es unmöglich zum besseren Denken beitragen könne, wenn man sich auf den Kopf stelle. Ein paar Eklogen waren auf diese Weise mit Hülfe der Gymnastik fertig geworden, und gewährten mir, von Pauls sauberer Hand ins Reine geschrieben, die gröste Freude; allein bald war es damit vorbei: denn Paul entdeckte im Bibliotheksaal ein wunderfeines Velinexemplar der Vossischen Uebersetzung der Eklogen, ohne Zweifel ebenso wie der Homer, ein Geschenk von Voss an Nicolai. Bei einer Vergleichung unserer Verse mit den Vossischen trat ein zu großer Abstand hervor, und unsere Arbeit blieb liegen. 197

Einen nachhaltigen Eindruck gewährte es, als im Jahre 1811 Theodor Körner in unser Haus kam. Mein Vater war mit Körners Aeltern in Dresden auf das innigste befreundet, und nahm nicht den geringsten Anstoß daran, daß der Sohn kurz vorher von der Leipziger Universität relegirt war. Damals gab es böse Reibungen unter den dortigen Studenten; die Adligen hatten erklärt, sich nicht mit den Bürgerlichen schlagen zu wollen; Körner stand an der Spitze der bürgerlichen Vereinigung; er zwang einen Adligen den Zweikampf anzunehmen, und erhielt einen Hieb ins Gesicht, der ihm leicht ein Auge hätte kosten können.

Als er zu uns eintrat, jagte er den Kindern anfangs Furcht und Schrecken ein. Die mehr schlanke als breitschultrige Gestalt erschien uns von riesiger Größe. Er ging ganz schwarz gekleidet; der enganliegende Gehrock war mit Schnüren besetzt. Auf der noch nicht ganz vernarbten Wunde trug er ein schwarzes Pflaster, und um dies zu verbergen, zog er eine dicke Locke seiner prächtigen schwarzen Haare darüber, die auch das ganze Auge verdeckte. Tante Jettchen nannte ihn deshalb den Cyklopen. Aber es dauerte gar nicht lauge, so war er der Liebling der Kinder geworden, ohne daß ich recht anzugeben wüßte, worin dies gelegen. Er gab sich gar nicht besonders viel mit uns ab, aber er war eben eine gerade, offene, liebenswürdige Natur, die jeden für sich einnehmen mußte. Wenn wir des Abends in der Kinderstube hörten, Herr Körner sei vorn, so ließen wir die Schularbeiten liegen, und eilten in das Besuchzimmer. Mit einer schönen, klangvollen Baßstimme las er eigne und fremde Gedichte vor, wobei der sächsische Dialekt uns nur anfangs störte: wir wurden von seiner Begeisterung mit fortgerissen. 198

Manchmal erzählte er etwas von seinem Leipziger Studentenleben, und wußte besonders das dortige Stadttheater höchst ergötzlich zu beschreiben. Das Parterre der kleinen, finstern Bretterbude wurde fast ausschließlich von den Studenten eingenommen und beherrscht. Zu der schmalen Eingangsthür führte von außen eine wackelnde Holztreppe von 5 Stufen hinan, und eine eben solche führte inwendig gleich wieder hinab. Bei starkem Zudrang wurde man die äußere Treppe fast hinaufgehoben, und oben angelangt konnte man nichts besseres thun, als mit vorwärts eingesetztem Ellenbogen die 6 inneren Stufen hinabzutanzen, um in dem dunkeln Gewühle so weit vorwärts zu dringen, als die ballistische Kraft des Armes reichte. Da der Boden des Parterres nur aus locker zusammengelegten Brettern bestand, so läßt sich denken, welchen Lärm jeder neue Ankömmling verursachte.

Unter den Schauspielern befand sich einer von mittelmäßigen Gaben, der aber zur Unterhaltung des Publikums dadurch viel beitrug, daß ihm auf der Bühne von Zeit zu Zeit einige freiwillige und unfreiwillige Unglücksfälle begegneten. Als er einst nach einer kräftigen Tirade aus der Seitenthür abstürzen sollte, fand er diese zufällig verschlossen, und mußte unter allgemeinem Gelächter um die Kulisse herumlaufen. Im Vergessen der Requisiten trieb er’s weit. Als er gegen seinen Feind den Degen ziehn sollte, fand sich’s, daß er ihn gar nicht umgeschnallt. Daß bei den abzufeuernden Schüssen ihm jedesmal die Pistole versagte, verstand sich von selbst. Einmal sollte er als verstorbener Geist im langen weißen Gewande aus der Versenkung steigen. Der Zipfel des Tuches verwickelte sich in die Schraube und zog ihn nieder, so daß er zwar199 unbeschädigt, aber zu einem unförmlichen, weißen Klumpen zusammengedrückt, oben ankam. Trotzdem versuchte er noch in dieser Stellung seine Rolle herzusagen. Ein ander Mal spielte er einen alten, verwundeten Offizier, der den Arm in der Binde trägt, und dem seine Tochter entführt ist. Im höchsten Pathos hat er auszurufen: und kann ich auch nur einen Arm zum Himmel heben, so schwöre ich doch, die Unthat zu rächen. Er trat bis dicht an die Lampen, und hob beide Arme in die Höhe.

Keinen größeren Gefallen konnte Körner uns thun, als wenn er in Tante Jettchens Stube uns etwas zur Guitarre sang. Allgemeine Heiterkeit erregte sein Lied:

Ein Ambos und ein Mühlenstein,

Die schwammen bei Dresden wohl über den Rhein,

Sie schwammen sanft und leise;

Ein Frosch verschlang sie alle beid,

In den Hundstagen auf dem Eise.

Ein andres Lied vom Doctor Eisenbart und seinen kräftigen Medikamenten fand nicht weniger Beifall. Tante Jettchen hatte auch die Guitarre gelernt, und übte sich täglich auf das gewissenhafteste, kam aber, bei geringem Talente, nicht weit vorwärts. Die geniale Leichtigkeit, mit der Körner das Instrument behandelte, erregte ihre Bewunderung, die nicht ganz frei von Neid war. In der reichen musikalischen Sammlung des Grosvaters Nicolai hatte sie eine handschriftliche Komposition von Zelter aufgefunden: Schillers Hero und Leander mit Guitarrenbegleitung. Dieses Stück erklärte sie für sehr schwierig und übte lange Zeit vergeblich daran. Als sie es eines Tages Körnern vorlegte, und er es nach einigen Versuchen ohne200 Anstoß spielte, gab sie ihren ungetheilten Beifall zu erkennen, doch konnte es uns nicht entgehn, daß sie seitdem die Guitarre weniger häufig zur Hand nahm, als früher.

Körner liebte von Jugend auf das Wandern und hatte schon mit 15 oder 16 Jahren als leichter Troubadour mit der Guitarre auf dem Rücken und wenig Geld in der Tasche kleine Fußreisen durch die Sächsische Schweiz gemacht. Er übernachtete in einem Bauernhause oder bei einem befreundeten Dorfpfarrer, zog am Morgen singend durch die schattigen Thäler, lagerte sich unter einer alten Eiche und verzeichnete in sein Taschenbuch mit flüchtigem Griffel die ihm zufliegenden poetischen Eingebungen; er vertiefte sich in das Waldesdickicht, wurde von einem Gewitterregen tüchtig durchnäßt und erklomm dann eine einsame Berghöhe mit überraschender Fernsicht. Seine belebten warmen Schilderungen prägten sich unauslöschlich unserem Gedächtnisse ein, und machten solche Gebirgsfahrten für uns zum Ideal aller Reiseromantik.

Wegen seines klangvollen Basses war Körner, auf Veranlassung meines Vaters, in die Zeltersche, von Fasch gegründete Singakademie eingetreten, die in jener Zeit einzig in ihrer Art dastand. Eine Gesellschaft ächter Musikfreunde aus den gebildeten Ständen hatte sich vereinigt zur würdigsten Ausführung der besten klassischen Werke auf dem Gebiete der geistlichen Musik, die man sonst nirgend zu hören bekam. Der protestantische Gottesdienst, der seinen Mittelpunkt in der Predigt findet, gestattet nur das Choralsingen; er hat den ganzen musikalischen Apparat der katholischen Kirche, die Responsorien, die instrumentirten Messen, das Requiem etc. über Bord geworfen. Auch die Oratorien finden keinen Platz im protestantischen Ritus,201 der daher an einer gewissen Nüchternheit leidet. Dieser Mangel wurde damals vielfach empfunden; man wollte die schönen alten Gesangstücke nicht untergehn lassen, und Fasch stiftete am Ende des vorigen Jahrhundert einen Gesangverein, der diese Schätze der edelsten Geistesrichtung außerhalb der Kirche zur Hebung gelangen ließ.

Welch ein Unterschied zwischen einem Chore von gebildeten und ungebildeten Stimmen Statt finde, das zeigte sich am deutlichsten bei einer Vergleichung der Aufführungen der Singakademie mit den Leistungen des Theaterchors.

Körner empfand eine große Freude an dieser reinen Vokalmusik, wie sie ihm selbst die berühmte Kapelle der Dresdner katholischen Kirche nicht geboten hatte. Er besuchte die Versammlungen der Singakademie sehr regelmäßig, die ihr Repertorium nach und nach immer weiter ausdehnte. Es wurden nicht nur reine Gesangstücke gegeben, die mächtigen Oratorien von Händel, die stachligen und doch schmackhaften Arbeiten von Johann Sebastian Bach, die Werke von Benda, Graun und anderen Meistern kamen zur Aufführung. Fasch hatte für die Akademie seine schon erwähnte berühmte sechzehnstimmige Messe geschrieben, deren seltne Aufführung immer wie ein großes Ereigniß von der Berliner musikalischen Welt betrachtet wurde. Zelter wollte, als der Nachfolger von Fasch, nicht zurückbleiben, und komponirte damals ein Oratorium: die Auferstehung Christi, das zwar keinen Anspruch darauf machen konnte, mit Grauns vielgefeiertem Tod Jesu in die Schranken zu treten, das jedoch eine Reihe von Jahren gern gehört wurde. Ich war viel zu jung, um über den musikalischen Werth der Arbeit irgend ein Urtheil202 zu haben; ich weiß nur noch, daß einige kräftige Chöre mir sehr zusagten, während die meisten andern Stücke mich langweilten. Der Tod Jesu wurde gewöhnlich am Charfreitag gegeben, und die Auferstehung kam zu Pfingsten an die Reihe.

Mit gespannter Aufmerksamkeit hörten wir Körnern zu, wenn er von den Proben zu diesen Musikstücken erzählte: wie anfangs die einzelnen Chorstimmen eingeübt würden, wie bei dem ersten Zusammensingen gewöhnlich alles durcheinander gehe, wie dann Zelters mächtige Stimme ein lautes Halt ertönen lasse, worauf die Sache von vorn anfange, bis zuletzt die Chöre in vollkomner Harmonie und Ordnung einherflössen.

Die öffentliche Aufführung der Auferstehung fand bei überfülltem Saale Statt; ein für Zelter erfreulicher Umstand: denn in jenen patriarchalischen Zeiten der Singakademie hatte der Vorsteher kein bestimmtes Gehalt, sondern war auf die immerhin unsichern Einnahmen der öffentlichen Aufführungen angewiesen. Die Solostimmen und die Chöre hielten sich sehr brav, nur einmal bemerkten wir, daß die Bässe um einen halben Takt zu früh einsetzten. Zelter war nach dem Schlusse des Oratoriums sehr vergnügt; als mein Vater ihm zu dem in doppelter Hinsieht angenehmen Resultate des Abends gratulirte, sagte er in seiner derben Weise: danke, danke; ich wünschte, der Herr Christus wäre zweimal auferstanden!

Am folgenden Abende wurden bei uns im Freundeskreise die Einzelheiten der gestrigen Aufführung durchgesprochen, und jenes Vorschlagen der Bässe blieb nicht unerwähnt. Ja wohl, sagte Körner mit der grösten Unbefangenheit, dieser Schnitzer rührte von mir und meiner203 Umgebung her! Zelter warf uns einen grimmigen Blick zu! Ein Glück, daß wir nicht umwarfen!

Während seines Berliner Aufenthalts studirte Körner zwar dem Namen nach Bergwissenschaften, folgte aber hauptsächlich seinem Hange zur Poesie. Das Dichten war von Jugend auf ihm zur andern Natur geworden; seine Mutter zeigte mir späterhin ganze Stöße von Poesien, die er vom 8. und 9. Jahre an zu Stande gebracht. Wenn man bedenkt, daß er noch nicht 21 Jahre alt war, als der Tod ihn bei Woebbelin ereilte, so muß man die Fruchtbarkeit seines leichtschaffenden Talentes bewundem.

Durch einen unvorsichtigen Spaziergang in der Abendkühle zog er sich in Berlin ein kaltes Fieber zu, welches gar nicht weichen wollte. Als letztes Mittel riethen die Aerzte ihm eine Luftveränderung. Noch sehe ich ihn deutlich vor mir, wie er in eleganter heller Strumpfhose, schwarzem Frack und weißem Hut nach unserem großen Garten in der Lehmgasse kam, um Abschied zu nehmen. Das Gesicht war blaß, aber die männlich-schöne Gestalt hatte nichts von ihrer Würde verloren.

Er ging zuerst nach Dresden, und dann nach Wien. Seine dortigen theatralischen Erfolge begleiteten wir mit der lebhaftesten Theilnahme. Als er im Jahre 1818 wieder bei uns erschien, wurde er wie ein alter lieber Freund jubelnd begrüßt.

204

Pathe Göckingk.

Zu Nicolais genausten Freunden gehörte der Dichter Göckingk. Als ein Denkmal dieser Freundschaft bewahre ich in meiner Kupferstichsammlung Göckingks Bildniß, nach einem Graffschen Gemälde von Bause sehr sauber gestochen. Darunter steht von des Dichters eigner Hand mit Rothstein die Widmung:

An Nicolai.

Dies Herz und dieser Blick

Bleibt heut und ewig einerlei,

Doch ist zu meinem Glück

Mir Deine Freundschaft immer neu!

Göckingk.

Nach Nicolais Tode hatte Göckingk eine kurze Biographie von ihm herausgegeben, die einen äußeren Umriß seiner Erlebnisse enthält, aber über seine weitgreifende litterarische Wirksamkeit nur wenig Andeutungen giebt. Göckingk unterzog sich später auch der Mühe, einen Theil der sehr ausgedehnten Nicolaischen Korrespondenz durchzusehn. Er veröffentlichte einzelnes daraus in dem Korrespondenten von und für Deutschland, und hat nie versäumt, auf die betreffenden Originalbriefe zu setzen Gebraucht. G. Diese Vorsicht ist manchen der jüngeren Gelehrten zu Gute gekommen, die später in dem Nicolaischen Briefwechsel205 studirten; sie wurden dadurch abgehalten, schon publizirtes noch einmal bekannt zu machen.

Von frühster Jugend an hatte ich vor meinem Pathen Göckingk die allergröste Verehrung empfunden. Mein Vater, der ihm seine Einführung in das Nicolaische Haus, mithin sein ganzes Glück verdankte, behandelte ihn mit wahrer Hochachtung, und ließ sich nicht leicht eine Gelegenheit entgehn, um ihm etwas angenehmes zu erweisen. Durch eine andere Beziehung waren sie noch näher an einander geknüpft. Der letzte Herzog von Kurland hatte, ehe er sein Land an Rußland verkaufte, einen großen Theil seines Vermögens in polnischen und schlesischen Landgütern angelegt. Als er im Jahre 1800 starb, waren mehrere seiner Töchter noch minderjährig. Für diese wurde von Seiten der preußischen Regierung in Bezug auf die in Preußen gelegenen Besitzungen, ein Vormund und Vermögensverwalter bestellt, der das Beste der minorennen Erbinnen wahrzunehmen hatte. Dieser Curator war Göckingk, damals Geheimer Oberfinanzrath. Er unterzog sich der schwierigen Aufgabe, die eben so wohl juristische, als auch administrative Kenntnisse verlangte, mit musterhafter Pflichttreue, machte im tiefen Winter eine Reise nach Petersburg, um allerlei Differenzen mit der russischen Regierung auszugleichen, und übergab seinen Pflegebefohlenen, nach eingetretener Volljährigkeit, den schönen Gütercomplex im besten Zustande.

Nun hatte die verwittwete Herzogin von Kurland meinen Vater mit der Verwaltung ihres Allodialvermögens beauftragt, es läßt sich also leicht denken, daß zwischen ihm und Göckingk ein beständiger Geschäftsverkehr stattfand. 206

Sobald ich etwas herangewachsen war, hielt mein Vater mit großer Sorgfalt darauf, daß ich dem Pathen Göckingk, der als Wittwer in Berlin lebte, alljährlich zu seinem Geburtstage Glück wünschte. Diese Besuche hatten anfangs für meine angeborne Blödigkeit etwas beängstigendes. Oft entschloß sich mein Vater, nach seiner unbeschreiblichen Gutherzigkeit, mit mir zu gehn, um seinen Glückwunsch mit dem meinigen zu verbinden. Als ich aber erfuhr, daß mein Pathe ein berühmter Dichter sei, so wuchs mit meiner Verehrung auch mein Vertrauen, und ich ging gern zu ihm. Die bei ihm verlebten Stunden gewähren mir noch jetzt die angenehmste Erinnerung.

Seine Gedichte freilich, die ich bald in des Grosvaters Bibliothek aufstöberte, wollten mir auf Göthe und Schiller nicht recht schmecken. Die tändelnden Liebeslieder und die Epigramme erfreuten wohl durch einen fließenden Wohllaut, erhoben sich aber nicht über das Gewöhnliche. In den Episteln herrschte, ungefähr wie in den horazischen, der gesunde Menschenverstand, die Verachtung des Reichthums, die Zufriedenheit mit einem kleinen Besitze, das Glück eines unbefleckten Bewußtseins. Diese Gedichte, welche jetzt kaum noch gelesen werden, fanden bei den Zeitgenossen vielfachen Beifall als der Ausdruck eines ehrenwerthen vorurteilsfreien Karakters.

Göckingks Aeußeres steht mir sehr lebhaft vor Augen. Sein Gesicht war nichts weniger als schön; die Nase zu schwer und der Mund eingefallen, aber die Augen blitzten ein jugendliches Feuer, und die schönsten silberhellen Locken umflossen reichlich die wohlgebildete Stirn. Die Finger der rechten Hand waren von der Gicht krumm gezogen, und ein Sturz aus dem Wagen hatte das linke207 Bein etwas gelähmt. In seinen äußerst reinlich gehaltenen Zimmern herrschte eine Atmosphäre, die auf meine Nerven eine wohlthuende Wirkung äußerte. Ein schneeweißer kleiner Bologneserhund fuhr mit rasendem Gebelle vom Sopha auf, wenn ein Fremder sich näherte, wurde aber bald von dem gestrengen Wirthe zur Ruhe gebracht. Göckingks Gespräche drehten sich meist um litterarische Gegenstände, ermüdeten aber durch allzugroße Ausführlichkeit. Er schachtelte, nach dem Ausdrucke seiner Freunde, immer eine Geschichte in die andre, aber der glockenreine Ton seiner Stimme schlug angenehm an das Ohr.

Von seinem Freunde Nicolai sprach er mit der grösten Verehrung, und munterte mich mehr als einmal auf, ihm nachzustreben. Da ich immer als Nicolais Hauptwerk die Allgemeine Deutsche Bibliothek nennen hörte, und zu einer litterarischen Kritik gar keine Anlage in mir verspürte, so wußte ich nicht recht, wie ich mich bei diesen Vermahnungen benehmen sollte. Mit welchem Selbstgefühl Göckingk sein eignes poetisches Talent betrachtete, davon zeugen die folgenden Verse, die ich als ein litterarisches Curiosum hier mittheilen will. Er schenkte mir zu Weihnachten 1814 eine schöne Brieftasche mit der Zuschrift:

An Gustav Parthey.

Den Grosvater als Prosaisten, den Pathen als Dichter

Uebertreffen sollst Du! Fort denn! Erringe das Ziel!

Uebertreffen kannst Du die Eltern an Güthe des Herzens

Möglicher Weise zwar nicht, aber erreiche Du sie.

Berlin, d. 24. Dec. 1814. Göckingk.

Da ich bereits die Vossische Homerübersetzung kannte, so ersah ich aus diesen Versen, daß mein guter Pathe mir im Baue der Hexameter nicht als Muster dienen könne. 208

Nach der alten strengen Kleiderordnung, die vor der französischen Revolution in Göckingks Jugendzeit gegolten, durfte Niemand, der auf gute Erziehung irgend Anspruch machte, bei einem Besuche anders als in Schuhen und Strümpfen erscheinen. Denen, welche sich der edeln Reitkunst befleißigten, wurden zwar Stiefel gestattet, sie mußten aber mit Sporen versehn sein. Dieser alten Sitte huldigte Göckingk mit unverbrüchlicher Treue, ohne von den Wandlungen der Mode Notiz zu nehmen. Man sah den alten gebrechlichen Herrn oft die Linden herunterhinken in einem weiten blauen Roquelaure mit goldenen Knöpfen, darüber eine blaue Pikesche mit Schnüren besetzt, Stulpenstiefel mit kleinen silbernen Sporen, auf dem gepuderten Kopfe einen dreieckigen Hut, und unter dem Arme den oben erwähnten weißen Bologneser. Tante Jettchen, die zuweilen ihre anmuthigen Erzählungen etwas ausschmückte, behauptete sogar, sie habe ihn in einem scharlachrothen Fracke mit dem Hündchen unter dem Arme lustwandeln gesehn.

Zu meinem Geburtstage schenkte er mir einmal, als er erfahren, daß ich Reitstunde nehme, ein paar schöne Sporen mit der Zuschrift:

An meinen Pathen Gustav Parthey.

Zwar wird nimmer Dein Pferd des Stachels der Sporen bedürfen,

Denn ein edles Roß spornet sich selber an’s Ziel.

Aber sie sind, bey hoch die Nase tragenden Damen

Ein Entschuldigung Dir, wenn Du gestiefelt erscheinst.

Göckingk.

Obgleich Göckingk wenig eigenes Vermögen besaß, und nur von der Pension als preußischer Geheimer Finanz -209 rath lebte, so zeigte er doch bei jeder Gelegenheit, wo es etwas zu schenken oder beizutragen gab, eine wahrhaft königliche Freigebigkeit. Mein Vater nannte ihn deshalb scherzweise den Saladin. Bei der Ausrüstung der Freiwilligen im Jahre 1813 sendete Göckingk die reichlichsten Spenden; er wollte aber nicht, daß viel Geschrei davon gemacht werde, und ließ alles durch meinen Vater besorgen. Er selbst hatte einen Sohn beim Heere, mit dem er jedoch gänzlich auseinander gekommen war. Die Gründe dieser Trennung habe ich nie erfahren, sie müssen wohl sehr ernster Natur gewesen sein: denn in Göckingks Gegenwart durfte dieses Sohnes nie erwähnt werden. Seine Tochter Wilhelmine, eine Jugendfreundin meiner beiden Mütter und der Tante Jettchen, lebte in der glücklichsten Ehe mit Herrn von Wurmb, der als Forstmeister der jüngsten kurländischen Prinzessin Dorothea in Deutsch-Wartenberg in Schlesien wohnte.

Göckingks litterarische Thfttigkeit hatte, als ich ihn kennen lernte, längst aufgehört. Er füllte die Muße seines Alters mit Lektüre und Briefschreiben. In seiner kleinen ausgesuchten Bibliothek sah ich nicht ohne Neid eine ganze Anzahl Prachtausgaben der besten englischen und französischen Schriftsteller, die in Nicolais Sammlung meist in sehr unscheinbarem Gewande erschienen.

Von den vielen Geschichten, welche Göckingk erzählte, ist mir nur eine wegen ihres drastischen Schlusses im Gedächtnisse geblieben. Er einmal zusammen mit dem Minister von der Schulenburg an der königlichen Tafel Friedrich Wilhelms II., der damals schon die Zähne verloren hatte, und so undeutlich sprach, daß die Gäste in der Entfernung gar nichts verstehn konnten. Beim Schlusse210 einer Erzählung des Königs lachte die ganze Tafel, und Schulenburg fast am lautesten. Was hat der König gesagt? fragte Göckingk ihn leise. Ich habe nichts verstanden! Und haben doch gelacht? Ja, das gehört zum kleinen Dienst!

Göckingks Hauptkorrespondentin war Frau von der Recke. Er nannte sie im Gespräche nie anders als Elisa, und diese Benennung galt auch in unserem Familienkreise als eine allgemein verständliche. Da er mit dieser Freundin in allen seinen Ansichten übereinstimmte, so konnte man wohl fragen, was sie sich mitzutheilen hatten? Aber bei einer freundschaftlichen Korrespondenz kömmt es nicht darauf an, was man schreibt, sondern daß man schreibt. Seit einer langen Reihe von Jahren schrieben sie sich wöchentlich zwei Mal; dies giebt für 20 Jahre auf jeden Korrespondenten über 1000 Briefe.

Bis zum Jahre 1824 lebte Göckingk in Berlin. Als er nach und nach alle seine alten Freunde verloren, beschloß er, der Welt zu entsagen, und zog mit seiner schönen Bibliothek zu seiner Tochter nach Deutsch-Wartenberg in Schlesien, wo er 80jährig in gänzlicher Vergessenheit sein Leben beschloß (1828). Einige Jahre vor seinem Tode ereignete es sich, daß ein Frankfurter Buchhändler bekannt machte, er wolle die gesammelten Werke des geachteten verstorbenen deutschen Dichters von Göckingk herausgeben. Hiegegen erließ Göckingk, der in seiner ländlichen Einsamkeit die Litteratur-Zeitungen fleißig studirte, eine sehr heftige Erklärung, welche ungefähr folgender Maaßen anfing: Ich bin nicht todt! und werde, wenn es mir beliebt, meine gesammelten Werke selbst herausgeben.

Nach seinem wirklich erfolgten Tode sendete mir211 Frau von Wurmb die Korrespondenz ihres Vaters zur Durchsicht. Von den 1000 Briefen Elisas fand sich nicht ein einziger, dagegen 8 von Schiller, über 60 von Johann Heinrich Voss, und sehr viele von Bürger. Die Briefe von Schiller hat Direktor Abeken in Osnabrück in den Blättern für litterarische Unterhaltung abdrucken lassen. Sie sind von Mannheim datirt, und bezeugen die unbedingte Verehrung, mit der ein junges aufstrebendes Talent wie Schiller zu dem als Dichter bereits anerkannten Göckingk hinaufsah. Die Briefe von Voss und Bürger beziehn sich meist auf die Herausgabe des Musenalmanaches in den Jahren 1770 u. s. w. Sie befinden sich, so viel ich weiß, im Besitze der von Wurmbschen Familie, und wären vielleicht einer Bekanntmachung werth, wenn man nicht fürchten müßte, die Litteratur der Briefsammlungen aus der Zeit unserer Klassiker über die Gebühr auszudehnen.

Nicolai hatte seinem Freunde Göckingk als Zeichen seiner innigsten Hochachtung einen Ring mit Lessings Haaren vermacht. Hievon erhielt ich zu spät Kenntniß, um mich bei Göckingk selbst oder bei dessen Tochter nach diesem Kleinod zu erkundigen, das für ein Lessingmuseum von unschätzbarem Werthe sein würde.

212

Grosvater Eichmann.

Durch die zweite Heirath meines Vaters kamen wir mit dessen neuem Schwiegervater, dem Geheimerath Eichmann, in nähere Verbindung. Er war aus Preußisch-Minden gebürtig, eine acht westphälische Kernnatur. Gesund an Leib und Seele, entschieden in seinen Meinungen, aufbrausend und bedächtig, zu allem Spaß und Ernst bereit, übte er bald auf die Kinder den allergrösten Einfluß.

Wenn irgend ein geringes oder großes Ereigniß besprochen wurde, so faßte er zuletzt sein Urtheil in einen kurzen prägnanten Satz zusammen, der gewöhnlich den Nagel auf den Kopf traf. Mit der tiefsten Redlichkeit des Karakters verband er eine vorsichtige Weltklugheit, die bei keiner Gelegenheit das Nützliche aus den Augen verlor. Obgleich ich zu meinem Vater ein unbegränztes Vertrauen hegte, und mich mit allen Fragen, die dem grübelnden und forschenden jugendlichen Geiste aufstießen, an ihn wenden konnte, so ließ doch die Milde seiner Auffassung meinem eignen Ermessen zu viel Spielraum. Die strengen Sentenzen des Grosvaters imponirten mir, wenn ich ihnen auch nicht immer beistimmte. Sie begleiteten mein Jugendleben, wie die Aussprüche des Chors in der griechischen Tragödie den Gang des Stückes. Man wird213 viele davon in meinen Aufzeichnungen antreffen, da sie mir bei allen Gelegenheiten unwillkührlich ins Gedächtniß kommen.

Das ganze Wesen des Grosvaters Eichmann hatte etwas befehlendes; der Kopf glich dem eines Bullenbeißers, oder edler ausgedrückt dem eines Löwen. Auf der tiefgefurchten Stirn bäumte sich ein Wald von weißen Haaren empor, die durchdringenden blauen Augen, von buschigen weißen Brauen beschattet, konnten den freundlichsten und den drohendsten Ausdruck hervorbringen, an die mäßig gebogene Nase schloß sich eine sehr lange Oberlippe, der behagliche Mund stand zwischen zwei wohlgefüllten Wangen, welche meine Schwester, die alles mit ihm anfangen konnte, oft mit wahrem Wohlgefallen streichelte. Die Kraft der Zähne blieb ihm bis in’s höchste Alter, so daß er noch im 80. Jahre, zur Verwunderung der ganzen Tischgesellschaft, Aprikosenkerne aufknackte. Meine Schwester nannte ihn wegen seines starken Bauches den dicken Grosvater, oder schlechtweg den Dicken, worüber er sich vor Lachen ausschütten wollte. Dafür nannte er sie, wegen ihrer dunkeln Hautfarbe, die Prinzessin von Marokko, was denn von ihrer Seite nicht mit Lachen, sondern oft mit Thränen erwiedert ward.

Seine Jugend fiel in die Zeiten des siebenjährigen Krieges. Von der Schlacht bei seiner Vaterstadt Minden (1. Aug. 1759), die er als zwölfjähriger Knabe erlebte, wußte er manches zu erzählen, was von den Kindern mit großer Begierde aufgefaßt ward: wie vor der Schlacht die zusammengeraffte westphälische Landmiliz die Wälle der Stadt besetzt, und wie ein Milizsoldat, als die Kanonade losging, den Feinden zugerufen habe: Schießt nicht hieher,214 hier stehen Leute! wie am folgenden Tage mehrere waghalsige Kameraden mit ihm das Schlachtfeld besucht, und wie er einen französischen Pallasch als Beute heimgebracht.

Der Große König stand in seiner Erinnerung wie ein Heros da, an den selbst die höchste Bewunderung nur von ferne hinanreichen konnte. Nachdem wir in der Schule Schubarts schwunghafte Ode: Als ich ein Knabe noch war , gelernt hatten und ihm hersagten, so äuterte er, dem sonst jede poetische Ader abging, seinen ungetheilten Beifall. Seine Laufbahn im preußischen Staatsdienste begann er als Privatsekretär des Ministers von Görne, und trat dann in das Finanzministerium über. Seine gründliche Sachkenntniß, seine Tüchtigkeit im Dienste, sein umfassendes Gedächtniß, sein zuverlässiger Karakter hoben ihn im Fache des Fabriken - und Industriewesens von Stufe zu Stufe. Zuletzt wurde er, der niemals eine Universität besucht hatte, Geheimer Ober-Finanz - Kriegs - und Domänenrath, und stand an der Spitze des ganzen Fabrikdepartements.

Das Verhältniß der Gewerbetreibenden zum Staate war in jenen Zeiten ein ganz anderes als jetzt, hatte indessen unter den damaligen Umständen seine volle Berechtigung. Bei der Geringfügigkeit der Mittel, über welche die meisten Privatleute verfügen konnten, bei der hermetischen Absperrung der Länder gegen einander, bei der Schwierigkeit auswärtige Verbindungen anzuknüpfen, bei der Mühseligkeit des Transportes, hielt es der Staat für seine Pflicht, industrielle Unternehmungen direkt zu unterstützen. Dies war anerkannt, und wurde, soweit es anging, mit vieler Liberalität ausgeübt. Manches große Handlungshaus hatte den Grundsatz, alljährlich ein oder ein paar Gesuche um215 Beihülfe zu einer beabsichtigten Speculation an den König zu richten, weniger in der Hoffnung, sie alle genehmigt zu sehn, als nur, um zu zeigen, daß man fortwährend thätig sei.

Diese Gesuche wurden entweder direkt vom Könige erledigt, oder sie gingen erst an den Finanzminister. Da war es nun die Sache des vortragenden Geheimerathes, die Eingaben zu prüfen, mit den Bittstellern sich zu besprechen, die Ausführbarkeit des Unternehmens zu beurtheilen, und das Risico beim Vorschusse bedeutender Summen abzuwägen.

Auf diesem Felde hatte der Grosvater Eichmann eine bedeutende Thätigkeit entfaltet, sich durch Sachkenntniß, wohlwollende Theilnahme und rasche Entschiedenheit nach oben und nach unten Anerkennung verschafft. Wenn auch, wie schon bemerkt, unbegränzte Verehrung für den großen König und seine segensreichen Staatseinrichtungen sich bei ihm von selbst verstand, so ließ er bei seinen Erzählungen doch hin und wieder durchblicken, daß in den letzten Jahren der amtliche Verkehr mit dem alten Herrn ein sehr schwieriger gewesen. Die Minister waren im Grunde nur seine Sekretäre; sie durften beinahe nichts selbständig anordnen. Waren ja einmal eigne Vorschläge zu gewerblichen Verbesserungen oder zur Erleichterung des Verkehres zu machen, so durften diese nicht als von dem Minister ausgehend dargestellt, sondern es mußte immer die Phrase gebraucht werden, daß man nur glaube, die Ansichten Seiner Majestät dabei auszusprechen. Wenn dies nicht in der rechten Art geschah, so ließ der alte grämliche Herr manchmal ein gewaltiges Donnerwetter los, an welches indessen die Minister schon gewöhnt waren, und aus dem sie sich nichts machten. 216

Großen Mismuth beim Volke erregte in der letzten Zeit hauptsächlich die königliche Accise, deren vexatorische Bestimmungen noch dazu meistentheils von Franzosen ausgeführt wurden. Um den ewigen Plackereien und Hemmungen zu entgehn, blieb den Kaufleuten fast nichts anderes übrig, als die fremden Beamten zu bestechen, die daher in kurzer Zeit wohlhabende Leute wurden. Der König wußte dies und ließ es geschehn, weil er glaubte, die Einnahmen aus dieser verhaßten Steuer nicht entbehren zu können.

Auf einer Inspectionsreise in Schlesien meldete sich bei ihm ein emeritirter Accisebeamter (dessen Namen der Grosvater auch nannte) und bat um eine Unterstützung, weil er von seiner schmalen Pension nicht leben könne. Dummer Kerl , fuhr ihn der König an, ich habe ihn ja an die Krippe gebunden, warum hat er denn nicht gefressen? Er gab ihm indessen ein namhaftes Geschenk aus der rechten Westentasche. Diese rechte Westentasche war allen Bittstellern wohlbekannt, und hatte schon manchem eine willkomne Erleichterung gewährt. Alle Morgen legte der Kammerdiener Fredersdorf auf die Toilette des Königs eine Rolle von 100 Frd’or neben die frischgefüllte Spanioldose. Beim Ankleiden steckte der König die Dose in die linke, die Rolle in die rechte Westentasche. Von beiden verbrauchte er im Laufe des Tages so viel oder so wenig, als eben Lust und Gelegenheit mit sich brachten. Die jährlichen Ueberschüsse von diesen 172,000 Thalem Westentaschengeld wurden zu Privatzwecken, zu neuer Dekorirung der Zimmer, zu Verschönerungen im Garten von Sanssouci u. dergl. verwendet.

Von den glücklichen Erfolgen, die der Grosvater217 Eichmann während seiner langen Amtsthätigkeit für die Hebung der Gewerbe gehabt, erzählte er oft mit sichtbarem Wohlgefallen. Nur weniges, was sich an bekannte Namen knüpft, ist mir im Gedächtnisse geblieben.

Der Buchdrucker Unger hatte gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch angestrengte Thätigkeit den Berliner Buchdruck auf eine zuvor nie gekannte Stufe der Vollkommenheit gehoben; die nach ihm benannten Ungerschen Lettern galten lange Zeit für die geschmackvollsten. Einst war er mit Eichmann zusammen in Gesellschaft, und klagte darüber, daß es ihm noch nicht gelungen sei, die schönen Velinexemplare seiner Druckwerke gehörig zu glätten. Das will ich Ihnen wohl besorgen, sagte Eichmann mit seiner gewöhnlichen Entschiedenheit, schicken Sie mir morgen einen Stoß und lassen ihn übermorgen wieder abholen; aber die Sache bleibt mein Geheimniß. Unger schickt den Stoß, und Eichmann fährt damit zu einem Tuchfabrikanten, der ihm vielerlei Verbindlichkeiten schuldig war. Hier, lieber Freund, habe ich eine Bitte. Legen Sie jeden dieser Druckbogen einzeln zwischen Preßspäne, und lassen Sie dieselben, wohl eingeschraubt, über Nacht stehn. Die Bitte des Geheimerathes ist natürlich ein Befehl, die Bogen gehn aus der Presse herrlich geglättet hervor, und Unger ist außer sich vor Entzücken. Nun wollen Sie auch noch mein Geheimniß wissen, nicht wahr? Das haben Sie weiter nicht nöthig, wenn Sie sich ein paar Schock Preßspäne und eine tüchtige Tuchpresse anschaffen. Da sehn Sie nun, daß der erste Buchdrucker manchmal etwas von einem Geheimerathe lernen kann!

Von meiner Mutter und Tante Jettchen hörte ich später, daß Wilhelm von Humboldt im Anfange seiner218 staatsmännischen Laufbahn nicht selten ein Mittagsgast des Grosvaters Eichmann gewesen sei, und oft lange Gespräche über das Fabrikwesen mit ihm geführt habe.

Die immer steigende Finanznoth des Staates während der französischen Besetzung und die neue Organisation i. J. 1808 machten die Pensionirung von einer Menge älterer Beamten nothwendig. Dies Loos traf auch den Grosvater Eichmann, der am Ende der Fünfziger stehend, seine volle körperliche und geistige Kraft bewahrte. Bei seiner Pensionirung sagte er sehr ruhig:

Mit Vielem hält man Haus,

Mit Wenigem kömmt man auch aus!

Er blieb aber nicht lange in Unthätigkeit: denn er ward vom Berliner Magistrate zum Municipalrathe ernannt, und hatte als solcher die Obliegenheit, mit den französischen Behörden wegen der Natural - und Reallieferungen zu unterhandeln. Wir Kinder bewunderten nun seinen großen dreieckigen Hut mit goldnen Quasten und seine schwarz - weiße Binde.

Da er das französische geläufig sprach, und bei aller Festigkeit sehr gefällige Formen hatte, so waren die französischen Konunissäre sehr froh mit ihm zu verkehren. Nicht wenig imponirte ihnen seine Sachkenntniß in allen technischen Fragen. Diese vermutheten sie nicht bei einem so hohen Staatsbeamten, und machten ihm mit ächt französischer Urbanität Komplimente darüber. Was geliefert werden mußte, das schaffte er unweigerlich an, aber wenn unter dem Namen faux frais etwas unerlaubtes angesetzt wurde, so trat er dem mit Nachdruck und wenn es sein mußte, mit deutscher Grobheit entgegen, wobei219 seine straffe Persönlichkeit und seine Löwenstimme ihm trefflich zu Statten kamen.

Manches einzelne aus diesen Kämpfen theilte er uns in seinen Tischgesprächen mit, wenn er ganz erhitzt vom Rathhause kam; es ist mir aber wenig sicheres davon gegenwärtig geblieben; nur eine Erzählung hat sich um so lebhafter und schmerzlicher eingeprägt, weil dabei das Unrecht auf deutscher Seite war.

Ein junger Berliner Kaufmann übernahm große Heulieferungen für die französische Armee. In dem dazu bestimmten Magazin in der Münzstraße hatte er zu ebner Erde sein Comptoir und daneben eine wohnliche Stube eingerichtet, wohin er die französischen Kommissäre einlud, und mit Lachs, Kaviar, feinen Weinen u. s. w. auf das glänzendste bewirthete. Die von ihm gelieferten, in den Thorweg einpassirenden Heuwagen wurden aus den Fenstern des Comptoirs registrirt; wenn aber die Beamten beim Frühstück saßen, so kam es vor, daß mancher Wagen registrirt wurde, der nur vor dem Thorwege stillhielt, dann aber daneben vorbei um das Haus herumfuhr, und sich nach gewechseltem Fuhrmanne als ein neuer präsentirte. Durch diesen Betrug wurden die Heurationen der Kavallerie bedeutend geschmälert, allein alle Klagen darüber von den Kommissären schnöde abgewiesen. Der Berliner Lieferant erwarb auf diese Weise ein bedeutendes Vermögen, legte später eine Färberei an, machte zu großen Aufwand, ward landflüchtig und starb zuletzt im Elende. Er hat es nicht anders haben wollen! sagte der Grosvater.

Trotz solcher einzelnen Durchstechereien wurden die Lieferungen mit Strenge eingetrieben. Der Ingrimm über die unerhörten Bedrückungen fraß dem Grosvater das220 Herz, aber er verlor nie den Muth. Mehr als einmal habe ich ihn sagen hören: wir werden es ihnen schon wieder eintränken! Dies Gefühl der tiefsten Entrüstung über die brennende Schmach ging durch alle Stände, und war nöthig, damit das Volk sich i. J. 1818 wie ein Mann erhöbe.

Mit Vergnügen denke ich daran, daß ich an des Grosvaters Tische einmal mit dem berühmten Fabrikanten Nathusius auf Neu-Haldensleben zusammengewesen. Ein kleiner blasser Mann mit prominenter gebogener Nase, aus dessen hellen Augen der klare Verstand hervorleuchtete. Wegen seiner vielen industriellen Unternehmungen war er mit dem Grosvater in mannigfacher Verbindung gewesen; aber dem brauchte ich nicht auf die Beine zu helfen , sagte uns Eichmann nachher, der lernte von selbst laufen! Das Tischgespräch drehte sich um weit rückwärts liegende Geschäfte und Persönlichkeiten. Eichmann erinnerte mit einigem Selbstgefühl an manche Unternehmung, wo er auch mit eingegriffen, und verfiel nach seiner derben westphälischen Art zuweilen in ein vertrauliches Ihr . Nathusius ging mit der liebenswürdigsten Feinheit auf alles ein; er sprach wenig mit schwacher Stimme und zeigte durchaus die würdige Haltung eines überlegenen Geistes. Der Grosvater war sichtlich erfreut über diesen lieben Besuch, und erzählte uns nachher viel von den großartigen Anlagen in Neu-Haldensleben, die er vor Jahren einmal besucht hatte. Eine der ersten glücklichen Unternehmungen von Nathusius ist mir erinnerlich geblieben. Er stand noch ganz am Anfange seiner kaufmännischen Laufbahn, als er erfuhr, daß in Hamburg eine große Quantität des besten westindischen Tabackes zur Auction kommen solle. Das221 Schiff war leck geworden, und die Tabacksfässer hatten im Seewasser gelegen. Niemand wollte darauf bieten, weil man die Waare für gänzlich verdorben hielt. Nathusius aber machte die richtige Ueberlegung, daß das Seewasser ein festgepacktes Faß unmöglich ganz und gar durchdringen könne. Er ging nach Hamburg, erstand den Vorrath für einen Spottpreis, ließ die Fässer aufschlagen, und fand, daß das Wasser meist nur wenige Zolle tief eingedrungen, der Rest aber unversehrt geblieben sei. Damit machte er , sagte der Grosvater seine ersten 10,000 Rthlr; doch hat er dieser Ziffer nach und nach zwei Nullen hinzuzufügen gewußt.

Eine andre interessante Persönlichkeit, die ich bei dem Grosvater kennen gelernt, war der Mechaniker Kleinsteuber. Auch er hatte sehr gering angefangen, hatte aus dem Fabrikdepartement Unterstützung erhalten, und nach und nach einen bedeutenden Ruf erworben. Er erfand für die Berliner Münze eine Prägemaschine von solcher Trefflichkeit, daß er von der englischen Regierung aufgefordert wurde, eine ähnliche für das Londoner Münzamt zu bauen. Da man aus der neuen Erfindung kein Geheimniß machte, so folgte Kleinsteuber mit Bewilligung der preußischen Regierung jener ehrenvollen Aufforderung, und blieb mehrere Jahre unter sehr günstigen Bedingungen in London. Beim Bau der dortigen Maschine hatte er mehrere wesentliche Verbesserungen ersonnen, die nun auch in Berlin ausgeführt wurden.

An des Grosvaters Tische saß er sehr still und in sich gekehrt, als ob er über ein schwieriges mechanisches Problem nachdenke. Ein großes Fest war es für uns als wir kurz darauf in Gesellschaft des Grosvaters die222 Münze besuchten, und Kleinsteuber uns die Einrichtung der wunderbaren Maschine erklärte. Sie hatte nicht nur den Vortheil, daß sie mit einem Zuge des Schwengels beide Seiten des Thalers und den Rand ausprägte, sondern auch eine Vorrichtung, welche den Schrötling, ohne Zuthun der Hand, in die richtige Lage brachte, und nach vollendeter Prägung den fertigen Thaler bei Seite schob. Daß hiezu ein sehr komplizirter Mechanismus gehöre, konnten wir uns leicht denken; aber wie sehr erstaunten wir, als Kleinsteuber die Maschine still stehen ließ, und nun die Decke des aus mehreren Hundert stählerner Hebel und Haken bestehenden Apparates weghob. Der Gedanke, daß alle diese Stücke auf das genauste gearbeitet, daß ihr Ineinandergreifen auf das schärfste berechnet sein müsse, hatte etwas sinnverwirrendes. Mehrere Jahre später hörten wir mit großem Schmerze, daß eine solche Verwirrung bei dem Erfinder selbst eingetreten, und daß der treffliche Kleinsteuber in einem Zustande von Geistesstörung seinem Leben ein Ende gemacht.

Beuth, später Geheimerath und Schöpfer des Gewerbe-Institutes, verkehrte als junger Assessor viel in des Grosvaters Hause; er ergötzte die Kinder aufs höchste, wenn er mit seiner hellen Diskantstimme allerlei komische Lieder zur Guitarre sang. Von seinen gewerblichen Tischgesprächen mit dem Grosvater, bei denen es oft sehr warm herging, verstand ich freilich nicht viel, doch erinnre ich mich, daß der Grosvater, als Beuth fort war, einmal sagte: ein ganz gescheuter Mann, der auch etwas gelernt hat, allein alle unsre jungen Leute wollen die Welt reformiren, und haben nicht das Zeug dazu.

Unvergeßlich ist es mir, daß Beuth uns einstmals223 einige seiner Federzeichnungen nach Flaxmanns Dante vorlegte. Die Einfachheit der Komposition, die gefällige Wendung der Figuren, die Reinheit und Schärfe der klargezogenen Umrisse setzten mich in ein wahres Entzücken; die unbekannten mystischen Darstellungen übten eine Zauberkraft auf meine Phantasie. Ich konnte mich gar nicht satt sehn, und hätte viel darum gegeben, ein solches Blatt zu besitzen. Vielleicht würde der freundliche Beuth meine Bitte nicht abgeschlagen haben, aber ich war viel zu blöde, um sie zu wagen. So viele Zeichnungen ich auch später betrachtet, und soviel ich selbst mit Bleistift, Kreide und Feder gezeichnet, so stehn jene Beuthschen reinen Konture noch immer als unerreichbare Muster vor meiner Seele.

Mit seinem Hausarzte, dem berühmten alten Heim, stand der Grosvater auf dem freundschaftlichsten Fuße. Diesen außerordentlichen Mann, der später auch meiner Familie seine ärztliche Hülfe gewährte, habe ich bei dem Grosvater zuerst kennen und verehren gelernt. Als eine besondere Vergünstigung wurde es betrachtet, daß der übermäßig in Anspruch genommene Heim zuweilen eine Mittagseinladung beim Grosvater annahm. Hier zeigte er sich von seiner liebenswürdigsten Seite. Wenn ihm sonst von einigen seiner neidischen Kollegen vorgeworfen ward, daß seine Originalität zuweilen eine gemachte sei, so konnte dies für seine späteren Jahre wohl einigen Grund haben. Da er in der Blütezeit seiner Praxis von Hülfesuchenden förmlich überlaufen ward, und unmöglich die Personen und Namen alle richtig im Kopfe behalten konnte, so hatte er sich angewöhnt, jeden ihm Begegnenden sehr kurz zu fragen: wer sind Sie und wie heißen Sie? Dies that er denn auch manchmal, halb aus Zerstreuung, halb aus Angewöh -224 nung bei bekannten Leuten. So richtete er einst diese Frage an Schleiermacher, den er vorher öfter gesehn. Dieser sah ihn scharf an, und sagte mit dem grösten Ernste: ich bin ein berühmter Arzt und heiße Geheimerath Heim! Sichtlich aus der Fassung gebracht, aber bald wieder gesammelt erwiederte Heim: jetzt kenne ich Sie auch; Sie sind ein berühmter Theologe und heißen Schleiermacher.

Am Tische des Grosvaters, in Gesellschaft von wenigen Gästen, erschien Heim in der unbefangensten Natürlichkeit. Mit komischem Ernste zog er einst eine ausführliche Parallele zwischen dem Schweine und dem Menschen, von der Geburt an bis zum Tode, wobei der Herr der Schöpfung sehr im Nachtheile blieb. Der Grosvater, nach seiner derben westphälischen Art, scheute sich nicht, ihn zu fragen, ob er denn lieber ein Schwein sein wolle? Er erwiederte sehr treuherzig: da der liebe Gott ihn zum Menschen gemacht, so wolle er es auch bleiben.

Ein anderes Mal erzählte er uns, wie seine Kinder und Enkel ihn, der früher gar nicht ins Theater gekommen, überredet hätten, sich bei vorgerücktem Alter dieses Vergnügen bisweilen zu gönnen; das sei ihm aber schlecht bekommen. Da er von Musik nichts verstehe, so habe man keine Oper gewählt; sondern ein Schauspiel, aber leider eines von den rührenden, herzzerreißenden, wo ein unnatürlicher Vater seinen einzigen Sohn zwingen will, die Maitresse des Fürsten zu heirathen, und der Sohn sich sammt seiner Geliebten vergiftet. Das Stück sei von Schiller und heiße Kabale und Liebe; er habe es aber vorher nicht gelesen gehabt. Jener grausame Vater habe ihn (Heim), der von jeher seinen Kindern alles mögliche zu Liebe ge -225 than, in Empörung gesetzt, und er habe die folgenden Tage fast an nichts anderes als an das fatale Theaterstück denken können. Wenn ein Patient über Leibweh geklagt, so habe er geantwortet: trinken Sie Kamillenthee; und wenn Sie wüßten, wie es dem armen Ferdinand ergangen ist, so würden Sie sich aus dem bischen Leibweh gar nichts machen!

Weil es nun mit dem Schauspiele nicht geglückt, so hätten die Seinigen ihn in ein neues brillantes Ballet geführt; aber das sei noch schlimmer gewesen. Hier habe er sich über die unanständigen Bewegungen der Tänzerinnen so tief geschämt, daß er sich nicht getraut, seine alte, neben ihm sitzende Frau anzusehn. Und doch habe das Publikum, ja selbst der König, der doch eigentlich ein gutes Beispiel geben solle, ganz munter zugeschaut, und bei den verwegensten Verrenkungen geklatscht.

Das folgende originelle Geschichtchen habe ich nicht aus Heims Munde, es wurde aber damals in der ganzen Stadt erzählt. Er hatte einem Patienten sehr viele vielleicht zu viele Aderlasse verordnet, und der Kranke war gestorben. Der ehrwürdige Hufeland, ein Muster edler Sittlichkeit und besonnener Mäßigung, machte ihm darüber gelinde Vorwürfe: wie werden Sie, lieber Kollege, dies einst bei unserem Herrgott verantworten können? Da werde ich sagen, erwiederte Heim, alter Herr, davon verstehn Sie nix!

Trotzdem daß dem Grosvater Eichmann niemals etwas fehlte, so schickte er doch hergebrachter Weise dem alten Heim alljährlich ein reichliches Sostrum. Nach Neujahr machte Heim ihm gewöhnlich einen Besuch, und sagte dann fast entrüstet: wie können Sie mir Geld schicken?226 ich habe Ihnen ja in dem ganzen Jahre nix verschrieben! Desto lieber schicke ich es, entgegnete Eiohmann, und werde mich bemühen, noch lange damit fortzufahren.

Einst war Heim drei oder vier Nächte hintereinander aus dem Bette geholt worden, und fühlte sich aufs äußerste erschöpft; er bedeutete daher Abends seine Frau, daß er nun nothwendig einmal ausschlafen müsse; wenn wieder geklingelt werde, so solle man zum Hülfsarzte schicken. Kaum hatte er sich niedergelegt, so ertönte die Nachtglocke. Da sagte er bei sich selbst: Lieber Gott! heute könntest Du es mir nicht übel nehmen, wenn ich liegen bliebe, aber ich will doch auftehn! Der Hülfesuchende war ein armer Unteroffizier, dessen Frau lebensgefährlich danieder lag. Heim stellte sie wieder her, und gab den Leuten, bei denen an Bezahlung nicht zu denken war, noch eine Geldunterstützung. Seitdem, erzählte Heim, sei die Dankbarkeit des Mannes überall, wo er ihn angetroffen, in den wärmsten Worten laut geworden; einmal habe Heim, wie er pflegte, einem Truppenmanöver zu Pferde beigewohnt und alsbald den Unteroffizier neben seiner Rotte in Reihe und Glied stehn gesehn, weil dieser aber in solchem Momente keine Hand rühren, nicht einmal mit dem Kopfe nicken durfte, so habe er nur durch möglichst starke Augenverdrehung und freundliches Lächeln sich für Heim bemerklich gemacht.

Der Grosmutter Eichmann widmeten die Kinder keine so starke Zuneigung als dem Grosvater. Sie war eine brave verständige Frau, die ihre beiden Töchter Lottchen und Jettchen mit aller Sorgfalt auferzogen, die es aber nicht unterlassen konnte, über jede Kleinigkeit zu keifen und zu schelten. Doch hörten wir ihr manchmal mit Ver -227 gnügen zu, wenn sie in guter Laune uns etwas von ihrer Kindheit erzählte, welche in die Zeit des siebenjährigen Krieges fiel; wie sie einmal i. J. 1762 mit ihren beiden jüngeren Schwestern ganz ruhig in der Töchterschule gesessen, als ihre Hausmagd plötzlich mit dem Ausrufe eingetreten sei: Male, Miene, Rieke, ihr sollt gleich zu Hause kommen, die Russen sind da! Eilig ward diese Mahnung ausgeführt, aber bald verschwanden die Russen, als es hieß: der König kömmt!

Nach der Sitte der damaligen Zeit nannte sie ihren Mann: Eichmann, und er sie nicht anders als: Eichmann’n. Dies war uns anfangs ungewöhnlich: denn meine Mutter nannte den Vater wohl auch Parthey, er aber sagte zu ihr Lottchen, was uns viel gemüthlicher und zutraulicher vorkam.

Die beiden Schwestern der Grosmutter Eichmann waren auch verheirathet, Miene an den Geheimerath Kaiser, Rieke an den Kriegsrath Brese, beide mit vielen Kindern gesegnet. Auch hatte der Grosvater Eichmann einen jüngeren Bruder, den Onkel Eichmann, der 3 Söhne und 3 Töchter um sich aufwachsen sah, so daß die Familienbekanntschaft nach dieser Seite hin sich sehr weit ausdehnte.

Die Grosmutter Eichmann hatte mit ihren beiden Schwestern und andern befreundeten Familien ein weibliches Abendkränzchen, das bei den Mitgliedern herumging und jedesmal gewaltige Vorbereitungen an Thee und Backwerk erforderte. Wir mußten als Kinder des Hauses halbgezwungen daran theilnehmen, und ich rechne diese TheeAbende zu meinen trübsten Jugenderinnerungen. Die erwachsenen, keineswegs liebreizenden Töchter jener Familien waren alle mehrere Jahre älter als wir, sahen228 daher mit der souveränsten Verachtung oder mit der Miene gnädiger Protection auf uns herab. Außerdem verlor sich das Gespräch nach den ersten Begrüßungen sehr bald in ein allgemeines lautes Geschwätz, vermischt mit gellendem krampfhaften Lachen und ohrenzerreißendem Kreischen. Ich saß mit meiner Schwester still in einer Ecke; wir suchten uns in unsre Lesebücher zu vertiefen und hörten misvergnügt in den wüsten Lärm hinaus. Ganz besonders zuwider war uns eine reiche Wittwe, die mit einem winzig kleinen, braunen Schooßmops, Namens Caro, in eigner Equipage angefahren kam. So gern wir sonst mit Hunden spielten, so erregte doch Caro wegen seines mürrischen Wesens unsern Abscheu, und weil wir gehört, daß er durch Branntwein in seiner unnatürlichen Kleinheit erhalten werde. Wir ertrugen die Langeweile dieser Abende mit Geduld, so lange wir allein waren; als Fritz in unser Haus kam, wurde es besser. Er war so erfinderisch, daß er es möglich machte, in unsrer Lese-Ecke kleine Komödien aufzuführen, worin er die Kreischtöne der Cousinen und Tanten auf das glücklichste nachahmte. Unsern Feind Caro suchte er anfangs durch ein zuvorkommendes Wesen zu gewinnen, als aber dies nichts half, so verfolgte er ihn mit allen möglichen Neckereien. Er hatte bemerkt, daß Caro besonders zornig wurde, wenn er sein eignes Knurren und Bellen nachgemacht hörte. Dies wußte Fritz mit der grösten Natürlichkeit hervorzubringen, und das Bell-Duett hörte nicht eher auf, als bis die Grosmutter Eichmann heftig keifend dazwischen fuhr. Für eine wahre Wohlthat hielten wir es, als wir uns nach einigen Jahren von diesem widerwärtigen Kränzchen emancipiren durften.

Dem Onkel Eichmann, damals Kabinetsekretär beim229 Staatskanzler Hardenberg, waren wir wegen seines spashaften Wesens sehr zugethan, obgleich er sich nicht viel mit den Kindern abzugeben pflegte. Er war von untersetzter Figur und straffer Haltung. Sein heitres Gesicht wurde durch die Spuren der Blattern entstellt, die er in seiner Jugend durchgemacht. Das Kinn war ihm förmlich zerschnitten, so daß man es anfangs nicht ohne Grauen ansehn konnte. Beim Mittagstische des Grosvaters Eichmann erzählte er unaufhörlich die lustigsten Geschichten, von denen manche sich meinem Gedächtnisse einprägten.

Willem , sagte er eines Tages zu seinem Bruder, nun habe ich meine beiden ältesten Jungens auf die Universität gegeben, wo sie recht fleißig studiren und sich auf dem Fechtboden exerciren. Kuriose Einrichtungen sind bei den Studenten im Schwange. So haben sie mich versichert, es sei die gröste Beleidigung, wenn einer zum anderen sage: dummer Junge; darauf müsse sogleich eine Herausforderung folgen. Da habe ich ihnen eine Geschichte aus Preußisch-Minden erzählt, wo in unserer Jugend die Passions-Prozessionen noch gehalten wurden. Man hatte einmal einen starken Müllergesellen gewählt, der das Kreuz schleppen, und sich vom Volke mußte verspotten lassen. Er hörte die ärgsten Schimpfreden mit allem Gleichmuthe, als ihm aber einer zurief: Mehldief! da sagte er: du Hundsfott! stünd ik nich hier an unseres Herrgottes Statt, ik wollte di den Mehldief eintränken!

Onkel Eichmanns ältester Sohn Julius studirte die Forstwissenschaften. Da er viel älter war als ich, so hatte ich kein rechtes Verhältniß zu ihm. Der zweite Sohn Franz, jetzt (1866) Oberpräsident der Provinz Preußen, widmete mir stets ein herzliches Wohlwollen. Als Gros -230 tertianer sah ich zu ihm dem Studenten, wie zu einem Halbgotte in die Höhe; wenn ich neben ihm stand, und ihn mit Leichtigkeit im großen Scheller lateinische Vokabeln aufschlagen sah, so zweifelte ich oft im stillen, ob ich eine solche Stufe der Gelehrsamkeit würde erklimmen können.

Der Grosvater Eichmann hatte von seiner Schulzeit her eine Anzahl lateinischer Brocken im Gedächtnisse behalten, die er hin und wieder zum Besten gab, ungeähr so wie der Ludimagister Schwalbe in Müllers Siegfried von Lindenberg. Wenn die erste Flasche leer war, so sagte er: Eichmann’n, du könntest uns wohl noch eine langen! und wenn diese erschien, so folgte der Vers:

Qui bibit ex negis, ex frischibus incipit ille!

Wenn er sich zu seinem Nachmittagspaziergange anschickte, so hieß es:

Post coenam stabis vel passus mille meabis.

Mit besonders kräftigem Schwunge sprach er:

Nos Pōloni non cūramus quantītatem syllābarum!

Um nun mit meinem Latein nicht zurückzubleiben, so citirte ich manchmal aus dem Stegreife einige grammatische Versus memoriales, wie:

Bei a und e in Prima hat

Allzeit das femininum Statt,

oder den Hexameter, der die acht partes orationis enthielt:

Vae tibi ridenti, quia mox post gaudia flebis!

oder einen andern mit den Interrogationen:

Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando? 231

Paul hatte einen alten französischen Schmöker aufgetrieben: Amusements philologiques ; darin fand er für den Trinkvers folgende Variante, die ihm richtiger schien:

Qui bibit ex negas (wer die Neigen austrinkt)

und wagte dies auch an des Grosvaters Tische vorzubringen. Aber damit kam er nicht durch. Sein Sie still, junger Freund! herrschte ihn der Grosvater an, ich habe in der Schule negis gelernt, und damit Basta. Ihr gelehrten Lateiner bildet euch ein, den Orbis pictus zu verbessern; ja wohl, per Johann Ballhorn!

In einer Abendgesellschaft bei uns sagte mir einst der Vetter Franz Eichmann, ich möchte am nächsten Sonntage den Grosvater fragen, ob er den Vers kenne

Westfalus est sine pi - sine pu - sine con - sine veri -

Das that ich denn auch ganz unbefangen, aber da erhob sich bei dem Grosvater, der mit Recht auf sein Vaterland stolz war, ein gewaltiges Unwetter. Dummer Junge, wer hat dir denn so einfältiges Zeug in den Kopf gesetzt? Gewiß einer von den naseweisen Burschen in Secunda! Bekümmre dich lieber um deine lateinischen Exercitia und Extemporalia , u. s. w. Ich saß sehr betroffen da, und wagte kaum, die Augen verstohlen zum Vetter Franz aufzuschlagen; es kam mir aber nicht entfernt in den Sinn, ihn zu verrathen, denn petzen galt von jeher bei allen Schülern für ein entehrendes Verbrechen.

Wir lachten nachher zusammen über den patriotischen Zorn des Grosvaters, aber ich wollte nun auch den Sinn des verhängnisvollen Verses erfahren, der einen solchen Lärm herbeigeführt, und Vetter Franz gab mir folgende Auflösung:232

Westfalus est sine pietate, sine pudore, sine constantia, sine veritate. Nach andrer Leseart heißt es am Ende sine vere -, und dann wird supplirt sine verecundia.

Bei einer andern ähnlichen Gelegenheit zeigte der Grosvater sich viel milder. Einer unseres Kreises, vermuthlich der Bücherwurm Paul hatte herausgefunden, es existire von dem Superintendenten Mittelstädt eine Schrift: Biblischer Beweis, daß Christus von Westfälingern gekreuzigt sei. Dies wurde eines Mittags beim Grosvater mit vieler Vorsicht erwähnt; wir wußten es so einzurichten, daß einer der älteren Tischgenossen, den er nicht wohl anfahren durfte, es auf das Tapet brachte. Der Grosvater fing aber gar nicht an zu toben, wie wir erwartet, sondern äußerte sehr ruhig, er kenne nicht nur die Schrift, sondern auch den Verfasser, er wisse, daß Mittelstädt diese Broschüre zusammengestellt, um einem Bekannten (den er auch nannte) einen Possen zu spielen; er äußerte, daß er das schnurrige Ding gern selbst einmal wieder lesen möchte. Darauf hin gab ich mir alle erdenkliche Mühe, ein Exemplar herbeizuschaffen, zuerst in Wege des Buchhandels, aber das unbedeutende Schriftchen war längst vergriffen oder makulirt, dann machte Freund Paul die Runde bei allen Berliner Antiquaren, aber ohne Erfolg. Erst viele Jahre nach dem Tode des guten Grosvaters gelang es mir, ein Exemplar zu Gesicht zu bekommen. Es ist nicht zu läugnen, daß sich den gelehrten Ausführungen des Verfassers kaum etwas haltbares entgegensetzen läßt.

Fritzens Verhältniß zum Grosvater Eichmann wurde, nachdem die erste Scheu überwunden war, ein sehr spashaftes. Anfangs nannte der höfliche Knabe ihn nicht an -233 ders als Herr Geheimerfinanzrath Eichmann, und der alte Herr, welcher bald merkte, daß dem munteren Jungen leicht etwas in die Nase fuhr, verschonte ihn nicht mit seinen Neckereien, die bei meiner stilleren Natur gar nicht verfangen wollten. Fritz hörte bei Tische nicht auf zu schwatzen, und als er einstmals mit rechthaberischem Eigensinne gegen den Grosvater gestritten, sagte dieser: sei doch still; deiner Mutter Kuh Bruder war ein Ochse! Das war grob, Herr Geheimerfinanzrath Eichmann! erwiederte Fritz mit einem Blicke, in dem eine Herausforderung auf Pistolen lag. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihm begreiflich gemacht wurde, daß der Grosvater nicht gesagt habe: deiner Mutter Bruder war ein Ochse.

Ein anderes Mal sagte der Grosvater, als Fritz im Garten sich eines hohen Sprunges rühmte: Was willst du wetten, daß ich höher springen kann, als der Marienthurm? Einen Thaler. Du hast ja keinen Thaler. Vier Groschen. Gut! vier Groschen. Nun, so springen Sie doch! Dummer Junge, der Marienthurm kann ja gar nicht springen; da brauche ich mich bloß auf die Zehen zu heben. Her mit deinen vier Groschen! Nun entstand ein gewaltiger Sturm: denn Fritz konnte doch am Ende nicht läugnen, daß die Sache richtig sei, aber meine Schwester kam ihm zu Hülfe, und meinte, auf die Zehen sich heben sei noch nicht springen. Da nun der Grosvater wegen seiner Korpulenz nicht im Stande war, zu springen, so wollte Fritz die Wette nicht bezahlen. Noch lange nachher konnte der Grosvater ihn in Wuth setzen, wenn er sagte: du bist mir ja immer noch vier Groschen schuldig.

Von jeher hatte der Grosvater eine gute Tafel und234 feine Weine geliebt. Nicht ohne Behagen erzählte er uns von einer Industrie, die er schon als Sekretär des Ministers von Görne getrieben, und die uns einen Begriff gab, wie ländlich am Ende des 18. Jahrhunderts die Umgebungen von Berlin beschaffen waren. Eichmann stellte des Abends Sprenkel an der äußeren Seite der Stadtmauer, und visitirte sie mit Tagesanbruch. Da fand er denn zuweilen ein halbes Dutzend Rebhühner, Wachteln und anderes Gevögel. Den Fang übergab er dem Koche des Ministers, der die eine Hälfte für die hohe Tafel, die andere für den jungen Sekretär zubereitete.

Im älterlichen Hause waren wir Kinder an die gröste Mäßigkeit in Speisen und Getränken gewöhnt. So gern auch mein Vater im Kreise fröhlicher Freunde bei Tische verweilte, und durch seine Heiterkeit die Gesellschaft belebte, so habe ich ihn doch mehr als einmal den Grundsatz aussprechen hören, beim Essen müsse man nicht über das Essen reden, sondern das was aufgetragen werde dankbar genießen.

Beim Grosvater Eichmann war das ganz anders. Da er nach seiner Pensionirung i. J. 1808 keine Berufsgeschäfte mehr hatte, und sich wissenschaftlich nicht beschäftigen konnte, so wurde das Essen und Traktiren der Zweck seines Lebens. Besonders freute es ihn, jüngere Leute zu bewirthen, doch verlangte er alsdann allen Ernstes, daß sie den wohlbereiteten Speisen tapfer zusprächen. Er wurde böse, ja zuweilen grob, wenn jemand auf wiederholtes Nöthigen nicht zulangen wollte. Fritz, Paul, August und andre Freunde leisteten dann manchmal mehr als in ihren Kräften stand, und mußten die unangenehmen Folgen davon tragen; mir war Ueberfüllung in jeder Art auf das235 äußerste zuwider, und ich hatte mich bald in aller Sanftmuth mit dem Grosvater auf einen solchen Fuß gesetzt, daß er es gar nicht mehr versuchte, mich zu nöthigen; höchstens sagte er, wenn ich eine Schüssel vorüber gehn ließ, mit mitleidigem Achselzucken: an dir Gustav, ist Hopfen und Malz verloren!

Er gab uns manchmal nach der Suppe, bloß als Zwischengericht, eine fette Rinderwurst von solcher Konsistenz, daß ein paar Bissen davon mich vollkommen satt machten.

Seine Gastereien gab er gewöhnlich des Mittwochs, wegen des freien Nachmittags, oder des Sonntags. Wenn wir ihn Tages zuvor besuchten, so sagte er mit seiner tiefen sonoren Bruststimme: morgen bekommt ihr Graupensuppe mit Schweinsohren und Schweineschnauze, ein Stück Rindfleisch mit Kapernsauce, einen Plumpudding mit Weinsauce und einen Hammelbraten mit geschmorter Petersilie; davon, denk ich, werdet ihr wohl satt werden. Noch tönen mir die Namen einiger anderen Gerichte in den Ohren; da gab es dicke Erbsen mit Pökelfleisch, Grünkohl mit Kastanien und Bratwurst, westphälischen Schinken mit Linsen und gebratenen Bollen, Hasenbraten mit Sauerkohl, Stockfisch mit grünen Erbsen etc.

Im Spätherbste pflegte er einen Eidamer Käse, so groß wie eine Bombe, anzuschaffen. Dieser wurde in eine Serviette eingeschlagen, zuweilen mit Madeira getränkt und im Keller aufbewahrt. Den hole ich nicht eher herauf , sagte der Grosvater, als bis er selbst laufen kann. Bis zu dieser manchmal sehr entfernten Epoche traktirte er uns mit einem verwünschten Kuhkäse, der die Geruchsnerven auf das empfindlichste angriff. Ich erklärte ohne236 Scheu, daß etwas übel riechendes mir unmöglich gut schmecken könne, ward aber als Idiot und unwissender Bärenhäuter zur Ruhe verwiesen.

Zu seinen Lieblingsgerichten gehörten unter andern die großen, westphälischen braunen Bohnen, die man bei Leibe nicht mit dem in Berlin üblichen Namen Saubohnen belegen durfte. Fritz konnte es jedoch nicht unterlassen, auf irgend eine Weise das verpönte Wort anzubringen, indem er etwa ganz harmlos zu seinem Nachbar äußerte: ist es nicht komisch, daß man dies Gericht in Berlin Saubohnen nennt? Es sind keine Saubohnen, donnerte der Grosvater, es sind große Bohnen! Aber, Herr Eichmann, ich habe es doch gehört. Naseweiser Bengel, wirst du gleich das Maul halten! du weißt, daß ich den Namen nicht leiden kann!

Gewöhnlich erhielten wir beim Grosvater nach der Suppe ein Glas Rothwein, und in seltnen Fällen, an Fest - und Geburtstagen, wohl auch ein halbes Glas Malaga. Diesen letzten liebte Fritz über die Maaßen; er wußte zur Freude des Wirthes durch ausdrucksvolles Schnalzen und Lippenlecken den herrlichen Geschmack zu erhöhen. Dies gab zu einem spashaften Vorgange Veranlassung. Als ich eines Tages mein Glas Rothwein kostete, kam mir der Geschmack ganz besonders lieblich, fast malaga-ähnlich vor; ich sah Fritzen verstohlen an, und bemerkte, daß er meine Gefühle theile. Gewiß hätte ich diese Verbesserung des Getränkes mit schweigendem Wohlgefallen hingenommen, allein der schwatzhafte Fritz konnte die Sache unmöglich auf der Seele behalten.

Der Rothwein ist heute ganz besonders delikat, sagte er mehrmals mit heraufgezogenen Augenbrauen; nicht wahr,237 Gustav? Ich stimmte ihm vollkommen bei, und wir nippten weiter. So? sagte der Grosvater, schmeckt er euch? nun das freut mich. Trinkt aus, und dann sollt ihr heute noch ein halbes Glas erhalten; dagegen wird euer Vater nichts einzuwenden haben.

Bei dieser zweiten Portion verdoppelte Fritz seine Beifallsbezeugungen, und sagte zuletzt: er schmeckt fast wie Malaga! I das wäre! erwiederte der Grosvater und kostete. Eichmann’n, schnaubte er seine Frau an, was hast du da wieder für Zeug angerichtet! Gießest die Malaganeige und die Rothweinneige zusammen, damit die Jungens mir meine theuern Sorten aussaufen, u. s. w. Die Vertheidigung der keifenden Grosmutter gegen diese Invektiven konnte nur schwach ausfallen; indessen war der Schaden einmal geschehn, und der letzte Tropfen des veredelten Rothweines schmeckte uns nur um so besser.

Den berühmten 1748er Rheinwein nannte der Grosvater seinen Zwillingsbruder, weil er in demselben Jahre geboren war. Er sprach davon wie von einem überirdischen Göttertrank, und machte die jungen Kehlen so lüstern danach, daß wir ihn oft baten, eine Flasche seines Vorrathes zum Besten zu geben. Ei, bewahre, rief er aus, wo werde ich euch Gelbschnäbel mit solchem unschätzbaren Getränke traktiren! da müßt ihr erst älter werden, um gehörig zu würdigen, was ihr durch die Gurgel jagt. Nach und nach wuchsen wir heran, und als die Bitte immer vergebens wiederholt wurde, merkten wir bald an der Art seiner Weigerung, daß er sein Vergnügen daran fand, sich recht bitten zu lassen. Wir nahmen uns daher vor, ihn gar nicht mehr zu quälen und uns gleichgültig zu stellen. Wenn er nun wieder das Gespräch auf seinen238 1748er Hochheimer brachte, so sagte niemand ein Wort, höchstens bei Fritz mit komischer Emphase und mit andächtig zum Himmel gerichteten Augen den Ausruf hören: ja, das muß ein deliciöses Weinchen sein!

Diese Kriegslist wirkte, und an irgend einem Familienfeste erschien leibhaftig eine bestäubte Flasche des vielbesprochenen Göttertrankes. Allein die Enttäuschung war auf unserer Seite sehr groß. Zwar mußten wir die aromatische Blume loben, von der der Grosvater unaufhörlich phantasirt hatte, der herbe Geschmack dagegen war so entfernt von allem Wohlgeschmack, daß Fritz alsbald sein Glas mit krausgezogenen Mienen niedersetzte, und auf des Grosvaters inquisitorische Frage sich unglücklicherweise des Ausdrucks bediente, er finde den Wein sauer. Sauer, du Dämlack! fuhr ihn der Alte an, wer hat denn je gehört, daß alter Rheinwein sauer sei? Gustav, wie schmeckt er dir? Um Fritzens Fehler zu vermeiden, sagte ich mit großer Verlegenheit, er scheine mir etwas bitter. I du meine Güte, polterte er nun weiter, bitter! Du weißt nicht, was du sprichst! Wo soll denn bei diesem Getränke Bitterkeit herkommen? Ich sehe wohl, daß ihr noch viel zu unreif seid, um etwas Gutes zu schätzen, und ihr werdet lange warten können, bis ich meine Perlen wieder vor die Säue werfe!

Es blieb von nun an bei dem guten rothen Tischweine, womit wir sehr zufrieden waren. Als wir nach und nach heranwuchsen, gab es statt des einen Glases deren zwei und mehr noch, die bei den langen Mittagssitzungen mehrere Gläser Wasser zur Abkühlung erforderten. Das war dem Grosvater aber gar nicht recht: denn er verachtete das Wasser so sehr, daß er versicherte,239 er nehme es nur in den Mund, um ihn auszuspülen. Wenn daher neben den Weinflaschen auch mehrere Karawinen Wasser geleert wurden, so pflegte er mit verdrieslichen Blicken zu sagen: Wasser trinken sie wie die Kameele!

Unser schönes Gartenhaus war in baulicher Hinsicht so zweckmäßig eingerichtet, daß mehrere Gäste, ohne sich zu hindern, darin Platz fanden. An den großen Musiksaal in der Mitte schlossen sich auf drei Seiten einzelne Zimmer mit besonderen Eingängen, und helle, weite Mansardstuben gewährten hinreichenden Raum zum Schlafen. Es war uns sehr willkommen, als nach dem Tode des Grosvaters Nicolai einige Stuben dem Grosvater Eichmann und seiner Frau eingeräumt wurden.

Er hatte sich, nach seiner praktischen Art, in jüngeren Jahren auch etwas mit der Gartenkultur beschäftigt; mit großer Freude erinnre ich mich der Tage, wo er mir das Inokuliren, Kopuliren und Pfropfen zeigte, was ich denn alsbald bei der Baumschule in dem kleinen Nebengarten in Anwendung brachte. Da er aber nie selbst einen Garten besessen, so kannte er die vielfachen Ausgaben nicht, die ein solcher, zum Vergnügen angeschaffter Grundbesitz mit sich führt. Wenn mein Vater, der mit der gewissenhaftesten, fast übertriebensten Sorgfalt alle Einnahmen und Ausgaben zu Buche brachte, ihm versicherte, daß der Garten alle Jahre einen namhaften Zuschuß erfordre, so gab der Grosvater nicht undeutlich zu verstehn, daß bei einer besseren Bewirthschaftung, bei einer genaueren Aufsicht des Gärtners, bei einer Veredlung der geringeren Obstsorten etc. wohl noch ein Plus herauskommen müsse. Er berechnete, was eine Fläche von beinahe 5 Morgen nicht alles abwerfen könne; sie enthielt mehrere 100 tragbarer Obstbäume, de -240 ren jeder doch wenigstens 2 Groschen eintragen müsse; das Ananashaus lieferte jährlich an 30 40 Früchte, deren Werth man in Anrechnung bringen müsse, wenn sie auch zum Theil auf die Familientafel kämen; das lange Sonnenhaus gab eine ansehnliche Menge der herrlichsten Pfirsichen und Aprikosen; die ausgedehnten Weinspaliere waren mit den allerbesten frühen und späten Reben bepflanzt; dazu kamen noch die großen Spargelbeete und die weiten Gemüsefelder.

Oft sprach der Grosvater in seiner positiven, überzeugenden Weise mit den Kindern von diesen Angelegenheiten, wenn wir an seiner Hand in den wonnigen Sommerabenden durch die Gänge schlenderten, und da der Grundton unserer Familie in der unbeschränktesten Offenheit und einem gegenseitigen Wohlwollen bestand, so lagen wir alles Ernstes den Vater an, er möge doch, da er den Tag meistens in der Brüderstraße zubringe, und deshalb nicht viel Zeit für die Lehmgasse übrig habe, dem Grosvater die Besorgung des Gartens übertragen. Der Vater ging lachend darauf ein, weil er den Erfolg voraussah, und der Grosvater ward nun förmlich dem Gärtner Lohse, dem Nachfolger des alten Couturier, als Verwalter des Gartens vorgestellt. Es verstand sich von selbst, daß nach wie vor alle Ausgaben von meinem Vater bestritten wurden, der uns mit der scherzhaftesten Laune die angenehme Aussicht auf die zu hoffenden vermehrten Einnahmen zeigte.

Gustav, sagte mir der Grosvater, nun müssen wir vor allen Dingen einen Plan des Gartens haben, wo wir jeden Obstbaum eintragen, und den Gärtner kontrolliren können. Solch einen Plan wirst du doch wohl zu Stande bringen:241 denn sonst müßten wir das Geld dafür einem Feldmesser in den Rachen werfen.

Das war Wasser auf meiner Mühle und mit Lust ging ich an die Arbeit. Weil ich indessen immer nur ein paar Morgen - und Abendstunden darauf verwenden konnte, so rückte die Zeichnung sehr langsam vorwärts, und es hatte den Anschein, als könne ein guter Theil des Sommers darüber hingehn. Zum Glücke fiel mir ein, daß ich in dem Wandschranke der grünen Stube einen alten Plan des Gartens gesehn, der den Zustand darstellte, wie ihn der Grosvater Nicolai beim Ankaufe i. J. 1788 vorgefunden. Dieser wurde hervorgeholt, und es zeigte sich, daß er von David Nicolai, dem jüngsten Sohne angefertigt sei. Voller Freude trug ich ihn zur Mutter, die durch die Erinnerung an ihren ersten Mann in große Rührung gerieth. Eine genaue Durchzeichnung und Berichtigung nach den eingetretenen Veränderungen war nun bald fertig, und der Grosvater Eichmann zeigte sich sehr zufrieden.

Anfangs ging alles gut; der neue Gartenverwalter entwickelte eine rastlose Thätigkeit, wobei wir ihm treulich zur Seite standen. Es befanden sich im hinteren Theile des Gartens einige hohe, steif beschnittene Rüsternhecken, die zwar keinen Gewinn abwarfen, aber in der Sonnenglut einen willkommnen Schatten gewährten. Diese ließ der Grosvater im ersten Herbste seines Gartenregiments herausnehmen, und durch 4 Reihen der besten Frühkirschen ersetzen, von denen er in ein paar Jahren einen Ertrag von mindestens 4 Groschen per Stamm erwartete. Vorläufig fielen die Auslagen für die feinen Bäumchen der Gartenkasse zur Last.

An den hinteren Gartenzaun wurden einige neue Hasel -242 stauden gepflanzt, von denen der Grosvater uns ächte Lambertsnüsse, so groß wie ein Daumenglied versprach. An eine sonnige Stelle der Mauer kam ein Maulbeerbaum, der die besten Früchte liefern sollte.

Im folgenden Frühjahre zeigte sich eine so übermäßige Menge der gewöhnlichen weißen Kohlschmetterlinge (von den Berlinern Kalitten genannt), daß man mit Recht einen zerstörenden Raupenfraß, und ein Misrathen der ganzen Obsterndte erwarten durfte. Hier mußte Hülfe geschafft werden, und der Grosvater griff mit gewohnter Energie ein. Er versprach uns für jedes Dutzend todter Kalitten, die wir ihm bringen würden, aus seiner Tasche zuerst einen Groschen, dann, als dies zu sehr in’s Geld lief, einen Sechser, endlich, als die Kalitten sich in’s Unendliche mehrten, einen Dreier. Wir waren nun in jeder freien Minute, mit Fangscheeren und Fliegennetzen bewaffnet, die eifrigsten Jäger. Wenn jetzt Freunde und Freundinnen zum Besuch kamen, was fast täglich geschah, so wurden keine geselligen Spiele vorgenommen, sondern die Gäste halfen uns beim Kalittenfangen, und erhielten auch ihre Bezahlung. Wir erwarben auf diese Weise mehrere Thaler; allein wie wenig bedeuteten die paar Tausend vertilgter Raupenerzeuger gegen die Myriaden der lebendig gebliebenen! Daher ging denn in diesem Sommer das Kernobst fast sämmtlich zu Grunde, wodurch die vom Grosvater gehofften Einnahmen nicht wenig geschmälert wurden. Ich hatte zwar auf dem neuen Plane des Gartens jeden Obstbaum sorgfältig eingetragen; allein was half diese mühsame Kontrolle, wenn kein Obst auf den Bäumen wuchs?

Als der Herbst herankam, zeigte der Gärtner dem Grosvater eine ganze Menge Mistbeetfenster, die in so243 schlechtem Zustande sich befanden, daß sie neu verbleit werden mußten; einige erforderten sogar neue Rahmen, die gegen den Regen mit Oelfarbe anzustreichen waren. Blitz noch einmal , sagte verdrieslich der Grosvater, als wir aufmerksam zuhörend, neben ihm standen, können Sie sich nicht noch diesen Winter durchhelfen? Unmöglich, Herr Geheimerath , sagte der Gärtner, und indem er ein Fenster aufheben wollte, fiel es auch schon klirrend auseinander. Gut , sagte der Grosvater, so lassen Sie das Nöthigste machen, aber nichts Unnützes.

Die lange Himbeerhecke, welche uns das köstlichste Vesperbrodt lieferte, bedurfte einer neuen Einfassung, zu der mehrere Hundert Fuß Latten angewendet wurden. Die Feurung des Ananashauses war schadhaft geworden, und mußte vom Maurer ganz neu hergerichtet werden. Am schlimmsten aber war es, als einstmals der hintere Gartenzaun durch das Pflaster der bedeutend höher liegenden Rosenquergasse eingedrückt wurde, und die Polizei im Interesse der öffentlichen Sicherheit auf eine schleunige Wiederherstellung drang. Vergeblich versuchte der Grosvater es geltend zu machen, daß dieser Unfall nicht dem Gartenbesitzer, sondern dem Steinsetzermeister der Stadt zuzuschreiben sei; die Sentenz des Polizeipräsidiums war nicht zu ändern. Dieser Bau verursachte eine Ausgabe von beinahe Hundert Thalern, und es war gar nicht daran zu denken, daß eine solche Summe jemals durch die veredelten Obstsorten und die verkauften Ananas eingebracht werde.

Mehrere Sommer hindurch plagte sich der Grosvater vergeblich, um eine Vermehrung der Einnahmen zu erzielen. Es kamen immer neue, unvorhergesehene Ausgaben, und244 nicht alle seine Anlagen geriethen. Von den daumengroßen Lambertsnüssen war nichts zu sehn, und der Maulbeerbaum wollte nicht eine einzige Beere ansetzen.

Zuletzt gab der Grosvater nicht ohne Verdruß die Gartenverwaltung gänzlich auf, ohne daß dadurch in dem guten Vernehmen mit meinem Vater die mindeste Störung eintrat. Dieser erlaubte sich auch nicht einmal eine spashafte Bemerkung, weil er den heftigen Karakter seines Schwiegervaters kannte. Uns Kindern machte es einen sehr bedeutenden Eindruck, als wir dies mit so großer Zuversicht angekündigte Unternehmen scheitern sahen. Unser Glaube an die Unfehlbarkeit des Grosvaters wurde stark erschüttert; wir vernahmen von nun an seine apodiktischen Aussprüche mit mehr Zweifel als früher, und legten an seine Behauptungen den Maasstab unseres eignen Urtheils.

Nach der Verheirathung seiner jüngsten Tochter Jettchen an den Geheimen Medizinalrath Kohlrausch, und nach dem Tode der Grosmutter Eichmann, nahm der Grosvater sich eine s. g. perfekte Köchin, und führte die Wirtschaft selbst, wobei er nicht undeutlich zu verstehn gab, daß nun erst die Sache recht in Gang kommen werde, und daß wir lernen könnten, wie man gute Mahlzeiten einzurichten habe. Jedoch auch hier entsprach der Erfolg seinen Erwartungen keineswegs. Die Köchin konnte ihm selten etwas recht machen, und nur mit Widerwillen gedenke ich der endlosen Zänkereien, welche ihm seine letzten Lebensjahre vergällten.

Schon öfter hatte er von einem Leibgerichte Friedrichs des Großen gesprochen, welches Bombe a la Sardanapale hieß, und der Inbegriff aller Leckerhaftigkeit sein sollte. 245So viel ich mich erinnre, wird ein Weiß - oder Wirsigkohlkopf ausgehöhlt, mit gewürztem Fleischfüllsel, Oliven, Kapern, Sardellen und andern feinen Ingredienzien gefüllt, und mit besonderer Vorsicht gebacken oder gebraten. Der königliche Koch Noel glänzte in der Zubereitung dieser Bombe, und der Grosvater versäumte nicht, uns bei dieser Gelegenheit die Tischordnung des feinschmeckenden Friedrich II. mitzutheilen.

Beim Frühstücke wurde dem Könige das Koncept zu dem mittägigen Speisezettel vorgelegt; er änderte daran nach Belieben, strich aus und setzte zu. Bei Tische lagen neben seinem Couvert der auf Velinpapier ins Reine geschriebene Zettel und ein Bleistift, mit dem er zuweilen kurze Bemerkungen oder bloß Kreuze an den Band verzeichnete. In der Familie Blesson befanden sich damals gegen 100 solcher Originalspeisezettel, und der Grosvater hatte bei der Bombe a la Sardanapale die Randnote gelesen: Bravo, Noel! Er wußte auch, daß der König sich mehr als einmal eine Indigestion daran gegessen, aber immer wieder auf dieses Lieblingsgericht zurückgekommen sei.

Die Zubereitung dieses königlichen Leckerbissens hatte der Grosvater von Noel selbst gelernt, und wollte sie nun in seiner bürgerlichen Küche nachahmen, erlitt aber damit eine traurige Niederlage. Nach wochenlangen Vorbereitungen und Instructionen an die Köchin erschien denn endlich die gefeierte Bombe auf der Tafel, fand aber nicht den mindesten Beifall. Der Grosvater selbst mußte gestehn, sie sei misrathen und es war nicht weiter die Rede davon.

Im höheren Alter wurde er sehr bequem, und machte sich bei seiner Korpulenz viel zu wenig Bewegung. Dies246 hatte allerlei Uebel zur Folge, über die er sich vergeblich beklagte. Wenn wir ihn scherzweise an seinen Vers erinnerten

Post coenam stabis vel passus mille meabis,

und ihn aufforderten, seine Nachmittagsspaziergänge nicht zu unterlassen, so wurde er sehr böse, und behauptete, wir verstünden kein Latein; denn coena heiße nicht Mittagbrodt, sondern Abendbrodt. Darauf wurde ihm erwiedert, er mache sich ja auch nach dem Abendbrodt keine Bewegung; allein alles war umsonst: denn nun steifte er sich darauf, sein Abendbrodt sei so unbedeutend, daß er nicht nöthig habe, sich nachher noch die Füße abzulaufen.

Im Jahre 1817 feierte er sein 50jähriges Dienstjubiläum: er war also i. J. 1767 eingetreten, nur 4 Jahre nach dem Schlusse des siebenjährigen Krieges, in der vollen Blütezeit der Regierung Friedrichs II. Welche Schicksale waren seitdem über den preußischen Staat dahingegangen, und mit welchen Gefühlen konnte der Grosvater an den ersten Aufschwung, an den trostlosen Fall und an die glorreiche Wiedererweckung der Monarchie zurückdenken! Im Jahre 1817 fehlte es noch gänzlich an dem jetzt allgemein gebräuchlichen Jubelapparate von Deputationen und Gratulationen, von Adressen und Festessen, von Ordensverleihungen und silbernen Bechern mit obligater Begleitung von wohlgesetzten Reden. Daher wurde das grosväterliche Fest sehr still, aber desto heiterer, in unserem Familienkreise bei einigen Flaschen Champagner begangen.

In den letzten Lebensjahren verlor sich seine frühere Munterkeit fast ganz. Niemand konnte ihm etwas recht247

machen, und der geringste Widerspruch reizte ihn zu endlosem Keifen. Seine gleichaltrigen Freunde waren ihm fast alle weggestorben, und die nachwachsende Generation verscheuchte er durch seine maaßlose Heftigkeit. Von den früheren Tischgenossen hielt nur Paul bis zuletzt treulich bei ihm aus. Er wirkte jetzt als wohlbestallter Professor am Grauen Kloster, dem er einst als Schüler angehört, und bewohnte ein paar Zimmer in unserem Hinterhause. Wenn er um 12 Uhr mit seinen Stunden fertig war, und über den Hof ging, so sprach er regelmäßig in der Parterrewohnung des Grosvaters vor.

Um ihn etwas zu erheitern, kam Paul auf den Gedanken, die lateinischen Brocken, die dem Grosvater von seiner Gymnasialzeit anklebten, zu sammeln. Mit Eifer ging ich auf diesen guten Einfall ein; wir stellten ein Alphabetum aureum Eichmannianum zusammen, in dem mancher Buchstab sogar doppelt vertreten war. Dies ließ ich sauber in Oktav drucken, und Paul überreichte ihm ein Exemplar en maroquin, doré sur tranches an seinem 82. Geburtstage, den 12. Mai 1829. Meine Mutter und Tante Jettchen, welche auch nicht selten von der übeln Laune ihres Vaters zu leiden hatten, hofften hievon eine recht günstige Wirkung. Allein der Erfolg war ein ganz anderer. Anstatt den Scherz als Scherz zu nehmen, schrieb der Grosvater an Paul einen sehr gereizten Brief, worin er ihn des Verrathes an der Freundschaft beschuldigte, daß er diese Schulerinnerungen ihm abgelauert und hinter seinem Rücken habe drucken lassen. Paul wollte sich mündlich rechtfertigen, und den Scherz aufrecht erhalten, aber der alte Herr wurde so ausfallend, daß Paul von nun an seine Besuche einstellte.

248

Tante Jettchen.

Ein sehr schönes Verhältniß entspann sich für meine Schwester und mich zur Tante Jettchen, der jüngeren Tochter des Grosvaters Eichmann, die, wie ich schon erwähnte, nach Nicolais Tode ihr freundliches Gartenzimmer in unsrer Wohnung beibehielt. Es verging selten ein Tag, ohne daß wir zu ihr hinübersprangen, um sie etwas zu fragen oder ihr etwas zu zeigen: denn sie war eben so belehrend als theilnehmend. Von Jugend auf fühlte sie einen unwiderstehlichen Trieb, etwas zu lernen und sich nützlich zu beschäftigen. Mit dem Französischen und Italiänischen machte sie sich schon früh bekannt; als sich einmal die Aussicht zeigte, mit einer verwandten Familie nach England zu reisen, lernte sie noch geschwind das Englische; aber die Reise kam nicht zu Stande.

Ihre feste klare, fast möchte ich sagen edle Handschrift übte von Jugend an einen unwiderstehlichen Zauber auf mich aus. Da ich mich immer bemühte, meine eigne Handschrift zu verbessern, so nahm ich mir die ihrige zum Muster, das in unerreichbarer Vollendung vor mir stand. Noch jetzt erfreuen mich ihre Briefe, wenn sie mir zufällig in die Hand kommen, nach Inhalt Form und Schrift in hohem Maaße.

Die feinsten Federmesser auf einem kleinen Oelsteine249 selbst zu schleifen, ausgesuchte Gänsekiele in kunstgerechter Weise für alle Arten von Schrift zu schneiden, verstand sie aus dem Grunde, und gab mir gern Unterricht darin. Ihre Tinte war stets von einer beneidenswerthen Schwärze, und sie impfte mir den Abscheu ein, dieselbe mit Wasser zu verdünnen.

Oft genug hatte sie uns von der kunstvoll ausgebildeten Handschrift des obengedachten Vetters Wilhelm erzählt, so daß wir sehr begierig wurden, etwas von ihm zu sehn. Er schickte denn auch nach vielem Sichbittenlassen und Zögern der Tante zwei Pergamentblätter in Oktavo, eins mit deutscher, das andre mit lateinischer Schrift. Dies waren nun allerdings kalligraphische Kunstwerke, zu deren Herstellung er vielleicht drei Wochen gebraucht. Um sie zu schonen, hatte er sie mit irgend einem Firnisse überzogen, der gelb geworden war und ihnen ein schmutziges Ansehn gab. Wir bewunderten die Blätter gebührender Maaßen, allein ich wurde plötzlich sehr ernüchtert, als ich sein Begleitschreiben an die Tante betrachtete, und darin eine ganz unsichere kritzelnde Hand wahrnahm. Langsam und mit großer Mühe wohlgeformte und abgezirkelte Buchstaben hinzumalen, schien mir eine Kunst des Kupferstechers, aber in dem flüchtigsten Billet Schwung und Anmuth der Züge zu bewahren, wie dies bei der Tante Jettchen der Fall war, hielt ich für eine weit lobenswerthere Eigenschaft.

Von dem Dr. (nachherigen Geheimerath) Hermbstädt, der als junger Docent im Eichmannschen Hause verkehrte, hatte die Tante sich in der Physik und Chemie unterrichten lassen, allein dieses Studium durfte nicht lange fortgesetzt werden, weil sie einstmals durch eine zerbrochene Flasche250 Schwefelsäure einen werthvollen Teppich und andre Effekten zu Grunde gerichtet. Doch füllte sie sich später immer noch selbst ihr elektrisches Feuerzeug, und konnte uns keine größere Freude bereiten, als wenn sie uns erlaubte, ihr dabei zur Hand zu gehn. Die Selbstentzündung des Wasserstoffes durch feinen Platinadraht war damals noch nicht bekannt; man bediente sich eines elektrischen Funkens, und es bedurfte einer komplicirten Vorrichtung, damit der Funken gerade in demselben Moment erscheine, wenn die Röhre mit Wasserstoff sich öffnete. Daher war auch das Feuerzeug nur selten in Ordnung, wurde aber nichts desto weniger als etwas außerordentliches angestaunt.

Die Tante besaß auch eine Elektrisirmaschine mit ein paar Leidener Flaschen, einem Isolirschemel u. s. w. Wir lernten hier zuerst die Wirkungen jener merkwürdigen Naturkraft kennen, die jetzt durch die Erfindung der elektrischen Telegraphen alle irdischen Entfernungen verschwinden läßt. Meiner Schwester und mir waren die kleinsten elektrischen Schläge äußerst zuwider, und wir vermieden sie auf jede Weise, bei Fritz fand das Gegentheil Statt. Er setzte sich mit vieler Bravour auf den Isolirschemel, ließ sich voll laden, und dann einen ansehnlichen Funken aus seiner etwas länglichen Nasenspitze holen, ohne nur eine Miene zu verziehn.

Der Professor (nachherige Geheimerath) Weiß unterrichtete die Tante in der Mineralogie. Sie 1egte sich eine kleine Sammlung an, in der wir die verschiedenen Krystallstufen mit Entzücken betrachteten. Die lebendige Gesetzmäßigkeit des Entstehens dieser unlebendigen Gebilde öffnete dem ahnenden Sinne einen Einblick in den großen, das ganze anorganische Reich durchziehenden Rhythmus. 251

Kurth Sprengel, später Professor in Halle, war ihr Lehrer in der Botanik, und Willdenow, ein im Nicolaischen Hause gerngesehener Gast, konnte in allen zweifelhaften Fällen befragt werden. Die mineralogische Sammlung ward später nicht sehr gepflegt, aber der Botanik blieb die Tante bis an das Ende ihres Lebens treu und besaß darin mehr als gewöhnliche Kenntnisse. Fortwährend verkehrte sie mit den Berliner Botanikern Link, Kunth, Klotzsch, Ratzeburg u. a., ja in ihren letzten Jahren benannte Kunth ein neues Genus der Diantheen nach ihrem Namen: Kohlrauschia procumbens. Dies meldete sie mir nach Dresden mit den Worten: jetzt bin ich geistig geadelt, denn Kunth hat ein neues Genus nach mir benannt; ich habe aber kein anderes Verdienst dabei, als daß ich ihm kürzlich eine Schachtel Wallnüsse aus meinem Garten schickte, mit dem Bemerken, er möge sie nicht verschmähen, da er selbst es ausgesprochen, daß die Cotyledonen von Juglans regia sehr wohlschmeckend seien.

Als Mädchen von 15 Jahren zeigte sie eine unüberwindliche Neigung, die Violine zu lernen. Ihr Vater wollte anfangs nichts davon wissen. Bei seinem damaligen Einkommen er war noch simpler Finanzrath kamen die Kosten für die theuern Lectionen auch mit in Betracht. Allein sie ließ nicht nach, und sagte ihm zuletzt: Vater, wenn ich es nicht über das Mittelmäßige bringe, so will ich deine Tochter nicht sein! Er erfüllte den Wunsch des närrischen Mädchens, und obgleich es ihr im Grunde an ächter musikalischer Anlage fehlte, so kam sie doch durch unablässigen Fleiß dahin, daß sie in den leichteren Haydnschen Quartetten die erste Violine ohne Anstoß spielte. Sehr wohl erinnre ich mich des ersten Males,252 als ein solches Quartett in unserm großen Saale gegeben wurde. Sie trug nach der damaligen Sitte kurzgeschnittenes Haar, einen s. g. Schwedenkopf und ein weißes anliegendes Kleid; an der Violine war ein kleines grünseidenes Kissen befestigt, um den bloßen Hals nicht zu drücken. In der Mitte des Saales stand der hellerleuchtete Quartetttisch mit den vier Pulten, eine große Gesellschaft saß an den Wänden umher. Wir steckten in einer Fensternische hinter den Gardinen, und konnten uns kaum denken, daß die sonst so schüchterne Tante Jettchen den Muth haben werde, sich in einer so glänzenden Versammlung hören zu lassen. Aber es ging alles gut, obgleich uns einige Passagen in der Applikatur nicht ganz sicher vorkamen; das schmelzende Adagio machte den angenehmsten Eindruck. Als nach dem Schlusse ein allgemeiner Beifall erscholl, und die Virtuosin von den anwesenden Musikern, besonders von meinem Vater beglückwünscht wurde, sprangen wir lebhaft hervor, und gaben unsere fröhlichste Theilnahme zu erkennen.

Eine ähnliche Ausdauer wie bei der Violine bewies sie auch beim Klaviere und beim Gesange, aber sie brachte es nicht weiter als bis zur Begleitung einiger Lieder von Zelter, J. A. P. Schulz und Reichardt. Wir hörten ihr wohl gern zu, aber es wurde uns gleich ganz anders zu Muthe, wenn mein Vater sich an das Instrument setzte, und mit sichrer Hand den Hochzeitsmarsch aus dem Figaro oder das Beschwörungsduett aus der Armide anstimmte.

Mit Zeichenfeder, Bleistift und Tuschpinsel wußte die Tante auf das Beste umzugehn, und gern betrachtete ich ihre netten Arbeiten in Sepia. Einen besonderen Reiz für mich hatte die Sauberkeit aller ihrer Apparate. Ein schö253 nes Reißbrett von Lindenholz wurde in tadelloser Weise mit dem feinsten Schweizer Papier bespannt, um Zeichnungen in schwarzer und rother Kreide auszuführen. Noch rieche ich den feinen Duft des Cedernholzes, wenn sie das Kästchen mit den englischen Bleistiften öffnete. Schon früh hatte ich Perspektive gelernt, und behandelte die perspektivischen Zeichnungen mit besonderer Vorliebe, aber ich wurde oft durch die Kleinheit meines Reißbrettes gehemmt, so oft es nöthig wurde, entfernte Durchschnittspunkte zu gebrauchen. Bei der Tante fand ich ein Reißbrett mit 2 langen schmalen Seitenansätzen, wodurch man jene Entfernungen um das Doppelte vergrößern konnte.

Auch im Zeichnen nach Bildwerken hatte sie sich geübt, und bei einem Besuche im Grunewalde ein Basrelief des dortigen alten Jagdschlosses kopirt, das den Kurfürsten Joachim II. (1531 1572) und seinen Baumeister Casper Theys darstellt. Ein kleiner Aufsatz darüber steht in der Berlinischen Monatschrift Jan. 1807, p. 3. Mit großer Verehrung lasen wir unter dem in Kupfer gestochenen Basrelief: gez. von H. J. L. E., d. h. gezeichnet von Henriette J. L. Eichmann.

Im Parke von Schönhausen waren ihr einige Buchen aufgefallen, die sich in mäßiger Höhe über der Erde getrennt hatten, und dann wieder zusammengewachsen waren. Sie zeichnete diese Stämme für Wildenow, der an dem merkwürdigen Vorkommen großes Interesse nahm. Wir besuchten zusammen die wunderbaren Bäume, und konnten uns nicht genug über diese Trennung und Wiedervereinigung wundern. Später erfuhr ich, daß diese Erscheinung durch die Eigenart der Buche bedingt sei, die ein sehr hartes Holz mit weicher Rinde besitzt. Wenn die Rinden254 von 2 Aesten sich gegen einander durchreiben, so schließen sich die beiden wunden Stellen durch den hervordringenden Saft fest zusammen. In den großen Ziergärten der französischen Landsitze sollen manche Buchenhecken zu einem lebendigen Gitterwerk verwachsen sein. Auch bei anderen Bäumen kömmt ähnliches, wiewohl seltner vor. Wer die Nilinsel Rauda bei Kairo besuchte, der erinnert sich gewiß der zusammengewachsenen Aprikosenbäume, die Denon in seinem Werke über Aegypten durch eine Zeichnung verewigt hat.

Mit so vielen Kenntnissen und geistigen Vorzügen ausgestattet, lag es doch der Tante sehr fern, ein Blaustrumpf zu sein, vielmehr war sie in allen weiblichen und häuslichen Arbeiten eben so erfahren wie in Sprachen und Wissenschaften. Sie führte die feinsten Stickereien aus, und verschmähte es nicht, daneben die Staubtücher aus der Küche zu stopfen. Nicht zufrieden damit, ihre eigene Wäsche und die ihrer Aeltern auf das sauberste zu nähen, kam sie sogar auf den etwas barocken Einfall, sich ihre Schuhe selbst zu verfertigen. Die nöthigen Handwerkszeuge, Ahle, Pfriemen, Hammer, Schweineborsten, Pechdraht u. s. w. wurden angeschafft, und in einem sauberen Kasten mit Schiebedeckel verwahrt. Sie nahm förmlich Unterricht bei einem anständigen Damenschuhmacher, und handhabte die verschiedenen Instrumente mit einer wahren Virtuosität. Bald brachte sie es dahin, auf selbstgefertigten leichten Sommerschuhen zu gehn; die dicksohligen, welche einen größeren Kraftaufwand erforderten, wollten ihr weniger gelingen. Meine Schwester erhielt von ihr ein paar selbstgefertigte rothseidene Tanzschuhe, die auf mehr als einem Balle glänzten. 255

Nur eins konnte die Tante nicht bewerkstelligen, was mir gerade sehr leicht schien und am besten gelang, ihre Taschenuhr in Ordnung zu halten. Später hat ein alter erfahrener Uhrmacher mich versichert, daß diese Gabe dem ganzen weiblichen Geschlechte versagt sei, und im Kreise meiner Umgebung habe ich diesen Satz ohne Ausnahme bestätigt gefunden.

So lange sie dem Grosvater Nicolai die Wirtschaft führte, versäumte sie nicht, alles was ihm angenehm sein konnte anzuschaffen, und das was in ihrem Bereiche sich befand, in der musterhaftesten Ordnung zu halten. Nächst den schon erwähnten grätenreichen Stäkerlingen liebte der Grosvater im Frühjahr besonders die frischen Badischen. So wenig die Kinder eine Vorliebe für das erste Gericht theilten, so sehr erlabten sie sich an dem zweiten, von dem daher eine große Menge verzehrt ward. Wenn das abgeschnittene grüne Kraut auf einen Teller zusammengeworfen war, so sagte jedesmal der Grosvater: Sorgen Sie doch dafür, liebes Jettchen, daß das Grüne aufhoben werde, man kann es als Gemüse kochen lassen. Sie verfehlte niemals zu antworten: Ja wohl, Herr Nicolai, es soll geschehn. Dies hörten wir lange Zeit ziemlich gedankenlos mit an, als aber das gedachte Gemüse gar nicht erscheinen wollte, und der Grosvater auch niemals wieder danach fragte, so erkundigten wir uns außer der Essenszeit bei der Tante. Sie belehrte uns, daß der Abfall von vielen Tagen kaum hinreichen würde, um nur ein mäßiges Schüsselchen zu Stande zu bringen, daß sie aber dem Grosvater nicht widersprechen wolle.

Eine glückliche Zeit begann für mich, als Tante Jettchen anfing, meiner Schwester und mir Unterricht in der256 Botanik zu geben. Wir saßen zusammen in der grünen Stube des Lehmschlosses, und konnten einen Theil der Lehrobjecte von den Grasplätzen und aus den Treibhäusern entnehmen. Das Linnésche System war damals noch das allgemein gebräuchliche, und Wildenows Handbuch ließ in seiner unübertrefflichen Klarheit kaum etwas zu wünschen übrig. Das System der natürlichen Familien kam erst in Aufnahme, als die Zahl der neuentdeckten Pflanzen aus allen Welttheilen sich fast in das unabsehbare vermehrte; für einen kleineren Kreis von vegetabilischen Formen, und besonders für den ersten Unterricht hatte Linné die grösten Vorzüge. Kürze und Anschaulichkeit waren bei ihm vereinigt. Die Diagnosen sollten in nicht mehr als 12 Worten bestehn, und ein Vergrößerungsglas bei der Untersuchung nicht angewendet werden.

Die Tante führte uns durch die Analyse einzelner interessanter und bekannter Pflanzen gleich in die Praxis ein, und ließ die schwierige deutsche Terminologie anfangs nur beiher gehn. Hier zeigte es sich bald, daß meine Schwester, trotz ihres lebhaften und durchdringenden Geistes nicht die mindeste Lust hatte, sich die verschiedenen Blattformen, die gerippten, gesägten, gezackten und gelappten, die lanzettförmigen, herzförmigen, eiförmigen etc. zu merken. Sie verwechselte nur zu oft den Kelch mit der Blumenkrone, und zerzupfte in Gedanken manches für die Untersuchung bestimmte Exemplar. Daher ward ihr in aller Güte und Liebe der botanische Unterricht erlassen, und wir beide, die Tante und ich, wandten einen um so größeren Eifer an. Da sie hinlänglich Latein verstand, um den botanischen Beschreibungen folgen zu können, so257 ward nun das Linnésche System in der Ursprache durchgenommen. Sie schrieb mir mit ihrer herrlichen, karaktervollen Hand die 24 Linnéschen Klassen von Monandria bis Cryptogamia auf einen großen Bogen, der mir viele Jahre als Augenweide und Musterblatt diente, bis er sich mit so manchen andern Papieren zuletzt verloren hat. Jene 24 Klassen wurden indessen bald auf 23 reducirt, weil man bereits anfing, die 13te Isocandria zu überspringen, und von Dodecandria gleich zu Polyandria überging.

Die wahre Lust fing aber erst an, als wir kleine botanische Excursionen machten, theils allein, theils in Gesellschaft eines jungen Bouché aus der Nachbarschaft der Blumenstraße, der neben seiner Handelsgärtnerei tüchtig Botanik trieb, und in der Umgegend Berlins sehr gut Bescheid wußte. Das Erscheinen der neuen Gattungen und Arten im Laufe des Sommers gewährte einen reinen Genuß, das Bestimmen der noch unbekannten erforderte Aufmerksamkeit. Das Einlegen und Pressen in einer alten Nicolaischen Serviettenpresse, das Umlegen in trocknes Papier, das richtige Aufschreiben der Namen auf kleine Zettel, zuletzt das Einordnen in das System und das Aufbewahren in großen Mappen, dies alles verrichtete ich mit der fröhlichsten Aemsigkeit: denn schon damals lag unausgesprochen in meiner Seele der Gedanke, daß die Arbeit das Glück des Lebens sei.

Unsere Excursionen vom großen Garten aus gingen meist östlich und südlich vom Frankfurter bis zum Hallischen Thore. Diese Gegend kam mir damals eben so trostlos und von Gott verlassen vor, wie sie mir noch jetzt erscheint, und wenn ich an manche Stellen jener botani -258 schen Ausflüge zurückdenke, an die winzigen Fuchsberge bei Lichtenberg und die öden Müggelsberge bei Köpenick, an den Stralower Kirchhof und das Treptower Holz, an die Rollberge und den Neuen Krug in Rummelsburg, wo wir uns in der Hitze zuweilen an einem Butterbrodte und an detestabelm sauren Bier erlabten, so überschleicht mich eine aus Lust und Unlust gemischte Empfindung.

Bei dem Kennenlernen und Einsammeln der magern Berliner Flora blieben wir aber nicht stehn. Die mancherlei exotischen Pflanzen in den Treibhäusern und in dem Ananashause des großen Gartens wurden auch in Betracht gezogen. Da reichten nun die bisherigen Hülfsmittel, denen zuletzt noch die treffliche Flora Berolinensis von Schlechtendahl sich beigesellte, nicht aus. Zum Glücke fand sich in dem oftgenannten Wandschranke der grünen Stube außer Hirschfelds Gartenkunst auch noch Dietrichs botanisches Lexikon, das in vielen Bänden und Supplementbänden die ganze damals bekannte Flora alphabetisch umfaßte. Einen noch größeren Fund glaubte ich gemacht zu haben, als ich in Nicolais Bibliothek in der Stadt, Nemnichs Polyglottenlexikon entdeckte. Der Plan desselben ist ein sehr umfassender. Zu den Vulgärnamen aller bekannten Pflanzen in mehreren europäischen Sprachen konnte man gleich den systematischen Namen auffinden. Das schien für den ersten Anlauf sehr bequem. Allein bald zeigte es sich, daß dieses gelehrte Werk doch nur eine Art von Eselsbrücke sei, welches die Selbstuntersuchung und Selbstbestimmung gar nicht überflüssig machte. Bei den meisten Vulgärnamen steht nämlich mehr als ein systematischer Name und umgekehrt. In der Berliner Gegend bezeichnet man durch Flieder eben so wohl Syringa259 vulgaris als auch Sambucus nigra; Sorbus aucuparia heißt dort Ebresche (verderbt aus Ober-esche) und Vogelbeere; Syringa heißt in andern Gegenden Sirene, und Sambucus heißt Hollunder oder Holler.

Manche der exotischen Pflanzen in unserem Treibhause waren schon durch den Gärtner mit Namen versehn, die er auf kleine hölzerne Stäbchen mit Bleistift notirt hatte; für andre erholten wir uns Rathes bei dem gefälligen Bouché. Die Terrasse des großen Gartens hatte eine hölzerne Einfassung, die allsommerlich mit den besten Exemplaren besetzt wurde; an jedem Ende standen zwei massive Pfeiler mit den damals beliebten Kinderstatuen aus Sandstein. Im Laufe der Jahre war das Holzwerk an diesem Blumengerüste sehr schadhaft geworden; die Zapfen der hölzernen ausgebauchten Säulen verfaulten, und da sie schwer durch neue ersetzt werden konnten, so entstanden sehr unästhetische Lücken. So lange der Grosvater Nicolai lebte, mußte der Gärtner sich helfen, so gut es ging; ohnehin verboten die schlechten Zeiten jede unnütze Ausgabe; als aber nach den Befreiungskriegen ein neuer Aufschwung eintrat, entschloß sich mein Vater ein eisernes Blumengestell machen zu lassen, das für lange Jahre ausreichen sollte.

Damit überraschte er uns eines Frühjahrs beim Hinausziehn. Zu unserer Freude waren auch die plumpen steinernen Jungen, die besonders meiner Schwester zuwider waren, von den Postamenten verschwunden und durch Töpfe von schönblühendem Pancratium fragrans ersetzt. Gustav , sagte die Tante zu mir, dafür müssen wir uns revanchiren! Wir wollen an alle den aufgestellten Töpfen Etiketten mit den richtig und deutlich geschriebe -260 nen systematischen Namen anbringen. Gesagt, gethan. Ich bemächtigte mich im Holzstalle einiger guten kienenen Klötze, spaltete sie in kleine Theile, und verfertigte auf der Schnitzelbank des Gärtners etwa ein Schock zierlicher, unten zugespitzter Brettchen, worauf ich nun gleich die Namen mit Tusche auftragen wollte. Die Tante belehrte mich jedoch, daß dies nicht einem einzigen Regengusse widerstehn könne. Die Brettchen wurden nun erst duch weiße Oelfarbe grundirt, und nachdem diese gehörig getrocknet war, die Namen nebst Linnés Klasse und Ordnung mit schwarzer Oelfarbe darauf geschrieben. Nachdem auch dies getrocknet war, wurden die Etiketten eines Morgens sehr früh eingesteckt. Wir führten den Vater vor das so verbesserte Blumengerüst, und hatten die Freude, daß er sich äußerst zufrieden bezeigte.

Zu den botanischen, von den Kindern am meisten angestaunten Seltenheiten der Terrasse gehörte ein Mesembrianthemum crystallinum, das sich, im höchsten Sommer von der Mittagsonne beschienen, ganz kalt anfühlte, weil alle Blätter mit unendlich kleinen Wasserbläschen besetzt sind. Als wir einst zum Nachtische trockne Datteln bekamen, wurde die Fabel von Pfeffel citirt:

Ein Schüler , wie viele Knaben,
Die Datteln für sein Leben gern.

Zum Scherz forderte die Tante mich auf, diesem Knaben nachzuahmen; ich steckte einige Kerne in einen Topf und stellte sie in das Ananashaus. Sie hatten in der That noch Keimkraft, und nach einigen Jahren konnten wir den besuchenden Freunden 2 mannshohe Exemplare von selbstgezogener Phoenix dactylifera, vorläufig noch ohne261 Früchte zeigen. Endlich aber stießen sie an die niedrige Decke und gingen aus.

In dem Kreise ihrer gleichaltrigen Freundinnen übte Tante Jettchen ein entschiedenes Uebergewicht durch ihren Geist und ihre Kenntnisse. Weil nun junge Mädchen sich in Gesellschaften immer etwas zu sagen haben, was die andern nicht hören sollen, so erdachte sie als originelles Mittel, die Wörter verkehrt zu buchstabiren und auszusprechen: ich, du, er, sie hießen: chi, ud, re, eis etc. Diese Geheimsprache übte sie zuerst mit ihrer Schwester Lotte, dann wurden die Cousinen Breses, Kaisers u. a. eingeweiht. Der schon erwähnte kalligraphische Vetter Wilhelm war außer sich vor Entzücken, als er die Sache vernahm. Er brachte es zu einer erstaunlichen Fertigkeit in der Verkehrtheit, sang die Arien aus der Zauberflöte mit verkehrten Wörtern, verdarb aber vieles, indem er ein gar zu großes Aufhebens von der neuen Erfindung machte.

Die Winterbälle der französischen Kolonie gehörten am Ende des vorigen, und am Anfange des jetzigen Jahrhunderts zu den ausgesuchtesten gesellschaftlichen Vergnügungen. Auf diesen kam die Geheimsprache des kleinen geschlossenen Zirkels besonders zur Geltung. Eines Abends sagte Vetter Wilhelm zur Base Jettchen: Nadroi tsi etueh trisirf eiw nie Ledup! (Jordan ist heute frisirt wie ein Pudel!) Dieser Einfall machte so großes Glück, daß der genannte junge Mann, zum Unterschiede von den vielen andern Jordans den Namen Pudel-Jordan bekam, und bis an sein Ende beibehielt

262

Politische Ereignisse bis 1812.

Ueber die politischen Ereignisse, welche nach dem Unglücksjahre 1806 in Preußen eintraten, konnten sich nur einige abgerissene Notizen dem kindlichen Gedächtnisse einprägen. Was uns davon in den geschichtlichen und geographischen Schulstunden vorgetragen ward, war nur geeignet, eine ganz heillose Verwirrung in den Köpfen anzurichten. Jedes Jahr brachte neue durchgreifende Veränderungen. Hatte man mit Mühe die Quadratmeilen und Einwohner der verschiedenen europäischen Staaten auswendig gelernt, so trat sehr bald eine andre Eintheilung in Kraft, und alles ward über den Haufen geworfen.

Dennoch will ich versuchen, einen kurzen Ueberblick der Ereignisse zu geben, um mir selbst wieder klar zu machen, unter welchen erschütternden politischen Stürmen meine Jugend hingegangen.

Der geographische Unterricht begann damals allgemein mit dem Königreiche Portugal. Ueber dieses Land erfuhren wir, daß es bisher von dem uralten Regentenhause Braganza sei beherrscht worden. Der Kaiser NapoIton I. verlangte ohne alle Berechtigung, daß Portugal dem Kontinentalsysteme beitreten, d. h. alle seine Häfen den englischen Schiffen verschließen solle. Da Portugal sehr263 wenig Gewerbfleiß besaß, und alle seine Bedürfnisse an Fabrikaten aus dem betriebsamen England bezog, so durfte man jenes Verlangen wohl ein unbilliges nennen. Daher erfolgte eine abschlägige Antwort, und sofort schickte Napoléon im Jahre 1807 seinen Marschall Junot mit einer Armee queer durch Spanien nach Portugal. Dieser hielt seinen Einzug in Lissabon, und eroberte fast das ganze Land für französische Rechnung. Der König von Portugal ging mit seiner Familie auf englischen Schiffen nach seiner amerikanischen Provinz Brasilien, und nahm dort den Titel eines Kaisers von Brasilien an.

Nicht mit Unrecht vermuthete man damals, Napoléon habe diesen Eroberungszug nur deshalb unternommen, weil er gehofft, die amerikanischen Kolonien würden sich nicht vom Mutterlande lossagen, sondern ihm als dem Beherrscher von Portugal zufallen.

Spanien hatte den Durchzug der Franzosen erlaubt, weil ihm ein Stück der portugiesischen Beute versprochen war, aber bald sollte es erfahren, daß in Napoléons starkem Kopfe die Begriffe von Recht und Unrecht, von Mein und Dein einen andern Inhalt hatten, als bei den meisten übrigen Menschen.

Im Frühjahre 1808 ging der alterschwache König von Spanien, Karl IV. mit seinen beiden Söhnen Fernando und Carlos nach Bayonne, wohin auch Napoléon gekommen war, und entsagte hier für sich und seine Kinder allen seinen Regentenrechten auf Spanien und Amerika zu Gunsten desjenigen Prinzen, den der französische Kaiser auf den spanischen Thron setzen werde. Dafür erhielt er ein jährliches Einkommen von 30 Millionen Realen. Vermöge dieser Cession, von der man nie recht erfahren, ob sie264 freiwillig oder gezwungen gewesen, betrachtete Napoléon nun Spanien als sein Eigenthum. Er rief seinen Bruder Joseph, bis dahin König von Neapel, zu sich, und führte ihn an der Spitze eines siegreichen Heeres nach Madrid. Bei diesem Gewaltstreiche erhob sich die ganze spanische Nation, und begann einen unablässigen Guerillaskrieg gegen die fremden Eindringlinge. Auch die Engländer thaten das ihrige, und schickten den General Wellington, der bereits in Ostindien, bei der Besiegung des Sultans Tippo Sahib und der Eroberung der Hauptstadt Seringapatnam sich schöne Lorbeern erworben. Waren auch die Spanier im offnen Felde den Franzosen nicht gewachsen, so hielten sie desto hartnäckiger ihre Festungen. Die heldenmüthige Vertheidigung von Pampelona, Sarragossa, Tarragona u. s. w. wurde mit Bewunderung nach Privatnachrichten verfolgt; in unseren unter französischem Einflüsse stehenden Zeitungen fand man nur einige Angaben über die endliche Eroberung dieser Festungen durch die Franzosen.

In Betreff des französischen Kaiserreiches hatten wir uns gewöhnt, von 1806 bis 1812 eine alljährliche Vergrößerung zu vernehmen, so daß die Zahl der Departements und der Einwohner sich immerfort veränderte.

Ueber den Kaiser Napoléon I. Bonaparte selbst wurde uns mitgetheilt, daß er zuerst als fähiger und unerschrockener Artillerieoffizier bei der Belagerung von Toulon im Jahre 1793 sich ausgezeichnet, und daß er, wie die römischen Konsuln, die Gewohnheit habe, alle seine Feldzüge in einem Jahre zu beendigen. So eroberte er 1796 bis 1797 im raschen Siegeslaufe Oberitalien von den Piemontesen und Oestreichern. Im Frieden von Campo Formio (1797) kam es zum ersten Male vor, daß er als265 Sieger sich 20 der besten Bilder aus der Gallerie von Parma ausbedang, angeblich aus Liebe zu den schönen Künsten. Dieses friedliche Raubsystem wurde in allen folgenden Kriegen fortgesetzt, und auf eine so großartige Weise betrieben, daß im Jahre 1812 die Bildergallerie des Louvre als die erste in der Welt betrachtet werden konnte. Sie enthielt, um dies hier beiläufig anzuführen, 26 Staffeleibilder von Raphael, 24 von Tizian, 9 von Correggio, 53 von Rubens, 32 von Rembrandt.

Nicht zufrieden mit diesen europäischen Eroberungen unternahm Bonaparte im Jahre 1798 einen abentheuerlichen Zug nach Aegypten. Dieses Land gehörte ohne Widerrede der hohen Pforte; es ließ sich weder ein wahrer noch ein scheinbarer Rechtsgrund auffinden, um es im tiefsten Frieden der Pforte abzunehmen. Bei den früheren Kriegen der Revolution hatte es in den französischen Manifesten gewöhnlich geheißen, daß die Franzosen, von dem allgemeinen Wunsche der unterdrückten Völker gerufen, ihnen statt der despotischen Monarchie die freie Republik brächten; aber die armen Araber in Aegypten kannten weder die Monarchie noch die Republik, sondern fühlten nur den Druck der Mamluckenbeys.

Dieser ungerechte Zug nach Aegypten nahm denn auch ein trauriges Ende. Der englische Admiral Nelson vernichtete bei Abukir die französische Flotte, die syrische Festung St. Jean Acre ward vergeblich von den Franzosen belagert und die Pest wüthete unter den französischen Truppen. Nach einem Jahre ließ Bonaparte sein ägyptisches Heer im Stiche, und segelte, vom Glücke begünstigt, durch die englischen Kreuzer hindurch nach der französischen Küste zurück. 266

Als muthmaslichen Grund für die ägyptische Expedition glaubten die damaligen tiefblickenden Politiker annehmen zu können, daß der kühne französische General einen Landweg nach Ostindien gesucht habe, um den ihm verhaßten Engländern ihren reichen Kolonialbesitz zu entreißen. Dies gelang ihm nun eben so wenig, als der Versuch, mittelst der Mutterländer Spanien und Portugal die amerikanischen Kolonien sich anzueignen; aber die kindliche Anschauung stand bei solchen Betrachtungen mit blödem Erstaunen vor dem Riesenplane einer allgemeinen Weltherrschaft, die eventuel von der chinesischen Gränze durch Asien, Europa und Amerika bis zum Stillen Oceane würde gereicht haben!

In Europa fing diese Idee an, sich nach und nach zu verwirklichen: denn trotz der böslichen Verlassung des ägyptischen Heeres trat der General Bonaparte bei seiner Rückkehr nach Frankreich, wo er ungescheut die strengen Quarantainegesetze brach, und von Frejus augenblicklich nach Paris eilte, ohne Zögern an die Spitze der Regierung, schlug als erster Konsul die Oestreicher in der Entscheidungsschlacht bei Marengo (1800) und diktirte ihnen den Frieden von Luneville (1801). Frankreich ward durch das ganze linke Rheinufer und die belgischen Provinzen vergrößert. Der Herzog von Modena erhielt den Breisgau, der Erbprinz von Parma das ehemalige Toscana unter dem Titel eines Königreiches Etrurien; die cisalpinische Bepublik wählte den siegreichen General Bonaparte zu ihrem Präsidenten, das Churfürstenthum Hannover ward wegen seiner Verbindung mit England 1803 von den Franzosen besetzt, u. s. w. Es war, als ob die Länderkarten der europäischen Reiche wie Spielkarten von dem ersten Kon -267 sul gemischt und nach Belieben vertheilt würden. Schon damals hielt er, wie er später öfter erklärte la fusion des masses für die Hauptaufgabe seines Lebens.

Es dauerte gar nicht lange, so wurde er 1804 zum Kaiser der Franzosen erwählt. Hier hörte man zum ersten Male von einer Nationalabstimmung, d. h. es wurden ungefähr Millionen französischer Bürger einzeln befragt, ob sie dem ersten Konsul ihre Stimme zur Kaiserwürde geben wollten. Es ließ sich voraussehn, daß die meisten zustimmen würden, und so waren denn im Ganzen nur etwa 3000 verneinende Stimmen abgegeben worden. Der Papst Pius VII. mußte sich entschließen, mitten im Winter von Rom nach Paris zu reisen, um die Salbung am 2. Dec. 1804 zu vollziehn. Napoléon hatte ihm erklärt, daß er im Weigerungsfalle entschlossen sei, mit 20 Millionen Franzosen sich von der katholischen Kirche loszusagen. Die Feierlichkeiten der Kaiserkrönung in der Kirche Notre Dame wurden durch die Zeitungen ausführlich mitgetheilt, aus Privatnachrichten erfuhr man, daß der Kaiser von dem Schauspieler Talma sich alle Stellungen und Gebehrden habe einüben lassen, und daß er während der ganzen Ceremonie heimlich gegähnt. Das höchste äußere Glück erzeugte bei ihm als Negation das Gefühl des inneren Ueberdrusses.

Nicht lange hatte die Kaiserkrone auf dem Haupte des mächtigen Emporkömmlings gesessen, als schon ein neuer Krieg gegen Oestreich und Rußland entbrannte. Die Schnelligkeit, womit Napoléon ihn beendigte, setzte alle Welt in Erstaunen. Am 24. Sept. 1806 verließ er Paris, am 20. Okt. machte er in Ulm 24,000 Oestreicher unter General Mack zu Kriegsgefangenen, am 13. Nov.268 hielt er seinen Einzug in Wien, am 2. Dec. siegte er über die beiden Kaiser bei Austerlitz, und am 26. Dec. wurde der Frieden von Presburg abgeschlossen, in welchem Oestreich mehr als 1000 Quadratmeilen und fast 3 Millionen Einwohner verlor. Das französische Reich umfaßte damals alle Länder von der holländischen Küste bis zur Meerenge von Messina, und von den Pyrenäen bis zum Main und Lech.

Im Jahre 1806 mußten wir uns in der Schule mit der Stiftung des Rheinbundes bekannt machen. Daß eine Menge souveräner deutscher Fürsten, mit einer Bevölkerung von mehr als 9 Millionen, sich, noch ehe das Deutsche Reich aufgelöst war, zu einem neuen Bunde vereinigten, und daß der Kaiser der Franzosen als Protektor dieses Bundes figurirte, wollte uns gar nicht in den Sinn; aber wir empfanden bald die Folgen dieser abnormen Bildung. Im Herbste 1806 erfolgte der Schlag gegen Preußen; da sah man, wie die Sachsen als neue Verbündete der Franzosen, Danzig belagerten, und wie die Bayern und Würtenberger vor den schlesischen Festungen standen. Preußen behielt im Tilsiter Frieden nur noch 3000 Quadratmeilen und 5 Millionen Einwohner.

Höchst anziehend klang uns in der Schule der Bericht von dem Versuche der Engländer, Konstantinopel zu erobern (Februar 1807). Sie fuhren mit einer ansehnlichen Flotte unter Leitung des Admirals Duckworth durch die Meerenge der Dardanellen, dicht unter den türkischen Kanonen vorbei. Diese waren in so schlechtem Stande, daß sie kaum einige Schüsse mit großen steinernen Kugeln von 160 Pfund an Gewicht thun konnten, und dabei fast sämmtlich zerplatzten. Die türkischen Kanoniere nahmen269 sich gar nicht die Mühe zu zielen: denn nach ihrem Prädestinationsglauben konnte die Kugel nur den treffen, der schon vorher zum Tode bestimmt war: ja noch mehr: da Allah allmächtig ist, so kann er, wenn er will, die Kugel in ihrem Fluge umkehren, und auf den Schützen selbst fallen lassen; wozu also die Zeit mit zielen verlieren! Bei solchen Grundsätzen war es nicht schwer, die türkischen Verschanzungen zu nehmen. Die Engländer erlitten zwar auch einige Verluste bei dieser Durchfahrt, denn wo man Holz hackt, da fallen Späne sagte uns der Lehrer. Jedoch bei der Stadt Konstantinopel selbst fand Duckworth einen unerwarteten Widerstand. Er mußte sich, ohne etwas ausgerichtet zu haben, nach kurzer Zeit zurückziehn, und man konnte diese ganze englische Unternehmung als mißglückt betrachten.

In demselben Jahre (September 1807) erzählte uns ein junger lebhafter Lehrer eines Morgens, in Kopenhagen sei ein großer Brand gewesen; die Engländer seien im tiefsten Frieden bei Kopenhagen mit ihrer Flotte gelandet, hätten eine Menge Batterien aufgeführt, und durch ein unbarmherziges zweitägiges Bombardement den vierten Theil der Stadt eingeäschert, bis endlich der König von Dänemark gezwungen wurde, ihnen seine ganze Flotte von 18 Linienschiffen und 15 Fregatten auszuliefern. Fragten wir nach den Ursachen dieser Unthat, so belehrte man uns, daß die Engländer gefürchtet, die Dänen möchten ihre stattliche Flotte, die ihnen bisher freilich nur zum Schmucke gedient, und niemals ernstlichen Gebrauch gefunden hatte, mit der französischen vereinigen. Daß eine solche staatsmännische Rücksicht irgend eine Geltung haben könne, war dem kindlichen Rechtsgefühle unbe -270 greiflich, und dieser hämische Streich setzte die Engländer gar sehr in der Meinung der Jugend herunter, die sonst gewohnt war, Schillers Unüberwindliche Flotte mit Enthusiasmus zu deklamiren, und überhaupt die Engländer als die Vorkämpfer der Freiheit zu betrachten.

Im Jahre 1808 machte Napoléon, wie schon bemerkt, einen raschen Feldzug nach Spanien, drängte die Spanier und Engländer in vielen siegreichen Gefechten zurück, und erklärte mit stolzem Munde, nun könne ein französischer Unterlieutenant den Krieg beendigen. Aber trotzdem hausten die Guerillas in den Gebirgen, und es gelang den Franzosen nie, das ganze Land unter ihre Bothmäßigkeit zu zwingen.

Zwar hatten sie zuletzt, nach langsamer Eroberung der Festungen, fast alle Provinzen besetzt, nur das auf einer Insel gelegene Cadix widerstand. Die Spanier hatten ihre besten Truppen hineingeworfen, und die Engländer vertheidigten es zur See. Die Franzosen besaßen keine Kriegschiffe, um eine Seeschlacht zu wagen, beherrschten aber alle Punkte der Küste, und wollten sogar versuchen, die Festung über einen breiten Meeresarm hinweg, zu beschießen. Napoléon ließ durch den Ingenieur Villeroy zwei Kanonenmörser gießen, die damals als etwas ungeheures angestaunt wurden, aber jetzt gegen unsre Paixhans, Armstrong, Wentworth, Krupp u. s. w. sehr zurückstehn müssen. Man erzählte, daß der Kanonier, der den ersten Villeroyschen Mörser abgefeuert, vom Luftdrucke gefaßt, todt niedergefallen sei; da ward die Sache aufgegeben, die Mörser blieben in Paris, und stehn seit 1816 als Siegeszeichen vor dem Berliner Zeughause.

Nachdem die französische Besitznahme von Preußen271 über 2 Jahre gedauert, hörte man unter der Hand, daß Oestreich noch einmal gegen Frankreich rüste. Onkel Eichmann brachte aus dem Kabinette des Staatskanzlers manche vertrauliche Mittheilung an seinen Bruder, und obgleich alles im tiefsten Geheimniß bleiben sollte, so schnappten die neugierigen Kinder doch hin und wieder ein Wort auf. Ganz besonders hatte der Kaiser Franz sich verletzt gefühlt, als in einer diplomatischen Verhandlung Napoléon ihm in der unhöflichsten Weise schrieb: in seiner (Napoléons) Macht habe es i. J. 1805 gestanden, die östreichische Monarchie zu zerstückeln; daß sie noch bestehe, sei nur ein Ausfluß der französischen Gnade!

Nun durfte man wieder hoffen, das fremde Joch von Deutschland abgeschüttelt zu sehn, und wenn auch Preußen, an Händen und Füßen geknebelt, sich in der Unmöglichkeit befand, der deutschen Sache thätige Hülfe zu leisten, so schlugen doch alle preußischen Herzen höher bei dem Gedanken an eine baldige Befreiung.

Allein diese schönen Hofnungen sollten nicht in Erfüllung gehn. Mit derselben Schnelligkeit und derselben niederwerfenden Kraft wie i. J. 1805 beendigte Napoléon auch den Feldzug von 1809. Im Anfange des April verließ er Paris, siegte bei Abensberg, siegte bei Eckmühl, eroberte Regensburg und hielt am 15. Mai seinen Einzug in Wien. Zwar siegten die Oestreicher bei Aspern und Eßlingen, aber der Erzherzog Karl verstand es nicht, den Sieg zu benutzen. Er blieb unthätig auf dem Schlachtfelde stehn, und ließ dem Feinde beinahe 6 Wochen Zeit, auf der Insel Lobau alle seine Kräfte zu concentriren. Am 5. Juli ging Napoléon fast im Angesichte des Feindes über die Donau, und schlug die Oestreicher in der Haupt -272 schlacht bei Wagram, wobei er nicht einmal alle seine Truppen ins Feuer führte, denn es hieß in seinem Siegesbulletin: la Garde n’a pas ete entamee! Der Erzherzog Karl, der von seinen Verehrern als ein Meister im Rückzuge gelobt wurde, legte nach dieser Schlappe seine Feldherrnwürde nieder, und am 14. Okt. 1809 ward der Friede in Wien abgeschlossen, in dem Oestreich eine Menge Provinzen, theils an Sachsen, theils an Bayern, theils an Frankreich selbst abtreten mußte.

Tirol sollte in diesem Frieden an Bayern kommen, doch die Tiroler empörten sich gegen die neuen Herren in einem gefährlichen Aufstande. Von Hofers heldenmüthigen Kämpfen und theilweisen Siegen kamen nur sehr gefärbte Nachrichten in unsre Zeitungen. Die älteren Leute sahen wohl die Hoffnungslosigkeit eines solchen Unternehmens ein, doch wir Jüngeren jubelten bei jeder geheimen Kunde von den Hoferschen Erfolgen. Noch erinnre ich mich eines Kraftwortes des Grosvaters Eichmann, der bei dieser Gelegenheit äußerte: der kleine Täckel beißt zwar ordentlich, aber er kann gegen den großen Bullenbeißer doch nicht aufkommen! Mit Schmerz und Lust hörten wir, daß zwar die Tiroler der Uebermacht unterlegen, daß aber Hofer verschwunden, mithin gerettet sei. Nur zu bald kam die sichere Anzeige, der brave Sandwirth sei in seinem Gebirgsverstecke aufgefunden, gefangen und am 20. Febr. 1810 auf den Wällen von Mantua erschossen worden.

Als ich in späteren Jahren Hebels Schatzkästlein in die Hände bekam und mit Entzücken durchlas, verletzte mich aufs tiefste ein Aufsatz über A. Hofer, der in spöttischer und verächtlicher Weise die thörichte Auflehnung273 dieses verblendeten Rebellen gegen die Macht des großen Kaisers Napoléon geißelt. Er schließt mit den Worten: in solchen Wassern fängt man solche Fische! Um Hebels Ehre willen hoffen wir, daß dieses Stück in den späteren Ausgaben weggeblieben sei.

Indem Bayern durch den Wiener Frieden (1809) außer Tirol auch noch Salzburg zugetheilt erhielt, so reichte damals der Rheinbund bis an den Nordabhang der Steirischen Alpen.

Weit näher als Hofers Kampf in den fernen Tiroler Bergen berührte uns Schills tollkühner Zug, der ja in Berlin seinen Anfang nahm. Schill verließ die Hauptstadt mit seinem Husarenregiment (April 1809) in der Hoffnung, daß ein Aufstand, den der General Dörnberg in Westphalen organisirte, den gewünschten Erfolg haben werde; er zog nach Wittenberg, siegte bei Dodendorf, ging nach Wismar, und warf sich, als Dörnbergs Unternehmen mislang, nach Stralsund, wo er am 31. Mai 1809 im Verzweiflungskampfe fiel. Gegen die wenigen Gefangenen verfuhr Napoléon mit äußerster Strenge. Sie wurden theils auf den französischen Festungen in harter Haft gehalten, theils in Toulon auf die Galeeren geschmiedet. Unter den letzteren befand sich der Sohn des mit meinem Vater sehr befreundeten Geheimerath Krutisch, Direktors der Schicklerschen Zuckerraffinerie. Sehr wohl erinnre ich mich, wie Krutisch voll Betrübniß zu meinem Vater kam, und ihm die näheren Umstände der Niederlage mittheilte. Krutisch reiste sogleich nach Paris, und es gelang ihm durch seine Verbindungen mit den dortigen angesehensten Häusern, seinen Sohn frei zu machen, der darauf in ein preußisches Ulanenregiment eintrat, und unter dem Namen274 des langen Krutisch viele Jahre hindurch eine den Berlinern wohlbekannte Figur blieb.

Nach der Niederwerfung von Oestreich i. J. 1809 und nach den vergeblichen Aufstandsversuchen Hofers, Schills und des Herzogs von Braunschweig konnte ich wohl aus den Gesprächen der Aeltern und Grosältem abnehmen, daß nun auch für Preußen alle Hoffnung verschwunden sei, sich wieder aufzurichten, und daß nichts übrig bleibe, als das fremde Joch fort und fort zu tragen. Es prägte sich mir fest ein, als bei einer solchen Gelegenheit der Grosvater Eichmann mit ruhiger Fassung sagte: der liebe Gott wird schon noch ein Einsehn haben!

Im Tilsiter Frieden (1807) hatte Napoléon aus mehreren eroberten deutschen Provinzen das Königreich Westphalen mit der Hauptstadt Kassel gebildet, und seinem Bruder Jerome zugetheilt. So sehr dieser Gewaltstreich von den guten Patrioten verabscheut ward, so fehlte es nicht an Deutschen, die der neu aufgehenden Sonne sich zuwendeten. Der Musiker Reichardt, dessen seelenvolle Lieder uns entzückten, lebte in Kassel als Hofkapellmeister; Johannes von Müller, den man uns in der Schule als einen der gelehrtesten Geschichtschreiber nannte, hatte das Amt eines Staatsarchivares; der von den Kindern wegen seines Robinson mit schwärmerischer Neigung verehrte Campe in Braunschweig konnte es über sich gewinnen, für den fremden Herrscher eine begeisterte Empfangsfeierlichkeit zu veranstalten.

Da der Grosvater Eichmann mit seinen westphälischen Verwandten immer in brieflicher Verbindung stand, so erfuhren wir auf diesem Wege manches von der heillosen Wirtschaft in Kassel und von der dagegen sich bildenden275 Opposition. Der König Jerome hatte bei seiner Ankunft in Kassel gleich ein Bad genommen; darauf kursirte folgender Spottvers, den der Grosvater mit Behagen bei Tische recitirte:

Kaum kömmt er in die Stadt,
So nimmt er schon ein Bad!
Deß freun wir uns nicht wenig,
Denn das ist noch ein König,
Der sich gewaschen hat.

Dies erste Bad mochte nun wohl ein Wasserbad gewesen sein, doch wurde später versichert, der König bade sich manchmal in Champagner, den dann die Kammerdiener nachher wieder auffüllten, und unter der Hand verkauften.

Für die neuen westphälischen Hofämter waren neue prachtvolle Uniformen ausgedacht worden, die von Gold und Stickereien strotzten. Ein 90jähriger Graf von Sierstorpff, dem ältesten Landadel angehörend, und wegen seines jovialen Freimuthes bekannt, hatte es nicht vermeiden können, ein Hofamt anzunehmen, obgleich er von seiner Abneigung gegen die neue Dynastie gar kein Hehl machte. Bei einem Hoffeste stand er mit anderen zusammen, die sich über die reichen Uniformen unterhielten. Nun, meine Herren, sagte Sierstorpff ganz laut, indem er seinen goldgestickten Aermel anfaßte, ich denke doch, wir alle werden diese Narrenjacken nicht lange zu tragen haben!

Den allergrösten Widerwillen erregte im Königreich Westphalen die neu eingeführte französische Konscription. An vielen Stellen rotteten die Bauern, welche man zum Kriegsdienste ausheben wollte, sich zusammen, und leiste -276 ten bewaffneten Widerstand; es traten militärische Executionen von französischen Truppen ein; viele der Renitenten wurden im Kampfe oder nachher standrechtlich erschossen. Il parait, que les Hessois sont tous des brigands , sagte der Kaiser Napoléon bei den Berichten über diese Vorgänge. Da er aber von seinem Bruder Jerome ein starkes Kontingent für den Krieg in Spanien verlangte, so wurden die Aushebungen unnachsichtlich betrieben, und mehrere Bataillone Westphalen bei der Belagerung von Gerona und Tarragona verwendet. Die Hessen haben Unglück mit ihren Herrschern , sagte eines Tages der Grosvater Eichmann, der Kurfürst mit dem Kodder verkaufte seine Landeskinder nach Amerika, und der Kakadukönig schickt sie nach Spanien! Zur Erklärung dieser Epitheta erzählte er uns, daß der letzte, von den Franzosen verjagte Kurfürst Wilhelm von Hessen eine unförmliche Fleischgeschwulst am Halse trage, und daß der König Jerome sich alle Morgen von einem französischen Haarkünstler à la Cacadou frisiren lasse.

Außer dem Königreiche Westphalen wurde im Tilsiter Frieden noch ein Herzogthum Warschau geschaffen, und dem Kurfürsten Friedrich August von Sachsen, als dem Nachfolger der früheren Könige von Polen, durch den allmächtigen Ländervertheiler Napoléon zugebilligt. Friedrich August nannte sich nun nicht mehr: Kurfürst von Sachsen und König von Polen, sondern: König von Sachsen und Herzog von Warschau. In allen Wechselfällen der europäischen Kriege blieb er von nun an immer auf Napoléons Seite, und büßte diese Anhänglichkeit i. J. 1814 mit dem Verluste seines halben Landes.

Ueber den Fürstentag in Erfurt (September und Ok -277 tober 1808) drangen allerlei nicht offizielle Nachrichten in die Berliner Kreise. Man erzählte, daß die beiden Kaiser, Napoléon und Alexander, sich auf das freundschaftlichste begrüßt, und sehr angelegentlich unterhalten hätten; die vier Könige von Sachsen, Bayern, Würtenberg und Westphalen, so wie die kleineren Potentaten des Rheinbundes figurirten nur als Statisten bei diesem schmachvollen Schauspiele. Napoléon that sich so wenig Zwang an, daß er Abends im Theater, in der Mitte der ihn umgebenden Vasallen einschlief, und mit tief auf die Brust herabhängendem Kopfe laut schnarchte. Niemand wagte ihn zu wecken. Wenn darüber das Stück zu Ende ging, so blieb alles sitzen, und man mußte so lange warten, bis der schlafende Löwe von selbst aufwachte.

Im Januar 1810 überraschte uns die Nachricht, daß der Kaiser Napoléon sich von seiner Gemalin Josephine habe scheiden lassen. Bald darauf las man in den öffentlichen Blättern, der Marschall Berthier, Fürst von Neufchatel, sei nach Wien gereist, um für seinen Herrn um die Hand der deutschen Kaisertochter Marie Luise anzuhalten, und daß diese Bewerbung angenommen sei. Eines Morgens (im Juli 1810) saß ich auf dem Fußbänkchen am Fenster, und las meinem Vater, der sich von Wilhelm frisiren ließ, mit großer Geläufigkeit aus der Vossischen Zeitung die Nachricht vor, daß der König Ludwig von Holland sich veranlaßt gesehn, die Regierung zu Gunsten seines Bruders Napoléon niederzulegen. I der Tausend , rief mein Vater, das wärel! Er nahm selbst das Blatt zur Hand, und fand weiter, daß der Kaiser Napoléon mit dieser Abtretung zufrieden sei, und das Königreich Holland an sich genommen. Später wurde es gänzlich in Frank -278 reich einverleibt, und half nun die Zahl der französischen Departements und Einwohner vermehren.

Als die Zeitungen die Nachricht brachten, daß die schwedischen Reichsstände (August 1810) den französischen Marschall Bernadotte, Fürsten von Pontecorvo, den Sohn eines Uhrmachers aus Toulouse, zu ihrem Kronprinzen gewählt, nachdem der rechtmäßige König Gustav IV. entthront war, so erregte dies keine besondere Verwunderung, denn man erinnerte uns in der Schule daran, daß der jetzige Kaiser der Franzosen vor etwa 16 Jahren seine Laufbahn als Artillerielieutenant begonnen.

In Folge des Kontinentalsystems erließ Napoléon (Oktober 1810) eine Verordnung von schreiender Ungerechtigkeit. Auf seinen Befehl wurden alle englischen Waaren in den preußischen Ostseehäfen von Stettin bis Memel erst mit Beschlag belegt und dann verbrannt. Die von dieser Maasregel betroffenen preußischen Kaufleute machten mehrentheils Bankerot. Einige derselben, die sich vergeblich nach Berlin um Hülfe gewendet, sah ich am Tische des Grosvaters Eichmann, doch ist mir kein Name im Gedächtniß geblieben. Der Grosvater stand wegen seiner früheren Wirksamkeit im Fabrikwesen immer noch mit dem Handelstande in vielfachen Beziehungen, konnte aber natürlich in diesem Falle gar nichts thun. Die Beschreibung des gewaltthätigen, oft brutalen Verfahrens der französischen Kommissäre verschärfte unsern Haß gegen die fremde Willkührherrschaft, und ein tröstendes Kraftwort des vertrauensvollen Grosvaters richtete uns wieder auf. Das sind alles Kleinigkeiten , sagte er, zu Lande kann Napoléon den Engländern wohl manchen Schabernack anthun, aber zur See beißen sie ihn desto ärger. Und in279 der That war um jene Zeit der Handel an allen französischen und von Frankreich beherrschten Küsten vollständig gelähmt. Eine französische Kriegsflotte, welche die Handelschiffe hätte schützen können, existirte nicht mehr. Nelson hatte bei Abukir (Aug. 1798) an der ägyptischen Küste 12 französische Linienschiffe und Fregatten theils zerstört, theils erobert: dann hatte der Rest der französischen Flotte sich mit der spanischen vereinigt, allein bei Trafalgar an der portugiesischen Küste erfocht Nelson einen zweiten Seesieg (22. Okt. 1805), der ihm zwar selbst das Leben kostete, aber die beiden feindlichen Flotten fast ganz vernichtete. Nun konnte man England mit Recht die Herrscherin der Meere nennen. Eine französische Handelsflotte gab es nicht mehr; die Fahrzeuge lagen abgetakelt in den Häfen, und wenn ja eins sich herauswagte, so ward es die sichre Beute der englischen Kreuzer. Die Prisengelder, welche alljährlich von dem englischen Handelsamte gezahlt wurden, beliefen sich auf viele Tausend Pfund Sterling. Indem Napoléon in allen von ihm abhängigen Ländern die Schließung der Häfen gegen englische Schiffe dekretirte, hoffte er die englischen Fabriken zu ruiniren, allein Amerika und Ostindien blieben immer sehr ergiebige Absatzquellen für die englischen Gewerbserzeugnisse, und der Schleichhandel an den französischen Küsten stand damals in höchster Blüte.

Während viele preußische Kaufleute durch das Kontinentalsystem hart mitgenommen wurden, so machte doch ein Berliner Kaufmann dadurch sein Glück. Es war dies der Materialhändler Kupfer in der Königstraße. Mit seinem Sohne saß ich in der Hartungschen Schule zusammen, und wir trieben einen für beide Theile angenehmen Tausch -280 handel. Er brachte mir zuweilen ein Stück Citronat, das er ohne Erlaubniß seines Vaters mochte erworben haben; ich gab ihm dafür Siegelabdrücke, die ich mit voller Erlaubniß meines Vaters aus einem großen Schubfache holte, in welches er alle ausgeschnittenen Siegel seines sehr starken Briefwechsels zu legen pflegte. Als nun das Gerücht von der bevorstehenden Kontinentalsperre sich an der Börse in Berlin verbreitete, so bestellten viele Kaufleute, und unter ihnen Kupfer ansehnliche Quantitäten Kaffee bei ihren Hamburger Korrespondenten. Am andern Tage wurde dem Gerücht so entschieden widersprochen, daß eine allgemeine Abbestellung eintrat. Auch Kupfer schickte sein Dienstmädchen mit dem Absagebriefe nach der Post. Da es eben heftig regnete, so dachte das Mädchen bei sich: der Herr hat gestern erst nach Hamburg geschrieben, wozu denn heut schon wieder! Sie warf den Brief fort und steckte das Franco in die Tasche. Bald kam die gewaltige Kaffeesendung an Kupfer, und unmittelbar darauf trat die Kontinentalsperre ein. Die Kaffeepreise stiegen zu einer enormen Höhe, und Kupfer wurde ein reicher Mann.

Als Napoléon sah, daß seine Dekrete gegen den englischen Handel nicht überall mit der gehörigen Strenge gehandhabt wurden, daß namentlich die holländischen Häfen und die Hansestädte den Schein von Unabhängigkeit, der ihnen blieb, zu englischen Importen benutzten, so erschien im December 1810 ein Dekret, wonach der Kaiser der Franzosen aus Gründen der höheren Politik sich veranlaßt fand, ganz Holland, die Hansestädte, Oldenburg, Lauenburg, Osnabrück u. s. w. dem französischen Reiche einzuverleiben. In Folge davon war an der ganzen Küste in allen Häfen die strengste französische Douane eingeführt. 281Der Länderzuwachs war nicht gering. Aus Holland wurden 8 neue Departements gemacht, aus den übrigen Theilen 4. Einige Namen derselben behielten sich leicht; z. B.: Departement der Maasmündungen, der Rheinmündungen, der Ysselmündungen, der Wesermündungen, der Elbmündungen.

Mochten aber die kaiserlichen Verbote noch so streng sein, so konnte man doch Zucker und Kaffee nicht entbehren. Das wenige was auf neutralen dänischen, schwedischen und andern Schiffen eingeführt wurde, deckte kaum den nöthigsten Bedarf. Die Preise der Kolonialwaaren stiegen auf eine solche Höhe, daß man zu allerlei Surrogaten seine Zuflucht nahm. Ob statt des Kaffees damals zuerst die Cichorie auftrat, die seitdem in Sachsen und Thüringen die ächte Bohne fast verdrängt hat, wüßte ich nicht anzugeben, doch erinnre ich mich sehr wohl, daß einmal die Grosmutter Eichmann mit anderen Hausfrauen überlegte, ob es besser sei, Gerstenkaffee oder geröstete Mohrrüben anzuwenden. Als Kinder bekamen wir viele Jahre lang nichts anderes als Eichelkaffee zu trinken, dem man eine große Wirksamkeit gegen skrophulöse Anlagen zuschrieb.

Schwerer als der Kaffee war der Zucker zu ersetzen: denn es scheint, daß die vegetabilische Natur zur Hervorbringung eines reichlichen Zuckerstoffes durchaus der tropischen Sonne bedarf. Honig ist in zu kleinen Mengen vorhanden, um damit den Bedarf ganzer Länder decken zu können. Die französische Industrie, durch hohe kaiserliche Prämien aufgemuntert, richtete ihre Aufmerksamkeit auch auf die Runkelrübe, und machte die ersten Versuche zur Gewinnung von Rübenzucker. Napoléon interessirte sich ganz besonders für diese Arbeiten. Mit wahrer Ver -282 achtung blickten die Männer von Fach auf diese unscheinbaren Anfänge. Da kann er lange warten , sagte schmunzelnd der Grosvater Eichmann, bis er nur eins von seinen 200 Departements mit Rübenzucker versorgen wird! Man erzählte sich lachend von einer Karrikatur, die damals im Geheimen in Berlin umlaufen sollte. Rechts sitzt der König Georg von England an seinem Kaffeetische, und greift in eine volle Zuckerdose, links steht Napoléon und drückt eine Runkelrübe in seine Tasse aus.

Heutiges Tages macht die früher verachtete Rübe dem stolzen Zuckerrohre eine gefährliche Konkurrenz, und wird es vielleicht ganz von den europäischen Märkten verdrängen. Dies ist auch kaum zu verwundem, wenn man in Betracht zieht, daß nach den zuverlässigsten Berechnungen nicht mehr als fünf Quadratmeilen Runkelrüben dazu gehören, um den Zuckerbedarf des ganzen preußischen Staates von 24 Millionen Menschen zu decken.

Waren nun die eben erwähnten Territorialveränderungen in Deutschland sehr geeignet, das Gefühl für die Stabilität des Länderbesitzes abzuschwächen, so ging es in Italien fast noch ärger zu. Für dieses schöne Land hatte ich von Jugend auf eine unerklärliche Vorliebe, beschäftigte mich aufs eifrigste mit seiner Geschichte und dachte mir eine Reise dahin als das Ideal aller Herrlichkeit. Da gab es nun, wie ich zuerst in der Schule lernte, eine ligurische, eine cisalpinische, eine venetianische, eine parthenopäische Republik und ein Königreich Etrurien. Der Papst Pius VI. hatte zwar im Frieden von Tolentino (1797) einen Theil seines Landes behalten, doch mußte er Avignon für immer an Frankreich abtreten, eine Kriegsteuer von 30 Millionen Francs zahlen, und einer Kom -283 mission von französischen Gelehrten die Auswahl von 100 Manuscripten aus der Vatikanischen Bibliothek gestatten.

Als darauf bei einem Volksaufstande in Rom (Dec. 1797) der französische Gesandte Joseph Bonaparte (nachher König von Neapel und später von Spanien) insultirt, und der General Duphot erschossen ward, so schickte das französische Direktorium ohne Weiteres den General Berthier mit Truppen nach Rom. Er löste die päpstliche Regierung auf und proklamirte eine römische Republik . Der 81jährige Pius VI. ward als Gefangener nach Siena, später nach Valence gebracht, wo er am 29. Aug. 1799 starb.

Da indessen die katholische Kirche nicht ohne sichtbares Oberhaupt bleiben konnte, so wählten, trotz der drohenden Kriegsunruhen, die in Venedig versammelten Kardinäle den Kardinal Chiaramonte, der den Namen Pius VII. annahm. Er war es, der am 2. Dec. 1804 den ersten Konsul Bonaparte zum Kaiser Napoléon in Paris salbte, und dessen usurpirter Gewalt den Stempel der göttlichen Weihe aufdrückte. Nun verschwanden auch die Republiken aus Italien. Der nördliche Theil ward zu einem, vom Kaiser Napoléon beherrschten Königreiche Italien vereinigt, die südlichen Theile bildeten das Königreich Neapel, und kamen erst an seinen Bruder Joseph, dann an seinen Schwager Murat.

Die Nachgiebigkeit des Papstes in Betreff der Kaiserkrönung sollte ihm nicht lange von Nutzen sein. Napoléon machte es ihm zum Vorwurfe, daß er nicht seine Häfen den Engländern verschließe, und schickte im Februar 1808 den General Miollis mit 8000 Mann nach Rom, welcher drei Provinzen vom Kirchenstaate abriß. Hiemit noch284 nicht zufrieden, erließ Napoléon am 17. Mai 1809 ein Dekret, welches aus Schönbrunn bei Wien datirt, der weltlichen Herrschaft des Papstes für jetzt ein Ende machte, und die sämmtlichen päpstlichen Staaten mit dem Königreiche Italien vereinigte.

Solcher unerhörten Gewalt gegenüber konnte Pius VII. nur von seinen geistlichen Waffen Gebrauch machen. Er sprach am 12. Juni 1809 über den Kaiser Napoléon einen feierlichen Bannfluch aus. Die Wachsamkeit der französischen Polizei konnte nicht verhindern, daß dieses merkwürdige Aktenstück in vielen Exemplaren sich im Lande verbreitete. Ob der Papst selbst von dieser antiquirten Maasregel sich irgend welchen Erfolg versprach, bleibt dahingestellt; sie mochte wohl geeignet sein, einige fromme Franzosen zu beunruhigen, blieb aber auf den Gang der Ereignisse ohne alle Wirkung. Wohl entsinne ich mich, daß uns in der Schule als ein Curiosum erzählt wurde, der Papst habe den mächtigen Kaiser Napoléon in den Bann gethan. Als nun der fürchterliche Inhalt davon erklärt wurde: daß Niemand mit dem Gebannten irgend Gemeinschaft haben, ihm weder ein Stück Brodt, noch einen Trunk Wasser reichen solle, daß sein Fleisch den Vögeln unter dem Himmel zur Speise gegeben werde u. s. w., so fragte wohl ein unschuldiger Tertianer, wie es denn möglich sei, daß der Papst, der sich doch für den Statthalter Christi auf Erden ausgebe, so grauenvolle Verwünschungen gegen andre, und wären es auch seine Feinde, ausstoßen könne? Der ächt protestantische Lehrer war nicht um eine Antwort verlegen; er sagte uns, daß schon Luther dargethan, man müsse den Papst eher für den Antichrist, als für den Statthalter Christi ansehn, übrigens aber285 habe Napoléon für seine vielfachen Schandthaten den Bann wohl verdient.

Mein Onkel Kohlrausch, der i. J. 1809 in Rom sich aufhielt, erzählte mir später folgenden darauf bezüglichen Vorgang, bei dem er selbst wollte zugegen gewesen sein. Am Tage der Bekanntmachung der Bannbulle versammelte der französische Gouverneur von Rom bei sich eine glänzende Abendgesellschaft, um der Stadt zu zeigen, wie wenig er auf jenen feindseligen Akt des päpstlichen Stuhles gebe. Unter den Gästen war eine junge reizende Fürstin Giustiniani, welche, obgleich Römerin, doch auf der Seite der Franzosen stand. Sie spottete den ganzen Abend über die lächerliche Anmaßung des Papstes, der sich einbilde, seine verrosteten Waffen würden irgend eine Wirkung hervorbringen. Als sie sich zum Weggehn erhob, sank sie plötzlich vom Schlage getroffen todt nieder. Der Eindruck im römischen Publikum war ein ganz gewaltiger, er vermochte jedoch nicht, den französischen General abzuhalten, daß er kurz darauf eine noch glänzendere Versammlung veranstaltete.

Bei Napoléons Tode (1821) wurde es von den Historikern bemerkt, daß jener Bannfluch nie zurückgenommen, Napoléon also im Banne gestorben sei, was nach den Lehren der katholischen Kirche doch immer als ein sehr bedenklicher Zustand der Seele nach dem Tode betrachtet wird.

Bald nach dem Erlaß jener ohnmächtigen Bannbulle kam aus Paris der Befehl, den Papst Pius VII. von Rom wegzuführen. Man brachte ihn zuerst nach Savona, und 1812 nach Fontainebleau, wo er in ehrenvoller Gefangenschaft lebte. Seine einzige Beschäftigung bestand darin,286 sich seine Wäsche selbst zu waschen. Er erhielt hin und wieder Besuch von frommen aristokratischen Damen, die von Paris herüberfuhren, um ihm nicht den Pantoffel, sondern den Handschuh zu küssen; man wußte aber, daß er, nachdem der Besuch kaum das Schloß verlassen, gleich wieder am Waschtroge stand.

Nachdem Napoléon alle die ephemeren norditalischen Republiken seinem Reiche einverleibt, so machte er gleichsam zum Spotte über die vielen von ihm besiegten Königreiche mit der winzigen aber uralten Republik von San Marino eine Ausnahme. Schon i. J. 1797, als er Oberitalien erobert, ließ er den kleinen Freistaat von 6000 Einwohnern und einer Heeresmacht von 40 50 Mann, durch einen besonderen Gesandten begrüßen, und bot ihm eine Vergrößerung seines Gebietes an. Der Senat von S. Marino lehnte diesen wohlwollenden Vorschlag dankbar ab, und bat nur um den Fortbestand seines uralten Besitzes, was ihm unweigerlich zugestanden ward.

Rechnet man dieses unbedeutende Ländchen ab, so bestand Italien i. J. 1812, als der russische Krieg ausbrach, nur aus zwei Theilen; im Norden aus dem Königreiche Italien unter Napoléon; dies reichte von den Alpen bis an den Garigliano, und im Süden aus dem Königreiche Neapel unter Murat, das den übrigen Theil bis zur Meerenge von Messina umfaßte. Sicilien war vorläufig der Sitz der vertriebenen neapolitanischen Herrscherfamilie. Es wurde von den Engländern mit einer mächtigen Flotte, die ihre Station in Malta hatte, und mit einer Landarmee vertheidigt, die zuletzt auf 36,000 Mann erhöht war.

287

Reise nach Löbichau und Dresden 1812.

Im Sommer 1812 machte ich mit Bewußtsein meine erste Reise, die zwar nur bis Leipzig und Dresden ging, mir jedoch von einer unendlichen Ausdehnung schien. Mein Vater war von der Herzogin von Kurland nach ihrem Landsitze Löbichau eingeladen worden. Er benutzte die Ferienzeit, um Fritz und mich mitzunehmen. Welch ein großes freudiges Ereigniß, als uns angekündigt ward, wir würden 14 Tage oder 3 Wochen ausbleiben. Die Reise wurde mit Extrapost gemacht, ging aber bei dem Mangel aller Chausseen sehr langsam. Die Abreise verzögerte sich um einige Stunden, wir fuhren daher in den Abend hinein, um das erste Nachtquartier zu erreichen. Es war ein angenehm-schauerliches Gefühl, als wir, behaglich in die Wagenecke gedrückt, die Sonne verschwinden sahen, und als die unabsehbare kahle Ebne vor uns in immer dunkleren Schatten versank. Schon wollte Morpheus seine Mohnkörner ausstreuen, als plötzlich der Postillon mit dem Sattelpferde stürzte, weil er ein Loch in dem elenden, holprigen Wege nicht bemerkte; er kam mit dem Fuße unter das Pferd zu liegen, und schrie erbärmlich, sein Fuß sei gebrochen. Wir stiegen erschreckt aus dem Wagen, und mein Vater sah, was zu thun sei. Er wurde288 auch hier von seinem guten Glücke nicht verlassen: denn schon hörte man ein uns entgegenkommendes Fuhrwerk. Die Bauern leisteten hülfreiche Hand; es galt, das Pferd in die Höhe zu bringen, ohne den Postillon zu beschädigen. Als mein Vater ihn eifrig bemüht sah, seinen Fuß unter dem Thiere hervorzuziehn, sagte er halb lachend und ihn ermuthigend: Sei froh, Schwager, daß du noch ziehn kannst, dann ist der Fuß nicht gebrochen! Alles gelang auf das beste; weder Roß noch Reiter hatten Schaden genommen. Nach kurzem Aufenthalte saß der Postillon wieder im Sattel, und brachte uns in dunkler Nacht zur nächsten Station. Noch sehe ich, wie er, sehr vergnügt über das reichliche Trinkgeld, dem Stalle zuhumpelte. Was hätten wir aber angefangen, wenn der Bauerwagen nicht kam?

Von Leipzig ist mir nur die Erinnerung geblieben, daß mein Vater uns zu einem Besuche bei dem Professor Platner mitnahm. Der stattliche Herr, in einem großen Lehnstuhle sitzend, gab das Bild einer würdevollen, auf sich ruhenden Persönlichkeit. Er unterhielt sich in leicht dahin fließender Rede mit meinem Vater, und richtete einige wohlwollende Worte an die Knaben. Als er hörte, daß ich fleißig Latein lerne, gab er mir den Spruch mit auf den Weg: Sapere aude! Ich behielt ihn so lange im Kopfe, bis ich ihn später in einer Epistel des Horaz (1,2,40) wiederfand. Als mein Vater uns nach dem Besuche mittheilte, daß Platner ein berühmter Professor der Philosophie sei, so ward meine Verehrung für ihn noch größer.

Eine kleine Tagereise brachte uns von Leipzig nach Löbichau in der Nähe von Gera. Beim Eintritte in das Herzogthum Altenburg fanden wir die schönsten, mit289 Bäumen eingefaßten Chausseen, auf denen der Wagen wie auf einer Tenne hinrollte. Dies war das Verdienst des Ministers von Thümmel, der darin allen Nachbarstaaten mit gutem Beispiel voranging. Die Lage des Schlosses Altenburg auf hoher Felskuppe setzte mich in Entzücken, und das Interesse an dem Orte ward noch vermehrt, als mein Vater uns die Geschichte des Ritters Kunz von Kaufungen erzählte; die beiden geraubten sächsischen Prinzen hatten in eben diesem prächtigen Schlosse gewohnt.

In Löbichau war an Fürstlichkeiten kein Mangel, wir fanden die Herzogin von Kurland mit ihren beiden ältesten Töchtern, der bildschönen Herzogin von Sagan und der äußerst lebhaften Fürstin von Hohenzollern; der Herzog von Altenburg kam auf einen Tag zum Besuche herüber; ein Prinz von Biron, dem kurländischen Fürstenhause verwandt, sprach auf der Durchreise ein. Das gab ein unaufhörliches Ankommen und Abfahren von Equipagen und hochbepackten Reisewagen; die lustigen Fanfaren der Postillone hörten nicht auf, über den Schloßhof zu tönen. Aber alle diese Herrlichkeit ging nur wie im Traume an mir vorüber: denn ich war noch immer so schüchtern, daß ich kaum wagte, die Augen aufzuschlagen. Fritz dagegen, obgleich 2 Jahre jünger als ich, bewegte sich ganz unbefangen in den glänzenden Sälen. Durch sein drolliges Wesen wurde er bald der Liebling der vornehmen Damen; die Fürstin von Hohenzollern hörte nicht auf, ihn zu necken, und lachte über seine komischen Antworten.

Mein Vater ließ uns volle Freiheit, den Tag über im Park, im Dorfe und in der Umgegend uns zu ergehn, doch mußten wir um 6 Uhr zur Mittagstafel in tadellosen290 Anzügen erscheinen. Das Schloß Löbichau, vom letzten Herzoge von Kurland am Ende des 18. Jahrhunderts erbaut, war äußerlich sehr unscheinbar, aber im Innern mit fürstlichem Luxus an Marmorvasen, Spiegeln und Teppichen ausgestattet; der sehr ausgedehnte Park bot eine Menge der freundlichsten Spaziergänge; hier hielten wir uns jedoch niemals lange auf, sondern eilten in das nahegelegene Dorf Löbichau, wo Fritz sehr bald mit allen Bauerjungen Bekanntschaft machte; oder wir gingen auf einsamen Waldwegen nach dem nahe gelegenen Schlosse Tannenfeld; dies gehörte ebenfalls der Herzogin, und wurde zur Aufnahme von fremden Gästen benutzt. Von dem flachen Dache genoß man einer herrlichen Aussicht über das fruchtbare altenburgische Ländchen; fern im Osten weckte die lange Kette der böhmischen Berge das unnennbare Gefühl des Hinausstrebens in die weite unbekannte Welt.

In Löbichau war die ächte altenburgische Bauerntracht im Gebrauch, über deren Unbequemlichkeit, ja Widersinnigkeit für die Frauen wir uns nicht genug wundern konnten. Eine starke Pappe, von der Härte eines Brettes, vertritt die Stelle des Mieders, und reicht vom Gürtel bis weit über das Kinn hinauf. Die Schenkel stecken in einem ganz engen gewirkten Rocke, der nur bis zu den Knien geht; Waden und Füße sind bloß. In diesem unpassendsten aller Anzüge werden von Frauen und Mädchen die beschwerlichsten Feldarbeiten verrichtet.

Sonntags versäumten wir nicht, die kleine, von der Herzogin erneuerte und geschmückte Dorfkirche zu besuchen. Hier erschienen die Bauern alle in sauberen schneeweißen Röcken mit silbernen Knöpfen; sie führten dreieckige Hüte von sehr zierlicher Form. Dis Bäuerinnen mit noch291 höheren Pappstücken und in noch engeren Röcken als gewöhnlich schienen sich nur mit Mühe bewegen zu können. Es war auch eine Braut darunter; diese trug einen hohen kronenartigen, reich mit Gold verzierten Kopfputz, dessen glitzernde Gehänge bei jeder Bewegung ein wahres Schellengeläute hervorbrachten.

Der Pächter des herzoglichen Gutes, ein reicher Bauer, Namens Schnabel, war uns sehr freundlich gesinnt, und wir verkehrten viel in seinem Hofe. Sein Sohn Michel, etwas älter als wir, half schon in der Wirtschaft. Da geschah es eines Tages, daß Michel einen Mistwagen ausführte, und Fritzen einlud, zu ihm vom aufzusteigen, was dieser sich nicht zweimal sagen ließ. Allein das Unglück wollte, daß am Ende des Dorfes die Fürstin von Hohenzollern, von einer Spazierfahrt zurückkehrend, Fritzen auf dem Mistwagen und mich, ehrbar daneben gehend erblickte. Seitdem verging selten ein Tag, ohne daß sie ihn fragte: Fritz, willst du spazieren fahren? Soll ich Michel Schnabeln anspannen lassen? Noch mehr wurde er geneckt, als er eines Tages, schon völlig zum Essen angekleidet, noch schnell in den Stall ging, und darauf einen penetranten Pferdegeruch mit in den parfümirten Salon brachte. Fritz, rief ihm die Fürstin zu, ich sehe, daß du nichts anderes werden kannst, als Postillon! O, erwiederte er keck, das würde mir auch recht lieb sein! Michel Schnabel bewirthete uns zuweilen mit einem trefflichen Quarkkuchen, dem wir so tapfer zusprachen, daß nachher die delikatesten Schüsseln der herzoglichen Tafel unberührt vorübergingen.

Einige Regentage benutzten wir dazu, um alle Bäume des weitläufigen Schlosses vom Keller bis zum Dachboden,

292insofern dies thunlich war, zu durchkriechen. Fritz diente bei diesen Entdeckungsreisen als Steuermann; er wurde nicht müde, auf den langen dunkeln Korridoren, die durch alle Stockwerke führten, eine Thür nach der andern aufzuklinken, um in neue unbekannte Gegenden zu gelangen. Diese Streifzüge führten uns auch in die Bibliothek. Hier ging ich alsbald vor Anker, und ließ Fritzen seine Reisen allein fortsetzen. Für’s erste zogen mich die prachtvollen Einbände an, die in der Bibliothek des Grosvaters Nicolai fast gänzlich fehlten, dann fesselten mich einige schöne landschaftliche und architektonische Kupferwerke; die gröste Bewunderung erregte eine zierliche Stehleiter in Form einer schmalen Wendeltreppe auf Rädern; oben angelangt fand man einen bequem gepolsterten Sitz mit Rückenlehne, und konnte in behaglicher Ruhe die oberen Bücherreihen durchmustern.

Das nahe liegende Gut Nöbdenitz gehörte dem schon genannten altenburgischen Minister von Thümmel, einem Bruder des Dichters Moritz von Thümmel. Von der segensreichen Wirksamkeit des Ministers, der damals, wie ich glaube, schon den Geschäften entsagt hatte, zeugte der blühende Wohlstand des glücklichen Ländchens. Der Bau seiner Chausseen, als eines theuern und unnützen Luxusartikels, fand anfangs vielen Widerspruch, doch er beschämte die Tadler durch das reiche Einkommen des Chausseegeldes und den gesteigerten Absatz der Landesprodukte.

Der nachbarliche Verkehr zwischen Löbichau und Nöbdenitz war ein recht lebhafter; mit den Töchtern des Ministers, obgleich sie mehrere Jahre älter waren als wir, wurden genußreiche nahe und weite Spaziergänge in der293 Umgegend ausgeführt. Schloß Nöbdenitz, in heitrer ländlicher Umgebung, erfreute durch seine wohnliche Einrichtung. Allerlei sinnreiche Wunderlichkeiten des Hausherrn erregten das Erstaunen der jugendlichen Besucher. In der Bibliothek zeigte er uns einige Leitern, die, um Raum zu ersparen, ganz in die Wand hineingeschoben wurden. An der Außenseite des Gartenhauses führte eine frei in der Luft schwebende Wendeltreppe bis zum Dache hinauf. Mit Ehrfurcht betrachteten wir eine mitten im Dorfe stehende Eiche von ungeheurem Umfange. Der Volksglaube machte sie zu einem Druidenbaume der heidnischen Germanen, und die Schätzung der Botaniker gab ihr ein Alter von 2000 Jahren. In der Höhlung des Stammes konnten 10 12 Menschen neben einander stehn. Der Minister hatte angeordnet, daß man ihn im Innern der Eiche begraben solle, damit seine irdischen Ueberreste unverweilt als sprossende Zweige und grüne Blätter an die freie Himmelsluft hinausgelangen möchten.

Die weitere Reise von Löbichau nach Dresden ging sehr langsam von Statten: denn es war Erndtezeit. Da wurden die Extrapostpferde erst vom Felde geholt und abgefüttert, ehe sie vor den Wagen kamen. Als mein Vater sich auf einer Station über den gar zu langen Verzug beklagte, erklärte ihm der höfliche sächsische Postmeister, daß er nach der Postordnung das Recht habe, jede Extrapost eine Stunde lang warten zu lassen, doch sei er gern bereit, uns, bis die Pferde kämen, Gesellschaft zu leisten.

In Dresden wohnten wir bei der Schwester meines Vaters, der lieben Tante Keiner, deren Bild mir von der früheren Reise nach Teplitz nur noch undeutlich vor -294 schwebte. Sie war in erster Ehe mit dem Kaufmann Valentin in Freiberg verheirathet gewesen, und hatte von ihm 2 Söhne, Friedrich und Christian. Nun lebte sie in Dresden mit dem Kaufmann Keiner in kinderloser, aber sehr zufriedener Ehe. Friedrich Valentin (oder wie wir Kinder ihn lieber nannten: Vetter Fritz) arbeitete, wie ich schon erwähnte, in einer Berliner Tuchhandlung, Vetter Christian betrieb in Dresden, zusammen mit seinem Stiefvater, eine Bleiweißfabrik, die einzige im ganzen Königreich Sachsen. Er machte in Dresden unseren treuen Mentor, und wir hingen mit wahrer Neigung an ihm. Besonders ergreifend war es für mich, daß er für meinen Vater eine fast übertriebene Verehrung empfand, und daß er von meiner verstorbenen Mutter nicht ohne die tiefste Bewegung sprechen konnte. Er besaß zwar nicht ihr Bildniß, aber ein kleines Medaillon mit dem Miniaturbilde ihres schönen braunen Auges, das er wie einen Talisman in Ehren hielt.

Dresden war im Jahre 1812 noch eine Festung mit gewaltig hohen Backsteinwällen und finstern Thoren. Dies gab für den Verkehr manche Unbequemlichkeit. Die Tante Keiner wohnte vor dem Pirnaischen Thore und vor dem Falkenschlage auf dem Poppitz. Die Stadt ward für Fuhrwerke aller Art mit Sonnenuntergang geschlossen, für Fußgänger eine Stunde später; wer noch später kam, der kroch gegen Erlegung des Thorgroschens durch ein enges Pförtchen, das nur einer Person den Durchgang gestattete. Das an 100 Fuß lange Thor ging nicht gerade durch den Wall, damit nicht der Feind es mit Kanonen bestreichen könne, sondern es machte einen starken Winkel. An der äußern Seite starrte ein mächtiges Fallgatter aus schweren295 eisengespitzten Balken von oben herunter. In der Mitte des Thores hing an der bombenfest gewölbten Decke eine Lampe, die den ganzen Tag brannte, und die düstre Höhle nur nothdürftig erhellte. Die Durchfahrt war so schmal, daß nur ein Wagen Raum fand. Die außen und innen stehenden Schildwachen, welche einander nicht sehn konnten, korrespondirten durch Rufe. Wollte ein Wagen hinausfahren, so rief die innere Schildwache der äußeren zu: Laß halten! d. h. er solle die von außen kommenden Wagen so lange halten lassen, bis der von innen kommende passirt sei. War dies geschehn, und war kein Wagen weiter in Sicht, so rief die innere Schildwache: Laß fahren! worauf die von außen kommenden Wagen passirten. Eben so ging es umgekehrt. Das dumpf hallende Rufen: Laß halten! Laß fahren! dauerte in der finstern Wölbung den ganzen Tag; es läßt sich denken, welche Stockungen alle Morgen bei der Einfahrt der Marktbauern mit ihren Gemüsewagen entstanden.

Jene mittelalterlichen Vertheidigungsanstalten, die schon damals durch die moderne Kriegführung fast allen Werth verloren hatten, gefielen den Kindern, die aus dem offnen nüchternen Berlin kamen, außerordentlich; unvergeßlich blieb es mir, als einmal der sächsische Postwagen mit dem blasenden Postillon durch die enge Wölbung rasselte; seitdem mußte ich immer an das Pirnaische Thor denken, wenn ich in Göthes Schwager Kronos den Schluß las:

Töne, Schwager, ins Horn,

Rassle den schallenden Trab,

Daß der Orcus vernehme: wir kommen,

Daß gleich an der Thüre

Der Wirth uns freundlich empfange. 296

Schon in Berlin hatte mein Vater uns oft von den Schönheiten der Brühlschen Terrasse erzählt, aber in Dresden fanden wir, daß es nicht so leicht sei, dahin zu gelangen. Die breite Freitreppe existirte noch nicht; sie wurde erst während der russischen Besetzung der Stadt in den Freiheitskriegen erbaut. Das Brühlsche Palais war Eigenthum des Königs von Sachsen, und wie alle königlichen Gebäude fast hermetisch verschlossen. Allein Vetter Christian hatte Bekannte unter der Hofdienerschaft; er führte uns eines Tages durch viele dunkle Straßen an die Hintertreppe des Palais, wo auf wiederholtes Klingeln und gegen ein gutes Trinkgeld die Thür sich öffnete. Wir konnten uns nun an der freundlichen Aussicht erlaben, die stromaufwärts nur die bewaldeten Elbufer zeigte; von den zahlreichen jetzigen Landhäusern war außer Findlaters noch nichts zu sehn.

Auch die Bildergallerie ward als Privateigenthum des Königs betrachtet; sie befand sich in einem Seitenflügel des Schlosses; man mußte einen öden Hof voller Pferdeställe durchschreiten, und eine ausgetretene steinerne Treppe hinanklettem, dann gelangte man an eine hohe verschlossene Thür, die nur gegen ein Eintrittsgeld von einem Dukaten sich öffnete. Dieser wurde ein für allemal für jede fremde Gesellschaft entrichtet, und kam bei dem Gehalte des Galleriedirektors mit in Anrechnung. Da die Einheimischen diese Ausgabe scheuten, so waren die Schätze der Gallerie bei dem Dresdner Publikum fast ganz unbekannt. Mein Vater entrichtete jedoch den Dukaten, um uns diesen seltenen Genuß zu verschaffen, allein wir waren nicht reif dafür, und wurden von der Masse der Bilder förmlich erdrückt. Vetter Christian machte zwar mit der grösten297 Freundlichkeit den Cicerone; er führte uns zu der Madonna von Rafael und zu andern Hauptwerken, aber im Ganzen muß ich bekennen, daß dieser erste Besuch gar keinen nachhaltigen Eindruck zurückließ. Erst in den folgenden Jahren nach öfterem Wiedersehn der Gallerie konnte sich ein Urtheil über die hier versammelten staunenswerthen Meisterwerke ausbilden; nach und nach wurde ich so einheimisch in den hohen Sälen, daß ich oft und gern den Cicerone machte. Nachdem ich die meisten europäischen Gallerien (außer Madrid und Petersburg) kennen gelernt, befestigte sich bei mir immer mehr die Ueberzeugung, daß die Dresdner Sammlung in ihrer Totalität an die Spitze aller übrigen zu stellen sei.

Ein Gang über die schöne massive Elbbrücke, rechts hin und rechts zurück, erschien uns von einer unendlichen Länge. Der Verkehr wurde hier durch Schildwachen geregelt, welche nicht erlaubten, daß jemand auf der linken Seite hinübergehe.

Weiter stromauf - und abwärts fanden sich, wie noch jetzt, kleine Barken zum Uebersetzen, deren Benutzung uns das gröste Vergnügen gewährte. Die träge schwarze Spree konnte mit der breiten raschflutenden Elbe gar keinen Vergleich aushalten. Mit Verwunderung betrachteten wir in der Nähe die aus der Tiefe aufsteigenden Strudel, die bald größere, bald kleinere Kreise und Ovale auf der Oberfläche bildend, in unaufhörlicher Wandlung dahinglitten. Als wir einst mit meinem Vater übersetzten, knüpfte dieser nach seiner freundlichen Art mit dem Schiffer ein Gespräch an, und fragte unter andern, ob denn das geringe Fährgeld ihn ernähre? Er erwiederte, seine Frau sei Scheuerweib im königlichen Schlosse; durch298 sie habe er Anwartschaft auf eine gute Stelle; er sei jetzt Vice-Portechaisenträger-Substitut, und hoffe nach und nach bis zum Portechaisenträger hinaufzurücken!

Einen großen Genuß gewährten die Ausflüge nach dem Plauenschen Grunde, nach Potschapel und nach Tharandt. Mein Vater erzählte uns mehr als einmal, daß im Jahre 1780, wo er in Dresden lebte, der Plauensche Grund fast ganz unbekannt gewesen sei. Man habe wohl gewußt, daß der Kurfürst August der Starke bei seinen Parforce-Jagden Hirsche von den steilen Felsen beim Hegereiter herabgestürzt, aber niemand hielt es der Mühe werth, den Ort zu besuchen. Da machte mein Vater mit einigen kurländischen Edelleuten einen Spazierritt nach jenem Grunde, den sie so unwegsam fanden, daß sie kaum mit ihren Pferden am dichtbewachsenen Ufer der schäumenden Weiseritz vorwärts konnten; aber die herrliche wilde Natur machte einen solchen Eindruck, daß sie nicht müde wurden, den Ruhm des Plauenschen Grundes unter den zahlreichen, in Dresden vorhandenen Fremden, und demnächst in der Stadt zu verbreiten. Nach und nach sorgte man für bessere Wege, doch war im Jahre 1812 der Grund in einem sehr primitiven Zustande. Der Hegereiter führte noch seinen Namen mit der That; das niedrige Häuschen wurde von einem wirklichen Hegereiter bewohnt, der den seltnen Gästen etwas Milch, Brodt und schlechten Meißner Wein unter der schattigen Linde verabreichte; an Sonn - und Festtagen fand sich auch klarer Blümchen-Kaffee für die verwöhnten Städter und Heu für ein paar Einspänner.

Zwar führte ein leidlicher Fahrweg durch den Grund, und die steinerne Brücke beim Hegereiter war schon erbaut, aber weiterhin betrat man eine vollkommene Wald -299 einsamkeit, die fast ohne alle menschlichen Wohnungen bis Potschapel reichte. Welch ein Hochgenuß für die aus dem trostlosen Sande Berlins herübergekommenen Kinder, diese Wildniß zu betreten, durch Gestrüpp und Buschwerk die Felsen zu erklimmen, auf einem athemlos erreichten Höhenpunkte den sehnsüchtigen Blick in weite Fernen zu richten, oder im Thale die rauschende Weiseritz auf schwankendem Stege zu überschreiten! Hier zum ersten Male ging meinem inneren Sinne das Gefühl für die Schönheit der Natur, für die Unendlichkeit ihrer Erscheinungen auf, ohne daß ich demselben Worte geben konnte. Daß dieses Gefühl, zu immer vollerem Bewußtsein herangereift, mich fort und fort durchs Leben begleitet hat, rechne ich mir als ein hohes Glück an.

Da man den Plauenschen Grund vom Falkenschlage aus leicht zu Fuß erreichen kann, so pilgerten wir recht oft dahin, und kamen mit immer erneutem Entzücken heim. Vetter Christian war wohl auch ein Freund der schönen Natur, allein das Wilde an Felsen und Gewässern war nicht ganz nach seinem Geschmacke. Er lobte sich mehr das kunstvoll geläuterte, und führte uns eines Abends nach Resewitzens Garten, einem sehr besuchten Vergnügungsorte der Dresdner. Hier fanden wir ein großes Haus im Roccocostyl, sauber geebnete Kiesgänge zwischen hohen, nach der Schnur beschnittenen Hecken, ein steinernes Bassin mit wasserspeienden Meergöttem, eine Kegelbahn und eine Vogelstange. Nachdem der Garten in allen Richtungen durchschritten und durchlaufen war, bewirthete uns der Vetter mit einer Schüssel Krebse, die so schnell vertilgt wurde, daß er alsbald eine neue kommen ließ; daran schlossen sich zahlreiche Butterbemmchen, eine vor -300 treffliche kalte Schale, und anderes, so daß ein sehr ausgiebiges Abendbrodt zu Stande kam. Beim Weggehn konnten wir wohl bemerken, daß der Vetter in eine sehr zähe Unterhandlung mit dem Wirthe gerathen war, aber erst lange nachher vertraute uns Vetter Fritz in Berlin, daß Christian seine goldne Taschenuhr als Pfand bei Resewitzens habe hinterlassen müssen, um die Bezahlung für unsre allzureichliche Bewirthung zu decken.

Der Onkel Keiner, ein untersetzter Mann mit den durchsichtigsten blauen Augen, imponirte uns durch seine ungewöhnliche Körperstärke. Mehr als einmal versuchte Fritz vergebens, seine geschlossene Hand aufzubrechen, oder seinen ausgestreckten Arm zu biegen, aber der Onkel hob den zwölfjährigen Knaben ohne Mühe auf den Tisch. Die Bilder in seinem Zimmer betrachtete ich mit großer Theilnahme; er nannte mir einen Ruysdael, einen Canaletto, einen Paul Potter etc. Da ich kaum einen Begriff von dem Gewicht und der Geltung dieser Namen hatte, so ließ mich dies ziemlich gleichgültig. In den folgenden Jahren, nach wiederholtem Besuche der Dresdner Gallerie, durfte ich meinem eignen Urtheile hinlänglich trauen, um einzusehn, daß bei Onkel Keiners Bildern weder an einen ächten Ruysdael noch an einen Canaletto zu denken sei, auch wußte ich, daß Paul Potter niemals eine Waldlandschaft mit ganz kleinen Negerfiguren gemalt, wie man sie hier erkennen konnte. Aber die Behandlung dieses letzten Bildchens schien nicht ungeschickt, und gern hätte ich es näher betrachtet; auch hatte es einen guten Schwanhardtschen Rahmen von Ebenholz. Der Onkel ließ es jedoch nicht herunternehmen, und versicherte wiederholt, der Name Paul Potter stehe darauf. 301

Nach des Onkels Tode war die Tante Keiner freundlieh genug, mir das Bild als Geschenk nach Berlin zu schicken. Bei der Untersuchung des Namens fand sich fr. post. Dieser Franz Post (1624 1680) hat einmal eine Reise nach Surinam gemacht, und daher schreiben sich die Neger. Er gehört zu den Landschaftern zweiter Ordnung, aber seine Behandlung des Baumschlages ist kräftig, und erinnert an die besseren niederländischen Meister. Da seine Bilder nicht häufig sind, so war mir das Geschenk sehr willkommen, und noch jetzt ruft mir seine Betrachtung die schöne Dresdner Jugendreise zurück.

Mit der Tante Keiner traten wir sehr bald in ein freundliches Vernehmen. Bei aller herzlichen Liebe war sie gegen ihren älteren, in der vornehmen Hauptstadt Berlin lebenden Bruder von einer gewissen Zurückhaltung, aber mit uns Kindern ganz Hingebung. Da sie bald merkte, daß uns beiden, und vorzüglich Fritzen das Herz auf der Zunge saß, so wurde dieser letzte ihr Vertrauter für allerlei häusliche Fragen. Sie erforschte von ihm mit Fleiß, ob mein Vater noch dieselben Lieblingsgerichte habe, wie früher, um sie ihm nachher aufzutischen, ob in Berlin alle Tage Wein auf den Tisch komme etc. Als etwas außerordentliches ward bei ihr eines Sonntags zum Frühstück Chokolade gegeben, die wir Kinder, trotz des geronnenen Ansehns des Getränkes, ohne allen Anstand verzehrten; kaum aber hatte mein Vater sie gekostet, so rief er lachend: Dorothee, was hast du in deine Chokolade gethan? Sie erwiederte ganz ruhig: Nun, Friedrich! um sie recht gut zu machen, habe ich Rothwein hineingegossen! Es läßt sich denken, welchen Geschmack diese Mischung haben mußte. 302

Mein Vater hatte mehrere Jahre (von 1780 1784) in Dresden privatisirt, und besonders mit den Musikern verkehrt. Sein vortreffliches Flötenspiel fand so allgemeinen Beifall, daß er damals mit dem Gedanken umging, sich als Flötenvirtuos ganz der Musik zu widmen. Seitdem waren 30 Jahre verflossen; der Kreis seiner Bekannten hatte sich wohl verkleinert, aber nicht aufgelöst. Die kurfürstliche (jetzt königliche) Kapelle genoß noch immer eines großen Rufes. Mein Vater zählte den Kapellmeister Morlacchi, den ersten Geiger Polledro und andre Kammermusiker zu seinen Freunden.

Es gab im Jahre 1812 in Dresden auch noch eine italiänische Oper, wir konnten aber wegen der Sommerferien keine Vorstellung hören. Vetter Christian, ein eifriger Musikfreund, gab uns im Vertrauen zu verstehn, daß wir daran nicht viel verlören. Die Oper sei mit dem alten Könige Friedrich August auch alt geworden, und an eine Heranziehung junger Kräfte sei in den jetzigen bedrängten Zeiten nicht zu denken. Die Primadonna, Signora Sandrini, von Natur mit einem lahmen Beine behaftet, singe nun schon seit 26 Jahren die ersten Rollen, der Tenor habe zwar eine gute Schule, aber keine Stimme, der Baß keine Zähne mehr; neue Opern würden fast gar nicht einstudirt, sondern alles gehe in dem alten Schlendrian fort.

Die Mitglieder der Bühne und der Kapelle wohnten zu jener Zeit gröstentheils in dem sogenannten italiänischen Dörfchen, einer Reihe kleiner freundlicher, von hohen Linden beschatteter Häuser, deren Anblick das sommerliche Gefühl der höchsten Behaglichkeit erweckte.

Gleich am ersten Sonntage führte mein Vater uns in die wegen ihrer Akustik berühmte katholische Kirche, um303 eine Messe von dem Kapellmeister Schuster zu hören. Das war freilich ein ander Ding, als unser magrer protestantischer Gottesdienst in Berlin. Die Instrumentalmusik rauschte vom hohen Chor herab, wie auf unsichtbaren Flügeln durch die Luft, die Trompeten klangen wie Posaunen des jüngsten Gerichts, der scharfe Sopran der Kastraten durchdrang machtvoll die hohe Wölbung, das melodische, öfter wiederkehrende Amen der Knabenstimmen hauchte den süßesten Frieden. Dazwischen machte jedoch das unharmonische Geplärr, fast möchte ich sagen Geblök des messelesenden Priesters den widerwärtigsten Eindruck. Es ging nicht in meinen protestantischen Kopf, daß das Hersagen oder Absingen lateinischer Formeln, von denen die Gemeinde nichts verstand, als Gottesdienst gelten solle. Die Musik dauerte auch gar zu lange, und wir waren herzlich froh, als wir endlich die Kirche verlassen durften.

Trotz alles äußeren Glanzes konnte die katholische Religion in Dresden niemals festen Fuß fassen, und der König stand mit seiner Familie in gänzlicher Einsamkeit. Den gutgesinnten Sachsen war dies zwitterhafte Wesen ein Gegenstand tiefer Bekümmerniß. Wir ließen uns von Vetter Christian erzählen, wie August II. der Starke nur durch die Aussicht auf den polnischen Thron vermocht worden sei, der reinen protestantischen Lehre zu entsagen; wie er alsbald einen Theil der schönen Elbbrücke abgebrochen, und auf dem neugewonnenen Terrain die prachtvolle katholische Kirche erbaut habe, wie ihm aber durch Beschluß der Landstände jede Einwirkung auf die religiösen Angelegenheiten des Landes entzogen sei, und wie diese einzig und allein von dem lutherischen Oberkonsistorium geleitet würden. August III. ward anfangs als guter Pro -304 testant erzogen, trat aber auf einer Reise nach Italien in Bologna zum Katholicismus über. Der jetzt regierende Herrscher, Friedrich August I., von Napoléons Gnaden zum Könige erhoben, saß schon seit 1763, dem Jahre des Hubertsburger Friedens, auf dem Throne. Ihm wußte man nichts übles nachzusagen, und machte ihm nur seine allzugroße Anhänglichkeit an Napoléon I. zum Vorwurf. Als Curiosum ward uns mitgetheilt, daß Friedrich August dem allverehrten Gellert in Leipzig einen zahmen Schimmel geschenkt, auf dem der kränkliche Dichter sich täglich Bewegung gemacht habe.

Zu meines Vaters Dresdner Freunden gehörte auch der Maler Anton Graff, dem wir gar bald einen Besuch machten. Der freundliche alte Herr mit jovialem pockennarbigen Gesicht saß in seiner Werkstatt an der Staffelei. Der Empfang war ein sehr herzlicher, und bald vertieften sich die beiden Freunde in ein lebhaftes Gespräch über vergangene Zeiten, während dessen Graff nicht aufhörte zu malen. Diese Fähigkeit beim Sprechen fortzuarbeiten, machte es ihm möglich, eine so große Menge Bilder zu vollenden. Er zählte damals bereits 76 Jahre (geb. 1736) und starb bald darauf im Jahre 1813. Die Anzahl seiner Portraits beläuft sich auf 1500. Ein kurländischer Edelmann, den mein Vater kannte, fragte einst den malenden Graff sehr naiv: wie er denn seine schönen Bilder zu Stande bringe? Er antwortete: wie Sie sehn, Herr Baron, ich setze immer ein Tippelchen neben das andre! Die in der Werkstatt herumstehenden Bilder waren lauter Portraits, hatten mithin für die Kinder nicht viel anziehendes; wir fingen an, uns herzlich zu langweilen, und waren sehr zufrieden, als mein Vater endlich aufbrach. 305

Später habe ich den hohen Werth der Graffschen Bildnisse kennen gelernt, von denen mehrere sich in unserer Familie befinden: Grosvater Nicolai zweimal, als junger ungefähr dreißigjähriger Mann und als Sechziger; Grosmama Nicolai als junge Frau; das lebensgroße Kniestück von Frau von der Recke, dessen Entstehung ich schon angegeben; ein Eigenbildniß von Graff voll Geist und Leben. Diese fünf sind in meinem Besitze. Mein Bruder Moritz erhielt aus dem Nachlasse meines Vaters mehrere schöne Bildnisse aus der Familie des Grafen von Medem, ein Bildniß des Kapellmeisters Naumann, ein Brustbild meines Vaters, und vier kleine Landschaften aus der Umgegend von Dresden: Morgen, Mittag, Abend und Nacht darstellend. Sie sind ein Geschenk des Künstlers an meinen Vater, und mögen wohl die einzigen von Graff gefertigten Landschaften sein. Die Ausführung ist eben so naturwahr und ansprechend, als die seiner Bildnisse. Er äußerte darüber zu meinem Vater, daß er vorher niemals Landschaften gemalt, und sich bei einem Sommeraufenthalte in Loschwitz gelangweilt; da habe er gedacht, wer einen stets sich verändernden Kopf treffen könne, der werde auch eine stillstehende Landschaft treffen.

Beim Abschiede von Dresden mußte ich der Tante Keiner versprechen, ihr von Berlin aus zu schreiben, und zu Hause munterte mein Vater mich auf, dies in Versen zu thun. Nun hatte Paul gerade in unsrer Bibliothek die Jobsiade von Kortüm entdeckt, und diese wurde von uns mit höchstem Ergötzen gelesen. Ich verfaßte also an die Tante einen Brief im Jobsischen Versmaaße, der die einfachen Begebenheiten der Rückreise launig darzustellen versuchte. Es dauerte gar nicht lange, so kam eine Ant -306 wort in demselben Metrum, die einige ganz allerliebste spashafte Wendungen enthielt. Der Brief ist unmöglich von meiner Schwester, rief mein Vater, denn sie hat in ihrem ganzen Leben keine Verse gemacht. Meine Rückantwort ließ nicht auf sich warten, und war natürlich auch in Versen. So dauerte diese Jobsische Korrespondenz zu beiderseitiger Befriedigung eine ganze Weile. Als wir nach einiger Zeit wieder zum Besuch nach Dresden kamen, war fast das erste Wort meines Vaters an seine Schwester: Jetzt, Dorothea, nenne mir vor allen Dingen deinen Hofpoeten, der dir die artigen Verse macht! Die kleine dicke Frau sah ihn mit ihren schelmischen Augen an, und sagte im reinsten Dresdnerisch: Ich dachte gar, Friedrich! Warum soll ich nicht so gut Värsche machen, wie dein Gustav? Da habe ich mich eines Morgens hingesetzt, und da sind mir die Värsche nur so zugeflossen. Ei, erwiederte mein Vater, da ergeht es dir also wie dem berühmten Wieland; diesen habe ich einmal sagen gehört: das Versemachen kömmt einem an, wie das Bauchgrimmen!

307

Französische Einquartirung 1812.

In den Zeiten der tiefsten Erniedrigung Preußens legten Stein, Hardenberg, Scharnhorst und ihre edlen Genossen ganz im Stillen den Grund zum Wiederaufbau des preußischen Vaterlandes durch die organischen Gesetze vom Jahre 1808, die den Rückschrittsleuten noch heute ein Dorn im Auge sind. Scharnhorst überreichte dem Könige Friedrich Wilhelm III. eine Denkschrift, worin die allgemeine Volksbewaffnung mit dem Systeme der Landwehr und des Landsturmes in großen Meisterzügen vorgezeichnet war. Der höchst beschränkte Gesichtskreis des Königs erlaubte ihm nicht, diese Idee zu fassen; wir erfuhren aus authentischer Quelle, nämlich durch den Onkel Eichmann aus dem Kabinette des Staatskanzlers, daß der König mit Bleistift an den Band geschrieben: Poesie, lauter dummes Zeug! Durch Steins gewichtigen Einfluß wurde jedoch der Plan durchgesetzt. Preußen durfte nach dem Tilsiter Frieden nur ein sehr beschränktes stehendes Heer halten; auch blieben gegen die Bedingungen des Friedens fast alle preußischen Festungen in französischen Händen. Es wurden nun von den preußischen Behörden in allen Provinzen die jungen Landleute von 18 24 Jahren ausgehoben, eingekleidet, einexercirt und nach 6 8308 Wochen wieder entlassen, so daß ein großes unsichtbares Heer immer bereit stand.

Dies gab dem Staatskanzler Hardenberg den Muth zu einem kühnen Schritte, von dem man sich in Berlin im Geheimen erzählte. Hardenberg hatte durch seine Pariser Korrespondenzen in Erfahrung gebracht, es seien allerlei Anzeichen vorhanden, daß Napoléon mit dem Plane umgehe, die preußische Monarchie ganz und gar zu zerstückeln. Die durch Preußen vertheilten französischen Truppen machten mehrere verdächtige Bewegungen, und es war in der That das Schlimmste zu fürchten. Da fuhr der Staatskanzler zum französischen Gesandten St. Marsan, und verlangte in der artigsten, aber entschiedensten Form eine Aufklärung über diese bedrohlichen Maasnahmen. Die Antworten waren anfangs ausweichend. Als Hardenberg mit ruhiger Festigkeit erklärte, daß der König von Preußen die Zertrümmerung seines Reiches nicht ohne einen letzten Verzweiflungskampf ertragen werde, fragte der Gesandte etwas geringschätzig, wieviel Truppen Preußen denn disponibel habe? In 6 Wochen 120,000 Mann , war die rasche Antwort, ich autorisire Sie, dies nach Paris zu berichten! Der Bericht erfolgte und die Zertheilung Preußens unterblieb. Man wird sich aus dem Memorial von St. Helena erinnern, wie sehr Napoléon es bereute, dem unfähigen Könige von Preußen noch so viel Land gelassen zu haben.

Erst in der allerneusten Zeit hat man von einem Briefe Kunde erhalten, den der König Friedrich Wilhelm III., wohl mehr im Gedanken an die Drangsale seines Volkes, als im Gefühle seiner fürstlichen Stellung, i. J. 1810 eigenhändig an Napoléon I. gerichtet. Er bat ihn darin mit309 den demüthigsten, eines Königs wenig würdigen Worten, um Schonung und um Nachlaß der übermäßigen Kriegslasten. Das Original dieses Briefes, von dem damals mehrere Abschriften umliefen, befand sich bis zum Jahre 1860 in einer Privatsammlung von Autographen in Paris. Der Banquier Wagener in Berlin hörte davon, erwarb den Brief für 4000 Francs, und sandte ihn dem Könige Wilhelm I. mit dem Beifügen, daß sein (Wageners) patriotisches Herz diese Schmach des preußischen Hauses nicht habe ertragen können, und daß er den Brief zur Verfügung des Königs stelle. Wagener starb, ehe Wilhelm I. ihm für dieses Zeichen ächt preußischer Gesinnung danken konnte. Der Brief soll sich im königlichen Hausarchive befinden.

Neun Monate nach der Verheirathung des Kaisers Napoléon mit der Erzherzogin Marie Luise erscholl die Kunde von der Geburt eines kaiserlichen Prinzen, der schon in der Wiege den stolzen Namen eines Königs von Rom erhielt. Die Philologen bemerkten, seit Tarquinius Superbus habe es keinen König von Rom gegeben, und dieser Tarquinius sei von seinen Unterthanen mit Schimpf und Schande weggejagt worden. Allein diese kleinliche Kritik blieb auf das Bereich der Schulstube beschränkt. Es schien nun die französische Alleinherrschaft auf dem Kontinente eine neue Befestigung erhalten zu haben, und dem Glücke des Gewaltigen in Paris nichts Erreichbares mehr zu fehlen. Von seinen militärischen und administrativen Erfolgen wurden auch einzelne Mitglieder unseres Kreises geblendet. Diese erwarteten allen Ernstes, daß Napoléon ruhig weiterregieren, und ein wohlgeordnetes, mächtiges Reich seinem Sohne hinterlassen werde. Allein dann wäre er nicht Napoléon gewesen, und schon hörte man gerüchtsweise, er310 habe es nun auf Rußland abgesehn, da der Mangel einer Flotte ihn hindre, mit England anzubinden.

Fassen wir hier kurz die materiellen Mittel zusammen, die dem französischen Kaiser zu Gebote standen, und wiederholen wir ein paar statistische Notizen, wie wir sie i. J. 1812 in der Schule gelernt.

Ihm gehörte das Kaiserthum Frankreich mit 130 Departements und 42 Millionen Einwohnern; daran gränzte das Königreich Italien mit Millionen Einwohnern. Das Königreich Neapel, bis an die Meerenge von Messina, besaß sein Schwager Murat, auf dem spanischen Throne saß sein Bruder Joseph, auf dem westphälischen sein Bruder Jerome; der Rheinbund mit 13 Millionen Einwohnern stand unter seinem Protektorate. Alle diese Reiche zusammen stellten eine Kriegsmacht von 400,000 Mann ins Feld. Oestreich war durch die neuen Verwandtschaftsbande an Frankreich geknüpft; Preußen von französischen Truppen fast ganz besetzt. Die Türkei in ihrer Schwäche kam gar nicht in Betracht. Es blieben also nur noch Rußland und England zu besiegen.

Wer sich jenen Zustand der vollkomnen politischen Niedergedrücktheit vergegenwärtigen kann, der wird es nicht auffallend finden, daß als die Kunde von dem beabsichtigten russischen Feldzuge sich vergewisserte, viele ja die meisten an dem Gelingen desselben kaum zu zweifeln wagten.

Ein fürchterliches Wort Napoléons, das fürchterlichste, was ich je in dieser Art gehört oder gelesen, ging damals in unserem Kreise von Mund zu Munde; als Talleyrand ihm abrieth, den russischen Feldzug anzufangen, da der spanische noch nicht beendigt sei, sollte er geäußert haben: j’ai à depenser par an 100,000 hommes! 311

Ehe der russische Feldzug begann, versammelte Napoléon noch einmal seine gekrönten Vasallen in Dresden (Mai 1812), und wenn irgend ein Moment der äußeren Machtentfaltung als der höchste in seiner glänzenden meteorischen Laufbahn bezeichnet werden kann, so ist es dieser. Er schritt hier über die Häupter der Kaiser und Könige hinweg. Der Kaiser Franz von Oestreich war erschienen, um seine Tochter Marie Luise wieder zu sehn, und um seinen Enkel, den König von Rom kennen zu lernen. Von der östreichischen Kaiserin Luise Beatrix, einer Prinzessin von Modena, wußte man, daß sie den Emporkömmling Napoléon auf’s tiefste haßte; trotzdem mußte sie sich bequemen, im Theater neben ihm zu sitzen. Der König von Preußen kam in Begleitung seines Sohnes, des Kronprinzen und des Staatskanzlers von Hardenberg. Mit ingrimmiger Wuth erfüllte uns das Gerücht, der Staatskanzler sei nur deshalb mit nach Dresden gegangen, um die Verlobung unseres Kronprinzen, der damals 16 Jahre zählte, mit einer französischen Prinzessin einzuleiten. Nachdem der Versuch, den preußischen Staat ganz aufzulösen, durch Hardenbergs kühnes Vorgehen misglückt war, so wollte Napoléon nun Preußen, so wie früher Oestreich, durch die sanfteren Familienbande an sich fesseln.

Ganz im geheimen erzählte man sich, die Dresdner hätten den französischen Kaiser sehr schweigsam empfangen, den preußischen König aber mit lautem Jubel, und am Abende mit einer freiwilligen Illumination begrüßt. Der König von Sachsen, den Napoléon spöttisch mon cher Papa nannte, wußte in seiner geistigen Nullität nicht, wie er sich bei diesem sonderbaren Vorfalle benehmen sollte, und die Sache blieb eben auf sich beruhn. In eine312 andre Verlegenheit eigenthümlicher Art kam der fromme König von Sachsen, der gewohnt war, sich alle Tage eine volle Stunde mit seinem Beichtvater zu unterhalten, als Napoléon gerade um diese Zeit irgend eine Festlichkeit oder Revue angesetzt hatte. Es hieß, der König von Sachsen habe befohlenermaaßen die Revue mitgemacht, und am folgenden Tage 2 Stunden gebeichtet.

Die Vorbereitungen zu dem russischen Feldzuge waren, wie sich nicht anders erwarten ließ im großartigsten Maasstabe und mit bewundernswerther Umsicht gemacht. Schon im Anfange des Jahres 1812 mußten Preußen und Oestreich mit Frankreich ein Bündniß schließen, wonach sie sich gegenseitige Hülfe bei einem etwa zu führenden Kriege versprachen. Diese Hülfe wurde nun in Anspruch genommen. Preußen stellte ein Corps von 20,000 Mann, das in den russischen Ostseeprovinzen, auf dem linken Flügel der Franzosen operiren sollte; Oestreich gab 40,000 Mann Hülfstruppen für den rechten Flügel in Volhynien. Die französische große Armee schätzte man auf nahe an 600,000 Mann zu Fuß und 40,000 Reiter.

Im Sommer 1812 erfolgte in Berlin der Einmarsch des Armeecorps des Marschalls Augereau in einer Stärke von 30 oder 40,000 Mann. Wir gingen unter die Linden, um dies zwar nicht neue, doch immer imposante Schauspiel mit anzusehn. Die dichten, dunkeln Soldatenmassen wälzten sich zum Brandenburger Thor herein, und zogen auf der Nordseite der Linden in unablässiger Folge nach dem Innern der Stadt. Vor jedem Regimente gingen 24 schwarzbärtige Sappeurs; ihnen folgte ein riesiger Tambour-Major, mit seinem silberknöpfigen Stabe der rauschenden Feldmusik gebietend. Unermeßlichen Jubel erregte es bei313 dem Straßenpöbel, wenn er den Stab hoch in die Luft warf, und geschickt wieder auffing. Sehr leicht konnte man bemerken, daß die Masse der gemeinen Soldaten aus blutjungen Leuten von 17 bis 18 Jahren bestand, doch marschirten sie mit französischer Leichtigkeit und zeigten keine Spur von Ermüdung.

An den folgenden Tagen kam eine unendliche Bagage auf vielen Wagen herbei. Artillerie und Munition in unabsehbaren Zügen füllte die langen, geraden Straßen der Friedrichstadt. Da sahen wir auch merkwürdige zweirädrige Karren mit je 2 Ochsen bespannt und mit Mehlsäcken beladen. Sie waren auf die russischen Wüsteneien berechnet. Wenn das Mehl verbraucht war, so konnten die Ochsen geschlachtet und verzehrt werden. Man zeigte uns auch Wagen, worauf sich Handmühlen befanden, um im Nothfalle das Korn auf dem Marsche mahlen zu können.

Nun begann von neuem die Last der Einquartirung, die in den letzten Jahren etwas nachgelassen, aber von da an ununterbrochen bis zum Jahre 1816 fortdauerte. Unser Haus wurde wiederum mit hohen und höchsten Offizieren bedacht. Um ein möglichst gutes Verhältniß herbeizuführen, hielt mein Vater es für angemessen, die fremden Gäste am Sonntage zu Tische einzuladen. Selten wurde die Einladung ausgeschlagen, und wir Kinder hatten nun Gelegenheit, die Bestandtheile der großen Armee in einigen wenigen Einzelheiten kennen zu lernen. Das Vorrücken des Heeres ging so rasch, daß wir kaum ein oder zwei Mal dieselben Sonntagsgäste hatten.

Zu den ersten gehörte ein französischer General mit seiner Frau, deren Reisewagen, da es an einer Remise fehlte, im Hofe unter der Gallerie seinen Platz fand. Sie314 war eine sehr unscheinbare, nicht mehr junge Dame von feinen Sitten und geläufiger Zunge. Es schien ihr sehr angenehm zu sein, daß alle Tischgenossen französisch sprachen, und obgleich sie dies bei allen gebildeten Personen als selbstverständlich voraussetzte, so hatte sie doch, je mehr sie gegen den Norden vorrückte, zu ihrer Verwunderung nicht wenige Personen gefunden, welche kein französisch sprachen. Sie ergoss sich in vielfachen Klagen über das Unglück dieses Krieges, wodurch sie gezwungen werde, ihren Mann, den sie bisher niemals verlassen, nun auch noch nach dem kalten Rußland zu begleiten. Ihr Anzug war nichts weniger als elegant; die Grosmutter Eichmann bemerkte nach Tische, das Schnupftuch der Generalin müsse mehrere, ja vielleicht acht Tage alt gewesen sein. Der General war ein finstrer schweigsamer Mann, von dem mir keine deutliche Vorstellung geblieben. Nach wenigen Tagen ward der Reisewagen der Generalin von neuem gepackt, und nach einem höflichen, beinahe herzlichen Abschiede folgte sie ihrem, einen Tag früher ausgerückten Manne. Wer weiß, ob sie nicht beide in den Schneefeldern Rußlands geblieben sind. Sonderbar genug war es, daß ich noch lange nachher, wenn von den ungeheuren Verlusten der Franzosen in Rußland die Rede war, immer zuerst an diesen finstren General (dessen Namen ich mir nicht einmal gemerkt) und an seine Frau mit dem schmutzigen Schnupftuche denken mußte.

Bald darauf erhielten wir 2 Offiziere von der Pariser Nobelgarde zu Pferde; Napoléon bildete diese ausgewählte Schaar noch kurz vor dem Kriege aus den Söhnen der angesehensten und reichsten Pariser Familien. Sie hatten sich selbst equipirt, und standen den andern Truppen315 um einen Grad voran. Unsre Gäste waren zwei bildschöne, junge Leute von der ausgesuchtesten Eleganz und feinsten Höflichkeit. Sie ließen sich, nachdem das Eis der Unterhaltung gebrochen war, in sehr gewählten, aber vollkommen verständlichen Ausdrücken über die traurige Nothwendigkeit dieses Krieges vernehmen. Man hörte es ihnen wohl an, wie tief die verzärtelten Muttersöhnchen es empfanden, allen ihren häuslichen Bequemlichkeiten und den Freuden der Hauptstadt entrissen zu sein, wie sauer es ihnen wurde, täglich mehrere Meilen zu marschiren, und in den schlechten Quartieren zu übernachten, u. s. w. Mehr als einmal hörten wir den Wunsch: il faut bien esperer, que cette campagne sera la demiere! Von außerordentlicher Begeisterung für den Kaiser oder von einem unbändigen Verlangen nach Kriegsruhm war wenig bei ihnen zu spüren. Sie hatten sich in ihr Schicksal ergeben, sahen den Sieg der französischen Waffen als gewiß an, und wünschten nichts sehnlicher, als eine baldige Beendigung der Marschbeschwerden. Unvergeßlich ist es mir, wie die beiden schlanken Gestalten, in den kleidsamen, grünen, goldgestickten Uniformen, nach Beendigung der Mahlzeit sich erhoben, und mit den verbindlichsten, nach allen Seiten gerichteten Grüßen in ihr Zimmer zurückgingen. Da hast du lernen können , sagte nachher mein Vater zu mir, wie man sich auf eine feine Weise zu verbeugen hat! Er ließ nämlich in seiner unbeschreiblichen Gutmüthigkeit nicht nach, an meinem ungelenken Wesen zu bessern und zu glätten; ich versuchte dann wohl einmal im Scherze, zusammen mit meinem eben so steifen Freunde Paul, die zierlichen Verbeugungen der beiden eleganten Pariser nachzuahmen; dies geschah aber nur in unserer eigenen Stube,316 und gab dem gewandten Schauspieler Fritz die herrlichste Gelegenheit, unsere beiderseitigen Versuche zur Erlangung gesellschaftlicher Grazie mimisch zu verspotten.

Nicht lange nachher kam der Oberst eines polnischen Ulanenregiments, von Lubinski, der längere Zeit bei uns blieb, und sich mithin dem Gedächtnisse fester einprägte. Eine gedrungene, breitschultrige Gestalt von elastischen, kräftigen Bewegungen und sehr freundlichem Gesichtsausdrucke. Jeden Morgen ritt er hinaus auf das Köpnicker Feld, um sein Regiment zu exerciren. Mit wahrer Wonne sahen wir zu, wenn ihm im Hofe sein spiegelblanker, reichgeschirrter Rappe vorgeführt ward, wie er sich rasch in den Sattel des ungeduldigen Thieres schwang, und in tanzenden, leichten Kurbetten, anmuthig grüßend dahinschwebte. Sein Adjutant, hochgewachsen und schlank, geschmeidig wie ein Aal, hatte ein wahres Falkenauge, das er zuweilen mit unheimlichem Glanze über die Tafel dahinblitzen ließ. Beide Offiziere waren unter sich innig befreundet, und bewegten sich in den feinsten, aristokratischen Formen, deren äußere Glätte den Polen ganz besonders gut steht. Wir wurden von den älteren Tischgenossen darauf aufmerksam gemacht, daß die beiden Gäste unter sich niemals polnisch, sondern nur französisch sprachen, um nicht zu der Muthmaßung Anlaß zu geben, als ob sie über jemand von der Gesellschaft irgend eine Bemerkung machten. Ueber Politik waren sie weit zurückhaltender als die beiden Pariser, nur glaubten wir zu bemerken, daß die unergründlichen Augen des Adjutanten einen besonders infernalischen Ausdruck annahmen, wenn von dem Kaiser Napoléon und dessen Zwecken bei diesem russischen Kriege die Rede war. 317

Zuweilen erzählte Lubinski von seinen früheren Feldzügen, und dann wurden seine Worte von den Kindern fast verschlungen. So sehr wir sonst gewohnt waren, nach dem Braten davonzuspringen, ohne den Nachtisch abzuwarten, so hielten wir bei solchen Gelegenheiten bis auf die letzte Minute aus. Besonders ausführlich war er über den Krieg vom Jahre 1809 gegen Oestreich. Hier sagte er, habe der Kaiser die ganze Kraft seines Genies entfaltet. Trotzdem daß er die Oestreicher in den früheren Kriegen so oft geschlagen, und sie also wohl etwas hätten lernen können, so seien sie doch wieder in den alten Fehler verfallen; statt anzugreifen, hätten sie sich vertheidigt. Dabei stellte er den Satz auf: der Angreifende sei immer im Vortheile, so wie der, welcher beim Schachspiele anziehe, die Wahrscheinlichkeit für sich habe, das Spiel zu gewinnen. Dies schien den Kindern damals sehr paradox, und prägte sich eben deshalb dem Gedächtnisse ein. Daß der Kaiser bei Aspern und Eßlingen geschlagen worden sei, wollte Lubinski nicht zugeben. Die Donau habe die Brücken nach der Insel Lobau weggerissen, der Kaiser habe keine Verstärkungen mehr an sich ziehn können, und sei deshalb in seine frühere Stellung zurückgegangen. Der klarste Beweis, daß jenes Gefecht kein Sieg der Oestreicher gewesen, liege darin, daß der Erzherzog Karl nicht einmal versucht habe, das französische Heer zu verfolgen oder anzugreifen, sondern daß er unbeweglich auf dem Schlachtfelde 4 Wochen stehn geblieben sei, und wiederum ruhig abgewartet habe, bis der Kaiser ihn angreifen werde. Dieser habe die Zeit auf das treflichste benutzt, um von vielen Seiten Verstärkungen heranzuziehn, und alles auf einen zweiten Schlag vorzubereiten. Zuletzt habe das große318 französische Heer auf der kleinen Insel Lobau dicht zusammengedrängt gestanden, so daß man sich kaum habe rühren können. Da seien die wunderbarsten Erkennungsscenen vorgekommen. Französische Offiziere und Soldaten, die sich in Jahren nicht gesehn, Brüder und Vettern, die bei verschiedenen Armeecorps gestanden, und lange nichts von einander gehört, hätten hier ein freudiges Wiedersehn gefeiert, worauf denn freilich für Viele in der nächsten Schlacht bei Wagram ein ewiger Abschied gefolgt sei. Zuletzt sei auf der Insel Lobau ein so empfindlicher Mangel an Lebensmitteln, besonders an Fleisch eingetreten, daß man gezwungen worden sei, Pferde zu stehlen und zu schlachten. Seine Polen hätten es besonders auf die fetten Artilleriepferde abgesehn gehabt, von denen ja auch eins leichter zu entbehren gewesen sei, als von der Kavallerie. Da sei es denn nicht selten vorgekommen, daß in einer recht finstern Nacht ein gestohlnes dickes Artilleriepferd geschlachtet, zerlegt, gebraten und verzehrt worden sei. Noch vor Tagesanbruch habe man die Knochen und das Fell in die Donau geworfen oder vergraben, so daß bei einer Requisition auch nicht das mindeste zu finden gewesen sei. Dieser zusammengepreßte Zustand habe denn endlich auch aufgehört, und mit wahrer Lust sei er (Lubinski) mit seinem Regimente in der lauen Sommernacht vom 4. zum 5. Juli 1809 über die Donaubrücke gezogen, um an der glorreichen Schlacht von Wagram Theil zu nehmen. Hier habe der Kaiser aufs neue sein eminentes Feldherrntalent bewährt. Der Erzherzog Karl habe es ruhig mit angesehn, wie die französische Armee sich in bester Ordnung angestellt, und habe dann wieder den Angriff abgewartet, anstatt die sich entwickelnden319 Franzosen selbst anzugreifen. Die Oestreicher hätten zwar recht gut gefochten, seien aber zuletzt auf allen Punkten zurückgedrängt worden. Der Erzherzog Johann habe von Raab her die Franzosen im Rücken angreifen sollen, allein entweder aus Uebelwollen oder wegen eines Misverständnisses sei er nicht zur rechten Zeit auf dem Schlachtfelde erschienen. Napoléon habe seinen Sieg so energisch benutzt, daß sehr bald die ganze östreichische Armee aufgelöst, und der Krieg durch den Frieden von Wien beendigt worden sei.

Lubinski schien von der wohlwollenden Aufnahme, die er bei uns gefunden, in der That ergriffen zu sein; er versprach meinen Aeltern, bei seiner Rückkunft uns wieder zu besuchen. Wir haben niemals etwas von ihm gehört!

320

Russischer Feldzug 1812.

Die Durchmärsche der französischen Truppen hörten endlich auf, und das ganze Heer versammelte sich an der russischen Gränze. Das preußische Hülfscorps stand auf dem linken Flügel; es war zu einem Einfalle in die russischen Ostseeprovinzen Kurland, Lievland und Esthland bestimmt. Das östreichische Hülfscorps auf dem rechten Flügel bedrohte Galizien und Volhynien. Im Centrum wälzte sich die große Armee von 400,000 Streitern langsam vorwärts.

Als ostensibeln Grund des Krieges führte Napoléon an, daß Rußland sich beständig geweigert, dem Kontinentalsysteme beizutreten, d. h. alle seine Häfen den Engländern zu verschließen; als ob er irgend ein Recht gehabt, alle andern Herrscher zur Annahme jenes Systemes zu zwingen!

Aus den Gesprächen der Erwachsenen konnten die Kinder wohl merken, daß dieser russische Feldzug als eins der abentheuerlichsten Unternehmen der neueren Zeit zu betrachten sei. Was wollte Napoléon in Rußland erobern? und welcher Nutzen konnte ihm aus der Eroberung erwachsen? Gesetzt, er zwänge Rußland in der That zur Annahme des Kontinentalsystemes, so könne er doch321 nicht alle russischen Häfen besetzt halten, und sobald er den Rücken wende, würden sie den Engländern wieder eröffnet. Allein bis zur gänzlichen Niederwerfung von Rußland liege noch ein weiter Weg vor ihm. Es könne leicht kommen, daß das riesengroße französische Heer, wie einst die Schaaren des Xerxes, an seiner eignen Masse zu Grunde gehe. Sobald die russische Gränze überschritten sei, befänden sich die Franzosen in einem dünnbevölkerten, schlechtbebauten Lande, das in großen Entfernungen mit einigen elenden Dörfern, in noch größeren mit unbedeutenden Städten besetzt sei. Ackerbau und Viehzucht könnten nur an einzelnen Stellen gedeihen; die in den unwirthbaren Steppen herumirrenden Heerden würden sich bei der Annäherung des Feindes zurückziehn, und ihn dem bittersten Mangel preisgeben.

Dies und ähnliches hörte man von den Widerwilligen und Vorsichtigen, aber die kühnen und zuversichtlichen Bewunderer des napoleonischen Genies entgegneten hierauf: ob denn der Kaiser diese Bedenken nicht eben so gut, und noch besser als jeder andre werde erwogen haben? Man wisse, daß er seit länger als einem Jahre die Geographie von Rußland auf das sorgfältigste studire, daß ein Memoire über die ökonomischen, finanziellen und militärischen Hülfsquellen des Czarenreiches nie von seinem Schreibtische wegkomme, daß die genausten Karten von Rußland die Wände seines Arbeitskabinettes bedeckten. Da es nicht möglich sei, das Heer vom Lande Rußland selbst ernähren zu lassen, so werde er die nöthigen Lebensbedürfnisse den vorrückenden Truppen nachschicken.

Dies lasse sich, sagten die Gegner, mit dem reichen Deutschland im Rücken, wohl auf eine kurze Zeit ausführen,322 aber wenn der Krieg sich in die Länge ziehe, was dann? Daß es dem gewaltigen Völkerbezwinger gelingen werde, das ungeheure Rußland im Laufe eines einzigen Feldzuges zu erobern, oder auch nur zum Frieden zu zwingen, das müsse selbst den erklärtesten Bewunderern des Kaisers als ein ausschweifender Gedanke erscheinen. Wie gefährlich es sei, sich mit einem Heere in das innere Rußland zu vertiefen, das habe vor gerade 100 Jahren das Beispiel Karls XII. gezeigt, der nach der Schlacht von Pultawa gezwungen war, bei den Erbfeinden der Christenheit, bei den Türken eine Zuflucht zu suchen.

Indessen war der Kaiser Napoléon aus Paris bei der Armee angelangt, und die Franzosen rückten ungehindert vorwärts. Ihr Marsch wurde von pomphaften Armeebulletins begleitet, die damals beinahe den ganzen Inhalt der Berliner Zeitungen ausmachten. Es gelangten aber daneben auch einige Privatnachrichten in das Publikum, die mit desto größerer Begierde aufgefaßt und herumgetragen wurden, wenn sie irgend etwas für die Franzosen nachtheiliges enthielten. So hieß es unter andern: als der Kaiser bei seiner ersten Recognoscirung den Niemen entlang geritten, sei plötzlich sein Pferd in eine Grube getreten, und habe ihn abgeworfen. Un Romain serait retourné , sagte er, und bestieg ruhig ein anderes Pferd. Bis zum Uebergange über den Niemen hatte eine drückende Hitze geherrscht, so daß Menschen und Thiere fast verschmachteten, und die 8 Uebergangsbrücken nur mit großer Mühe geschlagen wurden. In der ersten Nacht, die das französische Heer auf russischem Boden zubrachte, erhob sich ein schweres Gewitter, und entlud ganze Wasserströme auf das Lager. Die Wirkung auf die Pferde war eine so323 verderbliche, daß viele Hunderte davon krepirten, und ein beträchtlicher Theil der französischen Kavallerie unbrauchbar wurde.

Es ließ sich wohl voraussehn, daß Napoléon seine alte Taktik nicht verlassen, und geraden Wegs auf die feindliche Hauptstadt losgehn werde. Aber es gab in Rußland zwei Hauptstädte, das alte halbasiatische Moskau und das moderne Petersburg. Beide Städte waren vom Uebergangspunkte über den Niemen um Hunderte von Meilen entfernt, und durch fast unwirthbare Landstrecken getrennt. Im Anfange des Feldzuges scheint Napoléon selbst geschwankt zu haben, ob er sich links nach Petersburg oder rechts nach Moskau wenden solle. Vermuthlich hatte er gehofft, das russische Heer werde sich ihm an der Gränze entgegenwerfen, er werde es nach gewohnter Weise in ein paar Schlachten tüchtig abklopfen oder vernichten, und darauf in dem zu schließenden Frieden den Beitritt zu seinem Kontinentalsysteme erlangen. Ob dann der Sieger auch Rußland unter seine Vasallen aufnehmen, und an der Spitze aller europäischen Heere durch Persien gegen die englischen Besitzungen in Ostindien marschiren werde, das mochte ihm selbst wohl kaum klar sein, aber es fehlte nicht an Zeitungspolitikern, die ihm die Ausführung dieses Riesenplanes zutrauten.

Allein das russische Heer, das er an der Gränze zu schlagen hoffte, war nicht zu finden; nur einzelne Kosackenschwärme verschwanden eben so schnell als sie sich zeigten. Kam es ja einmal zu einem Scharmützel, so wurde dies in den französischen Bulletins mit grellen Farben ausgemalt. Die französische große Armee bewegte sich in einer flachen, baumlosen und menschenleeren Steppe tagelang vorwärts,324 ohne einen Feind zu treffen. Von den Einwohnern Erkundigungen einzuziehn, war unmöglich, weil es eben an Einwohnern fehlte, jedoch stimmten die spärlich erlangten Nachrichten darin überein, daß das russische Heer die starke Festung Smolensk besetzt halte und vertheidigen werde. Hier kam es zu der ersten blutigen Schlacht, die von den Russen in der günstigsten, von den Franzosen in der ungünstigsten Stellung angenommen ward. Doch wer hätte dem Meister der Schlachten widerstehn können? Er sollte in diesem Kriege nicht durch Menschen, sondern durch die Elemente besiegt werden.

Bei Valutina wäre es dem Kaiser beinahe gelungen, das russische Heer auseinander zu sprengen, die eine Hälfte nach Süden, die andre nach Norden zu werfen: dann war Aussicht vorhanden, einen vortheilhaften Frieden zu erzwingen, doch die ungemeine Weite des Schlachtfeldes vereitelte die Ausführung dieses Planes.

Nach diesen beiden glücklichen Schlachten zog das französische Heer unaufhaltsam vorwärts gegen Osten, und es mußte nun wohl den Russen klar werden, daß es nicht auf die Einnahme von Petersburg, sondern von Moskau abgesehn sei. Die alte Residenz des Reiches, die glorreiche Czarenstadt, die seit Jahrhunderten keinen auswärtigen Feind in ihren Mauern gesehn, konnte nicht ohne Schwertstreich den Fremdlingen überlassen werden. Dies würde den russischen Nationalstolz zu sehr verletzt haben. Es ward also beschlossen, noch eine Schlacht zu wagen, und der russische Feldherr Kutusow konnte sich die beste Stellung dazu aussuchen. Als Napoléon durch vorausgeschickte Plänkler in Erfahrung brachte, daß die Russen in der Nähe von Borodino den Boden umwühlten, um ihren325 Batterien eine uneinnehmbare Stellung zu geben, rief er aus: Enfin je les tiens!

Das russische Heer war dem französischen an Zahl etwas überlegen, aber wiederum bewährte sich der Satz, daß der Angreifer gegen den Vertheidiger im Vortheil sei. Die Russen hatten die besten Stellungen, und warteten das Herankommen der Franzosen ab. Ungefähr 1000 Kanonen arbeiteten an dem blutigen Schlachttage des 7. September 1812 gegeneinander, die Russen verloren nach und nach alle Positionen, und mit Erstaunen las man in dem Bulletin, daß am Abend die letzte russische Batterie durch ein sächsisches Kürassierregiment genommen worden sei. Kutusow ging am folgenden Tage zurück, und nun stand dem Einzuge des Siegers in das nahe Moskau kein Hinderniß mehr im Wege.

Napoléon selbst schien zu erwarten, daß die Russen noch eine, oder vielleicht noch mehr Schlachten wagen würden, um die altehrwürdige Czarenstadt zu retten. Man erzählte sich, daß er die Schlacht bei Borodino noch entscheidender hätte machen können, wenn er die Garden ins Feuer geführt hätte. Als seine Generale ihn dazu aufforderten, erwiederte er: S’il y a une bataille demain, avec quoi la donnerai-je?

Der Einzug in Moskau wurde uns später von Augenzeugen als das wunderbarste Vorkomniß beschrieben. Lange hielt der Kaiser vor den Thoren, weil er erwartete, daß der Magistrat ihm die Schlüssel der Stadt entgegen bringen werde. Als Niemand erschien, zog er durch die langen öden Straßen der ungeheuem Stadt, an leeren Palästen und Hütten vorbei nach dem Innern. Die goldnen Kuppeln des Kreml glänzten im hellen Sonnenschein, aber326 das alte Haus des Czaren war verlassen, und die gänzliche Stille der Umgebung hatte etwas gespensterhaftes. Man glaubte in einer verzauberten Stadt aus 1001 Nacht sich zu befinden, deren Einwohner durch einen bösen Genius in Schlaf versenkt waren.

Ob der Brand von Moskau mit Bewilligung des Kaisers Alexander unternommen, oder von dem Fürsten von Repnin auf eigne Faust angefacht worden sei, darüber wurde damals viel hin und her gestritten, es ist auch, so viel ich weiß, bis jetzt nichts sicheres darüber ermittelt worden; so viel aber steht fest, daß die an der Gränze von Asien angezündete Fackel einen Wendepunkt in der Greschichte Europas beleuchtete, und daß vor diesem gewaltigen Feuerscheine der Glanz des napoleonischen Sternes erbleichen sollte. Die Ausdehnung des Brandes in den 5 weiten, um den Kreml gebauten Häuserumkreisen, war so groß, daß die Astronomen uns bewiesen, wenn die Mondbewohner dieselben Fernrohre hätten wie wir, so hätten sie einen deutlichen hellen Fleck auf der Erde wahrnehmen, und daraus schließen müssen, daß dort etwas absonderliches vorgehe.

So glänzend auch die französischen Nachrichten über die großen Waffenerfolge lauteten, so ließ man sich dadurch bei uns nicht bestechen; man fühlte sehr wohl, daß der Brand von Moskau ein wirksames Gegenmittel gegen die Schlacht von Borodino, und daß der Krieg noch lange nicht zu Ende sei. Allgemein bewundert ward die Grosherzigkeit des Kaisers Alexander, mit der er die Zerstörung der zweiten Hauptstadt seines Reiches wenn nicht angeordnet, so doch erlaubt habe.

Was wird Napoléon jetzt anfangen? fragten unsre327 politischen Kannegießer; wird er den Muth haben mit dem siegreichen, aber doch geschwächten Heere gegen Petersburg zu ziehn? Wo wird er den Winter zubringen? Unmöglich auf der öden Brandstätte von Moskau. Wird er sich zur Umkehr entschließen? Dann erklärt er sich für besiegt. Wird der Kaiser von Rußland sich in Friedensunterhandlungen einlassen? Jetzt, wo er den Feind so gut als in der Falle hat! Ja, wenn nicht alle preußischen Festungen in den Händen der Franzosen wären, so könnte man in Preußen wohl die Gelegenheit benutzen, und im Rücken der großen Armee eine wirksame Diversion machen, die uns endlich von dem verhaßten Fremdjoche befreite, u. s. w.

Unterdessen stand Napoléon unbeweglich in dem eingeäscherten Moskau, und wartete vergeblich auf Friedensvorschläge von russischer Seite; er that, was er noch nie zuvor gethan, er bot zuerst die Hand zum Frieden. General Lauriston wurde nach Petersburg geschickt, um dort zu unterhandeln. Darüber verfloß eine kostbare Zeit, der September ging zu Ende, und schon machten bei ganz heiterem Himmel die leichten Oktoberfröste sich fühlbar. Unbegreiflich schien es den aus der Ferne zuschauenden, die den Gang des Krieges auf der Landkarte verfolgten, daß die Russen nicht einmal den Versuch machten, die unendlich lange Operationsbasis der Franzosen vom Niemen bis nach Moskau auf irgend einer Stelle zu unterbrechen. Vielleicht schreckte sie der Glanz des französischen Waffenglückes, vielleicht warteten sie in richtiger Voraussicht der Dinge, die da kommen sollten, auf ihren mächtigen Verbündeten, den russischen Winter.

Als Lauriston nach 6 Wochen unverrichteter Sache328 zurückkehrte, sah Napoléon wohl, daß nun ein Entschluß gefaßt werden müsse, und er entschloß sich zum Rückzuge, ein Wort, das er seit der Belagerung von St. Jean d’Acre aus seinem Wörterbuche gestrichen. Es erschien das berühmte 29. Bulletin, in welchem nach einigen pomphaften Redensarten gesagt wurde, daß die große Armee der besseren Verpflegung halber ihre Winterquartiere mehr nach der Gränze zurückverlegen werde.

Vorher hatte der Kaiser noch einen Versuch gemacht, südlich von Moskau sich Bahn zu brechen, um durch mehr bevölkerte und fruchtbare Landstriche heimzukehren, allein die Schlacht von Malo-Jaroslawez (24. Oktober 1812) hatte ihm gezeigt, daß die Russen diesem Unternehmen den äußersten Widerstand entgegensetzten. So blieb ihm denn nur der Rückzug durch die bereits ausgesogenen und doppelt unwirthbaren Gegenden des Hinweges. Beim Abschiede von Moskau ward der Kreml zum Theil in die Luft gesprengt, ein Akt kleinlicher und unnützer Rache.

Der Rückzug wurde, wie sich dies nicht anders erwarten ließ, mit großer Ueberlegung und berechnender Sorgfalt eingerichtet. Die französische Armee war in drei Theile getheilt, die sich in Zwischenräumen von mindestens einem Tagemarsche folgen sollten. Dadurch wurde eine zu große Anhäufung der Truppen vermieden, und es blieb die Möglichkeit, dem heranrückenden Feinde schnell die Spitze zu bieten. Die russische Armee ließ sich anfangs gar nicht sehn, und folgte dann dem Feinde mit zögernder Vorsicht. Als man nach dem Kriege die verschiedenen Berichte mit einander vergleichen konnte, da behaupteten die Strategiker mit vieler Sicherheit, daß bei einem energischen Nachdringen und bei raschen Seitenangriffen der329 Russen nur die wenigsten Franzosen und am wenigsten der Kaiser hätten entwischen können.

Auf den ersten Tagemärschen des Rückzuges bewegte sich die große Armee in der vorgeschriebenen Ordnung und vom schönsten Wetter begünstigt. Aber bald senkte sich der Zorn des Himmels auf die langsam weichenden Schaaren herab. Am Anfange des November trat ein heftiger Frost ein, der mit einer, selbst für Rußland ungewöhnlichen Strenge den ganzen Winter ununterbrochen fortdauerte. Nun lösten sich allmälig alle Bande der militärischen Disciplin, und das gräsliche Gebot der Selbsterhaltung trat an die Stelle des willigen Gehorsams. An allen Orten, wo die französischen Truppen bivouakirten, blieben am andern Morgen Hunderte von Erfrornen im hohen Schnee liegen. Fand sich irgendwo noch ein Proviantmagazin, so wurde es von den hungrigen Soldaten erbrochen, und jeder nahm so viel, als er zur Befriedigung des augenblicklichen Bedürfnisses brauchte. Die russische Armee rückte nun dem abziehenden Feinde näher auf den Leib, und es begann die ruhelose Jagd der Kosacken auf die ermatteten Nachzügler.

Dadurch wurden die Reihen der Franzosen so sehr gelichtet, daß von vielen Regimentern nur noch die Offiziere übrig blieben. Aus diesen bildete sich eine Leibgarde des Kaisers von mehreren hundert Mann. Die Lieutenants und Hauptleute zählten darin als Gemeine, die Majors als Unteroffiziere, die Obersten und Generale als Lieutenants. Diese auserlesene Schaar kam mehr als einmal in den Fall, den Kaiser gegen die überall herumschwärmenden, und in die Züge der Franzosen einbrechenden Kosacken zu vertheidigen. 330

Mit 250,000 Mann wohlgerüsteter Trappen hatte Napoléon Moskau verlassen. Bis zur polnischen Gränze lagen beinahe 100 Etappenmärsche vor ihm, und diese waren kaum zur Hälfte zurückgelegt, als an der Berezina ihm das gröste Unheil drohte. Hier war er bereits von allen Seiten umstellt, und sein Untergang schien unvermeidlich. Aber es war ihm nicht vom Schicksal bestimmt, in den Eisfeldern von Rußland umzukommen, sondern er sollte, an den glühenden Felsen von St. Helena geschmiedet, ein zweiter Prometheus, von der nagenden Erinnerung an die frühere Größe Jahre lang gepeinigt, langsam verschmachten, ohne daß ein mächtiger Herakles mit den immertreffenden Pfeilen zu seiner Befreiung erschienen wäre.

An der Berezina entrann er durch eigne Kraft und Umsicht dem nahen Verderben. Die jenseit des Flusses stehenden Russen täuschte er durch falsche Nachrichten, so daß sie südwärts abzogen, den im Rücken herankommenden Feinden warf er starke Truppenmassen entgegen, ließ während dessen drei Brücken über die Berezina schlagen, und entkam mit dem grösten Theile der um ihn geschaarten, und noch zusammenhaltenden Regimenter, während ein unabsehlicher Troß ungeordneter Nachzügler in wilder Verwirrung dem Heere nachdrängte. Schrecklich wurde die Scene, als am andern Tage die Russen ihren Irrthum bemerkten, an den Ufern des Flusses Batterien aufpflanzten, und die drei Brücken, über welche der Rückzug der fliehenden Franzosen immer fortdauerte, in den Grund schossen. Von den abgeschnittenen Tausenden versuchten wohl einige, von Eisscholle zu Scholle springend, das jenseitige Ufer zu erreichen, aber die meisten verfielen dem Tode oder der Gefangenschaft. 331

Nach Besiegung dieser letzten großen Gefahr erreichte Napoléon die polnische Gränze, warf sich hier in einen Schlitten, und fuhr in rasender Eile unerkannt durch Deutschland. In Dresden machte er mitten in der Nacht dem Könige von Sachsen einen kurzen Besuch, und war zu allgemeiner Verwunderung schon am 18. Dec. in Paris, das er beim Beginne des Krieges im Juni verlassen hatte. Die Spötter bemerkten, daß auch dieser Feldzug im Laufe eines Jahres, aber ganz anders als die früheren, beendigt worden sei.

Der Eindruck, den die große Tragödie dieses russischen Krieges machte, war ein ungeheurer, und übte vor allen auf das heranwachsende Geschlecht eine schwer zu beschreibende Wirkung. Alles was wir von dem Heere Sanheribs gelesen, das der Herr in seinem Zorne schlug, oder von den Kriegshaufen des Kambyses, die auf dem Zuge gegen die Ammonier von der Sandwüste verschlungen wurden, das trat hier als die nächste Wirklichkeit, als etwas selbst erlebtes uns entgegen. Ein so unmittelbares Gottesgericht über thörichten Hochmuth und freche Gewaltsamkeit war wohl geeignet, das lebhafteste Gefühl der Ergebung und Demuth zu erzeugen.

Weil zuletzt alle französischen Berichte über das Schicksal der großen Armee ausblieben, so vergrößerte das Gerücht die erlittene Niederlage bis zum Unglaublichen. Wir waren nicht erwachsen genug, um die ganze Tragweite des welthistorischen Ereignisses zu ermessen, und welcher Erwachsene hätte das damals schon gekonnt? aber an allen Ecken und Enden regte sich das deutliche Bewußtsein, daß nun die Befreiungstunde des Vaterlandes geschlagen habe. 332

Zwar waren im Anfange des Jahres 1813 die Aussichten noch ziemlich bewölkt. Die Franzosen hatten die meisten preußischen Festungen in ihrer Gewalt, sogar das kleine Spandau, die Citadelle Berlins, war von ihnen besetzt. In Polen und Schlesien zogen sich die französischen Truppen nur langsam vor den noch langsamer nachdrängenden Russen zurück. Aber die Nachrichten, welche aus Königsberg, Memel, Gumbinnen und von der ganzen östlichen Gränze des Reiches über den Zustand der aus Rußland zurückkehrenden französischen Soldaten einliefen, waren grauenhaft. In bunter Mischung aller Waffengattungen zogen die zerlumpten Gestalten mit verbundenen Händen und Füßen, ohne alle Ordnung durch die Straßen jener Städte, fielen vor Ermattung an der Seite der Häuser nieder, und wurden von den mitleidigen Bürgern in die Militärhospitäler gebracht, wo Typhus und Lazarethfieber noch Tausende dahinrafften. Bis Berlin gelangten so ganz zerfetzte Ueberbleibsel der großen Armee nicht mehr, oft genug aber sah man einzelne waffenlose Franzosen einherziehn, und sich nach dem Rathhause durchfragen, um dort ein Quartierbillet zu erhalten. Der Berliner Witz verschonte die Armen nicht, und öfter kam es vor, daß die Berliner Straßenjungen die zu Fuß gehenden Kavalleristen anriefen: Monsieur, soll ich ihr Pferd halten? In einem Dorfe bei Berlin hatten französische Nachzügler einen Wagen requirirt, und trieben durch einige Rippenstöße den Bauern zu schnellerem Fahren an. Zornig drehte er sich um, und rief: Kennt ihr nicht das 29. Bulletin?

Da während dieses ganzen russischen Krieges alle Blicke auf den abentheuerlichen Zug nach Moskau gerichtet waren, so hatte man darüber das preußische Hülfs -333 corps auf dem linken Flügel fast aus den Augen verloren. Es war ihm indessen recht gut gegangen, und es hatte wenig vom Froste zu leiden gehabt. Die Zeitungen berichteten von einigen Gefechten in denen die Russen den Kürzeren gezogen, aber bald hatte die grimmige Kälte allen weiteren Operationen ein Ende gemacht. Der Krieg wurde ja ohnehin von preußischer Seite nur mit halbem Herzen geführt, und Napoléon mußte hier erfahren, daß ein erzwungener Verbündeter von keinem Nutzen sei. Wie konnte der König von Preußen ernstlich daran denken, seinen persönlichen Freund, den Kaiser Alexander zu schädigen, und mit welcher Neigung konnten die preußischen Truppen gegen die Russen fechten, von denen allein noch eine Zerbrechung des französischen Joches zu hoffen war?

Daher ward die Nachricht, daß der preußische General York mit seinem Corps zu den Russen übergegangen sei, von der jüngeren Generation mit Freude begrüßt: denn man erkannte darin den Umschwung zu einer neuen Ordnung der Dinge. Zwar sagte der Grosvater Eichmann, so patriotisch er auch gesinnt war, mit bedenklichem Kopfschütteln: das hätte er unter Friedrich II. nicht probiren dürfen! Aber es wurde ihm mit triumphirender Ueberzeugung erwiedert, daß Friedrich II. wohl nie ein Bündniß mit einem fremden, feindlichen Tyrannen zur Bekriegung einer befreundeten Macht eingegangen wäre, und daß ein solches Bündniß null und nichtig sei!

334

Befreiungskriege 1813. 1814.

Am 9. Februar 1813 erschien eine Bekanntmachung des Königs Friedrich Wilhelms III., welche die ganze Jugend des Reiches vom 17. bis zum 25. Jahre unter die Waffen rief. Nun war es entschieden, daß Preußen endlich einen Entschluß gefaßt habe. Nach welcher Seite es sich neigen werde, war keinem der jüngeren Generation auch nur einen Augenblick zweifelhaft. In dem Manifeste war wohlweislich kein Feind genannt, gegen den dieses National-Aufgebot geführt werden solle, und es gab unter den älteren Leuten in der That einige wenige, die es unverholen aussprachen, daß diese allgemeine Bewaffnung dazu bestimmt sei, die Lücken im Heere des Kaisers Napoléon auszufüllen. Wir hörten solche Aeußerungen mit schweigender, ungläubiger Verwunderung an; ich erinnre mich wohl, daß ich einmal ganz bedenklich wurde, als eines Abends diese Ansicht von einem Freunde des Hauses, einem alten ehrwürdigen Herrn, den wir sonst sehr gut leiden mochten, mit beredten Lippen vorgetragen ward. Er schilderte umständlich die Gefährlichkeit eines solchen Aufrufes in einem Augenblicke, wo noch alle Festungen, ja der gröste Theil des Landes in den Händen des Feindes sei; wie wenig335 könne man auf Rußlands Hülfe rechnen, das durch den letzten Krieg unermeßliche Verluste erlitten; nicht in einer einzigen Feldschlacht hätten die Russen gesiegt, nur dem harten Winter verdanke man die Auflösung des französischen Heeres, das sehr bald in erneuter Kraft dastehn könne u. s. w. Aber in der Masse des Volkes war die Ueberzeugung lebendig, daß an eine Hülfe für Napoléon gar nicht zu denken sei, und daß jetzt oder niemals eine Abschüttelung des französischen Joches versucht werden müsse.

Auf meines Vaters Wunsch hatte ich seit dem 1. Januar 1813 angefangen, ein Tagebuch zu führen, aus dem ich für die folgenden Jahre manches genaue Datum entnehmen kann. Dies Tagebuch bestand in einem einfachen Schreibkalender, der für jeden Tag ein paar Zeilen zu Merk - und Stichworten gewährte. Lange Gefühlsergießungen hielt mein Vater mit Recht für überflüssig, weil nur zu leicht eine gewisse Selbstbespiegelung sich damit verbindet.

Nach dem Aufrufe des Königs strömten die Freiwilligen von allen Seiten zu den Fahnen. Das Graue Kloster blieb nicht zurück. Als am Dienstag, den 12. Februar 1818 der Direktor Bellermann in Prima eintrat, um wie gewöhnlich seine hebräische Stunde zu geben, erklärte ihm der Primus omnium, Albrecht Martins, die ganze Klasse sei entschlossen, dem Rufe des Königs zu folgen, sie bäten deshalb den Direktor geziemend, sie sämmtlich zu entlassen. Martins zog dabei das Zeitungsblatt hervor, worin der Aufruf abgedruckt war. Bellermann war höchlich überrascht, und wollte anfangs nichts davon wissen. Nach seiner336 weichherzigen Art erhob er eine laute Wehklage darüber, daß so viele tüchtige Kräfte den Wissenschaften entzogen werden sollten. Als er aber die Jünglinge fest entschlossen sah, in den Kampf für das Vaterland zu ziehn, da gab er gerne nach; er entließ sie mit thränenden Augen und mit seinen besten Segenswünschen. Wohl hatte er Ursache, gerührt zu sein: denn seine beiden Söhne waren mit unter den Ausziehenden. Eben so ging es in Secunda, eben so in Grostertia, worin ich damals saß; selbst in Kleintertia und Grosquarta befanden sich viele Spätlinge von über 17 Jahren, die sich zum Kriegsdienste meldeten. Bellermann giebt in einem Programme darüber folgende Notizen: Es gingen im Februar 1818 zum Heere:

Von 45 Primanern 39

55 Secundanern .... 32

54 Grostertianern .... 18

57 Kleintertianern ... 13

Aus den übrigen Klassen ... 11

Nach Ostern folgten nach .. 21

[In Summa] 184

Davon kehrten nur 17 in ihre Klassen zurück, viele blieben beim Heere oder gingen zur Universität, zehn waren im Kampfe gefallen, zwei waren vermißt.

Im Jahre 1815 gingen wieder 64 Schüler zum Heere, so daß das Graue Kloster zu den beiden Freiheitskämpfen 200 Mitstreiter gestellt hat.

Unter den mitziehenden Grostertianem zählte ich viele Freunde und Bekannte von über 17 Jahren; ein tiefer Schmerz schnitt durch meine Seele, wenn einer oder der andere mich fragte: gehst du denn nicht mit? und ich antworten mußte: nein, ich bin erst fünfzehn Jahr alt! 337

Die beiden Schwestern der Grosmutter Eichmann waren, wie schon bemerkt, an die Geheimeräthe Brese und Kaiser verheirathet; von jeder dieser Familien gingen 2 Söhne ins Feld. Der Onkel Eichmann, welcher 3 Söhne hatte, kam eines Tages sehr betrübt zum Grosvater, und sagte: Willem, weißt du schon? meine beiden Aeltesten gehn nun auch mit! Das ist recht, Franz, erwiederte sein Bruder, wenn ich statt meiner zwei Mädchen sechs Jungen hätte, ich würde sie alle hergeben!

Da die Staatsgelder durch die sieben Jahre lang fortgesetzten, fast unerschwinglichen französischen Kriegskontributionen beinahe versiegt waren, so wurden zur Ausrüstung des Heeres freiwillige Beiträge gesammelt. Alle Schränke und Truhen öffneten sich, um den letzten Sparpfennig an die endliche Befreiung des Vaterlandes zu setzen.

Im Nicolaischen Hause hatte sich vom Grosvater her ein ansehnlicher Vorrath von solidem Silberzeug aller Art gesammelt. Die silbernen Hochzeitbestecke von drei Generationen waren vorhanden; wir bewunderten sie zuweilen bei seltenen festlichen Gelegenheiten, und sahen sie nun mit Freuden auf das Münzamt wandern. Ein halbes Dutzend von großen dreiarmigen massiven Tischleuchtern wurde durch plattirte ersetzt, an die Stelle der weitbauchigen silbernen Punschbowle trat eine porzellanene.

Als ich eines Tages aus der Klasse nach Hause kam, stand mein Vater vor einem alten Nicolaischen Schranke, und sortirte eine Menge Silbermünzen, die ich nicht kannte. Es waren des Grosvaters akademische Jetons . In der von Friedrich II. gestifteten Akademie der Wissenschaften überreichte der Kastellan bei jeder Sitzung dem Eintretenden ein eigends dafür geprägtes Silberstück im Werth von338 ungefähr Thalern. Wer nicht kam, der erhielt nichts, und so war diese kleine Gabe eine Belohnung für den fleißigen Besuch der Sitzungen. Nicolai war i. J. 1797 in die Akademie getreten, hatte also bis 1811 18 Jahre darin gesessen. Rechnet man jährlich 60 Sitzungen, so giebt dies 660 Jetons oder 875 Thlr. Wie viele Jetons im Februar 1813 noch vorhanden waren, wüßte ich nicht zu sagen. Mein Vater schickte sie alle in die Münze, und gab mir als Andenken zwei für meine kleine Münzsammlung, die mir indessen im Laufe der Jahre abhanden gekommen sind.

Als der Aufruf zur allgemeinen Bewaffnung erschien, befand sich Berlin noch in französischen Händen. Der König war schon vorher nach Breslau gegangen, um dort die Rüstungen ungestört abwarten zu können. Man erzählte sich in der Stadt, daß diese Abreise noch einen andern Grund gehabt. Napoléon sollte damit umgegangen sein, den König gefangen zu nehmen, und gleichsam als Geißel für sein Land nach Frankreich abzuführen. Ob dieser Gewaltstreich den erwarteten Erfolg gehabt hätte, wurde sehr stark bezweifelt: denn so treu das Volk auch zu seinem Könige hielt, so war es doch entschlossen, die Befreiung des Vaterlandes allenfalls auch ohne ihn zu versuchen. Es war allgemein bekannt, daß er nicht die Seele der Bewegung sei, daß er vielmehr die durchgreifenden Neuerungen von Stein, Hardenberg, Scharnhorst und Gneisenau fast widerwillig angenommen, wenigstens gleichgültig geschehn lasse. Da er völlig außer Stande war, in irgend einer Angelegenheit die Initiative zu ergreifen, so brauchte er bei jedem neuen, außerordentlichen Vorschlage die kleinmüthige Redensart: das wird gewiß nicht gut gehn! Ging339 nun die Sache in der That nicht gut, so pflegte er zu sprechen: das hatte ich ja vorhergesagt! und ging die Sache gut, so wagte niemand, ihn an seine negative Aeußerung zu erinnern.

Je näher die Russen an Berlin heranrückten, desto unruhiger wurden die Leute in der Stadt. Es war kaum anzunehmen, daß der Marschall Augereau versuchen werde, die offene Stadt zu halten, doch dauerte sein Abzug den Berliner Bürgern gar zu lange. Am 18. Februar 1813 kam es bei dem 2 Meilen entfernten Dorfe Werneuchen zu einem ernsthaften Gefechte zwischen Kosacken und Franzosen, worin die letzteren zurückgedrängt wurden. Am 20. Februar schwärmten die Kosacken an allen Thoren auf der Ostseite Berlins, und schossen auf die französischen Thorwachen. An demselben Abende wurde den Bürgem von Polizeiwegen befohlen, die ganze Nacht Licht an die Fenster zu stellen. Es läßt sich denken, daß in dieser Nacht die Kinder von fieberhafter Unruhe getrieben, im ganzen Hause herumliefen, und auf jeden Lärm horchten. Fritz hatte in unserer Stube ein ganzes Arsenal von Taschenmessern auf dem Tische angelegt, und nach vergeblichem Widerspruche der Köchin noch das Küchenbeil hinzugefügt, um uns, falls die abziehenden Franzosen plündern wollten, vertheidigen zu können. Allein es blieb alles ruhig; nach Mitternacht machte der Schlaf seine Rechte geltend; als wir am andern Morgen wohlgemuth erwachten, wunderten wir uns, daß Berlin noch auf dem alten Flecke stehe.

In diesen Tagen der allgemeinen Aufregung geschah das Unglaubliche, daß bei dem Hin - und Herziehn der französischen Truppen eine französische Kanone von dem340 Berliner Pöbel erbeutet, nach der Schleusenbrücke geschleppt, und dort in die Spree geworfen wurde, wo wir sie mehrere Tage lang mit aufwärts gekehrten Lafetten liegen sahen.

Am 25. Februar hörte man deutlich eine Kanonade in östlicher Richtung, und erfuhr nachher, daß bei Köpenick ein heftiges Gefecht Statt gefunden habe. Endlich in der Nacht vom 3. zum 4. März, viel zu spät für die Ungeduld der Bürger, verließen die Franzosen Berlin, und am 4. März zog General Czernitschef an der Spitze der russischen Truppen ein. Er wurde von der ganzen Bevölkerung als Befreier empfangen, und die Stadt am Abend festlich erleuchtet. Unmöglich läßt sich der Jubel der durcheinander wogenden Menschenmassen beschreiben. Es schien allen, als sei ein bleierner Druck entfernt, der auf jeglicher Brust gelastet, und das Athemholen erschwert hatte. Daß die Franzosen mit verstärkter Macht zurückkehren, und die schutzlose Hauptstadt wieder einnehmen könnten, wurde von den weitsichtigen alten Politikern gefürchtet; sie warnten daher vor einem allzu unmäßigen Jubel, um nicht den Zorn des Kaisers Napoléon zu erregen; die jungen vorwärts dringenden Geister verlachten eine solche Befürchtung. Eher müsse man, so ließen sie sich in ihrem unbändigen Freiheitsgefühle vernehmen, das Beispiel von Moskau nachahmen, und dem heranrückenden Feinde nur eine rauchende Brandstätte überlassen. Als bald darauf Hamburg von den Franzosen geräumt und dann wieder besetzt wurde, erschien eine Broschüre von Varnhagen von Ense, die wir damals wegen der abgerundeten Darstellung mit Vergnügen lasen, und worin jene vandalische Idee auch für Hamburg allen Ernstes empfohlen wurde. 341

So oft in diesen Tagen ein russisches Corps einzog, so oft wurden die Klassen freigegeben, weil jeder den nordischen Befreiern entgegen jauchzen wollte. Am 11. März 1813 empfingen wir den russischen General von Wittgenstein, dessen überaus glänzendes Gefolge einen großen Eindruck auf die gaffende Menge hervorbrachte. Am 17. März erschien unter unendlichem Jubel der General von York mit seinen 12,000 Preußen und einem Artilleriepark von 70 Kanonen. Obgleich er bisher noch nicht als Feldherr sich hatte zeigen können, so fühlte doch ein jeder, daß York durch seinen entschlossenen Uebertritt zu den Russen sich an die Spitze der Bewegung gegen Napoléon gestellt habe, und daß nun von einem Schwanken oder Zaudern der preußischen Politik nicht mehr die Rede sein könne. Selbst der Grosvater Eichmann, der sonst nicht leicht von einer einmal gefaßten Meinung abzubringen war, erklärte sich endlich zufrieden gestellt, weil durch Yorks gewagten Schritt ein ferneres Zusammengehn mit den Franzosen unmöglich geworden sei. Wie ein Donnerschlag rührte uns daher die Nachricht, daß der König ein Kriegsgericht ernannt habe, von dem der General von York zum Tode verurtheilt sei. Allein bald tröstete uns des Grosvaters beruhigende Stimme: Larifari! sagte er, freilich muß das Kriegsgericht ihn zum Tode verurtheilen, aber eben so gewiß ist es, daß der König ihn begnadigen wird oder schon begnadigt hat; darauf könnt ihr euch verlassen: denn sonst würde York nicht an der Spitze von 12,000 Mann in Berlin einziehn.

Bald darauf kam auch der König selbst nach Berlin, und zeigte sich am 20. März 1813 auf der Parade im Lustgarten; ich kann aber nicht sagen, daß ihm ein außer -342 ordentlicher Enthusiasmus entgegen gekommen sei. Für die ältere Generation lag eine Vergleichung mit Friedrich II. gar zu nahe, und das jüngere Geschlecht schien fest entschlossen, nöthigen Falles auch ohne den König eine Erhebung gegen das französische Joch zu versuchen.

Hatten wir bisher die französische Einquartirung mit derjenigen Rücksicht behandelt, die unter gebildeten Nationen bei keinem Verhältniß fehlen darf, so wurden nun die Russen und Preußen als wahre Freunde aufgenommen. Zuerst erhielten wir einen russischen Obersten Buchardin, und es verstand sich von selbst, daß auch er zur sonntäglichen Familientafel eingeladen wurde. Die baumlange, kräftige Gestalt in der reichen, goldgestickten Uniform erregte eine freudige Verwunderung, und der gutmüthige Ausdruck des wettergebräunten, erdfahlen Gesichtes mit den hohen Backenknochen erweckte Zutrauen. Wir hielten ihn für einen ächten Russen, aber er erzählte uns in sehr geläufigem französisch, daß er deutscher Abkunft, und daß Buchardin nur die russische Uebersetzung seines deutschen Namens Baumgarten sei. Den Hauptinhalt des Gespräches bildete natürlicher Weise der Rückzug des französischen Heeres, und der Antheil, den Buchardin an den verschiedenen Gefechten genommen. Er räumte ein, daß der Rückzug von Napoléon in sehr verständiger Weise angeordnet gewesen sei. Die Langsamkeit des russischen Nachrückens entschuldigte er damit, daß man jeden Tag habe gewärtig sein müssen, Napoléon werde sich wieder setzen und eine Schlacht anbieten, bis man denn endlich wohl gesehn habe, daß die grimmige Kälte alle Ordnung und Zucht aufgelöst. Aber nicht nur die fliehenden Franzosen, auch die verfolgenden Russen litten von der unge -343 wöhnlichen Eistemperatur. Einige Bemerkungen, die Buchardin hierüber machte, habe ich nicht vergessen. Die Russen, sagte er, hätten selbst sehr viel Leute verloren, weil man die Regimenter gezwungen, trotz der tödtenden Kälte immerfort in Reihe und Glied zu marschiren, um dem Feinde sogleich die Spitze bieten zu können, obgleich meilenweit kein Franzose zu sehn war. In andern Zeiten sei es gebräuchlich, daß wenn man nicht im Angesichte des Feindes marschire, die Leute es sich bequem machten, bei einem lässigen Hinschlendern leichten Sinnes blieben, und mehr Strapazen ertragen könnten. Als Napoléon den Versuch gemacht habe, von Moskau aus gegen Süden vorzudringen, um durch ein besser bebautes reiches Land seinen Rückweg nach Volhynien zu nehmen, so sei es allerdings in der Ordnung gewesen, ihn durch die Schlacht bei Malo-Jaroslawez auf den alten ausgesogenen Weg über Wilna und Witepsk zurückzudrängen, doch werde man sich auch leicht denken können, mit welchen Schwierigkeiten und Entbehrungen die Russen zu kämpfen gehabt, als sie dem Feinde durch ein dünn bevölkertes, und von den Franzosen doppelt verheertes Land nachrücken mußten. Ihm selbst sei es fast unbegreiflich, woher die großen Kosackenschwärme, die den Feind unablässig verfolgten, auf den unabsehbaren Schneefeldern ihren Unterhalt genommen: denn wenn auch mancher von ihnen zwei oder drei französische goldene Generalsuniformen unter dem Sattel gehabt, so lasse sich doch von einer Generalsuniform nicht satt werden.

Bald zogen die Russen weiter nach Westen, und auf den Obersten Buchardin folgte preußische Einquartirung; ein Major von Gleißenberg vom Bülowschen Corps mit vielen344 Wagen und Pferden. Er hatte wenig zu erzählen, weil er noch nichts erlebte, aber aus seinen hellen blauen Augen leuchtete das Gefühl der wärmsten Vaterlandsliebe und der feste Entschluß, alle Kräfte an die Befreiung der Nation zu setzen. Es folgten andre Offiziere, die meistens nur einen oder ein paar Tage blieben, weil die preußischen Streitkräfte immer mehr gegen Sachsen vorgeschoben wurden.

Bei der Erneuerung des preußischen Heeres in Breslau war der König, wie man sagte durch Scharnhorst, auf den bereits 73jährigen General Blücher aufmerksam gemacht worden. Er gab ihm den Oberbefehl über die schlesische Armee. Diese Ernennung kam den Wünschen des Volkes entgegen. Daß Blücher als junger Husar den ganzen siebenjährigen Krieg mitgemacht, wollten wir, als es uns erzählt ward, kaum glauben: denn jene Epoche, von der die älteren Leute viel zu sagen wußten, lag für die jüngeren schon in einer mythischen Ferne. Doch erinnerten wir uns recht gut, daß Blücher im Jahre 1806 der einzige preußische General gewesen, der in jener ruhmlosen Zeit nicht ohne Lob gekämpft hatte. Er machte mit seinem Armeecorps einen kühnen Zug durch Meklenburg nach Lübeck, mußte sich aber hier, da 3 französische Marschälle zu seiner Verfolgung herbeieilten, gefangen geben. Ihn jetzt wieder im Verein mit den Generalen York, Bülow, Gneisenau und Scharnhorst in Thätigkeit zu sehn, gab uns die frohe Zuversicht des Sieges.

Unterdessen gingen die Rüstungen in Berlin ohne Unterbrechung fort. Gegenüber von unserm Hause in der Brüderstraße wurde die junge, eben einberufene Landwehr einexercirt. Haufen von 10 20 Mann standen in ihrer345 bürgerlichen Tracht auf dem Bürgersteig; bald erschien die Hälfte in grauen Jacken und Beinkleidern mit der einfachen blauen Landwehrmütze, wenige Tage darauf war auch die zweite Hälfte eingekleidet. Der Lustgarten, der Schloßplatz, der Petriplatz neben den Trümmern der abgebrannten Kirche waren voll von Rekruten. Wir lagen den ganzen Tag, wenn die Schule es erlaubte, im Fenster, und lernten bald die Offiziere von Ansehn, nach und nach auch von Namen kennen. Die verschiedenen Handgriffe des Ladens mit dem klirrenden eisernen Ladestock waren weit complicirter und umständlicher als jetzt bei dem Zündnadelgewehr, doch wurden sie von den jungen Leuten schnell genug begriffen. Wir freuten uns auf das Exercitium im Feuer; allein so eilig wurde die Ausrüstung betrieben, daß bei vielen Compagnien das Schießen erst auf dem Marsche an den wenigen zugestandenen Ruhetagen, ja fast im Angesichte des Feindes eingeübt ward.

Den Zurückbleibenden war es nun auch darum zu thun, das Exerciren und den Gebrauch der Feuerwaffen kennen zu lernen. Es trat in unserem kleinen Hausgarten eine Schaar halbwüchsiger Jungen aus der Nachbarschaft zusammen, die schon etwas großes gethan zu haben glaubten, als sie ohne Anstoß Rechtsum und Linksum machen konnten. Mit dem Feuern sah es schwieriger aus. Alles Spielen mit Gewehren war streng untersagt; die Feuerzeugpistole des Grosvaters Nicolai lag ruhig in dem Wandschranke der grünen Stube. Von dem Erlaubnißscheine des Kommandanten wußten wir damals nichts, sonst hätten wir uns wohl einen Schießstand im großen Garten errichtet. Doch Tante Jettchen, von unserer kriegerischen Begeisterung angesteckt, suchte Rath zu schaffen. 346Dr. Kohlrausch, der nach des Grosvaters Nicolai Tode unser Hausarzt geworden war, lieh ihr ein paar schöne Pistolen mit allem Zubehör, und gab ihr sogar eine nicht unbeträchtliche Menge Schießpulver. Bleierne Kugeln wurden in einer zierlichen Kugelform am Herde der Küche gegossen, und mit der Feile abgerundet. Die Sache war im besten Gange, und wir warteten nur auf eine Gelegenheit, nach der Hasenheide zu fahren, um die Pistolen zu versuchen, als es dem Dr. Kohlrausch einfiel, daß ein unerfahrnes Frauenzimmer mit dem Pulver Unheil anrichten könne; er schickte daher eines Morgens seinen Bedienten, um es abholen zu lassen. Tante Jettchen wollte ihrerseits ebenfalls allen Schaden verhüten, und die Pulverdüte dem Bedienten nicht offen mitgeben. Sie stellte sich also ganz unbefangen an ein brennendes Licht und versiegelte die Düte. Als Kohlrausch sie erhielt, und die entsetzliche Gefahr bedachte, in der seine Geliebte geschwebt, war er so erschrocken, daß ihm fast die Sinne vergingen. Er kam bald darauf angefahren, um sich, wie er sagte, zu überzeugen, daß sie noch lebe. Sie selbst war betroffen genug über ihre unverzeihliche Unbesonnenheit, und hörte später niemals gern davon reden. Zwar versicherte uns ein superkluger Mitschüler, dem wir den Fall erzählten, daß weder die Flamme, noch das brennende Siegellack das Pulver hätten entzünden können, und daß dazu ein Funke gehöre, man könne also ein gut abgeputztes Talglicht in einer Pulvertonne auslöschen. Zu diesem letzten Experimente würde er sich jedoch schwerlich verstanden haben.

Im Anfange des April zogen die meisten meiner Jugendfreunde und Bekannten aus; viele gingen zum Lützowschen347 Freicorps, von dem man sich Wunderdinge versprach. Hier war Jahn als Hauptmann eingetreten; ihm folgte die Mehrzahl derer, die er auf dem Turnplatze um sich versammelt und in körperlichen Uebungen gestärkt hatte. Unter diesen war auch mein liebster Schulkamerad August, den mein Vater, in Betracht unserer innigen Freundschaft, mit allen Bedürfnissen für den Feldzug ausstattete.

Auch Dr. Kohlrausch zog in’s Feld. Er schloß sich der neugebildeten hanseatischen Legion als Arzt an. Noch sehe ich den riesengroßen, stattlichen Mann in der prächtigen scharlachrothen Uniform zu uns in’s Zimmer treten, um einen kurzen Abschied zu nehmen. Mehrere Tage lang konnten wir an Tante Jettchens rothgeweinten Augen bemerken, daß dieser Abschied ihr am nächsten gegangen sei.

Theodor Körner, der mit meinem Vater immer in brieflichem Verkehr geblieben war, lebte jetzt in Wien als Theaterdichter am Burgtheater in einer glänzenden Stellung. Die Aufführung seines Zriny brachte ihm die Huldigungen der patriotischen Ungarn, und seine kleinen Lustspiele, durch die besten Kräfte der kaiserlichen Bühne dargestellt, entzückten die leicht erregbaren Wiener. Sobald er von dem Aufrufe Friedrich Wilhelms III. Kunde erhalten, verließ er unbedenklich die eben erst betretene Laufbahn, in der festen Ueberzeugung, daß diesmal die Rettung Deutschlands nicht von Oestreich, sondern von Preußen versucht werden müsse. Wir hörten, er sei von Wien nach Breslau gegangen, und trauerten, daß er nicht über Berlin gekommen; wir sollten ihn später, wenige Wochen vor seinem Tode bei uns sehn. Auch er trat als Reiter beim Lützowschen Corps ein, dem er durch seine begeisterten Gesänge einen Glanz für alle Zeiten verliehen hat. 348

Die Erhebung Preußens war um so gewagter, als man damals des Beitrittes von Oestreich noch gar nicht gewiß war. Daß Oestreich sich mit Napoléon vereinigen werde, um Preußen zu erdrücken eine solche Schmach konnte Niemand der kaiserlichen Regierung in Wien zutrauen. Man fürchtete nur, Oestreich werde dieselbe leidige Politik des Zuwartens befolgen, die schon früher Deutschland in’s Elend gebracht. So wie im Jahre 1805 Preußen ruhig zusah, als Napoléon die Oestreicher niederwarf, so ließen diese im Jahre 1806 die Preußen niederwerfen, und als im Jahre 1809 noch einmal die Reihe des Besiegtwerdens an Oestreich kam, konnte Preußen nicht einmal den Versuch machen, ihm beizustehn. Es gab sogar in Preußen niedrige Seelen, die Oestreichs wiederholte Demüthigung mit Schadenfreude betrachteten; ich erinnre mich, daß im Jahre 1809 in einer Berliner Zeitung der Ausdruck gebraucht wurde: Wer zuletzt lacht, lacht am besten! In solchen Aeußerungen zeigte es sich am deutlichsten, daß der lockere Verband des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation niemals im Stande gewesen war, ein gemeinsames deutsches Nationalgefühl zu erwecken.

Noch kühner wurde die Erhebung Preußens durch den Umstand, daß im Anfange des Jahres 1813 fast alle preußischen Festungen in französischen Händen waren. Man hat es dem Kaiser Napoléon oft als einen Fehler angerechnet, daß er nicht alle Besatzungen aus den Festungen zurückgezogen, und als ein ansehnliches Heer in oder bei Berlin gesammelt habe, doch wurde dagegen angeführt, daß die zähe Behauptung der Festungen Preußen nöthigte, auf deren Eroberung einen bedeutenden Theil seiner Macht zu verwenden. Zu diesem Dienste eignete sich, nach349 Scharnhorsts System, ganz trefflich ein Theil der in der nächsten Umgebung ausgehobenen Landwehr. Man beschränkte sich auf eine strenge Einschließung der festen Plätze, weil man wohl wußte, daß bei einem glücklichen Ausgange des Krieges sie von selbst fallen würden.

Ernsthaftere Anstalten wurden jedoch bei der Festung Spandau gemacht, die nur 2 Meilen von Berlin gelegen, als die Citadelle der Hauptstadt betrachtet werden kann. Das kleine Nest ist auf 3 Seiten von Wasser umgeben, und daher nicht leicht zu beschießen. Der französische Kommandant war mit guten Vorräthen versehn, und wehrte sich nach Leibeskräften. Es wurde von den Preußen eine Belagerung nach allen strategischen Regeln angefangen. Die Beschießung dauerte mehrere Wochen, und der Spandauer Wind (so heißt bei den Berlinern der einen großen Theil des Jahres wehende Südwest) brachte sehr deutlich das Dröhnen des Kanonendonners herüber. Die Preußen glaubten eine hinlängliche Bresche in den Wall nach der Landseite zu gelegt zu haben, und versuchten unvorsichtig einen Sturm; allein sie fanden beim Anrücken einen tiefen Wassergraben, von dem sie nichts gewußt, und mußten mit großem Verluste zurückweichen. Nun ward die Beschießung eifrig fortgesetzt; man ließ einen Regen von Bomben auf die kleine Festung herabfallen.

Vetter Fritz beschloß hinüberzufahren, um sich die Sache in der Nähe anzusehn. Nur mit Mühe und auf unser inständiges Bitten erhielt er von meinem Vater die Erlaubniß, uns beide, Fritz und mich mitzunehmen. Das war für uns ein unaussprechliches Gaudium. In warme Mäntel gehüllt, mit einigem Mundvorrathe und mit noch mehr Ermahnungen versehn fuhren wir mit dem Vetter ab. 350Auf dem langen Wege hörte Fritz nicht auf, zu schwatzen und zu fragen, so daß der Vetter, welcher immer zu Späßen angelegt war, der Versuchung nicht widerstehn konnte, ihn etwas aufzuziehn. Werden wir denn wohl eine Kanonenkugel oder eine Bombe fliegen sehn? fragte Fritz. Mehr als eine, war die Antwort, doch mußt du, wenn eine Bombe kömmt, hübsch vorsichtig auf die Seite treten, und vor einer Kanonenkugel den Kopf wegbiegen. Kann aber die Bombe nicht platzen? Ja wohl; entweder sie platzt in der Luft, und fällt in Stücken auseinander, oder sie fährt in den Boden, und wühlt ein großes Loch; dann mußt du Erde auf den Zünder werfen, damit er ausgeht. Fritz hatte sonst Muth wie ein Löwe, und fürchtete sich in der Schule nicht, mit den überlegensten Gegnern anzubinden, aber offenbar war ihm der Gedanke einer heransausenden Kanonenkugel oder einer herabfallenden Bombe nicht angenehm.

Je näher wir kamen, desto lauter tönte das Schießen; vom Spandauer Berge aus sah man in der Ferne die Festung liegen. Es war ein kalter regnerischer Apriltag, der Himmel von dichten bleigrauen Wolken umzogen. Mehrere andre Wagen aus Berlin hatten sich hier zusammengefunden, doch weil die Höhe zu unbedeutend und das Wetter zu trübe war, so konnte man eben nur die Thürme von Spandau unterscheiden, und einige schmale Erdstreifen zeigte man uns als die Belagerungswerke. Hin und wieder sah man aus den Batterien einen blauen Rauch aufsteigen, dem nach einigen Sekunden ein Knall folgte. Bei dem fortgesetzten Schießen konnte man bald nicht mehr unterscheiden, zu welchem Rauche der nachfolgende Knall gehörte. Bomben wurden an diesem Nachmittage nicht geworfen, Fritz351 brauchte also nicht auf die Seite zu treten. Wir beide hatten uns das Schauspiel viel größer, erhabener und schauerlicher vorgestellt; ich mußte an die Worte meines Vaters denken, der unter seinen anfänglichen Weigerungsgründen auch angeführt hatte: Kinder, ihr werdet gar nichts sehn, denn ihr seid viel zu weit entfernt.

Von einigen Personen der Gesellschaft, die der Gegend kundig waren, wurde vorgeschlagen, die Wagen stehn zu lassen, und zu Fuß etwas weiter vorwärts zu gehn. Dies geschah; aber ein feiner Regen fiel uns sehr beschwerlich, und der Spandauer Wind machte uns die Finger erklammen. Das Fortkommen auf dem durchweichten Boden war mühsam; in der Ebne sah man noch weniger als auf dem Hügel. Wohldurchfroren und durchnäßt kehrten wir zu dem Wagen zurück, und waren sehr froh, auf dem Heimwege den Spandauer Wind im Rücken zu haben. Vetter Fritz blieb bei uns zum Abendessen, und wußte durch allerlei scherzhafte Anregungen Fritzens Lust am Erzählen wach zu halten.

Wenige Tage nachher, als wir unter den Linden spazierten, und dem gewohnten Krachen vergnüglich zuhörten, geschah ein gewaltiger Knall, der weder von einer Bombe, noch von einer ganzen Batterie Kanonen herrühren konnte. Noch an demselben Abend kam die Nachricht, daß durch eine preußische Bombe das Pulvermagazin in Spandau aufgeflogen sei. Nun war die Festung von den Franzosen nicht mehr zu halten; das Schießen hörte gänzlich auf, Unterhandlungen wurden angeknüpft, und bald darauf erfolgte die Uebergabe. Man erzählte so viel von den fürchterlichen Wirkungen der preußischen Geschosse, daß unsre Neugierde aufs höchste stieg. Vetter Fritz veran -352 staltete eine zweite Hinfahrt, an der auch mein Vater Theil nahm. Diesmal legten wir im schönsten Sonnenschein und in milder Frühlingsluft die zwei Meilen bis Spandau zurück. Wir waren es schon gewohnt, daß die Gegenwart meines Vaters bei irgend einer Spazierfahrt immer gutes Wetter mit sich brachte; wir betrachteten dies als eine vollendete Thatsache, die man nicht wohl erklären könne, aber mit Freuden annehmen dürfe. Es hatten sich wieder mehrere Wagen vereinigt; ein preußischer Offizier, der die Belagerung mitgemacht, war unser freundlicher und belehrender Führer. Die kleine Stadt mit den engen Straßen und niedrigen Häusern hatte gar wenig gelitten, desto ärger sah es in der Citadelle aus, wohin die Preußen, mit den Oertlichkeiten genau bekannt, alle ihre Bombenwürfe gerichtet. Der Offizier versicherte uns, daß nicht eine einzige Bombe in die Stadt selbst gefallen sei. An der Stelle des Pulvermagazines sah man eine tiefe trichterförmige Grube, aus der noch immer der Rauch halbverkohlter Balken emporstieg. Mehrere Spritzen waren beschäftigt, Wasser in diesen wüsten Erdkrater zu pumpen, weil man noch immer fürchtete, daß einige Pulverfässer im Grunde verborgen liegen geblieben. Die Aussicht, bei einer Entzündung derselben plötzlich in die Luft zu fliegen, hielt die zahlreichen Zuschauer nicht ab, den Rand des Kraters zu umwandeln, und neugierig hinabzuschauen, nicht anders als ob man das Abbrennen eines Feuerwerkes erwartete.

Der Offizier zeigte uns dann von einer höheren Stelle des Festungswalles aus den Ort, wo in weiter, weiter Ferne, jenseit des breiten Wassers die Batterie gestanden, die er während der Belagerung befehligt. Ganz unglaub -353 lich schien es uns, daß auf eine solche Entfernung die Wirkung der Kugeln hinüber und herüber reichen könne. Die Franzosen schossen gut; unser Führer versicherte uns, daß nach kurzer Zeit seine Batterie rasirt gewesen sei. Die verhängnisvolle Bombe, welche das Pulvermagazin traf, war aus einer andern, näher liegenden Batterie gekommen; der geschickte Bombardir hatte gleich nach dem glücklichen Schusse eine namhafte Geldsumme von seinem Hauptmanne zum Geschenk erhalten.

Sehr vergnügt und mit vielen neuen Anschauungen bereichert kehrten wir nach Berlin zurück, wo Fritz noch viele Tage Gelegenheit fand, die Hausgenossen und Schulkameraden durch die anschaulichsten Darstellungen der merkwürdigen Erlebnisse zu ergötzen.

Am 5. Mai gelangte die Kunde nach Berlin, daß bei Lützen oder Gros-Görschen die erste große Schlacht gegen Napoléon geschlagen worden sei. Man schien anfangs geneigt, dieselbe für einen Sieg auszugeben, allein bald genug erwies es sich, daß ein höchst mörderischer Zusammenstoß Statt gefunden, der am Abende mit dem Rückzuge der Unsrigen endete. Der Angriff der Preußen auf Napoléons Nachhut war erst am Nachmittage des 2. Mai erfolgt. Er zog immer mehr Truppen ins Gefecht, er pflanzte immer mehr Batterien auf und drängte die heldenmüthig fechtenden Preußen immer weiter zurück. Oberst Gneisenau, so ward uns erzählt, sei an der Spitze seines Regimentes mitten in einem französischen Carre gewesen, alle Offiziere hätten sich mit wahrer Todesverachtung dem feindlichen Feuer354 ausgesetzt, Napoléon habe während des Gefechtes ausgerufen: ce ne sont plus les Prussiens de 1806!

Dieses erste Misgeschick war wohl geeignet, bedenkliche Stimmungen in Berlin hervorzurufen. Das preußische Heer zog sich durch Sachsen gegen Schlesien zurück, und die Hauptstadt des Landes war noch einmal dem andringenden Feinde blosgestellt. Die Regierung beschloß daher für Berlin den Landsturm zusammenzurufen, der alle waffenfähigen Männer vom 40 60. Jahre umfaßte. Ließ sich auch kaum erwarten, daß diese Milizen gegen ein geordnetes Heer etwas ausrichten würden, so zeigte diese Maasregel wenigstens den festen Entschluß Preußens, den Kampf bis an die äußerste Gränze der Möglichkeit aufrecht zu erhalten. Obgleich die jungen männlichen Einwohner Berlins theils als Freiwillige, theils als Landwehrleute ausgezogen waren, so blieben doch genug mittelaltrige übrig, um viele Kompagnien daraus zu bilden.

Der Brüderstraßen-Bezirk versammelte sich auf unserem Hofe, als dem geräumigsten im ganzen Viertel; wir Kinder guckten aus den Fenstern der Gallerie herab, zu der mancher der Landsturmleute mit Verwunderung hinaufsah; mein Vater schaute aus einem Fenster des ersten Stockwerks durch seinen Operngucker auf die Versammlung herunter. Der Probst Hanstein von der Petrikirche, ein kleiner feuriger Mann mit hellen durchdringenden Augen und einer volltönenden klaren Stimme hielt eine begeisterte Anrede, deren Text mir wohl im Gedächtnisse geblieben ist: Und sie warfen ihre Banner auf im Namen des Herrn! Es war damals noch etwas ungewöhnliches, bei kriegerischen Vorgängen den Gott des Friedens anzurufen, und in allen bis dahin erlebten Kriegszeiten war uns dergleichen355 nicht vorgekommen; aber die Preußen hatten während ihrer sieben Leidensjahre Gelegenheit genug gehabt, in sich zu gehn, und wieder etwas an ihren Gott zu denken; daher war auch die Wirkung dieser Rede eine ergreifende, und man konnte überzeugt sein, daß die Anwesenden mit dem festen Vorsatze auseinander gingen, im Vertrauen auf Gott ihr Gut und Blut für die endliche Befreiung des Vaterlandes einzusetzen.

Nach dem Schlusse der Versammlung fiel uns ein, meinen Vater zu fragen, warum er denn nicht mit eingetreten sei, und als er scherzhaft erwiederte, daß er dazu zu alt sei, so wollten wir dies nicht glauben, weil man ihn trotz seines weißgepuderten Haares unmöglich für einen Sechziger halten konnte. Indessen wußten wir schon, daß er die Eigenheit besaß, auf alle Fragen in Betreff seines Alters und Geburtstages nicht einzugehn. Erst viel später konnte ich mir herausrechnen, daß er, der i. J. 1746 geboren war, i. J. 1813 bereits 68 Jahre zählte.

Die Bewaffnung des Landsturmes bestand in einer einfachen Pike mit eiserner Spitze. Die Schmiede und Schlosser hatten alle Hände voll zu thun, um in gröster Eile die Eisenspitzen zu liefern, und die Waldungen bei Berlin wurden behufs der Lanzenschäfte arg gelichtet. In der Hasenheide, wohin wir oft unsere Spaziergänge richteten, waren wir Zeugen eines tragikomischen Vorfalles. Einem Haufen rüstiger Landstürmer aus dem Handwerkerstande mochte die Anschaffung der Piken zu lange dauern. Sie zogen nach der Hasenheide, und fingen an, die geeignetsten Stämme abzuhauen. Der Revierförster Pfaffenländer (allen Turnern wohlbekannt, weil er sie Abends mit vortrefflicher Blut - und Leberwurst bewirtete), war356 bald von dem Waldfrevel unterrichtet, und eilte erzürnt herbei, um seine jungen Kiefern zu retten. Aber die eifrigen Vaterlandsvertheidiger ließen sich weder durch seine guten noch bösen Worte abhalten, in ihrem Geschäfte fortzufahren. Da der Förster nur einer gegen dreißig war, so konnte er nicht daran denken, Gewalt zu brauchen; er lief endlich, fast in Verzweiflung, nach der Stadt, um die Sache der Behörde anzuzeigen. Bald darauf zogen auch die Holzfäller, jeder mit einer tüchtigen Stange versehn nach Hause. Bei unserm nächsten Besuche fragten wir den guten Pfaffenländer, was er denn ausgerichtet? Nichts, war die Antwort, die jungen Bengels haben einen Ausputzer bekommen, und meine Stämme sind zum Teufel!

Durch jene feurige Landsturmrede wurden wir mit dem Probste Hanstein und mit seinem würdigen Kollegen, dem Probste Ribbeck näher bekannt. Beide wirkten einträchtig in ihrem geistlichen Berufe, und sind noch lange bei der Brüderstraße im besten Andenken geblieben. Die Petrikirche war, wie schon bemerkt, im Jahre 1808 abgebrannt, und der Gottesdienst wurde nach einem freundlichen Uebereinkommen mit der Domgemeinde in den Frühstunden von 9 11 im Dome abgehalten. Daß hiebei allerlei Kollisionen vorkommen mußten, war unvermeidlich, aber der versöhnliche Sinn unsrer beiden Geistlichen wußte jede ernsthafte Reibung zu vermeiden. Ribbeck war ein feiner Mann von stillem Wesen, liebevoll und gut, aber ohne höhere geistige Bedeutung. Hanstein, obgleich von ganz kleiner Statur, zeigte in Sprache und Gebehrden eine entschlossene, thatkräftige Gesinnung; er war zum Befehlen geboren. Ribbecks Predigten waren langweilig, Hanstein fesselte uns durch seinen lebendigen Vortrag. So oft die357 beiden Herren Geistlichen bei uns zu Tische waren, hörten wir mit Spannung auf Hansteins Erzählungen. In dieser Zeit der kriegerischen Aufregung drehten sich fast alle Mittheilungen um die Nachrichten aus dem Felde, oder um die entsetzlichen Drangsale der letzten sieben Jahre, die man nun für immer überwunden hielt. Hanstein hatte, so viel er konnte, in seinem Kreise gegen die übertriebenen Anmaßungen der Franzosen gekämpft, und konnte in dieser Hinsicht manchen glücklichen Erfolg mit dem Grosvater Eichmann austauschen. Alles auf den Kaiser Napoléon bezügliche wurde von uns mit Begierde aufgenommen; was Hanstein eines Tages über die Audienz der Geistlichen mit vieler Lebhaftigkeit vortrug, hat sich mir fest eingeprägt.

Der Kaiser ließ bald nach seinem Einzuge in Berlin im Oktober 1806, die Berliner Geistlichkeit zu sich auf das königliche Schloß entbieten. Das Audienzzimmer, in dessen Hintergrunde der Kaiser mit seinen Adjutanten stand, füllte sich nach und nach so sehr, daß die Vordersten, unter denen Hanstein sich befand, dicht vor den Kaiser zu stehn kamen. Mit ruhigen, aber durchdringenden Augen musterte Napoléon die Versammlung. Nachdem eine allgemeine Stille eingetreten war, hielt er in französischer Sprache eine Rede, worin er den Geistlichen auseinandersetzte, wie sie sich bei der veränderten politischen Lage zu verhalten hätten. Der König von Preußen habe sich selbst sein Unglück zuzuschreiben, weil er ihm den Krieg gemacht. Er (Napoléon) werde dem Lande nicht mehr Lasten auferlegen, als unumgänglich nöthig sei. Die Geistlichkeit möge dahin wirken, daß alles ruhig bleibe; sie möge die Einwohner immer daran erinnern, daß jetzt358 keine andre Autorität im Lande gelte, als die seinige. Jede Auflehnung dagegen werde er auf das strengste zu ahnden wissen. Anfangs, sagte Hanstein, habe der Kaiser sehr ruhig und fließend gesprochen, so daß man wohl merkte, er habe sich die Rede vorher überlegt; je weiter er aber vorgerückt, desto mehr sei er ins Stocken gerathen, und zuletzt habe er nur noch einzelne Sätze mit Heftigkeit hervorgestoßen. Am Schlusse ward die Versammlung mit einem gnädigen Kopfnicken und einer bezeichnenden Handbewegung entlassen.

Hatte auch mein Vater wegen seines Alters an dem Landsturme nicht Theil genommen, so förderte er doch auf alle Weise die Sache des Vaterlandes. Es bildete sich, von ihm und Hanstein angeregt, in der Brüderstraße ein Verein, dem bald die meisten Hauseigenthümer und vermögenden Miether beitraten. Mein Vater ward zum Schatzmeister erwählt. Der Hauptzweck des Vereins war die Ausrüstung von Freiwilligen, die Unterstützung der zurückgebliebenen Familien, die Nachsendung von Geld und Wäsche. Weil der Verein gar kein Wesens von seinen Leistungen machte, so nannte er sich der stille Verein. Während der Befreiungskriege richtete er sein Hauptaugenmerk auf die im Felde stehenden Söhne der Brüderstraße, später war er den Zurückkehrenden auf alle Weise hülfreich. Unser Nachbar, der Seidenhändler Humbert, damals Vorsitzender der Stadtverordnetenversammlung, gehörte zu seinen Mitgliedern, und war vermöge seiner einflußreichen Stellung von großem Nutzen. Wegen der gänzlich unscheinbaren Natur dieses wohlthätigen Vereines ist mir nicht erinnerlich geblieben, wie lange er gewährt und wann er sich aufgelöst. Unter den Familienpapieren359 bewahre ich ein sehr harmloses gedrucktes Gedicht mit dem Titel Dem Nachbar und Schatzmeister Parthey zu seinem Genesungsfeste die Brüderstraße und der stille Verein. Mein Vater hatte im Winter 1815 1816 an einem Bruche der Kniescheibe lange krank gelegen, wurde aber vollkommen hergestellt.

Der Landsturm von Berlin wurde indessen immer fester organisirt, wobei es an ernsten und spashaften Vorfällen nicht mangelte. Den älteren Leuten hatte schon die Idee des ganzen Volkes in Waffen nicht in den Kopf gewollt, unleidlich schien es ihnen, daß sie nun selbst an der Bewaffnung Theil nehmen sollten. Nach ihrer Vorstellung waren die gemeinen Soldaten eine Heerde hergelaufenen Gesindels, allenfalls eine nützliche Korrektionsanstalt für ganz verwahrloste Subjekte, der kein anständiger Mann angehören könne. Es war ja noch gar nicht lange her, daß die barbarische Strafe der Spiesruthen von Friedrich Wilhelm II. abgeschafft wurde; die entehrenden Stockprügel hat erst Friedrich Wilhelm III. auf die Zuchthäuser beschränkt. Man setzte an deren Stelle das Lattengefängniß, an das man jetzt kaum ohne Entsetzen denken kann. Der Delinquent ward in eine enge dunkle Kammer gesperrt, deren Fußboden und Wände mit dicht bei einander stehenden dreikantigen Latten besetzt waren. Er konnte also nur auf einer Säge sitzen, stehn oder liegen. Diese Strafe gab den Torturinstrumenten des Mittelalters nichts nach. Sie war so empfindlich, daß dem Gefangenen nach zwei Tagen Latten immer ein dritter Tag in einer gewöhnlichen Stube gewährt werden mußte; 6 Wochen Latten waren gleichbedeutend mit Todesstrafe. Desertion ward auch im Frieden unnachsichtlich mit Erschießen bestraft. 360

Alle diese Schrecknisse des Soldatenstandes traten den älteren Mitbürgern vor die Seele, als sie in den Landsturm eintreten sollten, obgleich niemand daran dachte, die alten drakonischen Gesetze in Anwendung zu bringen. Von einigen Bürgern erfuhr man, daß sie sich unter nichtigen Vorwänden entfernt hielten, und diese Herren galten bei dem jüngeren Geschlechte für Vaterlandsverräther. Ein ältlicher, etwas ängstlicher Geheimerath von sehr würdevollem Aeußeren, aber geringen Geistesgaben, welcher den Spitznamen: König Karl der Einfältige führte, fragte im Vertrauen einen Freund, was ihm denn wohl geschehn könne, wenn er vom Landsturme wegbliebe? nichts, erwiederte der Schalk, höchstens drei Wochen Latten!

Die meisten Einwohner wurden von der allgemeinen Begeisterung mit fortgerissen, und fügten sich willig der ungewohnten Beschäftigung des Exercirens. Der Berliner Volkswitz trug auch manches zur Erheiterung der Uebellaunigen bei. So hatte man herausgefunden, daß in der Wilhelmstraße fast sämmtliche Fallstaffsche Rekruten aus Heinrich IV. 2. Theil, beisammen waren: Schatte, Schimmelig, Schwächlich, Warze, Bullenkalb. Schatte wurde durch den Direktor Zeune repräsentirt, einen zarten blassen Mann, der als Vorsteher der Blindenanstalt durch ein wunderbares Spiel des Zufalls schon damals an den Augen litt, und später fast gänzlich erblindete; Schwächlich war der Historiker Niebuhr, dessen hervorragenden Geist niemand in der unansehnlichen Figur suchte; Warze, der kleine etwas verwachsene Schleiermacher; Bullenkalb, der Buchhändler Reimer, von mehr dicker als großer Gestalt, mit freiem Halse und lang herabwallenden Haaren; Schimmelig der überaus blasse und blonde Franz Horn. 361

Gegen die Mitte des Mai wurde die Furcht vor einer neuen Invasion der Franzosen so groß, und man dachte sich so schreckliche Dinge von dem, was alsdann der Hauptstadt bevorstehe, daß nicht wenige Einwohner aus den mittleren, ja sogar manche aus den höheren Ständen Berlin verließen und nach Osten flüchteten. Es waren einige uns bekannte Familien darunter, die später von uns mit der äußersten Verachtung behandelt, und nicht anders als mit dem Namen: die Ausreißer, bezeichnet wurden. Eines Abends zeigte uns ein befreundeter höherer Offizier auf der Landkarte die Stellungen der beiden Heere, machte es deutlich, mit wie wenigen Tagemärschen Napoléon in Berlin sein könne, und ermahnte meine Mutter, sich mit den Kindern weiter nach Osten zu begeben. Mit der grösten Ruhe erwiederte sie, sie werde das Schicksal, was ihrem Manne und ihren übrigen Mitbürgern bevorstehe, mit ihnen theilen. Wir stimmten ihr aus vollem Herzen bei. So blieben wir und Napoléon kam nicht wieder nach Berlin. Wenn meine Mutter späterhin von den Freunden des Hauses wegen ihrer muthigen Entschlossenheit belobt wurde, so wußten wir uns im Stillen nicht wenig damit, von ganz gleicher Gesinnung beseelt zu sein. Mein Vater sah sich jedoch veranlaßt, in jener gefährlichen Zeit sein baares Geld und einige Staatspapiere dem geheimen Mauerverstecke in seiner Wohnstube anzuvertrauen. Wenn wir Kinder allein waren, so steigerten wir unsern patriotischen Muth durch die abentheuerlichsten Gedanken. Meine Schwester behauptete, sie würde, um das Vaterland zu retten, im Stande sein, Napoléon mit eigner Hand zu erstechen. Dies wollten wir Jungen nicht gelten lassen, weil dazu ein männlicher Muth gehöre, und Fritz, der in unsern362 improvisirten Schauspielen zuweilen einen Banditen mit hölzernem Dolche und fürchterlichen Gesichtsverzerrungen darstellte, nahm jene Heldenthat für sich ganz allein in Anspruch.

Trotz aller drohenden politischen Gewitterwolken bezogen wir auch im Frühling 1813 den großen Garten in der Blumenstraße. Es entspann sich ein lebhafter Verkehr zwischen dem Stadt - und Landhause, indem die neusten Nachrichten nicht schnell genug hinaus - und hereingebracht werden konnten. Wenn Fritz aus der Hartungschen Schule zum Vesperbrodt hinauskam, so hatte er gewöhnlich irgend ein merkwürdiges Erlebniß mitzutheilen, z. B. er habe eine Batterie von 12 Kanonen die Königs Straße hinunterziehn sehn, beim Stillehalten habe ein Kanonier sich einen Schnaps geben lassen, und den umstehenden Leuten versichert, es werde nächstens eine große Schlacht geben; und der konnte es doch wohl wissen! setzte Fritz mit gläubigem Vertrauen hinzu. Gerade so gut als du , erwiederte ihm der Grosvater Eichmann, du hättest doch gleich merken können, daß er euch etwas auf die Nase binden wollte.

Aber der Kanonier hatte doch Recht gehabt. Noch einmal versuchten die Preußen ihr Waffenglück gegen Napoléon in der Schlacht bei Bautzen, wovon die Nachricht am 27. Mai nach Berlin gelangte. Die Erbitterung des Kampfes war wo möglich noch größer als bei Lützen. Der französische Marschall Duroc ward an der Seite des Kaisers Napoléon von einer Kanonenkugel dahingerafft. Bis zum Abend behaupteten die Preußen das Schlachtfeld, doch hielten die Führer es für gerathen, in der Nacht den Rückzug anzutreten, den die Franzosen nicht beun -363 ruhigten. Am grimmigsten war der alte Haudegen Blücher über das nochmalige Zurückweichen, dessen gebieterische Nothwendigkeit er jedoch anerkannte. Man erzählte, daß als er Tags darauf an seiner pommerschen Landwehr hinritt, viele Stimmen aus den Reihen laut wurden: Vater Blücher, nicht mehr zurück! Ja Kinder, habe er erwiedert, wenn’s nach mir ginge! hier stockte er, warf sein Pferd herum, und man wollte bemerkt haben, daß er sich die Augen trockne.

Auch durch dieses zweite Mißgeschick ward das felsenfeste Vertrauen des preußischen Volkes auf das endliche Gelingen der guten Sache nicht erschüttert. Unausgesetzt strömten die Freiwilligen zu den Fahnen, und die Einrichtung der Landwehr ward in allen Provinzen mit dem grösten Eifer fortgesetzt. Jedermann erwartete nun ein um so rascheres Vorgehn, und hoffte, daß die Preußen bei einem dritten Zusammenstoße die beiden Scharten von Lützen und Bautzen auswetzen würden. Man hörte damals sehr häufig von den gemeinen Leuten einen Ausdruck, der, wie der alte Bediente Friedrich uns mit weiser Miene versicherte, aus dem siebenjährigen Kriege, wo nicht gar aus der Schwedenzeit herstammen sollte: Dreimal ist die brandenburgische Losung!

Desto überraschender war uns die Nachricht, daß am 4. Juni ein Waffenstillstand von 20 Tagen mit den Franzosen abgeschlossen sei, der dann noch bis zum 16. August verlängert ward. So schien denn alles wieder in Frage gestellt, und eine endliche Lösung des Knotens in weite Ferne gerückt. Noch niederschlagender wirkte die Kunde, daß man in Dresden mit Napoléon, dem Erbfeinde des deutschen Namens, Friedensunterhandlungen angeknüpft. 364Der östreichische Minister, Graf Metternich, war von Wien nach Dresden geeilt, um seine gewichtige Stimme mit in die Schale der Berathungen zu legen.

Während dieser 9 Wochen der Ungewisheit sah man in Berlin auf den Straßen überall nur misvergnügte Gesichter, und des politischen Kannegießerns war kein Ende. Wozu denn, fragten die vorwärts Drängenden, solle dieser Waffenstillstand dienen? Je eher die Entscheidung eintrete, desto besser! Sei es die Bestimmung des Schicksals, daß Preußen zu Grunde gehen solle, so möge man seinen Todeskampf nicht verlängern. Napoléon werde diese Frist dazu benutzen, um sich aufs äußerste zu verstärken. Noch habe er ganz Frankreich, Italien und die Hälfte von Deutschland hinter sich; Preußen dagegen könne nur aus wenigen Provinzen Mannschaften und Vorräthe ziehn. Rußlands Freundschaft sei uns zwar sicher, aber sehr hoch sei sie doch nicht anzuschlagen, man wisse ja, daß die russischen Heere auf dem Papiere immer doppelt so stark seien, als im Felde. Oestreichs Hülfe sei freilich von weit größerem Gewichte, das Kaiserhaus sei aber durch die engsten Familienbande mit Napoléon vereinigt. Werde denn der Kaiser Franz so ohne weiteres seinem Schwiegersohne und seiner Tochter Marie Luise den Krieg erklären? Werde er sich nicht begnügen, einen vortheilhaften Vertrag zu schließen, und höchstens die Auflösung des so tief verachteten und gehaßten Rheinbundes verlangen? Dann stehe Preußen wieder allein, und müsse das Schlimmste von der Wuth des erbitterten Gegners erwarten.

Diese Betrachtungen hatten manchen guten Grund, und konnten wohl die jungen Gemüther bedenklich machen,365 aber wenn wir dieselben an der Mittagstafel des Grosvaters Eichmann auskramten, oder gar es wagten, die Maasregeln der Regierung und der Behörden zu kritisiren, so wurde uns nicht nur ein heilsamer Dämpfer aufgesetzt, sondern auch unser Vertrauen von neuem befestigt. Gelbschnäbel, rief er mit seiner sonoren Stimme aus, was versteht ihr denn von Politik? Ueberlaßt das andern Leuten, die ordentlich darin bewandert sind, und steckt eure Nasen in die Schulbücher. Der Waffenstillstand ist abgeschlossen, und damit Punctum! was weiter kommen wird, müssen wir abwarten. Wenn ihr’s wissen wollt, so hat Napoléon durch diesen Abschluß einen großen Fehler begangen. Das ausgesogene Frankreich, in dem nur noch Kinder und Greise angetroffen werden, kann ihm keine neuen Armeen liefern, und auf das, was er etwa an Mannschaft aus Deutschland bezieht, kann er sich nicht verlassen. Wir indessen erhalten Zeit, unsre Armee ganz in Stand zu setzen, wir erhalten Zeit, unsere Aerndten, die so schön stehn, einzubringen, damit wir im Winterfeldzuge unsere Truppen füttern können, wir erhalten Zeit, Oestreich, das vielleicht noch schwankt, auf unsere Seite zu ziehn, wir erhalten endlich Zeit, uns in England Subsidien zu verschaffen. Ihr seht also ganz klar und deutlich, daß der Vortheil des Waffenstillstandes auf unserer Seite ist, und wenn Preußen nach dem Ablaufe desselben auch allein steht, so ist mir für den Ausgang nicht bange.

Durch solche Zurechtweisungen wurden wir wohl auf einige Zeit beschwichtigt, als aber die Nachricht einlief, ein Trupp Lützowscher Reiter sei mitten im Waffenstillstande von würtenbergischen Reitern überfallen, und Theodor Körner schwer verwundet auf dem Felde liegen ge -366 blieben, da kannte unsre Wuth keine Gränzen mehr. Die Berichte waren freilich äußerst unbestimmt. Daß unser Liebling Körner nicht gefangen sei, schien sicher, aber niemand wußte anzugeben, wo er sich befinde; wir hatten den unsäglichen Schmerz, uns den verehrten und geliebten Freund in der hülflosesten Lage zu denken. Mein Vater stand mit Körners Aeltern in Dresden in der vertrautesten Freundschaft, allein er wagte nicht, dorthin zu schreiben, weil Dresden noch in französischen Händen war, und man wohl wußte, daß viele Briefe geöffnet wurden. Dies galt damals bei dem großen Publikum noch für eine bübische Verrätherei, und die französische Regierung, die sich dieses Mittels im ausgedehntesten Maaße bediente, hielt man in dieser Hinsicht für ehrlos.

Das Wenige, was man von den Verhandlungen in Dresden vernahm, wurde in Berlin begierig angegriffen. Napoléon schien sich dort ganz häuslich niederlassen zu wollen. Um seinen Feinden zu zeigen, daß er gar keine Lust habe, Dresden bald wieder zu verlassen, ließ er Schauspieler von Paris kommen, und richtete ein französisches Theater ein. Der berühmte Talma und Mademoiselle Mars spielten vor dem kleinen Kreise der französischen Generale und des sächsischen Hofadels. Der König Friedrich August von Sachsen hielt mit unbegreiflicher Zähigkeit an dem Bündnisse mit Napoléon fest, von dem er doch unmöglich nach den Erfahrungen der letzten Jahre Heil für sein Land und für ganz Deutschland erwarten konnte. Dem beschränkten, gutmüthigen Könige, dessen Horizont sich nicht über seine Hauptstadt hinaus erstreckte, mochte man diese Servilität hingehn lassen, doch gab es auch manche heller blickende Köpfe, denen die Befreiung367 Deutschlands von dem fremden Joche als eine Unmöglichkeit erschien. Hatte doch damals selbst Göthe geäußert: Rüttelt nur an euren Ketten, der Mann ist euch zu groß!

Das Verhalten Oestreichs wurde mit einer fieberhaften Angst verfolgt, und es ist gar keine Frage, daß in jenem kritischen Momente das Schicksal Deutschlands in Oestreichs Händen lag. Trat es auf Napoléons Seite, und theilte mit ihm die Herrschaft über die mittleren und kleinen Staaten, so war Preußen allem menschlichen Ermessen nach verloren, und würde wohl kaum ein selbstständiges Reich geblieben sein. Stellte Oestreich sich dem französischen Kaiser entgegen, so mußte es gewärtig sein, nach vier großen Niederlagen noch eine fünfte zu erdulden. Aber Napoléon hatte es nie verstanden, die besiegten Völker zu seinen Verbündeten zu machen, noch weniger wußte er die besiegten Fürsten durch seine Persönlichkeit anzuziehn. Er hatte den Kaiser von Oestreich kaum vor Jahresfrist mit dem äußersten Uebermuthe behandelt, und man wußte von dem treuherzigen Kaiser Franz, daß er in allen persönlichen Beziehungen sehr empfindlich sei. Endlich war auch bei den östreichischen Staatsmännern nicht alle deutsche Gesinnung erstorben.

Welche Forderungen Graf Metternich in Dresden an Napoléon gestellt, erfuhr man damals gar nicht, nur die Geschichte mit dem Hute erzählte man sich mit sehr unwahrscheinlichen Umständen. Die beiden Herren, so hieß es, seien in äußerst lebhaftem Gespräche auf und ab gegangen. Der Kaiser versuchte die Forderungen Oestreichs herabzustimmen, aber Metternich beharrte mit der höflichsten Entschiedenheit auf seinen Bedingungen. Der Kaiser ließ seinen Hut fallen, und erwartete, daß Metternich368 sich bücken und ihn aufheben werde. Da dies nicht geschah, sondern Metternich kerzengerade stehn blieb, so schloß Napoléon die Unterredung, und war nun überzeugt, daß er Oestreich gegen sich haben werde.

Glaubt ihr denn, sagte der Grosvater Eichmann, als wir ihm diesen Vorfall triumphirend mittheilten, der Kaiser Napoléon werde, wenn er den östreichischen Gesandten bei sich, in seinem eignen Zimmer, zu einer vertraulichen Besprechung empfängt, während des Gespräches den Hut unter dem Arme, chapeau bas, oder in der Hand behalten?

Aber etwas, wurde ihm entgegnet, muß doch daran sein: denn wer sollte ein solches Ereigniß erfinden?

Nun ja, lachte er, es wird wohl so viel daran sein, als an der Geschichte von Friedrich dem Großen, der einem auf ihn anlegenden östreichischen Soldaten zurief: du wirst doch dem siebenjährigen Kriege nicht im ersten Jahre ein Ende machen!

Es wurden in der That während des vielgeschmähten Waffenstillstandes große Resultate erzielt. Oestreich trat in aller Form auf Preußens und Rußlands Seite. Die Vertreibung der Franzosen aus Deutschland war der ausgesprochene Zweck dieses Bündnisses. Weiter wagte man in jener Zeit noch nicht zu gehn, selbst die Gewinnung dieses Zieles schwebte den meisten wie ein fast unerreichbares Ideal vor Augen.

Auch Bernadotte, den Kronprinzen von Schweden, wußte man durch Versprechungen auf die deutsche Seite zu ziehn. Er hatte lange Zeit mit Auszeichnung neben und unter Napoléon gedient, und verdankte diesem in so fern sein ganzes Glück, als Napoléon seine Wahl zum Kronprinzen von Schweden genehmigt. Es schmeichelte369 dem Stolze des französischen Usurpators, der so viele alten Throne gestürzt und neue gegründet, daß einer seiner Marschälle für den uralten Herrschersitz der skandinavischen Halbinsel ausersehn wurde. Napoléon hatte gehofft, an ihm einen treuen Vasallen zu haben, aber bald zeigte es sich, daß Bernadotte das Wohl seines Landes der unfruchtbaren Freundschaft des Kaisers vorzog. Napoléon verlangte von ihm den Beitritt zum Kontinentalsystem, d. h. die Verschließung aller schwedischen Häfen gegen England. Durch diesen Beitritt wäre das ohnehin arme Schweden völlig zu Grunde gerichtet worden, da seine meisten Handelsbeziehungen nach dem nahen England hinüberreichten, und England gerade in jener Zeit schwedisches Holz und schwedisches Eisen für seinen Schiffsbau brauchte. Bernadotte suchte Ausflüchte und trat dem Kontinentalsysteme nicht bei. Jetzt gaben ihm die drei verbündeten Mächte die Aussicht auf Norwegen, das damals in Dänemarks Besitz war, und Dänemark stand von jeher auf Napoléons Seite.

Bernadotte mochte wohl bedenken, daß bei einem Siege der Alliirten sein Thron auf das äußerste gefährdet sei, wenn er nicht auf ihre Seite trete, er kam also mit einem schwedischen Heere von ungefähr 20,000 Mann nach Deutschland herüber, und erhielt den Oberbefehl über die deutsche Nordarmee. Er rechtfertigte jedoch nur wenig die in ihn gesetzten Hoffnungen, und es schien in der That, als sei es ihm nicht recht Ernst mit dem Kampf gegen seinen ehemaligen Waffenbruder und Feldherrn.

Es lagerten einige schwedische Truppen in der Nähe von Berlin, und wir versäumten nicht, mit dem Vetter Valentin, der zu solchen Ausflügen immer bereit war, hin -370 auszufahren, um uns die fremden Gäste anzusehn. Das kleine Lager war mit musterhafter Sorgfalt eingerichtet. An den Zelten fiel uns die unbeschreiblich grobe Leinwand auf, ein Produkt des harten schwedischen Flachses. Die Soldaten waren von ungewöhnlicher Größe, mehr schlank als kräftig gebaut. Man hätte den abgehärteten Söhnen des hohen Nordens eine große Kraft in der Ertragung von Strapazen zutrauen können, dem war aber nicht so. Es zeigte sich später im Laufe des Feldzuges, daß bei einem irgend anstrengenden Marsche die langen Schweden weit eher liegen blieben, als unsere dachsbeinigen Ukermärker und gedrungenen Pommern. Im Lager hörte man ab und zu den Gesang schwedischer Volkslieder, die in ihren melancholischen und sehr einförmigen Rhythmen die Sehnsucht der Nordländer nach einem glücklicheren Himmel auszudrücken schienen. Auch Nationaltänze wurden aufgeführt, deren einen wir gleich auf der Stelle den doppelten Ringeltanz nannten. Acht bis zwölf Mann bildeten einen Kreis, und legten sich gegenseitig die Hände auf die Schultern. Auf diese kletterten andre acht oder zwölf Mann, stellten sich auf die Schultern der unteren, und bildeten einen zweiten Kreis. Das Ganze bewegte sich dann langsam bald rechts, bald links herum.

Unter den zahlreichen Feinden des Kaisers Napoléon befand sich auch der ehemalige französische General Moreau, berühmt durch seine Heldenthaten in den Kriegen der Revolution. Er machte i. J. 1796 einen meisterhaften Rückzug von 40 Tagen aus dem Donauthale bis Hüningen, und besiegte die Oestreicher am 3. Dec. 1800 in der großen Schlacht bei Hohenlinden. Als Bonaparte nach dem Kaiserreich strebte, ward Moreau i. J. 1804 nebst mehreren371 andern Generalen einer Verschwörung gegen die Republik und gegen das Leben des ersten Konsuls angeklagt und zum Tode verurtheilt. Bonaparte wagte es nicht, ihn hinrichten zu lassen, sondern verbot ihm nur, den französischen Boden zu betreten. Moreau lebte seitdem in Amerika. Mit Verwunderung hörten wir, daß er die lange und gefährliche Seereise aus der neuen Welt bloß in der Absicht gemacht habe, um seinen ehemaligen Waffengefährten mit bekriegen zu helfen. Dies bestärkte uns in der Ansicht, in Napoléon den Ausbund aller Verworfenheit zu erkennen. Moreau erhielt vorläufig kein selbständiges Kommando, sondern war dem Generalstabe des Kaisers Alexander I. von Rußland zugetheilt, um durch seine Kriegserfahrung die Operationen zu leiten. Er vermehrte die gegen Napoléon von allen Seiten aufgebotenen materiellen und geistigen Kräfte. Mit edler Begeisterung sang damals Rückert in einem seiner geharnischten Sonette:

Vom Himmel laut ruft Nemesis-Urania:

Auf! denn heut soll die Löwenjagd beginnen.

Das Frühroth blutet! Auf, ihr Jägerinnen,

Auf, erste Schützin meines Hains, Germania!

Wir aber betrachteten Napoléon nicht als einen Löwen, sondern als einen Tiger, Panther oder irgend ein anderes gräuliches Unthier.

Mit den preußischen Offizieren, die während des Waffenstillstandes bei uns im Quartier standen, verkehrten wir auf das freundlichste. Ganz besonders gefiel uns ein alter Oberst von Puttlitz, der mit seinen weißen Haaren recht ehrwürdig aussah, und von seinen Erlebnissen in372 dem unglücklichen Kriege von 1806 manches erzählte. Damals sei alles Misgeschick von der unsichern und verkehrten Führung hergekommen. Nachdem der alte Herzog von Braunschweig in der Schlacht bei Jena tödtlich verwundet worden, habe niemand mehr gewußt, was zu thun sei. Den Soldaten habe es an Muth und gutem Willen nicht gefehlt, allein die Offiziere hätten von der richtigen Behandlung der Leute keinen Begriff gehabt. Das müsse nun alles anders werden, und diesmal wolle man den Franzosen zeigen, daß eine gute Kriegszucht wiederum bei uns einheimisch geworden sei.

In unsrer Kinderstube hing ein buntes Blättchen mit der Darstellung eines hitzigen Reitergefechtes. Die Unterschrift besagte, daß ein Rittmeister von Puttlitz, als er schon vom Pferde gehauen war, durch seinen treuen Reitknecht gerettet wurde, der sich über ihn warf, und die Hiebe der Feinde auffing. Lange wagten wir nicht, unseren Gast zu fragen, ob er derselbe Puttlitz sei? aber mein Vater ermuthigte uns dazu. Fritz, der von Blödigkeit nichts wußte, nahm das Bildchen von der Wand, und brachte es dem Obersten eines Tages über Tische. Die Freude und Rührung des alten Herrn waren groß, als er seine Geschichte auf dem kleinen Nürnberger Kupferstiche dargestellt sah. Er gab uns nun eine ausführliche Erzählung des Vorfalles, aus der ich nur behalten habe, daß der treue Reitknecht noch am Leben und in seinen Diensten sei.

Nicht minder angenehm gestaltete sich das Verhältniß zu dem Generale von Valentini. Zwischen ihm und meinen Aeltern knüpfte sich eine dauernde Freundschaft, und er blieb immer ein hochwillkomner Gast des Hauses. Mein373 Vater verlegte schon früher, i. J. 1812, seine Geschichte des Feldzuges von 1809, dem er im östreichischen Heere mit Auszeichnung beigewohnt. Dies Werk wird noch immer, wie einer unserer kriegsgelehrten Offiziere mich versichert hat, wegen seiner sorgfältigen und quellenmäßigen Angaben mit vielem Lobe genannt. Ich las es seiner Zeit pflichtmäßig durch, fand es aber etwas trocken.

Valentini sprach nicht viel, aber seine Bemerkungen waren das Resultat reiflicher Ueberlegung und gründlichen Nachdenkens. Obgleich von erprobter Tapferkeit, erschien er im Umgange weich und zurückhaltend. So wenig er an dem endlichen Siege der deutschen Sache zweifelte, so gab er doch nicht undeutlich zu verstehn, daß man sich auf einen harten Kampf gefaßt machen müsse. Besonders warnte er vor dem Irrthume, als ob das französische Heer in Rußland gänzlich vernichtet worden sei. Napoléon habe, nach den mäßigsten Berechnungen aus jenem Feldzuge 80,000 Mann vollkommen gerüstete Truppen zurückgebracht. Das sei freilich nicht viel im Verhältnisse zu den hineingeführten 400,000 Mann, aber immer ein sehr tüchtiger Kern, dem sich sofort die massenhaften Aushebungen im ganzen Kaiserreiche angeschlossen. Nach solchen und ähnlichen etwas niederdrückenden Aeußerungen ermuthigte er uns wieder durch eine Uebersicht der bereits gegen Napoléon unter den Waffen stehenden Heere, deren Zahlen seinem militärischen Gedächtnisse immer zu Gebote standen. Eines Tages sagte er beim Aufstehn vom Tische mit seiner sanften klangvollen Stimme: Es wird schon gehn! Es muß gehn! rief der Grosvater Eichmann, und beide schüttelten sich die Hände. 374

Der Turnplatz in der Hasenheide wurde nach Jahns Abgange zum Lützowschen Freicorps von seinem Schüler Eiselen geleitet. Die Reihen der älteren Turner waren sehr gelichtet, und von den zurückgebliebenen warteten viele nur auf ihren Geburtstag, um nach vollendetem 17. Jahre sogleich zum Heere zu eilen. Manche waren vor Ungeduld nicht zu halten und entfernten sich schon früher. Unter den Vorturnern war ein Herr von Arnim, durch Kraft und Gewandtheit ausgezeichnet, der Liebling des Turnplatzes. Als er an einem Nachmittage fehlte, hörten wir, er sei, eben erst 16 Jahre alt, aus dem väterlichen Hause heimlich in den Krieg gegangen. Wir beneideten ihn um diesen heldenmüthigen Entschluß, aber bald war der Vorfall im Drange so vieler größeren Ereignisse vergessen. Erst viele Jahre später erfuhr ich mit Bestimmtheit, dies sei jener Arnim gewesen, der in der Schlacht bei Ligny von 16 Lanzenstichen der polnischen Ulanen durchbohrt, dann durch ein therapeutisches Wunder vom Tode gerettet, und bis auf einen lahmen Fuß wiederhergestellt worden sei. Er hieß daher der lahme Arnim zur Unterscheidung von den überaus zahlreichen Mitgliedern der Familie, die sich sonst in die schönen und reichen Arnims theilte. Später widmete er sich der diplomatischen Laufbahn. Während der schwachen Anläufe Friedrich Wilhelms des IV. zu einer verfassungsmäßigen Regierung, und nach dem 18. März 1848 war Herr von Arnim eine oftgenannte ministerielle und parlamentarische Größe, doch zog er sich bald von den Geschäften zurück, und starb vor wenigen Jahren auf seinen Gütern am Niederrhein.

Während des Waffenstillstandes kam Jahn auf Urlaub nach Berlin, und besuchte am 28. Juli den Turnplatz. 375Er wurde mit Jubel aufgenommen, und auf Schritt und Tritt von der neugierigen Jugend begleitet. Schon hier zeigte sich seine unzufriedene Natur, die ihm später so vieles unverdiente Leid zuzog. Er erging sich in den stärksten Redensarten über alle Verhältnisse und Personen, die ihm nicht gefielen. Er war das, was die Berliner mit einem fremden, schwer zu übersetzenden Ausdrucke einen Raisonneur nennen. Mußte man auch sein redliches Streben und seine großen Verdienste um verbesserte körperliche Volkserziehung anerkennen, so konnte man doch unmöglich seine maaßlosen Ausfälle auf hohe und höchste Staatsbeamte gut heißen. Nur weniges ist mir von jenem kurzen Besuche in der Erinnerung geblieben; der allgemeine Eindruck war der, daß Jahn an allem was vorging, etwas zu tadeln fand. Er tadelte den Waffenstillstand als einen unnützen Zeitverlust, er tadelte die Art der Kriegführung, die unnützen Hin - und Hermärsche, und viele andre Dinge, von denen er wahrscheinlich viel zu wenig verstand, um darüber ein richtiges Urtheil abgeben zu können. Den Ueberfall der Lützowschen Reiter bei Kitzen erklärte er für den schwärzesten Verrath, der je von Deutschen an Deutschen begangen worden sei, tadelte aber auch auf das strengste die preußischen Anführer, daß sie sich nicht besser vorgesehn. Von dem Schicksale des verwundeten Theodor Körner wußte er nichts anzugeben.

Wer beschreibt unser freudiges Erstaunen, als wenige Tage darauf, am 4. Aug., Theodor Körner wohlbehalten in Berlin anlangte. Er wohnte 5 Tage in unserm Hause in der Brüderstraße, wo mein Vater ihn wie einen Sohn aufnahm. Täglich kam er nach der Blumenstraße hinaus, und wir kannten keinen größeren Genuß, als an der Seite376 des hohen stattlichen Kriegers, dem seine schwarze Lützowsche Reiteruniform so gut stand, die schattigen Baumgänge zu durchwandeln, und uns von ihm erzählen zu lassen. So viel ich mich entsinne, war der Vorfall bei Kitzen, in der Nähe von Leipzig, folgender gewesen. Die Schwadron Lützowscher Reiter, bei der Körner sich befand, sah an einem Waldrande andere Reiter stehn, von denen man nicht wußte, ob sie Freunde oder Feinde seien. Soll ich anfragen? sagte Körner zu dem kommandirenden Offizier. Auf dessen bejahenden Wink sprengte er fort, aber kaum war er an der gegenüberstehenden Front angelangt, als er auch schon vom Pferde gehauen ward. Bewußtlos blieb er im Walde liegen. Mitleidige sächsische Bauem nahmen sich seiner an, brachten ihn erst ins Dorf, dann heimlich nach Leipzig, wo er im Hause des ihm befreundeten Kaufmanns Kunze so lange verborgen blieb, bis seine Kopfwunden in etwas verharscht waren. Leipzig war noch in französischen Händen; er konnte es nicht wagen, durch die feindlichen Vorposten geraden Weges zu seinem Corps zurückzukehren, sondern mußte einen Umweg über Teplitz machen. Aber da galt es, erst die sächsische, und dann die böhmische Gränze zu passiren. Er fuhr bis zu dem letzten sächsischen Städtchen, und wollte dann als Spaziergänger zu dem nächsten böhmischen Orte weiter gehn. Die Gegend kannte er von seinen früheren Fußreisen her auf das genauste. Den geschornen Kopf deckte eine braune Perücke, in der Hand trug er eine leichte Gerte, ein grauer Ueberrock und ein Strohhut vollendeten die Verkleidung. Auf wenig betretenen Feldwegen schritt er rüstig einher, und war schon nahe an der Gränze, als ein sächsischer Gendarme ihn anhielt und nach seinem Passe fragte. Was377 fällt Ihnen ein? fuhr ihn Körner an, kennen Sie mich nicht? Ich bin der Herr von Vitzthum, und dort drüben sehn Sie mein Schloß liegen. Sie werden doch keinen Paß von mir verlangen, wenn ich meinen Nachbar, den Herrn von Racknitz zu besuchen gehe, dessen Schloß nur 500 Schritte von hier entfernt ist! das könnte Ihnen bei dem Kommandanten, Herrn von Wietersheim, meinem speciellen Freunde, sehr schlecht bekommen! Mit vielen höflichen Entschuldigungen entfernte sich der Gendarme, und Körner kam glücklich über die Gränze.

Diese Geschichte hörten wir mit namenloser Lust, und wiederholten sie uns später noch oft, doch will ich nicht läugnen, daß ich jetzt (1868) nach 55 Jahren, die Namen der sächsischen Gutsbesitzer und des Kommandanten nur aufs Gerathewohl hingeschrieben, und deren Richtigkeit nicht verbürgen kann.

Körners beide Kopfwunden waren noch nicht geheilt, er konnte nur eine leichte Feldmütze tragen. Das dichte schwarze Haar, dessen Fülle uns bei seinem ersten Besuche in so große Verwunderung gesetzt, war kurz abgeschoren worden, doch konnte er jetzt schon die fatale Perücke entbehren. Ein glücklicher Umstand für uns war es, daß seine kurze Anwesenheit gerade in die Schulferien fiel, wir konnten also den ganzen Tag um den lieben Gast sein, wenn Geschäfte ihn nicht in der Stadt zurückhielten. Abends saß er im traulichen Gespräche an unserem Familientische, oder er las uns von seinen Gedichten aus einem kleinen Quarthefte vor, das er: Leyer und Schwert , betitelt hatte. Seine tiefe wohlklingende Baßstimme drang bis in das innerste Herz. Obwohl er ein ganz reines Deutsch sprach, so kam doch manchmal der Sachse zum378 Vorschein. Er hatte das stürmische Freiheitslied: Das Volk steht auf, der Sturm bricht los, mit gewaltigem Pathos vorgelesen. Wir hörten mit Entzücken zu, verstanden aber nicht, was der Flamperk bedeuten solle. Den Dichter gleich danach zu fragen, dazu hatte selbst Fritz nicht den Muth; wir erkundigten uns am andern Morgen bei meinem Vater, der uns belehrte, daß man die altdeutschen zweihändigen Schwerter Flamberge genannt. Das Sonett: Die Wunde brennt, die bleichen Lippen beben, machte den tiefsten Eindruck, und alles schwieg, als er es vorgelesen. Ja, ja, sagte er in seiner treuherzigen, natürlichen Art, da war ich allerdings in einer schlimmen Lage; die ersten 10 oder 11 Zeilen hatte ich so ziemlich im Kopfe fertig, aber gegen den Schluß hin vergingen mir wirklich die Sinne!

Höchst unterhaltend waren seine Mittheilungen über die Erlebnisse in Wien, wo er seine kurze glänzende Laufbahn als Theaterdichter begann und beschloß. Der Ehrenbezeigungen, die er von den Ungarn wegen seines Zriny empfing, erwähnte er nur ganz beiläufig, dagegen erzählte er mit vielem Humor, wie die guten Wiener sich gewundert, daß ein Ausländer bei ihnen ein so großes Thier geworden sei. Nach seinen ersten Bühnenerfolgen habe die Elite der Wiener Gesellschaft sich an ihn gedrängt, um seine Bekanntschaft zu machen. Bei der Aufführung des Grünen Domino sei er einmal in das Parterre gegangen, um die Wirkung des Stückes zu beobachten. Dort habe er das Gespräch zweier Herren mit angehört, wovon der eine den andern gefragt, ob er den Dichter des Stückes kenne? O sehr gut, war die Antwort, es ist ein kleiner, untersetzter Mann, etwas korpulent, scheint mir im übrigen379 sehr ein lieber Narr zu sein. Da sei zufällig ein Bekannter herangetreten, und habe ihn mit der lauten Anrede begrüßt: Ei, schönen guten Abend, Herr von Körner! Dadurch sei die Aufmerksamkeit eines größeren Kreises erregt worden, und der zuerst Fragende sei nicht wenig erstaunt gewesen, statt des kleinen korpulenten Mannes eine lang aufgeschossene Ranke vor sich zu sehn.

Wenn von der Fortsetzung und dem Ausgange des Krieges die Rede war, so erhob uns Körner durch seine glühende Zuversicht auf die endliche Befreiung des Vaterlandes. Mehr als einmal äußerte er, daß wenn es ihm beschieden sei, im Kampfe zu fallen, er nur wünsche, es möge in einer heißen glorreichen Entscheidungschlacht geschehn. Wir aber schauten an dem Heldenjünglinge mit dem felsenfesten Vertrauen empor, er werde alle Gefahren bestehn, und wohlbehalten aus dem Felde zurückkehren.

Vom Guitarrenspielen war diesmal keine Rede, doch setzte uns Körner durch sein musikalisches Gedächtniß in Erstaunen, als er uns eines Abends alle 24 Hornsignale vorsang, die beim Exercitium der Kavallerie in Anwendung kommen.

Das Liederheft: Leyer und Schwert übergab Körner meinem Vater zum Verlage. Als sie eben über Druck und Format sich besprachen, fiel ihm ein, daß noch eine Zueignung fehle. Flugs setzte er sich in der Buchhandlung an das nächste Pult, und schrieb die begeisterten Zeilen:

Euch allen, die ihr noch mit Freundestreue u. s. w.

Nur zu rasch verflogen die kurzen Tage seines Aufenthaltes. Als wir am letzten Nachmittage durch den Garten gingen, zog er ein schönes Taschenmesser mit stähler -380 ner Schale und 8 Klingen hervor, um einen herabhängenden Zweig abzuschneiden. Welch ein schönes Messer, rief ich aus, ganz von Stahl; so etwas habe ich noch nie gesehn! Ich schenke es dir! sagte er, indem er es mir in die Hand drückte. Wer war glücklicher als ich, der ich ohnehin eine besondere Vorliebe für zierliche Messer hegte, und deren immer zwei, eins in der Beinkleidertasche, das andre in der Westentasche bei mir trug! Dies Geschenk schien mir geradezu unschätzbar, um so mehr, da es als Andenken von einem so schwärmerisch verehrten Freunde herrührte. Aber leider sollte die Freude daran nicht lange dauern. Nach dem Schlusse der Ferien nahm ich es in die Klasse, um es von den Mitschülern bewundern zu lassen, und da war es nach einigen Tagen verschwunden, sei es, daß ich es aus der Tasche verloren, was sonst gar nicht mein Fehler war, sei es, daß ein gewissenloser Secundaner der Versuchung nicht widerstehn konnte, ein solches Kleinod sich anzueignen.

Am Morgen des 9. Aug. kam Körner nach der Blumenstraße, wo sein Pferd, ein tüchtiger Schimmel, eingestallt war, packte seinen Mantelsack, und nahm von meinen Aeltern und uns einen kurzen, herzlichen Abschied. Er schwang sich in den Sattel, und ritt die lange Straße hinunter. Wir sahen ihm betrübt nach. Ehe er um die Ecke bog, zog er sein Taschentuch heraus, und wehete, sich umsehend, uns einen Gruß zu. Sehr wehmüthig schlichen wir in das Haus zurück. Als wenige Wochen darauf, am 3. Sept. die Nachricht von seinem Tode nach Berlin kam, erinnerten wir uns mit Schmerzen dieses Abschiedes, und beschlossen, nie wieder einem wegreisenden Freunde nachzusehn. 381

Am 15. August 1813 war der Waffenstillstand nach vergeblichen Friedensunterhandlungen abgelaufen, und nun entbrannte der Krieg auf allen Seiten. Bis zur Mitte des September verging fast kein Tag, an dem nicht Siegesnachrichten und Berichte über mehr oder minder bedeutende Schlachten in Berlin einliefen. Wer vermöchte die Erinnerung an jene große Zeit jemals aus dem Gedächtnisse zu verlieren, und wie erhebend war der Gedanke, daß die Preußen die böse Scharte von 1806 in vollem Maaße auswetzten! Damals rief Friedrich Rückert mit Recht den Franzosen zu:

Aber der Geist,

Der die Preußen hat angerührt,

Der hat’s vollführt,

Der ist’s, der euch geschlagen zumeist!

Napoléon war wie immer der Angreifer, und richtete, wie gewöhnlich, seine Schläge auf die feindlichen Hauptstädte. Er sandte den Marschall Oudinot mit einem Heere gegen Berlin, den Marschall Macdonald gegen Breslau, den Marschall Vandamme gegen Prag. Wir sahen bald, daß der Grosvater Eichmann Recht gehabt, den Waffenstillstand für einen Fehler Napoléons zu erklären. Das ganze preußische Volk stand in Waffen bereit, die Oestreicher hatten sich für die deutsche Sache erklärt, die Russen begnügten sich nicht damit, den Feind aus ihren öden Gränzen vertrieben zu haben, sie wollten auch Theil nehmen an der Vernichtung des Unruhestifters, die reichlichen Aerndten waren eingebracht, die Engländer zahlten Subsidien.

Die Oestreicher wurden indessen bei ihrem ersten Auf -382 treten übel zugedeckt. Sie brachen aus den böhmischen Wäldern hervor, und richteten sich gegen Dresden, wo Napoléon mit dem Hauptheere stand. Die Schlacht entbrannte auf der Südseite in der nächsten Nähe der Stadt. Der Kaiser Alexander von Rußland und in seinem Gefolge der General Moreau befanden sich mit einem russischen Corps bei den Oestreichern. Napoléon erkannte bald die schwache Seite der feindlichen Stellung. Er schickt den General Latour-Maubourg mit einer großen Masse Kavallerie durch eine nicht besetzte Schlucht den Oestreichern in den Rücken, und brachte ihnen eine vollständige Niederlage bei (90. Aug.). 16,000 östreichische Gefangne wurden nach Dresden hineingeführt. Fast noch empfindlicher war der Tod des Generals Moreau, der in dieser Schlacht dicht an der Seite des Kaisers Alexander fiel. Wir wissen jetzt aus den Memoiren von St. Helena, daß Napoléon an dieser That persönlichen Antheil gehabt. Er erzählt, wie er auf den Höhen von Recknitz eine Gruppe von Reitern bemerkt, und wohl gesehn habe, daß es höhere Offiziere seien. Darauf habe er einer französischen Batterie von 12 Kanonen befohlen, alle ihre Rohre auf diesen einen Punkt zu richten, und zu gleicher Zeit abzufeuern. Der Erfolg zeigte, daß er recht gesehn. Moreau hielt an Alexanders Seite, als dieser zufällig sein Pferd ein wenig vorwärts trieb. In diesem Augenblicke kam eine Kanonenkugel und zerschmetterte Moreaus beide Beine. Wäre Alexander eine halbe Minute länger auf seiner ersten Stelle geblieben, so würde der Schuß unfehlbar ihn mit hingerafft haben. Moreau ward zwar noch lebend vom Schlachtfelde hinweggetragen, starb aber schon am 2. September. So sehr man den unzeitigen Tod des trefflichen Mannes bedauerte, so ward383 es doch später oft mit Genugthuung hervorgehoben, daß die Deutschen der Hülfe dieses französischen Feldherrn nicht bedurft, um ihre Freiheit zu erringen. Das Regenwetter war an diesem Tage fürchterlich gewesen, und hatte nicht wenig zur Niederlage der Oestreicher beigetragen. Die Gewehre gingen nicht mehr los, und da hatte die Reiterei von Latour-Maubourg leichtes Spiel. Napoléon kam den ganzen Tag nicht vom Pferde, und wurde so durchnäßt, daß man ihm am Abende die Stiefeln von den Füßen schneiden mußte.

Die Stadt Dresden litt in dieser Schlacht nur wenig, außer daß in dem schönen Moczinskischen Garten eine französische Batterie errichtet ward, aber die übergroße Menge von Gefangenen und Verwundeten brachte viele Nachtheile. Typhus und Dysenterie nahmen in den Spitälern überhand, auch die Einwohner wurden davon ergriffen. Wir waren in großer Besorgniß wegen der Schwester meines Vaters, der guten Tante Keiner, die dort in der Vorstadt, nicht weit vom Falkenschlage wohnte, wegen Körners Aeltern und wegen vieler andern lieben Freunde. Die Verbindung mit Berlin war gänzlich unterbrochen, und lange Zeit blieben wir ohne alle Nachrichten.

Napoléon benutzte diesen Sieg von Dresden mit gewohnter Schnelligkeit, indem er den Marschall Vandamme über das sächsische Erzgebirge nach Böhmen und geraden Wegs gegen Prag sandte. Doch gleich beim Herabsteigen von den Bergen fand Vandamme ein preußisch-russisches Heer, bei dem auch der König von Preußen zugegen war. Die Schlacht entbrannte am Abhange des Gebirges bei Kulm, und stand lange unentschieden, bis am Nachmittage der preußische General von Kleist mit seinem bei384 Dresden versprengten Corps die Nollendorfer Höhen herabstieg and die ferne Kanonade vernahm. Der dichte Wald verhinderte einen freien Umblick, die flinksten Jäger mußten die höchsten Bäume erklettern, um die Stellungen der Armeen zu erkunden, Kleist erfaßte den rechten Moment, um den Franzosen in den Rücken zu fallen, und das ganze französische Armeecorps löste sich auf. Nicht nur wurden 80 Kanonen und alle Bagage erbeutet, es trat auch zum ersten Male der Fall ein, daß ein französischer Marschall gefangen ward. Vandamme sah sich plötzlich von einem Truppe russischer Reiter umringt. Da es ihm nicht an persönlichem Muthe fehlte, so zog er den Degen, und wollte sich zur Wehr setzen, ward aber sehr bald überwältigt. Man hatte bisher in den Napoléonischen Kriegen nicht viel von ihm gehört. Nun trat er mit einem Male auf die Bühne der Geschichte, um eben so schnell wieder zu verschwinden. Man erfuhr, er sei in Kassel geboren, und habe in den französischen Revolutionskriegen seine Laufbahn gemacht. Wir erinnerten uns, daß er im Jahre 1806 Breslau durch Kapitulation genommen, und im Lande vielerlei Erpressungen ausgeübt. Man schilderte sein Aeußeres und sein Betragen als gemein; er hatte etwas negerartiges in seiner Physiognomie, und wenn er nicht die Marschallsuniform getragen, so hätte man ihn für einen entsprungenen Galeerensträfling gehalten. Nun ward er von den Russen nach Sibirien geschickt, und blieb dort bis zum Pariser Frieden, wo er mit den übrigen französischen Gefangenen entlassen wurde. General von Kleist, der durch sein kühnes Herabsteigen von den Nollendorfer Höhen den Sieg bei Kulm entschied, ward später zum Grafen Kleist von Nollendorf ernannt. 385

Den zweiten Schlag führte Napoléon gegen Berlin. Marschall Oudinot erhielt ein ansehnliches Heer, meist aus Baiern, Würtenbergern und Sachsen bestehend. Er sollte gerades Weges auf die preußische Hauptstadt marschiren, und sich ihrer auf alle Weise bemächtigen. Ihm entgegen zog der Kronprinz von Schweden mit der aus Preußen, Russen und Schweden zusammengesetzten Nordarmee. Unter ihm standen die preußischen Generäle Bülow, Tauenzien, Borstell, Dobschütz, die von nun an fast in allen Schlachtenberichten glänzten. Bei Gros-Beeren, nur zwei Meilen südwestlich von Berlin, trafen die Heere aufeinander. Da man den Anmarsch der Feinde erwartete, so schwebte, wie dies bei solchen Gelegenheiten zu geschehn pflegt, ein unbestimmtes Gerücht mehrere Tage in der Luft, es werde zu einer großen Schlacht kommen. Wir waren aber alle so voll guten Muthes, daß der Grosvater einmal scherzend unseren Fritz fragte, ob ihm sein Kanonier nichts vertraut habe? Am 23. August gegen Mittag konnte man an vielen Stellen der Stadt den Kanonendonner vernehmen. Im großen Garten hörten wir ihn am besten, wenn wir an eine hohe, mit Weinreben bedeckte Mauer traten, die den Schall deutlich zurückwarf. Am Nachmittage verstärkte er sich und kam näher, wonach man fürchten mußte, die Unsern seien im Zurückweichen begriffen, dann aber entfernte er sich und schwieg am Abend gänzlich. Obgleich an diesem Kampfe das Schicksal der Hauptstadt hing, so hörte man doch nicht, daß wie im verflossenen Mai einzelne Familien die Stadt verlassen hätten. Die Zuversicht des Sieges lebte in allen Herzen, und als am andern Morgen die Siegesnachricht einlief, so hörte man sie freilich mit großem Jubel, aber als etwas386 selbstverständliches. Bald genug folgten lange Reihen von Wagen mit Verwundeten, die in den eilig eingerichteten Hospitälern untergebracht wurden. Da unser Garten im Osten der Stadt lag, und die Züge zu den westlichen Thoren hereinkamen, so bemerkten wir nichts davon. Fritz konnte jedoch seiner Neugierde nicht widerstehn; er ging mit einigen Mitschülern dahin, und erzählte nachher so grauenhaftes, daß ihm ein für alle Mal dergleichen Ausflüge untersagt wurden. Die Mildthätigkeit der Berliner kam dem Bedürfnisse der Lazarethe entgegen, in denen, wie sich dies von selbst verstand, Freund und Feind, Preußen, Franzosen, Schwaben, Baiern und Sundgauer auf gleiche Weise Hülfe fanden.

Nach und nach kamen Berichte über die Einzelheiten und den Verlauf der Schlacht. Die Disposition des Kronprinzen von Schweden ward im allgemeinen gelobt. Er hatte seinem Rufe als ausgezeichneter Taktiker genügt, und beim Herannahen Oudinots sein etwas auseinander gelegtes Heer rasch zusammengezogen. Die Preußen wurden am Nachmittage hart bedrängt das war, als wir den Kanonendonner näher kommen hörten und der Kronprinz von Schweden sandte ihnen gegen Abend den Befehl, bis in die Nähe von Berlin zurückzugehn. Allein General Bülow gehorchte nicht, weil er wohl einsah, daß alsdann die Hauptstadt wahrscheinlich verloren sei. Trotz eines heftigen Regens machte er am Abend einen stürmischen Angriff mit Kolben und Bajonet; General Borstell umging den rechten Flügel der Franzosen, und nöthigte sie zum Rückzuge. Außer der Rettung der Hauptstadt waren 90 Kanonen und viele Gefangne die Frucht dieses Sieges. 387

Mit dem dritten Schlage hoffte Napoléon Breslau in seine Gewalt zu bringen, doch auch hier ward er zurückgewiesen. Der alte Blücher besiegte den Marschall Macdonald in der glorreichen Schlacht an der Katzbach (26. August). Am Morgen des trüben, regnerischen Tages zogen die Heere hin und her, um die rechten Stellungen zu finden. Unvorsichtig gingen die Franzosen über die kleine, unbedeutende Katzbach. Blücher ließ es ruhig geschehn, und sagte endlich: Jetzt habe ich genug Franzosen herüber, nun Kinder, drauf! Sogleich befahl er den heftigsten Angriff. Dem russischen General Langeron, der mit einem Corps von 6000 Mann unter ihm stand, hatte er sagen lassen, er möge gegen den Feind vorgehn. Als dieser noch einmal anfragte, mit wieviel? erwiederte Blücher: mit allen! Da wegen des Regens die Gewehre nicht losgingen, so arbeiteten die wackern Ukermärker und Pommern, die sich ohnehin besser auf das Schlagen als das Schießen verstanden, mit den Kolben. Die Franzosen waren an diese neue Fechtart nicht gewöhnt, die nur bei Regenwetter das Uebergewicht über die Feuerwaffen zu erlangen vermag. Viele Franzosen wurden in die Katzbach gedrängt, die unterdessen von dem unaufhörlichen Regen zum reißenden Strome angeschwollen war, und bald löste sich der Rückzug des französischen Heeres in wilde Flucht auf. Blücher drängte mit aller Kraft nach, um den Sieg vollständig zu machen. Sein Adjutant, der Oberst von Müffling, ein gelehrter Soldat, der die Stellungen der einzelnen Corps und ihre Bewegungen aufs genauste im Kopfe hatte, fürchtete, daß dies allzurasche Verfolgen gefährlich werden könne, und machte den Feldherm darauf aufmerksam, daß die Franzosen vielleicht einen verstellten Rück -388 zug anträten. Was, rief Blücher, der mit seinem Stabe auf einer dominirenden Höhe hielt, verstellten Rückzug? Sehn Sie doch nur hinüber, die Kerls laufen ja wie die Schneider! Also immer vorwärts! Der Sieg war ein glänzender. 43 Kanonen und eine Menge von Gefangenen wurden eingebracht.

Nach dieser Schlacht rief Rückert wiederum den Franzosen zu:

Nehmt euch in Acht vor den Bächen,

Die da von Thieren sprechen,

Jetzt und hernach!

Er stellte dann Roßbach und Katzbach auf sinnreiche Weise zusammen.

Trotz der Niederlage bei Gros-Beeren hatte Napoléon seine Pläne gegen Berlin nicht aufgegeben. Man konnte daraus abnehmen, wie es ihm vorzüglich um die Demüthigung und Vernichtung der Preußen zu thun sei. Er bildete ein neues, stärkeres Heer unter dem Befehle des Marschalls Ney, dessen Heldenmuth sich bei dem traurigen Rückzuge aus Rußland auf das glänzendste bewährt hatte. Napoléon nannte ihn damals: le brave des braves! Oudinot, der bei Gros-Beeren geschlagene, mußte sich gefallen lassen, unter Neys Oberbefehl zu stehn, die Generale Bertrand und Regnier stießen mit ihren aus Sachsen und Polen bestehenden Heerhaufen zu ihm. Das verbündete Heer stand wieder unter dem Befehle des Kronprinzen von Schweden; unter ihm die bewährten Generale Bülow, Tauenzien, Dobschütz und Borstell. Der Kern des Heeres bestand aus Preußen, denen auch Schweden und Russen beigegeben waren. Der Zusammenstoß erfolgte389 am 6. September, ungefähr 9 Meilen von Berlin, bei dem Dorfe Dennewitz und der Stadt Jüterbogk, daher die Schlacht nach beiden Orten benannt ward. Bülow gab hier, wie bei Gros-Beeren, den Ausschlag. Er umging die linke Flanke des Feindes und drängte sie auf das Centrum hin, Borstell führte die Kavallerie in wiederholten heftigen Angriffen gegen den Feind. Der Sieg war ein vollständiger. Man berechnete nachher, daß die Franzosen auf ihrem Rückzüge bis Torgau an der Elbe 20,000 Gefangene und Versprengte, 80 Kanonen und 400 Bagagewagen verloren. Berlin war zum zweiten Male gerettet, und der General von Bülow, dem wir diese zweimalige Rettung verdankten, erhielt nach dem Frieden den Titel eines Grafen von Dennewitz. Der Marschall Ney sollte auf der Flucht sogar um seine Sporen gekommen sein, daher rief Rückert ihm höhnend nach:

Ei, ei, Ney, Ney,

Ei Ney, was hast du verloren!

Vor lauter Eile die Sporen

Hast du, hast du verloren!

In dieser Zeit der rasch auf einander folgenden Siege druckten die beiden Berliner Zeitungen, die Vossische und Spenersche sehr oft ein Extrablatt mit einem kurzen Schlachtenbericht, wie ihn der Kurier eben gebracht hatte. Große und kleine Jungen liefen damit durch die Straßen unter dem Geschrei: Neu Extrablatt! Großer Sieg! 40 Kanonen erobert! u. s. w. Wenn wir Abends am Tische saßen, so sagte wohl einer oder der andre: ob nicht heute noch ein Extrablatt kommen wird? Mehrmals ging diese Erwartung in Erfüllung, und Fritz war immer der erste,390 der auf die Straße hinabsprang, um ein noch nasses Exemplar heraufzuholen. Wie oft wurde damals in unsrer Familie der Wunsch laut: wenn das der Grosvater Nicolai erlebt hätte! wie würde der sich freuen! Wir vergegenwärtigten uns dann mit Schmerzen, daß er, ein so patriotischer Preuße, gerade im Jahre 1811 habe scheiden müssen, wo die schmähliche Knechtung des Vaterlandes ihren tiefsten Stand erreicht hatte.

Zuweilen hörten wir von den Hausleuten und Dienstboten allerlei wundersame Gerüchte, die von der Erregtheit des Volkes bis in seine untersten Schichten Zeugniß gaben. Mit völliger Ueberzeugung wurde uns, fast unter dem Siegel des Geheimnisses mitgetheilt, die edle Königin Luise, die Gemalin Friedrich Wilhelms III., die im Jahre 1810 am gebrochenen Herzen über das Unglück des Landes gestorben sein sollte, sei nicht todt; sie habe sich vor den Verfolgungen des grausamen Napoléon, der ihr den Tod geschworen, weil sie seine Liebe verschmäht, heimlich nach England gerettet, und werde nächstens wieder erscheinen, um an der Seite des Königs den großen Kampf auszukämpfen. Es sei ja ganz offenbar, daß der König, ein so kräftiger Mann, nicht wieder geheirathet habe, weil er seine rechte Frau nächstens erwarte. Auch der tapfre Schill, so hieß es weiter, sei keineswegs in Stralsund umgekommen, auch er verweile in dem freien England, und werde sehr bald an der Seite der Königin Luise mit einer großen englischen Flotte zu unserer Hülfe heranziehn.

Als ich eines Abends spät in das Gesindezimmer trat, fand ich unsre Dienstmagd in der Apokalypse lesend. Auf meine Frage, ob ihr die Schrift gefalle? antwortete sie: o ja; sie lese oft darin, und wolle jetzt eben die Stelle391 nachsehn, wo von Napoléon geweissagt sei. Ich war sehr begierig, diese Stelle kennen zu lernen, und bat sie, mir dieselbe zu zeigen. Während des Suchens erzählte sie mir, durch meine Theilnahme zutraulich gemacht: sie sei in einem kleinen Dorfe in der Ukermark bei armen Aeltern in aller Gottesfurcht aufgewachsen; da seien die bösen Franzosen des Kaisers Napoléon eingerückt, und da sei es ihren Aeltern übel ergangen. Noch schlimmer als die Franzosen seien aber die deutschen Verbündeten derselben gewesen; wenn es bei den unaufhörlichen Durchmärschen geheißen habe: morgen bekommen wir Baiern, so habe alles vor ihrer Rohheit gezittert und gebebt; am schlimmsten seien die Würtenberger und Badenser gewesen; da habe sie einmal ihre Mutter weinen gesehn, und sonst nie wieder. In der Zeit der tiefsten Bedrängniß habe sie den Prediger des Dorfes gefragt, wie es denn möglich sei, daß der liebe Gott dergleichen Schandthaten zulasse, und wie sie sich darüber trösten solle? Er habe ihr erwiedert: die Rathschlüsse Gottes seien unerforschlich, und zum Troste in ihrer Trübsal möge sie nur fleißig in der Bibel lesen. Das habe sie denn gethan, und die Prophezeiung auf Napoléon, stehe Kapitel neun, am eilften Und hatten über sich einen König, einen Engel aus dem Abgrund, deß Name heißt auf hebräisch Abaddon, auf griechisch hat er den Namen Apollyon . Das sei doch offenbar Napoléon, meinte sie; auch die Zeit treffe ungefähr zu: so wie jener die Menschen fünf Monate lang beleidigt habe, so quäle dieser uns nun schon an die sieben Jahre! Sehr verwundert über diese Schriftauslegung konnte ich es nicht über mich gewinnen, ihr meine philologischen Bedenken dagegen auseinander zu setzen, und verließ sie mit der392 Versicherung, daß es nun gewiß gelingen müsse, der siebenjährigen Qual ein Ende zu machen, da ja eine Schlacht nach der anderen gewonnen werde.

Der Siegesjubel wurde indessen auf das herbste getrübt durch die Nachricht von Theodor Körners Tode, die am 3. September in Berlin eintraf. Wir konnten uns anfangs gar nicht darin finden, und da bei den langsamen Verkehrsmitteln erst eine unbestimmte Kunde davon anlangte, so glaubten wir durch hartnäckiges Läugnen das gefürchtete Unglück verhindern zu können. Aber nur zu bald bestätigte sich der schmerzliche Verlust, der unser ganzes Haus in Trauer versenkte. Nun erinnerten wir uns seines zuletzt ausgesprochenen Wunsches, in einer großen Entscheidungschlacht zu fallen. Dieser sollte nicht in Erfüllung gehn. In einem kleinen, unbedeutenden Gefechte bei Wöbbelin in Meklenburg machte die Lützowsche Reiterei einen Angriff auf französisches Fußvolk, und sprengte dasselbe auseinander. Wie man viele Jahre nachher erfuhr, so war es ein im französischen Heere dienender Rheinländer, der sich in einen Graben am Wege warf, und von dort aus den vorbei reitenden Körner vom Pferde schoß. In Körners Brieftasche fand man unter andern Gedichten auch seinen Schwanengesang: Du Schwert an meiner Linken, den er am Morgen des verhängnißvollen Tages eingeschrieben und seinen Kameraden im Bivouak vorgelesen. Von K. M. von Weber seelenvoll komponirt, war dies lange Zeit das Lieblingslied aller Gesangvereine und Liedertafeln.

Obgleich Napoléon im September 1813 Dresden und das ganze westliche Deutschland noch immer inne hatte, so hielten doch die Verbündeten die bisher errungenen Vortheile, die Zurückweisung der französischen Heere auf393 allen Punkten, wo sie sich gezeigt, die Eroberung so vieler Geschütze, die Einbringung so vieler Gefangnen, endlich die Rettung Berlins aus zweimaliger Gefahr für ein bedeutendes Resultat des Feldzugs. Am 12. September wurde in Berlin ein großes Siegesfest mit kirchlicher Andacht und 101 Kanonenschüssen veranstaltet. Es schien dies vielen ein verfrühter Jubel, weil der Feind noch im Herzen von Deutschland fußte, und die Verbündeten noch nicht einmal die Elbe überschritten hatten. Wir waren inzwischen aus dem großen Garten wieder nach der Stadt gezogen, und hörten in der Brüderstraße das Krachen vom Lustgarten her sehr deutlich. Da es gar nicht aufhören wollte, so sagte endlich der Grosvater Eichmann halb unwillig, halb schmunzelnd: ich möchte nur wissen, wieviel Schüsse sie losbrennen werden, wenn wir erst über die Elbe und über den Rhein gegangen sind!

Von der Mitte Septembers bis zur Mitte Oktobers geschah auf dem großen Kriegschauplatze nicht gar viel. Beide Theile verstärkten sich nach Kräften. Man sah wohl, daß Napoléon entschlossen sei, Sachsen bis auf das äußerste zu behaupten, und daß es hier zum Entscheidungskampfe um Deutschlands Geschicke kommen werde. Das Gewitter mußte sich in der Nähe von Dresden oder von Leipzig entladen. Blücher erhielt den Auftrag, sich mit der Nordarmee des Kronprinzen von Schweden zu vereinigen. Er bewerkstelligte am 3. Okt. seinen Uebergang über die Elbe, und trug einen glänzenden Sieg bei Wartenberg davon. Das Corps des Generals von York hatte sich hiebei besonders ausgezeichnet, daher ward er später zum Grafen York von Wartenberg ernannt.

Der Kronprinz von Schweden zeigte jetzt sehr wenig394 Eifer, und schonte seine Truppen auf eine fast unerlaubte Weise. Nachdem er sich mit Blücher vereinigt, ließ er diesem eine Translocation der beiden Armeen vorschlagen, wodurch Blücher ganz vorn gegen den Feind, und Bernadotte in eine mehr gesicherte Stellung kam. Ist mir gerade recht, brummte der alte Blücher, wenn der französische Cujohn im Hintertreffen bleiben will, so kann er’s haben!

In Folge der beiden Schlachten von Gros-Beeren und Dennewitz, die so nahe bei Berlin geschlagen wurden, füllten sich die schon vorhandenen Lazarethe, und neue wurden eingerichtet. Die Wohlthätigkeit der Einwohner bewährte sich hier aufs beste; reichliche Gaben an Geld und Wäsche flossen den Spitälern zu, und manches Hemd, das noch lange hätte dienen können, ward aus unseren Wäscheschränken den Krankenhäusern übergeben. Die leicht Verwundeten gingen bald wieder herum, und so kamen auch eines Tages zwei ehemalige Schüler des Grauen Klosters um 12 Uhr nach dem Gymnasium, um ihre Kameraden wieder zu sehn. Von allen Seiten wurden sie umringt und mit Fragen bestürmt. Bei ihren einfachen Erzählungen wechselten Freude und Schmerz in den Herzen der Zuhörer, Freude über die glorreichen Erfolge unserer Waffen, Schmerz über unser unfreiwilliges Zuhausebleiben. Beide Kameraden sahen blaß aus und gingen an Stöcken; sie hatten Schüsse in den Fuß erhalten. Diese Wunden waren damals bei den Preußen ungemein häufig; man wollte sie daraus erklären, daß die zuletzt ausgehobene französische Linieninfanterie fast aus lauter jungen Leuten von 16 17 Jahren bestand, die das schwere Gewehr beim Anlegen und Abfeuern etwas sinken ließen. Deshalb395 lobte man die Einrichtung der preußischen Armee, die zwar auch aus jungen Leuten bestand, wo aber die kräftigeren Bauersöhne in der Linie standen, und die schwächeren Mittelstände zu freiwilligen Jägercompagnien vereinigt waren, die mit leichteren Gewehren und Büchsen bewaffnet, durch ihre Einzelschüsse beim Tirailliren dem Feinde großen Abbruch thaten. Nicht bloß ihre eignen Abentheuer mußten die Zurückgekehrten erzählen, sondern auch von den übrigen Mitschülern, so viel sie konnten, Nachricht geben. Kein einziger von allen, nach denen wir mit ungeduldigem Eifer fragten, war geblieben, nur wenige waren verwundet. Unsre beiden Freunde konnten die Zeit kaum erwarten, um dem Heere alsbald nachzuhinken. Mit gepreßtem Herzen nahmen wir Abschied; wer von uns hätte sie nicht gern begleitet!

Unter den Gefangnen befand sich auch der Graf Edmund von Périgord, der Schwiegersohn der Herzogin von Kurland, der Gemahl der schönen Prinzessin Dorothea. Als ich eines Tages mit Fritz aus der Schule kam, fanden wir bei meinem Vater einen kleinen, zierlichen Herrn von ausländischem Ansehn, braun von Gesicht, schwarz von Augen und Haaren, mit einem wohlgepflegten, fächerartigen Backenbarte, der seinem Kopfe eine übermäßige Größe ertheilte. Kommt näher, Kinder, sagte mein Vater, und gebt dem Herrn die Hand! Nachdem dies geschehn war, und wir erfahren hatten, wer der Herr sei, richtete er einige freundliche französische Worte an uns, und wir wurden entlassen. Fritz eilte sogleich voll Entrüstung in unsre Stube, um sich die Hände zu waschen, die er durch die Berührung eines Franzosen besudelt glaubte. Der Graf von Périgord hatte niemals Lust zum396 Soldatenleben empfunden, und war auch bis dahin durch die mächtige Fürsprache seines Oheims, des Fürsten von Talleyrand, frei geblieben; aber bei der großen Auspressung des französischen Volkes, die Napoléon nach dem russischen Kriege vornahm, mußte auch der zierliche Edmund eintreten. Er diente als Offizier in einem französischen Husarenregiment. Auf die Frage meines Vaters, wie es denn gekommen sei, daß er in die Gefangenschaft gerathen, erwiederte er kleinlaut: par le nombre! Er blieb nur kurze Zeit in Berlin, wurde sehr bald ausgewechselt, und ging nach Paris zurück, wo ich ihn in derselben eleganten Gestalt, im Jahre 1820, im Hause seiner Schwiegermutter wiedersah. Er erinnerte sich sehr gut unserer ersten Bekanntschaft in Berlin.

Die leicht verwundeten preußischen Offiziere wurden bei den Bürgern einquartirt. Wir hatten die Freude, einen Herrn von Rode wieder bei uns zu sehn, der schon früher, nur auf ein paar Tage, als Hauptmann unser Gast gewesen. Jetzt blieb er länger, und wir wurden sehr gute Freunde. Als mein Vater ihn bei der ersten Begrüßung Herr Hauptmann nannte, rief er mit tönender Kommandostimme: es hat sich ausgehauptmannt! bin Major geworden! Seinen Erzählungen lauschten wir bei Tische mit unbeschreiblicher Theilnahme; auch des Abends, wenn er zum Thee blieb, drehte sich das Gespräch um nichts anderes als um die Kriegsereignisse. Er hatte einen Schuß durch die linke Schulter erhalten, als er bei Dennewitz seine Kompagnie zum dritten Male in’s Feuer führte. Da hörten wir wieder den Wahlspruch: dreimal ist die397 brandenburgische Losung! Die Kugel wäre gewiß mitten durch den Hals gegangen, wenn sie nicht durch den Orden pour le merite etwas seitwärts wäre abgelenkt worden. Ihm leuchteten die kleinen grauen Augen, wenn er von der Bravour seiner Jungens sprach, und manche Züge prägten sich unserm Gedächtnisse ein. Keinen größeren Gefallen konnte er seinen Leuten thun, als wenn er ihnen erlaubte, die Gewehre umzukehren, und mit dem Kolben zu arbeiten. Det fluscht besser! pflegten sie in ihrem plattdeutsch zu sagen, und diese Redensart ist lange in manchen Berliner Kreisen einheimisch gewesen; ja man erzählte sich, daß auch dem Kronprinzen von Schweden dieses seltsame Wort zu Ohren gekommen, und er sich nach der Bedeutung erkundigt. Als man ihm dieselbe deutlich gemacht, habe er zu den Pommern und Ukermärkern gesagt: Eh bien, flouchez toujours! Rode versicherte uns, daß wenn seine Pommern mit donnerndem Hurrah und geschwungenen Kolben auf die Franzosen eingestürmt seien, diese niemals den Angriff abgewartet, sondern regelmäßig im langsamen, oder noch öfter im schnellen Tempo abgezogen seien.

In einem hitzigen Gefechte fand er einen seiner Leute, in einem Graben sitzend, und sich die Schuhe ausziehend; sein Gewehr lag neben ihm. Kerl! schnaubte er ihn an, was machst du hier? Kannst du nicht in’s Feuer gehn? Herr Hauptmann, versetzte jener ruhig, wenn ik arbeiten sall, denn muß ik’t mi bequem machen! Damit warf er seine Kommisschuhe weg, ergriff sein Gewehr, und stürzte in das dichteste Handgemenge, wo er mehrere Franzosen nach einander mit dem Kolben niederschlug. Dafür ward er zum eisernen Kreuz vorgeschlagen. 398

Als Rode den Schuß durch die Schulter erhielt, und besinnungslos vom Pferde sank, waren seine treuen Füsilire gleich um ihn geschäftig, und trugen ihn aus dem Feuer. Kinder, sagte er, als er die Augen wieder aufschlug, das wird wohl mein Letztes sein! Dat wüllen wi jo nich hopen , riefen die ehrlichen Bauerjungen, aber der Wälsche sall dat entgelten! Nachdem sie ihn sorgfältig auf einen Wagen gehoben, eilten sie gleich wieder in den Kampf zurück, und da wird wohl , setzte Rode gerührt hinzu, mancher Wälsche daran geglaubt haben!

Auch das, was uns Rode aus seinem früheren Leben erzählte, ward mit Theilnahme angenommen. Er mochte damals etwa 40 Jahre zählen, seine Jugend reichte also in die Zeit des großen Friedrich hinauf, dessen Bild in Heroengröße vor seiner Seele stand. Früh seiner Aeltern beraubt, kam er in das Berliner Kadettenhaus, und verlebte hier eine freudlose Jugend, ohne den erquickenden Genuß des Familienlebens, nach dem er sich so innig sehnte. Kost und Behandlung waren in jener Anstalt wohl ganz gut, aber welcher Qual wurden die Kinder zuweilen durch den leidigen Kamaschendienst ausgesetzt. An den großen Paradetagen, die zum Glück im Jahr nur ein - oder zweimal vorkamen, mußten die Kadetten mit steif frisirten und gepuderten Haaren erscheinen, an denen nicht die geringste Unordnung sich zeigen durfte. Der Friseur konnte natürlich nicht alle 100 Kadetten am Morgen vor der Parade adonisiren, daher wurden die ältesten Knaben am Abend vorher frisirt, und mußten die ganze Nacht aufrecht auf Stühlen sitzen, ohne den Kopf anzulegen, weil sonst der künstliche Haarputz verdorben wurde! Anfangs, sagte Rode, sei ihm dies ganz unmöglich gewesen,399 und er habe mehr als einmal Disciplinarstrafen für seine zerdrückten Locken erhalten, nach und nach habe er sich daran gewöhnt, und getraue sich auch jetzt noch, wo Puder und Pomade längst aus der Toilette der Soldaten verschwunden seien, das Kunststück auszuführen, und sitzend zu schlafen.

Sehr jung trat er in das Heer, und ward aus einer kleinen Garnison in die andre versetzt, wo das ermüdende Exerciren der Rekruten mit dem wenig befriedigenden Wirtshaus - und Gesellschaftsleben wechselte. In irgend einer kleinen pommerschen Stadt hatte er, um die Langeweile zu tödten, ein Liebhabertheater in Gang gebracht. Die Kraft - und Heldenrollen waren sein Fach, als Karl Moor ärndtete er den lebhaftesten Beifall. Die Erinnerung daran hatte ihn noch nicht verlassen. Zuweilen ging er, den linken Arm in der Binde, im Zimmer auf und ab, gestikulirte mit der rechten Hand, und begann mit einer mehr kräftigen, als angenehmen Stimme: Menschen, Menschen! falsche heuchlerische Krokodillenbrut! Ihre Augen sind Wasser, ihre Herzen sind Erz! Küsse auf den Lippen, Schwerter im Busen! daß ich ein Bär wäre, die Bären des Nordlandes anzuhetzen gegen dieses Otterngezücht! Dies gefiel uns ganz ungemein, und wir suchten ihn oft durch allerlei Künste auf seine Theaterzeiten zurückzubringen. Das Stück hatte uns schon früher zur Stiftung einer Räuberbande auf dem Oberboden Veranlassung gegeben, nun wurde es wieder hervorgeholt, und Fritz tragirte die bedeutendsten Stellen mit Rodeschem Pathos.

Gern hätte Rode als junger Offizier sich verheirathet. Er sprach nicht ohne Bewegung von einigen ernsthaften Neigungen, die sich seiner bemächtigt, weil er aber ganz400 ohne Vermögen war, und keine reiche Braut fand, so konnte er an eine Ehe nicht denken. Unvergeßlich ist es mir geblieben, daß er einmal, bei einer solchen Gelegenheit meinen Vater wegen seines frohen Familienkreises glücklich pries, und wie es mir dabei aufs Herz fiel, daß ich dieses Glück bisher ohne besondere Dankbarkeit gegen Gott genossen, als etwas das sich gleichsam von selbst verstehe. Mein Vater führte uns wohl auch zu Gemüthe, daß wir Gott für alles Gute zu danken hätten, da dies aber gar zu oft geschah, so verlor es allmälig seine Wirkung, und ward nun aus dem Munde des fremden Mannes aufs neue belebt.

Rode machte den ruhmlosen Feldzug in Frankreich unter Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1793 mit, und nahm Theil an dem noch ruhmloseren Kriege von 1806 u. 1807. Mit Zähneknirschen sprach er von diesen letzten Zeiten, von dem anfänglichen Uebermuthe der Befehlshaber, von der nachherigen Kopf - und Rathlosigkeit, von der schlechten Kleidung und Verpflegung der Truppen, so daß es gar nicht anders habe kommen können, als es gekommen sei. Wir hörten hier eine gesteigerte Wiederholung dessen, was schon der milde Oberst von Puttlitz mitgetheilt, fanden aber auch bei Rode dieselbe unerschütterliche Zuversicht, daß nun jene schmachvollen Erinnerungen durch bessere Thaten in Schatten treten würden. Er wartete kaum seine Wiederherstellung ab, um wieder in’s Feld zu ziehn. Noch konnte er nicht ohne Hülfe aufs Pferd steigen, als er auch schon, nach einem beweglichen Abschiede von uns allen, sein Regiment aufsuchte.

Wohlbehalten kehrte er im Jahre 1814 zurück, und wir sahen ihn noch oft in unserem Hause. Spät ward401 ihm sein Wunsch, zu heirathen, erfüllt. Er führte eine nicht mehr junge, aber liebenswürdige Wittwe zum Altar. Wenn ich ihm zuweilen auf der Straße begegnete, so pflegte er zur Verwunderung der Vorübergehenden mich ganz laut anzurufen: Menschen, Menschen! falsche heuchlerische Krokodillenbrut!

Nachdem die Franzosen im Anfange des Feldzugs von 1813 so viele Schlachten verloren, so gehörte der Muth eines Napoléon dazu, um noch eine große Schlacht im Herzen von Deutschland zu wagen. Sobald die Verbündeten einsahen, daß er Sachsen nicht freiwillig aufgeben werde, so zogen sie ihre Heere immer dichter gegen Leipzig zusammen. Napoléon ließ den Marschall SaintCyr mit einer starken Garnison in Dresden, ging im Anfange des Oktobers nach Leipzig, und nahm den alten König von Sachsen, gleichsam als Geißel dahin mit. Die unabsehbare Ebne, durch welche die träge Pleiße sich schlängelt, war mit Heerhaufen aller Art bedeckt. Man hat berechnet, daß in jenen Oktobertagen beinahe 600,000 Krieger dort gegen einander standen. Leipzig war der Mittelpunkt von zwei konzentrischen Halbkreisen geworden, deren inneren die Franzosen, den äußeren die Verbündeten besetzten.

Am 16. Oktober begann der Donner der großen Völkerschlacht auf der Südseite von Leipzig, wo die Oestreicher standen. Napoléon hoffte mit diesen am schnellsten fertig zu werden. Man kämpfte mit wechselndem Glücke, und es gelang den Franzosen, auf einigen Punkten Vortheile zu erringen. Am 17. trat eine Art von freiwilliger Waffen -402 ruhe ein; am 18. begann der Streit von neuem. Da wurden die Franzosen auf allen Punkten zurückgedrängt, und kämpften nur noch für einen gesicherten Rückzug. Um die Mittagszeit verließ Napoléon die Stadt Leipzig, und hinter ihm flog die steinerne Pleißebrücke am Ranstädter Thore in die Luft, über welche der Rückzug seines Heeres gehn sollte. Dadurch wurde der Verlust der Franzosen an Todten und Gefangenen auf das empfindlichste gesteigert. Von den verbündeten Generalen hatte diesmal der alte Blücher bei Markranstädt und Wachau den schwersten Stand gehabt. Fast alle seine Offiziere waren todt oder verwundet.

Am Nachmittage des 18. Oktobers stürmte der Hauptmann Friccius mit der ostpreußischen Landwehr das Grimmaische Thor, und drang zuerst in die Stadt ein. Am folgenden Tage hielten die drei verbündeten Monarchen, Alexander, Franz und Friedrich Wilhelm ihren feierlichen Einzug. Napoléon machte mit seinen Garden einen geordneten Rückzug gegen den Rhein, sein übriges Heer löste sich in wilde Flucht auf. Die Befreiung Deutschlands war eine vollendete Thatsache.

Vergebens würde ich versuchen, den Eindruck dieser welthistorischen Ereignisse zu schildern. Was wir jetzt als eine große That der Nation in einem wohlgeordneten, übersichtlichen Bilde in der Ferne von mehr als einem halben Jahrhundert überschauen, das lag damals in unendlich viele kleine Ereignisse zerstückelt vor uns, und konnte erst nach und nach zu einem Ganzen vereinigt werden. Desto größer aber war die Freude des Augenblicks, desto erhebender das Gefühl der endlichen Siegesgewißheit. Von der Leipziger Schlacht sang Rückert im Volkston:403

Kann denn kein Lied

Krachen mit Macht,

So laut wie die Schlacht

Um Leipzigs Gebiet?

Erst am 20. Oktober gelangte die Nachricht von der Schlacht nach Berlin. Am 21. hielt ein offizieller Kurier mit 28 blasenden Postillionen seinen Einzug. Er trug eine lederne Kuriertasche auf der Brust, durchritt mehrere Straßen, und verfügte sich, von dem unendlichen Jubel des Volkes begleitet, zuletzt nach der Kommandantur. Am 22. kam die zwar nicht authentische, aber allgemein geglaubte Nachricht, daß Napoléon auf der Flucht gefangen sei, und am 24. ward wiederum ein Dankfest mit 101 Kanonenschüssen im Lustgarten veranstaltet, an dem der Grosvater Eichmann diesmal keine Pulververschwendung auszusetzen fand.

Die verbündeten Heere rückten nun auf allen Seiten vorwärts, und gelangten ohne Widerstand bis an den Rhein. Ganz Deutschland fiel ihnen zu. Baiern verließ das französische Bündniß schon am 8. Oktober, also vor der Entscheidungschlacht bei Leipzig, und ließ sein Heer unter dem General Wrede gegen den Rhein marschiren, um den Franzosen den Rückzug abzuschneiden. Allein dazu hätten größere Kräfte und ein besserer Feldherr gehört. Unklug genug warf sich Wrede dem mit seinen Garden heranziehenden Napoléon bei Hanau entgegen (31. Oktober), um ihm den Weg nach Frankfurt und Mainz zu versperren. Wredes aus Baiern und Oestreichern bestehendes Corps ward völlig auseinander gesprengt; er selbst erhielt eine Kugel in den Unterleib, die er bis an seinen, im höchsten Alter erfolgten Tod mit sich herum -404 getragen hat, da sie nicht herausgezogen werden konnte. Napoléon ging bei Mainz über den Rhein, und erreichte bald Paris, wo er mit unglaublicher Thätigkeit neue Heere auf die Beine brachte.

Nun war noch Dresden, damals eine der stärksten Festungen mit ungeheuern Mauern und tiefen Gräben, von den Franzosen besetzt. Obgleich der Marschall Saint-Cyr auf keinen Ersatz hoffen konnte, so hielt er die Stadt, nach der Leipziger Schlacht, doch noch 4 Wochen. Erst am 14. November kam die Nachricht von der Einnahme Dresdens nach Berlin. Unbeschreiblich litten die Einwohner während dieser drangvollen Zeit. Die Hospitäler waren mit Tausenden von Kranken angefüllt, unter denen der Typhus in schreckenerregender Weise aufräumte. Sehr spät drang die Nachricht von dem Leipziger Siege durch die strenge Festungsperre, und belebte die Hoffnungen der Eingeschlossenen. Erst als die Lebensmittel ausgingen, entschloß sich Saint-Cyr zu einer Kapitulation, die ihm freien Abzug nach Frankreich sicherte. Man fand aber bald darauf, daß er die ihm gestellten Bedingungen nicht gehalten habe, und machte ihn mit seinem ganzen Corps zu Kriegsgefangenen. Endlich erhielten wir auch Briefe von unsern Freunden aus Dresden, von der Tante Keiner, von Körners Aeltern und mehreren andern. Unsre Angst um sie war vergebens gewesen; alle hatten die schwere Zeit glücklich überstanden.

Während der folgenden Wintermonate, bis zu Neujahr 1814 suchten wir uns eine genauere Kenntniß von den Einzelheiten des großen Völkerkampfes von Leipzig zu erwerben. Spezialkarten waren damals noch nicht so häufig und so weit verbreitet wie jetzt. Ob sogleich ein offizieller405 Bericht über die Schlacht erschienen sei, wüßte ich nicht anzugeben. Der Grosvater Eichmann kaufte sich eine runde Schnupftabaksdose, worauf ein sauber kolorirter und lakirter Plan der Schlacht zu sehn war. Diesen benutzten wir anfangs in Ermangelung anderer Hülfsmittel, so oft wir zu dem Grosvater hinunterkamen. Da er aber sehr stark schnupfte, und bei seiner Korpulenz eine weiche, fleischige, feuchte Hand besaß, so konnte der dünne Lack nicht lange widerstehn. Es verschwand ein Dorf und ein Armeecorps nach dem andern. Zuletzt wurde der vielbewunderte Deckel so unscheinbar, daß nur noch Leipzig als ein rother Punkt in der Mitte übrig blieb.

Indessen hatten sich doch die verschiedenen Stellungen so ziemlich dem Gedächtnisse eingeprägt, und wir wußten über manches einzelne gute Rechenschaft zu geben. Es stellte sich mit großer Wahrscheinlichkeit heraus, daß Napoléon, als er von Dresden nach Leipzig zog, die Absicht hatte, die östreichische Armee, welche unter dem Fürsten von Schwarzenberg von Süden heranzog, anzugreifen und zu schlagen, ehe die Nordarmee unter dem Kronprinzen von Schweden und Blücher herankäme. Diese beschleunigten jedoch ihren Zug, und standen am 16. Oktober schon auf dem Kampfplatze. Dadurch erlangten die Verbündeten ein bedeutendes numerisches Uebergewicht; man schätzte sie auf 300,000 Mann, denen Napoléon nicht mehr als 180,000 Mann entgegenstellen konnte. Seine Angriffe waren jedoch am 16. Oktober so heftig, daß er die Verbündeten an einigen Punkten zurückdrängte. Am Abend wurde auf seinen Befehl in Leipzig mit allen Glocken geläutet.

Die Waffenruhe des 17. Oktober soll Napoléon in der That zu Unterhandlungen mit den Verbündeten benutzt406 haben. Er soll ihnen als Friedensbedingungen die Rheingränze, die Auflösung des Rheinbundes und einen freiwilligen Abzug aus Deutschland angeboten haben. Mit Recht erblickten die Verbündeten hierin ein Zeichen seiner Schwäche, da er bisher gewohnt war, die Friedensbedingungen vorzuschreiben, nicht anzubieten. Am 18. früh wurde der Kampf fortgesetzt. So viel Blut er auch kostete, so war doch sein Ausgang kaum zweifelhaft. Napoléon hielt mit den Garden bei Propstheyda, befahl aber bald den Rückzug, nachdem er sich von der Vergeblichkeit eines längeren Widerstandes überzeugt hatte.

Während des Gefechtes erinnerten sich 10,000 Mann Sachsen, die auf der Seite der Franzosen standen, ihrer deutschen Abkunft, gingen zu den Verbündeten über, und kehrten sogleich ihre Kanonen gegen die Franzosen. In den französischen Berichten wurde dies später auf eine Weise dargestellt, als sei dadurch der Sieg der Verbündeten entschieden worden; es diente jedoch nur dazu, die Niederlage der Franzosen zu vervollständigen. Wohl erinnre ich mich eines Gespräches, das ich viele Jahre später mit einem Dresdner Vetter darüber führte. Er theilte den glühenden Preußenhaß, der schon seit dem siebenjährigen Kriege bei den Sachsen einheimisch ist, und sich in neuerer Zeit noch vermehrt hat; wir waren aber gute Freunde, da ich alles vermied, was ihn verletzen konnte. Einmal kamen wir auf jenen Uebergang der Sachsen zu sprechen, und ich lobte ihren deutschen Patriotismus, der um eine größere Pflicht zu erfüllen, die Verletzung einer kleineren nicht gescheut habe. Da entfärbte sich mein Vetter und brachte mit bebenden Lippen das Geständniß hervor, daß er in der ganzen sächsischen Geschichte keinen so schmach -407 vollen Vorgang kenne, und daß ihm, so oft er daran denke, der tiefste Schmerz durch die Seele schneide; dies sei auch die Gesinnung aller ehrliebenden Sachsen. Mit Ueberraschung, ja fast mit Beschämung, eine so empfindliche Saite berührt zu haben, ließ ich das Gespräch fallen.

Allgemeine Theilnahme erregte das Schicksal des polnischen Fürsten Poniatowski nach der Leipziger Schlacht. Er hatte lange Zeit unter Napoléon gedient, und konnte sich wohl mit der Hoffnung schmeicheln, durch die Vorzüge seiner Geburt und durch seine persönlichen Verdienste zum Könige von Polen ausersehn zu sein, wenn es überhaupt in Napoléons Plänen lag, ein Polenreich wieder aufzurichten. Daß dies nicht seine Absicht sei, hatte er eben sowohl im Jahre 1807 bei seinem Aufenthalte in Tilsit, als auch im Jahre 1812 bei seinem Hinzuge nach Rußland gezeigt. Im Tilsiter Frieden übergab er das Herzogthum Warschau seinem treuen Verbündeten, dem Könige von Sachsen, und als er im Jahre 1812 in Warschau verweilte, war keine Rede von der Wiederherstellung Polens. Vielleicht hatte Napoléon aus dem Studium der polnischen Geschichte die Ueberzeugung gewonnen, daß die Polen nicht vom Schicksal bestimmt seien, ein neues selbständiges Reich zu bilden, und da er sich ja immer für den Vollstrecker der Beschlüsse des Schicksals hielt, so war er nicht geneigt, den vielen von ihm gestifteten Reichen noch ein polnisches hinzuzufügen. Poniatowski kämpfte mit solcher Auszeichnung bei Leipzig, daß Napoléon ihn auf dem Schlachtfelde zum Marschall von Frankreich ernannte; damit war denn die letzte Aussicht auf den polnischen Thron verschwunden. Nachdem bei dem Rückzuge der Franzosen die Ranstädter Brücke zerstört war, suchte408 Poniatowski einen andern Uebergang über die Pleiße, sprengte mit seinem edlen Pferde hinein, und ertrank in den Wogen. An dieser Stelle wurde ihm späterhin ein kleines unscheinbares Denkmal von Sandstein gesetzt, auf dem viele Jahre lang alle durchreisenden polnischen Demokraten und Patrioten, an denen es nie gefehlt hat, ihre Dolche wetzten, und Rache schwuren; es ist aber nie bekannt geworden, ob diese Rache an Frankreich, an Rußland, an Deutschland oder an allen dreien genommen werden sollte.

Sehr eigenthümlich ging es bei der Gefangennahme des Königs Friedrich August von Sachsen her, der, wie schon bemerkt, auf Napoléons Befehl von Dresden hatte nach Leipzig kommen müssen. Sobald die drei verbündeten Monarchen, Alexander, Franz und Friedrich Wilhelm am 19. Oktober in Leipzig eingezogen waren, ward auf dem Markte ein großes religiöses Dankfest veranstaltet. Dann begaben sich die Monarchen zusammen nach der Pleißenburg, ohne zu ahnen, daß daselbst der König von Sachsen einquartirt sei. Dieser wollte seinerseits nicht verfehlen, als Wirt die Honneurs seines Hauses zu machen; er trat den hohen Gästen, sobald er von ihrem Nahen Kunde erhielt, oben an der Treppe feierlich entgegen. Als diese, unten an der Treppe angelangt, den nicht erwarteten Wirt bemerkten, kehrten sie alle drei, ohne ein Wort zu sagen, wie auf ein verabredetes Zeichen um, und begaben sich nach einer andern Wohnung. Der stehengelassene König von Sachsen ward als preußischer Kriegsgefangener nach Berlin geführt, und blieb dort, bis er nach dem Wiener Kongreß einen Theil seines Landes zurückerhielt. Bis dahin ward Sachsen unter russische Verwaltung gestellt, und hatte an dem Fürsten Repnin einen wohlwollenden409 und einsichtigen Gouverneur. Es ward in Sachsen eine Landwehr ausgehoben, die sofort gegen Frankreich marschiren mußte. Während jedoch die preußische Landwehr an ihren Dienstmützen den Spruch trug: Mit Gott für König und Vaterland! so hieß es bei den Sachsen einfach: Mit Gott fürs Vaterland!

Ein spaßhaftes Geschichtchen vom Kaiser Franz von Oestreich zeigte dessen ungemein leichtlebige und sorgenfreie Natur. Er war ein leidenschaftlicher, aber sehr mittelmäßiger Violinspieler, und führte selbst im Felde einige Hofmusiker mit sich, um leichte Trios und Quartette von Haydn, Pleyel, Mayseder u. s. w. auszuführen. Ein Violinist stand hinter seinem Stuhle, um jedesmal einzufallen, wenn die Geige in die hohe Applicatur hinaufging oder schwierige Passagen vorkamen. Der Kaiser pausirte so lange, und griff erst wieder ein, wenn die Musik in ruhiges Fahrwasser gelangte. Ueber den welterschütternden Ereignissen, die am 18. und 19. Oktober mit ehernen Füßen über die Erde hinschritten, hätte ein andrer wohl die Musik vergessen, aber Kaiser Franz sagte am 19. Abends in Leipzig: Nun wollen wir halt unser Quartett machen!

Die Verluste der Franzosen an Menschen und Kriegsmaterial wurden erst nach und nach festgestellt; man berechnete sie an Todten, Verwundeten und Gefangenen auf 50,000 Mann, darunter 2000 Offiziere, auf 400 Kanonen, und auf eine gar nicht zu bestimmende Menge von Bagage und Munitionskarren. Die Verluste der Verbündeten wurden auf 25,000 Mann angegeben, doch glaubte man die Befreiung Deutschlands hiemit nicht zu theuer erkauft zu haben. Es war das erste Mal, daß Napoléon in offner Feldschlacht vollständig aufs Haupt geschlagen und zum410 Rückzuge genöthigt ward. Die von ihm Besiegten hatten nach so vielen Niederlagen endlich auch siegen gelernt. Die französischen Geschichtschreiber trösteten sich damit, daß er bei Leipzig von der Uebermacht erdrückt worden sei, es kam aber nachher mehr als einmal vor, daß er bei gleichen Streitkräften in offnen Felde den kürzeren zog.

Wunderbar genug war von unseren näheren und entfernten Bekannten gar niemand in dem mörderischen Kampf umgekommen. Die frische Trauer um Theodor Körners Verlust ließ uns manchmal die kindische Frage aufwerfen, warum das Schicksal ihn nicht zwei Monate länger aufgespart? Dann hätte er an der Schlacht von Leipzig Theil nehmen, und seinem Wunsche gemäß in einem Entscheidungskampfe fallen können.

Die engen Straßen des kleinen Leipzig, das damals keine Festung mehr war, und wenig Vorstädte besaß, steckten mehrere Tage nach der Schlacht ganz voll von Wagen aller Art, die erst durch ein systematisches Aufräumungsverfahren bei Seite geschafft werden konnten. Die Stadt selbst hatte wenig gelitten, aber in der Umgegend waren fast alle Dörfer in Flammen ausgegangen, und die Einwohner irrten obdachlos umher. Professor Stein vom Grauen Kloster, dessen Reiselust ich schon gerühmt, machte bald nachher einen Ausflug nach Leipzig, um an Ort und Stelle Nachrichten zu sammeln. Er gab uns getreue Schilderungen nicht bloß von dem dort herrschenden Elende, sondern auch von vielen einzelnen Vorgängen der Schlacht, deren Lokalitäten wir auf des Grosvaters Tabaksdose mit vielem Eifer aufzufinden strebten.

Für die eingeäscherten Dörfer und Flecken, deren es von der Oder bis zur Elbe nicht wenige gab, ward die411 öffentliche Wohlthätigkeit nicht umsonst in Anspruch genommen. Freiwillige Gaben flossen von allen Seiten zusammen. Das reiche England schickte an Hülfsgeldern im Ganzen 11,400,000 Pfd. Sterling, und bald nach der Schlacht bei Gros-Beeren ein Geschenk von 100,000 Pfund Sterling nach Berlin. Diesem Gelde war ein gedruckter Foliobogen beigelegt, der die Vertheilung bestimmte. Mein Vater war mit in der dazu ernannten Kommission; wir konnten daher jenen großen Bogen mit aller Muße studiren, und mußten erstaunen über die ungemeine Sorgfalt und Ortskenntniß, die dabei angewandt waren. Es standen wohl an 200 Namen von Dörfern, Flecken und Vorwerken in der Liste, und bei jedem Namen war die Summe der Beihülfe in Pfunden Sterling angemerkt. Wenn man diese mit 7 multiplizierte, um sie in Thaler zu übersetzen, so gewann man erst den rechten Maasstab für dies außerordentliche Geschenk. So waren, wenn ich mich recht erinnre, für das Dorf Gros-Beeren 300 Pfund ausgeworfen; dies giebt mehr als 2000 Thaler, womit dem kleinen Oertchen sehr wirksam aufgeholfen werden konnte. Es mußten in England die eingehendsten Forschungen angestellt worden sein, um überall das richtige Maaß der Unterstützung anzugeben. So viel man nach den Zeitungsberichten und nach mündlichen Mittheilungen kompetenter Personen urtheilen konnte, waren mit wenigen Ausnahmen die Summen in England sehr zweckmäßig vertheilt worden. Ich bewunderte ganz besonders den scharfen, geschmackvollen englischen Druck, der mir eben so idealisch schön vorkam, wie die Handschrift der Tante Jettchen, und hätte viel um das Exemplar dieser Vertheilungsliste gegeben, es mußte aber wieder zu den Akten gehn. 412

Dem Kronprinzen von Schweden konnten wir gar keine Sympathien zuwenden. Zwar war er in der Schlacht bei Leipzig mit seinen Truppen thätig gewesen, doch damit glaubte er seiner Pflicht als Bundesgenosse genügt zu haben. Von Anfang an hatte er den Verbündeten gerathen, ja nicht über den Rhein zu gehn, er folgte ihnen daher nicht westwärts, sondern wandte sich nordwärts, um die Dänen zu bekriegen, die noch fest auf Napoléons Seite standen. Bernadotte zwang sie, ihm im Frieden von Kiel Norwegen abzutreten, wo sich unterdessen ein schwedischer Prinz zum unabhängigen Könige von Norwegen aufgeworfen. Bernadotte zog gegen ihn, und eroberte das ganze Land ohne viele Mühe in 14 Tagen. Weil er in Deutschland seine Truppen gar zu sehr geschont, so wendete man auf ihn, als er heimzog, die Verse an:

Er zählt die Häupter seiner Lieben,

Und sieh, ihm fehlt kein theures Haupt!

Nicht lange blieben die verbündeten Heere in und um Leipzig stehn. Das ausgesogene Land war nicht im Stande, einen solchen Schwarm von Menschen zu ernähren. Der alte Blücher drängte am heftigsten gegen den Rhein, und damals hörten wir zuerst, daß die Russen ihn den Marschall Vorwärts genannt. Dies benutzte Rückert in dem frischen Liede:

Tapfrer Preuße, deinen Blücher,

Sprich, wie nennst du würdig ihn?

Schlag nur nicht erst nach viel Bücher,

Denn da steht nichts kluges drin.

Mit dem besten Namensgruße

Hat ihn dir genannt der Russe,

Marschall Vorwärts nennt er ihn! 413

In Frankfurt a. M., wo das Hauptquartier der verbündeten Monarchen sich befand, ward nun hin und her berathen, ob man über den Rhein gehn, und es wagen solle, Napoléon im Herzen seines Landes anzugreifen, oder ob man sich mit den errungenen Vortheilen begnügen, und ihm etwa sein altes Kaiserreich bis an den Rhein zugestehn solle. Blücher stand natürlich auf der Seite der Kriegspartei und erging sich in den stärksten Redensarten gegen alle diejenigen hohen und höchsten Herrschaften, die nur irgend etwas von Nachgiebigkeit wissen wollten. Ueberdies erfuhr man mit Bestimmtheit, daß Napoléon selbst gar nicht zur Nachgiebigkeit geneigt sei, daß er vielmehr mit der äußersten Thätigkeit und mit Anspannung aller Kräfte des Landes seine Armee neu organisire. Es war also mit Gewisheit vorherzusehn, daß er angreifen werde, wenn man ihn nicht angreife. So erhielt denn die Kriegspartei im Rathe der Fürsten die Oberhand, und man entwarf für das Jahr 1814 einen großartigen Feldzugsplan. Der linke Flügel der Verbündeten sollte durch die Schweiz, der rechte durch Belgien und Holland in Frankreich einrücken, das Centrum unter Blücher sollte geraden Weges auf Paris losgehn, nachdem vorher die beiden Flügel sich mit ihm vereinigt haben würden. Die anfängliche Auseinanderlegung der Streitkräfte hatte etwas bedenkliches, weil man erwarten mußte, daß Napoléon die einzelnen Theile angreifen werde, sie war aber geboten durch die Schwierigkeit der Ernährung. Nach einer ungefähren Berechnung standen im Anfange des Jahres 1814 von Preußen, Russen, Oestreichern, einschließlich der Süddeutschen mehr als eine Million Soldaten gegen Napoléon in Waffen.

Blücher konnte die Zeit des Losschlagens kaum er -414 warten. In der Nacht zum 1. Januar 1814 ging er bei Kaub über den Rhein, und begann jenen Winterfeldzug in Frankreich, der seinen Truppen an Strapazen, Kämpfen und Entbehrungen das unglaublichste zumuthete. Nach dem, was wir später aus den Erzählungen unserer heimgekehrten Freunde erfuhren, ließ sich ohne Mühe abnehmen, daß allein die moralische Kraft im Stande gewesen sei, den Körper aufrecht zu erhalten.

Napoléon wehrte sich wie ein Löwe. Viele seiner Bewunderer rechnen den Feldzug von 1814 zu seinen glänzendsten Thaten, doch war die gegen ihn aufgestellte Uebermacht zu groß. Hatte er an einer Stelle seine Feinde zurückgedrängt, so rückten sie an andern Orten mit verstärkten Kräften heran. Nach der Schlacht von Montmirail, wo der alte Blücher übel zugerichtet sich zurückziehn mußte, fehlte nicht viel, daß Napoléon das Centrum der Alliirten durchbrochen, und sich gegen den Rhein gewendet hätte. Am Abende dieses Unglückstages waren die Offiziere in Blüchers Generalstabe, Gneisenau, Grolmann, Clausewitz und andre in der düstersten Stimmung, weil sie die Größe der drohenden Gefahr übersahen. Blücher selbst, der den ganzen Tag nicht vom Pferde gekommen, und äußerst erschöpft war, sagte ganz heiter, als die Herren sich spät in der Nacht von ihm beurlaubten: Messieurs! bei solchen fatalen Geschichten ist es immer am besten, wenn sie vorbei sind. Gute Nacht! Sein Muth blieb ungebrochen, und am nächsten Morgen war er der erste auf dem Platze. Bei einer andern Gelegenheit redete er seine Truppen nach einem siegreichen Gefechte an, und sagte, er freue sich ganz besonders, daß die pommersche Landwehr sich diesmal so sehr ausgezeichnet, weil er selbst ein Pommer415 sei! Da wurde eine Stimme in den Reihen laut: Nu’t gut geht, wollen se alle Pommern sind! Seine Leute wußten nämlich sehr wohl, daß er aus Meklenburg stammte.

Sehr fragmentarisch und widersprechend waren die Berichte, die über jenen Winterfeldzug jenseit des Rheins in unsere Zeitungen gelangten. Bald wurde ein entscheidender großer Sieg gemeldet, bald konnte eine rückgängige Bewegung der Unsern nicht geläugnet werden. Mit namenloser Entrüstung wurden wir erfüllt, als die Kunde einlief, es werde von neuem mit Napoléon unterhandelt. In dem französischen Schlosse Chatillon tagte eine Versammlung von Diplomaten, die sechs Wochen lang (vom 5. Februar bis zum 18. März) sich bemühten, ein annehmbares Abkommen zu finden: Stadion für Oestreich, Razumowski für Rußland, Humboldt für Preußen, Castlereagh für England und Caulincourt für Frankreich. Die Scheu vor Napoléons Energie war so groß, daß man ihm bei diesem Kongresse ganz Frankreich in den alten Gränzen anbot, doch sollte er vorläufig Paris räumen. An dieser letzten Klausel scheiterten die Unterhandlungen. Napoléon, hieß es, habe bei dieser Zumuthung ausgerufen: Paris soll ich aufgeben? Ich werde eher in Wien sein, als meine Feinde in Paris! Diese maaßlose Ueberhebung ward sein Verderben.

Gleichzeitig mit dem ersten Kongresse trat ein zweiter in dem Schlosse Chaumont am 1. März 1814 zusammen: Metternich für Oestreich, Nesselrode für Rußland, Hardenberg für Preußen, zu denen Castlereagh für England aus Chatillon herüberkam. Diese vier verbündeten Mächte verpflichteten sich gegenseitig, die Waffen nicht eher niederzulegen, als bis Napoléon ganz unschädlich gemacht sei. 416Hiervon verlautete aber sehr wenig im Publikum. Wir waren nur besorgt, daß Napoléon irgend welche Friedensbedingungen annehmen, und bei erster Gelegenheit wieder losbrechen werde.

Dazu kam, daß im geselligen Verkehr bei meinem Vater auch eine napoleonische Partei sich geltend machte. Der König Friedrich August von Sachsen hatte, als er nach Berlin gefangen abgeführt ward, einen Theil seines Hofstaates mitgenommen. Mein Vater war ein geborner Sachse und hatte einige Jahre in Dresden gelebt. Er kannte mehrere Herren aus der Umgebung des Königs: den Hofrath Breyer, den Hofrath Griesinger, den Hofsekretär Wendt. Mit seiner gewohnten Gastfreundschaft lud er die Fremden zu sich ein, und erwies ihnen als Landsleuten jede Artigkeit. Da hörten wir denn eine der unseren gerade entgegengesetzte Ansicht mit vieler Mäßigung, doch mit Ueberzeugung vortragen. Der unbegränzte Ehrgeiz Napoléons wurde nicht in Abrede gestellt, doch unterließ man nicht, seine großen Eigenschaften hervorzuheben. Noch entsinne ich mich eines Gespräches zwischen dem Vetter Valentin und den sächsischen Herren. Valentin, auch ein geborner Sachse, stand ganz und gar auf der deutschen patriotischen Seite, und erwähnte in seiner Rede des von Napoléon gestifteten Rheinbundes mit Abscheu, obgleich er wohl wußte, daß Sachsen demselben bisher angehörte. Als ihn darauf einer der sächsischen Gäste mit vieler Ruhe fragte, ob er denn die Verfassung des römischdeutschen Reiches vorziehe? mußte er die Antwort schuldig bleiben: denn die Reichsverfassung hatte von jeher nur zum allgemeinen Spotte gedient, nicht anders als 60 Jahre später der jetzt (1868) glücklich beseitigte Deutsche Bundestag. 417

Das Verhältniß zu den sächsischen Hofherren blieb indessen ein sehr freundschaftliches; zu Griesinger und Breyer faßten wir sogar wegen ihres muntern Wesens ein gewisses Zutrauen, Wendt dagegen repräsentirte in seinem stillen negativen Wesen vollkommen die steife Abgeschlossenheit und geistige Nullität seines Königs. Als nun die Verbündeten über den Rhein gingen, und Blücher mit großer Kühnheit in Frankreich sich vertiefte, ließen die sächsischen Herren es nicht an warnenden Aeußerungen fehlen, wie gefährlich es sei, in ein feindliches Land einzudringen, das sich ohne Zweifel für seinen glorreichen Herrscher erheben werde; schon höre man, daß Napoléon eine Levee en masse organisire; diese sei ungefähr unserem Landsturm gleich zu achten, aber wegen des feurigen Karakters der Franzosen viel furchtbarer; weit zuträglicher sei es, dem gewaltigen Kriegshelden, der zur Zeit noch nicht besiegt sei, billige Bedingungen zuzugestehn, wäre es auch nur, um ferneres Blutvergießen zu vermeiden.

Solche und ähnliche Reden ließen zuweilen in den jugendlichen Gemüthem einen besorglichen Eindruck zurück. Aber fast unwillkührlich befreiten wir uns von diesen bänglichen Stimmungen durch einen Nachmittagsbesuch bei dem Grosvater Eichmann. Hatte er sein Mittagschläfchen vollbracht, so war er gewöhnlich sehr munter, und richtete unsern gesunkenen Muth durch seine kräftigen, derben, manchmal cynischen Aeußerungen wieder auf. Er freute sich, wenn wir ihm Nachrichten vom Kriegschauplatze mittheilen konnten, die noch nicht in den Zeitungen gestanden. Aber gewöhnlich wurde er übler Laune, wenn wir uns in das Gebiet der Politik versteigen wollten. Als der Kongreß von Chatillon uns einige Sorge418 machte, und als Fritz sehr superklug äußerte, daß Preußen wohl dabei zu kurz kommen könne, rief der Grosvater voller Entrüstung aus: Bekümmert euch doch nicht um Sachen, die euch nichts angehn, und sprecht nicht von Dingen, wovon ihr nichts versteht! Bei dem Kongresse ist Preußen durch Wilhelm von Humboldt vertreten, den ich als einen unserer gescheidtesten Köpfe kenne. Aber verlaßt euch darauf, der Kongreß wird nichts zu Stande bringen: denn Napoléon wird auch die besten Bedingungen nicht annehmen. Es bleibt nichts übrig, als ihn todt zu schlagen, wie einen tollen Hund! Dann werden wir Ruhe haben!

Im Anfange des Jahres 1814 gewann der spanische Krieg, den Napoléon auf eine so leichtsinnige Weise angefangen, eine früher nicht geahnte Wichtigkeit. Ohne besondere Mühe hatte Napoléon seinen Bruder Joseph im Jahre 1808 nach Madrid geführt, und auf den spanischen Thron gesetzt; es bedurfte aber einer französischen Armee von 40 60,000 Mann, um das durchaus widerspänstige Land im Zaume zu halten. Vergebens versuchten die besten französischen Marschälle, Lefevre, Marmont, Massena, Ney, Soult, Suchet, eine dauernde Unterwerfung herbeizuführen, die Flamme des Aufruhrs, durch den kleinen Krieg der Guerillas genährt, loderte an allen Ecken und Enden von neuem empor. England sendete den General Moore den Spaniern zu Hülfe; er ward vom Marschall Soult bis an das Meer gedrängt, und in einer Entscheidungschlacht bei Coruna besiegt, in welcher Moore selbst das Leben verlor, als er den Rest seiner Truppen auf die englischen Schiffe retten wollte.

Nun ward der General Wellington mit einem neuen Heere ausgerüstet. Anfangs versprach man sich nicht viel419 von ihm; allein kaum war er in Lissabon glücklich gelandet, so entfaltete er ein überlegenes Feldherrntalent, dem ein französischer Marschall nach dem andern weichen mußte. Wellington war gerade das Gegentheil von Napoléon. Während dieser durch die Kühnheit seiner Pläne und die Heftigkeit seiner Angriffe die Gegner in Verwirrung brachte, so verfuhr Wellington überall mit der äußersten Vorsicht, nahm die festesten Stellungen ein, zögerte, zog sich weit zurück, wenn er in Gefahr kam, und ging nicht eher zur Offensive über, als bis er seiner Ueberlegenheit sicher war. In einem fünfjährigen zähen Kampfe auf der iberischen Halbinsel ermüdete und schwächte er die französischen Heere auf das äußerste. Als nun vollends Napoléon behufs seines russischen Feldzuges einen Theil seiner Truppen aus Spanien zurückzog, so drang Wellington immer kräftiger vor, und eroberte zum zweiten Male Madrid, das er früher schon einmal eingenommen, aber wohlweislich wieder aufgegeben hatte. Der König Joseph verließ bei seinem Herannahen eiligst das feindselige Land und floh nach Frankreich. Am 12. Juni 1813 siegte Wellington bei Vittoria über den französischen Marschall Jourdan, und nun war Spanien auf immer für die Franzosen verloren.

Von diesen Vorgängen brachten unsere Zeitungen hin und wieder eine sehr fragmentarische Kunde; das Interesse daran wurde durch den in Deutschland tobenden Kampf verschlungen. Als etwas von dem Vertrage von Chaumont verlautete, durch den Napoléon auf immer beseitigt werden sollte, so hörten wir gleichzeitig mit frohem Erstaunen, daß Wellington die Pyrenäen überschritten habe, und mit vorsichtiger Langsamkeit in Frankreich einrücke. Noch mehr erweiterte sich der Blick bei der Aussicht, daß er420 direkt auf Paris marschiren, und sich dort mit den Verbündeten vereinigen werde. Einen so glorreichen Ausgang des großen Kampfes wagte man kaum zu hoffen, und die Erfüllung überstieg die kühnsten Erwartungen.

Am 10. März 1814 ward Napoléon in der Schlacht bei Laon vom alten tapfern Blücher besiegt und zurückgedrängt; am 14. März fiel Bordeaux in die Hände der Engländer. So näherte sich von beiden Seiten das Verhängniß. Napoléon machte noch einen Versuch, ostwärts gegen den Rhein vorzudringen, die Verbündeten ließen ihn ziehn, gingen in seinem Rücken gerade auf Paris los, erstürmten am 30. März den Montmartre, und zogen in die feindliche Hauptstadt ein. Zu spät ward Napoléon seines Irrthums inne, in Eilmärschen ging er zurück, kam aber nur bis Fontainebleau. Die Verbündeten wußten nicht recht, was sie mit ihm anfangen sollten, nachdem sie auf Talleyrands Betrieb die alte Dynastie der Bourbonen wieder auf den französischen Thron gesetzt. Es war fast ein Spott zu nennen, daß man dem gewaltigen Napoléon, der als Sieger von Lissabon bis Moskau, von Berlin bis Kairo geboten hatte, die kleine Insel Elba als Königreich mit einem kleinen Landheere und einer kleinen Flotte zugestand. Es schien vielen unwahrscheinlich, daß er dort ruhig bleibe, aber niemand erwartete, daß er schon in Jahresfrist losbrechen werde.

Die Nachricht von der Einnahme von Paris, die jetzt in wenigen Minuten die 200 Meilen bis Berlin durchfliegen würde, brauchte damals 10 Tage: denn ein Kurier konnte nicht mehr als 20 Meilen an einem Tage fahren oder reiten, besonders in Deutschland, wo es fast gänzlich an Chausseen fehlte. Wir erhielten die wichtige Kunde erst am 10. April,421 und betrachteten damit den großen Völkerkampf als abgeschlossen.

Wenn ich auf jene bewegte Zeit meines Jugendlebens einen Rückblick werfe, so erscheint mir immer von neuem Napoléon wie eine dämonische Gewalt, von der Vorsehung dazu bestimmt, das alte Europa aufzulösen und durcheinander zu rütteln. Den giftigen Haß, mit dem wir ihn damals verfolgten, hatte er vollkommen durch seine maaßlosen Gewaltthaten verdient; jetzt pflegt man seine Willkührherrschaft mit der Größe seiner Mission, wo nicht zu rechtfertigen, doch zu entschuldigen, aber die von seinen Schlägen betroffenen und zermalmten konnten sich wenig von der Berechtigung dieser Mission überzeugen. Daß ein einzelner Mensch beinahe 20 Jahre lang der Mittelpunkt und Lenker der europäischen Völkergeschichte gewesen sei, erfüllte uns mit Staunen, aber wir jüngeren standen den Ereignissen viel zu nahe, um ein unparteiisches Urtheil gewinnen zu können. Napoléon bleibt in meiner Vorstellung auch jetzt noch der Unhold, der Bösewicht, der Alp meiner Jugend. Aus der Bewunderung, in die mich späterhin das Studium seiner Feldzüge versetzte, falle ich nur zu leicht in den tödlichen Widerwillen zurück, mit dem ich aufgewachsen bin. Wenn ich manchmal meinen Kindem und deren Altersgenossen erzähle, daß ich Napoléon im Jahre 1806 in das Schloß zu Berlin habe einreiten sehn, so wird dies fast wie ein mythisches Ereigniß betrachtet; ich erinnre mich dann meines eignen wunderbaren Gefühles bei der Erzählung des Grosvaters Nicolai, daß er seinen Vater im Jahre 1740 von der Huldigung Friedrichs II. habe zurückkommen sehn. 422

Aber der düstre Schatten, den Napoléons Riesengestalt auf meine frühsten Jahre geworfen, erbleicht vor dem Sonnenglanze der Erinnerung an die Freiheitskriege von 1813 u. 1814. Dies eine Jahr der Erhebung entschädigte für die voran gegangenen sieben Jahre der Knechtschaft. Es wird nicht viele Momente in der Geschichte geben, wo ein ganzes Volk mit gleicher Opferwilligkeit alle seine zeitlichen Güter daran setzte, um das höchste geistige Gut, die Freiheit, zu erwerben. Daß dies große Gefühl alle Stände durchdrang, daß gar keiner zurückbleiben wollte in dem allgemeinen Wetteifer, daß Vornehme und Geringe in neidloser Vereinigung neben einander thätig waren, um das herrliche Ziel zu erreichen, das wird dem Andenken an jene Zeit immer eine ganz besondere Weihe geben.

Während des Sommers 1814 kehrten die Truppen in ihre Heimath zurück, und da ward der Einzug jedes Regimentes zu einem Freudenfeste. Zuerst brachte am 7. Juni ein Kurier mit 30 blasenden Postillionen die Nachricht von dem in Paris abgeschlossenen Frieden; am 3. Juli folgte der Einzug der freiwilligen Gardejäger zu Fuß und zu Pferde, unter denen wir manchen lieben Freund und Bekannten begrüßten; am 3. August, als an seinem Geburtstage kehrte der König Friedrich Wilhelm III. in seine festlich geschmückte Hauptstadt zurück; am 14. August sahen wir den Einzug der russischen Garden, die nach treugeleisteter Bundesgenossenpflicht in ihre kalte Heimath abzogen.

Als ganz besonderen Festtages muß ich des 17. August erwähnen, an dem Blücher den Turnplatz besuchte. Dies Ereigniß machte auf die dort versammelte Jugend den lebhaftesten Eindruck. Sobald es hieß: da kömmt der423 alte Blücher! so wurden die Kletterbäume, die Recke, die Barren verlassen, und die in graue Leinwandjacken gekleidete Schaar umringte den hochverehrten Gast. Der greise Held trug einen einfachen blauen Ueberrock und einen runden Hut. Zwei Adjutanten in Civil begleiteten ihn. Mit rüstigem Schritte watete er durch den tiefen Sand, der zwischen den dünnen Rasenstellen der Hasenheide unter den dürftigen Kiefernbäumen große Strecken des Bodens bedeckte. Nachdem er den ganzen Turnplatz durchwandert und einige Uebungen mit angesehn, hielt er uns zum Abschiede eine Rede, ungefähr folgenden Inhaltes: er habe sich sehr gefreut, uns so eifrig in der Erwerbung von körperlicher Geschicklichkeit zu finden; wir würden dadurch im Stande sein, später noch größere Beschwerden zu ertragen, und wenn das Vaterland noch einmal nöthig haben sollte, zu seiner Vertheidigung die Waffen zu ergreifen, so werde es uns bereit finden, mit in die Reihen des Heeres einzutreten.

Mit einem lauten Hurrah wurde er entlassen, und nun schwirrten die Bemerkungen über alles was er gesagt und gethan, fröhlich durcheinander. Wir hatten damals mehrere Puristen unter uns, zu denen auch Freund Lette gehörte, die kein fremdes Wort in der deutschen Sprache leiden, und es dem hohen Gaste aufmutzen wollten, daß er in seiner Rede zwei französische Worte gebraucht: Messieurs und Fatiguen, aber sie wurden gründlich ausgelacht. Mit dem erhebenden Gefühle, daß der Besieger Napoléons uns seiner Aufmerksamkeit würdig geachtet, gingen wir nach Hause, wo Fritz mit unendlicher Zungengeläufigkeit den wichtigen Vorfall erst meiner Schwester, dann den Aeltern, dann den Dienstleuten auseinandersetzte. 424

Der alte Blücher mochte wohl bei Hofe von diesem Besuche gesprochen, und den muntern Geist der hellgrauen Jugend gerühmt haben: denn am 28. September erschien der Kronprinz (nachheriger König Friedrich Wilhelm IV. ) auf dem Turnplatze, und die Jahresfeier der Schlacht von Leipzig am 19. Oktober 1814 ward durch die Gegenwart aller Prinzen und Prinzessinnen verherrlicht. Bei diesen vornehmen Gästen herrschte natürlich viel Ceremoniel; wir durften uns nicht so nahe herandrängen, als zum alten Blücher; die Uebungen wurden mit großer Regelmäßigkeit ausgeführt, und das Ganze hatte mehr den Karakter einer feierlichen Schaustellung, als den eines gemüthlichen Zusammenseins.

Während des Winters von 1813 auf 1814 fanden wir einen großen Genuß in den Briefen der Tante Jettchen aus Nachod in Böhmen. Sie hatte im Sommer 1813 die Frau Elisa von der Recke nach Karlsbad als Gesellschaftsdame begleitet. Beim Schlusse der Brunnenkur zogen sich an der böhmisch-sächsischen Gränze die Gewitterwolken des Krieges auf das schwärzeste zusammen, es war sogar die Frage, ob Frau von der Recke über die sächsische Gränze werde nach Dresden zurückkehren können. Da bot ihr die Herzogin von Sagan, ihre Nichte, eine Freistatt für sich und ihren unzertrennlichen Begleiter Tiedge in dem böhmischen Schlosse Nachod. Tante Jettchen folgte ihr, um den ganzen Winter dort zuzubringen. Ihre lebendigen Schilderungen in den nach Inhalt, Form und Schrift mustergültigen Briefen machten uns in dem fremden Orte, von dem wir nie etwas gehört, ganz heimisch. Es war jedesmal ein Fest in unsrer Familie, wenn der Briefträger ein blaues Couvert an meine Mutter, an den425 Grosvater oder die Grosmutter Eichmann abgab. Schon die Reise von Karlsbad nach Nachod durch unwegsames Gebirge bot mancherlei Schwierigkeiten, und war reich an kleinen interessanten Abentheuern, deren Hauptreiz in der leichten launigen Darstellung bestand. Das Schloß Nachod liegt in Böhmen, hart an der schlesischen Gränze, auf einem hohen Berge, zu dem auf der einen Seite ein langer gewundener Fahrweg, auf der andern eine Treppe von mehreren 100 Stufen emporführen. An Raum fehlte es nicht; man hatte die Wahl zwischen 60 mehr oder weniger eingerichteten Zimmern. Frau von der Recke verstand es, ihrer ganzen Umgebung das Gepräge des innerlichen und äußerlichen Wohlbehagens aufzudrücken, und bald waren ein paar Zimmer auf das wohnlichste und bequemste hergestellt, von deren Fenstern man einer weiten Aussicht über den unten liegenden kleinen Ort, über Feld und Thal bis an die fernen Gebirge genoß.

Das Schloßgesinde zeigte die äußerste Beflissenheit, aber nur der Kastellan, der sich in altmodischer gallonirter Uniform darstellte, sprach deutsch, alle übrigen böhmisch. Doch auch das Deutsch des Kastellans konnte man oft nur errathen, weil es eine bedenkliche Verwirrung der Artikel, der Pronomina und der Syntax zeigte. Mit guter Laune schilderte die Tante ihre ersten Versuche in der Erlernung der böhmischen Sprache, um mit ihrer Kammerfrau von der Zeichensprache zur mündlichen Mittheilung überzugehn. Sehr lästig war ihr anfangs, daß, wenn sie allein durch den Ort ging, alle begegnenden Kinder auf sie zustürzten, um ihr die Hand zu küssen. Die in Karlsbad oft gehörte Redensart: Kuß d’Hand, Ihr Gnaden! sei in Nachod zur Wirklichkeit426 geworden, aber sehr bald hätten ihre Handschuhe sich daran gewöhnt.

Der Pfarrer des ganz katholischen Ortes hielt es für seine Pflicht, der Verwandten seiner erlauchten Gebieterin aufzuwarten; Frau von der Recke zog ihn öfter zur Tafel, und es entspann sich ein sehr angenehmer Umgang, der durch das edle Wohlwollen der Wirtin und die gemessene, aber heitre Haltung des Gastes bald den Karakter der Herzlichkeit annahm. Der Pfarrer besaß, wie fast alle Czechen, eine gründliche musikalische Bildung, er spielte mehrere Instrumente, er sang, er komponirte. Tante Jettchen hatte nicht so bald merken lassen, daß sie die Guitarre spiele, als er ihr sogleich eine verschaffte, und mehrere Stücke aus Tiedges Urania mit leichter Begleitung in Musik setzte. Dies war eine große Freude für Frau von der Recke. Sie dankte dem guten Pfarrer mit einer wahrhaft rührenden Innigkeit, und erbat sich oft zum Schlusse der langen Winterabende ein Stück aus der Urania, das der Pfarrer mit klangvoller Stimme zur Guitairenbegleitung vortrug. Die Kompositionen überreichte er der Tante Jettchen in der saubersten Abschrift mit einer kalligraphischen Widmung An Mademoiselle Henriette von Eichmann. Wir betrachteten sie später oft in Berlin, aber ich konnte den sorgfältigen steifen Schriftzügen des Pfarrers im Vergleiche mit dem idealen Schwunge der Tante nur einen sehr untergeordneten Werth beilegen.

Während des Waffenstillstandes ward in Nachod die Möglichkeit ins Auge gefaßt, daß die Franzosen oder die Alliirten den Ort besetzen, und das Schloß mit Einquartirung belegen könnten. Da zeigte sich erst der Reichthum des fürstlichen Hauses. Der Kastellan ließ sofort427 im Erdgeschosse 50 Betten zur Aufstellung bereit halten. Aber die Kriegsgefahr ging vorüber, und Nachod sah keinen Feind in seinen Mauern. Die Gäste, welche damals das Schloß bewohnten, und jetzt längst nicht mehr sind, ahneten wohl kaum, daß 53 Jahre später, im Sommer 1866, die Preußen als siegreiche Feinde in Nachod einrücken würden.

Frau von der Recke war gewohnt, auf ihrem Tische einen leichten französischen Rothwein zu sehn, den man in dem elenden Neste Nachod vergebens würde gesucht haben, dessen Einführung überdies das östreichische Prohibitivsystem gar nicht erlaubte. An die herben böhmischen und an die feurigen ungrischen Weine kann ein Fremder sich nicht leicht gewöhnen. Da erschien anfangs guter Rath theuer, aber die herzoglichen Gäste erfuhren bald durch den dienstfertigen Kastellan, daß an der preußischen Gränze, unter den Augen der östreichischen Mautbehörde ein wohlorganisirtes Schmuggelsystem bestehe, um aus Schlesien nicht bloß alle Arten von fremden Weinen, sondern auch Kaffee, Zucker, Wachslichte, Seiden - und Wollenwaaren besser und wohlfeiler zu beziehn, als man sie in Böhmen haben konnte. War also im Schlosse der Vorrath von Wein und Kolonialwaaren ausgegangen, so machte Tante Jettchen im Wagen der Frau von der Recke eine Spazierfahrt über die Gränze, und kam mit gefülltem Sitzkasten zurück. Am Fuße der steilen, zum Schlosse führenden Treppe wurde alles den harrenden Bedienten übergeben, um es hinaufzutragen. Dann fuhr die Tante vor die Maut, wo ein Zollbeamter sich mit auf den Bock setzte, um die Visitation oben im Schlosse vorzunehmen. Während der Wagen langsam den Fahrweg hinaufkroch, waren längst die Einkäufe in Sicherheit gebracht; der428 Zöllner entfernte sich mit einem guten Trinkgelde und sehr vielen: Kuß d’Hand, Ihr Gnaden!

Neben dieser milden Praxis bestand aber ein ganz willkührliches strenges Visitationsverfahren, nach welchem Frau von der Recke bei ihren Spazierfahrten innerhalb der Gränze von einem beliebigen, bewaffneten Zollwächter angehalten ward, der wie ein Strauchdieb seinen rothbärtigen Kopf zum Wagenfenster hineinsteckte, und auf das brutalste in böhmischer Sprache oder in unverständlichem Deutsch nach verbottenen Objekten fragte. Dies geschah aber nur im Anfange; nach einer Beschwerde bei der Haupt-Maut-Kommission auf der nächsten Einbruchstation ließ man den Wagen der fremden Gräfin überall ungehindert passiren.

Von den historischen Merkwürdigkeiten des Schlosses erfuhren wir manches interessante. Es hatte früher dem Fürsten Piccolomini gehört, der durch den Verrath an Wallenstein eine traurige Berühmtheit erlangte. Mancherlei Erinnerungen aus dem dreißigjährigen Eriege belebten die alterthümlichen Mauern. Die Gallerie enthielt mehrere gleichzeitige historische Bildnisse, die Rüstkammer zeigte die Harnische mancher bekannten Persönlichkeiten. Eine Bibliothek und ein verstaubtes Naturalienkabinet fehlten nicht. Wenn das schlechte Wetter das Ausgehn verhinderte, so konnte man sich in den langen gewölbten Korridoren Bewegung genug machen.

Alles dies und noch vieles andere, was meinem Gedächtnisse entschwunden ist, fanden wir in den anziehenden Briefen der Tante. Als im Frühjahre die Wege durch Böhmen nur irgend gangbar wurden, verließ Frau von der Recke ihre Winterresidenz Nachod, um auf die Güter429 ihrer Schwester bei Altenburg zu gehn, und am 10. März 1814 hatten wir die Freude, die Tante Jettchen wieder in Berlin zu begrüßen. Nun wurden ihre Briefe durch die mündlichen Mittheilungen erst recht lebendig; wir hörten ihr ganze Abende zu, wenn sie von dem veränderten Leben, von der Einsamkeit der Wintertage, von den bezaubernden Effekten der Wintersonne auf die Schneefelder, von den vielen lächerlichen Misverständnissen mit dem böhmischen Dienstpersonale erzählte. Eine düstre Schilderung machte sie von der geistigen Versunkenheit des Landes, von der völligen Stumpfsinnigkeit der Böhmen in politischer Hinsicht, von der krassen Unwissenheit und dem Mangel an jeder höheren Bildung. Oestreich hatte eben so viel, vielleicht noch mehr als Preußen von Napoléon zu leiden gehabt, aber von einem nationalen Aufschwunge wußte man in Oestreich nichts. Böhmen war wunderbarer Weise von einem französischen Heere nie betreten worden, die Einwohner hatten daher die Schrecken des Krieges nie in der Nähe gesehn, und bezeigten sich sehr gleichgültig bei der drohenden Nähe des Feindes.

Von dem Geldwesen und der Finanznoth gab uns die Tante ein halb trauriges, halb komisches Bild. Die Regierung, sagte sie, habe den armen Leuten nicht nur vier Viertel, sondern fünf Viertel ihres Vermögens genommen, indem man zuerst das Silberzeug mit einem Viertel seines Werthes besteuerte, bald darauf aber alles Silberzeug, selbst das der Kirchen, mit Beschlag belegte und einschmolz. Dennoch war es den reichen Domgeistlichen in Prag möglich, den Sarg des heiligen Nepomuck zu retten, der eilf Zentner massiven Silbers enthalten sollte. Im gewöhnlichen Verkehre gab es nichts als Papiergeld und Kupfer; die430 Papiergulden hießen Scheine, und so ward bald alles Geld spottweise ein Scheingeld genannt. Um den Kleinverkehr nicht ganz stocken zu lassen, prägte man für diese Scheingulden je 60 Kupferkreuzer; sie erhielten folgerichtig den Namen Scheinkreuzer und standen zu den ächten alten Kreuzern, die sich nicht gleich dem Verkehre entziehn ließen, in einem wechselnden, aber immer incommensurabeln Verhältnisse, Gold - und Silbermünzen waren gänzlich verschwunden, oder wurden, wo sie sich zeigten, zu enormen Preisen bezahlt. Frau von der Recke hatte ihr Reisegeld in schönen, vollwichtigen holländischen Dukaten mitgebracht; diese wurden in Nachod zu je 55 Papiergulden ausgegeben. Schon vor dem Jahre 1811 hatte der östreichische Staat nur in Papiergeld gezahlt, das zwar dem Namen nach in allen kaiserlichen Kassen für voll sollte angenommen werden, aber sehr bald tief unter dem Nennwerthe stand. Bei dem großen Staatsbankerotte im Jahr 1811 wurde dieses schlechte Papiergeld bis auf ungefähr ein Viertel seines Werthes herabgesetzt, und zahllose Familien geriethen dadurch in das äußerste Elend.

Tiedge, der ein recht guter Lateiner war, hörte in Nachod von der Tante Jettchen, daß sie sich schon früher zur Erlernung der Botanik mit dem lateinischen beschäftigt. Er schlug ihr vor, täglich eine Stunde dieser Sprache zu widmen, für welche die Schloßbibliothek einige Hülfsmittel bot. Sie ergriff diesen Vorschlag mit solchem Eifer, und wendete einen so ausdauernden Fleiß auf ihre Präparationen, daß sie am Ende des Winters zusammen den Horaz lasen.

431

Nach dem Kriege.

Als wir im Frühlinge 1814 wieder nach dem großen Garten in der Blumenstraße hinauszogen, erinnerten wir uns mit Freuden, daß jetzt nicht mehr, wie im vorigen Jahre, der Feind vor den Thoren stehe, daß vielmehr unsere Truppen die feindliche Hauptstadt besetzt hielten. Die im Laufe des Sommers nach und nach zurückkehrenden Freunde waren bei meinen Aeltern gern gesehene Gäste, und es verging selten ein Abend, wo nicht die heisere Glocke der Hofthür einen Besuch gemeldet hätte. Unter den Besuchern waren aber auch manche, die der jüngeren Generation nicht zusagten; da fanden wir ein leichtes Mittel sie zu vermeiden. Von der Terrasse des Hauses konnte man bequem über die Gartenmauer die lange einsame Straße hinuntersehn, die damals fast nur mit Holzzäunen eingefaßt war. Sahen wir nun von der Mauer aus einen unangenehmen Besuch im Scheine der Abendsonne den Zaun entlang wandeln, so eilten wir flugs in den hinteren Theil des Gartens, bis wohin ein Ruf von der Terrasse nicht dringen konnte, kletterten auf den großen Kastanienbaum, der uns leicht in seinen weiten Aesten versteckte, oder verkrochen uns in das Ananashaus. Erst wenn zum432 Abendessen das Pfeifchen meines Vaters ertönte, kamen wir wieder zum Vorschein.

Den angenehmen Besuchern gingen wir gern ein Stück Weges entgegen, und führten sie gleich zu den besten Kirschbäumen und den reichsten Erdbeerbeeten. Beim Umherstreifen durch den Garten und beim fröhlichen Abendessen gaben die Erlebnisse der heimgekehrten Krieger einen unerschöpflichen Stoff der Unterhaltung. Fritz war unermüdlich im fragen, und fiel bisweilen beschwerlich, aber wir erfuhren dadurch doch manches interessante. Bald wurde ich inne, daß die Erzählungen der einzelnen Soldaten nur einen unendlich kleinen Bruchtheil von dem Gange des Feldzugs darstellten, und daß eine Uebersicht nur durch die Vergleichung verschiedener Berichte zu gewinnen sei. Selbst von den Schlachten, denen die Freunde beigewohnt, konnten sie selten ein richtiges Bild entwerfen, weil sie entweder im dichtesten Handgemenge steckten, oder als Deckung einer Batterie ausharrten, oder erst in der Reserve heranrückten, u. s. w.

Mein liebster Freund August, der bei den Lützowern gestanden, und jetzt wieder neben mir in der Secunda des Grauen Klosters saß, mußte mir über alles und jedes, was er erlebt, Auskunft geben. Seine körperliche Kraft und Gewandtheit kamen ihm in vielen Fällen zu Statten, doch läugnete er nicht, daß an den ersten 8 Tagen des Marsches die schwere Büchse ihm viel Unbequemlichkeit verursacht, bis er sich gewöhnte, gar nicht mehr daran zu denken, wenn sie ihn auf der Schulter drückte. Wegen seiner Kurzsichtigkeit trug er eine Brille, damals etwas ungewöhnliches für einen gemeinen Soldaten. Bei der ersten, an einem Ruhetage angestellten Schießübung wurde433 sein Oberjäger darauf aufmerksam, und rieth ihm sie abzulegen: denn, setzte er besorglich hinzu, wenn Sie einen Schuß darauf bekommen, so kann Ihnen ja Glas in’s Auge springen! August hatte eine eisenfeste Hand, und schoß bald so gut, daß er selbst Oberjäger wurde.

Wie war dir denn zu Muthe, August, fragte ich ihn, als du zum ersten Male ins Feuer gingst? Nicht besonders, erwiederte er, das war gegen die Dänen, die wir noch gründlicher gehaßt haben, als die Franzosen. Sie waren eine heimtückische Nation, und schossen zuweilen mit gehacktem Blei. Wir hörten in der Ferne Kanonendonner, und marschirten gerade darauf zu; ein kleiner Wald lag vor uns, da wurde Halt gemacht, und ein wenig gerastet. Dann ging’s weiter vorwärts; als wir durch den Wald hindurch waren, fanden wir schon das Gefecht im vollen Gange. Wir wurden als Tirailleurs gegen den Feind geschickt, und sahen nichts, als einen dicken Pulverdampf, in den wir hineinschossen, sobald sich eine kenntliche Gestalt zeigte. Dann hörten wir das Homsignal zum Rückzuge, und gingen langsam bis in den Wald. Hier setzten wir uns wieder, erhielten Verstärkung, und rückten noch einmal vorwärts. Es kam nicht viel dabei heraus; die Dänen zogen sich gegen Abend zurück, und wir mußten noch eine gute Strecke querfeldein marschiren, ehe wir in die Quartiere kamen.

Ein andres Mal hatte die dänische Kavallerie das Lager der Lützower in der Nacht überfallen und arg darin gewirtschaftet. Aber um’s Himmelswillen, rief ich, wie ist es dir da ergangen? Nun, sagte er, ich zog mich geschwind an, und griff nach meiner Büchse. Weil es ganz finster war, so machten wir uns große Feuer an, und jag -434 ten die Dänenhunde wieder hinaus. Einen dänischen Reiter, der mit gezogenem Säbel auf mich zukam, putzte ich vom Pferde herunter.

An der Göhrde hatten die Lützower ein heftiges Gefecht zu bestehn, bei dem August sehr in’s Gedränge gerieth. Beim Retiriren seines Zuges wurde er abgeschnitten, und lief aus Leibeskräften, um ihn einzuholen. Da sah er vor sich einen tiefen Graben und hinter sich die nachsetzenden Feinde. Ohne Bedenken warf er sich ganz erhitzt in’s Wasser, und erreichte halb watend, halb schwimmend, von feindlichen Kugeln umsaust, glücklich das jenseitige Ufer. Auf meine naive Frage, ob ihm die Erkältung nicht geschadet? erwiederte er, es sei doch immer besser, sich erkälten, als gefangen werden; er sei gleich weiter gelaufen, um den Seinen nachzukommen, doch leide er seitdem viel an Kopfweh. Dies Uebel hat ihn auch nicht wieder verlassen; eine immer mehr sich ausbildende Gehirnkrankheit wurde die Ursache seines frühzeitigen Todes.

Von Theodor Körner wußte er mir nichts weiter mitzutheilen, als daß er ihn einige Male flüchtig gesehn, und sein unerwartet schnelles Hinscheiden mit dem ganzen Corps innig bedauert habe. Auch August hatte sehnlich gewünscht, an einer großen Schlacht Theil zu nehmen, aber dies Glück wurde den Lützowern nicht zu Theil. Sie schoben dies mit auf das Unglück, das ihren braven Führer, den Obersten von Lützow, unablässig verfolgte. An Muth und Geschicklichkeit stand er gewiß keinem andern Offiziere nach, aber seine militärische Laufbahn bestand fast nur aus schwerer Verwundung und Gefangenschaft. Man verwendete das Freicorps anfangs in Meklenburg und in435 der Umgegend von Hamburg gegen die Dänen; allein es wollte überall nicht recht gehn, weil der Anführer entweder verwundet oder gefangen war. Lützows wilde Jagd von Körner kursirte schon in mehreren Abschriften, und wurde nach beliebigen Melodien gesungen; aber die letzte Zeile travestirten die schwarzen Jäger:

Das war Lützows stille verlegene Jagd!

Weder bei den deutschen Entscheidungschlachten nach dem Waffenstillstande von 1813, noch bei den ruhmreichen Kämpfen in Frankreich im Anfange des Jahres 1814 konnten die Lützower thätig sein. Lange, langweilige Wochen verstrichen ihnen bei der Einschließung der Festung Jülich. Als sie in Frankreich einrückten, ward August, weil er französisch sprach, zum Fourier ernannt, und hatte nun einen leichteren Dienst. Zuweilen requirirte er bei den Bauern Pferde, um schneller zur Stelle zu kommen, aber dies gab wenig Erleichterung, weil das Reiten auf den kolossalen französischen Ackerpferden mit oder ohne Sattel eher eine Beschwerde als ein Vergnügen zu nennen war. Lange bewahrte ich unter meinen Papieren eine geistvolle kleine bunte Zeichnung des Malers Ernst Welker, eines Lützower Reiters. Sie zeigte einen Lützower Fourier auf einem riesengroßen Grauschimmel, und hinter ihm auf einem ähnlichen Elephanten einen französischen Bauern in rother Jacke und mit weißer Nachtmütze, der das Pferd des Fouriers durch einen langen Baumzweig in Trab zu setzen versucht.

Langsam rückten die Lützower den siegreichen Heeren bis in die Nähe von Paris nach; auch zur Erstürmung des Montmartre kamen sie zu spät. In den wilden Ardennen, dem Schauplatze so manches romantischen Aben -436 theuers, hatte sich eine Art von französischem Landsturm gebildet, der aus verschiedenen Banden bewaffneter Bauern bestand. Nach Art der spanischen Guerillas fingen sie einzelne Nachzügler auf, und machten die Verbindungen unsicher. Hier fiel der Lützower Friesen, dessen Andenken neben dem von Theodor Körner bei allen seinen Kameraden lange Zeit lebendig blieb. Jahn nennt ihn in seinem Nachrufe: einen Reiter in allen Sätteln gerecht, einen unnahbaren Fechter auf Hieb und Stoß, im Schwimmen, Laufen, Ringen unübertroffen. Bei einem einsamen Ritte durch den Ardenner Wald war Friesen spurlos verschwunden, und kam nie wieder zum Vorschein. Alle Nachforschungen waren vergebens, erst mehrere Jahre nachher erfuhr man die näheren Umstände seines Todes. Im dichten Walde fiel Friesen in einen Hinterhalt bewaffneter Bauern, die zuerst sein Pferd niederstießen. Geschickt schwang er sich aus dem Sattel, deckte den Rücken durch einen Baum, und vertheidigte sich mit dem Säbel gegen die Knittel und Stangen. Bald ward ihm die Klinge zerschlagen; da wendete er sich mit rascher Besonnenheit an den Anführer, überreichte ihm den Griff, und sagte: er ergebe sich zum Gefangnen, und hoffe von der französischen Grosmuth nach ehrlichem Kriegsbrauche behandelt zu werden. Die bei der Ehre gefaßten Bauern schonten seines Lebens, umringten ihn und führten ihn gefangen fort. So hätte er wohl davonkommen können, aber unglücklicher Weise begegnete ihnen ein zweiter Schwarm, der von Pardon nichts wissen wollte. Von diesem ward er nach kurzen Unterhandlungen erschlagen, und an derselben Stelle im Walde verscharrt.

Als ich von August zu erfahren wünschte, wie sich437 unser verehrter Turnvater Jahn im Felde benommen, wollte er anfangs nicht recht mit der Sprache heraus, mußte mir indessen bald gestehn, daß Jahn den hohen, von ihm gehegten Erwartungen nicht entsprochen habe. Daß ihm weder taktisches noch strategisches Talent beiwohne, mochte man ihm gern zu Gute halten: denn dergleichen Fähigkeiten sind angeboren; sie lassen sich nicht erlernen. Weit bedenklicher schien die Bemerkung, daß er, wenn es galt, frisch in’s Feuer zu marschiren, nicht immer gleich bei der Hand war. Seinen polternden Ton kannten seine freiwilligen Jäger schon vom Turnplatze her, aber sein übermäßiges Raisonniren und Schimpfen auf alles, was ihm nicht recht war, mußte unausbleiblich dahin führen, die moralische Achtung vor ihm zu verringern.

Zu den willkommenen Gästen im großen Garten gehörten auch die beiden Söhne des Onkels Kaiser, Eduard und Julius. Der erste hatte bei den Dragonern gestanden, und nahm nun seine frühere Beschäftigung als Landwirth wieder auf. Wir liebten den kleinen untersetzten Vetter zärtlich wegen seines freundlich-gemüthlichen Wesens. Er gehörte zu denen, die langsam und ohne Enthusiasmus, aber mit einem gewissen Humor und mit stehenden Redensarten erzählen. In der Schlacht bei Dennewitz wurde ihm das Pferd unter dem Leibe erschossen; da hatte ich das Vergnügen , sagte er ganz ruhig, meinen Mantelsack und das schwere Sattelzeug eine ganze Strecke zurückzuschleppen! Ein ander Mal wurde er als Ordonnanz quer über das Schlachtfeld geschickt. Die blauen Bohnen pfiffen ganz artig um mich herum, aber ich kam durch; zuletzt machten noch drei französische Chasseurs Jagd auf mich, aber mein Pferd war frischer, und bald mußten438 sie zurückbleiben. In einer andern Schlacht standen die französischen Truppen in Vierecken, die von der preußischen Kavallerie angegriffen wurden. Da hatte ich denn das Vergnügen, als rechter Flügelmann meines Zuges vier Mal in ein Quarre einzuhauen, aber drei Mal mußten wir Kehrt machen, und erst beim vierten Male konnten wir die Kerls klein kriegen, nachdem ein schlesisches Ulanenregiment uns zu Hülfe gekommen war. Da hieß es denn: nicht drei Mal, sondern vier Mal ist die brandenburgische Losung?

Mit seinem Rittmeister, dem Herrn von Osten, einem der bravsten Offiziere, stand Eduard in dem freundschaftlichsten Verhältnisse, und war lange Zeit sein Adjutant. Da er mit der Feder weit gewandter umging, als sein Vorgesetzter, so diktirte dieser ihm gern alle dienstlichen und außerdienstlichen Sachen.

Eines Tages trat der Rittmeister sehr erzürnt in die Adjutantur. Der kommandirende General hatte gegen ihn eine misbilligende Aeußerung gemacht, die er für ungerechtfertigt hielt, und wogegen er sich vertheidigen wollte. Setzen Sie sich, Kaiser; ich werde mir unterdessen eine Pfeife anmachen! Sind Sie fertig, Kaiser? Ja wohl, Herr Rittmeister! Schreiben Sie: Ew. Excellenz Lange Züge aus dem dampfenden Meerschaum, und unruhiges Auf - und Abgehn im Zimmer. Haben Sie: Ew. Excellenz? Ja wohl, Herr Rittmeister. Pause, um die Pfeife in besseren Gang zu bringen. Ew. Excellenz tadelnde Bemerkung Fortgesetzter Dampf. Haben Sie: tadelnde Bemerkung? Ja wohl, Herr Rittmeister. Lange Pause und erneuerter Qualm. Ew. Excellenz tadelnde Bemerkung kränkt mir Während Eduard noch439 bei sich überlegte, ob er grammatische Aenderungen in einem offiziellen Schreiben eigenmächtig machen dürfe, kam eine freundliche Einladung vom General zum Diner und zu einer Partie Whist. Vergessen war die tadelnde Bemerkung, und das angefangene Schreiben ward kassirt.

Ein anderes Mal diktirte Osten einen Brief an seine Frau, der also anfing: Geliebte Emilie! Die Kreuzigung meiner wird immer größer! Eben schickt mir der Kaiser von Rußland das Kreuz zum Wladimir-Orden, und das Kreuz zum östreichischen Leopoldi-Orden besitze ich schon. Nichts desto weniger sehne ich mich von Herzen nach meinem lieben Hauskreuz, und hoffe, dasselbe bei meiner Rückkehr in bester Gesundheit anzutreffen!

Eduards Bruder Julius, ein schlanker Mann mit edel geformtem Gesichte, den wir den schönen Julius nannten, war nicht im aktiven Dienst, sondern bei der Magazinverwaltung thätig gewesen. Er hieß deshalb auch der Mehlwurm, und wurde, wenn der Wein die Laune erhöhte, von den andern damit geneckt, daß er kein Pulver gerochen. Laßt’s gut sein , sagte er sanft, wenn ich nicht für euch Kommisbrodt angeschafft hätte, so hättet ihr ja gar kein Pulver riechen können!

Von den beiden Söhnen, die der Onkel Brese ins Feld geschickt, kam nur der älteste zurück; der jüngste, den wir wenig gekannt, blieb vor Danzig, bei einem heftigen Gefechte in den Laufgräben. Es trat dabei der seltne Fall ein, daß man seine Leiche nicht auffand, die Angehörigen schwebten daher längere Zeit in Ungewißheit über sein Schicksal. Als jedoch endlich die Festung von den Franzosen übergeben ward, aberzeugte man sich bald, daß er nicht etwa als Schwerverwundeter gefangen genommen sei. 440Er gehörte eben zu den Vermißten, die sich nicht wieder einstellten.

An seinem älteren Bruder, damals Hauptmann beim Geniecorps (jetzt Generallieutenant von Brese-Winiari) hingen wir mit warmer Freundschaft, obgleich sein ernstes Wesen uns großen Respekt einflößte. Wir hörten, daß er den Kronprinzen (nachherigen König Friedrich Wilhelm IV. ) in der Mathematik unterrichtet, daß dieser ihm eine dauernde Anhänglichkeit bewahre, und ihn noch immer mit Du anrede. Brese sprach sehr wenig, aber alles was er sagte, trug den Stempel der grösten Gediegenheit. Nun hieß es, er sei verlobt, und bald erschien der schmucke, glänzende Offizier im Hause meines Vaters mit seiner jungen Braut, Fräulein Wittchow, deren Reize und Liebenswürdigkeit die ganze junge Welt in Entzücken versetzten. Die Hochzeit ward gefeiert, und nach einem Jahre erhöhte ein prächtiger Junge das Glück der Aeltern. Aber bald trat das Schicksal mit unerbittlicher Härte ein. Der Knabe saß, von seiner Mutter gehalten, auf dem Fensterbrette, als er durch eine rasche Wendung mit dem Kopfe zurückfiel und eine Scheibe eindrückte. Die scharfe Glaskante zerschnitt ihm die Pulsader am Halse, und er verblutete sich in den Armen der verzweifelnden Mutter. Dieses tragische Ereigniß war um so grausamer, als die Ehe von nun an kinderlos blieb.

Die beiden ältesten Söhne des Onkels Eichmann, Julius und Franz, kamen wohlbehalten zurück, und verkehrten viel in unserm Hause. Julius war von männlich kräftiger Gestalt; er widmete sich dem Forstfache und liebte leidenschaftlich die Jagd. Er konnte uns kein größeres Vergnügen bereiten, als wenn er sein gewaltiges Jagdmesser441 mit vielen Klingen vorzeigte, deren stärkste, fast so lang wie ein Hirschfänger, dazu bestimmt war, dem gefallenen Hirsche die Sehnen der Hinterläufe durchzuhauen. Als wir ihn eines Abends im großen Garten herumführten, und uns recht viel von der Schlacht bei Leipzig erzählen ließen, sagte er zuletzt ganz trocken: Ja, den 18. Oktober ging es wohl scharf her, doch ist mir den Tag über die Pfeife nicht ausgegangen! Durch diese Bemerkung, die ich lange Zeit nicht verwinden konnte, ward mir das große welthistorische Ereigniß in die Sphäre der nüchternsten Prosa herabgesetzt.

Der jüngere Bruder Franz (jetzt Oberpräsident von Preußen), dessen ich schon gedachte, war zart gebaut und blaß; man fürchtete, als er ins Feld zog, er werde die Strapazen nicht ertragen können, aber die gute westphälische Natur, die von seinem Vater auf ihn übergegangen, bewährte sich; er kam kräftiger wieder, als er ausgezogen, und setzte seine juristischen Studien fort. Er wurde, sobald wir ihn von der Mauer aus erblickten, im Triumphe eingeholt. Ihm hörten wir fast am liebsten zu: denn seine Erzählungen von großer Lebendigkeit trugen den Stempel der ungeschminkten Wahrheit. Unter andern sagte er, in keiner Schlacht sei ihm der Kugelregen so dicht vorgekommen, als in der bei Gros-Görschen; er habe geglaubt, das möge wohl daran gelegen haben, daß dies das erste Mal gewesen, wo er im Feuer gestanden. Man habe aber nachher vernommen, daß Napoléon alles daran gesetzt, um die verhaßten Preußen gleich beim ersten Schlage gänzlich zu vernichten. So ließ er noch spät am Abend eine Batterie von 24 Pfündern auffahren, die von der Seite her das Schlachtfeld in seiner ganzen Breite bestrich. 442Als das Detachement, bei dem Franz stand, in zwei Gliedern mit gefälltem Bajonette vorrückte, kam eine Kanonenkugel, und ging zwischen beiden Gliedern durch, ohne Jemand zu beschädigen. Eine halbe Secunde früher oder später hätte sie entweder das ganze erste oder zweite Glied niedergerissen. Der Druck der Luft, sagte Franz, war so stark, daß wir im ersten Gliede uns alle umkehren mußten: denn es war, als ob einer uns bei den Tornistern packte und herumdrehte.

Ein anderes Mal erzählte er, daß beim Einrücken in Frankreich überall die strengste Mannszucht geboten worden sei, um den Franzosen keinen Anlaß zur Klage zu geben. Bei den Freiwilligen, als gebildeten Leuten, sei dies kaum nöthig gewesen, auch bei den übrigen Truppen seien Excesse höchst selten gemeldet worden. Doch sei einmal der Fall vorgekommen, daß ein französischer Wirt sich bei dem Hauptmann beklagt: ein bei ihm im Quartier liegender pommerscher Landwehrmann habe ihn geprügelt, weil ihm die Beköstigung nicht gut genug gewesen. Der Angeklagte ward vorgefordert und gefragt, was er zu seiner Vertheidigung sagen könne? Herr Hauptmann , sprach er äußerst betroffen und fast weinend, ich habe mich vergangen, aber ich bin eigentlich unschuldig. Als die verfluchten Franzosen in unserm Dorfe im Quartier lagen, verlangten sie von meinem Vater Champagner, den wir nicht dem Namen nach kannten; ich mußte ruhig zusehn, wie die Hunde meinen alten ehrwürdigen Vater prügelten, weil er ihnen keinen Champagner schaffen konnte. Da nahm ich mir in meinem Herzen vor, wenn die Reihe an uns käme, die Sache wett zu machen. So verlangte ich denn heute von meinem Wirte ein Glas Weisbier, und443 als er das nicht schaffen konnte, habe ich ihn rechtschaffen gewamst. Es war eigentlich nicht böse gemeint, sondern nur Revanche.

Zu den willkommenen Gartengästen gehörte ferner der Husarenrittmeister von Wurmb, mit dessen Familie mein Vater auf das engste befreundet war. Die glänzende Uniform der braunen Husaren hatte für uns etwas bestechendes; sein feines, wohlwollendes Wesen erweckte Zuneigung, doch hielten sein übergroßer Ernst und sein Phlegma uns immer in einer gewissen Entfernung. Er hatte schon den unglücklichen Krieg von 1806 mitgemacht, und sich so ausgezeichnet, daß er den Orden pour le merite erhielt. Das was er erzählte, war mehr durch die Sache, als durch den Vortrag interessant. Vor dem Kriege von 1806 gehörte es bei den jungen Kavallerie-Offizieren mit zum guten Ton, ein oder ein paar Pistolenduelle durchzumachen. Dieser Unsitte hatte Herr von Wurmb, sonst der friedfertigste Mensch von der Welt, sich nicht entziehen können. Es sei niemals, sagte er, etwas ernsthaftes dabei herausgekommen, doch wolle er nicht läugnen, daß ihm jedes Mal, wenn er auf der Mensur gestanden, die Mündung der feindlichen Pistole so groß erschienen sei wie die einer Kanone!

Dem bei den Offizieren üblichen Hasardspiele hatte er lange Zeit widerstanden. Als seine Kameraden ihn endlich zu einer Partie Pharao beredeten, gewann er an einem Abende über 100 Frd’or. Ganz erschrocken schickte er am andern Morgen das Geld an die Armen, und rührte nie wieder eine Karte an.

In der Schlacht bei Kulm gerieth er gleich anfangs mit seinen Husaren in ein sehr hitziges Handgemenge gegen polnische Lanciers. Er hatte sich allein zu weit vor -444 gewagt, ward umringt, erhielt einen Stich in die linke Wange, und mußte sich zum Gefangnen ergeben. Nach Kriegesbrauch wurden ihm Uhr, Baarschaft und Pferd abgenommen. Ein französischer Chasseur zu Pferde erhielt Befehl, ihn hinter die Fronte zu eskortiren. Die Wunde im Gesicht hatte er nur mit seinem Schnupftuche verbinden können, sie blutete und schmerzte sehr. Trübselig genug schlich er neben seinem Wächter einher, als er bemerkte, daß dieser es sich bequem mache; er ließ die Füße aus den Steigbügeln, legte den Zügel auf den Hals des Pferdes, und schlug mit Stahl und Stein Feuer zu einer Tabackspfeife. Rasch entschlossen packte Wurmb ihn bei dem einen Beine, warf ihn vom Pferde, schwang sich in den Sattel, und jagte mitten durch die Franzosen nach der preußischen Schlachtlinie hinüber. Das tollkühne Wagniß gelang; manche Kugel sauste ihm nach, aber keine traf. Als er endlich bei seinen Leuten ankam, sank er, durch den Blutverlust und die Anstrengung erschöpft, ohnmächtig vom Pferde. Allein er kam bald wieder zu sich. Der Stich in die Wange heilte gut, und entstellte ihn gar nicht. In dem Mantelsacke des Chasseurs, der ihm von Rechtswegen zugehörte, fand er das Doppelte seiner verlorenen Baarschaft, und das eiserne Kreuz gesellte sich zu dem Orden pour le merite.

Durch Herrn von Wurmb ward ein Verwandter von ihm, Major Pfeil von der hanseatischen Legion, bei uns eingeführt. Das war anfangs ein Erzähler recht nach unserem Sinne. Mit lauter Stimme, großer Geläufigkeit, und in einem sehr prononcirten schlesischen Dialekte trug er seine Erlebnisse vor, und wußte die ganze Gesellschaft auf das angenehmste zu unterhalten. Es konnte uns jedoch445 auf die Länge nicht entgehn, daß hier der Vortrag mehr bedeute als der Inhalt, und daß zuweilen einige Uebertreibungen mit unterliefen. Der Grosvater Eichmann, ein abgesagter Feind alles Bramarbasirens, sah dem Major Pfeil scharf auf die Finger, und ließ nicht leicht eine seiner Rodomontaden durchgehn.

Die hanseatische Legion war lange bei der Einschließung und Belagerung von Hamburg thätig gewesen. Bei dem ersten raschen Vorrücken der russischen Streifcorps war die Stadt schon am 18. März 1813 vom General Tettenborn besetzt worden. Die Hamburger empfingen ihn mit großem Jubel: denn die Ehre, dem französischen Kaiserreiche anzugehören, hatten sie während der letzten drei Jahre mit großen Handelsverlusten bezahlen müssen, weil die meisten auslaufenden Schiffe von den englischen Kreuzern gekapert wurden. Aber zu schnell waren die Russen vorgegangen. Tettenborn konnte die Stadt gegen die aufs neue herandringenden Franzosen nicht halten; am 29. Mai verließ er Hamburg, und der französische Marschall Davoust rückte ein. Er fing damit an, der Stadt eine Geldbuße von 48 Millionen Franken aufzulegen. Als diese entrichtet war, wurden die stärksten Requisitionen an Kleidung und Nahrung für die französischen Truppen ausgeschrieben. Der Handel lag ganz danieder, denn sobald die Stadt wieder an die Franzosen überging, blokirten englische Kreuzer den Hafen.

Im November 1813 plünderte Davoust die Hamburger Bank. Mehr als sieben Millionen Mark Banco (ungefähr Millionen Thaler) in soliden Silberbarren fanden sich in den schönen gewölbten Kellerräumen. Davoust schickte sie in die Münze, um Sold für seine Truppen zu erhalten. 446Wegen der großen Eile kam bei der Prägung das Versehn vor, daß die Münzen mehr Silber enthielten, als sie werth waren. Kaum bemerkten dies die Hamburger Juden, als auch schon die neuen Stücke mit Blitzesschnelle aus dem Verkehr verschwanden. Pfeil hatte einige dieser äußerst seltenen überwichtigen Münzen erhalten, und schenkte sie mir für meine Münzsammlung. Obgleich ich diese nun immer wohl verschlossen hielt, so ging es mir damit wie mit dem Körnerschen Taschenmesser; nach nicht gar langer Zeit waren sie verschwunden.

Ein volles Jahr lang, bis zum 31. Mai 1814 hielt Davoust, treu dem Befehle seines Kaisers, die Stadt; ihre Auslieferung gehörte mit zu den Bedingungen des Pariser Friedens. Als darauf der russische General Bennigsen einzog, ward er mit weit weniger Geräusch empfangen als Tettenborn. Pfeil schilderte den Zustand der Stadt als einen trostlosen, und ging so weit zu behaupten, daß Hamburg durch die französische Aussaugung völlig ruinirt sei, und nie wieder seine frühere Prosperität werde erreichen können. Dagegen erhob der Grosvater Eichmann den lebhaftesten Einspruch. Pfeil wollte sehr zuversichtlich mit einigen hohen Zahlen, die sich aber seinem Gedächtnisse nicht genau genug eingeprägt hatten, die enormen Verluste der Hamburger Kaufherren anführen, der Grosvater bewies ihm indessen noch zuversichtlicher und mit überlegener Sachkenntniß, daß diese Verluste sich schlimmer anließen als sie wirklich seien, weil der gröste Theil des Hamburger Handels auf der Spedition fremder Waaren beruhe, und weil der Spediteur niemals ganz allein das Risico für die ihm anvertrauten Sendungen übernehme. Er schloß mit der beruhigenden Versicherung: Verlassen Sie sich447 darauf, lieber Herr Major, so lange die Elbe bei Hamburg vorbeifließt, so lange wird Hamburg eine blühende Handelstadt bleiben, und wenn man nach einigen Jahren die Kellerräume der Bank revidiren wird, so wird nicht mehr viel an den geraubten Millionen fehlen!

Von den aus dem Felde heimkehrenden Freunden waren mehrere mit in Paris gewesen. Ihre Schilderungen erweckten uns jedoch keine große Lust, das moderne Babel zu sehn, gegen welches unser Berlin kaum als eine Stadt dritten oder vierten Ranges gelten konnte. Zwar bewegte man sich in den lichtstrahlenden Arkaden des Palais Royal allabendlich wie in einem Feuermeere, die feine Eleganz der Restaurationen, die vornehme Weite der Foyers in den meisten Theatern, die Breite der schönen steinernen Quais an der Seine setzten die nordischen Besucher in Verwunderung, doch fehlte es nicht an Schattenseiten. Die endlose Länge der engen schmutzigen Straßen, das Gedränge auf den mit Bäumen besetzten Boulevards, der rastlose Lärm der dahineilenden Wagen, das zudringliche Geschrei der Verkäufer alles dies erweckte in den einziehenden Siegern, besonders wenn einer sich einmal allein in dem Labyrinthe der Straßen verirrte, ein gewisses Gefühl von Bangigkeit. Was konnten wohl 30,000 oder 40,000 Soldaten ausrichten, wenn 800,000 Pariser sich feindlich gegen sie erheben wollten? Aber die Pariser waren keineswegs feindlich gesinnt. Sie fühlten wohl die Schmach, nach mehreren Jahrhunderten wieder einen auswärtigen Feind in ihren Mauern zu sehn, doch empfingen sie die verbündeten Truppen als ihre Befreier von einer eisernen Militärherrschaft, die von Jahr zu Jahr immer unerträglicher auf ihnen gelastet hatte. 448

Der Jubel, mit dem die einziehenden Fürsten nach dem übereinstimmenden Zeugnisse aller Anwesenden begrüßt wurden, war kein gemachter. Bei dem leicht beweglichen Volke der Franzosen schlug die Verehrung für den gefeierten Napoléon plötzlich in den heftigsten Widerwillen um. Auf dem Vendomeplatz stand die ungeheure bronzene Denksäule, die der Kaiser nach dem Muster der Trajans - und Antoninssäule in Rom für sich errichtet, und mit einer langen Spirale seiner Siege geziert hatte. Die Spitze trug Napoléons kolossales Erzbild mit Scepter und Reichsapfel. Dies Zeichen seines Uebermuthes sollte vor allen Dingen entfernt werden. Am Tage des Einzugs der verbündeten Truppen erstieg der Pariser Pöbel die Säule, schlang mehrere Stricke um die Statue, und viele 100 geschäftigen Hände zogen unten auf dem Platze aus Leibeskräften, um das Erzbild, und wo möglich die ganze Säule umzureißen. Zum Glücke widerstand die Solidität der Arbeit dem wahnsinnigen Bestreben der Menge: denn die herabfallende Figur hätte auf dem von Menschen wimmelnden Platze entsetzliches Unglück angerichtet.

Die Zurückführung der Bourbons auf den französischen Thron schrieb man vorzüglich dem Fürsten Talleyrand zu, der durch seine schlaue Beredsamkeit einen großen Einfluß auf den Kaiser Alexander von Rußland ausübte. Talleyrand soll damals zuerst das Princip der Legitimität zur Geltung gebracht haben, das seitdem von den konservativen Parteien in ganz Europa ausgebeutet, zuletzt aber in Frankreich, Deutschland und Italien durchlöchert wurde.

So kam denn der Bruder des hingerichteten Ludwigs XVI., nach 21 jähriger Verbannung aus England nach449 Paris herüber. Der Sohn Ludwigs XVI., der muthmaßlich den Namen Ludwig XVII. geführt haben würde, war in den Kerkern der Revolution gestorben, daher nannte sich der nun zurückkehrende Graf von Provence: Ludwig XVIII., und begann konsequenter Weise seine Thätigkeit damit, daß er sein erstes Besitzergreifungspatent von dem 21. Jahre seiner Regierung datirte. Er war ein gelehrter Herr von 59 Jahren, der den Virgil und Horaz in der Ursprache las. Seinen Reden und Antworten fehlte es nicht an geistreichen Wendungen, und man muß ihm nachrühmen, daß wenige Fürsten gleich ihm, das ungewohnte Scepter mit solcher Mäßigung geführt haben würden.

In seiner äußeren Erscheinung freilich war Ludwig XVIII. von dem eben beseitigten Napoléon himmelweit verschieden, und die spottsüchtigen Pariser konnten es nicht unterlassen, selbst gegen ihre fremde Einquartirung sich über den neuen König lustig zu machen. Durch seinen gesegneten Appetit hatte Ludwig XVIII. eine solche Korpulenz erlangt, daß er gar nicht zu Pferde sitzen konnte. Während Napoléon hoch zu Rosse, als Sieger in 60 Schlachten kommandirt hatte, so mußte nun Ludwig XVIII. eine Parade auf dem Tuilerienhofe oder auf dem Marsfelde in einer Kutsche abnehmen. Wenn er langsam durch die Straßen fuhr, und mit einem stereotypen Lächeln nach beiden Seiten hin grüßte, so hörte man aus der Menge Bemerkungen wie die folgenden: Voilà un roi bien nourri! Il parait que l’exil ne l’a pas amaigri! A déjeuner il s’est rincé les dents avec une demi-douzaine de côtelettes!

Beim Einzuge Ludwigs XVIII. in Paris hatte sich sehr wenig Enthusiasmus gezeigt; aber die kleine fanatische Partei seiner bourbonistischen Anhänger setzte alle mög -450 lichen Hebel in Bewegung, um eine künstliche Begeisterung hervorzurufen. Auf den Pariser Theatern entstanden gegen gute Bezahlung sehr schnell allerlei Lustspiele und Vaudevilles, welche die glückliche Rückkehr der angestammten Herrscherfamilie feierten, auch enthielten die Couplets am Schlusse des Stückes irgend eine gelungene oder mislungene Anspielung darauf. Manche dieser sinnreichen Wendungen hafteten in dem glücklichen Gedächtnisse einiger heimkehrenden Freunde, und wurden zu unserer großen Ergötzung oft wiederholt, es ist mir aber keine davon mehr gegenwärtig. Wohl aber erinnre ich mich, daß von den napoleonisch gesinnten Franzosen beißende Witze gegen die fremden Eroberer losgelassen wurden. Les Russes, les Autrichiens et les Prussiens ward verdreht in: les rustres, les autres chiens et les plus chiens.

Die Franzosen sahen nun manche Einrichtungen zurückkehren, die sie für immer beseitigt glaubten. An die Stelle des durch allgemeine Wahl erhobenen Kaisers der Franzosen trat der von Gottes Gnaden eingesetzte König von Frankreich. Die ruhmvolle Tricolore ward abgeschafft, obgleich Ludwig XVI. sie angenommen hatte, und statt ihrer flatterte auf dem Dache der Tuilerien die bleiche weiße Fahne. Das kaiserliche Wappen der Bienen ward überall mit den bourbonischen Lilien vertauscht. Um die von Napoléon gestiftete Ehrenlegion in den Augen des Volkes herabzusetzen, erdachte man das kleinliche Mittel, diesen Orden, der sonst auf dem Schlachtfelde erworben ward, als Prämie für die Schüler der Gymnasien massenweis zu vertheilen. Daneben ward ein neuer Orden des heiligen Ludwig gestiftet, den alle Ritter der Ehrenlegion neben der alten Dekoration tragen sollten. Das Ehrgefühl der napo -451 léonischen Krieger sträubte sich so gewaltig gegen diese unkluge Maasregel, daß man bald davon Abstand nehmen mußte.

Für die in Paris einquartirten fremden Truppen wurde auf das beste gesorgt. Sie erhielten eine so reichliche Feldzulage, daß sie an den vielfachen Genüssen des üppigen Pariser Lebens mit aller Gemächlichkeit Theil nehmen konnten. Die Offiziere thaten sich gewöhnlich zusammen, und besuchten zu Mittage die besten Gasthäuser des Palais Royal, unter denen Véry, Véfour, les quatre frères Provenceaux und andre sehr oft genannt wurden. Dies Zusammenschließen hatte auch darin seinen Grund, daß nicht alle preußischen Offiziere des französischen so weit mächtig waren, um sich bequem ausdrücken zu können. Zu den letzten gehörte der inzwischen zum Major vorgerückte Herr von Osten, der sich durch Dienstgeschäfte angehalten, einmal in der Lage befand, sein Mittagsmahl allein einzunehmen. Er hielt es für das sicherste, auf dem Speisezettel von oben anzufangen, und dann zu sehn, wie weit er kommen werde. Mit stummer Gebehrde zeigte er dem Kellner die erste Zeile und erhielt eine Suppe; nachdem diese verzehrt war, deutete er auf die zweite Zeile, und erhielt eine andere Suppe; er ließ sich nicht irre machen, aber die dritte Zeile brachte noch eine neue Suppe. Nun faßte er das Ding vom unteren Ende an. Die letzte Zeile gab einen Salat, die vorletzte und drittletzte desgleichen. Erzürnt stand er auf, zahlte seine Rechnung, und tadelte überall aufs schärfste die französische Küche, bei der man in den Fall kommen könne, ein Diner von dreimal Suppe und dreimal Salat zu machen.

About this transcription

TextJugenderinnerungen
Author Gustav Parthey
Extent468 images; 108924 tokens; 19021 types; 741264 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Wolfgang VirmondNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2014-01-07T13:04:32Z Christian ThomasNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2014-01-07T13:04:32Z Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer KulturbesitzNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Sign. Av 4887-1)2014-01-07T13:04:32Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationJugenderinnerungen Handschrift für Freunde Erster Theil Gustav Parthey. . SchadeBerlin1871.

Identification

Physical description

Antiqua

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Autobiographie; ready; dtae

Editorial statement

Editorial principles

Anmerkungen zur Transkription:Bogensignaturen: nicht übernommenKolumnentitel: nicht übernommenKustoden: nicht übernommenlanges s (ſ): als s transkribiertSilbentrennung: aufgelöstZeilenumbrüche markiert: nein

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T10:09:06Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Generic (German) License.

Holding Library
Shelfmark
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.